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Full text of "Lehrbuch der kosmischen Physik"

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Lehrbuch 


der 


kosmischen  Physik 


von 


Dr.  Svante  August  Arrhenius 

Professor  der  Physik  an  der  Hochschule  .Stockholm. 


Erster  Teil 


Mit  166  Abbildungen  im  Text  und  2  Tafeln. 


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Leipzig 


Verlag  von   S.  Hirzel 
1903. 


Das  Reelit  der  Üebersetzuiig  ist  vorbehalte«. 


Vorwort. 

Wenige  Zweige  der  Wissenschaft  haben  in  der  jüngsten  Zeit  so 
grosse  Fortschritte  gemacht,  wie  die  kosmische  Physik.  Dies  beruht 
wohl  in  erster  Linie  auf  dem  alleinstehenden  Fleiss,  mit  welchem  in 
den  letzten  Jahrzehnten  Thatsachenmaterial  gesammelt  worden  ist,  wo- 
durch unsere  Kenntnisse  in  höchstem  Grade  bereichert  und  unsere  An- 
sichten in  vielen  Fällen  befestigt,  in  anderen  aber  bedeutend  verändert 
worden  sind.  Es  giebt  beinahe  keine  einzige  Abteilung  dieser  so  ausser- 
ordentlich vielseitigen  Wissenschaft,  welche  nicht  in  dieser  Hinsicht 
gerade  jetzt  eine  Blüteperiode  durchlebt. 

Andererseits  hat  die  theoretische  Physik,  ebenso  wie  die  damit 
verwandte  Chemie,  ähnliche  Stadien  von  einer  kräftigen  Entwickelung 
durchgemacht,  wodurch  neue  Gesichtspunkte  zur  Verwertung  des  Be- 
obachtungsmaterials gewonnen  worden  sind. 

Unter  solchen  Umständen  scheint  es  wohl  erwünscht,  eine  Bearbei- 
tung der  kosmischen  Physik  zu  erhalten,  bei  welcher  die  modernen  An- 
sichten der  rationellen  Wissenschaften  berücksichtigt  werden. 

Als  die  Yerlagsfirma  S.  Hirzel  mir  den  Auftrag  gab,  eine  solche 
Bearbeitung  auszuführen,  habe  ich  denselben  nur  mit  Zögern  ange- 
nommen. Es  ist  ja  so  gut  wie  unmöglich,  alle  die  verschiedenartigen 
Verwendungen  der  Physik  und  Chemie  auf  kosmische  Gegenstände  zu 
beherrschen.  Da  ich  aber  an  der  Hochschule  zu  Stockholm  Vorlesungen 
über  alle  Teile  der  kosmischen  Physik  gehalten  habe,  fasste  ich 
dieselben  zusammen  und  revidierte  und  ergänzte  sie.  Dabei  habe 
ich  kräftige  Unterstützung  von  mehreren  befreundeten  Fachgenossen 
erhalten,  unter  denen  ich  hier  Dr.  Ekholm  und  Dr.  v.  Euler 
nennen  will. 


jy  Vorwort. 

Das  Kapitel  XI  der  Physik  der  Atmosphäre  ist  von  Herrn  J.  W. 
Sandström  in  Stockholm  geschrieben  und  von  mir  nur  so  weit  umge- 
formt, dass  es  in  den  vorliegenden  Rahmen  einpassen  würde.  Auf  diese 
Weise  ist  es  mir  möglich  gewesen,  eine  Darstellung  der  neuesten 
theoretischen  Behandlungsweise  der  atmosphärischen  Bewegungen  zu 
gehen,  welche  mir  in  vielen  Beziehungen  vor  den  alten  Auslegungen 
bedeutende  Vorteile  zu  bieten  scheint. 

Meinem  Freunde  Dr.  Alexis  Finkelstein  in  Bernburg  a.  S.  bin 
ich  zu  vielem  Danke  verpflichtet  für  seine  bereitwillige  Hilfe  bei  der 
Richtigstellung  des  deutschen  Textes  und  bei  der  Korrektur. 

Die  meisterhaften  Lehrbücher  der  Meteorologie  von  Prof.  A.  Angot 
und  besonders  Prof.  J.  Hann  sind  mir  bei  der  Ausarbeitung  des  ersten 
Teiles  der  Physik  der  Atmosphäre  von  grösstem  Nutzen  gewesen. 

Bei  der  Behandlung  des  vorliegenden  Themas  habe  ich  die  rein 
astronomischen,  hydrographischen,  geologischen  und  meteorologischen 
Fragen  zu  vermeiden  gesucht  und  soweit  möglich  nur  solche  Probleme 
zur  Behandlung  aufgenommen,  welche  mit  der  Physik  und  Chemie  innige 
Berührung  haben. 

Für  die  sorgfältige  und  prächtige  Ausstattung  des  so  entstandenen 
Buches  bin  ich  der  Firma  S.  Hirzel  sehr  verpflichtet. 

Stockholm,  im  Dezember  1902. 

Der  Verfasser. 


Inhaltsverzeichnis 


zum  1.  Teil 


Physik  des  Himmels. 


I.  Die  Fixsterne 


Einleitung 1 

Maasse  der  Länge  und  der  Zeit  2 
Bestimmung     der    Lage     eines 
Punktes    auf   dem   Himmel. 

Sternbilder 5 

Die  Helligkeit  der  Sterne.     .     .  9 

Sternörter 11 

Die   relative  Menge  der  Sterne 

verschiedener  Grössen  ...  11 

Die  Sternparallaxe 13 

Die  Aberration 13 

Parallaxenmessungen  und  Stern- 
abstände    15 

Absolute  Helligkeit   der   Sonne 

und  der  Sterne 17 

Eigenbewegung  der  Sterne   .    .  18 

Spektralanalyse 21 

Sternspektra 23 

Das  Prinzip  von  Doppler    .     .  28 
Bewegung    der    Sterne    in    der 

Sichtlinie 29 

Einfluss    des    Druckes    auf   die 

Lage  der  Spektrallinien    .     .  30 
Eigenbewegung     des      Sonnen- 
systems      32 

Nebel 33 

Die  Milchstrasse 41 


Seite  I  Seite 
Der   physikalische   Zustand  der 

Nebel 43 

1           Doppelsterne 46 

Das  Verhältnis  der  weissen  und 
der  gelben  Sterne  zum  Sonnen- 
system       52 

Veränderliche  Sterne  vom  Algol- 

typus 53 

Andere  veränderliche  Sterne  .     .  55 

Mira-Sterne 57 

Neue  Sterne 60 


IL  Das  Sonnensystem.     ...      65 

Die  (scheinbare)  Bahn  der  Sonne  65 
Die  Bahnen  der  Planeten  .  .  66 
Die  absoluten  Entfernungen  im 

Sonnensystem 68 

Bestimmung  der  Entfernung  der 
Planeten  durch  Parallaxen- 
messungen    69 

Die  ümlaufszeiten  der  Planeten  71 
Das  Gravitationsgesetz ....  73 
Die  Massen  der  Planeten  ...  79 
Die  elliptischen ,  parabolischen 
und  hyperbolischen  Bahnen 
der  Körper  um  die  Sonne  .  80 
Die    potentielle    Energie    eines 

beweglichen  Körpers    ...      81 
Die  aktuelle  Energie    eines  be- 
wegten Körpers 83 


VI 


Inhalfcsverzeiclinis. 


Seite 
Die  Neigung  und  Excentricltät 

der  Bahnen 84 

'    Die  Bahngeschwindigkeiten     .  85 

Die  Ursache  der  Gravitation  .  87 
Titius-Bodes  Gesetz  und  die 

kleinen  Planeten 88 

III.  Die  Sonne 91 

Licht-  undWärmestrahlung  der 

Sonne 91 

Das  Aussehen  der  Sonnenober- 
fläche.  Granulation ....  94 

Fackeln 94 

Flecke 95 

DieWilsonsche  Fleckentheorie  97 
Das  Spektrum  der  Sonnenflecke  99 
Die  ümkehrung  der  Spektral- 
linien    100 

Die  Natur  der  Flecke      .    .     .  102 
Die  Chromosphäre  und  die  Pro- 
tuberanzen    104 

Spektroskopie  der  Sonne     .     .  105 

Die  metallischen  Protuberanzen  108 

Ruhende  Protuberanzen  .     .     .  113 

Die  Corona 114 

Spektrum  der  Corona  ....  117 

Die  Natur  der  Corona     .     .     .  119 
Der  Druck   und  die  Dichte  in 

der  Sonne 121 

Rotation  der  Sonne     ....  123 
Frequenz  der  Flecke,  Fackeln 

und  Protuberanzen  ....  126 
Die  Temperatur  der  Sonne  .     .  130 
Die   Periodicität   der    Sonnen- 
flecke   132 

Zusammenhang     der    Sonnen- 
fieckenfrequenz  mit  dem  Erd- 
magnetismus   .     .    .    .     .     .  134 

Sonnenflecke  und  Nordlichter  .  137 
Fortpflanzung  der  magnetischen 

Störungen 137 

Sonnenflecke    und    Lufttempe- 
ratur      140 

Sonnenflecke,      Wolken      und 

Niederschlag    .     .•    .     .     .     .  141 
Die  elfjährige  Periode  anderer 

irdischer  Erscheinungen   .     .  143 

Die  nahezu  26tägige  Periode  .  146 

Theoretisches 149 


Seite 

Die  Entstehung  von  Meteoriten  155 

Die  Wärme  der  Sonne    .     .     .  158 

IV.  Die  Planeten,  ihre  Satel- 
liten und  die  Kometen.     .  164 
Die  Temperatur  der  Körper  im 

Sonnensysteme 164 

Die  Atmosphäre  der  Planeten  .  173 

Der  Mond 177 

Der  Merkur  und  die  Venus     .  181 

Mars 183 

Jupiter 191 

Saturn 194 

Uranus  •...-. 197 

Neptun 197 

Die  Satelliten 197 

Das  Tierkreislicht 200 

•  Die  Kometen 202 

Moldavite 219 

V.  Kosmogonie 221 


Physik  der  Erde. 

Gestalt,    Masse    und    Be- 
wegung der  Erde    ....     234 

Kugelform  der  Erde    ....  234 

Die  Gradmessungen     ....  235 

Die  Abplattung  der  Erde    .     .  238 

Direkte  Messung  des  Erdradius  239 

Erddrehung 239 

Die    Centrifugalkraft    an    der 

Erdoberfläche 241 

Veränderung  der  Schwere  nach 
dem  Beobachtungsort.  Pen- 
delmessungen    242 

Das  Bathometer  von  W.  Sie- 
mens   245 

Das  Gasvolumeter  von  Issel  .  246 
Die  Methode  von  Mohn     .     .  247 
Bestimmungen    der    absoluten 
Masse  der  Erde.    Das  Hori- 
zontalpendel      247 

Die  Drehwage 248 

Wägungsmethoden 249 

Die  Methode  der  Pendelschwin- 
gungen      250 

Messungen  in  Schachten     .    .  251 


Inhaltsverzeichnis. 


Vll 


Seite 
Die  Zunahme  der  Schwere  mit 

der  Tiefe 252  ^ 

Änderung  der  Schwere  mit  der  | 

Höhe 253  I 

Änderung  der  Schwere  mit  der  | 

geographischen  Breite .     .     .    255 
Resultate  der  Schwerenmessun- 
gen       256 

Messungen  von  Eötvös      .     .     262 

Das  Geoid 262 

Andere    Folgen    der    Erdum- 
drehung   264 

Präcession  und  Nutation      .     .     268 
Verschiebungen    der  Erdachse 

im  Erdkörper 270 

Die    langsame    Änderung    der 

Erdbahn 272 

Kleinere     Schwankungen     der 
festen  Erdkruste 276 

IL  Die   feste   Erdkruste    und 

das  Erdinnere     .     .     .     .     .     278 

Die  Zunahme  der  Bodentempe- 
ratur mit  der  Tiefe  ....  278 
Der  Zustand   des  Erdinnern     .  282 
Wärmeverlust    der  Erde    nach 

Aussen 284 

Alter  der  Erde 285 

Die  Gesteine  der  Erdkruste      .  288 

Vulkane 296 

Thermen,  Geysire  und  Schlamm- 
vulkane    304 

Die  Verteilung  der  Vulkane    .  306 
Der  innere  Bau  der  Vulkane  .  307 
Die  Entstehungsweise  der  Vul- 
kane      311 

Erdbeben 316 

Entstehungs weise  der  Erdbeben  323 
Die  Physik  der  Erdbeben    .     .  328 
Die  Entstehungsweise  der  Erd- 
kruste    336 

Die  nivellierenden  Kräfte    .     .  341 
Die  Verteilung  von  Land   und 

Meer 346 

in.  Das  Meer 348 

Die   Ausmessung   der   Meeres- 
tiefen   348 


Seite 

Die  Meerestiefe 352 

Die  Bodenbeschaifenheit .    .     .  353 
Die  Zusammensetzung  des  Meer- 
wassers      359 

Die  Verteilung   der   Salze   im 

Meere 362 

Die  Temperatur  des  Meeres     .  367 
Maximale  Dichte  des  Meeres- 
wassers      373 

Die  Farbe  der  Meere  ....  373 

DieDurchsichtigkeit  des  Wassers  375 
Die  Meeresströmungen.     Theo- 
retisches ........  377 

Methoden  zur  Beobachtung  der 

Meeresströmungen    ....  381 

Die  wichtigsten  Meeresströmun- 
gen        383 

Das  Meereis 387 

Das  Polareis 391 

IV.  Das  Wasser  auf  dem  Fest- 
lande      394 

Die  geographische  Verbreitung 

des  Eises  auf  dem  Festlande  394 
Periodische     Änderungen     der 

Gletschergrösse 396 

Zusammensetzung  der  Gletscher  397 
Transporttahigkeit     der    Glet- 
scher    399 

Gletscherlawinen 400 

Eishöhlen,  fossiles  Eis     .     .     .  401 

Das  Inlandeis  auf  Grönland    .  402 

Die  Eiszeit      . 403 

Die  Süsswasserseen      ....  405 

Abflusslose  Seen      .....  407 
Die  Farbe  und  Temperatur  der 

Binnenseen 409 

Binnensee-Eis      ......  413 

Sümpfe  und  Moore    ....  414 

Das  Grundwasser 415 

Quellen  und  Brunnen  ....  415 

Flüsse 418 

Normalgefälle 418 

Seitliche  Erosion 420 

Veränderungen  im  Gefälle  .     .  421 

Wasserfälle 422 

Die  ökonomische  Bedeutung  der 

Wasserfälle 423 

Unterirdische  Wasserläufe  .     .  425 


VllI 


Inhaltsverzeichnis. 


Seite 
Ablenkung    der   Flösse    durch 
die  Erddrehung    und    durch 

Winde 425 

Die  Wassermenge  eines  Flusses  427 

Wasserscheiden 429 

Abflussteil 430 

Transport    von   Schlamm    und 

Geschiebe    ......*  430 

V.  Die  Wellenbewegung  des 

Meeres  und  der  Seen      .    .    436 

Entstehung  der  Wellen  .     .     .  436 
Experimentaluntersuchungen 

über  Wellen 439 

Brandungsvt^ogen 442 

Seespiegelschwankungen.     Sei- 
ches       445 

Beruhigung  der  See  durch  Fett- 
schichten       447 

Gezeiten 448 


Seite 

Gezeiten  nach  verschiedenen 
Perioden 452 

Neuere  theoretische  Unter- 
suchungen    453 

Anwendung  der  harmonischen 
Analyse 456 

Untersuchungen  von  G.H.Dar- 
win      460 

Vergleich  der  Theorie  mit  der 
Erfahrung 461 

Gezeitenströme 463 

VI.  Die  Wechselwirkung 

zwischen    Land    und    See. 
Küsten 465 

Küstenverschiebungen.     ...     465 

Einwirkung  der  Härte  der  Küste     468 

Konservierende  Wirkung  der 
Organismen 470 


Physik  des  Himmels. 
I.  Die  Fixsterne. 

Einleitung.    Von  allen  Naturwissenschaften  ist  die  Astronomie  die 
älteste.     Schon  den  niedrigst  stehenden  Völkern  konnte  es  nicht  ent- 
gehen, dass  im  Laufe  der  Zeit  viele  mächtig  eingreifende  Erscheinungen 
nach    gewissen   Zeiträumen  sich   wiederholen.     Die    auffallendste   dieser 
lOrscheimmgen  ist  der  regelmässige  Wechsel  von  Tag  und  Nacht.    Dem- 
nächst kommt  diejenige  der  Jahreszeiten,  welche  sich  äussert  in  der  Auf- 
einanderfolge  von   heissen  und   kalten,   von  trocknen   und  regnerischen 
Zeiten  und  in  den  damit  zusammenhängenden  Erscheinungen  der  Schnee- 
bedeckung der  Erdoberfläche  und  Vereisung  der  Seen,   bezw.   in  Über- 
flutungen (z.B.  des  Nils)  oder  inEintrocknen  von  Sümpfen,  Morasten  u.  s.  w. 
Diese    für    den    Haushalt    der    Völker    überaus     wichtigen    Umstände 
traten  regelmässig  dann  auf,  wenn  die  Himmelskörper  (Sonne,  Mond  und 
die  Sterne)  eine  bestimmte  Stellung  auf  dem  Himmelsgewölbe  einnahmen. 
Um  im  voraus  wissen  zu  können,  wann  diese  Zeiten  wiederkehren  würden, 
beobachtete  man  die  Sonne,   den  Mond  und  die  Sterne  und  fand  bald, 
dass  dieselben  viel  regelmässiger  ihre  Stellungen  ändern  als  die  vorhin 
genannten  periodischen  Erscheinungen  aufeinander  folgen.     Es  war  da- 
nach mehr  angemessen,   die  Länge  der  Periode  nach  der  Stellung  der 
Himmelskörper  zu  berechnen,  als  nach  den  Witterungserscheinungen  zu 
bemessen.    Die  so  ermittelte  Hauptperiode  wurde  ein  Jahr  genannt,  und 
ein  siderisches  Jahr  wird  danach  definiert  als  die  Zeitdauer,  welche  ver- 
tliesst  zwischen  zwei  aufeinanderfolgenden  Zeitpunkten,   in  welchen  die 
Stellung  der  Sonne  unter  den  Sternen  so  nahe  wie  möglich  die  gleiche  ist. 
Unterabteilungen  dieser  Hauptperiode  ergeben  sich  durch  die  Stellung  des 
Mondes.    So  entstand  das  in  zwölf  Monate  eingeteilte  Jahr.    Die  kleinste 
Zeiteinheit  war  der  Tag  (Gesamtdauer  von  Tag  und  Nacht),  dessen  Länge 
nur  von  der  Stellung  der  Sonne  in  Bezug  auf  den  Horizont  des  Beobachters 

Arrhenius,  Kosmische  Physik.  1 


2  Physik  des  Himmels. 

abhängt.  Bndlich  wurde  dieser  in  vier  Teile:  Nacht,  Morgen,  Tag  und 
Abend  eingeteilt.  Zu  einer  ähnlichen  Zeiteinteilung  sind  schon  die 
niedrigsten  Völker  gelangt. 

Ausser  den  genannten  Witterungserscheinungen  waren  es  auch  andere 
Umstände,  welche  zu  Beobachtungen  der  Himmelskörper  anregten.  Es 
dämmerte  schon  früh  bei  den  meisten  Völkern  auf,  dass  die  Quelle  alles 
Lebens  (und  aller  Bewegung)  in  den  Strahlen  der  Sonne  zu  suchen 
ist.  Im  Anschluss  an  diese  Auffassung  bildete  sich  eine  göttliche  Ver- 
ehrung der  Sonne  aus,  welche  in  den  meisten  Keligionen  aufzufinden 
ist.  Danach  lag  es  nahe  dem  Monde  als  Lichtspender  eine,  wohl  etwas 
untergeordnete,  aber  doch  hervorragende  Stelle  neben  der  Sonne  einzu- 
räumen. Und  allmählich  wurden  auch  die  Sterne  als  Göttlichkeiten  auf- 
genommen. Demnach  lag  es  den  Priestern,  welche  die  gebildete  Klasse 
der  verschiedenen  Völker  ausmachten,  ob,  astronomische  Beobachtungen 
anzustellen,  um  die  mächtigen  Herrscher  über  Leben  und  Tod  und  über 
das  Schicksal  der  Menschen  näher  kennen  zu  lernen.  Und  so  sehen 
wir,  wie  schon  in  den  ältesten  Zeiten  menschlicher  Kultur  Sternwarten 
errichtet  wurden,  wo  der  Gang  der  Himmelslichter  verzeichnet  wurde. 
Ganz  enormes  Aufsehen  erregten  dabei  die  Verfinsterungen,  besonders 
der  Sonne.  Diese  Erscheinungen  wurden  deshalb  sorgfältig  als  Wahr- 
zeichen in  die  Chroniken  eingetragen,  wodurch  uns  ausserordentlich  wert- 
volle Bestimmungen  zur  Feststellung  des  genauen  Zeitpunktes  histori- 
scher Ereignisse  erhalten  worden  sind.  Besondere  Beamten  hatten  den 
Auftrag,  solche  Verfinsterungen  im  Voraus  zu  berechnen  und  mussten 
häufig  mit  ihrem  Leben  für  die  Richtigkeit  ihrer  Prophezeiungen  ein- 
stehen. 

Es  wurde  also  schon  seit  dem  Beginn  der  historischen  Zeit  emsig 
ein  Material  betreffs  der  Himmelserscheinungen  gesammelt,  welches  jetzt 
die  Gnmdlage  der  Astronomie  ausmacht.  Aus  diesem  ist  durch  die 
Naturforscher  als  reinstes  Produkt  eine  Anschauung  gewonnen  über 
die  Kräfte,  welche  im  Weltall  walten,  und  über  die  Bausteine,  woraus 
dieses  aufgebaut  ist. 

Maasse  der  Länge  und  der  Zeit.  Bevor  wir  die  wichtigsten 
Punkte  dieser  Anschauung  darlegen,  wollen  wir  einige  Maasseinheiten 
uns  auswählen,  mit  welchen  wir  später  die  Grössen,  welche  eine  Bolle 
im  Weltall  spielen,  bestimmen  können.  Bekanntlich  ist  unser  Erdkörper 
ein  Sphäroid,  dessen  Aquatorialradius  6378,25,  und  dessen  Polarradius 
6356,52  Kilometer  beträgt.  Die  Erde  dreht  sich  um  ihre  Achse  einmal 
in   einem  Sterntag,   der  in  24  Stunden   Sternzeit   eingeteilt   wird   und 


I.   Die  Fixsterne.  ;^ 

23 's  5(3"',  4,09  P  mittlerer  Somienzeit  beträgt.  Mit  anderen  Worten, 
wenn  wir  zwei  aufeinanderfolgende  Momente  beobachten,  in  welchen  ein 
beliebiger  Stern  durch  die  Meridianebene,  d.  h.  die  Vertikalebene,  welche 
durch  die  Erdpole  und  den  Beobachtungsort  gelegt  ist,  hindurchgeht, 
tinden  wir,  dass  zwischen  diesen  Zeitpunkten  eine  Zeit  von  23'* ,  56"*, 
1,091^  vergeht. 

Aus  diesen  Angaben  können  wir  berechnen,  dass  die  Umdrehungs- 
geschwindigkeit eines  Punktes  am  Erdäquator  (an  der  Meeresoberfläche) 
165  Meter  per  Sekunde  beträgt. 

Die  Erde  bewegt  sich  in  einer  nahezu  kreisförmigen  Bahn  um  die 
Sonne,  die  im  Mittel  in  einem  Abstand  von  149,5  Millionen  Kilometer 
entfernt  ist,  der  also  etwa  2344(1  mal  grösser  als  der  Erdradius  (am 
Äquator)  ist.  Diese  Bahn  wird  von  der  Erde  in  einem  Jahr  beschrieben. 
Daraus  lässt  sich  berechnen,  dass  die  mittlere  Geschwindigkeit  der  Erde 
in  ihrer  Bahn  29,7  Kilometer  per  Sekunde  beträgt.  Wegen  der  grossen 
Entfermmgen  zwischen  den  Himmelskörpern  benutzt  man  häufig  den  Erd- 
bahnradius (die  Sonnenweite)  als  Maasseinheit  für  dieselben.  Für  die 
Abstände  in  unserem  Sonnensystem  ist  diese  Längeneinheit  sehr  ge- 
i'ignet;  die  Ausdehnung  des  Sonnensystems  möge  durch  den  Abstand 
des  äussersten  bekannten  Planeten,  des  Neptun,  von  der  Sonne,  welcher 
etwa  30  Erdbahnradien  ausmacht,  charakterisiert  sein. 

Bei  der  Ausmessung  der  Abstände  zwischen  Sternen  ist  aber  häufig 
diese  Längeneinheit  zu  klein,  um  bequem  zu  sein.  Man  giebt  dann  die 
Länge  entweder  in  Millionen  Sonnenweiten  oder  auch  in  Lichtjahrweiten 
an,  d.  h.  giebt  die  Anzahl  Jahre  an,  welche  das  Licht  brauchen  würde, 
um  die  betreffende  Länge  zurückzulegen.  Da  die  Geschwindigkeit  des 
Lichtes  300000  Kilometer  pro  Sekunde  beträgt,  so  entspricht  eine  Licht- 
jahrweite 9,47  Billionen  Kilometer  oder  63300  Erdbahnradien,  und  eine 
Million  Sonnenweiten  ist  gleich  15,8  Lichtjahrweiten. 

Anstatt  des  Sterntages  benutzt  man  im  täglichen  Leben  den  mitt- 
leren Sonnentag,  der  in  24  Stunden  eingeteilt  wird.  Ein  Sonnentag  ist 
der  Zeitraum,  welcher  verstreicht  zwischen  zwei  aufeinander  folgenden 
M(jmenten,  in  welchen  der  Mittelpunkt  der  Sonne  dieselbe  Meridian- 
ebene passiert.  Da  nun  die  Erde,  von  einem  Punkt  über  dem  Nordpol 
gesehen,  sich  in  umgekehrter  Richtung  wie  die  Zeiger  einer  Uhr 
')ewegt  (vgl.  Fig.  1)  und  die  Achsenumdrehung  der  Erde  (E)  in  der- 
selben Richtung  vor  sich  geht,  so  wird  ein  Stern  (S),  welcher  an  einem 
Tag  genau  gleichzeitig  mit  der  Sonne  (Ä),  d.  h.  am  Mittag,  durch  die 
Meridianebene  geht,  am  folgenden  Tag,  wenn  die  Erde  bei  jE7,  steht,  die 


1 


* 


Physik  des  Himmels. 


Meridianebene  etwas  früher  passieren,  während  dieselbe  die  mit  ES  oder 
EA  parallele  Kichtnng  Ei  S^  enthält,  wie  die  Sonne,  welche  die  Meridian- 
ebene in  dem  Moment  passiert,  wenn  sie  die  Linie  E^Ä  enthält.  Auf  diese 
Weise  wird  der  Meridianendurchgang  der  Sonne  für  jeden  Tag  etwas  (im 
Mittel  235,909  Sekunden)  nach  denjenigen  des  Sterns  verspätet.  Aber 
nach  genau  einem  Jahr,  wenn  die  Erde  wieder  die  Stelle  E  erreicht  hat, 
trifft  offenbar  wieder  die  erste  neue  Koincidenz  der  Meridianendurch- 
gänge der  Sonne  und  des  betreffenden  Sterns  ein.    Daraus  folgt,   dass 

ein  Jahr  genau  einen  Sterntag 
mehr,  als  die  Anzahl  der  Son- 
nentage pro  Jahr,  enthält. 

Man  hat  gefunden,  dass  die 
Länge  des  nach  der  Stellung 
der  Sonne  am  Sternhimmel  be- 
stimmten sogenannten  sideri- 
schen  Jahres,  nicht  vollkommen 
mit  der  Länge  des  aus  dem 
Wechsel  der  Jahreszeiten  er- 
mittelten, sogenannten  tropi- 
schen Jahres  übereinstimmt. 
Dieser  Wechsel  beruht  darauf, 
dass  im  Winter  die  Tage  kür- 
zer, im  Sommer  dagegen  län- 
ger als  12  Stunden  sind.  Im 
Frühling  geschieht  es  jedes 
Jahr  einmal,  dass  die  Länge 
des  Tages  genau  12  Stunden 
wird.  Der  Moment,  in  welchem  dies  eintrifft,  wird  Frühlingsäquinoctium  ge- 
nannt, und  die  Sonne  steht  dann  in  dem  sogenannten  Frühlingspunkte. 
Das  tropische  Jahr  wird  als  die  Zeitdauer  zwischen  zwei  aufeinander  fol- 
genden Frühlingsäquinoctien  definiert.  Da  in  dem  praktischen  Leben  der 
Wechsel  der  Jahreszeiten  viel  wichtiger  als  die  Stellung  der  Sonne  ist,  so 
rechnet  man  für  gewöhnlich  mit  tropischen  Jahren  die  im  Mittel  etwa 
20  Minuten  kürzer  als  die  siderischen  Jahre  sind.  Ein  tropisches  Jahr 
umfasst  im  Mittel  365,242  Tage,  während  ein  siderisches  Jahr  gleich 
365,256  Tagen  ist.  Der  Unterschied  zwischen  dem  siderischen  und  dem 
tropischen  Jahr  rührt  daher,  dass  der  Frühlingspunkt  nicht  auf  dem 
Himmel  still  steht,  sondern  sich  allmählich  zwischen  den  Fixsternen  ver- 
schiebt, und  zwar  so,  dass  er,  vom  Nordpol  gesehen,  jährlich  einen  Bogen 


Fig.  1. 


I.  Die  Fixsterne.  5 

von  etwa  50"  in  retrograder  Richtung-,  d.  h.  im  selben  Sinne  wie  die  Zeiger 
einer  Uhr,  beschreibt.  Die  Erde  bewegt  sich  um  die  Sonne  in  der  ent- 
gegengesetzten Richtung. 

Bestimmung  der  Lage  eines  Punktes  auf  dem  Himmel. 
Stornbilder.  Die  Lage  eines  Sterns  in  einem  bestimmten  Augenblick 
kann  in  mehreren  Weisen  bestimmt  werden,  erstens  aus  seiner  Zenit- 
distanz und  seinem  Azimut.  Unter  Zenitdistanz  versteht  man  den  Winkel 
zwischen  der  Lotlinie  und  der  Sichtlinie  des  Sternes,  unter  Azimut  den 
Winkel,  welcher  von  der  Meridianebene  des  Beobachtungsortes  und  der 
Vertikalebene,  welche  durch  den  Stern  und  den  Beobachtungsort  geht, 
eingeschlossen  ist.  Unter  Höhe  eines  Sterns  versteht  man  den  kleinsten 
Winkel  seiner  Sichtlinie  mit  der  Horizontalebene.  Die  Höhe  und  die 
Zenitdistanz  eines  Sterns  bilden  zusammen  einen  rechten  Winkel. 

Anstatt  einer  von  diesen  Koordinaten  kann  man  auch  im  Allgemeinen 
den  Stundenwinkel  des  Sterns  angeben,  d.  h.  den  Winkel,  welcher  von 
der  Meridianebene  des  Beobachtungsortes  und  der  durch  den  Stern  und 
die  Erdpole  gelegten  Ebene  eingeschlossen  ist.  Der  Stundenwinkel  wird 
gewöhnlicherweise  im  Sinne  der  täglichen  (scheinbaren)  Bewegung,  d.  h. 
\  on  Ost  nach  West  gerechnet  und  in  Stunden  (Sternzeit)  von  0^^  bis 
24/i  oder  in  Bogengraden  von  0^  bis  360^  gezählt.  In  dem  ersten  Maass 
ausgedrückt  giebt  der  Stundenwinkel  an,  wie  viele  Stunden  seit  dem 
letzten  Durchgange  (Kulmination)  des  betr.  Sterns  durch  die  Meridian- 
ebene  des  betr.  Ortes  verflossen  sind.  Auch  der  Stundenwinkel  und  die 
Deklination  (vgl.  unten)  werden  häufig  als  die  Koordinaten  eines  Sterns 
benutzt. 

Da  aber  zufolge  der  Umdrehung  der  Erde  um  ihre  Achse  die'  Zenit- 
distanz, der  Azimut  und  der  Stundenwinkel  eines  Sterns  stetig  mit  der 
Zeit  sich  verändern,  und  übrigens  vom  Beobachtungsorte  abhängen,  hat 
man  die  Lage  eines  Sterns  auf  dem  Himmelsgewölbe  in  anderen,  sehr 
langsam  sich  ändernden  Grössen  angegeben,  nämlich  Deklination  (Ab- 
weichung) und  Rektascension  (gerade  Aufsteigung).  Durch  den  Stern 
kann  man  einen  sogenannten  Stundenkreis  legen,  welcher  der  Erdachse 
parallel  ist  und  den  Beobachtungsort  als  Mittelpunkt  hat.  Derjenige  Bogen 
dieses  Stundenkreises,  welcher  zwischen  der  Richtung  der  Erdachse  und  der 
Sichtlinie  des  Sterns  liegt,  wird  Poldistanz,  derjenige,  welcher  zwischen  der 
Richtlinie  und  der  Äquatorialebene  liegt,  wird  Deklination  des  Sterns  genannt 
und  im  Folgenden  mit  D  bezeichnet.  Poldistanz  und  Deklination  er- 
gänzen sich  offenbar  zu  einem  rechten  Winkel.  Die  Erdbahn  bildet  eine 
Ebene,  die  Ekliptik  genannt  wird.    Die  Ekliptik  und  dje  Äquatorialebene 


ß  Physik  des  Himmels. 

der  Erde  schneiden  sich  längs  einer  geraden  Linie.  Diese  Linie  geht 
durch  zwei  Punkte  auf  dem  Himmel,  welche  die  Äquinoctial-  oder  Nacht- 
gieichpunkte  genannt  werden,  weil  Tag  und  Nacht  gleich  lang  sind,  wenn 
die  Sonne  sich  in  einem  dieser  beiden  Punkte  befindet.  Der  eine  dieser 
Punkte,  welchen  die  Sonne  am  2L  März  von  Süd  nach  Nord  durch  den 
Äquator  gehend  passiert,  wird  Frühlingspunkt  genannt,  der  andere,  welchen 
die  Sonne  von  Nord  nach  Süd  durch  den  Äquator  gehend  am  22.  Sep- 
tember trifft,  heisst  der  Herbstpunkt  (vgl.  S.  4). 

Der  Frühlingspunkt  wird  als  Ausgangspunkt  benutzt  für  die  Bestim- 
mung der  für  gewöhnlich  mit  Ä  R  bezeichneten  Rektascension  (geraden 
Aufsteigung)  eines  Sterns,  welche  den  Bogen  bedeutet,  der  auf  dem 
Äquatorialkreis  zwischen  dem  Frühlingspunkt  und  dem  Schnittpunkt  des 
Stundenkreises  des  Sterns  mit  dem  Äquatorialkreise  eingeschlossen  wird. 
Die  Rektascension  wird  im  Sinne  der  wahren  Bewegung  der  Sonne  (von 
Westen  nach  Osten),  also  in  entgegengesetzter  Richtung  wie  der  Stunden- 
winkel gerechnet.  Hieraus  folgt,  dass  die  Rektascension  eines  Sternes 
die  Sternzeit  eines  Ortes  in  dem  Augenblicke  der  (oberen)  Kulmination 
des  Sternes  angiebt. 

Anstatt  der  Äquatorialebene  kann  man  die  Ekliptik  zur  Bestimmung 
der  Lage  eines  Sternes  benutzen.  Der  Winkel  zwischen  der  Sichtlinie 
des  Sternes  und  der  Ekliptik  wird  Breite  des  Sterns  und  das  Bogenstück 
zwischen  dem  Frühlingspunkt  und  dem  Schnittpunkt  eines  durch  den 
Stern  gelegten  auf  der  Ekliptik  senkrechten  grössten  Kreises  mit  dem 
Ekliptik-Kreise  wird  Länge  des  Sternes  genannt.  Man  rechnet  bei  der 
Bestimmung  von  Sternlängen  ebenso  wie  bei  denjenigen  von  Rektascen- 
sionen  immer  (von  Nord  gesehen)  von  West  gegen  Ost. 

Wegen  der  langsamen  Änderung  dieser  Koordinaten  ist  zur  ge- 
nauen Bestimmung  auch  ein  Datum  der  Zeit  anzugeben.  Die  unten 
angeführten  Grössen  der  Rektascension  und  Deklination  beziehen  sich 
auf  das  Jahr  1900. 

Die  Ekliptik  hat  jetzt  eine  mittlere  Neigung  von  23®,  27'  gegen 
die  Äquatorialebene.  Dieser  Winkel  wird  Schiefe  der  Ekliptik  genannt. 
Eine  durch  den  Beobachtungsort  gezogene,  gegen  die  Ekliptik  senkrechte 
Gerade  nennt  man  Achse  der  Ekliptik,  und  der  Punkt,  gegen  welchen 
der  nach  Norden  gehende  Teil  dieser  Achse  gerichtet  ist,  der  nördliche 
Pol  der  Ekliptik.  Dieser  Pol  liegt  gegenwärtig  im  Sternbilde  des  Drachen, 
Der  Frühlingspunkt  befindet  sich  jetzt  im  Sternbilde  der  Fische,  der 
Herbstpunkt  in  demjenigen  der  Jungfrau.  Vor  etwa  2000  Jahren,  als 
diese  Koordinaten  von  den  griechischen  Astronomen  eingeführt  wurden. 


I.   Die  Fixsterne.  7 

lag  der  Frühlingspunkt  im  Sternbilde  des  Widders  (Aries)  und  der  Herbst- 
punkt im  Sterne  der  Waage  (Libra).  Die  Astronomen  bezeichnen  deshalb 
noch  immer  diese  beiden  Punkte  mit  den  Zeichen  des  Widders  CY)  und 
i]n'  Waage  (£lz). 

Zur  Orientierung  auf  dem  Himmelsgewölbe  hat  man  sich  sogenannte 


Sieme 
Slemliaiifm  XpbelQo 
Vrraixdei-lifltc  St^nie  far 
»ue  Stenw  .Vara. 


Fig.  2.    Karte  des  mittleren  Teiles  des  nördlichen  Sternhimmels. 


Sternbilder  erdacht.  Zwölf  derselben  liegen  in  der  Ekliptik,  in  welcher 
demnach  die  Sonne,  der  Mond  und  die  Planeten  nahezu  stehen.  Diese 
zwölf  Sternbilder,  welche  von  den  Assyriern  erdacht  wurden,  heissen 
mit  einem  gemeinsamen  Xamen  der  Tierkreis  (Zodiak.)  Sie  sind:  Widder, 
Stier,   Zwillinge,   Krebs,    Löwe,    Jungfrau,   Waage,    Skorpion,   Schütze, 


8 


Physik  des  Himmels. 


Steinbock,  Wassermann  und  die  Fische.   Ein  lateinischer  Gedächtnisvers 

fasst  sie  folgendermassen  zusammen: 

Sunt  Aries,  Taurus,  Gemini,  Cancer,  Leo  Virgo, 
Libraque,  Scorpio,  Arcitenens,  Caper,  Amphora,  Pisces. 

Jedes  von  ihnen  umfasst  etwa  30  Grade  von  der  Ekliptik.    Betreffs  der 


Sterac 

Stenihaiifeii  <.     Nebeineckt-  » 

Vaiu 

Neue 


Fig.  3.    Karte  des  mittleren  Teiles  des  südlichen  Sternhimmels. 


Lage  und  dem  Namen  der  wichtigsten  Sternbilder  wird  auf  die  neben- 
stehenden Sternkarten  verwiesen  (Tafel  I  und  Fig.  2  und  3).  Auf  dem 
nördlichen  Sternhimmel  dienen  zur  Orientierung  grosser  und  kleiner  Bär, 
Cassiopeja,  Fuhrmann,  Schwan,  am  Äquator  Adler  und  Orion,  auf  dem 
südlichen  Sternhimmel  Grosser  Hund  und  Südkreuz.    Die  Sterne  werden 


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I.  Die  Fixsterne.  g 

mit  einem  griechischen  Buchstaben  und  dem  Namen  des  Sternbildes  be- 
zeichnet, wobei  für  gewöhnlich  der  hellste  Stern  mit  dem  Buchstaben  «, 
der  nächst-hellste  mit  ß  und  so  weiter  bezeichnet  werden.  So  ist  a  Lyrae 
der  hellste  Stern  im  Sternbilde  der  Leier  und  führt  somit,  wie  sehr  viele 
hellere  Sterne  einen  eigenen  Namen,  „Wega",  a  Leonis  ist  „Regulus",  der 
hellste  Stern  im  Löwen,  a  Canis  majoris  ist  der  „Hundestern",  „Sirius",  der 
hellste  von  allen  Sternen.  Da  diese  Bezeichnungen  nicht  auf  die  Dauer 
ausreichten,  benannte  man  die  Sterne  nach  der  Nummer,  unter  welchen  sie 
in  den  grösseren  Katalogen  aufgeführt  sind,  z.  B.  „Groombridge  1520" 
bedeutet  den  Stern  No.  1520  im  Katalog  von  Groombridge,  „Lacaille 
9352"  den  unter  No.  9352  im  Katalog  von  Lacaille  aufgeführten  Stern, 
„G.  C.  1050"  das  im  General-Katalog  unter  No.  1050  aufgeführte  Him- 
melsobjekt. 

Die  Helligkeit  der  Sterne.  Die  Sterne  haben  sehr  verschiedene 
Helligkeit.  Als  Einheit  hat  man  die  Helligkeit  der  Wega  gesetzt.  Der 
hellste  Stern  ist,  wie  gesagt,  Sirius,  welcher,  obwohl  auf  dem  südlichen 
Himmel  befindlich,  auf  unserer  Breite  sehr  häufig  (im  Winter)  sichtbar 
ist.  Seine  Helligkeit  wird  nach  unten  angegebenen  Gründen  durch  die 
Zahl  4,28  ausgedrückt.  Die  Helligkeit  eines  Himmelsobjektes  ist  recht 
stark  von  seiner  Höhe  auf  dem  Himmelsgewölbe  abhängig.  Dies  beruht 
auf  der  mit  der  Höhe  veränderlichen  Länge  der  atmosphärischen  Dunst- 
schicht, welche  seine  Strahlen  zu  durchqueren  haben,  bevor  sie  unser 
Auge  erreichen.  Diese  Erscheinung  ist  am  auffallendsten  bei  dem  Mond 
und  der  Sonne,  welche  am  Horizont  stehend  viel  dunkler  erscheinen,  wie 
höher  auf  dem  Himmel.  Infolge  derselben  Ursache  leuchten  die  Sterne 
viel  heller  auf  hohen  Bergen,  als  an  der  Meeresoberfläche  und  die  Stern- 
bilder, z.  B.  dasjenige  derPlejaden,  erscheinen,  wenn  sie  von  hochgelegenen 
Punkten  in  den  Bergen  gesehen  werden,  viel  reicher  an  Sternen,  wie  wir 
gewohnt  sind.  So  z.  B.  sieht  man  bei  der  Sternwarte  in  Arequipa  auf 
der  peruanischen  Hochebene  (2457  m  über  dem  Meer)  elf  Sterne  in  der 
Plejaden-Gruppe,  während  man  an  der  Meeresoberfläche  deren  fünf,  unter 
günstigen  Umständen,  in  sehr  reiner  Luft,  sieben  zählen  kann.  Dieser 
Umstand  gab  die  Veranlassung  zur  Yerlegung  der  besten  Sternwarten 
auf  hochgelegene  Punkte,  z.  B.  die  Licksternwarte  auf  Mount  Hamil- 
ton (1480  m),  die  Sternwarten  auf  dem  Ätna  und  dem  Montblanc  (2942  und 
4600  m  Höhe)  und  die  genannte  Arequipa-Sternwarte.  Man  hat  auch 
diesen  Sternwarten  die  grössten  Erfolge  der  jetzigen  Astronomie  zu  ver- 
danken. 

Argelan  der  versuchte  die  Helligkeit  der  Sterne  mit  blossem  Auge 


10  Physik  des  Himmels. 

ZU  schätzen,  und  stellte  Helligkeitsklassen  auf.  Zur  ersten  Klasse,  die 
leuchtendsten  Sterne  umfassend,  gehören  20  Sterne,  zur  zweiten  51,  zur 
dritten  200,  zur  vierten  595,  zur  fünften  1213  und  zur  sechsten,  welche 
die  schwächsten,  mit  blossem  Auge  sichtbaren  Sterne  enthält,  3640 
Sterne.  Später  hat  man  durch  genaue  photometrische  Messungen  die 
Lichtstärke  der  verschiedenen  Sterne  bestimmt.  Man  beobachtet  dann 
den  fraglichen  Stern  mit  einem  Fernrohr,  in  welches  auch  das  Bild  eines 
kleinen  Lichtpunktes  durch  Spiegelung  hineingeworfen  wird,  so  dass  man 
das  Bild  des  Sterns  und  dasjenige  des  Lichtpunktes  —  des  sogenannten 
künstlichen  Sterns  —  nebeneinander  scharf  sieht.  In  den  Weg  des  Licht- 
strahles von  dem  Lichtpunkt  sind  zwei  Nicoische  Prismen  gestellt.  Wenn 
die  Polarisationsebenen  dieser  beiden  Nicols  zusammenfallen,  geht  das 
Licht  ungeschwächt  durch  diese  Vorrichtung,  wenn  die  beiden  Polarisa- 
tionsebenen dagegen  senkrecht  aufeinander  stehen,  wird  das  Licht  aus- 
gelöscht. Im  Allgemeinen,  wenn  die  beiden  Polarisationsebenen  einen 
Winkel  von  a  Grad  bilden,  so  ist  die  Lichtstärke 

J  .cos  2  a, 
wenn  J  die  Lichtstärke  des  künstlichen  Sterns  bei  Zusammenfallen  der 
beiden  Polarisationsebenen  darstellt.  Den  Winkel  zwischen  den  beiden 
Polarisationsebenen  kann  man  durch  Drehung  des  einen  Mcols  beliebig 
verändern,  und  durch  Ablesung  auf  einer  damit  verbundenen  Kreisteilung 
kann  man  diesen  Winkel  messen.  Es  ist  demnach,  wenn  nur  die  Hellig- 
keit J  grösser  ist,  als  diejenige  des  zu  untersuchenden  Sterns,  nicht  schwer, 
durch  Drehung  des  Nicols  einen  solchen  Wert  von  /  cos  ^  «  herzustellen, 
dass  die  beiden  Sterne  gleich  hell  erscheinen.  Yergleicht  man  dann  einen 
zweiten  Stern  mit  dem  künstlichen  und  findet,  dass  dabei  eine  Drehung 
a  nötig  ist,  so  verhalten  sich  die  Helligkeiten  der  beiden  Sterne  wie 
cos 2«  :  cos 2«.     Dieses  Photometer  rührt  von  Zöllner  her. 

Da  die  Sterne  häufig  verschiedene  Farben  besitzen,  und  die  Hellig- 
keit von  verschieden  gefärbten  Objekten  sehr  schwer  zu  vergleichen  ist, 
brachte  auch  Zöllner  eine  Vorrichtung  an,  um  die  Farbe  des  künst- 
lichen Sterns  beliebig  zu  ändern. 

Durch  solche  Messungen  hat  man  gefunden,  dass  die  Sterne  der 
ersten  Grössenklasse  im  Mittel  etwa  2,52  mal  stärker  leuchten,  als  diejenigen 
zweiter  Klasse,  diese  wiederum  etwa  2,52  mal  stärker  als  diejenigen  dritter 
Klasse  u.  s.  w. 

Was  die  absolute  Stärke  der  Sternenstrahlung  angeht,  so  fand  Zöllner, 
dass  das  Lieht  der  Sonne  etwa  56000  Millionen  mal  heller  als  dasjenige 
der  Capeila  strahlt,  welche  etwa  um  18  Prozent  von  Wega,  deren  Licht- 


I.  Die  Fixsterne.  w 

stärke  als  Einheit  angenommen  ist,  übertroffen  wird.  Dieser  Stern 
leuchtet  demnach  etwa  46000  Millionen  mal  schwächer  als  die  Sonne. 
Der  am  stärksten  leuchtende  Stern  Sirius  erscheint  folglich  etwa  11000 
Millionen  mal  lichtschwächer  als  die  Sonne. 

Sternörter.  Die  Lage  der  Sterne  ist  schon  lange  Gegenstand 
von  Katalogisierungsarbeit  gewesen.  Etwa  150  Jahre  vor  unserer  Zeit- 
rechnung bestimmte  Hipparch  mit  einfachen  instrumentellen  Hilfs- 
mittelnmehr als  1000  Sternörter.  Dieses  Verzeichnis,  welches  bis  auf  unsere 
Zeit  erhalten  worden  ist,  giebt  sehr  wichtige  Daten  zur  Bestimmung  der 
Ortsveränderungen,  welche  die  Fixsterne  in  den  danach  verflossenen 
2000  Jahren  erlitten  haben.  In  der  Mitte  des  15.  Jahrhunderts  be- 
obachtete Ulugh-Bey  dieselben  Sterne  und  in  neuerer  Zeit  haben  mehrere 
immer  reichhaltigere  und  genauere  Bestimmungen  der  Sternörter  statt- 
gefunden. Sehr  wertvolle  Angaben  über  Sternörter  enthält  der  Katalog 
von  Bradley  vom  Jahre  1755.  Die  grössten  neueren  Unternehmungen 
in  dieser  Hinsicht  sind  die  Katalogarbeiten  von  Ar  gelander  und  der 
Zonenkatalog  der  astronomischen  Gesellschaft,  in  welchem  alle  Sterne 
bis  zur  neunten  Grösse  verzeichnet  sind,  und  woran  die  grösseren  Stern- 
warten aller  civilisierten  Nationen  mitarbeiten. 

Den  grossartigsten  Fortschritt  auf  diesem  Gebiet  verdanken  wir 
aber  der  photographischen  Abbildung  des  Himmelsgewölbes.  Ein  inter- 
nationaler Astronomenkon  gross  zu  Paris  1887  beschloss,  dass  photo- 
graphische Aufnahmen  von  dem  Sternhimmel  gemacht  werden  sollten, 
wobei  noch  die  Sterne  bis  zur  13.  Grösse  mitgenommen  werden.  Man 
wird  auf  diese  Weise  die  Lage  von  etwa  drei  Millionen  Sternen  in 
unserer  Zeit  feststellen.  Die  helleren  Sterne  geben  bei  gleich  langer 
Belichtung  (Exposition)  auf  gleiche  photographische  Platten  ein  stärkeres 
(und  mehr  ausgedehntes)  Bild  als  die  weniger  hellen.  Auf  diese 
Weise  ist  es  gelungen ,  die  Helligkeit  der  Sterne  photographisch  zu  ver- 
gleichen. 

Da  die  chemische  Wirksamkeit  der  blauen,  violetten  und  ultra- 
violetten Strahlen  auf  der  photographischen  Platte  am  stärksten  ist, 
während  die  gelben  und  grünen  Strahlen  am  kräftigsten  auf  das  Auge 
wirken,  so  stimmt  die  photographisch  gemessene  Stärke  eines  Sternes 
im  allgemeinen  nicht  mit  der  optisch  gemessenen  genau  überein.  Es 
ist  deshalb  nötig,  beide  Methoden  nebeneinander  zu  verwenden. 

Die  relative  Menge  der  Sterne  verschiedener  Grössen.  Da 
die  Helligkeit  eines  aus  der  Ferne  gesehenen  Lichtpunktes  dem  Qua- 
drate   der    Entfernung   umgekehrt    proportional    ist,    so    müssen    die 


\2  Physik  des  Himmels. 

Sterne  zweiter  Grössenordnimg  im  Mittel  etwa  y^2,52,  d.  h.  1,59  mal 
weiter  entfernt  sein  als  diejenigen  erster  Grössenordnimg,  wenn  man 
nämlich,  was  ja  von  vornherein  wahrscheinlich  erscheinen  mag,  annimmt, 
dass  die  Sterne  verschiedener  Klassen  im  Mittel  gleiche  Lichtmengen 
aussenden.  Die  relativen  Abstände  der  Sterne  der  sechs  ersten  Grössen- 
ordnungen  würden  sich  nach  dieser  Annahme  verhalten  wie  die  Zahlen: 

1:1,59:2,52:4,60:6,35:10,08. 
Wenn  nun  die  Sterne  gleichmässig  imEaum  verteilt  wären,  so  müsste 
die  Anzahl  der  Sterne  in  einer  Kugel  vom  Radius  2  achtmal  so  gross 
sein,  wie  diejenige  in  einer  Kugel  vom  Radius  1,  oder  im  allgemeinen 
in  einer  Kugel  vom  Radius  r  müssten  r^  so  viele  Sterne  sich  befinden, 
wie  in  der  Kugel  mit  dem  Einheitsradius.  Wenn  wir  als  diese  Kugel 
diejenige  nehmen,  welche  die  Sterne  erster  Grössenordnung  umfasst,  so 
müssten  die  Mengen  der  Sterne  der  ersten  Ordnung  zu  der  Summe  der 
Mengen  der  Sterne  erster  und  zweiter  Ordnung  u.  s.  w.  sich  ver- 
halten wie: 

1  :  (1,59)3 .  (2,52)3 :  (4,00)3  :  (6,35)» :  (10,08)^, 

d.  h.  wie:         1  :  4  :  16  :  64  :  256  :  1024. 

Mit  anderen  Worten,  die  Zahl  der  Sterne  einer  Grössenklasse  sollte 
drei  mal  grösser  sein,  als  die  Zahl  aller  Sterne  höherer  Grössenordnung 
zusammen.    Anstatt  der  Zahl  3  finden  wir  aber  folgende  Zahlen: 

^1  =  2,55;  2ÖÖ  =  2,82;  ^^  =  2,20;  ^^^  =  1,40;  ^'^  =  1,75, 
20         '71  271  866  2079 

alles  Zahlen,  welche  nicht  unbeträchtlich  unter  3  liegen. 

Dieser  Umstand  zeigt,  dass  entweder  die  Verteilung  der  Sterne  im 
Räume  nicht  gleichmässig  ist,  oder  dass  die  Voraussetzung  nicht  richtig 
ist,  welche  verlangt,  dass  die  Lichtstärke  dem  Quadrat  der  Entfernung 
umgekehrt  proportional  sei.  Wenn  man  auch  die  Möglichkeit  der  ersten 
Annahme  zugeben  muss,  so  scheint  doch  die  Abweichung  zwischen  der 
Rechnung  und  der  gemessenen  Zahl  manchen  Astronomen  zu  gross,  als 
dass  sie  aus  der  Ungleichmässigkeit  der  Verteilung  zu  erklären  wäre. 
Man  muss  denn  die  zweite  Annahme  zugeben.  Diese  wäre  am  leich- 
testen zu  verstehen,  wenn  man  annähme,  dass  sich  in  dem  Raum  ein 
lichtabsorbierendes  Medium  befindet.  Dieser  lichtabsorbierende  Stoff 
kann  nicht  wohl  gasförmig  sein,  denn  in  diesem  Fall  würde  sich  sein 
Absorptionsspektrum  im  Spektrum  aller  Fixsterne  zeigen,  was,  wie  wir 
sehen  werden,  nicht  mit  der  Erfahrung  übereinstimmt.  Es  muss  also 
fest  oder  flüssig  sein,  d.  h.  eine  Art  Trübung  hervorbringen  (vgl.  weiter 
unten  S.  22  und  44).    Viele  Umstände  scheinen  darauf  hinzudeuten,  dass 


w 


L    Die  Fixsterne.  13 


luiiiiiiiale  Spuren  eines  solchen  Stoffes  im  Raum  verteilt  seien  und  schon 
die  geringsten  Spuren  würden  für  eine  genügende  Absorption  in  so  riesigen 
Entfernungen  wie  denjenigen  der  Fixsterne  ausreichen. 

Der  Durchmesser  der  Sonne  von  der  Erde  gesehen  beträgt  im  Mittel 
31'  59"  oder  1919".  Wenn  man  also  die  Sonne  in  eine  Entfernung  von 
einem  Lichtjahr  von  der  Erde  verlegt  denkt,  so  würde  ihr  Durchmesser 
einen  Winkel  von  1919"  :  63300  ==  0,03"  aufnehmen.  Da  nun,  wie  wir 
demnächst  sehen  werden,  die  nächstliegenden  Fixsterne  in  einer  Ent- 
fernung von  etwa  4  Lichtjahren  liegen,  und  der  Durchmesser  eines  Sterns 
wenigstens  0,2"  aufnehmen  muss,  um  mit  unseren  jetzigen  Hilfsmitteln 
gemessen  werden  zu  können,  so  ist  es  selbstverständlich,  dass  diese 
Sterne  einen  Durchmesser  von  etwa  25  mal  grösserer  Dimension  als  die 
Sonne  haben  müssten,  um  nicht  als  Lichtpunkte  zu  erscheinen.  Unter 
solchen  Umständen  ist  es  nicht  zu  verwundern,  dass  die  Sterne  in  den 
Fernröhren  als  Lichtpunkte  beobachtet  werden.  Mit  dem  blossen  Auge  ge- 
sehen scheinen  sie  aber  eine  Ausdehnung  und  strahlige  Gestalt  zu  haben, 
was  auf  Diffractions-  und  Brechungserscheinungen  in  der  Atmosphäre 
und  im  Auge  zurückzuführen  ist.  Die  Ausdehnung  der  Sterne,  wenn 
man  sie  mit  blossem  Auge  sieht,  ist  so  täuschend,  dass  Kepler  und 
Tycho  Brahe  den  Sternen  einen  Durchmesser  zuschrieben,  z.  B.  dem 
Sirius  einen  von  4'  bezw.  2'  20". 

Die  Sternparallaxe.  Wenn  wir  uns  einen  Stern  denken,  der 
genau  in  der  Achse  der  Ekliptik  liegt,  so  wird  von  da  aus  gesehen  die 
f]rde  in  ihrer  Bewegung  um  die  Sonne  einen  Kreis  beschreiben,  dessen 
Durchmesser  um  so  geringer  erscheint,  je  weiter  der  Stern  entfernt  liegt. 
Es  wird  demnach  die  Sichtlinie  Stern-Erde  einen  Konus  um  die  Achse 
der  Ekliptik  beschreiben.  Diese  Bewegung  der  Sichtlinie  können  wir 
auf  der  Erde  ebenso  gut  wie  auf  dem  Sterne  wahrnehmen.  Es  erscheint 
danach,  als  beschriebe  der  Stern  einen  kleinen  Kreis  auf  dem  Himmels- 
gewölbe. Ebenso  scheinen  Fixsterne,  die  in  der  Ebene  der  Ekliptik 
liegen,  sich  geradlinig  zu  bewegen  und  die  dazwischen  liegenden  be- 
schreiben Ellipsen.  Für  alle  Sterne  in  derselben  Entfernung  wird  die 
urosse  Achse  der  Ellipse  gleich  sein.  Die  Sterne  in  unendlich  grosser 
l'^ntfernung  werden  scheinbar  stille  stehen.  Es  wird  demnach  aussehen, 
als  bew^egten  sich  die  näher  gelegenen  Sterne  in  kleinen  Ellipsen  auf 
dem  Himmelsgewölbe.  Die  halbe  grosse  Achse  der  Ellipse  wird  Paral- 
laxe des  Sternes  genannt. 

Die  Aberration.  Die  Erscheinung  der  Parallaxe  wurde  von  Koper- 
nicus,  Tycho  Brahe  und  Galilei  vorausgesehen.    Vergeblich  suchten 


14 


Physik  des  Himmels. 


die  Anhänger  Galileis  eine  solche  Bewegung  zu  entdecken,  bis  Bradley 
im  Anfang  des  vorigen  Jahrhunderts  eine  ähnliche  Bewegung  eines  Sternes 
auffand.  Bei  näherer  Betrachtung  fand  er  aber,  dass  diese  Bewegung  in 
anderer  Weise  stattfand,  als  die  Berechnung  ihm  angab,  um  den  Unter- 
schied deutlich  zu  machen,  denken  wir  uns  einen  Stern  (Ä),  der  gerade  in 
der  Ekliptik  liegt.  Wenn  die  Erde  im  Kreise  E  C  E'  G  E  (Fig.  4)  sich  be- 
wegt, beschreibt  der  Stern  eine  gerade  Linie  a  h  auf  dem  unendlich 
weit  entfernten  sog.  Firmament,  d.  h.  scheinbar  feststehenden  Stern- 
himmel. 

Der  Stern  {Ä)  würde  sich  scheinbar  in  a  befinden,  wenn  die  Erde 
sich  in  E  befände,  und  in  &,  wenn  die  Erde  in  E'  wäre.  Von  C  oder 
G  gesehen,  würde  der  Stern  seine  mittlere  Lage  einnehmen.    Nun  fand 

aber  Bradley,  dass  der  von  ihm  beobachtete 
Stern  gerade  umgekehrt  sich  verhielt.  Die  mitt- 
lere Lage  wurde  eingenommen,  wenn  die  Erde 
sich  in  E  und  e!  befand,  die  äussersten  Lagen 
wenn  die  Erde  in  G  und  G  stand. 

Diese  Thatsache  wurde  in  folgender  Weise 
erklärt.  Angenommen,  eine  Kugel  werde  in  A 
(Fig.  5)  in  der  (vertikalen)  Richtung  AB  mit 
einer  Geschwindigkeit  v  abgefeuert.  Bei  B  stelle 
man  ein  Rohr  BC  auf,  worin  die  Kugel  aufge- 
fangen werden  soll,  so  dass  sie  sich  längs  der 
Röhrenachse  bewegt.  Wenn  die  Röhre  still 
steht,  muss  natürlicherweise  die  Achse  von  BC 
in  der  Verlängerung  von  AB  liegen.  Wenn 
aber  die  Röhre  mit  einer  Geschwindigkeit  a 
senkrecht  zur  Richtung  AB  sich  bewegt,  so 
muss  der  Punkt  B  gerade  unter  A  liegen, 
sobald  die  Kugel  da  ankommt,  G  dagegen 
erst,  wenn  die  Kugel  in  G'  anlangt.  Wenn  h  der  Höhenunterschied 
von  B  und  G  ist,  wird  die  Kugel  die  Zeit  hjv  zur  Zurücklegung  des 
Weges  BG  benutzen.     Während  dieser  Zeit  hat   sich  G  um   die  Weg- 

h 
länge    a  -  nach  links  verschoben  (von  G  bis  G').    Es  folgt  hieraus,  dass 

die  Röhre  BG  um  einen  Winkel  a  gegen  die  Vertikale  geneigt  werden 
muss,  wobei  offenbar: 

GG'       a 
''""-BG-v 


I.   Die  Fixsterne. 


15 


Zu  Bradleys  Zeit  betrachtete  man  die  Lichtstrahlen  als  durch  aus- 
geschleuderte Partikelchen  verursacht,  und  dann  hatte  die  oben  gegebene 
Ableitung  volle  Giltigkeit.  Nunmehr  ist  man  dagegen  der  Ansicht,  dass 
die  Lichstrahlen  von  tranversalen  Schwingungen  im  Lichtäther  her- 
rühren. Es  ist  aber  aus  dem  Umstand,  dass  ein  Lichtstrahl  sich  in 
gerader  Linie  fortpflanzt,  leicht  einzusehen,  dass  im  leeren  Kaum,  oder 
in  der  Luft,  wenn,  wie  thatsächlich,  die  Lichtbewegung  nicht  durch  die  Be- 
wegimg  der  Luft  gestört  wird,  dieselben  Verhältnisse,  wie  für  die  abgeschos- 
sene Kugel  obwalten  werden.  Es  folgt  daraus,  dass,  wenn  man  einen  Stern 
in  der  Kichtung  BA  beobachtet,  und  das  Fernrohr  sich  mit  einer  ge- 
wissen Geschwindigkeit  (a)  senkrecht  zum  Lichtstrahl  bewegt,  so  muss 
man  das  Fernrohr  um  einen  Winkel  a  gegen  die  Verbindungslinie 
zwischen  Stern  und  Beobachtungsort  neigen,  wobei 

a 

^  V 

worin  v  die  Geschwindigkeit  des  Lichts  bedeutet.  Falls  die  Bewegung 
des  Fernrohrs  von  der  Bewegung  der  Erde  in  ihrer  Bahn  bei  C'  her- 
rührt, so  ist  a  die  Geschwindigkeit  der  Erde  in  ihrer  Bahn. 
Diese  ist,  wie  vorhin  gesehen,  29,7  Kilometer  pro  Sekunde. 
Es  wird  also  tg  a  =  29,7  :  300  000  =  tg  20,5".  In  G  (Fig.  4) 
wird  die  Abweichung  zur  anderen  Seite  ebenso  gross  sein, 
also  die  totale  Abweichung  4l".  In  der  That  beschrieben 
alle  von  Bradley  untersuchten  Sterne  eine  Ellipse,  deren 
grösste  Achse  einen  Bogen  von  4l"  aufnimmt,  d.  h.  gerade 
die  vorhin  berechnete  Grösse.  Die  Grösse  20,5"  wird  die 
Aberration  genannt.  Die  Existenz  der  Aberration  giebt  offen- 
bar einen  sehr  kräftigen  Beweis  für  die  Bewegung  der  Erde 
um  die  Sonne. 

Parallaxenmessungen  und  Sternabstände.  Man 
fand  aber  durch  diese  Messung  keinen  Anhalt  zur  Beurtei- 
lung des  Abstandes  der  Sterne.  Die  dadurch  verursachte 
scheinbare  Bewegung  ist  viel  geringer  als  die  Aberration.  Die 
Parallaxe  (a)  eines  Sternes  ist  offenbar  durch  folgende  Relation  gebunden. 
Wenn  in  Fig.  4  D  den  Abstand  AS  des  Sterns  von  der  Sonne  bezeich- 
net  und   R  die  Länge  >S'^  des  Radius  der  Erdbahn,  so  ist: 

R 


Fig.  5. 


^^  «  ==  sm  «  = 


D 


Bei  so  geringen  Winkeln  «,  wie  die  hier  in  Frage  kommenden,  kann 
man  nämlich  sin  a  =  tg  a  setzen. 


jß  Physik  des  Himmels. 

Einer  Bogoiisokunde  im  Wert  von  a  entspricht  ein  Wert  von  D, 
welcher  206  206  Erdbahnradien  beträgt.  Die  grössten  gemessenen  Stern- 
|)aranaxen  betragen  nicht  völlig  eine  Sekunde,  sie  verschwinden  also  gänz- 
lich gegen  die  Aberration.  Es  ist  daher  natürlich,  dass  man  nicht  die 
Parallaxe  in  ihrer  absoluten  Grösse  aus  der  Neigung  der  Sichtlinie  gegen 
die  Weltachse  berechnet,  sondern  dass  man  eine  relative  Bestimmung 
macht.  Dies  hat  den  Vorteil,  dass  man  nicht  wegen  der  Aberration 
und  vielen  zufälligen  Fehlern  zu  korrigieren  braucht.  Dabei  nimmt  man 
an,  dass  die  kleineren  Sterne,  wenigstens  in  der  Mehrzahl,  so  weit  ent- 
fernt sind,  dass  sie  keine  nennenswerte  Parallaxe  zeigen.  Der  Stern, 
dessen  Parallaxe  gemessen  werden  soll ,  wird  in  seiner  Lage  zu  einem 
solchen  als  unbeweglich  angenommenen  Stern  bestimmt.  Die  Verände- 
rung in  dieser  Lage  giebt  die  Grösse  der  Parallaxe. 

Die  erste  gelungene  Ausführung  einer  Parallaxenbestimmung  ver- 
danken wir  Bessel,  welcher  den  Doppelstern  61  im  Schwan  beobachtete, 
und  die  Parallaxe  gleich  0,348"  fand.  Um  zu  zeigen,  wie  grosse  Unsicher- 
heit diesen  Messungen  anhaftet,  mögen  die  verschiedenen  Beobachtungen 
betreffs  dieses  Sterns  angeführt  werden.    Dieselben  sind: 

0,314"  und  0,348"  (Bessel),  0,360"  und  0,349"  (Peters),  0,564" 
(Auwers),  0,468"  (Bale),  0,270"  (A.  Hall),  0,429"  (Pritchard)  und 
0,525"  (Bjelopolsky). 

Der  mittlere  Wert  dieser  Ziffern  beläuft  sich  zu  0,4".  Demnach 
wäre  der  Abstand  dieses  Sterns  von  der  Sonne  nicht  weniger  als 
500  000  Erdbahnradien  oder  rund  8  Lichtjahre. 

Von  allen  gemessenen  Sternen  hat  a  Centauri,  der  in  Bezug  auf 
Helligkeit  dritte  aller  Sterne,  welcher  33  Prozent  stärker  als  Wega 
leuchtet,  die  grösste  Parallaxe  von  nicht  völlig  einer  Bogensekunde  (0.8"); 
sein  Abstand  ist  demnach  etwa  4  Lichtjahre.  Natürlicherweise  suchte  man 
die  nächstliegenden  Sterne,  d.  h.  diejenigen  mit  grosser  Parallaxe  unter 
den  hellsten  Sternen.  Dass  es  aber  nicht  immer  zutrifft,  dass  die  hellsten 
Sterne  auch  die  grössten  Parallaxen  besitzen,  wird  durch  die  neuerdings 
gemachte  Entdeckung  von  Schur  erwiesen,  welcher  einen  Stern  im 
Schwan  fand,  der  obgleich  nur  von  der  8.  Grösse,  doch  nur  etwa 
7  Lichtjahre  von  der  Sonne  entfernt  liegt.  Damit  möge  verglichen 
werden,  dass  Sirius,  der  unvergleichlich  hellste  von  allen  Sternen,  etwa 
12  Lichtjahre  (Parallaxe  0.25")  entfernt  ist. 

Wega  würde  in  einem  Abstand  von  etwa  20  Lichahren  liegen 
(Parallaxe  0,15"),  Capella,  die  82  Procent  der  Helligkeit  von  Wega  be- 
sitzt, zeigt  eine  Parallaxe  von  0,053",  liegt  demnach  in  einer  Entfernung 


Won  etwa 


I.  Die  Fixsterne.  ^7 


R)n  etwa  56  Lichtjahren.  Canopus  («  Carinae),  der  eine  kaum  mess- 
bare Parallaxe  (0,03")  besitzt,  dürfte  in  etwa  100  Lichtjahren  Ent- 
fernung liegen,  obgleich  er  nächst  Sirius  der  hellste  von  den  Sternen 
erster  Grösse  ist.  Absolut  genommen  muss  dieser  Stern  viel  grfeser 
als  alle  anderen  Sterne  der  ersten  Grösse  sein. 

Es  wäre  offenbar  sehr  erwünscht,  wenn  die  Parallaxenmessungen 
mit  grösserer  Genauigkeit  ausgeführt  werden  könnten.  Für  die  meisten 
Sterne  kann  man  bisher  keine  einigermaassen  zuverlässige  Schätzung 
ihres  Abstands  angeben. 

Absolute  Helligkeit  der  Sonne  und  der  Sterne.  Wir  können 
uns  nun  eine  Vorstellung  von  der  absoluten  Lichtmenge  machen,  welche 
die  uns  am  nächsten  stehenden  Fixsterne  aussenden,  indem  wir  dieselbe  mit 
der  von  der  Sonne  ausgesandten  vergleichen.  Wählen  wir  dazu  die 
vier  Sterne  Sirius,  a  Centauri,  Wega  und  Capella.  Ihre  scheinbare 
Lichtstärke  ist,  wie  leicht  aus  den  vorhin  gegebenen  Ziffern  berechnet 
werden  kann,  11000,  34  000,  46  000  und  56  000  Millionen  mal  geringer 
als  diejenige  der  Sonne.  Ihre  Abstände  betragen  12,  4,  20  und  56  Licht- 
jahre. Da  nun  die  scheinbare  Lichtstärke  eines  leuchtenden  Körpers 
dem  Quadrate  der  Entfernung  umgekehrt  proportional  ist,  so  würde  die 
Sonne,  wenn  sie  in  derselben  Entfernung  verlegt  wäre,  wie  Sirius, 
(12x63  000)2  =  577  000  Millionen  mal  schwächer  die  Erde  beleuchten 
als  jetzt.  Sie  wäre  demnach  absolut  genommen  53  mal  schwächer  als 
Sirius.  In  derselben  Weise  findet  man,  dass  sie  1,88,  35  und  224  mal 
schwächer  als  die  a  Centauri,  Wega  und  Capella  wäre,  wenn  sie  neben 
diesen  auf  dem  Firmament  leuchtete. 

Da  die  Helligkeit  dieser  vier  Sterne  durch  die  Zahlen  4,28,  1,33, 
1,00  und  0,82  ausgedrückt  wird,  so  wäre  demnach  die  Leuchtkraft  der 
Sonne,  wenn  sie  in  derselben  Entfernung  wie  die  vier  genannten  Sterne 
verlegt  wäre,  durch  folgende  Zahlen 

0,0815,  0,706,  0,0287  und  0,00365 
dargestellt.  Wenn  also  die  Sonne  ebenso  w^eit  von  uns  entfernt  wäre, 
wie  der  uns  nächste  Fixstern,  würde  sie  wie  ein  Stern  der  ersten  Grösse 
(etwa  wie  Procyon  =  a  Canis  minoris)  leuchten.  In  der  Entfernung  von 
Sirius  würde  sie  nur  wie  ein  Stern  zweiter  bis  dritter,  in  der  Entfernung 
\on  Wega  wie  ein  Stern  fünfter  und  in  derjenigen  von  Capella  wie  ein 
Stern  sechster  Grösse  erscheinen.  Im  letzten  Fall  wäre  also  die  Sonne 
gerade  mit  blossem  Auge  sichtbar.  Wir  führen  hier  einige  Ziffern  nach 
den  neuesten  Messungen  über  diese  Verhältnisse  an.  jt  bedeutet  die 
Parallaxe,  D  die  Entfernung  in  Lichtjahren  der  betreffenden  Sterne  und 

Arrbenius,  Kosmische  Physik.  2 


18  Physik  des  Himmels. 

)§  die  Grössenklasse  der  Sonne,  wenn  sie  ebenso  weit  weg  verlegt  wäre 
wie  der  fragliche  Stern. 


Stern 

7t 

D 

S 

Aldebaran 

0,107" 

30,5 

5,1 

Capella 

0,081 

40,2 

5,7 

Beteigeuze 

0,023 

141,7 

8,4 

Procyon 

0,325 

10,0 

2,6 

Pollux 

0,056 

58,2 

6,5 

Eegulus 

0,092 

35,4 

5,4 

Arctur 

0,024 

135,8 

8,3 

Wega 

0,082 

39,7 

5,7 

Atair 

0,231 

14,1 

3,4 

Die  angeführten  Ziffern  mögen  genügen,  um  anzudeuten,  wie  an- 
spruchslos die  enorm  scheinende  Helligkeit  der  Sonne  ist,  wenn  sie  mit 
kosmischen  Maassen  gemessen  wird.  In  der  Entfernung  von  Beteigeuze 
oder  Arctur,  die  etwa  1500  mal  so  viel  Licht  wie  die  Sonne  ausstrahlen, 
würde  die  Sonne  mit  blossem  Auge  absolut  unsichtbar  sein. 

Eigenbewegung  der  Sterne.  Wir  kommen  jetzt  zu  einer 
anderen  sehr  interessanten  Frage,  nämlich  ob,  ausser  der  genannten 
scheinbaren  Bewegung,  die  Sterne  eine  wirkliche  Ortsveränderung  er- 
leiden oder  ob  sie  ihren  Namen  Fixsterne  verdienen. 

Diese  Frage  kann  man  mit  Hilfe  des  Vergleichs  zwischen  der 
jetzigen  Lage  eines  Sterns  und  derjenigen  nach  älteren  Messungen  ent- 
scheiden. Dabei  sind  die  ältesten  Beobachtungen  von  Hipparch,  obgleich 
nicht  sehr  genau,  doch  von  grossem  Wert  durch  ihr  Alter.  Danach  hat 
der  helle  Stern  Arcturus  sich  seit  Hipparch s  Zeiten  um  nicht  weniger 
als  IV4  Grad,  d.  h.  2V2  Vollmondbreiten  verschoben.  Man  wäre  be- 
rechtigt zu  vermuten,  dass  die  hellsten  Sterne,  welche  uns  am  nächsten 
liegen,  die  grösste  Eigenbewegung  besässen.  Denn  bei  gleicher  absoluter 
Geschwindigkeit  verschiedener  Sterne  muss  (im  Mittel)  die  gemessene 
Winkelgeschwindigkeit  der  Entfernung  umgekehrt  proportional  sein. 
Eigentümlich  genug  aber  besitzen  drei  schwache  Sterne  die  grösste 
Eigenbewegung  senkrecht  zur  Lichtlinie.  Der  erste  derselben,  von  8.  Grösse, 
ist  von  Kapteyn  entdeckt  (Rectascension  5^,  7*^,  Declination — 45^),  im 
Sternbild  der  Taube,  der  zweite  ist  ein  Stern  7.  Grösse  (Rectascension 
ll^  47^,  Declination  38 ^  26'),  welcher  nach  dem  Kataloge  „Groom- 
bridge  1830"  benannt  wird. 

Diese  Sterne  verschieben  sich  nicht  weniger  als  8,7"  resp.  7,9"  pro 


I.  Die  Fixsterne.  19 

Jahr.  Danach  kommt  der  Stern  „Lacaille  9352"  mit  6,9".  Die  Parallaxen 
(lieser  beiden  letzteren  Sterne  sind  0,127"  und  0,285",  Entfernungen  von 
25  bezw.  9  Lichtjahrweiten  entsprechend.  Sie  liegen  uns  demnach  ganz 
nahe,  obgleich  sie  sehr  lichtschwach  sind. 

Unter  Sternen  mit  grosser  Eigenbewegiing  befinden  sich  auch  die 
durch  grosse  Parallaxe  ausgezeichneten,  oben  erwähnten  61  Cygni  und 
a  Centauri,  welche  ähnliche  Eigenbewegungen  von  5,2"  und  3,7"  be- 
sitzen. Sirius  dagegen  hat  nur  eine  Eigenbewegung  von  1,25",  Capella 
eine  von  0,44"  und  Wega  eine  von  0,35"  pro  Jahr.  Eine  sehr  grosse 
Eigenbewegung,  2,28"  pro  Jahr  besitzt  Arctur  {a  Bootis),  welcher  eine 
Parallaxe  von  nur  0,024"  aufweist.  Aus  der  Kenntnis  der  Parallaxe 
und  der  Eigenbewegung  können  wir  die  absolute  Greschwindigkeit  dieser 
Sterne  senkrecht  zur  Lichtlinie  berechnen.    Wir  finden  so  für: 

km.  pr.  Sek. 


Arctur 

450 

Groombridge  1830 

280 

Lacaille  9352 

109 

61  Cygni 

60 

Capella 

35 

a  Centauri 

22,5 

Sirius 

22,5 

Wega 

10 

Die  kolossale  Geschwindigkeit,  mit  welcher  Arctur  durch  den  Weltraum 
hindurcheilt,  ist,  soweit  bekannt,  die  grösste.  Wegen  der  Unsicherheit 
in  der  Parallaxenbestimmung  kann  sie  vielleicht  um  die  Hälfte 
fehlerhaft  sein. 

Durch  die  Eigenbewegung  der  Sterne  ändert  sich  allmählich  das 
Aussehen  des  Sternhimmels.  In  historischer  Zeit  ist  wohl  diese  Ver- 
änderung nicht  sehr  auffallend;  es  ist  aber  leicht  unter  der  Annahme, 
dass  die  Verschiebung  der  Fixsterne  mit  konstanter  Geschwindigkeit 
nach  einer  geraden  Linie  vor  sich  gegangen  ist,  die  Veränderungen  zu 
berechnen,  welche  in  ausgedehnteren  Zeitintervallen  vor  sich  gegangen 
sind.  Auf  diese  Weise  kann  man  z.  B.  rekonstruieren,  wie  das  charak- 
teristische Sternbild  des  grossen  Bären  vor  50  000  Jahren  sich  aus- 
genommen hat  oder  wie  es  wahrscheinlicherweise  nach  50000  Jahren 
aussehen  wird.  Man  erhält  dann  die  nebenstehenden  Figuren  I  und  HI 
in  Fig.  6,  während  die  mittlere  Figur  II  das  wohlbekannte  jetzige  Aus- 
chen dieses  Sternbildes  darstellt. 

Wenn,  wie  im  vorliegenden  Beispiel  mehrere  nebeneinander  liegende 


20 


Physik  des  Himmels. 


Sterne  in  ihrer  Eigenbewegung  nicht  miteinander  folgen,  so  schliesst 
man  daraus,  dass  sie  keinen  inneren  Zusammenhang  besitzen.  Wenn 
aber  im  Gegenteil  mehrere  benachbarte  Sterne  sich  einander  parallel 
verschieben,  so  dass  die  Konfiguration  des  Sternbildes  sich  nicht  im 
Laufe  der  Zeit  verändert,  so  hat  man  guten  Grund  anzunehmen,  dass 
diese  Sterne  demselben  Sternsystem  angehören.  Dies  ist  z.  B.  der  Fall 
mit  den  Sternen  in  dem  schönen  Sternbild  der  Plejaden. 

Da  es  wohl  anzunehmen 
ist,  dass  die  helleren  Sterne 
uns  näher  liegen,  als  die  we- 
niger hellen,  ebenso  wie  dass 
die  Sterne  in  verschiedenen 
Entfernungen  im  Mittel  dieselbe 
absolute  Eigenbewegung  be- 
sitzen, so  folgt  es,  dass  die  hell- 
sten Sterne  eine  grössere  rela- 
tive Eigenbewegung,  wenn  man 
dieselbe  in  Bogenmaass  aus- 
drückt, besitzen,  als  die  weni- 
ger hellen.  Denn  wenn  von 
zwei  Himmelskörpern,  welche 
gleich  schnell  sich  senkrecht 
zur  Sichtlinie  bewegen,  der 
eine  uns  doppelt  so  nahe  liegt 
wie  der  andere,  so  wird  jener 
in  derselben  Zeit  einen  doppelt 
so  grossen  Bogen  auf  dem  Fir- 
mament beschreiben,  wie  dieser. 
Dies  wird  auch  durch  die  Er- 
fahrung bewahrheitet,  wie  fol- 
gende Zusammenstellung  der 
mittleren  jährlichen  Eigenbewegung  der  zu  verschiedenen  Grössenklassen 
gehörigen,  in  Bradleys  Katalog  verzeichneten  Sterne  zeigt. 
65  Sterne  erster  und  zweiter  Grösse  0,222" 


Fig.  6. 


154 

dritter 

312 

vierter 

696 

fünfter 

994 

sechster 

921 

siebenter 

Grösse 


0,168 
0,137" 

o,iir 

0,090" 
0,086". 


i.  Die  Fixsterne.  21 

Die  Abnahme  der  Eigenbewegiing  bei  abnehmender  Helligkeit  ist 
>ehr  deutlich  ausgesprochen.  Sie  ist  aber  jedenfalls  nicht  so  gross,  wie 
man  erwarten  könnte,  wenn  die  Entfernung  der  Sterne  für  eine  Grössen- 
klasse  im  Mittel  1,52  mal  grösser  wäre  als  für  die  nächst  vorangehende. 

Anstatt  der  Verhältniszahl  1,52  zwischen  den  Eigenbewegungen 
zwei  nach  einander  folgenden  Grössenordnungen  findet  man  aus  den 
oben  angegebenen  Zahlen,  einen  Mittelwert,  der  nur  1,21  beträgt. 

Zum  Vergleich  mit  obenstehender  Tabelle  möge  eine  Berechnung  von 
Kapteyn  betreffs  der  mittleren  Parallaxe  der  Sterne  vo'q  verschiedenen 
Grössenordnungen  mitgeteilt  werden.  Dabei  unterscheidet  Kapteyn  Sterne 
des  ersten  und  des  zweiten  Spektral typus,  weisse  und  gelbliche  Sterne. 
(Vergl.  weiter  S.  24 — 25).  Die  von  ihm  gegebenen  Zahlen  sind: 


Photometrische 

Parallaxe 

der  Sterne. 

Grösse 

1.  Typus 

2.  Typus 

Generalmittel 

1,0 

0,0446" 

0,1010" 

0,0750" 

2,0 

0,0315 

0,0715 

0,0530 

3,0 

0,0223 

0,0505 

0,0375 

4,0 

0,0157 

0,0357 

0,0265 

5,0 

0,0111 

0,0253 

0,0187 

6,0 

0,0079 

0,0179 

0,0132 

7,0 

0,0056 

0,0126 

0,0094 

8,0 

0,0039 

0,0089 

0,0066 

9,0 

0,0028 

0,0063 

0,0047 

Die  Werte  für  höhere  Grössenklassen  sind  nur  durch  Extrapolation 
aus   einer  Formel   gewonnen,   welche   ausdrückt,   dass   ein  Stern   einer 

Grössenklasse  y^  mal  grössere  Parallaxe  hat,  als  ein  Stern  folgender 
Grössenklasse.  Mit  anderen  Worten:  die  mittlere  Helligkeit  der  Sterne 
einer  Grössenklasse  wäre  doppelt  so  gross  wie  diejenige  der  Sterne  folgender 
Klasse,  wie  es  bei  der  Bestimmung  der  photometrischen  Grösse  voraus- 
gesetzt wird.  Die  Grössenklasse,  6,0  nach  der  photometrischen  Grössen- 
bestimmung  entspricht  derselben  Grössenklasse  nach  Argelanders 
Schätzung. 

Wie  aus  den  Werten  ersichtlich,  stehen  die  Sterne  vom  2.  Typus 
(die  gelblichen)  uns  etwa  2,25  mal  näher  als  die  gleich  hellen  Sterne 
vom  1.  Typus. 

Spektralanalyse.  Mit  Hilfe  des  Spektroskopes  ist  es  gelungen 
die  absolute  Geschwindigkeit  der  Sterne  in  Eichtung  der  Sichtlinie  zu 
bestimmen.    Man  erhält  auf  diese  Weise,   die  im  Folgenden  näher  be- 


22  Physik  des  Himmels. 

schrieben  wird,  Zahlen  der  Geschwindigkeit,  welche  von  derselben  Grössen- 
ordnung  sind  wie  die  oben  für  die  Bewegung  senkrecht  zur  Sichtlinie 
angeführten. 

Wenn  man  einen  schmalen  Lichtspalt  durch  ein  durchsichtiges 
Prisma,  dessen  Kanten  dem  Spalte  parallel  gerichtet  sind,  betrachtet, 
so  sieht  man  ein  sogenanntes  Spektrum,  in  welchem  das  durch  den 
Spalt  einfallende  Licht  in  seine  verschiedenen  Farben  von  rot  bis  violett 
zerlegt  ist.  Erzeugt  man  mit  Hilfe  einer  oder  mehrerer  Linsen  ein 
Bild  des  Spaltes  und  schiebt  in  den  Weg  der  Lichtstrahlen  ein  Prisma 
ein,  so  erhält  man  ein  objektives  Spektrum,  bestehend  aus  den  neben- 
einander gelagerten  verschiedenfarbigen  Bildern  des  Spaltes.  Dieses 
Spektrum  kann  man  auf  eine  photographische  Platte  fallen  lassen  und 
erhält  auf  diese  Weise  eine  Spektralphotographie.  In  diesem  photo- 
graphischen Bild  sind  nicht  nur  die  sichtbaren,  und  vorwiegend  die 
gegen  das  violette  Ende  des  Spektrums  liegenden  Teile,  sondern 
auch  die  ausserhalb  des  sichtbaren  Spektrums  belegenen  sogenannten 
ultravioletten  Teile  abgebildet.  Dieses  Spektrum  oder  das  photographische 
Bild  davon  giebt  uns  darüber  Aufschluss,  welche  Lichtsorten  durch  den 
Spalt  hineinstrahlen.  Fehlt  die  eine  oder  die  andere  Lichtsorte  in  der 
genannten  Lichtquelle,  so  wird  dies  dadurch  gekennzeichnet,  dass  an 
der  betreffenden  Stelle  des  Spektrums  eine  dunkle  Stelle  auftritt.  Sind 
nur  wenige  nebeneinander  liegende  Lichtwellenlängen  im  Spektrum  nicht 
vertreten,  so  ist  die  dunkle  Stelle  schmal  linienförmig,  fehlt  aber  Licht 
von  mehreren  solchen  aufeinander  folgenden  Wellenlängen,  so  treten  im 
Spektrum  breitere  dunkle  Bänder  auf.  Es  ist  nun  für  das  von  festen  oder 
flüssigen  Körpern  ausstrahlende  Licht  charakteristisch,  dass  im  allge- 
meinen darin  keine  dunkeln  Linien  oder  Bänder  vorkommen.  Eine  Aus- 
nahme von  dieser  Eegel  machen  nur  die  Verbindungen  einiger  seltenen 
Erdartmetalle,  was  indess  für  die  Himmelsphysik  ohne  Bedeutung  ist. 
Man  sagt  deshalb,  dass  die  von  einem  glühenden  festen  oder  flüssigen 
Körper  ausgesandten  Lichtstrahlen  ein  kontinuierliches  Spektrum  geben. 
Je  heisser  der  glühende  Körper  ist,  desto  mehr  tritt  das  stärker  brech- 
bare (blaue)  Ende  hervor.  Ganz  anders  bei  den  Gasen.  In  ihren  Spektren 
treten  nur  vereinzelte  helle  Linien  hervor,  welche  dem  betreffenden  Gas 
eigentümlich  sind.  Nimmt  aber  die  Dichte  der  strahlenden  Gasmenge 
zu,  so  verbreitern  sich  die  hellen  Linien  und  zwischen  ihnen  entsteht 
ein  schwacher  Lichtschimmer,  welcher  den  Anfang  eines  kontinuier- 
lichen Spektrums  bildet.  Nun  kann  man  die  Dichte  des  Gases  sehr, 
stark  durch  Erhöhung  des  Druckes  vergrössern,  so  dass  sie  am  Ende 


I.  Die  Fixsterne.  23 

>ich  derjenigen  einer  Flüssigkeit  nähert  —  speciell  kann  man  voll- 
kuramene  Gleichheit  der  Gas-  und  Fltissigkeitsdichte  bei  dem  kritischen 
Punkt  erreichen.  In  diesem  Fall  nähert  sich  das  Spektrum  des  Gases 
immer  mehr  demjenigen  der  entsprechenden  Flüssigkeit  und  bei  dem 
kritischen  Punkte  müssen  die  beiden  Spektren  identisch  sein. 

Nachstehende  Tafel  (Taf.  II)  giebt  die  Spektren  einiger  der  wichtig- 
sten Himmelsobjekte  wieder.    Das  Spektrum  eines  festen  oder  flüssigen 
Körpers   oder   eines   sehr  stark  kondensierten  Gases  erhält  man,  wenn 
man  in  der  Tafel  die  schwarzen  Linien  des   Sirius-  oder  des  Sonnen- 
Spektrums  mit  Farbe  von  den  nächstliegenden  Teilen  überdeckt.  Typische 
Gasspektren,  die  aus  einzelnen  hellen  Linien  mit  dunklen  Zwischenräumen 
bestehen,    sind    dagegen    die    beiden    in    der    Tafel    wiedergegebenen 
Spektren   der  Protuberanzen  und   des  Nebelflecken  im  Drachen.    Ein 
anderes    typisches    Gasspektrum    ist    dasjenige    des   Äthylengases.     In 
diesem  Falle,  welches   für  zusammengesetzte  Gase  zuzutreffen  scheint, 
gruppieren  sich  die  vielen  feinen  Linien  so,  dass  kanellierte  Bänder  ent- 
stehen (s.  g.  Bandspektren).    Das  Spektrum  der  Sonne  ist,  wie  gesagt, 
ein  kontinuierliches  durch  viele  schwarze  Linien  durchzogenes.  Von  diesen 
Linien  fallen  einige,   die  mit  C,  F  und  h  bezeichneten,    auf  dieselben 
Stellen,  wie  die  hellen  Linien  des  Wasserstoffspektrums.  (Diese  hellen  Linien 
kommen,  wie  die  Tafel  zeigt,  auch  im  Spektrum  des  Protuberanzen  vor.) 
Man  erklärt  bekanntlich  diesen  Umstand  so,  dass  man  annimmt,  in  den 
äussersten  Schichten  der  Sonne  befinde  sich  in  grosser  Menge  Wasser- 
stoff,  welcher  die   für  dieses  Element  charakteristischen  Lichtsorten  in 
dem  durchstrahlenden  Licht  des  Sonnenkörpers,   welches  für  sich  ein 
kontinuierliches  Spektrum  giebt,  absorbiert.    Die  anderen  dunklen  Linien 
im  Sonnenspektrum,  welche  Fraunhofersche  Linien  nach  ihrem  fleissigen 
Beobachter  Fraunhofer  genannt  werden,  sind  Folge  der  Absorption  durch 
andere   in  der  Sonnen-  oder  Erdatmosphäre  befindliche  Gase.    Die  für 
die  Erdatmosphäre  charakteristischen  Linien  sind  in  der  nachstehenden 
Tafel  wiedergegeben.     Sie   rühren  von  der  Absorptionswirkung   des  in 
der  Luft  befindlichen  Sauerstoffes  und  Wasserdampfes  her.    Die  anderen 
Frauenhoferschen  Linien  entsprechen  Stoffen,  deren  Anwesenheit  in  den 
äusseren    Schichten    der    Sonne    zur    Erklärung    der    Linien    voraus- 
gesetzt   werden    muss   (Kirchhoff).    Auf  diese    Weise    hat    man    die 
Anwesenheit  von  Calcium,  Natrium,  Eisen,  Titan  und  mehreren  anderen 
Körpern  in  der  Sonnenatmosphäre  nachgewiesen,  worauf  wir  später  zurück- 
kommen werden. 

Sternspektra.    In  derselben  Weise  kann  man  das  Spektrum  .der 


24  Physik  des  Himmels. 

Sterne  nntersiichen.  Da  aber  jeder  Stern  punktförmig  aussieht,  wird 
das  Spektrum  des  Sternes  nicht  bandförmig,  wie  dasjenige  eines  Licht- 
spaltes, sondern  linienförmig  aussehen.  Da  in  diesem  unendlich  schmalen 
Band  die  Absorptionsstellen  schwer  zu  entdecken  sind,  so  verwandelt  man 
das  Spektrum  in  ein  Band  mit  endlicher  aber  geringer  Breite  dadurch, 
dass  man  eine  Cylinderlinse  in  den  Weg  des  Lichtstrahles  einschiebt, 
so  dass  die  Achse  der  Cylinderlinse  parallel  dem  ursprünglichen  Linien- 
spektrum liegt.  Oder,  bei  der  Aufnahme  von  Photogrammen,  verschiebt 
man  die  photographische  Platte  langsam  in  einer  Kichtung  senkrecht 
zur  Eichtung  des  linienförmigen  Spektrums,  wodurch  man  ein  Spektral- 
photogramm erhält,  das  demjenigen  eines  durch  einen  Spalt  gegangenen 
Lichtbündels  ähnelt. 

Auf  diese  Weise  haben  viele  Beobachter,  worunter  als  der  erste 
Fraunhofer  und  in  neuerer  Zeit  Secchi,  Huggins,  Vogel,  Duner, 
Bjelopolsky  und  mehrere  amerikanische  Astronomen,  vor  allen  Picke- 
ring, zu  nennen  sind,  eine  grosse  Anzahl  von  Spektren  der  helleren 
Sterne  untersucht.  Es  hat  sich  herausgestellt,  dass  die  Sternspektren 
sehr  verschieden  sind,  man  kann  dieselben  aber  unter  verschiedenen 
Haupttypen  klassificieren.  Die  von  Vogel  aufgestellten  Haupttypen 
sind  drei, 

1.  Weisse  Sterne.  Der  blaue  und  violette  Teil  des  Spektrums 
tritt  sehr  kräftig  hervor.  Die  Metalllinien  sind  schwach  ausgeprägt  und 
gehören  den  Elementen  Eisen,  Natrium  und  Magnesium  an  (z.  B.  in  Sirius 
und  Wega)  oder  sie  fehlen  gänzlich  (z.  B.  in  Regulus  =  a  Leonis).  Da- 
gegen sind  die  Wasserstofflinien  sehr  stark  vertreten  und  verbreitert 
(Sirius,  Wega),  bisweilen  sogar  umgekehrt,  d.  h.  teilweise  hell,  was  auf 
eine  sehr  dichte  Wasserstoffatmosphäre  hindeutet  (z.  B.  ß  Lj^rae).  In  diesen 
letzterwähnten  Fällen  tritt  auch  die  Heliumlinie  D3  umgekehrt  auf.  In 
einigen  Fällen  (/9,  7,  6  und  e  Orionis,  Algol  u.  a.)  fehlen  die  Wasser- 
stofflinien und  sind  durch  Heliumlinien  ersetzt,  w^orunter  eine  Linie  früher 
unbekannten  Ursprunges  (die  sog.  Orionlinie,  Wellenlänge  447,14  (i^.) 
besonders  kräftig  hervortritt. 

Alle  Umstände  deuten  auf  eine  sehr  hohe  Temperatur  der  Sterne 
dieser  Klasse.  Sie  scheinen  von  sehr  dichten  Atmosphären  von  Wasser- 
stoff und  Helium  oder  einem  dieser  Gase  umgeben  zu  sein.  Die 
„Heliumsterne"  (mit  der  Orionlinie)  sind  wahrscheinlich  heisser  als  die 
Wasserstoffsterne,  wo  das  Wasserstoffspektrum  überwiegt. 

Bisweilen  können  auch  in  den  Spektren  vom  ersten  Typus  diffuse 
Bänder  vorkommen,  wie  das  Spektrum  von  Atair  {a  Aquilae)  beweist.     Es 


Spectral- Tafel. 


S.  24-^  25. 


I^ordlicht 


Nebelflecken 
im  Drachen 


Protiiberanz  en. 


T  CoTOTiae. 


Sirius 
I.  Typus 


a  Orioiüs 
m.  Typus 


Atmospliärische 
Linien. 


Sonne 
n.  Typus 


Aethylen 


Winneckes 
Komet  H  1868. 


Verlag   von  S.Hirzel, Leipzig. 


üth  AnstJulius  Klinkhardt  Leipzig 


1.  Die  Fixsterne.  25 

g-olang-  Scheiner  durch  unscharfe  Einstellung  der  Linien  im  Sonnen- 
spektrum Bilder  zu  erhalten,  welche  den  Bändern  im  Atair- Spektrum 
sehr  ähnlich  sind.  Sc  he  in  er  nimmt  deshalb  an,  dass  die  eigentümlichen 
Bänder  von  der  Eotation  des  Atair  herrühren,  wodurch  die  Linien  ver- 
schoben werden  je  nach  der  (in  Bezug  auf  den  Beobachter)  relativen 
Geschwindigkeit  der  leuchtenden  Punkte  (vergl.  weiter  unten).  Nach 
dieser  Annahme  kann  man  berechnen,  dass  ein  Punkt  am  Äquator  des 
Atair  eine  Geschwindigkeit  von  27  km.  pr.  Sek.  besitzen  sollte,  etwa 
dreizehn  mal  derjenigen  des  Sonnenäquators  und  zweimal  derjenigen  des 
Jupiteräquators. 

2.  Gelbe  Sterne.  Die  Metalllinien  treten  sehr  ausgeprägt  auf, 
das  blaue  Ende  des  Spektrums  ist  durch  zahlreiche  Absorptionslinien 
geschwächt.  Zu  dieser  Klasse  gehören  die  Sonne  und  einige  ihr  sehr 
ähnliche  Sterne,  wie  Capeila,  Pollux,  Procyon,  Arcturus  {a  Bootis)  und 
Aldebaran  (a  Tauri).  Die  typischen  Spektrallinien  sind  in  der  Haupt- 
sache dieselben  wie  diejenigen  der  Sonne  und  man  hat  auf  diese  Weise  in 
ihrer  Atmosphäre  Wasserstoff,  Natrium,  Eisen,  Calcium,  Baryum,  Magne- 
sium, Chrom,  Mangan,  Wismuth,  Antimon,  Quecksilber  und  Tellur 
nachgewiesen. 

In  vielen  Fällen  treten  in  dem  rötlichen  Ende  des  Spektrums  schwache 
Bänder  hervor.  Dabei  ist  das  Spektrum  durch  sehr  viele  dicht  stehende 
Linien,  worunter  die  Wasserstofflinien  zurücktreten,  charakterisiert.  Von 
dieser  Art  ist  das  Spektrum  des  Arcturs  und  des  Aldebarans,  weshalb 
die  betreffenden  Sterne  als  Sterne  vom  Arcturtypus  bezeichnet  werden. 
Die  mehr  der  Sonne  ähnlichen  Sterne,  bei  welchen  die  Wasserstofflinien 
im  Spektrum  stark  hervortreten,  werden  nach  einem  der  charakteristischen 
Sterne,  Capella,  als  Sterne  von  Capeilatypus  bezeichnet.  Diese  sind  offen- 
bar heisser  wie  die  Sterne  vom  Arcturtypus.  In  einigen  wenigen  Fällen 
(z.  B.  T  Coronae)  sind  die  Linien  teilweise  umgekehrt.  Wahrscheinlich  sind 
die  von  Wolf  und  Ray  et  beobachteten  Sterne  mit  dichter  Gasatmosphäre 
zu  dieser  Gruppe  zu  zählen.  Die  Wasserstoffatmosphäre  dieser  Sterne 
ist  bisweilen  so  ausgedehnt,  dass  sie  bei  weit  geöffnetem  Spektroskop- 
spalt als  Scheibchen  erscheinen.  Wenn  man  das  Fernrohr  durch  ge- 
linden Druck  etwas  zur  Seite  schiebt,  so  dass  der  Stern  nicht  sichtbar 
ist,  so  enthält  man  doch  ein  Spektrum  der  //-Linien.  Man  hat  berechnet, 
dass  diese  Wasserstoffatmosphäre,  wenn  sie  die  Sonne  umgäbe,  die 
Neptunbahn  ausfüllen  könnte.  Ein  solches  gleichzeitiges  Auftreten  von 
dunklen  und  hellen  Linien  zeigen  die  Spektra  der  sog.  „neuen"  Sterne, 
wie  die  beigefügte  Abbildung  (Fig.  7)  des  Spektrums  von  „Nova  Aurigae", 


26 


Physik  des  Himmels. 


dem  (1892)  neuen  Stern  im  Fuhrmann  zeigt.  Die  plötzliche  Lichtent- 
wickelung dieser  neuen  Sterne  dürfte  demnach  von  mächtigen  Gasaus- 
brüchen herrühren,  welche  in  irgend  einer  Weise  bei  einem  schon  ziem- 
lich stark  abgekühlten  und  deshalb  wenig  sichtbaren  Stern  auftreten  und 
dadimjh  dem  Stern  plötzlich  grosse  Helligkeit  verleihen. 


cm  DtNa) 


hAUij)  :Vob  F(H) 


(H) 


Fig.  7. 


Die  Sterne  der  zweiten  Klasse  sind  offenbar  nicht  unbedeutend  kälter 
wie  diejenigen  erster  Klasse.    Noch  mehr  abgekühlt  sind 

3)  Die  rötlichen  Sterne.  Ausser  den  Metalllinien  kommen  in  den 
Spektren  dieser  Sternklasse  starke  Bänder  im  ganzen  Spektrum  vor.  Bei 
den  meisten  dieser  Sterne  (z.  B.  a  Orionis,  a  Herculis,  o  Ceti,  ß  Pegasi, 
Antares  etc.)  sind  die  Bänder  gegen  Violett  hin  scharf  abgegrenzt,  gegen 
Rot  aber  verschwommen.  Zu  dieser  Gruppe  gehört  die  überwiegende 
Anzahl  der  veränderlichen  Sterne.  Die  Bänder  deuten  an,  dass 
die  Hitze  in  ihrer  Atmosphäre  so  weit  gesunken  ist,  dass  chemische  Ver- 
bindungen darin  existieren  können.  Einige  der  Metalllinien  sind  sehr 
breit  und  verschwommen,  wie  z.  B.  die  Natriumlinie.  Der  Wasserstoff 
tritt  sehr  stark  zurück  und  ist  nur  unsicher  im  Spektrum  wiederzu- 
erkennen. Wahrscheinlicherweise  giebt  der  Wasserstoff  in  diesem  Fall 
schwache  helle  (umgekehrte)  Linien,  welche  sich  nicht  merklich  gegen 
den  hellen  Hintergrund  abheben.  Wie  wir  unten  sehen  werden,  haben 
die  Spektra  der  Sonnenflecken  in  vielen  Hinsichten  eine  gewisse  Ähnlich- 
keit mit  diesen  Sternspektren.  Die  Metalllinien  gehören  vorwiegend  dem 
Natrium,  Calcium,  Eisen  und  Magnesium,  sowie  geringeren  Mengen  von 
anderen  Metallen  an.  Eine  andere  Unterabteilung  der  dritten  Gruppe 
hat  so  stark  ausgeprägte  Absorptionsbänder,  dass  die  helleren  Partieen 
wie  helle  Bänder  aussehen,  welche  bisweilen  von  hellen  Linien  durch- 
zogen sind.  Bei  diesen  durchwegs  sehr  lichtschwachen  Sternen,  die  hellsten 
sind  sechster  Grösse,  sind  die  Bänder  nach  dem  violetten  Ende  des  Spek- 
trums hin  verwaschen.  Man  hat  geglaubt,  in  den  Spektren  dieser  Stern- 
gruppe Kohlenwasserstofflinien  identifiziert  zu  haben. 


1.  Die  Fixsterne.  27 

Offenbar  sind  die  Sterne  dieser  Gruppe  noch  kälter,  wie  alle  die 
vorhin  genannten,  wodurch  ihre  geringe  Helligkeit  und  ihre  rote  Farbe 
verursacht  sind. 

Zur  ersten  Gruppe  gehört  etwa  die  Hälfte,  zur  zweiten  ein  Drittel 
aller  untersuchten  Sterne.  Der  dritten  Gruppe  gehören  nur  etwa 
hundert  der  helleren  Sterne  an. 

Bei  Durchmusterung  der  Spektra  der  verschiedenen  Sterne  kann  man 
sich  nicht  des  Gedankens  erwehren,  dass  die  verschiedenen  Stern- 
'^Tuppen  verschiedenen  Entwicklungsstadien  entsprechen.  Die  jüngsten  und 
wärmsten  aller  Sterne  wären  (nach  der  allgemeinen  Ansicht,  vgl.  weiter  unten 
Kap.Kosmogonie)  diejenigen  der  ersten  Gruppe.  Das  kontinuierliche  Licht, 
welches  von  dem  eigentlichen  Sternkörper  ausstrahlt,  rührt  hauptsächlich 
von  Kondensationen,  wolkenartigen  Bildungen  in  der  Atmosphäre  der 
Sterne,  zum  geringeren  Teil  von  den  stark  verdichteten  Metalldämpfen 
im  Inneren  des  Sterns  her.  In  den  höheren  Schichten  dieser  Atmosphäre 
befinden  sich  die  leichten  Gase,  Wasserstoff  oder  Helium  oder  alle  beide, 
weiter  unten  Metalldämpfe.  Bei  den  Sternen  erster  Klasse  ist  die  At- 
mosphäre der  leichten  Gase  so  dick  und  heiss,  dass  die  für  uns  sicht- 
baren Kondensationen  beinahe  alle  in  diesen  oberen  Schichten  vor  sich 
gehen.  Wir  sehen  deshalb  keine  oder  nur  schwache  Metalllinien,  dagegen 
sehr  starke  Wasserstoff-  oder  Heliumlinien.  Bisweilen  ist  die  Menge 
und  Temperatur  der  leichten  Gase  genügend,  um  helle  Umkehrungen 
dieser  Linien  zu  verursachen.  Bei  dem  zweiten  Spektraltypus  ist  die  Ab- 
kühlung weiter  fortgeschritten,  so  dass  Kondensationen  nicht  nur  in  den 
höchsten  Schichten  der  Atmosphäre,  sondern  auch  innerhalb  der  Metall- 
atmosphäre vorkommen.  Man  sieht  dann  die  dunklen  Metalllinien  scharf 
hervortreten.  Das  Zurücktreten  des  violetten  Endes  des  Spektrums  und 
einige  schwache  Bänder  im  roten  Teil  deuten  auf  niedrigere  Temperatur 
hin.  Bei  den  rötlichen  Sternen  treten  tiefe  Temperatur  andeutende  Er- 
scheinungen noch  mehr  hervor.  Die  bei  denselben  gewöhnlich  vorkom- 
mende Veränderlichkeit  lässt  auf  das  Vorkommen  von  kälteren  und 
wärmeren  Perioden  schliessen,  wie  solche  in  geringerem  Maassstab  bei 
unserer  Sonne  durch  die  Fleckenperiode  sich  kundgeben.  Zuletzt 
wird  die  Leuchtkraft  der  Sterne  sehr  schwach  und  das  Licht  ausgeprägt 
rot,  der  relativ  niedrigen  Temperatur  entsprechend.  Nach  diesem  Stadium 
kommt  dasjenige,  worin  die  dunklen  ultraroten  Strahlen  allein  herrschen, 
der  Stern  ist  in  einen  nichtleuchtenden  Himmelskörper  übergegangen 
(vgl.  weiter  unten  Kap.  Kosmogonie). 

Im  Grossen  und  Ganzen  zeigen  die  Sterne  dieselbe  chemische  Zu- 


28  Physik  des  Himmels. 

sammensetzung  wie  die  Sonne.  Die  hervorragende  KoUe  des  Wasser- 
stoffs und  Heliums,  sowie  des  Eisens,  Natriums,  Calciums  und  Magnesiums, 
macht  sich  überall  bemerkbar.  Es  ist  dann  kein  Zweifel,  dass  unsere 
Sonne  mit  den  Fixsternen  sehr  nahe  verwandt  ist,  und  zwar  ist  sie  als 
ein  Fixstern  der  ersten  Abteilung  in  der  zweiten  Klasse  anzusehen. 

Das  Prinzip  von  Doppler.  Nehmen  wir  an,  eine  Person  bei  5  (Fig.  8) 
beobachtet  eine  schwingende  Stimmgabel  in  A,  welche  ot  Schwingungen 

pro  Sekunde  macht.     Die  Entfernung  AB 

A  C  B 

I i 1        möge    gleich   der    Schallgeschwindigkeit    v 


Fig.  8.  (330  m.  pro  Sekunde   bei  0^)  sein.    Steht 

nun  die  Stimmgabel  in  ^,  so  hört  die 
Person  in  B  gerade  n  Schwingungen  pro  Sekunde.  Bewegt  sich  aber 
die  Gabel  mit  einer  bestimmten  Geschwindigkeit  c  {=  A  C)  von  A 
gegen  B,  so  werden  die  Verhältnisse  etwas  verändert,  indem  die 
Person  mehr  als  n  Schwingungen  pro  Sekunde  hört.  Um  dies  zu 
berechnen,  bemerken  wir  uns,  dass  die  Gabel  nach  der  Zeit  vje  Sek. 
in  B  anlangt.  Bezeichnen  wir  den  Zeitpunkt,  in  welchem  die  Stimm- 
gabel A  passiert,  mit  0,  so  ist  die  Zeit  1  Sek.,  als  die  Schwingung, 
welche  die  Gabel  in  A  produziert,  nach  B  anlangt.  Weiter  gelangt  die 
Gabel  selbst  zur  Zeit  vjc  Sek.  nach  J5  an,  und  die  dann  ausgeführte  Schwingung 
wird  gleichzeitig  von  der  Person  in  5  vernommen.  Die  Schwingungen,  welche 
während  der  Zeit  vjc  Sek.  entstehen,  also  nv:c  Schwingungen,  werden 
also  von  dem  Beobachter  in  B  während  der  Zeit  zwischen  1  Sek.  und 
vjc  Sek.  vernommen.  D.  h.  in  der  Zeit  vjc — 1  Sek.  werden  n  vjc  Schwing- 
ungen in  B  vernommen,  während  einer  Sekunde  also: 

n  vi      V 

^  C      V         ^  V — c 

1 

c 

Die  Schwingungszahl  n  der  Gabel  steigt  durch  ihre  Bewegung  schein- 
bar zu  n^  d.  h.  im  Verhältnis  v  :  {v—c),  oder  die  Wellenlänge  der  ausge- 
sandten Schallwellen  nimmt  im  Verhältnis  {v—c)  :v  oder  M j:lab. 

Bewegte  sich  die  Gabel  in  der  Richtung  von  B  gegen  A  mit  der  Ge- 
schwindigkeit c,  so  würde,  wie  leicht  einzusehen,  die  Wellenlänge  im  Ver- 
hältnis   fl  H — ):  1  zunehmen.    Dies   stimmt   auch  mit  der  Erfahrung 

über  die  Änderung  in  Tonhöhe  beim  schnellen  Vorbeibewegen  einer  Ton- 
quelle (angeblasenen  Trompete)  an  einem  Beobachter. 


I.  Die  Fixsterne. 


29 


Bewegung"  der  Sterne  in  der  Sichtlinie.  Dasselbe  Verhalten 
müssen  die  Lichtwellen  zeigen,  wenn  wir  in  den  vorhin  abgeleiteten  Aus- 
drücken V  die  Lichtgeschwindigkeit  (300000  km.  pro  Sek.)  und  c  die  Ge- 
schwindigkeit der  Lichtquelle  in  der  Kichtung  der  Sichtlinie  bedeuten 
lassen.  Fizeau  war  der  erste,  welcher  die  grosse  Brauchbarkeit  des 
D oppler sehen  Prinzipes  zur  Berechnung  der  Bewegungen  von  leuchtenden 
Körpern  hervorhob  (1848). 

Wenn  also  ein  Fixstern  sich  auf  uns  in  der  Kichtung  der  Sicht- 
linie mit  einer  Geschwindigkeit  von  1  km  pro  Sek.  zu  bewegt  und  eine 
Strahlenart  aussendet,  deren  Wellenlänge  600  fift  (fifi  =  10-^  Millimeter), 
so  wird  die  Wellenlänge  um  600  :  300000  ////,  d.  h.  1/500  fifi  scheinbar 
abnehmen,  eine  Grösse,  die  bei  äusserst  genauer  Beobachtung  gerade 
gemessen  werden  kann. 

Da  nun  die  Verschiebung  der  Spektrallinien  im  allgemeinen  sehr 
gering  ist  —  sie  erreicht  höchstens  den  Wert  von  0,1  fifi  —  so  kann 
man  diese  Linien  doch  ohne  Schwierigkeit  identifizieren,  und  aus  der 
Abweichung  von  der  in  gewöhnlicher  Weise  gemessenen  Wellenlänge 
die  Geschwindigkeit  des  strahlenden  Körpers  ausmessen.  Man  hat  auf 
diese  Weise  für  die  Geschwindigkeit  in  der  Sichtlinienrichtung  folgende 
Werte  gefunden,  wobei  ein  +  andeutet,  dass  der  Stern  sich  von  der 
Sonne  entfernt,  ein  —  dass  er  sich  der  Sonne  nähert. 


a  Can.  maj.  (Sirius) 
a  Tauri  (Aldebaran) 
61  Cygni 
Orionnebel 
a  Aurigae  (Capeila) 
a  Leonis  (Eegulus) 
ß  Orionis  (Rigel) 
a  Orionis  (Beteigeuze) 


km/Sek.  km/Sek. 

+  75  a  Oygni  (Deneb)  —   6 

+  49  a  Bootis  (Arcturus)  —   8 

+  43  a  Can.  min.  (Procyon)  — 11 

+  27  a  Cassiopejae  — 15 

+  25  a  Aquilae  (Atair)  —  34 

+  24  g  Herculis  ■—  70 

+  24  a  Lyrae  (Wega)  —  81 

+  14  fj  Cephei  —87 


Wenn  man  diese  Ziffern  mit  den  oben  für  die  Bewegung  senkrecht 
zur  Sichtlinie  gegebenen  vergleicht,  so  findet  man,  dass  dieselben  von 
der  gleichen  Grössenordnung  sind.  Wenn  man  mit  a  und  b  die  Ge- 
schwindigkeiten senkrecht  zur  und  in  der  Sichtlinie  bezeichnet,  so  wird 
die  totale  Geschwindigkeit: 


30  Physik  des  Himmels. 

Sie  ist  für  die  vier  Sterne: 

Wega  Sirius  öl  Cygni 

y23  2  +  sr^  =  84      y"23  2  +  75  2  =  78      /ÖPTl^P  =  74  km/Sek. 

Capella 
■/Sö^-j-  25"2  =  43  km./Sek. 

Die  letztgenannte  von  diesen  Geschwindigkeiten  dürfte  etwas  grösser 
(um  15  Prozent)  als  die  mittlere  der  bei  den  Fixsternen  beobachteten 
sein.  Die  drei  ersten  gehören  zu  den  grössten  unter  allen  beobachteten 
(vgl.  S.  19).  Da  Wega  sich  gegen  die  Erde  mit  einer  Geschwindigkeit 
von  84  km  pro  Sek.  hinbewegt,  so  kann  man  sich  fragen,  wie  lange  Zeit 
sie  wohl  brauchen  wird,  um  die  20  Lichtjahre  zurückzulegen,  die  uns 
von  diesem  Stern  trennen.  Man  findet  leicht,  dass  diese  Zeit  20  •  300000 :  84 
=  71000  Jahre  beträgt.  Diese  Zeit  könnte  wohl  lang  erscheinen;  misst 
man  aber  mit  geologischem  Zeitmaass,  so  ist  das  Kesultat  nicht  auffallend, 
indem  die  Periode,  welche  nach  der  Eiszeit  verflossen  ist,  dieselbe 
Grössenordnung  besitzt. 

Einfluss  des  Druckes  auf  die  Lage  der  Spektrallinien.  In 
jüngster  Zeit  haben  Humphreys  und  Mohler  eine  Beobachtung  gemacht, 
welche  wohl  verdient,  bei  ähnlichen  Berechnungen  beachtet  zu  werden. 
Diese  beiden  Forscher  fanden  nämlich,  dass  das  Emissionsspektrum  eines 
glühenden  Gases  von  dem  Druck  des  Gases  abhängt.  Dabei  hat  man 
nicht  mit  dem  Partialdruck,  sondern  mit  dem  Totaldruck  zu  rechnen, 
welcher  durch  Einpressen  von  Luft  in  einem  Behälter,  worin  ein  Licht- 
bogen mit  dem  zu  untersuchenden  Stoff  brannte,  verändert  wurde.  Wenn 
der  Druck  erhöht  wird,  so  verschieben  sich  die  Spektrallinien  nach  der 
roten,  wenn  er  vermindert  wird,  nach  der  blauen  Seite  des  Spektrums 
hin.  Die  Verschiebung  ist  dem  Druck  proportional  und  bei  einem  ge- 
gebenen Stoff  ist  die  Änderung  der  Wellenlänge  dieser  Grösse  selbst 
proportional.  Sie  ändert  sich  von  Stoff  zu  Stoff,  indem  sie  in  einer 
Gruppe  von  Metallen  sich  ziemlich  proportional  der  dritten  Wurzel  aus 
dem  Atomgewicht  zeigt.  Bei  einigen  Metallen  (die  Mg-Ca-Gruppe)  ist 
die  Verschiebung  nicht  für  alle  Linien  gleichmässig,  sondern  man  erhält 
zwei  charakteristische  Werte.  Sie  ist  für  eine  Wellenlänge  von  480  ^^ 
und  eine  Druckzunahme  von  einer  Atmosphäre: 

bei  Natrium  108.10 -5 /f^/^       bei  Calcium       54.10-^oder27.10"^^// 
„    Lithium    85         „  „    Strontium    65  „    37         „ 

„    Kalium    132         „  „    Barium        58  „    34         „ 


1. 

Die  Fixsterne. 

bei  Chrom 

26 

(ili 

bei  Magnesium  44 

„    Eisen 

25 

V 

„    Titan            22 

„    Nickel 

28 

11 

„    Aluminium  55 

„    Kobalt 

24 

11 

„    Wismuth     49 

„    Cyan 

0 

11 

„    Uran              9 

31 

oder  30        ^i 


Wenn  sich  demnach  der  Druck  um  eine  Atmosphäre  erhöht,  so  wird 
die  Natriumlinie  ihre  Wellenlänge  um  108  •  10*^ :  480  =  2,25  •  lO'^  ihres 
Betrages  ändern.  Da  nun  eine  Geschwindigkeit  von  1  km  pro  Sek.  einer 
Änderung  von  3,3  10-^  entspricht,  so  ersieht  man  daraus,  dass  eine  Zu- 
nahme des  Druckes  von  einer  Atmosphäre,  d.  h.  ein  Druck  von  zwei 
Atmosphären  nach  den  älteren  Ansichten  als  eine  Geschwindigkeit  von 
0,67  km  gedeutet  werden  könnte,  wenn  man  aus  der  Verschiebung  der 
Natriumlinie  nach  dem  Doppler  sehen  Prinzip  die  Geschwindigkeit  be- 
rechnete. Da  nun  bei  Natrium  die  Verschiebung  ungewöhnlich  gross  ist, 
z.  B.  5  mal  so  gross  wie  beim  Eisen  und  wahrscheinlicherweise  —  nach 
dem  Kubikwurzelgesetz  —  3  mal  so  gross  wie  für  Wasserstoff,  so  ist  es 
ersichtlich,  dass  erst  ziemlich  grosse  Drucke  einen  merklichen  Fehler  in 
den  früher  ermittelten  Geschwindigkeiten  verursachen  können. 

In  dieser  Beziehung  ist  es  interessant,  dass  Je  well  aus  der  Ver- 
schiebung der  dunklen  Sonnenlinien  den  (mittleren)  Druck  berechnet  hat, 
welcher  in  der  sog.  umkehrenden  Schicht,  wo  die  hauptsächliche  Absorj)- 
tion  vor  sieh  geht,  herrscht.     Er  fand  so  folgende  Zahlen: 


Ato 

m-Gew. 

Atom-Gew. 

Aluminium  2  Atm. 

27 

Mangan  5  Atm. 

55 

Silicium       4     ,, 

28 

Eisen      6     „ 

56 

Calcium  (a)  6     „ 

40 

Nickel     7     „ 

59 

„        (b)  3     „ 

40 

Kupfer    7     „ 

63 

Chrom          5     ., 

52 

Kobalt    4     ,, 

59 

Der  Druck  in  der  umkehrenden  Schicht  scheint  etwa  5  Atmosphären 
zu  sein  und  dürfte  auf  anderen  Himmelskörpern  von  derselben  Grössen- 
ordnung  sein.  Für  Körper  mit  niedrigem  Atomgewicht  fällt  dieser  Druck 
relativ  gering  aus,  was  darauf  hindeutet,  dass  dieselben  hauptsächlich 
in  den  äusseren  Schichten  konzentriert  sind,  worauf  viele  andere  Um- 
stände schliessen  lassen  (vgl.  weiter  unten  Kap.  Die  Sonne).  Wenn  man 
die  Verschiebung  der  Wasserstoff-  oder  Eisenlinien  misst,  so  beträgt  sie  in 
diesem  Fall  nicht  mehr  als  was  einer  Bewegung  von  1  km  pro  Sek.  in  der 
Sichtlinie  entsprechen  würde.  Eine  solche  Genauigkeit  ist  (für  die  Sterne) 
nur  in  den  seltensten  Fällen  erreicht.   Man  kann  demnach  wohl  behaupten 


32  Physik  des  Himmels. 

dass  die  aus  der  Verschiebung'  der  Spektrallinien  gezogenen  Schlüsse  in 
Bezug  auf  die  Bewegung  der  Sterne  nicht  in  bedeutendem  Grade  durch 
die  Entdeckung  von  Humphreys  und  Mo  hl  er  geändert  werden. 

Dies  gilt  ganz  besonders  für  solche  Fälle,  in  welchen  die  Änderung 
der  Verschiebung  mit  der  Zeit  beobachtet  wird,  woraus  man  geschlossen 
hat,  dass  einige  Sterne  sich  um  einen  Punkt  herum  bewegen  (vgl.  unten 
über  Doppelsterne). 

Die  Beobachtung  von  Humphreys  lässt  uns  hoffen,  dass  es  mit  ver- 
feinerten Messapparaten  möglich  sein  wird,  sowohl  den  Druck  in  den 
Licht  emittierenden  oder  absorbierenden  Teilen  der  Sternenatmosphäre, 
als  auch  die  Bewegung  der  Sterne  in  der  Sichtlinie  zu  messen.  Dabei 
wird  der  Umstand  von  Bedeutung  sein,  dass  Linien,  welche  verschiedenen 
chemischen  Elementen  angehören,  zufolge  der  Bewegung  sich  alle  gleich 
stark  verschieben,  zufolge  des  Druckes  aber  sehr  verschiedene  Verände- 
rungen erleiden. 

Eigenbewegung  des  Sonnensystems.  Es  fiel  dem  berühmten 
Astronomen  W.  Herschel  bei  Durchmusterung  der  Eigenbewegungen  der 
Sterne  auf,  dass  im  allgemeinen  die  Sterne  eines  Teils  des  Himmels  sich 
von  einander  entfernen,  andere  dagegen  sich  einander  nähern.  Dies 
könnte  einer  perspektivischen  Wirkung  der  Eigenbewegung  des  Sonnen- 
systems zugeschrieben  werden.  Er  suchte  in  dieser  Weise  den  Konver- 
genzpunkt der  säkularen  Eigenbewegungen  und  erhielt  einen  Punkt  im 
Sternbild  Herkules,  gegen  welchen  sich  nach  dieser  Anschauung  das 
Sonnensystem  hinbewegt.    Struve  fand  für  diesen  Punkt 

J.i^=261,50,  Z)  =  +  37,60. 

Wenn  man  die  Lage  der  hellsten  Sterne,  welche  oben  in  Bezug  auf 
ihre  Geschwindigkeit  in  der  Sichtlinie  angeführt  sind,  auf  einer  Stern- 
karte nachsieht,  so  findet  man,  dass  diejenigen,  welche  sich  uns  nähern, 
auf  einem  Teil,  diejenigen,  welche  sich  von  uns  entfernen,  auf  einem 
andern  Teil  des  Himmelsgewölbes  liegen.  So  z.  B.  liegen  die  beiden  hellen 
Sterne,  welche  die  grössten  Geschwindigkeiten  besitzen,  Wega  und  Sirius, 
beinahe  auf  diametral  entgegengesetzten  Stellen  des  Himmels  und  die 
Sterne,  welche  sich  gegen  uns  hinbewegen,  liegen  alle  in  derselben  Ge- 
gend wie  Wega  (mit  Ausnahme  von  Procyon),  diejenigen,  von  welchen 
wir  uns  entfernen,  in  der  Umgebung  von  Sirius. 

Es  erschien  deshalb  natürlich,  den  Himmel  in  zwei  Hälften  einzu- 
teilen, so  dass  die  mittlere  Eigenbewegung,  in  der  Kichtung  der  Sicht- 
linie für  die  eine  Hälfte  so  ^ross  wie  möglich  und  positiv,  für  den  andern 
Teil  so   gross  wie   möglich  und  negativ  wurde.    Der  Mittelpunkt  der 


I.  Die  Fixsterne.  33 

letzteren  Hälfte  kann  offenbar  als  derjenige  Punkt  angesehen  werden, 
gegen  welchen  das  Sonnensystem  hinstrebt.  Vogel  fand  für  51  Sterne 
in  dieser  Weise  den  Punkt  ÄR=20Q,^  /)  =-=  +  45,9^  also  nicht  allzu  weit 
von  dem  Herschelschen  Konvergenzpunkt  entfernt. 

Neuere  Bestimmungen  geben  den  Punkt  AR  =  2ß4  bis  284^, 
O  =  4\^  bis  —  1^  wie  folgende  Daten  angeben: 

AR  D 

Porter  281,2  +  40,7 

Engelmann  267  +31 

Kobold  267  —    1,1 

Ristenpart  284  +  32 

Bakhuyzen  264  -|-  30 

Die  Geschwindigkeit  des  Sonnensystemes  in  dieser  Richtung  wird  zu 
etwa  17  km  pro  Sek.  geschätzt. 

Nebel.  Man  trifft  häufig  auf  dem  Himmelsgewölbe  mehr  oder 
weniger  ausgedehnte  Gebilde,  welche  offenbar  aus  sehr  fein  verteilter 
Materie  aufgebaut  sind  und  deshalb  den  Namen  Nebel  erhalten  haben. 
Sie  zeigen  keine  Eigenbewegung  (senkrecht  zur  Sichtlinie)  noch  Parallaxe, 
welche  übrigens  schwer  zu  messen  ist.  Man  hat  daher  allen  Anlass 
anzunehmen,  dass  sie  sehr  weit  von  uns  entfernt  sind.  Ihr  Spektrum  ist 
entweder  kontinuierlich,  ähnlich  dem  Sternspektrum,  in  diesem  Fall  nimmt 
man  an,  dass  sie  aus  Ansammlungen  von  grossen  Mengen  Sternen,  sog. 
Sternhaufen,  bestehen.  Oder  es  zeigt  das  Spektrum,  wie  ein  Gas,  einige 
helle  Linien  (vgl.  Taf.  H,  2).  Die  am  meisten  charakteristischen  von  diesen 
haben  die  Wellenlängen  575,  500,7,  495,9,  486,1  und  435  fifi.  Die  erste  und 
die  letzte  Linie  sind  sehr  schwach  und  finden  sich  nur  in  einigen  wenigen 
Nebelspektren  mit  genügender  Schärfe  wieder.  Die  Linien  486,1  und 
435  gehören  dem  Wasserstoff.  Die  Linie  500,7  wird  als  von  Stickstoff 
herrührend  angegeben  (was  immerhin  näher  untersucht  zu  werden  ver- 
dient). Die  Linie  495,9,  die  in  allen  Gasnebeln  wiederzufinden  ist,  kann 
mit  keinem  bisher  bekannten  Körper  identifiziert  werden,  sie  wird  par  pre- 
ference  die  Nebulosa-Linie  genannt.  Mit  Hilfe  des  Spektrums  von  einigen 
Nebeln  hat  man  auch  Helium  (besonders  die  Orionlinie  kommt  häufig  vor), 
und  vielleicht  Eisen  und  Magnesium  in  diesen  Himmelskörpern  nachgewiesen. 

Peinige  Nebel  werden  „planetarisch"  genannt,  weil  sie  in  dem  Fern- 
rohr als  kleine  Scheibchen,  d.  h.  wie  Planeten,  aussehen. 

Wie  gross  die  Ausdehnung  der  Nebel  erscheint,  hängt  von  den  mehr 
oder  weniger   günstigen   äusseren  Umständen   bei   der  Beobachtung  ab. 

Arihenius,  Kosmische  Physik.  *  3 


34  Physik  des  Himmels. 

Die  Zeichnungen,  welche  verschiedene  Beobachter  von  demselben  Nebel 
gegeben  haben,  zeigen  deshalb  gewaltige  Unterschiede.  Man  findet  häufig 
bei  sehr  genauer  Betrachtung  dieser  Gebilde,  dass  sie  eine  eigentüm- 
liche spiralige  Struktur  besitzen.  In  dieser  Beziehung  ist  der  Nebel  in 
den  Jagdhunden  {A  i^.  =  13^  25"^  6  Z)=  +  47,7^,  vgl.  Fig.  9)  hervorzu- 
heben. Man  sieht  hier  in  der  Mitte  eine  mehr  kondensierte  Partie,  von 
welcher  eine  fast  regelmässige  Spirale  ausgeht.    In  einigen  Stellen  dieser 


Fig.  9.     Spiralnebel  in  den  Jagdhunden 
(nach  Isaac  Roberts). 

Spirale  finden  sich  kleinere  Kimdensationscentren  vor,  wo  die  Nebelmaterie 
sich  zu  leuchtendere  Körper  gesammelt  zu  hal)en  scheint.  Wenn  man 
einen  solchen  scheibenförmigen  Spiralnebel  von  der  Seite  sieht,  so  wird 
er  spindelförmig  erscheinen.  Von  dieser  Form  ist  der  grosse  Nebel  in 
Andromeda  (Fig.  10).  In  einigen  Aufnahmen  von  diesem  Nebel  sieht  man 
noch  Andeutungen  von  den  Spiralbogcn  in  den  helleren  gebogenen  Par- 
tien am  Ilande.  Bei  anderen  linsenförmigen  Nebeln  ist  dies  nicht  der 
Fall.  Diese  regelmässig  gebildete  Nebel  haben  im  allgemeinen  kontinuier- 
liche Spektra.  Sie  scheinen  selbständige  Fixsternsysteme  auszumachen, 
die  in  ungeheurer  Entfernung  von  uns  liegen.    Wegen  der  grossen  Licht- j 


I.  Die  Fixsterne. 


35 


.schwäche  dieser  Objekte  gelang  es  erst  1899  Prof.  Scheiner  in  Pots- 
dam ein  Spektrum  von  einem  dieser  Nebel,  nämlich  demjenigen  in  An- 
dromeda,  ÄR=0\  37^  2  £)  =  + 40M3',  nach  71/2  stündiger  Exposition 
zu  erhalten,  welches  deutliche  Details  enthält.  Darin  kommen  dunkle 
Linien  vor,  welche  den  Spektren  von  Sternen  des  2.  Typus  charakteristisch 


Fig.  10.     Spindelförmiger  Nebel  in  Andromeda  (nach  Bond). 

sind,  also  auch  unsrer  Sonne.     Die  Ähnlichkeit  mit  dem  Sonnenspektrum 

tritt   auch   in   den  Helligkeitsverhältnissen  der  verschiedenen  Teile  des 

Spektrums  hervor. 

Die  spiralförmigen  Nebel,   welche   eine  sehr   grosse  Gruppe   bilden, 

sollten  demnach  als  Sternhaufen  zu  betrachten   sein.     Ganz   anders   ist 

das  Verhältnis  mit  den  wirklichen  Gasnebeln.     Dieselben  sind  entweder 

elliptisch  geformte  planetarische  Nebel  von  geringer  Ausdehnung.    Oder 

3* 


36  Physik  des  Himmels. 

sind  sie  sogenannte  Ringnebel,  wie  diejenigen  in  der  Leier  [AR  ==1S\  50"', 
7J  =  +  32,9,  vgl.  Fig.  1.1),  wo  die  Nebelmaterie  sich  in  einem  elliptischen 
Eing  von  den  Durchmessern  72,2"  und  60,4"  kondensiert  zu  haben  scheint. 
Bei  photographischer  Aufnahme  giebt  aber  die  mittlere  Partie  dieses  Nebels 
den  relativ  stärksten  Lichteindruck.    Es  scheinen  infolgedessen  die  cen- 


Fig.  11.     Ringnebel  in  der  Leier  (nach  Holden). 

traleren  Partien  aus  einer  anderen  Materie  als  die  äusseren  zai  bestehen. 
Zu  dieser  Gruppe  gehören  auch  die  unregelmässig  geformten  Nebel,  welche 
häufig  ganz  enorme  Ausdehnungen  besitzen,  und  von  welchen  der  Orion- 
nebel im  Schwertgehänge  des  Orion  (Fig.  12,ÄR=  5^  30»«  3,  D  =  —  5^  28) 
das  berühmteste  Beispiel  ist.  Dieser  Nebel  nimmt  nach  der  Schätzung 
von  Littrow  und  Weiss  4,6  Quadratgrade  ein.  Wenn  derselbe  in  der 
Entfernung  von  nur  einer  Million  Sonnenweiten  von  uns  läge  (d.  h.  etwa 


T.  Die  Fixsterne.  37 

wie  Sirius  und  Wega),  was  jedenfalls  stark  unterschätzt  ist,  so  würde  die 
Ausdehnung  etwa  fünf  Millionen  mal  so  gross    wie  diejenige  der  Sonne 


Fig.  12.    Der  grosse  Nebel  im^ Schwertgehänge  des  Orion  (nach  Sir  J.  Roberts). 

in   linearer  Eiehtung-   sein,   d.  h.   etwa   800  mal   den   Durchmesser  der 
Neptunbahn  übertreffen. 


38  Physik  des  Himmels. 

In  dem  Orionnebel  kommt  die  Orionlinie,  447,2  /^//,  vor,  welche  einige 
Sterne  im  Orion  charakterisiert.  Es  scheint  schon  dadurch  ein  geneti- 
scher Zusammenhang  zwischen  den  Sternen  und  dem  Nebel  im  Orion 
zu  bestehen.  Noch  mehr  tritt  dies  hervor,  wenn  man  das  Spektrum  der  vier 
im  Nebel  befindlichen  sog.  Trapezsterne  mit  demjenigen  des  Nebels  ver- 
gleicht. Die  beiden  Spektren  zeigen  dieselben  Linien  an  denselben  Stellen, 
nur'dass  die  Sternlinien  teilweise  dunkel,  diejenigen  des  Nebels  hell 
sind.  In  einigen  Fällen  konnte  man  sogar  beobachten,  dass  inmitten 
der  dunklen  Sternlinien  helle  Nebellinien  auftreten,  was  vielleicht  darauf 
hindeutet,  dass  die  Nebelatmosphäre  wenigstens  teilweise  zwischen  uns 
und  den  Trapezsternen  liegt.  Demnach  scheinen  diese  unregelmässigen 
und  unerhört  weit  ausgedehnten  Nebel  nicht  so  weit  von  uns  entfernt 
zu  sein,  wie  man  im  allgemeinen  von  den  Nebeln  annimmt. 

Sehr  eigentümlich  erscheint  es,  dass  die  Wasserstofflinie  Ha  (der 
C-Linie  im  Sonnenspektrum  entsprechend)  nicht  in  den  Nebelspektren 
vorkommt.  Keelerhatsienur  einmal  in  einem  Nebelspektrum  beobachtet 
(G.G. 4390).  Dies  beruht  nach  Scheiner  auf  physiologischen  umständen, 
indem  die  rote  Wasserstofflinie  viel  früher  bei  Abschwächung  des  Lichtes 
unsichtbar  wird,  als  die  anderen.  Auffallend  ist  es  ebenfalls,  dass  die 
relative  Lichtstärke  der  Nebellinien  im  Orionnebel  an  verschiedenen 
Stellen  verschieden  ist.  So  z.  B.  ist  die  Nebulosalinie  die  stärkste  auf 
der  einen,  eine  Wasserstofflinie  auf  der  anderen  Seite  dieses  Nebels. 
Dies  deutet  auf  verschiedene  Zusammensetzung  oder  ungleichmässige 
physikalische  Verhältnisse  in  den  verschiedenen  Teilen  des  Nebels  hin.  Sehr 
interessant  ist  in  dieser  Hinsicht  die  Beobachtung  von  Campbell  über 
einen  kleinen  planetarischen  Nebel  in  der  Nähe  des  Orionnebels.  Er 
beobachtete  den  Nebel  in  derselben  Weise,  wie  man  sonst  die  Protube- 
ranzen der  Sonne  aufnimmt,  d.  h.  mit  weit  geöffnetem  Spektroskop-Spalt. 
Er  fand  auf  diese  Weise,  dass  der  bekannte  Nebelstoff  ein  viel  kleineres 
Bild  ergab,  als  die  hellste  Wasserstofflinie.  Danach  scheint  es  natürlich 
anzunehmen,  dass  der  Nebelstoff  hauptsächlich  in  der  Mitte,  der  Wasser- 
stoff gleichmässig  in  allen  Teilen  des  Nebels  vorkommt.  Ähnliche  weit 
ausgedehnte  Nebel  wie  der  Orionnebel  befinden  sich  in  der  Umgebung 
der  Plejadengruppe,  im  Sternbild  des  Schwanen,  auf  der  südlichen  Hemi- 
sphäre in  den  beiden  sog.  Capwolken  u.  s.  w. 

Unter  den  Nebeln  giebt  es  einige,  die  aus  zwei  zusammengeflossenen 
Nebelballen  bestehen;  sie  werden  Doppelnebel  genannt  und  entsprechen 
gewissermaassen  den  Doppelsternen. 

Als  Herschel  mit  seinem  Eefraktor  nicht  weniger  als  2500  Nebel 


I.  Die  Fixsterne. 


39 


^entdeckte  (jetzt  sind  etwa  30  000  Nebel  katalogisiert)  und  es  ihm  gelang, 
einen  grossen  Teil  derselben  in  Einzelsterne  zu  zerlegen,  d.  h.  nach- 
zuweisen, dass  sie  aus  Sternhaufen  bestehen,  wurde  die  Ansicht  allgemein 
angenommen,  dass  die  Nebel  alle,  wenn  man  nur  genügend  starke 
optische  Hilfsmittel  zu  ihrer  Zerlegung  hätte,  sich  als  Sternhaufen  ent- 


Fig.  13.     Photographische  Aufnahme  des  Steinhaufens  im  Hercules 
(nach  Sir  J.  Roberts). 

liüllen  würden.  Diese  Ansicht  kann  jetzt  nicht  mehr  für  die  wahren 
Gasnebel  aufrecht  erhalten  werden,  wie  die  Spektroskopie  zeigt.  Die 
Sternliaufen  sind  auch  für  gewöhnlich  so  gruppiert,  dass  in  ihrer  Mitte 
oder  zur  einen  Seite  derselben  eine  starke  Konzentration  der  Sterne  statt- 
findet, wie  die  nebenstehenden  Abbildungen  (Figg.  13  und  14)  der  Sternhaufen 
im   Hercules   {AR  ^=  1Q\   38"':  D  =  36,39<^)   und   in   den   Zwillingen 


40 


Physik  des  Himmels. 


(Fig.  15  ^i?=6^  2,7^^  :D  =  24,210)  zeigen.  Im  letzten  Falle  zeigen 
die  Sternhaufen  eine  gewisse  Ähnlichkeit  mit  dem  Aussehen  eines  Kometen. 
Auch  die  Gasnebel  zeigen  eine  fortschreitende  Bewegung  in  Rich- 
tung der  Sichtlinie.  Keelerfand  in  dieser  Beziehung  Zahlen  von  der- 
selben Grössenordnung  wie  für  die  Bewegung  der  Fixsterne,  indem  die 


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Fig.  14.    Schematische  Zeichnung  des  Sternhaufens  im  Hercules  (nach  Scheiner). 


mittlere  Geschwindigkeit  etwa  20,  die  grösste  {G.  C.  4373)  —  64,7  Kilo- 
meter pro  Sekunde  betrug.  Dabei  muss  man  wegen  der  Eigenbewegung 
des  Sonnensystems,  17  km.  pro  Sek.,  korrigieren,  und  erhält  so— 50,9  km. 
pro  Sek.  als  Maximum. 

Die  Nebel  scheinen  auf  dem  Himmel  nicht  ganz  regelmässig  ver- 
teilt  zu   sein.     An   einigen  Stellen   kommen   sie   viel   häufiger   als   an 


I.  Die  Fixsterne. 


41 


anderen  vor.  Wenn  man  die  Stellen  ihrer  grössten  Häufigkeit  unter 
einander  verbindet,  so  erhält  man  einen  Gürtel  auf  dem  Himmel,  der 
etwa  senkrecht  zur  Milchstrasse  vom  Centauren  durch  die  Jungfrau  und 
das  Haar  Berenices  über  den  grossen  Bären  und  Cassiopeja  zur  Andro- 
ineda  verläuft.  Neuere  Untersuchungen  mit  Hilfe  von  lichtstarken  In- 
strumenten scheinen  anzudeuten,  dass  die  Nebel  ausserordentlich  häufig 
am  ganzen  Himmelsgewölbe  vorkommen. 

Die  Milchstrasse.  (Die  Lage  der  Milchstrasse  ist  durch  [Punktie- 
rimg in  Taf.  I  und  Figg.  2  und  3  angegeben.)  Seit  den  ältesten  Zeiten  ist  es 
wohlbekannt,  dass  auf  dem  Himmelsgewölbe  ein  nebelartiger  Lichtstreifen 
verläuft,  der  den  Namen  „die  Milchstrasse"  erhalten  hat.  Im  Teleskop  löst 
sich  derselbe  in  ein  ganz  ungeheures  Ge- 
wirre von  Sternen  auf.  Seine  schwächste 
Stelle  liegt  im  Sternbild  Orion.  Von  da  geht 
die  Milchstrasse  durch  das  Einhorn,  zwischen 
den  Zwillingen  und  dem  Stier  zum  Fuhrmann, 
indem  sie  immer  glänzender  hervortritt.  Da- 
nach wendet  sie  sich  zum  Perseus  und  Cassio- 
peja und  erreicht  ihre  grösste  Helligkeit  im 
Schwanen.  Da  teilt  sie  sich  in  zwei  Teile, 
wovon  die  lichtkräftigere  südliche  durch  den 
Adler,  Sobieskis  Schild  und  den  Schützen 
geht.  Das  schwächere  nördliche  Lichtband 
geht  durch  die  Schlange,  wo  es  beinahe  un- 
sichtbar wird,  zum  Skorpion  hin,  wo  es  sich 
mit  dem  andern  Zweig  wieder  vereinigt  und  danach  das  Südkreuz  durch- 
läuft. Später  finden  wiederholte  Abbrechungen,  wie  im  sog.  Kohlen- 
sack, und  Schwächungen  statt,  bis  sie  durch  das  Schiff  zum  Einhorn 
wieder  zurückkehrt. 

Dieses  Gebilde  verläuft  im  grossen  und  ganzen  wie  ein  Ring  rund 
um  das  Firmament,  so  dass,  wenn  wir  einen  Himmelsglobus  so  hin- 
legen, dass  das  Sternbild  Berenices  Haar  am  höchsten  liegt,  die  ganze 
Milchstrasse  etwas  unter  den  horizontalen  Grosskreis  des  Globus  fällt. 
Der  Nordpol  der  Milchstrasse  liegt  an  der  Grenze  zwischen  Berenices 
Haar  und  den  Jagdhunden  (Ä  R-=  12  ^  42%  D  =  27^). 

Es  ist  schwer,  sich  der  Vorstellung  zu  enthalten,  dass  die  Milch- 
strasse ein  nebelartiges,  etwa  dem  Andromedanebel  gleiches  Gebilde  sei, 
von  welchem  das  Sonnensystem  einen  Teil  ausmacht,  welcher  in  der 
Mitte  des  Nebels  etwas  excentrisch,  näher  am  Teil  der  Milchstrasse,  wo 


Fig.  15.     Sternhaufen  in  den 


Zwillingen. 


42  Physik  des  Himmels. 

sie  durch  die  hellsten  Stellen  im  Schwanen  geht,  verlegt  ist.  Dieser  Nebel 
giebt  natürlicherweise  wie  der  Andromedanebel  ein  kontinuierliches 
Spektrum  imd  zwar,  da  die  meisten  von  uns  untersuchten  Sterne  der 
Milchstrasse  angehören  und  dem  weissen  Typus  sich  anschliessen, 
wird  der  Totaleindruck  von  diesem  Sternhaufen,  von  der  Ferne  gesehen, 
derjenige  eines  weissen  Sterns  sein.  Die  Milchstrasse  ist  demnach  als 
ein  heisseres  Gebilde  als  der  Andromedanebel,  welcher  zum  zweiten 
Typus  der  (gelblichen)  Sterne  gehört,  anzusehen.  Die  verschiedenen  Aus- 
buchtungen und  Abbruche  würden  der  ungleichmässigen  Lichtverteilung 
in  den  Spiralnebeln  entsprechen.  Demnach  müsste  die  weitaus  vor- 
wiegende Zahl  der  Sterne  in  der  Ebene  der  Scheibe  liegen,  worin  die 
Spirale  aufgerollt  liegt. 

Um  ein  Bild  von  der  durch  diesen  Umstand  veranlassten  Verteilung 
der  Sterne  zu  geben,  nahm  W.  Herschel  sogenannte  Aichungen  der 
Sternhäufigkeit  vor,  indem  er  die  Zahl  der  Sterne  im  Gesiclitfeld  eines 
Teleskopes  ausmaass,  gänzlich  von  der  Grösse  der  Sterne  absehend.  Auf 
dem  Parallelkreis,  welcher  durch  den  Milchstrassenschimmer  geht,  welcher 
also  in  der  Ebene  der  Nebelspirale  liegt,  fand  er  die  Kelativzahl  122, 
15  Grad  nördlich  davon  30,  30  Grad  nördlich  davon  18,  45  Grad  10, 
60  Grad  6  bis  7.  Näher  beim  Milchstrassenpol  kommen  die  Sterne  sehr 
spärlich  vor.  Durch  diese  scharf  hervortretende  Regelmässigkeit  wird  die 
Ansicht,  wovon  wir  ausgingen,  stark  bestätigt. 

Wenn  man  nur  die  grösseren  Sterne  berücksichtigt  (von  1. — 9.  Grösse) 
ist  die  Zunahme  der  Sternhäufigkeit  zur  Milchstrassenebene  hin  viel 
geringer,  nämlich  wie  2,5  :  1,  wenn  wir  dem  Gebiet,  was  60  Grad  von 
der  Milchstrasse  entfernt,  die  Sternhäufigkeit  1  erteilen,  während  nach 
HerschelsAichung  sich  die  Zahl  14:1  ergiebt.  Dieswird  verständlich,  wenn 
man  in  Betracht  zieht,  dass  in  den  entferntesten  Teilen  der  Sternhaufen- 
scheibe, welche  sich  gerade  in  der  Nähe  der  Milchstrassenebene  geltend 
machen,  wegen  des  grossen  Abstandes  auch  die  hellsten  Sterne  nur  sehr 
lichtschwach  erscheinen  können. 

Sehr  auffallend  ist,  dass  die  allermeisten  Sternhaufen,  oder  in  Stern- 
haufen auflösbaren  Nebel  sich  in  der  Umgebung  der  Milchstrasse  be- 
finden. Dieser  Umstand  deutet  darauf  hin,  dass  diese  Sternhaufen  nicht 
als  selbständige  Gebilde  anzusehen  sind,  sondern  als  Verdichtungen  in 
dem  grösseren  Sternhaufen  der  Milchstrasse.  Dagegen  scheint  zwischen 
den  nicht  auflöslichen  Nebeln  ein  solcher  Zusammenhang  mit  der  Milch-- 
Strasse  nicht  zu  bestehen,  vielmehr  konzentrieren  diese  sich  um  den 
Milchstrassenpol. 


I.  Die  Fixsterne.  43 

Der  physikalische  Zustand  der  Nebel.  Was  das  von  den 
echten  Gasnebeln  ausgestrahlte  Licht  angeht,  so  sind  die  meisten  Forscher 
mit  Seh  ein  er  der  Ansicht,  dass  die  Temperatur  der  Gasnebel  sehr  niedrig 
sein  muss  und  nicht  weit  von  dem  absoluten  Nullpunkt  entfernt  sein  kann. 
Anderenfalls  würden  die  schwachen  Anziehungskräfte,  welche  in  den  un- 
geheuren Entfernungen  zwischen  den  Nebelteilchen  obwalten,  nicht  aus- 
reichen, um  der  mit  der  Temperatur  proportionalen  Neigung  der  Gas- 
]>artikelchen  auseinanderzugehen,  Gleichgewicht  zu  halten.  Die  kinetische 
Theorie  der  Gase  verlangt,  dass  von  der  ungeheuren  Menge  der  Molekeln 
l)ei  niedriger  mittlerer  Temperatur  doch  einige  solch  grosse  Bewegungen 
besitzen,  die  einer  viel  höheren  Temperatur  entsprechen,  und  demnach 
Licht  ausstrahlen  würden.  Als  Stütze  für  eine  solche  Ansicht  führt  man 
an,  dass  in  Geisslerschen  Röhren  unter  Einfluss  von  elektrischen  Schwing- 
ungen verdünnte  Gase  Licht  emittieren  können,  obgleich  die  mittlere 
Temperatur  sehr  niedrig  liegt.  (Man  hat  diesbezügliche  Versuche  bis  zu 
Temperaturen  von  —  200^  angestellt.)  Demgegenüber  ist  einzuwenden, 
dass  unter  dem  Einfluss  der  elektrischen  Schwingungen  die  Molekeln 
zerlegt  und  wiedervereinigt  werden,  was  ohne  Zweifel  im  engsten  Zu- 
sammenhange mit  der  Lichtemission  steht.  Wenn  man  also  nicht  der- 
gleichen elektrische  Schwingungen  in  den  Gasnebeln  annehmen  wollte, 
so  wäre  es  wohl  das  richtigste,  den  Gasnebeln  eine  nicht  so  sehr  niedrige 
Temperatur  zuzuerteilen,  wie  man  für  gewöhnlich  anzunehmen  pflegt. 

Wie  unten  gezeigt  werden  soll,  deutet  vieles  darauf  hin,  dass  in  den 
Weltraum  negativ  elektrische  Partikelchen  von  den  Sonnen  ausgestrahlt 
werden.  Dieselben  werden  natürlicherweise  von  den  Gasnebeln,  welche 
eine  unerhörte  Ausdehnung  besitzen,  eingefangen  und  verursachen  dann 
elektrische  Entladungen  in  den  Nebelgasen,  welche  infolgedessen,  trotz 
ihrer  nahe  am  absoluten  Nullpunkt  liegenden  Temperatur,  Licht  aus- 
senden. 

Dieser  Umstand  würde  auch  eine  andere  Eigentümlichkeit  erklären. 
Wenn  ein  planetarischer  Nebel  aus  einem  lichtaussendenden  (glühenden) 
Gasball  bestände,  so  müsste  man  erwarten,  dass  die  centralen  Teile,  in 
welchen  mehr  glühende  Gasteilchen  auf  der  Sichtlinie  belegen  sind,  als 
in  den  mehr  peripherischen,  stärker  leuchten  sollten,  als  diese.  Dies  ist 
nun  nicht  der  Fall;  in  den  Ringnebeln  strahlen  sogar  die  peripherischen 
Teile  in  hellerem  Licht.  Dies  entspricht  dem  Fall,  der  eintritt,  wenn 
die  elektrisch  geladenen  Teile  in  den  Oberflächenschichten  der  Nebel- 
gasmassen ihre  Geschwindigkeit  einbüssen,  was  wenigstens  bei  einiger- 
maassen  bedeutenden  Gasansammlungen  eintreffen  wird. 


44  Physik  des  Himmels. 

Nach  dieser  Vorstellungsweise  ist  es  sehr  wohl  möglich,  dass  grosse 
Gasnebel  vorkommen,  die  uns  nicht  sichtbar  werden,  weil  in  ihrer  Nähe 
keine  genügende  Zahl  von  Sonnen  sich  befinden,  welche  elektrisch  ge- 
ladene Teilchen  aussenden. 

Man  hat  vielfach  darüber  nachgedacht,  warum  in  den  Gasneboln, 
woraus,  wie  man  annimmt,  die  Sonnen  sich  allmählich  ausbilden,  so 
ausserordentlich  wenige  chemische  Elemente  vorkommen,  und  vorzugs- 
weise die  leichtesten,  Wasserstoff  und  Helium.  Wenn  nur  die  Ober- 
flächenschichten der  Nebel  glühen,  ist  dies  sehr  leicht  verständlich. 
Denn  ebenso  wie  in  der  Sonne  müssen  die  schweren  Molekeln  sich  zu 
den  centralen  Teilen  des  Nebels  konzentrieren  und  die  leichtesten  Molekeln 
in  den  äusseren  Teilen  eine  stark  vorwiegende  Eolle  spielen.  Die  schweren 
Elemente  können  demnach  sehr  wohl  in  den  Nebeln  vorkommen,  ohne 
dass  wir  sie  an  ihrer  Lichtemission  zu  entdecken  im  Stande  sind.  Dabei 
muss  man  auch  berücksichtigen,  dass  einige  Gase  (z.  B.  Stickstoff) 
ausserordentlich  viel  leichter  unter  dem  Einfluss  elektrischer  Entladungen 
glühen  als  andere. 

Dagegen  werden  die  im  Nebelinneren  befindlichen  Stoffe  Licht  von 
hinter  ihnen  gelegenen  Sternen  absorbieren.  Und  es  ist  sehr  wohl  denk- 
bar, dass  zufolge  der  Menge  und  Mannigfaltigkeit  der  absorbierenden 
Gase  diese  Absorption  kontinuierlich  erscheint.  Mit  anderen  Worten, 
es  ist  wohl  denkbar,  dass  die  Gasnebel,  welche  sehr  ausgebreitet  sind, 
den  lichtabsorbierenden  Stoff,  wovon  oben  (S.  12)  geschrieben  wurde, 
zum  Teil  enthalten.  Der  grösste  Teil  der  Lichtabsorption  ist  jedoch 
kleinen  festen  oder  flüssigen  Partikelchen  zuzuschreiben,  welche  von  den 
Sonnen  abgestossen  im  Weltraum  herumschwirren. 

In  den  Nebelspektren  kommen  einige  noch  nicht  bekannte  Linien  vor. 
Es  ist  jedoch  nicht  undenkbar,  dass  dieselben  trotzdem  bekannten  irdischen 
Stoffen  angehören.  Diese  höchst  unerwartete  Thatsache  ist  neuerdings  durch 
eine  der  merkwürdigsten  Entdeckungen  erwiesen  worden.  In  dem  Spek- 
trum des  Sternes  g  Puppis  hatte  Picke  ring  sechs  neue  Linien  gefunden 
von  den  Wellenlängen  381,4,  385,7,  392,3,  402,8,  420,3  und  450,5  ////. 
J  Puppis  hat  auch  die  Orionlinie  447,2  ^^i.  Kays  er  vertrat  darauf  die 
Ansicht,  dass  die  sechs  Linien,  welche  bisher  unbekannt  waren,  doch  dem 
Wasserstoff  zuzuschreiben  seien.  Man  findet  nämlich  die  Wellenlängen 
[X)  des  Wasserstoffs,  wenn  man  in  die  Bai  morsche  Formel: 

X  =  364.61  —2 777  m- 

n^  —  16  "^ 


I.  Die  Fixsterne.  45 

V  durch   die  geraden  Zahlen   ersetzt.     Die   neuen  Linien   gehören  der- 
selben Formel,  wenn  man  für  n  die  ungeraden  Zahlen  einsetzt. 

Man  hat  übrigens  diese  neuen  Linien  in  den  Spektren  von  anderen 
Sternen  wiedergefunden  wie  29  und  30  Can.  maj.  und  einem  neuen  ver- 
änderlichen Stern  {ÄR=1^,  14,5'  D  =  —  24^  47').  Diese  Sterne  liegen 
alle  recht  nahe  aneinander  und  in  der  Nähe  der  Centrallinie  der  Milch- 
strasse. Die  berechneten  Wellenlängen  für  die  sechs  Linien  sind  nach 
Kydberg,  welcher  die  Formel  angegeben  hat: 

w  1  1 


109  675       4       (m  + 0,5)2' 

worin  n  die  Schwingungszahl    und  m   die  konsekutiven  ganzen  Zahlen 
bedeuten: 

l  beob.  420,0     402,6     392,5     385,9     381,6     378,3 
X  her.     420,2     402,7     392,5     386,0     381,5     378,3 

Kydberg  l)ercchnet  die  Wellenlängen   der  Wasserstoffslinien   (so- 
wohl die  alten  wie  die  neuen)  nach  der  Formel: 

n  1  1 


109  675,00        (mi  +  1)-^       {m^  +  0,5)'-^ 

worin  n=^W  \X  der  Schwingungszahl  der  Linie  proportional  ist.  In  der 
einen  (sog.  prinzipalen  oder  diffusen)  Keihe  ist  m^  =  1,  dagegen  kann 
w?2  die  Werte  1,  2,  3,  4,  5  etc.  annehmen,  in  der  anderen  (der  sog. 
scharfen)  Keihe  ist  ^2  =  1  und  m^  kann  die  verschiedenen  Werte  1,  2, 
3,  4  etc.  annehmen.  Eine  Linie  ist  für  die  beiden  Keihen  gemeinsam, 
l)ei  welchem  m^  =  m.2  =  1  ist.  Diese  Linie  sollte,  nach  anderen  Spektren 
zu  urteilen,  besonders  hell  erscheinen.  In  dieser  Weise  hat  Kydberg 
folgende  von  Maury  und  Pickering  verzeichnete  helle  Spektrallinien, 
welche    in    einigen    Sternspektren    vorkommen,    als    Wasserstoö'linien 


identificiert. 

X 

i 

X 

* 

H{D,  7) 

388,9 

1 

^(>S^,5) 

420,0 

3 

H{S,  7) 

392,6 

1 

H{D,  4) 

434,0 

3 

H  {D,  6) 

397,0 

1 

H{S,A) 

454,4 

2 

II  {S,  6) 

402,6 

1 

461,4 

2 



405,9 

4 

H{S,i) 

468,8 

10 

H  (A  5) 

410,2 

5 

H{D,  3) 

486,2 

1 

46  Physik  des  Himmels. 

Die  mit  S  bezeichneten  Linien  gehören  der  scharfen  Eeihe,  die 
mit  D  bezeichneten  der  diffusen  Reihe  der  (bekannten)  Wasserstoff- 
linien an. 

Die  Ziffer  in  der  Klammer  giebt  an,  was  für  einen  Wert  [man 
der  variablen  Zahl  (m^  für  die  aS- Gruppe,  Wj  für  die  Z>- Gruppe)  er- 
teilen soll. 

Unter  i  steht  die  Intensität  der  betreffenden  Linien.  Wie  man 
sieht,  ist  H  (S,  1),  welche  sowohl  der  „principalen"  als  auch  der  „scharfen" 
Reihe  angehört,  die  hellste  von  allen  den  beobachteten  Linien,  sie  kommt 
auch  in  gewissen  Nebelspektren  (468,7)  vor.  Sie  ist  dagegen  im  Sonnen- 
spektrum und  im  irdischen  Wasserstoftspektrum  unbekannt.  Dagegen 
sind  H  (D,  5)  und  //  (D,  3)  die  bekannten  Wasserstofflinien  ///  und  F 
ebenso  wie  H  (D,  4),  H  (D,  6)  und  H  {D,  7)  aus  dem  Sonnenspektrum 
wohlbekannt. 

Die  neuen,  in  C  Puppis  entdeckten  Linien  wären  mit  H  {S,  9),  E  (*S,  8) 

H{S,  4)  zu  bezeichnen.    Von  den  fehlenden  Linien  glaubt  Ry dberg 

H{S,  3)  mit  der  von  Campbell  in  mehreren  Sternspektren  gefundenen 
Linie  541,24  identifizieren  zu  können  xmd  H  {D,  2)  sollte  //«  sein.  Es 
unterliegt  wohl  keinem  Zweifel,  dass  die  übrigen  Linien,  die  noch  nicht 
entdeckt  sind,  mit  der  Zeit  in  den  Sternspektren  wiedergefunden  werden. 
Jedenfalls  ist  diese  Auffindung  von  neuen  Wasserstofflinien  eine  der  inter- 
essantesten Bestätigungen  davon,  wie  weit  man  durch  kritische  Sich- 
tung und  rationelle  Berechnung  der  schon  gekannten  Daten  in  Bezug 
auf  Voraussagungen  über  noch  nicht  bekannte  Erscheinungen  kommen 
kann. 

Doppelsterne.  Man  bemerkt  häufig,  dass  zwei  Sterne  einander 
sehr  nahe  stehen,  besonders  wenn  man  die  Sterne  mit  einem  kräftigen 
Fernrohr  beobachtet.  Anfangs  glaubte  man,  es  sei  nur  ein  Zufall, 
dass  die  beiden  Sichtlinien  nahe  aneinander  liegen.  Dies  ist  ja  auch 
in  vielen  Fällen  richtig,  und  man  nennt  solche  Doppelsterne  optisch. 
Je  mehr  man  aber  den  Himmel  durchmusterte,  desto  auffälliger  wurde 
es,  dass  die  Anzahl  der  Doppelsterne  zu  gross  ist,  als  dass  man  sie  alle 
als  nur  optisch  ansehen  könnte  (W.  Herschel). 

Unter  Annahme,  dass  die  Sterne  auf  dem  Himmelsgewölbe  gleich- 
massig  verteilt  sind,  und  bis  zur  8.  Grösse  40  000  an  Zahl  betragen, 
berechnete  Struve,  wie  viele  Fälle  von  Doppelsternen  von  mehr  als 
achter  Grösse  vorkommen  sollten,  wenn  die  Distanz  der  beiden  Kom- 
ponente weniger  als  l",  zwischen  l"  und  2"  u.  s.  w.  ist,  und  fand 
folgende  Zahlen: 


Distanz. 

0"- 

-  1" 

1"- 

-  2" 

2"- 

-  4" 

4"- 

-  8" 

8"- 

-12" 

12"- 

-16" 

16"- 

-24" 

24"- 

-32" 

I.  Die  Fixsterne.  47 

Opt.  Doppelst.      Beobachtete  Doppelst. 

0,007  62 

0,023  116 

0,089  133 

0,358  130 

0,596  54 

0,835  52 

2,384  54 

3,338  52 

Wie  man  aus  dieser  kleinen  Tabelle  ersieht,  ist  der  Unterschied 
zwischen  der  berechneten  Zahl,  welche  den  optischen  Doppelsternen  ent- 
spricht, und  der  beobachteten  Zahl  um  so  grösser,  je  enger  die  Sterne 
aneinander  liegen.  Es  ist  infolgedessen  höchst  wahrscheinlich,  dass  ein 
ph3^sikalischer  Zusammenhang  zwischen  den  l)eiden  Komponenten  der 
meisten  beobachteten  Doppelsterne  besteht.  Diese  Wahrscheinlichkeit 
hat  durch  neuere  Beobachtungen  in  hohem  Grad  zugenommen,  so  dass 
man  es  jetzt  als  eine  typische  Erscheinung  betrachten  muss,  dass  zwei 
oder  mehrere  Sterne  zum  selben  System  gehören. 

Natürlicherweise  ist  der  gewöhnlichste  Fall  derjenige,  dass  die  beiden 
Sterne  verschiedener  Grösse  sind.  So  z.  B.  enthält  der  Polarstern  einen 
Stern  zweiter  und  einen  neunter  Grösse,  zu  welchem  Campbell  neuer- 
dings einen  dritten  schwächeren  gefügt  hat.  Castor  besteht  aus  einem 
Stern  zweiter  und  einem  dritter  Grösse  u.  s.  w.  Bisweilen  sind  die 
beiden  Sterne  nahezu  gleich  hell,  wie  z.  B.  in  /  Virginis,  wo  beide  Sterne 
dritter  Grösse  sind. 

Da  die  Doppelsterne  einen  physikalischen  Zusammenhang  besitzen, 
so  müssen  sie  sich  um  einen  gemeinsamen  Schwerpunkt  drehen.  Dies 
hat  man  für  eine  grosse  Anzahl  derselben  nachgewiesen.  So  z.  B.  war 
in  1718  der  Abstand  der  beiden  Komponenten  von  7  Virginis  7"  nach 
Bradley.  Dieser  Abstand  nahm  immer  mehr  ab,  bis  im  Jahre  1836  die 
beiden  Sterne  so  nahe  aneinander  standen,  dass  sie  wie  ein  einziger  Stern 
aussahen.  Seitdem  ist  ihre  Entfernung  wieder  gewachsen  und  man  hat 
berechnet,  dass  1903  die  Sterne  dieselbe  gegenseitige  Lage  wie  bei 
Bradleys  Beol)achtung  einnehmen  werden.  Mit  anderen  Worten  die 
Umlaufszeit  beträgt  185  Jahre.  Die  gegenseitige  Lage  der  beiden  Sterne 
geht  aus  der  nebenstehenden  Zeichnung  hervor  (Fig.  16). 

Folgende  Tabelle  giebt  die  Umlaufszeiten  von  einigen  dieser  soge- 
nannten teleskopischen  Doppelsterne  wieder.  , 


48  Physik  des  Himmels. 


g  Herculis 

34  Jahre 

Sirius 

49      „ 

a  Centauri 

88      „ 

7  Coronae 

96      „ 

ö  Cygni 

415      „ 

61  Cygni 

783      „ 

Castor 

1000      „ 

Die  Bahnen  der  Doppelsterne  erscheinen  natürlicherweise  von  uns 
gesehen  in  Verkürzung.  Es  ist  nicht  schwer  aus  dieser  Verkürzung  die 
wirkliche  Bahn  mit  Hilfe  des  zweiten  Keplerschen  Gesetzes  zu  kon- 
struieren. 

Ausser  diesen  Doppelstemen  hat  man  mit  Hilfe  des  Spektroskops 
sog.  spektroskopische  Doppelsterne  entdeckt.     So  z.  B.  fand  Vogel,  dass 

der  helle  Stern  Spica  {a  Virginis)  periodische 
Verschiebungen  der  Spektrallinien  zeigt,  welche 
andeuten,  dass  dieser  Stern  bald  sich  uns 
nähert,  bald  wiederum  sich  von  uns  entfernt. 
Diese  Bewegung  kann  nicht  gern  anders 
erklärt  werden  als  durch  die  Annahme,  Spica 
bewegt  sich  um  einen  Punkt  im  Kaume.  Die 
Umlaufszeit  beträgt  nur  etwas  über  vier  Tage 
l^ig  iß^  und  die  Geschwindigkeit  des  Sterns  ist  89  km 

pro  Sekunde,  vorausgesetzt,  dass  die  Bahn 
die  Sichtlinie  enthält.  Ist  die  Bahn  kreis -förmig,  so  erhält  man  den 
Umkreis  der  Bahn  durch  Multiplikation  der  Anzahl  Sekunden  in 
vier  Tagen  mit  89,  und  daraus  lindet  man  den  Durchmesser  der  Bahn 
gleich  nahezu  10  Millionen  km,  eine  Entfernung,  die  nicht  mehr  als  etwa 
der  dreissigste  Teil  des  Durchmessers  der  Erdbahn  um  die  Sonne  ist. 

In  dem  Falle  der  Spica  ist  der  Begleiter  unsichtbar,  in  anderen 
Fällen  wie  bei  ^  im  Fuhrmann  und  g  im  grossen  Bär  sind  die  beiden 
Komponenten  leuchtend.  In  solchen  Fällen  bewegt  sich  der  eine  Stern 
auf  uns  zu,  während  der  andere  von  uns  weggeht  und  umgekehrt.  Man 
erkennt  deshalb  solche  Sternpaare  an  einer  Verdoppelung  der  Linien, 
welche  bisweilen  verschwindet.  Die  Umlaufszeiten  dieser  beiden  Sterne 
wurde  von  Pickering  zu  4  resp.  104  Tagen  bestimmt. 

Bei  den  beiden  Sternen  Sirius  und  Procyon  bemerkte  man,  dass 
ihre  Eigenbewegungen  am  Himmel  durch  eine  Wellenlinie  beschrieben 
wird.  Es  erschien  deshalb  wahrscheinlich,  dass  die  beiden  Sterne  eine 
drehende  Bewegung  um  zwei  andere  bis  dahin  nicht  entdeckte  Sterne  in 


I 


I.  Die  Fixsterne.  49 


ihrer  Nähe  ausführen.  Diese  beiden  Begleiter  sind  seitdem  von  Clark e 
1862)  und  Schaeberle  (1896)  entdeckt.  Derjenige  von  Sirius  ist  ein 
Stern  9.— 10.  Grösse,  derjenige  von  Procyon  ein  Stern  13.  Grösse.  In 
lern  hellen  Licht  der  Hauptsterne  sind  sie  sehr  schwer  aufzufinden, 
wodurch  sie  bis  in  die  letzte  Zeit  der  Beobachtung  entgangen  waren, 
chon  1844  hatte  Bessel  die  Umlaufszeit  des  Siriusbegleiters  zu  etwa 
0  Jahre  bestimmt,  später  hat  man  sie  zu  53  Jahre  fixiert.  Der  Sirius- 
begleiter bewegt  sich  um  den  Hauptkörper  in  einer  stark  elliptischen 
Bahn,  indem  die  Maximaldistanz  ll",  die  Minimaldistanz  nur  2,4"  be- 
trägt. Für  den  Begleiter  von  Procyon  ist  eine  Umlaufszeit  von  etwa 
40  Jahren  berechnet  worden.     Auch  seine  Bahn  ist  stark  excentrisch. 

In  solchen  Fällen  bewegen  sich  alle  beiden  Sterne  um  einen  Punkt 
zwischen  ihnen,  nämlich  um  den  gemeinsamen  Schwerpunkt.  Dazu 
kommt  die  gemeinsame  Eigenbewegung  der  beiden  Sterne  senkrecht 
zur  Sichtlinie.  Aus  den  Beobachtungen  kann  man  leicht  diese  beiden 
Bewegungsarten  von  einander  sondern.  Wenn  man  weiter  die  Be- 
wegungen der  beiden  Sterne,  jede  für  sich,  um  den  gemeinsamen 
Schwerpunkt  kennt,  so  kann  man  aus  der  relativen  Grösse  dieser  Be- 
wegungen das  Verhältnis  der  beiden  Massen  berechnen.  Auf  diese 
Weise  hat  man  geschätzt,  dass  der  Siriusbegleiter  etwa  halb  so  gross 
wie  Sirius  selbst  ist,  obgleich  er  5000  mal  schwächer  leuchtet.  Der 
Siriusbegleiter  ist  infolgedessen  als  ein  sehr  grosser  Stern  zu  betrachten, 
welcher  sehr  nahe  dem  Erlöschen  ist. 

Wenn  man  nun  weiter  die  Umlaufszeit  und  die  wahre  Distanz  der 
beiden  Komponenten  des  Doppelsternsystemes  kennt,  so  kann  man  auch 
die  Grösse  der  Anziehung,  d.  h.  die  damit  proportionale  wirksame  Masse 
der  beiden  Sterne  berechnen.  Die  Distanz  der  beiden  Sterne  kann  man 
leicht  berechnen,  wenn  ihre  Parallaxe  bekannt  ist.  Obgleich  diese  wohl 
nicht  sehr  genau  bestimmt  ist,  so  sind  doch  die  so  gefundenen  Zahlen 
nicht  ohne  Interesse.  Der  Hauptstern  im  a  Centauri,  dem  uns  am 
nächsten  liegenden  Stern,  sollte  in  einer  Entfernung  von  24  Erdbahnradien 
von  seinem  Begleiter  liegen  und  etwa  doppelt  so  grosse  Masse  wie 
unsere  Sonne  besitzen.  Der  Stern  ri  Cassiopejae  hat  etwa  7  mal  grössere 
Masse  als  die  Sonne,  sein  Begleiter  etwa  2  mal.  Sirius  sollte  14,  sein 
Begleiter  7  mal  an  Masse  unsere  Sonne  übertreffen.  Procyon  sollte  4, 
sein  Begleiter  0,7  Sonnenmassen  enthalten.  Diese  beiden  Sterne  liegen 
in  einer  Entfernung  von  18  Erdbahnradien.  Der  Doppelstern  Mizar 
sollte  40  mal  grössere  Masse  als  die  Sonne  und  einen  gegenseitigen  Ab- 
stand der  Komponente  von  900  Erdbahnradien  besitzen. 

Arrhenius,  Kosmische  Physik.  *  4 


50  Physik  des  Himmels, 

Jedenfalls  ist  diese  Schätzung-  mit  grosser  Unsicherheit  behaftet,  so 
sollte  nach  neueren  Bestimmungen  Sirius  nur  doppelt  so  gross  sein,  sein 
Begleiter  eben  so  gross  wie  die  Sonne  sein.  Die  Masse  des  Doppelsterns  61 
Cygni  ist  ausnehmend  gering,  sie  soll  nur  ein  Viertel  der  Sonnenmasse 
betragen. 

Wie  man  aus  diesen  Ziftern  sieht,  sind  die  Massen  der  beobachteten 
Sterne  im  allgemeinen  sehr  gross  und  ebenfalls  ihre  gegenseitigen  Ab- 
stände höchst  bedeutend,  oft  viel  grösser  als  der  Radius  der  Neptun- 
bahn (30  Erdbahnradien).  Dies  letzte  kommt  daher,  dass  wir  bisher  in  dieser 
Beziehung  nur  die  teleskopischen  Doppelsterne  betrachtet  haben,  deren 
Begleiter  noch  mit  unseren  optischen  Hilfsmitteln  von  ihren  Hauptsternen 
getrennt  werden  können.  Ihre  gegenseitige  Entfernung  ist  dementsprechend 
recht  gross,  wodurch  auch  die  Umlaufszeit  lang  wird.  Inzwischen  hat  man 
in  letzter  Zeit  teleskopische  Doppelsterne  von  relativ  kurzer  Umlaufszeit 
entdeckt.  Zur  Zeit  John  Herschels  hatte  C,  Herculis  unter  allen  be- 
kannten Doppelsternen  die  kürzeste  Umlaufszeit  von  34  Jahren.  Später 
fand  man  bei  42  im  Berenices  Haar  eine  Umlaufszeit  von  25  Jahren. 
Eine  noch  bedeutend  kürzere  Periode  von  11,5  Jahren  fand  man  1887  bei 
6  im  Füllen.  Etwa  dieselbe  Zeit  braucht  auch  x  Pegasi  zu  einem  Umlauf. 
Diese  Sterne  werden  jedoch  bedeutend  an  Schnelligkeit  von  dem  Stern 
Lalande  9091  {ÄR=  4^S  45'^  6  und  D  =  -f  10^,  54')  übertrofifen,  da 
die  Periode  dieses  Doppelsterns  nach  Sees  Beobachtungen  nur  etwa 
5,5  Jahre  beträgt. 

Andererseits  ist  bei  den  spektroskopischen  Doppelsternen  die  Umlaufs- 
zeit relativ  kurz,  weil  sie  nur  entdeckt  werden  können,  wenn  sie  einander 
recht  schnell  umkreisen.  Den  teleskopischen  Doppelsternen  scheint  ?]  Pegasi 
am  nächsten  zu  kommen,  welcher  nach  Campbells  Beobachtungen 
eine  Umlaufszeit  von  ungefähr  zwei  Jahren  besitzt. 

Eine  sehr  interessante  Beobachtung  hat  man  in  letzter  Zeit  betreffs 
Capeila  gemacht.  Dieser  Stern  hat  sich  als  ein  spektrakopischer  Doppel- 
stem  von  104  Tagen  Umlaufszeit  erwiesen.  Der  eine  Komponent  besitzt 
ein  Spektrum,  das  an  dasjenige  der  Sonne  stark  erinnert,  der  andere 
ähnelt  in  dieser  Beziehung  dem  Procyon.  Bei  genauer  Untersuchung 
fand  man  in  Greenwich,  dass  Capeila  ein  längliches  Aussehen  zeigt, 
und  dass  ihre  Längsachse  eine  Umdrehungszeit  besitzt,  welche  der  aus 
spektroskopischen  Beobachtungen  abgeleiteten  nahe  kommt.  Aus  der 
Grösse  der  Parallaxe  (0,08"  nach  Elkin)  hat  man  berechnet,  dass  die  Ent- 
fernung der  beiden,  annähernd  gleich  grossen,  Komponente  etwa  doppelt 
so  gross  (300  Millionen  km)  ist,  wie  der  Erdbahnradius.  Demnach  beträgt 


T.  Die  Fixsterne.  5I 

ihre  Gesamtmasse  etwa  100  mal  der  Sonnenmasse.  Capella  ist  der  erste 
Doppelstern,  welcher  sowohl  spektroskopisch  als  teleskopisch  ist.  Die 
Bahn  der  beiden  Sterne  liegt  sehr  schräg  gegen  die  Sichtlinie,  sie  bildet 
damit  einen  Winkel  von  etwa  74  *\ 

Die  Häuligkeit  der  verschiedenen  Umlaufszeiten  bei  den  tele- 
skopischen Doppelsternen  ersieht  man  aus  folgender  Zusammenstellung 
von  See. 

8  Doppelsterne  haben     11 —    25  Jahre  Umlaufszeit 
lo  „  „  2o         oO        „  „ 

19  „  „         50-  100       „ 

27  „  „  100-  200       „ 

12  „  „  200-  400       „ 

6  „  „  400-1800       „ 

In  einer  Beziehung  unterscheiden  sich  die  Doppelsterne  höchst  be- 
deutend von  den  in  unserem  Sonnensystem  herrschenden  Verhältnissen. 
Während  die  grossen  Planeten  alle  eine  Excentricität  besitzen,  die  ge- 
ringer als  0,1  ist,  kommt  eine  so  geringe  Excentricität  bei  keinem  der 
40  von  See  berechneten  Doppelsterne  vor.  Sechs  haben  Excentricitäten 
zwischen  0,1  und  0,3,  17  zwischen  0,3  und  0,5,  11  zwischen  0,5  und  0,7 
und  sechs  zwischen  0,7  und  0,9.     Der  Mittelwert  beträgt  etwa  0,45. 

Ebenso  auffallend  ist  die  nahezu  gleiche  Grösse  der  Komponenten, 
während  im  Sonnensystem  der  grösste  Planet  Jupiter  nicht  den  tausendsten 
Teil  der  Masse  des  Centralkörpers  besitzt. 

Von  den  bemessenen  teleskopischen  Doppelsternen  sind  weitaus  die 
meisten  vom  Typus  2  (Capella),  nur  sehr  wenige,  etwa  14  Proc,  vom 
Typus  1  (Sirius)  oder  vom  Arkturtypus  (7  Proc).  Keine  derselben  ge- 
hört dem  Typus  3  (der  rötlichen  Sterne). 

Häutig  sind  die  beiden  Teile  des  Doppelsterns  verschieden  gefärbt, 
z.  B.  der  eine  blau,  der  andere  gelb. 

Zum  Teil  kann  dies  von  physiologischen  Umständen  herrühren,  indem 
neben  einem  gefärbten  Gegenstand  ein  rein  weisser  Gegenstand  in  der 
komplementären  Farbe  gefärbt  erscheint.  Dass  aber  in  vielen  Fällen  diese 
Erscheinung  ganz  objektiv  ist,  davon  kann  man  sich  leicht  dadurch  über-  . 
zeugen,  dass  man  den  einen  Stern  im  Gesichtsfeld  verdeckt.  Dies  ist  auch 
aus  Spektraluntersuchungen  deutlich.  So  z.  B.  zeigte  Huggins,  dass  im 
Doppelstern  ß  Cygni  der  schwächere  Stern,  von  der  Grösse  5,3,  blau- 
weiss  erscheint  und   das   für   weisse  Sterne   charakteristische  Spektrum 

zeigt,  während  der  hellere  Stern,  von  der  Grösse  3,  den  gelblichen  Sternen 

4* 


52  Physü  des  Himmels. 

angehört,  und  ein  wenig  wärmer  als  die  Sonne  sein  dürfte  (indem  die 
Calcium-Linie  K  im  Spektrum  dünner  ist  als  die  i?-Linie).  Das  sonder- 
bare ist  nun,  dass  in  den  meisten  beobachteten  Fällen  der  kleinere  Stern 
ein  blaueres  Licht  aussendet  wie  der  grössere.  Man  hätte  wohl  sonst 
zu  erwarten,  dass,  wie  in  unserem  Planetensystem,  die  grösseren  Körper 
im  allgemeinen  die  wärmeren  wären.  Wenn  die  beiden  Körper  gleich- 
zeitig entstanden  sind,  z.  B.  durch  Trenmmg  aus  einer  gemeinsamen 
Masse  müsste  man  wohl  erwarten,  dass  der  kleinere  Körper  sich  schneller 
abkühlte.     (Vgl.  weiter  unten  Kap.  Komogonie.) 

Das  Verhältnis  der  weissen  und  der  gelben  Sterne  zum 
Sonnensystem.  Die  Sterne  vom  Typus  2  haben  viel  grössere  Eigen- 
bewegung als  diejenigen  vom  Typus  1.  Von  108  Sternen  mit  grosser  Eigen- 
bewegung (über  0",5  pro  Jahr)  gehören  92  dem  Capellatypus,  9  dem 
Siriustypus,  6  dem  Arkturtypus  und  1  dem  Typus  3.  Dagegen  haben 
die  Sterne  vom  1.  und  2.  Typus  dieselbe  Bewegung  (17,4  resp. 
1 7,6  km  pro  Sekunde)  in  der  Sichtlinie.  Alle  Umstände  deuten  darauf, 
dass  die  relativ  wenigen  Sterne  vom  Capellatypus  uns  relativ  sehr 
nahe  stehen.  Das  Sonnensystem  ist  demnach  von  einer  Gruppe  gelb- 
licher Sterne  umgeben,  zu  welcher  offenbar  die  Sonne  gehört.  Nun  sind 
aber  die  weissen  Sterne  im  allgemeinen  viel  heller  als  die  gelblichen, 
welche  uns  gleich  nahe  stehen.  So  z.  B.  leuchtet  Sirius  53  mal  stärker 
als  die  Sonne,  hat  aber  nur  14  mal  so  grosse  Masse.  Der  weisse  Algol, 
der  eine  Parallaxe  von  0,036"  besitzt,  liegt  demnach  in  einer  Entfernung 
von  80  Lichtjahren  und  ist  etwa  7  mal  heller  als  die  Sonne,  hat  aber  nur 
die  halbe  Masse  derselben. 

Man  könnte  nun  fragen,  ob  diese  relativ  geringe  Helligkeit  der 
gelben  Sterne  davon  herrühren  könnte,  dass  sie  im  allgemeinen  geringere 
Masse  besässen,  als  die  weissen  Sterne.  Dies  ist  aber  nicht  der  Fall, 
denn  dann  würden  die  Begleiter  der  gelben  Sterne  im  Mittel  eine  grössere 
Umlaufszeit  als  diejenigen  der  weissen  Sterne  besitzen,  während  um- 
gekehrt das  Gegenteil  zuzutreffen  scheint.  Die  relativ  grosse  Helligkeit 
der  Sterne  vom  Typus  1  ist  folglich  nur  ihrer  hohen  Temperatur  zuzu- 
schreiben. Wie  bekannt  nimmt  ja  auch  die  Wärmestrahlung  eines 
heissen  Körpers  kolossal  schnell  mit  der  Temperatur  zu.  Stefans  Gesetz 
verlangt,  dass  die  Wärmestrahlung  proportional  der  vierten  Potenz  der 
absoluten  Temperatur  steige.  Noch  rapider  steigt  die  Lichtemission 
mit  der  Temperatur,  und  es  ist  dann  nicht  zu  verwundern,  dass  die 
heissesten  Sterne  eine  in  Anbetracht  ihrer  Masse  enorme  Helligkeit 
besitzen. 


w 


I.  Die  Fixsterne.  53 


Veränderliche  Sterne  vom  Algoltypus.  Unter  den  Doppel- 
sternen nehmen  einige  sog.  veränderliche  Sterne  eine  besondere  Stellung 
(^in.  Von  diesen  sind  die  nach  ihrem  am  besten  untersuchten  Vertreter 
Algol  {ß  Persei)  genannten  Sterne  die  am  leichtesten  verständlichen. 
Algol  ist  ein  Stern  zweiter  (2,2.)  Grösse.  Während  2  V2  Tagen  leuchtet  er 
mit  konstanter  Lichtstärke,  danach  fängt  diese  an  abzunehmen  und 
sinkt  in  4'/2  Stunden  um  1,5  Grössenklassen,  dann  nimmt  sie  wieder 
in  4^/9  Stunden  auf  die  alte  Helligkeit  zu.  Die  ganze  Periode  dieses 
Lichtwechsels  beträgt  2  Tage  20  Stunden  48  Minuten  53,8  Sekunden. 
Man  nimmt  an,  dass  diese  relativ  kurz  dauernde  starke  Abnahme  der 
Helligkeit  von  einer  Verfinsterung  herrührt,  welche  dadurch  zu  Stande 
kommt,  dass  ein  dunkler  Begleiter  alle  69  Stunden  sich  in  der  Sicht- 
linie zwischen  uns  und  Algol  befindet  und  dabei  Algol 
teilweise  verdeckt.  Picke  ring  bestimmte  die  Hellig- 
keit des  Algols  zu  verschiedenen  Zeiten  und  fand,  dass 
der  Begleiter  0,584  des  von  Algol  ausgesandten  Lichtes 
uns  abblendet.  Angenommen  der  Begleiter  stände 
gänzlich  vor  der  Algolscheibe,  so  muss  seine  Oberfläche 
0,584  des  Algols,  folglich  sein  Durchmesser  0,764  des 
Algoldurchmessers  und  seine  Masse  0,446  der  Algol- 
raasse  betragen,  falls  beide  Körper  dasselbe  spezifische 
Gewicht  besitzen.  Nun  wissen  wir  weiter  aus  spektro- 
<kopischen  Messungen,  dass  die  Bahngeschwindigkeit  Al- 
töls (die  Bahn  enthält  ja  in  diesem  Falle  die  Sichtlinie  Fig.  17. 
in  ihrer  Ebene)  42  km  pro  Sekunde  beträgt.  Daraus 
finden  wir,  unter  Voraussetzung,  dass  die  beiden  Bahnen  kreisförmig 
sind,  die  Geschwindigkeit  des  Begleiters  um  den  gemeinsamen  Schwer- 
punkt =  42 :  0,446  =  94  km  pro  Sekunde.  Wenn  wir  uns  Algol  fest- 
stehend denken,  beschreibt  der  Begleiter  einen  Kreis  mit  einer  relativen 
Geschwindigkeit  von  42  +  94  km  pro  Sekunde.  Dieser  Kreis  wird  in 
2^,  20^  48^  53^  8  =  247  734  Sekunden  beschrieben,  sein  Umkreis  ist 
folglich  3,37.  10' km  und  der  Bahnenradius  5,36.  10^  km.  Nun  beträgt 
die  Zeit,  welche  zwischen  dem  Anfang  und  Ende  des  Verdunkeins  von 
Algol  verstreicht,  9  Stunden  10  Minuten.  Wenn  A  (Fig.  17)  den 
Durchschnitt  des  Algols,  B  denjenigen  des  Begleiters  am  Anfang,  B'  am 
Ende  der  Verdunkelung  darstellt,  so  tangiert  die  Sichtlinie  SS  sowohl 
den  Begleiter  als  Algol  am  Anfang  der  Verdunkelung,  ebenso  wie  die 
Sichtlinie  S'  S'  am  Ende  der  Verdunkelung.  Es  ist  leicht  einzusehen, 
dass,  wenn  B  central  an  A  vorbei   passiert,  so   wird   der  Abstand  B  B' 


54  Physik  des  Himmels. 

der  Mittelpunkte  des  Begleiters  in  den  beiden  Lagen  gleich  der  Summe 
der  beiden  Durchmesser  (d  und  d^)  des  Algols  und  des  Begleiters. 
Weiter  ist,  wenn  der  Begleiter  zwischen  Anfang  und  Ende  der  Verdun- 
kelung einen  Winkel  von  2  a  beschrieben  hat,  und  R  den  Bahnradius 
darstellt, 

— ^r— ^  =  R  sm  a. 
2 

Da  nun  247734  Sek.  der  Passage  der  ganzen  Bahn  (=360^)  ent- 
sprechen und  9^  10''^  =  33000  Sek.  der  Beschreibung  des  Winkels  2«, 
so  findet  man  a  =  23^  58'.  Folglich  wird  d  ^  d^  =  4,35.  10^  km, 
woraus  c?  (Durchmesser  des  Algols)  =2,47.  10''  und  d^  (Durchmesser  des 
Begleiters) =1,88.  10^  km.  Weiter  kann  man  aus  den  Kepl ersehen  Ge- 
setzen ableiten,  dass,  für  zwei  Sonnen  mit  den  Massen  M  und  if,  und 
zwei  zugehörige  Planeten  in  den  Entfermmgen  R  und  R^,  mit  den  Massen 
m  und  m, ,  und  den  Umlaufszeiten  T  und  T, ,  die  Beziehung  gilt  (vgl.  S.  77) : 

M+  m    _   T\R^ 


Ml  +  mj  T^R^^' 

Nehmen  wir  als  die  beiden  Sonnen  unsere  Sonne  und  den  Algol,  als 
Planeten  die  Erde  und  den  Algol-Begleiter,  so  sind 

R  =  149.106  km,  !r=  365  Tage 
i?i  =5,36.106  km,  T^  =2,87  Tage. 

Hieraus  erhält  man 

M^  -{-  mi=  0,75  (M  +  m). 

Da  nun  die  Erdmasse  m  ohne  Fehler  gegen  die  Sonnenmasse  ilf  ver- 
nachlässigt werden  kann,  und  die  Masse  des  Begleiters  (?w.,)  etwa  die 
Hälfte  derjenigen  des  Algols  (ifj  beträgt,  so  findet  man,  dass  der  Algol 
etwa  die  Hälfte,  sein  Begleiter  etwa  ein  Viertel  der  Masse  unserer  Sonne 
besitzt. 

Der  Sonnendurchmesser  beträgt  etwa  1,38  •  10 ^  km,  ist  also  nur 
etwas  mehr  als  halb  so  gross,  wie  derjenige  Algols.  Daraus  berechnet 
man,  dass  die  Materie  des  Algols  11,3  mal  weniger  dicht  ist,  wie  diejenige 
der  Sonne.  Da  Algol  ein  weisser  Stern  ist  und  bedeutend  heisser  als 
die  Sonne,  so  ist  es  ja  in  der  Ordnung,  dass  die  Materie  da  weniger  ver- 
dichtet ist,  wie  in  der  Sonne. 


