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Full text of "Lehr- und Handbuch der Statistik"

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LEHE-  UND  HANDBUCH 


DER 


STATISTIK 


VON 


Dr  MAX  HAÜSHOFEB 

PBOFES80B    AN    DER    K.    TECHNISCHEN    HOCHSCHULE    ZU    MÜNCHEN. 


ZTEITE,  TOLLSTilDIß  UI&EiBfiEITETE  ADFLiOE. 


WIEN  1882. 

WILHELM     BRAÜMÜLLER 

K.  K.  HOF-  UND  ÜNIVERSITITSBüCHHÄNDLBR. 


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Vorwort  zur  zweiten  Auflage. 


iaeit  dem  Erscheinen  der  ersten  Auflage  dieses  Buches,  im  J.  1872, 
bin  ich  mir  über  eine  Reihe  von  Verbesserungen  klar  geworden,  welche 
hinsichtlich  des  Buches  theils  möglich  waren,  theils  ein  unerreichbares 
Ideal  bleiben  mussten. 

Die  grösste  Schwierigkeit,  welche  mir  bei  der  Bearbeitung  beider 
Auflagen  entgegenstand,  lag  darin,  dass  das  Buch  gleichzeitig  die  Zwecke 
eines  Lehrbuches  zum  Studium,  und  eines  Handbuches  zum  Nachschlagen 
erfüllen  wollte.  Diese  beiden  Zwecke  schliessen  sich,  wie  ich  mittlerweile 
beobachten  konnte,  in  einem  höheren  Grade  aus,  als  ich  anfangs  geglaubt 
hatte.  Ein  Lehrbuch  muss  auf  eine  längere  Dauer  von  Jahren  brauchbar 
sein ;  ein  statistisches  Handbuch  dagegen  kann  der  Natur  der  Sache  nach 
nur  einen  vergänglichen  Werth  haben. 

Wenn  ich  trotz  dieser  Erfahrung  an  eine  Neubearbeitung  des  Buches 
gegangen  bin,  that  ich  das  in  der  üeberzeugung,  dass  einem  Buche,  welches 
heutzutage  eine  zweite  Auflage  erlebt,  selbst  mit  einem  solchen  Cardinal- 
fehler  ein  gewisses  Recht  auf  das  Dasein  zusteht. 

Hätte  ich  dieses  Recht  ignorirt,  so  wäre  die  zweite  Auflage  ein  ganz 
anderes  Buch  geworden :  ein  System  der  Socialwissenschaft.  in  welchem  die 
Zifl^ern  noch  weit  mehr  in  den  Hintergrund  getreten  wären,  als  in  der 
ersten  Auflage. 

Da  dies  vorläufig  nicht  meine  Absicht  war,  sah  ich  meine  Aufgabe 
bei  der  Neubearbeitung  hauptsächlich  in  Folgendem.  Einmal  konnten  in 
dem,  dem  Zwecke  des  Lehrbuches  dienenden  Texte,  namentlich  im  histo- 
rischen Theile  desselben  manche  Kürzungen  vorgenommen  werden.  Andern- 

Hanshofer,  Statistik.  2.  Aufl.  a 

487448 


IV  Vorwort. 

theils  aber  mussten  die  alten  Zahlenangaben  fast  ausnahmslos  entfernt  und 
durch  die  neuesten,  die  überhaupt  verfügbar  sind,  ersetzt  werden.  Letztere 
Aufgabe,  wie  mühsam  sie  auch  war,  und  wie  wenig  Reiz  für  die  Thätigkeit 
des  Gedankens  sie  auch  darbieten  mochte,  hoflfe  ich  so  weit  gelöst  zu 
haben,  dass  das  Buch  jetzt  in  einem  weit  höheren  Grade  als  Nach- 
schlagebuch brauchbar  sein  dürfte,  als  seinerzeit  die  erste  Auflage  ge- 
wesen ist. 

Noch  etwas  Anderes  aber  hielt  ich  für  meine  Pflicht.  Dem  Brauche 
statistischer  Handbücher  gemäss,  hatte  ich  in  der  ersten  Auflage  häufig 
Zahlenangaben  ohne  Mittheilung  ihrer  Quelle  gegeben.  Von  diesem  Brauche 
bin  ich  in  der  zweiten  Auflage  abgegangen  und  habe,  fast  ohne  Ausnahme, 
nur  mehr  solche  Ziffern  mitgetheilt,  welche  bis  zu  ihren  Quellen  zurück- 
verfolgt werden  können.  Vieles  wurde  mir  dabei  erleichtert  durch  die 
liebenswürdige  Liberalität,  mit  welcher  mir  die  Direction  der  Statistik  des 
Königreichs  Italien  ihre  reichhaltigen  Publicationen  sandte. 

Ich  hatte  mir  niemals  verhehlt,  dass  die  erste  Auflage  trotz  eines 
grossen  Leserkreises,  welchen  sie  in  Oesterreich-Ungarn  und  im  Deutschen 
Reiche  gefunden  hat,  trotz  einer  Uebersetzung  ins  Polnische,  welche  sie 
(Warschau  1875)  erlebte,  und  trotz  mancher  Anerkennung,  die  sie  mir 
verschaffte,  weit  entfernt  war,  meinen  eigenen  und  fremden  Ansprüchen 
hinsichtlich  der  Vollständigkeit,  Gründlichkeit  und  Neuheit  zu  genügen. 
Dass  die  zweite  Auflage  ein  wesentlicher  Schritt  zur  Besserung  sei,  war 
der  Gedanke,  der  mir  die  Arbeit  verschönte. 

München,  im  November  1881. 

M.  H. 


Inhaltsübersicht. 


Erstes  Buch.  Geschichte  und  Theorie  der  Statistilc. 

I.  Capitel.  Geschichte  der  Statistik.  §.  i— 17. 

II.  Capitel.  Die  Statistik  als  Methode.  §.  18—35. 

III.  Capitel.  Die  Statistik  als  Wissenschaft.  §.  36—49. 

IV.  Capitel.  Die  Statistik  als  Zweig  der  Staatsverwaltung.  §.  50—58. 

Zweites  Buch.  BevöJIcerungsstatistilc. 

I.  Abschnitt.  Stand  der  Bevölkernngr. 

I.  Capitel.  Absolute  Bevölkerung.  §.  59-66. 
II.  Capitel.  Relative  Bevölkerung.  §.  67-68. 
II.  Abschnitt.  Gang  der  BevöH^erungr. 

I.  Capitel.  Veränderungen  der  Volkszahl.  §.  89—72. 
II.  Capitel.  Das  Werden  der  Bevölkerung.  §.  73—83. 

III.  Capitel.  Das  Vergehen  der  Bevölkerung.  §.  84—102. 

IV.  Capitel.  Aeussere  Einflüsse  auf  die  Bevölkerungsbewegung.  §.  103,  104. 
III.  Abschnitt.  Physisches  Leben  der  Beröllfernngr. 

I.  Capitel.  Die  Lebensdauer.  §.  105—116. 
II.  Capitel.  Die  Altersclassen.  §.  117—119. 
m.  Capitel.  Andere  körperliche  Eigenschaften  der  Bevölkerung.  §.  120—130. 

Drittes  Buch.  Wirthschaftliche  Statistilc. 

Uebersicht.  §.  131,  132. 

I.  Capitel.  Allgemeine  Bedingungen  der  Production.  §.  133—138. 
11.  Capitel.  Land-  und  Forstwirthschaft.  §.  139—145. 
m.  Capitel.  Die  Gewerbe.  §.  146—152. 
lY.  Capitel.  Statistik  der  Preise.  Das  Geld.  §.  153—161. 

V.  Capitel.  Das  Transportwesen.  §.  162—165. 
VL  Capitel.  Der  Handel.  §.  166—168. 

Vn.  Capitel.  Das  Volkseinkommen  und  seine  Vertheilung.  §.  169 — 172. 
Vin.  Capitel.  Die  Consumtion.  §.  173—175. 
IX.  Capitel.  Bevölkerung  und  wirthschaftliches  Leben.  §.   176 — 180. 


VI  Inhaltsftbersicht. 

Viertes  Buch.  Das  gesellschaftliche  und  politische  Leben. 

I,  Capitel.  Die  Wohnsitze  der  Bevölkerung.  §.  181—188. 
II.  Capitel.  Ehe  und  Familie.  §.  189—198. 

III.  Capitel.  Volk  und  Staatswesen.  §.  199—208. 

Fünftes  Buch.  Moraistatistik. 

I.  Capitel.  Uehersicht.  §.  209—217. 

II.  Capitel.  Die  bestimmenden  Ursachen  der  sittlichen  That.  §.  218—228. 
in.  Capitel.  Die  einzelnen  sittlich  bedeutungsvollen  Handlungen.  §.  229—236. 

IV.  Capitel.  Geistiges  und  religiöses  Leben.  §.  237—244. 


•    ,  •  •  * 


Erstes  Buch. 


Geschichte  und  Theorie  der  Statistik. 


Hansbofer,  Statistik.  2.  Aua. 


*    •      -♦•"•! 


I.   Capitel. 

GrescMclite  der  Statistik. 


§.  1.  Kothwendigkeit  geschichtlicher  Betrachtung. 

Der  Ausdruck  Statistik  wird  vom  lateinischen  Status  hergeleitet. 
Status  wurde  in  klassischen  Zeiten  blos  für  den  BegriflF  „Zustand"  ge- 
braucht, später  auch  für  den  Begriflf  „Staat".  Statistik  lässt  sich  dem- 
nach ebensowohl  mit  Staatenkunde,  Staatserforschung,  als  mit 
Zustandswissenschaft,  Zustandserforschung  übersetzen. 

Seit  Anfang  des  18.  Jahrhunderts  wird  der  Ausdruck  Statistik  üblich, 
und  zwar  allmälig  für  verschiedene  Richtungen  menschlicher  Verstandes- 
thätigkeit. 

Heutzutage  nennt  man  Statistik: 

I.  Eine  Methode  der  Erforschung  von  Erscheinungen  zu  wissen- 
schaftlichen und  praktischen  Zwecken,  nämlich  die  Methode  der  Massen- 
beobachtung. 

n.  Eine  Wissenschaft,  welche  sich  auf  ihrem  jetzigen  Höhepunkte 
dieser  Methode  bedient. 

III.  Eine  amtliche  Thätigkeit  der  Staatsbehörden. 

Im  Verlaufe  der  Entwickelungsgeschichte  dieser  Wissenschaft  aber 
wurden  sehr  verschiedene  Dinge  Statistik  genannt.  Die  Statistiker  sahen 
die  Gegenstände,  die  Aufgaben,  die  Methoden  und  die  letzten  Zwecke 
ihrer  Thätigkeit  bald  in  diesem,  bald  in  jenem.  Einzelne  erfassten  die 
Statistik  als  Staatskunde,  als  Wissenschaft  von  den  Staatsmerkwürdigkeiten, 
von  der  Staatsverfassung,  von  den  Staatskräften,  andere  als  eine  Zustands  - 
Wissenschaft,  einige  als  Zahlenwissenschaft,  andere  als  die  Erforschung 
geheimer  Gesetze.  Bald  brachte  man  sie  mit  Geschichte,  bald  mit  Geo- 
graphie, bald  mit  Staatsrecht  und  Politik,  bald  mit  der  Mathematik  und 
den  Naturwissenschaften   in  Verbindung.    Und  während    von  einigen  ihr 


A.  •  '  •  •      •  pjg  Statistik  im  Alterihume. 

wissenscfiaTÖicfiir'Clfärakter'lrielir'oder  weniger   abgeläugnet  wurde,   hat 
sie  in  anderen  Geschichtschreiber  ihrer  Literatur  gefunden*). 

Bei  einem  Gegenstande  menschlicher  Geistesthätigkeit  aber,  welcher 
so  viel  umstritten  ist,  wie  der  Begriff,  die  Aufgaben  und  die  Gestaltung 
der  statistischen  Forschung,  ist  eine  Betrachtung  der  geschichtlichen  Ent- 
wickelung  dringend  geboten.  Und  man  darf  dabei  nicht  mit  zufälligem 
Griffe  in  die  historischen  Erscheinungen  fahren  und  wider  einander  Strei- 
tendes als  schroffe  Beispiele  hinstellen,  sondern  man  muss  in  diesen  Er- 
scheinungen die  Entstehung  der  Wissenschaft  erforschen  und  die  allmälige 
Weiterbildung  des  Gedankens  verfolgen. 

Anmerkung. 

*)  Unter  den  vielen  Geschichtschreibern  der  statistischen  Literatur  seien 
hier  zunächst  drei  der  bedeutendsten  besonders  zu  erwähnen,  nämlich:  R.  v. 
Mohl:  Die  Geschichte  und  Literatur  der  Staatswissenschaften,  Erlangen  1858, 
im  III.  Bd.  —  C.  G.  A.  Knies:  Die  Statistik  als  selbständige  Wissenschaft, 
Kassel  1850.  —  A.  Wagner:  im  Artikel  „Statistik"  des  X.  Bandes  von 
Blunt8chli-Brater''s  Staats  Wörterbuch.  Die  letztgenannte  sehr  umfassende  und 
gründliche  Arbeit  bildet  auch  die  Grundlage  des  folgenden  Capitels. 

§.  2.  Die  Statistik  im  Alterthume. 

Fasst  man  den  Begriff  der  Statistik  in  geschichtlicher  Weise  auf, 
d.  h.  betrachtet  man  alle  jene  Erscheinungen,  welche  heute  und  jemals 
Statistik  genannt  worden  sind,  so  ist  die  Statistik  uralt. 

Sie  begann  höchst  wahrscheinlich  mit  einer  Regierungsstatistik  zu 
militärischen  und  finanziellen  Zwecken.  So-  werden  im  Alten  Testamente 
Volkszählungen  der  Juden  erwähnt^).  Die  Berichte  Herodot's*)  lassen 
auf  eine  ausgedehnte  finanzielle  und  militärische  Statistik  in  Persien  unter 
der  Regierung  der  Achämeniden  schliessen.  Die  Chinesen  besassen  in  dem 
von  Confiicius  gesammelten  Buche  Schuking  statistische  Angaben  über 
die  Topographie,  über  den  Zustand  des  Ackerbaues,  der  Industrie,  des 
Verkehrs  und  der  Abgaben  von  China  aus  dem  3.  Jahrtausend  vor  Chr. 
Im  alten  Aegypten  scheint  es  Volkszählungen,  sogar  schon  eine  Art  Civil- 
standsregister,  Grundkataster  u.  s.  f.  gegeben  zu  haben. 

Bei  einem  so  entwickelten  Staatsleben,  wie  das  der  alten . Hellenen 
war,  musste  gleichfalls  eine  Art  Verwaltungsstatistik  bestehen,  namentlich 
in  Bezug  auf  Bevölkerung,  Territorium,  Grundbesitz,  Finanzen  u.  s.  f.  Da- 
gegen sind  wissenschaftliche  Leistungen  auf  diesem  Gebiete  nur  in  zer- 
streuten und  unbedeutenden  Anfangen  vorhanden. 

Ungleich  grossartiger  entwickelte  sich  die  Statistik  im  alten  Rom  ^), 
getragen  durch  des  Volkes  eminentes  praktisches  Staatstalent,  und  zwar 
überall  in  der  Form  der  Erforschung  von  solchen  Erscheinungen,    welche 


Die  Statistik  im  Altertliame.  5 

für  die  Verfassung  und  Verwaltung  der  Republik  Bedeutung  hatten.  Der 
erste  Censns,  eine  Volkszählung  mit  gleichzeitiger  Erhebung  des  Vermö- 
gensstandes,  wird  bis  auf  Servius  Tullius  zurückgeführt  und  wiederholte 
sich  zur  Zeit  der  Republik  alle  fünf  Jahre.  Das  active  Militär  wurde 
besonders  gezählt.  Die  Zählung  vollbrachte  der  Censor,  welchem  eine 
Art  statistisches  Bureau  zur  Seite  sich  befand.  In  den  Zeiten  der  Re- 
publik war  der  regelmässige  fiinQährige  Census  eine  höchst  feierliche 
Handlung.  Es  wurde  die  rechtliche  Bevölkerung  gezählt;  der  Familien- 
vater musste  für  sich  und  seine  Angehörigen  Namen,  Geschlecht,  Alter, 
Wohnort  und  Vermögen  angeben.  In  der  Kaiserzeit  verlor  der  Census 
seine  ursprüngliche  Bedeutung  und  diente  zumeist  Steuerzwecken;  er 
kam  dann  alle  10,  später  alle  15  Jahre  zur  Ausführung.  Der  Personal- 
census  und  der  Census  des  Grundvermögens  wurden  getrennt;  ersterer 
wurde  zu  einer  der  Kopfsteuererhebung  dienenden  Zählung,  letzterer  eine 
Grundkatastrimng  für  die  Grundsteuererhebung.  Der  kaiserliche  Census 
verlangte  auch  Angaben  über  die  Zahl  der  Sklaven,  über  deren  Nationa- 
lität und  Beruf. 

Das  erhobene  Material  wurde  zusammengestellt  und  bearbeitet.  Es 
liegen  Resultate  der  römischen  Volkszählungen  vor.  Im  ersten  Jahrhun- 
dert der  Republik  schwankt  die  Censuszahl  zwischen  104000  und  150000; 
zur  Zeit  des  Kaisers  Claudius  erreicht  sie  49  Millionen. 

Die  Kaiser  interessirten  sich  fiir  diese  Zählungen;  es  wurden  Karten 
entworfen,  statistische  üebersichten  angelegt.  Cicero  fordert  für  den 
Staatsmann  statistische  Kenntnisse  —  ein  „nosse  rempublicam".  Eine  an- 
geblich von  J.  Cäsar  begonnene  Vermessung  führte  Augustus  aus;  der- 
selbe hatte  üebei-sichten  über  die  Zahl  des  Militärs,  über  die  Finanz- 
verhältnisse. In  dem  bureaukratisch  gestalteten  byzantinischen  Reiche 
finden  sich  Staatshandbücher,  die  notitiae  omnium  dignitatum  administra- 
tionumque. 

Eine  wissenschaftliche  Statistik  gab  es  bei  den  Römern  nicht;  ihre 
statistische  Thätigkeit  diente  praktischen  Zwecken.  Statistische  Beamte 
waren  die  Censoren;  im  Tempel  der  Libertas  war  zur  Zeit  der  Grachen 
das  statistische  Bureau,  zu  Cicero's  Zeiten  im  Tempel  der  Nymphen. 
Wohl  aber  kannten  die  politischen  Schriftsteller  Roms  den  Werth  der 
Statistik. 

Aumerkuugeu. 

*)  Moses  IV.  c.  1  ff.  Sie  spieleu  eine  grosse  Bolle  im  Staatslebeu. 

*)  Herodot  IIL  89  V.  52,  VII.  60  ff. 

*)  Ausführliches  hierüber  befindet  sich  in  Hildebra]id''s  Artikel  „Die 
amtliche  Bevölkerungsstatistik  im  alten  Rom"  in  den  Jahrbüchern  für  National- 
ökonomie und  Statistik,  Jahrg.  1866,  LS.  83. 


6  Die  Statistik  vom  Ausgange  des  Mittelalters  bis  za  den  Anfangen  der  neueren  Statistik. 

§.  3.  Die  Statistik  des  Hittelalters. 

Aus  der  ersten  Zeit  des  Mittelalters  finden  sich  noch  byzantinische 
Aemterverzeichnisse  und  Kirchensprengellisten  als  das  einzige,  was  Sta- 
tistik genannt  werden  könnte.  Auch  die  Annalen  der  Klöster  enthalten 
zuweilen  statistische  Daten,  ebenso  die  Werke  und  Rechtssammlungen  der 
byzantinischen  Historiker  und  der  germanischen  Völkerschaften. 

Dagegen  zeigt  sich  bei  den  Arabern,  anknüpfend  an  deren  geogra- 
phische Forschungen,  frühe  schon  Verständniss  för  statistische  Arbeiten 
und  deren  Werth.  Feldherren,  Vezire  und  andere  hohe  Staatsbeamten 
pflegten  die  von  ihnen  verwalteten  Staatstheile  geographisch  und  topogra^ 
phisch  zu  behandeln,  wobei  statistische  Notizen  mit  einfliessen  mussten. 

Im  germanischen  Europa  wurden  unter  Carl  dem  Grossen  finanz- 
und  militärstatistische  Zwecke  wieder  herrschend,  Listen  über  die  dienst- 
fähige Mannschaft  aufgenommen,  auch  die  kaiserlichen  Kammergüter  durch 
eine  Art  wirthschaiäicher  Statistik  behandelt  (breviarium  rerum  fiscalium). 
Verwandter  Art  sind  die  seit  dem  11.  Jahrhundert  vorkommenden  Grund- 
bücher und  ürbarien,  namentlich  der  Klöster,  ferner  im  grösseren  Style 
das  Domesday-book  Wilhelm's  des  Eroberers  (1086),  ähnliche  Aufzeich- 
nungen Eduard's  I.  von  England,  das  Erdbuch  des  Dänenkönigs  Wal- 
demar  11.,  die  Inventarien  Friedrich's  IL  über  die  sicilischen  Kron- 
güter u.  a. 

Grössere  statistische  Bedeutung  haben  die  wahrscheinlich  schon  früh 
im  Mittelalter  von  der  Geistlichkeit  gefährten  Listen  über  diejenigen 
kirchlichen  Acte,  welche  mit  der  Bewegung  der  Bevölkerung  in  Verbin- 
dung stehen,  besonders  die  Begräbniss-  oder  Todtenregister  —  diptycha 
mortuorum.  Sie  schlössen  sich  den  kirchlichen  Gebühren  für  den  Beistand 
der  Geistlichen  bei  Taufen,  Trauungen  und  Begräbnissen  an,  und  kom- 
men schon  zu  Anfang  des  4.  Jahrhunderts  vor.  Leider  ist  von  ihnen 
nichts  auf  unsere  Zeit  herübergekommen. 

§.  4.  Bie  Statistik  vom  Ausgange  des  Mittelalters  bis  zu  den  Anfängen 

der  neueren  Statistik. 
Am  Schlüsse  des  Mittelalters  musste  mit  der  Kräftigung  der  Staats- 
idee auch  das  Bedürfniss  einer  genauen  Kehntniss  der  eigenen  und  frem- 
der Staaten  in  den  Staatsmännern  erwachsen;  zugleich  musste  man  nach 
einer  Methode  suchen,  wie  diese  Kenntniss  zu  erlangen  sei.  Solche  Be- 
strebungen zeigen  sich  namentlich  im  Staatsleben  der  venetianischen  Re- 
publik, wo  die  Provincialgouverneure  und  die  Gesandten  schon  seit  dem 
13.  Jahrhundert  sogenannte  Relazioni,  namentlich  über  den  Zustand  der 
äusseren  Machtmittel  der  Staaten  einsenden  mussten  und  fiüh  schon  die 
Anfänge  von  Volkszählungen  und  handelsstatistischen  Arbeiten  sich   fin- 


Die  Statistik  vom  Ausgange  des  Mittelalters  l)i8  zu  den  Anflbigen  der  neueren  Statistik.  7 

den.  In  ganz  Europa  kam  das  Wesen  der  Politik  mehr  und  mehr  zum 
Verständniss;  das  Bedürfoiss  nach  Aufklärung  über  die  verschiedenen 
Staatswesen  rief  eine  Reihe  von  Versuchen  zu  Staatsbeschreibungen  her- 
vor, mehr  oder  weniger  mit  geographischen  Arbeiten  vermengt. 

Weit  bedeutungsvoller  erscheinen  in  jener  Zeit  die  praktischen  Be- 
strebungen der  Regierungen,  Kenntniss  der  Zustände  der  Staaten  zu  er- 
halten. Im  Gesandtschaftswesen  entwickelte  sich  ein  System  gegenseitiger 
Beobachtung.  Die  nach  Centralisation  und  Consolidirung  strebenden  Staats- 
regierungsformen, der  Uebergang  zur  Geldwirthschaft  und  zu  den  stehenden 
Heeren  machte  finanz-  und  militärstatistische  Arbeiten  dringend  noth- 
wendig.  Die  Politik  brauchte  Mannschaft  und  Geld;  man  musste  Unter- 
suchungen über  die  Grösse  der  Bevölkerung  und  die  Steuerfähigkeit  des 
Landes  anstellen,  Volkszählungen  vornehmen,  die  Bewegung  der  Bevöl- 
kerung beobachten  und  einzelne  in  politischer  und  finanzieller  Hinsicht 
besonders  wichtige  Verhältnisse  untersuchen. 

So  finden  sich  Volkszählungen  im  16.  Jahrhundert  und  werden  all- 
gemeiner im  17.,  obgleich  vielfach  mit  blossen  Schätzungen  vermischt. 

Seit  dem  Ausgange  des  15.  Jahrhunderts  werden  auch  die  Beobach- 
tungen über  die  Bewegung  der  Bevölkerung  geregelt;  kirchliche  und  staat- 
liche Verordnungen  schreiben  die  Haltung  eigentlicher  Kirchenbücher 
über  die  von  den  Geistlichen  vorzunehmenden  Handlungen  (Taufen,  Trau- 
ungen, Begräbnisse)  vor.  Diese  Listen  wurden  im  16.  und  17.  Jahrhundert 
zunächst  in  England,  dann  auch  in  Frankreich  und  Deutschland  voll- 
ständiger. Im  16.  Jahrhundert  wurden  in  den  protestantischen  Ländern 
Deutschlands,    im  17.    in    den  katholischen    Kirchenbücher  eingeführt. 

Auch  auf  anderen  Gebieten  machte  die  Statistik  Fortschritte,  in 
der  Beobachtung  wirthschaftlicher,  militärischer,  finanzieller  und  allgemein 
politischer  Erscheinungen.  So  gründete  Minister  Sully  in  dem  cabinet 
complet  de  politique  et  de  finance  eine  Art  statistischen  Bureaus,  welches 
sich  mit  der  Sammlung  der  auf  Finanzen,  Handel,  Bergbau,  Münzwesen, 
Polizei,  kirchliche  und  bürgerliche  Veiwaltung  und  Kriegswesen  bezüg- 
lichen Materialien  zu  beschäftigen  hatte.  Aehnliches  .wirkte  Richelieu, 
und  Golbert  befasste  sich  namentlich  mit  der  Statistik  des  auswärtigen 
Handels.  Louvois  gründete  1688  ein  militär-statistisches  Bureau  (depot 
de  la  guerre),  ein  anderes  statistisches  Bureau  Necker.  In  England  wurde 
die  Handelsstatistik  seit  Wilhelm  III.  ausgebildet  und  auch  in  Deutsch- 
land fing  man  an,  mehr  und  mehr  statistische  Beobachtungen  über 
Staatszustände  zu  sammeln.  Der  herrschende  Despotismus  und  das  Princip 
der  Vielregiererei  machten  ja  die  genaueste  Kenntniss  staatlicher  Zu- 
stande zur  dringendsten  Nothwendigkeit. 


8  Die  betichr«)ibende  Schnle  der  Statistik. 

Die  wissenschaftliche  Statistik,  welche  fiiiher  in  den  Beschreibungen 
der  Staaten  mit  Geographie  und  Geschichte,  Staatsrecht  und  Politik  ver- 
mengt erscheint,  beginnt  endlich  aus  dieser  Vermischung  sich  abzulösen 
und  selbständig  aufzutreten. 

§.  5.  Bie  neuere  Statistik  überhaupt. 

Den  Stand  der  Dinge  in  Staat  und  Volk  genau  zu  kennen,  war 
demnach  schon  längst  praktisches  Bedürfhiss  aller  Staatsmänner.  AU- 
mälig  beschäftigte  sich  mit  dem  Zustande  der  Staaten  und  Völker,  mit 
ihren  Zwecken,  Kräften  und  Mitteln  auch  die  Wissenschaft,  anfangs 
unsicher  tastend,  theils  in  Universitätsvorträgen,  theils  in  Lehrbüchern, 
später  mit  wachsender  Sicherheit.  Sie  nannte  sich  Statistik  oder  Staats- 
kunde. 

Durch  Erweiterung  ihres  Zweckes  gewann  sie  bald  an  Ausdehnung, 
indem  man  sich  nicht  mehr  auf  solche  Kenntnisse  beschränkte,  welche 
für  die  Regierenden  und  zum  Regieren  absolut  nothwendig  waren. 

Man  bemühte  sich  ferner,  den  Umfang  der  Gegenstände  der  Sta- 
tistik festzustellen,  sie  von  Dingen  zu  säubern,  die  ihr  nicht  angehörten 
und  neues  Eigenthum  ihr  beizuziehen.  Die  einen  wollten  einschränken, 
die  anderen  ausdehnen. 

Man  begnügte  sich  auch  nicht  mehr  mit  der  Erforschung  der  That- 
sachen  allein,  sondern  verlangte  auch  ihre  Ursachen  zu  kennen. 

Weiter  gehend,  suchte  man  die  Gesetze  auf,  welche  im  Wechsel 
der  Erscheinungen  sich  erkennen  lassen. 

Die  Genauigkeit  des  statistischen  Wissens  suchte  man  zu  erhöhen, 
einestheils  durch  amtliche  Beobachtungen,  dann  durch  Beobachtungen 
grösserer  Massen  von  Erscheinungen  und  durch  Befolgung  des  Grund- 
satzes, dass  die  zifFermässige  Darstellung  die  vorzüglichste  oder  die  aus- 
schliesslich richtige  sei. 

So  wurde  der  Begriff,  das  Wesen,  der  Umfang,  der  Gegenstand  und 
die  Methode  der  jungen  Wissenschaft  nach  verschiedenen  Seiten  hin  ge- 
zerrt, bis  sich  schliesslich  eine  Reihe  verschiedenartiger  Anschauungen 
über  sie  bilden  konnte. 

§.  6.  Die  beschreibende  Schule  der  Statistik. 

Jene  wissenschaftlichen  Arbeiten,  welche  zuerst  den  Namen  Statistik 
beanspruchten,  waren  Schilderungen,  Beschreibungen  von  Staats-  und 
Volkszuständen. 

Hermann  Co n ring,  Professor  an  der  Universität  Helmstädt,  ver- 
suchte zuerst  eine  systematische  Beschreibung  der  Staaten  zu  entwerfen, 
dieselbe  von  Geographie,  Geschichte  und  Politik  scharf  zu    trennen    und 


Die  beschieibend«  Schale  der  Statistik.  9 

eine  neue  Disciplin  daraus  zu  bilden^).  Conring  selbst  nannte  sie  Staats- 
kunde, notitia  rerum  publicarum  und  führte  sie  seit  1660  in  die  Reihe 
der  academischen  Vorlesungen  ein.  Sie  wurde  seit  jener  Zeit,  und  zwar 
meist  durch  den  Professor  dels  Staatsrechts,  der  Geschichte  oder  der 
Politik  vorgetragen.  Ihm  folgten  eine  Reihe  von  Universitätslehrern  und 
Schriftstellern*). 

Die  zweite  Hälfte  des  18.  Jahrhundeits  begann  epochemachend  G. 
Ach en wall'),  von  vielen  als  der  eigentliche  Begründer  dieser  Disciplin 
angesehen.  Während  die  Ausländer  mehr  auf  eigenen  Wegen  gingen, 
bildete  Achenwall  in  Deutschland  eine  Schule  der  Staatskunde,  deren 
iVnhänger  wohl  in  mehr  oder  weniger  unbedeutenden  Einzelnheiten,  nicht 
in  der  Hauptsache  von  ihrem  Meister  sich  entfernten*). 

AchenwalFs  Einfluss  reicht  bis  in  die  neueste  Zeit  herauf. 

Diese  Anfänge  neuerer  Statistik,  wesentlich  praktische  Zwecke  ver- 
folgend, halten  sich  demnach  an  den  Begriff  des  Staates.  Aber  in  der 
Auffassung  des  Staates  sind  die  einzelnen  Statistiker  von  Conring  abwärts 
verschieden.  Jeder  fasste  den  Begriff  des  Staates  so  auf,  wie  es  durch  die 
praktische  und  theoretische  Ausbildung  der  Staatsidee  seiner  Zeit  bedingt 
war.  Wenn  man  aber  den  Begriff  der  Statistik  in  innige  Verbindung  mit 
dem  des  Staates  brachte,  musste  auch  jener  beweglich  sein.  So  ziemlich 
alle  Statistiker  eines  langen  Zeitraums  bemühten  sich  deshalb  auch,  den 
Begriff  und  die  Zwecke  des  Staates  als  solchen  zu  untersuchen,  um  eine 
Grundlage  für  die  Dai-stellung  der  Staatszustände  zu  gewinnen. 

Schon  frühzeitig  erhoben  sich  übrigens  Zweifel  darüber,  ob  Staat 
und  Staatliches  ausschliesslich  Gegenstand  der  Statistik  sein  könnten; 
bald  wurden  mehr  und  mehr  Gegenstände  in  ihren  Bereich  gezogen. 

In  der  Hauptsache  aber  bleibt  bei  den  Anhängern  dieser  Schule 
die  AuflPassung  der  Statistik  als  einer  schildernden,  darstellenden  Disciplin, 
einer  Staats-  oder  Zustandskunde.  Die  Definitionen  sind  verschieden;  die 
Grundanschauung  wenig  oder  gar  nicht.  Ob  man  diese  Disciplin  eine 
Wissenschaft  von  den  Staatszuständen,  von  den  Staatsmerkwürdigkeiten, 
von  der  Staatsverfassung,  von  den  Staatskräften  oder  von  den  Zuständen 
überhaupt  nennt:  sie  bleibt  wesentlich  dasselbe.  Auch  die  Anwendung 
der  Mittel  macht  keinen  grossen  Unterschied.  Ob  man  mit  Ziffern  oder 
mit  Worten  darstellt:  eine  Darstellung  und  Beschreibung  wird  immer 
eine  Beschreibung  bleiben. 

Man  hat  zuerst  Staatszustände  dargestellt,  ohne  sich  dabei  be- 
stimmte Grenzen  zu  ziehen.  Dann  glaubte  man  den  Gegenstand  näher 
bezeichnen  zu  müssen  durch  Betonung  des  wirklich  Merkwürdigen. 
Man  glaubte  ihn  ferner  näher  bezeichnen  zu  können  durch  Trennung  der 
gegenwärtigen   und    vergangenen    Erscheinungen    und  wies    nur  jene    der 


10  IKe  beschreibende  Schale  der  Statistik. 

Statistik  zu*).  Andere  wieder  betonten  besonders  das  formal-rechtliche 
Leben  im  Staate®).  Wieder  andere  sahen  den  Gegenstand  der  Statistik 
in  jedem  Zustand').  Ferner  hob  man  die  Staatskräfte  hervor®). 
Man  behandelte  sie  manchmal  einseitig,  blos  die  politische,  militärische, 
finanzielle  Macht  hervorhebend,  bald  von  höherem  Standpunkte  aus,  als 
das  im  Staats-  und  Volksleben  überhaupt  Wirkende.  So  ward  man 
dahin  geführt,  mehr  und  mehr  den  ursächlichen  Zusammenhang 
der  Erscheinungen  zu  erforschen  ®). 

Alle  diese  Besti'ebungen  gingen  theils  selbständig  einher,  theils 
aber  schlössen  sie  sich  an  Politik,  Staatsrecht,  Nationalökonomie  und 
Geographie  an. 

Sie  bedienten  sich  dabei  theils  der  Wörtphrase,  theils,  namentlich  in 
ihrer  weiteren  Entwickelung,  der  Ziffer**),  theils  der  ethnographischen, 
theils  der  vergleichenden  Methode**). 

Aumerkuugeu. 

*)  Er  schrieb  kein  Coinpeudium,  soudeni  behaudelte  diese  Disciplin  iu 
seinen  Vorlesungen.  Als  Mittelpunkt  der  Erkenntniss  des  gegenwärtigen  Staats- 
lebdus  stellt  er  den  Staatszweck  auf.  Er  hält  sich  an  die  gegenwärtigen 
Staatszustände  und  behandelt  jeden  Staat  für  sich.  Als  Massstab  bei  der  Auf- 
nahme der  statistischen  Materialien  gilt  ihm :  quantam  in  iis  ad  felicitatem  seu 
infelicitatem  rei  publicae  sit  positum.  Seine  neue  Wissenschaft  ist  demnach 
eine  schildernde  Disciplin,  eine  politische  Staatskuiide  der  Gegenwart,  welche 
die  für  den  Staatszweck  besonders  wichtigen  Momente  zu  $uden  und  zu  ord- 
nen versuchte. 

*)  Die  Geschichte  der  statistischen  Literatur  erwähnt  namentlich:  Olden- 
burger, Sagittarius,  Böse.  G.  Schubart,  Beckmann,  Gundling,  Kemmerich, 
Schmeizel,  Otto,  Köhler,  Walch,  Maibom,  Struve,  Spener,  Schmauss,  Hofmann 
und  Buder,  sämmtlich  von  der  Mitte  des  17.  bis  zur  Mitte  des  18.  Jahrhundeits. 

*)  G.  Achenwall:  Staatsverfassung  der  europäischen  Reiche.  Gott.  1752. 
Er  versteht  unter  Statistik  die    Keuutuiss    der   Staatsmerkwürdigkeiten. 

Von  seinen  Nachfolgern  Vater  der  Statistik  geuauut,  war  er  es,  welcher 
diese  Disciplin  taufte,  nach  Zweck  und  Inhalt  schärfer  bestimmte  und  dadurch 
ron  grösserer  Bedeutung  für  sie  wurde,  als  Conring  gewesen.  Als  Staat 
erscheint  ihm  „alles  das,  was  in  einer  bürgerlichen  Gesellschaft  und  in  deren 
Lande  wirklich  angetroffen  wird".  Das  ist  ein  allerdings  etwas  oberflächlicher 
Begriff  vom  Staat.  Merkwürdig  neiint  er  diejenigen  von  der  Menge  wirklicher 
Sachen  im  Staate,  welche  die  Wohlfahrt  desselben  in  einem  merklicheren  Grade 
angehen,  hindernd  oder  befördernd.  Zweck  der  Statistik  ist  Erkenntniss  des 
Staats.  Die  Staatsmerkwürdigkeiten  zerfallen  in  Land  und  Leute. 

Achenwairs  Statistik  ist,  was  die  seiner  Vorgänger  gewesen,  eine  Be- 
schreibung des  gegenwärtigen  Staats. 

Direct  seiner  Definition  folgte  zunächst  Fabri,  welcher  die  verschiedenen 
bis  zu  seiner  Zeit  aufgestellten  Begriffsbestimmungen  beurtheilt  und  sich  daun 
f4lr  die  Staatsmerkwürdigkeiten  als  Gegenstand  der  Statistik  entscheidet. 


Di«  beschreibende  Schule  der  Statistii.  11 

Auch  der  geistreiche  Schlözer  aimmt-  AcheuwalFs  Definition  an,  rer« 
theidigt  sie  gegenüber  anderen  Definitionen,  erweitert  und  verschärft  aber 
doch  fast  unmerklich  den  Begriff.  Insbesondere  wünscht  er  Ziffermässigkeit 
und  Genauigkeit  der  Angaben. 

In  weit  späterer  Zeit  konunen  Holzgethan  und  Wörl  wieder  auf  den  von 
Achenwall  aufgestellten  Begriff  zurück. 

*)  Zu  ihnen  gehören  in  Deutschland:  Büsching,  Toze,  Gatterer, 
Schlözer  als  grösster  Schüler  AchenwallX  Dohm,  Renier,  Lüder,  später 
ein  heftiger  Feind  der  Statistik;  ferner  Mensel,  Mader,  Spreugel,  Fabrik 
Göss,  Ni  emann,  Butte,  Zizius,  Klotz,  Hassel,  von  Malchus,  Mone, 
Fischer,  Koch-Sternfels,  Holzgethan,  Schlieben  und  Wörl;  im 
Auslande:  Ferussac,  Feuchet,  Donnant,  Tamassia,  Cagnazzi,  Fado- 
vani,  Graberg  v.  Hemsö,  Eugelstoft,  Gioja,  Romagnosi  und  Sampajo. 

*)  Schon  Conring  betonte  hauptsächlich  die  gegenwärtigen  Staats- 
zustände  als  Gegenstand  der  Statistik;  von  den  ersten  Statistikern  sowohl  als 
später  wurde  die  Gegenwart  wiederholt  betont.  So  sagt  Achenwall:  Wir 
wollen  den  gegenwärtigen,  nicht  den  ehemaligen  Staat  kennen  lernen.  Auch 
Gatterer  fand  die  Aufgabe  der  Statistik  in  der  Schilderung  des  gegen- 
wärtigen Zustands  eines  Staates.  Eine  solche  Zustandsschilderuug  sei  aus  zwei 
Hauptbestandtheilen  zusammenzusetzen:  'aus  der  Schilderung  von  Land  und 
Leuten  und  aus  jener  der  Regierungsform.  Hieher  gehört  noch  die  entsetzlich 
schwülstige  Definition  von  Butte,  die  Statistik  sei  „die  wissenschaftliche  Dar- 
stellung derjenigen  Daten,  aus  welchen  die  Wirklichkeit  der  Realisation  des 
Staatszweckes  gegebener  Staaten  in  einem  als  Jetztzeit  fixirten  Momente  giünd- 
lich  erkannt  werden  könne''. 

Mehr  und  mehr  kam  übrigens  die  vorzugsweise  Betonung  der  Gegenwart 
in  Vergessenheit.  Man  bemeikte,  dass,  je  mehr  man  nach  dem  gegenwärtigen 
und  neuesten  haschte,  in  desto  kürzerer  Zeit  das  Resultat  werthlos  Wurde. 

So  klagt  schon  Hassel,  dass  wegen  der  zwischen  dem  Drucke  seines 
Werkes  und  seinen  vor  ein  paar  Jahren  für  seine  Vorlesungen  gemachten  Ar- 
beiten liegenden  Zwischenzeit  alles  Maculatur  geworden  sei! 

Diesem  Unglück  ist  man  offenbar  nicht  ausgesetzt,  wenn  man  diese 
Maculatur  Rotteck  überlässt,  welcher  eine  Statistik  im  weiteren  Sinne  erfand, 
die  getheilt  wird  in:  I.  die  Alterthumskunde,  welche  die  Staatsmerkwürdig- 
keiten der  alten  längst  begrabenen  Völker  darstellt;  IL  die  Staatengeschichte, 
welche  eine  fortlaufende  Statistik  ist,  und  III.  die  Statistik  im  engeren  Sinne, 
welche  man  gleich  treffend  eine  stillstehende   Staatengeschichte  genannt  habe. 

*)  Wenig  verschieden  von  der  Auffassung  der  Statistik  als  Staatszu- 
standskunde  ist  ihre  Auffassung  als  Wissenschaft  von  der  Verfassung  der  Staa- 
ten. Dabei  wird  das  Wort  Verfassung  nicht  in  der  heute  gebräuchlichen  staats- 
rechtlichen Bedeutung  (als  Constitution)  gebraucht,  auch  nicht  t^ls  Gegensatz 
zur  Verwaltung,  sondern  als  die  Gesammtheit  der  wesentlichen  staatlichen 
Einrichtungen.  Auch  hier  ist  also  die  Statistik  eine  Schilderung  von  Zuständen, 
nur  mit  besonderer  Betonung  des  Staatsorganismus  als  eines  geschlossenen  Ganzen. 

Zu  den  Vertretern  dieser  Idee  gehört  zunächst  Herzberg;  er  nennt  die 
Statistik  „die  Kenntniss  von  der  politischen  Verfassung  der  Staaten^,  Nach 
Rem  er  ist  sie  gleichfalls  die  Wissenschaft  von   der  Verfassung   der   verschie- 


12  Die  beschreibende  Schale  der  SUtistüL 

denen  Staaten.    Mehr   oder   weniger   gehören   hieher   auch   Mensel,   Butte, 
Niemann  und  Göss. 

Diese  nächsten  Nachfolger  AchenwalPs  suchten  zwar  das  Object  der  Sta- 
tistik anders  zu  bezeichnen  und  genauer  zu  begrenzen,  aber  offenbar  ohne  Er- 
folg. Man  änderte  das  Wort,  aber  den  Begriff  nur  wenig  und  nicht  einmal 
zum  Vortheil  der  Sache.  Entweder  wird  der  Gegenstand  statistischer  Forschun- 
gen nur  auf  einen  Theil  der  Staatsmerkwürdigkeiten,  nämlich  auf  die  Staats- 
einrichtungen im  engeren  Sinne  des  Wortes  beschränkt  und  demnach  entschie- 
den zu  eng  bestimmt,  oder  es  wird  der  Ausdruck  Verfassung  in  einem  durchaus 
unrichtigen  Sinne  gebraucht.  (Mohl.) 

^)  Den  Begriff  des  Zustands  zu  betonen  und  die  Statistik  als  eine 
Wissenschaft  von  Zuständen  aufzufassen,  war  doppelte  Veranlassung  gegeben. 

Schon  durch  die  Etymologie  des  Wortes  Statistik. 

Zudem  aber  waren  auch  die  übrigen  Merkmale  des  Begriffs  der  Stati- 
stik so  schwankend,  dass  es  leicht  war,  von  blossen  Staatszuständen  das 
Object  der  Statistik  zu  Zuständen  überhaupt  zu  erweitern. 

Achenwall  hob  noch  nicht  den  Begriff  des  Zustandes  hervor.  Aber  schon 
Niemann  meint:  die  Statistik  hat  es  nur  mit  den  Resultaten  des  Gescheheneu 
in  ihrem  gleichzeitigen  Zusammentre£^n  zu  thun,  um  den  Zustand,  der  aus 
diesem  Zusammentreffen  herrorgeht,  zu  beschreiben. 

,,In  solchen  und  anderen  Stell en%  sagt  Knies,  ,^erkennen  wir  eine  erste 
und  zwar  die  yon  dem  ersten  Auftreten  der  wissenschaftlichen  Statistik  au 
Yorhandene  Auffassung  des  Zustandes,  dass  er  nämlich  in  dem  gleichzeitigen 
Nebeneinander  bestehe,  ohne  Rücksicht  auf  die  Dauer  der  Existenz  der  als 
gleichzeitig  nebeneinander  geschilderten  Dinge'^ 

Hieher  gehört  namentlich  der  anonyme  Autor  S.  der  Vierteljahrsschrift 
(Jahrgg.  1838,  IV.),  indem  er  sagt:  Die  Wirkung  der  Staatskräflbe  zu  einer 
bestimmten  Zeit  ist  der  Zustand,  den  sie  hervorgebracht  haben.  Ebenso  der 
italienische  Statistiker  Gioja. 

®)  Diese  Anschauung,  französischen  Ursprunges,  geht  einen  Schritt  weiter; 
sie  sieht  die  Staatsmerkwürdigkeiten  als  in  einem  lebendigen  Organismus  wir- 
kend an  und  betrachtet  die  Statistik  als  Wissenschaft  von  den  Staat s- 
kräfteu. 

Die  Schattenseite  dieser  Anschauung  liegt  darin,  dass  ihre  Bekenner 
grössteutheils  die  Kräfte  und  Mächte  des  Staatslebeus  höchst  einseitig  und 
materiell  auffassten.  Ueber  diese  Einseitigkeit  erhebt  sich  der  obengenannt« 
anonyme  Verfasser  S.  Die  Statistik  beschäftigt  sich  nach  seiner  Anschauung 
„mit  der  Betrachtung  von  Staatskräften,  die  zu  einer  bestimmten  Zeit  inner- 
halb bestimmter  politischer  Grenzen  vorhanden  sind*^.  „Alles,  was  Verän- 
derungen hervorbringt,  heisst  uns  Kraft,  und  Staatskräfte  sind  diejenigen,  die 
der  politischen  Vereinigung  einer  Mehrheit  von  Menschen  zum  Staate  oder  im 
Staate  angehören.  Aus  ihrer  Wirkung  müssen  wir  sie  erkennen.  Die  Wirkung 
der  Staatskräfte  zu  einer  bestimmten  Zeit  ist  der  Zustand,  den  sie  hervorgebracht 
haben".  Man  muss  die  Zustände  vergleichen,  um  die  Gesetze  ihrer  Wirk- 
samkeit kennen  zu  lernen.  Die  Erfassung  des  Naturgesetzes  in  der  Ent- 
wickelung  gesellschaftlicher  Zustände  ist  die  wichtigste  Aufgabe  der  Statistik, 


Die  beschreibende  Schule  der  Statistilc.  13 

Oflfeubar  liegt  in  der  Betonung  der  Staatskräfte  als  Gegenstand  der  Sta- 
tistik ein  bedeutender  Fortschritt  in  der  wissenschaftlichen  Entwickelung.  Man 
sieht  die  Staatsmerkwürdigkeiten  nicht  mehr  als  blosse  Curiositäten  an,  sondern 
als  etwas  im  Staats-  und  Volksleben  sich  rührendes  und  wirkendes. 

Je  nachdem  man  den  Begriff  des  Staates  weiter  oder  enger  fasste,  mussten 
auch  die  Staatskräfte  yerschieden  aufgefasst  und  verschieden  eingetheilt  wer- 
den.   So  unterscheidet  Donnant:  forces  physiques,  morales  et  politiques. 

Wichtig  ist  diese  Auffassung  der  Statistik  deshalb,  weil  man  nicht  von 
Kräften  sprechen  kann,  ohne  an  ihre  Wirkungen  zu  denken,  und  weil  deshalb 
gerade  diese  Auffassung  ganz  besonders  auf  die  Erforschung  von  Ursache  und 
Folge  angewiesen  ist.  Die  Einseitigkeit  in  der  früheren  Auffassung  der  Staats- 
kräfle  verzögerte  jedoch  lange  ein  Fortschreiten  in  dieser  Richtung. 

*)  Schon  in  den  ersten  Anfangen  der  beschreibenden  Statistik  zeigen  sich 
Bestrebungen,  die  Erscheinungen  der  nächsten  Vergangenheit  als  Ursachen 
der  gegenwärtigen  und  die  gegenwärtigen  als  Ursachen  künftiger  Folgen  zu 
betrachten.  Eine  solche  Statistik  nannte  Gatterer  pragmatisch  oder  philoso- 
phisch. Diese  Bestrebungen  waren  jedoch  sehr  dürftig.  Lud  er  sagt  darüber: 
Fast  alle  Statistiker  beschränken  sich  auf  die  Gegenwart  und  nur  wenige 
plagte  der  Kitzel  pragmatisch  zu  sein, 

Achenwall  selbst  hatte  gewollt,  dass  die  Statistik  die  Ursachen  der 
Staatsmerkwürdigkeiten  darlegen  solle,  „sonst  werden  wir  den  Staat  nicht  ein- 
sehen, sondern  nur  anschauen^.  Er  bemühte  sich  aber  gar  nicht,  diesem  Ziele 
nachzustreben. 

Schlözer  würdigt  weit  mehr  die  materiellen  Factoren  des  Staatslebens, 
als  dies  Achenwall  gethan.  Er  meint,  das  Wesen  jedes  Staates  würde  durch 
die  Formel  ,^yires  unitae  agunt^  ausgedrückt.  Unter  diese  Formel  könnten  die 
Erscheinungen  des  Staatslebeus  gebracht  werden;  sie  gibt  System  und  Ein- 
theilung.  Es  ist  bedeutungsvoll  für  diese  ganze  Schule  von  Statistikern,  dass 
Schlözer,  ihr  geistvollster  Vertreter,  in  der  Statistik  nichts  anderes,  als  eine 
Staatskunde,  eine  beschreibende  Disciplin  sieht.  Das  Eingehen  auf  Ursachen 
und  Folgen  gestattet  er  dem  Statistiker  auch  nur  zu  dem  Zwecke,  um  seinen 
Vortrag  pikanter  zu  machen.  Die  Ursachen  des  Werdens  der  Dinge  im  Staats- 
leben soll  die  Staatsgeschichte  erforschen.  Schlözer  will  eben,  dass  die  Ge- 
schichte das  Ganze,  die  Statistik  nur  ein  Theil  desselben  sei. 

So  wie  man  sich  mit  den  Ursachen  der  Zustände  zu  beschäftigen  anfing, 
musste  die  Statistik  nothwendiger  Weise  mehr  und  mehr  zur  Nationalökonomie 
und  Wohlfahrtspolitik  sich  hinneigen. 

*•)  Fast  gleichzeitig  mit  der  Ausbildung  der  Staatenzustandskunde  fing 
man  an.  Zustände  in  Zahlen  auszudrücken.  Die  Noth wendigkeit  von  Zahlen- 
angaben wurde  schon  von  Achenwall  und  Schlözer  anerkannt.  Schlözer  schon 
bemerkt:  Mit  allgemeinen  Angaben,  dass  das  Laud  einen  gesegneten 
Weinwuchs,  schöne  Manufacturen,  einen  blühenden  Handel,  etwas  Korn- 
bau u.  s.  w.  habe,  dienen  alle  Erd-  und  Reisebeschreibuugen;  aber  mit  der- 
gleichen Angaben,  so  lange  sie  nicht  in  Zahlen  ausgedrückt  werden,  ist  wenig 
geholfen.  Dies  musste  sich  steigern,  je  bessere  Notizen  man  erhielt  und  je 
mehr  die  materiellen  Factoren  berücksichtigt  wurden. 


14  Die  StatiBÜk  als  sjstematische  MMsenlMobAclitang. 

Der  Däne  Anclierseii  machte  schon  früh  (1741)  einen  Versuch ,  Daten 
über  die  wichtigsten  Verhältnisse  der  ciyiiisirten  Staaten  in  TabeUen  zusam- 
menzustellen. Gegen  Ende  des  18.  Jahrhunderts  entstand  eine  ganze  Literatur 
Yon  tabellarisch-statistischen  Schriften :  Gaspari,  r.  Schmidtburg,  Jakobi,  Brunn, 
Randel,  Remer,  Bötticher,  Ockhardt,  Hassel,  Ehrmann,  Hock,  Creme,  Playfair, 
Donnant. 

Diese  Schriftsteller  wollten  ebenfalls  Staatsbeschreibungen,  Zustandsbe- 
sühreibuugen  geben,  aber  sie  gaben  dieselben  in  Zahleugemälden.  Man  nannte 
sie  Tabellenstatistiker  und  Lineararithmetiker.  Sie  benützten  Zahlendaten  yiel- 
fach  zu  geometrischen  Darstellungen.  Da  fast  nur  materielle  Factoren  des 
Staatslebeus  zu  jeuer  Zeit  in  Zahleu  ausgedrückt  werden  konnten,  hielt  man 
sich  au  dieselben  uud  Hess  das  politische  und  staatsrechtliche  Element  in  Hin- 
tergruttd  treten.  Gegen  diese  Richtung  erhob  sich  die  alte  Göttinger  Schule 
Acheuwairs,  namentlich  Heeren,  Brandes,  Rehberg,  Schlözer  und  Lüder.  Es 
eutspauu  sich  ein  Streit  in  den  Göttiuger  gelehrten  Anzeigen  (1806  und  1807); 
die  Acheüwairsche  Schule  machte  einen  Unterschied  zwischen  höherer  und 
gemeiner  Statistik  uud  nannte  die  Zahlenstatistiker,  die  Vertreter  der  letzteren, 
Tabellenknechte.  Diese  umgekehrt,  stützten  sich  auf  die  Exactheit  der  Zahlen- 
darstellung gegenüber  den  ragen  Darstellungen  der  Phrase,  Uebertreibungen 
und  Einseitigkeiten  wurden  hüben  und  drüben  nicht  vermieden. 

Uebrigeus  bildete  sich  schon  früh,  namentlich  bei  den  Engländern  und 
Franzosen,  der  Sprachgebrauch  aus,  unter  Statistik  jede  übersichtliche  Zusam- 
menstellung yon  bestimmten ,  in  Zahl  und  Mass  ausdrückbaren  Zuständen  zu 
verstehen. 

")  Wenn  die  beschreibende  Staatskunde  einen  Staat  nach  dem  anderen 
behandelte  und  ein  Bild  von  ihm  zu  geben  versuchte,  nannte  sie  diese  Methode 
die  ethnographische.  Jene  Werke,  wo  die  Statistik  an  die  Geographie  sieh 
inniger  anschliesst,  bedienten  sich  vorzugsweise  dieser  Darstellungsmethode. 

Ihr  gegenüber  steht  die  sogenannte  vergleichende  Methode,  deren  sich 
Büsching  (Erdkunde,  Hambg.  1808)  zuerst  bediente. 

§.  7.  Sie  Statistik  ah  systematische  Massenbeobachtung. 

Eine  ganz  andere  Richtung,  als  die  eben  kennen  gelernte,  baut  sich 
auf  anderen  Grundlagen  und  mit  anderen  Hilfsmitteln  empor.  Man  kann 
sie  die  moderne  Schule  der  Statistik  nennen;  ihr  Gegenstand  sind  die 
Massen  der  Erscheinungen;  sie  ist  systematische  Massenbeobachtung. 

Auch  diese  Richtung  in  ihrem  geschichtlichen  Ursprünge  reicht  weit 
zurück;  sie  knüpft  theils  an  die  Wahrscheinlichkeitsrechnung  an,  theils 
auch  an  die  im  vorhergehenden  Paragraphen  genannte  Schule  der  Staats- 
beschreibung. 

Der  Engländer  Graunt  suchte  schon  im  J.  1662  aus  Londoner 
Bevölkerungslisten  Regeln  über  Krankheiten  und  Todesursachen,  über  die 
Sterblichkeit  in  verschiedenen  Lebensaltern  abzuleiten,  zu  bestimmen,  in 
welcher  Zeit  eine  Bevölkerung  sich  verdoppeln  könne  *). 


Die  Statistik  als  systematische  Masseiibeol>aehtasg.  15 

Sir  William  Petty  *)  machte  gleichfalls  Untersuchungen  über  die 
Zunahme  der  Londoner  Bevölkerung. 

Halley^),  der  grosse  Mathematiker,  war  der  erste,  welcher  Sterb- 
lichkeitßtafeln  berechnete. 

Andere  Arbeiten  aus  dem  Gebiete  der  systematischen  Massenbeob- 
achtung folgten  in  Frankreich,  Holland,  Deutschland  und  Schweden.  So 
namentlich  durch  Derham  (1723)  und  Short  (1750),  King,  Arbuthnot, 
de  Moivre  (1726),  Maitland  (1739),  Simpson,  Hodgson,  Morris,  Wallace, 
Price,  A.  Young,  Eden,  Wales,  Howlett,  Chalmers,  sämmtlich  ungefähr 
von  1720 — 1780  in  England.  In  Frankreich  sind  nennenswerth  der 
Verfasser  einer  berühmten  Sterblichkeitstafel,  Deparcieux  (1746),  ferner 
Duvillard,  Messance,  Moheau,  de  Pommelles,  BufFon  und  Dupre  St.  Maur. 
Auch  Lavoisier  und  Laplace  befassten  sich  mit  statistischen  Problemen. 
Der  Holländer  Kersseboom  bemühte  sich,  aus  der  Kenntniss  der  Absterbe- 
ordnung die  Bevölkerung  zu  berechnen,  ein  Problem,  welches  wegen 
Mangels  brauchbarer  Volkszählungen  die  Statistiker  vielfach  beschäftigte. 
Hume,  Vauban,  Boulainvilliers,  Montesquieu  und  Mirabeau  sen.  beschäf- 
tigten sich  ebenfalls  mit  Bevölkerungsfragen.  Nieuvetyt  und  Struyik  sind 
unter  den  Holländern,  Creme,  Gohl  und  Kundmann  unter  den  Deutschen 
zu  nennen.  Der  Mathematiker  Euler  suchte  die  Halley'schen  Sterblich- 
keitsberechnungen zu  verbessern;  in  Schweden  schrieb  Wargentin  über 
Bevölkerungsstatistik. 

Die  meisten  dieser  Schriftsteller  arbeiteten  jedoch  aus  einseitig 
praktischem  oder  rein  mathematischem  Interesse.  Einem  Deutschen,  dem 
preussischen  Feldprediger  Süssmilch,  blieb  es  vorbehalten,  dieser 
Richtung  höhere  wissenschaftliche  Weihe  zu  verleihen.  Seine  Leistungen 
machen  Epoche.  Seine  Beobachtungen  der  Erscheinungen  haben  zunächst 
nicht  den  Zweck,  den  Staat  oder  die  Staatszustände  kennen  zu  lehren; 
er  sammelt  vielmehr  systematisch  Daten,  aus  welchen  Vorgänge  im 
menschlichen  Leben  erklärt,  ihre  Ursachen  und  Gesetze  aufgefunden 
werden  können.  Durch  möglichste  Ziffermässigkeit  seiner  Angaben,  durch 
genaue  Quantitätsbestimmungen  sucht  er  sich  der  Bestimmung  der 
Qualitäten  zu  nähern.  Seine  1742  erschienene  erste  Schrift  trägt  den 
Titel:  Die  göttliche  Ordnung  in  den  Veränderungen  des  menschlichen 
Geschlechts,  das  ist  gründlicher  Beweis  der  göttlichen  Vorsehung  und 
Vorsorge  für  das  menschliche  Geschlecht  aus  der  Vergleiohung  der  Ge- 
borenen und  Gestorbenen,  der  Verheiratheten  und  Geborenen,  wie  auch 
insonderheit  aus  dem  beständigen  Verhältniss  der  geborenen  Knaben  und 
Mädchen  u.  s.  f. 

Er  construirt  sich  eine  göttliche  Ordnung  in  diesen  Veränderungen 
auf  Grundlage  der  Bibel  und  sucht  diese  Ordnung  hernach  durch  Zahlen 


16  Die  moderne  Schule  der  Statistik  in  Belgien. 

ZU  beweisen,  indem  diese  Ordnung  in  den  grossen  Zahlen  der  Be- 
völkerungsphänomene sich  zeige.  Er  verkennt  zwar  manches,  untersucht 
die  Ursachen  und  Einflüsse  manchmal  etwas  oberflächlich,  leidet  an 
tendenziöser  Darstellung  und  seine  praktischen  Anschauungen  über  das 
Wesen  der  Bevölkerung  sind  schief.  Doch  weiss  er  durch  vorzügliche 
Combinationsgabe  und  scharfen  Blick  sein  dürftiges  statistisches  Material 
ausgezeichnet  zu  verwerthen.  Seinen  Nachfolgern  um  drei  Viertheile  eines 
Jahrhunderts  voraus,  steht  er  einsam  in  seiner  Zeit,  der  wissenschaftliche 
Begründer  der  modernen  statistischen  Methode. 

Die  nächsten  Arbeiter  auf  diesem  Felde  waren  zumeist  die  medi- 
cinischen  Statistiker,  Casper  vor  Allen. 

Anmerkungen. 

*)  J.  Grauut  (er  war  Loudouer  Tuchmacher):  Natural  aud  political  anuota- 
tious  made  upon  the  hills  of  mortality.  Lond.  1666. 

*)  W.  Petty:  Observations  upon  the  Dubliu  hills  of  mortality.  Loud.  1683. 
Und:  Political  Arithmetic.  Lond.  1690.  —  Ferner:  Discourse  etc.  Lond.  1699. 

')  £dm.  Halley:  An  estimate  of  the  degrees  of  the  mortality  of  mankiud 
etc.  in:  Philos.  Transactioiis.  1691. 

§.  8.  Fortsetzung.  Die  moderne  Schule  der  Statistik  in  Belgien. 

A.  Quetelet,  ein  Belgier,  heute  noch  der  Altmeister  der  modernen 
Statistik,  war  der  erste,  der  statistische  Studien  in  dieser  Richtung  ganz 
systematisch  trieb,  der  die  Aufgaben  der  Statistik  scharf  hinstellte,  die 
geistig-sittlichen  Gebiete  des  Menschenlebens  in  sie  hereinzog  und  die 
Methode  genau  bestimmte. 

Naturforscher  von  Fach,  behauptet  er  auch  in  seinen  statistischen 
Arbeiten  einen  naturalistischen  Gesichtspunkt.  Aber  er  ist  kein  blosser 
Arithmetiker.  Er  begnügte  sich  nicht  damit,  die  mathematisch  dargestellten 
statistischen  Materialien  blos  zu  vergleichen.  Er  suchte  vielmehr  durch 
die  Betrachtung  grosser  Reihen  von  Thatsachen  nachzuweisen ,  dass  in 
verschiedenen ,  das  physische  und  geistige  Menschenleben  betreffenden 
Verhältnissen  eine  grosse  Regelmässigkeit  herrscht,  welche  zwar  nicht  in 
den  einzelnen  Erscheinungen,  wohl  aber  in  der  Gesammtheit  sich  zeigt. 
Und  dann  zog  er  aus  dem  ziffermässigen  Material  die  philosophische  und 
politische  Folgerung.  Er  fasste  die  Vorgänge  im  menschlichen  Leben  als 
Aeusserungen  von  Gesetzen  auf  und  betrachtete  die  Erforschung  dieser 
Gesetze  als  die  allein  einer  Wissenschaft  würdige  Aufgabe  der  Statistik. 

Sein  Hauptwerk  (Sur  Phomme  et  le  d6veloppement  de  ses  facultes 
etc.  Par.  1835)  nennt  er  selbst  eine  Socialphysik.  In  diesem  Werke  sollen 
die  Wirkungen  der  natürlichen  und  der  zufälligen  Einflüsse,  die  den 
Menschen  berühren,    untersucht  werden.     Der  Mensch,    wie  Quetelet  ihn 


Die  Solinle  der  modernen  Statistik  in  Frankreich.  17 

beti'achtet,  ist  in  der  Gesellschaft  dasselbe,  was  der  Schwei-punkt  in  den 
Körpern  ist;  er  ist  das  Mittel,  um  welches  die  Elemente  der  Gesellschaft 
oscilliren,  eine  Art  Durchschnittsmensch. 

Quetelet  construirt  sich  nicht  wie  Snssmilch  eine  bestimmte  Ordnung 
der  Dinge  im  voraus,  welche  er  dann  erst  beweisen  soll,  sondern  er  stellt 
zuerst  die  Thatsachen  hin  und  geht  von  diesen  erst  zu  weiteren  Beob- 
achtungen, Vergleichen  und  Schlüssen  über.  Er  stellt  über  die  Erschei- 
nungen, die  er  erforschen  will,  Massenbeobachtungen  an;  diese  werden 
zu  genauen  Massenbestimmnngen.  Wo  es  möglich,  werden  sie  in  Zahlen 
ausgedrückt  und  durch  Umstellungen  und  einfache  Rechnungen  der 
ursächliche  Zusammenhang  und  die  Gesetze  der  Erscheinungen  abzuleiten 
versucht. 

Er  beschäftigt  sich  vorzugsweise  mit  dem  Menschen  und  ist  durch 
Hereinziehung  des  geistig-sittlichen  Lebens  zum  Hauptvertreter  der  Moral- 
statistik geworden.  Dadurch,  dass  er  ursächlichen  Zusammenhang  und 
waltende  Gesetzmässigkeit  in  den  anscheinend  willkürlichsten  und  zufällig- 
sten Erscheinungen  und  menschlichen  Handlungen  aufsucht,  tritt  seine 
Statistik  in  Verbindung  mit  den  grössten  und  schwersten  Aufgaben 
menschlicher  Forschung. 

Neben  Quetelet  zählt  die  belgische  Wissenschaft  noch  in  Heuschling 
und  Ducpetiaux  ausgezeichnete  Statistiker. 

§.  9.  Bie  Schule  der  modernen  Statistik  in  Frankreich. 

Die  französische  Statistik  hat  das  Verdienst,  theils  vor  Quetelet, 
theils  unter  seiner  Zeitgenossenschaft  die  von  ihm  so  glänzend  ausgebildete 
Methode  am  eifrigsten  gepflegt  zu  haben.  Man  nannte  seine  Schule  die 
mathematische  oder  die  Schule  der  Zahlenstatistik.  Mit  Unrecht.  Die 
Zahlen  sind  nicht  Hauptsache  dieser  Methode;  sie  hat  keinen  mathemati- 
schen Charakter.  Wenn  einzelne  französische  Statistiker,  wie  namentlich 
Dufau  und  Moreau  de  Jonnes  auf  die  ZifFermässigkeit  der  Angaben  das 
Hauptgewicht  legen,  so  liegt  darin  eben  ein  Verkennen  der  statistischen 
Methode,  eine  Reminiscenz  an  die  ältere  Tabellenstatistik. 

Guerry^)  beschäftigte  sich  zuerst  eingehend  mit  der  Moral  Statistik. 
Er  ist  der  Anschauung,  die  Statistik  habe  es  blos  mit  dem  Zusammen- 
hange dessen,  was  ist,  durchaus  nicht  mit  der  Untersuchung  über  das, 
was  sein  soll,  zu  beschäftigen.  Die  Statistik  soll  als  experimentelle 
Basis  fär  die  Philosophie  dienen.  In  dieser  Hinsicht  unterscheidet  er  eine 
„analytische  Statistik " . 

Dufau*)  weicht  in  Bezug  auf  den  Gegenstand  der  Statistik  von 
Quetelet  ab,  indem  er  die  Statistik  auf  den  Menschen  beschränken  will. 
Seine  Grundanschauungen  sind  folgende:  Die  Thatsachen  der  moralischen 

Haaghofer,  Statistik.  2.  Aufl.  2 


18  Die  Schale  der  modernen  Statistik  in  Frankreicli. 

Ordnung  sind  wie  jene  der  natürlichen  das  Product  von  bleibenden  und 
regelmässigen  Ursachen,  deren  Wirkung  nach  Gesetzen  erfolgt;  und  wenn 
diese  Gesetze  vom  menschlichen  Verstand  nicht  direct  erkannt  werden, 
so  liegt  der  Grund  darin,  dass  viele  veränderliche  und  zufällige  Umstände 
auf  die  moralische  Ordnung  einwirken;  aber  die  fortgesetzte  Betrachtung 
zeigt,  dass  diese  veränderlichen  Elemente  durch  die  häufige  Wiederholung 
derselben  Thatsache  erzeugt  werden,  so*  dass  sich  in  jeder  derselben  der 
ursprüngliche  Zusammenhang  zwischen  Ursache  und  Wirkung  nachweisen 
lässt;  zu  diesem  Zwecke  muss  eine  Reihe  analoger  Thatsachen  betrachtet 
und  analysirt  werden.  Durch  Anwendung  dieser  Methode  auf  eine  Reihe 
von  analogen  Thatsachen,  welche  der  moralischen  Ordnung  angehören, 
entsteht  eine  Wissenschaft  —  die  Statistik  ....  Ihre  Thatsachen  müssen 
sich  vor  allem  in  Ziffern  darstellen  lassen,  damit  man  mit  ihnen  rechnen 
und  der  Wissenschaft  positiven  Charakter  geben  kann.  Durch  die  Rech- 
nung kommt  man  zu  mittleren  oder  Durchschnittszahlen.  Durch  Ver- 
gleichung  zweier  Zahlen  ergibt  sich  das  Verhältniss.  Die  durch  die  Statistik 
zu  betrachtenden  Zahlen  sind  entweder  aus  der  bürgerlichen,  aus  der  in- 
dustriellen oder  aus  der  politischen  Gesellschaft. 

Moreau  de  Jonnes^)  definirt  die  Statistik  als  die  Wissenschaft 
der  in  Zahlen  ausgedrückten  gesellschaftlichen  Thatsachen.  Ueberall  betont 
er  die  ZiiFermässigkeit  der  Angaben  viel  zu  sehr  und  steht  entschieden 
hinter  den  genannten  zurück. 

Achille  Guillard*)  will,  dass  sich  alle  Ströme  der  Statistik  in 
eine  allgemeine  Menschheitsbeschreibung  (demographie)  ergiessen  sollen. 
Diese  Demographie  soll  eine  histoire  naturelle  et  sociale  de  l'espece 
humaine  sein.  Seine  Darstellung  leidet  an  allgemeinen  und  undeutlichen 
Redensarten. 

Legoyt^),  der  sich  als  Chef  der  amtlichen  Statistik  Frankreichs 
grosse  Verdienste  erworben,  zeichnet  sich  durch  exacte  Ziflfermässigkeit 
aus.  Vorzüglich  ist  seine  vergleichende  Criminalstatistik  aller  Länder, 
seine  statistische  Beleuchtung  der  verschiedenen  Berufsgruppirung  in 
Europa  u.  a. 

M.  Block*),  seit  Jahren  als  ft-uchtbarer  Statistiker  in  Frankreich 
thätig,  gibt  der  Statistik  die  Aufgabe,  dass  sie  die  politische,  ökonomische 
und  sociale  Lage  eines  Volkes  oder  einer  Bevölkerungsgruppe  darstelle. 
Auch  er  vindicirt  ihr  das  Recht  zu  Schlussfolgerungen  aus  den  festge- 
stellten Thatsachen.  Es  gibt  eine  Statistik  als  Wissenschaft  und  eine 
Statistik  in  anderen  Wissenschaften. 

Aumerkungeu. 
*)  Guerry:   Essay  sur  la  statistique  morale  de  la  France.  1834.    Ferner: 
Statist,  morale  de  fAngleterre.  Und  Anderes. 


Die  Schule  der  modernen  Statistik  in  Deutschland.  19 

*)  P.  A.  Dufau;  Traite  de  statistique,  Par.  1840.  Eine  neuere  ausgezeich- 
nete Arbeit  von  ihm  ist:  De  la  methode  d'^obsei'vation  1866. 

')  Moreau  de  Jonues:  Elements  de  Statistique.  Par.  1847. 

*)  Elements  de  statistique  hümaine  ou  demographie  comparee.  Par.  1855. 

*)  Statistique  de  la  France  etc.  Und:  La  France  et  TEtranger.  Par.  1864f 

•)  Von  seinen  zahlreichen  Arbeiten  mögen  hier  besonders  aufgeführt 
werden:  Statistique  de  la  France.  Par.  1875  und:  Traite  theorique  et  pratique 
de  Statistique.  Par.  1878.  Letzteres  auch  in  einer  deutschen  Ausgabe  yon  H.  y. 
Scheel  1879  bearbeitet  (die  jedoch  von  der  französischen  wesentlich  abweicht). 
Es   yerdient  Erwähnung  als  eines  der  brauchbarsten  Lehrbücher  der  Statistik. 

§.  10.  Die  Schule  der  modernen  Statistik  in  Deutschland. 

Trotz  Süssinilch's  bahnbrechender  Thätigkeit  wurde  die  moderne 
Statistik  in  Deutschland  verhältnissmässig  lange  vernachlässigt. 

F.  G.  Hoffmann  *)  ist  der  erste  bedeutende  Name  nach  Süssmilch. 
Die  preussische  Bevölkerungsbewegung  fand  in  ihm  einen  gründlichen 
und  scharfsinnigen  Beobachter;  er  gibt  exacte  Daten  über  eine  Reihe 
der  wichtigsten  Erscheinungen  des  Volkslebens  und  versucht  diese  Gegen- 
stände im  Zusammenhange  mit  dem  ganzen  Entwickelungsgange  des  Volkes 
zu  prüfe;i. 

Dem  Nachfolger  Hoflfmann's  in  der  Leitung  der  amtlichen  preussi- 
schen  Statistik,  Dieterici,  verdankt  man  sorgfältige  Beobachtungen  über 
die  Sterblichkeitsverhältnisse  in  Europa,  über  die  Todesarten  etc.,  sowie 
eine  vortreffliche  Vei'waltungsstatistik.  Doch  blieb  er  bei  den  Thatsachen 
stehen,  ohne  sich  mit  weiter  gehenden  Untersuchungen  von  Regelmässig- 
keiten und  Gesetzen  zu  befassen. 

Neben  diesen  finden  sich  in  Deutschland  schon  frühe  einzelne  An- 
näherungen an  die  Quetelet'sche  Schule.  Es  darf  namentlich  nicht  ver- 
gessen werden,  dass  schon  lange  vor  Quetelet  Hufeland,  Hofacker,  Moser, 
der  hochverdiente  Casper  und  Andere  im  Gebiete  der  medicinischen 
Forschung  die  statistische  Methode  mit  Geist  und  Gründlichkeit  ange- 
wandt hatten. 

Nach  diesen  Vorläufern  fand  die  Schule  der  modernen  Statistik 
auch  in  Deutschland  einen  Meister  ersten  Ranges  in  E.  Engel*),  der 
seine  Disciplin  weit  über  die  blos  ziflfermässige  Darstellung  erhob.  Engel 
sieht  in  der  Statistik  eine  Methode  und  eine  Wissenschaft.  Als  erstere 
ist  sie  die  Methode  der  Massenbeobachtung;  als  Wissenschaft  sucht  sie 
das  Leben  der  Völker  und  Staaten  in  seinen  Erscheinungen  zu  beobachten 
und  den  ursächlichen  Zusammenhang  darzulegen.  Er  unterscheidet  zwischen 
Schilderung  und  Beschreibung  einerseits,  Darlegung  und  Erklärung  des 
Causalverhäitnisses  andererseits.  Ferner  unterscheidet  er  auch  zwischen 
Statistik  im  engeren  und  weiteren  Sinne;    die  erstere  beschränkt    er    auf 

2* 


20  Die  Schule  der  lAodernen  Statistik  in  Deatscbland. 

die  menschliche  Gesellschaft  und  auf  ihre  Einrichtungen.  Als  Methode 
steht  die  Statistik  unter  anderem  auch  im  Dienste  der  Naturwissenschaften. 
Bei  der  Anwendung  dieser  Methode  kommen  mechanische  Thätigkeiten 
^vor,  wie:  die  Beobachtung  der  Thatsachen,  die  Aufzeichnung,  Classification 
und  Sammlung  der  Beobachtungen;  und  kritische  Thätigkeiten:  die  Er- 
klärung der  Beobachtungen,  die  Aufsuchung  der  Ursachen  und  Gesetze 
der  Erscheinungen  und  die  Vergleichung  der  Beobachtungen  in  Raum 
und  Zeit. 

J.  E.  Wappäus^)  behauptet  zwar,  dass  noch  heutigen  Tages  die 
wissenschaftliche  Statistik  an  den  Achenwall'schen  Begriff  derselben  an- 
zuknüpfen hat,  wenn  sie  den  Charakter  einer  Wissenschaft  nicht  völlig 
verlieren  will;  doch  erhebt  er  sich  selbst  in  seiner  Bevölkerungsstatistik 
weit  über  Achenwall  und  versucht  überall  die  systematische  Massenbeob- 
achtung zur  Auffindung  der  Ursachen  und  Gesetze  der  Erscheinungen 
anzuwenden.  Er  behauptet,  dass  die  Statistik  die  factischen  socialen  Ver- 
hältnisse einer  Bevölkerung  abspiegeln  und  zugleich  über  die  materielle 
und  sittliche  Entwickelung  der  Gesellschaft  Aufschlüsse  gewähren  soll, 
die  auf  keinem  anderen  Wege  so  sicher  zu  erlangen  und  die  doch  zur 
vollkommenen  Orientirung  in  den  wichtigsten  Fragen  der  Gegenwart 
durchaus  unentbehrlich  sind. 

J.  Hain*)  definirt  die  Statistik  als  diejenige  Erfahrungswissenschaft, 
welche  die  Gesetze  ermittelt,  nach  denen  die  in  Zahlen  ausdrückbaren 
gesellschaftlichen  und  staatlichen  Erscheinungen  erfolgen.  Er  schliesst  sich 
somit  innig  an  Dufau,  ohne  jedoch  in  der  Ermittelung  von  Gesetzen 
wesentlich  Neues  und  Grosses  zu  leisten. 

K.  Knies  ^)  hat  nicht  durch  eine  statistische  Untersuchung,  wohl 
aber  durch  seine  Arbeit  über  den  Begriff  der  Statistik  Epoche  gemacht. 
Er  lässt  als  Grundlage  für  die  statistischen  Operationen  gleichfalls  nur 
das  von  der  Zahl  begleitete  exacte  Factum  zu  und  schliesst  die  Wort- 
phrase aus.  Die  Statistik  solle  sich  nicht  auf  die  Gegenwart  beschränken; 
keine  Rücksicht  auf  Staatliches  und  Politisches  solle  ihren  Stoff  bestimmen, 
sondern  nur  die  Bedingung  der  exacten  Zahlenangabe.  Der  Begriff  des 
Dauernden  und  Zuständlichen  ist  für  die  Statistik  bedeutungslos.  Durch 
ihre  Exactheit  wird  die  Statistik  zu  einer  Physiologie  der  Gesellschaft, 
die  unangreifbare  Vertreterin  der  Wahrheit  der  Dinge,  die  Basis,  auf 
welcher  allein  ein  sicheres  Heil  für  die  Leitung  und  Besserung  der  Er- 
scheinungen des  öffentlichen  Lebens  zu  erwarten  ist.  Die  Statistik  hat  als 
letzte  Aufgabe  die  Erkenntniss  in  den  gesetzlichen  Organismus  der  mensch- 
lichen Gesellschaft.  Sie  ist  eine  in  sich  ganz  selbständige  und  eigenthüm- 
liche  Wissenschaft  mit  einer  ihr  allein  angehörigen  Aufgabe  und  Methode 


Die  Schule  der  modernen  Statistik  in  Deutschland.  21 

und  streng  zu  scheiden  von  der  Achenwall-Schlözer'schen  Richtung  der 
Staatszustandskunde.  Ihr  Ausgangspunkt  ist  die  politische  Arithmetik. 

V.  Hermann  wusste  die  Leistungen  administrativer  Statistik  mit 
den  höheren  Aufgaben  wissenschaftlicher  Forschung  zu  vereinigen.  Nach 
ihm  ist  die  Aufgabe  der  Statistik  die  Darlegung  des  Messbaren  und  die 
Vergleichung  der  gewonnenen  Resultate  im  Staat  und  im  Volksleben. 
Was  sich  in  den  Ergebnissen  der  Staatsthätigkeit  und  in  den  Lebens- 
verhältnissen des  Volkes  auf  Grösse  und  Zahl  reduciren  und  quantitativ 
vergleichen  lässt,  das  wird  Object  der  Statistik.  Ihre  Darlegung  gegen- 
wärtiger Zustände  hat  daher  nur  Werth,  wenn  sie  zugleich  die  Zustände 
vergangener  Jahre  mit  vergleicht.  Nur  dadurch,  dass  man  Durchschnitte 
aus  längeren  Beobachtungsreihen  zieht,  erkennt  man  die  Ursachen  und 
die  Gesetze  der  Erscheinungen  *). 

Mit  Rümelin')  hat  diese  Schule  der  Statistik  einen  besonders 
anmuthigen  und  gedankenreichen  Vertreter  gewonnen.  Rümelin  sieht  in 
der  Statistik  eine  methodologische  Hilfswissenschaft  für  alle  Wissen- 
schaften vom  Menschen.  Diese  Hilfswissenschaft  stellt  den  Wissenschaften 
vom  Menschen  das  Material  einer  universellen  Empirie,  dessen  sie  bedürfen, 
zur  Verfügung.  In  der  Statistik  ist  die  vereinzelte  und  unmethodische 
Beobachtung  zur  methodischen  Massenbeobachtung  erweitert.  Sie  ermittelt 
Merkmale  menschlicher  Gemeinschaften  auf  Grundlage  methodischer  Be- 
obachtung und  Zählung  ihrer  gleichartigen  Erscheinungen. 

Auch  Rümelin  fordert  gleich  Knies  eine  Trennung  der  Statistik  von 
der  Länder-,  Völker-  und  Staatenkunde. 

Seine  nicht  sehr  umfangreiche  Abhandlung  steht  wie  kaum  eine 
andere  auf  der  Höhe  der  Wissenschaft. 

Nach  A.  Wagner^)  ist  die  Statistik  „das  methodische  inductive 
Verfahren  zur  Auflösung  und  Erklärung  des  Mechanismus  der  Menschheit 
und  der  Natur  .  .  .  d.  h.  zur  Ableitung  und  Erklänmg  der  Gesetze, 
nach  welchen  dieser  Mechanismus  fungirt  und  zur  Aufdeckung  und  Er- 
forschung des  Causalzusammenhanges,  welcher  zwischen  den  einzelnen 
menschlichen  und  natürlichen  Phänomenen  besteht,  und  zwar  vermittelst 
eines  zu  genauen  Quantitätsbestimmungen  führenden  Systems  metho- 
discher Massenbeobachtungen  über  jene  Phänomene".  Die  Objecte 
der  Statistik  sind  demnach  als  Wirkungen  eines  complicirten  Verursachungs- 
systems aufzufassen.  Die  Statistik  ist  eine  Methode  und  eine  Wissenschaft. 
Eine  Methode,  nämlich  die  systematische  Massenbeobachtung  und  eine 
Wissenschaft:  die  inductive  Beobachtungswissenschaft.  Sie  ist  etwas  anderes 
als  die  Staatskunde,  von  letzterer  für  immer  zu  trennen. 

Ausgangspunkt  der  Statistik  ist  das  allgemeine  Causalgesetz,  ihre 
Objecte   alle    Erscheinungen    der    realen    Welt   in    und    ausserhalb    der 


22  I>>®  Schule  der  modernen  Statistik  in  Deutschland. 

Menschheit,  welche  als  Functionen  von  constanten  und  accidentiellen  Ur- 
sachen einen  im  Ganzen  durch  die  constanten  Ursachen  bedingten  regel- 
mässigen Charakter  haben,  also  die  nicht-typischen  Vorgänge  in  der  Natur 
—  und  in  der  Menschheit. 

B.  Hildebrand®)  schliesst  sich  gleichfalls  an  Rümelin  an.  Auch 
ihm  ist  die  Statistik  Ersatzmittel  des  Experiments  für  die  Wissenschaften 
vom  Menschen. 

„Indem  die  Statistik  alle  gleichartigen  Handlungen  und  Erlebnisse 
der  Menschen  auf  einem  gegebenen  Räume  verzeichnet  und  das  Verhält- 
niss  der  Summe  dieser  Erscheinungen  zu  der  Gesammtsumme  der  Men- 
schen oder  zur  Gesammtsumme  der  Handlungen  und  Erlebnisse  in  dem 
gleichen  Zeit-  und  Ortsraume  berechnet,  findet  sie  Verhältnisszahlen, 
welche  die  in  dem  Vorkommen  der  einzelnen  Handlungen  und  Erlebnisse 
herrschenden  Regeln  als  unzweifelhafte  allgemeine  Thatsachen  aus- 
sprechen ..." 

Die  Statistik  fuhrt  Buch  über  die  Handlungen  und  Zustände  des 
Staates.  „Sie  ist  eine  politische  und  sociale  Messkunst." 

A.  V.  Oettingen  will  in  seinem  ausgezeichneten  und  gediegenen 
Werke,  das  neben  dem  eigentlichen  Gegenstande,  der  moralstatistischen 
Untersuchung,  eine  ausfuhrliche  Geschichte  und  Theorie  der  Statistik  ent- 
hält, diese  Disciplin  darauf  beschränken,  das  socialpolitische  Gesammt- 
leben,  die  Menschheit  in  ihrer  national- volksthümlichen  Gruppenbewegung 
so  zum  Gegenstande  ihrer  Untersuchung  zu  machen,  dass  sie  aus  syste- 
matischen quantitativen  Massenbeobachtungen  den  volkswirthschaftlichen 
socialen  und  politischen  Charakter  der  Völker  zu  erkennen  und  in  einem 
wissenschaftlichen  Gesammtbilde  darzustellen  suche  *"). 

G.  V.  Mayr**)  erkennt  in  der  Statistik  das  wissenschaftliche  Mittel 
zur  Ergründung  der  in  Zahl  und  Mass  fassbaren  Eigenart  der  mensch- 
lichen Gesellschaft  und  zur  Feststellung  der  Gesetzmässigkeit  im 
Gesellschaftsleben.  Wo  es  sich  um  die  Gesetze  des  Gesellschafts- 
lebens handelt,  ist  die  quantitative  Massenbeobachtung  keine  blos  secun- 
däre  Methode,  sondern  die  einzig  mögliche  Forschungsweise. 

G.  F.  Knapp**)  hat  sich  das  Verdienst  erworben,  die  statistischen 
Rechnungsoperationen  mit  mehr  mathematischer  Schärfe  zu  behandeln,  als 
die  meisten  seiner  Vorgänger.  Er  ist  der  Ansicht,  dass,  wenn  die  Statistik 
überhaupt  einem  Zwecke  dienen  und  nicht  zur  sinnlosen  Verarbeitung  von 
Notizen  herabsinken  soll,  noth wendig  die  begrifflichen  Eigenschaften  der 
verschiedenen  Zahlengesammtheiten  schärfer  untersucht  werden  müssen. 
Es  müsse  bei  statistischen  Untersuchungen  ein  rationelles  Verfahren  statt 
der  bisher  üblichen  rohen  Empirie  angewendet  werden. 


'Die  b^chale  der  modernen  Statistik  in  England,  Italien  etc.  2B 

Auch  G.  Zeuner*^)  verfolgt  diese  K,ichtung  und  ist  der  Ansicht, 
dass  die  Sätze  der  Wahrscheinlichkeitsrechnung  bei  Behandlung  statistischer 
Fragen  in  Anwendung  kommen  müssen.  Bis  jetzt  aber  sei  die  neue  Wissen- 
schaft, welche  als  mathematische  oder  analytische  Statistik  bezeichnet 
wurde,  in  den  ersten  Anfängen.  Zeuner  vindicirt  dieser  künftigen  analy- 
tischen Statistik  einen  ganz  grossartigen  Einfluss  auf  die  Entwickelung 
der  Cultur. 

Andere  verdienstvolle  Namen  deutscher  Statistiker  finden  später 
geeigneten  Orts  Erwähnung. 

Aumerkuugeu. 

*)  Hoftmauii:  Die  Bevölkerung  des  preuss.  Staats.  Berl.  1839.  —  Samm- 
lung kleiner  Schriften  etc.  1843.  —  Nachlass  kleiner  Schriften. 

-)  Die  meisten  seiner  zahlreichen  Arbeiten  finden  sich  in  der  Zeitschr. 
des  preuss.  stat.  Bur.  Von  ganz  besonderem  Interesse  sind  auch:  Die  Bewe- 
gung der  Bevölkerung  im  Königreich  Sachsen  in  den  Jahren  1834—50.  Ferner : 
Das  Königreich  Sachsen  in  statistischer  und  staatswirthschaftlicher  Beziehung. 

*)  J.  E.  Wappäus:  Allg.  Bevölkerungsstatistik.  Ferner  seine  Arbeiten  in 
der  Neubearbeitung  des  geographisch- statistischen  Werkes  von  Stein  und 
Hörsühelmann. 

*)  J.  Hain:  Handbuch  der  Statistik  des  österreichischen  Kaiserstaates. 
Wien  1852. 

^)  a.  a.  O. 

•)  Die  Bewegung  der  Bevölkerung  im  Königr.  Bayern.  1863. 

')  Zeitschr.  für  die  gesammte  Staats  Wissenschaft.  Jahrg.  1863. 

*)  A.  Wagner:  Artikel  Statistik  im  X.  Bande  des  Staatswörterbuchs. 
Ferner:  Die  Gesetzmässigkeit  in  den  scheinbar  willkürlichen  Handlungen  etc. 

•)  B.  Hildebrand:  Die  wissenschaftlichen  Aufgaben  der  Statistik.  In  den 
Jahrbüchern  für  Nationalök.  und  Statistik.  Jahrgang  1866. 

••)  Moralstatistik.  1869. 

*•)  Abgesehen  von  den  zahlreichen  Veröffentlichungen  des  baierischen 
Statist.  Bureaus,  welche  unter  Leitung  Mayr*'s  erschienen  sind,  sei  hier  besonders 
sein  theoretisches  Werk  erwähnt:  Die  Gesetzmässigkeit  im  Gesell schaftslebefl. 
.München  1877. 

*-)  G.  F.  Knapp:  lieber  die  Ermittlung  der  Sterblichkeit.  Leipzig  1868. 

*')  G.  Zeuner:  Abhandlungen  aus  der  mathematischen  Statistik. 

§.  11.  Die  Schule  der  modernen  Statistik  in  England,  Italien  etc. 
In  England,  wo  schon  vor  zwei  Jahrhunderten  Graunt  und  Petty 
und  nach  ihnen  eine  Reihe  Anderer  ihre  statistischen  Untersuchungen 
angestellt  hatten,  gewann  die  Schule  der  modernen  Statistik  gleichfalls 
mehr  und  mehr  Anhänger.  Immer  aber  blieben  die  Arbeiten  vorzugsweise 
praktischen  Zwecken  gewidmet  und  nahmen  deshalb  auf  die  Entwickelung 
der  neuen  Richtung  nicht  den  Einfluss  wie  die  deutschen  und  franzö- 
sischen. Die  englische  Statistik  entspricht  einem  Streben  nach  grossartigen 


24  I)io  Schale  der  modernen  Statistik  in  England,  Italien  etc. 

Zahlenbeweisen,  namentlich  im  politischen  Leben,  einer  Stoff-  und  That- 
sachensammlung  für  die  Zwecke  der  Handelspolitik,  Steuerwirthschaft,  des 
Armenwesens  etc. 

Und  selbst  jene  englischen  Statistiker,  die  mit  Vorliebe  einen  wissen- 
schaftlichen Standpunkt  vertreten,  unterscheiden  sich  noch  wesentlich  von 
den  französischen  und  deutschen. 

Das  Journal  of  the  London  Statistical  society  *),  tonangebend  für 
die  englische  Statistik,  fasst  die  Aufgabe  dieser  Disciplin  so,  dass  die- 
selbe sich  auf  Sammlung,  Gruppirung  und  Vergleichung  der  Thatsachen, 
die  für  die  sociale  und  politische  Leitung  des  Volkes  von  Bedeutung  sind, 
beschränken  solle.  Diö  Ursachen  der  Erscheinungen  brauchten  nicht  unter- 
sucht zu  werden. 

G.  R.  Porter^),  der  sich  anerkanntermassen  die  grössten  Verdienste 
um  die  englische  Statistik  erworben,  lässt  sich  denn  auch  zumeist  von 
praktischen  volkswirthschaftlichen  Gedanken  leiten;  eine  Reihe  anderer 
englischer  Schriftsteller  haben  sich  theils  auf  dem  Gebiete  der  amtlichen 
Statistik,  theils  um  volkswirthschaftliche  xlufgaben  durch  Sammlung  reicher 
und  brauchbarer  Daten  verdient  gemacht. 

J.  Stuart  Mill  ist  in  seinem  „System  der  deductiven  und  in- 
ductiven  Logik"  für  die  statistische  Methode,  besonders  für  die  Fest- 
stellung von  Gesetzen  auf  den  verschiedenen  Gebieten  wissenschaftlicher 
Untersuchung  epochemachend,  während  der  Geschichtschreiber  Buckle*) 
seine  Wissenschaft  auf  den  Boden  der  Statistik  zu  stellen  und  die  mora- 
lischen und  geistigen  Gesetze  der  Menschheit  nach  historisch-statistischer 
Methode  zu  untersuchen  anfing. 

Auch  der  Staatsmann  G.  Com  wall  Lewis*)  hat  werthvolle  Unter- 
suchungen über  die  stat.  Methode  angestellt.  Ihm  ist  die  Statistik  ein 
Mittel  für  die  Sammlung  und  Abwägung  gleichartiger  Thatsachen.  Die 
Menschen  erscheinen  in  ihr  nur  als  Objecte  der  Zählung;  die  Wissen- 
schaft hat  aus  diesen  Zahlen  die  Verursachung  und  Gesetzmässigkeit 
aufzufinden. 

Sehr  beachtenswerthe  Leistungen  sind  auch  aus  Italien^)  zu  ver- 
zeichnen. Hier  geht  Hand  in  Hand  mit  einer  ungemein  regsamen  amt- 
lichen Statistik  und  in  innigster  Verbindung  mit  derselben  ein  sehr  leb- 
haftes wissenschaftliches  Streben.  Den  noch  der  älteren  Richtung  ange- 
hörenden Gioja  **)  und  Romagnosi  folgten  Männer  wie  Messedaglia '), 
Maestri,    Bodio*),  Morpurgo  ®),  Lampertico  *^),   Tammeo  **),   Gabaglio  *^) 

und  Andere. 

Anmerkuugen. 

*)  Vol.  1.  1839. 

*)  Porter:  The  progress  of  the  uatiou  in  its  various  social  and  ecouomical 
relations.  1836. 


Lftagnang  des  wissenschaftliclien  Charakters  der  Statistik.  25 

')  H.  Th.  Buckle:  Geschichte  der  Cmlisatiou  in  England.  Uebers.  you 
A.  Rüge.  1860. 

*)  A  treatise  oii  the  methods  of  obsenratiou  etc. 

*)  Vgl.  hierüber  zwei  Artikel  in  den  „Annali  di  Statistical  1879. 

•)  Melchiorre  Gioja:  Filosofia  della  statistica.  Napoli  1827. 

^)  Messedaglia:  Frelezione  al  corso  di  filosofia  della  statistica.  Und 
Anderes. 

®)  Bodio:  Della  statistica  nei  suoi  rapporti  coir  ecouomia  politica  etc. 
Milano  1869.  —  Sui  documenti  statistici  del  Regno  dUtalia.  Firenze  1867. 

•)  Morpurgo:  La  statistica  e  le  scienze  sociali;  anch  in  deutscher  Aus- 
gabe erschienen.  Jena  1877. 

^®)  F.  Lampe rtico:  Sulla  statistica  teorica  etc.  (Annali  di  Statistica 
1879.)  —  Della  statistica  couie  scienza. 

**)  G.  Tammeo:  La  statistica  e  i  problemi  sociali.  (Annali  di  Statistica  1879.) 

^*)  A.  Gabaglio:  Storia  e  teoria  generale   della  statistica.  Milano  1880. 

§.  12.  Läugnung  des  wissenschaftlichen  Charakters  der  Statistik. 

Einige  Schriftsteller  sehen  in  der  Statistik  gar  keine  Wissenschaft, 
sondern  nur  eine  Anzahl  von  Thatsachen,  oder  gar  blos  eine  Anzahl  von 
Lügen.  Und  zwar  hat  dieser  Vorwurf  nicht  nur  eine  einzelne,  sondern 
verschiedene  Richtungen  der  Statistik  getroffen;  er  gehört  der  Geschichte 
der  Wissenschaft  gleichfalls  an.  In  dieser  Hinsicht  sind  besonders  A.  F. 
Lüder*),  der  National-Oekonom  Say^)  und  Portlock  zu  erwähnen. 

Anmerkungen. 

*)  A.  F.  Lud  er:  Kritik  der  Statistik  und  Politik.  Göttingen  1812  und 
Kritische  Geschichte  der  Statistik.  Göttingen  1817.  Lud  er,  vordem  selbst  stati- 
stischer Schriftsteller,  gerieth  zuerst  in  Verzweiflung  über  diese  seine  Lieblings- 
wissenschaft und  erklärte,  durch  Nachdenken,  besonders  aber  durch  die  Er- 
scheinungen der  französischen  Umwälzung,  erkannt  zu  haben,  dass  die  Statistik 
ein  Gemisch  von  Lügenhaftigkeit  und  Unbrauchbarkeit  sei.  Zum  Beweise  seiner 
Behauptungen  fuhrt  er  die  verschiedenen  Meinungen  über  den  Begriff  der  Sta- 
tistik an,  kritisirt  ihre  falschen  Methoden  und  behauptet  die  Unzuverlässigkeit 
staatlicher  Thatsachen.  Ausserdem  wirft  er  den  Statistikern  vor,  dass  sie  den 
Regierungen  die  Lust  des  Zuvielregierens  beibringen,  das  Mercantilsystem  und 
die  Eroberungslust  verbreiten,  die  stehenden  Heere  fördern  und  dergleichen 
Sünden  mehr.  Seine  Vorwürfe  treffen  die  Achenwall-Schlözer''sche  Schule  und 
es  ist  gewiss,  dass  dieselbe  einen  Theil  dieser  Vorwürfe  nicht  ganz  unver- 
dient trägt. 

*)  Say:  Handbuch  der  praktischen  Nationalökonomie,  übersetzt  von 
J.  V.  Th.,  Stuttgart -18Ä9.  VL  Bd.  pag.  169  ff.  Say  degradirt  die  Statistik  zu 
einer  völlig  geistlosen  Magd  der  Nationalökonomie;  er  spricht  ihr  die  Erklärung 
der  Ursachen  oder  Folgen  ab  und  weist  ihr  nur  den  Nachweis  der  ins  Leben 
tretenden  Erscheinungen  zu. 


26  ^i®  Entwickelang  der  amtlichen  Statistik. 

§.  13.  Die  Entwickeliing  der  amtlichen  Statistik  ^). 

Die  amtliche  Statistik,  die  schon  in  den  ältesten  Zeiten  der  Wissen- 
schaft, unbekümmert  um  dieselbe,  vorangegangen  war,  wurde  im  laufenden 
Jahrhundert  zu  einem  umfassenden  Systeme  methodischer  Massenbeobach- 
tungen über  die  verschiedensten,  namentlich  aber  über  sociale  Erschei- 
nungen. Sie  beeinflusste  die  wissenschaftlichen  Statistiker,  wie  sie  anderer- 
seits seit  Quetelet  selbst  von  der  Wissenschaft  geleitet  wurde. 

Mehr  und  mehr  wurden  die  Beobachtungen  von  besonders  hiezu 
gegründeten  Staatsanstalten,  den  sogenannten  statistischen  Bureaux  ange- 
stellt. Die  gefundenen  Resultate  wurden,  je  mehr  mit  dem  Repräsentativ- 
system auch  das  Princip  der  OeiFentlichkeit  in  den  Staats  Verhältnissen  zur 
Geltung  kam,  veröffentlicht.  Diese  statistischen  Beobachtungen  wurden  für 
die  Regierungen  und  für  die  Völker  stets  wichtiger.  Die  Regierungen 
wurden  durch  das  System  des  politischen  Gleichgewichts,  durch  die  Sorge 
um  ihre  Existenz  genöthigt,  die  eigenen  und  fremden  Staatskräfte  zu 
messen  und  zu  vergleichen;  der  Trieb  nach  bureaukratischem  Vielregieren 
forderte  umfassende  Zustandskenntnisse;  die  Lasten  des  Finanzwesens 
mussten  erträglich  veitheilt  und  hiezu  ebenfalls  die  nothwendigen  Kennt- 
nisse gewonnen  werden.  Umgekehrt  verlangten  auch  die  Völker  selbst 
nach  einem  genauen  Einblick  in  die  eigenen  und  fremden  Volks-  und 
Staatskräfte,  ins  Finanz-  und  Militärwesen,  in  die  wirthschaftlichen  Ver- 
hältnisse und  in  die  Vertheilung  der  ihrem  Seckel  entflossenen  Werthe 
durch  die  Staatsmaschine. 

Mit  dem  Anfange  des  19.  Jahrhunderts  fängt  daher  auch  eine  orga- 
nisirte  amtliche  Statistik  an.  Eigene  Behörden  erhielten  die  Aufgabe,  das 
bei  den  Verwaltungsbehörden  sich  sammelnde,  auf  die  Thatsachen  des 
Volks-  und  Staatslebens  bezügliche  Material  zu  sammeln  und  zu  ordnen; 
die  Bureaux  wurden  häufig  auch  ermächtigt,  selbständig  oder  mit  Hilfe 
der  Verwaltungsbehörden  Beobachtungen  über  gewisse  Erscheinungen  an- 
zustellen. 

So  gründete  Lucian  Bonaparte  im  Jahre  1800  ein  statistisches 
Bureau,  welches  bedeutende  Thätigkeit  entfaltete.  Consul  Bonaparte  selbst 
hielt  viel  auf  die  Statistik;  berühmt  ist  sein  Satz:  La  statistique  est  le 
budget  des  choses,  et  sans  budget  point  de  salut  public.  1806  schon  er- 
schien ein  grosses  Werk:  Generalstatistik  Frankreichs.  Unter  dem  Kaiser- 
reich aber  ward  die  Thätigkeit  des  statistischen  Bureaux  beschränkt  und 
schliesslich  ganz  eingestellt.  Wollte  der  Despot  seinen  Haushalt  ver- 
schleiern ? 

Auch  in  anderen  Staaten  bestanden  statistische  Bureaux,  besonders 
auch  für  topographische  Aufnahmen. 


Aenderuiigen  und  Vtfrbessef&ngen.  27 

In  Bayern  wurde  1801  durch  General  Raglovich  eines  gegründet 
und  1813  zu  einem  geheimen  statistischen  Bureau  umgewandelt.  In  West- 
falen bestand  ein  solches  Bureau  seit  1809,  in  Italien  von  1803  bis  1809. 
In  Oesterreich  wurde  1810  ein  statistisches  Bureau  mit  dem  Staatsrath 
vereinigt,  durfte  aber  nichts  veröffentlichen.  In  Preussen  ward  ein  topo- 
graphisch-statistisches Bureau  1805  gegründet,  1808  und  1810  unter  dem 
Director  Hofimann  umgestaltet. 

Aumerkuiigeu. 

*)  Zur  Ent Wickelung  der  amtlichen  Statistik  vergleiche: 

R.  Böckh:  Die  geschichtliche  Eütwickelung  der  amtlichen  Statistik  des 
preussischen  Staates.  Berlin  1863. 

E.  Engel:  Compte  reudu  gener.  des  trav.  du  congr.  interuat.  de  statis- 
tique  etc.  Berl.  1863. 

A.  Wagner,  im  Staatswörterbuch  von  Bluntschli  a.  a.  0.  —  Handbuch 
der  Statistik  von  M.  Block,  deutsch  von  Scheel,  Leipzig  1869,  S.  16  ff. 

§.  14.  Fortsetzung.  Aendenmgen  und  Verbessenmgen. 

Die  Herstellung  des  Friedens  wirkte  begünstigend  auf  die  amtliche 
Statistik,  nicht  minder  der  beginnende  Constitutionalismus.  Letzterer 
namentlich  bezüglich  der  OefFentlichkeit  der  Resultate.  Einzelnen  Verwal- 
tungszweigen wurden  statistische  Arbeiten  aufgetragen.  Selbst  in  absoluti- 
stischen Staaten  wurden  statistische  Nachforschungen  verschiedener  Art 
angestellt.  Von  1830  bis  1850  nahmen  die  Regierungen  immer  mehr 
Interesse  an  der  Statistik;  erst  seit  1848  aber  ward  die  Geheimthuerei  in 
Sachen  der  amtlichen  Statistik  gründlich  beseitigt. 

Seit  dieser  Zeit  trat  das  preussische  statistische  Bureau  unter  Die- 
derici  mit  grösseren  Publicationen  auf  und  blieb  auch  unter  dessen  Nach- 
folger, E.  Engel,  ungemein  thätig. 

In  Oesterreich  ward  1828  ein  statistisches  Bureau  errichtet;  der 
obersten  Rechnungs-  und  Controlbehörde  zubehörig,  musste  es  seine  Auf- 
nahmen sorgfältig  geheim  halten.  Seit  1840  heisst  es  Direction  der  admi- 
nistrativen Statistik,  unter  Czörnig  begann  es  im  Jahre  1842  mit  grösseren 
Publicationen  (ausschliesslich  der  bis  1848  geheim  gehaltenen  Finanz- 
tabellen). Gegenwärtiger  Leiter  ist  C.  Inama-Sternegg.  Ausserdem  besitzt 
Oesterreich  ein  statistisches  Bureau  des  Handelsministeriums  und  eines 
des  Ackerbauministeriums.  Die  Länder  der  ungarischen  Krone  erhielten 
1867  ein  eigenes  statistisches  Bureau  unter  Kelety. 

In  Bayern  begann  das  statistische  Bureau  unter  Hermann  seine 
später  von  Mayr  fortgesetzten  vorzüglichen  Veröffentlichungen;  das  wüit- 
tembergische  statistische  Bureau  hielt  länger  zurück. 

In  Sachsen  entwickelte  sich  aus  einem  halbamtlichen  statistischen 
Vereine  ein  solches  Bureau  unter  Engel  zu  eminenter  Leistungsfähigkeit. 


28  Aenderungen  und  Verbesserungen. 

Statistische  Bureaux  und  Anstalten  bestehen  ausserdem  in  Baden 
als  selbständiges  Institut  seit  1866,  in  Mecklenburg  seit  1851,  in  Braun- 
schweig seit  1853,  in  Oldenburg  seit  1835,  in  Hessen-Barmstadt  seit 
1861,  für  die  thüringischen  Staaten  zu  Jena  seit  1864  (unter  Hildebrand), 
in  den  Hansestädten  handelsstatistische  Bureaux. 

Aber  auch  ausserhalb  der  statistischen  Bureaux.  wird  amtliche  Sta- 
tistik getrieben.  Einzelne  Theile  der  Staatsverwaltungen  haben  mitunter 
besondere  statistische  Abtheilungen  und  veröffentlichen  Beobachtungen  und 
Darstellungen  über  die  Ergebnisse  innerhalb  ihres  Wirkungskreises.  Hieher 
zählen  namentlich  die  Berichte  über  Post-,  Eisenbahn-,  Telegraphenwesen, 
über  die  Justizpflege,  über  Finanzen  und  Staatsschuldenwesen.  Die  amt- 
liche Statistik  Gesammtdeutschlands  war  lange  nur  durch  den  Zollverein 
mit  einem  ziemlich  losen  Bande  zusammengehalten.  Die  Resultate  waren 
handelsstatistische  Berichte.  Nach  der  Schöpfung  des  deutschen  Reiches 
wurde  auch  eine  gemeinsame  Centralstelle  tiir  Statistik  zu  Berlin  im  Jahre 
1872  geschaffen,  zunächst  für  Statistik  des  Handels  und  der  Verbrauchs- 
steuern, dann  mit  einem  ausgedehnteren  Wirkungskrelse.  Es  steht  unter 
Leitung  von  K.  Becker  und  hat  schon  eine  grosse  Anzahl  von  Bänden 
publicirt. 

In  Belgien  wurde  1831  ein  statistisches  Gentralbureau  gegi'ündet, 
welches  1841  in  eine  statistische  Centralcommission  überging  unter  Que- 
telet,  später  Heuschling.  Dieses  Bureau  ist  das  ausgezeichnetste  Vorbild 
für  die  Einrichtung,  Ausführung  und  Behandlung  der  amtlichen  Statistik 
in  der  Gegenwart. 

In  Frankreich  erschienen  —  obgleich  damals  Äoch  kein  statistisches 
Gentralbureau  bestand  —  seit  1816  handelsstatistische  Uebersichten  und 
seit  1818  Berichte  des  Kriegsministeriums  über  die  Ergebnisse  der  Recru- 
tirung,  seit  1826  die  von  Guerry  de  Champneuf  eingeführten  jährlichen 
comptes  de  l'administration  de  la  justice  criminelle,  dann  auch  der  justice 
civile  et  commerciale.  Thiers  gründete  1834  das  generalstatistische  Bureau, 
anfangs  unter  Moreau  de  Jonnes,  dann  unter  Legoyt.  Diese  Centralstelle 
publicirt  seit  1835.  Auch  einzelne  Ministerien  haben  in  Frankreich  beson- 
dere statistische  Centralstellen. 

Holland  erhielt  ein  statistisches  Bureau  1848,  welches  unter  Baum- 
hauer sehr  thätig  war,  1878  aber  wieder  aufgelöst  wurde. 

Auch  die  amtliche  Statistik  Schwedens  steht  auf  hoher  Stufe.  Hier 
war  schon  1756  eine  sogenannte  Tabellen-Commission  eingesetzt  worden^ 
wohl  das  älteste  eigentliche  statistische  Bureau. 

Aehnliche  Bureaux  besteihen  in  Norwegen  und  Dänemark;  in. Russ- 
land findet  sich  ein  statistisches  Comite  im  Ministerium  des  Innern  und 
ein  Centralcomite  (seit  1858)  unter  der  Direction  von  Semenoff, 


Einrichtung  der  Bnreanx.  29 

Auch  Finnland  hat  sein  eigenes  statistisches  Bureau. 

Die  Schweiz  hat  ein  eidgenössisches  statistisches  Bureau  seit  1860; 
in  mehreren  Cantonen  bestehen  Cantonalbureaux. 

In  Italien  hat  das  1861  errichtete  Bureau  vorzügliche  Publicationen 
geliefert,  zuerst  unter  Maestri,  dann  unter  Bodio. 

In  Spanien  und  Portugal  wurde  die  administrative  Statistik  reorga- 
nisirt,  doch  stellten  die  ßureaux  ihre  Publicationen  bald  wieder  ein;  sogar 
in  Griechenland  ward  1834  ein  statistisches  Bureau  gegründet,,  in  Rumä- 
nien 1859,  in  Serbien  1862  eine  statistische  Section  im  Finanzministe- 
rium; auch  die  Türkei  besitzt  ein  ähnliches  Bureau  im  Finanzministerium, 
welches  aber  nichts  publicirt. 

In  Grossbritannien  besteht  noch  kein  eigentliches  Centralbureau. 
Doch  wird  eine  grosse  Masse  statistischen  Materials  gesammelt  und  in  den 
Blaubüchem  veröffentlicht.  Im  Handelsamte  besteht  seit  1832  eine  stati- 
stische Abtheilung,  welche  eine  sehr  werthvolle  Handelsstatistik  liefert, 
die  sogenannte  Statistical  abstracts.  Die  Registrar  general  oflßces  sind 
Centralstellen  für  Civilstandsbuchführung  und  bearbeiten  auch  die  Bevöl- 
kerungsstatistik. 

Ausserhalb  Europa's  ist  in  Nordamerika  der  lOjährige  Census  zu 
einer  stets  umfassenderen  Landes-  und  Volksbeschreibung  geworden.  Auch 
erfolgen  jährliche  Publicationen  über  Finanzen,  Geld-,  Credit-  und  Bank- 
wesen, Handel  und  Schififahrt.  In  einigen  Staaten  existiren  Staatsbureaux. 

In  den  englischen  Colonien  gibt  es  theils  besondere  Bureaux,  theils 
sammeln  die  Verwaltungsbehörden  statistisches  Material.  Ebenso  in  den 
französischen  und  spanischen  Colonien.  Die  mittel-  und  südamerikanischen 
Staaten  haben  ebenfalls  in  neuester  Zeit  namentlich  mit  Civilstandsregi- 
stem  und  Volkszählungen  begonnen,  auch  mit  Schiiffahrts-  und  Handels- 
statistik. So  existiren  statistische  Bureaux  in  Chile,  Peru,  Argentina, 
Uruguay.  Endlich  in  Aegypten  seit  1870;  in  Japan  seit  1875. 

§.  15.  Fortsetzung.  Einrichtung  der  Bureaux. 

Die  Behörden,  welche  den  Namen  statistische  Bureaux  führen,  sind 
sowohl  in  ihren  Einrichtungen  als  auch  bezüglich  ihrer  Aufgaben  ver- 
schieden. 

Einige  haben  nur  den  von  Verwaltungsbehörden  angehäuften  stati- 
stischen Stoflf  zu  sammeln,  zusammenzustellen,  zu  concentriren,  zu  verar- 
beiten und  zu  veröffentlichen.  Andere  dagegen  haben  mehr,  wieder  andere 
die  ausgedehnteste  Freiheit,  welche  Arbeiten  sie  vornehmen,  welche  Zu- 
stande sie  beobachten  und  wie  sie  die  Beobachtung  vornehmen  wollen. 

Das  Bedürfniss,  statistische  Beobachtungen  aus  allen  Gebieten  der 
Staatsthätigkeit  zu  erhalten,  führte  zur  Errichtung    statistischer   Cen- 


30  Wirkungskreis  und  Verfahren  der  sUtistischen  Bureaux. 

tralcommißsionen.  Sie  sind  aus  Mitgliedern  der  verschiedenen  Verwal- 
tungszweige unter  Zuziehung  wissenschaftlicher  Theoretiker  zusammen- 
gesetzt; sie  berathen  oder  entscheiden  über  die  vorzunehmenden  Beobach- 
tungen, controliren  die  Arbeiten.  Sie  stehen  entweder  über  dem  statistischen 
Bureau  oder  sind  demselben  coordinirt  oder  leiten  seine  Arbeiten  selbst. 
Doch  haben  sie  sich  nicht  überall  bewährt. 

Auch  zahlreiche  grössere  Städte  haben  eigene  statistische  Bureaux. 
Paris  und  das  Seinedepartement  seit  1821;  ferner  Wien,  Berlin,  Leipzig, 
München,  Kopenhagen,  Rom,  Brüssel,  New- York  etc. 

Neben  den  eigentlichen  statistischen  Bureaux  bestehen  auch  andere 
Anstalten,  welche  statistische  Arbeiten  vollbringen. 

Zunächst  sind  es  die  statistischen  Vereine,  welche  namentlich  vor 
der  heutigen  Ausbildung  der  Bureaux  manches  förderten.  So  die  statisti- 
schen Gesellschaften  zu  London  und  Paris. 

Vereine  und  (Korporationen  verschiedener  Art  haben  gleichfalls  neben 
ihrem  eigentlichen  praktischen  Zwecke  auch  darin  einen  Theil  ihrer  Auf- 
gabe gesucht,  dass  sie  die  Erscheinungen  ihres  Wirkungskreises  statisti- 
scher Beobachtung  würdigten.  So  die  landwirthschaftlichen  Vereine,  die 
Gewerbe-  und  Handelskammern,  die  Verkehrsgesellschaften  (Eisenbahnen)? 
die  Armenpflegvereine  u.  s.  f.  Aber  auch  die  Krankenhäuser,  Irren- 
anstalten etc.  liefern  Arbeiten  und  Berichte  aus  dem  Gebiete  der  medi- 
cinischen  Statistik;  ftir  Preis-,  Geld-  und  Creditstatistik  findet  sich  der 
f      Stoff  in  Courslisten  der  Handelsblätter  und  politischen  Zeitungen. 

§.  16.  Wirkungskreis  und  Verfahren  der  statistischen  Bureaux. 

Keine  sociale,  ökonomische  oder  sittliche  Thatsache  von  einiger 
Wichtigkeit  ist  mehr  vorhanden,  welche  nicht  Gegenstand  einer  gelegent- 
lichen oder  fortwährenden  amtlichen  Beobachtung  bildet.  Immer  mehr 
Gebiete  und  Erscheinungen  sind  in  das  System  regelmässiger  Beobachtung 
hereingezogen  worden,  lieber  jede  einzelne  Erscheinung  sind  die  Beobach- 
tungen häufiger,  umfassender  und.  vollständiger  geworden.  Die  Methoden 
wurden  stets  verbessert.  Die  amtliche  Statistik  beschränkt  sich  längst 
'  nicht  mehr  auf  die  Erscheinungen  des  menschlichen  Lebens;  sondern 
Beobachtungen  über  Natur  und  über  menschliche  Erscheinungen  werden 
nach  einem  bestimmten  Systeme  massenhaft  angestellt,  in  steter  Beziehung 
zu  einander.  Land  und  Volk  werden  in  ihren  Quantitätsverhältnissen 
genau  bestimmt.  Exacte  Vermessungen  mit  den  besten  Hilfsmitteln  werden 
angestellt  und  stets  vervollständigt.  Genaue  Volkszählungen  finden .  zu 
regelmässigen  Zeiten  nach  einem  stets  besser  und  vollständiger  werdenden 
Verfahren  statt.  Jede  besondere,  qualitativ  verschiedene  Erscheinung  im 
Volksleben  wird  in  ihren  quantitativen  Elementen  erfasst.  Der  Boden  als 


Die  statistisclieii  Gongresee.  31 

Wohnsitz  und  Werkstatt  der  Menschen,  das  Grundeigenthum  mit  seinen 
natürlichen,  wirthschaftlichen  und  politischen  Unterschieden  wird  genau 
aufgenommen.  Die  Bevölkerung  wird  in  ihren  natürlichen,  sittlichen  und 
geistigen  Verschiedenheiten,  also  nach  ihrem  Geschlecht,  Alter  und  kör- 
perlichen Zustand,  nach  ihrer  Bildung  und  Moral,  nach  ihrem  Glauben, 
ihrem  Beruf  und  Stand,  nach  ihrem  Familienstande  bei  der  Zählung 
unterschieden.  Für  jede  beobachtbare  Eigenschaft  des  Menschen  erhält 
man  Zahlenbestimmungen,  welche  ausdrücken,  wie  viele  Individuen  unter 
einer  gewissen  Bevölkerung  die  beobachtete  Eigenschaft  besitzen,  von 
welcher  Bedeutung  demnach  diese  Eigenschaft  für  das  gesellschaftliche 
Leben  ist,  wie  sie  sich  zu  anderen  Eigenschaften  verhält  u.  s.  f.  Die 
Statistik  begleitet  den  Menschen  durch  alle  Theile  seines  Lebens  hindurch 
von  der  Wiege  bis  zum  Grabe.  Aus  dieser  Masse  von  Quantitätsbestinmiungen 
geht  dann  die  beste  und  genaueste  qualitative  Volksbeschreibung  hervor. 

§.  17.  Die  statistischen  Congresse. 

Ihre  höchste  Entwickelung  enthält  die  amtliche  Statistik  in  den  seit 
1853  stattfindenden  statistischen  Congressen,  durch  welche  internationale 
Gleichförmigkeit  und  Ordnung  in  die  Statistik  gebracht  wird.  Der  erste 
solche  Congress  kam  1853  zu  Brüssel  zu  Stande.  Sein  Zweck  war,  Ein- 
heit in  die  amtlichen  Statistiken  der  verschiedenen  Staaten  zu  bringen 
und  gleichförmige  Grundlagen  für  die  statistischen  Arbeiten  zu  erlangen. 
Eine  solche  Einheit  ist  nothwendig,  damit  die  an  verschiedenen  Orten  und 
zu  verschiedenen  Zeiten  erhaltenen  Resultate  verglichen  werden  können. 
Die  statistischen  Congresse  wollen  über  alle  civilisirten  Staaten  ein 
zusammenhängendes  Beobachtungssystem  ausbreiten.  Man  will  nicht  mehr 
das  Volk  eines  Staates,  sondern  die  ganze  civilisirte  Menschheit  unter 
fortwährende  Beobachtung  stellen.  Ein  solches  Beobachtungssystem  konnte 
nur  durch  die  Staatsgewalt  organisirt  werden.  Sie  allein  besitzt  die  Macht, 
den  Menschen  als  solchen  zu  einem  Gegenstande  der  Massenbeobachtung 
zu  machen  und  die  Beobachtungen  ineinander  greifen  zu  lassen.  Dem- 
nach mussten  die  statistischen  Congresse  Versammlungen  amtlicher  Dele- 
girter  sein. 

Die  statistischen  Congresse  haben  vom  ersten  bis  zum  letzten  ohne 
Grübeleien  über  den  Begriff  der  Statistik  nichts  anderes  in  ihr  gesehen, 
als  ein  System  von  Massenbeobachtungen.  In  der  Ausbildung,  Vervoll- 
ständigung und  Verbesserung  dieses  Systems  sahen  sie  ihre  Aufgabe, 
welcher  mit  einer  in  der  Geschichte  der  menschlichen  Wissenschaften  un- 
erhörten Eintracht  und  Energie  zu  Leibe  gegangen  ward. 

Der  zweite  statistische  Congress  fand  1855  zu  Paris  statt,  der  dritte 
1857  zu  Wien,  der  vierte  1860  zu  London,    der  fünfte  1863  zu  Berlin, 


32  Wesen  der  Statistik  als  Methode. 

der  sechste  1867  zu  Florenz,  der  siebente  1869  in  Haag,  der  achte  1872 
zu  Petersburg  und  der  neunte  1876  zu  Pest. 

All  diese  Congresse  haben  durch  Anregung  mancher  werthvollen 
Untersuchung,  durch  Ansammlung  riesigen  Materials,  durch  Anknüpfung 
internationaler  Beziehungen  zwischen  den  Statistikern,  durch  Erleichterung 
des  Zusammenarbeitens  jedenfalls  viel  Gutes  geschaiFen.  Das  Ideal  einer 
alle  civilisirten  Länder  durchdringenden  gleichförmigen  Einrichtung  der 
amtlichen  Statistik  wurde  freilich  nicht  erreicht  und  konnte  nicht  erreicht 
werden.  Vielfach  waren  die  Arbeitsaufgaben,  welche  die  Congresse  sich 
stellten,  zu  umfangreich;  häufig  waren  auch  die  Anschauungen  und  Ein- 
richtungen, welche  vereinheitlicht  werden  sollten,  doch  zu  verschieden,  um 
eine  Vereinheitlichung  zu  gestatten;  endlich  waren  die  Theilnehmer  an 
den  Congressen  nicht  genöthigt,  sich  seinen  Beschlüssen  zu  unterwerfen. 
Um  den  Schwierigkeiten  zu  begegnen,  welche  (^urch  diese  Hindernisse  der 
Thätigkeit  der  Congresse  erwuchsen,  schuf  man  eine  sogenannte  Perma- 
nenzcommission (einen  bleibenden  Ausschuss).  Diese  soll  die  Aufgabe  haben, 
nach  Möglichkeit  für  die  Ausführung  der  Congressbeschlüsse  zu  sorgen; 
insbesondere  sich  über  die  Ausführung  der  Congressbeschlüsse  und  allen- 
fallsige entgegenstehende  Hindemisse  zu  informiren ;  auf  Einheitlichkeit  der 
statistischen  Publicationen  hinzuwirken;  die  Vorarbeiten  für  die  nächsten 
Congresse  zu  unterstützen;  internationale  Aufnahmen  einzuleiten  und  die 
begonnene  internationale  Statistik  zu  fördern;  dem  Congress  die  Redaction 
der  gefassten  Beschlüsse  vorzulegen. 

Ein  grosses  Verdienst  der  Congresse  war  die  Inangriffnahme  einer 
vergleichenden  Statistik.  Hierbei  wurden  die  sämmtlichen  Arbeiten  einer 
solchen  Statistik  capitelweise  an  die  statistischen  Bureaux  der  einzelnen 
Staaten  übertragen.  Die  Publicationen  sollten  in  französischer  Sprache  er- 
folgen. Leider  schreiten  diese  Publicationen  sehr  langsam  voran. 


II.  Capitel. 

Die  Statistik  als  Methode. 


§.  18.  Wesen  der  Statistik  als  Methode. 