I.  Die  Fixsterne. 


55 


Man  kennt  nun  eine  ganz  beträchtliche  Anzahl  von  Sternen,  die 
sieh  wie  Algol  verhalten.  Sie  werden  Sterne  vom  Algoltypus  genannt. 
Sie  bieten  ein  ganz  ungewöhnliches  Interesse,  weil  man  bei  ihnen  die 
wesentlichsten  Grössen-  und  Massenverhältnisse  zu  bestimmen  im  Stande 
ist.  Zwar  muss  man,  so  lange  diese  Sterne  als  spektroskopische  Doppel- 
Sterne  zu  behandeln  sind,  d.  h.  so  lange  man  noch  nicht  im  Stande  ist, 
die  wahren  Bahnen  durch  direkte  Beobachtung  zu  bestimmen,  sich  mit 
einer  Annäherungsrechnung  begnügen,  wonach  die  Bahn  als  kreisförmig 
behandelt  und  der  Begleiter  als  gänzlich  vor  dem  Hauptstern  stehend 
angenommen  wird.  Man 
wird  doch  wenigstens  die 
Grössenordnung  richtig  be- 
kommen, und  dies  ist  ja 
in  vielen  Fällen  die  Haupt- 
sache. 

Bei  den  Algolsternen 
hat  man  eine  relativ  lange 
Periode  von  konstanter 
Lichtstärke  mit  einem 
kurzen,  relativ  starken 
Minimum.  Die  Periode 
des  Lichtwechsels  bleibt 
konstant;  jedoch  haben 
üfenauere  Untersuchungen 
schwer  erklärliche  Verän- 
derungen in  der  Perioden- 
länge festgestellt.    Ferner 

hat  Plassmann  nachgewiesen,  dass  etwa  in  der  Mitte  der  konstanten 
Lichtperiode  eine  sehr  geringe  Lichtabnahme  stattfindet,  welche  darauf 
hinzudeuten  scheint,  dass  der  Begleiter  nicht  völlig  dunkel  ist.  Die 
Fig.  18  stellt  graphisch  die  Änderungen  der  Lichtstärke  (in  Grössen- 
klassen)  von  Algol  und  einigen  anderen  veränderlichen  Sterne  um  das  Mi- 
nimum dar.    Die  Zeit,  in  Stunden,  ist  Abscisse,  die  Lichtstärke  Ordinate. 

Die  Perioden  der  bisher  bekannten  Algolsterne  fallen  zwischen  20,1 
Stunden  (C/Ophiuchi)  und  9,5  Tagen  (S  Cancri).  Die  Stärke  des  Licht- 
wechsels liegt  zwischen  0,7  und  etwa  3  Grössenklassen. 

Andere  veränderliche  Sterne.  Eine  noch  verwickeitere  Ver- 
änderlichkeit des  Lichtes  zeigt  der  Stern  Y  Cygni,  welcher  zwei  Minima 
zeigt  und  von  Duner  untersucht  wurde. 


Fig.  18. 


56  Physik  des  Himmels. 

Er  erklärte  die  Veränderlichkeit  von  Y  Cygni  so,  dass  der  eine  Stern 
zwischen  dem  ersten  und  zweiten  Minimum  durch  das  Periastrum  geht, 
d.  h.  sich  so  weit  wie  möglich  dem  anderen  Stern  nähert  und  dem- 
zufolge nach  dem  zweiten  Kepl ersehen  Gesetz  kürzere  Zeit  braucht,  als 
zwischen  dem  zweiten  und  dritten  (=  ersten)  Minimum,  in  welcher 
Zeit  er  das  Apastrum  (den  grössten  Sternabstand)  passiert.  Die  beiden 
Perioden  sollten  34^* ,  11'",  10^  und  37^^ ,  43"^,  43*  sein,  zusammen  3  Tage 
weniger  307  Sekunden.  Die  Längen  der  Perioden  für  die  beiden  Minima 
sind  einander  nicht  ganz  gleich,  indem  sie  für  das  eine  18^,66  länger 
als  für  das  andere  ist,  was  eine  Verschiebung  der  Apsidlinie  andeuten 
soll  (vgl.  unten  Kap.  Das  Sonnens3^stem). 

Duner  hat  nachgewiesen,  dass  der  Hauptstern  im  Doppelstern  f  Her- 
culis  ein  veränderlicher  Stern  von  derselben  Art  wie  F  Cygni  ist.  Die 
Lichtverhältnisse  dieses  Sterns  werden  verständlich,  wenn  man  annimmt, 
dass  er  aus  zwei  Komponenten  besteht,  wovon  der  eine  doppelt  so  hell 
ist  wie  der  andere.  Sie  drehen  sich  umeinander  in  einer  Zeit  von  drei 
Tagen,  23  Stunden,  48  Minuten  und  3  Sekunden  in  einer  elliptischen 
Bahn,  deren  grosse  Halbachse  sechsmal  so  gross  ist  als  der  mittlere 
Durchmesser  der  Sterne.  Die  Bahnebene  geht  durch  die  Sonne  und  die 
Excentricität  beträgt  0,2475. 

Den  Algolsternen  schliessen  sich  einige  Sterne  nahe  an,  bei  denen 
das  Lichtminimum  aber  einen  sehr  bedeutenden  Bruchteil  der  Periode 
ausmacht,  wie  z.  B.  S  in  der  Luftpumpe,  wo  die  Periode  nur  7  Stunden 
46  Minuten  beträgt.  In  diesem  Fall  beginnt  die  Zunahme  der  Licht- 
stärke unmittelbar  nach  dem  Ende  der  Abnahme.  Diesem  Stern  ähnlich 
verhalten  sich  einige  Sterne,  die  vielfache  Unregelmässigkeiten  aufweisen 
wie  6  Cephei  (Fig.  19)  und  ß  Lyrae.  Nur  ist  die  Periode  hier  viel  länger 
(5^ ,  8^  ,  47"%  40*  resp.  12^ ,  22'* ).  Im  allgemeinen  verläuft  die  Zunahme 
der  Lichtstärke  für  diese  Sterne,  wie  für  die  Mirae,  schneller  wie  die 
Abnahme.  Einige  von  ihnen  haben  doppelte,  verschieden  kräftige  Maxima 
oder  Minima. 

Sehr  gewöhnlich  ist  es,  dass  die  Minima  bei  diesen  Sternen  nicht 
zu  der  Zeit  eintreffen,  in  welcher  die  Sterne  in  Konjunktion  stehen, 
was  man  aus  den  Verschiebungen  der  Spektrallinien  bestimmen  kann. 
Bei  ?]  Aquilae  z.  B.,  welcher  einen  dunklen  Begleiter  besitzt  und  einen 
Lichtwechsel  nach  einer  Periode  von  7,176  Tagen  erleidet,  und  der  eine 
Bahn  mit  der  Excentrizität  0,49  beschreibt,  treffen  die  Lichtminima  2,1 
resp.  1,4  Tage  vor  der  Konjunktion  ein.  Man  ist  durch  solche  Erschei- 
nungen zu  der  Ansicht  geführt  worden,  dass  die  Helligkeit  dieser  Sterne 


I.  Die  Fixsterne.  57 

von  einer  Flutwelle  bedingt  ist.  Ebenso  wie  die  Flutwelle  der  Meere 
auf  der  Erde  nicht  gerade  dann  eintrifft,  wenn  der  Mond  im  Zenith  steht, 
so  kann  dies  sehr  wohl  auch  auf  diesen  Himmelskörpern  der  Fall  sein. 
D.  h.  die  Flutwelle,  welche  durch  die  stark  absorbierende  kältere  Gas- 
hüUe  die  Helligkeit  des  Sterns  beeinträchtigen  sollte,  braucht  nicht  gerade 
dann  die  uns  zugewendete  Seite  des  Sternes. zu  passieren,  wenn  der  dunkle 
Begleiter  gerade  vor  oder  hinter  dem  Stern  in  der  Sichtlinie  steht. 

In  jüngster  Zeit  hat  man  sehr  viele  veränderliche  Sterne  dieser  Art 
entdeckt.  Die  kürzeste  Periode  (0,23  Tage)  hat  ZJPegasi  {Ä  R=2^^\  53"% 
B=  +  150  24'),  danach  kommt  R  Muscae  {ÄR==12\  36^1)=— 68^52') 
mit  0,88  Tagen.  Die  Algolsterne  sind  alle  weiss  und  befinden  sich  dem- 
nach in  dem  ersten  Stadium  der  Entwickelung.  Die  Sterne  von  dem 
T3'pus  ß  Lyrae  scheinen  noch  weniger  entwickelt  zu  sein,  sie   enthalten 

37 


4.9- 


O    6    7i>    W    24    30  35  ^2   4S  S4    60  66    7Z    78    Ö4    SO  S6  WZ  70S  ri4^  120  726  7J2 

Fig.  19.     Die  zeitHche  Veränderung  der  Grösse  von  6  Cephei. 

alle  Heliumlinien,  darunter  auch  die  Orionlinie,  und  sind  von  einer 
dichten  Wasserstoffatmosphäre  umgeben.  Sie  sind  gewissermaassen  sehr 
heisse  Sterne  in  einer  Nebelhülle  eingeschlossen.  Sie  sind  nach  dem 
spektroskopischen  Charakter  sehr  enge  Doppelsterne. 

Sehr  eigentümlich  verhalten  sich  einige  veränderliche  Sterne,  welche 
keine  regelmässige  Periode  der  Lichtschwankung  besitzen. 

Dieser  Gattung  gehört  Beteigeuze  («  Orionis)  an,  welcher  unregelmässig 
zwischen  den  Grössenklassen  1,0  und  1,4  schwankt.  Ein  anderer  ähn- 
licher Stern  ist  Um  den  Zwillingen,  welcher  ein  weisser  Stern  13.  Grössen- 
klasse  ist,  der  gelegentlich  um  drei  Grössenklassen  anwächst. 

Mira-Sterne.  Schon  lange  ist  eine  sehr  zahlreiche  Klasse  von 
veränderlichen  Sternen  bekannt,  welche  nach  dem  ersten  Beispiel,  der 
sog.  Mira  Ceti,  dem  „wunderbaren"  Stern  im  Walfisch,  Mira-Sterne  ge- 
nannt werden.  Sie  haben  eine  recht  lange  Periode,  von  ein  paar  Monaten 
bis  zu  mehreren  Jahren.  Schon  im  17.  Jahrhundert  wusste  man,  dass 
Mira  (o)  Ceti  sehr  bedeutenden  Lichtwechseln  unterworfen  ist.    In  ihrem 


58  Physik  deB  Himmels. 

hellsten  Glanz  strahlt  sie  bisweilen  wie  ein  Stern  erster  bis  zweiter 
Grösse,  aber  jedenfalls  mehr  als  fünfter  Grösse.  10  Wochen  nach  diesem 
Maximum  ist  sie  nicht  mehr  mit  unbewaffnetem  Auge  sichtbar;  ihre 
Helligkeit  sinkt  bis  zur  9,5  Grösse.  Danach  nimmt  ihr  Licht  wieder  zu, 
so  dass  sie  mit  blossem  Auge  sichtbar  wird,  und  nach  weiteren  sechs 
Wochen  hat  sie  das  Maximum  der  Lichtstärke  erreicht.  Die  ganze  Periode 
beträgt  etwa  elf  Monate  und  schwankt  zu  beiden  Seiten  dieser  mitt- 
leren Zeit. 

Dieser  Stern  gehört  zu  den  roten  Sternen  mit  hellen  Linien  und 
Bändern  im  Spektrum.  Er  entfernt  sich  von  uns  mit  einer  bedeutenden 
Geschwindigkeit  von  etwa  63  km  pro  Sek.  Die  hellen  Linien  gehören 
dem  Wasserstoff  an.  Diese  verbreitern  sich  häufig  und  geben  drei  Linien, 
bei  welchen  beispielsweise  die  Geschwindigkeiten  +  35,  +  60  und  +  82  km 
gemessen  worden  sind.  Vielleicht  beruht  aber  diese  temporäre  Zerspal- 
tung  der  Wasserstoff linien  nicht  darauf,  dass  drei  Körper  um  einander 
rotieren,  sondern  nur  auf  Druck  Verschiedenheiten  (?  Campbell). 

Die  Periode  der  Mirasterne  wechselt  zwischen  65  Tagen  bis  gegen 
zwei  Jahre.  Wahrscheinlich  giebt  es  ähnliche  Sterne  von  noch  längerer 
Periode,  die  sich  bisher  der  Beobachtung  entzogen  haben. 

Etwa  60  Prozent  derselben  gehören  den  roten  Sternen  an,  27  Prozent 
liegen  zwischen  gelb  und  rot,  die  übrigen  sind  zur  Hälfte  gelb,  zur  Hälfte 
weiss  oder  gelblichweiss.  Diese  Sterne  ändern  ihre  Helligkeit  ganz  enorm 
bisweilen  im  Verhältnis  1  :  100.  Die  Veränderung  der  Periodenlänge 
ist  auch  für  die  Mirasterne  charakteristisch.  Sehr  auffallend  ist  die 
Eigentümlichkeit,  dass  die  Periodenlänge  (P)  mit  der  Rotfärbung  zu- 
nimmt. Die  folgende  kleine  Tabelle  giebt  die  Stufe  der  Rotfärbung  (F) 
an,  wo  0  weiss  und  10  dunkelstes  Rot,  „Rubinrot",  bedeuten,  n  ist  die 
Anzahl  der  Sterne  von  jeder  Gruppe: 


F 

P 

n 

9 

445 

Tage 

5 

8 

418 

» 

1 

7 

399 

5> 

6 

6 

372 

»! 

17 

5 

339 

» 

14 

F 

P 

n 

4 

301 

Tage 

17 

3 

279 

» 

21 

2 

274 

» 

23 

1 

251 

?? 

12 

0 

134 

?? 

5 

Die  längsten  Perioden  besitzen  die  sehr  roten  Sterne  S  Cassiopejae 
(611  Tage)  und  FHydrae  (575  Tage).  Die  genannte  Regelmässigkeit 
wurde  von  Chan d  1er  nachgewiesen. 

Wie  schon  oben  betreffs  der  Spektraltypen  angedeutet  wurde,  zeigen 


I.  Die  Fixsterne.  59 

R  Spektra  der  roten  Sterne  eine  gewisse  Ähnlichkeit  mit  demjenigen 
der  Sonnenflecken,  indem  die  dunklen  Metalllinien  stark  verbreitert  und 
])isweilen  von  hellen  Linien  begleitet  sind.  Man  hat  sich  die  Sache 
folgendermaassen  ausgelegt.  Die  Sonne  ist  gewissermaassen  als  ein  ver- 
änderlicher Stern  von  elfjähriger  Periode  anzusehen,  indem  die  Sonnen- 
flecken alle  elf  Jahre  stärker  auftreten.  Die  Sonnenfleckenperiode  ist 
dadurch  charakterisiert,  dass  das  Maximum  der  Sonnenflecken  steiler 
ansteigt,  als  es  abfällt,  die  Helligkeit  der  Sonne  verhält  sich  danach 
wie  diejenige  der  Mira-Sterne  unter  der  wahrscheinlichen  Annahme,  dass 
die  Sonne  bei  hoher  Fleckenzahl  stärker  leuchtet  als  bei  niedriger. 

Die  Veränderlichkeit  der  Lichtstärke  der  Sonne  ist  jedenfalls  so 
gering,  dass  sie  nur  wenige  Prozent  der  Totallichtmenge  umfasst.  Denken 
wir  ims  aber  die  Sonnenfleckenthätigkeit  bedeutend  verstärkt  und  ihre 
Periode  verkürzt,  so  erhalten  wir  Verhältnisse,  welche  an  die  bei  Mira- 
Sternen  herrschenden  erinnern.  Man  könnte  sich  wohl  denken,  dass  die 
Flecken  Zeichen  zunehmenden  Alters  seien;  dann  würden  diese  eine 
grössere  Kolle  bei  den  alten  roten  Sternen  als  bei  unserer  Sonne  spielen. 

Man  braucht  aber  die  Periode  der  Mira-Sterne  nicht  mit  der  langen 
elfjährigen  Periode  der  Sonnenflecken  zu  vergleichen,  sondern  die  Flecken 
könnten  bei  den  Mira-Sternen  sehr  ausgedehnt  sein  und  an  derselben 
Stelle  auf  der  Sternenscheibe  vorzugsweise  vorkommen.  In  diesem  Falle 
würde  die  Periode  mit  der  Rotationsperiode  des  Sterns  zusammenfallen. 
In  dieser  Weise  werden  die  Schwankungen  in  der  Periodenlänge  ver- 
ständlich (sie  kommen  auch  bei  der  Sonne  vor).  Schliesslich  hat  man  ver- 
mutet, dass  die  Gezeitenerscheinung  etwas  mit  dieser  Veränderlichkeit 
zu  thun  hätte.  Diese  Idee  scheint  schwer  durchzuführen.  Lockyer  end- 
lich nimmt  an,  dass  diese  variablen  Sterne  eine  Bahn  beschreiben  und 
dabei  Meteorschwärmen  begegnen,  wie  „unsere  Erde  in  ihrer  Bahn  und 
zwar  wie  diese  zu  bestimmten  Jahreszeiten."  Die  grossen  Schwankungen 
der  Periodenlängen  scheinen  damit  schwer  in  Einklang  zu  bringen, 
ebenso  wird  das  Chandlersche  Gesetz  schwer  verständlich.  Man  müsste 
dann  annehmen,  dass  die  „ältesten  Himmelskörper"  die  längste  Umlaufs- 
zeit hätten;  während  kein  Zusammenhang  zwischen  Alter  und  Umlaufs- 
zoit  in  der  Bahn  natürlich  erscheint.  Dagegen  könnte  wohl  ein  Abnehmen 
der  Rotationsgeschwindigkeit  oder  der  Flutwellengeschwindigkeit  mit  zu- 
nehmendem Alter  der  Gestirne  natürlich  erscheinen. 

Die  veränderlichen  Sterne  sind  nicht  gleichmässig  auf  dem  Himmel 
verteilt.  In  einigen  Sterngruppen,  wie  O  C  5272  im  Bootes  und  5904  in 
der  Schlange   sind  unter   900   Sternen    132   resp.  85  ^veränderliche ;   in 


ßO  Phyik  des  Himmels. 

anderen,  wie  G  G  869  und  884  im  Perseus,  kommt  nur  ein  veränder- 
licher auf  1050  Sternen.  Im  allgemeinen  kommen  die  veränderlichen 
Sterne  am  häufigsten  in  solchen  Sterngruppen  vor,  wo  die  Sterne  sehr 
dicht  liegen.  Ebenso  können  sie  auf  einer  Seite  einer  Sterngruppe  ge- 
drängt sein,  auf  der  anderen  beinahe  fehlen. 

Neue  Sterne.  Mit  diesem  Namen  bezeichnet  man  Sterne,  die 
plötzlich  erscheinen,  eine  Zeit  leuchten,  bis  sie  allmählich  an  Lichtkraft 
verlieren  und  zuletzt  verschwinden.  Der  bekannteste  unter  allen  neuen 
Sternen  ist  nach  dem  berühmten  dänischen  Astronomen  Tycho  Brahe 
der  tychonische  genannt  worden.  Am  8.  November  1572  war  nichts 
auffälliges  in  dem  Sternbild  Cassiopeja  zu  sehen,  am  folgenden  Tag  trat 
aber  daselbst  ein  Stern  auf,  welcher  alle  anderen  Fixsterne  weit  über- 
glänzte, so  dass  er  zur  Mittagszeit  gesehen  werden  konnte.  Einige 
Wochen  behielt  der  neue,  von  Tycho  Brahe  beobachtete  Stern  seinen 
ausserordentlichen  Glanz, .  nachher  fing  seine  Helligkeit  an  zu  sinken,  und 
vier  Monate  nach  dem  Aufflackern  erreichte  sie  nur  diejenige  eines 
Sterns  erster  Grösse.  Zugleich  wurde  allmählich  die  anfangs  weisse 
Farbe  immer  röter.  Im  Mai  1573  war  er  2.  bis  3.  Grösse  und  etwas 
weisslicher.  Im  November  war  er  kaum  sichtbar,  und  nach  März  1574 
wurde  er  nie  mehr  gesehen.  Heutzutage  sieht  man  an  dem  von  Tycho 
Brahe  angegebenen  Orte  ein  Sternchen  11.  Grösse,  das  vielleicht  ein 
Überbleibsel  des  einst  so  strahlenden  tychonischen  Sternes  ist. 

Man  kann  sich  nun  fragen,  ob  nicht  vielleicht  dieser  neue  Stern 
ein  veränderlicher  Stern  von  sehr  langer  Periode  gewesen  sein  kann. 
Es  ist  aber  höchst  unwahrscheinlich,  dass  der  tychonische  Stern  der  Auf- 
merksamkeit entgangen  wäre,  wenn  er  früher  in  dem  Glänze  von  Nov.  1 572 
aufgeleuchtet  hätte.  Es  scheint  deshalb  nicht  wohl  möglich,  diesen  Stern 
unter  die  Mira-Sterne  einzuordnen,  obgleich  er  in  vielen  Beziehungen 
eine  entschiedene  Ähnlichkeit  mit  diesen  besitzt. 

Die  chinesischen  Chroniken  haben  das  Auftreten  von  mehreren  neuen 
Sternen   aufbewahrt  und   die  Örter  ihres  Erscheinens   angegeben.    Siel 
stimmen  nicht  mit  demjenigen  des  tychonischen  überein.    Vom  Mittel-  * 
alter  werden  auch  einige  ähnliche  Erscheinungen  erzählt,   aber   erst  in 
der  neueren  Zeit  solche,  die  in  nennenswertem  Grade  zur  Kenntnis  der 
neuen  Sterne  beitragen. 

In  den  Jahren  1600  und  1604  erschienen  zwei  neue  Sterne.  Der  erst- 
genannte war  3.  Grösse  und  schwankte  nachher  mehrere  mal  zwischen 
dieser  Grösse  und  ünsichtbarkeit,  bis  er  endlich  auf  0.  Grösse  verblieb; 
er  führt  jetzt  die  Bezeichnung  34  oder  P  Cygni.   Der  letztgenannte  war 


L  Die  Fixsterne.  ß\ 

I.  Grösse,  Avurde  von  Kepler  studiert  und  verschwand  nach  16  Monaten. 
Dann  kommen  zwei  Novae  auf  die  Jahre  1612  und  1670,  worauf  erst  1848 
wieder  eine  Nova  verzeichnet  wurde,  als  Hind  einen  Stern  4,5.  Grösse 
entdeckte,  welcher  im  Jahre  1850  auf  11.  Grösse  gesunken  war. 

Später  wurden  neue  teleskopische  Sterne  gefunden,  der  erste  von 
Auwers  im  Skorpion  1860,  und  in  neuester  Zeit  hat  man  die  kräftigsten 
spektroskopischen  Hilfsmittel  angewandt,  um  ihre  Entdeckung  zu  ermög- 
lichen. Seit  dieser  Zeit  haben  wir  relativ  viele  neue  Sterne  zu  verzeich- 
nen, von  denen  die  merklichsten  erschienen  1 866  in  der  nördlichen  Krone, 
1876  im  Schwan,  1885  im  Andromedanebel,  1892  im  Fuhrmann,  1893 
in  der  Norma  und  1895  im  Centauren. 

Die  beiden  letztgenannten  sind  an  der  Arequipa-Sternwarte  von 
Mrs.  Fleming  entdeckt  worden,  welche  seit  1885  die  Novae  mit  7  neuen 
Sternen  vermehrt  hat.  Man  hat  in  jüngster  Zeit  beinahe  eine  neue  Nova 
jedes  Jahr,  wodurch  die  Kenntnis  von  diesen  eigentümlichen  Himmels- 
gebilden bedeutend  bereichert  wurde.  Vor  1895  waren  im  ganzen  nur 
14  Novae  bekannt. 

Der  neue  Stern  der  nördlichen  Krone  (T  Coronae)  erschien  in  der 
Nacht  am  12.  Mai  1866  als  Stern  2.-3.  Grösse  an  der  Stelle,  wo 
frühere  Kataloge  einen  9.— 10.  Grösse  verzeichnet  hatten.  Er  muss  in 
wenigen  Stunden  um  mehrere  Grössenklassen  zugenommen  haben.  Er 
nahm  bald  wieder  ab,  sodass  er  am  Ende  des  Monats  zur  ursprüng- 
lichen Grösse  herabsank,  bei  welcher  er  nachher  geblieben  ist.  Die 
spektroskopische  Untersuchung  von  Huggins  ergab  eine  Mischung  von 
hellen  (Wasserstoff-)  und  dunklen  Linien.  •  (Vgl.  Taf.  ü,  4.) 

Der  neue  Stern  im  Schwan  wurde  als  rötlicher  Stern  3.-4.  Grösse 
von  Schmidt  in  Athen  am  14.  Nov.  1876  entdeckt;  er  nahm  langsam 
an  Lichtstärke  ab,  war  im  Okt.  1877    10.,   im  Febr.  1878   kleiner  als 

II.  Grösse.  Das  Spektrum  dieses  Sterns  wurde  von  vielen  Beobachtern 
untersucht.  Die  Wasserstoff linie  IIa  [G  der  Sonne  ==  658  iifi)  nahm 
schnell  ab,  während  Hß  (486,2  [ly)  ziemlich  unverändert  blieb.  Dagegen 
nahm  die  Nebellinie  500,7  ^(i  immer  zu,  bis  sie  die  hellste  war.  Dieses 
Verhalten  scheint  für  die  neuen  Sterne  charakteristisch  zu  sein.  Die 
anderen  Linien  waren  594?,  588  He,  581  Linie  der  Wolf-Ray etsterne 
530  Coronium,  516?,  501  und  496  Nebulosalinien,  468  neue  Ä-Linie 
(vgl.  S.  45),  456  Z?-Linie,  451?,  435  iiT-Linie. 

Das  kontinuierliche  Spektrum  des  neuen  Sterns  verblasste  schnell, 
erst  am  violetten  Ende,  und  das  Spektrum  ging  allmählich  in  ein 
typisches  Spektrum  eines  Nebels  über,  in  welchem  die  G^se  der  höchsten 


62  Physik  des  Himmels. 

Sonnenatmosphäre  (Wasserstoff,  Helium  und  Coronium)  neben  dem  Nebel- 
stoff vorwiegen. 

Etwas  anders  verhielt  sich  die  Nova  1885  im  Andromedanebel.  Sie 
war  bei  der  Entdeckung  am  17.  Aug.  1885  6.,  Anfang  Sept.  8.,  Okt.  10., 
Nov.  11.  und  Jan.  1886  12.  Grösse  und  verschwand  danach  allmählich. 
Wie  die  Nova  1860  befand  sie  sich  in  einem  Sternhaufen.  Sie  zeigte 
nur  ein  kontinuierliches  Spektrum,  das  allmählich  erblasste. 

Am  genauesten  ist  der  neue  Stern  Nova  Aurigae  studiert  worden. 
Er  wurde  zuerst  am  23.  Jan.  1892  gesehen,  hatte  aber  dann  das  Maximum 
seiner  Helligkeit  überschritten,  wie  ältere  photographische  Beobachtungen 
von  der  Harvard-Sternwarte  in  Cambridge  U.  S.  A.  zeigten.  Er  lief  im 
Anfang  des  Jahres  mehrere  unregelmässige  Lichtschwankungen  durch. 
Ende  April  war  er  gänzlich  verschwunden,  wurde  aber  August  1892 
wieder  in  Form  von  Nebel  entdeckt.  Sein  Spektrum,  das  nach  Campbells 
Zeichnung  vom  28.  Febr.  1 892  (Fig.  7  ^)  wiedergegeben  ist,  zeigt  dieselben 
Linien  wie  die  vorhin  genannte  Nova  Cygni.  Fig.  7^'  deutet  die  rela- 
tive Lichtstärke  in  verschiedenen  Teilen  des  Spektrums  an.  Die  Linien  sind 
sehr  breit  und  hell  mit  breiten  dunklen  Begrenzungen  nach  Violett  hin.  Nach 
dem  Wiederlinden  (1892)  gab  dieser  Stern,  wie  gesagt,  Nebelspektrum, 
worin  zuerst  die  Linien  436  und  575  vorkamen,  die  aber  bis  zum  Zehntel 
der  ursprünglichen  Intensität  im  Jahre  1896  abgenommen  hatten  und 
jetzt  verschwunden  sind.  Diese  Linien  sind  in  einigen  wenigen  Nebeln 
(5  resp.  3)  wiedergefunden  worden.  Sie  scheinen  nach  dem  Vorkommen 
in  Nova  Aurigae  nur  für  den  heissesten  Nebelzustand  charakteristisch 
zu  sein.  Die  beiden  Nebellinien  500  und  496,  ebenso  wie  die  Wasser- 
stofflinien Hß  (486,2)  und  Hy  (410,2)  sind  aber  seit  1892  ungeschwächt 
geblieben. 

Die  Nova  Normae  vom  10.  Juli  1893,  welche,  anfangs  7.  Grösse,  bis 
Febr.  1894  auf  die  10.  Grösse  gesunken  war,  ist  wie  ihr  Vorgänger  und 
Nova  Cygni  zu  Gasnebel  übergegangen.  Der  neue  Stern  Nova  Centauri 
(der  Harvard-Stern)  von  1895  gab  aber  die  ganze  Zeit  ein  kontinuier- 
liches Spektrum.  Er  hatte  folgende  Grössen:  Bei  der  Entdeckung  1895: 
10.  Juli  7.2  Gr.,  19.  Dec.  11.  Gr.,  1896:  11.  Juni  14.4  Gr.,  9.  Juli  16.  Gr. 
und  war  seit  Anfang  1897  nicht  mehr  zu  entdecken.  Hussey  fand  ihn 
(Juni  1896)  von  einem  Nebel  umgeben  mit  ganz  anderem  Spektrum 
(500,7,  495,9,  486,2  und  469,0?,  die  zwei  Nebellinien  und  zwei  ZZ-Linien. 
vgl.  S.  33  und  45).  Vielleicht  war  dieser  Nebel  wegen  des  relativ  starken 
Lichtes  der  Nova  vorher  der  Entdeckung  entgangen. 

Einen  relativ  lichtstarken  neuen  Stern  fand  Mrs.  Fleming  im  März 


1.  Die  Fixsterne.  63 

4898  an  der  Grenze  zwischen  Schützen  und  Adler  (AR  =  1S'\  56,2 "^ 
^  =  — 13^18'").  Er  war  bei  der  Entdeckung  5.,  ein  Jahr  später  nur 
Kl.  Grösse. 

Die  eigentümlichen  Verschiebungen  im  Spektrum  der  Nova  Aurigae 
haben  zu  vielen  Spekulationen  Anlass  gegeben.  Die  hellen  Linien,  welche 
nach  violett  hin  von  dunklen  Linien  begrenzt  sind,  geben  zu  der  Deutung 
Anlass,  man  hätte  hier  mit  einem  Gasnebel  und  einer  Sonne  (die  dunkeln 
Linien)  zu  thun,  welche  sich  gegeneinander  mit  einer  Geschwindigkeit 
von  9(10  km  pro  Sek.  bewegten.  Diese  Geschwindigkeit  erhielt  sich 
konstant  und  eine  ähnliche  wird  bei  der  Nova  Normae  (1893),  ebenso  wie 
l)ei  den  Sternen  ß  Lyrae  und  P  Cygni  (die  Nova  von  1600),  beobachtet. 
Bei  diesen  letzten  treten  auch  periodische  Linienverschiebungen  ein, 
welche  auf  eine  kreisende  Bewegung  dieser  Doppelsterne  hindeuten.  Da 
nun  ähnliche  grosse  Geschwindigkeiten  nicht  wohl  die  Folge  von  Massen- 
anziehungen sein  können,  und  jedenfalls  nie  sonst  bei  Sternen  mit 
Sicherheit  beobachtet  worden  sind,  so  scheint  es  doch  sehr  eigentümlich, 
wenn  diese  Geschwindigkeiten  gerade  in  so  vielen  Fällen  bei  den  Novae  und 
damit  verwandten  Sternen  vorkämen.  Wilsing  hat  deshalb  versucht,  die 
eigentümliche  Linienverteilung  als  Folge  der  Druckverhältnisse  zu  er- 
klären. Er  liess  Funken  zwischen  zwei  Elektroden  unter  Wasser  über- 
springen. In  diesem  Fall  entstehen  sehr  grosse  Drucke  (Hunderte  von 
Atmosphären)  von  kurzer  Dauer.  Die  Elektroden  bestanden  aus 
Metallen,  wie  Eisen,  Nickel,  Platin,  Kupfer,  Silber,  Zink,  Zinn,  Cadmium 
und  Blei.  Das  Eisenspektrum  zeigte  helle  Linien,  die  (gegen  die  Lage 
der  Eisenlinien  in  Luft)  nach  rot  verschoben  und  auf  der  violetten 
Seite  von  dunklen  Linien  begrenzt  waren;  es  zeigte  demnach  eine  auf- 
fallende Ähnlichkeit  mit  dem  Spektrum  von  Nova  Aurigae.  In  den 
anderen  Metallspektren  traten  Verbreiterungen,  Verschiebungen  und 
Verdoppelungen  der  Linien  ein.  Silber  gab  ein  kontinuierliches  Spektrum. 
In  Übereinstimmung  mit  Humphreys  Untersuchungen  wurde  gefunden, 
dass  der  Effekt  bei  Zinn  und  Zink  und  besonders  bei  Cadmium  viel 
Grösser  ist  als  bei  Eisen  und  Platin. 

Wilsing  hält  es  somit  für  wahrscheinlich,  dass  die  Linieneigentüm- 
lichkeiten von  dem  hohen  Gasdruck  herrühren,  welcher  nach  dem,  was 
vorher  bekannt  war,  in  dem  Dunstkreis  solcher  Sterne  wie  ß  Lyrae  herrscht. 

Das  Vorkommen  von  Novae  in  Sternhaufen  oder  in  Nebeln  macht 

s  wahrscheinlich,  dass  sie  von  Zusammenstössen  eines  Sterns  mit  einem 

anderen  in  einem  Sternhaufen  oder  mit  einem  Nebel  herrühren  (Seeliger). 

Da  der  Nebel  an  verschiedenen  Stellen  verschieden  dicht  jst,  können  solche 


ß4  Physik  des  Himmels. 

Schwankungen  in  der  Lichtstärke  wie  diejenige  der  Nova  Aurigae  erklär- 
lich werden.  Sowohl  der  Stern  wie  der  Nebel  wird  durch  den  Zusammen- 
stoss  erhitzt.  Je  nach  der  Natur  des  Sterns  und  des  Nebels  kann  es  vor- 
kommen, dass  das  Spektrum  des  einen  oder  anderen  überwiegt,  oder  alle 
beide  gleichzeitig  auftreten.  Danach  tritt  schnelle  Abkühlung  ein,  wo- 
nach das  Nebelspektrum  vorherrscht  und  einen  immer  kälteren  Zustand 
andeutet.  Bei  den  Zusammenstössen  in  Sternhaufen  kann  natürlicher- 
weise das  Nebelspektrum  ausbleiben. 

Auffallend  ist  es,  dass  die  meisten  neuen  Sterne  in  der  Milchstrasse 
oder  ihrer  Nähe  aufgefunden  wurden.  Eigentlich  ist  es  nur  ein  ein- 
ziger der  neuen  Sterne  (N.  Coronae),  welcher  sehr  weit  von  der  Ebene 
der  Milchstrasse  (46,8^)  liegt.  Die  neuen  Sterne  in  der  Andromeda  und 
dem  Centaur  hatten  im  Gegensatz  zu  anderen  Novae  keine  hellen  Linien 
im  Spektrum.  Schliesst  man  diese  beiden  und  Nova  Coronae  aus,  so 
ist  der  mittlere  Abstand  der  übrigen  12  neuen  Sterne  (vor  1895)  3,8^ 
von  der  Centrallinie  der  Milchstrasse.  Diese  Verteilung  dürfte  kaum 
dem  Zufall  zuzuschreiben  sein,  obgleich  im  allgemeinen  die  Sterne  sich 
an  die  Milchstrasse  häufen. 

Jedenfalls  ist  das  Aufflammen  einer  Nova  am  einfachsten  als  die 
Folge  eines  Zusammenstosses  anzusehen.  Durch  einen  solchen  Zusammen- 
stoss  kann  offenbar  ein  altes  Weltsystem  wieder  zu  Jugend  erweckt 
werden,  d.  h.  gesteigerte  Temperatur  und  Leuchtkraft  annehmen. 

Die  nicht  unbeträchtliche  Zahl  der  Novae  in  neuester  Zeit,  etwa  ein 
Fall  pro  Jahr,  zeigt,  dass  eine  solche  Wiederbelebung  der  Sterne  gar 
nicht  als  etwas  sehr  ausserordentliches  anzusehen  ist.  Die  bisweilen 
enormen  und  gewöhnlicherweise  grossen  relativen  Geschwindigkeiten  der 
Sterne  geben  die  Erklärung  dafür,  dass  die  Novae  ziemlich  schnell  nach- 
einander auftauchen,  trotzdem  die  Sternkörper  einen  äusserst  geringen 
Teil  des  Weltraumes  einnehmen  (vgl.  weiter  unten  die  Komogonie). 


n.  Das  Sonnensystem. 

Ausser  den  im  vorigen  behandelten  Himmelskörpern,  welche  im 
Jtertum  als  auf  dem  Himmelsgewölbe  gegeneinander  feststehend  an- 
gesehen wurden  und  deshalb  den  Namen  Fixsterne  erhielten,  fand  man 
einige  wenige  andere  Himmelskörper  auf,  welche  im  Gegensatz  zu  den 
Fixsternen  schnell  ihre  Stellung  zu  diesen  veränderten  und  deshalb 
Wandelsterne  genannt  wurden.  Diese  Wandelsterne  sind  ausser  Sonne 
und  Mond,  die  Planeten  und  ihre  Begleiter,  Monde  oder  Satelliten  ge- 
nannt, sowie  die  Kometen. 

Die  (scheinbare)  Bahn  der  Sonne.  Die  Hauptaufgabe  der  alten 
Astronomen  war  diejenige,  die  Lage  der  Wandelsterne  zu  jeder  beliebigen 
Zeit  in  Bezug  auf  die  „stillstehenden"  Fixsterne  am  Himmelsgewölbe  zu 
bestimmen.    Am  einfachsten  gelingt  dies  für  die  Sonne. 

Aus  der  direkten  Beobachtung  des  Momentes,  in  welchem  die  Sonne 
durch  den  Meridian  geht,  erhält  man  ihre  Deklination.  Um  die  Rektascension 
zu  bestimmen,  kann  man  nicht  die  Mittagszeit  benutzen,  weil  die  Fix- 
sterne dann  nicht  sichtbar  sind.  Man  wählt  deshalb  eine  andere  Zeit,  eine 
bekannte  Anzahl  (a)  Sternstunden  nach  dem  Mittag,  bestimmt  einen 
Stern,  welcher  dann  kulminiert,  und  welcher  eine  bekannte  Rektascension 
{b)  besitzt.  Danach  rechnet  man  zurück,  und  erhält  die  Rektascension 
der  Sonne  durch  Abzug  der  Zahl  (a)  von  der  Rektascension  b  des  be- 
tretfenden  Sternes  (in  Sternstunden  angegeben).  Wenn  man  z.  B.  be- 
obachtet, dass  am  9.  Januar  um  Mitternacht  (12  Sternstunden  nach 
Mittag)  ein  Stern  im  Sternbilde  der  Zwillinge  oder  im  kleinen  Hund 
kulminiert,  dessen  Rektascension  7^  23^,  2  (=  31^  23"*,  2)  ist,  so  folgt 
daraus  ein  um  12'*  geringerer  Wert  der  Rektascension  der  Sonne  also  19^ 
23'",  2.    Die   entsprechende  Deklination  ist  —  22^  4',  6.     Aus   diesen 

Arrhenius,   Kosmische  Physik.  •  5 


66 


Physik  des  Himmels. 


o 


Daten  ersieht  man,  dass  die  Sonne  im 
genannten  Augenblick  am  Mittag  (Ber- 
liner Zeit)  des  9.  Januar  im  Sternbilde 
des  Schützen  steht  und  die  angeführten 
Koordinaten  besitzt. 

Im  Laufe  eines  Jahres  durchwan- 
dert die  Sonne  (scheinbar)  einen  grossen 
Kreis  auf  dem  Himmelsgewölbe  und  zwar 
mit  nahezu  konstanter  Geschwindigkeit. 
(Die  Abweichungen  davon  sind  leicht 
mit  Hilfe  des  zweiten  Kepl ersehen  Ge- 
setzes aus  der  bekannten  Excentricität  der 
Erdbahn  abzuleiten).  Die  Sonne  passiert 
dabei  den  Tierkreis  und  steht  (etwa) 
einen  Monat  in  jedem  Zeichen  dieses 
Kreises. 

Zufolge  der  mit  Jahreszeit  wech- 
selnden Stellung  der  Sonne  am  Himmel 
bietet  der  Nachthimmel  je  nach  der  Jahres- 
zeit einen  verschiedenen  Anblick.  Um  zu 
wissen,  welche  Sterne  zu  einer  bestimmten 
Zeit,  z.  B.  um  11  Uhr  N.  M.  kulminieren, 
hat  man  zu  der  Kektascension  R  der 
Sonne  am  Mittag  des  betreffenden  Tages 
ll'*  mittlere  Sonnenzeit  =  ll^  1«\  48« 
Sternzeit  zu  addieren.  Die  Sterne,  welche 
die  Kektascension  AR  ^  11^1*^,48«  be- 
sitzen, befinden  sich  also  im  betreffenden 
Augenblick  gerade  in  der  Meridianebene, 
woraus  leicht  der  sichtbare  Teil  des  Him- 
melsgewölbes zu  konstruieren  ist.  Im 
Winter  (15.  Januar)  kulminieren  zur 
Mitternacht  die  Zwillinge,  der  Luchs,  im 
Frühling  (15.  April)  Bootes,  die  Jagd- 
hunde, im  Sommer  (15.  Juli)  der  Adler, 
der  Schwan  und  im  Herbst  (15.  Oktober) 
Andromeda  und  Cassiopeja. 

Die  Bahnen  der  Planeten.  In 
ähnlicher  Weise,  wie   die    Stellung    der 


II.  Das  Sonnensystem. 


67 


Sonne,  verzeichneten  die  alten  Astronomen  diejenigen  der  Planeten 
in  Bezug  auf  die  Fixsterne.  Die  betreffenden  Bahnen  sind  bei  weitem 
nicht  so  einfach  zu  beschreiben  wie  diejenige  der  Sonne.  Fig.  20  giebt 
z.  B.  die  Bahn  der  Venus  im  Jahre  1847  wieder,  wobei  zur  besseren 
Beurteilung  ihrer  Lage  die  Ekliptik,  d.  h.  die  scheinbare  Bahn  der 
Sonne  eingezeichnet  ist.    Wie  man  sieht,  beschreibt  die  Venusbahn  eine 


Fig.  21. 

geschlossene  Schlinge  im  Herbst.     Eine  ähnliche  Bahn  kann  natürlicher- 
weise auch  nicht  angenähert  durch  einen  Kreis  dargestellt  werden. 

Die  Alten  fanden,  dass  diese  Bahnen  durch  sog.  epicyklische 
Linien  dargestellt  werden  können  (das  Ptolemäische  System).  Aber 
schon  Hipparch  (vgL  weiter  unten)  verstand,  dass,  wenn  man  die  Planeten- 
bahnen auf  die  Sonne  bezieht,  dieselben  annäherungsweise  um  die  Sonne 
gelegte  Kreise  bilden.     Diese  Wahrheit,  welche  im  Mittelalter  verloren 

ging,  wurde   von    Kopernikus   wieder   entdeckt,  wodurch   eine    neue 

5* 


58  Physik  des  Himmels. 

Aera  der  Astronomie  begründet  wurde.    Fig.  21  stellt  die  Planetenbahnen 
nach  ^dem  Kopernikanischen  System  dar. 

Die  absoluten  Entfernungen  im  Sonnensystem.  Die 
astronomischen  Messungen  bestehen  in  Bestimmungen  der  Lagen  der 
Himmelskörper,  welche  durch  Winkel  angegeben  werden.  Nach 
diesen  Messungen  kann  man  sich  ein  Modell  machen,  welches  die  re- 
lativen Lagen  der  Planeten  und  der  Sonne  mit  sehr  grosser  Genauigkeit 
wiedergiebt.  Um  die  absoluten  Entfernungen  der  Planeten  kennen  zu 
lernen,  braucht  man  danach  nur  eine  Entfernung  auszumessen,  so  kann 
man  daraus  alle  anderen  ableiten.  Zu  diesem  Zweck  wählt  man  einen 
Planeten,  welcher  der  Erde  relativ  nahe  kommt,  und  bestimmt  mittelst 
Triangulation  (vgl.  unten)  von  zwei  weit  voneinander  (in  bekannter 
Entfernung)    belegenen  Punkten  der  Erde  seinen  Abstand.    Zu  diesem 


Fig.  22. 

Zweck  sind  die  kleinen  Planeten  und  ausserdem  Mars  und  Venus  (bei 
Durchgängen)  sehr  brauchbar.  Besonders  gute  Bestimmungen  verspricht 
man  sich  aus  den  Beobachtungen  des  kleinen  neuentdeckten  Planeten 
Eros,  welcher  bisweilen  der  Erde  sehr  nahe  kommt. 

Eine  andere  Methode,  welche  auf  eine  physikalische  Bestimmung 
begründet  ist,  benutzt  die  Beobachtung  der  Verfinsterung  der  Jupiter- 
monde. Diese  werden  nach  gleich  langen  Intervallen  verfinstert,  wenn 
sie  in  den  Schatten  des  Jupiter  treten,  z.  B.  für  den  ersten  Jupitermond 
alle  42^  28»^,  35*. 

Beobachtet  man  aber  die  Verfinsterungen,  wenn  die  Erde  in  h  steht 
(siehe  Fig.  22,  wo  S  die  Sonne,  ho  g  kh  die  Erdbahn,  7  Jupiter  und  J 
seinen  ersten  Mond  bezeichnet),  d.  h.  wenn  die  Erde  sich  dem  Jupiter 
nähert,  so  findet  man  die  genannte  Periode  etwa  um  6  Sek.  verkürzt 
Um  ebensoviel  erscheint  sie  verlängert,  wenn  die  Erde  sich  in  g  befindet 


m 


IL  Das  Sonnensystem.  59 


und  sich  von  dem  Jupiter  entfernt.  Dies  beruht  darauf,  dass  im  ersten 
Falle  das  Licht  bei  der  nachfolgenden  Verfinsterung  nicht  so  lange  Zeit 
braucht,  um  von  /  nach  der  Erde  zu  gelangen,  wie  bei  der  ursprüng- 
lichen, da  die  Erde  sich  inzwischen  dem  Monde  /  genähert  hat.  Aus 
der  Änderung  der  Yerfinsterungsperiode  kann  man  in  ähnlicher  Weise 
wie  aus  der  Änderung  der  Schwingungsperiode  einer  Lichtschwingung 
nach  dem  Dopplerschen  Prinzip  das  Verhältnis  der  Lichtgeschwindigkeit 
zur  Geschwindigkeit  der  Erde  in  ihrer  Bahn  bestimmen. 

Wenn  man  nun  den  Eintritt  der  Verfinsterungen  beobachtet,  einmal 
wenn  die  Erde  nahezu  in  Opposition  mit  Jupiter  im  Punkte  a,  ein  anderes 
mal,  wenn  sie  nahezu  in  Konjunktion  mit  diesem  Planeten  im  Punkte  c 
steht,  und  die  Verspätung  im  letzten  Fall  gegen  den  ersten  beobachtet, 
so  entspricht  diese  Verspätung,  welche  gleich  16*^,  26*  =  986*  gefunden 
ist,  gerade  der  Zeit,  welche  das  Licht  braucht,  um  den  Weg  a  c,  d.  h. 
zwei  Sonnenweiten  zu  durchlaufen.  Da  nun  nach  den  Messungen  der 
Physiker  die  Lichtgeschwindigkeit  300  000  km  pro  Sek.  beträgt,  so  ist 
der  Durchmesser  der  Erdbahn  986.  3.  10^  km.  =  296  Millionen  km  und 
die  Sonnenweite  148  Millionen  km  anstatt  149,5,  welche  Zahl  aus  den 
astronomischen  Messungen  folgt. 

Bestimmung  der  Entfernung  der  Planeten  durch 
Parallaxenmessungen.  Schon  im  Altertum  führte  man  Messungen 
aus,  welche  zur  Bestimmung  des  Abstandes  des  Mondes  und  der  Sonne 
von  der  Erde  dienen  sollten.  Man  ging  dabei  von  der  bekannten  Methode 
der  Triangulation  aus;  von  den  beiden  Enden  einer  Basis,  deren  Länge 
ausgemessen  wurde,  maass  man  die  beiden  Winkel,  welche  die  Sicht- 
linien zum  Himmelskörper  mit  der  Basis  bildeten.  Anstatt  dessen  kann 
man  die  beiden  Winkel  messen,  welche  die  Sichtlinien  mit  der  Sicht- 
linie zu  einem  Fixstern  bilden  und  daraus  die  Grösse  der  vorhin  ge- 
nannten Winkel  ableiten. 

Dieser  Winkel  lässt  sich  zu  der  sog.  Parallaxe  des  Himmelskörpers 
umrechnen.  Unter  Parallaxe  eines  zum  Sonnensystem  gehörigen  Himmels- 
körpers versteht  man  denjenigen  Winkel,  unter  welchem  der  äquatoriale 
Halbmesser  der  Erde  von  einem  Punkt  des  betreffenden  Himmelskörpers 
gesehen  wird,  wenn  die  Sichtlinie  gegen  den  Halbmesser  senkrecht  steht. 

Auf  diese  Weise  bestimmte  schon  Hipparch  die  Parallaxe  des  Mondes 
zu  47,5 — 55,5  Bogenminuten  und  diejenige  der  Sonne  zu  3  Bogenminuten. 
In  neuerer  Zeit  verfährt  man  bei  Bestimmung  der  Mondparallaxe  am 
einfachsten  so,  dass  man  die  Zenithdistanz  des  nördlichen  oder  südlichen 
Mondrandes  bei  seinem  Gang  durch  die  Meridianeb(ine  an  zwei  (nahezu) 


70  Physik  des  Himmels. 

auf  demselben  Meridian  gelegenen  Sternwarten  ermittelt.  Die  wahre 
Mondparallaxe  ist  etwas  mit  der  Zeit  veränderlich,  nachdem  der  Mond 
uns  nicht  immer  gleich  nahe  steht,  und  beträgt  im  Mittel  57',  2",  3. 
Dies  entspricht  einer  Entfernung  des  Mondmittelpunktes  zum  Mittel- 
punkt der  Erde  von  60,27  Äquatorialradien  oder  384  400  km. 

Man  ersieht  hieraus,  dass  die  Bestimmung  des  Mond- 
abstandes von  Hipparch  annähernd  richtig  war.  Dagegen 
hatte  er  die  Sonnenparallaxe  viel  zu  hoch  geschätzt.  Die 
Entfernung  der  Sonne  war  zu  gross,  als  dass  sie  auf 
diese  Weise  genau  von  Hipparch  hätte  bestimmt  werden 
können.  Aristarch  wendete  in  diesem  Falle  eine  in- 
direkte Methode  an.  Er  maass  den  Winkel  (a)  zwischen 
den  Sichtlinien  der  Sonne  und  des  Mondes  (Fig.  23),  als 
er  gerade  halb  erschien  und  folglich  der  Winkel  zwischen 
Fiff.  23.  ^^^  Verbindungslinien  Sonne  —  Mond  und  Erde  —  Mond 
90^  betrug.  Es  war  offenbar  dann,  wenn  R  den  Abstand 
Sonne  —  Erde  und  r  denjenigen  Erde  —  Mond  bezeichneten, 

r  ==  E  cos  a. 

Da  r  und  a  bekannt  waren,  konnte  R  berechnet  werden.  Diese  Methode 
hat  nur  historisches  Interesse.  Sie  scheitert  daran,  dass  man  nicht  den 
Moment,  in  welchem  der  Mond  genau  halb  erscheint,  scharf  bestimmen 
kann. 

Andere  indirekte  Methoden  beruhen  auf  der  Bestimmung  der 
Entfernung  eines  Planeten,  der  uns  nahe  kommt,  wie  Venus,  Mars  oder 
die  kleinen  Planeten.  Kennt  man  beispielsweise  die  Entfernung  von 
Venus ,  und  beobachtet  an  zwei  weit  voneinander  gelegenen  Orten  den 
Durchgang  dieses  Planeten  durch  die  Sonnenscheibe,  so  kann  man  die 
Entfernung  der  Sonne  feststellen.  Man  befolgt  dabei  folgendes  Prinzip. 
Es  seien  (in  Fig.  24)  a  und  b  zwei  Beobachtungsorte  auf  der  Erde  (E). 
Der  Mittelpunkt  des  Planeten  Venus  (F)  scheint  von  a  gesehen,  eine 
Bahn  d'  d"  über  die  Sonnenscheibe  zurückzulegen.  In  derselben  Weise 
beschreibt  der  Mittelpunkt  der  Venus  von  b  aus  gesehen  die  Bahn  c  c\ 
während  ihres  Ganges  an  der  Sonnenscheibe  vorüber.  Nun  bestimmt  man 
den  Winkel  «,  unter  welchem  die  Entfernung  a  b  von  Venus  erscheint. 
Andererseits  kann  man  aus  dem  scheinbaren  Sonnendurchmesser  sehr 
genau  den  Winkel  (/?)  bestimmen,  unter  welchem  cd  von  der  Erde  ge- 
sehen wird.  Wenn  die  Entfernungen  Venus  —  Erde  und  Venus  —  Sonne 
mit  e  und  D  bezeichnet  werden,  so  gilt  offenbar: 


IT.  Das  Sonnensystem.  7j^ 

a  D  -\-  e 

ß  ^     ' 

Aus  der  Entfernung  a  h  und  dem  Winkel  a  kann  man  nun  e  be- 
stimmen, woraus  nachher  D  berechnet  wird. 

Wegen  der  dichten  Atmosphäre  der  Venus  giebt  diese  Methode  nicht 
die  theoretisch  zu  erwartende  Genauigkeit. 

In  neuerer  Zeit  benutzt  man  bei  diesen  Bestimmungen  der  Sonnen- 
entfernung sowohl  wie  bei  denjenigen  aus  Bahnbestimmungen  des  Mars  und 
der  kleinen  Planeten,  die  Kenntnis  der  später  zu  erwähnenden  Kepl ersehen 
Gesetze  (mit  Korrektionen  für  die  Störungen).  Die  mit  Hilfe  der  kleinen 
Planeten  ausgeführten  Messungen  haben  bisher  die  genauesten  Resultate 
ergeben,  weil  ihre  Scheiben  so  klein  sind,  dass  die  Winkelmessung  sehr 
genau  ausfällt. 

Als  Endresultat  aller  dieser  astronomischen  Messungen  kann   man 
die  Sonnenparallaxe  gleich  8",  80   setzen,   woraus    sich   die  Entfernung 
der  Sonne  von  der  Erde  zu  149,5  Millionen 
Kilometer  berechnen  lässt. 

Bei  der  Feststellung  der  nach  ihm 
benannten  Gesetze  kannte  Kepler  nicht 
die  absoluten  Entfernungen  der  Planeten, 
sondern  nur  die  relative  Grösse  ihrer  Bah- 
nen, welche  er  den  Beobachtungen  Tycho 
Brahes    über   die   Stellung   der    Planeten  ^^'  ^^' 

am  Himmel  entnahm. 

Die  TJmlaufszeiten  der  Planeten.  Schon  im  Altertum  hatte 
man  eingesehen,  dass  es  einfacher  wäre  anzunehmen,  dass  die  Planeten 
und  damit  die  Erde  sich  um  die  Sonne  bewegen,  als  dass  die  Erde 
fest  im  Räume  stehe  und  alle  Himmelskörper  sich  darum  drehen,  wie 
man  anfangs  glaubte.  Diese  Ansicht  geriet  aber  im  Mittelalter  in 
Vergessenheit  und  wurde  erst  von  Kopernikus  wieder  aufgenommen. 
Er  hatte  die  Meinung,  dass  die  Planeten  und  die  Erde  in  Kreisen  um 
die  Sonne  sich  bewegen.  Die  Planeten  haben  konstante  Umlaufszeiten,  d.  h. 
es  vergeht  eine  bestimmte  und  in  allen  Fällen  nahezu  gleiche  Zeit  zwischen 
zwei  nacheinander  folgenden  Konjunktionen  der  Sonne  und  eines  Planeten, 
in  welchem  Falle  die  Rektascension  der  beiden  Himmelskörper  gleich 
ist.  Diese  Zeit  wird  die  synodische  ümlaufszeit  genannt.  Um  einen  nahe- 
liegenden Vergleich  zu  nehmen,  betrachten  wir  die  Spitzen  der  Zeiger  einer 
Uhr,  bei  welcher  der  Minutenzeiger  der  kürzere  ist.  Die  Spitze  des 
Minutenzeigers  möge  der  Lage   von  Venus  entsprechen,  diejenige  des 


72  Physik  des  Himmels. 

Stundenzeigers  der  Lage  der  Erde,  so  entspricht  die  Achse,  um  welche 
sich  die  Zeiger  drehen  der  Lage  der  Sonne.  Die  synodische  Umlaufs- 
zeit des  Minutenzeigers  ist  die  Zeit,  welche  zwischen  zwei  Augenblicken 
verstreicht,  in  welchen  die  beiden  Zeiger  übereinander  stehen  und  be- 
trägt iVii  Stunde.  Aus  dieser  und  der  bekannten  Umlaufszeit  des 
Stundenzeigers  (12  Stunden)  lässt  sich  leicht  die  Umlaufszeit  des  Minuten- 
zeigers zu  einer  Stunde  berechnen.  Weil  die  beiden  Zeiger  in  derselben 
Eichtung  sich  um  den  Mittelpunkt  bewegen,  ist  die  scheinbare  (synodische) 
Umlaufszeit  des  Minutenzeigers  länger  als  die  wirkliche.  Ebenso  ist 
die  synodische  Umlaufszeit  der  Venus  (1,60  Jahre)  länger  als  die  wirk- 
liche (siderische),  weil  sich  die  Erde  in  derselben.  Eichtung  um  die 
Sonne  in  einem  Jahr  herumbewegt.  Aus  diesen  beiden  Daten  lässt  sich 
leicht  die  siderische  Umlaufszeit  der  Yenus,  d.  h.  die  Zeit,  in  welcher  sie 
sich  360  Grad  um  die  Sonne  bewegt,  zu  0,61  Jahren  bestimmen. 

Auf  diese  Weise  wurden  die  folgenden  Umlaufszeiten  der  Planeten 

bestimmt: 

Umlaufszeit 

synodische  siderische 

Merkur  0,31  Jahre      0,24  Jahre 


Venus 

1,60 

0,61 

Mars 

2,13 

1,88 

Jupiter 

1,09 

11,87 

Saturn 

1,03 

29,47 

Uran 

84,02 

Neptun 

— 

164,8 

Streng  genommen,  ist  nur  die  siderische  Umlaufszeit  der  Planeten 
genau  konstant,  die  synodische  kann  wegen  der  ungleichmässigen  Ge- 
schwindigkeit der  Planeten  ein  wenig  schwanken. 

Um  die  Bewegungen  der  Planeten  so  weit  als  möglich  genau  wieder- 
zugeben, nahm  Kopernikus,  wie  vor  ihm  schon  Hipparch  an,  dass  die 
Sonne  nicht  genau  im  Mittelpunkt  des  Kreises  stände,  auf  welchem  der 
betreffende  Planet  als  mit  gleichmässiger  Geschwindigkeit  sich  bewegend 
gedacht  wurde. 

Indessen  entsprach  diese  Annahme  nicht  den  sehr  genauen  Be- 
stimmungen, besonders  der  Bewegung  von  Mars,  durch Tycho  Brahe,und 
dieser  Umstand  veranlasste  Kepler  nach  einer  der  Wirklichkeit  besser 
entsprechenden  Darstellung  der  Bewegungen  der  Planeten  zu  suchen. 
Er  formulierte  sie  in  drei  Sätzen,  welche  den  Namen  der  drei  Keplerschen 
Gesetze  erhalten  haben.    Sie  lauten: 


IL  Das  Sonnensystem.  "73 

Die  Planeten  bewegen  sich  um  die  Sonne  in  Ellipsen,  in  deren 
einem  Brennpunivte  die  Sonne  steht. 

Der  von  der  Sonne  zum  Planeten  gezogene  Leitstrahl  überfährt  in 
i^deichen  Zeiten  gleich  grosse  Flächen. 

Die  Quadrate  der  IJmlaufszeiten  verschiedener  Planeten  verhalten 
sich  wie  die  dritten.  Potenzen  ihrer  mittleren  Entfernungen  von  der  Sonne. 

Das  Gravitationsgesetz.  Es  gelang  dem  Genius  von  Newton, 
die  drei  Kepler  sehen  Gesetze  in  ein  einziges  zusammenzufassen,  wonach 
alle  Bewegungen  der  Himmelskörper  dadurch  erklärt  werden,  dass  man 
annimmt,  sie  werden  gegeneinander  angezogen  mit  einer  Kraft,  die 
ihren  Massen  direkt  und  dem  Quadrate  ihrer  Entfernung  umgekehrt  pro- 
portional ist;  ferner,  dass  die  im  leeren  Kaume  sich  bewegenden  Himmels- 
körper wegen  ihrer  Trägheit  ihre  Geschwindigkeit  unverändert  beibehalten, 
wenn  keine  von  fremden  Körpern  ausgehende  Kräfte  auf  sie  einwirken. 
Alle  Kräfte  zwischen  wägbaren  Massen  treten  paarenweise  auf,  d.  h.  sind 
gleich  gross  und  entgegengesetzt  gerichtet. 

Um  dies  zu  beweisen,  untersuchte  Newton  erst  die  Bewegung  des 

Mondes.  Dieser  bewegt  sich  in  einer  nahezu  kreisförmigen  Bahn  von  dem 

Durchmesser  gleich  60,27  Erddurchmessern  in  einer  Zeit  von  27^,  7^  43*^, 

11,5*  um  die  Erde  (siderische  Umlaufszeit).    Da  nun  der  Mond  von  der 

Erde  angezogen  wird,  so  gehorcht  er  demselben  Gesetz  wie  ein  fallender 

Körper,  d.  h.  die  Beschleunigung  des  Mondes  gegen  die  Erde  soll  gleich 

cm 
derjenigen  eines  fallenden  Körpers  (981  ^2)    dividiert     durch     (60,27) ^ 

cm 
oder  0,270  —T  2  sein.     Aus  der  Lehre  von  der  Kraft,  welche  nötig  ist, 
seK 

um  einen  Körper  im  Kreis  um  einen  Punkt  zu  bewegen,  weiss  man, 
dass  die  Beschleunigung  in  diesem  Fall  gleich  dem  Quadrat  der  Ge- 
schwindigkeit dividiert  durch  den  Eadius  des  Kreises  ist.  Nun  kennen 
wir  die  Geschwindigkeit  des  Mondes  in  seiner  Bahn,  sie  ist  gleich  der 
Länge  der  Bahn  (2  jt .  60,27 .  Erdradien),  dividiert  durch  die  Umlaufszeit 
(2  360  591,5  Sek.).  Die  Beschleunigung  ist.  folglich  (wenn  R  den  Erdradius 
=  6  378  249  cm  darstellt) 

(2  Jt  60,27  Ey  1^      =0  272^ 

(2  360  591,5)2    *  60,27  R       '        sek^* 

Wie  man  sieht,  stimmt  dieser  Wert  sehr  nahe  mit  demjenigen  überein, 
welcher  oben  unter  der  Annahme  berechnet  wurde,  dass  die  Schwer- 
kraft dem  Quadrate  der  Entfernung  umgekehrt  proportional  ist.    (Noch 


74  Physik  des  Himmels. 

grösser  wird  die  Übereinstimmimg-,  wenn  man  in  der  letzten  Formel  den 
Halbmesser  der  Mondbahn  um  '/ss  vermindert.  Der  Mond  kreist  nämlich, 
wie  unten  (S.  77)  gezeigt  wird,  nicht  um  den  Erdmittelpunkt,  sondern  um 
den  gemeinsamen  Schwerpunkt  des  Mondes  und  der  Erde,  welcher  dem 
Monde  um  '/sa  näher  liegt  als  der  Erdmittelpunkt.  Dadurch  erhält  man 
im  letzten  Fall  die  Ziffer  0,269).  Newton  fand  eine  weniger  gute  Über- 
einstimmung, weil  er  ungenauere  Werte  hatte.  Er  erhielt  später  bessere 
durch  die  französische   Gradmessung. 

Wir  können  nun  weiter  gehen.    Nehmen  wir  an,  ein  Planet  befinde 
sich  in  Ä  (in  Fig.  25),  die  Sonne  dagegen  in  S.  In  einer  Sekunde  l)ewegt 
sich  der  Planet  längs  ^5,  welche  Strecke  wegen  der  kurzen  Zeit  als  eine 
Gerade  angesehen  werden  kann.  Wenn  nun  keine  Kraft  auf  den  Planeten 
wirkte,  so  würde  er  seine  Bahn  mit  konstanter  Geschwindigkeit  in  gerader 
Linie    fortsetzen    und    das  Bahnelement   BC  in   der  zweiten   Sekunde 
beschreiben,   wo  BG  =  AB  ist.    Wegen  der  Wirkung  der  Sonne  fiele 
aber  der  Planet  in  der  zweiten  Sekunde  ein  Stück  BE  gegen  die  Sonne, 
falls   er   am   Anfang   dieser  Zeit   still   stände.     Die  wirk- 
liche  Bahn  des  Planeten  setzt  sich  nach  dem  Parallelo- 
grammengesetze zu   einer  Resultante   BD   aus  den   beiden 
Komponenten  BC  und  BE  zusammen.     Da  nun  nach  dem 
Parallelogrammengesetz  CD  und  BE  einander  parallel  sind, 
Fig.  25.         so  hat  das  Dreieck  BDS  dieselbe  Oberfläche  wie  das  Drei- 
eck BGS.    Dieses  ist  aber  seinerseits  gleich   gross  wie  das 
Dreieck  ABS.    Folglich  streicht  der  Leitstrahl  von  S  zum  Planeten   in 
der  zweiten  Sekunde   über  eine  ebenso  grosse  Fläche   SBD  wie   in  der 
ersten  Sekunde  SAB  und  ebenso  in  allen  folgenden  gleich  langen  Zeiten 
(Sekunden). 

Wie  man  sieht,  ergiebt  sich  das  zweite  Kepler  sehe  Gesetz  als  Folge 
der  Annahme,  dass  die  Anziehung  der  Planeten  gegen  die  Sonne  ge- 
richtet ist,  welche  Grösse  diese  Anziehung  auch  habe. 

Das  dritte  Kepler  sehe  Gesetz  lässt  sich  ebenso  leicht  ableiten.  Es 
seien  zwei  Planeten  mit  den  Bahnradien  R  und  i?j  und  den  ümlaufs- 
zeiten  T  und  Tj ,  welche  von  derselben  Sonne  angezogen  werden.  Dann 
ist  die  Beschleunigung  {A)  der  Anziehungskraft  für  den  ersten  Planeten^ 
wenn  v  seine  Bahngeschwindigkeit  bedeutet, 

A  —  fi^  (2  ^  ^Y  _  4  Jr^i? 


II.  Das  Sonnensystem. 


75 


'ür  den  anderen  Planeten  gilt  ebenso: 


Ä, 


Nun   soll  nach  Newton,  da  die  Anziehung  in  beiden   Fällen  von  der 
Gravitation  gegen  denselben  Körper  verursacht  wird: 


oder: 


woraus  folgt; 


A 

Ä2 

4 

jr2 

272 

R 

.  4  jr2 

Ri 

Ti 

2         ~" 

7;2_ 

R^ 


r 


'l*^r  analytische  Ausdruck  des  dritten  Kepler  sehen  Gesetzes. 

Das  erste  Kepler  sehe  Gesetz  wird  leicht  mit  Hilfe  eines  Satzes  aus 
der  analytischen  Geometrie  bewie- 
sen. Dieser  Hilfssatz  lautet  folgen- 
dermaassen:  Bei  Kegelschnitten 
verhalten  sich  die  Längen  der  an 
verschiedenen  Stellen  gezogenen 
Krümmungshalbmesser  (z.  B.  (>  in 
Fig.  26)  umgekehrt  wie  die  dritten 
Potenzen  von  den  Cosinen  der  ent- 
sprechenden Winkel  (a)  zwischen 
Leitstrahl  r  vom  Brennpunkt  F  und 

Krümmungshalbmesser   q.    Diese   Eigenschaft   ist   nur   für   die   Kegel- 
schnitte charakteristisch. 

Nach  dem  zweiten  Kepl ersehen  Gesetz  ist  nämlich  das  in  einer  ge- 
gebenen Zeit  t  überfahrene  Flächenstück  FPQ  dieser  Zeit  proportional. 
Wenn  nun  PQ  so  kurz  ist,  dass  es  als  ein  Stück,  von  der  Länge  s^ 
einer  geraden  Linie  betrachtet  werden  kann,  so  verlangt  das  zweite 
Kepl  ersehe  Gesetz,  dass: 

-|  r  s  cos  a  =  ctf 


Fig.  26. 


worin  c  eine  Konstante  bedeutet. 


76  Physik  des  Himmels. 

Die  Kraft  /;  welche  ein  Gramm  des  Planeten  in  P  gegen  die  Sonm 
in  F  treibt,  kann  in  zwei  Komponente  zerlegt  werden,  wovon  der  eine 
b  in  der  Eichtung  des  Krümmungshalbmessers  q,  der  andere  m  senk- 
recht dazu  nach  der  Tangente  im  Punkte  P  gerichtet  ist.  m  strebt  dit 
Geschwindigkeit  des  Planeten  in  seiner  Bahn  zu  vermindern,  b  giebt  der 
Bahn  ihre  Krümmung.  Für  solche  Kräfte  wie  b  gilt  folgende  Relation, 
in  welcher  v  die  Bewegungsgeschwindigkeit  des  Planeten  im  Punkte  P 
bedeutet(vgl.  S.  73): 

f  cos  a  =  b=  —  • 
Q 

Führt  man  nun    in  den  letzten  Ausdruck    den  aus  der  vorletzten 
Gleichung  gewonnenen  Wert: 

.9         2  c 


ein,  so  erhält  man: 


t       r  cos  a 


r^Q  cos  ^a 


Nun  verlangt  das  Newtonsche  Gesetz,  dass 

worin  k  die  Gravitationskonstante  und  M  die  Sonnenmasse  bedeuten. 
Da  diese  letztere  nicht  variiert,  kann  man  für  KM  die  Konstante  K^ 
einführen.  Die  beiden  letzten  Ausdrücke  für  f  können  nur  dann  zu- 
treffen, wenn  für  die  Kurve  der  Planetenbahn  gilt: 

\c^ 

Q  cos  ^«  =  ^^  =  Ä2, 

d.  h.  Q  cos  3«  muss  konstant  sein.  Diese  Bedingung  erfüllen  nun  nach 
dem  vorhin  gesagten  nur  die  Kegelschnitte,  von  welchen  die  Ellipsen 
eine  Unterabteilung  ausmachen.  Die  Planeten  müssen  sich  also,  wief 
das  erste  Kepler  sehe  Gesetz  verlangt,  auf  elliptischen  (d.h.  geschlossenen) 
Kegelschnittkurven  um  die  im  Brennpunkte  gelegene  Sonne  bewegen. 
Wenn  zwei  Himmelskörper  aufeinander  wirken,  so  treibt  die  An- 
ziehiiiiüf  den  einen  gegen  den  anderen  mit  eben  derselben  Kraft  P  wie 


IT.  Das  Sonnensystem.  77 

li'ii   anderen   gegen  den  ersten.    Die  Beschleunigungen  A  und  Ä^  der 
beiden  Körper  werden: 


^woraus  folgt: 


AM=  Ä^M^. 


Die  Weglängen  S  und  S^,  welche  diese  Körper  in  einer  gegebenen 
Zeit  zurücklegen,  verhalten  sich  wie  die  Beschleunigungen,  folglich 
ist  auch: 

Nun  gilt  für  den  Schwerpunkt  der  beiden  Körper,  wenn  seine  Ent- 
fernung von  diesen  a  und  «^  ist,  die  Gleichung: 

Folglich  wird,  nachdem  die  anziehende  Kraft  eine  Zeit  lang  ge- 
wirkt hat, 

(L  —  S)  M={L^  —  S^)  Ml, 

d.  h.  mit  anderen  Worten,  der  Schwerpunkt  des  Systems  erleidet  durch 
diese  Anziehungskraft  keine  Änderung.  Da  nun  die  Kräfte,  welche 
zwischen  mehreren  Körpern  wirken,  nach  dem  Parallelogrammen gesetz 
gleich  der  Summe  der  Kräfte  zwischen  den  einzelnen  Körpern  zu  setzen 
sind,  und  dasselbe  für  die  durch  die  Kräfte  verursachten  Verschiebungen 
gilt,  so  lässt  sich  leicht  beweisen,  dass  der  Schwerpunkt  eines  Systems, 
zwischen  dessen  einzelnen  Teilen  Kräfte  nach  dem  Newtonschen  An- 
ziehungsgesetz, oder  andere  Centralkräfte,  wirken,  durch  die  Wirkung 
dieser  Kräfte  nicht  verschoben  wird. 

Es  drehen  sich  folglich  die  einzelnen  Planeten  in  unserem  Sonnen- 
system nicht  um  die  Sonne,  sondern  um  den  Schwerpunkt  des  Systemes, 
um  welchen  auch  die  Sonne  sich  herumbewegt.  Wegen  der  geringen 
Masse  der  anderen  Körper  im  Sonnensystem,  verglichen  mit  derjenigen 
der  Sonne,  fällt  der  gemeinsame  Schwerpunkt  in  den  Sonnenkörper  selbst. 

Betrachten  wir  nun  wiederum  den  Fall,  dass  zwei  Körper,  wie  die 
beiden  zum  Algolsystem  gehörigen,  sich  um  den  gemeinsamen  Schwer- 
punkt  in  kreisförmigen  Bahnen  herumdrehen,   so  ist   die  Anziehungs- 


78  Physik  des  Himmels. 

kraft  der  beiden  Körper,  wenn  k^  wie  gewöhnlich,  die  Gravitationskon- 
stante bedeutet: 


F 


woraus  folgt: 


MM^       ^M{2jcLy  _Mi  {2jtL^y 


k== 


4  Jt^  L(L  +  i.|)2 

r^        Ml 


Nun  ist  weiter  T=^  T^,   indem  die  beiden  Körper  immer  auf  der 
entgegengesetzten  Seite  des  Schwerpunktes  liegen,  und  weiter  ist: 


Ml        L 

M       Li 

woraus  folgt: 

Ml                 L 

M-{-  Ml        L  +  Li 

oder: 

L        L  ^  Li 

Ml        if  +  M, 
Durch  Einführung  dieses  Wertes  in  den  Ausdruck  für  K  erhalten  wir : 


k  =  A  jt 


,iL±L^     __    1_ 


T^  M-\-Mi 


Da  nun  das  Newtonsche  Gravitationsgesetz  verlangt,  dass  die  Gravi- 
tationskonstante immer  dieselbe  ist,  so  linden  wir,  dass,  wenn  wir 
L-{-  Li  =  D  setzen  und  zwei  Systeme  betrachten  von  je  zwei  Körpern, 
in  der  Entfernung  Z),  mit  der  Umlaufszeit  T  und  den  Massen  M  und 
Ml  im  einen  System,  bzw.  in  der  Entfernung  d,  mit  der  Umlaufszeit  t  und 
den  Massen  m  und  m,   im  anderen  System,  die  Beziehung  besteht: 

K=  4  Jt^  ~  ^r  .W  =  4  jr2  '^'        ^ 


r-^  M  +  i/|  l'^  m-]-  mi 

oder: 

M+  Ml  ^D^^  (P 


II.  Das  Sonnensystem.  79 

"W     Es  ist   diese  Gleichung,   welche   wir  oben  bei  der  Berechnung  der 
Massen  des  Algolsystems  benutzt  haben. 

Die  Massen  der  Planeten.  Mit  Hilfe  der  letzten  Gleichung 
kann  man,  wenn  M  und  i/j  die  Massen  der  Erde  und  Sonne,  m-  und  m^ 
die  Massen  eines  anderen  Planeten  und  der  Sonne  bedeuten,  die  Ent- 
fernungen der  Planeten  aus  ihren  ümlaufszeiten  berechnen.  Dabei  kann 
man,  wie  unten  gezeigt  wird,  die  Massen  der  Planeten  in  Vergleich  mit 
derjenigen  der  Sonne  vernachlässigen,  wodurch  das  linke  Glied  der 
Gleichung  den  Wert  1  erhält. 

In  eben  derselben  Weise  kann  man  die  Masse  von  Sonne  und  Erde 
mit  derjenigen  des  Mondes  und  der  Erde  vergleichen,  wobei  man  in 
erster  Annäherung  die  Masse  des  Mondes  gegen  diejenige  der  Erde  ver- 
nachlässigen kann.  Weiter  kann  man  die  Massen  aller  Planeten,  welche 
Monde  besitzen,  mit  derjenigen  der  Erde  aus  den  Umlaufszeiten  ihrer 
Monde  und  den  Distanzen  derselben  von  den  Planeten  berechnen.  Die 
Entfernungen  der  Monde  von  ihren  Planeten  werden  durch  Winkel- 
messungen und  aus  dem  bekannten  Abstand  der  Planeten  von  der  Erde 
berechnet. 

Für  Planeten,  welche  keine  Monde  besitzen,  wie  Merkur  und  Yenus, 
berechnet  man  die  Masse  aus  den  Störungen,  welche  diese  Planeten  auf 
die  Bewegung  von  anderen  Himmelskörpern,  wie  Kometen,  ausüben.  Die 
Masse  des  Erdmondes  kann  man  ebenso  aus  einem  genauen  Studium 
der  Bewegungen  der  Himmelskörper  ermitteln. 

Wenn  man  nun  die  Entfernungen  und  die  in  Winkelmaass  aus- 
gedrückten Durchmesser  der  Planeten,  Sonne  und  Mondes  kennt,  so  ist 
es  leicht,  daraus  die  wirklichen  Durchmesser  und  Volumina  dieser  Körper 
zu  bestimmen.  Durch  Vergleichung  der  Masse  mit  dem  Volumen  kann 
man  die  Dichte  dieser  Körper  bestimmen,  wobei  die  Dichte  der  Erde 
gleich  1  gesetzt  wird.  Nun  hat  man,  wie  wir  weiter  unten  sehen  werden, 
das  spezifische  Gewicht  der  Erde  zu  5,5  bestimmt.  Mit  Hilfe  dieser 
Zahl  kann  man  die  Dichte  der  zum  Sonnensystem  gehörigen  Körper 
mit  derjenigen  des  Wassers  vergleichen. 

Weiter  kann  man  aus  dem  Durchmesser  und  der  Masse  der 
Himmelskörper  leicht  berechnen,  wie  viel  die  Masse  eines  Gramms  an 
der  Oberfläche  eines  anderen  Planeten  wiegt.  In  der  folgenden  Tabelle 
sind  die  betreffenden  Grössen  zusammengestellt,  wobei  alle  entsprechenden 
Grössen  auf  der  Erde  als  Einheit  genommen  sind. 


§0  Physik  des  Himmels. 

Entfernung 
von  der  Sonne      Masse  Radius     Dichte        Schwere 

Merkur 0,387  0,0324  0,37  0,63  0,237 

Venus 0,723  0,805  1,00  0,80  0,805 

Erde 1,00  1,00  1,00  1,00  1,00 

Mond —  0,0122  0,27  0,62  0,167 

Mars 1,524  0,105  0,53  0,705  0,374 

Jupiter 5,203  309,5  11,6  0,23  2,54 

Saturn 9,55  92,6  9,30  0,115  1,07 

Uran 19,22  14,7  4,23  0,194  0,822 

Neptun 30,12  16,5  3,80  0,301  1,14 

Sonne —  324,439  108,56  0,25  27,4 

Die  kleinen  Planeten  1,46  bis  4,27.    —  —  —         — 

Die  elliptischen, parabolischen  und  hyperbolischenBahnen 
der  Körper  um  die  Sonne.  Es  lässt  sich,  wie  oben  gesagt,  be- 
weisen, dass,  wenn  ein  Körper,  welcher  von  einem  anderen,  als  fest  an- 
gesehenen, nach  dem  Newton  sehen  Gesetz  angezogen  wird,  eine  anfäng- 
liche Bewegung  erhält,  welche  nicht  in  der  Verbindungslinie  mit  dem 
anziehenden  Körper  liegt,  so  beschreibt  der  bewegliche  Körper  eine  Bahn 
um  den  festen  Körper,  welche  Bahn  die  Form  eines  Kegelschnittes  hat, 
in  dessen  einem  Brennpunkte  der  feste  Körper  sich  befindet.  Die  Kegel- 
schnitte können  nun  von  zwei  verschiedenen  Arten  sein,  entweder  ge- 
schlossene Kurven,  Ellipsen  oder  ungeschlossene  Kurven,  Hyperbeln. 
Zwischen  diesen  beiden  Arten  liegen  die  Parabeln,  welche  auch  un- 
geschlossene Kurven  sind  und  als  Ellipsen  von  äusserst  grosser  Excen- 
tricität  oder  als  Hyperbeln,  deren  beiden  Asymptoten  eine  unendlich 
kleine  Neigung  gegeneinander  haben,  betrachtet  werden  können. 

In  dem  Falle,  dass  der  bewegliche  Körper  eine  Ellipse  beschreibt, 
muss  er  nach  einer  endlichen  Zeit  zu  seinem  Ausgangspunkt  zurück- 
kehren. Denn  da  der  Leitstrahl  nie  unendlich  lang  wird,  so  muss  nach 
dem  zweiten  Kepler  sehen  Gesetz  der  Körper  einen  endlichen  Teil  seiner 
Bahn  in  jeder  Sekunde  durchlaufen  und  nach  einer  genügenden  Zahl 
von  Sekunden  muss  er  die  Bahn  durchgelaufen  haben..  Danach  fängt 
ein  neuer  Umlauf  in  ganz  derselben  Weise  an.  Wenn  aber  der  be- 
wegliche Körper  eine  parabolische  oder  hyperbolische  Bahn  beschreibt, 
so  wächst  der  Leitstrahl  über  alle  erdenkliche  Grenzen  und  der  Körper 
kehrt  nie  wieder  zurück.  Nur  diejenigen  Körper,  welche  sich  in  ellip- 
tischen  Bahnen    bewegen,    haben  infolgedessen   eine  Umlaufszeit  und 


II.  Das  Sonnensystem. 


81 


K 


K- 


gehören  zu  demselben  System  wie  der  feste  Körper,  sind  gewissermaassen 
an  ihn  gebunden.  Alle  Körper,  welche  zum  Sonnensystem  gehören,  be- 
sehreiben also  elliptische  Bahnen  um  die  Sonne.  Körper,  welche  ge- 
legentlich erscheinen  und  eine  parobolische  oder  hyperbolische  Bahn  um 
die  Sonne  beschreiben,  stammen  aus  unendlich  weit  entfernten  Gegenden 
und  sind  nur  als  zufällige  Besucher  im  Sonnen- 
system anzusehen. 

Es  ist  deshalb  von  grossem  Interesse,  be- 
stimmen zu  können,  ob  ein  Himmelskörper  eine 
elliptische  Bahn  um  die  Sonne  beschreibt  oder 
nicht.  Dies  kann  man  mit  Hülfe  seiner  Bahn- 
geschwindigkeit ermitteln. 

Die  potentielle  Energie  eines  beweg- 
lichen Körpers.  Denken  wir  uns  einen  beweg- 
lichen Körper  mit  der  Masse  m  in  K  und  einen 

anziehenden  als  fest  gedachten  Körper,  wie  die  Sonne,  mit  der  Masse  M 
in  S  (Fig.  27).     Die  Kraft,  welche  K  gegen  S  treibt,  ist: 


Fig.  27. 


F=  k 


M  7)1 


wenn  r  den  Abstand  K  S  bezeichnet.  Angenommen  jetzt,  wir  verschieben 
den  beweglichen  Körper  von  ^zu  K^  längs  der  Richtung  S  K,  so  leisten 
wir  eine  Arbeit  (^1),  welche  nach  den  Regeln  der  Mechanik  gemessen 
wird  durch  das  Produkt  der  überwundenen  Kraft  und  der  Weglänge. 
Wenn  demnach  F  die  Kraft  und  r^  das  Stück  Z^  S  darstellt,  so  ist  die 


ausgeführte  Arbeit: 


A  =  F  (r^^ — r). 


Nun  ist  die  Kraft  F  etwas  veränderlich,  im  Punkte  Kist  ihr  Wert: 


F  = 


.  Mm 


im  Punkte  K^  dagegen: 


F^  k 


Mm 


und  im  Mittel  kann  sie  gleich: 


F==  k 


Mm 
r  r, 


A  r  r  U  e  u  i  u  s ,  Kosmische  Physik. 


§2  Physik  des  Himmels. 

gesetzt  werden.  Dieser  Ausdruck  enthält  einen  um  so  geringeren  Fehler, 
je  weniger  r  und  7\  voneinander  verschieden  sind,  und  wenn  sie  äusserst 
wenig  voneinander  abweichen,  so  ist  der  Ausdruck  exakt  richtig.  Folg- 
lich wird  für  eine  kleine  Verschiebung: 

A  =  F  ir,  —  r)  =  k  31  m =  k  Mm  ( )• 

Wenn  ich  den  Körper  von  K  nach  K^  verschiebe,  wobei  der  Abstand 
K2  S  ebenfalls  gleich  r^  angenommen  wird,  so  kann  ich  mir  diese  Operation 
in  der  Weise  ausgeführt  denken,  dass  ich  den  Körper  erst  nach  K^  bringe 
und  dann  auf  einem  Kreisbogen  um  fi' von  Ky  nach  K2.  Bei  dem  letzten 
Teil  dieser  Verschiebung  wird  keine  Arbeit  verbraucht,  denn  die  Kraft 
zwischen  dem  Körper  und  der  Sonne  geht  in  der  Eichtung  des  Leitstrahls, 
folglich  ist  ihre  Komponente  längs  des  dazu  senkrechten  Kreisbogens 
K^  K2  gleich  Null.  Auf  dem  Wege  K^  K^  wird  infolgedessen  keine  Kraft 
überwunden,  d.  h.  keine  Arbeit  geleistet.  Die  Arbeit  um  den  Körper  auf 
einem  anderen  Wege,  z.  B.  längs  einer  geraden  Linie  von  K  nach  K.y 
zu  bringen,  muss  nach  dem  ersten  Hauptsatze  der  mechanischen  Theorie 
der  Wärme  genau  dieselbe  wie  die  bei  der  Fortführung  des  Körpers  von 
K  nach  K2  längs  des  Weges  K  K^  K^  sein.  Und  zwar  wenn  der  Körper 
anfangs  in  der  Entfernung  r  von  S  und  am  Ende  in  der  Entfernung 
rj  von  S  liegt,  so  ist  die  geleistete  Arbeit  (falls  rj  —  r  im  Vergleich  zu 
r  gering  ist): 

Ä=k Mm  ( 

\r        7*1 

Wir  wollen  jetzt  den  Fall  betrachten,  dass  wir  den  Körper  zu  einem 
Punkt  Kq  führen  in  der  Entfernung  r» ,  wo  rn  ^ —  r  nicht  im  Vergleich 
zu  r  gering  ist.  Wir  führen  dann  den  Körper  in  kleinen  Intervallen 
nach  Ky  K2  .  .  .  Kn-i,  Kr, ,  so  dass  die  Entfernungen  (r^  —  r),  (^2  —  r, ) 

(rn  —  Tn-i)  gering  sind  im  Vergleich  zu  r,  rj  . .  .  rn-i,  und  zuletzt 

in  Kreisbogen  um  S  von  Kn  nach  Kq.    Die  Arbeit  wird  dann: 

{\r        rj       \r^        r2J  Vn-i        rn  J) 

/l         1 
=  kMm 

Es  gilt  also  auch  in  diesem  Fall  dasselbe  Gesetz  wie  für  geringe 
Verschiebungen. 


II.  Das  Sonnensystem.  83 

Wir  können  r«  beliebig  gross  werden  lassen;  lassen  wir  vn  unendlich 
gross  werden,  so  wird  die  geleistete  Arbeit: 

A  7    Tir  1  /^^^ 

A^  =  k  Mm  '  — ==m 

r 

1 

Der  Ausdruck  —  h  Mm  -  wird  die  potentielle  Energie  des  Körpers 

im  Punkte  K  in  der  Entfernung  r  von  dem  anziehenden  Körper,  und  der 

Ausdruck  —  k  M  -  das  (Schweren-)Potential  in  dem  Punkte  K  genannt. 

Alle  beiden  Ausdrücke  wachsen  mit  zunehmendem  r.  Die  Arbeit,  welche 
ausgeführt  wird  bei  der  Verschiebung  eines  Körpers  von  der  Entfernung 
r  zu  der  Entfernung  r^  von  einem  festen  nach  dem  Newtonschen  Gesetz 
anziehenden  Körper,  ist  demnach  gleich  dem  Unterschied  der  potentiellen 
Energie  des  Körpers  im  zweiten  und  im  ersten  Punkt.  Oder  diese  Arbeit 
ist  gleich  dem  Produkt  seiner  Masse  und  der  Differenz  des  Schweren- 
potentials im  zweiten  und  ersten  Punkt. 

Die  aktuelle  Energie  eines  bewegten  Körpers. 
Angenommen,  wir  halten  jetzt  einen  Körper  in  K^  fest,  welcher  von 
dem  festen  Körper  in  S  (Fig.  27)  angezogen  wird.  Lassen  wir  den 
Körper  los,  so  bewegt  er  sich  gegen  S  hin,  nachdem  die  Anziehungs- 
kraft dahin  wirkt,  und  zwar  mit  einer  immer  stärker  beschleunigten 
Geschwindigkeit,  nachdem  die  anziehende  Kraft  immer  mehr  wächst, 
je  näher  der  Körper  nach  S  kommt.  Dagegen  nimmt  die  potentielle 
Energie  immer  mehr  ab.  Durch  seine  Geschwindigkeit  {v)  besitzt  der 
bewegliche  Körper  eine  bestimmte  Energie,  die  sogenannte  aktuelle 
Energie  oder  lebendige  Kraft  (£J).,  welche  durch  den  Ausdruck  ge- 
messen wird: 

E=  —  mv'^ 

Nennen  wir  nun  die  potentielle  Energie  in  den  Punkten  K^  und  K 
I\  und  P,  die  aktuelle  E^  und  E,  so  verlangt  das  Energieprinzip,  dass 
die  totale  Energie  sich  nicht  ändert,  also  dass: 

P,  +  E,  =  P  +  E. 

In  unserem  speziellen  Fall  ist  £',  =0,  nachdem  es  vorausgesetzt 
wurde,  dass  die  Geschwindigkeit  des  beweglichen  Köj^pers  in  ^,  Null  war. 

6* 


84  Physik  des  Himmels. 

Es  folgt  hieraus  durch  Einführung  der  vorhin  gegebenen  Werte  für  die 
potentielle  Energie: 

E—E^  =lm«;2  =  Pi  —  P=— m-^if  f-  — 


oder 


^  =  Y2(jti  —  Jt) 


wenn  jr^  und  jt  das  Schwerenpotential  in  den  Punkten  Ky  und  K  be- 
deuten. 

Verlegen  wir  nun  K^  in  unendliche  Entfernung,  so  wird: 

v  =  Y—2jt. 

Wenn  ein  von  unendlicher  Entfernung  kommender  Körper  in  das 
Sonnensystem  hineingezogen  wird,  und  er  keine  Anfangsgeschwindigkeit 
besitzt,  so  wird  seine  Geschwindigkeit  in  einem  gewissen 
Punkt  gleich  der  Wurzel  aus  dem  doppelten  Potential 
in  diesem  Punkte  mit  umgekehrtem  Zeichen.  Das 
Zeichen  muss  gewechselt  werden,  weil  jiach  der  oben 
Fiff.  28.  gegebenen  Darstellung  das  Schwerenpotential  immer 
negativ  ist. 
Die  Neigung  und  Excentricität  der  Bahnen.  Wenn  nun  ein 
Himmelskörper  in  P  (Fig.  28)  liegt,  und  der  anziehende  Centralkörper  (die 
Sonne)  in  /S'und  jener  eine  anfängliche  Geschwindigkeit  in  der  Pfeilrichtung 
hat,  so  wird  die  ganze  Bahn  in  einer  Ebene  verlaufen,  die  das  Bahnenelement 
bei  P  (die  Pfeilrichtung)  und  den  Centralkörper  S  enthält.  Denn,  da 
die  Anziehung  zwischen  P  und  ^S  immer  längs  der  Verbindungslinie 
geht  und  der  Leitstrahl  PÄ' anfangs  in  der  Ebene  des  Papieres  (derjenigen, 
welche  die  Pfeilrichtung  und  S  enthält)  liegt,  so  wird  die  Beschleunigung 
in  dieser  Ebene  liegen,  d.  h.  die  aus  der  alten  Bewegung  und  der  Be- 
schleunigung zusammengesetzte  neue  Bewegung  wird  auch  längs  einer 
Linie  in  der  Ebene  des  Papieres  liegen.  Die  Bahn  eines  Planeten  um 
die  Sonne  liegt  folglich  in  einer  für  immer  bestimmten  Ebene.  Diese 
Ebene  hat  eine  bestimmte  Neigung  gegen  die  Ekliptik,  welche  unten 
tabelliert  ist.  Die  Tabelle  enthält  ausserdem  die  Excentricität  der  be- 
treffenden Bahnen  und  die  siderische  Umdrehungszeit  der  Planeten  um 
ihre  Achse. 


IL  Bas  Sonnensystem. 


85 


Neigung  der 
Bahnebene 

Excen- 
tricität 

Umdrehungs- 
zeit 

Sonne 

24^  ,84 

Merkur 

70,0' 

0,2056 

87^,97 

Venus 

3,24 

0,0068 

224^,70  (23^95?) 

Erde 

0,0 

0,0168 

23^  ,94 

Mars 

1,51 

0,0933 

24^  ,62 

fdie  kleinen 
\  Planeten 

0,41 
bis  34,43 

0,000 
bis  0,383 

unbe- 
kannt 

Jupiter 

1,19 

0,0482 

9S92 

Saturnus 

2,30 

0,0561 

10S27 

Uranus 

0,46 

0,0464 

unbekannt 

Neptun 

1,47 

0,0090 

unbekannt. 

Wie  man  aus  dieser  Tabelle  ersieht,  ist  die  Neigung  der  Planeten- 
bahnen gegen  die  Ekliptik,  wenn  man  von  einigen  kleinen  Planeten  ab- 
sieht, sehr  gering.  Am  grössten  ist  sie  beim  Merkur  (7^,0),  danach 
kommt  die  Venus  (3^24').  Ebenso  sind  die  Excentricitäten,  wenn  man  von 
einigen  kleinen  Planeten  absieht,  sehr  gering.  Der  grösste  Wert  kommt 
auch  in  diesem  Falle  dem  Merkur  zu  (0,2056),  danach  kommt  der  Mars 
(0,0933).  In  dieser  Beziehung  verhalten  sich  die  Planeten  des  Sonnen- 
systems ganz  anders  wie  die  Komponenten  der  Doppelsterne,  welche  stark 
excentrische  Bahnen  besitzen  (vgl.  oben  S.  51). 

Die  Bahngeschwindigkeiten.  Für  einen  Planeten  (Masse  m) 
der  sich  in  einer  kreisförmigen  Bahn  (Radius  r)  um  die  Sonne  (Masse  M) 
bewegt,  ist  die  Anziehungskraft  (FJ  durch  die  Ausdrücke  gegeben: 

„       ,  mM  v'^ 

F  =  k — s-  =  m  — 

r^  r 

und  die  Beschleunigung  7  =  Flm  durch  die  Ausdrücke 


7  = 


kM 


.2 


woraus  folgt: 


^=K^-/^- 


Damit  ein  Himmelskörper  sich  also  in  einer  kreisförmigen  Bahn  um  die 
Sonne  herumbewegt,  muss  seine  Geschwindigkeit  gleich^der  Quadratwurzel 


86  Physik  des  Himmels. 

aus  dem  negativen  Schwerenpotential  längs  seiner  Bahn  sein.  Für  die  Erde, 
deren  Bahnradius  gewöhnlicherweise  gleich  der  Einheit  genommen  wird, 
haben  wir  die  Bahngeschwindigkeit  gleich  29,5  km  pro  Sekunde  gefunden. 
Für  einen  anderen  Planeten,  dessen  Abstand  von  der  Sonne  n  ist  {n  mal 
grösser  als  derjenige  der  Erde)  wird  die  Geschwindigkeit  in  der  Bahn 

_29-5km. 
Yn  Sek. 

Aus  den  oben  (S.  80)  ^gegebenen  w-Weiten  ist  folglich  die  Bahnge- 
schwindigkeit leicht  zu  berechnen. 

Wir  haben  oben  gesehen,  dass  ein  Körper,  welcher  von  unendlicher 
Entfernung  ohne  Anfangsgeschwindigkeit  in  das  Sonnensystem  hinein- 
kommt, in  einem  bestimmten  Punkte  seiner  Bahn  eine  Geschwindigkeit 
besitzt,  welche  gleich  der  Quadratwurzel  aus  dem  doppelten  Potential 
in  diesem  Punkte  ist.  Es  lässt  sich  beweisen,  dass  ein  solcher 'Körper 
eine  parabolische  Bahn  besitzt.  Nach  seinem  Lauf  um  die  Sonne  ent- 
fernt sich  der  Himmelskörper  immer  mehr  von  der  Sonne  und  geht  auf 
der  Parabellinie  unendlich  weit  hinaus.  Wenn  also  die  Geschwindigkeit 
eines  Körpers  die  genannte  Grösse  hat,  so  verläset  er  das  Sonnensystem. 
Wenn  er  aber  eine  geringere  Geschwindigkeit  besitzt,  so  kann  er  das 
Sonnensystem  nicht  verlassen,  denn  wenn  auch  seine  ganze  aktuelle 
Energie  sich  in  potentielle  Energie  umsetzte,  so  würde  die  potentielle 
Energie  doch  nicht  den  Wert  Null  erreichen,  sondern  immer  darunter 
bleiben.  Das  heisst,  der  Körper  kann  nie  höhere  Potentialwerte  als  einen 
bestimmten  annehmen  und  nie  weiter  von  der  Sonne  sich  entfernen, 
als  wo  dieses  maximale  Potential  herrscht.  Diese  Körper  bewegen  sich 
folglich  auf  geschlossenen  Kurven,  d.  h.  hier  Ellipsen  um  die  Sonne  {B). 
(Vgl.  Fig.  29). 

Wenn  dagegen  ein  Körper  grössere  Geschwindigkeit  in  seiner  Bahn 
hat  als  derjenige  Vergleichskörper,  welcher  eine  parabolische  Bahn  be- 
schreibt, so  wird  die  Sonne  seine  Bahn  nicht  so  stark  krümmen,  wie  die- 
jenige des  Vergleichskörpers,  weil  sie  nicht  so  lange  Zeit  auf  jenen  wie  auf 
diesen  in  der  Nähe  der  Sonnennähe  (bei  A)  einwirkt.  Die  krumme  Linie, 
welche  der  fragliche  Körper  beschreibt,  wird  deshalb  ausserhalb  des 
Parabels  fallen  und  eine  hyperbolische  Form  haben.  Es  ist  leicht  zu 
verstehen,  dass  der  Vergleichskörper  eine  parabolische  Bahn  beschreibt, 
denn  da  alle  Körper,  welche  geringere  Geschwindigkeit  in  der  Sonnen- 
nähe besitzen,  Ellipsen  beschreiben  mit  immer  grösserer  Excentricität, 
je   näher   die   Geschwindigkeit    sich   demjenigen   des   Vergleichskörpers 


II.  Das  Sonnensystem. 


87 


K 


nähert,  so  muss  auch  dieser  eine  Ellipse  von  grösstmögiicher  Excentri- 
eitiit  (1),  d.  h.  eine  Parabel  beschreiben. 

Wenn  also  ein  Himmelskörper  (Komet)  in  einem  Punkte  seiner 
Bahn  geringere  Geschwindigkeit  besitzt,  als  v  =  Y^^,  so  beschreibt  er 
eine  elliptische  Bahn  und  bleibt  im  Sonnensysteme,  wenn  nicht,  gehört 
er  diesem  Systeme  nicht  an. 

Die  Ursache  der  Gravitation.  Newton  sagt  ausdrücklich  in 
^seiner  Untersuchung  über  die  Schwere,  er  sei  nicht  der  Ansicht,  dass 
ie  schweren  Körper  aufeinander  wirken.  Vielmehr  müsste  man  an- 
nehmen,  dass   die  Wirkung  durch  Vermittelung   eines   zwischenliegen- 


len  Mediums  geschehe.  Alle  Versuche,  welche  gemacht  worden  sind, 
lie  Schwerkraft  als  Folge  einer  Bewegung  in  dem  zwischen  den  Kör- 
)ern  liegenden  Medium  abzuleiten,  leiden  an  der  Schwierigkeit,  dass 
lie  Schwere  ungeschwächt  durch  die  Körper  hindurchgeht,  sie  mögen 
loch  so  dick  und  dicht  sein.  So  z.  B.  wirkt  die  Anziehung  von  der 
Jonne  auf  einen  im  Mittelpunkt  der  Erde  liegenden  Partikel  durch  alle 
lie  zwischenliegenden  Lagen  hindurch.  Da  nun  die  Wirkung  irgendwie 
einer  Bewegungsveränderung  an  dem  bewirkten  Körper  bestehen 
luss,  so  wird  es  nötig,  anzunehmen,  dass  eine  Partikel,  welcher  hinter 
Kner  anderen  bewirkten  Partikel  liegt,  dadurch,  wenigstens  teilweise, 
ler  Wirkung  entzogen  wird.  Es  würde  demnach  auf  der  Verbindungs- ' 
Inie  zwischem  einer  Partikel  in  der  Mitte  der  Erde  und  einem  be- 
liebigen Punkte  auf  der  Sonne  keine  einzige  schwere  Partikel  von  den 
inendlich  vielen  in  den  oberen  Erdschichten  liegen.  Man  müsste  folglich 
foraussetzen,   dass  die  Partikelchen,    auf  welche  die  Schwerkraft  wirkt, 


§g  f  hysik  des  Himmels. 

eine  unendlich  geringe  Ausdehnung  hätten  und  als  mathematische  Punkte 
zu  betrachten  wären.  Diese  Anschauung  ist  physikalisch  unfassbar. 
Ebenso  ist  es  unmöglich,  sich  vorzustellen,  wie  eine  Bewegung  durch 
mathematische  Punkte  gestört  werden  kann.  Es  ist  wohl  eine  sonder- 
bare Erscheinung,  dass  diejenige  Naturkraft,  welche  wir  am  genauesten 
durch  Rechnung  verfolgen  können,  das  grösste  Rätsel  in  physikalischer 
Hinsicht  darbietet. 

Wenn  die  Schwere  durch  die  Bewegungen  in  einem  zwischenliegen- 
den Medium  zu  Stande  kommt,  so  erscheint  es  natürlich,  dass  sie  nicht 
augenblicklich  wirken  kann,  sondern  eine  bestimmte  Zeit  verlangt,  um 
von  dem  wirkenden  zu  dem  bewirkten  Körper  zu  gelangen.  Es  würde 
offenbar  in  diesem  Falle  die  Wirkung  auf  einen  in  Bewegung  begriffenen 
Körper  nicht  diejenige  sein,  welche  aus  seiner  Lage  berechnet  werden 
könnte.  In  eben  derselben  Weise  sehen  wir  einen  Stern,  welcher  ein 
Lichtjahr  entfernt  ist,  nicht  da,  wo  er  jetzt  sich  befindet,  sondern  wo 
er  sich  vor  einem  Jahr  befand.  Wenn  also  z.  B.  die  „Fortpflanzung"  der 
Schwerenwirkung  von  der  Sonne  zur  Erde  in  t  Sekunden  erfolgte,  so  wäre 
die  Schwerenwirkung  in  einem  bestimmten  Zeitabschnitt  nicht  nach  der 
wirklichen  Lage  der  Erde,  sondern  aus  ihrer  Lage  vor  t  Sekunden  zu  be- 
rechnen. Trotzdem  die  astronomischen  Messungen  mit  einer  ganz  be- 
sonderen Genauigkeit  geschehen  und  eine  Fortpflanzungsgeschwindigkeit 
der  Schwere,  die  10^ mal  die  Lichtgeschwindigkeit  überstiege,  wohl  zu 
entdecken  wäre  (Lehmann-Filhes),  hat  man  keine  Spur  einer  solchen 
Wirkung  gefunden.  Es  scheint  demnach,  als  ob  die  Schwerenwirkung 
sich  mit  unendlicher  Geschwindigkeit  durch  den  Raum  fortpflanzt, 
was  ebenfalls  schwer  zu  verstehen  ist. 

Titius-Bodes  Gesetz  und  die  kleinen  Planeten.  Bei  der 
Beobachtung  der  Angaben  über  die  Abstände  der  Planeten  von  der 
Sonne  fand  Titius  eine  bestimmte  Regelmässigkeit,  indem  die  Entfer- 
nungen der  Planetenbahnen  von  der  Merkurbahn  einigermaassen  nach 
Potenzen  von  zwei  zunehmen,  so  dass  diese  Abstände  bei  jedem  folgen- 
den Planeten  auf  das  Doppelte  steigen,  wie  die  folgende  Tabelle  zeigt. 

Entfernung 
von  der  Sonne     vom  Merkur      abgerundet 

Merkur 0,37  0  0 

Venus 0,72  0,35  0,30 

Erde 1,00  0,63  0,59 

Mars 1,52  1,15  1,17 


IT.  Das  Sonnensystenl.  §9 

Entfernung 
von  der  Sonne     vom  Merkur      abgerundet 

X  2,35 

Jupiter 5,20  4,83  4,7 

Saturnus      ....  9,56  9,19  9,4 

Uranus 19,22  18,85  18,8 

Neptun 30,12  .    29,75  (37,6) 

Um  jedoch  diese  Eegelmässigkeit  aufrecht  zu  erhalten,  muss  man 
annehmen,  dass  zwischen  Mars  und  Jupiter  ein  damals  unentdeckter 
Planet  ( X )  sich  in  einer  Sonnenentfernung  von  2,72  Erdbahnradien  be- 
findet. Aus  diesem  Grunde  suchte  man  nach  einem  Planeten  auf  dieser 
Stelle,  und  Piazzi  fand  am  1.  Januar  1801  einen  solchen,  der  wie  ein 
Stern  8.  Grösse  erscheint  und  von  ihm  den  Namen  Ceres  erhielt. 
Nachher  hat  man  etwa  450  solche  kleine  Planeten  entdeckt.  Mit  Hilfe, 
der  Photographie  werden  jetzt  mehrere  in  jedem  Jahre  aufgefunden. 
Eichtet  man  nämlich  mit  Hilfe  eines  Uhrwerkes  die  Camera  so  ein, 
dass  sie  bei  der  Aufnahme  der  scheinbaren  Bewegung  des  Himmels- 
gewölbes folgt,  so  geben  die  Sterne  Bilder,  welche  wie  Punkte  aus- 
sehen, während  der  Planet  zufolge  seiner  Bewegung  auf  dem  Himmels- 
gewölbe ein  linienförmiges  Bild  ergiebt,  wie  die  umstehende  Abbildung 
zeigt  (Fig.  30). 

Ein  grosses  Aufsehen  erregte  die  Entdeckung  d§s  kleinen  Planeten 
Eros  durch  Witt  am  13.  August  1898.  Dieser  Planetoid  hat  nur  eine 
mittlere  Entfernung  von  1,46  Erdbahnradien  von  der  Sonne,  liegt  folg- 
lich zwischen  der  Erde  und  Mars.  Zufolge  der  grossen  Excentricität 
(0,23)  seiner  Bahn  übersteigt  der  Sonnenabstand  im  Aphelium  (der 
grössten  Entfernung  von  der  Sonne)  denjenigen  des  Mars,  während  der 
Planetoid  im  Perihelium  (Sonnennähe)  nur  in  der  Entfernung  von  1,13 
Erdbahnradien  von  der  Sonne  steht.  Demzufolge  kann  dieser  Planet 
ausserordentlich  nahe  zur  Erde  kommen,  und  man  hofft  aus  Messungen 
an  diesem  Planeten  die  Sonnenparallaxe  mit  einer  bisher  unerreichten 
Genauigkeit  messen  zu  können  (vgl.  oben  S.  68).  An  der  anderen 
Seite  giebt  es  Planetoiden,  welche  im  Aphelium  nur  um  einen  halben 
Erdbahnradius  von  der  Jupiterbahn  entfernt  sind.  Diese  Himmels-' 
körper  sind  folglich  nicht  auf  einen  so  geringen  Kaum  beschränkt,  wie 
man  nach  der  Titius-Bo  de  sehen  Kegel  vermutete.  Dass  diese  Kegel 
übrigens  nur  sehr  grob  sich  der  Erfahrung  anpasst,  ersieht  man  aus 
der  Entfernung  des  Planeten  Neptun. 


90  Physik  des  Himmels. 

Mit  Hilfe  des  Refraktors  der  Lick-Sternwarte  ist  es  gelungen,  den 
Durchmesser  einiger  Planetoiden  zu  messen.  Man  hat  für  drei  der 
grössten,  Ceres,  Vesta  und  Pallas,  die  Werte  960,  380  und  440  km  ge- 
funden. Aus  der  Lichtstärke  derselben  schätzt  man  die  Grösse  der- 
jenigen, welche  nicht  direkt  messbar  sind,  und  ist  zu  dem  Resultat  ge- 
kommen, dass  die  kleinsten  entdeckten  einen  Durchmesser  von  nur 
etwa  10  km  besitzen. 

Wegen  der  grossen  Mannigfaltigkeit  in  Abständen  zu  den  nächsten 


Fig.  30.     Planetoid  Svea,  photogiaphisch  entdeckt  von  Max  Wolf  in 
Heidelberg  am  21.  März  1892. 

Planeten  und  Umlaufszeiten  bieten  die  Planetoide  ein  grosses  Interesse 
beim  Studium  der  Bewegungserscheinungen  unter  dem  Einfluss  von 
starken  Störungen. 

Man  hat  berechnet,  dass  alle  bekannten  Planetoiden,  in  eine  ein- 
zige Kugel  gesammelt,  einen  Himmelskörper  ergeben  würden,  der  einen 
Halbmesser  von  einem  Zwanzigstel  der  Länge  des  Erdradius  aufweisen 
würde.  Die  gesamte  Masse  des  noch  fehlenden  Planeten  zwischen  Mars 
und  Jupiter  würde  demnach  nicht  ein  Procent  des  Volumens  des  Erd- 
mondes aufnehmen.  Dabei  muss  man  aber  bedenken,  dass  wir  noch 
nicht  alle  Planetoiden  kennen. 


III.  Die  Sonne. 

Licht-  und  Wärmestrahlung  der  Sonne.  Der  für  uns  weit- 
aus wichtigste  von  allen  Himmelskörpern  (die  Erde  ausgenommen)  ist 
der  Regent  des  Sonnensystems,  die  Sonne  selbst.  Von  ihr  stammt  alle 
Kraft  und  Bewegung,  alles  Leben  und  Treiben  auf  der  Erde.  Und  docli 
bietet  unsere  Bekanntschaft  von  dem  Gestirn  des  Tages,  trotz  all  den 
emsigen  Untersuchungen,  besonders  der  letzten  Zeit,  ausserordentlich 
viele  Rätsel. 

Die  Sonne  ist  ein  glühender  Körper  von  so  kolossalen  Dimensionen, 
dass  sie  etwa  750  mal  so  grosse  Masse  besitzt,  wie  alle  die  Planeten 
und  Monde  zusammen.  Ihr  Durchmesser  beträgt  1,8  mal  der  Grösse 
des  Mondbahndurchmessers  und  ihr  Volumen  ist  eine  und  eine  viertel 
Million  grösser  als  diejenige  der  Erde.  Und  doch  ist  die  Sonne,  wie 
wir  gesehen  haben,  sehr  klein  (lichtschwach)  gegen  die  kolossalen  Sonnen, 
welche,  wie  Sirius,  Wega  und  noch  mehr  Canopus  und  Arctur,  als  Sterne 
erster  Grösse  erscheinen^ 

Von  der  Erde  aus  gesehen,  erscheint  die  Sonne  als  eine  hellleuch- 
tende Scheibe  von  3l'59"  Durchmesser,  deren  Helligkeit  am  grössten 
in  der  Mitte  ist  und  gleichförmig  nach  allen  Seiten  abnimmt,  wovon 
man  sich  überzeugen  kann,  wenn  man  die  Sonne  durch  ein  stark  ge- 
schwärztes Glas  betrachtet.  Sowohl  das  Licht  als  auch  die  Wärme- 
strahlung und  die  chemische  Wirksamkeit  der  Strahlen  nimmt  stetig 
von  der  Sonnenmitte  zum  Rande  ab,  wie  folgende  Tabelle  zeigt,  wo  die 
Entfernung  0,0  den  Mittelpunkt,  die  Entfernung  1,00  den  Sonnenrand 
angiebt. 


Entfernung 

Wärme- 

Licht- 

Chemische 

vom  Sonnencentrum 

Strahlung 

0,0 

100 

100 

100 

0,2 

99,5 

98 

98 

92 


Physik  des  Himmels, 

Entfernung 

,  Wärme-               Licht- 

Chemische 

vom  Sonnencentrum 

Strahlung 

0,4 

97,2                  94 

94 

0,6 

92,2                  87 

83 

0,8 

82,5                  75 

58 

0,9 

72,0                  64 

37 

0,95 

61,8                  55 

25 

1,00 

42,9                  37 

13 

Die  Wärmemessung  rührt  von  Wilson,  die  Messung  der  Licht- 
stärke von  Picke  ring  und  diejenige  der  photochemischen  Strah- 
lung von  H.  C.  Vogel  her.  Wie  aus  diesen  Ziffern  ersichtlich,  nimmt 
die  chemische  Strahlung  am  geschwindesten  von  dem  Centrum  nach 
dem  Kande  ab,  die  Lichtstrahlung  nimmt  eine  mittlere  Stellung  ein, 
und  die    Wärmestrahlung    nimmt  relativ    langsam    nach    dem  Kande 

hinaus  ab. 

Es  ist  leicht  zu  verstehen,  wovon  dies  abhängt. 
Die  Strahlung  geht  von  verschiedenen  mehr  oder 
weniger  tief  liegenden  Schichten  der  Sonne  aus. 
Die  Dicke  der  strahlenden  Schicht  {d,  r/^,  d^^  d^ 
in  Fig.  31)  zwischen  zwei  koncentrischen  Schalen 
der  Sonne  nimmt  stark  mit  der  Entfernung 
vom  Sonnenmittelpunkt  zu.  Nun  absorbieren  die 
Fig.  31.  höher  liegenden  Schichten   das   von   den  tieferen 

kommende  Licht,  folglich  werden  die  tieferen 
Schichten  ihre  Strahlung  um  so  mehr  geltend  machen,  je  dünner  die 
zwischen  ihnen  und  dem  ßeobachtungsinstrument  liegenden  Schichten 
sind,  d.  h.  je  näher  man  zum  Mittelpunkt  der  Sonnenscheibe  beobachtet. 
Je  tiefer  eine  Schicht  liegt,  um  so  heisser  muss  sie  aber  sein.  Folglich 
kommt  die  Strahlung  von  um  so  heisseren  Schichten,  je  näher  man  zum 
Mittelpunkt  misst.  Nun  ist  es  wohlbekannt,  dass  die  Strahlung  eines 
Körpers  in  der  Weise  mit  seiner  Temperatur  zunimmt,  dass  die  Strah- 
lung der  Wärme  am  wenigsten,  die  Lichtstrahlung  viel  mehr  und  am 
meisten  die  aus  den  brechbarsten  Lichtsorten  bestehende  photochemi- 
sche Strahlung  wächst.  Dadurch  wird  die  oben  gegebene  Verteilung 
der  relativen  Stärke  der  Strahlungen  leicht  verständlich.  Da  weiter  die 
Dicke  der  zwischen  zwei  koncentrischen  Schalen  liegenden  Schicht  bei 
Entfernung  von  der  Sonnenmitte  erst  langsam  und  nahe  am  Rande  sehr 
schnell  wächst,  so  nehmen  die  Strahlungen  in  der  Nähe  der  Mitte  erst 


III.  Die  Sonne.  93 

sehr  langsam,  gegen  den  Rand  aber  sehr  schnell  ab,  wenn  man  von  der 
Mitte  zum  Kand  sich  entfernt. 

Man  schätzt,  dass  die  Sonnenatmosphäre  etwa  die  Hälfte  der  vom 
eigentlichen  Sonnenkörper  ausgehenden  Strahlung  verschluckt. 

Die  Licht-  und  Wärmemengen,  welche  die  Sonne  nach  allen  Seiten 
ausstrahlt,  sind  ganz  enorm.  Man  hat  die  Lichtstrahlung  der  Sonne  bei 
heiterem  Himmel  und  hohem  Sonnenstand  zu  288000  Meterkerzen  be- 
stimmt, d.  h.  das  Sonnenlicht  ist  ebenso  kräftig  wie  die  Beleuchtung 
mittelst  288000  Normalkerzen  in  einer  Entfernung  von  1  m.  Nach 
Bond  ist  das  Sonnenlicht  470000  mal  kräftiger  als  dasjenige  des  Voll- 
mondes, nach  Zöllner  55000  Millionen  mal  stärker  als  das  Licht  von 
Capella. 

Im  folgenden  werden  wir  sehen,  wie  man  die  Wärmemenge  misst, 
die  auf  eine  Fläche  von  einem  Quadratcentimeter,  die  senkrecht  zu  den 
Strahlen  steht,  von  der  Sonne  in  einer  Minute  fällt.  Man  berechnet 
daraus,  dass  an  der  Grenze  der  Erdatmosphäre  diese  Wärmemenge,  die 
sogenannte  Sonnenkonstante,  etwa  2,5  Grammkalorien  beträgt.  Auf  den 
ganzen  Erdquerschnitt,  die  eine  Ausdehnung  von  10000  (20000000)^:  jr 
=  1,277.10'*^  cm2  besitzt,  erreicht  folglich  die  Sonnenstrahlung  3,2.10^^ 
Grammkalorien  pro  Minute,  d.  h.  1,68.1 0^*  Grammkalorien  pro  Jahr. 
Da  nun  die  Erde  eine  Kreisscheibe  von  17,"6  Durchmesser  von  der 
Sonne  gesehen  ausmacht,  so  ist  es  leicht  zu  berechnen,  dass  nur  der 
Teil  1:2260000000  von  der  ganzen  Sonnenwärme  der  Erde  zugute 
kommt.  Darnach  erreicht  die  totale  von  der  Sonne  in  den  Weltraum 
hinausgeschleuderte  Wärme  den  ganz  unfassbaren  Betrag  von  3,8.10^^ 
Grammkalorien  pro  Jahr. 

Da  nun  das  specifische  Gewicht  der  Erde  gleich  5,5  angenommen 
wird,  beträgt  die  Masse  der  Erde  ^Jtr  15.5  =  6.10'^^  Gramm.  Die  Sonne 
ist  324 000 mal  schwerer  als  die  Erde,  besitzt  folglich  eine  Masse  von 
1,9.10"^^^  Gramm.  Jedes  Gramm  der  Sonnenmasse  verliert  demnach 
jährlich  nicht  weniger  als  2  Grammkalorien.  Es  scheint  deshalb  sehr 
eigentümlich,  dass  die  Sonne  nicht  längst  in  der  unmessbaren  Zeit  ihren 
Wärmevorrat  eingebtisst  hat.  Wir  werden  weiter  unten  sehen,  wie  man 
sich  vorstellt,  dass  die  Sonne  ihre  kolossalen  Wärmeverluste  deckt. 

E.  F.  Nichols  hat  in  jüngster  Zeit  die  Wärmestrahlung  einiger  der 
hellsten  Fixsterne,  nämlich  Arctur  und  Wega,  mit  Hilfe  des  Radio- 
niikrometers  gemessen.  Diese  beiden  Sterne  strahlen  ebenso  grosse 
Wärmemengen  aus  wie  eine  Normalkerze  in  Entfernungen  von  8,5  bezw. 
18  km.    Aus  diesen  Ziflern  kann  man  berechnen,   (^ss   die  Sonne  die 


94  Physik  des  Himmels. 

genannten  Sterne   in  Bezug   auf  Wärmestrahlung   etwa   in   demselben 
Maasse  tibertrifft,  wie  in  Bezug  auf  Lichtstrahlung. 

Das  Aussehen  der  Sonnenoberfläche.  Granulation.  Wenn 
man  die  Sonnenoberfläche  mit  Hilfe  von  sehr  starken  Instrumenten  be- 
obachtet oder  ein  grosses  Sonnenbild  photographiert,  findet  man,  dass 
die  Helligkeit  nicht  gleichmässig  ist,  sondern  es  kommen  körnerartig( 
helle  Bildungen  auf  dunklem  Grunde  vor.  Man  hat  diese  Erscheinung 
mit  dem  Aussehen  von  Keiskörnern  oder  Weidenblättern  verglichen. 
Langley  charakterisiert  ihr  Aussehen  als  Schneeflöckchen  auf  einem 
grauweissen  Tuche.  Zwischen  diesen  helleren  Bildungen  finden  sich  hier 
und  da  dunklere  Fleckchen,  welche  als  „Poren"  bezeichnet  werden.  Die 
helleren  Körnchen,  welche  einen  Durchmesser  von  2"  bis  4"  besitzen, 
zerfallen  bei  sehr  bedeutender  Vergrösserung  in  Lichtpünktchen  von 
etwa  0",3  Durchmesser.  Diese  Bildungen  scheinen  an  einigen  Stellen 
scharf  ausgeprägt,  an  anderen  etwas  verwaschen.  Häufig  wechseln  diese 
Gegenden  schnell  Form  und  Ausdehnung,  wodurch  starke  Strömungen 
auf  der  Sonnenoberfläche  angedeutet  werden.  Seh  ein  er  ist  der  Ansicht, 
dass  diese  sogenannte  Granulation  der  Sonnenfläche  von  wolkenartigen 
Bildungen  herrührt,  welche  am  ehesten  mit  den  Cirrhus- Wolken  in 
unserer  Atmosphäre  zu  vergleichen  sind,  und  die  nach  der  Theorie  von 
Helmholtz  (vgl.  weiter  unten)  durch  Wellenbildung  an  der  Grenze 
von  zwei  Schichten  der  Atmosphäre  sich  bilden  sollten,  welche  sich 
aneinander  vorbeischieben.  In  der  Nähe  der  Flecke  ziehen  sich  häufig 
die  Körner  in  die  Länge  und  werden  Strohhalmen  ähnlich,  was  vielleicht 
auf  heftige  Bewegungen  deutet.  Da  eine  Sekunde  einer  Länge  von 
720  km  auf  der  Sonnenoberfläche  entspricht,  haben  die  kleinsten  Körner 
einen  Durchmesser  von  etwa  200  km,  was  jedenfalls  die  Grösse  der 
Cirrhuswolken  ausserordentlich  übertrifft. 

Fackeln.  Von  bedeutend  grösserer  Ausdehnung  als  die  Körner 
sind  die  Fackeln,  unregelmässige  häufig  langgezogene  Streifen  von 
grösserer  Helligkeit  als  die  übrige  Sonnenoberfläche,  welche  viel  deut- 
licher in  der  Nähe  des  Sonnenrandes  als  in  der  Mitte  der  Sonnenscheibe 
sichtbar  sind .  Sie  sind  sehr  beweglich  und  treten  besonders  in  der  Nähe 
der  Flecke  auf  und  haben  einen  Zusammenhang  mit  den  Protube- 
ranzen. 

Durch  Anwendung  einer  sehr  starken  Dispersion  des  Lichtes  kann 
man,  wie  es  zuerst  mit  den  Protuberanzen  geschah,  alles  andere  Licht 
abblenden  als  dasjenige,  welches  von  einer  bestimmten  Wellenlänge  ist, 
welche  sich  durch  ihr  starkes  Hervortreten  auszeichnet,    So  z.  B.  geben 


ITT    Die  Sonne.  95 

die  PrutiiberaDzen  einige  Wasserstofflinien,  C,  F  und  /?,  ebenso  wie  die 
Heliiinilinie  (vgl.  Tab.  II,  3)  sehr  kräftig,  sonst  sehr  wenig  Licht.  Jede 
Protuberanz  giebt,  durch  ein  Prisma  betrachtet,  ein  Bild  für  jede  Wasser- 
stofflinie. Durch  Abblenden  des  anderen  Lichtes,  als  z.  B.  der  Linie  C, 
kann  man  folglich  eine  Abbildung  von  den  Sonnenprotuberanzen  er- 
halten. Dasselbe  Prinzip  haben  Deslandres  und  Haie  auf  Gebilden 
auf  der  Sonnenscheibe  verwendet.  Durch  Einstellung  auf  die  Calcium- 
linien  //oder  K  erhielt  Haie  Sonnenphotographien  von  Gebilden,  die 
Calciumlicht  ausstrahlen,  und  welche  sehr  grosse  Ähnlichkeit  mit  den 
Fackeln  besitzen.  Deslandres  bestreitet  aber  ihre  Identität  mit  den 
Fackeln.  Bei  ähnlichen  Aufnahmen  kann  man  nur  sehr  kleine  Partieen 
der  Sonnenoberfiäcbe  gleichzeitig  photographieren,  weshalb  man  zur  Dar- 
stellung eines  solchen  Sonnenbildes  etwa  hundert  Einzelaufnahmen  be- 
darf. Da  die  Helligkeit  der  Fackeln  am  Sonnenrande  gegen  diejenige 
der  Oberfläche  viel  stärker  als  an  der  Mitte  hervortritt,  so  beweist  dies, 
dass  die  Strahlung  der  Fackeln  relativ  wenig  von  den  obenliegenden 
Schichten  beeinflusst  wird.  Mit  anderen  Worten,  sie  liegen  höher  als 
die  Granulation  der  Sonnenoberfläche,  welche  sonst  die  Hauptstrahlung 
aussendet.  Je  well  und  Mohler  fanden  auch  die  Wellenlänge  der  He- 
liumlinien in  den  Fackeln  kürzer  als  nebenan  an  der  Sonnenoberfläche, 
was  entweder  eine  aufsteigende  Bewegung  oder  wahrscheinlicher  einen 
niedrigeren  Druck  in  den  Fackeln  andeutet.  Am  Sonnenrand  gelangt, 
zeigen  sich  auch  die  Fackeln  bisweilen  als  deutliche  Erhebungen. 

Die  Fackeln  und  besonders  die  Granulation  geben  deii  überwiegenden 
Hauptteil  des  Sonnenlichtes  und  werden  deshalb  Photosphäre  genannt. 

Flecke.  Das  auffallendste  Gebilde  auf  der  Sonnenfläche  besteht 
aus  den  FJecken  (vgl.  Fig.  32),  welche  bisweilen  so  gross  sind,  dass  sie 
mit  dem  blossen  Auge  beobachtet  werden  können.  So  z.  B.  nahm  ein 
Sonnenfleck  am  13.  Februar  1892  nicht  weniger  als  3,5  Tausendstel  der 
ganzen  Sonnenoberfläche  auf.  Noch  viel  grösser  war  ein  Fleck  im  Jahre 
1 858,  welcher  28  Tausendstel  der  Sonnenfläche  aufnahm.  Da  die  Sonnen- 
Scheibe  etwa  12000  mal  grösser  als  der  grösste  Durchschnitt  der  Erde 
ist,  ersieht  man,  dass  die  Flecke  bisweilen  bis  hundertemal  grösser 
als  der  Durchschnitt  der  Erde  sind. 

Die  Sonnenflecke  bestehen  aus  einem  mittleren  dunklen  Kern,  Um- 
bra  oder  Schatten  genannt,  umgeben  von  einer  mehr  oder  weniger  breiten 
sogenannten  Penumbra  oder  Halbschatten,  die  eine  strahlige  Structur 
aufweist.  Die  relative  Helligkeit  dieser  Teile  ist  etwa  0,05  und  0,25, 
wenn  diejenige  der  Photosphäre  gleich  1  gesetzt  wird.  ^  Dieses  Verhältnis 


9Ö  Physik  des  Himmels. 

ist  nicht  gleich  auf  der  ganzen  Oberfläche,  indem  zum  Rand  hinaus  die 
Helligkeit  der  Flecke  relativ  zu  den  umliegenden  Teilen  zunimmt, 
was  darauf  hindeutet,  dass  die  strahlenden  Teile  der  Flecke  haupt- 
sächlich über  der  Photosphäre  liegen.  Die  Fäden,  aus  welchen  die 
Penumbra  besteht,  erscheinen  häufig  heller  an  ihren  inneren  Enden 
und  lösen  sich  da  bisweilen  zu  Lichtkörnern  auf.  Ein  Fleck  ent- 
steht gewöhnlicherweise  durch  Erweiterung  von  einer  Pore  oder  Zu- 
sammenschmelzen von  mehreren  an  Stellen,  wo  eine  lebhafte  Fackelbil- 
dung  eine  gewisse  Unruhe   der  Sonnenmaterie   andeutet.    Sie  kommen 


Fig.  '62.     (ilruppe  von  Flecken. 

meist  in  Gruppen  vor.  Ein  grosser  Fleck  wird  häufig  von  mehreren 
kleinen  umgeben,  welche  wenig  oder  nur  einseitig  ausgebildete  oder  gar 
keine  Halbschatten  besitzen.  Bisweilen  bilden  die  Fäden  der  Penum- 
bra helle  Brücken  quer  über  den  Fleck,  die  dann  entweder  wieder  ver- 
schwinden oder  bestehen  bleiben,  in  welchem  Fall  der  Fleck  in  zwei 
geteilt  wird.  Diese  Teile  scheinen  oft  voneinander  abgestossen  zu 
werden,  wie  überhaupt  häufig  eine  Art  Abstossung  zwischen  naheliegen- 
den Flecken  zu  wirken  scheint. 

Die  Flecke  sind  meist  von  Fackeln  umgeben  und  bisweilen  sieht 
man  in  ihrer  Umgebung  fackelartige  Erscheinungen  von  ungewöhnlich 
starkem  Glanz  plötzlich  hervorbrechen,  sich  mit  grosser  Geschwindigkeit 
bewegen,  um  nachher  zu  verschwinden.  So  z.  B.  sahen  Carrington 
uad   Hodg'son  am  1.  September  1859  zwei  sichelartige  Fackeln  von 


ITI.  Die  Sonne.  97 

etwa  13000  km  Länge  und  300  km  Breite  am  Rande  eines  Fleckes  her- 
vorbrechen. Sie  standen  etwa  20000  km  voneinander  und  bewegten 
sich  über  den  Fleck  hinweg  in  parallelen  Bahnen.  In  5  Minuten,  wäh- 
rend welcher  Zeit  sie  50000  km  durchlaufen  hatten,  verschwanden  sie. 
Ihre  Helligkeit  wurde  sechsmal  so  hoch  geschätzt,  wie  diejenige  der 
Photosphäre. 

Bisweilen,  aber  selten,  sind  die  Fasern  des  Halbschattens  nicht  ra- 
diell  zum  Fleckenmittelpunkte  angeordnet,  sondern  liegen  schräg,  was 
auf  eine  drehende  Bewegung  des  Fleckes  hinzudeuten  scheint.  Dieser 
Umstand  wurde  von  Faye  zur  Erklärung  der  Erscheinungen  auf  der 
Sonnenoberfläche  benutzt,  indem  er  glaubte,  die  Flecke  wären  cyklonen- 
artige  Erscheinungen. 

Die  Flecke  wandern  allmählich  von  dem  Ost-  nach  dem  Westrande 
der  Sonne,  woraus  man  zuerst  auf  eine  Rotationszeit  der  Sonne  geschlossen 
hat.  Nachdem  der  Fleck  am  Sonnenrande  untergetaucht  ist,  erscheint 
er  wieder  auf  der  anderen  Seite  nach  einer  halben  Umdrehung  der 
Sonne  (die  synodische  Umdrehungszeit  beträgt  etwa  27  Tage).  So  kann 
er  wieder  eine  Umdrehung  mitmachen  u.  s.  w.  Für  gewöhnlich  ändert 
er  stark  die  Form  während  seiner  Existenzzeit,  die  im  Mittel  2  bis  3 
Monate  beträgt.  Einige  Flecke  dauern  nur  einige  Stunden,  andere 
einige  Tage,  und  man  hat  solche  beobachtet  von  IV2  Jahren  Dauer 
(1840—1841). 

Die  Wilsonsche  Fleckentheorie.  Die  Flecke  ändern  ihr  Aus- 
sehen bei  ihrem  scheinbaren  Gang  über  die  Sonnenscheibe  nicht  nur 
durch  Verschiebungen  ihrer  verschiedenen  Teile,  sondern  auch  zufolge 
perspektivischer  Gründe.  Wenn  nämlich  ein  Fleck  an  der  Sonnenmitte 
kreisförmig  erscheint,  so  besitzt  er  am  Sonnenrand  ein  elliptisches  in  der 
Vquatorialrichtung  stark  verkürztes  Aussehen.  Dabei  sah  Wilson,  dass  in 
der  Mehrzahl  der  Fälle  der  Halbschatten  auf  der  dem  Beobachter  näheren 
Seite  des  Fleckes  in  der  Nähe  des  Sonnenrandes  entweder  verschwand 
•  »der  wenigstens  viel  schmäler  aussah  als  der  Halbschatten  auf  der 
entfernteren  Seite.  Ganz  am  Sonnenrande  erschienen  ihm  die  grösseren 
Flecke  als  dunkle  Ausschnitte  im  hellen  Sonnenrande.  Dieser  Um- 
stand wurde  so  gedeutet,  dass  ein  Fleck  als  eine  Vertiefung  anzusehen 
ist,  an  dessen  Boden  die  Umbra  liegt,  und  dessen  Seiten  konisch  ab-' 
fallen  und  den  Halbschatten  ausmachen.  In  einigen  Fällen  verhielt  sich 
der  Fleck  in  umgekehrter  Weise,  was  also  darauf  hindeuten  sollte,  dass 
der  betreffende  Fleck  vielleicht  als  eine  Erhebung  zu  betrachten  wäre. 
Es   ist  mm  kein  Zweifel,   dass  in  vielen  Fällen   der  Halbschatten   auf 

Arrhenius,  Koamische  Physik,  •  7 


gg  Physik  des  Himmels. 

beiden  Seiten  eines  Fleckes,  der  nahe  der  Sonnenmitte  steht,  sehr 
verschieden  breit  ist.  Um  also  die  Frage  zu  entscheiden,  ob  die 
Flecke  als  Vertiefungen  anzusehen  sind,  müsste  man  eine  Art  Sta- 
tistik über  das  Aussehen  dieser  Objekte  in  der  Nähe  des  Sonnen- 
randes machen.  Eine  solche  Statistik  wurde  von  De  1  a  R u e , 
Stewart  und  L  o  e  w  y  für  600  Flecke  beschafft.  75  Proz.  der  Fälle 
waren  für  die  Wilson  sehe  Ansicht  günstig,  12  ungünstig,  der  Rest 
unentschieden. 

Jedoch  ist  diese  Frage  in  neuester  Zeit  wieder  aufgenommen  worden, 
und  zwar  ist  man  in  den  meisten  Fällen  zu  Schlüssen  gekommen,  die  für 
die  Wilsonsche  Theorie  ungünstig  sind.  So  fand  z.  B.  Sidgreaves 
in  Stonyhurst,  dass  imter  171  Sonnenflecken  42  für,  121  gegen  die  Wil- 
sonsche Theorie  sprachen,  während  8  unentschieden  waren.  Auf  der 
anderen  Seite  fand  Riccö  in  Catania  ein  für  die  Wilsonsche  Theorie 
günstiges  Resultat,  indem  von  185  untersuchten  Sonnenflecken  131  der 
Theorie  günstig,  18  ungünstig,  und  die  übrigen  36  nicjit  entscheidend 
ausfielen.  Die  jetzt  vorherrschende  Ansicht  dürfte  diejenige  sein,  dass 
die  ruhigen,  grossen,  nahezu  kreisförmigen,  Flecke  als  Vertiefungen  an- 
zusehen sind,  während  die  anderen  häufig  als  Erhebungen  hervortreten. 
In  der  That  hat  Ricco  unter  mehr  als  3000  Flecken  nur  die  185  runden 
ausgesucht.  Auch  Frost,  Howlett,  Evershed  u.  a.  schliessen  sich 
nicht  der  Wilsonschen  Ansicht  an. 

Die  ersten  Entdecker  der  Flecke  waren  Fabricius,  Scheiner 
und  Galilei.  Scheiner  hielt  sie  zuerst  für  kleine  Planeten,  die  an 
der  Sonnen  Scheibe  vorbei  passierten,  aber  später  schloss  er  sich  der  all- 
gemeinen Ansicht  an,  dass  die  Flecke  wirklich  auf  der  Sonne  selbst 
gelegen  seien,  und  er  bestimmte  aus  ihrer  Bewegung  die  Lage  der  Ro- 
tationsachse und  die  Umdrehungszeit  der  Sonne  mit  sehr  grosser  Genauig- 
keit. Später  kam  die  oben  angeführte  Wilsonsche  Theorie,  welche 
von  Herschel  gestützt  wurde  und  allgemeine  Anerkennung  fand. 
Secchi  gab  ihr  die  moderne  Form,  nach  welcher  ein  Fleck  als 
eine  Einsenkung  in  der  Photosphäre  zu  betrachten  ist,  durch  welche  die 
Produkte  vorhergegangener  Eruptionen  wieder  in  den  Sonnenkörper  hin- 
einfallen, indem  sie  grosse  Wolken  von  stark  absorbierenden  kühleren 
Dämpfen  bilden.  Am  Platze  des  Fleckes  sollte  demnach  zuerst  eine 
kurzdauernde  Eruption  stattfinden.  Die  dadurch  in  die  Höhe  ge- 
schleuderten Substanzen  sollten  eine  kurze  Zeit  in  den  höheren  Schichten 
schweben  und  sich  abkühlen,  um  danach  auf  die  Photosphäre  hinunter- 
zufallen und  den  eigentlichen  Fleck  zu  bilden.    In  der  That  muss  man 


III.  Die  Sonne. 


99 


Dl  Da 


zur  Erklärung  der  beobachteten  Strömungen  eine  starke  Abkühlung  der 
äusseren  Schichten  zufolge  der  Ausstrahlung  annehmen. 

Das  Spektrum  der  Sonnenflecke  zeigt  viele  Eigentümlich- 
keiten. Die  dunklen  Fraunhoferschen  Linien,  welche  dem  Sonnen- 
lichte eigentümlich  sind,  finden  sich  auch  im  Fleckenspektrum  zum 
grössten  Teil  wieder.  Einige  von  ihnen  fehlen  aber,  andere  sind  neu- 
gekommen, wie  die  charakteristische  Linie 
D^,  welche  dem  Helium  entspricht  (s.  Fig.  33). 
(In  den  Figg.  33  und  34  ist  der  Spalt  des 
Spektroskopes  mit  seiner  Mitte  auf  einen 
Fleck  eingerichtet,  während  sein  oberer 
und  unterer  Teil  auf  die  Photosphäre  ein- 
gestellt ist.  Man  erhält  infolgedessen  das 
Spektrum  des  Fleckes  umgeben  von  einem 
oberen  und  einem  unteren  Spektrum  der 
Photosphäre.)  Andere  Linien,  wie  die  Na- 
triumlinien 2),  und  D2,  sind  stark  verbreitert  und  umgekehrt,  d.  h.  in  der 
Mitte  der  breiten  dunklen  Linie  erscheint  eine  schmale  helle  Linie.  Einige 
Linien  zwischen  den  Fraunhoferschen  Linien  A  und  B  oder  C  und  D 
sind  zu  Bändern  ausgezogen  (vgl.  Fig.  34),  welches  auf  Vorkommen  von 


Fig.  33.     Umkehrung  der 
Z>-Linien  in  Sonnenflecken. 


Fig.  34.    Teil  des  Sonnenfleckenspektrums  zwischen 
G  und  D. 


chemischen  Verbindungen  in  den  Fleckengasen  hindeutet.  Die  dem 
Calcium  angehörigen  Linien  //und  iT,  welche  schon  in  den  Protuberanzen 
und  der  Chromosphäre  (vgl.  weiter  unten)  und  in  den  Fackeln  für  ge- 
wöhnlich doppelt  umgekehrt  vorkommen,  d.  h.  als  zwei  durch  einen 
dunklen  Streifen  getrennte  helle  Linien  auf  dunklem  Gnmd  erscheinen, 
kommen  auch   in   den  Flecken,   aber   nur   als   einfach  verdoppelt,   vor. 

Das  Spektrum   ist   in  der  Nähe   dieser  Linien   (äusserstes  Violett)   sehr 

•       7* 


IQQ  Physik  des  Himmels. 

wenig  leuchtend.  Wenn  die  Fleete  zum  Sonnenrand  gelangen,  er- 
scheint die  Penumbra  nicht  als  die  Umbra,  was  wohl  der  Fall  sein  würde, 
wenn  der  Fleck  eine  Einsenkung  in  der  Photosphäre  wäre,  welche 
zufolge  der  Absorption  der  darin  gelegenen  (relativ)  kühlen  Gase  ent- 
stände. Auch  der  oben  erwähnte  Umstand,  dass  die  Sonnenflecke  bei- 
nahe ebenso  stark  am  Sonnenrande  strahlen,  wie  in  der  Mitte  der  Sonnen- 
scheibe, sowie  die  Beobachtungen  über  das  Aussehen  des  Halbschattens 
mancher  Flecke  deutet  an,  dass  sie  eher  als  Erhebungen  zu  betrachten  sind. 

Die  Umkehrung  der  Spektrallinien.  Um  diese  Frage,  die 
jetzt  das  höchste  Interesse  in  Anspruch  nimmt,  zu  diskutieren,  unter- 
suchen wir  näher,  was  die  Umkehrungen  der  Linien  wohl  bedeuten. 
Eine  schmale  helle  Linie  entsteht,  wenn  ein  Gas  in  dünner  Schicht 
leuchtet.  Wird  die  Schicht  dichter  oder  dicker,  so  verbreitert  sich  die 
Linie  und  der  ganze  Hintergrund  fängt  an  mit  einem  schwachen  kon- 
tinuierlichen Licht  zu  leuchten.  Die  scharfen  Linien  des  gewöhnlichen 
Sonnenspektrums  deuten  an,  dass  die  absorbierende  Schicht  relativ  ge- 
ringe Mengen  von  jedem  absorbierenden  Gas  über  der  strahlenden 
photosphärischen  Schicht  enthält,  die  aus  wolkenartigen  Bildungen  von 
flüssiger  oder  fester  Form  (vielleicht  Kohle)  bestehen.  Die  Fackeln  oder 
die  photosphärischen  Wolken,  welche  viel  heller  als  der  gasförmige 
Hintergrund  leuchten,  entsprechen  etwa  einem  Platindraht,  der  in  einer 
Bunsenflamme  glüht.  Obgleich  dieser  keineswegs  heisser  ist  als  die 
Flamme  (sondern  umgekehrt),  leuchtet  er  viel  mehr  als  diese.  Aber 
auf  der  anderen  Seite  unterscheidet  sich  dieser  Fall  von  demjenigen  der 
Sonne,  indem  die  strahlende  Gasschicht  in  diesem  als  unendlich  dick, 
bei  der  Flamme  aber  als  sehr  dünn  anzusehen  ist.  Wenn  man  nun 
mehrere  schwach  absorbierende  und  lichtaussendende  Schichten  hinter- 
einander verlegt,  so  strahlt  das  Licht  von  den  hinten  gelegenen  Flam- 
men durch  die  vor  ihnen  stehenden,  die  nur  wenig  absorbieren.  Nimmt 
man  eine  genügende  Anzahl  von  Schichten,  so  wird  die  Strahlung  aller 
zusammen  sich  derjenigen  eines  absolut  schwarzen  Körpers  nähern. 
Das  heisst,  der  Platindraht  sollte  in  einer  unendlich  dicken  Bunsen- 
flamme nicht  leuchten,  sondern  eher,  da  er  nicht  absolut  schwarz  ist, 
dunkel  gegen  den  Hintergrund  sich  ausnehmen. 

Diese  Verhältnisse  gelten,  wenn  tiberall  in  dem  leuchtenden  Gas 
eine  einheitliche  Temperatur  herrscht.  In  diesem  Fall  können  nie  dunkle, 
sondern  nur  helle  Linien  entstehen,  die  um  so  breiter  werden,  je  mäch- 
tiger die  strahlenden  Schichten  sind.  Ganz  anders  liegen  die  Umstände, 
wenn  eine  kühlere  Schicht  desselben  Gases  zwischen  der  Lichtquelle 


m.  Die  Sonne.  101 

und  dem  beobachtenden  Auge  liegt.  Das  kühlere  Gas  sendet  bedeutend 
weniger  Licht    aus,   als   das  wärmere,  indem  die   Ausstrahlung  eines 
„schwarzen"  Körpers  bei  einer  gegebenen  Wellenlänge  nach  Paschens  u.a. 
Untersuchungen  etwa  exponentiell  mit  steigender  Temperatur  zunimmt. 
Dagegen  ist  die  Absorptionsfähigkeit,   soweit  man  bisher  weiss,   relativ 
sehr  wenig  mit   der  Temperatur  veränderlich.    Eine  relativ  kühle  und 
genügend  dicke  Schicht  eines  Gases  kann  daher  die  Strahlung  von  be- 
stimmter Wellenlänge   einer  dahinter    stehenden  wärmeren  Gasmasse, 
oder  eines  anderen  Körpers,  so  gut  wie  vollkommen   absorbieren,   ohne 
selbst  eine  merkliche  Lichtmenge  auszusenden.    Den  einfachsten  Fall 
bildet  ein  kaltes  Gas   (unter  500^),  welches  nach   dem   Drap  er  sehen 
Gesetz  keine  merkliche  Licht-,  sondern  nur  Wärmestrahlung  aussendet, 
dagegen    stark    absorbierend    wirken    kann    (z.  B.   Jod-  oder  Natrium- 
dämpfe). In  der  Sonne  liegen  nun  Gasschichten  von   sehr  verschiedener 
Temperatur  übereinander  gelagert.    Ob  eine  bestimmte  Lichtart  in  über- 
wiegender Menge  (verglichen  mit  den  benachbarten  Teilen  des  konti- 
nuierlichen Spektrums)  von  diesem  Gaskomplex  emittiert  oder  absorbiert 
wird,  hängt  von  dem  Temperaturgefälle  und  dem  Konzentrationsgefälle, 
sowie   von   dem  Absorptionskoefficienten   des   Gases   ab.    Wenn   dieser 
letzte  sehr  gering  ist,   so  dass  nur  sehr  tiefe  und  dichte  Schichten  zur 
Strahlung  beitragen,  wie  dies  der  Fall  ist  mit  dem  äussersten  Saum  bei 
den  verbreiterten  Linien,   so   erhält  man   einen  Lichteindruck  und  das 
so  entstandene  Licht  bildet  wohl  den  hellen  Boden  des  relativ  schwachen 
Fleckenspektrums.  Bei  etwas  stärkeren  Absorptionskoefficienten  dagegen 
gewinnen  die  äusseren  kühlen  Schichten  an  Bedeutung,  und  man  erhält 
ein  Absorptionsband.     Bei  noch  grösseren  Absorptionskoefficienten,  wo 
also  die  hinteren  Schichten  immer  mehr  an  Bedeutung  einbüssen,  kann 
es,  wenn  das  strahlende  Gas  nicht   zu  den  relativ  kältesten  Schichten 
der  Sonnenatmosphäre   sich   erstreckt,   vorkommen,   dass    der  wirklich 
strahlenden  Schicht   eine   annähernd  konstante  Temperatur  zugeschrie- 
ben werden  kann,   d.  h.   wir   erhalten  wiederum   einen  Lichteindruck. 
Dieser  Fall   entspricht  den  umgekehrten  Linien,  wo   auf  dem  hellen 
Hintergrund  ein  dunkles  Band  liegt,   welches  in  der  Mitte  einer  hell- 
leuchtenden Linie  Platz  giebt.    Dieses  Spiel  kann  sich  wiederholen,  so-^ 
dass  die  mittlere  helle  Linie  wiederum  von  einer  schwarzen  Linie  ent- 
zwei geschnitten  wird.  In  diesem  Falle  muss  aber  der  Absorptionskoef- 
licient  kolossal  gross  sein,   sodass   die   verschwindenden  Mengen  in  der 
äussersten  Sonnenatmosphäre  doch  eine  KoUe  spielen.   Dass  dabei  nicht 
immer  eine   sehr  dicke  Schicht  nötig  ist,   sondern  vielmehr  ein  grosser 


IQ2  Physik  des  Himmels. 

Absorptionskoefficient  und  ein  sehr  starker  Temperaturfall  genügen, 
ersieht  man  daraus,  dass  das  Na-Spektrum  im  Flammenbogen  bisweilen 
„doppelt  umgekehrt"  erscheint. 

Die  Natur  der  Flecke.  Die  Spektra  der  Flecke  und  der  um- 
gebenden Fackeln  bieten  Beispiele  dieser  verschiedenen  Erscheinungen. 
Das  Helium,  welches  nur  in  den  äussersten  Schichten  der  Sonne  vorzu- 
kommen scheint,  giebt  bei  jenen  eine  dunkle  Linie,  Wasserstoff,  Calcium 
(H-  und  Z-Linie)  und  Natrium,  welche  hoch  in  der  Sonnenatmosphäre,  aber 
auch  in  tieferen  Schichten,  vorkommen,  geben  sehr  häufig  umgekehrte 
Linien,  ebenso  bisweilen  das  Magnesium.  Die  Linien  des  Eisens  und  Titans, 
sowie  die  schwächeren  Linien  des  Calciums,  welche  einer  geringeren  Ab- 
sorption entsprechen,  zeigen  starke  Verbreiterungen.  Viele  Linien,  welche 
im  gewöhnlichen  Sonnenspektrum  vorkommen,  sind  im  Fleckenspektrum 
sehr  stark  geschwächt  und  rühren  vielleicht  von  reflektiertem,  soge- 
nanntem „falschen"  Licht  her. 

Alle  diese  Umstände  deuten  an,  dass  die  Flecke  von  hinunter- 
sinkenden Gasströmungen  in  den  äusseren  Schichten  der  Sonne  her- 
rühren, welche  beim  Hinuüterf allen  sich  sehr  stark  erwärmen  und  die 
stark  leuchtenden  photosphärischen  Wolken,  welche  der  Granulation  ent- 
sprechen, auflösen.  Genau  in  derselben  Weise  lösen  sich  die  Wolken 
unserer  Atmosphäre  in  hinuntersinkenden  Luftströmungen  (bei  den  baro- 
metrischen Maximis)  auf.  Man  wird  also  bei  den  Flecken  sehr  dicke, 
aussen  kühle  und  innen  sehr  heisse  Schichten  von  den  Gasen,  die 
sonst  in  der  Chromosphäre  und  der  sogenannten  umkehrenden  Schicht 
(vgl.  weiter  unten),  d.  h.  den  äusseren  Teilen  der  Sonnenatmosphäre, 
vorkommen,  vor  sich  haben.  Die  Abwesenheit  von  strahlenden  festen 
oder  flüssigen  Körpern  verursacht  die  geringe  Lichtintensität  der  Flecken- 
strahlung. Da  die  Strahlung  der  inneren  Gasschichten  von  den  viel 
kühleren  äusseren  absorbiert  wird,  so  gelangen  die  meisten  Wärme- 
strahlen zu  uns  von  den  obersten  kühlen  Schichten  dieser  Gasmasse. 
Diese  Strahlung  von  hochliegenden  Teilen  wird  nicht  in  so  hohem  Maasse 
bei  der  Annäherung  zum  Sonnenrand  geschwächt,  wie  diejenige  der  nie- 
driger liegenden  wärmeren  photosphärischen  Wolken,  deren  Licht  am 
Sonnenrand  eine  viel  dickere  kühle  Gasschicht  als  in  der  Sonnenmitte 
passieren  müssen. 

Die  in  Auflösung  befindlichen  geschwächten  Teile  der  Photosphäre 
bilden  den  Halbschatten,  welcher  zufolge  der  abwärts  gerichteten  Gas- 
strömung, an  deren  Rande  sie  liegen,  eine  strahlige  Struktur  erhalten. 
Die  Penumbra  liegt  deshalb   in  vielen  Fällen   nur  unbedeutend   tiefer 


III.  Die  Sonne.  103 

als  die  Photosphäre,  da  schon  eine  unbedeutende  Senkung  genug  Wärme 
zur  Auflösung  produciert.  Um  die  Flecke  herum  steigen  die  Gase 
wieder  in  die  Höhe,  starke  Kondensationen  und  Wolkenbildungen  finden 
statt,  wodurch  die  Strahlung  stark  erhöht  wird.  Dies  ist  für  die  Fackeln 
charakteristisch.  Bei  diesen  kommen  doppelte  Umkehrungen  der  Linien 
mit  den  allergrössten  Absorptionskoefficienten  (die  H-  und  Ä-Linie)  vor. 
Die  Flecke  sind  infolgedessen  gewissermaassen  Vertiefungen  oder  viel- 
mehr Löcher  in  der  photosphärischen  Wolkenschicht.  Kiccö  versuchte 
die  Tiefe  dieser  Löcher  in  der  Weise  zu  ermitteln,  dass  er  die  schein- 
bare  Breite  ihrer  Wände,  d.  h.  der  Halbschatten,  und  der  Bodenteile, 
*  d.  h.  der  Schatten,  am  Rande  und  in  der  Mitte  der  Sonne  maass. 
Aus  diesen  Messungen  schätzte  er  die  Höhe  der  Wände  zu  einem 
Sechstel  (im  Mittel)  von  der  Breite  des  Bodens.  Die  hauptsächliche 
Strahlung  gelangt  zu  uns  aus  den  höheren  Schichten  des  Fleckes,  aber 
auch  die  tieferen  Schichten  nehmen  etwas  teil  daran,  wie  die  Bänder 
zwischen  Ä  und  D  zeigen  (vgl.  w^eiter  unten). 

Bisweilen,  aber  relativ  selten,  bemerkt  man  in  den  Linien  des 
Fleckenspektrums  Verzerrungen,  die  auf  relative  Bewegungen  der  Gas- 
raassen  hindeuten.  Diese  Verzerrungen  sind,  wie  zu  erwarten  steht, 
gewöhnlicher  am  Rand  des  Fleckes  als  in  seiner  Mitte.  Dabei  ver- 
schieben sich  bisweilen  einige  Linien,  während  andere,  die  für  andere 
Körper  charakteristisch  sind,  richtig  stehen.  Dies  giebt  einen  Finger- 
zeig, dass  die  Bewegung  sich  nicht  über  alle  Schichten  der  Flecke  er- 
streckt, indem  die  verschiedenen  Körper  in  ihrer  Hauptmasse  ver- 
schieden tief  liegen. 

Bei  der  doppelten  Umkehrung  der  H-  und  /f-Linien  in  den  Fackeln 
hat  man  bemerkt,  dass  die  innerste  dunkle  Linie  nach  Roth  verschoben 
ist.  Dies  würde  bedeuten,  dass  die  höchsten  Gasschichten  bei  den 
Fackeln  auch  in  einer  niedersinkenden  Bewegung  begriffen  sind,  wie 
die  Fleckengase  im  allgemeinen,  während  der  leuchtende  Hauptteil  der 
Fackeln  sich  in  aufsteigender  Bewegung  befindet.  Danach  würde  das 
hinuntersinkende  Gasgebiet  einen  trichterförmigen  Vertikaldurchschnitt 
besitzen  (vgl.  Fig.  35),  was  wohl  von  der  stark  zunehmenden  Dichte 
nach  unten  bedingt  wird.  Bisweilen  bemerkt  man  in  der  Nähe  der 
Flecke  gewaltige  Ausbrüche  von  Gasen,  besonders  von  Wasserstoff,  welche 
wahrscheinlicherweise  von  derselben  Art,  wie  die  Protuberanzausbrüche 
sind.  Einen  solchen  Ausbruch  einer  Wasserstoffmasse  von  200000  km 
Länge  und  30000  km  Breite  aus  der  Grenze  des  Halbschattens  be- 
schreibt Young. 


104 


Physik  des  Himmels. 


f 


Die  Chromosphäre  und  die  Protuberanzen.  Ausserhalb  des 
eigentlichen  leuchtenden  Teils  der  Sonne  liegen  ausgedehnte  Gasmassen, 
welche  wegen  ihrer  geringen  Dichte  und  relativ  niedrigen  Temperatur, 
obgleich  sie  Licht  aussenden,  neben  dem  ausserordentlich  starken  Licht 
der  Photosphäre  für  gewöhnlich  nicht  sichtbar  sind.  Diese  Teile  sah 
man  erst  bei  Sonnenfinsternissen.  Unmittelbar  über  der  Photosphäre 
liegt  eine  relativ  dünne  Schicht  von  rosenroter  Farbe,  die  Chromosphäre, 
welche  plötzlich  aufblitzt,  wenn  der  Mond  den  äussersten  Rand  der  Photo- 
sphäre bedeckt,  und  die  kurze  Zeit  dauert,  bis  der  Mond  auch  den  Rand 
der  Chromosphäre  überdeckt.  Man  hat  aus  dieser  Dauer  die  Tiefe 
dieser  Schicht  zu  etwa  lO" — 12"  (zu  je  720  km)  berechnet. 

Aus  diesem  Lichtmeer  erheben  sich  sogenannte  Protuberanzen  von 
derselben  Farbe,  die  sich  häufig  von  der  Chromosphäre  loslösen  und  als 

Wolken  schweben.  Bisweilen  sind 
diese  Gebilde  blasser,  weisslicher  ge- 
färbt. Sie  wurden  zuerst  von  einem 
schwedischen  Gymnasiallehrer  Vasse- 
nius  (1733)  erwähnt,  und  haben  beson- 
ders seit  Mitte  des  neunzehnten  Jahr- 
hunderts grosse  Aufmerksamkeit  erregt. 
Ausserhalb  dieser  liegt  die  Corona, 
welche  mit  einem  aluminium-  oder 
perlen  weissen  Licht  von  strahliger  Struktur,  an  das  Nordlicht  erinnernd, 
sich  sehr  weit,  2  —  3  Sonnendurchmesser  oder  mehr,  mit  immer  ab- 
nehmender Intensität  hinausstreckt.  Die  Corona  war  schon  im  Alter- 
tum bekannt.  Auch  die  Chromosphäre  scheint  eigentümlicherweise  vor 
den  Protuberanzen  (1706  von  Capitän  Stannyan)  entdeckt  worden 
zu  sein. 

Erst  glaubte  man,  dass  diese  Erscheinungen  mit  dem  Monde  in 
Zusammenhang  stünden,  aber  später,  besonders  nach  der  Einführung  der 
Photographie  und  des  Spektroskopes  zur  Untersuchung  dieser  Gebilde, 
wurde  ihre  Zugehörigkeit  zum  Sonnenkörper  unzweifelhaft. 

Schon  nach  der  ersten  Sonnenfinsternis,  bei  welcher  das  Spektro- 
skop benutzt  wurde,  bemerkte  Janssen  nach  Ende  der  Verfinsterung, 
dass  die  hellen  Linien  im  Protuberanzlicht  auch  ohne  Yerdeckung  der 
Sonnenscheibe  sichtbar  sind.  Zu  demselben  Resultat  war  Lockyer 
durch  theoretische  Betrachtungen  gelangt,  und  es  war  nachdem  un- 
zweifelhaft, dass  die  Protuberanzen  bei  weit  geöffnetem  Spalt  sichtbar 
sein  würden.     Dabei  wurde  zum  ersten  Male   dasselbe  Prinzip   benutzt, 


Fig.  35. 


m.  Die  Sonne.  105 

welches  Haie  und  Deslandres  später  für  die  Untersuchung  von  Ob- 
jekten auf  der  Sonnenscheibe  verwendeten.  Dieses  Prinzip  beruht,  wie 
wir  oben  gesehen  haben,  darauf,  dass  ein  Gegenstand,  welcher  einige 
wenige  Lichtarten  aussendet  und  wegen  starker  Beleuchtung  durch 
andere  Lichtarten  in  der  Umgebung  nicht  sichtbar  ist,  deutlich  sich 
hervorhebt,  sobald  man  das  fremde  Licht  abschwächt.  Dies  geschieht  am 
einfachsten  durch  starke  spektrale  Zerlegung  des  störenden  Lichtes  und 
Abbiendung  der  fremden  Lichtarten.  Als  Spektroskope  verwendet  man 
sowohl  Prismensätze  als  auch  Gitter.  Man  hat  versucht,  dieselbe  Me- 
thode auf  die  Corona  zu  verwenden,  ist  aber  nicht  zu  gutem  Erfolg  ge- 
langt, weil  das  Coronalicht  hauptsächlich  kontinuierlich  ist. 

Die  erste  gelungene  Aufnahme  einer  Protuberanz  mit  weit  ge- 
öffnetem Spalt  rührt  von  Huggins  her.  Für  gewöhnlich  verwendet 
man  dazu  das  Licht  der  Wasserstofflinie  G  oder  der  Calciumlinien 
E  und  TT,  die  letzteren  besonders  beim  Photographieren  von  Protu- 
beranzen. 

Spektroskopie  der  Sonne.  Die  Sonnenlinien  (Taf.  H,  8)  geben 
uns  einen  Aufschluss  darüber,  welche  Stoffe  in  der  Sonnen atmosphäre 
vorkommen.  Die  wichtigsten  Sonnenlinien  entsprechen  folgenden  che- 
mischen Elementen: 

G       656,3  iiy,    Wasserstoff 
l  Natrium 

Calcium 

Magnesium 

Magnesium 

Magnesium  und  Eisen 
Wasserstoff 

Wasserstoff 
Eisen  und  Calcium 
Wasserstoff 

l  Calcium 

Die  Linien  A  (759,4  ////),  a  (718,6  (i^)  und  B  (686,7  ^i^)  gehören  der 
irdischen  Atmosphäre  an  (vgl.  Taf.  II,  7).  Auf  der  Sonne  in  dem  Licht 
der  Photosphäre  sind  alle  irdischen  Elemente,  mit  Ausnahme  der  Metall- 
oide Stickstoff,  Chlor,  Brom,  Jod,  Fluor,  Schwefel,  Selen,  Tellur,  Phosphor, 
Arsen  und  Bor,  Argon  und  die  anderen  neuen  Elemente  der  Luft,  sowie 


A 

589,6 

A 

589,0 

E 

527,0 

h 

518,4 

h 

517,3 

h 

516,9 

F 

486,1 

0, 

434,0 

0 

430,8 

h 

410,2 

H 

396,9 

K 

393,4 

\0ß  Physik  des  Himmels. 

der  Metalle  Antimon,  Wismuth,  Gold,  Platin,  Iridium,  Osmium,  Thallium, 
Quecksilber  und  einige  seltene  Metalle,  wiedergefunden  worden. 

Bis  in  der  letzten  Zeit  war  es  zweifelhaft,  ob  Kohle  und  Sauer- 
stoff, diese  auf  der  Erde  so  wichtigen  Körper,  auf  der  Sonne  vor- 
kommen. Man  suchte  dieselben  sehr  eifrig  und  glaubte  mehrere 
Mal  ihre  Anwesenheit  im  Sonnenkörper  nachgewiesen  zu  haben,  erst 
in  jüngster  Zeit  scheint  dies  mit  grosser  Sicherheit,  besonders  für 
Kohlenstoff,  gelungen  zu  sein.  Einige  Forscher  glauben  sogar,  dass 
Kohlenstoff  eine  bedeutende  Rolle  in  den  Wolken  der  Photosphäre 
spielt. 

Sehr  auffallend  ist  der  Umstand,  dass  die  meisten  Metalloide  — 
zu  diesen  kann  man  auch  Antimon  und  Wismuth  zählen  —  nicht  auf 
der  Sonne  aufgefunden  sind.  Es  ist  aber  doch  kein  Zweifel,  dass  diese 
Elemente,  welche  auf  der  Erde  teilweise  eine  sehr  wichtige  Eolle  spielen, 
wie  z.  B.  Stickstoff,  Chlor,  Fluor  und  Schwefel,  auch  in  der  Sonne  vor- 
kommen. Diese  Stoffe  geben  aber  nur  mit  Schwierigkeit  ein  Spektrum, 
wenn  sie  nicht  elektrischen  Entladungen  ausgesetzt  werden,  und  es  ist 
höchst  wahrscheinlich,  dass  sie  zwar  in  glühender  Form  in  der  Sonne 
anwesend  sind,  aber  doch  nur  ein  so  schwaches  Licht  aussenden,  dass 
sie  uns  im  Sonnenspektrum  entgehen.  Weiter  ist  es  auffallend,  dass 
unter  den  Metallen,  wenn  man  von  einigen  sehr  seltenen  absieht,  die 
wahrscheinlicherweise  in  zu  geringer  Menge  auf  der  Sonne  vorhanden 
sind,  um  da  wahrgenommen  zu  werden,  nur  einige  mit  sehr  hohem 
Atomgewicht  fehlen.  Von  den  Elementen  mit  Atomgewicht  über  180 
fehlen  nämlich  alle,  ausser  Blei  und  Uran,  darunter  Gold  und  die 
Platinmetalle  mit  hohem  Atomgewicht,  Quecksilber  und  Thallium.  Von 
diesen  sind  Gold,  Platin  und  Quecksilber  nicht  so  selten,  dass  man  sie 
deshalb  nicht  erwarten  könnte,  da  Rowland  doch  so  äusserst  seltene 
Elemente,  wie  Scandium  und  Germanium,  in  der  Sonne  nachgewiesen 
hat.  Es  verhält  sich  aber  so,  dass  in  einer  Gasmasse,  welche  mehrere 
Gase  enthält,  die  schweren,  d.  h.  diejenigen  mit  hohem  Molekulargewicht, 
das  für  Metalle  wahrscheinlicherweise  mit  dem  Atomgewicht  zusammen- 
fällt, sich  nach  unten  konzentrieren.  Diese  Konzentration  muss  auf  der 
Sonne,  wo  die  Schwere  ausserordentlich  viel  kräftiger  als  auf  der  Erde 
wirkt,  und  wo  die  vertikalen  Abstände,  verglichen  mit  denjenigen 
auf  der  Erde  riesig  sind,  ungeheuer  ausgeprägt  sein.  Es  ist  dem- 
nach zu  vermuten,  dass  die  schwersten  Metalle  in  den  tiefsten 
Schichten  der  Sonne  konzentriert  sind.  Andererseits  sind  die  leich- 
testen Elemente,  sofern  sie  leicht  ein  Spektrum  ergeben,  wie  Wasser- 


III.  Die  Sonne. 


107 


Stoff,  Helium,   (Lithium),  Natrium,  Magnesium,  Calcium  in  den  aller- 
höchsten Schichten  der  Sonne  in  grosser  Menge  nachgewiesen. 

Gerade  diese  Elemente  sind  nun  am  stärksten  in  der  Chromosphäre 
vertreten.  Nach  der  photographischen  Aufnahme  von  Evershed  während 
der  Sonnenfinsternis  1898 
(vgl.  Fig.  36)  sind  die  Linien 
der  etwa  8"  =  5700  km 
dicken  Chromosphäre,  de- 
ren tiefster  Teil  die  etwa 
1,5"  =  UOOkm  dicke  soge- 
nannte umkehrende  Schicht 
(weil  darin  die  hauptsäch- 
liche Absorption  stattfindet) 
bildet,  ziemlich  genau  die- 
selben, wie  die  dunklen 
Sonnenlinien,  nur  sind  sie 
im  Gegensatz  zu  diesen 
hell.  Auffallend  ist  das 
Vorkommen  der  Helium- 
linie (587,49  (in)  in  der 
Chromosphäre,  während  sie 
nicht  als  dunkle  Linie  in 
dem  Sonnenlicht  vorkommt. 
Dasselbe  ist  der  Fall  mit 
der  Coronalinie  (53 1,59  ^im). 
Die  wichtigsten  Linien  der 
Chromosphäre  gehören  den 
Elementen  Wasserstoff,  He- 
lium, Calcium,  Strontium, 
Baryum,  Eisen,  Magnesium, 
Natrium,  Mangan,  Chrom, 
Aluminium,  Nickel  (?)  und 
Titan.  Eigentümlich  er- 
scheint das  Vorkommen 
von  Strontium  und  beson- 
ders Baryum(mit  den  A  tom- 
gewichten  87  und  137), 
obgleich  sie  relativ  schwere 
Elemente  sind.  Dies  rührt 


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CO   d 

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[Qg  Physik  des  Himmels. 

aber  ohne  Zweifel  davon  her,  dass  sie  äusserst  leicht  Spektra  geben  (sogar 
in  der  Bunsenflamme).  In  gleicher  Weise  erklärt  sich  das  Vorkommen 
des  Calciums  in  den  Protuberanzenlinien.  Oberhalb  der  umkehrenden 
Schicht  kommen  in  normalen  Fällen  nur  Wasserstoff,  Helium,  (Coronium) 
und  Calcium  vor.  Die  Eisenmetalle  und  das  mit  ihnen  vorkommende  Titan 
spielen  auch  eine  grosse  Kolle  in  der  Sonnenatmosphäre.  Sie  scheinen 
auch  die  verbreitetsten  Elemente  zu  sein,  wie  ihr  Vorkommen  in  den  Me- 
teoriten zeigt.  Die  Linien  der  starke  Spektra  gebenden  Metalle,  Natrium 
und  Magnesium  sind  in  derChromosphäre  bisweilen  doppelt  umgekehrt.  Auf- 
fallend ist  das  Fehlen  des  Kaliums,  welches,  obgleich  es  nicht  eine  so  grosse 
Kolle  wie  Natrium  in  der  Natur  zu  spielen  scheint,  doch  sehr  verbreitet  ist, 
und  als  Alkalimetall  ein  kräftiges  Spektrum  bei  niederer  Temperatur  giebt. 

Das  Spektrum  der  Protuberanzen  unterscheidet  sich  in  vielen  Fällen, 
nämlich  bei  den  sogenannten  metallischen  oder  eruptiven  Protuberanzen, 
nur  wenig  von  demjenigen  der  Chromosphäre.  Diese  Art  von  Protube- 
ranzen tritt  gewöhnlich  in  der  Nähe  der  Flecke  auf  und  kommt  nie 
an  den  Polen  vor.  Sie  enthalten,  ausser  den  Bestandteilen  der  gewöhn- 
lichen sogenannten  Wasserstoffprotuberanzen,  sehr  viele  metallische 
Dämpfe,  wie  von  Natrium,  Magnesium,  Calcium,  Baryum,  Eisen,  Titan, 
Chrom  und  Mangan.  Diese  Metalldämpfe  kommen  eigentlich  nur  an  der 
Basis  der  Protuberanzen  vor;  je  höhere  Punkte  der  Protuberanz  man 
beobachtet,  desto  seltener  sind  die  Metalllinien,  und  an  ihrer  Spitze  sieht 
man  für  gewöhnlich  nur  die  Linien  des  Wasserstoffs,  Heliums,  Coroniums 
und  die  Calciumlinien  H  und  K. 

Die  metallischen  Protuberanzen  (Fig.  38).  Diese  metallischen 
Protuberanzen  zeigen  eine  so  rasche  Formänderung  (vgl.  Fig.  38  a — c), 
welche  auf  ausserordentlich  schnelle  Bewegungen  zurückzuführen  ist,  dass 
man  an  ihrer  realen  Existenz  zu  zweifeln  sich  berechtigt  glaubte.  So  z.  B. 
sah  der  bekannte  Solarphysiker  Tacchini  am  16.  November  1892  eine 
Protuberanz,  deren  Höhe  über  der  Sonnenoberfläche  um  9^*131,8",  um  1^35^" 
534,3"  betrug.  Um  12^35"*  löste  sie  sich  von  der  Sonnenfläche,  um  l'* 
war  ihr  unterer  Band  62,5"  um  1^  19^  208"  vom  Sonnenrand  entfernt. 
Um  1^  35"^  bewölkte  sich  der  Himmel  und  wurde  erst  um  3^*  49"*  wieder 
hell.  Die  Protuberanz  war  dann  verschwunden.  Wenn  man  bedenkt,  dass 
eine  Bogensekunde,  l",  einer  Entfernung  von  720  km  entspricht,  versteht 
man,  um  wie  enorme  Strecken  die-Protuberanzenmaterie  sich  in  kurzer  Zeit 
verschoben  hat.  Die  maximale  Höhengeschwindigkeit  wurde  um  1'*  32*" 
beobachtet  und  erreichte  248  km  pr.  Sek.  Tacchini  spricht  deshalb 
die  Vermutung  aus,  dass  vielleicht  das   ganze   als   eine  Explosionswelle 


in.  Die  Sonne. 


109 


zu  betrachten  wäre.  In  der  Sonnenatmosphäre  sollten  explosive  Gas- 
geraische vorkommen,  die  plötzlich  entflammten,  und  das  gerade 
brennende  Gebiet  erschiene  als  Protuberanz.  Man  hätte  danach,  im 
Gegensatz  zu  unseren  Erfahrungen  an  irdischen  Explosivstoffen,  anzu- 
nehmen, dass  die  Entflammungstemperatur  dieser  Gasgemische  weit  über 
1000^  C.  läge.  Die  genannte  Ansicht  ist  auch  deshalb  unhaltbar, 
weil  dergleichen  Verschiebungen  in  Richtung  der  Sichtlinie  sich  durch 
eine  unerhört  starke  Verzerrung  der  Spektrallinien  kundgeben.  Und 
man  hat  keinen  Anlass  zu  vermuten,  dass  die  Fortpflanzung  einer  Ex- 
plosionswelle zu  solchen  Verzerrungen  Anlass  geben  würde.  So  z.  B. 
beobachtete  Young  in  Sherman  am  3.  August  1872  eine  Protuberanz, 
deren  Enden  (vgl.  Fig.  37)  sich  mit  Geschwindigkeiten  von  370  resp. 
410  km  pro  Sekunde  bewegten,  das  eine  von  der  Erde  weg,  das  andere 
gegen  sie  hin.    Diese  Bewegung  war  an  den  Wasserstofflinien  und  den 


Fig.  37.    Linienverschiebun^  (der  Wasserstoölinie  F)  einer  Protube- 
ranz, deren  beide  Enden  heftige  Verschiebungen  erleiden. 

Calciumlinien  II  und  K  ersichtlich,  dagegen  zeigten  die  zu  derselben 
Protuberanz  gehörigen  Magnesium-  und  Natriumlinien  keine  nennens- 
werte Bewegung  an.  Es  waren  also  nur  die  äussersten,  dünnsten,  Teile 
der  Protuberanz,  welche  diese  kolossale  Massenverschiebungen  anzeigten. 
Die  Linien  des  Baryums  und  des  Coroniums  zeigten  gar  keine  Bewegung 
an.  Das  Baryum  kommt  in  noch  dichteren  Teilen  als  Magnesium  und 
Natrium  vor,  wie  durch  das  hohe  Atomgewicht  (Ba  =  137,  gegen  Na  =  23 
und  Mg  =24)  wahrscheinlich  gemacht  wird.  Das  Coronium,  d.  h.  der 
unl)ekannte  Körper,  welcher  dem  Coronaspektrum  den  Charakter  giebt, 
gehörte  wahrscheinlicherweise  nicht  der  Protuberanz,  sondern  der  ausser- 
halb liegenden  Corona. 

Ein  paar  andere  Beispiele  von  einem  der  üeissigsten  Protuberanzen- 


j^lQ  Physik  des  Himmels. 

forscher,  Fenyi  in  Kalocsa  (Ungarn)  mögen  zur  Erläuterung  dieser  inter- 
essanten Frage  angeführt  werden.  Am  19.  September  1893  beobachtete  er 
eine  Protuberanz,  die  um  2'*,  21"*  368",  7,3  Minuten  später  497",  hoch  war, 
welches  einer  mittleren  Geschwindigkeit  von  212  km  pro  Sek.  entspricht. 
Ihre  stärkste  Bewegung  in  der  Sichtlinie  war  300  km  pro  Sek.,  also  von 
derselben  Grössenordnung.  Am  folgenden  Morgen  um  8^  55"*  schoss  eine 
Protuberanz  aus  der  Sonnenoberfläche  heraus,  welche  12  Minuten  später 
eine  Höhe  von  486",  entsprechend  einer  mittleren  Geschwindigkeit  (senk- 
recht zur  Sichtlinie)  von  488  km  pro  Sek.,  erreichte,  um  in  den  folgen- 
den 8  Minuten  bis  zu  691"  zu  steigen.  Ihre  stärkste  Bewegung  in 
Eichtung  der  Sichtlinie  war  250  km  von  der  Erde  weg.  Noch  viel 
grösser  war  die  Geschwindigkeit  einer  von  demselben  Forscher  beob- 
achteten Protuberanz  vom  15.  Juli  1895,  indem  die  spektroskopisch  ge- 
messene Geschwindigkeit  in  der  Sichtlinie  859  km  pro  Sek.  betrug. 
Eine  andere  Protuberanz  lag  am  30.  September  1895  als  eine  breite  Er- 
hebung von  22  Graden  Ausdehnung  (=  Vi  r.  des  Sonnenumkreises)  an  dem 
Östlichen  Eande  der  Sonne.  Sie  erhob  sich  später  plötzlich  zu  einer 
Höhe  von  688"  (=500000  km)  mit  einer  maximalen  Geschwindigkeit 
von  842  km  pro  Sek.    Sie  löste  sich  danach  schnell  auf 

Einige  Forscher  wollen  in  den  Protuberanzen  nur  Schlieren  sehen, 
welche  zufolge  von  eigentümlichen  Dichteverhältnissen  in  der  Sonnen- 
atmosphäre entstehen.  Diese  Ansicht  ist  eine  Folgerung  aus  der 
Schmidt  sehen  Sonnentheorie.  Man  müsste  aber  dann,  um  die  Ver- 
schiebungen der  Protuberanzlinien  zu  erklären,  annehmen,  dass  im  In- 
nern des  Sonnenkörpers,  von  wo  das  Licht  zu  diesen  Schlieren  reflektiert 
wird,  solche  gewaltsame  Massenbewegungen,  wie  die  beobachteten,  vor- 
sichgehen.  Dadurch  wird  die  Schwierigkeit  nicht  nur  nicht  entfernt, 
sondern  vermehrt.  Denn  die  inneren  Massen  sind  Millionen  mal  dichter 
als  die  Gase  am  Aussenrand  der  Protuberanzen,  so  dass  die  für  eine 
Bewegung  mit  gegebener  Geschwindigkeit  auf  der  Sonne  nötige  Energie 
viel  grösser  wird,  wenn  die  Bewegung  im  Innern  der  Sonne  als  in  der 
ausserordentlich  dünnen,  dem  leeren  Kaum  nahe  kommenden  Corona- 
masse, sich  abspielt.  Weiter  ist  die  innere  Keibung,  welche  alle  Be- 
wegungen hemmt,  in  dem  Innern  der  Sonne  wegen  der  grossen  Hitze 
und  Dichte  kolossal  gross,  so  dass  man  die  Beweglichkeit  der  inneren 
Sonnengase  mit  derjenigen  von  Honig  oder  Theer  (nach  Young)  ver- 
glichen hat.  Dagegen  ist  die  Reibung  in  der  verdünnten  Coronamaterie 
relativ  gering.  Es  wäre  auch  schwer  zu  verstehen,  warum  nur  die 
äussersteu  Teile  (die  leichtesten  Gase)  an  den  heftigen  Bewegungen  teil- 


in.  Die  Sonne. 


111 


nehmen  sollten,  wenn  die  Beleuchtung  aus  dem  Innern  käme,  und  warum 
die  Protuberanzen  nur  an  ihrer  Grenze  gegen  die  Chromosphäre  das  Licht 
von  Metallgasen  (ausser  H  und  K)  aufweisen  sollten.  Es  ist  also  wohl  un- 
umgänglich, die  kolossalen  Geschwindigkeiten  bei  den  Protuberanzen  als 
reell  anzusehen.  Sie  werden  einigermaassen  verständlich  durch  den  ausser- 


■M^^-^SMii,. 


Fig.  38  a.  Protuberanz  25.  Juli 
1872.    2^15"*. 


Fig.  38  d.  Degenförmige  Protu- 
beranzen. 


Fig.  38  b.  Dieselbe  Protuberanz 


Fig.  38  e.  Garbenförmige 
Protuberanzen. 


Fig.  38  c.  Dieselbe  3^,30»^. 
Fig.  38.    Metallische  Protuberanzen  (nach  Young).    Maasstab  1  cm  =  66000  km. 


Fig   38  f.  Wasserstrahlfbrmige 
Protuberanzen. 


ordentlich  geringen  Druck  in  den  Aussenteilen  (vielleicht  dem  Druck 
von  0,001  mm  Quecksilber  entsprechend),  durch  das  geringe  spezifische 
Gewicht  der  strömenden  Gase  (hauptsächlich  Wasserstoff  und  Helium), 
durch  die  ausserordentlich  geringe  Eeibung  bei  der  Ausströmung  in  den 
nahezu  leeren  Kaum  und  durch  die  hohe  molekulare  Energie  (Tempera- 
tur) dieser  Gasmassen.  Einigermaassen  ähnliche  Bedingungen  können  wir 


112 


Physik  des  Himmels. 


bei  Strömungen  auf  der  Erde  nicht  realisieren.  Es  möge  nur  darauf 
hingewiesen  werden,  dass  in  unserer  Atmosphäre  die  Geschwindigkeiten 
der  Luftströmungen  um  so  bedeutender  werden,  je  weiter  entfernt  von 
der  Erdoberfläche  dieselben  stattfinden. 


Fig.  39  a.    Wolkenförmige 
Protuberanzen. 


Fig   39  d.    Verschwommene 
Pro  tuberanz. 


Fig.  39  b.    Fadenförmige 
Protuberanz. 


Fig.  39  e.     Baumförmige 
Protuberanzen. 


Fig.  39  c.     Federförmige 
Protuberanzen. 


Fig.  39  f.    Hörner. 
Fig.  39.     Ruhende  Protuberanzen  (nach  Young).    Maassstab  1cm  =  50000  km 


Die  Formen  dieser  höchst  interessanten  Erscheinungen  entsprechen 
gänzlich  der  kolossalen  Unruhe  in  ihren  Massen  (vgl.  Fig.  38).  Bisweilen 
gleichen  sie  zugespitzten  Strahlen,  die  mit  Heftigkeit  auseinanderspritzen. 
In  anderen  Fällen  ähneln  sie  parabolischen  Wasserstrahlen,  aus  Köhren, 


III.  Die  Sonne.  113 

die  schräg  nach  oben  gerichtet  sind.  Nicht  selten  rollen  sich  die  oberen 
Teile  zu  horizontalen  Wirbeln  zusammen,  die  den  Windungen  am  Ka- 
pital einer  jonischen  Säule  ähneln.  In  anderen  Fällen  sind  die  faden- 
förmigen Elemente  der  Protuberanz  umeinander  gezwirnt.  In  wiederum 
anderen  Fällen  bilden  sie  mächtige  Garben  von  Flammen. 

Ruhende  Protuberanzen.  Die  ruhenden  Pro  tuberanzen  (vgl.  Fig.  39) 
kommen  auf  der  Sonnenoberfläche  in  allen  Gegenden  vor.  Sie  können  eben- 
so hoch  liegen,  wie  die  vorhin  erwähnten,  aber  zeigen  eine  relativ  grosse 
Beständigkeit,  so  dass  sie  bisweilen,  wie  man  in  der  Nähe  der  Sonnen- 
pole beobachten  kann,  während  einer  ganzen  Umdrehung  der  Sonne  be- 
stehen bleiben.  Sie  gleichen  meistens  Wolken,  die  in  der  Sonnenatmo- 
sphäre schweben,  oder  Rauchmassen  von  einem  Schornstein,  indem  sie 
an  der  Basis  schmal,  oben  ausgespreizt  sind.  Bisweilen  ist  die  Basis 
breiter,  in  w^elchem  Fall  man  sie  hörnerförmig  nennt.  Sie  enthalten 
hauptsächlich  Wasserstoff  und  Helium  und  zeigen  auch  die  Linien  H  und 
A".  Bisweilen  verirren  sich  Spuren  von  Natrium  und  Magnesium  sogar 
zu  den  höheren  Teilen  dieser  Wolken. 

Die  Protuberanzen  sind  im  Mittel  etwa  50"  hoch,  zwei  Drittel  der- 
selben erreichen  40",  ein  Viertel  60".  Einige  gehen,  wie  obige  Beispiele 
zeigen,  zu  kolossalen  Höhen.  So  beobachtete  Langley  (7.  Okt.  1880)  eine 
Protuberanz  von  nicht  weniger  als  780"  Höhe,  d.  h.  beinahe  der  Länge 
des  halben  Sonnendurchmessers.  Die  Höhe  der  höchst  gehenden  Pro- 
tuberanzen verändert  sich  etwas  mit  der  Zeit  und  hat  dieselbe  Periode 
wie  die  Sonnenflecken.  So  z.  B.  war  die  maximale  Höhe  dieser  Gebilde 
nach  Fenyi  in  den  Jahren: 


1886 

212" 

1891 

358" 

1896 

406' 

1887 

165" 

1892 

531" 

1897 

196' 

1888 

158" 

1893 

691" 

1898 

197' 

1889 

203" 

1894 

661" 

1890 

323" 

1895 

688" 

Im  Jahre  1893  trat  ein  Sonnenfleckenmaximum,  1888  ein  Sonnenflecken- 
minimum  ein.  Zufolge  dieses  Umstandes  wird  auch  die  mittlere  Höhe 
der  Protuberanzen  in  sonnenfleckenreichen  Jahren  grösser  als  gewöhn- 
lich. So  war  sie  nach  Fenyi  1893  70".  Erhebungen  von  15"— 20"  über 
der  Sonnenoberfläche  werden  nicht  zu  den  Protuberanzen  gezählt.  Diese 
geringeren  Gaseruptionen  kommen  in  solcher  Menge  vor,  dass  einige 
Forscher  die  Sonnenoberfläche  mit  einem  Grasbett  verglichen  haben, 
worin  die  Grasblätter  den  Gasausströmungen  entspreche^  sollten.    Diese 

Arrbenius,  Kosmische  Physik.  8 


114  Physik  des  Himmels, 

an  und  für  sich  mächtigen  Ausbrüche  —  sie  können  ja  eine  Höhe  von 
14000  km  erreichen  —  bilden  einen  charakteristischen  Hauptteil  der 
Chromosphäre. 

Man  glaubt  häutig  bemerkt  zu  haben,  dass  diametral  gegenüber 
der  Ausbruchsstelle  einer  auffallenden  Protuberanz  eine  starke  Pro- 
tuberanzthätigkeit  sich  entwickelt.  Dies  sollte  darauf  hindeuten,  dass 
die  protuberanzenbildenden  Kräfte  diametral  durch  den  Sonnenkörper 
wirken,  was  jedenfalls  sehr  unwahrscheinlich  ist.  Im  Gegenteil  scheint 
die  Zusammensetzung  der  Protuberanzen  anzudeuten,   dass  die  in  ihnen 


Fig.  40.    Corona  von  1807  (nach  Grosch). 

vorkommenden   Stoffe   nur    den    höchsten   Schichten    der    Photosphäre 
entnommen  sind. 

Die  Corona.  Wie  gesagt,  strahlen  von  allen  Seiten  der  Sonne 
eigentümliche  Lichtbüschel  hinaus,  welche  die  Corona  bilden.  Diese 
Strahlung  hat  in  der  Nähe  des  Sonnenrandes  eine  intensive  Helligkeit, 
doch  nicht  so  gross,  wie  die  rotgefärbten  Protuberanzen,  welche  durch 
die  Corona  durchleuchten.  Dieses  innere  hell  strahlende  Licht  bildet 
einen  Ring  von  3— 4  Minuten  Durchmesser,  welcher  gegen  das  äussere 
schwächere  Licht  ziemlich  scharf  begrenzt  ist.  Man  unterscheidet  des- 
halb die  innere  und  die  äussere  Corona.  Die  letztere  erstreckt  sich 
häufig  sehr  weit  hinaus,  besonders  in  der  Äquatorialgegend.  Bisweilen 
erreichen  die  Lichtströmungen  der  äusseren  Corona  eine  Länge  von  drei- 
bis  viermal  der  Länge  des  Sonnendurchmessers.  Das  gesamte  Corona- 
licht  ist  gemessen  worden,  es  wurde  gleich  der  Lichtstärke  t^n  3  V-i  Amyl- 
acetatlampen  in  1  m  Entfernung  geschätzt  (1893).  Wahrscheinlicher- 
weise ist  es  ziemlich  verschieden  stark  in  verschiedenen  Jahren.   Lockyer 


III.  Die  Sonne. 


115 


bat  die  Ansicht  ausgesprochen,  dass  das  Licht  der  Corona  bei  Sonnen- 
lieckenmininia  bedeutend  stärker  wäre  als  bei  Sonnenfleckenmaxima. 
Andere  Beobachter  teilen  seine  Meinung  nicht.  So  z.  B.  soll  nach  den 
meisten  Beobachtern  die  Corona  im  Jahre  1878  (vgl.  Fig.  43)  viel 
schwächer  gewesen  sein  als  1869.  Im  Jahre  1878  war  ein  Minimum-, 
1869  nahezu  ein  Maximumjahr  der  Sonnentlecke.  Häufig  sind  die  Strah- 
lungen scliwächer  an  den  Polen  und  dem  Äquator  als  an  anderen  Stellen 
der  Sonne  ausgebildet,   so  dass  die  Corona  eine  viereckige  Form  erhält 


Fig.  41.     Corona  von  1871  (nach  Foenander). 


(vgl.  Figg.  43,  44  und  45);  dies  trifft  besonders  in  sonnenfl eckenreichen 
Jahren  ein.  Gewöhnlicherweise  kommen  in  der  Corona  Einschnitte  vor, 
welche  sich  bis  zum  Sonnenrand  erstrecken.  Sie  beruhen  nicht  auf 
Schatten,  denn  sie  sind  häufig  etwas  gekrümmt.  Die  innere  Corona  ist 
an  den  Polen  bedeutend,  am  Äquator  ein  wenig  dünner  als  an  anderen 
Stellen  der  Sonne.  Auch  die  äussere  Corona  ist  für  gewöhnlich  an  den 
Polen  schwächer  entwickelt  als  an  anderen  Stellen.     Sie  erstreckt  sich 

sehr  weit  hinaus.  In  älteren  Zeiten  konnte  man  dieselbe  nicht  photogra- 

8* 


116 


Physik  des  Himmel; 


phieren,  sondern  nur  zeichnen.  Diese  Zeichnungen,  die,  nach  allem  zu 
urteilen,  sehr  viel  Subjektives  einschliessen,  zeigen  in  Jahren  von  wenig 
Sonnenflecken  eine  sehr  grosse  Ausdehnung  in  der  Nähe  des  Äquators 
(1867,  vgl.  Fig.  40).  In  Jahren  mit  einer  mittleren  Zahl  von  Sonnen- 
flecken liegen  sie  nicht  gerade  am  Äquator,  sondern  entsprechen  mehr 
der  viereckigen  Form  (1S78,  vgl.  Fig.  43).  In  jüngster  Zeit  (22.  Januar 
1898)  ist  es  Herrn  Mann  der  gelungen,   eine   solche  Corona   zu  photo- 


Fig,  42.     Corona  von  1871  (Photographie  von  Davis). 


graphieren  (Fig.  45),  in  welchem  Fall  ein  Strahl  eine  Länge  von  etwa 
6  Sonnendurchmessern  erreichte.  Die  zwei  auf  der  entgegengesetzten  Seite 
gelegenen  Strahlen  waren  etwa  4  Sonnendurchmesser  lang  und  lagen  etwa 
24*^  N.  und  S.  vom  Äquator.  Der  vierte  Strahl,  von  3  Sonnendurch- 
messern Länge,  lag  etwa  ebenso  weit  vom  Nordpol  der  Sonne.  Zur 
Zeit  der  Sonnenfleckenmaxima  scheint  die  Strömung  in  der  Corona  mehr 
gleichmässig  verteilt  zu  sein,  wie  die  Zeichnung  von  Secchi  und  die 
Photographien  von  der  Sonnenfinsternis  1871  (vgl.  Figg.  41  und  42) 
zeigen.     Nach   Picke  ring  war   die   strahlige  Struktur   der   Corona  im 


in.  Die  Sonne.  ^17 

SonnonÜeckenjahr  1893  nicht  so  stark  ausgedehnt,  wie  in  den  Minima- 
jahren  1878  und  1S89. 

Spektrum  der  Corona.  Das  Spektrum  der  Corona  zeigt  sehr  viele 
Eigentümlichkeiten.  Die  äussersten  Teile  der  Corona  geben  kontinuier- 
hches  Licht  mit  den  Absorptionslinien  der  Sonne  (besonders  D,  h  und  F), 
bestehen  folglich  aus  reflektierenden  festen  (oder  flüssigen)  Partikelchen, 
was  damit  übereinstimmt,  dass  das  Coronalicht  teilweise  polarisiert  ist. 


Fig.  43.     Corona  von  1878  (Kombination  aus  verschiedenen  Zeichnungen). 

Die  inneren  Teile  der  Corona  geben  ausserdem  Gaslinien,  worunter  die 
bekannte  Coronalinie  (/  =  531,59  ,w//)  die  interessanteste  ist.  Man  hielt 
diese  Linie  anfangs  für  dem  Eisen  zugehörig,  weil  eine  Eisenlinie  ganz 
nahe  (bei  531,6  ,(/^)  liegt.  Man  fand  es  aber  sonderbar,  dass  Eisengase 
^0  hoch  hinauf  in  der  Sonnenatmosphäre  vorkommen  sollten.  Eine 
nähere  Prüfung  zeigte  indes,  dass  diese  Linie  keiner  bekannten  irdischen 
Substanz  angehört.  Zwar  ist  in  letzter  Zeit  von  Nasini,  Anderlini 
und  Salvatori  angegeben  worden,  dass  man  diese  Linie  im  Spektrum 
von  Gasen,  die  aus  den  Solfataren  bei  Puzzuoli  ausströmen,  angetroffen 


118 


Physik  des  Himmels. 


hat.  Diese  Angabe  scheint  sieh  später  nicht  bestätigt  zu  haben.  Die 
Substanz,  welche  dieses  Licht  ausstrahlt,  ist  vermutlich  viel  leichter 
als  Wasserstoff,  nachdem  sie  in  höheren  Schichten  (bis  20'  vom  Sonnen- 
rand) vorkommt  als  dieser  Körper  (der  nur  bis  etwa  10'  hinaufreicht). 
Diese  beiden  Gase   sind  gleichmässig  in   der  inneren   Corona  verteilt, 


Fig.  44.    Sonnencorona  (hauptsächlich  innere)  von   1898  nach  Photographie. 
Scheitelpunkt  liegt  nach  rechts  unten  in  der  Richtung  der  Mondbahn. 


Der 


indem  sie  auch-  da  ebenso  hell  strahlen,  wo  Einschnitte  in  den  Licht- 
strömungen vorkommen.  In  nächster  Nähe  der  Chromosphäre  übertreffen 
die  Wasserstofflinien  die  Coronalinie  bedeutend  an  Helligkeit. 

Die  Coronalinie,  welche  man  einem  hj^pothetischen  Stoff  Coronium 
zuschreibt,  kommt  als  dunkle  Linie  im  Sonnenspektrum  vor  und  wurde 
auf  Kirchhoff s  Skala  beim  Strich  1474  eingezeichnet,  weshalb  sie 
häufig  die  Bezeichnung  1474  K.  trägt.   In  dem  Chromosphä renlicht  wird 


111.  Die  Sonne.  119 

sie  als  dunkle  oder  helle  Linie  je  nach  den  Umständen  gesehen.  In  dem 
Chromosphärenspektmm  war  die  Linie  als  dunkle  Linie  von  Lockrer 
sogar  einige  Wochen  früher  beobachtet  worden,  als  sie  in  der  Corona 
entdeckt  wurde  (1869).  In  dieser  Hinsicht  unterscheidet  sich  das  Coro- 
nium  von  dem  Helium,  welches  (in  dicker  Schicht)  in  den  Sonnenfiecken 
(ine  dunkle  Linie  giebt  und  sonst  nur  als  helle  Linie  im  Chromosphären- 
imd  Protuberanzenlicht  vorkommt. 

Ausser  diesen  Linien  des  Coroniums  und  des  Wasserstoffs  kommen 
auch  einige  andere  Linien  im  Grüngelben  bisweilen  in  der  Corona  vor, 
die  von  Young  als  zweifelhaft  bezeichnet  wurden,  eine  andere  Linie 
;t  =  398,7  im  Violett  soll  so  normal  vorkommen,   dass   sie   zum  Photo- 


Fig.  45.     Sonnencorona  (äussere)  von  1898  nach  Photographie  von  Maunder. 

graphieren  der  Corona  und  Beobachtung  ihrer  Bewegungen  vorgeschlagen 
wurde.  In  sonnenfleckenarmen  Jahren  ist  die  Coroniumlinie  sehr  schwach 
aus'geprägt,  so  z.  B.  wurde  sie  im  Jahre  1878  von  vielen  Beobachtern 
nicht  gesehen.  Im  Spektrum  der  Coronastrahlen  hat  Tacchini  Linien 
gefunden,  welche  er  dem  Kohlenstoff  zugehörig  hielt. 

Die  Natur  der  Corona.  Man  hat  in  älteren  Zeiten  häutig  ge- 
glaubt, eine  Verändenmg  der  Corona,  d.  h.  eine  Bewegimg  senkrecht 
zur  Sichtlinie  während  kurzer  Zeit  (einer  Finsternis),  bemerkt  zu  haben. - 
Diese  Beobachtungen  werden  nicht  durch  die  Photographien  gestützt; 
auf  diesen  macht  die  Corona  den  Eindruck  von  Kühe.  Zwar  hat 
Deslandres  1893  aus  der  Verschiebung  der  Spektrallinien  von  beiden 
Seiten  der  Corona  geschlossen,  dass  sie  mit  dem  Sonnenkörper  rotiert 
(mit  Geschwindigkeiten,  die  bis  7  km  pro  Sek.  erreichen  können). 


120  Physik  des  Himmels. 

Leider  hat  man  nur  bei  totalen  Sonnenfinsternissen  Gelegenheit,  die 
Corona  zu  beobachten.  Diese  treffen  nur  etwa  alle  zwei  Jahre  ein,  und 
häufig  wird  man  dann  von  Wolken  (wie  auf  den  meisten  Stationen  1896) 
gestört.  Deshalb  können  wir  uns  nicht  wundern  in  vielen  Fällen  ganz 
widersprechende  Angaben  über  das  Aussehen  der  Corona  zu  finden,  be- 
sonders betreffs  der  mystischen  Strahlung  der  äusseren  Corona,  welche 
erst  in  1898  von  Maunder  in  ihrer  ganzen  Ausdehnung  photographiert 
wurde.  Jedoch  scheint  so  viel  sichergestellt  zu  sein,  dass  die  längsten 
Strahlen  mit  Vorliebe  in  den  Gegenden  auftreten,  wo  die  Flecken  vor- 
kommen. In  jüngster  Zeit,  besonders  bei  der  Finsternis  1896  (Norden- 
m  a  r  k  und  B  a  c  k  1  u  n  d)  hat  man  die  grösste  Ausdehnung  der  Co- 
rona über  Gegenden  wahrgenommen,  wo  am  Sonnenrande  starke  Pro- 
tuberanzen vorkamen.  Auch  in  älteren  Photographien  und  Zeichnungen 
sieht  man  häufig  Andeutungen,  dass  die  kräftigsten  Coronastrahlen  über 
protuberanzreichen  Gegenden  stehen.  1898  konnte  man  aber  nach 
Evershed  keinen  Zusammenhang  zwischen  Corona  und  Chromosphäre, 
bezw.  Protuberanzen,  finden,  ebensowenig  1900. 

Die  häufig  und  besonders  an  den  Sonnenpolen  etwas  gekrümmte 
Form  der  Coronastrahlen  (vgl.  Figg.  40  u.  42)  erinnert  einigermaassen  an 
die  Form  von  rnagnetischen  Kraftlinien.  Man  hat  daraus,  und  besonders 
aus  dem  Umstände,  dass  die  Sonne  auf  den  magnetischen  Zustand  der  Erde 
einen  sehr  ausgeprägten  Einfluss  ausübt,  geschlossen,  die  Sonne  sei  ein  ko- 
lossaler Magnet,  welcher  (elektrische)  Strömungen  im  Magnetfelde  nach  den 
Kraftlinien  orientiere,  ebensowie  die  Kraftlinien  des  erdmagnetischen  Feldes 
den  Nordlichtstrahlen  Richtung  geben.  Die  Vergleichung  der  späteren  Co- 
ronaphotographien mit  den  Linien  eines  Magnetfeldes  um  zwei  Pole  fällt 
nicht  für  diese  Betrachtungsweise  günstig  aus.  Ausserdem  verlieren 
irdische  magnetische  Stoffe  bei  höheren  Temperaturen  (Eisen,  Nickel 
und  Kobalt  bei  Weissglut)  ihre  magnetischen  Eigenschaften.  Wie  sollten 
denn  magnetische  Körper  bei  der  ausserordentlich  viel  höheren  Tempera- 
tur der  Sonne  bestehen  können?  Der  Magnetismus  soll  ja  auf  einer  fixier- 
ten Lage  der  Molekeln  beruhen;  je  höher  die  Temperatur  steigt,  desto 
schwerer  wird  es  den  Molekeln  bei  ihren  kolossal  zunehmenden  Be- 
wegungen eine  fixierte  Lage  innezuhalten. 

Man  sieht  häufig  von  Solarforschern  die  Ansicht  ausgesprochen, 
dass  die  Corona  sehr  an  die  Kometenschweife  und  an  das  Nordlicht  er- 
innere. Die  hauptsächliche  radiale  Richtung  der  Coronastrahlen  deutet, 
wie  diejenige  der  Kometenschweife,  auf  eine  abstossende  Wirkung  der 
Sonne  hin,  welche  zu  sehr  viel  Nachdenken  Anlass  gab.   Mangels  anderer 


111.  Die  Sonne.  121 

bekannter  Kräfte  hat  man  an  eine  elektrische  Abstossung  geglaubt,  die 
zwischen  den  Staubpartikelchen  in  den  Coronastrahlen  und  der  Sonne 
stattfände,  welche  demnach  mit  der  gleichen  Art  von  Elektricität  ge- 
laden sein  sollten. 

Man  braucht  indessen  nicht  diesen  Ausweg  zu  wählen.  Die  Max- 
well sehe  Elektricitätstheorie  verlangt,  und  Lebe  de  w  hat  neuerdings 
experimentell  nachgewiesen,  dass  die  Strahlung  wie  ein  Druck  wirkt, 
Avelche  der  Intensität  der  Strahlung  proportional  ist.  Diese  ist  nun  viel 
(46518  mal)  grösser  in  der  Nähe  der  Sonne  (an  der  Oberfläche)  als  auf 
der  Erde.  Folglich  könnte  es  wohl  möglich  sein,  dass  die  Sonnenstrahlung 
daselbst  ihre  hinwegstossende  Eigenschaft  zum  Vorschein  brächte.  In 
der  That  findet  man,  dass  ein  kugelft)rmiger  schwarzer  Tropfen  von 
der  Dichte  des  Wassers  über  der  Sonne  gerade  schweben  würde,  zufolge 
der  Gleichheit  der  Lichtabstossung  und  der  Schwere,  w^nn  sein  Durch- 
messer 1,5  ^i  betrüge.  Der  entsprechende  Durchmesser  bei  einem  anderen 
«pecifischen  Gewicht  ist,  wie  leicht  einzusehen,  diesem  umgekehrt  pro- 
portional, z.  B.  für  das  specifische  Gewicht  2,5  (gewöhnliche  Bergarten) 
600  [j^  imd  für  Tropfen  vom  specifischen  Gewicht  6,88  (Eisen)  220  fi^i. 

Schw^arze  Tröpfchen  mit  grösserem  Durchmesser  fallen  auf  die  Sonne 
zurück,  solche  mit  geringerem  Durchmesser  werden  dagegen  ins  Unend- 
liche abgestossen. 

Diese  Abstossung  geschieht  proportional  der  Lichtstärke,  d.  h.  wenn 
man  von  der  durch  die  im  Raum  schwebenden  Partikelchen  verursachten 
Schwächung  der  Lichtstrahlung  absieht,  nach  demselben  Gesetz  wie 
•lie  Schwerenwirkung  oder  umgekehrt  proportional  dem  Quadrat  der 
Entfernung.  Mit  anderen  Worten,  die  Körper,  welche  sich  in  der  Nähe 
der  Sonne  befinden,  verhalten  sich,  als  hätten  sie  einen  Teil  ihrer 
Masse  verloren,  und  zwar  sphärische  Körper  vom  spec.  Gew.  1  und 
nicht  zu  unbedeutenden  Dimensionen,  so  viel  Masse,  wie  eine  Schicht  von 
etwa  250  [ip,  Dicke.  Die  Erde  verliert  folglich  durch  die  Sonnenstrah- 
lung so  viel  an  Anziehung,  wie  wenn  sie  etwa  250:5,5  =  45  ,</,«  kleineren 
Radius  hätte,  was  natürlich  absolut  unmerklich  ist.  Bei  sehr  kleinen 
Körperteilchen  dagegen  überwiegt  die  Abstossung,  so  dass  man  sie  be- 
handeln kann,  als  hätten  sie  negative  Masse. 

Der  Druck  und  die  Dichte  in  der  Sonne.  Wie  unerhört  ge-' 
ring  die  Masse  der  Corona  ist,  kann  man  daraus  ersehen,  dass  mehrere 
Male  Kometen  tief  durch  die  innere  Corona  gegangen  sind,  ohne  dass 
<ie  merklich  zurückgehalten  wurden.  So,  um  ein  Beispiel  anzuführen, 
ging  der  grosse  Komet  von  1843  dicht  bei  der  Sonne  vorbei  in  einem 


^22  Physik  des  Himmels. 

Abstand  von  3—4  Minuten,  lief  folglich  durch  die  dickeren  Schichten 
der  Corona,  ohne  die  geringste  merkliche  Störung  zu  erleiden.  Damit 
möge  verglichen  werden,  dass  die  Sternschnuppen,  die  mit  einer  Ge- 
schwindigkeit von  40 — 60  km  in  die  Erdatmosphäre  hineintreten,  schon 
in  einer  Höhe  von  etwa  100  km  ihre  Bewegung  gänzlich  einbüssen  und 
in  Gas  und  Staub  verwandelt  werden.  Da  der  Druck  in  dieser  Höhe 
etwa  0,01  mm  beträgt,  so  dürfte  der  Druck  in  3 — 4  Min.  Höhe  über  der 
Sonne  nicht  mehr  als  höchstens  die  Grösse  eines  tausendstel  Millimeters 
erreichen.  Man  hat  guten  Grund,  anzunehmen,  dass  an  der  Basis  der 
Corona  der  Druck  höchstens  etwa  1  mm  (vgl.  weiter  unten)  Quecksilber 
beträgt.  Nach  Frost s  Schätzung  sinkt  (in  Fällen  von  sogenanntem 
adiabatischen  Gleichgewicht)  der  Druck  über  der  Sonne  auf  die  Hälfte, 
wenn  man  104  km  in  die  Höhe  steigt.  Dies  entspricht  für  eine  Se- 
kunde (=720  km)  einer  Abnahme  im  Verhältnis  1:128  und  für  eine 
Minute  lilO^^ß,  eine  ganz  unfassbar  geringe  Zahl.  Danach  dürfte  es 
eher  zu  verwundern  sein,  dass  die  Coronasubstanz  so  dicht  sein  kann, 
dass  sie  noch  in  10' — 20'  Entfernung  von  der  Sonne  sichtbares  Licht 
abgiebt.  Dies  kann  nur  in  der  Weise  verständlich  sein,  dass  heftige 
aufsteigende  Gasströme  über  der  Sonne  Platz  finden.  Dies  stimmt 
auch  damit  überein,  dass  in  den  (fleckenlosen)  Euhezeiten  der  Sonne 
das  Coronium  sich  nicht  kundgiebt  (z.  B.  1878).  Bei  dieser  Berech- 
nung sind  die  festen  rauchartigen  Partikelchen  nicht  mitgezählt.  Diese 
besitzen  teilweise  zufolge  der  Sonnenstrahlung  ein  negatives  Gewicht, 
und  können  folglich  zum  Hinausbefördern  von  Gasen  dienen.  Wegen 
der  intensiven  Beleuchtung  können  diese  Staubkörner  sich  auch  dann 
kundgeben,  wenn  sie  sehr  spärlich  vorkommen,  z.  B.  ein  Staubkörn- 
chen im  Kubikkilometer  (New comb).  Es  ist  also  sehr  wohl  möglich, 
dass  Himmelskörper,  welche  die  Corona  durchwandern,  keine  Spur  von 
Störung  zeigen,  trotzdem  die  Corona  ein  ziemlich  starkes  Licht  zurückwirft. 

Wegen  der  starken  Bewegungen  der  Teile  der  Chromosphäre  hat 
man  allen  Anlass,  einen  nicht  allzu  hohen  Druck  in  den  oberen  Teilen 
dieser  Gasschicht  anzunehmen,  Lord  Kelvin  schätzt  ihn  zu  etwa  1  mm 
Quecksilber,  was  wahrscheinlich  zu  hoch  ist. 

Den  Druck  in  dem  untersten  Teil  der  Chromosphäre,  d.  h.  der  umkeh- 
renden Schicht,  hat  Je  well  mit  Hilfe  der  Verschiebung  der  Spektrallinien 
bestimmt  und  dabei  Werte  von  im  Mittel  etwa  5  Atmosphären  gefunden 
(vgl.  oben  S.  31).  Wegen  der  zunehmenden  Dichtigkeit  nimmt  der 
Druck  in  diesen  Teilen  der  Sonnenatmosphäre  anfangs  viel  schneller  zu 
als  in  den  höher  liegenden.    Die  Zunahme   der  Temperatur,  und  näher 


III.  Die  Sonne.  123 

dem  Mittelpunkte  die  Abnahme  der  Gravitation  (zufolge  der  Einfluss- 
losif^keit  der  äusseren  Schichten),  ebenso  wie  die  Abweichung  der  Gase 
von  dem  Boyl eschen  Gesetz  bei  hohen  Drucken  verhindern  eine  Zu- 
nahme des  Druckes  nach  einem  Exponentialgesetz  wie  in  den  oberen 
Teilen.  Lord  Kelvin  berechnet  den  Druck  im  Mittelpunkt  zu  40. 10^ 
Ekholm  zu  14.10^  Atmosphären.  Wir  können  folglich  sagen,  dass  der 
Dmok  im  Mittelpunkte  der  Sonne  vermutlich  die  Grössenordnung  10 '^ 
Atmosphären  erreicht. 

Bei  diesem  hohen  Druck  muss  die  Dichte  ziemlich  gross  werden, 
obgleich  der  Gaszustand  herrscht.  In  der  umkehrenden  Schicht  herrscht 
ein  Druck  von  etwa  5  Atmosphären.  Setzt  man  nun  das  mittlere 
Molekulargewicht  der  Gase  in  dieser  Schicht  gleich  dem  Atomgewichte 
des  Eisens,  was  bei  der  vorwiegenden  Rolle  dieses  Metalles  recht  nahe 
zutreffen  mag,  so  erreicht  die  Dichte  daselbst  bei  einer  Temperatur  (vgl. 
unten)  von  etwa  7000*^  C,  nur  etwa  ein  halbes  Tausendstel  derjenigen 
des  Wassers,  während  sie  im  Mittel  für  den  Sonnenkörper  1,4  beträgt. 
Zufolge  der  Konzentration  der  schwereren  Bestandteile  nach  dem  In- 
nern der  Sonne  dürfte  die  Dichte  etwas  mit  der  Tiefe  zunehmen,  aber 
kaum  den  Wert  10  im  Mittelpunkte  erreichen.  Lord  Kelvins  Wert  30,9 
dürfte  bedeutend  zu  hoch  sein,  weil  er  bei  seiner  Berechnung  die 
Giltigkeit  des  Boyl  eschen  Gesetzes  voraussetzt. 

Rotation  der  Sonne.  Wie  schon  vorhin  erwähnt,  bewegen  sich 
lue  Flecke  über  die  Sonnenscheibe  von  Osten  nach  Westen.  Man  hat 
-chon  frühzeitig  angenommen,  dass  dies  von  einer  wirklichen  Drehung 
der  ganzen  Sonne  herrührt,  denn  die  Bewegung  geschieht  sehr  gleich- 
massig.  Seh  ein  er  berechnete  schon  aus  dieser  Erscheinung  die  side- 
rische  ümdrehungszeit  der  Sonne  zu  etwa  25  Tagen,  woraus  die  syno- 
dische Umdrehungszeit  auf  etwa  27  Tage  kommt.  Die  verschiedenen 
Flecke  gehen  nicht  gleich  schnell  und  bewegen  sich  auch  etwas  in  der 
Richtung  des  Meridians,  so  dass  man  ein  Mittel  aus  sehr  vielen  Beob- 
achtungen nehmen  muss,  um  ein  zuverlässiges  Resultat  zu  erhalten. 
Aus  den  Beobachtungen  von  Carrington  und  Spörer  über  die  Be- 
wegungen der  Flecke  geht  eine  mittlere  Rotationszeit  der  Sonne  von 
25,3  Tagen  hervor. 

Carrington,  der  wohl  diese  Fleckenbewegung  genauer  als  irgend 
einer  seiner  Vorgänger  untersucht  hat,  fand  das  eigentümliche  Verhältnis, 
dass  die  Winkelgeschwindigkeit  der  Flecke  um  so  geringer  ist,  je  weiter 
sie  vom  Pole  entfernt  liegen.  In  der  Nähe  des  Äquators  wird  die  „side- 
rische"  Rotationszeit  der  Sonne  25  Tage,  20^  vom  Äquator  erreicht  sie 


124  Physik  des  Himmels. 

25,75  Tage,  30*^  davon  26,5  und  45*^  davon  27,5  Tage.  Die  Flecke  sind 
nun  hauptsächlich  in  den  Sonnenbreiten  10^—35*^  vertreten,  folglich 
kann  man  aus  der  Bewegung  derselben  nicht  viel  über  die  Umdrehungs- 
geschwindigkeit der  Sonne  in  anderen  Entfernungen  vom  Äquator 
schliessen.     Carrington  stellte  die  Formel  auf: 

X=  865— 165' sin'/*  5, 

worin  X  die  Bogenlänge  in  Minuten  bedeutet,  welche  ein  Fleck  in  der 
Breite  5  Grad  vom  Sonnenäquator  in  einem  Tag  beschreibt.  Für^  =  0, 
d.  h.  für  den  Sonnenäquator  erhält  man  den  Wert  X=  865'=  14,41", 
d.  h.  die  Umdrehungszeit  (siderische)  der  Sonne  wird  in  diesem  Falle 
360^:14,410  =  24,98  oder  rund  25  Tage.  Die  Beobachtungen  von 
Carrington  sind  in  späterer  Zeit  durch  Spörer,  Young,  Tacchini 
u.  a.  aufs  beste  bestätigt  worden. 

Um  die  Kotationszeit  der  Sonne  in  anderen  Breiten  kennen  zu 
lernen,  hat  Duner  die  Bewegung  der  Photosphäre  (eigentlich  der  um- 
kehrenden Schicht,  w^ elcher  die  Photosphäre  unmittelbar  überlagert)  in 
der  Sichtlinie  mit  Hilfe  des  Doppl ersehen  Prinzips  aus  der  Verschie- 
bimg der  Spektrallinien  an  den  beiden  Sonnenrändern  bestimmt.  Er 
erhielt  die  folgenden  täglichen  Bogen  g  oder  siderischen  Umdrehungs- 
zeiten U  in  den  Breiten  rp. 


(p 

§ 

U 

^P 

g 

U 

0,4« 

14,14*^ 

25,46^ 

45'^ 

11,990 

30,03*^ 

15,0 

13,66 

26,35 

60 

10,62 

33,90 

30,0 

13,06 

27,57 

74,8 

9,34 

38,55 

Diese  Zahlen  bestätigen  das  aus  der  Beobachtung  der  Flecke  ge- 
wonnene Resultat,  dass  der  Sonnenäquator  die  kürzeste  Umdrehungszeit 
besitzt,  und  dass  diese  um  so  länger  wird,  je  mehr  man  sich  dem  Pole 
nähert. 

Endlich  hat  der  russische  Physiker  Stratonoff  die  scheinbare  Be- 
wegung der  Fackeln  dazu  benutzt,  die  Umdrehungsgeschwindigkeit  der 
Sonne  zu  bestimmen.    Er  fand  folgende  Zahlen: 


9> 

g 

U 

<P 

g 

U 

(50)     0—90 

Ufii^ 

24,64^^ 

(25)  20-29 

14,140 

25,46^ 

(15)  10—19 

14,24 

25,29 

(35)  30—40 

13,61 

26,46 

III.  Die  Sonne.  |25 

welche  wiederum  in  dieselbe  Richtung  gehen.  Danach  wäre  der  täg- 
liche Rotationsbogen  am  Äquator  etwa  14,8^  und  die  entsprechende  Ro- 
tationszeit etwa  24,32  Tage. 

Es  ist  nun  sehr  auffallend,  dass  diese  Bestimmung  der  Rotations- 
zeit am  Äquator  recht  verschieden  ausfällt,  indem  dieselbe  für  die 
Fackeln  die  kürzeste  (24,32  Tage),  für  die  umkehrende  Schicht  die  längste 
(25,46)  und  für  die  Flecke  eine  mittlere  (24,98  Tage)  Zeit  verlangt. 
Auch  für  andere  Breiten  gilt  dasselbe  Verhältnis,  dass  sich  die  Fackeln 
am  schnellsten,  die  umkehrende  Schicht  am  langsamsten  umdreht,  wie 
folgende  kleine  Tabelle  anzeigt: 

Breite  Siderische  Umclrehungszeit  der 


Fackeln 

Flecke 

Photosphäre 

()0 

24,32 

24,98 

25,46 

150 

25,26 

25,44 

26,35 

30^^ 

25,48 

26,53 

27,57 

Je  näher  die  untersuchte  Gegend  zum  Pole  liegt,  desto  grösser 
scheint    der  Unterschied   zu    werden. 

Wir  wissen  nun,  dass  die  Fackeln  höher  liegen  als  die  übrige 
Photosphäre.  Wir  kommen  folglich  zu  dem  Schluss,  dass  die  äusseren 
Partieen  der  Sonne  (soweit  wir  dieselben  wahrnehmen  können),  grössere 
Winkelgeschwindigkeit  besitzen  als  die  tiefer  liegenden.  Zu  demselben 
Schluss  ist  Je  well  gelangt  aus  Beobachtungen  über  die  Verschiebung 
der  Spektrallinien  in  verschiedenen  Tiefen  (unter  verschiedenen  Drucken 
bei  verschiedenen  chemischen  Bestandteilen  der  Sonne,  vgl.  oben  S.  31). 
Eine  Folgerung  aus  dieser  Deutung  der  Thatsachen  ist,  dass  die  Flecke 
etwa  in  der  mittleren  Höhe  zwischen  Fackeln  und  der  umkehrenden 
Schicht,  folglich  (im  Mittel)  über  dieser,  gelegen  sind,  was  mit  den 
neueren  Ansichten  aufs  beste  übereinstimmt. 

Diese  Erscheinung,  dass  die  äquatorialen  Teile  grössere  Winkel- 
geschwindigkeit besitzen,  ist  sehr  auffallend.  Denn,  wenn  auf  der 
Sonnen-  wie  auf  der  Erdoberfläche  Strömungen  vom  Pol  zum  Äquator 
und  umgekehrt  stattfänden,  so  würde,  wie  im  Luftmeer  der  Erde,  das 
Gegenteil  von  dem  beobachteten  Thatbestand  zutreffen,  die  äquatorialen 
Gegenden  würden  die  geringste  Winkelgeschwindigkeit  besitzen.  Es 
müssen  vielmehr  vertikale  Strömungen  zu  Hilfe  gezogen  werden.  Schon 
John  Herschel  war  der  Ansicht,  dass  in  die  Sonne  hineinfallende 
Meteore,  welche  hauptsächlich  in  der  Nähe  des  Äquators  hineinstürzen 
sollten,    die   betreffende  Erscheinung  hervorrufen.     Man   müsste   dann 


126  Physik  des  Himmels. 

annehmen,  dass  die  Meteore  im  Mittel  sich  in  derselben  liichtiing  be- 
wegten, wie  die  Sonnenrotation  verlangt,  aber  mit  grösserer  Geschwin- 
digkeit als  die  Sonnenoberfläche.  Obwohl  dies  nicht  ganz  undenkbar 
wäre,  ist  es  wohl  doch  ziemlich  unwahrscheinlich  und  stösst  auf  eine 
entschiedene  Schwierigkeit.  Es  müsste  nämlich  nach  dieser  Ansicht 
die  drehende  Bewegung  der  Sonne  beschleunigt  werden,  und  dies  ist 
seit  Scheiners  Zeit  (nahezu  300  Jahren),  nach  seinen  Sonnenflecken- 
beobachtungen  zu  urteilen,  nicht  der  Fall  gewesen.  Und  doch  müsste 
diese  Beschleunigung  dazu  genügen,  um,  nach  Dun  er  s  Messungen,  die 
Umdrehungsgeschwindigkeit  des  Sonnenäquators  trotz  .der  Reibung  etwa 
50  Proz.  über  derjenigen  der  polaren  Gegenden  zu  erhalten. 

Mehr  Beachtung  verdient  die  Erklärung  von  Young.  Wir  wissen 
nach  Deslandres,  dass  die  höheren  Schichten  (der  Corona)  etwa  die- 
selbe Winkelgeschwindigkeit  besitzen,  wie  die  unterliegenden  Oberflächen- 
schichten der  Sonne.  Wenn  also  Körper  von  den  höheren  Schichten 
auf  die  Oberfläche  (Photosphäre)  hinunterfallen,  so  muss  die  Winkelge- 
schwindigkeit beschleunigt  werden.  Diese  Wirkung  ist  unter  übrigens 
gleichen  Umständen  am  grössten  beim  Äquator  und  am  geringsten  an 
den  Polen.  Es  muss  aber  eine  ausserordentlich  starke  und  deshalb  un- 
wahrscheinliche Strömung  angenommen  werden,  um  die  beobachtete  Er- 
scheinung zu  erklären. 

Die  Äquatorialebene  der  Sonne  bildet  einen  kleinen  Winkel  mit  der 
Ekliptik.  Dieser  Winkel  beträgt  etwa  7^.  Die  beiden  genannten  Ebenen 
schneiden  einander  längs  einer  Geraden,  die  durch  die  zwei  sogenannten 
Noden  oder  Knoten  auf  der  Ekliptik  geht,  welche  eine  Länge  von  etwa 
70  resp.  250^  besitzen.  Diese  beiden  Knoten  werden  von  der  Erde  am 
3.  Juni  und  am  5.  Dezember  durchlaufen.  Die  Sonnenachse  geht  durch 
einen  Punkt  auf  dem  nördlichen  Himmel,  welcher  ungefähr  in  der 
Mitte  zwischen  Wega  und  Polarstern  liegt. 

Frequenz  der  Flecke,  Fackeln  und  Protuberanzen.  Wolfer 
fand,  dass  die  Flecke  und  die  Fackeln  einander  folgen,  was  scheinbar 
mit  der  Str  ateno  ff  sehen  Auffassung  in  Widerspruch  steht.  Es  lassen 
sich  aber  die  beiden  Ansichten  vereinigen,  wenn  man  annimmt,  dass 
immer  neue  Fackeln  um  die  Flecke  entstehen,  dann  durch  die  un- 
gleiche Bewegung  von  den  Sonnenflecken  getrennt  werden  und  allmäh- 
lich zugrunde  gehen,  wonach  neue  Fackeln  wieder  in  der  Nähe  der 
Flecke  gebildet  werden.  Es  wird  folglich  das  Fackelmaximum  in  der 
Nähe  des  Fleckenmaximums  verbleiben.  Die  Fackelmaxima  waren  in 
den  Jahren  1887 — 89  um  zwei  Punkte  konzentriert,  die   einander  im- 


III.  Die  Sonne. 


127 


<'efähr  diametral  gegenüberlagen  (sie  waren  nach  Wolf  er  155^  von- 
einander entfernt).  Dies  deutet  darauf  hin,  dass  die  grösste  Eruptions- 
thätigkeit  an  bestimmte  Stellen  gebunden  ist. 

Im  allgemeinen  zeigt  die  südliche  Halbkugel  der  Sonne  eine  leb- 
haftere Wirksamkeit  als  die  nördliche.  Die  Flecke  kommen  in  zwei 
Zonen  auf  der  Breite  von  5 — 30^  nördlich  und  südlich  vom  Äquator  vor. 
Über  dem  35.  Breitegrad  sind  sie  sehr,  über  dem  45.  ausserordentlich 
selten.  In  der  Nähe  der  Pole  werden  sie  nie  beobachtet.  Die  Fackeln 
gehen  etwas  weiter  hinaus,  besonders  auf  der  südlichen  Hemisphäre. 
Nördlich  von  +  30^  und  südlich  von  —  50^  sind  sie  recht  selten.  Noch 


Ficr.  46. 


gleichmässiger  sind  die  (ruhenden)  Protuberanzen  verteilt,  sie  sind  sogar 
bei  den  Polen  nicht  selten,  am  meisten  erscheinen  sie  in  einem  Gebiet 
zwischen  +60^  und  —70^. 

Die  Figur  46  giebt  zum  Vergleich  ein  Diagramm  über  die  Ver- 
teilung von  1386  Flecken  in  den  Jahren  1853 — 61  nach  Carrington 
und  von  2767  Protuberanzen  im  Sonnenfleckenjahr  1871  nach  Secchi. 
Man  sieht,  dass  in  diesem  Jahre  die  Protuberanzenzahl  in  der  Nähe 
<les  Äquators  ein  sehr  schwaches  Minimum  besass,  um  nach  zwei  ziem- 
lich flachen  Maximis  zu  zwei  recht  scharfen  Minimis  in  der  Nähe  des 
60.  Breitengrades  abzunehmen.  An  den  Polen  nehmen  die  Protuberanzen 
wieder  etwas  zu  und  zeigen  ein  neues  Minimum  am  Pole  selbst. 


-[28  Physik  des  Himmels. 

Die  punktierte  Linie  in  Fig  46  giebt  die  Zahl  der  höheren  Protu- 
beranzen (über  l'  =  43000  km)  an  verschiedenen  Breitegraden  an. 
Diese  zeigen  dieselbe  Veränderlichkeit,  wie  die  Totalzahl  der  Protube- 
ranzen, aber  noch  etwas  ausgeprägter. 

Carrington  hat  gefunden,  dass  die  Flecke  zwischen  20'^  nörd- 
licher und  südlicher  Breite  sich  gegen  den  Äquator  langsam  mit  einer 
mittleren  Geschwindigkeit  von  l' — 2'  pro  Tag  hinbewegen.  Dagegen 
streben  die  Flecke  in  höheren  Breiten  etwas  dem  Pole  zu.  Eine  ähn- 
liche Bewegung  hat  Stratonoff  bei  den  Fackeln  konstatiert.  Es  ver- 
hält sich  demnach  so,  als  ob  diese  Gebilde  von  dem  Gebiet,  wo  sie  in 
maximaler  Häufigkeit  auftreten  (etwa  20^  n.  und  s.  Br.),  abgestossen 
würden.  Ebenso  stossen  sich  die  verschiedenen  Flecke  gegenseitig  ab. 
Bei  schnellen  Veränderungen  eines  Fleckes  verschiebt  sich  dieser  häufig 
sozusagen  sprungweise  in  der  gewöhnlichen  Bewegungsrichtung. 

Nach  diesen  Messungen  von  Carrington  und  Secchi  ist  die  Son- 
nenwirksamkeit etwas  grösser  auf  der  südlichen  Sonnenhälfte,  indem  auf 
dieser  708  Sonnenflecke  und  1459  Protuberanzen  vorkamen,  gegen  673 
Flecke  und  1308  Protuberanzen  auf  der  nördlichen  Hemisphäre.  Eine 
eigentümliche,  aber  wahrscheinlich  bedeutungsvolle  Ausnahme  von 
diesem  allgemeinen  Verhalten  zeigen  die  Gegenden  in  der  Nähe  des 
Sonnenäquators,  was  Flecke  und  Fackeln  betrifft.  So  ist  die  Zahl  der 
Flecke  auf  5*^  südlicher  resp.  nördlicher  Breite  31  bez.  85  (vgl.  Fig.  46). 

Zu  denselben  Schlüssen  gelangen  wir  aus  den  folgenden  Daten, 
welche  einer  Statistik  über  die  Verteilung  der  Flecke,  Fackeln  und 
Protuberanzen  für  die  Periode  von  1890  Juli  bis  1897  September  nach 
den  Berechnungen  von  Tacchini  in  Eom  entnommen  sind. 

Verteilung  der  Flecke. 


Breite      .    . 

..+40«^      30      20      10      0      —10 

—  20 

-30 

—  40 

Fleckenzahl 

.    .               12     194    512    297         252 
Verteilung  der  Fackeln. 

601 

295 

27 

Breite      .     . 

.    .    +50"      30      20      10      0      -10 

-20 

—  30 

—  500 

Fackelzahl  . 

.    .              124    581    1009   798         758 

1137 

894 

335 

Verteilung  der  Protuberanzen. 

Breite  .     .     . 

+  90"^      60        40        20        0        —20 

-40 

—  60 

—  90 

Pro  tuberanz - 

zahl .     .     . 

381    1CC9    2305    1716          1899 

2797 

1193 

633 

Diese  Zusammenstellung  zeigt  für  alle  drei  Phänomene  eine  stärkere 
Frequenz   auf  der  südlichen   Hemisphäre   der  Sonne.      Das    Maximum 


III.  Die  Sonne.  129 

der  Flecke  bei  etwa  ±15^  ist  sehr  scharf  ausgeprägt,  weniger  scharf  das- 
jenige der  Fackeln  an  derselben  Stelle  und  am  wenigsten  tritt  das 
Maximum  der  Protuberanzen  (um  etwa  +25^^)  hervor. 

Die  Überlegenheit  der  südlichen  Hemisphäre  zeigt  sich  hier  noch 
deutlicher  als  in  den  oben  gegebenen  Daten  von  Carrington  und  Secchi, 
indem  die  Anzahl  der  Erscheinungen  auf  der  nördlichen  und  der  süd- 
lichen Sonnenhalbkugel  folgendermaassen  verteilt  ist: 


nördl. 

südl. 

5"N. 

50  s. 

Flecke   .    .     . 

.     1015 

1175 

297 

252 

Fackeln      .    . 

.     2512 

3124 

798 

758 

Protuberanzen 

.     5471 

6522 

— 

— 

Zum  Vergleich  ist  unter  5^N.  und  5-S.  die  Anzahl  der  Flecke 
und  Fackeln  zwischen  Äquator  und  10^  nördlicher  bezw.  südlicher  Son- 
nenbreite angegeben.  Es  verhält  sich  gewissermaassen  so,  als  ob  der 
meteorologische  Äquator  mit  dem  Sonnenfleckenminimum  etwas  süd- 
lich vom  geographischen  Äquator  läge.  In  ähnlicher  Weise  liegt  der 
meteorologische  Äquator  der  Erde  etwas  nördlich  vom  geographischen. 

Die  Maxima  verschieben  sich  in  den  Jahren  von  geringer  Sonnen- 
tleekenfrequenz  nach  dem  Äquator  hin,  wie  die  folgenden  Daten  zeigen: 

Flecke  1897  Jan.— Sept. 
Breite    .    .    .    40o      30»      20«      10»      0        —10»    —20»    —30«    —40» 
Frequenz    .     .  0  0        11        33      49  39  0  0 

Fackeln  1895  Okt.  — 1896  Dez. 

Breite    ...    50«      30^      20»      10»      0        —10     —20     —30     —  öO» 
Frequenz    .    .  24       47       90      122      154        149  73  47 

Protuberanzen  1897  Jan.  —  Sept. 

Breite  ...  90   60   40   20   0    —20—40—60  —90^ 
Frequenz  .  .     10   128  112  129   2S1    134    112    16 

Die  Ursache  der  ungleichmässigen  Verteilung  der  Flecke  ist  un- 
bekannt. Sie  steht  ohne  Zweifel  mit  der  ungleichmässigen  Oberfläehen- 
bewegung  in  Zusammenhang.  Man  hat  häufig  Schwierigkeiten  gehabt, 
die  ausserordentliche  Kraft  der  Eruptionen  auf  der  Sonne  zu  erklären, 
da  doch  keine  starre  Kruste  einen  schnellen  Ausgleich  der  Druckdiffe- 
renzen verhindert.  Diese  Schwierigkeit  dürfte  aber  zum  Teil  ver- 
schwinden, wenn  man  bedenkt,  dass  die  Gase  der  Sonne  zufolge  der 
hohen  Temperatur  und  Dichtigkeit  eine  grosse  innere  Reibung  besitzen, 
so  dass  sie  nach  ihrer  Konsistenz   am   ehesten   mit  Theer   oder  Honig 

Arrhenius,  Kosmische  Physik.  *        9 


j^30  Physik  des  Himmels. 

ZU  vergleichen  sind  (nach  Young).  Die  oberen  Schichten  geben  dem- 
nach nur  langsam  einem  inneren  Drucke  nach.  Man  kann  sich  dann 
den  Vorgang  so  vorstellen:  Im  Innern  der  Sonne  existieren  sehr  stark 
kondensierte  Gase,  die  sehr  viele  Atome  in  einer  Molekel  enthalten  und 
deren  Bildung  mit  einer  ganz  enormen  Energieaufspeicherung  verbunden 
ist.  Diese  Umstände  entsprechen  dem  kolossalen  Druck  und  der  nach 
Millionen  Graden  zählenden  Temperatur  im  Sonneninnern.  Angenommen, 
es  findet  durch  irgend  eine  Ursache  eine  Verschiebung  einer  solchen 
Gasmasse  zu  höheren  Schichten  mit  niedrigerer  Temperatur  und  gerin- 
gerem Druck  statt,  so  zerfallen  die  stark  zusammengesetzten  Molekeln 
ausserordentlich  schnell,  explosionsartig,  denn  alle  Reaktionsgeschwindig- 
keiten verlaufen  bei  sehr  hohen  Temperaturen  unerhört  schnell.  Da- 
durch entsteht  eine  heftige  Zunahme  des  Druckes  und  der  Temperatur, 
welche  kurze  Zeit  weiteren  Zerfall  verhindert,  bis  die  umliegenden 
Schichten  zur  Seite  gedrückt  und  erwärmt  worden  sind,  wonach  neuer 
Zerfall  eintritt.  Wahrscheinlicherweise  spielt  der  Wasserstoff  und 
der  Kohlenstoff  in  diesen  vielatomigen  chemischen  Verbindungen  eine 
grosse  Rolle,  wie  ja  diese  Bestandteile  das  hauptsächlichste  Material  zu 
den  am  meisten  zusammengesetzten  Stoffen,  die  wir  auf  der  Erde 
kennen,  liefern.  Es  ist  demnach  zu  vermuten,  dass  bei  der  grossen 
Rolle,  welche  Wasserstoff  und  Kohlenstoff  auf  der  Sonne  spielen,  kom- 
plicierte  Hydrüre  und  Carbide,  sowie  Kohlenwasserstoffe  einen  bedeu- 
tenden Teil  der  zerfallenden  Gase  ausmachen.  Beim  Zerfall  entstehen 
Wasserstoff,  Kohlenstoff  und  freie  Metalle,  welche  mit  grosser  Gewalt 
zur  Oberfläche  hinstürzen.  Da  fällt  der  Kohlenstoff  aus  und  bildet 
Fackeln,  die  Metalle  und  der  Wasserstoff  bilden  die  Protuberanzen, 
welche  den  Fackeln  folgen.  Durch  diese  Eruptionen  steigt  der  Gas- 
druck in  den  oberen  Schichten,  die  Gase  fallen  zurück  und  bilden  ein 
Druckmaximum  mit  hinabsteigender  Gasbewegung,  welches  dem  Fleck 
entspricht.  Ein  Fleck  mit  umgebenden  Fackeln  wäre  demnach  als 
ein  Gasdruckmaximum  mit  umgebenden  kleinen  Minimis  anzusehen. 
Der  Fleck  ist,  wie  das  Barometermaximum,  relativ  ruhig,  die  Fackeln, 
wie  die  Minima,  bewegen  sich  relativ  schnell  und  ändern  dabei  ihre 
Form. 

Die  Temperatur  der  Sonne.  Es  ist  natürlich  eine  sehr  hohe  Tem- 
peratur in  der  Sonne  anzunehmen.  Die  Temperatur  der  Sonne,  welche 
wir  schätzen  können,  ist  diejenige  der  Photosphäre.  In  älteren  Zeiten  be- 
trachtete man  sie,  nach  ihrer  Strahlung,  als  sehr  hoch,  so  z.  B.  schätzte 
sie  Secchi  zu   5  Millionen   Grad,    Ericsson    zu   2,5  Millionen  Grad. 


III.  Die  Sonne.  13  j 

Inzwischen  hat  man  immer  mehr  der  Ansicht  zugeneigt,  dass  die 
Temperatur  der  Photosphäre  nicht  allzu  sehr  die  höchsten  irdischen 
Temperaturen  (in  sehr  intensiven  Lichtbogen),  welche  gegen  4000^  C. 
erreichen,  übertreffe.  Die  Schätzungen  der  jüngsten  Zeit  stimmen  recht 
gut  untereinander.  So  z.  B.  maass  Le  Chatelier  diejenige  Wärme- 
strahlung von  Körpern  bei  verschiedenen  Temperaturen,  w^ eiche  durch 
ein  rotes  Glas  gehen.  Damit  verglich  er  die  entsprechende  Strahlung 
der  Sonne  und  gelangte  so  zu  einem  Wert  von  etwa  7600^  C.  Aus  der 
Lage  des  Strahlungsmaximums  im  Sonnenspektrum,  welches  bei  0,5  // 
liegt,  und  derjenigen  für  strahlende  Körper  (Kupferoxyd,  Eisenoxyd  und 
Russ),  welche  dem  Gesetze  gehorchen: 

lmaxT=29bO 

(worin  Xmax  die  Wellenlänge  in  ,m  des  Strahlungsmaximums  und  T  die 
absolute  Temperatur  des  strahlenden  Körpers  angiebt),  erhält  man  den 
Wert  'r=5400  (nach  Paschen).  Wilson  und  Gray  fanden  aus  der 
Strahlungsintensität  der  Sonnenmitte,  wobei  sie  annahmen,  dass  die 
Erdatmosphäre  29  Proz.  der  Strahlung  von  der  im  Zenith  stehenden 
Sonne  verschluckt,  6200^  C,  welchen  Wert  sie  später  auf  8000^  C.  korri- 
LTierten.  Als  Strahlungsgesetz  benutzten  sie  dasjenige  von  Stefan. 
Warburg  findet  in  ähnlicher  Weise  etwa  6000^  C. 

Zuletzt  wollen  wir  eine  Schätzung  von  Seh  ein  er  erwähnen.  Er 
fand  die  Magnesiumlinie  448,2  fifi  sehr  stark  im  Spektrum  der  Sterne 
vom  Typus  1,  z.  B.  Sirius,  entwickelt.  Dieselbe  Linie  war  schwächer  in 
den  Sternspektren  vom  Typus  2  a  (z.  B.  Sonne)  und  fehlte  in  den- 
jenigen vom  Typus  3  (z.  B.  a  Orionis).  Sie  wird  auch  im  Funken- 
spektrum, dessen  Temperatur  Scheiner  ziemlich  willkürlich  auf  15000^0. 
schätzt,  wiedergefunden,  dagegen  nicht  im  Bogenspektrum  (etwa  4000^  C). 
<Tanz  umgekehrt  verhält  sich  die  Magnesiumlinie  435,2  fifi,  welche  im 
Bogenlicht,  sowie  in  den  Sternenspektren  von  den  Typen  3  und  2  a 
zu  sehen  ist,  dagegen  nicht  in  dem  Funkenspektrum  noch  im  Sternen- 
-pektrum  vom  Typus  1.  Daraus  schliesst  Seh  ein  er,  dass  die  Tempe- 
ratur der  umkehrenden  Schicht  der  Sonne  zwischen  4000^  und  15000^  C. 
liegt,  dagegen  hat  die  umkehrende  Schicht  des  a  Orionis  (Beteigeuze) 
•  ine  Temperatur  von  nur  3—4000  ^  C.  Diese  Schätzung  dürfte  etwas 
unsicher  sein,  da  die  Masse  der  strahlenden  Dämpfe  auch  eine  grosse 
Rolle  bei  der  Emission  spielt,  und  wir  sehr  wenig  über  diese  Grösse 
unterrichtet  sind. 

Die   Temperatur   des   Innern   der   Sonne    ist    natürlicherweise   viel 

.        9* 


X32  Physik  des  Himmels. 

höher  als  diejenige  der  Photosphilre.  Aus  der  sogenannten  adiabatischen 
Wärmeverteilung  auf  der  Sonne,  d.  h.  der  Wärmezunahme  der  Sonnen- 
gase, wenn  man  sie  von  der  Photosphäre  zu  einer  bestimmten  Tiefe  mit 
bekanntem  höheren  Druck  führte,  könnte  man  sie  berechnen.  Es  ist 
aber  für  diese  Berechnung  eine  Kenntnis  der  specifischen  Wärme  der 
Sonnengase  nötig,  welche  wir  keineswegs  besitzen. 

Schuster  berechnet  die  Zunahme  an  der  Oberfläche  zu  etwa  200^  C. 
pro  Kilometer,  was  15000^0.  pro  Bogensekunde  ausmacht.  Oppolzer 
schätzt  die  letzterwähnte  Grösse  zu  ungefähr  600(1  ^  C.  pro  Bogensekunde. 
Da  der  Sonnenradius  rund  16' =960"  lang  ist,  würde  nach  diesen  Be- 
rechnungen die  Temperatur  im  Centrum  der  Sonne  den  enormen  Wert 
von  etwa  6 — 15  Millionen  Grad  betragen.  Da  aber  das  dichte  Gas 
im  Sonneninnern  bei  weitem  nicht  so  kompressibel  ist,  wie  ein  ideales 
Gas,  dürften  diese  Extrapolationen  zu  allzu  hohen  Werten  führen. 
Zu  einem  noch  höheren  Wert,  200  Millionen  Grad,  führt  die  Theorie 
von  Lord  Kelvin,  zu  einem  niedrigeren,  etwa  5  Millionen  Grad,  eine  Be- 
rechnung von  Ekholm.  Der  letzterwähnte  Wert,  der  mit  dem  Op- 
polzerschen  gut  stimmt,  dürfte  unter  den  angeführten  der  wahrschein- 
lichste sein. 

Die  Periodicität  der  Sonnen  flecke.  Bei  Beobachtungen 
über  die  Sonnenflecke  fand  man  schon  früh,  dass  dieselben  in  einigen 
Jahren  ausserordentlich  spärlich  vorkommen,  in  anderen  Jahren  dagegen 
ungewöhnlich  häuflg  sind.  Die  Veränderung  in  der  Anzahl  der  Sonnen- 
flecke geht  nach  einer  bestimmten  Regelmässigkeit  vor  sich,  und 
Schwabe  fand  (1843),  dass  diese  Anzahl  eine  periodische  Änderung  er- 
leidet, deren  Länge  etwa  11  Jahre  beträgt.  Dieser  Befund  ist  nachher 
von  allen  Solarforschern  bestätigt  worden  und  speciell  von  dem  bekannten 
Physiker  Wolf,  welcher  die  sogenannten  Relativzahlen  eingeführt  hat. 
Die  Sonnenflecke,  deren  Anzahl  f  an  einem  bestimmten  Tage  sein 
mag,  kommen  gnippenweise  verteilt  vor.  Wenn  die  Anzahl  der  Gruppen 
q  war,  berechnete  Wolf  eine  Relativzahl  (r)  der  Sonnenflecke  nach  der 
Formel: 

r=109  +  /'. 

Er  maass  also  einem  einzelnen  Fleck  eine  weit  geringere  Be- 
deutung zu  als  einer  Fleckengruppe.  Aus  diesen  Relativzahlen  für 
jeden  Tag  bildete  er  Monats-  und  Jahresmittel.  Mit  Hilfe  älterer  Beob- 
achtungen konnte  er  die  Relativzahl  auch  für  ältere  Zeiten  berechnen. 
We^en  der  enormen  Wichtigkeit  dieser  Relativzahlen  der  Sonnenthätig- 


III.  Die  Sonne. 


133 


keit  teilen  wir  dieselben  hier    für   die  Jahre   mit,    in  welchen  Maxima 
und  Minima  vorkommen  (vgl.  Figg.  47c  und  49^): 


1750 

55 

61 

66 

69 

75 

78 

84 

87        98 

83,4 

9,6 

85,8 

11,4 

106,1 

7,0 

154,4 

10,2 

132,0       4 

1804 

10 

16 

23 

30 

33 

37 

43 

48 

73,1 

0,0 

46,4 

1,8 

70,7 

8,5 

138,2 

10,7 

124,3 

1856 

60 

67 

70 

78 

84 

89 

93 

1900 

4,3 

95,7 

7,3 

139,1 

3,4 

63,7 

6,3 

85,2 

lOV 

Vor  dieser  Zeit  traten  Maxima  in  den  Jahren  1616,  26,  40,  49,  60,  75, 
85,  93,  1705,  18,  28  und  39,  Minima  in  den  Jahren  1611,  19,  34,  45, 
55,  66,  80,  90,  99,  1712,  24,  34  und  45  ein.    Die  Periodenlänge  ist,  wie 


^^^f:_\H'  1  M  1  1  II  1 1 II>N  M  IMiril 

^oo\^  \4-ti             M              \im\i\  \\\  \w\ 

^'W-l±  ==     -----±----''  ==.i  i^±^iiii=iii= 

Itordliditen     co       60 J- v         7 ~^\ 

'-^   1   V      1                \rwC\  \vA-\  V /  mrn 

20 J r'-'T SI^---a^ä__ 

/l                                 **— -*— ■■^'^^              ^              ^^ 

— T^     f\ 

11                                                     -]-{--   i^ 

MiunuStörmuiai  h    '"'     S             Jl                ^it        t^         J         1    \         S       -I- 

^               ^             ^          S^            ^                   +       J    \l    ^.       t    v^       -    ^s-,T 

II        ^        -v^^i      ^^\^   /      l        X    V    _    S    V-        All 

l          ^^^^1      ^^,-^      ^^'it            ^-f          ^L            :\ 

ioo\r  ^  ^                                                     ^          IK          i'~ 

80    '^-                                      ±        -     t        J-             \ 

Samienfleckafv  c       60A-Az j^f ?t-    -^ f-S 1- 

„oi    Is      i  \-    =/=v     =  ?  S    -X  i---^~-  K'-'- 

yal $-:i'^irs3E-;^-'st-^---rff--^-^-   i^-i-V  p- 

^''f=— ±i— ^^z^±-^£-t~~-° ^Ei-i^ii 

/?»'»  1790       1S00        tStO       IS  20       1830        ISW        1850        1860        1870 


Fig.  47. 

aus  den  Zahlen  ersichtlich,  nicht  immer  gleich,  wie  man  von  astrono- 
mischen Perioden  gewöhnt  ist,  sondern  schwankt  zwischen  7  (1830-37) 
und  17  (1787—1804)  Jahren.  Die  mittlere  Länge  hat  Wolf  zu  11,2 
Jahren  ermittelt.  Die  unterste  Kurve,  Fig.  47  und  die  oberste  in  Fig.  49, 
lebt  die  Schwankung  der  Kelativzahlen  seit  1784  an. 

Eine  sehr  bemerkenswerte  Eigentümlichkeit  bietet  der  Umstand, 
dass  der  aufsteigende  Teil  der  Kurve  sehr  steil  verläuft,  indem  derselbe 
sich  nur  über  etwa  4,5  Jahre  erstreckt,  im  Vergleich  zum  absteigenden 
Ast,  der  etwa  7  Jahre  ausfüllt  (vgl.  Figg.  47  und  49).  Kleine  Erhebungen 
auf  dem  absteigenden  Ast  sind  sehr  häufig.  In  den  letzen  Jahren  des 
achtzehnten  und  den  ersten  dreissig  Jahren  des  neunzehnten  Jahrhun- 
«lerts  war  die  Schwankung  relativ  unbedeutend. 

Dieser  Umstand  ist  höchst  bemerkenswert,  da  gerade  für  diese  Zeit 
in  den  ßegelmässigkeiten  der  meteorologischen  Erscheinungen  (vgl. 
unten),   die   mit   den  Sonnenflecken  zusammenhängen,,  ein   sehr  wenig 


134  Physik  des  Himmels. 

ausgeprägter  bisweilen  sogar  entgegengesetzter  Gang  beobachtet  worden 
ist,  verglichen  mit  demjenigen  in  anderen,  normalen,  Zeitabschnitten. 

Die  Ursache  dieser  eigentümlichen  Periodicität  ist  Gegenstand  sehr 
eingehender  Discussionen  gewesen,  jedoch  bisher  ohne  nennenswerten 
Erfolg.  De  la  Rue  und  Balfour  Stewart  glaubten  schliessen  zu 
können,  dass  die  Konjunktion  von  grösseren  Planeten,  besonders  Jupiter, 
dessen  Umlaufszeit  (11.87  Jahre)  nicht  allzu  weit  von  der  Länge  der 
Sonnenfleckenperiode  entfernt  ist,  mit  Yenus  und  Merkur,  von  Einfiuss 
ist.  Es  ist  schwer  einzusehen,  wie  die  Planeten  dabei  wirken  sollten. 
Am  ehesten  wäre  an  eine  Art  Gezeitenwirkung  zu  denken,  wobei  Kon- 
junktionen eine  Art  Springflut  zustande  bringen  würden.  Wenn  man 
aber  bedenkt,  dass  die  Wirkung  von  Venus  auf  die  Sonne  etwa  den 
750.  Teil  derjenigen  von  der  Sonne  auf  die  Erde  und  diejenige  des  Ju- 
piter und  Merkur  auf  die  Sonne  nur  den  1000.  Teil  dieser  erreicht,  so 
verliert  diese  Art,  die  Sache  anzugreifen,  gänzlich  den  Boden  (Young). 
Die  Sonne  bewirkt  nämlich  auf  tiefen  Wässern  eine  Flutwelle  von  etwa 
30  cm  Höhe  um  den  Äquator  der  Erde.  Es  würden  danach  die  drei 
Planeten  im  Stande  sein,  eine  Welle  von  etwa  1  mm  Höhe  auf  der  Sonne 
zu  erregen.    Diese  Ziffer  giebt  jedenfalls  die  Grössenordnung  richtig  an. 

Eher  wäre  die  Meteorenhypothese  zu  verwenden.  Der  Meteoren- 
schwarm,  welcher  nach  Her  seh  eis  Ansicht  die  Sonnenflecke  verursacht, 
könnte  eine  Umlaufszeit  von  etwa  11,2  Jahren  besitzen  und  dadurch  eine 
periodische  Wirkung  ausüben.  Eine  Schwierigkeit  bietet  in  diesem  Fall 
die  Verteilung  der  Flecke,  welche  gerade  am  Äquator,  wo  sie  nach  der 
Meteorenhypothese  am  häufigsten  vorkommen  sollten,  sehr  spärlich  er- 
scheinen. 

Übrigens  hat  diese  Hypothese,  wie  alle  anderen  astronomischen 
Hypothesen,  die  Schwierigkeit  zu  überwinden,  welche  in  der  grossen 
Schwankung  der  Periodenlänge  begründet  ist  und  mit  einer  astrono- 
mischen, von  den  Bewegungen  anderer  Himmelskörper  herrührenden 
Ursachen  vollkommen  unvereinbar  erscheint.  Vielmehr  erinnert  die  Er- 
scheinung an  die  Periodicität  der  Ausbrüche  von  Geysirn.  Man  hat 
demnach  bisweilen  versucht,  die  Entstehung  der  Sonnenflecke  in  der- 
selben Weise  wie  diejenige  der  Geysirausbrüche  zu  erklären. 

Zusammenhang  der  Sonnenfleckenfrequenz  mit  dem  Erd- 
magnetismus. Es  hat  sich  nun  herausgestellt,  dass  die  Sonnenflecken- 
periode sich  in  vielen  irdischen  Erscheinungen  geltend  macht.  Beson- 
ders ist  dies  der  Fall  mit  den  Variationen  der  Stellung  der  Magnet- 
nadel und  der  Häufigkeit  der  Nordlichter,  welche  beiden  Erscheinungen 


111.  Die  Sonne.  135 

miteinander  sehr  nahe  verknüpft  sind.  Der  Zusammenhang  ist  ohne 
weiteres  aus  den  Kurven  in  Fig.  47  ersichtlich,  von  welchen  die  oberste 
die  Anzahl  der  Nordlichter,  die  mittleren  die  Frequenz  der  magnetischen 
Stöningen  und  die  untere  die  Frequenz  der  Sonnenfiecke  in  jedem 
Jahre  von  1784  bis  1871  wiedergiebt.  Jedoch  ist  dieser  Zusammenhang 
von  Faye  und  Lord  Kelvin  bestritten  worden.  Dieser  berühmte  For- 
seher denkt  sich  die  Sache  folgendermaassen.  Damit  die  Sonne  die 
Stärke  des  erdmagnetischen  Feldes  um  0,001  ihres  Betrages  beeinflussen 
könnte,  müsste  die  Sonne  ein  Magnet  von  12  000  mal  so  grosser  Stärke 
als  der  Erdmagnet  sein.  Nun  kommen  Störungen,  die  der  Sonnenthätig- 
keit  zugeschrieben  werden,  vor,  welche  das  Erdmagnetfeld  um  den  30. 
Teil  verändern.  Man  müsste  demnach  plötzliche  ausserordentlich  starke 
Änderungen  des  Sonnenmagneten  annehmen.  Übrigens  verhält  sich  der 
Gang  der  irdischen  Magnetnadel  nicht  so,  wie  man  aus  der  Annahme, 
die  Sonne  sei  ein  ungeheuerer  Magnet,  zu  schliessen  berechtigt  wäre. 
Da  also  der  übereinstimmende  Gang  der  Sonnenflecke  und  der  Magnet- 
nadel nicht  durch  eine  ähnliche  Annahme  erklärt  werden  kann,  so  be- 
hauptet Lord  Kelvin,  dass  die  erwähnte  Übereinstimmung  nur  zufällig 
sei.  Man  muss  aber  die  Elemente  der  Wahrscheinlichkeitsrechnung 
ganz  ausser  Acht  lassen,  wenn  man  den  parallelen  Gang  der  Kurven 
h  und  c  in  Fig.  48  für  ein  Spiel  des  Zufalls  erklärt.  „Dass  die  Sonnen- 
rtecke  mit  dem  Erdmagnetismus  im  Zusammenhange  stehen,  unterliegt 
keinem  Zweifel"  (Young). 

Kurz  nachdem  Schwabe  seine  Beobachtungen  über  die  Veränder- 
lichkeit der  Sonnenflecke  in  den  Jahren  1826 — 1851  veröffentlicht  hatte, 
machten  gleichzeitig  Sabine  in  England,  Gautier  in  Frankreich  und 
Wolf  in  der  Schweiz  auf  das  Zusammenfallen  der  Maxima  und  Minima 
der  von  Lamont  1850  nachgewiesenen  Periode  der  magnetischen  Schwin- 
gungen mit  den  Maxima  und  Minima  in  der  Sonnenfleckenperiode  auf- 
merksam. Um  das  nahe  Zusammenfallen  der  beiden  Perioden  in  neuerer 
Zeit  hervorzuheben,  mögen  folgende  Jahreszahlen  und  Werte  der  Maxima 
und  Minima  der  täglichen  Veränderlichkeit  der  Deklination  in  Prag  und 
die  Jahre  der  Extremwerte  in  der  Zahl  der  Sonnenflecke  angeführt  werden. 

Jahr 1856  1859  1867  1871  1878  1883  1889    - 

Variation,  beob.   .  5,98'  10,36'  6,95'  11,43'  5,65'  8,34'  5,99' 

ber.     .  6,08  lo,20  6,22  12,15  6,04  8,76  6,17 

Jahr 1856,0  60,1  67,2      70,6  78,9  84        89 


Sonrienfleckenzahl      4,3         95,7        7,3     139,1       3,4     63,7     6,3 


136 


Physik  des  Himmels. 


Die  Übereinstimmung  im  Gange  der  beiden  Erscheinungen  ist  so 
ausgeprägt,  dass  man  die  tägliche  Veränderlichkeit  der  Deklination  v  für 
verschiedene  Orte  nach  folgender  Formel  berechnen  kann: 

v  =  a  -{-  b  r, 

worin  r  die  Relativzahl  der  Sonnenflecke,  a  und  b  zwei  Konstanten 
bedeuten,  welche  für  Prag  den  Wert  5,89'  resp.  0,045'  besitzen.  Die  so 
berechneten  Werte  stimmen  vorzüglich  mit  den  beobachteten  überein, 
nicht  nur  für  die  Jahre  der  Maxima  und  Minima,  wie  obenstehende 
Daten  zeigen,  sondern  ebensogut  in  anderen  Jahren. 

Die  Grösse  von  a  und  b  an  verschiedenen  Orten  ist  in  f<^lgender 
Tabelle  wiedergegeben. 

Breite  a  b  A, 

Christiania 59,55  4,94'  0,037  0,032 

Barnaul  (Sibirien)    .     .  53,19  3,53  0,028  0,023 

Berlin 52,30  6,62  0,042  0,042 

Greenwich 51,30  6,67  0,039  0,042 

Prag 50,5  6,12  0,040  0,039 

Wien 48,13  5,13  0,039  0,033 

München 48,9  6,74  0,042  0,043 

Mailand 45,28  5,28  0,043  0,034 

Toronto 43,40  7,96  0,040  0,051 

Trevandrum  (Indien)    .  8,30  0,24  0,007  0,002 

Batavia —    6,11  —3,16  —0,016  —0,016 

Hobarton  (Tasmanien)  .  —42,53  —7,17  —0,032  —0,046 

Ein  — Zeichen  giebt  an,  dass  das  nach  Norden  gerichtete  Ende 
des  Magneten  am  Tage  mehr  gegen  Osten  zeigt  als  in  der  Nacht,  in 
den  anderen  Fällen  bewegt  sich  das  Nordende  am  Tage  mehr  gegen 
Westen  als  in  der  Nacht.  Die  beiden  Grössen  a  und  h  laufen  nahezu 
miteinander  parallel,  wie  aus  den  mittels  der  Formel  a=\hlb  berech- 
neten, unter  b^  stehenden,  Werten  hervorgeht,  gehen  etwas  nördlich 
vom  Äquator  durch  Null,  sind  noch  nördlicher  positiv,  südlicher  ne- 
gativ. Sie  nehmen  mit  steigender  Breite  erst  zu,  gehen  durch  ein 
Maximum  auf  etwa  47^  Breite  und  nehmen  wieder  gegen  die  Pole  hin 
ab.  Schuster  hat  gezeigt,  dass  die  Ursache  dieser  Schwankungen  ausser- 
halb der  Erdoberfläche  (vermutlich  in  der  Luft)  liegt. 

Ebenso  wie  die  Deklination  erleiden  die  anderen  magnetischen  Ele- 


III.  Die  Sonne.  X37 

ente,  Horizontalintensität  und  Inklination  Schwankungen,  welche  der 
iSonnentieckenperiode  folgen. 

Sonnenflecke  und  Nordlichter.  Da  die  magnetischen  Varia- 
tionen äusserst  eng,  wie  Celsius  und  Hiorter  entdeckten,  mit  den 
Nordlichtern  verknüpft  sind,  so  lag  die  Vermutung  nahe,  dass  die 
Nordlichter  derselben  Periode  wie  die  Sonnenflecke  folgen  würden.  Dies 
wurde  auch  von  Loomis  und  später  von  Fritz  nachgewiesen,  wie  die 
Kurven  a  und  c  in  Fig.  47  sehr  deutlich  machen.  Indessen  scheint  der 
Zusammenhang  nicht  sehr  einfach  zu  sein.  Tromholt  glaubte  für  einige 
Stationen  in  Island  und  Grönland  einen  entgegengesetzten  Gang  des 
Nordlichtes  gegen  denjenigen  der  Sonnenflecke  nachweisen  zu  können. 
Spätere  Beobachtungen  aus  diesen  Gegenden  lassen  keinen  deutlichen  Zu- 
sammenhang dieser  beiden  Erscheinungen  erkennen.  Auch  neuere  Beob- 
achtungen aus  Schweden  und  Norwegen,  sowie  Nordamerika,  zeigen  bei 
weitem  keine  so  gute  Übereinstimmung  wie  die  Kurven  a  und  c  in 
Fig.  47.  Dagegen  ist  die  Übereinstimmung  der  Periode  der  Sttdlichter 
mit  derjenigen  der  Sonnenflecke  eine  noch  viel  auffälligere  als  diejenige 
<ler  Nordlichter.  Überhaupt  scheint  es,  dass,  wenn  man  die  Polarlichter 
möglichst  vollständig  notiert,  ihre  ausgesprochene  elfjährige  Periodicität 
zum  Teil  verloren  geht.  Dies  muss  ja  der  Fall  sein,  wenn  man  in  solchen 
Gegenden  beobachtet,  wo  Nordlichter  beinahe  in  jeder  Nacht,  sow^ohl  in 
sonnenfleckenreichen  als  auch  in  sonnenfleckenarmen  Jahren  vorkommen. 
Wenn  man  aber  nur  die  auffälligsten  Polarlichter  notiert  oder  in  solchen 
Gegenden  arbeitet,  wo  diese  seltene  Erscheinungen  sind,  so  tritt  die 
elfjährige  Periode  sehr  scharf  hervor,  wie  die  Zusammenstellungen  von 
Loomis  und  Fritz  (Kurve  a  in  Fig.  47)  aus  älteren  Jahren  zeigen. 
Noch  mehr  tritt  dies  bei  den  relativ  spärlich  beobachteten  Südlichtern 
hervor. 

Fortpflanzung  der  magnetischen  Störungen.  Es  ist  viel 
darüber  geforscht  worden,  wie  lange  Zeit  die  magnetischen  Störungen 
und  die  Nordlichter  nach  den  Störungen  auf  der  Sonne  erscheinen. 
Wenn  man  dies  feststellen  könnte,  so  hätte  man  ein  Maass  für  die 
Fortpflanzungsgeschwindigkeit  des  erwähnten  Einflusses  und  könnte 
Schlüsse  in  Bezug  auf  dessen  Natur  ziehen.  Unmittelbar  nach  der  von 
Carrington  und  Hodgson  beobachteten  grossen  Eruption  vom  1.  Sep- 
tember 1859  (vgl.  S.  96)  auf  der  Sonne  zeigte  die  Magnetnadel  einen 
heftigen  magnetischen  Sturm  an.  Auch  Young  hat  am  3.  und  5.  August 
1872  ähnliche  Koinzidenzen  von  Störungen  auf  der  Sonne  und  magne- 
tischen Störungen  beobachtet.    Es  giebt  wohl   auch  einige   spätere  der- 


;[38  Physik  des  Himmels. 

artige  Beobachtungen  (von  Wild),  welche  eine  Fortpflanzungsgeschwin- 
digkeit der  magnetischen  Störung,  die  der  Lichtgeschwindigkeit  gleich- 
käme, andeuten.  Aber  eine  genaue  Prüfung  dieses  schwierigen  Gegen- 
standes hat  die  Vorstellung  von  einer  solchen  Koinzidenz  stark  er- 
schüttert. So  z.  B.  spricht  sogar  Sidgreaves  die  Ansicht  aus,  dass 
wegen  der  mangelnden  Gleichzeitigkeit  der  magnetischen  Stürme  und 
der  Störungen  auf  der  Sonnenoberfläche  kein  direkter  Zusammenhang 
zwischen  diesen  beiden  Erscheinungen  bestehe,  sondern  „die  gemeinsamem 
Ursache  beider  Erscheinungen  liege  in  Anhäufungen  von  kosmischem 
Staub,  welche  das  Sonnensystem  bei  seiner  Wanderung  durch  den  Raum 
passiert".  Ebenso  bemerkt  Palazzo,  dass  die  Ansicht  von  Marchand, 
dass  Sonnenflecke  bei  ihrem  Durchgang  durch  den  mittleren  Meridian 
der  Sonne  magnetische  Störungen  hervorrufen,  nicht  gern  richtig  sein 
könne.  Denn  bei  der  Passage  eines  kolossalen  Sonnenfleckens  über  die 
Sonnenmitte  am  6 — 7.  August  1893  trat  wohl  eine  magnetische  Störung 
ein,  eine  andere  Störung,  die  noch  heftiger  war,  ging  aber  12  Stunden 
voraus,  und  als  der  Fleck  das  nächste  Mal  am  2.-3.  September  durch 
die  Sonnenmitte  ging,  war  nicht  die  geringste  magnetische  Störung  zu 
bemerken.  Eine  Ansicht,  die  von  Yeeder  ausgesprochen  wurde,  dass 
die  Flecke  dann  Störungen  hervorrufen,  wenn  sie  gerade  am  Sonnen- 
rande stehen,  zeigt  nur,  wie  unsicher  die  Ideen  auf  diesem  Gebiete  sind. 
Riccö,  wie  Marc  band,  und  wohl  die  meisten  sind  darüber  einig,  dass 
nur  der  Passage  über  die  Sonnenmitte  eine  bevorzugte  Bedeutung  zu- 
geschrieben werden  kann.  Tacchini  macht  dazu  die  Bemerkung,  dass 
nur  falls  starke  Bewegungen  bei  den  Sonnenflecken  vorkommen,  wäh- 
rend diese  die  Sonnenmitte  durchgehen,  magnetische  Störungen  auf- 
treten. Später  hat  er  die  Ansicht  ausgesprochen,  dass  die  Fackeln 
und  (metallischen)  Protuberanzen  viel  eher  mit  den  Nordlichtern  und 
den  magnetischen  Störungen  in  Zusammenhang  stehen  als  die  eigent- 
lichen Flecke.  Dies  schliesst  er  aus  dem  Umstände,  dass  im  Jahre  1893 
die  Flecke  im  Zunehmen  begriffen  waren,  während  die  Anzahl  der  Pro- 
tuberanzen und  Nordlichter  abnahm.  Dagegen  muss  man  bemerken, 
dass  andere  Fackeln  als  diejenigen,  welche  die  Flecke  umgeben  und 
andere  Protuberanzen  als  die  metallischen  wohl  keine  Wirkung  auf  die 
magnetischen  Yerhältnisse  ausüben,  denn  ihre  Veränderlichkeit  in  der 
Sonnenfleckenperiode  ist,  nach  Tacchinis  Ziffern  zu  urteilen,  nicht  sehr 
stark  hervortretend.  Ausserdem,  wenn  man  alle  Fackeln  mitrechnet,  so 
giebt  es,  wie  Haie  bemerkt,  keinen  Augenblick,  in  welchem  nicht  eine 
Fackel  die  Sonnenmitte  überschreitet.     Aber   ü'erade   den  Fackeln   und 


III.  Die  Sonne.  •  I39 

Protuberanzen  im  Sonnenfleckengebiet  ist  ohne  Zweifel  die  eigentliche 
wirkende  Rolle  zugeteilt,  und  sie  ändern  sich  nahezu  in  derselben  Pro- 
portion wie  die  Sonnenflecke.  Denn  diese  Gebilde  zeigen  vor  allen 
anderen  die  enorme  Unruhe,  welche  als  Grund  der  stossweise  erschei- 
nenden magnetischen  Störungen  angesehen  werden  kann. 

Am  ehesten  wird  man  wohl  zum  Ziel  kommen,  wenn  man  Flecke 
und  ihre  Umgebungen  zu  Zeiten  untersucht,  während  welcher  sie  und 
die  magnetischen  Störungen  relativ  selten  sind.  Als  Beispiel  eines 
solchen  Falles  möge  der  grosse  Fleck  vom  September  1898,  welcher  von 
Mau n der  untersucht  wurde,  dienen.  Dieser,  oder  richtiger  die  Flecken- 
gruppe (vgl.  Fig.  48),  erreichte  am  8. — 10.  September  seine  grösste  Aus- 
dehnung, indem  die  Länge  des  unruhigen  Gebietes  etwa  220000  und 
ihre  Breite  etwa  70000  km  betrug.  Etwa  14  Stunden,  nachdem 
der  grösste  Fleck  durch  den  mittleren  Meridian  der  Sonne  ging, 
-etzte  ein  ausserordentlich  scharfer  magnetischer  Sturm  ein,  welcher 
das  Maximum  seiner  Stärke  etwa  7—8  Stunden  später,  am  Abend  des 
9.  September  8 — 10  Uhr  entwickelte.  Gleichzeitig  entfaltete  sich  ein 
prachtvolles  aus  weissen  Strahlen  bestehendes  Nordlicht  um  8'' 45*"  bis 
10^30'"  mit  einem  Maximum  der  Unruhe  um  9^  Nach  einem  anderen 
<'nglischen  Beobachter  erschien  ein  schwaches  Licht,  wie  leuchtende 
Wolken,  um  8^  um  8^30"^  schössen  kräftige  weisse  Strahlen  am  nörd- 
lichen Horizont  auf,  welche  Erscheinung  bis  9^  anhielt.  Die  Seitenstrahlen 
waren  etwas  schwächer  und  etwas  purpurfarben.  Um  8^*  40"*  war  die  Licht- 
«ntfaltung  so  stark,  dass  der  Beobachter  seine  Uhr  ablesen  konnte.  Ein 
sehwaches  Licht  blieb  am  nördlichen  Horizont  bis  11^30"'  (Greenw,  Zeit). 
Um  10''  bildete  sich  ein  Nordlichtbogen  von  hellem  gelben  Licht  aus, 
welcher  um  11^*15"^  seine  schärfste  Begrenzung  hatte  und  um  11/*  45"* 
beinahe  verschwunden  war. 

Etwa  20  bis  21  Stunden,  nachdem  der  Fleck  den  mittleren  Sonnen- 
nieridian  erreichte,  machte  sich  sein  grösster  Einfluss  auf  den  magne- 
tischen Zustand  der  Erde  geltend. 

Zu  ungefähr  demselben  Schluss  gelangte  Maunder  aus  der  Unter- 
suchung eines  Fleckes  vom  Jahre  1892. 

Zu  ähnlichen  Folgerungen  ist  der  hervorragende  Forscher  Ricco, 
liolangt,  welcher  die  Zeitdifferenz  zwischen  dem  Durchgang  der  Sonnen- 
tiecke  durch  den  centralen  Meridian  der  Sonne  und  dem  Auftreten  von 
magnetischen  Störungen  auf  der  Erde  zu  38  bis  51  Stunden  schätzt. 

Es  scheint  demnach,  dass  die  durch  Sonneneruptionen  verursachte 
Störung   eine   nicht   unbedeutende  Zeit  braucht,   um   die  Erde   zu   er- 


140 


Physik  des  Himmels. 


reichen.  Es  ist  folglich  nicht  wohl  möglich,  die  Wirkung  irgend  einer 
Lichtstrahlung  zuzAischreiben,  welche  elektrische  Wirkungen  auszAÜösen 
vermöchte. 


Fig.  48.  Gruppe  von  Sonueiiflecken  vom  8. — 10.  September  1898  nach  Maunder.  Die 
obere  Figur  zeigt  ein  Bild  von  dem  Moment,  als  der  grösste  Fleck  den  mittleren 
Meridian  der  Sonne  erreicht,  die  untere  zeigt  ein  48  Stunden  später  aufgenommenes 
Bild,  wodurch  die  grossen  in  der  Zwischenzeit  erfolgten  Änderungen  hervortreten. 


Sonnenflecke  und  Lufttemperatur.  Auch  bei  anderen  me- 
teorologischen Erscheinungen  hat  die  Sonnenfleckenperiode  einen,  wenn 
auch  nicht  grossen,    so   doch   interessanten  Einfluss  gezeigt.     Eine  aus- 


III.  Die  Sonne.  141 

tuhrliche  Zusammenstellung  über  diese  Fragen  hat  H.  Fritz  1878  ge- 
liefert. Nur  die  wichtigsten  Beziehungen  mögen  hier  kurz  erwähnt 
werden.  Koppen  fand,  dass  im  allgemeinen  die  Temperatut  in  den 
xtnnenfleckenreichen  Jahren  niedriger  ist  als  in  den  sonnenfleckenarmen. 
Am  regelmässigsten  ist  diese  Erscheinung  in  den  Tropen  entwickelt,  wo 
die  Amplitude  0,73*^  C.  beträgt.  Das  Temperaturmaximum  tritt  etwa 
1  eTahr  vor  dem  Fleckenminimum  ein,  das  Temperaturminimum  koinzi- 
(liert  mit  dem  Fleckenmaximum  wie  folgende  Tabelle  zeigt: 

Jahr.     Fleckenmin.  +1  -j-  2  +3         +4 

Temp.         -f  0,33  +0,15  —0,04  —0,21    —0,28 

Jahr.     Fleckenmax.  +1  +2  -|-3         +4         4-5 

Temp.        —0,32  —0,27  —0,14  +0,08    +0,30    +0,41 

Die  Einwirkung  ist  in  aussertropischen  Gegenden  geringer  — 
Koppen  fand  im  Mittel  für  die  aussertropischen  Stationen  eine  Ampli-, 
tude  von  0,54^  C.  —  und  der  Gang  der  Periode  war  viel  mehr  ver- 
wischt. Dieser  Umstand  steht  nur  scheinbar  im  Widerspruch  mit  der 
von  Saweljew  gefundenen,  aber  noch  nicht  genug  konstatierten  That- 
sache,  dass  die  Sonnenstrahlung  in  fleckenreichen  Jahren  bedeutend 
stärker  ist  als  in  fleckenarmen.  Er  fand  nämlich  in  den  Sommern  1890, 
1891  und  1892  einen  Wert  der  Wärmestrahlung  pro  Stunde  und  cm'^ 
zu  Kijew  von  29,8,  bezw.  32  und  36  cal.,  w^ährend  die  Relativzahlen  der 
Sonnenflecke  7,  bezw.  47  und  86  betrugen. 

Diese  Beobachtung  ist  a  priori  wahrscheinlich,  denn  die  Sonnen- 
ttecke  entsprechen  einer  „Umrührung"  auf  der  Sonne,  welche  wohl  eine 
Temperatursteigerung  der  strahlenden  Oberflächengebiete,  besonders  der 
Fackeln,  herbeiführen  muss.  Die  Temperatursenkung  auf  der  Erde  in 
sonnenfleckenreichen  Jahren  sollte  danach  von  der  gleichzeitig  ein- 
tretenden Erhöhung  in  der  Bewölkung,  trotz  der  stärkeren  Wärme- 
strahlung,  herrühren   (vgl.  weiter  unten). 

Sonnenflecke,  Wolken  und  Niederschlag.  Die  Bewölkung 
scheint  insofern  mit  den  Sonnenflecken  in  Zusammenhang  zu  stehen, 
als  besonders  die  höchsten  Wolken  in  Zeiten  von  vielen  Flecken  häu- 
flger  vorkommen  als  in  fleckenarmen  Jahren. 

So  z.  B.  fand  Klein  für  folgende  Wolkenarten  in  den  Jahren 
1850-1870  nachstehende  Frequenzzahlen  (für  Köln). 

Jahre       Rel.-Zahl       Cirrhus        Cirrhosfcratus       Cirrhocumulus       Summe 

1850—52    178,6         122  187  49  358 

1853—55       63,6*  89*  186  5*  280* 


142  Physik  des  Himmels. 


Jahi-e        Rel.-Zahl 

Cirrhus 

Cirrhostratus 

Cirrhocumulus 

Summe 

1856—58       76,7 

164 

122* 

51 

337 

1859—61     272,4 

286 

149 

40 

475 

1862-64     150,9 

361 

123 

11 

495 

1865—67       58,0* 

225=^ 

95^ 

0 

320'= 

1868-70    263,9 

248 

163 

0 

411 

Wie  ersichtlich,  fallen  die  Maxima  und  die  Minima  nahezu  auf 
dieselben  Epochen,  wie  die  Maxima  und  Minima  der  lielativzahlen  der 
Sonnenflecke. 

Diese  höchsten  Wolken  geben  durch  ihre  Eisnadeln  zu  Höfen  um 
den  Mond  und  die  Sonne  Anlass.  Diese  sind  in  der  That  häufiger  bei 
den Sonnenfleckenmaxima  als  bei  den  Minima.  Schon  aus  Tycho  Brahes 
Tagebuch  geht  hervor,  dass  die  Höfe  in  nordlichtreichen  Zeiten  häu- 
figer als  sonst  auftreten. 

Auch  für  die  Bewölkung  im  allgemeinen  hat  man  für  deutsche 
Stationen  eine,  obgleich  ziemlich  schwach  ausgeprägte,  Zunahme  mit 
den  Sonnenflecken  nachgewiesen.  (Diese  Beziehung  scheint  nicht  all- 
gemein giltig  zu  sein,  so  ist  man  z.  B.  in  England  zum  entgegenge- 
setzten Resultat  gekommen). 

Nach  den  Untersuchungen  von  Meldrum  und  Lockyer  sind  die 
Niederschläge  bei  Sonnenfleckenmaxima  reichlicher  als  sonst.  Die  Regel- 
mässigkeiten treten  stärker  in  den  tropischen  Gegenden  hervor,  als 
ausserhalb  derselben.  Aber  auch  da  kommt  bisweilen  ein  entgegen- 
gesetzter Gang  vor,  wie  Archibald  und  Hill  für  die  Regen  in  Nord- 
Indien  gefunden  haben.  Auf  dem  Kontinent  von  Europa  sollte  die 
Amplitude  etwa  2  englische  Zoll  (=  51  mm)  und  in  Amerika  und  Eng- 
land etwa  doppelt  soviel  betragen. 

Eine  Folge  der  zu  Sonnenfleckenzeiten  vergrösserten  Niederschlags- 
menge zeigt  sie  in  dem  gleichzeitig  erhöhten  Pegelstande  der  euro- 
päischen Flüsse.  Aus  Untersuchungen  des  Pegelstandes  der  grossen 
Ströme:  Elbe,  Rhein,  Oder,  Weser,  Donau,  Weichsel  und  Seine  hat  man 
gefunden,  dass  der  mittlere  Pegelstand  in  den  drei  Jahren  um  das 
Maximum  sich  zu  demjenigen  in  den  drei  Jahren  um  das  Minimum  der 
Sonnenflecke  wie  1,26  :  1,18  =  1,05  :  1  verhält.  Auch  der  Nil  zeigt  ent- 
schiedene Maxima  in  Jahren  1828,  1841,  1849,  1861  und  1870,  welche 
den  Sonnenfleckenmaxima  (1830,  1837,  1848,  1860  und  1870)  nahe 
liegen.  Die  entsprechenden  Minima  fallen  in  die  Jahre  1835,  1845,  1857 
und  1866  resp.  1833,  1843,  1856  und  1867. 


III.  Die  Sonne.  j^43 

Auch  die  Hagelfällc  sollen  bei  Sonnentieckenmaxima  häuliger  auf- 
treten als  bei  Minima.     Die  Schwankung  ist  nicht  sehr  ausgeprägt. 

Die  elfjährige  Periode  anderer  irdischer  Erscheinun- 
<j:en.  Meldrum  zeigte,  dass  die  Cy klonen  zwischen  dem  Äquator 
und  25*^  s.  Breite  bei  Sonnenfleckenmaxima  häuliger  und  kräftiger  sind 
als  bei  Minima.  Zu  demselben  Resultat  ist  Poey  für  das  Antillen- 
<?ebiet  gelangt.  Auch  die  Verlustziffern  der  Seeversicherungsgesellschaften 
sprechen  für  die  Richtigkeit  des  Befundes  von  Meldrum.  Eine  der 
sonderbarsten  Erscheinungen  ist  die,  dass  die  Thätigkeit  der  Vulkane 
kräftiger  zu  sein  scheint  in  den  Zeiten  der  Sonnenfleckenminima  als  in 
denjenigen  der  Maxima,  wie  Kluge  und  De  Marchi  nachgewiesen 
haben.  Nach  De  Marchi  sollte  die  Variation  sogar  im  Verhältnisse 
2  :  1  stehen. 

Dass  diese  meteorologischen  Einflüsse  (besonders  die  Schwankung 
der  Temperatur  und  des  Niederschlages)  eine  Wirkung  auf  biologische  Ver- 
hältnisse ausüben  können,  ist  leicht  einzusehen.  Man  hat  nach  Herschel 
in  dieser  Weise  einen  Zusammenhang  zwischen  Sonnenflecken  und  Ernte, 
Weizenpreise,  Handelskrisen  und  Hungersnot  in  Indien  gesucht,  aber 
mit  zweifelhaftem  Erfolge.  Jedoch  scheinen  einige  sogenannte  phänolo- 
«,nsche  Erscheinungen  mit  den  Sonnenflecken  in  deutlichem  Zusammenhang 
zu  stehen.  So  z.  B.  traf  die  Zeit  der  Weinlese  bei  Wien  (Maulern)  im 
Mittel  4,6  Tage  später  in  den  fleckenreichen  Jahren  als  in  den  flecken- 
armen ein  (7,2  Oktober  bezw.  2,6  Oktober  in  der  Zeit  1754 — 1853).  Auch 
die  Quantität  und  Qualität  des  produzierten  Weines  scheint  von  den 
Sonnenflecken  begünstigt  zu  werden.  Die  Weinerträge  in  Nassau  zeigen 
nach  Sartorius  eine  Periodicität,  deren  Maxima  auf  folgende  Jahre 
fallen: 

1704,  1718,  1725,  1738,  1749,  1761,  1773,  1782,  1834,  1847,  1857, 
1869,  während  die  Sonnenfleckenmaxima  in  folgenden  Jahren  fielen, 
1706,  1718,  1728,  1739,  1750,  1761,  1769,  1778,  1837,  1848,  1860,  1870. 

In  den  Jahren  1785 — 1830  ist  der  Gang  der  Kurve  sehr  unregel- 
raässig  und  nicht  gut  mit  der  Sonnenfleckenkurve  in  Übereinstimmung 
zu  bringen. 

Auch  andere  Pflanzen  zeigen  eine  ähnliche  Abhängigkeit,  wie  aus, 
den  Kurven  (Fig.  49)  hervorgeht.  Die  ^-Kurve  stammt  von  Flammarion 
und  zeigt  die  Blütezeit  der  Edelkastanie  in  der  Nähe  von  Paris  in  ver- 
schiedenen Jahren.  Je  höher  die  Ordinata,  desto  früher  trat  die  Blüte- 
zeit ein.  Der  Abstand  zwischen  zwei  horizontalen  Strichen  entspricht 
6   Tagen.      Die    5-Kurve   zeigt,    dass    die    Blütezeit    im    Jahre    1889 


144 


Physik  des  Himmels. 


19  Tage  später  eintrat,  wie  im  Jahre  1894.  Diese  Kurve  zeigt  einen  sehr 
übereinstimmenden  Gang  mit  der  oben  stehenden  SonnenÜeckenkurve  (A). 
Dasselbe  ist  der  Fall  mit  den  Kurven  D  und  E,  welche  nach  denselben 


1850 


1850 


Fig.  49. 


III.  Die  Sonne.  I45 

Prinzipien  konstruiert  sind  und  die  mittlere  Blütezeit  von  5  Pflanzen 
(Windröschen  =  Anemone  nemorosa,  Huflattich  =  Tussilago  farfara, 
Schlehe  =  Prunus  spinosa,  weisse  Wucherblume  =  Chrysantemum  Leu- 
canthemum  und  Hagebutte  =  Kosa  canina)  im  Distrikt  Hants  in  Eng- 
land, sowie  diejenige  von  Ribes  sanguineum  bei  Edinburgh  darstellen. 
Ebenso  verhält  sich  die  Kurve  C,  welche  die  Rückkunftszeit  der  Schwalben 
nach  Frankreich  (Moulins  in  Mittelfrankreich)  darstellt. 

Diese  phänologischen  Erscheinungen  hängen  alle  auf  das  innigste 
mit  einer  anderen  meteorologischen  zusammen,  nämlich  der,  dass  die  Früh- 
lingsmonate  in  fleckenreichen  Jahren  (in  unseren  Gegenden)  wärmer 
sind  als  in  fleckenarmen.  Dies  hat  Flammarion  für  Juvisy  in  Mittel- 
Frankreich  gefunden.  Seine  Beobachtungen  umfassen  nur  ziemlich  w^e- 
nige  Jahre.  Zu  demselben  Schluss  führen  auch  die  schwedischen  Beob- 
achtungen aus  den  Jahren  1860 — 1893.  Als  das  deutlichste  Beispiel 
dieser  Erscheinungen  wird  in  Fig.  40  Kurve  /  die  Abweichung  der  Tem- 
peratur (in  ^  C.)  von  dem  Mittel  in  den  Frühlingsmonaten  (März)  in  Nord- 
schweden (Norrland)  wiedergegeben.  Die  mittelst  der  Formel  von  Galle  ^) 
ausgeglichenen  Daten  zeigen  einen  mit  demjenigen  der  Sonnenflecken- 
kurve   auffallend   ähnlichen  Verlauf. 

Wenn  der  Frühling  warm  ist,  so  schmilzt  die  Schneedecke  früh- 
zeitig, ebenso  brechen  die  Flüsse  ihre  Eisdecke  früher  als  in  anderen 
Jahren.  Folglich  treten  diese  Erscheinungen  in  sonnenfleckenreichen 
Jahren  früher  als  in  fleckenarmen  ein,  wie  die  Kurve  H  in  Fig.  49  zeigt, 
welche  die  Zeit  (Tag  des  Monats  März)  des  Eisganges  im  Fluss  Kumo- 
elf  in  Finnland  in  den  Jahren  1850 — 1884  darstellt.  Auch  diese  Zif- 
fern sind  mittels  der  Galle  sehen  Formel  ausgeglichen.  Die  Überein- 
stimmung mit  der  Sonnenfleckenkurve  ist  stark  ausgeprägt.  (Für  den 
Anfang  des  vorigen  Jahrhunderts  ist  dies  aber  nicht  der  Fall,  was  mit 
vielen  ähnlichen  Erscheinungen  zutrifft.) 

Den  Grund  aller  dieser  Erscheinungen  hat  man  wahrscheinlicher- 
weise in  der  herrschenden  Windrichtung  zu  suchen.  Wenn  im  Früh- 
ling südliche  Winde  vorherrschen,  so  wird  er  mild.    Mac  Do  wall  hat 


1)  a,  b,  c,  d,  e,  f  und  //  mögen  sieben  aufeinander  folgende  Werte  einer  Grösse 
angeben  (z.  B.  der  Temperatur  um  12^*  in  sieben  nacheinander  folgenden  Tagen).  Diese 
Grössen  schwanken  stark  durch  zufällige  Einflüsse.  Um  einen  Teil  dieser  Schwan- 
kung zu  eliminieren,  berechnet  man  ausgeglichene  Werte  nach  verschiedenen  Formeln. 
Der  nach  Galle 's  Formel  ausgeglichene  Wert  di  von  d  ist  di  =  ;^ö  (a  +  46  +  9c 
+  12(^  4-  9e  +  4/  +  5f).    Eine   gewöhnliche  Ausgleichung  ist  auch  di  =  },  {b  +  e 

Arrhenius,  Kosmische  Physik.  •        10 


^46  Physik  des  Himmels. 

nun  auch  für  Greenwich  erwiesen,  dass  in  sonnenfleckenreichen  Jahren 
die  Tage  mit  Südwinden  viel  häufiger  in  der  Frühlingszeit  vorkommen  als 
in  sonnenfieckenarmen.  In  der  Kurve  G  ist  die  Anzahl  der  Tage  mit 
Nordwind  in  den  drei  ersten  Monaten  dargestellt  und  wie  in  den  oben 
gegebenen  phänologischen  durch  Mittelnahme  von  je  fünf  und  fünf  kon- 
sekutiven Werten  ausgeglichen.  Die  Kurve  ist  umgekehrt,  so  dass  der 
Nordwind  um  so  seltener  war,  je  höher  die  Kurve  im  entsprechenden 
Jahr  liegt.  Einen  sehr  ähnlichen  Gang  zeigt  die  Kurve  F,  welche  die 
Anzahl  der  Frosttage  in  der  Nähe  von  London  in  den  drei  ersten  Mo- 
naten des  Jahres  angiebt.  xiuch  diese  Kurve  ist  umgekehrt.  Die  Über- 
einstimmung der  Kurven  F — /  ist  sehr  deutlich  hervortretend. 

Man  kann  nun  weiter  gehen  und  fragen,  weshalb  die  Südwinde  (in 
England  und  wahrscheinlich  auch  in  unseren  Gegenden)  die  genannte 
Periodicität  aufweisen.  Dies  kann  nicht  anders  verstanden  werden,  als 
durch  die  Annahme,  dass  in  sonnenfleck enreichen  Jahren  in  den  ersten 
Monaten  des  Jahres  ein  ungewöhnlich  starkes  Barometerminimum  im 
Atlanten  (westlich  von  Europa)  liegt.  Im  allgemeinen  liegt  ein  solches 
Minimum  an  der  betreffenden  Stelle  und  Zeit,  welches  von  der  starken 
Erwärmung  der  Luft  durch  den  Golfstrom  über  die  Temperatur  der  Um- 
gebung herrührt.  Man  wird  also  zur  Annahme  geführt,  dass  der  Golfstrom 
in  sonnenfl eckenreichen  Jahren  (in  den  ersten  Monaten)  kräftiger  ist  als 
sonst.  Dies  hängt  ohne  Zweifel  mehr  oder  wenig  eng  damit  zusammen, 
dass  im  Gebiet  der  Antillen  die  Cyklonen  in  sonnenfleckenreichen  Jahren 
viel  stärker  ausgeprägt  sind,  als  sonst. 

Die  genannte  Erscheinung  des  Zusammentreffens  von  milden  Früh- 
lingen mit  sonnenfleckenreichen  Jahren,  ist  also  wahrscheinlicherweise 
lokaler  Art  und  in  anderen  Gegenden  kann  die  Regelmässigkeit,  wie 
leicht  einzusehen,  in  umgekehrter  Richtung  ausfallen.  Aber  trotzdem 
sind  diese  Erscheinungen  von  einer  so  grossen  Bedeutung  für  die 
menschliche  Kultur  (z.  B.  für  den  Ackerbau  und  die  Schiffahrt),  dass 
sie  wohl  verdienten  einer  genauen  und  eingehenden  Untersuchung  unter- 
worfen zu  werden.  Man  würde  bei  solchen  Unternehmungen  wahrschein- 
licherweise auf  eine  überraschende  Fülle  von  höchst  interessanten  Be- 
funden treffen. 

Die  nahezu  26tägige  Periode.  In  vielen  meteorologischen  Er- 
scheinungen, besonders  denjenigen  des  Erdmagnetismus,  der  Luftelek- 
tricität,  Gewitter  und  Nordlichter  hat  man  eine  Periode  nachgewiesen, 
welche  nicht  völlig  26  (nach  neueren  Bestimmungen  25,929)  Tage  lang 
ist.     Da  nun  alle  Vors'äng-e  auf  der  Erde  so  ^mi  wie  ausschliesslich  von 


III.  Die  Sonne.  147 

der  Sonne  geregelt  werden,  hatte  man  Ursache,  eine  ebenso  lange  pe- 
riodische Änderung  in  der  Sonne  zu  suchen.  Diejenige  Sonnen- 
periode, welche  dieser  Länge  am  nächsten  kommt,  ist  ihre  Rotations- 
zeit und  bevor  man  diese  näher  kannte,  setzte  man  den  Zusammenhang 
als  sicher  festgestellt  voraus  und  bestimmte  aus  der  Periodenlänge 
die  Umdrehungszeit  „genauer  als  mit  Hilfe  astronomischer  Beobach- 
tungen." 

Die  Umdrehungszeit  der  Sonne,  welche  hier  in  Frage  kommen  kann, 
ist  die  synodische,  d.  h.  diejenige  Zeit,  welche  zwischen  zwei  Augen- 
blicken vertliesst,  in  welchen  genau  derselbe  Teil  der  Sonne  von  der  Erde 
sichtbar  ist.  Wenn  S  die  Länge  der  synodischen  Umlaufszeit  und  TT 
diejenige  der  siderischen  ist,  so  enthält  ein  Jahr  genau  eine  f /-Periode 
mehr  als  die  Anzahl  der  iS-Perioden  beträgt.  Der  Beweis  ist  ganz  wie 
der  obige  zu  fähren,  dass  ein  Jahr  genau  einen  siderischen  Tag  mehr  als 
gewöhnliche  (synodische)  Sonnentage  enthält  (vgl.  S.  3).  Wenn  also  X 
die  Zahl  der  siderischen  Umdrehungen  der  Sonne  in  einem  Jahr  ist,  so 
erhalten  wir  zur  Berechnung  der  synodischen  Umlaufszeit: 

X  C/=(A— 1)  5=365,256  Tage. 

Hieraus  geht  hervor,  dass  S  etwa  2  Tage  länger  ist  als  U.  Unten 
ist  in  einer  kleinen  Tabelle  angegeben,  um  wie  viele  Tage  {S —  U)  die 
synodische  Umlaufszeit,  S,  die  siderische,  U,  übersteigt,  wenn  diese 
zwischen  24  und  40  Tagen  sich  ändert,  wie  es  der  Fall  auf  der 
Sonne  ist. 

U=24       25       26       28       30       35       40       Tage. 
S—U=-.   1,69     1,84     1,99     2,32     2,69     3,71     4,80  Tage. 

Nun  hat  die  Sonnenphotosphäre,  eigentlich  die  umkehrende  Schicht, 
nach  Duner  Umdrehungszeiten  C7,  welche  zwischen  25,46  (am  Äquator) 
und  38,55  Tage  (am  75.  Breitegrad  der  Sonne)  variieren.  Wenn  folglich 
eine  Periode  in  meteorologischen  Erscheinungen  von  der  Rotationszeit  der 
Photosphäre  herrührt,  sollte  ihre  Länge  zwischen  27,37  und  etwa  43  Tagen 
fallen.  Folglich  kann  die  Umdrehung  der  Photosphäre  nicht  die  kürzere 
Periode  von  25,929  Tagen  hervorrufen.  Da  nun  die  meisten  Wirkungen 
der  Sonne  mit  den  Sonnenflecken  in  Zusammenhang  gestellt  werden, 
so  könnte  man  versuchen,  ob  nicht  die  Erscheinungen,  welche  mit  den 
Sonnenflecken  in  Zusammenhang  stehen,  die  richtige  Periodenlänge  be- 
sässen.  Da  weiter  die  Sonnenflecke  ihr  Maximum  bei  etwa  15^  Breite 
besitzf^n.   so  hat  man  in  erster  Linie  an  die   Rotationszeit  der  Flecke 

10* 


148  Physik  des  Himmels. 

und  Fackeln  auf  dieser  Breite  zu  denken.  Diese  beträgt  25,26  bezw. 
25,44  Tage,  entsprechend  Längen  der  synodischen  Periode  von  27,13  und 
27,34  Tage,  folglich  mehr  als  25,93  Tage.  Man  wird  daher  genötigt,  die 
Werte  am  Sonnenäquator  zu  prüfen,  welche  für  Fackeln,  Flecke  und 
Photosphäre  24,32  24,98  und  25,46  Tage  betragen.  Hieraus  resultieren 
die  synodischen  Umlaufszeiten  26,06,  26,82  resp.  27,37  Tage.  Der  erste 
Wert  stimmt  schon  bedeutend  besser  mit  der  Länge  der  fraglichen 
Periode  (25,93  Tage).  Da  nun  die  Umdrehungszeit  immer  kürzer  wird, 
je  weiter  man  sich  von  dem  Mittelpunkt  der  Sonne  entfernt,  so  ersieht 
man  hieraus,  dass  die  Umdrehungszeit  25,93  Tage  einer  Sonnenschicht 
zukommt,  die  in  der  äquatorialen  Gegend  ungefähr  ebenso  hoch  wie  die 
höchsten  Teile  der  Fackeln  liegt  (^/g  weiter  von  den  Sonnenflecken  in 
vertikaler  Richtung  entfernt  als  die  mittlere  Höhe  der  Fackeln). 

Die  Erscheimmgen,  welche  nach  dieser  Periode  variieren,  sind  die 
folgenden  mit  daneben  angegebenen  mittleren  Amplituden: 

Erdmagnetische  Horizontalintensität  0,2 — 0,3  Proz.(Makerstoun,Hobartonl844 — 45). 

„  Deklination  1,2 — 2,2  Bogenminuten  (Prag,  Wien  1870). 

„  Inklination  0,8  Bogenminuten  (Prag  1870). 

„  Störungen  der  Deklination  0,3—0,5  „  (Wien  1882—83). 

„         „  „  „  1,1  „  (Pawlowsk  1882-83).. 

„         „  „     Intensität     0,044      Prozent  „  „ 

Nordlichter  (Anzahl  beobachtete)  12 — 25—45  Proz.  (Island,  Schweden,  Norwegen). 
Südlichter  „  „  100  „ 

Gewitter  18 — 29         „         (Schweden,  Süddeutschland). 

Luftdruck  5—3 — 0,5  mm  (Makerstoun,  Hobarton  1844—45, 

Prag  1870). 

Es  war  Hornstein,  welcher  diese  Periodicität  entdeckte.  Er 
fand,  dass  1870  die  Deklination  der  Magnetnadel  zu  Prag  eine  Pe- 
riode von  etwa  26,5  Tagen  Länge  mit  einer  Amplitude  von  etwa  1,4' 
besitzen  sollte.  Schuster,  welcher  die  Hornsteinsche  Berechnung 
einer  äusserst  interessanten  Kritik  unterworfen  hat,  gelangt  zu  dem 
Kesultat,  dass  der  Befund  von  Hornstein  sehr  zweifelhaft  ist.  Noch 
mehr  gilt  dies  für  die  Periodicität  der  anderen  Erscheinungen,  welche 
Hornstein  untersuchte,  nämlich  des  Luftdruckes  und  der  Horizontal- 
intensität des  Erdmagnetismus.  Dagegen  sind  einige  auffällige  Eegel- 
mässigkeiten  in  den  Ergebnissen  der  neueren  Untersuchungen  von 
Müller,  Liznar  und  Ad.  Schmidt  vorhanden,  die  auf  eine  wirkliche 
Existenz  der  nahezu  26tägigen  Periode  deuten.  Diese  Meinung  wird 
durch  V.  Bezold's  Untersuchungen  unterstützt,  wonach  die  Gewitter  in 
Süddeutschland  eine  Periode  von  25,84  Tagen  besitzen  sollen  (1880  — 87). 


III.  Die  Sonne,  ^49 

p].  Hamberg-  untersuchte  die  Gewitter  in  Schweden  (1880—90),  um 
die  Periode  v.  Bezolds  nachzuweisen,  fand  dieselbe  aber  sehr  zweifelhaft. 

Ekholmund  Arrhenius  untersuchten  danach  die  Nordlichter  und 
fanden  eine  Periode  von  25,929  Tagen,  die  sehr  ausgeprägt  war  in  den 
Beobachtungen  aus  Schweden  und  Norwegen,  und  in  den  Südliehtern. 
Weniger  deutlich  war  diese  Periode  in  den  Nordlichtern  aus  Island  und 
Grönland  und  gar  nicht  in  denjenigen  von  Nordamerika  zu  erkennen.  Eine 
starke  Stütze  erhielt  diese  Periodicität  dadurch,  dass  die  Gewitter,  ge- 
ordnet nach  der  neuen  Periode  für  Schweden,  zu  sehr  nahe  demselben 
Resultat  wie  für  Süddeutschland  führten.  Die  Grösse  der  wahrschein- 
lichen Fehler  in  der  Amplitude  der  Periode  zeigen,  dass  in  allen  diesen 
Fällen  die  Periodicität  so  gut  wie  sicher  konstatiert  ist. 

Wenn  aber  die  Nordlichter  diese  Periodicität  besitzen,  so  kommt 
dieselbe  wahrscheinlicherweise  auch  den  mit  den  Nordlichtern  so  nahe 
verwandten  magnetischen  Störungen  zu.  Vergeblich  wurde  aber  nach 
einer  ähnlichen  Periode  in  der  Häufigkeit  der  Sonnentlecke  gesucht. 

Auch  bei  der  sogenannten  Luftelektricität  tritt  eine  Periodicität 
deutlich  hervor,  wenn  man  die  Daten  nach  einer  Periodenlänge  von 
25,929  Tagen  ordnet. 

Es  möge  hier  bemerkt  werden,  dass  sowohl  die  Nordlichter  wie  die 
Luftelektrizität  (auf  Stationen,  die  nicht  allzu  weit  von  den  Polen  ge- 
logen sind)  eine  andere  Periodicität  zeigen,  indem  sie  nach  dem  tro- 
pischen Monat  variieren,  so  dass  die  Frequenz  der  Nordlichter  und  die 
Stärke  der  Luftelektricität  auf  der  nördlichen  Halbkugel  am  grössten 
sind,  wenn  der  Mond  seine  grösste  südliche  Deklination  besitzt  (am 
südlichen  Lunistitium).  Auf  der  südlichen  Halbkugel  verhält  es  sich 
umgekehrt,  so  dass  die  Maxima  in  der  Nähe  des  südlichen  Lunisti- 
tiums  eintreten.  Für  die  Luftelektricität  gilt  dies  nur  betreffs  nahe 
an  den  Polen  gelegenen  Stationen  (Cap  Thordsen  auf  Spitzbergen,  Cap 
Hom)  und  einigermaassen  für  St.  Petersburg  und  Helsingfors.  Bei  süd- 
licher gelegenen  Stationen  wird  die  luftelektrische  Wirkung  sehr 
schwach  (Perpignan)  und  zeigt  nicht  so  grosse  Regelmässigkeit. 

Wenn  man  die  Anzahl  der  Sonnenflecke  und  der  Polarlichter  Monat 
für  Monat  oder  Tag  für  Tag  zusammenstellt,  findet  man  keine  deutliche 
Übereinstimmung  im  Gang  der  beiden  Erscheinungen. 

Theoretisches,  um  nun  den  unzweifelhaften  Einfiuss  der  Sonne 
auf  die  Nordlichter  und  die  erdmagnetischen  Störungen  zu  verstehen,  kann 
man  sich  folgende  Vorstellung  machen.  Bei  den  Ausbrüchen  aus  der 
Sonne  entstehen  durch  Gaskondensation  in  der  äusserst  verdünnten  Gas- 


150  Physik  des  Himmels. 

Schicht  der  Corona  Meine  flüssige  und  feste  Partikelchen.  Nach  neueren 
Untersuchungen  ist  es  gelungen,  Flüssigkeitshäutchen  von  5  [i(i  Dicke 
darzustellen.  Es  ist  folglich  wohl  denkbar,  dass  Tröpfchen  von  so  ge- 
ringem Durchmesser  in  der  Natur  vorkommen  können.  Da  nun  un- 
durchsichtige Tröpfchen  von  dem  Durchmesser  1500,  600,  bezw.  220  .w//, 
wenn  sie  das  specifische  Gewicht  des  Wassers,  Granits  oder  Eisens  besitzen, 
ebenso  stark  durch  die  Sonnenstrahlen  abgestossen,  wie  von  der  Sonnen- 
schwere angezogen  werden,  so  müssen  noch  kleinere  Tröpfchen  mit 
einer  Kraft  fortgetrieben  werden,  die  mit  der  Kleinheit  der  Tröpfchen 
zunimmt  (vgl.  S.  121).  Wenn  die  Partikelchen  Licht  reflektieren,  wird 
die  Abstossung  verstärkt.  Bei  einem  Ausbruch  aus  der  Sonne  eilen 
infolgedessen  die  kleineren  Tröpfchen  den  grösseren  in  den  Raum  hin- 
ein voraus.  Genau  dieselbe  Erscheinung  sieht  man  an  den  Kometen- 
schweifen, welche,  wie  die  Coronamaterie,  teilweise  aus  festen  oder 
flüssigen  Partikelchen  bestehen.  Aus  der  Krümmung  der  Kometen- 
schweife kann  man  folgern,  dass  die  Abstossung  der  Partikelchen  um- 
gekehrt dem  Quadrate  der  Entfernung  proportional  ist,  wie  es  aus  dem 
Gesetze  der  Strahlungsintensität  folgt.  Die  Abstossung  ist  in  verschie- 
denen Fällen  aus  der  Grösse  der  genannten  Krümmung  berechnet  und 
gleich  18,5,  3,2,  2,0  bezw.  1,5  mal  der  Schwere  gefunden. 

Es  eilen  folglich  nach  allen  Seiten  von  der  Sonne  Staubpartikelchen 
hinaus,  deren  Richtung  anfänglich  von  den  atmosphärischen  Strömungen 
der  Sonne  beeinflusst  wird,  sich  aber  später  einer  Geraden  nähern  muss, 
die  durch  d«n  Sonnenmittelpunkt  gelegt  ist.  Wahrscheinlicherweise  sind 
zufolge  der  langsamen  Achsendrehung  der  Sonne  diese  Ausströmungen 
wie  diejenigen,  die  Kometenschweife  bilden,  schwach  gekrümmt,  da  aber  die 
Erde  nicht  weit  von  der  Ebene  des  Sonnenäquators  liegt,  können  wir  diese 
Krümmung  nicht  wohl  beobachten.  Diese  Strömungen  von  Sonnenstaub 
sollten  die  eigentümlichen  Strahlen  der  äusseren  Corona  bilden,  welche 
hauptsächlich  über  den  Gebieten  der  maximalen  Unruhe  des  Sonnen- 
körpers sich  ausdehnen. 

Nun  ist  es  höchst  wahrscheinlich,  dass  diese  Tröpfchen  elektrisch, 
und  zwar  negativ  elektrisch,  sind.  Bei  den  Ausbrüchen  auf  der  Sonne 
entstehen  nämlich,  wie  Zöllner  imd  vor  ihmRespighi  und  Tacchini 
meinten,  gewaltige  Elektricitätsentwickelungen  und  Entladungen,  wie  bei 
den  vulkanischen  Ausbrüchen  auf  der  Erde.  Nur  ist  vorauszusetzen, 
dass  alles  auf  der  Sonne  nach  einem  viel  gewaltigeren  Maassstab  geht. 

Infolge  dieser  Entladungen,  besonders  derjenigen,  welche  in  den 
äusseren  Teilen  der  Sonnenatmosphäre  stattfinden,  entstehen  Kathoden- 


^  IIT.  Die  Sonne.  151 

m 

strahlen.  Diese  besitzen  die  merkwürdige  Eigenschaft,  Gase  in  der 
Weise  leitend  zu  machen,  dass  sie  die  Molekeln  derselben  in  positive  und 
negative  Ionen  zerlegen.  Diese  Ionen  besitzen  wiederum,  nach  Unter- 
suchungen von  J.  J.  Thomson  Und  seinem  Schüler  C.  T.  E.  Wilson,  die 
wichtige  Eigenschaft  als  Kondensationskerne  zu  dienen  für  Gase,  die  in 
den  flüssigen  Zustand  übergehen.  Und  zwar  wirken  die  negativ  gela- 
denen Ionen  viel  stärker  kondensierend  als  die  positiven. 

Die  aus  der  Sonne  ausgeschleuderten  Gase  werden  deshalb  bei  ihrer 
Kondensation  hauptsächlich,  wenn  nicht  ausschliesslich,  negative  Tröpf- 
chen bilden.  Die  grössten  derselben  fallen  auf  die  Sonne  zurück  und 
erteilen  derselben  eine  negative  Ladung,  andere  werden  in  den  Eaum 
hinausgestossen  und  die  äusseren  Teile  der  Sonnenatmosphäre  behalten 
eine  stark  positive  Ladung. 

Die  hinausgestossenen  negativen  Tröpfchen  unterliegen  also  nicht 
nur  der  Schwere  und  der  Abstossung  zufolge  der  Strahlung,  sondern 
auch  elektrischen  Kräften,  welche  sie  zur  Sonne  zurückzuführen  streben. 
Alle  diese  Kräfte  wirken  aber  nach  demselben  Gesetz,  umgekehrt  pro- 
portional dem  Quadrate  der  Entfernung  vom  Mittelpunkte  der  Sonne; 
die  resultierende  Kraft  wird  also  in  derselben  Weise  wirken. 

Dieser  Sonnenstaub  breitet  sich  nun  von  den  Eruptionen  auf  der 
Sonnenoberfläche  nach  allen  Kichtungen  in  den  Raum  aus.  Damit  ein 
solches  Körnchen  die  Erde  in  20—30  Stunden  erreicht,  wie  Maunder 
und  Ricco  meinen,  müsste  die  totale  abstossende  Kraft  etwa  3,5  bis 
2,3  mal  diejenige  der  Schwere  übertreffen. 

Natürlicherweise  werden  diese  Tröpfchen  einen  Teil  des  Sonnen- 
lichtes wegnehmen  und  in  Wärme  verwandeln.  Es  ist  aber  leicht  zu 
zeigen,  dass  sie  in  einer  geringen  Entfernung  (etwa  10  Sonnendurch- 
messern) und  weiter  hinaus  mit  sehr  nahe  konstanter  Geschwindigkeit 
sich  bewegen.  Daraus  folgt,  dass  in  grösseren  Entfernungen  als  der  ge- 
nannten (etwa  Vs  der  Merkurbahn)  die  Lichtabsorption  nur  einen  geringen 
Bruchteil  von  der  in  kleineren  Entfernungen  absorbierten  Menge  aus- 
macht. In  grösseren  Entfernungen  kann  die  Sonnenstrahlung  folglich 
als  nahezu  ungeschwächt  angesehen  werden. 

In  ähnlicher  Weise  kann  man  schliessen,  dass  die  Massen  dieser 
Tröpfchen  allzu  unbedeutend  sind,  um  eine  Störung  der  Planetenbe- 
wegungen im  Sonnensystem  zu  verursachen. 

Einige  von  diesen  negativ  geladenen  Tröpfchen  gelangen  in  die 
Erdatmosphäre  und  werden  von  den  höchsten  Schichten  derselben  wie 
Sternschnuppen  verzögert.  Wie  die  Sonnenstrahlen,  fallen  die  allermeisten 


J[52  Physik  des  Himmels. 

da,  WO  die  Sonne  am  höchsten  steht,  d.  h.  zwischen  den  Wendekreisen; 
^ehr  wenige  fallen  auf  die  polaren  Gegenden.  Die  höchsten  Schichten 
der  Atmosphäre  werden  demzufolge  stark  mit  negativen  Partikelchen 
geladen.  Dieselben  werden  mit  den  Winden  zu  höheren  Breiten  ge- 
führt. Infolge  der  negativen  so  entstandenen  Ladung  der  höheren  Luft- 
schichten, erfolgen  Entladungen,  und  Kathodenstrahlen  entstehen  in  diesen 
Schichten. 

Neuerdings  hat  Paulsen  bei  seiner  Untersuchung  des  Nordlichts 
nachgewiesen,  dass  dasselbe  die  Eigentümlichkeiten  der  Kathodenstrahlen 
besitzt.  Er  liess  die  schwierige  Frage,  woher  die  Kathodenstrahlung  aus 
den  höchsten  Luftschichten  herrührt,  unbeantwortet.  Diese  Schwierig- 
keit fällt  nach  dem  oben  stehenden  gänzlich  weg. 

Die  Kathodenstrahlen  zeigen  auch  eine  Tendenz  parallel  den 
Kraftlinien  eines  Magnetfeldes  zu  verlaufen.  Folglich  bleiben  sie  in 
der  Nähe  des  Äquators  in  der  Höhe,  indem  sie  sich  in  der  Richtung 
der  mit  der  Erdoberfläche  parallelen  Magnetkraftlinien  bewegen.  In 
sehr  dünner  Luft  sind  aber  die  Bahnen  der  Kathodenstrahlen  schwer 
sichtbar.  Infolgedessen  werden  Polarlichter  in  der  Nähe  des  Äquators 
selten  sein,  in  einer  gewissen  Entfernung  von  dem  Pole,  wo  die  Ka- 
thodenstrahlen in  genügend  tiefe  Schichten  gelangen,  dass  die  phos- 
phorescierende  Luftmasse  zu  stärkeren  Lichtentfaltungen  ausreicht, 
werden  sie  am  gewöhnlichsten  sein.  Man  erhält  auf  diese  Weise 
einen  den  Nordpol  und  den  Magnetpol  umgebenden  Bing,  wo  die 
Nordlichter  am  gewöhnlichsten  sind.  Weiter  ersieht  man,  dass  die 
Höhe  der  Nordlichter  über  der  Erdoberfläche  um  so  grösser  sein  wird, 
je  weiter  sie  vom  Pole  vorkommen,  was  auch  mit  der  Erfahrung  über- 
einstimmt. 

Nehmen  wir  jetzt  an,  die  Sonnenthätigkeit  schwanke,  so  folgt  daraus, 
dass  in  den  eruptionsreichen  Jahren  mehr  Polarlichter  vorkommen  als 
sonst.  Offenbar  werden  die  in  höheren  Luftschichten  vor  sich  gehenden 
elektrischen  Entladungen,  die  relativ  nahe  am  Äquator  stattfinden,  am 
meisten  durch  eine  erhöhte  Sonnenwirkung  begünstigt  werden.  Infolge 
der  Mitführung  der  Partikelchen  mit  dem  Wind  werden  elektrische 
Strömungen  verursacht,  welche  die  magnetischen  Störungen  hervorrufen. 
In  der  Natur  derselben  kann  man  deutlich  den  Einfluss  der  in  höheren 
Schichten  herrschenden  Windrichtungen  erkennen.  Weiter  kann  man 
verstehen,  dass  einige  Aktionscentra  auf  der  Sonnenoberfläche  wirksam 
sind,  wodurch  die  25,93 tägige  Periode  der  Sonnendrehung  am  Äquator 
verständlich   wird.     Denn   die  Staubteilchen,   welche  zu  uns   gelangen. 


III.  Die  Sonne.  153 

sind  hauptsächlich   von  den  uns  gegenüberliegenden  Teilen  der  Sonne, 
d.  h.  von  der  Nähe  des  Sonnenäquators  ausgeschleudert. 

Die  Polarlichter  haben  eine  jährliche  Periode  mit  einem  Maximum 
im  März  und  September.  Dies  tritt  dann  ein,  wenn  die  Erde  so  weit 
wie  möglich  von  den  Knoten  des  Sonnenäquators  steht.  Denn  die 
Aktivität  der  Sonne  hat  ein  Minimum  am  Sonnenäquator  und  die  Erde 
steht  gegenüber  dem  Sonnenäquator  am  5.  Dezember  und  3.  Juni.  Das 
Frühlingsmaximum,  bei  welchem  die  Erde  gegenüber  der  Südseite  der 
Sonne  steht,  wo  die  Frequenz  der  Flecken  und  Fackeln  zwischen  0^ 
und  10^  Br.  schwächer  als  auf  der  Nordseite  ist  (vgl.  oben  S.  128), 
scheint  etwas  schwächer  als  das  Herbstmaximum  zu  sein. 

Infolge  der  Einstrahlung  des  Sonnenstaubes  in  der  Nähe  des 
Äquators  wird  die  negative  Ladung  der  Erdoberfläche  von  da  zu  der 
nicht  bestrahlten  Hälfte  der  Erde  getrieben.  Folglich  wird  die  ne- 
gative Ladung  der  Erdoberfläche,  die  sogenannte  atmosphärische  Elek- 
tricität,  im  Winter  und  in  der  Nacht  kräftiger  sein  wie  im  Sommer  und 
am  Tag.  Die  negative  Ladung  der  Erde  rührt  wahrscheinlicherweise 
von  durch  Eegen  hinuntergeführten  negativen  Ionen  aus  der  durch  das 
Nordlicht  ionisierten  Luft.  Die  stärkere  Entwickelung  der  hochgehen- 
den Cirrhuswolken  in  sonnenfleckenreichen  Jahren  ist  durch  die  kon- 
densierende Wirkung  der  ionisierten  Luft  leicht  verständlich. 

Nach  dieser  Anschauung  lassen  sich  die  tägliche  Veränderung  der 
erdmagnetischen  Kraft  und  die  elfjährigen  Schwankungen  derselben  er- 
klären.   Wir  werden  darauf  im  betreffenden  Kapitel  zurückkommen. 

Natürlicherweise  kann  diese  Einstrahlung  von  negativer  Elektricität 
nicht  ins  Unendliche  fortsetzen,  ohne  dass  derselben  ein  Abfluss  bereitet 
wird.  Nun  wissen  wir  von  negativ  geladenen  Körpern,  dass  dieselben 
bei  Belichtung  mit  ultraviolettem  Licht  ihre  Ladung  langsam  verlieren. 
Dies  rührt  ohne  Zweifel  zum  Teil  davon  her,  dass  die  umgebenden  Gase, 
welche  von  ultraviolettem  Licht  durchstrahlt  werden,  ein  wenig  in  ihre 
Ionen  zerlegt  sind.  Ultraviolette  Strahlen  kommen  in  Menge  in  dem 
Sonnenlicht  vor,  und  obgleich,  wegen  der  kolossalen  Verdünnung  der  Luft 
in  den  vom  Sonnenstaub  geladenen  Schichten,  die  Leitfähigkeit  ausser- 
ordentlich gering  ist,  so  wird  jedoch  zuletzt  bei  genügend  hoher  Ladung' 
die  Entladung  ebenso  kräftig,  wie  die  Ladung  wirken.  Die  Ladung  zieht 
die  positiven  Ionen  der  Luft  an,  während  die  negativen  sich  entfernen 
und  dabei,  anfangs  in  der  Kichtung  des  Erdradius,  sich  in  den  Weltraum 
hinausbegeben.  Ein  Teil  dieser  Ionen  kondensiert  kleine  Tröpfchen  aus 
den    umliegenden  Gasen    (welche  Kohlensäure  und  wohl  immer  etwas 


J54  Physik  des  Himmels. 

Wasserdampf  enthalten)  und  werden  danach  der  abstossenden  Wirkunfr 
der  Sonnenstrahlung  unterworfen,  wodurch  ihre  Bahn  allmählich  gebogen 
wird  und  zuletzt  in  annähernd  gerader  Linie  von  der  Sonne  verläuft 
etwa  wie  die  Fig.  50  andeutet. 

Da  nun  die  stärkste  Ladung  sich  gerade  da  befindet,  wo  die  Sonne 
am  höchsten  steht  und  ebendaselbst  die  stärkste  ultraviolette  Strahlung 
stattfindet,  so  wird  die  Entladung  ein  Maximum  in  der  Ebene  der  Eklip- 
tik besitzen.  Ebenfalls  werden  da  ohne  Zweifel  zufolge  der  aufsteigenden 
stark  feuchten  Luftströme  die  gUnstigsten  Bedingungen  der  Kondensation 
vorherrschen.  Die  Folge  davon  wird  sein,  dass  in  der  Ebene  der  Ekliptik 
(des  Papieres  in  Fig.  50)  ein  starkes  Maximum  der  Frequenz  der  negativ 
geladenen  Partikelchen  vorkommt.  Es  wird  das  Aussehen  haben,  als  gingen 
von   den  Umgebungen  der   beiden  Punkte,   wo   die  Ekliptik   den  Band 

der  beleuchteten  Erdhälfte 
durchschneidet,  zwei  kometen- 
schweifartige Lichtbüschel  in 
der  Ebene  der  Ekliptik  nach 
der  Nachtseite  der  Erde  hin- 
aus. Diese  Lichtbüschel  neh- 
men nach  den  Seiten  und  mit 
der  Höhe  über  dem  Horizont 
an  Stärke  ziemlich  schnell  ab 
"if^  Sonne  (Ictztercs  wcgcu  der  zunchmen- 

Fig.  50.  den  Entfernung).   Wo  die  bei- 

den Lichtbüschel  zu  konver- 
gieren scheinen,  d.  h.  diametral  gegenüber  der  Sonne,  entsteht  aus  perspek- 
tivischen Gründen  der  sogenannte  Gegenschein.  Dieser  Gegenschein  wird 
durch  die  zur  Sonne  zurückfallenden  Partikelchen  verstärkt,  welche  durch 
Zusammenstoss  von  zwei  oder  mehreren  Tröpfchen  entstanden  und  nachher 
zu  gross  sind,  um  weiter  von  den  Sonnenstrahlen  gegen  der  Schwer- 
kraft weggetrieben  zu  werden. 

Es  ist  leicht  ersichtlich,  dass  der  in  Fig.  50  gezeichnete  Büschel 
auf  der  rechten  Seite  mehr  Partikelchen  enthalten  wird  wie  derjenige 
auf  der  linken.  Denn  während  des  Tages  sammelt  sich  immer 
mehr  Ladung  auf  der  belichteten  Erdseite,  dagegen  relativ  wenig 
auf  der  unbelichteten  wegen  der  nach  der  Sonne  zurückkehrenden 
Partikelchen.  Durch  die  Erddrehung  wird  folglich  die  rechte 
Seite,  welche  dem  Abendhimmel  entspricht,  eine  stärkere  Licht- 
erscheinung aufweisen.     Dies   stimmt   in    allen  Details  mit  dem  Aus- 


,    III.  Die  Sonne.  155 

sehen  des  Zodiakal-  oder  Thierkreisliehtes  überein,  dessen  Erklärung 
bisher  so  viele  Schwierigkeiten  geboten  hat.  Man  hätte  allen  Anlass 
7Ä\  vermuten,  dass  in  sonnenfleckenreichen  Jahren  das  Zodiakallicht 
sich  kräftiger  entfaltete,  wie  in  lieckenarmen,  es  giebt  aber  Angaben 
über  ein  entgegengesetztes  Verhalten,  die  jedoch  als  sehr  unsicher 
bezeichnet  werden.  Yielleicht  rühren  diese  Angaben  davon  her,  dass 
der  Himmel  in  sonnenfleckenreichen  Jahren  unreiner  ist  als  in  sonnen- 
fleckenarmen  (vgl.  oben  S.  141). 

Alle  Himmelskörper  im  Sonnensystem  werden  nach  dieser  An- 
schauung in  ihrer  nächsten  Umgebung  eine  Art  von  Schweif  besitzen, 
bestehend  aus  den  negativen  Ionen  ihrer  Atmosphäre  mit  darauf  kon- 
densierten kleinen  Tröpfchen.  Je  nach  der  Grösse  dieser  Tröpfchen 
werden  diese  Schweife  der  Sonne  zu-  oder  abgewendet  sein.  Im  Falle, 
dass  keine  Kondensation  um  diese  Ionen  entstanden  ist,  werden  sie  von 
der  beleuchteten  Seite  des  Himmelskörpers  in  der  Richtung  der  Radien 
des  Planeten  ausströmen. 

Zufolge  der  negativen  Ladung  der  Himmelskörper  wird  auch  ein 
Teil  von  den  von  der  Sonne  kommenden  negativ  geladenen  Partikelchen, 
welche  in  die  Nähe  dieser  Himmelskörper  kommen,  eine  gekrümmte  Bahn 
erhalten,  so  dass  diese  Partikelchen  Hyperbelbogen  beschreiben.  Hinter 
den  Himmelskörpern,  von  der  Sonne  aus  gerechnet,  wird  eine  Art  von 
elektrischem  Schatten  sich  ausbilden,  welcher  von  negativen  Par- 
tikelchen frei  ist,  ungefähr  wie  die  Achse  eines  Kometschweifes.  An 
den  Seiten  dieses  Schattens  wird  dagegen  eine  relative  Anhäufung  der 
geladenen  Teile  stattfinden.  In  eben  derselben  Weise  wird  Sonnen- 
staub, der  nach  der  Sonne  zurückkehrt,  von  den  Himmelskörpern  aus 
der  Bahn  gelenkt  und  eine  Art  Schatten  auch  auf  der  Sonnenseite  des 
Himmelskörpers  bilden. 

Auf  diese  Weise  wird  es  möglich  sein,  die  elektrische  und  mag- 
netische Einwirkung  des  Mondes  auf  die  Erde  zu  erklären.  Bei  Mond- 
finsternissen glaubt  man  bisweilen  beobachtet  zu  haben,  dass  der  Schatten 
der  Erde  in  der  Umgebung  des  Mondes  sichtbar  gewesen  ist.  Dies  hat 
man  als  den  Schatten  der  Erde  auf  dem  in  der  Nähe  des  Mondes  be- 
findlichen Staube  gedeutet.  Man  glaubte  früher,  dass  dieser  Staub  von 
der  Erde  herrührt;  es  erscheint  aber  wahrscheinlich,  dass  er  zum  Teil 
vom  Monde  kommt  oder  aus  Sonnenstaub  besteht. 

Die  Entstehung  von  Meteoriten.  Wenn  nun  die  Sonne  Tag 
aus  Tag  ein  geladene  Tröpfchen  nach  allen  Seiten  aussendet,  und  das- 
selbe in  ähnlicher  Weise  an  anderen  Fixsternen  vor  sich  geht,  so  wird  in 


j^56  Physik  des  Himmels. 

der  Länge  der  Zeit  eine  Menge  Substanz  den  Sonnen  entwendet  und 
auf  den  Himmelsraum  verteilt.  Zwar  läuft  dieser  Prozess  sehr  langsam 
ab,  nachdem  der  Nachthimmel  auch  nicht  im  entferntesten  so  hell  leuchtet 
wie  die  Kometenschweife,  und  diese  durch  ihre  unerhört  geringe  Masse 
gekennzeichnet  sind,  aber  in  einer  unendlich  langen  Zeit  müssten  doch 
die  Sonnen  stark  abgenommen  haben.  Der  unvergleichlich  grösste  Teil 
fällt  ohne  Zweifel  in  der  nächsten  Nähe  der  Sonnen  zurück  und  zwar 
solche  Partikel,  die  zu  gross  sind,  um  abgestossen  zu  werden,  sei  es,  dass 
sie  von  Anfang  an  so  gross  gewesen  sind,  sei  es,  dass  sie  durch  fort- 
laufende Kondensation  oder  Zusammenstoss  mit  ähnlichen  Partikelchen 
diese  Grösse  erhalten  haben.  Diese  Partikelchen  bilden  wohl  die  Haupt- 
masse der  festen  Teile  der  Sonneneorona. 

Zufolge  sowohl  dieses  Zurückfallens  als  auch  der  in  der  Nähe  der 
Sonne  beschleunigten  Bewegung  des  Sonnenstaubes  muss  dieser  mit 
zunehmender  Entfernung  von  der  Sonne  schneller  an  Frequenz  ab- 
nehmen als  proportional  dem  Quadrate  der  Entfernung  vom  Sonnen- 
mittelpunkt. 

Etwas  weiter  hinaus  werden  die  Zusammenstösse  relativ  seltener 
sein.  Aber  auf  alle  Fälle  kommen  sie  doch  hin  und  wieder  vor.  Ein 
kaum  merklicher  Teil  wird  von  Planeten,  Monden  und  Kometen  einge- 
fangen. Die  meisten  Partikelchen  setzen  aber  ihren  Weg  durch  den 
unendlichen  Raum  fort.  Ein  Teil  von  ihnen  stürzt  in  andere  Himmels- 
körper ein  und  zwar  vorzugsweise  in  diejenigen,  welche  die  grösste 
Flächenausdehnung  besitzen.  Dies  trifft  ohne  Zweifel  für  die  Nebel 
zu  und  wir  können  somit  verstehen,  wie  diese  durch  die  eingeführten 
negativen  Ladungen  trotz  der  sehr  niedrigen  Temperatur  Licht  aussenden 
können  (vgl.  S.  43). 

Ein  anderer  Teil  erleidet  Zusammenstösse  mit  ähnlichen  Partikelchen 
und  zwar  werden  diejenigen,  welche  die  geringste  Geschwindigkeit  be- 
sitzen, wieder  nach  der  Ausgangsquelle  zurückkehren.  Andere  gelangen 
durch  ihre  grosse  Geschwindigkeit  aus  dem  Anziehungsbezirk  dieser  Quelle, 
wachsen  allmählich  in  Grösse  durch  neue  Zusammenstösse  und  bilden 
zuletzt  selbständige  Anziehungscentren.  Anfangs  spielen  wohl  die  kapil- 
lären Kräfte  die  Hauptrolle  beim  Zusammenhalten  dieser  Aggregate.  Die 
Kohlenwasserstoffe,  die  im  Weltraum  und  besonders  in  der  Nähe  der 
Sonne,  obgleich  in  äusserst  verdünnter  Form,  wahrsöheinlicherweise  verteilt 
sind,  oder  andere  kondensierbare  Gase,  die  sich  am  Tröpfchen  nieder- 
geschlagen haben,  dienen  wohl  dabei  als  Haftmittel  und  in  der  Länge 
der  Zeit  als  Lösungsmittel,  wodurch  Verwachsungen  zustande   kommen 


III.  Die  Sonne.  157 

können.  Nachdem  grössere  Mengen  auf  diese  Weise  gesammelt  sind, 
würde  die  elektrische  Ladung  ein  weiteres  Zusammenballen  verhindern, 
wenn  sie  nicht  unter  Einfluss  von  ultravioletter  Strahlung  allmählich 
schwinden  würde. 

Wenn  nur  grössere  Körnchen  zusammentreffen,  können  dieselben  nur 
in  geringem  Grade  zusammensintern.  Es  ist  nach  Nordenskiöld  für 
die  Meteorite  charakteristisch,  dass  sie  äusserst  schwachen  Zusammen- 
hang besitzen.  Sie  können  häutig  durch  Druck  zwischen  den  Fingern  zer- 
quetscht werden,  wodurch  Nordenskiöld  zu  dem  wohl  etwas  zu  ex- 
pressiven Ausdruck  veranlasst  wurde,  dass  die  Meteorite  müssen  „Atom 
für  Atom"  angewachsen  sein.  Auch  Daubree  macht  auf  diese  cha- 
rakteristische Eigenschaft  aufmerksam.  Schmilzt  man  nämlich  einen 
Steinmeteoriten  im  Feuer,  so  erhält  man  nach  dem  Erkalten  eine  Samm- 
lung von  grossen  Krystallen  der  Einzelbestandteile.  Der  Meteorit  selbst 
besteht  aber  aus  kleinen  verschwommenen  Krj^ställchen  von  Silikaten, 
zwischen  welche  zahllose  Eisenkörnchen  regellos  eingesprengt  sind.  Der 
Meteorit  kann  also  nie  aus  einem  geschmolzenen  und  nachher  erstarrten 
Klumpen  bestanden  haben,  sondern  seine  Teile  müssen  gesondert  Partikel- 
chen für  Partikelchen  in  den  festen  Zustand  übergegangen  sein  und  nachher 
durch  Zusammenballen  sich  gebildet  haben.  Dies  entspricht  vollkommen  der 
Yorstellung  von  der  Art  und  Weise,  wie  die  Tröpfchen  aus  den  Sonnen 
sich  zu  grösseren  Stücken  sammeln.  Es  ist  wohl  demnach  anzu- 
nehmen, dass  die  Meteorite  und  damit  die  Kometenmaterie  in  dieser 
Weise  entsteht. 

Die  Kometen  dunsten  wiederum,  wenn  sie  in  die  Nähe  einer  Sonne 
kommen,  die  flüchtigen  Substanzen  wie  Kohlenwasserstoffe  ab,  welche 
sich  sodann  kondensieren  und  zur  Bildung  der  Kometenschweife  Anlass 
geben.  Die  Schweifmaterie  wird  ihrerseits  von  den  Sonnenstrahlen  abge- 
stossen  und  geht  in  den  unendlichen  Raum  hinaus.  Die  Hauptteile  der  Ko- 
meten werden  wohl  allmählich  in  Form  von  Sternschnuppen  und  Meteoriten 
von  den  grösseren  Himmelskörpern,  Sonnen  und  Planeten,  eingefangen. 

Auf  diese  Weise  kommt  ein,  wenn  auch  ausserordentlich  langsam 
vor  sich  gehender  Austausch  von  Materie  zwischen  den  Himmelskörpern 
zustande.  Teils  werden  durch  Meteoriten  zu  den  Sonnen  Körper  ge- 
führt, welche  zum  grösseren  oder  geringeren  Teil  anderen  Sonnen  ent- 
stammen. Aber  im  grossen  und  ganzen  verlieren  die  Sonnen,  während  die 
kälteren  Himmelskörper,  vor  allem  die  Nebel,  gewinnen.  Dies  geschieht 
nach  dem  allgemeinen  Gesetz,  dass  Materie  von  warmen  nach  kalten 
Stellen  wandert. 


158  Physik  des  Himmels. 

In  dieser  Weise  wird  in  der  Unendlichkeit  der  Zeit  die  Ungleichheit 
in  der  Zusammensetzung  der  Himmelskörper  allmählich  ausgeglichen. 
Natürlicherweise  werden  die  verschiedenen  Stoffe  zu  diesem  Transport 
in  verschiedenem  Maass  geeignet  sein.  Diejenigen,  welche  sich  leicht 
kondensieren,  werden,  wenn  sie  überhaupt  vorhanden  sind,  vorgezogen. 
In  dieser  Beziehung  spielen  die  Kohlenwasserstoffe  eine  hervorragende 
Rolle.  Es  ist  deshalb  nicht  zu  verwundern,  dass  sie  bei  den  Kometen, 
wie  weiter  unten  gezeigt  wird,  am  meisten  vorkommen.  Dagegen  würde 
man  vermuten,  dass  ein  Körper  wie  Helium  zum  Transport  sehr  wenig 
geeignet  ist,  weil  er  so  gut  wie  unkondensierbar  ist  und  keine  (konden- 
sierbaren) Verbindungen  bildet.  Man  hat  jedoch  Helium  in  Meteorsteinen 
absorbiert  aufgefunden,  natürlicherweise  nur  in  sehr  geringer  Menge. 
Wie  oben  angedeutet,  ist  auch  Helium  (im  Gegensatz  zu  Wasserstoff) 
ziemlich   ungleichmässig  unter  den  Sternen  verteilt. 

Die  Wärme  der  Sonne.  Da  die  Sonne  jährlich  so  viel  Wärme 
verliert,  dass  auf  jedes  Gramm  ihrer  Masse  2  cal.  kommen,  so 
würde  sie  nicht  lange  diese  ungeheuren  Verluste  aushalten,  ohne  dass 
ihre  Temperatur  stark  sinken  würde.  Wäre  auch  ihre  Temperatur 
im  Mittel  10  Millionen  Grad  und  ihre  spezifische  Wärme  doppelt  so 
gross  wie  diejenige  des  Wassers  (bekanntlich  steigt  die  spezifische  Wärme 
der  Körper  mit  der  Temperatur),  so  würde  sie  doch  nicht  10  Millionen 
Jahre  mit  der  jetzigen  Haushaltung  ihre  Glut  behalten  können.  Nun 
schliessen  die  Geologen  aus  ihren  Untersuchungen,  dass  das  Leben  auf 
der  Erde  mindestens  100  Millionen  Jahre  bestanden  hat,  in  welchem 
Zeitabschnitt  die  Sonnenstrahlung  sich  nicht  besonders  stark  hat  än- 
dern können.  Da  aber  nach  Stefans  Gesetz  die  Wärmestrahlung  der 
vierten  Potenz  der  absoluten  Temperatur  proportional  wächst,  so  müsste 
die  jetzige  Wärmestrahlung  einen  Bruchteil  von  einem  Prozent  der- 
jenigen am  Anfang  der  Periode  sein.  Dies  ist  aber  nicht  wohl  möglich, 
man  muss  sich  also  fragen,  woher  nimmt  die  Sonne  die  ungeheure 
Wärmemenge,  die  sie  auf  den  kalten  Weltraum  verschwendet,  und  wo- 
von nur  der  2200000000.  Teil  auf  das  Loos  der  Erde  kommt. 

Diese  Frage  beantwortete  der  berühmte  Begründer  der  mechanischen 
Wärmetheorie  Rob.  Mayer  so:  Die  Himmelskörper,  welche  in  die  Sonne 
hineinstürzen,  besitzen  eine  grosse  Geschwindigkeit,  welche  sich  in  Wärme 
umsetzt.  Auf  diese  Weise  kann  die  Sonne,  wenn  sie  immer  mit  Meteoriten 
gefüttert  wird,  ihre  Temperatur  konstant  erhalten.  Auch  die  Planeten 
sollten  allmählich  zum  Mutterschoos  der  Sonne  zurückkehren  und  ihre 
eigene  Existenz  aufopfernd,  die  Kraft  ihrer  Urheberin,  aber  nur  für  kurze 


in.  Die  Sonne.  159 

Zeit  —  Mayer  berechnete  für  die  Erde  nicht  völlig  hundert  Jahre  —  auf- 
recht erhalten.  Da  nun  die  Masse  der  Sonne  etwa  324  000  mal  grösser 
als  diejenige  der  Erde  ist,  so  mtisste  zur  Aufrechterhaltung .  der  Sonnen- 
wärme während  10  Mill.  Jahren  eine  Meteormasse  in  die  Sonne  eingestürzt 
sein,  welche  etwa  ein  Drittel  der  Sonnenmasse  ausmacht.  Es  zeigt  aber 
die  Beobachtung,  dass  keine  Meteormassen  von  genügender  Menge  in  der 
Nähe  der  Sonne  (in  unserem  Planetensystem)  vorhanden  sind.  Und  warum 
sollten  die  blindlings  herumlaufenden  Meteormassen  eher  die  Sonne  treffen 
als  die  Planeten?  Diese  müssten  w^ohl  auch  durch  Meteorfall  aufgeglüht 
werden  wie  die  Sonne.  Man  hat  auch  gegen  Mayers  Hypothese  ein- 
gewendet, dass  die  Rotationsgeschwindigkeit  der  Sonne  durch  das 
Herabfallen  der  Meteore  abnehmen  (um  einen  Tausendstel  in  etwa 
30  Jahren)  und  in  der  Länge  der  Zeit  ganz  verloren  gegangen  sein 
müsste  (vgl.  jedoch  S.  125). 

Aus  diesen  Schwierigkeiten  fand  Helmholtz  einen  Ausweg.  Er 
machte  auf  den  grossen  Energievorrat  aufmerksam,  welcher  durch  das 
Fallen  der  Sonnenmasse  selbst,  d.  h.  durch  die  Zusammenziehung  der 
Sonne  frei  werden  kann.  Falls  die  Sonnenmasse  2  •  426  :  27,4  =  31,1 
Meter  fiele,  würde  dies  zur  Erwärmung  um  2  cal.  pro  Gramm  der 
Sonnenmasse  genügen,  da  1  cal.  426  Grammeter  entspricht  und  die 
Schwerkraft  auf  der  Sonne  27,4  kräftiger  wirkt  als  auf  der  Erde.  Diese 
Ziffer  gilt  für  die  Oberfiächenteile.  Da  nun  die  tiefer  liegenden  Teile 
eine  kürzere  Strecke  fallen  und  teilweise  einer  geringeren  Schwerkraft 
unterworfen  sind,  erhält  man  eine  grössere  Ziffer  für  die  zur  Erhaltung 
der  Sonnenenergie  nötige  Zusammenziehung.  Helmholtz  berechnete,  dass 
eine  Verminderung  des  Sonnenhalbmessers  um  6  km  im  Jahrhundert  zur 
Deckung  der  Wärmeausgabe  genügen  würde.  Eine  solche  Schrumpfung 
wäre  für  astronomische  Messungen  ganz  unmöglich  wahrzunehmen.  In 
älteren  Zeiten,  als  die  Sonne  viel  grösseren  Durchmesser  hatte  und  infolge- 
dessen die  Schwere  auf  und  in  der  Sonne  viel  geringer  war  wie  jetzt, 
musste  die  Schrumpfung  viel  geschwinder  vor  sich  gehen.  Wenn  die 
Sonne  sich  von  unendlicher  Ausdehnung  aufihre  jetzige  Grösse  zusammen- 
gezogen hätte,  würde  die  Wärmemenge  zur  Deckung  der  Ausgabe  von 
Sonnenwärme,  wenn  sie  immer  gleich  gross  wie  jetzt  gewesen  wäre, 
nicht  um  mehr  als  etwa  10  Millionen  Jahre  ausgelangt  haben.  Und 
wenn  die  Sonne  sich  zusammenzöge,  bis  sie  die  Dichte  der  Erde  er- 
reichte, d.  h.  auf  etwa  ein  Viertel  ihres  jetzigen  Volumens,  so  würde 
die  so  erlangte  Wärme  etwa  17  Millionen  Jahre  ausreichen.  Aber  schon 
lange  vordem  müsste  man  erwarten,  dass  eine  feste  Kruste  die  Sonne 


160  Physik  des  Himmels. 

bedeckt  hätte,  wodurch  ihre  Ausstrahlung-  so  stark  gesunken  wäre,  dass 
kein  Leben  mehr  auf  der  Erde  existierte.  Helmholtz  schätzte  deshalb 
die  Dauer  des  jetzigen  Zustandes  auf  höchstens  6  Millionen  Jahre. 

Die  Berechnung  von  Helmholtz  ist  in  späterer  Zeit  von  Lord 
Kelvin  mit  den  besseren  Daten,  die  von  der  messenden  Physik  in  der 
Zwischenzeit  geschaffen  worden  sind,  umgerechnet  worden.  Zwar  ist  da- 
durch eine  geringe  Erhöhung  von  etwa  25  Prozent  in  Helmhol tz's  Ziffern 
entstanden.  Wir  müssen  aber  doch  zugeben,  dass  eine  Existenzzeit  des 
Lebens  von  gegen  15  Millionen  Jahren  vor  uud  halb  so  lange  nach 
unserer  Zeit  viel  zu  knapp  zugemessen  ist.  Die  Geologen  sind  auch 
keineswegs  mit  den  Resultaten  von  Lord  Kelvins  Rechnung  zufrieden, 
und  ein  heftiger  Streit  ist  in  den  naturwissenschaftlichen  Kreisen  Eng- 
lands wegen  dieser  Frage  entstanden.  Man  scheint  immer  mehr  ge- 
neigt, den  Geologen  Recht  zu  geben,  wonach  folglich  die  ergiebigste 
Wärmequelle  der  Sonne  von  Helmholtz  nicht  gefunden  wäre. 

Man  hat  wohl  vor  allen  anderen  Versuchen  zur  Erklärung  der 
Sonnenwärme  an  chemische  Prozesse  gedacht.  Sind  doch  die  che- 
mischen Yerbindungswärmen  weitaus  die  ergiebigsten  Wärmequellen 
auf  unserer  Erde,  mit  denen  die  Wärmequellen,  die  durch  Verwendung 
mechanischer  Energie  gespeist  werden,  in  keiner  Weise  verglichen  werden 
können.  Denken  wir  uns  aber,  die  Sonne  bestände  aus  Kohle,  so  würde 
ihre  Verbrennung  zu  Kohlensäure  nur  dazu  genügen,  um  etwa  8000  cal. 
für  jedes  Gramm  zu  entwickeln.  Diese  Wärmemenge  würde  ja  höchstens 
gegen  4000  Jahre  die  Wärmeverluste  der  Sonne  decken  können.  Diese 
Rechnung  schreckte  die  meisten  vor  weiteren  Ausführungen  auf  diesem 
Gebiete  ab.  Nur  der  französische  Astronom  Faye  glaubte  mit  dem  Wert 
der  chemischen  Prozesse  in  diesem  Fall  rechnen  zu  dürfen.  Er  sagte:  Im 
Inneren  der  Sonne  ist  wegen  der  hohen  Temperatur  alles  in  seine 
elementaren  Bestandteile  zerlegt.  Kommen  aber  die  zersetzten  Körper 
(Atome)  zur  Oberfläche  der  Sonne,  vereinigen  sie  sich  da  in  der  relativen 
Kälte  und  geben  zu  grossen  Wärmeentwickelungen  Anlass.  Diese  Ansicht 
ist  aber  vollkommen  unhaltbar.  Entweder  sinken  die  neuentstandenen 
chemischen  Verbindungen  nach  einiger  Zeit  in  das  Innere  der  Sonne 
zurück  und  zerfallen  wiederum  in  Atome,  wodurch  folglich  genau  so 
viel  Wärme  wieder  verbraucht  wird,  wie  bei  ihrem  Hinaustreten  produ- 
ziert wurde.  Oder  bleiben  die  Verbindungen  an  der  Sonnenoberfläche 
bestehen,  in  welchem  Fall  eine  dicke  Schicht  von  chemisch  verbundenen 
Körpern  die  äussersten  Teile  der  Sonne  ausmachen  müsste.  Solche  Ver- 
bindungen zeigen  aber,   wie  die  roten  Sterne,  kannelierte  Spektra.    Da 


111.   Die  Sonne.  ]ß\ 

dies  aber  nicht  für  die  Atmosphäre  der  Sonne  zutrifft,  so  bestehen  gerade 
in  ihren  äussersten  Schichten  unverbundene  Gase  der  chemischen  Ele- 
mente. Ausserdem  würde  wahrscheinlicherweise  die  Energie  auch  in  diesem 
Falle  ganz  unzureichend  sein.  Denn  nach  den  einzigen  Versuchen,  die 
Dissociationswärme  eines  Körpers  beim  Zerfall  seiner  Molekeln,  H2  bezw.  ,/j, 
in  Atome,  2//  bezw.  2J,  zu  berechnen,  welche  von  E.  Wie  de  mann  und 
Boltzmann  ausgeführt  wurden,  beträgt  diese  Wärmemenge  126000  bezw. 
28500  cal.,  ist  also  von  derselben  Grössenordnung  wie  die  Verbren- 
nungswärme  des  Wasserstoffs,  58000  cal.  pr.  2  g  Il2-  Mehrere  Umstände, 
wie  das  Bestehen  von  Einzelatomen  der  Metalle  bei  sehr  niedrigen 
Temperaturen,  wie  die  Gefrierpunkts  versuche  von  Tammann  an  Amal- 
gamen zeigen,  deuten  darauf  hin,  dass  im  Falle  der  Metalle  die  Wärme 
beim  Zerfall  der  aus  mehreren  Atomen  bestehenden  Moleküle  in  ein- 
fache Atome  überaus  gering,  vielleicht  negativ,  sein  muss.  Alles 
deutet  darauf  hin,  dass  diese  Energiequelle  nicht  bedeutend  ergiebiger 
sein  könnte,  als  die  vorhin  untersuchte,  wonach  die  Sonnenwärme  viel- 
leicht durch  Verbrennungsprozesse  geschaffen  werden  könnte. 

In  den  Sonnenteilen,  welche  vorwiegend  der  Beobachtung  zugäng- 
lich sind,  nämlich  die  Gasschichten  oberhalb  der  Photosphäre,  herrschen 
nahezu  dieselben  Verhältnisse,  welche  wir  bei  hohen  Temperaturen  auf 
der  Erde  realisieren  können.  Die  Temperatur  ist  nicht  übermässig  viel 
grösser  als  wir  sie  erreichen  können  (2  bis  3  mal),  der  Druck  wechselt 
nach  den  wenigen  Messungen,  die  darüber  vorliegen,  zwischen  einigen  At- 
mosphären (dicht  über  der  Photosphäre)  und  weniger  als  einem  Millimeter 
Quecksilber  (in  der  äusseren  Chromosphäre).  Wir  haben  deshalb  allen  Grund, 
unsere  aus  den  Laboratoriumsversuchen  gewonnenen  Erfahrungen  auf  die 
Verhältnisse  daselbst  anzuwenden.  Alle  Metallverbindungen  zerfallen  in 
ihre  aus  Atomen  bestehenden  metallischen  Bestandteile,  wie  auch  das 
Sonnenspektrum  anzeigt.  Wie  es  aber  mit  den  Metalloiden  geht,  darüber 
belehrt  uns  die  Spektralanalyse  nicht.  Kohlenstoff  kommt  wohl  als  Gas 
und  in  fester  Form  (in  den  Wolken  der  Photosphäre)  vor.  Wasserstoff, 
welcher  hauptsächlich  in  den  oberen  dünnen  Schichten  gesammelt  ist, 
kommt  wohl  auch,  wegen  des  geringen  Druckes  daselbst,  in  Form  von 
einfachen  Atomen  vor.  Aber  der  Sauerstoff  und  der  Stickstoff,  von 
ihnen  wissen  wir  sehr  wenig.  In  der  Hitze  des  elektrischen  Lichtbogens 
entstehen  nun  aus  Sauerstoff  und  Stickstoff  Ozon  und  die  niederen 
Oxydationsprodukte  des  Stickstoffs,  welche  alle  bei  ihrer  Bildung  Wärme 
absorbieren,  z.  B.  Ozon  pro  Grammolekel  (=48g)  36200  cal.,  Stick- 
stoffoxydul pro  Grammolekel  (=44  g)  18000  cal.,  Stickstoffoxyd  (=30  g) 

Arrbenius,  Kosmische  Physik.  •  H 


\Q2  Physik  des  Himmels. 

21600  cal.,  salpetrige  Säure  (=72  g)  6800  eal.,  Stickstoffsuperoxyd 
(=  46  g)  7700  cal.  Ebenso  vereinigt  sich  Kohlenstoff  mit  Schwefel 
und  Stickstoff  zu  Schwefelkohlenstoff  und  Cyan  unter  Absorption  von 
28700  cal.  (für  76  g  CS2)  bezw.  71000  cal.  (für  52  g  CaiVa),  und 
Stickstoff  mit  Schwefel  oder  Selen  unter  Absorption  von  31900  bezw. 
42600  cal.  (für  46  g  NS  bezw.  94  g  NSe).  Die  Verbindungen  von 
Chlor  mit  Stickstoff  und  von  Wasserstoff'  mit  viel  Schwefel  unter  Bil- 
dung von  Chlorstickstoff  und  Persulfid  verbrauchen  auch  Wärme  bei 
ihrer  Entstehung  aus  den  Elementarstoffen.  Da  nun  bei  hoher  Tem- 
peratur diejenigen  Verbindungen  begünstigt  werden,  welche  Wärme  bei 
ihrer  Bildung  verbrauchen,  haben  wir  uns  die  Metalloide  in  der  Sonnen- 
atmosphäre, an  Stellen,  wo  der  Druck  nicht  allzu  gering  ist,  mitein- 
ander (zum  grössten  Teil)  verbunden  zu  denken.  Vielleicht  sind  sie  aber 
in  der  Corona,  wenn  sie  daselbst  vorkommen,  weil  da  ein  ausserordentlich 
geringer  Druck  bei  recht  hoher  Temperatur  herrscht,  in  Elementar- 
atome zerfallen.  Aber  in  den  etwas  tieferen  Schichten  mit  höherem 
Druck  werden  sie  ohne  Zweifel  grösstenteils  als  die  oben  genannten 
oder  andere  bei  ihrer  Bildung  noch  mehr  Wärme  absorbierenden  uns 
unbekannten  Verbindungen  bestehen,  gänzlich  im  Gegensatz  zu  den 
bisher  angenommenen  Vorstellungen  (Ostwald). 

Betrachten  wir  die  Verhältnisse  in  tieferen  Schichten  der  Sonne, 
so  lehrt  die  Erfahrung  betreffs  des  Spektrums  der  tiefsten  Stellen  in 
dem  Schatten  der  Sonnenflecke,  dass  da  chemische  Verbindungen  vor- 
walten. Der  nach  innen  immer  steigende  Druck  begünstigt  immer 
stärker  kondensierte  und  zusammengesetzte  Verbindungen,  welche  zu- 
folge der  immer  steigenden  Temperatur  immer  mehr  Wärme  bei  ihrer 
Bildung  verbrauchen.  Alle  denkbaren  Körper  müssen  da  repräsentiert 
sein  und  miteinander  in  chemischem  Gleichgewicht  stehen.  Und  wenn 
wir  uns  eine  Vorstellung  von  den  dort  herrschenden  Verhältnissen  aus 
den  uns  bekannten  bilden  wollen,  so  scheint  folgende  Überlegung  viel- 
leicht darüber   einen  Anhalt   zu  geben. 

Die  chemischen  Verbindungen  in  der  Sonne  befinden  sich  im  Gas- 
zustande gemischt  und  stehen  untereinander  in  sogenanntem  chemischen 
Gleichgewicht.  Dieses  Gleichgewicht  verschiebt  sich  allmählich  bei 
Änderung  des  Druckes  und  der  Temperatur.  Diese  Verschiebung 
geht  immer  so  vor  sich,  dass  bei  zunehmendem  Druck  solche  Ver- 
bindungen sich  bilden,  welche  unter  Volumabnahme  entstehen,  bei 
steigender  Temperatur  solche,  die  bei  ihrem  Entstehen  Wärme  absor- 
bieren.   Es   ist  offenbar,   dass  wir  sehr  wenig  Vorstellung  von  den  in 


111.   Die  Sonne.  163 

der  Sonne  vorkommenden  wichtigsten  Verbindungen  besitzen,  da  sie  bei 
den  niedrigen  Temperaturen,  welche  wir  realisieren  können,  nicht  stabil 
sind.  Jedenfalls  ist  die  Ansicht  nicht  stichhaltig,  dass  bei  chemi- 
schen Processen  in  der  Sonne  nicht  viel  mehr  Wärme  als  bei  Ver- 
brennung von  Kohle  frei  werden  könnte.  Im  Gegenteil,  man  hat  allen 
Anlass,  anzunehmen,  dass  die  bei  hohen  Temperaturen  (hauptsächlich) 
verlaufenden  Processe  viel  mehr  Wärme  (bei  Abkühlung)  entwickeln, 
als  die  bei  niedriger  Temperatur  verlaufenden.  Wenigstens  deuten  die 
Erfahrungen,  welche  wir  über  chemische  Gleichgewichte  bei  niederer 
Temperatur  besitzen,  auf  diesen  Umstand  hin.  Die  einfachste  Annahme, 
für  welche  man  übrigens  einige  Wahrscheinlichkeitsgründe  anführen 
könnte,  ist  diejenige,  dass  die  Wärmeentwickelung  der  Temperatur  pro- 
portional sei,  bei  welcher  der  Process  hauptsächlich  vor  sich  geht.  Da- 
nach würden  die  chemischen  Processe,  welche  der  Hauptsache  nach  bei 
der  Abkühlung  der  etwa  drei  bis  vier  Millionen  Grad  heissen  Sonne  sich 
abspielen,  etwa  zehntausend  mal  mehr  Wärme  abgeben,  als  die  wärme- 
ergiebigsten Processe,  welche  wir  kennen.  Weiter  ist  das  Temperatur- 
intervall, welches  die  Sonne  bei  ihrer  Abkühlung  durchlaufen  muss,  sehr 
umfassend,  sodass  eine  ganze  Menge  von  chemischen  Processen  nach- 
einander während  des  Erkaltens  verlaufen  können.  Diese  Überlegung 
zeigt,  dass  es  nicht  unmöglich  ist,  anzunehmen,  dass  die  chemischen 
Processe,  welche  sich  bei  der  Abkühlung  der  Sonne  abspielen,  ausreichen 
können,  um  die  Ausstrahlung  der  Sonne  während  Hunderten  von  Mil- 
liarden Jahren  auf  ihrer  jetzigen  Stärke  zu  erhalten.  Danach  ist  es 
sehr  wohl  möglich  und  sogar  wahrscheinlich,  dass  die  chemische  Energie 
der  Sonne  bei  weitem  die  mechanische  übertrifft  und  auch  die  bedeu- 
tendste Kolle  zur  Erhaltung  der  Sonnenstrahlung  spielt,  ungefähr  wie 
für  uns  auf  der  Erde  die  chemischen  Wärmequellen  ohne  Vergleich  die 
wichtigsten  sind. 


11* 


IV.  Die  Planeten,  ihre  Satelliten  nnd  die  Kometen. 

Die  Temperatur  der  Körper  im  Sonnensysteme. 
Die  Sonne  strahlt  Wärme  nach  allen  Eichtungen  aus  und  ein  geringer 
Teil  dieser  Wärme  kommt  den  anderen  Körpern  des  Sonnensystemes 
zu  Gute.  Die  Wirkung  davon  ist  sehr  verschieden,  je  nachdem  der  ge- 
troffene Himmelskörper  eine  feste  Kruste  hat  oder  nicht.  Die  Planeten 
können  in  zwei  Gruppen  nach  ihrer  Dichte  eingeteilt  werden,  die  erste, 
in  welcher  die  Dichte  über  0,6  ist  (diejenige  der  Erde,  welche  etwa  5,5  mal 
dichter  als  Wasser  ist,  gleich  1  gesetzt),  die  zweite,  in  welcher  die  Dichte 
0,3  oder  weniger  beträgt.  Zur  ersten  Gruppe  gehören  der  Planet 
Mars  (Dichte  6=0,11)  und  die  der  Sonne  näher  gelegenen  Planeten 
Erde  {ö=  l),  Venus  ((J=0,8)  und  Merkur  (d  =  0,63).  Zu  dieser  Gruppe 
kann  auch  der  Mond  gezählt  werden  (d  =  0,62).  Zu  der  zweiten  Gruppe 
gehören  die  äusseren  Planeten  Jupiter  (J=0,23),  Saturn  (d  =  0,12), 
Uran  ((J  =  0,19)  und  Neptun  (6=0,3).  Zu  dieser  Gruppe  kann  gewisser- 
maassen  die  Sonne  selbst  (6=  0,2b)  gezählt  werden.  Man  hat  allen 
Anlass  anzunehmen,  dass  die  Himmelskörper  der  ersten  Gruppe  der 
Erde  sehr  ähnlich  sind,  indem  sie  eine  feste  Kruste  von  massiger  Tem- 
peratur und  ein  wärmeres  Innere  besitzen.  Sie  sind  sozusagen  in  einem 
weit  vorgeschrittenen  Stadium  der  Entwickelung.  Die  anderen  Planeten 
dagegen,  welchen  eine  mit  derjenigen  der  Sonne  vergleichbare  Dichtig- 
keit eigentümlich  ist,  sind  noch  in  einem  relativ  unentwickeltem  Stadium, 
indem  sie  wahrscheinlicherweise,  wie  die  Sonne,  gasförmig  sind  und  keine 
feste  Kruste  besitzen. 

Dies  stimmt  auch  damit  überein,  dass  die  Planeten  der  erstgenannten 
Gruppe  relativ  unbedeutende  Masse  haben,  sich  also  relativ  schnell  ab- 
kühlen konnten.  Die  grössten  sind  die  Erde  und  Venus  (relative  Masse 
M=l  bezw.  M=0,S1),   die  kleinsten  Merkur  (1/=  0,032)  imd  Mars 


IV.  Die  Planeten,  ihre  Satelliten  und  die  Kometen.  165 

{M=i),iOb);  noch  geringere  Masse  hat  der  Mond  (if=  0,0122).  Da- 
gegen ist  die  Masse  der  weniger  dichten  Planeten  sehr  gross,  Uran 
(if=14,7)  und  Neptun  (i/=  16,5)  sind  Zwerge  gegen  Saturn  (if=92,6) 
und  Jupiter  (M=  309,5),  aber  noch  mehr  gegen  die  Sonne  {M=  324  000). 

Die  grossen  Planeten,  welche  keine  feste  Kruste  haben,  besitzen 
Temperaturen  in  ihren  äusseren  und  sichtbaren  Schichten,  von  welchen 
wir  sehr  wenig  aussagen  können.  Jedenfalls  können  sie  nicht  gern  für 
Lebewesen  zuträglich  sein.  Die  anderen  Planeten  mit  fester  Kruste  be- 
sitzen eine  Oberflächontemperatur,  welche  hauptsächlich  von  der  Sonnen- 
strahlung und  nicht  von  der  inneren  Wärme  abhängt.  Auf  der  Erde 
zum  Beispiel  haben  die  gewöhnlichen  Bergarten  eine  Leitungsfähigkeit 
für  Wärme,  welche  nicht  0,01  erreicht,  d.  h.  eine  Platte  derselben,  die 
ein  Centimeter  dick  wäre,  würde,  falls  sie  auf  der  einen  Seite  einen 
Grad  wärmer  als  auf  der  anderen  wäre,  zur  kälteren  Seite  eine  Wärme- 
menge von  weniger  als  0,01  cal.  pr.  Sek.  hinüberbefördern.  Nun  ist  das 
Wärmegefälle  in  der  Erdkruste  etwa  3000  mal  geringer,  folglich  wird 
jedem  Quadratcentimeter  der  Erdoberfläche  aus  dem  Erdinneren  pro  Se- 
kunde weniger  0,01:3000  =  3,3. 10- ^  cal.  zugeleitet.  Pro  Minute  macht 
dies  weniger  als  2.10"^  cal.  aus,  was  etwa  ein  Tausendstel  von  der  im 
Mittel  von  der  Sonne  empfangenen  Wärmemenge  ausmacht,  wenn  man 
die  Schattenwirkung  der  Wolken  berücksichtigt.  Man  kann  infolge- 
dessen für  die  Erde  die  Wärmeleitung  aus  dem  Inneren  im  Ganzen 
gegen  die  Wärmestrahlung  aus  der  Sonne  vernachlässigen.  Ohne  Zweifel 
gilt  dieselbe  Aussage  für  die  anderen  Himmelskörper  im  Sonnensystem, 
welche  eine  feste  Kruste  besitzen. 

Es  ist  deswegen  für  die  Kenntnis  der  Oberflächentemperatur  dieser 
Himmelskörper  von  grösster  Wichtigkeit,  den  genauen  Betrag  der  Sonnen- 
strahlung angeben  zu  können.  Die  Ausführung  der  Messungen  dieser 
Grösse  werden  wir  später  besprechen.  Vorläufig  wollen  wir  uns  damit 
begnügen  mit  Rizzo  anzunehmen,  dass  der  wahrscheinlichste  Wert 
für  einen  Körper,  der  ebensoweit  wie  die  Erde  von  der  Sonne  entfernt 
ist,  2,5  cal.  pro  Minute  und  cm-  ausmacht.  Mit  anderen  Worten:  Auf 
eine  Platte  von  1  cm^  Grösse,  welche  in  derselben  Entfernung  von  der 
Sonne  wie  die  Erde  belegen  ist  (149,5.10^  Kilometer),  und  die  senk- 
recht gegen  die  Sonnenstrahlen  steht,  fällt  in  jeder  Minute  eine  Wärme- 
menge von  2,5  cal. 

Eine  solche  Platte  bietet  ein  horizontaler  Teil  des  Mondes,  welcher 
gerade  gegenüber  der  Sonne  steht.  Angenommen,  der  Mond  besässe 
keine  Atmosphäre,  was  jedenfalls  sehr  nahe  mit  dei;  Wirklichkeit  über- 


Ißß  Physik  des  Himmels. 

einstimmt,  so  würde  dieser  Teil  sich  allmählich  so  stark  erwärmen,  dass 
die  zuletzt  in  einer  Minute  ausstrahlende  Wärme  gerade  2,5  cal.  aus- 
machen würde.  Dann  würde  Wärmegleichgewicht  eintreten.  Für  die 
Ausstrahlung  der  Wärme  aus  einem  schwarzen  Körper  gilt  das  Stefan- 
sehe Gesetz: 

worin  T  die  absolute  Temperatur  des  strahlenden  Körpers,  t  diejenige  der 
Umgebung,  auf  welche  die  Strahlung  fällt,  bedeuten.  Die  Konstante  K 
beträgt  nach  den  neuesten  Bestimmungen  (von  Kurlbaum)  1,28.  lO'i^, 
wenn  die  Sekunde  als  Zeiteinheit  genommen  wird,  0,768.10-^^,  wenn  als 
Zeiteinheit  die  Minute  gewählt  wird. 

Nun  wird  ein  Teil  der  Sonnenstrahlung  vom  Monde  reflektiert,  diesen 
können  wir  folgendermaassen  schätzen.  Nach  Langley  beträgt  der  helle 
Teil  der  Sonnenstrahlung  etwa  40  Prozent,  nach  Zöllner  reflektiert  der 
Mond  12  Prozent  dieser  hellen  Strahlung,  d.  h.  der  absorbierte  Teil  ist 
2,5,  0,4  0,88  =  0,88  cal.  von  heller  Strahlung.  Dagegen  kann  die  Mond- 
oberfläche in  Bezug  auf  die  dunkle  Strahlung  der  Sonne,  welche  1,5  cal. 
beträgt,  als  absolut  schwarzer  Körper  angesehen  werden.  Es  gilt  also 
für  diesen  Teil  des  Mondes: 

W=  1.5  +  0.88  =  0,768  {T^  —  t%  10"i«. 

t  wäre  als  die  mittlere  Temperatur  des  Weltraumes  zu  bezeichnen.  Für 
diese  Grösse  hat  Langley  nachgewiesen,  dass  sie  ohne  nennenswerten 
Fehler  gleich  0  gesetzt  werden  kann.  Aus  dieser  Gleichung  berechnet 
man  die  Temperatur  der  heissesten  Teile  des  Mondes  (über  welche  die 
Sonne  senkrecht  steht)  zu  ^=419^  abs.  oder  146^  C.  Auf  einer  anderen 
Stelle,  die  w  Grad  von  dem  Mittelpunkt  der  Mondscheibe  des  Voll- 
mondes entfernt  ist,  fällt  nicht  die  Wärmemenge  Tr  =  2,38  cal.  pro 
cm 2,  sondern,  da  der  Winkel  zwischen  der  Normale  (=  dem  Mondradius) 
und  der  Richtung  der  Sonnenstrahlen  offenbar  w  ist,  eine  geringere 
Menge  PF,  =2,38  cos i^?  cal  pro  cm-^.     Die  Temperatur  wird  folglich: 

2,38  cos  2^;  =  0,768  74. 
Auf  diese  Weise  berechnet  man  folgende  Werte  Tber. 


10  = 

Tber 

t 

Tbeob. 

V.  M.           N.  M. 

Mitt 

0 

419 

146 

454             454 

454 

10 

418 

145 

453             453 

453 

IV.  Die  Planeten,  ihre  Satelliten  und  die  Kometen.  167 


tv  = 

Tber. 

t 

V.  M 

Tbeob. 

N.  M. 

Mitt€ 

20 

413 

140 

447 

450 

448 

30 

403 

130 

430 

440 

435 

40 

392 

119 

400 

424 

412 

50 

376 

103 

365 

400 

382 

60 

353 

80 

331 

365 

348 

70 

321 

48 

292 

318 

805 

80 

271 

—  2 

227 

240 

239 

85 

228 

—  45 

87,5 

192 

—  81 

90 

0 

—273 

0 

75 

38. 

Wir  wollen  jetzt  die  mittlere  Strahlung  des  ganzen  Vollmondes 
gegen  die  Erde  berechnen.  Zu  diesem  Zwecke  denken  wir  uns  Kreise 
um  den  Mittelpunkt  der  Mondscheibe  gelegt  und  zwar  so,  dass  die 
Breite  eines  Kreises  vom  Mittelpunkt  des  Mondes  gesehen,  einen  Bogen 
von  einem  Grad  beträgt.  Nun  ist  die  Strahlung  einer  Scheibe,  welche 
in  der  Eichtung  der  Normale  die  Strahlung  S  aussendet,  in  einer  anderen 
Richtung,  welche  den  Winkel  w  mit  der  Normale  bildet,  Sqo^w.  Es 
strahlt  also  die  Scheibe  genau  so  viel  Wärme  aus,  wie  ihre  Projektion 
senkrecht  zur  Strahlungsrichtung  in  der  Richtung  ihrer  Normale  aus- 
senden würde.  Der  Vollmond  strahlt  also  genau  so  viel  Wärme  aus, 
wie  eine  Scheibe  von  derselben  Temperatur.  Die  Oberfläche  jedes  strah- 
lenden kreisförmigen  Elementes  besitzt  einen  Wert  von  T\  welches  dem 
(to^w  proportional  ist.  Die  Strahlung  ist  demnach  mit  2,38  cos  2^;  für  jede 
Fläche  von  1  cm^  Grösse  proportional.  Der  Umkreis  eines  Elementes 
der  Mondscheibe  ist  IjirÜMw^  wenn  r  der  Mondradius  ist.  Die  Breite 
von  jedem  Element  ist  d  {rsmw)  =  rQOSw  dw.  Mit  anderen  Worten 
die  Strahlung  von  einem  Element  ist  ausgedrückt  durch: 

2,38  cos  w.  2Jtr  sin  w.  r  cos  wdw 

und  für  die  ganze  Mondscheibe  durch 

t/2 


2,38.2  jrr^/" 

0 


cos^  ws\nwdw  =  ^  2,38.2  Jt r^. 


Wenn  wir  nun  eine  wirkliche  Scheibe  an  Stelle  des  Mondes  hätten,  so 

wäre  ihre  Strahlung": 

2,38  :Tr2. 


'ö 


16§  Physik  des  Himmels. 

Die  Strahlung  des  Vollmondes  ist  folglich  '%  so  gross  wie  die 
Strahlung  einer  Scheibe  von  gleicher  Winkelgrösse,  die  senkrecht  gegen 
die  Sonnenstrahlen  steht.  Die  Temperatur  einer  solchen  Scheibe,  die 
gleich  viel  Wärme  ausstrahlte,  wie  der  Vollmond  kommt  auf  den  Wert 

"V^2/3 . 2,38.10 ' 0 : 0,768  =  379«  abs.  Temp.  =  1060C. 

Lord  Rosse,  der  die  ersten  Versuche  über  die  Grösse  der  Wärme- 
strahlung des  Mondes  ausführte,  fand,  dass  der  Mond  ebensoviel  Wärme 
ausstrahlt,  wie  eine  schwarze  Scheibe  von  gleichem  Gesichtswinkel 
und  110^  C.  Temperatur,  was  ja  sehr  gut  mit  der  obigen  Berechnung 
übereinstimmt. 

In  neuerer  Zeit  sind  Messungen  über  die  Wärmestrahlung  des 
Mondes  von  Very  ausgeführt  worden.  Die  von  ihm  berechneten  Werte 
der  Mondtemperatur  sind  oben  unter  Tbeob.  angeführt.  Wie  ersichtlich, 
sind  die  Temperaturen  auf  dem  Vollmond  nicht  gleich  gross  zu  den 
beiden  Seiten  des  Mittelpunktes  der  Mondscheibe.  Dies  rührt  davon  her, 
dass  die  Punkte,  welche  „Nachmittag"  auf  dem  Monde  haben,  länger 
und  intensiver  beleuchtet  gewesen  sind,  als  diejenigen,  welche  Vor- 
mittag haben,  d.  h.  wo  die  Sonne  im  Steigen  begriffen  ist.  Und  es  ist 
natürlich,  dass  es  einige  Stunden  erfordert,  bis  die  Oberfläche  des  Mondes 
auf  die  definitive  Temperatur  erwärmt  werden  kann.  Die  Berechnungs- 
weise von  Very  scheint  zu  hohe  Werte  geliefert  zu  haben,  welche  auch 
die  theoretisch  berechneten  übertreffen.  Eine  Überschlagsrechnung, 
die  ich  betreffs  der  Daten  von  Very  ausführte,  gab  eine  Temperatur 
von  etwa  140^  C.  an  der  wärmsten  Stelle,  also  in  sehr  guter  Überein- 
stimmung mit  der  theoretischen  Berechnung.  Auch  für  die  anderen 
Teile  des  Mondes  stimmte  meine  Berechnung  von  Verys  Originaldaten 
sehr  gut  mit  den  theoretischen  Werten  Tber.  Als  mittlere  effektive  Tem- 
peratur der  Mondscheibe  fand  ich  etwa  100^  C.  in  bester  Übereinstim- 
mung mit  dem  theoretischen  Wert. 

Wie  aus  diesen  Ziffern  hervorgeht,  wechselt  die  Temperatur  auf 
dem  Monde  riesig  schnell.  Auf  der  von  der  Sonne  gekehrten  Seite  sinkt 
die  Temperatur  während  der  nahezu  15  Tage  betragenden  Nacht  immer 
tiefer,  so  dass  sie  zuletzt  nur  wenige  Grad  der  absoluten  Temperatur- 
skala beträgt.  Die  Wärme  wird  durch  die  Zuleitung  aus  dem  Innern 
aufrecht  gehalten,  und  da  die  Temperatur,  wie  für  die  Erde,  in  einigen  Me- 
tern Tiefe  ohne  Zweifel  nahezu  konstant  und  am  Äquator  des  Mondes 
im  Mittel  etwa  —60^0.  ist,  wird  die  Oberflächentemperatur  daselbst  wahr- 
scheinlicherweise nie  unter  +100^  abs.  Temp.  sinken.  In  der  Nähe  der 
Mondpole  wird  sie  dagegen  sehr  nahe  zum  absoluten  Nullpunkt  kommen. 


IV.  Die  Planeten,  ihre  Satelliten  und  die  Kometen.  169 

Auf  dem  Planeten  Merkur  herrschen  ziemlich  dieselben  Verhältnisse 
wie  auf  dem  Monde.  Immer  ist  dieselbe  Seite  dieses  Planeten  der  Sonne 
zugekehrt,  und  wenn  er  eine  Atmosphäre  besitzt,  so  ist  sie  sehr  dünn. 
Die  Sonnenstrahlung  ist  da  6,7  mal  grösser  als  auf  dem  Monde,  wodurch 
die  absoluten  Temperaturen  1,6  mal  höher  werden.  So  wäre  die  Tem- 
peratur auf  dem  heissesten  Punkte  670^  abs.  =  397^  C.  Auf  der  Hinter- 
seite, welche  nie  von  der  Sonne  beleuchtet  wird,  kann  die  Temperatur 
nur  wenige  Grad  über  dem  absoluten  Nullpunkt  liegen. 

Umgiebt  eine  geringe  Atmosphäre,  wie  ja  wahrscheinlich  ist,  diesen 
Planeten,  so  wird  eine  stetige  Luftströmung  in  den  Gegenden  der  wärm- 
sten Teile  aufsteigen,  in  den  höheren  Luftschichten  radiell  nach  allen 
Seiten  sich  zerstreuen,  um  in  den  von  der  Sonne  entferntesten  Gegenden 
wieder  hinunterzusteigen  und  längs  dem  Boden  zum  sonnennächsten 
Punkte  zurückzufliessen. 

Diese  Luftbewegung  wird  von  relativ  sehr  grossen  Kräften  getrieben 
und  besitzt  dadurch  eine  ungemein  grosse  Intensität.  Infolgedessen  ist 
es  wohl  denkbar,  dass  auf  Merkur  ein  Ausgleich  der  Temperatur  statt- 
findet. 

Um  die  Temperatur  eines  anderen  Planeten  zu  berechnen,  muss 
man  seinen  Albedo  kennen,  d.  h.  denjenigen  Bruchteil  des  einfallenden 
Sonnenlichtes,  welcher  von  ihm  reflektiert  wird.  Diese  Grösse  wurde  von 
Zöllner  bestimmt,  in  neuerer  Zeit  liegen  genauere  Bestimmungen  vor; 
besonders  diejenigen  von  G.  Müller  beanspruchen  grosse   Genauigkeit. 

Neuere  Bestimmung 

0,14 
0,76 
0,22 
0,62 
0,72 
0,60 
0,52 

Eine  entsprechende  Ziffer  für  die  Erde  ist  natürlicherweise  nicht 
direkt  beobachtet  worden.  Die  wahrscheinlichste  Annahme,  die  man 
wohl  machen  kann,  ist,  dass  sie  derjenigen  der  Venus  am  nächsten  kommt. 
Denn  kein  anderer  der  Planeten  besitzt  eine  Atmosphäre,  welche  so  nahe 
derjenigen  der  Erde  steht.     Wahrscheinlicherweise   ist   der  Albedo   der 


Der  Albedo  beträgt: 

nach  Zöllner 

für  den  Mond    . 

0,119 

Merkur 

0,114 

Venus  . 

0,623 

Mars     . 

0,267 

Jupiter 

0,624 

Saturn  . 

0,498 

Uran     . 

0,640 

Neptun 

0,465 

170  Physik  des  Himmels. 

Erde  etwas  geringer,  weil  ihre  Atmosphäre  dünner  ist  (vgl.  unten). 
Annäherungsweise  kann  man  wohl  damit  rechnen,  dass  die  Erde  etwa 
2/3  des  einfallenden  Sonnenlichtes  und  etwa  %  der  einfallenden  Sonnen- 
wärme wieder  in  den  Weltraum  hinaussendet. 

Es  wäre  demnach,  da  die  strahlende  Erdoberfläche  4  mal  grosser 
ist  als  de^^  Durchschnitt  des  Cjlinders  von  Sonnenstrahlen,  welche  die 
Erde  treffen,  die  mittlere  Temperatur  T  der  Erde  aus  folgender  Gleichung 
zu  berechae» 

2,5  (1  —  V3)  =  4  .  0,768 .  10-10  T\ 

woraus  r==  271,3  oder  —\,1^C.  Nun  ist  es  wohlbekannt,  dass  die 
Temperatur  der  Erde  im  Mittel  bedeutend  höher  ist,  ungefähr  +15^0. 
Eine  Erklärung  dieser  scheinbaren  Discrepanz  ist  nicht  schwer  zu 
finden.  Bei  der  oben  gegebenen  Berechnung  wurde  vorausgesetzt,  dass 
die  ganze  Erdwärme  von  der  Erdoberfläche  ausstrahlt.  Dies  würde  der 
Fall  sein,  wenn,  wie  beim  Monde,  keine  Atmosphäre  vorhanden  wäre, 
oder,  wenn  die  Atmosphäre  keine  Absorption  auf  die  Wärmestrahlung 
der  Erde  ausübte  und  dementsprechend  keine  Strahlung  in  den  Welt- 
raum aussendete.  Die  Gase  der  Atmosphäre  verhalten  sich  nun  in  dieser 
Beziehung  sehr  verschieden.  Die  Hauptmasse  der  Luft,  Stickstoff,  Sauer- 
stoff und  Argon,  scheint  keine  Absorption  auf  die  dunkle  Wärmestrah- 
lung der  Erde  auszuüben.  Ganz  anders  verhalten  sich  zwei  Gase,  die 
nur  in  geringer  Menge  in  der  Luft  vorkommen,   nämlich  Wasserdampf 

o 

und  Kohlensäure.  Diese  Gase  besitzen  nach  den  Messungen  von  Ang- 
ström, Paschen  und  Eubens  und  Aschkinass  im  ultraroten  sehr 
starke  und  breite  Absorptionsbänder.  Infolgedessen  absorbieren  sie  einen 
bedeutenden  Teil  der  Wärmestrahlung  der  Erde  und  strahlen  ebenso 
viel  Wärme  in  den  Weltraum  hinaus.  Bei  dieser  Strahlung  ist  die 
Temperatur  des  strahlenden  Körpers,  also  der  strahlenden  Schichten  von 
Kohlensäure  und  Wasserdampf,  maassgebend.  Die  Hauptmasse  des 
Wasserdampfes  ist  gegen  die  Erdoberfläche  hin  konzentriert  und  die  höheren 
Luftschichten  enthalten,  hauptsächlich  zufolge  ihrer  niederen  Temperatur, 
sehr  wenig  Wasserdampf.  Dagegen  ist  die  Kohlensäure  zufolge  der 
Luftströmungen  ziemlich  gleichmässig  durch  die  ganze  Atmosphäre  ver- 
teilt, und  die  strahlenden  Schichten  der  Kohlensäure  besitzen  deshalb 
eine  sehr  niedrige  Temperatur  (nach  den  Bestimmungen  bei  Ballonfahrten 
im  Mittel  etwa  75^  C.  unter  derjenigen  der  Erdoberfläche). 

Die  Temperatur  — 1,5,   welche   oben  erhalten  wurde,  ist  also  eine 
mittlere  Temperatur  der  von   der  Erde   in   den  Weltraum   strahlenden 


IV.  Die  Planeten,  ihre  Satelliten  und  die  Kometen.  171 

Teile  der  Erdoberfläche  und  der  Atmosphäre,  wobei  jeder  Teil  im  Mittel 
mit  einem  Anteil  eingeht,  welcher  dem  in  den  Weltraum  eindringenden 
Anteil  seiner  Strahlung  proportional  ist.  Je  stärker  der  Kohlensäure- 
<>ehalt  in  der  Luft  ist,  um  so  höher  liegen  die  hauptsächlich  strahlenden 
Schichten  dieses  Gases,  um  so  niedriger  wird  ihre  Temperatur  und  in- 
folgedessen die  mittlere  Temperatur  der  Erde  als  Strahlungskörper  be- 
trachtet; um  so  weniger  Wärme  verliert  also  die  Erde.  Die  Kohlen- 
säure, und  in  gleicher  Weise  der  Wasserdampf  der  Atmosphäre,  wirkt 
infolgedessen  als  eine  schützende  Decke,  deren  Dicke  und  wärme- 
schützende Eigenschaft  mit  der  Kohlensäuremenge  (und  dem  Wasser- 
dampfgehalt) zunimmt. 

Aus  Beobachtungen  über  die  Wärmeabsorption  der  Kohlensäure 
habe  ich  berechnet,  dass  eine  Senkung  der  Kohlensäuremenge  von  dem 
jetzigen  Betrag  (0,03  Proz.  der  Luft)  auf  etwa  die  Hälfte  eine  Tempe- 
raturerniedrigung bewirken  würde  von  4  bis  5^  C,  gegen  die  jetzigen  Ver- 
hältnisse. Dies  würde  etwa  dem  Einbrechen  einer  neuen  grossen  Eis- 
zeit entsprechen.  Dagegen  würde  eine  Erhöhung  des  Kohlensäurege- 
haltes der  Luft  auf  den  dreifachen  Betrag  des  jetzigen  Wertes  die 
Temperatur  so  stark  erhöhen  —  um  etwa  8^  C,  dass  das  Klima  etwa 
demjenigen  der  Eozenzeit  entsprechen  würde.  In  dieser  Zeit  gediehen 
edle  Baumarten  auf  Spitzbergen  und  Grönland,  wogegen  bei  der 
grossen  Eiszeit  Europa  bis  Mitteldeutschland  ganz  mit  Eis  bedeckt  war. 
Dieser  Effekt  wird  noch  sehr  dadurch  verschärft,  dass  in  den  polaren  Gegen- 
den die  Ausdehnung  der  die  Wärme  stark  reflektierenden  Schneedecke 
sich  verändert,  wodurch  der  Verlust  an  Sonnenwärme  in  diesen  Gegen- 
den noch  stärker  schwankt  als  in  Gegenden,  wo  Schneebedeckung  nie 
vorkommt.  Es  ist  dies  der  wahrscheinliche  Grund,  dass  die  geologischen 
Klimaschwankungen  sich  in  ganz  unerhörtem  Grade  in  den  polaren  Ge- 
bieten l3emerklich  gemacht  haben. 

Noch  deutlicher  tritt  dieser  Umstand  hervor,  wenn  man  die  Ver- 
hältnisse auf  dem  Planeten  Mars  ins  Auge  fasst.  Die  Temperatur  der 
Marsoberfläche  würde  nach  der  oben  gegebenen  Berechnungsweise  sich 
zu  —  37^  C.  belaufen.  Es  ist  nun  aber  aus  allen  Umständen  deutlich 
dass  die  Temperatur  auf  dem  Mars  ungefähr  dieselbe  ist,  wie  auf  der  Erde. 
Dies  beruht  auf  zwei  Umständen.  Teils  ist  die  Atmosphäre  des  Mars 
viel  durchsichtiger  als  diejenige  der  Erde  und  es  kommen  ausserordent- 
lich wenige  Wolken  in  ihr  vor.  Wahrscheinlicherweise  ist  auch  der  in 
der  Marsatmosphäre  schwebende  feine  Staub,  welcher  das  violette  Ende 
des  Spektrums  abschneidet,   ganz   verschwindend   gegen   denjenigen  in 


172  Physik  des  Himmels. 

der  Erdatmosphäre.  Den  grössten  Einttuss  übt  aber  ohne  allen  Zweifel 
irgend  ein  stark  wärmeabsorbierendes  Gas  in  der  Marsatmosphäre  aus. 
Durch  verschiedene  Umstände  ist  es  wahrscheinlich,  dass  die  Menge 
von  Wasserdampf  in  der  Marsatmosphäre  sehr  unbedeutend  ist.  Man 
hat  danach  an  die  Kohlensäure  in  erster  Linie  zu  denken.  Der  Kohlen- 
säuregehalt der  Marsatmosphäre  könnte  gut  diejenige  der  Erdatmosphäre 
um  das  hundertfache  übersteigen  (sie  würde  dann  einem  Druck  von  etwa 
30  mm  Quecksilber  entsprechen),  ohne  dass  dieser  Umstand  irgendwie  mit 
dem  dünnen  Zustande  der  Marsatmosphäre  unvereinbar  wäre.  Diese 
Kohlensäuremenge  würde  aber  ohne  Zweifel  mehr  als  genügen,  um  die 
Temperatur  des  Mars  auf  einer  höheren  Stufe,  als  diejenige  der  Erde, 
zu  erhalten. 