Die  Statistik  ist  jene  Methode,  welche  Zustände  und  Vorgänge  auf 
dem  Wege  der  Massenbeobachtung  erforscht.  Diese  Methode  lässt  sich  auf 
die  mannigfaltigsten  Erscheinungen  anwenden.  Ihre  Kenntniss  und  Anwen- 
dung auf  die  grossen  menschlichen  und  staatlichen  Räthsel  hat  einen  voll- 
ständig wissenschaftlichen   Charakter.    Sie    dringt   durch   Bekanntes   zuni 


Die  methodische  Masfieiibeohschtaiig.  33 

Unbekannten  vor.  Sie  fördert  Resultate,  welche  sowohl  als  Wahrheiten, 
als  auch  durch  ihre  praktische  Bedeutung  in  der  Geschichte  des  mensch- 
lichen Denkens  und  Forschens  Epoche  machen.  Sie  ist  unter  allen  Me- 
thoden der  Forschung  jene,  welche  die  vielseitigste  wissenschaftliche 
Vorbildung  erfordert.  Sie  löst  und  erklärt  menschliche  und  natürliche  Er- 
scheinungen, vergleicht  dieselben, ,  findet  ihren  ursächlichen  Zusammenhang 
und  bemüht  sich,  die  Gesetze  zu  untersuchen,  welche  ihnen  zu  Grunde 
liegen. 

Dass  diese  Methode  vom  menschlichen  Geiste  einmal  als  Werkzeug 
angewendet  werden  muss,  ist  eine  in  der  Geschichte  und  im  Wesen  des 
menschlichen  Gedankens  und  im  Wesen  der  Erscheinungen  begründete 
Nothwendigkeit.  Die  Einzelnforschung  musste  zur  Massenforschung,  die  un- 
methodische Forschung  zur  methodischen  Forschung  werden. 

§.  19.  Die  methodische  Massenbeobachtung. 

Die  methodische  Massenbeobachtung  besteht  darin,  dass  über  ganze 
Massen  von  einzelnen  Thatsachen  oder  Individuen  ein  Netz  von  Beobach- 
tungen ausgebreitet  wird,  um  nach  einer  Methode  alle  gleichartigen 
Erscheinungen  zu  beobachten  und  zu  verzeichnen. 

Sowie  von  einer  systematischen  Behandlung  der  Massen  die  Rede 
ist,  muss  zunächst  an  ein  Ordnen  und  Messen  derselben  gedacht  werden. 
Die  Massen  müssen  in  Einheiten  aufgelöst  werden  und  die  Zahl  und  das 
Zählen  ist  demnach  charakteristisches  Merkmal  dieser  Methode. 

Die  methodische  Massenbeobachtung  ist  abgegrenzt: 

I.  Gegen  die  Einzelnbeobachtung  dadurch,  dass  sie  eben  immer  nur 
ganze  Massen  gleichartiger  Erscheinungen  zugleich  beobachtet. 

n.  Gegen  die  unmethodische  Massenbeobachtung  ist  sie  abgegrenzt 
durch  Genauigkeit  und  Vollständigkeit.    Die    unmethodische   Massenbeob- 
achtung ist  uralt  und  ungemein  volksthümlich.    Jeder  Mensch  macht  eine, 
Reihe   von  einzelnen  unsystematischen   Massenbeobachtungen.    Sie  finden 
sich  allerwärts  im  täglichen  Leben  *). 

Gerade  an  die  Gegenstände  solcher  unmethodischer  Massenbeob- 
achtungen hat  die  methodische  ihre  Prüfung  ganz  besonders  anzulegen. 
Gegenstände,  welche  von  der  Gewohnheit  des  Volksgeistes  so  behandelt 
zu  werden  pflegen,  bilden  die  bedeutsamsten  und  wichtigsten  Objecto  der 
Statistik. 

Es  ist  auch  kein  Zweifel,  dass  in  der  unmethodischen  Massenbeob- 
achtung der  Keim  zur  methodischen  enthalten  ist. 

Umsomehr,  als  die  Grenze  zwischen  beiden  gerade  in  einer  sehr 
wichtigen  Beziehung,  nämlich  in  Bezug  auf  die  Zahl  der  Beobachtungen 
eine  fliessende  ist. 

Haushofer,  Statistik.  2,  Aufl.  3 


34  ^<^3  Gesetz  der  grossen  Zahl. 

Anmerkung. 
*)  Mau  sagt  z.  B.  „es  ist  heuer  ein  kalter  Winter ••'.  Man  fühlt  sich  zu 
dieser  Aeusserung  veranlasst,  weil  man  in  ganz  natürlicher,  unmethodischer 
Weise  bemerkt  hat,  dass  ungewöhnlich  häufig  starker  und  langer  Frost  heiTschte. 
Zur  methodischen  Beobachtung  würde  dies  werden,  wenn  man  Tag  für  Tag 
die  Temperatur  mit  dem  Thermometer  gemessen,  hieraus  die  Durch schnitts- 
temperatur  des  ganzen  Winters  berechnet  und  mit  den  Temperaturverhältnisseii 
anderer  Winter,  die  in  gleicher  Weise  beobachtet  wurden,  verglichen  hätte, 

§.  20.  Das  Gesetz  der  grossen  Zahl. . 

Bei  der  Beobachtung  der  Masse  zeigt  sich  das  Gesetz  der  grossen 
Zahl.  Dasselbe  sagt,  dass  bei  der  Beobachtung  einer  grossen  Zahl  von 
Erscheinungen  derselben  Art  schliesslich  ein  gewisses  constantes  Zahlen- 
verhältniss  hervortritt.  Dieses  Zahlen verhältniss  wird  um  so  früher  und 
um  so  deutlicher  bemerkt,  je  zahlreicher  und  gleichförmiger  die  Beob- 
achtungen sind.  In  der  Statistik  sind  die  grossen  Zahlen  regelmässig  und 
diese  Regelmässigkeit  tritt  in  ihnen  auch  zu  Tage.  Auch  die  kleinen 
Zahlen  sind  regelmässig;  aber  ihre  Regelmässigkeit  ist  eine  versteckte. 

Das  Gesetz  der  grossen  Zahl  hat  seinen  Grund  in  der  Verschieden- 
heit der  Ursachen,  welche  auf  die  Erscheinungen  wirken. 

Diese  Ursachen  sind  nämlich  bald  mehr  bald  weniger  veränderlich 
wirkende.    Sie  sind: 

I.  Stetige  (constante),  d.  i.  solche,  welche  auf  grössere  Massen  von 
Erscheinungen  und  dauernd  wirken. 

IL  Wechselnde  (zufällige,  störende,  perturbirende,  accidentielle),  d.  i. 
solche,  welche  nur  auf  kleinere  Massen  von  Erscheinungen  und  nur  in 
vorübergehender  zufälliger  Weise  einwirken. 

Die  Bezeichnungen  „grössere  und  kleinere  Massen,"  „dauernde  und 
vorübergehende  Wirkung"  sind  nicht  präcis.  Und  zwar  mit  Recht;  denn 
■der  Gegensatz  zwischen  den  stetigen  und  wechselnden  Ursachen  ist  ein 
flüssiger.  Eine  Ursache  kann  einer  zweiten  gegenüber  wechselnd,  einer 
dritten  gegenüber  stetig  erscheinen.  Indessen  ist  dieser  Gegensatz  für  die 
Beobachtung  vorhanden  und  von  Werth. 

Nimmt  man  eine  grössere  Masse  von  Einzelnfällen  zusammen,  so 
kommen  in  dieser  Masse  die  stetigen  Ursachen  der  Erscheinungen  zum 
Vorschein.    Die  grosse  Zahl  deckt  dieselben  auf. 

In  den  einzelnen  Fällen  wirken  diese  stetigen  Ursachen  auch.  Aber 
ihre  Wirkung  ist  nicht  so  ersichtlich;  sie  wird  verdeckt  durch  die  wech- 
selnden Ursachen. 

So  ist  es  z.  B.  eine  statistische  Erscheinung,  dass  unter  den  neuge- 
borenen Knaben  eine  gi'össere  Sterblichkeit  herrscht,  als  unter  den  Mäd- 
chen.    Diese  Erscheinung   zeigt    sich   aber  nurj    wenn  man  eine  grössere 


Gliederung  der  statiBÜRclieu  Methode.  '  35 

Zahl  von  Fällen  beobachtet.  Sie  kommt  nur  in  der  Masse  zum  Vorschein. 
Wenn  man  nur  eine  einzelne  Familie  betrachtet,  kommt  diese  Erschei- 
nung und  ihr  Gesetz  nicht  nothwendig  zum  Vorschein.  Es  ist  sehr  mög- 
lich, dass  in  dieser  Familie  alle  neugeborenen  Mädchen  sterben,  und  die 
Knaben  lebend  bleiben.  In  diesem  Falle  wäre  eine  Erscheinung  sammt 
ihrem  Gesetze  durch  die  Wirkungen  zufälliger  Ursachen  gestört  und 
verdeckt. 

Aber  selbst  solche  Störungen  erfolgen  wieder  nach  einer  festen 
Ordnung.  Man  nennt  letztere  das  Gesetz  der  zufalligen  (accidentiellen) 
Ursachen. 

§.  21.  Gliederung  der  statistischen  Methode  ^). 

Eine  sehr  falsche  Meinung  ist  die,  blosses  Zählen,  Rechnen  und 
Zahlengi'uppiren  mache  den  Statistiker.  Es  kann  vielmehr  nicht  oft  genug 
gesagt  werden,  dass  die  Statistik  keine  Zahlen  Wissenschaft  ist. 

Die  Aufgaben  der  Statistik  sind  manchmal  höchst  einfach,  manch- 
mal greifen  die  reichsten  und  verwickeltsten  Erscheinungen  ineinander. 
Hier  muss  dann  der  Statistiker  umfassende  Bildung  mit  vielseitigem  po- 
sitivem Wissen,  grosses  Combinationsvermögen  mit  scharfer  Logik  ver- 
binden. 

Es  handelt  sich  im  Allgemeinen  darum,  theils  solche  Erscheinungen, 
welche  noch  nicht  von  anderen  Forschungsmethoden  erklärt  sind,  durch 
die  statistische  Methode  erst  in  Angriff  zu  nehmen;  theils  solche,  an  wel- 
chen ein  deductives  Verfahren  schon  thätig  gewesen,  zum  Zwecke  der 
Controlirung  auch  noch  der  statistischen  Methode  zu  unterstellen. 

Im  letzteren  Falle  muss,  wenn  die  Controle  richtig  sein  soll,  die  Art 
der  Beobachtung  eben  so  erfolgen,  als  wenn  das  statistische  Verfahren 
den  Anfang  zu  bilden  hätte. 

Der  Gang  der  statistischen  Forschung  setzt  sich  aus  einer  Reihe 
von  verschiedenen  Thätigkeiten  zusammen.  Von  diesen  Thätigkeiten  sind 
die  einen  mehr  mechanischer  Natur  und  beanspruchen  keine  besonders 
schwierige  geistige  Thätigkeit;  sie  können  technisch  erlernt  werden,  wie 
die  einfacheren  Rechnungsarten. 

Andere  dagegen  erfordern  bedeutende  wissenschaftliche  Fähigkeit, 
wissenschaftliche  ürtheile  und  Schlüsse.  Beide  Arten  aber  gehören  zu- 
sammen. Die  Resultate  der  blos  technischen  Operationen  bleiben  todtes 
Material  ohne  den  belebenden  Hauch  des  wissenschaftlichen  Urtheils  und 
Schlusses,  während  letzterer  seinerseits  des  Materials  bedarf  ^). 

Anmerkungen. 
*)  Von  besonderer   Bedeutung  hinsichtlich    der   Darstellung    des    Ganges 
der  statistischen  Aufgabe  sind  folgende  Arbeiten : 

3* 


36  Erkennung  der  Gegenst&nde  der  Statistik. 

A.  Quetelet:  Sur  rhomme  etc. 

E.  Engel:  Die  Bewegung  der  Bevölkerung  im  Königreiche  Sachsen. 
Dresden  1852. 

Derselbe:  Ueber  die  Organisation  der  amtlichen  Statistik  in  der  Zeit- 
schrift des  preuss.  stat.  Bureau.  Band  I. 

£.  Engel:  Die  Statistik  im  Dienste  der  Verwaltung,  a.  a.  0.  Bd.  III. 

Derselbe:  Das  statistische  Seminar  des  preussischen  Bureau,  a.  a.  O. 
Band  IV. 

J.  St.  Mill:  System  der  deductiven  und  inductiven  Logik. 

A.  Wagner:  Artikel  Statistik  im  Staats wörterbuche. 

Derselbe:  Die  Gesetzmässigkeit  in  den  scheinbar  willkürlichen  Hand- 
lungen.. 

Dufau:  De  la  methode  d^observatiou  dans  son  application  aux  sciences 
mor.  et  polit.  Par.  1865. 

Derselbe:  Traite  de  la  statistique  etc. 

Fechner:  Elemente  der  Psychophysik.  Leipzig  1860. 

A.  V.  Oettingen:  Moral  Statistik.  1869. 

G.  Mayr:  Die  Gesetzmässigkeit  im  Gesellschaftsleben.  Münch.  1877. 

M.  Block:  Traite  theoretique  et  pratique  de  Statistique.  Par.  1878. 

A.  Gabaglio:  Sunto  della  storia  e  della  teoria  etc.  Annali  di  Statistica. 
Ser.  II.  Vol  21. 

*)  V.  Baumhauer  (Verhandlungen  des  statistischen  Congresses  in  Haag) 
unterscheidet  drei  Methoden  oder  besser  Theile  der  statistischen  Methode. 

a)  Die  materielle  Operation  oder  die  Kunst,  die  Thatsachen  zu  sammeln 
und  zu  ermitteln.  Sie  erfordere  nicht  nur  ziemliche  Sorgfalt  und  richtiges 
Gefühl  im  Entwerfen  der  Tabellen,  sondern  auch  eine  genaue  Kenntniss  der 
gesammelten  Daten  und  besonders  eine  systematische  Organisation  der  Arbeit 
in  den  unteren*  Verwaltungsinstanzen. 

b)  Die  praktische  Operation  oder  die  Methode  der  Anwendung.  Sie 
umfasse  die  Arbeit  der  verschiedenen  statistischen  Bureaux,  setze  die  That- 
sachen nebeneinander,  vergleiche,  kritisire,  discutire  den  Werth  der  bereits 
gesammelten  und  ziehe  aus  ihnen  Resultate. 

c)  Die  wissenschaftliche  Operation  beschäftige  sich  mit  der  Ermittlung 
der  mehr  oder  weniger  gleichmässigen  Regeln,  welche  das  sociale  System 
beherrschen. 

I.  §.  22.  Erkennung  der  Gegenstände  der  Statistik. 

Zunächst  handelt  es  sich  darum,  die  Gegenstände  der  Statistik  als 
solche  zu  erkennen  und  festzustellen.  Man  wird  demgemäss  alles  aus- 
scheiden müssen,  was  nicht  Gegenstand  der  Statistik  sein  kann. 

Gleich  diese  erste  Thätigkeit  des  Statistikers  ist  eine  der  schwie- 
rigsten. Man  muss  dabei  eine  Art  von  Vorbeobachtungen  anstellen.  Dabei 
wird  man  am  sichersten  gehen,  wenn  man  annimmt,  dass  alle  Erschei- 
nungen des  Weltlebens  in  das  Gebiet  der  Statistik  gehören  und  selbst 
die  typischen  nur  scheinbar  typisch  sein  könnten.    Von  dieser   Annahme 


Erkennung  der  Gegenst&nde  der  Statistik.  37 

ausgehend  wird  man  dann  zu  prüfen  haben,  ob  die  Vorbeobachtungen 
statistischen  Werth  haben  oder  nicht.  Und  darnach  ist  dann  zu  ent- 
scheiden, ob  die  fragliche  Erscheinung  in  das  Gebiet  der  Statistik  gehört 
oder  nicht. 

Diese  Vorbeobachtungen  können  weder  systematisch  noch  massenhaft 
angestellt  werden.  Oft  reichen  wenige  Beobachtungen  hin,  um  eine  Erschei- 
nung als  Object  der  Statistik  mit  Sicherheit  erkennen  zu  lassen.  Es  kommt 
eben  darauf  an,  die  charakteristischen  Merkmale  der  Massenerscheinung 
aufzufinden.  Allgemeine  Regeln  lassen  sich  hieför  schwer  aufstellen.  Wenn 
eine  Masse  von  Erscheinungen  gewissen  Einflüssen  und  jede  Einheit  dieser 
Masse  doch  wieder  besonderen  Einflüssen  folgt:  dann  ist  diese  Masse  von 
Erscheinungen  Object  der  statistischen  Methode.  Diese  Haupt-  und  Neben- 
einflüsse rasch  zu  erkennen :  darin  besteht  eine  der  schwierigsten  Aufgaben 
des  Statistikers. 

Gegenstand  der  statistischen  Methode  überhaupt  sind  alle  jene  Er- 
scheinungen, welche  von  stetigen  und  wechselnden  Ursachen  zugleich  be- 
wirkt erscheinen  und  aus  diesem  Grunde  zur  Erforschung  ihrer  Gesetze 
der  Massenbeobachtung  bedürfen. 

Ausserhalb  der  statistischen  Methode  stehen  daher: 

I.  Alle  Erscheinungen,  welche  nur  stetige  Ursachen  haben,  z.  B.  die 
Bewegung  der  Himmelskörper. 

n.  Die  Ableitungen  und  Resultate  dieser  Erscheinungen,  z.  B.  die 
Zeitmessung,  physikalische,  mechanische,  chemische  Gesetze. 

in.  Die  Ableitungen  und  Resultate  mathematischer  Gesetze. 

IV.  Alle  Ableitungen  und  Resultate  logischer  Gesetze. 

V.  Alle  Ableitungen  aus  den  durch  eigene  psychologische  Prüfung 
geftindenen  Gesetzen,  nach  welchen  menschliche  Handlungen  geschehen. 
Solcher  Art  sind  z.  B.  die  wirthschaftlichen  Erscheinungen,  sofern  sie  b los 
vom  menschlichen  Eigennutz  regulirt  werden. 

VI.  Alle  Erscheinungen,  welche  noch  vereinzelt  dastehen,  anscheinend 
Resultate  blos  zufälliger  Ursachen.  (Geschichte.) 

Die  Gegenstände  der  statistischen  Methode  werden  von  anderen  Ge- 
genständen menschlichen  Wissens  ausgeschieden: 

I.  Durch  den  gleichartigen  Charakter  ihrer  Verursachung,  durch  das 
Zusammenwirken  stetiger  und  wechselnder  Ursachen.  Die  statistische  Mas- 
senbeobachtung erkennt  und  scheidet  die  stetigen  und  die  wechselnden 
Ursachen.  Beobachtet  man  die  Masse,  so  erkennt  man  die  stetigen,  fasst 
man  dann  die  einzelnen  Erscheinungen  ins  Auge,  so  findet  man  die 
wechselnden  Ursachen. 

II.  Dem  entsprechend  auch  durch  die  Art  und  Weise  der  Forschung, 
welche  sie  herausfordern.  So  hat  es  die  Statistik  nur  mit  der  Gegenwart 


38  Erlcenuuug  der  Gogeustäudo  der  Statistik. 

ZU  thun,  denn  Vergangenes  lässt  sich  nicht  beobachten.  Man  könnte 
wohl  eine  Bevölkerungsstatistik  für  eine  bestimmte  Zeit  des  Alterthums 
herstellen,  wenn  statistische  Erhebungen  aus  jenen  Zeiten  vorhanden  wären. 
In.  diesem  Falle  lägen  aber  die  Beobachtungen  d.  h.  also  die  Grundlage 
der  Statistik,  aus  jener  Zeit  vor  und  die  Gegenwart  hätte  nur  die  andere 
Aufgabe,  zu  ordnen  und  Schlüsse  zu  ziehen. 

Anmerkung. 

Zur  weitereu  Erläuterung  des  eben  Gesagten  dürfte  noch  Folgendes  dienen : 
Unter  allen  Erscheinungen,  welche  das  Weltleben  uns  darbietet,  unterscheiden 
wir  je  nach  der  Verschiedenheit  der  Ursachen: 

I.  Erscheinungen,  welche  blosvon  stetigen  Ursachen  abhängen.  Sie 
sind  absolut  gleichförmig,  jede  einzelne  Erscheinung  ist  ein  Typus  für  alle  von 
dergleichen  Ursachen  abhängenden  Erscheinungen;  sie  ist  eine  typische. 
Typisch  sind  namentlich  physikalische  und  chemische  Vorgänge  und  ihre  Ge- 
setze. Hier  ist  das  wissenschaftliche  Verfahren  zur  Auffindung  der  Gesetze  sehr 
einfach.  Eben  weil  das  einzelne  typisch  ist,  weil  nur  stetige  Ursachen  gleich- 
förmig wirken,  berechtigt  schon  eine  einzelne  genau  constatirte  und  correct 
beobachtete  Thatsache  zu  einem  Inductionsschluss.  Die  Wiederholung  der  Beob- 
achtung ist  in  der  Regel  nur  zur  Prüfung  des  stattgehabten  Verfahrens  noth- 
wendig. 

Wenn  Z;  B.  der  Physiker  bemerkt  hat,  dass  ein  Tropfen  Quecksilber  bei 
einer  gewissen  Temperatur  gefriert,  so  gilt  dies  von  allen  Quecksilbertropfeu 
der  Welt. 

II.  Erscheinungen,  welche  von  stetigen  und  wechselnden  Ursachen 
abhängig  sind.  Hier  gibt  es  keine  absolute  Gleichförmigkeit,  sondern  je  nach 
dem  Mischungsverhältnisse  der  stetigen  und  der  wechselnden  Ursachen  sind  die 
Erscheinungen  mehr  oder  weniger  individuell.  Je  mehr  die  wechselnden  Ur- 
sachen Einfluss  haben,  desto  individueller  ist  die  Erscheinung. 

Es  können  selbst,  freilich  nur  bei  oberflächlichster  Betrachtung,  die  Er- 
scheinungen als  blos  von  zufälligen  Ursachen  bewirkt  erscheinen.  Bei  näherer 
Untersuchung  findet  man  doch,  dass  keine  Erscheinung  etwas  ganz  zufälliges  ist, 
sondern  dass  selbst  bei  den  zufälligsten  Ereignissen  doch  immer  auch  solche 
Ursachen  mitgewirkt  haben,  welche  sich  stets  und  überall   wiederholen. 

Der  Gegensatz  zwischen  dem  Typischen  und  dem  Individuellen  ist  also 
ein  fliessender. 

Die  Welt  ist  Natur-  und  Menschenleben.  Im  Allgemeinen  kann  man  die 
Naturerscheinungen  als  typische,  die  Erscheinungen  des  Menschenlebens  als  in- 
dividuelle bezeichnen.  Aber  nur  ganz  im  Allgemeinen.  Denn  auch  bei  Natur- 
erscheinungen wirken  stetige  und  wechselnde  Ursachen  gemeinsam.  Sehr  häufig 
findet  man  auch  in  der  Natur  keine  typische  Gleichförmigkeit,  sondern  nur  eine 
sehr  grosse  Regelmässigkeit.  Bei  den  Witterungserscheinungen  namentlich  wirken 
neben  den  stetigen  Ursachen  die  mannigfaltigsten  wechselnden. 

Je  höher  man  in  der  Reihe  der  Organisationen  emporsteigt,  desto  zahl- 
reicher werden  die  wirkenden  Ursachen,  desto  häufiger  die  wechselnden,  desto 
individueller  die  Erscheinungen.  Das  Individuelle  mehrt  sich  mit  dem  wachsen- 


Die  Menge  der  Beobaclilungcu.  39 

deu  *Ueichihuiii  au  Lebeusfonueu.  Uud  diese  Mehruug  zeigt  sich  nicht  uur,  wenn 
man  uacheiiiauder  die  Ursachen  uud  Gesetze  anorganischer  Erscheinungen,  dann 
jene  von  Pflanzen,  Thieren  und  Menschen  beobachtet,  sondern  sie  setzen  sich 
innerhalb  des  Menschenlebens  fort;  der  Wilde  ist  typischer  als  der  Europäer, 
der  Mensch  des  Alterthunis  mehr  als  der  moderne.  Der  Mann  ist  individueller 
als  das  Weib;  ebenso  übertrifft  der  Erwachsene  das  Kind.  Auf  niedrigen  Bil- 
dungsstufen ist  die  Volkssitte  allmächtig.  Sie  wirkt  als  stetige  Ursache  beinahe 
gleichförmig  und  ruft  gleiche  Handlungen  bei  zahllosen  Personen  im  gegebenen 
Falle  hervor.  Dagegen  wirken  bei  gebildeten,  bei  edlen  uud  geistreichen  Men- 
schen zahlreiche  wechselnde  Ursachen  auf  ihre  Handlungen  ein  und  lassen  diese 
Handlungen  als  Resultate  stetiger  und  wechselnder  Ursachen  viel  unregelmässiger 
und  mannigfaltiger  ausfallen. 

Damit  wird  nicht  behauptet,  das  Individuelle  sei  unbestimmt  und  gesetzlos. 
Auch  die  Entwickelung  des  geistig  hochbegabten  und  gemüthreichen  Menschen 
ist  gesetzmässig;  aber  das  Gesetz  birgt  sich  unter  der  Fülle  der  störenden 
wechselnden  Ursachen. 

Und  so  muss  denn  auch  mit  der  steigenden  Organisation  der  beobachteten 
Erscheinung  der  Inductionsschluss  vom  Einzelnen  auf  die  Gattung  immer  weniger 
leicht,  immer  unsicherer  werden.  (Nach  Bümeliu  a.  a.  0.) 

II.  §.  23.  Die  Menge  der  Beobachtungen. 

Hat  man  nun  die  Erscheinungen  als  dem  Gebiete  der  Statistik  an- 
gehörende erkannt,  so  ist  die  nächste  Aufgabe  die  Beobachtung  derselben, 
und  zwar  die  methodische  Massenbeobachtung.  Sie  unterscheidet  sich,  wie 
schon  aus  früher  Gresagtem  hervorgeht,  streng  von  der  Einzelnbeobachtung 
und  von  der  unmethodischen  Massenbeobachtung. 

Die  methodische  Massenbeobachtung  nun  muss  nach  folgenden  Grund- 
sätzen angestellt  werden: 

Vor  allem  muss  eine  so  grosse  Masse  von  Erscheinungen  beob- 
achtet werden,  dass  man  ein  Recht  hat  zu  vermuthen,  dass  alle  Ursachen, 
welche  auf  diese  Erscheinungen  überhaupt  einwirken  können,  auf  die  be- 
obachtete Masse  auch  eingewirkt  haben.  Beobachtet  man  z.  B.  die  Bewe- 
gung einer  Bevölkerung  fünf  Jahre  lang  und  zwar  während  solcher  Jahre, 
in  welcher  keine  besonderen  Ereignisse  vorgekommen  sind,  und  bemerkt 
man,  dass  diese  Bevölkerung  jedes  Jahr  um  n  Seelen  zugenommen  hat,  so 
wäre  man  allenfalls  berechtigt  zu  dem  Schlüsse,  dass  diese  Bevölkerung 
überhaupt  jedes  Jahr  um  n  Seelen  wachse  und  demnach  nach  x  Jahren 
sich  verdoppelt  haben  werde. 

Beobachtet  man  dagegen  diese  Bevölkerung  50  Jahre  lang,  so  wird 
man  vielleicht  finden,  dass  unter  diesen  50  Jahren  25  waren,  welche  eine 
mittlere  Ernte  ergaben,  und  dass  in  diesen  25  Jahren  die  Bevölkerung  je 
um  n  Seelen  zunahm.  Man  wird  ferner  vielleicht  finden,  dass  10  Jahre 
vorzüglich  gute  Ernten  ergaben,  und  dass  in  diesen  10  Jahren  die  Bevöl- 


40  Die  Beobaehtungsinittel. 

kerung  um  n  -{-  a  zunahm,  während  10  Jahre  sehr  schlechte  Ernten  lie- 
ferten und  die  Bevölkerung  in  diesen  Jahren  nur  um  n  —  b  zunahm. 
Endlich  wird  man  vielleicht  finden,  dass  unter  diesen  50  Jahren  auch  5 
waren,  die  zwar  mittlere  Ernten  hatten,  von  welchen  aber  3  Kriegsjahre 
waren,  in  denen  die  Bevölkerung  nur  uin  n  —  c  zunahm  und  2  Cholera- 
jahre, in  welchen  die  Bevölkerung  nicht  zunahm,  sondern  um  d  Seelen  im 
ersten,  um  e  im  zweiten  verringert  ward.  Bei  dieser  Beobachtung  hat  man 
mehrere  auf  die  Bevölkening  einwirkende  Ursachen  kennen  gelernt,  und  es 
stellt  sich  d^ie  Zunahme  dieser  Bevölkerung  in  fünfzig  Jahren  keineswegs 
auf  50  n,  sondeni  auf:  26  n  -^  10  {n  -\-  a)  -\-  10  {n  —  b)  -\-9  (n  —  c) 
—  d  —  e. 

Je  grösser  die  Masse  der  Beobachtungen,  desto  sicherer  die  Resultate, 
desto  grösser  der  Werth  der  gefundenen  Gesetze.  Und  je  kleiner  die  Masse, 
desto  geringer  die  Zuverlässigkeit.  Die  anzustellende  Masse  der  Beobach- 
tungen hat  demnach  keine  bestimmte  Grenze.  Der  Ausdruck  Masse  hat 
hier,  wie  überhaupt,  nur  eine  relative  Bedeutung. 


III.  §.  24.  Die  Beobachtungsmittel. 

Der  einzelne  Statistiker  kann  zwar  auf  manchen  Gebieten  die  nöthigen 
Beobachtungen  selbst  anstellen,  in  der  Regel  aber  nur  da,  wo  es  auf 
Beobachtung  blos  der  zeitlichen  Unterschiede  ankommt. 

Wo  dagegen,  wie  es  meistens  der  Fall  ist,  räumliche  und  zeitliche 
Beobachtung  vereinigt  werden  'muss:  da  ist  auch  eine  Mehrzahl  von  Beob- 
achtern nothwendig.  Meistens  muss  ein  ganzes  künstlich  ineinandergreifen- 
des System  von  Beobachtungen  organisirt  werden  und  man  bedarf,  da  die 
Organisation  der  Privatkräfte  nicht  hinreichend  ist,  häufig  sogar  amtlicher 
Beobachtungsanstalten.  Namentlich  gilt  dies  für  die  Beobachtung  mensch- 
licher und  staatlicher  Zustände.  In  diese  würde  keine  Beobachtung  ein- 
dringen können,  wenn  nicht  staatliche  Macht  sie  unterstützte.  So  gehen 
denn  eigene  Beobachtungsanstalten  des  Staates,  statistische  Bureaux,  aus 
dem  Wesen  der  statistischen  Gegenstände  hervor. 

Diese  Beobachtungsanstalten  dienen  freilich  zunächst  praktischen 
Verwaltungszwecken.  Sie  sind  nicht  errichtet,  um  der  wissenschaftlichen 
Forschung  zu  dienen,  sondern  ursprünglich  nur  Werkstätten  zur  prak- 
tischen Erforschung  jener  Zustände,  von  welchen  die  Staatsverwaltung 
Kenntniss  haben  will. 

Aber  während  in  diesen  Anstalten  praktische  Zwecke  verfolgt  werden, 
dienen  sie  auch  immerwährend  mittelbar  der  Wissenschaft. 


Die  Form  der  Beobachtung.  41 

IV.  §.  25.  Die  Form  der  Beobachtnng. 

Die  Form  der  Beobachtung  ist  die  Auflösung  der  Erscheinungen  in 
Quantitäten,  die  Bestimmung  der  zeitlichen  und  räumlichen  Verschieden- 
heiten als  quantitativer  Veränderungen.  Am  genauesten  werden  diese  Quan- 
titäten natürlich  durch  Ziffern  bestimmt. 

Hat  man  also  eine  Beobachtungsmasse  vor  sich,  welche  eine  Reihe 
von  verschiedenen  Erscheinungen  bietet,  eine  Reihe  von  verschiedenen  Be- 
wegungen macht,  so  wird  man,  um  diese  Erscheinungen  und  Bewegungen 
des  Beobachtungsgegenstandes  quantitativ  zu  bestimmen,  untersuchen  müssen, 
wie  oft  diese,  wie  oft  jene  Erscheinung  oder  Bewegung  stattfindet,  wie 
oft  sie  zu  dieser  und  zu  jener  Zeit  stattfindet.  Man  wird  den  Beobach- 
tungsgegenstand in  räumlich  verschiedene  Theile  zerlegen  und  an  jedem 
Theile  dieselbe  Untersuchung  anstellen  wie  am  Ganzen.  Die  Untersuchungs- 
fragen lauten  demnach  immer:  wie  oft,  wie  häufig  geschieht  oder  ist  dies 
und  jenes?  wie  oft  ist  es  zu  dieser  oder  jener  Zeit?  an  diesem  oder  jenem 
Orte?  unter  diesen  oder  jenen  Verhältnissen?  nach  diesen  oder  jenen  Vor- 
gängen ? 

Diese  Untersuchungsfragen  lassen  sich  in  der  Regel  durch  Ziffern 
beantworten,  sofern  man  überhaupt  den  Gegenstand  festhalten  kann. 
Ziflfermässigkeit  ist  eine  Anforderung  an  die  Statistik.  Aber  man  darf 
von  ihr  nicht  ausschliesslich  Ziffern  verlangen  und  jede  anders  als  in 
Ziffern  ausgedrückte  Beobachtung  verwerfen.  Wo  Ziffern  mangeln,  sind 
häufig  auch  ungefähre  Grössenbestimmungen  brauchbar  (z.  B.  di^  Aus- 
drücke viel,  wenig,  oft,  selten,  mehr,  weniger,  grösser,  geringer,  öfter, 
seltener). 

Man  muss  sogar  mit  solchen  ungefähren  Quantitätsausdrücken  be- 
ginnen, bis  die  Beobachtungsmittel  und  Methoden  genaue  Daten  liefern. 
Zwischen  diesen  ungefähren  Quantitätsausdrücken  und  den  präcisen  Ziffern 
liegen  dann  noch  Ausdrücke  wie :  gegen  1000;  800 — lOOO;  ungefähr  10000; 
u.  s.  f.  Solche  Ausdrücke  können  unter  Umständen  logisch  richtiger  sein, 
als  ganz  präcise  Ziffern. 

Je  genauer  und  ziffermässiger  aber  die  Beobachtungen  werden,  desto 
mehr  werden  mit  dem  Beobachtungsmaterial  solche  Operationen  und  Schlüsse 
vorgenommen  werden  können,  welche  dem  Rechnen  ähnlicher  sind  und 
der  Statistik  in  höherem  Grade  den  Charakter  einer  exacten  "Wissenschaft 
geben. 

Sofortige  Aufzeichnung  des  gefundenen  Beobachtungsmateriales  ist 
natürlich  absolut  nothwendig,  da  es  sich  um  Massenbeobachtungen  handelt, 
und  das  menschliche  Gedächtniss  nicht  im  Stande  ist,  den  kleinsten  Theil 
der  Ziffermassen,  mit  welchen  eine  einzige  statistische  ünteröuchung  operirt, 
zu  behalten.  Diese  Thätigkeit  ist  durchaus  mechanisch. 


42  Zeitliche  und  ränmlielie  VerHcliiedeuheiUii  im  Beobacliiuiigsgegcnstaiid. 

V.  §.  26.  Zeitliche  und  räumliclie  Verschiedenheiten  im  Beobachtungs- 

gegenstand. 

Die  statistischen  Objecte  liegen  und  bewegen  sich  in  der  Zeit  und 
im  Räume,  und  zwar  in  verschiedenen  Zeitmomenten  und  in  verschiedenen 
Räumen.  Diese  zeitlichen  und  räumlichen  Verschiedenheiten 
müssen  von  der  Beobachtung  erfasst  werden.  Und  zwar  müssen  möglichst 
viele  solche  zeitliche  und  räumliche  Unterscheiduiigspunkte  (Phasen,  Mo- 
mente, Theile)  beobachtet  werden.  Wenn  man  also  z.  B.  die  Bewegung 
der  Bevölkerung  eines  Staates  erforscht,  um  ihre  Gesetze  zu  finden,  muss 
man  die  Bewegung  möglichst  vieler  Jahre,  ja  sogar  Monate  beobachten 
und  ebenso  die  Bewegung  in  den  verschiedenen  Theilen,  Provinzen  und 
Städten  des  Staates. 

Dadurch  wird  die  Beobachtung  zur  Massenbeobachtung. 

Um  aber  auch  eine  methodische  Beobachtung  zu  sein,  muss  sie  alle 
diese  einzelnen  Unterscheidungspunkte  doch  in  Hinsicht  auf  ihre  Zusam- 
mengehörigkeit zu  einer  Gesammterscheinung  betrachten. 

Zeit  und  Raum  der  Gesammterscheinung  müssen  also  in  viele  kleine 
Zeiten  und  kleine  Räume  zerlegt  werden,  und  in  diesen  kleinsten  Zeit- 
und  Raumtheilen  muss  die  Erscheinung  fortgesetzt  beobachtet  werden. 

Jede  einzelne  Beobachtung  über  den  Zustand  eines  statistischen  Ge- 
genstandes in  einem  gegebenen  Raum  und  zu  einem  bestimmten  Zeitpunkte 
heisst  statistisches  Datum.  Passendei^eise  beschränkt  man  diesen  Aus- 
druck auf  die  Theilbeobachtung  einer  bestimmten  Massenbeobachtung.  War 
diese  Beobachtung  eine  systematische,  dann  sind  auch  die  Daten  systema- 
tische. Beliebig  aus  verschiedenen  Zeiten  und  Räumen  zusammengestellte 
statistische  Beobachtungen  sind  keine  systematischen  Daten,  keine  Theile 
einer  fortlaufenden  Beobachtungsreihe.  Sie  bieten  auch  keine  Garantie  be- 
züglich der  Vollständigkeit  der  mitwirkenden  Ursachen,  dienen  aber  als 
Nothbehelf. 

Was  insbesondere: 

1.  Die  Zeitabschnitte  betrifft,  in  welche  die  statistischen  Beob- 
achtungen zerlegt  werden  können,  so  sind  dieselben  glücklicherweise  fast 
allenthalben  gleichartig:  das  Jahr,  der  Monat,  der  Tag  u.  s.  f. 

Ein  anderes  wichtiges  Erforderniss  der  Beobachtungen  ist  in  vielen 
Fällen  ihre  Periodicität.  Sind  die  Daten  blos  Resultate  einmaliger  Beob- 
achtung, so  bleiben  sie  ziemlich  werthlos  deshalb,  weil  es  dann  unmöglich 
ist,  die  Bewegung  der  beobachteten  Erscheinung  im  Wechsel  der  Zeiten 
zu  untersuchen. 

2.  Die  räumlichen  Abschnitte  dagegen,  in  welche  sich  die  Beob- 
achtungsmassen zerlegen  lassen,  sind  fast  überall  ungleichmässig  und  will- 


Die  Richtigkeit  der  Zahlen.  43 

kürlich,  weil  die  Welttheile  und  Länder,  die  Provinzen,  Districte  und 
Landschaften,  kurz,  weil  alle  physikalisch  oder  politisch  unterscheidbaren 
Theile  der  Welt  von  durchaus  ungleicher  Grösse  sind.  Dieser  Umstand 
erschwert  die  richtige  Beobachtung  räumlich  verschiedener  Massen  unge- 
mein ^). 

Anmerkung. 

*)  Hierüber  bemerkt  G.  Mayr  (die  Gesetzmässigkeit  im  Gesellschaftslebeii 
S.  23  ff.):  Die  vergleichende  Statistik  rechnet  in  der  Regel  nur  mit  Durch- 
schnittsergebnissen für  ganze  Länder  oder  im  besten  Fall  für  grosse,  durch  die 
administrative  Haupteintheilung  bestimmte  Bestand  theile  derselben.  Diese  Ver- 
gleichung  entspricht  den  tieferen  wissenschaftlichen  Anforderungen  nicht,  und 
zwar  deshalb,  weil  die  einzelnen  Länder  und  Provinzen  von  sehr  verschieden- 
artiger Grösse  sind,  und  weil  in  den  Durchschnittsergebnissen  für  ganze  Länder 
und  Provinzen  sehr  verschiedenartige  Verhältnisse  der  einzelnen  kleineren  Ge- 
bietsabschnitte zu  einem  nur  scheinbar  richtigen  Gesammtausd rucke  verwischt 
werden....  Jeder  Zweig  der  Statistik,  der  auf  Beobachtung  räumlich  auseiii- 
anderliegender  Thatsachen  bei-uht,  hat  seine  gesonderte  Geographie,  für 
welche  die  Durchschnitte  ganzer  Länder  und  Provinzen  nur  ein  Zerrbild  geben. 

VI  §.  27.  Die  Vergleichbarkeit  statistischer  Daten. 

Ein  Haupterfordern iss  der  statistischen  Daten  ist,  dass  sie  analoge 
und  vergleichbare  Fälle  umfassen.  Wenn  man  z.  B.  blos  wüsste,  wie 
viel  Pferde  Deutschland,  wie  viel  Stück  Rinder  Frankreich,  wie  viel  Schafe 
Oesterreich  besitzt,  so  wäre  es  aus  diesen  Ziffern  unmöglich,  die  landwirth- 
schaftlichen  Zustände  dieser  Länder  zu  vergleichen. 

Gegen  das  Erforderniss  der  wirklichen  Vergleichbarkeit  statistischer 
Daten  wird  häufig  gefehlt.  Oft  werden  deutliche  Qualitätsunterschiede  der 
beobachteten  Thatsachen  ausser  Acht  gelassen ,  entweder,  weil  diese  Qua- 
litätsunterschiede überhaupt  nicht  zur  Ziffer  gebracht  werden  konnten  oder 
aber,  weil  sie  zwar  der  ziffermässigen  ßeti-achtung  wohl  zugänglich  waren, 
aber  keine  im  Verhältniss  zur  aufgewendeten  Arbeit  stehende  Bereicherung 
unseres  Wissens  bilden  würden  ^). 

Anmerkung. 
*)  G.  Mayr.  Die  Gesetzmässigkeit  etc.  S.  29. 

VU.  §.  28.  Die  Bichtigkeit  der  Zahlen '). 

Auf  die  Richtigkeit  der  gefundenen  Urzahlen  kommt  begreiflicher- 
weise Alles  an.  Falsche  Zahlen  sind  eben  wegen  ihres  Scheines  von 
Sicherheit  ungemein  gefahrlich.  Daher  ist  vor  der  Benützung  dieser  Zahlen 
eine  Sichtung  und  formale  Kritik  nöthig. 


44  Die  Sammlung,  Classification  und  Oruppirung  der  Daten.  Die  Tabelle. 

Die  Zuverlässigkeit  der  Zahlen  ist  jedoch  ungemein  verschieden, 
theils  nach  der  Art  und  Weise  wie  dieselben  gewonnen  werden,  theils 
nach  dem  Material,  mit  welchem  sich  die  Erhebungen  beschäftigen. 

Zahlen,  welche  durch  amtliche  Erhebungen  gewonnen  werden,  müssen 
natürlich  eine  grössere  Zuverlässigkeit  haben,  als  solche,  die  blos  durch 
Privatfleiss  gesammelt  werden.  Zahlen,  welche  auf  Umwegen  (durch  Be- 
rechnungen, Schätzungen  etc.)  gewonnen  werden,  ferner  solche  Zahlen, 
welche  sich  nicht  auf  ihren  Ursprung  zurückverfolgen  lassen,  sodann 
solche,  in  welchen  schon  eine  oder  die  andere  Unrichtigkeit  entdeckt  oder 
zugestanden  ist,  werden  begreiflicherweise  mit  weit  grösserer  Vorsicht  be- 
handelt werden  müssen,  als  unverdächtige. 

Es  gibt  manche  Gegenstände  der  Statistik,  deren  Zahlen  von  vorn- 
herein ein  grösseres  Vertrauen  verdienen.  Das  ist  namentlich  der  Fall  bei 
jenen  Gegenständen,  wo  —  abgesehen  von  wissenschaftlichen  Zwecken  — 
eine  genaue  Buchführung  aus  geschäftlichen  Gründen  nöthig  und  einge- 
führt ist.  So  namentlich  bei  den  Ziffern,  welche  im  Bereich  des  Finanz-, 
Zoll-,  Post-  und  Eisenbahnwesens,  des  Sparcassenwesens  etc.  erwachsen. 
Auch  die  Ziffern  der  Bevölkerungsstatistik  verdienen  heutzutage  volles 
Vertrauen,  wenn  auch  da  kleine  Unrichtigkeiten  sich  einschleichen  können. 
Dagegen  sind  die  Ziffern  auf  dem  Gebiete  des  landwirthschaftlichen  und 
industriellen  Lebens,  und  noch  mehr  diejenigen,  welche  sich  auf  das  ge- 
sellschaftliche und  geistig-sittliche  Leben  des  Volkes  beziehen,  grossen- 
theils  sehr  unsichere. 

Die  Ziffer  schlechtweg,  ohne  Kenntniss  ihres  Ursprunges,  gilt  und 
beweist  heutzutage  gar  nichts  mehr.  Bei  jeder  Anwendung  von  Ziffern 
muss  die  Möglichkeit  gegeben  sein,  dieselben  bis  auf  ihren  Ursprung 
zurückzuverfolgen.  Nur  dadurch  wird  eine  Beurtheilung  ihres  Werthes 
überhaupt  möglich. 

Anmerkung. 

*)  Vgl.  Block- V.  Scheel:  Handbuch  der  Statistik.  S.  103. 

VIII.  §.  29.  Die  Sammlung,  Classification  und  Grappimng  der  Daten. 

Die  Tabelle. 

Die  erhobenen  Ziffern  müssen  gesammelt,  classificirt  und  gruppirt 
werden,  um  sie  dem  forschenden  Blicke  wohlgeordnet  vorzuführen. 

Das  wichtigste  Mittel  übersichtlicher  Zusammenstellung  und  Grup- 
pirung  ist  die  Tabelle.  Sie  erleichtert  den  Ueberblick  und  lässt  Gleich- 
förmigkeiten und  Verschiedenheiten  sofort  erkennen.  Auch  die  formelle 
Sichtung  wird  durch  die  Tabelle  erleichtert;  auffällige  Abweichungen  der 
Gleichförmigkeiten,  die  etwa  auf  Beobachtungsfehlem  beruhen  könnten, 
werden  sofort  bemerkt. 


Die  Sammlnng,  Classification  und  Grappirnng  der  Daten.  Die  Tabelle. 


45 


Die  Tabelle  ist  unentbehrlich  als  Grundlage  weiterer  statistischer 
Operationen. 

Die  Gruppirung  der  statistischen  Daten  in  der  Tabelle  geschieht  zu 
dem  Zwecke,  damit  der  Blick  des  Statistikers  an  jeder  Erscheinung  die 
Regelmässigkeit  derselben  oder  ihre  Veränderungen,  sowie  das  Mass,  den 
Ort  und  die  Zeit  dieser  Veränderungen  in  übersichtlicher  Weise  erfasse. 
Die  Auffindung  dieser  Veränderungen  ist  eine  ziemlich  mechanische  Thä- 
tigkeit.  Man  braucht  dazu  eine  ganz  bescheidene  statistische  Fertigkeit, 
welche  etwa  beobachten  kann,  ob  sich  z.  B.  zwei-,  drei-  oder  mehrziflfrige 
Zahlen  an  gewissen  Stellen  der  Tabelle  besonders  stark  häufen  oder  in 
gewisser  Weise  vertheilen  *). 

In  einer  Tabelle  können  oft  die  Wahrheiten  eines  ganzen  dicklei- 
bigen Buches,  voll'  von  Theorien  und  Deductionen,  in  nuce  beisammen 
sein.  Nur  muss  man  die  Schätze  zu  heben  wissen"'). 

Wenn  übrigens  die  Anfertigung  der  Tabellen  als  eine  ziemlich 
mechanische  Thätigkeit  bezeichnet  wurde,  so  gilt  dies  nur  von  einem 
Theile  dieses  Geschäftes.  Die  ganze  Tabellenarbeit  gliedert  sich  in: 

1.  die  Anlage  der  Tabellen,  die  Anordnung  der  Tabellenköpfe  — 
eine  Thätigkeit,  welche  zwar  manchmal  sehr  einfach  scheint,  häufig  jedoch 
eine  hohe  statistische  Bildung  beansprucht; 

2.  die  Ausfüllung  der  Tabellen,  eine  blosse  Schreiberarbeit,  jedoch 
60  umfangreich,  dass  sie  bei  irgend  grösseren  Untersuchungen  ein  eigenes 
Schreiber-  und  Rechnerpersonal  beansprucht; 

3.  das  Lesen  der  Tabellen'). 

Zur  ferneren  Erleichterung  der  Auffindung  von  Regelmässigkeiten 
oder  Verschiedenheiten  dienen  indessen  noch  andere  Mittel. 

Anmerkungen. 

*)  Wagner:  Die  Gesetzm.  I.  S.  69. 

*)  Oettiugen:  a.  a.  0.  S.  281. 

')  Ein  abstractes  Beispiel  dieses  Theiles  der  Statistik  wäre  etwa  folgendes, 
das  sich  vielleicht  als  das  Eiumaleius  der  statistischen  Methode  bezeichnen  liesse. 

ABC 

ß 


a 

h    c    h    h    h    h 

c    f    f     c    d    € 

c    h   g  f  f  f   a 

d    a    d    e    a 

a    c     g    a    c 

c     g    d    d    d    d 

d    c    d    f   f 

d    d               d 

e     e                c 

c     c    d    c   d 

g    b     h    h    g 

a         9    g    9     ^ 

d    d    d    h    g   c 

h     e    e    h    h    h 

h   g    h    e    e   e    e 

e     a    a    f   f   f 

a     c    e    6    e    g 

e   e    e    e   d   e   e 

g     e     e    c    J    g 

g    d    d    d    c    a 

c   e   e  g  e  g  a  a 

6 

^99 

9  9  9   9  f  f  f 

e    e   e   g  e  g  e  e 

D 


E 


F 


46 


Die  Sammlttn^,  Classification  und  6ruppirung  der  Daten.  Die  Tabelle. 


a  ß  y  S  repräsentirt  eine  Masse  verschiedener  Erscheinungen.  Diese  Er- 
scheinungen sind :  a,  b,  c,  d,  e,  /,  g,  Ä.  Die  ganze  Masse  —  sei  sie  nun  die 
Bevölkerung  eines  Landes  oder  die  Criminalfö.lle  eines  Jahres,  oder  die  in  einem 
Jahrhundert  wechselnden  Preise  der  Lebensmittel  oder  irgend  eine  andere 
Massenerscheinung  —  vertheilt  sich  in  gewissen  Gruppen.  Wäre  also  a  ß  y  8 
ein  Land,  so  wären  Ä  B  €  D  E  und  F  die  Kreise,  Provinzen  desselben. 
Wäre  cc  ß  ö  y  ein  halbes  Jahr,  so  wären  diese  Theile  die  verschiedenen 
Monate  u.  s.  f. 

Will  man  nun  die  verschiedenen  Einzelnerscheinungen  für  die  statistische 
Beobachtung  zurecht  richten,  so  wird  man  zunächst  aufzeichnen  müssen: 


a  erscheint  it  Mal 
^  r>  1       w 

d  „         21      . 


e  erscheint  30  Mal 

/         «         13    „ 

h  „  15     r» 


In  der  ganzen  Masse  erscheint  demnach  e  am  häufigsten,  nämlich  doppelt 
so  oft  als  h  und  /,  nahezu  3  Mal  so  oft  als  a  und  etwa  V/^  Mal  so  oft  als  c 
und  d.  Als  unicum  zeigt  sich  b. 

Nach  ihrer  Frequenz  geordnet,  stellen  sich  demnach  die  beobachteten 
Erscheinungen  in  folgender  Reihe: 

«,  g,  €  und  <i,  A,  /,  a,  b. 

Berücksichtigt  man  nun,  wie  sich  die  einzelnen  Erscheinungen  auf  die 
Theile  A^  -B,  C,  2>,  E  und  F  vertheilen,  so  findet  man 


in: 

a 

h 

c 

d 

e 

/ 

9 

A 

A 

2  Mal 

. 

6  Mal 

6  Mal 



2  Mal 

— . 

5  Mal 

B 

2    „ 

IMal 

5     ^ 

4     ^ 

— 

2    « 

3  Mal 

2    . 

€ 

2     „ 

— 

4     ^ 

4     „ 

2  Mal 

3     » 

5    „ 

1     « 

D 

2     „ 

— 

3     „ 

3     „ 

4   « 

3    „ 

8    « 

1      r, 

E 

2     „ 

— 

2     „ 

3     „ 

5   „ 

3     „ 

6    ^ 

4    « 

F 

2     „ 

— 

1     ^ 

1     „ 

19    „ 



5    « 

2    « 

So  sind  die  einzelnen  Daten  dieser  Massenerscheinung  zur  Beobach- 
tung in  einer  Tabelle  geordnet  und  es  drängen  sich  nun  folgende  Bemer- 
kungen auf: 

a  erscheint  äusserst  regelmässig,  zweimal  in  jedem  Theile  des  Beobach- 
tungsfeldes. Es  dürfte  demnach  diese  Erscheinung  vom  Wechsel  der  Zeit 
und  des  Ortes  und  der  anderen  Erscheinungen  unabhängig  sein. 

b  zeigt  sich  ein  einziges  Mal,  nämlich  nur  im  Theile  B  des  Beobachtungs- 
feldes. 

c  zeigt  sich  in  einzelnen  Theilen  des  Beobachtungsfeldes  sehr  oft,  in  anderen 
seltener.  Es  kommt  vor:  in  A  6  Mal,  in  J9  5  Mal,  in  C  4  Mal,  in  D 
3  Mal,  in  E  t  Mal,  in  F  1  Mal.  Es  erreicht  demnach  die  Erscheinung  c 
in  A  ein  Maximum,  in  F  ein  Minimum. 


Die  graphisclieii  Darstellungen.  47 

d  fiadet  sich  gleich  e  überall,  seine  Häufigkeit  nimmt  zu  und  ab  mit  der 
Häufigkeit  Ton  c,  und  zwar  ziemlich  regelmässig.  £s  muss  ein  ursäch- 
licher Zusammenhang  zwischen  beiden  Erscheinungen  bestehen. 

e  im    Gegensatze   findet    sich  gar  nicht,  wo  d  und  c  sehr  häufig  sind,  da- 
gegen sehr  oft,  wo  jene  selten  werden. 
Dehnt  man  die  Beobachtung  noch  weiter  aus,  so  findet  man: 

/  tritt  niemals  vereinzelt  auf,  sondern  stets  doppelt  oder  mehrfach  neben- 
einander, und  zwar  stets  in  der  Nähe  yon  o,  so  dass  auch  hier  ein  eigen- 
thümlicher  Zusammenhang  yorliegt. 

g  findet  sich  in  den  meisten  Theilen  des  Beobachtungsfeldes,  liebt  es  aber, 
sich    in    den   unteren  Gegenden  dieser   Theile  zu  concentriren,  während 

h  in  den  oberen  Gebieten  sich  befindet,  und  nur  da,  wo  b  auftritt,  von 
demselben  mit  Entschiedenheit  herabgezogen  wird. 

Und  so  lassen  sich  die  Regelmässigkeiten  und  Veränderungen  noch  weiter 
verfolgen.  Die  Bedeutung  der>  Resultate  wird  klar,  wenn  man  sich  an  die 
Stelle  der  abstracten  Zeichen  die  Zifi^ern  wirklich  beobachteter  Erscheinungen 
des  Weltlebens  denkt. 

IX.  §.  30.  Die  graphischen  Darstellnngeii. 

Auf  Grund  der  statistischen  Zahlen  können  auch  graphische  Dar- 
stellungen der  beobachteten  Erscheinungen  gegeben  werden.  Diese  Dar- 
stellungen zerfallen  in  zwei  Hauptgruppen : 

A.  Diagramme,  d.  h.  einfache  geometrische  Versinnlichungen  sta- 
tistischer Zahlen.  Dieselben  sind  wieder,  je  nachdem  Linien  oder  Flächen 
zur  Versinnlichung  angewendet  werden,  Linien-  oder  Flächendiagramme. 

1.  Die  Liniendiagramme  würden  in  ihrer  einfachsten  Form  darin 
bestehen,  dass  man  mehrere  gerade  Linien,  welche  in  ihrer  verschiedenen 
Länge  den  darzustellenden  Ziffern  entsprechen,  nebeneinander  stellt.  Der- 
artige Diagramme  werden  indessen,  da  sie  nicht  anschaulich  genug  sind, 
kaum  angewendet.  Sehr  häufig  wird  dagegen  das  Liniendiagramm  in  der 
Weise  angewendet,  dass  man  die  Endpunkte  solcher  ungleich  langer 
Linien  verbindet,  wodurch  eine  Zickzacklinie  entsteht.  Es  ist  indessen 
keineswegs  nothwendig,  ja  meistens  nicht  einmal  innerlich  gerechtfertigt, 
dass  diese  Zickzacklinie  aus  einer  (in  stumpferen  oder  spitzigeren  Winkeln) 
gebrochenen  Geraden  besteht.  Dem  Wesen  der  darzustellenden  Erschei- 
nungen entspricht  es  vielmehr  besser,  wenn  die  genannte  Verbindungs- 
linie eine  krumme  Linie  ist.  Wendet  man  sie  an,  so  ergibt  sich  als  die 
passendste  und  gewöhnliche  Form  des  Liniendiagramms  die  Curvenzeich- 
nung  in  einem  Coordinatensystem.  Sie  ist  namentlich  beliebt,  wenn  es 
sich  darum  handelt,  die  Bewegung  von  Erscheinungen  in  verschiedenen 
Zeiträumen  darzustellen. 

Hat  man  z.  B.  drei  Erscheinungen,  a,  b  und  c  ein  ganzes  Jahr  hin- 
durch beobachtet   und  gefunden,    dass    diese  Erscheinungen   nicht  jeden 


48 


Die  graphischen  Darstellungen. 


Monat  gleich  oft  vorkamen,  sondern  dass  ihre  Zahl  nach  Monj^ten  wech- 
selte, so  wird  man  sich  eine  graphische  Darstellung  dieser  Bewegung 
machen  können,  indem  man  sich  eine  Art  Tabelle  construirt,  welche  in 
12  verticale  Spalten  getheilt  ist.  Dieselben  werden  oben  oder  unten  mit 
den  Namen  der  Monate  bezeichnet.  Von  oben  nach  unten  wird  die  Tabelle 
in  so  viele  Horizontal  spalten  getheilt  sein,  dass  alle  Wechselfälle,  die  man 
beobachtet  hat,  systematisch  darin  untergebracht  werden  können.  Nehmen 
wir  an,  die  Erscheinung  b  sei  unter  den  drei  beobachteten  Erscheinungen 
am  häufigsten  in  einem  Monate  aufgetreten;  sie  sei  in  dem  Monate,  wo 
sie  am  seltensten  vorkam,  einmal,  in  jenen  dagegen,  wo  sie  am  häufigsten 
vorkam,  zehnmal  erschienen.  Dann  müsste  die  Tabelle  10  Horizontalspalten, 
an  der  Seite  mit  den  Ziffern  1 — 10  bezeichnet,  enthalten.  In  die  so  con- 
struirte  Tabelle  werden  dann  Curven  eingezeichnet,  welche  in  ihrem 
Steigen  und  Sinken  die  Zahl  der  in  jedem  Zeitabschnitt  erreichten  Fälle 
bezeichnen. 

Kam  also  z.  B.  im: 


es 

SS 


04 


03 


I 


-*3 

ä 

ÖD 

< 

o. 

9 

10 
4 


8  I  8 
8  j  8 
5     I     6 


6  Mal 

3    „ 

2    . 


vor,   so   wird    die  graphische   Darstellung  dieser  Vorkommnisse  folgende 
Gestalt  annehmen  (s.  pag.  49). 

Die  grössere  oder  geringere  Gleichmässigkeit  in  der  Bewegung  der 
verschiedenen  Erscheinungen  zeigt  sich  hier  auf  den  ersten  Blick. 

Bei  solcher  Curvenzeichnung  ist .  vor  allem  genaue  und  gleich- 
massige  Zeiteintheilung  nöthig.  Die  Zeiteinheiten  können  dann  Monate, 
Tage,  Jahreszeiten,  Jahre,  Jahrzehnte  oder  die  verschiedenen  iiltersstufen 
des  menschlichen  Lebens  sein.  In  allen  Fällen  handelt  es  sich  darum, 
eine  Grundlinie  (Abscisse)  in  so  viele  gleiche  Theile  zu  theilen,  als  Zeit- 
einheiten beobachtet  wurden,  auf  jedem  solchen  Theile  eine  verticale  Linie 
(Ordinate)  zu  errichten,  deren  verschiedene  Höhen  mit  mathematischer 
Genauigkeit  die  verschiedenen  Ziffern  der  Erscheinungen  repräsentiren.  So 
lassen,  sich  namentlich  die  Erscheinungen,  welche  in  der  Entwicklung 
des  menschlichen  Lebens  vorkommen,  in  sog.  Alterscurven  darstellen: 
die  Lebenskraft,  die  Entwickelung  der  körperlichen  Stärke,  des  Hanges 
zum  Verbrechen  etc. 


Die  graphischen  DarBtellungen. 


49 


1 

1 

% 

1 

1 

\ 

1 

i 

1 

1 

10 

i 

10 

s 

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h 

■^ 

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6 

6 

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y 

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5 

i 

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\ 

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4 

s 

j 

\ 

"\ 

^6 

J 

i 

{ 

\ 

■»c 

Z 

1 

\ 

1 

Bestimmt  man  in  einer  solchen  Curvenzeichnung  durch  eine  horizon- 
tale Linie  die  Mittelwerthe,  so  treten  die  Berg-  und  Thalbewegungen  der 
Curve  sehr  bemerklich  hervor  und  man  kann  das  Mass  der  Abweichungen 
nach  oben  oder  unten,  die  sog.  Sensibilität  des  beobachteten  Gegen- 
standes genau  messen. 

Um  richtige  Curven  zu  erhalten,  müssen  die  Abtheilungen  der  Ab- 
öcisse  gleich  grosse  Zeitabschnitte  und  die  Theile  der  Ordinaten  gleich 
grosse  Massen  von  Erscheinungen  repräsentiren. 

Man  kann  dann  auch  in  einem  Coordinatensystem  die  Bewegung 
verschiedener  Erscheinungen  als  Curvenlinien  darstellen,  und,  je  nachdem 
diese  Curven  mehr  oder  weniger  parallel  laufen  oder  divergiren,  auf  das 
Vorhandensein  oder  Fehlen  eines  bedingenden,  ursächlichen  Zusammen- 
hanges der  verschiedenen  Erscheinungen  schliessen. 

Ein  Uebelstand  an  derartigen  Darstellungen  ist,  dass  kein  festes 
inneres  Verhältniss  für  die  Höhe  und  Breite  der  Darstellung  gegeben  ist. 
Die  Höhe  der  Einheiten,  in  welche  die  Geraden  getheilt  sind,  kann  eben 
80  willkürlich  genommen  werden,  wie  ihre  Distanz,  so  dass  eine  und  die- 
selbe statistische  Thatsache  durch  verschiedene,  sich  unähnliche  Diagramme 
dargestellt  werden  kann. 

Haushofer,  Statistik.  2.  Aufl.  4 


50  I^i®  graphisclien  Duretelluiigeii. 

Es  ist  keineswegs  nothwendig,  dass  die  Basis,  auf  welcher  sich  das 
Liniendiagramm  aufbaut,  eine  Linie  ist.  Diese  Basis  kann  auch  ein  blosser 
Punkti^  sein,  nämlich  der  Mittelpunkt  eines  Kreises,  von  welchem  aus 
gerade  Linien  von  verschiedener  Länge  radienformig  ausstrahlen,  an  ihren 
Endpunkten  verbunden.  Auch  kann  die  Basis  der  einzelnen  Geraden  eine 
Kreislinie  sein,  aus  welcher  die  Geraden,  deren  Endpunkte  dann  ver- 
bunden werden,  sich  nach  dem  Centrum  erstrecken. 

2.  Flächendiagramme.  Nur  einfache  geometrische  Figuren  eignen 
sich  zu  solchen,  und  zwar  bei  weitem  am  besten  die  Form  des  Rechtecks. 
Soll  eine  einzelne  Gesammtthatsache,  die  aus  mehreren  Theilen  von  ver- 
schiedener Grösse  besteht,  dargestellt  werden,  so  ist  am  passendsten  die 
Darstellung  durch  ein  Quadrat,  welches  in  mehrere  Rechtecke  von  ver- 
schiedener Grösse  zerlegt  wird.  Sollen  hingegen  mehrere  statistische  That- 
sachen  vergleichend  dargestellt  werden,  so  empfiehlt  sich  die  Anwendung 
von  Rechtecken.  Und  zwar  entweder  von  Rechtecken  mit  gleicher  Basis, 
aber  verschiedenen  Höhen,  oder  von  solchen  mit  gleicher  Höhe,  aber  ver- 
schiedener Basisbreite.  Weniger  empfehlenswerth  ist  die  Anwendung  anderer 
geometrischer  Figuren;  doch  werden  mitunter  Dreiecke  (mit  ünterabthei- 
lungen,  oder  nebeneinandergestellt,  oder  in  ein  Polygon  gebracht),  sowie 
Kreisflächen  angewendet.  Durch  Anwendung  von  Farbe  und  Schraffirung 
ist  es  bei  den  Flächendiagrammen  möglich,  mehrfache  Verhältnisse  in 
einem  Diagramm  darzustellen. 

B.  Kartogramme.  Will  man  dagegen  die  Vertheilung  einer  Er- 
scheinung über  geographisch  verschiedene  Räume  darstellen,  so  ist 
das  nächstliegende  Mittel  die  Kartenzeichnung.  Sie  kann  wieder  verschie- 
dene Formen  annehmen. 

1.  Kartogramme  mit  Punkten  sind  die  ursprünglichste  und  älteste 
Form  der  Kartogramme.  Hiebei  werden  die  Punkte  hauptsächlich  zur 
Darstellung  der  Bewohnungsverhältnisse  angewandt,  und  schon  lange  wird 
durch  eine  Grössenabstufung  der  Punkte  auf  Landkarten  die  verschiedene 
Bevölkerungszahl  der  Wohnplätze  zu  berücksichtigen  gesucht. 

2.  Kartogramme  mit  Linien  finden  nur  selten  Anwendung.  Doch 
sind  jedenfalls  die  Karten,  auf  welchen  Isothermen-Linien  angebracht 
sind,  als  Linien-Kartogramme  zu  bezeichnen. 

3.  Kartogramme  mit  Flächendarstellungen  sind  jedenfalls  die 
häufigsten  und  werthvollsten.  Hiebei  können  entweder  gewöhnliche  Flächen- 
diagramme (s.  oben)  in  geographischer  Lage  vorgeführt  werden.  Oder  es 
können  Bänder,  flussähnliche  verzweigte  Strömungen  von  verschiedener 
Breite  angewandt  werden,  um  die  räumliche  Bewegung  statistischer  Er- 
scheinungen darzustellen.  So  z.  B.  jene  Kartogramme,  auf  welchen  die 
Frequenz    von    Eisenbahnlinien    durch    Bänder    von    verschiedener    Breite 


Die  statistischen  Rechnnngsoperationen.  51 

dargestellt  ist;  oder  jene,  welche  durch  farbige  Strömungen  die  Absatz- 
gebiete der  verschiedenen  Steinkohlenlager  eines  Landes  anzeigen.  Am 
wichtigsten  aber  unter  dieser  Gruppe  von  Kartogrammen  sind  jene,  auf 
welchen  statistische  Thatsachen,  die  in  verschiedenen  Landestheilen  durch- 
schnittlich vorliegen,  für  diese  Landestheile  durch  Schraffirung  oder  Farben- 
abstufungen dargestellt  sind.  Wie  bei  jenen  Gebirgskarten ,  welche  dort 
am  dunkelsten  sind,  wo  die  Gebirgserhebung  am  höchsten,  erscheinen  bei 
diesen  statistischen  Karten,  wenn  sie  z.  B.  die  Betheiligung  eines  Volkes 
am  Verbrechen  darstellen  sollen,  jene  Theile  am  dunkelsten  gefärbt,  wo 
die  meisten  Verbrechen,  jene  am  hellsten,  wo  die  wenigsten  begangen 
werden.  Stellt  man  auf  mehreren  Karten  desselben  räumlichen  Gebietes 
verschiedene  Erscheinungen  in  solcher  Gestalt  dar,  so  lassen  sie  nicht  nur 
Vergleichungen  unter  sich,  sondern  sogar  mit  physikalischen  Karten,  und 
Entdeckung  von  Gleichmässigkeiten  und  Verschiedenheiten  zu. 

Anmerkuug. 
Ausführlicheres  über  graphische  Darstellungeu  findet  sich  bei  G.  Mayi*: 
Die  Gesetzmässigkeit  etc.  S.  71  ff.  Auch  haben  sich  die  statistischen  Congresse 
za  Wien,    Haag,    Petersburg  und  Pest  mit  der  kartographischen  Methode  be- 
schäftigt. 

Z.  §.  31.  Sie  statistischen  Eechnungsoperationen  ^). 

Mit  den  durch  die  Beobachtung  gefundenen  ürzahlen  lässt  sich 
häufig  keine  klare  Einsicht  in  das  wirkliche  Maass  der  Bewegung,  der 
Veränderung  gewisser  Erscheinungen  gewinnen.  So  müssen  denn  diese 
ürzahlen  auf  ein  einheitliches  Maass  zurückgeführt  werden,  um  wirklich 
vergleichbare  Werthe  zu  ergeben.  Dazu  dienen  die  einfachsten  Rechnungs- 
arten. Die  überall  vorkommenden  sind  folgende: 

1.  Die  noth wendigste  rechnerische  Operation  ist  immer  die  Addition 
der  beobachteten  Daten.  Sind  die  einzelnen  Daten  nach  ihrer  verschiedenen 
Qualität  gesondert,  so  müssen  sie  addirt  und  die  Summen  der  einzelnen 
Gruppen  zusammengestellt  werden. 

2.  Eine  andere,  ebenfalls  sehr  häufige  Operation  besteht  darin,  aus 
den  durch  die  Beobachtung  gefundenen  absoluten  Zahlen  leicht  vergleich- 
bare V  e  Eh  ältni  SS  zahlen  (relative  Zahlen)  zu  gewinnen;  eine  ebenso 
einfache,  als  nützliche  Aufgabe.  Wüsste  man  z.  B.,  dass  in  dem  Lande 
A  unter  3,496350  Einwohnern  1,922992,  dagegen  in  B  unter  4,326210 
Einwohnern  2,509201  Katholiken  sich  befinden,  so  wäre  auf  den  ersten 
Blick  nicht  zu  erkennen,  wo  mehr  Katholiken  im  Verhältniss  zur  Ge- 
sammtbevölkerung  sich  befinden.  Ganz  deutlich  aber  wird  dieses  Verhält- 
niss durch  Umrechnung  in  Procentsätze,  da  sich  alsdann  ergibt,  dass  im 
Lande  A  55,  in  B  58  Procent  Katholiken  sich  befinden.  Es  können  jedoch 

4* 


52  Die  statistisclien  Rechnnngsoperationen. 

solche  Reductionen  in  verschiedener  Weise  stattfinden.  Denkt  man  sich 
nämlich  die  Verhältnisszahlen  als  Brüche  und  denkt  man  sich  mehrere 
Bräche  mit  grossen  Zahlen  nebeneinander  gestellt,  so  können  diese  Zahlen 
vereinfacht  und  vergleichbar  gemacht  werden  entweder  durch  Gewinnung 
eines  gleichen  einfachen  Zählers  oder  eines  gleichen  und  einfachen  Nenners. 
Weiss  man  z.  B.,  dass  in  der  Stadt  M  in  einem  bestimmten  Jahre  4121 
Todesfälle  bei  einer  Bevölkerung  von  131872  Menschen  vorfielen,  in  der 
Stadt  N  dagegen  bei  115956  Einwohnern  3221  Todesfälle,  so  kann  man 
entweder  die  Zahl  der  Todesfälle  oder  jene  der  Einwohner  einheitlich  und 
vergleichbar  machen.  Im  ersten  Falle  setzt  man  als  Zahl  der  Todesfälle 
1  und  berechnet,  auf  wie  viele  Einwohner  1  Todesfall  in  M  und  in  iV 
trifft.  Für  M  ergibt  sich  der  Bruch  """/ti^j  =  32,  d.  i.  1  Todesfall  auf 
32  Einwohner;  für  N  dagegen  "''*V,„i  =  36,  d.  i.  1  Todesfall  auf  36 
Einwohner.  Hier  wurde  also  der  Nenner  des  Bruches  in  1  verwandelt. 
Die  andere  Vereinfachungsmethode  würde  die  Zähler  in  runde  Summen, 
u.  zw.  in  100,  1000  oder  10000  verwandeln.  Dann  erfährt  man,  dass  in 
M  3,13  Procent,  in  N  dagegen  2,77  Procent  gestorben  sind.  Beide  Re- 
ductionsmethoden  sind  richtig;  die  erstere  kann  unter  Umständen  einfachere 
Zahlen  ergeben;  doch  wird  die  letztere  jetzt  häufig  vorgezogen,  weil  dabei 
das  Fallen  und  Steigen  der  Verhältnisszahlen  in  Uebereinstimmung  mit 
der  Ab-  oder  Zunahme  der  beobachteten  Erscheinung  bleibt. 

3.  Die  dritte  unter  den  rechnerischen  Hauptaufgaben  der  Statistik 
ist  die  Gewinnung  von  Durchschnitten. 

Bei  jeder  Reihe  von  periodischen  statistischen  Daten  stellen  sich 
stets  kleinere  oder  grössere  Differenzen  ein.  Absolute  Gleichheit  in  den 
einzelnen  Theilen  der  Zahlenreihen  wird  sich  niemals  finden,  sondern  im 
Laufe  der  Erscheinungen  werden  sich  grössere  oder  kleinere  Schwankungen 
ergeben,  welche  bald  gewisse  Höhepunkte  (Maxima),  bald  Senkpunkte 
(Minima)  erreichen,  zwischen  welchen  die  wahre  Mitte  aufgesucht  und 
gemessen  werden  muss.  Die  einzelnen  Daten  einer  statistischen  Massen- 
erscheinung sind  eben  wie  die  Wellenberge  und  Wellenthäler  auf  sturm- 
bewegtem See;  kein  Wellenberg,  kein  Wellenthal  gleicht  absolut  irgend 
einem  anderen;  sie  schwingen  über  und  unter  derjenigen  Linie,  welche 
aufzusuchen  das  Werk  des  Statistikers  ist. 

Dieses  Aufsuchen  der  Mittelwerthe  und  Messen  der  Differenzen  ist 
eine  der  geläufigsten  rechnerischen  Aufgaben  der  Statistik.  Das  arithme- 
tische Verfahren  dabei  ist  sehr  einfach;  man  nimmt  die  Summe  der  ge- 
gebenen Zahlen  und  dividirt  sie  durch  die  Anzahl  der  Fälle,  in  welchen 
gezählt  wurde.  Hat  man  z.  B.  eine  Woche  lang  die  Temperatur  der  Luft 
beobachtet  und  am  ersten  Tage  16,  an  den  folgenden  Tagen  17,  18,  13, 
12,  15  und  17  Grad  gefunden,  so  braucht  man  blos  die  Zahl  aller  Grade 


Die  statistiselien  Beehntingsoperatiouen.  53 

ZU  addiren  (108®),  durch  die  Zahl  der  Beobachtungstage  zu  dividiren  und 
man  erhält  als  Resultat  die  mittlere  Temperatur  dieser  Woche,  nämlich 
15,4®.  Dies  ist  der  Mittelwerth;  vier  ZiflPern  überragen  ihn,  drei  sind 
kleiner;  um  wie  viel  die  Temperatur  jedes  einzelnen  Tages  in  die  Höhe 
oder  Tiefe  von  diesem  Mittel  abweicht,   ergibt  sich  auf  den  ersten  Blick. 

Trotz  der  Einfachheit  der  Durchschnittsberechnungen  muss  man  sich 
dabei  vor  gewissen  Fehlem  hüten.  Namentlich  ist  darauf  zu  achten,  dass 
man  das  relative  Gewicht,  mit  welchem  die  einzelnen  Daten  in  die  Durch- 
schnittsberechnung aufgenommen  werden  dürfen,  richtig  erkennt.  Hat  man 
z.  B.  an  einem  Getreidemarkte  zwei  Tage  lang  die  Weizenpreise  beob- 
achtet und  erfahren,  dass  am  ersten  Tage  100  Hectoliter,  der  Hectoliter 
zu  12  Mark,  am  zweiten  Tage  800  Hectoliter,  ä  zu  14  Mark  verkauft 
wurden,  so  darf  man  nicht  etwa  den  Durchschnitt  von  12  und  14,  also 
13  Mark  als  den  wahren  Durchschnittspreis  ansehen.  Der  wahre  Durch- 
schnittspreis wird  gefunden,  wenn  man  die  Gesammtsumme  für  allen  ver- 
kauften Weizen,  d.  i.  12400  durch  die  Gesammtzahl  der  verkauften 
Hectoliter  dividirt.  Dann  erhält  man  als  Durchschnittspreis  13,77  Mark. 
Dieses  Verfahren  ist  das  richtige,  weil  die  einzelnen  Glieder  der  beob- 
achteten Reihe  mit  sehr  verschiedenem  Gewicht  in  dieselbe  eingetreten 
sind.  Man  nennt  solche  Durchschnitte,  welche  mit  Berücksichtigung  des 
relativen  Gewichts  der  einzelnen  Glieder  einer  Reihe  gefunden  wurden, 
geometrische  im  Gegensatze  zu  den  arithmetischen,  welche  ohne 
Berücksichtigung  dieses  Gewichts  festgestellt  wurden.  Die  geometrischen 
Durchschnitte  sind  natürlich  viel  werthvoUer;  wo  aber  das  Gewicht  der 
Glieder  einer  Reihe  nicht  bekannt  ist,  muss  man  sich  mit  arithmetischen 
Durchschnitten  begnügen  *). 

Betrachtet  man  die  Schwankungen  der  verschiedenen  Glieder  einer 
Reihe  von  Thatsachen  über  das  Mittel  nach  oben  und  nach  unten,  so 
findet  man  bei  einzelnen  Erscheinungen  sehr  geringe  und  regelmässige 
Abweichungen  vom  Mittel;  die  Erscheinungen  zeigen  eine  gewisse  Zähig- 
keit, Tenacität  in  ihrer  Neigung  zum  Mittel.  Bei  anderen  bemerkt  man 
grosse  und  unregelmässige  Abweichungen  vom  Mittel;  diese  Erscheinungen 
lassen  sich  durch  allerlei  Ursachen  leicht  von  ihrem  Mittelwerthe  ablenken; 
man  spricht  daher  von  ihrer  grösseren  oder  geringeren  Sensibilität. 

Geht  man  noch  tiefer  in  das  Wesen  derjenigen  Erscheinungen  ein, 
aus  deren  Reihen  Durchschnitte  gezogen  werden,  so  findet  man  einen 
bedeutsamen  Unterschied. 

a)  Der  Durchschnitt  kann  nämlich  eine  Grösse  sein,  welcher  sich 
die  sämmtlichen  beobachteten  Erscheinungen  nähern,  ihr  manchmal  fast 
völlig  gleichkommen.  Dann  nennt  man  ihn  einen  Typus  aller  Einzeln- 
erscheinungen. Hat  man  einen  solchen  Typus  gefunden,    so  ist  es  wahr- 


54  Die  Vei^leichnng  der  Daten. 

scheinlich,  dass  auch  die  künftigen  Einzelnerscheinungen  ihm  ziemlich 
nahe  kommen  werden.  Hat  man  z.  B.  die  Zahl  der  Todesfälle  eines 
Landes  durch  50  Jahre  beobachtet  und  bemerkt,  dass  in  besonders  un- 
günstigen Jahren  25  Promille,  in  besonders  günstigen  Jahren  20  Promille 
gestorben  sind,  während  die  durchschnittliche  Sterblichkeit  22  Promille 
betrug,  so  darf  man  letztere  Zahl  den   Typus  dieser  Erscheinung  nennen. 

b)  Der  Durchschnitt  kann  aber  auch  blos  eine  rechnerische 
Abstraction  sein,  d.  h.  eine  Grösse,  die  zwar  aus  den  verschiedenen 
Gliedern  einer  Reihe  berechnet  wurde,  aber  mit  der  Grösse  der  einzelnen 
Glieder  in  keinem  inneren  Zusammenhange  steht.  Ein  solcher  Durchschnitt 
ist  z.  B.  das  Durchschnittsalter  einer  Bevölkerung. 

c)  Zwischen  diesen  beiden  Arten  von  Durchschnitten  ist  keine  be- 
stimmte Grenze  zu  ziehen,  sondern  die  Durchschnitte,  welche  sich  aus 
den  mannigfachsten  Erscheinungen  ziehen  lassen,  gehören  bald  mit  mehr, 
bald  mit  weniger  Entschiedenheit  der  einen  oder  der  anderen  Art  an.  Je 
grösser  die  Differenzen  der  Einzelnerscheinungen  sind,  aus  welchen  die 
Durchschnitte  berechnet  wurden,  um  so  mehr  nähern  sich  die  letzteren 
blos  rechnerischen  Abstractionen.  Man  muss  bei  jeder  statistischen  Unter- 
suchung sich  Klarheit  darüber  verschaffen,  wie  gross  die  Differenzen  sein 
dürfen,  um  einen  lioch  brauchbaren  Durchschnitt  zu  ergeben. 

d)  Bei  allen  Durchschnitten  ist  es  deshalb  wichtig,  die  Schwankungen 
der  einzelnen  Glieder  über  oder  unter  den  Durchschnitt  zu  messen. 
Namentlich  müssen  diese  Schwankungen  gemessen  werden,  wenn  sich  aus 
verschiedenen  Zahlen  gleiche,  oder  fast  gleiche  Durchschnitte  ergeben*). 

e)  Immer  wird  es  zur  Erklärung  des  Wesens  der  beobachteten 
Erscheinungen  dienen,  wenn  das  Maximum  und  das  Minimum  ihrer  Reihe 
besonders  ins  Auge  gefasst  wird. 

Anmerkungen. 
*)  Ausfuhr! .  bei  Mayr;  Die  Gesetzmässigkeit  etc.  S.  51  ff. 
*)  Ueber  die  sog.   Schwaukungs-  oder   Oscillationszahl   s.  a.  a.  O.  S.  56. 

XI.  §.  32.  Sie  Vergleichung  der  Daten  ^). 

So  einfach  es  erscheint,  statistische  Daten  zu  vergleichen,  so  enthält 
doch  diese  Vergleichung  eine  wichtige,  durchaus  nicht  blos  mechanische 
Thätigkeit,  nämlich  die  Beantwortung  der  Frage,  welche  Daten  überhaupt 
vergleichbar  sind. 

Die  Statistik  kennt  zwei  wesentlich  verschiedene  Arten  der  Ver- 
gleichung. Entweder  werden  jene  Erhebungen  mit  einander  verglichen, 
welche  in  einem  geographisch  begrenzten  Gebiete  zu  verschiedenen  Zeiten 
gemacht  wurden,  oder  jene,  welche  über  denselben  Gegenstand  in  ver- 
schiedenen Ländern  gemacht  wurden.  Letztere  Methode  nennt  man  vor- 


Die  Aafsnchting  der  Ursachen.  55 

zugsweise  vergleichende  Statistik,  obwohl  die  erstere  diesen  Namen  mit 
ganz  demselben  Rechte  verdient. 

Nun  ist  aber  eine  hochwichtige  Frage,  welche  Grössen  wirklich 
vergleichbar  sind?  OflPenbar  nur  jene,  welche  gleiche  Einheiten 
haben.  Dies  wird  oft  nicht  beachtet.  Man  vergleicht  z.  B.  die  Criminal- 
statistik  verschiedener  Länder,  ohne  die  Verschiedenartigkeit  der  Gesetz- 
gebung zu  berücksichtigen;  die  Staatsbudgets,  ohne  die  verschiedenen 
Staatsbedürfhisse  der  einzelnen  Länder  zu  beachten. 

Solche  Unachtsamkeit  bei  der  Vergleichung  muss  nothwendig  das 
Vertrauen  in  die  Leistungen  der  Statistik  erschüttern.  Der  Werth  jeder 
statistischen  Untersuchung  ist  abhängig  von  der  Richtigkeit  der  Zahlen 
und  deren  richtiger  Würdigung.  Letztere  aber  ist  nur  dann  möglich,  wenn 
alle  verglichenen  Erscheinungen  Grössen  mit  gleichen  Einheiten  sind  und 
auf  gleichem  Wege  erhoben  wurden.  In  der  Regel  also  nur  dann,  wenn 
die  Vergleichung  auf  einen  Staat  beschränkt  bleibt.  Eine  Vergleichung 
der  Zustände  verschiedener  Staaten  ist  streng  genommen  nur  in  den  sel- 
tensten Fällen  möglich. 

Bei  der  Vergleichung  solcher  Erscheinungen  dagegen,  welche  in 
einem  Staate,  aber  zu  verschiedenen  Zeiten  sich  zeigen,  ist  es  mög- 
lich, die  Erhebungen  so  zu  sichten  und  zu  vergleichen,  dass  nur  wirklich 
Vergleichbares  gegen  einander  gehalten  wird. 

Die  zeitliche  Vergleichung  hat  demnach  vor  der  räumlichen  ent- 
schieden den  Vorzug  der  Sicherheit  der  Resultate  voraus. 

Anmerkung. 
*)  Vergl.  G.  Mayr:    Ueber  die  Grenzen  der  Vergleichbarkeit  statistischer 
Erhebungen.  1866. 

ZII.  §.  33.  Die  Aufsuchung  der  Ursachen  ^). 

xiuch  diese  Thätigkeit  ist  keine  blos  technische;  in  ihr  zeigt  sich 
am  deutlichsten  der  Kampf  des  forschenden  Verstandes  mit  den  Räthseln 
der  Erscheinungen. 

Sie  wird  aber  wesentlich  unterstützt  durch  die  vorhergegangenen 
Operationen,  namentlich  durch  die  Tabelle.  Die  richtig  construirte  Tabelle 
bringt  das  Verhältniss  zwischen  einem  statistischen  Gegenstande  und  den 
auf  ihn  wirkenden  Ursachen  zum  Ausdruck  und  lässt  meistens  sofort  er- 
kennen, welche  Erscheinung  sich  zu  der  beobachteten  Wirkung  füglich 
als  Ursache  verhalten  kann. 

Man  betrachtet  also  die  Erscheinungen  als  Wirkungen  verschiedener 
Ursachen  und  prüft,  welche  Ursachen  etwa  auf  die  in  Frage  stehenden 
Erscheinungen  eingewirkt  haben  können.  Dies  ergibt  sich,  wenn  man  alle 


56  l)ie  Aufsnchmig  der  Ursaclien. 

diejenigen    Erscheinungen ,    welche    verursachend    auf   andere    einwirken 
könnten,  den  letzteren  vorhält. 

Man  sieht  also  z.  B.  nach,  wie  gewisse  Erscheinungen  oder  Hand- 
lungen des  Menschen  über  die  Jahreszeiten  vertheilt  sind  (Geburten, 
Eheschliessungen,  Todesfälle,  Verbrechen  etc.).  Man  bemerkt  dabei  in 
verschiedenen  Jahreszeiten  und  an  verschiedenen  Orten  Maximal-  und 
Minimalzahlen. 

Sieht  man  dann,  dass  die  Maximalzahlen,  welche  man  in  verschie- 
denen Jahren  und  an  verschiedenen  Orten  bemerkt,  nur  den  einzigen 
Umstand  gemeinsam  haben,  in  einen  bestimmten  Monat  zu  fallen,  so  kann 
man  schliessen,  dass  dieser  Umstand,  dieser  Monat  Ursache  des  Maximums 
sei.  Oder  hat  man  ein  Maximum  einer  solchen  Erscheinung  überall  und 
an  allen  Orten  in  dem  einen  Monat,  ein  Minimum  unter  sonst  gleichen 
Umständen  in  einem  anderen  Monat  beobachtet,  so  schliesst  man,  dass 
dieser  einzige  verschiedene  Umstand  die  Ursache  des  Minimums  hier,  des 
Maximums  dort  sei. 

Oder  man  hat  schon  nachgewiesen,  dass  eine  Erscheinung  unter 
einem  gewissen  Einflüsse  seltener  vorkomme,  als  unter  einem  anderen. 
Findet  man  dann,  dass  sie  bei  einem  gewissen  hinzutretenden  Umstand 
häufiger  wahrgenommen  wird,  so  kann  man  schliessen,  dass  dieser  neu 
hinzutretende  Einfluss  die  Ursache  der  Erscheinung  sei,  welche  durch  den 
früher  bekannten  Einfluss  nicht  aufgeklärt  werden  konnte. 

Oder  man  betrachtet  die  Veränderung  einer  Erscheinung  zugleich 
mit  der  Veränderung  einer  anderen  und  in  derselben  Weise  und  schliesst 
dann,  dass  die  eine  Erscheinung  die  Wirkung  der  anderen  sei. 

Ob  eine  Verbindung  von  Erscheinungen  etwas  zufälliges  oder  etwas 
regelmässiges  sei,  prüft  man  darnach,  ob  sie  häufiger  vorkommt,  als  sie 
wahrscheinlich  dann  vorkommen  würde,  wenn  keine  bestimmte  Ursache 
vorhanden  wäre.  Eine  sehr  grosse  Zahl  von  Beobachtungen  macht  es 
möglich,  die  Wirkung  der  stetigen  von  jener  der  zufälligen  Ursachen  zu 
unterscheiden.  Denn  in  einer  sehr  grossen  Zahl  von  Beobachtungen  werden 
sich  die  wechselnden  Ursachen  wahrscheinlich  gegenseitig  aufheben  und 
man  kann  dann  das  Durchschnittsergebniss  als  Wirkung  der  stetigen 
Ursachen  ansehen. 

Um  die  Richtigkeit  des  Schlusses  zu  erproben,  hat  man  zu  erforschen, 
ob  bei  weiterer  Vermehrung  der  Beobachtungen  das  Durchschnittsergebniss 
sich  noch  ändert. 

So  entdeckt  man  es  auch ,  ob  in  einer  anscheinend  blos  von  wech- 
selnden Ursachen  bewirkten  Erscheinung  stetige  Ursachen  mitwirken  oder 
nicht.  Man  entdeckt  dies,  indem  man  beobachtet,  ob  bei  der  Berechnung 
eines  Durchschnitts  aus  einer  grossen  Zahl  von  Beobachtungen  die  ein- 


Die  Entdeckung  von  Kegelmftssigkeiten  and  Gesetzen.  57 

zelnen  Abweichungen,  d.  h.  die  Wirkungen  der  wechselnden  Ursachen, 
sich  wirklich  ausgleichen  oder  ob  eine  dauernde  Abweichung  von  jenem 
Durchschnitte  sich  zeigt,  der  ohne  das  Vorhandensein  einer  stetigen  Ursache 
sich  ergeben  würde. 

Anmerkuug. 
*)  Nach  A.  Wagner,  Art.  Statistik  im  Staatswörterbuch. 

Xm.  §.  34.  pie  Entdeckung  von  Eegelm&ssigkeiten  und  Gesetzen. 

Ihren  Höhepunkt  erreicht  die  Aufgabe  der  Statistik  in  der  Ent- 
deckung von  Regelmässigkeiten  und  Gesetzen. 

Dieser  weitere  Schritt  geht  aus  der  Erforschung  der  Ureachen  her- 
vor. Man  beobachtet,  um  dauernde  Regelmässigkeiten  zu  finden,  eine  und 
dieselbe  Ursache  in  ihren  verschiedenen  Wirkungen  an  den  verschiedenen 
Erscheinungen  und  andererseits  an  einer  einzelnen  Erscheinung  die  Wir- 
kung der  verschiedenen  Ursachen. 

Streng  genommen  kann  man  von  einem  Gesetze  nur  da  sprechen, 
wo  man  im  Stande  ist,  den  bestimmenden  Grund  durch  ein  Experi- 
ment nachzuweisen,  zu  isoliren  oder  gar  zu  messen.  Wo  dieser  Grund 
nur  gemuthmasst  wird,  kann  höchstens  von  Wahrscheinlichkeitsgesetzen 
die  Rede  sein. 

Je  näher  die  das  Leben  des  Menschen  betreffenden  Thatsachen  an 
die  Natur  streifen,  desto  eher  wird  ein  wirkliches  Naturgesetz  sich  finden 
lassen.  Je  weiter  man  von  der  Natur  sich  entfernt,  desto  weniger  lässt 
sich  eine  wirkliche  Gesetzmässigkeit  nachweisen.  Man  erhält  zwar  Regeln, 
aber  keine  Gesetze. 

Man  weiss  z.  B.  dass  auf  je  100  Mädchen  in  gleichen  Zeiträumen 
105 — 106  Knaben  geboren  werden.  Man  kennt  jedoch  den  Grund  hievon 
nicht  und  kann  daher  eigentlich  nicht  von  einem  Gesetz,  sondern  nur  von 
einer  Regel  sprechen.  Das  aber  ist  ein  Gesetz,  dass  in  Theuerungsjahren 
mehr  Menschen  sterben,  als  in  wohlfeilen;  denn  der  einzusehende  Grund 
dabei  ist  der  Mangel  an  Nahrungsmitteln.  Und  eine  Consequenz  dieses 
Gesetzes  ist,  dass  vorzugsweise  unter  jenem  Tlieil  der  Bevölkerung  mehr 
sterben,  welcher  schon  in  mittleren  Jahren  auf  ein  Minimum  von  Nah- 
rungsmitteln angewiesen  ist*). 

Die  Frage,  ob  man  überhaupt  von  statistischen  Gesetzen  reden 
dürfe,  ist  öfter  discutirt  worden.  Während  von  manchen  Seiten  schlecht- 
weg diese  oder  jene  Thatsache  als  „statistisches  Gesetz"  bezeichnet  wurde, 
wird  von  anderer  Seite  betont,  dass  die  Statistik  keine  Gesetze  entdeckt, 
sondern  nur  Regelmässigkeiten  auffindet;  dass  ein  „statistisches  Gesetz" 
Weder  ein  Naturgesetz,  noch   ein  Sittengesetz,  noch  ein  Rechtsgesetz  sei, 


58  Schlassbemerknngeii. 

nichts  befehlen,  nicht  verpflichten,  sondern  blos  constatiren  könne,  kurz, 
dass  es  blos  der  Ausdruck  eines  thatsächlichen  Verhältnisses  sei  *).  Es 
dürfte  wohl  das  Richtigste  sein,  wenn  man  die  Frage,  ob  es  sich  in  der 
Statistik  um  blosse  Regelmässigkeiten  oder  um  wirkliche  Gesetze  handelt, 
als  eine  ziemlich  überflüssige  bezeichnet*). 

Aumerkungeu. 

*)  Engel:  Zeitschr.  d.  preuss.  stat.  Bureau  1862,  S.  26. 
*)  Block- V.  Scheel:  Handburh  d.  Statistik,  S.  97. 
')  G.  Mayr:  Gesetzmässigkeit  etc.,  S.  64. 

§.  35.  SchluBsbemerkungen. 

Ob  man  nun  der  Statistik  die  Aufgabe  zuweist,  wirkliche  Gesetze 
aufzufinden,  oder  ob  man  sie  dahin  beschränkt,  blos  gewisse  Regelmässig- 
keiten im  Gang  der  Erscheinungen  und  Thatsachen  nachzuweisen:  jeden- 
falls dient  sie  unaufhörlich  dazu,  ein  wichtiges  Gesetz  immerfort  aufs  neue 
zu  beweisen,  das  oben  erwähnte  Gesetz  der  grossen  Zahl.  Dieses  Gesetz 
hat  einen  sehr  bedeutenden  Hintergrund. 

Es  wurde  schon  oben  erwähnt,  wie  das  Gesetz  der  grossen  Zahl  Sorge 
dafür  trägt,  dass  alle  Zufälle,  die  in  einer  bestimmten  Richtung,  in  Bezug 
auf  ein  Object  sich  ereignen,  um  so  weniger  zufällig  erscheinen  und  um 
so  mehr  Regelmässigkeit  gewinnen,  je  öfter  sie  auftreten.  An  den  grossen 
Massen  erkennt  man  das  Gesetzmässige. 

Die  grossen  Zahlen  haben  ihre  Gesetze,  die  kleinen  scheinbar  nicht. 
Aber  wenn  die  kleinen  sich  summiren  und  zu  grossen  anwachsen:  dann 
zeigt  sich  auf  einmal,  dass  sie  auch  ihr  Gesetz  haben.  Wie  die  öfi*entliche 
Meinung  entsteht  es  aus  der  Masse,  unmerklich  wachsend. 

Daraus  folgt: 

Was  im  Einzelnen  als  Zufall  erscheint,  das  verliert  den  Charakter 
des  Zufalls  in  der  Masse.  Die  grossen  Zahlen  der  Ereignisse  sind  Reihen, 
in  welcher  jedes  Glied  zur  Erkenntniss  des  Ganzen  einen  kleinen  Beitrag 
liefert.  Mit  der  wachsenden  Zahl  enthüllt  sich  immer  mehr  das  die  Er- 
eignisse beherrschende  Gesetz.  Der  Zufall  vergeht  gegenüber  wachsenden 
Zeiten  und  Räumen. 

Und  wo  endlich  die  Zahlen  unendlich  gross  werden,  muss  auch  der 
Zufall  ein  Ende  nehmen  und  nur  mehr  das  Gesetz  herrschen.  Der  Moment, 
das  Individuum  sind  das  dem  Zufall  Unterworfene;  Unendlichkeit  und  Ge- 
setzmässigkeit sind  identisch. 


Die  Haaptriclitiiugen  der  Statistik.  59 

III.  Capitel. 
Die  Statistik  als  Wissenscliaft. 


§.  36.  Begriff  und  Wesen  der  Statistik  als  Wissenschaft. 

Die  Statistik  ist  eine  Methode  und  eine  Wissenschaft. 

I.  Eine  Methode  ist  sie,  wenn  man  sie  auflfasst  als  systematische 
Massenerforschung. 

n.  Um  zur  Wissenschaft  zu  werden,  muss  die  Statistik  neben  der 
Einheit  der  Methode  auch  eine  gewisse  Einheit  des  Gegenstandes  haben. 
Dieser  Gegenstand  ist  die  Masse  der  Erscheinungen  als  solche. 

Die  Statistik  ist  demnach  die  Wissenschaft  von  der  Masse, 
und  zwar  insbesondere  von  der  Masse  der  menschlichen  und 
staatlichen  Erscheinungen,  von  ihrer  Bewegung  und  den  Regeln 
derselben  *). 

Aus  dieser  Definition  ergibt  sich  eine  Statistik  im  weiteren  Sinne: 
die  Massenerforschung  —  und  eine  Statistik  im  engeren  Sinne:  die  Erfor- 
schung der  Masse  der  menschlichen  und  staatlichen  Erscheinungen.  Die 
Statistik  im  weiteren  Sinne  würde  namentlich  auch  die  Naturstatistik,  die 
meteorologische  Statistik  umfassen,   die  Statistik  im  engeren  Sinne  nicht. 

IIL  Die  Statistik  ist  aber  blos  eine  Hilfswissenschaft.  Sie  sucht  und 
findet  Wahrheiten,  aber  nur  solche  Wahrheiten,  welche  von  anderen 
Wissenschaften  weiter  verarbeitet  werden.  Vorherrschend  ist  daher  ihr 
Charakter  als  Methode. 

Anmerkung. 
*)  Eine  weitere  Erklärung  oder  Begründung    dieser  Definition  wird  hier 
unterlassen.     Diese  Erklärung  und  Begründung  geht  aus  dem  vorigen  Capitel 
hervor.     Es    sind  übrigens  schon  über  60,   nach  anderen  über  100  Definitionen 
der  Statistik  als  Wissenschaft  vorhanden. 

§.  37.  Die  Hauptrichtungen  der  Statistik. 

Die  Geschichte  der  Statistik  hat  uns  zwei  Hauptrichtungen  dieser 
Disciplin  gezeigt: 

L  Eine  beschreibende  Schule  der  Staatskunde,  von  Conring 
und  Achenwall  begründet.  Sie  ist  eine  Schilderung  der  staatsmerkwürdigen 
Zustände  der  Gegenwart.  Durch  die  Ausdehnung  des  Begriffes  Staat  wird 
auch  ihr  Gegenstand  ausgedehnt.  Sie  will  eine  Wortschilderung  der  Ge- 
genwart liefern;  den  Nachweis  der  Gesetzmässigkeit  der  Erscheinungen 
will  sie  nicht  geben;  sie  könnte  es  auch  nicht. 


60  Die  Hauptrichtungen  der  Statistik. 

IL  Eine  Schule  der  erforschenden  Statistik,  von  Süssmilch 
und  Quetelet  begründet,  welche  die  Methode  der  systematischen  Massen- 
beobachtung zur  Erforschung  der  Erscheinungen,  ihres  Zusammenhanges, 
ihrer  Ursachen,  ihrer  waltenden  Gesetze  anwendet. 

Das  Vorhandensein  dieser  beiden  Richtungen  bedarf  keines  Beweises 
mehr.  Es  ist  eine  geschichtliche  Thatsache.  , 

Es  treten  nun  folgende  Fragen  an  uns  heran: 

I.  Sind  diese  beiden  Richtungen  wirklich  nur  verschiedene  Rich- 
tungen einer  und  derselben  Wissenschaft?  Welche  ist  dann  berechtigt, 
welche  verfehlt? 

IL  Wenn  nicht,  sind  vielleicht  beide  blos  Theile  einer  umfassen- 
deren, über  ihnen  stehenden  Wissenschaft? 

III.  Ist  auch  dieses  nicht  der  Fall,  sind  vielleicht  beide  zu  selb- 
ständigem Leben  berechtigte  getrennte  Wissenschaften? 

IV.  Verdient  nur  eines  von  beiden  den  Namen  einer  selbstän- 
digen Wissenschaft  und  bleibt  demnach  das  andere  nur  Methode? 

V.  Oder  findet  ein  anderes  Verhältniss  statt? 

Die  Beantwortung  dieser  Fragen   dürfte  wohl  in  Folgendem  liegen: 

L  Fasst  man  diese  beiden  Schulen,  weil  sie  einen  und  denselben 
Ausgangspunkt  haben,  als  zwei  verschiedene  Richtungen  einer  und  der- 
selben Wissenschaft  auf,  so  ist  die  Frage,  welche  von  beiden  die  berech- 
tigte, welche  die  verfehlte  sei,  zu  beantworten.  Wer  die  praktische  und 
theoretische  Bedeutung  beider  würdigt,  wer  namentlich  beobachtet,  wie  die 
beschreibende  Richtung  mehr  und  mehr  von  der  zifFermässigen  Darstellung 
Gebrauch  macht  und  die  Resultate  der  anderen  Richtung  berücksichtigt, 
wie  diese  letztere  in  der  amtlichen  Statistik  ausschliesslich  herrscht  und 
in  der  neueren  wissenschaftlichen  Literatur  tonangebend  ist,  kann  keinen 
Augenblick  hierüber  im  Zweifel  sein. 

IL  Beide  Disciplinen  als  Theile  einer  und  derselben  höheren  Wissen- 
schaft aufzufassen  ist  unmöglich.  Wenn  dem  so  wäre,  müsste  der  eine 
Theil  eine  organische  Weiterentwicklung  des  anderen  sein.  Es  müssten  alle 
Gegenstände  des  einen  Theiles  im  anderen  sich  wieder  finden.  Dies  ist 
zwar  bei  der  Verschiedenheit  der  beiderseitigen  Objecto  nicht  immer  der 
Fall:  doch  oft  genug,  um  in  dieser  Bedingung  kein  Hindemiss  solcher 
Einigung  zu  finden. 

Es  müsste  aber  auch  ein  höheres  Ganzes  existiren,  welchem  beide 
als  Theile  untergeordnet  werden.  Dieses  höhere  Ganze  hat  man  zu  con- 
struiren  versucht,  aber  ausser  in  diesen  Constructionsversuchen  kann  es  in 
der  Geschichte  der  Wissenschaft  nicht  gefunden  werden. 

in.  Dass  beide  Richtungen  zu  selbständigem  Leben  berechtigte 
getrennte  Wissenschaften  seien,  ist  ebenfalls  noch  Unmöglichkeit.  Die  Ver- 


Die  Statistik  als  Social wissenecliaft.  61 

suche,  eine  solche  Trennung  herbeizufnhren  (vgl.  die  angeführten  Arbeiten 
von  Knies,  Rümelin  und  Wagner)  sind  uneinig  in  Bezug  auf  den  Tren- 
nungspunkt. 

IV.  Auch  auf  anderem  Wege  käme  man  zu  einem  entsprechenden 
Resultate.  Wollte  man  annehmen,  die  ältere  Schule  sei  die  selbständige 
Wissenschaft,  die  moderne  Statistik  dagegen  blos  Methode,  so  würde  man 
bei  Betrachtung  des  gegenwärtigen  Standes  der  Disciplin  finden,  dass  die 
Methode  diese  angebliche  Wissenschaft  erst  zur  Wissenschaft  gemacht 
hat  und  aus  derselben  alles  verdrängt,  was  ihr  nicht  passt,  dass  sie  es 
ist,  welche  den  Gegenstand  und  die  Aufgaben  dieser  Wissenschaft  charak- 
terisirt.  Auch  in  diesem  Falle  wäre  demnach  die  moderne  Statistik  der 
berechtigte  und  herrschende  Theil. 

V.  Da  die  Conring-AchenwalPsche  Schule  eine  Zustandsdarstellung 
ißt  und  die  moderne  Schule  der  Statistik  eine  solche  enthält,  liegt  die 
Anschauung  nahe,  die  erstere  als  einen  Theil  der  letzteren  aufzufassen. 
Dann  steht  die  Schule  der  Staatskunde  zur  Statistik  in  dem  Verhältnisse 
einer  Beschreibung  zu  einer  Untersuchung,  Die  Beschreibung  ist  an  sich 
keine  wissenschaftliche  Thätigkeit;  aber  sie  ist  die  Vorbereitung  fiir  eine 
solche  und  zwar  die  nothwendige  Vorbereitung. 

Wenn  man  das  Verhältniss  von  Staatskunde  und  Statistik  so  auf- 
fasst  —  und  es  lässt  sich  so  auffassen  —  dann  ist  keine  Trennung  beider 
Disciplinen  mehr  nothwendig,  wohl  aber  eine  Säuberung  der  einen  von 
allem  geographischen,  ethnographischen,  staatsrechtlichen  etc.  Beiwerk. 
Die  Staatskunde  müsste  alles  von  sich  streifen,  was  für  die  moderne 
Statistik  unbrauchbar  ist, 

VI.  Wird  diese  Frage  nicht  im  obigen  Sinne  gelöst,  so  bleibt  das 
Verhältniss  beider  Richtungen  das  bisherige.  Die  Staatskunde  bleibt  dann 
neben  der  erforschenden  Statistik  stehen,'  zu  selbständigem  Leben  berech- 
tigt, aber  nicht  als  Wissenschaft,  sondern  als  wohlgeordnete  Zusammen- 
stellung von  nützlichen  und  wissenswürdigen  Kenntnissen,  in  eins  ver- 
schwimmend mit  der  politischen  Geographie.  Ihre  Werke  sind  dann 
systematische  Staatslexika  in  Taschenformat,  enthaltend  das  Wichtigste 
aus  den  Gebieten  der  Statistik,  der  Politik,  Nationalökonomie,  politischen 
Geographie,  Ethnographie,  neuesten  Geschichte,  auch  des  Staats-  und 
Verwaltungsrechts. 

§.  38.  Sie  Statistik  als  Socialwissenschaft. 

Indem  jene  Schule  der  Statistik,  welche  heute  als  die  wissenschaft- 
lich alleinberechtigte  erscheint,  die  Masse  der  menschlichen  und  staatlichen 
Erscheinungen,  ihre  Bewegungen  und  ihre  Regeln  zum  Gegenstande  hat? 


62  Die  Statistik  als  Social  wissenscliaft. 

wird  sie  zur  exacten  SociaJwissenschaft.  Die  menschliche  Gesellschaft  ent- 
steht, lebt  und  stirbt  nach  gewissen  Regeln. 

Diese  Regeln  wurden  erst  spät  gemeinschaftlich  und  in  ihrer  Wechsel- 
wirkung auf  einander  untersucht.  Man  hat  zwar  mehr  oder  weniger  voll- 
ständige Untersuchungen  über  einzelne  dieser  Regeln  angestellt,  aber  exactc 
Untei-suchungen  über  die  fortschreitende  Entwickelung  des-  Menschen  in 
gesellschaftlicher,  moralischer  und  geistiger  Beziehung  anzustellen:  das  war 
der  neuesten  Zeit  vorbehalten. 

Die  speculativen  Wissenschaften  zwar  haben  sich  schon  längst  nach 
Kräften  mit  der  geistigen  und  sittlichen  Entwickelung  des  Menschen  be- 
schäftigt. Die  Erfahrungswissenschaften  nur  sind  es,  welche  in  dieser  Be- 
ziehung zurückblieben. 

Ursache    davon    waren    wohl    zumeist    die    Schwierigkeiten    solcher, 
Untersuchungen. 

Schon  anthropologische  Untersuchungen,  die  sich  blos  auf  die  kör- 
perliche Entwickelung  beziehen,  sind  mit  grossen  Schwierigkeiten  verknüpft. 
Aber  man  kann  bezüglich  dieser  Erscheinungen  wenigstens  unangefochten 
behaupten,  dass  sie  nach  bestimmten  Gesetzen  sich  entwickeln,  nach  Ge- 
setzen, welche  in  einzelnen  Fällen  nachgewiesen  und  selbst  in  Zahlen  aus- 
gedrückt werden  können. 

Aber  die  Untersuchung  der  geistigen  Entwickelung  scheint  die  gi'össten 
Schwierigkeiten  zu  bieten.  Denn  es  erscheint  auf  den  ersten  Anblick  ge- 
radezu widersinnig,  dort  Gesetze  suchen  zu  wollen,  wo  der  freie  Wille, 
ja  die  bewegliche  regellose  Laune  des  Menschen  mit  im  Spiele  ist. 

Um  überhaupt  solche  Gesetze,  nach  welchen  die  menschliche  Ent- 
wickelung, die  menschlichen  Handlungen  vor  sich  gehen,  zu  finden,  muss 
man  den  Weg  der  Erfahrung  gehen. 

Man  muss  dabei  vom  einzelnen  Menschen  abstrahiren,  ihn  blos  als 
ein  Bruchtheil  einer  ganzen  Gattung  ansehen,  seiner  Individualität  ihn 
entkleiden. 

Dadurch  beseitigt  man  alles,  was  zufällig  ist. 

Die  individuellen  Eigenheiten  sowohl  in  körperlicher,  als  in  geistiger 
Beziehung,  verwischen  sich  um  so  mehr  und  die  allgemeinen  Bedingungen, 
auf  welchen  der  Fortbestand  und  die  Erhaltung  der  Gesellschaft  bemht, 
beginnen  um  so  vorherrschender  zu  werden,  je  grösser  die  Zahl  der  zur 
Beobachtung  gewählten  Individuen  ist. 

Nur  wenige  ausserordentliche  Menschen  sind  im  Stande,  einen  merk- 
lichen Einfluss  auf  die  ganze  Gesellschaft  zu  üben  und  dieser  Einfluss 
braucht  häufig  lange  Zeit,  um  wirksam  zu  werden. 


Die  Statistik  als  Socialwissenschaft.  63 

Die  Ursachen  der  menschlichen  Handlungen  im  Grossen  betrachtet, 
sind  lang  und  still  wirkende.  Sie  üben  selbst  lange  Zeit,  nachdem  man 
sie  zu  bekämpfen  gesucht  hat,  merkbaren  Einfluss  aus. 

In  der  Regel  ist  die  menschliche  Gesellschaft  weit  mehr  Ursache  an 
den  Handlungen  des  Einzelnen,  als  dieser  selbst  glaubt.  Sie  trägt  Schuld 
an  seinen  guten  und  schlechten  Handlungen.  Freilich  nicht  sie  allein, 
sondern  auch  seine  Individualität.  Als  Mitglied  der  menschlichen  Gesell- 
schaft erfährt  der  Mensch  fortwährend  den  Zwang  der  Ursachen  und  folgt 
diesem  Zwange,  aber  als  Mensch  hat  er  auch  die  Fähigkeit,  diese  Ein- 
flüsse zu  behen-schen,  ihre  Wirkungen  zu  ändern  und  zu  verbessern. 

Durch  die  Massenbeobachtung  kann  man  die  Ursachen  und  die  be- 
herrschenden Regeln  der  menschlichen  Handlungen  ausfindig  machen.  „Die 
Wahrscheinlichkeitsrechnung  zeigt,  dass  unter  übrigens  gleichen  Umständen 
man  sich  um  so  mehr  der  Wahrheit  oder  den  Gesetzen,  die  man  ergrün- 
den will,  nähert,  eine  je  grössere  Anzahl  von  Individuen  den  Beobach- 
tungen zur  Stütze  dienen"  (Quetelet).       , 

Die  Regeln  der  menschlichen  Handlungen  sind  insofeme  besonders 
merkwürdig : 

I.  Indem  sie  nichts  Individuelles  mehr  an  sich  haben,  für  die  Hand- 
lungen und  das  Dasein  des  Einzelnen  nicht  mehr  gelten. 

n.  Indem  sie  nicht  unveränderlich  sind.  Sie  können  sich  ändern  mit 
der  Natur  der  Ursachen,  aus  denen  sie  entstanden.  „So.  haben  die  Fort- 
schritte der.Civilisation  eine  Aenderung  der  Gesetze  der  Sterblichkeit  zur 
nothwendigen  Folge  gehabt,  wie  sie  auch  auf  die  physische  und  moralische 
Seite  de^  Menschen  von  Einfluss  sein  müssen"  (Quetelet).  Diese  Aende- 
rungen  sind  von  höchster  Bedeutung,  sie  bilden  die  pragmatische  Ge- 
schichte der  Menschheit.  Die  Statistik  will  das  Studium  der  Menschheit 
künftighin  nicht  mehr  roher  Empirie  überlassen,  sondern  in  der  genannten 
Weise  zu  einem  wissenschaftlichen  machen. 

„Sind  jene  Ursachen  einmal  erkannt,  so  bemerkt  man  bei  ihren 
Schwankungen  keine  Sprünge  .  .  .  sondern  sie  modificiren  sich  allmälig. 
Durch  die  Kenntniss  der  Vergangenheit  wird  es  möglich,  über  die  nächste 
Zukunft  zu  urtheilen ;  unsere  Conjecturen  können  sich  oft  selbst  auf  einen 
Zeitraum  von  mehreren  Jahren  erstrecken,  ohne  dass  man  befürchten 
müsste,  dass  die  Zeit  Ergebnisse  liefern  werde,  welche  gewisse  Schranken 
überschreiten,  die  sich  gleichfalls  zum  Voraus  bezeichnen  lassen.  Diese 
Einschränkungen  erweitern  sich  natürlich  um  so  mehr,  auf  eine  je  grös- 
sere Anzahl  von  Jahren  unsere  Vorherbestimmungen  sich  erstrecken" 
(Quetelet). 


64  Die  auf  den  MeBschen  wirkenden  Einflösse  insbesondere. 

§.  39.  Die  anf  den  Menschen  wirkenden  Einflüsse  insbesondere. 

Die  Regeln,  nach  welchen  der  Mensch  sich  entwickelt  und  welche 
seine  scheinbar  willkürlichen  Handlungen  beeinflussen,  sind  im  Allge- 
meinen ein  Resultat  der  Natur,  in  welcher  er  lebt,  seiner  physischen, 
wirthschaftlichen,  politischen  Verhältnisse,  seiner  geistigen  und  sittlichen 
Bildung. 

Dazu  kommen  aber  andere,  „immer  schwer  zu  ergründende  Ein- 
wirkungen, von  welchen  mehrere  uns  wahrscheinlich  für  immer  verborgen 
bleiben  werden"  (Quetelet). 

Die  Einflüsse  auf  die  Entwickelung  und  die  Handlungen  des  Men- 
schen Hessen  sich  ungefähr  in  folgender  Weise  classificiren:  *) 

I.  Physische  Einflüsse.  Bei  ihnen  müssten  wir  wieder  unterscheiden: 

A.  Einflüsse  äusserer  Naturverhältnisse: 

1.  Klima,  Witterung  und  örtliche  Temperatur; 

2.  Jahreszeiten,  monatliche  Temperatur  und  Witterung; 

3.  Tageszeiten; 

4.  Oertliche  Bodengestaltung  und  Beschaffenheit  im  Zusammenhang 
mit  den  Wohnorten  etc.:  Unterschied  von  Stadt  und  Land; 

5.  Witterungsverhältnisse  des  Jahres. 

B.  Einflüsse  physischer  Lebensverhältnisse  des  Menschen: 

1.  Geschlecht; 

2.  Alter; 

3.  Körperliche  Beschaffenheit; 

4.  Körperlicher  Gesundheitszustand  des  Menschen,  Epidemien. 
11.  Gesellschaftliche  und  politische  Verhältnisse: 

A.  Allgemein  gesellschaftliche: 

1.  Geburt  (ehelich  oder  unehelich); 

2.  Civilstand; 

3.  Beruf,  im  Zusammenhange  mit  dem  Wohnort; 

4.  Oeffentliche  Sitte  und  Sittlichkeit,  Familienleben,  geselliges  Leben, 
gesellschaftlicher  Rang  etc. 

B.  Politische  Verhältnisse: 

Nationalität,  Staatsverfassung,  Justizpflege,  Polizeiwesen  und  Ver- 
waltung, Finanzlage,  Besteuerung,  Heei*wesen  etc.  Herrschende  politische 
Strömungen  —  liberale,  conservative  oder  reactionäre;  politische  Krisen, 
Revolutionen,  Kriegs-  oder  Friedenszeit. 

C.  Wirthschaftliche  Verhältnisse: 

Wirthschaftlicher  Erwerb,  Reichthum,  Wohlstand,  Armuth.  Hand- 
werk und  Fabrikswesen,  Handel.  Aber  auch  die  allgemeine  Lage  der 
wirthschaftlichen  Verhältnisse.    Ganz    besonders    der   Ausfall    der   Ernte. 


Die  auf  den  Menschen  wirkenden  Einflösse  insbesondere.  (35 

Ferner:  Aenderungen  in  den  Productionsmethoden,  im  Credit-  nnd  Ver- 
kehrswesen: wirthschaftliche  Krisen. 

D.  Verhältnisse  geistiger  und  religiöser  Cultur: 

1.  Bildung  —  humanistische  und  exacte; 

2.  Religion  und  Confession; 

3.  Allgemeine  Lage  der  Bildungs-  und  ünterrichtsangelegenheiten. 
Aenderungen  in  der  Weltanschauung  des  Zeitalters,  in  der  Richtung  der 
Bildung; 

4.  Allgemeine  Lage  der  religiösen  und  kirchlichen  Angelegenheiten; 
religiöse  Indifferenz,  Agitation,  Toleranz. 

Das  sind  die  wichtigsten,  aber  nicht  alle  auf  den  Menschen  wir- 
kenden Einflüsse.  Si'e  sind  wie  eine  Menge  von  unsichtbaren,  höchst  ela- 
stischen Fäden,  welche  sich  an  den  Menschen  knüpfen,  sobald  er  die 
Welt  betritt,  um  ihn  nach  dieser  oder  jener  Richtung  hinzuziehen  oder 
an  einem  Punkte  festzuhalten. 

Von  grösster  Wichtigkeit  ist  nun  die  Frage,  mit  welcher  Kraft  diese 
Einflüsse  sich  bemerkbar  machen. 

Der  Mensch  besitzt  die  Kräfte,  welche  ihm  gestatten,  diesen  Ein- 
flüssen mit  grösserer  oder  geringerer  Energie  Widerstand  zu  leisten. 

Aber  die  Schätzung  dieser  Kräfte  ist  ein  geheimnissvolles  Problem, 
dessen  Lösung  meist  über  den  menschlichen  Witz  hinausgeht. 

Diese  den  Menschen  auszeichnenden  Kräfte,  welche  den  Einfluss 
äusserer  Verhältnisse  ändern  und  abschwächen  —  wirken  sie  auf  eine 
constante  Weise  und  hat  der  Mensch  sie  zu  allen  Zeiten  in  gleichem  Masse 
besessen?  Besteht  eine  Analogie  zwischen  dem  Princip  der  Erhaltung  der 
Kräfte  in  der  Natur  einerseits  und  Erhaltung  dieser  geistigen  und  sitt- 
lichen Kräfte  des  Menschen?  Vernünftige  Ahnung  lässt  uns  eine  solche 
Analogie  vermuthen. 

Der  Mensch  selbst  mit  seinen  geistigen  Kräften  nimmt  auf  die  Natur 
und  speciell  auf  seine  Umgebungen  einen  entschieden  ändeniden  (pertur- 
birenden)  Einfluss.  Die  Macht  dieses  Einflusses  scheint  im  innigen  Verhält- 
nisse mit  der  menschlichen  Intelligenz  zu  wachsen.  Diesem  Einflüsse  hat 
man  es  zu  verdanken,  dass  die  Gesellschaft,  wenn  man  in  zwei  entlegenen 
Zeitaltern  sie  betrachtet,  nicht  mehr  dieselbe  ist. 

Aamerkuug. 
*)  Eine    sehr   ausführliche    derartige  Classification   fiudet  sich  in  Engers 
„synoptischer  Tabelle   zur  Veranschaulichuug    der  Elemente   der  Bevölkerung 
und  der  Einflüsse,  welche  darauf  wirken  etc,"    (in:  Die  Bewegung  der  Bevöl- 
kerung in  Sachsen).  Es  werden  da  als  solche  Eiufiüsse  genannt: 

I.  Individuelle  und  individuell  wirkende.  A.  Physische  Lebensverhältnisse: 
Greschlecht;  Alter;  körperliche  Beschaffenheit;  Lebensweise  überhaupt  (Wohnung 
Hanshofer,  Statistik.  2.  Aufl.  5 


66  Die  aaf  den  Menschen  wirkenden  Einflftsse  insbesondere. 

und  Nahrung).  B.  Gesellschaftliche  Lebensverhältnisse:  CiTÜstand;  Religion; 
Abstammung  oder  Race;  Stand  und  Rang  in  der  Gesellschaft;  Beruf  und  Er- 
werbszweig; Verdienst,  Lohn;  Besitz,  eigener  Herd;  Wohlstand  und  Armuth. 
C.  Sittliche  Lebensrerhältnisse :  Sittliche  Bildung,  Moralität;  Enthaltsamkeit; 
Reinlichkeit;  Sparsamkeit;  Familienleben;  Kindererziehung;  Arbeitslust,  Selbst- 
hilfe zur  Verbesserung. 

IL  Räumlich  wirkende  Einflüsse:  A.  In  physischer  Hinsicht:  Bodengesfcal- 
tung,  Bodenbeschaffenheit;  Klima,  örtliche  Temperatur  und  Wittei-ung:  Hygie- 
nische Beschaffenheit  der  Luft,  des  Wassers,  des  Erdbodens,  der  ganzen  Oert- 
lichkeit.  B.  In  geographischer  Hinsicht:  Proyinzielle  Eigeuthümlichkeiten; 
Vertheilung  der  Bewohner,  Haushaltungen,  Gebäude  auf  die  Wohnplätze  und 
auf  die  Oberfläche  etc.;  Administrativer  Charakter  der  Wohnplätze,  Stadt  und 
Land,  Flecken,  Vorwerke  etc.  C.  Einwirkungen  der  materiellen  und  technischen 
Culturverhältnisse :  Gewerblicher  Charakter  der  Gegend,  de^  Orte;  agronomische, 
industrielle  und  commercielle  Lage  der  Orte.  D.  Der  religiösen  und  geistigen 
Culturverhältnisse:  Kirchliche,  religiöse  und  örtliche  Institute;  Uuterrichtsau- 
stalten;  Anstalten  zur  Pflege  der  Künste  und  Wissenschaften.  E.  Der  sittlichen 
Culturverhältnisse:  Gemeinnützige  locale  Anstalten,  örtliche  Gemeinnützigkeit; 
Wohlthätigkeitsanstalten,  locale  Wohlthätigkeit;  öffentliche  Sicherheit,  Morali- 
tät und  Criminalität.  F.  Der  socialen  Zustände:  Schichten  der  Gesellschaft, 
Besitzende  und  Nichtbesitzende.  G.  Der  Gemeindeverhältnisse:  Gemeindehaus- 
haltsverhältnisse;  localstatutarische  Bestimmungen.  H.  Der  politischen  Zu- 
stände: Politischer  Charakter  der  Orte,  politische  Wichtigkeit. 