Was  die  übrigen  Planeten  betrifft,  so  sind  die  Kenntnisse  über  ihre 
Temperatur  sehr  gering.  Nach  einer  Berechnung  von  Christiansen, 
die  der  oben  gegebenen  (S.  166)  entspricht,  wäre  sie  auf  Yenus  65*^  C, 
auf  Jupiter  —  147«  C,  auf  Saturn  — 180^  C,  auf  Uran  —2070  C.  und 
auf  Neptun  — 221^  C.  Betreffs  der  Temperatur  auf  Venus  ist  zu  be- 
merken, dass  dieser  Planet  nach  Schiaparellis  Beobachtungen  immer 
dieselbe  Seite  der  Sonne  zuwendet,  d.  h.  sich  ähnlich  dem  Merkur  ver- 
hält. Auf  der  zur  Sonne  gewendeten  Seite  würde  demnach  eine  mitt- 
lere Temperatur  von  143 ^  C.  herrschen,  mit  einem  Maximum  von  etwa 
187 0  C.  Auf  der  von  der  Sonne  gewendeten  Seite  würde  die  Tem- 
peratur sich  nicht  viel  vom  absoluten  Nullpunkt  unterscheiden.  Diese 
kolossalen  Differenzen  werden  natürlicherweise  in  hohem  Grade  durch 
die  dichte  Atmosphäre  der  Venus  ausgeglichen,  welche  in  einem  enorm 
kräftigen  Winde  in  den  oberen  Schichten  von  der  Sonnen-  zur  Schatten- 
seite strömen  muss,  um  in  den  tieferen  Schichten  in  umgekehrter  Kich- 
tung  zurückzukehren. 

Nach  neueren  Beobachtungen  scheint  Schiaparellis  Annahme 
unzutreffend  zu  sein,  und  die  Verhältnisse  auf  der  Venus  wären  dem- 
nach denjenigen  auf  der  Erde  sehr  ähnlich.  Wegen  des  grösseren  Al- 
bedos  der  Venus  ist  ihre  mittlere  Temperatur  wohl  etwas  niedriger  als 
die  berechnete  (65*^  C).  Dieser  Planet  kann  folglich,  besonders  in  den 
circumpolaren  Gegenden,  sehr  wohl  organisches  Leben  beherbergen. 

Was  die  Planeten  ausserhalb  Mars  betrifft,  so  deutet  ihre  geringe 
Dichte,  welche  derjenigen  der  Sonne  sehr  nahe  kommt,  darauf  hin,  dass 
sie  aus  lauter  Gasen  bestehen.  Es  kann  deshalb  nicht  gern  von  einer 
Oberflächentemperatur  dieser  Himmelskörper,  ebensowenig  wie  von  einer 
solchen  bei  der  Sonne,  die  Rede  sein.    Die  Temperatur  nimmt  von  den 


I 


IV    Die  Planeten,  ihre  Satelliten  und  die  Kometen.  173 

äiissersten  Schichten  ihrer  Atmosphäre,  wu  sie  von  dem  absoluten  Null- 
punkte nicht  allzu  entfernt  sein  dürfte,  auf  immer  höhere  Werte  zu,  je 
näher  zum  Mittelpunkt  sie  gemessen  wird.  Im  Mittelpunkt  erreicht  sie 
äusserst  hohe  Werte,  die  gegen  Millionen  von  Graden  zu  schätzen  sind. 

Bei  diesen  Planeten,  wo  also  keine  feste  Kruste  einen  merklichen 
Wärmetransport  aus  dem  Innern  verhindert,  wird  kein  Gleichgewicht 
zwischen  hinein-  und  hinausgestrahlter  Wärme  stattfinden,  wie  oben  bei 
der  Berechnung  der  Temperaturverhältnisse  auf  Planeten  mit  starrer 
Oberfiäche  vorausgesetzt  wurde.  Im  Gegenteil  wird,  wie  bei  der  Sonne, 
die  Ausstrahlung  die  Einstrahlung  enorm  überwiegen  und  eine  allmäh- 
liche Abkühlung  stattfinden. 

Die  grossen  Planeten  sind  mit  Monden  reichlich  versehen.  Wahr- 
scheinlicherweise sind  die  Trabanten  meistens  so  weit  abgekühlt,  dass  sie 
oine  feste  Oberfläche  haben.  Die  Temperatur  derselben  wäre  demnach  auf 
dieselbe  Weise  wie  diejenige  des  Mars  und  der  sonnennäheren  Planeten 
zu  berechnen.  Ihre  Oberflächentemperatur  würde  also  nach  dem  vorhin 
gesagten  weit  unter  Null  liegen,  wenn  sie  nur  auf  die  Sonne  als  Wärme- 
quelle angewiesen  wären.  Nun  kommt  aber  die  Strahlung  der  Planeten 
hinzu,  welche  nicht  unbeträchtlich  sein  dürfte.  Es  wäre  demnach  denk- 
bar, dass  diese  Trabanten  teilweise  zur  Entwickelung  von  organischem 
Leben  geeignet  sein  könnten. 

Die  Atmosphäre  der  Planeten.  Eine  ganz  interessante  Bemer- 
kung betreffs  der  Atmosphäre  der  Planeten  hat  Johnstone  Stoney 
gemacht.  Nach  den  Ansichten  der  kinetischen  Gastheorie,  welche  all- 
gemein angenommen  ist,  besitzen  die  Gasmoleküle  eine  bestimmte  mitt- 
lere Geschwindigkeit,  die  bei  0^  C.  für  Sauerstoff  461,  für  Stickstoff 
492,  für  Wasserstoff  1848  M.  pro  Sekunde  beträgt.  Diese  Geschwin- 
digkeit ist  übrigens  der  Quadratwurzel  aus  der  absoluten  Temperatur 
direkt  und  der  Quadratwurzel  aus  dem  Molekulargewicht  umgekehrt 
proportional.  Wenn  also  ein  Himmelskörper  eine  sehr  geringe  Anzie- 
hungskraft besässe,  so  würden  die  Gasmolekeln  von  ihm  wegfliegen. 

Mit  Hilfe  der  oben  gegebenen  Entwickelungen  über  das  Schweren- 
potential finden  wir,  dass  die  Geschwindigkeit  v  eines  Körpers,  welcher 
aus  unendlicher  Entfernung  auf  einen  Planeten  hinunterfällt  mit  der 
Masse  m.  und  dem  Radius  r  bestimmt  ist  durch  die  Gleichung: 

worin  /,•  die  Gravitationskonstante  bedeutet  (vgl,  S.  84). 


174  Physik  des  Himmels. 

Für  die  Erde  ist  nun  k   .„  d.  h.  die  Beschleunigung  eines  fallenden 

cm 
Körpers  981  -^p-  und,  da  der  Erdradius  6400.10'' cm  lang  ist,  so  wird 

17) 

^;2  =  2Ä;-^.r  =  2.981.6400.l0^ 

woraus  v=- 1,12. 10'' cm  =  11200  m. 

An  der  Sonnenoberfläche  ist  die  Gravitation  27,47  mal  grösser  als 
auf  der  Erde,  der  Sonnenradius  109  mal  länger  als  der  Erdradius.  Folg- 
lich wird  die  Geschwindigkeit  eines  aus  unendlicher  Entfernung  in  die 
Sonne  hineinstürzenden  Körpers  etwa  50  mal  grösser,  oder  genau 
613  km  pro  Sekunde.  Ein  solcher  in  die  Sonne  hineinstürzender  Körper 
läuft  schon,  wenn  er  die  Erdbahn  durchquert,  welche  einen  215,68 
Sonnenradien  langen  Halbmesser  besitzt,  mit  einer  Geschwindigkeit  von 
41,7  km. 

Viel  geringere  Werte  besitzen  der  Mond  und  Mars,  indem  ihr  Halb- 
messer 0,27  bezw.  0,53  des  Erdhalbmessers  beträgt,  die  Gravitation  auf 
diesen  Himmelskörpern  0,167  bezw.  0,38  derjenigen  auf  der  Erde  er- 
reicht. Daraus  folgt,  dass  die  Geschwindigkeit  eines  von  diesen  Him- 
melskörpern angezogenen  Körpers  2380  bezw.  5030  m  pro  Sekunde  be- 
trägt, wenn  er  in  sie  aus  unendlicher  Entfernung  hineinstürzt. 

Ebenso  grosse  Geschwindigkeiten  müssen  die  aus  den  Atmosphären 
der  Planeten  hinausschiessenden  Körper  besitzen,  damit  sie  sich  aus  der  An- 
ziehungsphäre dieser  Himmelskörper  entfernen  können,  um  nie  mehr  zu- 
rückzukehren. Daraus  scheint  es  hervorzugehen,  dass  sogar  der  Mond  die 
Wasserstoffmolekeln  bei  sich  fesseln  könnte,  nachdem  ihre  mittlere  Ge- 
schwindigkeit (bei  0^  C.)  nur  1848  m  beträgt.  Bei  der  maximalen  Tem- 
peratur des  Mondes  (etwa  150^  C.)  würde  die  betreffende  Geschwindig- 
keit 2300  m  pro  Sekunde  betragen.  Nun  verhält  es  sich  aber  nach 
Maxwell  so,  dass  diese  Ziffer  nur  die  mittlere  Geschwindigkeit  der 
Wasserstoffmolekeln  bei  150^  C.  darstellt,  einige  von  ihnen  besitzen  die 
doppelte,  andere,  aber  verschwindend  wenige,  die  zehnfache  Geschwin- 
digkeit u.  s.  f.  Es  folgt  hieraus  unzweifelhaft,  dass  nach  der  kinetischen 
Gastheorie  kein  Wasserstoff  auf  dem  Mond  existieren  kann. 

Auch  andere  Gase  werden  allmählich  aus  den  Atmosphären  der 
Planeten  verschwinden,  sie  werden  aber  um  so  länger  bleiben,  je  grösser 
die  Planeten  sind  und  je  schwerer  die  Gase.  Daraus  sollte  es  verständ- 
lich sein,  dass  die  Erdatmosphäre  weder  Wasserstoff  noch  Helium  (Mo- 
lekulargewichte 2  bezw.  4)  enthält,  obgleich  das  erste  Gas  den  Vulkanen, 


IV.  Die  Planeten,  ihre  Satelliten  und  die  Kometen.  175 

das  zweite  einig(m  Quellen  entweicht.  (In  jüngster  Zeit  hat  man  wohl 
diese  beiden  Gase  in  minimalen  Spuren  in  der  Erdatmosphäre  nachge- 
wiesen. Dies  ist  aber  kein  Beweis  gegen  die  Behauptung,  dass  die  Erde 
diese  Gase,  welche  in  so  ungeheuerer  Menge  in  der  Sonnenatmosphäre  vor- 
kommen, nicht  an  sich  zu  fesseln  vermag).  Noch  schwächer  ist  die  Fähig- 
keit des  Mars  seine  Atmosphäre  zu  behalten.  Nach  Campbells  Schätz- 
ung ist  die  Atmosphäre  des  Mars  wahrscheinlicherweise  etwa  doppelt 
dünner  als  die  Luft  auf  den  höchsten  Bergen  der  Erde.  Nach  Stoneys 
Berechnungen  soll  Wasserdampf  (Mol.  Gew.  18)  da  nicht  bleiben  können, 
wogegen  Stickstoff  (M.  G.  =  28),  Sauerstoff  (M.  G.  -=  32)  und  Kohlen- 
säure noch  da  festgehalten  wären.  Nach  ähnlichen  Berechnungen 
von  Bryan  soll  aber  Wasserdampf  vom  Mars  festgehalten  werden. 
Jedenfalls  ist  es  höchst  wahrscheinlich,  dass  Wasser  und  infolgedessen 
Wasserdampf  auf  Mars  vorkommen,  aber  in  bedeutend  geringerer  Menge 
als  auf  der  Erde.  Zuletzt  kommen  solche  Körper  wie  der  Mond,  welche 
keine  nennenswerte  Atmosphäre  zurückzuhalten  vermögen.  Nach  Sto- 
neys Berechnungen  sollte  kein  Trabant  der  Planeten,  vielleicht  mit 
Ausnahme  des  grossen  Neptunmondes  imstande  sein,  eine  Atmosphäre 
um  sich  zu  konzentrieren.  (Auch  für  die  Jupitermonde  wird  man  eine 
ähnliche  Ausnahme  machen  müssen.)  Die  Berechnungen  von  Stoney 
scheinen  ein  wenig  übertrieben  zu  sein,  indem  er  nicht  genügend  in  Be- 
tracht gezogen  zu  haben  scheint,  dass  die  hinausfliegenden  Gasmolekeln 
von  den  äussersten  Schichten  der  Atmosphäre  stammen,  wo  die  Tem- 
peratur und  infolgedessen  die  Geschwindigkeit  der  Gasmoleküle  viel  ge- 
ringer ist  als  in  der  Nähe  der  festen  Kruste  des  Himmelskörpers. 

Für  Venus  sollten  ungefähr  dieselben  Verhältnisse  wie  für  die  Erde 
obwalten,  indem  die  Schwere  daselbst  ungefähr  gleich  gross  wie  die- 
jenige auf  der  Erde  ist  (das  Verhältnis  ist  wie  4 : 5)  und  die  Halbmesser 
der  beiden  Planeten  ziemlich  genau  gleich  gross  sind.  Demnach  könnte 
man  erwarten,  dass  die  Atmosphäre  der  Venus  etwas  dünner  wäre,  wie 
diejenige  der  Erde.  Die  direkten  Beobachtungen  zeigen  aber,  dass  das 
Umgekehrte  zutrifft.  Venus  besitzt  eine  so  starke  atmosphärische  Re- 
fraktion, dass  sie,  wenn  sie  der  Sonne  sehr  nahe  steht,  wie  bei  den 
Venusdurchgängen  durch  die  Sonne,  wie  ein  Lichtring  erscheinen  kann, 
indem  das  Sonnenlicht  so  kräftig  durch  die  Atmosphäre  der  von  der-  Sonne 
entfernteren  Seite  abgelenkt  wird,  dass  es  zur  Erde  gelangt.  Nach  den 
Berechnungen  von  Mädler  würde  die  Atmosphäre  der  Venus  etwa  1,7 
mal  dichter  als  diejenige  der  Erde  sein.  Auf  diesen  Umstand  deutet 
auch  der  ungewöhnlich  hohe  Albedo  dieses  Planeten  hin,  indem  dieser 


176  Physik  des  Himmels. 

durch  starke  Wolkenbildung  erklärt  wird.  Die  Wolken  können  sich  näm- 
lich in  der  dichten  Atmosphäre  sehr  lange  schwebend  erhalten.  Als 
Gegensatz  dazu  können  die  Verhältnisse  auf  dem  Mars  angeführt  werden, 
wo  die  Atmosphäre  ausserordentlich  durchsichtig  ist  wegen  sehr  geringer 
Wolkenbildung,  indem  die  Niederschläge  in  der  dünnen  Atmosphäre  sehr 
bald  heruntersinken. 

Auf  dem  Merkur  (Halbmesser  0,37,  Schwere  0,24)  sind  die  Verhält- 
nisse sehr  ungünstig  für  das  Bestehen  einer  Atmosphäre.  Die  direkten 
Beobachtungen  deuten  auch  darauf  hin,  dass  seine  Atmosphäre  sehr 
dünn  sei. 

Noch  geringere  Dimensionen  haben  die  kleinen  Planeten.  Der 
grösste  von  ihnen,  Ceres,  erreicht  nicht  einmal  1000  km  Durchmesser. 
Dementsprechend  ist  ihr  Albedo  sehr  gering.  Vesta  besitzt  wohl  einen 
Albedo  gleich  demjenigen  von  Mars.  Ceres  und  Pallas,  die  beiden 
grössten,  kommen  in  Bezug  auf  Albedo  unter  Merkur.  Dieser  geringe 
Albedo  deutet  auf  Abwesenheit  von  Atmosphäre,  wie  nach  Stoney  zu 
erwarten  ist. 

Die  Spektra  der  Planeten  zeigen  im  allgemeinen  den  Charakter  des 
Sonnen  Spektrums.  Dasjenige  des  Mondes  unterscheidet  sich  davon  aus- 
schliesslich durch  seine  Intensität.  Die  Spektren  von  Venus  und  Mars  (?) 
zeigen  die  sogenannten  tellurischen  Linien,  welche  von  Sauerstoff  und 
Wasserdampf  herrühren,  verstärkt,  woraus  man  geschlossen  hat,  dass  diese 
Körper  und  besonders  Wasserdampf  in  ihren  Atmosphären  vorkommen 
sollten.  In  den  Spektren  von  Jupiter  und  Saturnus  erscheint  ausserdem 
ein  intensives  Band  im  Kot  (um  618  fif^i^  Fig.  51).  In  den  Spektren 
von  Uran  und  Neptun  (vgl.  Fig.  52)  treten  noch  neue  Bänder,  besonders 
eins  im  Grün  und  eins  im  Blau  auf,  welche  in  den  Spektren  der  anderen 
Planeten  nicht  vorkommen. 

Die  theoretischen  Betrachtungen  von  Stoney  zeigen,  obgleich  sie 
in  den  meisten  Fällen  keine  absolut  scharfen  Schlüsse  erlauben,  doch 
eine  so  gute  Übereinstimmung  mit  der  Erfahrung,  dass  sie  volle  Auf- 
merksamkeit verdienen.  Die  von  den  Planeten  sich  entfernenden  Gas- 
molekeln würden  zum  grössten  Teil  in  der  Anziehungssphäre  der  Sonnen- 
masse verbleiben.  Denn  wenn  eine  Geschwindigkeit  von  11,2  km 
genügt,  um  eine  Molekel  aus  dem  Wirkungsgebiet  der  Erde  zu  ent- 
fernen, so  würde  diese  Geschwindigkeit  bei  weitem  nicht  genügen,  um 
die  Molekel  von  der  Sonne  zu  entfernen.  Eine  Molekel  an  der  Erdbahn, 
welche  nicht  von  der  Erde  angezogen  wird,  braucht  nämlich  eine  Ge- 
schwindigkeit von  41,7  km,  um  aus  dem  Bereich  der  Sonne  geschleudert 


IV.  Die  Planeten,  ihre  Satelliten  und  die  Kometen. 


177 


zu  werden.  Für  eine  Molekel  an  der  Erde,  welche  also  sowohl  der  An- 
ziehung der  Erde  als  der  Sonne  unterworfen  ist,  wird  demnach  eine 
Geschwindigkeit  nötig  sein,  die  gleich  ist 

«^  =  y  11,22+41,72  =  43,2  km  pro  Sekunde. 

Unter  den  sich  von  der  Erde  entfernenden  Molekeln,  deren  Geschwindig- 
keit 11,2  km  pro  Sekunde  übersteigt,  wird  nur  eine  absolut  verschwin- 


Fig.  51.     Spektrum  des  Jupiter  nach  H.  C.  Vogel. 

dende  Zahl  die  genügende  Geschwindigkeit  besitzen,  um  sich  aus  dem 
Sonnensystem  entfernen  zu  können.  Man  könnte  vielleicht  vermuten,  dass 
die  Gasmolekeln  ebenso  wie  Tröpfchen  von  der  Sonne  hinweggestossen 
werden  würden.  Indes  absorbieren  imd  reflektieren  die  Gase  in  dünner 
Schicht  so  wenig  Licht,  dass  eine  solche  Abstossung  unwahrscheinlich 
ist.  Es  wird  sich  infolgedessen  eine  ausserordentlich  dünne  Atmo- 
sphäre im  ganzen  Sonnensystem  bilden,  welche  durch  die  Gravita- 
tion .  der  Sonne  beherrscht   und  wohl  allmählich  durch  Zusammenstösse 


50  52  5%  56  58  60 

Fig.  52.     Spektrum  des  Uranus  nach  Keeler. 


62 


6^ 


66 


zwischen  den  Einzelmolekeln  zur  Sonnenatmosphäre  hinübertransportiert 
wird.  Im  Sonnensystem  wird  infolgedessen  die  Atmosphäre  der  Sonne 
auf  Kosten  derjenigen  der  Planeten  imd  ihrer  Monde  wachsen,  und 
dies  um  so  schneller,  je  geringer  das  Molekulargewicht  der  betreffenden 
atmosphärischen  Gase  ist.  Was  die  verschiedenen  Sonnen  betrifft,  werden 
sie  wohl  auch  ähnliche  Verluste  erleiden,  obgleich  in  ausserordentlich 
geringem  Maasstabe,  und  dabei  werden  die  leichtesten  und  heissesten 
Sterne  die  relativ  grössten  Verluste  erfahren,  welche  dann  ohne  Zweifel 
allmählich  den  schwereren  und  kälteren  zu  gute  kommen. 

Der  Mond  (Fig.  53).   Auf  dem  Monde  kommen,  wie  man  schon  mit 

Arrhenius,  Kosmische  Physik.  •  12 


178 


Physik  des  Himmels. 


unbewaffnetem  Auge  bemerken  kann,  dunkle  unregelmässig  ausgebreitete 
Flecke  vor.  Schon  früh  nannte  man  diese  dunklen  Stellen,  welche  im 
Gegensatz  zu  den  lichteren  Teilen  des  Mondes  relativ  frei  von  Un- 
ebenheiten sind,  „Meere".    Sie   befinden   sich   zum   überwiegenden  Teil 


E 


N 


S 
Fig.  53.    Der  Mond. 


auf  der  Südseite  des  Mondes.  Von  diesen  „Meeren"  breiten  sich  zu  den 
Seiten  weniger  dunkle  „Buchten",  „Seen"  und  „Sümpfe"  („Palus")  aus. 
Obgleich  man  jetzt  nicht  mehr  glaubt,  dass  diese  Meere  von  Wasser 
erfüllt  sind,  so  haben  sie  doch  viele  Ähnlichkeiten  mit  dem  Boden  eines 
Meeres  auf  der  Erde.    Ihr  mittlerer  und  überwiegender  Teil  ist  konvex 


IV.  Die  Planeten,  ihre  Satelliten  und  die  Kometen.  j79 

und  beinahe  ausschliesslich  an  ihren  Kändern  kommen,  wie  bei  den  ir- 
dischen Meeresböden,  konkave  Teile  vor.  Man  hat  deshalb  eine  ähnliche 
Bildung'sweise  der  „Mondmeere"  wie  der  Meere  auf  der  Erde  anzunehmen. 
Durch  die  allmähliche  Zusammenziehung  des  Mondinnern  mussten  J]in- 
sttirze  vorkommen,  welche  die  Bildung  der  Meere  veranlassten. 

Die  charakteristischsten  Erscheinungen  auf  dem  Monde  sind  die 
stark  entwickelten  Ringgebirge,  welche  unseren  Vulkanen  entsprechen. 
Am  nächsten  scheinen  die  Mondvulkane  in  ihrer  Thätigkeitszeit  den 
Lavaseen  Mauna  Kea  und  Mauna  Loa  auf  Havaii  entsprochen  zu  haben. 
Sie  sind  von  bedeutend  grösseren  Dimensionen  als  die  irdischen  Vulkane. 
Es  giebt  Wallebenen,  wie  Clavius,  Maginus  u.  s.  w.,  von  über  200  km 
Durchmesser  und  Kraterchen  von  etwa  1  km  Durchmesser.  Die  Eing- 
gebirge  haben  im  Mittel  etwa  40—80  km  Durchmesser.  Von  solchen  f 
giebt  es  mehrere  Hunderte,  von  Kratern  viele  Tausende  auf  dem  Monde. 
Besonders  ist  die  Höhe  der  Mondberge,  nach  dem  Schatten,  den  sie 
werfen,  bedeutender  als  auf  der  Erde.  Der  höchste  gemessene  Ringberg, 
Curtius,  nahe  dem  Südpol,  erhebt  sich  teilweise  über  die  umschlossene 
Fläche  mit  etwa  8000  m.  Die  Wälle  der  grossen  Ringgebirge  erreichen 
etwa  4000  m  Höhe  über  der  Umgebung.  Die  grosse  Unebenheit  der 
Mondoberfiäche  rührt  wohl  daher,  dass  auf  dem  Monde  kein  Wasser  vor- 
handen gewesen  ist,  um  die  Erhöhungen  abzutragen.  Jedenfalls  müssen  die 
Vulkane  auf  dem  Monde  einst  viele  Gase  und  auch  Wasserdampf  ausge- 
schleudert haben,  welche  jetzt  von  dort  so  gut  wie  gänzlich  verschwunden 
sind.  Auf  die  einstige  Anwesenheit  einer  Atmosphäre  deuten  mehrere 
Umstände,  unter  anderem  das  Vorfinden  von  Staubmassen,  die  man  als 
vulkanische  Asche  gedeutet  hat,  in  Entfernungen  von  gegen  tausend  Kilo- 
metern von  ihren  Ausbruchsstellen.  Diesen  langen  Weg  sind  allem  An- 
schein nach  die  Aschen  von  dem  Winde  getragen  worden.  Auch  die  Rillen, 
schmale  bis  zu  mehreren  hundert  Kilometer  lange  Schluchten,  welche 
Wälle,  Berge  und  Niederungen  ohne  Hinsicht  auf  die  Topographie  durch- 
setzen, bieten  einige  Ähnlichkeiten  mit  alten  Flussbetten,  obgleich  sie 
auch  in  vielen  Beziehungen  davon  abweichen.  Diese  Umstände  machen 
es  fraglich,  ob  jede  Spur  einer  Atmosphäre  jetzt  von  unserem  Satelliten 
verschwunden  sein  kann.  Natürlicherweise  kann  man  nichts  anderes 
behaupten,  als  dass  die  Mondatmosphäre  eine  gewisse  Grösse  nicht  über- 
steigen kann.  Man  schätzt  diese  Grösse  jetzt  zu  etwa  2  mm  Quecksilber 
(Vioo  der  Erdatmosphäre). 

Eine  Frage  von  grossem  Interesse,   welche  in  letzterer  Zeit  mehr- 
fach diskutiert  worden  ist,  ist  diejenige,  ob  Veränderungen  auf  der  Mond- 

•  12* 


IgQ  Physik  des  Himmels. 

Oberfläche  jetzt  noch  vorkommen.  Sehr  eigentümlich  in  dieser  Beziehimg 
ist  die  Beobachtung  von  Klein,  welcher  1877  einen  neuen  Krater  in  der 
Nähe  von  (dem  in  der  Mitte  der  Mondscheibe  gelegenen  Krater)  Hygi- 
nus  entdeckte.  Nachdem  diese  Gegend  sich  besondere  Aufmerksamkeit 
zugezogen  hat,  sind  daselbst  zwei  neuentstandene  Rillen  aufgefunden 
worden  (22.  Januar  1896),  welche  „unmöglich  hätten  übersehen  werden 
können,  wenn  sie  (bei  der  Beobachtung)  am  10.  Juni  1894  bereits  vor- 
handen gewesen  wären".  Es  giebt  viele  andere  ähnliche  Beispiele.  Es 
wäre  nicht  undenkbar,  dass  die  kolossalen  Temperaturschwankungen, 
welche  die  Oberflächenteile  des  Mondes  in  der  Nähe  des  Äquators  ein- 
mal im  Monat  erleiden  —  die  Schwankung  kann  unter  Umständen  bis 
gegen  300*^  C.  erreichen  —  das  Entstehen  von  Rissen  begünstigt,  wo- 
durch allmählich  tiefer  greifende  Veränderungen  veranlasst  werden 
könnten.  Die  Gegenden,  wo  man  Veränderungen  beobachtet  zu  haben 
glaubt,  sind  wirklich  in  der  Nähe  des  Äquators  gelegen. 

Die  Abwesenheit  von  Wasser  giebt  sich  auch  dadurch  kimd, 
dass  eigentliche  Gebirgsketten  auf  dem  Monde  relativ  selten  sind,  — 
die  einzige  Bildung,  welche  diesen  Namen  in  höherem  Grade  verdient, 
ist  die  Apenninenkette  (in  der  Mitte  der  Nordhälfte).  Die  Gebirgs- 
ketten auf  der  Erde  werden  nämlich  unter  normalen  Umständen  durch 
die  Wirkung  des  Wassers  aus  einer  Hochebene  herausmodelliert.  Die 
Mondberge,  welche  alle  vulkanischen  Ursprung  verraten,  besitzen  auch 
im  allgemeinen  viel  steilere  Wände  als  die  entsprechenden  Gebilde  auf 
der  Erde,  sie  sind  nicht  durch  die  Wirkung  des  Wassers  abgetragen 
worden. 

Eine  sehr  eigentümliche  Bildung  findet  sich  in  den  Strahlensystemen 
vor.  Die  beiden  bedeutendsten  Strahlensysteme  gehen  von  den  Ring- 
gebirgen Tycho  (links  am  Südpol)  und  Copernikus  (links  unten  von  den 
Apenninen)  aus.  Diese  Strahlen,  die  ganz  geradlinig  verlaufen,  ohne  Rück- 
sicht auf  die  Topographie  des  Mondes,  bestehen  nicht  in  Erhebungen 
oder  Vertiefungen  in  der  Mondkruste,  sondern  nur  aus  einem  hel- 
leren Material  als  die  Umgebungen.  Ihre  Entstehung  erscheint  sehr 
rätselhaft.  Meistens  hält  man  dieselben  für  Sprünge,  die  durch  eine 
hellere  Substanz  eruptiver  Art  ausgefüllt  worden  sind. 

Aus  seinen  Beobachtungen  über  das  vom  Mondkörper  reflektierte 
Licht  hat  Langley  geschlossen,  dass  die  Gesteinsarten  des  Mondes 
einen  gelblich -grauen  Ton,  demjenigen  gewisser  Sandsteine  ähnlich, 
besitzen.  Nach  den  Untersuchungen  von  Landerer  über  den  Po- 
larisationswinkel   der    Mondesgesteine    sollen     dieselben     mit     vulka- 


IV.  Die  Planeten,  ihre  Satelliten  und  die  Kometen.  Igl 

nischen  Gesteinsarten  wie  Obsidian  und   besonders  Vitrophyr  Ähnlich- 
keit zeigen. 

Der  Merkur  und  die  Venus.  Schiaparelli  fand  bei  seinen  Unter- 
suchungen, dass  diese  beiden  Planeten  immer  dieselbe  Seite  der  Sonne 
zukehren.  Er  kam  zu  diesem  Schluss  aus  der  Beobachtung  der  Flecke  auf 
diesen  Planeten.  Da  diese  Flecke  sehr  schwer  wahrnehmbare  Objekte 
sind,  ist  die  Ansicht  von  Schiaparelli,  besonders  betreffs  der  Umdrehung 
der  Venus  (Fig.  54)  vielfach  bestritten  worden,  fand  aber  später  allgemeine 
Anerkennung.  In  jüngster  Zeit  sind  die  Einwände  gegen  Schiaparelli 
wieder  schärfer  geworden.  Nach  den  Beobachtungen  von  Villiger  soll 
die  Umdrehungszeit  der  Venus  23^57^^36^  betragen.  Die  auf  konstanten 
Stellen  in  Bezug  auf  die  Sonne  belegenen  Flecke  sollten  nicht  reell, 
sondern  durch  die  Beleuchtung  hervorgerufen  sein.  Auch  für  den 
Merkur  wollten  einige  Astronomen  eine  kurze  Kotationsdauer  annehmen 
(etwa  1,5  Tage  nach  Leo  Brenner). 

In  der  That  muss  zugegeben  werden,  dass  die  starke  Wolken- 
bildung auf  der  Venus,  ebenso  wie  das  Vorkommen  von  merklichen 
Mengen  von  Wasserdampf  in  ihrer  Atmosphäre  sehr  gegen  Schiapa- 
rellis  Ansichten  spricht.  Denn  nach  dieser  müsste  die  nicht  beleuchtete 
Seite  der  Venus  mehr  als  hundert  Grad  unter  dem  Nullpunkt  abgekühlt 
sein.  Zu  diesen  Stellen  hin  müsste  sich  aller  Wasserdampf  kondensieren 
und  kein  merklicher  Teil  davon  in  der  Atmosphäre  als  Dampf  oder  in 
Wolken  niedergeschlagen  vorhanden  sein  (Antoniadi). 

In  allerjüngster  Zeit  hat  auch  Bjelopolsky  aus  den  Verschiebungen 
der  Spektrallinien  im  Venuslicht  auf  eine  Umdrehungszeit  von  etwa  24^^ 
geschlossen. 

Eine  sehr  eigentümliche  Erscheinung,  welche  auf  der  Venusscheibe 
mehrmals  wahrgenommen  wurde,  ist  ein  bläulicher  Schimmer,  welcher 
gelegentlich  die  Nachtseite  dieses  Planeten  erhellt,  ungefähr  wie  das 
aschenfarbene  Licht  den  von  der  Sonne  nicht  beleuchteten  Teil  des 
Mondes  uns  sichtbar  macht.  Während  nun  das  aschenfarbene  Licht 
des  Mondes  als  von  der  Erde  reflektiert  angesehen  wird,  kann  eine 
gleichartige  Erklärung  für  das  bläuliche  Licht  der  Venus  nicht  auf- 
gefunden werden,  da  in  der  Nähe  dieses  Planeten  kein  anderer  Himmels- 
körper vorkommt,  der  auf  ihn  so  viel  Sonnenlicht  zurückstrahlen  könnte. 
Man  hat  deshalb  schon  lange  daran  gedacht,  dass  dieses  Licht  derselben 
Natur  sei,  wie  unsere  Polarlichter.  Es  tritt,  wie  dies,  zu  unregelmässigen 
Zeiten  auf  und  verschwindet  dazwischen.  Nach  einigen  Beobachtungen 
(von  Vogel  und  Lohse)  soll  sich  dieser  Schein  nicht  über  die  ganze  Nacht- 


182 


Physik  des  Himmels. 


Fig.  54.  Venus  im  Jahre  1897,  beobachtet  zu  Juvisy.  1.  Juni  11.,  2.  Juni  23., 
3.  Juli  12.,  5.  6.  und  7.  Juli  14.  (nach  Zeichnungen  von  Antoniadi,  Mathieu 
und   Flammarion),    8.  Juli  24.,   9.  August  30.    Die  Zeichnungen  1—5    und  8—9 

sind  von  Antoniadi. 


N 


|fc  IV.  Die  Planeten,  ihre  Satelliten  und  die  Kometen.  183 


Seite  ausbreiten,  sondern  sich  nur  bis  30—40^  von  der  Beleuchtungs- 
grenze (sogenanntem  Terminator)  erstrecken.  Es  muss  zugegeben  werden, 
dass  die  modernen  Ansichten  über  die  Natur  der  Polarlichter  sehr  zu 
Gunsten  dieser  Deutung  sprechen. 

Mars.  Wenn  unsere  Kenntnisse  über  die  inneren  Planeten  sehr 
gering  sind,  so  trifft  dies  nicht  mehr  für  Mars  zu.  Der  Unterschied 
rührt  von  zwei  Umständen  her.  Teils  kehrt  Mars  seine  beleuchtete  Seite 
der  Erde  zu,  wenn  er  am  nächsten  der  Erde  steht,  während  das  umge- 
kehrte für  die  inneren  Planeten,  Merkur  und  Venus,  stattfindet;  teils 
ist  die  Atmosphäre  von  Mars  ungewöhnlich  durchsichtig.  Dadurch  treten 
die  Details  auf  der  Marsoberfläche  sehr  deutlich  hervor,  so  dass  die  Ro- 
tationszeit genau  bestimmt  werden  konnte.  Sie  ist  sehr  nahe  gleich 
derjenigen  der  Erde  und  übertrifft  sie  mit  37  Min.  22,65  Sek. 

Unter  den  auffallendsten  Objekten  auf  der  Marsoberfläche  ist  die 
Stundenglas-See  („Syrtis  major"  von  Schiaparelli,  „Mer  du  Sablier" 
von  Plammarion),  welche  schon  im  Jahre  1659  von  Huyghens  ge- 
zeichnet wurde.  Sie  bildet  eine  triangelförmige  Figur  mit  der  Spitze 
nach  unten  (Norden).  Von  dieser  See  mit  Umgebungen  enthält  Fig.  55 
vier  Zeichnungen  aus  den  Jahren  1888 — 1896.  Diese  zeigen,  wie  ver- 
änderlich die  Details  auf  der  Marsoberfläche  sind.  Besonders  deutlich 
tritt  die  Verdoppelung  der  Kanäle  hervor.  Ein  anderes  auffälliges  Ob- 
jekt auf  der  Marsoberfläche  ist  das  unter  dem  südlichen  Wendekreis 
90^  östl.  L.  belegene  „Auge"  („Lacus  Solis"  von  Schiaparelli,  „Mer 
de  Terby"  von  Flammarion).  Fig.  56  giebt  die  Marskarte  nach  Flam- 
marions  Zeichnung  wieder. 

Die  eigentümlichsten  Objekte  auf  der  Marsoberfläche  sind  die  Polar- 
kappen von  weisser  Farbe,  welche  schon  von  Huyghens  und  Maraldi 
(1704)  gesehen  wurden.  Herschel  machte  ferner  die  auffallende  Ent- 
deckung, dass  diese  Kappen  wechselweise  ab-  und  zunehmen,  so  dass 
die  Kappe  um  den  Pol  herum  zunimmt,  wenn  er  Winter  hat,  d.  h.  von 
der  Sonne  abgewendet  ist.  Herschel  war  deshalb  schon  der  Ansicht, 
dass  diese  Polarkappen  von  einer  Schneebedeckung  der  Polargegenden 
herrühren,  welche  sich  im  Winter  zu  tieferen  Breiten  ausdehnt.  Die 
grösste  Ausdehnung  der  Polarflecke  beträgt  60— 70^  die  geringste  einige 
Grad.  Bisweilen  verschwindet  die  Polarkappe  gänzlich,  wie  der  Süd- 
polarfleck im  Jahre  1894.  Bei  der  Abnahme  der  Polarflecke  bleibt  nicht 
immer  der  letzte  Rest  rund  um  den  Pol  gehäuft,  so  dass  bisweilen  der 
Pol  unbedeckt  sein  kann,  während  in  seiner  Nähe  Schnee  liegen  bleibt. 
Um  einen  Begriff  zu  geben,  wie  schnell  die  Polarkappen  abthauen,  mögen 


184 


Physik  des  Himmels. 


einige  Beobachtungen  über  die  Ausdehnung  der  nördlichen  Polarkappe 
mitgeteilt  werden.  Es  bedeutet  a  den  Winkel,  welchen  der  Durchmesser  d 
der  Polarkappe  einnimmt,  h  ist  die  Höhe  der  Sonne  über  dem  Nordpol, 
t  die  Anzahl  Tage  vor  dem  Sommersolstitium. 


Fig.  55.     Die  Stundenglas-See   (Schiaparellis   Syrtis   major)    nach   Zeichnungen 
von  Schiaparelli    1888  Juni  2   und  1890  Juni  20,    Lowell   Oktober  1898  und 

Phillips  1896  Dezember  3. 


1898/99  ad  h  t 

22.  Okt 60^     3540  km  —  3,2«  220 

18.  Nov 56      3300     „  +  2,4  193 

22.  Dez 43       2540     „  9,2  159 

28.  Jan 43       2540     „  15,6  122 


IV.  Die  Planeten,  ihre  Satelliten  und  die  Kometen.  |§5 

1898/99                             ad  '      h  t 

24.  Febr 42   2480  km  19,4  95 

14.  März 35   2060  „  21,4  77 

2.  April 33       1950     „  23,4  58 

19.  April- 30       1770     „  24,3  41 

Im  allgemeinen  wird  die  ganze  Farbe  der  Winterseite  von  Mars 
heller  und  bietet  weniger  Einzelheiten,  die  Farbe  der  Sommerhälfte 
dunkler  sowohl  betreffs  der  „Festlande"  wie  der  „Meere",  wovon  unten 
die  Rede  sein  wird. 

Wenn  die  Polarflecke  des  Mars  im  Sommer  bisweilen  gänzlich  ver- 
schwinden, während  dies  auf  der  Erde  nie  geschieht,  so  kann  dies  durch 
zwei  Umstände  bedingt  sein.  Teils  kann  dort  das  Klima  milder  sein  als 
hier,  teils  können  die  Anhäufungen  von  Schneemassen  unbedeutender  sein 
als  bei  uns.  Das  letzte  trifft  wahrscheinlicherweise  zu,  weil  auf  Mars 
viel  weniger  Wasserdampf  in  der  Atmosphäre  vorkommt  als  auf  der 
Erde,  und  folglich  die  Kondensationen  relativ  unbedeutend  sind.  Dazu 
kommt,  dass  die  Neigung  der  Marsachse  etwas  grösser  ist  als  diejenige 
der  Erdachse,  wodurch  die  Marspole  im  Sommer  relativ  mehr  Wärme 
erhalten,  als  wenn  die  Neigung  geringer  wäre.  Noch  mehr  trägt  zu 
diesem  Resultate  die  Durchsichtigkeit  und  Wolkenlosigkeit  der  Mars- 
atmosphäre bei,  wodurch  die  Sonnenstrahlen  bis  zur  Marsoberfläche  ge- 
langen und  direkt  zur  Schneeschmelzung  beitragen,  während  sie  auf  der 
Erde  zum  weitaus  grössten  Teil  von  Wolken  aufgefangen  und  zu  ihrer 
Schmelzung  oder  Verdampfung  verbraucht  oder  reflektiert  werden. 

Man  hat  häufig  behauptet,  dass  es  unmöglich  Wasser  sein  könnte, 
welches  sich  zu  Schnee  um  den  Marspolen  kondensierte,  da  er  wegen 
seiner  grossen  Entfernung  von  der  Sonne,  nur  %  der  auf  die  Erde 
fallenden  Sonnenwärme  pro  Flächeneinheit  und  Zeiteinheit  erhält. 
Wenn  Mars  keine  schützenden  Gase  in  der  Atmosphäre  besässe,  würde 
auch  ohne  Zweifel  seine  Temperatur  nirgends  den  Gefrierpunkt  des 
Wassers  übersteigen.  Es  ist  aber  sehr  wohl  denkbar,  wie  oben  erwiesen 
wurde,  dass  durch  einen  Gehalt  an  Kohlensäure  (von  ein  paar  Pro- 
zenten) die  mittlere  Temperatur  des  Mars  ebenso  hoch  ausfallen  kann,, 
wie  diejenige  der  Erde.  Dadurch  wird  auch  der  Unterschied  zwischen 
den  Temperaturen  an  verschiedenen  Breitegraden  vermindert.  Dieser 
Umstand  trägt  auch  etwas  dazu  bei,  dass  die  Kondensationen  von  Wasser- 
dampf geringer  und  die  Winde  auf  Mars  schwächer  sind  als  auf  der 
Erde,  wodurch  die  Schneeanhäufungen  an  den  Polen  vermindert  werden. 


186 


Physik  des  Himmels. 


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IV.  Die  Planeten,  ihre  Satelliten  und  die  Kometen.  Ig7 

Einige  Forscher  haben  geglaubt,  dass  die  „Schneebedeclningen"  an  den 
Polen  von  fester  Kohlensäure  herrühren.  Damit  diese  sich  bei  dorn 
niederen  Drucke  auf  Mars  kondensiert,  muss  die  Temperatur  unter  etwa 
—  90^  C.  liegen.  Aber  man  kann  nicht  gern  annehmen,  dass  die  Mars- 
atmosphäre aus  lauter  Kohlensäure  besteht.  Die  Erdatmosphäre  enthält 
etwa  0,05  Proz.  Kohlensäure,  man  kann  demnach  kaum  mehr  als  2,5  Proz. 
Kohlensäure  in  der  Marsatmosphäre  annehmen.  Dann  würde  der  Kon- 
densationspunkt bei  etwa  —  140^  C.  liegen.  Wenn  nun  die  Verhältnisse 
wie  auf  der  Erde  sonst  wären,  würde  die  Temperatur  des  Mars  doch 
etwa  —  40^  C.  sein.  Die  Schwierigkeiten  würden  also  durch  die  Kohlen- 
säureschnee-Hypothese nicht  verringert  werden,  besonders  wenn  man 
ins  Auge  fasst,  dass  der  Polarschnee  des  Mars  offenbar  schmilzt  und 
die  daraus  entstandene  Flüssigkeit  die  nächstliegenden  Gegenden  über- 
flutet. Und  flüssige  Kohlensäure  kann  nicht  unter  niedrigerem  Druck 
als  etwa  4  Atmosphären  bestehen,  ist  also  auf  Mars  undenkbar. 

Die  Wolken,  aus  welchen  diese  Schneemassen  herunterfallen,  hat 
man  bisweilen  in  Form  von  Trübungen  beobachtet.  Sie  sind  jedenfalls 
sehr  selten.  Den  Mangel  an  Wolkenbildung  in  der  Marsatmosphäre 
setzt  Ekholm  in  Zusammenhang  mit  der  geringen  Schwerkraft  auf 
Mars  (0,37  mal  derjenigen  auf  der  Erde).  Demzufolge  ist  die  prozen- 
tische Abnahme  des  Luftdmckes  mit  steigender  Höhe  (wenn  die  Luft 
wie  auf  der  Erde  zum  grössten  Teil  aus  Stickstoff  besteht)  auf  Mars 
2,7  mal  langsamer  als  auf  der  Erde  und  infolgedessen  werden  die  auf- 
steigenden Luftströme,  welche  durch  ihre  Abkühlung  zu  Wolkenbildung 
Anlass  geben,  bei  weitem  nicht  so  schnell  wie  bei  uns  ihre  Wärme 
verlieren.  Kurzdauernde  weisse  Flecke  sieht  man  gelegentlich  auf 
der  Marsoberfläche  bis  zum  Äquator.  In  vielen  Fällen  erscheinen  diese 
weissen  Flecke  an  bestimmten  Stellen,  die  ihre  rötliche  Farbe  in  weiss 
tauschen,  um  nach  einigen  Tagen  ihre  alte  Farbe  zurückzunehmen.  Man 
bekommt  die  deutliche  Vorstellung,  dass  Schneeböen  die  genannten  Gegen- 
den mit  Schnee  überschütten,  und  dass  die  dabei  bevorzugten  Stellen 
Erhebungen  an  der  Marsoberfläche  kennzeichnen.  Solche  Erhebungen 
hat  man  auch,  wie  am  Mond,  dadurch  aufgefunden,  dass  die  Grenze 
zwischen  der  hellen  und  dunklen  Seite  des  Planeten  (der  Terminator)  nicht 
ganz  eben  und  bogenförmig  aussieht,  sondern  helle  Ausbuchtungen  aufweist. 
Dieselben  kommen  nur  in  den  lederfarbenen  Gegenden  vor,  welche  man 
sich  als  festes  Land  vorstellt.  Ebenso  finden  sich  daselbst  Thälem  ent- 
sprechende Einbiegungen.  Diese  Gebilde  sind  zu  dauerhaft,  um  als 
Wolkenbildungen  angesehen  zu  werden.    Sie  erscheinen  wieder  an  den- 


18S 


Physik  des  Himmels. 


selben  Stellen,  wenn  man  die  Marsobertläche  bei  der  nächsten  Opposi- 
tion beobachtet.  Man  hat  berechnet,  dass  zur  Erklärung  einer  solchen 
Beobachtung  die  Annahme  einer  Bergkette  von  140  km  Länge  und  3  km 
Höhe  genügen  würde. 

Eine  sehr  eigentümliche  und  interessante  Beobachtung  machte  Schia- 


Fig.  57.    Helle  Streifen  vom  Nordpol  des  Mars  ausgehend  nach  einer  Zeichnung 

von  Schiaparelli  1882. 

parelli  1882  (vgL  Fig.  57).  Von  dem  Nordpole  gingen  mehrere  weisse 
Streifen  nach  dem  Süden  mit  starker  Ablenkung  nach  rechts  hinaus.  Dies 
war  im  Winterhalbjahr.  Als  dann  die  Sonne  höher  stieg,  verschwanden 
allmählich  die  weissen  Streifen.  Die  Streifen  gingen  von  Vorsprüngen 
an  der  Nordpolarkalotte  aus.  Wenn  von  diesen  Vorsprüngen  ein  kühler 
Wind  ausgegangen  wäre,  würden  die  Luftteüchen  in  diesem  Winde  zu- 


IV.  Dio  rianoten,  ihre  Satnllitdti  utnl  dio  Komet-int.  189 

fol^c  (Inr  Achsonuindn^lnin^'  drs  IMaiictcn  Holdiif  ^jrdn'liir  Hiiliiicn  bn- 
schrirlx'ii  liiibcn,  wio  sie  von  den  w«aHH('n  Ht-r(üf<m  dur«:(mkdli  nind.  Muri 
l»rk(miinl  innvillkürlic-h  dio  Vorstidhin)?,  dasH  kohb?  Windo  von  don  nUd- 
lichstcn  Sli'llcfi  der  Nor<l|Md}irkaloU(i  liinmis^'cfloHHon  Hind,  um  in  ddri 
inildorrn  IjuftstriclKfn  KondcnsjitiuiKUi  horvorztibringon,  wodurch  Hcbnne- 
ni('d<irs(hlii^(i  iiliif^H  don  Windbiibncn  v^TurHucht  sind. 

Zwischen  den  weissen  Pohirfbioknn  sieht  man  auf  der  MarHoberlllUho 
eine    Mon^o    von    oi^(mtnmlich(!n  I)«!tails.     KOtlich-g^dbc«   hcUc.  I'arti(!«!n 
W(M'hseln  mit  l)ljlnli(h-<,'r;Mien  diinkb'njn  ab.    Dir;  dirnkb-ron  St<dlon  hält 
man   für   Moore,   die   hidifinsn   t(ir    festes    Land.     Wi(!    auf    der    Kuh 
sind    die  Meere    hauptsächlich    auf    d(jn   Südt(5il    des    Himmelskörper» 
verlegt  (vgl.  Fig.  56).  Das  einzige;  grosse  Mof^r  bedec^kt  die  ȟdliche  cir- 
cumpolarc  Gegend.    Anf  der  nördliclxri  Kilhku^«  I   kommen  nur  Seen 
und   dieselben  verbindende  Kanäle  vor.    Den  verschicdf^ncn  I^and-    und 
Mec^respartien  hat  man  Namen  erteilt,   die  hauptsächlich  ans  der  ÜeAf 
graphie  der  alten  Welt   geholt  sind.    Sehr  eigentümlich  ist,   das»   die 
Farbe  nicht  konstant  bleibt;  wie  oben  bemerkt,  schwellen  die  dnnklen 
Partieen  zur  Zeit  der  S(;hneeschmelze  an  den  Polen  an,  di(5  hellen   da- 
ircgen  wachsen  während  der  Winter/eit.  Dies  kann  ho  weit  gehen,  das« 
nicht  nur  Kontinente  von  Kanälen  durchquert  werden  odf^r  ganze  Fest- 
länder zu  Seen  werden,  -sondern  Seen  auch  durch  gelbgefärbtc  Wälle  in 
zwei  oder  mehrere  kleine  Teile  zergliedert  oder  sogar   gänzlich   aus- 
getrocknet werden.    Alles  dies  deutet  darauf  hin,  davSS  der  gr/isste  Teil 
fies  Festlandes  von  Mars  aus  Niederungen  besteht,  welche  bei  den  See- 
schmelzen  von  sehr  dttnnen  Wasserschichten  bedeckt  werden,  die  ziem- 
lich leicht  verdunsten.     Man  hat  im  Anschlnss   an  diese  Thuimehe 
das  Klima  auf  Mars  als  sehr  gleichförmig  anzusehen  mit  einer  Tem- 
peratur, die  den  Gefrierpunkt  des  Wassers  nur  wenig  überschreitet  Da» 
Wasser  hat  längst  die  grösseren  Unebenheiten  abgetragen  und  die  grdssten 
Partieen  der  Oberfläche  zu  sehr  niederem  Flachland  anggehüdet,  welche» 
von    sehr    seichten,    ausgedehnten    Wasserbecken,    die    leicht  gefdllt 
werden  cjder  austrocknen,  umgeben  ist  Das  meiste  Wawer  fet  durch  Ver- 
witterung (Hydratisierung)  gebunden  worden,  so  dass  nur  sehr  wenig 
noch  in  flflssiger  oder  Gasform  Torfaanden  ist*    Die  geringen  Waiser- 
mengen,  die  noch  fihrig  sind,  besitzen  nur  wenig  Kraft,  die  Demida^ 
tion  weiter  zu  fuhren.    Ebenso  wie  das  Klima  zwl«fchen  den  Polen  mid 
Äquator  sehr  wenig  versehieden  wt,  so  treten  die  Untersduede  zwischen 
«>mmer  und  Winter  und   besondeis   zwischen  Tag  vaä  Kadit  fehr 
tark  zurück«     Dies  hängt  mil  dai  w&naesdißtoaiäm  ISI^eumhMm 


190  Physik  des  Himmels, 

der  Atmosphäre  auf  das  innigste  zusammen.  Da  die  Excentricität  der 
Marsbahn  beinahe  sechsmal  grösser  als  diejenige  der  Erde  und  die  Nei- 
gung der  Achse  gegen  die  Ekliptik  grösser  als  für  die  Erde  ist  (27'^ 
anstatt  23 V2^)?  so  würde  für  diejenige  Halbkugel,  welche  Sommer  in 
der  Nähe  des  Perihels  (Sonnennähe)  besitzt  (der  Südpol),  sonst  ein 
starker  Unterschied  der  Temperatur  zwischen  Sommer  und  Winter 
herrschen. 

In  dieser  Beziehung  möge  es  bemerkt  werden,  dass  man  hier  ein  aus- 
gezeichnetes Beispiel  für  die  Unzulänglichkeit  der  Groll  sehen  Theorie  be- 
sitzt, denn  diese  Theorie  verlangt,  dass  der  genannte  Pol  eine  Eiszeit 
besässe,  d.  h.  viel  kälter  und  stärker  vereist  wie  der  Nordpol  sein  mtisste. 

Zufolge  des  geringen  Temperaturunterschiedes  zwischen  Tag  und  Nacht 
geht  der  grösste  Teil  der  Fähigkeit  des  Wassers,  Felsen  zu  demolieren,  ver- 
loren. Wegen  den  geringen  Wassermengen  können  nur  verschwindend  kleine 
Mengen  von  Calciumbicarbonat  in  dem  Wasser  gelöst  und  zum  Meer  aus- 
gespült werden.  Die  Kohlensäure  wird  nach  kurzer  Frist  aus  dem  Bicar- 
bonat  freigemacht  (durch  die  Wirkung  von  Seetieren  und  -pflanzen,  wenn 
solche  existieren).  Das  ganze  Land  ist  mit  sedimentären  Ausfällungen 
bedeckt,  sodass  keine  Kohlensäure  zur  Verwitterung  von  Urgesteinen 
verwendet  wird.  Die  Kohlensäuremengen,  welche  durch  Meteore  (oder 
vielleicht  noch  vorhandene  Spuren  von  Vulkanismus)  zugeführt  werden, 
können  zum  grössten  Teil  erhalten  bleiben,  sodass  dadurch  ein  grösserer 
Kohlensäuregehalt  des  Mars  erklärlich  wird. 

Im  allgemeinen  kann  man  behaupten,  dass  die  Veränderungen  auf 
Mars  höchst  unbedeutend  sind,  und  dass  dieser  Planet  sich  gewisser- 
maassen  in  einem  hohen  Alter  befindet.  Es  ist  jedoch  ein  grosses  Inter- 
vall zurückzulegen,  bis  Mars  so  weit  gekommen  ist,  wie  unser  Mond. 
Als  Gegensatz  von  Mars  kann  die  Venus  betrachtet  werden  (wenn  nicht 
die  Ansicht  von  Schiaparelli  sich  bewährt).  Auf  Mars  eine  ausser- 
ordentliche Haushaltung  mit  den  geringen  Wärmemitteln,  die  von  der 
Sonne  auf  diesen  Planet  gespendet  werden;  auf  Venus  dagegen  eine 
hochgradige  Verschwendung  durch  den  grossen  Albedo. 

Sehr  viele  Diskussionen  haben  die  Kanäle  auf  Mars  verursacht.  Bei 
einigen  Gclngenheiten  erscheinen  dieselben  verdoppelt  (vgl.  Fig.  55).  Wie 
diese  Eigentümlichkeit  zu  erklären  ist,  bleibt  wohl  noch  lange  ein  Rätsel. 
Die  Kanäle  laufen  ganz  schnurgerade  und  enden  in  Seen.  Dieser  Umstand 
hat  sogar  den  Gedanken  aufkommen  lassen,  dass  dieselben  Produkte  von  ; 
intelligenten  Wesen  seien.  Da  aber  die  Kanäle,  um  sichtbar  zu  sein, 
wenigstens  60  km  breit  sein  müssen,   so   kann   diese  Frage   nicht  gern 


IV.  Die  Planeten,  ihre  Satelliten  und  die  Kometen. 


191 


unter  Diskussion  kommen.  Um  das  plötzliche  Auftreten  der  Seen  und 
Kanäle  zu  erklären,  hat  man  auch  angenommen,  dass  dieselben  nur  von 
Vegetation  bedeckten  Flecke  im  rötlich  gefärbten  Wüstengebiet  dar- 
stellen. Bei  der  Schneeschmelzung  füllen  sich  geradlinige  Graben  mit 
Wasser,   welches   zur  Bewässerung  der  umliegenden  Landstriche  dient. 

S 


w 


E 


N 

Fig.  58.  Jupiter  nach  einer  Zeichnung  von  N.  E.  Green,  17.  April  1885.  Die 
schwarze  Ovale  in  der  Nähe  vom  Äquator  ist  der  Schatten  des  zweiten  Jupiter- 
mondes.    Etwas  südlich  vom  Äquator  liegt  der  rote  Fleck,  umgeben  von  weissen 

Wolken. 


Diese  bedecken  sich  dabei  mit  Vegetation,  welche  die  rotgelbe  helle, 
Wüstenfarbe  in  eine  dunklere  bläuliche  Nuance  überführen.  Einige 
Forscher  (z.  B.  Cerulli)  versuchen  die  geradlinige  Form  der  Kanäle 
als  eine  subjektive  Erscheinung  zu  deuten. 

Jupiter  (Fig.  58).  Bei  diesem  Planeten  kann  man  leicht  eine  Abplat- 
tung wahrnehmen,  die  bei  den  früher  genannten  und  der  Sonne  nicht 


192  Physik  des  Himmels. 

beobachtet  werden  kann.  Es  hängt  dies  von  der  erheblichen  Grösse  der 
Centrifugalkraft  auf  diesem  Planeten  ab.  Sein  Durchmesser  ist  etwa 
elfmal  grösser  als  derjenige  der  Erde,  und  doch  geht  seine  Achsen- 
umdrehung in  kürzerer  Zeit  als  10  Stunden  vor  sich.  Mit  der  Sonne 
teilt  er  die  Eigenschaft,  dass  die  Rotationszeit  am  Äquator  kürzer  ist, 
als  näher  bei  den  Polen.  So  fand  z.  B.  Denning  folgende  Rotationsdauer: 

Für  Äquatorialflecke        9^  50*^  24,6^ 
„     Flecke     12—15^^  N  9  55    28,8 

25—300  N  9  55    29,8  —  9'^  55"^  53,5^. 
25— 30<>S   9  55     18,6 
40—500  S   9  55      9,2. 

Es  ist  also  eigentlich  der  Äquator,  welcher  sich  etwas  schneller  be- 
wegt wie  die  anderen  Teile,  welche  untereinander  ziemlich  gleich  schnell 
rotieren.  Die  Winkelgeschwindigkeit  scheint  wiederum  zu  den  Polen 
hin  etwas  beschleunigt  zu  werden,  im  Gegensatz  zu  den  Verhältnissen 
auf  der  Sonne.  Nach  diesen  Angaben  ist  die  Centrifugalkraft  am  Äquator 
des  Jupiter  etwa  70  mal  grösser  als  auf  der  Erde,  während  die  Schwere 
daselbst  nur  2,5  mal  diejenige  auf  der  Erde  übertrifft.  Es  ist  deshalb 
kein  Wunder,  dass  die  Abplattung  des  Jupiter  sich  sehr  bemerkt  macht. 
Die  Achsenlängen  verhalten  sich  wie  15:16.  Die  eine  Seite  bewegt  sich 
zu  uns,  die  andere  von  uns  mit  einer  Geschwindigkeit  von  12,4  km. 
Deslandres  hat  mit  Hilfe  des  Doppler  sehen  Prinzipes  aus  den  Ver- 
schiebungen der  Sonnenlinien  diese  Geschwindigkeit  gemessen  und  gleich 
11,8  km  gefunden.  In  dem  reflektierten  Licht  (von  einem  Planeten)  ist 
die  Linienverschiebung  zufolge  einer  bestimmten  Geschwindigkeit  doppelt 
so  gross,  wie  oben  (S.  29)  für  einen  selbstleuchtenden  Körper  berechnet 
wurde,  weil  wegen  der  Reflexion  der  Weg  des  Lichtstrahls  um  den 
doppelten  Betrag  der  Verschiebung  geändert  wird.  Eine  andere  Eigen- 
tümlichkeit, als  betreffs  der  Umdrehung,  teilt  Jupiter  mit  der  Sonne, 
indem  der  Planet  heller  in  seiner  Mitte  als  an  den  Seiten  erscheint. 
Man  kann  nämlich  nur  auf  diese  Weise  erklären,  dass  seine  Monde 
beim  Vorübergang  vor  der  Planetscheibe  an  deren  Seite  hell,  in  ihrer 
Mitte  dagegen  dunkel  erscheinen. 

Die  Oberfläche  des  Jupiter  zeigt  viele  Streifungen  die  parallel  dem 
Äquator  verlaufen,  deren  Helligkeit  und  Farbe  zwischen  gelblichweiss 
und  dunkelrötlich  wechseln.  Die  dunkleren  Streifen  zeigen  stärkere  Ab- 
sorptionsbänder als  die  helleren.    Man  sieht  also  bei  den  ersteren  tiefer 


IV.  Die  Planeten,  ihre  Satelliten  und  die  Kometen.  I93 

in  die  Atmosphäre  des  Jupiter  hinein,  d.  h.  die  reflektierenden  Bestand- 
teile (Wolken)  liegen  da  tiefer  als  in  den  helleren  Gebieten.  Es 
ist  offenbar  derselbe  Umstand,  welcher  veranlasst,  dass  die  Ränder  des 
Planeten  dunkler  erscheinen  als  die  Mitte  seiner  Scheibe.  Eigentümlich 
ist,  dass  Vogel  Helligkeits-  und  Spektralschwankungen  festgestellt  hat, 
welche  anzudeuten  scheinen,  dass  die  Wolkenbildung  (und  daraus  fol- 
gende Lichtreflexion),  wie  auf  der  Erde,  am  stärksten  ist,  wenn  die 
Sonnenthätigkeit  ihr  Maximum  hat.  Die  Streifen  haben  eine  ziemlich 
unveränderte  Lage.  Der  Äquator  ist  durch  einen  starken  hellen  Gürtel 
gekennzeichnet  (von  etwa  37000  km  Breite),  zu  dessen  beiden  Seiten  dunkle 
Bänder  liegen,  welchen  wiederum  hellere  und  dunklere  Streifen  folgen. 
Die  Polarkappen  sind  dunkel  und  zeigen  keine  Details.  Die  stark  ausge- 
prägte Parallelstreifung  der  Jupiterscheibe  hängt  ohne  Zweifel  mit  der 
starken  Geschwindigkeit  der 
Umdrehung  zusammen. 

Die  Flecke  des  Jupiter 
sind  am  stärksten  auf  der 
südlichen  Halbkugel  ausge- 
bildet (ebenso  wie  bei  der 
Sonne),  Unter  den  Flecken 
ist  der  eigentümlichste  und 
auffallendste  der  rote  Fleck 
vom  Jahre  1872,  der  erst 
recht  unansehnlich  war,  dann  pig.  59.    Der  rote  Fleck  auf  Jupiter, 

an  Schärfe  und  Deutlichkeit 

stark  zunahm  und  später  langsam  erblasste  (Fig.  59).  Sein  grösster  Durch- 
messer war  (5.  Sept.  1889)  etwa  30000  km.  Die  Wolken  entweichen  diesem 
Fleck.  Dies  deutet  darauf,  dass  der  rote  Fleck  eine  abgekühlte  Stelle  sei, 
zu  dem  ein  Luftstrom  wie  zu  den  Sonnenflecken  niedersinkt.  Wir  könnten 
deinnach  am  roten  Fleck  tiefer  in  die  Jupitermasse  hineinschauen  als  sonst 
wo.  Man  hat  früher  häufig  gemeint,  Jupiter  sende  eine  merkliche  Menge 
Eigenlicht  aus,  dies  steht  doch  mit  dem  Umstände  in  Widerspruch,  dass 
seine  Monde  dunkel  erscheinen,  sobald  sie  in  den  Kernschatten  des 
Planeten  eintreten. 

Die  dunklen  Bänder  Jupiters  scheinen  mit  einer  Periode  von  etwa 
12  Jahren  Farbe  zu  wechseln.  Wenn  die  Bänder  der  nördlichen  Halb- 
kugel tiefrot  sind,  sind  diejenigen  auf  der  südlichen  blass  und  gehen 
sogar  in  bläulich  über  und  umgekehrt.  Da  die  Umlaufszeit  des  Jupiter 
11,86  Jahre  beträgt,   steht   dieser  Farbenwechsel  wahrscheinlicherweise 

Airhenius,  Kosmische  Physik.  •  ••^^ 


194 


Physik  des  Himmels. 


mit  den  Jahreszeiten  in  Zusammenhang,  obgleich  die  Jupiterachse  sehr 
nahe  senkrecht  auf  die  Jupiterbahn  steht. 

Die  äussere  Erscheinung  des  Jupiter  ändert  sich  häufig  sehr  schnell 
dadurch,  dass  die  Wolken  in  seiner  Atmosphäre  sich  rasch  ver- 
schieben. Dies  kann  natürlicherweise  nicht  von  der  Wärmewirkung  der 
Sonne  abhängen,  da  sie  auf  dem  Jupiter  nur  V27  derjenigen  auf  der  Erde 
entspricht.  Die  Bewegungsursache  muss  also  im  Planeten  selbst  liegen. 
Aus  dem  Innern  dieses  Planeten  müssen  deshalb  bedeutende  Wärmemengen 
in  kurzer  Zeit  hinauftransportiert  werden.  Dies  könnte  nicht  gern  ein- 
treffen, wenn  der  Planet  eine  feste  Kruste  besässe.    Auch  seine  Dichte 


Fig.  60.     Saturn  im  Februar  1887  nach  F.  Terby. 

(0,24),  welche  derjenigen  der  Sonne  (0,25)  äusserst  nahe  kommt,  deutet 
darauf  hin,  dass  der  Aggregationszustand  des  Jupiter  ungefähr  derselbe 
ist,  wie  derjenige  der  Sonne,  d.  h.  gasförmig. 

Ob  Jupiter  noch  eigenes  Licht  aussendet,  kann  man  nicht  mit 
Sicherheit  sagen.  Es  ist  ja  immerhin  höchst  wahrscheinlich,  dass  die 
inneren  Teile  dieser  Gasmasse  stark  glühen.  Jedenfalls  strahlt  aber  nichts 
davon  durch  die  dicke  Wolkenhülle  hindurch,  denn,  wie  oben  gesagt, 
sobald  seine  Monde  in  den  Jupiterschatten  hineintreten,  entziehen  sie 
sich  der  Beobachtung  gänzlich. 

Saturn  (Fig.  60).  Dieser  Planet  ist,  abgesehen  von  seinem  eigentüm- 
lichen Ringensysteme,  dem  Jupiter  sehr  ähnlich,  sein  Albedo  ist  noch  etwas 
grösser  wie  derjenige  des  Jupiter  und  kommt  demjenigen  der  Venus 
sehr  nahe.  Seine  Abplattung  ist  wegen  der  geringen  Dichte  (Hälfte  der- 
jenigen von  Jupiter)  noch  grösser,  so  dass  sich  der  Polar-  zum  Aquatoriel- 
halbmesser  wie  9,7 :  10,7  verhält.  Sein  Durchmesser  (9,30  mal  derjenigen 
der  Erde)  erreicht  auch  fast  den  Jupiterdurchmesser  (11,06).    Die  Um- 


IV.  Die  Planeten,  ihre  Satelliten  und  die  Kometen.  I95 

laiifszeitcn  sind  auch  nahezu  gleich.  Aus  den  Bewegungen  der  Flecke 
dos  Saturn  bestimmt  man  die  Kotationszeit  zu  10^14,5"^  zwischen  17^  und 
37^  Breite,  zu  10^l3"*  also  1,5  Minuten  kürzer,  von  ß^n.Br.  bis  120  s.  Br. 
(am  Äquator).  Dies  entspricht  einer  Drehungsgeschwindigkeit  am  Äquator 
von  10,4  km  pro  Sek.,  während  aus  spektroskopischen  Messungen  10,3  km 
gefunden  wurden.  Infolge  dieser  grossen  Geschwindigkeit  bilden  sich 
ähnliche  mit  dem  Äquator  parallele  Streifen  wie  beim  Jupiter  aus.  Der 
äquatoriale  Streifen  ist  heller  gefärbt,  die  anderen  dunkler  rötlich.  Die 
Neigung  der  Äquatorialebene  gegen  die  Bahnebene  ist  ganz  bedeutend 
und  beträgt  28^.  Deshalb  werden  die  Jahreszeiten  während  des  29,5 
Jahre  umfassenden  Umlaufs  da  sehr  ausgeprägt  sein.  Her  schal  glaubte 
zu  bemerken,  dass  ein  Pol,  welcher  gerade  aus  der  15jährigen  Polar- 
nacht heraustritt,  heller  erscheint,  als  der  andere  Pol,  welcher  einen 
ebenso  langen  Sommer  genossen  hat.  Es  kann  diese  hellere  Farbe  der 
Pole  nach  der  Polarnacht  natürlicherweise  nicht  von  Eis-  und  Schnee- 
massen herrühren,  sondern  man  muss  annehmen,  dass  die  Wolkenbil- 
dung kräftiger  ist  auf  dem  aus  dem  Nachtdunkel  heraustretenden  Ge- 
biet, als  auf  den  längere  Zeit  beleuchteten  Teilen.  Da  die  Dichtigkeit 
des  Saturn  nur  die  Hälfte  derjenigen  von  Jupiter  erreicht,  so  scheint 
man  dem  Schluss  nicht  entgehen  zu  können,  dass  auch  Saturn  ganz  gas- 
förmig sei  und  wahrscheinlicherweise  heisser  wie  Jupiter. 

Die  eigentümlichste  Erscheinung  am  Saturn  ist  der  Ring,  welcher 
in  seiner  Aquatorialebene  liegt.  Wegen  der  starken  Neigung  dieser 
Ebene  gegen  die  Ekliptik,  welche  nur  um  2,5  ^  gegen  die  Bahn 
des  Saturn  geneigt  ist,  erscheint  der  Ring  unter  verschiedenen  Um- 
ständen sehr  verschieden.  Wenn  wir  denselben  von  der  scharfen  Kante 
sehen,  entzieht  er  sich  wegen  seiner  geringen  Dicke  der  Beobachtung; 
man  hat  seinen  Durchschnitt  zu  unter  100  km  geschätzt.  Wenn  der  Ring 
sehr  schräg  gegen  die  Sichtlinie  steht,  umgiebt  er  den  ganzen  Planeten 
mit  seinem  elliptischen  Umriss  (Fig.  60).  Davon  rühren  die  grossen  Ver- 
änderungen im  Aussehen  dieses  Planeten  her,  welche  dem  ersten  Beob- 
achter desselben,  Galilei,  so  sonderbar  vorkamen,  dass  er  an  der  Richtig- 
keit seiner  Beobachtungen  und  der  Anwendbarkeit  seines  Fernrohres 
zweifelte.  Er  soll  sogar  längere  Zeit  den  Saturn  nicht  haben  beobachten 
wollen.    Die  Lösung  der  Rätsel  fand  Huyghens  um  1655. 

Die  Dimensionen  des  Ringes  und  seiner  Entfernungen  sind  aus 
Figg.  60  und  61  (nach  Barnard)  ersichtlich. 

Der  Ring  ist  durch  dunkle  Einschnitte  in  drei  ineinander  gelagerte 

Kreisscheiben  geteilt.     Der  äusserste  Teil  (AB)  erstreckt  sich  zwischen 

13* 


196  Physik  des  Himmels. 

138400  km  und  119700  km  vom  Saturnmittelpunkt.  Etwa  in  seiner  Mitte 
liegt  ein  schmaler  Einschnitt,  die  Enckesche  Trennung  (Fig.  60).  Der 
zweite  Teil  {CD)  ist  vom  ersten  durch  die  2800  km  breite  nach  dem 
Entdecker  benannte  Cassinische  Trennung  {BG)  geschieden.  Er  er- 
streckt sich  von  116900  bis  zu  etwa  86500  km  vom  Saturnmittelpunkt. 
Er  geht  ohne  scharfe  Grenze  in  den  innersten  „dunklen  Ring"  (Fig.  60) 
über,  welcher  aus  einem  schwachen  bläulichen  Schimmer  besteht  und 
deshalb  erst  ziemlich  spät  von  Bond  entdeckt  wurde.  Er  erstreckt  sich 
bis  zu  etwa  72600  km  von  dem  Mittelpunkt   und   ist  durch  11600  km 

von  dem  äusseren  Ende  des  61000  km  be- 
tragenden Saturnradius  entfernt. 

Das   Spektrum    des    Ringes    wurde    von 
Keel er  untersucht.    Er  fand,  dass  in  dem- 
Fig.  61.   Die  Dimensionen  des     ggi^e^   (j^s   rote  Band,   welches   für  Jupiter 

Saturnsystems  nach  Barn  ard.  ^ 

A5=18700km,B(7=2800km,  und  Saturn  charakteristisch  ist,  nicht  vor- 
(7Z)=^30^00km,D^=25500km,  ^^^^^^  ^^^^  ^^^  j^.^^  f^^^^-^j^  wahrschein- 
licherweise keine  Atmosphäre  oder  wenig- 
stens  nicht  eine   so   dichte  wie   die   Saturnkugel  selbst  besitzt. 

Die  Beobachtung  über  die  Grösse  der  Verschiebung  der  Fraun- 
hofer sehen  Linien  ergab  weiter,  dass  die  äusseren  Teile  des  Ringes 
sich  langsamer  bewegen,  als  die  inneren,  während,  wenn  sie  fest  zu- 
sammenhängen würden,  das  Umgekehrte  zutreffen  müsste.  Die  Um- 
laufszeiten an  verschiedenen  Stellen  verhielten  sich  so  wie  sie  aus  dem 
dritten  Kepler  sehen  Gesetz  für  einen  an  derselben  Stelle  befindlichen 
Mond  zu  berechnen  wären.  Keel  er  schloss  daraus,  dass  der  Ring  aus 
einer  grossen  Zahl  von  kleinen  Satelliten  bestehen.  Zu  dem  ähnlichen 
Schluss  war  man  übrigens  aus  der  Natur  (Polarisation)  des  von  den 
verschiedenen  Teilen  des  Ringes  reflektierten  Lichtes  gelangt.  In  der 
ältesten  Zeit  glaubte  man  natürlicherweise  mit  einem  festen  Ring  zu  thun 
zu  haben,  später  ging  man  zur  Annahme  über,  dass  er  flüssig  sei,  l)is 
Maxwell  zeigte,  dass  diese  beiden  Gebilde  instabil  sind,  so  dass  man 
annehmen  muss,  dass  der  Ring  aus  diskreten  Teilen  besteht,  eine 
Ansicht,  die,  wie  oben  erwähnt,  durch  die  optische  Untersuchung  völlig 
bestätigt  wurde. 

Im  dunklen  Ring  kommen  wahrschoinlicherweise  die  kleinen  Par- 
tikelchen des  Ringes  weniger  häufig  vor,  wodurch  die  geringere  Hellig- 
keit leicht  verständlich  wird.  Man  hat  viel  darüber  spekuliert,  ob  der 
Ring  sich  seit  seiner  Entdeckung  durch  Galilei  1612  oder  richtiger 
Huyghens    1655    dem   Planeten    genähert    hat.     Dies    scheint    aus 


IV.  Die  Planeten,  ihre  Satelliten  und  die  Kometen.       .  197 

den  älteren  Beobachtungen  hervorzugehen.  Es  ist  aber  immerhin  sehr 
unwahrscheinlich,  dass  so  grosse  Veränderungen  in  historischer  Zeit  hätten 
stattfinden  können.  Denn  gäbe  es  eine  den  Saturn  mit  Kingsystem 
umhüllende  Atmosphäre,  welche  in  historischer  Zeit  die  Ringbahn  ver- 
mindert hätte,  so  wäre  ohne  Zweifel  der  Ring  in  der  Länge  der  Zeit 
auf  die  Saturnkugel  eingestürzt. 

Uranus  wurde  von  Herschel  am  13.  März  1781  entdeckt.  Wegen 
seiner  grossen  Entfernung  kann  man  keine  nennenswerten  Details  auf 
ihm  entdecken.  Man  glaubt  bisweilen  Spuren  von  Streifen,  die  den- 
jenigen des  Jupiter  und  des  Saturn  ähnlich  waren,  auf  ihm  gesehen  zu 
haben.  Von  seiner  Umdrehungszeit  hat  man  keine  Vorstellung.  Viele 
Beobachter  wollen  eine  starke  Abplattung  (etwa  i/j^  bis  Vi  9)  bemerkt 
haben,  welche  eine  bedeutende  Rotationsgeschwindigkeit  wahrscheinlich 
machen  würde,  was  ja  übrigens  wegen  seiner  Ähnlichkeit  mit  den 
grossen  Planeten  zu  erwarten  wäre. 

Wie  oben  angedeutet,  macht  sein  Spektrum  es  wahrscheinlich,  dass 
er  eine  ungewöhnlich  dichte  Atmosphäre  besitzt. 

Neptun.  Wegen  Störungen  in  der  Uranusbahn  berechneten  Adams 
und  Leverrier  die  Lage  und  Grösse  eines  neuen  Planeten,  welcher 
diese  Störungen  veranlassen  sollte.  Galle  suchte  diesen  Planeten  an  der 
angegebenen  Stelle  und  fand  ihn  da  (1846).  Dieser  neue  Planet  ist 
etwas  unansehnlicher  als  seine  nächsten  Nachbarn.  Seine  Umlaufszeit 
ist  60181  Tage  (164  Jahre  280  Tage),  während  diejenige  des  Uranus 
30688  Tage  (84  Jahre  7  Tage)  und  diejenige  von  Saturn  10759  Tage 
(=  29  Jahre  167  Tage)  beträgt. 

Trotz  der  grösseren  Dichte  und  des  geringeren  Albedo  dieses  Pla- 
neten ist  man  der  Ansicht,  dass  seine  physische  Beschaffenheit  derjenigen 
des  Uranus  nahe  kommt.  Darauf  deutet  auch  die  spektroskopische  Unter- 
suchung hin. 

Die  Satelliten.  Von  der  Erde  ab  gerechnet,  besitzen  alle  die 
äusseren  Planeten  einen  oder  mehrere  Monde  (Trabanten  oder  Satelliten). 
Diese  Monde  bewegen  sich  für  gewöhnlich  in  einer  Ebene,  welche  wenig 
von  der  Äquatorialebene  des  Hauptplaneten  abweicht.  In  dieser  Hin- 
sicht scheint  der  Erdmond  sich  unregelmässig  zu  verhalten,  indem  die 
Neigung  seiner  Bahn  gegerP die  Ekliptik  nur  5^8',  10"  beträgt,  während 
die  Äquatorialebene  der  Erde  um  23^2^  gegen  die  Ekliptik  geneigt  ist. 
Unser  Mond  ist  auch  ungewöhnlich  gross  im  Verhältnis  zum  Haupt- 
körper, indem  sein  Halbmesser  1740  km  (=  0,27  Erdradien)  beträgt. 
Er  besitzt  weiter  eine  ungewöhnlich  grosse  Bahnexcentricität  0,055. 


198  Physik  des  Himmels. 

Im  Jahre  1877  fand  A.  Hall  in  Washington  zwei  Begleiter  des 
Mars,  die  Phobos  und  Deimos  genannt  wurden.  Ihre  Bahnneigungen 
sind  26*^,  17'  bezw.  25^,47',  also  sehr  nahe  gleich  derjenigen  des  Planeten- 
äquators. Das  sonderbarste  bei  diesen  Monden  ist,  dass  der  innere, 
Phobos,  welcher  nur  9300  km  von  dem  Marscentrum  (6900  km  von  der 
Oberfläche)  entfernt  ist,  eine  bedeutend  kürzere  ümlaufszeit  7^,39"*  als 
der  Hauptkörper  (24^  37***)  besitzt.  Er  geht  also,  von  Mars  gesehen, 
in  West  auf  und  in  Ost  unter. 

Deimos  befindet  sich  in  der  Entfernung  23000  km  vom  Marscen- 
trum und  durchläuft  seine  Bahn  in  30^18**^  Die  beiden  Monde  sind 
äusserst  unbedeutend,  sie  haben  Durchmesser  von  nur  etwa  10  km.  Die 
Excentricitäten  ihrer  Bahnen  sind  0,032  bez.  0,006. 

Vieles  Aufsehen  erregte  die  Entdeckung  Galileis  von  vier  Jupiter- 
monden. Ihre  Entfernungen  von  dem  Jupitermittelpunkt  betragen  420  000, 
669000,  1067000  und  1877000  km  (6,  9,5,  15  bezw.  26,5  Jupiter- 
halbmessern). In  neuester  Zeit  wurde  ein  fünfter  Mond  von  Barnard 
entdeckt,  dessen  Entfernung  höchstens  1,7  Jupiterhalbmesser  beträgt. 
Ihre  Umlaufszeiten,  Entfernungen  (in  Tausenden  von  Kilometern),  Durch- 
messer und  Massen  (verglichen  mit  denjenigen  unseres  Mondes),  Dichten 
(Erde  =  l)  und  Neigungen  der  Bahnen  sind  in  folgender  Tabelle  zu- 
sammengestellt: 


Mond 

Umlaufszeit    Entfernung 

Durchmesser 

Masse 

Dichte 

Neigun 

V 

12^       126.10^ 

'km 

— 

— 

— 

I 

1^  18^      420 

4070  km 

0,43 

0,17 

2,8  0 

II 

3    13        669 

3430 

0,50 

0,32 

1,37 

III 

7      4      1067 

5790 

2,23 

0,29 

2,0 

IV 

16    17      1877 

4830 

1,07 

0,25 

1,57 

Vom  Jupitermond  V  ist  es  sicher,  dass  seine  Bahn  keine  grössere 
Neigung  gegen  den  Jupiteräquator  als  etwa  20'  besitzt.  Am  Jupiter- 
mond I  hat  man  einen  ähnlichen  Äquatorialstreifen  gesehen  wie  beim 
Jupiter.  Ausserdem  giebt  sein  Spektrum  denselben  Absorptionsstreifen 
im  Kot  wie  dieser  Planet  selbst;  es  ist  demnach  wahrscheinlich,  dass  seine 
physische  Beschaffenheit  mit  derjenigen  Jupiters  übereinstimmt.  Dass 
dieser  Mond  gasförmig  sei,  darauf  deutet  au^h  seine  geringe  Dichte  hin. 
Aus  dem  Vorkommen  des  Äquatorialstreifens  schliesst  man,  dass  er  rotiert 
und  nicht  immer  dieselbe  Seite  dem  Hauptplaneten  zukehrt.  Letzteres 
scheint  dagegen  für  die  Jupitermonde  III  und  IV  der  Fall  zu  sein.  IV 
erscheint  in  verschiedenen  Lagen  verschieden  hell,   sodass  die  zum  Ju- 


IV.  Die  Planeten,  ihre  Satelliten  und  die  Kometen.  |99 

piter  gewendete  Seite  die  hellere  ist.  Nach  den  Beobachtungen  von 
Douglass  über  Flecke  am  III.  Monde  ist  dieselbe  Drehungsweise  für 
diesen  Körper  wahrscheinlich.  Die  Jupitermonde  III  und  IV  sind  die 
grössten  Satelliten  im  Sonnensystem.  Der  erstgenannte  übertrifft  nicht 
unbedeutend  Merkur  (Durchmesser  4800  km),  der  zweite  ist  mit  diesem 
Planeten  gleich  gross.  Der  Mond  n  ist  ziemlich  genau  gleich  gross 
wie  unser  Mond  und  I  liegt  in  der  Mitte  zwischen  Erdmond  und 
Merkur.  Ihre  Bahnexcentricitäten  sind  äusserst  gering,  am  grössten 
bei  III  und  lY   (0,0013  bezw.  0,0072). 

Saturn  ist  sehr  stark  mit  Monden  versehen.  Dieselben  besitzen 
ziemlich  unbedeutende  Dimensionen,  sodass  man  nur  für  den  grössten 
derselben,  Titan,  direkt  den  Durchmesser  hat  bestimmen  können.  Der- 
selbe wurde  von  B  a  r  n  a  r  d  gleich  etwa  4000  km  gefunden.  Aus 
photometrischen  Bestimmungen  hat  man  ihre  Grösse  abgeleitet,  indem 
man  annahm,  dass  sie  denselben  Albedo  wie  Saturn  besitzen.  Diese 
Annahme  ist,  wenigstens  für  die  äusseren  Monde,  unrichtig  und  man 
wird  wahrscheinlicherweise  der  Wahrheit  näher  kommen,  wenn  man  die 
unten  gegebenen  Ziffern  für  die  auf  die  genannte  Weise  berechneten 
Durchmesser  als  für  die  entsprechenden  Halbmesser  gültig  annimmt. 
Dies  trifft  offenbar  für  Titan  ziemlich  zu.  Ihre  wichtigsten  Eigen- 
schaften sind  in  folgender  Tabelle  verzeichnet. 

Umlaufszeit  Entfernung  Durchmesser  Excentr,  Neigung 

Mimas.    .  22^^  37«^      ISG.lO^km      470  km         —  — 

Enceladus      1^    8  53        238  594  —  — 

Thetys     .      1    21  18        294  916  0,011  28^,10' 

Dione  .     .      2    17  41         379  871  0,003  28,  10 

Rhea   .     .      4    12  25        526  1197  0,001  28,  8 

Titan  .     .    15   22  41  1222  2259  0,028  27,  37 

Hyperion     21      7  28  1480  310  0,125  28,  10 

Japetus    .79     7  54  3538  783  0,028  18,  38 

Beim  Japetus  hat  man  ähnlichen  Lichtwechsel  (etwa  im  Verhältnis 
1 : 4)  wie  beim  vierten  Jupitermond  gefunden.  Es  ist  deshalb  wahr- 
scheinlich, dass  Japetus  immer  dieselbe  Seite  dem  Saturn  zukehrt.  Das 
Eigentümliche  trifft  nun  ein,  dass  die  hellste  Seite  nicht  zum  Saturn 
gerichtet  ist,  sondern  etwa  die  halbe  helle  und  die  halbe  dunkle  Seite. 
Japetus  ist  dementsprechend  am  wenigsten  sichtbar  in  seiner  östlichen 
Elongation,  am  meisten  in  seiner  westlichen. 

Die  Saturnmonde   beschreiben   alle,  mit  Ausnahme  des  äussersten, 


200  Physik  des  Himmels. 

Japetus,  Bahnen,  welche  sehr  nahe  in  die  Äquatorialebene  des  Haupt- 
planeten fallen.  Hyperion  ist  dadurch  merkwürdig,  dass  seine  Bahn 
die  grösste  Excentricität  von  allen  Satellitenbahnen  besitzt,  etwa  2,2  mal 
diejenige  des  Erdmondes,  welcher  die  nächste  Stelle  in  dieser  Be- 
ziehung  einnimmt. 

Uranus  besitzt  vier  Monde,  von  welchen  die  beiden  äusseren  nach 
photometrischen  Messungen  einen  Durchmesser  von  900  km  haben.  Dabei 
wird  angenommen,  dass  der  Albedo  der  Monde  demjenigen  des  Haupt- 
planeten gleichkommt,  wodurch  man  in  diesem  Falle  wahrscheinlicher- 
weise Zahlen  bekommt,  die  im  Verhältnis  1;1,75  zu  klein  sind.  Die 
inneren  Monde  haben  nach  ihrer  Lichtstärke  etwa  1,5  mal  geringeren 
Durchmesser  als  die  äusseren. 

Die  diese  Monde  betreffenden  Daten  sind  im  Folgenden  zusammen- 
gestellt: 


Umlaufszeit 

Entfernung 

Excentricität 

Neigung 

Ariel           2^,  52 

194.10H^m 

0,02 

970,58' 

ümbriel      4,  14 

271 

0,01 

98,  21 

Titania       8,  71 

444 

0,0011 

97,  47 

Oberon      13,  46 

593 

0,0038 

97,  54. 

Die  Neigungen  der  Bahnen  dieser  Monde  stimmen  sehr  gut  unter- 
einander überein  und  übersteigen  90 ^  d.  h.  die  Mondbahnen  bilden  einen 
nahezu  rechten  Winkel  mit  der  Ekliptik  und  sind  etwas  rückläufig  (re- 
trograd). Während  also  die  Bahnen  der  meisten  Monde  und  Planeten 
von  der  Nordseite  der  Achse  der  Ekliptik  gesehen  sich  in  umgekehrter 
Richtung  wie  die  Uhrzeiger  drehen,  bewegen  sich  die  Uranusmonde  in 
demselben  Sinne  wie  Uhrzeiger.  Dies  ist  noch  mehr  für  den  Neptun- 
mond der  Fall,  dessen  Bahn  eine  Neigung  von  145,7^  besitzt.  Da  nun 
die  Mondbahnen  im  allgemeinen  sehr  nahe  mit  den  Äquatorialebenen 
der  Hauptplaneten  zusammenfallen,  so  ist  es  wahrscheinlich,  dass  die 
Achsendrehung  von  Uran  sowohl  wie  von  Neptun  rückläufig  ist.  (Ihre 
Bahnen  um  die  Sonne  gehen  aber  in  der  normalen  Richtung.)  Der 
Neptunmond  läuft  in  einer  Entfernung  von  454000  km  (=14,54  Nep- 
tunhalbmessern) in  5,88^  um  seinen  Hauptplaneten.  Seine  Grösse  wird 
nach  der  Lichtstärke  etwa  gleich  demjenigen  des  Erdmondes  geschätzt. 
Die  Excentricität  seiner  Bahn  ist  sehr  gering,  nämlich  0,0088. 

Das  Tierkreislicht.  Unter  den  Tropen  und,  bei  besonders  gün- 
stigen äusseren  Bedingungen  der  Beobachtung,  in  unseren  Breiten  nimmt 
man  in  der  Nähe  der  Sonne  ein  schwaches  Licht  wahr.  Dieser  Lichtschein 
steigt   vom  Horizont  in  Form  von  einer  Pyramide  auf  (Fig.  62),  deren 


IV.  Die  Planeten,  ihre  Satelliten  und  die  Kometen. 


201 


Fig.  62.     Tierkreislicht  in  den  Tropen. 


202  Physik  des  Himmels. 

Mittellinie  in  den  Tierkreis  fällt,  woher  der  Name  abgeleitet  ist.  Er  ist  bei 
uns  am  leichtesten  im  Frühling  (am  Abend)  und  im  Herbst  (am  Morgen) 
zu  sehen,  weil  die  Ekliptik  dann  die  grösste  Neigung  gegen  den  Hori- 
zont (am  Untergang  bezw.  Aufgang  der  Sonne)  besitzt.  Er  ist  am  Abend- 
himmel lichtstärker  als  am  Morgenhimmel.  Bisweilen  erstreckt  sich  der 
Lichtschein  höher  hinauf,  sodass  er  auf  dem  Himmelsgewölbe  einen 
schwachen  Lichtring  bildet,  dessen  Lichtstärke  in  dem  gerade  der  Sonne 
gegenüberliegenden  Punkte  ein  Maximum  besitzt,  welches  Gegenschein 
genannt  wird  (von  Brorsen  1854  zuerst  gesehen). 

Nach  der  ältesten,  noch  nicht  verlassenen,  Auffassung  wird  das 
Tierkreislicht  von  einer  Menge  von  kleinen  Partikelchen  veranlasst, 
welche  die  Sonne  innerhalb  eines  linsenförmigen  Raumes,  der  in  der 
Ekliptik  seine  grösste  Ausdehnung  besitzt,  umgiebt.  Aus  seinem  Spek- 
trum hat  man  geschlossen,  dass  das  Zodiakallicht  von  festen  (oder  flüs- 
sigen) Partikelchen  reflektiert  wird.  Es  ist  nämlich  polarisiert  und  giebt 
ein  kontinuierliches,  die  Sonnenlinien  enthaltendes  Spektrum. 

Zur  Erklärung  des  Gegenscheins  hat  man  angenommen,  dass  un- 
zählige Mengen  von  kleinen  Körperchen  (Sternschnuppenmaterie)  von 
der  Sonne  oder  zu  der  Sonne  ziehen.  Zufolge  der  perspektivischen  Wir- 
kung Würde  man  eine  Art  Corona,  wie  beim  Nordlicht  sehen,  welche 
gerade  gegenüber  der  Sonne  liegen  müsste,  wenn  nämlich  die  kleinen 
Körperchen  in  der  Richtung  der  Sonnenradien  sich  bewegen.  Die  mut- 
maassliche  Ursache  des  Tierkreislichtes  haben  wir  oben  (S.  154)  an- 
gegeben. 

Die  Kometen.  Während  die  bisher  behandelten  Körper  des  Sonnen- 
systems sich  in  einer  nahezu  kreisförmigen  Bahn  um  die  Sonne  herum- 
bewegen, ist  dies  nicht  mehr  bei  den  Kometen  der  Fall,  welche  nahezu 
parabolische  Bahnen  beschreiben.  Einige  von  denselben  bewegen  sich 
in  elliptischen  Bahnen,  die  unter  Umständen  nicht  allzu  weit  von  der 
Sonne  sich  entfernen.  Diese,  unter  welchen  die  sogenannten  periodischen 
Kometen  mehrmals  beobachtet  sind,  gehören  dem  Sonnensystem  dauernd 
an.  Die  Bahn  eines  solchen  Kometen  liegt  in  beinahe  allen  Fällen  in  einem 
Punkt  sehr  nahe  an  einer  Planetenbahn.  Man  hat  deshalb  Anlass,  zu  ver- 
muten, dass  die  betreffenden  Kometen,  ebenso  wie  diejenigen,  welche  para- 
bolische Bahnen  besitzen,  aus  unendlicher  Entfernung  zum  Sonnensystem 
gelangt  sind  und  wieder  in  die  Unendlichkeit  sich  entfernt  hätten,  wenn 
sie  nicht  durch  die  Anziehung  eines  sehr  nahe  stehenden  Planeten  ein- 
gefangen wären.  Von  70  solchen  Kometen  sind  4  durch  Merkur,  7  durch 
Venus,  10  durch  die  Erde,  4  durch  Mars,  23  durch  Jupiter,  9  durch  Saturn, 


IV.  Die  Planeten,  ihre  Satelliten  und  die  Kometen.  '  203 

8  durch  Uran  und  5  durch  Neptun  mit  unserem  Sonnensystem  einver- 
leibt worden.  Es  giebt  noch  einige  Kometen,  deren  Bahnen  die  Ekliptik 
in  einer  Entfernung  von  der  Sonne  von  etwa  70  Erdbahnradien  durch- 
schneiden. Man  hat  aus  diesem  Grunde  die  Anwesenheit  eines  extra- 
neptunellen  Planeten  in  dieser  Entfernung  vermutet. 

Jedenfalls  verhalten  sich  die  Kometen  ganz  anders  wie  die  anderen 
Mitglieder  des  Sonnensystems.  Die  grosse  Excentricität  ihrer  Bahnen 
und  die  grosse  Neigung  der  Bahnebenen  gegen  die  Ekliptik  deutet  auf 
ihren  fremden  Ursprung.  Da  die  Kometen  so  leicht  in  das  Planeten- 
system eingezogen  werden  können,  so  können  sie  auch  leicht  aus  ihrer 
Bahn  geworfen  werden;  bei  einer  nahezu  parabolischen  Bahn  genügt 
eine  sehr  geringe  Störung,  um  eine  sehr  grosse  Änderung  in  der  Um- 
laufszeit zu  bewirken. 

Da  nun  die  Kometen  so  stark  von  den  Planeten  gestört  werden, 
liegt  es  nahe,  zu  fragen,  ob  nicht  die  Planeten  an  der  anderen  Seite 
durch  die  Kometen  beeinträchtigt  werden.  Dies  ist  nun  nicht  der  Fall. 
Demnach  muss  man  annehmen,  dass  die  Masse  dieser  Himmelskörper 
ganz  ausserordentlich  gering  ist,  ein  Umstand,  welcher  schon  Newton 
wohlbekannt  war.  Dies  stimmt  auch  damit  überein,  dass,  wenn  man 
Sterne  durch  die  Nebelmassen  eines  Kometenkopfes  gesehen  hat,  die  von 
ihnen  ausgehenden  Lichtstrahlen  keine  merkliche  Abweichung  zufolge 
der  Kometenatmosphäre  gezeigt  haben.  Nach  einer  Messung  von 
W.  Meyer  sollte  es  gelungen  sein,  bei  dem  Kometen  vom  Juli 
1881  eine  atmosphärische  Refraktion  nachzuweisen,  wonach  die  Dichte 
der  Gashülle  des  Kometen  umgekehrt  proportional  dem  Quadrat  der 
Entfernung  von  dem  Mittelpunkt  des  Kometenkopfes  sich  ändern  sollte 
und  die  Menge  Substanz  pro  Volumeneinheit  in  einer  Entfernung  davon 
von  10200  km  ebenso  gross  wäre  wie  in  einem  Vakuumrohr,  dessen  Gas- 
druck 5  mm  entspricht.  Daraus  berechnete  er,  dass  die  ganze  Kometen- 
masse etwa  300 mal  geringer  sein  sollte,  als  die  Masse  des  Erdmondes, 
(un  Resultat,  welches  viel  zu  hoch  geraten  zu  sein  scheint. 

Die  Kometen  kommen  nicht  immer  gleich  oft  vor.  Berber  ich 
hat  gezeigt,  dass  sie  häufiger  zu  beobachten  sind  in  Jahren  von  starker 
Sonnenthätigkeit.  Ebenso  hat  ein  Komet  einen  grösseren  oder  richtiger 
mehr  leuchtenden  Schweif  in  Jahren  von  hoher  Sonnenthätigkeit. 

Nicht  alle  Kometen  besitzen  Schweife.  Die  sogenannten  teleskopischen 
Kometen  sind  nur  durch  ihre  Bewegungen  von  kleinen  Planeten  oder 
Sternen  zu  unterscheiden.  Für  gewöhnlich  besitzen  sie  jedoch  eine  sehr 
ausgedehnte   Dunsthülle,   die   einen  leuchtenden   Kern  umgiebt.     Bis- 


204  *  Physik  des  Himmels. 

weilen  ist  der  Kern  so  schwach  ausgebildet,  dass  er  nicht  sichtbar  ist. 
Von  dem  Kern  gehen  häufig  speichenförmige  Gebilde  aus,  welche  an  der 
s.  g.  Haube  enden.  Erst  wenn  der  Komet  in  die  Nähe  der  Sonne  kommt, 
entwickelt  er  den  Schweif,  welcher  immer  mehr  zunimmt,  bis  der  Komet 
seine  Sonnennähe  erreicht  hat.  Danach  nimmt  der  Schweif  allmählich 
an  Grösse  ab,  aber  gewöhnlicherweise  langsamer  als  er  zugenommen  hat 
und  zuletzt  verschwindet  er.  Die  Materie  im  Schweife  geht  von  der 
paraboloidischen  Haube  aus,  welche  den  Kopf  des  Kometen  zur  Sonne 
hin  umgiebt.  Diese  Haube  entsteht  offenbar  durch  Verdunstung  von 
einer  Substanz  im  Kometenkörper.  Bisweilen  geschieht  dies  stossweise, 
sodass  die  Haube  doppelt  oder  dreifach  wird.  Sie  zieht  sich  in  der  Sonnen- 
nähe zusammen. 

Die  Haube  hat  man  spektroskopisch  untersucht  und  gefunden,  dass 
sie  teils  ein  kontinuierliches  Spektrum  mit  Sonnenlinien  giebt,  welches  die 
Anwesenheit  von  festen  oder  flüssigen  Partikelchen  anzeigt,  teils  auch 
sich  als  aus  gasförmigen  Bestandteilen  zusammengesetzt  erweist.  Ein  Gas, 
welches  typisch  bei  den  Kometen  sich  vorfindet,  ist  ein  Kohlenwasserstofif- 
gas,  oder  die  damit  verwandten  Kohlenoxyd-  und  Cyangase.  Kohlenwasser- 
stoffe geben  ein  Spektrum  mit  drei  Bändern,  eins  in  gelb,  eins  in  grün 
und  eins  in  blau,  welche  mehr  oder  weniger  ausgeprägt  bei  allen  Kometen 
vorkommen  (vgl.  Tafel  2).  Wenn  diese  näher  zur  Sonne  kommen,  passiert 
es,  dass  sie  die  Natriumlinien  zeigen,  bisweilen  treten,  wenn  die  Hitze 
sehr  stark  geworden  ist,  auch  Eisenlinien  auf  (grosser  Komet  1882). 
Die  Gase  treten  erst  auf,  wenn  der  Komet  in  genügender  Nähe  zur 
Sonne  gekommen  ist.  Eine  bleibende  Atmosphäre  würden  die  Kometen 
ebensowenig  wie  der  Mond  an  sich  fesseln  können.  Eine  andere  Schwie- 
rigkeit bieten  die  Gase  der  Kometen  insofern,  als  sie  leuchten,  wenn 
sie  in  einer  Entfernung  von  der  Sonne  sind,  wo  die  Temperatur  nicht 
wohl  höher  sein  kann  als  auf  dem  heissesten  Punkte  des  Mondes.  Dies 
zeigt,  dass  wahrscheinlicherweise  elektrische  Vorgänge  hier  vor  sich 
gehen.  Dies  kann  durch  die  Theorie  erklärt  werden,  wenn  man  an- 
nimmt, dass  von  der  Sonne  nach  allen  Seiten  negativ  geladene  kleine 
Körper  ausgestrahlt  werden.  Diese  treffen  den  Kometen  und  bewirken 
da  Entladungen,  welche  die  Gase  zum  Glühen  bringen.  Die  Gase  sind 
von  dem  Kern  absorbiert  oder  zu  festem  Zustande  erstarrt,  bis  der  Komet 
nahe  genug  zur  Sonne  kommt.  In  der  kurzen  Zeit  der  Sonnennähe  ver- 
schwinden die  Gase  nicht  gänzlich.  Vielleicht  sammeln  auch  die  Kometen 
schwere  Kohlenwasserstoffe  bei  ihrem  Zuge  durch  den  Weltraum  auf. 
Auch  andere  Umstände,  wie  derjenige,  dass  das  Kohlenwasserstoffspektrum 


IV.  Die  Planeten,  ihre  Satelliten  und  die  Kometen. 


205 


häufig  verschwindet,  sobald  das  Natriumspektmm  erscheint,  was  mit  den 
Erscheinungen  bei  Durchgang  von  elektrischen  Entladungen  durch  Gel  ss- 
ler sehe  Köhren  Ähnlichkeit  bietet,  haben  zur  Annahme,  dass  das  Leuchten 
durch  elektrische  Entladungen  hervorgebracht  wird,  beigetragen. 

Das  grösste  Eätsel  haben  die  Schweife  den  Astronomen  geboten. 
Häufig  haben  die  Kometen  mehrere  Schweife,  wie  der  prachtvolle  Dona- 
tische Komet  von  1858  (Fig.  63)  oder  die  grossen  Kometen  von  1744  und 
1861,  die  nicht  weniger  als  sechs  bezw.  fünf  ungefähr  gleichmässig  ent- 
wickelte Schweife  besassen.  Grewöhnlicherweise  sind  diese  Schweife  ver- 


Fig.  63. 


schieden  stark  gekrümmt.  Sie  sind  für  gewöhnlich  von  der  Sonne  abge- 
wendet und  ihre  Krümmung  so  gerichtet,  als  ob  sie  Widerstand  gegen  die 
fortschreitende  Bewegung  in  der  Kometenbahn  erlitten.  Newton  grün- 
dete darauf  eine  Methode,  die  Geschwindigkeit  zu  berechnen,  mit  welcher 
die  Schweifmaterie  von  dem  Kometen  ausströmt.  Es  sei  ah  (Fig.  64) 
die  Bahn  des  Kernes,  welcher  sich  in  c  befindet,  wenn  ein  Punkt  des 
Schweifes  in  g  steht.  Die  Verbindungslinie  gS  zur  Sonne  möge  ah  in 
/.•  schneiden,  dann  hat,  da  die  Schweifmaterie  von  der  Sonne  in  Rich- 
tung der  Sonnenstrahlen  wegtiieht,  diese  Materie  den  Weg  kg  be- 
schrieben,  während  der  Kometenkern  das   Bahnstück  kc  zurückgelegt 


206 


Physik  des  Himmels. 


hat.  Da  die  Geschwindigkeit  des  Kometenkerns  leicht  festzustellen 
ist,  kann  man  auch  diejenige  der  Schweifmaterie  leicht  berechnen. 
01b ers  fand  auf  diese  Weise  für  den  Schweif  des  Kometen  von  1811 
eine  mittlere  Geschwindigkeit  von  etwa  90  km  pro  Sekunde.  01b ers 
schloss  aus  der  Form  des  Schweifes,  dass  die  Materie  desselben  so- 
wohl von  dem  Kometenkopf,  als  auch  von  der  Sonne  selbst  abgestossen 
wurde.  Es  ist  einfacher,  aus  der  Grösse  der  abstossenden  Kraft 
der  Sonne,  als  aus  derjenigen  der  Geschwindigkeit  Schlüsse  über  diese 
eigentümliche  Erscheinung  zu  ziehen.  Kepler  war  der  Ansicht,  dass 
diB  Lichtmaterie,  welche  nach  der  damals  herrschen- 
///y/f  den  Emissionstheorie  aus  der  Sonne  ausströmt,  gegen 

die  Schweifteile  stösst  und  auf  diese  Weise  einen 
Druck  auf  dieselben  ausübt.  Diese  Ansicht  kommt 
der  aus  der  Maxwell  sehen  Lichttheorie  folgenden, 
dass  die  Licht-  (und  Wärme-)  Strahlung  einen  Druck 
auf  die  bestrahlten  Körper  ausübt,  ganz  nahe.  Die 
Kepler  sehe  Ansicht  wurde  von  Newton  verlassen, 
welcher  meinte,  dass  die  Kometenschweife  leichter 
sind  als  die  umgebende  Materie  und  deshalb  einen 
von  der  Sonne  weg  gerichteten  Auftrieb  erleiden,  un- 
gefähr wie  die  Eauchsäule,  welche  aus  einem 
Schornstein  aufsteigt,  weil  sie  leichter  ist  als  die 
umgebende  Luft.  Nun  hat  man  wohl  bei  mehreren 
Kometen,  speciell  beim  Enck eschen,  geglaubt,  einen 
reibenden  Widerstand  gegen  ihre  Bahnbewegung  wahr- 
genommen zu  haben.  Genauere  Untersuchungen  haben  aber  dargethan, 
dass  dieser  Widerstand  von  vorübergehender  Natur  und  bisweilen  sogar 
negativ  gewesen  ist,  was  mit  der  Natur  der  Eeibung  unvereinbar  ist.  Die 
grossen  Kometen  von  1843  und  1880  gingen  so  nahe  an  der  Sonne  vorbei, 
dass  sie  weniger  entfernt  von  der  Sonne  waren  als  einen  halben  Sonnen- 
radius und  besassen  dabei  Geschwindigkeiten,  die  570  bezw.  540  km  pro 
Sek.  erreichten.  Obgleich  nun  eine  die  Sonne  umgebende  Atmosphäre  in 
ihrer  Nähe  besonders  dicht  sein  und  der  Widerstand  enorm  mit  der 
Geschwindigkeit  zunehmen  muss,  bemerkte  man  keine  Störung  dieser 
beiden  Kometen  in  ihren  Bahnen.  Man  wird  dadurch  zu  dem  Schlüsse 
geführt,  dass  sich  keine  nennenswerte  Menge  Materie,  welche  einen 
Auftrieb  der  Ausströmungen  aus  dem  Kometenkopf  bewirken  könnte,  in 
der  Umgebung  der  Sonne  befindet.  Die  Ansicht  von  Newton  wurde 
bald  aufgegeben  und   man  nahm   an,    dass    die  Wirkung    der  Sonne 


s 

Fig.  04. 


IV.  Die  Planeten,  ihre  Satelliten  und  die  Kometen.  207 

durch  eine  Ladung  derselben,  und  wahrscheinlich  eine  solche  negativer 
Elektricität  bedingt  sei. 

Was  die  abstossende  Kraft  betrifft,  so  ist  dieselbe  nach  den  Mes- 
sungen von  01b ers  und  Bessel  dem  Quadrate  der  Entfernung  des 
Schweifteilchens  von  der  Sonne  umgekehrt  proportional,  folgt  also  dem- 
selben Gesetze,  wie  die  Sonnenstrahlung.  Bessel  fand  für  den  Halley- 
schen  Kometen  von  1811,  dass  die  Abstossung  etwa  12  mal  so  gross 
war  wie  die  entgegengesetzt  gerichtete  Anziehung  der  Sonne.  Diese 
Zahl  ist  indes  in  verschiedenen  Fällen  verschieden.  Bei  sehr  wenig  ge- 
krümmten Schweifen,  wo  die  Abstossung  relativ  gross  ist,  kann  sie  das 
17,5  fache  der  Schwerenwirkung  erreichen.  In  einem  Fall,  für  Komet 
1893  II  glaubte  Hussey  sogar  auf  eine  abstossende  Kraft  gleich  247  mal 
der  Schwere  schliessen  zu  können.  In  anderen  Fällen  erreicht  sie  nur 
einen  1,33  mal  so  grossen  Wert.  Bredichin,  der  diese  Verhältnisse 
genauer  untersucht  hat,  glaubte,  die  verschiedenen  Schweife  in  dieser 
Beziehung  in  drei  bis  vier  verschiedene  scharf  getrennte  Klassen  ein- 
teilen zu  können.  Er  vermutete,  dass  der  Stoff,  aus  dem  der  Schweif 
besteht,  um  so  leichter  ist,  je  grösser  die  abstossende  Kraft  relativ  zur 
Schwere  ist.  Es  scheint  indessen  schwer,  die  Klassen  von  Bredichin 
streng  voneinander  zu  trennen,  vielmehr  kommen  Übergänge  vor.  Es 
ist  dies  auch  nach  der  oben  gegebenen  Theorie  ganz  natürlich,  da  ja 
die  abstossende  Kraft  (bei  gleicher  Entfernung  von  der  Sonne)  dem 
Durchmesser  des  Kometenstaubes  und  ihrem  specifischen  Gewicht  um- 
gekehrt proportional  ist.  Da  nun  wohl  alle  möglichen  Durchmesser 
der  Kondensationsprodukte  aus  den  Ausströmungen  des  Kometen- 
kopfes denkbar  sind,  je  nach  den  äusseren  Umständen,  so  können 
offenbar  alle  möglichen  Grössenordnungen  der  abstossenden  Kraft  vor- 
kommen. Damit  stimmt  auch  die  Beobachtung  von  Zöllner,  dass 
diese  Kraft  bei  demselben  Schweif  mit  der  Zeit  wechseln  kann.  Dass 
die  Lichtstärke  der  Kometen  mit  der  Sonnenthätigkeit  zunimmt,  wie 
Berber  ich  für  den  Enck  eschen  Kometen  erwiesen  hat,  wird  auch 
verständlich.  Denn  bei  starker  Sonnenthätigkeit  ist  die  Anzahl  der 
Nuclei,  an  welchen  Kondensationen  stattfinden  können,  in  der  Nähe 
der  Sonne  bedeutender,  folglich  werden  die  Schweife  dichter  und  stärker 
leuchtend. 

Die  Kometenmaterie,  welche  sich  im  Kometenschweif  kondensiert 
wird  sich  auf  negativen  Partikelchen  in  der  Nähe  der  Kometen  nieder- 
schlagen und  nachher  diese  Partikelchen  wegschleppen.  Wenn  demnach 
die  Erde  durch  einen  Kometenschweif  durchgeht,   wird   dies  nach  dem 


208  Physik  des  Himmels. 

vorhin  gesagten  zu  einer  nordlichtähnliehen  Lichtentwickelung  Anlass 
geben,  was  auch  in  ähnlichen  Fällen  beobachtet  worden  ist. 

Die  Haube  der  Kometen  kommt  in  der  Weise  zu  stände,  dass  bei 
der  starken  Bestrahlung  des  Kometenkopfes  in  der  Sonnennähe  grosse 
Massen  von  flüssigem  Kohlenwasserstoff  verdampfen,  welche  beim  Auf- 
steigen sich  abkühlen  und  an  Staubpartikelchen  kondensieren.  In  der 
Nähe  der  Sonne  befindet  sich  eine  Masse  solcher  Staubpartikelchen, 
welche  zu  Kondensation  Anlass  geben.  Die  Verdampfung  wird  der  Son- 
nenstrahlung ziemlich  proportional,  d.  h.  dem  Quadrate  der  Sonnenent- 
fernung umgekehrt  proportional  sein.  Wenn  nun  die  Menge  von  Staub- 
partikelchen in  der  Sonnennähe  in  demselben  Verhältnisse  zunähme,  so 
würde  die  Haube,  welche  die  Kondensationsstelle  angiebt,  immer  gleich 
weit  vom  Kometenkopf  verbleiben.  Da  aber  der  Sonnenstaub  in 
der  Nähe  der  Sonne  viel  schneller  zunimmt  als  nach  diesem  Gesetz, 
so  wird  die  Folge  davon  sein,  dass  die  Haube  in  der  Sonnennähe  zu- 
sammenschrumpft (vgl.  S.  156). 

Die  speichenförmigen  Strahlen,  welche  vom  Kometenkopf  zur  Haube 
hinauslaufen,  sind  als  Wolkensäulen  anzusehen  (nach  Zöllner).  Bessel 
beobachtete  bei  einer  solchen  Bildung  eine  pendelartige  Bewegung  in 
der  Bahnebene  um  den  zur  Sonne  gehenden  Leitstrahl,  zu  deren  Er- 
klärung er  die  Beteiligung  von  „polaren"  Kräften  annahm.  Diese  Be- 
wegung hat  Zöllner  aus  der  Verdampfungstheorie  zu  erklären  gesucht. 

Eine  Eigentümlichkeit  der  Kometen,  welche  von  der  Geringfügigkeit 
ihrer  Masse  und  der  grossen  Excentricität  ihrer  Bahnen  abhängt,  ist 
ihre  Unbeständigkeit.  Teils  verlieren  die  Kometen  in  der  Nähe  der 
Sonne  die  Materie,  welche  zur  Schweifbildung  dient  und  welche  ins  Un- 
endliche weggestossen  wird.  Diese  Verluste  glaubt  man  in  einigen 
Fällen  konstatiert  zu  haben,  indem  bei  einigen  periodischen  Kometen 
die  Schweifgrösse  abgenommen  hat.  Teils  auch  wird  der  Kern  kolossale 
Temperaturveränderungen  erleiden.  Da  ihre  grösste  Entfernung  von 
der  Sonne  häufig  ausserordentlich  gross  ist  und  in  den  meisten  Fällen 
4 — 5  Erdbahnradien  übersteigt,  sinkt  ihre  Temperatur  zufolge  der  ge- 
ringen Wärmestrahlung  der  Sonne  auf  etwa  — 150^,  oder  wenn  nur 
eine  Seite  der  Sonne  zugekehrt  wird,  erreicht  sie  auf  den  heissesten 
Stellen  derselben  etwa  —  100^  C.  In  ihrer  geringsten  Entfernung  stehen 
sie  der  Sonne  ausserordentlich  viel  näher,  sagen  wir  viermal,  was 
eine  relativ  niedrige  Ziffer  darstellt.  Die  absolute  Temperatur  steigt 
dann  plötzlich  auf  einen  viel  höheren,  im  vorliegenden  Falle  den  dop- 
pelten Betrag  (um  120^  bis  170^).   Da  diese  Temperaturänderungen  re- 


IV.  Die  Planeten,  ihre  Satelliten  und  die  Kometen.  209 

lativ  häufig  bei  den  periodischen  Kometen  vorkommen,  kann  man  sich 
leicht  vorstellen,  dass  sie  zerbersten  können.  Noch  mehr  ist  dies  der 
Fall  mit  den  grossen  Kometen,  welche,  wie  diejenigen  von  1843  und  1880, 
aus  praktisch  genommen  unendlicher  Entfernung  kommen,  um  in  der 
Sonnennähe  so  stark  erhitzt  zu  werden,  dass  sie*  Natrium-  und  Eisen- 
linien zeigen.  Durch  den  ausserordentlich  lockeren  Zusammenhang 
der  Kometen-  und  Meteoritenmaterie  wird  der  Zerfall  noch  erleichtert 
(vgl.  S.  157).  Zufolge  der  geringen  Masse  üben  die  Kometenteile  keine 
nennenswerte  Anziehung  aufeinander  aus,  sondern  sie  bleiben  getrennt. 
Eine  ausserordentlich  geringe  Kraft,  welche  bei  der  Zersetzung  wirkt, 
genügt,  um  den  Teilen  merklich  verschiedene  Bahnen  mit  recht  stark 
verschiedener  Umlaufszeit  zu  geben.  Aus  dem  einen  Kometen  sind  in 
dieser  Weise  zwei  oder  mehrere  entstanden.  Solche  Teilungen  hat  man 
in  einigen  Fällen  beobachtet,  wie  beim  Biela sehen  Kometen  1845  und 
beim  grossen  Kometen  vom  September  1882.  Die  gegenseitige  Ent- 
fernung der  beiden  Teile  des  Bielaschen  Kometen,  welche  1845  etwa 
300000  km  betrug,  war  im  Jahr  1852  zu  2500000  km  gestiegen.  In  dieser 
Weise  erklärt  es  sich,  dass  mehrere  Kometen  nahezu  in  derselben  Bahn 
wandern,  sie  sind  vermutlich  Teile  von  einem  einzigen  Himmelskörper.  In 
eben  derselben  Weise  sind  nach  Schiaparelli  die  Schwärme  von  Stern- 
schnuppen zu  erklären.  So  z.  B.  ist  ein  Sternschnuppenschwarm  an  Stelle 
des  seit  1852  verschwundenen  Bielaschen  Kometen,  der  eine  Umlaufszeit 
von  6,6  Jahren  besass,  getreten.  Diese  Sternschnuppen  fallen  am  Ende  No- 
vember (27.)  und  haben  eine  stärkere  Intensität  alle  dreizehn  Jahre,  wenn 
die  Erde  und  der  Komet  wieder  nahezu  dieselbe  Stelle  im  Weltraum 
einnehmen.  Solche  Sternschnuppenregen  traten  auch  1872  und  1885 
mit  grosser  Pünktlichkeit  ein.  Sie  blieben  aber  am  27.  Nov.  1898  bei- 
nahe gänzlich  aus.  Diese  Sternschnuppen  werden  auch  Andromediden 
genannt,  weil  sie  von  dem  Sternbilde  Andromeda  auszugehen  scheinen. 

Die  Bahnen  der  verschiedenen  Sternschnuppen,  welche  demselben 
Kometen  entstammen,  sind  untereinander  sehr  nahe  parallel.  Infolge- 
dessen scheinen  diese  Bahnen  aus  perspektivischen  Gründen  einander 
in  einem  Punkte  auf  dem  Himmelsgewölbe  zu  schneiden.  Gegen  diesen 
Punkt,  der  Radiationspunkt  genannt  wird,  zielt  die  Tangente  der  Ka- 
metenbahn  im  Punkte,  wo  sie  die  Erdbahn  schneidet,  hin,  wie  leicht 
einzusehen  ist.  Da  dieser  Punkt  in  den  meisten  Fällen  weit  von  der 
Ekliptik  entfernt  ist,  ersieht  man,  dass  die  Neigung  der  betreffenden 
Kometenbahnen  gegen  die  Ekliptik  sehr  beträchtlich  ist. 

Die  wichtigsten  Sternschnuppen  gehören  den  Gruppen  der  Perseiden 

Arrhenius,  Kosmische  Physik.  *  14 


210  Physik  des  Himmels. 

und  der  Leoniden  an.  Sie  werden  so  genannt,  weil  ihre  Kadiations- 
punkte  in  den  Sternbildern  des  Perseus  und  des  Löwen  (Leo)  liegen. 
Diese  beiden  Sternschnuppenschwärme  bewegen  sich  in  retrograder 
Richtung  um  die  Sonne.  Die  Bahn  der  Perseiden  liegt  der  Erde  um 
den  10.  August  —  dem  Tage  des  heiligen  Laurentius,  weshalb  diese 
Sternschnuppen  Thränen  des  heiligen  Laurentius  genannt  werden  — 
am  nächsten.  Schiaparelli  wies  nach,  dass  dieser  Schwärm  die- 
selbe Bahn  besitzt  wie  der  von  Tnttle  entdeckte  Komet  1862  lU. 
Ebenso  kommt  die  Bahn  der  Leoniden,  welche  mit  derjenigen  des 
Kometen  1866  I  (Tempels  Komet)  übereinstimmt,  der  Erde  etwa 
am  13.  November  am  nächsten.  Die  Umlaufszeiten  sind  in  den  beiden 
Fällen  etwa  123  und  33  Jahre.  Bei  den  Perseiden  hat  man  keine 
besonders  auffälligen  Sternschnuppenfälle  in  bestimmten  Jahren  wahr- 
genommen; es  scheint  denn,  dass  der  entsprechende  Komet  sich  so 
stark  aufgelöst  hat,  dass  er  einen  einigermaassen  gleichmässigen  Ring 
von  Staub  gebildet  hat.  Bei  den  Leoniden  muss  dagegen  eine  starke 
Anhäufung  von  Materie  noch  an  einer  Stelle  des  Schwarmes  vorhanden 
sein,  nachdem  die  Sternschnuppen  von  diesem  Schwärme  alle  33  Jahre 
viel  stärker  entwickelt  sind  wie  gewöhnlich.  So  beobachtete  Humboldt 
einen  ausserordentlich  kräftigen  Fall  von  Sternschnuppen  im  No- 
vember 1799.  Es  wurde  ihm  erzählt,  dass  man  einen  ähnlichen  Fall 
im  Jahre  1766  beobachtet  hatte.  In  den  Jahren  1832  und  1833  wieder- 
holte sich  die  Erscheinung,  ebenso  wie  im  Jahre  1866,  alle  beide  Male 
sehr  glänzend.  Eigentümlicherweise  war  der  Sternschnuppenfall  der 
Leoniden  am  12.— 16.  November  1899  sehr  schwach.  In  York  Factory, 
westlich  von  Hudsons  Bay,  sollen  jedoch  starke  Sternschnuppenfälle  am 
15.— 17.  November  1899  beobachtet  worden  sein. 

Dieses  unvermutete  Ausbleiben  der  glänzenden  Sternschnuppen- 
regen der  Bieliden  und  der  Leoniden  ist  ein  neuer  Beweis  für  die  grosse 
Instabilität  im  Reiche  der  Kometen.  Wahrscheinlicherweise  sind  die 
Meteorschwärme  in  der  Zwischenzeit  seit  der  letzten  glänzenden  Ent- 
faltung nahe  an  einen  Planeten  gekommen  und  haben  dadurch  Stö- 
rungen in  ihren  Bahnbewegungen  gelitten.  In  derselben  Weise  ist  ver- 
mutlich der  Komet  von  Brorsen,  welcher  im  Jahre  1846  entdeckt 
wurde,  wieder  aus  dem  Sonnensystem  entfernt  worden,  da  er  vergeblich 
in  den  Jahren  1884  und  1890,  als  er  sehr  günstig  stehen  sollte, 
gesucht  worden  ist.  Sicher  trifft  dies  für  den  Lexellschen  Kometen 
zu,  welcher  im  Jahre  1770  entdeckt  wurde  und  wahrscheinlicherweiso 
zufolge   der   Einwirkung   Jupiters    im    Jahre    1767  dem  Sonnensysteme 


I 


IV.  Die  Planeten,  ihre  Satelliten  und  die  Kometen.  ^\\ 

einverleibt  wurde.  Die  Umlaufszeit  betrag  5  ','2  Jahre  und  er  sollte  dem- 
nach in  den  Jahren  1775  und  1781  zurückkehren.  Die  Stellung  von 
1786  war  für  die  Entdeckung  des  Kometen  sehr  günstig,  trotzdem  wurde 
er  aber  weder  damals  noch  später  wiedergefunden.  Man  hat  berechnet 
dass  er  im  Jahre  1779  dem  Jupiter  sehr  nahe  kam  und  dann  auf  solche 
Weise  beeinflusst  wurde,  dass  er  aus  dem  Sonnensystem  hinausgeworfen 
wurde. 

Von  den  periodischen  Kometen  giebt  es  eigentlich  nur  einen  einzelnen, 
den  H all ey sehen,  welcher  besonders  auffällig  und  lichtstark  ist.  Sonst 
sind  alle  grossen  Kometen,  welche  so  viel  Aufsehen  erregt  haben,  nicht  mit 
Sicherheit  mehr  als  einmal  im  Sonnensystem  beobachtet.  Der  Halley- 
sche  Komet  bewegt  sich  in 'retrograder  Kichtung,  d.  h.  in  umgekehrter 
Richtung  wie  die  Planeten  um  die  Sonne,  während  die  anderen  sechzehn 
periodischen  Kometen  sich  wie  die  Planeten  verhalten.  Seine  grösste  Ent- 
fernung von  der  Sonne  ist  35,4  Erdbahnradien,  während  die  geringste 
etwa  0,5  solche  Radien  beträgt.  Die  Umlaufszeit  ist  76,3  Jahre.  Seine 
Bahn  wurde  von  Halley  nach  den  kurz  vorher  von  Newton  gegebenen 
Prinzipien  der  Schwerkraft  berechnet,  und  es  war  danach  höchst  wahr- 
scheinlich, dass  er,  welcher  damals  zum  letztenmal  1682  erschien,  mit 
den  grossen  Kometen  von  1607  und  1531  identisch  war.  Man  hat  so- 
gar sein  Auftreten  zurück  bis  zum  Jahr  14  v.  Chr.  verfolgt.  Das 
nächste  Mal  erschien  er  in  den  Jahren  1759  und  1835.  Es  wird  er- 
wartet, dass  er  sein  Perihel  das  nächste  Mal  am  17.  Mai  1910  durch- 
läuft.   Sein  Schweif  besitzt  eine  Länge  von  etwa  20^. 

Ungefähr  ebenso  lange  Umlaufszeit  wie  der  Halley  sehe  besitzen 
zwei  andere  periodische  Kometen,  darauf  folgt  einer  mit  etwa  14-jähriger 
Umlaufszeit,  und  zuletzt  kommen  dreizehn,  welche  zur  Familie  des  Jupiter 
gehören  und  Perioden  von  7,6  bis  3,3  Jahren  besitzen.  Unter  diesen 
sind  auch  die  oben  genannten  Kometen  von  Biela  und  Brorsen  mit- 
gezählt. Die  kleinste  Umlaufszeit  besitzt  der  Enckesche  Komet,  näm- 
lich 3,3  Jahre.  Die  grossen  nur  einmal  beobachteten  Kometen  haben 
auch  häufig  so  genau  bestimmte  Bahnen,  dass  man  ihre  Umlaufszeiten 
ziemlich  genau  bestimmen  kann.  Sie  erreicht  mitunter  sehr  beträchtliche 
Werte,  z.  B.  für  die  Kometen  von  1881  und  1882  etwa  3000  Jahre. 

Die   Sternschnuppen   kommen   gar  nicht   so    selten   vor,  wie  man 

glauben  könnte.  Ein  Beobachter  nimmt  etwa  10  Sternschnuppen  in  der 

Stunde  auf  dem  von  ihm  überblickbaren  Teil   des  Himmels  wahr.    Da 

dieser   Teil  ungefähr   ein  Viertel   des   Himmelsgewölbes   ausmacht,   so 

könnten  von  einem  Beobachtungsorte  pro  Stunde  40  Sternschnuppen  beob- 

14* 


212 


Physik  des  Himmels. 


I  Mittag 


s 


achtet  werdeD.  Man  hat  daraus  berechnet,  dass  innerhalb  eines  Tages  etwa 
10  Millionen  Sternschnuppen  auf  die  Erde  niederfallen.  Bei  den  grossen 
Sternschnuppenregen  kann  die  Häufigkeit  nach  einigen  Schätzungen 
1000  mal,  nach  anderen  10000  mal  grösser  sein.  Nimmt  man  ein  Ge- 
wicht von  5  g  für  jede  Sternschnuppe  an,  so  würde  die  Erde  jährlich 
um  20  Millionen  Kilogramm  an  Gewicht  (etwa  3.10'^  mal  weniger  als 
das  Gewicht  der  Erde)  zunehmen. 

Die  grösste  Häufigkeit   der  Sternschnuppen   trifft  in  den   Morgen- 
stunden   (3—4  Uhr  V.  M.)   ein,   und  sie   ist  dann,  nach   Schmidt  in 
Athen,  etwa  2,5  mal  grösser  als  zwischen   8 — 9  Uhr  N.  M.    Wenn   das 
Tageslicht  nicht  die  Beobachtungen  störte,   so   würde  wahrscheinlicher- 
weise das  Minimum  um  6^  abends,  das 
Maximum  um  6^*  früh  eintreffen.    Man 
erklärt  dies  so,  dass  der  Punkt  (Fig.  65), 
wo  die  Uhr  6^*  früh  zeigt,  an  der  Vor- 
derseite der  Erde  in  ihrer  Bewegung  im 
Weltraum  (mit  30  km  pr.  Sek.)  liegt, 
während  der  Punkt,  wo  die  Zeit  6'*  N.  M. 
ist,  an  der  Hinterseite   liegt.    Infolge- 
dessen erreichen  in  der  letzteren  Lage 
nur    diejenigen    Meteoren    die    Erde, 
welche   eine   grössere   Geschwindigkeit 
in  der  Richtung  der  Erdbahn  als  30  km 
pr.  Sek.  besitzen.    An  der  Morgenseite 
trifft  die  Erde  nicht  nur  alle  Meteore, 
welche  in   entgegengesetzter  Richtung 
wie  die  Erde,  sich  im  Raum  bewegen, 
sondern  auch  diejenigen  welche  in  der- 
selben  Richtung   wie  die  Erde    hinstreben,  deren  Geschwindigkeit  aber 
nicht  30  km  pr.  Sek.  erreicht.     Ebenso  ist   (auf  der   nördlichen  Hemi- 
sphäre)  die  Häufigkeit    der  Sternschnuppen   (auch   abgesehen   von    den 
grossen     ausserordentlich     reichen     Sternschnuppenschwärmen)    bedeu- 
tender im  zweiten  Halbjahr  als  im   ersten.     Dies  wird  so  erklärt,  dass 
der   vorderste  Punkt  in  der  Erdbewegung,  im  ersten  Halbjahr  (21.  De- 
zember bis  21.  Juni)    auf  der  südlichen,   im  zweiten  Halbjahr   dagegen 
auf  der  nördlichen  Halbkugel  liegt. 

Von  den  Sternschnuppen  zu  den  Meteoriten  oder  Feuerkugeln  (Boliden) 
ist  der  Übergang  kontinuierlich.  So  z.  B.  wurde  die  grosse  Feuerkugel  vom 
12.  März  1899  um  9'*,  47*^  abends  in  Riga  als  Sternschnuppe  beobachtet' 


J^ig.  65. 


IV.  Die  Planeten,  ihre  Satelliten  und  die  Kometen. 


213 


in  kurzer  Zeit  nahm  ihre  Lichtintensität  kolossal  zu,  sodass  die  Gegen- 
stände scharfe  Schatten  warfen  und  diese  Lichtentfaltung  fand  über 
grosse  Strecken  von  Schweden,  Finnland  und  den  Ostseeprovinzen  statt, 
bis  die  Feuerkugel  in  der  Nähe  der  finnländischen  Stadt  Borgo  aufs  Eis 
des  finnischen  Meerbusens  niederfiel  und  in  dasselbe  ein  Loch  von  9  m 
Durchmesser  schlug.  Danach  fiel  sie  auf  den  lockeren  Meerboden,  wo  sie 
sich  ziemlich  tief  im  Schlamm  vergrub.  Nachher  hat  man  grosse  Stücke 
aufgenommen.  Dieser  grösste  Meteorit  (325  kg),  den  man  bisher  fallen 
sah,  war  ein  sogenannter  Steinmeteorit,  dessen  hauptsächliche  Bestandteile 
nichtmetallisch  sind.  Die  gewöhnlichsten  Mineralien  darin  sind  Olivin, 
Bronzit,  Troilit,  Chromeisen  und  Nickeleisen  (in  Körnern)  und  glasartige 
Massen.  Zu  eben  derselben  Gattung  gehörte  die  Feuerkugel,  welche 
am  10.  Februar  1896  über  Madrid  unter  einer  gewaltigen  Detonation 
niederging,  aus  deren  Zeitdifferenz,  1,5  Min.  von  der  Explosionszeit,  die 
Höhe,  auf  welcher  die  Explosion  stattfand,  zu  30  km  bestimmt  wurde. 
Die  Meteoren  können  alle  möglichen  Grössen  besitzen  bis  zu  dem  kleinsten 
Hagel  oder  Staub.  Nur  werden  diese  kleinen  Körner  ausschliesslich  bei 
sehr  günstigen  äusseren  Umständen  entdeckt.  Ein  solcher  Fall  trat  in  Kessle 
in  Schweden  am  Neujahrstag  1869  ein,  als  unter  starkem  Knall  eine 
Menge  von  grösseren  und  kleineren  Steinen  bis  zu  0,06  g  Gewicht  und 
Staub  aufs  Eis  des  Mälarsee  niederfielen.  Es  ist  natürlich  anzunehmen, 
dass  unter  Umständen  die  Meteore  sich  in  Staub  verwandeln,  bevor  sie 
die  Erdoberfläche  erreichen,  was  wahrscheinlicherweise  für  die  meisten 
Sternschnuppen  zutrifft.  Unter  solchen  Umständen  fällt  ein  sogenannter 
„kosmischer  Staub".  Dass  derselbe  kosmischen  Ursprungs  ist  und  nicht 
von  vulkanischen  Ausbrüchen  oder  anderen  terrestren  Quellen  abstammt, 
muss  mit  Hilfe  der  chemischen  Analyse  nachgewiesen  werden.  Bis- 
weilen soll  Salz  vom  Himmel  gefallen  sein.  Die  Feuerkugeln  hinter- 
lassen häufig  am  Himmel  eine  erst  glühende,  dann  wolkenartige  Spur 
(am  Tage  eine  Staubwolke),  welche  lange  Zeit  (bis  Stunden)  am  Himmel 
sichtbar  bleibt.  Diese  Spur  besteht  ohne  Zweifel  aus  Massen  von  glü- 
hendem kosmischen  Staub.  Eine  solche  Erscheinung  auf  35  km  Höhe 
ist  in  Fig.  66  nach  einer  Zeichnung  von  Nordenskiöld  wieder- 
gegeben. 

Während  man  unter  400  Steinmeteoriten  260  fallen  sah,  so  trifft 
dies  für  nur  9  unter  den  etwa  100  bekannten  Eisenmeteoriten  zu.  Die- 
selben bestehen  aus  Eisen  als  Hauptmasse  mit  einem  starken  Gehalt 
an  Nickel  und  bisweilen  etwas  Kobalt;  dagegen  kommt  nie  Mangan  in 
denselben   vor,   im   Gegensatz   zum  Eisen  irdischem   Ursprungs.    (Von 


214  Physik  des  Himmels. 

dieser  Regel  machen  jedoch  die  Eisenfunde  aus  Ovifak  auf  der 
Discoinsel  bei  Grönland,  welche  von  Nordenskiöld  nach  Schweden  ge- 
bracht wurden,  eine  Ausnahme.  Sie  enthalten  nämlich  Nickel  und  Ko- 
balt, aber  nicht  Mangan,  trotzdem  sie  für  terrestren  Ursprungs  erachtet 
werden.)    Das  Eigentümliche  für  die  Meteoreisen  ist  das  Auftreten  von 


Fig.  66.      Spur   eines    in    der    Nähe   von     Upsala,  Schweden,    am   20.  April   1877 
Qh  37m  N.  M.  beobachteten  Boliden  nach  A.  E.  Nordenskiöld.    Dauer  des  Leuch- 

tens  25  Minuten. 


sogenannten  Widmanstättenschen  Figuren,  welche  bei  Anätzen  (mit 
verdünnter  Salpetersäure)  einer  plangeschliffenen  Fläche  des  Eisens  in 
Form  von  drei  60^  untereinander  bildenden  Liniensystemen  hervortreten 
(vgl.  Fig.  67).  Auch  für  einige  Legierungen  von  Eisen  und  Nickel  sind 
diese  Figuren  charakteristisch. 

In  den  Meteorsteinen  hat  man  bisher  folgende  Grundstoffe  aufge- 


IV.  Die  Planeten,  ihre  Satelliten  und  die  Kometen. 


215 


funden:  Wasserstoff,  Sauerstoff,  Stickstoff,  Kohlenstoff',  Silicium,  Schwefel, 
Phosphor,  Chlor,  Brom,  Lithium,  Natrium,  Kalium,  Kubidium,  Calcium, 
Strontium,  Baryum,  Blei,  Magnesium,  Silber,  Kupfer,  Aluminium,  Gal- 
lium, Mangan,  Eisen,  Nickel,  Kobalt,  Chrom,  Platin,  Iridium,  Titan, 
Arsen,  Zinn,  Argon  und  Helium.  Eigentümlich  ist  das  Fehlen  von  Zink 
und  von  den  Elementen  mit  hohem  Atomgewicht,  z.  B.  Quecksilber, 
Antimon  und  Wismut,  wie  in  der  Sonne.  Lockyer  hat  Steinmeteoriten 
im  Lichtbogen  geglüht  und  ein  Spektrum  gefunden,  das  mit  demjenigen 
der  Sonne  ausserordentlich  grosse  Ähnlichkeit  bietet.  Die  Sternschnuppen 
und  Meteore  werden  durch  den  Reibungswiderstand  gegen  die^  Luft 
glühend;    erst    besitzen   sie 

eine  Geschwindigkeit  kosmi-  -^*?^^ 

scher  Ordnung  (30 — 100  km 
pr.  Sek.),  später  werden  sie 
zufolge  des  Luftwiderstandes 
gehemmt  und  erhalten  eine 
massige  Geschwindigkeit,  wie 
ein  fallender  Körper.  Je 
geringer  die  Eintrittsge- 
schwindigkeit in  die  Atmo- 
sphäre, desto  früher  werden 
im  allgemeinen  die  Meteore 
gehemmt  und  desto  geringer 
ist  die  Detonation.  Die 
Sternschnuppen  glühen  auf 
in  200  bis  HO  km  Höhe  und 
erlöschen  auf  einer  Höhe 
von   100    bis   90   km.     Für 

die  Perseiden  sind  die  mittleren  Höhen  -des  Aufleuchtens  114  und  des 
Erlöschens  89  km,  für  die  Leoniden  sind  sie  151,  bezw.  97  km.  Bis- 
weilen sind  Meteoren  beobachtet,  die  auf  300  bis  400  km  Höhe  zu 
glühen  anfingen  (nach  Schiaparelli  und  Liais).  Die  Meteo- 
riten sind  in  dieser  Beziehung  sehr  verschieden.  Was  an  diesen  Kör- 
pern am  meisten  interessiert,  ist  die  Frage,  ob  sie  dem  Sonnen- 
system angehören  oder  nicht,  oder  was  auf  dasselbe  auskommt,  ob  ihre 
Geschwindigkeit  (relativ  zum  Sonnencentrum)  bei  Ankunft  auf  der  Erde 
unter  oder  über  43,2  km  pr.  Sek.  liegt  (vgl.  S.  177).  Es  hat  sich  ge- 
zeigt, dass  die  meisten  Feuerkugeln  Fremde  im  Sonnensystem  sind, 
während  die  Sternschnuppenschwärme   als   seit  einiger  Zeit  dazu  ange- 


Fig.  67.     Widmanns  tat  tensche  Ätzfiguren. 


216  Physik  des  Himmels. 

hörig  zu  betrachten  sind.  Es  giebt  nun  auch  bei  grossen  Sternschnuppen- 
regen  Feuerkugeln,  welche  offenbar  als  grössere  Sternschnuppen  anzu- 
sehen sind.  Eine  solche  Feuerkugel,  welche  als  ein  Eisenklumpen 
von  4,1  kg  aufgefunden  wurde,  fiel  am  27.  November  1885  in  Mazapil, 
Mexiko.  Dieses  Meteoreisen  stammt  von  einem  bekannten  Himmels- 
körper, dem  Kometen  von  Biela.  Gleichzeitig  beobachtete  der  Direktor 
der  Sternwarte  Zacatecas,  Bouilla,  das  Spektrum  der  Sternschnuppen  und 
glaubte  darin  Linien  mit  solchen  von  Eisen,  Nickel,  Kohlenstoff,  Mag- 
nesium und  Natrium  identifizieren  zu  können.  Das  Spektrum  einer 
Feuerkugel  ist  in  Arequipa  (von  Pickering  am  18.  Juni  1897)  beobachtet 
worden.  Er  fand  darin  vier  Wasserstofflinien  {Hji  Hy  Hg  und  Hs)  und  zwei 
andere  Linien  419,5  bezw.  463,6  /t/^,  die  er  nicht  indentifizieren  konnte. 
Vermutlich  gehört  der  glühende  Wasserstoff  eigentlich  der  Atmosphäre 
der  Erde  an  (aus  Wasserdampf).  Eine  andere  Feuerkugel  vom  27.  No- 
vember 1897,  wahrscheinlicherweise  eine  Bielide,  fing  seine  Bahn  auf 
90  km  Höhe  über  Kent  an  und  explodierte  auf  22  km  Höhe  über 
St.  Omer;  er  bewegte  sich  dabei  mit  einer  Geschwindigkeit  von  31  km 
pr.  Sek.  Natürlicherweise  kann  man  in  solch  einem  Falle  nicht  sicher 
sein,  dass  die  Anfangsgeschwindigkeit  nicht  bedeutend  die  beobachtete 
Geschwindigkeit,  welche  für  eine  relativ  tiefe  Lage  gilt,  übertroffen  hat 
und  vielleicht  grösser  war  als  43,2  km. 

Als  Beispiel  von  Feuerkugeln  mit  Geschwindigkeiten  von  über 
43,2  km  pr.  Sek.  möge  eine,  die  am  20.  November  1898  in  Nieder- 
österreich beobachtet  wurde,  erwähnt  werden.  Sie  blitzte  auf  in  123  km 
Höhe,  ihr  Explosionspunkt  lag  in  44  km  Höhe  und  ihre  grösste  beobachtete 
Geschwindigkeit  war  61  km.  Sie  war  sichtbar  vom  Kiesengebirge  bis 
Görz.  A-m  16.  Januar  1895  wurden  in  Brunn  und  Wien  drei  Feuer- 
kugeln beobachtet,  von  welchen  eine  die  heliozentrische  Geschwindigkeit 
von  54  km  pr.  Sek.  besass,  eine  andere,  die  zwei  Minuten  später  er- 
schien, hatte  eine  Geschwindigkeit  von  nur  30,7  km  pr.  Sek.  Die  drei 
Meteore  waren  nicht  zusammengehörig.  Am  25.  Januar  1895  traf  in 
derselben  Gegend  ein  Meteorfall  ein,  bei  welchem  die  heliozentrische 
Geschwindigkeit  zu  56  km  pr.  Sek.  berechnet  wurde  (von  v.  Niessl). 

Da  das  Sonnensystem  sich  gegen  einen  Punkt  im  Sternbild  Her- 
kules hinbewegt,  sollte  man  vermuten,  dass  mehr  Feuerkugeln  von 
dieser  Seite  auf  die  Erde  hinstürzen  als  von  der  entgegengesetzten,  da 
die  Feuerkugeln  grösstenteils  nicht  unserem  Sonnensystem  angehören. 
Die  Berechnung  zeigt  nach  v.  Niessl,  dass  die  Erwartung  zutrifft,  aber 
der  Unterschied  zwischen  den  beiden  Seiten  ist  höchst  gering. 


IV.  Die  Planeten,  ihre  Satelliten  und  die  Kometen.  217 

Die  grossen  Feuerkugeln  bewegen  sich  nur  in  dem  ersten  Teil  ihrer 
Bahn  mit  kosmischer  Geschwindigkeit.  Schon  in  dem  Punkte,  wo  sie 
aufleuchten  —  vordem  kann  man  sie  nicht  beobachten  —  müssen  sie 
einen  Teil  ihrer  Anfangsgeschwindigkeit  eingebüsst  haben.  Sie  kommen 
dann  in  immer  dichtere  Luftschichten  herein,  wodurch  die  Reibung  ver- 
mehrt wird,  sodass  sie  mit  immer  heftigerem  Glanz  glühen.  Durch  die 
ungleichmässige  Erwärmung,  welche  nicht  Zeit  hat,  in  die  Tiefe  des 
Meteorinnem  einzudringen,  entstehen  Spannungen  und  zuletzt  birst 
die  Feuerkugel  unter  explosionsartigem  Getöse  und  Licht entfaltung.  Von 
diesem  Punkte  ab,  welcher  Hemmpunkt  genannt  wird  und  in  einer  Höhe 
von  3  bis  47  (im  Mittel  etwa  20)  km  liegt,  ist  die  Geschwindigkeit  der 
herabfallenden  Bruchstücke  stark  reduciert  und  nicht  viel  grösser  als 
diejenige  von  irdischen  Projektilen.  Am  meisten  wird  die  Geschwindig- 
keit der  kleinsten  Stücke  beeinträchtigt.  Infolgedessen  entsteht  ein  so- 
genanntes Streufeld  y  in  welchem  die  grösseren  Stücke  an  der  Vorder- 
seite, die  kleineren  an  der  Hinterseite,  gerechnet  nach  der  Richtung  der 
Feuerkugel,  hinunterfallen.  So  z.  B.  hatte  das  Streufeld  des  Meteor- 
falles vom  1.  Jan.  1869  bei  Hessle  in  Schweden,  wobei  etwa  500  Steine 
im  Gewicht  zwischen  0,06  und  1800  g  aufgefunden,  eine  Länge  in  nord- 
nordwestlicher Richtung  von  16  km  und  eine  Breite  von  5  km.  Das 
grösste  Stück  wurde  am  weitesten  nach  NNW  aufgefunden,  die  kleinsten 
Stücke,  unter  1  g,  am  weitesten  nach  SSO  auf  dem  Eise  des  Mälarsees. 
Das  Gesamtgewicht  der  herabgefallenen  Masse  wurde  zu  etwa  50  kg 
geschätzt,  wovon  25  aufgefunden  wurden.  Etwas  ausgedehnter  war  das 
Streufeld  des  Meteorfalles  am  30.  Januar  1868  zu  Pultusk.  Die  Flug- 
richtung des  Meteoros  war  von  WSW  nach  ONO  gerichtet,  die  Streu- 
tiäche  hatte  aber  ihre  grösste  Ausdehnung,  17  km,  in  der  Richtung  SSW 
nach  NNO.  Diese  Abweichung  von  45^  zwischen  den  beiden  Richtungen 
wird  dem  beim  Hinunterfallen  vorherrschenden  heftigen  Nordwestwind  zu- 
geschrieben. Die  Breite  war  6  km  und  etwa  100000  Steine  von  unter 
0,1  g  bis  9  kg  fielen  dabei.  Das  grösste  Streufeld  besass  der  Meteor- 
fall von  Mocs  bei  Klausenburg  in  Siebenbürgen  am  3.  Febr.  1882.  Das- 
selbe erstreckte  sich  in  der  Flugrichtung  des  Meteoriten  von  NW  nach 
SO  in  einer  Länge  von  25  km  mit  einer  Breite  von  7,5  km.  Mehr-  als 
100000  Steine  sollen  dabei  gefallen  sein.  Das  grösste  Stück  wog  35  kg 
und  das  Gesamtgewicht  der  gefallenen  Masse  wird  auf  400—500  kg 
geschätzt. 

Zufolge  der  Erwärmung  der  Oberfläche  der  Meteorsteine  überziehen 
sie  sich  mit  einer  schwarzen  Schmelzkruste  und  kleine  Bruchstücke  mit 


218  Physik  des  Himmels. 

muschelförmigem  Bruch  bersten  aus  (vgl.  Fig.  68).  Dieselben  kommen 
bisweilen  ausschliesslich  auf  einer  Seite  des  Steines  vor  (der  Stirnseite), 
wenn  aber,  wie  in  den  meisten  Fällen,  der  Meteor  sich  beim  Fallen 
gedreht  hat,  bedecken  sie  den  ganzen  Stein.  Eine  solche  Struktur, 
die  den  Meteoriten  eigentümlich  ist,  kommt  in  geringerem  Grade 
Steinen  zu  (Wüstensteinen),  aus  welchen  durch  heftige  Sonnenstrahlung 
Bruchstücke  herausbersten.  An  Bruchflächen,  die  ganz  nahe  an  der 
Erdoberfläche  gebildet  sind,  kann  die  ganze  Schmelzkruste  fehlen. 
Man  soll  sogar  an  solchen  frischen  Bruchflächen  bisweilen  eine  so 
niedrige  Temperatur  wahrgenommen  haben,  dass  sie  bei  Berührung  ein 


Fig.  68. 

heftiges  Schmerzgefühl  von  Kälte  erweckten  (Dhurmsala  in  Ostindien 
am  14.  Juli  1860). 

Nach  einer  statistischen  Untersuchung  von  HOgbom  sind  von  acht 
Howarditen  (eine  seltene  stark  Ca-  und  ^/- haltige  Art  der  Meteorite) 
mit  bekannter  Fallzeit  drei  am  2. — 7.  August,  drei  am  5.— 12.  De- 
zember und  zwei  an  anderen  Zeiten  gefallen,  was  darauf  hindeutet, 
dass  sie  wenigen  bestimmten  Himmelskörpern  entstammen.  Ähnliches 
gilt  auch  für  andere  Gruppen  der  Meteorite,  wie  beispielsweise  für  die 
Euchrite,  von  welchen  zwei  am  13. — 15.  Juni  gefallen  sind.  Nur  drei 
Euchrite  haben  bekannte  Fallzeit.  Dies  erinnert  stark  an  die  zu  regel- 
mässigen Zeiten  zurückkehrenden  Sternschnuppenschwärme. 

Es  .  mag  nochmals  hervorgehoben  werden,  dass  die  Meteorite, 
welche  ohne  Zweifel  von  den  entferntesten  Weltgegenden  abstammen, 
doch  viele  Ähnlichkeit  besitzen  mit  den  uns  bekannten  mineralischen 
Körpern,    indem    sie    aus    denselben    Bestandteilen    aufgebaut    sind, 


IV.  Die  Planeten,  ihre  Satelliten  und  die  Kometen.  219 

welche  auch  auf  der  Erde  vorkommen.  Besonders  scheint  die  Beob- 
achtung über  ihre  Identität  in  Bezug  auf  Zusammensetzung  mit  dem 
Erdinnern,  so  weit  dies  durch  vulkanische  Auswürfe  bekannt  ist  und  mit 
der  Sonnenhülle  bemerkenswert.  Vermutlich  sind  die  Steinmeteorite,  d.  h. 
die  überwiegende  Mehrzahl  der  Meteorite,  aus  den  Staubmassen  auf- 
gebaut, welche  durch  Strahlung  der  Sonne  und  ähnlicher  Himmels- 
körper aus  der  Sonne  selbst  und  aus  den  Kometen  in  den  Kaum  hinaus- 
getrieben werden  (vgl.  S.  157). 

Moldavite.  Nach  den  eingehenden  Untersuchungen  von  Franz 
Suess  sind  die  eigentümlichen  Glaskörper,  welche  man  in  Böhmen,  bei 
Budweis,  und  in  Mähren,  bei  Trebitsch,  in  Schotterlagern  von  der  Spät- 
tertiärzeit (Miozän)  in  recht  grosser  Menge  auffindet,  und  welche  den 
Namen  Moldavite  erhalten  haben,  zu  den  Meteoriten  zu  zählen.  Die- 
selben wurden  früher  für  vulkanische  Auswürflinge  oder  für  Über- 
reste einer  uralten  Glasindustrie  gehalten.  Gegen  die  erste  Hypo- 
these streitet  die  Thatsache,  dass  seit  der  Tertiärzeit  keine  Vulkane 
noch  vulkanische  Gesteine  jüngeren  Alters  in  der  Nähe  vorkommen. 
Durch  die  Luft  können  sie  wegen  ihrer  Grösse  (ihre  Dimensionen  er- 
reichen mehrere  Centimeter)  mit  den  Winden  nicht  weit  geschleppt 
sein;  ebensowenig  deutet  ihr  Vorkommen  und  Aussehen  —  sie  sind 
nicht  abgerollt  —  auf  eine  weite  Verschleppung  durch  Wasser.  Ausser- 
dem enthalten  sie  kein  Wasser,  wie  Gläser  vulkanischen  Ursprungs. 
Alte  künstliche  Gläser  können  sie  auch  nicht  sein,  da  sie  erst  mit 
Hilfe  von  Siemensschen  Eegenerativöfen  (1400^  C.)  geschmolzen 
werden  können. 

Ahnliche  Glaskörper  findet  man  in  Ostindien  (besonders  auf 
der  Insel  Billiton)  und  über  ganz  Südaustralien  in  solcher  Lage,  dass 
sie  nicht  ohne  Schwierigkeiten  als  irdische  Produkte  erklärt  werden 
können. 

Man  hat  sie  deshalb  für  Aerolithe  der  Tertiärzeit  angesehen.  Ihre 
Oberfläche  zeigt  deutliche  Spuren  von  Schmelzung  und  ähnliche  muschel- 
förmige  Eindrücke,  wie  die  Meteorite.  Wegen  ihrer  relativ  leichten 
Schmelzbarkeit  kommen  häufig  tiefere  Rillen  und  Furchen  auf  Molda- 
viten  vor,  welche  auf  den  Luftwiderstand  deuten.  Ähnliche  Bildungen 
hat  Suess  auf  Kolophoniumkugeln,  gegen  welche  ein  300^  C.  heisser 
starker  Luftstrom  getrieben  wurde,  hervorgerufen. 

Es  kann  dann  sonderbar  erscheinen,  dass  die  Meteorite  aus  der 
neueren  Zeit  ganz  anderes  Aussehen  haben.  Dagegen  ist  zu  bemerken, 
dass  gewöhnliche  Steinmeteorite  wegen  ihrer  tuffartigen  Struktur  schnell 


220  Physik  des  Himmels. 

verwittern,  sodass  sie  sich  kaum  vom  Tertiär  hätten  erhalten  können. 
Gewöhnliche  Meteorite  enthalten  auch  Glassubstanz  (vgl.  S.  210). 
Es  ist  denn  nicht  undenkbar,  dass  hin  und  wieder  ein  grösserer  Me- 
teorit, wie  einige  Kometen  (vgl.  S.  206)  so  nahe  an  die  Sonne  ge- 
kommen wäre,  dass  er  zu  einem  grossen  Klumpen  schmolz.  Dann  hätte 
er  in  die  Erdatmosphäre  hineinkommen  können,  wonach  er  zufolge 
der  plötzlichen  Erwärmung  der  Oberfläche  zerbersten  und  zu  einem 
Regen  von  Moldaviten  Anlass  geben  müsste.  Bemerkenswert  ist,  dass 
einige  Moldavite,  wie  Bologneser  Tropfen,  explodieren,  wenn  ihre  Ober- 
fläche verletzt  wird,  was  auf  eine  plötzliche  Abkühlung  (Abschreckung 
in  Wasser?)  hindeutet. 


V.  Kosmogonie. 

Wir  haben  im  vorhin  Gesagten  mehrere  Fälle  gefunden,  bei  welchen 
die  Himmelskörper  mit  der  Zeit  grosse  Änderungen  erlitten  haben,  vor 
allem  zeigte  sich  dieser  Fall  mit  den  neuen  Sternen  und  den  Kometen. 
Dagegen  zeichnet  sich  unser  Planetensystem  durch  eine  sehr  grosse  Be- 
ständigkeit aus,  welche  zum  grössten  Teil  darauf  gegründet  ist,  dass  die 
demselben  angehörigen  Himmelskörper  sich  in  nahezu  kreisförmigen 
Bahnen  um  den  Centralkörper  bewegen,  sodass  ihre  Entfernungen  unter- 
einander sehr  gross  bleiben  und  sie  keine  beträchtlichen  Störungen  auf- 
einander ausüben.  Diejenigen  Körper,  welche  wegen  ihrer  Nähe  solche 
grössere  Störungen  in  dem  Sonnensystem  hervorrufen  könnten,  die  Ko- 
meten, besitzen  nach  den  bisher  gemachten  Erfahrungen  eine  so  uner- 
hört geringe  Masse,  dass  der  Einfluss  derselben  gänzlich  vernachlässigt 
werden  kann. 

Man  könnte  wohl  deshalb  der  Meinung  zuneigen,  dass  die  Himmels- 
körper in  unserem  Planetensystem  immer  in  denselben  Bedingungen 
wie  jetzt  geblieben  wären  und  bleiben  würden,  wenn  nicht  im  neun- 
zehnten Jahrhundert  das  Studium  der  Wärmeerscheinungen  zu  dem 
Schluss  geführt  hätte,  dass  Wärme  oder  überhaupt  Energie  etwas  ebenso 
Bestehendes  (Substantielles)  sei,  wie  die  Materie.  Wenn  nun  die  Sta- 
bilität der  Massen  unseres  Sonnensystems  in  ihren  Bahnen  nicht  ge- 
fährdet zu  sein  scheint,  so  ündet  genau  das  Gegenteil  für  die  Energie- 
mengen des  Sonnensystems  statt,  indem  die  Sonne  ungeheure  Wärme- 
mengen zum  Weltraum  hinaus  verschleudert,  wovon  nur  ein  höchst 
minimaler  Teil  (etwa  ö.lO^^)  den  anderen  Himmelskörpern  des  Systems 
zu  gute  kommt.  In  der  That  ist  dies  absolut  nötig  für  die  Existenz  von 
organischem  Leben  auf  unserer  Erde;  denn  wenn  die  Sonnenwärme  nicht 
ins  Unendliche  wegfiiessen  würde,  sondern  ausschliesslich  zur  Erwärmung 
der  Planeten  gebraucht  werden  würde,   so  müssten  dieselben  sehr  bald 


222  I*hysik  des  Himmels. 

dieselbe  Temperatur  wie  die  Sonne  (Photosphäre)  annehmen.  Die  Pla- 
neten würden  nämlich  dann  notwendigerweise  einen  ebenso  geringen 
Bruchteil  ihrer  Wärmestrahlung  wie  die  Sonne  zum  Weltall  verlieren, 
und  nur  mit  der  Sonne  und  miteinander  in  Wärmeaustausch  stehen. 
Ein  solcher  Zustand  könnte  nur  zum  Ausgleich  der  Temperaturunter- 
schiede im  Sonnensystem  führen,  und  da  die  Sonne  an  Masse  die  Pla- 
neten und  ihre  Monde  enorm  überwiegt,  so  würde  bald  die  mittlere 
Temperatur  nicht  merklich  von  derjenigen  der  Sonne  abweichen.  Es 
wäre  demnach  für  uns  gar  nicht  glücklich,  wie  Einige  sich  vorstellten, 
wenn  es  in  der  Natur  so  angeordnet  wäre,  dass  unsere  Sonne  nur  den 
Planeten  ihren  Energieüberfluss  zuwendete. 

Um  nun  verstehen  zu  können,  wie  die  Sonne  ihre  Wärmever- 
luste deckt,  ist  man  konsequenterweise  dazu  geführt  worden,  dass  sie 
sich  zusammengezogen  hat  und  noch  zusammenzieht,  obgleich  dies 
in  der  kurzen  Zeit,  in  welcher  genaue  Messungen  ausgeführt  wurden, 
nicht  zu  beobachten  gewesen  ist  (vgl.  S.  159).  Die  Sonne  muss  dem- 
nach früher  einen  grösseren  Kaum  als  jetzt  eingenommen  haben,  und 
wenn  man  lange  genug  in  der  Zeit  zurückgeht,  wird  die  Materie  der 
Sonne  sich  vielleicht  über  das  ganze  Planetensystem  ausgedehnt  und 
nicht  grössere  Dichte  besessen  haben,  wie. die  Nebelflecke,  welche  wir 
jetzt  auf  dem  Himmelsgewölbe  beobachten. 

Schon  viel  früher,  als  es  Zeit  war,  um  ähnliche  Betrachtungen 
ül)er  die  Wärmeverluste  des  Sonnensystems  anzustellen,  ist  man  zu 
ähnlichen  Schlüssen  gelangt.  Swedenborg  dachte  sich  den  Urzustand 
des  Sonnensystems  als  ein  Chaos  von  nebeliger  Materie,  welches  all- 
mählich durch  Kräfte,  die  den  elektrischen  und  magnetischen  analog 
wären,  geordnet  wurde,  bis  es  zuletzt  die  jetzige  Anordnung  annahm. 
Kant  wies  darauf  hin,  dass  sich  die  seiner  Zeit  gekannten  sechs  Pla- 
neten und  neun  Monde  alle  in  Kreisen  bewegen,  die  nahezu  in  der- 
selben Ebene  wie  der  Sonnenäquator  liegen,  und  ausserdem  dieselbe 
Bewegungsrichtung  haben  wie  die  Drehung  der  Sonne.  Dies  kann  nicht 
gern  Folge  eines  Zufalls  sein,  sondern  es  muss  für  diese  Erscheinungen 
eine  gemeinsame  Ursache  gegeben  haben.  Er  stellte  sich  infolgedessen 
den  Anfangszustand  des  Sonnensystems  so  vor,  dass  die  Materie,  welche 
jetzt  in  der  Sonne,  den  Planeten,  ihren  Monden  und  den  Kometen  sich 
vorfindet,  einst  in  feinster  Verteilung  in  einer  Art  von  labilem  Gleich- 
gewicht gestanden  hat,  „sodass  innere  Anziehungskräfte  leicht  eine  Stö- 
rung hervorbringen  und  einzelne  dichtere  Klumpen  bilden  konnten,  auf 
welche  sich  dann  die  benachbarten  Teilchen  zubewegen  mussten".    Die 


Y.  Kosmogonie.  223 

hauptsächlich  wirkende  Kraft  war  die  Newtonsche  Gravitation,  Kant 
nahm  aber  auch  eine  eigentümliche  Art  von  Zurückstossungskräften  an, 
welche  die  anfangs  ganz  gleichförmige  geradlinige  Bewegung  der  Einzel- 
teilchen in  kreisförmige  verwandelt  hätte.  Diese  letzte  Annahme  ist  mit 
den  Prinzipien  der  Mechanik  unvereinbar. 

Bald  nach  dieser  Zeit  fand  die  grosse  Durchmusterungsarbeit  von 
Herschel  statt,  durch  welche  er  eine  grosse  Menge  von  Nebelflecken 
und  Sternhaufen  entdeckte  und  klassifizierte.  Durch  diese  Beobachtungen 
von  verschiedenen  Nebelflecken  wurde  er  zu  der  Ansicht  geführt,  dass 
einige,  welche  ein  sehr  schwaches,  verschwommenes  Licht  zeigen,  sich 
im  Urzustände  befinden,  während  andere  deutliche  Kondensationen  auf- 
weisen, die  sich  unter  Umständen  zu  Sternen  verdichten  können.  In 
anderen  Fällen  (bei  den  Sternhaufen)  war  die  Kondensation  so  weit  vor- 
sichgegangen,  dass  die  nebelige  Materie  sich  zu  lauter  Sternen  ange- 
sammelt hatte. 

Diese  Erfahrungen  stützten  ja  in  der  Hauptsache  die  Ansichten, 
welche  der  Kant  sehen  Hypothese  zugrunde  liegen.  Dieselbe  wurde 
von  Laplace  wieder  aufgestellt  und  insofern  in  verbesserter  Form,  als 
er  beim  Urnebel  eine  anfängliche  Drehung  um  eine  Achse  annahm. 
Diese  Drehung  war  so  kräftig,  dass  in  den  äusseren  Teilen  um  den 
Äquator  die  Centrifugalkraft  genau  mit  der  Gravitation  im  Gleichgewicht 
stand.  In  der  Mitte  des  Nebels  befand  sich  eine  Kondensation,  welche 
die  Stelle  der  jetzigen  Sonne  einnahm.  Die  ganze  Gasmasse  war 
stark  glühend  und  kühlte  sich  allmählich  ab.  Dabei  zog  sie  sich 
zusammen.  Zufolge  des  zweiten  Kepler  sehen  Satzes,  dass  der  Kadius- 
vektor  eines  Himmelskörpers  in  derselben  Zeit  in  verschiedenen  Teilen 
seiner  Bahn  dieselbe  Fläche  überfährt,  musste  das  Produkt  von  der  Ge- 
schwindigkeit (v)  und  der  Entfernung  (r)  vom  Mittelpunkt  konstant  bleiben. 
Die  Centrifugalkraft  wird  durch  den  Ausdruck  mv'^:r  =  mvh''^:r^  =  K:r^ 
dargestellt,  die  Anziehung  zum  Massencentrum  dagegen  durch  m:r\ 
Wenn  also  r  abnimmt,  wird  die  Centrifugalkraft  schneller  zunehmen 
als  die  Gravitation,  und  da  sie  anfangs  einander  gleich  waren,  wird 
nach  der  geringsten  Zusammenziehung  die  erste  Kraft  obwalten  und  ein 
Teil  des  Gasnebels  sich  von  der  Hauptmasse  in  Form  eines  Kinges  -ab- 
lösen. Ein  solcher  Ring  könnte  aber  nicht  lange  bestehen,  sein  Gleich- 
gewicht ist  labil.  Sobald  eine  geringe  Störung  eintrat,  musste  er  in 
mehrere  kleine  Teile  zerfallen,  wie  der  Saturnring,  oder  sich  zu  einem 
Einzelkörper  zusammenziehen.  Derselbe  würde  wiederum  wegen  der 
grösseren    Geschwindigkeit    der    äusseren    Teile    des    Ringes    sich    im 


224  Physik  des  Himmels. 

selben  Sinne  drehen,  wie  früher  der  ganze  Gasball.  Danach  ist 
ein  solcher  Körper  der  Urheber  eines  Planeten  und  besteht  aus 
einem  grossen,  um  eine  der  Drehungsachse  des  Nebelsystems  parallele 
Achse  sich  drehenden  Gasball.  Dieser  zieht  sich  weiter  zusammen  und 
infolgedessen  tritt  weitere  Ringbildung  und  danach  Bildung  von  Pla- 
neten zweiter  Ordnung,  Monden  oder  Satelliten  ein,  die  ebenso  um  eine 
Achse  in  derselben  Richtung  sich  drehen  wie  ihre  Hauptkörper.  Die 
Kometen  haben  kein  Heimatsrecht  im  Planetensystem,  sondern  sind 
durch   den  Zufall  von  aussen  dahin  gekommen. 

Diese  Hypothese  leidet  jedenfalls  unter  nicht  unbedeutenden  Schwie- 
rigkeiten. Zwar  hat  die  Entdeckung  der  kleinen  Planeten  uns  eine 
ganze  Masse,  etwa  450,  von  Himmelskörpern  gezeigt,  welche  im  rich- 
tigen Sinne  um  die  Sonne  sich  bewegen.  Die  grösste  Neigung  einer 
dieser  Planetenbahnen  beträgt  34*^  43'.  Die  Bahnen  der  Uranus-  und 
Neptunmonde  weichen  aber  viel  zu  stark  von  den  Forderungen  der 
Hypothese  ab,  als  dass  man  nicht  einen  störenden  Eingriff  von  aussen 
annehmen  müsste.  Auffallend  ist  es,  dass  gerade  die  äussersten 
Planeten,  bei  welchen  man  am  ehesten  ein  solches  fremdes  Eingreifen 
vermuten  könnte,  diese  Eigentümlichkeit  darbieten. 

Weiter  könnte  man  ja  vermuten,  dass,  nachdem  die  Zusammen- 
ziehung des  Gasballes  allmählich  und  kontinuierlich  geschehen  ist,  auch 
die  Absonderung  von  Planeten  hätte  stetig  vorsichgehen  müssen,  woraus 
ein  System  hervorgegangen  wäre,  das  etwa  der  Ansammlung  der  kleinen 
Planeten  entspräche. 

Die  grösste  Schwierigkeit  der  Laplac eschen  Annahme  bietet  wohl 
die  hohe  Temperatur  des  Gasballes,  welche  die  Hypothese  voraussetzt. 
Nach  den  Berechnungen  von  Stoney  und  Bryan  kann  die  Erde  keinen 
Wasserstoff  in  ihrer  Atmosphäre  behalten.  Noch  weniger  würde,  wie 
leicht  zu  berechnen,  die  Sonne  das  haben  thun  können,  wenn  sie  so  aus- 
gedehnt gewesen  wäre,  dass  sie  die  Neptun-  oder  Uranbahn  erfüllt  hätte, 
wenn  nämlich  ihre  Temperatur  nicht  tiefer  als  diejenige  der  Erde 
(+  15  ^  C.)  gewesen  wäre.  Wohl  aber  ist  es  wahrscheinlich,  dass 
der  Urnebel  noch  grössere  Dimensionen  gehabt  hat.  Man  muss  denn 
annehmen,  dass  in  diesen  ausgedehnten  Nebeln,  in  welchen  wegen  der 
grossen  Verdünnung  der  Materie  keine  nennenswerten  Anziehungskräfte 
wirken,  die  Gase,  unter  welchen  der  Wasserstoff  eine  besonders  hervor- 
ragende Rolle  spielt,  eine  Temperatur  besitzen,  die  nicht  viel  von  dem 
absoluten  Nullpunkte  entfernt  sein  kann.  Es  entsteht  denn  die  Frage, 
wie  wohl   diese  Himmelskörper  Licht   aussenden   können.    Die  Antwort 


V.  Kosmogonie.  225 

lautet,  dass  man  in  diesem  Falle  auf  dieselbe  Lichtquelle  angewiesen 
ist  wie  bei  den  Kometen,  die  ebenfalls  zu  niedrige  Temperatur  besitzen, 
um  selbständig  zu  leuchten  (vgl.  S.  43). 

Jedenfalls  ist  die  Regelmässigkeit  der  Bewegung  der  Himmelskörper 
in  unserem  Sonnensystem  so  ausserordentlich  auffallend,  dass  man  die 
Richtigkeit  der  Kant-Laplac eschen  Hypothese  in  ihren  Hauptpunkten 
nicht  leugnen  kann.  Es  ist  aber  schwer,  die  Notwendigkeit  einzusehen, 
warum  ein  Gebilde  von  der  ausserordentlich  grossen  Regelmässigkeit 
des  Planetensystems  entstanden  ist  und  nicht  vielmehr  ein  Aggregat  von 
sehr  vielen  kleinen  Körperchen,  wie  im  Saturnringe,  oder  von  Himmels- 
körpern, die  in  Bahnen  von  sehr  grosser  Excentricität  in  einem  ziem- 
lichen Gewirre  umeinander  laufen,  und  wo  der  grösste  Körper  nicht  bei- 
nahe die  ganze  Masse  (bis  auf  0,16  Proz.)  auf  sich  verdichtet  hätte,  wie 
am  Beispiel  vieler  Doppelsterne  zu  ersehen  ist.  Man  bemerkt  häufig 
in  den  Nebeln  mehrere  Kondensationskerne.  Man  könnte  sich  viel- 
leicht vorstellen,  dass  in  dem  Nebel,  woraus  unser  Sonnensystem  her- 
vorging, schon  innerhalb  der  Gasmasse,  an  den  Stellen,  wo  die  Pla- 
neten nachher  kamen,  Verdichtungen  entstanden.  Diese  würden  die  grosse 
allgemeine  Drehung  mitmachen  und  nachher  allmählich  in  dem  Gebiete, 
durch  welches  sie  hindurchzogen,  einen  Gasball  um  sich  ansammeln. 
Infolgedessen  würden  sie  eine  genau  ebenso  beschaffene  Rotation  er- 
halten, als  wenn  sie  aus  einem  geborstenen  Ringe  sich  zusammen- 
gezogen hätten.  Auf  diese  Weise  wären  die  Planeten  gewissermaassen 
als  gleich  „alt"  anzusehen  und  die  äussersten  Planeten  nicht  als  die 
ältesten,  wie  die  ursprüngliche  Hypothese  von  Laplace  verlangt. 

Im  Anschluss  an  die  Kant-Laplac  eschen  Hypothese  und  die  Er- 
gebnisse der  modernen  astronomischen  Wissenschaft  hat  man  sich  als 
„Urnebel  des  Sonnensystems"  einen  weit  ausgedehnten,  äusserst  dünnen 
Nebel  zu  denken,  welcher,  ähnlich  demjenigen  in  Orion  und  den  Ple- 
jaden,  eine  Ausdehnung  von  mehreren  tausend  Neptunbahnen  besitzen 
konnte.  In  diesen  unregelmässigen  Bildungen  ist  die  Konzentration  der 
Materie  so  gering,  dass  keine  merklichen  Anziehungskräfte  herrschen, 
sondern  dieselben  müssen  durch  Millionen  von  Jahren  wirken,  um 
merkliche  Verschiebungen  zwischen  den  verschiedenen  Teilen  hervor- 
zubringen. Die  leichtesten  Gase,  wie  Wasserstoff  und  Helium,  befinden 
sich  in  den  äussersten  Schichten  dieser  Gasmassen,  ebenso  wie  sie  die 
äussersten  Teile  der  Sonne  einnehmen.  Nur  diese  senden  Licht  nach 
aussen  durch  die  elektrischen  Entladungen,  welche  in  den  äusseren 
Schichten  zufolge  des  Einfangens  von  negativ   geladenen  Teilchen  ent- 

Arrhenius,  Koamische  Physik.  *  15 


226  Physik  des  Himmels. 

stehen.  Wenn  diesen  Gebilden  Wärme  zugeführt  wird,  so  entfernen 
sich  die  Gase  immer  mehr  von  dem  Mittelpunkt  und  kühlen  sich  da- 
durch ab  (vgl.  unten  S.  228). 

Es  sind  also  diese  Nebel  grosse  Aufspeicherungsplätze  der  Wärme- 
energie, welche  von  den  Sonnen  zu  ihnen  gestrahlt  wird.  Diese  Energie 
kommt  ihnen  nachher  bei  ihrer  Kondensation  zu  gute,  welche  im  näch- 
sten Stadium  erfolgt.  Die  inneren  Teile  der  Nebel  schliessen  die  schwe- 
reren chemischen  Elemente  ein;  Verbindungen  werden  nicht  bei  der 
ungeheuren  Verdünnung  bestehen  können.  Diese  Elemente  besitzen  eine 
so  geringfügige  Geschwindigkeit,  dass  sie  dem  Nebel  nicht  zu  entfliehen 
vermögen.  Sie  besitzen  aber  eine  höhere  Temperatur,  als  die  äusseren 
aus  den  leichten  Gasen  bestehenden,  und  zwar  denselben  Umständen 
zufolge,  welche  bewirken,  dass  beim  sogenannten  adiabatischen  Gleich- 
gewicht in  der  Erdatmosphäre  die  Temperatur  mit  der  Tiefe  zunimmt. 
Trotzdem  diese  Körper  anwesend  sind,  verraten  sie  sich  doch  nicht 
durch  Lichtentwickelung,  da  sie  nicht  in  den  äusseren  Teilen  vor- 
kommen, welche  von  den  negativ  geladenen  Partikelchen  getroffen 
werden.  So  erklärt  sich  die  sonderbare  Erscheinung,  dass  die  Urmaterie 
nur  einige  leichte  Elemente  zu  enthalten  scheint  (Wasserstoff,  Helium 
und  das  Gas,  welches  der  Nebellinie  496  [ifi  entspricht).  Zur  Erklärung 
dieses  Umstandes  nahm  man  früher  an,  dass  in  äusserster  Verdünnung 
alle  chemischen  Elemente  sich  in  Wasserstoff  zersetzen,  eine  Annahme, 
welche  mit  der  chemischen  Erfahrung  in  Widerspruch  steht.  In  dem 
Lichte  einiger  Nebel  hat  man  ausserdem  einige  schwache  Linien  ge- 
funden, welche  dem  Magnesium  und  Eisen  entsprechen.  Diese  rühren 
vielleicht  von  dem  Eigenlicht  dieser  Gase  her,  denn  im  Innern  des 
Nebels  kann  wohl  die  Temperatur  hoch  genug  sein. 

Die  Zustände  in  einem  solchen  Nebel  sind  nicht  stabil,  sie  können 
aber  zufolge  der  ausserordentlich  geringen  wirkenden  Kräfte  sehr  lange 
(praktisch  genommen  unendlich  lange)  bestehen.  Im  Laufe  der  Zeit 
müssen  die  Anziehungskräfte  dieselben  zu  regelmässigeren  rundlichen 
Formen  zusammenballen.  Diese  Zusammenballung  kann  aber  dadurch 
verhindert  werden,  dass  Kondensationskerne  von  aussen  in  die  Nebel- 
materie eindringen,  wie  die  Kometen  ins  Sonnensystem.  Diese  dich- 
teren Anhäufungen  ziehen  allmählich  die  Materie  in  ihrer  Nähe  zu- 
sammen, sodass  eine  Art  Lichtungen  um  diese  Centra  im  Nebel  ent- 
stehen. Diese  Ansammlungen  gravitieren  gegeneinander  und  werden 
wohl  zum  Teil  miteinander  vereint,  da  die  übrig  gebliebene  Nebel- 
materie ihre  Bewegungen  hemmt. 


V.  Kosmogonie.  227 

Wenn  nun  die  Nebelmaterie  von  Anfang  an  eine  ausgesprochene 
Drehung  um  eine  Achse  vollführt,  werden  diese  Kondensationspunkte 
mitgeführt  und  machen  allmählich  die  gemeinsame  drehende  Bewegung 
mit.  Durch  die  partielle  Kondensation  entstehen  Zusammenziehungen 
in  der  Umgebung,  welche  zuletzt  ihre  Wirkung  auf  den  ganzen  Nebel 
ausüben.  Die  Centrifugalkraft  wird  vergrössert  und  anstatt  einer  grossen 
Dunstkugel  mit  einheitlicher  Bewegung  bildet  sich  eine  Scheibe  aus. 
Durch  die  Kondensation  der  Materie  um  bestimmte  Punkte  herum,  und 
durch  ihr  gleichzeitiges  Verschwinden  aus  den  zwischenliegenden  Teilen, 
erhalten  dieselben  eine  immer  selbständigere  Stellung,  bis  alle  Teile 
der  Scheibe  beinahe  ausschliesslich  dadurch  bestimmt  sind,  dass  die 
Centrifugalkraft  genau  die  Schwere  aufwiegen  soll.  Mit  anderen  Worten, 
die  Bewegungen  nähern  sich  immer  mehr  denjenigen  in  einem  Planeten- 
system. Diesem  Zustande  entsprechen  die  spiralförmigen  Nebel,  welche 
überaus  gewöhnlich  sind.  Dieselben  sind  sehr  flach,  scheibenförmig, 
welches  zeigt,  dass  die  Gravitation  durch  eine  Centrifugalkraft  in  der 
Ebene  der  Scheibe  aufgewogen  wird.  Die  spiralige  Struktur  kann  aus 
dem  Umstand  erklärt  werden,  dass  die  Kondensationspunkte  nicht  die 
Bewegungen  der  sie  umgebenden  Materie  gänzlich  beherrschen,  wie 
Wilczynski  näher  ausgeführt  hat.  Diese  Nebel  zeigen  ein  kontinuier- 
liches Spektrum,  woraus  zu  schliessen  ist,  dass  die  Strahlung  der  Kon- 
densationskerne, die  beinahe  alle  die  potentielle  Energie  der  diffusen 
Nebelmaterie  auf  sich  verdichtet  haben,  diejenige  der  Nebelgase  voll- 
kommen überwiegt. 

Man  könnte  sich  auch  vorstellen,  dass  die  anfängliche  Drehung  des 
Nebels  relativ  schwach  gewesen  ist.  Es  entsteht  dann  kein  ausge- 
prägtes Centrum,  um  welches  herum  die  Bewegung  stattfindet  und 
keine  kreisende  Bewegung.  Die  Kondensationen  können  mehr  durch 
Zufall  bestimmt  werden  und  um  mehrere  sekundäre  Centren  sich 
ausbilden.  Dieselben  werden  dann  später  ziemlich  regellos  aufeinander 
hin  gravitieren  und  Bahnen  von  allen  möglichen  Verhältnissen  der  Ex- 
centricität  bilden.  Dieser  Fall  scheint,  wie  gesagt  bei  den  Doppelsternen 
sehr  häufig  zu  sein  (vgl.  S.  51). 

Wir  haben  jetzt  die  Entwickelung  bis  zu  der  Periode  verfolgt,  wo  5ich 
Planetensysteme  oder  Sternsysteme  gebildet  haben.  Die  Körper  derselben 
nehmen  bei  ihrer  Kondensation  aus  der  umgebenden  Materie  immer 
mehr  zu.  Anfangs  steigt  ihre  Temperatur  durch  die  Kondensation, 
dann  tritt  starke  Strahlung  und  damit  Abkühlung  (wenigstens  in  den 
höheren  Schichten)  ein.    Dieser  Zustand  wird  endlich  dazu  führen,  dass 


15 


* 


228  Physik  des  Himmels. 

sich  eine  feste  Kruste  bildet,  worauf  der  Wärmeverlust  nach  aussen  so 
gut  wie  gänzlich  abgebrochen  ist.  So  z.  B.  ist  der  jetzige  Wärme  Verlust 
der  Sonne  1,2.10^  cal.  pro  cm^  und  Minute.  Derjenige  der  Erde  beträgt 
nicht  einmal  2.10-^  cal.  pro  cm-  und  Minute.  Wenn  einmal  die  Sonne 
mit  einer  ebenso  dicken  Kruste  wie  die  Erde  (aus  denselben  eruptiven 
Gesteinen)  bedeckt  ist,  wird  sie  also  in  tausend  Millionen  Jahren  nicht 
viel  mehr  Wärme  verlieren,  als  jetzt  in  einem  einzigen.  Man  kann  wohl 
sagen,  dass  in  diesem  Euhezustand  die  Energie  der  Himmelskörper  auf 
unermessliche  Zeiten  aufbewahrt  wird. 

Vor  dem  Festwerden  der  äusseren  Einde  steigt  der  Druck  im  In- 
nern des  Himmelskörpers  stetig.  Denken  wir  uns,  dass  alle  die  linearen 
Dimensionen  zwischen  den  Zeitpunkten  ^  und  ^2  auf  die  Hälfte  gesunken 
seien.  Eine  horizontale  Oberfläche  von  (2  cm)^  wird  zur  Zeit  t^  durch 
das  Gewicht  der  darauf  lastenden  Gassäule  4  p,  d.  h.  p  auf  1  cm^  ge- 
drückt. Die  Oberfläche  1  cm^  hat  sich  zur  Zeit  ^2  auf  0,25  cm^  zusammen- 
gezogen, auf  welcher  das  Gewicht  Ap  lastet,  nachdem  die  oben  liegen- 
den schweren  Teile  alle  doppelt  so  nahe  zum  Centrum  gekommen  sind. 
Der  Druck  ist  also  pro  Quadratcentimeter  auf  Ißp  gewachsen.  Wenn 
nun  die  Masse  des  Himmelskörpers  dem  Boyle-Gay-Lussacschen 
Gesetze  folgen  würde,  was  anfangs  wohl  zu  einem  gewissen  Grade  gelten 
mag,  so  nimmt  der  Druck  im  selben  Verhältnis  wie  die  Konzentration, 
d.  h.  im  Verhältnis  8:1  zu,  falls  die  Temperatur  konstant  bleibt.  Da 
nun  der  Druck  thatsächlich  auf  den  16  fachen  Betrag  gestiegen  ist, 
muss,  damit  Gleichgewicht  obwalten  kann,  die  absolute  Temperatur 
auf  den  doppelten  Wert  hinaufgehen.  In  dieser  einfachen  Weise  be- 
weist Newcomb  in  Anschluss  an  Lane,  dass  die  Temperatur  mit 
dem  Drucke  steigen  muss.  Später,  wenn  grössere  Verdichtung  einge- 
treten ist,  werden  bald  die  Abweichungen  von  dem  Gasgesetz  so  gross 
werden,  dass  der  Druck  der  Potenz  1,333  der  Konzentration  propor- 
tional zunimmt,  wonach  also  die  Temperatur  zur  Erhaltung  des  Gleich- 
gewichts nicht  mehr  zu  steigen  braucht.  Dann  kommt  aber  die  Bildung 
von  stark  kondensierten  Molekeln,  welche  die  steigende  Abweichung  von 
dem  Gasgesetz  kompensiert,  sodass  das  Intervall,  in  welchem  die  Tem- 
peratur bei  der  Zusammenziehung  wächst,  sich  noch  weiter  erstreckt, 
als  es  sonst  thun  sollte. 

Auf  diese  Weise  hat  man  erwiesen,  dass  die  Sonne  und  die  Sterne  zu- 
folge von  Wärmeverlust  sich  in  ihren  älteren  Entwickelungsstadien  zu- 
sammengezogen und  gleichzeitig  ihre  Temperatur  erhöht  haben.  Umge- 
kehrt, wenn  eine  Gasmasse  von  grosser  Verdünnung,  wie  in  den  Nebeln, 


V.  Kosmogonie.  229 

Wärme  von  aussen  aufnimmt  und  sich  dabei  ausdehnt,  so  muss  ihre  Tem- 
peratur sinken. 

Man  kann  nun  fragen,  ob  eine  Gasmasse  bei  ihrer  Zusammen- 
ziehung ohne  äussere  Wärmezufuhr  sich  so  stark  erwärmt,  dass  ihre 
Temperatur  auf  den  doppelten  Betrag  oder  mehr  steigt,  wenn  der  Druck 
im  Verhältnis  1 :  16  zunimmt.  Für  diesen  Fall  gilt  die  Gleichung  (T^^ 
und  72,  bezw.  ^1  undp2  seien  Temperatur  und  Druck  vor  und  nach  der 
Zusammendrückung) : 

k-l 
^  J 

Falls  — - — ,  worin  k  das  Verhältnis  der  specifischen  Wärmen  bei 

konstantem  Druck  und  bei  konstantem  Volumen,  grösser  als  0,25  ist, 
wird  die  Bedingung  erfüllt.  Dies  trifft  ein,  wenn  ä^1,33  ist.  Diese 
Bedingung  wird  von  den  einatomigen  Gasen,  wie  Metallgasen  und 
Helium  {k  =  1,67)  erfüllt.  Auch  die  gewöhnlichen  Gase,  deren  Moleküle 
aus  zwei  Atomen  bestehen,  wie  Sauerstoff  (O2),  Wasserstoff  {E2),  Stick- 
stoff (A^2)  ^^^  Kohlenoxyd  {CO)  haben  ä;>>1,33,  indem  ihr  k=\,Al 
beträgt.    Die  Nebel  erfüllen  demnach  unzweifelhaft  die  Bedingung. 

Wenn  die  Kontraktion  sehr  weit  gegangen  ist,  nimmt  die  Beweg- 
lichkeit der  Gasmolekeln  in  hohem  Grade  ab,  sodass  die  reine  Wärme- 
leitfähigkeit eine  Rolle  zu  spielen  anfängt,  in  welchem  Fall  der  Wärme- 
verlust von  der  Sonnenoberfläche  nicht  durch  die  vom  Innern  zugeführte 
Wärme  ersetzt  werden  kann,  wonach  offenbar  eine  starke  Abkühlung  der 
äusseren  Teile  und  zuletzt  die  Bildung  einer  starren  Kruste  erfolgt. 

Der  Endzustand  der  aus  den  Nebeln  entwickelten  Himmelskörper 
ist  demnach  durch  grosse  Körper  von  unerhört  hohem  Druck  und 
Temperatur  in  ihrem  Innern  charakterisiert,  welche  von  einer  festen 
schlechtleitenden  Kruste  umgeben  und  als  beinahe  absolute  Behälter 
von  Energie  anzusehen  sind.  Zufolge  der  hohen  Temperatur  und  des 
hohen  Druckes  in  ihrem  Innern  sind  die  Atome  darin  zu  Verbindungen 
von  ungeheurem  Energieinhalt  bei  ausserordentlich  geringem  Volumen 
zusammengeschlossen. 

Diese  Körper  würden  nun  in  unermesslichen  Zeiten  umeinander 
kreisen,  wenn  für  die  Stabilität  des  Universums  ebensogut  gesorgt  wäre 
wie  für  diejenige  des  Sonnensystems.  Dies  ist  nun  aber  nach  der  Meinung 
der  einsichtsvollsten  Astronomen  nicht  der  Fall.  Im  Raum  irren  Sterne 
herum  mit  Geschwindigkeiten  so  gross,  dass  sie  von  keinem  Himmels- 
körper der  jetzt  bekannten  Dimensionen  in  feste  Jahnen  gelenkt  werden 


230  Physik  des  Himmels. 

können.  Arctur  und  1830  Groombridge  (vgl.  S.  19)  geben  die  auffallendsten 
Beispiele  dieser  eilenden  Himmelskörper.  Sie  müssen  die  Gegenden  des 
einen  Sonnensystems  nach  dem  anderen  durchstreichen,  bis  sie  in  der 
Unendlichkeit  der  Zeit  zuletzt  gegen  einen  zweiten  Weltkörper  stossen. 
Wenn  dieser  ein  Nebel  ist,  und  der  irrende  Stern  ihn  nicht  durchbricht, 
so  entsteht  ein  neues  Anziehungscentrum  im  Nebel.  Ist  dagegen  der 
angetroffene  Körper  eine  erloschene  Sonne,  so  erfolgt  eine  ungeheure  Ex- 
plosion. Die  hoch  temperierten,  energiereichen  und  stark  kondensierten 
Verbindungen  im  Innern  der  Sonne  kommen  zum  Teil  unter  geringere 
Drucke,  sie  explodieren  unter  ausserordentlich  starker  Wärmeentwicke- 
lung. Zu  den  Energieen  der  beiden  Himmelskörper  kommt  diejenige  des 
Stosses  hinzu.  Durch  die  Explosion  werden  die  Trümmer  der  beiden 
Weltkörper  wieder  auseinandergestossen,  sodass  ihre  Gase  zufolge  der 
verminderten  Schwerkraft  ausserordentlich  diffuse  Atmosphäre  bilden, 
die  dem  Nebularzustande  entsprechen.  Ein  neuer  Nebel  ist  wieder  ge- 
bildet und  das  Spiel  kann  von  neuem  anfangen.  Zufolge  der  gewalt- 
samen Ausdehnung  wird  beinahe  die  ganze  Energiemenge  in  potentielle 
Energie  wieder  verwandelt  sein.  Die  Temperatur  ist  auf  massige  Beträge 
gesunken  und  steht  in  den  äussersten  Schichten  nicht  viel  über  dem 
absoluten  Nullpunkt. 

Im  allgemeinen  wird  der  Stoss  beim  Zusammentreffen  der  beiden 
Himmelskörper  nicht  central,  sondern  schräg  sein.  Demzufolge  wird  der 
neugebildete  Nebel  von  Anfang  an  eine  Achsendrehung  erhalten. 

Viele  Astronomen  haben  eine  Extinktion  zufolge  dunkler  Materie 
im  Weltraum  angenommen.  Diese  verlorene  Licht-  und  Wärmemenge 
kommt  schliesslich  den  Nebeln  zu  gute,  teils  durch  ihre  Absorption  der 
Strahlung  der  Sonnen,  teils  durch  Aufnehmen  der  einstürzenden  ge- 
ladenen Partikelchen.  Alle  von  den  Sonnen  der  Welt  ausgestrahlte 
Energie  wird  schliesslich  von  diesen  Nebeln  aufgenommen,  welche  wegen 
ihrer  niedrigen  Temperatur  keinen  merklichen  Teil  davon  durch  Strah- 
lung verlieren  (sie  strahlen  übrigens  gegeneinander).  Die  Energie  wird 
in  ihnen  durch  die  Lockerung  und  Ausdehnung  der  äussersten  Gas- 
schichten aufgespeichert.  Eventuell  werden  dabei  Gasmolekeln  von 
höherer  mittlerer  Bewegung  in  den  Weltraum  hinausgetrieben,  wo  sie 
den  Wärmevorrat  anderer  Himmelskörper  (Nebel)  bereichern  können. 