III.  Zeitliche  und  universell  wirkende  Einflüsse:  A.  Physikalische  oder 
natürliche  (von  menschlichen  Einrichtungen  unabhängige):  a)  Cosmisch-telluri- 
sche:  Jahreszeiten,  Tageszeiten,  Witterung;  abnorme  elementare  Ereignisse. 
b)  Tellurisch-agronomische:  Jahresfruchtbarkeit,  Ernteerträge,  c)  Hygienische: 
Oeffentliche  Gesundheitszustände  der  Menschen:  Viehkrankheiten,  Seuchen, 
Pflanzenkrankheiten.  B.  Von  menschlichen  Einrichtungen  abhängige  Wirkun- 
gen: a)  Des  technischen  und  materiellen  Culturzustandes :  der  Landwirthschaft 
und  Viehzucht;  der  Industrie;  des  Handels  und  Verkehrs,  b)  Des  religiösen  und 
geistigen  Culturzustandes:  Der  Kirche  und  ihrer  Satzungen  (Toleranz  etc.);  des 
öffentlichen  Unterrichtes;  der  Wissenschaften  und  Künste,  c)  Des  sittlichen 
Culturzustandes:  Der  Gemeinnützigkeit;  der  Wohlthätigkeit  und  des  Wohlthä- 
tigkeitssinnes;  der  öffentlichen  Sittlichkeit  und  sittlichen  Bildung,  d)  Der  socia- 
len Zustände:  Der  Vertheilung  des  Grundbesitzes  (Erblichkeit  desselben);  der 
Gesellschaftsclassen,  der  Arbeits-  und  Dienstverhältnisse,  e)  Des  politischen 
Culturzustandes:  Der  politischen  Bildung;  der  Staatsverfassung,  f)  Der  politi- 
schen und  staatlichen  Organisation  und  Administration:  Der  inneren  Verwaltung, 
Polizei ;  der  finanziellen  Lage  und  Verwaltung ;  der  Justiz  und  Justizpflege ;  des 
Heerwesens  und  der  Landesvertheidigung;  der  Vertretung  nach  aussen,  g)  Der 
politischen  Ereignisse  und  Störungen:  Der  Kriegs-  und  Friedenszeiten;  der 
Revolutionen  und  Emeuten;  der  politischen  Agitationen. 

A.  Wagner  und  Oettingen  geben  gleichfalls  Entwürfe  solcher  Causa- 
tionssysteme.  Letzterer  bemerkt  auch  mit  Recht  dazu,  dass  es  auf  dem  Gebiete 
der  Moral  Statistik  (und  ebenso  auf  anderen)  noch  bei  keiner  Specialuntersuchung 
durchführbar  erscheint,    allseitig  die  möglichen,    wahrscheinlichen   und    wirk- 


Der  Dnrchsehnittfimensch.  67 

liehen,  Ursachen   und   Motire  zu  einer  klar  geordneten  Causalreihe  oder  Kette 
zusammenzufügen. 

§.  40.  Der  Durchsclmittsinensch. 

Der  Mensch,  wie  die  Statistik  ihn  betrachtet,  folgt  also  bestimmten 
Regeln;  seine  Handlungen,  seine  ganze  Entwickelung  lassen  sich  annähe- 
rungsweise berechnen. 

Nahe  liegt  der  eine  Vorwurf,  eine  solche  Behandlung  des  Menschen 
sei  grasser  Materialismus,  und  der  andere,  sie  sei  ein  zu  weit  getriebenes 
Streben  nach  Ausdehnung  der  Grenzen  der  exacten  Wissenschaften,  sie 
veranlasse  zu  unsinnigen  Speculationen,  indem  sie  Dinge  ausrechnen  wolle, 
die  nicht  ausgerechnet  werden  können. 

Dieser  Vorwurf  erscheint  als  ungerechtfertigt,  wenn  man  bedenkt, 
dass  die  Statistik  keineswegs  jeden  einzelnen  Menschen  ausrechnen  will, 
sondern  dass  sie  sich  blos  mit  der  Erforschung  eines  mittleren  Men- 
schen, eines  Durchschnittsmenschen  beschäftigt. 

Dieser  mittlere  Mensch  ist  ein  abstractes  Wesen.  Er  ist  wie  das 
Niveau  eines  ruhelosen  Meeres.  Wogen  heben  sich  und  Wellenthäler  tiefen 
sich  ein;  aber  in  aller  Unruhe  bleibt  doch  eine  ebene  Meeresfläche  denk- 
bar, ein  Durchschnitt  von  Wellenbergen  und  Wellenthälern.  Er  ist  für  die 
Gesellschaft,  „was  der  Schwerpunkt  in  den  Körpern  ist,  er  ist  das  Mittel, 
um  das  die  Elemente  der  Gesellschaft  oscilliren"  (Quetelet). 

Das  ist  der  Mensch,  den  der  Statistiker  beobachtet  und  wie  er  ihn 
überhaupt  betrachten  darf*). 

„Wenn  man  die  Grundlagen  einer  Physik  der  menschlichen  Gesell- 
schaft einigermassen  feststellen  will,  so  muss  man  den  Menschen  von 
diesem  Gesichtspunkte  auffassen,  ohne  sich  mit  den  besonderen  Fällen, 
noch  bei  den  Regelwidrigkeiten  aufzuhalten,  und  ohne  zu  untersuchen,  ob 
dieses  oder  jenes  Individuum  hinsichtlich  einer  seiner  Fähigkeiten  eine 
mehr  oder  weniger  hohe  Entwickelungsstufe  erreichen  kann"  (Quetelet). 

Ein  riesenhafter  oder  herkulisch  starker  Mann  interessirt  den  Physio- 
logen, ein  von  einer  sehr  seltenen  körperlichen  Krankheit  Befallener  den 
Pathologen,  ein  Narr  den  Irrenarzt,  ein  grosser  Verbrecher  den  Grimi- 
nalisten,  ein  sehr  schöner  Mensch  den  Künstler.  Für  den  Statistiker  aber 
ist  interessanter  als  alle  diese  der  Mann  von  mittlerer  Kraft  und  Grösse, 
von  mittlerer  geistiger  und  körperlicher  Gesundheit,  Moral  und  Schönheit, 
der  Durchschnittsmensch.  ^ 

Einen  solchen  Durchschnittsmenschen  erhält  man,  wenn  man  das 
Mittel  der  ganzen  Menschheit  nimmt;  nimmt  man  das  Mittel  für  einen 
Theil  der  Menschheit,  entweder  für  ein  Volk,  für  einen  Staat  oder  für 
eine  Berufsclasse,  so  erhält  man  einen    Durchschnittsmenschen   für  'diese 

5* 


68  Die  Gesellschaftswissenschaft  im  Kreise  anderer  Wissenschaften. 

kleineren  Kreise  menschlicher  Gesellschaft,  z.  B.  den  Durchschnittsdeutschen? 
den  Durchschnittsfranzosen,  den  durchschnittlichen  Städter  und  den  durch- 
schnittlichen Landbewohner  u.  s.  f. 

Man  erhält  ihn  auch  für  verschiedene  Zeiten  je  nach  der  Zeit  der 
Beobachtung. 

Verfolgt  man  diesen  mittleren  Menschen  durch  den  Verlauf  der 
Zeiten  und  zugleich  die  Veränderungen  seiner  körperlichen  und  geistigen, 
seiner  wirthschaftlichen  und  politischen  Verhältnisse,  so  kann  man  die 
Gesetze  bestimmen,  denen  er  unterworfen  ist.  Man  kann,  auch  wenn  die 
Oberfläche  der  Fluth  der  Erscheinungen  hohe  Wellen  schlägt,  doch  be- 
stimmen, wie  hoch  der  Wasserstand  ist,  wohin  die  Wasser  strömen,  woher 
die  Lüfte  wehen,  welche  die  Oberfläche  bewegen  und  nach  welchem  Ge- 
setze die  Wogen  steigen  und  fallen,  schäumen  und  sich  überstürzen. 

Anmerkung. 
*)  Jeder  Schluss  yon  diesem  mittleren  Menschen  auf  ein  Individuum   fallt 
ausser  den  Bereich  der  Statistik. 

§.  41.  Die  OeselkchAftswissenschaft  im  Kreise  anderer  Wissenschaften. 

Fasst  man  die  Statistik  als  die  exacte  Gesellschaftswissenschaft  auf, 
so  muss^  sie  einigen  Zweigen  des  menschlichen  Wissens  mehr  oder  weniger 
fern;  anderen  dagegen  sehr  nahe  stehen. 

Jenen,  welche  sich  auf  die  Einzelnbeobachtung  stützen,  welche  nur 
typische  Erscheinungen  zum  Gegen  stände  haben,  oder  sich  wesentlich  des 
deductiven  Verfahrens  bedienen,  muss  sie  ferne  stehen.  Dagegen  erscheint 
sie  als  Hilfswissenschaft,  wo  es  sich  um  die  Wissenschaften  von  Menschen 
handelt,  und  zwar  besonders  um  jenen  Theil  dieser  Wissenschaften,  dessen 
Gegenstände  sich  der  gegenwärtigen  Beobachtung  in  der  Breite  ihrer 
gleichzeitigen  räumlichen  Ausdehnung  und  Erscheinung  darbieten. 

Es  kann  auch  die  Statistik  als  Gesellschaftswissenschaft  diejenigen 
Disciplinen,  welche  sich  bisher  mit  gesellschaftlichen  Zuständen  befasst 
oder  dieselben  gestreift  haben,  ohne  zifl'ermässig  zu  arbeiten,  doch  nicht 
ignoriren.  Im  Gesellschaftsleben  gibt  es  eine  Art  von  Erfahrung,  welche 
—  auch  ohne  Ziflermaterial  aufweisen  zu  können  —  immerhin  eine  gewisse 
Achtung  verdient.  Das  ist  die  Notorietät,  die  öffentliche  Erfahrung. 
Diese  Erfahrung,  die  z.  B.  von  der  Rechtswissenschaft  und  Politik,  von 
der  Nationalökonomie,  der  Philosophie  und  Geschichte  so  vielfach  benützt 
und  auf  welcher  so  wichtiges  aufgebaut  wird,  muss  nothwendig  in  der 
Gesellschaftswissenschaft  eine  grosse  Rolle  spielen. 

Diejenigen  Disciplinen  nun,  mit  welchen  die  Statistik  im  Zusammen- 
hange steht  oder  etwa  in  einem  Zusammenhange  gedacht  werden  könnte, 


Die  Statistik  and  die  Politik.  69 

sind:  Geographie,  Politik,  Nationalökonomie,  die  Rechtswissenschaft,  die 
Geschichte,  die  Philosophie,  die  beschreibenden  Naturwissenschaften,  die 
Mathematik. 

§.  42.  Die  Statistik  und  die  Oeographie  ^). 

Am  häufigsten  ist  die  Statistik  mit  der  Geographie  in  Verbindung 
gebracht  worden;  eine  gewisse  Verwandtschaft  beider  Disciplinen  ist  auch 
unverkennbar. 

Die  Geographie  beschränkt  sich  auf  eine  Beschreibung  der  Erde  in 
ihren  Beziehungen  zur  Natur  und  zur  Geschichte.  Die  Erde  bildet  den 
Grund  und  Boden  alles  Lebens,  die  Bühne  für  die  Entwickelung  des 
Menschengeschlechts  und  dessen  Arbeitsfeld.  Die  Geographie  entlehnt 
manches  von  der  Statistik  und  bietet  dafür  dieser  auch  manches.  Nament- 
lich ist  es  die  politische  Geographie,  welche  mit  der  Statistik  ein  so 
inniges  Verhältniss  eingegangen  hat,  dass  beide  Disciplinen  fast  ineinander 
zu  verschwimmen  scheinen  und  oft  genug  verwechselt  worden  sind.  Die 
politische  Geographie  betrachtet  die  Vertheilung  der  Zustände  und  Dinge 
im  Räume;  auch  die  Statistik  thut  dasselbe,  wenn  auch  nicht  immer. 
Aber  die  Geographie  fasst  das  Einzelne,  die  Statistik  dagegen  erforscht 
die  Zustände,  die  Bewegungen,  die  Gesetze  der  Masse.  Darin  liegt  der 
bezeichnende  Unterschied.  Während  uns  z.  B.  die  wirthschaftliche  Geo- 
graphie mit  der  Situation  des  Suezcanals  in  den  Linien  des  Weltverkehrs 
bekannt  macht  und  uns  zeigt,  um  wie  viel  Seemeilen  der  Weg  von  Triest, 
um  wie  viel  jener  von  Hamburg  nach  Calcutta  abgekürzt  wird,  wird  es 
eine  Aufgabe  der  wirthschaftlichen  Statistik  sein,  an  der  Zahl  und  dem 
Tonnengehalte  der  den  Kanal  passirenden  Schiffe  der  verschiedenen  Nationen 
seine  Bedeutung  für  den  Verkehr  dieser  Völker  zu  studiren.  So  haben 
beide  Wissenschaften  ihren  Stoff  häufig  gemeinsam:  nach  ihrem  Zwecke, 
nach  der  Methode  ihrer  Behandlung  aber  unterscheiden  sie  sich. 

Anmerkuug. 
*)  Vgl.  hierüber:  Jonak  a.  a.  0.;  Viertel jahrsschrift  1838;   Kolb  a.  a.  0. 
Vorwort. 

§.  43.  Die  Statistik  und  die  Politik. 

Ein  inniges  Verhältniss  besteht  auch  zwischen  der  Statistik  und  der 
Politik.  Je  mehr  die  Politik  in  der  Wirklichkeit  des  Staatslebens  ihre 
Grundlage  sucht,  desto  mehr  ist  sie  auf  die  Statistik  angewiesen. 

Dieses  Verhältniss  ist  so  alt,  als  die  amtliche  Statistik.  Die  amt- 
liche Statistik  war  von  jeher  Werkzeug  der  Politik. 

Aber  die  Statistik  hat  immer  ein  Moment  der  Vergangenheit  im 
Auge;  denn  erst  muss  eine  Erscheinung  gegeben  sein,   ehe   man    sie    be- 


70  Die  Statistik  nnd  die  Kechtswissenschaft. 

trachten,  ihre  Ursachen  und  Gesetze  erforschen  kann.  „Die  Politik  dagegen, 
in  ihrem  eigentlichen  Sinne  als  Staatskunst,  soll  die  Zwecke  des  öffent- 
lichen Lebens  und  die  wirksamsten  Mittel  zur  En*eichung  derselben  kennen 
lernen.  Sie  lehrt  also,  wie  man  lenkend  und  leitend,  fördenid  oder  hem- 
mend in  die  Entwicklung  des  öffentlichen  Lebens  eingreifen  soll,  und  ist 
darum  wesentlich  auf  die  Zukunft  des  Völkerlebens  gerichtet"  (Viertel- 
jahresschrift  1838). 

Um  praktische  Bedeutung  zu  gewinnen,  muss  die  Statistik  ihrerseits 
der  Politik  dienen,  indem  sie  die  im  Staatsleben  wirkenden  Mächte  mit 
den  Staatszwecken  in  Verbindung  bringt.  Umgekehrt  muss  jede  ver- 
nünftige Politik  in  ihren  besonderen  Richtungen,  also  bezüglich  der  Ge- 
setzgebung, Wiithschaftspflege,  Finanzwirthschaft,  Polizei,  des  Militarwesens 
auf  die  statistische  Erkenntniss  der  im  Staatswesen  vorhandenen  Er- 
scheinungen sich  gründen. 

Keinem  Zweige  der  Politik  steht  die  Statistik  so  nahe  als  der  Be- 
völkenmgspolitik.  Während  alle  anderen  politischen  Wissenschaften  ohne 
Statistik  entstehen  konnten  und  an  ihr  nur  eine  neuere  bessere  Grundlage 
fanden,  entwuchs  die   Bevölkerungswissenschaft  unmittelbar  der  Statistik. 

§.  44.  Die  Statistik  und  die  Nationalökonomie. 

In  der  innigsten  Wechselbeziehung  stehen  die  Statistik  und  die 
Nationalökonomie.  Die  Entwicklung  nnd  Ausbildung  beider  nahm  zu,  je 
inniger  ihre  Verbindung  war,  je  klarer  es  wurde,  dass  eine  dieser  Disci- 
plinen  die  andere  gar  nicht  entbehre»  kann.  Die  wirthschaftlichen  Erschei- 
nungen, die  sich  ja  vorzugsweise  für  das  exacte  Verfahren  eignen,  boten 
der  Statistik  das  beste  Feld,  ein  Feld,  auf  welchem  die  zu  beobachtenden 
Erscheinungen  sehr  häufig  in  grossen  Massen  auftreten,  wo  auch  in  vielen 
Fällen  die  Vergleichbarkeit  der  Daten  keine  solchen  Schwierigkeiten  bietet, 
wie  dieselben  auf  anderen  Gebieten  sich  häufig  finden. 

„Es  leuchtet  übrigens  ein,  dass  von  der  Statistik  im  Allgemeinen 
die  wirthschaftliche  einen  Haupttheil  bildet,  gerade  denjenigen  Theil, 
welcher  für  die  mathematische  Behandlungsweise  am  zugänglichsten  ist. 
Wie  diese  wirthschaftliche  Statistik  der  Nationalökonomie  als  Führerin 
bedarf,  so  versorgt  sie  dieselbe  ihrerseits  wieder  mit  reichem  Material, 
sowohlzur  Fortsetzung  ihres  Baues,  wie  zur  Befestigung  der  bisherigen 
Giiindlagen;  sie  ist  zugleich  die  unerlässliche  Bedingung,  um  volkswirth- 
schäftliche  Theoreme  in  der  Praxis  anzuwenden"  (Röscher). 

§.45.  Die  Statistik  und  die  Beohtswissenschaft. 

Zur  Rechtswissenschaft,  einer  jener  Disciplinen,  welche  zu  besonders 
glänzender  Entwickelung  der  deductiven  Methode  gekommen   sind,    steht 


Die  Statistik  and  die  Philosophie.  71 

die  Statiötik  fremd.  Die  wissenschaftliche  Thätigkeit  besteht  bei  der  Rechts- 
wissenschaft vorzugsweise  in  der  Interpretation,  im  Subsumiren  des  Ein- 
zelnen unter  allgemeine  Rechtssätze.  Die  Criminalstatistik  berührt  nicht 
die  Rechtswissenschaft,  sondern  die  Staatswissenschaft,  nicht  den  Richter 
und  Ausleger  des  Rechts,  sondern  den  Gesetzgeber.  Gleiches  gilt  von  der 
Statistik  der  Civilrechtspflege.  Auch  sie  gibt  nicht  dem  Richter,  sondern 
dem  Gesetzgeber  die  leitenden  Gesichtspunkte. 

§.  46.  Die  Statistik  und  die  Oeschichte. 

Fast  fremd  stehen  sich  heutzutage  diese  beiden  Disciplinen  gegen- 
über, und  Schlözer's  berühmter  Ausspruch,  die  Statistik  sei  stillstehende 
Geschichte  und  die  Geschichte  fortlaufende  Statistik,  hat  bei  allen,  die 
mit  dem  Wesen  der  Statistik  irgendwie  vertraut  sind,  seine  Bedeutung  für 
immer  verloren.  Auch  jene  Anschauung  ist  irrig,  die  in  beiden  Disciplinen 
ein  anderes  inniges  Verhältniss,  z.  B.  das  Verhältaiiss  zweier  gegenseitiger 
Hilfswissenschaften  annimmt.  Wohl  mag  die  Geschichte  die  Statistik  als 
Hilfswissenschaft  benützen,  namentlich  da,  wo  sie  von  einer  blossen 
Dynasten-  und  Schlachtengeschichte,  von  einer  Geschichte  der  Staats- 
actionen  und  Friedensschlüsse,  Vertragsbrüche  und  Palastintriguen  zu  einer 
Geschichte  der  Völker  und  ihrer  Gvilisation  sich  erhebt.  Aber  die  Sta- 
tistik braucht,  ausser  der  Geschichte  ihrer  eigenen  Entwickelung,  nicht  ein 
Jota  von  der  Weltgeschichte. 

So  steht  das  Verhältniss  dieser  beiden  Disciplinen  allerdings  nur 
jetzt.  In  Zukunft  freilich,  wenn  einmal  von  einer  Statistik  vergangener 
Zeiten  gesprochen  werden  kann,  dürfte  sich  dieses  Verhältniss  vielleicht 
ändern. 

§.  47.  Die  Statistik  und  die  Philosophie. 

Zu  einer  einzigen  unter  den  philosophischen  Wissenschaften  steht 
die  Statistik  in  näherer  Beziehung:  zur  Psychologie.  Denn  die  Psychologie 
ist  selbst  eine  Erfahrungswissenschaft  und  hat  wie  die  Naturwissenschaften 
Gesetze  auf  dem  Wege  der  Beobachtung  und  Induction  zu  finden.  Statistik 
und  Psychologie  haben  sich  gegenseitig  zwar  noch  wenig  geleistet;  denn 
die  Psychologie  ist  noch  nicht  entwickelt  genug,  um  bestimmte  Fragen  an 
die  Statistik  zu  stellen,  und  die  Statistik  ihrerseits  noch  nicht  im  Stande, 
um  ihre  Methode  auf  psychische  Erscheinungen  in  ausgedehnte  Anwen- 
dung zu  bringen. 

Den  übrigen  philosophischen  Wissenschaften  steht  die  Statistik 
fremder  gegenüber.  Denn  diese  Wissenschaften  bedienen  sich  der  deduc- 
tiven  Methode.  Sie  beruhen  zwar  auf  Erfahrung,  aber  sie  erzeugen  die 
Erfahrung  nicht  selbst,  sondern  schöpfen  sie  aus  anderen  Wissenschaften. 


72  Die  Statigtik  und  die  Mathematik. 

Je  mehr  die  Philosophie  sich  auf  logische  Gedankenoperationen  und 
auf  den  speculativen  Ausbau  einzelner  Fundamentalsätze  beschränkt:  umso 
geringere  Bedeutung  müssen  die  statistischen  Erfahrungen  für  sie  haben. 
Sie  erlangen  dagegen  wieder  Bedeutung,  sobald  die  an  sich  blos  specula- 
tive  Richtung  wieder  objectiver  wird. 

So  kann  namentlich  die  Staatsphilosophie  nicht  von  den  Erschei- 
nungen des  Lebens  absehen,  sondern  muss  ihre  Grundsätze  in  wirklichen 
Erscheinungen  suchen. 

§.  48.  Die  Statistik  und  die  Naturwissenschaften. 

Zu  den  Naturwissenschaften  steht  die  Statistik  in  innigerer  Be- 
ziehung, soweit  nicht  dieselben  blos  mit  typischen  Erscheinungen  zu  thun 
haben. 

Da  indessen  das  Typische  und  das  Individuelle  nicht  scharf  abge- 
grenzt sind,  sondern  auf  den  höheren  Organisationsstufen  das  Individuelle, 
auf  den  niedrigeren  das  Typische  vorwaltet;  da  namentlich  im  Leben  der- 
jenigen Thiere  und  Pflanzen,  welche  unter  menschlicher  Einwirkung  stehen, 
die  Natur  langsam  über  den  ursprünglichen  Typus  hinausschreiten  und 
individuell  werden  kann:  so  entsteht  ein  Gebiet,  wo  die  Statistik  auch 
auf  andere  Organismen,  als  der  Mensch  ist,  sich  ausdehnt.  Ja,  es  wird 
ihre  Methode  sogar  im  Gebiete  anorganischer  Erscheinungen,  bei  der 
meteorologischen  Beobachtung  angewendet.  Hier  wechselt  die  Erscheinung 
nicht  von  einem  Individuum  zum  anderen,  sondern  von  einem  Zeitpunkte 
zum  andern.  Und  man  ist  deshalb  auch  hier  darauf  angewiesen,  Massen- 
beobachtungen anzustellen,  Durchschnitte  und  Mittel werthe  zu  suchen. 
Obgleich  nun  diese  Aufgaben  nicht  mehr  in  das  Gebiet  einer  Social- 
■  ^Wissenschaft  gehören,  mögen  sie  doch  als  verwandte  hier  bezeichnet 
werden.  Namentlich  ist  es  die  sogenannte  medicinische  Statistik,  durch 
welche  ein  namhaftes  Grenzgebiet  zwischen  Statistik  und  Naturwissen- 
schaften geschaffen  wurde. 

§.  49.  Die  Statistik  und  die  Mathematik. 

Eine  sehr  bemerkenswerthe  Stellung  nimmt  die  Statistik  zur  Mathe- 
matik ein.  In  einer  Hinsicht  nämlich  steht  die  Statistik  zur  Mathematik 
in  gar  keiner  inneren  Beziehung,  ihr  vielmehr  schroff  gegenüber,  während 
in  anderer  Hinsicht  doch  auch  wichtige  Berührungspunkte  vorhanden  sind. 

I.  Der  wesentliche  Unterschied  liegt  darin,  dass  die  Mathematik 
keiner  Beobachtung  für  ihre  Lehrsätze  bedarf,  während  die  Statistik  voll- 
ständig auf  der  Beobachtung  beruht. 

Es  ist  daher  unrichtig,  die  Statistik  einen  Bestandtheil  der  Mathe- 
matik zu  nennen. 


Die  Statistik  als  Zweig  der  StAatsvervaltung.  78 

Die  mathematische  Thätigkeit  der  Statistik  beschränkt  sich  meisten- 
theils,  wenn  auch  nicht  immer,  auf  die  einfachsten  Functionen.  Die  Sta- 
tistik zählt  die  in  ihrem  Beobachtungsgebiete  liegenden  Erscheinungen;  sie 
stellt  dieselben  in  Zahlengruppen  dar  und  sucht  höchstens  noch  Procent- 
verhältnisse und  ähnliche  einfache  Resultate  zu  gewinnen.  Das  „begründet 
so  wenig  einen  mathematischen  Grundcharakter  ihrer  Methode  und  Auf- 
gabe, als  wir  einen  Cassier  oder  Buchführer  oder  den  Handwerker,  der 
elliptische  Tische,  cylinderförmige  Oefen  oder  Billardkugeln  fertigt,  einen 
Mathematiker  nennen"  (Rümelin). 

Die  Mathematik  beruht  eben  auf  der  Deduction,  die  Statistik  auf 
der  Induction. 

IL  Namentlich  ist  die  Statistik  häufig  in  innigeren  Zusammen- 
hang mit  der  sogenannten  politischen  Arithmetik  gebracht  worden.  Die 
politische  Arithmetik  ist  keine  selbständige  Wissenschaft.  Sie  ist  in  erster 
Linie  Arithmetik,  d.  h.  rein  formales  Wissen;  der  politische  Stoff  steht 
in  zweiter  Linie;  er  ist  nur  „zufälliger  Inhalt,  an  dessen  Stelle  man 
ebenso  den  Inhalt  der  Naturwissenschaften  setzen  kann,  ohne  das  Wesen 
der  Wissenschaft  zu  ändern"  (Jonäk).  Die  politische  Arithmetik  benützt 
einen  Theil  des  Gegenstandes  der  Statistik,  nicht  den  ganzen  Gegenstand. 
Nun  ist  es  aber  doch  eine  bemerkenswerthe  Thatsache,  dass 

III.  die  neuere  Entwickelung  der  Statistik  von  der  politischen  Arith- 
metik ausgegangen  ist.  Dessenungeachtet  ist  der  Kreis  derjenigen  Auf- 
gaben, hinsichtlich  welcher  sich  die  beiden  Disciplinen  heutzutage  be- 
rühren, ungleich  kleiner  als  der  Kreis  jener,  bezüglich  deren  sie  sich 
ausschliessen. 


IV.  Capitel. 
Die  Statistik  als  Zweig  der  Staatsverwaltung  0- 


§.  50.  Im  Allgemeinen. 

Die  Statistik  arbeitet  im  Dienste  nicht  nur  der  Wissenschaft,  son- 
dern auch  der  praktischen  Staatsverwaltung. 

Beides  hängt  zusammen,  denn  jede  Verwaltung  muss  wissenschaft- 
liche Grundlage  haben.  Aber  nicht  alle  statistischen  Arbeiten  haben  für 
die  Wissenschaft  und  für  die  Verwaltungspraxis  den  gleichen  Werth.    Je 


74  Di«  Statistik  als  Zweig  der  StaatsTerwaltang. 

mehr   eine  statistische  Arbeit  nach  beiden  Seiten  hin  von  Bedeutung  ist, 
desto  grösser  ist  ihr  Werth. 

Die  Mehrzahl  aller  statistischen  Daten  beruht  auf  amtlichen  Erhe- 
bungen. Diese  aber  werden  weit  seltener  aus  rein  wissenschaftlichen 
Beweggründen,  als  zu  praktischen  Zwecken  angestellt.  Die  Staatsverwal- 
tung ist  noch  nicht  dahin  gekommen,  die  Statistik  als  Selbstzweck  zu 
betrachten.  Sie  nimmt  Erhebungen  vor,  welche  ihren  Zwecken  genügen, 
wenig  bekümmert  darum,  ob  die  Wissenschaft  grössere  Ausführlichkeit 
nach  dieser  oder  jener  Richtung  hin  verlangt. 

So  beobachtet  z.  B.  die  Verwaltung  bezüglich  der  Criminal-  und 
Gefängnissstatistik:  die  Zahl  der  Angeklagten  mit  Nachweisen  über  die 
Anklage  und  die  Persönlichkeit  der  Angeklagten,  dann  die  Quantität  und 
Qualität  der  Verurtheilungen  und  Freisprechungen.  Die  Gefängnissstatistik 
zeigt  die  Zahl,  den  Ab-  und  Zugang  der  Gefangenen,  die  Zahl  der  erst- 
maligen Bestrafung  und  der  Rückfälle,  die  Gesundheit,  den  Unterricht 
und  die  Beschäftigung  der  Gefangenen,  endlich  die  finanziellen  Ergebnisse 
der  Strafanstalten.  Die  Wissenschaft  würde  dazu  noch  erheben:  die  Mo- 
tive des  Verbrechens;  den  Einfluss  der  Entlausungen  auf  die  Zahl  der. 
neubegangenen  Verbrechen;  also  die  Nachhaltigkeit  der  Besserung  und 
die  Gewalt  des  einmal  begangenen  Verbrechens  über  den  ganzen  Men- 
schen; ferner  die  Beschäftigung  und  den  Verdienst  der  Bestraften  nach 
ihrer  Freilassung. 

Gegenwärtig  ist  der  Verwaltungszweck  noch  das  alleinige  Motiv  oder 
wenigstens  die  Hauptsache  der  statistischen  Forschung.  Wissenschaftliche 
Zwecke  erscheinen  als  Nebensache.  Es  ist  dies  der  Entwickelungsgang 
der  Statistik.  Doch  hat  sich  in  einigen  Staaten  die  wissenschaftliche  Sta- 
tistik für  gewisse  Dinge  Bahn  gebrochen.  Freilich  herrscht  oft  unmittelbar 
daneben  der  roheste  Empirismus.  Die  Schuld  dieser  Verschiedenheiten 
liegt  an  dem  die  Statistik  noch  so  sehr  beherrschenden  Nützlichkeits- 
principe.  Von  dem  Drucke  dieses  Nützlichkeitsprincips  befreit,  könnte  die 
Statistik  noch  viel  Grösseres  leisten,  als  bisher. 

Zunächst  haben  wir  es  jedoch  mit  der  Statistik  im  Dienste  der 
Staatsverwaltung  zu  thun,  von  dem  wissenschaftlichen  Werthe  ihrer  Lei- 
stungen ganz  abzusehen. 

In  dieser  Hinsicht  sieht  die  amtliche  Statistik  ihre  Aufgabe  darin, 
„ein  möglichst  wahrheitsgetreues  Bild  von  den  jeweiligen  Zuständen  des 
Staats  und  des  in  ihm  sich  bewegenden  öffentlichen  Lebens  zu  liefern, 
und  dadurch  einerseits  die  unentbehrlichen  thatsächlichen  Grundlagen  für 
die  Zwecke  der  Gesetzgebung  und  der  Verwaltung  zu  gewähren,  anderer- 
seits im  Volke  eine  gesunde  Anschauung  und  eine  richtige  Kenntniss  der 
öffentlichen  Verhältnisse  zu  verbreiten". 


Organisation  der  amtlichen  Statistik.  75 

Anmerkung. 
*)    Im    WeseiitÜchen   uach    den    verschied eueu ,    iu    der    Zeitschrift    des 
preussischeu  statistischen  Bureau  niedergelegten  Arbeiten  EngePs  über   diesen 
Gegenstand. 

§.  51.  Aufig;abe  der  amtlichen  Statistik. 

Die  Ansprüche,  welche  an  die  amtliche  Statistik  gemacht  werden, 
sind  fortwährend  im  Steigen. 

Sie  soll  für  die  Nationalökonomie  und  Wirthschaftspolitik  das  sein, 
was  dem  Physiker  sein  Apparat,  dem  Chemiker  sein  Laboratorium  ist. 
Für  die  Politik  soll  sie  eine  Art  Sternwarte  sein,  deren  Instrumente  die 
Bewegungen  und  Zustände  des  Volkes  statt  der  Bewegungen  und  Coustella- 
tionen  der  Gestirne  beobachten. 

Die  gut  angelegte  und  geleitete  Statistik  ist  für  den  constitutionellen 
Staat  „ein  Zeuge,  der  sich  weder  einschüchtern  noch  erkaufen  lässt,  den 
man  voll  Vertrauen  und  mit  Erfolg  befragen  kann,  wenn  man  sich  Auf- 
klärung über  die  Cultur  und  die  Civilisation  der  Staaten  im  Allgemeinen, 
wie  auch  über  die  Güte  einzelner  staatlicher  Einrichtungen  verschaffen 
.will,  so  weit  sie  sich  durch  wahrnehmbare,  der  Statistik  zugängliche  That- 
sachen  offenbaren.  Als  vergleichende  Statistik  verbreitet  sie  ein  helles 
Licht  über  die  materiellen  Grundlagen,  über  die  Verwaltung,  über  die 
gesellschaftliche  Organisation  und  die  mannigfachen  Einrichtungen  eines 
jeden  einzelnen  Staates  und  wird  dadurch  ein  Mittel,  um  unter  den  ver- 
schiedenen Völkern  einen  heilsamen  und  mächtigen  Wetteifer  anzufachen" 
(Engel). 

Die  amtliche  Statistik  hat  diese  Aufgaben  hier  mehr,  dort  weniger 
vollständig  erfasst. 

Vor  Allem  liat  sie  darauf  zu  sehen,  dass  sie  nicht  bei  den  ersten 
Stadien  statistischer  Thätigkeit  stehen  bleibt,  d.  h.  dass  sie  sich  nicht 
blos  auf  die  Herstellung  riesenhafter  Zahlenhaufen  beschränkt.  Sie  muss 
vielmehr  das  statistische  Material  verarbeiten.  Nicht  die  absoluten  Zahlen 
sind  die  wichtigen,  sondern  die  relativen,  d.  h.  die  zu  anderen  Zahlen  in 
Beziehung  gebrachten.  Trockene  Zahlenhaufen  haben  von  jeher  und  mit 
Recht  Abscheu  gegen  die  Statistik  hervorgerufen.  Kunst  und  Aufgabe  des 
Statistikers,  des  wissenschaftlichen  wie  des  amtlichen  ist  es,  den  Zahlen 
Leben  und  Geist  einzuhauchen,  sie  sprechen  zu  lassen. 

§.  52.  Organisation  der  amtlichen  Statistik. 

Um  ihrer  Aufgabe  zu  genügen,  muss  die  amtliche  Statistik  in  ge- 
wissem Grade  centralisirt  sein.  Sie  kann  die  Erhebung  und  Verwerthung 
der  Beobachtungen  aus  den   verschiedenen  Zweigen  der  Verwaltung  nicht 


76  Organisation  der  amtlichen  Statistik. 

den  mit  diesen  Zweigen  beschäftigten  Behörden  allein  überlassen.  Denn 
diese  Behörden  können  eben  nur  die  einseitigen  Thatsachen  und  Erschei- 
nungen gerade  ihres  Verwaltungszweiges  beobachten.  Sie  können  nicht 
Thatsachen  aus  verschiedenen  Verwaltungsgebieten  gegenüberstellen  und 
die  dabei  sich  ergebenden  neuen  Gesichtspunkte  verfolgen. 

Nur  eine  centralisirte  Leitung  der  amtlichen  Statistik  kann  den 
statistischen  Stoff  nach  allen  Seiten  hin  durcharbeiten  und  die  Methoden 
der  Behandlung  stets  vervollkommnen. 

Dabei  ist  freilich  eine  fortwährende  innige  Verbindung  der  centra- 
lisirten  amtlichen  Statistik  mit  allen  Spitzen  der  Verwaltung  im  Staate, 
und  eine  vollständige  Kenntniss  der  Bedürfnisse  und  der  verschiedenen 
statistischen  Mittel  der  einzelnen  Verwaltungsorgane  nothwendig. 

Die  Centralisation  der  amtlichen  Statistik  wird  durch  die  statistischen 
Bureaux  erzielt,  d.  h.  durch  jene  Behörden,  welche  speciell  die  amtliche 
Aufgabe  haben,  Statistik  zu  treiben,  die  aus  verschiedenen  Orten  und 
von  Verschiedenen  Behörden  ihnen  zukommenden,  sowie  die  selbst  erho- 
benen Materialien  zu  sammeln,  zu  ordnen,  zu  verarbeiten  und  zu  ver- 
öffentlichen. 

Neben  oder  über  den  statistischen  Bureaux  stehen  die  statistischen' 
Centralcommissionen ,  zusammengesetzt  aus  Beamten  der  verschiedenen 
Verwaltungszweige  und  wissenschaftlichen  Theoretikern.  Diese  Commissionen 
sind  theils  wirklich  eingeführt,  theils  angestrebt.  Ihre  Aufgabe  ist,  einen 
systematischen  Plan  zu  einer  einheitlichen  und  vollständigen  statistischen 
Erforschung  des  ganzen  Landes  und  Volkes  zu  entwerfen.  Lücken  der 
vorhandenen  statistischen  Arbeiten  sowohl  als  Ueberflüssigkeiten  habe  sie 
zu  bezeichnen.  Im  Ganzen  stellen  sie  sich  als  eine  fach  wissenschaftliche 
Ergänzung  in  der  Direction  der  amtlichen  Statistik  dar. 

Das  statistische  Bureau  und  die  statistische  Centralcommission,  wo 
eine  solche  besteht,  bilden  das  Centrum  der  amtlichen  Statistik.  Ihre  Auf- 
gaben sind  verschieden,  je  nachdem  die  einzelnen  Ministerien  statistische 
Specialbureaux  haben  oder  nicht. 

Jedenfalls  gehören  in  den  Bereich  des  statistischen  Centralbureau : 
die  Redaction  und  Veröffentlichung  der  allgemeinen  Statistik  des  Staates, 
die  Volkszählungen,  die  Darstellung  der  Bevölkerungsbewegung,  die  Re- 
daction einer  statistischen  Zeitschrift  und  statistischer  Jahrbücher,  Ver- 
gleichung  der  statistischen  Erscheinungen  des  eigenen  mit  jenen  fremder 
Staaten  u.  s.  f. 

So  lange  nicht  jedes  Ministerium  sein  eigenes  statistisches  Bureau 
hat,  muss  das  Centralbureau  die  diese  Verwaltungszweige  treffenden  sta- 
tistischen Arbeiten  über  sich  nehmen. 


Organisation  der  amtlichen  Statistik.  77 

Diese  organisirte  Statistik  leistet  Besseres  mit  wenigen  Kosten  und 
in  weniger  Zeit,  als  die  unorganisirte;  zugleich  repräsentirt  sie  tiefere 
Wahrheit,  grössere  moralische  Macht. 

Während  so  das  statistische  Centralbureau  (mit  der  Centralcom- 
mission)  den  Mittelpunkt  der  amtlichen  Statistik  bildet,  soll  dieselbe 
auch  ihre  den  ganzen  Staat  umfassenden  thätigen  Glieder  haben.  Ihre 
Organisation  muss  neben  der  geistigen  Centralisation  auch  räumlich  ent- 
wickelt sein. 

In  den  Provinzial- oder  Kreisregierungen,  ferner  in  den  Ver- 
waltungsämtern*) muss  sie  weitere  Kreise  von  Organen  haben.  Diese 
Behörden  müssen  kleinere   Mittelpunkte  statistischer  Thätigkeit  bilden. 

Noch  kleinere  solche  Mittelpunkte  finden  sich  in  den  Ortschaften. 
Zwar  kann  nicht  jede  Ortschaft  amtliche  Statistik  selbständig  pflegen;  von 
den  grossen  Städten  aber  geschieht  dies  theils  jetzt  schon,  theils  ist  es 
zu  erwarten^). 

Gewisse  Corporationen,  welche  mit  mehr  oder  weniger  amtlichen 
Befugnissen  ausgestattet  sind,  können  gleichfalls  als  Glieder  der  Organi- 
sation angesehen  werden.  Sie  treiben  aber  keine  allgemeine,  sondern 
Specialstatistik. 

Solche  Corporationen  sind  zunächst  die  Handels-  und  Gewerbe- 
kammern. Um  mit  ihren  statistischen  Arbeiten  in  das  ganze  System  der 
amtlichen  Statistik  zu  passen,  ist  es  fireilich  nothwendig,  dass  sie  alle  von 
gleicher  Eintheilung  des  Stoffes  Gebrauch  machen. 

In  loserer  Verbindung  mit  der  amtlichen  Statistik  stehen  die  land- 
wirthschaftlichen  Vereine,  ferner  die  Vereine  der  socialen  Selbsthilfe  und 
der  öffentlichen  Wohlthätigkeit.  Auch  ohne  amtliche  Bevormundung  der- 
selben ist  eine  Thätigkeit  und  Mitwirkung  derselben  an  der  amtlichen 
Statistik  möglich.  Bei  der  hohen  Bedeutung,  welche  diese  Vereine  fär  das 
wirthschaftliche  und  sociale  Leben  der  Gegenwart  gewonnen  haben,  ver- 
sucht man  theilweise  jetzt  schon,  sie  zu  organisiren.  Von  hohem  Werthe 
wäre  es,  durch  sie  fortlaufende  Nachrichten  über  die  materiellen  Ver- 
hältnisse der  arbeitenden  Glassen  zu  gewinnen. 

Aumerkuugen. 

')  So  yerlangt  z.  B.  die  preussische  Regierung  ron  den  Laudrätheu 
(unterm  27.  Juni  186S)  statistische  Berichte,  folgende  Gegenstande  umfassend: 
Territorium;  Physiographische  Skizze;  Klimatische  Verhältnisse;  Bevölkerung; 
Abzüge  und  Zuzüge  der  Bevölkerung;  Eheliche  und  Geburtsverhältnisse;  Ge- 
sundheits-  und  Sterblichkeitsverhältnisse;  Wohnplätze;  Gebäude;  Grundeigen- 
thum;  Ackerbau,  Viehzucht,  Forstwirthschaft;  Bergbau-  und  Hüttenwesen, 
Fabrikindustrie  und  Handwerk;  Handel  und  Verkehr;  Land-  und  Wasserstrassen; 
Verhältnisse  der  arbeitenden  Classen,  Abwehr  der  Verarmung;  Wohlthätigkeit 
und  Armenpflege;  Polizei-  und  Gefängnisswesen;  Sanitätsanstalten;    Kirchliche 


78  Amtliche  und  FriTaistatistik. 

Augelegeiiheiteu;  üuterriclitsaiigelegenheiteu;  Civil-  und  Crimiual Justiz;  Mili- 
tärverhältuisse;  Staats-  und  Proviiizialabgabeii;  Kreisverwaltuiig  uud  Kreishaus- 
halt; Gemeiudeyerwaltung  uud  Gemeiudehaushalt. 

*)  Auf  dem  Pariser  statistischen  Congresse  wurde  als  Norm  für  die  Sta- 
tistik grosser  Städte  folgende  Eintheilung  des  Stoffe  empfohlen:  Topographie; 
Oberfläche;  Oeffentliche  und  Privatgebäude;  Wohnungen;  Commuuicatioiiswege; 
Bevölkerung;  Oeffentliche  Gesundheitspflege;  Consumtionen;  Industrie  und  Han- 
del; Municipale  Organisation;  Municipales  Budget;  Oeffentliche  Vergnügungen; 
Oeffentliche  Wohlthätigkeit;  Institute  der  Selbsthilfe;  Oeffentliche  Sicherheit; 
Civil-  und  Crimiual  Statistik;  Oeffentlicher  und  Privatunterricht;  Gottesdienst.  — 
Dieser  Plan  entbehrt  inneres  System. 

§.  53.  Amtliche  und  Privatstatistik. 

Alle  statistischen  Forschungen  sind  theils  anitliche,  theils  private. 
Die  amtlichen  werden  fast  ausschliesslich  zu  Verwaltungszwecken  vorge- 
nommen; die  privaten  dagegen  theils  zu  wirthschaftlichen,  namentlich  zu 
Vereinszwecken  —  so  im  Bereiche  des  Versicherungswesens  —  theils  aus 
wissenschaftlichem  Interesse. 

Eines  aber  bedarf  des  Anderen.  Die  amtliche  Erhebung  kann  der 
Statistik  nicht  wissenschaftliche  Weihe  verleihen;  es  gibt  unzählige  Dinge, 
in  welche  sie  nicht  einzudringen  vermag.  Umgekehrt  fehlt  der  Privat- 
statistik, welche  wohl  aus  wissenschaftlichem  Interesse  und  mit  Erfolg 
Detailschilderungen  zu  geben  vermag,  die  weitreichende,  einen  ganzen 
Staat  umfassende  Macht,  welche  der  amtlichen  eigen  ist. 

Aus  diesen  Gründen  ist  es  dringend  wünschenswerth,  dass  die  amt- 
liche und  die  Privatstatistik  Hand  in  Hand  gehe. 

So  wird  namentlich  eine  organisirte  Mitwirkung  der  Bevölkerung, 
eine  Belebung  der  statistischen  Verein sthätigkeit  als  Hilfe  der  amtlichen 
Statistik  angestrebt.  Diese  Thätigkeit  muss  gleichfalls  eine  massenhafte 
sein;  denn  die  eines  Einzelnen  kann  der  amtlichen  Statistik  nichts  nützen. 

Die  Bevölkerung  wird  sich  freilich  zu  einer  solchen  Thätigkeit  und 
Beihilfe  nur  herbeilassen,  wenn  die  statistischen  Forschungen,  um  die  es 
sich  handelt,  innerhalb  des  allgemeinen  Verständnisses  liegen  und  inner- 
halb des  öffentlichen  allgemeinen  Interesses.  Zu  solcher  Mithilfe  an  der 
amtlichen  Statistik  sind  namentlich  geeignet  die  landwirthschaftlichen 
Vereine,  Gewerbevereine,  Handelskammern,  die  wissenschaftlichen  Vereine, 
ferner  eine  Reihe  von  Personen,  welche  theils  amtlich,  theils  halbamtlich 
oder,  wenn  auch  privat,  doch  täglich  in  unmittelbare  Berührung  mit  der 
Bevölkerung  kommen.  So  die  Geistlichen,  die  Lehrer,  die  Gerichts-  und 
Polizeiärzte,  die  Thierärzte,  die  Agenten  von  Versicherungsgesellschaften, 
die  Directionen  und  Vorstandschaften  von  Sparcassen,  Arbeiter-  und  Hand- 
werkervereinen, 'Bildungsvereinen,  die   Directionen  grösserer  wirthschaft- 


Die  Qewinnang  des  Urmateri&ls.  79 

licher  Unternehmungen,  insbesondere  von  Eisenbahnen,  Bergwerken,  grossen 
Fabriken. 

Jeder  dieser  Gruppen  stellt  sich  die  Bevölkerung  unter  anderen 
Erscheinungsformen  dar.  Werden  die  Beobachtungen  dieser  verschiedenen 
Erscheinungsformen  vereinigt,  so  geben  sie  ein  deutliches  Bild  der  Bevöl- 
kerung mit  ihren  verschiedenen  Eigenschaften*. 

§.  54.  Die  Zeit  der  statistischen  Erhebungen. 

Zu  welchen  Zeitpunkten  und  in  welchen  Perioden  sollen  die  von 
der  amtlichen  Statistik  zu  erforschenden  Thatsachen  erhoben,  bearbeitet 
und  veröffentlicht  werden? 

Diese  Zeitpunkte  und  Zeiträume  richten  sich  nach  dem  Wesen  der 
Thatsachen. 

Es  gibt  eine  Menge  Thatsachen,  welche  ewig  fliessen  und  deshalb 
unausgesetzt  beobachtet  werden  müssen.  So  z.  B.  die  Geburten  und  Todes- 
falle, Aus-  und  Einwanderungen,  Preise  etc. 

Andere  Thatsachen  erfordern  nur  eine  nach  längeren  Perioden  wieder- 
kehrende Beobachtung,  welche  dann  doch  zu  richtigen  Ansichten  führt. 
So  z.  B.  die  Zahl  der  Bevölkerung,  der  Gebäude,  des  Viehes,  die  Ver- 
theilung  des  Boden&,  unter  die  verschiedenen  Culturarten  etc. 

Nach  der  Beobachtungsperiode  aber  richten  sich  die  Mittel  der 
Beobachtung. 

Jene  Beobachtungen,  welche  gewissermassen  als  Inventaraufnahme 
erscheinen,  sollen  nicht  allzu  rasch  aufeinander  folgen.  Schwierigkeit  und 
Kostspieligkeit  müssen  berücksichtigt  werden. 

Jedenfalls  müssen  alle  Zeiträume  in  einem  einfachen  und  rationalen 
Zahlenverhältniss  untereinander  stehen. 

§.  55.  Die  Gewinnung  des  Unnaterials. 

Urmaterial  nennt  die  Statistik  alles  durch  die  Beobachtung  gewon- 
nene, rohe,  noch  nicht  weiter  verarbeitete  Ziffern  material.  Da  das  Volks- 
leben in  seinen  verschiedenen  Regungen  sehr  mannigfache  Punkte  dar- 
bietet,, an  welchen  es  von  der  Massenbeobachtung  erfasst  werden  kann; 
da  aber  fast  j^der  dieser  Punkte  anderer  Mittel  bedarf,  um  erfasst  zu 
werden,  ist  die  Gewinnung  des  statistischen  ürmaterials  durch  die  damit 
beauftragten  Behörden  keineswegs  flir  alle  Zweige  des  Volkslebens  die 
gleiche.  So  wird  die  Zahl  und  die  Gruppirung  der  Bevölkerung  nach  ihren 
wichtigsten  Eigenschaften  (nach  Alter,  Geschlecht,  Confession,  Stand  etc.) 
durch  Volkszählungen  ermittelt;  die  Bewegung  der  Bevölkerung  (Geburten 
Trauungen  und  Todesfälle,  sowie  Ein-  und  Auswanderung)  durch  Führung 
von  Civilstandsregistem   und   durch  regelmässige  Aufzeichnungen  in  den 


80  Die  Fragestellung. 

Auswanderungshäfen  etc.;  die  Ziffern  der  wirthschaftlichen  Statistik  werden 
zumeist  durch  directe  amtliche  Fragestellung  an  die  einzelnen  Landwirthe, 
Gewerb-  und  Handeltreibende  etc.  gewonnen,  theilweise  auch  durch  die 
Volkszählungen.  Anderes  Urmaterial  kann  aus  schon  vorhandenen  acten- 
mässigen  Aufzeichnungen  gewonnen  werden,  so  z.  ß.  die  Vertheilung  des 
Grundeigenthums;  die  Ergebnisse  der  Civil-  und  Strafrechtspflege  (aus 
den  Acten  der  Gerichte),  die  Statistik  der  Verkehrs-,  Credit-  und  Spar- 
anstalten  aus  den  Rechenschaftsberichten  der  Eisenbahnen,  Banken  etc.; 
die  Statistik  der  Ein-  und  Ausfuhr  aus  den  Aufzeichnungen  der  Zollbehör- 
den; das  Material  der  Gesundheitsstatistik  aus  den  Aufzeichnungen  des 
amtlichen  Sanitätspersonals  u.  s.  f. 

Anmerkung. 
Vgl.  ausführl.  bei  Block -v.  Scheel:  Handbuch  d.  Stat.,  S.  167  ff.     In 
den  folgenden    Abschnitten    soll    übrigens    auch    bei  jedem    einzelnen  Gegen- 
stande das  Wichtigste  über  die  Gewinnung  des  darauf  bezüglichen  Urmaterial  s 
erwähnt  werden. 

§.  56.  Die  Fragestellung. 

Alles  statistische  Urmaterial  wird  durch  Fragestellung  gewonnen. 
Die  bezüglichen  Fragen  werden  entweder  (wie  z.  B.  bei  Volkszählungen, 
der  Gewerbestatistik  etc.)  an  die  Objecte  der  Statistik  selbst  gerichtet  oder 
(wie  z.  B.  bei  der  Statistik  der  Rechtspflege)  an  ein  vorhandenes,  aber 
erst  aufzusuchendes  und  zu  sammelndes  Ziffernmaterial.  Zu  diesem  Zwecke 
hat  eine  die  ganze  Beobachtung  erhebende,  leitende  Behörde  die  Fragen 
anzuordnen.  Dieselben  werden  entweder  in  der  Form  von  Tabellen  oder  in 
der  Form  von  Fragebogen  gestellt.  Bei  den  Tabellen  ist  die  Frage  in  die 
Form  der  Tabellenköpfe  gekleidet. 

Noth wendig  ist  hiebei: 

I.  Die  Fragestellung  muss  allgemein  verständlich  sein. 

U.  Die  Fragen  müssen  eine  kurze,  präcise  Antwort  hervorrufen; 
eine  Antwort,  die  entweder  in  Ziffern  oder  mit  den  Worten  Ja  —  nein" 
ausgedrückt  werden  kann. 

III.  Womöglich  sollten  solche  Fragen  gestellt  werden,  deren  Antworten 
controlirt  werden  können. 

IV.  Es  sollen  überhaupt  nur  solche  Dinge  gefragt  werden,  welche 
sich  auch  wirklich  verwerthen  lassen. 

Man  soll  keine  Fragen  stellen  über  Dinge,  deren  Zahlenverhältnisse 
man  auch  auf  andere  Weise,  etwa  durch  Rechnung,  erfahren  kann. 

Die  Fragestellung  erfordert  bei  der  amtlichen  Statistik  ein  mehr  oder 
weniger  organisirtes  Hilfspersonal,  unter  Umständen  mehrere  Instanzen 
eines  solchen.    In  welcher  Weise  dieses  Hilfspersonal  organisirt  sein  soll; 


Die  Vorarbeitang  de.8  Urmaterials.  81 

wie  zahlreich  namentlich  jenes  Hilfspersonale  sein  soll,  welches  unmittelbar 
die  Beantwortung  der  gestellten  Fragen  besorgt;  in  welchen  Fristen  die 
Antworten  erfolgen  sollen  etc.:  dies  richtet  sich  ganz  nach  den  so  unge- 
mein verschiedenen  Gegenständen,  mit  welchen  es  die  Statistik  zu 
thun  hat. 

Aumerkuug. 

Besonders  ausfüfhrlich  findet  sich  die  Fragestellung  bei  Block  -  v.  Scheel, 
a.  a.  0.,  S.  185  ff.  behandelt. 

§.  57.  Die  Verarbeitung  des  Urmaterials. 

Das  durch  die  Fragestellung  gewonnene  Urmaterial  muss  nun  ver- 
arbeitet werden.  Die  theoretischen  Gesichtspunkte,  nach  welchen  dies  zu 
geschehen  hat,  sind  schon  oben  (§§.  25 — 33)  entwickelt  worden.  Bei  den 
Erhebungen  der  amtlichen  Statistik  ist  regelmässig  das  Urmaterial  an  be- 
antworteten Fragen  ein  sehr  umfangreiches,  dessen  Verarbeitung  fast  fabrik- 
mässig  geschehen  muss.  Das  aus  Verzeichnissen,  Listen,  Zählkarten  etc. 
bestehende  Urmaterial  muss  zu  einem  klar  übersichtlichen  Bild  in  Tabel- 
lenform reducirt  und  gegliedert  werden.  Bei  einer  solchen  Gliederung 
handelt  es  sich  entweder  um  Gnippirung  der  Thatsachen  nach  ihren 
eigenthüinlichen  Merkmalen,  also  um  Sonderung  derselben  nach  inneren 
Verschiedenheiten,  oder  um  Gnippirung  der  einfachen  oder  selbst  wieder 
der  inneren  sachlichen  Gliederung  unterworfenen  Thatsachen  nach  Raum 
und  Zeit. 

Die  Ausbeutung  des  Urmaterials  in  den  statistischen  Bureaux  ge- 
schah früher  durch  die  Strichelung.  Diese  Methode  besteht  darin,  dass  die 
durch  die  Fragestellung  und  Beantwortung  gelieferten  Aufzeichnungen,  und 
zwar  jede  Thatsacheneinheit  derselben,  durch  einen  Strich  in  der  bezüg- 
lichen Spalte  einer  grossen  Tabelle  eingetragen  worden.  Wenn  das  ganze 
Urmaterial  so  durchgearbeitet  ist,  werden  die  Striche  jeder  Spalte  oder 
jedes  Faches  gezählt. 

Weil  aber  diese  Methode  bei  combinirteren  Arbeiten  zu  mühsam  und 
unzuverlässig  ist,  wendet  man  für  solche  Arbeiten  (namentlich  bei  Volks- 
zählungen) andere  Methoden  an,  welche  rascheres  Verfahren  gestatten. 
Solche  Methoden  sind  die  der  Zählblättchen  und  Zählkarten.  Beide  haben 
das  gemeinsam,  dass  jede  Thatsacheneinheit,  welche  durch  die  Erhebung 
geliefert  wird,  für  welche  aber  eine  gewisse  Anzahl  von  Angaben  gemacht 
ißt,  ein  besonderes  kleines  Blättchen  erhält.  Diese  Blättchen  werden  sodann 
nach  den  Gesichtspunkten,  welche  den  Fächern  der  herzustellenden  Tabelle 
entsprechen,  in  Häufchen  sortirt  und  häufchenweise  gezählt  *).  So  bringt 
man  das  Urmaterial  in  die  der  Tabelle  entsprechende  Ordnung.     Für  die 

Haushofer,  Statistik.  2.  Aufl.  (5 


82  Die  VerOifentlichung  der  Keealtate. 

weitere  Behandlung  des  Tabellenmaterialß  gelten  die  in  den  §§.  25 — 33 
vorgeführten  Sätze. 

Anmerkung. 

*)  Ueber  den  Unterschied  von  Zählblättchen  und  Zählkarten  vgl.  später 
die  von  den  Volkszählungen  handelnden  Bemerkungen. 

§.  58.  Die  VeröflTentlichung  der  Besultate. 

Im  Interesse  der  Wissenschaft  sowohl  als  der  Anwendung  der  Sta- 
tistik zu  praktischen  Zwecken  liegt  endlich  noch  eine  Veröffentlichung  der 
gewonnenen  Resultate.  Da  die  Beobachtungen  grösstentheils  vom  Staate 
angestellt  werden,  müssen  auch  die  Publicationen  durch  den  Staat  erfolgen. 
Dabei  müssen  die  gefundenen  Daten  möglichst  vollständig  veröffentlicht 
und  mit  einem  formell  erklärenden  Commentar  begleitet  werden. 

Am  werthvollsten  sind  jene  Publicationen,  in  welchen  durch  die 
amtliche  Statistik  selbst  die  gefundenen  Thatsachen  untersucht,  den  Ursa- 
chen und  Gesetzmässigkeiten  nachgegangen  ist.  Denn  die  amtliche  Sta- 
tistik hat  mechanische  Arbeitskräfte  zur  Verfügung,  welche  für  grössere 
statistische  Arbeiten  oft  unentbehrlich  sind.  Diese  Unentbehrlichkeit  eines 
Bureau,  eines  Schreiber-  und  Rechnerpersonals  ist  eine  Schattenseite  der 
wissenschaftlichen  Behandlung  der  Statistik.  Sie  macht  es  dem  Einzeln- 
forscher unmöglich,  gewissen  Fragen  selbständig  nachzugehen;  er  ist  viel- 
mehr darauf  angewiesen,  das  amtlich  gesammelte,  zum  Theile  schon  ver- 
arbeitete Material  weiter  zu  verarbeiten.  Die  amtlichen  Leiter  der  Bureaux 
aber  haben  dieses  Material  zunächst  in  Händen  und  übersehen  es  am  voll- 
ständigsten. Darum  werden  auch  die  bedeutungsvollsten  und  grossartigsten 
Leistungen  wissenschaftlicher  Statistik  stets  die  Vorstände  der  amtlichen 
Statistik  zu  Urhebern  haben.  Dies  liegt  in  der  Natur  der  Sache.  Wie  in 
der  Statistik  die  wissenschaftliche  Einzelnbeobachtung  zur  Massenbeobach- 
tung sich  erweitert;  so  hat  sich  auch  der  Einzelnforscher  zu  einer  Masse 
von  Forschern  vervielfältigt.  Der  statistische  Gedanke  ist  gewissermassen 
ein  Gedanke  der  ganzen  Staatsregierung,  welche  untergeordneten  Organen 
die  technische  und  wissenschaftlich  gebildeten  Bureauvorständen  die  wis- 
senschaftliche Leitung  dieses  Gedankens  überlässt. 

In  der  Statistik  ist  der  Staat  zum  Gelehrten,  zum  Schriftsteller 
geworden. 

Die  Publicationen  statistischer  Resultate  nehmen  verschiedene  Formen 
an,  verschieden  je  nachdem 

I.'der  Staat  oder  die  Privatstatistik  als  Publicist  auftritt; 

IL  je  nachdem  das  statistische  Material  in  einer  früheren  oder 
späteren  Phase  seiner  Verarbeitung  publicirt  wird. 


Die  VüröiFüntlichttng  der  Resultate.  83 

Aumerkuug. 

Ueber  die  Form  der  amtlichen  Publicationen  dürfte  Folgendes  zu  bemer- 
ken sein: 

I.  Wünschenswerth  ist  ein  handliches  Format  der  Publicationen,  um  die- 
selben für  die  Benützung  leicht  und  bequem  zu  machen; 

II.  die  in  der  Publication  gegebenen  Tabellen  sollen: 

1.  Aus  sich  heraus  yerständlich  sein,  ohne  als  solche  eines  ausführlichen 
Commentars  zu  bedürfen; 

2.  nicht  zu  lang  sein,  weil  sie  sonst  an  Uebersichtlichkeit  yerlieren; 

3.  auch  sonst  in  jeder  Weise  übersichtlich  gestaltet  sein  und  namentlich 
die  verschiedenen  Zahlen    und   Zahlengattungen    deutlich   hervortreten   lassen. 

III.  Ausser  den  Tabellen  ist,  wie  schon  oben  angedeutet,  ein  Commentar 
beizugeben,  der  jedoch  nicht  die  Aufgabe  haben  darf,  die  Tabellen  erst  ver- 
ständlich zu  machen,  sondern  der  den  Inhalt  der  Publication,  die  Hauptresul- 
tate der  Tabellen,  Vergleichungen  derselben  mit  den  Ergebnissen  früherer  Jahre 
und  anderer  Länder,  Erläuterungen  über  die  betreffenden  gesetzlichen  Bestim- 
mungen etc.  enthält. 

IV.  Die  Termine  der  Publicationen  richten  sich  natürlich  nach  den  Ter- 
minen der  betreffenden  Erhebungen.  (Ausführl.  hierüber  bei  Block-v.  Scheel, 
a.  a.  0.,  Seite  194  ff.) 


Zweites  Buch. 


Bevölkerungsstatistik. 


L  Abschnitt.  Stand  der  Bevölkerung. 

I.   Capitel. 

Absolute  Bevölkerung. 


§.  59.  Einleitung. 

Unter  allen  Gegenständen  der  statistischen  Forschung  ist  keiner  von 
grösserer  Bedeutung,  als  die  Bevölkerung. 

Die  Ursache  ist  klar. 

"Wenn  man  die  Statistik  als  jene  wissenschaftliche  Disciplin  aufFasst, 
welche  alles  in  Massen  auflöst  und  erforscht,  so  muss  jene  Erscheinung 
für  sie  das  grösste  Interesse  bieten,  welche  von  vornherein  dem  Blicke  sich 
als  eine  grossartige  bewegliche  Masse  darstellt,  deren  einzelne  Theile  selbst 
wieder  Erscheinungen  voll  des  reichsten  Inhaltes  und  der  höchsten  Be- 
deutung für  alle  menschliche  Forschung  sind. 

Diese  Erscheinung  ist  die  Bevölkerung,  d.  h.  die  Gesammtheit  der 
Menschen  auf  einem  gewissen  Territorium. 

Was  an  dieser  Erscheinung  sich  zeigt,  bezieht  sich  zwar  nicht  auf 
den  einzelnen  Menschen,  sondern  gilt  nur  für  den  mittleren  Menschen, 
doch  ist  all  das  von  grosser  Bedeutung.  Denn  gerade  die  Bevölkerung  ist 
es,  in  deren  Sein  und  Leben  Naturgesetze  und  freies  menschliches  Handeln 
geheimnissvoll  verbunden  zusammenwirken.  Gerade  hier  sind  stetige  und 
wechselnde  Ursachen  mit  einander  thätig,  gerade  hier  zeigt  sich  eine  tiefe 
Gesetzmässigkeit  in  den  anscheinend  willkürlichsten  Handlungen.  Mit  un- 
heimlich grossartiger  Gewalt  wirkt  diese  Gesetzmässigkeit  —  der  einzelne 
überschreitet  keck  und  ungestraft  ihre  Satzung,  aber  die  Gesammtheit  folgt 
ihr  ohne  Murren  und  Widerstreben  durch  das  Leben  und  in  den  Tod. 

Diese  geisterhafte  zwingende  Macht  fordert  unser  tiefstes  Denken 
heraus.     Die  Bedeutung  des  Menschen  in  der  Welt  und  namentlich  die 


88  Absolute  BevOlkerang. 

Bedeutung  seiner  geistigen  und  sittlichen  Kräfte  gegenüber  dem  Naturge- 
setze und  einer  allgemeinen  Weltordnung,  die  Dauer  des  Menschenge- 
schlechts im  Sturme  der  Zeit:  das  sind  die  gewaltigen  Fragen,  zu  deren 
Studium  die  Beobachtung  der  Bevölkerung  fährt. 

Die  Erscheinungen  an  der  Bevölkerung  sind  aber  auch  von  grosser 
praktischer  Bedeutung. 

Zunächst  in  Bezug  auf  Politik.  Die  Bevölkerung  ist  Inhalt  und  Zweck 
des  Staates;  auf  ihr  beruht  seine  Macht.  Viele  und  wichtige  Staatsein- 
richtungen sind  durch  die  Bevölkerung  bedingt.  Und  nicht  nur  die  Zahl, 
sondern  auch  die  Beschaffenheit  der  Bevölkerung,  ihre  Gruppen  und  Ver- 
schiedenheiten haben  politische  Bedeutung. 

Auch  die  wirthschaftlichen  Beziehungen  der  Bevölkerung  sind  von 
Wichtigkeit.  Die  Bevölkerung  und  ihr  Verhältniss  zur  natürlichen  Ge- 
staltung des  Staatsgebietes  ist  der  lebendige  Kern  der  Volkswirthschaft. 
Die  Bevölkerung  schafft  den  Volksreichthum,  lebt  in  ihm  und  blüht 
durch  ihn. 

Drei  Haupterscheinungen  aber  sind  es,  die  an  der  Bevölkerung  beob- 
achtet werden  müssen: 

I.  Ihr  Stand,  d.  h.  die  Zahl  der  auf  einem  Gebiete  vorhandenen 
Menschen. 

Der  Stand  der  Bevölkerung  ist: 

A.  Ein  absoluter,  wenn  man  blos  die  Volkszahl  ins  Auge  fasst, 
ohne  ihr  Grössenverhältniss  gegenüber  anderen  Erscheinungen  zu  berück- 
sichtigen. 

Diese  Zahl  bedarf  besonderer  Auftnerksamkeit  hinsichtlich 

1.  der  Mittel  und  Wege,  welche  gegeben  sind,  um  sie  zu  finden. 
Sie  wird  nämlich  gefunden: 

a)  durch  blosse  Schätzungen  oder  Berechnungen; 

b)  durch  Zählungen. 

2.  Hinsichtlich  derjenigen  Theile  der  Gesammtbevölkerung,  welche 
etwa  als  zusammengehöriges  Volksganzes  zu  nehmen  sind.  Hier 
unterscheidet  man : 

a)  rechtliche  und 

b)  facti  sehe  Bevölkerung.  Diese  kann  wieder  entweder  die  factische 
Bevölkerung  zur  Zählungszeit  oder  die  factische  Bevölkerung  mit  dauern- 
dem Aufenthalte  sein. 

B.  Der  Stand  der  Bevölkerung  ist  ein  relativer,  wenn  man  ihn 
anderen  Verhältnissen  gegenüberstellt.  Diese  Verhältnisse  können  die 
verschiedenartigsten  sein.  Am  wichtigsten  aber  ist  das  Verhältniss  der 
Bevölkerung  zur  Grösse  ihres  Landes  (die  Volksdichtigkeit)  und  zur 
Productionsfähigkeit  desselben. 


Sch&tznnfpen  der  Bevölkerunfp.  89 

II.  Ihr  (Jan  g,  d.  h.  die  Zu-  oder  Abnabme  dieser  Zahl.  (H.  Abschnitt.) 
in.  Ihre  körperlichen  Eigenschaften:  Geschlecht,  Gesundheit  etc. 
(m.  Abschnitt.) 

§.  60.  Schätzungen  der  Bevölkerung. 

Da,  wo  keine  Volkszählungen  gemacht  werden,  kann  eine  Bevölkening 
abgeschätzt  oder  berechnet  (?)  werden.  Dieses  Verfahren  wurde  früher 
vielfach  angewendet  und  muss,  wo  Zählungen  mangeln,  noch  angewendet 
werden. 

Zur  Grundlage  solcher  Schätzungen  macht  man  Verhältnisse,  welche 
mit  der  Volkszahl  in  irgend  einem  Zusammenhange  "stehen.  Solche  Ver- 
hältnisse sind  namentlich:  die  Zahl  der  Familien,  der  Wohnhäuser,  der 
Feuerstellen,  der  waffenfähigen  Männer,  die  Zahl  der  Geborenen  und 
Gestorbenen,  der  Ehen,  der  Betrag  gewisser  allgemeiner  Steuern,  die 
Consumtion  gewisser  Lebensmittel.  Derartige  Schätzungen  und  Berech- 
nungen sind  natürlich  nur  Nothbehelfe.  Die  unzuverlässigste  Schätzung 
besteht  darin,  dass  man  die  Volkszahl  wenigstens  eines  Theiles  des  frag- 
lichen Gebietes  ausmittelt  und  nach  ihr  die  Bevölkerung  des  ganzen 
Gebietes  bemisst.  Aber  selbst  von  dieser  Methode  muss  man  Gebrauch 
machen,  um  z.  B.  die  Bevölkerung  von  Afrika  oder  Australien  annähernd 
zu  ermitteln. 

Wie  sehr  solche  Schätzungen  differiren  können,  ergibt  sich  aus  einer 
Zusammenstellung  der  Schätzungen  der  Erdbevölkerung  *). 

Selbst  wo  man  bei  einer  Bevölkerungsschätzung  eine  Thatsache  zu 
Grunde  legt,  deren  Beziehung  zur  Volksmenge  gewiss  ist,  bleibt  die 
Schätzung  unsicher  genug.  Die  Thatsache  kann  falsch  dargestellt  sein  und 
fiihrt  dann  auch  zu  einem  falschen  Schlüsse. 

Auch  die  Auffindung  des  Durchschnittsverhältnisses  zwischen  einer 
solchen  Thatsache  und  der  Volkszahl  ist  immer  unsicher.  Wenn  man 
z.  B.  die  Zahl  der  Wohnhäuser  in  einem  Lande  genau  kennt,  so  ist  es 
doch  schwierig,  die  richtige  Durchschnittszahl  der  Bewohner  eines  Hauses 
für  ein  ganzes  Land  aufzustellen,  fiir  Städte  und  Dörfer,  für  reiche  und 
arme  Gegenden.  Es  ergeben  sich  aber  die  grössten  Unterschiede,  je  nach- 
dem man  6  oder  10  Einwohner  für  ein  Haus  annimmt. 

Es  finden  sich  demnach  unter  den  vorhandenen  Bevölkerungs- 
schätzungen neben  manchen  kühnen  und  geistreichen  Versuchen  auch 
ganz  grundlose  Hypothesen.  Bei  den  meisten  solchen  Schätzungen  handelt 
es  sich  um  die  Bevölkerungen  des  Alterthums,  namentlich  um  die  Frage, 
ob  die  Staaten  des  Alterthums  stärker  oder  schwächer  bevölkert  waren, 
als  dieselben  Gebiete  heutzutage  sind. 


90  Sch&tzuiigen  der  Bevölkerung. 

«  Moderne  Bevölkerangen  sind  natürlich  leichter  zu  schätzen.  Von 
einer  auf  möglichste  Genauigkeit  anspruchmachenden  Berechnung  einer 
Bevölkerung  kann  man  dagegen  dann  sprechen,  wenn  fiir  ein  Land  eine 
Volkszählung  vorliegt,  die  aber  schon  vor  einem  oder  mehr  Jahren  statt- 
gefunden hat,  und  wenn  auf  Grund  dieser  Zählung  und  mit  Zuhilfenahme 
des  anderweitig  bekannt  gewordenen  seitherigen  Zuwachses  der  Bevölkerung 
deren  jetzige  Zahl  ermittelt  wird.  Eine  derartige  Berechnung  trifft  natür- 
lich den  momentanen  Stand  der  Bevölkerung  noch  genauer,  als  selbst  die 
letzte  Zählung  *). 


A 

nmei 

kuugen. 

Die  Bevölkerung  der  ganzen 

Erde  wurde 

angenommen  von: 

Riccioli 

im 

Jahre 

1660    zu 

1000 

Millionen 

Süssmilch 

n 

T) 

1742     „  950-1000 

7) 

Voltaire 

n 

r) 

1753     „ 

1600 

r> 

Volney 

w 

r> 

1804    „ 

437 

r) 

Pinkerton 

w 

T) 

1805    „ 

700 

T) 

Fabri 

v 

V 

1805    , 

700 

T) 

Malte-Brun 

n 

n 

1810    „ 

640 

« 

Morse 

w 

ff 

1812    „ 

766 

« 

Graberg  v.  Hemsö 

r> 

n 

1813    „ 

686 

n 

Balbi 

V 

« 

1816     „ 

704 

y) 

Reichard 

T) 

n 

1822    „ 

732 

n 

Hassel 

T 

r> 

1824    „ 

938 

n 

Stein 

«• 

n 

1833     „ 

872 

r> 

Franzi 

n 

r> 

1838    „ 

950 

T) 

V.  Rougemont 

n 

n 

1838     „ 

850 

n 

Omalius  d'Halloy 

V) 

r> 

1840    „ 

750 

n 

Bemoulli 

n 

n 

1840    „ 

764 

n 

Y.  Roou 

Tfi 

V 

1840    „ 

864 

T) 

Berghaus 

n 

n 

1842    „ 

1272 

V) 

Balbi 

n 

r> 

1843    „ 

739 

rt 

Kolb 

r> 

•n 

1868    „ 

1270 

•n 

Dagegen  hatte  der  Verfasser  der  Univers.  History  of  the  world  i.  J.  1737 
der  Erde  eine  Bevölkerung  von  5000  Millionen  angerechnet  (Wappäus). 

Die  zuverlässigste  Berechnung  der  neueren  Zeit  ist  jedenfalls  die  von 
Behm  und  Wagner,  welche  für  d.  J.  4880  die  Summe  von  1456  Mill.  Seelen 
annimmt. 

*)  Da  in  den  statistischen  Handbüchern  die  absolute  Volkszahl,  wie  sie 
sich  nach  den  vorhandenen  Zählungen  und  Schätzungen  darstellt,  eiue  grosse 
Rolle  spielt,  sollen  die  Zahlen  hier  wenigstens  aumerkuugsweise  erwähnt  wer- 
den, wobei,  um  eine  spätere  Wiederholung  der  Ländernamen  zu  vermeiden, 
auch  der  Flächeninhalt  der  Gebiete  angegeben  ist.  Bevölkening  und  Flächen- 
inhalt betragen  nach  Behm  und  Wagner  (Ergänzungshefb  Nr.  62  zu  Petermann*'s 
Mittheilungen)  in: 


Schätzungen  der  Bevöllcernng.  91 

Flächeninhalt  Be- 
in □Kilom.  völkerung 

I.  Europa  (ohne  Island,  Nowaja-Semlja) 9,710.340  315,929.000 

Deutsches  Reich  (Zählung  von  1875)  ......  539.813  48,727.360 

(Zählung  y.  Dec.  1880) 45,194.167 

Oesterreich-Ungarn  (1876) 622.836  37,342.000 

(Schätzung  für  1879) 38,000.000 

Liechtenstein  (1880) 178  9.124 

Schweiz  (1878) 41.389  2,792.264 

Belgien  (1878) 29.455  5,476.668 

Niederlande  (1878) 32.971  3,981.887 

Luxemburg  (1875) 2.587  205.158 

Dänemark  (1878,  ohne  Island  und  die  Far-Öer)  .  38.302  1,940.000 

(hiezu  die  Far-Öer) 1.332  11.000 

Schweden  (1878) 442.818  4,531.863 

Norwegen  (1876) 318.195  1,806.900 

Grossbritannien  und  Irland  (1871,  eingerechnet  die 
Inseln   in    den  brittischen  Gewässern,   sowie 

Soldaten  und  Matrosen  ausser  Landes)   .    .   .  314.951  34,517.000 

Frankreich  (1876) 528.577  36,905.788 

Spanien  (1877,  ohne  Canarische  Inseln)     ....  500.443  16,333.293 
„         (mit  denselben  und  den  Presidios  in  Nord- 
afrika)    508.066  16,625.860 

Portugal  (1878,  mit  Azoren  ohne  Madeira)    .    .    .  92.013  4,612.903 

Italien  (1878) 296.322  28,209.620 

Griechenland  (1879) 51.860  1,679.775 

Monaco 15  5.741 

San  Marino 62  7.816 

Andorra 385  12.000 

Rumänien  (Schätzung) 129.947  5,376.000 

Serbien  (Schätzung) 48.657  1,589.650 

Montenegro  (Schätzung) 9.475  286.000 

Türkei  und  Ostrumelien  (Schätzung) 214.862  5,713.000 

Bulgarien  (Schätzung)      63.865  1,965.500 

Bosnien  und  Herzegowina 60.484  1,187.879 

Helgoland  . 0*5  1.913 

Gibraltar     5  25.143 

Inselgruppe  von  Malta 369  152.553 

II.  Asien 44,572.250  834,707.000 

Sibirien 12,469.524  3,440.362 

Centralasien 3,984.400  7,682.000 

(Hierunter  russisches  Centralasien) (3,324.096)  (4,401.876) 

Vorderasien 7,569.644  38,021.000 

(Hievon  die  asiatische  Türkei) (1,889.055)  (16,132.900) 

(Hievon  Persien) (1,648.195)  (7,000.000) 

China  (eigentliches) 4,024.690  404,946.000 

Nebenländer  v.  China  . 7,789.060  29,680.000 


92  Sch&izungen  der  BeTOHreruag. 

Flächeninhalt  Be- 

iu  □Kilom.  völkerung 

Hongkong 83  139.144 

Macao 12  77.230 

Japan   .    .' 379.711  34,338.404 

Vorderindien 3,835.659  244,215.000 

Hinterindien 2,167.440  36,963.000 

Ostindische  Inseln 2,002.611  35,205.000 

III.  Australien  und  Polynesien 8,953.727  4,031.000 

(Hievon  das  Festland  mit  zubehörigen  Inseln)    7,627.832  2,063.921 

IV.  Afrika 29,909.444  205,679.000 

(Hierunter  Aegypten) 1,021.354  5,586.280 

(Hierunter  ägyptische  Nebenländer)     ....    1,965.561  11,833.700 

V.  Amerika 38,389.210  95,495.500 

Nordamerika 19,845.121  60,248.000 

(Hierunter  Brittisch  Nordamerika) 8,301.506  3,678.096 

(        „         Vereinigte  Staaten) 9,272.449  47,000.000 

(        „         dieselben    nach  neuester  Zählung, 

1880) 50,152.559 

(Hierunter  Mexico) 1,921.240  9,389.461 

Centralamerika  (mit  Panama) 547.308  2,759.200 

Westindische  Inseln 244.478  4,412.700 

Südamerika 17,752.303  28,075.600 

(Hierunter  Brasilien,  1872) 8,337.218  11,108.291 

Venezuela  (1873) 1,137.615  1,784.197 

Columbia  ohne  Panama  (1870) 748.850  2,774.000 

Ecuador  (1878) 643.295  1,146.000 

Peru     1,119.941  3,050.000 

Bolivia 1,297.255  2,325.000 

Chile  (1878) 321.462  2,400.000 

Argentina  mit  Patagonien  (1869) 3,051.706  2,400.000 

Uruguay  (1877)      186.920  447.000 

Paraguay  (1876) 238.290  293.844 

VI.  Polarländer  (einschliesslich  Grönland  und  Island)   3,859.400  82.000 

(HieYon  Grönland) 2,169.750  10.000 

Island  und  Jan  Mayen    .   .    ;       105.198  72.000 

Da  die  obigen  Angaben  vorzugsweise  den  geographischen  Zusammenhang 

berücksichtigen    und    ausserdem    bei    einzelnen    der  wichtigsten  Staaten    noch 

weitere  Detaillirung   erwünscht    ist,    dürften    noch    folgende  Ziffern  angeführt 

werden : 

I.  Die   einzelnen  Staaten  des  Deutschen  Reiches  nach  der  Zählung 

von  1880. 

Flächeninhalt  in  GKilom.  Bevölkerung 

Preussen 347.509  27,251.067 

Bayern 75.863  5,271.516 

Sachsen 14.992  2,970.220 

Württemberg 19.503  1,970.132 


Sch&izangen  der  BeTölkernng. 


93 


Elsass-Lothi'iugeii    .    .    .    .    . 

Baden 

Hessen 

Mecklenburg-Schwerin  .   .    . 

Hamburg   .   .   . 

Braunscbweig 

Oldenburg 

Sachsen- Weimar 

Anhalt 

Sachsen-Meiniugeu  .   .   .    .  * 
Sachsen-Coburg-Gotha  ,   .   . 

Sachgen-Altenburg 

Bremen 

Lippe  (Detmold) 

Mecklenburg-Strelitz  .    .    .   . 

Reuss  j.  L 

Schwarzburg-Rudolstadt    .    . 
Schwarzburg-Sondershausen 

Lübeck 

Waldeck 

Reuss  ä.  L 

Schaumburg-Lippe 


Flächeninhalt  in  nKilom. 

k.511 

;.083 

f.679 

1.303 

409 
t.690 
L399 
3.593 
1.347 
1.468 

.967 

.321 

255 
.188 
L929 

829 

942 

862 

282    • 

.121 

316 

443 


14.1 
15.( 

7.( 

13.J 

4 

3.( 

6.: 

3.{ 

2.: 

2.^ 
1.- 

1.: 
1. 

2.1 


1. 


Bevölkerung 

1,571.971 

1,570.189 

936.944 

576.827 

454.041 

349.429 

337.454 

309.503 

231.747 

207.147 

194.479 

155.062 

156.229 

120.216 

100.269 

101.265 

80.149 

71.083 

63.571 

56.548 

50.782 

35.332 


IL  Die  Länder  von  Oesterreich-Ungarn,    mit   den  vorläufig    officiellen 
Ergebnissen  der  Volkszählung  v.  31.  Dec.  1880. 


Flächeninhalt  in  GKilom. 

Bevölkerung 

f     Oesterreich  u. 

d. 

Enns  . 

19.824 

2,329.021 

Oesterreich  o. 

d. 

Enns  . 

11.996 

760.879 

Salzburg      . 

7.165 

163.566 

^ 

Steiermark  . 

. 

22.454 

1,212.367 

Kärnten  .   . 

10.373 

348.670 

Krain  .    .    . 

. 

9.988 

481.176 

9 

Görz  und  Gradi 
Triest   .... 

ika  .    . 

.    .    .    .    .           2.953 

210.241 

f 

93 

144.437 

Istrien  .    .    . 

4.941 

295.854 

Tirol     .    .    . 

26.724 

805.326 

i 

Vorarlberg 

2.602 

107.364 

g 

Böhmen   .    . 

51.955 

5,557.134 

-g 

Mähren    .   . 

22.229 

2,151.619 
565.772 

\$ 

Schlesien 

5.147 

Galizien  .    . 

78.477 

5,953.170 

Bukowina   . 

10.451 

569.599 

Dalmatien  . 

12.829 

474.489 

Summe  (incl.  Bruchtheile)  .       300.208 


22,130.684 


94  Schätzungen  der  Bevölkerung. 

Flächeniuhalt  in  QKilom.    Bevölkerung 

Ungarn-Siebenbürgen  (1876)     .    .,      280.430  13,670.624 

Fiume  (1876) '            19  18.178 

Croatien-Slavonien  (1876)    ....         23.263  1,124.180 

Grenzgebiet  (1876)    ....    .    .    .         18.914 693.733 

Summe  .       322.628  15,506.715 

Hiezu  kommt  noch  ein  Theil  der  nicht  ganz  eingerechneten  Militärbe- 
völkerung (1876)  der  diesseitigen  Reichshälfte  (mit  ?  Seelen),  der  ungarischen 
Länder  mit  92.100.  Hieraus  berechnet  sich  eine  Gesammtbevölkerung  von  rund 
38  Millionen. 

Flächeninhalt  in  [QKilom .     Bevölkerung 
in.  Brittisches  Reich. 

England  und  Wales  (1879) 151.020  25,165.336 

Schottland  (1879) 78.895  3,627.453 

Irland  (1879) 84.252  5,363.324 

Inseln  in  den  brittischen  Gewässern  (1879)              783  145.000 

Soldaten  und  Matrosen  ausser  Landes  (1879) 216.000 

Summe  .       314.951  34,517.000 

Hiezu:  Indien  und  Ceylon  (1878)     ....    2,393.177  193,851.000 

Colonien  und  Besitzungen  (1878)      .    .    .    .  18,668.841 11,674.130 

21,376.969  240,042.130 
IV.  Russisches  Reich. 

1.  Europäisches  Russland  (1870) 4,909.193  65,864.910 

Königreich  Polen  (1872) 127.316  6,528.017 

Zuwachs  in  Bessarabien 8.480  127.000 

2.  Grossherzogthum  Finnland  (1877)  .    .   .       373.536  1,968.626 

3.  Kaukasusländer 439,187  5,391.744 

Zuwachs  in  Armenien 25.769  ? 

4.  Sibirien  (1873) 12,495.109  3,440.362 

5.  Centralasien .    3,324.095  4,401.876 

21,702.688  87,722.500 
V.  Frankreich. 

Europäisches  Frankreich  (1878) 528.577  36,905.788 

Algerien 318.334  2,867.626 

Colonien 204.852  2,669.308 

Schutzstaaten 91.832  922.100 

VI.  Spanien. 

Das  Festland  nebst  den  Balearen  und  Cana- 

rieu  (1877) 507.715  16,623.384 

Colonien 304.295  8,291.450 

VILPortugal 

Königreich  nebst  Azoren  und  Madeira  (1878)         92.828  4,745.124 

Auswärtiger  Besitz 1,823.571  3,247.637 

VIII.  Niederlande. 

Königreich  (1878) 32.972  3,981.887 


Yolkszählungen.  95 

Flächeninhalt  iu  nKilom.  Bevölkeniug 

Colouieu:  1.  Java  und  Madura 134.607  18,515.414 

2.  Uebrige  ostind.  Besitzungen       1,500.000  (?)  8,000.000  (?) 

3.  Surinam 119.321  68.531 

4.  Nieder).  Antillen 1.130  41.870 

§.  61.  Volkszählungen '). 

Mit  vollster  Genauigkeit  kann  die  absolute  Bevölkerung  eines  be- 
stimmten Gebietes  nur  durch  eine  Volkszählung  ermittelt  werden.  Dies 
ist  heutzutage  allgemein  anerkannt.  Doch  werden  Zählungen  des  Volks 
keineswegs  in  allen  Staaten  vorgenommen  und  auch  nicht  überall  mit 
gleicher  Sorgfalt. 

In  Aegypten  »befahl  schon  500  v.  Chr.  König  Amasis,  dass  jeder 
Bewohner  sich  jährlich  dem  Ortsvorstand  vorzustellen  habe,  um  Namen, 
Beruf  und  Unterhaltsmittel  anzugeben. 

Imposant  war  die  Ausbildung  der  Volkszählung  bei  den  alten  Juden. 
Jakob  zog  mit  70  Angehörigen  zum  Joseph  nach  Aegypten,  430  Jahre 
später  kehrten  600000  Männer  und  Jünglinge  von  dort  zurück.  Die  Zäh- 
lung am  Berge  Sinai  ergab  603550  Männer  und  Jünglinge,  ausschliesslich 
der  Leviten.  Nach  vierzigjähriger  Wüstenfahrt  war  die  Zahl,  auf  601000 
geschmolzen.  Die  Zählung  König  Davids  640  nach  der  Einwanderung  in 
Aegypten  ergab  ohne  die  Stämme  Levi  und  Benjamin  3,757000  Seelen. 
Alle  Zählungsverordnungen,  die  sich  im  alten  Testamente  finden,  zeugen 
von  Sicherheit  und  Vollendung  dieses  Geschäftes  und  hingen  wohl  zu- 
sammen mit  dem  eigenthümlichen  mathematischen  Talent  der  chaldäischen 
Völker. 

Volkszählungen,  welche  regelmässig  wiederholt  werden,  sogenannte 
periodische  Zählungen  sind  zuverlässiger,  als  solche,  die  nur  bei  ein- 
zelnen Veranlassungen  oder  zu  bestimmten  Regierungszwecken  vorgenommen 
werden.  So  haben  namentlich  bei  den  für  Steuer-  oder  Recrutirungszwecke 
angeordneten  Zählungen  viele  ein  Interesse  daran,  sich  der  Zählung  zu 
entziehen.  Die  Bevölkerung  mancher  französischer  Städte  z.  B.  wurde 
Jahre  lang  von  den  Gemeindebehörden  systematisch  falsch  angegeben,  um 
eine  höhere  Steuer  zu  verhüten. 

Die  periodischen  Zählungen  dagegen  haben  die  Vortheile,  dass  das 
Zählungsgeschäft  mit  grösserer  Uebung,  verbesserten  Einrichtungen  und 
genauerer  Controle  vorgenommen  werden  kann. 

Solche  periodische  Volkszählungen  gehören  erst  der  neueren  Zeit  an. 
In  Schweden  wurde  schon  seit  1775  alle  fünf  Jahre  ein  amtlicher  Bericht 
über   die    Volkszahl    verfasst,   zwar   nicht   auf  eine  eigentliche  Zählung, 


96  Yolkszahlusgen. 

sondern   auf  die  Listen  der  Geistlichen  über  die  Bewohner  ihrer  Kirch- 
spiele begründet. 

Die  Vereinigten  Staaten  von  Nordamerika,  deren  Bevölkerung  in 
der  Bevölkerungswissenschaft  eine  hervorragende  Rolle  spielt,  gingen  mit 
eigentlichen  Zählungen  voran.  Ihre  Constitution  von  1787  schreibt  einen 
zehnjährigen  Census  vor,  der  auch  seit  1790  alle  zehn  Jahre  ausgeführt 
wurde,  namentlich  um  die  Zahl  der  Repräsentanten  im  Congress  für  die 
einzelnen  Staaten  zu  bestimmen  und  gewisse  directe  Steuern  unter  die 
einzelnen  Staaten  zu  vertheilen. 

In  England  werden  zehnjährige  Zählungen  seit  1801  vorgenommen, 
in  Norwegen,  den  Niederlanden,  Dänemark  ebenfalls  alle  zehn  Jahre,  in 
Schweden  und  Frankreich  alle  fiinf  Jahre,  in  Oesterreich  seit  1857  alle 
sechs  Jahre  und  im  deutschen  Zoflverein  alle  drei  Jattre. 

Aumerkuug. 

')  Eiuiges  aus  der  Literatur  der  Zählungen: 

Die  Protokolle  der  statistischen  Congresse. 

E.  Engel:  Die  Methoden  der  Volkszählung.  Zeitschr.  d.  preuss.  stat. 
Bureau.  1861. 

Derselbe:  Die  Volkszählung  und  ihre  Stellung  zur  Wissenchaft.  Ebenda- 
selbst. Jahrg.  1862. 

Derselbe:  Actenmässige  Darstellung  der  Vorbereitung  zur  Volkszählung 
von  1867.  Ebend.  1867. 

V.Hermann:  Die  Volkszählung  in  Bayern  1864.  XIII.  Heft  der  Beiträge 
zur  Statistik  in  Bayern.  1865.  ü.  a. 

G.  Mayr:  Die  Volkszählung  in  Bayern  1867.  XX.  Heft  der  Beiträge  zur 
Stat.  V.  Bayern.  1868. 

A.  Fabricius:  üeber  Volkszählungen,  Jahrbuch  f.  Nationalökonomie  und 
Statistik.   1866. 

A.  Fabricius:  Die  Volkszählung  im  Norddeutschen  Bunde  vom  3.  De- 
cember  1867. 

Derselbe :  Bericht  über  die  Fortschritte  der  Bevölkerungsstatistik.  Behm''s 
geogr.  Jahrb.  1868. 

Derselbe :  Zur  Theorie  und  Praxis  der  Volkszählungen.  Zeitschr.  d.  preuss. 
stat.  Bur.  1868. 

Derselbe:  Die  Beschlüsse  des  stat.  Congresses  in  Florenz  etc.  Tübinger 
Staatsw.  Zeitschr.  1868. 

G.  F.  Knapp:  Das  Verfahren  bei  der  preussischen  Volkszählung  etc. 
Zeitschr.  d.  preuss.  stat.  Bur.  1867. 

Chr.  Ficker:  Volkszählung.  Statistisch-administrative  Vorträge  etc.  1867. 

G»  V.  Scheel:  Zur  Technik  der  Volkszählungen.  Jahrb.  für  Nat.  und 
Stat.  1869. 


Hindernisse  und  Schwierigkeiten  der  Volkszfthlungen.  97 

§.  62.  Hindernisse  und  Schwierigkeiten  der  Volkssählnngen. 

Ein  Hinderniss  der  Volkszählungen  sind  ihre  Kosten,  die  grossen 
erforderlichen  Vorbereitungen.  So  kostete  z.  B.  die  belgische  Volkszählung 
von  1846  612.600  Fr.  Je  kürzer  die  Zählungsperioden  sind,  desto  mehr 
sind  natürlich  diese  Kosten  zu  berücksichtigen.  Seltenere  Zählungen  dürfen 
theurer  sein  als  häufige  und  können  deshalb  gründlicher  angestellt  werden. 

Dieses  Hinderniss  ist  indessen  nicht  im  Wesen  der  Zählung  selbst 
zu  suchen  wie  andere. 

Die  grösste  Schwierigkeit  bei  den  Volkszählungen  liegt  darin,  dass 
kein  Individuum  übergangen  und  keines  mehrfach  gezählt  werden  darf. 
Die  Ausfiihrung  dieses  Grundsatzes  macht  am  meisten  zu  schaffen.  Je 
lebhafter  der  Verkehr,  je  dichter  die  Bevölkerung,  desto  sorgsamer  ist 
auf  diesen  Grundsatz  zu  achten. 

Man  hat  als  sicherstes  Mittel  dagegen  eine  an  einem  einzigen  Tag 
im  ganzen  Lande  vorzunehmende  Zählung  angewendet.  Eine  solche  Zählung, 
welcTie  1851  in  England  stattfand,  erforderte  allein  30610  Zähler. 

Ausserdem  werden  in  mehreren  Ländern  die  einzelnen  Gezählten 
mit  Namen  in  den  Listen  vorgeführt,  um  dadurch  Doppelzählungen  zu 
verhindern. 

Das  aber  lässt  sich  doch  nicht  verhindern,  dass  Jemand  nicht  ge- 
zählt werde.  Man  lebt,  auch  ohne  gezählt  zu  werden  —  Grund  genug, 
um  kein  Interesse  an  der  Zählung  zu  haben. 

Vielfach  auch  ist  das  Volk  den  Zählungen  abgeneigt.  Häufig  meint 
man,  die  Zählung  geschehe  nur,  um  eine  neue  Last  den  Gezählten  auf- 
bürden zu  können,  ein  Misstrauen,  welches  namentlich  im  südlichen 
Europa;  sehr  verbreitet  ist.  Deshalb  kann  man  annehmen,  dass  jede  Volks- 
zählung die  Zahl  geringer  angibt,  als  sie  in  Wirklichkeit  ist,  namentlich 
in  politisch  bewegter  Zeit. 

Eine  andere  Schwierigkeit  der  Volkszählungen  liegt  darin,  dass  man 
durch  sie  häufig  auch  andere  Verhältnisse  als  die  einfache  Volkszahl 
erfahren  will.  Diese  anderen  Verhältnisse  sind  allerdings  mit  dem  Begriff 
der  Bevölkerung  theilweise  im  innigsten  Zusammenhange.  So  namentlich 
der  Unterschied  von  rechtlicher  und  factischer  Bevölkerung. 

Eine  wichtige  Frage  ist  femer  die,  ob  die  Zählungen  alle  Personen 
und  Classen  der  Bevölkerung  umfassen  oder  blos  einige,  während  die 
anderen  nach  anderweitigen  Ermittelungen  oder  Schätzungen  gefunden 
werden.  So  wurden  z.  B.  lange  in  Russland  bei  den  sogen.  Revisionen 
blos  die  steuerpflichtigen  Männer  gezählt,  während  die  nicht  steuer- 
pflichtigen Männer  und  das  ganze  weibliehe  Geschlecht  nur  in  einer  Art 
Schätzung  dazu  geschlagen  wurden.    Auch  die  österreichischen  Zählungen 

Hanshofer,  StaÜstik.  2-  Aufl.  7 


98  Inhalt  der  Yolkszalilungon. 

waren  bis  zum  Jahre  1850  kaum  vollständiger.  So  waren  z.  B.  in  Ungarn 
Adel  und  Clerus  von  den  Zählungen  (die  zu  Steuerzwecken  vorgenommen 
wurden)  ausgenommen. 

§.  63.  Inhalt  der  Volkszählungen. 

Die  Volkszählungen  der  neueren  Zeit  suchen  neben  der  Zahl  auch 
die  Beschaffenheit  der  Bevölkerung  zu  ermitteln,  sind  daher  nicht  blosse 
Zählungen,  sondern  eigentlich  Volksbeschreibungen.  Durch  sie  werden  die 
Eigenschaften  der  Bevölkerung  quantitativ  bestimmt.  Zu  diesem  Zwecke 
soll   eine  gute  Volkszählung  folgende  Eigenschaften  zu  ermitteln  suchen: 

I.  Das  Geschlecht.  Da  es  nur  zwei  gibt,  ist  die  Ermittelung  leicht. 

U.  Das  Alter.  Bei  der  Erhebung  desselben  sollten  Altersgruppen 
gebildet  und  dabei  das  Jahr  als  Einheit  angesehen  werden.  Die  gezählten 
Individuen  sind  dann  nach  Gruppen  zu  ordnen,  welche  je  um  ein  Jahr 
aufwärts  steigen. 

III.  Die  körperliche  Beschaffenheit.  Bezüglich  derselben  kann 
man  bei  den  Zählungen  nur  den  Sinnesmangel  erfassen,  alles  andere  nur 
ungenau. 

IV.  Die  geistige  Beschaffenheit.  Die  Zahl  der  Blödsinnigen 
und  jene  der  Irrsinnigen  (mangelnder  und  zerrütteter  Verstand),  ihre  Zu- 
oder  Abnahme  ist  von  Wichtigkeit;  ihre  Angabe  sollte  in  Volkszählungs- 
listen nicht  fehlen.  Wo  aber  die  Angehörigen  dieser  Unglücklichen  deren 
Zustand  angeben  sollen,  wird  die  angegebene  Zahl  begreiflicher  Weise 
hinter  der  AVirklichkeit  zurückbleiben. 

V.  Das  Religionsbekenntniss.  Die  Erhebung  durch  die  Volks- 
zählung ist  einfach  und  ungehindert. 

VI.  Der  Familienstand,  d.  h.  jene  Verhältnisse  des  Gezählten, 
welche  in  der  Ehe  und  der  Familie  wurzeln.  Ruft  er  dem  Befragten  einen 
Makel  ins  Gedächtniss,  z.  B.  uneheliche  Geburt,  so  eignet  er  sich  nicht 
zur  Erhebung  durch  die  Zählung.  Dagegen  wird  jedermann  unbedenklich 
angeben,  ob  er  ledig,  verheirathet,  verwitwet  sei  u.  s.  f.  Die  Thatsachen, 
welche  dadurch  zifi'ernmässigen  x\usdruck  gewinnen ,  sind  höchst  be- 
deutungsvoll. 

VII.  Stand,  Beruf,  Erwerb  und  Vermögen.  Es  ist*nicht  ganz 
leicht  und  einfach,  diese  Eigenschaften  der  Gezählten  zu  erheben.  Man 
muss  zu  diesem  Zwecke  sämmtliche  Berufszweige,  die  es  gibt,  classificiren. 

VIII.  Arbeits-  und  Dienstverhältniss. 

IX.  Die  Art  des   Aufenthalts.  Hievon  im  nächsten  Paragraph. 

X.  Sprache  und  Nationalität.  Beide  sind  bis  zu  einem  gewissen 
Grade  gleichbedeutend.  Die  Nationalität  ist  schwer  zu  erheben,  wenn  man 
sie  nicht  mit  der  Sprache  in  Verbindung  bringt. 


Rechtliche  and  factische  Bevölkeruiig.  99 

§.  64.  Bechtliche  und  factische  Bevölkerung. 

Je  nachdem  man  bei  Volkszählungen  von  einem  rechtlichen  oder 
einem  thatsächlichen  Gesichtspunkte  ausgeht,  unterscheidet  man: 

I.  Rechtliche  Bevölkerung,  d.  i.  Angehörige  des  zählenden  Staates 
(population  de  droit). 

Will  man  sie  in  Erfahrung  bringen,  so  müssen  alle  Staatsangehörigen 
gezählt,  alle  anderen  Bewohner  des  Staatsgebietes  ausgeschlossen  werden. 
So  müssen  alle  im  Lande  anwesenden  Fremden  ausgeschlossen  werden; 
nicht  nur  die,  welche  vorübergehend,  auf  der  Reise,  in  WiitliÄiäusem 
sich  aufhalten,  sondern  alle,  die  nicht  im  Staatsverbande  sind.  Es  müssen 
dagegen  alle  im  xluslande  befindlichen  Staatsangehörigen,  die  noch  im 
Staatsverbande  sind,  mitgezählt  werden.  So  namentlich  abwesende  See- 
leute, Reisende. 

IL  Factische  Bevölkerung,  d.  i.  die  Summe  der  auf  dem  Staats- 
gebiet befindlichen  Menschen.  Sie  ist  wieder: 

A.  Factische  Bevölkerung  im  engeren  Sinne,  d.  h.  jene  Personen, 
welche  zur  Zeit  der  Zählung  im  Lande  anwesend  sind  (residence 
eifective).  Hier  müssten  auch  mitgezählt  werden  alle  Fremden,  welche 
auch  nur  auf  kurze  Zeit  in  Wirthshäusern  wohnen.  Bezüglich  ihrer  kann 
man  annehmen,  dass,  wenn  sie  auch  schon  am  nächsten  Tage  abreisen, 
sie  durch  andere  ersetzt  werden.  Hier  müssten  z.  B.  alle  auf  den  Schifi^en 
in  Häfen  und  Gewässern  des  Staats  befindlichen  Seeleute  mitgezählt 
werden,  gleichviel  welchem  Staate  sie  angehören.  Dagegen  müssten  alle 
auch  nur  auf  ganz  kurze  Zeit  im  Auslande  befindlichen  Staatsangehörigen 
ausgeschlossen  werden. 

B.  Die  Summe  derjenigen  Personen,  welche  zur  Zeit  der  Zählung 
ihren  regelmässigen  Aufenthalt  im  Lande  haben  (residence  habituelle). 
Also  die  Bevölkerung  mit  dauerndem  Aufenthalt.  Sie  besteht 
aus  der  factischen  Bevölkerung,  aber  mit  Hinzurechnung  der  vorüber- 
gehend Abwesenden  und  mit  Abrechnung  der  vorübergehend  Anwesenden. 

Die  Unterschiede  zwischen  der  rechtlichen,  der  factischen  und  der 
Bevölkerung  mit  dauerndem  Aufenthalt  sind  von  Bedeutung,  besonders 
hinsichtlich  der  Schwierigkeiten  beim  Zählungsgeschäfte. 

l.  Die  Ermittelung  der  factischen  Bevölkerung  macht  wenig 
Schwierigkeiten.  Jene  Personen,  welche  die  Nacht  in  Häusern  zubringen, 
werden  vom  Hausbesitzer  aufgezeichnet;  Schiffe  im  Hafen  behandelt  man 
wie  Wohngebäude;  Reisende  werden  entweder  an  einer  bestimmten  Station 
oder  da,  wo  sie  am  Morgen  absteigen,  gezählt.  Die  etwa  im  Freien 
Campirenden  muss  die  Polizei  zählen. 

7* 


100  Rechtliche  und  factische  BeTDikerung. 

2.  Die  Bevölkerung  mit  dauerndem  Aufenthalte  ist  ßchwierige^*  zu 
ermitteln.  Zunächst  kommt  es  darauf  an,  was  man  unter  dauerndem 
Aufenthalt  versteht.  Gewiss  kann  man  nichts  anderes  darunter  verstehen, 
als  jenen  Ort,  wo  Jemand  den  grössten  Theil  seiner  Zeit  zubringt.  Da 
das  Jahr  Grundlage  der  Zeitmessung  für  die  Statistik  ist,  so  wird  Jemand 
seinen  dauernden  Aufenthalt  da  haben,  wo  er  den  grösseren  Theil  des 
Jahres  hindurch  sich  aufhält.  Jene,  die  überhaupt  keinen  dauernden 
Aufenthalt  haben  (die  nicht  wenigstens  6  Monate  im  Jahre  an  einem 
bestimmten  Orte  sich  aufhalten),  d.  h.  die  sogenannte  population  flottante, 
z.  B.  Hausirer,  wandernde  Schauspieler,  zählt  man  am  besten  am  augen- 
blicklichen Aufenthaltsorte. 

3.  Die  Aufnahme  der  rechtlichen  Bevölkerung  ist  am  schwierigsten. 
Die  im  Inland  befindliche  oder  nur  vorübergehend  abwesende  rechte 

liehe  Bevölkerung  ist  leicht  zu  ermitteln;  schwer  aber  jene  Personen, 
welche  rechtlich  dem  zählenden  Staat  angehörend,  dauernd  sich  im  Aus- 
lande befinden,  namentlich  dann,  wenn  dieselben  keine  Angehörigen 
zurückgelassen  haben,  von  welchen  sie  verzeichnet  werden  können.  Die 
Gemeindevorstände  des  Heimathsortes  und  die  Gesandtschaften  und 
Consulate  müssen  hier  die  Nachforschungen  anstellen,  deren  Resultate 
aber  stets  unsichere  sind.  Je  grösser  der  Verkehr  eines  Staats  mit  einem 
anderen  ist,  desto  weniger  lässt  sich  eine  solche  Zählung  richtig  durch- 
führen. Abgeschlossenheit  des  Staats  und  der  Nationalität  erleichtert  sie. 
Ob  man  die  rechtliche,  die  factische  oder  die  Bevölkerung  mit 
dauerndem  Aufenthalte  ermittelt:  das  ist  von  sehr  verschiedener  Be- 
deutung. Und  zwar  richtet  sich  diese  Bedeutung  nach  dem  Zwecke, 
welchem  die  Zählung  dienen  soll. 

I.  Die  rechtliche  Bevölkerung  muss  man  kennen,  wenn  die  Volks- 
zahl als  der  Maassstab  erscheint,  nach  welchem  die  politischen 
Rechte  und  Pflichten  auf  die  einzelnen  Provinzen,  Kreise  und  Bezirke 
sich  vertheilen,  wenn  es  sich  also  z.  B.  darum  handelt,  wie  viel  Ab- 
geordnete ein  Wahlbezirk  in  die  Volksvertretung  zu  senden  hat. 

II.  Die  Bevölkerung  mit  dauerndem  Aufenthalte  zu  kennen  ist 
von  Wichtigkeit,  wenn  es  sich  darum  handelt,  aus  der  Volkszahl  auf 
gewisse  allgemeine  Verhältnisse  des  Landes  zu  schliessen,  und  zwar 
solche  Verhältnisse,  welche  eben  durch  die  Bevölkerung  mit  dauerndem 
Aufenthalte  bedingt  werden,  z.  B.  die  Productionsfähigkeit,  die  Zahl  der 
Geburten,  Trauungen  und  Sterbefalle,  die  körperliche  und  geistige  Be- 
schafi^enheit  des  Volks. 

ni.  In  anderen  Fällen  ist  die  factische  Bevölkerung  von  grösserer 
Bedeutung;  da  nämlich,  wo  es  sich  darum  handelt,  mit  der  Volkszahl 
solche  Thatsachen  zu  vergleichen,    welche  nicht  von  der  Dauer  des 


Die  Methoden  der  VolkszaWüflg.    :;  •*-••:"-:-  :  101 

Aufenthalts  abhängen.  So  namentlich  die  Consumtion.  Sie  wird  durch 
die  vorübergehend  Abwesenden  eben  so  stetig  vermindert,  als  durch  die 
vorübergehend  Anwesenden  vermehrt. 

Daraus  ergibt  sich,  dass  bei  Bevölkerungsaufnahmen  verschiedene 
Gesichtspunkte  in  Betracht  kommen.  Am  günstigsten  für  den  Statistiker 
ist  es  ofiPenbar,  wenn  er  jene  Bevölkerung  sich  auswählen  kann,  welche 
seinen  Forschungszwecken  entspricht.  Am  wenigsten  wichtig  erscheint  die 
rechtliche  Bevölkerung,  am  wichtigsten  die  mit  dauerndem  Aufenthalte  ^). 

Die  einseitige  Durchführung  einer  Zahlung  der  factischen  Bevöl- 
kerung i.  e.  S.  wird  dadurch  gefährlich,  dass  diese  Zählungen  ausser  der 
Seelenzahl  zugleich  auch  besondere  Verhältnisse  der  Bevölkerung  ermit- 
teln wollen.  So  z.  B.  die  Vertheilung  der  Bevölkerung  nach  Alter,  Ge- 
schlecht, Beruf  und  Confession  —  Verhältnisse,  welche  aber  nicht  den 
BegriflF  einer  blos  ordnungslos  zusammengehäuften,  sondern  einer  organisch 
und  politisch  verbundenen  Menschenzahl  voraussetzen.  Wollte  man  daher 
bei  Ermittlung  der  factischen  Bevölkerung  solche  Verhältnisse  ermitteln, 
so  erhielte  man  verzerrte  Bilder  der  wirklichen  Zustände. 

Aumerkuug. 
*)  Der  iuteniatiouale  statistische  Cougress  zu  Berlin  hat  deu  Beschluss 
gefasst:  „Um  eine  Volkszählung  zu  gewinnen,  welche  allen  Bedürfnissen  der 
Verwaltung  entspricht,  ist  es  unerlässlich,  nicht  blos  die  factische  Bevölkerung 
zu  zählen,  sondern  auch  die  rechtliche  jeder  Gemeinde  und  Provinz.  Es  ist 
dazu  nöthig,  ein  Criterium  aufzufinden,  welches  gestattet,  aus  den  Elementen 
der  gezählten  factischen  Bevölkerung  auf  die  gleichzeitige  rechtliche  zu 
schliessen.^  Der  Congressbeschluss  hat  demnach  die  dritte  Art  der  Bevölkerung, 
die  mit  dauerndem  Aufenthalt,  noch  nicht  als  besondere  genommen  und  den 
anderen  beiden  gegenübergestellt.  Die  Berliner  Sitzungsperiode  ist  von  beson- 
derer Bedeutung  für  den  Unterschied  zwischen  rechtlicher  und  factischer  (im 
weitereu  Sinne)  Bevölkerung;  in  ihr  namentlich  die  Reden  von  Correnti  und 
Fabricius. 

§.  65.  Sie  Methoden  der  VolkszShlang. 

Die  Volkszählung  selbst  kann  in  verschiedenen  Formen  ausgefiihrt 
werden.  Die  wesentlichsten  sind 

I.  Construction  der  Zählung  aus  Einwohnerlisten. 

II.  Protokollarische  Zählung,  d.  h.  die  protokollarische  Verneh- 
mung der  Familienhäupter  über  ihre  Angehörigen,  respective  der  Haus- 
besitzer über  ihre  Hausbewohner,  in  Gemeindeversammlungen. 

HI.  Die  individuelle,  aber  nicht  namentliche  Zählung  von  Haus 
zu  Haus  durch  Ortstabellen. 

IV.  Die  individuelle  und  namentliche  Zählung  von  Haus  zu 
Haus  durch  besondere  Zähler  mittelst  Anwendung  von  Hauslisten. 


102  -       ".••••;:     iJje  Ä«tilod«ii  der  Volkszählung. 

^-  ^  j' » *  •     ••••••    •  » 

V.  Die  individuelle  und  namentliche  Zählung  von  Haushalt  zu  Haus- 
halt durch  besondere  Zähler  mittelst  Anwendung  von  Haus  halt  listen 
oder  von 

VL  Zählkarten. 

Die  zwei  letztgenannten  Methoden  verbinden  mit  möglichst  grosser 
Genauigkeit  die  grösste  Vollständigkeit  und  Schnelligkeit.  Es  erhält  dabei 
jede  Haushaltung  eine  besondere  Liste  oder  eine  Quantität  von  Zählkarten 
(s.  u.),  welche  von  besonders  hiezu  instruirten  Zählern  in  die  Häuser  ge- 
geben werden.  Am  Zählungstage  nehmen  diese  Zähler  die  Listen  oder  die 
Zählkarten  wieder  in  Empfang,  die  Einträge  prüfend  und  corrigirend,  oder 
selbst  besorgend. 

Da  diese  vorzüglichsten  Zählungsmethoden  mit  sehr  grossen  Kosten 
verknüpft  sind,  wenn  die  Zähler  besoldet  werden,  so  ist  es  eine  wichtige 
Aufgabe,  die  Bevölkerung  selbst  zur  willigen  und  gewissenhaften  Mitwir- 
kung an  das  grosse  Werk  der  Volkszählung  heranzuziehen.  Die  Zusam- 
menstellung und  Ordnung  des  Wissens  von  Volkszuständen  muss  Sache 
des  Volkes  selbst  werden.  Zu  diesem  Zwecke  muss  die  Volkszählung  als 
eine  Handlung  von  höchstem  nationalem  Interesse  dem  Volke  verkündet, 
nicht  wie  eine  gewöhnliche  polizeiliche  Massregel  behandelt  werden. 

Die  durch  diese  Art  von  Zählung  gewonnenen  Haushaltungslisten 
(oder  Zählkarten)  sind  Grundlage  der  Volkszählung  und  Volksbeschrei- 
bung. Zu  ihrer  Controlirung  sind  die  Hauslisten  erforderlich,  welche  auch 
Fragen  über  die  Beschaffenheit  der  Häuser  enthalten  können,  über  Land- 
wirthschaft  und  Viehhaltung. 

Die  Hauslisten  ihrerseits  werden  wieder  durch  Ortslisten  controlirt. 
Letztere  können  gleichfalls  auch  zu  Zwecken  der  Gebäudestatistik  und  der 
Auswanderangsstatistik  benützt  werden  ^). 

Bezüglich  der  Zeit  der  Volkszählung  hat  die  Erfahrung  gezeigt, 
dass  die  Zählung  am  genauesten  ausfällt,  wenn  sie  an  einem  Tage  be- 
gonnen und  beendigt  wird.  Der  Monat  December  eignet  sich,  weil  da  die 
Bevölkerung  am  wenigsten  sich  in  Bewegung  befindet,  am  besten. 

Aum  erkling. 
*)  Durch  diese  Methode  der  Zählung  mit  ihrer  Combiuation.  von  Haushai- 
tuiigs-,  Haus-  und  Ortsh'sten  kann  man,  wenn  die  Haushaltungslisten  den  oben 
(§.  80)  ei-wähnten  Inhalt  haben  und  die  Haus-  und  Ortslisten  Gebäude-,  Land- 
wirthschafts-  und  Auswauderuugsstatistik  erheben,  eine  Reihe  der  werthrollsten 
Kenntnisse  gewinnen,  nämlich: 
A.  Hinsichtlich  der  Bevölkerung: 

1.  Die  Zahl  der  Bewohner  jedes  Ortes. 

2.  Geschlecht  und  Alter,  auch  nach  Ortschaften  und  Kreisen. 

3.  Körperliche  und  geistige  Beschaffenheit  der  Bevölkeruiig. 

4.  Religionsbekenntniss. 


AusfiLhruDg  der  Volkszählung.  108 

5.  Familieuiitaud. 

6.  Staud  und  Beruf. 

7.  Art  des  Aufenthalts. 

8.  Sprache  und  Nationalität. 

9.  Aus-  und  Einwanderung. 

B.  Bezüglich  der  Gebäude  und  Wohnplätze: 

1.  Bestimmung  der  Gebäude. 

2.  Abbruch  und  Neubau. 

3.  Grösse  der  Wohngebäude  und  Dichtigkeit  ihrer  Bewohuuug. 

4.  Werth  und  Verschuldung  des  städtischen  und   des    ländlichen    Grund- 
besitzes. 

C.  Bezüglich  der  Laudwirthschaft  und  Viehzucht: 

1.  Grösse  der  Grundstücke. 

2.  Verwendung  der  Fläche. 

3.  AnbauYerhäitniss. 

4.  Landwirthschaftliche  Production. 

5.  Viehstand  im  Allgemeinen,  auf  grossem,  mittlerem  und  kleinem  Grund- 
besitz. 

6.  Art  des  Betriebes,  als  Haupt-  oder  Nebenerwerb,  in  eigener  Wirth- 
schaft  oder  Pacht. 

7.  Verschuldung. 

D.  Bezüglich  der  Industrie: 

1.  Kleingewerbe.  Darin  verwendete  Kräfte;  Arbeits-  und  Dienstverhält- 
niss.  Werth  des  Umstitzes. 

t.  Grossindustrie.  Persönliche  und  mechanische  Kräfte. 

3.  Typographische  Gewerbe. 

4.  Umfang  der  Geschäfte  nach  der  Zahl  der  Arbeiter. 

E.  Bezüglich  des  Handels  und  Verkehrs: 

i.  Handels-  und  Transportgewerbe.  Persönliche  und  mechanische  Kräfte. 
Umsatz  und  Absatz. 

2.  Alter  der  Firmen. 

§.  66.  Ausführung  der  Volkszählung^). 

Bei  der  Ausführung  dieser  vollkommensten  Zählungsmethode  sind 
folgende  Punkte  zu  berücksichtigen: 

I.  Die  Austheilung  der  Listen.  Sie  erfolgt  durch  die  Staatsregierung 
an  die  Ortsobrigkeiten.  Diese  vertheilen  dann  die  Haus-  und  Haushal- 
tungslisten an  die  Besitzer  und  Administratoren  der  Häuser  mit  der  Ver- 
bindlichkeit, letztere  Listen  an  die  Haushaltungsvorstände  abzugeben. 

n.  Die  Ausfüllung  der  Listen.*  Die  Haushaltungslisten  werden  durch 
die  Vorstände  der  Haushaltungen,  die  Hauslisten  durch  die  Besitzer  oder 
Administratoren  der  Häuser  und  die  Ortslisten  durch  die  Ortsobrigkeiten 
ausgefüllt.  Je  mehr  Details  die  Listen  enthalten  sollen,  desto  schwieriger 
wird  es,  richtige  Ausfüllungen  durch  die  Haushaltungsvorstände  zu  er- 
halten. Aber  auch  die  Ausfüllung  durch    eigene   Zähler  ist   dann    keine 


104  Ausf&hrung  der  Volksz&hlung. 

vollständige  Garantie  tur  die  Richtigkeit,  denn  die  2^hier  sind  ihrerseits 
wieder  auf  die  Angaben  angewiesen,  welche  ihnen  gemacht  werden.  Mög- 
lichste Richtigkeit  ist  nur  zu  erwarten,  wo  die  richtige  Ausfüllung  der 
Listen  von  der  Bevölkerung  selbst  als  eine  erfolgreiche  und  nationale 
Pflichterfüllung  betrachtet  und  wo  sie  der  Bevölkeiiing  in  der  Weise  er- 
leichtert wird,  dass  auf  die  in  den  Listen  gestellten  Fragen  im  Wesent- 
lichen blos  mit  Ja  und  Nein  zu  antworten  ist. 

IIL  Für  die  Wiedereinsammlung  der  ausgefüllten  Listen  geht  der- 
selbe Instanzenzug  aufwärts,  der  bei  der  Austheilung  abwärts  gestiegen. 
Sie  muss  unmittelbar  am  Tage  nach  dem  Zählungstage  erfolgen. 

IV.  Hierauf  muss  eine  Prüfung  der  Einträge  erfolgen. 

V.  Dann  eine  Zusammenstellung  und  Concentration  der  Ergebnisse. 
Sie  ist  Sache  der  statistischen  Technik.  Die  in  den  Listen  zerstreuten 
Materialien  müssen  verdichtet,  aus  dem  Einzelnen  zu  Massen  angesammelt 
werden. 

Eine  solche  Concentrirung  kann  entweder  als  decentralisirte  bei  den 
einzelnen  Gemeinden  erfolgen  oder  bei  dem  statistischen  Centralbureau. 
Beide  Methoden  haben  ihre  Vorzüge  und  Nachtheile. 

Für  die  Bearbeitung  der  llaushaltungslisten  hat  man  statt  der  früher 
angewandten  zeitraubenden  und  unsicheren  Strichelungsmethode  (vergl. 
(§.  57)  jetzt  vielfach  Zählblättchen  und  Zählkarten  eingeführt.  Diese  Ein- 
richtung besteht  darin,  dass  man  Listen  anlegt,  auf  welchen  die  Angaben 
nur  für  ein  gezähltes  Individuum  sich  befinden.  Jeder  Gezählte  erhält 
demnach  seine  eigene  Liste  oder  Karte,  wodurch  die  Gruppirung  des  Ge- 
sammtmaterials  erleichtert  wird.  Diese  kleinen  Listen  sind  nun  entweder 
Zählkarten  oder  Zählblättchen. 

1.  Die  Zählkarten  werden  von  den  Gezählten  selbst  ausgefüllt. 
Es  müssen  zu  diesem  Zwecke  (im  Couvert)  in  jede  Haushaltung  so  viel 
Zählkarten  gegeben  werden,  als  dieselbe  Personen  enthält.  Die  Zählkarten 
sind  Blättchen,  etwa  handgross,  wie  ordentliche  Tabellen  gestaltet").  Für 
das  Publikum  sind  diese  Blättchen  allerdings  minder  bequem  als  eine 
einzige  Ilaushaltungsliste  ist;  auch  sind  Zählkarten,  die  vom  Publikum 
selbst  ausgefüllt  sind,  häufig  schwer  leserlich» 

2.  Die  Zählblättchen  dagegen  sind  kleine  Tabellen,  welche  für 
je  eine  Person,  von  den  Behörden  aus  den  Haushaltlisten  (oder  Ilaus- 
listen  etc.)  herausgeschrieben  werden.'  Hierbei  ergibt  sich  allerdings  eine 
Mehrarbeit  für  die  Behörden,  aber  man  erhält  correcte  und  gleichfxir- 
miger  geschriebene  Kärtchen,  mit  welchen  sich  bequemer  manipuliren 
lässt.  Es  lässt  sich  dabei  namentlich  durch  Wahl  verechiedener  Farben 
der  Zählblättchen  für  die  Ilauptunterschiede  der  beobachteten  Thatsachen 
das  Geschäft  des  Sortirens  ungemein  erleichtem. 


AasfahniDg  der  Volkszfthlung.  105 

VI.  Die  Veröffentlichung  (vergl.  §.  58). 

Vir.  Die  Aufbewahrung  der  Urlisten.  Sie  geschieht  offenbar  am 
besten  durch  die  Gemeinden  und  bietet  dann  die  geeignetste  Grundlage 
für  eine  örtliche  Statistik,  fiir  Gemeindebücher,  welche  sich  als  Inven- 
tarien  des  gemeindlichen  und  örtlichen  Lebens  darstellen.  Zugleich  bieten 
diese  aufbewahrten  Urlisten  Controlmittel  für  die  nächsten  Zählungen. 

VIII.  Die  Kosten.  Je  mehr  man  die  Wichtigkeit  der  Volkszählungen 
einsieht,  desto  grössere  Mittel  werden  für  dieselben  aufgewendet.  Diese 
Kosten  Hessen  sich  allerdings  vermindern,  je  mehr  die  Zählungen  zu 
Nationaluntemehmungen  gemacht  würden. 

Aumerkungeu. 
*)  Nach  Eugel  iu  der  Zeitschr.  des  preuss.  »tat.  Bur.  I.  Bd.  S.  166. 
*)  Bei  Gelegenheit  der  Volkszählung  im  deutschen  Reiche  für  1875  wurde 
von  Seite  des  Reiches  folgendes  Formular  für  die  Zählkarten  empfohlen. 


Volkszählung  am  I.  December  1875. 

Kreis Gemeinde  oder  Gutsbezirk 

(Zählort) 
Zählbezirk  Nr Zählbrief  Nr Zählkarte  Nr.. 

1.  Vor-  und  Familienname 


2.  Stellung  in  der  Haushaltung 

3.  Geschlecht:    männlich,    weiblich   (das  nicht  zutreffende    Wort   auszu- 

streichen). 

4.  Geburtyahr.. _ 

5.  Ledig,  verheirathet,    Terwittwet,   geschieden,  auf  Lebenszeit  gericht- 

lich getrennt  (nicht  Zutreffendes  auszustreichen.) 

6.  Religionsbekenutuiss 

Hauptberuf    \  Bezeichnung 

Haupterwerb  f  ^ ^ 

od.Nahrungs- 1  Arbeits-  oder  Dienstverhältuiss 

zweig         )  ^ „ 

8.  Etwaige  mit  Erwerb  verbundene  Nebenbeschäftigung • ^.... 


9.  Staatsangehörigkeit.. 


10.  Wohnort   (nur  anzugeben,    wenn    die  Person    fiir  gewöhnlich  nicht 

an  der  Haushaltung  Theil  nimmt) „ 

11.  Für  Militärpersonen  im  activen  Dienste:  Angabe  des  Truppentheils  etc. 


106  l>ie  Volksdichtigkeit. 


II.  Capitel. 

Relative  Bevölkerung. 


§.  67.  Die  Volksdichtigkeit. 

Die  Volksdichtigkeit  ist  das  Verhältniss  der  Volkszahl  zum  Flächen- 
inhalt des  Gebietes,  auf  welchem  diese  Zahl  sich  befindet.  Das  Verhältniss 
wird  ausgedrückt,  indem  man  angibt,  wie  viel  Menschen  durchschnittlich 
auf  einem  bestimmten  Räume,  in  der  Regel  auf  einem  Quadratkilometer, 
leben. 

Kaum  eine  andere  Gruppe  unter  den  wichtigeren  statistischen  Grössen 
zeigt  so  enorme  Verschiedenheiten  ihrer  Zahlen,  als  die  Volksdichtigkeit. 
Ihre  Vergleichung  bei  verschiedenen  Ländern  sowie  innerhalb  einßs  ein- 
zelnen Landes  führt  auf  wichtige  Unterschiede  der  gesellschaftlichen  Zu- 
stände. Bei  solchen  Vergleichungen  muss  man  natürlich  den  gleichen 
Maassstab,  d.  h.  eine  und  dieselbe  Flächeneinheit  gebrauchen.  Mitunter  ist 
es  auch  nothwendig,  zu  berücksichtigen,  ob  bei  der  Berechnung  der  Dich- 
tigkeit der  Flächeninhalt  der  Binnengewässer  von  dem  Gesammtflächen- 
inhalt  des  Landes  abgezogen  wurde  oder  nicht.  Bei  Ländern,  welche  zahl- 
reiche und  grosse  Binnengewässer  enthalten,  wie  z.  B.  Finnland,  das 
brittische  Nordamerika,  lässt  sonst  die  Masse  der  Binnengewässer  die  Volks- 
dichtigkeit geringer  erscheinen,  als  sie  in  Wirklichkeit  ist. 

In  vorliegendem  Werke  ist  die  Volksdichtigkeit  nach  der  Zahl  von 
Einwohnern,  die  auf  den  Quadratkilometer  durchschnittlich  treffen,  be- 
rechnet. Man  findet  sie,  indem  man  die  Zahl  der  absoluten  Bevölkerung 
durch  die  Zahl  der  Quadratkilometer  dividirt. 

Nun  ist  eine  gewisse  Volksdichtigkeit  nothwendig  für  das  Wohl  und 
die  Civil isation  der  Gesellschaft.  Eine  über  weite  Gebiete  zerstreute  dünne 
Bevölkerung  ist  nicht  im  Stande,  die  Naturkräfte  dieses  Gebiets  zu  be- 
herrschen, sondern  muss  denselben  sich  fügen,  verwildern,  wie  dies  z.  B. 
der  Fall  war  bei  den'  Nachkömmlingen  der  Spanier  in  Südamerika  und 
bei  denen  der  canadischen  Franzosen  im  westlichen  Nordamerika. 

Man  hat  daher  häufig  die  Volksdichtigkeit  als  einen  Maassstab  für 
die  Kraft  und  Civilisation  der  Staaten  betrachtet.  Doch  darf  dieser  Maass- 
stab keineswegs  als  ein  absoluter  gelten  und  muss  mit  einer  gewissen 
Vorsicht  gebraucht  werden. 

Man  muss  sich  wohl  hüten,  in  dieser  Hinsicht  Staaten  und  Länder 
von  sehr  verschiedener  Grösse  miteinander  zu  vergleichen,  sonst  erhält 
man  irrige  Anschauungen.  So  hat  man  oft  die    Insel    Malta   das    bevöl- 


Di«  VolkBdichtigkeit. 


107 


kertste  Land  Europa'8  genannt,  weil  ihre  Volksdichtigkeit  399  Seelen 
beträgt.  Es  besitzt  diese  Insel  auf  ihrem  kleinen  Gebiete  eben  eine  be- 
deutende Stadt.  Aber  diese  Stadt  isl  kein  Product  des  staatlichen  Lebens 
der  Insel  Malta  allein,  sondern  des  ganzen  mittelländischen  Verkehrs.  So 
erhielte  das  Gebiet  der  Stadt  Hamburg  eine  Volksdichtigkeit  von  948 
Seelen.  Aber  auch  hier  ist  diese  Volksdichtigkeit  nicht  die  des  Gebietes, 
sondern  ergibt  sich  aus  dem  Dasein  einer  grossen  Stadt  auf  kleinem  Ge- 
biete. Die  Stadt  ist  aber  gleichfalls  nicht  Product  des  hamburgischen 
Gebietes,  sondern  Deutschlands.  In  ähnlicher  Weise  Hessen  sich  noch 
andere  ganz  abnorme  Volksdichtigkeitsziflfern  ausfindig  machen;  z.  B.  für 
Helgoland  3826,  für  Gibraltar  gar  3028,  Hongkong  1676,  Bremen  557, 
die  normannischen  Inseln  463. 

Diese  Beispiele  zeigen  allein  schon,  dass  man  bei  der  Vergleichung 
der  Volksdichtigkeit  verschiedener  Länder  grosse  Vorsicht  anwenden  muss, 
dass  man  die  Bevölkerung  eines  Landes  keineswegs  immer  ihm  allein 
zurechnen  darf.  Unter  diesem  Gesichtspunkte  wird  man  sogar  die  aus- 
nehmend starke  Volksdichtigkeit  einzelner  selbstständiger  Staaten,  z.  B. 
Belgiens,  Grossbritanniens  nur  zum  Theile  als  ein  Product  dieser  Staaten, 
zu  einem  anderen  Theile  dagegen  als  Product  des  ganzen  civilißirten 
Europa  ansehen  müssen.  Der  Weltverkehr  nur  Hess  diese  Ziffern  so  an- 
wachsen. 

Anmerkung. 

Eine  vergleicheude  Zusammenstellung  der  Volksdichtigkeit  iu  den  wich- 
tigeren Staaten  der  Welt  ergibt  Folgendes: 

Auf  i  Quadratkilometer  treffen  Einwohner  in: 


I.  Europa 32,5 

Belgien 186 

Niederlande 128 

Grossbritannien  und  Irland  .    .110 
Italien  (nebst  Monaco  und  San 

Marino) 95 

Deutsches  Reich 79 

Frankreich 70 

Schweiz 57 

Oesterreich-Ungarn 51 

Dänemark    (ohne    Faröer    und 

Island) 51 

Liechtenstein 49 

Portugal     (ohne    Azoren     und 

Madeira) 48 

Rumänien 42 

Spanien 33 

Griechenland 33 

Serhien 32 


Montenegro 30 

Türkei    (europäische,  mit  Bul- 
garien)      27 

Russland  und  Finnland     ...  14 

Schweden 10 

Norwegen 6 

IL  Amerika 2,5 

San  Salvador 25 

Haiti 23 

Guatemala 11 

Chile       6,6 

San  Domingo 5,o 

Mexico 4,9 

Vereinigte  Staaten 4,i 

Columbia 3,5 

Costa  Rica .  3,3 

Honduras 2,8 

Uruguay 2,4 

Peru 2,0 


108 


Verfolgung  der  Volludichtigkeit  ins  Einzelne. 


Nicaragua 2,o 

Boliria 1,8 

Veuezuela 1,6 

Ecuador 1,5 

Paraguay 1,2 

Brasilien    . 1,2 

Argentiua 0,9 

in.  Asien 18,7 

Japan 89 

j  Chinesisches  Reich 37/ 

J(ini  eigentlichen  China)  .    .    .100) 

British-Ostindien 64 

(Dasselbe  ohne  Tributärstaaten)  82 

Hinterindien 20 

Asiatische  Türkei 9 


Persieu 4,2 

Russisches  Centralasien      ...  1,3 

Sibirien 0,3 

IV.  Afrika 6,9 

Tunis 18 

Aegypten 6 

Algerien 9 

Brittische  Colouien  Afrika"*»  2 

insbesondere  Kapland    ...  1,4 

V.  Australien 0,4 

Neusüdwales 0,8 

Victoria 3,8 

Südaustralien 0,2 

Neu-Seeland 1,7 


§.  68.  Fortsetzung.  Verfolgung  der  Volkadichtigkeit  ins  Einzelne. 

Zur  richtigen  Beurtheilung  des  Werthes  und  der  Verschiedenheiten 
der  Volkßdichtigkeit  ist  aber  erforderlich: 

I.  Eine  Verfolgung  der  Volksdichtigkeit  ins  Einzelne.  Man  muss 
die  Vertheilung  der  Bevölkemng  über  das  Staatsgebiet,  d.  h.  also  die 
Volksdichtigkeit  der  einzelnen  Landestheile  ebenfalls  berücksichtigen.  Eine 
Beobachtung  der  Volksdichtigkeit  blos  nach  sehr  grossen  räumlichen  Ge- 
bieten würde  zu  schiefen  Vorstellungen  und  Schlüssen  führen. 

In  den  civilisirten  europäischen  Staaten  ist  die  Volksdichtigkeit  der 
einzelnen  Landestheile  von  der  des  ganzen  Landes  meist  wenig  verschieden. 
Dagegen  finden  sich  die  grössten  Contraste  hierin  in  Ländern  von  junger 
Entwickelung. 

Bei  der  Vergleichung  verschiedener  Staaten  hinsichtlich  der  inner- 
halb des  Staatsgebiets  nach  einzelnen  Theilen  desselben  verschiedenen 
Volksdichtigkeit  darf  man  die  in  den  verschiedenen  Staaten  zu  verglei- 
chenden Theile  nicht  von  sehr  abweichender  Grösse  nehmen,  wenn  man 
richtige  Vorstellungen  erhalten  will.  In  Frankreich  z.  Ü.  ist  die  Bevöl- 
kerung sehr  gleichmässig  vertheilt.  Aber  sie  würde  ungleichmässig  ver- 
theilt  erscheinen,  wenn  man  die  Volksdichtigkeit  der  einzelnen  Depar- 
tements vergliche.  Denn  diese  sind  gegenüber  den  politischen  ünterabthei- 
lungen  anderer  Länder  klein,  so  dass  einzelne  stark  bevölkerte  Städte 
gleich  dem  ganzen  Departement  eine  andere  Volksdichtigkeit  geben  *). 

IL  Eine  besondere  Berücksichtigung  des  Einflusses  der  Städte 
auf  die  Volksdichtigkeit  der  Gebiete,  in  welchen  sie  sich  befinden,  ist 
daher  gleichfalls  geboten,  aber  auch  höchst  schwierig.  Denn  man  darf  die 
Bevölkerung  der  Städte  bei  der  Berechnung  der  Volksdichtigkeit  nur 
jenen  Landestheilen  zurechnen,  welchen   die   Städte  ihre  Entstehung  und 


Terfolgniig  der  Volkadiehtigkeit  ins  Einzelne.  109 

Bevölkerung  verdanken.  Wie  gross  aber  der  Landestheil  ist,  welchem  eine 
bestimmte  Stadt  ihre  Entstehung  und  Bevölkerung  verdankt,  lässt  sich 
nur  in  seltenen  Fällen  mit  einiger  Bestimmtheit  behaupten.  Soll  man  z.  B. 
bei  der  Untersuchung  der  Volksdichtigkeit  Oesterreichs  die  Bevölkerung 
von  Wien  etwa  blos  dem  Erzherzogthume  Oesterreich  unter  der  Enns 
anrechnen,  während  doch  andere  Theile  Oesterreichs  gleichfalls  Bevölkerung 
an  die  Hauptstadt  abgeben?  Oder  soll  man  diese  hauptstädtische  Bevöl- 
kerung blos  auf  die  cisleithanischen  Länder  vertheilen?  Oder  auf  den 
ganzen  Kaiserstaat?  Keinesfalls  war  Niederösterreich  allein  im  Stande, 
eine  Stadt  von  solcher  Bevölkerung  hervorzubringen  und  es  erscheint 
demnach  die  Volksdichtigkeit  Niederösterreichs  jener  der  übrigen  Kron- 
länder gegenüber  unverhältnissmässig  stark,  indem  die  Bevölkerung  Wien's 
ihr  zugerechnet  wird.  Aber  wie  soll  dann  die  richtige  Volksdichtigkeit 
jener  Landestheile  gefunden  werden,  in  welchen  grosse  Hauptstädte  sich 
befinden?  Den  klarsten  Ueberblick  erhält  man  nur  dann,  wenn  man 
gleichzeitig  die  Volksdichtigkeit  solcher  Landestheile  mit  und  jene  ohne 
Hinzurechnung  der  Bevölkerung  der  Hauptstädte  angibt.  So  hat  Nieder- 
österreich mit  Hinzurechnung  Wiens  eine  Volksdichtigkeit  von  112,  ohne 
Wien  nur  von  61.  Die  wahre  Volksdichtigkeit  muss  zwischen  beiden 
Zahlen  gedacht  werden. 

Aehnliche  Erwägungen  werden  auch  Platz  greifen  müssen,  wenn 
man  z.  B.  die  Volksdichtigkeit  der  preussischen  Provinz  Brandenburg  oder 
des  französischen  Seinedepartements  u.  s.  f.  betrachtet. 

ni.  Die  natürlichen  Grenzen  der  Volksdichtigkeit  müssen 
endlich  auch  aufgesucht  werden,  d.  h.  man  muss  jene  Gebiete  abzugrenzen 
suchen,  in  welchen  aus  natürlichen  Gründen  die  Volksdichtigkeit  eine 
andere  ist,  als  in  benachbarten  Gebieten.  Man  findet  diese  natürlichen 
Grenzen,  indem  man  die  grösseren  beobachteten  Gebiete  in  möglichst  kleine 
zertheilt,  und  an  letzteren  die  Volksdichtigkeitsunterschiede  und  zugleich 
die  geographischen  und  wirthschaftlichen  Verschiedenheiten  untersucht. 

In  Gebieten  mit  gleichen  geographischen  und  wirth- 
schaftlichen Lebensbedingungen  muss  auch  die  Volksdichtig- 
keit nach  gleicher  Höhe  streben.  Die  Unterschiede  der  Volksdich- 
tigkeit werden  neben  dem  Einflüsse  der  grossen  Städte  meist  durch  den 
Gegensatz  von  Urproduction  und  Industrie  bedingt.  Daher  die  grosse 
Volksdichtigkeit  des  nordwestlichen  Theiles  von  England  gegenüber  anderen 
Theilen,  Sachsens  gegenüber  den  anderen  deutschen,  Böhmens  gegenüber 
den  anderen  österreichischen  Ländern. 

Der  wirthschaftliche  Landescharakter  ist  aber  wieder  abhängig  vom 
geographischen.  Wo  die  Natur  Eisen  und  Kohle,  mildes  Klima,  üppige 
Vegetation,  natürliche  Verkehrswege  geboten:  da  hat  sie  auch  eine  gros- 


110  Verfolgung  der  Yolksdichiigkeit  ins  Einzelne. 

sere  Volksdiclitigkeit  geschaffen,  als  wo  das  Gegentheil  der  Fall.  Aus 
diesen  Gründen  erscheinen  auch  nicht  die  Ströme  als  natürliche  Grenzen 
der  Volksdichtigkeitsunterschiede,  sondern  die  Gebirge,  die  klimatischen 
Grenzen,  die  Meere.  So  sind  die  Alpen  eine  grosse  Scheide  der  Volks- 
dichtigkeit zwischen  dem  südlichen  Deutschland  und  dem  weit  stärker 
bevölkerten  Norditalien;  die  Pyrenäen  zwischen  der  gi'össeren  Volksdich- 
tigkeit Frankreichs  und  der  geringeren  Spaniens,  im  kleineren  Maassstabe 
auch  der  Harz,  die  böhmischen  Grenzgebirge.  Im  ganzen  europäischen 
Festlande  haben  die  üferländer  des  Rheinstroms  in  seinem  ganzen  Laufe 
eine  hervorragend  dichte  Bevölkerung,  die  mit  dem  Weiterlaufe  des  Stromes 
sich  nur  steigert,  während  die  Donauländer  fast  durchgehends  weit  schwächer 
bevölkert  sind,  um  so  schwächer,  je  mächtiger  der  Strom  wird.  Die  Volks- 
dichtigkeitskarte  muss  mit  der  geologischen,  mit  der  klimatischen  und  mit 
der  Karte  der  Flussgebiete  verglichen  werden. 

IV.  Politische  Einflüsse.  Die  geschichtliche  Entwickelung  der 
Völker  macht  sich  freilich  auch  mitunter  in  der  Volksdichtigkeit  geltend. 
Wo  gleiche  geographische  Verhältnisse  noch  eine  ungleiche  Volksdichtig- 
keit zeigen,  haben  immer  historische  Ursachen  mit  bedeutender  Kraft  sich 
geltend  gemacht  und  wirken  noch  nach.  Sonst  hätte  der  lebendige  Ver- 
kehr der  Gegenwart  diese  Unterschiede  längst  ausgeglichen.  Dies  gilt  z.  B., 
wenn  man  betrachtet,  wie  die  Türkei,  Spanien,  Portugal  etc.  bei  ihrer 
Productionsßlhigkeit  weit  geringer  bevölkert  sind,  als  andere  europäische 
Länder,  welche  von  der  Natur  weit  weniger  reich  ausgestattet  sind. 

Eine  gleichmässige  Volksdichtigkeit  darf  man  stets  als  ein  politisches 
und  wiithschaftliches  Glück,  als  eine  Ursache  und  Folge  gleichmässiger 
Entwickelung  des  Volkslebens  in  einem  Lande  ansehen.  Deutschland  und 
Frankreich  stehen  in  dieser  Hinsicht  —  trotz  ihrer  geographischen  Aus- 
dehnung —  den  Staaten  der  Welt  entschieden  voran,  während  in  Eng- 
land die  grösseren  Städte  und  Fabriksdistricte  schon  einen  Einfluss  auf 
die  Volksdichtigkeit  üben,  der  in  der  Politik  und  den  wirthschaftlichen 
Zuständen  Englands  sich  spiegelt  und  kein  günstiger  mehr  genannt  wer- 
den kann. 

Aumerkuug. 

*)  Eine  Vergleichung  der  Volksdiclitigkeit  iu  den  verschiedenen  Theilcu 
der  wichtigsten  Staaten  ergibt  Folgendes. 

I.  In  den  einzelnen  Staaten  und  den  Provinzen  der  grösseren  Staaten  des 
Deutschen  Reiches  stellt  sich  die  Volksdichtigkeit  wie  folgt  (187Ö): 

Posen 4-  .    55,5 

Schlesien 95,4 

Sachseil 85,9 

Schleswig-Holstein 58,7 

Hannover 52,7 


Preussen .  74,i 

Ostpreussen    .    .    .  • 50,2 

Westpreussen 52,6 

Braudeuburg 78,4 

Pommern 48,6 


Verfolgung  der  Yolksdichtigkeit  int  Einzelne. 


111 


£lsas8-Lothriugeu 105,6 

Baden 99,9 

Hessen 115,2 

Mecklenburg-Schwerin 41,6 

Hamburg 948,4 

Braunschweig 88,7 

Oldenburg 49,9 

Sachsen- Weimar 81,s 

Anhalt 91,o 

Sachsen-Meiningen 78,8 

Sachsen-Coburg-Gotha 92,8 

Sachsen- Altenburg 110,4 

Bremen 557,5 

Lippe 94,6 

Mecklenburg-Strelitz 32,7 

Reuss  j.  L 111,4 

Schwarzburg-Rudolstadt    ....    81,4 
Schwarzburg-Sondershausen  .    .    .    78,8 

Lübeck 201,8 

Waldeck 48,2 

Reuss  ä.  L 148,5 

Schaumburg-Lippe 74,8 

Deutsches  Reich 79,i 


Westfalen 94,3 

Hessen-Nassau .    93,7 

Rheinland 141,o 

HohenzoUem 58,2 

Bayern      66,2 

Oberbayern 52,6 

Niederbayeru 57,8 

Pfalz 108,0 

Oberpfalz 52,i 

Oberfrankeu 79,8 

Mittelfranken 80,3 

Unterfranken 71,i 

Schwaben 63,4 

Sachsen,  Königreich 184,i 

Regierungsbezirk  Bautzen     .    •  172,8 

„  Dresden      .    .  179,4 

^  Leipzig  .    .    .  223,4 

„  Zwickau     .    .  137,3 

Württemberg 96,6 

Neckarkreis 176,7 

Schwarzwaldkreis 95,3 

Jag^tkreis 76,o 

Douaukreis 71,5 

Abgesehen  von  den  Gebieten  von  Hamburg,  Bremen  und  Lübeck,  welche 
sich  aus  früher  erwähnten  Gründen  zur  Vergleichung  nicht  eignen,  zeigt  daher 
das  mitteldeutsche  Hügel-  und  Flachland  die  stärksten  Volksdichtigkeitsziffem. 
Das  Königreich  Sachsen  mit  seiner  hochentwickelten  Industrie;  Schlesien,  die 
preussische  Rheiuprovinz  und  AVestfalen;  ferner  die  Reussischen  Länder,  eben- 
falls alle  mit  stark  ausgeprägtem  industriellem  Charakter;  ferner  der  württem- 
bergische Neckarkreis,  Sachsen  -  Altenburg,  Elsass-Lothringen,  Hessen,  die 
bayerische  Rheinpfalz,  sämmtlich  von  bedeutender  Fruchtbarkeit  des  Bodens 
aber  auch  mit  starker  Industriethätigkeit:  Das  sind  die  Landschaften  mit  der 
bedeutendsten  Volksdichtigkeit,  während  die  norddeutsche  Tiefebene,  nament- 
lich an  den  Seeküsten,  sowie  die  südbayerische  Hochebene  die  spärlichsten 
Ziffern  zeigen. 

IL  In  Oesterreich-Ungarn  (nach  der  Zählung  von  1869): 

Galizien 69,4 

Bukowina 49,i 

Dalmatien 37,7 

Ungarn  —   Siebenbürgen   ....  48,4 

Fiume 902,3 

Croatien  und  Slavonien 49,o 

Militärgrenze 34,4 

Oesterreichische  Länder 67,» 

Ungarische  Länder 47,9 

Gesammtmouarchie  (1869)  ....  57,6 

„                 (1880)  circa    .  60,9 


Oesterreich  unter  der  £nns   .   .    .  100,4 

Oesterreich  ober  der  £nns     .    .    .  61,4 

Salzburg 21,3 

Steiermark 50,7 

Kärnten 32,« 

Krain  , 46,7 

GOrz,  Gradiska,  Istrien,  Triest  .    .  75,2 

Tirol  und  Vorarlberg  ......  30,2 

Böhmen J 98,9 

Mähren 90,7 

Schlesien 99,7 


112  Verfolgung  der  Volksdichtigkeii  ins  Einzelne. 

Auch  hier  lassen  sich  die  Gründe  der  Volksdichtigkeitsunterschiede  un- 
schwer erkennen;  theils  in  der  Gliederung  des  Bodens  und  seiner  Ausstattung 
mit  Klima  und  Naturproducten,  theils  im  Unterschied  der  Nationalitäten  und 
deren  verschiedener  geschichtlicher  Entwickelung.  Allerdings  sind  die  einzelnen 
Kronländer  von  zu  verschiedener  Grösse,  und  mehrere  derselben  absolut  zu 
gross,  um  verglichen  werden  zu  dürfen.  Eine  Vergleichung  der  einzelnen 
Districte  der  Kronländer  zeigt  in  jedem  Kronlande  eine  oder  mehrere  Dichtig- 
keitsinseln (die  Umgebung  der  grösseren  Städte)  und  andererseits  erhebliche 
Lücken  in  den  Gebirgsdistricten.  Auffallend  gross,  aber  leicht  erklärlich  sind 
in  der  ganzen  Monarchie  wie  in  den  einzelnen  Ländern  die  Unterschiede  der 
Volksdichtigkeit. 

III.  In  Frankreich  (nach  der  Zählung  von  1876). 

Hier  ist  wegen  der  geringereu  Unterschiede  in  der  Grösse  der  einzelnen 
Departements  eine  Vergleichung  am  ehesten  gerechtfertigt.  Dem  Durchschnitt 
des  ganzen  Landes  (70  pro  Quadratkilometer)  nähern  sich  viele  Departements 
fast  völlig.  Unter  den.  87  Departements  befinden  sich  30  mit  einer  Volksdich- 
tigkeit von  60—79.  Geringe  Volksdichtigkeit  (40—59  pro  Quadratkilometer) 
haben  36  Departements  und  die  auffallend  geringe  Volksdichtigkeit  von  weniger 
als  40  zeigt  sich  nur  in  5  Departements,  nämlich  in  zwei  Alpendepartemeuts, 
in  dem  gebirgigen  Lozere,  in  Corsica  und  in  der  öden  Heidelandschaft  der 
Landes.  Bedeutend  über  den  Durchschnitt  erheben  sich  mit  80—99  pro  Quadrat- 
kilometer 7  Departements  und  ganz  ausnehmend  stark  mit  100  und  darüber  9. 
Die  letzteren  erhalten  diese  starken  Ziffern  grösstentheils  durch  die  in  ihnen 
befindlichen  bedeutenden  Städte;  aber  auch  durch  Fruchtbarkeit  des  Bodens 
und  Mineralreich thum.  Diese  9  Departements  sind:  Bouches  du  Rhone  (mit  der 
Stadt  Marseille)  109;  Loire  (mit  der  Stadt  St.  Etienne  und  ihrer  industrie- 
reichen Umgebung)  124;  Nord  (mit  den  grossen  Industrieplätzen  Lille,  Roubaix 
und  Valenciennes)  267;  Pas-de-Calais  (mit  den  Städten  AiTas,  Calais,  Boulogne) 
120;  Haut  Rhin  (ganz  kleines  Departement  mit  der  Festung  Beifort)  112; 
Rhone  (mit  Lyon  und  dessen  industrieller  Umgebung)  253;  Seine  (mit  Paris) 
5035;  Seine  inferieure  (mit  Ronen)  132;  Seine-et-Oise  (mit  der  stark  bevöl- 
kerten Umgebung  von  Paris)  100.  Gruppirt  man  die  Departements  nach  geogra- 
phischer Lage,  so  zeigen  die  dichteste  Bevölkerung  die  .  nordöstlichen  Depar- 
tements; hierauf  folgen  die  iiord westlichen;  sodann  die  südöstlichen;  ferner  die 
südwestlichen  und  am  spärlichsten  bevölkert  sind  die  9  mittleren  Departements. 

IV.  In  Grossbritannien  (nach  dem  Census  von  1871). 

In  den  vereinigten  Königreichen  ergibt  sich  eine  Volksdichtigkeit  von 
100.  England  mit  Wales  allein  erreicht  150,  Schottland  nur  43,  Irland  64,  die 
Insel  Man  92,  die  Normannischen  Inseln  463.  Im  eigentlichen  England  wird 
der  Durchschnitt  von  150  nur  in  wenigen  Districten  überstiegen;  dann  aber 
auch  ganz  enorm.  Das  ist  namentlich  der  Fall  in  den  nordwestlichen  Industrie- 
bezirken. Hier  hat  die  Abtheilung  „North  Western"  eine  Volksdichtigkeit  von 
419;  „West  Midland^  170.  Der  Londoner  District  muss  natürlich  ganz  ausser 
Vergleichung  bleiben.  In  Schottland  sind  die  Dichtigkeitsunterschiede  ausser- 
ordentlich gross.  Bei  einem  Mittel  von  43  zeigt  der  Südwesten  (Glasgow  und 
Umgebung)  eine  Dichtigkeit  von  199;  der  Nordwesten  nur  9^  der   Norden    14. 


Verfolgung  der  Volksdichtigkeit  iuB  Einzelne.  113 

Etwas  gleichmässiger  ist  die  Bevölkerung  Irlands  vertheilt.    Auffallend   ist  die 
starke  Bevölkerung  der  Normannischen  Inseln. 

V.  In  Italien  (nach  Berechnung  für  1J878). 

Auch  hier  sind  die  Unterschiede  ziemlich  bedeutende.  Von  den  16  Landes- 
theilen  (Compartimenti)  bleiben  8  unter  dem  Durchschnitt  des  ganzen  Staates, 
welcher  95  beträgt,  einer  erreicht  gerade  den  Durchschnitt  (Sicilien);  und 
7  übersteigen  ihn.  Die  stärksten  Ziffern  haben  Ligurieu  166,  Gampanien  160, 
die  Lombardei  i55,  Venetien  120,  die  Emilia  107,  Piemont  105.  Die  spärlichste 
Dichtigkeit  zeigt  Sardinien  mit  28,  auf  dem  Festlande  die  Basilicata  mit  50. 
Geschichtliche  Ereignisse  und  Unterschiede  der  Volkssitte  dürften  auf  die  Volks- 
dichtigkeitsunterschiede  in  Italien  einen  grösseren  Einfluss  genommen  haben, 
als  die  Natur  der  Landestheile. 

VI.  In  Russland. 

Im  europäischen  Russland  mit  Polen,  jedoch  ohne  Finnland,  ergibt  sich 
eine  durchschnittliche  Dichtigkeit  von  14.  Sofern  die  grosse  Verschiedenheit  im 
Gebietsumfang  der  einzelnen  Gouvernements  eine  Vergleichung  gestattet,  ergibt 
dieselbe  Folgendes:  Von  den  60  Gouvernements  bleiben  12  unter  dem  Durch- 
schnitt des  ganzen  Reiches,  und  zwar  theils  die  nördlichsten,  wie  Archangel 
mit  0,4,  Olouez  mit  2,  Nowgorod  mit  8,  Wologda  mit  2,  theils  südliche  und 
südöstliche  wie  Astrachan  mit  3,  das  Gebiet  der  Donischen  Kosaken  mit  7, 
Taurien  mit  11;  ferner  die  östlichen:  Ufa  mit  11,  Perm  mit  7,  Orenburg  mit 
ä,  Szamara  mit  12;  aber  auch  eines  der  mittleren  und  westlichen,  nämlich 
Minsk  mit  13  (hier  befinden  sich  ungeheuere  Sumpflandschaften).  Die  stärkste 
Volksdichtigkeit  zeigen  die  polnischen  Gouvernements,  vor  allen  Warschau  64, 
Kaiisch  59,  Piotrkow  56,  Kielce  51,  Plock  43,  Radom  42,  Lublin  42,  Suwaiki 
42,  Lomza  41.  Von  den  eigentlich  russischen  Gouvernements  zeichnen  sich  nur 
aus:  Moskau  mit  57,  Podolien  mit  46,  Kiew  mit  43,  Poltawa  und  Kursk  mit  42. 

VII.  In  den  Vereinigten  Staaten  von  Nordamerika  (nach  dem 
Ceusus  von  1870). 

Hier  sind  die  Unterschiede  der  Volksdichtigkeit  ganz  ausserordentlich 
gross,  entsprechend  theils  der  ungemein  verschiedenen  Ausstattung  des  Bodens 
mit  Fruchtbarkeit,  Mineralschätzen  etc.,  theils  auch  der  im  Allgemeinen  erst  seit 
ganz  kurzer  Zeit  sich  vollziehenden  Culturentwickelung,  welche  sich  aus  man- 
uigfachen  Gründen  auf  einzelne  Staaten  früher,  auf  andere  später  geworfen 
hat.  Die  ansehnlichste  Volksdichtigkeit  weisen  die  am  atlantischen  Ocean  ge- 
legenen Staaten  auf,  und  zwar  namentlich  Massachusetts  mit  72,  Rhode  Island 
mit  64  und  Connecticut  mit  43,  New  Jersey  42,  New- York  36,  Pennsylvania 
29.  Aber  auch  unter  den  am  längsten  besiedelten  Neu-£nglandstaaten  sind 
einige  dünn  bevölkert  geblieben,  wie  Maine  mit  6.  Die  südlichen  Staaten,  ob- 
gleich ebenfalls  am  atlantischen  Ocean,  zeigen  weit  geringere  Ziffern;  so  Vir-« 
giuia  12,  Georgia  7,  beide  Carolina  8.  Noch  spärlicher  sind  die  Staaten 
am  Golf  bevölkert,  wo  Texas  nur  l,i  pro  Quadratkilometer  aufzuweisen  hat. 
Die  inneren  Staaten  zeigen  ganz  auffallende  Unterschiede.  Während  z.  B.  Ohio 
25  zählt,  hat  Nebraska  nur  0,6;  Colorado  0,i.  Die  3  pacifischen  Staaten  ergeben 
zusammen  eine  Dichtigkeit  von  nur  0,7;  die  extrem  spärlichste  Bevölkerung 
aber  haben  die  Territorien;  unter  ihnen  Arizona  0,08. 


Hatiskofer,  Statistik.  2.  Aufl.  8 


1^4  Yerftnderungen  der  YollrBKfthl. 


IL  Abschnitt.  Gang  der  Bevölkerung. 

I.  Capitel. 

Veränderimgen  der  VolkszaM. 


§.  69.  Uebenicht. 

Ein  völliges  Stillstehen  und  Gleichbleiben  der  absoluten  Volkszahl 
eines  bestimmten  Gebietes  wäre  wohl  denkbar,  kommt  aber  in  Wirk- 
lichkeit nicht  vor.  Einen  solchen  Zustand  bezeichnet  man  mit  dem  Aus- 
drucke stationär.  Er  ist  in  Wirklichkeit  deshalb  nicht  möglich,  weil 
die  Menschheit  erst  mit  der  Entwicklung  des  von  ihr  bewohnten  Planeten 
allmälig  entstehen  und  sich  vermehren  konnte  und  weil  die  Natur,  welcher 
der  Mensch  entwachsen  ist  und  die  ihn  stets  beeinflusst,  selber  niemals 
stille  steht. 

Wie  der  einzelne  Mensch,  so  ist  auch  die  Bevölkerung  eines  Ge- 
bietes nicht  nur  ein  Seiendes,  sondern  auch  ein  Werdendes.  Die  absolute 
Volkszahl  erleidet  Veränderungen  und  diese  Veränderungen  nennt  man 
den  Gang  oder  clie  Bewegung  der  Bevölkerung. 

Den  Gang  der  Bevölkerung  zu  kennen,  ist  von  grösster  Wichtigkeit 
für  die  Beurtheilung  der  Volkszustände.  Man  bemerkt  dabei: 

I.  Den  Erfolg  der  Veränderungen.  Dieser  ist  entweder: 

A.  Eine  Vermehrung  oder 

B.  Eine  Verminderung  der  Bevölkening. 

II.  Die  Schnelligkeit  der  Veränderungen.  Zunahme  und  Ab- 
nahme finden  entweder  mit  geringerer  oder  mit  grösserer  Schnelligkeit 
statt.  Von  besonderer  Wichtigkeit  und  besonderer  Behandlung  werth 
schien  früher  die  Frage,  wie  lange  eine  Bevölkerung  braucht,  um  sich 
zu  verdoppeln. 

in.  Die  Regelmässigkeit  der  Veränderungen,  die  grössere  oder 
geringere  Gleichförmigkeit  in  ihnen.  Dieselben  Ursachen,  welche  keine 
Bevölkerung  stationär  bleiben  lassen,  gestatten  auch  keiner  eine  völlig 
gleichförmige  Bewegung,  und  es  sind  daher  nur  folgende  Formen  zu 
unterscheiden : 

A.  Ungleichförmig  beschleunigte  Zunahme. 

B.  Ungleichförmig  verzögerte  Zunahme. 

C.  Ungleichförmig  verzögerte  Abnahme. 
P.  Ungleichförmig  beschleunigte  Abnahme. 


Verftuderun^en  der  Yolkszahlv  115 

Und  selbst  diese  Formen  sind  nur  relative;  sie  gelten  nur  für  den  Zeit- 
raum, der  eben  beobachtet  wird.  Ergibt  sich  also  z.  B.  bei  einer  Bevöl- 
kerung, deren  Gang  während  eines  Zeitraumes  von  50  Jahren  man  be- 
obachtet, als  Endresultat  eine  ungleichförmig  verzögerte  Zunahme,  so 
können  recht  wohl  in  den  einzelnen  Jahren  und  Jahrzehnten  dieser  Periode 
die  anderen  Formen  der  Bevölkerungsbewegung  geherrscht  haben. 
IV.  Die  Ursuchen  der  Veränderungen.  Sie  sind  entweder: 
A.  Innere,  nämlich  das  Verhältniss  der  Geburten  und  Todesfälle. 
Aber  hinter  den  Geburten  und  Todesfällen  stehen  wieder  andere  geheim- 
nissvolle  Ursachen,  deren  Erforschung  eine  der  wichtigsten  Aufgaben  der 
Statistik  bildet. 

Ueberwiegt  die  Zahl  der  Geburten,  so  tritt  eine  Bevölkerungsmeh- 
rung ein,  im  entgegengesetzten  Falle  eine  Minderung.  Mit  mehr  mathe- 
matischer Schärfe  ausgedrückt,  würde  dieser  Satz  lauten:  Eine  Vermeh- 
rung tritt  ein,  wenn  die  Intervalle  in  der  Geburtenfolge  kleiner  sind,  als 
in  der  Folge  der  Todesfälle;  im  entgegengesetzten  Falle  tritt  eine  Ver- 
minderung ein.  Bei  dieser  Ausdrucksweise  würde  man  nämlich  von  ein- 
zelnen Jahrgängen  abstrahiren  und  die  Geburten  und  Todesfälle  als  Das- 
jenige auffassen,  was  sie  wirklich  sind:  als  eine  stetige  Folge  von  Ereignissen. 

Der  innere  Zuwachs  einer  Bevölkerung  innerhalb  eines  bestimmten 
Zeitraumes  hat  seine  bestimmte,  ziemlich  enge  Grenze  in  der  physischen 
Menschennatur  und  in  der  Natur  der  civilisirten  Gesellschaft. 

Das  heisst:  durch  den  Ueberschuss  der  Zahl  der  Geburten  über  die 
Gestorbenen  kann  eine  Bevölkerung  in  einer  bestimmten  Zeit  nicht  über 
ein  gewisses  Bruchtheil  der  Volkszahl  zunehmen. 

Der  innere  Zuwachs  wird  nämlich  beschränkt: 

a)  Durch  das  bestimmte  Verhältniss  der  Anzahl  derjenigen  Frauen, 
welche  Mütter  werden  können,  zur  Gesammtzahl  der  Bevölkerung. 
Dieses  Verhältniss  ist  in  civilisirten  Staaten  ein  sehr  gleichmässiges 
und  wird  durch  ein  Naturgesetz  bestimmt. 

b)  Durch  die  Zeit,  welche  zwischen  zwei  Geburten  bei  einer  Frau  ver- 
fliessen  muss. 

c)  Durch  das  Mass  der  nothwendigen  Sterblichkeit. 

d)  Durch  bestimmte,  in  der  Civilisation  liegende  Beschränkungen  des 
blos  natürlichen  Menschen,  und 

e)  in  sehr  geringem  Grade  auch  durch  das  Verhältniss  der  Zwillings- 
und Mehrgeburten  zur  Zahl  der  Einzel ngeburten. 

Nach  diesen  Bedingungen  erscheint  ein^  innere  Vermehrung  der 
Bevölkerung  um  drei  Procent  der  Volkszahl  jährlich  als  das  Höchste, 
was  in  civilisirten  Staaten  an  Volksvermehrung  möglich  ist. 


116  Vennehrung  and  Yerminderung. 

Selbst  in  Nordamerika,  wo  die  Volkezahl  doch  am  schnellsten  ge- 
wachsen, betrug  der  innere  Zuwachs  derselben  in  der  günstigsten  Zeit, 
unmittelbar  nach  dem  Freiheitskriege,  nicht  ganz  3^  im  Jahre. 

B.  Aeussere  Ursachen,  nämlich  Ein-  und  Auswanderungen. 
(Ausführliches  hierüber  siehe  Cap.  IV.) 

§.  70.  Vermehrung  und  Verminderung. 

Die  sämmtlichen  civilisirten  Völker  der  Gegenwart  zeigen,  wenn 
man  die  Völker  im  Ganzen  betrachtet,  eine  Vermehrung  der  Bevölkerung. 
Als  einzige,  ganz  auffallende  Erscheinung,  die  mit  wortloser  aber  furchtbar 
ernster  Sprache  Zeugniss  gibt  von  der  Lage  des  Volkes,  zeigt  sich  in  den 
Jahren  1841 — 1851  in  Irland  eine  durchschnittliche  jährliche  Abnahme 
der  Bevölkerung  von  2,2«^.  Dieses  Abnehmen  währte  auch  später  noch 
fort,  wenn  auch  in  geringerem  Grade.  In  der  Zeit  von  1861 — 1877  be- 
trug die  Abnahme  nur  mehr  O^sx^  jährlich. 

Wenn  sich  dagegen  in  kleineren  Theilen  grösserer  Staaten  eine  Ab- 
nahme der  Bevölkerung  ergibt,  so  ist  dies  weniger  bedenklich.  Unter  den 
deutschen  Staaten  hat  eine  Abnahme  in  Elsass-Lothringen  stattgefunden, 
wo  sie  von  1871 — 1875  2,9^  betrug.  Sie  erklärt  sich  leicht  aus  der 
gewaltigen  politischen  Verändeiiing  dieses  Landestheil  es  und  darf  zuver- 
sichtlich als  eine  vorübergehende  Erscheinung  angesehen  werden.  Zwei 
andere  kleine  Staaten  des  Reiches  zeigen  ebenfalls  von  1871 — 1875  eine 
Abnahme,  nämlich  Mecklenburg-Strelitz  um  3,4^,  Waldeck  gar  um  6,7. 
Die  Bevölkerung  beider  Staaten  ist  jedoch  an  sich  zu  gering,  als  dass 
diese  Abnahme  gegenüber  dem  gewaltigen  Bevölkerungszuwachs  des  ganzen 
Reichs  Bedenken  erregen  könnte.  Weit  bedenklicher  muss  es  fär  die  Sta- 
tistik Frankreichs  erscheinen,  dass  daselbst  im  Jahre  1872  unter  87 
Departements  nur  noch  14  aufgeführt  wurden,  welche  eine  Bevölkerungs- 
vermehrung seit  1866  aufzuweisen  hatten  (vgl.  M.  Block:  Statistique  de 
France,  pag.  37,  I),  während  alle  übrigen  eine  Vermindening  zeigten. 

Bei  uncivilisirten  Völkerschaften  und  Stämmen  der  Erde  finden  sich 
die  düstersten  Beispiele  von  Volksverminderung  bis  zum  völligen  Ver- 
schwinden. Und  dieses  Verschwinden  vollzieht  sich  so  rasch,  dass  die 
ziffeiTimässige  Darstellung  nicht  folgen  kann. 

So  sind  seit  der  Einwanderung  der  Europäer  in  Nordamerika  die 
mächtigsten  eingeborenen  Indianerstämme  ausgestorben  oder  auf  kümmer- 
liche Reste  hingeschwunden.  In  dem  grossen  Becken  des  Mississippi,  von 
den  canadischen  Seen  bis  zum  mexikanischen  Golf,  hat,  wie  alte  Bau- 
denkmäler erweisen,  voreinst'  eine  dichte  Ackerbaubevölkerung  gewohnt, 
die  völlig  verschwunden  ist.  Die  Bevölkerung  einzelner  Südseeinseln 
schwindet  in  erschreckendem  Maasse.  So  sank  die  Bevölkerung  der  Ladronen 


Schnelligkeit  der  Bevölkerungsbewegung;   Verdoppelung. 


117 


oder   Marianen   in  der  Südsee  binnen   10  Jahren  von  10.000  auf  6000 
Seelen  herab.  (Stein  und  Hörschelmann,  Australien.) 

Innerhalb  solcher  Bevölkerungen,  welche  aus  verschiedenen^  Racen 
zusammengesetzt  sind,  lassen  sich  häufig  Beobachtungen  über  die  Abnahme 
einer  Race  anstellen;  Während  in  Nordamerika  die  Indianer  aussterben, 
vermindern  sich  in  einzelnen  Theilen  von  Süd-  und  Gentralamerika  die 
weissen  Bevölkerungen.  So  in  Neugranada,  in  der  Republik  San  Salvador. 
(Andree:  Geogr.  d.  Welthandels,  11.  Bd.  S.  632,  660.) 

§.  71.  Schnelligkeit  der  Bevölkenmgsbewegung;  Verdoppelung. 

Je  rapider  die  Aenderungen  in  der  Zahl  einer  Bevölkerung  vor  sich 
gehen,  um  so  gewaltiger  müssen  ihre  Ursachen  sein.  Die  schnellste  Be- 
völkerungsbewegung zeigt  sich  immer  da,  wo  plötzlich  nicht  nur  verschie- 
dene Völker,  sondern  auch  grundverschiedene  Systeme  wirthschaftlichen 
Lebens  aufeinander  platzen.  So  namentlich  in  neugegründeten  Colonien; 
auch  in  anderen  uncultivirten  Ländern,  welche  plötzlich,  ohne  gerade 
Colonien  zu  werden,  mit  allen  Vorzögen  und  Fehlem  der  Civilisation  in 
Verbindung  gebracht  werden.  Daher  die  schauerliche  Schnelligkeit  in  der 
Bevölkerungsminderung  einiger  Südseeinseln  gegenüber  dem  riesenhaften 
Zuwachs,  der  z.  B.  in  der  Colonie  Neuseeland  die  dortige  Bevölkerung 
(ausschliesslich  der  Eingeborenen)  in  der  Zeit  von  1851 — 64  von  28.865 
auf  171.931  steigerte. 

Eine  Bevölkerung,  welche  fortwährend  anwächst,  muss  in  bestimmter 
Zeit  sich  verdoppeln.  Wenn  man  den  jährlichen  Durchschnittszuwachs 
kennt,  ist  die  Berechnung  der  Verdoppelungsperiode  nicht  schwierig.  So 
hat  man  Tabellen  über  die  Verdoppelungsperioden  berechnet.  Nach  einer 
solchen  Tabelle  tritt  die  Verdoppelung  in  folgenden  Zeiträumen  ein: 


Bei  einer  jährlichen 
Zunahme  Ton: 


Bei  jährlicher  Zunahme 
in  %  ausgedrückt: 


Verdoppelungszeit 
in  Jahren: 


500 

250 

100 

50 

30 

25 


0,2 
0,4 

1 
2 

3,333 

4 


346,92 

173,63 
69,66 

35 

21,14 
17,67 


Man  hat  früher  die  Verdoppelungsperiode  sehr  lang  genommen. 
Graunt  und  King  berechneten  sie  für  England  auf  280,  resp.  600  Jahre. 
Petty  nahm  als  allgemeine  Verdoppelungsperiode  360,  Süssmilch  100 
Jahre.  Letzterer  sah  schon  ein,  dass  es  unmöglich  sei,  die  Geschwindigkeit 
des  Wachsthums  und  der  Verdoppelung  so  zu  bestimmen,  dass  alle  Hin- 


118 


Bescbleanigte  und  verzögerte  Bewegung. 


dernisse  der  Vermehrung,  namentlich  Krieg  und  Pest  berücksichtigt 
würden. 

Bekannt  ist  die  Behauptung  von  Malthus,  dass  eine  in  ihrer  Ver- 
mehrung ungehemmte  Bevölkerung  sich  in   25  Jahren  verdoppeln  könne. 

Alle  derartigen  Berechnungen,  selbst  die  sorgfältigsten  *),  sind  nur 
aufgestellt  für  den  Fall,  dass  das  Zunahmeverhältniss  das  gleiche  bleibt. 
Da  dieser  Fall  in  Wirklichkeit  kaum  jemals  eintreten  wird,  bleibt  die 
Berechnung  blos  als  theoretisches  Beispiel  giltig.  Die  Bevölkerungen  nehmen 
nicht  so  zu  wie  die  Capitalien,  mit  Zins  und  Zinseszins,  sondern  folgen 
in  ihrer  Bewegung  den  mannigfaltigsten  Einflüssen.  Es  braucht  keine 
socialen  Stürme,  Kriege,  Seuchen,  Hungerjahre,  um  diese  Bewegung  in 
ihrer  Regelmässigkeit  zu  stören;  sie  lässt  sich  schon  durch  den  leisesten 
unspürbaren  Hauch  ablenken. 

Die  Schnelligkeit  in  der  Vermehrung  der  nordamerikanischen  Be- 
völkerung verdient  besondere  Beachtung.  Diese  Bevölkerung  hat  sich  in 
den  Jahren  1790—1840,  also  in  der  Zeit  des  Aufschwunges  nach  den 
Freiheitskriegen  vervierfacht.  Einwanderung  trug  allerdings  viel  dazu 
bei.  Wenn  aber  Amerikaner  aus  dieser  Volksvermehrung  mit  Sicherheit 
schliessen  wollen,  dass  die  Republik  in  100  Jahren  300  Millionen  Seelen 
haben  werde,  ist  dies  nur  eine  höchst  willkürliche  Vermuthung. 

Anmerkung. 
*)  So  uaineutlich  die  Berechnungen  von  Wappäus.  Derselbe  bestimmt  die 
Verdoppeluugszeiten  für  einige  Staaten  folgendermasseu : 


F  ü  r: 


Grundlage  der  Berechnung  ist 
der  jährliche  Zuwachs 


in  den  Jahren 


Verdoppelmigs- 

zeit 
(ungeßlhre) 


Norwegen  .  .  .  . 
Dänemark  .  .  .  . 
Schweden    .    .    .    . 

Sachsen 

Niederlande  .  .  . 
Sardinien  .  .  .  . 
Preussen  .  .  .  . 
Belgien  .  .  .  .  . 
Grossbritannien  .  , 
Oesterreich  .  .  . 
Frankreich  .  .  , 
Provinz  Hannover 


1845-55 
1845-55 
1850-55 
1852—55 
1840-49 
1838—48 
1852-55 
1846—56 
1841—51 
1842-50 
1851-56 
1852-55 


1,15  % 

0,89  „ 

0,88  „ 

0,84  „ 

0,67  „ 

0,68  „ 

0,53  „ 

0,44  „ 

0,23  „ 

0,18  „ 

0,14  „ 

0,022  „ 


61  Jahre 

71       . 


79 
83 
103 
119 
131 
158 
302 
385 
405 
3152 


§.  72.  Beschleunigte  und  verzögerte  Bewegung. 

Die  Beobachtung  der  Bevölkerungsbewegung  zeigt,    dass  beschleu- 
nigte   und   verzögerte    Bewegungen  in    Wirklichkeit  vielfach  abwechseln. 


Beschleunigte  und  verzögerte  Bewegung.  119 

Im  Grossen  und  Ganzen  weisen  die  Bevölkerungen  der  civilisirten 
Staaten  mit  zunehmender  Dichtigkeit  eine  stets  verzögeite  Zunahme  auf. 
Sie  wachsen  also  stets  an,  doch  immer  um  ein  kleineres  Stück.  Yerglei- 
chungen  der  Staaten  in  dieser  Hinsicht  sind  schwierig,  theils  wegen  des 
Mangels  an  brauchbarem  Material  aus  früheren  Jahrzehnten,  theils  wegen 
der  durch  Gebietsveränderungen  herbeigeführten  Veränderungen  in  der 
Volkszahl  der  Staaten.  Versucht  man  trotz  dieser  Schwierigkeiten  eine 
Zusammenstellung  der  wichtigsten  Staaten,  so  ergibt  sich  Folgendes: 

I.  Bezüglich  des  deutschen  Reichsgebietes  (in  seinem  heutigen 
Umfange)  liegen  oflficielle  Berechnungen  vor.  Nach  denselben  hatte  die 
Bevölkerung  des  jetzigen  Reichsgebietes  Ende  1816  24,831.396  betragen. 
Sie  stieg  bis  Ende  1820,  also  in  der  Zeit  des  Friedens  nach  den  Frei- 
heitskriegen um  1,43 Jl^  per  Jahr;  in  jedem  folgenden  Jahrfünft  betrug 
die  durchschnittliche  Zunahme:  bis  1825  jährl.  1,3«^,  bis  1830  jährl. 
0,»8,  bis  1835  jährl.  0,9»,  bis  1840  wieder  jährl.  I,i6,  bis  1845  nxTv 
0,9«.  Von  da  bis  1850  nur  0,5-;  in  dieses  Lustrum  fallt  das  Theuerungs- 
jahr  1847  und  das  Revolutionsjahr  1848.  Das  nächste  Lustrum,  bis  1855, 
zeigt  noch  geringere  Zunahme,  nämlich  nur  0,4o;  in  diesen  Zeitraum 
fallen  3  Jahre  besonders  starker  Auswanderung.  Bis  1860  wieder  jährl. 
Zunahme  von  0,8»  Ji^  ;  dann  bis  1865  von  0,9».  Von  1865 — 70  wieder 
nur  0,58  ji^  jährl.  Zunahme  bei  hochgesteigerter  Auswanderung.  Von  1870 
bis  1875  endlich  wieder  0^9'i^  jährl.  Zunahme.  Diese  ZiiFem  zeigen  hin- 
reichend, wie  unregelmässig  der  Gang  einer  an  sich  bedeutenden  Bevöl- 
kerung sein  kann;  sie  weisen  auch  stellenweise  gan?  deutlich  auf  die 
betreffenden  Ursachen  hin '). 

U.  In  Oesterreich-Ungarn  ergibt  sich  für  die  österreichischen 
Länder  in  den  Jahren  1830 — 60  ein  Zuwachs  von  0,6»  Ji^;  von  1860—78 
rascher,  nämlich  0,8e  Jl^.  In  den  ungarischen  Ländern  von  1830—60  0,2*  ^; 
von  da  bis  1877  aber  0,55  J^.  (S.  Anm.  *). 

in.  In  Grossbritannien  mit  Irland  betrug  der  jährliche  Zuwachs 
von  1821—1831  durschschnittlich  1,m)J|^,  von  1831—1841  noch  1,07«^, 
von  1841—1851  nur  0,23^.  Im  Ganzen  von  1801—01  0,99^,  von  1861 
bis  1878  0,92  J^.  (Vgl.  Anm.  »). 

IV.  In  Frankreich  war  die  Vermehrung  der  Bevölkerung  seit  lange 
eine  ungleichförmig  verzögerte.  Sie  betrug  dort  von  1801—1821  einen 
Zuwachs  von  jährlich  0,54  J|^,  von  1821 — 1831  0,6*!  Jl^  (also  in  dieser 
Periode  beschleunigt),  von  1831—1841  0,5oJ^,  von  1841-1851  0,m^ 
und  von  1851—1856  0,i4j^.  Im  Ganzen  von  1800-:-1860  noch  0,48^, 
von  1860 — 1876  nur  0,23  Jl^  Zunahme.  Frankreich  ist  unter  den  civili- 
sirten Staaten  derjenige,  welcher  am  nächsten  vor  einer  wirklichen  Ab- 
nahme der  Bevölkerung  steht*). 


120 


Beschleunigte  und  Tendgerte  Bewegung. 


V.  Italien  weist  von  1800 — 1861  eine  Zunahme  von  0,«i9^,  von 
1861—1878  eine  solche  von  0,7iJ^  auf*). 

VI.  Unter  den  übrigen  Staaten  Europa's  zeigen  die  meisten 
eine  ziemlich  gleichförmige,  wenn  auch  geringe  Zunahme.  Besonders  be- 
schleunigte Zunahme  findet  sich  in  Portugal.  Hier  hatte  die  Zunahme 
von  1801—61  nur  0^9^  betragen,  von  1861—74  dagegen  l,t:.  (Vgl. 
die  Anm.  *)  und  •). 

Aiimerkuagen. 

*)  Die  Ziffern  finden  sich  berechnet  im  staust.  Jahrbuch  für  das  Deutsche 
Reich,  herausgeg.  vonj.  kaiserl.  stat.  Amt.  Jahrg.  1880,  S.  5. 

*)  Nach  den  Publicationen  des  Italienischen  stat.  Bur.  ^Morimeuto  dello 
staUy  cirile,  anni  1862—78."  Rom  1880. 

')  Desgl.,  theils  auch  nach  Wappäus  Bevölkerungsstatistik. 

^)  Die  Ziffern  theils  nach  Wappäus,  theils  nach  der  erwähnten  italieni- 
schen Publication. 

*)  Nach  letztgenannter  Publication. 

•)  Die  Vermehrung  der  Bevölkerung  in  den  europäischen  Staaten  seit 
Anfang  des  Jahrhunderts,  in  Procenten  ausgedrückt,  stellt  sich  wie  folgt  (nach 
dem  oben  wiederholt  erwähnten  Heft  der  amtl.  italien.  Statistik): 


Staaten 


Zeitraum 


% 


Staaten 


Zeitraum 


Italien 


Grossbritannien  u. 
Irland   .... 

n 
Irland  allein    .   . 

Dänemark 

11 
Schweden 

n 
Norwegen 

r> 
Europ.  Russland 

Polen  insbesondere 

r> 
Serbien     .    . 

n  '    • 

Griechenland 

n 
Portugal  .  . 


1800-61 
1861—78 

1801—61 
1861-78 
1801—61 
1861—78 
1801-60 
1860—78 
1800—60 
1860-78 
1800—60 
i860-78 
1851-63 
1863-75 
1823-58 
1858—77 
1834—59 
1859—78 
1821—61 
1861—77 
1801—61 
1861-74 


0,61 
0,71 

0,99 
0,92 
0,17 
-0,46 
0,93 

1,11 
0,82 
1,15 
0,99 
0,86 
1,20 
1,11 
0,72 
1,95 
1,92 
1,19 
1,22 
0,97 
0,39 
1,17 


Oesterreich.  Länder 

r> 
Ungarische  Länder 

7) 

Schweiz 

Preussen  (ohne  Zu- 
wachs V.  i  866)  . 

Bayern 

r>  

Sachsen  

n         ..... 
Württemberg    .    . 

Niederlande  .    .    . 

Belgien 

Frankreich     .    .    . 

Spanien 

r>         


1830—60 
1860—78 
1830—60 
1860—77 
1837—60 
1860-78 

1820—61 
1861-75 
1818—61 
1861—78 
1820—61 
i861-78 
1834—61 
1861—78 
1795    bis 

1859 
1859—77 
1831-60 
1860—78 
1800—60 
1860—77 
1800—60 
1860—77 


0,64 
0,86 
0,27 
0,65 
0,59 
0,60 

1,21 
0,98 
0,55 
0,64 
1,41 
1,56 
0,34 
0,76 

0,71 
0,96 
0,76 
0,82 
0,48 
0,23 
0,66 
0,S5 


Holte  der  OebtutenäfFer.  121 


II.  Capitel. 
Das  Werden  der  Bevölkerung. 


§.  73.  XTebersicht. 

Das  Werden  der  Bevölkerung  hat  seinen  Grund  in  der  Zahl  und 
den  Arten  der  Geburten.  Die  Geburten,  als  eine  Masse  von  Erschei- 
nungen, deren  Abhängigkeit  von  stetigen  und  wechselnden  Ursachen  schon 
der  unmethodischen  Beobachtung  aufiallt,  bilden  einen  Hauptgegenstand 
der  statistischen  Beobachtung.  Zwar  die  absolute  Zahl  der  jährlichen 
Geburten  eines  bestimmten  Gebietes  ist  nur  von  geringer  Bedeutung.  Hoch- 
wichtig aber  wird  diese  Zahl,  verglichen  mit  anderen  Erscheinungen. 

Vergleicht  man  die  Zahl  der  Geburten  oder  richtiger  die  Dichtigkeit 
der  Geburtenfolge  eines  bestimmten  Zeitraumes  und  Gebietes  mit  der  Zahl 
der  gleichzeitigen  Todesfälle  (besser  Dichtigkeit  der  Absterbensfolge),  so 
erhält  man  als  Resultat  die  innere  Bewegung  der  Bevölkerung. 

Vergleicht  man  die  Zahl  der  Geburten  eines  Zeitraumes  mit  jener 
anderer  gleich  grosser  Zeiträume,  so  findet  man  eine  Regelmässigkeit, 
welche  uns  nicht  ^überrascht,  weil  wir  gewohnt  sind,  sie  als  eine  vom 
freien  Willen  des  Menschen  nur  wenig  beeinflusste  Naturerscheinung  an- 
zusehen. Aber  es  ist  an  den  Gründen  dieser  Erscheinung  zu  untersuchen, 
was  der  Natur,  was  dem  Menschen  angehört. 

Vergleicht  man  die  Zahl  der  Geburten  mit  der  Zahl  der  im  ent- 
sprechenden Zeiträume  Lebenden,  so  erhält  man  eine  sehr  beachtenswerthe 
Ziffer,  welche  die  Fruchtbarkeit  der  Bevölkerung  ausdrückt;  und  ver- 
gleicht man  insbesondere  die  Zahl  der  ehelichen  Geburten  mit  jener  der 
jährlichen  Trauungen  oder  der  bestehenden  Ehen,  so  erhält  man  die 
Fruchtbarkeit  der  Ehen  als  Resultat. 

Die  Zahl  der  Geburten  gegenüber  der  Gesammtbevölkerung  diiickt 
an  sich  noch  keinen  günstigen  Zustand  aus.  Sie  darf  nicht  allein,  ohne 
Berücksichtigung  der  gleichzeitigen  Sterblichkeit  beobachtet  werden. 

Diese  Zahl  ist  nur  die  Summe  der  ehelichen  und  der  unehelichen 
Fruchtbarkeit  und  also  die  Summe  zweier  Grössen,  welche  sehr  verschie- 
dene Zustände  wirthschaftlichen  und  sittlichen  Glückes  ausdrücken. 

§.  74.  Höhe  der  Geburtenziffer. 

Die  Geburtenziffer  ist  die  Proportion  der  Zahl  der  Geburten 
eines  Jahres  gegenüber  der  ganzen  Volkszahl.  Sie  wurde  früher  häufig 
so  ausgedrückt,    dass  man   angab,  auf  wie  viele  Einwohner  jährlich  eine 


122  Höhe  d«r  Gebarieuidff«r. 

Geburt  traf.  In  neuerer  Zeit  jedoch  drückt  man  sie  ebenso  wie  die  Sterb- 
lichkeitsziffer etc.  durch  Procenträtze  oder  Promillesätze  aus. 

Zur  Feststellung  dieses  Verhältnisses  war  demnach  eine  doppelte 
Grundlage  erforderlich.  Man  musste  die  Zahl  der  Lebenden  durch  Volks- 
zählungen, die  Zahl  der  Greburten  des  Jahres  durch  genaue  Geburtslisten 
kennen. 

Hier  stösst  man  jedoch  auf  eine  beachtenswerthe  Schwierigkeit.  Bei 
der  Aufsuchung  der  Geburtenziffer  lag  es  am  nächsten,  schlechtweg  die 
im  Beobachtungsjahre  oder  in  einem  früheren  Jahre  durch  Volkszählungen 
gefundene  Zahl  der  lebenden  Bevölkerung  durch  die  Zahl  der  jährlichen 
Geburten  zu  dividiren.  Dies  ist  ein  grober  Fehler.  Denn  da  sich  die 
Volkszahl  fortwährend  ändert,  darf  man  nicht  willkürlich  die  Geburten- 
zahl eines  Jahres  mit  derjenigen  Volkszahl  vergleichen,  die  sich  in  diesem 
oder  jenem  beliebigen  Zeitpunkte  des  Beobachtungsjahres  oder  eines 
früheren  Jahres  ergeben  hat.  Diese  Ueberzeugung  musste  die  Statistiker 
veranlassen,  als  Dividend  diejenige  Volkszahl  zu  nehmen,  welche  sich 
etwa  um  die  Mitte  des  Jahres  ergab,  aus  welchem  man  die*  Geburten 
als  Divisor  genommen  hatte.  Aber  hiedurch  wird  der  Fehler  blos  etwas 
abgeschwächt,  keineswegs  gänzlich  beseitigt.  Es  geht  nicht  an,  eine  That- 
sache  als  feststehend  anzunehmen,  die  sich  fortwährend  ändert. 

Man  darf  also  weder  die  Bevölkerung  sich  als  etwas  auch  nur  ein 
Jahr  lang  Gleichbleibendes  vorstellen,  noch  darf  man  sich  zu  der  will- 
kürlichen Vorstellung  verleiten  lassen,  als  seien  alle  Geburten,  die  wäh- 
rend eines  Zeitabschnittes  stattfinden,  in  einem  einzigen  Punkt  dieses 
Zeitabschnittes  zusammengedrängt.  Könnte  man  für  jede  Stunde  oder 
wenigstens  für  jeden  Tag  des  Jahres  die  wirkliche  Volkszahl  ermitteln 
und  aus  den  einzelnen  Daten  die  Durchschnittssumme  der  im  ganzen 
Jahre  lebenden  Bevölkerung  ziehen,  so  wäre  dieses  Durchschnittsergebniss 
die  Grösse,  mit  welcher  die  Geburtenzahl  des  Jahres  etwa  verglichen 
werden  dürfte. 

Wenn  nun  trotz  der  Fehlerhaftigkeit  der  obenerwähnten  Berech- 
nungsweise hier  mit  so  berechneten  Zahlen  operirt  wird,  so  geschieht  dies 
nur  deshalb,  weil  richtigere  Zahlen  eben  nicht  zur  Verfügung  sind. 

Die  Geburtenziffer  allein  kann  den  Gang  der  Bevölkerung  nicht 
bestimmen.  Sie  kann  dies  nur  im  Zusammenhange  mit  der  Zahl  der  Todes- 
fälle. Wenn  z.  B.  bei  einer  Bevölkerung  von  3  Millionen  jährlich  100000 
Geburten  stattfänden,  bei  einer  anderen  gleich  grossen  Bevölkerung  blos 
50000,  so  ergibt  sich  daraus  noch  nicht,  ob  die  eine  oder  die  andere 
dieser  Bevölkerung  zunimmt.  Denn  es  könnte  die  erste  auch  100000  und 
die  zweite  blos  50000  Todesfälle  haben. 


Höhe  der  GebartenzifFer. 


123 


In  Europa  stellte  sicli  diese  Ziffer  in  den  letzten  Jahrzehnten  so, 
dass  durchschnittlich  auf  1000  Einwohner  etwa  30  Geburten  treffen.  Diese 
Ziffer  schwankt  jedoch  in  den  verschiedenen  Staaten  und  auch  innerhalb 
eines  und  desselben  Staates.  Als  ihre  äussersten  Grenzen  findet  man  25,5 
Promille  und  49,5  Promille  in  ganzen  Staaten;  in  kleineren  Räumen  sind 
die  Unterschiede  noch  grösser.  Einzelne  Provinzen  europäischer  Staaten 
zeigen  nämlich  Geburtenziffern  bis  zu  62,5  Promille,  (d.  i.  auf  16  Ein- 
wohner eine  Geburt);  andere  nur  bis  zu  18,5  Promille  (auf  54  Einwohner 
eine  Geburt). 

Anmerkung. 
Die  Geburtenziffer  in  den  europäischen  Staaten,  ausschliesslich  der  Todt- 


geboreneu  betragt    (nach  der  amtl. 
anni  1862—78"  Rom  1880): 


Publication    „Movimento  dello  stato  civile, 


Länder 


Durch- 
schnitt der 
Jahre 


Länder 


Durch- 
schnitt der 
Jahre 


©    SS  o 


Italien  .  .  . 
Frankreich  . 
England  m.  Wales 
Schottland  . 
Irland  .  .  . 
Deutsches  Reich 
Preussen  .  . 
Bayern  .  . 
Sachsen  .  . 
Thüring.  Staaten 
Württemberg 
Baden  .  .  . 
Oesterreich  (westl 

Reichshälfbe) 
Ungarn     .   .    . 


1865—78 
1865—77 
1865-78 


1872-78 

1865—78 

« 

n 
n 

1866^-78 

1865—78 
1865—77 


3,70 
S,58 
3,56 
3,52 
2,67 
3,98 
3,87 
3,94 
4,17 
3,66 
4,34 
3,79 

3,88 
4,18 


Croatien  und  Sla- 

Tonien     . 
Schweiz  .    . 
Belgien  .    . 
Niederlande 
Schweden  .. 
Norwegen  . 
Dänemark 
rinnland    . 
Spanien  •    . 
Griechenland 
Rumänien  . 
Serbien  .    . 
Europ.  Russland 
Russisch  Polen 


1870—78 

1865—78 
1865-77 
1865—78 


1865-70 
1865—77 

1870—77 
1865-78 
1867—75 
1865—77 


4,41 
3,08 
3,21 
3,56 
3,04 
3,06 

3,10 

3,47 

3,67 
2,88 
3,04 
4,30 
4,96 
4,23 


In  Städten  Europa's  (und  Nordamerika's)  stellt  sich  die  Geburtenziffer  wie 
folgt  (nach  Körosy:  Statistique  internationale  des  grandes  villes.  Budapest  1876). 
Auf  1000  Lebende  treffen  Geburten: 


Budapest (1875)  45,4 

Wien (1874)  38,4 

Prag (1869)  42,6 

Triest (1870)  39,8 

München (1871)  37,2 

Frankfurt  a.  M (1875)  30,9 

Leipzig (1866—75)  32,8 

Stuttgart (1871)  34,4 

Hamburg „      34,6 

Rom .      „      27,7 

Turin (1872)  26,9 


Palermo (1871)  31,9 

Venedig (1875)  29,5 

Mailand (1871)  29,5 

Philadelphia (1870)  25,5. 

Stockholm (1864—73)  33,4 

Christiania (1972)  35,3 

Kopenhagen (1870)  31,i 

Petersburg (1869)  28,i 

Moskau (1871)  33,3 

Odessa .   .(1873)  27,8 

Gent (1863)  32,9 


124  Eioflass  des  Ortes  and  Klimas. 


Lüttich (1866)  32,2 

Antwerpen ^  33,8 

Haag (1869)  34,5 

Rotterdam (1869)  38,4 

Berlin (1871)  33,3 

Dresden (1875)  37,5 


Köln (1875)  4«,8 

Breslau ^      41,2 

Neapel (1871)  35,i 

Paris (1869—75)  30,3 

London (1871)  34,5 


§.  75.  EinfluBs  des  Ortes  und  Klimas. 

So  nahe  auch  die  Anschauung  liegt,  dass  Grund  und  Boden  als 
Unterlage  der  Bevölkerung  auch  die  natürlichste  Einwirkung  auf  das 
Werden  der  Bevölkerung  hat  und  dass  ebenso  auch  das  Klima,  welches 
ja  dem  Boden  sein  äusseres  Gewand  verleiht,  seine  Einflüsse  hier  mit 
Macht  spielen  lässt:  so  haben  doch  die  Untersuchungen  über  diese  Ein- 
flüsse zu  keinen  Resultaten  geführt.  Und  zwar  einestheils  wegen  Unzuver- 
lässigkeit  der  Daten,  anderntheils  wegen  der  vielen  fremden  Umstände, 
welche  den  Gegenstand  verdunkeln.  Denn  neben  den  klimatischen  Ein- 
flüssen wirken  auch  noch  die  materiellen  und  sittlichen  Cultui-verhältnisse 
oft  sogar  vorherrschend. 

Vergleicht  man  die  Geburtenziffer  mehrerer  Bevölkerungen,  so  findet 
man  oft  zwischen  benachbarten  Ländern  mit  gleichem  Klima  eben  solche, 
wenn  nicht  grössere  Verschiedenheiten,  als  bei  den  entlegensten  Ländern 
mit  ganz  entgegengesetzten  klimatischen  Verhältnissen. 

Anmerkung. 
Dies  zeigt  beispielsweise  folgende  Zusammenstellung  Ton  Greburtenziffern 
aus  den  rerschiedensten  Theilen  der  Erde. 

Croatien  und  Slavonien (1877)  4,4i  % 

rinnlaud ^      3,80  „ 

Martinique      (1876)  3,32    „ 

St.  Pierre  und  Miquelou „      3,26   „ 

Französische  Colouien  in  Indien  ....  „       3,23   „ 

Tasmanien      (1877)  2,99   „ 

Insel  Reuuion (1876)  2,4i   « 

Französisch  Guyana „       1,36   „ 

Französische  Besitzungen  am  Senegal    .  „      0,47    ,, 

£s  ist  ganz  unmöglich,  zwischen  diesen  Geburtenziffern  und  der  geogra- 
»  phischen  Lage  der  Orte  eine  Beziehung  aufzufinden. 

Wappäus  (Beyölkerungsstatistik  I,  S.  155)  berichtet,  dass  auf  Martinique 
(1841—43)  bei  der  dortigen  weissen  Bevölkerung  eine  Geburtenziffer  von  1 :  39,16 
herrschte;  bei  den  freien  Farbigen  dagegen  (1840  —  43)  eine  solche  von 
1  :  25,96.  - 

Hieraus  ergibt  sich,  dass  Abstammung  und  Lebensweise  jedenfalls  einen 
so  grossen  Einfluss  auf  die  Geburtenziffer  nehmen,  dass  der  Einfluss  des  Ortes 
und  Klimas  dadurch  ganz  in  den  Hintergrund  gerückt  wird. 


Einflnes  der  Tolksdichtigküt.  125 

§.  76.  EinfluBs  des  Alten. 

Nach  Beobachtungen  auf  Grundlage  der  Geschlechtsregister  englischer 
Pairs  fand  man  *)  zuerst,  dass  unter  sonst  gleichen  Umstanden  die  Frucht- 
barkeit der  Ehen  im  Verhältniss  zu  dem  vorgerückten  Alter  der  Eheleute 
abnimmt.  Im  Allgemeinen  hat  man  freilich  diese  Beobachtung  längst  auch 
ohne  Statistik  gemacht;  letzterer  blieb  es  indessen  vorbehalten,  diesen 
Einfluss  des  Alters  zu  messen.  Man  hat  ferner  gefunden,  dass  die  Frucht- 
barkeit der  Ehen  ihren  höchsten  Werth  erreicht,  wenn  die  Eltern  gleich 
alt  sind  oder  wenn  der  Mann  1 — 6  Jahre  älter  ist  als  die  Frau. 

Das  weibliche  Geschlecht  allein  zeigte  eine  Zunahme  der  Frucht- 
barkeit von  12  bis  zu  27  Jahren.  Quetelet  fasste  die  bezüglich  der  Ein- 
wirkung des  Alters  auf  die  Geburtenhäufigkeit  geftindenen  Resultate  in 
folgendem  zusammen: 

Allzu  früh  geschlossene  Ehen  fordern  die  Unfruchtbarkeit.  Vom 
33.  Jahr  bei  Männern,  vom  26.  bei  Frauen  fängt  die  Fruchtbarkeit  ge- 
ringer zu  werden  an.  Zu  dieser  Frist  erreicht  sie  ihren  Höhepunkt.  Unter 
sonst  gleichen  Umständen  ist  sie  am  grössten,  wo  der  Mann  mindestens 
eben  so  alt  oder  um  wenig  älter  ist  als  die  Frau. 

Neuere  Untersuchungen  haben  zwar  gleichfalls  einen  Einfluss  des 
Alters  und  der  körperlichen  Beschaffenheit  der  Eltern  auf  die  Häufigkeit 
der  Geburten  gezeigt;  aber  eine  genaue  Messung  dieses  Einflusses  erfordert 
noch  breitere  ziffermässige  Grundlagen  *). 

Anmerkungen. 

')  Sadler,  nach  ihm  Quetelet. 

')  Eugel,  Bewegung  der  Bevölkerung  iu  Sachsen. 

§.  77.  Einfluss  der  VoUudiehtigkeit. 

Man  hat  behauptet,  die  Geburtenziffer  stehe  im  innigsten  Zusammen- 
hange mit  der  Volksdichtigkeit.  Diese  Annahme  gründet  sich  auf  die  Er- 
wägung, dass  mit  der  Zunahme  der  Volksdichtigkeit  eines  Landes  auch 
die  Schwierigkeit  des  Unterhaltes  einer  Familie  sich  steigert. 

Doch  ist  diese  Behauptung  noch  nicht  erwiesen;  noch  viel  weniger 
das  vermeintliche  Gesetz,  dass  die  Fruchtbarkeit  der  Bevölkerung  sich 
umgekehrt  wie  ihre  Dichtigkeit  verhalte.  Dies  zeigt  sich  sofort  bei  der 
Vergleichung  mehrerer  Länder  nach  Geburtenziffer  und  Volksdichtigkeit  *). 

Man  wird  daher  die  Geburtenziffer  mit  der  Volksdichtigkeit  nur  in- 
sofern in  Verbindung  bringen  können,  als  die  letztere  gleichsam  ein  Ge- 
sammtausdruck  für  alle  geographisch  verschiedenen  Verhältnisse  ist. 

Anmerkung.' 
*)  Man  vergleiche  folgende  Zusammenstellung: 


126  KnUuBs  der  Jahrgänge. 

j ..    ,  Volks-        Geburtenziffer    Rang  nach  der 

i^anaer  dichtigkeit      (1862-78)%       Geburtenziffer 

Belgien 186  3,2i  8 

Niederlande 128  3,66  7 

Italien      95  3,7o  5 

Deutsches  Reich 79  3,98  3 

Frankreich 70  2,98  12 

Oesterreich  (Westhälfte)  ...    67  3,88  4 

Ungarische  Länder 47  4,i8  2 

Spanien 33  3,57  6 

Griechenland      33  2,88  11 

Serbien 32  4,30  1 

Schweden 10  3,04  10 

Norwegen 6  3,06  9 

§.  78.  Einfluss  der  Jahrgänge. 

Der  entschiedene  Einfluss  der  Jahrgänge  auf  die  Geburtenziffer  ist 
durch  eine  Reihe  von  Untersuchungen  bewiesen  ^)  *).  Die  Fruchtbarkeit  der 
Ehen  eines  Landes  innerhalb  eines  Jahrhunderts  ändert  sich  nicht  auf- 
fallend, wenn  man  die  zufälligen  Einflüsse  einzelner  mehr  oder  weniger 
günstiger  Jahrgänge  dadurch  beseitigt,  dass  man  längere  Zeiträume  zur 
Vergleichung  wählt.  Seuchen,  Theuerungsjahre  üben  den  deutlichsten  Ein- 
fluss auf  die  Geburtenziffer  aus  *). 

Jede  Entbehrung  hält  die  Entwicklung  des  Menschengeschlechts  auf. 
Ihre  Einwirkung  auf  die  Bevölkeningsbewegung  ist  dabei  keine  momentane. 
So  machen  sich  namentlich  Theuerungsjahre  in  ihrer  Einwirkung  auf  die 
Geburtenziffer  regelmässig  erst  dann  fühlbar,  wenn  fast  ein  Jahr  seit  der 
Theuerung  verflossen  ist.  Oft  zeigen  sich  die  Folgen  noch  später.  Die 
Schwankungen  in  den  Lebensmittelpreisen  der  einzelnen  Jahrgänge  und  in 
der  Geburtenziffer  sind  nicht  von  gleicher  Lebhaftigkeit,  weil  die  physischen 
Verhältnisse  des  Menschen  nicht  so  beweglich  sind  wie  die  sachlichen,  und 
weil  neben  den  gerade  beobachteten  Einflüssen  noch  andere  wirksam  sind. 
Den  Einfluss  einer  Theuerung  beobachtend,  muss  man  stets  berücksichtigen, 
ob  wirklich  alle  Lebensmittel  theurer  geworden  sind  oder  nur  eine  Gat- 
tung. Oft  z.  B.  sind  die  Fleischpreise  den  Getreidepreisen  umgekehrt  pro- 
portional. 

In  einzelnen  Jahrgängen  machen  sich  auch  noch  andere  Einflüsse 
geltend,  als  diese  volkswirthschaftlichen. 

So  zeigte  z.  B.  Engel  für  Sachsen  im  Jahre  1849  trotz  mittlerer 
Getreidepreise  und  hoher  Fleischpreise  eine  ganz  auffallend  starke  Häufig- 
keit der  Geburten.  Hier  machte  sich  eben  neben  den  Lebensmittelpreisen 
ein  anderer  Einfluss  geltend.  Augenscheinlich  ist  es  die  freisinnige  politische 


Einflnss  der  JahresKeiten.  127 

Biewegnng  des  Jahres  1848,  welche  diese  GeburtenziflPer  bewirkte.  Ob  sie 
nachhaltig  war,  ist  eine  andere  Frage*). 

Anmerkungen. 
^)  Die  von  Süssmilch  sind  die  ältesten.  Vgl.  namentlich  die  Tabellen  zum 
I.  Bd.  der  „Göttlichen  Ordnung". 

*)  Quetelet  zeigte  dies  an  einer  Tabelle  über  die  Berölkerungsbewegung 
der  Niederlande  in  den  Jahren  1815—26.  Das  Jahr  1817,  als  der  Getreidepreis 
weit  über  das  Doppelte  des  Durchschnittes  dieser  Jahre  stieg,  hatte  eine  bedeu- 
tende Verminderung  der  Geburten  zu  Folge. 

*)  Den  gleichen  Beweis  liefert  y.  Hermann  für  die  Bewegung  der  Bevöl- 
kerung Bayerns.    Vgl.    Die   Bewegung'   der   Bevölkenmg  im  Königr.   Bayern. 
Herausgeg.  v.  K.  statist.  Bureau.  1863,   S.  88.    —    Vgl.  auch:    Statist.  Mitthei- 
lungen aus  dem  Königr.  Sachsen:  die  Bewegung  der  BeTölkerung.  18o2.  S.  24. 
*)  Die  merkwürdigsten  zeitlichen  Schwankungen  der  Geburtenziffer  zeigen 
junge  Colonien.  So  führt  Wappäus  eine  Geburtenziffer  an: 
in  Neu-Süd- Wales  (1841—42)  von  1  :  24,i 
„      „       „         „       (1849-54)     „     1:28,6 
„    Süd -Australien   (1840—42)     „     1  :  41,7 
„      „  „  (1854-55)     „     1:24,7 

Grösseres  oder  geringeres  Ueberwiegen  der  männlichen  über  die  weibliche  Ein- 
wanderung ist  die  leicht  erklärliche  Ursache.  (Wappäus,  Bevölkerungsstatistik 
L,  S.  155.) 

§.  79.  Einfluss  der  Jahreszeiten. 

Der  Umstand,  dass  bei  den  Thieren  die  Fortpflanzung  der  Art  perio- 
dischen Einflüssen  unterworfen  ist,  welche  mit  dem  Wechsel  der  Jahres- 
zeiten zusammenhängen,  legt  es  nahe,  solche  Einflüsse  auch  beim  Menschen 
zu  vermuthen;  obgleich  hier  von  vornherein  anzunehmen  war,  dass  die 
Civilisation,  namentlich  in  den  Städten  diese  Einflüsse  abschwächen  musste. 
Der  Wechsel  der  Jahreszeiten  beeinflusst  nicht  allein  den  Wechsel  der 
Temperatur  und  der  Witterung,  sondern  auch  andere  Umstände,  welche . 
geeignet  sind,  auf  die  Geburtenhäufigkeit  einzuwirken,  und  welche  anderer- 
seits mit  dem  gesellschaftlichen  Leben  des  Menschen  zusammenhängen. 

Um  den  Einfluss  der  Jahreszeiten  auf  die  Häufigkeit  der  Geburten 
zu  beobachten,  müsste  man  natürlich  nicht  die  Monate,  in  welchen  die 
Geburten  erfolgen,  ins  Auge  fassen,  sondern  diejenigen  Monate,  in  welchen 
die  den  Geburten  entsprechenden  Conceptionen  vorangingen.  Hiebei  musste 
sich  ein  Einfluss  derjenigen  Jahreszeiten  ergeben,  welche  man  als  Epochen 
der  Ruhe  und  Arbeitserholung  beobachtet,  und  jener,  welche  sich  durch 
reichliche  Nahrungsmittel  und  erhöhtes  gesellschaftliches  Leben  auszeichnen. 
Erniedrigend  auf  die  Häufigkeit  der  Geburten  (resp.  Conceptionen)  wirken 
die  Zeiten  der  beschwerlichen  Arbeit  (Erntezeit),  der  Lebensmitteltheuerung, 
die  strenge  Beobachtung  der  Fastenzeit.  (Untersuchungen  über  den  Einfluss 
der  letzteren  wären  besonders  in  jenen  Ländern,  deren  Bevölkenmg  der 


128 


Einfluss  der  Jahreszeiten. 


streng  tastenden  griechischen  Kirche  angehörte,  interessant.)  Die  Umstände, 
welche  den  Menschen  kräftigen,  erhöhen  seine  Fruchtbarkeit  und  umgekehrt. 

Anmerkung. 

Eingehende  Untersuchungen  über  diese  Erscheinung  finden  sich  bei 
Wappäus,  a.  a.  0.  S.  234  ff.,  wo  auch  die  werthvoUsten  älteren  Arbeiten  hier- 
über Yon  Wargeutin,  Villerme  und  Quetelet  ausführlich  erwähjit  sind.  Wappäus 
stellte  die  Bewegung  der  Geburtenzahl  nach  Monaten  für  Sardinien,  Belgien, 
Niederlande,  Sachsen,  Schweden  und  Chile  zusammen  und  fand  bei  diesen  Be- 
völkerungen deutlich  in  jedem  Jahre  ein  zweimaliges  Steigen  und  Fallen  dieser 
Zahl.  Er  fand  ferner,  dass  diese  beiden  Bewegungen  in  allen  Ländern  der  Jah- 
reszeit nach  sehr  nahe  übereinstimmen.  In  den  europäischen  Staaten  zeigte  sich 
das  erste  Maximum  im  Februar  und  März,  das  zweite  im  September.  Die  Ur- 
sache der  ersten  Steigung  ist  wohl  überwiegend  physischer  Natur:  die  Zeit,  die 
alles  organische  Leben  neu  erweckt.  Die  Ursache  der  zweiten  Steigung  (wo  die 
Conceptionen  in  den  December  fallen)  kann  nicht  physischer,  sondern  muss 
socialer  Natur  sein.  Es  ist  diese  Ursache  wohl  die  in  den  Monat  December  nach 
der  Erntezeit  fallende  Zeit  der  häuslichen  Behaglichkeit  und  besseren  Ernährung. 

Die  Ursachen  beider  Steigungen  lassen  sich  in  den  yerschiedenen  Ländern 
verfolgen.  Man  erkennt  deutlich,  in  welchen  Ländern  die  socialen,  in  welchen 
die  physischen  Ursachen  der  Steigung  vorherrschen  und  wie  sie  zu  erklären 
sind.  Am  wenigsten  regelmässig  ist  dieses  Steigen  und  Fallen  in  Sachsen  und 
es  lässt  sich  dies  aus  dem  vorzugsweise  industriellen,  von  physischen  —  mit 
den  Jahreszeiten  zusammenhängenden  —  Einflüssen  weniger  beherrschten  socia- 
len Charakter  der  sächsischen  Bevölkerung  erklären.  Am  schärfsten  sind  unter 
den  beobachteten  Staaten  diese  Contraste  der  Vertheilung  der  Geburtenzahl 
nach  Jahreszeiten  in  Chile  ausgedrückt.  In  diesem  Lande  mit  junger  Cultur 
findet  sich  die  Abhängigkeit  der  Geburtenzahl  von  den  physischen  und  socialen 
Einflüssen  der  Jahreszeiten  gesteigert  —  ganz  entsprechend  dem  Charakter  einer 
vorzugsweise  aus  Rohproducenten  bestehenden  Bevölkerung. 

Von  neueren  Beobachtungen  über  diesen  Gegenstand  sei  nur  eine  Tabelle 
erwähnt,  welche  sich  auf  das  Deutsche  Reich  bezieht  (in  den  Vierteljahrsheften 
zur  Statistik  d.  Deutschen  Reiches,  XX.  Bd.  2.  Heft  1.  Abth.,  S.  52). 


Von  100  Geburten 

des  ganzen  Jahres  kommen 

auf  den  Monat 


Januar  .  . 
Februar  , 
März  .  .  . 
April  .  .  , 
Mai  .  .  . 
Juni  .  .  . 
Juli  .  .  . 
August  .  . 
September 
October  .  . 
November 
December 


im   Jahre 

1872 

1873 

1874 

8,61 

8,83 

8,76 

8,08 

8,34 

8,01 

9,11 

8,70 

8,71 

8,68 

8,09 

8,06 

8,56 

8,07 

8,11 

7,71 

7,67 

7,69 

8,04 

8,16 

8,18 

8,28 

8,39 

8,27 

8,47 

8,65 

8,74 

8,20 

8,46 

8,62 

7,99 

8,31 

8,44 

8,37 

8,43 

8,42 

Emilass  von  Stand,  Bernf  nad  Wolinort.  129 

Weun  auch  die  doppelte  Hebung  wid  Senkung  hier  nicht  in  jedem  Jahre 
sich  präcis  wiederholt,  sp  zeigt  sich  doch  immerhin  deutlich  die  starke  Gebur- 
tenziffer im  ersten  Quartal  (entsprechend  den  Conceptionen  der  Frühlingsmonate 
des  Vorjahres)  und  gleichmässig  in  allen  drei  Jahren  diejenige  des  Monats 
September    (entsprechend    den  Conceptionen  des  yorhergegangenen  Decembers). 

§.  80.  Einflass  von  Stand,  Beruf  nnd  Wohnort. 

Der  Einflusß  von  Stand  und  Beruf  auf  die  Geburtenziffer  scheint 
durch  andere  Einflüsse  verdeckt  zu  werden.  Von  grosser  Bedeutung  dürfte 
er  um  so  weniger  sein,  als  ja  die  Veränderungen,  welche  die  Lebensweise 
des  Menschen  durch  seinen  Beruf  erleidet,  überall  andere  sind. 

Insofern  der  Unterschied  von  Stadt  und  Land  mit  dem  Beruf  der 
Bevölkerung  und  mit  ihrer  Arbeit  auf  das  innigste  zusammenhängt,  ist 
derselbe  hier  zu  beachten.  Den  Einfluss  des  Berufs  auf  die  Geburtenziffer 
untersuchend,  muss  man  daher  zunächst  städtische  und  ländliche,  indu- 
strielle'und  landwirthschaftliche  Bevölkerung  prüfen.  (Die  Begriffe  städtische 
und  industrielle  Bevölkerung  einerseits,  ländliche  und  ackerbautreibende 
Bevölkerung  andererseits  sind  keineswegs  identisch,  weil  in  manchen  Land- 
schaften industrielle  Thätigkeit  und  entsprechende  Lebensweise  auch  in  den 
Dörfern  sich  findet.)  So  eingehend  die  Untei-suchüngen  auch  sind,  welche 
in  dieser  Hinsicht  angestellt  wurden,  so  haben  dieselben  dennoch  keine 
allgemein  giltige  Regel  zu  Tage  gefördert  ^).  Die  gemachten  Erfahrungen 
sind  zu  widersprechend.  Man  fand  in  Sachsen  eine  geringere  Fruchtbarkeit 
der  Städte  als  der  Dörfer;  in  Bayern  ist  nach  langjährigen  Beobachtungen 
die  städtische  Fruchtbarkeit  wenigstens  um  ^5  geringer,  als  die  ländliche  ^); 
anderwärts  das  Gegentheil ')  *). 

Es  scheint  aber  auch  die  städtische  Geburtenziffer  an  sich  ein 
Gegenstand  zu  sein,  der  wohl  schwer  unter  irgend  eine  Regel  zu  bringen 
ist  und  daher  auch  nicht  mit  der  ländlichen  Geburtenziffer  in  ein  constantes 
Verhältniss  gebracht  werden  kann  *). 

Anmerkungen. 

*)  Engel  hat  dies  zuerst  in  gründlichster  Weise  gethan  (in  den  Statist. 
MittheiJuugen  aus  dem  Königr.  Sachsen:  Die  Bewegung  der  Bevölkerung.  Dresden 
1852).  Bezüglich  des  Unterschiedes  der  Geburtenziffer  städtischer  und  ländlicher 
BeTölkeruttg  bemerkte  er  eine  kleinere  Fruchtbarkeit  der  Städte  als  der  Dörfer, 
ludessen  darf  man  daraus  keine  zu  kühnen  Schlüsse  ziehen,  denn  die  Zahl  der 
Beobachtungen  war  verhältnissmässig  gering.  Man  darf  die  für  das  Königreich 
Sachsen  mit  meinen  aussergewöhn  liehen  BeTölkerungsverhältnissen  gefundene 
Wahrnehmung  nicht  ohne  Weiteres  yerallgemeinern  und  als  eine  für  jeden 
Staat  giltige  Regel  hinstellen. 

Dagegen  unterschied  Engel  die  vorzugsweise  Ackerbau  treibenden  Ort- 
schaften von  jenen,  welche  vorzugsweise  gewerbliche  und  Handel  treibende 
Hansliofer,  SUtisUk.  2.  Aafl.  9 


130  Einfluss  Ton  Stand,  Beruf  und  Wohnort. 

Bevölkeruug  haben.  Er  fand,  dass  während  im  ganzen  Königreich  Sachsen  in 
der  Zeit  von  1840  49  die  Geburtenziffer  1  :  24,4«  betrug,  sie  in  den  Ortschaften 
mit  vorzugsweise  Ackerbau  treibender  Bevölkerung  auf  1  :  25,80  und  in  jenen 
mit  Gewerbe  oder  Handel  treibender  Bevölkerung  1  :  23,72  sich  stellte. 

Dadurch  ist  klar  geworden,  dass  die  industrielle  Bevölkening  in  einer 
gegebenen  Zeit  mehr  Geborene  erzeugt,  als  die  Ackerbau  treibende.  Und  neben 
dieser  grösseren  Fruchtbarkeit  bedingt  der  vorwaltend  gewerbliche  Charakter 
auch  eine  grössere  Volksdichtigkeit. 

*)  V.  Hermann:  Die  Bewegung  der  Bevölkerung  *im  Königr.  Bayern. 
Herausgeg.  v.  kgl.  statistischen  Bureau.  München  1863.  S.  89. 

')  Man  vergleiche  nur  die  von  Wappäus,  Allg.  Bevölkerungsstatistik  II, 
S.  481  mittgetheilte  Tabelle.  Nach  derselben  stellt  sich  die  städtische  Geburten- 
frequenz höher  als  die  ländliche  in:  Frankreich,  den  Niederlanden,  Belgien, 
Dänemark,  Sachsen;  niedriger  dagegen  in:  Schweden,  Schleswig  und  Holstein, 
Württemberg,  Hannover,  Preussen. 

*)  Vergleicht  man  die  deutschen  Staaten  (resp.  Preussen  die  Provinzen) 
nach  dem  Wohnsitz  der  Bevölkerung  und  zugleich  nach  der  Geburtenziffer,  so 
lässt  sich  ebenfalls  keine  bestimmte  Regel  für  dieses  Verhältniss  aufstellen. 
Unter  den  deutschen  Ländern  zeigen  besonders  vorwiegende  ländliche  Bevöl- 
kerung (1875):  Hohenzollern  (wo  nur  10,8  %  der  Bevölkerung  in  Orten  über 
2000  Seelen  wohnen),  Waldeck  (12,8  %\  Lippe  (17,3  %\  Oldenburg  (17,7  %\ 
Ostpreussen  (21,7  %\  Posen  (22,5  %),  Schwarzburg-Rudolstadt  (23,3  %\  Schaum- 
burg-Lippe (24,3  %).  Die  Geburtenziffer  beträgt  bei  Hohenzollern  4,i5  %\ 
Wal  deck  3,71 ;  Lippe  3,92;  Oldenburg  3,53;  Ostpreussen  4,i4;  Posen  4,6";  Schwarz- 
burg-Rudolstadt 3,65;  Schaumburg-Lippe  3,42  %.  Demnach  finden  sich  besonders 
hohe  wie  besonders  niedrige  Geburtenziffern  in  solchen  Ländern,  deren  Bevöl- 
kening vorzugsweise  in  kleinen  Orten  wohnt.  Umgekehrt  zeigt  ein  fortgesetzter 
Vergleich,  dass  auch  besonders  hohe  wie  besonders  niedrige  Geburtenziffern 
sich  in  Ländern  mit  vorzugsweise  städtischer  Bevölkerung  finden.  Das  Stadtge- 
biet Lübeck  hat  eine  (für  Deutschland)  niedrige  Geburtenziffer  von  3,42  %; 
Sachsen  dagegen,  wo  über  52,7  %  der  Bevölkerung  in  Ortschaften  über  2000 
Seelen  wohnen,   weist   die    ausnehmend    starke   Geburtenziffer  von  4,4o  %  auf. 

*)  In  Bayern  stellte  sich  (nach  obei-wähnter  officieller  Publication)  für 
die  Jahre  1835—40  die  Geburtenziffer  der  Städte  wie  folgt:  Schwabach  3,6i  %\ 
Nördliugen  3,5i;  Memmingen  3,39;  Fürth  3,37;  Hof  3,25;  Erlangen  3,2o;  Nürnberg 
3,19;  Kaufbeuern  3,i6;  Landshut  3,i5;  München  3,io;  Schweinfurt  3,o7;  Bamberg 
und  Würzburg  2,95;  Eichstädt  2,87;  Regensburg  2,84;  Rothenburg  2,7?;  Dinkels- 
bühl  2,68;  Straubing  2,66;  Augsburg  2,64;  Neuburg  2,6o;  Kempten  2,ö6;  Ingol- 
stadt 2,53;  Ansbach  2,44;  Bayreuth  2,:ü;  Lindau  2,08;  Amberg  1,99;  Passau  1,76; 
Aschaffenburg  1,66  %.  —  Diese  Ziffern  zeigen  zunächst  wieweit  die  städtische 
Geburtenziffer  in  einzelnen  Fällen  unter  ihren  Durchschnitt  (welcher  hier  für  alle 
unmittelbaren  Städte  2,88  %  betrug)  herabgehen  kann;  wie  selbst  blühende 
Industriestädte  (wie  z.  B.  Augsburg)  mit  ihrer  starken  industriellen  Bevölkerung 
unter  jene  Durchschnitte  herabgehen  können  und  wie  überhaupt  die  städti- 
sche Geburtenziffer  sich  als  eine  sehr  regellose  Grösse  darstellt.  Das  ergibt 
sich  auch  aus  folgender  Zusammenstellung. 


Einfluss  der  Sittlichkeit.  131 

Vergleicht  man  die  Geburteuziffern  der  Länder  mit  denen  ihrer  bedeu- 
tendsten Städte,  so  ergibt  sich  folgendes  Resultat.  Auf  100  Lebende  treffen 
Geburten : 


Preussen (1871)  3,37 

Berlin „      3,33 

Bayern „      3,64 

München „       3,72 

Sachsen (1875)  4,36 

Dresden „      3,75 

Württemberg (1871)  4,09 

Stuttgart ,       3,44 

Oesterreich (1874)  3,9i 

Wien „       3,84 

Ungarn (1875)  4,49 

Budapest „      4,54 

Frankreich (1865/77)  2,56 

Paris (1869/75)  3,03 

England    .    , (1871)  3,5i 

London „      3,46 


Italien (1871)  3,7o 

Rom „      2,77 

Neapel „      3,öi 

Palermo „       3,i9 

Mailand ,,       2,95 

Schweden (1865/78)  3,04 

Stockholm (1864/73  3,34 

Norwegen (1872)  2,98 

Christiania ^      3,53 

Russland (1869)  4,89 

Petersburg ^       2,8i 

Russlaud (1871)  5,02 

Moskau „      3,33 

Niederlande (1869)  2,83 

Haag „      3,46 

Rotterdam „      3,85 


§.  81.  Einfluss  der  Sittlichkeit  u.  s.  w. 

Da  die  Sittlichkeit  an  und  für  sich  schon  eine  Erscheinung  ist, 
welche  der  Statistik  schwer  zugänglich  bleibt,  ist  es  auch  nicht  leicht, 
ihren  Einfluss  auf  die  Fruchtbarkeit  der  Bevölkerung  zu  erkennen.  Cultur- 
historiker,  Geographen,  Nationalökonomen,  Politiker  und  Mediciner  haben 
zwar  durch  Anführung  zahlreicher  einzelner  Fälle  gezeigt,  wie  mächtig 
ünsittlichkeiten  aller  Art  die  Volksvermehrung  beeinträchtigen.  Die 
Weibergemeinschaft  roher  Völker  wirkt  vermindernd  auf  die  Fruchtbar- 
keit, wie  die  Vielweiberei  oder  die  in  einzelnen  Ländern  Hochasiens 
übliche  Vielmännerei;  die  Unfruchtbarkeit  der  Freudenmädchen  ist  noto- 
risch und  nicht  minder  hat  die  Geschichte  das  rasche  Sinken  jener  Völker 
gezeigt,  deren  Kraft  von  unnatürlichen  Lastern  zerfressen  ward.  Die  Zifl^ern 
der  Statistik  wären  fast  unnöthig,  um  noch  die  Beweise  zu  liefern,  wo 
man  ganze  Völker,  die  einst  an  der  Spitze  der  Civilisation  einherschritten, 
in  ihren  Lastern  dahinsiechen  sah;  nur  zeigt  die  Gulturgeschichte  nicht 
exact  genug,  ob  grosse  Sterblichkeit  oder  geringe  Fruchtbarkeit  den 
grösseren  Antheil  an  diesem  Verfalle  hat. 

Dagegen  ist  Willenskraft  und  Vorsicht  ofl^enbar  gleichfalls  von  ent- 
scheidendem Einflüsse  auf  die  Geburtenfrequenz.  Wer  in  unsicherer  wirth- 
schaftlicher  Lage  sich  befindet,  wird  sich,  wenn  Willenskraft  und  Vorsicht 
ihm  eigen  sind,  scheuen,  eine  Familie  zu  begründen,  während  da,  wo 
Rohheit  oder  Elend  diese  Mächte  nicht  zur  Geltung  kommen  lassen,  der 
Mensch,  unbekümmert  um  die  Zukunft,  von  thierischen  Trieben  sich  hin- 

9* 


132  Einflass  politischer  and  religiöser  Yerhftltnisse. 

reisseo  lägst.  Ein  aufFallendes  Beispiel  von  den  Folgen  der  Armuth  und 
Entsittlichung  einer  Bevölkerung  bietet  die  mexikanische  Provinz  Guana- 
xuato  mit  einer  Geburtenziffer  von  1  :  16,08  oder  6,21^  (der  freilich  auch 
eine  Sterblichkeit  von  1 :  19,7o  oder  5,oi  %  gegenüber  steht).  Man  schreibt 
diese  ungewöhnlich  starke  Geburtenziffer  dem  Klima  zu,  das  einestheils 
durch  den  Reichthum  seiner  Vegetation  den  Menschen  vor  Nahrungssorgen 
sichert,  andemtheils  die  Willenskraft  der  Bevölkerung  ihren  thierischen 
Trieben  gegenüber  lahm  legt.  Da  sind  „Myriaden  von  Kindern,  die 
grösstentheils  nicht  einmal  das  Säuglingsalter  überleben"  (Quetelet). 

§.  82.  Einfluss  politischer  und  religiöser  Verhältnisse. 

Bei  dem  innigen  Zusammenhange ,  der  zwischen  den  politischen 
Institutionen  und  der  politischen  Lage  einerseits,  dem  wirthschaftlichen 
und  socialen  Glücke  der  Bevölkerung  andererseits  besteht,  ist  eine  Ein- 
wirkung jener  auf  die  Geburtenziffer  als  etwas  fast  nothwendiges  und 
leicht  erklärliches  anzunehmen. 

„Die  politischen  und  religiösen  Vorurtheile",  sagt  Ciuetelet,  „scheinen 
zu  allen  Zeiten  günstig  auf  die  Fortpflanzung  der  menschlichen  Gattung 
gewirkt  zu  haben;  in  einer  grossen  Fruchtbarkeit  glaubte  man  unzweifel- 
hafte Zeichen  des  himmlischen  Segens  und  des  Wohlstandes  zu  erkennen, 
ohne  zu  beachten,  ob  die  Geburten  auch  im  Verhältniss  stehen  mit  den 
Unterhaltsmitteln" . 

Es  wird  jedoch  immer  ziemlich  schwierig  sein,  den  Einfluss  politi- 
scher und  religiöser  Verhältnisse  auf  die  Geburtenziffer  so  weit  von  anderen, 
ihn  verdunkelnden  Einflüssen  zu  isoliren,  dass  er  messbar  wird. 

So  theilt  Quetelet  mit  (nach  d'Ivernois),  wie  die  Bevölkerung  der 
Normandie  zur  Zeit  des  ersten  französischen  Kaiserreichs  die  durch  den 
Krieg  entstandenen  Lücken  möglichst  rasch  wieder  auszufüllen  suchte, 
während  späterhin  die  Häufigkeit  der  Geburten  wieder  auf  eine  normale 
Höhe  zurückging  *).  So  weist  Frankreich  1872  eine  stärkere  Geburtenziffer 
auf,  als  7  Jahre  vorher  und  5  Jahre  nachher  und  es  erscheint  sehr 
gerechtfertigt,  dieses  Steigen  der  Geburtenziffer  mit  dem  vorhergegangenen 
Kriege  in  Verbindung  zu  bringen  ^).  Der  Krieg  hatte  die  Geburtenziffer 
ungewöhnlich  vermindert;  was  erscheint  natürlicher,  als  dass  der  folgende 
Friede  sie  zunächst  ungewöhnlich  erhöhte  und  dass  später  das  durch- 
schnittliche Verhältniss  längerer  Friedensjahre  zurückkehrte?  Im  deutschen 
Reiche  gestaltete  sich  die  Sache  anders;  auch  in  den  deutschen  Staaten 
sank  während  des  Krieges  die  Geburtenziffer  ungewöhnlich  tief  und  stieg 
hernach  wieder  über  den  Durchschnitt,  hielt  sich  jedoch  fortan,  wegen 
des  gleichzeitig  stattgefundenen  wirthschaftlichen  Aufschwunges,  dauernd 
höher »). 


Einfluss  politischer  und  religiöser  Verhältnisse.  133 

Eine  andere  charakteristische  Erscheinung  ist  jedenfalls  die  auffallende 
Verschiedenheit  der  Geburtenziffern  bei  den  Völkern  germanischen  und 
romanischen  Stammes  einerseits,  den  slavischen  Völkerschaften  andrerseits. 
In  gj^nz  Europa  ragen  die  slavischen  Völkerschaften  durch  ihre  starken 
Geburtenziffern  hervor.  Dies  'zeigt  sich  nicht  allein,  wenn  man  die  Länder 
mit  slavischer  Bevölkerung,  Russland,  Polen,  Serbien  etc.  den  übrigen 
europäischen  Ländern  gegenüberstellt  *),  sondern  es  zeigt  sich  ganz  besonders 
deutlich  in  Staaten,  wo  einzelne  Provinzen  vorzugsweise  slavische  Be- 
völkerung haben.  So  hat  die  Provinz  Posen  eine  stärkere  Geburtenziffer, 
als  alle  übrigen  preussischen  ProAdnzen  und  als  alle  deutschen  Staaten. 
In  Oesterreich-Ungam  ist  die  Geburtenziffer  der  östlichen  vorzugsweise 
slavischen  Reichshälfte  weit  stärker  als  jene  der  westlichen  Reichshälfte  ^). 

Ob  aber  politische,  sittliche,  religiöse  oder  wirthschaftliche  Verhält- 
nisse diese  verschiedenen  Geburtenziffern  vorzugsweise  bedingen,  lässt  sich 
vorerst  nicht  entscheiden. 

Schwieriger  ist  es,  den  Einfluss  religiöser  Verhältnisse  auf  die  Ge- 
burtenziffern klarzustellen  •). 

Anmerkungen. 

»)  A.  a.  0.,  S.  106. 

*)  In  Frankreich  betrug  der  Durchschnitt  der  Geburtenziffer  von  1865—68 
2,58  %.  Sie  sank  im  J.  1871  auf  2,26  %  und  stieg  1872  wieder  auf  2,68  %, 

*)  So  stellten  sich  in  den  wichtigsten  deutschen  Staaten  die  Geburteu- 
ziflfern  wie  folgt: 

.         Länder  Ste"  *«'*  1»'« 

Preussen 3,78  3,37  3,97^1^ 

Bayern 3,94  3,64  3,97  „ 

Sachsen •  4,i7  3,75  4,24  „ 

Thüringische  Staaten 3,66  3,4i  3,60  „ 

Württemberg 4,34  4,09  4,35  „ 

Baden 3,79  3,60  3,99  „ 

*)  Vgl.  die  Anmerkungen  zu  §.  79. 

*)  Sie  beträgt  im  cisleithanischen  Oesterreich  für  den  Durchschnitt  der 
Jahre  1865—78  3,88*,  in  Ungarn  4,i8  (von  1865—77);  in  Croatien-Slayonien 
(1870-78)  4,41  %. 

•)  In  Sachsen  fand  Engel  eine  Geburtsziffer  you: 


Jahrgang 


1847 
1848 
1849 


bei  Protestanten 


1:25,06 

1:25,77 
1:23,01 


bei  Katholiken 


1:35,94 
1:37,48 

1:28,72 


134  Schlnssbemerknngen. 

Er  schreibt  jedoch  dieses  Unterliegen  der  Geburtenziffer  der  Katholiken 
gegenüber  jener  der  Protestanten  keineswegs  dem  confessionellen  Unterschiede 
zu,  sondern,  wie  es  scheint  mit  Recht,  den  zur  Begründung  eines  Familienstandes 
weniger  geeigneten  Berufsarten,  welchen  die  sächsischen  Katholiken  meist 
angehören. 

§.  83.  Schlxusbemerknngen. 

Aus  diesen  Beobachtungen  der  auf  die  Geburtenziffer  wirkenden 
Einflüsse  ergibt  sich,  dass  ^ine  hohe  Geburtenziffer  an  sich  noch  kein 
Ausdruck  wirthschaftlichen  und  sittlichen  Wohlbefindens 
der  Gesellschaft  ist.  Denn  eine  Zunahme  der  Geburten  im  Allgemeinen 
kann  sowohl  aus  einer  Vermehrung  der  Eheschliessungen,  als  auch  aus 
einer  Vermehrung  der  unehelichen  Geburten  besonders  herrühren.  Sie 
kann  ihren  Grund  ebensowohl  in  höherem  wirthschaftlichen  Glücke,  als 
auch  in  grösserem  Leichtsinne  der  Bevölkerung  haben.  Sie  kann  endlich 
Hand  in  Hand  gehen  mit  einer  geringeren  oder  mit  einer  grösseren 
Sterblichkeit. 

Die  allgemeine  Geburtenziffer  ist  übrigens  nicht  der  genaueste  Aus- 
druck für  die  Fruchtbarkeit  einer  Bevölkerung.  Denn  bei  der  Ermittelung 
der  allgemeinen  Geburtenziffer  wird  die  Zahl  der  Geborenen  mit  der  Ge- 
sammtheit  der  Bevölkerung  verglichen,  während  doch  ein  grosser  Theil 
der  letzteren  (Kinder  und  Greise)  an  der  Fortpflanzung  der  Bevölkerung 
sich  nicht  betheiligt.  Der  Altersaufbau  der  Bevölkerungen  ist  keineswegs 
überall  gleich  und  deshalb  darf  die  Geburtenziffer  nicht  mit  der  wirk- 
lichen Fruchtbarkeit  der  an  der  Fortpflanzung  betheiligten  Altersclassen 
verwechselt  werden.  Immerhin  ist  sie  der  brauchbare  Ausdruck  für  den 
inneren  Zuwachs  der  Bevölkerung. 

Will  man  die  Geburtenziffer  in  Zusammenhang  mit  solchen  Er- 
scheinungen des  gesellschaftlichen  Lebens  bringen,  welche  einen  ethischen 
Hintergrund  haben:  dann  muss  von  der  allgemeinen  Geburtenziffer  die 
Ziffer  der  ehelichen  Geburten  ausgeschieden  werden,  weil  nur  sie  das 
Maass  fiir  jenen  inneren  Bevölkerungszuwachs  gibt,  welcher  unter  der  aus- 
drücklichen Sanction  der  gesitteten  Gesellschaft  stattfinden  darf. 

Eine  vollständige  Betrachtung  des  Geburtenverhältnisses  muss  end- 
lich auch  die  Mehrgeburten  (Zwillinge,  Drillinge  etc.)  in  ihren  Bereich 
ziehen  ^),  sowie  die  Todtgeborenen  *). 

Anmerkungen. 
*)  Für  die  Zwecke  des  vorliegenden  Werkes  ist  die  Ziffer  der  Mehrge- 
hurten  nur  von  untergeordneter  Bedeutung.  Indessen  mag  doch  die  Thatsache 
constatirt  werden,  dass  selbst  in  den  Mehrgeburten,  welche  sich  der  oberfläch- 
lichen Beobachtung  jedenfalls  als  eine  Abnormität  darstellen,  eine  grosse  Regel- 
mässigkeit herrscht.    In  den    europäischen  Ländern  treffen  auf  1000  Geburten 


Scblassbemerkangen . 


135 


8,5  (Spanien)  bis  14,8  (Croatien  und  Slavonieii)  Mehrgeburteu;  beträgt  in  Italien 
(1869—78)  41,6  pro  mille;  in  Prankreich  (1865—77)  9,7;  in  Preussen  (1865—78) 
12,5;  in  Bayern  (1865—78)  13,?;  in  Oestenreich  (Cisleithanien,  1865-78)  15.6; 
iu  Belgien  (1865—78)  9,7  u.-  s.  f.  Durchschnittlich  dürfte  demnach  die  Ziffer 
der  Mehrgeburten  etwa  1  %  betragen.  Die  Mehrgeburteu  wiederholen  sich  Jahr 
um  Jahr  mit  auffallender  Regelmässigkeit.  Von  je  100  Mehrgeburten  waren  in 
den  genannten  Perioden^ in: 

Zwillingsgeburten    Drillingsgeburten    Vierlingsgeburten 

Preussen 98,8i  l,i7  0,02 

Bayern 98,6i  1,39  — 

Oesterreich  (diesseits)  ....  98,6i  1,37  0,02 

Frankreich 98,90  1,07  0,03 

Italien 98,7i  1,28  0,oi 

(Nach  der  schon  wiederholt  angeführten  Publicatiou  des  italienischen  stat.  Bu- 
reaus: MoTimento  dello  stato  civile  1862 — 78.) 

')  Die  Ziffer  der  Todtgeboreneu  beträgt  auf  je  100  Geburten  in: 


Länder 


Durch- 
schnitt 
der  Jahre 


Länder 


Durch- 
schnitt 
der  Jahre 


Italien 

Frankreich  .  .  . 
Deutsches  Beich 
Preussen  .  .  .  , 
Bayern  .  .  .  . 
Sachsen  .  .  .  . 
Schweiz    .   .    .   . 


1865-78 
1865—77 

1872-78 
1865-78 


1870—78 


2,60 

4,48 
3,97 
4,09 
3,37 
4,26 
4,44 


Belgien  .  .  .  . 
Niederlande  .  . 
Schweden  .  .  . 
Oesterreich  (dies- 
seits) .  .  .  .  . 
Spanien     .    .    .    . 


1865-78 
1865—78 
1865-77 

1865-78 
1865-70 


4,42 
5,14 
3,16 

2,27 
0,99 


£s  erscheint  demnach  diese  Ziffer  als  eine,  welche  bedeutendere  Ver- 
schiedenheiten von  Land  zu  Land  aufweist,  wobei  jedoch  die  Unsicherheit  der 
Ziffern  betont  werden  muss.  Die  Ermittlung  dieser  Ziffer  geschieht  keineswegs 
überall  nach  gleichen  Grundsätzen,  indem  in  einzelnen  Ländern  blos  die  wirk- 
lich Todtgeboreneu  ihr  zugerechnet  werden,  anderwärts  auch  die  zwischen  der 
Geburt  und  Anmeldung  beim  Standesamte  Verstorbenen.  Die  Zahl  der  Todtge- 
borenen  ist  in  den  Städten  weit  grösser  als  auf  dem  Lande.  Unter  den  unehe- 
lichen Kindern  findet  man  eine  weit  grössere  Zahl  von  Todtgeboreneu,  als 
auter  den  ehelichen,  indem  z.  B.  im  Deutschen  Reiche,  wo  die  Gesammtzahl 
der  Todtgeboreneu  3,97  %  aller  Geburten  beträgt,  unter  den  unehelichen  allein 
^0  %  Todtgeborene  sind.  Regelmässig  finden  sich  mehr  Todtgeborene  unter 
deu  Knaben-  als  unter  den  Mädchengeburten. 


136  Die  SterWifhkeitszifFer, 


III.  Gapitel. 

Das  Yergehen  der  Bevölkerung. 


§.  84.  Sie  SterbUchkeitsxiffer '). 

Betrachtet  man  die  Bevölkerung  eines  bestimmten  Gebietes,  so 
bemerkt  man  in  ihr  Jahr  für  Jahr  eine  grössere  oder  kleinere  Zahl  von 
Todesfällen.  Vergleicht  man  die  Zahl  der  innerhalb  eines  Jahres  Ver- 
storbenen mit  der,  etwa  um  die  Mitte  desselben  Jahres  ermittelten  Zahl 
der  in  demselben  Gebiete  Lebenden,  so  erhält  man  eine  Verhältnisszahl: 
die  Sterblichkeitsziffer*).  Kaum  eine  andere  statistische  Ziffer  ist 
von  tieferer  Bedeutung  für  das  Leben  des  Volkes.  Man  hat  die  Sterblich- 
keitsziffer oft  mit  der  mittleren  Lebensdauer  verwechselt.  Aber  mit  Un-r 
recht.  Beide  Ziffern  hängen  zusammen;  wem  es  gelänge,  die  erste  zu  be- 
einflussen, der  wurde  unfehlbar  die  zweite  auch  bewegen.  Aber  identisch 
sind  sie  nicht. 

Bezüglich  der  Berechnung  der  Sterblichkeitsziffer  muss  hier  derselbe 
allgemein  übliche  Fehler  coiistatirt  werden,  den  man  auch  bei  der  Be- 
rechnung der  Geburtenziffer  findet.  Man  setzt  nämlich  die  Zahl  der  Ver- 
storbenen eines  Zeitraumes  nur  mit  der  Volkszahl  in  Verbindung,  die  sich 
am  Anfang,  am  Ende  oder  in  der  Mitte  dieses  Zeitraumes  findet,  während 
doch  die  Verstorbenen  aus  der  jeweils  vorhandenen  Volkszahl 
hervorgehen  oder,  besser  ausgedrückt,  hinwegfallen.  Auch  hier  muss  daraut 
hingewiesen  werden,  dass  es  richtiger  wäre,  wenn  man  den  beobachteten 
Zeitraum  in  ganz  kleine  Abschnitte  theilen  könnte  und  von  jedem  der- 
selben die  Volkszahl  wüsste,  wenn  sodann  für  diese  kleinen  Abschnitte 
die  Sterblichkeit  berechnet  und  aus  ihnen  ein  Durchschnitt  für  den  ganzen 
Zeitraum  gebildet  würde.  Die  vollkommenste  Sterblichkeitsziffer  wäre  die- 
jenige Summe  von  Sterblichkeitsziffern,  die  sich  ergibt  aus  den  Verhält- 
nissen der  Verstorbenen  jeden  x\ugenblicks  zur  jeweiligen  Volkszahl  *), 

So  lange  man  die  vollkommenste  Sterblichkeitsziffer,  welche  nichts 
anderes  ist,  als  „die  Wichtigkeit  der  Abgänge,  welche  die  Volkszahl 
während  des  Zeitraumes  durch  die  Sterbefälle  erfährt'*  (Knapp),  nicht 
kennt  und  nur  durch  die  umständlichste  Berechnung  erfahren  könnte, 
bleibt  nichts  übrig,  als,  wie  bei  der  Geburtenziffer,  mit  jenen  Sterblich- 
keitsziffern zu  operiren,  welche  sich  aus  den  Volkszählungen  im  Zusam- 
menhalt mit  den  Civilstandsregistern*  ergeben. 

Entnimmt  man  diesen  Grundlagen  die  Zahl  der  Todesfälle  eines 
Jahres  und  die  der  Lebenden  dieses  Jahres,  so  kann  man  das  Verhältniss 


Die  Sterbliclikeitsziifer. 


137 


zwischeo  beiden  Zahlen  in  zweifacher  Weise  ausdrücken.  Entweder  indem 
man  angibt,  wie  viele  Todesfälle  auf  je  100  Lebende  (oder  auf  1000 
oder  10000)  jährlich  fallen,  also  durch  einen  Procentsatz.  Oder  indem 
man  angibt,  auf  wie  viele  Lebende  jährlich  ein  Todesfall  trifft. 

Letztere  Bezeichnung  ist  die  einfachere;  doch  wird  die  erstere  Form 
jetzt  meistens  vorgezogen  (vergl.  §.  31).  Drückt  man  das  Sterblichkeits- 
verhältniss  durch  einen  Bruch  aus,  so  ist  derselbe  der  sog.  Sterblichkeits- 
coefficient  (vergl.  ausf.  §.  105 — 116). 

Würden  alle  Menschen  das  naturliche  Ziel  ihres  Lebens,  d.  h.  das 
Greisenalter  erreichen,  so  wäre  die  jährliche  Sterblichkeit  ungefähr  1 :  75. 

Das  Sterblichkeitsverhältniss  ist  für  jeden  einzelnen  Menschen  weit 
interessanter  und  wichtiger,  als  das  Geburten verhältniss.  Nach  welchem 
Gesetz«  wir  die  Welt  betraten,  ist  uns  ziemlich  gleichgiltig,  von  tragischem 
Ernste  dagegen  ist  uns  das  Studium  jener  Gesetze,  welche  uns  gebieten, 
das  Leben  wieder  zu  verlassen,  jener  Einflüsse,  unter  deren  belebendem 
oder  vergiftendem  Hauch  die  Lebensfähigkeit  des  Menschengeschlechts 
aufblüht  oder  verdorrt:  der  Todesursachen. 

Anmerkungen. 

*)  Kein  anderes  statistisches  Object  hat  so  reiche  Literatur  aufzuweisen, 
als  das  Sterblichkeitsverhältniss.  Neben  den  meisten  der,  mit  der  Bevölkerung 
überhaupt  sich  beschäftigenden  Werken  und  neben  den  Erhebungen  der  amt- 
lichen Statistik,  die  sich  allerwarts  mehr  oder  weniger  eingehend  mit  diesem 
Verhältniss  beschäftigt,  sollen  hier  nur  folgende  angeführt  werden: 

Dieterici:  Ueber  die  Sterblichkeitsverhältnisse  in  £uropa.  Abhandl.  der 
Acad.  d.  Wissensch.  zu  Berlin,  Jahrg.  1851. 

Derselbe:  Ueber  den  Begriff  der  mittl.  Lebensdauer.  1858. 

G.  F.  Knapp:  Ueber  die  Ermittlung  der  Sterblichkeit  u.  s.  f.  Leipz.  1868. 

W.  Lazarus:  Ueber  die  Mortalitätsverhältnisse  und  ihre  Ursachen.  1867. 

Engel:  Sterblichkeit  u.  Lebenserwartung  im  preuss.  Staate.  Zeitschr.  d. 
stat.  Bureaus,  1861  u.  1862. 

Zillmer:  Ueber  die  Geburtsziffer,  Sterbeziffer  etc.  Rundschau  (Zeitschr. 
für  das  Versicherungswesen.  1863). 

Zenner:  Abhandlungen  aus  der  mathematischen  Statistik.    Leipz.  1869. 

^)  Eine  Zusammenstellung  der  Sterblichkeitsziffem  in  den  europäischen 
Läudem  ergibt  folgende  Tabelle.  (Nach:  Movimento  dello  stato  civil e,  anni 
1862—78.  Rom  1878.)  Ausgeschlossen  sind  die  Todtgeborenen. 


Län  der 

Durch- 
schnitt 
der Jahre 

Gestor- 
bene auf 
100 
Einw. 

Länder 

Durch- 
schnitt 
der Jahre 

Gestor- 
bene auf 
100 
Einw. 

Italien  ..... 
Frankreich  .    .    . 
England  m.Wales 
Schottland    .    .    . 

1865—78 
1865-77 
1865-78 

2,99 
2,40 
2,20 

2,21 

Irland 

Deutsches  Reich  . 
Preussen   .... 
Bayern     .... 

1865—78 
1872—78 
1865-78 

1,72 

%n 

2,72 
3,09 

138 


Die  Sterblichkeitsziffer,  vergliclien  mit  der  Oebnrtenziffer.  EiBflass  letzterer. 


Länder 


Durch- 
schnitt 
der  Jahre 


Gestor- 
bene auf 
100 
Einw. 


Länder 


Durch- 
schnitt 
der Jahre 


Gestor- 
bene auf 
100 
Einw, 


Sachsen    .    .   . 

Thüringen    .   . 

Württemberg  . 

Baden   .... 

Oesterreich  (Cislei- 
thanien)    .    .    . 

Ungarn  -  Sieben- 
bürgen .... 

Groatieu  -  Slavo- 
yien 

Schweiz    .... 

Belgien     .... 


1865-78 


1866-78 


1865-78 


1865—77 


1870-78 


1865—78 


2,87 
2,48 
3,16 
2,80 

3,18 

3,80 

4,37 
2,38 
2,32 


Niederlande 

Schweden     .  . 

Norwegen     .  . 

Dänemark    .  . 

Finnland  .    .  . 
Europ.  Russland 

Russ.  Polen  . 

Spanien    .    .  . 

Griechenland  . 

Rumänien    .  . 

Serbien     .   .  . 


1865—77 
1865-78 


1867-75 
1865—77 
1865-70 
1865-77 

1870-77 
1965-78 


2,49 
1,92 
1,73 
1,96 
2,90 
3,67 
2,76 
3,12 
2,09 
2,65 
3,21 


*)  Die  mathematische  Entwickelung  der   yollkommensten    Sterblichkeits- 
Ziffer  findet  sich  bei  Knapp  a.  a.  0.,  S.  112. 


§,  85.  Die  Sterblichkeitszifbr,  verglichen  mit  der  Oeburtenzifbr.  Einfluss 

letzterer. 

Die  Sterblichkeitsziffer  allein  beeinflusst  die  Bewegung  einer  Be- 
völkerung eben  so  wenig  als  die  Geburtenziffer  allein.  Es  kann  bei  einer 
sehr  schlimmen  Sterblichkeitsziffer  sowohl  als  bei  einer  sehr  günstigen 
eine  Bevölkerung  zunehmen.  Derselbe  Ueberschuss  der  Geburten  über  die 
Todesfälle  und  somit  derselbe  innere  Bevölkerungszuwachs  kann  bei  ver- 
schiedener Proportion  der  Geburten  und  der  Todesfälle  stattfinden. 