Es  ist  also  eine  stete  Wechselwirkung.  Neue  Nebel  entstehen  aus 
erloschenen  Sonnen;  vielleicht  entspricht  dieser  Vorgang  demjenigen,  der 
in  einigen  Fällen  beobachtet  wurde,  bei  welchen  neue  (durch  Zusammen- 
stoss  entstandene)  Sterne  nach  kurzer  Zeit  verblassten  und  einem  Gas- 


V.  Kosmogonie.  231 

nebel  Platz  Hessen.  Aus  den  Nebeln  entstehen  Sonnen,  wobei  die 
(strahlende)  Energie  und  Materie,  welche  von  anderen  Sonnensystemen 
ins  Bereich  der  Nebel  gekommen  sind,  sich  wieder  konzentrieren.  Da- 
durch entstehen  heisse  Sonnen,  grosse  Konzentrationen  von  Kraft  und 
Materie,  welche  anfangs,  unter  Zunahme  von  Temperatur  und  Druck, 
durch  Strahlung  unerhörte  Wärmemengen  und  etwas  Materie  verschleu- 
dern, welche  in  Nebeln  angehäuft  werden.  Danach  kühlen  sie  sich  ab, 
erhalten  später  eine  feste  Kruste  und  gehen,  wie  die  Sporen  der  Lebe- 
wesen, in  einen  Ruhezustand  über,  wo  sie  nur  minimale  Mengen  Energie 
und  so  gut  wie  keine  Materie  verlieren.  Zu  neuem  Kreislauf  werden 
sie  wieder  erweckt,  wenn  sie  mit  einem  anderen  Weltkörper  dieser 
Art  zusammenstossen,  wobei  durch  Explosion  ein  neuer  Nebel  entsteht. 

Die  Entwickelungszeit  der  Sonnen  dürfte  der  kürzeste  Abschnitt  in 
dieser  Entwickelungsgeschichte  sein,  der  Ruhezustand  des  dunklen  Him- 
melskörpers der  längste  und  der  Nebularzustand  eine  mittlere  Länge 
einnehmen.  Es  wäre  demnach  zu  vermuten,  dass  der  grösste  Teil  der 
Materie  sich  in  dunklen  Himmelskörpern  eingeschlossen  befindet,  die 
geringste  in  heissen  Sonnen.  Das  grösste  Volumen  nehmen  dagegen 
die  Nebel  ein,  welche  auch  die  niedrigste  Temperatur  besitzen.  Die 
Oberflächentemperatur  der  dunklen  Körper  wird,  falls  sie  nicht,  wie  die 
Planeten  des  Sonnensystems  in  der  unmittelbaren  Nähe  eines  mächtigen 
strahlenden  Körpers  sich  befinden,  nahezu  auf  die  Temperatur  der  Körper, 
gegen  welche  sie  strahlen,  d.  h.  der  Nebel,  oder  mit  anderen  Worten, 
auf  den  absoluten  Nullpunkt  sinken.  Es  wird  demnach  die  mittlere 
Temperatur  des  Weltalls  (unsere  Sonne  abgerechnet),  mit  welcher  man 
bei  Strahlungsversuchen  zu  rechnen  hat,  zum  überaus  überwiegenden 
Teil  von  den  Nebeln  (und  den  dunklen  Weltkörpern)  bestimmt  werden, 
d.  h.  nur  wenige  Grade  über  dem  absoluten  Nullpunkt  liegen,  was  nach 
Langleys  Versuchen  gänzlich  der  Erfahrung  entspricht. 

Die  jetzt  gewöhnlich  angenommene  Ansicht,  welche  von  Helm- 
hol tz  und  besonders  von  Lord  Kelvin  entwickelt  wurde,  geht  dahin, 
dass  alle  Sonnen  ihre  Energie  in  den  unendlichen  Weltraum  hinaus- 
strahlen, ohne  dass  diese  Energie  anderen  Körpern,  sondern  nur  dem 
Lichtäther  zu  gute  kommt. 

Diese  Abkühlung  der  Sonnen  sollte  nach  der  genannten  Ansicht  in 
einem  Zeitraum  ablaufen,  der  mit  den  geologischen  Zeitmaassen  ver- 
glichen werden  könnte.  So  z.  B.  sollte  die  Dauer  unserer  Sonne  als 
lichtspendender  Körper  zu  etwa  15  Millionen  Jahren  vor  und  8  Millionen 
Jahren  nach  unserer  Zeit  beschränkt   sein  (vgl.  S.  160).     Etwas   ahn- 


232  Physik  des  Himmels. 

liches  würde  für  andere  Sonnen  gelten,  wenn  auch  einige  derselben, 
welche  grösser  als  unsere  Sonne  sind,  länger  gedauert  hätten.  Dabei 
ist  zu  bemerken,  dass  eine  Sonne,  deren  lineare  Dimensionen  zehnmal 
diejenigen  unserer  Sonne  überträfen,  die  also  1000  mal  grösser  wäre,  doch 
nur  etwa  zehnmal  länger  in  jeder  Phase  aushielte,  da  die  strahlende 
Oberfläche  100  mal,  die  Wärmekapacität  1000  mal  grösser  als  ent- 
sprechende Eigenschaften  bei  unserer  Sonne  wären.  Man  kommt  nach 
der  erwähnten  Auffassung  zu  dem  Schluss,  dass  dem  Weltsystem  eine 
endliche  Zeit  zugemessen  ist. 

Eine  solche  Anschauung  ist  schwerlich  mit  unseren  Begriffen  über 
die  Unzerstörbarkeit  der  Energie  und  der  Materie  in  Einklang  zu  bringen. 
Auch  wenn  man  die  früher  angenommene  Zeit  von  etwa  20  Millionen 
Jahren,  die  jedem  Sonnensystem  zugemessen  ist,  auf  Hunderte  von 
Milliarden  Jahren  vergrössert,  was  unseren  jetzigen  Erfahrungen  nicht 
widerspricht,  so  ist  die  Vorstellung  von  einem  einmaligen  Bestehen  der 
Sonnen  in  einer  messbaren  Zeit  wenig  befriedigend.  Diese  Schwierigkeit 
wird  durch  die  oben  gemachte  Annahme  entfernt,  dass  die  einmal  er- 
loschene Sonne  nach  einer  ihre  Strahlungsperiode  vielleicht  millionenmal 
überlegene  Ruheperiode  wieder  durch  Zusammenstoss  zu  einer  neuen 
Periode  von  kräftiger  Entwickelung,  erst  im  Nebel-,  dann  im  Sonnen- 
zustande,  zurückgebracht  wird.  Wenn  nun  dieser  Prozess  beliebig  oft 
wiederholt  werden  könnte,  so  würde  unser  Verlangen  nach  einem  Be- 
stehen des  Weltsystems  in  unabsehbaren  Zeiträumen  befriedigt  sein. 

Wie  wir  gesehen  haben,  verschlucken  die  Nebel  die  Strahlungs- 
energie der  warmen  Weltkörper  und  setzen  dieselbe  teilweise  in  poten- 
tielle Energie  um.  Ein  bestimmter  Bruchteil  der  einstrahlenden  Energie 
muss  aber,  nach  den  Forderungen  des  zweiten  Hauptsatzes  der  Wärme- 
theorie, als  Wärmeenergie  erhalten  bleiben.  Dieser  Bruchteil  kann  aber 
beliebig  klein  sein,  wenn  nur  die  Temperatur  des  bestrahlten  Körpers 
dem  absoluten  Nullpunkt  beliebig  nahe  liegt.  Nun  besitzen  die  Nebel 
eine  Temperatur,  die  sehr  wenig  von  dem  absoluten  Nullpunkt  entfernt 
ist.  Es  besteht  kein  Hindernis,  diese  Temperatur  beliebig  gering  an- 
zunehmen. Wir  können  folglich  ohne  Widerspruch  mit  unseren  jetzigen 
Erfahrungen  uns  vorstellen,  dass  die  oben  geschilderte  Wechselwirkung 
zwischen  Nebeln  und  Sonnen  sich  unbegrenzt  viele  Male  wiederholt. 

Weiter  als  zu  diesem  Punkt  zu  kommen,  in  welchem  es  erwiesen 
wird,  dass  in  erdenklichen  Zeiten  die  Entwickelung  der  Welt  möglicher- 
weise unter  ähnlichen  Umständen  geschieht,  wie  die  jetzt  vorherrschen- 
den, kann  man  nicht  hoffen.   Denn  eine  wirklich  unendliche  Ausdehnung 


V.  Kosmogonie.  233 

der  Zeit  und  des  Raumes  lässt  sich  nicht  mit  naturwissenschaftlichen 
Spekulationen  fassen.  Und  so  oft  unsere  Vorstellungen  über  den  jetzigen 
Zustand  sich  ändern,  müssen  wir  auch  unsere  Anschauungen  über  die 
Vergangenheit  und  die  Zukunft  modifizieren,  sodass  eine  endgiltige  Lösung 
der  berührten  Fragen  unmöglich  erscheint. 

Es  giebt  eine  andere  Ansicht  über  die  Art  und  Weise,  in  welcher 
die  Himmelskörper  sich  gebildet  haben.  Wir  haben  schon  früher  ge- 
sehen, dass  nicht  unbedeutende  Mengen  von  Meteorstaub  auf  die  Erde  her- 
unterfallen. Dieser  Umstand  veranlasste  einige  Forscher  zu  der  Hypothese, 
die  ganze  Erde  und  alle  Himmelskörper  seien  aus  Meteoriten  aufgebaut. 
Wir  haben  aber  eine  entgegengesetzte  Erfahrung.  Die  Kometenkörper 
sehen  wir  allmählich  in  Staub  zerfallen.  Aber  nicht  so  sehr  dieser  Um- 
stand, sondern  derjenige,  dass  die  genannte  Bildungsweise  das  Vor- 
kommen von  allen  möglichen  Arten  von  Excentricitäten  und  Neigungen 
der  Bahnen  verlangt,  zeigt,  dass  unser  Planetensystem  wohl  nicht  in 
dieser  Weise  entstanden  sein  kann. 


Physik  der  Erde. 
I.  Gestalt,  Masse  und  Bewegung  der  Erde. 

Kugel  form  der  Erde.  In  der  ältesten  Zeit  stellten  sich  die 
Menschen  die  Erde  als  eine  flache  Scheibe  vor,  welche  vom  Himmels- 
gewölbe überdeckt  wird.  Schon  früh  machten  die  etwas  kultivierten 
Völker  die  Erfahrung,  dass  diese  Ansicht  nicht  stichhaltig  sei,  sondern 
dass  vielmehr  die  Erde  Kugelgestalt  habe.  In  der  antiken  Welt  war  es 
die  Schule  der  Pythagoräer,  welche  (um  500  v.  Chr.)  diese  Lehre  ent- 
wickelten. Diese  Ansicht  drang  auch  gänzlich  in  das  Bewusstsein  des 
Yolkes  ein,  und  Aristoteles  gab  drei  Beweise  für  die  Kugelform  der  Erde. 

Im  Mittelalter  ging  diese  Einsicht  gänzlich  verloren,  ein  Anzeichen 
des  Zurückgehens  der  Kultur.  Die  damaligen  Philosophen,  die  Kirchen- 
väter, fallen  gänzlich  auf  die  ursprüngliche  naive  Ansicht  zurück.  Jedoch 
veranlasste  das  Studium  des  hochgeschätzten  Aristoteles,  dass  einige 
begabtere  Geister  die  Lehre  von  der  Kugelgestalt  wieder  aufnahmen. 
Andererseits  wurde  durch  arabische  Gelehrte  diese  Anschauung  aufrecht 
erhalten,  und  bekanntlich  veranlasste  dieselbe  Columbus  zu  seiner 
Reise,  durch  die  er  einen  westlichen  Weg  nach  Indien,  ausser  dem  be- 
kannten östlichen,  zu  entdecken  suchte. 

Als  Beweis  für  die  Kugelgestalt  der  Erde  wurde  angeführt,  dass 
der  Schatten  der  Erde  auf  dem  Monde  bei  partiellen  Mondfinsternissen 
von  einem  Kreisbogen  eingeschlossen  ist.  Weiter  beobachtete  man,  dass 
ein  Schiff,  welches  sich  auf  einer  Wasseroberfläche  entfernt,  immer  mehr 
unter  diese  herunterzusinken  scheint.  Dies  kommt  daher,  dass  man  von 
einer  bestimmten  Höhe  über  der  P^rdoberfläche  (oder  besser  Meeresober- 
fläche, weil  die  Erdoberfläche  immer  und  überall  etwas  uneben  ist)  nur 
einen  Kreis  von  bestimmtem  Radius  überblicken  kann.  Dieser  lässt 
sich  leicht  berechnen  aus  folgendem  Satz,   welcher   der  Geometrie  ent- 


T.  Gestalt,  Masse  und  Bewegung  der  Erde. 


235 


nommen  ist.  Verlängern  wir  (Fig.  69)  den  Durchmesser  BÄ  eines 
Kreises  bis  zum  Punkte  D  und  ziehen  von  D  eine  Tangente  DE  a.n  den 
Kreis,  welchen  sie  im  Punkte  E  berührt,  so  ist  das  Produkt  DBxDA 
gleich  dem  Quadrat  der  Länge  DE.  Setzen  wir  AC=BC=r,  AD  =  h 
und  DE=t,  so  wird: 

oder  für  Höhen  h,  welche  im  Vergleich  mit  dem  Erdradius  (r)  zu  ver- 
nachlässigen sind: 

t  kann  als  der  Halbmesser  des  von  D  aus  überblickten  Kreises  an- 
gesehen werden,  dieser  wächst  also  der  Quadratwurzel  aus  der  Beob- 
achtungshöhe proportional.    Man  findet  für: 


h=10       20       30       40       50       60       70 
if=ll,3     16,0     19,6     22,6     25,3     27,7     29,9 


80       90      100     m 
31,9     33,8     35,7  km. 


Den  besten  Beweis  für  die  Kugelform  der  Erde  findet  man  aber 
in  den  Änderungen  der  Höhe  von  der  Sonne  und  anderen  Gestirnen, 
welche  man  bemerkt,  wenn  man  sich  in  nord- 
südliclier  Richtung,  und  die  Änderung  der  Kul- 
minationszeit der  Sterne  und  Sonne,  wenn  man 
sich  in  ost-westlicher  Richtung  bewegt.  Da  zu  der 
letzteren  Beobachtung  sicher  gehende  Uhren  nötig 
sind,  konnte  sie  in  der  antiken  Welt  in  PJrmangelung 
guter  Zeitmesser  nicht  gemacht  werden.  Dagegen 
veranlasste  die  Änderung  der  Sonnenhöhe  mit  der 
geographischen  Breite  Eratosthenes  (276 — 195 
V.  Chr.)  die  erste  Gradmessung  zur  Bestimmung 
der  Dimensionen  der  Erde  vorzunehmen. 

Die  Gradmessungen.  Eratosthenes  ging  von  der  Voraus- 
setzung aus,  dass  die  Stadt  Alexandrien  gerade  nördlich  von  der  Stadt 
Syene  in  Egypten  liegt.  Der  Abstand  war  nach  officiellen  Angaben 
5000  Stadien  =  787,5  km.  Von  Syene  (Z  in  Fig.  70)  wurde  auch  an- 
genommen, dass  sie  unter  dem  nördlichen  Wendekreis  liege,  da  es  an- 
gegeben wurde,  dass  daselbst  am  längsten  Tag  die  Sonne  gerade  im 
Zenith  steht.  Eratosthenes  brauchte  dann  nur  am  selben  Tage  die 
Sonnenhöhe  (^)  in  Alexandrien  (A)  am  Mittag  zu  bestimmen.  Der  Unter- 
schied (90  —  <p)  zwischen  den  Sonnenhöhen  in  Z  und  A  ist  offenbar  gleich 


Fig.  69. 


236 


Physik  der  Erde. 


Fig.  70. 


dem  Winkel  ÄCZ,  welchen  der  Abstand  AZ  auf  einem  Meridiankreise 
der  Erdoberfläche  aufnimmt.  Eratosthenes  fand  9  =  82^  48'.  Nun 
muss  der  Erdumkreis  (JJ)  sich  zu  AZ  verhalten  wie  360  zu  (90  —  (p). 
Man  findet  dies  Verhältnis    360: 7«  12'  =  50,   woraus  ü  gleich   250000 

Stadien  =  39  375  km  hervorgeht.  Wie 
man  sieht,  ist  die  Abweichung  vom 
richtigen  Wert  (40000  km)  gar  nicht 
so  sehr  bedeutend. 

Einige  solche  Gradmessungen 
wurden  von  späteren  Forschern  im  Altertum  ausgeführt,  eine  weitere 
im  Mittelalter  auf  Befehl  des  Khalifen  AI  Mamun.  Die  grösste  Unge- 
nauigkeit  bei  dieser  alten  Methode  rührt  von  der  Schwierigkeit  her,  den 
Abstand  der  zwei  gerade  in  Nord  und  Süd  voneinander  belegenen 
Punkte  durch  direkte  Ausmessung  richtig  zu  bestimmen. 

Um  diesem  Übelstande  zu  entgehen,  schlug  Snellius  vor,  man 
sollte  diesen  Abstand  nicht  direkt  bestimmen,  sondern  eine  andere  Basis 

(AB  Fig.  71),  deren  Länge  bequem 
genau  bestimmt  werden  konnte,  aus- 
messen. Danach  sollte  man  die  Lage 
der  Fixpunkte  E,  F,  G,  H,  J,  K  und 
L  durch  Triangelmessung  genau  be- 
stimmen, wonach  die  Lage  der  beiden 
gerade  nord- südlich  voneinander  bele- 
genen Punkte  C  und  D  ebenfalls  in 
derselben  Weise  in  ihrer  Lage  zu  E 
undF,  bezw.Xund  L  bestimmt  wurden. 
Der  Abstand  CD  wurde  gleich  der 
Summe  aller  Projektionen  CF^  -jr  F^G^ 
4-  G^jJ,  +JiK^  -{-K^D  von  CF,  FG, 
GJ,  JK  und  KD  gesetzt,  welche  Pro- 
jektionen in  Bezug  auf  ihre  Länge  aus 
den  ausgemessenen  Winkeln  genau  be- 
stimmt werden  konnten.  Die  Basis 
AB  braucht  gar  keine  ausserordent- 
liche Länge  zu  besitzen  (einige  Kilometer),  um  genaue  Resultate  zu 
gestatten. 

Es  ist  von  der  grössten  Bedeutung,  die  Basis  AB  mit  einer  ge- 
nügenden Genauigkeit  auszumessen,  sodass  die  Fehler  in  der  Messung 
von  CD  zur  Hauptsache  von  der  Genauigkeit  der  Winkelmessungen  ab- 


Fig.  71. 


I.  Gestalt,  Masse  und  Bewegung  der  Erde.  237 

hängt.  Zur  Bestimmung  der  Basislänge  AB  werden  gewöhnlicher- 
weise sehr  solide  Maassstäbe  längs  der  Strecke  aufgelegt,  sodass  ihre 
Enden  einander  berühren.  Die  Messung  kann  noch  weiter  in  der  Weise 
verfeinert  werden,  dass  auf  jedem  Maassstab  das  eine  Ende  mit  einem 
Mikroskop,  das  andere  mit  einer  scharfen  Querritze  versehen  ist.  Durch 
Schrauben  Vorrichtungen  wird  der  Maassstab,  der  gerade  angelegt  wird, 
so  eingestellt,  dass  das  Bild  der  Eitze  auf  das  Haarkreuz  des  Mikro- 
skopes  fällt.  Da  die  Länge  der  Stäbe  in  vorhin  ermittelter  Weise  von 
der  Temperatur  abhängt,  sind  sie  gegen  Wärmezuleitung  durch  iso- 
lierende Mäntel  und  gegen  Sonnenstrahlung  durch  Zeltdächer  geschützt 
und  zur  Temperaturablesung  mit  eingesetzten  Thermometern  versehen. 

In  unkultivierten  Ländern  ist  es  häufig  nicht  möglich,  die  Basis 
auf  der  beschriebenen  umständlichen  Weise  auszumessen.  Man  ver- 
wendet deshalb  häufig  in  neuerer  Zeit  —  z.  B.  an  der  1900 — 1901  statt- 
gefundenen Gradmessung  auf  Spitzbergen  —  Metalldrähte,  die  zwischen 
festen  Stützen  gespannt  werden.  An  den  Enden  der  Metalldrähte  sind 
Federdynamometer  angebracht,  welche  die  Spannung  im  Draht  angeben. 
Das  Verhältnis  zwischen  der  Entfernung  der  Stützen  und  der  Länge 
des  Drahtes  bei  gegebener  Spannung  und  Temperatur  ist  durch  Vor- 
versuche bekannt.  Zur  Verminderung  der  Temperaturkorrektionen  be- 
nutzt man  Drähte  aus  Materialien  (Mckel-Stahl-Legierungen),  deren 
Wärmeausdehnung  beinahe  Null  ist,  und  überzieht  dieselben  mit  einer 
stark  reflektierenden  galvanisch  ausgefällten  Schicht  (von  Silber). 

Man  misst  die  Temperatur  durch  Vergleichung  der  Länge  des 
Drahtes  mit  einem  Draht  aus  anderem  Metall,  z.  B.  Stahl  oder  Messing, 
welcher  mit  dem  Messdraht  parallel  aufgehängt  ist.  Dieser  Draht  ist 
mit  demselben  Stoff  überzogen  wie  der  Messdraht.  Diese  beiden  Drähte 
zusammen  bilden  eine  Art  von  Metallthermometer. 

Man  kann  die  Fehler  bei  der  Bestimmung  der  Länge  eines  Grad- 
bogens zu  etwa  1  m  (ein  Hunderttausendstel)  herabsetzen. 

Zur  Bestimmung  der  Entfernungen  in  Europa  hat  man  diesen  Welt- 
teil mit  einem  Netz  von  Dreiecken  überspannt,  die  sich  zu  an  günstigen 
Plätzen  gelegenen  Basislinien  anschliessen.  Dieses  Netz  erstreckt  sich 
von  Hammerfest  im  nördlichsten  Norwegen  bis  zu  den  südlichsten 
Punkten  von  Europa  (35  Breitengrade),  wo  es  an  Punkte  in  Nord- 
afrika angeschlossen  ist.  In  west-östlicher  Richtung  erstreckt  sich  dieses 
Netz  von  Valentia  in  Irland  bis  nach  Orsk  im  Gouvernement  Orenburg 
(69  Längengrade).  Man  beabsichtigt,  ähnliche  Ausmessungen  in  Afrika 
vorzunehmen. 


238  Physik  der  Erde. 

Die  Gradmessungen  sind  immer  von  einer  Präcisionsnivellierung 
begleitet,  wodurch  die  vertikalen  Entfernungen  der  betreffenden  Triangel- 
punkte mit  der  grösstmöglichsten  Genauigkeit  bestimmt  werden. 

Snellius  führte  selbst  eine  Gradmessung  nach  seinen  Prinzipien 
aus.  Er  fand  den  Meridianquadranten  gleich  9665  km.  Yiel  genauer 
war  jedoch  die  Messung  von  Picard  am  Ende  des  17.  Jahrhunderts, 
wobei  er  zum  erstenmal  Fernrohre  zur  Messung  von  Winkeln  benutzte. 
Er  fand  in  dieser  Weise  den  ganz  guten  Wert  10009  km  für  einen 
Meridianquadranten.  Diese  Bestimmung  war  insofern  von  grosser  Be- 
deutung, als  sie  die  Ausarbeitung  von  Newtons  Gravitationstheorie  er- 
möglichte. 

Die  Abplattung  der  Erde.  Frühzeitig  entstanden  Zweifel,  ob 
die  Gestalt  der  Erde  genau  kugelförmig  sei.  Dies  lässt  sich  durch 
Gradmessungen  an  verschiedenen  Stellen  der  Erde  entscheiden.  Die 
Gradmessung  giebt  nämlich  einen  Wert  des  Krümmungshalbmessers  an 
der  betreffenden  Stelle.  Die  Gradmessung  von  Cassini  1680  schien 
anzudeuten,  dass  die  Krümmung  der  Erde  am  Pole  die  grösste  sei. 
Wenn  nun,  wie  thatsächlich,  die  Erde  nahezu  eine  Umdrehungsellipsoide 
bildet,  deren  kürzester  Durchmesser  durch  die  zwei  Pole  geht,  so  muss  der 
Krümmungsdurchmesser  eines  Meridianbogens  oder  die  daraus  berech- 
nete Länge  des  Meridianquadranten  vom  Äquator  zum  Pole  stetig  zu- 
nehmen. Um  dies  festzustellen,  wurden  Kommissionen  vom  König 
Ludwig  XV.  in  Frankreich  abgesandt,  welche  zwei  Gradmessungen  aus- 
führen sollten,  die  eine  in  Schweden  (nahe  am  Pole),  die  andere  in 
Peru  (nahe  am  Äquator).  Es  zeigte  sich,  dass  der  Meridianquadrant 
nach  den  betreffenden  Messungen  folgende  Werte  erhielt: 

Land                            Beobachter  Polhöhe  Meridian  quadrant 

Peru           Bouguer,  De  la  Condamine  — 1^31'            9952  km 

Frankreich                   Picard  49M3'          10009    „ 

Schweden               Maupertuis  66^20'          10075    „ 

Nach  diesen  Messungen  hat  also  die  Erde  die  Gestalt  einer  schwach 
abgeflachten  Ellipsoide  mit  der  kürzesten  Achse  durch  die  beiden  Pole. 

Solche  Gradmessungen  wurden  nun  in  den  verschiedenen  Welt- 
teilen ausgeführt.  Diese  Messungen  gewannen  noch  mehr  an  Bedeu- 
tung, als  die  französische  Regierung  beschloss,  die  Länge  des  Erdmeri- 
dianquadranten als  Grundlage  des  Maasssystems  anzunehmen.  Ein  Aus- 
schuss  sollte  die  Länge  des  Meters,  welcher  als  der  zehnmillionste  Teil 
des  Meridianquadranten  definiert  wurde,  feststellen.    Nach  neueren  Be- 


T.  Gestalt,  Masse  und  Bewegung  der  Erde.  239 

Stimmungen  soll  der  Meridianqiiadrant  eine  Länge  von  10000856  des 
im  Jahre  1790  festgesetzten  Meters  (des  sogenannten  Archivmeters)  be- 
tragen. 

Es  entstand  mm  die  Frage,  ob  nicht  vielleicht  die  Erdellipsoide 
drei  verschieden  lange  Achsen  habe,  seitdem  Jacobi  einen  Beweis  ge- 
liefert hatte,  dass  ein  solches  Ellipsoid  in  diesem  Falle  eine  Gleich- 
gewichtsfigur sein  kann.  Nach  Messungen  von  Clarke  sollte  ein  kleiner 
Unterschied  der  beiden  Äquatorialachsen  zum  Belang  von  etwa  0,72  km 
vorkommen,  während  der  Unterschied  des  Polarhalbmessers  und  des 
mittleren  Äquatorialhalbmessers  21,33  km  beträgt.  Die  Abplattung  oder 
das  Verhältnis  dieser  Differenz  zum  Äquatorialhalbmesser  sollte  demnach 
1:299  betragen. 

Man  ist  jetzt  allgemein  der  Ansicht,  dass  die  Erdellipsoide  am  ein- 
fachsten als  eine  Umdrehungsellipsoide  mit  einigen  unregelmässig^en 
Stellen  angesehen  werden  kann.  Die  grössten  Unebenheiten  auf  der 
Erdoberfläche,  wie  der  Berg  Gaurisankar  (8840  m  Höhe),  erreichen  nur 
den  siebenhundertsten  Teil  des  Erdhalbmessers,  übersteigen  aber  12  mal 
den  eventuellen  Unterschied  zwischen  den  beiden  Äquatorialhalbmessern. 

Direkte  Messung  des  Erdradius.  Wenn  man  an  zwei  hoch- 
gelegenen Punkten,  welche  in  grosser  Entfernung,  aber  doch  gegenseitig 
sichtbar,  gelegen  sind,  die  sehr  nahe  gleichen  Winkel  zwischen  der 
Sichtlinie  und  den  beiden  Lotlinien  bestimmt,  so  kann  man  mit  Kennt- 
nis des  Abstandes  zwischen  den  beiden  Punkten  die  beiden  anderen 
Seiten  in  dem  Dreieck  bestimmen,  dessen  Eckpunkte  in  den  beiden  Beob- 
achtungspunkten und  dem  Erdmittelpunkte  liegen.  Auf  diese  Weise 
machte  Oberst  Klose  Messungen  zwischen  dem  Strassburger  Münster 
und  der  Durlacher  Warte,  deren  Entfernung  voneinander  71,058  km 
beträgt.  Die  beiden  Winkel  waren  89^  48'  bezw.  89^  35',  woraus  der 
Erdquadrant  zu  10370  km  berechnet  wurde,  in  überraschend  guter  An- 
näherung an  die  Wahrheit.  Bei  dieser  Methode  spielt  die  atmosphä- 
rische Refraktion  eine  stark  störende  Rolle,  weshalb  dergleichen  Messungen 
in  keiner  Weise  mit  den  Gradmessungen  konkurrieren  können. 

Erddrehung.  Die  Abplattung  der  Erde  kann  als  eine  Folge 
ihrer  Drehung  um  eine  durch  die  Pole  gehende  Rotationsachse  erklärt 
werden.  In  der  That  sieht  man,  wie  alle  Gestirne  in  einem  Sterntage 
sich  rund  um  die  Himmelsachse  drehen,  wenn  man  den  Standpunkt  des 
Beobachters  als  fest  ansieht.  Diese  vom  Anfang  an  einfachste  Annahme 
wurde  aber  schon  früh  verlassen,  indem  man  einsah,  dass  die  Bewegung  nur 
relativ  ist.  Es  macht  nämlich  auf  unsere  Sinne  denselben  Eindruck,  wenn 


240  Physik  der  Erde. 

das  Himmelsgewölbe  sich  an  einem  Tage  von  Ost  nach  West  um  eine 
Achse  dreht,  während  die  Erde  still  steht,  wie  wenn  die  Gestirne  still 
stehen  und  die  Erde  in  derselben  Zeit  in  entgegengesetzter  Richtung 
um  die  Achse  rotiert.  Da  nun  die  Fixsterne  auch  nach  alten  Be- 
griffen viel  weiter  von  uns  entfernt  liegen  wie  Mond  und  Sonne,  so  muss 
man  bei  der  Annahme,  dass  das  Himmelsgewölbe  sich  dreht,  eine  ganz 
ausserordentlich  grosse  Geschwindigkeit  annehmen,  die  viel  unwahr- 
scheinlicher vorfällt,  als  die  zwar  nach  gewöhnlichen  Begriffen  ganz 
grosse  Drehungsgeschwindigkeit  der  Erde  um  ihre  Achse  (465  m  pr.  Sek. 
für  einen  Punkt  an  der  Meeresoberfläche  am  Erdäquator). 

Die  Achsendrehung  der  Erde  war  den' denkenden  Geistern  der  alten 
Zeit,  wie  Plato,  429—348  v.  Chr.,  und  seinen  Schülern  und  besonders 
dem  Aristarch  aus  Samos,  um  265  v.  Chr.,  nicht  unbekannt.  Die 
Kenntnis  davon  wurde  aber  im  Mittelalter  verloren  und  erst  von  Co- 
pernicus  wieder  als  einer  der  Grundsteine  seines  Systems  aufge- 
nommen (1542). 

Die  Copernicanische  Lehre  wurde  in  der  gehässigsten  Weise  von  den 
kirchlichen  Autoritäten  unterdrückt.  Copernicus  selbst  entging  durch 
seinen  Tod  dem  Märtyrertum,  welches  dafür  Giordano  Bruno  und 
Galileo  Galilei  traf.  Dass  selbst  sonst  sehr  klarsehende  Männer 
die  Lehren  von  Copernicus  verliessen,  sieht  man  aus  dem  Verhalten 
Tycho  Brahes,  welcher  wieder  die  Erde  in  die  Mitte  der  Welt  ein- 
setzte. Durch  Galilei  und  Kepler  wurde  endlich  die  Copernicanische 
Ansicht  zum  Siege  geführt. 

Die  oben  genannte  Abplattung  der  Erde  gegen  die  Pole  ist  einer 
der  Beweise  für  ihre  Achsendrehung. 

Man  kann  nun  die  Frage  aufstellen,  ob  die  Achsendrehung  der 
Erde  immer  gleich  schnell  vorsichgegangen  ist  oder  nicht.  Um  dies  zu 
entscheiden,  kann  man  die  Länge  des  Tages  nur  mit  anderen  Perioden 
bestimmter  Länge  vergleichen,  wozu  die  Zeit  zwischen  Finsternissen  be- 
nutzt wurde.  In  dieser  Weise  glaubte  Laplace  den  Schluss  ziehen  zu 
dürfen,  dass  seit  729  v.  Chr.  der  Sterntag  seine  Länge  nicht  um  ^j^qq  Se- 
kunde verändert  hat. 

Es  giebt  zwei  Umstände,  welche  die  Länge  des  Sterntages  beein- 
flussen müssen,  die  bremsende  Einwirkung  der  Gezeiten  und  der  be- 
schleunigende Einfluss  der  Zusammenziehung.  Diese  beiden  Umstände 
scheinen  einander  ziemlich  genau  zu  kompensieren.  Einige  astrono- 
mische Beobachtungen  scheinen  anzudeuten,  dass  in  einigen  Zeitepochen, 


T.  Gestalt,  Masse  und  Bewegung  der  Erde.  241 

wie  1769  -1789  und  1840 — 1861  der  Sterntag  an  Länge  zugenommen, 
dagegen  in  den  sechziger  Jahren  wieder  abgenommen  habe. 

Die  Centrifugalkraft  an  der  Erdoberfläche.  Diese  rotierende 
Bewegung  verursacht,  dass  ein  schwerer  Körper  am  Äquator  weniger 
als  am  Pole  wiegt,  indem  ein  Teil  der  Anziehung  dazu  verbraucht  wird, 
dem  Körper  die  Krümmung  seiner  Bahn  zu  geben,  d.  h.  zu  verhindern, 
dass  er  in  den  leeren  Kaum  hinausfliegt.  Diese  Kraft  K  ist  nach  den 
Ableitungen  der  Mechanik  ausgedrückt  durch  die  Formel: 

worin  r  die  Länge  des  Krümmungsradius  der  Bahn  in  Centimetern  (hier 
den  Abstand  des  Körpers  zur  Drehungsachse),  m  die 
Masse,  v  die  Geschwindigkeit,  T  die  Umdrehungszeit 
des  Körpers  (hier  die  Länge  des  Sterntages  in  Sekun- 
den) und  Jt  die  Zahl  3,14159  bedeuten.  Wenn  q)  die 
geographische  Breite  des  Ortes  und  E  die  Länge  des 
Erdradius  darstellen,  so  ist  in  nebenstehender  Figur 
(Fig.  72),  die  ein  Viertel  des  Erddurchschnittes  dar- 
stellt, 0  der  Mittelpunkt,  OA  der  Äquatorialhalbmesser,  DOA  =  % 
DE=K,  CD  =  r  und  man  findet: 

r  =  i?cos^. 

Weiter  kann  man  die  Kraft  K  =  DE  in  zwei  Teile  zerlegen,  von  welchen 
der  eine  DF  in  Eichtung  der  Schwere  geht,  der  andere  dazu  senk- 
recht, es  ist  dann: 

I)F=  DEcosq=m-  ,  y  'Rcos'^(p. 

Dies  ist  der  Ausdruck  des  Anteiles  der  Centrifugalkraft,  welcher 
die  Schwere  vermindert.  Für  die  Masseneinheit  (m=1)  beträgt  sie 
3,39  cm/sek.'-^  am  Äquator  (cosgD  =  l).  Da  nun  die  Beschleunigung  der 
Schwere  am  Äquator  nach  den  neuesten  Messungen  978,125  cm/sek.^ 
beträgt,  so  würde  die  Schwere  eines  Körpers  am  Äquator  zufolge  der 
Centrifugalkraft  um  '/jgg  geringer  sein  als  am  Pole. 

Wenn  nun  die  Erde  flüssig  wäre  und  sich  um  ihre  Achse  drehte, 
so  würde  sie  zufolge  der  Centrifugalkraft,  wie  schon  Newton  einsah, 
die  Form  eines  IJmdrehungsellipsoides  annehmen.  Newton  dachte 
sich  dies  folgendermaassen:   Es   sei  die  Erde  fest  wid   zwei  Bohrlöcher 

A;ri'heniii9,  Kosmische  Physik.  IG 


242  Physik  der  Erde. 

A  und  B  von  1  cm^  Querschnitt  (Fig.  73)  längs  eines  polaren  und 
eines  äquatorialen  Halbmessers  hineingetrieben.  Es  sei  Wasser  in  die 
beiden  Bohrlöcher  gefüllt.  Wenn  die  Erde  sich  nicht  um  ihre  Achse 
drehte,  so  würde  natürlicherweise  das  Wasser  in  den  beiden  im  Erd- 
mittelpunkt 0  kommunizierenden  Köhren  OA  und  OB  {B  am  Pole)  gleich 
hoch  stehen. 

Durch  die  Schwungkraft  wird  aber  eine  Flüssigkeitsschicht  von  1  cm 
Dicke  (und  1  cm'^  Durchschnitt)  bei  A  um  V2S9  leichter  als  bei  B 
{0A==  OB).  In  einem  Punkte  a,  der  n  mal  näher  dem  Erdmittelpunkte 
als  A  liegt,  wird  die  Centrifugalkraft  n  mal  geringer  sein  als  in 
A.     In   demselben  Verhältnis   nimmt   aber  auch,   wie  Newton  zeigte 

(wenn  die  Dichte  der  Erde  überall  gleich  ist,  vgl. 

unten),   die   Schwere   von   einem   cm^   Wasser   ab. 

Es    ist    also    eine    bei    a  befindliche    1    cm  dicke 

Schicht    um    ^'259    leichter,   als   eine    ebenso   weit 

von  0  belegene  gleiche  Schicht  bei  h.     Die  ganze 

Wassersäule    OA  wird   also  um    ^289   leichter  als 

die  Wassersäule  OB,  Um  diesem  Unterschied  ent- 

Fig.  73.  gegenzuwirken  und  Gleichgewicht  herzustellen,  muss 

man  dann  jedes  Element  von  289  cm  Länge  in  OA 

mit  einem  von  290  cm  Länge  in  OB  ersetzen  oder  auf  OA  eine  Schicht 

giessen,   die  V289  der  Höhe  von  OA  besitzt. 

In  der  That  stimmt  diese  Ableitung  sehr  gut  mit  den  Resultaten 
der  Gradmessungen.  Die  Übereinstimmung  ist  aber  zufällig,  weil  die  Ent- 
fernungen von  0  der  einander  kompensierenden  Elemente  in  OA  und  OB 
nicht  gleich  gross  sind.  Zwar  sollte  nach  Clairaut  die  Abplattung 
1,25  mal  grösser  sein,  als  das  Verhältnis  der  Centrifugalkraft  am  Äquator 
zur  Schwere  am  Pole,  woraus  der  Wert  V231  hervorgeht.  Diese  Be- 
rechnung ist  aber  unter  Voraussetzungen  gemacht,  die  sicherlich  nicht 
erfüllt  sind. 

Veränderung  der  Schwere  nach  dem  Beobachtungsort. 
Pendelmessungen.  Um  die  Ungleichheit  der  Schwere  an  verschie- 
denen Stellen  zu  messen,  hat  man  verschiedene  Apparate  konstruiert. 
Der  einfachste  ist  das  Pendel.  Nach  dem  Pendelgesetze  sind  die 
Schwingungszeit  ^,  die  Länge  /  des  Pendels,  sein  halber  Schwingungswinkel 
(p  und  die  Beschleunigung  g  der  Schwerkraft  durch  die  Beziehung: 


^  =  ^^(l  +  isin2<p-|-....) 


I.  Gestalt,  Masse  und  Bewegung  der  Erde. 


243 


verbunden.  Aus  dieser  Formel  kann  man  g  berechnen,  wenn  man  / 
und  /  kennt.  Will  man  nun  die  örtlichen  Veränderungen  der  Schwer- 
kraft g  kennen  lernen,  so  braucht  man  nur  an  den  verschiedenen 
Örtlichkeiten  t  zu  bestimmen.  /  hält  sich  nämlich  für  dasselbe  Pendel 
konstant,  insofern  die  Temperatur  sich  nicht  verändert.  Man  darf  auch 
nur  kleine  Schwingungsbogen 
(2  9))  verwenden,  sonst  ist  auf 
der  rechten  Seite  auf  die  in 
Klammer  gesetzte  Keihe 
Kücksicht  zu  nehmen.  Die 
Änderung  der  Länge  /  mit 
der  Temperatur  wird  in  einem 
festen  Observatorium  ein 
für  allemal  festgestellt.  Die 
Temperatur  des  Pendels  in 
einem  bestimmten  Zeitmo- 
ment wird  danach  an  einem 
in  das  Pendel  eingesenkten 
Thermometer  abgelesen.  Et- 
was Einfluss  auf  die  Schwin- 
gungsdauer hat  auch  der 
Luftdruck,  weshalb  man  astro- 
nomische Uhren  in  Pendel- 
kasten, die  bis  zu  einem  be- 
stimmten geringen  Luftdruck 
ausgepumpt  sind,  einsetzt. 

In  den  meisten  Ländern 
benutzt  man  zu  der  geodetischen  Ausmessung  das  Pendel  v.  Sternecks 
(Fig.  74).  Die  Linse  dieses  Pendels  besteht  aus  einem  aus  zwei  ab- 
gestumpften Kegeln  zusammengesetzten  schweren  Stück,  welches  an 
der  massiven  cylindrischen  Pendelstange  befestigt  ist.  Diese  ist  an 
zwei  Achatschneiden  über  einer  mit  eingelegten  Achatplatten  ver- 
sehenen Messingplatte,  die  auch  eine  Wasserwage  trägt,  aufgehängt. 
Von  der  Messingplatte  gehen  drei  solide  Stativfüsse  mit  Stellschrauben 
aus.  Zum  Schutz  gegen  Luftströmungen  ist  der  ganze  Apparat  unter 
einen  Kasten  gestellt.  Die  Pendelstange  ist  arretiert,  solange  Be- 
obachtungen nicht  angestellt  werden.  Die  Ausschläge  werden  sehr 
gering  genommen,   nur  einige  Minuten  gross,   sodass  die  Schwingungen 

als  vollkommen  isochron  betrachtet  werden  können.  Die  Grösse  des  an- 

IG* 


Fig.  74. 


244  Physik  der  Erde. 

fängliclien  Ausschlages  kann  nach  Belieben  mit  Hilfe  einer  eigens  dazu 
eingerichteten  Anordnung  genommen  werden.  Zur  Beobachtung  dienen 
ein  Lichtspalt,  Fernrohr  mit  Fadenkreuz  und  ein  an  den  Aufhänge- 
schneiden befestigter  Spiegel.  Das  Bild  des  Lichtspaltes,  worauf  das 
Fernrohr  eingestellt  ist,  passiert  dann  zweimal  während  jeder  Schwin- 
gung an  dem  horizontalen  Faden  des  Fadenkreuzes  vorbei. 

Um  die  Schwingungszeit  ganz  genau  festzustellen,  verwendet  man 
die  sogenannte  Methode  der  Koinzidenzen.  In  diesem  speziellen  Fall 
lässt  man  den  Anker  eines  Elektromagneten  durch  Verbindung  mit 
einem  unter  dem  Pendel  einer  Sekundenuhr  befindlichen  Kontakt  Se- 
kunden schlagen.  Der  Anker  ist  mit  einem  Schirme  verbunden,  welcher 
eine  feine  horizontale  Spalte  trägt.  Einmal  pro  Sekunde  liegt  diese 
Spalte  in  gerader  Linie  zwischen  Lichtquelle  und  der  einen  Hälfte  der 
vorhin  genannten  Spalte.  In  diesem  Augenblicke  blitzt  eine  Lichtlinie 
in  der  einen  Hälfte  des  Gesichtsfeldes  auf.  Wenn  nun  auch  das 
St  erneck  sehe  Pendel  eine  Schwingungszeit  von  genau  einer  Sekunde 
besässe,  so  würde  diese  Lichtlinie  immer  an  derselben  Stelle  im  Fern- 
rohr erscheinen,  findet  ein  (geringer)  Unterschied  zwischen  den  beiden 
Schwingungszeiten  statt,  so  verschiebt  sich  die  Lichtlinie  (langsam).  Man 
bestimmt  die  Zeiten,  in  welchen  die  aufblitzende  Lichtlinie  gerade  mit 
dem  Fadenkreuz  zusammenfällt.  Schwingt  dann  das  Pendel  langsamer 
wie  das  Sekundenpendel  und  sind  n  Sekunden  zwischen  zwei  solchen 
nach  einander  folgenden  Koincidenzen  verstrichen,  so  hat  'das  Pendel 
n  —  1  Schwingungen  in  n  Sekunden  vollführt.  Auf  diese  Weise  lässt 
sich  die  Schwingungszeit  ausserordentlich  scharf  ausmessen. 

Ähnlich  sind  die  Verhältnisse,  wenn  das  Stern ecksche  Pendel,  wie 
gewöhnlich,  ungefähr  doppelt  so  schnell  schwingt,  wie  das  Sekunden- 
pendel der  Komparationsuhr,  welche  in  einer  Sternwarte  aufgestellt  und 
durch  elektrische  Leitung  mit  dem  Beobachtungsort  verbunden  ist. 

Früher  benutzte  man  vielfach  das  sogenannte  Reversionspendel. 
Dieses  besitzt  zwei  Schneiden,  wovon  die  eine  beweglich  ist.  Durcli 
Verschiebung  derselben  bewirkt  man,  dass  die  Schwingungszeit  sich  nicht 
verändert,  wenn  man  das  Pendel  um  die  eine  Schneide  statt  um  die 
andere  schwingen  lässt.  Es  wird  in  der  Mechanik  bewiesen,  dass  die 
Pendellänge,  welche  in  die  obenstehende  Formel  in  diesem  Falle  ein- 
zuführen ist,  gleich  der  Entfernung  zwischen  den  beiden  Schneiden  zu 
setzen  ist. 

Die  beiden  Schneiden  korrespondieren  miteinander,  sodass  die  eine 
das  sogenannte  Schwingungscentrum  zu  der  anderen  als  Aufhängeachse 


I.  Gestalt,  Masse  und  Bewegung  der  Erde.  245 

ausmacht.  Wenn  nun  die  beiden  Schneiden  unsymmetrisch  zum  Schwer- 
punkt des  Pendels  liegen,  so  übt  der  Luftwiderstand  einen  verschieden 
verzögernden  Einfluss,  jenachdem  die  eine  oder  die  andere  Schneide  als 
Aufhängeachse  benutzt  wird.  Kückt  man  nun  die  eine  vom  Schwer- 
punkt ferner  liegende  Schneide  näher  zu  diesem  Punkt,  so  muss  man 
die  andere  Schneide  von  demselben  Punkt  entfernen,  damit  die  Korre- 
spondenz bestehen  bleibt.  Zuletzt  kann  man  erreichen,  dass  die  beiden 
Schneiden  gleich  weit  vom  Schwerpunkt  liegen.  Bessel  zeigte,  dass 
ein  solches  Pendel,  das  vollkommen  symmetrisch  ist,  nicht  nur  den 
Vorteil  bietet,  dass  der  Luftwiderstand  bei  Schwingungen  um  die  beiden 
Achsen  gleich  ist,  sondern  ausserdem  viele  andere,  indem  verschiedene 
Fehler  bei  der  Messung  leicht  entfernt  werden  können.  Eine  Fehler- 
quelle, die  darauf  beruht,  dass  die  Aufhängungsvorrichtung  des  Pendels 
in  Mitschwingungen  gerät,  kann  durch  Verwendung  von  zwei  Pendeln 
von  gleichem  Gewicht  aber  verchicdener  Länge  und  deren  Schwerpunkte 
in  ähnlicher  Lage  zu  den  beiden  Schneiden  sich  befinden,  eliminiert 
werden. 

Die  Reversionspendel,  welche  von  Dcfforges  verwendet  werden, 
schlagen  etwa  dreiviertel  Sekunden.  Die  beiden  Schneiden  aus  Stahl 
sind  unverrückbar  an  der  Pendelstange  befestigt.  Durch  Einschrauben 
einer  Silbcrmasse  an  das  eine  oder  das  andere  Ende  des  Pendels  kann 
der  Schwerpunkt  verschoben  und  damit  die  Schwingungszeit  verändert 
werden,  ohne  dass  die  Symmetrie  verloren  geht.  Dieses  Pendel  beweist 
seine  Unveränderlichkeit  dadurch,  dass  die  beiden  Schwingungszeiten  in 
den  beiden  Fällen  in  einem  unveränderlichen  Verhältnis  stehen.  Bei 
den  St  erneck  sehen  Pendel  versuchen  werden  mehrere  Pendel  zur 
Untersuchung  mitgenommen,  um  wahrscheinlich  zu  machen,  dass  die 
einzelnen  keine  Veränderung  erlitten  haben. 

Jedenfalls  ist  die  Bestimmung  der  Änderung  der  Schwerkraft  mit 
Hilfe  von  Pendelmessungen  eine  sehr  schwierige  Aufgabe,  welche  nur 
sehr  geübten  und  mit  guten  Hilfsmitteln  versehenen  Beobachtern  ge- 
lingt. Man  hat  sich  deshalb  sehr  bestrebt,  die  Pendelmcssungen  durch 
andere  zu  ersetzen,  wovon  die  wichtigsten  unten  erwähnt  werden; 
jedoch,  wie  es  scheint,  bisher  mit  zweifelhaftem  Erfolg. 

Das  Bathometer  von  W.  Siemens.  Die  Veränderung  der 
Schwere  kann  man  mit  Hilfe  einer  Federwage  messend  verfolgen.  Eine 
gewöhnliche  Wage  kann  diesen  Dienst  nicht  leisten,  weil  die  Gewichts- 
stücke ihre  Schwere  im  selben  Verhältnis  ändern,  wie  der  zu  wägende 
Körper.    Dagegen  ist  dies  nicht  mit  den  elastischen  Kräften  der  Feder- 


246 


Physik  der  Erde. 


wage,  welche  der  Schwere  des  zu  wägenden  Körpers  Gleichgewicht  halten 
soll,  der  Fall.  Auf  das  Prinzip  der  Federwage  ist  die  Konstruktion 
des  Bathometers  (Tiefenmessers)  von  Siemens  begründet  (Fig.  75).  Es 
besteht  aus  einer  langen  vertikalen  Stahlröhre  (/t),  welche  unten  in  einer 
grossen  Stahldose  (D)  endet,  deren  Boden  mit  einem  Wellenblech  (W) 
aus  Stahl  geschlossen  ist.  Nimmt  nun  die  Schwere 
zu,  so  wird  durch  den  vergrösserten  Druck  des 
Quecksilbers  das  Wellenblech  stärker  hinunterge- 
presst  wie  vorhin.  Demzufolge  sinkt  das  Quecksilber 
in  der  Röhre  t.  Damit  dieses  Sinken  nicht  den  Druck 
allzusehr  vermindere  und  den  Apparat  unempfindlich 
mache,  endet  die  Stahlröhre  t  auch  oben  in  einer 
weiten  flachen  Quecksilberdose  {D^ ).  Über  das  Queck- 
silber ist  Öl  geschichtet,  welches  seine  freie  Oberfläche 
in  einem  langen  engen,  an  der  Quecksilberdose  be- 
festigten mit  ihr  kommunizierendem,  Rohr  {S)  besitzt. 
An  einer  nebenliegenden  Skala  wird  die  Lage  des 
Ölmeniskus  und  damit  die  Schwerkraft  gemessen. 
Fig.  75.  Das  Instrument  ist  in  einer  C ard an i sehen  Auf- 

hängung montiert  und  muss  auf  genau  konstanter  Tem- 
peratur gehalten  werden.  In  einigen  Konstruktionen  ist  der  Ausschlag 
des  Instrumentes  ziemlich  von  der  Temperatur  unabhängig,  indem  die 
scheinbare  Zunahme  des  Druckes,  welche  von  der  Wärmeausdehnung 
des  Quecksilbers  und  des  Öls  herrührt,  durch  die  Verlängerung  einiger 
den  Wellenboden  tragenden  Federn  (ff)  nahezu  kompensiert  wird.  Leider 
giebt  diese  Methode  nicht  die  erwünschte  Genauigkeit. 

Das    Gasvolumeter  von  Issel.    Anstatt  Federkraft  kann  man 
die  Elasticität  eines  Gases  zur  Messung  der  Schwere  benutzen.  Mascart 
ji  konstruierte  ein  U-förmiges  Glasrohr,  dessen  einer 

Schenkel  V  (Fig.  76)  eine  abgesperrte  Gasmasse, 
dessen  anderer  H  Quecksilber  enthielt,  welches 
oben  in  einer  horizontalen  Kapillare  R  endete.  Bei 
Zunahme  der  Schwere  wird  das  Gas  (einige  be- 
nutzen anstatt  dessen  flüssige  schweflige  Säure, 
welche  stark  kompressibel  ist)  in  V  zusammengepresst  und  der  Queck- 
silbermeniskus in  R  verschiebt  sich  nach  links.  Der  Apparat  ist  gegen 
Änderungen  des  Luftdruckes  und  der  Temperatur  sehr  empfindlich,  wes- 
halb Issel  eine  abgesperrte  Gasmasse  vom  selben  Stoff  wie  der  in  V 
befindliche  und  vom  selben  Volumen  in  dem  an  R  luftdicht  befestigten 


Fig.  76. 


I.  Gestalt,  Masse  und  Bewegung  der  Erde.  247 

Rohre  V^  zur  Kompensation  einlegte.  Wenn  die  Schwere  sich  nicht 
ändert,  bleibt  der  Quecksilbermeniskus  vom  Luftdruck  unabhängig.  Ob- 
gleich der  Einfluss  der  Temperatur  in  diesem  Falle  stark  reduziert  ist, 
muss  man  sehr  genau  darauf  achtgeben,  dass  die  Temperatur  in  V  und 
Vi  gleich  ist.  Eine  Differenz  von  0,01^  C.  führt  einen  Fehler  von  einem 
Dreissigtausendstel  mit  sich. 

Die  Methode  von  Mohn.  Diese  Methode  beruht  darauf, 
dass  man  mit  einem  sehr  empfindlichen  Thermometer  durch  eine 
Siedepunktsbestimmung  den  wirklichen  Luftdruck  ermitteln  kann 
(das  Instrument  wird  sonst  zu  Höhenmessungen  benutzt  und  deshalb 
Hypsometer  genannt).  Diese  Luftdruckmessung,  die  auf  etwa  0,03  mm 
(0,001^  C.  entsprechend)  genau  gemacht  werden  kann,  braucht  nicht 
wegen  der  Schwere  korrigiert  zu  werden.  Gleichzeitig  liest  man  ein 
genaues  Quecksilberbarometer  ab.  Der  von  diesem  angegebene  Druck  soll 
mit  dem  am  Hypsometer  abgelesenen  gleich  sein.  Beim  Barometer 
muss  zur  Berechnung  des  Druckes  ein  Korrektionsfaktor  angewandt 
werden,  welcher  das  Verhältnis  der  Schwere  am  Beobachtungspunkt  zu 
derjenigen  an  der  Meeresoberfläche  bei  45^  Breite  angiebt.  Auf  diese 
Weise  kann  man  die  Intensität  der  Schwere  auf  etwa  ein  Zwanzig- 
tausendstel genau  ermitteln. 

Bestimmungen  der  absoluten  Masse  der  Erde. 
Das  Horizontalp  ende  1.  An  einer  schweren  Stange  PQPi  (Fig.  77) 
sind  an  zwei  Stellen  P  und  Q  Aufhängefäden  befestigt,  welche  von  den 
Punkten  A  und  B  gespannt  sind.  Der 
Schwerpunkt  T  der  Stange  PP^  möge 
rechts  von  Q  liegen,  so  wird  der  schwere 
Körper  PP^  sich  so  einstellen,  dass  sein 
Schwerpunkt  so  tief  wie  möglich  liegt, 
welches  eintrifft,  wenn  P  und  Q  in  der      ^  'ßT 

selben  Ebene  wie  Ä  und  B  und  der  von  Fig.  77. 

Ä  gegen  die  Horizontalebene  HH^  ge- 
fällten Lotlinie  AL  liegt.    Es  entspricht  dies  der  sogenannten  bifilaren 
Aufhängung,    bei  welcher    ein   schwerer    Körper  mittelst    zwei  Fäden 
aufgehängt  ist,   in  welchem  Falle  Gleichgewicht   dann  herrscht,   wenn 
die  beiden  Aufhängefäden  in  derselben  Ebene  liegen. 

Die  Empfindlichkeit  ist  um  so  grösser,  d.  h.  die  Kraft,  mit  welcher 
das  Pendel  zu  der  Gleichgewichtslage  zurückgeführt  wird,  nachdem  es 
daraus  verschoben  worden  ist,  fällt  um  so  geringer  aus,  je  näher  die 
Punkte  B  und  L  aneinander  liegen,  je  geringer  der  Abstand  PQ  und 


248  Physik  der  P]ide. 

die  Entfernung  QT  genommen  sind,  sowie  je  geringer  das  Gewicht  der 
Pendelstange  ist.  Durch  Justierschrauben  und  Verschiebungen  von  Ideinen 
Justiergewichten  auf  der  Stange  PP^  kann  man  die  Empfindlichkeit 
beinahe  beliebig  weit  steigern.  Die  Torsion  in  den  Aufhängefäden 
erlaubt  aber  nicht,  eine  gewisse  Grenze  zu  überschreiten.  Der  Aus- 
schlag wird  an  einer  Skala  S^  gewöhnlich  mit  Hilfe  von  Spiegel  und 
Fernrohr,  abgelesen.  Die  Verwendung  ist  ähnlich  derjenigen  der 
Drehwage. 

Die  Drehwage  ist  viel  einfacher  wie  das  Horizontalpendel  und 
giebt  bessere  Eesultate.  Im  Instrumente  von  Cavendish  (Fig.  78)  sind 
zwei  Bleikugeln  a  und  h  von  5  cm  Durchmesser  an  den  beiden  Enden 

einer  leichten  (180  cm  langen)  Stange  aufge- 
LJ  '^>'        hängt.     Die    Stange    selbst    hing    an    einem 

HO • — 0\y     100  cm  langen   Silberdrahte,   der  bei  c  be- 

O       festigt   war,   von   einer  Stütze   herab.     An  a 

^     T.-    na        '  und  b  konnten  zwei  grosse  Bleikugeln  Ä  und 

Flg.  78.  °  ° 

B  (Durchmesser  30  cm)  von  der  Seite  ge- 
nähert werden.  Befanden  sich  diese  in  A^  und  B^ ,  so  zogen  sie  a  und 
b  an,  dass  die  Auf  hängestange,  von  oben  gesehen  (wie  in  der  Figur),  sich 
wie  ein  Uhrzeiger  drehte.  Der  Drehungswinkel  zwischen  der  neuen  und 
der  alten  Gleichgewichtslage  wurde  mit  Hilfe  von  zwei  Skalen  bei  a  und  b 
gegenüber  Marken  an  den  Kugeln  a  und  b  bestimmt.  Zur  Verbesserung 
der  Resultate  wurden  A  und  B  nach  A2  und  B2  hinübergeführt  und  eine 
andere  Gleichgewichtslage  bestimmt.  Durch  besondere  Bestimmungen 
des  Trägheitsmomentes  und  der  Schwingungszeit  konnte  Cavendish 
die  Kraft  ausmessen,  welche  einem  bestimmten  Drehungswinkel  ent- 
spricht, welche  beiden  Grössen  einander  proportional  sind.  Die  stärk- 
sten Störungen  bei  dieser  Methode  rührten,  wie  Cavendish  fand,  von 
den  Luftströmungen  her,  welche  in  dem  relativ  grossen  Holzkasten  ent- 
standen, welcher  die  Stange  umgab.  Um  diesen  zu  entgehen,  hat  man 
bei  neueren  Bestimmungen  teils  die  Dimensionen  des  Apparates  vermin- 
dert, teils  auch  die  Luft  entfernt. 

Diese  ausgezeichnete  Methode,  die  Schwere  der  Erde  mit  derjenigen 
einer  Bleikugel  zu  vergleichen,  gab  in  den  Händen  von  Cavendish  (1798) 
den  sehr  guten  Wert  der  mittleren  Dichte  der  Erde  5,45.  Baily  fand 
später  in  derselben  Weise  5,67  (1841).  Reich  führte  die  Winkelmessung 
mit  Hilfe  von  Spiegel  und  Skala  aus.  Er  fand  Werte  zwischen  5,49  (1837) 
und  5,58  (1852).  Cornu  und  Baille  ersetzten  (1870)  die  Bleikugeln  A 
und  B  durch  Glasreservoire,  in  welche  Quecksilber  hinaufgepresst  werden 


I.  Gestalt,  Masse  und  Bewegung  der  Erde.  249 

konnte.  In  dieser  Weise  konnten  die  starken  Erschütterungen,  welche 
bei  der  Bewegung  der  grossen  Bleikugeln  erfolgten,  vermieden  werden. 
Die  Dimensionen  des  Apparates  waren  etwa  ein  Viertel  von  den  früher 
benutzten.     Sie  fanden  5,50  bis  5,56. 

Boys  verfeinerte  die  Methode  durch  Verwendung  von  Quarzfäden 
an  Stelle  der  Aufli im ge drahte.  Er  reduzierte  auch  stark  die  Dimen- 
sionen des  xipparates.  Die  Aufhängestange  war  nur  2,3  cm  lang,  die 
Kugeln  a  und  h  wogen  je  1,3  bis  4  g,  die  Kugeln  A  und  B  je  7,4  kg. 
Er  fand  (1895)  den  Wert  5,527.  Am  genauesten  sind  wohl  die  gleich- 
zeitigen Messungen  von  Pater  Braun,  welcher  die  Aufhängestange  in 
nahezu  luftleerem  Eaume  aufliing.  Die  kleinen  Kugeln  a  und  h,  welche 
auf  einer  leichten  Aluminiumstange  in  24,6  cm  gegenseitiger  Entfernung 
befestigt  waren,  wogen  je  54  g,  die  grossen,  A  und  5,  waren  mit  Queck- 
silber gefüllte  Hohlkugeln  aus  Gusseisen  vom  Totalgewicht  9,15  kg.  Er 
fand  5,5271,  wonach  das  Gewicht  der  Erde  5,985.10'^^  kg  betragen 
sollte. 

Die  Gravitationskonstante  k  in  der  Newtonschen  Formel  (S.  81) 
erhält,  wenn  A  =  5,527  gesetzt  wird,  den  Wert 

/^  =  6,67-10-8c.  g.  s. 

In  ähnlicher  Weise  fand  Eötvös  mit  einer  Drehwage,  die  unten 
beschrieben  ist,  die  Dichte  A  der  Erde  gleich  5,55. 

Wägungsmethoden  sind  in  letzter  Zeit  sehr  viel  verwendet 
worden.  Jolly  belastete  (1880)  die  zwei  Schalen  einer  Präcisionswage 
mit  je  5  kg  und  brachte  eine  grosse  Bleikugel  von  50  cm  Durchmesser 
und  5775  kg  Gewicht  unter  der  einen  Schale  an,  welche  an  20 — 25  m 
langen  Drähten  aufgehängt  war.  Es  entstand  dadurch  eine  Gewichts- 
vermehrung von  0,589  mg.  Jolly  fand  die  Zahl  A  =  5,7.  Dieselbe 
Methode  mit  einigen  Verfeinerungen  gab  (1891)  Poynting  die  Zahl 
A  =  5,49. 

In  neuerer  Zeit  ist  eine  Messung  nach  dieser  Methode  von  König, 
Richarz  und  Krigar-Menzelin  Spandau  ausgeführt  worden.  Sie  stell- 
ten eine  Präcisionswage  über  einen  aus  ziegeiförmigen  Stücken  zusam- 
mengesetzten, 100000  kg  wiegenden,  Bleiklotz  auf.  Die  Wage  trug 
vier  Schalen,  zwei  über,  zwei  unter  dem  Bleiklotze.  Jede  obere  Schale 
war  mit  der  einen,  senkrecht  unter  ihr  hängenden,  durch  Drähte  ver- 
bunden. Zwei  Massen  von  je  1  kg  wurden  auf  eine  obere  und  die 
nicht  damit  verbundene  untere  Schale  gelegt.  Danach  wurden  die 
Schalen  gewechselt.    Man  fand  so  A  =  5,505 +  0,009, 


250  Physik  der  Erde. 

Bei  der  Wägungsmethode  wirken  Luftströmungen  sehr  störend. 

Wilsing  benutzte  ein  Differentialpendel,  d.  h.  ein  Pendel,  an  dessen 
Stange  sich  zwei  Linsen  (kugelförmige)  befinden,  die  eine  oberhalb,  die 
andere  unterhalb  der  Aufhängungsschneide,  sodass  die  Schwingungszeit 
sehr  lang  wird.  Wilsing  näherte  (325  kg)  schwere  Eisencylinder  einmal 
der  oberen,  ein  anderes  Mal  der  unteren  Linse,  und  die  neuen  Schwin- 
gungszeiten wurden  abgelesen.  In  anderen  Versuchen  maass  er  die  neue 
Gleichgewichtslage,  welche  entstand,  wenn  schwere  Körper  zur  Seite  der 
Linsen  aufgestellt  wurden.    Er  fand  A  =  5,579. 

Die  Methode  der  Pendelschwingungen  wurde  zuerst  (1821) 
von  Carlini  ausgeführt.  Er  maass  die  Schwere  an  verschiedenen 
Höhen  des  Mont  Cenis.  Die  Masse  von  Mont  Cenis  und  diejenige  der 
Erde  beeinflussten  die  Schwere  in  verschiedener  Weise  an  verschiedenen 
Stellen.  Aus  der  Dichtigkeit  des  Berges  berechnete  er  diejenige  der 
Erde  zu  4,39—4,95. 

Die  gleiche  Methode  wurde  (1880)  von  Mendenhall  an  dem  japani- 
schen Berge  Fusi-yama  benutzt,  dessen  Gestalt  sehr  nahe  einem  Kegel 
entspricht  und  dessen  Schwerenwirkung  deshalb  relativ  sicher  berechnet 
werden  kann.    Das  Ergebnis  war  A  =  5,77. 

In  ähnlicher  Weise  fand  Pres  ton  durch  Messungen  am  Yulk  an- 
borge Habakala  auf  Hawai  A  =  5,13  (1895). 

Anstatt  Pendelschwingungen  kann  man  in  diesem  Falle  die  Ände- 
rung der  Gleichgewichtslage  des  Pendels,  d.  h.  die  Lotabweichung  messen. 
Die  Methode  wurde  von  Bouguer  (1749)  auf  Chimborazo  und  nachher  von 
Maskelyne  am  Berge  Shehallien  in  Schottland  (1775)  angewandt.  Durch 
Triangulation  maass  er  die  Entfernung  zweier  Punkte  nördlich  und  süd- 
lich vom  Berge.  Daraus  war  es  leicht,  ihre  Polhöhendifferenz  zu  be- 
rechnen. Diese  wurde  nun  in  gewöhnlicher  Weise  bestimmt  und  grösser 
gefunden.  Dies  rührt  davon  her,  dass  die  Lotlinien  nicht  gegen  den 
Mittelpunkt  der  Erde,  sondern  gegen  einen  zufolge  der  Wirkung  des 
Berges  höher  liegenden  Punkt  gerichtet  sind.  Aus  dem  Unterschied 
der  beobachteten  Polhöhendistanz  und  der  berechneten,  sowie  der  Grösse 
und  Dichte  des  Berges,  lässt  sich  die  Dichte  der  Erde  berechnen. 
Maskelyne  fand  den  Wert  4,7.  In  neuerer  Zeit  haben  James  und 
Clarke  ähnliche  Messungen  am  Berge  Arthurs  Seat  bei  Edinburgh 
ausgeführt  (1856).     Sie  fanden  A  =  5,32. 

An  diese  Messungen  erinnern  stark  diejenigen  von  Berget,  welcher 
Wasser  in  einen  Teich  einfüllte  oder  abliess.  Für  die  Messung  ver- 
wendete er  ein  Instrument  von  Mascart  (vgl.  S.  246).    Er  fand  A  =  5,41. 


I.  Gestalt,  Masse  und  Bewegung  der  Erde.  251 

Messungen  in  Schachten.  Newton  erwies  in  folgender  ein- 
fachen Weise,  dass  bei  einer  Messung  unter  der  Erdoberfläche  die  über 
dem  Beobachtungspunkte  liegenden  Schichten  nicht  auf  die  Schwere 
einwirken.  Denken  wir  uns  eine  dünne  Kugelschale  (Fig.  79)  zwischen  zwei 
konzentrischen  Kugelflächen  eingeschlossen.  Wir  wollen  beweisen,  dass 
die  Einwirkung  dieser  Kugelschale  auf  einen  in  ihr  befindlichen  schweren 
Punkt  (0)  Null  ist.  Nehmen  wir  ein  kleines  Stück  AB  auf  der  Oberfläche 
der  Kugel  und  ziehen  gerade  Linien  nach  0  von  dem  Rande  der  AB 
einschliessenden  Kurve,  so  begrenzen  diese  durch  eine  ähnliche  Kurve  ein 
Stück  CD  auf  der  anderen  Seite  der  Kugeloberfläche.  Der  Winkel, 
welchen  die  Flächenstücke  AB  und  CD  mit  dem  Radiusvektor  aus  0 
bilden,  ist  für  beide  gleich  (a),  nachdem  eine  beliebige  Sehne  AD  den 
gleichen  Winkel  mit  den  beiden  Seiten  des  durch  sie  gelegten  grössten 
Kreises  der  Kugel  bildet.  Da  nun  AB  als  sehr  klein  vorausgesetzt  wird, 
so  kann  dieser  Winkel  übrigens  als  für  alle  Seh- 
nen gleich  («)  angesehen  werden.  Die  Volumina 
der  beiden  unter  AB  und  CD  belegenen  Stücke 
der  Kugelschalen  verhalten  sich  wie  ABd  zu 
CDd,  worin  d  die  Dicke  der  Kugelschalen  be- 
deutet. Da  nun  w^eiter  AB  und  CD  den  gleichen 
Winkel  mit  dem  Radiusvektor  aus  0  einschliessen, 
so  verhalten   sich   die  Flächen  AB  zu  CD,   wie  Fig.  79. 

die  Quadrate  der  Radiivektoren    CA  bezw.  OD. 

Die  beiden  Massen  der  Kugelschalenstücke  verhalten  sich  demnach 
ebenso,  und  da  die  Schwerenwirkung  der  Masse  direkt  und  dem  Quadrate 
der  Entfernung  umgekehrt  proportional  ist,  so  wird  die  anziehende 
Wirkung  der  beiden  Stücke  AB  und  CD  gleich  aber  entgegengesetzt 
gerichtet.  Mit  anderen  Worten,  die  beiden  Anziehungen  heben  ein- 
ander auf.  In  derselben  Weise  beweist  man,  dass  alle  Teile  der  Kugel, 
welche  weiter  entfernt  von  dem  Mittelpunkt  der  Kugel  liegen  als  der 
Punkt  0,  keine  Schwerenwirkung  in  0  ausüben. 

Airy  machte  nun  Pendelversuche  in  einem  300  m  tiefen  Schacht 
einer  Kohlengrube  zu  Harten  (1854),  ebenso  wie  an  der  Tagöff"nung  dieses 
Schachtes.  Er  kam  zu  dem  eigentümlich  erscheinenden  Resultat,  dass  di-e 
Schwere  mit  der  Tiefe  zunimmt.  Man  könnte  nämlich  nach  Newtons 
Ableitung  vermuten,  dass,  da  das  Volumen  der  einwirkenden  Masse  propor- 
tional der  dritten  Potenz  der  Entfernung  von  dem  Erdmittelpunkte  und 
die  Schwerenwirkung  der  zweiten  Potenz  derselben  Entfernung  umgekehrt 
proportional  ist,  die  ganze  Wirkung,  d.  h.  die  Schweife  dieser  Entfernung 


252  Physik  der  Erde. 

proportional  wäre.  Dies  setzt  aber  voraus,  dass  die  Dichte  überall  im 
Erdkörper  gleich  ist,  was  nicht  zutrifft.  Die  mittlere  Dichte  der  Erde 
beträgt  nach  den  zuverlässigsten  Messungen  etwa  5,527,  die  Dichte 
an  der  Oberfläche  (der  verschiedenen  ßergarten)  wird  zu  etwa  2,6  an 
der  festen  Erdkruste  und  etwa  1,04  an  der  Oberfläche  des  Meeres  ge- 
schätzt. 

Diese  Zunahme  der  Dichte  mit  der  Tiefe  bewirkt  es,  dass  die 
Schwere  anfangs  nach  unten  zunimmt.  Airy  schätzte  aus  der  Dichte 
der  Kohlenlager,  die  oberhalb  dem  Beobachtungsorte  lagen,  die  Dichte 
der  Erde  zu  6,56.  Aus  neueren  Bestimmungen  haben  Haughton  die 
Zahl  5,48,  Schmidt  4,84  abgeleitet.  Diese  Methode  giebt  demnach 
sehr  unsichere  Resultate,  wie  man  auch  wegen  der  Schwierigkeit,  die 
Dichte  der  oberhalb  des  Beobachtungspunktes  liegenden  Schichten  zu 
schätzen,  erwarten  kann. 

V.  Sterneck  hat  dieselbe  Methode  in  dem  etwa  1000  m  tiefen 
Schacht  von  Pribram  benutzt,  er  fand  A  zwischen  5,71  und  5,81  (Mittel 
5,77)  wechselnd  (1883).  Ähnliche  Messungen  in  den  Schächten  von  Frei- 
berg (1885)  ergaben  ihm  mit  der  Tiefe  stark  ansteigende  Werte  von  A 
zwischen  5,66  und  7,60.  Dieser  Umstand  scheint  die  Anwesenheit  einer 
sehr  stark  störenden  Lokalwirkung  (vgl.  weiter  unten)  anzuzeigen.  Diese 
störenden  Einflüsse,  welche  man  nie  berechnen  kann,  machen  alle  Be- 
stimmungen der  Erddichte,  welche  durch  Vergleichung  mit  der  Dichte 
von  Erdschichten  erhalten  wurden,  in  hohem  Grade  unsicher. 

Die  Zunahme  der  Schwere  mit  der  Tiefe.  Aus  den  erwähnten 
Messungen  im  Pribramer  Schachte  hat  v.  Sterneck  geschlossen,  dass 
die  Schwere  mit  der  Tiefe  anfangs  zunimmt,  und  zwar  so,  dass  sie  in 
einer  Tiefe  von  991  m  10,000885  mal  grösser  als  an  der  Erdoberfläche 
ausfällt.  Diese  Zunahme  dauert  nur  bis  zu  einer  gewissen  Tiefe,  denn 
am  Erdmittelpunkte  ist  die  Schwere  Null.  Man  schätzt,  dass  die  Schwere 
ihr  Maximum,  das  um  etwa  5  Proz.  den  Wert  an  der  Erdoberfläche 
übersteigen  dürfte,  in  einer  Entfernung  von  etwa  0,82  Erdradien  vom 
Mittelpunkt  der  Erde  erreicht. 

Die  hohe  mittlere  Dichte  der  Erde  nötigt  zur  Annahme,  dass  das 
Erdinnere  aus  ganz  anderen  Bestandteilen  als  die  Erdkruste  (Silicate, 
Carbonate)  besteht.  Ein  genügend  hohes  specifisches  Gewicht  besitzen 
nur  wenige  Verbindungen  von  relativ  seltenen  Elementen;  Blei,  Queck- 
silber und  Jod  sind  darunter  die  gewöhnlichsten.  Da  diese  nicht  wohl 
in  nennenswerter  Menge  im  Erdinnern  vorkommen  können,  wird  man 
zu  dem  Schluss  geführt,  das  Erdinnere  bestehe  hauptsächlich  aus  metalli- 


1.  Gestalt,  Masse  und  Bewegung  der  Erde.  253 

sehen  Körpern,  und  zwar  vorzugsweise  Eisen  und  damit  verwandten 
Metallen.  Dafür  spricht  die  grosse  Rolle,  welche  das  Eisen  in  kosmischen 
Beziehungen,  z.  B.  der  Zusammensetzung  der  Meteorite  und  der  Sonne 
spielt.  Weiter  deuten  die  eruptiven  Eisenmassen  auf  der  grönländischen 
Disco-Insel  und  die  erdmagnetischen  Verhältnisse  darauf  hin.  Das  speci- 
lische  Gewicht  des  Eisens  ist  7,8  in  festem,  6,6  in  geschmolzenem  Zu- 
stande. Der  grössere  Teil  der  Erde  hestünde  demnach  aus  Eisen  (und 
verwandten  Metallen),   der  kleinere  aus  den  Materialien  der  Erdrinde. 

Die  mittlere  Dichte  der  Erdkruste  (vom  Wasser  abgesehen)  wird 
zu  etwa  2,6  geschätzt.  Über  die  Dichte  der  tieferen  Schichten  ist  sehr 
schwer  etwas  auszusagen,  nur  muss  sie  im  Mittel  -bedeutend  grösser 
sein,  nachdem  die  mittlere  Dichte  der  Erde  5,53  erreicht.  Man  hat  For- 
meln gegeben,  um  die  mittlere  Dichte  in  einer  bestimmten  Tiefe  zu 
berechnen.  Diese  sind  natürlicherweise  sehr  hypothetisch,  sie  führen 
zu  der  Annahme,  dass  ebenso,  wie  die  Dichte  an  der  Oberfläche  etwa 
halb  so  gross  ist,  wie  die  mittlere  Dichte  der  Erde,  so  auch  diese  an 
ihrer  Seite  etwa  halb  so  gross  ist,  wie  die  Dichte  am  Mittelpunkt 
der  Erde. 

Änderung  der  Schwere  mit  der  Höhe.  Jelly  benutzte  zu  den 
betreffenden  Messungen  seine  oben  erwähnte  Wage,  deren  Schalen  in 
verschiedener  Höhe  lagen.  Gewichte  von  5  kg  wurden  auf  die  beiden 
Schalen  gelegt  und  äquilibriert.  Danach  wurde  das  Gewicht  auf  der 
tieferen  Schale  hinaufgenommen  und  ganz  nahe  am  Wagebalken  ange- 
hängt. Der  Höhenunterschied  betrug  etwa  21m.  Nach  der  Yerschie- 
bung  musste  man  32  mg  mehr  zum  verschobenen  Gewicht  hinlegen, 
um  wieder  Gleichgewicht  zu  erhalten.  ♦ 

Wenn  nun  die  Entfernungen  von  dem  Mittelpunkt  der  Erde  in  den 
beiden  Fällen  R  und  R  +  h  sind,  so  müssen  sich  die  Schweren  desselben 
Körpers  in  den  beiden  Fällen  verhalten  wie: 

G  ~"(Ä+/0'^~  b' 

Da  nun  Oi  das  Gewicht  an  der  Erdoberfläche  (in  der  tieferen  Lage) 
5  kg  =  5.106  mg  beträgt,  7^  (der  Erdradius)  6  370000  m  und  h  21  m 
lang  sind,  so  wird  C^  (5.10^*  — 33)  mg.  Das  heisst,  in  der  höheren 
Lage  wiegt  der  5  kg  schwere  Körper  33  mg  weniger  als  in  der  tieferen 
Lage,  was  gut  mit  der  Erfahrung  übereinstimmt. 

In  einer  Höhe  von  3  km  wird  die  Schwere  um  0,1  Proz.  geringer 
sein  als  an  der  Erdoberfläche,   und   sonst  ist  die  Gewichtsabnahme  der 


254  Physik  der  Erde. 

Höhe  sehr  nahe  proportional.    Diese  Abnahme  gilt  für  frei  in  der  Luft 
gelegene  Punkte,  wie  Luftballons  oder  Türme  etc. 

Dagegen  ist  die  Formel  für  eine  Hochebene  nicht  giltig,  weil  da- 
selbst die  Wirkung  der  darunterliegenden  Gebirgsmasse  dazukommt. 

Es  sei  h  die  Dicke  einer  solchen  Gebirgsmasse  (die  Höhe  über  dem 
Meeresniveau).  Man  kann  dann  die  Wirkung  folgendermaassen  berech- 
nen (Fig.  80).  Wie  vorhin,  wird  es  erwiesen,  dass  die  Wirkung  der  Teile 
AB  und  CD  einer  Kugelschale  (von  gleichmässiger  Dichte)  auf  einen 
ausserhalb  der  Kugelschale  belegenen  schweren  Punkt  gleich  gross  ist, 
wenn  AB  und  CD  von  derselben  konischen  Fläche  abgeschnitten  werden, 
deren  Spitze  in  0  liegt.  Die  Wirkung  der  Kugelkalotte  MABM^  wird 
demnach  ebenso  gross  sein  wie  diejenige   der  Kalotte  MCDM^.     Wird 

nun  0  immer  näher  zur  Oberfläche  geschoben,  so 
wirken  schliesslich  nur  die  in  ihrer  nächsten  Nähe 
liegenden  Teile  des  Gebirgsmassives,  die  weiter  ent- 
fernten wirken  nach  horizontalen  Linien,  tragen 
also  nichts  zur  vertikal  gerichteten  [Schwere  bei. 
Die  Wirkung  des  Gebirgsmassives  wird  also  gleich 
derjenigen  der  oberen  Kalotte  sein  und  halb  so 
Fi^y.  80.  gross  wie   die  Wirkung   einer  die  ganze  Erde  um- 

gebenden Hohlkugel  von  der  Dicke  h  und  derselben 
Dichte  A'*7  wie  das  Gebirgsmassiv.  Die  Masse  {G)  einer  solchen  Hohl- 
kugel wäre  aber  G^  =  '^l^jt{(R-\-h)^~-R^}A\  diejenige  (G^j)  der  Erde 
dagegen  G=%jtR^A,  wenn  A  die  mittlere  Dichte  ist.  Da  weiter 
die  Wirkungen  von  Kugeln  und  Hohlkugeln  gerade  so  ist,  als  wären  ihre 
ganzen  Massen  in  ihre  Mittelpunkte  verlegt,  und  diese  für  beide  ge- 
meinsam sind,  so  werden  die  Anziehungen  der  beiden  Körper  auf  einen 
schweren  Körper  an  der  Oberfläche  der  Hohlkugel  sich  verhalten  wie: 

G,:  0  =  {{R  +  hy  -  B^}  A  :R^  A  =  l  +  ^^' 

Da  nun  der  Berg  eine  halb  so  grosse  Einwirkung  besitzt,  wie  die 
erwähnte  Hohlkugel,  so  wird  die  Schwere  G2  auf  dem  Hochplateau  in 
der  Mereshöhe  h  sich  zu  derjenigen  (Go)  an  der  Meeresoberfläche  ver- 
halten wie: 


Go       \         ^/    \         2RAJ 

Da  nun   A'   nahezu   die   Hälfte   von  A  beträgt,   so   können  wir 
schreiben: 


I.  Gestalt,  Masse  und  Bewegung  der  Erde.  255 

S=('-")('+IS=('-ll 

Der  Ausdruck  in  der  ersten  Klammer  bezieht  sich  auf  die  Ver- 
minderung der  Schwere  zufolge  der  Entfernung  vom  Erdmittelpunkte, 
derjenige  in  der  zweiten  Klammer  auf  die  Zunahme  der  Schwere  zu- 
folge der  Wirkung  des  Bergmassivs.  Die  Totalwirkung  giebt,  wie  er- 
sichtlich, eine  Abnahme  der  Schwere  mit  steigender  Hohe. 

Die  obenstehende  Formel  (von  Bouguer)  wird  dazu  benutzt,  um 
Schwerenmessungen  zur  Meeresoberfläche  zu  reduzieren. 

Aus  der  vorletzten  Formel  ersieht  man,  dass,  wenn  man  eine  sehr 
weitgehende  Aushöhlung  in  der  Erde  unter  dem  Beobachtungspunkte 
zu  einer  Tiefe  von  1000  m  zustande  brächte,  die  Schwere  um  A':235 
Prozent,  oder  wenn  für  die  Oberflächenschicht  A'  =  2,6  wäre,  um 
^90  Proz.  abnehmen  würde.  Da  die  Schwere  durch  die  Beschleunigung 
der  Schwerkraft,  ^  =  980  cm,  gemessen  wird,  so  entspricht  eine  Aus- 
höhlung oder  einem  sogenannten  Massendefekt  von  1000  m  einer  Ab- 
nahme in  g  von  0,11  cm.  Man  kann  auf  diese  Weise  die  Abweichung 
der  gemessenen  Schwere  von  einem  berechneten  Wert  so  ausdrücken, 
dass  diese  Abweichung  einem  Massendefekte  oder  einem  Massenüber- 
schusse  von  einer  bestimmten  Dicke  entspricht. 

Änderung  der  Schwere  mit  der  geographischen  Breite. 
Aus  dem  vorhin  Gesagten  fanden  wir,  dass  zufolge  der  Achsenumdrehung 
der  Erde  die  Schwerkraft  am  Pole  diejenige  am  Äquator  um  ^290  über- 
steigt. Zu  diesem  durch  die  Centrifagalkraft  verursachten  Unterschied 
kommt  noch  einer,  der  davon  herrührt,  dass  der  Erdmittelpunkt  weiter 
(6377,4  km)  vom  Äquator  als  von  den  Polen  (6355,6  km)  entfernt  ist. 
Wenn  die  schwere  Masse  ebenso  wirkte,  wie  wenn  sie  in  den  Mittelpunkt 
verlegt  wäre,  so  würde  der  diesbezügliche  Unterschied  nicht  weniger 
als  Vi 47  betragen.  Dieser  Wert  ist  aber  beinahe  viermal  zu  gross; 
der  Unterschied  erreicht  nach  genauer  Eechnung  nur  den  Wert  ^jr^^^- 
Danach  wäre,  falls  ^90  den  Wert  der  Beschleunigung  der  Schwere 
am  Pole  darstellt,  g^p  den  entsprechenden  Wert  an  der  geographischen 
Breite  (p  bezeichnet: 

5'</=5'!)o(l— ■5r9öCOs2f/))  (1  — ;5-i.jCOs2  9))=^yo  (1  — liycos^^p). 

Man  kann  nun,  anstatt  der  Beschleunigung  der  Schwere  g^>^  die 
Länge  des  Sekundenpendels  dtp  angeben,  welche  nach  der  Pendelformel 
mit  g,f,  durch  folgende  Relation  verknüpft  ist: 


256 


Physik  der  Erde. 
/^,  =^^:jr2  =  0,10129  ^y. 


Diese  Länge  haben  verschiedene  Forscher  bestimmt,  als  Mittelzahl  hat 
Broch  daraus  berechnet: 


L 


^  =  (1  —  0,00259  cos2  (p)  (1  —  196.10-9  h), 


worin  h  die  Höhe  in  Metern  über   die  Meeresoberfläche   bedeutet.     In 
diese  Formel  wäre  einzusetzen 

^^5=980,635  cm/sek.2  Z45  =  99,329  cm. 

Die  Schwerkraft,  bezogen  auf  diejenige  bei  45^  Breite  wäre  danach  für: 


Seehöhe 

Seehöhe 

Amsterdam  . 

4  m 

1,000483 

London    .    . 

5,5  m 

1,000582 

Athen  .    . 

.     120 

0,999347 

Lissabon  .    . 

.       95 

0,999417 

Batavia    . 

8 

0,997468 

Madrid     .    . 

.     663 

0,999457 

Berlin 

.       35 

1,000664 

Melbourne    . 

30 

0,999353 

Bern    .    . 

.     572 

1,000064 

München .    . 

525 

1,000181 

Boston     . 

.      38 

0,999753 

New^^orlv .    . 

56 

0,999605 

Breslau    . 

.     118 

1,000526 

Paris  .    .    . 

.       64 

1,000333 

Brüssel    . 

.       19 

1,000522 

Pest     .    .    . 

.      70 

1,000211 

Christiania 

.      23 

1,001284 

Petersburg  . 

20 

1,001287 

Dublin     . 

.       16 

1,000745 

Quebec    .    . 

70 

1,000149 

Edinburgli 

71 

1,000952 

Rio  de  Janeiro 

64 

0,998182 

Hamburg     . 

7 

1,000760 

Rom    .    .    .    . 

53 

0,999  710 

Helsingfors  . 

16 

1,001305 

Stockholm    .    . 

20 

1,001239 

Kairo  .    .    . 

29 

0,998702 

Warschau    .    . 

110 

1,000624 

Konstantinopel 

50 

0,999630 

Wien  .    .    . 

.     150 

1,000260 

Kopenhagen 

10 

1,000942 

Zürich      .    . 

470 

1,000123 

Anstatt  der  letzten  Formel  auf  S.  255  kann  man  ebenso  gut  schreiben: 

^y  =5'o  (1  +  m  sin'^r/))  =^45  (1  — -jj^  cos  2  9)), 

wenn  g^  die  Schwere   am  Äquator  ^,5    diejenige  unter  dem  45.  Breite- 
grade darstellt. 

Resultate  der  Schwerenmessungen.  Schon  durch  Messungen 
der  Lotabweichungen  hatte  man  die  Anziehung  von  grossen  Gebirgs- 
massen  konstatiert.  Diese  Anziehung  macht  sich  überall  in  der  Nähe 
von  grösseren  Gebirgsstöcken  geltend.    Sie  kann,  je  nach  der  Lage  der 


I.  Gestalt,  Masse  und  Bewegung  der  Erde.  257 

Felsen,  sowohl  positiv  wie  negativ  sein.  Positiv  wird  die  Abweichung 
genannt,  wenn  die  am  Ort  beobachtete  Breite  grösser  ist  als  die  aus 
der  geographischen  Lage  berechnete.  Die  Harzgegend  zeigt  recht  grosse 
positive  Lotabweichungen;  so  z.  B.  am  Brocken  +  9,44",  in  Ilsenburg 
-|-  11,11",  dagegen  südlicher  gelegene  Stellen  negative,  so  z.  B.  bei  Mühl- 
hausen i.  Th.  ■ —  4,00",  bei  Tettenborn  —  4,84".  Noch  grössere  Lotab- 
weichungen kommen  in  der  Schweiz  und  im  Kaukasus  vor,  so  z.  B.  zu 
Chaumont  17,80",  in  Wladikawkas,  nördlich  vom  Kaukasusgebirge  35,8", 
in  Duschet,  südlich  davon,  18,3". 

Bisweilen  können  die  Bergmassen  nicht  nur  nicht  anziehend,  son- 
dern sogar  scheinbar  abstössend  wirken.  Es  sieht  demnach  so  aus,  als 
ob  die  Bergmassen  nichts  wiegen  würden,  sondern  unter  ihnen  im  Erd- 
boden grosse  Löcher  befindlich  wären.  Man  sagt  dann,  dass  an  der 
betreffenden  Stelle  ein  Massendefekt  sich  vorfindet.  Solche  Defekte 
sind  durch  Lotabweichungen  an  mehreren  Stellen  konstatiert,  wie  in 
der  Nähe  von  Moskau,  an  einigen  Stellen  im  Kaukasus  u.  s.  w. 

Viel  ergiebiger  sind  die  Pendelmessungen  gewesen,  welche  beson- 
ders in  den  Alpenländern  ausgeführt  sind.  Man  erhielt  da  grosse  Ab- 
weichungen von  den  nach  der  B  roch  sehen  Formel  berechneten  Werten 
von  ^,  und  zwar  meist  negative,  so  z.  B.  bei  Innsbruck  — 0,121  cm,  was 
einem  Massendefekte  einer  Rinde  von  der  Dicke  1100  m  und  der  Dichte 
2,6  entspricht.  Massenüberschüsse  kommen  dagegen  in  der  norddeut- 
schen und  in  der  lombardisch -venetianischen  Ebene  vor.  Andere 
Massendefekte  sind  für  den  Schwarzwald  und  die  indischen  Gebirgsgegen- 
den nachgewiesen:  Dagegen  giebt  die  Beobachtung  auf  isolierten  Inseln 
grössere  Werte  der  Schwere  als  die  berechneten. 

Als  Beispiel,  wie  die  Abweichungen  der  Pendelschwingungszeiten 
von  den  für  dieselbe  Breite  berechneten  Werten,  durch  Annahme  von 
Massendefekten  oder  Massenüberschüssen  erläutert  werden  können,  möge 
folgendes  Profil  (nach  Galle)  betreffs  der  Intensität  der  Schwere 
längs  dem  Meridian  Schneekoppe-Kolberg  reproduziert  werden  (Fig.  81 
S.  261). 

Der  obere  Teil  giebt  das  Höhenprofil  nach  der  beigegebenen  Skala. 
Der  untere  Teil  der  Zeichnung  stellt  die  Dicke  der  an  der  Erdoberfläche 
der  betreffenden  Stelle  anzubringenden  Schicht  von  der  Dichte  des  vor- 
handenen Erdbodens,  welche  genügen  würde,  um  die  beobachtete  Ab- 
weichung zu  erklären.  Wo  Massenüberschüsse  vorkommen,  ist  die  Zeich- 
nung schraffiert,  wo  Massendefekte  anzunehmen  sind,  ist  die  Zeichnung 
weiss  gelassen.     Die  Dicke   wird   durch   die   Entfernung   zwischen   den 

Arrhenius,  Kosmische  Physik.  »17 


258  Physik  der  Erde. 

zwei  stark  gezeichneten  symmetrisch  liegenden  Linien  und  in  derselben 
Skala  wie  das  obere  Profil  wiedergegeben. 

Wie  wir  oben  gesehen  haben,  beschleunigt  ein  unterhalb  des  Beob- 
achtungsortes gelegenes  Bergmassiv  die  Schwingungen  des  Pendels.  In 
entgegengesetzter  Richtung  wirkt  die  Abnahme  der  Schwere  mit  der 
Höhe.  Zur  Berechnung  wegen  dieser  Umstände  einzuführenden  Korrek- 
tion (vgl.  S.  254),  ist  die  Formel  von  Bouguer  gegeben.  Mit  Hilfe 
dieser  Formel  kann  man  die  Beobachtungen  wegen  der  Höhe  über 
der  Meeresoberfläche  korrigieren,  wie  dies  von  den  meisten  Beobachtern 
gethan  wurde.  Einige  wollen  aber  die  Korrektion  wegen  der  Einwirkung 
des  Bergmassivs  nicht  einführen,  nachdem  mehrere  auf  diese  Weise  kor- 
rigierte Beobachtungen  aus  dem  Himalaja  sehr  starke  negative  Ano- 
malien aufwiesen,  welche  Anomalien  teilweise  oder  gänzlich  (z.  B.  für  die 
4700  m  hohe  Station  More)  verschwinden  würden,  wenn  man  die  Wir- 
kung des  Bergmassives  gleich  Null  setzen  würde.  Indessen  hat  diese" 
Meinung  nicht  gesiegt.  Helmert  hat  sogar  die  Beobachtungen  auf 
eine  Niveaufläche  21  km  unter  der  Meeresoberfläche  (der  sogenannten 
Kondensationsfläche)  zurückgeführt. 

Um  die  genannten  Abweichungen,  sowohl  die  Massendefekte  wie  die 
zu  grosse  Schwere  auf  Inseln,  zu  erklären,  hat  man  mehrere  Hypothesen 
aufgestellt,  von  denen  jedoch  bisher  keine  allgemeine  Anerkennung  ge- 
funden hat.  Die  Massendefekte  der  Gebirgsketten  sollten  z.  B.  davon 
herrühren,  dass  ihr  Baumaterial  leichter  wäre  als  das  flüssige  Erdinnere 
und  dass  sie,  ungefähr  wie  Eisberge  im  Meere,  auf  dem  flüssigen  Erd- 
innern  schwimmen  würden,  worin  ihr  Unterteil  tief  hineinragen  sollte. 
Diese  Anschauung  lässt  sich  schwer  zur  Erklärung  der  positiven  Ab- 
weichung auf  oceanischen  Inseln  verwenden.  Vielmehr  hat  Faye  zur 
Erklärung  derselben  die  Hypothese  aufgestellt,  dass  die  Erdkruste  unter 
dem  Meeresboden  viel  dicker  ist  als  unter  dem  Festland.  Dazu  sollte 
die  niedrige  Temperatur  (etwa  +1^0.)  des  Wassers  am  Meeresboden 
in  der  Länge  der  Zeit  geführt  haben.  Da  aber,  wie  wir  unten  sehen 
werden,  das  Temperaturgefälle  in  der  Erdkruste  etwa  3^  C.  pro 
100  m  beträgt,  und  der  Meeresboden  nicht  mehr  als  etwa  20^  kälter 
als  die  angrenzende  Landesoberfläche  ist,  so  kann  man  nicht  wohl  an- 
nehmen, dass  die  Erdkruste  unter  dem  Meere  in  Dicke  diejenige  unter 
dem  Festlande  mit  mehr  als  etwa  1  km  übertrifft.  Dieser  Dickenunter- 
schied könnte  sogar  nicht  ausreichen,  um  die  etwa  2,5  mal  geringere 
Schwerenwirkung  des  Wassers  als  des  festen  Erdbodens  zu  kompen- 
sieren. 


I.  Gestalt,  Masse  und  Bewegung  der  Erde.  259 

Man  hat  denn  auch  angenommen,  dass  die  Festlandmassive  wegen 
ihrer  Schwerenwirkung  das  Meereswasser  zu  sich  ziehen  würden.  Ganz 
besonders  würde  dies  an  Küstenstrecken  stattfinden,  welche  steil  in  das 
Meer  hinuntertauchen,  wie  z.  B.  an  der  Westküste  von  Südamerika.  Da- 
durch würde  die  Meeresoberfläche  in  der  Mitte  des  Oceans  viel  näher 
dem  Erdmittelpunkt  liegen  als  an  seinem  Rande,  und  infolgedessen 
würde  die  Schwere  auf  den  oceanischen  Inseln  viel  grösser  sein  als  an 
der  Küste.  Die  Erfahrung  zeigt  aber,  dass  auch  bedeutende  Bergmassen 
in  einer  Entfernung  von  mehr  als  etwa  6  km  keine  nennenswerte 
Schwerenwirkung  ausüben.  Eine  Insel,  welche,  wie  Hawa'i,  eine 
Länge  von  gegen  100  km  besitzt,  oder  eine  Inselgruppe,  wie  die  Sand- 
wichinseln (über  16000  km^),  würde  demnach  nicht  viel  anders  wie  ein 
Kontinent  wirken.  Trotzdem  kommen  gerade  auf  diesen  Inseln  ausser- 
ordentlich grosse  Abweichungen  vor.  So  z.  B.  ist  auf  Hawai  die  Schwere 
um  0,03  Proc,  an  der  Spitze  des  Vulkans  Mauna  Kea  (4000  m)  um  0,07 
Proc.  zu  gross,  wobei  jedoch  keine  Korrektion  wegen  des  Bergmassivs 
eingeführt  ist.  Zur  Erklärung  der  erstgenannten  Differenz  müsste  man 
annehmen,  dass  das  Meer  bei  Hawa'i  etwa  1000  m  tiefer  liegen  würde 
als  an  der  Küste  des  Kontinents.  Der  grosse  Wert  der  Schwere  auf 
dem  Mauna  Kea  zeigt  keine  Massendefekte  an.  Auch  die  Hypothese 
von  Faye  zeigt  sich  hier  untauglich.  Die  Erdkruste  ist  nämlich  in  der 
Nähe  von  Vulkanen  nicht  als  sehr  dick,  sondern  umgekehrt  als  relativ 
dünn  anzunehmen  (vgl.  weiter  unten).  Auffallend  ist  auch,  dass  auf 
dem  nördlichen  Eismeer,  unter  welchem  die  Erdkruste  wohl  relativ  dick 
sein  müsste,  nach  den  Messungen  der  Fram-Expedition  unter  Nansen, 
die  Schwere  keine  Abweichung  von  der  Berechnung  zeigt,  bei  welcher 
man  die  Clairaut-Laplaceschen  Formeln  benutzt: 


9pol  —  gaf.q 

ifaeq 


im  —  e;gcp  =-gaeq  +  {9poi  —  gaeq)  sm  V) 


worin  m  das  Verhältnis,  ^^^,  der  Centrifugalkraft  am  Äquator  zu  der 
Schwere  daselbst  und  e  die  Excentricität  des  Erdsphäroides  darstellt,  g^, 
ist  die  Schwerkraft  an  der  Meeresoberfläche  an  der  geographischen 
Breite  q).  Nach  Helmerts  Berechnung  ist  an  der  Meeresoberfläche 
//4;,  =980,5966  cm/sek.^  woraus  5r^o/  =  983,136,  ^'aeg  =  978,057. 

Als  Beispiele   mögen  folgende  Messungen   angeführt  werden.     Die 
Abweichung  A  =  beob.-ber.  ist  für  Greenwich  gleich  Null  gesetzt. 


17 


^60 


Physik  der  Erde. 


Küstenstationen 

Nordsee,  Dünkirchen 

„         Greenwich  . 

„  Lihons     .     . 

„         Leith  .     .     . 

„         Hamburg     . 

„         Leyden    .     . 

Toulon 

Marseille 

Nizza 

Barcelona      .... 

Alger 

Ajaccio 

Port-Vendres     .     .     . 
Philippeville .... 

Bastia 

Corte    (605  m)  .     .     . 

Lipari 

Formentera  (203  m)    . 
Capri  (95  m)      .     .     . 

Bari 

Eismeer,  Spitzbergen 
Süd-Shetland  .  .  . 
Cap  Hörn  .... 
Staaten- Eiland  .  .  . 
Indien,  Punud  .     .     . 

„       Kudankolam 
Allepy  .     .     . 

„       Mangalore     . 

„       Madras      .     . 

„       Cocanada .     . 

„       Calcutta    .     . 
Melbourne,  Austr. 

Insulare  Stationen 

Sanct  Thomas  ...  . 
Fernando  do  Norunha 
Ascension  .  . 
St.  Helena  .  . 
üalan,  Carolinen 
Guam,  Ladronen 
Bonin-lnseln 
Ile  de  France  (Mauritius) 
Mauwi,  Hawa'i-Inseln 
Mauna  Kea  „  (3981  m) 
Waihihi,  „  ... 
Honolulu,    „     .     .     . 

Kontinentalstationen 
Clermont  (400  m)  . 


[I 
981,231 
981,264 
981,117 
981,681 
981,406 
981,318 
980,531 
980,551 
980,618 
980,397 
980,008 
980,454 
980,515 
980,022 
980,575 
980,504 
980,245 
980,213 
980,364 
980,411 
983,181 
982,279 
981,676 
981,613 
978,174 
978,177 
978,243 
978,311 
978,387 
978,524 
978,853 
979,969 


978,297 
978,344 
978,372 
978,736 
978,452 
978,599 
979,513 
978,959 
978,959 
978,994 
979,023 
979,059 


A 

+  0,005 
0 

—  2 
35 
46 
3 

10 
14 
32 
30 
47 
40 
18 
41 
93 
56 


+ 
+ 

+ 

+ 
+ 
+ 
+ 
+ 
+ 
+ 
+ 


+  135 

+  86 

+  169 

+  164 

-f  88 

+  88 

+  39 

+  68 

—  67 

—  52 

—  22 

—  68 

—  71 

—  36 

—  26 
+  15 


+  176 

+  192 

+  150 

+  225 

+  283 

+  197 

+  326 

+  224 

+  183 

+  280 

+  222 

+  257 


Kontinentalstationen 

Lyon  (286  m)  .  .  . 
Pic  du  Midi  (2877  m) 
Montlouis  (1620  m)  . 
Paris  (60  m)  .  .  .  . 
Madrid  (662  mj  .  . 
Berlin  (38  m)  .  .  . 
Strassburg  (143  m)  . 
München  (529  m)  .  . 
Genf  (405  m).  .  .  . 
Trafoi,  Tyrol  (1541  m) 
Landeck,  „  (794  m) 
Rom  (59  m)  .  .  .  . 
Wien  (183  m)  .  .  . 
Budapest  (122  m)  .  . 
Warschau  (109  m) 
St.  Petersburg  (8  m). 
Moskau  (142  m)  .  . 
Tiflis  (471  m)  .  .  . 
Taschkent  (400  m)     . 

Bokhara 

üzun  Ada     .... 

Constantineh,  Algier 

(655  m)  .... 
Medeah,  Algier  (930  m) 
Uled  Rhamun,  Algier 

(687  m) 

Batna,  Algier  (1050  m) 
El  Kantara,  Algier 

(525  m)  .... 
Biskra,  Algier  (187  m) 
Laghouat,  Algier 

(755  m)      .... 
Chicago  (165  m)    . 
Salt  Lake  City  (1288  m 
Denver,  Col.  (1645  m 
M:t  Hamilton  (1282  m) 

More,  Indien  (4696  m 
Mussoori,    „  (2109  m 


980,696    —      63 


Dehra,  „ 
Nojli, 

Kuhana,  „ 
Datairi,  „ 
Usira,  „ 

Kalianpur,  „ 
Badgaon,  „ 
Somtana,  ,, 
Bangalore,  „ 
Mallapatti,,, 


(683  m 
(269  m 
(247  m 
(218  m 
(247  m 
(538  m 
(542  m 
(522  m 
(950  m 
(88  m 


9 

980,747 

980,406 

980,370 

980,980 

980,151 

981,312 

980,944 

980,850 

980,677 

980,570 

980,790 

980,373 

980,913 

980,887 

981,224 

981.880 

980,944 

980,32 

980,25 

980,20 

980,07 

979,877 
979,888 

979,903 
979,732 

979,695 
979,701 

979,564 
980,375 
980,050 
979,983 
979,916 
979,169 
979,306 
979,224 
979,398 
979,280 
979,262 
979,147 
978,950 
978,728 
978,627 
978,304 
978,233 


+ 

+ 
+ 


+ 

+ 


+ 


z/ 

0,003 
98 
97 
37 
32 
43 
23 
31 
28 

167 

154 
56 
26 
64 
20 
10 
23 
79 

199 
19 

139 

52 
32 


—  9 

—  126 

—  135 


148 

30 

262 

252 

94 

498 

136 

208 

106 

89 

48 

31 

31 

40 

46 

81 

31 


T.  Gestalt.,  Masse  und  Bewegung  der  Erde. 


261 


Stationen,  bei  welchen  die  Höhe  nicht  in  Klammern  angegchfin 
ist,  liegen  nahe  an  der  Meeresoberfläche.  Die  angegebenen  ^-Werte 
sind  nach  der  Bouguer sehen  Formel  (S.  254)  korrigiert. 

Wie  aus  dieser  Zusammenstellung  nach  Bourgeois  ersichtlich,  ist 
die  Abweichung  an  der  Nordsee  nahezu  gleich  Null  (offenbar  weil  Green- 
wich  ganz  nahe  daran  liegt),  dagegen  geben  die  Stationen  am  Mittelmeer 
etwas  positive,  diejenigen  an  der  ostindischen  Küste  etwas  negative  Ab- 
weichung. Diese  negative  Abweichung  steigt  im  Innern  des  Landes  gegen 
den  Himalaja  hin,   wo  sie  gegen  — 0,5  cm  erreicht.    Die  grössten  po- 


Fig.  81. 


siti\  ('11  Aliweichungen  kommen  auf  Inseln  im  Grossen  Ocean  (Bonin-In- 
seln  0,326  cm,  Hawai  0,25  cm)  vor.  Danach  kommen  die  Inseln  im 
Indischen  Ocean  (Mauritius  0,22  cm)  und  im  Süd -Atlant  (St.  Helena 
0,225  cm).  Recht  grosse  negative  Abweichungen  zeigen,  ausser  den 
Stationen  im  Himalaja,  diejenigen  in  Transkaspien  (Taschkent  0,2  cm, 
Uzun  Ada  0,14  cm)  und  noch  mehr  die  hoch  gelegenen  Stationen  auf 
dem  nordamerikanischen  Kontinent  (Salt  Lake  City  0,20,  Denver  0,25  cm). 
Die  grössten  Abweichungen  auf  dem  europäischen  Kontinent  (Trafoi 
und  Land  eck)  erreichen  nur  etwa  0,16  cm. 

Diese   Beobachtungen   sind   von   solcher  Wichtigkeit,   dass   in  den 
verschiedenen  Ländern  die  geodätischen  Institute  und  die  Wissenschaft- 


9ß2  Physik  der  Erde. 

liehen  Gesellschaften  Organisationen  eingerichtet  haben,  wodurch  die  In- 
tensität der  Schwerkraft  nach  einem  gemeinsamen  Plan  an  verschiedenen 
Punkten  der  Erde  gemessen  werden  soll. 

Messungen  von  Eötvös.  Wie  oben  angegeben,  hat  Eötvös  die 
Beobachtungen  mit  der  Drehwage  zu  einer  sehr  hohen  Vollendung  und 
Empfindlichkeit  getrieben.  Die  schweren  Massen  von  etwa  25  g  Ge- 
wicht sind  dabei  an  den  Enden  eines  40  cm  langen  leichten  Messingrohres 
befestigt,  welches  an  einem  0,04  mm  dicken  Platindraht  in  einer  mes- 
singenen Dose  von  5  — 10  mm  innerer  Höhe  aufgehängt  ist.  Das 
eine  Gewicht  kann  auch  an  einem  (55  cm  langen)  Draht  aufgehängt 
werden.  Die  Dose  schützt  gegen  Luftströmungen,  elektrische  und  ther- 
mische Störungen.  Der  Platindraht  ist  oben  in  einer  metallenen  Röhre 
befestigt,  und  seine  Drehung  kann  mit  Spiegel  und  Skala  abgelesen 
werden.  Die  ganze  Dose  kann  mit  einer  Schraube  um  ihre  Achse  ge- 
dreht werden.  Die  Schwingungszeit  des  Pendels  ist  600  — 1200  Se- 
kunden. Mit  diesem  Instrument  kann  man  die  Änderung  der  Kom- 
ponenten der  Schwerkraft  in  horizontaler  Richtung  messen.  Die  be- 
treffenden Bestimmungen  können  sowohl  mit  Hilfe  von  Ablenkungen 
der  Röhre  aus  ihrer  Gleichgewichtslage  wie  von  Schwingungsversuchen 
ausgeführt  werden. 

Die  Drehwage  von  Eötvös  kann  so  empfindlich  gemacht  werden, 
dass,  wenn  sie  1  m  von  der  Meeresküste  aufgestellt  wäre,  eine  Stei- 
gung des  Meeres  um  1  mm  sich  durch  eine  Ablenkung  von  einer  halben 
Bogenminute  kundgeben  würde.  Mit  dieser  Drehwage  hat  Eötvös  die 
Fortsetzung  von  Felsen  unter  der  Erde  wahrscheinlich  gemacht. 

Das  Geo'id.  Geo'id  nennt  man  diejenige  Oberfläche,  welche  das 
Meer  der  Erde  bildet  und  welche  unter  den  Kontinenten  fortgesetzt  ge- 
dacht werden  kann. 

Von  der  Potentialtheorie  übernehmen  wir  den  Satz,  dass  die  Rich- 
tung der  Kraft  immer  auf  den  Äquipotentialflächen  senkrecht  steht.  In 
einer  Flüssigkeitsmasse,  die  nur  der  Schwere  unterworfen  wäre,  würden 
die  Kraftlinien  alle  nach  dem  gemeinsamen  Schwerpunkt  gerichtet  sein 
und  infolgedessen  die  Äquipotentialflächen  kugelförmig  verlaufen.  Die 
Meeresoberfläche  stellt  sich  auch  senkrecht  auf  die  Komponente  der 
wirkenden  Kräfte.  Sie  ist  eine  Niveaufläche  und  die  Äquipotentialflächen 
werden  aus  Analogie  häufig  als  Niveauflächen  bezeichnet. 

Wenn  nur  die  Schwere  wirkte,  so  wäre  das  Potential  in  einem  Punkte: 


r 


.  Cdvi 


I.  Gestalt,  Masse  und  Bewegung  der  Erde.  263 

worin  k  die  Gravitationskonstante  bedeutet,  dm  einen  Massenteil  der  Erde 
und  r  die  Entfernung  dieses  Massenteiles  zum  betreffenden  Punkte.  Die 
Integration  wäre  auf  die  ganze  Erdmasse  auszudehnen. 

Zu  den  von  der  Schwere  herrührenden  Kräften  kommen  in  diesem 
Falle  die  von  der  Centrifugalkraft  stammenden  hinzu.  Wenn  ein  Körper 
sich  um  eine  Drehungsachse  dreht,  so  besitzt  die  Centrifugalkraft  in 
der  Entfernung  q  von  der  Achse,  pro  Masseneinheit  den  Wert: 

Q  ^ 

wenn  mit  v  die  Geschwindigkeit  und  mit  w  die  Winkelgeschwindigkeit 
der  drehenden  Bewegung  bezeichnet  wird.  Die  dem  Potential  ent- 
sprechende Arbeit,  welche  geleistet  wird,  wenn  die  Masseneinheit  von  der 
Drehungsachse  zur  Entfernung  q  gebracht  wird,  ist  ausgedrückt  durch 
die  Formel: 


Die  totale  Kräftefunktion  zufolge  der  beiden  Umstände  wird: 

W=P-\-jt, 

Der  Ausdruck  Tr=  Konstant  stellt  die  Gleichung  einer  Niveau- 
fläche, in  diesem  Falle  einer  Geoidenfiäche  dar.  Für  den  speziellen 
Fall,  dass  die  Konstante  denselben  Wert  besitzt,  wie  an  der  Meeres- 
oberfläche, erhalten  wir  die  ihr  entsprechende  Geoidenfiäche  und  können 
daraus  ihren  Verlauf  unter  den  Kontinenten  berechnen. 

Die  Intensität  {J)  der  Schwerkraft,  welche  durch  Pendelmessungen 
festgestellt  werden  kann,  soll  dem  Ausdruck  genügen: 

j     dW 
an 

worin  n  der  Richtung  der  Normale  zur  Niveaufläche,  d.  h.  der  Lotlinie 
entspricht.  Je  dichter  die  Niveauflächen  liegen,  desto  grösser  ist  .die 
Intensität  der  Schwere,  und  zwar  ist  sie  der  Entfernung  zweier  benach- 
barter Niveauflächen  umgekehrt  proportional. 

Durch  Nivellierungen  kann  man  sich  einen  recht  genauen  Begriff 
bilden,  wie  das  Geoidensystem  über  den  Kontinenten  verläuft.  Durch 
Pendelbeobachtungen  ermittelt  man  die  relative  Entfernung  der  Geoiden- 


264  Physik  der  Erde. 

flächen  und  durch  Gradmessungen  ihre  Krümmung.  Auf  diese  Weise 
kann  man  die  Form  dieser  Flächen  bestimmen. 

Die  Geo'idenfläche,  welche  die  Meeresoberfläche  in  sich  schliesst,  ist 
so  wenig  von  einer  Rotationsellipsoide  verschieden,  dass  es  nach  Her- 
gesells  Messungen  möglich  ist,  eine  Fläche  dieser  letzten  Art  zu 
wählen,  welche  an  keiner  Stelle  um  mehr  als  250  m  von  dem  Geoid 
entfernt  ist. 

Andere  Folgen  der  Erdumdrehung.  Da  verschiedene  Teile 
der  Erde  je  nach  ihrer  geographischen  Breite  und  ihrer  Höhe  über  dem 
Meere  eine  verschiedene  absolute  Geschwindigkeit  besitzen,  welche  ihrer 
Entfernung  von  der  Erdachse  proportional  ist,  so  werden  bei  Verschie- 
bungen eines  Körpers  sowohl  in  vertikaler  als  auch  in  horizontaler  Rich- 
tung Richtungsänderungen  entstehen,  welche  bei  stillstehender  Erde 
nicht  vorkommen  würden. 

Schon  früh  erkannte  man  (Newton),  dass  ein  frei  von  einer  Turm- 
spitze fallender  Stein  den  Boden  östlich  von  der  Lotlinie  durch  die  Turm- 
spitze treffen  muss,  weil  die  Spitze  des  Turmes  eine  grössere 
Drehungsgeschwindigkeit  besitzt,  als  die  Erdoberfläche 
(und  zwar  in  Richtung  von  West  nach  Ost).  Es  wurden 
auch  Versuche,  um  diesen  Effekt  nachzuweisen,  von 
^-  ^  Newtons  Zeitgenossen  H  o  o  k  e  angestellt,  aber  mit  ne- 
gativem Erfolg.  Der  Effekt  ist  auch  sehr  gering. 
Wenn  der  h  m  hohe  Turm  am  Äquator  steht,  ist  die  Geschwindig- 
keit der  Turmspitze  um  w  =  2  Jt h:S()iQ4:  =  l,29.\i)-^ h  =  xh  m  pr.  Sek. 
grösser  als  diejenige  des  Turmfusses,  indem  die  Spitze  in  einem  Stern- 
tag (=86164  Sek.)  den  Weg  2jt{R-^h),  der  Fuss  dagegen  nur  den 
Weg  2jiR,  worin  R  den  Erdradius  bedeutet,  zurücklegt.  Ist  die  Fall- 
zeit t,  so  gilt  die  Relation  h=igt\  und  der  von  der  Turmspitze  fallende 
Körper  trifft  den  Boden: 

nach  Osten  von  der  durch  die  Turmspitze  gezogenen  Lotlinie. 

Weil  aber  diese  für  den  Anfang  des  Fallens  giltige  Lotlinie  zufolge 
der  Erddrehung  nicht  mit  der  Richtung  der  Schwerkraft,  d.  h.  dem  Erd- 
radius während  des  Fallens  zusammenfällt,  sondern  mit  dieser  Richtung 
einen  Winkel  x  ^j  worin  z  die  nach  dem  Beginn  des  Fallens  verflossene 
Zeit  bedeutet,  einschliesst,  so  erhält  der  Fallkörper  eine  Beschleunigung 
nach  Westen,  die  g^=x^9  beträgt,   x  ist  wie  vorhin  7,29.10"^  =  41,8.10'* 


I.  Gestalt,  Masse  und  Bewegung  der  Erde. 


265 


BogengradeiL     Die  hiervon  herrührende  Geschwindigkeit  v  und  die  zu- 
rückgelegte Wegstrecke  s^  nach  Westen  erhalten  die  Werte: 

X  t 

^'=1  X9^d^^iX9^''^  Sx=kX9  j  ^^^d%-=^X9^^^ 


kli.  der  geographischen  Breite  (p  (Fig.  82)  ist  die  Entfernung  e^ 
des  Turmfusses  und  diejenige  (ej  der  Turmspitze  von  der  Drehungs- 
achse der  Erde  dem  cos  9)  proportional.  Infolgedessen  sind  die  ohen 
gegebenen  Ausdrücke  für  w^  ;c,  s,  g^^  v  und  s,  mit  cos^  zu  multipli- 
zieren, und  mai\  erhält  für  die  Abweichung  {d)  nach  Osten: 

2i/¥ 
d^s  —  s^=lygt'^  =  — ^^  X  ^'^'  =  2,19.10-^  cos  (f>  h'l^.  m. 

öyg 

Solche  Versuche  wurden  von  Guglielmini  in  Bologna,  Benzen- 
berg in  Hamburg  und  später  von  Keich  in  Freiberg  in  einem  158,5  m 
tiefen  Schacht  ausgeführt.  Eeich  fand  eine  Abweichung  d  von  28,4  mm, 
während  die  obige  Formel  (^  =  50^53')  27,6  mm  ergiebt. 

Zufolge  desselben  Umstandes  wird  eine  vertikal  hinaufgeworfene  Kugel 
beim  Herunterfallen  nicht  zum  Ausgangspunkt  zurückkehren.  Sichere  Ver- 
suche über  diesen  Gegenstand  liegen  nicht  vor. 

Eine  sehr  grosse  praktische  Bedeutung  hat 
die  Abweichung,  welche  ein  in  horizontaler  Eich- 
tung  sich  bewegender  Körper  zufolge  der  Erd- 
drehung erleidet.  Es  sei  AB^d  (Fig.  83)  die 
Weglänge,  welche  ein  Körper  an  der  Erdober- 
fläche zufolge  der  Erddrehung  in  einer  Sekunde 
beschreibt.  AB  ist  infolgedessen  dem  Äquator 
parallel.  Die  zwei  Tangenten  der  Meridiankreise 
durch  A  und  B  mögen  AP  und  BP  sein,  sie 
schneiden  einander  offenbar  in  einem  auf  der 
Erdachse  gelegenen  Punkte  P,  wo  sie  den  Win- 
kel 6  (APB)  einschliessen.  Da  die  beiden  Lotlinien  auf  die  Erdachse 
aus  A  und  B  den  Winkel  x  (^i^B=  7,29.10-^  =  41,8.10-*  Grad)  ein- 
schliessen, so  ist,  wie  aus  Fig.  83  hervorgeht,  AB^=AP'6=AL-X' 
Weiter  ist  APL  gleich  A  OB,  wenn  OR  der  Äquatorialhalbmesser  in  der 
Ebene  APO  ist.  AOB  ist  nun  gleich  der  geographischen  Breite  <p  des 
Punktes  A.      Folglich  wird: 


266  Physik  der  Erde. 

ö  =  X  ^^'  ^P  =  X  sin  9). 
Es  bewege  sich  nun  ein  Körper  mit  der  Geschwindigkeit  (relativ  zur 
Erdoberfläche)  c  {=  AE)  längs  der  Eichtung  AE  (Fig.  84),  welche  einen 
Winkel  a  mit  dem  Meridian  AP  einschliesst,  so  wird  dieser  Körper 
auch  an  der  Erddrehung  mit  der  Geschwindigkeit  d  (=  AB)  teilnehmen. 
Infolgedessen  wird  die  totale  Geschwindigkeit  des  Körpers  die  Kesultante 
AE  der  Geschwindigkeiten  c  {=  AE)  und  d  {=  AB)  ausmachen,  d.  h. 
eine  Sekunde,  nachdem  der  Körper  A  verlassen  hat,  wird  er  sich  in  E 
belinden.  Da  nun  nach  einer  Sekunde  die  stillstehenden  (d.  h.  nur  an 
der  Erddrehung  teilnehmenden)  Körper  in  A  nach  B  angelangt  sind, 

so  hat  der  bewegliche  Körper  relativ  zu  diesen  ruhen- 
den den  AVeg  BE  beschrieben.  Dieser  schliesst  mit 
dem  Meridian  BP  nicht  den  Winkel  «,  sondern  einen 
anderen,  a^,  ein.  Ziehen  wir  BE  aus,  bis  sie  AP 
in  G  trifft,  so  ist  AGB  =  EAG  =  a  und  AGB  = 
GPB  +  PBG  oder  a  =  6  -\-  a^.  Die  Winkelab- 
lenkung pr.  Sek.  a  —  «^  ist  also  gleich  6.  Die 
scheinbare  Längenablenkung  finden  wir,  wenn  wir 
BE^=AE  so  absetzen,  dass  E^BP  =  EAP  =  a. 
BEi  bezeichnet  den  Weg,  welchen  der  bewegliche 
Körper  auf  der  Erdoberfläche  beschrieben,  wenn  die 
Erde  stillgestanden  hätte,  BE  den  thatsächlich  zurückgelegten  Weg. 
Die  Längenablenkung  ist  also  E^^E  =  c  ö. 

Die  Ablenkung  zeigt  sich  folglich  unabhängig  Aon  dem  Ausgangs- 
winkel a  und  die  Winkelablenkung  auch  von  der  Geschwindigkeit  c. 
Da  nun  die  Erddrehung  in  der  Richtung  AB  von  West  nach  Ost  er- 
folgt, so  wird  auf  der  nördlichen  Halbkugel,  wo  P  nördlich  von  (ober- 
halb) AB  liegt,  die  Ablenkung  nach  rechts  geschehen,  d.  h.  im  selben 
Sinne,  wie  die  Zeiger  einer  Uhr.  Das  Gegenteil  wird  auf  der  südlichen 
Halbkugel  stattfinden,  wo  der  Punkt  P  südlich  von  (unterhalb)  AB  liegt. 
Die  Folgen  dieser  durch  die  Erddrehung  bewirkten  Abweichung 
sind  von  grosser  Bedeutung.  Beim  Scheibenschiessen  (auf  der  nörd- 
lichen Halbkugel)  wird  die  Kugel  immer  etwas  rechts  vom  Ziel  auf- 
treffen, und  zwar  um  so  mehr,  je  langsamer  das  Projektil  sich  bewegt. 
Am  Nordpol  würde  die  Abweichung  nach  einer  Sekunde  7,29. 10'^  be- 
tragen. Nehmen  wir  an,  das  Projektil  beschriebe  in  einer  Sekunde  eine  Bahn 
von  700  m,  so  würde  die  Seitenabweichung  nach  derselben  Zeit  51.10"^  m 
=  51  mm  sein,  nach  2  Sekunden  wäre  die  Winkelabweichung  verdoppelt 
und  ebenso  die  Bahnlänge,  folglich  die  Seitenabweichung  204  mm.     Im 


I.  Gestalt,  Masse  und  Bewegung  der  Erde.  267 

allgemeinen  wird  die  Seitenabweichung  proportional  der  Geschwindigkeit 
(v)  und  dem  Quadrate  der  Zeit  (t)  ausfallen.  Auf  einer  anderen  Breite 
ist  sie  (öA)  proportional  dem  Sinus  derselben,  also  im  allgemeinen: 

ÖA  =  7,29.10-5  'V-t^'S'mq). 

Auf  der  südlichen  Halbkugel  geschieht  die  Abweichung  in  umge- 
kehrtem Sinne,  d.  h.  nach  links  von  der  Bewegungsrichtung. 

Wie  leicht  ersichtlich,  würde  ein  Projektil,  wenn  es  nicht  zum  Erd- 
boden hinabfiele,  sondern  in  einer  Ebene  verbliebe,  welche  mit  genügen- 
der Annäherung  als  mit  der  Erdoberfläche  zusammenfallend  gedacht 
werden  könnte,  einen  Kreis  beschreiben,  welcher  am  Pole  in  24  Stunden 
(eigentlich  einem  Sterntage)  von  dem  Projektile  durchlaufen  wäre.  Auf 
einer  anderen  Breite  (9))  würde  die  Zeit  umgekehrt  proportional  dem 
sin  q)  sein.  (Dabei  wird  vorausgesetzt,  dass  die  Geschwindigkeit  so  ge- 
ring ist,  dass  man  die  Polhöhe  (p  als  konstant  betrachten  darf.) 

Diese  Abweichung  ist  von  der  grössten  Bedeutung  in  der  Lehre 
von  der  Entstehung  der  Winde.  Alle  Winde  auf  der  nördlichen  Halb- 
kugel werden  zufolge  der  Erddrehung  nach  rechts,  alle  auf  der  süd- 
lichen Halbkugel  nach  links  abgelenkt.  Dasselbe  gilt  von  den  Meeres- 
strömungen. Wir  werden  später  ausführlicher  auf  diese  Umstände 
zurückzukommen  Gelegenheit  haben. 

Ebenso  soll  die  Erddrehung  auf  das  strömende  Wasser  der  Flüsse 
einwirken,  v.  Baer  glaubte  dies  für  die  russischen  Flüsse  konstatiert 
zu  haben,  indem  das  rechte  Ufer  stärker  erodiert  sein  soll  als  das  linke. 
In  der  südlichen  Hemisphäre  sollte  das  Gegenteil  stattfinden.  Auch  auf 
diesen  Gegenstand  werden  wir  später  zurückkommen. 

Man  hat  auch  daran  gedacht,  dass  ein  ähnlicher  Einfluss  bei  den 
Eisenbahnzügen  zur  Folge  haben  würde,  dass  dieselben  mehr  nach 
rechts  als  nach  links  entgleisen  sollten.  Die  Wirkung  ist  jedoch  so 
gering,  dass  eine  Hebung  der  rechten  Schiene  von  0,4  mm  ausreichen 
würde,  um  diese  Tendenz  eines  Blitzzuges  nach  rechts  zu  entgleisen 
bei  25  m  Geschwindigkeit  pro  Sekunde  und  einer  Spurweite  von  1,5  m 
zu  kompensieren. 

Am  meisten  Aufsehen  hat  diejenige  Verwendung  obiger  Schlüsse 
erweckt,  welche  nach  dem  Urheber  der  Foucaultsche  Pendelversuch 
genannt  wurde.  Wenn  der  bewegliche  Körper  sich  wie  eine  Pendel- 
kugel hin  und  her  bewegt,  so  wird  seine  Schwingungsebene  immer  im 
selben  Sinne,  auf  der  nördlichen  Halbkugel  nach  rechts,  gedreht.  Am 
Pole  würde  die  ganze  Umdrehung  24  Stunden  (richtiger  einen  Sterntag) 


268  Physik  der  Erde. 

erfordern.  Auf  einer  anderen  Breite,  9,  wird  die  nötige  Zeit  länger  sein, 
und  zwar  im  Versältnis  1 :  sin  (p.  Schon  früher  scheint  man  die  Ablen- 
kung der  Pendelebene  dnrch  die  Erddrehung  gekannt  zu  haben,  aber 
erst  Poucault  führte  den  Versuch  in  genauer  Weise  aus,  um  so  ob- 
jektiv die  Erddrehung  zu  demonstrieren.  Er  benutzte  ein  Pendel  von 
11  m  Länge.  Wie  beim  gewöhnlichen  Pendel  wird  die  Formel  nicht 
ganz  richtig,  wenn  man  grosse  Schwingungsbogen  verwendet,  deshalb  ist 
es  vorteilhaft,  grosse  Pendellängen  zu  benutzen.  Dieser  Versuch  wurde 
in  den  meisten  grösseren  Städten  wiederholt,  indem  man  sein  Gelingen 
als  den  besten  Beweis  für  die  Erddrehung  ansah. 

Präcession  und  Nutation.  Im  engsten  Zusammenhange  mit  der 
Erddrehung  stehen  die  in  der  Astronomie  wohlbekannten  Erscheinungen, 
welche  die  Kamen  Präcession  und  ISTutation  erhalten  haben.  Im  Jahre 
130  V.  Chr.  fand  Hipparch,  als  er  die  Sternörter  mit  denjenigen  älterer 
Beobachter  verglich,  dass  die  Sterne  alle  ihre  Breite  (vgl.  S.  6 — 7)  be- 
halten, ihre  Länge  aber  sämtlich  vergrössert  hatten.  Mit  anderen 
Worten,  ihre  Lage  hatte  sich  vom  Frühlingspunkt,  d.  h.  demjenigen 
Punkte  entfernt,  in  welchem  die  Ekliptik  die  Äquatorialebene  schneidet 
und  wo  die  Sonne  am  Frühlingsäquinoctium  sich  befindet.  Die  natürliche 
Erklärung  ist,  dass  dieser  Punkt  sich  in  der  entgegengesetzten  Richtung 
verschiebt,  während  die  Sterne  am  Himmel  still  stehen.  Die  Verschie- 
bung ist  so  gross,  dass  sie  26000  Jahre  braucht,  um  die  Ekliptik  zu  durch- 
laufen, d.  h.  in  jedem  Jahre  werden  etwa  50  Bogensekunden  zurückgelegt. 

Ebenso  verhält  sich  ein  drehender  Kreisel,  dessen  Achse  nicht  senk- 
recht steht.  Die  Achse  beschreibt  eine  Kegelfläche  um  die  Lotlinie  um 
so  geschwinder,  je  höher  der  Schwerpunkt  über  dem  Unterstützungs- 
punkt sich  befindet.  Dieser  Kegel  erhält  einen  immer  geringeren  Scheitel- 
winkel, was  mit  dem  Reibungswiderstande  gegen  die  Kreiselbewegung 
zusammenhängt.  Diese  allmähliche  Verschiebung  der  Drehungsachse 
hängt  von  der  Schwere  ab  und  beruht  darauf,  dass  sie  die  Kreiselachse 
hinunterzuneigen  strebt. 

Wie  Newton  hervorhob,  wirkt  eine  durch  die  Schwerenwirkung 
der  Sonne  verursachte  Kraft,  sodass  sie  bestrebt  ist,  die  Drehungsachse 
der  Erde  aufzurichten.  Infolgedessen  würde,  wenn  die  Erdbewegung 
nicht  reibungslos  wäre,  zuletzt  die  Erdachse  auf  die  Ekliptik  senkrecht 
zu  stehen  kommen»  Man  kann  sich  die  Erde  als  aus  zwei  Teilen  be- 
stehend denlven,  einem  inneren  sphärischen,  welcher  die  Pole  der  Erde 
tangiert  und  einen  äusseren  hohlen,  der  seine  grösste  Dicke  am  Äquator 
besitzt.    Existierte   nicht   dieser  letzte  Teil,   d.  h.  wäre   die  Erde  ganz 


I.  Gestalt,  Masse  und  Bewegung  der  Erde. 


269 


P 


r^ 


kugelförmig",  so  fände  keine  Piäzession  statt.  Nun  werden  die  beiden 
Seiten  des  äusseren  Teiles  von  der  Sonne  S  angezogen,  und  zwar  das  nach 
der  Sonne  zu  gelegene  Stück  A  (Fig.  85)  stärker  wie  die  Erde  im  all- 
gemeinen, das  Stück  B  dagegen  schwächer.  Die  Folge  davon  ist,  dass 
die  Sonne  strebt,  die  Wülste  des  äusseren  Teiles  ungefähr  wie  die  Ge- 
zeitenwelle so  einzustellen,  dass  die  dicksten  Stellen  in  der  Verbindungs- 
linie der  Mittelpunkte  von  Sonne  und  Erde  liegen.  Mit  anderen  Worten 
die  Schwerenwirkung  der  Sonne  strebt  die  Erdachse  senkrecht  zu  dieser 
Verbindungslinie  und  damit  zur  Ekliptik  einzustellen. 

Die  Folge  davon  ist,  dass  die  Erdachse  um  ihre  mittlere  Lage  (die 
Achse  der  Ekliptik)  einen  Kegel  beschreibt,  dessen  Öffnungswinkel  47*^ 
beträgt.  Dies  hat  auf  astronomische  Beobachtungen  einen  sehr  grossen 
Einfluss.  Der  Frühlingspunkt,  welcher  jetzt  im  Sternbilde  der  Fische, 
nahe  an  demjenigen  des  Widders  liegt,  war  zu  Aristarchs  Zeiten  (250 
V.  Chr.)  um  30*^  verschoben  und  lag  im  Widder  in 
der  Nähe  des  Stieres.  Sternbilder  sind  jetzt  in  unse- 
ren Gegenden  sichtbar,  welche  in  früheren  Zeiten  nie 
über  den  Horizont  kamen,  und  umgekehrt.  Am 
leichtesten  lassen  sich  diese  Verschiebungen  an  der 
Lage  der  „Weltachse"  oder  rich- 
tiger der  Erdachse  im  Himmels- 
raume  verfolgen.  Zu  Hipparchs  Zei- 
ten war  der  jetzige  Polarstern  um 
12^  von  dem  Himmelspol  entfernt, 
hatte  also  kein  wirkliches  Anrecht 
auf  seinen  jetzigen  Namen.    Noch 

steht  dieser  Stern  etwa  1,5^  vom  Nordpol,  welcher  sich  ihm  nähert  bis  zum 
Jahre  2095,  zu  welcher  Zeit  der  Abstand  nur  26  Bogenminuten  betragen 
wird.  Nachher  entfernt  sich  der  Nordpol  von  dem  Polarstern  und  seinem 
Sternbilde,  dem  kleinen  Bären,  um  in  das  Sternbild  Cepheus  hineinzu- 
gehen. Nach  12000  Jahren  wird  der  hell  leuchtende  Stern,  Vega,  a 
Lyrae,  dem  Nordpol  nahe  stehen  und  als  Polarstern  betrachtet'  werden 
können. 

Bei  der  Präzession  wirkt  nicht  nur  die  Sonne,  sondern  auch 
der  Mond.  Der  letztere  allein  bewirkt  eine  kleine  Störung  in  der  Prä- 
zession, welche  Nutation  genannt  wird.  Die  Mondbahn  liegt  nämlich 
nicht  gänzlich  in  der  Ekliptik,  sondern  weicht  um  5^  davon  ab.  Die 
Mondbahn  schneidet  nicht  immer  die  Ekliptik  längs  derselben  Kichtung, 
sondern  diese  Kichtung  wandert  sehr  schnell.    Sie  beschreibt  nämlich 


Fig.  85. 


270  Physik  der  Erde. 

in  18,7  Jahren  einen  Kreis  auf  dem  Sternhimmel.  Dies  veranlasst,  dass 
die  Kraft,  welche  die  Nutation  bewirkt,  in  ihrer  Eiehtung  eine  etwa 
19jährige  Periode  besitzt.  Dadurch  entsteht  eine  ebenso  lange  Periode 
in  der  Bewegung  der  Erdachse,  welche  sich  wie  eine  leichte  Kräuselung 
über  die  grosse  Präzessionsbewegung  überlagert.  Zufolge  der  kurzen 
Wirkungszeit  ist  die  durch  diesen  Umstand  entstehende  Schwankung  sehr 
gering,  indem  ihre  Amplitude  höchstens  18  Bogensekunden  beträgt,  wäh- 
rend durch  die  Präzession  die  jährliche  Änderung  50  Sekunden  und  die 
totale  47  ^  erreicht.  Die  Nutationsbewegung  wird  infolgedessen  die 
Kegel,  welche  die  Erdachse  zufolge  der  Präzessionsbewegung  beschreibt, 
ein  klein  wenig  verunstalten,  indem  sie  ihr  eine  ausserordentlich  flache 
Cannelierung  (Amplitude  <  0,02  der  Länge)  erteilt. 

Es  war  Bradley,  welcher  beim  Suchen   der  Sternparallaxen    die 
Nutationsbewegung  auffand. 

Yerschiebungen  der  Erdachse  im  Erdkörper.  Während  die 
Änderung  der  Lage  der  Erdachse  im  Räume  deinen  nennenswerten  Ein- 
fluss  auf  die  terrestren  Verhältnisse  (speziell  das  Klima,  vergl.  weiter 
unten)  ausübt,  wäre  das  Gegenteil  zutreffend,  wenn  die  Erdachse  im 
Erdkörper  ihre  Lage  veränderte.  In  der  That  haben  auch  die  Geologen 
versucht,  in  dieser  Weise  die  grossen  Klimaschwankungen,  welche  durch 
die  Eiszeiten  bezeichnet  werden,  zu  erklären.  Diese  Erklärungsweise, 
welche  einst  sehr  beliebt  war,  ist  indessen  durch  nähere  Forschungen 
als  unhaltbar  erwiesen.  Schon  früh  (zu  Copernicus  Zeiten),  stellte 
man  Vermutungen  auf,  dass  die  Polhöhe  eines  Ortes  nicht  unveränder- 
lich sei.  Die  experimentellen  Hilfsmittel  langten  aber  nicht  aus,  um 
diese  Frage  zu  lösen.  Dagegen  wurden  mehrere  wichtige  theoretische 
Untersuchungen,  besonders  von  L.  Euler,  über  diese  Frage  ausge- 
führt. Erst  in  der  neuesten  Zeit  sind  Polhöhonschwankungen  sicher 
konstatiert  worden.  Wenn  die  Erdachse  sich  verschiebt,  so  dass  sie 
sich  z.  B.  Berlin  nähert,  so  muss  sie  sich  von  einem  180^  davon  in 
geographischer  Länge  gelegenen  Punkte  um  ebensoviel  entfernen  und 
umgekehrt.  Um  dies  zu  konstatieren,  wurde  eine  Expedition  nach 
Honolulu  gesandt,  welches  eine  solche  Lage  hat.  Diese  Expedition 
sollte  die  Polhöhenschwankungen  daselbst  beobachten,  während  ähnliche 
Messungen  in  Berlin  (Potsdam),  Prag  und  Strassburg  ausgeführt  wurden. 
Das  Ergebnis  wird  durch  die  nebenstehenden  Kurven  (Fig.  86)  darge- 
stellt, welche  zeigen,  dass  thatsächlich  die  Polhöhenschwankung  in  Berlin 
sich  wie  ein  Spiegelbild  zu  derjenigen  in  Honolulu  verhält.  Die  Schwan- 
kung hatte  an  den  beiden  Stellen,  auch  innerhalb  der  Beobachtungs- 


I.  Gestalt,  Masse  und  Bewegung  der  Erde. 


271 


fehler,  dieselbe  Amplitude  (0,53"  bezw.  0,58").  Da  eine  Bogensekunde 
31  m  entspricht,  so  ersieht  man,  dass  die  Amplitude  sehr  unbedeutend 
ist  und  nicht  mehr  als  einer  Verschiedenheit  von  17  m  beträgt. 

Die  Schwankungen  der  Erdachse  seit  1890  ist  neuerdings  von  Al- 
brecht aus  den  Beobachtungen  mehrerer  Sternwarten  berechnet  und 
durch  folgende  Kurve  dargestellt  worden  (Fig.  87  S.  272).  Wie  aus  dieser 
ersichtlich,  beschreibt  der  momentane  Pol  der  Erde  eine  vielfach  ver- 
schlungene unregelmässige  Kurve  um   die  mittlere  Lage.    Die  grösste 

Mete       Jftc7%c    kJ^-Uc  Jtio.  Wtfii  Octoö    jibirC^cz        ^«^11  J-e^.    .yi^xz  j^t.     .^fUto  J^-n^^ 

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Fig.  86. 


Entfernung  beträgt  nicht  mehr  als  etwa  10  m.  Der  erste  Tag  jedes 
Monats  ist  durch  einen  Kreis  bezeichnet. 

Aus  dieser  Kurve  kann  man  schliessen,  dass  die  Bewegung  eine 
kurzdauernde  Periode  von  etwa  14  Monaten  besitzt.  Auf  eine  sekuläre 
Bewegung  kann  aus  dem  bis  jetzt  vorliegenden  Material  nicht  geschlossen 
werden. 

Aus  anderen  Umständen  hat  man  berechnet,  wie  grosse  Änderungen 
der  Lage  des  Poles  Folgen  von  bestimmten  Massenverschiebungen  auf 
der  Erde  sein  könnten.  Wenn  die  Erde  als  ein  starrer  Körper  zu  be- 
handeln ist,  so  wird  eine  Steigung  des  Wassers  im  Mittelmeer  mit  1  m 
die  Hauptträgheitsachse  und  damit  die  Drehungsachse  der  Erde  um  nur 
etwa  1  m  verschieben.    Könnte  man  die  ganze  Gebirgsmasse  des  asia- 


272 


Physik  der  Erde. 


tischen  Kontinentes  abheben  und  in  den  indischen  Ocean  verlegen,  so 
würde  der  Pol  sich  nur  um  etwa  40  km  verschieben.  So  gewaltige  ein- 
seitige Massenverschiebungen  können  auch  kaum  in  geologischen  Zeiten 


.Hi^O 


+dio 


doo 


-m 


■t-0.10     — 


+  0.30    — 


•fOt.30 

+0:30 


0.10 


*  U^'JO 


/  0  10 


Fig.  87. 


stattgefunden  haben,  so  dass  man  den  Pol  als  selir  nahe  fix  anzu- 
sehen hat. 

Anders  werden  wohl  die  Bedingungen,  wenn  man  annimmt,  die  Erde 
sei  nicht  als  ein  starrer  Körper,  sondern  als  eine  flüssige  Masse,  von 
einer  dünnen  Kruste  umgeben,  zu  betrachten.  In  diesem  Falle  wären 
grössere  Folgen  der  Massenverschiebungen  möglich.  Indessen  zeigen  die 
Beobachtungen  (vergl.  unten),  dass  man  mit  Eecht  die  Erde  in  dieser 
Beziehung  als  einen  starren  Körper  behandeln  kann.  ' 

D  i  e  1  a'n  g  s  a  m  e  Ä  n  d  e  r u  n  g  d  e  r  E  r d  b  a li  n.  Im  allgemoi nen  rechnet 
man  so,  als  ob  die  Planetenbahnen  unverändert  ihre  Lage  im  Himmels- 


I.  Gestalt,  Masse  und  Bewegung  der  Erde.  O73 

rauiii  auf  ewige  Zeiten  behalten  würden.  Dies  würde  auch  der  Fall 
sein,  wenn  nur  ein  einziger  anziehender  Körper  (die  Sonne)  auf  den  be- 
treffenden Planeten  durch  seine  Schwere  einwirkte.  Thatsächlich  ist  ja 
auch  die  Masse  der  Sonne  so  überaus  gross  im  Vergleich  zu  derjenigen 
der  Planeten,  dass  die  oben  gemachte  Annahme  als  mit  grosser  Annäherung 
erfüllt  angesehen  werden  kann.  Aber  wie  gering  auch  die  Massen  der 
Planeten  gegen  diejenige  der  Sonne  sein  mögen,  so  verursachen  sie 
doch  in  der  Länge  der  Zeit  merkliche  Veränderungen  der  Bahnen 
der  Erde  und  anderer  Planeten.  Diese  sogenannten  Störungen  zu  be- 
rechnen, bildet  das  Hauptproblem  der  rechnenden  Astronomie,  und  die 
bedeutendsten  Mathematiker  haben  sich  an  der  Lösung  dieses  Problems 
beteiligt. 

Diese  Eechnungen  haben  nun  zu  dem  Schluss  geführt,  dass  die  von 
den  Störungen  herrührenden  Änderungen  in  den  Planetenbahnen  perio- 
discher Natur  sind,  obgleich  die  Perioden  für  unsere  Verhältnisse  nahezu 
als  unendlich  lang  anzusehen  sind,  indem  sie  zwischen  50000  und  2  000  000 
Jahren  betragen.  Die  Perioden  sind  ebenso  viele  wie  die  Zahl  der  stö- 
renden Körper.  Wie  nun  die  kurzen  astronomischen  Perioden  der  Erd- 
umdrehung und  des  Erdumlaufes  um  die  Sonne  die  Periodicität  aller 
irdischer  Erscheinungen,  vor-  allem  der  Temperatur  und  der  Belich- 
tung, hervorrufen  und  deshalb  der  Zeitmessung  zu  Grunde  gelegt 
worden  sind,  so  könnte  man  sich  vorstellen,  dass  vielleicht  diese  langen 
Perioden  natürliche  Zeitmesser  wären  für  die  grossen  Veränderungen, 
welche  im  Laufe  der  geologischen  Epochen  aufgetreten  sind.  Man  könnte 
sich  z.  B.  vorstellen,  dass  die  Excentricität  der  Erdbahn  einst  sehr  gross 
werden  könnte,  wie  diejenige  einer  Kometenbahn.  Die  Sonnenstrahlung 
würde  dann  in  einem  Jahre  ganz  gewaltige  Veränderungen  durchlaufen, 
welche  so  bedeutend  sein  könnten,  dass  alle  auf  dem  festen  Lande  le- 
bende Organismen  zugrunde  gerichtet  werden  würden  und  die  Tiefen 
des  Meeres  allein  hinreichend  konstante  Temperatur  hätten,  um  orga- 
nisches Leben  hegen  zu  können.  In  der  That  haben  Ad  he  mar  und 
noch  mehr  CroU  u.  A.  versucht,  in  ähnlicher  Weise  die  gewaltigen 
Veränderungen  in  geologischen  Perioden  zu  erklären. 

Die  nähere  Untersuchung  hat  gezeigt,  dass  diese  langperiodischen 
Änderungen  der  Bahnen  der  Erde  und  anderer  Planeten  sehr  gering 

ind.  Die  Gefahr  von  Zusammenstössen  der  Planeten,  welche  even- 
tuell bei  stark  excentrischen  Bahnen  auftreten  könnte,  ist  nicht  vor- 
handen.   Man  sagt  deshalb  häufig,    die  Stabilität  des  Planetensystems 

sei  erwiesen.     Wenn  aber  eine  Gefahr  die  Existenz  dej;  Menschheit  oder 

Arrheniua,  Kosmische  Physik.  18 


274  Physik  der  Erde. 

überhaupt  der  Lebewesen  unserer  Erde  bedroht,  so  ist  sie  viel  weniger 
von  einem  Zusammenstosse  —  am  wenigsten  mit  einem  anderen  Pla- 
neten, dann  viel  eher  mit  einem  aus  unbekannten  Welträumen  herbei- 
eilenden Himmelskörper  —  als  vielmehr  von  einem  Versiegen  der 
Wärmequelle  der  Sonne  zu  befürchten. 

Was  nun  die  Änderung  der  Excentricität  der  Erdbahn  betrifft,  so 
kann  dieselbe,  welche  jetzt  0,01677  beträgt,  nach  Leverrier  zwischen 
den  extremen  Werten  0,07775  und  0,003314,  nach  Stockwell  zwischen 
0,0677  und  0,0000  schwanken.  Sie  wird  also  nie  die  jetzige  Excentricität 
der  Marsbahn  (0,0933),  noch  weniger  diejenige  (0,206)  der  Merkurbahn 
erreichen,  andererseits  aber  kann  sie  geringer  werden  als  diejenige  der 
Yenusbahn  (0,00684),  welche  im  Planetensystem  jetzt  am  meisten  kreis- 
förmig ist.  Seit  etwa  18000  Jahren  sinkt  die  Excentricität  der  Erdbahn 
von  dem  damaligen  Wert  0,019  und  sie  wird  nach  etwa  25000  Jahren 
durch  ein  Minimum  gehen.  Die  Maxima  und  Minima  erreichen  nur  in  den 
seltensten  Fällen  die  von  Leverrier  und  Stockwell  angegebenen  Ex- 
tremwerte. 

In  ähnlicher  Weise  verändert  sich  die  Lage  der  Sonnennähe  (Peri- 
helium)  im  Laufe  der  Zeit.  Diese  trifft  jetzt  am  Neujahr  (2.  Jan.)  etwas  nach 
der  Wintersonnenwende  (21.  Dec.)  ein.  Wegen  des  immer  früheren  Ein- 
tretens des  Frühlingspunktes  und  der  damit  folgenden  Sonnenwende  wird 
diese  ZeitdiflPerenz  immer  zunehmen.  Aber  auch  die  Lage  des  Perihe- 
liums  verschiebt  sich  am  Himmel  und  zwar  in  entgegengesetzter  Kich- 
tung  wie  der  Frühlingspunkt,  nämlich  mit  11,15"  pro  Jahr,  während  der 
Frühlingspunkt  in  entgegengesetzter  Richtung  sich  mit  50,2 1"  pro  Jahr 
ändert.  Die  relative  Verschiebung  dieser  beiden  Punkte  wird  also  im 
Jahre  61,36",  d.  h.  etwas  mehr  als  eine  Minute  betragen.  In  etwa  21000 
Jahren  ist  die  Verschiebung  360  ^  d.  h.  diese  Zeit  entspricht  der  Perioden- 
länge. Nach  etwa  10000  Jahren  wird  die  Sonnennähe  zur  Zeit  der 
Sommersonnenwende  eintreffen  statt  wie  jetzt  nahe  an  der  Wintersonnen- 
wende. Es  wird  dann  auf  der  nördlichen  Halbkugel  der  Sommer  wärmer 
und  der  Winter  kälter  als  jetzt  sein,  da  dann  die  Sonne  gleichzeitig 
am  tiefsten  steht  und  am  weitesten  von  der  Erde  entfernt  ist.  Ausser- 
dem ist  wegen  der  schnelleren  Bewegung  der  Erde  in  ihrer  Bahn  (nach 
dem  zweiten  Kepplerschen  Gesetze)  bei  der  Sonnennähe  das  Winter- 
halbjahr jetzt  auf  der  nördlichen  Halbkugel  8  Tage  kürzer  als  das  Sommer- 
halbjahr. Das  Gegenteil  wird  nach  10000  Jahren  eintreffen,  das  Winter- 
halbjahr wird  länger,  das  Sommerhalbjahr  kürzer  sein  wie  jetzt.  Der 
Einfluss  dieses  Umstandes  wird  wohl  etwas  dadurch   vermindert,    dass 


I.  Gestalt,  Masse  und  Bewegung  der  Erde. 


275 


dann  die  Excentricitiit  der  Erdbahn  vermindert  sein  wird.  Wenn  wir 
aber  zeitlich  zurückgehen,  finden  wir  viele  Epochen,  in  welchen  die 
stärkere  Excentricität  der  Erdbahn  die  Unterschiede  in  der  Länge 
des  Winters  und  des  Sommers  vergrösserte.  Groll  sprach  die  An- 
sicht aus,  dass  durch  diese  Umstände  die  warmen  und  kalten  Pe- 
rioden (diesen  entsprechen  die  Eiszeiten)  der  Erde  veranlasst  worden 
seien,  und  zwar  sollte  eine  kalte  Periode  eintreten,  wenn  das  Winter- 
halbjahr übermässig  lang  werden  würde.  Demnach  würde  man  jetzt 
auf  der  südlichen  Halbkugel  eine,  obgleich  schwache,  Kälteperiode  haben, 
auf  der  nördlichen  eine  Wärmeperiode.  Es  sollte  immer  eine  warme 
Zeit  auf  der  einen  Halbkugel  gleichzeitig  mit  einer  kalten  Zeit  auf  der 
anderen  eintreffen.    Zu  diesen  beiden  sekularen  Veränderungen,  welchen 


Taitsende   von  Jahren  vor  1850 
100         .90         so  70  60  60         UO 


30 


^   Taiisaid&von Jahre)inax;h  1S50 
0  10         20        30        w        so 


Fig.  88. 


Groll  den  grössten  Einfluss  auf  das  Klima  zuschrieb,  kommt  noch  eine, 
welche  nach  Groll  eine  geringere  Bedeutung  haben  sollte,  nämlich  die 
Schwankung  in  der  Neigung  der  Erdachse  gegen  die  Ekliptik.  Die  neben- 
stehende Fig.  88  stellt  die  Grösse  dieser  Schwankungen  in  den  ver- 
flossenen 100000  und  den  künftigen  50000  Jahren  nach  Stockwells 
Rechnungen  dar.  Die  Extremwerte  dieser  Neigung  sollten  68,02^  und 
65,40^  betragen.  Wie  aus  der  Zeichnung  ersichtlich,  hat  die  Neigung 
in  der  angeführten  Zeit  nie  die  Extremwerte  erreicht.  Die  Minima  und 
Maxima  fallen  auf  die  folgenden  Zeiten  und  erreichen  die  daneben 
angegebenen  Beträge.  Dabei  ist  die  Zeit  vom  Jahr  1850  als  Nullpunkt 
•gerechnet. 


Jahr 

Minimum 

Jahr 

Maximum 

—  91014 

65,69^ 

—  68759 

67,78  ö 

—  48022 

65,53 

28296 

67,87 

9076 

65,76 

+   10144 

67,47 

-f  31387 

65,99 

+  51018 

67,58 

•       18=^- 

276  Physik  der  Erde. 

Eine  Yergrösserung  der  Neigung  der  Erdachse,  d.  h.  eine  Aufrich- 
tung derselben  gegen  die  Ekliptik  vermindert  die  Sonnenstrahlung  im 
Sommer  nach  den  polaren  Gegenden.  Nach  neueren  Ansichten  (von 
Ekholm)  ist  dieser  klimatische  Faktor  von  grösserer  Bedeutung  wie 
die  beiden  vorhin  erwähnten. 

Kleinere  Schwankungen  der  festen  Erdkruste.  Ebenso  wie 
im  Meer  eine  Gezeitenwelle  durch  die  Schwerenwirkung  des  Mondes  (und 
in  geringerem  Grad  der  Sonne)  entsteht,  so  könnte  man  sich  denken, 
dass  sich  eine  solche  Welle  in  der  festen  Erdkruste  unter  der  Ein- 
wirkung von  ähnlichen  Druckkräften  ausbildet.  Wenn  z.  B.  die  Erd- 
kruste als  eine  sehr  dünne  elastische  Haut  auf  einem  leichtflüssigen 
Kern  schwimmen  würde,  so  könnten  die  Gezeiten  ebenso  stark  auf  die 
Lage  der  festen  Erdkruste  sich  geltend  machen,  wie  auf  diejenige  der 
Meeresoberfläche. 

In  diesem  letzteren  Falle  würde  das  Anschwellen  des  Meeres  bei 
Flutzeit  ebensowenig  von  dem  Ufer  wie  von  einem  auf  dem  Meere 
schwimmenden  Schiff  bemerkt  werden.  In  der  That  sind  die  beobach- 
teten Gezeiten  als  die  Differenzen  der  Gezeiten  der  festen  Erdkruste 
und  des  Meeres  anzusehen.  Da  nun  die  Gezeiten  sehr  ausgeprägt  am 
Ufer  sich  geltend  machen,  muss  man  daraus  schliessen,  dass  die  Ge- 
zeiten der  festen  Erdkruste  viel  unbedeutender  sind,  als  diejenigen  des 
Meeres.  Da  ferner  dies  davon  abhängen  könnte,  dass  die  Reibung  im 
Erdinnern  ganz  ausserordentlich  gross  ist,  so  hätte  man  diese  Er- 
scheinung nicht  so  sehr  an  der  täglichen  als  viel  mehr  an  lang- 
periodischen Schwankungen  zu  suchen.  Solche  kommen  nun  vor 
infolge  der  Veränderung  in  der  Entfernung  des  Mondes  (wie  35  zu 
41)  und  zufolge  der  in  einem  siderischen  Mondumlauf  erfolgenden 
Änderung  der  Deklination  des  Mondes.  Die  Beobachtungen  zeigten  aber 
anfangs  keine  merkliche  Gezeiten  der  festen  Erdkruste  zufolge  dieser 
langperiodischen  Schwankungen  —  die  beiden  Perioden  betragen  etwa 
27  Tage.  Man  hat  daraus  den  Schluss  gezogen,  dass  die  Starrheit  der 
Erde  eher  grösser  als  geringer  wie  diejenige  von  Stahl  ist. 

In  neuerer  Zeit  haben  sehr  genaue  Beobachtungen  von  v.  lie- 
beur-Paschwitz  an  Horizontalpendeln  in  Strassburg  i.  E.  gezeigt, 
dass  eine  vom  Mondstande  abhängige  Welle  an  der  Lage  der  festen  Erd- 
oberfläche sich  geltend  macht.  Diese  Schwankung  ist  jedenfalls  ausser- 
ordentlich gering. 

Eine  andere,  gerade  noch  merkbare  Bodenschwankung  ist  durch 
Beobachtungen  in  Genf  entdeckt  worden  und  durch  andere  in  München 


I.  Gestalt,  Masse  und  Bewegung  der  Erde.  277 

konstatiert.  Die  Blase  einer  Wasserwage  schwankt  sehr  langsam  hin 
und  zurück,  damit  angebend,  dass  die  Unterlage,  d.  h.  der  Boden,  lang- 
samen Schwankungen  ausgesetzt  ist.  Diese  Bodenschwankung  sieht 
man  als  eine  Folge  von  elastischen  Nachwirkungen  an,  die  durch  Ver- 
schiebungen von  Luftmassen  über  deni  Erdboden  entstehen.  Ebenso 
steigt  das  Wasser  an  der  Seite  eines  grossen  Sees,  wo  der  Luftdruck 
niedrig  ist,  sinkt  dagegen  an  der  Seite,  wo  er  höher  ist,  nach  den  Ge- 
setzen, welche  für  Flüssigkeiten  in  kommunizierenden  Röhren  gelten. 
Der  T^nterschied  gegen  die  Bodenschwankung  liegt  in  der  grossen  Ver- 
schiedenheit der  Fluidität  des  Wassers  und  der  unter  dem  Erdboden 
befindlichen  Massen. 

Einige  Geologen  glauben  in  der  sekularen  Hebung  Skandinaviens 
eine  ähnliche  elastische  Nachwirkung  sehen  zu  können.  Während  der 
Eiszeit  wurde  Skandinavien,  wie  jetzt  Grönland,  niedergepresst  durch 
eine  mehr  als  tausend  Meter  mächtige  Eisschicht.  Als  diese  abthaute, 
strebte  die  Erdkruste  ihre  alte  Form  unter  dem  Druck  der  inneren  zäh- 
flüssigen Massen  wieder  anzunehmen.  Die  Zähflüssigkeit  des  Erdinneren 
sollte  so  gross  sein,  dass  Gleichgewicht  noch  nicht  nach  zehntausenden 
von  Jahren  erreicht  wäre. 

Alles  führt  uns  dahin,  im  Inneren  der  Erde  eine  plastische,  aber 
äusserst  zähflüssige  Masse  anzunehmen.  Diese  Masse  würde  etwa  die 
Eigenschaft  von  Asphalt  bei  niedriger  Temperatur  oder  von  Glas  be- 
sitzen, welche  Kör[)er  gegen  plötzliche  deformierende  Kräfte  sich  als 
sehr  hart  und  spröde  wie  feste  Körper  erweisen  und  zerbrochen  werden, 
?ehr  langsam  wirkenden,  anhaltenden  Kräften  aber  nachgeben  und  sich 
wie  wahre  Flüssigkeiten,  aber  mit  ausserordentlich  geringer  Fluidität 
verhalten. 


IL  Die  feste  Erdkruste  und  das  Erdinnere. 

Die  Zunahme  der  Bodentemperatur  mit  der  Tiefe.  Schon 
früh  l)emerkte  man  in  Bergwerken,  dass  die  Temperatur  im  allgemeinen 
um  so  höher  wird,  je  tiefer  man  unter  die  Erdoberfläche  geht.  Dabei 
hat  man  von  der  geringen  Tiefe  abzusehen,  zu  welcher  die  jährliche 
Wärmewelle  in  merklichem  Grade  hineindringt,  und  welche  von  der 
Jahresschwankung  der  Oberflächentemperatur,  sowie  der  Wärmeleitfähig- 
keit des  Bodenmateriales  abhängt.  Diese  Tiefe  dürfte  selten  20  m 
erreichen.  Eine  in  diese  Tiefe  verlegte  Fläche  wird  die  neutrale  Fläche 
genannt. 

Als  Beispiel  der  Zunahme  der  Temperatur  nach  unten  mögen  fol- 
gende Beobachtungen  über  die  Temperatur  der  Gesteinwände  im  Adalbert- 
schachte  zu  Pribram  und  im  Bohrloch  bei  Sperenberg,  42  km  südlich 
von  Berlin,  angeführt  werden: 


Ad 

ilbertschac 

at  zu  Pribram 

Sperenberg 

Tiefe 

Temp. 

Tiefe 

Temp. 

Tiefe 

Temp. 

Tiefenst. 

74,5  m 

9,4  0 

505,6  m 

16,5  0 

26,7  m      9  0 

15,5  m 

145,0 

11,5 

581,5 

17,8 

223 

21,6 

26,5 

190,7 

12,0 

661,8 

19,2 

350 

26,4 

28,2 

280,8 

13,8 

737,3 

20,4 

477 

30,9 

38,4 

359,8 

14,2 

832,2 

21,1 

669 

35,9 

38,8 

432,7 

15,1 

889,3 

21,8 

1080 
1268 

46,5 
48,1 

117,5 

Mittlere  Tiefenstufe  66  m 

Mittel  31,7. 

Man  nennt  geothermische  Tiefenstufe  den  Höhenunterschied  zweier 
übereinander  gelegenen  Punkte,  deren  Temperaturunterschied  1  ^  C.  beträgt. 
Im  Mittel  beträgt  die  geothermische  Tiefenstufe  für  den  Adalbertschacht; 


II.  Die  feste  Erdkruste  und  das  Erdinnere.  279 

66  ni,  für  Sperenberg  31,7  m.  Sie  ist,  wie  leicht  ersichtlich,  ziemlich 
schwankend,  und  zwar  im  Adalbertschacht  in  recht  unregelmässiger 
Weise,  in  Sperenberg  nimmt  sie  mit  der  Tiefe  zu.  Im  Bohrloch  zu 
Schladebach  bei  Merseburg  ist  sie  sehr  nahe  konstant  in  den  ersten  600  m 
37,2,  in  den  folgenden  600  m  35,9  und  zwischen  1206  und  1716  m  Tiefe 
37,5,  im  Mittel  36,9  m  pro  Grad  Celsius. 

An  mehreren  Stellen  wird  die  Temperatur  der  Erdschichten  durch 
Luft-  oder  Wasserströmungen  gestört,  in  anderen  Fällen  spielen  che- 
mische Prozesse  eine  grosse  störende  Eolle.  Dies  ist  in  Kohlenbergwerken 
und  petroleumführenden  Erdschichten  besonders  häufig  der  Fall,  aber 
auch  andere  Bergarten,  wie  z.  B.  die  gewöhnlichen  Silikate,  können  zu  be- 
deutenden Wärmeentwickelungen  durch  langsam  verlaufende  chemische 
Prozesse  (Bildung  von  Kaolin)  Anlass  geben.  In  dieser  Art  ist  wohl 
auch  die  starke  Temperaturzunahme  gleich  unter  dem  Meeresboden  an 
der  dänischen  Küste  (von  —  0,1  ^  bis  +  7  ^  C.  zwischen  Boden  und 
ein  Meter  Tiefe  in  der  darunter  befindlichen  Schlammschicht)  zu  erklären. 
Ohne  Zweifel  enthält  der  Schlamm  viele  organische  Beste,  die  langsam 
unter  Wärmeentwickelung  vermodern.  In  solchen  Fällen  erhält  man 
gewöhnlich  (in  der  Nähe  der  Erdoberfläche)  abnorm  niedrige  geother- 
mische  Tiefenstufen. 

In  neuerer  Zeit  hat  man  häufig  sehr  tiefe  Bohrlöcher  in  die  Erde 
hineingetrieben  (bis  zu  etwa  1000  bis  2000  m)  und  es  wurde  dabei  die 
Temperatur  in  verschiedenen  Tiefen,  gewöhnlich  mit  Hilfe  von  Maximai- 
Thermometern  ausgemessen.  Man  hat  auf  verschiedenen  Stellen  ver- 
schiedene Werte  für  die  Tiefenstufe  erhalten,  so  z.  B.  in  den  brittischen 
Inseln  26,6 — 42,1  m,  in  belgischen  Kohlenbergwerken  30  m,  in  Oester- 
reich  27  m  (Niederösterreich)  und  32  m  (Sauerbrunn  in  Böhmen),  in 
}>reussischen  Bergwerken  15,5 — 115,3  m  (Mittel  54,3  m),  in  Sachsen 
41,8  m  (Mittel),  bei  Schemnitz  im  Mittel  41,4  m,  in  Wheeling  (Westvir- 
ginien)  44  m,  in  Cremorn  (Neu  Süd- Wales)  48  m. 

Sehr  niedrige  Tiefenstufen  findet  man  in  Gegenden,  welche  vulka- 
nische Erscheinungen  aufweisen  oder  in  kürzlich  verflossenen  Zeiten  auf- 
wiesen. So  z.  B.  fand  man  zu  Macholles  in  einem  ehemals  vulkanischen 
Gebiet  der  Limagne  14,4  m,  zu  Neufifen  in  der  schwäbischen  Alb  in  einem 
tertiären  Vulkangebiet  nur  11,3  m,  in  einem  Kohlenbergwerk  bei  Monte 
Massi  in  Toscana  13,7  m.  Ungewöhnlich  niedrige  Werte  gelten  für  das 
Petroleumgebiet  nördlich  von  Strassburg  i.  E.,  so  zu  Pechelbronn  13,9  m, 
zu  Oberkutzenhausen  13,9  m  und  zu  Oberstätten  sogar  nur  7,8  m. 

Ein  umgekehrtes  Verhältnis  zeigt  sich  in  der  Umgebung  des  Oberen 


2§Q  Physik  der  Erde. 

Sees  in  Nordamerika,  dessen  Wassermassen  einen  abkühlenden  Einfliiss 
auszuüben  scheinen.  Während  man  sonst  in  dieser  Gegend  eine  mitt- 
lere Tiefenstufe  von  etwa  30  m  gefunden  hat,  steigt  dieselbe  in  der 
Osceola-Grube  zu  42  m  (8  km  vom  See)  und  in  näher  belegenen  Berg- 
werken bis  zu  55—67  m. 

Auch  bei  Bohrungen  von  artesischen  Brunnen  hat  man  häufig  An- 
lass  zu  Temperaturmessungen  in  verschiedenen  Tiefen  gehabt.  Man 
fand  so: 

Tiefe  Geoth. 

^^'^  des  Bohrlochs       Tiefenst. 

Küdersdorf  (bei  Berlin) 696  m  26,9  m 

Neusalzwerk  (Westf.)  ......      671  29,6 

Mondorf —  28,6 

Pitzpuhl  (Magdeburg) —  25,1 

Sudenburg     (do.)        568  32,3 

Sennewitz  (Halle) 1084  36,6 

Lieth  (Altena) 1259  35,9 

Artern  (Thüringen) —  37,7 

Sulz  am  Neckar 710  24,0 

Sauerbrunn  (Böhmen) —  32,0 

Grenelle  (Paris) 547  32,6 

St.  Andre  (do.) 253  30,7 

Ronen —  28,5 

La  Rochelle —  19,0 

Bootle  (Liverpool) 434  71,3 

Scarle  (Lincoln) 609  37,8 

Kentish-Town 307  36,8 

Mittel    33,3. 


Bei  den  Tunnelbohrungen  hat  man  auch  reiche  Gelegenheit  gehabt, 
die  Temperatur  im  Erdinnern  zu  messen.  Die  Isothermenflächen  bilden 
nämlich  nicht  sphäroidische  Flächen  um  den  Erdmittelpunkt,  sondern 
sie  verlaufen  etwa  parallel  der  Erdoberfläche.  Erst  in  einer  Tiefe  von 
etwa  4500  m  sind  die  Unebenheiten  entfernt  und  die  Flächen  als 
sphäroidisch  anzusehen  (nach  Supan).  Kennt  man  also  die  Tem- 
peratur an  einer  Stelle  des  Tunnels  und  den  kürzesten  Abstand  von  da 
zur  Erdoberfläche,  so  kann  man  daraus  die  geothermische  Tiefenstufe  er- 
mitteln. Man  fand  auf  diese  Weise  für  den  Gotthardtunnel  die  mitt- 
lere geothermische  Tiefenstufe  gleich  etwa  50  m  und  die  Temperatur  in 


II.  Die  feste  Erdkruste  und  das  Erdinnere.  281 

der  Mitte  des  Tunnels  gleich  30,4^  C.  Diese  Temperatur  sank  übri- 
gens nach  der  Durchbohrung  nur  unbedeutend  durch  den  Luftzug. 
Im  Tunnel  unter  dem  Mont  Cenis  hat  man  ebenfalls  eine  Tiefenstufe 
von  50  m  gefunden.  In  den  Tunneln  ist  die  Tiefenstufe  aus  leicht 
ersiehlichen  Gründen  unter  den  Bergspitzen  geringer  als  unter  den 
Thälern. 

Diese  Verhältnisse  sind  von  grosser  Wichtigkeit  für  die  Praxis. 
Wegen  der  Zunahme  der  Hitze  mit  der  Tiefe  wird  die  Arbeit  an  tieferen 
Stellen  der  Schachte  sehr  erschwert  und  verteuert.  So  z.  B.  hat  man 
die  Bearbeitung  des  ausserordentlich  reichen  Comstock-Ganges  in  Nevada 
auf  Silber  und  Gold  wegen  der  hohen  Temperatur  teilweise  aufgeben 
müssen.  Man  sucht  dieser  Unannehmlichkeit  vielfach  so  abzuhelfen, 
dass  die  Bohrmaschinen  mit  zugeleiteter  komprimierter  Luft  getrieben 
werden,  welche  bei  ihrer  Ausdehnung  sich  stark  abkühlt  und  so  eine 
erfrischende  Ventilation  zustande  bringt. 

Da  nun  die  Temperatur  mit  der  Tiefe  zunimmt  und  kein  Grund 
vorliegt,  anzunehmen,  dass  die  Zunahme  in  der  Nähe  der  Erdoberfläche 
(man  hat  nur  2  km  tiefe  Bohrlöcher  gebohrt,  d.  h.  man  ist  nur  bis  zu 
dem  3200.  Teil  ins  Erdinnere  eingedrungen)  anders  wäre  als  in  tieferen 
Schichten,  so  hat  man  allen  Anlass,  zu  schliessen,  dass  die  Erdtempe- 
ratur bis  zu  grossen  Tiefen  ungefähr  ebenso  schnell  zunimmt  wie  in  den 
Bohrlöchern  gefunden  ist.  Dies  muss  in  der  That  der  Fall  sein.  Denn 
zufolge  des  Temperaturfalles  nach  aussen  fliesst  Wärme  aus  den  obersten 
Erdschichten  immer  zum  Weltraum  hinaus.  Der  stationäre  Zustand, 
welcher  jetzt  herrscht,  verlangt  aber,  dass  ebensoviel  Wärme  von  den 
weiter  innen  belegenen  Erdschichten  nachfliesse,  was  einen  ähnlichen 
Temperaturfall  in  diesen  Schichten  als  nötige  Vorbedingung  voraussetzt. 
In  denjenigen  Erdschichten,  welche  ungefähr  so  zusammengesetzt  sind 
wie  die  feste  Erdkruste,  ist  auch  der  Temperaturfall  ungefähr  ebenso 
gross  wie  in  den  oberen  Erdschichten.  Die  geothermische  Tiefen- 
stufe beträgt  in  den  meisten  Fällen  zwischen  25  und  50  m;  es  sollte 
demnach  die  Temperatur  bei  1000  m  Tiefenzunahme  um  40  bis  20^  an- 
steigen, oder  im  Mittel  mit  30^.  Demnach  wäre  eine  Temperatur  von 
2000*^  C.  in  einer  Tiefe  von  nur  50  bis  100  km  erreicht.  Bei  dieser 
Temperatur  sind  beinahe  alle  Stoffe,  die  wir  kennen,  speziell  die  ge- 
Avöhnlichen  Bestandteile  der  Erdkruste  und  das  Eisen  des  Erdinnern 
geschmolzen.  Einige  Stoffe,  besonders  Kohle,  und  einige  Oxyde  halten 
wohl  diese  Temperatur  noch  aus,  sie  lassen  sich  aber  ohne  Zweifel  in 
den  anderen  Stoffen,  wie  Eisen,   bezw.  Silicaten,  lösen  oder  geben   zu 


282  Physik  der  Erde. 

Keaktioncn   mit   den   anderen  Körpern  Anlass,   wodurch  sie  in  leichter 
flüssige  Verbindungen  übergehen. 

Man  muss  demnach  annehmen,  dass  schon  in  etwa  einem  Hundertstel 
der  Tiefe  eines  Erdhalbmessers  die  Erde  ausschliesslich  aus  geschmol- 
zenen feurigflüssigen  Massen  bestehen  würde.  In  vulkanischen  Gegen- 
den hat  man  das  flüssige  Erdinnere  als  noch  viel  näher  der  Erdober- 
fläche liegend  vorauszusetzen,  indem  die  geothermischc  Tiefenstufe  da- 
selbst relativ  gering  ist.  Wahrscheinlich  giebt  es  da  Stellen,  wo  das 
flüssige  Magma  nicht  viel  tiefer  als  einige  Kilometer  unter  der  Erd- 
oberfläche liegt,  was  auch  von  den  Vulkanologen  meistens  voraus- 
gesetzt wird. 

Dagegen  ist  die  Einw^endung  geltend  gemacht  worden,  dass  die 
meisten  Körper  bei  der  Schmelzung  sich  ausdehnen,  und  der  Schmelz- 
punkt dieser  Körper  steigt  mit  zunehmendem  Drucke.  Unter  den  ausser- 
ordentlich hohen  Drucken  im  Erdinnern  —  bei  einem  spezifischen  Ge- 
wicht der  Erdkruste  von  2,6  nimmt  der  Druck  um  etwa  250  Atmo- 
sphären pro  Kilometer  zu,  in  einer  Tiefe  von  60  km  wäre  demnach  der 
Druck  15000  Atmosphären  —  könnte,  nach  Ansicht  einiger  For- 
scher, der  Schmelzpunkt  der  Körper  so  stark  gestiegen  sein,  dass  man 
in  grossen  Tiefen,  ungeachtet  der  da  herrschenden  hohen  Temperatur, 
das  Bestehen  von  festen  Körpern  voraussetzen  könnte.  Neuere  Unter- 
suchungen, besonders  von  T  am  mann,  bestätigen  diese  Schlussweise 
nicht,  sondern  machen  es  wahrscheinlich,  dass  bei  genügend  hohen 
Drucken  alle  Körper  sich  wie  Wasser  bei  Atmosphärendruck  verhalten, 
d.  h.  niedrigeren  Schmelzpunkt  bei  zunehmendem  Drucke  erhalten.  Ja 
es  ist  sogar  nach  diesen  Untersuchungen  wahrscheinlich,  dass  bei  ge- 
nügend hohen  Drucken  der  feste  Zustand  nicht  stabil  ist.  Man  hat 
deshalb  allen  Grund,  sich  der  früher  allgemein  angenommenen  von 
Arago  und  Humboldt  stammenden  Ansicht  anzuschliessen,  wonach 
die  feste  Oberflächenschicht  der  Erde  nur  eine  unbedeutende  Tiefe 
besitzt. 

Der  Zustand  des  Erdinnern.  Gegen  diese  Annahme  scheinen 
wohl  die  Berechnungen  von  Darwin  und  Lord  Kelvin  über  die  Ge- 
zeiten als  auch  diejenige  von  Hopkins  über  die  Präcession  und  Nuta- 
tion  zu  streiten.  Aus  diesen  letzteren  schloss  Hopkins,  dass  mehr  als 
die  Hälfte  der  Erde  eine  feste  Kruste  bildet,  deren  Dicke  mehr  als  ein 
Viertel  des  Erdhalbmessers  aufnimmt.  Über  diese  scheinbare  Differenz 
zwischen  Beobachtung  und  Rechnung  ist  schon  oben  (S.  276)  etwas  gesagt 
worden.  Jedenfalls  muss  unter  den  hohen  Drucken  im  Erdinnern  die  Masse  in 


11.  Die  feste  Erdkruste  und  das  Erdinnere.  283 

oinem  sehr  konipriiiiierten  Zustande  sich  befinden.  Dadurch  werden  die 
Molekularkräfte  stark  gesteigert  und  die  Zähflüssigkeit  bedeutend  erhöht. 
Die  Flüssigkeiten  im  Erdinnern  benehmen  sich  demnach  viel  eher  wie 
Flüssigkeiten  von  der  Natur  des  Peches  oder  Siegellackes,  welche  wir 
für  gewöhnlich  als  feste  Körper  ansehen,  als  wie  gewöhnliche  Flüssig- 
keiten (z.  B.  Wasser  oder  Quecksilber  Runter  Atmosphärendruck).  Es 
geben  ja  auch  unter  genügendem  Druck  die  gewöhnlichen  Metalle  nach 
und  lassen  sich  deformieren,  d.  h.  verhalten  sich  wie  Flüssigkeiten.  Auf 
diesen  Umstand  ist  die  Münzenprägung  begründet.  Auch  einige  Gesteine 
sind,  wie  Kick  gezeigt  hat',  unter  hohem  Druck  plastisch.  Man  findet 
auch  häufig  in  der  Natur  Flintenballen  und  andere  Steine,  die  durch 
Druck  abgeplattet  sind. 

Eine  ähnliche  Plasticität  charakterisiert  den  innersten  Teil  der  Erde, 
wo  die  Temperatur  etwa  von  der  Grössenordnung  100000^  sein  mag.  Bei 
dieser  Temperatur  ist  der  kritische  Punkt  jeder  Substanz  überschritten. 
Es  gilt  demnach  für  die  mittleren  Teile  der  Erde  dasselbe  wie  für  die 
Sonne.  Es  dürfte  der  grösste  Teil  der  Erdmasse  sich  in  gasförmigem 
Zustande  befinden.  Dessen  ungeachtet  sind  die  schwersten  Körper  (Me- 
talle) am  stärksten  in  der  Nähe  des  Mittelpunktes  vertreten.  Unter 
dem  hohen  Drucke  und  in  der  hohen  Hitze  bestehen  auch  Verbindungen, 
die  bei  gewöhnlichem  Druck  und  Temperatur  keineswegs  existenzfähig 
sind,  und  die  demnach,  wenn  sie  plötzlich  zu  weniger  tiefen  Stellen 
verlegt  werden  würden,  unter  ungeheurer  Wärmeentwickelung  und  Aus- 
dehnung explodieren  würden  (vgl.  S.  230). 

Wir  kommen  also  zu  dem  Schluss,  dass  die  feste  Erdrinde  nur 
eine  unbeträchtliche  Dicke  hat  und  in  einer  Tiefe  von  etwa  60  km  in 
eine  feurig-flüssige  Masse  übergeht  —  das  sogenannte  Magma  —  welches 
wohl  hauptsächlich  aus  einem  Schmelzfluss  von  Silicaten  besteht.  Noch 
tiefer,  etwa  300  km  unter  der  Erdoberfläche,  nimmt  alles  den  Gas- 
zustand an.  Der  physikalische  Unterschied  dieser  drei  Aggregatzustände 
ist  aber  zufolge  der  Zähflüssigkeit  des  Magmas  und  der  inneren  Gase 
(wegen  des  hohen  Druckes)  nicht  sehr  gross,  sondern  praktisch  ge- 
nommen verhalten  sie  sich  gegen  nicht  sehr  langdauernde  deformie- 
rende Kräfte  wie  feste  Körper.  Kräfte  von  kurzer  Dauer  können  nur 
sehr  geringfügige  Verschiebungen  bewirken.  In  dieser  Weise  werden 
die  Resultate  von  Hopkins,  Darwin  und  Lord  Kelvin  verständlich. 
Der  Druck  und  die  Temperatur  steigen  immer  weiter  gegen  den  Erd- 
mittelpunkt hin.  Die  Zunahmen  pro  Kilometer  müssen  aber  in  tie- 
feren Schichten,  wegen   der   da   abnehmenden  Schwere  und  steigenden 


2^4  Physik  der  Erde. 

Wärmeleitfähigkeit,  geringer  sein  als  in  höheren.  Im  Mittelpunkt  selbst 
werden  sie,  wie  leicht  ersichtlich.  Null  sein.  Der  Druck  daselbst  wird 
gewöhnlich  zu  etwa  3  Millionen  Atmosphären,  die  Temperatur  zu  etwa 
20000^  C.  geschätzt.  Diese  letzte  Ziffer  dürfte  zu  gering  sein  und  dafür 
eher  etwa  100000^  C.  angesetzt  werden. 

Wärmeverlust  der  Erde  nach  Aussen.  Da  die  Temperatur 
der  Erde  kontinuierlich  vom  Mittelpunkte  zur  Oberfläche  abnimmt,  so 
muss  zufolge  der  Gesetze  der  Wärmeleitung  Wärme  vom  Erdinnern 
hinaus  befördert  werden,  wo  sie  in  den  leeren  Raum  hinausstrahlt. 
Diese  Zufuhr  von  Wärme  aus  dem  Erdinnern  ist,  wie  wir  vorhin  sahen, 
gegen  diejenige  von  der  Sonne  so  verschwindend,  dass  man  sie  bei  der 
Berechnung  der  gewöhnlichen  Wärmehaushaltung  gänzlich  ausser  Acht 
lassen  kann  (vgl.  S.  165). 

Eine  andere  Folge  wird  aber  dieser  Wärmeverlust  in  der  Länge 
der  Zeit  haben.  Die  ganze  Erde  zieht  sich,  wie  die  Sonne,  zusammen, 
und  dadurch  entstehen  aus  der  potentiellen  Energie  der  Schwere  neue 
Wärmemengen,  welche  die  Zusammenziehung  verlangsamen.  Jedenfalls 
muss  aber  die  Erde  allmählich  zusammenschrumpfen.  Dies  gilt  zwar 
hauptsächlich  für  das  Innere  der  Erde,  denn  die  Erdoberfläche  besitzt 
eine  Temperatur,  die  beinahe  ausschliesslich  von  der  Sonnenstrahlung 
(und  in  geringerem  Grade  von  der  Beschaffenheit  der  Atmosphäre)  ab- 
hängt. Von  der  Sonnenstrahlung  und  der  Beschaffenheit  der  Atmo- 
sphäre wollen  wir  annehmen,  dass  sie  im  grossen  und  ganzen  als  kon- 
stant gesetzt  werden  können,  was  wohl  auch  nahezu  erfüllt  ist.  Dem- 
zufolge wird  die  Erdkruste  dem  Erdinnern  bei  der  Zusammenziehung 
nicht  folgen.  Sie  bekommt  dadurch  Falten  und  Runzeln,  und  man 
ist  einig  darüber,  diesen  Umstand  als  den  wichtigsten  bei  der  Bildung 
von  Gebirgsketten  anzusehen. 

Um  eine  Vorstellung  von  der  Grössenordnung  dieser  Wärmeverluste 
zu  erhalten,  machen  wir  mit  Nathorst  die  Annahme,  dass  der  Erd- 
halbmesser sich  seit  der  silurischen  Zeit  um  etwa  5  km  zusammengezogen 
habe.  Danach  wird,  zufolge  einer  Berechnung  von  Ekholm,  je  nachdem 
man  den  linearen  Ausdehnungskoefficienten  der  Erdmasse  gleich  2.10"^ 
oder  5.10"^  setzt,  die  Verminderung  der  Erdtemperatur  in  dieser  Zeit 
16—40^  C.  betragen  haben.  Unter  Annahme,  dass  die  Wärmeleitfähig- 
keit der  Erdschichten  ungefähr  so  gross  wie  diejenige  des  Marmors  sei 
(0,002)  und  dass  die  Wärmekapacität  eines  cm^  der  Erdkruste  die  Hälfte 
derjenigen  des  gleichen  Volumens  Wasser  erreicht,  sowie  dass  die  geo- 
thermische  Tiefenstufe  33  m  beträgt,  erhält  man  das  Resultat,  dass  eine 


II.  Die  feste  Erdkruste  und  das  Erdinnere.  285 

Zeit  von  etwa  8  Millionen  Jahren  nötig  ist,  damit  die  mittlere  Tempe- 
ratur der  Erde  um  1^  C.  sinkt.  Danach  wären  nach  der  Silurzeit  etwa 
120  bis  320  oder  in  rundem  Maass  etwa  200  Millionen  Jahre  verstrichen. 
Aus  dieser  Schätzung  ersieht  man,  wie  ungeheuer  langsam  dieser  Wärme- 
verlust stattfindet,  und  wie  ausserordentlich  lange  Zeiträume  nötig  sind, 
damit  die  Erdkruste  zufolge  dieses  Umstandes  merklich  zusammen- 
schrumpft und  sich  mit  Gebirgsketten  überzieht 

Der  Wärmezustand  der  Erde  kann  daher  im  grossen  und  ganzen 
als  ein  stationärer  angesehen  werden. 

Alter  der  Erde.  In  letzter  Zeit  hat  man  häufig  die  Frage  auf- 
gestellt, wie  alt  die  Erde  ist.  Damit  meint  man  gewöhnlich:  wie  lange 
Zeit  ist  verflossen,  seitdem  die  Erde  eine  feste  Kruste  erhielt,  und  wie 
lange  hat  das  Leben  auf  der  Erde  gedauert? 

Diese  beiden  Fragen  müssen  in  der  That  nahezu  in  gleicherweise 
beantwortet  werden,  denn  wie  Lord  Kelvin  hervorgehoben  hat,  sobald 
eine  feste  Kruste  gebildet  war,  wurde  die  Wärmezufuhr  vom  Innern 
stark  herabgesetzt,  und  die  Oberflächentemperatur  musste  zufolge  der 
Strahlung  nach  aussen  sehr  schnell  sinken.  Wie  wir  oben  gesehen 
haben,  beträgt  die  Wärmezufuhr  aus  dem  Innern  nicht  mehr  als  un- 
gefähr 0,1  Proz.  von  der  mittleren  Wärmezufuhr  durch  die  Sonnen- 
strahlung. Als  demnach  die  Erdkruste  etwa  tausendmal  dünner 
war  wie  jetzt,  d.  h.  nur  etwa  60  m,  war  die  Wärmezufuhr  von  Innen 
von  derselben  Bedeutung  wie  die  Sonnenwärme.  Zu  dieser  Zeit  strahlte 
also  die  Erde  doppelt  so  viel  Wärme  aus  wie  jetzt,  ihre  Temperatur 
war  infolgedessen  nach  dem  Stephan  sehen  Gesetz  (vgl.  S.  166)  nach 
der  absoluten  Skala  19  Proz.  höher.  Die  Temperatur  der  Erde  war 
folglich,  schon  als  die  Dicke  der  Kruste  nicht  mehr  als  60  m  er- 
reichte, nur  70^  C.  Bei  dieser  Temperatur  oder  sogar  bei  80—90^  C.  können 
Algen  gedeihen,  wie  die  Algenvegetation  der  Geysirs  bezeugt.  Die 
grosse  Menge  von  Wasserdampf  in  der  Atmosphäre  und  die  damit  fol- 
gende starke  Wolkenbildung  diente  w^ohl  der  Erde  zu  einem  bedeuten- 
den Wärmeschutz,  aber  trotzdem  kann  nicht  lange  Zeit  verflossen  sein, 
zwischen  dem  Moment,  in  welchem  die  Erde  sich  mit  einer  festen  Kruste 
bedeckte,  und  demjenigen,  in  welchem  die  Kruste  eine  Dicke  von  60  m 
erreicht  hatte,  wonach  Organismen  auf  ihrer  Oberfläche  fortkommen 
konnten.  Lord  Kelvin  schätzt  sie  zu  weniger  als  100  Jahren.  Keines- 
falls dürfte  sie  mehr  als  10000  Jahre  betragen  haben. 

Lord    Kelvin   hat  ausserdem    einige    Berechnungen    ausgeführt, 
welche  zur  Schätzung  der  Länge  der  seit  der  Krustenbildung  verflossenen 


286  Physik  der  Erde. 

Zeit  dienen  sollen.  Bei  diesen  Berechnungen  sind  die  eingehenden 
Grössen,  Wärmeleitungsvermögen  der  Erdkruste,  geothermischer  Gra- 
dient, Wärmekapazität  und  Erstarrungstemperatur  mit  grossen  Unsicher- 
heiten behaftet. 

Bei  einer  Berechnung  nimmt  Lord  Kelvin  an,  dass,  als  die  feste 
Kruste  sich  abschied,  die  Erdkugel  eine  einheitliche  Temperatur  von 
7000^  Fahrenheit  besass  und  gegen  ein  Medium  strahlte  von  —7000*^  F. 
(Annahmen,  die  offenbar  sehr  wenig  der  Wirklichkeit  entsprechen).  Er 
erhielt  auf  diese  Weise  eine  Zeit  von  etwa  100  Millionen  Jahren.  Je 
nach  den  numerischen  Werten,  welche  er  den  obengenannten  Grössen 
zuerteilte,  konnte  er  Grenzen  von  zwischen  20  und  400  Millionen  Jahren 
für  die  seit  dem  Anfang  der  Krustenbildung  verflossenen  Zeit  fest- 
stellen. Seitdem  hat  er  die  Rechnung  wiederholt  —  er  nahm  dabei  die  uni- 
forme Ausgangstemperatur  gleich  1200*^  C.  an  —  und  fand  die  Grenzen 
zu  zwischen  20  und  40  Millionen  Jahren  zusammengedrängt.  An  der 
anderen  Seite  möge  es  erwähnt  werden,  dass  Perry,  welcher  die  Kel- 
vin sehe  Rechnung  mit  anderen,  ihm  als  mehr  naturgemäss  erscheinen- 
den Daten  wiederholte,  einen  Wert  von  9600  Millionen  Jahren  erhielt. 
Wenn  man  die  Rechnung  so  macht,  dass  man  nicht  eine  gleichmässige 
Anfangstemperatur  annimmt,  sondern,  wie  wohl  nahe  richtig,  die  nach 
aussen  abnehmende  Temperatur  im  Erdcentrum  gleich  100000^  C. 
setzt,  so  erhält  man  einen  Wert  von  65000  Millionen  Jahren  (Ek- 
holm). 

Eine  andere  Methode  ist  diejenige,  von  welcher  wir  oben  nach 
Ekholms  Rechnung  ein  Beispiel  gegeben  haben.  Die  neueste  Berech- 
nung der  Oberflächenschrumpfung  von  Rudzki  führt  zu  dem  Schluss, 
dass  etwa  12  Prozent  der  Erdoberfläche  Faltungen  seit  der  Silurzeit 
unterworfen  gewesen  sind.  Die  gesamte  Faltung  sollte  nach  einer 
niedrigen  Schätzung  einer  Oberflächenverminderung  von  8  Millionen  km^ 
oder  etwa  1.6  Proz.  der  jetzigen  Erdoberfläche  entsprechen.  Demnach 
hätte  der  Erdhalbmesser  um  0,8  Proz.,  d.  h.  rund  um  50  km  seit  der 
Silurzeit  abgenommen.  Diese  Schätzung  kommt  derjenigen  von  Heim, 
welcher  64  km  für  die  genannte  Grösse  annimmt,  ganz  nahe.  Danach 
wären  die  oben  angegebenen  Daten  von  Ekholm  mit  10  zu  multipli- 
zieren, und  wir  erhielten  als  Endresultat  etwa  2000  Millionen  Jahre. 