So  kann  z.  B.  ein  jährlicher  Zuwachs  von  2  Procent  eintreten, 
wenn  auf  100  Lebende  jährlich  4  Geburten  und  2  Todesfälle  vorkommen. 
Ein  gleicher  Zuwachs  würde  auch  eintreten,  wenn  auf  100  Lebende  jähr- 
lich 6  Geburten  und  4  Todesfälle  vorkämen. 

Für  die  blosse  Volks  zahl  haben  beide  Fälle  dieselbe  Wirkung, 
aber  sehr  verschieden  ist  ihre  Wirkung  auf  das  Glück  des  Volkes.  Tm 
zweiten  Falle  ist  der  Wechsel  von  Leben  und  Tod  weit  rascher  als  im 
ersten.  Aber  je  rascher  der  Wechsel  von  Leben  und  Tod,  um  so  grösser 
und  unheilvoller  sind  auch  die  Verluste  an  Lebensglück  und  an  mensch- 
licher civilisatorischer  Kraft. 

Vergleicht  man  die  Sterblichkeit  gewisser  Gebiete  mit  der  in  den- 
selben Zeiträumen  sich  zeigenden  Geburtenfrequenz,  so  bemerkt  man  bei 
der  ersteren  weit  lebhaftere  Schwankungen  als  bei  letzterer  ^).  Dies  muss 
indessen  als  sehr  begreiflich  erscheinen,  wenn  man  bedenkt,  dass  ausser- 


Die  St«rblichkeitsziiFer,  verglichen  mit  der  GebartenzÜfer.  Einfluss  letzterer. 


139 


ordentliche  Einflüsse,  z.  B.  Epidemien,  Theuerang  auf  die  Sterblichkeit 
viel  unmittelbarer  und  mächtiger  einwirken  müssen,  als  auf  die  Geburten. 

Vergleicht  man  den  Rang,  welchen  die  europäischen  Länder  hin- 
sichtlich ihrer  Geburtenziffer  einnehmen  mit  jenem,  welchen  sie  bezüglich 
der  Sterblichkeit  behaupten,  so  zeigt  sich  der  innere  Znsammenhang  beider 
Ziffern  *).  i 

Unter  allen  Einflüssen  auf  die  Sterblichkeit  nimmt  die  Geburten- 
ziffer eine  ganz  wichtige  Stellung  ein.  Sie  bestimmt  ganz  wesentlich  und 
bis  zu  einem  gewissen  Grade  ganz  allein  das  Sterblichkeitsverhältniss. 
Wo  die  Zahl  der  Geburten  im  Verhältniss  zu  jener  der  Lebenden  gross 
ist,  wird  schon  durch  diese  Grösse  das  Sterblichkeitsverhältniss  ebenfalls 
vergrössert.  Einer  niedrigen  Geburtenziffer  dagegen  entspricht  auch  eine 
geringere  Sterblichkeit. 

Demnach  wirken  alle  jene  Einflüsse,  die  für  die  Geburtenziffer  von 
Bedeutung  sind,  indirect  auch  auf  die  Sterblichkeit;  die  Wirkung  jedes 
einzelnen  von  ihnen  muss  aber  zurücktreten  und  in  vielen  Fällen  fast 
ganz  verschwinden  gegenüber  jenen  Einflüssen,  welche  direct  und  unmit- 
telbar auf  die  Sterblichkeit  wirken. 

War  z.  B.  ein  fruchtbares  Jahr  mit  ergiebiger  Ernte  Veranlassung 
zu  vermehrten  Eheschliessungen  und  Geburten  und  es  folgte  darauf  ein 
Nothjahr  mit  bedeutender  Sterblichkeit,  welche  namentlich  unter  den 
Neugeborenen  wüthete:  dann  erscheint  offenbar  jenes  fruchtbare  Jahr  als 
an  der  späteren  erhöhten  Sterblichkeit  indirect  mitwirkend.  Denn  ohne 
jenes  fruchtbare  Jahr  hätte  die  Bevölkerung  nicht  so  viel  kleine  Kinder 
gewonnen  und  das  spätere  Nothjahr  hätte  seine  Todesemte  mehr  unter 
Erwachsenen  halten  müssen,  welche  der  Noth  und  dem  Elende  grösseren 
Widerstand  darbieten,  als  die  Neugeborenen. 

Solchen  indirecten  Causalzusammenhang  statistisch  nachzuweisen,  ist 
freilich  eine  äusserst  schwierige  Aufgabe. 

Aumerkuugen. 
*)  So  stellten  sich,   um   nur  einige  der  wichtigsteu  Staaten  zum  Beweise 
heranzuziehen,  diese  Schwankungen  folgendermassen: 


Länder 


Zeit- 
raum 


Geburtenziffer 


Mini- 
mum 


Maxi- 
mum 


Differenz 
zw.  Miuim. 
U.Maxim. 


Sterblichkeitsziffer 


Mini- 
mum 

% 


Maxi- 
mum 

% 


Diffe- 
renz 


Italien 

Frankreich  .  .  . 
Euglaud  u.  Wales 
Preussen     .   •    .   . 


1865—78 
1865-77 
1865^-78 


3,50 
^,26 
3,48 
3,37 


3,90 
2,68 
0,66 
4,03 


0,40 
0,42 
0,23 
0,66 


2,77 
2,12 
2,04 
2,56- 


3,42 
3,48 
3,34 
3,35 


0,65 
1,36 
0,30 
0,79 


140 


Eiuflass  der  Kraiikhcitea. 


Zeit- 
raum 

Geburtenziffer 

Sterblichkeitsziffer 

Länder 

Mini- 
mum 

% 

Maxi- 
mum 

% 

Differenz 

zw.  Miuim. 

u.  Maxim. 

Mini- 
mum 

% 

Maxi- 
mum 
% 

Diffe- 
renz 

Oesterreich  (We 
hälfte)     .    .    . 
Belgien  .    .   . 

st- 

n 

n 
1865-77 
1865-78 

n 

1865-77 
1867-75 

3,71 

3,10 

3,39 

S,76 
2,86 

4,06 
4,81 

4,12 
3,31 
3,68 

3,28 
3,19 

4,80 
5,09 

0,41 
0,21 
0,29 
0,63 
0,33 

0,74 

0,28 

2,79 
2,06 
2,22 
1,72 
1,67 

2,92 
3,44 

4,08 
2,86 
2,94 
2,23 

1,89 

4,26 
4,06 

1,29 
0,80 
0,72 
0,61 
0,32 

1,34 
0,62 

Niederlande   . 
Schweden  .    . 
Norwegen  .   . 
Ungarn  -  Siebei 

bürgen    .    . 
Europ.  Russland 

1- 

Nur  die  beiden  skandinarischen  Länder  machen  hier  eine  Ausnahme.  Bei 
ihnen  stellen  sich  die  Schwankungen  der  Geburtenziffer  um  ein  ganz  Geringes 
bedeutender,  als  jene  der  Sterblichkeit. 

')  Eine  Gruppirung  der  europäischen  Länder  nach  diesem  Range  ergibt 
folgende  Tabelle: 


Länder 


Russland  .... 
Groatien-Slayonien 
Württemberg  .  . 
Serbien  ..... 

Polen 

Ungarn  -  Siebenb. 

Sachsen 

Deutsches  Reich   . 

Bayern 

Oesterreich  .  .  . 
Preussen     .... 

Baden 

Italien 

Thüringen      .    .    . 


Rang  nach  der 


Gebur- 
tenziffer 


1 
2 
3 
4 
5 
6 
7 
8 
9 

10 
11 
12 
13 
14 


Sterb- 
lichkeit 


3 
1 
5 
4 

13 

2 

11 

15 

8 

6 

14 

12 

9 

18 


Länder 


Spanien 

England  u.  Wales 
Niederlande 
Schottland 
Finnland    . 
Belgien  .   . 
Dänemark 
Schweiz  .    . 
Norwegen  . 
Schweden  . 
Rumänien  . 
Griechenland 
Irland     .    . 
Frankreich 


Rang  nach  der 


Gebur- 
tenziffer 


15 
16 

17 
18 
19 
20 
21 
22 

23 

24 
25 
26 


Sterb- 
lichkeit 


7 
23 
17 
22 
10 
21 
25 
20 
27 
26 
16 
24 
28 
19 


§.  86.  Einfluss  der  Krankheiten. 

Der  unsystematischen  Beobachtung  erscheinen  die  Todesursachen 
in  zwei  grossen  Gruppen :  als  natürliche  und  unnatürliche.  Natürlich  ist 
ihr  der  Tod  aus  Altersschwäche  und  der  Tod  als  Folge  einer  Krankheit, 
unnatürlich  der  Tod  als  Folge  eines  Unglücksfalles,  Selbstmordes  u.  s.  f. 


Einflnss  des  AHers.  141 

Streng  genominen  gibt  es  nur  eine  einzige  Todesursache,  welche 
natürlich  genannt  werden  kann:  die  Altersschwäche  und  neben  ihr  etwa 
noch  die  Schwäche  der  Kindheit.  Bei  einer  Reihe  von  Krankheiten  lässt 
sich  irgend  eine  Entstehungsursache  der  Krankheit  und  somit  auch  eine 
andere  Todesursache  entdecken,  bei  anderen  mit  grösserer  oder  geringerer 
Sicherheit  vermuthen. 

Darüber  an  anderem  Ort. 

Der  Tod  als  Folge  der  Erkrankung  tritt  nur  bei  einem  Theile  der 
Erkrankungen  ein.  Beachtet  man  eine  lange  Reihe  von  Jahren,  und  bei 
einer  grösseren  Bevölkerung  die  vorkommende  durchschnittliche  Regel- 
mässigkeit des  Absterbens  an  gewissen  Krankheiten,  so  erhält  man  eine 
Andeutung  der  Gleichförmigkeit  und  des  Umfanges  der  Erkrankungen, 
von  welchen  diejenigen,  deren  Ausgang  der  Tod  ist,  nur  einen  Theil 
bilden.  Man  erhält  die  absolute  Intensität  der  verschiedenen  Krank- 
heiten als  Todesursachen,  ihre  Gefahr  för  den  Gesunden.  Wüsste  man 
auch  die  Zahl  der  an  jeder  Krankheit  Erkrankten,  so  erhielte  man  die 
relative  Intensität  der  Krankheiten,  d.  h.  die  in  ihnen  liegende  Todes- 
gefahr fiir  den  Erkrankten. 

Aus  der  Zahl  der  durch  eine  Krankheit  verursachten  Todesfälle 
einer  bestimmten  Bevölkerung  darf  man  begreiflicherweise  noch  nicht  auf 
die  Häufigkeit  dieser  Krankheiten  unbedingt  schliessen. 

Die  Statistik  der  Krankheiten  als  Todesursachen  hat  jetzt  schon 
über  ein  sehr  reiches  Material  zu  verfugen,  über  ein'  Material,  welches 
allerdings  an  grosser  Zerstreuung  leidet,  und  nicht  minder  an  mannig- 
fachen Beobachtungsfehlern. 

Aumerkuug. 
Des   iunereu   Zusammeuhauges   wegen   wird   an   dieser  Stelle  von  einer 
weitereu  Erörterung  dieses  Gegenstandes  abgesehen  und  dagegen  auf  ein  spä- 
teres Capitel  verwiesen,    welches    sich    mit  den  körperlichen  Eigenschaften  der 
BeTölkerung  beschäftigen  wird. 

§.  87.  Einflnss  des  Alters. 

Keine  Ursache  wirkt  mächtiger  auf  die  Sterblichkeit  des  Menschen 
als  das  Alter.  Das  Alter  ist  jene  Todesursache,  welche,  wenn  alle  anderen 
Todesarsachen  an  der  eisernen  Gesundheit  und  dem  Glücke  eines  Men- 
schen wirkungslos  abgeprallt  sind,  ihn  schliesslich  unerbittlich  dahinrafiit. 
Aber  auch  schon  früher  übt  es  seine  Gewalt  über  das  Leben  aus. 

So  verzeichnete  die  Statistik  schon  längst  eine  überraschend  grosse 
Sterblichkeit  der  Kinder  unmittelbar  nach  ihrer  Geburt.  Sie  bemerkte, 
dass  während  des  ersten  Lebensmonates  viermal  so  viele  Kinder  sterben, 
als  während  des  zweiten  Monates,  und  fast  so  viele  als  während  des 
zweiten  und  dritten  Jahres. 


142  Einflnss  des  Alien. 

Diese  Kindersterblichkeit  aber  ist  länderweise  ungemein  verschieden. 
So  beti'ug  z.  B.  im  Jahre  1878  der  Procentsatz  derjenigen  Todten,  welche 
im  ersten  Lebensjahre  starben,  in  Württemberg  41,«6^  aller  Gestorbenen, 
in  Irland  dagegen  blos  13,m^.  In  den  europäischen  Ländern  stirbt  über 
ein  Viertheil  der  Gesammtbevölkerung  vor  Beendigung  des  ersten  Lebens- 
jahres; in  den  deutschen  Ländern  und  in  Oesterreich  bleiben  von  100 
Lebendgeborenen  nach  vollendetem  fünften  Jahre  nur  etwa  60  übrig. 

Vom  Ablauf  des  ersten  Lebensjahres  an  nimmt  die  Kindersterb- 
lichkeit rasch  ab,  wie  sie  innerhalb  des  ersten  Jahres  auch  schon  von 
Monat  zu  Monat  geringer  wird. 

Im  xllter  von  5  Jahren  lässt  die  Sterblichkeit  ganz  bedeutend  nach. 
Der  Anfang  des  mannbaren  Alters  ferner  fordert  ein  Minimum  von  Todes- 
fällen. Nach  diesem  Alter  nimmt  die  Sterblichkeit  zu,  zunächst  bei  den 
Frauen,  langsamer  bei  den  Männern.  Hier  verlangt  das  Alter  von  21  bis 
25  Jahren,  die  Zeit  stürmischer  Leidenschaft,  bedeutendere  Opfer.  Ein 
zweites  Minimum  erreicht  die  Sterblichkeit  der  Männer  im  30.  Jahre. 
Vom  40.  Jahre  an  nimmt  sie  bei  beiden  Geschlechtern  mehr  und  mehr 
zu,  mit  rapider  Energie  vom  60.  Jahre  an.  Von  dieser  Zeit  an  sterben 
mehr  Frauen  als  Männer  aus  dem  einfachen  Grunde,  weil  mehr  Frauen 
in  diesem  Alter  vorhanden  sind,  als  Männer. 

Wer  das  Menschenleben  beobachtet,  weiss,  dass  jedes  Alter  seine 
besonderen  Gefahren  hat.  Sie  sind  die  tieferen  Gründe,  welche  diese 
Verschiedenheit  der  Sterblichkeit  in  den  verschiedenen  Lebensjahren  be- 
einflussen. Ueber  dem  zarten  Kindesalter  schwebt  die  Gefahr  eines  ver- 
unglückten Organismus,  einer  schlechten  Verpflegung.  Diese  hat  bis  zum 
5.  Jahre  ihre  Opfer  gefordert  —  deshalb  von  da  an  die  Minderung  der 
Sterblichkeit.  Später  treten  als  neue  Gefahren  die  erwachenden  Leiden- 
schaften auf  und,  bei  Männern  sowohl  als  bei  Frauen,  die  der  verzeh- 
renden Berufsthätigkeit,  welche  aber  bei  beiden  Geschlechtern  in  ver- 
schiedenen Altern  wirken  und  allmälig  sich  vereinen  mit  dem  Naturgesetz, 
welches  jedem  Menschenleben,  auch  dem  von  Gefahren  freiesten,  seine 
Grenze  setzt. 

Die  Sterblichkeit  der  verschiedenen  Altersclassen,  mit  ihren  länder- 
weisen  Unterschieden,  bietet  ein  sehr  reiches  Feld  für  Beobachtungen.  Die 
Thatsache  z.  B.,  dass  einzelne  Länder  mit  der  bedeutendsten  Sterblich- 
keit der  unter  einem  Jahre  alten  Kinder  (Württemberg  und  Bayern)  eine 
sehr  geringe  Sterblichkeit  der  Kinder  von  1 — 5  Jahren  aufzuweisen  haben, 
mag  wohl  auf  eine  gewisse  Ausgleichsthätigkeit  der  Natur  hinweisen.  Als 
höchst  auflfallend  muss  es  z.  B.  erscheinen,  dass  gerade  Irland  die  geringste 
Sterblichkeit  der  unter-einjährigen  Kinder  zeigt;  ebenso,  dass  in  drei  der 
europäischen  Staaten,    nämlich    in  Portugal,  Spanien  und  Rumänien  die 


Einflnss  des  GeBchlechtes. 


143 


Sterblichkeit  der  Kinder  von  1 — 10  (resp.  1 — 5)  Jahren  grösser  ist,  als 
die  der  unter-einjähriged.  Vergleichungen  mit  der  allgemeinen  Sterblich- 
keitsziffer und  mit  der  Geburtenziffer,  sowie  mit  anderen  Erscheinungen 
des  Völkerlebens  können  hier  noch  manchen  werthvollen  Aufschluss  geben. 

Aumerkuug.  • 

Die  Sterblichkeit,  uach  Altersclasseu  ausgeschieden,  stellt  sich  in  neuerer 
Zeit  in  den  wichtigsten  europäischen  Ländern  wie  folgt.  Unter  je  100  Gestor- 
benen starben: 


Im  Alter 

a>    1 

i^ 

von 
Jahren 

^1 

Ä2 

0-     1 

26,73 

18,79 

32,20 

1-     5 

21,04 

10,51 

16,19 

5-  10 

4,60 

2,98 

4;o4 

10-  15 

2,08 

1,76 

1,66 

15-  20 

2,17 

2,49 

1,85 

20-  30 

5,46 

7,80 

4,88 

30—  40 

5,14 

6,40 

5,34 

40—  50 

5,45 

6,90 

5,62 

50-  60 

6,63 

8,83 

7,49 

60-  70 

8,82 

12,75 

8,91 

70-  80 

8,14 

14,50 

8,OT 

80-  90 

3,33 

6,21 

2,79 

90-100 

0,a7 

0,57 

0,27 

über  100 

0,01 

0,01 

0,02 

unbekann- 

ten Alters 

0,08 

— 

0,72 

0)    5«  M5 


1*17 

'S  22  t^ 


.a  I 

ei  an 
^5 


W2S 


40,47 
9,77 
2,37 
1,00 
1,22 
4,10 
4,65 
5,13 
7,31 

10,67 
9,65 
3,20 

0,23 
0,06 


31,80 
16,20 
4,38 
1,91 
2,14 
5,37 
5,70 
6,44 
7,84 
8,84 
6,74 
2,35 
0,24 

0,01 

0,04 


26,21 

8,11 

2,63 
1,59 
2,13 
3,58 
6,54 
7,17 
9,43 
13,22 
12,39 
4,08 
0,27 


36,21 

21,12 

5,00 

2,07 
2,06 
4,76 
4,97 
5,63 
6,23 
6,38 
4,14 
1,06 
0,16 
0,02 

0,19 


22,93 

25,20 

3,73 
1,98 
2,39 
5,62 
5,90 
6,89 
7,24 
8,62 
6,68 
2,60 
0,31 

0,01 


24,76 
15,78 
3,84 
1,97 
2,69 
3,14 
6,42 
6,68 
7,02 
8,82 
9,72 
7,60 
2,09 
0,12 


(Nach  den  schon  wiederholt  erwähnten  italienischen  Publicationen  über 
die  Bevölkerungsbewegung  der  Jahre  1862—78,  pag.  CCXXXV.) 

Diese  Tabelle  stellt  jedoch  lediglich  dar,  wie  die  verschiedenen  Altersclas- 
sen  sich  an  der  Gesammtsumme  der  Gestorbenen,  ohne  Rücksicht  auf  deren 
Alter,  betheiligen.  Bringt  man  die  obigen  Ziffern  in  Zusammenhang  mit  der 
Besetzung  der  Altersclasseu  einer  Bevölkerung:  dann  erhält  man  ein  ganz 
anderes  Bild.  Hierüber  vgl.  §.  117—119. 

§.  88.  Einfluss  des  Geschlechtes. 

Der  Einfluss  des  Geschlechtes  tritt  bei  den  Sterblichkeitsverhält- 
nissen  in  jeder  Beziehung  sehr  stark  hervor;  er  macht  sich  schon  geltend, 
ehe  noch  das  Kind  das  Licht  der  Welt  erblickt  hat.  So  treffen  auf  100 
todtgeborene  Mädchen  in  Italien  139  todtgeborene  Knaben  (1865—78), 
in  Frankreich  (1865—77)  144,  im  Deutschen  Reich  (1872—78)  129,  in 
Oerterieich  (1865—78)  131  u.  s.  f. '). 


144  Oertliche  und  klimatische  YerhiltniBse. 

Es  zeigt  sich  diese  grössere  Sterblichkeit  des  männlichen  Geschlechtes 
auch  noch  später.  Auf  100  Lebende  starben  (1860 — 65)  in  Preussen 
23,60  Knaben  und  20,50  Mädchen  von  0—1  Jahr,  in  Oesterreich  33,io 
Knaben  und  27,5o  Mädchen  von  0—1  Jahr*). 

Es  muss  demnach  eine  Ursache  bestehen,  welche  die  Kinder  männ- 
lichen Geschlechtes  vor  und  bald  nach  der  Geburt  energischer  hinweg- 
rafft, als  die  Mädchen.  Die  grössere  Sterblichkeit  der  männlichen  Kinder 
reicht  noch  weit  über  das  Säuglingsalter  hinaus. 

In  höheren  Lebensjahren  gestaltet  sie  sich  allerdings  etwas  anders. 
So  zeigt  sich  eine  grössere  Sterblichkeit  des  weiblichen  Geschlechtes 
namentlich  im  Alter  von  5 — 15  Jahren  in  Preussen,  Frankreich,  England  etc.; 
im  Alter  von  15 — 30  Jahren  auch  in  England  und  Belgien  ^). 

Man  hat  über  die  Ursachen  dieser  Verschiedenheit  mannigfache 
Vermuthungen  aufgestellt,  doch  sind  sie  zur  Erklärung  namentlich  der 
grösseren  Sterblichkeit  männlicher  Kinder  nicht  zureichend. 

Was  die  letztere  betriffi,  so  mag  wohl  die  Natur,  in  der  Absicht, 
aus  dem  Manne  ein  vollkommneres  Geschöpf  zu  bilden,  als  aus  dem 
Weibe,  dabei  auch  mehr  Hindernisse  finden.  Ein  feinerer  Organismus  ist 
allen  schädlichen  Einflüssen  leichter  zugänglich. 

In  späteren  Lebensjahren  tragen  zu  der  grösseren  Männersterblich- 
keit noch  andere  Umstände  bei. 

So  die  anstrengendere  Beschäftigung  der  Männer,  der  Militärdienst, 
nur  theilweise  ausgeglichen  durch  die  Wochenbetten  der  Frauen;  dann  die 
öfteren  Excesse  der  Männer  in  der  Lebensweise. 

Aumerkuugeu. 
')  Nach  Movimento  dello  stato  civile,  4862—78  pag.  CLXXVII. 
*)  Block-v.  Scheel,  a.  a.  0.,  S.  267. 
')  Ebenda. 

§.  89.  OerÜiche  und  klimatische  Einflüsse. 

Die  grossen  Unterschiede  der  allgemeinen  SterblichkeitsziflPer,  welche 
sich  in  verschiedenen  Ländern  ergeben  (vgl.  §.  84,  Anmerkungen),  steigern 
sich  noch  ganz  bedeutend,  wenn  man  einzelne  Landestheile  beobachtet. 
Während  z.  B.  im  russischen  Gouvernement  Perm  jährlich  etwa  der 
zwanzigste  Mensch  eine  Beute  des  Todes  wird,  weist  die  spanische  Provinz 
Lugo  (1863)  eine  Sterblichkeit  von  nur  1:59  oder  1,5»  ^  auf*).  Ueberhaupt 
stellt  sich  die  Sterblichkeit  Europa^s  am  schlimmsten  in  einigen  russischen 
Gouvernements  (im  Osten);  am  günstigsten  in  mehreren  spanischen  Pro- 
vinzen (Canarische  Inseln,  Aviedo,  Pontevedra),  in  Irland  etc.  Sehr  grosse 
Extreme  finden  sich  in  Spanien,  wo  neben  den  vorgenannten  Provinzen 
die  Provinzen  Avile,  Madrid,  Valladolid  eine  Sterblichkeit  von  1:26  oder 


Oertliche  nnd  klimatische  Verhältnisse.  145 

3,8»  ^  (1863)  zeigen  *).  üebrigens  haben  alle  grossen  Staaten  Europa's  be- 
deutende Verschiedenheiten  der  SterblichkeitszifFer  ihrer  einzelnen  Bestand- 
theile  aufzuweisen.  So  erscheint  im  Deutschen  Reiche  (1878)  neben  Meck- 
lenburg-Schwerin mit  3,319^,  Posen  mit  4,67  Jl^  Gestorbenen. 

Noch  grossartiger  sind  die  Unterschiede  der  Sterblichkeit  in  den 
Städten  allein  *).  Am  schlimmsten  stellt  sich  die  Sterblichkeit  der  meisten 
russischen  Städte.  So  stirbt  in  Perm  der  vierzehnte,  in  Woronesch  der 
fünfzehnte,  in  Kursk  der  zwanzigste  Mensch  jährlich. 

Die  Verschiedenheit  der  Sterblichkeit  nach  Städten  und  Ländern  hat 
jedoch  keineswegs  blos  eine  einzige  Ursache,  sondern  wird  bestimmt  durch 
eine  Reihe  geographischer,  politischer,  wirthschaftlicher  und  socialer  Unter- 
schiede der  Orte. 

Quetelet  versuchte,    indem  er  Europa  nach  der  Breitenlage  in  drei 
Theile,  Nord-,  Mittel-  und  Südeuropa,  zerschlug,  zu  zeigen,  dass 
im  nördlichen  Europa  auf  41,i  Einwohner 
„    mittleren  „         „    40,«  „ 

„    südlichen  „         „    33,7  „ 

ein  Todesfall  komme  und  demnach  die  Sterblichkeit  in  Mittel-  und  Süd- 
europa grösser  sei  als  im  Norden.  Ob  die  Ursache  in  politischen  Zustän- 
den oder  im  Klima  liege,  wagte  er  nicht  zu  entscheiden.  Vergleicht  man 
hiemit  die  oben  (§.  85)  mitgetheilte  Tabelle,  so  wird  allerdings  Quetelet's 
Beobachtung  bestätigt,  ohne  dass  man  jedoch  weitere  Aufschlüsse  über  den 
Zusammenhang  von  Klima  und  Sterblichkeit  finden  dürfte. 

Um  den  Einfluss  der  Oertlichkeit  noch  genauer  kennen  zu  lernen, 
müßste  man  einen  beschränkteren  Massstab  anlegen  und  die  verschiedenen 
Theile  einer  und  derselben  Provinz  vergleichen,  je  nachdem  das  Land 
eben  oder  gebirgig,  waldig  oder  sumpfig  ist;  je  nachdem  man  es  femer 
mit  Landschaften  am  Meeresufer,  mit  Flussthälern  im  Hügelland  oder  im 
Hochlande,  mit  Hochebenen  oder  Terrassenlandschaften  zu  thun  hat.  Kurz 
man  müsste  in  alle   einzelnen  Details  der  Bodenconfiguration  eindringen. 

Den  Einfluss  des  Klimas  auf  die  Sterblichkeit  der  in  demselben  Ge- 
borenen hat  man  nicht  nur  weit  überschätzt,  sondern  sogar  geradezu  ver- 
kehrt betrachtet.  Man  hatte  beobachtet,  dass  bei  uns  der  Sommer  der 
menschlichen  Gesundheit  zuträglicher  ist,  als  der  Winter,  und  hieraus  ge- 
schlossen, dass  in  warmen  Ländern  die  Sterblichkeit  geringer  sein  müsse, 
als  in  kalten.  Andere  dagegen  behaupteten,  kaltes  Klima  kräftige  den 
Menschen  und  mache  ihn  för  Witterungswechsel  unempfindlich.  Die  Beob- 
achtungen sprechen  gegen  die  erstere  Behauptung,  aber  auch  nicht  son- 
derlich zu  Gunsten  der  letzteren.  Das  günstige  Sterblichkeitsverhältniss  in 
Norwegen  und  Schweden  lässt  sich  leicht  auf  die  günstigen  sittlichen  und 
materiellen  Zustände  jener  Länder  zurückführen.     Aber  wie   erklärt  sich 

Hanshofe r,  Statistik.  2.  Aufl.  K) 


146 


Oertliche  und  klimatische  Verhiltnisse. 


dann  die  günstige  Sterblichkeit  Irlands  bei  dem  notorischen  Elend  seines 
Volks? 

Wohl  mögen  die  mannigfaltigsten  örtlichen  meteorischen  und  tellu- 
rischen Einflüsse  auf  das  Menschenleben  und  die  Sterblichkeit  einwirken. 
Betrachtet  man  jedes  Land  in  der  oben  angegebenen  Weise  genauer,  so 
findet  man  nach  den  verschiedenen  Oertlichkeiten  die  grössten  Verschie- 
denheiten der  SterblichkeitzifFer.  Qu^telet  beobachtete  in  der  niederländi- 
schen Provinz  Zeeland  eine  Sterblichkeit  von  1  :  28,5  (1815 — 24);  in  der 
Provinz  Namur  dagegen  von  1 :  51,8.  In  der  von  feuchter  Atmosphäre 
überlagerten  Provinz  Zeeland  herrschten  Fieber  und  andere  Krankheiten. 

Aber  der  Mensch  ist  in  der  Lage,  je  weiter  er  in  der  Civilisation 
fortschreitet,  sich  mehr  und  mehr  von  der  Natur  und  demnach  auch  von 
klimatischen  Einflüssen  zu  emancipiren. 

Anmerkungen. 

*)  Anuario  estadistico  de  Espana.  Madrid  1866  u.  67.  pag.  41. 

*)  Ebenda. 

•)  In  einer  Reihe  der  wichtigsten  Grossstädte  stellt  sich  die  Sterblichkeit 
folgend ermasseu  (Kdrosi:  Statistique  internationale  des  grandes  villes.  1876). 
Auf  1000  Lebende  treffen  jährlich  Todesfälle: 


Budapest (1875)  40,8 

Wien (1869)  33,2 

Wien (1874)  29,i 

Prag (1869)  41,5 

Triest (1870)  40,5 

München (1874)  40,9 

Frankfurt  a/M :  (1875)  20,2 

Leipzig „      25,1 

Stuttgart (1871)  26,7 

Hamburg „      41,7 

Rom (1874)  34,6 

Turin (1872)  27,o 

Palermo (1871)  25,7 

Venedig (1874)  32,8 

Mailand (1871)  38,5 

Philadelphia (1870)  24,9 

New-Orleans (1875)  30,7 

Boston (1870)  24,3 


St.  Louis (1870)  21,8 

Stockholm (1864/73)  31,6 

Christiania (1864/74)  20,8 

Kopenhagen (1871)  23,2 

Petersburg (1869)  34,i 

Moskau     . (1871)  39,7 

Odessa (1873)  43,i 

Gent (1865)  31,o 

Haag (1869)  21,9 

Rotterdam (1865/74)  33,2 

Berlin (1871)  37,o 

Dresden (1875)  26,o 

Köln      „      31,5 

Breslau „      31,2 

Neapel (1871)  39,i 

Paris (1872)  21,4 

London .  (1845/50)  25,o 

London (1871)  24,6 


S.  Francisco (1875)  20,5 

Diese  Zahlen  müssen  jedoch  mit  einer  gewissen  Vorsicht  betrachtet  wer- 
den, da  bei  einzelnen  Städten  günstigere,  bei  anderen  ungünstigere  Jahre 
herausgegiiffen  wurden.  Ein  genaues  Bild  der  städtischen  Sterblichkeit  würde 
sich  nur  ergeben,  wenn  die  Durchschnitte  einer  längeren  Jahresreihe,  etwa 
Ton  6—10  Jahren  ermittelt  würden. 


Einfluss  der  Bacen-  und  Nationalitfttsnnterschiede. 


147 


§.  90.  Einfltus  der  Eacen-  und  Nationalitätsulitersohiede. 

Racenunterschiede  und  nationale  Eigenthümlichkeiten  scheinen  noch 
weit  weniger  Einfluss  zu  haben.  Mit  einer  merkwürdigen  Ausnahme. 

Das  Volk  der  Juden  hat  eine  ungewöhnlich  starke  Lebenskraft;  es 
gedeiht  mehr  als  irgend  ein  anderes  in  allen  Ländern  und  klimatischen 
Verhältnissen.  Man  hat  bei  ihm  eine  regsamere  Vermehrung  beobachtet, 
namentlich  eine  geringere  Sterblichkeit  als  bei  anderen  Völkern. 

So  zeigten  sich  in  der  Stadt  Algier  i.  J.  1856 

bei  den:  Geburten:  Todesfalle: 

Europäern  1234  1553 

Moslhnen  331  514 

Juden  211  187 

demnach  bei  den  Juden  allein  eine  die  Zahl  der  Todesfälle  übersteigende 

Zahl  der  Geburten  *).    Auch  fiir  Ungarn  ist  die  Thatsache  der  jüdischen 

Lebenszähigkeit  ziffermässig  nachgewiesen  worden^). 

Die  Gründe  dieser  Zähigkeit  liegen  einestheils  wohl  in  der  Vermeidung 
harter  körperlicher  Arbeit  und  Lebensgefahr,  anderntheils  in  der  massigen 
nüchternen  Lebensweise.  Ob  beide  Momente  ausreichen,  um  diese  eigenthüm- 
liche  Erscheinung  in  ihrem  vollen  Umfange  zu  erklären,  ist  wohl  fraglich. 


Anmerkungen. 

*)  G.  F.  Kolb:  Handbuch  d.  Tergleicheudeu  Statistik,  5.  Aufl.,  S.  574. 
Derselbe  theilt  auch  folgende  Tabelle  mit  (nach  Neufville),  welche  den  Sterbe- 
listen der  Stadt  Frankfurt  in  den  Jahren  1846 — 48  entnommen  ist.  Nach  den- 
selben treffen  auf  100  Lebende  Todesfalle: 


Im  Alter 

von 
Jahren 


bei 
Christen 


bei 
Juden 


Im  Alter 

von 
Jahren 


bei 
Christen 


bei 
Juden 


1-  4 
5-  9 

10-14 
15-19 
20-24 
25-29 
30-34 
35-39 
40-44 
45-49 


24,1 

2,3 

1,1 

3,4 

6,2 
6,2 

4,8 
5,8 
5,4 
5,6 


12,9 
0,4 
1,5 

3,0 

4,2 
4,6 
3,4 

6,1 

4,6 
5,3 


50—  54 
55—  59 
60—  64 
65—  69 
70-  74 
75—  79 
80-  84 
85-  89 
90—  94 
95—100 


4,6 
5,7 
5,4 

6,0 

5,4 
4,3 
2,6 
0,9 
0,16 
0,04 


3,8 

6,1 

9,6 

7,2 

11,4 

9,1 
5,0 

1,5 
0,4 


*)  Vgl.  V.F.  Klun:  Statistik  von  Oesterreich-Ungarn.  Wien  1876.  S.  116. 

10* 


148  Einflnss  der  Acclimatisation. 

§.  91.  Einflnss  von  Stadt  und  Land. 

Süssmilch  nahm  das  SterblichkeitsverhältniBs  for  ganze  Länder,  Stadt 
und  Land  durcheinander,  zu  1 :  36  an ;  für  das  platte  Land  1  :  40,  tur 
kleine  Städte  1 :  32;  für  grössere,  wie  Berlin  1 :  28  und  för  ganz  grosse, 
wie  Rom,  London  1 :  24  bis  1 :  25,  gibt  aber  zu,  dass  diese  Zahlen  vor- 
läufig nur  eine  noch  näher  zu  bestimmende  Annahme  seien  *). 

Quetelet  jedoch  bestätigte  diese  Thatsache  schon  dahin,  dass  die 
Sterblichkeit  in  Stadt  und  Land  wie  4 : 3  sich  verhalte  *). 

Die  grössere  Sterblichkeit  der  Städte  ist  durch  alle  späteren  Beob- 
achtungen bestätigt  worden*). 

Man  sieht  demnach,  dass  die  Städte  ihrem  intensiveren  Leben  Opfer 
an  Lebenszeit  bringen.  Indessen  darf  man  die  mannigfachen  Umstände, 
welche  auf  die  Sterblichkeit  der  Städte  gegenüber  jener  des  Landes  ein- 
wirken, nicht  ausser  Acht  lassen.  Ununterbrochen  strömt  ja  in  den  Städten 
fremde  Bevölkerung  ab  und  zu.  Die  Städte  ziehen  kranke  Leute  (nament- 
lich durch  ihre  klinischen  Anstalten)  an  und  geben  andererseits  häufig 
Neugeborene  (also  in  der  Zeit  der  grössten  Sterblichkeit)  an  das  Land  ab. 
Auch  anderseits  üben  die  Städte,  z.  B.  durch  ihre  Lehranstalten,  durch 
die  Gelegenheit  leichten  und  guten  Arbeitsverdienstes,  Anziehungskräfte 
aus.  Eben  so  ziehen  sich  ältere  Leute  —  deren  Sterblichkeit  gleichfalls 
wieder  eine  erhöhte  ist  —  aus  der  Provinz  nach  den  Städten.  Der  weniger 
reinen  Athmosphäre,  dem  lebenverzehrenden  Treiben  der  Städte  gegenüber 
stehen  wieder  die  sanitätspolizeilichen  Verbesserungen  in  Bezug  auf  Rein- 
lichkeit u.  s.  f.  Nicht  zu  unterschätzen  ist  die  Möglichkeit  augenblicklicher 
ärztlicher  Hilfe  bei  plötzlichen  Erkrankungen  und  Unglücksfällen,  welche 
in  den  Städten  eine  weit  grössere  ist,  als  auf  dem  Lande. 

Anmerkungen. 
*)  A.  a.  0.  1.  Bd.,  S.  91. 
*)  A.  a.  0.  S.  131. 
*)  Von  denselben  möge  hieruur  noch  die  Zusammenstellung  von  Wappäus 

a.  a.  0.  IL  Bd.,  S.  481  hervorgehoben  werden.    Nach  derselben  stellte  sich  die 

Sterblichkeit  für 

in  den  Städten  wie  1  :        auf  dem  Lande  wie  1  : 
Frankreich  (1853-54)  ....  31,5i  42,2i 

Niederlande  (1850—54)     .   .    .  35,65  43,03 

Belgien  (1851—55) 34,85  44,3i 

Schweden  (1851—55)    .   •   .   .  28,95  46,86 

Prenssen  (1849) 27,97  34,46 

§.  92.  Einfluss  der  Acclimatisation. 

Der  Mensch  ist  ein  Parasit  der  Erde.  Und  nicht  nur  der  Erde, 
sondern  in  der  Regel  auch  speciell  eines  Theiles  der  Erde,  jenes  Theiles, 


Einflnss  der  Acclimatisation.  149 

den  er  seine  Heimat  nennt.  Reisst  man  ihn  los  vom  Boden,  darin  er  er- 
wuchs, so  hat  er  lange  und  schmerzensreiche  Kämpfe  zu  bestehen,  bis  er 
in  fremder  Erde  Wurzel  fasst. 

Häufig  aber  gelingt  es  ihm  niemals,  anderwärts  eine  neue  Heimat 
zu  findea  Er  fühlt  sich  körperlich  und  geistig  fremd  auf  der  fremden  Erde. 

Der  moderne  Verkehr,  der  über  beschneite  Alpen  seine  Schienen- 
stränge legt  und  Welttheile  trennt,  um  sich  Strassen  zu  bahnen,  ist  be- 
strebt, die  Wurzeln,  die  den  Menschen  an  seine  Heimat  binden,  mehr  und 
mehr  zu  lockern. 

Derselbe  Verkehr  hat  in  rauher  und  geschäftsmässiger  Rücksichts- 
losigkeit seit  der  Entdeckung  Amerika^s  ein  grossartiges  Acclimatisations- 
system  ins  Werk  gesetzt,  um  den  Menschen  aus  dem  Localthier,  aus  dem 
Heimatsparasiten  und  Nationalitätswesen  zum  Kosmopoliten  zu  machen. 

So  findet  denn  seit  drei  Jahrhunderten  ein  ununterbrochener  Aus- 
tausch von  Menschen  zwischen  den  Theilen  der  Erde  statt.  Aber  diese 
Jahrhunderte  haben  noch  nicht  entfernt  hingereicht,  um  den  Menschen 
zum  Kosmopoliten  zu  machen. 

In  den  aussereuropäischen  Besitzungen  der  europäischen  Staaten 
herrscht  eine  grauenhafte  Sterblichkeit,  wie  namentlich  aus  den  von  den 
Franzosen  in  Algerien  gemachten  Erfahrungen  hervorgeht. 

Nach  diesen  Erfahrungen  beruht  die  ganze  Lehre  von  der  Acclima- 
tisation auf  Täuschung. 

Eine  Vei*pflanzung  nach  einem  Lande  mit  \^e8entlich  anderem  Klima 
schadet  jedem  Menschen,  mag  er  dem  oder  jenem  Stamme  angehören.  Je 
länger  man  in  fremder  Zone,  in  ungewohntem  Klima  lebt,  desto  mehr  ge- 
winnen feindselige  Einflüsse  Gewalt  über  den  Körper.  Man  gewöhnt  sich 
nicht  an  das  fremde  Klima,  sondern  man  wird  stets  hinfälliger.  Die  feind- 
seligen Einflüsse  häufen  sich  mehr  und  mehr. 

Selten  nur  ist  die  Ausnahme,  dass  ein  Aufenthalt  in  anderem  Klima 
fiir  gewisse  Krankheiten  entschieden  heilsam  wirkt.  Besonders  gilt  dies 
von  der  Lungentuberculose.  Man  hat  solch  einen  günstigen  Einfluss  des 
Klimas  von  Madeira  auf  Lungenkrankheiten  statistisch  nachgewiesen.  Pa- 
lermo und  Cairo,  Mentone  und  Meran  und  manche .  andere  Plätze  stehen 
in  ähnlichem  Rufe  und  es  bedarf  nur  eines  eifrigen  Weiterbaues  der  me- 
dicinischen  Statistik,  um  die  klimatischen  Curorte  in  ihrer  gesundheitlichen 
Bedeutung  für  die  verschiedenen  Krankheitszustände  zifi^ermässig  darzu- 
stellen und  die  Statistik  auch  in  dieser  Beziehung  zu  einer  Freundin  und 
Helferin  der  leidenden  Menschheit  zu  machen. 


t50  Einflnss  der  Acclimatisation. 

Aumerkuug. 

£iue  Reihe  von  hierauf  bezüglichen  Thatsacheu  findet  sich  mitgetheilt 
bei  G.  F.  Kolb:  Handbuch  der  vergleichenden  Statistik,  5.  Aufl.,  S.  571  ff. 
Das  Wichtigste  hievou  dürfte  Folgendes  sein: 

Man  hat  im  englischen  Heere  die  Erfahrung  gemacht,  dass  von  iOOO 
Mann  auf  Ceylon  im  ersten  Jahre  44  starben,  im  zweiten  48,  im  dritten  49. 

Auf  Jamaika  starben  von  1000  Soldaten  im  ersten  Jahre  ihres  dortigen 
Aufenthaltes  77,  im  zweiten  87,  in  den  folgenden  Jahren  93. 

In  Guyana  dagegen  hatte  dieselbe  Zahl  im  ersten  Jahre  77  Sterbefalle. 
In  den  darauf  folgenden  10  Jahren  stieg  diese  Zahl  langsam  aber  stetig  bis 
auf  140. 

Der  Besitz  von  Algerien  hat  —  nach  den  Angaben  Picard''s  im  Gesetz- 
gebenden Körper  1864  —  Frankreich  nicht  nur  3  Milliarden  Francs  gekostet, 
sondern  auch  das  Leben  von  150000  braven  Soldaten.  Von  diesen  sind  blos 
4000  vor  dem  Feinde  gefallen;  alle  übrigen  wurden  durch  mörderische  Krank- 
heiten dahingerafft. 

Die  französische  Regierung  hat  sich  alle  Mühe  gegeben,  die  Colonisation 
Algeriens  zu  fördern.  In  den  Jahren  1830  bis  1855  zogen  auch  wirklich  mehr 
als  eine  Million  Auswanderer  aus  Europa  nach  Algerien.  Und  doch  betrug  bei 
einer  Zählung  im  Jahre  1866  die  Civil bevölkerung  an  Europäern  blos  SI17990. 
Gegen  achtmalhunderttausend  Europäer  waren  dem  fürchterlichen  Klima  zum 
Opfer  gefallen  oder  nach  Europa  zurückgekehrt. 

Die  Zahl  der  Ehen  und  Geburten  ist  günstig,  denn  die  Eingewanderten 
sind  meist  kräftige  Leute  im  besten  Alter.  Aber  die  Sterblichkeit  ist  durch- 
schnittlich weit  grösser.  Auf  die  Bevölkerung  des  gleichen  Alters  trafen  in 
Frankreich  bei  1000  Einwohnern  11  Sterbefalle;  in  Algerien  28—52. 

Am  meisten  leiden  die  deutschen  und  schweizerischen  Colonisten. 

Noch  erbarmungsloser  aber  als  unter  den  Erwachsenen  wüthet  der  Tod 
unter  den  Kindern  der  Colonisten;  sogar  die  maurische  Bevölkerung  in  deu 
Städten  und  die  Negerbevölkerung  war  nicht  im  Stande,  sich  zu  vermehren. 

Die  Zahl  der  Soldaten,  welche  in  Ostindien  seit  Anfang  des  Jahrhunderts 
dem  Klima  erlagen,  schätzt  man  auf  150.000.  Auch  dort  ist  es  dem  Klima 
eigen,  dass  es  seine  Opfer  um  so  schlimmer  behandelt,  je  länger  sie  ihm 
trotzen  wollen. 

Man  hat  seitdem  das  System  der  Acclimatisirung  im  Priucip  wenigstens 
aufgegeben,  um  ein  System  des  Wechsels  zur  Geltung  zu  bringen,  nach  wel- 
chem kein  Corps  länger  als  3  Jahre  in  einer  Colonie  bleiben  soll.  Damit  er- 
langte man  wesentlich  bessere  Resultate,  so  dass  auf  Jamaika,  während  beim 
System  des  dauernden  Acclimatisirens  von  1000  Manu  128  starben,  beim  System 
des  Wechsels  nur  ein  Verlust  von  39  sich  ergab. 

Fast  überall,  wo  ein  verrufenes  Klima  herrscht,  hat  man  dieselbe  Erfah- 
rung gemacht,  die  Erfahrung,  dass  die  Wirkungen  dieses  Klimas  um  so  ver- 
derblicher werden,  je  länger  die  Ursache  thätig  ist. 

Für  die  Fieberluft  der  römischen  Campagua  wird  man  erst  empfanglich, 
wenn  mau  eine  Zeit  lang  iii  der  Gegend  gelebt  hat.  Die  deutscheu,  englischen 
und  französischen  |Cünstler  in  Rom  werden  fast  niemals  im  ersten,  wohl  aber 
in  späteren  Jahren  ihres  dortigen  Aufenthaltes  fieberkrank.    Die  französischen 


EinfluBS  der  Jahre  sseiten  etc.  151 

Soldaten,  welche,  um  Joseph  Napoleon  auf  deu  neapolitanischen  Thron  zu  er- 
heben, die  Gampagua  durchzogen,  hatten  weder  auf  dem  Hinmarsche  noch  auf 
dem  Bückmarsche  Ton  der  Tieberluft  zu  leiden.  Dagegen  starb  ein  Kapuziner- 
kloster, welches  Pius  VII.  dort  gründete,  bald  aus. 

Auch  Kinder  der  Fremden,  sogar  die  dort  geborenen,  sterben  in  solchen 
Gegenden  massenhaft  hin.  Das  hat  sich  in  Ostindien  und  Algerien,  in  Egypten 
und  auf  den  Antillen  gezeigt.  Ein  französischer  Arzt,  Vital,  welcher  16  Jahre 
in  Algerien  zu  leben  das  Glück  hatte,  fand,  dass  die  Kinder,  welche  ron  euro- 
päischen Eltern  zu  Gonstantine  geboren  wurden,  sofort  unerbittlich  hinwegge- 
rafft werden. 

Von  den  zu  Gonstantine  geborenen  Negern  erreichen,  wie  die  Gazette 
medicale  vom  6.  Not.  1852  mittheilt,  unter  100  nur  t  das  Jünglings-  und 
Jungfrauenalter. 

Auch  in  Egypten  herrscht  dieselbe  Fremdensterblichkeit.  Von  den  90 
Kindern  Mehemed  Ali'^s  konnten  nur  5  erhalten  werden. 

Man  gibt  dieser  Erscheinung  die  Ursache,  dass  air  die  Eroberungsrölker, 
welche  im  Laufe  der  Jahrtausende  über  Egypten  herfielen,  sich  dort  nicht 
halten  konnten. 

Dieser  Einfiuss  der  Acclimatisirungsrersuche  auf  die  Sterblichkeit  ist  ein 
ganz  natürlicher.  Auch  für  die  Thiere  ist  ein  Verpflanzen  nach  anderem  Klima 
nachtheilig,  noch  weit  nachtheiliger,  als  für  den  Menschen. 

§.  93.  Einfluss  der  Jahreszeiten  etc. 

Die  Jahreszeiten  sind,  wie  auf  die  Zahl  der  Geburten  auch  auf  jene 
der  Todesfälle  von  entscheidendem  Einflüsse,  der  schon  vielfach  beobachtet 
worden  ist.  Im  Allgemeinen  war  das  jetzt  einigermassen  als  irrig  befundene 
Resultat  der  frühesten  dieser  Beobachtungen,  dass  die  Sterblichkeit  im 
umgekehrten  Verhältnisse  mit  der  Temperatur  steigt,  so  dass  bei  höchster 
Temperatur  die  Sterblichkeit  am  geringsten  ist  und  umgekehrt.  Die  Wir- 
kungen dieser  Ursachen  zeigten  sich  aber  nicht  gleichzeitig  mit  den  Ursa- 
chen, sondern  einen  Monat  später.  So  fand  man  die  grösste  Kälte  im 
Januar,  die  grösste  Sterblichkeit  aber  im  Februar  und  März,  sowie  die 
grösste  Wärme  im  Juli  und  die  geringste  Sterblichkeit  im  August.  Dieses 
verspätete  Erscheinen  der  Wirkungen  ist  indessen  ganz  natürlich;  die 
schädlichen  Einflüsse,  des  Winters  und  die  heilsamen  des  Sommers  müssen 
erst  eine  Zeit  lang  auf  den  Organismus  gewirkt  haben,  ehe  sie  in  der 
höheren  oder  geringeren  Sterblichkeit  ihren  Ausdruck  finden. 

Ferner  haben  die  Beobachtungen  ergeben,  dass  eine  Erhöhung  der 
Wärme  über  den  normalen  Zustand  im  Winter  die  Sterblichkeit  vermin- 
dere, im  Sommer  sie  vermehre,  und  umgekehrt,  dass  eine  Erniedrigung 
der  Wärme  unter  den  normalen  Zustand  im  Winter  die  Sterblichkeit  ver- 
mehre, im  Sommer  sie  vermindere. 

Spätere  und  umfassendere  Beobachtungen  erwiesen  indessen,  dass 
das  Maximum  der  Todesfälle  keineswegs  überall  in  denselben  Monat  fällt 


152  Einfluss  der  Jahresteiten  etc. 

—  eben  so  wenig  als  das  Minimum.  In  dieser  Hinsicht  unterscheiden  sich 
vielmehr  die  nördlichen  Länder  wesentlich  von  den  südlicheren,  üebrigens 
wechseln  die  Todesfälle  monatweise  nicht  mit  der  gleichen  Regelmässigkeit 
wie  die  Geburten. 

Bei  genauerer  Untersuchung  kam  man  zu  dem  Resultate,  dass  nicht 
Kälte  und  Wärme  an  sich  die  Zahl  der  Todesfälle  beeinflussen,  sondern 
dass  es  einestheils  die  Excesse  der  Temperatur  sind,  welche  schädliche 
Wirkungen  aussein,  andererseits,  und  zwar  vorzugsweise,  die  Unregel- 
mässigkeiten der  Temperatur.  Der  menschliche  Organismus  braucht  eine 
gewisse  Zeit,  um  sich  an  eine  höhere  oder  niedrigere  Temperatur  zu  ge- 
wöhnen und  leidet  um  so  mehr,  je  grösser  und  plötzlicher  die  Abwechse- 
lungen von  Kälte  und  Wärme  sind. 

Die  Beobachtungen  über  den  Einfluss  der  Jahreszeiten  auf  die  Sterb- 
lichkeit gehören  zu  denjenigen,  welche  mit  besonderer  Vorliebe  und  sehr 
ausführlich  fortgesetzt  wurden.  Man  ist  aber,  namentlich  seit  vergleichbares 
Material  aus  verschiedenen  Ländern  vorliegt,  zu  Anschauungen  gekommen, 
welche  von  den  älteren  wesentlich  abweichen.  Man  weiss  jetzt,  dass  in 
kälteren  Ländern  die  Winterkälte,  in  wärmeren  die  Sommerhitze  dem 
Menschen  gefährlicher  ist  und  dass  die  gesundeste  Jahreszeit  vom  Herbst 
und  Sommer  um  so  mehr  dem  Frühling  sich  nähert,  je  wärmer  das  Ge- 
sammtklima  des  Landes  ist.  So  haben  in  Norwegen  der  August,  in  Belgien 
und  Bayern  der  Juli,  in  Frankreich  der  Juni  und  in  Italien  der  Mai  die 
geringste  Sterblichkeit,  während  das  Maximum  der  Todesfälle  fiir  Norwegen 
in  den  April,  für  Bayern  in  den  März,  für  Belgien  und  Frankreich  in 
den  Februar,  für  Italien  in  den  August  fällt.  Hiebei  zeigt  sich  ein  Be- 
streben der  Sterblichkeit,  im  Laufe  des  Jahres  nicht  blos  eines,  sondern 
zwei  Maxima  umd  Minima  zu  erreichen ;  dieses  Bestreben  ist  in  den  nörd- 
lichen Ländern  kaum  bemerkbar;  in  Frankreich  dagegen  zeigt  neben  dem 
Februar  auch  der  August  eine  sehr  bedeutende  Sterblichkeit  und  in  Italien 
neben  dem  August,  wenn  auch  etwas  geringer,  der  Februar  *). 

Noch  intensiveres  Licht  wurde  über  den  Zusammenhang  zwischen 
der  Sterblichkeit  und  den  Jahreszeiten  verbreitet,  als  man  begann,  die 
Monatssterbliehkeit  der  verschiedenen  Altersclassen  zu  betrachten.  Es 
zeigte  sich  nämlich,  dass  die  Monatssterblichkeit  der  verschiedenen  Alters- 
classen in  einem  Lande  mit  dem  fortschreitenden  Alter  allmälige  Aende- 
rungen  erlebt  und  dass  diese  Aenderungen  schliesslich  grösser  sind,  als 
selbst  die  Unterschiede  der  Sterblichkeit  sehr  verschiedener  Breitegrade  *). 
Schliesslich  verdient  noch  hervorgehoben  zu  werden,  dass  der  Mensch 
jene  schädlichen  Einflüsse  der  wechselvollen  Temperatm'  mehr  und  mehr 
zu  beherrschen  lerat,  dass  namentlich  die  Schwankungen  der  Sterblichkeit 
durch  Beschränkung  gewisser  Epidemien  verringert  werden  müssen,  deren 


Einfloss  wirthscliaftlicher  Ereignisse.  153 

Häufigkeit  und   Intensität  mit  dem  Wechsel  der  Jahreszeiten   in    einem 
gewissen  Zusammenhange  steht. 

Dass  man  auch  den  Einfiuss  der  Tageszeit  auf  die  Sterblichkeit  zu 
messen  versuchte,  mag  hier  nur  flüchtig  erwähnt  werden'). 

Aumerkaiigeu. 
^)  G.  Mayr:  Gesetzmässigkeit  im  Gesellschaftsleben.  S.  287  ff. 
*)  Im  Deutschen  Reiche  wird  die  yerschiedene  Mouatssterblichkeit  durch 
folgende  Ziffern  beleuchtet.  Wenn  in  den  Jahren  i  872/75    durchschnittlich  auf 
1  Tag  im  Jahre  100  Tälle  trafen,  so  trafen  auf  1  Tag  des  betreffenden  Monats 
(ohne  Todtgeborene)  im; 

Januar    105        April  104        Juli  96        October      92 

Februar  111        Mai      98        August        108        November  91 
März        112        Juni      91         September  104        December  94 
Denmach  ergibt  sich  auch  hier  ein  doppeltes  Maximum  und  ein  doppeltes 
Minimum.  (Nach  Block-v.  Scheel:  a.  a.  0.,  S.  269.) 

Im  Gegensatze  hiezu  vertheileu  sich  in  Italien  (1878)  12000  Todesfälle 
folgeudermassen  über  die  12  Monate: 

Januar    1059        April  1009        Juli  1088        October        922 

Februar  1048        Mai      810        August        1085        November    994 
März        1077        Juni     886        September  1004        December  1036 
Hier  fallt  das  erste  kleinere  Maximum  ebenfalls  in  den  März,  das  zweite 
^össere  in  den  Juli;   das   erste   und  zweite  Minimum  um  einen  Monat  früher, 
als  im  Deutschen  Reiche. 

*)  Quetelet  a.  a.  0.,  S.  198  berichtet,  dass  nach  den  durch  30  Jahre  fort- 
gesetzten Beobachtungen  des  St.  Petershospitals  zu  Brüssel  auf  je  28  tägliche 
TodesfäUe 

7  zwischen  12  Uhr  Mittags  und    6  Uhr  Abends 

7  „  12    „    Nachts      „      6    „      Morgens 
6        „  6    „     Abends     „     12    „      Nachts 

8  „  6    „     Morgens  „     12    „      Mittags 
auftreten. 

Eigenthümlich  ist  hiebei,  ,,dass  gerade  jene  Tageszeit,  in  der  jede  Lebens- 
thätigkeit  in  ihrem  vollsten  Glänze  sich  äussert,  auch  an  Todesfallen  am  reich- 
sten ist,  dass  dagegen  die  Nacht,  in  der  alle  Lebensäusserungen  wie  Scheintod t 
damiederliegen,  dem  individuelleu  Leben  viel  günstiger  ist^.  Diese  Erscheinung 
ist  jedoch  sehr  wohl  in  der  Natur  begründet.  Dasselbe,  wodurch  im  gesunden 
Zustande  das  Leben  angeregt  und  unterhalten  wird,  kann  dem  Sterbenden  den 
letzten  Lebensfunken  eutreissen. 

§.  94.  Einflnss  wirthscliaftlicher  Ereignisse. 

Der  Einfluss  der  Theuerungen  auf  die  Sterblichkeit  ward  schon 
frühzeitig  beobachtet.  Bei  solchen  Beobachtungen  muss  man  zunächst 
berücksichtigen,  dass  die  Sterblichkeit  nicht  in  demselben  Augenblicke 
wächst,  wo  der  Preis  des  Brodes  steigt.  Die  gesteigerte  Sterblichkeit  ist 
vielmehr  erst  eine  Wirkung  der  Entbehrungen  und  Krankheiten,   unter 


I 


154 


EinfloBs  wixtbschaftlicber  Ereignisse. 


welchen  die  ärmere  Bevölkerung  während  der  Theuerung  leidet.  Meist 
ein  Jahr  erst  nach  dem  Anfange  der  Theuerung  zeigt  sich  daher  ge- 
wöhnlich die  erhöhte  Sterblichkeit.  Der  Preis  der  wichtigsten  Nahrungs- 
mittel kann  schon  wieder  gesunken  und  die  Sterblichkeit  doch  noch  eine 
ungewöhnlich  hohe  sein. 

Unbedeutende  Preissteigerungen  üben  keinen  sehr  merkbaren  Einfluss  *). 

Je  mehr  Ersparnisse  unter  der  grossen  Masse  der  Bevölkerung  vor- 
handen sind,  desto  später  wird  sich  der  Einfluss  der  Theuerung  auf  die 
Sterblichkeit  zeigen. 

Sogar  den  Einfluss  der  Kartofifelkrankheit  auf  die  Sterblichkeit  hat 
man  beobachtet^). 

Aber  nicht  nur  die  Ernteergebnisse  haben  solchen  Einfluss;  auch 
andere  Calamitäten  mit  wirthschaftlichen  Folgen  zeigen  ihn.  So  nament- 
lich Revolutions-  und  Kriegsjahre,  welche  lähmend  auf  die  wirthschaft- 
liche  Volksthätigkeit  einwirken'). 

Schön  bemerkt  Quetelet:  es  scheint,  dass  Nothjahre  ihr  Gepräge 
der  menschlichen  Gattung  tief  eindiücken,  ganz  so  wie  strenge  Winter 
ihre  Spur  in  dem  Holzwuchse  unserer  Wälder  zurückzulassen  pflegen. 

Anmerkungen. 

*)  Die  Wirkung  der  Theuerung  auf  die  Sterblichkeit  zeigt  sich  an  fol- 
gender, Ton  Wappäus  hergestellten  Tabelle,  wo  Preussen,  England  und  Frank- 
reich beobachtet  sind : 


Preussen: 

England: 

Frankreich 

Jahr 

Sterblichkeit 

Boggenpreis 
d.preuss.  Seh. 

Sterblichkeit 
ezcLTodtgeb. 

Weizenpreis 
d.preitss.Sch. 

Sterblichkeit 

Weizenpreis 
d.preus8.Sch. 

1844 

38,85 

40V„Sgr. 



_^ 

1 :  43,55 

87S|?r. 

1845 

36,73 

51         „ 

1 :  57,86 

96  Sgr. 

1 :  45,29 

87    « 

1846 

34,05 

W.V„  « 

1  :  43,36 

103    „ 

1 :  41,39 

106    „ 

1847 

31,59 

86'/..    « 

1 :  40,47 

132    „ 

1 :  40,22 

188    „ 

1848 

30,12 

38'/.«    « 

1 :  43,37 

96    „ 

1 :  40,82 

73     r, 

1849 

32,74 

31'/„    « 

1 :  39,82 

84    « 

1 :  35,26 

67    « 

1850 

36,31 

36V,     « 

1 :  38,15 

76    „ 

1 :  44,71 

63    „ 

1851 

37,82 

49"/..  « 

1 :  45,48 

73    „ 

1 :  42,77 

64    « 

1852 

30,39 

61*/..    « 

1 :  44,72 

^^  „ 

1 :  42,25 

76    „ 

1853 

:  32,76 

68 

1:43,70 

101    „ 

1 :  43,02 

98    „ 

1854* 

— 

— 

1 :  42,52 

137    „ 

— 

Mittel: 

1 

•33,86 

1 :  43,79 

1 :  41,73 

*)  E.  Engel:  Die  Bewegung  der  Berölkerung  im  Kgr.  Sachsen   (Statist. 
Mittheilungen  etc.).  Dresden  1852.  S.  60. 


Einllttss  von  Relchtliam  usd  Amratb.  155 

')  Gasper:  Beiträge  zur  medic.  Statistik,  S.  162,  beobachtet  eine  uner- 
hörte Sterblichkeit  in  Berlin  während  der  für  die  Stadt  so  unglücklichen  Jahre 
1806—4808. 

§.  95.  Einfluss  von  Eeichthum  und  Armuth. 

Einen  schmerzlichen  Eindruck  macht  der  düstere  Einfluss  von 
Reichthum  und  Armuth  auf  die  Sterblichkeit.  Der  Zufall,  der  ein  Kind 
auf  dem  Strohlager  der  Bettlerin  zur  Welt  kommen  lässt,  hängt  über 
dieses  Kind  das  Damoklesschwert  einer  weit  drohenderen  Sterblichkeit, 
als  über  jenes  glückliche,  das  im  Bette  des  Reichthums  geboren  ward. 

Untersuchungen  über  diesen  Gegenstand  leiden  an  dem  Umstände, 
dass  es  nicht  möglich  ist,  den  Reichthum  nach  unten  oder  die  Armuth 
nach  oben  bestimmt  abzugrenzen.  Es  bleibt  demnach  nichts  übrig,  als 
sich  auf  die  Vergleichung  von  Extremen  zu  beschränken,  d.  h.  von  solchen 
Bevölkerungsclassen,  welche  ganz  zweifellos  als  reich  oder  im  Wohlstand 
lebend  und  von  solchen,  welche  ganz  zweifellos  als  arm  bezeichnet  werden 
dürfen.  Die  ungeheure  Menge  derjenigen,  welche,  zwischen  beiden  Extremen 
in  Mitte  liegend,  Uebergangsstufen  bilden,  muss  von  der  Betrachtung 
ausgeschlossen  bleiben. 

Mit  dieser  Beschränkung  ist  es  allerdings  schon  einigermassen  ge- 
lungen, die  Unterschiede  der  Sterblichkeit  bei  Wohlhabenden  und  Armen 
zu  erkennen.  Eine  weitere  Beschränkung  lag  darin,  dass  man  in  der  Regel 
blos  die  Bevölkerungen  grösserer  Städte  als  Vergleiehungsmaterial  benützen 
konnte,  während  die  ländliche  Bevölkerung  ausgeschlossen  blieb.  Es  ist 
aber  klar,  dass  der  Unterschied  zwischen  der  Lebensweise  der  Armen  und 
jener  der  Reichen,  namentlich  in  sanitärer  Beziehung,  in  den  Städten 
viel  bedeutender  sein  muss,  als  auf  dem  Lande. 

In  den  grossen  Städten  ist  denn  auch  dieser  Unterschied  ein  höchst 
bedeutender,  so  bedeutend,  dass  man  z.  B.  in  Paris  in  ärmeren  Stadt- 
theilen  eine  Sterblichkeit  von  1:43,  in  den  wohlhabendsten  von  1:62 
fand.  Auch  in  London,  Brüssel,  Berlin,  Petersburg  wurden  ähnliche  Er- 
fahrungen gemacht  *). 

Zur  Ausscheidung  der  Reichen  kann  man  hiebei  diejenigen  Stadt- 
theile  benützen,  in  welchen  die  höchsten  Miethpreise  gezahlt  werden.  Die 
Armensterblichkeit  ist  ebenfalls  durch  Ausscheidung  der  ärmeren  Stadt- 
theile  oder  durch  Beobachtung  der  Sterblichkeit  der  öffentlich  Unter- 
stützten zu  gewinnen.  Bei  Vergleichung  der  Sterblichkeit  armer  und 
reicher  Provinzen  kann  man  dieselben  wohl  nur  nach  den  auf  den  Kopf 
treffenden  Steuersummen  ausscheiden. 

Trostreich  bei  all  diesem  Elend  ist  die  Erfahrung,  welche  man  ii^ 
England  bei  den  dortigen  friendly  societies  gemacht  hat.    Diese  friendly 


156 


Einfiass  von  Beichthnm  und  Armath. 


societies  sind  auf  Gegenseitigkeit  gegründete  ünterstützungs-,  Sparcassen- 
und  Versicherungsvereine  und  haben  zu  Mitgliedern  Leute  aus  den  arbei- 
tenden Classen,  also  aus  jenen  Classen,  die  sonst  von  der  stärksten 
Sterblichkeit  heimgesucht  sind.  Diese  Elite  der  Arbeiterbevölkerung  jedoch, 
die  den  friendly  societies  angehört,  die  arbeitsamen,  ordentlichen  und 
nüchternen,  für  die  Zukunft  sorgenden  Arbeiter  haben  nicht  nur  eine 
eben  so  lange  Lebensdauer  als  die  wohlhabenden  Classen,  sondern  durch- 
gängig sogar  eine  höhere  als  die  vornehmsten  Classen  der  Gesellschaft, 
namentlich  als  der  Adel. 

Anmerkung. 
*)  Die  werthvüllste  Arbeit  in  dieser   Hinsicht   verdankt    man  Villerme, 
welcher  in  den  Annal.  d'  Hygiene,   t.  III.,    S.  294,   eine   sehr  beachteuswerthe 
Zusammenstellung  gibt.  Nach  ihr  stellen  sich  Wohlhabenheit  und  Sterblichkeit 
in  den  verschiedenen  Arrondissements  von  Paris  wie  folgt: 


Arron- 
dissement 


Procentbetrag 

nicht 

besteuerter 

Wohnungen 


Mittlerer  Preis 

der  Wohnungen 

in   Francs 

1821-26 


Zahl 
der  Einwohner 
auf  1  Todesfall 
1817-21 


Zahl 

der  Einwohner 

auf  1  Todesfall 

1821-26 


2 
3 
1 
4 

11 
6 
5 
7 

10 
9 
8 

12 


0,07% 

0,11  „ 
0,11  „ 

0,15  „ 

0,19  „ 

0,21  „ 

0,22  „ 

0,22  „ 

0,23  „ 

0,31  „ 

0,32  „ 

0,38  „ 


605 
426 
498 
328 
258 
242 
226 
217 
285 
172 
173 
148 


62 
60 
58 
58 
51 
54 
53 
52 
50 
44 
43 
43 


71 
67 
66 
62 
61 
58 
64 
59 
49 
50 
46 
44 


Dass  sich  diese  Verhältnisse  im  Laufe  langer  Jahre  nur  wenig  geändert 
haben,  zeigt  eine  neuere  Zusammenstellung,  ebenfalls  für  Paris,  von  M.  Block: 
Statistique  de  la  France,  2.  Edition,  tome  IL  pag.  451.  Nach  derselben  beträgt 
die  Zahl  der  Einwohner,  auf  welche  ein  Todesfall  trifft,  in  den  Arrondissements : 


Louvre 58,i 

Bourse 62,i 

Temple 52,5 

HÖtel-de-Ville 45,2 

Pantheon 40,2 

Luxembourg 54,7 

Palais-Bourbon 38,7 

Elysee 60,o 

Opera 62,3 

Saint-Laurent 38,4 


Popincourt 33,9 

Reuilly 31,3 

Gobelins 25,7 

Observatoire 22,9 

Vaurigard 31,ö 

Passy 47,2 

Batignolles 39,4 

Montmartre 38,2 

Chaumont .  30,7 

Menilmontaut 32,i 


Eiiiilass  des  Berufes.  157 

§.  96.  Einflnss  des  Berufes. 

Arbeit  kostet  Leben.  Und  weil  die  Thätigkeit  des  Menschen  auf  so 
verschiedene  Dinge  gerichtet  ist,  ist  auch  ihr  Einfluss  als  Todesursache 
ein  höchst  mannigfaltiger.  Sie  steht  als  geheimnissvolle  Mörderin  hinter 
den  Krankheiten,  die  wir  als  nächste  Todesursachen  erkennen. 

Es  hat  denn  auch  diese  interessante  Erscheinung  eine  Reihe  von 
Bearbeitern  gefunden  *).  Die  wichtigsten  der  gewonnenen  Erfahrungen  sind 
folgende. 

Die  erste  Schwierigkeit,  welche  sich  statistischen  Erhebungen  hier 
entgegenstellt,  ist  die  Classification  der  Berufsarten  zum  Zwecke  ihrer 
Untersuchung  als  Todesursachen.  Es  müssen  schon  einer  solchen  Ein- 
theilung  Erfahrungen  zu  Grunde  liegen.  Schafft  man  zu  viel  Berufs- 
kategorien, so  verliert  man  für  die  einzelne  Kategorie  an  der  Sicher- 
heit, welche  die  grosse  Zahl  der  Beobachtungen  gewähren  soll.  Schafft 
man  zu  wenige,  so  können  sich  möglicherweise  innerhalb  einer  oder  der 
anderen  verschiedene  Einflüsse  das  Gleichgewicht  halten  und  gegenseitig 
verwischen. 

Eine  erste  Reihe  von  Beobachtungen  umfasst  vorzugsweise  die 
höheren  Berufsarten.  Sie  fand  die  grösste  Sterblichkeit  bei  Aerzten, 
Lehrern  und  Künstlern,  eine  mittlere  bei  Landwirthen  und  Forstleuten, 
bei  Militärs  und  Advocaten  und  die  geringste  bei  Beamten,  Kaufleuten 
und  ganz  besonders  bei  Theologen. 

Spätere  Beobachtungen  bestätigten  namentlich  das  ungünstige  Sterb- 
lichkeitsverhältniss  der  Aerzte,  das  günstige  der  Geistlichen. 

Dann  zog  man  auch  die  Gewerbe  in  den  Kreis  der  Beobachtung. 
Der  Einfluss  der  verschiedenen  Gewerbe  sowohl  auf  die  Morbilität  (d.  h. 
der  Hang  zur  Erkrankung)  als  auch  auf  die  Sterblichkeit  ist  ein  höchst 
bedeutender. 

Morbilität  und  Sterblichkeit  aber  laufen  nicht  immer  parallel.  Manche 
Gewerbe  liefern  viel  Kranke  und  wenig  Todte;  bei  anderen  ist  das  Gegen- 
theil  der  Fall. 

Den  Verlust,  welchen  eine  gegebene  Anzahl  von  einem  Gewerbe 
angehörigen  Individuen  im  Jahre  erleidet,  nennt  man  die  Sterblichkeit 
dieses  Gewerbes. 

Die  Unterschiede  in  der  Morbilität  und  Sterblichkeit  der  Gewerbe 
werden  durch  Momente  verursacht,  welche  im  Gewerbe  selbst  liegen,  durch 
die  verschiedene  Lebensweise,  welche  die  einzelnen  Handwerke  ihren 
Angehörigen  auferlegen. 

Andere  Gründe  wirken  auf  die  Häufigkeit  des  Erkrankens,  als 
auf  die   Bösartigkeit   der   Erkrankungen.    Die   absolute  Sterblichkeit 


158  Einflüss  des  Bernfes. 

eines  Gewerbes  aber  wird  nur  von  Momenten  bedingt,  welche  über- 
wiegenden Einfluss  ausüben. 

Anhaltendes  Sitzen,  Arbeit  in  gebeugter  Stellung  und  wechselnder 
Temperatur,  mineralischer  Staub  sind  die  gefährlichsten  Feinde  des 
Gewerbsmannes. 

Alle  gelehrten  Stände  haben  durchschnittlich  eine  kürzere  Lebens- 
dauer, als  die  übrige  männliche  Bevölkerung.  Wenn  man  die  Sterbelisten 
dieser  Berufsarten  mit  jenen  der  Handwerker  vergleicht,  muss  man  auch 
berücksichtigen,  dass  die  letzteren  meistens  schon  mit  15  Jahren  ihren 
Gewerben  zugerechnet  werden,  die  ersteren  dagegen  in  der  Regel  erst  mit 
27—30  Jahren. 

Bei  einzelnen  Gewerben  wird  auch  zu  berücksichtigen  sein,  dass 
ihnen  vorzugsweise  schwächliche  Knaben  bestimmt  werden.  So  ist  es 
namentlich  mit  dem  Schneidergewerbe.  30  J(^  seiner  Angehörigen  sterben 
im  Alter  .von  20 — 30  Jahren;  mehr  als  AO^  seiner  Gesammtan gehörigen 
erliegen  der  Schwindsucht. 

Besondere  Aufmerksamkeit  verdienen  die  Todesursachen  der  Fabriks- 
bevölkerungen. 

Die  Trockenschleifer  von  Sheffield  tragen  den  Fluch  des  gefähr- 
lichsten Berufes.  .  Der  feine  Staub  des  Stahls  und  der  Schleifsteine,  der 
die  Krankheit  der  sogenannten  Schleifer-Fäule  (grinder's  rot)  erzeugt, 
tödtet  rasch.  Die  mit  dem  Schleifen  der  Gabeln  Beschäftigten  erreichen 
ein  durchschnittliches  Alter  von  29  Jahren  *). 

Auch  der  Beruf  der  Bergleute  ist  ein  tragischer,  voran  jener  der 
Steinkohlengräber  Englands. 

Die  gekrümmte  oder  liegende  Stellung,  in  welcher  die  Arbeiter  der 
Kohlengruben  häufig  arbeiten,  die  ungesunde  Luft  und  der  Kohlenstaub 
sind  die  Feinde  ihres  Lebens.  Auch  in  deutschen  Gruben,  wo  die  Arbeit 
nicht  so  gefahrvoll  ist,  als  in  den  englischen  Kohlen  werken ,  werden  die 
meisten  Bergleute  zwischen  30  und  40  Jahren  „bergfertig". 

So  wird  der  Mensch  ein  Opfer  seiner  eigenen  Thätigkeit.  Seine 
Arbeit  tödtet  ihn  und  es  ist  ein  schwankender  Trost,  dass  die  Arbeit  die 
Gesundheit  stählt  und  stärkt,  dass  Trägheit  und  Ueppigkeit  dieselben 
Todesursachen  sind  wie  eine  ungesunde  Beschäftigung. 

Aumerkungeu. 

*)  Eine  Reihe  älterer,  aber  werth voller  Uutersuchuugeu  über  dieseu  Ge- 
geustaud,  uamentlich  die  von  Casper,  Chateauneuf,  Lombard,  Neufyille,  fiudeu 
sich  zusammengestellt  uud  beleuchtet  bei  Quetelet  und  (noch  ausführlicher)  bei 
Oesterlen:  Handbuch  der  medicinischen  Statistik.  S.  202  ff. 

*)  Die  Vorrichtungen,  welche  Abhilfe  ermöglichen  könnten,  wurden  von 
den  Arheitern  selbst   zurückgewiesen.     „Das    Geschäft   geht   schlecht    genug,'' 


Sterblichkeit  des  Müit&rgtandes  inBbesoiidere.  159 

sagten  sie,  ^weuu  die  Leute  uoch  länger  leben,   ist  es  bald  übersetzt  und  nie- 
mand kann  mehr  seine  Lebsucht  verdienen^. 

^Die  Dame,  welche  von  ihrem  mit  Seidenstoff  überzogenen  Sopha  aus 
ihren  Salon  überblickt,  möge  von  den  Leiden  der  Verfertiger  beinahe  aller 
unter  ihren  Augen  befindlicher  Gegenstände  erfahreu.  Wenn  diese  glänzende 
Visitenkarte  reden  könnte,  so  würde  sie  yielleicht  von  der  nun  durch  Lähmung 
befallenen  Hand  ihres  Verfertigers  erzählen.  Jener  herrliche  Spiegel,  der  alle 
Pracht  des  reich  ausgestatteten  Saales  reflectirt,  hat  ohne  Zweifel  die  zitternde 
Gestalt  des  abgemagerten  Arbeiters  dargestellt,  den  die  Quecksilberdämpfe  bei 
dieser  Beschäftigung  vergifteten.  Diese  reichen  und  zierlichen  Vorhänge  haben 
beigetragen,  dem  armen  Weber  ein  tödtliches  Uebel  zuzuziehen,  indem  sie  ihn 
zu  einem  beständigen  Andrücken  seines  Magens  an  den  Webstuhl  zwangen. 
Sogar  die  Tapete  an  den  Wänden,  geschmückt  mit  einem  Glänze  wie  der  Früh- 
ling ihn  bietet,  hat  durch  ihren  giftigen  Staub  die  Finger  des  Arbeiters  mit 
Geschwüren  bedeckt . . .  Und  all  diese  Leiden,  wovon  so  manches  zu  vermin- 
dern wäre,  wird  hingenommen  ohne  die  leiseste  Klage.  Der  Arbeiter  fallt  hin- 
weg aus  der  Reihe;  augenblicklich  tritt  ein  anderer  an  seine  Stelle,  und  diesem 
folgt  vielleicht  bald  ein  dritter." 

Kolb:  a.  a.  0.,  S.  585. 

§.  97.  Sterblichkeit  des  Ulitfixstandes  insbesondere. 

Selbst  im  Frieden  war  bis  in  die  neueste  Zeit  die  Sterblichkeit  des 
Militärstandes  eine  weit  grössere,  als  die  anderer  Berufsclassen.  Die  Ver- 
änderung der  Lebensweise  und  der  Nahrungsmittel,  das  Kasernen  wohnen, 
Verlockungen  zu  einem  in  mancher  Hinsicht  weniger  geordneten  Leben 
mögen  hiezu  beitragen. 

Nach  älteren  Beobachtungen  hierüber,  welche  zwischen  den  Jahren 
1830-— 1860  gemacht  wurden,  stellte  sich  die  Sterblichkeit  der  europäischen 
Armeen  selten  unter  1,5 — 2^^  während  die  Sterblichkeit  der  gleichalterigen 
Civilbevölkerung  nur  0,8 — 1^2^  betrug.  Diese  höhere  Sterblichkeit  des 
Militärs  muss  aber  noch  weit  bedeutender  erscheinen,  wenn  man  bedenkt, 
dass  Schwache  und  Kränkliche  überhaupt  nicht  zum  Militär  eingestellt 
werden  und  deshalb  die  Sterblichkeit  der  Civilbevölkerung  über  Gebühr 
hoch  erscheinen  lassen. 

In  der  neuesten  Zeit  hat  sich  dies  Verhältniss  jedoch  ganz  wesent- 
lich zum  Besseren  geändert,  hauptsächlich  wohl  in  Folge  besserer  Ver- 
pflegung, grösserer  Salubrität  der  Kasernen  und  mancher  anderen  Ein- 
richtung, die  zur  Erhaltung  des  Gesundheitszustandes  der  Soldaten  dient  *), 
So  zeigt  die  preussische  Armee  im  Jahre  1867  nur  eine  Sterblichkeit  von 
0,81  Ji^,  ein  Verhältniss,  welches  von  der  gleichalterigen  Civilbevölkerung 
nur  unter  günstigen  Umständen  erreicht  wird.  Dagegen  hatte  im  Durch- 
schnitt von  1846 — 63  die  Sterblichkeit  noch  0,96^  betragen. 


160  Sterbliclikeit  des  HüiUrstandes  insbesondere. 

Die  Sterblichkeit  der  Armee  ist  indessen  nicht  allein  länderweise 
weit  verschiedener,  als  jene  der  Civilbevölkerung,  sondern  auch  innerhalb 
einzelner  Armeen  ergeben  sich  die  grössten  Verschiedenheiten  *).  Dass  die 
in  der  Heimat  stationirten  Truppen  eine  weit  geringere  Sterblichkeit 
zeigen,  als  die  in  den  Colonien,  erklärt  sich  leicht  aus  dem  schon 
früher  erwähnten  gefährlichen  Einflüsse  des  fremden  Klimas.  Dass  das 
Militär  eine  wesentlich  andere  Vertheilung  der  Sterblichkeit  über  die 
Jahreszeiten  hat,  als  die  Gesammtbevölkerung,  erklärt  sich  theils  daraus, 
dass  ja  das  Militär  die  Auslese  einer  gewissen  Altersclasse  bildet,  theils 
aus  den  grösseren  Strapazen,  welchen  dasselbe  während  einzelner  Sommer- 
und  Herbstmonate  ausgesetzt  wird.  Wie  verschieden  die  Sterblichkeit  der 
einzelnen  Waffengattungen  ist,  ergibt  sich  daraus,  dass  in  Preussen  in 
den  Jahren  1846 — 63  eine  Sterblichkeit  sich  zeigte: 
bei  Infanterie      9,^6  Promille 

„    Cavallerie      7,98        „ 

„    Artillerie       7,7i        „ 

„    Pionnieren     7,i2   .     „ 

„    Train  5,i9 

Unter  den  Krankheiten  des  Militärs  stehen,  abgesehen  natürlich  von 
Ausnahmezuständen,  die  Infectionskrankheiten  als  Todesursachen  obenan, 
insbesondere  der  Typhus. 

Anmerkuugen. 
*)  Zur  Orientining  über  die  vormalige  und  jetzige  Sterblichkeit  der  wich- 
tigsten Armeen  mögen  folgende  Uebersicbten  dienen. 

I.  Nach  Oesterlen  (Handbuch  der  medicijnischen  Statistik  S.  239)  stellte 
sich  die  Sterblichkeit  der  Armeen  auf 

Promille  Promille 

Dänemark  1854—57 9,5         Frankreich  zu  Haus  1846—58     16 

Vereinigte  Staaten )  im  Norden  .    9  England  überhaupt    1837—46    37 

1840—50         Jim  Süden    .33  „  zu  Haus  allein    .   .   .17,5 

Preussen  1829—38 13,i  „  ,       in  den  Colonien  ...  57 

Belgien  1850—57 14,3  „  in  Bengalen    ....  70 

Sardinien  1840—50 16,i7  „  in  Westindien  ....  95 

Oesterreich  1840—55 28  „  1856—59  zu  Haus  .   .  10,i2 

„  1850—60 17,5  „  1856—59  in  Colonien  33,64 

Frankreich  1840—46 28,7         Russland  1840—45 42 

„  zu  Haus  allein  .   .   .  19,6  „  1850—55 39 

„  in  Algerien    ....  64 

II.  Nach  dem  statistischen  Sanitätsbericht  über  die  kgl.  preuss.  Armee, 
von  der  Militar-Medicinalabtheilung  des  Kriegsministeriums,  in  der  Zeitschrift 
des  preuss.  stat.  Bureaus,  1870,  IV.  Heft,  pag.  377  stellte  sich  die  Sterblichkeit 

in  der  preussischen  Armee  1846—63  auf    9,49  Promille 
^     «  «  ^  1867    „      6,19    „      „   . 

„     „   franz.  Armee  (zu  Haus)  1867    „    11,74    „      „ 


Die  Sterblichkeit  im  Kriege.  161 

in  der  englischen    Armee  1867  auf    9,4o  Promille 

„     „    österreichischen  „  „        „    12,oo    „      „ 

In  der  russischen  Armee  (1872)  dagegen  18  Promille,  immerhin  eine  be- 
deutende Verbesserung  gegen  frühere  Jahre.  (Nach  dem  statist.  Sanitätsbericht 
über  die  russische  Armee  für  1872,  vgl.  Zeitschr.  d.  preuss.  stat.  Bureaus  Jahrg. 
1876,  Heft  I-II,  S.  112.) 

*)  In  den  ersten  7  Monaten  des  Krimfeldzuges  betrug  bei  der  brittischen 
Armee  die  Sterblichkeit  650  :  1000;  sie  war  demnach  grösser,  als  zur  Zeit  der 
Londoner  Pest,  sank  jedoch  ganz  bedeutend,  nachdem  für  bessere  Verpflegung 
gesorgt  worden  war. 

§.  98.  Die  Sterblichkeit  im  Kriege. 

In  den  blutigsten  Kriegen  verloren  häufig  mehr  Menschen  das  Leben 
durch  Krankheiten  als  durch  feindliche  Waffen. 

Nach  amtlichen  englischen  Berichten  *  wurden  in  dem  22jährigen 
Kriege  gegen  Frankreich  19796  Mann  von  der  englischen  Armee  ge- 
tödtet,  79709  verwundet.  Die  Seeschlachten  forderten  weit  weniger  Opfer, 
als  die  Landschlachten.  Während  Waterloo  1171  Todte  kostete,  fielen 
bei  Trafalgar  in  einer  der  grössten  Seeschlachten,  die  je  geschlagen  worden, 
nur  449.  Bei  der  Expedition  nach  Walchem  (1809)  fielen  blos  217  Mann 
durch  die  feindlichen  Waffen,  während  4175  an  Krankheiten  starben.  Im 
Februar  1855  starben  vor  dem  Feinde  nur  6,  an  Krankheiten  im  Lager 
1407  Mann.  (Kolb.) 

Besonders  grossartig  waren  die  Verluste,  welche  die  Russen  in  ihren 
Feldzügen  erlitten.  Im  Jahre  1812  soll  der  Verlust  —  Erkrankte  und 
Vermieste  mitgerechnet  —  ^'/g,  der  ganzen  Armee  betragen  haben.  Von 
115000  Russen,  welche  1828  und  1829  in  die  europäische  Türkei  ein- 
fielen, kamen  (nach  Moltke)  kaum  mehr  als  10—15000  über  den  Pruth 
zurück. 

Nach  einer  neueren  Zusammenstellung  haben  die  von  Europäern 
geführten  Kriege  von  1815—64  gegen  2,762000  Menschenleben  gekostet, 
jährlich  durchschnittlich  43800.  Von  diesen  Kriegen  verschlang  der 
Krimkrieg  508600  Menschen,  der  Kaukasus  330000,  der  ostindische 
Aufstand  (1857—58)  196000,  der  russisch- türkische  Krieg  (1828—29) 
193000,  der  polnische  Aufstand  (1831)  190000,  die  französische  Be- 
setzung in  Algier  (1830—1859)  146000,  der  ungarische  Aufstand  142000 
und  der  italienische  Krieg  (1849)  130000.  Dagegen  hatten  die  Kriege  von 
1793—1815  im  Ganzen  5,530000  Menschen  oder  jähriich  240000  gekostet. 

Die  Verluste  des  grossen  deutsch-französischen  Krieges  1870/71 
gestalten  sich  wie  folgt:  *) 

I.  Bei  der  deutschen  Armee  betrug  der  Gesammtverlust  40743 
Todte.     Von  diesen  erlagen  äusserer  Gewalt  (im  Gefecht  gefallen  und  an 

Hausliofer,  Statistik.  2.  Aufl.  n 


162  Einflass  der  Sittlichkeit  etc. 

Wunden  gestorben)  28596;  an  Krankheiten  starben  11179;  4009  blieben 
vermisst.  Nach  Waffengattungen  und  Chargen  unterschieden  stellte  sich 
die  Sterblichkeit  wie  folgt: 


a)  Nach  Waffengattungen: 
Hauptquartier  etc.      16,03  Promille 

Infanterie  52,79        „ 

Cavallerie  27,08        „ 

Artillerie  27,22        „ 

Pionniere  17,63        „ 

Train  26,39 


b)  Nach  Chargen: 
Generale  46,is  Promille 

Stabsofficiere  105,i8       „ 

Hauptleute,  Rittmeister  86,23       „ 
Lieutenants  88,«9       „ 

Aerzte  11,95       „ 

Militärbeamte  10,84       „ 

Unteroffic.  u.  Mannsch.  45,ot       „ 
überhaupt  45,89  Pi'omille. 
Verwundungen  (tödtliche  und  leichte  zusammen)  erlitten  überhaupt 
112336  Combattanten. 

11,  Hinsichtlich  der  französischen  Armee  ist  es  fraglich,  ob  ihr  Ge- 
sammtverlust  jemals  genau  ermittelt  werden  kann.  Französische  Berichte 
berechnen  die  Zahl  der  Todten  und  an  Wunden  gestorbenen  auf  89000. 

Anmerkung. 
*)  Nach  der  Zeitschrift  des  kgl.  preuss.  Statist.  Bureaus,  Jahrg.  1872,  Heft 
I.-IV.,  S.  i  ff. 

§.  99.  Einflass  der  Sittlichkeit  eto. 

Hat  man  einmal  erkannt,  wie  gross  der  günstige  Einfluss  ist,  welchen 
Arbeitsamkeit  und  Vorsicht  auf  die  Sterblichkeit  nehmen,  so  liegt  es  nahe, 
auch  einen  solchen  Einfluss  der  sittlichen  Volkszustände  zu  vermuthen  und 
ihm  nachzuspüren. 

Zum  Beweis  für  die  Richtigkeit  dieser  Anschauung  weist  Quetelet 
auf  die  in  den  höheren  Ständen  geringere  Sterblichkeit  —  gegenüber  jener 
des  gemeinen  Volkes  —  hin.  Sie  rührt  nicht  blos  vom  Uebeifluss  des  einen 
und  den  Entbehrungen  des  anderen  Theiles  her,  sondern  auch  davon,  dass 
jener  an  Reinlichkeit  und  Massigkeit  gewöhnt  ist  und  weniger  von  Lei- 
denschaften aufgeregt  wird  *). 

Wie  sehr  heftige  Leidenschaften  das  menschliche  Leben  beeinträch- 
tigen: das  zeigt  gerade  die  grosse  Sterblichkeit  der  Männer  nach  dem 
zwanzigsten  Lebensjahre,  einem  Alter,  von  dem  man  doch  erwarten  sollte, 
dass  es  die  grösste  natürliche  Widerstandsfähigkeit  gegen  alle  schädlichen 
Einflüsse  besitze. 

So  hat  man  beobachtet,  dass  die  Verheerungen  der  Cholera  am 
meisten  unter  den  Unmässigen  gewüthet  haben.  Man  hat  ferner  bemerkt, 
—  aber  freilich  noch  nicht  durch  zahlreiche  Beispiele  nachgewiesen  — 
welchen   bedeutenden  Einfluss   die  Furcht   vor   einer  Krankheit   auf  den 


Einfltigs  der  Sittlichkeit  etc.  16S 

Körper  ausübt.  Man  hat  gesehen,  dass  Leidenschaften,  Gemüthsbewegungen, 
aufgeregte  Einbildungskraft  geradezu  tödtlich  wurden.  Statistische  Erhe- 
bungen über  diese  Erscheinungen  könnten  manche  Aenderungen  unserer 
Sitten  und  Gewohnheiten  zur  Folge  haben. 

Einen  anderen  Beweis  des  Einflusses  der  Sittlichkeit  auf  die. Sterb- 
lichkeit liefern  die  todtgeborenen  Kinder,  wenn  man  dabei  die  ehelich  und 
unehelich  geborenen  unterscheidet.  „Das  traurige  Erbtheil  des  Lasters  trifft 
das  Kind  nicht  blos  vor  der  Geburt,  nein,  es  verfolgt  es  auch  noch  lange 
Zeit,  nachdem  es  dieser  ersten  Gefahr  entgangen  ist."  (Quetelet  ^). 

Dass  die  Sterblichkeit  der  unehelichen  Kinder  vor  und  nach  der 
Geburt  eine  grössere  ist,  als  jene  der  ehelichen,  ist  schon  seit  Süssmilch 
wiederholt  beobachtet  worden  *). 

Sittliche  Verderbniss  macht  eben  die  Mütter  unfähig  zu  jener  überaus 
hingebenden  und  sorgfältigen  Pflege  des  Kindes,  welche  nöthig  ist,  um  das 
junge  Leben  vor  den  mannigfachsten  Gefahren  zu  behüten.  Es  spiegelt 
sich  der  materielle  und  sittliche  Zustand  einer  Bevölkerung  im  Grade  ihrer 
Kindersterblichkeit  „und  zwar  um  so  stärker,  als  die  unteren  Klassen  der 
Bevölkerung,  bei  denen  Vor-  und  Rückschritt  in  der  Cultur  am  inten- 
sivsten auf  das  weibliche  Geschlecht  einwirken,  überall  den  grösseren  Theil 
einer  Bevölkerung  bilden".  (Wappäus.) 

Die  Verwüstungen,  welche  die  Sterblichkeit  unter  den  Findelkindern, 
die  aller  mütterlichen  Pflege  entbehren,  anrichtet,  sind  notorisch  und  eben- 
falls durch  mehrfache  Beobachtungen  erwiesen. 

Auch  der  Missbrauch  geistiger  Getränke  gehört  zu  jenen  Formen  der 
Unsittlichkeit,  deren  Einfluss  man  statistisch  beobachtet  hat.  Schon  früh 
wurde  auf  diesen  Einfluss  hingewiesen;  die  grosse  Sterblichkeit  Londons  um 
die  Mitte  des  vorigen  Jahrhunderts  darauf  zurückgeführt;  auch  brachte  man 
die  plötzlichen  Todesfalle  der  Provinz  Oberschlesien  in  Zusammenhang  mit  der 
Zunehmenden  Menge  des  versteuerten  Branntweins.  Neuere  Untersuchungen 
fiir  England  und  Wales  haben  ergeben,  dass  bei  den  Trunksüchtigen  die 
Sterblichkeit  um  das  Dreifache  erhöht  wird.  Am  verderblichsten  hat  sich 
dies  Laster  für  die  jüngeren  Altersclassen  und  fär  das  weibliche  Geschlecht 
gezeigt.  Unter  den  Männern  verderblicher  für  die  höher  gebildeten  als  für 
die  arbeitenden  Classen,  so  dass  gewissermassen  die  Verderblichkeit  des 
Lasters  im  umgekehrten  Verhältnisse  mit  der  Stärke  der  Versuchung  dazu 
steht,  und  sich  hierin  eine  gerechte  Vertheilung  der  Strafe  zu  erkennen 
gibt»). 

Anmerkungen. 
')  Quetelet-Riecke:  A.  a.  0.,  S.  247  ff. 

*)  In  neuester  Zeit  stellt  sich  das  Verhältuiss  der  todtgeborenen  illegi- 
timen Kinder  zu  den  Todtgeborenen  überhaupt  wie  folgt: 

11* 


164 


Einflnss  der  Freiheitsstrafen. 


Lau  der 


Italieu  .... 
Frankreich  .  .  . 
DeUtsclies  Reich 
Oesterreich  diess, 
Schweiz  .  .  .  . 
Belgien  .  .  ,  . 
Niederlande  .  . 
Schweden    .   .    . 


(1865-78) 
(1865—77) 
(1872-78) 
(1865-78) 
(1870-78) 
(1865-78) 
(1865-77) 


Frocentsatz  der 

Todtgeborenen 

unter  allen 

Geburten 


2,60 
4,48 
3,97 
2,27 
4,44 
4,42 
5,14 
3,16 


Frocentsatz  der 

Todtgeborenen 

unter  den  illegit. 

Geburten 


3,58 
7,95 
5,03 
3,53 
6,77 
6,17 
8,09 


')  Ausführliches  über  die  einschlägigen  Arbeiten  bei  Quetelet-Riecke,  a.  a. 

0.,  S.  247. 

§.  100.  Einfiuss  der  Freiheitsstrafen. 

Die  Sterblichkeit  in  Gefängnissen  und  Arbeitshäusern  verdient  eine 
ganz  besondere  Beachtung  und  hat  dieselbe  auch  gefunden.  Diese  Sterb- 
lichkeit ist  bedeutend  grösser,  als  bei  Menschen  ausserhalb  solcher  Anstalten. 

Um  diese  Sterblichkeitsziffern  zu  würdigen,  muss  man  bedenken, 
dass  unter  den  Sträflingen  keine  Kinder  sich  befinden  und  dieselben  viel- 
mehr aus  Leuten  in  den  mittleren,  den  besten  Jahren  bestehen,  wo  die 
Sterblichkeit  eine  ganz  besonders  geringe  sein  sollte.  Nimmt  man  als 
mittleres  Alter  der  Sträflinge  40  Jahre  an,  so  ist  ihre  Sterblichkeit  drei- 
bis  fünfmal  grösser,  als  die  der  freien  Bevölkerung.  Denn  in  Frankreich 
z.  ß.  beträgt  die  mittlere  Sterblichkeit  der  Bevölkerung  im  Alter  von 
40  Jahren  nur  1 :  50  bis  1 :  60,  die  der  Gefangenen  dagegen  1 :  23. 

Daher  sagt  Villerme,  dass  die  Justiz  mit  der  Verurtheilung  dem 
Gefangenen  während  der  ganzen  Dauer  seiner  Haft  selbst  in  den  besten 
Gefängnissen  wenigstens  zwanzig  Jahre  seiner  Lebenswahrscheinlichkeit 
abspricht. 

Offenbar  sind  die  ferneren  Ursachen,  welche  diese  hohe  Sterblich- 
keit der  Gefangenen  herbeiführen,  verschiedene.  Sie  sind  besonders  zu 
suchen : 

I.  In  der  Einrichtung  der  Gefängnisse  und  Verwahrungshäuser,  der 
Behandlung  der  Gefangenen. 

II.  In  dem  Elende  und  den  Entbehrungen,  welchen  sie  vor  ihrer 
Einkerkerung  preisgegeben  waren. 

in.  In  ihrem  geistigen  und  sittlichen  Zustande;  d.  h.  wenn  nicht  in 
Gewissensschlägen,  so  doch  in  dem  verzehrenden  Hasse  gegen  die  Gesell- 
schaft, in  der  ungestillten  Sehnsucht  nach  Freiheit. 


Die  gewaltsamen  Todesarten.  165 

Quetelet  stellte  —  abgesehen  von  den  Verschiedenheiten,  welche  in 
den  örtlichen  Verhältnissen  und  in  der  besseren  oder  schlechteren  Ver- 
waltung ihren  Grund  haben  —  die  Gefangenen  in  der  Ordnung  zusam- 
men, nach  welcher  ihre  Sterblichkeit  zunimmt  und  fand  dabei  diese  Rei- 
henfolge: 

I.  Angeklagte. 

II.  Verurtheilte. 

ni.  In  den  Verwahrungsanstalten  für  Bettler  Untergebrachte. 

Man  hat  nur  in  wenigen  Ausnahmen  ein  besonders  günstiges  Sterb- 
lichkeitsverhältniss  der  Gefangenen  gefunden,  so  z.  B.  in  der  Strafanstalt 
zu  Stade  (Hannover)  in  den  Jahren  1848/49  bis  1857/58  nur  eine  Sterb- 
lichkeit wie  1  :  106,1,  während  die  Sterblichkeit  der  freien  hannoverschen 
Bevölkerung  dieses  Alters  1 :  70  betrug. 

Abgesehen  von  solchen  seltenen  Ausnahmen  ist  die  Gefangenschaft 
halber  Tod,  und  die  grosse  Sterblichkeit  der  Gefangenen  ein  Argument 
gegen  die  Aufhebung  der  Todesstrafe. 

Was  die  in  Verwahrungshäusern  für  Bettler  Untergebrachten  betrifft, 
so  beweisen  sie,  dass  vergangenes,  bis  zum  Uebermass  getragenes  Elend, 
sittliche  Verkommenheit  weit  zerstörender  das  Menschenleben  ergreifen,  als 
die  Gewissensbisse  des  Mörders  und  Galeerensträflings  oder  die  Angst  des 
in  Untersuchungshaft  Befindlichen.  Die  menschliche  Justiz  straft  die  ein- 
zelne böse  That  nicht  so  grausam,  als  durch  die  Natur  eine  —  den 
Menschen  entwürdigende  —  Kette  von  Niedrigkeiten  und  Gemeinheiten 
des  Bettlers  und  Vagabunden  bestraft  wird. 

Bezüglich  der  Strafgefangenen  hat  man  beobachtet,  dass  die  Sterb- 
lichkeit unter  den  Rückfälligen  geringer  ist,  als  unter  den  zum  ersten 
Male  Eingesperrten.  Jene  haben  eben  die  Eindrücke  der  Scham  und  des 
Kummers  schon  überwunden. 

§.  101.  Die  gewaltsamen  Todesarten. 

Ein  Interesse  ganz  eigenthümlicher  Art  bieten  die  gewaltsamen 
Todesfälle: 

Der  Tod  durch  unglücklichen  Zufall,  durch  Selbstmord,  durch  Mord, 
durch  Zweikampf,  oder  durch  Hinrichtung.  Die  wichtigsten  Gesichtspunkte, 
welche  bei  den  gewaltsamen  Todesarten  zu  beachten  sind,  wären  folgende : 

I.  Die  Regelmässigkeit  derselben. 

Auch  bei  jenen  Todesursachen,  welche  man  als  durchaus  zufällige 
bezeichnen  möchte,  zeigt  sich  eine  wunderbare  Regelmässigkeit,  eine  perio- 
dische Wiederholung  der  gleichen  Zahlen,  welche  gebieterisch  zur  Unter- 
suchung dieser  Erscheinungen  auffordert.  Jeder  grossen  Stadt,  jedem  Lande 
kann  man  für  das  kommende  Jahr  ein  Budget  von  Unglücksfällen,  Ermor- 


166  Die  gewaltsamen  Todesarten. 

dulden  u.  s.  f.  aufstellen  und  die  Wirklichkeit  wird  von  den  aufgestellten 
Zahlen  nur  wenig  abweichen  ^). 

IL  Di^  länderweisen  Unterschiede  in  den  Ziffern  der  gewaltsamen 
Todesarten. 

Diese  Unterschiede  sind  sehr  bedcoteiid.  Ihre  Erklärung  können  sie 
aber  nur  durch  eine  genaue  Ausscheidung  der  <eiBSehien  Todesursachen 
finden.  Im  Allgemeinen  ergibt  sich  aus  dem  durch  die  Statistik  gefondenen 
Materiale  hauptsächlich,  dass  die  wirthschaftliche  Thätigkeit  der  Nationen 
den  entscheidenden  Einfluss  auf  diese  Ziffeni  nimmt.  Darum  ist  die  relative 
Ziffer  der  gewaltsamen  Todesursachen  in  England,  Schweden  und  Norwegen 
so  hoch  gegenüber  jener  anderer  Länder.  In  den  genannten  Staaten  sind 
es  offenbar  Bergbau  und  überaus  regsame  Küstenschifffahrt,  in  England 
überdies  noch  der  ungemein  rasche  Eisenbahnverkehr,  welche  diese  Ziffer 
so  steigern  *). 

III.  Die  Vertheilung  der  gewaltsamen  Todesarten  auf  die  Geschlechter. 
Das  männliche  Geschlecht  ist  solchen  Todesarten  begreiflicherweise  in  weit 
höherem  Grade  ausgesetzt,  als  das  weibliche,  namentlich  wegen  der  fast 
ausschliesslichen  Beschäftigung  der  Männer  mit  lebensgefährlichen  Arbeiten, 
bei  der  Seeschifffahrt,  im  Eisenbahndienste,  im  Bergbau  etc.  So  weist  z.  B. 
die  preussische  Unfallstatistik  nach,  dass  i.  J.  1872  (abgesehen  von  Er- 
mordungen, Selbstmorden,  Hinrichtung  und  Zweikampf)  6737  gewaltsame 
Todesfälle  durch  unglücklichen  Zufall  sich  ereigneten,  davon  5665  bei 
Männern  und  nur  1072  bei  Frauen  *). 

IV.  Die  Vertheilung  dieser  Todesarten  auf  die  Lebensalter.  Es  ist 
leicht  erklärlich,  welche  Kategorien  von  gewaltsamen  Todesarten  vorzugs- 
weise die  Kinder,  und  welche  vorzugsweise  die  Erwachsenen  treffen  müssen. 
Die  preussische  Unfallstatistik  *)  scheidet  Kinder  unter  15  Jahren  und 
Erwachsene  aus  und  weist  unter  6737  tödtlichen  Unglücksfällen  des  Jahres 
1872  an  Erwachsenen  5148,  an  Kindern  unter  15  Jahren  1589  nach, 
während  z.  B.  in  Bayern  das  Maximum  der  Unglücksfälle  auf  das  Alter 
von  1 — 5  Jahren  fällt,  was  sich  aus  der  nachlässigen  Kinderbeaufsichtigung, 
besonders  auf  dem  Lande  erklärt.  In  diesem  Alter  ist  auch  die  Zahl  der 
weiblichen  Unglücksfälle  fast  doppelt  so  gross,  als  jene  der  männlichen. 

V.  Jahreszeit  und  Tageszeit.  Man  hat  beobachtet,  dass  im  Sommer  die 
gewaltsamen  Todesfälle  weit  häufiger  sind,  als  im  Winter  —  eine  Folge 
der  häufigeren  Arbeit  im  Freien,  der  Reisen,  des  Ertrinkungstodes. 

Den  Ausschlag  geben  natürlich  die  unglücklichen  Zußllle.  Wie  sehr 
diese  sich  in  einzelnen  Jahreszeiten  steigern,  zeigt  z.  B.  Italien,  wo  unter 
4087  Todesfällen  des  Jahres  im  Juni  403,  Juli  479,  August  398,  dagegen 
im  December  nur  282,  Jänner  261,  Februar  257  fielen  ^).     Aehnlich  ia 


Die  gewaltsamen  Todesarten. 


167 


Preußsen.  Hier  zeigt  i.  J.  1872  der  Juli  das  Maximum  von  894,  der  Fe- 
bruar das  Minimum  von  423  tödtlichen  Unfällen. 

VI.  Die  einzelnen  Arten  gewaltsamen  Todes.  Während  diejenigen 
gewaltsamen  Todesfälle,  welche  im  Zusammenhange  mit  der  Volksmoral 
stehen,  wie  die  Selbstmorde  und  Mordthaten,  später  in  Betracht  gezogen 
werden  sollen,  verdienen  die  unglücklichen  Zufälle  mit  tödtlichem  Ausgang 
hier  noch  eine  gesonderte  Betrachtung.  Das  Geschick  der  Bevölkerungen 
ist  ungemein  erfinderisch  hinsichtlich  der  Mordwerkzeuge,  welche  es  dem 
Völkertode  zur  Verfügung  stellt.  Eine  Zergliederung  der  unglücklichen 
Ziffern,  die  auf  diesem  Gebiet  erwachsen,  gibt  manchen  Fingerzeig  hin- 
sichtlich des  Leichtsinns  und  der  Geringschätzung,  mit  welchen  gewohn- 
heitsmässig  das  Menschenleben  gewissen  Gefahren  ausgesetzt  wird.  Wenn 
die  Zahl  der  tödtlich  Verunglückten  in  Preussen  allein  Jahr  um  Jahr  über 
6000  beträgt*),  so  ist  dies  ein  Verlust,  welcher  den  der  grössten  Schlachten 
(an  Todten  und  Vermissten)  übertrifft.  Und  doch  wird  der  Feldzug  der 
civilisirten  Menschheit  gegen  den  Zufall  Jahr  um  Jahr  mit  nur  wenig 
verbesserten  Mitteln  fortgeführt  und  in  mancher  Rubrik  will  die  Ziffer  der 
Opfer  eher  grösser  werden,  als  geringer*). 

Anmerkungen. 
')  Ziffern  hinsichtlich  der  regelmässigen  Wiederholung  der  gewaltsamen 
Todesfälle.  Die  Gesammtzahl  derselben  betrug  anf  1  Million  Einwohner  in: 


Jahr 

Italien 

England 

Preussen 

0  esterreich 
diesseits 

1865 

294 

821 

546 

399 

1866 

311 

789 

732 

379 

1867 

278 

777 

581 

398 

1868 

281 

772 

613 

429 

1869 

265 

741 

575 

392 

1870 

300 

737 

595 

433 

1871 

278 

745 

593 

439 

1872 

259 

747 

581 

447 

1873 

258 

738 

613 

444 

1874 

243 

757 

590 

472 

1875 

246 

779 

614 

483 

1876 

240 

757 

639 

471 

1877 

238 

719 

626 

404 

Nach  der  amtl.  italien.  Publication:  Moyimento  dello  stato  civile  1862  bis 
1877.  Rom  1878.  pag.  CCXXXVII. 

*)  Mit  Unterscheidung  der  Hauptarten  gewaltsamer  Todesfalle  ergeben 
9iok  folgende  Ziffern  in  den  wichtigsten  europäischen  Ländern  (wobei  leider  für 


168 


Die  gewaltsamen  Todesarten. 


Fraukreich    kein   eutsprecheudes  Material  vorliegt).    Auf   1  Milliou  Eiuwohuer 
treffen  nach  der  obenerwähnten  Quelle: 


Länder 


Im  Durch- 
schnitt 
der  Jahre 


Gewalt- 
same 
Todesfalle 
überhaupt 
incl.  Hin- 
richtungen 


Selbst- 
morde 


Mord 

und 

Todtschlag 


Unglück- 
liche 
Zufälle 
tödtlicher 
Art 


Italien 

England  m.  Wales 
Preussen    .... 

Bayern 

Oesterreich  (dies- 
seits) .  ;  .  .  . 
Schweiz  .... 
Belgien  .... 
Schweden  .  .  . 
Norwegen     .    .    . 


1865-77 
1868-77 


1876—77 
1870-77 
1868—77 
1865—74 


276 
749 
603 
466 

441 
889 
469 
609 
707 


32 

67 

144 

94 

90 
206 

72 
85 

74 


78 
16 
19 
33 

34 
39 
16 

22 
9 


157 
663 
439 
338 

319 
644 
380 
501 
613 


*)  Zeitschr.  d.  preuss.  stat.  Bureau,  Jahrg.  1873,  Heft  HI.— IV.  pag.  437. 
*j  Movimento  dello  stato  civile  1862—78,  pag.  CCCXXIX. 
*)  Nämlich  im  Jahre  1869  6382 

1870  6084 

1871  6719 

1872  6737 

(Nach  der  Zeitschr.  d.  preuss.  stat.  Bureau  a.  a.  0.) 
•)  Ebenda   findet   sich  eine   Zusammenstellung   der  verschiedenen  Arten 
tödtlicher   Verunglückungeu,    welche    wenigstens    im    Auszuge   mitgetheilt  zu 
werden  verdient.  Im  J.  1872  verunglückten  in  Preussen: 
Ertrunken   (im   Meer,    au  Küsten,    Seen,    Weihern,   Flüsseu,    in  Gräben, 

Pfuhlen,  Gruben,  Brunnen,  Gefässen  etc.) 2336 

Sturz  (von  Bäumen,  Gerüsten,  Dächern,  Felsen  etc.,  in  Brunnen,  Schächte 

u.  dgl.) 960 

Ueberfahren,  erdrückt  etc.  durch  Landfuhrwerk 546 

„  „  ,,         „      Eisenbahnen 460 

Durch  Maschinen  getödtet  (Dreschmaschinen,  Mühlwerke  etc.) 293 

Verbrannt  durch  offenes  Feuer,  Petroleum,  Spiritus,  Metall,  Säuren  etc.  .      204 

Verbrüht 66 

Erstickt  (durch  Rauch,  Gase,  Erdrosseln  etc.)  . 287 

Verschüttet  (durch  Sand,  Mergel  etc.) 130 

Erschlagen  (durch  Steine,  Balken,  Lasten,  Bäume,  Einsturz  von  Gebäu- 
den etc.) 652 

Vergiftet 73 

Schlag,  Stoss  oder  Biss  von  Thieren 110 

Stich-  und  Schnittwunden 24 

Verblutung 1 

Stoss,  Schlag  von  Arbeitsgeräth  u.  dgl 22 


Einflnss  der  Cmlisation.  Resultate.  1(59 

Schusäwuudeu 74 

Selbstentladuug  oder  Zerspringeu  vou  Schusswaffeu 9 

Steiu  sprengen 6 

Explosion 86 

Allgemeine  Angabe  „Verunglückt" 5 

Erfroren 142 

Blitz 85 

Sonnenstich 12 

Todtgefunden  unter  freiem  Himmel 142 

Unbestimmte  Angaben 12 

Hiezu  muss  bemerkt  werden,  dass  selbst  die  einzelnen  Arten  der  Unfälle 
sich  mit  grosser  Regelmässigkeit  Jahr  für  Jahr  wiederholen.  Greift  man  einzelne 
Arten  von  Unfällen  heraus,  so  erscheint  als  besonders  wichtig  der  Ertrinkungs- 
tod, dem  über  */,  aller  Unfälle  zugehören.  Die  Zahl  der  erwachsenen  Ertrunkenen 
beträgt  1435  und  es  ist  keinem  Zweifel  unterworfen,  dass  mindestens  die  Hälfte 
derselben  gerettet  werden  konnte,  wenn  sie  des  Schwimmens  kundig  gewesen  wäre. 
Derartige  einfache  Künste  werden  von  unserer  sonst  so  vorgeschrittenen  und  vor- 
sichtigen Zeit  viel  zu  sehr  vernachlässigt.  Die  zahlreiche  Gruppe  der  durch  Sturz 
aus  Höhen  Verunglückten  ist  wohl  zum  weitaus  grössten  Theile  ein  Ausdruck 
menschlichen  Leichtsinns,  während  das  Erschlagenwerden  durch  herabfallende 
Lasten  etc.  weit  eher  als  wirklicher  unglücklicher  Zufall  betrachtet  werden 
darf.  Als  besonders  charakteristisch  verdient  auch  hervorgehoben  zu  werden, 
dass  die  Ziffer  der  tödtlichen  Unfälle  durch  Landfuhrwerk  constant  grösser  ist, 
als  die  der  tödtlichen  Eiseubahnunfalle.  (Von  letzteren  soll  später  noch  aus- 
führlich die  Rede  sein,  desgleichen  von  den  Seeunfallen.)  Die  grosse  Zahl  der 
durch  Maschinen  Verunglückten  ist  ebenfalls  zum  grössten  Theile  dem  Leicht- 
sinn in  der  Behandlung  der  Maschine  zuzuschreiben. 

Wie  sehr  der  Mensch  in  der  Lage  ist,  die  Zahl  der  tödtlichen  Unfälle 
durch  verbesserte  Einrichtungen  zu  verringern,  ergibt  sich  unter  Anderen  aus 
Folgendem.  Es  kommen  in  den  deutschen  Steinkohlengruben  1,89,  in  den  bel- 
gischen 2,8,  in  den  englischen  4,ö,  in  denen  von  Staffordshire  7,3  tödtliche  Un- 
glücksfälle auf  1000  Arbeiter:  So  sehr  kann  die  Zahl  bei  mehr  oder  weniger 
Berücksichtigung  des  menschlichen  Lebens  sinken  oder  steigen.  In  Englands 
Kohlenbergwerken  wurden  jedes  Jahr  850  Menschen  getödtet  und  jede  Produc- 
tion  von  71880  Tonnen  Kohlen  kostet  ein  Menschenleben.  (Kolb.  a.  a.  0., 
S.  587.) 

§.  102.  Einflnss  der  Civilisation.  Besnltate. 

Schon  Süssmilch  fand,  dass  der  Einfluss  der  natürlichen  Ursachen, 
des  Klimas  n.  s.  f.  auf  die  Sterblichkeit  verschwindend  sei  gegenüber  der 
Lebensart,  dem  Laster  und  der  Tugend,  der  Weichlichkeit  und  Arbeit- 
samkeit. Und  alle  nachfolgenden  Beobachtungen  bestätigen  diesen  Einfluss 
der  Civilisation,  der  Gesittung.  Die  Fortschritte  der  Civilisation  machen 
das  menschliche  Dasein  angenehmer;  Städte  und  Wohnungen  werden  ge- 
sünder gemacht,  schädliche  Einflüsse  entfernt.  Durch  die  Entwickelung  des 
Verkehrs   werden   Lebensmitteltheuerungen   in    ihren    Wirkungen    abge- 


170  Einfloss  der  €iTili8atiQiL   Resultate. 

schwächt,  Hungersnoth  fast  unmöglich  gemacht;  Medicin  und  Sanitäts- 
polizei bekämpfen  die  Sterblichkeit  — :  so  arbeiten  die  Wissenschaft,  die 
Politik  und  die  Wirthschaft  einmüthig  darauf  hin,  den  Menschen  vor  dem 
Tode  zu  schützen. 

Der  Mensch  ist  in  so  weit  Herr  seines  Lebens,  dass  es  in  seine 
Macht  gegeben  ist,  sich  in  Wohlstand  zu  betten  und  sein  Inneres  zu 
veredeln.  Durch  diese  Thatsache  wäre  man  wohl  veranlasst,  von  vorn- 
herein eine  beständige  Abnahme  der  Sterblichkeit  für  wahrscheinlich 
zu  halten. 

In  der  That  hat  man  zu  wiederholten  Malen  versucht,  diese  Ab- 
nahme der  Sterblichkeit  zu  beweisen.  Mit  Entschiedenheit  behauptet 
Quetelet  eine  Abnahme  der  Sterblichkeit  *).  Neuere  Beobachter  sind  in 
dieser  Hinsicht  ungläubiger  geworden.  Man  darf  wohl  annehmen,  dass  die 
Sterblichkeit  in  ganz  Europa  in  den  letzten  hundert  Jahren  gesunken  ist 
und  dass  dies  den  Fortschritten  der  Civilisation  zuzuschreiben  ist;  doch 
erst  einem  künftigen  Jahrhundert  ist  es  vorbehalten,  diesen  Einfluss  der 
Civilisation    durch   imponirende  Zahlenreihen  unwiderleglich  zu  beweisen. 

Indessen  mag  man  wohl  die  Wirkungen  der  Civilisation  auf  die 
Sterblichkeit  in  ihren  Einzelnheiten  beachten. 

Das  dem  menschlichen  Leben  von  der  Natur  gesetzte  Ziel  kann 
die  Civilisation  nicht  ändern;  gegen  den  Tod  aus  Altersschwäche  wird 
sie  keine  sanitätliche  Massregel  finden.  Man  darf  auch  die  Kindersterb- 
lichkeit neben  der  Alterssterblichkeit  für  ein  natürliches  Gresetz  halten, 
das  durch  die  Fortschritte  der  Civilisation  wohl  in  seinen  Wirkungen 
etwas  abgeschwächt,  niemals  aber  aufgehoben  werden  kann.  Diese  beiden 
Todesursachen  wären  demnach  die  natürlichen.  Wappäus  nimmt  die  von 
ihnen  allein  bewirkte  Sterblichkeit  wie  1 :  57,7  an;  d.  h.  also  wenn  keine 
anderen  Todesursachen  wirkten,  als  die  Schwäche  des  Alters  und  die  der 
Kindheit,  so  würde  erst  auf  57  bis  58  Lebende  jährlich  ein  Todesfall 
kommen. 

Jede  Erhöhung  der  Sterblichkeit  über  diese  ihre  natürliche  untere 
Grenze  ist  unnatürlichen,  zußllligen  Todesursachen  zuzuschreiben.  Diese 
sind  es,  welche  die  Civilisation  zu  bekämpfen  hat.  Jeder  Schritt  näher 
zu  jener  kleinsten  möglichen  Sterblichkeitsziffer  ist  ein  Sieg  der  Civilisation. 
Dieser  Sieg  wird  erkämpft,  theils  gegenüber  der  menschlichen  Leiden- 
schaft, Rohheit,  Unwissenheit,  Leichtfertigkeit  und  Unvorsichtigkeit,  theils 
gegenüber  solchen  Naturgewalten,  mit  welchen  der  Mensch  zwar  nicht 
nothwendig,  aber  im  Verlaufe  seiner  wirthschaftlichen  Bestrebungen  doch 
zufällig  und  häufig  in  Berührung  kommt. 

In  beiden  Richtungen  ist  die  Aufgabe  der  Civilisation  deutlich  vor- 
gezeichnet, 


Einflnss  der  Civilisation.  Resultate.  171 

Unter  den  StaatseiDrichtungen  sind  es  die  militaiischeu  Aushebungen 
und  die  Kriege,  welche  als  mäx^htige  Todesursachen  sich  stets  wiederholen, 
den  gesündesten  und  werthvollsten  Theil  der  Bevölkerung  treffen:  den 
Mann  auf  der  Höhe  seiner  physischen  Entwickelung,  der  eben  anfängt, 
der  Gesellschaft  die  Schuld  zu  bezahlen,  die  er  durch  die  in  seiner  Kind- 
heit erhaltene  Pflege  sich  aufgebürdet  hat.  In  dieser  Hinsicht  kann  die 
Civilisation  durch  eine  Politik  des  Friedens,  durch  Entwaffnung  zur  Ver- 
minderung der  Sterblichkeit  beitragen. 

Auch  den  anderen  Bemfsarten  kann  manches  schlimm  auf  die 
Sterblichkeit  einwirkende  Moment  genommen  werden.  So  namentlich 
durch  sorgfältige  Aufsicht  des  Staats  auf  jene  Berufszweige,  welche  vor- 
zugsweise von  Unglücksfällen  heimgesucht  sind,  insbesondere  auf  den 
Bergbau;  durch  Aufsicht  femer  auf  die  Kinderarbeit  in  den  Fabriken  u.  s.  f. 

Die  Fortschritte  der  ärztlichen  Wissenschaften,  der  Gesundheitspflege 
sind  gleichfalls  ein  mächtiger,  der  Sterblichkeit  entgegendringender  Damm. 
Man  erkennt  die  Fortschritte  der  Civilisation  besonders  in  der  Sorgfalt, 
mit  der  man  das  Abscheulichste  und  Unglücklichste,  das  die  Gesellschaft 
darbot,  zu  entfernen  wusste.  In  dieser  Beziehung  kämpfen  Wissenschaft 
und  Humanität  den  ruhmreichsten  Kampf  für  das  Glück  der  Menschheit. 

So  ist  man  seit  lange  bestrebt,  die  Sterblichkeit  in  den  Findel- 
häusern, den  Entbindungshäusem,  den  Irrenhäusern  und  namentlich  in 
den  Krankenhäusern  zu  vermindern. 

In  gleicher  Weise  ist  man  auch  auf  die  Sterblichkeit  der  Armen- 
häuser und  Gefangnisse  aufmerksam  geworden.  Man  wird  ferner  unnöthige 
Acclimatisationsversuche  unterlassen.  Der  Einfiuss  der  Theuerungen  als 
Todesursachen  wird  geschwächt  durch  den  wachsenden  Verkehr,  welcher 
die  Preise  mehr  ausgleicht,  durch  die  Ausbildung  und  Zunahme  von 
Associationen  und  Sparcassen  der  Arbeiterclassen;  und  die  grossen  Ver- 
kehrsmaschinen der  Gegenwart  gestatten  bei  einer  verminderten  Zahl  von 
ünglücksßlllen  einer  weit  grösseren  Menschenmenge  die  Bewegung  über 
die  ausgedehntesten  Räume. 

Anmerkung. 

*)  Quetelet-Riecke:  A.  a.  0.,  S.  261  ff.  Er  gibt  folgende  Ziffern  für  die 
Sterblichkeit  in  England: 

im  Jahre  1700 

„      „      1750 

„      „       1776—1800 

„      „      1806-1810 

„      „      1816—1820 

„      „      1826-1830 

Nach  diesen  Zahlen  hätte  die  Sterblichkeit  bedeutend  abgenommen,  doch 

sind  die  zu  Grande  liegenden  Todtenlisten  nnzurerlässig.  In  London  allein  fand 


Ton  1 

:  43 

r>      ^ 

:  42 

7)       1    ' 

:  48 

»       1    • 

:  49 

W       *     ' 

:  55 

n      *   ' 

:  51 

172 


EinfluBs  der  Civiliäatioii.  Resultate. 


mau  eiue  gauz  eutschiedeue  Abnahme  der  Sterblichkeit;  sie  betrug  dort  in  der 
Mitte  des  vorigen  Jahrhunderts  uoch  1  :  20,  im  Jahre  1821  nur  1  :  40.  In  Frank- 
reich betrug  sie  nach  Villerme  1721  uoch  1  :  20,  1802  dagegen  1  :  30,  später 
1  :  40;  in  Sohweden  um  1760  1  :  35,  um  1780  1  :  37  und  1823  1  :  48;  in  Berlin 
um  die  Mitte  des  vorigen  Jahrhunderts  1  :  28,  in  den  Jahren  1816  bis  1823 
dagegen  1  :  34. 