Bei  dieser  Rechnung  ist  es  angenommen,  dass  die  geothermische 
Tiefenstufe  seit  der  Silurzeit  unverändert  geblieben  ist.  Rudzki  macht 
eine  andere  Annahme,  dass  sie  früher  geringer  war  wie  jetzt,  und 
zwar  (nach  Kelvin)  proportional  der  Quadratwurzel  aus  der  Zeit,  welche 


II.  Die  feste  Erdkruste  und  das  Erdinnere.  287 

seit  der  Entstehung  der  ersten  festen  Erdkruste  verflossen  ist.  In  dieser 
Weise  erhält  er  einen  Wert  von  etwa  500  Millionen  Jahren. 

Eine  dritte  Methode  geht  von  der  Betrachtung  aus,  dass  alle  Kalk- 
steine in  der  Erdkruste  aus  dem  Calciumcarbonat  gebildet  sind,  welches 
von  dem  Wasser  der  Flüsse  zum  Ozean  geschleppt  wird.  Die  letzte 
Schätzung  dieser  Grösse  stammt  von  E.  Dubois,  welcher  von  der  An- 
nahme ausgeht,  dass  die  Luft  2432  mal  mehr  Kohlensäure  enthält,  als  die 
Menge  von  Calciumcarbonat,  welche  jährlich  zum  Meer  geführt  wird. 
Die  sedimentären  Kalksteinlager  sollten  18  550  mal  so  viel  Kohlensäure 
enthalten  wie  die  Luft,  folglich  wären  zur  Bildung  dieser  Lager  2432  x 
18550  =  45  Millionen  Jahre  nötig.  Nachdem  er  einige  Korrektionen 
eingeführt  hat,  kommt  er  zu  dem  Schluss,  dass  seit  der  Erstarrung  der 
Erdkruste  wenigstens  einige  zehn  Millionen  und  möglicherweise  mehr 
als  1000  Millionen  Jahre  verflossen  sind. 

Joly  findet  in  ähnlicher  Weise,  dass  dieselbe  Zeit  nicht  wohl  95 
Millionen  Jahre  überschreiten  kann.  MellardEeade  schätzt  die  Menge 
Kochsalz,  welche  pro  Jahr  dem  Ozean  zugeführt  wird,  und  kommt  zu 
dem  Schluss,  dass  166  Millionen  Jahre  nötig  waren,  um  die  jetzige  Koch- 
salzmenge im  Weltmeer  durch  die  Flüsse  hinunter  zu  transportieren. 
Da  nun  in  früheren  Zeiten  kolossale  Salzlager  (z.  B.  bei  Stassfurt)  aus 
dem  Weltmeere  auskrystallisiert  sind,  muss  man  die  genannte  Zahl  ver- 
vielfachen, um  richtig  zu  treff"en. 

Die  Schätzung,  welche  am  bündigsten  für  das  hohe  Alter  der  Erde 
spricht,  ist  auf  geologische  Betrachtungen  gegründet.  Die  Rinne,  welche 
der  Lorenzofluss  unter  Niagara  in  den  Felsen  hineingeschnitten  hat,  ist 
60 — 90  m  tief  uud  11  km  lang.  Nach  dem  jetzigen  Fortschreiten  dieser 
Aushöhlung  schätzt  man,  dass  die  Bildung  der  Rinne  10000  Jahre  in  An- 
spruch genommen  hat.  Wie  viel  längere  Zeit  wird  zur  Ausgrabung 
des  berühmten  Canon  des  Coloradoflusses,  welcher  480  km  lang  und  bis- 
weilen über  1^2  km  tief  ist,  nötig  gewesen  sein?  Und  dieser  Caiion 
hat  sich  in  den  letzten  geologischen  Zeiträumen  gebildet. 

In  den  Appalachen  Nordamerikas  giebt  es  sedimentäre  Schichten 
von  mehr  als  12000  m  Gesamtdicke,  welche  alle  seit  dem  Beginn  der 
Silurzeit  gebildet  sind.  Si*^  haben  sich  im  Meere  abgesetzt.  Ähnlitihe 
massive  Bildungen  schreiten  jetzt  vorwärts  mit  einer  Geschwindigkeit, 
die  selten  nach  Millimetern  pro  Jahr  gerechnet  werden  kann. 

Archibald  Geikie  macht  folgende  Schätzung.  Die  sedimentären 
Schichten  der  Erdkruste  würden  übereinandergelagert  eine  Dicke  von 
ungefähr  30000   m    aufnehmen.     Die  Bildungsgeschwindigkeit  solcher 


288  Physik  der  Erde. 

Schichten  wird  zu  1  m  in  2900  bis  22700  Jahren  geschätzt.  Folglich 
verlangte  die  Bildung  der  sedimentären  Schichten  eine  Zeit  von  zwischen 
73  und  680  Millionen  Jahren.  Sederholm  findet  in  ähnlicher  Weise 
1000  Millionen  Jahre. 

Die  Zeit,  welche  nach  der  grossen  Vereisung  verflossen  ist,  wird  zu 
etwa  100000  Jahren  geschätzt.  Diese  Zeit  ist  nur  eine  kurze  Episode, 
im  Vergleich  zur  vorvergangenen  Tertiärzeit,  deren  Dauer  zu  mehreren 
Millionen  von  Jahren  geschätzt  werden  muss.  Und  diese  Zeit  ist  wieder- 
um nur  ein  kleiner  Bruchteil  der  seit  der  Silurzeit  verflossenen  Epoche, 
deren  Länge  von  Arch.  Geikie  zu  wenigstens  100  Millionen  Jahren  an- 
genommen wird.  Und  man  ist  allgemein  der  Ansicht,  dass  der  vor  der 
Silurzeit  oder  richtiger  vor  der  kambrischen  Zeit  vergangene  Zeitraum, 
in  welchem  organisches  Leben  auf  der  Erde  existierte,  bedeutend  viel 
grösser  ist  als  der  nachher  kommende.  Darauf  deutet  die  starke  Diffe- 
rentiation der  in  den  ersten  petrifikat-führenden  Schichten  aufbewahrten 
Eeste  von  Organismen,  welche  ja  nach  der  jetzt  vorherrschenden  dar- 
winistischen  Anschauung  alle  sich  aus  ähnlichen  Urahnen  haben  ent- 
wickeln müssen.  Die  spätere  Evolution  der  Organismen  ist  nur  ein  ge- 
ringer Bruchteil  von  dem  nach  der  Darwinschen  Theorie  postulierten 
präkambrischen. 

Nach  den  geologischen  Daten  ist  man  daher  geneigt,  die  Grössen- 
ordnung  der  Existenzzeit  von  Organismen  auf  unserer  Erde  zu  einer 
Milliarde  von  Jahren  zu  schätzen.  Wir  kommen  offenbar  auf  diesem 
Wege  zu  Zeiträumen,  welche  merkliche  Bruchteile  der  oben  für  die 
Existenzzeit  der  Sonne  berechneten  (vgl.  S.  163)  ausmachen. 

Die  Gesteine  der  Erdkruste.  Bei  vielen  Gesteinen  fällt  es 
sofort  auf,  dass  sie  aus  parallelen  Schichten,  die  aufeinander  gelagert 
sind,  bestehen  (vgl.  Fig.  89).  Die  Geologen  erklären  diese  Erschei- 
nung so,  dass  die  betreffenden  Erdmassen  sich  am  Boden  von  Wasser- 
becken abgesetzt  haben  Die  Flüsse  schleppen  Partikelchen  von  den 
durchströmten  Gegenden  zum  Meere  mit.  Die  gröbsten  werden  nahe 
an  der  Flussmündung  als  Sandschichten  abgelagert,  die  feineren  werden 
weiter  hinaus  als  Thon  abgesetzt.  Wegen  der  raschen  Sedimentation 
in  salzhaltigem  Wasser  geschieht  dieser  Absatz  nicht  weiter  als 
einige  hundert  Kilometer  von  der  Küste  auf  der  sogenannten  Konti- 
nentalstufe. 

Nun  geschieht  es,  dass  der  betreffende  Fluss  zu  einigen  Zeiten  an- 
schwillt und  mehr  und  gröberen  Detritus  ablagert,  als  zu  anderen  Zeiten, 
in  welchen  er  weniger  Wasser  und  Schlamm  führt.    Demzufolge  wird 


II.  Die  lestc  Krdkruslc  und  dxis  Kidinnere. 


289 


die  Ablagerung  periodische  Wechsel  in  Korn,  Dichte,  Farbe  und  Festig- 
keit zeigen. 

Da  der  Meeresboden  zum  weit  überwiegenden  Teil  horizontal  ist,  so 
waren  diese  sedimentären  Schichten  anfangs  horizontal.  Wenn  sie  dies 
noch  sind,  haben  sie  ihre  alte  Lage  in  der  Hauptsache  behalten.    Sehr 


Fig.  81).     Sedimentäre   Scliieliten  vom  Yellowstone-Thal,  Nordamerika. 


häufig  sind  sie  aber  zufolge  der  Schrumpfung  der  Erdkruste  aufgerichtet 
und  in  der  mannigfaltigsten  Weise  verbogen. 

Häufig  haben  sich  auf  solchen  aufgerichteten  Schichten  neue  hori- 
zontale Schichten  aufgelagert,  welche  wiederum  aus  der  horizontalen 
Lage  verschoben  sein  können. 

Bei  der  Faltung  sind  die  Schichten  häufig  so  stark  gebogen,  dass 
ihre  Einzelteile  notwendig  zerbrochen  werden  mussten.  Trotzdem 
zeigen  diese  Schichten  meistens  makroskopisch  keine  Bisse.  Dies  beruht 
offenbar  darauf,  dass  die  Biegung  unter  sehr  hohem  Druck  der  oben- 
liegenden Schichten  stattfand,  sodass  die  Bruchstücke  sich  nicht  zur 
Seite  verschieben  konnten.  Unter  dem  Mikroskop  zeigen  sich  aber  die 
kleinen  Risse  deutlich. 

Häufig  entstehen  aber  bei  solchen  Deformationen  grosse  Risse,  die 
mehrere  Schichten  durchsetzen.    Längs  einer  solchen  Spalte  verschieben 

Arrhenius,  Kosmische  Physik.  •  19 


290 


E'bysik  der  Erde. 


sich  die  Schichten  gegeneinander.  Die  Verschiebung  oder  Verwerfung 
kann  sehr  verschiedene  Dimensionen  nehmen,  von  einigen  Millimetern 
(Fig.  90)  bis  zu  Tausenden  von  Metern.  Diese  Verschiebungsspalten 
spielen  eine  sehr  grosse  Rolle  bei  den  Erdbeben  und  den  vulkanischen 
Erscheinungen. 

Die  meisten  sedimentären  Gesteine  sind  bei  ihrer  Ablagerung 
durch  das  darin  enthaltene  Wasser  ganz  weich  wie  Thon  oder  wenig 
zusammenhaltend  wie  Seesand.     Wenn  sie  unter  hohen  Druck   zufolge 

von  überlagernden  Schichten  geraten, 
und  besonders  wenn  sie  durch  tiefe 
Lage  eine  erhöhte  Temperatur  er- 
halten, werden  sie  hart  und  gehen 
in  wirkliche  Gesteine  über.  Häufig 
wird  dieser  Prozess  dadurch  be- 
schleunigt, dass  durchsickerndes 
Wasser  ein  Cement  absetzt,  welches 
die  verschiedenen  Teile  zusammen- 
kittet. Vielleicht  löst  auch  das  Was- 
ser unter  hohem  Druck  und  bei 
hoher  Temperatur  einen  Teil  (die 
kleinsten  Partikelchen)  des  Sedi- 
mentes auf  und  krystallisiert  es  an 
anderen  Stellen  (den  grösseren  Par- 
tikelchen) aus,  wodurch  eine  Cemen- 
tation  ohne  Zufuhr  von  fremden  ge- 
lösten Körpern  zustande  kommt. 

Ausser  diesen  Gesteinen,  welche 
aus  Bruchstücken  von  anderen  Ge- 
steinen gebildet  sind  und  „klas- 
tische Sedimente"  genannt  werden,  kommen  sogenannte  chemische  Se- 
dimente vor.  Diese  bestehen  in  Verbindungen,  welche  sich  aus  gesät- 
tigten Lösungen  am  Boden  abscheiden,  wie  ohne  Zweifel  im  Toten  Meer 
jetzt  geschieht.  Die  wichtigsten  dieser  Ablagerungen  sind  Steinsalz,  Gips 
und  Anhydrit. 

Einige  von  den  Verbindungen,  welche  in  diesen  chemischen  Sedi- 
menten vorkommen,  haben  ein  hohes  Interesse  dadurch  erhalten,  dass 
sie  unter  einer  bestimmten  Temperatur  nicht  bestehen  können.  So  z.  B. 
ist  Tachhydrit,  der  unter  den  Stassfurter  Salzen  vorkommt,  nur  ober- 
halb 22^^  (bei  Atmosphärendruck)   beständig,   bei   niedrigeren  Tempera- 


Fig.  90.     Gefalteter    Schiefer    mit    zwei 
kleinen  Verschiebungen  (nach  Heim). 


n.  Die  feste  Erilkruste  und  das  P]rdinnere.  291 

turen  zerfällt  er  unter  Wasseraufnaliine  in  Clilormiignesium  und  Chlor- 
calcium  nach  der  Formel: 

CaCli  2  MgCl^  12  //^O  +  6  11^0  =  2  [MgCl^  6  II^O)  +  üaCli^  6  1^0. 
Tachhydrit  Wasser  Chlormagiiesium  Chlorcalcium 

Anwesenheit  von  fremden  Salzen,  wie  Chlornatrium  und  Chlorkalium 
in  der  Sättigung  entsprechenden  Mengen  übt  keinen  merklichen  Ein- 
fluss  auf  die  genannte  Übergangstemperatur.  Ebenfalls  übt  der  Druck 
eine  ausserordentlich  geringe  Wirkung  aus,  indem  die  Umwandlungstem- 
peratur bei  einer  Drucksteigenmg  von  1  Atmosphäre  um  nur  0,017  "^  C. 
zunimmt.  Es  erscheint  demnach  der  Schluss  berechtigt,  dass  die  Tach- 
hydrit-Ablagerungen  in  Stassfurt  aus  einem  Wasser  von  über  22^  C. 
abgesetzt  sind.  (Die  mittlere  Jahrestemperatur  ist  daselbst  jetzt  nur 
etwa  9^  C.)  Die  Bedeutung  dieses  von  van't  Hoff  und  seinen  Schülern 
festgestellten  Umstandes  für  die  geologische  Forschung  braucht  nicht 
besonders  hervorgehoben  zu  werden. 

Eine  relativ  untergeordnete  Eolle  spielen  die  chemischen  Sedimente 
von  Kieselsäure  (Kieselsinter)  und  Kalk  (Kalktuff,  Travertin).  Dieselben 
setzen  sich  gewöhnlich  in  der  Nähe  stark  kieselsaure-  oder  kalk-haltiger 
Quellen  ab.  Die  bekanntesten  Ablagerungen  dieser  Art  finden  sich  an 
den  Geysirs  (Kieselsinter),  an  Wasserfällen,  z.  B  bei  Tivoli  (Travertin)  und 
an  Thermen,  beispielsweise  der  Karlsbader  Quelle  (Sprudelstein).  Diese 
Ablagerungen  sind  insofern  von  Wichtigkeit,  als  dieselben  die  Abdrücke 
von  organischen  Bildungen  enthalten,  welche  in  der  Nähe  der  Quelle 
gelebt  haben  (vgl.  Fig.  91).  Diese  Absätze  gehören  zu  jungen  Zeit- 
epochen und  ihre  Fossile  entsprechen  noch  lebenden  Landpflanzen  und 
Tieren.  Sie  geben  infolgedessen  sehr  interessante  Aufschlüsse  über  die 
Änderung  des  Pflanzen-  und  Tierlebens  und  damit  des  Klimas  in  jüngst 
vergangener  Zeit. 

Grosse  Ablagerungen  von  kohlensaurem  Kalk  finden  sich  in  den 
Stalaktiten-  und  Stalagmitenbildungen  der  unterirdischen  Höhlen.  Auch 
in  vom  Meer  abgeschlossenen  Teilen  hat  es  passieren  können,  dass  das 
Wasser  an  Calciumkarbonat  übersättigt  wurde  und  dasselbe  am  Boden 
absetzte.  Diese  Bildungsweise  besitzen  wahrscheinlich  die  sogenannt-en 
Oolithe,  kugelförmige  Konkretionen  von  Kalkstein,  der  lithographische 
Schiefer  von  Solnhofen,  u.  s.  w. 

Sonst  wird  das  Calciumkarbonat  aus  dem  Wasser  durch  Mitwirkung 

von  Tieren  oder  Pflanzen  abgesondert.     Die  abgestorbenen  Teile  dieser 

Organismen   liefern  das   Material   der  sogenannten  organogenen  Sedi- 

19* 


292 


riiysik  iler  Erde. 


mente.  Da  das  Meereswasser,  wenigstens  in  der  Gegenwart,  in  Bezug  auf 
Kalk  nicht  gesättigt  ist,  so  kann  der  Kalk  auf  diesen  Organismen  nicht 
durch  eine  einfache  Auskrystallisation  ausgeschieden  werden.  Vielmehr 
findet  ein  chemischer  Ausscheidungsprozess  statt,  und  der  Kalk  wird  von 
organischen  Geweben  eingekapselt,  wodurch  er  vor  der  Auflösung  bewahrt 
wird.    Diese  organischen  Gewebe  schützen   auch   den  Kalk   einige  Zeit 


Fig.  91.    Travertin 'mit  Blattabdrücken  von  Tivoli. 

nach  dem  Tod  und  haben  auf  diese  Weise   mächtig  zur  Fossilbildung 
beigetragen.    Andere  organogene  Sedimente  sind  die  Steinkohlen-  und 
Braunkohl enlager,  der  Torf  u.  s.  w.    Sie  spielen  in  Bezug  auf  Häufigkeit  J 
eine  untergeordnete,  in  wirtschaftlicher  Hinsicht  aber  eine  sehr  bedeu- 
tende Kolle. 

Ganz  anders  verhalten  sich  die  Massengesteine,  von  welchen  das  ver- 
breitetste  der  Granit  ist.  Diese  Gesteine  treten  nicht  geschichtet,  son- 
dern in  Kuppen,  Decken,  Gängen  auf.  Sie  sind  durch  Erstarrung  des 
Magmas  aus  dem  Erdinnern  entstanden  und  entstehen  noch  als  vulka- 


IL  Die  feste  Erdkruste  und  das  Erdinnere. 


293 


niselie   Bildungen. 


Sie  nehmen  nach  Tille  etwa  4  Proz.  der  unter- 
suchten Erdoberfläche  ein.  Die  Granite  kommen  wahrscheinlich  als 
Unterlage  der  sedimentären  Schichten  überall  vor. 

Die  Massengesteine  haben  eine  ziemlich  einförmige  Zusammensetzung. 
Sie  bestehen  aus  Kieselsäure  und  Silikaten,  hauptsächlich  von  Alkali- 
metallen, Magnesium,  Kalk,  Eisen  und  Thonerde.  Der  Kieselsäuregehalt 
kann  zwischen  85   und  40,   selten   30  Proz.   schwanken.    Je  nach   der 


Fig.   92.    Die  Fingalshöhle  auf  Staffa,  Schottland. 

Grosse  derselben  werden  die  Gesteine  sauer  oder  basisch  genannt. 
Einige  Analysen  der  gewöhnlichsten  Massengesteine  sind  auf  folgender 
Seite  zusammengestellt. 

Je  nach  der  Länge  der  Zeit,  welche  den  Magmen  zu  ihrer  Abküh- 
lung gegeben  wurde,  besitzen  die  daraus  entstandenen  Massengesteine 
mehr  oder  weniger  entwickelte  Krystalle.  Die  grössten  Krystalle  be- 
sitzen die  Pegmatite,  bei  deren  Erstarrung  wahrscheinlich  grosse  Meng-en 
von  Wasserdampf  das  Magma  relativ  leichtflüssig  machten.  Danach 
kommen  die  gewöhnlichen  Granite,  welche  tief  unter  der  Erdoberfläche 
erstarrt  sind.  Eine  mikrokrystallinische  Struktur  besitzen  die  Basalte, 
welche  häuflg  wie  in  der  berühmten  Fingalshöhle  auf  Staffa  senkrecht 
zur  külilcn  Oberfläche  säulonartig  zerklüftet  sind  (vgl.  Fig.  92). 


294 


Physik  der  Erde. 


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II.  Die  feste  Erdkruste  und  das  Erdinnere. 


295 


Als  Glas  erstarren  die  Obsidiane,  Bimssteine  und  ähnliche  Produkte. 
Amorphes  Glas  kommt  auch  in  krystallisierten  Massengesteinen  häufig 
vor,  ihre  Erstarrung  aus  feurig-flüssigem  Zustand  angebend. 

In  diesen  Gesteinen  trifft  man  häufig  andere  interessante  Ein- 
schlüsse, die  bei  der  Erstarrung  entstanden  sind  und  zufolge  der  Zu- 
sammenziehung nicht  ihren  ursprünglichen  Raum  ausfüllen,  wodurch  ein 
Bläschen  gebildet  wurde  (Fig.  93).  Sie  sind  meistens  mikroskopisch  Aus 
der  Grösse  dieses  Bläschens  relativ  zur  umgebenden  Flüssigkeit  kann  man 
den  Druck  schätzen,  welcher  bei  der  Erstarrung  herrschte.  Da  die 
Bläschen  im  allgemeinen  sehr  klein  sind,  muss  man  auf  einen  sehr 
hohen  Druck  schliessen.  Die  Flüssigkeit  besteht  für  gewöhnlich  aus 
Wasser,  häufig  mit  darin  gelösten  Salzen,  welche  bisweilen  auskrystalli- 
sieren,  sehr  oft  auch  aus  Kohlensäure.  Diese 
letzte  kann  man  daran  erkennen,  dass  bei 
einer  massigen  Erhitzung  (über  33^  C.)  das 
Bläschen  verschwindet,  indem  die  Kohlensäure 
den  kritischen  Punkt  überschreitet. 

Sehr  eigentümlich  sind  die  krystallinischen 
Schiefer,  welche  gewissermaassen  einen  Über- 
gang zwischen  den  geschichteten  und  den 
Massengesteinen  bilden.  Diese  Gesteine,  deren 
wichtigste  Vertreter  Gneis,  Glimmerschiefer, 
Chloritschiefer,  Talkschiefer  und  Marmor  (Ur- 
kalk)  sind,  zeigen  durch  ihre  Parallelstruktur 
eine  gewisse  Ähnlichkeit  mit  den  sedimentä- 
ren Ablagerungen,   mit  den  Massengesteinen 

wiederum  dadurch,  dass  sie  krystallinisch  sind.  Es  giebt  auch  alle  mög- 
lichen Übergänge  zwischen  beispielsweise  Glimmerschiefer  und  dem  sedi- 
mentären Thonschiefer  auf  der  einen,  zwischen  Gneis  und  Granit  auf 
der  anderen  Seite. 

Ein  grosser  Teil  der  krystallinischen  Schiefer  ist  unzweifelhaft  durch 
Verschieferung  unter  hohem  Druck  aus  Massengesteinen  entstanden. 

Seitdem  Keusch  gezeigt  hatte,  dass  in  der  Umgebung  der  Stadt 
Bergen  in  Norwegen  krystallinische  Schiefer  zu  finden  sind,  welche  Fossile 
enthalten,  war  es  deutlich,  dass  diese  durch  Metamorphosen  an  sedimen- 
tären Schichten  haben  entstehen  müssen.  Ähnlich  ist  das  Verhalten 
der  teilweise  fossilführenden  Marmorlager  bei  Carrara,  welche  aus  einer 
so  späten  Epoche  wie  der  Tertiärzeit  stammen. 

Eine  solche  Umwandlung  kann  dadurch  zustande  kommen,  dass  ein 


Fig.  93.  Einschlüsse.  Die  un- 
tere Blase  enthält  einen  wür- 
felförmigen Kochsalzkry  stall. 


296  Physik  der  Erde. 

Magmastock  zwischen  sedimentären  Bergarten  einsetzt  und  dieselben 
hoher  Temperatur  und  hohem  Druck  aussetzt.  Unter  diesen  Bedin- 
gungen steigt  die  lösende  Kraft  des  anwesenden  Wassers  bedeutend  und 
in  genügend  langer  Zeit  kann  eine  starke  Krystallisation  eintreten. 

Noch  gewöhnlicher  als  diese  sogenannte  Kontaktmetamorphose  scheint 
die  Dynamometamorphose  zusein.  Lossen  beobachtete  zuerst,  dass  die 
jüngeren  krystallinischen  Schiefer  sich  vorzugsweise  da  gebildet  haben,  wo 
die  ursprüngliche  Schichtung  stark  verbogen  ist,  eine  Beobachtung,  welche 
sich  bewährt  hat.  Diese  Teile  sind  einem  sehr  starken  Druck  unter- 
w^orfen  gewesen.  Damit  die  für  die  Krystallisation  nötige  hohe  Temperatur 
erreicht  wurde,  mussten  die  Schichten  dem  Druck  nachgeben.  Die 
dabei  entstandene  Keibung  und  die  Kompressionsarbeit  unter  Drucken, 
die  gegen  Hunderttausende  von  Atmophären  erreichen  mögen,  können 
eine  für  das  Zustandebringen  der  Krystallisation  nötige  Wärme  erzeugen. 
In  Fällen,  wo  der  Druck  nicht  genügend  war,  trat  die  Verbiegung  ohne 
krystallinische  Umwandlung  ein. 

Es  ist  auch  wohl  denkbar,  dass  am  Boden  des  Urmeers  die  Tem- 
peratur genügte,  um  die  daselbst  abgelagerten  Sedimente  allmählich  in 
krystallinische  Schiefer  umzuwandeln.  In  dieser  Weise  sind,  nach  der 
Ansicht  einiger  Forscher,  die  ältesten  Gneise,  die  sogenannten  Funda- 
mentalgneise,  entstanden. 

Vulkane.  Unter  den  Bergen  der  Erde  haben  die  Vulkane  lange 
die  besondere  Aufmerksamkeit  durch  ihre  Wirksamkeit  auf  sich  ge- 
zogen. Sie  fördern  nämlich  aus  dem  Erdinnern  kolossale  Massen  zu 
Tage  und  geben  dadurch  zu  Bergbildung  Anlass.  Das  gewöhnlichste 
Eruptionsprodukt  ist  wohl  Wasserdampf,  weshalb  der  thätige  Vulkan 
beinahe  immer  zu  einer  starken  Wolke  an  seiner  Spitze  Anlass  giebt. 
Diese  Wolke  giebt  häufig  ausserordentlich  heftige  Niederschläge,  oft 
unter  Entladung  von  ungeheuren  Mengen  von  Elektrizität.  Dies  trifft 
besonders  bei  den  gewaltigen  Explosionen  ein,  bei  welchen  die  Wolke 
eine  Höhe  von  gegen  10  km  erreicht.  Häufig  nimmt  die  Wolke  (bei 
ruhiger  Luft)  eine  pinienförmige  Gestalt  an,  wie  schon  Plinius  im  Jahre 
79  beim  heftigen  Ausbruch  des  Vesuvs  bemerkte.  Die  Grösse  der  Wolke 
in  den  nebenstehenden  Figg.  94 — 96  kann  man  schätzen,  wenn  man 
weiss,  dass  der  Vesuv  sich  etwa  1300  m  über  den  Meeresspiegel  erhebt. 

In  zweiter  Linie  kommt  das  andere  einflussreiche  Gas  der  Atmosphäre, 
Kohlensäure,  in  grosser  Menge  vor.  Freier  Wasserstoff,  w^ elcher  mit  Flamme 
verbrennt,  ist  auch  (bei  Kilauea  in  Hawa'i)  konstatiert  worden.  Ausser- 
dem finden  sich  in  geringerer  Menge  andere  Gase,  wie  Srliwofd,  Schwefel- 


II.  Die  feste  Erdkruste  und  das  Erdinnere. 


297 


Wasserstoff,  Chlorwasserstoff,  Salmiak,  seltener  flüchtige  Metallver- 
hindimgeu,  wie  Chloride  von  Eisen  und  Kupfer,  Borsäure  u.  s.  w.  in 
den   gasförmigen   Eruptionsprodukten   vor.    Von   den  festen  Produkten 


Fig.  94.     Pinientormige  Wolke  über  dem  Vesuv   beim  Ausbruche   im  Jahre 

1822,  nach  Ponlett  Scrope. 

sind  der  Bimsstein  und  die  Asche  die  wichtigsten.  Diese  beiden  Pro- 
dukte sind  eigentlich  Lava,  welche  durch  heftiges  Freiwerden  von  Wasser- 
dampf, Kohlensäure  und  anderen  Gasen  in  äusserst  kleinen  Staub  zer- 
sprengt oder  mit  Blasen  gefüllt  ist.  Grössere  Gesteinsfragmente  werden 


298 


Physik  der  Erde. 


Sand  und  noch  grossere  Bomben  oder  Lapilli  genannt.    Diese  sind  oft 
gewunden  (Fig.  97),  welches  zeigt,  dass  sie  in  zähflüssigem  Zustande  aus- 


Fig.  95.    Ausbruch  des  Vesuvs  am  26.  April  1872,  nach  Photographie  v.  Sommer. 

geworfen,   in  der  Luft   durch   deren  Widerstand  geformt  und  nachher 
erstarrt  sind. 


Fig.  96.    Der  Vesuv  von    der  Insel  Nisita   gesehen.      Die    vulkanische   Tliäfcigkeit 

ist  massig. 


Fallen    diese    losen   Auswürfe    ins   Meer,    wie    bei    unterseeischen 
Eruptionen,   so   entstehen  sedimentäre    Lager    von   vulkanischem  Tuif, 


II.  Die  feste  Erdkruste  und  das  Erdinnere. 


299 

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welche  die  Abgüsse  der  in  ihnen  beerdigten  Seetiere   enthalten, 
dieser  Art  ist  die  Landschaft  Campagna  Feiice  bei  Neapel. 

Die  Wolke  über  dem  Vulkan  löst  sich  bei  der  Eruption  in  einem 
äusserst  heftigen  Gewitterregen,  einem  wahren  Wolkenbruch,  auf. 

Beim  gleichzeitigen  Herunterfallen  von  Regen  und  Asche  entsteht 
ein  breiartiger  Schlamm,  wozu  auch  die  lockeren  Teile  des  Vulkankegels 
beitragen,  welcher  die  schwersten  Verheerungen  anstellt.  So  z.  B.  über- 
deckte solch'  ein  Brei  Pompeji  (79  n.  Chr.)  in  einer  Höhe  von  7  Meter. 
Dabei  schmiegte  sich  dieser  Brei  gänzlich  an  die  Oberfläche  der  davon 


Fig.  97.    Eine  „gedrehte  Bombe"  vom  Vesuvausbruch  im  Jahre  1872. 


getroffenen  Gegenstände  an  und  erhärtete  danach  als  eine  Art  von  Tuff, 
welcher  getreue  Abgüsse  von  den  darin  begrabenen,  organischen,  zum 
grossen  Teil  verschwundenen,  Körpern  lieferte. 

Das  Magma,  welches  nicht  durch  die  Gewalt  des  Ausbruches  in  die 
Atmosphäre  getrieben  wird,  fliesst  häufig  durch  Risse  im  Vulkanberge 
und  breitet  sich  als  ein  Lavastrom  aus.  Anfangs  ist  die  Lava  leicht- 
flüssig, besonders  wenn  sie  stark  wasserhaltig  ist.  Später,  wenn  sie  er- 
kaltet, bedeckt  sie  sich  mit  einer  festen  Kruste  und  fliesst  dann  immer 
langsamer.  Das  gewöhnliche  ist  deshalb,  dass  der  Lavafluss  nicht  be- 
sonders grosse  Dimensionen  annimmt  und  folglich  keine  grösseren  Ver- 
heerungen anstellt.  Die  Kruste  ist  häufig  durch  Entweichen  von  Gasen 
ausserordentlich  stark  zerbrochen,  so  dass  es  oft  unmöglich  ist,  einen 
solchen  erstarrten  Lavastrom  zu  passieren.  Bisweilen  breitet  sich  die 
Lava  aus  sehr  grossen  Rissen  nach  allen  Seiten  aus  und  überflutet 
dann  grosse  Lnn<lstro('kon  von  mohrcrm  tausenden  Quadratkilometern, 


300  Physik  der  Erde. 

Tliäler  ausfüllend  und  Hügel  überdeckend.  In  solchen  Fällen  bilden  sich 
grosse  Plateaus.  Dies  scheint  auf  der  stark  vulkanischen  Insel  Island 
besonders  häufig  einzutreffen.  In  älteren  Schichten  der  Erde  trifft 
man  nicht  selten  Bildungen  dieser  Art. 

Sonst  fallen  die  festen  Auswurfstoffe  zum  grössten  Teil  in  der  Nähe 
der  Auswurföffnung  nieder,  und  in  dieser  Weise  bilden  sich  die  kegel- 
förmigen Berge,  welche  die  charakteristische  Form  der  Vulkane  besitzen. 
Die  Neigung  dieser  Berge  gegen  den  Horizont  hängt  von  dem  Büschungs- 
winkel  der  Auswurfstoffe  ab.  Bei  den  leichten  Aschenbestandteilen  ist 
dieser  Winkel  recht  gross,  bis  25— 30^,  wie  bei  dem  grossen  vulka- 
nischen Feuerberg  Popocatepetl  und  bei  dem  prachtvollen  japanischen 
Vulkane  Fusi-Yama,  welcher  von  den  japanischen  Künstlern  so  häufig 
wiedergegeben  ist.  (Fig.  98).    Die  niederen  Abhänge  des  Berges,  welche 


Fig.  98.    Der  japanische  Vulkan  Fusi-Yama. 


unter  dem  Einfluss  des  Kegens  abgesetzt  sind,  haben  eine  geringere 
Neigung  (10 — 15^).  Auch  die  höheren  Teile  des  Aschenkegels  werden 
von  Niederschlägen  mit  Kannelierungen  ausmodelliert,  welche  zu  Thälern 
sich  verbreitern,  die  häufig  mit  der  üppigsten  Vegetation  bedeckt  sind. 
Viel  geringere  Neigung  haben  die  relativ  wenigen  Vulkane  —  die 
typischen  sind  die  hawa'ischen  Feuerberge  Mauna  Kea  und  Mauna  Loa  — 
welche  durch  ruhiges  Ausfliessen  von  Lava  gebildet  sind.  Trotz  ihrer 
gewaltigen  Höhe,  welche  beinahe  diejenige  vom  Montblanc  erreicht,  be- 
sitzen diese  Vulkankegel  eine  Neigung  von  nur  etwa  9^.  An  dem  Mauna- 
Loa  ist  der  bekannte  grosse  Kraterkessel  Kilauea  (Figg.  101  und  102) 
gelegen,  welcher  in  einer  Ausdehnung  von  etwa  12  km^  mit  glühender 
Lava  gefüllt  ist.  Diese  wallende  Lavamasse  giebt  durch  Gasentbindung 
zu  stetigen  kleinen  Explosionen  Anlass,   bei  welchen  die  Feuerfontänen 


IJ.  Die  feste  Eiilkiusie  and  das  Erdinnere. 


301 


etwa  20  in  hoch   hinaufspritzon.     Bisweilen  giesst   sich   dieser  Lavasee 
durch  Risse  in  den  Kraterrändern  aus  und  speist  einen  Lavafluss   über 
die  Bergabhänge,  wonach  die  Lavamasse  schnell  zurücksinkt. 
^."''    Die   leichtere   vulkanische  Asche  kann  sehr  weit   durch  Luftströ- 


Fig.  99. 


Der  Kraterkessel  Kilauea  nach  C.  E.  Dutton. 


inungen  geführt  werden,   so  z.  B.  von  Island  herüber  nach  dem  euro- 
päischen Kontinent,   von   amerikanischen  Vulkanausbrüchen  quer  über 
den  Ozean  nach  der  alten  Welt.    Am  weitesten  wurden  die  Aschenbe- 
tandteile  beim  Krakatauausbruch  umhergeschleudert.  Die  feinsten  Staub- 


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Fig.  KX).   Querschnitt  des  Kilauea-Kraters  zu  verschiedenen  Zeiten  nach  J.  D.  Dana. 


teile  wurden  über  30000  m  in  die  Höhe  getrieben  und  breiteten  sich 
über  die  ganze  Erde  aus.  Sie  gaben  sich  mehrere  Jahre  lang  durch 
prächtige  „rote"  Sonnenuntergänge  kund.  Bei  derselben  Eruption  wurden 
iinaeheuere  Massen  von  Bimsstein  ins  Meer  geworfen,  welche  die  Schiff- 


302 


Physik  der  Erde 


fahrt  in  diesen  Gegenden  stark  gefährdeten.  Der  Bimsstein,  welcher 
häufig  auf  dem  Meer  herumtreibt,  wird  entweder  zu  den  Küsten  ge- 
worfen, wo  er  sich  allmählich  in  Meeressand- verwandelt  oder  er  sinkt  zum 
Meeresboden  und  bildet  da  vulkanische  Schichten. 

Bei  den  meisten  Vulkanen  Jvommen  Lavaschichten  abwechselnd  mit 
Aschenschichten  vor. 

Die  Eruptionen  der  Vulkane  können  sehr  verschieden  sein.  Bis- 
weilen verlaufen  sie  sehr   ruhig  wie   in  HawaL    Dasselbe   ist   der   Fall 


Fig.  101.    Die  Innenwand  des  Rakata-Kegels  nach  Judd. 

mit  den  Ausbrüchen  des  Liparischen  Insel vulkanes  Stromboli,  welcher 
seit  Jahrtausenden  in  stetiger  Thätigkeit  mit  Intervallen  von  weniger 
als  einer  bis  zwanzig  Minuten  ist,  so  dass  er  als  der  beste  Leuchtturm 
für  die  Schiffahrenden  mit  seinen  Flammen  in  der  Nacht  und  seinem 
Rauch  am  Tage  dient.  Ganz  anderer  Art  war  der  gewaltige  Krakatau- 
Ausbruch  vom  26.-27.  August  1883.  Dabei  wurden  etwa  18  km'^  in 
die  Luft  gesprengt.  Mehr  als  die  Hälfte  der  alten  Vulkankegel  wurde 
in  die  Höhe  geblasen  (vgl.  Fig.  101).  Von  den  33  km^  dieser  Insel 
blieben  nur  10,5  zurück.     An  der  anderen  Seite   entstanden  durch  die 


II.  Die  feste  Erdkruste  und  das  lOrdinnore.  303 

Auf liäutung  der  Auswurfstoöe  zwei  neue  Inseln  und  andere  Inseln  wurden 
vergrössert.  Trotz  der  w^nig  dichten  Bevölkerung  in  diesen  Gegenden  (der 
Krakatau  selbst  war  unbebaut)  war  der  angerichtete  Schaden  sehr  gross, 
man  schätzt  die  Zahl  der  Opfer  der  Katastrophe  zu  40000.  Ein  ähn- 
licher Ausbruch  war  derjenige  des  Vesuv  (79  n.  Chr.),  wobei  ein  grosser 
Teil  des  alten  Vulkans,  dessen  Überbleibsel  unter  dem  Namen  Monte 
Somma  bekannt  sind,  in  die  Luft  geblasen  wurde.  Bei  dieser  Gelegen- 
heit wurden  blühende  Städte,  wie  Herculanum  und  Pompeji,  unter  Lava 
oder  Asche  begraben.  Gerade  diejenigen  Vulkane,  welche  sehr  lange 
Ruheperioden  zwischen  ihren  Ausbrüchen  besitzen,  sind  es,  welche  die 
grössten  Verheerungen  anstellen.  Es  wird  die  Ausflussröhre,  welche  im 
Krater  mündet,  durch  erstarrte  Lavamassen  zugestopft,  sodass  die  dar- 
unter entwickelten  Dämpfe  einen  enormen  Druck  entwickeln  müssen, 
bevor  sie  die  hemmende  Schicht  wegreissen  können.  Nach  79  hat  der 
Vesuv  in  den  Jahren  203,  472,  512,  685,  993,  1036,  1139,  1500,  1631 
und  1660  Ausbrüche  gehabt.  Seitdem  ist  er  in  beinahe  unausgesetzter 
Thätigkeit.  Sehr  heftige  Ausbrüche  kamen  in  den  Jahren  1794,  1822, 
1872  und  1900  vor. 

Wenn  einmal  die  erstarrte  Kruste  in  der  Vulkanröhre  so  dick  wird, 
dass  sie  nicht  mehr  dem  Drucke  der  Lavamassen  nachgiebt,  so  ist  der 
Vulkan  als  erloschen  anzusehen.  Wie  der  Vesiiv  vor  dem  Jahre  79  n. 
Chr.  zeigt,  ist  es  häufig  schwer  zu  sagen,  ob  ein  Vulkan  wirklich  er- 
loschen ist,  oder  nur  seit  historischer  Zeit  ruht.  Wirklich  erloschene 
Vulkane  und  Anzeichen  ihrer  Thätigkeit  giebt  es  massenweise  auf  der 
ganzen  Erde.  Zu  diesen  gehören  einige  der  höchsten  Berge  der  Erde, 
wie  Aconcagua  in  Südamerika  (6970  m)  und  Kilimandjaro  (6010  m)  in 
Mittelafrika.  Die  bekanntesten  Beispiele  erloschener  vulkanischer  Thätig- 
keit bieten  das  Eifelgebiet  in  Deutschland,  die  Vulkane  der  Auvergne 
und  die  Phlegräischen  Felder  in  Italien.  Auch  in  England  und  Schott- 
land trifft  man  häufig  Basalte  an,  welche  an  eine  in  ziemlich  neuer  geolo- 
gischer Zeit  geschwundene  vulkanische  Thätigkeit  erinnern.  Von  diesen 
Basalten  sind  wegen  ihrer  regelmässigen  schönen  säulenförmigen  Bil- 
dung diejenigen  der  Fingalsgrotte  berühmt  (vgl.  Fig.  92).  Eine  ähn- 
liche sonderbare  Bildung  ist  die  Teufelswand  in  Nordostböhmen.  Ln 
mehreren  der  erwähnten  Gebiete  finden  sich  noch  Spuren  einer  vulka- 
nischen Thätigkeit  vor,  welche  in  heissen  Quellen,  Gasausströmungen 
und  Schlammvulkanen  zu  Tage  treten. 

Wassergase  entströmen  den  Fumarolen,  welche  in  Italien  (z.  B. 
Ischia),  Griechenland  (Melos),  Island,  Java,  Neuseeland,  Südamerika  sehr 


304  Physik  der  EnU;. 

g-ewölmlich  sind.  Kohlensäure  ist  das  Hauptgas  der  Mofetten,  die  im 
Eifelgebiet,  besonders  im  Brohlthal,  sehr  gewöhnlich  sind.  Die  Hunds- 
grotte bei  Neapel  und  das  Todesthal  auf  Java  gehören  dieser  Gruppe 
an.  Die  Solfataren  lassen  Schwefeldämpfe,  schweflige  Säure  und  Schwefel- 
wasserstoff entweichen.  Sie  kommen  häufig  in  Italien  (die  Phlegräischen 
Felder  bei  Neapel)  und  in  Griechenland  vor. 

Thermen,  Geysire  und  Schlammvulkane.  Wo  das  Boden- 
wasser in  die  Nähe  von  alten  oder  neuen  vulkanischen  Herden  gelangt, 
wird  dasselbe  erhitzt  und  erhält  eine  stark  gesteigerte  Fähigkeit, 
Mineralstoffe  zu  lösen.  Die  in  dieser  Weise  entstehenden  Quellen,  die 
sogenannten  Thermen,  befördern  deshalb  grosse  Mengen  von  gelösten 
Mineralbestandteilen  zur  Erdoberfläche,  wo  sie  durch  Auskrystallisieren 
besondere  Bildungen  —  häufig  in  Kraterform  —  absetzen.  Dies  ist  beson- 
ders der  Fall  mit  den  sogenannten  Geysiren  oder  intermittierenden  heissen 
Quellen,  welche  aus  Island,  Yellowstone  Park  (Fig.  102)  in  Nordamerika 
(altes  Vulkangebiet)  und  Neuseeland  bekannt  sind. 

Einige  künstliche  Quellen  bieten  eine  gewisse  Ähnlichkeit  mit  den 
Geysiren.  Aus  einem  2000  m  tiefen  Bohrloch  bei  der  Stadt  Kane  in 
Pennsylvanien,  sprang  (Januar  1879)  eine  30—50  m  hohe  Wasser-  und 
Gassäule,  die  sich  bisweilen  entzündete,  etwa  alle  13  Minuten  auf. 
Während  das  treibende  Gas  in  diesem  Falle  Kohlenwasserstoff  ist,  wird 
die  periodische  Springquelle  bei  Kaschau  in  Ungarn,  die  etwa  dreimal 
täglich  Eruptionen  hat,  durch  Kohlensäure  getrieben.  Nach  der  Erup- 
tion müssen  neue  Gasmassen  eine  Zeit  lang  zuströmen,  um  die  zur 
Hebung  der  in  der  Köhre  stehenden  Wassersäule  nötige  Spannung  zu 
erhalten. 

Man  erklärt  die  Unstetigkeit  der  Geysire  so,  dass  man  annimmt, 
das  Wasser  stehe  in  einem  mehr  oder  weniger  vertikalen  Kanal  aufgestaut. 
Die  unteren  Teile  desselben  befinden  sich  unter  sehr  hohem  Druck.  Wenn 
durch  Wärmezufuhr  aus  dem  Erdinnern  der  hoch  über  100  ^  C.  belegene 
Siedepunkt  (in  10,  50  bezw.  100  m  Tiefe  121,  159  bezw.  185<^  C.)  am 
Boden  erreicht  ist,  entstehen  Gasblasen,  die  in  höheren  Lagen  sich  stark 
ausdehnen,  wodurch  das  Wasser  ausgetrieben  wird  und  der  Druck  sich 
stark  vermindert.  Das  Sieden  geht  darauf  nahezu  explosionsartig  vor 
sich,  bis  die  Wasser masse  sich  so  stark  abgekühlt  hat,  dass  Ruhe  ein- 
tritt. Das  ausgeschleuderte  Wasser  fliesst  zum  Teil  zurück  und  neues 
Wasser  wird  von  unten  zugeführt,  so  dass,  nachdem  genug  Wärme  von 
unten  zugeleitet  ist,  das  Spiel  wieder  anfangen  kann. 

Etwas  Ähnlichkeit  mit  den  Vulkanen  besitzen  die  Schlammvulkane, 


II.  Die  feste  Ertlkruste  und  das  Erdinnere. 


305 


gewöhnlicherweise  relativ  unansehnliche  Bildungen,  die  Schlamm,  Salz- 
wasser und  Gase  (gewöhnlich  Kohlensäure  und  Kohlenwasserstoffe)  aus- 
schleudern.   Viele  derselben  liegen  auf  altem  oder  neuem  vulkanischen 


Fig.  102.     „Old  Faithful",  ein  Geysir  im  Yellowstone-Park. 

Boden,  wie  bei  Parma  und  Modena,  bei  Kronstadt  in  Siebenbürgen,  auf 
Java,  Borneo  und  Island,  andere  scheinen  aber  mit  dem  Vulkanismus 
nichts  gemeinsam  zu  haben.  Ihre  Hitze  ist  in  diesem  Falle  durch 
lokale  chemische  Prozesse  (langsame  Verwesung  organischer  Bestandteile) 
entstanden. 

Arrlieuius,  Kosmisebe  Physik.  •  20 


306 


Physik  der  Krdc. 


Die  Schlammvulkane  küimen  bisweilen  erhebliche  Dimensionen  er- 
reichen. Bei  Baku  geben  sie  zu  Schuttkegeln  von  über  1000  m  Höhe 
Anlass.  Sie  werfen  Petroleumgase  aus,  die  sich  entzünden  und  häufig 
grosse  Dimensionen  (600  m  Höhe  bei  dem  Ausbruche  von  Lok  Botan 
am  5.  Jan.  1887)  erreichen. 

Die  Verteilung  der  Vulkane.  Sehr  auffallend  bei  den  Vul- 
kanen ist  ihre  Verteilung  auf  der  Erdoberfläche,  wie  aus  der  folgenden 
Zusammenstellung  nach  Fuchs  hervorgeht: 


Thätige 
Festland  von  Europa  (Vesuv)     1 
Inseln  im  Mittelmeer      .    .      6 

Afrika,  Festland      ....  17 

„        Inseln 10 

Westindien 5 

Arabien 1 

Centralasien 2? 

Pondichery  (submariner  V.)       1 

Kamtschatka 12 

Alaska 4 

Vereinigte  Staaten  ....  11 

Mexiko 10 

Centralamerika 26 

Ecuador 14 

Peru  und  Bolivia    ....      6 

Chile 17 

Feuerland 1 

Neu-Guinea 5 


Vulkane. 

Neu-Seeland 4 

Aleüten 31 

Kurilen 27 

Japan 24 

Inseln  südlich  von  Japan    .     .  8 
Philippinen,  Molukken,  Sunda- 

Inseln 49 


Island 

Jan  Mayen 

Azoren 

Kanaren 

Cap  Verde-Inseln  .... 

Antillen 

Atlant.  Ozean  (submarine  V.) 
Indischer  Ozean,  Inseln  .     . 
Stiller  Ozean,  „        .     . 

.Südpolarkontinent  .... 


1 

6 
3 

26 
2 


Summa:  355 


Das  Verzeichnis  dieser  355  Vulkane  muss  natürlicherweise  einen  grossen 
Teil  Willkür  enthalten,  indem  es  sehr  schwer  ist,  zwischen  thätigen  und 
erloschenen  Vulkanen  zu  unterscheiden.  So  ist,  um  ein  paar  Beispiele 
aus  Europa  zu  nennen,  der  im  Jahre  1538  entstandene  Vulkan  Monte 
Nuovo  in  den  Phlegräischen  Feldern  ebensowenig  genannt  wie  der  Vulkan 
Epomeo  auf  Ischia,  der  mehrere  Ausbrüche  in  historischer  Zeit,  das  letzte 
Mal  im  Jahre  1302,  gehabt  hat. 

Die  allermeisten  Vulkane  liegen  rund  um  den  Stillen  Ozean  ver- 
teilt und  auch  die  anderen  befinden  sich  beinalie  immer  in  der  Nähe  des 
Ozeans,  besonders  häufig  auf  vulkanischen  Inseln.  Ausserdem  sind,  wie  die 


IL  Die  feste  Erdkruste  und  das  Erdinnere.  307 

boigefügto  Kartenskizze  (Fig.  103)  andeutet,  die  mit  schwarzen  Punkten 
bezeichneten  Vulkane  häufig  in  langen  Linien  angeordnet  (in  solchen 
Fällen  sind  schwarze  Striche  gezeichnet).  Dies  deutet  darauf  hin,  dass 
die  Vulkane  an  langen  Eissen  im  Erdhoden  entstanden  sind.  In  Europa 
heiindet  sich  auf  dem  Festland  nur  ein  Vulkan,  Vesuv,  die  anderen,  wo- 
runter die  wichtigsten  die  isländischen,  ferner  Aetna,  Stromholi  (Liparische 
Inseln)  und  im  griechischen  Archipel  Santorin,  sind  auf  Inseln  gelegen. 

Am  Nordpol  ist  ein  recht  grosses  vulkanfreies  Gebiet.  Zwar  sind 
in  nicht  allzu  entfernten  geologischen  Epochen  Franz-Josephs-Land  und 
Spitzbergen  Schauplätze  starker  vulkanischer  Thätigkeit  gewesen.  Der 
nördlichste  jetzige  Vulkan,  Jan-Mayen  liegt  unter  dem  71.  Breitengrade. 
In  den  Stidpolarländern  scheint  die  eruptive  Thätigkeit  sich  weit  hef- 
tiger zu  entwickeln.  Zwei  sehr  kräftige  Vulkane  wurden  von  Lord  Koss 
in  Viktoria-Land  unter  78^  s.  Br.  entdeckt,  welche  die  Namen  Erebus 
und  Terror  erhielten.  Sehr  vulkanisch  ist  Island,  welches  vielleicht  auf 
einem  Riss  in  der  Mitte  des  Atlanten  liegt,  welcher  von  Jan-Mayen 
bis  Tristan  verläuft,  und  auf  welchem  auch  die  vulkanischen  Azoren  und 
Canaren  sowie  andere  Inseln  liegen. 

Die  centralasiatischen  Vulkane  sind  zweifelhaft,  die  afrikanischen 
Vulkane  liegen,  wenn  nicht  am  Meer,  so  doch  bei  grossen  Binnenseen. 
Am  weitesten  von  grossen  Wässern  entfernt  liegen  die  Vulkane  in 
Mexiko  und  Ecuador  (Tolima  300  km  vom  Meer). 

Auch  die  Vulkane  vergangener  geologischer  Epochen  sind,  so  viel 
man  feststellen  kann,  im  allgemeinen  in  der  Nähe  der  Meere  gelegen 
gewesen. 

Der  innere  Bau  der  Vulkane.  Die  Vulkankegel  sind  grössten- 
teils aus  sehr  lockeren  Stoffen  zusammengesetzt.  Deshalb  werden  sie 
sehr  leicht  weggewaschen,  nachdem  der  Vulkan  erloschen  ist,  und  man 
erhält  auf  diese  Weise  einen  Einblick  in  den  inneren  Bau  der  Vulkane. 
Erst  spült  das  Wasser  tiefe  Rinnen  in  dem  lockeren  Material  der  Vul- 
kanabhänge aus.  Wenn  der"  ganze  Kegel  weggewaschen  ist,  bleibt  ein 
Stock  von  dem  härteren  Gestein  zurück,  welches  die  Vulkanröhre  aus- 
gefüllt hat.  Solche  konische  Reste  (vgl.  Fig.  104)  kommen  sehr  häufig 
in  Schottland  und  Nordamerika  vor,  wo  sie  „Necks"  genannt  werden.  . 

Ein  solcher  Kegel  steht  auch  in  der  Mitte  des  Rakataberges  auf 
Krakatau,  welcher  Vulkan  bei  der  letzten  Eruption  entzweigeschnitten 
wurde.  Man  sieht  (Fig.  101)  deutlich  diesen  centralen  Kegel,  welcher 
seitlich  von  Tuffbetten  mit  dazwischen  gelagerten  Lavadecken  um- 
geben ist. 

•      20* 


308 


Physik  der  Erde. 


.« 


IL  Die  feste  Erdkruste  und  das  Erdinnere. 


309 


Fig.  104.    Mato  Tepee  in  Wyoming 
Nordamerika,    ein   typischer  vulka- 
nischer „Neck". 


Bei  der  Verwitterung  solcher  Feuerberge  (vom  Vesuvtypus, 
welcher  am  gewöhnlichsten  ist),  schützen  die  härteren  Lavagänge 
die  unterliegenden  Massen  gegen  die  Abtragung,  es  entstehen  dann 
Bergrücken,  welche  radial  von  der  alten  Eruptionsstelle  auslaufen.    Ein 

solcher  Fall  kommt  bei  Monte  Venda 

in  den  Euganeen  bei  Padua  vor. 
In  diesem  Falle  sind  auch  die  sedi- 
mentären Schichten,  auf  welchen  der 
ehemalige  Vulkan  aufgebaut  wurde, 
blossgelegt.  Sie  bestehen  zum  grossen 
Teil  aus  Kalksteinen,  welche  an  der 
Kontaktstelle  mit  der  warmen  Lava 
zu  etwa  1  m  Dicke  in  Marmor  um- 
gewandelt sind.  Diese  Kontaktmeta- 
morphose trifft  nun  nicht  nur  die 
unter  den  Lavagängen  liegenden  Ge- 
steine,   sondern    auch   zum   grossen 

Teil  die  darüber  liegenden.  Dies  beweist,  dass  die  Lava  nicht  nur  an 
der  Oberfläche  der  sedimentären  Schichten  ausgeflossen,  sondern  auch 
zwischen   dieselben  eingedrungen  ist. 

Ähnliche  Ausgüsse  zwischen  sedimentären  Schichten  bilden  die  im 
Staate  Utah  gewöhnlichen 
Lakkolithen,  welche  Gil- 
bert beschrieben  hat.  Die- 
selben bestehen  aus  kup- 
peiförmigen Trachytmassen, 
welche  zwischen  sedimentäre 
Schichten  hineingedrungen 
sind  und  die  obenliegenden 
trotz  des  gewaltigen  Druckes 
gehoben  haben.  In  die  Sprün- 
ge, welche  dabei  entstanden, 
sind  Gänge  von  Trachyt  hin- 
eingegossen (vgl.  Fig.  105).  Der  grösste  von  ihnen  ist  Hill  er  s  Lak- 
kolith,  seine  Höhe  wird  zu  2,  seine  Basis  auf  6,4  und  5,6  km  geschätzt. 
Von  diesen  Bildungen  hätte  man  keine  Kenntnis,  falls  nicht  die  Denu- 
dation die  obenliegenden  sedimentären  Schichten  weggeführt  und  die 
Trachytkuppen  blossgelegt  hätte. 

Von  ähnlicher  Art  sind  die  tief  liegenden  Batholithen,  granitische 


Fig.  105,  Schematische  Darstellung  eines  Lak- 
kolithen. 


310  Physik  der  Erde. 

Massen  vun  grosser  Ausdehnung,  welche  unter  sedimentären  Schichten 
eingedrungen  sind.  Sie  kommen  unter  anderem  im  Harz,  in  Böhmen, 
Norwegen,  Island,  Schottland  und  in  den  Alpen  vor. 

Eigentümlich  ist,  dass  in  mehreren  Gegenden  das  Vorkommen  von 
Erzgängen  an  die  Grenzzone  zwischen  diesen  Batholithen  und  dem  an- 
liegenden sedimentären  Gestein  geknüpft  ist.  Es  scheint,  als  hätte  sich 
bei  der  allmählichen  Abkühlung  des  Granitmassivs  der  Wasserdampf 
mit  den  darin  löslichen  Körpern  von  der  Silikatmasse  getrennt  und 
wegen  ihres  niedrigen  specifischen  Gewichtes  an  der  (oberen)  Grenzfläche 
zum  Sediment   hin  gesammelt.    Von   da   drangen   die   flüchtigeren  Be- 


Fig.  106.     Vulkanische  Gänge   mit  Aufschüttungskegel    am   Toroweap-Cafion    des 
Colorado-Plateaus  nach  C.  E.  Dutton. 

standteile,  wie  Wasserdampf,  Kohlensäure,  Schwefelwasserstoff"  u.  s.  w. 
durch  die  nebenliegenden  Schichten,  während  die  darin  gelösten  Stoffe 
als  Mineralgänge  von  Sulfiden  und  Oxyden  zurückgelassen  wurden.  Diese 
Gänge  zeichnen  sich  auch  als  Fundorte  von  seltenen  Mineralien  und 
grossartig  ausgebildeten  Krystallen  aus. 

Die  grosse  Gewalt,  welche  bei  der  Füllung  der  vulkanischen  Gänge 
entwickelt  wurde,  geht  auch  aus  einem  interessanten  Fall  vom  Colorado- 
Plateau  hervor,  welcher  nach  Dutton  in  Fig.  106  abgebildet  ist.  Mehrere 
äusserst  schmale  Gänge  haben  eine  mehr  als  800  m  dicke  Schicht  von 
sedimentärem  Gestein  ohne  zu  erstarren  durchsetzt  und  an  der  Oberfläche 
Aschenkegel  aufgeworfen.  Dies  kann  kaum  anders  aufgefasst  werden,  als 
dass  die  Risse  schon  vorhanden  waren,  das  Magma  aber  nicht  erreichten. 
Plötzlich  wurden  sie  aber  dem  Magma  geöffnet  (wahrscheinlich  durch  den 
stark  wachsenden  Druck  desselben)  und  wurden  von  diesem  ausgefiiUt. 


II.  Die  feste  Erdkrastö  und  das  F^rdinnere.  3  j  ] 

Übrig'ens  ist  es  ja  selbstverständlich,  dass  sehr  grosse  Druckkräfte 
nötig-  sind,  um  das  Magma  durch  den  Schlot  eines  Vulkans,  z.  B.  Vesuv, 
liinaufzudrücken.  In  diesem  Falle  ist  das  umgebende  Niveau  ungefähr 
dasselbe  wie  das  Meeresniveau.  Der  Druckunterschied  an  der  Aussen- 
seite  und  der  Innenseite  des  1300  m  hohen  Vulkanrohres  im  Meeres- 
niveau beträgt  nicht  weniger  als  etwa  330  Atmosphären.  Bei  den  höch- 
sten Vulkanen  würde  man  bis  zu  etwa  viermal  grösseren  Druckkräften 
kommen. 

Diese  Untersuchungen  zeigen  auch,  dass  die  Ansicht  von  Hum- 
boldt, nach  welcher  die  Vulkane  durch  Hebung  der  sedimentären 
Schichten  entstehen,  nicht  stichhaltig  ist.  Solche  Hebungen  kommen 
wohl  bei  den  Lakkolithen  vor,  und  sind,  obwohl  ziemlich  selten,  bei 
vulkanischen  Ausbrüchen  konstatiert,  z.  B.  bei  der  Hebung  der  Vul- 
kaninsel Pantellaria  am  14.  Oktober  1891  um  0,8  m  längs  einer  Küsten- 
strecke von  10  km.  Aber  die  Feuerberge  bestehen  nicht  aus  geho- 
benen sedimentären  Schichten,  sondern  aus  den  aufgeschichteten  Aus- 
wurfstoffen, die  durch  den  Krater  herausgeschleudert  oder  herausge- 
fiossen  sind. 

Die  Entstehungsweise  der  Vulkane.  In  älteren  Zeiten  glaubte 
man,  die  Vulkane  seien  durch  lange  Kanäle  mit  dem  feurig-flüssigen 
Erdinnern  verbunden.  Bei  der  Schrumpfung  des  Erdkörpers  werde  das 
innere  Magma  hinausgedrückt,  wobei  auch  das  Wasser  in  Form  von 
hochgespanntem  Dampf  einen  grossen  Einfluss  ausübe.  Sodann  ver- 
breitete sich  die  Ansicht,  das  Innere  der  Erde  sei  fest,  und  man  musste 
die  bis  dahin  herrschende  Anschauung  verlassen.  Man  nahm  vielmehr 
an,  dass  bei  der  Schrumpfung  der  Erde  Bewegungen  der  Erdkruste  ent- 
stimden,  welche  später  die  zum  Schmelzen  des  Gesteines  nötige  Wärme 
hervorbrächten  und  auf  diese  Weise  lokale  Lavaherde  bildeten.  Da  nun 
die  speciüsche  Wärme  der  meisten  Materialien  der  Erdkruste  0,2  be- 
trägt, so  muss  ein  Teil  der  Erdkruste  bei  einem  Fall  von  425  m  Höhe 
sich  um  nur  5^  erwärmen.  Damit  eine  Schmelzung  eintrete  (bei  etwa 
1000*^)  müsste  man  ein  Sinken  der  Erdkruste  von  etwa  85  km  annehmen, 
was  nicht  wohl  möglich  vorfällt.  Nun  könnte  zwar  durch  Gleitung 
zweier  Flächen  gegeneinander  die  Wärmeentwickelung  stark  konzen- 
triert werden,  sodass  an  der  Gleitfläche  eine  Schmelzung  entstünde. 
Dadurch  würde  aber  die  Eeibung  und  damit  die  Möglichkeit  einer 
Lokalisation  der  Wärme  vermindert  werden.  Und  eine  stark  lokali- 
sierte" Schmelzstelle  würde  bald  die  Wärme  an  die  Umgebung  verlieren. 
Jedenfalls  scheinen  die  Bewegungen,  welclie  mit  der  Schrumpfung  der 


312  Physik  der  Erde. 

Erdkruste  verbunden  sind,  all  zu  unerheblich  zu  sein,  um  das  Entstehen 
von  grossen  Schmelzherden  zu  ermöglichen. 

Vielmehr  müssen  wir  annehmen,  dass  die  Erdkruste  an  einigen 
Stellen  sehr  dünn  ist,  sodass  an  diesen  Stellen  das  innere  flüssige  Magma 
recht  nahe  an  die  Oberfläche  kommt.  Dies  kann  natürlicherweise  am 
leichtesten  an  solchen  Stellen  eintreffen,  wo  bei  Faltungen  die  Erdkruste 
geborsten  ist.  Man  war  auch  bis  auf  die  jüngste  Zeit  allgemein  darüber 
einig,  dass  die  Vulkane  längs  grossen  Bissen  in  der  Erdkruste  gelegen 
sind,  sodass  das  heisse  Erdinnere  da  relativ  nahe  an  der  Oberfläche  liegt. 
In  neuester  Zeit  hat  man  diese  Ansicht  vielfach  bestritten  und  mehrere 
Fälle  hervorgesucht,  wo  Vulkane  nicht  auf  Spalten  liegen  (Stübel, 
Branco).  Wenn^;  wir  das  Erdinnere  als  flüssig,  obgleich  sehr  lang- 
sam äusseren  Kräften  nachgebend,  annehmen,  bietet  es  keine  Schwierig- 
keit, eine  solche  Eigentümlichkeit  zu  erklären.  Die  innere  flüssige  Masse 
muss  aber  wegen  des  hohen  Druckes  viel  zähflüssiger  sein  wie  die  leicht- 
flüssige Lava,  die  wir  von  der  Erdoberfläche  kennen. 

Um  nun  weiter  zu  gehen,  benutzen  wir  die  Beobachtung,  dass  die 
Lava  um  so  leichter  fliesst,  je  grösser  ihr  Wassergehalt  ist.  Wenn 
Wasser  durch  feine  Kisse  oder  zufolge  von  Diffusion  durch  die  Erd- 
kruste zum  flüssigen  Magma  hineintritt,  wie  Angelot,  Tscher mak 
und  Key  er  hervorheben,  so  geht  es  in  Gasform  über,  da  die  kritische 
Temperatur  desselben  nicht  höher  als  365  ^  liegt,  und  löst  sich  zu  einem 
gewissen  Grad  in  dem  flüssigen  Magma.  Sehr  bedeutend  würde  wohl 
diese  gelöste  Menge  nicht  sein,  wenn  nicht  gleichzeitig  chemische  Pro- 
zesse sich  abspielten.  Bei  18  ^  C.  ist  Wasser,  nach  den  thermochemischen 
Messungen  von  Thomson,  als  Säure  betrachtet,  etwa  hundertmal  schwä- 
cher als  Kieselsäure.  Diese  Stärke  reicht  aber  dazu  aus,  in  verdünnter 
wässeriger  Lösung  die  Alkalisilikate  zum  grossen  Teil  hydrolytisch  (in 
Alkali  und  Kieselsäure)  zu  spalten.  Wäre  nun  nicht  Wasser  in  sehr 
überwiegender  Menge  vorhanden,  so  würde  diese  Spaltung  beinahe  ver- 
schwindend oder  jedenfalls  sehr  unbedeutend  sein.  Es  verschiebt  sich  aber 
die  relative  Stärke  dieser  beiden  Säuren  ganz  enorm  bei  steigender  Tem- 
peratur. Während  die  Neutralisationswärme  der  Kieselsäure  andeutet, 
dass  sich  ihre  Stärke  nicht  in  nennenswertem  Grad  mit  der  Temperatur 
verändert,  nimmt  die  Stärke  des  Wassers  ganz  bedeutend  mit  der  Tem- 
peratur zu.  Aus  den  Daten  für  Temperaturen  zwischen  0^  und  50^ 
kann  man  berechnen,  dass  es  bei  300^  ungefähr  an  Stärke  der 
Kieselsäure  gleichkommt,  um  bei  1000*^  dieselbe  etwa  achtzigmal, 
bei   2000^   etwa   dreihundertmal,    zu    übertreffen.      Bei  noch,  höheren 


Tl.  Die  feste  Erdkruste  und  das  Erdinnere.  313 

Temperaturen  verschieben  sich  die  Verhältnisse  noch  mehr  zu  Gunsten 
des  Wassers.  Die  Folge  davon  ist,  dass  bei  der  hohen  Temperatur  der 
Lava,  welche  auf  etwa  2000*^  geschätzt  wird,  die  absorbierte  Wasser- 
menge zum  allergrössten  Teil  sich  mit  den  Silicaten  chemisch  umsetzt, 
so  dass  stark  saure  und  stark  basische  Silicate  entstehen.  Die  Span- 
nung des  Wasserdampfes  wird  demzufolge  stark  herabgesetzt,  und  relativ 
grosse  Wassermengen  können  von  dem  Magma  aufgenommen  werden. 
Durch  die  Wasseraufnahme  schwillt  das  Magma  und  wenn  eine  Öffnung 
der  Erdoberfläche  sich  in  der  Nähe  befindet,  steigt  es  darin  auf.  Es 
ist  dies  ein  Fall  von  osmotischem  Druck,  das  Wasser  kann  nämlich 
durch  die  Erdkruste  dringen,  das  Magma  aber  nicht.  Da  bei  gewöhn- 
licher Temperatur  osmotische  Drucke  von  einigen  hundert  Atmosphären  sehr 
häufig  vorkommen,  und  diese  Drucke  der  absoluten  Temperatur  propor- 
tional steigen,  so  ist  es  keineswegs  erstaunlich,  dass  bei  der  absoluten 
Temperatur  des  Magmas  diese  Druckkräfte  auf  tausende  von  Atmo- 
sphären steigen  können  (vgl.  S.  311).  Wenn  keine  Austrittsöffnung  für 
das  Magma  vorhanden  ist,  kann  es  höhere  Schichten  heben  und  Lak- 
kolithen  bilden  oder  eventuell  schwächere  Stellen  der  Erdkruste  durch- 
brechen (S.  312). 

Da  ferner  die  sauren  Silicate  bedeutend  leichter  sind  als  die  basi- 
schen, so  findet  unter  der  Einwirkung  der  Schwere,  bei  den  bedeutenden 
Tiefen,  die  hier  in  Frage  kommen,  grosse  Differenziierungen  statt,  wo- 
durch die  sauren  Bestandteile  sich  nach  oben,  die  basischen  sich  nach 
unten  konzentrieren. 

Zufolge  der  starken  Wasseraufnahme  ist  jetzt  das  Magma  leicht- 
flüssig geworden  und  zwar  die  basischen  Bestandteile  mehr  wie  die 
sauren.  Wenn  das  Magma  durch  Aufnahme  von  Wasser  schwillt,  ver- 
schiebt es  diejenigen  Magmateile,  welche  zwischen  der  Eintrittsstelle 
des  hineingesickerten  Wassers  und  den  Kissen  sich  befinden  oder  es  ver- 
mischen sich  diese  verschiedenen  Magmateile.  Neugebildete  verflüssigte 
Magmamassen  dringen  nach,  und  verursachen  ein  stetiges  Ansteigen  in 
den  Rissen.  Das  verflüssigte  Magma  oder  mit  anderen  Worten  das  Ur- 
material  der  Lava  steigt  zu  kälteren  Teilen  hinauf.  Dabei  verschiebt 
sich  das  chemische  Gleichgewicht  zwischen  Wasser  und  Kieselsäure  mit 
zunehmender  Abkühlung  immer  mehr  zu  Gunsten  der  letzteren.  Immer 
wachsende  Wassermengen  gehen  aus  dem  chemisch  gebundenen  in  den 
freien  Zustand  über,  wodurch  die  Spannung  trotz  des  Sinkens  der  Tem- 
peratur stark  steigt.  (Bei  diesen  hohen  Temperaturen  kann  das  Wasser 
als  ein  Gas  behandelt  werden,  demzufolge  der  Einfluss  der  Temperatur 


314 


Physik  der  Erde. 


auf  die  Spaimung  einer  konstanten  Wasserdampfmassc  von  konstantem 
Volumen  recht  gering  ist).  Zuletzt  wird  die  Spannung  des  Wasserdampfes 
so  hoch,  dass  sie  den  von  oben  lastenden  Druck  zu  überwinden  vermag, 
es  entsteht  eine  Explosion  ungefähr  wie  in  einem  Geysir.  Bei  der  ge- 
Avaltsamen  Entfernung  des  obenliegenden  Druckes  entweichen  die  Wasser- 
dampfmassen in  ungeheurer  Menge,  kleine  Lavatropfen  als  Asche 
mitschleppend.      Die    Lavamassen,    welche    zurückbleiben,    sind    zum 


Fig.  107.    Blocklava  bei  Hilea,  Hawai;  im  Hintergrund  Mauna  Loa. 


grossen  Teil  des  Wassergehaltes  entlastet,  sie  fliessen  hinaus  und 
scheiden  bei  noch  weiter  gehender  allmählicher  Abkühlung  das  übrig- 
gebliebene Wasser  aus.  Wenn  dann,  wie  bei  den  leichtflüssigen  Lava- 
strömen, der  Wasserrest  noch  ziemlich  gross  ist,  so  zerfetzt  sich  die 
Oberfläche  beim  Erstarren  und  bildet  Blocklava  (Fig.  107),  anderen- 
falls wird  sie  mehr  glatt  erhalten  (Gekröselava,  Fladenlava,  die  auf 
Hawai  und  Island  gewöhnlich  sind).  Der  Lavastrom  ist  gewöhnlich  im 
unteren  Laufe  mit  einer  starren  zerbrochenen  Kruste  umgeben,  welche 
bei  der  Vorwärtsbewegung  des  Stromes  ihn  ungefähr  wie  ein  Sack  ein- 
schliesst,   jn  dem  der  Strom  über  die  Bruchstücke  der  Kniste  fortrollt. 


TT.  Die  feste  Erdkruste  und  das  Erdinnere.  315 

Nach  dieser  Anschauungsweise  treten  im  allgemeinen  die  höchst- 
liegenden sauren  Gesteine  zuerst  aus  dem  Yulkan  hinaus,  die  mehr 
basischen  werden  für  spätere  Ausbrüche  gespart.  In  der  That  zeigt 
sich  eine  solche  zeitliche  Veränderung  in  der  Zusammensetzung  der 
Lava  in  sehr  vielen  Fällen,  z.  B.  beim  Vesuv.  Auch  in  vulkanischen 
Ergüssen  von  älteren  geologischen  Zeiten  hat  man  eine  ähnliche 
Verteilung  wahrzunehmen  geglaubt.  In  anderen  Fällen,  wie  bei  den 
Vulkanen  in  Ungarn  und  dem  westlichen  Nord -Amerika  sind,  wie 
V.  Eichthofen  zeigte,  die  Verhältnisse  nicht  so  einfach.  Daselbst 
sind  die  ältesten  Lavaströme  basisch  (Propylit  und  Andesit),  nachher 
werden  sie  saurer  (Trachyt  und  Ehyolit)  und  zuletzt  steigt  wiederum 
die  Basicität  (Basalt).  Es  ist  sehr  wohl  denkbar,  dass,  falls  der  Vulkan- 
schlot nicht  ganz  nahe  an  der  Eintrittsstelle  des  Wassers  liegt,  die 
leichtflüssigen  basischen  Bestandteile  sich  zuerst  zur  Ausflussöffnung  hin- 
begeben. Später,  wenn  das  Magma  so  viel  Wasser  aufgenommen  hat, 
dass  die  Fluidität  der  sauren  Teile  hinreichend  gewachsen  ist,  um  sich 
über  den  basischen  Teilen,  der  geringen  Dichte  entsprechend,  ausbreiten 
zu  können,  fliesst  nur  saure  Lava  ab  und  wenn  diese  erschöpft  zu  sein  an- 
fängt, kommen  basischere  Produkte  zum  Vorschein.  Diese  Reihenfolge 
scheint  recht  gewöhnlich  zu  sein. 

Wenn  man  zu  den  ältesten  geologischen  Zeiten  zurückgeht,  in  wel- 
chen das  Magma  an  der  Oberfläche  der  Erde  sich  im  Kontakt  mit  dem 
Wasserdampf  befand,  so  fand  eine  ähnliche  Differentiation  statt  und  die 
sauren  Bestandteile  verlegten  sich  zur  Oberfläche.  Aus  diesen  entstanden 
bei  der  Erstarrung  die  Granite,  welche  das  Urgebirge  bilden  und  im 
Mittel  stark  sauer  sind.  Zufolge  ihres  relativ  geringen  specifischen  Gewichtes 
blieben  sie  an  der  Oberfläche  und  sanken  nicht  hinunter.  Es  fand  also 
die  Erstarrung  der  Erdkruste  von  aussen  nach  innen  statt.  Dadurch 
verfällt  ein  Hauptgrund  für  die  Annahme,  dass  die  Erstarrung  der  Erd- 
rinde von  innen  nach  aussen  geschehen  müsste,  indem  man  sich  vor- 
stellte, die  starre  Kruste  müsste  in  die  leichtere  homogene  flüssige 
Masse  hineinsinken.  Diese  Betrachtungsweise,  die  als  Grund  für  die 
Annahme  eines  festen  Erdinnern  angeführt  worden  ist,  kann  keineswegs 
als  stichhaltig  angesehen  werden.  Man  möge  dabei  auch  die  enorme 
innere  Reibung  des  Magmas  in  Betracht  ziehen.  Diese  verhindert,  dass 
die  Erstarrungskruste  eines  Lavastromes  die  Oberfläche  verlässt  (vgl. 
S,  314).  Je  älter  die  Erde  wurde,  desto  basischer  sind  im  allgemeinen 
die  vulkanischen  Gesteine  geworden,  eine  natürliche  Folge  davon,  dass 
die  Erdkruste  mit  der  Zeit  an  Dicke  zugenommen  hat  und  Magma  aus 


316  Physik  der  Erde. 

immer  tieferen  Schichten  zur  Lavabildung  genommen  wird.  In  den 
jüngsten  geologischen  Epochen  überwiegen  auch  die  stark  basischen 
Basalte,  in  welchen  Körner  von  reinen  Basen  (Sauerstoffverbindungen 
von  Eisen)  abgeschieden  sind. 

Wie  eng  die  vulkanische  Thätigkeit  mit  dem  Vorkommen  von 
Wasser  verbunden  ist,  ersieht  man  nicht  nur  aus  deren  Verteilung  rund 
um  das  Weltmeer.  Auch  der  Umstand  deutet  darauf  hin,  dass  an 
Stellen,  wo  grosse  Spalten  in  der  Erdkruste  vorkommen,  wo  aber  keine 
grossen  Wassermengen  in  der  Nähe  sind,  keine  vulkanischen  Erschei- 
nungen sich  abspielen.  An  solchen  Stellen  sind  aber  Erdbeben  recht 
häufig   (vgl.  unten  S.  324). 

Erdbeben.  Bei  den  vulkanischen  Ausbrüchen  bemerkt  man  sehr 
häufig  ein  Erzittern  der  Erdkruste,  welches  Erdbeben  genannt  worden 
ist.  Diese  Erdbeben  sind  seit  dem  grauen  Altertum  bekannt  und  haben 
seit  den  ältesten  Zeiten  Erklärungsversuche  veranlasst.  Sie  haben  die 
Aufmerksamkeit  durch  den  von  ihnen  angerichteten  häufig  grossen 
Schaden  erregt.  Zufolge  der  Erderschütterungen  entstehen  grosse  Erd- 
spalten, stürzen  Häuser  zusammen  und  begraben  unter  den  Euinen 
Menschen,  Thiere  und  Eigentum.  Unter  den  schwersten  Erdbeben- 
katastrophen sind  folgende  zu  nennen:  Lima,  welches  im  Jahre  1682 
durch  Erdbeben  schwer  heimgesucht  war,  wurde  am  28.  Oktober  1746 
beinahe  gänzlich  zerstört;  von  den  53 000  Einwohnern  wurden  nur  wenige 
gerettet.  Am  1.  November  1755  wurde  Lissabon  durch  Erdbeben  ver- 
ödet, wobei  30000  Menschen  in  den  Ruinen  begraben  wurden.  Am 
5.  Februar  1783  wurde  Messina  zerstört.  In  diesem  und  dem  folgenden 
Monat  trafen  mehrere  Erdstösse  Sicilien  und  Calabrien,  wodurch  etwa 
100000  Menschenleben  verloren  gingen.  Die  Provinzialhauptstädtc 
Agram  und  Laibach  erlitten  ausserordentlich  starken  Schaden  bei  den 
Erdbeben  von  1880  und  1893.  Ischia  wurde  1883,  Zante  1893  von 
verheerenden  Erdbeben  heimgesucht.  Das  heftigste  Erdbeben  Nord- 
amerikas traf  die  Stadt  Charleston  und  Umgebung  im  Jahre  1886, 
wobei  27  Menschenleben  verloren  gingen.  Am  schwersten  wurde  wohl 
Japan  von  Erdbeben  getroffen,  wobei  bisweilen  die  Verheerung  und  der 
Verlust  an  Menschenleben  ebenso  bedeutend  waren,  wie  in  den  vorhin 
genannten  Fällen. 

Kein  Land  ist  absolut  frei  von  Erdbeben.  In  Ländern,  deren  Erd- 
kruste aus  sehr  alten  geologischen  Perioden  herstammt,  sind  jedoch  die 
Erschütterungen  sehr  schwach.  Besonders  gilt  dies  für  solche  Gegen- 
den  (z.  B.  Russland,  Schweden),   wo   die   alten  Scliichten  nicht  gefaltet 


II.  Die  feste  Failkruste  und  da«  Erdinnere.  3 [7 

sind.  In  Europa  sind  Italien  und  die  Balkanlialbinsel  am  meisten  lieim- 
uesucht,  danach  kommen  die  iberische  Halbinsel  und  die  österreichischen 
Karstländer.  In  der  Schweiz  sind  sie  ziemlich  häufig,  in  Deutschland 
werden  Vogtland  i.  S.  und  die  Rheingegenden  am  meisten  betroffen. 
Tnter  allen  Ländern  der  Welt  scheint  Japan  die  meisten  Erdbeben 
aufzuweisen,  wenn  es  nicht  von  einigen  Ländern  in  Centralamerika 
(San  Salvador)  und  an  der  Westküste  von  Südamerika  übertroffen 
wird.  Die  Lehre  von  den  Erdbeben  (Seismologie)  ist  auch  sehr  be- 
trächtlich durch  Gelehrte  in  Japan  befördert  worden. 

Bis  auf  die  neueste  Zeit  verzeichnete  man  nur  Erdbeben  von 
urosser  Heftigkeit,  wobei  materieller  Schaden  angerichtet  wurde.  Dies 
gilt  noch  und  in  sehr  hohem  Grade  für  die  weniger  kultivierten  Länder. 
Wenn  man,  wie  jetzt  in  den  Kulturländern  geschieht,  alle  Erdstösse 
notiert,  so  sind  sie  auch  in  Ländern,  wo  keine  verheerenden  Erdbeben 
jetzt  vorkommen,  keine  Seltenheit.  So  z.  B.  giebt  die  Statistik  für  die 
Schweiz  1880  — 1896  118  Erdbeben  mit  699  Stössen,  für  Österreich  im 
Jahre  1897  203  Erdstösse  an.  In  Sachsen  und  Böhmen  fällt  das  Maximum 
der  Erdstösse  auf  Oktober  bis  Dezember  und  12^* — 8^*  Vormittags,  in  Triest 
dagegen  fällt  das  Maximum  in  den  August  und  um  Mittag,  das  Minimum 
im  November  und  um  Mitternacht.  In  Japan  fällt  das  Maximum  im 
Frühling,  das  Minimum  in  den  Sommer.  Die  zerstörenden  Erdbeben  haben 
daselbst  ihr  Maximum  im  August,  das  Minimum  im  Januar.  Wie  er- 
sichtlich scheinen  keine  allgemein  gültigen  Gesetzmässigkeiten  vor- 
zuliegen. 

Die  Erdstösse  kommen  selten  allein,  sondern  meistens  in  Gruppen, 
sogenannten  „Erdbebenschwärmen",  vor.  So  z.  B.  zählte  man  im  März 
1868  mehr  als  2000  Erdbewegungen  auf  Hawai,  während  einer  mehrere 
Monate  dauernden  Erdbebenzeit.  Bei  dem  Erdbeben,  das  Phokis  in 
Griechenland  1870  —  1873  heimsuchte  und  von  Julius  Schmidt  be- 
chrieben  ist,  kamen  bisweilen  kleine  Stösse  alle  drei  Sekunden  vor,  die 
schweren,  mit  Zerstörungen  verbundenen  Erschütterungen  in  den  drei 
Jahren  1.  Aug.  1870  bis  1.  Aug.  1873  schätzt  derselbe  Forscher  zu  300—320, 
und  von  diesen  zogen  sich  nur  35  allgemeine  Aufmerksamkeit  zu,  sodass 
^ie  in  den  Zeitungen  erwähnt  wurden.  Im  ganzen  trafen  in  der  3V2 
Jahre  dauernden  Erdbebenzeit  ungefähr  eine  halbe  Million  Erderschüt- 
terungen und  eine  viertel  Million  unterirdische  Detonationen  ein. 

Infolge  des  häufigen  Auftretens  der  schwächeren  Erdstösse  ver- 
dichen mit  den  gefährlichen,  dienen  jene  oft  als  eine  Art  Warnungs- 
zeichen.   Die  verheerenden  Stösse  werden  häufig  von  einem  vorangehen- 


318 


Physik  der  Erde. 


den  Geräusch  verkündet,  so  z.  B.  zu  Charleston  am  31.  Aug.  1886,  wo  nach 
einem  12  Sekunden  anhaltenden  Getöse  zwei  heftige  Stösse  mit  einem 
ruhigeren  Intervalle  im  Laufe  von  50  Sekimden  den  Boden  erschütterten, 
wonach  bis  in  1887  mehrere  schwache  Stösse  eintrafen. 

Ungefähr  ebenso  oft  kommt  jedoch  der  verheerende  Stoss  unvorbe- 
reitet;   dies  war  beispielsweise   der  Fall  bei  den  Erdbeben  zu  Lissabon 


Fig.  108.     Erdbebenspalte  in  Midori,  Japan,  vom  Erdbeben  am  20.  Okt.  1891. 

1755,  zu  Caracas  1812,  zu  Agram  1880  und  zu  Ischia  1881,  dagegen  war 
das  viel  mehr  verheerende  Erdbeben  auf  der  letzterwähnten  Insel  im 
Jahre  1883  von  mehreren  kleinen  Erschütterungen  angekündigt.  Die 
schwere  Katastrophe  zu  Lissabon  war  ein  sogenanntes  Einzelbeben,  bei 
welchen  nur  ein  oder  einige  wenige  Stösse  in  einer  sehr  kurzen  Zeit 
(einigen  Sekunden  oder  Minuten)  wahrgenommen  werden.  Diese  sind 
relativ  selten. 

Die  Erdbeben  werden  gewöhnlich  von  Spaltenbildungen  in  der  Erd- 
kruste begleitet,  wobei  bisweilen  starke  Verschiebungen  entstehen.-  So 
z.  B.  wurde  bei  dem  Erdbeben  in  Japan  im  Jahre  1891  eine  von  Nord- 
west nach  Südost  laufende  Spalte  von  etwa  65  km  gebildet,  wobei  ver- 


fl.   Die  feste  Erdkrii.sle   und  das  Krdiiiiicie. 


;}i9 


tikale  Verschiebungen  bis  zu  6  ni  und  horizontale  bis  zu  4  m  vorkamen, 
indem  das  nach  Nordost  liegende  Land  in  nordwestlicher  Kichtung 
verschoben  wurde  und  sich  zugleich  an  den  meisten  Stellen  senkte 
(Fig.  108). 

Zufolge  dieser  Spaltenbildung  folgen  den  Erdstössen  heftige  Berg- 
stürze, wie  in  der  Gegend  von  Delphi  beim  phokischen  Erdbeben  (1870 


Fig.  109.     Sandkrater  und   Spalten    am    achäischen  Erdbeben   vom  26.  Dez.  18G1. 
Im  Wasser  sieht  man  Aste  versunkener  Bäume  (nach  J.  Schmidt). 


bis  1873).  Ein  solcher  Fall  war  auch  der  Bergsturz  von  Dobratsch  in 
Kärnthen  am  25.  Januar  1348,  wobei  zwei  Marktflecken  und  17  Dörfer 
begraben  wurden. 

Bisweilen  strömt  das  Grundwasser  aus  den  so  entstandenen  Spalten 
und  schleppt  Schlamm,  Sand  und  Steine  (bisweilen  Eis,  auf  Island)  mit 
sich,  welche  beim  Herunterfallen  kraterförmige  Anhäufungen  bilden 
(Fig.  109). 

Auch  Schallerscheinungen,  wie  von  einem  unterirdischen  Donner, 
begleiten  die  Erdbeben,  bisweilen  sind  die  Erdstösse  dabei  zu  schwach, 
um  bemerkt  zu  werden. 


320 


Physik  der  p]rde. 


Bei  näherer  Untersuchung  findet  man,  dass  ein  Erdbeben  an  einer 
Stelle  seine  grösste  Intensität  hat,  welche  durch  die  verheerende  Wir- 
kung gemessen  wird,  und  daselbst  am   frühesten  eintritt,  weiter  davon 


Fig.  110.    Isoseis tenkarte  des  Erdbebens  zu  Charleston  im  Jahre  1886.    Nach 

Ch.  Dutton. 


wird  der  Erdstoss  immer  ungefährlicher.  Die  Figur  110  giebt,  durch 
Linien  verbunden,  die  Stellen  gleicher,  so  gemessener,  Erdbebenintensität 
(Isoseisten)  im  Gebiete,  das  vom  Charlestoner  Erdbeben  getroffen  wurde. 
Wenn  die  Erdkruste  nach  allen  Richtungen  hin  gleichmässig  wäre,  so 
würden  ohne  Zweifel  diese  Linien  kreisförmig  sein,   während   sie  that- 


II.  Die  feste  Erdkruste  und  das  Erdinnere.  321 

sächlifli  durch  die  Ungleichmässigkeit  der  Erdkruste  sehr  verwickelte 
Formen  annehmen  können. 

Die  Karte  Fig.  HO  zeigt,  dass  die  feste  Erdkruste  im  AUeghany- 
gebirge  die  Heftigkeit  derStösse  vermindert  hat,  wogegen  der  lockere  Erd- 
boden am  Mississippi  und  an  den  grossen  Seen  in  entgegengesetzter  Eich- 
tung  wirkte.  Man  sieht  weiter,  dass  der  Punkt,  von  welchem  aus  das 
Erdbeben  nach  allen  Seiten  sich  verbreitet  hat,  nahe  der  Küste  im  Meere 
liegt.  Auch  die  japanischen  Erdbeben  führen  zu  ähnlichen  Schlüssen. 
Durch  seine  Untersuchungen  ist  Milne  dazu  geleitet  worden,  anzu- 
nehmen, dass  diese  Beben  von  der  westlichen  Grenze  der  ausserordent- 
lich (8000  m)  niedrig  liegenden  Tuscaroratiefe,  westlich  von  Japan,  her- 
kommen (vgl.  Fig.  111). 

Wenn  die  Ausgangsstelle  im  Meere  liegt,  werden  mächtige  Erd- 
bebenfluten erzeugt,  welche  noch  schwerere  Verheerungen  anstellen,  als 
das  Erdbeben  selbst.  So  brach  beim  Lissaboner-Erdbeben  eine  5  m  hohe 
Welle  über  die  Stadt  ein  und  tötete  60000  Menschen.  Im  Jahre  1510 
riss  eine  solche  Welle  in  Konstantinopel  109  Moscheen  und  1070  Wohn- 
häuser mit  sich.  In  Japan  sind  sie  sehr  häufig.  Am  15.  Juni  1896 
zerstörte  eine  solche  Flutwelle  von  15  m  Höhe  bei  Kamaischi  7600 
Wohnhäuser  und  tötete  27000  Menschen.  Fischer,  die  30— 40  km  von 
der  Küste  sich  in  ihren  Booten  befanden,  bemerkten  nichts  von  diesem 
riesigen  Erdbeben. 

Diese  Seebeben  verursachen  auch  häufig  Schädigungen  der  trans- 
marinen Telegraphenkabel  und  dadurch  grosse  materielle  Verluste.  Bis- 
weilen ist  das  Guttapercha  dieser  zerstörten  Kabel  geschmolzen,  was  auf 
heftige  unterseeische  Vulkanergüsse  hindeutet. 

Man  hat  auch  versucht,  die  sogenannten  Sintfluten,  von  welchen  die 
Tradition  bei  manchen  Völkern  und  besonders  die  Keilschriften  von 
Niniveh  berichten,  als  grosse  Erdbebenfluten  zu  deuten  (E.  Suess). 

Häufig  werden  auch  Schifi'e  auf  dem  Meer  von  Seebeben  getroffen. 
Die  Insassen  des  Schiffes  haben  dabei  gewöhnlich  das  Gefühl,  als  ob 
das  Schiff  plötzlich  gegen  einen  Felsen  gerannt  wäre. 

Es  lässt  sich  theoretisch  ableiten,  dass  diese  Wellen  sich  mit  einer 
Geschwindigkeit  {v)  fortpflanzen,  die  durch  den  Ausdruck: 

^  =  Y^9^ 

'largestellt  werden  kann,  worin  g  die  Beschleunigung  der  Schwerkraft 
und  h  die  Tiefe  des  Meeres  bedeuten. 

Arrhenius,  Kosmische  Physik.  •        21 


322 


Physik  der  Erde. 


Fig.  111.      Tiefenkarte  der  „Tuscaroratiefe"  bei  Japan  nach  Milne.     In  den  Pro- 
filen geben  kleine  Kreise  die  Stellen  an,  von  welchen  die  Erderschütterungen    ver- 
mutlich herrühren. 


IL  Die  feste  Erdkruste  und  das  Erdinnere.  323 

Man  hat  für  viele  Erdbeben  Karten  gezeichnet,  welche  die  Plätze 
anzeigen,  an  welchen  die  Erdbebenwellen  nach  einer  bestimmten  Zeit 
angelangt  sind.  Man  ersieht  daraus,  wie  diese  Wellen  sich  über  den 
grösseren  Meerestiefen  mit  grösserer  Geschwindigkeit  ausgebreitet  haben, 
als  über  den  seichteren  Stellen.  Besonders  stark  tritt  dies  an  den  beim 
Krakatau-Ausbruch  entstandenen  Wellen  hervor.  Aus  den  beobachteten 
Fortpflanzungsgeschwindigkeiten  v  hat  man  mittelst  der  letztgenannten 
Formel  die  mittlere  Tiefe  {h)  der  betreffenden  Meeresteile  berechnet 
und  so  Werte  gefunden,  die  gut  mit  den  bekannten  Tiefendaten  über- 
einstimmen (vgl.  Fig.  112). 

Entstehungsweise  der  Erdbeben.  Ursache  der  Erdbeben  kann 
jede  Gleichgewichtsstörung  der  festen  Erdkruste  sein.  Solche  kommen, 
wie  oben  bemerkt,  bei  den  vulkanischen  Ausbrüchen  vor  und  sind  als 
Folgen  von  Gasexplosionen  anzusehen  (Explosionsbeben).  Weiter  können 
durch  Erdstürze  zufolge  von  Auslaugung  der  Erdkruste,  besonders  in  Boden- 
schichten von  Steinsalz,  Gips,  Anhydrit  und  Kalkstein  Erderschtitterungen 
hervorgebracht  werden  (Auswaschungsbeben).  Milne  ist  der  Ansicht,  dass 
die  grossen  japanischen  Erdbeben,  welche  ihren  Ausgangspunkt  am  West- 
rande der  Tuscaroratiefe  haben,  durch  kolossale  Erdstürze  am  Meeres- 
boden erfolgen  (vgl.  Fig.  111).  Die  Sedimente  werden  von  den  Ufern 
ins  Meer  hinausgeschwemmt  und  setzen  sich  ziemlich  bald  in  der  Nähe 
der  Küste  ab.  Dadurch  entstehen  sehr  starke  Neigungen  am  Meeres- 
boden, sodass  zuletzt  die  unterliegenden  durch  den  Wassergehalt  plasti- 
schen Lager  nicht  mehr  den  Druck  der  Sedimentbelastung  aushalten 
können,  sondern  in  die  Tiefe  hinausrutschen.  Dies  scheint  die  ausgie- 
bigste Quelle  der  Erdbeben  zu  sein.  Andere  Erdbeben  entstehen  durch 
den  Ausgleich  von  Spannungen  in  der  Erdkruste  wie  an  der  Mürzlinie 
in  Steiermark  (Dislokations-  oder  tektonische  Beben). 

Die   Karte   Fig.    113   stellt    die  Haupterschütterungslinien    in   der 

Nähe  von  Wien   dar.     Eine   dieser  Linien  AB  verläuft   von  Wien  bis 

Wiener  Neustadt.    Diese  Linie   ist  eine  an  der  Grenze   der  Alpenkette 

gelegene  Bruchlinie,  welche  durch  mehrere  heisse  Quellen  bei  Meidling, 

Baden,  Vöslau  u.  s.  w.  gekennzeichnet  ist  und   deshalb   „Thermallinie" 

genannt  wird.     Eine  Fortsetzung  dieser  Linie  bildet  die  dem  Mürztjial 

entlang  verlaufende  „Mürzlinie"  EF^  welche,   wie   die  vorhin  genannte, 

der   Schauplatz    von  vielen  Erdbeben   gewesen  ist,   deren  Jahreszahlen 

zum  Teil  in   der  Kartenskizze   eingezeichnet   stehen.    Quer   zu   diesen, 

längs  dem  Streichen  des  Alpenmassivs  hinziehenden  Longitudinalbrüchen 

liegt  die  zum  Teil  entlang  dem  Kampfluss  verlaufende  „Kamplinie"  CD. 

•        21* 


324 


Physik  der  Erde. 


IL  Die  feste  Erdkruste  und  das  Erdinnere. 


325 


Diese  Querbruchlinie  wird  ebenfalls  häufig  von  Erdbeben  betroffen.   Die 
Grenzlinie  des  Haupterschütterungsgebietes  bei  einer  solchen  Erderschüt- 


Fig.  113.     Die  Haupterschütterungslinien  in  Niederösterreich. 


326 


Physik  der  Erde. 


terung  vom  3.  Januar  1873  ist  in  der  Figur  mit  xx  bezeichnet.  Der  Ver- 
lauf dieser  Linie  zeigt,  dass  das  Beben  von  der  Bruchlinie  ausgegangen 
ist,  von  wo  es  sich  zur  Seite  verbreitet  hat.  Dabei  fällt  es  auf,  dass 
die  festen  Bergmassive  der  Alpen  und  der  böhmischen  Masse  der  Ver- 
breitung der  Erschütterimg  einen  viel  grösseren  Widerstand  geleistet 
haben,  als  die  lockeren  Erdschichten  der  dazwischen  gelegenen  Ebene 
(vgl.  oben  S.  321). 

Am  Schnittpunkt  der  Thermallinie  mit  der  Kamplinie  sind  die  be- 


■T.  Paxitellarin. 


Fig.  114.     Die  ErdbebenHnien  Süditaliens  und  SiciHens  nach  E.  Suess. 


deutendsten  heissen  Quellen  des  Gebietes  gelegen  und  kommen  die  Erd- 
erschütterungen am  häufigsten  vor. 

Ein  ähnliches  Bild  giebt  Suess  von  den  süditalienischen  und  sicilia- 
nischen  Erdbeben.  Dieselben  treten  am  häufigsten  längs  eines  (in  der 
Fig.  114  punktierten)  Kreisbogens  auf,  welcher  den  Bruchrand  eines  grossen 
vom  Südteil  des  Tyrrhenischen  Meeres  grösstenteils  eingenommenen 
Senkungsfeldes  bildet.  Radial  zu  dieser  bogenförmigen  Bruchlinie  ver- 
laufen andere  Bruchlinien,  die  mit  punktierten  Strichen  bezeichnet  sind. 
Diese  radialen  Bruchlinien,  auf  welchen  die  Vulkane  Aetna,  Vulcano 
und  Stromboli  gelegen  sind,  konvergieren  gegen  Lipari.  Längs  dieser 
Radialbrüche  treten  auch  häufig  Erdbeben  auf. 


IT.  Die  feste  Erdkruste  und  das  Erdinnere.  327 

Das  grossartigste  unter  den  Erdbeben  dieser  Gegenden  war  das  kala- 
brische  Beben  von  1783,  welches  von  Suess  als  ein  peripherisches,  d.h. 
von   dem  Kreisbogen   ausgehendes  Senkungsbeben  charakterisiert  wird. 

Eine  wichtige  Bruchzone  liegt  westlich  von  der  messenischen  Küste 
und  an  der  Aussenseite  der  ionischen  Inseln.  Sie  begrenzt  die  4400  m 
erreichende  „Polatiefe"  im  ionischen  Meere.  Von  dieser  Bruchlinie  rühren 
viele  Erdbeben  her,  darunter  einige  sehr  bedeutende,  wie  das  messi- 
nische  von  1886,  das  ligurische  von  1887  und  das  zantiotische  Beben 
von  1893. 

Aus  dem  Obenerwähnten  scheint  es  hervorzugehen,  dass  die  wich- 
tigsten Erdbeben  von  Verschiebungen,  besonders  in  vertikaler  Kichtung, 
längs  Spaltflächen  in  der  Erdkruste  herrühren. 

Man  hat  sehr  vielfach  versucht,  die  Tiefe  des  Erdbebencentrums 
unter  der  Erde  zu  bestimmen.  Dazu  wollte  man  Beobachtungen  über 
die  Eintrittszeit  der*  Erdstösse  an  verschiedenen  Beobachtungsorten  be- 
nutzen, und  man  nahm  dabei  an,  dass  die  Fortpflanzungsgeschwindig- 
keit der  Bebenwelle  überall  in  der  Erdkruste  gleich  sei.  Dies  ist  nun, 
wie  sowohl  die  Theorie  wie  die  Erfahrung  zeigt,  nicht  der  Fall,  sondern 
die  Fortpflanzungsgeschwindigkeit  ändert  sich  sehr  stark  nach  dem  Ma- 
terial, seiner  Porosität  (Zahl  der  Sprünge)  und  seinem  Wassergehalt.  So 
z.  B.  fanden  Michel  Levy  und  Fouque  folgende  Zahlen: 

Fortpflanzungsgeschwindigkeit 

In  Granit 2450—3141  m/sek. 

„   kompaktem  Sandstein      .    2000 — 2526     „ 
„  lockerem  „        .    .     1190  „ 

„   Marmor     ......      632  „ 

„  lockerem  Sand  ....      300  „ 

Der  Sand,  die  Sandsteine  und  der  Granit  enthalten  wohl  Material  von 
annähernd  gleicher  Elastizität,  sind  aber  verschieden  kompakt.  Weiter  wollte 
man  aus  der  Fallrichtung  umgestürzter  Gegenstände  oder  der  Kichtung 
der  Sprünge  in  Gebäuden  Schlüsse  in  Bezug  auf  den  Winkel  der  Wellen 
mit  der  Erdoberfläche  ziehen.  Diese  Schätzungen  scheinen  nicht  der 
aufgewendeten  Mühe  entsprochen  zu  haben  (so  z.  B.  findet  Dutton 
für  das  Centrum  des  Charlestoner  Bebens  eine  Tiefe  von  13 — 19  km. 
A.  Schmidt  dagegen  über  100  km).  Wahrscheinlich  geht  das  Erd- 
beben nicht  von  einem  Punkt,  sondern  von  einer  Fläche  aus.  Von  der 
alten  Anscliauung  stammt  die  Bononnung  „Epicentmm"  für  den  Mittel- 
punkt der  Erdl)o])onzone. 


328 


Physik  der  Erde. 


Die  Physik  der  Erdbeben.  Die  wichtigsten  Eigenschaften  der 
Erdbeben  sind  mit  Hilfe  eigenartiger  Apparate,  Seismoskope  oder  Seis- 
mographen ermittelt  worden.  Ältere  Seismographen  waren  flache  mit 
Quecksilber  gefüllte  Schalen,  an  deren  Seiten  mehrere  (8  oder  16)  kleine 
Kinnen  nach  den  verschiedenen  Weltgegenden  orientiert  waren.  Unter 
jeder  Kinne  stand  eine  Auffangetasse.  Das  Quecksilber  war  so  hoch 
aufgegossen,  dass  es  bei  der  geringsten  Erschütterung  durch  eine 
der  Kinnen  hinausfloss.  Aus  der  ausgeflossenen  Quecksilbermenge  und 
aus  der  Lage  der  Kinnen,  durch  welche  es  ausgeflossen  war,  zog  man 
Schlüsse  über  die  Stärke  und  Fortpflanzungsrichtung  des  Erdbebens. 
In  Italien  verwendet  man  teils  dieses  Instrument,  teils  lange  (über  2  m) 

mit  kolossalen  Kugeln  (bis  über 
100  kg)  belastete  Pendel,  welche 
bei  jeder   Gleichgewichtsstörung 
in  Schwingungen   geraten.     Die 
Schwingungen    werden   gewöhn- 
licherweise   durch     zwei    lange 
Hebel  in  zwei  Komponenten,  eine 
nordsüdliche    und   eine   ostwest- 
liche, zerlegt.    Die  Hebel  zeich- 
nen mit  leichten  Glasstiften  auf 
berusste  Papierstreifen,  die  durch 
ein  einfaches  Uhrwerk  unter  den  Spitzen  vorwärts   geschoben  werden. 
Das  Uhrwerk  markiert  auf  die  Papierstreifen  die  Stunden-  und  Minuten- 
schläge. 

Die  Vertikalpendelapparate  sind  durch  die  grosse  Keibung  sehr  un- 
empfindlich. Dies  ist  nicht  der  Fall  mit  dem  Horizontalpendelapparat 
von  Milne  (Fig.  115).  An  dem  Stativ  H  ist  das  etwa  1  m  lange  Pendel 
Ips,  dessen  längerer  Teil  Ip  aus  einem  sehr  leichten  Aluminiumdraht  be- 
steht, an  zwei  Punkten  jo,  mittelst  des  Aufhängefadens  pq,  und  s,  mittelst 
einer  an  //  anliegenden  scharfen  Spitze,  unterstützt.  Der  ganze  Apparat 
ist  auf  einem  erdfesten  Pfeiler  aufgestellt  und  zum  Schutze  gegen  Luft- 
strömungen in  ein  Blechgehäuse  eingeschlossen.  Das  Pendel  ist  so  em- 
pfindlich gegen  Erschütterungen,  dass  eine  Neigung  des  Bodens  von 
0,2"  bei  einer  Schwingungszeit  von  30  Sek.  einer  Ablenkung  des  Punktes 
/  von  1  mm  entspricht.  In  F  steht  eine  Lampe,  deren  Licht  von  dem 
Spiegel  M  zum  Punkte  /  gesandt  wird,  wo  es  durch  ein  ausgebohrtes 
Loch  auf  einen  Streifen  N  von  photographischem  Papier  fällt,  welches 
mittelst    eines    Uhrwerkes     über    die   Kollen    u  u   fortgeschoben    wird. 


Fig.  115.    Horizontalpendel  von  Milne. 


II.  Die  feste  Erdkruste  und  das  Erdinnere. 


329 


Wenn  nun  /  sich  hin  und  her  bewegt,  so  erhält  man  auf  X  nach  Ent- 
wickelung  eine  Kurve,  welche  die  Grösse  der  Bewegungen  angiebt. 

In  eben  derselben  Weise  geraten  andere  aufgehängte  Gegenstände, 
wie  die  Magnete  in  den  magnetischen  Observatorien,  bei  Erdbeben  in 
Schwingungen  und  registrieren  dieselben,  falls  die  Lage  der  Gegen- 
stände aufgezeichnet  wird. 

Eine  Probe  einer  solchen  in  der  Station  Shide  auf  der  Insel  Wight 
aufgenommenen  Kurve  wird  in  der  nebenstehenden  Figur  116  gegeben. 
Man  bemerkt  auf  dieser  eine  Stelle,  bei  welcher  die  erste  Störung  ankam, 
in  diesem  Falle  31.  Aug.  1898  um  20'*  5"*  2^.    Diesem  entspricht   eine 


20.  36.  25. 
20.  31.  21.   I   20.  42.   29. 


20.  3.  2 


Fig.  116.   In  Shide  aufgenommenes  Seismogramm  vom  31.  Aug.  1898. 


sehr  schwache  Verdickung  der  Linie,  welche  auf  dem  photographischen 
Papier  gezeichnet  wird.  In  dem  Diagramm  ist  diese  Stelle  durch  einen 
Pfeil  angedeutet.  Etwas  später  (5—6  Minuten)  kamen  andere  Störungen, 
die,  anfangs  schwach,  auf  ein  starkes  Maximum  um  20^  36"*  25^  an- 
wuchsen. Dieses  Maximum  entsprach  Schwingungen  von  9  mm  Am- 
plitude, einer  Neigung  von  5,4"  entsprechend.  Danach  kamen  mehrere 
starke  Stösse  und  später  schwächere,  die  allmählich  an  Stärke  ab- 
nahmen. 

Die  ersten  Anzeichen  dieser  Erderschütterung  kamen  an  folgenden 
Orten  an  und  erreichten  ihre  Maxima  zu  den  folgenden  Zeiten: 


Ankunftszeit 

Maximum 

Shide  England     .    .     . 

20^     5« 

i    2« 

20^  36"*  25-^ 

Kew       „         .... 

20      4 

0 

20    35      0 

Nikolaiew,  Eussland     . 

20    39 

0 

20    42      0 

Rocca  di  Papa,  Italien 

20      3 

40 

20   31      0 

Ischia                    „ 

20     3 

45 

20    30      0 

Catania                „ 

20     4 

3 

20    12    33 

Toronto,  Canada .     .     . 

20    17 

53 

21      3    20 

Batavia,  Java  .... 

20      1 

18 

Madras,  Indien    .     .     . 

20      2 

5 

20    18      0 

330  Physik  der  Erde. 

Aus  diesen  Daten  kann  man  konstruieren,  dass  die  Erschtitterungs- 
stelle  im  südlichen  Teil  des  indischen  Oceans  lag,  östlich  von  Mada- 
gascar. 

An  den  Kurven  sieht  man  kleine  Vibrationen  von  12  Sek.  Dauer 
im  ersten  Teil,  von  15,4  Sek.  im  Hauptteile  des  Diagrammes. 

Wie  aus  der  Diskussion  von  Milne  ersichtlich,  treffen  die  Erdbeben 
die  ganze  Erde.  Nur  in  der  unmittelbaren  Umgebung,  in  einer  Ent- 
fernung von  50—150  km,  erschüttert  ein  massiges  Erdbeben  die  Schorn- 
steine oder  wirft  die  Dachziegel  ab.  Es  wird  erst  als  vorlaufende  Schwin- 
gung vernommen,  wonach  ein  oder  mehrere  Stösse  kommen,  denen  eine 
Keihe  von  absterbenden  Schwingungen  folgt.  In  grösseren  Entfernungen, 
bis  500  km,  werden  die  Stösse  weniger  scharf  und  ähneln  mehr  un- 
regelmässigen Wellen  von  langer  Periode.  Aufgehängte  Gemälde  ge- 
raten daselbst  in  Schwingungen,  ebenso  andere  freihängende  Gegen- 
stände. Weiter  hinaus  sind  die  gewöhnlichen  Erdbeben  für  das  Gefühl 
nicht  merkbar,  sie  machen  sich  aber  bei  den  feineren  Seismographen 
wahrnehmbar. 

Die  vorlaufenden  Schwingungen  pflanzen  sich,  nach  an  verschiedenen 
Orten  aufgenommenen  Seismogrammen,  mit  einer  Geschwindigkeit  von 
etwa  2,5  km  pr.  Sek.  in  der  Nähe  des  Epicentrums  fort.  Nach  den 
Aufzeichnungen  von  Seismographen  mit  grosser  Eeibung  ist  die  Periode 
dieser  Schwingungen  etwa  0,05  bis  0,2  Sek.  Die  Zeit,  welche  zwischen 
diesen  vorlaufenden  Schwingungen  und  den  starken  Wellen  verstreicht, 
ist  um  so  bedeutender,  je  weiter  die  Beobachtungsstation  von  dem  Epi- 
centrum  abgelegen  ist.  So  beträgt  diese  Zeit  für  ein  Erdbeben  aus 
Haiti:  in  Toronto  etwa  4  Minuten  (20*^  Entfernung),  in  Shide  20  Minuten 
(62 ö  Entfernung).  Für  Erdbeben,  die  aus  Japan  oder  Borneo  stammen, 
ist  die  betreffende  Zeit  in  Shide  32  Minuten,  bezw.  40—43  Minuten, 
während  die  Bogenentfernung  85^  bezw.  112^'  beträgt.  Dies  giebt  ein 
Mittel,  um  aus  einem  Seismogramm  die  Entfernung  des  Epicentrums 
annähernd  zu  ermitteln. 

Aus  den  Aufzeichnungen  an  verschiedenen  Beobachtungsorten  kann 
man  die  Geschwindigkeit  messen,  mit  welcher  diese  ersten  Wellen  sieh 
rund  um  die  Erde  fortpflanzen.  Wenn  die  Entfernung  vom  Epicentrum 
nicht  20*^  erreicht,  kann  man  mit  einer  mittleren  Geschwindigkeit  von 
2,5  km  pr.  Sek.  rechnen.  Bei  grösseren  Entfernungen  wächst  die  Ge- 
schwindigkeit ungefähr  wie  die  Kubikwurzel  aus  der  grössten  Tiefe  der 
Sohne,  welche  den  Beobachtungsort  mit  dorn  Epicentrum  vorbindet,  wie 
folgende  Tabelle  zeigt: 


IL  Die  feste  Erdkruste  und  das  Erdinnere.  33 1 


ernung 
Dgengr. 

Sehnenlänge 
in  km 

Grösste 
Tiefe  km 

y^n 

Geschw.  {v) 
km  pr.  Sek. 

■y^n 

20 

2208 

97 

4,60 

2,75 

0,598 

60 

6360 

853 

8,47 

5,7 

0,673 

80 

8175 

1487 

10,17 

7,5 

0,672 

110 

10419 

2712 

12,55 

9,3 

0,741 

140 

11952 

4197 

14,66 

9,9 

0,675 

180 

12720 

6360 

17,21 

11,1 

0,645 

Die  Amplitude  dieser  ersten  Schwingungen  ist  nach  den  Seismogrammen 
sehr  gering,  etwa  0,05  mm. 

Die  kräftigen  Stösse  kommen,  wie  gesagt,  um  so  später  nach  der 
ersten  Erschütterung,  je  grösser  die  Entfernung  vom  Epicentrum  ist. 
Man  hat  für  die  Geschwindigkeiten  dieser  Stösse  folgende  Zahlen  er- 
halten: 

Geschwindigkeit 


Entfernung 

längs  dem 
Bogen 

längs  der  Sehne 

nach 

in  Bogengraden 

Milne 

V.  Rebeur 

Cancani 

200 

2,1 

2,1 

1—2,5 

2,5 

60 

2,8 

2,7 

2,7 

80 

2,9 

2,7 

3—3,5 

— 

110 

3,3 

2,8 

3,1 

Diese  Ziffern  geben  zu  sehr  interessanten  Schlüssen  Anlass.  Die 
starken  Erschütterungen  besitzen  eine  Geschwindigkeit,  welche  nur  lang- 
sam mit  der  Entfernung  zunimmt.  Dies  zeigt,  dass  sie  durch  ziemlich 
gleichartiges  Material  fortgepflanzt  werden.  Ihre  bedeutende  Kraft  deutet 
an,  dass  sie  relativ  wenig  geschwächt  werden.  Es  ist  natürlich  anzunehmen, 
dass  sie  in  der  elastischen  festen  Erdkruste  vorsichgehen.  Die  Elastizität 
derselben  wird  mit  der  Tiefe  zunehmen,  da  alle  Körper  bei  hohen  Drucken 
eine  bedeutend  verminderte  Kompressibilität  besitzen.  Zwar  nimmt 
auch  die  Dichte  etwas  zu,  aber  nicht  in  so  beträchtlichem  Grade,  wie 
die  Kompressibilität  abnimmt.  Die  Folge  davon  wird  sein,  dass  die 
Fortpflanzungsgeschwindigkeit,  welche  der  Quadratwurzel  aus  dem  Pro- 
dukt der  Dichte  und  der  Kompressibilität  umgekehrt  proportional  ist, 
etwas  mit  der  Tiefe  zunehmen  muss.  Da  aber  die  feste  Erdkruste  nur 
bis  zu  einer  massigen  Tiefe  (etwa  30 — 50  km)  hinunterreicht,  so  wächst 
die  Geschwindigkeit  der  durch  sie  fortgepflanzten  Wellen  nur  bis  zu 
einem  bestimmten  Maximalwert  (etwa  3,4  km  pr.  Sek.)  von  einem  Mini- 
mum (von  etwas  unter  2  km  pr.  Sek.)   in   der  Nähe   der  Erdoberfläche. 


332  Physik  der  Erde. 

Wenn  die  Entfernung  des  Beobachtungsortes  vom  Epicentrum  sehr  ge- 
ring ist  (unter  10^),  fallen  diese  starken  Wellen  mit  den  schwachen 
Vorläufern  zusammen,  d.  h.  letztere  verschwinden.  Diese  besitzen  auch 
eine  Geschwindigkeit  von  etwa  2  km  pr.  Sek.  bei  Entfernungen  unter  lO^. 
Diese  Umstände  zeigen,  dass  die  Elastizität  der  festen  Erdkruste 
in  ihren  tiefsten  Schichten  etwa  viermal  grösser,  d.  h.  ihre  Kompressi- 
bilität viermal  geringer,  als  an  der  Erdoberfläche  sein^würde.  Dies  ist  an 
und  für  sich  nicht  sonderbar.  Da  die  Kompressibilität  (c)  von  Kiesel- 
säure, welche  einer  der  wichtigsten  Mineralbestandteile  der  Erde  aus- 
macht, 2,7.10-<5  nach  Voigt  und  ihre  Dichte  ((>)  2,7  ist,  erhält  man  eine 
Fortpflanzungsgeschwindigkeit  {v)  in  derselben  gleich: 

1/1,0133.106  _  i/i;öl33lÖ^       oß.iA^        /    1 
v=y  --— —  =  y    '-j2^^—  =  ^M'^0^  cm/sek. 

Die  Zahl  im  Zähler  unter  dem  ersten  Wurzelzeichen  ist  der  Wert  einer 
Atniosphäre  in  Dynen  pr.  cm-,  denn  die  Kompressibilität  (c)  ist  pro  Atmo- 
sphäre gerechnet.  Ungefähr  ebenso  giwss  ist  die  Kompressibiltät  der  Gläser 
im  Mittel,  welche  die  grösste  Ähnlichkeit  mit  den  hauptsächlichen  Be- 
standteilen der  festen  Erdkruste  (Granite,  Gneise)  besitzen.  Die  Zahl 
3,(34  ist  um  14  Proz.  grösser,  als  die  grösste  für  Granit  gefundene  Zahl 
3,14.  Es  ist  demnach  natürlich,  die  Fortpflanzungsgeschwindigkeit  der 
festen  Erdkruste  etwa  so  hoch  zu  taxieren. 

Die  eben  berechnete  Fortpflanzungsgeschwindigkeit  stimmt  sehr  gut 
mit  der  maximalen  Fortpflanzungsgeschwindigkeit  der  Erdstösse  in  der 
festen  Erdkruste  überein.  Dass  die  Geschwindigkeit  in  der  Nähe  der 
Erdoberfläche  geringer  ist,  rührt  wohl  daher,  dass  dieselbe  viel  lockerer 
als  die  tieferen  Erdschichten  ist,  und  dass  Wasser,  in  welchem  die 
Fortpflanzungsgeschwindigkeit  nur  1,4  km  pr.  Sek.  beträgt,  darin  eine 
grosse  KoUe  spielt. 

Es  ist  wohl  teilweise  als  ein  Zufall  zu  betrachten,  dass  die  Fort- 
pflanzungsgeschwindigkeit in  tieferen  Erdschichten  so  nahe  mit  dem 
für  Quarz  bei  gewöhnlichem  Druck  und  Temperatur  übereinstimmt. 
Denn  mit  steigendem  Druck  nimmt  die  Kompressibilität  ab,  mit  stei- 
gender Temperatur  dagegen  zu,  und  es  ist  wohl  sehr  eigentümlich, 
wenn  diese  beiden  Änderungen  einander  so  gut  wie  gänzlich  kompen- 
sieren. 

Ganz  anders  wie  diese  relativ  wenig  gedämpften  Schwingungen 
der  festen  Erdkruste  verhalten  sich  die  schwachen  vorlaufenden  Schwing- 
ungen, welche  die  erste  Botschaft  von  dem  Erdbeben  mit  sich  bringen. 


IL  Die  feste  Erdkruste  und  das  Erdinnere.  333 

Sie  verlaufen  offenbar  nicht  längs  der  Erdoberlläehe  oder  in  einigen 
hundert  Kilometern  unter  derselben,  sondern  sie  dringen  allem  Anschein 
nach  tief  in  das  zähe  Erdinnere  hinein.  Ihre  Geschwindigkeit  nimmt  höchst 
bedeutend  mit  der  Tiefe  der  Verbindungslinie  zwischen  Epicentrum  und 
Beobachtungsort  zu,  und  zwar  sehr  nahe,  wie  die  dritte  Wurzel  aus -der 
grössten  Tiefe.  Um  längs  einem  Halbmesser  der  Erde  zu  passieren, 
brauchen  sie  1145  Sekunden  oder  etwa  19  Minuten.  Da  die  feste  Erd- 
kruste etwa  40  km  tief  auf  jeder  Seite  der  Erde  hinunterreicht,  zu  dessen 
Durcheilen  der  Stoss  etwa  23  Sek.  nötig  hat,  so  bleiben  für  die  übrigen 
11920  km  nur  etwa  1122  Sek.  übrig,  d.  h.  die  Fortpflanzungsgeschwin- 
digkeit im  Erdinnern  beträgt  etwa  10,6  km  pr.  Sek.  Da  nun  die  Dichte 
des  grössten  Teiles  dieser  Strecke  ungefähr  2,5  mal  grösser  ist  wie  die 
Dichte  der  festen  Erdkruste,  so  muss  die  mittlere  Kompressibilität  des 
inneren  Erdkerns  ungefähr  21  mal  geringer  sein,  als  diejenige  des  Quarzes, 
und  ungefähr  fünfmal  geringer  als  diejenige  von  festem  Stahl  nach 
Amagats  Messungen. 

Trotz  der  hohen  Temperatur  muss  der  unerhörte  Druck  diese  grosse 
Abnahme  der  Kompressibilität  bewirken.  Die  gasförmigen  Bestandteile 
des  Erdinnern  weichen  also  in  dieser  Beziehung  ganz  enorm  von  den 
uns  bekannten  Gasen  ab.  Wenn  man  aber  aus  den  uns  bekannten 
Thatsachen  über  die  Kompressibilität  der  Gase  bei  sehr  hohen  Drucken 
-ich  eine  Vorstellung  über  die  Kompressibilität  von  Gasen  unter  Drucken, 
welche  dem  Erdinnern  entsprechen,  zu  bilden  versucht,  stösst  man  nicht 
auf  Widersprüche.  Mit  stetig  zunehmendem  Druck  nähert  sich  nämlich 
das  Volumen  der  Gase  asymptotisch  emem  bestimmten  von  der  Tem- 
peratur abhängigen  Wert,  dem  sogenannten  Covolumen.  Mit  anderen 
Worten,  die  Kompressibilität  nähert  sich  mit  steigendem  Drucke  dem 
Werte  Null. 

Da  nun  die  Fortpflanzungsgeschwindigkeit  nicht  in  allen  Tiefen 
gleich  ist,  so  folgt  daraus,  dass  der  erste  Stoss  nicht  den  geradlinigen 
Weg  vom  Epicentrum  (E)  zum  Beobachtungsorte  (B)  gegangen  ist. 
Vielmehr  ist  der  Weg  dieser  Welle  ein  solcher,  dass  der  Stoss  längs 
demselben  in  der  kürzesten  Zeit  nach  dem  Beobachtungsorte  anlangt. 
Die  entsprechende  Kurve  ist  eine  Brachystochrone.)  Demzufolge  ist  der 
Weg  vom  Epicentrum  E  nach  innen  gebogen,  etwa  wie  die  Kurven  in 
Fig.  117.  Wenn  auch  die  Verbindungslinie  zwischen  E  und  dem  Beob- 
achtun^spunkt  B  nur  durch  die  feste  Erdkruste  verläuft,  so  wird  doch 
meistenteils  ein  sehr  grosser  Teil  des  Weltenweges  im  flüssigen  Magma 
liegen.    Besonders  ist  dies  in  seismischen  Gegenden  der  Fall,   wo   das 


334 


Physik  der  Erde. 


Magma  relativ  nahe  an  die  Erdoberfläche  kommt.  Dieser  Umstand  er- 
klärt, dass,  nur  wenn  EB  sehr  kurz  ist  (unter  100  km),  der  erste  Stoss 
von  dem  Hauptstoss  nicht  zu  unterscheiden  ist. 

Zufolge  der  starken  Zunahme  der  Fortpflanzungsgeschwindigkeit 
mit  der  Tiefe  verläuft  die  Fortpflanzungskurve  EB  in  E  und  B  nahezu 
senkrecht  zur  Erdoberfläche,  wenn  die  Entfernung  EB  nicht  allzu  ge- 
ring ist. 

Ebenso  grosses  Interesse  wie  die  Betrachtung  der  Fortpflanzungs- 
geschwindigkeit im  Erdinnern  bietet  die  Thatsache,  dass  auch  bei  den 
allerheftigsten  Erdbeben  der  erste  Stoss  unerhört  schwach  ist,  sobald 
die  Welle  einen  merkbaren  Teil  des  flüssigen  und  gasförmigen  Erd- 
innern durchlaufen  hat.  Dieser  Umstand  zeigt,  dass  die  Stosswelle 
im  Erdinnern  durch  die  Zähflüssigkeit  ganz  enorm  gedämpft  wird.  Wäre 

nun  das  Erdinnere  ein  starrer  Körper,  wie 
Einige  meinen,  so  müsste  der  erste  Stoss 
kräftiger  sein  als  der  Anteil  des  Stosses, 
welcher  sich  durch  den  unbedeutenden  Teil 
der  festen  Erdkruste  mit  einer  maximalen  Ge- 
schwindigkeit von  3,5  km  pr.  Sek.  sich  fort- 
pflanzt. Da  nun  gerade  das  Umgekehrte  in 
höchst  ausgeprägtem  Maasse  stattfindet,  so 
müssen  wir  schliessen,  dass  das  Erdinnere  eine 
ungeheuere  Zähflüssigkeit  besitzt.  Dies  trifft 
nun  nicht  nur  für  das  flüssige  Magma,  sondern 
auch  für  sehr  heisse  komprimierte  Gase  zu.  Die  Schlüsse,  welche  wir 
aus  dem  Verhalten  der  Erdstösse  in  Bezug  auf  das  Erdinnere  ziehen, 
stehen  also  im  allerbesten  Einklang  mit  dem,  was  oben  (S.  281)  aus 
der  Zunahme  der  Temperatur  mit  der  Tiefe  geschlossen  wurde. 

Die  Beobachtungen  ergeben  demnach  drei  verschiedene  Wellenzüge, 
die  von  dem  Erschütterungsgebiet  nach  dem  Beobachtungsorte  hin  sich 
verbreiten.  Am  schnellsten  geht  der  Wellenzug  durch  das  Erdinnere, 
indem  die  Fortpflanzungsgeschwindigkeit  da  im  Maximum  10.6  km  pr. 
Sek.  beträgt.  Das  Maximum  trifft  ein,  wenn  die  Punkte  E  und  B  auf 
demselben  Erddurchmesser  liegen.  Wegen  der  grösseren  Kompressibilität 
des  Erdinnern  in  der  Nähe  der  Erdoberfläche  wird  die  Geschwindigkeit 
um  so  geringer,  je  kürzer  EB  ist  und  sinkt  bis  auf  ein  Minimum  von 
2,75  km  pr.  Sek.,  wenn  die  Entfernung  EB  sehr  gering  wird  (unter  , 
20  Gradbogen). 

Diese  Wellenbewegung  wird   zufolge   der  grossen   inneren  Reibung 


Fig.  117. 


IL  Die  feste  Erdkruste  und  das  Erdinnere.  335 

im  Erdinnern  stark  gedämpft  und  giebt  deshalb  mir  zu  einem  kaum 
merklichen  Stosse  Anlass. 

Der  kräftige  Stoss  pflanzt  sich  durch  die  feste  Erdkruste  fort.  Die 
Geschwindigkeit  dieses  Wellenzuges  beträgt  2 — 3,5  km  pr.  Sek.  je  nach 
der  Entfernung. 

Schliesslich  kommt  die  transversale  Meereswelle  (das  Seebeben), 
welche  wie  gewöhnliche  Wellen  durch  die  Schwerenwirkung  fortgepflanzt 
wird.  Wenn  man  die  mittlere  Tiefe  des  Oceans  gleich  3500  m  annimmt, 
so  wird  die  Fortpflanzungsgeschwindigkeit  dieser  Wellenbewegung  0,185  km 
pr.  Sek.  Sie  ist  übrigens  der  Quadratwurzel  aus  der  Tiefe  proportional 
(vgl.  oben  S.  3*21).  Etwa  doppelt  so  schnell  schreitet  die  Schallwelle 
in  der  Luft  fort. 

An  den  Erdbebenbeobachtungen  nehmen  jetzt  (1899)  folgende  Sta- 
tionen teil:  Shide,  Kew,  Toronto,  Victoria  (Brit.  Col.),  San  Fernando 
(Spanien),  Madras,  Bombay,  Calcutta,  Batavia,  Mauritius,  Capstadt,  Are- 
quipa  (Mexiko),  Philadelphia,  Tokio,  Cordoba  (Argentina),  Neuseeland, 
Kairo,  Paisley,  Mexico,  Beyrut,  Honolulu,  Trinidad,  Mkolaiew,  Potsdam, 
Triest,  Rocca  di  Papa,  Ischia,  Catania,  Bidston  und  Edinburg.  Erdbeben, 
welche  an  wenig'stens  zwei  nicht  all  zu  nahe  aneinander  gelegenen  Sta- 
tionen bemerkt  werden,  treffen  etwa  einmal  jede  Woche  ein. 

Obgleich  die  grossen  Erderschütterungen  vom  Boden  des  Oceans 
nicht  notwendigerweise  direkt  mit  den  vulkanischen  Erscheinungen  ver- 
bunden sind,  so  liegen  doch  die  steilen  Abfälle  im  Ocean  in  der  un- 
mittelbaren Nähe  von  stark  vulkanischen  Gebieten.  Dies  ist  z.  B.  der 
Fall  mit  folgenden  wichtigsten  Erdbebendistrikten,  neben  welchen  die 
Neigung  des  Meeresbodens  verzeichnet  ist: 

Westküste  von  Südamerika,  bei  Aconcagua  Neigung  1 :  20,2 

Die  Kurilen  bei  der  Insel  Urup     ....  „         1:22,1 

Japan,  Westküste  der  Insel  Nippon  ...  „         1 :  30,4 

Sandwich-Inseln  nach  Norden „         1:23,5 

Die  grössten  Neigungen  des  Meeresbodens  in  nicht  seismischen  Gebieten 
beträgt:  an  der  Südküste  von  Norwegen  etwa  1:73  und  an  der  Küste 
von  Australien  1:91.  Die  starke  Neigung  des  Meeresbodens  in  seisnji- 
schen  Gebieten  giebt  ein  Maass  der  Verbiegung  des  Meeresbodens.  Es 
ist  natürlich  anzunehmen,  dass  die  Zahl  und  Grösse  der  kleinen  Risse 
im  Meeresboden,  durch  welche  das  Wasser  zum  Magma  hineinsickert, 
mit  dieser  Verbiegung  zunimmt.  Übrigens  wird  das  flüssige  Erdinnere 
an  solchen  einspringenden  Ecken  die   feste  Erdkruste  auflösen  und  nur 


336 


Physik  der  Erde. 


eine  dünne  Kinde  zurücklassen.  In  der  Nähe  dieser  grossen  Buden- 
neigungen des  Meeres  liegen  deshalb  die  wirksamsten  Vulkandistrikte 
der  Erde. 

Die  Entstehungsweise  der  Erdkruste.  Sobald  die  Temperatur 
genügend  tief  gesunken  war,  erstarrte  die  Erdoberfläche  als  eine  Kruste 
von  Silikaten.  Später,  nachdem  die  Temperatur  unter  die  kritische  Tem- 
peratur des  Wassers  —  etwa  365^  —  gesunken  war,  entstand  der  Ocean, 
welcher  stark  dazu  beitrug,  das  Aussehen  des  Meeresbodens  umzu- 
gestalten. Nachdem  nun  eine  feste  Erdkruste  vorhanden  ist,  deren 
Temperatur  nur  massigen  Schwankungen  ausgesetzt  war,  wie  in  der 
jetzigen  Zeit,  konnte  nur  das  Erdinnere  zufolge  der  langsamen  Wärme- 


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MJÄ^it^K;IS?l>?? 


N>c;v:-.' 


Fig.  118.     Schematisches  Bild  der  „Kalkkeile"  (a)  im  Gneise,  (h)  vom  Berner  Ober- 
land;  nach  Baltzer. 


abgäbe  vermittelst  Wärmeleitung  in  der  Kruste  sich  abkühlen  und  damit 
sich  zusammenziehen.  Die  Erdkruste  musste  dann  zusammenschrumpfen, 
ungefähr  wie  die  Haut  eines  eintrocknenden  Apfels.  Dadurch  entstanden 
gewaltige  Überschiebungen,  welche  in  mehreren  Gegenden  konstatiert 
sind,  und  grosse  Falten,  welche  in  den  Gebirgsgegenden  so  auffällig 
sind.  P Je  nach  der  Plasticität  der  verschiedenen  Erdlager,  welche  wohl 
zum  grössten  Teil  von  ihrem  Wassergehalt  abhing,  und  der  Grösse  und 
Eichtung  des  Druckes  konnten  die  verwickeltsten  Yerbiegungen  entstehen 
(vgl.  Figg.  118  und  119).  Die  eben  gebliebenen  Stellen  sanken  teil- 
weise nach  und  wurden  vom  Weltmeer  bedeckt.  Auf  diese  Weise  ent- 
stand in  der  Hauptsache  die  Verteilung  zwischen  Land  und  Meer.  Viele 
Forscher  sind  der  Ansicht,  dass  die  tiefsten  Stellen  des  Meeres  seit  der 
Silurzeit  vom  Meere  bedeckt  geblieben  sind. 

Durch   ein   genaues    Studium    der   Verbiegungen    kann    man   eine 


II.  Die  feste  Erdl<ruste  und  das  Erdinnere. 


337 


Schätzung  ausführen,  eine  wie  grosse  Oberiläche  ursprünglich  von  den 
gebogenen  Schichten  bedeckt  war  und  diese  mit  dem  jetzigen  Horizontal- 
querschnitt derselben  Schichten  vergleichen.  Solche  Schätzungen  der 
Zusammenziehung  sind  von  Heim  und  anderen  ausgeführt  worden.  Sie 
leiden  jedenfalls  an  einer  bedeutenden  Unsicherheit.     Zur  Orientierung 


^J>V^ 


Fig.  119.  Überschiebung  im  Appalachen- Gebirge.  1.  Coosa-Schiefer.  2.  Rome- 
Sandstein  und  Quarzit.  3.  Connasauga- Schiefer.  4.  Knox-Dolomit.  5.  Chickar 
mauga-Kalkstein  und  Rockmart- Schiefer.  G.  Rockwood-Bildung.  7.  Fort-Payne- 
Hornstein.  8.  Floyd- Schiefer.  1—3  gehören  der  kambrischen,  4 — 6  der  siiurischen 
und  7—8  der  untersten  Kohlenformation  an  (nach  C.  W.  Hayes).  Die  Verschiebung 
wird  dadurch  gekennzeichnet,  dass  mit  niederen  Ziffern  bezeichnete  ältere  Schichten 
stellenweise  über  mit  höheren  Ziffern  bezeichneten  jüngeren  Schichten  liegen. 


gebe  ich  nach  Penck  einige  solche  Ziffern  an,  in  welchen  a  die  ursprüng- 
liche Breite  der  gefalteten  Fläche,  h  die  jetzige  Breite  derselben  (die 
Länge  ist  unverändert  geblieben)  und  a\b  die  Zusammenziehung  bedeuten. 

a  h  ajb 

Schweizer  Jura  bei  Genf                    (nach  Heim)     22  17  1,29 

„       „     Bicl                         „          „          29  24  1,21 

Kettenjura                                                „          „          12  7  1,71 

Schweizer  Nord-  und  Central-Alpen      „          „         158  82     1,93 

Ostalpen                                      (nach  Rothpletz)     253  222  1,14 

Appalachen,  Teil  1                      (nach  Claypole)     161  105  1,53 

Teil  2                           „             „               97  79  1,22 
Californisches  Küstengebirge      (nach  Leconte)    24—29  10  2,4 — 2,9. 

Rudzki  nimmt  an,  dass  die  mittlere  Zusammenziehung  nur  1,14  be- 
trägt. Die  Grösse  der  von  Faltung  betroffenen  Oberfläche  schätzt  er 
folgendermaassen: 

In  Europa 4,64.10*^  km^ 

„    Asien 24,88   „      „ 

„    Nordamerika 14,16  „      „ 

Arrhenius,  Kosmische  Physik.  •  22 


338  Physik  der  firde. 

In  Südamerika 3,15.10^  km- 

„    Afrika 0,72   „ 

„    Australien 1,05   ,, 

Auf  Inseln  des  Stillen  Ocean     .     .     .      3,53   „       ,, 

Unter  dem  Meer  an  der  Küste  .    .     .  13,25   „       „ 

Summa:  65,38.10^'  km2. 

Da  die  ganze  Erdoberfläche  509,9.10^  km^  beträgt,  so  macht  der 
'gefaltete  Teil  davon  12,8  Proz.  aus.  Die  totale  Zusammenziehung  der 
Erdkruste  würde  0,14  davon  ausmachen,  d.  h.  9,1  Millionen  km"^  oder 
1,8  Proz.  der  jetzigen  Erdoberfläche.  Davon  gehen  die  Durchschnitte 
der  durch  vulkanische  Ausgüsse  gebildeten  Gänge  ab,  welche  zu  1  Mil- 
lion km'-^  geschätzt  werden.  Danach  wäre  die  wirkliche  Zusarnmen- 
ziehung  der  Erde  8,1  Millionen  km^  oder  1,6  Proz.  der  jetzigen  Erd- 
oberfläche. Daraus  folgt,  dass  der  Erdradius  um  0,8  Proz.  oder  um 
51  km  geschrumpft  ist. 

Bei  solchen  Schätzungen  muss  man  natürlicherweise  die  durch  Ver- 
witterung und  Abtragung  entfernten  Teile  der  Gebirgsketten  rekonstru- 
ieren. Auf  ähnliche  Weise  hat  Heim  geschätzt,  dass  die  ganze  Zusam- 
menziehung des  Erdballes,  seitdem  die  jetzt  vorhandenen  Gebirgsketten 
sich  zu  bilden  anfingen,  nicht  ganz  1  Proz.  des  jetzigen  Erddurchmessers 
beträgt  Der  Erdhalbmesser  sollte  sich  demnach  nicht  um  völlig  64  km 
verkürzt  haben.  Eine  viel  niedrigere  und  wahrscheinlich  zu  geringe 
Ziffer  ist  die  oben  angeführte  von  Nathorst,  welcher  annimmt,  dass 
seit  der  Silurzeit  der  Erdhalbmesser  nur  um  etwa  5  km  geschrumpft  sei. 

Diese  Schrumpfung  geht,  wie  oben  gezeigt  wurde  (vgl.  S.  282),  ganz 
ausserordentlich  langsam  vor  sich,  denn  sie  beruht  auf  der  Abkühlung 
der  Erdmasse,  welche  ausserordentlich  zähflüssig  ist,  sodass  die  Wärme- 
abfuhr auf  die  langsam  wirkende  Leitung  der  Wärme  beschränkt  ist. 
Die  relativ  zu  den  Dimensionen  des  Erdinnern  sehr  dünne  Erdkruste 
kann,  wie  Ekholm  gezeigt  hat,  während  dieses  langsamen  Prozesses  zu- 
folge veränderter  Ausstrahlung  relativ  kurzperiodische  Schwankungen, 
deren  Längen  jedoch  nach  Millionen  oder  wenigstens  Hunderttausenden 
von  Jahren  zu  rechnen  sind,  durchmachen.  Wenn  also,  z.  B.  während 
einer  langen  p]iszeit,  die  ganze  Erdkruste  abgekühlt  wird,  so  ist  es  sehr 
wohl  möglich,  ja  sogar  wahrscheinlich,  dass  diese  Abkühlung  so  schnell 
vor  sich  geht,  dass  das  Erdinnere  nicht  mitfolgen  kann.  Es  ist  haupt- 
sächlich die  unter  dem  Festland  befindliche  Erdkruste,  welche  von  dieser 
Abkühlung  betroff"en  wird.     Es  werden  dann  Risse  an  den  schwächsten 


IL  Die  feste  Erdkruste  und  das  Erdinnere.  33g 

Stellen  der  Erdkruste  entstehen  und  dadurch  das  Hinaufdringen  des 
flüssigen  Magmas  begünstigt  werden.  Mit  anderen  Worten:  der  Vulka- 
nismus wird  danach  steigen.  Dadurch  kommen  ganz  andere  gebirgs- 
bildende  Kräfte  ins  Spiel.  Die  Vulkane  schütten  grosse  Mengen  von 
festen  Stoffen  aus  und  dadurch  heben  sich  allmählich  diejenigen  Erd- 
teile, wo  der  Vulkanismus  seinen  Hauptsitz  hat.  So  wird  wahrschein- 
licherweise im  Laufe  der  Zeit  Kamtschatka  durch  die.  Kurilen  mit  Japan 
verbunden  werden,  die  amerikanische  Küste  am  Stillen  Ocean  höher 
hinaufsteigen.  Vielleicht  wird  auch  die  vulkanische  Wirksamkeit  lange 
genug  dauern,  um  die  Umgebungen  des  Längsrisses  im  Atlantischen 
Ocean  zu  Tage  zu  befördern.  Es  ist  gar  nicht  unwahrscheinlich,  dass 
gerade  in  der  Gegenwart  die  Kälte  der  letzten  Eiszeit  noch  in  die  tieferen 
Lagen  der  Erdkruste  hineindringt  und  so  eine  langsame  Zunahme  des 
Vulkanismus  zu  stände  bringt. 

Wir  besitzen  demnach  zwei  verschiedene  gebirgs-  und  festlandsbil- 
dende Agentien,  welche  wechselweise  in  Wirkung  treten,  die  relative 
Schrumpfung  des  Erdinnern,  welche  als  der  Hauptprozess  anzusehen  ist, 
und  der  auf  lange  dauernde  Abkühlungen  der  Erdkruste  folgende  ge- 
steigerte Vulkanismus.  Durch  den  erstgenannten  Prozess  entstehen  die 
grossen  Gebirgsfalten ,  welche  für  die  meisten  Gebirgsketten,  wie  den 
Himalaja,  die  Alpen  etc.,  charakteristisch  sind.  Durch  den  zweiten  Pro- 
zess heben  sich  Teile  am  Meeresboden,  wo  Spalten  vorkommen,  nebst 
ihren  Umgebungen.  Neben  diesen  beiden  Prozessen  scheinen  die  an- 
deren von  sekundärer  Bedeutung  zu  sein.  So  z.  B.  hebt  sich  nach  der 
Meinung  vieler  Forscher  die  skandinavische  Halbinsel  durch  langsame 
elastische  Nachwirkung  aus  der  niedergepressten  Lage,  in  welche  sie 
durch  die  Belastung  der  Eismassen  der  Eiszeit  gezwungen  wurde.  Diese 
Hebung,  seit  der  letzten  postglacialen  Meeresbedeckung,  erreicht  im  in- 
nern  Nordschweden  etwa  180  m  (nach  De  Geer).  In  ähnlicher  Weise 
hat  sich  das  östliche  Nordamerika  nach  der  Vereisung  aufgewölbt.  Eine 
gleichartige  Hebung  ist  in  Utah  erfolgt  (um  etwa  150  m  nach  Gilbert). 
Auch  am  Nordrande  der  Schweizer  Alpen  sind  die  quartären  Schichten 
gehoben  (Heim).  Überhaupt  zeigen  die  Kontinente  an  vielen  Stellen 
Massendefekte  unter  ihnen.  Die  Erde  strebt  aber  einem  Gleich- 
gewichtszustande zu,  in  welchem  diese  Massendefekte  ausgeglichen 
sind.  Folglich  wirken  Kräfte  zu  dem  Endziel,  die  betreffenden  Stellen 
in  die  Höhe  zu  schieben.  Die  Plastizität  des  Erdinnern  wird  einen  lang- 
samen Nachschub  erlauben,  ob  derselbe  aber  nennenswert  ist,  rauss  künf- 
tigen Untersuchungen  vorbehalten  bleiben. 

•       00* 


340  Physik  der  Erde. 

Diese  Ansicht  ist  von  Dutton  zu  einer  sogenannten  isostatischen 
Theorie  entwickelt.  Die  nivellierenden  Kräfte  streben  die  Gebirgshöhen 
abzutragen  und  in  Form  von  Sediment  in  der  Nähe  der  Küsten  abzu- 
lagern. Wenn  also  einmal  Gleichgewicht  (Isostasie)  in  der  Schweren- 
wirliung  stattgefunden  hätte,  so  würde  es  gleich  wieder  gestört  werden, 
so  lange  Nivellierungen  noch  auf  der  Erdkruste  vorkommen.  Die  Iso- 
stasie strebt  sich  wieder  durch  Senkung  der  Küste  und  Hebung  des 
Festlandes  herzustellen.  Die  Erdkruste  besitzt  bei  der  Senkung  der 
Küstenstrecke  den  geringsten  Widerstand  landeinwärts,  wo  die  hebenden 
Kräfte  wirksam  sind;  die  sinkende  Küstenmasse  wird  gleichsam  unter 
das  Festland  hineingeschoben.  Ein  gewisser  äusserst  langsamer  Kreis- 
lauf des  Materials  der  Gebirgsketten  würde  daraus  resultieren.  Nach 
Duttons  Meinung  soll  das  Hineindringen  der  Küstenablagerungen  unter 
den  Festland  so  mächtig  sein,  dass  es  vermag,  der  Erdkruste  langge- 
streckte und  tiefe  Faltungen,  in  Form  von  Küstengebirgsketten,  zu  erteilen. 

Wie  Ekholm  gezeigt  hat,  ist  die  Natur  bestrebt,  eine  Art  Oscilla- 
tion  zwischen  den  beiden  Prozessen  der  Schrumpfung  der  Erdkruste 
und  des  Vulkanismus  zu  erhalten.  Die  vulkanischen  Ausbrüche  fördern 
nämlich  nicht  nur  feste,  sondern  auch  gasförmige  Bestandteile  zur  Atmo- 
sphäre hinauf.  Unter  diesen  Gasen  ist  die  Kohlensäure  von  besonders 
grosser  Bedeutung,  indem  sie  die  Wärmedurchlässigkeit  der  Atmosphäre 
vermindert  und  dadurch  eine  Steigerung  der  Erdoberflächentemperatur 
verursacht.  Nach  genügend  langer  Zeit  dringt  die  Temperaturerhöhung 
von  der  Erdoberfläche  in  die  Erdkruste  hinein  und  veranlasst  einen  tan- 
gentialen Druck  in  derselben.  Dadurch  entstehen  teils  Falten,  d.  h.  Ge- 
birgsketten, teils  werden  die  Spalten  zusammengedrückt  und  die  vulka- 
nische Thätigkeit  vermindert,  wobei  auch  die  zufolge  der  vulkanischen 
Thätigkeit  hinauf  beförderten  festen  Stoffe  mächtig  mitwirken.  Die  Kohlen- 
säureproduktion wird  stark  vermindert,  dagegen  trifft  dies  nicht  für 
den  Verbrauch  dieses  Gases  zufolge  der  Verwitterung  zu.  Es  wird 
die  Atmosphäre  wieder  durchlässiger  für  Wärme  und  eine  langsame  Ab- 
kühlung erst  der  Erdoberfläche,  dann  der  tiefer  liegenden  Teile  der 
Erdkruste,  fängt  an.  Wenn  diese  Abkühlung  weit  genug  fortgeschritten 
ist,  fängt  das  Spiel  wieder  an,  indem  neue  Spalten  in  der  Erdkruste 
entstehen,  und  dadurch  eine  neue  verstärkte  vulkanische  Thätigkeit  ver- 
ursacht wird.  Die  Periodicität  hängt  also  von  dem  ausserordentlich 
langsamen  Eindringen  der  Wärmewelle  von  der  Oberfläche  in  die  tieferen 
Schichten  der  Erdkruste  ab.  Je  dicker  die  Erdkruste  wird,  desto  länger 
werden  die  betreffenden  Perioden  ausfallen,   und   zwar  wird   nach  dem 


II.  Die  feste  Erdkruste  und  das  Erdinnere.  341 

Gesetze  der  Wärmeleitung  die  Periodenlänge   dem  Quadrate  der  Dicke 
der  festen  Erdkruste  proportional  zunehmen. 

Diese  Veränderungen  gehen  immer  sehr  langsam  vor  sich.  Man 
erklärt  auf  diese  Weise  den  Umstand,  dass  Flussläufe  nicht  selten  Berg- 
rücken durchqueren.  Der  Bergrücken  hat  sich  auf  der  Stelle  gehohen, 
wo  ein  altes  Flusshett  lief.  Die  Hebung  geschah  aber  so  langsam,  dass 
das  fliessende  Wasser  sein  Bett  ebenso  schnell  aushöhlen  konnte.  Ebenso 
wirkten  die  bergabtragenden  Kräfte  an  anderen  Teilen  des  sich  heben- 
den Berges,  sodass  kein  Teil  desselben  die  Höhe  besitzt,  welche  er  ge- 
habt hätte,  falls  solche  Kräfte  nicht  wirksam  gewesen  wären.  Infolgedessen 
gehören  die  Bergkämme,  welche  in  relativ  späten  geologischen  Zeiten 
sich  gehoben  haben,  zu  den  höchsten  auf  der  Erde. 

Die  nivellierenden  Kräfte.  Wenn  die  Erde  flüssig  wäre,  so 
würde  sie,  wie  oben  gesagt,  die  Form  eines  Umdrehungsellipsoides  an- 
nehmen. Die  wirkenden  Kräfte  streben  auch  der  festen  Erdkruste  diese 
Form  zu  erteilen,  die  festen  Körper  geben  aber  nicht,  wie  flüssige  und 
gasförmige,  den  kleinsten  Kräften  nach.  Durch  die  Bewegung  flüssiger 
oder  gasförmiger  Körper  werden  aber  kleine  feste  Körper  von  ihrer 
Unterlage  gehoben  und  können  demnach  dem  nivellierenden  Bestreben 
der  Schwere  Folge  leisten.  So  führen  die  Bäche  und  Flüsse,  welche 
aus  dem  Kegenwasser  entstehen,  feste  Körper  zu  tiefer  liegenden  Stellen. 
Die  kleinsten  Partikelchen  werden  als  Schlamm  zum  Meere  mitgeschleppt, 
wo  sie  im  salzigen  Wasser  schnell  sich  absetzen.  Salzhaltiges  Wasser 
besitzt  nämlich  die  sonderbare  Eigenschaft,  dass  darin  schwebende  schwe- 
rere Teilchen  sich  zusammenballen  und  deshalb  viel  schneller  zu  Boden 
fallen,  als  in  reinem  Wasser.  Diese  Eigenschaft  nimmt  mit  dem  Salz- 
gehalt schnell  zu,  sodass  sie  im  stark  salzigen  Meereswasser  ausserordent- 
lich viel  mehr  ausgeprägt  ist,  als  im  salzarmen  Flusswasser.  Diese 
Eigentümlichkeit,  von  welcher  man  sich  leicht  durch  einen  Versuch  über- 
zeugen kann,  ist  für  die  Sedimentbildung  in  der  Natur  von  der  aller- 
grössten  Bedeutung. 

Durch  den  Kreislauf  des  Wassers  werden  folglich  die  leichteren 
Partikel,  wie  Sand,  Lehm  etc.  von  den  höheren  Punkten  der  Erde  zu 
den  niederen  und  besonders  zu  den  Meeresböden  in  der  Nähe  der  Küste 
hinuntergeschleppt.  Dabei  ist  die  Mitwirkung  der  festen  Mineralpar- 
tikelchen höchst  wichtig,  indem  sie  wie  eine  harte  Feile  gegen  die  Unter- 
lage wirken,  welche  dem  Wasser  allein  vollkommen  Widerstand  leisten 
würde.  Die  erodierende  Wirksamkeit  der  Flüsse  beruht  demnach 
hauptsächlich  auf  ihrem  Schlammgehalt.   In  ebenderselben  Weise  wirken 


342  Physik  der  Erde. 

die  Winde,  obgleich  in  unseren  Gegenden  viel  schwächer.  In  Wüsten- 
gegenden geben  sie  aber  der  Landschaft  das  charakteristische  Gepräge. 
Die  heftigen  Winde,  welche  Sandstaub  mitschleppen,  wirken  sogar  als 
Sandgebläse  und  können  die  härtesten  Gesteine  allmählich  abschleifen. 
Auch  das  feste  Wasser,  in  Form  von  Gletschereis,  schleppt  die  lockeren 
Bestandteile  aus  ihren  Betten  heraus  und  gräbt  tiefe  Killen  in  die 
unterliegenden  harten  Felsen  mit  Hilfe  von  an  ihrer  Unterseite  festge- 
frorenen Steinen  ein. 

Auf  diese  Weise  würde  es  allmählich  dahin  kommen,  dass  der  feste 
Erdboden  aus  reingewaschenem  Felsen  bestehen  würde,  und  damit  die 
Wirkung  der  Wasser-  und  Luftströmungen  unbedeutend  werden.  Dass 
das  nicht  so  geschieht,   verdanken  wir   der   allmählichen  Verwitterung. 

Bei  derselben  spielt  die  Kohlensäure  die  Hauptrolle.  Von  den  an- 
deren Gasen  der  Atmosphäre  hat  Sauerstoff  und  in  geringem  Maasse 
Ammoniak  eine  Bedeutung,  die  jedoch  keineswegs  mit  derjenigen  der 
Kohlensäure  zu  vergleichen  ist.  Die  Kalksteine  werden  vom  kohlen- 
säurehaltigen Wasser  unter  Bildung  von  Bicarbonat  gelöst  und  mit  zum 
Meere  oder  zu  den  Binnenseen  geschleppt,  wo  das  Bicarbonat  unter 
Freiwerden  von  Kohlensäure  das  Material  zum  Aufbau  der  Gehäuse 
der  Schalentiere  und  der  Korallen  liefert. 

Ebenso  löst  die  Kohlensäure  aus  den  Silikaten  die  Basen  heraus  und 
lässt  Kaolin  oder  Thon  zurück.  Die  gelöste  Kohlensäure  ist  nämlich 
viel  kräftiger  als  die  Kieselsäure,  und  die  Beständigkeit  der  Silikate 
hängt  nur  von  ihrer  ausserordentlichen  Schwerlöslichkeit  ab.  Durch  den 
Gehalt  des  Wassers  an  Kohlensäure  wird  gewissermaassen  die  Löslich- 
keit des  Silikates  bedeutend  vergrössert.  Das  lockere  Kaolin  wird  weg- 
gewaschen, und  zuletzt  bleibt  aus  manchen  Bergarten,  wie  aus  Granit, 
nur  Kieselsäure  als  Quarzsand  zurück.  Quarzsandsteine  mit  quarzigem 
Bindemittel  liefern  deshalb  die  unvergleichlich  wetterbeständigsten  Ma- 
terialien für  Bauten. 

Der  Sauerstoff,  welcher  sich  auch  im  fliessenden  Wasser  löst,  be- 
wirkt hauptsächlich,  dass  Eisenoxydulverbindungen,  z.  B.  in  Basalten,  oxy- 
diert werden,  wodurch  das  Gestein  gelockert  wird,  sowie  Schwefelverbin- 
dungen zu  Sulfaten  umgebildet  werden,  welche  zum  grossen  Teil  lös- 
lich   sind    und  somit  weggewaschen  werden  können. 

Die  Verwitterung  muss  stark  mit  dem  Kohlensäuregehalt  zuneh- 
men. Wenn  übrigens  die  Verhältnisse  (Niederschlagsmenge  und  Tem- 
peratur) gleicli  blieben,  so  würde  ohne  Zweifel,  nach  den  Gesetzen  für 
gewöhnliche  chemische  Umsetzungen,  die  Verwitterung  proportional  mit 


II.  Die  feste  Erdkruste  und  das  Erdinnere.  343 

dem  Kohlensäuregehalt  der  Luft  zunehmen.  Durch  die  Zunahme  des 
Kohlensäuregehaltes  der  Luft  steigt  aber  auch  die  Temperatur  und  da- 
mit der  Wasserdampfgehalt  der  Luft  und  folglich  die  Niederschlags- 
menge aus  dei  Atmosphäre.  Diese  beiden  Umstände  unterstützen  die 
fraglichen  Umsetzungen  in  hohem  Grade.  Die  Verwitterung  wächst 
demnach  schneller  als  dem  Kohlensäuregehalt  der  Luft  proportional,  so 
viel  man  jetzt  schätzen  kann,  ungefähr  proportional  dem  Quadrate  dieses 
Gehaltes. 

Ungefähr  in  derselben  Weise  verhält  sich  die  Vegetation,  welche 
durch  den  Kohlensäuregehalt  bedingt  ist.  Versuche  von  Godlewsky 
scheinen  anzudeuten,  dass,  wenn  Temperatur  und  Wasserdampfgehalt 
unverändert  bleiben,  das  Wachstum  (von  Typha  latifolia,  Kohrkolben)  dem 
Kohlensäuregehalt  der  Atmosphäre  proportional  zunimmt.  Die  Zunahme 
des  Wasserdampfgehaltes  und  der  Temperatur  der  Luft  erhöhen  diese 
Wirkung  vermutlich  ungefähr  wie  bei  der  Verwitterung. 

Es  würde  demnach  der  Umsatz  in  der  unorganischen  und  in  der 
organischen  Natur  etwa  im  Verhältnis  1 : 4  zunehmen,  wenn  der  Kohlen- 
säuregehalt der  Luft  auf  das  Doppelte  des  jetzigen  Wertes  anstiege. 
Es  giebt  keinen  anderen  Körper,  welcher  dieselbe  Bedeutung  für  den 
Haushalt  der  Natur  besässe. 

Übrigens  hat  auch  die  Vegetation  einen  nicht  unbedeutenden  Ein- 
fluss  auf  die  Verwitterung.  Die  härtesten  Granitfelsen  bekleiden  sich 
mit  einer  Decke  von  Flechten  und  später,  wenn  diese  den  Boden  aufge- 
lockert haben,  siedeln  sich  höhere  Pflanzen  an.  Alle  diese  Pflanzenarten 
treiben  ihre  Wurzeln  in  die  Risse  des  Steines  hinein.  Dadurch  entsteht 
teils  eine  mechanische  Wirkung,  indem  die  Wurzelfasern  beim  Zuwachs 
oder  beim  Anschwellen  nach  Regen  einen  Druck  auf  die  Teilchen  des 
Steines  ausüben,  teils  auch  eine  chemische  Wirkung,  intern  die  Wurzeln 
eine  saure  Lösung  absondern.  Diese  Lösung  zersetzt  teilweise  die  Al- 
kalisilikate im  Gestein,  deren  Salze  nachher  zur  Nahrung  der  Pflanzen 
dienen.  Die  verschiedenen  Pflanzen  tragen  auch  dazu  bei,  das  Wasser 
am  Felsen  zurückzuhalten,  welches  mit  Hilfe  der  absorbierten  Kohlen- 
säure der  Luft  die  Verwitterung  beschleunigt. 

Die  Pflanzen  geben  auch  nach  ihrem  Tode  zur  Bildung  von 
Humussäuren  Anlass,  welche  eine  der  Kohlensäure  ähnliche  zer- 
setzende Wirkung  auf  das  Gestein  ausüben.  Besonders  in  den  kälteren 
p]rdteilen  und  auf  den  Bergen  tritt  diese  Wirkung  der  Humussäure 
stark  hervor. 

Das  Wasser  wirkt  nicht  nur  chemisch  auf  das  Gestein  ein,  sondern 


344  Physik  der  .Erde. 

auch,  und  zwar  in  hohem  Grade,  mechanisch.  In  höheren  Breiten  oder 
auf  hohen  Bergen,  wo  die  Temperatur  häufig  unter  den  Gefrierpunkt 
des  Wassers  sinkt,  ist  diese  Wirkung  höchst  bedeutend.  Das  flüssige 
meteorische  Wasser  (am  Tage  im  Sonnenschein)  dringt  in  die  kleinen 
Risse  des  Felsens  hinein  und  friert  nachher  bei  Abnahme  der  Tempe- 
ratur unter  Null  (in  der  Nacht).  Wenn  dabei  die  nach  aussen  liegen- 
den Teile,  wie  natürlich,  zuerst  frieren,  und  nachher  die  unten  liegen- 
den, so  üben  diese  bekanntlich,  infolge  der  Ausdehnung  des  Wassers 
beim  Frieren,  eine  bedeutende  Sprengwirkung  aus.  Die  anfangs  unbe- 
deutenden Risse  nehmen  an  Grösse  immer  mehr  zu,  bis  ein  Felsenstück 
ausgesprengt  wird. 

Von  geringerer  Bedeutung  ist  die  Wärmewirkung,  welche  haupt- 
sächlich in  wärmeren  Gegenden  hervortritt.  Die  meisten  Gesteine  be- 
stehen aus  verchiedenen  Mineralien,  welche  einen  etwas  verschiedenen 
Ausdehnungskoefficienten  besitzen.  Bei  starken  Wärmeveränderungen 
kann  es  deshalb  geschehen,  dass  der  Zusammenhang  zwischen  den  Be- 
standteilen des  Gesteins  gelockert  wird.  Wenn  man  ein  Stockfeuer  auf 
einem  Granitfelsen  brennen  lässt,  so  lösen  sich  nachher  leicht  schalen- 
förmige Stücke  von  dem  Gestein  ab.  Dies  geschieht  noch  leichter,  wenn 
das  Gestein  eine  natürliche  der  Oberfläche  parallele  Schichtung  besitzt. 
Eine  ähnliche  schuppen-  oder  schalenförmige  Ablösung  der  äusseren 
Felspartien  ist  nach  heftiger  Sonnenwirkung  beobachtet  worden. 

Auch  senkrecht  zu  dieser  Richtung  entstehen  bisweilen  Sprünge  durch 
die  Wärmewirkung,  in  welchem  Fall  der  Felsen  in  Blöcke  zerlegt  wird. 
Bei  heftiger  Bestrahlung  lösen  sich  auch  kleine  Schuppen  mit  muschel- 
förmigem  Bruch  ab,  ganz  wie  bei  den  Meteoriten  bei  ihrer  Erhitzung 
durch  Reibung  gegen  die  Luft.  Dies  gilt  besonders  für  Steine  von  nicht 
zu  harter  Struktur,  wie  Kalksteine.  Die  mechanische  Verwitterung  strebt 
nicht  die  Steine  so  fein  zu  zerteilen,  wie  die  chemische.  Bekleidung 
mit  Vegetation  schützt  sehr  sowohl  gegen  mechanische  Verwitterung 
als  auch  gegen  Abschwemmung  der  Partikelchen  durcli  Wasser. 

Alle  diese  Umstände  bewirken,  dass  Steingetrümmer  sich  von  den 
Felsen  ablösen,  und  wenn  diese  genügend  steil  sind,  herunterfallen  und 
den  Fuss  des  Berges  mit  sogenannten  Schutthalden  umgeben. 

Wenn  nun  nicht  die  transportierende  Fähigkeit  des  Wassers  und 
der  Luft  sich  geltend  machte,  sondern  die  Felsen  nur  der  Verwitterung 
ausgesetzt  wären,  so  würden  sie  sich  allmählich  mit  einer  schützenden  ver- 
witterten Schicht  bedecken,  welche  weitere  Einwirkung  verhindern  würde. 
Es  ist  also  die  Vereinigung  von  Verwitterung   und  Denudation,   welche 


IT.  Die  feste  Erdkruste  und  das  Erdinnere.  345 

die  Nivelliening  zu  stände  bringt.  Den  Betrag  der  Abtragiing  in  einigen 
Fällen  ersieht  man  aus  folgender  Schätzung  Brückners,  welche  das 
Sinken  der  Erdoberfläche  in  Millimetern  pro  Jahr  infolge  der  Weg- 
<chwemmung  in  den  Stromgebieten  folgender  Flüsse  angiebt  (nach 
Penck): 

Rhein 0,041 

Elbe  (oberhalb  Tetschen) 0,012 

Seine  (oberhalb  Paris) 0,024 

Maas  (oberhalb  Lüttich) 0,050 

Donau  (oberhalb  Wien) 0,056 

Arve  (oberhalb  Genf) 0,210 

Reuss  (oberhalb  Flüelen) 0,180 

Rhone  (oberhalb  Villeneuve) 0,440 

Kander  (oberhalb  des  Thuner  Sees)     .    .  0,280 

Amu  Darja 0,120 

Indus 0,270 

Ganges 0,300 

Irawaddy 0,310 

Yangtsekiang 0,070 

Nil 0,013 

Mississippi .  0,045 

Die  reissenden  Bergflüsse  haben,  wie  leicht  ersichtlich,  die  kräftigste 
Wirkung.  Obgleich  diese  Mengen  unbedeutend  erscheinen,  so  üben  sie 
in  der  Länge  der  Zeit,  z.  B.  während  einer  geologischen  Epoche,  einen  be- 
deutenden Einfluss  aus.  So  z.  B.  würde  in  100000  Jahren  die  Abschwem- 
mung  in  den   verschiedenen  Fällen   zwischen   1,2   und  44  m  betragen. 

Im  allgemeinen  ist  die  Abtragung  grösser  in  warmen  als  in  kalten 
Gegenden,  was   mit  der  grösseren  Niederschlagsmenge  zusammenhängt. 

Zufolge  der  unter  der  Erde  vor  sich  gehenden  Ausspülung  treten 
bisweilen  Erdstürze  auf,  wobei  unter  Umständen  Häuser  einstürzen  und 
grosse  Verluste  verursacht  werden.  In  Kalkgebirgen  graben,  sich  die 
Flüsse  unterirdische  Läufe  und  bilden  Höhlen,  wie  dies  z.  B.  viele 
Grotten  im  Karst,  worunter  die  Adelsberger  Grotte  die  berühmteste 
ist,  zeigen.  Eine  solche  Landschaft,  die  nach  dem  am  besten  be- 
kannten Beispiele  Karstlandschaft  genannt  wird,  kommt  in  sehr  vielen 
Weltgegenden  vor,  wo  der  Berggrund  aus  Kalkstein  besteht.  Diese  Land- 
schaft ist  wirtschaftlich  sehr  schlecht  wegen  Wasserarmut,  indem  das 
Regenwasser  in  den  Kalkboden  schnell  nach  dem  Herunterfallen  versinkt. 


• 


346  Physik  der  Erde. 

Die  Verteilung  von  Land  und  Meer.  Die  Landoberfläche  nimmt 
nur  etwa  26,6  Proz.  von  der  bekannten  Erdoberfläche  auf.  Sie  ist  sehr 
verschieden  auf  die  nördliche  und  die  südliche  Halbkugel  verteilt,  indem 
der  Ocean  viel  stärker  auf  der  südlichen  Halbkugel  vertreten  ist,  als 
auf  der  nördlichen.  Dies  entspricht  dem  Verhalten  auf  dem  Planeten 
Mars.  Die  Verteilung  von  Wasser  und  Land  auf  verschiedenen  Breiten 
ist  aus  der  folgenden  Tabelle  von  v.  Tillo  ersichtlich: 

Breite  Land  o/^  Wasser  %                  Breite  Land  %  Wasser  o/o 

70— 80N  28,8  71,2                  0— 10  N  22,8  77,2 

60—70  71,4  28,6                  0—10  S  23,6  76,4 

50-60  56,9  43,1  10—20  22,1  77,9 

40—50  52,3  47,7  20—30  23,1  76,9 

30—40  42,8  57,2  30—40  11,4  88,6 

20—30  37,6  62,4  40—50  3,2  96,8 

10-20  26,3  73,7  50—60  0,8  99,2 

Die  Landoberfläche  ist  in  den  verschiedenen  Weltteilen  sehr  ver- 
schieden durch  Meeresbuchten,  Fjorde  u.  s.  w.  zergliedert.  Bildet  man 
den  Quotient  von  Küstenlänge  und  Landoberfläche  und  setzt  diesen  Quo- 
tienten, der  ein  Maass  der  Zergliederung  ist,  für  Europa  gleich  1,  so 
wird  er  für  die  verschiedenen  Weltteile: 

Europa 1 

Nordamerika 0,66 

Australien 0,55 

Südamerika 0,38 

Asien 0,35 

Afrika      0,22 

Diese  Ziffern  geben  gewissermaassen  einen  Anhalt  für  die  Kultur- 
fähigkeit der  Weltteile,  welche  in  hohem  Grade  von  der  Zugängiichkeit 
des  Oceans  abhängig  ist. 

Die  Höhe  des  Landes  ist  in  verschiedenen  Weltteilen  sehr  ver- 
schieden. Die  mittlere  Höhe  der  verschiedenen  Erdteile  ist  in  folgender 
Tabelle  angegeben: 

Balkanhalbinsel    ....  580  m  Frankreich 394  m 

Belgien 136  m  Grossbritannien  .     .     .     .  218  m 

Dänemark  (mit  Island)     .  352  m  Holland 49  m 

Deutsches  lieich  .    .     .     .  214  m  Iberische  Halbinsel     .     .  701  m 


II.  Die  feste  Erdkruste  und  das  Erdinnere. 


347 


Italien 517  m 

Österreich-Ungarn     .    .    .  518  m 

Rumänien    .     .     .     .     .     .  282  m 

Russland 167  m 

Schweiz 1300  m 

Skand.  Halbinsel  ....  428  m 


Europa 300  m 

Asien 950  m 

Nordamerika 700  m 

Südamerika 650  m 

Afrika 650  m 

Australien 300  m 


Die  mittlere  Landhöhe  beträgt  etwa  700  m,  welche  auf  eine  Ober- 
fläche von  135,7  Millionen  km^  einen  Raum  von  95.10*^'  km^  einnimmt. 
Die  entsprechenden  Ziffern  für  das  Meer  sind  mittlere  Tiefe  3500  m, 
Oberfläche  374.10^  km2,  Inhalt  1309.106  km^. 

Die  Kontinente  und  Weltmeere   nehmen  folgende  Oberflächen  ein: 


Europa .  .  . 
Asien  r  .  . 
Afrika  .  .  . 
Nordamerika  . 
Südamerika  , 
Australien  u.  Oceanien 
Polarg'ebiete  .     .    .     . 


9,81.106  km'^ 

44,34  „  „ 

ZV,  i  t  11  „ 

20,56  „  „ 

17,83  „  „ 

8,96  „  „ 

4,38  „  ,, 


Grosser  Ocean  1 75,6.10  ^  km^ 
Atlant.        „    .     88,6  „      „ 
Indischer    „    .     74,0   „      „ 
Südl.  Eismeer      20,5   „      „ 
Nördl.  Eismeer    15,3   „      „ 


Summe  Meer:  374,0.10- km« 


Festland:  135,65.102  km« 

Summe  Land  und  Meer:  509,65.10«  km^. 


III.  Das  Meer. 

Die  Ausmessung  der  Meerestiefen.  Wie  schon  bemerkt,  über- 
trifft die  mittlere  Tiefe  des  Meeres  etwa  fünfmal  die  mittlere  Höhe  des 
Festlandes.  Die  grösste  gelotete  Meerestiefe  zwischen  den  Ladronen 
und  den  Midway-Inseln  erreicht  9635  m,  übertrifft  also  nicht  unbedeu- 
tend die  grösste  Berghöhe,  Gaurisankar,  8840  m. 

Zum  Studium  der  Meerestiefe  werden  Lotapparate  benutzt.  Bei  ge- 
ringen Tiefen  genügt  es,  ein  gewöhnliches  Lot  oder  Senkblei  mit  Hilfe 
einer  Leine  zum  Meeresboden  hinunterfallen  zu  lassen.  Die  Geschwin- 
digkeit des  Lotes  nimmt  anfangs  zu  und  wird  bald  zufolge  der  Keibung 
des  Lotes  und  der  Leine  am  Wasser  und  an  der  Ablaufsvorrichtung 
konstant,  bis  es  mit  einem  Ruck  am  Meeresboden  stehen  bleibt.  An 
der  Leine  sind  Marken  (Knoten)  in  bestimmten  Entfernungen  angebracht, 
vermittels  welcher  man  die  Leinenlänge  und  damit  die  Tiefe  beim  Stoss 
des  Lotes  gegen  den  Boden  bestimmt.  Das  Lot  ist  an  dem  unteren 
Ende  ausgehöhlt  und  wird  mit  einem  zähen  Körper,  wie  Talg,  bestrichen, 
in  welchem  feste  Teile  vom  Boden  haften  bleiben,  wodurch  man  Proben 
von  der  Bodenbeschaffenheit  erhält. 

Wenn  man  grössere  Tiefen  ausloten  will,  so  muss  das  Lot  sehr 
schwer  genommen  werden,  damit  der  Ruck  empfunden  wird.  Dies  gilt 
besonders,  wenn  man  anstatt  einer  Hanf  leine,  welche  unter  dem  starken 
Druck  leidet,  einen  Stahl-  (oder  Bronze-)Draht  zur  Aufhängung  des 
Lotes  benutzt.  Je  grösser  die  Masse  des  Drahtes,  d.  h.  je  beträchtlicher 
die  Tiefe,  desto  bedeutender  muss  die  Masse  des  Senklotes  sein,  damit 
sein  Gewicht  sich  neben  demjenigen  des  Drahtes  bemerklich  macht  und 
also  einen  deutlichen  Ruck  beim  Stosse   gegen   den  Meeresboden   giebt. 

Die  Fallgeschwindigkeit  des  Lotes  ist  anfangs  sehr  bedeutend  (183  m 
==  100  Faden  in  40  Sek.),   nimmt   dann  infolge  der  Reibung  ab,   sodass 


in    Das  Meer. 


349 


die  zehnten  100  Faden  75  Sek.,  die  zwanzigsten  100  Faden  110  Sek. 
zum  Auslaufen  brauchen.  Diese  Geschwindigkeiten  sind  empirisch  ge- 
nau ermittelt.  Sobald  das  Lot  den  Boden  berührt  hat,  sinkt  die  Aus- 
laufgeschwindigkeit stark  unter  die  für  mit  Lot  belasteten  Draht  gül- 
tigen. Daraus  wird  häufig  die  Tiefe  ermittelt.  Um  das  Gewicht  des  Stahl- 
drahtes zu  kompensieren,  legt  man  bisweilen  eine  Bremse  gegen  die 
rrommel,  von  welcher  sich  der  Stahldraht  abwickelt.  Je  mehr  Draht 
ausgelaufen  ist,  desto  stärker  muss  die  Bremse  wirken.  Die  Kraft  der 
Bremse  kann  man  mit  einer  Schraube  so  regulieren,  dass  eine  voll- 
kommene Kompensation  nahezu  erreicht  ist.  In  diesem 
Falle  hört  die  Abwickelung  des  Drahtes  sehr  bald  nach 
dem  Stosse  des  Lotes  gegen  den  Meeresboden  auf. 

Der  Zeitverlust  wird  bei  Anwendung  dieser  Lotungs- 
methode etwas  grösser,  das  Resultat  aber  genauer. 

Der  Lotdraht  ist  für  alle  10  und  100  Faden  (oder  raehn 
mit  Marken  versehen.  Häutig  läuft  er  auch  über  ein  Zähl- 
werk, das  die  ausgelaufene  Länge  angiebt. 

Es  ist  nun  mit  grossem  Zeitverlust  verbunden,  diese 
schweren  Lote  wieder  heraufzuheben,  deshalb  führte  Brooke 
eine  Einrichtung  ein,  deren  Wirkungsweise  leicht  aus  neben- 
stehender Figur  verständlich  ist  und  wodurch  das  Lot  sich 
am  Meeresboden  von  dem  Aufhängedraht  ablöst.  Als  Lot 
wurde  früher  eine  achsial  durchbohrte  Kanonenkugel  ge- 
nommen, jetzt  zieht  man  ein  cylindrisches  Lot  (K  Fig.  120) 
vor,  welches  auf  einer  ebenfalls  durchbohrten  Scheibe  (s) 
ruht.  Durch  die  Bohrungen  hindurch  geht  ein  leichter 
Stab  cd,  welcher  an  dem  Aufhängedraht  (/)  mit  Hilfe  zweier 
um  eine  horizontale  Achse  leicht  beweglichen  Teile  a  und  b  mittelst 
kleiner  Ketten  befestigt  ist.  In  zwei  Kerben  an  den  Stücken  a  und  b 
liegen  die  Ösen  zweier  Drähte,  welche  die  Scheibe  s  tragen.  Sobald  d 
gegen  den  Meeresboden  stösst,  fallen  die  Stücke  a  und  b  herunter,  die 
beiden  Ösen  gleiten  aus  ihren  Kerben  und  das  Lot  K  sammt  Scheibe  s 
bleibt  auf  dem  Meeresboden  liegen. 

Um  die  Schwere  des  Lotes  nach  Belieben  verändern  zu  können, 
verwendete  Baillie  anstatt  des  Cylinders  K  mehrere  Cylinderscheiben, 
die  aufeinander  gestapelt  wurden. 

Der  Stab  cd  dringt  gewöhnlicherweise  30—60  cm  tief  in  den  lockeren 
Meeresboden  hinein,  wobei  die  Aushöhlung  bei  d  sich  mit  Bodenproben 
erfüllt.    Damit  diese  beim  Heraufziehen   nicht  hinausfallen,   ist  ein  so- 


350 


Physik  der  Erde. 


genanntes   Schmetterlingsventil    an   der  Unterseite    von    d  angebracht, 
welches  d  beim  Hinaufziehen  selbstthätig  abschliesst. 

Oberhalb  des  Lotes  ist  an  dem  Aiifhängedraht  ein  Wasserschöpfer 
und  ein  Thermometer  befestigt.  Damit  der  Wasserschöpfer  nur  Wasser 
an  einer  bestimmten  Stelle,  nämlich  der  tiefsten,  nimmt,  ist  er  so  ein- 
gerichtet, dass  er  aus  einem  Hohlcylinder  mit  zwei  Böden  besteht.  Der 
untere  Boden  ist  an  zwei  Haltern  befestigt,  der  Cylinder  und  der  obere 
Boden  sind  dagegen  in  grossen  Entfernungen  voneinander 
und  von  dem  unteren  Boden  mittelst  Sperrhaken  festgehalten. 
Sobald  der  Aufhängedraht  hinaufgezogen  wird,  setzt  sich 
durch  den  Widerstand  des  Wassers  ein  propellerförmiger  Kör- 
per in  Bewegung,  welcher  vermittelst  eines  daran  befestigten 
von  einem  Schraubengewinde  geführten  Conus  die  Sperrhaken 
zur  Seite  schiebt,  wonach  der  obere  Boden  gegen  den  Cy- 
linder und  dieser  gegen  den  unteren  Boden  fällt.  Diese  drei 
Teile  schliessen  danach  mittelst  Gummiverpackungen  eine 
Wassermenge  ein,  welche  da  genommen  ist,  wo  der  W^asser- 
schöpfer  hinaufgezogen  zu  werden  anfing.  Bisweilen  ist  der 
Hohlcylinder  mittelst  mehrfacher  Wandungen  in  mehrere 
konzentrische  Schichten  eingeteilt,  und  die  Böden  sehr  wärme- 
isolierend gemacht,  in  welchem  Falle  die  Temperatur  des 
Wassers,  wenn  es  nicht  von  allzu  grosser  Tiefe  geholt  ist, 
sich  erhält,  sodass  sie  nach  Ankunft  des  Wasserschöpfers 
zur  Oberfläche  abgelesen  werden  kann.  Sonst  wird  das 
Thermometer  mit  dem  Wasserschöpfer  verbunden  und  ist 
nach  Negretti-Zambras  Konstruktion  (Fig.  121)  so  einge- 
richtet, dass  es  bei  dem  Aufziehen  des  Aufhängedrahtes  mit 
einem  Stoss  umkippt,  sodass  die  Kugel  A  nach  oben  kommt. 
Das  Thermometerrohr  ist  an  einer  Stelle  (bei  D)  stark  ver- 
jüngt; an  dieser  Stelle  bricht  der  Quecksilberfaden  beim  Auf- 
ziehen. Man  liest  die  Länge  des  abgebrochenen  Fadens 
ab,  wodurch  die  Temperatur  in  dem  Moment  des  Aufziehens  bekannt 
wird.  Zur  Kontrolle  hängt  man  häufig  ein  Minimumthermometer  daneben 
auf.  Die  Thermometerkugeln  müssen  mit  starken  Kapseln  (aus  Glas) 
umgeben  sein,  damit  der  äussere  Druck  sich  nicht  zur  Thermometer- 
kugel fortpflanzt  und  den  Quecksilberfaden  hinaufpresst.  Wenn  man  eine 
Keihe  von  Temperaturmessungen,  z.  B.  für  je  100  m  machen  will,  be- 
festigt man  ein  Thermometer  auf  jeder  100  m-Länge  des  Lotdrahtes. 
Da  bisweilen   bei  grossen  Tiefen  das  Lot   durch  Meeresströmungen 


so 


20 


10 


1 

^ 


c 

Fig.  121. 


lll.  Das  Meer.  35  t 

zur  Seite  getrieben  wird  und  dadurch  die  abgelesene  Tiefe  zu  gross  er- 
scheint, benutzt  man  als  Kontroll apparat  zur  Messung  der  Tiefe  eine 
Art  Maximum -Manometer.  Ein  solches  ist  von  Lord  Kelvin  kon- 
struiert. Eine  lange,  durch  eine  Blechkapsel  geschützte  Glasröhre  ist 
in  vertikaler  Lage  an  der  Lotleine  befestigt.  Die  Glasröhre,  welche 
oben  zugeschmolzen,  unten  aber  offen  ist,  ist  inwendig  mit  einer  dünnen 
Haut  von  Silberchromat  überzogen.  So  hoch  wie  das  Salzwasser  ein- 
dringt, verwandelt  sich  das  rote  Silberchromat  in  weisses  Chlorsilber. 
Man  kann  in  dieser  Weise  bestimmen,  wie  stark  das  Volumen  der  das 
Kohr  füllenden  Luftsäule  komprimiert  gewesen  ist,  woraus  der  Druck 
vermittelst  Tabellen  berechnet  werden  kann.  Um  eine  genauere  Ab- 
lesung des  Druckes  zu  ermöglichen,  kann  man  die  Röhre  nach  oben 
konisch  sich  verjüngen  lassen. 

Die  Lotleine  läuft  über  eine  Rolle  mit  Zählwerk,  welches  die  ab- 
gelaufene Leinenlänge  angiebt.  Zur  Sicherung  gegen  plötzliche  Stösse 
beim  Rollen  des  Schiffes  läuft  die  Leine  über  einen  Block,  welcher  mittelst 
einer  elastischen  Feder  oder  mittelst  Kautschukschnüren  an  einem  heraus- 
ragenden Teil  (einer  Raae)  des  Schiffes  aufgehängt  ist.  Dieser  federnde 
Auf  hängeapparat  wird  Akkumulator  genannt.  Er  ist  um  so  nötiger,  als 
die  meisten  auf  die  Lotleine  aufgehängten  Apparate  funktionieren,  wenn 
die  Leine  hinaufgezogen  wird.  Beim  Rollen  des  Schiffes  könnte  dies 
leicht  unfreiwillig  geschehen,  wenn  nicht  der  Akkumulator  plötzliche 
Stösse  ausgliche. 

Man  hat  viele  besondere  Einrichtungen  zur  Temperaturbestimmung  in 
Anwendung  gebracht,  welche  dazu  dienen  sollten,  die  Temperatur  an 
jeder  beliebigen  Tiefe  bei  derselben  Lotung  kennen  zu  lernen.  So  z.  B. 
hat  man  selbstregistrierende  Thermometer  benutzt,  deren  Fadenlängen 
photographisch  registriert  wurden.  Dabei  lieferte  eine  kleine  Glühlampe 
oder  ein  Geisslerrohr  das  nötige  Licht.  Oder  man  maass  nach  Werner 
Siemens  Vorschlag  den  Widerstand  eines  Drahtes  in  verschiedenen 
Tiefen;  dieser  Widerstand  ist  von  der  Temperatur  abhängig.  In  beiden 
Fällen  muss  man  zur  Zuleitung  des  Stromes  lange  isolierte  Drähte, 
welche  mit  der  Lotleine  folgen  sollen,  verwenden,  wodurch  nicht  unbe- 
deutende Schwierigkeiten  entstehen. 

Auf  obengenannte  Weise  hat  man  die  Tiefe  des  Meeres  an  verschiedenen 
Stellen  gemessen  und  Wasserproben,  die  nachher  analysiert  wurden  aus 
verschiedenen  Tiefen,  deren  Temperaturen  gemessen  wurden,  geholt. 
Ebenso  erhielt  man  gleichzeitig  mit  den  Tieflotungen  Proben  von  der 
Zusammensetzung  des  Bodens. 


352  Physik  der  Erde. 

Da  diese  Erforschung  der  Meerestiefen  von  grosser  praktischer  Be- 
deutung ist,  sowohl  für  die  Legung  von  Telegraphenkabeln  als  auch  für 
die  Fischereien,  haben  die  verschiedenen  Kegierungen  mehrere  Expedi- 
tionen ausgesandt,  welche  die  wichtigsten  Beiträge  zur  Oceanographie 
geliefert  haben. 

Die  Meerestiefe.  Längs  der  Küste  zieht  sich  für  gewöhnlich 
ein  sehr  langsam  abfallendes  Gebiet  hin,  welches  Litoralzone  oder  Konti- 
nentalstufe genannt  wird.  Seine  Tiefe  geht  bis  zu  etwa  200  m,  wonach 
eine  sehr  schnelle  Zunahme  der  Tiefe  bis  zu  etwa  2000  m  oder  1000  Faden 
stattfindet,  die  Kontinentalböschung  genannt.  Die  Untiefe  rund  um  die 
Küste  gehört  eigentlich  mit  zum  Kontinent  selbst  und  der  Ocean 
fängt  erst  an  der  Kontinentalböschung  an.  Danach  nimmt  die 
Tiefe  noch  weiter  hinaus  zu,  aber  für  gewöhnlich  nicht  so  schnell, 
wie  zwischen  200  und  2000  m  Tiefe.  Ferner  kommt  ein  ausserordent- 
lich flaches  Gebiet  von  2000  bis  6000  m  Tiefe,  in  welchem  noch  grössere 
Tiefen  als  vereinzelte  Senkungen  vorkommen.  Die  grösste  bekannte 
Tiefe  war  bis  vor  kurzem  (1895)  die  nach  dem  Expeditionsschiffe  be- 
nannte „Tuscarora-Tiefe"  (Fig.  111),  welche  etwa  parallel  der  japanischen 
Küstenlinie  und  der  Inselreihe  der  Kurilen  verläuft,  wo  an  einer  Stelle 
das  Lot  den  Boden  erst  auf  8513  m  Tiefe  traf.  Seitdem  ist  eine  ähn- 
liche Tiefe,  die  „Penguin-Tiefe"  vom  Expeditionsschiffe  Penguin  etwas 
östlich  von  Neuseeland  aufgefunden  worden,  wo  auf  einer  Stelle  (38^ 
28'  s.  Br.  176^  39'  westl.  L.  von  Greenwich)  9427  m  gelotet  wurden. 
Diese  Tiefe  liegt  aber,  wie  die  meisten  ähnlichen  in  der  Nähe  des 
festen  Landes.  Diese  wird  etwas  übertroffen  von  der  oben  (S.  348)  ge- 
nannten Tiefe  „Neros  Graben",  welche  vom  amerikanischen  Schiff  Nero 
1900  gelotet  wurde  und  9635  m  erreichte. 

Wie  früher  erwähnt,  kommen  nur  selten  stärkere  Böschungen  am 
Meeresboden  vor.  Einige  Ausnahmen  von  dieser  Kegel  sind  vorhin  als 
Ausgangsstellen  vulkanischer  und  seismischer  Störungen  angeführt.  Ausser- 
ordentlich starke  Böschungen  kommen  in  der  Umgebung  der  vulkani- 
schen Inseln,  besonders  im  Karaibischen  Meer  und  Stillen  Ocean  vor. 

Andere  steile  Abfälle  ganz  anderer  Natur  finden  sich  bei  den  Ko- 
rallenriffen und  Inseln.  Die  Korallen  bauen  nahezu  vertikal  hinauf  und 
nur  durch  den  Abfall  von  abgestorbenen  Korallen  (Korallensand)  wird  der 
Boden  in  der  Umgebung  ausgeebnet.  Es  dürfte  daher  nicht  Wunder 
nehmen,  dass  dabei  Böschungen  von  40—60^  in  den  Umgebungen  solcher 
Inseln  vorkommen  können,  wie  z.  B.  bei  den  Bahama-Inseln. 

Inmitten   des   Oceans  kommen   an   mehreren  Stellen    Erhebungen 


III.  Das  Meer.  353 

vor,  wt'ldie  bedeutende  Strecken  aufnehmen.  Eine  solche  Erhebung 
ist  der  mittelatlantische  Kücken,  welcher  etwa  in  der  Mitte  des  atlan- 
tischen Oceans  verläuft  und  deshalb  im  grossen  den  Küstenkontouren 
parallel  läuft.  Dieser  Rücken  ist  von  Island  bis  Tristan  da  Cunha  mit 
Vulkanen  besetzt.  Durch  Ausläufer  steht  er  mit  dem  amerikanischen 
und  dem  afrikanischen  Kontinent  in  Verbindung.  Die  tiefste  Stelle  im 
Atlanten  ist  an  19*^  39'  n.  Br.  und  66^  26'  w.  L.  v.  Gr.  gelotet  worden. 
Sie  beträgt  8341  m.  Die  Umgebung  dieser  Stelle  wird  die  „westindische 
Tiefe"  genannt. 

Der  Meeresboden  ist,  verglichen  mit  der  Landesoberfläche  äusserst 
eben.  Dies  rührt  daher,  dass  keine  Wasserflüsse  den  Boden  im  Meere 
ausmodellieren  (vgl.  S.  358). 

Die  mittlere  Tiefe  des  Meeres  beträgt,  wie  erwähnt,  etwa  3500  m. 
Die  wichtigsten  Meeresteile  haben  mittlere  Tiefen,  welche  zu  folgenden 
Werten  geschätzt  werden: 


Atlantischer  Ocean 

3760  m 

Rotes  Meer.    .    . 

460  m 

Indischer            „ 

3650  m 

Karaibisches  Meer 

2090  m 

Stiller 

4080  m 

Nordsee    .... 

90  m 

Mittelmeer    .    .    . 

1430  m 

Ostsee      .... 

70  m 

Man  glaubte  früher,  dass  das  nördliche  Polarmeer  sehr  flach  sei. 
Durch  Nansens  Tiefenlotungen  ist  es  erwiesen,  dass  die  Annahme  un- 
zutreffend ist,  indem  zwischen  Franz-Josephs-Land  und  den  neusibiri- 
schen Inseln  mehrere  Male  3000,  einmal  sogar  3800  m  Tiefe  gelotet 
wurde.  Die  Behringsstrasse  ist  sehr  flach,  nicht  mehr  als  52  m  tief  im 
Maximum.  Gewissermaassen  hängen  also  die  neue  und  die  alte  Welt 
an  dieser  Stelle  zusammen.  Deshalb  giessen  sich  die  grossen  Wasser- 
und  Eismassen  aus  den  grossen  sibirischen  Flüssen  nördlich  von  Spitz- 
bergen längs  der  Ostküste  von  Grönland  in  den  Ocean  aus.  Das  Kärtchen 
auf  Fig.  122  giebt  die  Tiefe   des  Meeres   an  verschiedenen  Stellen  an. 