Ferner  theilt  Quetelet  am  a.  0.   folgende   Tabelle   von   Moreau  de  Jon- 
nes  mit: 


Lände  r 


Zeit 


1  Todesfall 
auf 


Zeit 


1  Todesfall 
auf 


Schweden  .    . 
Dänemark 
Deutschland  . 
Preussen     .   . 
Württemberg 
Oesterreich     . 
Holland  .    .    . 
England  allein 
Grossbritannien 
Frankreich    . 
Canton  Waadt 
Lombardei     . 
Rom.  Staaten 
Schottland 


1754-64 

1751-54 

1788 

1717 

1749—54 

1822 

1800 

1690 

1785—89 

1776 

1756-66 

1767-74 

1767 

1801 


34 

32 

32 

30 

31 

40 

26 

33 

43 

25,6 

35 

27,5 

21,5 

44 


1821-25 

1819 

1825 

1821-24 

1825 

1825-30 

1824 

1821 

1800—04 

1825-27 

1824 

1827-28 

1829 

1821 


45 

45 

45 

39 

45 

43 

40 

58 

47 

39,6 

47 

31 

28 

50 


Leider  muss  man  sie  eine  werthlose  nennen,  da  einzelne  der  Zahlenan- 
gaben entschieden  falsch  und  die  übrigen  schon  aus  diesem  Grunde  höchst  un- 
zuverlässig sind.  Die  weit  sorgfaltigeren  Untersuchungen  von  Wappäus  über 
die  Abnahme  der  Sterblichkeit  haben  gezeigt,  dass  zu  solchen  Vergleichungen 
die  erforderlichen  statistischen  Daten  fast  überall  fehlen.  Denn  es  müsste  wäh- 
rend der  ganzen  verglichenen  Perioden  die  Aufzeichnung  der  Todesfalle  sowohl 
als  die  der  Gesammtbevölkerung  ganz  gleichmässig  ausgeführt  worden  sein. 
Dies  ist  streng  genommen  nirgends  der  Fall.  Nur  für  Schweden,  Preussen  und 
Frankreich  glaubt  Wappäus  die  Sterblichkeit  längerer  Zeitperioden  vergleichen 
zu  dürfen.  Und  hier  ergibt  sich  eine  Zunahme  der  Sterblichkeit  für  Preussen, 
eine  Abnahme  für  Schweden  und  Frankreich. 


BevöUcernim^Teniiindening  durch  Auswandernng.  173 

IV.  Capitel. 

Aetissere  Einflüsse  auf  die  Bevölkerungs- 
bewegung. 


§.  103.  Bev81kerung8vennindenmg  durch  Aaswandenmg. 

Ob  eine  üebersiedelung  aus  wirthschaftlichen,  politischen,  religiösen 
oder  anderen  Gründen  erfolgt:  eine  Auswanderung  wird  sie  immer  dann 
sein,  wenn  sie  mehr  als  den  Charakter  einer  Reise  hat,  wenn  sie  ein 
Aufgeben  der  heimatlichen,  wirthschaftlichen  und  socialen  Beziehungen  in 
sich  schliesst.  Je  genauer  begrenzt  diese  wirthschaftlichen  und  socialen 
Beziehungen  sind,  auf  einem  je  engeren  Gebiete  sie  sich  concentriren : 
desto  weiter  wird  der  Begriff  der  Auswanderung  für  das  Individuum,  dem 
diese  Beziehungen  angehören.  Der  Bauer  wandert  schon  aus,  wenn  er 
seinen  Hof  mit  einem  solchen  in  einem  benachbarten  Kreise  vertauscht. 
Solche  innerstaatliche  Auswanderung  kümmert  indessen  die  Statistik  da 
nicht,  wo  es  sich  um  ganze  Bevölkerungen  handelt. 

Beobachten  lassen  sich  die  Resultate  der  Wanderungen  bei  dem 
jetzigen  Zustande  von  Freizügigkeit  nur  in  der  Weise,  dass  man  die  Re- 
sultate der  Volkszählungen  mit  denjenigen,  welche  sich  aus  der  Zusam- 
menstellung der  Geburten  und  Todesfälle  ergeben,  vergleicht. 

Eine  besonders  wichtige  Art  von  Auswanderungen,  nämlich  die- 
jenige nach  überseeischen  Ländern,  gestattet  wegen  ihrer  staatlichen 
Beaufsichtigung  und  wegen  ihrer  Concentration  in  einzelnen  Seehäfen  eine 
eingehendere  Betrachtung. 

I.  Was  zunächst  die  Zahl  der  Auswanderer  überhaupt  und  die 
dm-ch  dieselbe  am  Stand  der  Bevölkerung  herbeigeführte  Verminderung 
betrifft,  so  übersteigt  in  den  meisten  Staaten  Westeuropa's  seit  50  Jahren 
die  Zahl  der  Auswanderer  jene  der  Einwanderer  bedeutend.  Namentlich 
in  Grossbritannien  (zumeist  in  Irland),  femer  in  der  Schweiz  und  im 
Deutschen  Reiche. 

Die  Zahl  der  Auswanderer  betrug  in  den  letzten  Jahren  (Angehö- 
rige der  betreffenden  Länder): 

Grossbritauuien 


Jahre 

Deutsches  Reich') 

n.  Irland*) 

Frankreich') 

Italien»)  . 

Schweiz») 

1875 

30.773 

140.675 

4918 

? 

1772 

1876 

28.368 

109.469 

3173 

23.430 

1741 

1877 

21.964 

-95.195 

3936 

24.069 

1691 

1878 

24.217 

112.902 

? 

26.850 

2608 

1879 

? 

164.274 

? 

? 

? 

174  BevOlkeningSYennfiiderung  durch  Aaswandenmg. 

Hinsichtlich  der  anderen  europäischen  Länder  sind  einigermassen 
verlässige  xlngaben  schwer  zu  erlangen.  Bezüglich  Oesterreichs  ist  die 
Auswanderung  sehr  gering;  sie  betrug  aus  den  cisleithanischen  Ländern 
1850—68  zusammen  nur  57726  Personen*). 

Dabei  zeigt  sich  zwischen  der  Auswanderungsziflfer  einzelner  Jahre 
eine  sehr  bedeutende  Ungleichförmigkeit.  So  erscheint  im  Deutschen  Reiche 
neben  den  angeführten  Jahren  das  Jahr  1872  mit  125650  Auswanderern; 
in  Grossbritannien  stieg  im  Jahre  1873  die  Auswanderung  bis  auf  228345. 
In  Frankreich  überstieg  sie  20000  Seelen  im  Jahre  seit  lange  nicht  und 
beträgt  gewöhnlich  nur  8 — 9000  Seelen.  Ebensoviel  ungefähr  aus  Belgien. 

II.  Die  Auswanderung  und  der  Gang  der  Bevölkerung. 

Wenn  nun  auch  die  Bevölkerung  im  Momente  der  Auswanderung 
wirklich  vermindert  wird,  so  wird  durch  letztere  doch  der  Gang  der 
Bevölkerung  nicht  gestört.  Die  Auswanderung  bewirkt  keine  Hemmung 
der  Bevölkerungsvermehrung,  sondern  —  wenn  nicht  das  ganze  Volk  mit 
Mann  und  Maus  auswandert  —  eher  das  Gegentheil. 

Wenn  nämlich  einem  Volke  Gelegenheit  zur  Auswanderung  gegeben 
ist  und  wenn  diese  Gelegenheit  benützt  wird:  dann  fängt  das  Volk  auch 
an,  sie  in  den  Kreis  seiner  wirthschaftlichen  Berechnung  zu  ziehen.  Man 
denkt,  dass  man  im  schlimmsten  Falle  selbst  auswandern  oder  durch 
Auswanderung  Anderer  in  der  Heimat  wieder  freien  Spielraum  gewinnen 
könne.  Durch  diesen  Gedanken  wird  eine  von  den  Gegentendenzen  der 
Volksvermehrung  theilweise  aufgehoben  und  die  Volksvermehrung  findet 
wirklich  statt.  Durch  eine  regelmässige,  namentlich  durch  eine  colonisa- 
torische  Auswanderung  werden  fast  immer  die  Hoffnungen  und  Wünsche 
der  Begründung  eines  Familienstandes  so  angeregt,  dass  die  durch  die 
Auswanderung  entstandenen  Lücken  schnell  wieder  zuwachsen,  ja  dass 
die  Bevölkerung  des  Mutterlandes  sich  sogar  vermehrt. 

Diese  Vermehrung  findet  sehr  schnell  statt;  so  schnell,  dass  meistens 
der  Zuwachs,  welchen  die  Bevölkerung  jedes  Jahr  aus  dem  Ueberschuss 
der  Geburten  über  die  Todesfälle  erhält,  den  Abgang  der  Ausgewanderten 
überwiegt. 

Dies  gilt  freilich  nur  von  der  modernen  Auswanderung.  Anders  war 
es  bei  der  ersten  historisch  bekannten  grossen  Emigration;  bei  der  600000 
Mann  starken  Auswanderung  der  Juden  aus  Egypten,  durch  welche  die 
Bevölkerung  Egyptens  wesentlich  und  auf  längere  Zeit  vermindert  ward. 
Auch  der  Abgang,  welcher  dem  Lande  der  Juden  durch  die  letzte  Aus- 
wanderung seines  Volkes  ward,  ist  unersetzt  geblieben.  Während  sich 
gegenwärtig  die  Gesammtzahl  der  auf  Erden  lebenden  Juden  auf  7 
Millionen  beläuft,  existirt  im  Mutterlande  derselben  eine  verschwindend 
kleine  Zahl.  Solches  fast  vollständiges  Verschwinden  der  Bevölkerung  des 


BeYölkerangSTennindenuig  durcli  Aaswandernng.  175 

Matterlandes  ist  bei  der  modernen  AuBwandemng  unerhört.  Die  deutsche 
Auswanderung  hat  im  Jahre  1872,  wo  die  Auswanderungsziflfer  sehr  hoch 
gestiegen  war,  doch  nicht  mehr  Abgang  verursacht,  als  ungefähr  ^/^  des 
natürlichen  Bevölkerungszuwachses.  Die  gesammte  Auswanderung  des 
brittischen  Reiches,  welches  doch  die  grössten  Colonien,  die  blühendste 
SchiflfTahrt  besitzt,  betrug  im  Durchschnitt  der  Jahre  1825 — 35  nur  etwa 
55000,  1836—45  über  80000,  1873  allein,  bei  höchstgesteigerter  Aus- 
wanderung 228345,  wogegen  der  jährliche  Ueberschuss  der  Geburten 
über  die  Todesfälle  1800—78  durchschnittlich  227816,  dagegen  in  dem 
genannten  Jahre  426979,  also  noch  beinahe  das  Doppelte  der  Auswan- 
derung betrug.  Nur  die  Bevölkerung  Irlands  ist  in  Folge  ungeheurer 
Auswanderung  in  den  10  Jahren  von  1841—51  um  etwa  1,660000 
Seelen  oder  2,26  Procent  gesunken. 

ni.  Gründe  der  Auswanderung.  Mit  ihnen  hängt  auch  die 
Frage  zusammen,  welche  Theile  der  Bevölkerung  durch  die  Aus- 
wanderung dem  Lande  entzogen  werden.  Dies  ist  verschieden  je  nach  der 
Art  der  Auswanderung,  aber  von  hohem  Interesse  für  die  Auswande- 
rungsstatistik. Die  besten  und  edelsten  Theile  der  Bevölkerung  können 
einem  Lande  nur  durch  Emigration  aus  politischen  oder  religiösen  Gründen 
entzogen  werden.  Durch  die  völlige  oder  durch  die  colonisatorische  Aus- 
wanderung werden  der  Bevölkerung  des  Mutterlandes  keineswegs  die 
besten,  aber  doch  auch  nicht  geradezu  die  schlechtesten  Theile  entzogen. 
Menschen,  die  im  Mutterlande  unbrauchbar  sind,  sind  es  in  der  Regel 
auch  auswärts.  Wer  eine  behagliche  und  anständige  Stellung  im  Mutter- 
lande errungen  hat  oder  zu  erringen  hofft,  der  bleibt.  So  kommt  es,  dass 
aus  einem  Staate,  wo  weder  die  politische  noch  die  religiöse  Freiheit  be- 
drückt ist,  im  Grossen  und  Ganzen  nur  solche  Theile  der  Bevölkerung 
auswandern,  welche  ungefähr  zwischen  der  Mittelclasse  und  der  untersten 
Stufe  stehen. 

Die  Motive  der  Auswanderung  lassen  sich  in  der  Regel  er- 
kennen, wenn  man  die  Auswanderer  nach  ihren  heimatlichen  Wohnsitzen, 
nach  ihrem  Stand  und  Beruf,  Geschlecht,  Familienstand,  Alter,  Vermögen, 
nach  ihrer  Religion  etc.  classificirt  hat. 

Was  insbesondere  die  deutsche  Auswanderung  betrifft,  so  hat  die- 
selbe ihre  Ursache  zunächst  in  politischer  und  religiöser  Bedrückung  des 
Volkes,  welche  nach  dem  dreissigjährigen  Kriege  begann,  unter  der  Herr- 
schaft des  Absolutismus.  Der  missvergnügten  kümmerlichen  Stellung  des 
Deutschen  in  seiner  Heimat,  wo  er  nur  Object  des  Steuerdruckes  und  der 
polizeilichen  Willkür  war,  stellten  sich  mehr  oder  weniger  begründete 
Hoffnungen  auf  ein  freies  und  erfolgreiches  Streben,  das  ihm  jenseits  des 
Oceans  winkte,  gegenüber.  Bis  zum  Jahre  1816  war  indessen  die  deutsche 


176  BevOlkeningsTermiiidening;  durch  AoBwandeniug. 

Auswanderung  immer  auf  einige  tausend  Seelen  im  Jahre  beschränkt  ge- 
blieben. Die  grosse  Hungersnoth  von  1816/17  steigerte  sie  plötzlich  auf 
über  20000  Seelen;  dann  sank  sie  rasch  wieder  und  soll  1821/22  nur 
148  betragen  haben  ^).  Sie  stieg  wieder  in  der  Reactionsperiode  der 
Dreissiger  Jahre  ganz  bedeutend.  Vom  Jahre  1847  an,  seit  welcher  Zeit 
eigentlich  erst  zuverlässige  Ziffern  vorhanden  sind,  hielt  sie  sich  auf 
massiger  Höhe,  bis  das  Jahr  1852  eine  rapide  Steigerung  brachte,  welche 
1854  ihren  Höhepunkt  erreichte.  In  diesem  Jahre  verliessen  127694 
Auswanderer  (fremde  und  deutsche)  die  deutschen  Häfen.  Ebenso  rapid 
sank  die  Ziffer  wieder  und  hielt  sich  fast  ausnahmslos  bis  1864  auf 
massiger  Höhe;  ein  Minimum  erreichte  sie  besonders  1861 — 63,  als  der 
amerikanische  Bürgerkrieg  die  Aussichten  für  Auswanderer  nach  den  Ver- 
einigten Staaten  sehr  getrübt  hatte.  Die  Beendigung  jenes  Krieges  liess 
die  Hoffnungen  und  mit  ihnen  die  Auswanderungszififer  rasch  wieder 
steigen  (von  52756  im  Jahre  1864  auf  87549  im  Jahre  1865,  Deutsche 
und  Fremde  aus  deutschen  Häfen).  Eine  weitere  Steigerung  veranlasste 
der  Krieg  von  1866;  in  diesem  Jahre  betrug  die  Zahl  (Fremde  und 
Deutsche,  namentlich  unzufriedene  Hannoveraner)  106657.  Sie  hielt  sich 
auf  dieser  Höhe  und  darüber  bis  1870,  sank  dann  in  Folge  des  Krieges 
auf  79337  und  stieg  nach  dem  Frieden  sofort  wieder  bis  zu  dem  Maximum 
von  1872  mit  125650  (blos  Deutsche,  oder  154824  Deutsche  und  Fremde). 
Im  Jahre  1874  aber  sank  sie  rapid  auf  weniger  als  die  Hälfte  des  Vor- 
jahres und  behielt  seither  einen  noch  weit  geringeren  Stand.  Vieles  bleibt 
in  dem  Wechsel  der  deutschen  Auswanderungszififer  schwer  erklärlich, 
namentlich  das  abnorme  Maximum  des  Jahres  1872,  des  Jahres  höchsten 
wirthschaftlichen  Aufschwungs. 

Die  brittische  Auswanderung  hat  ihren  Grund  im  Allgemeinen 
unzweifelhaft  in  der  nicht  abzuläugnenden  verhältnissmässigen  üeber- 
völkerung  des  brittischen  Europa,  wird  aber  wesentlich  gefördert  durch 
den  brittischen  Colonialbesitz,  durch  die  englische  Seemachtstellung,  welche 
die  englische  Nation  mehr  als  jede  andere  veranlasst,  ihren  Blick  auf 
und  über  das  Meer  zu  richten;  auch  durch  die  Leichtigkeit,  mit  der 
eigenen  Sprache  in  den  wichtigsten  Auswanderungsländern  zurecht  zu 
kommen.  Die  Auswanderung  der  Irländer  insbesondere,  welche  seit  lange 
alle  Aufmerksamkeit  verdient,  erreichte  ein  unerhörtes  Maximum  mit  der 
Hungersnoth  von  1846  und  brachte  von  1845  bis  1854  über  Vj^  Millionen 
Irländer  nach  den  Vereinigten  Staaten.  Die  gesammte  brittische  Auswan- 
derung beträgt  seit  15  Jahren  jährlich  165355  Seelen  und  sank  nur  in 
einem  einzigen  Jahre  dieser  Periode  unter  100000.  Trotzdem  sie  im 
Ganzen  nicht  abnimmt,  zeigt  doch  die  Auswanderung  nach  den  Verei- 
nigten Staaten  in  der  zweiten  Hälfte  dieser  Periode  eine  bedeutende  Ab- 


BAydlkerangsverminderniig  durch  Auswanderung.  177 

nähme,  was  aber  ausgeglichen  wird  durch  die  Auswanderung  nach  anderen 
Ländern.  Wenn  Grossbritannien  eine  stets  wachsende  Zahl  von  Auswan- 
derern nach  anderen  Ländern,  als  die  Vereinigten  Staaten,  Brittisch- 
Nordamerika,  Australien  und  Neuseeland  sind,  schickt,  so  ist  ein  Grund 
hiefiir  gewiss  in  dem  Schutze  zu  suchen,  welchen  der  Engländer  auf  der 
entlegensten  Insel  des  Oceans  durch  die  brittischen  Consuln  und  Kriegs- 
schiflfe  findet. 

Die  Geringfügigkeit  der  Auswanderung  Frankreichs  hat  ihren  Grund 
im  Allgemeinen  in  dem  fast  stationären  Charakter  der  französischen  Be- 
völkerung. Eine  Bevölkerung,  die  sich  fast  kaum  mehr  vermehrt,  in  deren 
Mutterland  die  wirthschaftlichen  Zustände  und  die  Volkszahl  sich  inein- 
andergefügt haben  und  nicht  durch  gewaltthätige  Stömngen  in  Disharmonie 
gerathen,  hat  keinen  Grund  zur  Auswanderung.  Der  geringe  jährliche 
Bevölkerungszuwachs  findet  fast  vollständig  Raum  in  der,  durch  stetige 
Capitalbildung  erweiterten  und  verbesserten  Werkstatt  des  Volkslebens.  ^ 

Unter  den  Auswanderungsziffem  der  übrigen  europäischen  Länder 
geben  die  italienische  und  die  schweizerische  einigermassen  Veranlassung, 
zu  fragen,  ob  nicht  auch  in  diesen  Ländern  die  Bevölkerung  schon  ein 
Gefühl  der  Beengtheit  empfinde,  welches  wenigstens  als  Vorbote  der 
Furcht  vor  Uebervölkerung  angesehen  werden  kann.  Die  unbedeutende 
Auswanderung  der  osteuropäischen  Länder,  einschliesslich  Oesterreich- 
Ungams,  hängt  mit  den  übrigen  Bevölkerungsverhältnissen  dieser  Länder 
zusammen,  welche  deutlich  das  Bestreben  zeigen,  den  ihnen  von  der 
Natur  gebotenen  Spielraum  durch  menschliches  Leben  auszufüllen. 

Als  besonders  charakteristisch  darf  der  europäischen  Auswanderung 
hier  wohl  noch  die  chinesische  gegenübergestellt  werden.  Man  hat  die 
jährliche  Durchschnittszahl  der  chinesischen  Auswanderer,  gewiss  nicht 
überti-ieben,  auf  mindestens  150000  veranschlagt*).  Die  ausserordentliche 
Volksdichtigkeit  des  eigentlichen  China  ist  der  constante  Grund  dieser 
Auswanderung,  welche  ganze  Völkerwellen  landeinwärts  nach  der  Mongolei, 
Tibet  und  Hinterindien,  aber  auch  seewärts  nach  dem  indischen  Archipel, 
Australien  und  über  den  Stillen  Ocean  treibt.  Neben  der  Beschränktheit 
des  heimischen  Raumes  wirkt  aber  auch  in  noch  höherem  Grade  die 
Leichtigkeit,  mit  welcher  im  Auslande  der  massige  und  fleissige  Chinese 
mit  den  Arbeitern  anderer  Racen  zu  concurriren  und  Ersparnisse  zu 
sammeln  vermag. 

IV.  Weitere  Aufgaben  der  Auswanderungsstatistik  beziehen  sich  auf 
die  Reise  der  Auswanderer.  So  namentlich  auf  den  Umstand,  wie  durch- 
schnittlich die  Emigration  sich  auf  die  verschiedenen  Jahreszeiten  ver- 
theilt;  ferner  auf  die  wichtigsten  Auswanderungshäfen,  auf  die  Fahrpreise 
in  den  verschiedenen  Häfen,  auf  Segelschiffen  und  Dampf  booten;  auf  die 

Hanshofer,  Statistik.  2.  Aufl.  12 


178  BeTölkerungSTerminderung  dorch  AfUSwandernnf. 

mittlere  Dauer  der  Fahrten,  die  durchschnittliche  Sterblichkeit  auf  den 
Schiffen,  die  Durchschnittszahl  der  die  Auswandererschiffe  treffenden 
Schiffbrüche  und  anderen  Unglücksfälle. 

V.  Auch  die  Bestimmungsorte  der  Auswanderer  sind  von  statistischer 
Wichtigkeit.  Es  kann  für  das  Heimatland  der  Auswanderer  nicht  gleich- 
giltig  sein,  in  welchen  Theilen  der  Welt  seine  Kinder  sich  verlieren.  Eine 
Politik,  die  nicht  blos  von  der  Hand  in  den  Mund  lebt,  muss  sich  für 
die  Frage  interessiren,  wo  in  anderen  Ländern  stammverwandtes  Volks- 
leben erwächst,  und  was  für  dessen  Erhaltung  und  Stärkung  geschehen 
kann.  Wenn  die  Auswanderer  nach  solchen  Ländern  ziehen,  wo  sie  als 
winzige  Minoritäten  verschwinden,  müssen  sie  rasch  ihre  heimische  Sitte 
und  Sprache  verlieren;  sie  werden  von  fremdem  Volksthum  völlig  aufge- 
sogen. Mit  den  brittischen  Auswanderern  ist  dies  am  wenigsten  der  Fall, 
sie  sind  leicht  im  Stande,  überall  englische  Sprache  und  Sitte  in  der 
Familie  zu  bewahren  und  so  jene  kosmopolitischen  und  doch  nationalen 
Fäden  zu  spinnen,  mit  welchen  englisches  Wesen  seine  Weltmachtstellung 
über  alle  Meere  netzartig  ausbreitet.  Auch  die  chinesischen  Auswanderer 
wissen  allenthalben  ihre  heimische  Lebensweise  festzuhalten  und  thun 
dies  um  so  zäher,  weil  sie  in  dem  Gedanken  an  eine  dereinstige  Rück- 
wanderung arbeiten  und  sparen.  Dagegen  ist  gerade  an  den  deutschen 
Auswanderern  das  völlige  Aufgehen  in  fremden  Nationalitäten  am  meisten 
zu  beklagen.  Die  Deutschen,  welche  im  Laufe  dieses  Jahrhunderts  allein 
nach  den  Vereinigten  Staaten  auswanderten,  wären  bei  gehöriger  Concen- 
tration  im  Stande  gewesen,  in  Südbrasilien  oder  Argentina  ein  grosses 
blühendes  Staatswesen  zu  bilden.  Im  Territorium  der  thätigen  energischen 
Nordamerikaner  war  dies  natürlich  nicht  möglich,  was  gegenüber  der 
spärlichen,  ärmeren  und  weit  weniger  thatkräftigen  Bevölkerung  Süd- 
amerika's  hätte  gelingen  müssen.  So  sehr  mittlei^weile  deutsche  Sitte  und 
Sprache  in  den  Vereinigten  Staaten,  wo  sich  in  den  grösseren  Städten 
ganze  deutsche  Stadtviertel  mit  deutschen  Zeitungen,  Gesangvereinen  und 
Bierschenken  gebildet  haben,  erstarkt  ist,  erscheint  hier  doch  das  deutsche 
Wesen  als  dasjenige  einer  Fremdencolonie,  während  es  anderwärts  zur 
Herrschaft  hätte  gelangen  können.  Wie  überwältigend  immer  noch  die 
Anziehungskraft  der  Vereinigten  Staaten  auf  die  deutschen  Auswanderer 
ist,  geht  aus  dem  Umstände  hervor,  dass  von  den  24217  Auswanderern 
des  Jahres  1878  dorthin  20373,  nach  Brittisch-Nordamerika  89,  nach 
Centralamerika  und  Mexiko  22,  nach  Westindien  74,  nach  Brasilien 
1048,  nach  Argentina  201,  nach  Peru  82,  nach  Chile  94,  nach  dem 
übrigen  Südamerika  72,  nach  Afrika  394,  nach  Asien  50,  nach  Austra- 
lien 1718  gewandert  sind  ^). 


BeT^Ikervngsyennindening  dnreh  Auswuidermig.  179 

VI.  Bedeutende  Aufmerksamkeit  verdient  eine  weitere  Erscheinung. 
Nicht  nur  in  der  Bevölkerung  selbst  wird  dem  Mutterlande  durch  Aus- 
wanderung ein  colossales  Capital  entzogen,  sondern  auch  durch  die  klei- 
neren Capitalien,  welche  von  den  Auswanderern  mit  in  die  neue  Heimat 
genommen  werden.  Es  hat  indessen  auch  mit  diesem  Verluste  keine  grosse 
Gefahr.  Würde  jeder  Auswanderer  durchschnittlich  mehr  Capital  mi1>- 
nehmen,  als  auf  den  Kopf  der  im  Mutterlande  Zurückbleibenden  gerechnet 
wird:  dann  müsste  gerade  durch  jede  gelungene  Auswanderung  das  Ver- 
hältniss  der  Einwohner  zum  Gütervorrath  ein  immer  schlimmeres  werden ; 
die  Ausgewanderten  würden  sich  sehr  wohl  befinden,  aber  die  Zurück- 
gebliebenen desto  schlechter. 

Dies  ist  kaum  von  einer  Auswanderung  zu  fürchten.  Man  glaubt 
in  Nordamerika  von  den  deutschen  Einwanderern,  dass  sie  durchschnittlich 
280  Thlr.  mitbringen.  Die  Auswanderer  selbst  pflegen  nicht  so  viel  an- 
zugeben. Aus  Preussen  wanderten  1848—49  8780  Menschen  mit  1,713370 
Thlr.  Vermögen;  es  trifft  sohin  auf  den  Kopf  die  Summe  von  195  Thlr. 

In  Bayern  sind  von  1844—51  45300  Personen  ausgewandert;  die- 
selben haben  ein  Gesammtcapital  von  19,233000  fl.,  also  für  den  Kopf 
424  fl.  ausgeführt.  Es  scheint  hier  der  mittlere  Betrag  des  Auswanderer- 
vermögens abzunehmen  und  die  Auswanderung  aus  immer  tieferen 
Schichten  der  Bevölkerung  hervorzugehen. 

Es  ist  also  vorerst  nicht  daran  zu  denken,  dass  bei  der  gegenwär- 
tigen europäischen  Auswanderung  verhältnissmässig  mehr  Capitalien  als 
Menschen  auswandern.  Eine  fortwährende  Mehrausfuhr  von  Capitalien 
müsste  nöthwendig  das  Resultat  haben,  dass  die  Bevölkerung  des  Mutter- 
landes an  Capitalien  immer  äimer  würde  und  zuletzt  nur  noch  jene 
Capitalien  behielte,  welche  überhaupt  nicht  ausgeführt  werden  können. 

Der  Einfluss,  welchen  jede  allmälige  Auswanderung  auf  die  Bevöl- 
kerung des  Mutterlandes  nimmt,  dürfte  sich  demnach  grossentheils  nach 
der  Menge  der  mit  den  Auswanderern  entfliehenden  Capitalien  richten. 
Die  Bevölkerung  des  Mutterlandes  muss  allmälig  schwinden,  wenn  zu  viel 
Capitalien  ausgeführt  werden;  sie  wird  durch  die  Auswanderung  keine 
merkliche  Verändening  erleiden,  wenn  der  richtige,  auf  den  Kopf  der 
Bevölkerung  treffende  Durchschnitt  der  Capitalsmengen  ausgeführt  wird; 
wachsen  wird  sie,  wenn  verhältnissmässig  zu  wenig  Capitalien  ausgeführt 
werden. 

Wappäus  überschätzt  die  nachtheiligen  Wirkungen  der  Auswanderung 
auf  den  Capitalbestand  des  Mutterlandes.  Er  rechnet,  dass  Deutsehland 
in  10  Jahren  durch  das  entflohene  Auswanderervermögen"  100  Millionen 
Thlr.  Capital  verloren  habe.  Kapp  berechnet,  dass  die  Vereinigten  Staaten 
allein    von    Deutschland   in    50    Jahren    500    Millionen    Thlr.   baar   und 

12* 


180  BeyölkenmgBTermelinuig  dnroli  Einwaadernng. 

1751  Millionen  Thlr.  an  Capitalwerth  gewonnen  haben,  und  dass  Europa 
taglich  rund  1  Million  Dollars  durch  seine  Auswanderer  an  die  Verei- 
nigten Staaten  abgibt*).  Wie  viel  Millionen  mehr  aber  gewann  es  durch 
die  Arbeit  dieser  Auswanderer,  so  lange  dieselben  daheim  waren  und  wie 
viele  Millionen  wird  es  noch  gewinnen  durch  die  Arbeit  Derjenigen, 
welche  durch  die  Entfernung  jener  Auswanderer  Raum  gewonnen  haben? 

Anmerkuugeu. 
')  Nach  dem  stat.  Jahrbuch  für  i880,  S.  19. 
*)  Nach  Statistical  abstract  from  1865  to  1879,  p.  149. 
»)  Block-v.  Scheel,  p.  274. 

*)  V.  F.  Klun:  Statistik  vou  Oesterreich-Ungaru.  S.  87. 
*)  F.  Kapp:  Ueber  Auswanderung.  1871.  S.  5   ff. 
•)  F.  Ratzel:  Die  Chinesische  Auswanderung.  1876.  S.  63. 

§.  104.  Bevölkerungsvermehning  durch  Einwaaderang  ^). 

I.  Weit  einflussreicher  als  die  Auswanderung  ist  beobachtetermassen 
för  die  Bewegung  wirklicher  Bevölkerungen  die  Einwanderung.  Namentlich 
in  Staaten  mit  junger  Cultur,  wo  noch  Raum  im  Ueberfluss  für  die  volks- 
wirthschaftliche  Entwickelung  vorhanden,  Grundeigenthum  leicht  zu  erwerben 
ist  und  keine,  durch  eine  lange  Geschichte  überlieferte  Fesseln  und  Schwie- 
rigkeiten sich  an  die  Thätigkeit  des  Einzelnen  hängen. 

So  hat  die  Bevölkerung  der  Vereinigten  Staaten  von  1820 — 1877 
9,875617  Seelen  durch  Einwanderung  gewonnen. 

Die  schlinunen  Zustände  Irlands,  Revolutionen  und  Reactionen  in 
Deutschland  und  Frankreich,  die  Erweiterung  des  Staatsgebietes  der  Ver- 
einigten Staaten,  die  Entdeckung  der  californischen  Goldmineü  und  der 
Silbergruben  von  Nevada,  dazu  die  wachsende  Anziehungskraft  der  schon 
Uebergesiedelten  machen  diese  stets  mächtiger  werdende  Einwanderung 
erklärlich.  Kein  anderer  Staat  zeigt  einen  so  starken  äusseren  Bevölke- 
rungszuwachs. Nur  einzelne  von  den  brittischen  Colonien,  Canada,  Austra- 
lien und  Neuseeland,  haben  in  neuerer  Zeit  einen  noch  grösseren  äusseren 
Bevölkerungszuwachs  gewonnen.  Hier  aber  sind  es  blos  Theile  eines  grös- 
seren Staates,  dessen  andere  Theile  ihnen  ihren  Ueberfluss  an  Bevölkerung 
abgeben. 

II.  Auch  bei  der  Einwanderung  ist  der  wirthschaftliche  Werth  der 
Bevölkerungsveränderung  zu  beachten.  Der  Bevölkerungszufluss  bringt  nicht 
allein  Arbeitskräfte  ans  Land,  welche  in  Capital  umgesetzt  werden,  sondern 
auch  Baarcapitalien,  welche  von  den  Einwanderern  mitgefuhrt  werden  und 
meistens  erspriessliche  Anwendung  finden,  namentlich  häufig  an  solchen 
Plätzen,  wo  sie  bisher  gefehlt  haben*). 


BevOUcenrngByenDebrang  durch  Einwandening.  181 

ni.  Die  NatioDalitat  der  Einwanderer  ist  für  den  Staat,  welcher  den 
Zaflüss  erhält,  von  politischer  Bedeutung,  weil  eine  grössere  Menge  von 
Einwanderern  einer  bestimmten  Nationalitat  immerhin  dazu  beiträgt,  das 
Volksthum,  die  Sitten,  Wirthschaftsmethoden  und  politischen  Einrichtungen 
des  neuen  Vaterlandes,  wenn  auch  oft  ganz  unmerklich,  zu  modificiren. 
Diesen  stillwirkenden  Einfluss  haben  die  Vereinigten  Staaten  von  der 
irischen  und  von  der  deutschen  Einwanderung  im  Osten  und  in  den  Bin- 
nenstaaten, von  der  chinesischen  Einwanderung  an  der  pacifischen  Küste 
verspürt.  Die  chinesische  Einwanderung  wurde  so  einflussreich,  namentlich 
hinsichtlich  der  Arbeitslöhne,  dass  sich  in  den  Staaten  des  fernen  Westens 
die  Anfänge  eines  Racenconflictes  zu  zeigen  beginnen  •). 

Die  Umgestaltungen  des  politischen  und  wirthschaftlichen  Lebens  und 
der  ganzen  Gesittung  durch  die  Einwanderung  ist  eine  von  jenen  Erschei- 
nungen des  Völkerlebens,  hinsichtlich  dessen  die  notorischen  Thatsachen 
der  Geschichte  weit  mehr  Aufklärung  in  farbenreichen  Bildern  liefern,  als 
die  Ziflfem  der  Statistik.  Zwischen  der  dorischen  Wanderung  des  alten 
Hellas  und  der  Einwanderung  der  Chinesen  in  San  Francisco,  zwischen  den 
verheerenden  Invasionen  der  Gothen  und  Vandalen  und  der  nun  bald 
zweitausend  Jahre  währenden  Einwanderung  der  Juden  in  das  Abendland 
stehen  unzählige  Formen  der  Einwanderung,  haben  unzählige  Verbindungen 
älteren,  sesshaften  und  neuen,  zugewanderten  Volksthumes  stattgefunden, 
sind  an  unzähligen  Punkten  Fäden  angeknüpft,  Uebergänge  und  Vermi- 
schungen angebahnt  worden,  aber  auch  Völker-  und  Racenconflicte  ent- 
brannt, je  nachdem  die  eingewanderte  oder  die  aufnehmende  Nation  in 
dieser  oder  jener  Hinsicht  mehr  Kraft  und  Ausdauer  entwickelte. 

Anmerkungen. 

*)  Vgl.  Wappäus,  a.  a.  0.,  S.  102  ff. 

*)  Doch  findet  sich  hier  wieder  eine  Verschiedenheit.  Wenn  ein  hochcul- 
tirirter  und  dichtbevölkerter  Staat  durch  Einwanderung  an  Bevölkerung  zu- 
nimmt, wie  z.  B.  früher  Preussen,  so  kann  mau  annehmen,  die  Mehrzahl  der 
Einwanderer  habe  aus  nicht  unbemittelten  Erwachsenen  bestanden,  aus  Gre werb- 
treibenden, Eaufleuten  u.  s.  w.  So  sind  z.  B.  in  Preussen  von  1851 — 1856 
10145  Personen  mit  einem  Vermögen  von  zusammen  11,766465  Thlr.  oder 
1160  Thlr,  auf  den  Kopf  eingewandert.  Da  bringt  also  die  Einwanderung  noch 
grösseren  Gewinn,  als  in  weniger  civilisirten  Ländern,  wo  die  Einwanderer 
Torzugsweise  durch  den  Eeichthum  an  unbenutzten  culturfahigen  Ländereien 
angezogen  werden.  Nach  solchen  wandern  die  weniger  gebildeten  Einwanderer, 
zugleich  auch  meist  in  ganzen  Familien,  also  nicht  vorzugsweise  die  Producenten. 
(Wappäus,  a.  a.  0.) 

*)  9,814908  Einwanderer  in  die  Ver.  Staaten  bis  1877,  vertheilten  sich 
nach  der  Nationalität  folgendermassen:  ^ 


182 


Die  Lebensdauer   im  Lichte  der  onBystematisGlien  Beobachtung. 


Grossbritaiinieii .  . 
Deutschland  .  .  . 
Frankreich  .  .  • 
Skandinavien  .  . 
Schweiz  .  .  .  .  . 
Niederlande  .  .  . 
Dänemark,  Island 
Spanien, '  Portugal 

Italien 

Belgien 

Oesterreich  .  .  . 
Russland,  Polen  . 
Uebriges  Europa  . 
Vor  1820  etwa  .  .. 


4,568.446 

2,916.652 

305.390 

273.100 

78.911 

42.773 

43.243 

49.040 

60.394 

21.865 

54.709 

45.757 

1.141 

250.000 


Europa  . 
(Nach  dem  Gothaischen 


British  Amerika 491.572 

Westindien 60.899 

Mexiko 23.856 

Centralamerika 1.203 

Südamerika 8.526 

China 207.270 

Japan  .   '. 341 

Australien 8.099 

Andere  Länder 306.224 

Auf  See  geboren  .    .   .   .   .    .  497 

Totale  nebst  Europa  .  9,814.908 


8,706.421 

Taschenbuch  für  1880.) 


III.  Abschnitt.  Physisches  Leben  der  Bevölkerung. 

I.  Capitel. 

Die  Lebensdauer. 


§.  105.  Die  Lebensdauer  im  lichte  der  unsystematischen  Beobachtung. 

Wie  vergänglich  das  menschliche  Leben  ist:  das  ist  nicht  nur  unter 
allen  statistischen,  sondern  überhaupt  unter  allen  Erfahrungen  menschlicher 
Beobachtung  eine  der  ältesten.  Die  Dauer  des  Menschenlebens  bestimmt 
des  Menschen  Thaten  und  seine  Geschichte;  sie  ist  der  Raum,  aufweichen 
sein  Glück  und  Unglück,  seine  Verpflichtungen  und  Ansprüche  vertheilt 
werden. 

„Unser  Leben  währt  siebzig  Jahre;  und  wenn  es  hoch  kommt,  so 
sind  es  achtzig  Jahre;  und  wenn  es  köstlich  gewesen  ist,  so  ist  es  Mühe 
und  Arbeit  gewesen;   denn  es  fährt  schnell  dahin,  als  flögen  wir  davon.** 

Mit  diesen  Worten  beklagt  der  Psalmist  die  Kürze  des  Menschen- 
lebens; sie  enthalten  die  populärste  Schätzung  der  Lebensdauer,  eine 
Schätzung,  die  für  ihre  Zeit  sehr  vernünftig  genannt  werden  kann.  Juden, 
Egypter  und  Indier  haben  Grosses  in  der  Ueberschätzung  der  menschlichen 
Lebensdauer  geleistet.  Selbst  der  grosse  alte  Statistiker  Moses  griff  in  seinen 
Altersangaben  in  das  Reich  des  Märchens.  Er  gibt  dem  Adam  ein  Alter 


Uebersicht  der  Aufgabe  der  Statistik  hinsichtlich  der  Lebensdauer.  183 

von  390  Jahren,  dem  Seth  von  912,  dem  Enos  von  905,  dem  Kenan  von 
910,  dem  Mahaleel  von  895,  dem  Methusalem  von  962  und  dem  Noah 
von  950  Jahren.  Man  kann  nicht  annehmen,  dass  Moses  ganz  andere 
Jahre,  als  die  unseren  sind,  gemeint  habe;  denn  Chaldäer  und  Egypter 
waren  schon,  als  Moses  am  Hofe  der  Pharaonen  lebte,  zu  gute  x\stronomen, 
deren  Beobachtungen,  von  vorzüglicher  Schärfe,  zwei  Jahrtausende  vor 
Christus  hinaufreichen.  Wahrscheinlich  verlieh  man  jenen  ehrwürdigen 
Patriarchen  ein  so  hohes  Alter,  um  sie  noch  ehrwürdiger  erscheinen  zu 
lassen.  Uebrigens  sind  diese  Ueberschätzungen  massig  gegen  die  der  Indier. 
Die  alte  indische  Literatur  gibt  die  Lebensdauer  gewöhnlicher  Menschen 
zu  80000,  die  der  Heiligen  zu  100000  Jahren  an.  j,Einer  ihrer  Köijige, 
ein  besonders  brillanter  Charakter,  der  auch  zugleich  Heiliger  war,  trat 
seine  Regierung  erst  im  Alter  von  2  Millionen  Jahren  an,  dann  regierte 
er  6,300000  Jahre  und  als  er  dies  ausgeführt  hatte,  dankte  er  ab  und 
schleppte  sich  noch  100000  Jahre  hin"  *). 

Es  darf  wohl  als  charakteristisch  für  den  Optimismus  der  Menschen 
bezeichnet  werden,  dass  die  unwissenschaftliche  Beobachtung  der  Lebens- 
dauer sich  so  gerne  an  die  Maximalzahlen,  selbst  wenn  dieselben  g;anz 
augenfällig  zu  den  Ausnahmen  gehören,  hält.  Es  ist,  als  wollte  man  damit 
die  allgemeine  Anschauung  über  die  Lebensdauer  aus  Menschenfreundlich- 
keit irreführen.  Diese  Freude  an  hohen  Lebensaltern  zieht  sich  noch  bis 
in  die  Periode  wissenschaftlicher  Beobachtung  herein.  So  führt  namentlich 
Süssmilch  nicht  allein  die  Namen,  sondern  selbst  die  Biographien  einzelner 
langlebiger  Greise  vor,  die  das  140.  und  150.  Jahr  erreichten;  ebenso  die 
Angaben  des  Plinius,  nach  welchen  dem  römischen  Kaiser  Claudius,  als 
ihm  die  Alterslisten  einer  Volkszählung  vorgelegt  wurden,  das  Alter  eines 
Bologneser  Bürgers  von  150  Jahren  auffiel  und  beim  Gensus  des  Vespasian 
27  Menschen  zwischen  110 — 140  Jahren  allein  in  der  8.  Region  Italiens 
angetroffen  wurden*). 

Aumerkungeii. 

*)  Buckle:  Geschichte  der  Civilisatioii  etc.  I.  S.  116. 

*)  Süssmilch:  A.  a.  0.,  II.  S.  352  ff.  (4.  Aufl.) 

§.  106.  Uebersicht  der  Aufgabe  der  Statistik  hinsichtlich  der  Lebens- 
dauer. 
Die  Dauer  des  Menschenlebens  wurde  sowohl  zu  unmittelbar  prak- 
tischen Zwecken  —  Lebensversicherungen,  Leibrenten-  und  Tontineanstalten, 
Witwencassen  u.  s.  f.  —  erforscht,  als  auch  aus  wissenschaftlichem  Inter- 
esse, um  aus  ihr  Schlüsse  auf  die  Volkszustände  zu  ziehen.  Die  Lebens- 
dauer einer  Bevölkerung  wird  durch  zwei  Factoren  bestimmt,  nämlich 
durch: 


184  üebeisicht  der  Aufgrabe  der  Statistik  hinnehtlich  der  Lebensdauer. 

I.  Die  natürliche  Lebenskraft  des  Menschen.  Sie  ist  weder  för  alle 
Völker,  noch  für  alle  Individuen  dieselbe  und  kann  daher  auch  nicht  als 
beständige  Grösse  angesehen  werden.  Doch  lässt  sich  für  sie  in  jedem 
Lande  und  Volke  ein  Durchschnitt  finden. 

n.  Die  sich  ihr  entgegenstellenden  Todesursachen,  welche  theils 
durch  die  natürliche  Beschaffenheit  des  Landes,  theils  durch  sociale  Ver- 
hältnisse bedingt  werden.  Diese  Todesursachen  möglichst  zu  entfernen  und 
abzuschwächen,  ist  Aufgabe  der  Heilkunde  und  der  Staatsverwaltung.  Eine 
Verlängerung  der  Lebensdauer  eines  Volkes  zeugt  von  einem  Fortschritt 
der  medicinischen  Wissenschaft,  von  einer  Verbesserung  gesellschaftlicher 
Zustände,  von  einem  Fortschritt  in  der  Civilisation.  Die  Schwäche  der 
Jugend  und  des  Alters  Hinfö,lligkeit  sind  unabänderliche  Todesursachen; 
aber  neben  ihnen  wirken  zufällige.  Letztere  auf  ein  stets  kleineres  Gebiet 
zurückzudrängen,  ist  eine  der  höchsten  Pflichten  der  Civilisation. 

Auch  da,  wo  es  sich  um  die  Lebensdatier  des  Menschen  handelt, 
muss  die  Statistik,  unbeirrt  von  der  längeren  oder  kürzeren  Dauer  einzelner 
Leben,  ihrem  obersten  Grundsatze  getreu,  die  Lebensdauer  des  mittleren 
Menschen  aufsuchen. 

Wenn  man  überhaupt  nach  der  Dauer  einer  Erscheinung  fragt,  ist 
eine  Anfangszeit  und  ein  Ende  festzustellen.  Bei  der  Betrachtung  der 
Dauer  einer  Massenerscheinung  kann  sich  die  Wahl  der  Einzelnindividuen, 
aus  welchen  sich  die  Massenerscheinung  zusanmiensetzt,  verschieden  ge- 
stalten. Die  .unsystematische  Massenbeobachtung  würde  aus  der  Dauer  ver- 
schiedener Einzelnleben,  welche  aus  beliebigen  Zeiträumen  zusammengeholt 
sind,  ein  Durchschnittsergebniss  ziehen.  Anders  die  systematische  Beob- 
achtung. Diese  hat  je  nach  den  Zeitpunkten,  in  welchen  die  Beobachtung 
der  Einzelnleben  anfängt  und  aufhört,    hauptsächlich  zwei  Standpunkte: 

L  Man  kann  nämlich  eine  gewisse  Zahl  von  Menschenleben  beob- 
achten, welche  eine  gleiche  Anfangszeit,  aber  ungleiche  Endpunkte 
haben. 

Hier  ist  also  das  bei  allen  Einzelnerscheinungen  gleichartige  Beob- 
achtungsobject,  d.  h.  die  Lebensanfänge  der  in  einem  bestimmten  Zeit- 
abschnitt geborenen  Menschen,  in  der  Vergangenheit  gelegen.  Das 
wechselnde  Beobächtungsobject,  der  Tod  dieser  Menschen,  zieht  sich  von 
der  Vergangenheit  in  die  Gegenwart  herauf  und  die  Beobachtung  muss 
ihm  folgen.  Hier  ist  aber  zu  berücksichtigen,  dass  die  Geburten  eine 
stetige  Function  der  Zeit  sind  und  sich  über  die  einzelnen  Jahre  vertheilen, 
dass  demnach  die  Menschen,  die  in  einem  Jahre  geboren  sind,  strengge- 
nommen keineswegs  das  gleiche  Alter  haben,  lieber  diese  Schwierigkeit 
jedoch  unten. 


Die  exacte  Beobtichtong  der  LebenBdftner.  Absterbetafeln.  185 

n.  Man  kann  aber  auch  eine  gewisse  Anzahl  von  Menschenleben 
mit  verschiedenen  Anfangspunkten,  aber  an  einer  für  Alle  gleich- 
artigen Beobachtungsstelle  erfassen.  Man  erhält  in  diesem  Falle  das  Durch- 
schnittsalter der  in  einem  gewissen  Zeitpunkte  Lebenden  oder  Verstor- 
benen. Hier  liegt  also  das  bei  Allen  gleichartige  Beobachtungsobject  in 
der  Gegenwart  und  die  vergangenen  Anfangspunkte  der  Erscheinungen 
sind  verschieden.  Je  nachdem  es  sich  dabei  um  Lebende  oder  Todte 
handelt,  hat  man  es  zu  thun  mit: 

1.  dem  Durchschnittsalter  der  Lebenden  oder 

2.  dem  Durchschnittsalter  der  Gestorbenen. 

§.  107.   Die  exacte  Beohachtong  der  Lebensdauer.  Absterbetafeln. 

Um  die  Lebensdauer  nicht  blos  zu  schätzen,  sondern  mit  Exactheit 
zu  untersuchen,  ist  es  nöthig,  bei  einer  grösseren  Anzahl  Menschen  das 
Alter  ihres  Absterbens  zu  beobachten  und  eine  Tabelle  hierüber  anzu- 
legen. Solche  Tabellen  werden  je  nach  ihrem  Inhalte  Absterbelisten  oder 
Sterblichkeitstafeln,  auch  Ueberlebenstafeln  genannt. 

Die  Erfahrungen,  die  man  über  die  menschliche  Lebensdauer  (im 
allgemeinsten  Sinne  des  Wortes)  haben  kann,  beruhen  in  erster  Linie  auf 
der  Art  der  angesammelten  Massenbeobachtungen. 

Diese  Massenbeobachtungen  können  sich  erstrecken  blos  auf  die 
Zahl  der  Lebenden  und  Gestorbenen  oder  auch  auf  das  Alter  der  Lebenden 
und  Gestorbenen. 

I.  Kennt  man  blos  die  Zahl  der  Lebenden,  der  Geborenen  und 
Gestorbenen  eines  gewissen  Zeitraumes,  so  ist  es  allerdings  möglich,  aus 
diesen  Zahlen  Resultate  zu  gewinnen,  welche  über  die  Lebenskraft  des 
Menschengeschlechtes  Aufschluss  geben.  Ob  diese  Zahlen  jedoch  dem 
Ziele,  welches  angestrebt  werden  soll,  entsprechen,  wird  später  gezeigt 
werden. 

n.  Kennt  man  blos  das  Alter  einer  Gesammtheit  lebender  Menschen, 
60  lässt  sich  daraus  eine  DurchschnittsziJSfer  gewinnen,  das  Durchschnitts- 
alter der  Lebenden  genannt,  welche  mehrfach  als  Ausdruck  der  Lebens- 
kraft genommen  wurde,  diesem  Zwecke  jedoch  am  wenigsten  entspricht. 

ni.  Kennt  man  das  Alter  einer  Gesammtheit  gestorbener  Menschen, 
80  sind  folgende  Möglichkeiten  zu  unterscheiden: 

A.  Die  Gestorbenen  haben  das  gemeinsame,  sie  zu  einer  Gesammt- 
heit stempelnde  Merkmal,  in  einem  Jahre  gestorben  zu  sein,  während  ihre 
Geburtszeit  in  verschiedene  Jahre  zurückreicht.  Dann  ist  es  möglich,  aus 
dieser  Kenntniss  das  Durchschnittsalter  der  Gestorbenen  zu  gewinnen. 
Inwiefeme  dasselbe  als  Ausdruck  der  Lebenskraft  der  Bevölkerung  er- 
scheint, soll  ebenfalls  später  gezeigt  werden. 


186 


Die  exacte  Beobachtung  der  Lebensdauer.  Absterbetafeln. 


Einer  Beobachtung  des  Alters  von  in  einem  Jahre  Gestorbenen  kann 
indessen  noch  eine  andere  Thatsache  entnommen  werden,  nämlich  die 
Zahl  der  Grestorbenen  einzelner  Altersclassen.  Dann  scheiden  sich  aus  der 
Gesammtheit  der  Gestorbenen  des  Beobachtungsjahres  die  kleineren  Ge- 
sammtheiten  der  Gestorbenen  der  verschiedenen  Altersclassen  aus.  Die 
üebersicht  hierüber  wii'd  dann  ungefähr  folgende  Gestalt  annehmen: 

Unter  n  Gestorbenen  des  Jahres  befanden  sich: 

im  Alter  von:  Gestorbene: 

0 -  1  Jahr  a 

1-  2     „  b 

2-  3     „  c 


99—100     „  d 

Eine  derartige  Zusammenstellung  kann  man  als  die  Grundlage  einer 
Sterbetafel  oder  Absterbeliste  bezeichnen.  Die  eigentliche  Sterbetafel  wird 
daraus  gewonnen  durch  Vereinfachung  der  Zahlen,  indem  man  dieselben 
auf  Procent-  oder  Promillesätze  reducirt  und  demgemäss  angibt: 

Unter  1000  Gestorbenen  des  genannten  Jahres  befanden  sich: 


im  Alter  yoii: 
0—     1 


1-     2 


Gestorbene: 
1000  .  a 

n 
1000  .  b 

n 
1000.  c 


99—100 


1000  .  d 


Dies  ist  dann  eine  eigentliche  Sterbetafel. 

Man  konnte  die  so  gefundenen  Zahlen  auch  in  Vergleich  mit  der 
Zahl  der  Lebenden  desselben  Alters  in  Verbindung  bringen,  wodurch  die 
Tafel  dann  folgende  Gestalt  gewinnt: 


Alter 


Bevölkerung 
im  Jahre  . . . . 


Gestorben 
im  Jahre  . . . 


Verhältuiss 

der  Gestorbenen  auf 

1000  gezählte  Personen 


0-  1 

1-  2 

2-  3 

99—100 


1,232145 

1,002123 

912321 


246429 


72042 


200 

82 
78 


Die  exacte  Beobachtung  der  Lebensdauer.  Äbsterbetafeln.  187 

B.  Hat  man  eine  Anzahl  von  Verstorbenen,  welche  das  gemeinsame 
Merkmal  haben,  in  einem  Jahre  geboren  zu  sein,  welche  also  eine  Jahres- 
generation bilden,  so  kann  man,  durch  Beobachtung  ihrer  allmäligen  Ver- 
minderung bis  zum  Absterben  ihres  letzten  Mitgliedes,  endlich  jene  üeber- 
sichten  gewinnen,  welche  als  üeberlebenstafeln  bezeichnet  werden.  In 
die  oberste  Linie  einer  solchen  Tafel  stellt  man  die  ganze  beobachtete 
Generation,  in  die  zweite  diejenige  Zahl,  welche  übrig  bleibt  nach  Abzug 
der  im  Laufe  des  ersten  Jahres  Gestorbenen,  in  die  dritte  Linie  die  Ge- 
sammtzahl  der  Generation  mit  Abzug  der  während  des  ersten  und  zweiten 
Jahres  Gestorbenen  u.  s.  f.  Um  jedoch  die  hieraus  entstehende  Tabelle 
übersichtlicher  zu  machen,  werden  die  wirklichen  (absoluten)  Zahlen  auf 
runde  umgerechnet.  Die  Tafel  gewinnt  dann  folgende  Gestalt: 
Alter:  üeberlebeade: 

0  1000 

1  1000-a 

2  1000— a—b 


99        1000-x 
100        1000-x-y 

Solche  üeberlebenstafeln  besitzt  man  jetzt  in  den  wichtigsten  euro- 
päischen Ländern,  und  zwar  für  beide  Geschlechter  gesondert.  Nothwendig 
ist  für  deren  Herstellung  wie  erwähnt,  dass  man  eine  oder  noch  besser 
eine  Reihe  von  Jahresgenerationen  so  lange  beobachtet,  bis  das  letzte 
Mitglied  jeder  Generation  abgestorben  ist.  Diese  Aufgabe  hat  jedoch  mit 
den  grössten  Schwierigkeiten  zu  kämpfen.  Hat  man  eine  bestimmte  Jahres- 
generation in  ihrem  Geburtsjahre  erfasst,  so  kann  man  doch  unmöglich 
verhüten,  dass  durch  Wegwanderung  vom  Geburtsorte  die  Berechnung  der 
Zahl  der  üeberlebenden  gestört  wird.  Diese  Störung  wird  um  so  empfind- 
licher, je  kleiner  die  beobachtete  Jahresgeneration  ist.  Weil  es  nun  nicht 
möglich  scheint,  mit  wirklichen  Jahresgenerationen  zu  rechnen,  rechnet 
man  mit  sogen,  „idealen  Generationen",  welche  man  durch  Combination 
der  Geburten  und  Todesfälle  einer  beschränkteren  Jahresreihe  erhält, 
wobei  an  Stelle  des  Altersjahres  das  Geburtsjahr  (welches  aber  mit  dem 
Altersjahr  keineswegs  identisch  ist)  zu  Hilfe  genommen  wird.    • 

Aus  einer  Ueberlebenstafel  lassen  sich  durch  einfache  Rechnungs- 
operationen Zahlenreihen  ableiten,  welche  für  die  Betrachtung  der  mensch- 
lichen Lebensdauer  von  höchster  Wichtigkeit  sind. 

Es  ist  hier  nöthig,  an  einem  Beispiele  zu  zeigen,  wie  die  ersten 
Sterbe-,  resp.  üeberlebenstafeln  eingerichtet  und  erweitert  wurden. 

Eine  Tabelle  mit  3  Spalten  wird  angelegt.  Voran  stehen  die  Jahre 
der   Beobachtung.     Hatte  man  nun   z.  B.    eine    Gesammtheit   von   1000 


188 


Oesebichte  der  Sterbetafeln» 


gleichzeitig  (innerhalb  eines  Jahres)  Geborenen  bis  zu  ihrem  Absterben 
beobachtet,  so  setzte  man  die  Zahl  der  jährlich  Gestorbenen  in  die  mit 
1  überschriebene  Spalte.  Die  zweite  Spalte  wird  von  denen  gefallt,  welche 
von  den  1000  am  Anfang  jedes  folgenden  Jahres  übrig  sind.  Die  dritte 
Spalte  enthielt  die  Summe  der  zu  durchlebenden  Jahre.  Sie  wird  gefonden, 
indem  man  an  unterster  Stelle  dieselbe  Zahl  wie  in  der  zweiten  Spalte 
einsetzt,  bei  jeder  folgenden  aber  die  Zahlen  der  zweiten  Spalte  von  unten 
auf  addirt. 

Eine  so  construirte  Absterbetabelle  würde  daher  folgende  Gestalt 
haben,  wenn  man  es  beispielsweise  mit  1000  Gestorbenen  zu  thun  hätte, 
welche  in  der  in  Spalte  1  gegebenen  Zahlenordnung  im  Zeiträume  von 
5  Jahren  abgestorben  wären. 


Jahre 


Gestorbene 


2. 


Lebende 


3. 


Summe  der  zu  verlebenden 
Jahre 


300 
850 
200 
150 
100 


1000 
700 
450 
250 
100 


8500 

1500 

800 

350 

100 


Man  könnte  auch  anstatt  dieser  blos  beispielsweise  gewählten  ZilFem, 
die  Zahl  der  in  jedem  Jahre  Gestorbenen  durch  Buchstaben  bezeichnen. 
Dann  zeigt  sich  die  Tabelle  so: 


Jahre 


Gestorbene 


3. 


Lebende 


Summe  der  zu  verlebenden 
Jahre 


a 
b 
c 
d 
e 


a+b+c+d+e 

b  4-  c  4-  d  4-  ® 

c  +  d  +  e 

d  +  e 

e 


a  +  2b  +  3c  +  4d  +  5e 

b  +  8c  +  3d  +  4e 

c  +  2  d  +  3e 

d  +  8e 

e 


§.  108.  Geschichte  der  Sterbetafeln. 

Das  Verdienst,  den  ersten  Versuch  zu  einer  systematischen  Unter- 
suchung der  Lebensdauer  gemacht  zu  haben,  gebührt  dem  Londoner 
Graunt,  welcher  um  1661  oder  1665  seine  Beobachtungen  über  das  Ge- 


Geschielite  der  Sterbetafeln.  189 

setz  der  Sterblichkeit  veröffentlichte  *),  Beobachtungen,  welchen  allerdings 
nur  ein  sehr  dürftiges  Zahlenmaterial  zu  Grunde  liegt,  die  aber  doch 
zeigen,  dass  er  eine  klare  Vorstellung  von  dem  allmäligen  Verschwinden 
einer  Generation  im  Laufe  ihres  Alters  hatte. 

Nach  ihm  wurde  eine  verbesserte  Absterbetafel  im  Jahre  1691 
durch  den  englischen  Astronomen  Halley  veröffentlicht;  sie  beruhte  auf 
Todtenregistem  der  Stadt  Breslau.  Er  nahm  aber,  was  mit  den  Vorgängen 
der  Wirklichkeit  im  Widerspruche  steht,  an,  dass  die  Bevölkerung  eine 
stationäre  sei,  weder  zu-  noch  abnehme  und  auch  das  Absterben  stets 
in  gleicher  Ordnung  erfolge  *).  Dass  diese  Annahme  unhaltbar  sei,  war 
indessen  Halley  nicht  unbekannt.  Ein  weiterer  Fortschritt  geschah  durch 
den  Holländer  W.  Kersseboom,  der  1742  eine  Absterbetafel  herstellte, 
welche  sowohl  auf  Geburts-  und  Sterberegistem,  wie  auf  Listen  von  Ver- 
sicherungs-  oder  Rentenanstalten  beruhte.  Er  beobachtet  eine  bestimmte 
Generation  (gleichzeitig  Geborene)  bis  zu  ihrem  Absterben,  soweit  seine 
Nachrichten  reichen.  Auch  er  ging  jedoch  von  der  Hypothese  einer  sta- 
tionären Bevölkerung,  gleichbleibender  Geburtenzahl  und  einer  der  Ge- 
burtenzahl gleichen  Zahl  von  Todes&llen,  aus. 

Ihm  folgte  der  französische  Mathematiker  Deparcieux^),  dessen 
Berechnungen  den  praktischen  Zielen  von  Altersversorgungscassen  zu 
Grunde  gelegt  wurden. 

Auch  Süssmilch*)  gibt  eine  Sterblichkeitstafel,  und  beschäftigt 
sich  eingehend  mit  den  Ableitungen  aus  derselben.  Der  Schwede  War- 
gentin  (1766),  welcher  ein  besonders  brauchbares  Material  zur  Verfügung 
hatte,  konnte  die  Zahl  der  Gestorbenen  mit  jener  der  gleichzeitig  Leben- 
den vergleichen,  auch  besondere  Absterbeordnungen  für  beide  Geschlechter 
berechnen.  Während  jedoch  nach  Halley  die  Tafeln  auf  eine  Generation 
von  1000  berechnet  wurden,  berechnete  Wargentin  solche,  welche  sich 
auf  1000  Gestorbene  beziehen  und  stellte  sie  neben  die  von  Halley  und 
Anderen,  ohne  den  Unterschied  zwischen  den  Grundlagen  seiner  Tafeln 
und  der  Anderen  zu  berücksichtigen. 

Unter  den  Mathematikern,  welche  sich  mit  dem  Problem  der  Ab- 
sterbeordnung beschäftigten,  sind  besonders  Euler*)  und  Laplace  zu 
nennen.  Letzterer  •)  weist  darauf  hin,  dass  man  aus  einer  grösseren  An- 
zahl Neugeborener,  die  man  bis  zu  ihrem  Absterben  verfolgt,  eine  Ueber- 
lebenstafel  anlegen  solle. 

Ein  bedeutender  Fortschritt  in  der  Beti'achtung  der  Absterbeordnung 
geschah  mit  Moser').  Er  hat  namentlich  das  Verdienst,  die  Halley'sche 
Hypothese  einer  stationären  Bevölkerung  und  die  Euler'sche  Methode  für 
eine  im  geometrischen  Verhältniss  zu-  oder  abnehmende  Bevölkerung 
kritisch  beurtheilt  zu  haben.  Er  koomit  zu  dem  Resultate,  dass  es  nöthig 


190  Geschichte  der  Sterbetafeln. 

ist,  eine  Methode  anzuwenden,  welche  dem  wirklich  vorhandenen  Zustand 
einer  völlig  unregelmässigen  Bevölkerung  entspricht,  nicht  gewissen  fin- 
girten  Zuständen.  Er  wendet  sich  im  weiteren  Verlaufe  ganz  dem  Er- 
fahrungsstoif  zu,  welcher  durch  die  Versicherungsgesellschaften  angesammelt 
wurde  und  lässt  das  Material  der  Bevölkerungsstatistik  bei  Seite;  blieb 
indessen  dauernd  anregend  für  eine  Reihe  von  Nachfolgern. 

Eine  weitere  Stufe  in  der  Entwickelung  dieser  Aufgabe  wird  durch 
die  Thätigkeit  der  Vorstände  von  statistischen  Bureaux  bezeichnet. 

A.  Quetelet,  angeregt  durch  Moser,  beschäftigte  sich  ebenfalls 
mit  dem  Problem®),  insbesondere  mit  der  Hypothese  „d'une  population 
quelconque",  d.  h.  mit  einer  Bevölkerung,  welche  sowohl  in  Vennehrung, 
als  in  Verminderung  begriffen  sein  kann.  Ihm  verdankt  man  auch  die 
Berechnung  einer  Ueberlebenstafel  für  Belgien,  auf  Grundlage  der  Civil- 
Standsregister  von  1841 — 50  und  der  Volkszählung  von  1846.  Seine  Me- 
thode besteht  darin,  dass  er  die  Zahl  der  Lebenden  jeder  Altersclasse 
durch  die  Zahl  der  Todesfälle  dieser  Altersclasse  dividirt.  Die  Zahl  der 
Lebenden  findet  er  aus  den  Volkszählungen,  die  der  Todesfälle  aus  den 
Civilstandsregistern.  Die  gleiche  Methode  ward  auch  von  Baumhauer, 
allerdings  mit  gewissen  Verbesserungen,  für  die  Berechnung  der  Absterbe- 
ordnung in  den  Niederlanden  angewandt  und  weiter  vervollkommnet  von 
Farr  in  England.  Letzterer  hat  auch  das  Verdienst,  besonders  darauf 
hingewiesen  zu  haben,  dass  die  Geburten  und  Todesfälle  nicht  auf  einen 
Zeitpunkt  im  Jahre  fallen,  sondern  sich  über  das  ganze  Jahr  unregel- 
mässig vertheilen. 

Eine  Reihe  Anderer,  welche  sich  um  das  Problem  ebenfalls  verdient 
gemacht  haben,  sollen  hier  lediglich  erwähnt  sein.  So  Berg  (von  welchem 
eine  Sterbetafel  für  Schweden  herrührt),  Kiaer  (Sterbetafel  für  Norwegen), 
David  (Tafel  für  Dänemark),  Gisi  (Tafel  für  die  Schweiz),  desgleichen 
Dieterici®),  Wappäus  *")  und  EngeP^)  in  Deutschland.  Dagegen 
muss  besonders  ein  weiterer  Versuch  hervorgehoben  werden,  welcher  eine 
ganz  bestimmte  Gesammtheit  von  Geborenen  so  lange  verfolgt,  bis  sie 
wirklich  abgestorben  sind.  Während  schon  Laplace  auf  diese  Methode 
hinwies,  wurde  sie  von  Hermann  ^'^)  praktisch  verwirklicht.  Er  hatte  vom 
Jahre  1835  an  die  Sterbefälle  in  Bayern  nach  den  einzelnen  Altersjahren 
aufzeichnen  lassen.  Dadurch  hat  man  in  jedem  Jahre  auf  so  weit  zurück, 
als  die  Zahl  der  Geborenen  bekannt  ist,  ein  bestimmtes  Verhältniss  der 
Gestorbenen  eines  bestimmten  Altersjahres  zu  der  Zahl  der  Geborenen, 
von  der  sie  herrühren;  und,  wenn  auf  solche  Weise  eine  Reihe  von 
Jahren  die  in  demselben  Altersjahre  Gestorbenen  mit  der  Zahl  der  Ge- 
borenen des  entsprechenden  Geburtsjahres  zusammengehalten  werden,  so 
ergeben  sich  nothwendig  Zahlen,  die  den  wirklichen  Vorgängen  entsprechen. 


Oesckichte  4er  Sterbetafeln.  191 

Aber  auch  diese  Methode,  so  vollkommen  sie  zu  ihrer  Zeit  erschien,  hat 
sich  als  nicht  ganz  fehlerfrei  erwiesen,  weil  bei  ihr  die  Identität  der  an 
der  Reihe  der  Geburten  und  Todesfälle  betheiligten  Personen  nicht  sicher- 
gestellt ist,  vielmehr  diese  Reihe  durch  die  Ein-  und  Auswanderungen 
gestört  wird. 

Bis  in  die  jüngste  Zeit  herrschte  indessen  eine  beklagenswerthe  Un- 
sicherheit hinsichtlich  der  Bedeutung  der  Gesammtheiten,  aus  welchen 
durch  Division  diejenigen  Quotienten  entstehen,  welche  man  durchschnitt- 
liches Alter,  Sterblichkeitsziifer,  GeburtszilFer,  mittlere  Lebensdauer  etc. 
nennt.  Diese  Unsicherheit  veranlasste  nicht  nur  die  obenerwähnten  Ar- 
beiten von  Dieterici,  Wappäus,  Engel  und  Anderen,  sondern  auch  mehrere 
neuere,  die  einen  entschiedenen  Fortschritt  bezeichnen.  Ah  solche  sind 
namentlich  zu  erwähnen  die  Arbeiten  von  Wittstein  **),  G.  Meyer  **) 
und  Zillmer^*).  Durch  sie  wurde  wesentlich  zur  Klärung  der  bis  dahin 
so  verschwommenen  Begriffe  beigetragen. 

Die  bedeutendsten  Fortschritte  jedoch  geschahen  in  der  neuesten 
Zeit,  und  zwar  durch  die  Arbeiten  von  Becker,  Knapp,  Zeuner,  Le- 
xis  und  Körösi. 

G.  F.  Knapp  ^''j  hat  das  Verdienst,  mit  mehr  mathematischer 
Schärfe  in  die  Absterbeordnung  eingedrungen  zu  sein,  als  irgend  einer 
seiner  Vorgänger  und  Nachfolger.  Anknüpfend  an  Moser  füllt  er  die  von 
demselben  gelassenen  Lücken  aus,,  indem  er  einestheils  eine  allgemeine 
Messungstheorie  anderntheils  die  allgemeinen  Sätze  über  den  Bevöl- 
kerungswechsel aufstellt.  Die  Vorstellung  einer  Bevölkerung  mit  herrschen- 
der Absterbeordnung  wurde  von  ihm  weiter  ausgebildet,  ohne  Beschrän- 
kung in  Bezug  auf  den  Eintritt  der  Geborenen.  Dies  geschah  durch  die 
Darstellung  der  Geborenen  als  einer  Function  der  Zeit,  woraus  der  Be- 
griff der  „Dichtigkeit  der  Geburtenfolge"  entstand.  Er  fand  mit  Hilfe  der 
Analysis  den  mathematischen  Ausdruck  für  jede  Art  Lebender  oder  Ver- 
storbener, und  damit  auch  die  entsprechenden  Messungsmethoden.  Da- 
neben löste  er  auch  die  Aufgabe,  die  verschiedenen  Gesammtheiten  der 
Lebenden  und  der  Verstorbenen  zu  unterscheiden,  und  die  zwischen  den- 
selben stattfindenden  Identitäten  aufzustellen. 

Zeuner  hat  ebenfalls  die.  Absterbeordnung  einer  streng  mathe- 
matischen Behandlungsweise  unterzogen,  und  zwar  ohne  die  Vorstellung 
einer  herrschenden  Absterbeordnung.  Als  besonderes  Verdienst  muss  seine 
angchauliche  geometrische  Darstellung  gerühmt  werden. 

Kf  Becker  hat  in  mehreren  vortrefflichen  Abhandlungen  gleichfalls 
Vieles  zur  Klärung  der  Theorie,  mehr  noch  zur  Läuterung  der  Praxis 
in  der  Beobachtung  der  Absterbeordnung  beigetragen.  Er  unterscheidet 
namentlich   scharf  die   Sterblichkeit    einer    wirklichen    von    jener    einer 


192  GescMchte  der  Sterbetafeln. 

ideellen  Generation.  Seine  Sterblichkeitstafeln  unterscheiden  zum  ersten 
Male  die  Verstorbenen  nach  den  drei  Merkmalen  des  Geburtsjahres,  der 
Altersclasse  und  des  Sterbejahres  zugleich.  Ein  Gutachten,  welches  er  dem 
internationalen  statistischen  Gongresse  erstattete,  präcisirte  entschiedener 
als  dies  vorher  geschehen  war,  alle  jene  Unterlagen,  welche  von  der 
Statistik  för  die  Berechnung  richtiger  Mortalitätstafeln  zu  beschaffen  sind, 
sowohl  hinsichtlich  des  Standes  der  Bevölkerung,  als  auch  hinsichtlich 
der  Geburten,  der  Todesfälle  und  der  Wanderungen  "). 

W.  Lexis  ^®)  unternahm  es,  die  Knapp'sche  Auffassung  zu  erwei- 
tern und  die  allgemeine  Methode  darzulegen,  nach  welcher  statistische 
Massen  als  solche  in  mehreren  Veränderungen  verschiedener  Art  verfolgt 
werden  können. 

Arbeiten  von  Körösi,  Lewin  und  G.  Mayr  über  die  Grundlagen, 
welche  zur  Berechnung  von  Sterblichkeitstabellen  erforderlich  sind,  hängen 
mit  den  Verhandlungen  des  statistischen  Congresses  zu  Budapest  zusam- 
men **).  Hiemit  dürfte  wohl  das  Neueste  auf  diesem  Gebiete  Berücksich- 
tigung gefunden  haben. 

Anmerkungen. 

*)  Das  Werk  ist  betitelt:  J.  Graunt,  Capt.:  Natural  and  political  obser- 

vations  etc.,  upon  the  bill  of  mortality.  Die  Todteulisteu,    welche  G.  benutzte, 

wurden  in  London   zu  Ende   des  16.  Jahrhunderts  publicii-t.     Sein  Verzeichuiss 

der  Ueberlebenden  hat  folgenden  Inhalt.  Von  100  Kindern  sind  yorhanden 

64    im    Alter  yon     6  Jahren 


40 

rt 

Vi 

Vi 

16 

25 

« 

Vi 

Vi 

26 

16 

n 

Vi 

Vi 

36 

10 

Vi 

Vi 

v> 

46 

6 

Y) 

Vi 

V) 

56 

3 

r> 

Vi 

v> 

66 

1 

Ji 

V) 

Vi 

76 

0 

r» 

r> 

•n 

80 

')  £.  Halley:  An  estimate  of  the  degrees  of  mortality  of  mankind  drawn 
of  tables  of  the  city  of  Breslau.  1691, 

*)  Sein  Werk  führt  den  Titel:  Sur  la  probabilite  de  la  duree  de  la  vie 
humaine.  Paris  1746. 

*)  A.  a.  0.,  IL  Bd.  S.  319. 

*)  Euler  beschäftigte  sich  wiederholt  mit  dem  Gegenstande.  Seine  Arbeiten 
hierüber  finden  sich  in  den  Memoiren  der  Berliner  Akademie  1740,  1760,  1767. 
Seine  Methode  findet  sich  ausführlich  besprochen  und  kritisirt  bei  Moser:  Ge-> 
setze  der  Lebensdauer.  S.  125  ff. 

•)  Laplace:  Essai  philosophique  sur  les  probabilites. 

'')  Moser:  Die  Gesetze  der  Lebensdauer.  Berlin  1839. 

')  ^gl«  das  Bulletin  de  la  Commission  de  Statistique  Beige,  t.  V.,  Bru- 
xelles  1853. 


Die  neueren  Sterblichkeitetafeln  selbst.  193 

•)  Dieterici:  Ueber  den  Betriff  der  mittleren  Lebensdauer  und  deren 
Berechnung  für  den  preuss.  Staat.  1858. 

")  Wappäus:  Ueber  den  Begriff  und  die  Bedeutung  der  mittleren  Lebens- 
dauer. 1858.  —  Derselbe:  Allgemeine  Bevölkerungsstatistik. 

^*)  E.  Engel:  Sterblichkeit  und  Lebenserwartung  im  preussischen  Staate. 
Zeitschrift  des  preuss.  statist.  Bureau,  Jahrg.  1861  und  1862.  —  Derselbe 
ebenda  1867. 

")  Y.  Hermann:  Mortalität  und  Vitalität  im  Königreiche  Bayern. 
München  1867. 

")  Th.  Wittstein:  Zur  Bevölkenings-Statistik.  Zeitschr.  d.  preuss.  stat. 
Bureau.  1863.  S.  12  ff. 

**)  G.  Meyer:  Die  mittlere  Lebensdauer.  Jahrbücher  für  Nationalökono- 
mie und  Statistik.  1867. 

")  Zillmer:  Ueber  die  Geburtsziffer,  Sterbeziffer  etc.  Rundschau  (Zeit- 
schrift für  Versicherungswesen).  1863. 

^*)  G.  F.  Knapp:  Die  Ermittlung  der  Sterblichkeit  aus  den  Aufzeich- 
nungen der  Bevölkerungsstatistik.  Leipzig  1868.  —  Derselbe:  Die  Sterblichkeit 
in  Sachsen.  Leipzig  1869.  —  Derselbe:  Theorie  des  Bevölkerungswechsels. 
Braunschw.  1874. 

*^)  Die  Hauptarbeiten  K.  Becker's  auf  diesem  Gebiete  sind:  Preussiscbe 
Sterbetafeln  etc.,  in  der  Zeitschrift  des  preuss.  statist.  Bureaus,  1869,  S.  125  bis 
144.  —  Ferner:  Zur  Berechnung  von  Sterbetafeln  an  die  Bevölkerungsstatistik 
zu  stellende  Anforderungen.  Berl.  1874.  —  Sodann:  Stat.  Nachrichten  über  das 
Grossherzogth.  Oldenburg.  Heft  9,  11,  13. 

")  Einleitung  in  die  Theorie  der  Bevölkerungsstatistik.  Strassb.  1875. 

*•)  Eine  ausführliche  Kritik  der  von  Körösi  vorgeschlagenen  Verbesse- 
rungen durch  G.  Mayr  findet  sich  in  der  Zeitschr.  des  bayr.  stat.  Bur.,  Jahrg. 
1876,  S.  178  ff. 

§.  109.  Die  neueren  Sterblichkeitstafeln  selbst. 

Wie  schon  oben  erwähnt  ward,  besitzt  man  jetzt  für  die  wichtig- 
sten europäischen  Staaten  Sterblichkeits-,  resp.  Ueberlebenstafeln,  und 
zwar  für  beide  Geschlechter  gesondert.  Im  Auszuge  (d.  h.  unter  Verzicht 
auf  die  Angabe  aller  einzelnen  Jahre)  ergeben  diese  Tafeln  folgende  Ab- 
sterbeordnung. (Nach  Becker  in  der  Zeitschr.  des  preuss.  stat.  Bureau. 
Jahrg.  1869,  S.  135.) 

Aus  dieser  Zusammenstellung  ist  auch  das  Mass  der  länderweisen 
Verschiedenheiten,  welche  in  der  Absterbeordnung  herrschen,  zu  entneh- 
men, sowie  die  Unterschiede  der  männlichen  und  weiblichen  Ueberlebens- 
raten.  Diese  Unterschiede  sind  in  allen  Ländern  zu  Gunsten  des  weib- 
lichen Geschlechts. 

Haushofer,  Statistik.  2.  Aufl.  |3 


194 


Ableitungen  ans  den  Sterblichkeitetafeln. 


Ueberlebende  von 

1000  Lebendgeborenen  (beider  Geschlechter) 

Preussen  1859 

-^64 

9 

U 

< 

England 

und  Wales 

1838-54 

t  1 

1! 

«2 

1  • 

0»  o 

bei  beiden 

Ge- 
schlechtern 

2 
•S2 

1^ 

0 

1000 

1000 

1000 

1000 

1000 

1000 

1000 

1000 

1 

796 

782 

811 

851 

834 

850 

857 

804 

2 

737 

723 

753 

797 

782 

788 

816 

747 

3 

707 

692 

722 

769 

754 

758 

792 

719 

4 

686 

673 

701 

750 

736 

739 

771 

701 

5 

.  672 

659 

687 

737 

723 

725 

755 

689 

10 

639 

627 

652 

703 

687 

689 

710 

656 

15 

624 

612 

636 

685 

667 

663 

689 

639 

20 

608 

596 

620 

663 

643 

635 

670 

618 

25 

585 

571 

600 

634 

607 

604 

647 

591 

30 

563 

549 

577 

604 

578 

573 

623 

561 

40 

507 

497 

517 

539 

524 

511 

567 

494 

50 

438 

426 

451 

464 

462 

440 

496 

423 

60 

341 

326 

357 

370 

376 

345 

398 

327 

70 

206 

194 

218 

238 

244 

216 

255 

197 

80 

62 

o9 

65 

90 

85 

75 

90 

64 

90 

6 

5 

6 

12 

8 

9 

9 

5 

§.  110.  Ableitungen  aus  den  Sterblichkeitstafeln. 

Aus  den,  wie  im  §.  107  gezeigt  ward,  corißtiiiiiten  und  allmälig 
verbesserten  Tafeln  wurden  durch  einfache  Rechnungsoperationen  noch 
folgende  weiteren  Werthe  abgeleitet: 

I.  Man  suchte  jenes  Lebensalter  auf,  in  welchem  die  Zahl  einer  zu 
gleicher  Zeit  geborenen  Gesammtheit  durch  den  Tod  auf  die  Hälfte  zu- 
sammengeschmolzen ist  und  nannte  sie  wahrscheinliche  Lebens- 
dauer (Halley).  Nach  der  Tabelle  auf  S.  188  wäre  dieselbe  da  zu 
suchen,  wo  sich  in  der  Spalte  2  die  Zahl  500  findet,  also  zwischen  dem 
2.  und  3.  Jahra 

n.  Man  dividirte  die  in  der  Spalte  3  befindlichen  Zahlen  durch 
die  nebenstehenden  Zahlen  der  Spalte  2  und  nannte  das  Resultat  mitt- 
lere Lebensdauer.  Nach  dem  §.  107  angegebenen  Beispiel  würde  die- 

lu    ^     ..    .T       X.  2500    ,     a+2b  +  3c-f 4d  +  5e 

selbe  für  die  Neugeborenen  ^^^  oder      ^.^^^^^^^^ 


betragen. 


Ableitungen  ans  den  Sterblichkeitstafeln. 


195 


Hiebei  war  allerdings,  was  mit  der  Wirklichkeit  im  Widerspruche  steht, 
aDgenommen,  dass  die  betreffenden  Personen  erst  am  Schlüsse  des  Jahres 
sterben. 

ni.  Femer  berechnete  man  för  jeden  Jahrgang,  auf  wie  viele  Le- 
bende einer  stirbt.  Diese  Ziffer  ergibt  sich,  indem  man  die  Zahlen  in 
Spalte  2  durch  die  nebenstehenden  in  Spalte  1  dividirt.  Das  Resultat 
nennt  man  passend  die  Sterblichkeit  der  Altersstufe  (oder  des 
Jahrgangs).  Minder  passend  ist  die  Bezeichnung:  Lebenssecurität.     Nach 

1000          a  +  b  +  c+d  +  e 
obiger  Tabelle  würde  sie  far  das  erste  Jahr  -sT^Ti  oder  


300 


700 


betragen,  für  das  zweite  öcTj  «.  s.  f.  Dividirt  man  umgekehrt  die  Zahl 

in  Spalte  1  durch  die  nebenstehende  in  Spalte  2,  so  ergibt  sich  der  sog. 
Sterblichkeitscoefficient  (vgl.  §.  111). 

Vermehrt  man  die  Sterbetafel  noch  um  die  eben  angeführten  Werthe, 
so  erhält  sie  folgende  Gestalt: 


1 

2 

3 

4 

5 

6 

7 

Alter 

Ster- 
bende 

Le- 
bende 

Summe 
der 
zu  durch- 
lebenden 

Jahre 

Wabr- 
schein- 

licbe 
Lebens- 
dauer 

Mittlere 
Lebens- 
dauer 

Es  stirbt 

Einer 

Yon 

Sterblich- 
keits- 
coefficient 
(auf  1  Le- 
benden 
treffen 
Todte) 

0 

196 

1000 

34975 

31 

34,976 

5,10 

0,196 

1 

36 

804 

33975 

44,7 

42,26 

22,22 

0,046 

t 

32 

768 

33171 

47,3 

43,18 

24 

0,046 

3 

27- 

736 

32403 

49,3 

44,01 

27,26 

0,036 

4 

21 

7 

09 

31667 

51 

45 

• 
• 

33,76 

0,029 

9 

3 

1 

3 

6 

94,5 

2 

3 

0,333 

94 

1     1 

2 

3 

95 

1,5 

2 

0,000 

9 

5 

1 

1 

1 

— 

1 

1 

1 

(Die  Ziffern  sind  der  von  Moser:   Gesetze  der  Lebensdauer,  S.  74, 
mitgetheilten  Sterblichkeitstafel  entnommen.) 


13^ 


196  ^^®  Sterblichkeitacoefficienten. 

IV.  Ferner  hat  man  den  Sterblichkeitstafeln  auch  noch  die  sog. 
Lebens-  und  Sterbenswahrscheinlichkeit  entnommen.  Hierüber 
\^t  zu  bemerken: 

Die  Wahrscheinlichkeit  eines  Ereignisses  ist,  mathematisch  betrach- 
tet, ein  echter  Bruch,  dessen  Zähler  gleich  ist  der  Anzahl  der  dem  Er- 
eigniss  günstigen  Fälle  und  dessen  Nenner  gleich  der  Anzahl  aller  mög- 
lichen Fälle. 

A.  Die  Lebenswahrscheinlichkeit  ist  die  Wahrscheinlichkeit 
für  eine  Person  in  einem  bestimmten  Alter,  das  nächste  Jahr  zu  durch- 
leben. Diese  Wahrscheinlichkeit  ist  gleich  einem  Bruche.  Der  Zähler 
dieses  Bruches  ist  gleich  der  Zahl,  welche  von  allen  beobachteten  Per- 
sonen desselben  Lebensalters  das  nächste  Jahr  wirklich  durchlebt. 

Nach  der  §.  107  angelegten  Tabelle  wäre  diese  Zahl  für  das  erste 
Jahr  1000  — 300  =  700. 

Der  Nenner  ist  gleich  der  Zahl  aller  möglichen  Fälle,  nämlich  der 
Anzahl  der  beobachteten  Personen  selbst;  nach  obiger  Tabelle  =  1000 
und  die  LebenswahrscheinlicTikeit  stellt  sich  demnach  für  den  Neuge- 
borenen bis  zum  Ablaufe  des  ersten » Jahres  auf: 

700        oder  in  Buchstaben  nach  der  b  -|-  c  -j-  d  +  e 

1000       zweiten  Tabelle  ausgedrückt:        a-4-b-|-c-|-d  +  ^ 

B.  Die  Sterbenswahrscheinlichkeit  ist  der  Gegensatz  der 
Lebenswahrscheinlichkeit.  Auch  sie  ist  eine  Bnichzahl.  Solche  entgegen- 
gesetzte Wahrscheinlichkeiten  bilden  in  ihrer  Summe  die  Gewissheit;  die 
beiden  Brüche  ergänzen  sich  genau  zu  einer  Einheit.  Die  Sterbenswahr- 
scheinlichkeit würde  nach  obiger  Tabelle  für  den  Neugeborenen  bis  zum 
Ablaufe  des  ersten  Jahres  auf  ^®7iooo  ^^^^  stellen;  und 

300/  I      700/  1 

/looo  "I         /looo  —  ^* 
Es  lässt  sich  demnach  die  eine  Wahrscheinlichkeit  leicht  durch   die  an- 
dere finden. 

Einige  der  erwähnten  Ableitungen  müssen  in  Folgendem  noch  aus- 
tührlicher  erörtert  werden. 

§.  lU.  Die  Sterblichkeitsooeffioienten. 

Der  Sterblichkeitscoeificient  einer  bestimmten  Altersclasse  ist  die- 
jenige Zahl,  mit  welcher  man  die  Zahl  der  gleichzeitig  Lebenden  dieser 
xiltersclasse  multipliciren  muss,  um  die  Zahl  der  Sterbenden  dersel- 
ben Altersclasse  zu  erhalten.  Also  mit  anderen  Worten  der  Quotient, 
den  man  erhält,  wenn  man  die  Sterbenden  einer  Altersclasse  durch  die 
Lebenden  derselben  Altersclasse  dividirt.  Der  allgemeine  Sterblich- 
keitscoefficient  einer  ganzen  stationären  Bevölkerung  ergibt  sich  aus 
der  Division  der  Gesammtzahl   der  Gestorbenen  (eines  Jahres)  durch  die 


Die  Sterblichkeiiscoefficienten.  197 

Gesammtzahl  der  Lebenden  des  Jahres  *).  Dieser  allgemeine  Sterblichkeits- 
coefficient  ist  demnach  das,  was  schon  in  einem  früheren  Capitel  als 
Sterblichkeitsziffer  behandelt  wurde,  nur  etwas  anders  ausgedrückt.  Wenn 
auf  je  1000  Lebende  25  Sterbende  im  Jahre  treffen,  so  ist  der  Sterblich- 
keitscoefficient  0,025  oder  Y409  ^^®  Sterblichkeitsziffer  40. 

Betrachtet  man  die  Sterblichkeitcoefficienten  der  verschiedenen  Al- 
tersclassen  bei  einer  gegebenen  Bevölkerung  *),  so  erscheinen  deutlich  die 
beiden  natürlichsten  und  wichtigsten  Todesursachen:  Die  Lebensschwäche 
der  Kindheit,  welche  die  Sterblichkeitscoefficienten  von  der  Geburt  bis 
zu  der  Altersclasse  von  10 — 15  Jahren  stets  abnehmen  lässt,  und  das 
zunehmende  Alter,  welches  die  Sterblichkeitscoefficienten  fortwährend 
steigert. 

Der  allgemeine  Sterblichkeitscoefficient  ist  mehrfach  als  Ausdruck 
fdr  die  mittlere  Lebensdauer  gebraucht  worden.  Jedoch  mit  Unrecht.  Bei 
einer  zunehmenden  Bevölkerung  wird  die  Sterblichkeitsziffer,  oder  besser 
gesagt,  der  Nenner  des  als  Bruchzahl  ausgedrückten  Sterblichkeitscoeffi- 
cienten grösser,  bei  einer  abnehmenden  kleiner  sein,  als  die  mittlere  Le- 
bensdauer. Bei  stationärer  Bevölkerung  nur  wären  beide  gleich.  In  ähn- 
licher Weise  ist  auch  die  Geburtsziffer  als  Ausdruck  für  die  mittlere 
'  Lebensdauer  betrachtet  worden.  Bei  zunehmender  Bevölkerung  aber  ist 
die  Geburtsziffer  grösser,  bei  abnehmender  kleiner  als  die  mittlere  Le- 
bensdauer. 

Endlich  hat  man  auch  geglaubt,  das  arithmetische  Mittel  aus 
der  Geburts-  und  Sterblichkeitsziffer  würde  den  richtigen  Ausdruck  für 
die  mittlere  Lebensdauer  geben.  Auch  dies  ist  irrig.  Der  Engländer  Price 
hat  vor  hundert  Jahren  diese  allerdings  höchst  einfache  Methode  ange- 
wendet. 

Da  bei  einer  stationären  Bevölkerung  die  Geburtsziffer  und  die 
Sterblichkeitsziffer  gleich  sein  müssen,  so  wird  bei  einer  nicht  stationären, 
wie  alle  Bevölkerungen  in  der  That  sind,  die  mittlere  Lebensdauer  noth- 
wendig  von  diesen  Ziffern  abweichen  müssen.  Wie  weit  sie  jedoch  von 
der  einen  und  von  der  anderen  abweicht:  das  ist  eine  andere  Frage  und 
es  ist  höchst  willkürlich,  das  arithmetische  Mittel  beider  als  wirkliche 
mittlere  Lebensdauer  anzunehmen. 

Anmerkuugeu. 

*)  Um  die  allgemeiueii  Steiblichkeitscoefficieuteu  der  europäischeu  Länder 
zu  finden,  dürfen  blos  die  §.  84  mitgetheilten  Zahlen  durch  100  dividirt  werden. 

*)  Bei  einer  tabellarischen  Uebersicht  der  Sterblichkeitscoefficienten  ver- 
schiedener Jahrgänge  werden  dieselben,  um  ein  Uebermass  von  Nullen  an  den 
Stellen  der  Einer,  Zehntel  und  Hundertetel  zu  vermeiden,  passenderweise  mit  1000 
multiplicirt.  Thut  man  dies,  so  ergeben  sich  folgende  Verhältnisszahlen  (für 
beide  Geschlechter  zusammen): 


198 


Die  mittlere  Lebensdauer. 


Auf  1000  gleichzeitig  Lebeude  der  betreff.  Altersclasse  kommeu  im 
Laufe  eines  Jahres Sterbende  derselben  Altersclasse 


Alter  nach  Jahren 


Preussen 
1859—64 


England 

und  Wales 

1838—54 


Frankreich 
1840—59 


0—  1 

1—  2 

2—  3 

3—  4 

4—  5 
5-10 

10-15 
15-20 
20—25 
25-30 
30—40 
40—50 
50—60 
60—70 
70-80 
80—90 
90  und  mehr 
Alle  Altersclassen  zusammen 


236,0 

77,2 
42,6 
29,0 
20,7 
40,1 
4,9 

5,2 

7,9 
10,8 
14,6 

24,8 
48,9 

110,4 

205,3 
275,3 

26,7 


165,5 

65,3 
36,0 
24,3 

17,9 
9,6 

5,1 

6,4 

8,8 

9,8 

11,3 

14,7 

22,5 
42,9 

91,2 

183,6 
336,1 

24,4 


189,1 
63,4 
36,2 
24,3 

17,6 

10,2 

5,8 

7,6 

11,3 

9,8 

9,7 

12,6 

19,6 

41,9 

97,9 
209,5 
299,7 

24,9 


§.  112.  Die  mittlere  Lebensdauer. 

Die  mittlere  Lebensdauer  ist  die  Zahl  der  Jahre,  welche  eine  in 
einer  bestimmten  Altersclasse  befindliche  Person  durchschnittlich  verlebt. 

Sie  wird  gefunden,  wenn  man  die  Summe  der  verlebten,  respective 
zu  verlebenden  Jahre  durch  die  Zahl  der  Personen  dividirt.  Die  mittlere 
Lebensdauer  der  Neugeborenen  stellte  sich  daher  nach  dem  im  §.  JO?  ge- 
gebenen Schema  auf: 

a  4- 2  b  4- 3  c  +  4  d  +  5  e 


V 


2,5  oder: 


a-j-b  +  c-|-d  +  e 
Dabei  ist  allerdings,  was  in  Wirklichkeit  nicht  geschieht,  angenommen, 
dass  die  betreffenden  Personen  erst  am  Schlüsse  des  Jahres  sterben.  Rich- 
tiger wird  es  sein,  anzunehmen,  dass  die  während  eines  Jahres  sterbenden 
Personen  durchschnittlich  nur  die  Hälfte  des  Jahres  durchleben  konnten 
und  hiernach  die  Formel  zu  verändeni. 

Die  mittlere  Lebensdauer  kann  sich  wieder  beziehen: 
I.  Auf  eine  Anzahl  wirklich   abgestorbener   Personen,    die   man    in 
ihrer  Absterbeordnung  beobachtet  hat.    Dann  ist  sie  mittlere  Lebens- 
dauer im  eigentlichen  Sinne. 


Die  wahrscheinliche  Lebensdauer. 


199 


IL  Auf  eine  Anzahl  noch  lebender  Personen.  Dann  nennt  man  sie 
zu  erwartende  Lebensdauer  oder  mittlere  Lebenserwartung. 

Die  mittlere  Lebensdauer  kann  dieselbe  bleiben  unter  Umständen, 
welche  durchaus  nicht  gleich  günstig  sind.  Es  ist  ein  grosser  Unterschied, 
ob  von  zwei  Personen,  welche  eine  mittlere  Lebensdauer  von  30  Jahren 
erreichen,  die  eine  2,  die  andere  58,  oder  die  eine  20,  die  andere 
40  Jahre  alt  geworden  ist.  Denn  im  ersteren  Falle  hat  man  unter 
60  Jahren  nur  17  unproductive,  im  zweiten  dagegen  30. 

Anmerkung. 

Nach  Becker's  Tabellen  in  der  Zeitschrift  d.  preuss.  stat.  Bur.  1869, 
S.  140,  stellt  sich  die  mittlere  Lebensdauer  wie  folgt  (für  beide  Geschlechter 
zusammen) : 


Alter 


Preusseu 
1859-64 


Schweden 
1856-60 


England 
1838-54 


Nieder- 
lande 
1850—59 


Belgien 
1841—50 


Frankreich 
1840    59 


0 

1 

2 

3 

4 

5 

10 

15 

20 

25 

30 

40 

50 

60 

70 

80 

90 


37,4 
45,9 
48,5 
49,6 
50,1 
50,1 
47,6 
43,7 
39,8 
36,3 
32,6 
25,6 

18,9 

12,7 

V 

4,7 
3,6 


42,3 
48,3 
49,7 
50,2 
50,5 
50,6 
48,7 
45,1 

41,3 

37,7 
34,0 
26,9 

20,0 

13,6 
8,3 

4,7 
2,9 


40,8 
46,9 
49,1 
49,9 
50,1 
50,0 
47,3 
43,5 
39,8 
36,5 
33,2 
26,6 
20,1 

13,9 

8,7 

5,1 
2,9 


37,2 
45,2 

47,6 
48,5 
48,7 
48,5 
45;9 
42,1 
38,4 
35,0 

31,8 

25,4 

18,8 

12,8 

7,8 

4,3 

2,3 


38,9 
44,7 
47,2 
48,0 
48,2 
48,2 
45,6 
42,3 
39,0 
35,9 
32,7 
26,1 

19,5 
13,4 

8,3 

5,0 

3,4 


40,0 
46,9 
49,0 
49,8 
50,0 
49,9 
47,4 
43,7 
40,3 
37,5 
34,3 
27,3 
20,3 

13,6 

8,1 

4,6 

3,2 


§.  113.  Die  wahrscheinliche  Lebensdauer. 

Die  wahrscheinliche  Lebensdauer  ist  jenes  Alter,  in  welchem  die 
Zahl  der  zu  gleicher  Zeit  geborenen  Individuen  auf  die  Hälfte  zusammen- 
geschmolzen ist. 

Bei  Sterbetafeln  nach  einjährigen  Altersclassen  ist  die  Berechnung 
der  wahrscheinlichen  Lebensdauer  nicht  schwierig.  Umständlicher  und 
etwas  unsicherer  wird  sie,  wo  die  Sterbetafeln  nach  mehrjährigen  Alters- 
classen angelegt  sind. 


200 


Das  Durchsc  hnittsalter  der  Lebenden. 


Auch  diese  Ziffer  ist  ein  Massstab  fär  die  Lebenskraft  des  Menschen 
bei  einem  bestimmten  Alter,  wenn  auch  als  solches  Mass  nicht  so  brauch- 
bar, wie  die  mittlere  Lebensdauer.  Denn  bei  der  letzteren  kommt  die 
ganze  fernere  Absterbeordnung  in  Betracht,  bei  der  wahrscheinlichen 
Lebensdauer  dagegen  nur  ein  gewisser  Punkt  in  der  Absterbeordnung. 
„Zwei  Generationen,  welche  beide  in  derselben  Zeit  bis  auf  die  Hälfte 
absterben,  haben  dieselbe  wahrscheinliche  Lebensdauer,  mag  ihre  Sterb- 
lichkeit im  üebrigen  auch  noch  so  verschieden  sein"  (Becker).  Thatsäch- 
lich  aber  pflegt  das  Absterben  der  Generationen  doch  so  gleichmässig  zu 
erfolgen,  dass  auch  die  wahrscheinliche  Lebensdauer  brauchbare  Ver- 
gleichs-Resultate ergibt. 

Aumerkuug. 

Die  wahrscheiuliche  Lebeusdauer  beträgt  (nach  Becker  a.  a.  0.)  bei  bei- 
den Geschlechtern  zusammen: 


Im 

Alter 
von 


0 
1 

3 
4 
o 
10 
15 
20 
25 
30 
40 
50 
60 
70 
80 
90 


Preussen 

Schweden 

England 

1859—64 

1856-60 

1838-54 

41,2 

49,6 

45,4 

53,6 

56,2 

53,6 

55,6 

57,2 

55,3 

55,9 

57,1 

55,7 

55,8 

56,9 

55,5 

55,4 

56,5 

55,1 

51,8 

53,2 

51,1 

47,5 

49,0' 

47,4 

43,0 

44,7 

43,3 

38,9 

40,5 

39,4 

34,8 

36,3 

35,5 

26,8 

28,2 

27,9 

19,1 

20,4 

20,4 

12,2 

13,3 

13,5 

6,7 

^6 

'7,9 

3,6 

3,9 

4,2 

2,3 

2,1 

2,3 

Nieder- 
lande 
1850-59 


39,2 

51,6 

53,6 

53,9 
53,8 
53,4 

50,0 

45,8 

41,7 

37,8 
34,1 
26,5 
19,0 

12,3 

■7,0 
3,4 

1,7 


Belgien 
1841-50 


41,6 

50,9 
53,3 
53,8 
53,8 
53,4 
50,0 
46,2 
42,4 
38,6 
34,8 
27,2 

19,6 

12,8 
7,3 

4,1 

2,5 


Frankreich 
1840—59 


44,2 
54,9 
56,7 
57,1 
56,9 
56,5 
53,0 
48,8 
44,7 
41,0 
37,1 
28,9 
20,9 

13,3 

7,4 
3,7 
2,3 


§.  114.  Bas  Durchschnittsalter  der  Lebenden. 

Summe  der  verlebten  Jahre  heisst  die  Zahl  derjenigen  Jahre, 
welche  alle  zu  einem  gewissen  Zeitpunkte  gezählten  Bewohner  eines  be- 
stimmten Gebietes  bis  zu  diesem  Zeitpunkte  verlebt  haben.  Man  findet 
sie,  wenn  man  in  jeder  Altersclasse  die  Summe  der  ihr  angehörenden 
Individuen  mit  der  Anzahl  der  Jahre  multipliciit  und  sämmtliche  so  er- 
haltenen Producte  addirt. 


Das  Durchschnittsalter  der  Lebenden.  201 

Dividirt  man  diese  Summe  durch  die  Zahl  der  Bewohner,  so  erhält 
man  das  Durchschnittsalter  der  Lebenden,  d.  h.  die  Zahl  der  Jahre, 
welche  die  einzelnen  Lebenden  durchschnittlich  zurückgelegt  haben.  Man 
hat  sie  auch  „mittleres"  Lebensalter  genannt,  mit  unrecht. 

Diese  Ziffern  erhält  man  nur  durch  Volkszählungen  mit  genauen 
Erhebungen  über  das  Alter  der  Lebenden  *). 

Ueber  den  statistischen  Werth  dieser  Ziffer  bestehen  verschiedene 
Ansichten.  Die  wichtigsten  auf  sie  bezüglichen  Sätze  sind  folgende: 

1.  Um  die  Bedeutung  dieser  Ziffer  zu  würdigen,  müsste  man  die 
Veranlassungen  ihrer  Verschiedenheit  kennen.  Diese  Veranlassungen  sind: 

A.  Die  Frequenz  der  Geburten.  Je  grösser  die  Zahl  der  Ge- 
burten ist,  desto  stärker  sind  die  jungen  Altersclassen,  desto  niedriger  das 
Durchschnittsalter  der  Lebenden.  An  sich  kann  man  das  im  Allgemeinen 
weder  für  ein  Glück,  noch  für  ein  Unglück  halten.  Es  hängt  von  ver- 
schiedenen wirthschaftlichen  Verhältnissen  ab,  ob  eine  hohe  oder  eine 
mittlere  Geburtsziffer  erwünschter  ist.  Nur  eine  enorm  niedrige  wäre  immer 
ein  Unglück. 

B.  Die  Kindersterblichkeit.  Wäre  sie  allein  von  Einfluss  auf 
das  Durchschnittsalter  der  Lebenden,  so  würde  das  letztere  bei  geringer 
Kindersterblichkeit  niedrig,  bei  grosser  hoch  stehen.  Dann  wären  die  Sätze 
gerechtfertigt: 

L  Das  mittlere  Alter  der  Lebenden  ist  desto  geringer,  je  besser  die 
sanitärischen  Verhältnisse  eines  Landes  oder  Volkes  sind. 

2.  Das  mittlere  Alter  der  Lebenden  sinkt  mit  den  Fortschritten  des 
socialen  Wohles  des  Volkes. 

3.  Das  mittlere  Alter  der  Lebenden  steht  im  umgekehrten  Verhält- 
niss  zur  mittleren  Lebensdauer.  Wenn  ersteres  sinkt,  steigt  letzteres  und 
umgekehrt. 

Offenbar  aber  ist  es  ein  Fehler,  die  Kindersterblichkeit  allein  das 
Durchschnittsalter  der  Lebenden  bestimmen  zu  lassen,  obgleich  sie  un- 
läugbar  grossen  Einfluss  darauf  nimmt. 

C.  Die  Sterblichkeit  in  den  mittleren  und  höhereii  Jahren. 
Es  ist  klar,  dass  jene  Lebensalter  einen  erhöhten  Einfluss  auf  das  Durch- 
schnittsalter der  Lebenden  nehmen,  welche  eine  erhöhte  Sterblichkeit 
haben.  Es  kömmt  ganz  darauf  an,  ob  die  Sterbefälle  in  den  Altersclassen 
erfolgen,  die  unter,  oder  die  über  der  Zeit  liegen,  in  welche  das  Durch- 
schnittsalter der  Lebenden  fällt.  Gedrückt  wird  dasselbe  durch  eine  ge- 
ringe Sterblichkeit  in  den  niederen  oder  durch  eine  bedeutende  in  den 
mittleren  Altersclassen.  Jene  ist  ein  Glück,  diese  ein  Unglück.  Erhöht 
wird  es    dagegen   sowohl    durch    eine    der  Volkswohlfahrt   so    schädliche 


202  !>»■  Durchschnittsalter  der  Lebenden. 

starke  Kindersterblichkeit  als  auch  durch  eine  gewiss  höchst  vortheilhafte 
geringe  Sterblichkeit  der  mittleren  Altersclassen. 

D.  Auch  die  Ein-  und  Auswanderungen  sind  von  Einfluss  auf 
das  Durchschnittsalter  der  Lebenden.  Bei  ihrer  Beurtheilung  muss  man 
noch  weit  mehr  die  Zustände  der  einzelnen  Länder  berücksichtigen,  als 
bei  jener  der  Geburten. 

IL  Es  kann  demnach  sowohl  ein  hohes  als  ein  niedriges  Durch- 
schnittsalter ein  Glück  oder  Unglück  sein: 

A.  Ein  hohes  Durchschnittsalter  der  Lebenden  ist  ein  Glück,  wenn 
es  herrührt  von  geringer  Sterblichkeit  der  mittleren  und  späteren  Alter, 
ein  Unglück,  wenn  es  herrührt  von  geringer  Geburtenzahl  oder  sehr 
grosser  Kindersterblichkeit.  In  einem  Volke,  wo  gar  keine  Kinder  mehr 
geboren  würden  oder  alle  gleich  nach  der  Geburt  stürben  und  wo  dem- 
nach die  Bevölkerung  am  Aussterben  ist,  würde  das  Durchschnittsalter 
der  Lebenden  von  Jahr  zu  Jahr  steigen. 

B.  Ein  geringes  Durchschnittsalter  der  Lebenden  ist  ein  Glück,  wenn 
es  herrührt  von  geringer  Sterblichkeit  der  Kinder  oder  —  falls  die  wirth- 
schafbliche  Lage  des  Landes  Bevölkerungsmehrung  als  vortheilhaft  er- 
scheinen lässt  —  von  starker  Häufigkeit  der  Geburten.  Ein  Unglück 
dagegen,  wenn  es  von  starker  Sterblichkeit  der  mittleren  und  höheren 
Altersclassen  herrührt. 

III.  Das  Durchschnittsalter  der  Lebenden  setzt  sich  also  aus  ver- 
schiedenen, in  ihm  nicht  mehr  unterscheidbaren  Factoren  zusanmien  und 
hat  an  und  far  sich,  ohne  im  Zusammenhange  mit  den  genannten  Er- 
scheinungen, die  sich  als  seine  Factoren  darstellen,  betrachtet  zu  werden, 
unsicheren  statistischen  Werth. 

IV.  Das  Durchschnittsalter  der  Lebenden  darf  durchaus  nicht,  wie 
dies  häufig  geschieht,  mit  der  mittleren  Lebensdauer,  dem  zu  erwartenden 
Lebensalter,  der  wahrscheinlichen  Lebensdauer  verwechselt  werden.  Iden- 
tisch wären  letztere  Ziffern  nur  bei  einer  völlig  stationären,  in  allen 
Lebensaltem  gleich  sterblichen  Bevölkerung*).  In  der  That  ist  auch  das 
Durchschnittsalter  der  Lebenden  wie  jenes  der  Gestorbenen  von  der 
neueren  Statistik  unter  die  Reihe  jener  Durchschnitte  verwiesen  worden, 
welche,  weil  viel  zu  allgemein,  als  Abstractionen  erscheinen,  die  über  die 
wirklichen  Zustände  gar  keinen  Aufschluss  geben '). 

Aumerkuugen. 

*)  Für  solche  Bevölkerungen,  wo  genaue  Aufnahmen  über  das  Alter  jedes 
Einzelnen  fehlen,  hat  man  diese  Ziffer  durch  Interpolation  construirt.  So  be- 
stimmte Wappäus  das  Durchschnittsalter  der  Lebenden  (Allg.  Bevölk.-Stat.  IT. 
S.  76)  fiir: 


r> 

28,68 

n 

n 

28,16 

n 

« 

27,86 

r> 

n 

27,76 

V 

V 

27,74 

n 

n 

27,66 

rt 

V 

27,63 

V 

n 

27,22 

Ji 

n 

26,66 

« 

V 

26,62 

n 

n 

25,32 

« 

n 

23,10 

n 

n 

21,86 

n 

n 

21,23 

n 

Das  Durchsehnittsalter  der  Oestorbenen.  203 

Frankreich  ....    (1851)  auf  31,o6  Jahre 

Belgien (1846) 

Kirchenstaat  .    .    .    (1853) 

Dänemark  ....    (1845) 

Holland (1849) 

Schleswig    ....    (1845) 

Schweden   ....    (1850) 

Norwegen   .   .       .    (1855) 

Sardinien     ....    (1838) 

Grossbritannieu  .    .    (1851) 

Holstein (1845) 

Irland (1841) 

Vereinigte  Staaten    (1850) 

Untercanada  .    .   .    (1852) 

Obercanada     .    .    .    (1852) 
Für  das  Königreich  Sachsen  berechnet  Engel  diese  Ziffer  auf  27,26  Jahre; 
fiir  Preussen  schlägt  er  es  auf  27,60  Jahre  an. 

!)  ^S^-  ^'  Meyer:  Die  mittlere  Lebensdauer.  Jahrb.  f.  Nationalökonomie 
u.  Stat.  Jahrg.  1867. 

*)  Vgl.  G.  V.  Mayr:  A.  a.  0.,  S.  55. 

§.  115.  Das  Durchschnittsalter  der  Oestorbenen. 

Summirt  man  die  Zahl  derjenigen  Jahre,  welche  die  innerhalb  eines 
Zeitraumes  Gestorbenen  zusammen  durchlebt  haben,  und  dividirt  man  diese 
Ziffer  durch  die  Zahl  der  Gestorbenen,  so  erhält  man  das  Durch- 
schnittsalter der  Gestorbenen. 

Dieses  Alter  war  in  Frankreich  im  Jahre  1853  mit  Ausschluss  der 
Todtgebomen  37,68  Jahre;  in  Bayern  berechnet  es  sich  för  die  Jahre 
1854 — 56  auf  29,28  Jahre;  in  Preussen  während  der  Jahre  1816—1860 
für  das  männliche  Geschlecht  auf  26,%:  Jahre,  für  das  weibliche  auf  28,6* 
und  für  beide  zusammen  auf  27,53  Jahre. 

Für  das  Durchschnittsalter  des  Gestorbenen  gilt: 

I.  Auch  in  dieser  Zahl  sind  Factoren  enthalten,  welche  man  in  ihr 
nicht  unterscheiden  kann,  nämlich: 

A.  Die  Altersverhältnisse  der  Lebenden  und 

B.  Die  Sterblichkeit  jeder  Altersclasse. 

II.  Wollte  man  aus  dem  Steigen  oder  Sinken  des  Durchschnitts- 
alters der  Gestorbenen  Schlüsse  auf  die  ökonomischen,  socialen  oder 
sanitären  Verhältnisse  eines  Volkes  ziehen,  so  wären  diese  Schlüsse  un- 
sichere; dehn 

A.  Steigt  das  Durchschnittsalter  der  Gestorbenen,  so  kann  die  Ur- 
sache davon  sein: 

1.  Eine  Vermehrung  der  Sterblichkeit  in  den  höheren  und  mitt- 
leren Altersclassen.  In  diesem  Falle  wäre  die  höhere  Ziffer  —  wenn  nicht 


204  Das  Darchschnittsalter  der  Gestorbenen. 

gerade  die  allerhöchsten  Altersclassen  durch  die  höhere  Sterblichkeit  be- 
troffen würden  —  ein  Unglück.  Denn  hier  kann  man  sagen:  Je  höher 
das  Durchschnittsalter  der  Gestorbenen,  desto  mehr  zehrt  es  am  Wohl- 
stande der  Nation.  So  erscheinen  z.  B.  in  der  preussischen  Todtenstatistik 
die  Cholerajahre  als  diejenigen,  wo  das  Durchschnittsalter  der  Gestor- 
benen am  grössten  ist,  und  zwar  umso  grösser,  je  mehr  Erwachsene  dem 
Tode  verfallen.  Es  ist  aber  klar,  dass  gerade  diese  Jahre  dem  Volks- 
glöcke  die  schmerzlichsten  Wunden  schlugen,  die  meisten  Witwen  und 
Waisen  machten,  am  meisten  Wohlstand  verschlangen. 

2.  Eine  Verminderung  der  Kindersterblichkeit.  In  diesem  Falle 
wäre  die  Erhöhung  des  Durchschnittsalters  der  Gestorbenen  ein  Glück. 

B.  Sinkt  umgekehrt  das  Durchschnittsalter  der  Gestorbenen,  so  kann 
dies  eben  so  wohl  von  einer  verringerten  Sterblichkeit  der  höheren  Alters- 
classen, als  auch  von  einer  vergrösserten  Kindersterblichkeit  herrühren. 
Also  auch  hier  Glück  oder  Unglück  veimuthbar. 

in.  Auch  das  Durchschnittsalter  der  Gestorbenen  darf  nicht  ver- 
wechselt werden  mit  der  mittleren  Lebensdauer  *).  Das  Glück  eines  Volkes 
hängt  nicht  von  den  durch  dasselbe  bis  zu  einem  gewissen  Zeit- 
punkte verlebten  Jahren  ab,  sondern  von  seiner  mittleren  Lebensdauer. 

Als  untrügliches  Maass  des  Volksglückes  kann  das  Durchschnitts- 
alter der  Gestorbenen  nicht  angesehen  werden;  in  grösseren  Zeiträumen 
aber  immerhin  als  ein  Spiegel  der  mittleren  Lebensdauer.  Vielleicht  drückt 
jene  Sterblichkeitsliste  das  allgemeine  Sterblichkeitsverhältniss  richtig  aus, 
wo  das  Durchschnittsalter  der  Lebenden  mit  dem  der  Gestorbenen  über- 
einstimmt (Kolb). 

IV.  Auch  die  Zahl  der  von  den  Verstorbenen  durchlebten  Jahre 
kann  nicht  als  absoluter  Massstab  des  Volksglückes  genommen  werden. 
Denn  auch  in  dieser  Zahl  sind  zwei  Factoren: 

A.  Die  Zahl  der  Gestorbenen  und 

B.  Das  Alter  der  Gestorbenen  enthalten. 

So  hat  man  erhoben,  dass  in  Preussen  die  Zahl  der  von  den  Ver- 
storbenen durchlebten  Jahre  1851  10  Millionen,  1860  ebenfalls  10  Mil- 
lionen, 1855  dagegen  (Cholerajahr)  15  Millionen  Jahre  betrug,  während 
das  Durchschnittsalter  der  Gestorbenen  im  Jahre  1851  25,«o  Jahre,  im 
Jahre  1855  29,82  Jahre  und  im  Jahre  1860  25, n  Jahre  betrug.  Aus 
diesem  Verhältnisse  wollte  man  den  Grundsatz  ableiten,  dass  nicht  das 
Durchschnittsalter  der  Gestorbenen,  sondern  die  Zahl  der  von  den  Ver- 
storbenen durchlebten  Jahre  der  Massstab  des  Volksglückes  sei,  da  das 
Cholerajahr  1855,  welches  doch  gewiss  mehr  Unheil  und  Jammer  brachte, 
als  die  Jahre  1851  und  1860  bei  höherem  Durchschnittsalter  der  Ge- 
storbenen  eine  grössere  Zahl  von  Jahren  begrub.    Aber   man    darf   aus 


Das  Durchschnittsalter  der  Gestorbenen. 


205 


Außnalimsßlllen  keine  Grundsätze  ziehen.  Gleiches  Durchschnittsalter  der 
Gestorbenen  an  verschiedenen  Plätzen,  wie  gleiche  Zahl  der  von  den 
Verstorbenen  durchlebten  Jahre,  können  sehr  verschiedene  Bedeutung 
haben,  je  nachdem  der  Tod  seine  Opfer  in  Mitte  des  Lebens,  im  Greisen- 
alter oder  in  den  Tagen  der  Kindheit  holt. 

Es  verdient  noch  bemerkt  zu  werden,  dass  man  Untersuchungen 
angestellt  hat  über  die  Frage,  ob  das  Durchschnittsalter  der  Gestorbenen 
und  im  Zusammenhange  damit  auch  die  mittlere  Lebensdauer  im  Zu- 
oder  Abnehmen  sei.  Vordem  ward  eine  Verlängerung  des  menschlichen 
Lebens  behauptet,  aber  von  Wappäus  bezweifelt,  von  Engel  zu  widerlegen 
gesucht.  Nach  den  Untersuchungen  des  Letzteren  betrug  das  durchschnitt- 
liche Alter  der  Gestorbenen  in  Preussen: 


= 

Jahr 

mänuliche  Gest. 

weibliche 

Zusammen 

1816—20 
1821—30 
1831-40 
1841-50 
1851—60 

26,41 

27,19 
27,41 
26,21 

23,24 

28,80 

29,66 
29,33 

28,30 

27,63 

27,57 
28,39 
28,34 
27,23 

26,40 

Wegen  der  grossen  Sterblichkeit  der  Kinder  im  ersten  Altersjahre 
wurden  besondere  Listen  blos  für  jene  Individuen  gefertigt,  welche  das 
erste  Lebensjahr  zurückgelegt  hatten. 

Dabei  ergaben  sich  folgende  Resultate: 


Jahr 


Gestorbene  über  1  Jahr  alt 


männliche 


1816-20 
1821—30 
1831—40 
1841-50 
1851-60 


36,65 

38,01 

36,83 
35,85 

35,14 


weibliche 


37,67 
38,76 
37,64 
36,89 
36,69 


Zusammen 


37,14 

38,87 
37,23 
36,37 

36,91 


Engel  bemerkt  dazu:  „Diese  Tabelle  ist,  weil  eine  Enttäuschung, 
gewiss  für  Viele  eine  Trauerbotschaft.  Ihr  Inhalt  ist  auch  frappirend. 
Derselbe  widerlegt,  gestützt  auf  so  grosse  Zahlen,  wie  sie  für  ähnliche 
Arbeiten  noch  niemals  und  nirgends  verwendet  wurden,  die  süsse  Mei- 
nung, dass  die  mit  dem  Durchschnittsalter  der  Gestorbenen  identificirte 
mittlere  Lebensdauer  stetig  wachse  oder  gewachsen  sei". 

Trotz  der  grossen  Zahlen  aber,  die  hier  zum  Beweise  dienen,  ist  bis 
jetzt  die  Bewegung  des  Durchschnittsalters  der  Gestorbenen    doch  nicht 


206 


Resultate. 


lange  genug  beobachtet  worden,  um  mit  Entschiedenheit  ein  Zu-  oder 
Abnehmen  oder  einen  Stillstand  behaupten  zu  lassen.  Was  sind  60  Jahre 
im  Leben  des  Menschengeschlechtes? 

Anmerkung. 

*)  So  that  nameutlich  Dieterici :  Ueber  den  Begriff  der  mittleren  Lebens- 
dauer und  deren  Berechnungen  für  den  preussischen  Staat.  Abhandlungen  der 
königl.  Akademie  der  Wissenschaften  zu  Berlin  1858.  —  £r  berechnet  für  die 
drei  Jahre  1816,  1836  und  1855  in  Preussen  das  Durchschnittsalter  der  Gestor- 
benen, nennt  diese  Zahl  mittlere  Lehensdauer  und  sucht  eine  Steigerung  der- 
selben zu  beweisen. 

Wappäus  (Allg.  Bev.-Stat.)  nennt  gleichfalls  das  Durchschnittsalter  der 
Gestorbenen  „mittlere  Lebensdauer",  indem  er  für  die  eigentliche  mittlere  Lebens- 
dauer deu  Ausdruck  Vitalität  gebraucht,  unter  mittlerer  Lebensdauer  aber  hat 
man  immer  eine  auf  Grund  einer  Mortalitatstafel  berechnete  Zahl  rerstanden; 
einen  anderen  Begriff  unter  diesen  Ausdruck  zu  bringen,  ist  eine  Versündigung 
au  einem  alten  und  guten  Sprachgebrauch. 

§.  116.  Besnltate. 

Es  sind  demnach  eine  Reihe  von  Werthen,  welche  sämmtlich  in 
gewissem  Grade  als  verwandte  Ausdrücke  der  Kraft  des  menschlichen 
Lebens  dienen  und,  wie  nachstehende  Tabelle  *)  zeigt,  innerhalb  gewisser 
Grenzen  sich  bewegen. 


In 


2      2 


>  ^  *.  2 


'S  «• 


I 


I 


^'s- 


5 


C5 


U    (O    ^ 


S 


I 

*  w  >► 


^ 


Preussen 
Dänemark  . 
Schweden  . 
England  .  . 
Niederlande 
Belgien  .  . 
Frankreich 


37,46 

44,05 
42,31 

40,86 
37,27 
38,92 

40,07 


41,2 

52,6 
49,5 
45,4 
39,2 

41,6 

44,2 


27,50 

27,85 
27,66 

? 

27,76 
28,68 
31,06 


31,10 

40,49 
40,66 
36,92 
34,72 
38,35 
40,36 


26,50 

32,28 
32,39 

30,06 
30,00 

34,35 

37,16 


35,70 
48,71 

48,94 
33,79 
39,45 
42,36 
43,56 


Diese  Zahlen  kreisen  sämmtlich  um  einen  gewissen  Mittelpunkt. 
Dass  derselbe  vorhanden  ist,  muss  auch  dem  Laien  auffallen.  Es  ist 
möglich,  mit  Hilfe  genauer  Absterbetafeln  jede  dieser  Zahlen  vollkommen 
genau  zu  bestimmen.  Aber  es  bleiben  diese  Zahlen  nicht  immer  die 
gleichen.   Nur  wenn  sich  eine  Bevölkerung  in  vollständigem  Beharrungs- 


Resultate.  207 

zustande  befände,  so  dass  die  Todten  sich  Jahr  für  Jahr  gleichmässig  auf 
die  verschiedenen  Altersclassen  vertheilten  und  die  dadurch  gebildeten 
Verhältnisse  der  Altersclassen  nicht  durch  Ein-  und  Auswanderungen  ge- 
stört würden;  dann  würden  mittlere  Lebensdauer  der  Neugeborenen,  Ge- 
burts-  und  Sterblichkeitsziffer,  Durchschnittsalter  der  Gestorbenen  gleich 
sein;  nicht  aber  auch  das  Durchschnittsalter  der  Lebenden.  (Zillmer.) 

Da  aber  eine  stationäre  Bevölkerung  nicht  existirt,  sondern  bei 
jedem  wirklichen  Volke  in  all  diesen  Beziehungen  fortwährend  grössere 
oder  kleinere  Veränderungen  eintreten,  so  verändern  sich  auch  diese  Zahlen, 
und  zwar  nicht  in  gleicher  Proportion.  Daher  können  diese  Werthe  nie 
für  einander  gesetzt  oder  von  einem  sichere  Schlüsse  auf  die  anderen  ge- 
zogen werden. 

Als  Maass  der  Kraft  des  Menschenlebens  aber  sind  all  diese  Zahlen, 
allerdings  einige  mehr,  andere  weniger,  von  hoher  praktischer  Bedeutung, 
und  zwar  in  dreifacher  Richtung: 

I.  Ist  die  Kenntniss  dieser  Werthe  nothwendig  zur  Entwerfimg  von 
Plänen  für  die  auf  die  menschliche  Sterblichkeit  gegründeten  Versiche- 
rungsanstalten: Witwen-  und  Waisencassen,  Lebens-  und  Rentenversi- 
cherungsanstalten, Tontinen  etc.  Solche  Anstalten  sind  nur  dann  wirth- 
schaftlich  wohlthätig,  wenn  sie  keine  Leistungen  versprechen,  die  nicht 
gehalten  werden  können  oder  die  Anstalten  ruiniren,  und  wenn  zugleich 
Diejenigen,  welche  die  Anstalt  benützen,  nicht  zu  viel  leisten  müssen, 
gegenüber  dem,  was  die  Anstalt  ihnen  bietet. 

Damit  diese  beiden  Erfordernisse  erfüllt  werden  können,  müssen  die 
Leistungen  oder  Beiträge  der  einzelnen  Theilnehmer  zu  den  ihnen  zu  ge- 
währenden Zahlungen  richtig  bestinunt  sein.  Es  muss  das  Gesetz  bekannt 
sein,  nach  welchem  die  Mitglieder  solcher  Anstalten  absterben.  Dazu  sind 
genaue  Mortalitätstafeln  nothwendig.  Die  Statistik  hat  aber  nur  die  That- 
sachen,  welche  sie  hinsichtlich  der  menschlichen  Lebensdauer  beobachtet 
hat,  anzugeben.  Die  praktische  Verwerthung  dieser  Thatsachen  auf  dem 
Wege  der  Wahrscheinlichkeitsrechnung  gehört  nicht  mehr  in  ihr  Gebiet. 

U.  Dienen  sie,  und  zwar  namentlich  die  mittlere  Lebensdauer  und 
die  Sterblichkeitsziffer,  zur  Beurtheilung  der  Volkszustände.  Hohe  mittlere 
Lebensdauer,  geringe  Sterblichkeit  sind  immer,  hohes  Durchschnittsalter 
der  Gestorbenen  sowohl  als  der  Lebenden  und  starke  Geburtenfrequenz 
wenigstens  unter  Umständen  ein  Glück.  Sie  zeigen  an,  wie  weit  es  bei 
den  verschiedenen  Völkern  und  Volkstheilen  der  menschlichen  Fürsorge, 
der  fortschreitenden  Civilisation,  der  ärztlichen  Kunst  und  der  Sanitäts- 
polizei gelungen  ist,  die  das  menschliche  Leben  bedrohenden  Todesur- 
sachen entweder  von  vorneherein  zu  beseitigen  oder  wenigstens  ihre  Kraft 
abzuschwächen,  und  die  zur  Förderung  aller,  selbst  der  höchsten  Ziele  des 


208  RosulUte. 

Menschengeschlechtes  wichtigste  Grundlage  zu  erhalten  und  zu  festigen. 
Es  wäre  sehr  traurig,  wenn  es  der  Menschheit  nicht  gelingen  sollte,  die 
Grenzen  ihres  Lebens  weiter  hinauszurücken.  Denn  auch  die  Aufgaben 
unseres  Lebens  werden  immer  grössere.  Unsere  Jahre  sind  zu  wenig  ge- 
worden gegenüber  dem,  was  wir  in  diesen  Jahren  schaffen  sollen.  Jetzt 
schon  bringt  der  gebildete  Europäer  seine  fünfundzwanzig  ersten  Lebens- 
jahre damit  zu,  blos  zu  lernen;  bei  einer  mittleren  Lebensdauer  von  40 
Jahren  bleiben  ihm  nur  15  Jahre,  um  das  Gelernte  im  Dienste  der 
Menschheit  zu  verwerthen.  Die  geistigen  Schätze,  die  sittliche  und  die 
civilisatorische  Kraft,  welche  das  herzlose  harte  Naturgesetz  bei  einer 
mittleren  Lebensdauer  von  40  Jahren  dem  Menschengeschlechte  raubt, 
wachsen  ins  Riesenhafte.  Dem  wandelnden  Fleischklumpen  gegenüber,  als 
welcher  der  Mensch  der  Vorzeit  sich  uns  präsentirt,  steht  der  Mensch  der 
Gegenwart  als  ein  Geist,  der  in  schmerzlichem  Unwillen  seine  Thätigkeit 
an  eine  armselige  Maschine  gefesselt  sieht,  die  zusammenbricht,  wenn  er 
ihrer  am  nothwendigsten  bedarf.  Der  Mensch  ist  längst  grösser  geworden 
als  die  Natur,  der  er  entwuchs,  und  das  Gesetz  der  mittleren  Lebens- 
dauer ist  die  Fessel,  die  einen  Sklaven  umspannt,  welcher  edler  ist  und 
weiser  als  sein  Tyrann. 

HL  Ist  die  Kenntniss  der  Lebensdauer  für  jeden  einzelnen  Menschen 
insofeme  von  höchster  Bedeutung,  als  sie  bei  der  Anlage  aller  Lebens- 
pläne, bei  den  wichtigsten  Handlungen  des  Menschen  mit  in  Berechnung 
gezogen  werden^  sollte. 

Die  Berufswahl,  die  Begründung  eines  Familienstandes,  die  Unter- 
nehmung weit  in  die  Zukunft  reichender  Arbeiten:  das  sind  lauter  Hand- 
lungen, bei  welchen  die  mittlere  Lebensdauer  berücksichtigt  werden  sollte. 

Dies  wird  indessen  kaum  jemals  geschehen. 

Der  Mensch  handelt  nicht  nur  unter  Berücksichtigung  der  Gesetze 
der  Statistik,  sondern  er  handelt  im  Lichte  der  Hoffnung.  Er  macht  die 
Pläne  nicht  für  ein  Leben  von  der  durchschnittlichen  Dauer  des  Men- 
schenlebens, sondern  für  ein  Leben  von  der  höchsten  möglichen  Dauer. 
Insofeme  trägt  freilich  der  sorgsame  Hausvater  den  statistischen  Gesetzen 
Rechnung,  als  er,  wenn  er  seiner  Familie  kein  Vermögen  hinterlassen 
kann,  Einzahlungen  in  Lebensversicherungen,  Witwen-  und  Waisencassen 
macht.  Aber  weiter  geht  die  Berücksichtigung  der  mittleren  Lebens- 
dauer nicht. 

Würde  jeder  Mensch  die  Erfahrungen  der  Statistik  hinsichtlich  der 
menschlichen  Lebensdauer  kennen  und  würde  er  sich  jederzeit  vor  Augen 
halten,  wie  kurz  das  menschliche  Leben  durchschnittlich  ist:  Manches 
würde  anders  sein.  Man  würde  intensivere  Lebensthätigkeit  entwickeln  als 
jetzt.  Es  ist  ein  grosser  Unterschied,  ob  man   den  Tod  mit  dem  fünfund- 


Der  Aufbau  der  Altersclassen  Oberhaupt.  209 

vierzigsten  oder  ob  man  ihn  mit  dem  achtzigsten  Jahre  erwartet.  Der 
Eine  würde  noch  mehr  arbeiten,  als  er  ohnedies  arbeitet,  der  Andere 
noch  mehr  geniessen,  als  er  geniesst;  der  Eine  würde  zum  Geizhals,  der 
Andere  zum  Verschwender.  Mancher  würde  sich  besinnen,  einen  Beruf  zu 
wählen,  der  erst  mit  dem  dreissigsten  Lebensjahre  Früchte  trägt,  mancher 
Andere  sich  verzehren  in  der  Hast,  dies  kurze  Dasein  so  gross  als  möglich 
zu  machen,  und  Manchem  würde  das  Lächeln  seines  neugeborenen  Sohnes 
nur  Furchen  der  Sorge  in  die  Stime  graben  —  wenn  das  Gesetz  der 
Lebensdauer  jederzeit  mahnend  vor  seinem  Gedanken  stände. 

Es  ist  nicht  menschlich,  immerdar  an  die  erfahrungsmässige  Nähe 
des  Todes  zu  denken.  Wohl  ist  dem  Menschen  die  Kraft  gegeben,  den 
Gedanken  an  frahen  Tod  ertragen  zu  können;  der  frischen  Jugend 
namentlich  erscheint  der  Tod  der  Altersschwäche  gar  nicht  wünschens- 
werth.  Aber  je  mehr  der  Mensch  mitten  in  dem  Glücke  des  Daseins  steht, 
desto  schattenhafter  wird  das  düstere  statistische  Gesetz  —  reich  und  voll 
liegt  das  Leben  vor  ihm.  Des  Herzens  Sehnsucht  und  der  Hoffnung  Stimme 
sind  mächtiger  als  die  dürre  Ziffer  der  Wahrscheinlichkeit.  Niemals  sündigt 
der  Mensch  ärger  gegen  die  Naturgesetze,  als  dann,  wenn  er  die  Bahn 
seines  Lebens  beschreitet,  ohne  an  dessen  mittlere  Dauer  zu  denken;  aber 
auch  niemals  ist  diese  Sünde  schöner,  niemals  leichter  verzeihlich  als  hier. 
Denn  dieselbe  Hoffnung,  die  den  Menschen  gegen  dies  Naturgesetz  sün- 
digen lässt,  lässt  ihn  auch  ohne  Berücksichtigung  der  eigenen  Schwäche 
seine  grössten  Thaten  vollbringen. 

Anmerkung. 

*)  Zu  dieser  Tabelle  muss  bemerkt  werden,  dass  auch  hier  die  Todtge- 
borenen  überall  ausser  Berücksichtigung  gelassen  wurden.  Die  Zahlen  der 
Spalten  1  und  2  sind  der  im  §.  109  genannten  Quelle  entnommen.  Die  Zahlen 
der  Spalten  3 — 6  dagegen  wurden  absichtlich  nicht  aus  der.  neuesten  Zeit  ge- 
sucht, sondern,  um  in  der  Zeit  mehr  denen  der  1.  und  t.  Spalte  zu  entsprechen, 
fast  sämmtlich  (mit  Ausnahme  der  Angabe  für  Preussen  in  der  dritten  Spalte) 
aus  Wappäus  allg.  Bevölkerungsstatistik  I.  150,  160;  II.  5,  76  entnommen. 


II.  Capitel. 

Die  Bevölkerung  nacli  Altersclassen, 


§.  117.  Der  Aufbau  der  Altersclassen  überhaupt. 
Durch  die    heutigen   Volkszählungen,   welche    bei    jeder    gezählten 
Person  das  Alters-  oder  Geburtsjahr  constatiren  lassen,  wird  das   Ziffern- 
material für  die  Vertheilung  der  Bevölkerung  nach  Altersclassen  gewonnen. 

Haqshofer,  Statistik.  2.  Aufl.  14 


210  I^er  Aufbau  der  AlterBclassen  aberhaupt. 

Dass  die  höchsten  Altersclassen  am  geringsten,  die  niedrigsten  am  stärksten 
besetzt  sind,  ist  eine  Thatsache,  die  auch  der  unsystematischen  Beob- 
achtung bekannt  ist.  Aber  in  welchem  Maasse  sich  die  Besetzung  der  ver- 
schiedenen Altersclassen  verringert,  je  höher  man  in  der  Reihe  der  Jahre 
hinansteigt:  das  kann  nur  die  Statistik  untersuchen. 

Veranlassung  hiezu  ist  auch  gegeben.  Denn  man  kann  nicht  an  eine 
Betrachtung  der  Sterblichkeit  oder  der  menschlichen  Lebensdauer  denken, 
ohne  auf  den  Altersaufbau  der  Bevölkerung  aufmerksam  zu  werden. 

Die  durch  die  Volkszählungen  erhobenen  Altersangaben  liefern  zu- 
nächst eine  Reihe  von  absoluten  Zahlen,  indem  sie  angeben,  wie  Viele 
im  1.,  2.,  3.  Lebensjahre  u.  s.  f.  sich  befinden,  bis  zum  hundertsten  und 
darüber.  Die  so  gefundene  Zahlenreihe,  welche  ungefähr  100  einzelne 
Glieder  enthalten  wird,  muss  jedoch,  da  sie  nicht  übersichtlich  ist,  auf 
relative  Zahlen  reducirt  werden,  indem  man  angibt,  wie  Viele  von  0 — 1, 
von  1 — 2  Jahr  etc.  auf  je  100  oder  1000  Lebende  treffen.  Erst  aus  diesen 
relativen  Ziffern  können  weitere  Ergebnisse  abgeleitet  werden. 

Den  wichtigen  Unterschied  zwischen  der  Quantität  und  der  Qualität 
der  verlebten  Jahre  hat  zuerst  Quetelet  betont.  Man  muss  unproductive 
und  productive  Lebensjahre  unterscheiden.  In  den  unproductiven 
Jahren  nützt  der  Mensch  nicht  nur  nichts,  sondern  kostet.  Quetelet  be- 
rechnet diese  Kosten  bis  zu  erlangter  Productivität  auf  1000  Fran.cs, 
Engel  auf  40  Thlr.  jährlich.  In  seinen  unproductiven  Jahren  wird  also 
der  Mensch  Schuldner  seiner  Familie  und  seines  Volkes;  in  den  productiven 
Jahren  muss  er  diese  Schuld  bezahlen. 

Man  unterscheidet  demnach  für  jede  Generation: 

I.  Jene  Personen,  welche  in  der  Zeit  der  Unproductivität,  d.  h.  vor 
dem  15.  Lebensjahre  sterben.  Sie  schädigen  das  Glück  und  den  Reich- 
thum  des  Volkes;  mit  ihnen  sterben  Hoffnungen  und  Berechtigungen. 
Wünschenswerth  ist,  dass  ihre  Zahl  möglichst  klein,  ihre  Lebensdauer 
möglichst  kurz  sei.  Je  rascher  sie  wegsterben,  desto  weniger  haben  sie 
gekostet,  desto  weniger  Hoffnungen  sterben  mit  ihnen,  desto  weniger  ver- 
lieren Volk  und  Familie  an  ihnen. 

Tl.  Jene,  welche  in  der  Zeit  der  Productivität,  d.  h.  vom  15.  bis 
zum  70.  Lebensjahre  sterben.  Je  länger  ihre  Lebensdauer,  desto  besser 
ist  es. 

TU.  Die  Personen  über  70  Jahre.  Auch  sie  treten  wieder  in  unpro- 
ductive Jahre.  Ihr  Tod  ist  kein  Verlust  mehr.  Ihrer  geringen  Zahl  wegen 
sind  aber  auch  ihre  unproductiven  Jahre  nur  von  geringer  Bedeutung  för 
das  Volks  wohl. 

Man  kann  berechnen,  wie  viel  ein  Volk  und  Staat  an  den  Gestor- 
benen jedes  Jahres  verliert. 


OertHclie  Verschiedenheiten.  211 

I.  Bei  der  unproductiven  Bevölkerung  unter  15  Jahren  verliert  das 
Volk  für  jeden  Todesfall  die  aufgewendeten  Erziehungskosten. 

Der  Verlust  ist  also  hier  um  so  grösser,  je  älter  die  Person  ist; 
gleich  den  Kosten  des  jährlichen  Unterhaltes,  multiplicirt  mit  der  Zahl 
der  Lebensjahre. 

IT.  Bei  der  productiven  Bevölkerung  von  15  bis  70  Jahren  entgeht 
durch  jeden  Todesfall  dem  Volksvermögen  so  viel,  als  der  Betreffende  bis 
zur  Zeit  der  vollendeten  Productivität  über  seinen  eigenen  Unterhalt  hin- 
aus erworben  hätte.  In  rein  materieller  Beziehung  ist  demnach  der  Ver- 
lust um  so  grösser,  je  jünger  die  Person. 

III.  An  der  unproductiven  Bevölkerung  über  70  Jahre  verliert  das 
Volk  nichts  mehr. 

Die  socialen  Verluste  gestalten  sich  freilich  etwas  anders  als  die 
ökonomischen.  So  verliert  ein  Volk  mehr  an  einem  30jährigen  als  an 
einem  15jährigen  Manne,  wenn  ersterer  Familienvater  ist. 

Es  ist  auch  in  einzelnen  Fällen  sehr  möglich,  dass  der  Tod  eines 
Siebzigjährigen   ein  grösserer  Verlust  ist,   als  der  eines  Zwanzigjährigen. 

Dieser  Unterschied  in  der  Qualität  der  Lebensjahre  lässt  die  Ver- 
theilung  der  Bevölkerung  auf  die  verschiedenen  Altersclassen 
als  ein  wichtiges  statistisches  Object  erscheinen.  In  den  statistischen  Er- 
hebungen der  verschiedenen  Staaten  war  indessen  lange  in  dieser  Bezie- 
hung so  wenig  System  und  Regelmässigkeit,  dass  Vergleichungen  sehr 
erschwert  waren. 

Eigentlich  sollte  man  die  Vertheilung  der  Bevölkerung  auf  jedes 
Altersjahr  von  der  Geburt  bis  zum  hundertsten  Lebensjahre  und  darüber 
kennen.  Wo  dies  nicht  der  Fall  ist,  ist  es  schon  von  Werth,  wenn 
wenigstens  die  Vertheilung  nach  Altersclassen  von  5 — 10  Jahren  bekannt  ist. 

Die  älteren  Untersuchungen  von  Wappäus  für  eine  grössere  Zahl 
europäischer  Länder  ergaben,  dass  in  unseren  Staaten  über  ein  Dritttheil 
der  BevölkeiTing  aus  Individuen  bis  zum  15.  Lebensjahre  besteht  (33,66  51^). 
Ein  Zehntheil  (9,72  J^)  kommt  auf  die  Altersclasse  von  15 — 20  Jahren. 
Nicht  ganz  die  Hälfte  kommt  auf  die  Zeit  voller  Kraft  und  Thätigkeit 
(48,88  91^)  zwischen  20  und  60  Jahren.  Auf  die  Altersclasse  von  60 — 70, 
wo  die  Kraft  meist  schon  abnimmt,  fällt  ein  Zwanzigstel  (4,»2jl^)  und  auf 
die  Zeit  des  höchsten  unproductiven  Alters  ein  Vierzigste  (2,8ij|^). 

§.  118.  Oertliche  Verschiedenheiten. 

Bei  einer  Vergleichung  der  Vertheilung  der  Bevölkerung  nach  Al- 
tersclassen zeigen  sich  merkliche  Unterschiede  für  die  verschiedenen 
Staaten.  Ein  solcher  Unterschied  besteht  namentlich  zwischen  Europa  und 
Amerika. 

14* 


212  Oertliche  Verschiedenheiten. 

Offenbar  ist  jener  Staat  in  dieser  Beziehung  besonders  glücklich  zu 
nennen,  in  welchem  die  thatenkräftigste  Altersclasse,  d.  i.  die  von  30 — 40 
Jahren  am  besten  besetzt  ist.  Von  1000  Lebenden  treffen  auf  diese  Al- 
tersclasse in  der  Schweiz  und  in  Ungarn  141,  in  Frankreich  139,  in 
Oesterreich  138,  in  den  Niederlanden  135,  im  Deutschen  Reiche  und  in 
Italien  134,  dagegen  in  Irland  blos  103  *). 

Uebrigens  zeigt  sich  in  allen  beobachteten  Staaten,  dass  die  jüng- 
sten Altersclassen  am  stärksten  besetzt  sind  und  dass  von  da  fortdauernd 
und  regelmässig,  anfangs  langsam,  dann  immer  stärker  diese  Besetzung 
abnimmt,  weshalb  man  auch  behauptet  hat,  dass  sich  die  Kraft  der  Be- 
völkerung in  den  verschiedenen  Staaten  umgekehrt  wie  die  Proportion  der 
jüngsten  Altersclasse  verhält. 

Die  Alterclassen  der  unproductiven  Jugend  von  0 — 15  Jahren  sind 
jenseits  des  Oceans  weit  stärker  besetzt,  als  in  Europa.  So  treffen  unter 
1000  Lebenden  auf  das  Alter  bis  zu  15  Jahren:  *) 


in  Canada (1861)  429 

„  den  Ver.  Staaten  .  .  (1871)  387 
im  Deutschen  Reiche  .  (1875)  348 
in  England  und  Wales  .  (1871)  361 


in  Oesterreich    ....  (1869)  437 

„  Ungarn „       370 

„  Italien (1870)  324 

„  Frankreich     ,    .  . .    .  (1872)  271 


Die  Altersclasse  der  unproductiven  Jugend  beträgt  in  den  wichtig- 
sten Ländern  meist  über  Ys  der  Gesammtbevölkerung,  in  ganz  Europa 
dürfte  sie  etwas  geringer  sich  stellen. 

Dagegen  ist  die  Zahl  der  im  unproductiven  Greisenalter  (über  70 
Jahre)  Befindlichen  verhältnissmässig  unbedeutend.  Sie  beträgt  in  Deutsch- 
land 24,  in  Oesten'eich  18,  in  England  und  Wales  27,  in  Italien  30,  der 
Schweiz  28,  in  Frankreich  43  Promille.  Frankreich  zeichnet  sich  unter 
allen  Ländern  aus  durch  einen  auffallend  geringen  Procentsatz  an  Kindern 
und  durch  einen  auffallend  starken  Procentsatz  an  Greisen. 

Als  Massstab  für  die  Kraft  der  Bevölkerung  dürfen  indessen  diese 
Unterschiede  nicht  überschätzt  werden. 

So  gibt  es  manche  Staaten,  deren  kräftigste  Bevölkerung  häufig 
im  auswärtigen  Handel.,  in  der  Seefahrt  ihren  Erwerb  findet  oder  auch 
anderwärts  im  Auslande  Verdienst  sucht,  um  dann  mit  den  Ersparnissen 
heimzukehren.  Ermittelt  man  in  ihrer  Abwesenheit  die  factische  Bevöl- 
kerung, so  fallen  sie  aus  der  Rechnung  und  es  erscheinen  dann  ihre  Al- 
tersclassen schwächer  besetzt,  als  sie  in  Wirklichkeit  sind. 

Anmerkung. 
*)  Tabelle   über    den    Altersaufbau    der    Bevölkerung  in  den  wichtigsten 
Staaten.  Von  jedem  Tausend  Lebender  stehen  im  Altei*  yon: 


Einfluss  der  Oeburtenfreqaenz  ond  der  Sterblichkeit. 


213 


=  i : 


Deutsches  Rdch  (1^75) 
Eiigrlinid  .  .  .  *  (lÖ7n 
Sf?Uottlftud  ,  ♦  ,  ^ 
Irland  .  ,  .  .  ,  ^ 
Dänemark  .  .  .  |1H7U) 
Norwegen  .  .  .  |  i  8t>äJ 
Scliwedt'ii  .  ,  ,  {lS7n) 
OesteiTeicli  .  .  .  i  ISO**) 
Ungarn      ....       ^ 

ttaÜen (1870) 

St'tiweiz  *  .  ,  *  „ 
Frankreich  .  .  ,  ( J87:ä| 
Belgien  .  .  .  >  (i«66) 
Niederlande  .  .  (186^1 
DürchBeknitt 
Verein,  Statiten  .  (1871) 
C&nada  .  .  ,  .  {\%%\) 
SäniDitL  ohige  Staaten  * 


134 
135 

läü' 
1S4 


HS 
107 


13a  119 
ISO'lOH 


147 
H5 
11^ 

93 
läO 
130 
Itl 
140 
114 
ISS 


HS 

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lOG 

loa 

109 
108 
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13ä 
111 


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107 
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103 

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106 

106 

95) 

lOK 

100 

97 

87| 

n 

100 


9ä 

96 
100 
116 
93 
94 
91 
93 
95 
90 
M 
U 
HH 
9ä 
9S 


1S3  105 
123  il7 
104  94 


83 
88 

m 

lOG 
81 
81 
79 
Sil 
8ä 
87 
U 
88 
84 
79 
87 
90 


134 
128 


103 
iOÜ 


173 
160 


I 


\tt\  n 


103 
130 
131 
131 
138 


lil  106 


134 
141 
139 
135 
13S 
134 
1^8 
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99 
114 
107 
H9 
113 


11 
119 
I5^j 
112 
113 
iVi 
93 
76 


1331108 


84 
73 
71 
83 
8E> 

tn 

85 
84 
70 
84 
89 
104 
»9 
84 
85 
59 
49 
Hl 


51 
47 
49 
Ot 
56 
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47 
37 
57 
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72 
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55; 
33 
29 


0,2 

0,4 
0,fl 

t4 
0,4 
0,7 

0,a 

0,LS 

0,(i 

0,3 

0,4 
0,4 
0,;^ 
0,* 
U^* 

0,6 
0,4 


(Nach  Block-v.  Scheel:  Handbuch  d.  Statistik  S.  236.) 


§.  119.  Einfluss  der  Geburtenfrequenz  und  der  Sterblichkeit. 

Offenbar  muss  auf  die  Vertheilung  der  Bevölkerung  nach  Alters- 
classen  die  Geburtenziffer  hervorragenden  Einfluss  nehmen.  Denn  je  grös- 
ser die  Zahl  der  jährlich  Neugeborenen  gegenüber  jener  der  Lebenden  ist: 
desto  grösser  muss  auch  die  Zahl  der  Angehörigen  jugendlicher  Alters- 
classen  gegenüber  denen  des  höheren  Alters  sein. 

Eine  Vergleichung  der  Länder  nach  der  Vertheilung  ihrer  Bevöl- 
kerung auf  die  verschiedenen  Altereclassen  einerseits  und  nach  der  Ge- 
burtenziffer andererseits  zeigt  diesen  Einfluss  der  letzteren  ganz  deut- 
lich. So  ist  besonders  auffallend  die  geringe  Besetzung  der  jugendlichsten 
Alter  in  Frankreich  bei  gleichzeitiger  ausserordentlich  geringer  Geburten- 
frequenz, sowie  andererseits  die  Länder  mit  starker  Geburtenfrequenz 
auch  die  stärkste  Besetzung  der  jugendlichen  Alter  aufweisen. 

Neben  der  Geburtenfrequenz  wirkt  aber  auch  die  Sterblichkeit,  und 
zwar  besonders  die  verschiedene  Sterblichkeit  der  verschiedenen  Lebens- 
alter auf  die  Vertheilung  der  Bevölkening  nach  Altersclasscn. 

So  zeigt  sich  z.  B.  im  ganzen  Deutschen  Reiche,  dass  347  Pro- 
.  mille  der  Bevölkerung  Kinder  unter  15  J.  sind.  Wenn  nun  in  den  deut- 
schen Ländern  (abgesehen    von    Hamburg)    die    altbayerischen  Provinzen 


214  Dfts  Oeeclilecht. 

die  geringste  Besetzung  dieses  Alters  anweisen  (303  Promille),  so  ist 
dies  nicht  etwa  der  GeburtenzilBfer,  sondern  einer  auffallend  starken  Kin- 
dersterblichkeit zuzuschreiben.  Alles,  was  auf  die  Sterblichkeit  der  Bevöl- 
kerung einwirkt,  muss  demnach  auch  einen  Einfluss  auf  die  Vertheilung 
nach  Altersclassen  ausüben.  Einen  bedeutenden  Einfluss  auf  die  Sterb- 
lichkeit und  demnach  auch  auf  die  Vertheilung  der  Bevölkerung  nach 
Altersclassen  nimmt  gewiss  der  allgemeine  wirthschaftliche  und  sittliche 
Volkszustand. 

Einzelne  vorübergehende  Ereignisse,  welche  mächtig  auf  die  Sterb- 
lichkeit gewisser  Altersclassen  einwirken,  lassen,  sich  in  diesen  Wirkun- 
gen lange  Zeit  hindurch  verfolgen. 

So  beobachtete  man  in  Preussen  die  Nachwirkung  der  Feldzüge 
von  1813 — 1815.  Durch  dieselben  wurden  der  Bevölkerung  eine  grosse 
Zahl  junger  Männer  zwischen  dem  17.  und  25.  Lebensjahr  entrissen.  Sie 
gehörten  der  Altersclasse  1788 — 99  an  und  diese  Altersclasse  zeigte  sich 
noch  ein  halbes  Jahrhundert  später  auffallend  schwach  besetzt  ^). 

In  gleicher  Weise  zeigt  Wappäus  den  Einfluss  der  Feldzüge  des 
ersten  französischen  Kaiserreichs  auf  die  Vertheilung  des  französischen 
Volkes  nach  Altersclassen.  Es  ward  eine  ähnliche  Einwirkung  sogar  bei 
der  Bevölkerung  Dänemarks  hinsichtlich  des  deutsch-dänischen  Krieges 
von  1848—49  bemerkt«). 

Und  wie  sehr  wirthschaftliche  Nothstände  namentlich  den  Bestand 
der  jüngsten  Altersclassen  angreifen,  das  zeigte*  sich  ganz  auffallend  an 
der  Bevölkerung  Irlands.  Aber  doch  dürften  diese  Einwirkungen  nicht  so 
unheilvoll  sein,  als  jene  der  Kriege,  welche  den  besten  Theil  der  Bevöl- 
kerung dahinraffen  und  ihre  Kraft  für  lange  Zeit  verringern. 

Anmerkung. 
')')  Wappäus:  Allg.  Bevölkerungsstatistik.  IL,  S.  54  ff. 


III.  Capitel. 

Andere  körperliclie  Eigenscliafteii  der  Be- 
völkerung. 


I.  §.  120.  Das  Geschlecht. 
In  civilisirten  Staaten,  wo  die  Gesittung  auf  der  Ehe  und   der  Fa- 
milie beruht,  ist  das  Gleichgewicht  der  beiden  Geschlechter  von 
grosser  Bedeutung.  Denn  wenn  dieses  Gleichgewicht  gestört  würde,  wäre . 
jedenfalls  die  Monogamie,  die  Grundlage  unserer  Cultur,  erschwert. 


Das  Geschlecht.  215 

Ein  allgemeines  Naturgesetz  strebt  darnach,  bei  den  Erwachsenen 
stets  eine  Gleichzahl  der  beiden  Geschlechter  herzustellen. 

Wie  weit  die  Wirklichkeit  diesem  Streben  entspricht,  das  könnte 
man  bei  der  thatsächlichen  Verschiedenheit,  die  dabei  in  den  verschie- 
denen Ländern  besteht,  vollständig  erst  dann  beurtheilen,  wenn  man  die 
Zahl  der  beiden  Geschlechter  innerhalb  der  ganzen  Menschheit  kennte. 
Bis  jetzt  Hess  sich  nur  constatiren,  dass  die  europäischen  Länder  einen 
Ueberschuss  an  Weibern  aufweisen  (1021  Frauen  auf  1000  Männer), 
während  das  Verhältniss  in  den  anderen  Welttheilen,  so  weit  es  ermittelt 
ist,  umgekehrt  ist.  In  Amerika  nämlich  treffen  auf  1000  Männer  nur 
980,  in  Afrika  975,  in  Asien  943  (?),  in  Australien  818  Weiber,  unter 
den  600  Millionen  Menschen,  deren  Geschlecht  ermittelt  werden  konnte, 
treffen  auf  1000  Männer  985  Weiber  *). 

Hiebei  sind  aber  folgende  Erscheinungen  zu  beobachten: 

I.  Es  werden  überhaupt  mehr  Knaben  als  Mädchen  geboren. 
Und  zwar  in  den  europäischen  Ländern  ungefähr  auf  je  100  Mädchen 
105  oder  106  Knaben. 

Bei  einzelnen  Familien  zeigt  sich  keine  Spur  dieses  Gesetzes.  Bei 
mehreren  zusammenwohnenden  Familien  tritt  dieses  Gesetz  erst  nach 
einer  Reihe  von  Jahren  hervor,  in  Städten  alle  Jahre,  bei  grossen  Völ- 
kern sogar  jeden  Tag. 

Dieses  Verhältniss  ist  in  den  einzelnen  Ländern  indessen  ein  ziem- 
lich verschiedenes.  In  ganzen  Staaten  Europa's  erreicht  der  Ueberschuss 
der  Knabengeburten  nirgends  7^;  dagegen  beträgt  in  Griechenland  die 
Zahl  der  Knaben geburten  blos  94  auf  100  Mädchengeburten  ^).  Berück- 
sichtigt man  kleinere  Landestheile,  so  werden  die  Unterschiede  grösser. 
Im  gesammten  Deutschen  Reich  z.  B.  beträgt*)  die  relative  Zahl  der 
Knabengeburten  105,9;  dagegen  im  Lübeck'schen  113,«;  in  Reuss  j.  L. 
112,3;  in  Waldeck  108,5;  in  den  4  südl.  Provinzen  Bayerns  108,2;  in 
Schaumburg-Lippe  nur  94,7. 

Es  scheint,  dass  das  Klima  keinen  Einfluss  auf  die  Gleichzahl  der 
Geschlechter  hat.  Zur  genauen  Feststellung  hätte  man  freilich  noch  grös- 
sere Zahlen  von  Beobachtungen,  namentlich  aus  Tropengegenden  nöthig. 
Nach  Beobachtungen,  die  man  am  Kap  der  guten  Hoffnung  in  den 
Jahren  1813 — 20  gemacht  hat,  zeigte  sich  Knabenüberschuss  nur  bei  der 
Sklavenbevölkerung,  während  bei  der  freien  Bevölkerung  äusserst  regel- 
mässig mehr  Mädchen  als  Knaben  zur  Welt  karHen. 

Der  Aufenthalt  in  den  Städten  und  auf  dem  platten  Lande  scheint 
nicht  ohne.  Einfluss  auf  das  Verhältniss  der  Geschlechter  zu  sein,  indem 
auf  dem  Lande  der  Ueberschuss  der  neugeborenen  Knaben  über  die  Mäd- 
chen grösser  ist,  als  in  der  Stadt.     So  hat  u.  a.  die  preussische  Provinz 


216 


Das  Geschlecht. 


Brandenburg  (1878)  107,o  Knabengeburten  auf  100  Mädchen;  Berlin 
blos  104,3. 

Auch  die  Legitimität  der  Geburt  ist  hier  von  Einflnss.  Bei  legitimen 
Kindern  ist  das  Ueberwiegen  der  Knaben  stärker  als  bei  illegitimen.  Un- 
tersuchungen und  Erklänmgen  dieses  Gesetzes  sind  öfters  gemacht  worden*). 

Den  grössten  Einfluss  aber  auf  die  Ungleichheit  der  Geschlechter 
bei  den  Geborenen  dürfte  die  Altersverschiedenheit  der  Eltern  haben. 
Die  hierüber  angestellten  Beobachtungen,  deren  Zahl  leider  noch  nicht 
vollständig  genug  ist,  haben  ergeben,  dass  in  den  Geborenen  das  männ- 
liche oder  das  weibliche  Geschlecht  vorwiegt,  je  nachdem  von  den  Eltern 
der  Vater  oder  die  Mutter  mehr  Jahre  zählt*). 

Höchst  eigenthümlich  aber  ist  das  auffallende  Vorwiegen  der  männ- 
lichen Geburten  bei  den  Juden.  So  war  z.  B.  in  Oesterreich  im  Jahre 
1851  das  Verhältniss  der  Knabengeburten  bei  den  Juden  wie  121:100; 
bei  den  Christen  dagegen  nur  wie  105,9 :  100.  Allerdings  sind  die  Beob- 
achtungen noch  nicht  zahlreich  genug,  um  sichere  Schlüsse  zuzulassen. 

Die  Ursachen  dieser  Erscheinung  sind  unenträthselt  •). 

II.  Aus  der  Mehrzahl  männlicher  Geburten  folgt  auch  ein  Ueber- 
wiegen der  männlichen  Jugend  über  die  weibliche  in  der  ersten 
Altersclasse  der  Bevölkerung. 

Dieses  Uebergewicht  wird  durch  wirkliche  Volkszählungen  bestätigt. 
So  kommen  Mädchen  in  der  Altersclasse  von  0 — 5  Jahren  auf  je  1000 
Knaben  ') : 

im  Deutschen  Reich  .    .  (1875)  998 
in  England  und  Wales  .  (1871)  999 

„  Schottland     ....       „       974 

„   Irland „       970 

„  Dänemark (1870)  980 

„  Norwegen (1865)  969 

„   Schweden  .....  (1870)  976 

III.  Demungeachtet  überwiegt  in  den  höheren  Altersclassen 
die  Zahl  des  weiblichen  Geschlechtes  so  sehr,  dass  bei  der 
Gesammtbevölkerung  Europa^s  regelmässig  das  weibliche  Geschlecht  stär- 
ker besetzt  ist  als  das  männliche.  So  findet  man  in  den  oben  ange- 
gebenen Ländern  und  Jahren  folgendes  Verhältniss  der  Gesammtbevöl- 
kerung ; 

auf  1000  Männer  kommen  Weiber: 


in  Oesterreich  .    . 

.    .  (1869)  1010 

„    Ungarn     .    .    . 

.    .       „       1011 

„   Italien  .... 

.   .(1870)    971 

„  Schweiz    .    .    . 

.   .      „       1005 

„  Frankreich  .    . 

.   .(1872)    975 

„  Belgien     .    .    . 

.    .  (1866)    995 

„   Niederlande 

.    .(1869)     990 

im  Deutschen  Reich     ....  1036 
in  England  und  Wales    .    .    .  1054 

„  Schottland 1096 

„   Irland 1044 


in  Dänemark 1026 

„   Norwegen 1036 

„   Schweden 1067 

„  Oesterreich  .......  1041 


Das  GescUecht.  217 


in  üngara 1002 

„   Italien 989 

„   der  Schweiz 1046 


in  Frankreich   . 1008 

„   Belgien     ........    995 

„  Niederlandien    ; 1029 


dagegen  in  den  Ver.  Staaten  972,  in  Canada  939. 

Es  muss  gleich  hier  darauf  hingewiesen  werden,  dass  dieses  Ver- 
hältniss  im  Laufe  der  Zeit  bemerkenswerthe  Aenderungen  erleidet.  So 
kamen  nach  einer  älteren  Tabelle  ®) 


1851  in  Fraukreich 

auf  100  Männer  101,i2  Weiber 

1851  „   England 

n 

n 

r> 

104,16 

w 

1851  „    Schottland 

w 

n 

7i 

110,02 

n 

1851   „    Irland 

7) 

» 

n 

103,37 

n 

1849  „    Niederlanden 

n 

w 

•n 

103,96 

r> 

1846  „    Belgien 

n 

T) 

T) 

100,47 

V) 

1850  „    Schweden 

V) 

r> 

n 

106,40 

•n 

1855  „    Norwegen 

n 

rt 

n 

104,14 

T) 

1850  „    Dänemark 

V) 

n 

^ 

103,30 

n 

1^52  „    Preussen 

» 

n 

n 

100,42 

T) 

1850  „  Verein.  Staaten 

w 

» 

•n 

95,06 

•n 

In  den.  europäischen  Ländern  ist  demnach  die  Ueberzahl  der  Wei- 
ber die  Regel.  Wie  schon  oben  bemerkt  ward,  findet  jedoch  ausserhalb 
Europa's  das  Gegentheil  statt. 

IV.  Die  Ursachen  dieses  Verhältnisses  dürften  sich  wohl  in 
manchen  Fällen  erklären  lassen,  in  vielen  aber  auch  unenträthselt  bleiben. 
Wenn  unter  den  europäischen  Staaten  insbesondere  Italien  einen  so  be- 
deutenden üeberschuss  an  Männern  aufweist,  so  könnte  man  denselben 
wohl  aus  dem  bequemeren  Leben  der  Männer,  wenigstens  in  Unteritalien, 
erklären  wollen;  aber  eine  Vergleichung  des  Geschlechtsverhältnisses  in- 
nerhalb der  verschiedenen  Provinzen  Italiens  spricht  dagegen. 

Geht  man  überhaupt  auf  provinziale  Unterschiede  ein,  so  finden 
sich  leichter  Erklärungen.  So  lührt  wohl  die  Minderzahl  der  Frauen  in 
den  preussischen  Provinzen  *  Westfalen  (95,9:100  Männer)  und  Rhein- 
land (98,«  :  100)  vom  Charakter  der  dortigen  Industiie  (Eisen  und  Kohlen) 
her,  welche  überwiegend  männliche  Arbeitskräfte  beansprucht. 

Auf  den  Unterschied,  welcher  in  dieser  Hinsicht  zwischen  den  europäi- 
schen Ländern  und  Nordamerika  besteht,  ist  die  Auswanderung  von  Einfluss. 

Sieht  man  die  Gleichzahl  der  Geschlechter  als  eine  nothwendige 
Bedingung  der  Familie  an,  so  erscheint  wohl  als  besonders  wichtig  das 
Verhältniss  zwischen  denjenigen  Männern  und  Frauen,  welche  im  Alter 
der  Ehemündigkeit  sich  befinden.  Nimmt  man  dieses  Alter  bei  Männern 
zu  20  Jahren,  bei  Frauen  zu  16  J.  an,  so  ergibt  sich  z.  B.  im  Deutschen 
Reich  eine  Bevölkerung  von  11,2  Mill.  ehemündigen  Männern  gegenüber 
13,4   Mill.    ehemündigen    Frauen;    oder    ein    Üeberschuss    von    über    2*/^ 


218 


Das  Geschlecht. 


lÄill.  ehemündiger  Frauen,  welche,  selbst  wenn  alle  Männer  über  20  J. 
verheiratet  wären,  nothwendig  im  Cölibat  leben  müssten. 

Die  üeberzahl  der  Weiber  in  den  meisten  Ländern  rührt  von 
der  grösseren  Sterblichkeit  der  Männer  her,  welche  sich  ihrerseits  wieder 
ans  der  in  der  zarten  Jugend  besonders  empfindlichen  Organisation,  aus 
der  anstrengenderen  Beschäftigung,  den  öfteren  Excessen  und  dem  Mili- 
tärdienste der  Männer  erklärt. 

Man  kann  nicht  annehmen,  dass  die  Kriege,  der  Seedienst  und  die 
lebensgefährlichen  Arbeiten  allein  die  grössere  Sterblichkeit  der  Männer 
verursachen,  denn  diese  Sterblichkeit  zeigt  sich  ja  schon  bei  den  kleinen 
Knaben,  welche  jenen  Gefahren  nicht  ausgesetzt  sind.  Es  scheint  vielmehr 
ein  gewisses  Gewicht  auf  die  Unterschiede  des  männlichen  und  des  weib- 
lichen Organismus  als  wesentliche  Ursache  gelegt  werden  zu  müssen. 
Diesem  Unterschiede,  daneben  freilich  auch  der  Berufsthätigkeit  und  dem 
socialen  Leben  des  männlichen  Geschlechts  ist  es  zuzuschreiben,  wenn 
das  ursprüngliche  Uebergewicht  der  Männer  durch  ihr  rascheres  Abster- 
ben um  das  15. — 20.  Jahr  (in  den  europäischen  Ländern)  aufhört  und 
in  das  Gegentheil  umschlägt,  und  zwar  so  sehr  umschlägt,  dass  die  Zahl 
der  Greisinnen  über  90  Jahre  in  einzelnen  Ländern  mehr  als  doppelt  so 
gross  wird,  als  jene  der  gleichalterigen  Greise. 

Aumerkuiigeu. 
*)  G.  Mayr:  Gesetzmässigkeit  etc.  S.  129. 

*)  Allzahl  der  mäunlichen  Kiuder,  welche  auf  je  100  weibliche  gebo- 
ren werden: 


Länder 


Zeit 


Knaben- 
geburten 


Länder 


Zeit 


Knaben- 
geburten 


Italien  .  .  .  •  . 
Frankreich  .  .  . 
England  u.  Wales 
Schottland    .   .   . 

Irland 

Deutsches  Reich 
Preussen  .... 
Bayern  .... 
Sachsen  .... 
Thüringen  .  .  . 
Württemberg  .  . 
Baden  .  .  .  .  • 
Oesterr.  (diesseits) 
Ungarn     .... 


1865-78 
1866—77 
1865-78 
1865—75 
1865-78 
1862—78 
1865—78 
1865-78 
1865—78 
1873-78 
1865-78 
1866-78 
1865-78 
1866—77 


104 
103 
104 
106 
106 
104 
104 
103 
105 
105 
102 
103 
106 
104 


Croatien-Slaronien 

Schweiz 

Belgien 

Niederlande  .  .  . 
Schweden  .  .  .  . 
Norwegen  .  .  .  . 
Dänemark .    .    .   . 

Finland 

Spanien 

Griechenland  .  . 
Rumänien  .    .    .    . 

Serbien 

Europ.  Russland  . 


1874-78 
1872-78 
1865-78 
1865-77 
1865-78 
1865-76 
1865-78 
1865—78 
1865-70 
1870—77 
1870-77 
1865-78 
1867—74 


104 
99 
102 
102 
106 
106 
104 
103 
104 
94 
105 
111 
105 


(Nach  der  wiederholt  citirten  italienischen  Publication:    Morimento  dello 
§tato  cirile  1862—78,  p.  CXXVI.) 


Entwickelnng  des  menschlichen  Wuchses.  219 

•)  Jahrbuch  f.  1880,  S.  17. 
*)  Quetelet:  Physique  sociale,  p.  169. 
^)  Ebenda. 

•)  Vgl.  Quetelet-Riecke.  p.  55. 

^)  Band    XIV,    2.  S.    VI.    167    der   Statistik    des  Deutschen  Reiches  und 
Monatshefte  zur  Statistik  des  Deutschen  Reiches.  Aprilheft  1878,  S.  38. 
")  Wappäus,  a.  a.  0.  IL,  S.  182. 

§.  121.  Entwickelnng  des  menschlichen  Wnchses. 

Indem  wir  uns  der  Betrachtung  einiger  anderer  körperlicher  Eigen- 
schaften des  Menschen  zuwenden,  betreten  wir  das  Gebiet  der  sogen, 
somatologischen  Statistik.  Dieses  Gebiet  wird  durch  mehrere  charakte- 
ristische Eigenthümlichkeiten  von  anderen  Gebieten  der  Statistik  ausge- 
schieden. Die  somatologischen  Beobachtungen  umfassen  nämlich  gewöhnlich 
nicht  die  ganze  Bevölkerung,  sondern  nur  einen  Theil  derselben:  jenen 
Theil,  welcher  sich  gerade  in  solchen  Umständen  befindet,  die  eine  Beob-, 
achtung  ermöglichen.  An  Sicherheit  und  Zuverlässigkeit  stehen  daher  diese 
Beobachtungen  weit  gegen  die  bisher  behandelten  zurück. 

Häufig  sind  auch  die  Beobachtungen  keine  amtlichen,  sondern  blos 
private.  Es  lässt  sich  bei  manchen  derselben  erkennen,  wie  sie  erst  all- 
mälig  Massenbeobachtungen  systematischer  Art  werden. 

Dagegen  können  häufig  die  somatologischen  Beobachtungen,  auch 
wenn  sie  in  verhältnissmässig  geringer  Zahl  angestellt  werden,  schon  zu 
beachten swerthen  Resultaten  führen,  zu  Resultaten,  die  auch  gewöhnlich  von 
dauerndem  Werthe  sind,  weil  sich  die  KörperbeschafFenheit  der  Menschheit 
jedenfalls  nur  sehr  langsam  ändern  kann. 

Heute  noch  ist  auf  diesem  Gebiete  Quetelet's  berühmtes  Werk  nicht 
allein  das  bahnbrechende,  sondern  auch  dasjenige,  welches  den  Stofi*  am 
vielseitigsten  und  am  geistvollsten  behandelt. 

Was  zunächst  speciell  die  Entwickelnng  des  menschlichen  Wuchses 
betrifft,  so  sind  hiebei  als  die  wichtigsten  der  beobachteten  Erscheinungen 
hervorzuheben: 

I.  Die  Entwickelnng  des  Wuchses  in  den  verschiedenen 
Lebensaltern*).  Sie  ist  von  der  Physiologie  schon  vor  der  Geburt  des 
Menschen  beobachtet  worden,  und  zeigt  in  ihrer  weiteren  Verfolgung,  wie  der 
menschliche  Körper  bei  beiden  Geschlechtern  anfangs  mit  fast  gleicher  Ge- 
schwindigkeit zunimmt  und  erst  vom  4.  Lebensjahre  an  bemerklichere  und  stets 
zunehmende  Unterschiede  im  Wachsthum  der  Geschlechter  sich  ergeben.  Die 
allmälige  Abnahme  des  Wachsthums  ist  keineswegs  eine  gleichförmige. 

Das  Wachsthum  des  Menschen  scheint  später  zu  enden,  als  man 
gewöhnlich  annimmt;  es  dürfte  am  Schlüsse  des  fünfundzwanzigsten  Jahres 
noch  nicht  ganz  beendigt  sein. 


220  Entwickelung  des  menschlichen  Wuchses. 

Auf  das  Wachsthum  machen  sich  noch  verschiedene  Einflüsse  geltend. 
Bei  Gefangenen  bleibt  seine  Entwickelung  hinter  jener  der  Freien  bedeu- 
tend zurück.  Ganz  auffallend  bleibt  das  Wachsthum  der  in  den  Fabriken 
arbeitenden  Kinder  zurück  hinter  dem  jener  Kinder,  die  nicht  in  Fabriken 
arbeiten.  In  sehr  heissem  und  sehr  kaltem  Klima  endet  das  Wachsthum 
rascher,  als  im  gemässigten  Klima. 

Vom  fünfzigsten  Lebensjahre  an  werden  die  Menschen  beider  Ge- 
schlechter kleiner.  Dieses  Kleinerwerden  wird  immer  bemerkbarer  und 
kann  bis  zum  80.  Lebensjahre  6 — 7  Centimeter  betragen. 

n.  Die  Unterschiede  des  vollendeten  Wuchses.  Auf  diese 
Unterschiede  musste  schon  die  unsystematische  Beobachtung  aufiAerksam 
werden,  da  die  unterschiedliche  Köi-perlänge  der  Völkerstämme  eine  zu 
auffallende  Thatsache  ist.  Wirkliche  Messungen  können  jedoch,  namentlich 
bei  aussereuropäischen  Völkern,  immer  nur  einen  sehr  kleinen  Theil  der 
Gesammtbevölkerung  umfassen.  Immerhin  sind  die  gewonnenen  Resultate 
sicher  genug,  um  zu  Betrachtungen  über  die  möglichen  Ursachen  solcher 
Verschiedenheiten  zu  veranlassen.  Es  handelt  sich  nämlich  hier  um  eine 
Erscheinung,  die  in  hohem  Grade  typisch  genannt  werden  darf. 

Am  werth vollsten  sind  natürlich  jene  Messungen,  welche  bei  der 
Recrutirung  vorgenommen  werden  und  daher  einen  beträchtlichen  Theil 
der  männlichen  Bevölkerung  umfassen  und  auch  durch  ihre  jährliche 
Wiederholung  an  Sicherheit  gewinnen. 

Die  Unterschiede  des  Wuchses,  welche  man  bei  verschiedenen  Volks- 
stämmen beobachtet  hat,  dürften  einestheils  auf  den  Verschiedenheiten 
der  Lebensweise,  andemtheils  auf  uralten  Stammeseigenthümlichkeiten 
beruhen  -). 

Der  Unterschied  von  städtischem  und  ländlichem  Aufenthalt  ist  nicht 
gleichgiltig  für  die  Entwickelung  des  Wuchses.  Vielmehr  haben  Villerme 
und  Quetelet  gezeigt,  dass  der  Städter  im  Allgemeinen  grösser  ist,  als  der 
Landbewohner.  Der  Wuchs  des  Menschen  wird  nicht  nur  erhöht,  sondern 
auch  beschleunigt  durch  Wohlstand,  gute  Kleidung,  Wohnung  und  Nahrung, 
durch  geringe  Anstrengungen,  namentlich  in  der  Kindheit. 

Anmerkungen. 

•)  Die  Entwickelung  des  menschlichen  Wuchses  stellte  Quetelet  in  einer 
Tabelle  nach  einer  Reihe  von  Beobachtungen,  die  in  Schulen,  Waisenhäusern 
etc.  gemacht  worden,  dar.  Nach  dieseu  Beobachtungen  wächst  die  durchschnitt- 
liche Grösse  des  Menschen  in  folgendem  Maasse: 


Das  Gewicht  des  Menschen. 


221 


Alter 


Bei  der  Geburt 
i  Jahr 

2  Jahre 

3  r, 

4  « 

5  r, 

6  „ 

t        r, 

8   « 

10 
11 
12 
13 

14  « 

15  „ 

16  „ 

17  r, 

18  „ 

19  „ 
80  „ 

Vollendetes  Wachsthum 


Kuabeii 


Mädchen 


0,500  Meter 

0,698  „ 

0,796  r, 

0,867  „ 

0,930  r, 

0,986  „ 

1,046  „ 


1,160 
1,221 
1,280 
1,834 
1,384 
1,431 
1,489 
1,649 
1,600 
1,640 


1,666 
1,684 


0,490  Meter 


0,780 

n 

0,863 

w 

0,913 

n 

0,978 

n 

1,036 

V 

1,091 

T) 

1,154 

•n 

1,205 

7i 

1,256 

r> 

1,286 

n 

1,340 

n 

1,417 

n 

1,475 

r) 

1,496 

r) 

1,518 

r> 

1,553 

n 

1,664 

r> 

1,670 

r> 

1,574 

r> 

1,579 

Vi 

162 


*)  Nach    A.  Weis b ach  (im  anthropologischen  Theile  der  Novara-Reise) 
beträgt  die  durchschnittliche  Körperlänge  (in  Centimetern)  der: 

Patagonier 178-180 

Schwaben      \ 

Kaffern  179 

Polynesier     ) 

Tscherkesseu 173 

Engländer 169—171 

Deutsch-Oesterreicher  ....  166—168 

Neger 165-168 

Nordfranzosen 166 

Bayern 164 

Südfranzosen  i 


Chinesen 


163 


Australier 

Amboinesen  i 

Timoresen    ( 

Malayeu  y.  Malakka 

Andamanen 

Acka 

Lappen 138—150 

Obongo 133—152 

Semangs 142—145 

Buschmänner 130—137 

Eskimos •  .    .    .  130 


159 

157 
156 
150 


§.  122.  Das  Oewicht  des  Menschen. 


Auch  mit  dem  mittleren  Gewicht  des  Menschen  und  dem  Verhält- 
niss  desselben  zur  Entwickelung  des  Wuchses  hat  die  medicinische  Statistik 
sich  beschäftigt. 

Während  das  mittlere  Gewicht  des  Mannes  durchgehends  grösser 
ist,  als  das  des  Weibes,  zeigen  um  das  Alter  von  12  Jahren  die  Personen 


222  Entwickelang  der  Muskelkraft. 

beiderlei  Geschlechts  dasselbe  mittlere  Gewicht:   (die  Beobachtungen  sind 
aus  Frankreich  und  Belgien). 

Das  Maximum  seines  Gewichtes  erreicht  der  Mann  um  das  vierzigste 
Lebensjahr.  Mit  dem  sechzigsten  fangt  das  Gewicht  zu  schwinden  an  und 
nimmt  bis  zum  achtzigsten  um  ungefähr  6  Kilogramm  ab. 

Später  als  der  Mann  erreicht  das  Weib  sein  Gewichtsmaximum  und 
wiegt  am  meisten  um  das  fünfzigste  Jahr. 

Die  Extreme  des  Gewichtes  von  regelmässig  gebauten  Individuen 
betragen  beim  männlichen  Geschlechte  49,i  Kilogr.  als  Minimum  und 
98,5  Kilogr.  als  Maximum,  beim  weiblichen  39,8  und  93,8  Kilogr. 

Beide  Geschlechter  wiegen  zur  Zeit  ihrer  vollkommenen  Entwickelung 
fast  genau  zwanzigmal  so  viel  als  bei  der  Geburt.  Das  mittlere  Gewicht 
eines  Individuums  ohne  Rücksicht  auf  Alter  und  Geschlecht,  also  das 
Durchschnittsgewicht  einer  ganzen  Bevölkerung  (Belgien)  beträgt  45,7 
Kilogramm. 

Während  der  Entwickelung  des  Menschen  kann  man  annehmen, 
dass  bei  den  verschiedenen  Altern  die  Quadrate  der  Gewichte  sich  so 
verhalten,  wie  die  fünften  Potenzen  des  der  Zeit  nach  entsprechenden 
Wuchses. 

§.  193.  Entwickelung  der  Muskelkraft  ^). 

Von  weit  grösserem  Interesse  als  die  Entwickejung  von  Wuchs  und 
Gewicht  ist  die  Entwickelung  der  menschlichen  Muskelkraft.  Doch  ist  die 
Bestimmung  derselben  von  Instrumenten,  sogen.  Dynamometern  abhängig, 
deren  Resultate  mit  grosser  Vorsicht  zu  behandeln  sind. 

Man  hat  gefunden,  dass  der  Mann  durchschnittlich  im  Alter  von 
25—30  Jahren  im  Besitze  seiner  vollsten  Kraft  ist.  Da  kommt  der  Druck 
seiner  beiden  Hände  einer  Kraft  von  50  Kilogrammen  gleich  und  er  kann 
ein  Gewicht  von  13  Myriagrammen  aufheben. 

Spätere  Beobachtungen  haben  indessen  eine  grössere  körperliche 
Kraft  des  mittleren  Menschen  ermittelt,  was  wohl  vom  verschiedenen 
Gebrauche  der  Messungsinstrumente  herrührt.  Die  Versuche  müssen  ausser- 
ordentlich zahlreich  und  mit  grosser  Sorgfalt  angestellt  werden,  um  richtige 
Durchschnittsergebnisse  zu  liefern.  Dann  aber  werden  diese  Ergebnisse 
gewiss  zeigen,  dass  die  Kraft  des  mittleren  Menschen  sein  Gewicht  über- 
steigt, dass  Wohlstand,  gute  Nahrung  und  Uebung  der  Muskelkräfte  die- 
selbe steigern,  während  Armuth  und  übermässige  körperliche  Arbeit  sie  . 
schwächen. 

Auch  die  Geschwindigkeit,  die  Beweglichkeit  und  einige  andere 
körperliche  Eigenschaften  des  Menschen  lassen  Messungen  zu.     Das  be- 


Ernfthrnng;  und  W&rme  des  EOrpers  etc.  223 

kannteste  Beobachtungsobject  dieser  Art  ist  die  Schnelligkeit  und  Länge 
des  Schrittes  beim  ausgewachsenen  Menschen. 

Ein  mittlerer  Fussgänger  legt  mit  jedem  Schritte  8  Decimeter  zurück. 
Er  macht  in  der  Minute  125  Schritt  und  legt  in  ihr  100  Meter  zurück, 
in  einer  Stunde  6  Kilometer.  So  kann  er  täglich  87«  Stunden  marschiren. 
Man  schätzt  einen  mittleren  Tagmarsch  auf  51  Kilometer. 

Wenig  bekannt  ist  die  mittlere  Geschwindigkeit  des  Menschen  beim 
Laufe,  auch  die  Höhe  und  Länge  seines  Sprunges. 

Anmerkung. 
*)  Nach  Quetelet:  Phys.  soc.  II.  p.  105  flf. 

§.  124.  Ernährung  und  Wärme  des  Körpers  etc. 

Die  Physiologen  haben  beobachtet,  dass  der  Körper  eines  erwachsenen 
Menschen  nach  24  Stunden  bei  hinreichender  Nahrung  weder  schwerer 
noch  leichter  geworden  ist.  Nach  Lavoisier's  und  Menzies'  Versuchen 
werden  von  einem  erwachsenen  Mann  im  Jahre  7 — 800  Pfund  Sauerstoff- 
gas aus  der  Atmosphäre  in  den  Körper  aufgenommen,  aber  nur,  um  in 
anderer  Gestalt  wieder  aus  demselben  zu  treten  *).  10  Milliarden  Kubik- 
meter Luft  gehen  täglich  durch  die  unersättlichen  Lungen  der  Menschheit  *). 

Aus  der  genauen  Bestimmung  der  Kohlenstoffmenge,  welche  durch 
die  Speisen  in  den  Körper  kommt  und  derjenigen  Formen,  in  welchen  sie. 
wieder  austritt,  ergibt  sich,  dass  ein  erwachsener  Mann  im  Zustande 
massiger  Bewegung  täglich  27,8  Loth  Kohlenstoff  verzehrt. 

Andere  Beobachtungen,  welche  gleichfalls  noch  an  das  Gebiet  der 
Statistik  hart  anstreifen,  zum  Theile  in  dasselbe  fallen,  beziehen  sich  auf 
die  Wärme  des  Körpers.  Thiere,  welche  schnell  athmen  und  daher  viel 
Sauerstoff  verzehren,  besitzen  höhere  Temperatur  als  andere.  Kinder  mehr 
(39")  als  Erwachsene  (37,5**).  In  allen  Klimaten  aber,  an  den  Polen  und 
am  Aequator  ist  die  Temperatur  des  Menschen  die  gleiche,  ungeachtet 
des  höchst  ungleichen  Wärmeverlustes,  den  der  Mensch  an  diesen  ver- 
schiedenen Orten  erleidet  (Liebig). 

Anmerkungen. 

^)  Im  Zusammenhange  hiemit  mögen  auch  die  Beobachtungen  erwähnt 
werden,  welche  über  die  Zahl  der  Pulsschläge  und  Athemzüge  bei  Menschen 
verschiedenen  Geschlechtes  und  Alters,  im  schlafenden  und  wachen  Zustande 
gemacht  worden  sind.  Ausser  den  Arbeiten,  welche  Quetelet  (Phys.  soc.  II.  p. 
119  ff.)  hierüber  mittheilt,  möge  noch  eine  neuere  Erwähnung  finden,  die  vom 
Italien,  stat.  Bureau  publicirt  ist  (Annali  di  stat.  Ser.  2'  —  Vol.  8.  p.  28  ff.); 
und  in  welcher  auch  der  Einfluss  der  wichtigsten  Berufsunterschiede  auf  die 
Pulsschläge  zu  prüfen  versucht  wird. 

*)  C.  Flammarion:  L" atmosphere,  p.  87. 


224  Die  Gesundheit. 

§.  125.  Der  Oesichtstypus  eto. 

Schon  in  den  dreissiger  Jahren  war  der  erste  Versuch  gemacht 
worden,  ziffermässige  Erhebungen  über  den  Gesichtstypus,  insbesondere 
über  die  Farbe  der  Augen  und  der  Haare,  mit  anderen  statistischen  Er- 
scheinungen in  Verbindung  zu  bringen  ^).  Die  officielle  Statistik  hat  sich 
erst  in  der  neuesten  Zeit  mit  diesem  Gegenstande  beschäftigt. 

Im  deutschen  Reiche  sind  Erhebungen  in  den  Schulen  gepflogen 
worden,  um  die  Farbe  der  Augen,  der  Haare  und  der  Haut  zu  ermitteln. 
1876  erstreckte  sich  die  Ermittlung  schon  auf  über  5Va  Mill.  Individuen. 
Von  denselben  wiesen  32, ii.jl^  äen  echt  germanischen,  blondhaarigen, 
blauäugigen  und  hellhäutigen  Typus  auf,  welcher  sich  auch  in  der  That 
im  Lande  der  alten  Cherusker  concentrirt.  Die  Erhebungeu,  welche  in 
Bayern  hierüber  stattgefunden  haben,  ergaben,  dass  die  städtische  Be- 
völkerung verhältnissmässig  mehr  dunkelhaarige  und  dunkelhäutige  zeigt, 
als  die  ländliche.  Die  Ermittlungen  über  die  Hautfarbe  konnten  begreif- 
licherweise nur  zu  minder  sicheren  Resultaten  führen  *). 

Eine  noch  eingehendere  somatische  Statistik  wurde  in  Italien  ange- 
strebt''), wo  man  ebenfalls  die  Farbe  der  Haut  angeben  Hess;  bezüglich 
der  Augen  aber  nicht  allein  die  Farbe,  sondern  auch  die  Form,  und  be- 
züglich der  Haare  ausser  deren  Farbe  auch  noch  ihre  übrige  Beschaffen- 
heit zu  ermitteln  suchte  und  endlich  die  Beobachtungen  auch  auf  den 
Bart  und  die  Zähne,  sowie  auf  die  Schnelligkeit  des  Pulses  erstreckte, 
beim  weiblichen  Geschlecht  auch  noch  auf  das  durchschnittliche  Alter  der 
eintretenden  Geschlechtsreife  etc.  Erhebungen  letztgenannter  Art  sind  auch 
in  Deutschland,  Russland,  Frankreich,  England  etc.  gemacht  worden. 

Aumerkuiigeu. 
*)  Voll  Pareut-Duchatelet. 
*)  G.  Mayr:  Gesetzmässigkeit  etc.  S.  212  ff. 
»)  Anuali,  Serie  TT*,  Vol.  8. 

§.  126.  i)ie  Oesundheit. 

Eine  der  wichtigsten  Eigenschaften  der  Bevölkerung  ist  ihre  Ge- 
sundheit. Die  Aufgabe,  welche  der  Statistik  in  dieser  Hinsicht  gestellt 
ist,  ist  eine  so  reich  gegliederte,  das  Material  ein  so  massenhaftes  und 
seine  Beurtheilung  erfordert  solche  medicinische  Kenntnisse,  dass  dieser 
Zweig  der  Statistik  unter  dem  Namen  der  medicinischen  seine  gesonderte 
Ausbildung  und  (namentlich  in  dem  Handbuche  der  medicinischen  Statistik 
von  Fr.  Oesterlen)  seine  classische  Literatur  gefunden  hat. 

Die  Gesundheit  der  Bevölkerung  hat  ihren  Ausdruck  und  ihr  Maass 
in  ihrer  Negation,  d.  h.  in  den  Krankheiten,  und  die  medicinische  Statistik 
soll ,    ähnlich  wie  Barometer  und  Thermometer  über  die  Witterung  Aus- 


Die  Gesundheit.  225 

kunft  geben,  durch  ihre  Zahlen  den  Gesundheits-  und  Kmnkheitszustand 
jedes  Tages,  jeder  Woche,  jedes  Jahres,  jeder  Altersclasse,  jeder  Berufs- 
classe  und  jeder  Generation  genau  charakterisiren. 

I.  Diese  Aufgabe  der  medicinischen  Statistik  lässt  sich  folgender- 
massen  gliedern: 

a)  Zunächst  handelt  es  sich  darum,  das  Kranksein  überhaupt,  ohne 
Unterschied  der  einzelnen  Krankheiten  zu  constatiren:  die  sogen. 
Morbilität  nebst  ihren  Ursachen. 

b)  Sodann  sind  wegen  der  so  sehr  verschiedenen  Einwirkungen  der 
unterschiedlichen  Krankheiten  auf  den  menschlichen  Organismus  auch 
die  einzelnen  Krankheiten  zu  untersuchen,  und  zwar: 

1.  nach  ihrer  absoluten  und  relativen  Häufigkeit, 

2.  nach  ihrer  Dauer, 

3.  nach  ihrer  grösseren  oder  geringeren  Gefährlichkeit, 

4.  nach  ihren  Ursachen,  und  womöglich 

5.  nach  dem  Einfluss  der  verschiedenen  Heilmethoden. 

H.  Was  die  Mittel  der  medicinischen  Statistik  betrifft,  so  müsste 
dieselbe,  um  dieser  ihrer  Aufgabe  vollkommen  gerecht  zu  werden,  jeden 
Menschen  durch  sein  ganzes  Leben  begleiten.  Da  dies  unmöglich  ist,  muss 
sie  wenigstens  von  gewissen  Stadien  im  Leben  jedes  einzelnen  Individuums 
einer  Bevölkerung  Kenntniss  nehmen. 

Die  in  gesundheitlicher  Beziehung  wichtigsten  Abschnitte  des  Lebens 
sind  folgende: 

1.  Die  Geburt  und  das  Säuglingsalter. 

2.  Das  Kindesalter  bis  zum  Eintritte  der  Schulpflichtigkeit. 
Gebäranstalten,    Findelhäuser,    Krippen  und  Kinderbewahranstalten, 

endlich  Waisenhäuser  können  über  diese  beiden  Perioden  die  sorgfältigsten 
Beobachtungen  anstellen. 

3.  Das  schulpflichtige  Alter.  In  den  Schulen  werden  indessen  nur 
ausnahmsweise  Gesundheitsverhältnisse  beobachtet.  In  dieser  Hinsicht  sprach 
ein  Congress  den  Wunsch  aus,  die  Schulen  sollten  Listen  über  die  Er- 
krankungen und  Todesfälle  der  Schulkinder,  ferner  Verzeichnisse  und 
Beschreibungen  der  Schul räumlichkeiten  anfertigen.  Ebenso  sollten  auch 
die  Turnvereine  die  Zwecke  der  Gesundheitsstatistik  ins  Auge  fassen. 

4.  Das  Alter  der  körperlichen  Reife,  der  Vorbereitung  zum  selb- 
ständigen Erwerb  und  zur  häuslichen  Bildung  und  Führung  eines  Haus- 
standes. So  gefahrlich  dieser  Abschnitt  auch  für  Gesundheit  und  Leben 
seiner  Angehörigen  ist,  so  spärlich  sind  doch  die  Kenntnisse  über  seine 
ftesundheitsverhältnisse. 

5.  Bei  der  männlichen  Bevölkerung  insbesondere  das  militärpflichtige 
Alter  (vgl.  §.   97).    Dieses  Alter   ist  für    die    Mehrzahl   der  männlichen 

Hanshofer,  Statistik.  2.  Aufl.  15 


226  Die  Horbilitftt. 

Bevölkerung  die  einzige  strenge  Gesundheitsrevue  im  Leben  (Engel).  Um 
80  mehr  ist  zu  wünschen,  dass  sie  nicht  blos  im  einseitigen  Interesse  des 
Militärwesens  ausgeführt  werde. 

6.  Bie  Zeit  der  Arbeit,  des  Erwerbes  des  täglichen  Brodes,  der 
Begründung  einer  Familie  und  Ersparniss  von  Vermögen  für  das  Alter. 
Nimmt  man  an,  dass  der  Mensch  mit  dem  60.  Jahre  invalid  wird,  so 
währt  dieser  Abschnitt  40  Jahre.  Es  ist  der  längste  und  deshalb  wechsel- 
vollste. Er  ist  auch  deshalb  schicksalsreicher  als  die  übrigen,  weil  der 
Mensch  in  diesem  Zeitabschnitte  mehr  seinem  eigenen  Willen  folgt.  Eine 
Menge  individueller,  räumlicher  und  zeitlicher  Einflüsse  konmien  hier  zur 
Geltung.  Wie  sie  auf  den  Gesundheitszustand  einwirken,  das  liegt  noch 
vielfach  im  Dunkeln. 

7.  Die  Periode  der  Invalidität.  Die  genaue  Ermittlung  dieses  Zeit- 
abschnittes, seiner  Dauer,  die  Ursachen  der  Invalidität  sind  von  hohem 
statistischem  Interesse.  Mit  Rücksicht  auf  die  grosse  Verbreitung  der 
Altersversorgungs-  und  Unterstützungscassen  darf  man  annehmen,  dass 
die  Gesundheitsverhältnisse  dieser  Altersclasse  ziemlich  scharf  zu  be- 
stimmen sein  möchten. 

§.  127.  Die  MorbUit&t. 

I.  Begriff.  Vergleicht  man  die  Zahl  der  Erkrankungen,  welche  in 
einem  bestimmten  Bevölkerungskreise  (z.  B.  in  einer  Berufs-  oder  Alters- 
classe, einer  Stadt  u.  s.  f.)  auftreten,  mit  der  Gesammtzahl  der  Seelen, 
innerhalb  welcher  man  diese  Krankheiten  beobachtet,  so  erhält  man  eine 
Verhältnisszahl:  die  Morbilität  oder  Häufigkeit  der  Erkrankungen. 

Man  gibt  dabei  an,  auf  wie  viel  Lebende  eine  Erkrankung  fällt. 
Beobachtet  man  zugleich  die  Dauer  des  Krankseins,  so  gibt  man  an,  wie 
viel  Krankheitstage  durchschnittlich  auf  den  Kopf  des  beobachteten 
Bevölkerungskreises  kommen.  So  haben  z.  B.  die  Erhebungen  der  eng- 
lischen friendly  societies  (Arbeiterunterstützungs -Vereine)  ergeben,  dass 
die  Angehörigen  der  Vereine  vom  15.  bis  zum  85.  Lebensjahre,  also 
während  einer  Arbeitszeit  von  70  Jahren  durchschnittlich  5  Jahre  Krank- 
heit durchzumachen  haben.  Es  gibt  dies  ungeföhr  ein  Bild  des  Verlustes 
an  Lebensgenuss  und  Lebensthätigkeit,  welchen  der  Mensch  durch  Krank- 
heit erleidet. 

n.  Ursachen.  Im  Ganzen  läuft  die  Morbilität,  d.  h.  die  Er- 
krankungshäufigkeit, wie  die  Dauer  und  Intensität  des  Krankseins  nicht 
parallel  mit  der  Sterblichkeit;  beide  folgen  häufig  denselben  Ursachen, 
,  aber  keineswegs  immer. 

Von  diesen  Ursachen  sind  folgende  bisher  genauer  untersucht 
worden  (vgl.  Oesterlen  a.  a.  0.): 


Die  MorWlitftt  227 

A.  Das  Alter.  Mit  zunehmendem  Alter  steigt  die  Morbilität,  die 
mittlere  Krankheitsdauer  und  Intensität  des  Krankseins,  die  Sterblichkeit 
an  den  meisten  Krankheiten,  also  nicht  blos  die  Gefahr  überhaupt  zu 
erkranken,  sondern  auch  längere  Zeit  zu  leiden  und  schliesslich  an  den 
Krankheiten  zu  sterben.  Die  geringste  Morbilität  fallt  in  das  Alter  von 
5 — 15  Jahren,  während  sie  in  den  ersten  Lebensjahren,  namentlich  von 
0 — 1,  dann  von  1 — 4  Jahren  am  grössten  ist  und  vom  15.  Jahre  an  bis 
in  die  höchsten  Altersclassen  beständig  steigt.  Zwischen  der  Krankheits- 
dauer allein  und  der  Sterblichkeit  besteht  kein  ganz  strenger  Parallelismus; 
denn  es  steigen  zwar  mit  dem  Alter  Erkrankungshäufigkeit  und  Sterblich- 
keit, aber  nicht  minder  steigt  der  Procentbetrag  lange  dauernder  Krank- 
heiten im  Vergleich  zu  rasch  verlaufenden;  insofern  widerstehen  die 
höheren    Altersclassen    dem    schliesslichen  Tod  länger,    als  die  jüngeren. 

B.  Das  Geschlecht.    Gewöhnlich   gilt,    das   weibliche  Geschlecht 
sei  Krankheiten  mehr  unterworfen,  als  das  männliche.  Nimmt  man  schwere 
unA  leichte  Krankheiten  zusammen,    so  mag  dies  wohl  so  sein,    berück- 
sichtigt man  aber  die  Gefährlichkeit  der  Krankheiten,  so  hat  das  weibliche  . 
Geschlecht  durchschnittlich  weniger  zu  leiden. 

C.  Der  Beruf.  Bis  jetzt  gibt  es  keine  zureichende  Statistik  tiir  die 
relative  Häufigkeit  der  Krankheiten  nach  den  verschiedenen  Berufsclassen. 
Man  hat  zwar  schon  seit  vierzig  Jahren  Beobachtungen  hierüber  angestellt, 
welche  jedoch  mit  mannigfachen  Schwierigkeiten  zu  kämpfen  habien.  So 
hat  man  namentlich  in  grossen  Spitälern  den  Beruf  der  eingetretenen 
Kranken  ermittelt,  und  die  erhaltenen  Ziffern  verglichen  mit  der  Gesammt- 
zahl  der  Augehörigen  der  betreffenden  Gewerbe.  Hiebei  ergab  sich  aller- 
dings, dass  einzelne  Gewerbe  relativ  weit  mehr  Angehörige  ins  Kranken- 
haus sandten,  als  andere. 

Um  aber  aus  diesen  Zahlen  keine  falschen  Schlüsse  zu  ziehen,  musb 
man  bedenken,  ob  einestheils  die  Zahl  der  Beobachtungen  nicht  zu  klein 
war,  sowie  andererseits,  dass  in  einer  Reihe  von  Professionen  deren  An- 
gehörige nicht  so  leicht  in  das  Krankenhaus  eintreten,  als  dies  bei  den 
Angehörigen  anderer  Professionen  der  Fall  ist;  und  zwar  deshalb,  weil 
jene  theils  häufiger  verheirathet  sind  und  Hauspflege  geniessen,  theils 
auch  vielleicht  noch  in  manchen  Fällen  fortarbeiten,  welche  die  mit  den 
schwersten  Arbeiten  Beschäftigten  nöthigen ,  zum  Krankenhause  ihre  Zu- 
flucht zu  nehmen. 

Um  den  Einfluss  der  Profession  auf  die  Morbilität  genau  zu  consta- 
tiren,  wäre  es  nöthig,  nur  solche  Professionen  zu  vergleichen,  deten  An- 
gehörige in  allen  anderen  wichtigen  Lebensverhältnissen,  in  Bezug  auf 
Alter,  Civilstand,  Wohlhabenheit,  Lebensweise  u.  s.  f.  wesentlich  gleich 
und  nur  hinsichtlich  ihrer  Beschäftigung  verschieden  sind. 

15* 


228 


Die  Morbilitftt. 


Aus  den  bis  jetzt  vorliegenden  Untersuchungen  scheint  nur  das  mit 
Gewissheit  hervorzugehen,  dass  bei  den  industriellen  Classen  miteinander 
die  Morbilität  grösser  ist,  als  bei  der  Gesammtbevölkerung  und  insbeson- 
dere der  Landbevölkerung.  Dabei  sind  noch  Unterschiede  zwischen  dem 
Kleingewerbe  und  dem  Fabrikwesen;  ebenso  sind  auch  unläugbar  einige 
positiv  schädliche  Berufszweige  vorhanden.  Wichtiger  als  die  Beschäftigung 
an  und  für  sich  sind  jedenfalls  im  Ganzen  alle  anderen  Factoren:  Nah- 
rung, Lebensweise,  Bildung,  Vorsicht  (Oesterlen). 

D.  Reichthum  und  Armuth.  Die  grössere  Sterblichkeit  und  kür- 
zere Lebensdauer  armer  Volksclassen  weisen  auf  eine  höhere  Morbilität 
derselben  hin.  Untersuchungen  in  dieser  Richtung  sind  allerdings  noch 
nicht  in  genügendem  Umfange  angestellt;  doch  erhellt  die  grössere  Mor- 
bilität der  Armen  schon  aus  ihrer  bedeutend  grösseren  Kindersterblich- 
keit, wie  aus  der  geradezu  erschreckenden  Sterblichkeit  der  Armen-  und 
Arbeitshäuser. 

E.  Stadt  und  Land.  Auch  zur  Aufklärung  dieses  Einflusses  liegen 
nur  dürftige  Untersuchungen  vor,  die  indessen  immerhin  die  weit  grössere 
Morbilität  der  Städte  constatiren. 

F.  Die  Jahreszeiten.  Nach  den  Erhebungen  des  Frankfurter  heil. 
Geistspitals  kamen  von  je  1000  Erkrankungsfällen 


=■ 

im  Jahre 

auf  den 
Winter 

auf  den 
Frühling 

auf  den 
Sommer 

auf  den 
Herbst 

1841-57 
1858 
1860 

268 
275 
269 

257 
266 
280 

253 
239 
244 

222 
220 
207 

Es  zeigt  demnach  der  Herbst  die  geringste  Morbilität;  nach  ihm 
erst  der  Sommer.  Hippokrates  hatte  ^war  den  Frühling  für  die  günstigste, 
den  Herbst  für  die  ungünstigste  Jahreszeit  erklärt;  aber  seine  Beobach- 
tungen bezogen  sich  ja  auf  das  Klima  Griechenlands,  nicht  auf  jenes  von 
Mitteleuropa. 

G.  Das  Klima.  Nach  den  Angaben  der  Krankheitsgeographen  hätte 
jede  Zone,  fast  jedes  Land,  ja  jede  topographisch  irgendwie  eigenthüm- 
liche  Gegend  ihre  speciellen  Krankheiten.  So  die  atlantischen  Küsten- 
länder, so  weit  sie  vom  grossen  atlantischen  Meereswirbel  berührt  werden, 
das  gelbe  Fieber;  Barbadoes,  Ceylon,  Malabar  etc.  die  Elephantiasis; 
Syrien  und  Mesopotamien  die  sogenannte  Aleppopustel ;  Andalusien  das 
Fegar;  Mexiko  die  Pinta;  Peru  die  Verrugas;  Canada  die  Ottawa- 
Krankheit;  Island  die  Hydatidosis  u.  s.  f.  —  Umfassendere  Beobachtungen 
müssen  diesen  Einfluss  erst  klar  stellen. 


Statistik  einzelner  Krankheiten.  229 

H.  Die  Civilisation  und  Gesittung.  Wie  die  Sterblichkeit,  so 
steht  auch  die  Morbilität  im  umgekehrten  Verhältniss  zur  Grösse  des 
Wohlstandes,  der  Intelligenz,  Bildung  und  Sittlichkeit  des  Einzelnen  oder 
des  Elends  ganzer  Völker  und  Volksclassen.  Armuth,  Trägheit,  Bildungs- 
und Sittenlosigkeit  sind  die  schlimm&ten  Krankheiten  eines  Staates,  schon 
deshalb,  weil  sie  Ursachen  leiblicher  Krankheit  werden. 

Auf  Grund  relativ  zuverlässiger  Erhebungen  bei  Hilfs-,  Kranken- 
vereinen u.  dgl.  erkranken  von  100  ihrer  Mitglieder  im  Alter  von  10  bis 
80  Jahren  etwa  25—30  im  Jahre  und  mindestens  2 — 4^  derselben  sind 
beständig  krank.  Nimmt  man  die  übrigen  Altersclassen  mit  ihrer  beson- 
ders hohen  Morbilität  dazu,  so  darf  man  annehmen,  dass  30 — 40%  aller 
Lebenden  im  Jahre  erkranken  und  etwa  4 — &%  beständig  krank  sind. 

Die  Frage,  ob  diese  Morbilität  eine  grössere  sei,  als  die  früherer 
Jahrhunderte  und  ob  insbesondere  unsere  Civilisation  die  Lebenskraft 
unserer  gegenwärtigen  Geschlechter  untergraben  habe:  diese  Frage  ist  wohl 
discutirt,  aber  nicht  entschieden.  Und  sie  wird  auch  nicht  entschieden. 

§.  128.  Statistik  einzelner  Krankheiten. 

I.  Tuberculöse  Krankheiten.  Nach  den  vorhandenen  Unter- 
suchungen suchen  sie  ihre  Opfer  zumeist  in  der  ersten  Kindheit,  dann 
zwischen  dem  25.  und  35.  Jahre,  und  zumeist  unter  den  ärmeren  Glassen. 
15 — 18^  der  Bevölkerung  (nach  Erhebungen  aus  England  und  dem 
Canton  Genf)  sterben  an  diesen  Krankheiten,  und  zwar  zumeist  an  Lun- 
genphthise. 

II.  Krebs.  Hinsichtlich  dieser  fast  immer  tödtlichen  Krankheit  hat 
die  Statistik  gefunden,  dass  das  weibliche  Geschlecht  ihr  weit  mehr  aus- 
gesetzt ist,  als  das  männliche;  die  wohlhabenden  Glassen  und  die  Städter 
mehr  als  die  Armen  und  die  Landbevölkerung. 

III.  Wassersucht.  Nach  englischen  Untersuchungen  ist  die  Sterb- 
lichkeit des  weiblichen  Geschlechtes  constant  grösser  als  des  männlichen. 
Der  Betrag  der  Todesfälle  steigt  vom  1.  Lebensjahr  bis  zum  65.  bis  75., 
wo  er  seinen  Höhepunkt  findet,  um  dann  wieder  zu  sinken. 

IV.  Typhus.  Er  bewirkt  in  Europa  etwa  Yao  aller  Todesfälle.  Die 
Häufigkeit  derselben  ist  aber  local  sehr  verschieden.  Die  Typhus-Todes- 
fälle betragen  nämlich  unter  je  1000  Todesfällen  in: 


Belgien   .    . 

.46 

München   .   . 

.60 

Berlin     .   . 

.  32 

Ohio  .... 

.15 

Grenua     .   . 

.23 

Paris     .    .    . 

.42 

Hannover    . 

.  70 

Ver.  Staaten 

.40 

Irland     .    . 

.80 

Wien     .    .    . 

.56 

280  Statistik  einzelner  Krankheiten. 

Die  mittlere  Dauer  der  Krankheit  berechnet  sich  auf  30  Tage;  die  Sterb- 
lichkeit unter  den  Typhuskranken  ist  10  Jl^.  Seine  Opfer  sucht  der  Typhus 
in  den  kräftigsten  Lebensaltem,  sodann  vorzugsweise  in  stark  bevölkerten 
Städten,  unter  dem  Militär,  den  schlecht  genährten,  unordentlich  lebenden 
Bevölkerungsclassen. 

V.  Blattern.  Die  Krankheit  hat  eine  ziemlich  ausgebildete  Statistik. 
Der  Betrag  ihrer  Todesfälle  war  jährlich  von  je  1000  Todesfällen  in: 

C.  Genf  (1838—55)  .  2,4  Bayern  (1850—58)  .  3 

England  (1859)  .    .    •  8,8  Belgien  (1850-55)  .  6,4 

Preussen  (1850—55)  .  5  London  (1859)  .   •    18,7 

Das  männliche  Geschlecht  leidet  durch  sie  in  weit  höherem  Grade, 
als  das  weibliche,  unter  allen  Altern  die  Kindheit  am'  meisten,  Städter 
mehr  9.1s  Landbewohner.  Von  besonderer  praktischer  Bedeutung  sind 
die  Untersuchungen  über  die  Zahl  und  Gefährlichkeit  der  Blattemerkran- 
kungen,  um  den  Einfluss  der  Impfung  zu  messen. 

VI.  Apoplexie.  Während  die  frühere  unmethodische  Beobachtung 
behauptete,  das  männliche  Geschlecht  sei  hiezu  ungleich  mehr  disponirt, 
als  das  weibliche,  haben  zuverlässigere  Untersuchungen  ergeben,  dass  diese 
Differenz  zu  Ungunsten  der  Männer  eine  fast  verschwindende  ist.  Hin- 
sichtlich des  Alters  fallt  des  Maximum  der  Schlaganfälle  zwischen  das 
65.  bis  75.  Jahr. 

VIT.  Die  Krankheiten  der  Circulationsorgane  zusammen  verur- 
sachen von  allen  Todesfallen  etwa  3,3 — 4^.  Auch  sie  erreichen  ihr  Ma- 
ximum zwischen  dem  65.  bis  75.  Jahre. 

VIII.  Krankheiten  der  Athmungsorgane.  Diese  grosse  und  wich- 
tige Gruppe  von  Krankheiten  verursacht  etwa  17 — 20^  aller  Todesfalle; 
das  männliche  Geschlecht  leidet  constant  mehr  durch  sie  als  das  weib- 
liche. Längst  gilt  als  ausgemacht,  dass  sie  als  Ganzes,  ziemlich  mit  dem 
Sinken  der  mittleren  Jahrestemperatur  nach  den  Polen  zu  immer  häufiger 
werden.  Das  haben  namentlich  Beobachtungen  über  den  Sanitätszustand 
der  in  Colonien,  welche  unter  sehr  verschiedenen  Breitegraden  liegen,  sta- 
tionirten  brittischen  Truppen  ergeben. 

IX. . Krankheiten  der  Verdauungsorgane.  Diese,  die  zahlreichsten 
einzelnen  Krankheitsformen  umfassende  Gruppe  verursacht  etwa  11  Jl^  aller 
Todesfälle.  Auch  hier  überwiegt  die  Sterblichkeit  des  männlichen  Ge- 
schlechtes; die  stärkeren  Contingente  liefern  die  erste  Kindheit  und  das 
55.  bis  65.  Jahr. 

Die  Häufigkeit  der  einzelnen  Krankheiten  als  Todesursachen  ist  ein 
Gegenstand,  welcher  sich  seit  langer  Zeit  einer  sehr  mannigfaltigen 
Beobachtung  erfreut..  Aus  den  zahlreichen  Zusammenstellungen,  welche 
hierüber    existiren,    mögen,    um    die    relative    tödtende  Wirksamkeit  der 


Die  Oeisteskraiiklieiten  insbesondere.  231 

verschiedenen  Krankeitsformen  vergleichend  darzustellen,  nur  zwei  hervor- 
gehoben werden,  welche  sich  auf  die  grössten  deutschen  Staaten  beziehen 
und  ein  ungewöhnlich  zahlreiches  Material  enthalten.  (Die  Zahlen  für 
Preussen  sind  dem  wiederholt  citirten  Werke  von  Quetelet-Riecke 
pag.  201  entnommen,  die  für  Bayern  aus  der  oflßciellen  Stisitistik:  „Die 
Bewegung  der  Bevölkerung  im  Königreich  Bayern,  München  1863."  Die 
preussischen  Ziffern  stammen  aus  den  Jahren  1820 — 34,  die  bayerischen 
aus  den  Jahren  1851 — 57.) 

Auf  1000  Todesfälle  treffen  als  Todesursachen : 

iu  Preusseu:  in  Bayern: 

Todtgeburt 47,i  34,8 

Lebensschwäche  und  Bildungsfehler    .    .      ?  67,4 

Innere  acute  Krankheiten 232,8  229,i 

Innere  chronische  Krankheiten   ,    .    »    .  379,3  467,6 

Plötzlicher  Krankheitszufall 72,*  83,9 

Aeussere  Krankheiten  und  Gebrechen    .    20,2  4,1 

Niederkunft  und  Wochenbett 12,8  5,4 

Altersschwäche 123,9  83,o 

Aeussere  Gewalt 16,5  10,2 

Unbestinmite  Todesursachen 86,i  13,9 

Blattern 8,i  3,3 

Hiezu  muss  bemerkt  werden,  dass  sich  allerdings  beide  Eintheilungen 
nicht  vollständig  decken. 

§.  139.  Bio  Geisteskrankheiten  insbesondere. 

Die  Zahl  der  Geisteskranken  verglichen  mit  der  Volkszahl  dient 
nicht  blos  als  Massstab  für  eine  eigenthümliche  Art  menschlichen  Unglücks, 
sondern  auch  för  einen  negativen  Factof  der  Volkskraft.  Leider  gibt  es 
keine  Erscheinung  aus  dem  geistigen  Leben  der  Menschheit,  welche  der 
Statistik  so  zugänglich  wäre,  als  eben  die  Vernichtung  und  der  Mangel 
dieses  geistigen  Lebens,  als. Wahnsinn  und  Blödsinn. 

Die  statistischen  Untersuchungen  über  ihn  sind  zahlreich  und  sorg-* 
fältig.  Um  sie  zu  würdigen,  müssen  zunächst  zwei  Classen  von  Irrsinn 
unterschieden  werden:  der  Blödsinn  und  der  Wahnsinn.  Der  Blödsinn  ist 
der  Mangel  an  Verstand,  ein  Zustand,  welcher  vom  Boden  und  von 
materiellen  Einflüssen  abhängt;  der  Wahnsinn  dagegen  ist  die  Zerrüttung 
des  Verstandes,  ein  Erzeugniss  gesellschaftlicher  Verhältnisse,  geistiger 
und  sittlicher  Einflüsse. 

Wie  es  sich  mit  der  Verbreitung  der  Geisteskrankheit  überhaupt 
verhält,  ist  kaum  mit  einiger  Sicherheit  zu  ermitteln.  Durch  Volks- 
zählungen wohl  am  wenigsten,  da  begreiflicherweise  in  den  Familien  eine 


232  ^^^  Geisteskrankheiten  insbesondere. 

grosse  Abneigung  herrscht,  solche  Angaben  über  Familienmitglieder  zu 
machen,  meistens  auch  die  hiezu  nöthige  ärztliche  Kenntniss  nicht  im 
entferntesten  vorhanden  ist.  Sieht  man  von  diesen  Schwierigkeiten  ab,  so 
treffen  nach  einer  neueren  Zusammenstellung  auf  je  10000  Einwohner 
Greisteskranke*): 

In  Preussen  (1871) 22,3 

„  Bayern  (1871) 24,7 

„   Sachsen    (1871) 20,8 

„   Thüringen  (1875) 20,3 

„   Frankreich  (1872) 15,7 

„   England  und  Wales  (1871) 30,* 

„   Schweiz  (1870) 29,i 

Man  hat  behauptet,  die  Geisteskrankheiten  würden  stets  häufiger, 
je  weiter  die  Civilisation  fortschreitet;  der  Wahnsinn  sei  ein  Kind  der 
Civilisation.  Diese  erschreckende  Behauptung  bedarf  indessen  noch  sorg- 
fältiger Zählungen  und  Vergleichungen ,  um  als  bewiesen  zu  gelten.  Die 
Zahl  der  in  den  Irrenanstalten  der  verschiedenen  Länder  aufbewahrten 
Geisteskranken  bietet  keinen  sicheren  Massstab.  Denn  die  Sorgfalt,  welche 
man  diesen  Unglücklichen  zuwendet,  ist  in  den  verschiedenen  Ländeni 
eine  verschiedene  und  gegenwärtig  weit  grösser  als  noch  vor  kurzer  Zeit. 

Im  Gegensatze  dazu  kommen  Andere  zu  dem  Resultat:  der  Wahn- 
sinn ist  kein  Kind  der  Ci^dlisation ;  selten  bei  den  Wilden,  ist  er  häufiger 
unter  halbgebildeten  Nationen,  als  in  den  civilisirtesten  Ländern  der  Erde. 

Untersuchungen  über  den  Einfluss  des  Religionsbekenntnisses  auf  die 
Geisteskranken  haben  noch  zu  keinen  entschiedenen  Ergebnissen  geführt. 

Auch  der  Einfluss  des  wirthschaftlichen  Charakters  des  Wohnortes 
war  nicht  zu  ermitteln.  Denn  nachdem  man  in  England  gefunden  hatte, 
dass  die  Ackerbaugegenden  mehr  Geisteskrankheiten  aufwiesen,  als  die 
Fabrikdistricte,  fand  man  in  Belgien  das  Gegentheil.  Man  hat  statistische 
Anhaltspunkte,  zu  vermuthen,  dass  Handel  treibende  Städte  und  Provinzen 
besonders  vom  Wahnsinne  heimgesucht  sind  und  dass  derselbe  bei  Städtern 
häufiger  vorkommt,  als  bei  Landbewohnern.  Die  beiden  Geschlechter  sind 
fast  gleich  stark  heimgesucht,  wenn  man  grössere  Massen  beobachtet.  In 
Deutschland,  Schottland,  Dänemark,  Norwegen,  Russland  fand  man  die 
männlichen  Irren  zahlreicher,  in  Holland  und  Frankreich  die  weiblichen. 
Es  scheint,  dass  die  Eitelkeit,  die  Leidenschaften  und  die  Libertinage, 
wo  sie  ausgebildet  sind,  das  weibliche  Geschlecht  dem  Wahnwitz  mehr 
aussetzen,  während  in  allen  Ländern,  wo  die  Frauen  die  Grenzen  ihres 
Wirkungskreises  nicht  überschreiten,  mehr  männliche  als  weibliche 
Irre  sind. 


Dauernde  körperliche  Fehler.  233 

Sorgfältige  Beobachtungen  haben  einen  entschiedenen  Einfluss  der 
Jahreszeit  aaf  den  Wahnsinn  nachgewiesen,  indem  die  Monate  Mai,  Juni, 
Juli  und  August  als  die  dem  Verstände  gefährlichsten  erkannt  wurden. 
Was  den  Einflugfe  des  Alters  betrifft,  so  scheint  es,  dass  der  Blöd- 
sinn der  Kindheit,  die  Manie  der  Jugend,  die  Melancholie  dem  reifen 
Lebensalter  und  der  Wahnsinn  dem  höheren  Alter  angehört.  Im  Allge- 
meinen ist  die  Zeit  vom  30.  bis  zum  40.  Lebensjahre  dem  Wahnsinne 
zumeist  ausgesetzt. 

Der  Familienstand  scheint  gleichfalls  nicht  ohne  Einfluss  auf  den 
Wahnsinn  zu  sein;  man  fand  nämlich  den  letzteren  häufiger  bei  ünver- 
heiratheten,  als  bei  Verheiratheten. 

Bezüglich  des  Einflusses  des  Berufs  haben  sorgfältige  Untersuchungen 
ergeben,  dass  die  höheren  Stäride  weniger  Irre  liefern  als  die  niederen, 
und  Gewerbe,  welche  die  Geisteskräfte  weniger  in  Anspruch  nehmen, 
mehr  als  geistige  Beschäftigung.  Die  Arbeit  des  Gedankens  schützt  also 
den  Gedanken  gegen  den  Wahnsinn. 

All  diese  Wahnsinnsursachen  fasst  man  unter  dem  Begriffe  der 
prädisponirenden  zusammen.  Zu  ihnen  treten  dann  noch  die  unmittelbar 
veranlassenden  Ursachen.  Auch  mit  ihnen  hat  die  Statistik  sich  be- 
schäftigt. Nach  einer  Zusammenstellung  von  1266  Fällen,  welche  man 
Esquirol  verdankt,  waren  veranlasst  durch  ^): 

Erbliche  Anlage 337 

Häusliche  Sorgen 278 

Ausschweifungen  aller  Art 146 

Missbrauch  geistiger  Getränke 134 

Vemiögenszerrüttuiig 49 

Schrecken 35 

Uebermässige  Geistesanstreugung 16 

Uebermässige  Freude ! t 

Die  übrigen  Fälle  hatten  andere  Ursachen,  welche  gleichfalls  als 
solche  erkannt  wurden,  aber  von  geringerem  Interesse  sind. 

Erblichkeit  und  häusliche  Sorgen  sind  demnach  weitaus  die  häutigsten 
veranlassenden  Ursachen;  die  rein  körperlichen  Ursachen  bedingen  nahezu 
die  Hälfte  aller  Fälle.  Als  bemerkenswerth  verdient  hervorgehoben  zu 
werden,  wie  gross  die  Zahl  derjenigen  Fälle  ist,  welche  als  selbstver- 
schuldete betrachtet  werden  müssen. 

Anmerkungen. 
*)  Block-v.  Scheel,  a.  a.  0,,  S.  249. 
')  Nach  Quetelet-Riecke,  a.  a.  0.,  S.  456. 

§.  130.  Dauernde  körperliche  Fehler. 

I.  Fehler  der  Sinnesorgane.  Die  Fehler  der  Sinnesorgane,  Blind- 
heit und  Taubstummheit,  sind  ein  Gegenstand,  hinsichtlich  dessen  man  mit 


234  Dauernde  körperliche  Fehler. 

mehr  Sicherheit  auf  zuverlässige  Erhebungen  rechnen  kann.  Nach  den- 
selben beträgt  in  den  meisten  europäischen  Staaten  die  Zahl  der  Blinden 
ungefähr  7 — 10,  jene  der  Taubstummen  durchschnittlich  6 — 12  Individuen 
auf  je  10000  Einwohner  i). 

Die  Zahl  der  Taubstummen  und  jene  der  Blinden  ist  demnach 
ziemlich  gleich.  Sie  finden  sich  unter  den  productiven  Altersclassen  nicht 
in  höherer,  sondern  eher  in  geringerer  Propoiüon  als  unter  den  un- 
productiven.  Die  Proportion  der  Taubstummen  pflegt  sehr  überwiegend  in 
den  jüngeren  Altersclassen  ungefähr  bis  zum  20.  Jahre  zu  sein  und  von 
da  an  in  den  höheren  Altersclassen  abzunehmen,  während  die  Zahl  der 
Blinden  in  den  jüngeren  Altersclassen  gering  ist  und  von  da  an  beständig 
zunimmt.  Die  Zahl  der  Blinden  und  jene  der  Taubstummen  zusammen  ist 
im  Verhältniss  zur  Bevölkerung  nicht  so  gross,  als  jene  der  Geisteskranken. 
Die  Zahl  der  Taubstummen  zeigt  ländei-weise  weit  grössere  Verschieden- 
heiten, als  jene  der  Blinden. 

Das  Heirathen  unter  Verwandten  ist  von  der  Statistik  als  eigen- 
thümliche  Krankheitsursache  beobachtet  worden.  Man  will  gefunden  haben, 
dass  die  Kinder  aus  Ehen  von  Verwandten  einen  ausnehmend  grossen 
Beitrag  zur  Zahl  der  Taubstunmien  stellen. 

In  Frankreich  beti'ägt  die  Zahl  der  Ehen  unter  Verwandten  kaum 
2^  aller  Ehen.  Dagegen  fand  man  unter  den  Taubstummen  zu  Lyon 
25^  der  Gesammtzahl  aus  solchen  Ehen  hervorgegangen,  unter  jenen  zu 
Paris  28  Jl^  und  jenen  zu  Bordeaux  30%. 

x^dere  Untersuchungen  haben  für  Bayern  gezeigt,  dass  unter  der 
protestantischen  Bevölkerung  die  Zahl  der  Taubstummen  nach  Verhältniss 
noch  einmal  so  gross  ist,  als  unter  der  katholischen,  was  gleichfalls  dem 
häufigeren  Heirathen  unter  Blutsverwandten  bei  den  Protestanten  zu- 
geschrieben wird. 

Diese  Theorie  ward  indessen  mehrfach  angegriffen. 

II.  Andere  Fehler  und  Gebrechen.  Der  Verlust,  welchen  die 
Kraft  der  Bevölkerung  durch  Schwächliche  und  Gebrechliche  verschiedener 
Art  erleidet,  ist  sehr  bedeutend.  In  Frankreich  und  Schweden  hat  man 
bei  den  Zählungen  verschiedene  Classen  von  Gebrechlichen  unterschieden. 
Damach  gab  es  in  Frankreich  i.  J.  1851  in  der  ganzen  Bevölkerung 
317133  Gebrechliche  oder  7,^  Procent. 

Dagegen  betrug  in  Schweden  die  Zahl  sämmtlicher  Gebrechlichen, 
Geisteskranken,  Taubstummen  und  Blinden  beinahe  l.s^  der  Gesammt- 
bevölkerung. 

Für  mehrere  Staaten  haben  die  Untersuchungen  der  militärdienst- 
pflichtigen jungen  Männer  nach  ihrer  Diensttauglichkeit  höchst  wichtige 
statistische  Daten    ergeben    und    zu    weiteren   Untersuchungen    veranlasst. 


Dauernde  körperliche  Fehler. 


235 


Die  Bedingungen  der  Militärtauglichkeit  sowohl  als  die  Genauigkeit  ihrer 
Ermittelung  sind  allerdings  in  den  verschiedenen  Ländern  sehr  abweichende, 
so  dass  die  Ergebnisse  der  Untersuchungen  sich  nicht  leicht  vergleichen 
lassen. 

Im  Durchschnitte  sind  von  allen  im  21.  Lebensjahre  stehenden 
Männern  59  ^  zum  Militärdienste  untauglich  und  zwar  22  ^  wegen 
Mangels  an  Körpermass  und  nahezu  37  ^  wegen  Krankheiten  und 
schwächlicher  Constitalion.  Von  1000  Militärpflichtigen  sind  durch- 
schnittlich nur  405  zum  Dienste  tauglich.  Wenngleich  die  übrigen  nicht 
geradezu  zur  Pi'oduction  untauglich  sind,  so  ist  immerhin  ihre  wirth- 
schaftliche  Kraft  nicht  in  dem  Maasse  anzuschlagen,  wie  die  der  dienst- 
tauglichen. 

Auinerkuug. 

')  Auf  100.000  Einwohner  treffen  (Anuaii  di  stat.  Ser.  1.  Vol.  10.  p.  65) 


Blinde 


Taub- 
stumme 


Idioten 


Narren 


Italien 

Deutsches  Reich 

Grossbritanuieu 

Dänemark    (mit   Island  und 

Faröem) 

Norwegen 

Schweden 

Finland 

Gestenreich  (diesseits)     .   •    . 

Ungarn 

Schweiz 

Niederlande 

Belgien 

Frankreich 

Spanien 

Vereinigte  Staaten   .  .  .  . 
Argentiua 


105 

87 
98 

78 

136 
80 

%U 
55 

120 
76 
44 
81 
83 

112 
52 

202 


74 
96 
57 

62 
92 

102 

? 
96 

134 

245 
33 
43 
62 
69 
42 

380 


65 
139 

129 

83 
119 

39 
? 
? 
119 

9 
? 
50 
114 

9 

63 
242 


99 

88 

178 

134 
185 
176 
? 
? 
85 
? 
? 

92 
146 
? 

97 
229 


Drittes  Buch. 


Wirthschaftliche  Statistik. 


Uebersiclit 


§.  131.  Die  Statistik  wirthschaftliclieii  Lebens  überhaupt. 

Von  den  Wechselbeziehungen  der  Statistik  und  der  Nationalökonomie 
war  schon  fiiiher  (§.  44)  die  Rede.  Die  wirthschaftlichen  Verhältnisse 
eines  Einzelnen  sowohl,  als  einer  Corporation,  eines  Volkes  oder  Staates 
eignen  sich  ganz  besonders  zur  ziffermässigen  Darstellung  und  Verarbeitung. 
Die  Nationalökonomie  hat  deshalb  längst  von  der  statistischen  Methode 
Gebrauch  gemacht;  ja  man  kann  geradezu  behaupten,  sie  habe  der  Statistik 
die  Verarbeitung  der  von  letzterer  erhobenen  Daten  völlig  aus  den  Händen 
gewunden.  Der  Grund  ist  sehr  einfach.  Während  die  den  anderen  Kreisen 
des  menschlichen  Lebens  angehörenden  Massenerscheinungen,  wenn  sie 
beobachtet  und  ziffermässig  dargestellt  sind,  noch  vielfach  verwickelter  und 
mühsamer  Behandlung  unterstellt  werden  müssen,  ehe  sie  zur  Auffindung 
von  Regelmässigkeiten,  zur  Erkennung  der  Ursachen  und  Gesetze  fuhren, 
sprechen  die  wirthschaftlichen  Zahlen  beinahe  von  selbst  und  drängen  dem 
Beobachter  eine  Bemerkung  nach  der  anderen  auf. 

Man  findet  daher  in  den  besten  nationalökonomischen  Werken  eine 
Fülle  statistischen  Materiales.  Nun  arbeitet  allerdings  die  Nationalökonomie 
nicht  nur  nach  der  statistischen  Methode,  sondern  sie  bedient  sich  zur 
Herstellung  ihrer  Grundsätze  auch  geschichtlicher  Thatsachen  und  psy- 
chologisc)ier  Speculation.  Lässt  man  jedoch  das,  was  diesen  Methoden 
angehört,  beiseite,  so  lassen  sich  schon  aus  der  vorhandenen  reichen 
volkswirthschaftlichen  Literatur  die  Grundzüge  einer  volkswirthschaftlichen 
Statistik  construiren.  Diese  mag  dann  das  Ziffernmaterial  aus  dem  sinne- 
verwirrenden Reichthum  von  Zahlen  ergänzen,  der  Tag  ffir  Tag  auf  wirth- 
schaftlichem  Gebiete  emporwächst. 

Dabei  ist  die  praktische  Bedeutung  der  wirthschaftlichen  Statistik 
eine  unberechenbar  grossartige.  Die  Zahlenangaben  über  Production,  Umsatz, 
Vertheilung,  Besitz  und  Verbrauch  in  jedem  Volke  sind  heutzutage  unent- 
behrlich geworden.  Sie  dienen  dazu,  wirthschaftliche  Lehrsätze  zu  beweisen, 


240  Grnppirnng  der  Aufgaben  der  wirthschaftlichen  Statistik. 

neue  Gesetze  aufzufinden,  der  Staatsgewalt  die  Richtung  wirthschaftspoli- 
tischer  Thätigkeit  anzudeuten  und  Aufschlüsse  über  die  Zweckmässigkeit 
wirthschaftspolitischer  Massregeln  zu  geben.  Dies  ist  besonders  dann  der 
Fall,  wenn  reichhaltiges  Material  zur  Vergleichung  benützt  werden  kann, 
Material  aus  verschiedenen  räumlichen  und  zeitlichen  Gebieten. 

Wie  einerseits  die  Statistik  für  die  Nationalökonomie,  so  ist  auch 
diese  fiir  jene  unentbehrlich.  Sie  gibt  der  ökonomischen  Statistik  die  Ge- 
sichtspunkte, nach  welchen  die  Thatsachen  gesammelt,  geordnet  und  ver- 
glichen werden  müssen. 

§.  132.  Oruppirung  der  Aufgaben  der  wirthschaftlichen  Statistik. 

Folgt  man  der  gebräuchlichen  Art,  nach  welcher  die  Nationalöko- 
nomie ihren  Stoff  in  Gruppen  theilt,  so  ergibt  sich  fiir  die  statistische  Be- 
handlung des  volkswirthschaftlichen  Lebens  etwa  folgende  Gruppining. 
I.  Production  der  Güter  (im  engeren  Sinne): 

1.  Die  allgemeinen  Bedingungen  der  Production,  soweit  sie 
statistisch  erfassbar  sind.  Dies  ist  nur  in  beschränkten  Masse 
der  Fall. 

Als  Gegenstände  der  Betrachtung    erscheinen  demnach  zu- 
nächst: (I.  Cap.) 

A.  Die  Natur, 

B.  Die  Arbeit, 

C.  Das  Capital. 

2.  Die  Hauptzweige  der  Production,  und  zwar: 

A.  Land-  und  Forstwirthschaft.  (Cap.  IT.) 

B.  Industrielle  Gewerbe.  (Cap.  ITI.) 

II.  Circulation.  Das  grosse  Gebiet  der  Statistik  des  Handels  und  Ver- 
kehrs zerfällt  naturgemäss  in  folgende  Gruppen: 

1.  Statistik  der  Preise.  (Cap.  IV.) 

2.  Statistik  des  Transportwesens.  (Cap.  V.) 

3.  Statistik  des  Handels.  (Cap.  VI.) 

III.  Das  Volkseinkommen  und  seine  Vertheilung.  (Cap.  VII.) 

1.  Volkseinkommen  und  Volksvermögen  überhaupt.  Höhe  und  Be- 
wegung desselben. 

2.  Die  Vertheilung  des  Volkseinkommens.     Die  Einkommensclassen. 

IV.  Die  Consumtion  der  Güter.  Stand  und  Gang  der  Consumtion  über- 
haupt, sowie  der  wichtigsten  Consumtionsgegenstände.  (Cap.  VIII.) 

V.  An  diese  Betrachtungen  muss  sich  als  letzte  schliessen  eine  Betrach- 
tung über  das  Verhältniss  zwischen  der  Bevölkerung  und 
dem  wirthschaftlichen  Leben  derselben.  (Cap.  IX.) 


Die  Natur  and  ihre  Prodncte.  241 


I.  CapitelJ 

Allgemeine  Bedingungen  der  Production^ 


I.  §.  133.  Die  Hattir  und  ilire  Prodtiote. 

I.  Die  Oberfläche  der  Erde  bietet  nur  in  beschränkter  Hinsicht 
statistisches  Material,  ebenso  ihr  Inhalt. 

Auch  hier  haben  wir  zwar  Massenerscheinungen  vor  uns.  Aber  diese 
Erscheinungen  sind  entweder  unveränderlicher  Natur  oder  sie  ändern  sich 
so  langsam,  dass  sie  fast  als  unveränderliche  erscheinen.  Die  meisten  ge- 
statten keinerlei  Aufsuchung  statistischer  Ursachen  und  Regelmässigkeiten, 
sondern  blos  einzelne  Vergleichungen. 

Da  indessen  die  Erde  doch  einmal  der  Raum  ist,  auf  welchem  die 
wechselnden  Grössen  des  Völkerlebens  sich  bewegen,  so  ist  es  immerhin 
gerechtfertigt,  dasjenige  an  ihr  aufzusuchen,  was  mit  den  statistischen 
Erscheinungen  des  Völkerlebens  im  nächsten  Zusammenhange  steht.  Die 
Statistik  hat  mit  der  Geographie  ein  gemeinsames  Grenzgebiet,  welches 
sie  nicht  unbetreten  lassen  kann.  Eine  Reihe  von  statistischen  Erschei- 
nungen lassen  sich  nur  dann  in  ihrem  Wesen  und  in  ihren  Veränderungen 
erfassen,  wenn  man  sie  als  Wirkungen  geographischer  Unterschiede  be- 
trachtet; wenn  man  die  Naturmächte  als  die  wirkenden  Ursachen  erkennt, 
auf  welchen  das  Völkerleben  sich  aufbaut. 

Die  Gesammtoberfläche  der  Erde  beträgt  nach  den  Berechnungen 
BessePs  9,261.203  geogr.  Q.-Meilen;  ihr  Kubikinhalt  ungefähr  2650  Mill. 
Kubikmeilen. 

Diesen  unveränderlichen  Grössen  gegenüber  steht  die  Menschheit  als 
eine  der  Grösse  nach  veränderliche.  Bedenkt  man  jedoch,  dass  Oberfläche 
und  Inhalt  der  Erde  je  nach  den  wirthschaftlichen  Fortschritten  der 
Menschheit  in  einem  verschiedenen  Grade  zugänglich  und  ausbeutungs- 
fähig sind,  so  erscheint  auch  die  Grösse  des  Spielraumes  und  Arbeits- 
feldes, welcher  der  Menschheit  zugewiesen  ist,  als  eine  nicht  ganz  unver- 
änderliche. 

In  welchem  Verhältnisse  jedoch  Weltgrösse  und  Menschenzahl  zu 
einander  stehen  müssten,  wenn  die  Aufgaben  der  Menschheit  die  möglichst 
befiriedigende  Lösung  finden  sollen:  das  ist  eine  Frage,  welche  sich  in 
dieser  Allgemeinheit  auch  nicht  im  entferntesten  beantworten  lässt. 

IL  Von  Wichtigkeit  für  die  Beziehungen  der  Erde  zum  Völkerleben 
ist  der  Unterschied  von  nutzbarer  und  nicht  nutzbarer  Erdfläche.  Von 
der  gesammten  Erdoberfläche  dürften  nur  ungefähr  2,360.000  Q.-Meilen 
bewohnbar  sein;  das  übrige  theils  Meer,  theils  öde  Eiswüste. 

Haushofer,  Statistik.  2.  Aufl.  .  {Q 


242  Die  Natnr  und  ihre  Produete. 

ni.  Das  Verhältniss  der  Länderfläche  zur  Ausdehnung  der  Kü- 
stenlinien ist  ebenfalls  von  Bedeutung.  Bei  Ländern  mit  ausgedehnter 
Küstenentwicklung  lassen  sich  die  umgebenden  Meerestheile  in  höherem 
Grade  als  nutzbar  betrachten;  es  wird  durch  die  Küstengliederung  der 
Lebensspielraum  der  Völker  vergrössert.  Das  Maass  dieser  Vergrösserung 
ist  jedoch  nicht  zu  bestimmen. 

IV.  Die  verticale  Bodengliederung  steht  zwar  ebenfalls  mit 
dem  Leben  der  Völker  in  einem  ganz  innigen  Zusammenhange,  doch  ist 
keine  ziffermässige  Behandlung  im  Stande,  diesen  Zusammenhang  im  Ganzen 
zu  verfolgen,  dessen  einzelne  Fäden  da  und  dort  Erwähnung  finden.  Hi-er 
mag  nur  flüchtig  darauf  hingewiesen  werden,  wie  die  Meereshöhe  und 
Oberflächengestalt  der  Länder  nothwendig  auf  Klima,  Production  und 
Verkehr,  damit  aber  auch  auf  die  ganze  Culturentwicklung  der  Völker 
einwirken  muss;  wie  die  höheren  Lagen  immer  weniger  Anbau  und  be- 
ständigen Wohnsitz  gestatten,  je  mehr  sie  sich  der  Schneegrenze  nähern; 
wie  dagegen  die  Gebirge  andererseits,  als  Bewahrer  und  Spender  von 
Feuchtigkeit,  auf  das  Culturleben  ihrer  verschiedenen  Stromgebiete  wirken ; 
wie  die  Kammhöhen  der  Gebirge  nebst  Wüsten  und  Meeren  die  grossen 
natürlichen  Grenzen  des  Völkerlebens  und  Verkehrs  bilden.  All  das  sind 
Cardinalfragen  für  die  vergleichende  Geographie;  dieselbe  wird  aber  bei 
der  Behandlung  dieser  Fragen  geeigneten  Ortes  auch  Ziffern  heranziehen 
und  hiemit  in  das  Gebiet  der  Statistik  hereintreten. 

V.  Die  Ausstattung  der  Erde  und  ihrer  einzelnen  Theile  mit 
nutzbaren  Mineralien,  sowie  mit  Pflanzen  und  Thieren,  gestattet  gleichfalls 
quantitative  Untersuchung.  Doch  ist  letztere  durch  die  glücklicherweise 
enorme  Fülle  dieser  Naturgestaltungen  sehr  erschwert. 

Ueber  die  Verbreitung  nutzbarer  Mineralien  durch  die,  dem 
Menschen  zugänglichen  Theile  der  Erdrinde,  gibt  die  Statistik  der  Mon- 
tanproduction  Aufschlüsse. 

Beobachtet  man  die  quantitative  Vertheilung  der  Pflanzen  über 
die  Erdoberfläche,  so  kann  man  wohl  von  einer  Statistik  der  Pflanzen 
sprechen.  Sie  schliesst  sich  innig  an  die  klimatische  Statistik  an.  Das 
vegetabilische  Leben  hängt  in  seiner  Verbreitung  ebensowohl  von  der 
geographischen  Lage,  als  von  der  absoluten  Höhe  ab.  Zunächst  ergibt  sich 
eine  ungleiche  numerische  Vertheilung  der  Pflanzenspecies  durch  die  ver- 
schiedenen Klimate.  Die  Botaniker  berechnen  gegenwärtig  die  Zahl  sämmt^ 
lieber  Pflanzenspecies  auf  der  Erde  zu  ungefähr  250000,  von  welchen  bis 
jetzt  etwa  75000  beschrieben  sind,  darunter  gegen  50000  Dikotyledonen, 
ungefähr  12000  Monokotyledonen  und  etwa  13000  Zellenpflanzen  *).  Im 
Allgemeinen  nimmt  die  Zahl  der  Pflanzenarten  von  den  Polen  gegen  den 
Aequator  zu.  So  hat  z.  B.  die  Insel  Spitzbergen  gegen  30  Pflanzenai*ten, 


Die  YjBlker  Kindev  ihrer  Natur.  243 

Novaja  Semlja  90  Arten  Phanerogamen  und  etwa  die  Hälfte  Arten 
Kryptogamen,  Lappland  etwa  500  Phanerogamen  uid  600  Kryptogamen, 
Frankreich  dagegen  schon  3600  Phan.  und  2300  Krypt.  —  Ganz  Europa 
hat  etwas  ü^er  7000  Phanerogamen;  aus  Ostindien  dagegen  sind  allein 
schon  mehr  als  6000  durch  die  Sammlungen  der  ostindischen  Compagnie 
bekannt  geworden. 

Die  Pflanzen  sind  besser  als  die  physikalischen  Instrumente  Yer- 
künder  des  wahren  Klimas.  Das  Pflanzenleben  hängt  namentlich  in  mitt- 
leren und  höheren  Breiten  von  der  mittleren  Jahrestemperatur  (die  nur 
an  vollkommen  die  wahren  klimatischen  Verhältnisse  charakterisirt)  weniger 
ab,  als  von  der  Temperatur  der  einzelnen  Jahreszeiten,  und  zwar  gerade 
von  den  Extremen  derselben. 

Von  besonderer  Wichtigkeit  sind  jene  Pflanzen,  welche  von  Menschen 
angebaut  werden,  und  zwar  namentlich  die  Cerealien  aus  der  Familie  der 
Gräser.  Diese  Familie  umfasst  an  4000  Arten;  aber  noch  nicht  20  von 
denselben  sind  zur  Nahrung  für  den  Menschen  cultivirt. 

Unter  den  europäischen  Cerealien  steht  der  Weizen  obenan;  seine 
Polargrenze  ist  zumeist  yon  der  mittleren  Sommerwärme  (weniger  von  der 
mittleren  Jahrestemperatur)  abhängig.  Die  Vervielfältigung  der  Aussaat 
nimmt  gegen  die  Pole  hin  ab.  In  Mitteleuropa  (Frankreich)  beträgt  die 
Ernte  durchschnittlich  das  5 — 6fache  der  Aussaat,  in  Ungarn,  Kroatien 
und  Slavonien  das  8 — lOfache,  in  Sicilien  das  10 — 12fache,  dagegen  in 
den  Aequatorialgegenden  von  Mexiko  das  25 — 34fache. 

Geht  man  noch  weiter,  zu  einer  statistischen  Beobachtung  der  Ver- 
breitung der  Thierwelt  über  die  verschiedenen  Theile  der  Erde,  und  zwar 
besonders  der  nutzbaren  Thiere,  so  findet  sich  auch  hier  ein  Uebergang 
von  der  Naturstatistik  zur  wirthschaftlichen  Statistik.  Dieser  Uebergang 
ist  ein  allmäliger;  die  typischen  Erscheinungen  der  Natur  werden,  je  mehr 
sie  dem  Menschenleben  näher  treten,  individueller;  und  die  Beobachtungen 
müssen  wegen  der  stets  sich  mehrenden  Ausnahmen  von  den  Regeln  immer 
zahlreicher  werden. 

Anmerkung. 

^)  Dioskorides  und  Galenus  kannten  höchstens  600  Pflanzen,  Linne  8000; 
gegen  das  J.  iMt  waren  30000,  im  J.  1837  gegen  60000,  1849  gegen  100000 
Species  beschrieben.  (Buckle,  a.  a.  0.)  Ein  hübscher  statistischer  Beweis  für  den 
Fortschritt  der  Naturwissenschaften,  wenn  derselbe  noch  uöthig  wäre! 

§.  134.  Die  Völker  Kinder  ihrer  Natur. 

Zwischen  der  ziffermässigeh  Betrachtung  der  Naturgestaltungen  und 
der  ziffermässigen  Betrachtung  des  heutigen  Volks-  und  Gesellschaftslebens 
ist  eine  Lücke,  welche  durch  keine  Quantitätsbeobachtungen  mehr  ausge- 

16* 


244  Die  Völker  Kinder  ihrer  Natur. 

fällt  werden  kann.  Diese  Lücke  wird  durch  die  Entwickelungsgeschichte 
der  Menschheit  gebildet.  Die  Statistik  kann  zwar  in  mancher  Hinsicht 
Aufklärung  über  den  Zusammenhang  des  heutigen  Gesellschaftslebens  mit 
der  äusseren  Natur  bieten;  aber  zu  untersuchen,  wie  die  Menschheit  aus 
der  Natur  herauswächst  und  ihr  als  Neues  gegenübertritt:  das  ist  Auf- 
gabe anderer  Disciplinen.  An  dieser  Aufgabe  haben  Paläontologie,  Ana- 
tomie und  Physiologie,  Anthropologie,  Ethnographie,  prähistorische  und 
historische  Forschung  gearbeitet.  Mancher  von  den  Schleiern,  die  über 
der  Anthropogenie  gelegen  sind,  ist  wohl  da  und  dort  gelüftet  worden; 
aber  es  existiren  für  eine  Reihe  der  wichtigsten  Fragen  noch  wenig  oder 
keine  Anhaltspunkte. 

Dass  das  Völkerleben  von  der  Natur  ganz  wesentlich  beeinflusst 
wird,  dafür  haben  wir  unzählige  Beweise.  Indem  die  Natur  die  Bedin- 
gungen des  Lebens  und  des  menschlichen  Verkehrs  höchst  ungleichmässig 
über  die  Erde  vertheiH  hat,  hat  sie  Welttheile,  Länder  und  Landstriche, 
Völker  und  Völkertheile  auf  gewisse  Arbeiten,  Wirthschaftsmethoden,  Le- 
benssitten hingewiesen.  Sie  hat  die  Bewohner  einzelner  Landstriche  zur 
Fischerei  und  Seefährt  veranlasst;  andere  Menschengruppen  zur  Benützung 
von  Waldproducten  und  jagdbaren  Thieren ;  andere  zur  Viehzucht  in  weit- 
gedehnten Grasfluren,  einige  zur  Gewinnung  werthvoller  Mineralschätze; 
andere  zum  Anbau  ihres  fruchtbaren  Bodens.  Häufig  hat  sie  diese  ver- 
schiedenen Veranlassungen  zur  Thätigkeit  combinirt  und  durch  solche 
Combinationen  die  Resultate  zur  reichsten  Mannigfaltigkeit  gebracht.  Offen- 
bar muss  sich  das  Leben  eines  Volkes  ganz  anders  gestalten,  je  nachdem 
es  ausschliesslich  auf  den  Landbäu  angewiesen  ist,  oder  je  nachdem  sich 
damit  die  Gelegenheit  zur  Jagd,  zur  Seefahrt  u.  s.  w.  verbindet.  Es  be- 
darf keines  Beweises  mehr,  dass  die  mannigfache  Gestaltung  der  Länder, 
ihre  Höhenlagen,  Küstengliederung,  ihre  Flüsse,  ihr  Klima  u.  a.  die  Ge- 
schichte der  Völker,  welche  sie  später  bewohnen  sollten,  vorausbestimmt 
haben,  ehe  der  erste  Mensch  sie  betrat.  Aber  ebenso  gewiss  ist,  dass 
diese  dauernde  Einwirkung,  der  Natur  doch  nicht  im  Stande  ist,  den 
freien  Willen  des  Menschen  im  Kampf  tims  Dasein  aufzuheben.  Auch 
der  Grad  der  Einwirkung^  welche  die  Natur  auf  den  Menschen  nimmt, 
ist  ungemein  verschieden;  verschieden  in  den  verschiedenen  Zeiten  der 
Menschengeschichte;  so  verschieden,  als  eben  die  Gestaltung  der  Länder 
ist.  Und  zu  dieser  Verschiedenheit  kommen  die  auf  der  Bethätigung  des 
freien  Willens  beruhenden  Unterschiede  der  menschlichen  Lebensweise. 
Weil  der  Mensch  trotz  aller  jener  natürlichen  Einflüsse  doch  seinen  freien 
Willen  bewahrt,  ist  er  im  Stande,  seinerseits  in  der  mannigfachsten  Weise 
auf  die  Natur  einzuwirken.  Dass  der  Einfluss  der  Natur  kein  alleinherr- 
schender ist,  sondern  dass  neben  ihm  andere  im  freien  Willen  der  Völker 


} 


Die  Arbeit.  245 

liegende  Mächte  einen  gewaltigen  Zug  ausüben,  zeigt  sich  darin,  dass 
Völker  mit  fast  gleichen  Lebensbedingungen  doch  ganz  verschiedene  Ent- 
wickelung  nehmen;  dass  auf  einem  und  demselben  Boden  im  Laufe  der 
Jahrhunderte  Culturzustände  erwachsen,  die  grundverschieden  sind,  und  fiir 
deren  Verschiedenheit  sich  als  Ursache  nicht  etwa  die  veränderte  Natur, 
wohl  aber  die,  durch  einzelne  Menschen  getragene  und  veränderte  Geschichte 
erkennen  lässt.  Wer  wollte  es  läugnen,  dass  die  Macht  des  Menschen 
über  die  Natur  beständig  im  Zunehmen  ist?  Ebenso  gewiss  ist  aber  auch, 
dass  diese  Macht  ein  Resultat  der  Geistesthätigkeit,  und  diese  wiederum 
ein  Product  des  freien  Willens  der  Einzelnen  ist. 