Die  Bodenbeschaffenheit.  Man  glaubte  früher,  dass  in  grösseren 
Tiefen  alles  Leben  verschwunden  wäre.  Es  erweckte  deshalb  grosses 
Aufsehen,  als  beim  Heraufheben  eines  Telegraphenkabels  aus  dem  Mittel- 
meere aus  sehr  grossen  Tiefen  Lebewesen  zu  Tage  gebracht  wurden.  Seit- 
dem hat  man  sich  bemüht,  durch  Bodenkratzungen  und  Dredschen  (Fig. 
123)  Material,  lebendiges  und  totes,  vom  Meeresboden  sich  zu  ver- 
schaffen. Es  zeigten  sich  dabei  bedeutende  Regelmässigkeiten,  nach 
welchen  der  Meeresboden  je  nach  der  Tiefe  in  recht  verschiedene  Zonen 
eingeteilt  werden  kann.     In  der  Litoralzone,  d.  h.  im  Gebiet  von  0  bis 

A  1  r  li  e  n  i  u  s  ,  Kosmische  Physik.  •  23 


354 


Physik  der  Erde. 


200  m  Tiefe,  finden  die  grossen  Al)lagenmgen  des  Abfalles  der  Kontinente 
statt,  welcher  mit  dem  Wind,  den  Flüssen  und  durch  die  Meereswogen 
hinausbefördert  werden.  In  vulkanischen  Gegenden  sind  diese  Abfälle 
häufig  zun!  bedeutenden  Teil  mit  Auswurfstoffen  der  Vulkane  vermischt. 


to 


W 
^ 


CD 

Cu 
CD 


CD 
CD 


CD 
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O 

pr 

CD 
CD 


00 

B 


III.  Das  Meer.  355 

In  diesem  Ge])iete  leben  auch  die  meisten  kalkausscheidenden  Tiere 
(Mollusken)  und  Algen  von  höheren  Klassen.  Sie  scheiden  ausser  Kalk 
auch  etwas  Magnesia  und  Eisen  aus  und  nach  ihrem  Tode  werden  die 
organischen  Bestandteile  von  den  mineralischen  Kalkausscheidungen  weg- 
gewaschen. Diese  letzteren  werden  von  ausgeschlemmtem  Sediment  ein- 


Fig.  123.     Schleppnetze  oder  Dredschen  zur  Untersuchung  des  Meeresbodens. 

gebettet  und  bilden  nachher,  wenn  das  Sediment  gehärtet  wird,  die  in 
sedimentären  Ablagerungen  gewöhnlichen  Versteinerungen. 

In  der  Nähe  der  Küste  werden  auch  grösstenteils  die  von  den 
Flüssen  und  der  Meeresbrandung  hinaustransportierten  Massen  abgeschie- 
den, welche  einen  Thon  bilden.  Dieser  ist  in  der  Nähe  von  Küsten, 
die  aus  älteren  Sedimentsteinen  oder  krystallinischen  Schiefern  bestehen, 
von  einer  grünen  oder  blauen  Farbe.  Diese  Thone  finden  sich  besonders 
in  abgeschlossenen  Meeresbecken,  wie  in  den  Banda-,  Celebes-  und  China- 

23* 


356 


Physik  der  Erde. 


Seen.  Der  grüne  Thon  geht  nicht  gern  tiefer  als  1300  m,  der  blaue 
aber  bis  zu  5000  m,  ausnahmsweise  (bei  St.  Thomas)  zu  einer  der  tiefsten 
Stellen  des  Atlanten  (7086  m). 

Längs  der  Ostküste  von  Südamerika  ist  die  Farbe  des  Thones  rot, 
infolge  von  ockerhaltigen  Massen,  welclie  von  den  Flüssen  in  grosser 
Menge  hinausbefördert  werden.    Er  geht  hier  bis  3800  m  Tiefe. 

In  der  Nähe  von  vulkanischen  Küsten  nimmt  der  Schlamm  eine 
graue  Farbe  an,  während  der  entsprechende  Sand  schwarz  oder  dunkel- 
grau sein  kann.  Wo  die  Lavaergüsse  augithaltig  sind  (Sandwich-Inseln 
und  Kanaren),  findet  man  Braunsteinknollen  in  dem  Küstenthon.  Dieser 
graue  Thon  ist  bis  zu  Tiefen  von  5250  m  angetroffen  worden. 

In  grossen  Tiefen  (unter 
400  m)  verschwinden  die  hö- 
heren Organismen  zum  aller- 
grössten  Teil  und  werden 
durch  Foraminiferen  ersetzt. 
Von  diesen  beherrschen  Glo- 
bigerina-  und  Orbulinaarten 
die  Tiefenvon  450  bis  3500  m, 
während  in  noch  grösseren 
Tiefen  der  Schlamm  haupt- 
sächlich durch  Radiolarien 
charakterisiert  ist.  Die  Glo- 
bigerinen  und  Orbulinen  son- 
dern Kalkschalen  aus,  welche  nach  dem  Tode  des  Tieres  zu  Boden  fallen 
und  den  bläulich- grauen  Globigerinenschlamm  bilden  (Fig.  124).  Die 
Kalkschalen  werden  bei  ihrem  Heruntersinken  teilweise  gelöst,  sodass 
sie  gewöhnlich  ein  angefressenes  Aussehen  besitzen. 

Die  Globigerinen  und  verwandten  Foraminiferen  leben  nicht  in  der 
Tiefe,  sondern  in  den  höchsten  Meeresschichten,  wo  sie  einen  bedeuten- 
den Teil  des  „Planktons"  ausmachen.  Sie  halten  sich  mit  Hilfe  von 
winzigen  Kalknädelchen,  die  von  ihrer  Kalkschale "  radiell  ausstrahlen, 
im  Wasser  schwebend  (vgl.  Fig.  125).  Diese  Nädelchen  fallen  nach  dem 
Tode  des  Foraminiferen  ab,  wonach  sein  Kalkhäuschen  langsam  zum 
Boden  hinuntersinkt.  Da  solche  Foraminiferen  auch  über  den  grössten 
Meerestiefen  leben,  könnte  man  erwarten,  dass  auch  in  diesen  Globi- 
gerinenschlamm angehäuft  wäre.  Da  aber  dies  nicht  der  Fall  ist,  schliesst 
man,  dass  die  Kalkreste  beim  Heruntersinken  in  die  tiefsten  Schichten 
von  der  Kohlensäure  des  Wassers  aufofelöst  werden. 


Fig.  124.     Globigerinenschlamm  vom  Boden 
des  Ozeans. 


I 


JH.  Das  Meer. 


357 


Im  Globigerinenschlamm  trifft  man  auch  Massen  von  Ealkalgen- 
resten,  die  Rhabdolithen  und  Kokkolithen  genannt  werden.  Ausserdem 
gehen  darin  Nadeln  von  den  Kieselsäureskeletten  der  Kieselschwämme 
als  charakteristischer  Bestandteil  ein. 

Ähnliche  Ablagerungen  haben  in  vergangenen  geologischen  Zeiten 
eine  sehr  grosse  Rolle  gespielt.  So  z.  B.  ist  der  sehr  verbreitete  Num- 
mulitenkalk  der  Tertiärzeit  aus  Foraminiferenschalen  aufgebaut. 

An  der  Grenze  der  Litoralzone  und  der  Globigerinenzone  bildet 
sich  eine  charakteristische  Ablagerung  von  Glaukonitsand.  Glaukonit 
ist  ein  Silikat,  welches  nur  als  Ausfüllungsmasse  von  Foraminiferen- 
schalen  vorkommt.  Zu  seiner  Bildung  sind  demnach  die  in  den  Fora- 
miniferen  enthaltenen  organi- 
schen Bestandteile  nötig.  Solcher 
Glaukonitsand  kommt  in  den  Ab- 
lagerungen aller  geologischen 
Epochen  vor,  von  den  ältesten 
fossilführenden  an  bis  zu  den 
jüngsten. 

Die  Radiolarien  scheiden  nicht 
Kalk,  sondern  Kieselsäure  aus. 
Dasselbe  ist  der  Fall  mit  den 
Diatomaceen,  Algen,  welche  Kie- 
selpanzer nach  dem  Tode  zurück- 
lassen. In  einigen  Meeresströmen 
sind  die  Diatomaceen  so  stark 
vertreten,  dass  sie  dem  Meerwasser 
eine  charakteristische  Färbung  er- 
teilen. Durch  Diatomaceen  grün  gefärbte  Wasserflächen  kommen  be- 
sonders im  ostgrönländischen  Meere  vor.  Der  von  Diatomaceenschalen 
gebildete  Diatomaceenschlamm  ist  am  stärksten  am  Boden  der  süd- 
lichen Meere,  besonders  zwischen  53^  und  63^  s.  Br.,  entwickelt.  Die 
Tiefe  ist  da  2300—3600  m. 

In  den  tieferen  Teilen  des  Oceans  herrscht  ein  rötlicher  Thon,  dessen 
Farbe  bisweilen  in  Grau  oder  Braun  übergeht.  In  diesen  Tiefen  wird 
kein  Kalk  abgesetzt,  sondern  nur  schwere  lösliche  Substanzen  in  den 
Tierschalen  halten  die  langsame  Sedimentation  durch  das  kalkauflösende 
Wasser  aus.  In  diesem  Sediment  sind  vulkanische  Produkte  wie  Bims- 
stein eingebettet,  welcher  von  der  Meeresoberfläche  hinuntergesunken 
ist.    Ausserdem   finden   sich  darin   nicht   selten  kosmischer  Staub  und 


Fig.  125.     Orbulina  mit  Kalknadeln;  nach 
Bütschli. 


358  Physik  der  Erde. 

Fragmente  von  Meteoriten.  Diese  werden  oft  durch  den  Gehalt  von 
Schreibersit  charakterisiert,  ein  Mineral,  dass  nur  in  Meteoriten  gefunden 
worden  ist.  Sehr  gewöhnlich  sind  darin  Braunsteinknollen  und  Körner 
von  Mineralien  vulkanischer  Natur,  wie  Quarzkörner,  Glimmerblätter, 
Hornblendeschuppen,  welche  andeuten,  dass  unterseeische  Yulkanaus- 
brüche  eine  grosse  EoUe  spielen.  Wahrscheinlicherweise  sind  diese 
Ausbrüche  die  Quelle  der  grossen  Mengen  Kohlensäure,  welche  bisweilen 
im  Meervvasser  angetroffen  werden. 

In  einigen  Meerestiefen,  besonders  in  den  äquatorialen  Teilen  des 
Grossen  Oceans,  überwiegen  die  Kieselskelette  der  Kadiolarien  so  stark, 
dass  man  den  Bodenabsatz  daselbst  als  Kadiolarienschlick  bezeichnet. 
Unter  organischen  Überresten,  welche  diese  Ablagerungen  kennzeich- 
nen, mögen  die  Haifischzähne  und  die  Ohrknochen  von  Walen  hervor- 
gehoben werden.  Sie  kommen  massenweise  vor  und  sind  die  einzigen 
Überreste  von  den  Leichen  der  entsprechenden  Tiere,  welche  in  den 
höchsten  Teilen  des  Meeres  lebten  und  deren  Überbleibsel  zum  Boden 
des  Oceans  heruntersanken.  Nicht  nur  die  Weichteile,  sondern  auch 
alle  Skelettenteile  dieser  Körper  sind  aufgelöst  worden  bis  auf  die  aller 
widerstandsfähigsten  Stücke.  Man  kann  sich  sehr  wohl  vorstellen,  welche 
ungeheuren  Zeiten  verflossen  sein  müssen,  bis  Massen  von  Haifischzähnen 
angesammelt  werden  konnten.  In  dieser  Vorstellung  wird  man  noch 
mehr  durch  den  Umstand  befestigt,  dass  unter  den  Haizähnen  auch 
solche  von  jetzt  ausgestorbenen  Gattungen,  z.  B.  dem  in  Tertiärablage- 
rungen vorkommenden  Carcharodon,  sich  befinden. 

Auch  giebt  es  ja  viele,  welche  die  Ansicht  hegen,  dass  diese  Ab- 
gründe des  Meeres,  so  lange  Organismen  auf  der  Erde  lebten,  von  Wasser 
bedeckt  waren  und  dass  sie,  allen  Hebungen  trotzend,  immer  dem  Meere 
angehören  werden,  so  lange  ein  Meer  noch  auf  der  Erde  existiert.  Die 
Teile  der  Erdkruste,  welche  von  den  tiefen  Meeren  bedeckt  werden, 
sind  wahrscheinlich  dicker  und  fester  als  die  Kontinentalmassen  —  dar- 
auf deuten  auch  die  Pendelmessungen  —  sie  haben  eine  durch  ungeheure 
Zeiträume  kaum  veränderliche  Temperatur  und  erhalten  deshalb  keine 
Bisse,  deshalb  fallen  sie  nicht  der  Faltung  anheim,  welche  sich  auf  die 
Landmassen  und  naheliegenden  Meeresteile  beschränkt. 

Das  Gebiet  des  Tiefseethons  imd  dasjenige  des  Globigerinenschlam- 
mes  decken  ungefähr  gleichgrosse  Flächen  des  Meeresbodens,  deren  jede 
etwa  ein  Viertel  der  Erdoberfläche  einnimmt.  Der  Tiefseethon  über- 
wiegt etwas.  Seine  grösste  Ausbreitung  ist  im  Grossen  Ocean,  danach 
im  Indischen  und  etwas  im  Atlantischen  Ocean.  Die  Litoralzone  nimmt 


III.  Das  Meer.  359 

eine  bedeutend  geringere  Fläche  ein,  welche  jedoch  für  die  Menschheit 
von  grösster  Bedeutung  ist,  da  in  derselben  der  grosse  Fischfang  be- 
trieben wird.  Die  grössten  Theile  davon  liegen,  wie  die  Tiefenkarte 
zeigt,  in  der  Nähe  der  östlichen  und  südlichen  Küste  von  Asien,  in 
der  Nord-  und  Ostsee,  an  der  Mittelmeerküste,  besonders  im  Adriati- 
schen  Meer,  im  Schwarzen  und  Kaspischen  Meer  an  der  Nordküste 
Europas,  an  den  Küsten  Australiens,  Nord-  und  besonders  Südamerikas. 

Die  kalkabsondernden  Organismen  des  Meeres  nehmen  alle  an 
Häufigkeit  stark  ab,  sobald  man  sich  den  kälteren  Teilen  des  Oceans 
nähert.  Sie  kommen  deshalb  in  den  arktischen  und  antarktischen  Wäs- 
sern und  ihren  Umgebungen  sehr  spärlich  vor,  sind  dagegen  in  den  tro- 
pischen und  subtropischen  Wässern  am  häufigsten.  Noch  mehr  ist  dies 
mit  den  rififenbildenden  Korallen  der  Fall,  welche  nicht  tiefer  als  30  m 
unter  der  Meeresoberfläche  leben  können  und  keine  niedere  Tempe- 
ratur als  20^  C.  aushalten.  Sie  kommen  deshalb  in  einem  Gürtel  rund 
um  die  Mitte  der  Erde  vor.  Dass  sie  in  früheren  geologischen  Epochen 
in  allen  Weltmeeren  verteilt  waren,  giebt  einen  der  besten  Beweise  für 
eine  bedeutend  höhere  Temperatur  dieser  Zeiten  über  die  jetzige.  Der 
Korallensand  bildet  einen  beträchtlichen  Teil  des  Seebodens  in  der  Nähe 
von  Korallenriffen.  Besonders  sind  das  Karaibische  Meer,  die  Umgebung 
der  Inseln  des  Grossen  Oceans,  sowie  die  Strecken  nördlich  von  Mada- 
gaskar, Australien  und  Neuguinea  dadurch  charakterisiert. 

Die  Zusammensetzung  des  Meerwassers.  Da  kein  Körper  in 
Wasser  absolut  unlöslich  ist,  so  ist  es  natürlich  zu  vermuten,  dass  das 
Meerwasser  durch  die  Flüsse  alle  möglichen  Erdbestandteile  zugeführt 
erhält.  Die  Grundstoffe,  welche  in  nennenswerter  Menge  im  Meerwasser 
vorkommen,  sind  ausser  den  Bestandteilen  des  Wassers  (Wasserstoff  und 
Sauerstoff),  Chlor,  Natrium,  Schwefel  (in  Sulfaten),  Kohlenstoff  (in  Kar- 
bonaten), Magnesium,  Calcium,  Kalium  und  etwas  Brom.  Etwa  zwanzig 
andere  Grundstoffe  sind  im  Meerwasser  nachgewiesen,  darunter  die  Edel- 
metalle Silber  und  Gold,  die  seltenen  Alkalimetalle  Cäsium  und  Eubi- 
dium,  aber  in  kaum  nachweisbarer  Menge. 

In  einer  metrischen  Tonne  Meerwasser  sollen  19  mg  Silber  und 
6  mg  Gold  gelöst  sein.  Der  Totalgehalt  des  Meerwassers  an  Gold  be- 
trägt 8  Milliarden  Tonnen,  etwa  so  viel,  dass  auf  jeden  Erdbewohner 
5000  kg  bei  einer  Yerteilung  käme. 

Die  relative  Menge  der  verschiedenen  gelösten  Körper  im  Meer- 
wasser ist  sehr  wenig  veränderlich  und  der  mittlere  Salzgehalt  im  offenen 
Meere  ebenso,  er  beträgt  etwa  34,3  per  Mille.  $ 


360 


Physik  der  Erde. 


Nach  Dittmar  ist  die  Zusammensetzung  des  Meerwassers  in  fol- 
gender Tabelle  wiedergegeben.  Daselbst  steht  erst  der  Prozentgehalt 
angegeben  (vom  totalen  Salzgehalt),  danach  kommt  eine  Angabe  über 
die  totale  Menge  des  betreffenden  Körpers  im  Meere  (in  Billionen 
Tonnen).  Zum  Vergleich  ist  danach  eine  Tabelle  gegeben,  welche 
nach  Mellard  Eeades  Schätzung  die  mittlere  Zusammensetzung  der 
zum  Meere  strömenden  Flusswässer,  und  die  totale  Menge  von  zuge- 
ftihrten  gelösten  Körpern  in  Millionen  Tonnen  pro  Jahr,  angiebt: 


Salz  im  Meerwasser 
Chlornatrium  NaCl  .    . 
Chlormagnesium  Mg  Cl^ 
Magnesiumsulfat  Mg  SO^ 
Calciumsulfat  Ca  SO^    . 
Kaliumsulfat  Zj  SO^ 
Calciumkarbonat  Ca  C0._^ 
Brommagnesium  Mg  Br2 


Prozent 
77,758 
10,878 
4,737 
3,600 
2,465 
0,345 
0,217 


Totalgehalt 
in  10^2  Tonnen 

35990 
5  034 
2192 
1666 
1141 

160 

100 


100,000 


Prozent 
(approx.) 


Salz  im  Flusswasser 

Calciumkarbonat 50 

Calciumsulfat 20 

Magnesiumkarbonat 4 

Magnesiumsulfat 4 

Chlornatrium 4 

Sulfate  und  Karbonate     1 
der  Alkalimetalle  J      '    '    ' 

Kieselsäure 7 

Andere  Körper 5 


46283 

Menge  pro  Jahr 
in  10^  Tonnen 

2700 
1080 

216 

216 

216 

324 

378 
270 


100 


5400 


Natürlicherweise  sind  die  verschiedenen  Bestandteile  des  Meer- 
wassers nicht  in  der  angegebenen  Weise  verbunden,  wonach  z.  B.  kein 
Chlorkalium  und  kein  Natriumsulphat  im  Meerwasser  vorkommen  würde. 
Die  angegebene  Tabelle  soll  nur  bedeuten,  dass,  wenn  man  die  ange- 
führten Salze  in  den  angegebenen  Verhältnissen  in  richtiger  Totalmenge 
in  Wasser  auflöst,  so  entsteht  eine  Lösung,  welche  der  Zusammensetzung 
des  Meerwassers  entspricht.  Mit  Hilfe  der  Berechnungsweisen  der  phy- 
sikalischen Chemie  kann  man  dann  für  jedes  mögliche  Salz,  wie  Chlor- 
kalium etc.,   l)erechnen,    zu  welchem  Grade  es   in  der  Lösung  existiert. 


III.  Das  Meer.  3ßj^ 

Dies  bietet  aber  kein  besonderes  physikalisches  Interesse.  Eine  ähn- 
liche Bemerkung  lässt  sich  über  die  Zusammensetzung  des  Flusswassers 
machen. 

Da  nun  alles  Salz  im  Meerwasser  durch  die  Flüsse  zugeführt  ist,  so 
ersieht  man  aus  den  vorhin  gegebenen  Tabellen,  dass  es  166  Millionen 
Jahre  in  Anspruch  nehmen  würde,  alles  im  Meerwasser  befindliche  Chlor- 
natrium zum  Meere  zu  führen.  Wir  erhalten  in  dieser  Weise  eine  Be- 
stätigung der  kolossalen  Ausdehnung  der  geologischen  Zeiten,  welche 
vorhin  berechnet  wurde  (S.  287). 

Ganz  anders  verhält  sich  das  Calciumkarbonat.  Schon  eine  halbe 
Million  von  Jahren  würde  genügen,  um  die  jetzt  im  Meerwasser  befind- 
liche Menge  des  Calciumkarbonates  durch  die  Flüsse  zuzuführen.  Die 
kolossalen  Mengen  von  Calciumkarbonat,  welche  in  geologischen  Zeit- 
räumen zum  Meere  hinuntergeführt  wurden,  sind  zum  unvergleichlich 
grössten  Teil  zum  Meeresboden  von  Organismen  geführt  worden  und 
bilden  zum  Teil  die  grossartigen  sedimentären  Kalksteinablagerungen 
der  Erdkruste. 

Die  Löslichkeit  des  Calciumkarbonates  im  Meerwasser  hängt  zum 
grossen  Teil  davon  ab,  dass  im  Meerwasser  freie  Kohlensäure  vorkommt, 
welche  zur  Bildung  von  Bikarbonat  Anlass  giebt.  Ausser  der  Kohlen- 
säure sind  die  anderen  Gase  der  Atmosphäre  im  Meer  gelöst.  Sauer- 
stoff und  Stickstoff  kommen  an  der  Meeresoberfläche  im  Verhältnis  1:2 
vor,  gegen  1 : 4  in  der  Atmosphäre.  Auch  der  Prozentgehalt  der  im 
Meerwasser  gelösten  atmosphärischen  Gase  an  Argon  ist  bedeutend  grösser 
als  derjenige  der  Luft.  Der  Sauerstoff  ist  insofern  von  Bedeutung,  als 
er  zur  Unterhaltung  des  Lebens  der  Tiere  nötig  ist.  Der  Umstand,  dass 
tierisches  Leben,  obgleich  in  ziemlich  geringer  Menge,  auch  in  den  grössten 
Meerestiefen  vorkommt,  beweist,  dass  daselbst  auch  Sauerstoff,  wenn  auch 
in  geringerer  Menge  als  an  der  Oberfläche,  vorhanden  ist.  Dieses  kann 
kaum  in  anderer  Weise  dahin  gelangen,  als  durch  die  Meeresströmungen. 
Denn  in  den  grossen  Tiefen  giebt  es  wegen  des  Lichtmangels  keine 
(chlorophyll-führenden)  Pflanzen,  welche  Kohlensäure  ein-  und  Sauer- 
stoff ausatmen.  Die  Meeresströmungen  führen  also  Sauerstoff  von  der 
Oberfläche  (in  arktischen  Gebieten)  mit  sich  zu  den  tieferen  Punkten 
und  der  Umsatz  muss  ziemlich  beträchtlich  sein,  da  der  Sauerstoff  immer 
wieder  von  den  Tieren  verbraucht  wird.  Als  Nahrung  dieser  dienen  die 
organisierten  Beste  von  abgestorbenen  Lebewesen,  welche  aus  höheren 
Schlechten  heruntersinken. 

Der  Sauerstoffgehalt  des  Wassers  steigt  mit  sinkender  Temperatur 


352  Physik  der  Erde. 

sowohl  absolut  als  auch  relativ  zum  absorbierten  Stickstoff.  Bei  Tromsö 
(70^  n.  Br.)  ist  das  Verhältniss  Sauerstoff:  Stickstoff  35:65,  zwischen 
70^  und  80^  n.  Br.  sogar  35,6:64,4,  während  im  Passatgebiet  das  Ver- 
hältnis 33:67  beträgt.  ^ 

Dieses  Verhältnis  ändert  sich  auch  mit  der  Tiefe.  In  den  po- 
laren Meeren  ist  diese  Änderung  relativ  unbedeutend.  In  niedrigeren 
Breiten  findet  ein  anderes  Verhalten  statt.  Buchanan  fand  für  die 
äquatorialen  Calmen  des  Atlanten  folgenden  Sauerstoffgehalt: 


Tiefe        0  m 

Gehalt  33,7  Proz 

370 

23,4 

550 

11,4 

800 

15,5 

1600 

22,6 

unter  2000 

23,4 

Die  grosse  Abnahme  bis  zu  600  m  hängt  von  dem  reichen  Tier- 
leben in  diesen  Schichten  ab.  Im  südlichen  Eismeer  ist  die  Sauerstoff- 
variation mit  der  Tiefe  ungefähr  so  gross  wie  im  nördlichen. 

Was  die  absolute  Menge  der  Luftgase  im  Wasser  betrifft,  so  ist 
der  Stickstoffgehalt  sehr  nahe  so  gross,  wie  der  Stickstoffgehalt  eines 
Wassers  von  gleichem  Salzgehalt  und  derselben  Temperatur,  welches  mit 
Stickstoff  von  1  Atmosphäre  Druck  gesättigt  ist.  Nach  T  o  r  n  ö  e  s 
Messungen  enthält  1  Liter  Meerwasser  (von  mittlerem  Salzgehalt)  Ncm^ 
Stickstoff  bei  der  Temperatur  t^  C,  welche  durch  folgende  Formel  ver- 
bunden sind: 

N=  14.4  —  0,23  t 

Was  die  Kohlensäure  im  Meerwasser  betrifft,  fand  Tornöe  (für  das 
Nordpolarmeer)  pro  Liter  53  mg  in  Form  von  Karbonat  und  43  in  Form 
von  Bikarbonat  gebunden.  Betreffs  dieser  Zahlen,  welche  auch  für  andere 
Meere  giltig  sein  dürften,  ist  dieselbe  Berechnung  wie  oben  betreffs  des 
ganzen  Salzgehaltes  zu  machen  (vgl.  S.  360),  indem  immer  ein  Teil  der 
Kohlensäure  frei  ist. 

Das  schwarze  Meer  enthält,  wenn  man  von  den  Oberflächenschichten 
absieht,  nicht  unbedeutende  Mengen  von  Schwefelwasserstoff,  welcher 
durch  Keduktion  der  Sulfate  vermittelst  niederer  Organismen  ent- 
standen ist. 

Die  Verteilung  der  Salze  im  Meere.  Man  hat  schon  lange 
bemerkt,  dass  die  relativen  Mengen  der  verschiedenen  Salze  in  den  ver- 


III.  Das  Meer.  353 

schiedenen  Meeren  in  einem  nahezu  konstanten  Verhältnis  zueinander 
stehen.  Dies  hängt  natürlicherweise  von  dem  Umstände  ab,  dass 
starke  Strömungen,  wie  wir  unten  sehen  werden,  zwischen  den  ver- 
schiedenen Teilen  des  Weltmeeres  die  eventuellen  Differenzen  aus- 
gleichen. So  z.  B.  beträgt  die  Menge  des  Chlors  zwischen  55,21 
und  55,34  Proz.  der  ganzen  Salzmenge,  eine  ganz  unbedeutende 
Schwankung.  Man  kann  folglich,  wenn  nicht  eine  extreme  Genauigkeit 
nötig  ist,  den  Salzgehalt  des  Wassers,  wie  Pettersson  vorgeschlagen 
hat,  mit  Hilfe  einer  äusserst  schnell  ausgeführten  Chlortitration  ermitteln. 
Ebenso  kann  eine  einzige  spezifische  Gewichtsbestimmung  dazu 
genügen,  um  den  Salzgehalt  eines  Meereswassers  zu  charakterisieren. 
Man  nimmt  dabei  als  spezifisches  Gewicht  das  Verhältnis  der  Gewichte 
gleicher  Volumina  Meereswassers  und  destillierten  Wassers  bei  Zimmer- 
temperatur (17,5  0).  Wenn  s  das  so  bestimmte  spezifische  Gewicht  und /> 
den  Prozentgehalt  an  Salz  bedeuten,  besteht  die  Eelation: 

p  =  131,5  {s  —  1)  oder  5=1  +  0,0076  i^. 

Diese  Formel    ergiebt   beispielsweise  für  das   spezifische   Gewicht 
s  =  1,025  :  p  =  3,28  Proz.  für  s  =  1,029  :  i?  =  3,8  Proz. 
Eine  allgemeinere  Formel  lautet: 

5  =  1,0267  +  0,0076  (p  —  3,5) 
—  {0,000154  (t  —  17,5)  +  0,00000674  {t  —  17,5)^}, 

wo  t  die  Temperatur  in  Celsiusgraden  angiebt. 

Man  hat  auf  diese  Weise  den  Salzgehalt  der  verschiedensten  Meeres- 
teile untersucht.  Die  wichtigsten  Ergebnisse  dieser  Untersuchung  sind 
betreffs  der  Meeresoberfläche  die  folgenden: 

Der  mittlere  Salzgehalt  des  Weltmeeres  ist  3,43  Prozent.  Der 
Salzgehalt  nimmt  zu,  wenn  man  sich  von  der  Küste  entfernt.  Er 
nimmt  auch  von  den  polaren  Gegenden  im  allgemeinen  gegen  die 
Passatregionen  hin  zu,  erreicht  da  ein  Maximum,  von  wo  er  zur  äquatorialen 
Calmenregion  abnimmt.  Die  Karte  Fig.  126  zeigt  nach  Cha  11  engers 
Aufnahme  die  Verteilung  des  Salzgehaltes  in  den  verschiedenen  Meeren. 
Der  Atlantische  Ocean  zeigt  einen  geringen  Salzgehalt  (32 — 33  %o) 
längs  der  norwegischen  und  der  nordamerikanischen  Küste  (wo  der 
Polarstrom  läuft),  ebenso  wie  in  der  Nähe  der  Südspitze  von  Südamerika. 
Etwas  weiter  hinaus  streckt  sich  das  Wasser  mit  einem  Salzgehalt 
zwischen  33  und  34  %o?  welches  nur  im  südlichen  Teil  eine  grössere 
Ausbreitung  gegen   niedrigere   Breiten   hin  besitzt.     Das  Wasser  von 


364 


Physik  der  Erde. 


t\3 


Tfl 


CfQ 
dl 


P-. 


o 

o 
0 


►ö 


vn 
O 


O 

CD 

o 

fr' 

ct- 


O 

o 

ro 

:^ 
So 


o 

O 

P 

I— ' 

CD 

ö 

CD 


^ 


ü 

crq 

CD 

p 
ö 

CD 
CD 
CO 


III.  Das  Meer.  3^5 

34 — 35  %o  ^^^^^t  <li6  Nordsee  und  eine  breite  Zone  parallel  der  nord- 
amerikanischen Ostküste  (speziell  bis  zu  Neufundland).  Eine  ähnliche 
Zone  um  40^  s.  Br.  ist  auch  von  diesem  Wasser  aufgenommen,  ebenso 
wie  eine  grosse  Strecke  ausserhalb  der  Kongoküste. 

Den  Hauptteil  des  Nordatlanten  (bis  zum  40.  Breitegrad)  nimmt 
das  Wasser  von  35—36  ^/oo  ein.  Im  Südatlanten  wird  es  durch  einen 
grossen  Bogen  um  den  östlichen  Teil  Südamerikas  vom  Wasser  von 
mehr  als  36  \o  getrennt,  welches  den  übrigen  Teil  des  Atlanten  ein- 
nimmt mit  Ausnahme  zweier  Maxima,  eines  an  der  brasilianischen 
Küste,  das  andere  im  sogenannten  Sargassomeer,  welche  über  37  %o 
halten.  Dies  ist  die  salzreichste  Stelle  an  der  Oberfläche  des  Oceans,  wie 
die  nach  Ch  all  engers  Eeiserapport  gezeichnete  Karte  zeigt. 

Der  Salzgehalt  der  Nordsee  wird  durch  folgende  Messungen  der 
„Pommerania"  (1872)  charakterisiert. 

Teil  der  Nordsee 

Nördliche  Nordsee 

Norwegische  Küstenfjorde   .    . 
Südwestliche  Nordsee      .    .    . 

Skagerrak 

Kattegat,  Belte,  Westl.  Ostsee 

Der  Salzgehalt  ist  grösser  im  nördlichen  als  im  südlichen  Teil, 
ebenso  grösser  im  westlichen  als  im  östlichen,  was  von  den  grossen 
Flüssen,  die  im  südöstlichen  Teil  einmünden,  abhängt.  In  der  längs 
der  norwegischen  Küste  verlaufenden  tiefen  „norwegischen  Rinne" 
wechselt  der  Salzgehalt  sehr  mit  der  Tiefe.  Er  ist  an  der  Oberfläche 
2,80  Proz.,  in  40  m  Tiefe  3,44  Proz.,  in  100  m  Tiefe  3,55  Proz.  Diese 
Ziffern  gelten  für  die  Strecke  Mandal  — Korsfjord  (südlich  von  Bergen), 
d.  h.  für  die  Südwestküste  Norwegens.  Dieser  Umstand  zeigt,  dass  über 
dem  eigentlichen  in  der  Tiefe  befindlichen  Nordseewasser  eine  salzarme 
Strömung  hinläuft,  die  das  Wasser  der  Ostsee  abführt. 

In  der  Ostsee  wird  das  Wasser  um  so  salzarmer,  je  weiter  man 
sich  von  seinem  Auslauf  in  die  Nordsee  entfernt.  Der  Salzgehalt  steigt 
wegen  des  in  der  Tiefe  einströmenden  Nordseewassers  und  an  der 
Oberfläche  abfliessenden  Ostseewassers  immer  mit  der  Tiefe,  besonders 
in  dem  westlichen  Teil  (westlich  von  der  Linie  Darsserort-Falster).  So 
ist  noch  im  Öresund  bei  Helsingför  der  Salzgehalt  an  der  Oberfläche 
nur   0,925  Proz.,   in  36  m  Tiefe  3,35  Proz.     Im  grossen  Belt  war  der 


Spez.   Gew. 

bei  17,50 

Salzgehalt 

in    Proz, 

Oberfläche 

Boden 

Oberfläche 

Boden 

1,0263 

1,0268 

3,45 

3,51 

1,0198 

1,0267 

2,59 

3,50 

1,0257 

1,0258 

3,37 

3,38 

1,0227 

1,0270 

2,97 

3,54 

1,0164 

1,0223 

2,15 

2,92 

360  Physik  der  Erde. 

Salzgehalt  des  Oberflächenwassers  (Sommer  1871)  1  Proz.  bis  zu  etwa 
17  m  Tiefe,  in  20  m  Tiefe  traf  man  den  salzreichen  Nordseestrom,  der 
am  Boden  3,026  Proz.  hielt.  Weiter  nach  Osten  nimmt  der  Salzgehalt 
ab,  von  Sonderburg  an  (Oberfläche  1,97  Proz.,  18  m  Tiefe  2,12  Proz.)  bis 
Heia  (Oberfläche  0,75  Proz.,  22  m  Tiefe  0,76  Proz).  Der  Salzgehalt  an 
der  Oberfläche  beträgt  über  0,8  Proz.  bis  zu  einer  Linie  zwischen  dem 
südlichsten  Punkt  von  Seeland  nach  dem  nördlichsten  Punkt  von 
Mecklenburg,  über  0,7  Proz.  bis  zu  einer  Linie  quer  über  Öland  und 
Gotland  bis  zur  nordwestlichen  Ecke  von   Estland,   über  0,6  Proz.  bis 

o 

zur  Linie  Stockholm- Abo.  Von  da  sinkt  er  allmählich  bis  zu  0,5  Proz. 
(Sundswall-Wasa)  und  dann  sehr  schnell  bis  zu  0,1  Proz.  bei  Haparanda. 
Im  Finnischen  Meerbusen  ist  der  Salzgehalt  0,35  Proz.  bei  Nervo 
(28^  w.  L.  V.  Gr.)  und  0,1  Proz.  bei  Kronstadt.  Im  Eigaerbusen  steigt  er 
zu  0,57—0,58  Proz. 

Im  westlichen  Teil  der  Ostsee  ändert  sich  der  Salzgehalt  mit  den 
Jahreszeiten,  er  ist  geringer  im  Frühling  und  Sommer,  und  ist  auch  in 
verschiedenen  Jahren  nicht  gleich.  Auch  die  Windverhältnisse  beein- 
flussen den  Salzgehalt. 

Wegen  der  starken  Abdampfung  des  Wassers  weisen  das  Mittel- 
meer und  noch  mehr  das  rote  Meer  sehr  hohe  Salzgehalte  (37 — 39  %o 
bezw.  40 — 41  %q)  auf.  Sehr  eigentümlich  und  lehrreich  ist  das  Ver- 
halten des  Kaspischen  Meeres.  An  der  Wolgamündung  ist  der  Salzgehalt 
natürlicherweise  sehr  gering,  nämlich  1,5  %o,  erreicht  bei  der  Halbinsel 
Apscheron  (wo  die  Petroleumquellen  liegen)  13,2  und  in  der  Kaidakbay 
56,3  %o-  1^1  <iGr  grossen,  gegen  die  asiatische  Seite  liegenden  Bucht 
Karabugas  steigt  der  Salzgehalt  bis  auf  285  %o.  Durch  die  ausser- 
ordentlich starke  Abdunstung  konzentriert  sich  da  die  Salzlösung  so, 
dass  sich  Salze  ausscheiden.  Ein  stetiger  Strom  führt  neue  Wassermengen 
zum  Ersatz  der  verdunsteten  zu  dieser  natürlichen  Salzpfanne.  Ungefähr 
in  derselben  Weise  verhält  sich  das  tote  Meer.  Man  hat  hier  gross- 
artige Beispiele,  wie  die  in  den  geologischen  Ablagerungen  sehr  ge- 
wöhnlichen und  wertvollen  Salzablagerungen  zustande   gekommen  sind. 

Betreffs  des  Salzgehaltes  in  verschiedenen  Tiefen  sind  auch  sehr 
zahlreiche  Messungen  gemacht  worden.  Derselbe  hängt  ebenso  wie 
derjenige  der  Meeresoberfläche  zum  grössten  Teil  von  Strömungen  ab. 
In  Seen,  wo  viel  Flusswasser  zur  Oberfläche  geführt  wird,  wie  in  der  Ostsee 
und  Nordsee,  nimmt  der  Salzgehalt  mit  der  Tiefe  zu,  in  Meeren  wo  die 
Abdunstung  stark  die  Wasserzufuhr  überwiegt,  findet  das  Gegenteil 
statt  (z.  B.  im  Mittelmeer).    Durch  die  von  der  Sonnenstrahlung  hervor- 


in.  Das  Meer.  3ß7 

gerufene  hohe  Temperatur  der  Oberfläche  können  s<alzhaltigere  Schichten 
auf  salzärmeren  schwimmen.  In  Wässern  von  geringerer  Ausdehnung 
und  nahe  den  Küsten  kann  der  Salzgehalt  zufolge  der  jährlichen  Ver- 
änderung der  Abdunstung  und  der  Wasserzufuhr  durch  Flüsse  jährliche 
Schwankungen  erleiden,  z.  B.  an  den  Küsten  der  Nordsee.  Diese 
Schwankungen  sind  für  die  Wanderungen  der  Fische,  speziell  des 
Herings,  welcher  einem  Wasser  von  32 — 33  %o  folgt,  maassgebend  und 
besitzen  deshalb  eine  sehr  grosse  ökonomische  Bedeutung. 

Die  Temperatur  des  Meeres.  Diese  Temperatur  ist  im  höch- 
sten Grade  von  den  Meeresströmungen  abhängig.  Die  Temperatur  der 
Oberfläche  zeigt  eine  jährliche  Yeränderung,  wie  die  Erdoberfläche. 
Diese  Temperaturvariation  dringt  wegen  den  Strömungen  des  Meeres- 
wassers bis  zu  einer  Tiefe  von  etwa  300  m  ein,  während  sie  in  dem  Erd- 
boden nur  bis  zu  etwa  10  m  Tiefe  sich  geltend  machen.  Sie  ist  sehr 
gering  am  Äquator  (etwa  1^  C),  nimmt  bis  auf  ein  Maximum  (15^  C.) 
in  einer  Breite  von  etwa  35^  zu  und  nimmt  danach  langsam  gegen  die 
Pole  hin  ab.  Nahe  an  der  Küste  können  die  Temperaturvariationen 
noch  grösser  werden,  so  in  Kattegat  20^  C.  Im  Nordatlanten  zeigt  die 
östliche  Küstenzone  wegen  des  Vorherrschens  des  Golfstroms  eine  viel 
höhere  Temperatur  als  die  westliche  Küstenzone,  wo  der  Polarstrom  nach 
Süden  geht  (Fig.  127).  Etwas  weiter  hinaus  sind  die  Verhältnisse  um- 
gekehrt, sodass  die  Westseite  bis  zu  1000  m  Tiefe  die  wärmere  ist. 
In  grösseren  Tiefen  kehrt  sich  das  Verhältnis  wieder  um. 

Die  mittlere  Temperatur  der  Meeresoberfläche  ist  aus  der  Isother- 
menkarte Fig.  128  ersichtlich.  Für  den  Atlantischen  Ocean  sind  die 
Temperaturverhältnisse  in  etwas  grösserer  Skala  in  Fig.  127  dargestellt. 

Die  Temperatur  nimmt  allmählich  gegen  grössere  Tiefen  ab ,  so- 
dass sie  am  Boden  der  tropischen  Meere  etwa  -f  2^  C.  und  am  Boden 
der  polaren  Meere  — 2^  beträgt.  Die  Abnahme  von  der  Oberfläche 
hinab  geschieht  mit  zunehmender  Tiefe  immer  langsamer,  wie  die  neben- 
gezeichneten Diagramme  (Fig.  129 — 131)  erweisen.  Die  niedrige  Tem- 
peratur des  Bodenwassers  hängt  von  Strömungen  kalten  Polarwassers 
ab,  wie  man  leicht  am  Verhalten  des  Mittelmeeres  (Fig.  129)  sehen 
kann,  wo  die  Temperatur  nicht  unter  11  ^  C.  sinkt. 

Dieses  Verhalten  des  Mittelmeeres  ist  für  tiefere  Binnenmeere  (wie 
das  Rote  Meer,  das  Ochotskische  Meer  u.  s.  w.)  charakteristisch,  welche 
durch  hohe  Schwellen  vom  angrenzenden  Ocean  getrennt  sind.  Die 
mittlere  Temperatur,  welche  in  unter  diesen  Schwellen  liegenden  Schich- 
ten herrscht,   ist  gleich  der  niedrigsten  Temperatur,   welche  die  Ober- 


368 


f'hysik  der  Erde. 


fläche  desselben  Meeres  im  Winter  annimmt.  Dieses  schwerste  Wasser  sinkt 
dann  herunter  und  bildet  das  Bodenwasser.    Infolge  der  gleichmässigen 


Fig.  127.     Temperatur    der  Oberfläche   des  Atlantischen  Oceans   im   Monat  März 

nach  Krümmel. 


III.  Das  Meer. 


369 


Arrhenius,  Kosmische  Physik 


370 


Physik  der  Erde. 


15*= 


20° 


r/' 


500  m 


tooom 


1500  m 


'2000  m 


2500  m 


Temperatur  in  diesen  tieferen  Schichten  findet  daselbst  kein  Umsatz 
von  Wasser  in  nennenswertem  Grade  statt.  Kein  Sauerstoff  wird  zu 
diesen  Schichten  geführt,  die  deshalb  des  Tierlebens  —  die  Pflanzen 
gehen  überhaupt  nie  so  tief  —  nahezu  entblösst  sind.    Da  das  Mittelmeer 

zuerst  näher  untersucht  wurde,  glaubte 
man  anfangs,  dass  ein  ähnliches  Verhalten 
für  alle  tiefen  Meere  charakteristisch 
sein  würde.  Die  Untersuchungen  in  nor- 
dischen Meeren  (von  Sars  und  Torell) 
bahnten  einer  richtigeren  Anschauung  den 
Weg.  Ohne  Zweifel  würde  der  Ocean  sich 
auch  so  verhalten,  falls  nicht  ein  steter 
Unterstrom  von  mit  Luft  wegen  der  nie- 
deren Temperatur  stark  beladenem  Wasser 
reichliche  Mengen  von  Sauerstoff  zur  At- 
mung der  Tiere  in  tieferen  Schichten 
mitbrächte. 

In  dem  westlichen  Teil  des  Stillen 
Oceans  und  dem  ostindischen  Archipel  ist  die  gleichförmige  Temperatur 
der  niedrigsten  Schichten  nicht  durch  die  tiefste  Wintertemperatur  der 
Oberfläche,  sondern  durch  die  Temperatur  an  der  tiefsten  Stelle  der 
Schwelle   gegen   den  Ocean    bestimmt.    Dies  muss  natürlich  eintreffen, 


3000  m 


^**  Therm.  Veph.d. Atlantik. 
.,- Therm.  Veph.d.MittelmefiP3S. 

Fig.  129. 


eooo 


Bermudas 


1000 


2000 


3000 


Aropcn 


Madefrfl 


&000km 


Fig.  130.     Temperatur  der  verschiedenen  Meerestiefen   zwischen  Sandy-Hook    und 

Madeira. 


sobald  diese  Temperatur  niedriger  als  jene  ist  (bei  tief  liegender  Schwelle 
und  kleinen  jährlichen  Temperaturvariationen).  Für  das  Mittelmeer  fallen 
die  beiden  Temperaturen  nahe  zusammen;  die  Schwellontiefe  bei  Gibraltar 
ist  950  m. 

Die  Diagramme  Figg.  129—131  stellen  einige  dieser  charakteristi- 
schen Verhältnisse  dar.     Fig.  129  ist   eine  Darstellung  der  Temperatur 


ITT.  Das  Meer.  37 1 

in  einem  Ocean  (Atlantischen)  und  einem  Binnenmeer  (Mittelmeer)  un- 
weit des  verbindenden  Sundes  (bei  Gibraltar).  Fig.  130  zeigt  die  Tem- 
peratur im  Atlantischen  Meer  auf  der  Linie  Sandy-Hook-Madeira,  wor- 
aus es  hervorgeht,  wie  ausserordentlich  dicht  die  Isothermen  nach  oben 
gelagert  sind,  d.  h.  wie  dünn  die  warme  Oberfläche  des  Oceans  ist.  Dies 
ist  im  grossen  Ocean  noch  auffallender  (nahe  dem  Äquator).  Fig.  131 
endlich  zeigt  (nach  Wilds  Bearbeitung  der  Challenger-Messungen)  die 
komplizierten  Verhältnisse  in  und  um  die  Meeresströmungen.  Die  äusserste 
Kurve  entspricht  36^  n.  Br.  und  70^  w.  L.,  die  mittlere  36^  23'  n.  Br. 
und  71^  5r  w.  L.,  und  die  unterste  37^  25' 
n.  Br.  und  71^  51'  w.  L. 

Noch  kompliziertere  Verhältnisse  kön- 
nen eintreten,  wenn,  wie  in  arktischen 
Gegenden  gewöhnlich,  ein  kalter  Wasser- 
strom zwischen  zwei  warme  Wasserschich- 
ten   oder    ein    warmer    Strom    zwischen 

zwei    kalte    eindringt.     Im    ersten    Falle  ^ ^^«^^fTtFBre-  -  j -^ 

erhält  man  ein  Minimum  der  Temperatur        ^  «ssc&^        mooü 

imd,  wegen    der  tiefen  Bodentemperatur,  Fig.  131. 

darunter  ein  Maximum,  im  zweiten  nur 

ein   Maximum.      Dies    letztere    trifft    nach    Nansens    Messungen    für 
das  Nordpolarbassin  zu,  wo  der  Golfstrom  unter  der  Eisdecke  einsetzt. 

So  lange  es  Eis  an  den  Polen  gegeben  hat  und  noch  giebt,  hat 
und  wird  der  Boden  des  Oceans  die  jetzige  niedrige  Temperatur  sehr 
nahe  konstant  erhalten.  Der  Meeresboden  ist  demnach  in  langer  Zeit 
keinen,  und  überhaupt  sehr  geringen,  Temperaturverzerrungen  in  geo- 
logischen Epochen  ausgesetzt  gewesen.  Die  Bildung  von  Bergmassiven 
ist  deshalb  hauptsächlich  auf  die  Kontinente  beschränkt. 

Im  Gegensatz  zum  Luftmeer  wirkt  der  Ocean  stark  kühlend  auf 
die  Temperatur  seines  Bodens.  Dies  hängt  von  der  ausserordentlich  ge- 
ringen Kompressibilität  und  Wärmeausdehnung  des  Wassers  ab,  im 
Gegensatz  zu  den  Gasen. 

Die  mittlere  Temperatur  der  Meeresoberfläche  ist  immer  höher  als 
diejenige  der  benachbarten  Luftschichten  (etwa  1^— 1,5^  in  der  Nähe  der 
Oberfläche).  Dies  hängt  ohne  Zweifel  damit  zusammen,  dass  das  Meer- 
wasser viel  durchlässiger  ist  für  die  Sonnenwärme  als  für  die  Wärme- 
strahlung zum  Welträume  hinaus.  In  Binnenmeeren  kann  die  be- 
trofiPonde  Differenz  2^  C.  erreichen. 

Das  wärmste  Meer  der  Erde  ist  das  Rote  Meer,  welches   im  nörd- 

24* 


372  Physik  der  Erde. 

liehen  Teile  eine  Oberflächentemperatur  von  im  Maximum  25,9 ^  im 
südlichen  Teile  von  29,5^  aufweist.  Von  da  ab  nimmt  die  Temperatur 
bis  zu  einer  Tiefe  von  700  m  ab,  wo  sie  21,5^  beträgt  und  bis  zum 
Böden  sich  konstant  erhält. 

Diese  Temperatur  entspricht  sehr  nahe  der  Wintertemperatur  in 
der  Umgegend  des  Eoten  Meeres. 

Ähnliche  Verhältnisse  machen  sich  in  Meeresteilen,  welche,  wie 
die  sogenannte  Sulusee  zwischen  Borneo  Mindanao  und  den  Suluinseln, 
scheinbar  in  freier  Kommunikation  mit  dem  Ocean  stehen.  Durch  eine 
Bodenerhebung  von  etwa  730  m  Tiefe  wird  dieser  Meeresteil  vom  Ocean 
abgeschlossen,  wodurch  die  Temperatur  zwischen  dieser  Tiefe  und  dem 
Boden  (4670  m)  sich  konstant  auf  einer  höheren  Temperatur  (10,2  ^  C.) 
als  die  gleichen  Tiefenstufen  des  Oceans  erhält  (vgl.  S.  367). 

Eigentümliche  Temperaturverhältnisse  zeigen  das  Schwarze  Meer 
und  die  Ostsee,  deren  Oberflächenwasser  durch  Zufluss  von  Flusswasser 
einen  geringen  Salzgehalt  gegenüber  dem  aus  den  naheliegenden  Teilen 
des  Oceans  zuströmenden  salzigen  Wasser  am  Boden  aufweist. 

Als  Beispiel  mögen  folgende  Messungen  betreff's  der  Temperatur 
und  des  Salzgehaltes  im  Schwarzen  Meere  im  Sommer  1890  dienen: 

Tiefe  0  25         50  75  100        200        1800      2200  m 

Temperatur  23,2       11,6       7,2        7,4  8,0         8,9         9,0         9,3»    C. 

Dichte  (bei  17,5«  C.)    1,0136   1,0138   1,0142   1,0148     1,0153   1,0164   1,0172    — 

Durch  die  Zunahme  des  Salzgehaltes  mit  der  Tiefe  wird  das  kühle 
Wasser  in  der  Tiefe  50  m  verhindert  zum  Boden  zu  sinken. 

Infolgedessen  ist  die  vertikale  thermische  Cirkulation  des  Meer- 
wassers im  Schwarzen  Meere  zu  einer  Oberflächenschicht  von  etwa 
100  m  beschränkt.  Dieses  Meer  verhält  sich  folglich  in  seiner  wärme- 
regulierenden Eigenschaft  wie  ein  relativ  seichter  See  von  ausserordent- 
lich grosser  Oberfläche.  Die  tieferen  Schichten  stagnieren  gänzlich,  kein 
Säuerstoff  wird  zu  ihnen  von  der  Oberfläche  hingeführt.  Durch  die 
hinuntersinkenden  organischen  Bestandteile  werden  die  Sulfate  dieser 
Schichten  reduziert  und  geben  Schwefelverbindungen  und  Schwefel- 
wasserstoff. Diese  Verunreinigung,  die  in  90  m  Tiefe  unmerklich  ist, 
erreicht  in  125,  200  und  500  m  Tiefe  71,  215  bezw.  570  cm^  Schwefel- 
wasserstoff (bei  0^  und  760  mm)  pro  Liter.  Dadurch  wird  alles  Leben  in 
grösseren  Tiefen  als  etwa  180  m  vernichtet. 

Ahnliche  Verhältnisse,  obgleich  nicht  so  stark  ausgeprägt,  gelten 
auch  für  die  Ostsee.    Im  Sommer  sinkt   die  Temperatur  von   etwa  10^ 


III.  Das  Meer.  373 

bis  15^  C.  an  der  Oberfläche  zu  einem  Minimum  Von  1,5^—2^  in  30 
bis  70  m  Tiefe.  Da  nimmt  wieder  die  Temperatur  zu  und  bleibt  kon- 
stant auf  2,5^—3,5^  C.  bis  zum  Boden.  Die  Wassercirkulation  geschieht 
bloss  zu  einer  Tiefe  von  etwa  55  m.  Unter  dieser  Schicht  nimmt  der 
Sauerstoffgehalt  stetig  ab,  der  Kohlensäuregehalt  dagegen  zu,  eine  starke 
Verarmung  des  Tierlebens  mitführend.  An  vereinzelten  Stellen,  z.  B. 
an  dem  tiefsten  Punkte  der  Ostsee  bei  Landsort  (S.  S.  von  Stockholm), 
kommt  es  sogar  nach  neueren  Untersuchungen  zu  Schwefelwasser- 
stoffbildung am  Boden,  ohne  dass  jedoch  das  Leben  daselbst  gänzlich 
unterdrückt  wird. 

Maximale  Dichte  des  Meereswassers.  Bekanntlich  ist  es  von 
grösster  Bedeutung  für  die  Temperatur  der  Binnenseen,  dass  ihr  Wasser 
ein  Dichtemaximum  bei  4^  C.  besitzt,  welches  oberhalb  des  Gefrier- 
punktes liegt.  Dadurch  wird  die  Eisbildung  an  der  Oberfläche  hervor- 
gerufen, und  tiefere  Wasserteile  bleiben  bei  einer  Temperatur  von  etwa 
4^  C.  erhalten. 

Ein  ähnliches  Verhältnis  trifft  nur  für  schwache  Salzlösungen  zu, 
für  starke  dagegen  nicht,  wie  u.  a.  Eosettis  Untersuchungen  beweisen. 
Bei  zunehmendem  Gehalt  einer  Lösung  von  Chlornatrium  sinkt  das 
Dichtemaximum  erst  langsamer,  dann  schneller,  und  zwar  bis  zu  einem 
Salzgehalte  von  4  Proz.  mit  etwa  2,4^  C.  für  jeden  Prozent.  Dagegen 
sinkt  der  Gefrierpunkt  einer  Chlornatriumlösung  anfangs  etwas  schneller, 
dann  etwas  langsamer,  mit  steigendem  Salzgehalte,  und  zwar  nimmt  der 
Gefrierpunkt  im  Mittel  0,58^  C.  für  jedes  Prozent  Chlornatrium  ab.  Eine 
vierprozentige  Salzlösung  hat  demnach  ein  Dichtemaximum  bei  etwa 
—  5,6^  seinen  Gefrierpunkt  aber  bei  —  2,32^.  Der  Gefrierpunkt  liegt 
also,  umgekehrt  wie  beim  Wasser,  oberhalb  des  Dichtemaximums.  Dies 
trifft  für  Salzlösungen  von  höherem  Salzgehalte  als  2,2  Prozent  zu.  In 
ähnlicher  Weise  verhält  sich  das  Meereswasser,  dessen  Hauptsalzgehalt 
aus  Chlornatrium  besteht.  Meereswasser  von  mittlerem  Salzgehalte  hat 
sein  Dichtemaximum  bei  etwa  — 3,6^  und  den  Gefrierpunkt  um  —2,2^  C. 
Diese  Eigenschaft,  oberhalb  der  Temperatur  des  Dichtemaximums  zu 
gefrieren,  besitzen  die  Meereswässser,  die  mehr  als  etwa  2,5  Proz.  Salz 
enthalten. 

Die  Farbe  der  Meere.  Die  Farbe  des  Meereswassers  wechselt 
innerhalb  sehr  weiter  Grenzen,  die  gewöhnlichsten  Farben  sind  grün 
und  blau  und  Übergänge  zwischen  diesen.  Man  hat  viel  darüber  ge- 
stritten, woher  diese  Farbe  hauptsächlich  herrührt.  Sicher  ist,  dass  die 
Färbung  auf  den  im  Wasser   suspendierten  Teilchen   organischen  und 


374  Physik  der  Erde. 

anorganischen  Ursprunges  beruht.  Keines  Wasser  absorbiert  das  rote 
Ende  des  Spektrums  in  höherem  Grade  als  das  blaue.  Deshalb 
enthält  Licht,  welches  durch  eine  längere  Wassersäule  gegangen  ist, 
einen  Überschuss  an  blauen  Strahlen,  gegenüber  den  roten,  und  erscheint 
bläulich.  Wenn  also  die  reflektierenden  Teile  im  Wasser  sehr  tief 
liegen,  sollte  es  blau  erscheinen.  Wahrscheinlicherweise  bildet  jedoch 
dieser  Umstand  nicht  den  Hauptgrund  der  Blaufärbung  des  Meeres, 
sondern  die  Blaufärbung  des  Meeres  hat  dieselbe  Ursache  wie  diejenige 
der  Luft.  Kleine  suspendierte  Teilchen  reflektieren  alle  Farben,  aber 
je  kleiner  sie  sind,  desto  stärker  wird  die  Reflexion  im  Blau  (und  Ultra- 
violett) gegenüber  derjenigen  im  Rot. 

Wenn  aber  sehr  grosse  Körner  im  Wasser  schweben,  so  werden 
alle  Lichtgattungen  ungefähr  gleich  stark  reflektiert,  das  Wasser  er- 
scheint grau  oder  weiss.  Dies  ist  der  Fall  mit  Flüssen,  welche  von 
Gletschern  herunterkommen  und  sehr  viel  und  groben  Detritus  mit  sich 
schleppen.  Sie  werden  auch  auf  Island  und  in  Norwegen  „hvit-aar", 
d.  h.  weisse  Bäche,  genannt.  Infolge  der  Eigenfarbe  des  Schlammes 
kann  die  Färbung  einen  gelblichen  bis  bräunlichen  Ton  annehmen,  wie 
man  häufig  an  Flüssen,  welche  ihr  Wasser  von  lehmhaltigen  Gegenden 
erhalten,  beobachten  kann.  Derselbe  Fall  trifft  für  das  „gelbe  Meer"  zu, 
in  welches  Hoang-ho  („der  gelbe  Fluss")  kolossale  Mengen  von  fein  ver- 
teiltem Löss  hineinschwemmt,  ebenso  für  das  Meer  ausserhalb  der 
Kongomündung.  Senken  sich  nun  die  gröberen  Partikelchen  zum  Boden, 
so  verschwindet  erst  das  Rot  des  Spektrums  im  reflektierten  Licht,  das 
Meer  sieht  grün  aus.  Dies  ist  die  gewöhnliche  Farbe  des  Meeres  in 
nicht  all  zu  tiefen  Teilen,  wie  z.  B.  der  Ostsee  (flaschengrün),  der  Nord- 
see, der  Bank-  und  Küstengewässer,  ebenso  wie  der  meisten  Flüsse  und 
Binnenseen.  Am  schönsten  ist  die  grüne  Farbe  (aquamarin)  über  Kreide- 
boden, wie  im  englischen  Kanal,  ist  der  Boden  schlammig,  wie  in  der  Nord- 
see, wird  das  Grün  gelblich  und  trübe.  Weiter  von  der  Küste,  wo  weniger 
Sediment  sich  befindet,  also  die  schwebenden  Partikelchen  noch  winziger 
sind,  geht  auch  die  Reflexion  des  gelben  im  Spektrum  verloren  und 
man  erhält  Farbentöne,  die  in  grünblau  bis  reinblau  übergehen.  Die 
blaue  Farbe  ist  in  allen  tiefen  Meeren  vorherrschend.  Diese  Farbe  ist 
um  so  tiefer,  je  stärker  die  Sedimentation,  d.  h.  je  höher  die  Temperatur 
und  der  Salzgehalt  sind.  Deshalb  zeichnen  sich  der  Golfstrom  und  der 
Kuro-Schio  („der  blaue  Strom")  durch  tiefblaue  Farbe  gegen  die  Um- 
gebung ab.  Dabei  kann  aber  bisweilen  das  Wasser  sehr  viele  kleine 
Organismen  enthalten,  wie  z.  B.  in  dem  Californischen  Meerbusen  und 


l  III.  Das  Meer.  375 

dem  Koten  Meer,  deren  Wasser  durch  kleine  rote  Krustaceen  bczw. 
durch  rote  Korallenstöcke  rötlich  gefärbt  erscheint. 

Ebenso  sind  Streifen  im  grönländischen  Meer  von  Diatomaceen  grün 
gefärbt.  Solche  Färbungen  können  ganz  zufällig  sein,  wie  z.  B.  die  an 
Bord  der  „Gazelle"  im  Nov.  1875  beobachtete  grüne  Färbung  des  Meeres 
zwischen  Neu-Seeland  und  den  Fidschi-Inseln.  Diese  ungewöhnliche  Fär- 
bung stammte  von  Massen  von  Salpen. 

Sehr  sonderbar  ist  die  bisweilen  —  nur  bei  Nacht  —  auftretende 
Milchfarbe  des  Meeres,  wodurch  dasselbe  einer  schneebedeckten  Land- 
schaft ähnelt,  und  welche  durch  phosphoreszierende  Organismen  hervor- 
gerufen wird.    Sie  kommt  am  häufigsten  im  Indischen  Ocean  vor. 

Das  allerreinste  Wasser  sollte  aus  mangelnder  Keflexion  schwarz 
erscheinen.  Diese  Farbe  wird  auch  als  für  einige  Alpenseen  charak- 
teristisch angegeben.  Die  schwarzen  Gewässer,  welche  man  im  Norden 
häufig  beobachtet,  erhalten  ihre  Farbe  für  gewöhnlich  aus  Humussäure, 
welche  von  vermodernden  Organismen  herstammt. 

Zur  genauen  Bestimmung  des  Farbentons  eines  Wassers  bedient 
man  sich  einer  Farbenskala,  welche  von  gelb  (Lösung  von  Kalium- 
chromat)  bis  blau  (Lösung  von  Kupfersulfat)  geht.' 

Die  Durchsichtigkeit  des  Wassers.  Schon  seit  mehr  als 
hundert  Jahren  misst  man  die  Durchsichtigkeit  eines  Wassers  in  der 
Weise,  dass  man  eine  weiss  angestrichene  Holzplatte,  welche  durch  Be- 
lastung wagerecht  gehalten  wird,  in  das  Wasser  hineinsenkt,  bis  man 
sie  nicht  mehr  wahrnehmen  kann.  Die  entsprechende  Tiefe  wird  als 
Maass  der  Durchsichtigkeit  des  betreffenden  Wassers  angesehen.  Für 
gewöhnlich  verschwindet  die  Sichtbarkeit  schon  in  einer  Tiefe  von  etwa 
10  m;  im  klaren  blauen  Wasser  des  Genfer  Sees  fand  Forel  diese  Tiefe 
im  Sommer  gleich  6,6  m,  im  Winter  gleich  12,7  m. 

Ein  anderes  Maass  hat  man  in  neuerer  Zeit  verwendet,  indem  man 
in  Glas  eingeschlossene  photographische  Platten  bis  zu  verschiedenen  Tiefen 
ins  Meer  hineinsenkte  und  die  Tiefe  beobachtete,  in  welcher  nach  einer 
bestimmten  Expositionszoit  keine  Lichtwirkung  auf  die  Platte  zu  finden 
war.  Diese  Verschwindungstiefe  ist  viel  grösser  als  die  vorhin  erwähnte 
(im  Mittel  bei  den  von  Forel  getroffenen  Anordnungen  etwa  acht  mal). 
Die  beiden  Bestimmungsweisen  ergeben  nicht  einander  proportionale 
Tiefen,  weil  ganz  andere  Strahlengattungen  auf  das  Auge,  als  auf  die 
empfindliche  Platte  einwirken. 

Die  Verschwindungstiefe  ist  natürlicherweise  (an  klaren  Tagen) 
um  so  grösser,  je  höher  die  Sonne  steht.    So  veränderte  sich  im  Golfe 


376  Physik  der  Erde. 

von  Neapel  die  Verschwindungstiefe,  photographisch  gemessen,  zwischen 
400  und  465  m,  wenn  die  Sonnenhöhe  zwischen  50^  und  68^  zunahm. 
Wegen  der  Schnelligkeit  des  Sinkens  von  suspendierten  Partikeln  in 
Salzwasser,  verglichen  mit  derjenigen  in  Süsswasser,  ist  das  Meer  viel 
durchsichtiger  als  die  süssen  Binnenseen.  Den  Zusammenhang  mit  der 
auch  von  suspendierten  Partikelchen  abhängigen  Farbe  des  Meeres 
ersieht  man  aus  folgender  kleinen  Tabelle  von  Forel: 

Mittlere  Verschwindungstiefe  (optisch):        15,8        10,2  23,2        26,7  m 

Färbung  des  Meerwassers:  grün  grünblau  mattblau  blau. 

Durch  Versuche  mit  reinem  Wasser  in  Röhren  hat  man  nach 
photometrischen  Methoden  ermittelt,  dass  eine  Wassersäule  von  5  m 
Länge  zwei  Drittel  des  einfallenden  Lichtes  verschluckt.  Durch  300  m 
Wasser  vermag  kaum  eine  Spur  von  Licht  durchzudringen.  Diese  Ver- 
suche zeigen  auch,  dass  die  Durchsichtigkeit  des  Wassers  mit  steigender 
Temperatur  abnimmt. 

Es  ist  denn  offenbar,  dass  kein  Licht  in  die  grösseren  Tiefen  des 
Meeres  hineindringt.  Infolgedessen  kann  auch  kein  Pflanzenleben,  das 
zur  Assimilation  Licht  nötig  hat,  in  tieferen  Schichten  des  Meeres  vor- 
kommen. Das  Pflanzenleben  erreicht  eine  Maximaltiefe  von  etwa  360  m. 
Die  grüne  Farbe  der  in  höheren  Schichten  lebenden  Vegetation  geht 
in  tieferen  Schichten,  zu  einer  violetten  oder  rötlichen  über.  Unter 
80  m  Tiefe  ist  die  Flora  sehr  spärlich.  In  den  grossen  Tiefen  kommt 
auch  nur  animalisches  Leben  vor.  Sehr  eigentümlich  erscheint  es,  dass 
eine  grosse  Menge  dieser  in  grossen  Tiefen  lebenden  Tiere  mit  eigenen 
Organen  zur  Entwickelung  von  phosphorescierendem  Licht  versehen  sind, 
was  darauf  hindeutet,  dass  das  Licht  für  sie  von  grosser  Bedeutung  ist; 
es  dient  wahrscheinlicherweise  als  AbschreckmitteL 

Eine  ähnliche  Phosphorescenz  zeigen  auch  mehrere  näher  an  der 
Oberfläche  lebende  Tiere,  welche  das  Meeresleuchten  zustande  bringen. 
Dieses  Leuchten  kommt  in  allen  Zonen  vor,  so  auch  in  der  Ostsee  und 
der  Nordsee  (im  Herbst),  aber  am  prächtigsten  entwickelt  es  sich  in  den 
Tropen.  Das  Leuchten  ist  am  hellsten,  wo  das  Wasser  umgerührt  wird. 
Das  Wasser  am  Buge  und  an  den  Rudern  eines  Bootes  glänzt  bisweilen 
wie  Feuer.  Das  Phosphorescenzlicht  ist  kontinuierlich  mit  einem  Maximum 
im  Grün  und  sehr  schwach  gegen  die  Enden  des  Spektrums.  Es  sind 
zum  grössten  Teil  die  kleinen  Organismen,  welche  zum  „Plankton", 
d.  h.  der  in  dem  Meer  herumtreibenden  grossen  Menge  von  kleinen 
Lebewesen,  gehören,  welche  dieses  Leuchten  hervorbringen.   Das  Plankton 


III.  Das  Meer.  377 

ist  für  die  Charakterisierung  des  Meerwassers  von  sehr  grosser  Bedeutung, 
weil  es  den  höheren  darin  befindlichen  Tieren  zur  Nahrung  dient,  wes- 
halb sie  das  Vorkommen  dieser  höheren  Tiere,  z.  B.  des  Herings,  in  ge- 
wissen Wässern  bedingen.  Es  giebt  sowohl  animalisches  als  vegeta- 
bilisches Plankton.  Die  nordischen  Gewässer  sind  relativ  reich  an 
Plankton,  das  aber  wenige  Arten  enthält. 

Auch  von  höheren  Organismen  giebt  es  ungeheure  Mengen,  welche 
auf  dem  Meere  herumtreiben.  Besonders  Stücke  von  Tangen,  welche 
durch  die  Meereswogen  losgerissen  werden,  spielen  dabei  eine  grosse 
Rolle,  w^eil  sie  durch  Luftblasen  schwimmend  erhalten  werden.  Von 
den  Luft-  und  Meeresströmungen  werden  sie  auf  dem  Meere  herum- 
getrieben und  sammeln  sich  da  an  in  grossen  Mengen,  wo  Windstille 
herrscht  und  keine  Meeresströmungen  vorkommen.  Sie  bilden  da  die 
sogenannten  Sargassomeere,  wovon  das  bedeutendste  im  Atlantischen 
Ocean  zwischen  21^  und  34^  n.  Br.  und  39^  und  75^  w.  L.  liegt. 

Die  Meeresströmungen.  Theoretisches.  Schon  bei  der  Be- 
sprechung des  Salzgehaltes  und  der  Temperatur  in  den  verschiedenen 
Teilen  des  Weltmeeres  musste  bei  mehreren  Gelegenheiten  auf  den 
grossen  Einfluss  der  Meeresströmungen  hingewiesen  werden.  Sie  sind 
auch  von  der  allergrössten  Bedeutung  in  klimatologischer  Hinsicht. 

Es  giebt  viele  Ursachen,  welche  eine  Cirkulation  des  Meereswassers 
bedingen.  In  der  Nähe  des  Äquators  bewirkt  die  starke  Sonnenstrahlung 
eine  viel  grössere  Abdunstung  als  diejenige,  welche  von  der  Wasser- 
zufuhr durch  die  Flüsse  und  dem  Niederschlag  gedeckt  werden  kann. 
Andererseits  verhält  es  sich  gerade  umgekehrt  in  den  polaren  Gegen- 
den, wo  von  dem  Niederschlag  und  den  Flüssen  kolossal  viel  Wasser 
dem  Meere  zugeführt  wird  und  die  Verdunstung  wegen  der  niedrigen 
Temperatur  ausserordentlich  gering  ist.  Es  muss  also  fortwährend 
von  den  polaren  Gebieten  Wasser  zu  den  äquatorialen  hinströmen,  wo 
es  allmählich  verdunstet.  Der  zweite  Teil  des  Kreislaufes  des  Wassers 
geht  durch  die  Luft  und  die  Flussläufe. 

Zufolge  der  niederen  Temperatur  sinken  die  polaren  Gewässer, 
welche  wohl  zum  grössten  Teil  bei  dem  Schmelzen  des  arktischen 
Eises  entstanden  sind,  in  die  Tiefe  hinab  und  gelangen  längs  dem 
Meeresboden  zu  den  äquatorialen  Gebieten.  Dadurch  bewirken  sie  die 
eigentümlich  erscheinende  niedrige  Temperatur  am  Meeresboden. 

Durch  diesen  Umstand  wird  ein  allmähliches  Nachsinken  des  Polar- 
wassers gegen  den  Äquator  bewirkt. 

Die  häufig  starken  Strömungen,  welche   an   der  Meeresoberfläche 


378  Physik  der  Erde. 

beobachtet  werden,  verdanken  ihr  Dasein  hauptsächlich  dem  Stoss  des 
Windes,  wie  schon  lange  die  Seeleute  sich  den  Vorgang  vorgestellt 
haben.  Damit  ein  erheblicher  Strom  entsteht,  müssen  aber  die  Winde 
lange  Zeit  in  derselben  Richtung  wirksam  sein.  Die  Luft  und  das  Wasser 
l)ilden  zwei  Kontinua  mit  einem  sehr  plötzlichen  Übergange  an  der  Ober- 
tiäche.  Wenn  nun  die  beiden  Kontinua  sich  gegeneinander  verschieben, 
so  ist  das  Gleichgewicht,  wie  Helmholtz  gezeigt  hat,  nicht  länger 
stabil,  falls  die  ßegrenzungsfläche  eben  ist,  sondern  es  entsteht  eine 
Wellenbewegung,  worüber  unten  mehr  berichtet  werden  soll.  Ausserdem 
linde t  aber  auch  eine  Reibung  an  der  Grenzfläche  statt,  welche  bestrebt 
ist,  die  relative  Geschwindigkeit  zu  vermindern.  Die  obersten  Schichten 
des  Wassers  werden  infolgedessen  von  dem  Winde  mitgeschleppt.  Diese 
Schichten  ziehen  andere  tiefer  liegende  zufolge  der  inneren  Reibung  mit. 
Die  Bewegung  dringt  also  tiefer  und  tiefer  hinein,  je  länger  die  Be- 
wegung an  der  Oberfläche  dauert.  Die  Mitteilung  der  Bewegung  nach 
unten  geschieht  nach  Gesetzen,  die  sehr  ähnlich  denjenigen  der  Wärme- 
leitung sind. 

Eine  nähere  Untersuchung  der  theoretischen  Seite  dieses  Gegen- 
standes ist  von  Zöppritz  ausgeführt  worden. 

Die  Tiefe,  zu  welcher  eine  hin-  und  hergehende  Bewegung,  wie  der  täg- 
lich periodische  Land-  und  Seewind  in  die  Wogen  hineindringt,  wird  eine 
sehr  massige,  ebenso  wie  die  tägliche  Wärmeschwankung  zufolge  der  Sonnen- 
strahlung nur  in  sehr  geringe  Tiefen  unter  der  Erdoberfläche  fühlbar  ist. 
Dabei  ist  es  zu  bemerken,  dass  die  innere  Reibung  mit  steigender  Tem- 
peratur stark  abnimmt,  sie  ist  etwa  halb  so  gross  bei  25 ^  wie  bei  0^, 
weshalb  die  Bewegung  in  kältere  Wässer  tiefer  als  in  wärmere,  und 
in  25^  warmes  Wasser  halb  so  tief  wie  in  solches  von  0*^  hineindringt. 
Auch  der  Salzgehalt  hat  einen  Einfluss  auf  die  innere  Reibung  des  Was- 
sers, derselbe  ist  aber  sehr  gering,  indem  die  Reibung  durch  Zusatz 
von  1  Proz.  Salz  um  etwa  0,015  zunimmt.  Da  nun  der  Salzgehalt  im 
Ocean  nahezu  konstant  ist,  so  können  wir  von  diesem  Einfluss  absehen. 

Zöppritz  hat  eine  Berechnung  ausgeführt,  wie  schnell  die  Be- 
wegungen bei  einer  Temperatur  von  10 ^  C.  ins  Meer  hineindringen. 
Er  fand,  dass  239  bezw.  41  Jahre  nötig  sind,  damit  die  Bewegung  in 
einer  Tiefe  von  100  m  die  Hälfte,  bezw.  ein  Zehntel  der  Geschwindigkeit 
der  als  konstant  angenommenen  Bewegung  an  der  Oberfläche  erreicht. 
Dabei  wird  vorausgesetzt,  dass  am  Anfang  alle  Teile  stillstanden 
ausser  denjenigen  in  der  Nähe  der  Oberfläche.  In  Wasser  von  0^  bezw. 
25^  C.  würde  die  erreichte  Tiefe  in  derselben  Zeit  1,37  bezw.  0,68  mal 


M 


III.  Das  Meer.  .  37g 

SO  gross   sein.     Die  Keibimg   entspricht   dem   Wärmeleitungsvermögen 
bei  den  thermischen  Untersuchungen. 

Ebenso  wie  die  Wärme  dringt  die  Bewegung  zu  Tiefen  hinein,  die 
der  Quadratwurzel  aus  der  Wirkungszeit  proportional  sind.  Damit  also 
die  Bewegung  in  10  m  Tiefe  0,5  v  bezw.  0,1  v  betrage,  wenn  v  die  Ober- 
flächengeschwindigkeit bezeichnet,  sind  2,39  bezw.  0,41  Jahre  erforder- 
lich. Man  sieht  daraus,  wie  äusserst  wenig  tief  die  Bewegungen  von 
nicht  sehr  langer  Periode  eindringen.  Die  Monsunwinde  in  Indien  haben 
eine  Periode  von  einem  Jahre,  sodass  man  sagen  kann,  dass  sie  etwa 
ein  halbes  Jahr  in  die  eine  (von  Osten  längs  der  indischen  Küste  im 
Dez. — Febr.),  das  andere  halbe  Jahr  in  die  andere  Kichtung  wehen. 
Diese  Monsune  bringen  Meeresströmungen  von  derselben  Periode  an 
der  Meeresoberfläche  hervor." 

Es  dringt  diese  Bewegung  nach  der  Theorie  nur  zu  etwa  10  m 
Tiefe  mit  0,1  ihrer  Amplitude  hinein,  nach  dem  was  oben  gesagt 
wurde.  Wegen  der  höheren  Temperatur  an  der  Oberfläche  (als  10^) 
wäre  das  genannte  Hineindringen  sogar  auf  etwa  9  m  beschränkt. 

Noch  weniger  wirksam  sind  die  Luftbewegungen  von  täglicher 
Periode,  welche  1/^365,  d.  h.  etwa  1 9  mal  weniger  tief  als  die  jährlichen, 
hineindringen,  deren  Amplitude  also  schon  in  0,4  m  Tiefe  auf  0,1  der- 
jenigen der  Oberfläche  reduziert  sein  sollte. 

Die  Abnahme  der  Amplitude  mit  der  Tiefe  geschieht  so  wie  die- 
jenige der  Temperatur,  wenn  dieselbe  an  der  Oberfläche  schwankend  ist: 
Wenn  die  Tiefen  nach  einer  arithmetischen  Reihe  zunehmen,  so  nehmen 
die  Amplituden  der  periodischen  Schwankung  nach  einer  geometrischen 
Keihe  ab.  Die  Maxima  und  Minima  sind  in  der  Tiefe  gegen  diejenigen 
an  der  Oberfläche  verspätet,  ebenso  wie  bei  der  Wärmeleitung  durch 
die  Erdkruste.  Zöppritz  hat  berechnet,  dass  bei  einer  Periode  von 
1  Jahr  Länge  ein  Minimum  in  11,9  m  Tiefe  gleichzeitig  mit  dem  Maximum 
an  der  Oberfläche  eintrifft.  Für  eine  Schwankung,  deren  Periode  einen 
Tag  beträgt,  ist  der  Abstand  zwischen  einem  Maximum  und  dem  darauf 

folgenden  Minimum  1^365  mal  geringer,  d.  h.  etwa  0,6  m. 

Bei  der  Ableitung  dieser  Sätze  wird  es  vorausgesetzt,  dass  gar  keine 
mechanische  Umrührung  stattfindet,  was  natürlicherweise  keineswegs, er- 
füllt" ist  (vgl.  S.  410).  Dies  geschieht,  wenn  nicht  in  anderer  Weise, 
dadurch,  dass  in  der  Übergangszone  zwischen  zwei  Flüssigkeitsschichten 
von  verschiedener  Geschwindigkeit  Wirbelbewegungen  entstehen.  Die 
dadurch  hervorgerufene  Umrührung  bringt  immer  ein  tieferes  Ein- 
dringen zustande  als  die  Theorie  verlangt. 


380  -         Phj'sik  der  Erde. 

Wie  man  aus  dem  Gesagten  ersieht,  können  die  periodischen 
Strömungen  nur  eine  unbedeutende  Mächtigkeit  erreichen.  Die  bedeu- 
tendste Strömung  dieser  Art  ist  der  im  indischen  Ocean  nördlich  vom 
Äquator  herrschende  Monsun -Strom,  welcher  im  Sommer  nach  Osten, 
im  Winter  nach  Westen  gerichtet  ist.  Damit  die  mächtigen  Ströme 
entstehen,  welche  die  grosse  Cirkulation  im  Weltmeere  hervorbringen, 
müssen  Winde  von  stetigem  Charakter  wirksam  sein,  wie  dies  in  den 
Passatregionen  zutrifft. 

Wenn  ein  stetiger  Wind  über  einer  Wasseroberfläche  von  einer 
gewissen  Tiefe  weht,  so  wird,  theoretisch  genommen,  der  Endzustand 
sich  so  verhalten,  dass  die  Geschwindigkeit  linear  mit  zunehmender 
Tiefe  abnimmt.  Wenn  also  die  Geschwindigkeit  an  der  Oberfläche  v 
genannt  wird,  so  ist  sie  am  Boden  (Tiefe  h)  0,  in  der  Tiefe  0,1  h  bezw. 
0,5  h  erreicht  sie  die  Werte  0,9  v  bezw.  0,5  v  u.  s.  w.  Dies  entspricht 
gänzlich  der  Temperaturverteilung  in  einer  gleichförmig  leitenden  Masse, 
die  von  zwei  parallelen  Oberflächen  begrenzt  wird,  welche  die  Temperaturen 
V  und  0  besitzen. 

Da  nun  entgegen  dieser  theoretischen  Ableitung  die  grossen  Meeres- 
ströme im  allgemeinen  nicht  bis  zum  Meeresboden  gespürt  werden,  so 
kann  dies  nur  davon  abhängen,  dass  in  tieferen  Schichten  andere 
Strömungen  herrschen.  Der  Golfstrom  erreicht  eine  sehr  beträchtliche 
Tiefe,  welche  häufig  1000  m  tibersteigt,  an  der  Westküste  von  Irland 
sogar  bis  zu  1800  m  hinuntergeht. 

Krümm el  hat  einige  interessante  Versuche  gemacht,  um  den 
Mechanismus  nachzuahmen,  welcher  die  Meeresströme  hervorruft.  In 
ein  rechteckiges  Gefäss  (siehe  die  Figur  132)  legte  er  zwei  feste  Körper 
a  und  h  ein,  welche  ungefähr  die  Kontouren  der  westafrikanischen  und 
brasilianischen  Landmassen  in  der  Nähe  des  Äquators  darstellen.  Den 
übrigen  Teil  des  Gefässes  füllte  er  mit  Wasser,  welches  demnach  dem 
Atlantischen  Ocean  entsprechen  soll.  Über  der  Wasseroberfläche  brachte 
er  mit  Hilfe  von  Gebläseröhren  Luftströmungen  p^  und  p^  zustande, 
welche  den  in  diesen  Gegenden  herrschenden  Passatwinden  ähnlich  ge- 
richtet waren.  Mit  Hilfe  von  kleinen  Schwimmkörpern  konnte  er  den 
Bewegungen  des  Wassers  an  der  Oberfläche  folgen.  Die  Richtung  dieser 
Bewegungen  werden  durch  die  Pfeile  in  der  Figur  gekennzeichnet.  Er 
erhielt  auf  diese  Weise  eine  dem  thatsächlich  in  der  Nähe  des  Äquators 
im  Atlantischen  Meere  herrschenden  Strömungssystem  ähnliche  Strom- 
verteilung. Die  in  der  Figur  nach  links  gerichteten  Strömungen  ent- 
sprechen  dem  Nord-  bezw.  Südäquatorialstrom.    Die  Rückströmung  in 


in.  Das  Meer. 


381 


der  Mitte  und  längs  der  unteren  Seite  von  h  entspricht  dem  Guinea- 
strom, die  oben  und  unten  nach  rechts  verlaufenden  Ströme  repräsen- 
tieren den  Golfstrom  bezw.  den  'Westwindtrift. 

Aus  diesem  Beispiel  ist  auch  der  Einfluss  der  Landkonturen  er- 
sichtlich. Die  hervorragenden  Ecken  von  a  und  h  teilen  die  Strömungen 
entzwei,  wie  es  in  der  Natur  geschieht.  Ein  anderer  Umstand,  welcher 
in  geringerem  Grade  die  Richtung  der  Ströme  beeinflusst,  ist  die  Achsen- 
drehung der  Erde  (Mohn),  welche  die  Strömungen  auf  der  Nordhalbkugel 
nach  rechts,  diejenigen  auf 
der  Südhalbkugel  nach  links 
abbiegt.  Einen  modifizieren- 
den Einfluss  können  zufällige 
Winde  und  ungew^öhnliche 
Luftdruckverhältnisse  aus- 
üben. 

Methoden  zur  Beob- 
achtung der  Meeres- 
strömungen. Die  Anwe- 
senheit von  Meeresströmun- 
gen ist  schon  lange  bekannt. 
Die    Seefahrer    haben    den  Fig.  132. 

störenden  Einfluss  derselben, 

seitdem  Oceanfahrt  betrieben  wurde,  erkannt.  Die  Notizen  über  die  an 
Schiffen  beobachteten  Stromversetzung,  wodurch  der  Kurs  des  Schiffes 
von  dem  berechneten  sich  unterscheidet,  haben  wichtige  Beiträge  zur 
Kenntnis  der  Meeresströmungen  geliefert  (Maury). 

Zur  Bestimmung  der  Geschwindigkeit  der  Meeresströmungen  werden 
Schwimmkörper  von  einem  verankerten  Schiffe  ausgeworfen,  deren  Bahn 
in  einer  bestimmten  Zeit  ermittelt  wird.  Gewöhnlich  wird  dazu  der 
Schififslog  benutzt,  mit  dem  man  für  gewöhnlich  unter  Annahme,  dass 
das  Wasser  still  steht,  die  Geschwindigkeit  des  Schiffes  misst. 

Schwimmende  Körper  treiben  häufig  auf  dem  Meere  herum  und  können, 
wie  Hölzer,  Früchte  oder  Pflanzenfceile,  Wrackteile  (vgl.  S.  384)  oder  Flus's- 
körper  der  Fischernetze,  oft  in  Bezug  auf  ihre  Herkunft  bestimmt  werden. 
Dadurch  kann  man  interessante  Schlüsse  über  das  Bestehen  von  Meeres- 
strömungen zwischen  zwei  Orten  ziehen;  über  die  Geschwindigkeit  er- 
hält man  meistenteils  keine  Anhaltspunkte.  Als  Beispiel,  wie  weit 
solche  Körper  treiben  können,  möge  angeführt  werden,  dass  man  auf  Spitz- 
bergen Bohnen  der  tropischen  Pflanze  Entada  gigalobium  gefunden  hat. 


382 


Physik  der  Erde. 


Von  Schiffen  werden  häufig  sogenannte  Flaschenposten  ausgeworfen. 
Dieselben  bestehen  aus  einer  sehr  gut  verkorkten  Flasche,  worin  ein 
Papier  mit  den  gewünschten  Notizen  und  ausserdem  Angaben   von  Ort 

und  Zeit  beim  Hinauswerfen  eingelegt 
wird.  Sie  werden  von  anderen  Schiffen 
oder  Fischerbooten  oder  endlich  von 
Strandbewohnern  nach  ihrer  Strandung 
^        I  -r  \M  y~~p  aufgenommen.       In    vielen    Fällen    kann 

\ 1      man   dann  die  Treibezeit  bestimmen  und 

Fig.  133.  auf  diese  Weise  eine  Nachricht  über  die 

Strömungsgeschwindigkeit  erhalten.  Solche 
Flaschenposten  werden  häufig  eigens  zur  Ermittelung  des  Ganges  der 
Meeresströmungen  hinausgeworfen. 

Zur  Untersuchung  von  tieferen  Strömungen  verwendet  man  einen 
Apparat  von  Aime  (Fig.  133).  Dieser  Apparat  besteht  aus  einer  Art 
Windfahne  P,  welche  in  das  Meer  zur  gewünschten  Tiefe  hinunterge- 
senkt wird.  An  der  Windfahne,  welche  sich  in 
der  Richtung  der  Meeresströmung  einstellt,  ist  oben 
eine  dicht  verschlossene  Dose  (M)  mit  Glasdeckel  be- 
festigt. In  derselben  schwingt  eine  Magnetnadel  frei 
auf  einer  Spitze.  Durch  irgend  eine  Vorrichtung  kann 
diese  Nadel  in  ihrer  Gleichgewichtslage  arretiert  wer- 
den, bevor  der  Apparat  hinaufgezogen  wird.  Man 
liest  nachher  den  Winkel  zwischen  dem  magnetischen 
Meridian  und  der  Stromesrichtung  ab. 

Man  kann  auch  die  Geschwindigkeit  von  der  un- 
teren Strömung  mit  Hilfe  des  folgenden  Apparates  be- 
stimmen. An  einer  Boje  A  (Fig.  134)  ist  mittelst 
eines  Drahtes  h  von  bestimmter  Länge  ein  grosser  Rah- 
men c  befestigt,  in  welchem  zwei  grosse  Segeltuch- 
stücke senkrecht  zu  einander  ausgespannt  sind.  Unten 
ist  ein  Senkblei  s.  Die  Strömungsrichtung  und  Stromstärke  ist  sowohl 
aus  der  Bewegung  wie   aus   der  Neigung  von  A  zu  ermitteln. 

Schliesslich  kann  man  die  Geschwindigkeit  der  tieferen  Ströme  mit 
Hilfe  von  einer  Schraube  ermitteln,  die  ein  Zählwerk  in  Gang  setzt  und 
nach  Zurücklegung  von  je  hundert  Umdrehungen  ein  elektrisches  Signal 
zum  Schiffe  absendet  (Amsler-Laffon).  Die  Schraubenachse  wird 
durch  eine  Art  Windfahne  parallel  der  Stromesrichtung  gehalten.  Kin 
anderer  Apparat  ist  auf  das  Prinzip  des  Robinson  sehen  Schalen- Anemo- 


Fig.  134. 


III.  Das  Meer.  3§3 

meters  zum  selben  Zweck  konstruiert  (von  Arwidson).  Derselbe  kann 
in  einem  gegebenem  Moment  vom  Schiff  aus  arretiert  oder  in  Gang  ge- 
setzt werden. 

In  neuester  Zeit  hat  Nansen  einen  „Strommesser"  konstruiert, 
welcher  als  eine  Verbesserung  des  später  zu  besprechenden  Stromqua- 
dranten anzusehen  ist.  Eine  hohle  Glaskugel  ist  an  einer  Pendelstange 
befestigt,  welche  mittelst  eines  biegsamen  Fadens  oben  an  einem  mit 
Senkblei  versehenen  Kahmen  befestigt  ist.  Durch  ein  längs  der  Stange 
verschiebbares  Metallgewicht  kann  der  Auftrieb  des  aus  Kugel  und 
Stange  bestehenden  Systemes  nach  Belieben  reguliert  werden.  In  dieser 
Weise  kann  die  Empfindlichkeit  des  Apparates  beliebig  gesteigert  werden. 
Die  Geschwindigkeit  der  Meeresströmung  in  einer  bestimmten  Tiefe, 
zu  welcher  der  Kahmen  hinuntergelassen  wird,  kann  aus  der  Ablenkung 
der  Pendelstange  von  der  vertikalen  Lage  bemessen  werden.  Diese  Ab- 
lenkung und  die  Eichtung  einer  in  der  Nähe  befindlichen  Magnetnadel 
werden  vor  dem  Aufziehen  durch  mechanische  Mittel  fixiert.  Die  Ab- 
lenkung ist  dem  Quadrat  der  Wassergeschwindigkeit  nahezu  propor- 
tional. 

Mit  Hilfe  aller  der  so  gewonnenen  Erfahrungen  hat  man  Karten 
(Fig.  135)  über  die  Eichtung  der  Meeresströmungen  entworfen.  Zuerst 
möge  bemerkt  werden,  dass  die  Winde  auch  etwas  zu  den  vertikalen 
Strömungen  beitragen.  Wo  der  Wind  stetig  von  der  Küste  weg  weht, 
wird  das  Wasser  weggefegt  und  neues  strömt  aus  der  Tiefe  zu.  Dieses 
Bodenwasser  macht  sich  durch  seine  Kälte  bemerklich.  Solche  Auf- 
triebe von  kaltem  Wasser  befinden  sich  an  der  Westküste  Amerikas 
(Canada  und  Vereinigten  Staaten,  sowie  Peru)  und  Afrikas  (Marokko, 
Kongo  und  Benguelaküste)",  ebenso  wie  an  der  Somaliküste  (Ostafrika). 

Die  wichtigsten  Meeresströmungen.  Die  Horizontalströmungen 
des  Meeres  sind  in  der  nachstehenden  Karte  (Fig.  135)  eingezeichnet.  Die 
Hauptströmungen  bilden  Wirbel,  deren  Drehrichtung  auf  der  zum  Äquator 
gewandten  Seite  von  0  nach  W  gehen.  Es  giebt  zwei  solche  grosse  Wirbel 
auf  der  nördlichen  Halbkugel  im  Stillen  Ocean  zwischen  10^  und  50^ 
n.  Br.  und  im  Atlantischen  Ocean  zwischen  10^  und  30^  n.  Br.,  drei 
auf  der  südlichen,  einer  im  Stillen  Ozean  zwischen  5^  und  45^  s.  Br., 
einer  im  Atlantischen  Ocean  zwischen  0^  und  40^  s.  Br.  und  einer  im 
Indischen  Ocean  zwischen  denselben  Breiten.  Von  diesen  sind  die  zwei 
Wir])el  im  Stillen  Ocean  die  bei  weitem  bedeutendsten.  Südlich  von 
den  drei  Wirbeln  der  südlichen  Hal])kugel  herrscht  der  von  West  nach 
Ost  gerichtete  antarktische  Strom.      Im  hohen  Norden  geht  ein  Strom 


384 


Physik  der  Erde. 


ITT.  Das  Meer. 


385 


von  Ost  nach  West  nördlich  von  der  sibirischen  Küste  bis  Nordost- 
gTönland,  dann  folgt  sie  der  Ostküste  Grönlands  bis  sie  an  der  Südspitze 
verschwindet  (sich  mit  einem  Zweig  des  Golfstromes  längs  der  West- 
küste Grönlands  mischt).  Von  Baffinsbay  geht  ein  zweiter  Polarstrom 
aus  („the  cold  wall"),  welcher  der  Ostküste  Nordamerikas  folgt.  Ein 
ähnlicher  Polarstrom,  von  Behringssund  und  dem  Ochotskischen  Meer 
anfangend,  kühlt  die  ostasiatische  Küste  ab. 

Die  für  uns  interessanteste  Meeresströmung  ist  der  Golfstrom, 
welcher  in  der  Meeresenge  südlich  von  Florida  anfängt.  Sie  ist  eigent- 
lich eine  Abzweigung  des  nördlichen  Äquatorialstroms.  In  der  Yucatan- 
strasse  hat  sie  eine  Tiefe  von  nur  400  m  und  transportiert  etwa  17000 
Kubikkilometer  in  24  Stunden,  d.  h.  0,2  Kubikkilometer  pro  Sekunde. 
Im  Floridakanal  ist  ihre  Tiefe  etwa  800  m,  ihre  Geschwindigkeit  in  der 
Mitte  beträgt  nach  Bartlett  und  Sigsbee  im  Mittel  134  km  pro  Tag, 
mit  einem  Maximum  von  220  km  pro  Tag,  entsprechend  1,5  bis  2,5  m 
pro  Sekunde.  Dies  sind  Geschwindigkeiten,  die  der  Rhein  bei  Koblenz 
kaum  bei  Hochwasser  erreicht  (1,88  m  pro  Sekunde).  Nachher  folgt 
sie  der  amerikanischen  Küste,  bis  sie  auf  dem  40.  Breitegrade  in  nahezu 
gerade  östlicher  Richtung  abbiegt.  Weiter  nach  Osten  tritt  die  Zer- 
faserung des  Golfstromes  ein,  indem  ein  Teil  nach  Südost  abbiegt  und 
parallel  der  marokkanischen  Küste  als  nordafrikanische  Strömung  fliesst. 
Ein  anderer  Zweig  sucht  sich  nach  Nordost  zur  Küste  Irlands,  wovon 
Abzweigungen  zur  Dänemarkstrasse  (zwischen  Island  und  Grönland) 
und  zur  norwegischen  Küste  ausgehen,  welche  letztere  dann  nach 
Osten  zur  Küste  von  Novaja  Semlja  und  Sibirien  hinstrebt.  Eine 
andere  Verzweigung  bespült  die  Westküste  von  Spitzbergen  und  hält 
das  Meer  da  offen.  Sie  hebt  sich  durch  ihre  blaue  Farbe  gegen  das 
grünliche  Polarmeer  ab.  An  der  Bäreninsel,  in  der  Mitte  zwischen 
Spitzl)ergen  und  der  norwegischen  Küste  begegnet  sie  einer  polaren 
Strömung,  wodurch  diese  Gegend  durch  starke  Nebelbildung  charakteri- 
siert wird. 

Der  grosse  Ocean  besitzt  im  Kuro-Schio  eine  dem  Golfstrom  ähnliche 
Strömung,  welche  durch  ihre  tiefblaue  Farbe  sich  vom  übrigen  Meer 
unterscheidet.  Sie  zweigt  in  der  Nähe  von  Mindanao  von  der  nördlichen 
Äquatorialströmung  ab,  bespült  die  Küsten  von  Formosa  und  Japan, 
bildet  dann  einen  mächtigen  Bogen  nach  Osten  und  fliesst  als  Cali- 
fornischer  Strom  an  der  Westküste  Nordamerikas  zum  nördlichen  Äqua- 
torialstrom zurück. 

Diese  Meeresströme  führen  einen  ungelieuren  Wärmevorrat  mit  sich 

Arrhenius,  Kosmische  Physik.  25 


3  §(3  Physik  der  Erde. 

und  bilden  dadurch  einen  höchst  bedeutenden  klimatischen  Faktor, 
indem  sie  einen. Teil  ihrer  Wärme  an  die  Luft  abgeben.  Das  Gegen- 
teil gilt  für  die  vom  Norden  kommenden  kalten  Ströme.  Die  Biegungen 
der  Jahresisotherme  des  Meeres  (Fig.  127 — 128)  zeigen  auch  deutlich 
die  Anwesenheit  der  betreffenden  Ströme  an;  indem  sie  bei  warmen 
Strömungen  lange  Zungen  gegen  Norden,  bei  kalten  gegen  Süden  aus- 
senden. 

Bei  seinem  Gang  durch  die  Floridastrasse  besitzt  der  Golfstrom  eine 
Temperatur  von  nahezu  30^  C,  also  5^  mehr  als  das  umgebende 
Meer.  In  der  Höhe  von  Newfoundland  überstieg  seine  Temperatur 
diejenige  der  Umgebung  mit  nicht  weniger  als  10— 15^  C.  im  Winter. 
Der  Kuro-Schio  besitzt  ebenfalls  an  der  japanischen  Küste  eine  Temperatur, 
welche  diejenige  der  Umgebung  mit  5 — 10^  C.  übertrifft. 

Die  Temperatur  des  kalten  Stromes  an  der  Küste  von  Peru  beträgt 
15-^16  ^  während  das  umgebende  Meer  eine  Temperatur  von  28*^  C. 
besitzt.  Der  Polarstrom  an  der  Ostküste  Nordamerikas  (der  Labrador- 
strom) drückt  dort  die  Temperatur  bedeutend  herab. 

Die  verschiedene  Dichte  der  verschiedenen  Meereswasserschichten 
übt  nur  in  besonders  begünstigten  Fällen  eine  stromerweckende  Wirkung 
aus.  Dies  trifft  in  den  Meeresengen  zu,  wo  zwei  Meere  von  verschiedenem 
Salzgehalt  aneinander  stossen  und  wo  deshalb  die  Linien  für  gleiches 
spezifisches  Gewicht  (oder  Salzgehalt)  sehr  dicht  aneinander  liegen.  Es 
streben  daselbst  die  verschieden  dichten  Schichten  gewissermaassen  umzu- 
kippen, sodass  die  schwereren  nach  unten  fallen,  die  leichteren  sich 
auf  der  Oberfläche  ausbreiten.  Ein  solcher  Fall  trifft  an  der  Grenze 
(Kattegat)  zwischen  Ostsee  und  Nordsee  ein.  Das  Ostseewasser  breitet 
sich  auf  der  Oberfläche  aus  und  nimmt  langsam  durch  Diffusion  und 
Wirbelbildung  an  Salzgehalt  zu.  An  der  anderen  Seite  dringt  das 
Nordseewasser  längs  dem  Boden  in  die  Ostsee  hinein  und  die  verschieden 
salzhaltigen  Schichten  bilden  keilförmige  Ausläufer,  welche  weit  in  die 
Ostsee  hinein  sich  geltend  machen.  An  der  Grenze  zu  den  weniger 
salzhaltigen  Schichten  verlieren  die  tieferen  von  der  Nordsee  hinein- 
geströmten Wassermassen  allmählich  ihr  Salz,  werden  durch  Wirbel 
mit  dem  Ostseewasser  mitgeschleppt  und  strömen  zum  Kattegat  zurück. 

Ein  ähnliches  Verhältnis  herrscht  an  dem  Eingange  zum  Mittelmeer 
(Gibraltar-Strasse)  und  es  dringt  ebenfalls  ein  Strom  (mit  einer  Ge- 
schwindigkeit von  3 — 8  km  pro  Stunde  je  nach  der  Windrichtung)  von 
relativ  salzarmen  Wasser  aus  dem  Atlanten  hinein,  während  in  grösseren 
Tiefen  ein  salzreicher  Gegenstrom  vom  Mittelmeer  hinausgeht.  Der  Ober- 


III.  Das  Meer.  3g 7 

Hächeustrom  fliesst  danach  längs  der  nordafrikanischen  Küste  bis  nach 
Cypern  hin.  Diese  Strömungsweise  ist  durch  die  starke  Ahdunstung 
im  Mittelnleere  bedingt.  Eine  gleichartige  Einströmung  findet  in  das 
Rote  Meer  statt. 

Den  grossen  Zufiuss  von  Flusswasser  giesst  das  Azowsche  Meer  in 
einem  mächtigen  Strom  bei  Kertsch  in  das  Schwarze  Meer  aus,  welches 
wiederum  an  den  Dardanellen  mit  einem  Strom,  dessen  Oberflächen- 
geschwindigkeit 9 — 10  km  pro  Stunde  beträgt,  ins  Ägeische  Meer  sein 
Wasser  ergiesst. 

Bei  der  Mündung  der  Flüsse  nimmt  man  ähnliche  Ströme  wahr. 
In  diesem  Fall  kann  sogar  (nach  Ekman)  die  hydrodynamische  Wir- 
kung der  grossen  AusÜussgeschwindigkeit  bewirken,  dass  die  salzhaltigen 
Schichten  des  Meeres  gehoben  werden  und  in  entgegengesetzter  Richtung 
gegen  die  Flussmündung  hinaufsteigen,  wovon  sie  sich  längs  dem  Boden 
des  Flusses  keilförmig  ausbreiten. 

Die  Meeresströme  sind  für  die  Schiffahrt  insofern  von  grösster 
Bedeutung,  als  man  mit  ihrer  Hilfe  viel  schneller  vorwärts  segeln  kann, 
als  ohne  sie.  Man  hat  deshalb  „Seewege"  auf  Karten  ausgelegt,  bei 
welchen  immer  die  Meeresströme  förderlich  wirken.  So  z.  B.  gehen 
Segelschiffe  von  England  nach  Australien  an  Südafrika  vorbei,  während  sie 
bei  der  Rückfahrt  Kap  Hörn  passieren.  Es  ist  in  gewissen  Fällen 
gelungen,  in  dieser  Weise  die  Fahrzeit  nahezu  auf  die  Hälfte  zu  ver- 
mindern (Maury). 

Das  Meereis.  Bei  genügend  niedriger  Temperatur  geht  das 
Wasser  in  feste  Form,  Eis,  über  und  die  Eismassen  spielen  eine  nicht 
zu  vernachlässigende  Rolle  in  der  Cirkulation  des  Meerwassers  und  in 
der  Bestimmung  seiner  Temperatur,  weshalb  sie  besondere  Erwähnung 
verdienen. 

Das  meiste  Eis,  welches  auf  dem  Meer  herumtreibt,  ist  im  Meer 
gebildet.  Durch  Schraubungen  werden  häufig  Eisblöcke  aufeinander 
geschoben,  wodurch  die  Eisschollen,  welche  zusammen  sogenanntes 
„Packeis"  bilden,  bedeutende  Mächtigkeit  erhalten  können.  Sehr  grosse 
Eisberge  werden  von  den  Gletschern  abgestossen,  wo  sie  ins  Meer  aus- 
münden. Ein  relativ  geringer  Teil  des  Meereises  ist  in  den  Flüssen 
oder  Seen  gebildet  und  zum  Meer  hinausgeschwemmt. 

Beim  hinreichenden  Abkühlen  einer  Salzlösung  unter  Null  scheidet 
sich  entweder  Eis  oder  festes  Salz  aus,  das  letzte,  wenn  die  Lösung 
gesättigt   ist.     So   z.  B.   friert   reines  Eis   aus   nicht   all   zu   gesättigter 

Chlornatriumlösung  aus,  und  die  Gefriertemperatur  sinkt  allmählich,  je 

25* 


388  Physik  der  Erde. 

konzentrierter  die  Lösung*  durch  die  Ausscheidung  wird.  Anfangs  sinkt 
die  Gefriertemperatur  mit  etwa  0,58^  für  jedes  Prozent  des  Salzgehaltes, 
später  schneller.  Zuletzt  sinkt  die  Temperatur  unter  — 21^  C,  24pro- 
zentiger  Lösung  entsprechend.  Bei  dieser  Temperatur  ist  die  Lösung 
gesättigt,  d.  h.  beim  Ausfrieren  von  Eis  muss  eine  entsprechende  Menge 
Salz  auch  aus  der  Lösung  ausscheiden.  Es  entsteht  also  bei  dieser 
Temperatur  durch  Wärmeentziehung  eine  Mischung  von  Eis-  und  Salz- 
krystallen.  Bei  anderen  Salzlösungen  liegt  dieser  Punkt  an  einer 
anderen  Stelle  der  Temperatarskala,  z.  B.  für  Kaliumsulfatlösungen 
schon  bei  — 1,9^  (7,5  prozentige  Lösung)  wegen  der  verschiedenen  Lös- 
lichkeit und  der  verschieden  grossen  erniedrigenden  Einwirkung  des 
Salzes  auf  die  Gefriertemperatur. 

Nach  diesem  kann  man  sich  leicht  eine  Vorstellung  bilden  über 
die  Art  und  Weise,  in  welcher  das  Meer  zufriert.  Bei  sinkender 
Temperatur  scheidet  sich  Eis  in  Nadeln  aus  und  bildet  mit  dem  dadurch 
eingeengten  Salzwasser  eine  Art  Brei,  wovon  das  Salz  allmählich  in  die 
tiefer  liegenden  salzärmeren  Wasserschichten  hineindiffundiert  oder  teil- 
weise in  Flüssigkeitsfäden  hineinströmt.  Später  kann  es  passieren,  dass 
die  Kälte  zunimmt,  neues  Eis  sich  bildet  und  dadurch  die  salzreichen 
Wassermassen  teilweise  ins  Eis  eingeschlossen  werden.  Wegen  der 
geringen  Löslichkeit  der  Sulfate  und  der  starken  Abnahme  derselben 
bei  sinkender  Temperatur  (besonders  beim  Natriumsulfat,  welches  das 
hauptsächliche  Sulfat  des  Meerwassers  ausmacht),  frieren  diese  vor  den 
Chloriden  aus  (dasselbe  dürfte  auch  für  die  geringen  Mengen  von 
Karbonaten  im  Meereswasser  gültig  sein).  Wenn  die  Temperatur  tief 
genug  ist  und  plötzlich  sinkt,  friert  alles  in  der  Nähe  der  Oberfläche  aus, 
in  tieferen  Schichten  geht  das  Ausfrieren  langsamer,  und  die  Salze 
finden  besser  Zeit  wegzudiffundieren.  Deshalb  ist,  wie  Weyprecht 
fand,  das  Eis  um  so  salzhaltiger,  je  näher  die  Proben  an  der  Oberfläche 
des  Eises  genommen  werden.  Bei  wiederum  zunehmender  Temperatur 
schmilzt  dann  erst  Eis  in  der  Nähe  der  Krystalle  der  Chloride  (das 
Chlorcalcium  dürfte  dabei  zuerst  kommen),  löst  diese  auf,  aber  lässt  die 
ausgeschiedenen  Sulfatkry stalle  ungelöst.  Durch  aufgespültes  Meeres- 
wasser, durch  Schmelzwasser  von  der  Oberfläche  oder  durch  Regen 
werden  diese  konzentrierten  Lösungen  ausgewaschen.  Es  bleiben  aber 
immer  Sulfate  (und  Karbonate)  in  grösserer  Proportion  relativ  zu  den 
Chloriden  als  in  dem  Meereswasser  zurück.  Je  älter  das  Eis  ist,  desto 
besser  werden  die  Salzeinschlüsse  entfernt.  Altes  Meereis  wird  deshalb 
von  Polarfahrern  zur  Trinkwasserbereitung  verwendet. 


III.  Das  Meer.  3 §9 

Beim  Gefrieren  einer  Salzlösung  scheidet  sich  das  Eis  in  Nadeln, 
beim  Gefrieren  von  reinem  Wasser  dagegen  (erst  in  Nadeln  und  dann) 
in  Schollen  aus.  Deshalb  ist  das  Salzwassereis  viel  poröser,  weisser 
(nicht  so  durchsichtig)  und  weniger  fest  als  das  Süsswassereis.  Deswegen 
löst  jenes  sich  auch  schneller  bei  steigender  Temperatur  auf  als  dieses. 
Die  Schneemengen,  welche  auf  die  polaren  Eisfelder  niederfallen  und 
das  Regenwasser,  welches  den  Schnee  nachher  zusammenkittet,  überdecken 
das  ursprüngliche  Seeeis  mit  einer  Kruste  von  Süsswassereis. 

Da  die  Eisbildung  auf  dem  Hineindringen  niedriger  Temperatur 
beruht  und  dies  Hineindringen  immer  um  so  langsamer  erfolgt,  je 
dicker  die  Eiskruste  wird,  und  zwar  so  dass  unter  übrigens  gleichen 
äusseren  Verhältnissen  zur  Entstehung  einer  Eisschicht  von  2  oder 
3  cm  vier-  bezw.  neunmal  so  lange  Zeit  vergeht  wie  zur  Bildung  einer 
1  cm  dicken,  so  ersieht  man  leicht,  dass  eine  übermässig  starke  Eis- 
bildung nicht  auf  dem  Meer  stattfinden  kann.  Die  Eisfelder  sind  auch 
selten  mehr  als  etwa  6 — 7  m  dick.  Im  Mittel  friert  in  einem  Winter, 
nach  Weyprecht,  eine  Eisschicht  von  2 — 2,5  m  Dicke  aus.  Im  Sommer 
taut  oder  dunstet  eine  Schicht  von  1 — 1,5  m  ab.  Das  unter  dem  Eis 
befindliche  Oceanwasser  führt  Wärme  zu,  welche  die  Bildung  sehr 
dicker  Eiskrusten  verhindert.  Wo  das  Eis  in  geschützter  Lage  gegen 
Wind-  und  Wasserströmungen  liegt,  kann  es  sehr  dick  werden.  So 
fand  Sir  Na  res  im  arktischen  Nordamerika  ein  Eisfeld  von  46  m 
Dicke.    Hayes  beobachtete  ein  ähnliches  im  Smithssund. 

Das  Eis  hat  in  dickeren  Schichten  dieselbe  blaue  Farbe  wie 
das  Wasser.  Die  Risse  und  Aushöhlungen  in  den  Eisbergen  zeigen 
dieselbe  prachtvolle  himmelblaue  Farbe  wie  die  Klüfte  im  Gletscher- 
eis, was  wohl  hauptsächlich  von  reflektiertem  blauen  Himmelslicht 
herrührt. 

Ganz  andere  Dimensionen  als  dieses  Eis  der  Eisfelder  können  die 
Eisberge  annehmen,  welche  von  Gletschern  herrühren.  Sie  bersten  von 
Gletscherwänden  von  bedeutender  Höhe  (häufig  mehr  als  100  m)  ab 
und  besitzen  entsprechende  Höhen.  Da  das  Eis  ein  spezifisches  Gewicht 
von  0,9167  besitzt  und  die  Eisberge  nicht  ganz  dicht  sind,  etwa  einem 
spezifischen  Gewicht  von  0,91  entsprechend,  so  ist  der  unter  dem  Wasser 
(im  Meere),  liegende  Teil  derselben  etwa  acht-  bis  neunmal  grösser  und 
fünf-  bis  siebenmal  höher  als  der  heraufragende  Teil.  Da  die  Eisberge 
bisweilen  höher  über  die  Meeresfläche  aufsteigen  als  die  Masten  eines 
Schiffes,  kann  man  sich  leicht  eine  Vorstellung  von  ihren  ungeheuren 
Dimensionen  bilden.    Man  hat  sie  auch  auf  Tiefen  von  180  m  stranden 


390  Physik  der  Erde. 

sehen.    Nare  g'iebt  die  durchschnittliche  Höhe   der   antarktischen  Eis- 
berge, wenn  sie  frisch  sind,  zu  70  m  über  dem  Wasser  an.    Sie  tauen 
aber  allmählich  im  warmen  umgebenden  Wasser  auf,   dessen  Wellen- 
schlag sie  auch  zerkleinert,  aber  die  grösste  zerstörende  Einwirkung  übt 
das  in  sie  hineindringende  und  zufrierende  Wasser  aus.     Dadurch  ent- 
stehen die  häufig  phantastischen  Formen,  welche  den  arktischen  Meeres- 
landschaften einen  eigentümlichen  Reiz  geben.     Sie  können   auch  bis- 
weilen aus  Trümmern  wieder  zusammenfrieren.    Um  den  südlichen  Pol 
bildet  das  Eis  eine  grosse  Eismauer,  welche  das  Vordringen  gegen  Süden 
verhindert,  und  es  unmöglich  macht,  sich  von  der  geographischen  Kon- 
figuration dieser  Erdteile  eine  Vorstellung  zu  bilden.     Die  Höhe  dieser 
Wand  beträgt  40 — 60  m   über  der  Meeresoberfläche  und  von  derselben 
stammt  das  Eis,  welches  auf  der  südlichen  Halbkugel  gegen  den  Äquator 
strömt.  Wenn  im  nördlichen  Eismeer  das  dünne  Eis  von  den  Eisfeldern 
auf  dem  Polarmeer  vorwiegt,   so   gilt  das  Umgekehrte  für  das  südliche 
Eismeer,  wo  die  Eisberge  gänzlich  vorherrschen.     Die  Eisberge   halten 
wegen   ihrer   grossartigen   Dimensionen   einen  viel  längeren  Transport 
aus,  als  die  relativ  dünnen  Eisschollen.    Die  Eisberge  dringen  auch  viel 
näher  gegen  den  Äquator  vom  Süden  wie  vom  Norden  her.  Sie  werden 
in  der  Nähe  des  Caps  der  guten  Hoffnung  (35^  s.  Br.)  gesehen,  ja,  am 
30.  April  1894  fand  das  Schiff  „Dochra"  ein  Stück  Eis  auf  26,30^  s.  Br., 
welches  jedoch  unbedeutend  war.    Auf  der  nördlichen  Halbkugel  gehen 
sie  (im  West- Atlanten)  bis  zu  etwa  43  ^  n.  Br.  bisweilen  unter  40^,  indem 
sie  den  Golfstrom  durchqueren.    Der  Golfstrom  zerätört  sie  im  östlichen 
Atlanten. 

Die  Eisberge  sind  für  die  Schiffahrt  sehr  gefährlich.  Teils  kippen 
sie  häufig  um  und  veranlassen  dadurch  Havarien,  teils  ist  in  ihrer 
Umgebung  das  Meer  wegen  der  grossen  Temperaturunterschiede  von 
Nebeln  bedeckt,  in  welchen  leicht  Zusammenstösse  mit  Fahrzeugen 
oder  mit  Eisbergen  entstehen  können.  Die  Nähe  der  Eisberge  ver- 
rät sich  indessen  schon  in  ziemlicher  Entfernung  durch  das  schnelle 
Sinken  der  Wasser-  und  Lufttemperatur  in  ihrer  Nähe,  wodurch  man 
gewarnt  wird. 

Die  Eisberge  führen  häufig  bedeutende  Massen  von  Steinabfall  mit, 
sodass  sie  bisweilen  schmutzig-grau  oder  sogar  schwarz  aussehen.  Man 
hat  in  früheren  Zeiten  diesen  mitgeführten  Mineralbestandteilen  grosse 
Bedeutung  zugeschrieben,  jetzt  ist  man  der  Ansicht,  dass  diese  Art 
Massentransport  zu  geringfügig  ist,  um  merkliche  Folgen  zu  haben. 
Die  Steine  und  der  Schutt,  welche  auf  den  Eisbergen  vorkommen,  rüliren 


Iir.  Das  Meer.  39 1 

hauptsächlich  von  Moränenhildimgen  auf  den  Gletschern  her.  Diese  Mo- 
ränengesteine fehlen  auf  den  antarktischen  Eisbergen,  welche  nur  aus- 
nahmsweise Steine  von  der  Küste  mitschleppen  (vgl.  S.  399). 

Das  Polareis.  Durch  die  Wirkungen  von  Ebbe  und  Flut,  Wind 
und  Meeresströmungen  entstehen  im  Eisfeld  über  dem  Polarmeer  ge- 
waltsame Verzerrungen,  Schraubungen,  wodurch  die  Eisschollen  auf- 
und  durcheinander  geschoben  werden.  Im  Eis  befindliche  Gegenstände 
erleiden  unter  solchen  Umständen  vom  Eis  ausserordentlich  starke 
Pressungen.  Dadurch  sind  sehr  viele  Schiffe,  die  ins  Polareis  eingesperrt 
wurden,  rettungslos  zermalmt  worden.  N ans  en  baute  seine  „Fram"  absicht- 
lich so,  dass  sie  ausserordentlich  kräftigen  Druck  aushalten  könnte  und 
durch  Seitendruck  in  die  Höhe  geschoben  werden  würde,  was  auch  gelang. 
Durch  die  Schraubung  entstehen  massenweise  Unebenheiten  auf  dem 
Polareis,  wodurch  dasselbe  beinahe  unfahrbar  wird.  Es  erforderte  die 
ungeheuere  Ausdauer  von  Nansen  und  Johannsen,  von  Kapitän 
Cagni  und  seiner  Begleiter,  um  in  der  Eis  wüste  vorwärts  zu  kommen. 

Die  ganze  Eismasse  im  nördlichen  Polarmeer  bildet  einen  ge- 
waltigen Eisstrom,  indem  sie  durch  den  Wind  und  den  Zufluss  aus  den 
sibirischen  Flüssen  fortgeschoben  wird  und  sich  zwischen  Spitzbergen 
und  Grönland  ausgiesst.  Dabei  folgen  die  Eismassen  der  Ostküste  von 
Grönland,  indem  sie  durch  den  Golfstrom  von  Spitzbergen  ferngehalten 
werden.  Man  hat  berechnet,  dass  jährlich  ein  Eisfeld  von  2  '/4  Millionen 
Quadratkilometer  mit  einer  mittleren  Dicke  von  6—7  m,  einem  Total- 
volumen von  15000  km^  entsprechend,  aus  dem  Polargebiete  hinaus- 
geschoben wird.  Wie  gross  auch  diese  Masse  erscheinen  mag,  so  ist 
sie  doch  relativ  gering  gegen  die  Wassermassen,  welche  von  den  grossen 
Meeresströmungen  befördert  werden.  Der  Golfstrom  (in  der  Yucatan- 
strasse)  führt  z.  B.  eine  gleich  grosse  Wassermasse  in  einem  Tage,  wie 
der  Polareisstrom  in  einem  Jahre.  Es  darf  natürlicherweise  nicht  vergessen 
werden,  dass  der  Polarstrom  nicht  nur  Eis-,  sondern  auch  noch  viel 
bedeutendere  Wassermassen  mitführt. 

Die  Eisströmung  findet  hauptsächlich  im  Sommer  statt.  Auf  den 
Eisfeldern,  die  zufolge  der  durch  Wind  und  Strom  entstehenden  Eis- 
pressungen mit  grobem  Packeis  erfüllt  sind,  schmilzt  der  Schnee  vom 
Winter  und  dann  der  obere  Teil  des  Eises.  Das  so  gebildete  Süss- 
wasser  fliesst  zu  grossen  Tümpeln  und  seichten  Süsswasserseen  zusam- 
men, welche  allmählich  durch  Risse  abfliessen. 

In  dieser  Weise  wird  das  Eis  des  nördlichen  Polarmeeres  in  einigen 
Jahren  umgesetzt  und  es  giebt  deshalb   kein  „uraltes  Meereis"  in  den 


392  Physik  der  Erde. 

Polarregionen,  wie  man  sich  früher  häufig  vorstellte.  Wie  aben- 
teuerliche Vorstellungen  man  im  Mittelalter  von  dem  alten  Eise 
hegte,  geht  aus  der  Erzählung  Adams  von  Bremen  hervor,  dass 
es  auf  Island  Eis  gäbe,  das  wegen  hohen  Alters  eine  schwärzliche 
Farbe  angenommen  hätte  und  so  trocken  wäre,  dass  man  es  in  Brand 
stecken  könne. 

Eine  Eigentümlichkeit,  die  von  der  Erddrehung  herrührt,  ist  der  Um- 
stand, dass  die  Ostküsten  der  Polarländer  und  Inseln  viel  mehr  durch  Eis 
heimgesucht  sind  als  die  Westküsten.  Sehr  auffallende  Beispiele  bieten 
Nowaja  Semlja,  Franz  Josephs-Land,  Spitzbergen  und  Grönland. 

Die  Eisfelder  geben  sich  in  grosser  Entfernung  durch  den  „Eisblink" 
kund,  indem  der  Himmel  (am  Horizont)  über  den  Eisfeldern  einen  hellen 
(weissen)  Widerschein  giebt.  Im  Gegensatz  dazu  zeigt  der  Himmel  am 
Horizont  über  Wassermassen  einen  dunklen  Ton.  Dieser  Unterschied 
rührt  natürlich  von  der  stark  verschiedenen  Keflexion  des  Lichtes  an 
den  Eisfeldern  und  am  Wasser  her. 

Die  Eeise  von  Nansen  bis  zum  86.  Breitegrad  und  die  Tiefsee- 
lotungen, welche  dabei  gemacht  wurden,  wobei  das  Meer  eine  Tiefe  von 
mehreren  tausend  Metern  (bis  3800)  zeigte,  ebenso  wie  die  regelmässige 
Eistrift  über  das  polare  Gebiet,  macht  es  höchst  wahrscheinlich,  dass 
um  den  Nordpol  herum  tiefes  Meer  liegt.  Es  scheint  also  nach  Nansens 
Meinung  nicht  wahrscheinlich,  dass  neue  Nordpolarfahrten  Entdeckungen 
von  grösserer  Tragweite,  sei  es  in  geographischer  oder  in  physikalischer 
Beziehung  bringen  könnten. 

Ganz  anders  liegen  die  Verhältnisse  betreffs  des  südlichen  Erdpols. 
Der  Umstand,  dass  man  beinahe  überall  bei  der  Annäherung  zu  dem 
Antarktis  einem  dicken  Eiswall  begegnet,  von  welchem  Eisberge  sich 
ablösen,  deutet  darauf  hin,  dass  die  Umgebungen  des  Südpols  als  festes 
Land  anzusehen  sind.  Man  hat  auch  an  verschiedenen  Stellen  grosse 
Massen  von  Festland  angetroffen,  wie  Victorialand  und  damit  zusammen- 
hängende Landpartieen  (Wilkes  Land)  südlich  von  Australien,  Enderby- 
Land,  südlich  von  der  Kergueleninsel  und  Graham-Land,  südlich  von 
Südamerika.  Dicht  an  dem  grossen  Eiswall  südlich  von  der  Kerguelen- 
insel hat  die  „Challenger'-Expedition  Grundproben  von  grünem  und 
blauem  Thon  in  Tiefen  von  2400—3300  m  gewonnen,  was  auf  die  Nähe 
von  Landmassen  auch  da  hindeutet.  Diese  Landmassen  bestehen  haupt- 
sächlich aus  Granit  und  Gneiss  und  sind  insofern  als  geologisch  zu- 
sammengehörig zu  betrachten.  Wenn  nun  auch  bei  einem  eventuellen 
Abschmelzen  des  Südpolareises  es  sich  zeigen  würde,   dass  grosse  Teile 


lil.  Das  Meer.  393 

der  Südpolarkalotte  vom  Meer  bedeckt  wären,  so  sind  wohl  doch  diese 
Vertiefungen  jetzt  durch  Landeis  vollkommen  ausgefüllt,  wie  die  Ostsee  in 
der  grossen  Eiszeit  war  und  sie  spielen  deshalb  genau  dieselbe  Rolle 
wie  eine  kontinentale  Masse. 

Wegen  der  unzureichenden  Kenntnisse,  welche  wir  betreffs  dieses 
grossen  Erdteils  besitzen,  hat  seine  Erforschung  immer  mehr  das  Inter- 
esse der  Kulturvölker  in  Anspruch  genommen.  Biologische,  hydrogra- 
phische, geologische,  paläontologische,  erdmagnetische  und  meteorolo- 
gische Fragen  von  grosser  Bedeutung  sind  mit  dieser  Erforschung  innig 
verknüpft. 


IV.  Das  Wasser  auf  dem  Festlande. 

Die  geographische  Verhreitung  des  Eises  auf  dein  Fest- 
lande. Im  Winter  fällt  in  Gegenden,  die  dem  Äquator  nicht  allzu 
nahe  liegen,  der  Niederschlag  in  fester  Form  als  Schnee.  Gleich  nach 
dem  Fallen  ist  der  Schnee  von  sehr  lockerer  Konsistenz,  indem  er  sehr 
grosse  Mengen  von  Luft  (nach  schwedischen  Messungen)  bisweilen  bis 
zu  11  mal  des  eigentlichen  Schneevolumens  einschliesst.  Dadurch  ist 
die  Wärmeleitfähigkeit  der  Schneedecke  auf  ein  Minimum  herabgesetzt, 
was  für  die  schlummernde  Vegetation  im  Winter  von  grösster  Bedeu- 
tung ist.  Sie'  wird  dadurch  gegen  allzu  heftige  Abkühlung,  welche  sie 
töten  würde,  geschützt. 

Auch  im  Schnee  können  Organismen  leben,  wie  der  sogenannte 
„rote"  oder  „grüne  Schnee"  beweist.  Die  Färbung  rührt  von  einer  Un- 
masse kleiner  Algen  her.  Dieselben  kommen  nur  in  Gegenden  vor,  wo 
der  Schnee  das  ganze  Jahr  liegen  bleibt. 

Wie  lange  die  Schneedecke  liegt,  hängt  von  meteorologischen  Um- 
ständen ab.  Diese  Zeit  kann  deshalb  in  verschiedenen  Jahren  und  zu 
verschiedenen  Epochen  sehr  ungleich  lang  ausfallen. 

Der  anfangs  lockere  Schnee  verwandelt  sich  bald  unter  dem  Ein- 
flüsse des  Auftauens  und  Wiedergefrierens  in  einen  körnigen  Schnee, 
Firn  genannt.  Dieser  spielt  eine  grössere  Kolle  nur  in  Gegenden,  wo 
er  das  ganze  Jahr  liegen  bleibt,  d.  h.  oberhalb  der  sogenannten  Schnee- 
grenze. 

Die  Höhe  der  Schneegrenze  hängt  nicht  nur  von  der  Temperatur, 
sondern  auch  in  hohem  Grade  von  der  Niederschlagsmenge,  besonders 
der  Schneemenge,  ab.  Die  trockne  Seite  eines  Berges  hat  deshalb  eine 
viel  höhere  Schneegrenze  als  die  feuchte.  So  z.  B.  liegt  die  Schnee- 
grenze auf  der  Nord-  bezw.  Südseite  Himalajas  auf  5670  bezw.  4930  ni 


IV.  Das  Wasser  auf  dem  Festlande.  395 

Höhe.  Im  Nordkaukasus,  wo  der  trockne  Wind  von  der  Steppe  weht, 
liegt  die  Schneegrenze  300—450  m  höher  wie  in  den  südlicheren  Teilen. 
An  der  Magalhaesstrasse,  wo  der  Niederschlag  äusserst  reichlich  ist, 
sinkt  die  Schneegrenze  auf  800  m  über  das  Meer. 

Die  Schneegrenze  wird  so  definiert,  dass  an  derselben  im  Winter 
ebenso  viel  Schnee  fällt,  wie  im  Sommer  wegschmilzt.  Nach  dieser 
Definition  geht  die  Schneegrenze  nirgends  auf  der  ganzen  Erde  bis  zum 
Meeresspiegel.  Die  niedrigste  bekannte  Lage  hat  sie  im  Kerguelen- 
Archipel  (300  m),  die  höchste  in  den  Anden  oberhalb  von  Atacäma 
(6000  m)  und  in  Karakorum  (Tibet,  5910  m).  Ungewöhnlich  hoch  liegt 
sie  in  Sibirien  wegen  des  trocknen  Klimas  daselbst.  In  den  Alpen 
wechselt  sie  zwischen  2500  m  (nördliche  Kalkalpen)  und  2900  m  (Ortler- 
gebiet). 

Penck  hat  folgende  Tabelle  über  die  Höhe  der  Schneegrenze  in 
verschiedenen  Breiten  zusammengestellt: 


Breite 


Nördliche  Halbkugel  Südliche  Halbkugel 


0—100   420C— 4700  m  (Anden  v.  Columbia)    i  4510—5050  m  (Anden  v.  Ecuador) 
10-200   4280—4900  m  (Mexiko)  4760-5920  m  (Anden) 

20—300   3700  (Birma)— 5300  m  (Himalaja)        4500  (Ostcordilleren)— 6000  m  (Anden) 
30-400   2920  (Taurus)-5910  m  (Karakorum)    1600—4480  m  (Anden) 
40—500   1590  (Kaskadengebirge)— 3810  m  300  (Kerguelen)— 2380  m  (Neuseel.) 

(Kaukasus) 
50—600 1 1360  (W.  Norwegen)— 3230  m  (Sibir.) 
60—700 ;    760  (Alaska)-1630  m  (0.  Norwegen) 


550  (Süd-Georgien) -1220m  (Feuerl.) 


Ein  Teil  der  Schneeanhäufungen,  welche  oberhalb  der  Schneegrenze 
sich  bilden,  gleitet  in  Form  von  Lawinen  (vgl.  unten  S.  400)  zu  niedriger 
gelegenen  Stellen,  ein  nicht  unbedeutender  Teil  dunstet  ab. 

Wenn  aber  der  Schnee  nicht  in  der  einen  oder  anderen  Weise  von  den 
Gebieten  oberhalb  der  Schneegrenze  entfernt  wird,  so  packt  sich  immer 
mehr  Schnee  und  Firn  zusammen,  bis  unter  dem  wachsenden  Drucke 
derselbe  zusammenschmilzt  und  einen  Gletscher  bildet.  Solche  finden  sich 
auch  in  allen  Gegenden,  welche  über  die  Schneegrenze  hinaufragen.  Am 
mächtigsten  sind  sie  da  entwickelt,  wo  grosse  Landstrecken  über  'der 
Schneegrenze  liegen  und  wo  sie  ein  zusammenhängendes  sog.  Inlandeis 
bilden  wie  in  Grönland  und  Spitzbergen.  Einige  Eispartieen  in  Skan- 
dinavien erinnern  etwas  an  das  Inlandeis  (z.  B.  Justedalsbräen  im  west- 
lichen Norwegen).    Wenn  der  Boden   sehr  stark  ausmodelliert  ist,   wie 


396  Physik  der  Erde. 

in  den  Alpen,  drängen  sich  die  Firnmassen  in  enge  Thäler  zusammen 
und  üben  einen  kolossalen  Druck  aus.  Unter  solchen  Umständen  bilden 
sich  die  langen  Gletscherzungen,  welche  tief  unter  die  Schneegrenze 
hinunterreichen.  Gletscher  giebt  es  auch  in  der  Nähe  vom  Äquator 
auf  den  Anden  und  auf  dem  Kilimandjaro. 

Die  Bewegung  der  Gletscher  wird  durch  die  Regelation  bedingt, 
d.  h.  die  Eigenschaft,  des  Eises  unter  Druck  zu  schmelzen,  um 
bei  Nachlassen  des  Druckes  wieder  zu  frieren.  Dadurch  erhält  das 
Eis  eine  gewisse  Plastizität  und  kann  fliessen.  Die  Geschwindig- 
keit nimmt  wie  in  einem  gewöhnlichen  Flusse  vom  Rande  bis  zur 
Mitte  zu.  Um  dies  zu  untersuchen,  hat  man  markierte  Steine  ausge- 
legt und  deren  Verschiebungen  in  Bezug  auf  feste  Marken  an  der  Berg- 
wand annotiert.  Die  grösste  Geschwindigkeit  unter  alpinen  Gletschern  hat 
der  Mont  Talefre- Gletscher,  sie  beträgt  36  cm  pro  Tag.  Im  allgemeinen 

variiert  die  Geschwindigkeit  der  al- 
pinen wie  der  skandinavischen  Glet- 
scher zwischen  40  und  100  m  pro  Jahr 
(für  die  Mittellinie).  Diese  Bewegimg 
ist  etwa  10^ — 10^  mal  langsamer  als 
diejenige  der  Flüsse.  Höhere  Ge- 
iig.  136.  schwindigkeiten  kommen  da  vor,   wo 

riesige  Niederschlagsmassen  durch  re- 
lativ enge  Thäler  Ausfluss  finden?  wie  im  Himalaja  und  bisweilen  in 
den  Abflüssen  des  Islandeises.  Für  einen  grönländischen  Gletscher 
hat  Heiland  sogar  eine  Geschwindigkeit  von  14  mm  pro  Minute  (über 
7000  m  pro  Jahr)  konstatiert. 

Am  Rhonegletscher  hat  Forel  die  Änderung  der  Geschwindigkeit 
mit  der  Entfernung  von  der  Mittellinie  gemessen.  Wenn  die  Ge- 
schwindigkeit in  der  Mitte  98  m  pro  Jahr  betrug,  war  sie  in  Va  dieser 
Entfernung  90  m,  in  der  Hälfte  75  m,  in  ^/^  50  m,  in  %  12  m,  wie  die 
nebenstehende  Kurve  (Fig.  136)  angiebt. 

Periodische  Änderungen  der  Gletschergrösse.  Es  ist  in  den 
Alpenländern  sehr  wohl  bekannt,  dass  die  Gletscher  bisweilen  tiefer  ins 
Thal  hinunterdringen,  bisweilen  sich  aber  zurückzielien.  Dies  kann  man 
auch  sehr  deutlich  erkennen  an  der  Lage  der  Endmoränen,  welche  aus 
Steinen  bestehen,  die  vom  Gletscher  mitgeschleppt  an  dem  Abschmelzungs- 
punkte  abgeladen  wurden.  Im  Jahre  1897  waren  von  den  56  Schweizer- 
gletschern 12  im  Anwachsen  begriffen,  5  stationär  und  39  rückschreitend. 
Im  Ortler-  und  Adamellogebiet  nahmen  sie  zu  (etwa  7—8  m  pro  Jahr). 


IV.  Das  Wasser  auf  dem  Festlande.  397 

In  Norwegen,  Italien  und  Kaukasus  sind  die  Gletscher  in   der  letzten 
Zeit  zurückgegangen. 

Nach  einer  jüngst  von  Kabot  gemachten  Zusammenstellung  über 
die  Schwankung  der  Gletschergrösse  sind  die  wichtigsten  Züge  derselben 
die  folgenden:  Yor  dem  18.  Jahrhundert  hatten  die  Gletscher  eine  viel 
geringere  Ausdehnung  als  jetzt.  Dies  gilt  für  eine  Periode  von  meh- 
reren Jahrhunderten  und  trifft  in  höherem  Grade  für  die  nördlichen 
Länder,  besonders  Island  und  Norwegen,  als  für  die  Alpenländer,  zu. 
Während  des  18.  und  Anfang  des  19.  Jahrhunderts  fand  ein  ausser- 
ordentlich grosses  Wachstum  der  Gletscher  statt.  So  z.  B.  verlängerte 
sich  der  Breidamerkur-Gletscher  in  Norwegen  zwischen  1750  und  1880 
um  etwa  10  km,  Am  Ende  des  19.  Jahrhunderts  war  meistens  ein 
kleiner  Rückgang  zu  konstatieren,  besonders  in  den  Alpen. 

Diese  Schwankung  der  Gletscher  hängt  mit  Klimaschwankungen 
zusammen.  Besonders  hat  man  dabei  an  die  Brückner  sehe  35  jährige 
Periode  gedacht,  in  welcher  kalt-nasse  mit  warm-trockenen  Jahren  ab- 
wechseln. Die  kalt-nassen  Perioden  sind  natürlicherweise  für  das  An- 
wachsen der  Gletscher  förderlich.  Jedenfalls  bietet  der  Wechsel  in  der 
Ausdehnung  der  Gletscher  ein  sehr  interessantes  und  scharfes  Mittel, 
um  klimatologische  Änderungen  mit  der  Zeit  festzustellen.  Er  ist  des- 
halb Gegenstand  der  Forschung  einer  internationalen  Kommission  ge- 
worden. 

Zusammensetzung  der  Gletscher.  Das  Gletschereis  besteht, 
wie  man  leicht  durch  Aufguss  von  einer  gefärbten  Flüssigkeit  nach- 
weisen kann,  aus  ziemlich  unregelmässig  geformten  Körnern,  die  bis  ein 
paar  Centimeter  grosse  Dimensionen  erreichen  können.  Diese  Körner 
nehmen  an  Grösse  stetig  vom  Firnfelde  bis  zum  Endpunkte  des  Glet- 
schers zu.  Dieser  Zuwachs  beruht  auf  dem  Zusammenschmelzen  von  meh- 
reren kleinen  Körnern  unter  Druck.  Die  Körner  erweisen  sich  unter 
dem  Polarisationsmikroskop  als  doppelbrechend,  die  Molekeln  des  Eises 
sind  also  in  ihnen  nach  einer  bestimmten  Richtung  orientiert.  Während 
bei  Eis,  welches  auf  einer  freien  Wasserfläche  sich  bildet,  die  Krystall- 
achse  auf  dieser  Fläche  senkrecht  steht,  so  kann  man  nichts  bestimmtes 
von  der  Orientierung  der  Krystallachsen  in  den  Gletscherkörnern  sagen. 
Während  der  Bewegung  des  Gletschers  wird  die  Lage  der  Körner  auch 
fortwährend  verändert. 

Wegen  des  ungleichmässigen  Druckes  werden  die  Eiskörner  zer- 
brochen, wodurch  ein  stetiges  Knistern  des  Gletschers  entsteht.  Die 
zerbrochenen  Stücke  frieren  dann  wieder  zusammen.     Ausserdem  ist  es 


398  Physik  der  Erde. 

eine  allgemeine  auf  der  Wirkung  der  Kapillarkräfte  beruhende  Eigen- 
schaft, dass  zerbrochene  Krystalle  wieder  ausheilen,  und  dass  grosse 
Krystalle  auf  Kosten  kleinerer  anwachsen. 

Das  Eis  bekommt  Risse,  wenn  es  über  Unebenheiten  gleitet,  be- 
sonders an  solchen  Stellen,  wo  ein  „Eisfall"  sich  bildet.  Diese  Spalten 
erfüllen  sich  teilweise  mit  Schnee  (im  Winter)  und  dieser  wird  zusammen- 
gepresst  zu  weissen  Bändern.  Eine  andere  Struktur  des  Eises  giebt 
sich  als  blaue  „Blätter"  (Risse)  im  Eise,  besonders  am  unteren  Ende 
des  Gletschers  kund.  Diese  Blaublätterstruktur  entspricht  der  Schie- 
ferung bei  den  Bergarten  und  hängt  mit  dem  Drucke  zusammen,  sie 
steht  auf  der  Richtung  des  stärksten  Druckes  senkrecht. 

Zufolge  der  Zerspaltung  geht  die  ebene  Oberfläche  der  Gletscher 
häufig  in  eine  Menge  von  Spitzen  und  Zinnen  (Seracs)  über. 

Da  das  Eis  eine  höhere  Temperatur  als  diejenige  seines  Schmelz- 
punktes nicht  erreichen  kann,  und  da  dieser  Schmelzpunkt  mit  steigen- 
dem Drucke  um  etwa  0,0075^  pro  Atmosphäre  sinkt,  so  folgt  hieraus, 
das  an  dem  abschmelzenden  Ende  des  Gletschers  die  Temperatur  von 
der  Oberfläche,  wo  sie  Null  ist,  fortwährend  mit  zunehmender  Tiefe 
sinkt,  und  zwar  um  etwa  0,0007 ^  pro  Meter.  Diese  unbedeutende 
Temperaturänderung  mit  der  Tiefe  ist  auch  konstatiert  worden.  Am 
Boden  des  Gletschers  dringt  Wärme  aus  dem  Erdinnern  hinauf,  wo- 
durch immer  eine  dünne  Wasserschicht  unter  dem  eigentlichen  Gletscher 
liegt.  Von  der  unteren  Seite  des  Gletschers  strömt  für  gewöhnlich 
ein  Fluss  aus  dem  sogenannten  Gletscherthore  heraus.  Diese  Wassermasse, 
welche  aus  Schmelzwasser  des  Gletschers  besteht,  wird  teils  aus  der 
Unterseite  des  Gletschers  gebildet,  teils  strömt  Wasser  zu  ihr  hinzu 
durch  Risse,  Spalten  und  Löcher  von  der  Oberfläche  durch  den  Gletscher 
hindurch.  Auf  der  Oberfläche  des  unteren  Teils  des  Gletschers  sammelt 
sich  das  Schmelzwasser  häufig  in  grösseren  Rinnen  und  Teichen,  durch 
welche  das  blaue  Eis  hindurchschimmert.  Zuletzt  stürzt  das  Wasser 
durch  eine  Spalte,  woraus  es  einen  „Eisbrunnen"  häufig  aushöhlt.  Der 
Gletscherbach  hat,  zufolge  der  Veränderlichkeit  der  Abschmelzungsge- 
schwindigkeit,  eine  Tagesperiode  und  eine  Jahresperiode  der  Mächtigkeit. 

Von  den  Felswänden,  unter  welchen  der  Gletscher  hervorschreitet, 
fallen  stetig  Steine  und  Geröll  auf  ihn  herunter  und  werden  von  ihm 
mitgeführt.  Diese  Steine,  die,  wenn  sie  liegen  geblieben  wären,  Schutt- 
halden aufgebaut  hätten,  bilden  die  sogenannten  Seitenmoränen.  Wenn 
zwei  Gletscher  zusammenfliessen,  bilden  die  beiden  aneinander  gren- 
zenden Seitenmoränen   eine   gemeinsame   sogenannte  Mittelmoräne   auf 


IV.    Das  Wasser  auf  dem  Festlande.  399 

dem  gemeinsamen  Eisbette.  Durch  Zusammenfliessen  von  mehreren 
kleinen  Gletschern  können  mehrere  Mittelmoränen  entstehen.  Am 
Boden  des  Gletschers  bilden  sich  aus  Steintrümmern  vom  Gletscherbette 
und  aus  hinuntergefallenen  Steinen  und  Sand  eine  sogenannte  Grund- 
moräne, welche  vom  Gletscherbach  bearbeitet  wird.  Durch  Reibung 
gegeneinander  und  gegen  den  Boden  bedecken  sich  diese  Steine  mit 
Schrammen  und  geben  ein  feines  Pulver  ab.  Dabei  entstehen  auch  die 
in  der  Bewegungsrichtung  des  Gletschers  verlaufenden  Furchen  in  dem 
unterliegenden  Felsbette,  welche  als  das  beste  Kennzeichen  einer  ver- 
gangenen Vereisung  dienen.  Auch  im  Innern  des  Gletschers  kommen 
vereinzelte  Steine  vor,  die  von  den  Bergwänden  zur  Seite  des  Gletschers 
abstammen  (Innenmoräne). 

Alle  diese  Sammlungen  von  Steinen  und  Sand  werden  an  der  Ab- 
schmelzstelle des  Gletschers  abgeladen  und  bilden  daselbst  eine  bogen- 
f(3rmige  Endmoräne.  An  der  Verschiebung  derselben  kann  man  Schlüsse 
ziehen  über  die  vormalige  Ausdehnung  des  Gletschers.  Alte  Endmoränen 
bezeichnen  auch  die  Enden  der  Gletscher,  welche  nach  der  Eiszeit  sich 
allmählich  zurückzogen  und  diese  Denkmäler  ihrer  Wirksamkeit  hinter- 
liessen.  Die  Gletscher,  welche  von  dem  Inlandeise,  z.  B.  auf  Spitzbergen 
und  Grönland,  herrühren,  besitzen  nur  schwache,  diejenigen  des  antark- 
tischen Kontinents  beinahe  gar  keine  Moränenbildung  an  der  Oberfläche, 
weil  sie  nur  kurze  Strecken  längs  Gebirgswänden  hingeglitten  sind. 

Grössere  Steine  auf  dem  Gletscher  schützen  ihre  Unterlage  vor 
Abschmelzen  und  Verdunstung.  Auf  diese  Weise  entstehen  die 
„Gletschertische".  Sand-  und  Schlammmassen  geben  in  ähnlicher  Weise 
zur  Bildung  von  schuttbedeckten  Eiskegeln  Anlass. 

Transportfähigkeit  der  Gletscher.  Das  an  der  Endmoräne 
abgelagerte  Material  wird  zum  Teil  von  dem  Gletscherbache  weiter  be- 
fördert. Dies  ist  speziell  mit  dem  feineren  Staub  der  Fall,  weshalb  die 
Gletscherbäche  eine  charakteristische  milchige  Farbe  besitzen.  Ihr 
Schlammgehalt  ist  auch  viel  grösser  als  derjenige  gewöhnlicher  Flüsse 
(vgl.  S.  431),  indem  pro  m^  in  den  Abflüssen  folgender  Gletscher 
folgende  Anzahl  Gramm  Sinkkörper  vorkommen  (Zusammenstellung 
von  Penck): 

vier  Gletscher  auf  Montblanc 237—887 

Unteraargletscher 132 

Memuruelf,  Norwegen 1391 

sieben  Gletscher  in  Norwegen,  Mittel  .    .  148 


400  Physik  der  Erde. 

zehn  Gletscher  auf  Grönland,  Mittel     .     .  634 

Isländische  Gletscher,                    „         .     .  975 

Isortok- Gletscher,  Grönland       943 

Nassugtok-Gletscher,  Grönland     ....  207 

Die  Schwankung  dieser  Zahlen  ist  sehr  bedeutend,  so  fand  Duparc 

für  die  vier  erstgenannten  Gletscher  im  August  1890  und  August  1891 

folgende  Zahlen: 

1890    1891 

Tcmrgletscher      243  31 

Argentieregletscher       535  139 

Mer  de  Glace 483  452 

Bossongletscher 2287  385 

Mittel    887    237 

Öyen  fand  in  einem  norwegischen  Gletscherbach  an  einem  Tage 
(28.  Juli  1891)  547  g,  am  folgenden  nur  36  g  pro  m^. 

Aus  ähnlichen  Daten  und  der  Grösse  der  Moränablagerungen  hat 
Öyen  versucht,  die  jährliche  Abtragung  im  Gletschergebiete  zu  be- 
rechnen und  hat  dabei  grössere  Zahlen  als  für  die  Flüsse  gefunden 
(trotz    der    grossen    Langsamkeit    der    Fortbewegung    der    Gletscher), 

nämlich: 

Abtragung  in  mm  pro  Jalir. 

VatnajökuU,  Island 0,647 

Justedalsbräen,  Norwegen 0,079 

Galdhöitindgegend,  Norwegen 0,054. 

Nach  dem  Zurückziehen  der  Gletscher  bleiben  die  Moränen  zurück, 
welche  meist  nicht  als  Ackererde  tauglich  sind,  und  deshalb  bewaldet 
sind.  Sie  geben  der  Landschaft  häufig  ein  eigentümliches  Gepräge.  In 
Schweden,  wo  das  Inlandseis  stossweise  abschmolz,  liegen  die  Erdmo- 
ränen oft  als  lange  Streifen  von  Schotter.  Sie  haben  häufig  zur  Auf- 
dämmung von  Seen  beigetragen.  In  Nordamerika  werden  einige  charak- 
teristische Moränen  „Drumlins"  genannt.  Eigentümlich  für  die  nor- 
dische Landschaft  sind  auch  die  mehrere  hundert  Kilometer  langen, 
aus  abgerollten  Steinen  und  Sand  bestehenden,  bis  50  m  mächtigen, 
einige  hundert  Meter  breiten  „Asar"  („Kames"),  welche  von  den  unter  dem 
Inlandseis  hervorfliessenden  Glacierflüssen  abgesetzt  sind.  Die  Berghügel 
werden  vom  Eis  glattgeschliffen  und  als  „Rundhöcker"  nachgelassen. 

Gletscherlawinen.     Häufig  passiert  es,  dass  die  herunterfallenden 


IV.  Das  Wasser  auf  dem  Festlande.  401 

Steine  nicht  auf  dem  Gletscher  ruhig  liegen  bleiben,  sondern  längs  der 
Gletscherfläche  rutschen,  wobei  sie  Furchen  in  die  Oberfläche  des 
Gletschers  ritzen.  Dieser  Steinschlag  kann  für  den  Gletscherwanderer 
recht  gefährlich  werden,  ist  aber  ganz  unschuldig  im  Vergleiche  zu  den 
Gletscherlawinen.  Bei  diesen  fängt  ein  Teil  des  Gletschers,  gewöhn- 
licherweise eines  sog.  Hängegletschers,  welcher  nicht  in  ein  Thal  ein- 
gebettet ist,  sondern  über  eine  konvexe  Felswand  hinaushängt,  an,  auf 
seiner  Unterlage  zu  rutschen  und  fällt  zuletzt  ins  untenliegende  Thal. 
So  z.  B.  löste  sich  ein  Teil,  etwa  4^2  Millionen  Kubikmeter,  eines  un- 
bedeutenden Gletschers  auf  Alteis' in  der  Schweiz  am  11.  Sept.  1895  von 
der  Umgebung  ab  und  fiel  längs  der  um  etwa  30  ^  geneigten  3  km 
langen  Bergseite  ins  untenliegende  Thal.  Es  wurden  6  Menschen  und 
169  Haustiere  getötet.  Die  Eismassen  wurden  durch  den  entgegen- 
stehenden Luftdruck  und  durch  die  Zermalmung  während  des  Gleitens 
in  einen  feinen  Eisregen  zerstäubt.  Wie  gewöhnlich  bei  Lawinen 
stellte  der  starke  Gegenluftdruck  grosse  Verheerungen  an. 

Dies  sind  die  sogenannten  Grundlawinen.  Weniger  verheerend, 
aber  gewöhnlicher,  sind  die  „Staublawinen",  welche  aus  frischem  Schnee 
bestehen,  und  über  die  Gletscheroberfläche  hinweggleiten.  Diese 
können  eine  ganz  rasende  Geschwindigkeit  erhalten  und  reissen  dadurch 
grosse  Steinmassen,  Bäume  und  Erdmassen  mit.  In  dem  Hochgebirge 
sind  keine  Stellen  von  Lawinen  geschont,  sie  werden  deshalb  von  den 
Schneemassen  geradezu  reingefegt.  Tiefer  herunter  gehen  die  Lawinen 
häufig  längs  bestimmten  Bahnen  (Lahngänge),  wovon  z.  B.  im  Gotthard- 
gebiete   nicht  weniger  als  530  auf  325  km'^  von  Coaz  gezählt  wurden. 

Die  Schneemassen  mit  darin  eingeschlossenen  Körpern  bilden 
nach  ihrem  Herunterfallen  die  Lawinenkegel,  welche  bisweilen  beim 
Auftauen  ganz  bedeutende  Mengen  von  Schutt  hinterlassen. 

Eishöhlen,  fossiles  Eis.  Bisweilen  trifft  man  tief  unter  der 
Schneegrenze  geschützte  Stellen,  wo  der  Schnee  nicht  schmilzt,  sondern 
von  Jahr  zu  Jahr  liegen  bleibt  und  sich  zu  Eismassen  zusammenpackt. 
Dies  kann  nur  geschehen  bei  einer  Lage,  wo  Sonnenschein  und  starke 
Luftcirkulation  ausgeschlossen  sind,  d.  h.  in  Höhlungen,  weshalb  die 
Fundorte  dieser  Eisansammlungen  Eishöhlen  genannt  werden.  Die 
Eishöhlen,  welche  in  einer  Anzahl  von  52  in  den  Alpen  bekannt  sin.d, 
enthalten  im  Innern  grossartige  Formationen  von  Eisstalaktiten.  Im 
Karst  und  in  dem  Juragebirge  sind  sie  auch  nicht  selten,  dagegen 
kommen  sie  nicht  in  der  skandinavischen  Urgebirgsformation  vor.  Im 
allgemeinen  soll  die  Lage  dieser  Eishöhlen   eine   solche   sein,   dass  im 

Arrhenius,  Kosmische  Physik.  20 


402  Physik  der  Erde. 

Winter  die  kalten  Luftmassen  hineindringen  und  uachher  nicht  umge- 
setzt werden,  sondern  stagnieren,  sodass  die  Sonnenwärme  nur  geringe 
Wirkung  ausübt. 

In  Sibirien  und  auch  auf  Alaska  trifft  man  sog.  fossiles  Eis  oder 
Steineis.  Man  ist  der  Ansicht,  dass  dieses  Eis  aus  alten  eingebetteten 
Gletschern  entstanden  ist.  Das  Eis  ist  durch  eine  Lehmschicht  bedeckt, 
welche  auch  in  die  Risse  und  Spalten  des  Eises  hineingedrungen  ist. 
Diese  Lehmmassen  enthalten  zahlreiche  Reste  einer  alten  Fauna  und 
unter  anderem  wohlerhaltene  Exemplare  des  Mammuts,  sowie  Massen 
von  fossilem  Elfenbein.  Diese  schlechtleitendcn  Ablagerungen  haben 
das  Eis  bis  auf  unsere  Zeit  bewahrt. 

Die  Bildungsweise  von  fossilem  Eis  kann  sehr  gut  an  dem  unter 
dem  St.  Eliasberg  in  Alaska  befindlichen  Malaspina -Gletscher  studiert 
werden.  Am  äusseren  Umrisse  der  aus  mehreren  grossen  Gletschern 
zusammengeschmolzenen  Eismasse  ist  dieselbe  mehr  als  kilometer- 
breit von  Geröll  bedeckt,  auf  welchem  Wald  wächst.  Diese  Decke 
schützt  den  Gletscher  vor  vollständigem  Abschmelzen  in  abseh- 
barer Zeit  und  verwandelt  den  äusseren  Gletscherrand  in  eine  Art  fos- 
siles Eis. 

Das  Inlandeis  auf  Grönland.  Die  mächtigste  Eismasse  auf 
der  Erde,  diejenige  ausgenommen,  welche  wahrscheinlicherweise  den 
südpolaren  Kontinent  überlagert,  ist  die  Eisdecke  Grönlands.  Man  war 
früher  gar  nicht  sicher,  dass  das  Innere  von  Grönland  mit  Eis  bedeckt 
sei,  sondern  man  glaubte,  dass  vielleicht  hinter  den  längs  der  Küste 
verlaufenden  eisbedeckten  Bergen  ein  eisfreies  Binnenland  sich  ausbreite. 
Die  Reisen  von  Nordenskiöld  und  Nansen  haben  diesem  Glauben  ein 
Ende  gemacht.  Nordenskiöld  drang  vom  Sophia-Hafen  auf  etwa  70^ 
n.  Br.  auf  der  Westseite  von  Grönland  hinein,  und  sandte  zwei  mitge- 
nommene ski- laufende  Lappländer  weiter  ins  Innere  des  Landes.  Nach 
den  Berichten  dieser  Lappländer  dürften  sie  etwa  die  Mitte  der  Insel 
Grönland  erreicht  haben,  ohne  jedoch  etwas  anderes  als  eine  nach  allen 
Seiten  sich  ausbreitende  Schneeebene  gesehen  zu  haben.  Diese  Schnee- 
ebene wird  zu  den  Seiten  hin  von  schwer  fahrbaren  unebenen  Teilen 
umgeben.  Dieses  Resultat  wurde  durch  die  grossartige  Reise  Nansens 
quer  durch  Grönland  auf  dem  64.  Breitegrade  völlig  bekräftigt;  wie  ein 
kolossaler  Schild  von  annähernd  parabolischer  Biegung  deckt  das  Eis 
die  grönländische  Insel.  Nur  an  vereinzelten  Stellen  ragen  die  höchsten 
Berggipfel,  die  sog.  Nunataks,  durch  die  Eisdecke,  welche  auf  der  Route 
Nansens  eine  maximale  Höhe  von  etwa  2700  m  erreichte.    Die  Eisdecke 


IV.  Das  Wasser  auf  dem  Festlande.  4()3 

ist  danach  an  dieser  Stelle  wahrseheinlicherweise  gegen  ein  paar  tausend 
Meter  dick. 

Das  Inlandeis  ist  nicht  ganz  frei  von  Vegetation,  indem  die  Schnee- 
algen auf  ihr  gedeihen;  auch  die  Nunataks  beherbergen  eine  kümmer- 
liche niedrige  Flora.  Bis  zu  einer  gewissen  Höhe  kommt  auf  dem  In- 
landeis ein  eigentümlicher  Staub,  sogenanntes  Kryokonit  vor,  welchem 
Nordens kiöld  einen  kosmischen  Ursprung  zuschrieb.  Der  Umstand, 
dass  Nansen  ihn  nicht  auf  den  höchsten  Teilen  vorfand,  macht  N er- 
den ski  öl  ds  Ansicht  ziemlich  unwahrscheinlich.  Auch  auf  den  Glet- 
schern der  Alpen  kommt  solcher  Staub  vor. 

Die  Vereisung  der  übrigen  arktischen  Inseln  nimmt  etwa  250000  km'-^ 
ein.  Die  Gletscher  der  nichtarktischen  Erdteile  decken  etwa  1,7  Proz. 
der  entsprechenden  Gebirgsfläche  oder  etwa  50000  km"^,  wovon  die  Glet- 
scher der  Ostalpen  1803  km^  ausmachen.  Die  vereiste  Landoberfläche 
schätzt  Penck  zu  7,4  Proz.  des  gesamten  Festlandes  (Antarktis  ein- 
gerechnet). 

Die  Eiszeit.  Diese  Eismasse  giebt  ein  getreues  Bild  von  dem 
Zustand  der  nördlichen  Länder  Europas  und  Amerikas  zur  Zeit  der 
grossen  Eiszeit.  Man  ist  jetzt  darüber  einig,  dass  es  vor  der  gegen- 
wärtigen Epoche  wenigstens  zwei  Vereisungen  gegeben  hat,  von  welchen 
die  erste  durch  grössere  Ausbreitung  gekennzeichnet  war.  Die  nach- 
stehende Kartenskizze  (Fig.  137)  zeigt  die  grösste  Ausdehnung  der  Eis- 
decke. Von  Skandinavien  und  Finnland  breitete  sich  die  Eismasse  nach 
allen  Seiten  hinaus  und  wanderte  in  Kichtungen,  welche  jetzt  im  Berg- 
grund durch  Glacialrisse  gekennzeichnet  sind.  Die  Westküste  von  Ir- 
land und  Holland,  der  Harz  und  das  Kiesengebirge,  die  Gegenden  von 
Kiew  und  Nischnij -Nowgorod  wurden  von  diesen  riesigen  Eismassen  be- 
rührt. Ost-  und  Nordsee  wurden  alle  beide  von  den  riesigen  gleitenden, 
mehr  als  1000  m  dicken  Eismassen  ausgefüllt.  Diese  Eisdecke  nahm 
eine  Oberfläche  von  etwa  6  Mill.  Quadratkilometer  in  Europa  ein,  wäh- 
rend die  grönländische  Vereisung  nur  über  ein  Drittel  dieses  Gebietes 
ausgedehnt  ist.  Noch  ausgedehnter  war  das  damalige  Inlandeis  von 
Nordamerika,  etwa  9  Mill.  km  2. 

Das  Eis  streckte  sich  bis  zum  Missisippi  hinunter  und  ging 
auf  der  Ostseite  bis  zum  38.  Breitegrad,  wie  die  nachstehende  Karte 
zeigt,  während  die  Westseite  Nordamerikas  nicht  völlig  so  stark  vereist 
war.  Gleichzeitig  erstreckten  sich  die  Eismassen  in  den  Alpen,  Kaukasus 
und  anderen  Bergketten   gewaltig   über   ihre  jetzigen    Grenzen  hinaus. 

Man  hat  beinahe  auf  der  ganzen  Erde  Spuren  einer  starken  Vereisung 

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404 


Physik  der  Erde. 


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IV.  Das  Wasser  auf  dem  Festlande.  405 

gefunden.  Wahrscheinlicherwei^^e  trat  die  „grosse  Eiszeit"  gleichzeitig 
auf  der  ganzen  Erde  ein,  sie  scheint  aber  in  Europa  und  den  östlichen 
Teilen  Nordamerikas  am  stärksten  entwickelt  gewesen  zu  sein.  Gleich- 
zeitig traf  auch  nach  aller  Wahrscheinlichkeit  die  grösste  Vereisung  Südame- 
rikas von  Aconcagua  (33^  s.  Br.)  längs  der  chilenischen  Küste  und  von  den 
südlichen  Provinzen  Argentinas  ein.  Ebenso  zeigt  die  Südinsel  Neuseelands 
Spuren  einer  vollkommenen  Vereisung,  welche  gleichzeitig  eingetroffen  sein 
dürfte.  Schätzungen  über  die  Temperaturverhältnisse  an  der  jetzigen 
Eisgrenze  und  der  damaligen  führen  zum  Schluss,  dass  die  Temperatur 
damals  um  etwa  4 — 5^  niedriger  als  jetzt  gewesen  sein  mag. 

Nach  dieser  Eiszeit  kam  eine  sogenannte  Interglacialzeit,  in  welcher 
das  Klima  ungefähr  wie  das  jetzige  gewesen  sein  mag,  und  danach  kam 
eine  zweite,  aber  bedeutend  geringere  Vereisung  in  Europa,  während 
welcher  eigentlich  nur  Skandinavien  und  Finnland  vereist  waren. 

Man  hat  sehr  fleissig  nach  Eiszeiten  in  vergangenen  geologischen 
Epochen  gesucht,  und  die  Mehrzahl  der  Geologen  ist  der  Ansicht,  dass 
nach  Ende  der  Karbonzeit  eine  solche  eingetroffen  sei.  Diese  Vereisung 
hatte  eine  sehr  eigentümliche  Ausbreitung,  indem  Länder  in  der  Nähe 
des  Äquators  davon  betroffen  wurden.  Man  hat  Spuren  derselben  in 
den  sogenannten  Gondwana- Schichten  in  Afghanistan,  in  Indien,  in 
Australien  und  in  Afrika  gefunden.  Dagegen  scheinen  von  dem  Äqua- 
tor entferntere  Erdteile  nicht  von  der  Vereisung  betroffen  worden 
zu  sein. 

Man  schätzt,  dass  seit  Ende  der  zweiten  Eiszeit  etwa  50000  (zwischen 
18000  und  100000)  Jahre  verflossen  sind.  Diese  Schätzung  kann  natür- 
licherweise keine  grossen  Ansprüche  auf  Genauigkeit  machen,  sie  zeigt 
nur,  wie  sehr  kurze  Zeit,  geologisch  gesprochen,  nach  derselben  ver- 
flossen ist.  Demnach  wäre  es  auch  nicht  undenkbar,  dass  dieselben  Ur- 
sachen sich  nochmals  geltend  machen  könnten  und  eine  annahende 
neue  Eiszeit  die  Kultur  von  Europa  und  Amerika  vertreiben  könnte. 
Deshalb  bietet  die  Ergründung  der  Ursache  der  Eiszeiten  ein  ungemein 
grosses  Interesse. 

Die  Süsswasserseen.  Im  Vorigen  haben  wir  die  Hauptmasse 
des  Wassers  auf  der  Erdoberfläche,  den  Ocean,  behandelt.  Es  erübrigt 
jetzt  einige  Worte  über  die  Binnenseen  zu  sagen,  welche  bisweilen  eine 
sehr  ausgedehnte  Oberfläche  einnehmen  und  eine  dementsprechend  grosse 
Wassermenge  enthalten.  Die  grössten  Süsswasserseen  befinden  sich  in 
Nordamerika,  wo  die  zum  selben  System  gehörigen  Superior  (83627  km^), 
Huron-  (61340  km2),   Michigan-   (etwa  60000  km 2),   Erie-  (25000  km^) 


406  Physik  der  Erde. 

und  Ontario-Seen  (19823  km^)  ein  wirkliches  Binnenmeer  bilden  von 
zusammen  250000  km"^.  Von  den  kanadensischen  Seen  haben  viele  eine 
grosse  Ausdehnung;  der  grösste  ist  der  grosse  Sclavensee  (21700  km-). 
Der  grösste  See  Südamerikas  ist  Titicaca  (8331  km 2).  In  Asien  kommt 
an  Grösse  zuerst  der  Baikalsee  von  30180  km 2.  Sehr  grosse  Flächen 
nehmen  auch  die  afrikanischen  Seen  ein  (Victoria  Nyanza  84000  km-, 
Tanganyika  32700  km-,  Tsad  27000  km 2),  sie  sind  nicht  genau  aus- 
gemessen. Die  grössten  Seen  Europas  sind  Ladoga  und  Onegasee  (18130 
bezw.  9752  km^)  und  die  schwedischen  Seen  Wenern,  Wettern  und  Mä- 
laren  mit  5568,  1900  und  1163  km'-^  Oberfläche.  Andere  bedeutende 
Seen  in  Europa  sind  die  schweizerischen  (Genfer-See  578  km 2,  Boden- 
see 539  km^,  Vierwaldstädtersee  113  km 2),  der  Plattensee  in  Ungarn, 
einige  Alpenseen  in  Bayern  und  Österreich. 

Aus  dem  Studium  der  Fauna  der  Binnenseen  und  der  Flora  an 
ihren  Küsten  hat  man  geschlossen,  dass  sie  im  allgemeinen  relikte  Teile 
von  alten  Meeren  sind.  So  zeigte  zuerst  Loven,  dass  der  schwedische 
See  Wettern  in  ganz  später  Zeit  mit  dem  Kattegat  in  Verbindung  ge- 
standen haben  muss,  was  sich  auch  später  bestätigt  hat.  De  Geer 
hat  gezeigt,  dass  am  Ende  der  Eiszeit,  als  noch  das  Landeis  über  dem 
grösseren  Teil  Schwedens  lag,  Mittelschweden,  wo  jetzt  die  grossen  Seen 
sich  vorfinden,  unter  der  Meeresoberfläche  sich  befand,  sodass  die  Ost- 
see einen  grossen  Busen  von  der  Nordsee  ausmachte.  Gleichzeitig 
waren  die  grossen  Seen  Ladoga  und  Peipus  und  das  kolossale  finn- 
ländische  Seensystem  nur  Ausbuchtungen  der  damaligen  Ostsee 
(„Yoldiameer").  Später  hob  sich  das  Land,  sodass  die  Ostsee  ein 
kolossales  Süsswassermeer  (Ancylussee  570000  km-,  während  die  jetzige 
Ostsee  415480  km^  enthält)  bildete,  wobei  Wenern  noch  der  Nordsee 
angehörte.  Zuletzt  wurde  nach  Senkung  von  Dänemark  die  Ostsee 
durch  die  beiden  Belte  und  den  Sund  mit  der  Nordsee  vereinigt  („Litto- 
rinameer"),  wonach  allmählich  die  jetzige  Ostsee  durch  Hebung  entstand. 

In  eben  derselben  Weise  ist  man  der  Ansicht,  dass  die  oberitalie- 
nischen Seen  (Lago  maggiore  210  km^,  L.  di  Garda  350  km 2,  L.  di  Como 
193  km^  und  L.  di  Lugano  50  km 2)  als  Fjorde  einer  einstigen  Ausbuchtung 
des  Adriatischen  Meeres,  welcher  jetzt  durch  Hebung  des  Landes  ge- 
schwunden ist,  betrachtet  werden  können.  Ebenso  wären  die  schottischen 
Lochs  als  alte  Fjorde  anzusehen.  Durch  Rückgang  des  Meeres  kann 
eine  ähnliche  Wirkung  zustande  gebracht  werden,  so  z.  B.  sind  das 
Kaspische  Meer,  der  Aral-  und  der  Balkasch-See  als  Überreste  eines 
grossen  „sarmatischen  Meeres"  anzusehen.  Der  eigentümlichste  Relikten- 


1 


IV.  Das  Wasser  auf  dem  Festlande.  407 

sce  ist  der  Tanganyikasee,  in  welchem  man  in  letzter  Zeit  eine  Fauna 
angetroffen  hat,  welche  auffallend  an  diejenige  der  Meere  der  Jurazeit 
erinnert  (vgl.  S.  465). 

Die  Natur  strebt  die  Seen  zu  entfernen,  und  zwar  in  zweierlei 
Weise.  Teils  strebt  der  Abfluss  des  Sees  eine  immer  tiefere  Rinne  zu 
graben  und  dadurch  den  See  abzuzapfen;  in  dieser  Beziehung  sei  an 
den  Niagarafall  erinnert,  welcher  allmählich  zurückschreitet  und  zuletzt 
den  Wasserspiegel  der  grossen  nordamerikanischen  Seen  bedeutend 
senken  wird.  An  der  anderen  Seite  wird  von  den  Zuflüssen  Schlamm 
zum  See  geführt,  welcher  sich  im  Seebecken  absetzt  und  dasselbe  all- 
mählich ausfüllt.  Diese  Zufuhr  von  Schlamm  kleidet  auch  den  Seeboden 
(ähnlich  dem  Boden  des  Oceans)  mit  einer  wasserdichten  unteren  Schicht 
aus,  welche  verhindert,  dass  Wasser  davon  durch  unterirdische  Gänge 
abfliesst.  In  den  Karstgegenden  ist  diese  Zustopfung  der  unterirdischen 
Gänge  nicht  gänzlich  ausgeführt,  wie  z.  B.  bei  dem  bekannten  Zirknitzer 
See,  dessen  Wasserstand  durch  diese  unterirdischen  Kanäle  geregelt 
wird,  sodass  er  plötzlich  anschwellen  oder  austrocknen  kann. 

Ein  anderer  Prozess,  welcher  zur  Vertilgung  der  Seen  in  tempe- 
rierten Gegenden  beiträgt,  ist  die  Vermoorung  derselben.  Die  See- 
pflanzen bilden  eine  dicke  Decke,  welche  allmählich  unten  abstirbt  und 
in  Torf  übergeht,  während  sie  oben  zuwächst.  Zuletzt  können  sich  höhere 
Landpflanzen  ansiedeln,  der  See  ist  verschwunden  und  hat  einem  Torf- 
moor Platz  gegeben. 

Massenweise,  wie  in  einigen  Teilen  von  Nordamerika,  Skandinavien 
und  speziell  Finnland  treten  deshalb  Seen  nur  da  auf,  wo  der  Boden 
vor  verhältnismässig  kurzer  Zeit  durch  andere  Umstände,  als  fliessendes 
Wasser,  profiliert ,  worden  ist.  Im  erwähnten  Beispiel  war  es  die  Eiszeit, 
welche  hauptsächlich  durch  Moränenablagerungen  die  jetzigen  Formen 
der  Seen  und  die  vielen  Wasserfälle  bedingte.  Andere  Seen  sind  durch 
Verwerfungen  der  Erdkruste  entstanden. 

Abflusslose  Seen.  Das  Wasser  der  Binnenseen  kann  nicht  auf 
absolute  Reinheit  Anspruch  machen.  Die  zufliessenden  Ströme  führen 
aus  dem  durchströmten  Boden  Salze  hinzu  und  der  Abfluss  führt 
solche  weg.  Wenn  kein  Abfluss  vorhanden  ist,  wie  bei  mehreren  Seen 
in  wärmeren  Gegenden,  wo  der  Wasserstand  durch  die  Abdunstung 
konstant  gehalten  wird,  nimmt  die  Salzmenge  immer  mehr  zu  und  es 
entstehen  Salz-  oder  Bitterseen.  Sonderbarerweise  enthalten  jedoch 
einige  dieser  Seen  rein  süsses  Wasser,  wie  der  Tsadsee  in  Centralafrika, 
was  nur  davon  abhängen  kann,  dass  die  Zuflüsse  sehr  salzarm  sind  oder 


408 


Physik  der  Erde. 


hauptsächlich  Salze  enthalten  (Eisen-  und  Kalksalze),  welche  bald  von 
Organismen  ausgefällt  werden.  Die  Salzseen  kommen  hauptsächlich  in 
den  subtropischen  Gegenden  vor.  Ihr  Salzgehalt  nimmt  stark  gegen 
die  Oberfläche  hin  ab.  Besonders  im  Winter  ist  ihre  Oberfläche  relativ 
süss.  Dies  hängt  von  dem  Zufluss  von  süssem  Flusswasser  und  von 
ßegenwasser  ab,   welches   im  Winter  am  langsamsten  verdunstet.    Die 


.  A^ 


SUTSTi 


Fig.  138.    Abflusslose  Gebiete  der  Erde. 

Erdteile,   welche  keinen  Abfluss  zum  Meer  besitzen,   sind  in  der  Karte 
Fig.  138  durch  Schraffierung  gekennzeichnet. 

Die  Salzseen  sind  teilweise  von  grosser  industrieller  Bedeutung,  in- 
dem man  aus  ihnen  nützliche  Salze  gewinnt.  So  z.  B.  liefert  der  Elton- 
see jährlich  100000  Tonnen  Kochsalz,  seine  Nachbarseen  150000  Tonnen. 
Die  gewöhnlichsten  Salze,  welche  aus  solchen  Seen  erhalten  werden 
können,  sind  Chlornatrium,  Natriumkarbonat,  Natriumsulfat,  Magnesia- 
salze, Gips  und  an  einigen  Stellen  Borax.  In  Europa  befinden  sich 
ein  paar  kleine  Natronseen  nahe  Debreczin  in  Ungarn  und  der  Eltonsee 
auf  der  südrussischen  Steppe,  welcher  hauptsächlich  Chlormagnesium 
und  Chlornatrium  enthält.  Der  letztere  ist  mit  den  Salzseen  Südsibi- 
riens verwandt,  welche  Kochsalz,  Magnesiumsulfat  und  Gips  ausscheiden. 
Von  dem  Karabugasbusen  des  Kaspischen  Meeres  (439418  km'-),  welches 


IV.  Das  Wasser  auf  dem  Festlande.  409 

diesem  Meerbusen  jährlich  350000  Tonnen  Salz  ahgiebt  und  vom  Toten 
Meer  (1595  km'^),  dessen  Salzgehalt  25  Proz.  erreicht,  ist  schon  oben  die 
Rede  gewesen.  Der  grosse  Aralsee  (69685  km 2)  enthält  nur  1,5  Proz. 
Salze.  In  Kleinasien  giebt  es  mehrere  kleine  Salzseen,  welche  auf 
Kochsalz  verarbeitet  werden.  Sehr  salzig  sind  ausserdem'  die  armeni- 
schen Seen  Urmiah,  der  salzhaltiger  als  das  Tote  Meer  und  speziell 
reich  an  Jod  ist,  und  Wan,  mehrere  Seen  in  Iran  und  nördlich  von  dem 
Himalaj^a.  Am  Suezkanal  liegen  einige  Bitterseen,  an  der  Grenze 
zwischen  Tunis  und  Algier  die  „Schotts".  Diese,  ebenso  wie  die  im 
Kapland  und  Rhodesia  massenhaft  vorkommenden  „Brakpans"  und 
„Zoutpans"  (zu  welchen  der  grosse  Ngami-See  als  abflusslos,  obgleich  er 
süsses  Wasser  hat,  zu  rechnen  ist),  geben  Kochsalz.  Grosse  Salzseen 
finden  sich  auch  in  Nordamerika,  wovon  Great  Salt-Lake  (4691  km 2) 
der  bekannteste  ist,  dessen  Wasser  22  Proz.  Kochsalz  und  ausserdem 
andere  Salze  enthält.  Ein  anderer  Salzsee  ist  der  Monrosee.  Mehrere 
Seen  in  Kalifornien  liefern  Borax,  ebenso  wie  die  Seen  bei  Copiapö  in 
Chile,  Südamerika. 

Diese  Salzseen  sind  insofern  von  Bedeutung,  als  aus  ihnen  Salz- 
lager sich  absetzen,  welche  denjenigen  entsprechen,  welche,  wie  z.  B.  die 
Stassfurter  und  Wieliczka-Salzablagerungen,  sich  in  geologisch  sehr  ent- 
fernten Zeiten  absetzten  und  jetzt  in  grösstem  Maassstabe  von  der  In- 
dustrie in  Anspruch  genommen  werden.  Über  die  Art  und  Weise,  in 
welcher  die  Salzablagerung  stattgefunden  hat,  werden  seit  einiger  Zeit 
von  van  t'Hoff  und  seinen  Schülern  sehr  eingehende  Untersuchungen 
ausgeführt,  welche  teilweise  zu  sehr  interessanten  Schlüssen  geführt 
haben  (vgl.  S.  291). 

Die  Farbe  und  Temperatur  der  Binnenseen.  Die  Farbe  der 
Binnenseen  folgt  im  allgemeinen  denselben  Gesetzen  wie  diejenige  des 
Oceans.  Sehr  klares  Wasser  haben  im  allgemeinen  die  Salzseen  wegen 
der  schnellen  Sedimentation.  Die  Farbe  hängt  von  der  Menge  und 
Art  des  zugeführten  Flussschlammes  ab  (vgl.  S.  374).  Sie  wechselt 
häufig  mit  der  Jahreszeit,  indem  zu  verschiedenen  Jahreszeiten  eine 
verschiedene  Tegetation  in  ihnen  herrscht.  Dies  hängt  mit  der  Tempe- 
ratur, besonders  in  den  Oberflächenschichten  der  Seen,  zusammen.  Diese 
bietet  eine  Eigentümlichkeit,  indem  in  einer  gewissen  Tiefe  die  Tem- 
peraturveränderung mit  der  Tiefe  kolossal  schnell,  häufig  zum  Betrag 
von  A^  pro  Meter,  vor  sich  geht,  während  oberhalb  und  unterhalb  dieser 
Stelle,  der  sogenannten  Sprungschicht,  die  Temperaturänderung  sehr 
allmählich  vor  sich   geht.     Diese  Sprungschicht  liegt  in   verschiedener 


410  t^hysik  der  Erde. 

Tiefe,  meist  zwischen  etwa  10  und  20  m.  Die  Sonnenwirkung  dringt  nicht 
sehr  tief  ins  Seewasser  hinein.  Wegen  des  Dichtemaximums  des  Was- 
sers bei  +4^  sinkt  in  der  gemässigten  Zone  im  Winter  die  Temperatur 
des  Seewassers  auf  +  4^  C,  wonach  das  so  abgekühlte  Wasser  zu  Boden 
sinkt,  bis  die  ganze  Wassermasse  -|-  4^  C.  besitzt.  Spätere  Abkühlungen 
erhöhen  das  Volumen  des  Wassers,  sodass  die  abgekühlten  Wasser- 
massen nicht  mehr  heruntersinken,  sondern  oben  bleiben,  wonach  die 
weitere  Temperaturerniedrigung  nur  durch  Leitung  äusserst  langsam 
vor  sich  geht.  Im  Winter  ist  infolgedessen  ein  solcher  See  oben  am 
kältesten  und  unten  am  wärmsten.  Das  Gegenteil  findet  im  Sommer 
statt;  nachdem  der  ganze  See  auf  +4^C.  durchgewärmt  ist,  werden 
die  oberen  Schichten  noch  mehr  erwärmt,  aber  bleiben  wiegen  der  ge- 
ringeren Dichte  oben  liegen,  sodass  die  Temperaturzunahme  in  unteren 
Schichten  nur  infolge  von  langsam  vor  sich  gehender  Leitung  erfolgen 
kann.  Im  Sommer  wird  also  die  Temperatur  oben  am  höchsten  sein. 
Die  polaren  Seen,  bei  welchen  die  Temperatur  nicht  über  4^  C.  steigt, 
verhalten  sich  wie  die  Seen  der  gemässigten  Zone  im  Winter,  die  tro- 
pischen Seen,  bei  welchen  die  Temperatur  nie  unter  -f  4^  C.  sinkt,  da- 
gegen wie  die  Seen  der  gemässigten  Zone  im  Sommer. 

Man  hat  das  Vorkommen  der  Sprungschicht  in  der  Weise  erklären 
wollen,  dass  an  der  Oberfläche  des  Sees  eine  tägliche  Periode  der  Tem- 
peratur vorkommt.  Durch  die  nächtliche  Abkühlung  wird  eine  Art 
Cirkulation  zustande  gebracht,  welche  sich  bis  zu  einer  gewissen 
Tiefe  erstreckt,  bei  welcher  die  Temperatur  genau  so  hoch  ist,  wie 
diejenige  der  in  der  Nacht  von  der  Oberfläche  herabsinkenden  Massen. 
Bis  dahin  herrscht  also  (nachts)  eine  sehr  gleichmässige  Temperatur,  und  von 
da  ab  findet  die  eigentliche  Wärmeleitung  statt,  welches  zur  Folge  hat, 
jdass  in  den  nächsten  Schichten  der  Temperaturfall   sehr  hoch  ausfällt. 

Bei  seichten  Seen  kann  natürlicherweise  im  Winter  die  Tem- 
peratur am  Boden  unterhalb  +4^0.  sinken  und  im  Sommer  diesen 
Wärmegrad  tibersteigen,  da  in  ihnen  gewissermaassen  die  unteren 
Schichten  fehlen.  Ebenso  kann  der  Zufluss  von  kälterem  Wasser  oder 
die  Cirkulation  im  Winter  so  stark  sein,  dass  die  Temperatur  stellen- 
weise unter  4^  sinkt. 

Zufolge  der  Zunahme  der  Kompressibilität  des  Wassers  bei  sinken- 
der Temperatur  liegt  das  Dichtemaximum  bei  höheren  Drucken  (in  tie- 
feren Seen)  unter  4<^. 

Als  Beispiele  der  Wärmeverhältnisse  der  Binnenseen  gebe  ich  fol- 
gende Daten  über  die  Temperatur  für  das  Jahr  1900  nach  Forel: 


IV.  Das  Wasser  auf  dem  Festlande.  411 

Genfer  See,  46«  2l'  K  Br.,  0^  38'  E.  L.  v.  Gr. 

Tiefe          12.  März        7.  Mai      16.  August  14.  Nov. 

0  m            6,90         13,90           19,1«  11,6^ 

5                6,2            11,0            17,6  — 

10                6,1              8,0            16,8  — 

15                6,0              7,1            12,6  — 

20                5,95            6,7              9,8     ,  11,6 

30                5,9              6,5              8,1  8,8 

40           .     5,9              6,3              6,9  7,5 

60                5,85            6,0              6,2  6,5 

80                5,8              5,8              5,9  6,1 

100                5,8              5,8              5,8  6,0 

150                5,8              5,8              5,8  5,8 

280                 5,8              5,3              5,5  5,6 

309                5,1              5,2              5,3  5,3 

Mjösen,  Norwegen,  60^  22'  N.  Br.,  11^  15'  E.  L.  v.  Gr. 

Tiefe      11.  März     18.  April     6.  Juni        10.  Sept.  18.  Nov. 


0  m 

0,330 

1,400 

4,90^ 

12,600 

5 

0,63 

1,40 

4,65 

12,70 

5,800 

10 

0,98 

1,40 

5,60  (?) 

12,50 

5,80 

20 

1,84 

1,85 

4,10 

10,50 

5,80 

40 

2,59 

2,75 

4,00 

6,30 

5,80 

60 

3,10 

3,25 

4,00 

4,75 

4,90 

80 

3,45 

3,60 

4,00 

4,30 

4,60 

100 

3,60 

3,85 

4,00 

4,10 

4,30 

150 

,3,80 

3,80 

3,90 

3,90 

4,60  (?) 

200 

'3,80 

3,80 

3,80 

3,80 

4,00 

300 

3,75 

3,75 

3,65 

3,75 

3,80 

420 

3,70 

3,70 

3,80 

3,60 

3,80 

Ladoga,  61«  22'  N.  Br.,  30«  42'  E.  L.  v.  Gr. 
Tiefe       24.  April    G.  Juni      29.  Juli    11.  Sept.    17.  Okt. 


0  m 

0,240 

2,070 

8,560 

9,090 

7,720 

10  . 

0,25 

8,35 

9,12 

20 

0,39 

2,05 

7,85 

7,38 

7,77 

30 

0,81 

— 

4,90 

5,87 

40 

1,15 

2,08 

4,20 

4,69 

7,72 

60 

1,81 

2,10 

3,95 

4,39 

7,52 

80 

2,10 

2,06 

3,94 

4,34 

6,47 

412 


Physik  der  Erde. 


Ladoga,  61^  22'  N.  Br.,  30 ^  42'  E.  L.  v.  Gr. 
Tiefe       24.  April    0.  Juni      29.  Juli    11.  Sept.    17.  Okt. 


100  m 

2,20« 

2,06« 

3,930 

4,28« 

5,61« 

150 

2,46 

2,08 

3,85 

4,15 

4,60 

200 

2,67 

2,07 

3,75 

4,00 

4,25 

Enare,  Lappland,  69«  34'  N.  Br.,  27«  50'  E.  L.  v.  Gr. 
Tiefe    23.  März    30.  Mai   7.  Juli    6.  Aug.    2.  Sept.    2.  Okt.     1.  Nov. 


0  m 

0,1« 

1,4« 

6,2« 

13,1« 

8,1« 

6,0« 

1,5« 

5 

1,3 

7,5 

12,4 

8,2 

6,2 

2,0 

10 

0,6 

— 

— 

8,5 

— 

2,5 

20 

0,7 

1,3 

5,5 

12,0 

9,0 

6,2 

2,6 

30 

0,8 

1,4 

5,2 

11,9 

9,3 

6,2 

3,2 

40 

1,4 

1,4 

5,1 

11,8 

9,6 

6,1 

3,2 

50 

5,0 

— 

9,5 

6,2 

3,4 

60 

1,6 

10,5 

9,0 

6,2 

3,4 

70 

4,5 

— 

— 

80 

1,6 

— 

10,0 

8,2 

6,2 

Diese  Daten  scheinen  zu  bestätigen,  dass  bei  hohen  Drucken  das 
Dichtemaximum  unter  4«  liegt  (vgl.  die  Ziffern  für  Mjösen).  Die 
jährliche  Wärmeschwankung  dringt  viel  tiefer  hinein  als  man  vermuten 
'könnte.  Forel  schätzt  die  Tiefe,  deren  Temperatur  sich  ändert,  für  den 
Genfer  See  zu  100 — 150  m,  für  Loch  Katrine,  Schottland,  zu  mehr  als 
150  m,  für  Mjösen  und  Ladoga  zu  mehr  als  220  m.  Die  genannte  Tiefe 
scheint  demnach  um  so  grösser  zu  sein,  je  nördlicher  der  betreffende 
See  liegt.  Dies  kann  nicht  von  dem  Eindringen  der  Sonnenstrahlung 
herrühren,  die  schon  in  einigen  Metern  Tiefe  äusserst  schwach  ist.  Die 
wahre  Ursache  ist  noch  unbekannt.  Ebenso  nimmt  sonderbarerweise 
der  tägliche  Wärmegewinn  in  der  warmen  Jahreszeit  mit  der  geogra- 
phischen Breite  zu.  So  war  in  den  folgenden  Zeitabschnitten  vom  Jahre 
1900  die  Zunahme  der  Wärmemenge  (A  W  in  cal)  pro  Tag  und  cm^ 
in  folgenden  Seen: 


N.  Br. 
Genfer  See    ...    46 
Loch  Katrine     .     .     56 
Wettern,  Schweden    58 

Mjösen 60 

Ladoga      .    .    .    .61 
Enare 69 


Zeitraum 

17.  März  bis  16.  Aug. 
10.  März  bis  6.  Sept. 

3.  Juni  bis  2.  Sept. 

18.  April  bis  10.  Sept. 
24.  April  bis  17.  Okt. 
23.  März  bis  6.  Aug. 


w 

Tage 

A  PF  cal 

23850 

157 

152 

41610 

180 

231 

27640 

91 

304 

43880 

145 

302 

89300 

176 

507 

82400 

136 

606 

IV.  Das  Wasser  auf  dem  Festlande.  41 3 

Dieses  anfangs  sehr  eigentümlich  erscheinende  Kesultat  stellt  Forel 
in  Zusammenhang  mit  der  jährlichen  Schwankung  der  Lufttemperatur, 
welche  (auf  der  nördlichen  Halbkugel)  stetig  mit  der  Breite  zunimmt. 
Sie  beträgt  nämlich  für: 

Nördl.  Br.        0         20  40  60  80^ 

Schwankung     0,8        6,4        19,1        29,8        35,3^  C. 

Zum  Vergleich  mit  diesen  Zfffem  möge  die  Temperaturverteilung 
in  Alands-Haf  (Ostsee)  auf  60^  13'  n.  Br.  und  19^  3'  E.  L.  v.  Gr.  am 
23.  Juli  1900  dienen  (die  erste  Ziffer  giebt  Tiefe,  die  zweite  Tempera- 
tur an): 


0  m 

14,440 

60  m 

1,440 

150  m 

2,940 

10 

12,57 

70 

1,97 

175 

3,17 

20 

6,55 

80 

2,33 

200 

2,57 

30 

1,41 

90 

2,44 

225 

3,07 

40 

0,96 

100 

3,26 

250 

2,36 

50 

1,04 

125 

1,63 

Diese  unregelmässige  Verteilung  hängt,  wie  oben  angedeutet  wurde, 
mit  dem  nach  unten  zunehmenden  Salzgehalt  zusammen.  Sonst  könnten 
die  Schichten  in  40  m  und  100  m  Tiefe  nicht  ihre  Lage  beibehalten. 

Binnensee-Eis.  Nachdem  die  Temperatur  des  Oberflächen- 
wassers in  Süsswasserseen  unter  0^  C.  gesunken  ist,  fängt  die  Eisbildung 
an.  Man  sieht,  wie  lange  Eisnadeln  über  die  Wasserfläche  von  be- 
stimmten Krystallisationscentren  auswachsen,  gewöhnlicherweise  von  dem 
Ufer,  wo  die  Abkühlung  wegen  der  geringen  Tiefe  am  schnellsten  fort- 
schreitet. Zwischen  diese  Eisnadeln  legen  sich  Querstäbe  und  zuletzt 
ist  die  ganze  Oberfläche  mit  einer  dünnen  Eishaut  überzogen.  Dauert 
die  Kälte  an,  so  verbreitet  sie  sich  nach  unten  durch  Wärmeleitung 
und  zufolge  der  Gesetze  der  Wärmeleitung  geschieht  dies  um  so  lang- 
samer, je  dicker  die  Eisdecke  wird,  sodass  bei  konstant  bleibender  Kälte 
eine  viermal  so  lange  Zeit  vergeht,  um  eine  doppelt  so  dicke  Eisdecke 
zu  bilden,  wie  zur  Bildung  einer  Eisdecke  von  der  einfachen  Dicke. 
Durch  dieses  immer  langsamer  geschehende  Gefrieren  wird  die  Eisdecke 
verhindert,  an  unseren  Flüssen  und  Seen  eine  übermässige  Dicke  an- 
zunehmen. 

Im  Frühling,  wenn  das  Eis  zu  schmelzen  anfängt,  wird  es  locker 
und  porös  und  nimmt  demzufolge  eine  mehr  schneeweisse  Farbe  an. 
Zuletzt  zerbröckelt  es  unter  dem  Einflüsse  von  Wind  und  Wasserströ- 


414  Physik  der  Erde. 

mimgen  und  wird  von  den  Wogen  fortgetragen.  Die  Zeit  der  Eistegung 
und  des  Aufganges  von  Seen  und  Flüssen  ist  an  vielen  Örtlichlveiten 
seit  langer  Zeit  annotiert  worden.  Daraus  kann  man  viele  interessante 
Schlüsse  über  klimatische  Verhältnisse  in  alten  Zeiten  ziehen.  Das  Auf- 
gehen der  Flüsse  und  Seen  im  Frühling  hängt  natürlicherweise  mit  dem 
Vorrücken  der  Wärme  nach  dem  Norden  zusammen.  Dies  hängt  wieder- 
um teils  von  denselben  Umständen  ab  wie  das  Abschmelzen  der  Schnee- 
decke, von  welchem  oben  gesprochen  wurde.  Woeikof  zeigte,  dass  die 
grossen  Flüsse  von  Nord-  und  Westrussland,  besonders  die  Neva,  aber 
auch  Düna  (bei  Eiga)  und  Dwina  (bei  Archangelsk)  alle  zwei  Jahre, 
nämlich  den  Jahren  mit  geraden  Jahreszahlen  ihre  Eisdecken  früher 
abwerfen  als  in  den  Jahren  mit  ungeraden  Zahlen.  Dieselbe  Regel- 
mässigkeit gilt  im  allgemeinen  für  das  Abschmelzen  der  Schneedecke 
in  Upsala,  und  diese  Regelmässigkeit  hängt  wiederum  mit  dem  An- 
schwellen des  „europäischen"  Zweiges  des  Golfstromes  zusammen,  wie 
Pettersson  gezeigt  hat.  Interessant  ist  es,  dass  nach  Woeikof  die 
Flüsse  von  Süd-  und  Südostrussland,  namentlich  Wolga  (bei  Astrachan) 
und  der  Don  an  seinem  unteren  Lauf  das  umgekehrte  Verhalten  zeigen. 
Natürlich  ist  es,  dass  daselbst  der  Einfluss  des  Golfstroms  sehr  zurück- 
tritt, warum  aber  eine  Umkehr  stattfindet,   ist  noch  nicht  klargestellt. 

Der  finnländische  Meteorologe  Levänen  zeigte,  dass  der  Eisgang 
im  Kumo-Fluss  in  Finnland  um  so  früher  vor  sich  geht,  je  höher  die 
Sonnenfleckenfrequenz  ist,  wie  oben  hervorgehoben  wurde  (vgl.  S.  145). 

Sümpfe  und  Moore.  Bisweilen  sind  die  Seen  sehr  seicht  und 
voll  Vegetation,  sie  gehen  dann  in  den  Sumpf-  oder  Moorzustand  über. 
Das  Wasser  in  diesen  braucht  nicht  gänzlich  zu  stagnieren,  sondern 
kann  langsam  cirkulieren,  wie  z.  B.  in  den  Zjpressensümpfen  am  niederen 
Laufe  Missisippis.  Die  Sümpfe  nehmen  in  den  Tropen  eine  grosse  Ober- 
Üäche  ein,  so  z.  B.  sind  grosse  Teile  Afrikas  versumpft.  Im  hohen 
Norden  werden  sie  durch  die  Tundren  repräsentiert,  welche  nur  einige 
Wochen  im  Sommer  aufgetaut  sind.  Die  Tundren  breiten  sich  von  der 
Halbinsel  Kola  nach  Osten  längs  der  russischen  und  sibirischen  Nord- 
küste zu  einer  Breite  von  400  bis  800  km  aus.  Grosse  Sümpfe  kommen 
in  Europa  in  den  polnischen  Grenzlandschaften  Rasslands  vor.  Be- 
rüchtigt sind  als  Malariaherde  die  pontinischen  Sümpfe  und  die  toska- 
nischen  Maremmen  in  Italien.  Ist  die  Vegetation  auf  einem  Sumpfe  so 
kräftig  und  dicht,  dass  derselbe  trafikabel  ist,  wird  er  Moor  genannt. 
Die  gewöhnlichsten  Pflanzen  in  dieser  Siimpfflora  in  Europa  sind 
Sphagnum-Arten.    Moore  sind  in  Holland,  Deutschland,   besonders  dem 


IV.  Das  Wasser  auf  dem  Festlande.  415 

nordwestlichen  Teile,  und  Skandinavien  sehr  gewöhnlich.  Der  Torf  wird 
an  vielen  Stellen  aus  den  Mooren  ausgegraben,  getrocknet  und  als  Brenn- 
stoff verwendet.  Auch  wird  daraus  Torfstreu  dargestellt,  welches  wegen 
seinen  desinficierenden  Eigenschaften  Anwendung  findet.  In  Irland 
kommt  es  bisweilen  vor,  dass  Moore  plötzlich  ihren  Inhalt  über  nahe- 
liegende Gegenden  ausschütten,  wodurch  bisweilen  nicht  unbedeutende 
Verheerungen  entstehen. 

Das  Grundwasser.  Von  den  Niederschlagsmengen,  welche  auf 
den  Boden  fallen,  verdunstet  ein  Teil  als  Wasserdampf  in  die  Luft,  ein 
anderer  Teil  fliesst  zu  Flüssen  und  anderen  Wasserzügen  ab.  Ein  nicht 
unbeträchtlicher  Teil  dringt  aber  in  das  Erdreich  hinein  und  giebt  da 
zum  Grundwasser  Anlass.  In  Deutschland  sind  die  drei  Teile  ungefähr 
gleich  gross.  Dieses  Grundwasser  dringt  so  tief  hinein,  bis  es  eine  un- 
durchlässige Erdschicht  antrifft,  wo  es  zur  Seite  abfliesst  oder  liegen 
bleibt.  Der  Stand  des  Grundwassers  schwankt  je  nach  dem  Zu-  und 
Abfluss  und  folgt  in  dieser  Beziehung  nahezu  den  Schwankungen  des 
Fluss  Wasserstandes. 

Das  Grundwasser  ist  in  hygienischer  Beziehung  von  grosser  Wichtig- 
keit. Ein  gleichbleibender  Grundwasserstand  ist  der  nützlichste,  wogegen 
ein  heftiges  Sinken  desselben  nach  einem  vorangegangenen  Steigen  der  Ent- 
wickelung  von  krankheitserregenden  Bakterien  sich  sehr  förderlich  zeigt. 
Die  Trockenlegung  des  Bodens,  die  Abführung  des  Tageswassers  und  be- 
sonders der  Auswurfstoffe  dicht  bevölkerter  Gegenden  durch  Drainierung 
ist  deshalb  eine  von  den  wichtigsten  Maassregeln  zur  Schöpfung  eines 
günstigen  sanitären  Zustandes.  Deshalb  sind  die  Städte,  deren  Grund- 
wasser in  älteren  Zeiten  durch  das  mit  allen  möglichen  Krankheitskeimen 
aus  dem  Abfall  inficiert  waren  und  die  infolgedessen  eine  hohe  Sterb- 
lichkeit aufwiesen,  durch  die  Kanalisationsanlagen  der  neueren  Zeit  auf 
eine  ebenso  gute  oder  bisweilen  bessere  sanitäre  Stufe  als  das  Land 
gebracht.  ^ 

Quellen  und  Brunnen.  An  einigen  Stellen  tritt  das  Grundwasser, 
indem  es  längs  einer  undurchlässigen  Schicht  läuft,  ans  Tageslicht,  wo 
eben  diese  Schicht  selbst  an  die  Oberfläche  tritt.  Eine  solche  Stelle  heisst 
Quelle.  An  anderen  Stellen  geschieht  dies  nicht,  sondern  man  muss, 
um  zu  den  wasserführenden  Schichten  zu  gelangen,  ein  Loch  (Brunnen) 
in  die  überlagernden  Schichten  bohren. 

Ein  Teil  des  Grundwasssers  sickert  direkt  in  die  Flüsse  oder  in 
das  Meer. 

Die  Quellen   halten   eine   nahezu   konstante  Temperatur  im  ganzen 


41  ß  Physik  der  Erde. 

Jahre,  weil  das  Wasser  durch  so  tiefe  Schichten  gelaufen  ist,  dass  in 
denselben  die  jährliche  Temperaturschwankung  sich  nicht  geltend  macht. 
Weil  sie  aus  tieferen  Schichten  stammen,  ist  das  Wasser  gewöhnlicher- 
weise etwas  wärmer  als  die  mittlere  Jahrestemperatur  am  betreffenden 
Ort.  An  Bruchstellen  in  der  Erdoberfläche  und  besonders  in  vulkanischen 
Gegenden,  wo  relativ  heisse  Erdlager  nahe  an  die  Oberfläche  hinauf- 
reichen, sind  die  Quellen  häufig  sehr  warm,  sie  werden  dann  Thermen 
genannt  und  werden  zu  Bädern  benutzt.  Häufig  halten  diese  warmen 
Wässer  relativ  grosse  Mengen  Mineralbestandteile  aufgelöst,  sie  dienen 
dann  zu  medicinischen  Zwecken  (Mineralquellen). 

Die  gewöhnlichen  Quellen  halten  in  erster  Linie  die  Gase  der  Luft 
aufgelöst,  nämlich  Sauerstoff,  Stickstoff  und  Kohlensäure  und  geringe 
Mengen  von  Argon  und  Helium.  Durch  die  Anwesenheit  der  Kohlen- 
säure wird  das  Wasser  befähigt,  Oalciumkarbonat  in  grösserer  Menge 
aufzulösen.  Aus  den  Mineralstoffen  in  der  Erde  löst  das  Wasser  auch 
Chlornatrium,  Gips,  Phosphate  und  geringe  Mengen  Kieselsäure.  Ge- 
wöhnliches Quellenwasser  enthält  im  Mittel  auf  100000  Teile  Wasser 
etwa  32  Teile  feste  Stoffe,  darunter  8  Teile  Calciumkarbonat  und  ebenso 
viel  Kochsalz.  Brunnenwasser  dagegen  hält  im  Mittel  89  Teile  feste 
Stoffe,  worunter  15  Teile  Calciumkarbonat  und  28  Teile  Kochsalz  auf 
100000  Teile.  Ammoniak  und  Nitrate  im  Wasser  sind  Anzeichen,  dass 
es  organische  Substanzen  aufgenommen  hat.  Die  Thermen  enthalten 
sehr  grosse  Mengen  Mineralbestandteile,  Schwefelwasserstoff,  Kohlensäure, 
bisweilen  Borsäure  {in  Italien)  und  Chlorwasserstoff  oder  Schwefelsäure 
(in  Japan).  Die  Mineralwässer  sind  ausgezeichnet  durch  Gehalt  von 
Eisenoxydulsalzen  (speziell  Karbonat),  Magnesiumsulfat  (Bitterwasser), 
Lithiumsalzen,  Natriumsulfat,  Natriumkarbonat,  in  seltenen  Fällen 
Strontium,  Mangan  (Pyrmont),  Arseniate  u.  s.  w.  Sie  werden  gerade 
wegen  des  Gehaltes  an  diesen  Salzen  aufgesucht.  Es  verdient  vielleicht 
erwähnt  zu  werden,  dass  Bunsen  Salze  der  seltenen  Metalle  Rubidium 
und  Caesium  in  Quellenwasser  entdeckte.  Zu  den  Mineralquellen  gehören 
auch  die  Geysire,  von  welchen  oben  die  Rede  war  (vgl.  S.  304). 

Als  Beispiele  der  Temperaturen  in  heissen  Quellen  mögen  folgende 
Daten  für  einige  der  wichtigsten  derselben  angeführt  werden  (nach 
von  Haas). 

Abano  in  den  Euganeen  .    .    84,5    Wiesbaden,  Kochbrunnen      .    69 
Karlsbader  Sprudel       .     .    .     73,8     Baden-Baden,  Hauptquelle    .     68,6 
Plombieres 71       Mehadia  (Maximum)    .     .     .     62,5 


IV.  Das  Wasser  auf  dem  Festlande. 


Aachen,  Kaiserquelle    . 

.     .     55 

Lucca 

.     .     54 

Lenk 

.     .     51 

Gastein  (Maximum) 

.     .     49,6 

Bath  (Maximum)      .    . 

.     .     48,9 

Baden  LS 

.     .     48 

Teplitz  (vor  1879)    .     . 

.     .     48 

417 


Pjätigorsk,  Kaukasus  (Maxim.)  47,5 

Pfäffers 37,5 

Wildbad  (Mittel)      ....  37,4 

Artesische  Brunnen. 

Neusalzwerk,  Westfalen    .    .  34 

Rüdersdorf  bei  Berlin  .     .    .  33,6 

Grenelle  bei  Paris    ....  27,7 

Die  Temperatur  kann  ganz  bedeutend  schwanken,  wie  zu  Herkules- 
bad bei  Mehadia  in  Süd -Ungarn,  wo  die  Temperaturextreme  17^  und 
41^  sind,  was  jedoch  eine  ungewöhnliche  grosse  Schwankung  darstellt. 
Wenn  die  Thermen  keine  grossen  Salzmengen  enthalten  (sogenannte 
indifferente  Thermen  oder  Wildbäder,  wie  Gastein,  Lenk,  Wildbad  in 
Württemberg),  ist  keine  Grenze  zwischen  ihnen  und  den  artesischen 
Brunnen  zu  ziehen. 

Nachstehend  sind  die  Hauptbestandteile  einiger  der  gewöhnlichsten 
Mineralwässer  verzeichnet. 


Alkalescens 
In  100000  Teilen  enthält  jy^   (jq 

Apollinaris 207 

Biliner 364 

Emser  Kesselbrunnen  .    .     .  173 

Karlsbader  Sprudel ....  183 

Kissinger  ßacoczy    .    .    .    .  115 

Marienbader  Kreuzbrunnen  .  228 

Ofener,  Hunyadi  Janos     .     .  178 

Vichj,  Grande  Grille   .     .    .  423 

Wildunger  . 161 


Chlor  Schwefelsäure 

Cl  SOs 

82.4  15,9 
23,2  52,5 
62,6  3 

62.5  141,2 
391  62 
103  282 

79  1968 

32,4  16,4 

0,5  4,4 


Kalk    Wasserfreie 
Ca  0  Salze 


14,7 
22,5 

8,5 
16,9 
75,8 
29,2 
52 
16,0 
27,7 


364 
496 
283 
543 
856 
897 
3505 
525 
102 


Das  Chlor  und  die  Schwefelsäure  sind  hauptsächlich  als  Chlornatrium 
und  Natriumsulfat  vorhanden ;  in  Hunyadi  Janos  ist  der  grosse  Schwefel- 
säuregehalt durch  Magnesiumsulfat  bedingt. 

Stark  kalkhaltiges  Wasser  wird  hart,  weniger  kalkhaltiges  weich 
genannt.  Wenn  der  Gehalt  von  100  Litern  Wasser  20  g  Kalk  (Ca  0 
+  Mg  0)  und  50  g  an  gelösten  festen  Stoffen  übersteigt,  so  wird  das 
Wassf^r  nicht  mehr  als  ein  gutes  Trinkwasser  angesehen.  Bei  Gehalt 
von  Magnesia  rechnet  man,  dass  1  g  Magnesia  ebenso  viel  zur  Härte 
des  Wassers  beiträgt  wie  1,4  g  Kalk.  Der  Härtegrad  eines  Wassers 
wird  als  Anzahl  Gramm  Kalk  auf  100  Liter  Wasser  angegeben.  Die 
Kenntnis    des    Härtesrrades    des    Wassers  ist    in    technischer    Hinsicht 


Arrhenius,  Kosmische  Physik. 


27 


418  Physik  der  Erde. 

von  grosser  Bedeutung,  da  die  Bildung  von  Kesselstein  in  Dampfkesseln 
damit  zusammenhängt.  Ein  weiches  Wasser  ist  für  den  Dampfkessel- 
betrieb von  sehr  hohem  Werte. 

Die  Mineralbestandteile  des  Quellenwassers  werden  oft  bei  der  Mün- 
dung der  Quelle  abgesetzt  und  werden  dann  Sinter  oder  Tuff  genannt. 
Solche  Bildungen  kommen  in  recht  grossen  Mengen  in  verschiedenen 
geologischen  Schichten  vor;  sie  schliessen  häufig  interessante  Versteine- 
rungen ein  von  Gegenständen,  die  ins  Wasser  gefallen  sind  (vgl.  S.  291). 

Bisweilen  tritt  das  Wasser  beim  Bohren  eines  Brunnens  als  Wasser- 
strahl in  die  Luft  ein.  Dies  kann  davon  herrühren,  dass  der  Brunnen 
in  einem  Thale  liegt,  sodass  die  wasserführende  Schicht  einen  konkaven 
Bogen  bildet,  von  dem  die  Teile  am  Thalrande  höher  liegen  als  die 
Thalsohle.  Das  Wasser  fliesst  in  diesem  Falle  aus  wie  aus  der  Röhre 
einer  Fontäne,  welche  mit  einem  höher  liegenden  Wasserreservoir  in 
Verbindung  steht.  Diese  Brunnen  werden  artesische  Brunnen  genannt 
und  spielen  eine  recht  grosse  Rolle  in  Algier,  wo  man  durch  Öffnung 
von  artesischen  Brunnen  Oasen  in  der  Wüste  geschaffen  hat. 

In  anderen  Fällen  kann  das  Wasser  durch  starke  Gasentwickelung 
hinaufgepresst  werden,  wie  bei  den  Öl-  und  Naturgas-Quellen. 

Öfters  kommen  Quellen  vor,  die  nicht  kontinuierlich  fliessen,  soge- 
nannte intermittierende  Quellen.  In  anderen  Fällen  wechselt  die  ge- 
lieferte Wassermenge  periodisch.  Man  kann  sich  verschiedene  mecha- 
nische Anordnungen  denken,  durch  welche  ein  solcher  Zustand  entsteht, 
und  die  vermutlich  irgendwie  durch  den  Zufall  von  der  Natur  realisiert 
worden  sind. 

Flüsse.  Die  Quellen  geben  zur  Bildung  von  Bächen  Anlass,  welche 
Rinnen  in  den  Boden  hineingraben,  sodass  stetige  Wasserläufe,  Fluss- 
bette, entstehen.  Man  kann  sich  vorstellen,  dass  die  Rinne  anfangs 
ganz  flach  war.  Je  geringer  die  Wassermasse  oder  je  schmäler  der 
Wasserlauf  ist,  desto  grösser  muss  das  Gefälle  sein,  damit  sie  abfliessen 
kann.  In  der  Nähe  des  Meeres,  wo  mehrere  Bäche  und  Flüsse  sich 
vereinigt  haben,  ist  dieses  Flussbett  flacher. 

Normalge  fälle.  Nehmen  wir  an,  die  Wasserfläche  des  Meeres  sei 
////(Fig.  139)  und  ein  Teil  der  festen  Erdoberfläche  werde  plötzlich  gehoben, 
sodass  er  die  Lage  QR  einnimmt.  Eine  Quelle  befinde  sich  in  Q,  wovon 
das  Wasser  längs  der  schiefen  Ebene  QM  zum  Meere  fliesst,  so  ist  M 
die  Mündung  des  von  der  Quelle  Q  stammenden  Flusses.  Das  Wasser 
führt  feste  Bestandteile  mit  zum  Meere,  das  anfängliche  Flussbett 
ist   QM.    Allmählich   gräbt    sich    der  Fluss    eine  Rinne.     Am   Ober- 


IV.  Das  Wasser  auf  dem  Festlande. 


419 


lauf  des  Flusses  werden  Erdpartikelchen  abgeschwemmt,  um  am  Unter- 
lauf des  Flusses  abgesetzt  zu  werden.  Zwischen  dem  Oberlauf  und  dem 
Unterlauf  des  Flusses  liegt  eine,  häufig  lange,  Strecke,  wo  der  Fluss  bis- 
weilen erodiert,  zu  anderen  Zeiten  aber  ablagert,  dieselbe  wird  Mittel- 
lauf genannt.  Infolgedessen  baut  sich  der  Strom  einen  neuen  Lauf, 
(),  i/i,  der  im  oberen  Teile  niedriger,  im  unteren  Teile  dagegen  höher  wie 
QM  liegt.  Bei  noch  weiter  verlaufendem  Prozesse  nimmt  der  Flusslauf  eine 
noch  niedriger  liegende  Rinne,  02-^21  ^^^-  Zugleich  verschiebt  sich  die 
Mündung  immer  weiter  ins  Meer  hinein.  Das  Gefälle  wird  immer  steiler 
im  Oberlauf,  immer  flacher  im  Unterlauf.  Zufolge  des  steilen  Abfalles 
in  der  Nähe  der  Quelle  rutschen  auch  Teile  vom  Bergrücken  hinter  Q 
ab,   wodurch  die  Lage  der  Quelle  stetig  sinkt.    Der  Fluss  hat  daselbst 


Fig.  139.    Schematische  Darstellung  der  Entwickelung  eines  „Normalgefälles". 


den  Charakter  eines  Wildbaches,  welcher  bei  starkem  Eegen  enorm 
schwillt  und  wegen  des  starken  Gefälles  oft  sehr  grosse  Mengen  von  Ge- 
schiebe heruntertransportiert  und  als  Schuttkegel  auf  die  unterliegende 
sanftere  Böschung  ablagert.  Solche  Schuttkegel  werden  bisweilen  von 
Nebenflüssen  in  das  Hauptthal  hinuntergespült  und  können  dadurch  Ver- 
änderungen im  Laufe  des  Hauptflusses  hervorbringen. 

Wenn  das  Geschiebe  im  Wildbach  den  grösseren  Teil  von  seinem 
Inhalte  ausmacht,  spricht  man  von  Murbrüchen  oder  Murgängen.  Die- 
selben richten  häufig  grosse  Verheerungen  an. 

Die  Form,  welcher  das  Stromgefälle  zustrebt,  wird  Normalgefälle 
genannt.  Als  Beispiel  eines  solchen  möge  nebenstehende  Figur,  das 
Gefälle  des  Wienflusses  und  seiner  Nebenflüsse  oberhalb  Wiens  dar- 
stellend, wiedergegeben  werden  (Fig.  140).  Dasselbe  hat  eine  hyberbel- 
ähnliche   Gestalt    mit    nahezu    konstantem   Gefälle    im   untersten   Teil. 

ZoUikofer  hat  auch  dafür  eine  dementsprechende  Formel: 

27* 


420 


Physik  der  Erde. 


Ä  = 


m 


n  -{•  l 


pl 


vorgeschlagen,  worin  h  die  Höhe  des  Flusslanfes,  /  die  Entfernung  von 
der  Quelle,  m,  n  und  p  Konstanten  bedeuten. 

In  der  Wirklichkeit  ändert  sich  die  Härte  der  Unterlage  während 
des  Flusslaufes,  sodass  keine  so  regelmässige  Form  desselben,  wie  die 
obengenannte,  sich  entwickeln  kann.  Das  Gefälle  braucht  demnach  nicht 
kontinuierlich  von  der  Quelle  bis  zur  Mündung  abzunehmen,  sondern  in 
gebirgigen  Gegenden,  wo  Steine  von  den  Bergabhängen  in  die  Flussrinne 
hineinfallen,  können  Stromschnellen  und  Wasserfälle  entstehen. 

Oppikofer  glaubte,  dass  die  Rinne  des  Normal gefälles  einem 
Cjkloidenbogen    entspreche.     Diese   Kurve    entspricht    der   Bedingung, 


-600 
-500 

-uoo 


-300 


-200 


0  W  20  W  a^Kni- 

Fig.  140.     Gefällskurve  des  Wienfiusses  und  ihrer  Zuflüsse  (nach  Penck). 


dass  eine  Wasserpartikel,  welche  in  einen  Punkt  der  Kinne  fällt,  so 
schnell  wie  möglich  zur  Mündung  gelangt.  Es  wird  dabei  aber  voraus- 
gesetzt, dass  die  Reibung  verschwindend  sei,  was  nicht  zutrifft.  In  der 
That  bilden  sich  die  Flussrinnen  so  aus,  dass  sie  immer  geschwinder 
das  W^asser  abfliessen  lassen. 

Dieser  Umstand  ist  gewissermaassen  nicht  nützlich.  Das  Binnenland 
wird  ausgetrocknet  und  bei  den  Schneeschmelzen  entstehen  verheerende 
Überschwemmungen.  Die  künstliche  Drainierung  des  Bodens  trägt  auch 
zum  schnellen  Abfluss  des  Regenwassers  bei.  Dagegen  wirken  Seen, 
Sümpfe  und  Wälder  als  grosse  Regulatoren  der  Abflussmenge.  In  den 
Wäldern  ist  es  nicht  nur  das  Bodenmoos,  welches  den  Regen  ansammelt^ 
sondern  die  Löcher  im  Boden  nach  alten  vermoderten  Wurzeln  wirken 
vielleicht  noch  kräftiger. 

Seitliche  Erosion.  Gleichzeitig  mit  der  rinnenbildenden  Wirkung 


IV.  Das  Wasser  auf  dem  Fesfclande. 


421 


des  Flusses  bewirkt  die  Verwitterung  die  Verbreiterung  des  Flussthaies. 
In  der  Jugend  des  Flusses  ist  die  ausgrabende  Wirkung  des  Flusses 
die  vorwiegende.  Wenn  die  Verwitterung  sehr  gering  ist,  was  z.  B. 
eintrifft,  wenn  der  Fluss  durch  trockene  Gegenden  in  harten  Felsen 
fiiesst,  so  bildet  sich  eine  Rinne 
mit  steilen  Wänden  aus,  wie  dies 
am  meisten  typisch  in  dem  Caiion 
des  Coloradoflusses  (Fig.  141)  her- 
vortritt. Ähnliche  Bildungen  in  ge- 
ringerer Skala  kommen  in  den 
„Klammen"  in  Europa  vor.  Der 
Fluss  hat  also  in  seiner  Jugend  ein 
Bett,  dessen  Profil  der  Figur  142a 
entspricht.  In  späteren  Zeiten  ent- 
wickelt sich  das  Flussbett  zufolge 
der  Verwitterung  und  nimmt  die 
Formen  6,  c h  nacheinander  an. 

In  vielen  Fällen  hat  der  Fluss 
das  ganze  Flussthal  ausgegraben. 
In  anderen  Fällen,  wie  häufig  in 
der  Schweiz,  hat  der  Fluss  eine  alte, 
von  geologischen  Ursachen  herrüh- 
rende Einbiegung  als  Flussbett 
benutzt.  In  solchen  Fällen  wird 
das  Flussthal  eine  Art  Kombination 
der  geologischen  und  hydrographi- 
schen Wirkungen. 

Veränderungen  im  Gefälle. 
Wenn  die  Landmasse  gehoben  wird, 
so  wird  der  Fluss  so  zu  sagen  ver- 
jüngt, er  fängt  an,  eine  neue 
Einne  in  sein  altes  breites  Thal 
hineinzuschneiden.      Im    Gegenteil 


i 

Hj^ 

^SHHIlk..^ 

V**v*          ^      ^,.  -  v 

■'  ■^'■^^♦Vj^* 

^ß 

^■VbVk                            ^-^^^^^^^^^^^^H 

^^# 

|y;^g|ap-/- 

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^'^'^W 

•v.^>^^ 

'>  '"^^^Ä 

■^'■'^    -— — ^"L»- 

'^v«§^^MH»' 

,.,  ^-^ 

--^^^':^i^;g^w^ 

Fig.  141.     Canon  des  Coloradoflusses. 


^;^*Ä= 


V    \  \  \ 


,f 


-----f? 


■-9 


Fig.  142.      Schematische   Darstellung 

der  Entwickelung  eines, jungen" Fluss- 

thales  aa  zu  immer  „älteren"  Formen 

(bis  hh) 


wenn  der  Boden  sich  senkt,  tritt  das  Seewasser  in  die  alten  Flussthäler 
hinein  und  bildet  dadurch  ein  verzweigtes  Fjord- System. 

Hebt  sich  das  Land  lokal  unter  einem  Fluss,  so  kann  es  geschehen, 
dass  der  Fluss  sein  Bett  ebenso  schnell  aushöhlt.  Beispiele  solcher 
Wirkung  sind  die  Poprad,  welche  die  Karpathen  durchdringt,  der  den 
Olj^mpos  durchsetzende  Salamvriasfluss  und  der  Susquehanna,  welcher  die 


422 


Physik  der  Erde. 


vielen  Faltungen  des  Alleghany- Gebirges  überquert.  Oder  was  das  ge- 
wöhnlichere ist,  der  Pluss  wird  aufgedämmt,  es  entsteht  ein  See  und 
der  Abfluss  wird  zur  Seite  abgelenkt. 

Durch  die  Schuttmassen,  welche  von  den  Bergen  in  Flüsse  hinunter- 
rutschen, können  Flussläufe  stark  geändert  werden.  Ebenso  können 
vulkanische  Ergüsse  quer  über  Flussbette  die  Stromverhältnisse  ändern. 
Die  grossen  Schuttmassen,  welche  während  der  Eiszeit  abgeladen  wurden, 
veränderten  stark  die  Flussläufe. 

In  allen  diesen  Fällen  entsteht  eine  Verjüngung  des  Flussbettes 
mit  zahlreichen  Wasserfällen  und  Stromschnellen  und  schwacher 
Drainierung. 

Wasserfälle.  Wenn  bei  der  Aushöhlung  des  Flussbettes  ver- 
schieden harte  Schichten  an  verschiedenen  Stellen  des  Flusslaufes  vor- 
kommen, so  entsteht  an  der  Begrenzungslinie 
ein  Wasserfall,  oder  wenn  der  Übergang  mehr 
kontinuierlich  vor  sich  geht,  eine  Stromschnelle. 
Als  typischer  Wasserfall  kann  der  Niagara  be- 
trachtet w^erden.  Der  Niagarafluss  fliesst  hi 
einem  Bett  von  hartem  Kalkstein,  unter  welchem 
weichere  Schichten  liegen.  Allmählich  bröckelt 
der  Fluss  den  Kalkstein  unter  dem  Falle  her- 
unter und  die  tiefer  liegenden  Schichten  werden 
ohne  Mühe  weggespült  (vgl.  Fig.  143).  Wahr- 
scheinlich werden  die  weicheren  unteren  Schich- 
ten so  ausgewaschen,  dass  eine  Höhlung  unter 
den  Kalksteinschichten  entsteht,  welche  dann 
um  so  leichter  abbröckeln.  In  dieser  Weise 
schreitet  der  Niagarafall  um  etwa  1,5  m  pro  Jahr  zurück.  Da  die 
Kalksteinschichten  eine  geringe  Neigung  nach  dem  Inneren  des  Kon- 
tinents besitzen ,  so  sinkt  gleichzeitig  auch  das  Flussbett  ein  wenig  und 
damit  der  Erie-See.  Der  Wasserfall  ist  jetzt  48  bis  50  m  hoch,  war 
aber  in  der  ersten  Zeit,  als  der  Auslauf  10  km  weiter  entfernt  lag 
(bei  Queenstown),  beinahe  doppelt  so  hoch.  Man  hat  daraus  be- 
rechnet, dass  etwa  15000  Jahre  vergangen  sein  sollen,  seitdem  der 
Niagarafall  anfing,  sein  Flussbett  auszuhöhlen.  Dies  geschah  am  Ende 
der  Eiszeit,  als  das  Eis  abschmolz  und  die  alte  Flussrinne  gefüllt  zurück- 
liess,  sodass  der  Fluss  sich  einen  neuen  Weg  bahnen  musste.  (Dass 
mehr  als  15000  Jahre  seit  der  Eiszeit  verflossen  sind,  wird  jedoch  von 
den  meisten  aus  triftigen  Gründen  angenommen  (vgl.  S.  405). 


Fig.  143.  Schematische 
Darstellung  des  Nia- 
garafalles, a  Harter 
Kalkstein,  b  Weichere 
Schichten. 


IV.  Das  Wasser  auf  dem  Festlande.  423 

In  ebenderselben  Weise  sind  die  meisten  Wasserfälle  entstanden 
(in  Gegenden,  wo  die  Vereisung  während  der  Eiszeit  auftrat).  Das  In- 
landeis hatte  die  alten  Flussläufe  mit  Geröll  und  Geschieben  ausgefüllt. 
Dadurch  entstanden  beim  Zurückziehen  des  Eises  Stauungen  des  Wassers, 
mit  anderen  Worten  Seen  wurden  gebildet.  Einige  Seen  wurden  gegen 
den  Eisrand  des  Eises  selbst  aufgestaut.  Das  Wasser  musste  sich  neue 
Auswege  suchen  und  fiel  dann  häufig  über  steile  Abhänge  und  bildete 
Wasserfälle.    Beispiele   davon  giebt   es  sehr  viele  in  Skandinavien. 

In  dieser  Weise  wurde  die  Salzach  von  dem  Eise  aufgedämmt  und 
bohrte  sich  ein  neues  Bett  durch  die  Taxenbacher  Kluft.  Ihr  altes  Bett, 
worin  jetzt  die  Saalach  fliesst,  hat  sie  nicht  wiedergefunden.  Ebenso  kann 
eine  Schutt-  oder  Lavamasse  einen  Fluss  aufdämmen  und  zur  Bildung 
von  Seen  und  Wasserfällen  Anlass  geben. 

Die  ökonomische  Bedeutung  der  Wasserfälle.  In  den 
Wasserfällen  findet  man  einen  Teil  der  Sonnenwärme  in  Form  von  me- 
chanischer Energie  wieder.  Die  Sonne  hebt  die  Wasserdämpfe,  welche 
in  den  Bergen  als  Kegen  hinabfallen  und  nachher  durch  das  Flussbett 
zum  Meer  zurückkehren  Wie  oben  angedeutet,  ist  das  Gefälle  gewöhn- 
lich am  grössten  im  oberen  Lauf  der  Flüsse  und  folglich  wird  die  im 
Wasser  aufgespeicherte  Energie  in  diesen  Teilen  am  leichtesten  zurück- 
gewonnen. Diese  Energie  wird  schon  jetzt,  besonders  in  der  Schweiz, 
Norditalien  und  Teilen  von  Nordamerika  ausgenutzt  und  obgleich  bisher 
nur  sehr  geringe  Bruchteile  der  Wasserfallkraft  verwendet  werden,  haben 
sie  schon  einen  bedeutenden  Umschwung  der  Industrie  hervorgerufen. 

Um  dies  zu  verstehen,  brauchen  wir  nur  daran  zu  erinnern,  wie 
die  jetzige  Industrie  auf  die  kohlenproduzierenden  Gegenden  konzen- 
triert ist,  weil  daselbst  die  zur  Speisung  der  Dampfmaschinen  benutzte 
Kohle  einen  relativ  niederen  Preis  hat.  Die  ganze  Kohlenproduktion 
der  Erde  beläuft  sich  (1900)  zu  etwa  700  Mill.  Tonnen.  Wenn  diese 
Kohlenmasse  in  Dampfmaschinen  von  sehr  guter  Konstruktion,  welche 
etwa  0,7  kg  pro  Pferdekraftstun  de  verbrauchen,  verbrannt  werden  würde, 
könnte  man  daraus  etwa  120  Mill.  Pferdekräfte  bei  stetigem  Betrieb 
gewinnen.  Man  schätzt,  dass  etwa  die  Hälfte  der  Kohlen  zu  anderen 
(hauptsächlich  Heizungs-)  Zwecken  verbraucht  werden,  und  dass  im  Mittel 
die  Maschinen  dreimal  weniger  ökonomisch  arbeiten  als  oben  angenommen 
wurde.  (Kleine  Maschinen  verbrauchen  viel  mehr  Kohle  pro  Pferde- 
kraft als  grosse.)  Demnach  entspräche  die  von  der  jetzigen  Industrie 
verbrauchte  Energiemenge   etwa  20  Millionen   Pferdekräften. 

Die  Energiemengen,   welche   sich   aus   den  Wasserfällen  gewinnen 


424  Physik  der  Erde. 

lassen,  konnten  bisher  nur  roh  geschätzt  werden.  Man  ist  der  Ansicht, 
dass  die  benutzbaren  Wasserkräfte  der  Schweiz,  Italiens  und  Frank- 
reichs in  jedem  der  drei  Länder  zwischen  drei  und  fünf  Millionen  Pferde- 
kräfte repräsentieren.  Die  skandinavischen  und  Alpenländer  würden 
zusammen  ohne  Zweifel  ihren  Wasserfällen  so  viel  Energie  entnehmen 
können,  dass  diese  den  Kraftbedürfnissen  der  ganzen  jetzigen  Weltindustrie 
entspräche.  Wenn  man  bedenkt,  einen  wie  kleinen  Teil  diese  Länder 
auf  dem  Erdball  ausmachen,  kann  man  leicht  die  grosse  zukünftige  Be- 
deutung der  Wasserfälle  für  die  Industrie  verstehen. 

Obgleich  durch  den  immer  mehr  ermöglichten  Elektricitätstransport 
die  Energie  der  Wasserfälle  nicht  streng  an  den  Produktionsort  ge- 
bunden ist,  so  ist  doch  zur  Zeit  keine  Aussicht  vorhanden,  dass  die 
Wasserfallenergie  eine  mit  derjenigen  der  Kohlen  vergleichbare  Trans- 
portfähigkeit erhalten  wird.  Die  Ausnutzung  jener  Energie  wird  demnach 
eine  noch  stärkere  Konzentration  der  Industrie  als  der  Kohlenverbrauch 
herbeiführen. 

Die  Energiemenge  eines  Wasserfalles  wird  folgendermaassen  be- 
rechnet. Eine  Pferdekraft  entspricht  75  Meterkilogramm  pro  Sekunde. 
Wenn  demnach  ein  Fluss  n  m^  Wasser  pro  Sekunde  führt  und  dieses 
Wasser  h  m  hoch  fällt,  so  ist  die  Energiemenge  E: 

E=  n.h.lOOO:1b  =  n,dn.h.  Pferdekräfte. 

Von  dieser  Energiemenge  verliert  man  schon  einen  bedeutenden  Teil 
(im  günstigsten  Falle  etwa  20  Proz.)  bei  der  Übertragung  der  Kraft 
auf  die  Turbinenwelle.  Weitere  Verluste  entstehen  bei  der  Überfüh- 
rung der  mechanischen  Energie  in  elektrische  und  bei  dem  Transport 
derselben  wie  bei  ihrer  Umsetzung  in  mechanische  Arbeit  an  der  Yer- 
brauchsstelle. 

Noch  grössere  Verluste  entstehen  durch  den  ungleichmässigen  Zufluss 
des  Wassers.  Wenn  der  Niagarafluss  bei  dem  Niagarafalle  gleichmässig 
fortfliessen  würde,  so  könnte  dieser  Wasserfall  nicht  weniger  als  sieben 
Millionen  Pferdekräfte  der  Industrie  abgeben.  Wegen  des  ungleich- 
mässigen Wasserzuflusses  könnte  wohl  jetzt  kaum  eine  Million  Pferde- 
kräfte mit  Vorteil  abgezweigt  werden,  wovon  bisher  nur  der  zwanzigste 
Teil  „montiert"  ist.  Dieses  Verhältnis  kann  sich  natürlich  mit  der 
Zeit  je  nach  den  äusseren  Umständen  stark  verschieben. 

Im  allgemeinen  dienen  die  Seen  in  einem  Flusssystem  als  grosse 
Regulatoren  des  Wasserzuflusses  und  die  Wasserfälle  sind  deshalb  um 
so  wertvoller,  je  grösser  die  oben  liegenden  Seereservoire  sind.    In  ahn- 


ly.  Das  Wasser  auf  dem  Festlande.  425 

lieber  Weise  wirken  auch  Gletscher  und  in  geringerem  Maasse  Wälder 
und  Sümpfe. 

Der  Schlammgehalt  der  Flüsse  wirkt  auch  ungünstig  auf  die  Tur- 
binen, weshalb  die  Klärung  der  Flüsse  in  einem  Seebecken  sehr  nützlich 
ist.  Unter  den  grössten  Wasserkraftanlagen  in  Europa  sind  die  Wasser- 
werke bei  Schaff hausen-Neuhausen,  Rheinfelden  (17000  PK.),  Chevres  bei 
Genf  (18000  PK.),  Paderno-d'Adda  und  Vizzola  bei  Mailand  (13000, 
bezw.  12000  PK.),  Jonage  bei  Lyon  (10000  PK.),  Etschwerke  bei  Meran 
(7200  PK),  Brennerwerke  bei  Matrei,  Tyrol  (6000  PK.),  Gersthofen  bei 
Augsburg  (5000  PK.). 

Unterirdische  Wasserläufe.  In  Karstgegenden  verschwinden 
häufig  die  Gewässer  im  Boden  und  haben  einen  unterirdischen  Lauf, 
wie  der  Poikfluss  in  der  Nähe  von  Laibach  zweimal  unter  der  Erde  ver- 
schwindet. Um  den  Zusammenhang  dieser  verschiedenen  Flussteile  zu 
konstatieren,  löst  man  verschiedene  Körper,  wie  Kochsalz  und  in  neuerer 
Zeit  Fluorescem  in  dem  einen  Fluss  auf  und  sieht  nach,  ob  der  andere 
Fluss  Spuren  von  dem  ausgeschütteten  Salz  nach  einer  bestimmten  Zeit 
enthält.  Das  Fluorescem  hat  auch  in  den  minimalsten  Spuren  die 
Eigenschaft,  dem  Wasser  eine  stark  grasgrüne  Färbung  zu  erteilen. 

Auf  diese  Weise  hat  man  nachgewiesen,  dass  die  Donau  und  der 
Rhein  in  unterirdischer  Verbindung  stehen.  In  dem  Juragebiet  hat  man 
ebenfalls  viele  unterirdische  Verbindungen  zwischen  den  Wasserläufen 
auf  diese  Weise  entdeckt. 

Ablenkung  der  Flüsse  durch  die  Erddrehung  und  durch 
Winde.  Wie  wir  oben  (S.  267)  gesehen  haben,  glaubte  v.  Baer  aus 
theoretischen  Gründen  schliessen  zu  können,  dass  nordsüdlich  verlaufende 
Flüsse  ihre  rechten  Ufer  stärker  als  die  linken  corrodieren,  und  er  wollte 
diese  Ansicht  durch  das  Verhalten  der  grossen  sibirischen  Flüsse  bekräftigt 
sehen.  Nun  gilt  die  oben  gegebene  Ableitung  nicht  nur  wie  die  von 
Baer  sehe  für  nordsüdlich  sich  bewegende  Wässer,  sondern  für  alle 
Flüsse  und  Strömungen,  sie  mögen  eine  beliebige  Richtung  haben. 
Verglichen  mit  der  Schwerkraft  {g)  ist  die  ablenkende  Kraft  {p): 

p 2.0,7 3. 10-*  sin  ^      __  2^-  sin  g) 

^  _  ^^ „_  ^  _  ^7  200  ' 

Bei  einer  geographischen  Breite  {(p)  von  45  ^  was  einigermaassen 
für  Mittel-Europa  und  Nord-Amerika  zutrifft,  wäre -=  q.  \o-  Nimmt 


426  Physik  der  Erde. 

man   den  Rhein  als  Beispiel,   für  welchen   im  Unterlauf  t'=l,5  m/sek. 

sein  mag,  so  erhält  man  ^  ==0,016  %o  (9>==50^). 

Wenn  die  Schwerkraft  allein  wirkte,  so  würde  der  Flussspiegel  senk- 
recht zur  Strömungsrichtung  sich  horizontal  stellen.  Zufolge  der  Ein- 
wirkung der  ablenkenden  Kraft  der  Erddrehung  bildet  er  einen  Winkel 
t/;  mit  der  wagerechten  Linie,  der  so  gross  ist,  dass 

^^1^  =  0,016  %o. 

Da  nun  bei  Mannheim  das  Rheingefälle  etwa  0,1  \o  heträgt,  so 
ersieht  man  aus  diesem  Beispiel,  dass  unter  günstigen  Umständen  das 
von  der  Erddrehung  bewirkte  Gefälle  von  rechts  nach  links  nahezu 
dieselbe  Grössenordnung  erreichen  kann,  wie  das  Gefälle  des  Flussbettes. 

Man  ist  dann  berechtigt  zu  schliessen,  dass  unter  Umständen  die 
genannte  Kraft  einen  merklichen  Einfluss  auf  den  Flusslauf  ausüben 
kann.  Man  hat  auch  gefunden,  dass  auf  der  nördlichen  Halbkugel  die 
rechten  Prallstellen  in  regulierten  Flüssen  im  allgemeinen  etwas  tiefer 
sind  als  die  linken.  So  z.  B.  ist  für  den  Rhein  auf  der  Strecke  Strass- 
burg-Maxau  die  mittlere  Tiefe  der  rechten  Prallstellen  6,23,  diejenige 
der  linken  5,98  m  einer  Differenz  von  4,1  Proz.  entsprechend.  Für 
die  regulierte  Donau  bei  Wien  gelten  die  entsprechenden  Ziffern  6,1 
bezw.   5,8  m    mit   einer  Differenz  von  5  Prozent. 

Diese  Wirkung  ist  jedoch  bei  den  meisten  natürlichen  Flüssen  nur 
ein  Bruchteil  von  der  durch  die  Schlängelung  entstehenden  Centrifugal- 
kraft,  zu  welcher  sie  sich  als  ein  Korrektionsglied  hinzufügt.  So  fand 
z.  B.  Gilbert,  dass  in  den  Serpentinen  des  unteren  Mississippi  die 
erodierende  Kraft  im  Mittel  um  9  Proz.  grösser  auf  der  rechten  als  auf 
der  linken  Seite  ist. 

Anfangs  tiberschätzte  man  etwas  die  Wirkung  der  Erddrehung, 
später,  als  D unk  er  die  viel  grössere  Bedeutung  der  Centrifugalkraft  bei 
der  Serpentinisierung  nachwies,  wurden  mehrere  als  Beispiele  der  erst- 
genannten Wirkung  angesehene  Fälle  ausgemustert.  Auch  muss 
man  bei  solchen  Untersuchungen  die  verschiedene  Härte  der  beiden 
Flussufer,  die  Streichung  der  Schichten  und  andere  Umstände  in  Be- 
tracht ziehen,  welche  häufig  einen  bedeutenden  Eintiuss  auf  die  Aus- 
grabung des  Flussbettes  ausüben. 

Auch  die  Winde  können  einen  Einfluss  auf  die  Uferbildung  aus- 
üben, besonders  bei  Wässern  von  massiger  Geschwindigkeit.  Damit  ein 
merklicher   Einfluss    ausgeübt    wird,    muss    eine    ziemlich    ausgeprägte 


IV.  Das  Wasser  auf  dem  Festlande.  427 

überwiegende  Windrichtung  am  betreffenden  Platze  herrschen.  Die  Winde 
treiben  auch  wie  in  den  Seen  das  Oberflächenwasser  gegen  die  Leeseite 
hinauf,  wo  es  hinuntersinkt,  um  in  tieferen  Schichten  zurückzukehren, 
wodurch  Strömungen  entstehen. 

Die  Wassermenge  eines  Flusses.  Um  diese  Grösse  zu  er- 
mitteln, braucht  man  die  Kenntnis  der  Geschwindigkeit,  mit  welcher 
das  Wasser  sich  bewegt.  Um  diese  zu  messen,  hat  man  verschiedene 
Apparate,  von  welchen  einige  gelegentlich  der  Bestimmung  der  Stärke 
der  Meeresströmungen  oben  erwähnt  sind.  Um  die  Oberflächengeschwin- 
digkeit zu  messen,  kann  man  am  einfachsten  die  Bewegung  von  aus- 
geworfenen Schwimmkörpern  zeitlich  verfolgen.  Ein  einfaches,  nicht 
sehr  genaues  Instrument,  um  die  Geschwindigkeit  an  beliebigen  Stellen 
zu  messen,  ist  der  Stromquadrant,  bei  welchem  man  die  Abweichung 
des  Aufhängefadens  eines  Bleilotes  von  der  Lotlinie  abliest.  Das  Lot 
wird  an  die  Stelle  gebracht,  an  welcher  man  die  Geschwindigkeit  messen 
will.  Man  nimmt  an,  dass  die  Kraft,  welche  das  Lot  in  Kichtung  des 
Stromes  treibt,  dem  Quadrat  der  Geschwindigkeit  proportional  sei.  In- 
folgedessen ist  die  Geschwindigkeit  proportional  der  Quadratwurzel  aus 
der  Tangente  des  Ablenkungswinkels,  Der  Proportionalitätsfaktor  ist  für 
verschiedene  Lote  verschieden. 

Durch  ähnliche  Messungen  hat  man  gefunden,  dass  die  Geschwin- 
digkeit allmählich  vom  Eande  oder  Boden  des  Flusses,  wo  sie  Null  ist, 
gegen  die  Mitte  hin  zunimmt.  Das  Maximum  der  Stromgeschwindig- 
keit {Gmax)  liegt  nicht  an  der  Oberfläche,  sondern  ein  wenig  darunter 
(vgl.  Fig.  144). 

Von  diesem  Punkt  ab  nimmt  die  Geschwindigkeit  G  nach  allen 
Seiten  hin  ab,  und  zwar  lassen  sich  die  Geschwindigkeiten  in  ver- 
schiedenen Tiefen  ungefähr  durch  eine  parabolische  Linie  darstellen, 
welche  ihren  Scheitelpunkt  in  dem  betreffenden  Punkte  besitzt.  Auch 
die  Geschwindigkeiten  an  verschiedenen  Stellen  eines  horizontalen 
Durchschnittes  lassen  sich  angenähert  durch  parabolische  Linien  dar- 
stellen. 

Aus  den  ermittelten  Geschwindigkeiten  an  verschiedenen  Stellen 
des  Flusses  nimmt  man  ein  Mittel,  welches  die  mittlere  Geschwindig- 
keit darstellt.  Diese  hängt  natürlicherweise  vom  Gefälle  {x)  und  ausser- 
dem von  dem  Verhältnis  der  Wassermenge  zur  Berührungsfläche  mit 
dem  Boden  des  Flusses  oder,  was  dasselbe  ist,  dem  Verhältnis  vom  Quer- 
schnitt (f)  und  Länge  der  Begrenzungslinie  zwischen  Wasser  und  festem 
Erdboden  {p)  ab.     Man   hat   zur  Berechnung  der   mittleren  Geschwin- 


428 


Physik  der  Erde. 


digkeit  {v)  mehrere  Formeln  dargestellt,  unter  welchen  die  folgende  den 
Vorzug  der  Einfachheit  besitzt: 

v^xy  xf:p. 

Das  Gefälle  wird  gleich  der  Tangente  des  Neigungswinkels  des 
Flussbettes  gesetzt.  Die  Konstante  K  wechselt  zwischen  Werten  von 
36  für  kleine  und  Gebirgsströme  bis  etwa  48  für  den  Unterlauf 
der  Flüsse.      Bei  viel   Geschiebe   führenden    Gebirgsströmen    kann   K 


r--^ 


Oherfl^iche^         des 

Yhisses 

\ 

-\ 

(r  maa'^. 

-,  > 

) 

• 

a 

/ 

^oderv 

Fig.  144.     Geschwindigkeiten  in  verschiedenen  Tiefen  eines  Flusses. 


auf   12    sinken,   bei  sehr  wasserreichen  Strömen   im  Unterlaufe   zu  70 
steigen.    Dabei  werden  als  Einheiten  Meter  und  Sekunde  benutzt. 

Die  pro  Sekunde  vorwärtsfliessende  Menge  ist  das  Produkt  von  Ge- 
schwindigkeit V  und  Querschnitt  J.  Sie  ist  natürlicherweise  für  ver- 
schiedene Ströme  sehr  verschieden  und  auch  für  denselben  Strom  mit 
der  Jahreszeit  sehr  veränderlich.  In  unseren  Breiten  schwellen  die 
Flüsse  häufig  enoripa  zu  der  Zeit  der  Schneeschmelze,  die  jährlichen 
Überschwemmungen  des  Nils  rühren  von  dem  Märzregen  in  seinem 
Quellengebiet  her.  Als  Beispiel  solcher  Schwankungen  möge  angeführt 
werden,  dass  die  Wolga  bei  Moskau  im  Mittel  29  m^  pr.  Sek.  liefert, 
während  beim  Hochwasser  im  Jahre  1879  die  Ziffer  auf  nahezu  den 
hundertfachen  Betrag  stieg  (2892  m^  pr.  Sek.).  Einige  Flüsse,  wie  z.  B. 
in  Centralasien,  trocknen  sogar  in  den  trockenen  Jahreszeiten  aus. 

Als  Beispiele  der  Mächtigkeit  der  Flüsse  mögen  einige  Ziffern  über 
ihte  Wassermengen  an  der  Mündung  angeführt  werden: 


IV.  Das  Wasser  auf  dem  Festlande. 


429 


Wolga  giebt    . 

9900  in3 

pr.  Sek. 

Donau  giebt 

.    8500  m3 

pr.  Sek. 

Mississippi  .     . 

17440   „ 

Ganges    .    . 

.    5800   „ 

Neva  .    .    . 

3000   „ 

Indus  .    . 

.    5700   „ 

Thames  .    . 

63   „ 

Nil.    .    . 

.     3700   „ 

Amazonfluss 

.    70000   „ 

Hoangho  .    . 

.     3300   „ 

Congo      .     . 

51000   „ 

Rhone 

.    .    2400   „ 

Yangtse  .    . 

22000    „ 

Rhein  .    . 

.     2000    „ 

La  Plata     . 

.    20000   „ 

Der  grösste  Fluss  von  Europa  ist  die  Wolga.  Sie  liefert  dem 
Kaspischen  Meere  pro  Jahr  etwa  312  km^  Wasser,  welches  da  verdunstet, 
und  noch  etwas  mehr,  indem  der  Seespiegel  dieses  Meeres  langsam  sinkt 
(er  steht  jetzt  26  m  unter  der  Oberfläche  des  Schwarzen  Meeres). 
Woeikoff  hat  berechnet,  dass  alle  Flüsse  der  Welt  etwa  600000  m^ 
pro  Sek.  oder  16800  km^  pro  Jahr  dem  Oceane  abliefern.  Nach  einer 
anderen  Schätzung  sollte  diese  Zahl  25000  km=^  erreichen.  So  gross 
auch  diese  Menge  ist,  so  ist  sie  sehr  unbedeutend  gegen  die  Wasser- 
massen, welche  von  den  grösseren  Meeresströmungen  transportiert  werden 
(vgl.  S.  385),  sie  erreicht  nicht  den  tausendsten  Teil  vom  Golfstrom  in  der 
Yucatanstrasse. 

Man  rechnet,  dass  ein  massiger  Strom  mit  einer  Geschwindigkeit 
von  etwa  2  km  pro  Stunde  fliesst,  während  die  stärksten  Ströme  eine 
Geschwindigkeit  von  etwa  10  km  pro  Stunde  (=  2,8  m  pro  Sek.)  er- 
reichen. (Wildwässer  können  den  doppelten  bis  dreifachen  Wert  er- 
reichen.) Damit  ein  Fluss  schiffbar  sei,  darf  sein  Gefälle  nicht  allzu 
stark  sein,  sondern  geringer  als  etwa  1  :  5000. 

Wasserscheiden.  Wieviel  Wasser  ein  Fluss  führt,  hängt  von 
mehreren  Umständen  ab.  In  erster  Linie  kommt  sein  Niederschlags- 
gebiet in  Betracht,  welches  durch  die  Wasserscheide  von  dem  Nieder- 
schlagsgebiet anderer  Flüsse  geschieden  wird.  Vordem  die  Flüsse  ihre 
abtragende  Arbeit  angefangen  haben,  z.  B.  in  Skandinavien  und  dem 
nördlichen  Nordamerika  nach  Abschmelzen  des  Inlandeises,  ist  die 
Wasserscheide  sehr  wenig  ausgeprägt  und  besteht  häufig  aus  weit  aus- 
gedehnten Sümpfen.  Bisweilen  fliesst  auch  ein  kleiner  Gebirgssee  zu 
zwei  verschiedenen  Flüssen  ab.  Später,  wenn  die  abfliessenden  Gewässer 
den  Erdboden  profiliert  haben,  wird  das  Gefälle  in  den  oberen  Teilen 
der  Wasserläufe  steiler  und  die  Wasserscheide  stärker  markiert.  Zugleich 
verschiebt  sich  die  Wasserscheide  durch  die  Abtragung  des  Wassers. 
Ist  die  Regenmenge   auf  der  einen  Seite  der  Wasserscheide   grösser  als 


430  Physik  der  Erde. 

auf  der  anderen,  so  ist  die  Verwitteruug  auf  der  ersten  Seite  im  allge- 
meinen grösser  als  auf  der  zweiten  und  die  Wasserscheide  verschiebt 
sich  so,  dass  das  Niederschlagsgebiet  des  zur  ersten  Seite  gehörigen 
Flusses  auf  Kosten  des  anderen  wächst.  Dasselbe  trifft  ein,  wenn  der 
Boden  auf  der  einen  Seite  weniger  fest  ist  wie  auf  der  anderen.  Durch 
Durchstechung  der  Wasserscheide  kann  das  Niederschlagsgebiet  eines 
Flusses  plötzlich  verändert  werden,  dies  kann  natürlicherweise  ohne 
menschliche  Hilfe  zufolge  eines  Durcbbruchs,  gewöhnlicherweise  bei 
Hochwasser,  geschehen. 

Abflussteil  Nicht  alles  Wasser,  welches  in  dem  Niederschlags- 
gebiete eines  Flusses  fällt,  wird  durch  die  Flüsse  zum  Meere  transportiert. 
Eine  grössere  oder  geringere  Menge  dunstet  ab.  Dies  kann  in  so  hohem 
Grade  der  Fall  sein,  dass  das  Wasser  des  Flusses  überhaupt  nicht  zum 
Ocean  kommt,  wie  es  z.  B.  mit  der  Wolga,  dem  Jordan  und  den  Flüssen 
eines  grossen  Gebietes  in  Afrika,  Asien,  Australien  und  im  Westen  Nord- 
amerikas der  Fall  ist.  Das  letzterwähnte  Gebiet  enthält  den  grossen 
Salzsee.  In  älteren  Zeiten  stand  das  Wasser,  wie  alte  Strandlinien  zeigen, 
viel  höher  in  diesem  See,  welcher  mit  mehreren  anderen  Seen  zusammen 
einen  grossen  See,  den  sog.  Lake  Bonneville  bildete,  welcher  einen  Ab- 
fluss  zum  Golf  von  Kalifornien  hatte.  In  diesen  Zeiten  muss  der  Nieder- 
schlag viel  reichlicher  und  das  Klima  daselbst  viel  feuchter  gewesen  sein. 
Man  hat  ein  paar  solcher  Schwankungen  zwischen  feuchtem  und  trockenem 
Klima  in  der  erwähnten  Gegend  nachgewiesen.  Das  gleiche  ist  früher 
mit  dem  Kaspischen  und  dem  Toten  Meere  der  Fall  gewesen. 

Meist  führt  der  Fluss  einen  Teil  des  Niederschlagswassers  zum  Meere 
oder  zu  einem  grösseren  Flusse.  Man  nennt  denjenigen  Teil  des  Nieder- 
schlages, welcher  vom  Niederschlagsgebiete  weg  befördert  wird,  Abfluss- 
teil. Er  ist  für  verschiedene  Flüsse  sehr  verschieden  und  zwar  im  all- 
gemeinen um  so  grösser,  je  kürzer  der  Fluss  und  je  feuchter  das  Klima. 
So  z.  B.  beläuft  sich  dieser  Teil  für  die  kleinen  Nebenflüsse  des 
Mississippi  zu  0,9,  während  er  für  die  grossen  Nebenflüsse  Ohio,  Missouri 
und  Red  River  auf  0,24,  0,15  bezw.  0,15  sinkt.  Für  das  ganze  Mississippi- 
gebiet ist  der  Abflussteil  0,25.  Für  deutsche  Flüsse  ist  nach  MöUen- 
dorff  der  mittlere  Abflussteil  etwa  47  Proz.,  nach  Gräve  nur  31,4 
Prozent.  Durch  die  Elbe  bei  Tetschen  fliesst  im  Mittel  27  Pruz.  des 
Niederschlags  in  dem  oberhalb  liegenden  Niederschlagsgebiete  ab.  Für 
die  nördlichen  Flüsse  Skandinaviens  steigt  dieser  Teil  noch  mehr,  z.  B. 
für  Lule-elf  bei  Mälstorp  und  für  Klarelf  bei  Skäre  zu  87  Proz. 

Transport    von    Schlamm    und    Geschiebe.    Das  Flussvvasser 


Das  Wasser  auf  dem  Festlande.  43]^ 

führt  eine  sehr  grosse  Menge  von  festen  Bestandteilen  mit  sich.  Die- 
selbe ist  je  nach  der  Stromgeschwindigkeit  sehr  verschieden,  d.  h.  sie 
verändert  sich  für  denselben  Fluss  mit  dem  Beobachtungsort  und  mit 
der  Jahreszeit.  So  z.  B.  führt  die  Rhone  bei  Lyon  nur  1  g  feste  Be- 
standteile auf  17000  cm^  Wasser  mit,  dagegen  weiter  unten  bei  Arles 
im  Mittel  1  g  auf  2000.  An  der  letzterwähnten  Stelle  schwankt  die 
betreffende  Zahl  zwischen  1  auf  7000  bei  niedrigem,  und  1:230  bei 
hohem,  stark  fliessenden  Wasser.  In  exceptionellen  Fällen  kann  diese 
letzte  Ziffer  sogar  auf  1  :  45  steigen.  Die  Flüsse  von  Mittel-Europa  sind 
relativ  schlammarm,  für  gewöhnUch  ist  ihre  Ziffer  unter  1  :  10000.  Die 
Alpenflüsse  haben  häufig  die  Zahl  1  :  1000.  Der  Bhein  hat  vor  der 
Teilung  in  Holland  nur  die  Zahl  1  :  18000,  höher  hinauf  (bei  Bonn) 
steigt  sie  auf  1 :8000,  mit  Schwankungen  zwischen  1 :4878  und  1:57800. 
Die  Elbe  (bei  Hamburg)  ist  relativ  rein,  die  Ziffer  ist  nur  1  :  32000, 
bei  Tetschen  ist  sie  1:13000,  die  Donau  hat  die  Zahl  1:7000  bei  , 
Budapest  und  1  :  2400  bei  der  Sulinamündung,  der  Mississippi  in  seinem 
niederen  Laufe  1  :  1500,  Po  1  :  900  und  Ganges  und  Indus  sogar  1  :  510 
bezw.  1  :  400. 

Diese  Mengen  von  festen  Substanzen  setzen  sich  an  den  Fluss- 
müudungen  in  Binnenseen  oder  im  Meere  ab,  oder  auch  teilweise  in 
den  Flussläufen  selbst.  In  den  Seen  oder  dem  Meere  entstehen  dadurch 
Deltabildungen.  Die  Sinkstoffe  w^erden  von  den  Meereswogen  und  be- 
sonders von  den  Gezeitenwellen  in  tieferes  Wasser  geführt,  deshalb 
finden  grosse  Deltabildungen  nur  in  Seen  oder  Meeren  statt,  wo  die 
Gezeiten  schwach  ausgeprägt  sind,  wie  im  Golf  von  Mexiko,  im  Mittel- 
meere, im  Schwarzen  und  Kaspischen  Meere,  in  der  Nordsee  u.  s.  w. 

Ausser  diesen  suspendierten  festen  Teilen  enthalten  die  Flusswässer 
grosse  Mengen  von  gelösten  Substanzen.  Als  Beispiele  mögen  folgende 
Ziffern,  welche  die  Anzahl  Gramm  von  gelösten  Körpern  pro  m^  an- 
geben, mitgeteilt  werden: 

Rhein  bei  Köln 200    Hudson .  142 

Elbe  bei  Hamburg    ....  237    Mississippi 170 

Weichsel  bei  Kulm   .    .    .    .  201     Amazonfluss 59 

Dwina 187  La  Plata  bei  Buenos  Aires    .  237 

Rhone  bei  Lyon 145    Nil  bei  Kairo 231 

Donau  bei  Budapest      .    .    .  187 

Im  Mittel  führen  die  Flüsse  gelöste  Substanzen  etwa  zum  Betrage 
1 :  6000  ihrer  Wassermenge. 


432  Physik  der  Erde. 

Nach  Springs  Schätzung  führt  die  Maas  durch  die  Stadt  Lüttich 
jährlich  362  Millionen  Kilogramm  feste  Körper.  Von  diesen  sind 
22  Millionen  organische,  238  Millionen  suspendierte  und  102  Millionen 
Kilo  gelöste  anorganische  Substanzen.  Die  Donau  führt  14300  Millionen 
Kilo  feste  Körper  jährlich  durch  Wien.  In  18000  Jahren  würde  dem- 
nach das  Niederschlagsgebiet  der  Donau  oberhalb  Wiens  um  1  m 
abgetragen  werden.  Andererseits  setzt  die  Donau  ein  Delta  an  ihrer 
Mündung  ab,  wodurch  die  7  m  -  Tiefenlinie  jährlich  sich  um  etwa 
100  bis  125  m  verschiebt.  Das  25000  km^  umfassende  Deltaland  vom 
Mississippi  rückt  jährlich  um  90  m  in  den  mexikanischen  Golf  hinaus. 
Nach  den  Berechnungen  von  Mellard  Reade  führen  die  drei  grossen 
chinesischen  Flüsse  Sediment  genug,  um  das  Gelbe  Meer  in  etwa  100000 
Jahren  auszufüllen.  Die  grösste  Deltabildung  ist  diejenige  der  beiden 
Flüsse  Ganges  und  Brahmaputra;  sie  umfasst  nicht  weniger  als  etwa 
100000  km  2. 

Auch  in  den  Binnenseen  kommen  mächtige  Deltaablagerungen  vor. 
Wenn  der  See  schmal  ist,  kann  es  geschehen,  dass  sich  ein  Delta  an  der 
Mündung  des  Flusses  und  ein  anderes  an  der  gegenüberliegenden  Seite 
absetzt.  Dies  trifft  z.  B.  bei  Interlaken  zu,  wo  die  Thuner-  und 
Brienzer-Seen  voneinander  getrennt  worden  sind.  In  ebenderselben  Weise 
ist  der  Mezzola-See  von  dem  Corner- See  durch  eine  Deltabildung  der 
Addä  getrennt  worden.  In  einem  solchen  Falle  wird  allmählich  der  See 
in  zwei  zerlegt.  Durch  die  grosse  Zufuhr  von  Sinkstoffen  zu  den  Binnen- 
seen haben  diese  nur  eine  sehr  beschränkte  Lebensdauer,  besonders  die 
kleineren.  Binnenseen  finden  sich  in  grosser  Menge  deshalb  nur  in 
solchen  Gegenden,  wo  die  Flüsse  nicht  lange  ihre  Nivellierungsarbeit 
ausgeführt  haben,  z.  B.  in  den  Teilen  der  Erde  (Skandinavien,  Finnland, 
nördlichen  Teile  von  Nordamerika),  wo  Eiszeit  bis  vor,  geologisch  ge-' 
sprechen,  ganz  kurzer  Zeit  herrschte.  Auch  in  Flussläufen  kommen 
deltaförmige  Bildungen  vor,  z.  B,  da,  wo  ein  steiler  Bergbach  in  die 
Ebene  tritt. 

Im  Flusslaufe  selbst  setzt  sich  das  grössere  Gerolle,  Sand  u.  s.w.  als 
Sandbänke  an  Stellen  ab,  wo  die  Stromgeschwindigkeit  massig  wird. 
Besonders  geschieht  diej?,  wenn  der  Fluss  über  seine  Ufer  steigt,  z.  B.  zur 
Zeit  der  Schneeschmelzung,  wobei  er  für  gewöhnlich  grosse  Mengen  von 
Sinkstoffen  mitführt.  In  dieser  Weise  bildet  der  Fluss  allmählich  eine 
grosse  Ebene,  in  deren  Mitte  er  durch  ein  gewöhnlicherweise  schlängeln- 
des Flussbett  hinzieht.  An  solchen  Stellen,  wo  der  Fluss  sich  krümmt, 
setzt  er  seine  Sedimente  da  ab,  wo  er  am  langsamsten  fliesst,  d.  h.  wo 


IV.  Das  Wasser  auf  dem  Festlande. 


433 


die  Ufer  konvex  sind  (bei  a\  untergräbt  dagegen  die  gegenüberliege!] de 
Stossseite  (bei  h  Fig.  145).  Dadurch  werden  die  Bogen  immer  grösser 
und  der  Fluss  mehr  schlängelnd.  Der  Fluss  beschreibt  Mäander  oder 
serpentinisiert.  Zuletzt  passiert  es,  dass  bei  einer  Überschwemmung  das 
Wasser  den  kürzeren  Weg  zwischen  den  beiden  Enden  eines  ßogens 
findet  und  einen  Kanal  ausgräbt.  Der  alte  Flusslauf  wird  dann  bald  in 
der  Nähe  des  Stromes  eingesandet,  sodass  von  dem  früheren 
Flussbogen  ein  hufeisenförmiger  See  übrig  bleibt  (sog. 
Altwässer  (Fig.  146),  sie  sind  längs  des  Mississippi  sehr 
gewöhnlich).  Solche  entstehen  auch  häufig  bei  Fluss- 
regulierungen. Die  Altwässer  werden  häufig  zu  Hoch- 
wasserzeiten durch  Sand  zugeschüttet  und  verlieren  ihr 
Wasser,  sie  werden  dann  „Eideaus"  oder  „Wagrame"  ge- 
nannt. Solche  kommen  in  der  Theissniederung  häufig  vor,  auch  am  Nord- 
ende der  oberrheinischen  Tiefebene  (z.  B.  alte  Neckar-  und  Mainläufe). 
Je  mehr  Sand  und  Geschiebe  ein  Fluss  enthält,  desto  kräftiger  wirkt 
er  aushöhlend   auf  sein   Flussbett.    Nach  dem  Austritt  aus  einem  See 


Fig.  145. 


Fig.  146.    Hufeisensee  und  Porter  See,  „Altwässer"  am  Mississippi. 


besitzt  deshalb  der  Fluss  viel  weniger  Fähigkeit,  sein  Flussbett  auszu- 
meisseln,  wie  vorher.  Die' Vernichtung  der  Seen  hat  man  deshalb  viel 
weniger  der  Vertiefung  der  Flussrinne  an  dem  Ausflusse  als  der  Aus- 
füllung des  Sees  beim  Einlaufe  des  Flusses  zuzuschreiben. 

Auf  der  Flussebene  treten  die  Nebenflüsse  unter  sehr  spitzem 
Winkel  in  den  Hauptfluss  ein.  Das  Gefälle  ist  sehr  gering,  sodass  eine 
sehr  grosse  Menge  von  Sediment  beim  spitzen  Winkel  des  Einlaufes  ab- 
gesetzt wird.   Dadurch  verschiebt  sich  allmählich  die  Einlaufstelle  gegen 

Arrhenius,  Kosmische  Physik.  28 


434 


Physik  der  Erde. 


die 
sich 


p 


CD 


CO 


r\0 

o 


FlussmünduDg  und  es  kann  so  weit  gehen,  dass  die  beiden  Flüsse 
voneinander  trennen  und  gesondert  ins  Meer  münden. 
Die  Sedimente  bilden  in  den  Flussläufen  grosse  Bänke,  die  gewöhn- 
lich abwechselnd  auf  der  einen  und  der 
anderen  Seite  des  Flusses  liegen  (Fig. 
147).  Diese  Bänke  wandern  allmählich 
den  Fluss  hinunter.  So  z.  B.  sollen 
nach  Grebenau  im  mittleren  Khein 
die  Bänke  sich  jährlich  um  200  bis  400  m 
verschieben.  Nach  7  Jahren  ist  eine 
Bank  an  Ort  und  Stelle  der  unter  ihr 
liegenden  gelangt.  Die  Bänke  der  re- 
gulierten Donau  wandern  jährlich  etwa 
100  bis  140  m.  Noch  viel  rapider  be- 
wegen sich  die  Sandbänke  der  Loire  nach 
Partiot  (vgl.  die  Tabelle  S.  435  oben). 
Ihre  jährliche  Bewegung  wäre  dem- 
nach 4000,  1800,  1800  bezw.  730  m.  Der 
Zusammenhang  mit  dem  Gefälle  tritt 
deutlich  zu  Tage. 

Dieses  Geschiebe  wird  auch  allmäh- 
lich zu  den  Binnenseen  oder  zum  Meere 
hinausbefördert.  Die  Menge  desselben 
beträgt  für  folgende  Gebirgsflüsse,  be- 
rechnet auf  jeden  ausströmenden  Kubik- 
meter Wasser:  Reuss  (ürner  See)  400  g, 
Kander  (Thuner  See)  600  g,  Achen 
(Chiemsee)  250  g.  Für  gewöhnliche 
Flüsse  im  Unterlauf  ist  dieser  Ge- 
schiebetransport viel  unbedeutender.  Wie 
man  daraus  ersieht,  erreicht  seine  Be- 
deutung nicht  diejenige  des  Schlamm- 
transportes. Die  Kiesbänke  haben  oft 
eine  nicht  unbedeutende  Dicke.  So  z.  B. 
werden  die  Kiesbänke  der  regulierten 
Donau  bei  Wien  zu  einer  Mächtigkeit 
von   etwa   4  m  geschätzt. 

Bei  Hochwasser  wird  ein  Teil  des 
Inhaltes  der  Kiesbänke  vom  Fluss  auf- 


Juni  —  Nov. 

Dez.  —  Mai 

Mittel 

3,6  m 

18,6  m 

1,1  m 

1  7 

8,4   „ 

5     „ 

1,7    „ 

8,6   „ 

5,1    „ 

1,9   „ 

0  4 

2,1   „ 

IV.  Das  Wasser  auf  dem  Festlande.  435 

gewirbelt  und  als  Schlamm  mitgenommen  und  umgekehrt  setzt  sich  der 
Schlamm  bei  Niederwasser  auf  den  Kiesbänken  zum   grossen  Teile  ab. 

Departement  Gefälle  ^     •      xt '^'^^^'^J^^  Bewegung 

Loiret 0,45  \o 

Loire  et  Isere     .    .    .  0,39  „ 

Indre  et  Loire    .    .    .  0,39  „ 

Maine  et  Loire  .     .    .  0,28  „ 

Die  maximale  Grösse  der  Geschiebe-  und  Schlammteile,  welche  ein 
Fluss  zu  befördern  vermag,  hängt  von  seiner  Geschwindigkeit  ab.  Es 
ist  natürlich  anzunehmen,  dass  die  bewegende  Kraft  dem  Quadrate  der 
Geschwindigkeit  proportional  ist.  Denn  jeder  Stoss  von  einem  Wasser- 
teilchen ist  seiner  Geschwindigkeit  {v)  proportional  und  die  Anzahl  der  Stösse 
unter  übrigens  gleichen  Umständen  ebenfalls  der  Geschwindigkeit  pro- 
portional. Weiter  ist  die  Treibkraft  der  gestossenen  Oberfläche  propor- 
tional. Bei  gleichgeformten  Steinen  ist  diese  proportional  dem  Quadrate 
des  (grössten)  Durchmessers  {d),  das  gehobene  Gewicht  dem  Kubus  des- 
selben. Wenn  infolgedessen  ein  Stein  gerade  vom  Wasserstosse  bewegt 
wird,  so  ist: 

oder: 

K^  cp  =  K2  ^^^ 

d.  h.  das  Gewicht   der   fortgeschobenen  Stücke   wächst  proportional  der 

sechsten  Potenz  der  Geschwindigkeit,  eine  Beziehung,  die  von  Black  well 

experimentell  bekräftigt  ist. 

Suchier  beobachtete  die  Grösse  des  mitgeschleppten  Gerölls  im  Rhein 
bei  Briesach.  Bohnengrosse  Steine  wurden  bei  einer  Geschwindigkeit  des 
Wassers  am  Boden  von  0,9  m  pr.  Sek.  mitgeführt.  Bei  1,6  m  Geschwin- 
digkeit waren  die  Steine  bis  taubeneigross,  bei  1,7  m  konnten  sie  bis  1,5  kg 
wiegen  und  bei  2,1  m  wurde  sogar  das  grösste  Geröll  mittransportiert. 

Das   Geschiebe   verkleinert   sich  schnell   während   des  Transportes. 

So  ist  (nach  v.  Hochenburger)    die   Mittelgrösse   des   Geschiebes  in 

der  Mur: 

bei  Graz        Landscha        Leitersdorf      Ünter-Mauthdorf 

km  von  Graz  0  43  83  120 

224  117  50  21  cm3. 

Die   Grösse   nimmt   nahezu    nach    einer    geometrischen  Reihe   ab, 

während  die  Weglängo  nach  einer  arithmetischen  Reihe   zunimmt.    Zu 

ähnlichen  Resultaten  sind  Daubree  und  Erdmann  durch  Experimente 

mit  Trommeln  oder  schaukelnden  Trögen  gekommen. 

28* 


Y.  Die  Wellenbewegung  des  Meeres  und  der  Seen. 

Entstehung  der  Wellen.  Wenn  ein  Windstoss  gegen  eine  glatte 
Wasseroberfläche  trifft,  so  sieht  man  erst  eine  schwache  Kräuselung  der 
Fläche,  welche  dabei  eine  tiefblaue  Färbung  annimmt.  Hört  der  Wind 
auf,  glättet  sich  bald  die  Oberfläche  wieder.  Die  kleinsten  Wellen, 
welche  von  Rüssel  den  Namen  „kapillare  Wellen"  erhielten,  kann  man 
leicht  in  der  Weise  zustande  bringen,  dass  man  einen  in  Wasser  unter- 
tauchenden senkrecht  gehaltenen  dünnen  Draht  (unter  1  mm  Dicke) 
mit  einer  Geschwindigkeit  von  0,3  bis  0,5  m  pr.  Sek.  in  horizontaler 
Richtung  durch  das  Wasser  führt.  Rüssel  maass  diese  Wellen  und 
fand,  dass  sie  eine  Länge  von  5 — 8  mm  hatten.  Die  längsten  befanden 
sich  in  der  Nähe  des  Drahtes.  Etwa  zwölf  Wellenkämme  konnten  wahr- 
genommen werden. 

Um  solche  kapillare  Wellen  auf  einer  freien  Wasserfläche  zu  erregen, 
muss  der  Wind  auch  eine  Geschwindigkeit  von  wenigstens  0,2  m  pr.  Sek. 
besitzen.  Setzt  der  Wind  fort  und  nimmt  an  Stärke  zu,  werden  die  Wellen 
immer  höher  und  damit  auch  länger.  Ihre  Höhe  wächst  auch  allmählich 
von  der  Luvküste  ins  freie  Meer  hinaus.  Stevenson  hat  über  diesen 
Umstand  Messungen  ausgeführt  (in  den  schottischen  Fjorden).  Er  hat 
folgende  Formel  gegeben,  worin  die  Wellenhöhe  H  in  Metern,  die  Ent- 
fernung D  von  der  nächsten  Küste  in  Kilometern  gezählt  ist: 


Ä= 

=  f  + 

\Yd- 

^i/A 

ende 

Einzelwerte  berechnet  sind: 

D 

H 

D 

H 

D 

H 

0 

0,75 

20 

1,71 

200 

4,52 

1 

0,83 

80 

2,23 

300 

5,48 

2 

0,92 

70 

2,84 

500 

7,05 

5 

1,12 

100 

3,28 

1000 

9,87 

10 

1,35 

150 

3,97 

2000 

13,93 

V.  Die  Wellenbewegung  des  Meeres  und  der  Seen. 


437 


Diese  Daten  mögen  als  Relativzahlen  betrachtet  werden.  Die  Höhe 
der  Wellen  ist  nämlich  nicht  nur  von  der  Windstärke  (vgl.  unten), 
sondern  auch  von  der  Zeit,  während  welcher  der  Wind  gewirkt  hat, 
abhängig.  Die  Werte  von  Stevenson  scheinen  ziemlich  den 
Maximalwerten  zu  entsprechen,  welche  bei  dem  höchsten  Wellengang 
auf  der  See  beobachtet  werden. 

Über  den  Zusammenhang  zwischen  Wellenhöhe  und  Windgeschwindig- 
keit auf  offener  See  giebt  es  eine  ziemlich  grosse  Zahl  von  Beobachtungen, 
welche  bis  zum  18.  Jahrhundert  zurückgehen.  Dieselben  sind  nicht 
leicht  unter  einander  in  Übereinstimmung  zu  bringen.  Die  Messungen 
vom  Admiral  Coupvent  des  Bois  scheinen  nach  der  Bearbeitung  von 
Krümm  el  eine  sehr  einfache  Beziehung  zwischen  Wellenhöhe  (//)  und 
Windgeschwindigkeit  (F)  anzugeben,  indem  es  annähernd  zutrifft,  dass: 


H-iV, 

folgender  Zusammenstellung  hervorgeht: 

V=                3      5,5      7       8       10      14 

18 

25     m. 

H{beob.)—     1,4     2,0     2,7     3,8     5,2     7,0 

9,3 

12,0  m. 

Hiher.)—       1,5     2,7     3,5     4,0     5,0     7,0 

9,0 

12,5  m. 

Zu  ähnlichen  Beziehungen  leitet  das  von  Antoine  gegebene  Material, 
Dagegen  zeigen  die  Beobachtungen  von  Paris  eine  bedeutend  stär- 
kere Zunahme  der  Wellenhöhe  {H)  als  die  Proportionalität  mit  der 
Windgeschwindigkeit  (F)  verlangen  würde,  wie  aus  folgender  Tabelle 
(von  Krümm  el)  hervorgeht,  worin  (/)  die  Wellenlänge  bedeutet. 


l"(met.) 

fi'(met.) 

l:H 

Seegang 

max. 

Mittel 

min. 

max. 

Mittel 

min. 

Sehr  hohe  See 

.     16 

11,5 

7,75 

6,5 

22,5 

19,1 

15,4 

Hohe  See    .    . 

.     13 

7,5 

5,05 

3,5 

23,0 

21,0 

15,0 

Grobe  See   .    . 

.     10 

6,5 

3,55 

2,3 

30,0 

21,6 

13,3 

Hohe  Dünung. 

.       8 

7,0 

4,1 

3,0 

48,6 

29,3  . 

18,4 

Dünung  .    .    . 

7 

4,5 

2,4 

1,0 

63,3 

32  5 

15,3 

Leichter  Seegang 

.       6,8 

4,0 

1,6 

0,8 

80,0 

38,7 

21,6 

Die  Höhe  der  Wellen  kann  man  in  der  Weise  bestimmen,  dass 
man  so  hoch  in  die  Wanten  des  Schiffes  hinaufsteigt,  bis  man  gerade,  wenn 
das  Schiff  in  einem  Wellenthal  sich  befindet,  über  die  Wellenberge  den 
Horizont  visieren  kann.  In  neuerer  Zeit  hat  man  empfindliche  Aneroid- 
baronieter   zur  Bestimmung   der   Höhenschwankung   des  Schiffes   ange- 


438  Physik  der  Erde.        , 

wandt  und  angenommen ,  dass  diese  der  Wellenhöhe  entspricht.  Die  so 
gefundenen  Wellenhöhen  stimmen  mit  den  nach  der  alten  Methode  ge- 
messenen recht  gut  überein.  Wellenhöhen  von  mehr  als  15  Meter  dürften 
nach  Schott  nie  auf  dem  offenen  Meere  vorkommen.  Sogar  Wellen 
von  über  10  Meter  Höhe  sollen  zu  den  Seltenheiten  gehören.  In  Binnen- 
meeren sind  die  Wellenhöhen  (auf  offenem  Meer)  noch  geringer. 

Die  Wellenlänge  wird  so  gemessen^  dass  man  zwei  Punkte  beobachtet, 
wo  sich  Wellenberge  gleichzeitig  bilden.  Die  beiden  Punkte  können  an 
der  Seite  eines  Schiffes  sich  befinden,  wenn  die  Wellen  kurz  sind,  oder 
der  eine  Punkt  an  einem  Schiff,  der  andere  an  einem  in  bestimmter 
Entfernung  davon  befindlichen  mit  dem  Schiff  durch  eine  Leine  ver- 
bundenen Schwimmkörper.  Die  Schwingangsperiode  wird  aus  der  Zeit 
bestimmt,  welche  vergeht  zwischen  Ankunft  zweier  Wellenberge,  wobei 
für  die  Eigenbewegung  des  Schiffes  korrigiert  werden  muss. 

„Die  Wellen  im  offenen  Ocean  haben  eine  Länge  von  60  bis  140  Meter, 
durchschnittlich  90  bis  100  m,  eine  Geschwindigkeit  von  11  bis  15  m 
pro  Sek.,  eine  Periodenlänge  von  6  bis  10  Sek.  Passatbrisen  massiger 
Intensität  bringen  Wellen  hervor,  deren  Länge  35  bis  40  m,  deren  Ge- 
schwindigkeit 7  bis  8  m  pro  Sek.  und  deren  Schwingungszeit  4,5  bis 
5  Sek.  beträgt"  (nach  Paris  Zusammenstellung).  Wellen  von  800  m 
Länge  und  24  Sek.  Schwingungszeit  sind  beobachtet,  aber  äusserst 
selten. 

So  lange  der  Wind  dauert,  treibt  er  die  Wellen  in  die  Windrichtung. 
Dabei  fasst  er  die  Wassermengen  der  Wellenkämme  und  bringt  sie  zum 
Überstürzen  ins  vorangehende  Wellenthal.  Dieses  Überstürzen  der 
Wellen  (die  „Sturzseen")  bringt  die  grösste  Gefahr  für  den  Segler  mit, 
indem  es  ganze  Schiffe  unter  Wasser  begräbt;  die  Wucht  der  herab- 
fallenden Wogen  zerbricht  im  Wege  stehende  Gegenstände  und  spült 
sie  mit  unwiderstehlicher  Kraft  über  Bord. 

Nachdem  die  Wellen  einmal  in  Gang  gesetzt  sind,  fahren  sie  fort, 
eine  lange  Zeit  sich  zu  bewegen,  wie  ein  Pendel,  das  in  Gang  gesetzt 
ist.  Die  Keibung  des  Wassers  ist  bei  dem  grossen  Durchschnitt  der 
Wellen  sehr  gering,  deshalb  hört  die  Bewegung  nur  langsam  auf.  Diese 
Bewegung  wird  Dünung  genannt.  Sie  unterscheidet  sich  von  dem  ur- 
sprünglichen Seegang  durch  die  abgerundeten  Wellenkämme,  von  welchen 
kein  Wasser  überstürzt. 

Die  Dünung  kann  sich  aus  einem  Gebiet  fortpflanzen,  wo  Sturm 
herrscht,  in  ein  anderes,  wo  die  Luft  relativ  ruhig  ist.  Die  Seefahrer 
schliessen  auch  häufig  aus  der  Fortpflanzungsrichtung  der  Dünung,  dass 


V.  Die  Wellenbewegung  des  Meeres  und  der  Seen.  439 

Sturm  in  der  entgegengesetzten  Richtung  herrscht,  wodurch  die  Dünung 
gewissermaassen  als  Sturmwarnungszeichen  dient. 

Zwei  Dünungen  können  einander  kreuzen,  oder,  was  viel  häu- 
figer eintrifft,  der  Wellengang  einer  Dünung  kann  den  unter  dem 
Einflüsse  eines  Sturmes  sich  ausbildenden  Wellenzug  schneiden.  Dabei 
entstehen  durch  Interferenz  Wellen,  die  im  Gegensatz  zu  den  ge- 
wöhnlichen, nach  parallelen  Kämmen  angeordneten,  Hügel-  oder  PjTa- 
miden-Form  annehmen  (Fig.  148.)  Dieselben  sind  viel  gefährlicher 
als  die   gewöhnlichen  Wellen,   deren   Wucht  man  zum   grössten  Teil 


Fig.  148.     Hügelförmige   Wellen  von  zwei    einander  kreuzenden    Wellensystemen 

herrührend. 


dadurch  entgeht,  dass  man  das  Schiff  senkrecht  zu  den  Wellenkämmen 
stellt  und  vor  dem  Sturme  »hinläuft  („lenzt"). 

Experimentaluntersuchungen  über  Wellen.  Wenn  man  von 
einem  festen  Punkt  z.  B.  dem  Decke  eines  verankerten  Schiffes  den  See- 
gang betrachtet  und  einen  Schwimmkörper  hinauswirft,  sieht  man,  wie 
derselbe  auf  dem  Wellenkamm  sich  vorwärts  in  der  Fortpflanzungs- 
richtung des  Wellenzuges  verschiebt,  um  nachher  im  Wellenthal  unge- 
fähr gleich  viel  zurückzugehen.  Im  Ganzen  bewegt  er  sich  (wenn  ihn 
der  Wind  nicht  fasst),  kaum  von  der  Auswurfstelle  weg.  Der  Schwimm- 
körper  bewegt  sich   demnach   sowohl   in   vertikaler  wie  in  horizontaler 


440 


Physik  der  Erde. 


Eichtung  hin  und  her.  Ähnlich  sind  die  Bewegungen  der  Wasserpar- 
tikelchen, welche  sich  demnach  in  elliptischen  oder  kreisförmigen  Bahnen 
bewegen. 

Zu  demselben  Schluss  ist  man  durch  Studium  der  Bewegungen  von 
aufgeschlämmten  Körpern  gekommen,  welche  in  langen  Wassertrögen 
sich  befinden,  in  welchen  man  durch  Zulass  von  Wasser,  Eintauchen 
von  Verdrängungskörpern  oder  ähnlichen  Mitteln  eine  Wellenbewegung 
hervorruft.  Solche  Versuche  sind  von  den  Brüdern  Weber,  von  Scott 
Bussel,  Hagen  u.  a.  ausgeführt  worden.  In  genügend  tiefem  Wasser 
schliesst  sich  die  Bewegung  der  Wasserpartikelchen  um  so  näher  einer 
kreisförmigen  Bahn  an,  je  tiefer  sie  liegen. 

Mit  zunehmender  Tiefe  nehmen  aber  die  Durchmesser  dieser  kreis- 
förmigen Bahnen  schnell  ab.  Diese  Abnahme  erfolgt  nach  einer  Formel 


Fig.  149.    Trochoide,  PÄa  und  Cykloide,  R^R. 


von  Bertin,  sodass,   wenn  /  die  Länge  der  Welle  darstellt,  der  Durch- 

\ 
messer  in  der  Tiefe  — ~  /  halb  so  gross  ist  wie  an  der  Oberfläche,  in  der 

2 

Tiefe  ^-^  l  viermal  kleiner  als  oben  u.  s.  w.   Die  Abnahme  geschieht  nach 

einer  geometrischen  Reihe.  In  einer  Tiefe  von  50 — 100  m  ist  deshalb 
der  Wellenschlag  kaum  merklich. 

Wenn  wir  annehmen,  dass  die  Wasserpartikelchen  kreisförmige 
Bahnen  beschreiben,  so  wird  die  Wellenlinie  eine  sogenannte  Trochoide 
bilden  [Ph^  i^  Fig.  149).  Diese  Kurve  wird  von  einem  Punkte  P  einer 
Kreisscheibe  QR^  beschrieben,  wenn  dieselbe  längs  der  Geraden  QR  rollt. 
Ist  der  beschreibende  Punkt  P  am  Umkreise  der  Kreisscheibe  z.  B.  in 
i?,  gelegen,  so  geht  die  Trochoide  in  eine  Cykloide  R^  TR  über. 

För  die  Schwingungszeit  {t)  eines  solchen  Partikels  leitet  man  in 
der  Mechanik  die  Beziehung  ab: 


V.  Die  Wellenbewegung  des  Meeres  und  der  Seen.  44-1^ 


=  ^2ir  J_ 


worin  /  die  Wellenlänge  in  Metern,  jr  =  3,14  . .  und  ^  -=  9,81  . .  sind.  Da 
nun  V  =  Ijt  ist,  wo  v  die  Fortplianzungsgeschwindigkeit  der  Wellen- 
bewegung bedeutet,  so  folgt: 


f    2jt 


Diese  Formel  gilt  nur  so  lange  die  Meerestiefe  {h)  die  Wellenlänge 
(/)  übertrifft.    In  anderen  Fällen  erhält  man  die  Formeln: 

V  ^y^  g  .  h  bezw.  v  =  y"|  gh. 

Die  zweite  dieser  Formeln  soll  gelten,  falls  die  Wasserteilchen  kreis- 
förmige Bahnen,  die  erste,  wenn  sie  geradlinige  Bahnen  beschreiben. 

In  der  Wirklichkeit  liegen  diese  Bahnen  zwischen  den  beiden  ge- 
nannten Extremen.  Die  Versuche,  welche  in  Wasserrinnen  angestellt 
sind,  scheinen  sich  der  ersten  Formel  (von  Lagrange)  recht  genau  an- 
zuschliessen.    So  fanden  die  Brüder  Weber: 


Wassertiefe  h  .    . 

2,71 

5,41 

8,12 

10,83 

16,24 

62,26  cm 

Geschwindigkeit  v 

55 

76 

85 

90 

94 

172     ., 

Vgh 

52 

73 

89 

103 

126 

247     „ 

Bei  den  grösseren  Tiefen  ist  die  Abweichung  bedeutend,  wahrschein- 
lich weil  die  Wellen  nicht  genügend  lang  sind. 
Ebenso  fand  Haffen: 


h    .  .   . 

.      2,62 

3,92 

5,23 

6,54 

7,85  cm 

V          .       .       . 

.       50,5 

65,1 

72,7 

86,8 

98,6    „ 

Vgh    .    . 

.     .      50,7 

62,0 

71,6 

80,1 

87,8    „ 

Jedenfalls   stimmen  die  i; -Werte    besser    mit    dieser    Formel    als    mit 
der  23  Proz.  höhere  Werte  ergebenden  zweiten  Formel. 

Auch  Scott  Bussel  fand  für  die  Fortpflanzungsgeschwindigkeit  von 
Einzel  wellen  („solitary  waves"),  die  er  durch  plötzlichen  Zulass  von 
Wasser  hervorbrachte,  folgende  Formel  geltend: 

v==Yg(fi+p), 
worin  p  die  Erhebung  der  Welle  über  das  mittlere  Niveau  bedeutet. 


442 


Physik  der  Erde. 


Dagegen  sind  einige  Versuche  im  freien  Meere  (von  Duhil  'de 
Benaze  und  Kapitän  Knoop)  nicht  mit  der  ersten  Formel  in  Überein- 
stimmung zu  bringen.  Wahrscheinlich  sind  die  Versuchsbedingungen 
den  theoretischen  Voraussetzungen  nicht  entsprechend. 

ßrandungswogen.  Eine  Welle,  die  auf  eine  Untiefe  kommt  oder 
gegen  ein  Ufer  schlägt,  nimmt  eine  besondere  Form  an  und  wird  Bran- 
dungswoge genannt.  Wenn  der  Wellenzug  gegen  einen  steilen  Felsen 
schlägt,  so  wird  derselbe  nach  den  gewöhnlichen  Gesetzen  der  Wellenlehre 
reflektiert  und  es  entstehen  in  dieser  Weise  stehende  Wellen,  welche, 
theoretisch   genommen,   nahezu  die   doppelte  Höhe   der  ursprünglichen 


Fig.  150.     Brandung  an  einer  seichten  Küste. 


Wellen  erreichen  können.  Zu  dieser  Wirkung  der  Rückwerfung  gesollt 
sich  für  gewöhnlich  eine  andere,  welche  auf  der  Abnahme  der  Tiefe  be- 
ruht. Schon  bei  gewöhnlichen  Wellen  werden  die  Wellenkämme,  welche 
dem  Winddrucke  mehr  ausgesetzt  sind  wie  die  anderen  Teile  der  Welle, 
vom  Winde  mitgerissen,  sodass  sie  ins  nächste  Wellenthal  hineinstürzen. 
Dadurch  wird  das  Schäumen  der  Wellen  bedingt.  Eine  ähnliche  Wirkung 
hat  die  abnehmende  Tiefe.  Die  Reibung  der  tieferen  Teile  der  Welle 
gegen  den  Boden  und  gegen  die  angrenzenden  Wasserschichten  ver- 
hindert das  normale  Fortschreiten  dieser  Teile,  wodurch  die  Wellenkämme 
vorauseilen  und  umkippen.  Dadurch  entstehen  die  schönen  Brandungs- 
wogen (Fig.  150),  welche  beinahe  immer  gegen  flache  Ufer  rollen.  Dabei 
macht  sich  auch  ein  anderer  Umstand  geltend.     Bei  geringer  Tiefe  der 


V.  Die  Wellenbewegung  des  Meeres  und  der  Seen. 


443 


See,  wie  in  der  Nähe  der  Küste  oder  über  Untiefen  ist  die  Fortpflanzungs- 
geschwindigkeit der  Quadratwurzel  aus  der  Tiefe  umgekehrt  proportional. 
Eine  Welle  {Ä  Ä  Fig.  151),  deren  verschiedene  Teile  verschieden  tief  sind, 
indem  sie  sich  z.  B.  gegen  eine  Küste  (K)  hin  bewegt,  wobei  die  Ktisteniinie 
und  der  Wellenkamm  nicht  einander  parallel  sind,  pflanzt  sich  auf  den 
tieferen  Stellen  schneller  fort  wie  auf  den  seichteren,  näher  der  Küste 
gelegenen.  Folglich  wird  der  nächste  Wellenkamm  nicht  A  Ä  parallel 
verlaufen,  sondern  etwa  wie  A^  A^,  der  danach  folgende  wird  etwa  wie 
A2  A2,  der  danach  kommende  wie  A^  A^  verlaufen.  Der  Wellenkamni 
verbiegt  sich  so,  dass  er  zuletzt  annähernd  der  Küste  parallel  verläuft. 
Die  Zunahme  der  Fortpflanzungsgeschwindigkeit  der  Wasserwellen 
mit  der  Wassertiefe  erkennt  man  sehr  schön  an  den  Aufzeichnungen 
über  die  Wellen  der  Seebeben  (Fig.  112).    So  lagen  z.  B.  die  Wellen- 


Fig.  151. 


Fig.  152. 


kämme  gar  nicht  symmetrisch  rund  um  Krakatau,  sondern  sie  ver- 
schoben sich  mit  einer  viel  grösseren  Geschwindigkeit  über  den  grossen 
Tiefen  des  Indischen  Oceans  als  nach  anderen  Kichtungen. 

Es  ist  sehr  leicht,  diese  Verzögerung  der  Wellen  an  der  Wasser- 
oberfläche einer  kreisförmigen  Fontäne  wahrzunehmen,  in  deren  Mitte 
eine  kleine  Insel  (/  Fig.  152),  sich  befindet,  aus  welcher  ein  vertikaler 
Wasserstrahl  heraussprudelt.  Das  Wasser  möge  sonst  überall  gleich  tief 
sein;  von  J  zur  Mitte  zwischen  J  und  dem  Eande  nehme  die  Tiefe  lang- 
sam zu.  Solche  Fontänen  sind  in  Gärten  sehr  gebräuchlich.  Bei  leisem 
Winde  fällt  der  Wasserstrahl  unweit  der  mittleren  Insel  herunter  (bei  a). 
Die  dabei  entstehenden  Wellen  pflanzen  sich  dann  mit  grösserer  Ge- 
schwindigkeit zum  Rande  der  Fontaine  hin  fort  als  in  der  Richtung 
gegen  die  mittlere  Insel.  Die  Wellenkämme  bilden  auch  nicht  Kreise 
um  den  Punkt,  wo  der  Wasserstrahl  hineinfällt,  sondern  ellipsenähnliche 
Figuren  um  Mittelpunkte,  welche  näher  am  Rande  der  Fontäne  liegen, 
wie  die  Figur  andeutet. 


444 


Physik  der  Erde. 


Scu 


Nehmen  wir  jetzt  an,  wir  haben  eine  Untiefe  im  Punkte  X  (Fig. 
153)  und  ein  Wellenzug  komme  vom  offenen  Meer^,  sodass  der 
Wellenberg  die  Form  einer  geraden  Linie  AA  hat.  Zufolge  der 
Tiefenverhältnisse,  welche  als  symmetrisch  um  X  gedacht  werden, 
geht  der  mittlere  Teil  der  Welle  etwas  langsamer  als  die  äusse- 
ren, der  Wellenkamm  wird  nacheinander  die  Formen  2,  3,  4  und 
5  annehmen.  Zuletzt  zerlegt  sich  die  Welle  in  zwei,  6  und  6a,  wovon 
die  erste  zu  den  immer  mehr  kreisrunde  Form  annehmenden  Wellen- 
bergen 7  und  8  übergeht,  während  6a  zu  la  und  dieser  zu  8a  An- 
lass  giebt,   welche  immer  mehr  der  ersten  Welle  AA  parallel  werden. 

Die  Energie  der  Welle  6  wird  auf 
die  Welle  7  übertragen.  Da  diese 
wegen  der  abnehmenden  Fortpflan- 
zungsgeschwindigkeit geringere  W  el- 
lenlange besitzt,  als  die  erstgenannte, 
und  ausserdem  viel  geringere  Länge 
des  Wellenkammes,  so  müssen  die 
Wasserpartikelchen  in  der  Welle  7 
in  viel  heftigerer  Bewegung  sein, 
wie  diejenigen  in  6,  d.h.  die  Wellen- 
höhe nimmt  von  6  bis  7  zu.  Noch 
stärker  wird  die  Zunahme  in  Welle 
8  und  wenn  zuletzt  die  Wogen  über 
X  zusammenschlagen,  können  sie 
eine  kolossale  Höhe  erreichen.  Man 
beobachtet  auch  über  solchen  Stellen  eine  stetige  Brandung,  wenn  auch 
der  See  einen  noch  so  leisen  Wellengang  besitzt.  Nach  Stevensons 
Messungen  erreicht  die  Höhe  der  Brandungswoge  das  siebenfache  der 
normalen  Meereswellen  und  die  höchsten  Leuchttürme,  die  auf  Scheeren 
gelegen  sind,  wie  zum  Beispiel  der  bekannte  Turm  auf  Eddystone  bei 
Plymouth,  dessen  Feuer  41  m  über  mittlerem  Wasserstand  steht,  werden 
gelegentlich  von  den  rasenden  Wogen  überspült. 

An  einem  langen  Ufer  kann  die  Brandung  nie  diese  Gewalt  er- 
reichen. Nehmen  wir  an,  die  Tiefe  nehme  proportional  der  Entfernung 
{d)  von  der  Küste  zu,  so  wird  die  Wellenlänge  (/)  einer  gegen  das  Ufer 
hineinrollenden  Woge  der  Quadratwurzel  aus  d  proportional  sein  und 
da  die  potentielle  Energie  jeder  Welle  gleich  sein  muss,  so  nimmt  die 
Höhe  der  Länge  umgekehrt  proportional  zu,  d.  h.  die  Höhe  der  Bran- 
dung wächst  annähernd  umgekehrt  proportional  der  Quadratwurzel  aus 


^ 


^ 


Fig.  153 


V.  Die  Wellenbewegung  des  Meeres  und  der  Seen. 


445 


der  Entfernung  von  der  Küste.  Wegen  der  Reibung  geht  die  Zunahme 
langsamer  vor  sich. 

Man  hat  die  Energie  der  Brandung  mit  Hilfe  von  Federdynamo- 
metern zu  messen  versucht.  Das  Dynamometer  (Fig.  154)  war  eine  an 
der  Hinterseite  in  einer  Kulissenführung  bewegliche  Metallplatte,  welche 
vertikal  gegen  den  Anprall  der  Wogen  aufgestellt  wurde.  Dieser  war 
in  einem  von  Stevenson  beobachteten  Falle  so  heftig,  dass  das 
Dynamometer  einen  Druck  von  30  Metertonnen  pro  Quadratmeter  an- 
gab (=  3  kg  pro  cm 2,  also  etwa  das  dreifache  des  Luftdruckes). 

Nach  diesen  Beobachtungen  kann  man  verstehen,  mit  welcher  ge- 
waltigen Kraft  die  Brandungswoge  die  Küste  abzutragen  vermag.  Jeder 
Wellenkamm  stürzt  auf  das  Land  ein,  in  jedem  Wellenthal  schiebt  sich 
das  Wasser  hinaus.  Die  Steinfrag- 
mente, welche  den  Wellen  in  den 
Weg  kommen,  werden  gegeneinander 
gerollt,  bis  sie  abgerundete  Formen 
erhalten.  Gleichzeitig  zerkleinern  sie 
sich  und  geben  Material  zu  dem 
feinsten  Meeressande.  Die  Kraft  der 
Wellen  macht  sich  unter  solchen  Um- 
ständen in  der  auffallendsten  Weise 
geltend,  wenn  das  Wasser  infolge  von 
Flut,  Windstau  oder  niedrigem  Baro- 
meterdruck (z.  B.  in  der  Mitte  einer 
Cyclone)   —    oder    noch  mehr  durch 

gleichzeitige  W'irkung  mehrerer  dieser  Umstände  —  höher  als  gewöhn- 
lich steht,  sodass  Gegenstände,  Bauten  u.  s.  w.,  welche  sonst  ausserhalb 
des  Wirksamkeitsfeldes  der  Wellen  stehen,  in  dieses  Feld  hineinkommen. 
Unter  solchen  Umständen  können  riesige  Verheerungen  entstehen. 

Das  bei  den  Brandungen  vom  Ufer  zurücklaufende  Wasser  giebt 
zu  dem  sogenannten  „Sog"  (Saugen)  Anlass,  welche  bei  hohem  Seegang 
eine  ernste  Gefahr  für  Badende  veranlasst. 

Bisweilen  bilden  sich  sogenannte  „Seebären"  (Einzelwellen,  solitary 
waves),  wie  z.  B.  bei  Erdbeben.  Häufig  kennt  man  nicht  die  nähere 
Ursache  dieser  Einzelwellen.  Sie  kommen  ganz  unerwartet  und  richten 
dadurch,  wenn  sie  gegen  die  Küste  schlagen,  bisweilen  viel  Schaden  an. 

Seespiegelschwankungen.  Seiches.  Bisweilen,  besonders  nach 
starken  Luftdruckschwankungen,  gerät  das  Wasser  in  Binnenseen  in 
stehende  Schwingungen,   sodass   es  z.  B.  an  der  einen  Seite  eines  Sees 


Vi  ^ 

Fig.  154.    Stevensons  Wellen- 
dynamometer. 


446  Physik  der  Erde. 

einige  cm  über,  an  der  entgegengesetzten  Seite  ebensoviel  unter  dem  mitt- 
leren Niveau  steht.  Diese  Erscheinung,  welche  an  die  leicht  zu  erregende 
Schwankung  des  Wassers  in  einer  Badewanne  erinnert,  ist  zuerst  an 
schweizerischen  Seen,  besonders  dem  Genfer  See  (wo  die  Wellenhöhe 
bis  über  1  m  erreichen  kann)  beobachtet  worden  und  hat  den  da  ge- 
bräuchlichen Namen  Seiches  erhalten. 

Es  können  auf  dem  See  eine  oder  mehrere  Knotenliaien  entstehen, 
wo  das  Wasser  in  Ruhe  bleibt.  Der  einfachste  Fall  ist  derjenige,  dass 
eine  Knotenlinie  in  der  Mitte  der  See  bei  K  sich  befindet  (wie  in 
Fig.  155  a). 

Die  Fig.  155  &  und  c  zeigen  die  Einteilung  eines  Seebeckens  mit  zwei 
bezw.  drei  Knotenlinien.  Im  Plattensee  hat  man  sogar  Seiches  mit  fünf 


Fig.  155.     Selieraatische    Darstellung   der   „uninodalen"  (a),   „binodalen"    {h)   und 
„trinodalen"  (c)  Seespiegelschwankung. 

Knotenlinien  aufgefunden.    Die  Einteilung  ist   genau  dieselbe  wie  die- 
jenige einer  offenen  Pfeife.     Die  Schwingungszeit  gehorcht  der  Formel: 


Ygh' 

worin  l  die  Entfernung  der  beiden  Ufer  oder  für  höhere  Seiches  der 
Abstand  zwischen  zwei  Bäuchen  (oder  zwei  Knoten  =  die  halbe  Wellen- 
länge) und  h  die  (mittlere)  Tiefe  des  Sees  ist. 

Die  Seiches  werden  am  besten  mit  Hilfe  eines  selbstregistrierenden 
Pegels  beobachtet,  bei  welchem  ein  Schwimmkörper,  der  auf  der  Ober- 
fläche des  Wassers  ruht,  seine  Höhe  auf  einem  durch  ein  Uhrwerk  vor- 
wärts getriebenen  Koordinatenpapier  einzeichnet. 

Bei  näherer  Nachforschung  hat  man  gefunden,  dass  die  Seiches  an 
vielen  anderen  Stellen  als  in  der  Schweiz  schon  am  Ende  des  17.  Jahr- 
hunderts beobachtet  wurden,  so  z.  B.  an  den  grossen  amerikanischen 
Seen  und  im  Wetternsee  in  Schweden.  In  späteren  Zeiten  hat  man 
diese  Erscheinung  in  allen  grösseren  Seen,  die  man  untersucht  hat, 
nachgewiesen  (z.  B.  im  Bodensee,  in  norwegischen  Seen);  in  letzter  Zeit 


V.  Die  Wellenbewegung  des  Meeres  und  der  Seen.  447 

ist  der  Starnberger  See  von  Ebert  untersucht  worden,  welcher  daselbst 
Wellenhöhen  bis  zu  5  cm  fand.  Die  Schwingungszeit  ist  meistens 
sehr  lang.  Für  die  Hauptschwingung  mit  einem  Knoten  beträgt  sie 
z.  B.  für  den  Plattensee  12  Stunden,  für  den  Genfer  See  73  Minuten, 
für  den  Starnberger  See  25  Minuten.  Die  Perioden  der  höheren  Schwin- 
gungen sind  halb,  ein  Drittel,  ein  Viertel  u.  s.  w.  so  lang.  So  fand 
Forel  für  die  zweite  Schwingung  im  Genfer  See  35  Minuten. 

Bei  unregelmässiger  Bodenform  des  Sees  können  die  Oberschwin- 
gungen andere  Werte  der  Schwingungszeit  annehmen,  so  z.  B.  ist  die 
Periodenlänge  der  ersten  Ob  er  Schwingung  des  Starnberger  Sees  15,8 
Minuten,  anstatt  12,5  Minuten,  welche  Zeit  aus  der  letzten  Formel  in 
Übereinstimmung  mit  dem  Werte  für  die  Grundschwingung  zu  berech- 
nen wäre.  Diese  Abweichung  lässt  sich  nach  Ebert  als  Folge  einer 
Bodenschwelle  im  See  bei  TJnter-Zaismering  auffassen. 

Die  Seiches  beruhen  meistenteils  auf  Barometerschwankungen,  wo- 
von man  durch  Vergleich  von  Barogrammen  mit  den  Aufzeichnungen 
der  Pegel  sich  leicht  überzeugen  kann.  Natürlicherweise  kann  jede  Stö- 
rung des  Gleichgewichts  der  Wasseroberfläche,  wie  z.  B.  Erdstösse,  Seiches 
hervorrufen. 

Man  hat  auch  das  Vorkommen  von  Seiches  in  Meeresengen,  wie  im 
Euripus  zwischen  Negroponte  und  Griechenland,  in  dem  Malteser  See, 
am  Fundy-Bay  u.  s.  w.,  nachgewiesen.  Vielleicht  ist  ein  Teil  der  „See- 
bären" als  eine  Art  Seiches  anzusehen. 

Beruhigung  der  See  durch  Fettschichten.  Schon  in  der 
alten  Zeit  scheint  es  nicht  ganz  unbekannt  gewesen  zu  sein,  dass  Aus- 
giessen  von  Öl  auf  die  Wellen  eine  beruhigende  Einwirkung  auf  den 
Seegang  ausübt.  Eine  ähnliche  Wirkung  übt  Seifenlösung  (2—10  Proz.) 
aus,  wobei  ohne  Zweifel  die  Seife  in  der  grossen  Wassermasse  sich  zu 
Öl-,  bezw.  Palmitinsäure  und  Lauge  umsetzt.  Die  ausgeschiedene  fette 
Säure  wirkt  dabei  wie  eine  Ölhaut.  Das  Öl  breitet  sich  auf  das  Wasser  als 
eine  sehr  dünne  Haut  aus  —  man  ist  neuerdings  zu  Werten  von  ö.lO"'^  mm 
der  Dicke  ähnlicher  Häute  gelangt. 

Über  die  Art  und  Weise,  wie  diese  Ölschicht  wirkt,  ist  man  nicht 
ganz  einig.  Einige  meinen,  die  Luft  habe  eine  geringere  Eeibung  gegen 
das  Öl  als  gegen  Wasser,  sodass  der  Wind  nicht  die  Wellen  hervor- 
bringen kann.  Diese  Deutung  scheint  nicht  genügend  zu  sein,  da  rund 
um  die  Stelle,  wo  das  Öl  ausgegossen  wird,  sich  eine  ruhige  Stelle  in 
der  Mitte  der  brandenden  Wellen  ausbildet.  Andere  glauben,  dass  die 
Erscheinung  mit  der  verminderten  Oberflächenspannung  zusammenhängt. 


448  Phyfk  der  Erde. 

Es  scheint,  als  ob  die  Schwingungszeit  durch  die  dünne  Ölschicht 
verändert  werden  würde  und  vielleicht  in  ungleichem  Grade  je  nach 
der  an  verschiedenen  Stellen  verschiedenen  Dicke  der  Ölhaut.  Dadurch 
würde  die  geölte  Stelle  verhindert  sein,  im  Takt  mit  der  übrigen  Wasser- 
fläche zu  schwingen,  wodurch  bald  Beruhigung  der  Schwingungen  ein- 
treten würde.  In  ungefähr  derselben  Weise  verhält  sich  das  arktische 
Meer,  sobald  es  von  Eisstücken  bedeckt  ist.  Die  Partikelchen  im  Eis- 
stück können  nicht  dieselben  Bahnen  beschreiben,  wie  die  benachbarten 
Wasserpartikelchen,  dadurch  entstehen  Reibungen,  welche  die  Wellen- 
bewegung vernichten.  In  der  That  wird  der  Wellengang  nach  Aussage 
der  Seeleute  in  arktischen  Meeren  stark  durch  die  auf  der  Oberfläche 
schwimmenden  Eisstücke  beruhigt.  Ebenso  bedient  man  sich,  wenn 
man  Wasser  in  einem  Eimer  trägt,  eines  hölzernen  Kreuzes,  welches 
auf  die  Wasseroberfläche  gelegt  wird,  um  das  Schwanken  des  Wassers 
über  die  Ränder  des  Eimers  zu  verhüten.  Die  Schwingungen,  welche 
durch  die  kleinen  Stösse  beim  Gehen  dem  Wasser  mitgeteilt  werden, 
und  welche  durch  eine  Art  Resonanzerscheinung  bei  jedem  Schritt  ver- 
stärkt werden,  entsprechen  nicht  den  Eigenschwingungen  des  Holz- 
kreuzes, welches  infolgedessen  als  Dämpfer  wirkt.  In  ebenderselben 
Weise  sollten  die  Ölpartikelchen  nicht  die  Schwingungen  der  Wasser- 
partikelchen mitmachen  können.  Dabei  spielt  jedenfalls  die  Zähigkeit 
des  Öls  eine  grosse  Rolle.  Petroleum,  das  keine  besonders  grosse  Zähig- 
keit besitzt,  ist  sehr  wenig  wirksam,  dagegen  haben  Lein-  und  Terpen- 
tinöl, sowie  Fischthran  und  die  Säuren  der  Seifen,  welche  alle  sehr 
schwerflüssig  sind,  eine  sehr  starke  Wirkung. 

Man  beobachtet  häufig  auf  den  Seen  blanke  Stellen,  welche  so  gut 
wie  keinen  Wellengang  zeigen,  und  welche  sich  von  der  benachbarten 
stark  gekräuselten  Oberfläche  unterscheiden.  Besonders  häufig  kommt 
es  vor,  dass  das  Kielwasser  eines  Bootes  eine  Zeit  lang  einen  solchen 
glatten  Streifen  bildet.  Es  ist  höchst  wahrscheinlich,  dass  dies  von 
kleinen  Ölmengen  herrührt,  welche  vom  Boot  zum  Wasser  übergehen, 
z.  B.  aus  der  Ölfarbe,  aus  den  Schmiermitteln  der  Maschinen,  besonders 
der  Schraube.  Auch  für  andere  ähnliche  Fälle  ist  man  der  Ansicht, 
dass  eine  dünne  Fettschicht,  wozu  das  Fett  von  Tieren  oder  Algen  des 
Wassers  geliefert  ist,  die  blanken  Stellen  verursachen. 

Gezeiten.  Die  wichtigste  Wellenbewegung  des  Meeres  sind  die 
sogenannten  Gezeiten.  An  der  Küste  der  grossen  Meere  findet  man, 
dass  das  Wasser  periodisch  steigt  und  sinkt  mit  einer  Periode  von 
I2Ä  25W    Diege  geit  entspricht  genau  der  halben  (scheinbaren)  Umlaufs- 


V.  Die  Wellenbewegung  dee  Meeres  und  der  Seen. 


449 


zeit  des  Mondes  um  die  Erde.  Man  brachte  deshalb  schon  lange  diese 
beiden  Umstände  in  Zusammenhang  und  nahm  an,  dass  die  Gezeiten 
von  dem  Monde  verursacht  werden.  Es  war  Newton  vorbehalten,  dies 
näher  zu  erläutern. 

Er  ging  dabei  von  folgender  Betrachtungsweise  aus.  Es  sei  (Fig.  156) 
ÄNBZÄ  ein  Durchschnitt  der  Erde.  Der  Mond  befinde  sich  in  der 
Verlängerung  des  Durchmessers  NZ.  Er  wirkt  anziehend  auf  eine 
Partikel  in  Z  ebenso,  wie  auf  eine  in  A  oder  in  N.  Die  Anziehung 
ist  aber  am  grössten  auf  die  Partikel  in  Z,  am  geringsten  auf  die- 
jenige in  i\^,   und   die  Anziehung   auf  eine  Partikel  in  A  kann  als  die 


Richtung  xum  Mond 


mittlere  Anziehung  des  Mondes  auf  eine  Partikel  (nehmen  wir  an,   sie 
habe  die  Masse  Eins)  der  Erde  angesehen  werden. 

Wenn  die  Entfernung  der  Mittelpunkte  von  Mond  und  Erde  gleich 
a  gesetzt  wird,  wobei  der  Erdradius  als  Einheit  genommen  wird,  so  ist 
der  Unterschied  d  der  Anziehung  der  Masse  1  in  Z  und  A  gegen  den 
Mond  (Masse  m)  folgender  Bedingung  unterworfen: 


d             m 

m               m 

m       ^*  />,  _i   2 

k       (a-1)'^ 

a2      a2_2a+l 

a2      ^2U-r^--- 

1) 


2  m 


Das  Anziehungsfeld  kann  nun  dargestellt  werden  als  die  Summe  von 
drei  Kraftfeldern,  ein  konstantes  Feld,  wo  überall  dieselbe  Kraft  wie  in  A 
wirkt,  ein  zweites  Feld  zufolge  der  Anziehung  der  Erde  und  ein  drittes 
Feld,  wo  die  Kraft  in  Z  gleich  d  ist  und  gegen  den  Mond  gerichtet,  in 
N  auch  gleich  d  aber  vom  Monde  abgewendet.  Alle  Punkte  links  von  AB 
in  diesem  letzten  Felde  werden  nach  links  gezogen,  alle  diejenigen  rechts 
von  AB  nach  rechts  mit  Kräften  die  der  Entfernung  von  AB  proportional 
sind.     Das  erste   Kraftfeld    strebt,    die   Erde    dem   Monde  zu  nähern 

Arrlienius,  Kosmische  Physik.  29 


450  Physik  der  Erde. 

und  bewirkt  die  Drehung  der  Erde  um  den  gemeinsamen  Schwerpunkt 
der  Erde  und  des  Mondes.  Das  zweite  Feld  bewirkt  die  Schwere  der 
Körper  und  das  dritte  Feld  eine  geringe  Änderung  dieser  Schwere. 

Die  Anziehung  der  Erde  ist  g  =  kM:l'^,  worin  ilf  ihre  Masse.  Da 
M=SO  m  ist  und  a  =  60,  so  ersieht  man  daraus,  dass  ^  =  8640000  d  ist, 
d.  h.  eine  Masse  von  8  Kilogramm  beim  Äquator  verliert  nicht  völlig 
ein  Milligramm  an  Gewicht,  wenn  der  Mond  gerade  über  ihr  steht. 

Da  nun  die  grösste  Entfernung  des  Mondes  von  der  Erde  407110 
Kilometer,  die  geringste  dagegen  nur  356650  Kilometer  beträgt,  so  ver- 
ändert sich  die  Kraft  d  im  Verhältnis  1 : 1,49.  Sie  ist  also,  wenn  der 
Mond  im  Perigäum  steht,  etwa  23  Proz.  grösser,  wenn  er  im  Apogäum 
steht,  etwa  21  Proz.  geringer  wie  im  Mittel. 

Wir  wollen  nun  berechnen,  um  wie  viel  der  Mond  die  Meeresober- 
lläche  zu  heben  vermag.  Diese  Rechnung  können  wir  mit  Newton  so 
ausführen,  dass  wir  annehmen,  die  Deformation  der  Erde  sei  proportional 
der  wirkenden  Kraft.  Wir  kennen  nämlich  die  Deformation  der  Erde 
(die  Abplattung  =  ^^T,)  zufolge  der  Centrifugalkraft  der  Erddrehung. 
Die  Centrifugalkraft  beträgt  (vgl.  S.  242)  -^i^  der  Schwere,  die  fluterzeugende 
Kraft  des  Mondes  ^öi^xjüit  derselben  Kraft.  Folglich  soll  die  Abplattung 
der  Erde  (falls  sie  mit  vollkommen  beweglichem  Stoff  bedeckt  ist,  welche 
Bedingung  Wasser  genügend  erfüllt)  zufolge  der  Flutkraft  des  Mondes 
^ül"§i)TJ7T  •  ¥¥ir  =  1»12  •  10  *^  betragen.  Da  der  Äquatorialhalbmesser  der 
Erde  6,378.10^  m  beträgt,  so  würde  demnach  die  Deformation  nicht 
mehr  als  0,714  m  erreichen.  Diese  Ziffer  giebt  den  Niveauunterschied 
an,  wenn  der  Mond  im  Zenith  und  am  Horizont  steht. 

Eine  ähnliche  Wirkung  hat  die  Sonne;  sie  liegt  uns  392  mal  ent- 
fernter wie  der  Mond  im  Mittel,  dagegen  übertrifft  ihre  Masse  diejenige 
des  Mondes  2640000  mal.  Die  Wirkung  der  Sonne  verhält  sich  demnach 
zu  derjenigen  des  Mondes  wie  2640000  zu  (392)^  oder  wie  0,438  zu  1. 
Die  Höhe  der  von  der  Sonne  erzeugten  Flutwellen  sollte  demnach  nur 
0,313  m  erreichen. 

Wie  wir  unten  sehen  w^erden,  stimmt  die  Mondwirkung  allein  an 
Grösse  mit  derjenigen  überein,  welche  man  thatsächlich  an  im  Ocean 
gelegenen  isolierten  Inseln  beobachtet.  Diese  Wirkung  gilt  nur  für 
Punkte,  über  denen  der  Mond  im  Zenith  steht  und  sie  nimmt  schnell 
zur  Seite  ab.  Dieser  Umstand,  wie  auch  mehrere  Störungen  zufolge  von 
Eeibung  oder  ungenügender  Breite  der  Meeresteile,  verursacht,  dass  die 
beobachtete  Wirkung  (an  stark  isolierten  Oceaninseln)  meist  geringer  ist 
(0,3—0,7  m),  als  die  berechnete. 


V.  Die  Wellenbewegung  des  Meeres  und  der  Seen. 


451 


Die  Oberfläche  der  Erde  wird  nahezu  eine  ümdrehungsellipsoide 
mit  der  längsten  Achse  nach  NZ  (Fig.  156)  bilden,  wenn  ihre  Form  vor- 
her sphärisch  war.  Bezeichnet  h  die  Erhebung  bei  Z  und  bei  iV, 
dagegen  h^  die  Senkung  der  Meeresoberfläche  bei  A  und  B^  so  muss 
die  neue  ümdrehungsellipsoide  hinsichtlich  des  Volumens  gleich  der 
alten  Erdkugel  (Radius  =  i?)  sein,  folglich: 


oder: 


Daraus  folgt  für  die  Mondwir- 
kung, da /i+/ii  =0,714  m,/j=  0,476 
und  /i  1=0,238  m. 

Durch  eine  ähnliche  Rechnung 
für  die  Sonne  findet  man  Werte, 
die  0,209  bezw.  0,104  m  erreichen. 

Es  ist  leicht,  die  Punkte  zu 
bestimmen,  wo  die  Einwirkung  des 
Himmelkörpers  Null  ist.  Diese 
Punkte  bestimmen  die  Grenze  zwi- 
schen Gegenden  mit  Ebbe  und  Ge- 
genden mit  Flut. 

Es  bezeichne  in  Fig.  157  BAB^A^B  den  Durchschnitt  der  Erde,  als 
kugelförmig  angenommen,  und  YXY^X^Y  ^qr  Durchschnitt  der  ellip- 
tischen Meeresoberfläche,  welche  zufolge  des  in  der  Richtung  XM  stehen- 
den Mondes  deformiert  ist. 

Für  den  Kreis  gilt  die  Formel: 


Fig.  157. 


für  die  Ellipse  dagegen: 


X 


x"^  -\-  y'^  =  R^^ 


y 


-Vt.-  z.^-R 


(l  +  2a)2  '   (1  — a)2 

wenn  Za  die  Abplattung  ist.     Man  findet  durch  Elimination  zwischen 
diesen  beiden  Gleichungen  für  den  Durchschnittspunkt  D:  , 


oder: 


x'^:y'^=^\'.2  =  ig-B0D. 
BOD  =  ZbHi<. 


29 


4^2  Physik  der  Erde. 

Es  entsteht  also  gerade  unter  dem  Himmelskörper  M  eine  An- 
schwellung des  Meeres,  welche  einen  Winkel  von  54^  44' (DOif)  bildet. 
Der  übrige  Teil  des  Meeres  hat  Ebbe. 

Da  der  Himmelskörper  im  allgemeinen  nicht  gerade  über  dem 
Äquator  steht,  zerlegt  man  seine  Wirkung  in  zwei  Komponenten,  wovon 
die  eine  längs  der  Erdachse,  die  andere  senkrecht  dazu  gerichtet  ist. 
Die  Flutwirkung  der  ersten  Komponente  ist  sehr  einfacher  Natur.  Sie 
besteht  in  einer  Erhebung  des  Meeres  rund  um  die  Pole  und  einer 
Senkung  desselben  in  der  Nähe  des  Äquators.  Die  Zone  um  den  Äquator, 
welche  zufolge  dieser  Kraft  Ebbe  besitzt,  nimmt  eine  Breite  von  35^  16' 
nördl.  und  südl.  vom  Äquator  ein.  Die  auf  der  Parallele  35^  16'  gelegenen 
Punkte  erleiden  nie  eine  Gezeitenwirkung  zufolge  der  längs  der  Erd- 
achse gerichteten  Flutkomponente. 

Zufolge  der  Anwesenheit  der  Kontinente  tritt  eine  kleine  Ver- 
schiebung ein.  Darwin  hat  berechnet,  dass  die  neutrale  Zone  im 
Atlantischen  Ocean  auf  34^  40'  n.  Br.  liegt. 

Über  diese  Flutwirkung  superponiert  sich  diejenige  zufolge  der  in 
der  Äquatorialebene  gelegenen  Kraftkomponente,  welche  in  einem  Mond- 
tag rund  um  die  Erde  wandert. 

Nun  sind  die  Fluten  bei  Z  (Zenithfluten)  und  iV  (Nadirfluten)  ein- 
ander nicht  ganz  gleich,  jedoch  ist  der  Unterschied  so  gering,  dass  man 
ihn  nicht  bemerkt  (^V)-  Wenn  aber  die  Sonne  und  der  Mond  ein- 
ander unterstützen  (bei  den  Syzygien,  wo  Erde,  Mond  und  Sonne  in 
gerader  Linie  stehen),  so  entsteht  eine  viel  grössere  Wirkung,  wie  wenn 
sie  einander  entgegenwirken  (bei  den  Quadraturen).  Im  ersten  Fall 
spricht  man  von  Springzeit,  im  zweiten  von  tauber  Zeit  (Nippzeit). 

Auch  die  Sonne  steht  der  Erde  zu  einigen  Zeiten  etwas  näher  (am 
2.  Jan.  geht  die  Erde  durch  das  Perihel)  als  in  anderen.  Die  dadurch 
verursachte  Schwankung  der  fluterzeugenden  Kraft  erreicht  nur  10  Proc. 
des  Mittelwertes. 

Ausserdem  spielen  die  Perioden  ein,  welche  sich  bei  der  Nutation 
und  Präzession  geltend  machen  und  welche  18,6  bezw.  21000  Jahre 
erreichen.  In  einer  Periode  von  21000  Jahren  durchlaufen  die  Gezeiten 
alle  möglichen  Kombinationen  von  verschiedenen  Kraftwirkungen  der 
Sonne  und  des  Mondes.  Diese  Kraftwirkungen  können  im  Verhältnis 
1 : 4,5  schwanken. 

Gezeiten  nach  verschiedenen  Perioden.  Kehren  wir  jetzt  zu 
unserer  Fig.  156  zurück.  Es  seien  P  und  P^  die  beiden  Pole  der  Erde. 
Der  bei  D  gelegene  Ort  wird  teils  Flut  haben,  wenn  D  so  liegt  wie  in 


V.  Die  Wellenbewegung  des  Meeres  und  der  Seen.  453 

der  Figur,  teils  auch  einen  halben  Mondtag  (12'*  25'")  später,  wenn  er  zum 
Monde  dieselbe  Stellung,  wie  in  der  Zeichnung  der  Ort  E^  einnimmt. 
Im  ersten  Fall  wird  die  Flut  höchst  gering  sein,  im  zweiten  Fall  ein 
Maximum  erreichen.  Mau  kann  deshalb  sagen,  dass  der  Ort  D  zwei 
Gezeitensystemen  unterworfen  ist,  einem  „halbtägigen",  bei  welchem  Flut 
sowohl  in  der  Stellung  bei  D  und  bei  E  eintrifft,  und  einem  „eintägigen", 
bei  welchem  in  der  Stellung  D  Ebbe,  in  der  Stellung  E  dagegen  Flut 
eintrifft.  Diese  beiden  Systeme  überlagern  einander  und  bewirken  zu- 
sammen eine  sehr  schwache  Flut  (es  kann  auch  Ebbe  eintreffen)  in  der 
Lage  D,  eine  sehr  starke  dagegen  in  der  Lage  E. 

Die  Linie  ZN  ändert  ihre  Lage  im  Verhältnis  zur  Erdachse  PP^ 
einmal  in  jedem  tropischen  Monat  (27,3  Tage)  je  nach  der  Deklination 
des  Mondes.  Dadurch  wird  auch  das  Gezeitenphänomen  im  Punkte  D 
beeinflusst.  Infolgedessen  entsteht  eine  halbmonatliche  Schwankung  in  der 
Stärke  der  Gezeiten.  Auch  diese  Schwankung  kann  als  ein  eigenes  Ge- 
zeitensystem aufgefasst  werden,  welches  über  die  anderen  superpo- 
niert  ist. 

Weiter  schwankt  die  Neigung  der  Mondbahn  gegen  die  Ekliptik  in 
18,6  Jahren  zwischen  +  5^  8,S'  und  — 5^  8,8'.  Die  Neigung  der  Ekliptik 
gegen  den  Äquator  beträgt  23^  27,3'.  Demzufolge  schwankt  die  maxi- 
male Deklination  des  Mondes  zwischen  den  Werten  28^  36'  und  18^  18,5'. 
Das  halbmonatliche  Gezeitenphänomen  wird  dadurch  Schwankungen 
unterworfen  werden,  die  einer  Periode  von  18,6  Jahren  folgen. 

In  ebenderselben  Weise  hängt  die  21000jährige  Periode  der  Sonnen- 
gezeiten von  der  gleichzeitigen  Schwankung  der  Sonnendeklination  ab. 

Die  durch  diese  Umstände  erfolgenden  Schwankungen  können  als 
selbständige  langperiodische  Gezeiten  aufgefasst  werden. 

Jedenfalls  sind  die  halbtägigen,  eintägigen  und  halbmonatlichen 
Gezeiten  die  drei  unvergleichlich  wichtigsten,  deren  Berücksichtigung 
für  praktische  Zwecke  genügend  genaue  Resultate  ergiebt. 

Wenn  die  Schwingungsamplituden  der  Wasserteilchen  sehr  erheb- 
lich werden,  entstehen  Erscheinungen,  die  dem  Auftreten  von  Obertönen, 
Differenz-  und  Summationstönen  entsprechen.  Bei  einer  vollständigen 
Behandlung  des  Gezeitenproblems  sind  auch  diese  schwächeren  Schwan- 
kungen in  Betracht  zu  ziehen.  Dies  geschieht  durch  die  unten  näher  zu 
besprechende  harmonische  Analyse,  mit  deren  Hilfe  man  alle  diese  Va- 
riationen voneinander  trennen  kann. 

Neuere  theoretische  Untersuchungen.  Die  oben  durchge- 
führten  Betrachtun<?en  rühren   von   der  von  Newton   erdachten  söge- 


^rj^  Physik  der  Erde. 

nannten  statischen  Theorie  her.  Sie  stimmen  nur  bezüglich  der  Perio- 
denlänge mit  der  Erfahrung  tiberein.  Dagegen  treten  die  Erscheinungen, 
wie  man  schon  zu  Newtons  Zeit  kannte,  zu  ganz  anderen  Zeiten  ein, 
als  die  Theorie  voraussehen  lässt.  So  z.  B.  bemerkte  schon  Newton, 
dass  Springflut  in  Bristol  nicht  bei  den  Sjzjgien  eintritt,  sondern  erst 
43  Stunden  später.  Auch  die  halbtägige  Periode  verhält  sich  ganz 
anders  als  die  statische  Theorie  voraussehen  lässt.  So  z.  B.  sollten  die 
Zeiten  des  Hochwassers  zur  Zeit  des  Voll-  oder  Neumondes,  die  soge- 
nannten Hafenzeiten,  für  die  verschiedenen  britischen  Hafenorte  um 
weniger  als  eine  Stunde  untereinander  verschieden  sein,  während  sie, 
wie  die  beigedruckte  Karte  (Fig.  158)  zeigt,  um  mehr  als  12  Stunden 
sich  unterscheiden.  Eine  Betrachtung  dieser  Karte  zeigt  deutlich,  wie 
eine  Gezeitenwelle  von  dem  Atlanten  in  den  Kanal  hineindringt,  und 
zwar  mit  grösserer  Geschwindigkeit  in  dem  tieferen  Wasser.  Eine  andere 
Gezeiten  welle  schiebt  sich  längs  der  englischen  Ostküste  vom  Nord- 
atlanten hinein.  Zwei  ähnliche  Wellen  dringen  von  Norden  und  von 
Süden  in  die  Irische  See  hinein. 

Es  ist  offenbar,  dass  diese  Gezeitenwellen  als  „freie"  Einzelwellen 
aus  dem  umgebenden  Meer  hineinwandern,  unabhängig  von  der  Stellung 
des  Mondes  und  der  Sonne  am  Himmel.  Die  Gezeitenerscheinung  auf 
dem  offenen  grossen  Meer  wäre  demnach  als  eine  „gezwungene",  an  der 
Stellung  der  Himmelskörper  gebundene,  Welle  anzusehen.  Die  Gezeiten- 
wellen in  den  weniger  offenen  Seitenmeeren  wären  als  von  der  grossen 
„gezwungenen"  Welle  abgezweigte  „freie"  Wellen  zu  betrachten. 

Es  haben  viele  Mathematiker  ersten  Banges,  wie  Laplace,  Young, 
Airy  und  andere  ihren  Scharfsinn  auf  die  Lösung  des  verwickelten  Ge- 
zeitenproblems angewandt,  und  doch  kann  man  kaum  sagen,  dass  seine 
Rätsel  nennenswert  vermindert  sind.  Die  Konfiguration  der  Kontinente 
und  der  Verlauf  der  Meerestiefen,  welche  beide  bei  der  Lösung  des 
Problems  berücksichtigt  werden  müssen,  sind  viel  zu  verwickelt,  als  das 
sie  mit  unzweifelhaftem  Erfolg  der  abstrakten  mathematischen  Analyse 
unterworfen  werden  können. 

Da  die  statische  Theorie  von  Newton  unzweifelhaft  für  ein  überall 
gleich  tiefes  (nicht  allzu  seichtes)  Weltmeer  gelten  würde,  hat  Airy 
in  seiner  Kanaltheorie  die  Gezeitenerscheinung  in  engen  Becken  von 
grosser  Länge  (Kanälen),  die  rund  um  die  Erde  gehen,  betrachtet.  Die 
Annahme  von  solchen  Becken  entspricht  einigermaassen  einigen  in  der 
Wirklichkeit  vorkommenden  Fällen,  weshalb  die  Airy  sehe  Theorie  eine 
gewisse  Anerkennung  gefunden  hat. 


V.  Die  Wellenbewegung  des  Meeres  und  der  Seen.  455 

Es  bleibt  der  reinen  Empirie  überlassen,  die  Gezeiteuersclieiniingen  mit 
Hilfe  von  registrierenden  Pegeln  so  genau  wie  möglich  zu  messen,  um  die  so 


Fig.  158. 

erhaltenen  Resultate  mit  Hilfe  der  harmonischen  Analyse  zu  bearbeiten. 
Durch  diese  Bearbeitung  sind  sehr  viele  interessante  Einzelheiten  zu  Tage 
befördert  und  sehr  wichtige  Fragen,  wie  wir  sehen  werden,  angeregt  worden. 


^5g  Physik  der  Erde. 

Anwendung  der  harmonischen  Analyse.  Um  alle  diese  ver- 
schiedenen Einflüsse  auseinander  zu  sondern,  hat  man  zu  dem  Hilfs- 
mittel der  harmonischen  Analyse  gegriffen,  welche  in  letzter  Zeit  zur 
Auffindung  und  Untersuchung  von  periodischen  Erscheinungen  eine  immer 
grössere  Verwendung  findet. 

Diese  von  Fourier  ursprünglich  stammende  und  von.Bessel 
weitergeführte  Berechnungsweise  gründet  sich  darauf,  dass  die  Stärke 
(Amplitude)  einer  periodischen  Erscheinung,  deren  Periode  T  ist,  nach 
einer  Reihe  sich  entwickeln  lässt,  welche  folgende  Form  erhält: 

Hi  =  (//)  +  ^i  QO^vt^  B^  ^mvt-\-  Ä2  cos2r^  +  ^2  sin2z^/+  ... 

worin  Ht  die  Amplitude  der  Erscheinung  (in  diesem  Fall  die  Höhe  des 
Wasserstandes  an  einem  bestimmten  Ort  an  der  Küste)  zur  Zeit  t^  (//)  der 
Mittelwert  der  /f< -Werte  in  einer  langen  Reihe  Beobachtungen  von 
einer  ganzen  Anzahl  Perioden  und  ^^  ,^2 --'-^i  •^2«-- ^Koeffizienten 
darstellen^  welche  die  Stärke  der  Schwankung  angeben,  v  bedeutet  die 
Zahl  2jt:T.  Wie  aus  der  Form  ersichtlich,  erhält  Ht  denselben  Wert, 
wenn  man  einmal  t,  ein  anderes  Mal  t  +  T  oder  t-{-  aT  einsetzt,  worin 
a  eine  ganze  Zahl  bedeutet.  Dieser  Umstand  ist  nur  ein  Ausdruck 
dafür,  dass  die  Erscheinung  die  Periode  T  besitzt. 

Mit  Hilfe  der  Methode  der  kleinsten  Quadrate  berechnet  man  die 
wahrscheinlichsten  Werte  der  Koeffizienten  und  findet  dafür  die  fol- 
gende Form: 

A,  =  "2'//    Gos  V  t    ;  ^1  ^=    ^  IL^  sin  v  t 

1       n  0     '"  "'  n  0     in  m. 

A2  =  2^  ^Jm  COS  2  V  Un  ;  B^  =-  7"  -S'^4  «in  2  V  tm. 

n  bedeutet  die  ganze  Zahl,  welche  T  a,m  nächsten  kommt. 

Um  die  Bedeutung  dieser  Rechenoperationen  zu  erläutern,  führen 
wir  ein  Beispiel  aus.  Wir  wollen  nun  z.  B.  die  Periodicität  nach 
dem  halben  einfachen  Mondumlauf  von  12^^  25"^  untersuchen.  Nehmen 
wir  an^  der  Stand  des  Wassers  werde  alle  halbe  Stunden  beobachtet,  so 
ist  es  am  einfachsten  als  Zeiteinheit  die  halbe  Stunde  zu  nehmen. 
T  wird  dann  24,83  und  n  die  nächtsliegende  ganze  Zahl  25.  t  möge 
von  einer  bestimmten  Zeit  als  Nullwert  ab  gerechnet  werden,  z.  B.  von 
einer  Zeit,  in  welcher  der  Mond  durch  die  Meridianebene  des  Ortes  geht 


V.  Die  Wellenbewegung  des  Meeres  und  der  Seen.  457 

(zu  welcher  nach  der  einfachen  Newton  sehen  Theorie  Flut  eintreffen 
sollte).  Auf  jeden  halben  Mondunilauf  kommen  also  25  Beobachtungen 
mit  Ausnahme  jeder  sechsten,  auf  welchen  nur  24  Beobachtungen  fallen. 
Wir  ordnen  nun  eine  Tabelle  nach  dem  folgenden  Schema: 

\.  Hq        H^        H2 ^^23      ^hi 

2.  7/25       ^26       ^hl ^48       ^^49 

3.  //50     H51     II52 ^^73 

4.    7J74       ^75       iJ^R ^97       F98 


8.    //i74      ^^175     i/^176 ^197     ^198 

^'   ^^199    ^^200     ^201 -^222 

10.    1/223    -^224     ^^225      .  •       .       •       .      7^246     ^^247 

Die  erste  Beobachtung  Hq  kommt  zuerst  und  danach  alle  die  in  der 
ersten  Periode  fallenden  bis  7/24.  Die  26.  Beobachtung,  1^2 5 >  ^^11^  nahezu 
eine  Periode  (fünf  Minuten  mehr)  nach  7fo  und  wird  deshalb  unter  77o 
geschrieben;  dasselbe  gilt  für  die  Beobachtung  7/50,  welche  zwei  Perioden 
später  als  77^  (auf  10  Minuten  nahe)  eintrifft.  Dagegen  ist  die  nächste 
Beobachtung,  welche  so  nahe  als  möglich  dem  Wert  77o  entspricht,  nicht 
7775,  welches  drei  Perioden  +  15  Minuten,  sondern  77,4,  welches  drei 
Perioden  —  10  Minuten  später  als  77o  eintrifft.  Die  vierte  Reihe  fängt 
also  mit  77^4  an  und  die  letzte  Stelle  der  dritten  Reihe  ist  unbesetzt. 
Wenn  man  da  einen  Wert  einschalten  will,  nimmt  man  den  Mittelwert 
zwischen  7/73  und  7^74.  Die  folgenden  vier  Zeilen  enthalten  wiederum 
je  25  77- Werte  tabelliert,  die  danach  folgende  neunte  Zeile  wird  wie  die 
dritte  und  die  zehnte  wie  die  vierte  behandelt  u.  s.  w. 

Auf  diese  Weise  kommen  unter  77o  alle  diejenigen  Beobachtungen, 
welche  77o  am  meisten  entsprechen  (an  einer  ganzen  Anzahl  Perioden 
+  10  Minuten  nach  77o  angestellt  sind).  Ebenfalls  kommen  unter  H^ 
die  anderen  Beobachtungen,  welche  so  nahe  wie  möglich  eine  ganze  An- 
zahl von  Perioden  nach  77i  angestellt  sind  u.  s.  w. 

Wenn  nun  die  Periodicität  nach  der  untersuchten  Periode  von  12  '*  25"' 
der  alleinige.  Faktor  wäre,  welche  das  Gezeitenphänomen  beherrschte,  so 
würden  alle  Beobachtungen  unter  77o  mit  dieser  gleich  sein,  oder  richtiger 
einen  sehr  geringen  Unterschied  von  77o  zeigen,  den  Abweichungen 
von   +10  Minuten  von  den  ganzen  Perioden  entsprechend. 

Es  zeigt  sich  aber,  dass  dies  gar  nicht  zutrifft,  und  dies  hängt  von 


458  Physik  der  Erde. 

störenden  Umständen  al).  welche  teils  von  den  anderen  periodisclien 
Einflüssen  von  anderer  Periodenlänge  (wie  Sonnenumlauf,  tropischem 
Monat  u.  s.  w.  sich  geltend  machen),  teils  auch  von  zufälligen  nicht  periodi- 
schen Störungen,  wie  Windrichtung,  Barometerdruck  u.  s.  w.  herrühren. 
(Wenn  der  Wind  von  der  See  weht,  wird  das  Wasser  gegen  das  Land 
aufgestaut,  ehenso  drückt  ein  hoher  Luftdruck  das  Wasser  herunter,  was 
man  am  leichtesten  an  Binnenmeeren,  z.  B.  der  Ostsee,  nachweisen  kann, 
wo  keine  merklichen  Gezeiten  stören.)  Wenn  man  aber  eine  genügend 
grosse  Anzahl  von  Beobachtungen  besitzt,  so  gleichen  sich  diese  perio- 
dischen und  unperiodischen  Störungen  aus,  indem  sie  ebenso  häufig  in 
der  einen  wie  in  der  andern  Richtung  liegen,  und  zwar  um  so  mehr,  je 
länger  die  Beobachtungsreihe  ist. 

Ist  die  Beobachtungsreihe  lang  genug,  so  nimmt  man  als  einen 
nahezu  richtigen  Wert  von  H^  das  Mittel  aus  ^o  ^iid  allen  anderen 
Werten,  welche  unter  H^  stehen.  Dieser  Mittelwert,  den  wir  künftighin 
//o  heissen,  wird  in  die  Formeln  auf  S.  456  unter  dem  Zeichen  -2"  ein- 
geführt. In  ähnlicher  Weise  bildet  man  Mittelwerte  H^ ,  7/2  u.  s.  w.  bis 
J/23  und  F24. 

Mit  Hilfe  dieser  Werte  werden  jetzt  die  Koeffizienten  yl, ,  A^^  B^ 
und  B2  berechnet  nach  den  Formeln: 

2     24  2       24 

A^  =  ^  2    Hm  cos  V  tm  j5j   =  ^-  2    Hm  siu  V  tm 


2    24  2     2^ 

A2=^2   Hm  cos  2  V  tm  B^  =  ^-   2J    Hm  siu  2  V  tm 

u.  s.  w. 

V    ist   gleich   2jt  :  n   oder   in  Bogengraden    ausgedrückt    360  :  n 
==  14,4^,    da  ja  w  =  25  ist.    tm  bedeutet  die  ganzen  Zahlen  0  bis  24. 
Folglich  wird 

2 

A  =  9ri  i^k  COS  0^  -I-  //i  cos  14,40  +  H2  cos  28,8»  + 


25 

+  7/23  cos  331,20  +  7724  cos  345,6«). 

Nachdem  nun  A^  u.  s.  w.  berechnet  sind,  kann  man  den  Wert  77^ 
anders  ausdrücken,  nämlich  folgendermaassen: 

Ht  =  (77)  -f  K^  cos  v{t—  «i)  +  i\'2  cos  2  j^  (/  —  «2)  +  •  •  •  •  ('^) 
worin: 


V.  Die  Wellen) )ewegung  des  Meeres  und  der  Seen.  459 


vv. 


tg  i;  «1  =  2  ;  tg  2  a^  «2  ==  — %     11.  s.  w. 

«i  ist  die  sogenannte  Phasendifferenz,  welche  in  diesem  Falle  an- 
giebt,  wie  spät  die  Fluterscheinung  nach  dem  Durchgang  des  Mondes 
durch  den  Meridian  sein  Maximum  erhält  (dem  höchsten  Wasserstande 
entsprechend).  Wenn  man  diese  Verspätung  in  Stunden  ausdrücken 
will,  und  a  wie  gewöhnlich  in  Bogengraden  ausgedrückt  ist,  so  hat  man 
zu  bemerken,  dass  eine  Stunde  in  diesem  Falle  28,6^  entspricht 
(12^  25''^  entsprechen  360^). 

Die  mit  2  indicierten  Koeffizienten  gehören  einer  eventuellen  viertel- 
tägigen Periode  an.  «2  ist  ebenfalls  die  Verspätung  des  Maximums  in 
dieser  Periode   nach  dem  Durchgange   des  Mondes  durch  den  Meridian. 

Ob  nun  die  gefundene  Periodicität  eine  reelle  Bedeutung  hat,  oder 
nur  den  unvermeidlichen  zufälligen  Fehlern  zuzuschreiben  ist,  kann  rhan 
durch  Vergleichung  der  Grösse  von  Ä\  und  von  ^^2  ^^^  ^^^^  wahrschein- 
lichen Fehler  dieser  Grössen  entscheiden.  Der  wahrscheinliche  Fehler  r 
einer  einzelnen  Beobachtung  lim  beträgt  nach  den  Regeln  der  Wahr- 
scheinlichkeitsrechnunof : 


r  =  +  0,674  1/^^^', 
f       n  —  5 

worin: 

^m  =  {Hm )  beoh.  —  [Hm )  her. 

{Hm)heoh.  ist  der  oben  gefundene  aus  den  Beobachtungen  folgende 
Mittelwert  von  Ä,  wogegen  (Hm) her.  den  aus  der  Formel  (2)  mit  Hilfe 
der  Koeffizienten  Ny  und  N2  berechneten  Wert  darstellt.  Am  ist  also 
die  Abweichung  zwischen  Beobachtung  und  Berechnung.  Hat  man  zwei 
i\^- Werte  {N^  und  N^),  so  kommt  in  den  Nenner  unter  dem  Wurzelzeichen 
im  Ausdrucke  für  r  der  Wert  {n  —  5),  hat  man  aber  nur  einen  i\^-Wert, 
kommt  {n  —  3)  an  Stelle  von  (w  —  5),  hat  man  drei  iV- Werte,  muss 
man  den  W^ert  [n  —  7)  verwenden  u.  s.  w. 

Aus  dem  wahrscheinlichen  Fehler  r  einer  Einzelbeobachtung  lässt 
sich  derjenige  R  eines  Koeffizienten  N  nach  folgender  Formel  be- 
rechnen: 


R=r]/ 

f     n 


^gQ  Physik  der  Erde. 

Wenn  nun  die  iV -Werte  nicht  grösser  als  R  sind,  ist  das  Vorhanden- 
sein der  betreffenden  Periode  sehr  zweifelhaft;  ist  dagegen  N:  R  eine 
grosse  Zahl,  so  wächst  die  Wahrscheinlichkeit  der  Periodicität  schnell 
mit  diesem  Werte.  Auch  wenn  N:R  geringer  ist  als  2,  kann  man 
noch  eine  zufällige  Periodicität  vermuten.  Je  grösseres  Material  man 
verwendet,  desto  bedeutender  muss  N:R  ausfallen  und  zwar  nahezu 
proportional  der  Quadratwurzel  aus  der  Anzahl  der  benutzten  Beobach- 
tungen, wenn  eine  wirkliche  Periodicität  vorhanden  ist. 

Untersuchungen  von  G.H.Darwin.  Diese  immer  mehr  ange- 
wandte Methode  zur  Untersuchung  von  periodischen  Erscheinungen  hat 
Darwin  ganz  besonders  für  die  Gezeitenerscheinung  entwickelt.  Die 
Theorie  von  Newton,  welche  später  von  Laplace,  Stokes,  Lord  Kel- 
vin und  Darwin  ausgebaut  wurde,  setzt  nun  voraus,  dass  im  Meeres- 
wasser die  Keibung  so  gering  ist,  dass  die  Gezeitenwelle  nicht  nach  der 
die  Gezeiten  bewirkenden  Kraft  verspätet  ist.  Dies  trifft  wohl  nicht  für 
die  Gezeiten  von  halbtägiger  Periode  zu,  dagegen  kann  man  mit  Recht 
annehmen,  dass  es  für  diejenigen,  welche  von  der  verschiedenen  Ent- 
fernung des  Mondes  und  von  seiner  Deklination  herrühren,  erfüllt  ist. 

Was  diese  langperiodischen  Gezeiten  angeht,  so  sollten  sie  ebenso 
wenig  an  der  Küste  w^ahrnehmbar  sein,  wie  auf  einem  Schiffe  im  offenen 
Meere,  wenn  die  Erdkruste  als  eine  auf  einem  flüssigen  Erdkern  schwim- 
mende Scholle  zu  betrachten  wäre.  Man  beobachtet  nun  eine  Senkung 
oder  Hebung  des  Meeres  nach  diesen  Perioden.  Folglich  muss  das  Erd- 
innere weniger  leichtflüssig  sein  wie  das  Meer.  Man  kann  aber  aus  der 
Potentialtheorie  mit  grösserer  Genauigkeit,  wie  nach  der  oben  ausge- 
führten Rechnung  (vgl.  S.  450),  ableiten,  wie  hoch  das  Meer  an  der 
Küste  steigen  würde,  wenn  die  Erde  sich  wie  ein  absolut  starrer  Körper 
verhielte.  Weil  die  Erde  nicht  absolut  starr  ist',  so  wird  die  Gezeiten- 
welle niedriger  erscheinen,  als  theoretisch  berechnet  worden  ist.  Dar- 
wins Berechnungen  zeigen  nun,  dass  die  Welle  dieser  langperiodischen 
Gezeiten  etwa  um  32  Proz.  geringer  ausfällt,  als  die  Rechnung  verlangt. 
Die  Erde  giebt  also  ein  klein  wenig  nach,  und  Darwin  berechnet  daraus, 
dass  die  Starrheit  der  Erde  ungefähr  so  gross  wie  diejenige  des  Stahls 
bei  gewöhnlicher  Temperatur  und  normalem  Druck  ist. 

Die  Zuverlässigkeit  dieser  Rechnung  wird  dadurch  bedeutend  ge- 
schwächt, dass  die  aus  Indien  herrührenden  Beobachtungsreihen  eine 
noch  bedeutend  grössere  Starrheit  der  Erde  ergeben,  indem  die  Nach- 
giebigkeit derselben  nur  einem  Unterschied  von  etwa  5  Proz.  zwischen  Be- 
obachtung  und   Berechnung  entspricht.      Die    wahrscheinlichen    Fehler 


V.  Die  Wellenbewegung  des  Meeres  und  der  Seen.  4g j 

der  beiden  Berechnungen  sind  so  gering,  dass  ihre  Resultate  als  mit- 
einander unvereinbar  zu  betrachten  sind. 

Man  muss  deshalb  nähere  Untersuchungen  über  diese  höchst  inter- 
essante Frage  abwarten.  Es  möge  nur  darauf  hingewiesen  werden, 
dass,  wenn  man  auch  eine  Starrheit  der  Erde  finden  würde,  die  grösser 
ausfiele,  wie  diejenige  des  festen  Stahles,  man  nicht  berechtigt  wäre, 
daraus  zu  schliessen,  dass  das  Erdinnere  fest  sei.  Flüssigkeiten  und 
Gase  bei  so  hohem  Druck  und  so  hoher  Temperatur,  wie  diejenigen, 
welche  im  Erdinnern  herrschen,  können  sehr  wohl,  wie  oben  bei  den 
Betrachtungen  über  Vulkanismus  gezeigt  wurde,  sich  in  dieser  Hinsicht 
ungefähr  wie  feste  Körper  'Verhalten  (vgl.  S.  283). 

Vergleich  der  Theorie  mit  der  Erfahrung.  Bei  den  Gezeiten 
von  halbtägiger  Periode  sind  die  Regelmässigkeiten  so  stark  verwischt, 
dass  die  Theorie  sehr  wenig  Hilfe  leistet,  ausser  in  der  Beziehung,  dass 
die  Wellenhöhe  einigermaassen  der  wirkenden  Kraft  proportional  ist. 
Aber  die  absolute  Höhe  und  die  Eintrittszeit  lässt  sich  nur  aus  der  Er- 
fahrung bestimmen.  Nach  der  Theorie  sollte  die  Gezeitenwelle  dem 
Monde  von  Ost  nach  West  in  seiner  scheinbaren  täglichen  Bewegung 
folgen.  Einigermaassen  trifft  dies  für  die  südliche  Erdhalbkugel  zu,  wo 
das  W^asser  tief  genug  ist  und  wenige  Kontinente  und  Inseln  stören. 
Aber  auf  der  nördlichen  Halbkugel  stimmt  nicht  einmal  die  Bewegungs- 
richtung der  Welle  mit  der  Erfahrung.  Die  Gezeitenwelle,  welche  süd- 
lich von  Afrika  fortschreitet,  sendet  eine  Abzweigung  in  den  Atlantischen 
Ocean  hinein,  welche  in  den  tieferen  Stellen  viel  schneller  als  an  den 
Küsten  fortschreitet,  sodass  die  Fortpflanzungsrichtung  bald  nach  Norden 
geht,  um  später  nach  Nordosten  parallell  zu  der  Hauptrichtung  der  euro- 
päischen Westküste  abgelenkt  zu  werden.  Zwischen  Norwegen,  Spitzbergen 
und  Nowaja  Semlja  ist  die  Fortpflanzungsrichtung  sogar  entgegengesetzt 
der  theoretischen,  von  W^est  nach  Ost  gerichtet. 

Ähnliche  Abweichungen,  obgleich  nicht  so  aufiallend  grosse,  kommen 
im  Indischen  und  im  nördlichen  Stillen  Ocean  zum  Vorschein. 

Diese  Nachwirkung  macht  sich  besonders  im  Meer  rund  um  die 
britischen  Inseln  geltend.  Die  Wellenbewegung  schreitet  da  ziemlich 
schnell  in  den  grossen  Meerestiefen  rund  um  Schottland  fort  und  biegt  dann 
in  die  Nordsee  hinein.  Ein  anderer  Teil  der  Welle  geht  viel  langsamer 
durch  den  flachen  englischen  Kanal  und  begegnet  auf  diesem  -Wege 
den  von  Norden  kommenden  Hauptteil  (vgl.  Fig.  159  S.  455). 

Die  Höhe  der  Gezeitenwellen  beträgt  auf  frei  im  Meere  gelegenen 
kleinen  Inseln  nur  0,8—1,0  m.  Ganz  anders  werden  die  Verhältnisse  in 


4ß2  Physik  der  Erde. 

geschlossenen  Meeren,  welche  nur  durch  eine  enge  Meeresstrasse  mit 
dem  Ocean  in  Verbindung  stehen,  wie  das  Mittelmeer.  Längs  der  spa- 
nischen Küste  ist  die  Welle  im  Mittel  etwa  1,5—1,8  m  hoch.  Dieselbe 
Höhe  gilt  für  die  Aussenseite  der  Gibraltarstrasse.  Durch  diese  enge 
Strasse  giesst  sich  das  Wasser  hinein,  breitet  sich  aus  und  verliert  immer 
mehr  an  Wellenhöhe.  Ganz  umgekehrte  Verhältnisse  können  an  solchen 
Stellen  eintreten,  wo  die  Wasserwelle  zusammengepresst  wird.  Am  be- 
kanntesten in  dieser  Hinsicht  ist  Fundybay  in  Nordamerika  (innerhalb 
Neuschottland),  wo  das  Wasser  bis  15  oder  20  m  steigen  kann.  Unter 
solchen  Umständen  geschieht  es  auch,  dass  die  langsam  steigende  und 
sinkende  Gezeitenw^elle  einen  plötzlichen  Verlauf  nimmt  und  wie  eine 
gewöhnliche  Welle  in  Flussmündungen  eindringt  (Sprungwelle,  mas- 
caret).  Diese  Erscheinung  kommt  nicht  in  deutschen,  wohl  aber  in 
den  meisten  französischen  Flüssen  (nicht  in  der  Loire)  vor.  Auch  in 
dem  englischen  Flusse  Severn  (bei  Swansea  9  m,  bei  Chepstow  15  m 
Springflut),  im  Amazonenflusse  und  den  Flüssen  des  brasilischen  Guyana, 
sowie  einigen  indischen  und  anderen  asiatischen  Flüssen  hat  man 
Sprungwellen  beobachtet. 

Als  Beispiele  einiger  Fluthöhen  mögen  folgende  Werte  angeführt 
werden:  Sandwichsinseln  0,28  m,  Tahiti  0,3 — 0,5  m,  Fidschiinseln  und 
Neue  Hebriden  1,0 — 1,3  m,  St.  Helena  1  m,  Rodriguez  0,6  m,  Azoren 
und  Kanaren  1,5—2,5  m,  Boston  3  m,  Küste  von  Neuengland  6  m,  Fundy 
Bay  (Mittelwert)  12  m,  Brest  4,5  m,  Liverpool  6  m,  Irische  Küste  3  m, 
London  5  m,  westliches  Mittelmeer  0,6  m,  Genua  0,24  m,  Ischia  0,2  m, 
Venedig  0,5  m,  Korfu  0,1  m,  Ostsee,  dänische  Küste  0,3—0,4  m,  deutsche 
Küste  0,1  m  (W.)  —  0,01  m  (0.). 

Die  Gezeiten  sind  von  grosser  Bedeutung  für  die  Schiffahrt.  Viele 
Häfen  sind  für  grössere  Schiffe  nur  bei  Flutzeit  zugänglich. 

Wo  das  Gezeitenwasser  in  Flussmündungen  hineinsteigt,  hemmt  es  das 
Hinausfliessen  des  Flusswassers  und  durch  dieses  Stillstehen  und  die  Bei- 
mengung von  Salzwasser  kommt  eine  starke  Sedimentation  zustande, 
wodurch  Verkehrswege  und  Häfen  ihre  Tiefe  einbüssen. 

Man  hat  vielfach  vorgeschlagen,  die  Energie  der  Gezeitenwellen 
durch  Anlegung  grosser  Teiche  auszunutzen,  in  w^elchen  das  Wasser 
w^ährend  der  Flutzeit  angesammelt  werden  würde,  um  nachher  während 
der  Ebbezeit  ausgelassen  zu  werden.  Der  dabei  entstehende  Wasserfall 
könnte  Mühlen  treiben.  In  Nordamerika  (und  England)  giebt  es  viele 
solche  Mühlen,  sie  können  aber  natürlich  nur  wenige  Stunden  im  Tage 
laufen;  ihre  ökonomische  Bedeutung  ist  massig. 


V.  Die  Wellenbewegung  des  Meeres  und  der  Seen.  4ß3 

In  den  Binnenseen  sind  die  Gezeiten  verschwindend.  Nur  die 
grossen  Seen  von  Nordamerika  zeigen  eine  Spur  davon,  in  Chicago  am 
Michigausee  ist  der  Höhenunterschied  zwischen  Ebbe  und  Flut  etwa 
4  cm,  bei  Springzeit  7  cm,  im  Eriesee  etwa  2  cm. 

Gezeitenströme.  Die  Gezeitenwelle  auf  dem  offenen  Meere  gleicht 
einer  anderen  Welle ,  indem  wie  bei  dieser  die  Wasserpartikelchen  eine 
elliptische  Kurve  beschreiben.  Diese  Wasserteilchen  verschieben  sich 
auf  dem  Wellenkamm  in  der  Fortpüanzungsrichtung  der  Welle,  im 
Wellensattel  dagegen  in  der  entgegengesetzten  Richtung.  Die  Umkehr 
der  Bewegungsrichtung  tritt,  wie  leicht  einzusehen,  in  der  Mitte  ein 
zwischen  den  Zeiten,  wobei  ein  Wasserpartikelchen  ihre  höchsten  und 
ihre  tiefsten  Lagen  einnimmt.  Dies  tritt  3^  6"^  vor  und  nach  der  höchsten 
Flut  ein.    In  diesen  Augenblicken  „kentert"  der  Strom. 

Ganz  anders  verhält  es  sich  an  solchen  Stellen,  wo  die  Gezeiten- 
welle eine  Wassermasse  gegen  das  Ufer  oder  in  eine  Bucht  hinaufpresst. 
Da  hat  das  Wasser  keinen  freien  Ausweg  zur  anderen  Seite,  sondern, 
damit  das  Wasser  sinkt,  muss  es  wegfliessen,  entgegen  der  Fortpflanzungs- 
richtung der  Welle  zum  Meer  hinaus.  Es  kentert  in  solchen  Fällen 
also  der  Strom  bei  dem  höchsten  und  dem  niedrigsten  Wasserstand. 

An  seichten  Stellen  des  Meeres  oder  bei  Verengerungen  desselben, 
können  Zwischenstufen  zwischen  den  beiden  genannten  Grenzfällen  vor- 
kommen, so  z.  B.  (alle  möglichen  Übergänge)  im  englischen  Kanal.  An 
der  Küste  kann  eine  starke  Strömung  vorkommen,  während  in  der  Mitte 
des  Kanals  die  grosse  Gezeitenwelle  in  Ruhe  bezüglich  horizontaler  Ver- 
schiebung ist.  Dadurch  erklären  sich  eigentümlich  erscheinende  Wirbel- 
ströme, welche  den  Seefahrern  daselbst  w^ohl  bekannt  sind. 

Diese  Wirbelströme  erreichen  bisweilen  recht  grosse  Geschwindig- 
keiten und  werden  dadurch  für  Segler,  die  mit  den  lokalen  Verhältnissen 
unbekannt  sind,  gefährlich.  Bekannt  in  dieser  Hinsicht  ist  der  „Mal- 
ström" innerhalb  der  Lofoteninseln  in  Norwegen  und  in  noch  höherem 
Grade  die  Strasse  von  Messina.  Diese  Strudel  waren  den  Alten  als 
Scjdla  (bei  der  engsten  Stelle  an  der  italienischen  Seite)  und  Charybdis 
(vor  dem  Hafen  von  Messina)  bekannt.  Die  Gezeitenströme  in  der 
Strasse  von  Messina  erreichen  Geschwindigkeiten  von  1,5  bis  3,5,  stellen- 
weise sogar  5  m  pro  Sekunde  (2,9,  6,8  bezw.  9,7  Seemeilen  pro  Stunde). 
Die  Fluthöhe  schwankt  zwischen  5  und  45  cm. 

Da  die  abströmende  Wassermasse  proportional  der  Wellenhöhe  ist 
und  das  Wasserbecken  bis  zum  Boden  ausfüllen  kann,  so  muss  die  Ge- 
schwindigkeit der  Strömung  der  Wellenhöhe  h  direkt  und  der  Tiefe  (/>) 


464  Physik  der  Erde. 

des  Wasserbeckens  umgekehrt  proportional  sein.  In  der  That  findet  man 
nach  einer  einfachen  von  Comoy  eingeführten  Betrachtung,  dass  die 
Strömungsgeschwindigkeit  (v)  sich  zur  Fortpflanzungsgeschwindigkeit  (c) 

der  Flutwelle  wie  h  zu  p  verhält.  Führt  man  nun  c=Y9P  (^8"^-  ^-  441) 
ein,  so  erhält  man: 

^  V    h 

oder: 


Vi 


1 

Ist  z.  B.  für  den  Kanal  /^  =  1,5  m  und  ^  =  30  m,  so  wird  v  =  0,858  m  pro 
Sek.  =  3,1  km  pro  Stunde  (oder  1,66  Seemeilen  pro  Stunde),  eine  Strö- 
nmng,  die  offenbar  für  die  Seefahrt  von  Bedeutung  ist.  In  engen  Meeres- 
armeu,  „Sunds",  können  noch  viel  stärkere  Gezeitenströmungen  vorkommen. 
Im  offenen  Meere  sind  sie  ohne  Bedeutung  {p  ist  sehr  gross,  h  dagegen 
gering,  für;?  =  5000  m  und  /i  =  0,65  m  wird  sie  etwa  100  m  pro  Stunde). 

Wegen  der  grösseren  Fortpflanzungsgeschwindigkeit  in  grösserer 
Tiefe  breitet  sich  die  Gezeitenwelle  (wie  die  Brandungswoge)  nahezu 
parallel  zur  Küste  aus.  Gute  Beispiele  dieser  Wirkung  giebt  die  Figur 
158  betreffs  der  Küste  des  Biscayabusens  und  der  portugiesischen  und 
irischen  Küste. 

Die  Gezeitenwelle  wird  auch,  wie  andere  Strömungen,  durch  die 
Erddrehung  nach  rechts  abgelenkt  (vgl  oben  S.  267).  Vermutlich  ist 
dieser  Umstand  der  Grund  dafür,  dass  die  vom  Südatlanten  durch  den 
Kanal  hineindringende  Welle  sich  an  der  holländischen  Küste  geltend 
macht,  während  die  vom  Norden  kommende  Gezeitenwelle  sich  längs 
der   englischen  Ostküste  entwickelt  (vgl.  Fig.  158,  S.  455). 


VI.  Die  Wechselwirkung  zwischen  Land  und  See.    Küsten. 

Küstenverschiebungen.  An  der  Küste  erkennt  man  sehr  häufig, 
dass  die  Grenzlinie  zwischen  Land  und  Wasser  sich  allmählich  ver- 
schiebt. Höher  hinauf  auf  dem  Land  bemerkt  man  oft  terassenförmige 
Bildungen,  die  aünähernd  horizontal  liegen,  und  welche  offenbar  alte 
Strandlinien  von  Seen  sind.  Solche  kommen  sowohl  in  Amerika,  besonders 
rund  um  die  grossen  Seen  (der  alte  Lake  Warren)  und  an  der  Begren- 
zung des  alten  Lake  Bonneville  vor,  als  auch  in  Europa,  z.  B.  in  Schweden 
und  Norwegen,  wo  mau  die  Lage  des  alten  Ufers  mit  Hilfe  dieser  Strand- 
linien rekonstruiert  hat.  Man  bemerkt  auch  häufig  hoch  über  dem 
jetzigen  Ufer  Muschelbänke,  wo  alte  Muschelschalen  andeuten,  dass  die 
betreffenden  Stellen  einst  unter  Wasser  lagen. 

Viel  seltener  sind  naturgemäss  die  deutlichen  Merkmale  von  Land- 
senkunge^.  Ein  klassisches  Beispiel  einer  solchen  Senkung  giebt  der 
sogenannte  Serapistempel  bei  Puzzuoli  (in  der  Nähe  von  Neapel). 

In  diesem  Tempel,  der  jetzt  gänzlich  über  Wasser  steht,  wie  wohl 
auch  bei  seiner  Erbauung,  findet  man  drei  Säulen,  welche  auf  ihrer 
mittleren  Höhe  von  Bohrmuscheln  angegriffen  sind.  Es  muss  also  dieser 
Tempel  und  die  umgebende  Landmasse  in  relativ  kurzer  Zeit  einer  ganz 
bedeutenden  Senkung  und  danach  einer  ungefähr  ebenso  grossen  Hebung 
unterworfen  gewesen  sein.  An  anderen  Stellen  findet  man  alte  Strassen 
oder  Mosaikböden  unter  dem  Meere,  ferner  sind  Inseln,  die  den  See- 
fahrern bekannt  waren,  unter  Wasser  getaucht,  was  eine  Senkung  in 
historischer  Zeit  andeutet. 

Die  ersten  direkten  Beobachtungen  über  die  Landhebung  wurden 
in  Schweden  gemacht,  indem  im  Jahre  1731  Wassermarken  an  Felsen 
bei  der  Küste  eingehauen  wurden.  Danach  wurde  ihre  Lage  zur  Meeres- 
oberfläche der  Ostsee  zu  bestimmten  Zeiten  beobachtet.  Das  Maximum 
der  Hebung  tritt  an  dem  Nordteil  des  bottnischen  Meerbusens  ein,  wo 

Arrhenius,  Kosmische  Physik.  30 


4ßß  Physik  der  Erde. 

es  etwa  1  m  in  hundert  Jahren  beträgt,  von  da  ab  vermindert  sich  die 
Hebung,  sodass  Schonen  beinahe  still  steht.  Die  Verschiebung  scheint  vor 
hundert  Jahren  schneller  vor  sich  gegangen  zu  sein,  als  in  der  Gegen- 
wart. Eine  ähnliche  Hebung  ist  für  die  ganze  Nordktiste  Europas  cha- 
rakteristisch, ebenso  für  die  nördlich  davon  gelegenen  Polarinseln.  Die 
britannische  Küste  scheint  abwechselnden  Hebungen  und  Senkungen 
unterworfen  gewesen  zu  sein;  in  letzter  Zeit  scheint  die  Senkung  zu 
überwiegen.  Die  Südküste  der  Ostsee  steht  still;  die  Nordseeküste  scheint 
langsam  vom  Wasser  erobert  zu  werden.  Im  allgemeinen  scheint  auch 
die  europäische  Atlantküste  langsam  zu  sinken.  Dagegen  heben  sich 
die  grössten  Teile  der  Mittelmeerküste  an  der  europäischen  Seite;  an 
mehreren  Stellen  sind  abwechselnde  Hebungen  und  Senkungen  konsta- 
tiert. Griechenland  hebt  sich  teilweise  sehr  schnell,  wie  der  vormals  enge 
Pass  von  Thermopylae  zeigt,  welcher  in  eine  breite  Strandwiese  verwandelt 
ist.    Die  Küsten  des  Schwarzen  Meeres  heben  sich  ebenfalls. 

Ausserhalb  Europas  sind  die  auffallendsten  Hebungen  im  japanischen 
Inselreich,  in  Südamerika,  südlich  vom  Äquator,  an  den  Ufern  des  Roten 
Meeres,  an  der  vorderindischen  Halbinsel,  an  der  sibirischen  Küste,  west- 
lich von  Kap  Tscheljuskin,  an  den  meisten  Teilen  der  afrikanischen  Küste 
(mit  Ausnahme  vom  Nildelta,  Tripolis,  Senegambien,  Guineabucht  und 
Zanzibar). 

Dagegen  sinken  die  Ostküsten  der  Vereinigten  Staaten  von  Neu- 
Schottland  ab  und  die  oben  nicht  erwähnten  Teile  der  asiatischen  Küste. 

Die  Landhebung  geschah  nicht  gleichförmig.  So  haben  sich  die 
centralen  Teile  Nord  -  Skandinaviens  seit  Ende  der  Eiszeit  um  ungefähr 
300  m  gehoben,  die  Küstenlinie  weniger,  von  0  im  Süden  bis  250  m  im 
Norden.  (Vgl.  die  beigefügte  Karte,  welche  die  seit  der  Eiszeit  ge- 
schehenen Höhenänderungen  in  Skandinavien  und  umliegenden  Ländern 
darstellt  Fig.  159.) 

Das  Aussehen  einer  in  Hebung  begriffenen  Küste  ist  im  allgemeinen 
von  demjenigen  einer  in  Senkung  begriffenen  sehr  verschieden.  Der 
Meeresboden  ist  in  den  meisten  Fällen  als  nahezu  ganz  flach  zu  be- 
trachten, indem  seine  Unebenheiten  durch  das  ausgespülte  Sediment 
erfüllt  werden.  Steigt  nun  ein  solcher  Meeresboden  über  die  Meeres- 
oberfläche, so  zeichnet  sich  die  Küstenlinie  durch  ihre  Einförmigkeit, 
durch  die  Abwesenheit  von  Inseln,  ins  Meer  hinausragenden  Felsen  und 
Halbinseln  aus.  Die  Uferbestandteile  sind  alte  Sedimente,  Sand  und  Thon. 

Gerade  das  Gegenteil  trifft  ein,  wenn  das  Land  sich  unter  den 
Meeresspiegel   senkt.    Das  Land  hat  durch  die  Wirkung   des  Wassers 


VI.  Die  Wechselwirkung  zwischen  Land  und  See.     Küsten. 


467 


eine  meistens  recht  scharfe  Profilierung.  Teils  haben  die  Flüsse  ihr 
verzweigtes  Drainierungs^etz  gegraben,  teils  hat  das  Wasser  (oder  das 
Eis  der  Eiszeit)  die  harten  Felsen  stehen  lassen,  während  es  die  weicheren 
Erdbestandteile  zum  Thal  oder  zum  Meer  verschleppt  hat.  Wenn  dem- 
nach das  Meer  über  solche  alte  Landteile  steigt,  bildet  sich  ein  Archipel 
von  Inseln,  fortgesetzt  durch 
weit  ins  Meer  hinausra- 
gende Halbinseln;  welche 
früher  die  Wasserscheide 
zwischen  zwei  Flüssen  aus- 
machten. 

Als  Typen  der  sich  he- 
benden Küsten  können  die 
Westküste  der  Vereinigten 
Staaten  Nordamerikas  und 
die  Küste  der  baltischen 
Provinzen  angesehen  w^er- 
den.  Typen  der  sinkenden 
Küsten  sind  dagegen  die 
Ostküste  von  Nordamerika 
und  die  dalmatinische 
Küste. 

Jedoch  muss  man 
diese  Kennzeichen  mit 
einer  gewissen  Vorsicht 
benutzen.  So  z.  B.  ist  der  grösste  Teil  der  schwedischen  Küste  und  die 
südfinnländische  Küste  durch  ihre  Zersplitterung  in  kleine  Inseln  und 
Halbinseln  charakterisiert,  obgleich  sie  sich  stetig  seit  Ende  der  Eiszeit 
gehoben  haben.  Dies  hängt  aber  damit  zusammen,  dass  während  der  Eis- 
zeit die  Ostsee  nicht  eigentlich  als  See  angesehen  werden  konnte,  indem 
sie  das  Eis  bis  Ende  der  letzten  Eiszeit  an  den  genannten  Küsten  aus- 
füllte, sodass  da  kein  Absatz  von  Sediment  stattfinden  konnte.  In  der 
kurzen  Zeit,  welche  nachher  verflossen  ist,  hat  die  geringe  Ablagerung 
von  Sediment  nicht  die  ursprüngliche  Profilierung  zu  verwischen  vermocht. 

Andererseits  zeigt  die  jütländische  Küste,  welche  in  lang- 
samer Senkung  begrijffen  ist,  einen  nahezu  geradlinigen  Verlauf.  Teils 
ist  hier  die  sinkende  Landmasse  ausserordentlich  wenig  profiliert,  teils 
schwemmen  die  Wogen  den  abgetragenen  Sand   zur  Küste   zurück  und 

lagern  ihn  an  Einbuchtungen  ab,  wo  er  von  den  Küstenströnmngen  nicht 

30* 


Fig.  159.    Hebung  Skandinaviens  seit  der  Eiszeit. 


^ßg  Physik  der  Erde. 

weggespült  wird.  Auf  diese  Weise  kann  eine  sinkende  Küste  auch  einen 
geradlinigen  Verlauf  nehmen. 

Die  Wogen  bearbeiten  das  Sediment,  welches  von  den  ufern  dem 
Meerwasser  zugeführt  wird.  Bisweilen  führen  sie  dasselbe  zu  den  Meeres- 
tiefen hinaus,  wenn  es  aber  sehr  reichlich  zugeführt  wird  (und  die  Küste 
sehr  langsam  abfällt),  bilden  sich  Deltas  an  den  Flussmündungen  oder 
die  Wellen  werfen  das  Material  in  langen  Sandbänken  auf,  welche  als 
langgestreckte  Inseln  oder  Halbinseln  parallel  zur  Küste  laufen,  von 
welcher  sie  durch  seichte  Verzweigungen  des  Meeres  getrennt  sind. 
Beispiele  solcher  Bildungen  finden  sich  an  der  friesischen  Küste  und  in 
den  Haffen  an  der  Ostsee.  Sie  sind  übrigens  an  den  Küsten  sehr  ge- 
wöhnlich. Diese  Sandbänke  sind  häufig  beweglich  und  wandern,  je  nach 
den  Meeres-  und  Luftströmungen,  wie  die  Dünen  an  der  Nordseeküste. 

An  Stellen,  wo  die  Küsten  sehr  stark  dem  Wellenspiel  ausgesetzt 
sind,  wie  an  freiliegenden  Inseln,  kann  die  zehrende  Wirkung  der  Wellen 
ausserordentlich  kräftig  abtragend  wirken.  Auch  die  härtesten  Felsen 
werden  von  den  Wellen  untergraben.  Diese  höhlen  grosse  Einschnitte 
im  Felsen  aus,  bis  die  tiberliegenden  Stücke  von  der  Schwere  niederge- 
brochen werden.  Teile  von  der  englischen  Küste  weichen  in  dieser  Weise 
um  ein  paar  Meter  jährlich  zurück.  Am  meisten  bekannt  in  dieser 
Hinsicht  ist  die  Insel  Helgoland,  deren  Zerstörung  jedoch  früher  stark 
überschätzt  wurde.  Ebenso  verliert  die  Westküste  von  Schleswig  immer 
mehr. 

Einwirkung  der  Härte  der  Küste.  In  Senkungsgebieten  macht 
sich  die  verschiedene  Härte  der  verschiedenen  Gesteine,  woraus  die 
Küste  zusammengesetzt  ist,  sehr  stark  geltend.  Die  harten,  in  das  Meer 
hinausragenden  Felsen  leisten  den  längsten  Widerstand,  während 
zwischen  solchen  Felsen  das  Meer  schnell  die  lockeren  Materialien  weg- 
spült. Dadurch  bilden  sich  zwischen  zwei  solchen  Felsen  lange  Bogen 
aus,  welche  gegen  das  Meer  konkav  sind.  Die  von  den  Felsen  herunter- 
fallenden Fragmente  werden  von  den  Wogen  bearbeitet  und  in  immer 
feinere  Stücke  zersplittert.  Diese  Splitter  werden  von  den  Wellen  ins 
Meer  hinausgetragen  und  teilweise  wieder  auf  die  Küste  hinaufgespült. 
Die  grössten  Fragmente  bleiben  dann  in  der  Nähe  der  Felsen  liegen  und 
je  weiter  man  sich  von  ihnen  entfernt,  desto  kleinere  Steine  umranden 
die  See,  bis  an  der  Mitte  des  Bogens  gewöhnlicherweise  ganz  feiner  Sand 
vorherrscht. 

Ausserdem,  dass  die  Abtragung  durch  die  Wellen  viel  langsamer 
geht,  wenn  die  Küste   aus  härterem  Material   besteht,   äussert   sich  die 


VI.  Die  Wechselwirkung  zwischen  Land  und  See.     Küsten. 


469 


Widerstandsfähigheit  der  Küste  in  der  Küstenform.  Hagen  hat  die  in 
der  Natur  herrschenden  Verhältnisse  experimentell  nachzuahmen  gesucht. 
Er  legte  in  seiner  Wellenrinne  auf  die  eine  Seite  eine  Sandböschung 
'mit  einer  Neigung  von  17^  auf  (Fig.  160)  und  liess  die  Wellen  dagegen 


Fig.  160.     Wirkung  des  Wellenschlages  auf  eine  sandige  Küste. 


schlagen.  Die  obenstehende  Figur  zeigt  die  Veränderung  nach  300 
und  1200  Wellenschlägen.  Die  nachfolgende  Figur  (Fig.  161)  zeigt  die 
Wirkung  des  W^ellenschlages  auf  ein  Kiesufer  (die  Korngrösse  des  Kieses 
erreichte  etwa  2  mm). 

Der  Sand  oder  Kies  wird  vom  W^ellenschlag  abgetragen  und  unweit 
der  Küste  wieder  abgelagert,  weil  der  Sand  nicht  lange  im  Wasser  zu 
schweben  vermag.  Ausserhalb  der  Küste  entstehen  gewöhnlich  ein  oder 
mehrere  Riffe.  Der  Sand  lagert  sich  nämlich  mit  Vorliebe  ab,  wo  die 
zurückfliessende  mit  Sand  beladene  Welle  des  „Sogs"  dem  nächsten 
hineinstürzenden  Wellenkamm  begegnet,  wo  ein  relativer  Stillstand  der 
Wassermassen  erfolgt.   Ein  ähnlicher  Vorgang  kann  sich  an  den  nächsten 


Fig.  161.    Wirkung  des  Wellenschlages 
auf  ein  Kiesufer. 


Fig.  162.  Wirkung  des  Wellen- 
schlages auf  ein  Thonufer. 


Wellenbergen  wiederholen,  wodurch  mehrere  Parallelriffe  entstehen.  Solche 
Riffe  sind  an  der  jütländischen  Küste  sehr  stark  entwickelt  und  verhin- 
dern, dass  man  auch  in  kleinen  Kähnen  den  Strand  erreichen  kann. 
Sie  sind  als  Badestrand  (z.  B.  bei  Sylt)  sehr  vorteilhaft,  für  die  Schiff- 
fahrt dagegen  verhängnisvoll. 

Die  feine  Rippelung  des  Meeresbodens  an  Sandufern  rührt  von  ahn- 


470 


Physik  der  Erde. 


Fig.  163.   Wirkung  des  Wellen- 
schltiges  auf  ein  Felsenufer. 


liehen  Umstiiuden  her.  Sie  entspricht  der  Anordnung  in  parallelen 
Rippen  des  feinen  Korkstanbes  bei  dem  Kun  dt  sehen  Schallversuch. 
Die  Rippelung  des  Meeresbodens  ist  bisweilen  in  ziemlieh  grosser  Tiefe 
—  bis  gegen  200  m  —  beobachtet  worden. 

Etwas  anders  wie  das  Sandufer  verhält  sich  das  Thonufer  (Fig.  162)^ 
Die  Partikelehen,   welche  vom  Wasser  hinausgespült  werden,   sind   so 

fein,   dass   sie  nicht  in  der  unmittelbaren 
Nähe  der  Küste  abgelagert  werden,  es  bil- 
det sich  kein  flaches  Ufer  mit  Riffen,  sondern 
eine  konkave  tiefe  Aushöhlung,  welche  nach 
oben  mit  einem  ziemlich  vertikalen  Abhang 
der  Küste  endet.    Solehe  Formen   erhalten 
auch  die  Moor-,   Lehm-   und  Kreideküsten 
(z.  B.  am  englischen  Kanal,  Rügen,  Möen  etc.). 
Ganz   anders  verhält  sich   das  Felsen- 
ufer; je  nach   der   Richtung  der  Lagerung 
können     verschiedene    Formen     entstehen. 
Neigt  sich  die  Schichtung  von  der  See  ab, 
so   entsteht   eine  stark    ausgeprägte   Hohl- 
kehle (Fig.  163),  neigt  sie  sich  dagegen  zum  Meer  hinaus,   so  wird  das 
Ufer  nicht  so  stark  angegriffen  und  nimmt  die  in  Fig.  164  angegebene 
Form  an. 

Urgesteine  und  krystallinische  Schiefer,  die  wenig  Risse  enthalten,  wo- 
durch das  Wasser  sie  zerklüften  könnte,  ragen  gewöhnlich  wie  Massive  mit 

rundlichen  Formen  aus  den  Wogen. 
Abgebröckelte  Teile  umgeben  diese 
Felsen  häufig  mit  einem  Gürtel  von 
Steinblöcken  und  grossen  Steinen,  die 
w^eiter  hinaus  im  Meer  in  Sand  über- 
gehen. 

Konservierende  Wirkung  der 
Organismen.  Die  Algen  des  Meeres  spielen  eine  stark  konser- 
vierende Rolle.  Sie  werden  auf  die  Küste  hinaufgeworfen,  etwa  so 
w^eit  als  der  mittlere  Wasserstand  reicht  oder  noch  etwas  höher.  Mit 
ihren  weichen,  beinahe  gelatinösen  Teilen  legen  sie  sich  in  den  Weg  des 
gewaltsamsten  Wellenschlages  und  schützen  auf  diese  Weise  die  Küste 
gegen  den  heftigsten  Anprall.  Sonst  würde  die  Küste  viel  schneller  de- 
moliert werden. 

Einige  Bäume,   wie  der  Mangrove,  verwandeln  allmählich   Untiefen 


Fig.  164. 


VI.  Die  Wechselwirkung  zwischen  Land  und  See.     Küsten.  47 j 

nahe  der  Küste  in  sumpfiges  Land.  Dieser  Baum  entwickelt  Lutt- 
wurzeln, welche  in  seichte  Teile  des  Meeres  hineindringen  und  den  auf 
die  Küste  aufgeworfenen  Schlamm  zurückhalten.  Nach  dem  Tode  des 
Baumes  hleiben  diese  Wurzeln  stehen  und  bilden  allmählich  grosse 
Sümpfe.  la  ebenderselben  Weise  wirken  auch  andere  Bäume.  Der 
Mangrove  ist  sehr  verbreitet  in  Amerika  (z.  B."  in  Florida,  vgl.  die  Ab- 
bildung Fig.  165),  an  der  Westküste  Afrikas,  und  in  dem'' Indischen 
Archipel. 

Vielleicht  noch   kräftiger  wirken  durch  ihre  ausserordentlich  starke 
Verbreitung  die  Gras-  und  Schilfarten,   welche  in  seichtem  Wasser  ge- 


Fig.  165.    Mangrove-Sumpf,  Florida. 


deihen.  Sie  verhindern  das  Ausschwemmen  des  Sedimentes  mit  den 
Flüssen  und  bilden  ausgedehnte  Sümpfe  an  der  Grenze  gegen  das  Meer. 
Auch  Tiere  sind  bei  der  Bildung  von  Küsten  sehr  wirksam.  In  aller 
erster  Linie  sind  in  dieser  Beziehung  die  Korallen  zu  nennen.  Sie  treten 
nur  in  den  warmen  Zonen  auf,  weil  sie  in  einem  Wasser  von  niederer 
Temperatur  als  20 "^  C.  nicht  gedeihen  können.  Tiefer  als  30  m  unter 
dem  Wasserspiegel  können  sie  auch  nicht  leben.  Nach  ihrem  Tode 
geben  sie  zu  Kalksteinbildung  Anlass.  Die  Kalkbäume  der  Korallen 
gedeihen  längs  der  Küste  und  bilden  lange  Riffe  (Fig.  166).  Bisweilen 
liegen  die  Korallenriffe  in  einiger  Entfernung  von  der  Küste,  sie  werden 
dann  Barrierenriffe  genannt.  Ein  solches  läuft  etwa  1400  km  längs  der 
australischen  Küste  in  einer  Entfernung,  welche  bisweilen  80  km'  er- 
reichen kann.  Seine  Breite  an  der  Meeresoberfläche  übersteigt  selten 
2  km. 


^rj2  Physik  der  Erde. 

In  vielen  Fällen  liegen  solche  Korallenbildungen  isoliert  im  Ocean 
und  bilden  sogenannte  Atollen,  ringförmige  schmale  Riffe,  welche  einen 
seichten  Salzsee  einschliessen,  der  an  einer  oder  einigen  wenigen  Stellen 
mit  dem  Meere  in  Verbindung  steht. 

Da  alte  Korallenbäume  viel  tiefer  als  30  m  unter  der  jetzigen 
Meeresoberfläche  und  in  Gegenden  (z.  B.  Spitzbergen),  wo  jetzt  die  Tem- 
peratur weit  unter  20^  C.  liegt,  in  älteren  geologischen  Epochen  vor- 
kamen, so  kann  man  aus  diesen  Umstünden  schliessen  einerseits,  dass 
der  Meeresboden  sich  stark  gesenkt  hat,   andererseits,  dass  an  den  be- 


Fig.  166.     Korallenriff. 

treffenden  Stellen  in  den  erwähnten  geologischen  Zeiten  eine  viel  höhere 
Temperatur  wie  jetzt  herrschte.  Die  alten  Korallenbäume  sind  deshalb 
von  der  allergrössten  Bedeutung  für  die  Kenntnis  der  Entwickelung 
der  Erde. 

Sehr  bekannt  ist  die  Darwinsche  Hypothese,  dass  die  jetzigen 
Atollen  oder  Ringriffe,  die  hauptsächlich  im  Stillen  Ocean  vorkommen, 
einst  Küstenriffe  um  eine  centrale  Insel  waren.  Dieselbe  versank  all- 
mählich durch  Bodensenkung  in  die  Meerestiefe,  während  die  Korallen 
immer  weiter  ihre  Bäume  auf  den  absterbenden  unteren  Teilen  in  die 
Höhe  bauten.  Diese  sinnreiche  Hypothese  ist  jedoch  nicht  unwider- 
sprochen geblieben,  so  plausibel  sie  auch  erscheint. 


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Arrhenius,   Svante  August 

Lehrbuch  der 
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