So  besteht  einerseits  ein  beständiger  Einfluss  der  Natur  auf  den 
Mengchen,  andererseits  ein  Gegendruck  des  Menschengeistes.  Der  Einfluss 
der  Natur  hat  das  Bestreben,  ein  gleichförmiger  zu  sein;  der  Einfluss  des 
Menschen  auf  die  Natur  dagegen  ist  ungleichförmig,  weil  er  nicht  von 
einem  gleichbleibenden  Durchschnitt  der  Menschheit  ausgeübt  wird,  son- 
dern zumeist  von  einzelnen,  geistig  und  willenskräftig  hervorragenden 
Menschen. 

II.  §.  135.  Die  Arbeit. 

Die  menschliche  Arbeit  bietet  der  Statistik  ein  imposantes  Beob- 
achtungsfeld, welches  von  ihr  im  Ganzen  noch  nicht,  wohl  aber  hinsicht- 
lich einzelner  Theile  in  Angrifi'  genommen  ist.  Von  den  Ursachen,  welche 
die  verschiedenartige  Entwickelung  der  menschlichen  Arbeit  bei  den  ein- 
zelnen Völkern  und  Berufsclassen  bedingen,  welche  auch  dominirend  auf 
den  Erfolg  der  Arbeit  einwirken,  werden  einige  wohl  immerdar  einer 
ziffermässigen  Betrachtung  sich  entziehen.  So  namentlich  die  verschieden 
wirkenden  Motive  der  Arbeit  und  die  national  und  nach  Ständen  eben- 
falls verschieden  geartete  Arbeitslust.  Was  von  den  Erscheinungen,  die 
das  Arbeitsleben  der  Culturvölker  zeigt,  zifi^ermässig  erfassbar  ist,  dürfte 
ungefähr  Folgendes  sein: 

L  Die  nationale  Arbeitskraft.  Sie  hängt  theils  ab  von  der 
durchschnittlichen  Arbeitskraft  aller  Einzelnen,  theils  von  dem  Verhältniss 
der  Ajrbeiterzahl  zui*  Gesammtbevölkerung. 

Die  durchschnittliche  Arbeitskraft  der  Einzelnen  wird  wieder  beein- 
flusst  durch  das  Geschlecht  und  Alter,  die  Gesundheit  des  Menschen, 
durch  die  Race,  der  er  angehört,  und  das  Klima,  in  dem  er  arbeitet. 
Massenhafte  Untersuchungen,  mit  dem  Dynamometer  angestellt,  würden 
übiar  das  Maass  dieser  Einflüsse  genaue  Auskunft  geben  können. 

Das  Verhältniss  der  eigentlich  arbeitenden  Angehörigen  eines  Volkes 
zur  Gesammtbevölkerung  lässt  sich  zifi'ermässig  kaum  feststellen.  Die  Zahl 
der  Kinder  und  der  Greise  gibt  hiefür  noch  lange  nicht  genügende  An- 


246  Die  Arbeit. 

haltspunkte;  deRn  es  ist  iiir  keinen  Beruf  eine  Altersstufe  fixirt,  bei 
welcher  die  Arbeitsfähigkeit  anfangt  und  aufhört.  Der  Unterschied  von 
productiven  und  unproductiven  Lebensjahren  ist  ein  ziemlich  willkürlicher 
und  kann  höchstens  einige  Bedeutung  bei  internationalen  Vergleichen 
haben. 

Mit  dieser  Reserve  und  in  der  Erwägung,  dass  die  eigentliche  Bil- 
dung des  Volkseinkommens  Aufgabe  der  Männer  im  productiven  Alter 
ist,  mag  immerhin  das  Verhältniss  der  Zahl  arbeitsfähiger  Männer  zur 
Zahl  der  Frauen,  Greise  und  Kinder  zusammen  ein  gewisses  Interesse 
bieten.  Im  Deutschen  Reiche  stellt  sich  dieses  Verhältniss  so,  dass  auf 
1000  Männer  in  productiven  Jahren  2282  Frauen,  Kinder  (unter  15  J.) 
und  Greise  (über  70  J.)  treffen.  Besonders  günstig  stellt  sich  die -Ziffer 
in  Berlin,  nämlich  1000  :  1740;  am  günstigsten  unter  den  deutschen 
Ländern  im  rechtsrheinischen  Bayern  (1000:2159);  am  ungünstigsten 
in  Posen  (1000  :  2627)  und  den  übrigen  östlichen  Theilen  Preussens. 

Thatsächlich  ruht  jedoch  die  Bildung  des  Volkseinkommens  bei 
weitem  nicht  allein  auf  den  Schultern  der  Männer  im  productiven  Alter, 
sondern  auch  Frauen  und  selbst  Kinder  betheiligen  sich  daran.  Der  Grad 
dieser  Betheiligung  jedoch  ist  fast  überall  anders  und  hängt  wesentlich 
zusammen  mit  der  Art  der  vorherrschenden  Erwerbszweige,  bezüglich  der 
Kinder  selbst  mit  der  Ausdehnung  des  schulpflichtigen  Alters.  Wo  gewisse, 
auch  den  Frauen  und  Kindern  leicht  zugängliche  Erwerbszweige,  z.  B. 
Textilindustrie  verbreitet  sind,  wird  die  Betheiligung  der  Frauen  und  Kin- 
der an  der  Einkommensbildung  eine  weit  lebhaftere;  sie  muss  vor  Allem 
eine  ganz  andere  auf  dem  Lande  sein  als  in  den  Städten. 

II.  Die  Arbeitsgeschicklichkeit.  Die  blosse  physische  Arbeits^ 
kraft  würde,  selbst  wenn  sie  vollständig  zur  Ziffer  gebracht  werden  könnte, 
doch  keinen  zuverlässigen  Einblick  in  die  Leistungsfähigkeit  der  Völker 
gestatten,  weil  die  letztere  ja  zum  grossen  Theile  auch  von  der  Ausbil- 
dung dieser  Kraft,  von  der  Arbeitsgeschicklichkeit,  bedingt  wird.  Von 
den  verschiedenen  Merkmalen  der  Arbeitsgeschicklichkeit  ist  jedoch  kaum 
Eines  der  ziffermässigen  Beobachtung  zugänglich;  am  ehesten  die  Quan- 
tität von  Producten,  welche  ein  Arbeiter  in  bestimmter  Zeit  verfertigen, 
oder  die  Zahl  von  Apparaten,  welche  er  bedienen  kann.  Bei  vielen  Indu- 
striezweigen ist  dieser  Massstab  anwendbar  und  wird  wirklich  angewendet. 
Man  darf  aber  auch  hier  nur  wirklich  Gleichartiges  vergleichen.  So  könnte 
es  wohl  als  ein  deutliches  Mass  der  verschiedenen  Arbeitsgeschicklichkeiten 
erscheinen,  dass  tiir  1000  Baumwollspindeln  in  England  10,  in  den  schwä- 
bischen Fabriken  11,  in  der  Schweiz  12,  in  Frankreich  14,  in  ganz 
Deutschland  20  und  in  Oesterreich- Ungarn  21  Arbeiter  zur  Bedienung 
erforderlich  sind  —  vorausgesetzt,  dass  die  Umstände,  unter  welchen  diese 


Die  ArbeH. 


247 


Arbeiter  arbeiten,  überall  die  gleichen  wären.  Das  ist  jedoch  nicht  der 
Fall,  da  die  Technik  und  die  Beschaffenheit  des  Productes  grosse  Un- 
gleichheiten haben. 

ni.  Die  Hilfsmittel  der  Arbeit:  Werkzeuge,  Arbeitsthiere,  Ma- 
schinen. Von  ihnen  sind  lediglich  die  Arbeitsthiere,  sofern  sich  ihre  Menge 
aus  Viehzählungen  ergibt,  und  die  Dampfmaschinen  mit  Zuverlässigkeit 
zur  Ziffer  zu  bringen.  Schon  vor  längeren  Jahren  wurde  in  den  europäi- 
schen Culturstaaten  die  Gesammtheit  der  menschlichen  Arbeitskräfte  von 
derjenigen  der,  im  Dienste  des  Menschen  verwendeten  Naturkräfte,  wenn 
man  beide  Arten  auf  ein  einheitliches  Maass  reducirte,  bei  weitem  über- 
troffen. Heutzutage  stellt  sich  das  Verhältniss  noch  ungleich  günstiger,  da 
immer  zahlreichere  Arbeitskräfte  der  Natur  in  den  Dienst  des  Menschen 
gezwungen  werden. 

Die  Dampfmaschinen  bilden  zwar  einen  Bestandtheil  des  nationalen 
Gapitals,  mögen  aber  doch,  als  die  wichtigsten  Hilfsmittel  der  mensch- 
lichen Arbeit,  schon  hier  Beachtung  finden. 

In  den  wichtigsten  Staaten  stellt  sich  die  Zahl  der  Maschinen  und 
ihrer  Pferdestärken  wie  folgt  (nach  Engel:  das  Zeitalter  des  Dampfes. 
Zeitschr.  d.  preuss.  stat.  Bureau  1879  und  1880): 


Länder 

Dampf- 
maschinen 

Pferdestärken 

in 

Bergbau, 

Industrie 

und 

Landwirth- 

schaft 

im 
Transport- 
wesen 

Zu- 
sammen 

Deutsches  Reich    .  (1877/78) 
Oesterreich  (diesseits)    (1876) 

Frankreich (1878) 

Schweiz (1877) 

Belgien (1878) 

Grossbritann.  u.  Irland  (1878) 
Verein.  Staaten    .   .   .  (1871) 

54631 
12390 
47559 

? 
13230 

? 

? 

1,320647 
157279 

492418 

20000 

? 

2,000000 

1,987000 

3,038730 
1,117797 
2,531086 

? 

? 
4,986000 
5,505900 

4,359377 
1,275076 
3,024450 
? 
568139 
6,986000 
7,492900 

Es  gibt  wohl  keine  Ziffer,  welche  ein  sprechenderes  Bild  der  indu- 
striellen Entwickelung  eines  Landes  bieten  könnte,  als  die  Zahl  und 
Leistungsfähigkeit  seiner  Dampfmaschinen. 

Allenthalben  sind  die  Maschinen  in  einer  Zunahme  begriffen,  welche 
diejenige  der  Bevölkerung  ganz  unverhältnissmässig  übertrifft.  Diejenige 
körperliche  Arbeit,  welche  vom  Menschen  gethan  werden  muss,  bleibt 
immer  weiter  zurück  hinter  derjenigen,  welche  von  den  Naturkräften  in 
der  Gestalt  von  Maschinen  für  ihn    gethan   wird.    So   lange   die   Lager 


248  Die  Arbeit. 

mineralischer  Brennstoffe,  welche  die  arbeitende  Kraft  der  Maschinen  er- 
zeugen, vorhalten,  findet  demnach  eine  beständige  Emancipation  des  Men- 
schen von  körperlicher  Arbeit  statt,  welcher  allerdings  eine  fortwährende 
Steigerung  der  geistigen  Leistung  entspricht. 

Verwendung  der   Dampfmaschinen  in    den    verschiedenen 
Arbeitszweigen: 

I.  Im  deutschen  Reiche: 

Maschinenz&hl 

Land-  und  Forstbau,  Gärtnerei 4247 

Bergbau,  Hütten,  Salinen 10849 

Industrie  der  Steine  und  Erden 2186  - 

Metallverarbeitung 1929 

Maschinenbau  u.  dgl 3088 

Chemische  Industrie 1423 

Industrie  der  Heiz-  und  Leuchtstoffe      ..,.*..    1076 

Textilindustrie 6235 

Papier-  und  Lederindustrie 1830 

Holz-  und  Schnitzindustrie 2613 

Nahrungsmittelindustrie 11865 

Industrie  der  Bekleidung  und  Reinigung 524 

Baugewerbe 465 

Polygraphische  Gewerbe 551 

Künstlerische  Betriebe  für  Gewerbe 24 

Handelsgewerbe 104 

Verkehr  (ausschliessl.  Dampfschiffe  und  Locomotiven)    1449 

Beherbergung,  Erquickung .-..        17 

Häusliche  Zwecke 296 

Gemischte  und  unbestimmte  Zwecke  ........    2762 

Dampfschiffe 1099 

Locomotiven 110398 

Es  ergibt  dies  eine  Gesammtsumme  von: 

Maschinen  mit  Pferdestärken 
In  der  Industrie  und  Landbau  etc.: 

Feststehende 44.447  1,247.000 

Bewegliche 9.085  73.647 

Privat-Dampfschiffe  (1073) 1.099  179.280 

Locomotiven 10.398  2,859.450 

Hiezu  noch  Kriegsdampfer  (92)   ...       141  151.260 

65.170  4,510.637 


Die  BerufiiclMBen  der  BeTöIkemng. 


249 


In  Oesterreich  (ohne  Ungarn,  1875): 
Verwendung 

Landwirthschaft 632 

Bergbau 1.252 

Metallindustrie 1.039 

Maschinenbau  u.  *dgl 547 

Gesteinsindustrie 203 

Holz-,  Leder-,  Papierindustrie  etc.  .    .   .  698 

Textilindustrie 1.225 

Nahrungsmittelindustrie      . 2.543 

Chemische  Industrie 341 

Polygraphische  und  Kunstindustrie  ...  61 

Handelsgewerbe,  Verkehr 527 

Sonstige 232 

Locomotiven 2.768 

Schiffsmaschinen 322 

Zusammen 


Maschinen     Pferdestärken 

4.265 

29.609 

33.457 

8.659 

3.065 

12.197 

31.493 

27.520 

2.945 

546 

4.021 

1.711 

989.922 

125.666 


12.390      1,275.076 
Wie  ungemein  rasch  die  Dampfmaschinen  sich   vermehren,    erhellt 
aus  Folgendem.  Man  zählte  Dampfmaschinen: 


im     Jahre 


1837 


1840 


1852 


1861 


1875 


1878 


ganz  Deutschland 
Preusseu  iusbes.  . 
Oesterreich  (dies.) 


423 


634 


2832 
1182 


13525 


65170 
43045 


12390 


§.  136.  Die  Bemfsclassen  der  Bevölkerung. 

Der  Grundsatz  der  Arbeitstheilung  hat  die  reiche  und  mannigfache 
Beruiisgruppining  erzeugt.  Sie  wird  bei  den  civilisirten  Nationen  eine  stets 
mannigfaltigere.  Zweifellos  ist  die  ziffermässige  Darstellung  der  Berufs- 
classen  eine  der  interessantesten  und  wichtigsten  Aufgaben  der  Statistik. 
Es  ist  aber  leider  zugleich  eine  Aufgabe,  die  noch  sehr  weit  von  ihrer 
Vollendung  entfernt  ist  Eine  Betrachtung  dessen,  was  in  dieser  Hin- 
sicht geschehen  ist,  ist  eigentlich  mehr  eine  Betrachtung  von  Hindernissen, 
als  von  Resultaten.  Es  sind  zwar  in  allen  bedeutenderen  Staaten  bei  den 
Volkszählungen  auch  die  Befufsarten  ermittelt  worden.  Aber  die  Erhe- 
bungen waren  theils  mangelhaft,  theils  nach  zu  verschiedenen  Einthei- 
Inngen  angestellt. 

Eine  der  neuesten  Zeit  angehörige  Zusammenstellung  von  Arbeiten 
der  Berufsstatistik  ergibt  folgendes  Resultat*): 


250 


Die  BerafBcIassen  der  BeTOlkenuig. 


Staaten 


Italien      

England  und  Wales 
Frankreich     .... 

Preussen 

Oesterreich      .    .   .    . 

Ungarn 

Belgien 

Schweiz 

Ver.  Staaten  .... 


u 

'S 


1871 

1«7Ä 
1871 
1869 
1869/70 
1866 
1870 


bo 


56,06 

47,82 

43,18 

41,67 

58,44 
47,25 
51,50 

49,40 

32,44 


5« 


43,92 

52,18 

56,82 
58,33 
41,56 
52,75 

48,50 
50,60 

67,66 


Von  der  Gesammtberöl- 
kerung  beschäftigt  bei 


& 


% 
32,60 

9,52 
17,04 
11,58 
37,32 
32,66 

18,11 
20,70 

15,81 


1 


12,27 
22,33 

10,11 

12,85 
11,15 

4,17 
19,59 
18,33 

6,56 


^    'S 


1,76 
4^ 
4,29 
2,82 
1,95 
0,86 
1,46 
3,42 
3,09 


Man  erkennt  aus  dieser  Tabelle  zunächst,  wie  schwierig  und  unzu- 
verlässig auch  die  einfachste  Classification  ist.  Jedenfalls  ist  bei  den 
meisten  hier  erwähnten  Ländern  die  Zahl  derjenigen  Individuen,  welche 
zu  nicht  näher  bestimmten  Professionen  gerechnet  sind,  viel  zu  gross,  um 
eine  gründliche  Einsicht  in  die  gesammte  Berufsgruppirung  zuzulassen. 
Sodann  scheint  offenbar  der  BegriflP  „liberale  Professionen"  sehr  ungleich- 
massig  erfasst  worden  zu  sein.  Um  irgendwie  einen  Schluss  zu  folgern, 
ob  in  den  angeführten  Staaten  die  gesammte  nationale  Arbeitsaufgabe 
vernünftig  und  glücklich  vertheilt  ist,  dazu  reicht  eine  solche  Zusammen- 
stellung wohl  nicht  entfernt  aus. 

Selbst  die  besten  Erhebungen  lassen  noch  Vieles  vermissen.  So 
namentlich  die  Berufsermittlung  im  deutschen  Reiche  von  1871.  Sie  ergab 
in  der  Hauptsache  Folgisndes  *).  Von  1000  Einwohnern  kommen  auf: 


Preussen     .   .    .   . 

Bayern 

Sachsen  

Württemberg     .   . 
£1  sass-Lothringen 

Baden 

Deutsches  Reich   . 


1)^ 


CO  S 


'S  PH 


SS 


248,1 
345,8 
158,8 
303,9 
207,7 
360,7 
260,9 


«95,7 
290,z 
510,3 
385,8 

311,4 

329,1 
318,4 


'Sfe 


80,1 
72,5 
93,6 
72,9 
59,0 
82,3 
80,9 


In  dieser  Zusammenstellung  lässt  die 
Columnen.das  Ganze  als  wenig  brauchbar 
Dienstboten,    welche   bei    ihren    Arbeitgeb 


^-2  S  g'SÄ 


iiipi 


272,5 
198,8 
143,6 
136,3 
184,9 
156,8 
233,0 


£1 

PQ 


47,5 
45,2 
47,8 
57,3 
78,7 
49,6 
40,6 


ar 

'S    I 

«'S  s 

5     E 

^    t2 


56,1 
56,5 
45,9 
43,8 
158,3 

21,5 

56,2 


Unsicherheit  der   letzten    drei 

erscheinen.  Rechnet  man    die 

ern    wohnen,    in    die    änderen 


Die  Berafsclassen  der  Bevölkerung.  251 

Columnen  ein  und  die  letzten  beiden  Columnen  zusammen,  so  ergibt  sich 
folgendes  Resultat^): 

Bergbau,  Industrie,  Bauwesen 136  Promille 

Handel  und  Verkehr 136        „ 

Land-  und  Forstwirthschaft,  Jagd  und  Fischerei,  auch 

persönliche  Dienste  und  Lohnarbeit  wechselnder  Art   656        „ 

Uebrige  Berufsarten  und  ohne  Beruf 72        „ 

Noch  weit  ungenügender  erscheint  die  letzte  Erhebung  über  die 
Berufsarten  in  Oesterreich-Ungam.  Hier  ergab  die  Volkszählung  vom 
31.  December  1869: 

Berufsclassen  OesteiTeich  Ungarn 

Geistliche 1,5  Promille  1,3  Promille 

Beamte 3,8        „  2,8         „ 

Lehrer 2,o        „  1,8         „ 

Studirende 3,7        „  4,i         „ 

Literaten,  Künstler 0,8        „  0,8         „ 

Anwälte,  Notare 0,*        „  0,3         „ 

Aerztliches  Personal l,fc        „  0,»         „ 

Haus-  und  Rentenbesitzer    ....    21,o        „  5,2         „ 

Beim  Landbau 371,3        „  325,*         „ 

Beim  Bergbau 5,2        „  3,2         „ 

Industrie,  Handel,  Gewerbe  ....  132,i        „  54,i         „ 

Dienstboten  för  persönl.  Leistungen     40,5        „  74,i         „ 

Ohne  bestimmten  Erwerb     ....  4^5,i        „  526,5         „ 

Wenn  nun  auch  die  hier  mitgetheilten  Uebersichten  fast  mehr  den 
Charakter  von  abschreckenden  Beispielen,  als  den  von  gelungenen  Erhebun- 
gen an  sich  tragen,  so  durften  sie  doch  mii^etheilt  werden,  weil  ihre  Unvoll- 
kommenheit  zur  Aufklärung  über  das  Ideal  einer  Berufs-Statistik  beiträgt. 
Die  Aufgabe  der  Berufs-Statistik  liegt  darin,  Einsicht  zu  verschaffen 
in  die  Art,  wie  das  Volk  seine  gesammte  Arbeitsaufgabe  getheilt  hat.  Es 
soll  nachgewiesen  werden,  wie  sich  die  Gesammtbevölkerung  auf  die 
mannigfachen  Nahrungsquellen,  welche  ihr  zu  Gebot  stehen,  vertheilt. 
Und  bei  jeder  einzelnen  Berufskategorie  ist  sodann  wieder  zu  unter- 
scheiden, wie  sich  die  Gesammtheit  ihrer  Angehörigen  in  solche  theilt, 
welche  den  Beruf  wirklich  ausüben  und  in  solche,  welche  (als  Hausfrauen, 
Kinder  etc.)  dem  Beruf  blos  insofern  zugerechnet  werden  müssen,  als  er  ihre 
Nahrungsquelle  bildet.  Und  diejenigen,  die  den  Beruf  wirklich  ausüben  („active 
Berufsangehörige")  müssen  wieder  ausgeschieden  werden  in  solche,  die  ihn 
selbständig,  und  in  solche,  die  ihn  blos  als  Gehilfen  Anderer  ausüben. 

Eine  derartige  Ausführung  der  Berufsstatistik  stösst  jedoch  auf  die 
grössten  Schwierigkeiten. 

Dieselben  liegen  in  der  Mannigfaltigkeit  der  Berufszweigfe,  und  im 
häufigen  Mangel  fester  Grenzen  zwischen  denselben,  sowie  in   dem   Um»- 


252 


Die  Beruf sclasseo  der  Bevölkerung. 


Stande,  dass  häufig  von  einem  Individuum  mehrere  Berufszweige  getrieben 
werden;  auch  in  dem  möglichen  Berufswechsel.  Wie  oft  kommt  es  vor, 
dass  Jemand  Weinhändler  und  Wirth,  oder  Wirth  und  Metzger,  oder 
Fischer  und  Ueberführer  etc.  zugleich  ist!  Und  wie  oft  ist  es  völlig  un- 
bestimmbar, ob  Söhne  und  Töchter  eines  Berufsangehörigen  wirklich  activ 
im  väterlichen  Beruf  arbeiten  oder  nicht  (blos  aushilfsweise  etc.)!  Wie 
oft  gestattet  eine  und  dieselbe  Berufsart  verschiedene  Bezeichnungen! 

In  Gegenden,  wo  Landwirthschaft  und  Industrie  lebhaft  neben  ein- 
ander betrieben  werden,  wird  es  stets  zweifelhaft  sein,  ob  ein  als  „Tag- 
löhner,  Handarbeiter"  Bezeichneter  eine  Hilfskraft  des  Landbaues  oder 
der  Industrie  ist.  Auch  wird  es  stets  schwierig  sein,  unter  den  Dienst- 
boten diejenigen,  welche  blos  häusliche  Dienste  leisten,  zu  scheiden  von 
jenen,  die  an  dem  Beruf  des  Dienstgebers  mitarbeiten. 

Aumerkuugeu. 
*)  NachL.  Bodio:  Auiiali  di  Stat.  Ser.  la,  Vol.  10,*  pag.  41  ff. 
Dagegen  gnippiren  sich  nach  einer  älteren  Zusammeustelluug  you  Le- 
goyt  (in  „La  France  et  TEtraiiger")  die  Berufsclassen  wie  folgt: 


Unter  je  1000  arbeitsfähigen  Einwohnern  (ausschliesslich  Kinder)  gehörten 


Zeit 


zum 
Ackerbau 


zu 

zu  den 

Industrie 

liberalen 

und 

Pro- 

Handel 

fessionen 

340 

29 

282 

227 

391 

44 

339 

24 

299 

46 

150 

7 

166 

9 

133 

29 

232 

45 

406 

47 

472 

24 

370 

.  22 

136 

40 

297 

36 

zu  anderen, 
nicht  näher 
bestimmten 
Professionen 


England  •  , 
Niederlande 
Belgien  .  . 
Frankreich  • 
Dänemark  . 
Norwegen  . 
Schweden 
Oesterreich  . 
Bayern  .  .  • 
Oldenburg  . 
Sachsen  .  . 
Preussen  .  . 
Griechenland 
Ver.  Staaten 


1851 
1850 
1846 
1856 
1855 
1845 
1855 
1857 
1852 
1855 
1849 
1852 
1856 
1850 


236 
208 
512 
529 
386 
273 
488 
502 
692 
512 
322 
519 
658 
446 


395 
285 

53 
208 
279 
570 
337 
336 

31 

35 
182 

89 
166 
221 


*)  Block-v.  Scheel  a.  a.  0.  pag.  281. 

»)  Stat.  Jahrb.. f.  1880,  S.  15. 

Hinsichtlich  der  übrigen  Staaten  möge  aus  der  in  Anm.  1  genannten 
Quelle  noch  Folgendes  angeführt  werden : 

I.  StJhweiz.  Nach  der  eidgenössischen  Volkszählung  vom  1.  Dec.  1870 
zerfallt  die  Bevölkerung  in  folgende  Berufsgruppen: 


Die  Bernfsclassen  der  BetOlketnng. 


253 


B^rufsgruppeii 


Rohproduceuten 

Industrietreibeude 

Handeltreibende 

Beim  Transportwesen    .    .   . 

In  liberalen  Professionen  be- 
schäftigt     

Arbeiter  schlechtweg,  Dienst- 
personal      

Ohne  Profession 

Zusammen  . 


557711 

483995 

69660 

21570 

44662 


26447 


1,204045 


32873 

18874 

22779 

1353 

13876 

17352 
7345 


566372 

439900 

82735 

35963 

59394 

11852 
154434 


1,156956 

942769 

175174 

58886 

117932 

29204 
188226 


114452 


1,350650 


2,669147 


IL  Frankreich.  Die  Berufsclassification  von  1872  unterscheidet  folgende 
Gruppen  (in  1000  Seelen): 


Berufsgruppen 


(D   0) 


cT  I 

«  a  'S 


c8 


N3 


Landwirthschaft 

Industrie 

Handel 

Transportwesen,  Credit,  Bank- 
wesen etc 

Verschied.  Berufsarten  (Gast- 
wirthe  etc.) 

Liberale  Professionen     .    .   . 

Von  Renten  Lebende    .   .    . 

Ohne  Beruf 

Nicht  classificirte  Bevölkerung 

Nicht  bestimmte  Berufsarten 


5970 
3827 
1515 

338 

156 
994 
970 


11312 
4450 
1603 

501 

204 
666 
795 


1231 

174 
205 

42 

34 
154 
337 


18513 
8451 
2960 


395 
1815 
2103 
297 
439 
244 


ni.  England  und  Wales.  Der  Census  von  1871  unterscheidet: 
Berufsgruppen: 

Liberale  Professionen  (Professional  Class.) 684102 

Dienende  (Domestic  Class.) 5,905171 

Handel  und  Verkehr  (Commercial  Class.) 815424 

Landwirthschaft  (Agricultural  Class.) 1,657138 

Industrie  (ludustrial  Class.)     .«...., '  5,137725 

ünbest.  Berufsarten  u.  Berufelose  (Indefinite  and  non  productive  Class.)    8,512706 

22,712266 


254 


Selbstindige  uBd  unBelbBt&ndige  BerafMurten. 


IV.  Vereinigte  Staaten, 
gende  Berufsgruppen: 


Nach  dem   Gensus   yon  1870  bestehen  fol- 


Berufsclassen 


Absolute 
Zahl 


Auf  100 
Einwohner 


J  Landbau,  Viehzucht,  Forstwirthschafb 
Fischerei  und  Jagd 
Bergbau,  Steinbrüche  etc 

Industrielle  Gewerbe 

Handel  und  Transportwesen 

Dienstpersonal    .   .   .  •• 

Militär  und  Marine 

Oeffentliche  Verwaltung 

Cultus , 

Justiz 

Sanitätspersonal 

Erziehung  und  Belehrung 

Schöne  Künste 

Auf  Kosten  Anderer   lebend,    und    ohne  festen 

Beruf 

Noch  zu  den  liberalen  Professionen 

Zusam  rneu  . 


5,922471 

27106 

152107 

2,528208 

1,194238 

2,007400 

25147 

67822 

43874 

40736 

63549 

126822 

2948 

26,052448 
306495 


15,36 

0,07 
0,99 
6,66 
3,09 
5,22 
0,07 
0,17 
.0,12 
0,11 
0,16 
0,32 
0,01 

67,66 


38,558371 


100,00 


§.  137.  Fortsetzung.  Selbständige  und  unselbständige  Berufsarten. 

Auch  durch  den  Gegensatz  von  selbständigen  und  unselbständigen 
Berufsarten  wird  die  Berufsstatistik  nicht  wenig  erschwert.  Es  ist  gewiss 
eine  der  folgenreichsten  wirthschaftlichen  und  socialen  Erscheinungen^  dass 
nicht  jeder  Erwachsene  in  Besitz,  Erwerb  und  Beruf  selbständig  ist,  son- 
dern dass  der  grössere  Theil  der  Angehörigen  civilisirter  Länder  im 
Dienste  Anderer,  nach  den  Vorschriften  und  Arbeitsmethoden  Anderer 
thätig  werden  muss. 

Aber  selbst  dieser  Gegensatz,  so  wichtig  er  auch  ist,  kann  nicht  in 
allen  Gebieten  menschlicher  Berufsthätigkeit  genau  verfolgt  werden.  Nament- 
lich sind  die  sogenannten  liberalen  Professionen,  einschliesslich  des  Be- 
amtenthums,  einer  Unterscheidung  von  Selbständigen  und  Gehilfen  kaum 
zugänglich. 

Begi'eiflicher  Weise  ist  das  Zahlenverhältniss  von  Selbständigen  und 
Gehilfen  nothwendig  in  den  verschiedenen  Hauptberufsgruppen  ein  sehr 
ungleiches.  Um  nur  ein  Beispiel  herauszugreifen,  so  sind  in  Bayern  bei 
der  Landwirthschaft  18  Ji^  selbständig  im  Besitz,  99^  Angehörige  der- 
selben, 4^(16  landwirthschaftliche  Dienstboten.  Dagegen  ist  daselbst  bei 
der  Industrie  die  Zahl  der  Selbständigen   und   der    Gehilfen    fast   gleich; 


Dm  Capital.  255 

bei  der  Berufsgnippe   „Handel  und   Verkehr*^    triflFt   ein   Gehilfe    nahezu 
erst  auf  zwei  Selbständige  *). 

Mit  der  einfachen  Unterscheidung  von  selbständigen  und  unselb- 
ständigen Personen  ist  aber  die  sociale  Stellung  der  verschiedenen  Volks- 
bestandtheile  keineswegs  erschöpft.  Eine  eingehendere  Gliederung  muss 
unterscheiden : 

1.  Selbständige  in  Besitz,  Beruf  und  Erwerb. 

2.  Angestellte  (mit  mehr  oder  weniger  festem  und  dauerndem  Ein- 
kommen). 

3.  Gehilfen,  Arbeiter,  d.  h.  Personen,  die  grösstentheils  von  der 
Hand  in  den  Mund  leben. 

4.  Dienende  aller  Art. 

5.  Sonstige  Angehörige. 

6.  Almosenempfanger. 

7.  Insassen  von  Anstalten. 

Setzt  man  die  erhaltenen  Zahlen  in  Beziehung  zur  Gesammtbevöl- 
kerung,  so  ergibt  sich  ein  sehr  beachtenswerther  Ueberblick  über  die 
Quoten,  welche  die  einzelnen  socialen  Gruppen  ausmachen.  In  Preussen 
z.  B.  traf  nach  der  Aufnahme  von  1871  *): 

ein   Selbständiger  in  Besitz,  Beruf  und  Erwerb  auf      8,i  Einwohner 
„     Angestellter  „      65,8  „ 

„     Gehilfe  und  Arbeiter  „        4,6  „ 

„     Dienender  aller  Art  „      15,fc  „ 

„     sonstiger  Angehöriger  „        1,8  „ 

„     Almosenempfanger  „    267,2  „ 

„     Insasse  einer  Anstalt  „    257,«  „ 

Anmerkungen. 
*)  6.  Mayr:  Gesetzmässigkeit  im  Gesellschaftsleben,  192. 
*)  Stat.  Jahrbuch,  1876,  S.  134  (9). 

m.  §.  138.  Das  Capital. 

Die  Capitalien  der  civilisirten  Nationen  sind  der  statistischen  Beob- 
achtung wegen  ihrer  Mannigfaltigkeit  und  Massenhafbigkeit  nur  in  sehr 
beschränktem  Maasse  zugäBglic)i.  Es  sind  Milliarden  von  ewiger  Beweglich- 
keit. Und  von  diesen  Milliarden  haben  die  einzelnen  Bestandtheile  die 
verschiedensten  Bedingungen  der  Existenz  und  Vermehrung. 

Wie  bei  der  Bevölkerung,  so  lässt  sich  auch  beim  Capital  der  je- 
weilige Stand  desselben  und  sein  Gang  beobachten.  Im  Allgemeinen  ist 
zweifellos  bei  den  meisten  Bestandtheilen  des  Gapitales  der  Gulturvölker 
eine  nur  selten  unterbrochene  riesenhafte  Vermehrung  zu  beobachten.  Man 
muss  jedoch,  um  eine  einigermassen  richtige  Anschauung  über  die  Schwie- 


256  Das  Capital. 

rigkeiten  zu  gewinnen,  welche  der  Statistik  des  Capitales  entgegenstehen, 
die  verschiedenen  Arten  von  Capitalien  gesondert  betrachten.  Man  wird 
sodann  finden,  welche  Mittel  gegeben  sind,  um  die  einzelnen  Bestandtheile 
zu  messen,  und  wie  verschieden  die  Zuverlässigkeit  dieser  Mittel  ist. 

I.  Das  stehende  Capital.  Da  dasselbe  die  Eigenschaft  hat, 
längere  Zeit  hindurch  erhalten  zu  bleiben  und  die  Nutzung  von  sich  ab- 
lösen zu  lassen,  ist  es  der  ziffermässigen  Beobachtung  immerhin  leichter 
zugänglich  als  das  flüssige  Capital.  Aber  auch  hier  ist  der  Spielraum  der 
blossen  Schätzung  ganz  unverhältnissmässig  gross  gegenüber  wenigen  zu- 
verlässigen Zahlen.   Die  Hauptbestandtheile  des  stehenden  Capitales  sind: 

1.  Die  Grundstücke.  Wenn  man  auch  mit  Hilfe  der  statistischen 
Erhebungen,  welche  jetzt  in  allen  Culturstaaten  über  Anbau  und  Benützung 
des  Bodens  gepflogen  werden,  zu  genauen  Resultaten  über  den  Umfang 
der  benützten  Ländereien,  und  zu  annähernd  genauen  Kenntnissen  der 
Erträgnisse  gelangt,  so  sind  damit  für  den  Totalwerth  der  Grundstücke 
nur  sehr  dürftige  Resultate  gewonnen.  Auch  die  Bodenwerthe,  welche  man 
erhält,  wenn  man  die  bei  einzelnen  Verkäufen  von  Grundstücken  erzielten 
Preise  zur  Grundlage  nimmt,  sind  keineswegs  ganz  zuverlässig.  Es  mag 
daher  wohl  gerechtfertigt  erscheinen,  wenn  man  in  dieser  Hinsicht  auf  die 
Mittheilung  von  Zahlen  verzichtet  *). 

2.  Die  Gebäude.  Hinsichtlich  derselben  sind  noch  weit  grössere 
Irrungen  möglich  als  hinsichtlich  der  Gnindstücke.  Bezüglich  der  städtischen 
Gebäude  können  die  Miethpreise  einigermassen  als  Anhaltspunkte  für  die 
Werthsermittelung  dienen;  bezüglich  der  ländlichen  Gebäude  dagegen, 
welche  in  der  Regel  nicht  vermiethet  und  bei  Verkäufen  als  Zubehör  der 
Grundstücke  angesehen  werden,  fehlen  solche  Anhaltspunkte  und  derjenige 
Werth,  der  sich  aus  den  Baukosten  entnehmen  lässt,  müsste  für  jedes 
einzelne  Gebäude  unter  Berücksichtigung .  der  Abnützung  berechnet  werden. 
Man  müsste  demnach  auch  hier  auf  irgend  welche  zuverlässige  Anhalts- 
punkte verzichten.  Doch  werden  solche  von  ganz  anderer  Seite  her  ge- 
liefert, nämlich  durch  die  Versicherungsstatistik.  Diese  nimmt  überhaupt 
in  der  Statistik  des  Capitales  eine  bedeutende  Stellung  ein.  Die  Ziffern 
der  Feuerversicherungsstatistik  geben  jedoch  auch  nicht  den  wirklichen 
Werth  der  Gebäude  an,  sondern  lediglich  diejenige  Werthsumme,  welche 
eben  durch  die  Bevölkerung  gegen  Brandschaden  gesichert  werden  soll. 
Immerhin  ist  diese  Summe  bedeutungsvoll  genug,  wenn  auch  ihre  Zunahme 
eben  so  wohl  vom  gesteigerten  Werth  wie  von  der  gesteigerten  Vorsicht 
herrühren  kann. 

Im  Deutschen  Reiche  betrug  die  Gesammtversicherungssumme  der 
358  inländischen  Feuerversicherungsanstalten,  welche  im  Jahre  1876  thätig 
waren,  64702  Millionen  Mark.  Hiebei  ist  allerdings  Immobiliar-  und  Mo- 


Das  Ciipital.  257 

biliarversicherungssumme  zusammengenommen  *).  Es  ergibt  sich  demnach 
eine  Feuervei-sicherungssumme  von  rund  1500  Mark  für  den  Kopf  der 
Bevölkerung.  Dagegen  betrug  in  Frankreich  im  gleichen  Jahre  die  Ge- 
sammtversicherungssumme  80110  Millionen  Francs  ^),  während  sie  noch 
1869  erst  68399  MilL  betragen  hatte. 

Ein  grosser  Theil  derjenigen  nationalen  Capitalien,  welche  in  Bauten 
aller  Art  dauernd  nutzbringend  gemacht  wurden,  entzieht  sich  jeder 
Schätzung,  z.  B.  die  Werthe  von  Strassen,  Damm-  und  Haifenbauten, 
Canälen,  Brücken  etc.,  während  z.  B.  die  Capitalwerthe  von  Eisenbahnen, 
Telegraphenleitungen  u.  A.  in  anderer  Weise  zu  ermitteln  sind. 

3.  Werkzeuge,  Maschinen,  Kunstschätze,  Mobilien  ver- 
schiedener Art.  Für  eine  Schätzung  dieser  Capitalwerthe  fehlt  absolut  je- 
der Massstab. 

4.  Nutzthiere.  üeber  die  Zahl  derselben  geben  allerdings  die 
neueren  Viehzählungen  genaue  Auskunft  (vgl.  das  Capital  der  landwirth- 
schaftlichen  Statistik);  eine  Werthschätzung  derselben  bleibt  jedoch  immer 
etwas  sehr  willkürliches. 

5.  Das  in  Forderungen  aller  Art  bestehende  Capital  darf  den  hier 
angeführten  Capitalien  nicht  zugerechnet  werden,  da  es  ja  als  Schuld  auf 
ihnen  lastet.  Hingegen  dürften  Forderungen  an  das  Ausland  allerdings 
zum  inländischen  Capitale  gerechnet  werden;  doch  müssten  dem  entspre- 
chend auch  ausländische  Forderungen,  die  auf  dem  inländischen  Capitale 
lasten,  vom  Werthe  desselben  abgezogen  werden.  Die  fast  vollständige 
Unkenntniss  über  den  Betrag  dieser  Forderungen,  resp.  Schulden  ist  eben- 
falls geeignet,  unsere  Kenntniss  vom  Stande  des  nationalen  Capitales  als 
ganz  illusorisch  erscheinen  zu  lassen. 

Doch  sind  auf  diesem  Gebiete  einige  Erscheinungen  zu  registriren, 
welche  von  hoher  volkswirthschaftlicher  Bedeutung  sind,  weil  sie  einen 
Einblick  in  den  Process  der  Neubildung  von  Capital  bieten,  welche  durch 
Vorsicht  und  Sparsamkeit  sich  vollzieht.  Diese  Erscheinungen  sind  die 
Lebensversicherungen  und  die  Einzahlungen  in  Sparcassen. 

Die  Lebensversicherungen  sind  ein  deutlicher  Ausdruck  der 
Vorsichtsmassregeln,  welche  von  der  Bevölkerung  gegen  den  durch  den 
Tod  ihr  zugehenden  Capitalverlust  ergriffen  werden.  Von  diesem  Gesichts- 
punkte aus  dürfte  folgende  Uebersicht  Interesse  bieten.  Es  liefen  Ende 
1877  Lebensversicherungen  *) : 


Haashofe r,  Statistik.  2.  Aufl.  17 


258 


Das  CapitaL 


Zahl  der 

Gesell- 
schafbeu 


Zahl  der 
Versichemngen 


Betrag  der 
Versicherungen 
(in  Reichsmark) 


Deutsches  Reich    .    . 
Deutsch-Oesterreich 
Deutsche  Schweiz     . 
Frankreich      .    .    .    . 

England 

New- York 


38 
it 

13 

109 

34 


565567 
185288 
«3018 
177300 
1,006856 
633096 


1853  Mill. 

386  r, 

102  r> 

1299  « 

7907  r> 

6224  r, 


Hiezu  muss  bemerkt  werden,  dass  die  Zahl  der  Versicherungen  stets 
um  etwas  weniges  grösser  ist,  als  die  Zahl  der  versicherten  Personen.  Im 
Deutschen  Reiche  stellt  ßich  die  Zahl  der  letzteren  auf  563260,*  in  Deutsch- 
Oesterreich  auf  183444. 

Was  an  der  vorstehenden  Tabelle  beobachtet  werden  kann,  ist  eines- 
theils  die  verschiedene  Verbreitung  des  Versicherungswesens  in  den  ge- 
nannten Ländern,  andemtheils  die  Höhen  der  Versicherungssummen.  Hin- 
sichtlich dei^  Verbreitung  jener  Vorsicht,  welche  im  Versicherungswesen 
ihren  Ausdruck  findet,  steht  England  unter  den  europäischen  Ländern 
bei  weitem  obenan.  Dort  ist  das  Versicherungswesen  in  die  breitesten 
Schichten  des  Volkes  eingedrungen.  Bezüglich  der  Höhe  der  Versicherungs- 
summen dagegen  steht,  entsprechend  dem  ganzen  nationalen  Wirthschafts- 
leben,  Amerika  voran,  wo  eine  Versicherung  durchschnittlich  auf  die  Summe 
von  9831  Mark  lautet,  während  die  Durchschnittssumme  in  Deutschland 
blos  3278  Mark  beträgt. 

Aus  der  Zahl  der  Sparcassen  können  gleichfalls  Schlüsse  auf  die 
Capitalsschaffung  der  Bevölkerung  und  ihren  haushälterischen  Sinn,  auf 
ihr  durchschnittliches  Einkommen  dagegen  nur  unter  Vergleichung  der 
durchschnittlichen  Consumtion  gezogen  werden.  Zunächst  erkennt  man  aus 
dieser  Zahl  die  im  Lande  vorhandene  Spargel egenheit.  1862  bestanden 
in  Preussen  483,  in  der  Schweiz  230  und  in  Sachsen  119  Sparcassen. 
In  Preussen  kam  eine  Sparcasse  auf  10,5  Q.-Meilen  und  38303  Einwohner, 
in  der  Schweiz  auf  3,2  Q. -Meilen  und  10914  Einwohner,  in  Sachsen  auf 
2,2  Q,.-M.  und  19529  Einwohner.  —  Es  ist  demnach  nichts  aufiallendes, 
dass  die  Zahl  der  Sparenden  in  der  Schweiz  und  in  Sachsen  grösser  ist, 
als  in  Preussen.  Man  hat  bemerkt,  dass  die  Zahl  der  Sparenden  durch- 
aus in  demselben  Verhältnisse  grösser  ist  wie  die  Gelegenheit  zum  Sparen. 
Wenn  man  die  Zahl  der  Sparcassen  vermehrt,  mehrt  man  demnach 
auch  die  Zahl  der  Sparer. 

Zweifellos  sind  heutzutage  die  Sparcasseneinlagen  der  Ausdruck  nur 
für  die  bescheidensten  Anfänge  der  Capitalsersparniss,   da  es  ja  selbst  in 


Das  Capital. 


259 


den  ärmeren  Kreisen  der  Bevölkerung  nicht  allzuschwer  ist,  in  kurzer 
Zeit  wenigstens  so  viel  zu  ersparen,  um  ein  kleines  Werthpapier  zu  er- 
werben. Wie  bedeutend  aber  das  Wachsthum  der  Sparcassencapitalien 
ist,  mag  schon  daraus  hervorgehen,  dass  z.  B.  in  Oesterreich  (diesseits) 
i.  J.  1871  die  Summe  der  Einlagen  zu  Anfang  des  Jahres  285,  zu  Ende  des 
Jahres  dagegen  schon  431  Millionen  Gulden  österreichische  Währung  betrugt). 

Aehnlich  in  Frankreich  *),  wo  der  Credit  der  Einleger  i.  J.  1875 
von  573  Millionen  Francs  am  Anfange  des  Jahres  auf  660  Millionen  am 
Ende  desselben  anwuchs.  In- Grossbritannien  und  Irland  weisen  die  dortigen 
Postsparcassen  seit  1865  eine  ununterbrochene  Steigerung  ihrer  Einlage- 
capitalien  von  6,5  Millionen  Pfund  Sterling  bis  auf  32  Millionen  im  Jahre 
1879  nach '). 

Die  Sparcassen  sind  einer  der  wenigen  Gegenstände  der  wirthschaft- 
lichen  Statistik,  bezüglich  deren  aus  neuester  Zeit  vergleichfende  oflficielle 
Erhebungen  existiren.  Denselben  ist  Folgendes  zu  entnehmen  *) : 


Länder 


fO  ^    hl) 

03 


Mill.  Fr. 


o 
.3sS  o 

J< 


Länder 


Guthaben 

der 
Einleger 

Auf 
1   Einwohner 
trifft  Francs 

Mill.  Fr. 

124 

29,3 

130 

73,9 

289 

108,4 

18 

0,8 

8 

4,7 

1104,9 

21,9 

1742 

397,7 

164 

181,4 

385 

396,8 

1151 

792,3 

391 

729,3 

267 

1233,0 

162 

259,3 

168 

529,4 

32 

98,4 

99 

127,2 

0,6 

1,4 

95 

35,5 

i 

Frankreich  .  (1872) 
Belgien  .  .  (^874) 
Niederlande  (1872) 
Oesterreich  .  (1874) 
Ungarn  .  .  (1873) 
Oesterr.-Ungani 
Preussen  .  .  (1874) 
Sachsen  .  .  „ 
Thüringen  und  An- 
halt .  .  .  (1872) 
Oldenburg  .  (1874) 
Mecklenburg  (1872) 
Bayern  .  .  (1869) 
Württembg.  (1873) 
Baden  .  .  .  (1874) 
El8a8s-Lothr.(1872) 
Hamburg  .  (1874) 
Bremen  .  .  (1873) 
Lübeck  .  .  (1873) 
Deutsches  Reich  . 
Grossbritann.  (1874) 
Dänemark   .  (1873) 


515 

62 

28 

1348 

380 

1728 

1232 


54 

18 

26 

62 

69 

103 

7 

41 

35 

3 

1941 

1615 

251 


14,2 

11,9 

6,7 

66,6 

24,6 
48,5 
50,0 

111,9 

49,4 
58,4 
48,0 

12,8 

38,0 
70,8 

4,5 
113,3 

258,9 
66,1 
49,2 
49,8 

137,8 


Schweden    .  (1872) 
Norwegen    .       „ 
Schweiz   .    .  (1870) 
Eur.Ru8sland(1872) 
Finnland  .    .       „ 
Italien  .   .    .  (1876) 
New-York    (Staat) 
(1874—75) 
New-fersey  (1875) 
Californien  .       „ 
Massachusetts     „ 
Connecticut  .       „ 
Rhode-Island      „ 
Maine   ...       y, 
New  Hampshire  „ 
Vermont  .   .     '  „ 
Maryland     .       „ 
Minnesota    .       „ 
Pennsylvanien    „ 


17* 


260  Die  Landwirthschaft. 

IL  Das  umlaufende  Capital.  Hinsichtlich  derjenigen  Bestand- 
theile  desselben;  welche  durch  die  Roh-  und  HilfsstoflPe  der  Industrie  so- 
wie durch  die  im  Handel  befindlichen  Waarenvorräthe  repräsentirt  werden, 
muss  man  auf  verlässige  Zahlenangaben  fast  völlig  verzichten.  Was  dagegen 
den  durch  das  baare  Geld  repräsentirten  Theil  des  Umlaufscapitales  be- 
triflft,  so  soll  über  denselben  anderen  Ortes  Mittheilung  gemacht  werden. 

Anmerkungen. 

')  In  manchen  privatstatistischen  Arbeiten  finden  sieb  allerdings  Versuche 
zu  einer  Schätzung  des  Gesammtbodenwerthes  einzelner  Länder.  So  theilt 
Neumann-Spallart  (Ueber«ichten  etc.  1880  S.  6—8)  einige  der  vorzüglichsten 
Schätzungen  mit,  nach  welchen  in  England  (von  Roh.  Giffbn)  der  Capitals- 
werth  der  Grundstücke  für  1875  auf  2007  Mill.  Pfd.  St.  geschätzt  wird,  in 
Frankreich  (nach  de  Foville)  auf  100  Milliarden  Francs  (1878). 

^)  Zeitschr.  des  preuss.  statistischen  Bureaus,  1878,  IL  Heft. 

•)  Annuaire  statistique,  1878,  pag.  527. 

•)  Block-v.  Scheel  a.  a.  0.  S.  343. 

*)  Statistisches  Handbüchlein  f.  1871.  pag.  66. 

•)  Annuaire  etc.  pag.  194. 

^)  Statistical  abstract  for  the  united  Kingdom.  1880.  pag.  125. 

®)  Das  bezügliche  Werk  ist:  „Statistique  internationale  des  caisses  d'epargne. 
Compilee  par  le  bureau  de  statistique  du  royaume  dltalie.  Rome  1876.  pag.  79. 


II.  Capitel. 
Land-  und  Forstwirtliscliaft. 


I.  Die  Landwirthscliaft. 
§.  139.  Febersioht, 

Bei  der  landwirthschaftlichen  Statistik  sind  im  einzelnen  zu  unter- 
suchen : 

I.  Die  Productionsfactoren,  und  zwar  zunächst  der  zur  Land- 
wirthschaft benützte  Boden  in  seiner  Beschaffenheit  und  Vertheilung, 
sodann  die  Arbeitskräfte:  die  landwirthschaftliche  Bevölkerung. 

IL  üeber  die  Productionsmethoden  geben  Aufschluss  einestheils 
das  Verhältniss  der  Arbeitskräfte  zum  Capital ,  die  Anwendung  von 
Maschinen,  die  Masse  der  Betriebsverbesserungen  u.  s.  f.,  andererseits 
auch  die 

III.  Resultate  des  Betriebes,  die  Masse  der  Producte.  Zur  Unter- 
suchung der  Betriebsresultate  müssen  auch  die  Productionskosten ,  die 
Preise  der  Producte,  die  Roh-  und  Reinerträge  beigezogen  werden. 


Bodenbesehaffenlieit.  261 

IV.  Die  einzelnen  Zweige  landwirthschaftlicher  Thätigkeit,  gleich- 
falls wieder  mit  Berücksichtigung  der  eben  genannten  Beobachtungsobjecte. 

Anmerkung. 

Die  ersten  Versuche  eiuer  Statistik  der  Landwirthschafl  reichen  bis  auf 
Ludwig  XIV.  zurück.  Finanzielle  Gründe  veranlassten  in  Frankreich  diese 
Anfange.  In  Schweden  wurden  1735  durch  den  Reichstag  landwirthschafblich- 
statistische  Erhebungen  yon  den  Proyiuzialbehörden  gefordert  und  1741  specielle 
Fragen  zur  Beantwortung  an  diese  Behörden  gerichtet,  namentlich  bezüglich 
der  beackerten  Bodeufläche,  des  Saatquantums,  des  Ertrages  etc.  Aehnliche 
Erhebungen  verlangte  die  sächsische  Regierung  im  Jahre  1755.  Schweden  und 
Sachsen  haben  demnach  zuerst  regelmässige  Ernteerhebungen  vorgenommen, 
Sachsen  auch  den  ersten  Versuch  eiuer  Viehzählung  (1697). 

Die  amtliche  Statistik  beschäftigte  sich  1763  in  Frankreich  noch  ver- 
geblich mit  einer  Katastrirung  des  Landes;  doch  wurde  gleichzeitig  eine  solche 
in  der  Lombardei  durchgeführt.  In  Frankreich  war  man  deshalb  1790  auf  eine 
Berechnung  Lavoisier''s  angewiesen,  welcher  aus  der  Zahl  der  Pflüge  die  beackerte 
Fläche  zu  bestimmen  suchte.  1852  erst  wurde  ein  genaues  französisches  Kataster 
beendet.  Die  sowohl  zu  Napoleon''s  Zeit  als  unter  der  Regierung  der  Restauration 
gestellten  landwirthschaftlich-statistischen  Fragen  wurden  entweder  gar  nicht 
oder  ungenügend  beantwortet. 

In  Deutschland  beginnen  erst  1847  allgemeinere  statistische  Erhebungen 
in  diesem  Grebiete. 

Doch  selbst  in  den  Beschlüssen  der  statistischen  Congresse  zeigt  sich 
lange  kein  entschiedener  einheitlicher  Angriff  der  landwirthschaftlichen  Statistik. 
Auf  sieben  Congressen  wurde  der  Gegenstand  behandelt,  mit  besonderem  Glücke 
auf  dem  Pariser,  wo  die  mannigfachen  Schwierigkeiten  der  landw.  Statistik 
sorgfältig  geprüft  wurden.  Die  grösste  dieser  Schwierigkeiten  liegt  in  der 
Abneigung  der  Landwirthe,  Aufschlüsse  über  ihre  Wirthschaft  zu  geben.  Es 
sind  jedoch  solche  Aufschlüsse  nur  durch  Aufnahmen  von  Haus  zu  Haus  über- 
haupt zu  erhalten. 

An  Privatarbeiten  ist  für  einzelne  Länder  allerdings  schon  ganz  Vorzüg- 
liches geschaffen  worden.  So  verdient  namentlich  Erwähnung  der  betr.  Theil 
des  grossen  Werkes  von  Viebahn:  y,  Statistik  des  zoll  vereinten  etc.  Deutsch- 
land, ferner  das  treffliche  Werk  von  Meitzeu  über  die  landw.  Verhältnisse 
Preussens  u.  A. 

§.  140.  BodenbeschafEenheit. 

Da  die  Landwirthschafl;  so  sehr  von  der  Natur,  dem  Boden  und 
Klima  abhängig  ist,  wird  die  landwirthschaftliche  Statistik  sich  zunächst 
mit  der  BeschaflF^Bnheit  des  Bodens  beschäftigen  müssen. 

Die  Verschiedenheiten  des  Bodens  bezüglich  seiner  Lage ,  des 
Mischungsverhältnisses  seiner  Ackerkrume  etc.  sind  gi'oss;  ebenso  gross 
die  Verschiedenheiten  der  Fruchtbarkeit.  Man  classificirt  den  Boden  theils 
nach  jenem  Mischungsverhältniss  (Sand-,  Lehm-,  Thon-,  Kalk-  und 
Mergelboden),  theils  nach  den  Früchten,  welche  er  hervorzubringen  ver- 


262 


Bodenbeschaffenheit. 


mag  (Weizen-,  Gersten-,  Hafer-,  Roggenboden,  absoluter  Waldboden, 
Moorboden  etc.). 

Von  Bedeutung  für  die  Fruchtbarkeit  des  Bodens  ist  nächst  diesem 
Mischungsverhältniss  das  rauhere  oder  mildere  Klima  bei  höherer  oder 
niedrigerer  Lage,  die  Himmelsrichtung,  nach  welcher  ein  Feld  sich  abdacht, 
die  äussere  Form,  die  Feuchtigkeit. 

Aber  nicht  nur  der  Pflanzenwuchs  selbst,  sondern  auch  die  Boden- 
bestellung wird  durch  das  Klima  wesentlich  beeinflusst.  Böden,  welche 
nur  (z.  B.  wegen  hoher  rauher  Lage)  kürzere  Zeit  sich  zur  Bearbeitung 
eignen ,  verlangen  Bereithaltung  grösserer  Arbeitskraft  und  produciren 
daher  theurer. 

Der  Boden,  wie  er  jetzt  in  unseren  civilisirten  Ländern  vorliegt,  ist 
ein  Resultat  tausendjähriger  Bearbeitung  und  Verbesserung  durch  Menschen- 
hand. Es  ist  von  Bedeutung,  wie  viel  alte  Cultur  im  Boden  steckt,  und 
welche  neue  Unternehmungen  zu  Culturzwecken  stattfinden. 

Alle  diese  Einzelheiten  eignen  sich  zur  statistischen  Untersuchung. 
Ganz  besonders  aber  auch  die  verschiedenen  Culturarten:  das  Verhältniss 
von  Ackerland,  Gärten,  Wiesen,  Weiden,  Waldungen  und  landwirthschaft- 
lich  unbenutzbarem  Lande.  Und  zwar  dieses  Verhältniss  nicht  nur  an  sich, 
sondern  namentlich  auch  auf  den  Kopf  der  Bevölkening  berechnet. 

Eine  Vergleichung  verschiedener  Länder  in  dieser  Hinsicht  wäre 
streng  genommen  nur  dann  möglich,  wenn  die  Erhebungen  über  den 
Bodenanbau  überall  nach  gleichem  System  gepflogen  würden.  Zwischen 
bebautem  Lande  hier  und  bebautem  Lande  dort  ist  ein  grosser  Unter- 
schied, je  nachdem  man  den  Begriff  der  Bodencultur  fixirt.  Versucht  man 
trotz  dieser  Schwierigkeit  eine  Vergleichung,  welche  freilich  weitere  Schluss- 
folgerungen ausschliesst,  so  stellt  sich  der  Procentsatz  für  die  Hauptarten 
der  Bodenbenützung  in  den  europäischen  Ländern  folgendermassen  *): 


Staaten 


Acker- 

Jaud  und 

Gäileu 


Wiesen 


Wein- 
gärten 


Wälder 


üebriges 

Land  (Oed- 

land,  Unland, 

Wege  etc.) 


P  e  r  c  e  n  t 


Oesterreich  diesseits 

Ungarn 

Deutsches  Reich     . 

Russland 

Italien 

Schweden  ... 
Norwegen  .... 
Dänemark    .... 


32,63 

27,63 

48,60 
43,19 
41,00 

7,60 
0,66 

59,00 


10,86 

0,86 

33,00 

8,46 

2,07 

32,05 

17,70 

1,00 

26,10 

7,41 

0,69 

18,20 

24,00 

2,00 

10,00 

2,50 

-« 

60,00 

1,32 

— 

66,00 

6,80 

— 

5,80 

22,75 

29,82 

6,60 

30,61 
18,00 
30,00 
32,18 
29,00 


BodenbescliAffenlieit. 


263 


Staaten 


Acker 

laud  und 

Gärten 


Wiesen 


Wein- 
gärten 


Wälder 


Uebriges 

Land  (Oed' 

land,  Unland, 

Wege  etc.) 


P  e  r  c  e  n  t 


Niederlande     .    .    .    .  • 

Belgien 

Grossbritannien  u.  Irland 

a)  England 

b)  Schottland      .    .    . 

c)  Irland 

Schweiz 

Spanien 

Portugal 

Europ.  Türkei    .... 

Griechenland 

Frankreich 


21,77 
51,58 

60,00 

29,96 
12,72 
28,33 
14,85 
41,79 
18,34 

40,30 

10,04 
51,9 


35,86 
10,43 

29,00 
47,51 

14,15 
43,23 

5,60 
13,81 

1,32 

6,00 

1,62 
9,8 

(Weiden 
12,8) 


0,01 


0,64 

1,85 
1,02 
2,00 
1,99 
4,3 


7,10 

35,27 

18,52 

19,46 

4,00 
? 

7,00 

22,53 

? 

73,13 

? 

28,44 

15,90 

63,01 

5,52 

37,03 

4,40 

74,92 

15,00 

36,70 

18,83 

67,52 

17,7 

3,5 

(sol  non 
agricole) 

Die  Ursachen  der  verschiedenen  Bodenverwendung  liegen: 

I.  Im  Klima.  Daher  der  geringe  Procentsatz  angebauten  Landes  in 
Norwegen,  Schweden,  Schottland,  theilweise  auch  in  den  Alpenländem. 

IL  Im  Charakter  des  Bodens,  der  nicht  allein  in  Gebirgen  ausge- 
dehnte Flächen  unproductiven  Landes  enthält,  sondern  auch  im  ebenen 
Lande;  z.  B.  im  Deutschen  Reiche  die  Moore  Oldenburgs,  in  Dänemark 
die  Sandflächen  an  der  jütischen  Küste  etc. 

III.  In  der  Bevölkerung,  sei  es  nun,  dass  dieselbe  aus  historischen 
Gründen  eine  ungewöhnlich  spärliche  ist,  dass  vergangene  politische  Fehl- 
griffe die  landwirthschaftliche  Production  zurückgeworfen,  oder  dass  Träg- 
heit und  Unwissenheit  der  Bevölkerung  sie  die  wirthschaftlichen  Interessen 
vernachlässigen  lässt.  Den  einen  oder  den  anderen  dieser  Einflüsse  wird 
man  überall  suchen  dürfen,  wo  trotz  der  Gunst  des  Klimas  und  des  Bodens 
das  angebaute  Land  einen  geringen  Procentsatz  «innimmt.  So  in  einem 
grossen  Theile  von  Südeuropa. 

Anmerkung. 

*)  Die  Zusammenstellung  ist  entnommen  ans  M.  Block:  Statistique  de  la 
France,  U.  Ed.,  Tome  IL  pag.  27.  Bezüglich  des  Deutschen  Reiches  und  Oester- 
reichs  dürfte  es  jedoch  angezeigt  sein,  noch  folgende  neuere  und  detaillirtere 
Angaben  mitzutheilen. 

Bodenhenutzung  in  den  Ländern  des  Deutschen  Reiches  (1878). 

Von  je  100  Hectaren  der  Gesammtfläche  des  betr.  Staates  kommen  auf: 


264 


Bodenbeschaffenlieit. 


Aecker, 

Gärteu, 

Wein- 

berge 


Ostpreusseu 

Westpreusseu 

Brandeuburg 

Pommeru 

Posen 

Schlesien 

Sachsen      

Schleswig-Holstein  .    .    . 

Hannover 

Westfalen 

Hessen-Nassau     .... 

Rheinland      

Hohenzollem 

ganz  Preussen 

Frank.  Prov.  Bayerns  . 
Üebriges  Bayern  r.  Rh.  . 
Linksrheinisches  Bayern 

ganz  Bayern 

Königreich  Sachsen    .    . 

Württemberg 

Baden 

Hessen 

Mecklenburg-Schwerin  . 
Sachsen-Weimar  .... 
Mecklenburg-Strelitz  .    . 

Oldenburg 

Braunschweig 

Sachsen-Meiniugeu     .    . 

„        Altenburg     .    . 

„        Coburg-Gotha  . 

Anhalt 

Schwarzburg-Rudolstadt 
„  Sondersh. 

Waldeck 

Reuss  älterer  Linie    .    . 

„     jüngerer    „        .    . 

Schaumburg-Lippe     .    . 

Lippe  (keine  Aufnahme) 

Lübeck 

Bremen 

Hamburg 

Elsass-LotUringen  .  .  . 
Deutsches  Reich  .... 

(Nach  dem  ofßciellen 


51,0 
54,2 
46,2 
55,1 

61,6 

55,5 

60,8 
57,6 

32,6 

42,0 
39,8 
46,5 
45,8 
50,1 
45,6 
37,7 
46,3 
40,8 
54,3 
46,4 
43,1 
51,0 
57,1 
56,0 
48,1 
29,4 
50,4 

41,6 

57,9 
53,1 

61,5 

41,1 

59,0 
43,4 
40,5 
39,0 
45,2 

60,2 
24,6 
46,9 
49,6 
48,5 
„Statist. 


Wiesen 

und 
Weiden 


23,0 
17,7 

14,9 
18,7 
12,9 
10,5 

13,1 

28,8 
45,4 

25,0 

15,9 
17,2 

17,6 

20,4 

14,2 

23,4 

9,4 
19,5 
13,5 

18,1 
15,1 

13,2 

12,9 

12,1 

8,8 

22,9 

14,3 
13,3 
10,4 
11,7 

8,6 

9,5 

6,8 
14,4 
18,8 
19,9 
19,5 

11,9 

59,6 
26,1 

14,3 

19,1 
Jahrbuch 


Forst- 
land 


18,2 

21,2 

32,1 

19,7 

20,2 

28,9 

20,1 

6,1 

15,8 

27,9 
40,1 
30,7 
33,1 
23,3 
34,9 

31,4 

38,6 
33,0 

27,7 
30,8 
37,6 

31,3 
16,8 

25,3 

19,7 

8,8 

30,3 

41,7 

28,1 
30,5 
24,4 
45,4 
29,7 
37,9 
36,4 
37,7 
22,8 


12,8 
1,6 

3,1 
30,6 
25,7 
1880,  pag.  21.) 


Haus-  und 

Hofräume, 

Wege 


0,8 
0,7 
0,9 
0,8 
0,9 

1,^ 
1,2 

1,1 
1,0 
1,6 
0,9 
1,6 
0,5 
1,1 
2,6 
2,2 

3,0 

2,4 

3,1 

2,0 
2,6 


3,6 
3,7 


3,6 

2,9 
3,6 

2,6 


3,9 

9,6 


Oedland, 
Unland, 
Gewässer 


4,5 

13,2 
6,6 

23,4 


3,4 
3,6 

I 

S,6 


4,3 

I 

3,* 

18,0 


8,6 


83,9 

1 

6,7 


1,0 
6,2 
5,9 
5,7 
4,5 
3,7 
4,8 
6,4 
S,2 
3,5 
3,3 

4,0 
3,0 
5,1 

8,7 
5,3 
8,7 
4,3 

1,4 
1,9 
1,6 


35,3 

1,3 


1,1 

1,1 
0,9 

1,7 


11,2 

4,6 

8,9 


Die  Bodenvertheilung.  265 

lu  Oesterreich  stellt  sich  der  Procentbetrag  der  Hauptculturarten  wie  folgt: 


Länder 


'S 


< 


g 

OD 

1 

'25 

1 

9    . 
K3 

«,» 

7,6 

31,9 

95,6 

M 

18,7 

4,9 

32,8 

90,8 

9,2 

10,6 

30,5 

29,4 

80,0 

20,0 

11,7 

15,8 

45,1 

92,0 

8,0 

10,9 

23,1 

40,3 

87,5 

12,6 

16,5 

20,4 

43,0 

94,5 

5,5 

12,2 

38,5 

32,4 

93,8 

6,2 

12,0 

25,9 

37,0 

81,1 

18,9 

1,0 

56,5 

21,4 

96,4 

3,6 

12,1 

7,7 

29,0 

96,9 

3,1 

8,6 

10,6 

25,4 

95,8 

4,2 

7,* 

40,6 

31,7 

96,8 

3,2 

13,1 

40,0 

26,8 

96,1 

3,9 

11,7 

12,2 

40,7 

88,5 

11,6 

Niederösterreich  .  . 
Oberösterreich  .    .    . 

Salzburg 

Steiermark     .... 

Känitheu 

Kraiu 

Küsteulaud  .  .  .  . 
Tirol  u.  Vorarlberg 
Dalmatieii     .    .    .    . 

Böhmen 

Mähren 

Schlesien    .    .    .    .    . 

Galizieu 

Bukowina 


2,4 

40,8 

34,4 

— 

9,5 

1,* 

18,6 

0,1 

13,1 

1,0 

43,6 

2,3 

17,4 

0,3 

5,8 

5,4 

10,9 

— 

48,1 

1,1 

50,3 

— 

47,1 

— 

46,2 

— 

24,9 

In  sämmtlichen  österreichischen  Ländern  beträgt  der  productive  Boden 
92,6451$,  ^^  Ungarn  83,ii56. 

(Klun:  Statistik  v.  Oesterreich-Ungam.  S.  223.) 

§.  14L  Sie  BodenvertheUnng. 

Die  Vertheilun'g  des  landwirthschaftlichen  Eigenthums  ist  unstreitig 
einer  der  wichtigsten  und  interessantesten  Gegenstände  der  landwirth- 
schaftlichen Statistik.  Tief  greift  sie  nicht  allein  in  das  wiithschaftliche, 
sondern  auch  in  das  sociale  und  politische  Leben  der  Völker  ein. 

Was  hier,  zunächst  in  die  Augen  fällt,  ist  der  Unterschied  von 
grossem,  mittlerem  und  kleinem  Grundbesitz.  A  priori  wird  man  geneigt 
sein,  anzunehmen,  dass  die  örtlichen  Unterschiede  in  dieser  Hinsicht  zu- 
nächst von  natürlichen  Bedingungen,  nämlich  dem  Klima  und  der  Boden- 
fruchtbarkeit, sodann  von  der  Nachfrage  nach  landwirthschaftlichen  Pro- 
ducten,  abhängen  müssen.  Man  wird  geneigt  sein,  anzunehmen,  dass  in 
jenen  Gegenden,  wo  günstige  Bodenverhältnisse  und  lebhafte  Nachft'age 
eine  intensive  Bodencultur  ermöglichen,  der  kleine  Grundbesitz  vorherrschen 
müsse,  dass  dagegen  dort,  wo  aus  den  entgegengesetzten  Gründen  eine 
extensive,  Wirthschaft  geboten  scheint,  wo  namentlich  Weidewirthschaft, 
Waldwirthschaft  angezeigt  sind,  Veranlassung  zur  Erhaltung  des  Gross- 
grundbesitzes gegeben  ist. 

Die  wirklichen  Thatsachen  der  Bodenvertheilung  zeigen  jedoch,  dass 
diese  wirthschaftlichen  Bedingungen  vielfach  durch  die  geschichtliche  Ent- 


266  Die  Bodenvertheilang. 

Wickelung  beiseite  gesetzt  wurden.  Die  Entwickelung  des  landwirthschafk- 
lichen  Eigenthums  hat  keineswegs  einen  natürlichen  Gang  genommen, 
sondern  erscheint  vielfach  als  eine  künstlich  gemacht^,  als  ein  Resultat 
socialpolitischer  Factoren,  manchmal  sogar  als  ein  Resultat  der  vielhundert- 
jährigen Geltung  politischer  Rechte,  welche  heutzutage  nicht  mehr  ganz 
verständlich  sind. 

Wollte  man  sich  lediglich  damit  begnügen,  zu  ermitteln,  wie  gross 
der  Grundbesitz  ist,  welcher  im  Durchschnitt  eines  ganzen  Landes  auf 
jeden  einzelnen  Grundbesitzer  trifft,  so  würde  man  hiemit  nur  einen  sehr 
summarischen  Ueberblick  in  die  Gestaltung  des  landwirthschaftlichen  Grund- 
eigenthums  erhalten.  Eine  genauere  Einsicht  in  dieselbe  ist  nur  möglich, 
wenn  man  die  Besitzthümer  nach  ihrer  Grösse  in  etwa  3 — 5  Classen 
bringt  und  sodann  betrachtet,  wie  viel  von  der  Gesammtfläche  des  pro- 
ductiven  Bodens  in  jede  Classe  fällt,  und  wie  gross  die  Bestandtheile  der 
landwirthschaftlichen  Bevölkerung  sind,  welche  sich  auf  grossem,  mittlerem 
und  kleinem  Grundbesitze  ernähren.  Und  dieser  Ueberblick  muss  nicht 
allein  für  ganze  Staaten,  sondern  namentlich  auch  für  einzelne  Landes- 
theile  gewonnen  werden.  Er  darf  sich  endlich  nicht  blos  mit  einem  be- 
stimmten Zeitpunkte  begnügen,  sondern  muss  auch  zur  Betrachtung  jener 
Veränderungen  fuhren,  die  sich  in  der  Vertheilung  des  Grundeigenthums 
zutragen. 

Auf  die  Art  des  Besitzrechtes  und  das  Maass  der  damit  verbundenen 
Rechte  und  Pflichten,  sowie  die  Pachtverhältnisse,  welche  gleichfalls 
Objecte  der  landwirthschaftlichen  Statistik  sind,  hier  einzugehen,  würde 
zu  weit  führen. 

Anmerkung. 

Der  Gegenstand  ist  wichtig  genug,  um  einige  Bemerkungen  über  den 
thatsächlichen  Zustand  der  Bodenvertheilung  in  einigen  der  wichtigsten  Länder 
folgen  zu  lassen. 

I.  Für  die  Länder  des  Deutschen  Reiches  findet  sich  werthvolles  Material 
in  einer  Arbeit  von  v.  Scheel  (Jahrbücher  für  Nationalökonomie  etc.  Jahrg.  1865 
und  bei  y.  Viebahn:  Statistik  des  zollvereinten  etc.  Deutschlands,  II.  S.  551  ff. 
Der  erstgenannten  Arbeit  ist  zu  entnehmen: 

In  Preussen  kommt  (1864)  auf  1  Eigenthümer: 

im  ganzen  Staat  32  Morgen  =     8,i6  Hectaren. 
„    östl.     Theil     54        „        =  13,78         „ 
^    westl.      y,         10        „        =    2,65         „ 

In  Bayern  ist  die  durchschnittliche  Grösse  des  Besitzthums  einer 
landwirthschaftl.  Grundbesitzersfamilie  23,9  Tagwerk  =  8,u  Hectaren. »Auf  eine 
Familie  der  Gesammtbevölkerung  käme  ein  Areal  von  20,7  Tagwerk  =  7,06  Hect. 

Gruppirt  man  die  deutschen  Länder  nach  geographischen  Gesichts- 
punkten, so  ergibt  sich  als  durchschnittliche  Grösse  eines  land-  und  forstwirth- 
schaftlichen  Besitzthums : 


Die  Bodenyertheilang. 


267 


Freussische 
Morgen 


Hectaren 


22,6 


5,74 


16,6 

4,23 

82,0 

20,93 

64,1 

16,36 

46,5 

11,87 

46,6 

11,87 

Süddeutschlond  (Bayern,  Württemberg,  Hohen- 
zollern) 

Westdeutschland  (Westfalen,  Rheinland,  Kur- 
hessen, Rheinpfalz) 

Norddeutschland  (Hannover,  Pommern)    .... 

Ostdeutschland  (Schlesien,  Brandenburg)    .    .    . 

Mitteldeutschland 

Deutschland  überhaupt 


In  Deutschland  findet  sich  demnach  im  Norden  und  Osten  Grossgrund- 
besitz, im  Süden  und  Westen,  namentlich  in  den  Obst-,  Wein-  und  Tabaks- 
gegenden, in  der  Nähe  der  Grossstädte  und  Hauptverkehrsstrassen  dagegen 
Bodenzersplitteining  und  Kleiucultur.  In  Folge  der  neuen  Agrargesetzgebung 
ist  hier  die  Zahl  der  Kleingüter  fortwährend  im  Wachsen. 

II.  In  Oesterreich-Ungarn  treffen  (nach  A.  Frantz:  Handbuch  d. 
Statistik.  S.  285)  von  derjenigen  Fläche,  welche  der  Grundsteuer  unterliegt, 
auf  1  Grundbesitzer  (in  österr.  Joch,  a  =  0,5756  Hectaren): 


in 

Joch 

in 

Joch 

Unterösterreich 

Oberösterreich 

Salzburg 

Steiermark 

Kärnthen 

Kraiii 

11,1 
16,1 
37,0 

16,6 

24,9 

13,8 
11,0 
13,4 

11,6 

9,4 

13,8 

Galizien 

22,3 
27,2 

12,9 

6,6 

17,6 

18,4 

17,0 

13,8 

48,0 

15,8 

Bukowina 

Dalmatien 

(Venetien) 

Ungarn 

(Banat) 

Croatien  —  Slavonien   .    .    . 

Siebenbürgen 

Militärgrenze 

ganz  Oesterreich-Ungarn  . 
(oder  9,09  Hectaren) 

Küstenland 

Tirol  und  Vorarlberg  .    .    . 
Böhmen 

Mähren 

Schlesien 

III.  Frankreich.  Nach  officiellen  Erhebungen  war  1862  das  cultivirte 
Land  (ausschliesslich  der  Waldungen)  in  3,225877  Wirthschaften  getheilt,  von 
welchen  eine  durchschnittlich  10*/,  Hectaren  enthielt.  In,  Wirklichkeit  domiuirt 
Kleincultur  und  Bodenzersplitterung,  namentlich  seit  der  Revolution.  Unter 
obiger  Zahl  befanden  sich  nämlich  Wirthschaften: 

unter         5  Hectaren 56,29^ 


5-10 
10—20 
20-30 
30—40 
40  u.  mehr 


19,19  „ 

11,28  „ 
5,49  „ 
2,98  „ 


268  ^io  landwirthscliaftliühe  Beyölkenuig. 

Es  habeu  also  über  die  Hälfte  aller  Grund besitzungen  weuiger  als 
5  Hectareii,  Das  kleine  Grundeigenthum  umfasst  überhaupt  75,  das  mitttlere 
19  und  das  grosse  4  %  des  cultiyirten  Bodens.  (M.  Block:  Statistique  de  la 
France,  IL  Ed.,  Tome  II,  pag.  89.) 

IV.  In  Grossbritannien  existirten  (i.  J.  1872)  561987  Farms,  unter 
welchen  54%  die  Grösse  von  20  'Acres  (8  Hectaren)  nicht  überstiegen;  tS% 
hatten  20—100  Acres  und  iS%  über  100  Acres.  (M.  Block,  a.  a.  0.) 

§.  142.  Sie  landwirthschaftliche  Bevölkerung. 

Die  landwirthschaftliche  Bevölkerung  ist  bei  dem  Stande,  welchen 
die  landwirthschaftliche  Thätigkeit  selbst  in  den  civilisirtesten  Ländern 
einnimmt,  nicht  mit  Genauigkeit  zu  eimitteln,  hauptsächlich  wohl  deshalb, 
weil  die  Landwirthschaft  ganz  im  Kleinen  neben  anderen  Erwerbsarten 
betrieben  werden  kann.  Sieht  man  von  dieser  Schwierigkeit  ab  und  be- 
gnügt man  sich  mit  den  zweifelhaften  Werthen,  welche  die  officielle 
Statistik  bezüglich  der  landwirthschaftlichen  Bevölkerung  ergibt,  so  schafft 
die  Vergleichung  der  betreffenden  Ziffern  zunächst  den  Unterschied  von 
Ackerbau  Völkern  einerseits,  Industrie-  und  Handelsvölkern  andererseits. 
Fast  in  allen  Culturstaaten  beträgt  die  landwirthschaffcliche  Bevölkerung 
über  die  Hälfte  der  Gesammtbevölkerung;  scheint  jedoch,  wenigstens  soweit 
der  Landbau  das  Hauptgewerbe  bildet,  mit  der  zunehmenden  industriellen 
Entwickelung  in  fortwährender  Verminderung  begriffen.  Namentlich  in  der 
Nähe  grösserer  Städte  und  in  Fabrikdistricten  zeigt  sich  die  allmälige 
Umwandlung  vormals  landwirthschaftlicher  Bevölkerung  in  gewerbliche  am 
auffallendsten. 

Neben  der  absoluten  und  relativen  Zahl  der  landwirthschaftlichen 
Bevölkerung  überhaupt  ist  statistisch  wichtig  auch  der  Umstand,  ob  die 
Landwirthschaft  als  Haupt-  oder  Nebengewerbe  betrieben  wird.  Jener 
Bruchtheil  der  landwirthschaftlichen  Bevölkerung  nämlich ,  welcher  den 
Landbau  blos  als  Nebengewerbe  treibt,  ist  in  einzelnen  Ländern  sehr  be- 
deutend, in  Preussen  z.  B.  über  Ya- 

Ferner  müssen  innerhalb  der  gesammten  landwirthschaftlichen  Be- 
völkerung diejenigen  Gruppen  unterschieden  werden,  welche  durch  das 
Herrschafts-  beziehungsweise  Dienstverhältniss  entstehen.  Ihre  Unterschiede 
rühren  vielfach  aus  wirthschaftsgeschichtlichen  Thatsachen  her,  welche 
von  der  Statistik  nicht  verfolgt  werden  können. 

Anmerkung. 

Da  die  bezüglich  der  landwirthschaftlichen  Bevölkerung  ermittelten 
Ziffern  verschiedener  Länder  nicht  wohl  Vergleiche  zulassen,  kann  hier  nur 
auf  das  im  §.  13ö  über  die  Berufsclasseu  Mitgeth eilte  Bezug  genommen  werden. 


Einzelne  Zweige  der  LandtmthsehAft.  269 

§.  148.  Einselne  Zweige  der  LaEdwirthschaft. 

I.  Der  Ackerbau.  Neben  den  Wirthschaftssystemen  (Feldeintheilung, 
Culturgegenstande,  Fruchtwechsel)  und  dem  ländlichen  Bauwesen  (Gebäude 
und  Geräthe)  hat  die  Statistik  des  Ackerbaues  besonders  die  Betriebs- 
resultate zu  untersuchen,  und  zwar  sowohl  die  Gesammtproduction,  als 
auch  die  Preise  der  Ackerbauproducte,  die  Wirthschaftskosten  und  Rein- 
erträge, Bodenrenten  und  Pachtpreise. 

Untersucht  man  die  einzelnen  Zweige  des  Ackerbaues,  so  verdienen: 

A.  Die  Halmfrüchte  besondere  Aufmerksamkeit.  Die,  wenn  auch 
unmethodischen  Massenbeobachtungen  über  dieselben ,  namentlich  über 
das  durchschnittliche  Verhältniss  von  Ernte,  Anbaufläche  und  Aussaat 
sind  uralt. 

Da  neben  dem  unaufhörlichen  Schwanken  guter  und  schlechter 
Jahre  auch  stetige  Aenderungen  (in  Folge  von  Boden-  und  Betriebs- 
verbesserungen) hergehen,  ist  die  Ermittelung  der  Durchschnittsproduction 
sehr  schwierig  und  Vergleichungen  grösserer  räumlicher  Verschiedenheiten 
fast  unmöglich. 

Die  mittlere  Getreideproduction  der  wichtigsten  Länder  stellt  sich 
nach  den  neuesten  und  zuverlässigsten  Ziffern  wie  folgt  (in  Millionen 
Hectoliter.  Siehe  umstehende  Tabelle  *). 

B.  Der  Anbau  der  Blatt-  und  Wurzelgewächse  ist  mit  den 
landwirthschaftlichen  Fortschritten  im  Zunehmen  begriffen.  Was  insbeson- 
dere den  BLartoffelbau  betrifft,  so  könnte  seine  Ausdehnung,  sowie  seine 
Erträge,  verglichen  mit  der  Bevölkerung,  wohl  nur  unter  gleichzeitiger 
Berücksichtigung  der  gesammten  nationalen  (Konsumtion  zu  einem  Maass- 
stabe wirthschaftlicher  Zustände  genommen  werden. 

Der  Vorwurf,  dass  der  Kartoffelgenuss  nachtheilig  für  die  Kraft  der 
Bevölkerung  sei,  trifft  nur  für  jene  Gegenden  zu,  wo  die  Kartoffeln  als 
Hauptnahrungsmittel  auftreten.  Der  Masse  nach  wird  die  Getreideernte 
von  der  Kartoffelernte  in  einigen  Staaten  Europa's  übertroffen;  im  Ganzen 
ist  die  letztere,  obgleich  durch  Kartoffelbau  auf  einer  und  derselben  Acker- 
fläche das  Doppelte  an  Nahrungsmitteln  gegen  jede  andere  bekannte 
Getreideart  erzeugt  werden  kann,  untergeordnet,  in  Südeuropa  fast  ver- 
schwindend, wurde  jedoch  in  den  letzten  Jahrzehnten  fast  überall  be- 
deutend ausgedehnt.  Sie  beträgt  als  Mittelenite  jetzt  in  Europa,  den 
Vereinigten  Staaten  und  Australien  zusammen  850  Mill.  Hectoliter*). 

C.  Hülsenfrüchte  und  Handelsgewächse.  Letztere  namentlich 
sind  wegen  der  Zunahme  und  des  Fortschrittes  ihrer  Cultur  beachtens- 
werth,  besonders  Oel-  und  Gespinnstpflanzen.  Diese  folgen  in  ihren  Anbau- 
verhältnissen jedoch    nicht    allein    besonderen  klimatischen    Bedingungen, 


270 


Einzelne  Zweige  der  Landwirthschaft. 


sondeni  ganz  empfindsam  auch  dem  Gange  jener  Industriezweige,  welchen 
sie  als  Rohstoif  dienen. 


Läuder 


0)    bQ 


bo 
bo 


O 


CS 


Russland  (1870—74) 

Deutsches  Reich  (1878)  .  .  . 
Fraukreich  (Mittelenite)  .  .  . 
Oesterreich-Uugaru  (1869—77) 
Grossbritaunien  u.  Irland  (Mit- 
telerute)      

Italien  (Mittelenite  1870—74)    . 

Spanien  (Schätzung) 

Untere  Donaul äuder  (Durchschn.) 
Dänemark  (Mittelernte  1871-76) 
Schweden  (1874—76)     .... 

Belgien  (Mittelenite) 

Niederlande  (Mittel  1861-77) 
Portugal  (Mittelernte)     .... 
Norwegen  (1873-75)     .... 

Griechenland  (1875) 

Vereinigte  Staaten  (1870—78) 
Brittisch  Ostindien  (Schätzung) 

Canada  (1870) 

Australien  (1873—78)  .  .  . 
Aegypten  (Schätzung)  .... 
Chile  (1871,  Schätzung)     .    .    . 

Algier  (1875-76) 

Japan  (1874) 

Summe  dieser  Länder  . 


79,6 

41,8 

104,2 

31,7 

.30,9 

51,8 

53,0 

28,7 

1,3 

1,1 
8,2 

1,9 

3,0 

0,1 

1,6 

105,0 
100,0 

6,2 

7,6 
5,5 

4,8 

9,0 
4,0 


241,6 

101,2 

26,3 
40,2 


0,7 


6,7 


7,0 

6,4 
4,7 
6,7 

6,0 

3,5 
2,3 
0,8 

0,0 

6,3 

? 

0,4 


0,0 


680,9 


456,9 


44,1 
38,7 
20,2 
26,3 

32,9 

27,0 

13,5 

6,9 

5,0 

1,5 

1,6 

0,6 
1,6 
0,6 

11,4 

? 

4,2 
0,6 
3,9 
1,2 
16,5 

18,0 


195,3 

119,6 

70,3 
42,4 

62,0 
7,4 
9,0 
3,0 

9,7 
15,2 

7,8 

4,1 

0,4 
3,2 

0,0 
106,6 
? 

16,6 

3,1 


0,6 


? 
? 
10,4 

22,0 

? 
31,1 

8,7 
23,6 


7,1 


1,0 

394,5 
? 

1,4 

1,8 
4,8 

0,2 


279,6 


676,3 


506,6 


29,4 
11,1 

19,2 

7,5 


5,6 

? 

1,6 
1,1 
1,8 

? 
1,2 

? 
0,7 
0,6 
3,2 

? 

1,4 
3,6 

1,0 

12,0 


101,0 


(Unter   die   Rubrik    „Anderes   Getreide"   fällt  hauptsächlich   Buchweizen 

und  Hirse.) 

D..  Wiesen  und  Weiden.  Die  Production  ist  dem  Ertrage  nach 
sehr  verschieden,  bei  den  Weiden  noch  mehr,  als  bei  den  Wiesen.  Der 
Umfang  der  Weiden  wird  durch  die  Fortschritte  der  Bodencultur  mehr 
und  mehr  eingeschränkt.  Von  Wichtigkeit  ist  das  Verhältniss  der  Gras- 
flächen zum  Ackerlande,  weil  Fruchtfolge  und  Viehstand  davon  abhängen. 

E.  Die  Summe  aller  Naturalerträge,  auf  Aeckem,  Wiesen, 
und  Weiden,  das  Verhältniss  derselben  gegen  einander  und  die  darnach 
auf  den  Morgen  Land  und  auf  den    Kopf  der   Bevölkerung  entfallenden 


Einzelne  Zweige  der  Landwirthschaft.  271 

Naturalerträge.    Letztere  müssten,  um  verglichen  werden  zu  können,  auf 
einen  gemeinsamen  Werth  reducirt  werden. 

Je  grösser  die  Mannigfaltigkeit  der  Naturalerträge  ist,  desto  schwie- 
riger wird  die  Reduction  auf  gleiche  Einheiten  und  damit  die  Vergleichung. 
Je  nach  der  Natur  der  Länder  und  der  Volkssitte  wiegt  in  der  landwirth- 
schaftlichen  Production  hier  dieses,  dort  jenes  Erzeugniss  vor. 

So  zeigt  die  oben  mitgetheilte  Uebersicht,  wie  der  Weizen  in 
Italien,  Spanien,  den  unteren  Donauländem  (hier  vordem  der  Mais)  und 
anderwärts  das  Hauptproduct  der  Landwirthschaft  ist,  der  Roggen  in 
Russland,  Gerste  in  Algier,  Hafer  in  Grossbritannien  und  anderwärts,  Mais 
in  den  Vereinigten  Staaten,  während  im  Deutschen  Reiche  die  Kartoffel- 
production  alle  übrigen  Producte  des  Landbaues  der  Masse  nach  über- 
trifft und  in  Frankreich  und  Oesterreich  etc.  wenigstens  der  Masse  nach 
ebenfalls  das  Hauptproduct  bildet.  Hierbei  muss  jedoch  erwogen  werden, 
dass  nicht  die  Hectoliterzahl,  sondern  der  Nährwerth  und  der  Marktpreis 
das  Entscheidende  sind. 

n.  Gartenbau  und  Kleincultur  ist,  wie  alle  seit  langer  Zeit 
civilisirten  und  stark  bevölkerten  Länder  zeigen,  eine  Noth wendigkeit  bei 
stark  anwachsender  Bevölkerung;  sie  erhöhen  den  Nationalreichthum  durch 
intensive  Bodenbenützung  und  den  Lebensgenuss  durch  Production  feinerer 
Nahrungsmittel.  Besonders  charakteristisch  beim  Gartenbau  und  der  Klein- 
cultur sind  die  hohen  Reinerträge,  theilweise  auch  die  besondere  Abhän- 
gigkeit von  klimatischen  Verhältnissen  (Obst-,  Wein-  und  Tabakbau). 
Beim  Weinbau  sind  besonders  bewegliche  Verhältnisse  bemerkbar;  sogar 
die  Flächen  des  Weinlandes  sind  schwankend;  man  bemerkt  an  ihnen 
fortwährend  Ab-  und  Zunahme,  je  nach  der  Häufigkeit  guter  und 
schlechter  Weinjahre.  Noch  mehr  sch^irankt  die  Production,  in  Frankreich 
z,  B.  ergab  das  Jahr  1854  eine  Ernte  von  10,7,  das  Jahr  1865  eine 
solche  von  68,9  Mill.  Hektoliter  Wein,  also  eine  Differenz  um  das  sieben- 
fache. In  Preussen  schwankte  die  Production  sogar  von  1800 — 1858  in 
einem  Verhältniss  wie  1  :  39. 

Anmerkungen. 

*)  Die  Uebersicht  ist  aus  Neumaan-Spallart.  Uebersichteu  über  Pro- 
duction, Verkehr  uud  Handel.  Jahrg.  1879,  pag.  87. 

Bezüglich  des  Deutscheu  Reichs  uud  Oesterreich-Unganis  dürften  noch 
folgeude  eingehendere  Mittheilungeu  am  Platze  seiu. 

I.  Im  Deutscheu  Reiche. 

Die  Anbauflächen  der  wichtigsten  Bodenfrüchte  stellten  sich  1878  wie 
folgt.  Es  wurden  bebaut  Hectar  mit: 


272 


Einzelne  Zweige  der  Landwirthschaft. 


i  n 

Weizen 

Spelz, 

Emer, 

Einkorn 

Roggen 

Gerste 

Hafer 

Kar- 
toffeln 

Preussen      .... 

Bayern 

Sachsen  .    .    .    .    . 
Württemberg     .    . 

Baden 

Elsass-Lothringen 

im  Deutsch.  Reich 

Im    Reich    %    der 

Gesammtfläche     . 

1,026773 

298780 

45573 

21154 

39432 

191724 

1,813754 

3,4 

19130 
97322 

197928 

79053 

1131 

403336 

0,8 

4,470463 

578214 

223074 

39165 

47013 

40660 

5,934937 

11,0 

876794 
320535 
35408 
89696 
58550 
55590 
1,620483 

3,0 

2,465992 

439552 

174011 

133825 

58506 

92984 

3,743070 

6,9 

1,880241 

281949 

114765 

77050 

84910 

86915 

2,753216 

5,1 

Die  Erntemengen  aber  stellten  sich  wie  folgt  im  Reiche: 
Weizen     ....    2,607186  Tonnen    (a  1000  Kilo)  oder  1,44  Tonnen  pro  Hectar 
Roggen     ....    6,919667        „  „  „  „      1,17        „         „         „ 

Gerste 2,325227         „         „  „  „      1,44        „         „  ^ 

Hafer 5,040240        „         „  „  „      1,36        „         „  „ 

Kartoffeln    .    .   .  23,592781        „         „  „  „     8,67        „         „         „ 

IL  In  Oesterreich-Ungarn  stellten  sich  die  Durchschnittsernten  an 
dfen  Hauptgetreidearten  wie  folgt  (in  Millionen  Hectolitern): 


Oesterreich ; 
1869-1877 
Weizen     ....    •  .    .    .    .  12,3 

Roggen 24,8 

Gerste 15,9 

Hafer 29,9 

Mais 5,2 

Buchweizen  und  Hirse     .    .     — 
Anderes  Getreide   .    .    .   .    .    3,2 
Zusammen  .    .  91,473 


Ungarn: 
1869—1877 

19,4 
15,4 
10,3 
12,4 
16,8 

3,4 

0,7 
79,756 


Pro  Hectar  betragen  die  Bodenerträge  nach  achtjährigem  Durchschnitt 

in  Oesteri'eich:  in  Ungarn: 

Weizen 12,7  Hectol.  9,2  Hectol. 

Roggen 12,4        „  10,0        „ 

Gerste .  14,7        „  11,8        „ 

Hafer 16,6        „  12,6        „ 

Mais 16,9        „  11,0        „ 

*)  Die  Kartoffelproduction  der  wichtigsten  Länder  beträgt  nach  mehr- 
jährigem Durchschnitte  in: 
Deutsches  Reich   .    .  272     Mill.  Hectol. 


Frankreich 
Russland     . 
Oesterreich 
Ver.  Staaten 


.  130,5 
.  127 
.    87,1 
.    54,1 


Irland 43,8  Mill.  Hectol.. 

Grossbritannien .    .    .    30,4     „  „ 

Belgien    ......    26,3     „  „ 

Schweden 18,5     „  „ 

Niederlande 17,7      ,.  ., 


Die  Viehzucht  273 


üngaru 13,1  Mill.Hectol 

Italien 8,1     „  „ 

Norwegen 7,2     „  „ 

Spanien  2,2  Mill.  Hectol 
(Nach  Neumann-Spallart  a.  a.  0.  S.  91.) 


Dänemark 5,i  Mill.Hectol. 

Austral.  Colonieu    .    .    3,3      ^  „ 


Portugal 3,0 


§.  144.  Sie  Vielumcht. 

Die  Viehzucht,  ein  Productionszweig,  welcher  bei  vorgeschrittenen 
wirthschaftlichen  Zuständen  als  Nebengeschäft  des  Ackerbaues  betrieben 
wird  und  durch  Wiesencultur  und  Bau  von  Futterkräutern,  Racenvered- 
lung  etc.  auch  einer  intensiven  Wirthschaftsmethode  Zugang  gewährt,  ist 
in  neuerer  Zeit  gleichfalls  ein  Lieblingsgegenstand  der  wirthschaftlichen 
Statistik  geworden  *). 

Die  Gegenstände  der  Viehstatistik  zerfallen  in  folgende  Haupt- 
gruppen : 

A.  Statistik  des  Viehstandes.  Sie  gibt  die  Stückzahl  jeder 
Viehgattung,  möglichst  nach  Alter  und  Geschlecht  unterschieden,  an.  Ge- 
schlecht und  Alter  jeder  Viehart  bestimmen  den  Futterbedarf  und  die 
Erträge.  Die  Vertheilung  des  Viehstandes  auf  seine  verschiedenen  Lebens- 
alter gibt  Aufschluss  über  die  Zahl  der  im  Aufwuchs  begriffenen  und  der 
bereits  nutzbar  gewordenen  Thiere. 

Nächst  der  Stückzahl  ist  die  Qualität  wichtig.  Schnellwüchsigkeit 
und  Futterverwerthung,  Kraft,  Schnelligkeit  und  Ausdauer,  Milch-  und 
Wollreichthum  und  Productenwerth  können  nur  durch  genaue  zahlreiche 
Beobachtungen  ermittelt  werden,  noch  schwerer  andere  Eigenschaften,  wie 
namentlich  die  Vererbungsfähigkeit. 

Von  hoher  Bedeutung  ist  das  Verhältniss  des  Viehstandes 
zur  Boden  fläche^).  In  directer  Beziehung  zur  Bodenfläche  steht  das 
landwirthschaftliche  Arbeitsvieh.  35  Stück  Grossvieh  (Rinder  und  Pferde) 
auf  1  Quadrat-Kilometer  ist  in  Deutschland  das  durchschnittliche  Ver- 
hältniss, welches  jedoch  in  den  einzelnen  Ländern  bemerkenswerthe  Ver- 
schiedenheiten zeigt.  Diese  innige  Beziehung  des  Viehstandes  zur  Boden- 
fläche wird  aber  nicht  nur  durch  die  Arbeitskraft  des  Viehes,  sondern 
auch  durch  das  Düngerbedürfhiss  und  den  Futterzuwachs  hergestellt.  Boden 
und  Vieh  sind  gegenseitig  auf  einander  angewiesen. 

Man  nimmt  an,  dass  jeder  Zentner  lebenden  Viehgewichts  jährlich 
11  Ztr.  Heuwerth  braucht.  Berechnet  man  daher  den  Futt^rvorrath  eines 
Landes  in  Heuwerthen,  so  erhält  man,  wenn  man  dieses  Gewicht  durch 
11  dividirt,  das  Gewicht  des  Viehes,  welches  mit  diesem  Futter  jährlich 
zu  erhalten  ist. 

Die  Stückzahl  des  Viehes  wird  aber  auch  vielfach  durch  die  Race 
und  Beschaffenheit  des  Schlages  beeinflusst.   Eine   gute,    stärk   gefütterte 

HAQshofer,  Statistik.  2  An  11.  {^ 


274  Die  ViehzncM. 

Holländerkuh  bedarf  wohl  das  Sfache  an  Futter  und  liefert  das  lOfachc 
an  Milch  gegen  einen  schlecht  genährten  Höhenschlag. 

Wichtiger  ist  das  Verhältniss  des  Viehstandes  zur  Volks- 
zahl. Stets  ist  jene  Bevölkerung,  welche  ihren  Bedarf  an  Vieh  aus 
eigenem  ßeichthume  befriedigt,  in  mannigfacher  Weise  begünstigt  vor 
jener,  welche  durch  Einfuhr  fär  denselben  sorgen  muss. 

Der  relative  Viehstand  hat  in  Europa  in  den  letzten  Jahrzehnten 
namhafte  Abnahme  erlitten,  welcher  allerdings  der  Umstand  gegenüber- 
gestellt werden  muss,  dass  man  durch  Verbesserung  der  Racen  und  durch 
rationellere  Eraährungsmethoden  jetzt  werth vollere  Thiere  erzeugt,  als 
vordem.  So  hat  man  in  Frankreich  constatirt,  dass  das  Durchschnitts- 
gewicht eines  lebenden  Ochsen  von  413  Kilogramm  im  Jahre  1840  auf 
456  Kilogramm  im  Jahre  1862  gestiegen  ist;  das  Lebendgewicht  der 
Kühe  von  240  Kilo  im  Jahre  1739  auf  324  im  Jahre  1862  und  im 
gleichen  Zeiträume  das  der  Kälber  von  48  auf  65  Kilo.  Durch  solche 
Racenverbesserung  ist  die  verminderte  Stückzahl  mehr  als  aufgewogen; 
und  man  darf  zuversichtlich  annehmen,  dass  Aehnliches  auch  in  den  übrigen 
Hauptculturländern  stattfindet  ^). 

Wachsende,  an  Wohlstand  zunehmende  Bevölkerung,  landwirth- 
schaftlicher  Fortschritt  insbesondere  verbessern  den  Viehstand,  namentlich 
an  Milch-  und  Schlachtvieh.  Die  Haltung  von  Handelsvieh  und  von 
Vieh,  welches  Handelswaare  erzeugt,  geht  nicht  mit  der  Bevölkerungs- 
zunahme parallel,  weil  die  Ernährung  solchen  Viehes  bei  dichter  Bevöl- 
kerung zu  theuer  wird. 

Auf  die  Vermehrung  oder  Verminderung  des  Viehstandes  nehmen 
die  Ernten  bedeutenden  Einfluss.  Besonders  Schweine,  Schafe  und  Pferde 
geringerer  Qualität  werden  bei  schlechten  Ernten  abgeschafft.  Auf  den 
Pferdestand  nehmen  begreiflicherweise  Kriege  einen  fühlbaren  Einfluss. 

Ein  schnelleres  Anwachsen  des  Viehes  als  der  Bevölkerung  bedeutet 
unter  gleichen  Umständen  eine  Zunahme  der  landwirthschaftlichen  Industrie 
und  bessere  Volksernährung. 

Die  Standorte  der  Viehzucht  werden  hauptsächlich  durch  die 
Haltbarkeit  und  Transportfähigkeit  der  Viehproducte  gegen  die  Haupt- 
con€umtionsplätze  bestimmt. 

B.  Statistik  der  Viehzucht.  In  dieser  Hinsicht  sind  zunächst 
Zahl,  Beschaffenheit  und  Race  der  Zuchtthiere,  sowie  die  zur  Zucht  ge- 
troffenen Anstalten  darzustellen.  Dann  das  zur  Fortpflanzung  geeignete 
Verhältniss  zwischen  der  Zahl  der  Geschlechter,  welches  bei  den  verschie- 
denen Viehgattungen  verschieden  ist.  Nach  den  gegenwärtigen  Erfahrungen 
der  Viehzucht  reicht  zur  Fortpflanzung  ein  männliches  Thier  bei  Pferden 
für  50  bis  60,  bei  Rindern  für  30—80,  bei  Schafen    für   60—100,   bei 


Dit  YiehKncht  275 

Schweinen  für  25 — 40  weibliche  Thiere.  Audi  das  Vieh  hat  seine  Alters- 
classen,  die  Perioden  der  Auffötternng,  Erziehung  und  Abrichtung  .(beim 
Rindvieh  bis  zum  2.  und  3.,  bei  Pferden  bis  zum  4.  und  5.  Jahre),  die 
der  Production  und  die  der  Entwerthung. 

In  der  Zeit  der  Aufzucht  sind  die  Resultate  der  verschiedenen,  den 
Thieren  gegebenen  Futtermittel  Gegenstand  statistischer  Beobachtung. 
Nach  den  Futtermitteln  modificiren  sich  nicht  nur  die  in  der  Körper- 
materie des  Thieres  ruhenden  Eigenschaften:  Gediegenheit,  Ausdauer, 
Kjaft,  Schnelligkeit,  sondern  auch  die  Producte:  Fleisch,  Fett,  Milch, 
Butter,  Wolle. 

Auch  der  Abgang  ist  von  statistischem  Interesse.  Die  Lebensdauer 
eines  Pferdes,  so  lange  es  noch  arbeiten  kann,  wird  auf  14 — 16  Jahre 
angenommen.  Das  Rind  kann  ein  Alter  von  20 — 25  Jahren  erreichen, 
ist  jedoch  wohl  nur  halb  so  lange  nutzbar.  Die  Lebensdauer  der  grossen 
Niederungsschafe  beträgt  10,  der  Merinos  20  Jahre;  die  Entwerthung  be- 
ginnt indessen  schon  früh.  Die  Lebensdauer  der  Schweine  ist  noch  kürzer. 
Die  seuchenartigen  Abgänge  und  ihre  statistische  Darstellung  sind  von 
praktischer  Wichtigkeit  für  die  Viehversicherung. 

C.  Statistik  der  Viehnutzung.  Unter  Viehnutzung  versteht  man 
die  Verwerthung  des  Viehes  für  die  Land-  und  Volkswirthschaft.  Hier 
sind  namentlich  zu  betrachten :  Die  Roh-  und  Reinerträge  und  der  Capi- 
talswerth. 

Bezüglich  ersterer  fragt  sich's,  in  welchem  Maasse  das  Vieh  ausge- 
nützt wird,  wie  sich  die  Preise  von  Milch,  Butter,  Fleisch,  Wolle 
und  lebendem  Vieh  stellen,  und  wie  hoch  daher  der  jährliche  Ertrag 
angeschlagen  werden  kann.  Man  berechnet  in  Deutschland  den  Reinertrag 
auf  circa: 

^  des  Rohertrages     %  des  Bestaudwerthes 

bei  Pferden 10  11 

„    Rindern 15  16 

„    Borstenvieh 15  21 

„    Ziegen 15  22 

„    Wollvieh 8  8 

Seinen  wirthschaftlichen  Ausdruck  findet  der  Bestandswerth  im 
Preise  der  verkauften  Stücke. 

Anmerkungen. 

*)  Die  Statistik  der  Hausthiere  hat  verhaltnissmässig  weniger  mit  Schwie- 
rigkeiten zu  kämpfen,  als  die  meisten  anderen  Zweige  der  wirthschaftlichen 
Statistik.  Viehzählungen  haben  auch  schon  frühzeitig  stattgefunden;  in  Sachsen 
schon  1697.  Von  älteren  deutschen  Arbeiten  seien  die  von  Hoffmann,  Dieterici, 
Lengerke,  v.  Hermann,  Engel  hier  wenigstens  erwähnt.  In  Viebahu's  Statistik 
des  zoll  vereinten  etc.  Deutschlands  findet  sich  eine  gediegene  und   vollständige 

18* 


276 


Die  ViehzncM. 


Untersuchung  über  den  Viehstand  des  deutschen  Zollvereins,  welche  hier  als 
hauptsächlichster  Anhaltspunkt  benutzt  ist  —  mit  Ausschluss  der  durch  die 
Zeit  überholten  Zahlen. 

^)  £s  treffen  auf  den  Quadratkilometer  (nach  den  letzten  Viehzählungen 
berechnet) ; 


a 

in 

Rinder 

Pferde 

Schafe 

Schwei- 
ne 

Ziegen 

Esel 

und 

Maulesel 

Deutsch.  Reich  1873 
Preussen  .   .    .     „ 
Bayern     .    .    .     „ 
Sachsen    .    .    .     „ 
Württemberg .     „ 
Oesterreich  .    .1869 
Ungarn    .    .   .     „ 

29,2 
24,8 
40,4 
43,2 

48,6 

24,7 

16,3 

6,2 
6,6 

4,7 

7,7 
5,0 

4,6 
6,6 

46,2 
56,6 

17,7 
13,8 

29,6 

16,7 

46,6 

13,2 
12,3 
11,6 

20,1 

13,7 

8,4 

13,7 

4,3 
4,3 
8,6 
7,0 
8,0 
3,« 

1,8 

? 
? 
? 
? 

? 
0,1 

0,2 

*)  Das  Verhältniss  des  Viehstaudes  zur  Volkszahl  hat  sich  in  den  euro- 
päischen Ländern  (soweit  sichere  Nachrichten  darüber  vorhanden  sind)  folgen- 
dermassen  verändert: 


Bevölkerung 
der      , 
verglichenen 
Länder 

Auf  1000  Einwohner  treffen 

Rinder 

Schafe 

Schweine 

Millionen 

um  das  Jahr  1832  circa    . 

„      ^       „      1857     „       . 

r>      «        ^      1869      „       . 
in  neuester  Zeit         „ 

215 
244 

278 
294 

328 
355 
331 
310 

764 
724 
700 
682 

197 
156 

152 
156 

(Nach  Neumann-Spallart:  Uebersichten.  Jahrg.  1879,  S.  95.) 
Eine  Uebersicht  dieses  Verhältnisses  in  den  einzelnen  europäischen  Staaten 
ergibt  Folgeüdes.  Auf  1000  Einwohner  treffen:. 


9 

'S 


'S 

CO 


CZ3 


Frankreich       1872 

Grossbritannien  und  Irland     .    .    .  1876 

Belgien 1866 

Niederlande 1874 

Dänemark 1871 

Schweden 1874 


79 
88 
38 
74 
176 
102 


313 
316 
274 
375 
694 
495 


684 
1070 

121 

233 
1032 

390 


149 
109 
131 

87 
248 

94 


49 

8 

41 

40 

26 


Die  Forstwirihschaft. 


277 


5 


C/2 


'S 

«3 


? 
^ 


N 


Norwegen 1875 

Deutsches  Reich 1873 

Preussen  allein ^ 

Bayern y 

Russland 1872 

Oesterreich-Ungarn 1869 

Schweiz 1876 

Italien 1874 

Spanien - 1865 

Portugal 1870 

Griechenland 1867 

Rumänien 1866 

Serbien , 

Vereinigte  Staaten 1875 


82 
82 
92 
73 

225 
91 
36 
18 
41 
20 
68 

117 
? 

243 


537 
384 
350 
630 
343 
354 
382 
130 
185 
119 
78 
598 
609 
706 


981 

609 

797 

276 

699 

600 

172 

324 

1404 

620 

1314 

1049 

2204 

876 


58 
174 
174 
179 
151 
195 
117 

59 
272 
478 

40 

237 

1062 

751 


185 
57 
60 
40 
16 
73 
148 
63 
? 

? 
1571 
94 
? 

9 


(Nach  .M.  Block:  Traite  theorique  et  pratique  de  statistique;  pag.  497, 
wobei  jedoch  die  Ziffern  für  die  deutschen  Länder  nach  den  officiellen,  Angaben 
richtiggestellt  wurden.) 

n.  §.  145.  Die  Forstwirthschaft '). 

Bei  der  Forststatistik  ist,  da  in  der  Forstwirthschaft  die  mensch- 
lichen Arbeitskräfte  sowohl  als  das  Betriebscapital  als  Productionsfactoren 
in  den  Hintergrund  treten, 

L  Die  Substanz  der  Wälder  ein  Hauptgegenstand  der  Beob- 
achtung. 

Zunächst  handelt  es  sich  darum,  die  absolute  Waldsubstanz  eines 
bestimmten  Gebietes  zu  ermitteln.  Die  Ermittlung  geschieht  theils  durch 
Messung  und  Berechnung,  theils  durch  blosse  Schätzung. 

Geht  man  zur  Beobachtung  der  relativen  Waldsubstanz  über,  so  ist 
zu  betrachten: 

A.  Das  Verhältniss  der  Waldungen  zur  Länderfläche.  Der  Wald- 
reichthum  der  Länder  wird  bedingt  durch  ihre  Oberflächen-  und  Boden- 
beschaffenheit. Auf  gutem  Boden  und  in  milderem  Klima  gedeiht  der 
Wald  natürlich  besser  als  unter  ungünstigen  Umständen.  Aber  er  gedeiht 
auch  noch  auf  Boden,  der  für  Getreide  zu  schlecht  ist,  namentlich  auf 
unebenen  Ländertheilen,  in  Hochgebirgen. 

Die  relative  Bewaldung  ist  sowohl  in  den  einzelnen  Staaten,  welche 
eine  Forststatistik  besitzen,  als  auch  in  den  einzelnen  Staatstheilen  eine 
sehr  verschiedene. 


278  Die  Forstwirthschaft. 

B.  Weit  bedeutungsvoller  ist  das  Verhältniss  der  Waldungen  zur 
Bevölkerung.  Dichte  Bevölkerung  und  grosser  Waldreichthum  können 
in  der  Regel  nicht  nebeneinander  bestehen.  Bei  zunehmender  Bevölkerung 
und  Landcultur  werden  die  Waldungen  nach  und  nach  auf  den  absoluten 
Waldboden  beschränkt.  Namentlich  verschwinden  die  zusammenhängenden 
Waldungen  in  hochcultivirten,  mit  gutem  Boden  gesegneten  Ebenen  und 
Küstenländern  *). 

Die  Frage,  wie  viel  Waldboden  dazu  gehört,  um  der  Bevölkerung 
ihren  Holzbedarf  zu  sichern,  lässt  sich  schwer  beantworten.  Die  Erfah- 
rung und  die  Theorie  sind  nicht  im  Stande,  ein  allgemein  giltiges  Maass 
des  durchschnittlichen  jährlichen  Holzbedarfes  für  jeden  Kopf  der  Be- 
völkerung zu  ermitteln,  und  zwar  sowohl  an  Bau-  und  Nutz-,  als  an 
Brennholz. 

Um  ein  solches  Maass  zu  ermitteln,  müsste  man  nämlich  verschie- 
dene örtliche  Verhältnisse  berücksichtigen: 

1.  Beim  Bauholz  die  Bauart,  ob  massiv  oder  in  Fachwerk  u.  s.  f. 
gebaut  wird,  femer  die  Bedachung,  ob  mit  Schiefer,  Stroh,  Schindeln  u.  s.  f. 
gedeckt  wird,  endlich  ob  und  wie  viel  die  Fabriken  und  Bergwerke  an 
Bauholz  bedürfen. 

2.  Beim  Nutzholz,  ob  in  der  Gegend  solche  Holzarten  wachsen,  die 
von  Gewerbetreibenden  benützt  werden  können. 

3.  Beim  Brennholz  das  Klima  und  die  Dauer  des  Winters,  den  Um- 
fang der  Brennholz  verbrauchenden  Gewerbe  und  Fabriken,  die  Menge 
der  Brennholzsurrogate  und  die  Feuerungseinrichtungen. 

Diese  Verhältnisse  sind  die  Bestandtheile,  aus  welchen  das  Holz- 
bedürfniss  sich  zusammensetzt.  Sie  sind  überall  andere  und  deshalb  ist 
auch  das  mittlere  Holzbedürfniss  in  jeder  Gegend  ein  anderes. 

Dazu  kommt  noch,  dass  der  nachhaltige  Materialertrag  aus  den 
Forsten  sich  nur  schwer  und  unsicher  ermitteln  lässt. 

Man  hat  vor  längeren  Jahren  als  Durchschnittsertrag  während  der 
ganzen  Umtriebszeit  eines  Waldes  30  Kubikfuss  Holz  fiir  den  preussischen 
Morgen  angenommen;  den  Holzbedarf  für  .den  Kopf  schlug  man  eben  so 
hoch  an  und  kam  demnach  zu  dem  Schlüsse,  dass  jedes  Land  so  viel 
Morgen  Wald  haben  müsse,  als  die  Volkszahl  beträgt  und  dass  ausser- 
dem entweder  Waldmangel  oder  Ueberwaldung  herrsche.  Die  BrennhoU- 
surrogate  würden  das  Verhältniss  natürlich  ändern. 

Bei  der  ungleichen  Bewaldung  und  Bevölkerung  der  Länder  ist  das 
Verhältniss  zwischen  Bewaldung  und  Bevölkerung  ein  wechselndes. 

C.  Die  Besitzkategorien  der  Waldungen,  d.  i.  die  Vertheilung 
der  Waldungen  als: 


Die  ForstwirthBchaft. 


279 


1.  Staatsforsten; 

2.  Gemeindeforsten; 

3.  Stiftungsforsten  und 

4.  Privatforsten. 

Dieses  Verhältniss  ist  von  volkswirthschaftlicher  Bedeutung  deshalb, 
weil  sich  die  Forstwirthschaft  vorzugsweise  für  grosse  Besitzungen  eignet, 
weil  geregelte  Forstwirthschaft  bei  grosser  Zersplitterung  des  Waldbesitzes 
unmöglich  ist.  Die  Waldungen  als  Staats-,  Gemeinde-  und  Stiftungs- 
forsten sind  dauernder  dem  Zwecke  der  Holzproduction  gewidmet,  als 
wenn  sie  den  wechselnden  Interessen  einzelner  Besitzer  dienen  sollen.  In 
Deutschland  ist  im  Ganzen  über  Y,  der  gesammten  Waldfläche  Staats- 
forst; nicht  ganz  die  Hälfte  derselben  ist  Privateigenthum,  der  Rest  ist 
Besitz  von  Gemeinden  etc. 

IL  Die  Bestand-  und  Betriebsverhältnisse.  Dieselben  sind 
verschieden : 

1.  Nach  den  Holzarten:  Laub-  und  Nadelholz; 

2.  Nach  den  Betriebsarten:  Hochwald,  Mittelwald  und  Niederwald. 
Obwohl  in  den  einzelnen  Staaten,  welche  eine  geordnete  Forsjver- 

waltung  besitzen,  über  diese  Verhältnisse  zuverlässige  Erhebungen  be- 
stehen, so  müssen  wir  uns  hier  doch  damit  begnügen,  diese  Gegenstände 
der  Forststatistik  blos  zu  erwähnen;  ebenso 

tn.  die  Untersuchung  der  Roh-  und  Reinerträge  aus  den  Wal- 
dungen, und  zwar  die  Erträge  vom  Holze  sowohl,  als  jene  der  anderen 
Forstnutzungen. 

Anmerkungeu. 

*)  Auch  bezüglich  der  Forststatistik  ist  das  angeführte  Werk  von  Vie- 
bahii:  Statistik  des  zoUvereiiiteu  etc.  Deutschlands  Bd.  II,  S.  619  ff.  als  Grund- 
lage genommen  und  nur  wo  es  nöthig  schien,  neuere  Zahlen  und  solche  aus 
ausserdeutschen  Ländern  herangezogen  worden. 

')  Die  Ausdehnung  der  Waldungen  beträgt 

L  In  den  wichtigsten  europäischen  Ländern: 


'S  -»I 


Oesterreich-Ungam 
Deutsches  Reich  . 
Russland  (europ.) 

Italien 

Schweden  .... 
Norwegen  .... 
Niederlande  .   .    . 


18004 

? 
138643 

4452 
17568 

? 

? 


5  a_g 


33,00 

26,10 
30,90 
15,00 
60,00 
66,00 
7,10 


|i| 

Ja         W 


Belgien 

Grossbritann.  u.  Irland 

der  Schweiz 

Spanien 

Portugal 

Europ.  Türkei  .    .   .    . 
Griechenland     .    .   .   . 


485 
? 
? 
? 
? 
? 
? 


I 

S  a  « 
-^  a-g 

o 


18,52 

4,00 

15,90 
5,52 
4,40 

15,00 

18,83 


280 


Die  Gewerbe  überhaupt. 


(Nach  M.  Block:  Statistique  de  la  Frauce  II.  Ed.  T.  II,  pag.  27  und  80. 
Diese  Zahleu  fiudeii  bezüglich  Deutschlands  und  Oesterreich-Ünganis  in  Fol- 
gendem eine  Rectificirung.) 

II.  Im  Deutschen  Reich  insbesondere  gestaltet  sich  nach  den  officiellen 
Erhebungen  über  die  Bodenbenutzung  (Jahrb.  f.  1880,  S.  21)  die  Ausdehnung 
des  Forstlandes  wie  folgt.  Von  der  Gesammtfläche  des  Reiches  waren 
13,839769  Hectaren  Forstland,  das  ist  25,75!^.  In  den  einzelnen  Ländern  und 
Provinzen  beträgt  die  relative  Ausstattung  mit  Forstland: 

%  der  Gesammtfläche: 

Das  bayrische  Franken  34,9 

Uebriges  Bayern  r.  Rh.  31,4 

Bayern  1.  Rh 38,6 

Bayern 33,o 

Sachsen 27,7 

Württemberg    ....  30,8 

Baden 37,6 

Hessen 31,3 

Mecklenburg-Schw.  16,8 
Sachsen -Weimar  .  .  25,3 
Mecklenburg-Str.     .    .  19,7 

Oldenburg 8,8 

Braunschweig  ....  30,3  1 

Sachsen-Meiningen  .    .  41,7  |  Elsass-Lothringen     .  30,6 
III.  Bezüglich    Oesterreich-Ungarns   ist  nach    den    officiellen  Erhe- 
bungen über  die  Bodencultur  i.  J.  1869  der  Procentbetrag  der  Waldfläche: 


Ostpreussen  ....  18,2 
Westpreussen  .  .  .21,2 
Brandenburg  ....  32,i 
Pommern     .    .    .    .    .19,7 

Posen 20,2 

Schlesien 28,9 

Prov.  Sachsen  .  .  .  20,i 
Schleswig-Holstein    .    6,i 

Hannover 15,8 

Westfalen, 27,9 

Hessen-Nassau  .    .    .  40,i 

Rheinland 30,7 

Hohenzollern  ....  33,i 
Ganz  Preussen  .    .    .  23,3 


Sachsen-Altenburg  .  28,i 
Sachsen-Coburg    .   .  30,5 

Anhalt 24,4 

Schwarzb.  -  Rudolst.    45,4 
Schwarzb.-Sondersh.  29,7 

Waldeck 37,9 

Reuss  ä.  L 36,4 

Reußs  j.  L 37,7 

Schaumburg-Lippe  .  22,8 

Lippe ? 

Lübeck 12,8 

Bremen 1,6 

Hamburg 3,i 


Niederösterreich     .    .33,7 
Oberösterreich    .    .    .  36,0 

Salzburg 36,7 

Steiermark 48,9 

Kärnten 46,  i 

Krain 45,5 


Triest  u.  Istrien   .    .    .  24,4 
Tirol  u.  Vorarlberg     .  30,8 

Böhmen 30,o 

Mähren 27,2 

Schlesien 34,6 

Galizien 28,9 


Bukowina 50,3 

Dalmatien 24,i 

Oesterr.  Länder  .  .  33,o 
Militärgrenze  .  .  .  34,5 
Ungarische  Länder*)  29,0 


*)  (Nach  Klun:  Stat.  von  Oesterreich-Ungarn  S.  223.) 


III.  Capitel. 
Die  Gewerbe. 


§.  146.  Die  Oeworbe  überhaupt^). 

Mit  welchen  Schwierigkeiten  die  Gewerbestatistik  zu  kämpfen  hat, 

erkennt  man  schon,  wenn  man  sich,  bemüht,   den  Begriff  des  Gewerbes 

gehörig  zu  fixiren.     Im  weitesten  Sinne  des  Wortes  sind  unter  Gewerben 

alle  jene  Thätigkeiten  zu  verstehen,    welche  berufsmässig  und  dauernd. 


Die  Gewerbe  überhaapt. 


281 


zum  Zwecke  von  Erwerb  und  Gewinn  ausgeübt  werden.  In  diesem  Sinne 
dürften  als  nichtgewerbliche  Thätigkeiten  blos  jene  ausgeschlossen  werden, 
bei  welchen  die  Erfüllung  einer  moralischen  Pflicht  oder  Aufgabe  den 
eigentlichen  Erwerb  in  den  Hintergrund  drängt;  also  die  Thätigkeit  des 
Beamten,  des  Soldaten,  des  Geistlichen,  Lehrers,  Arztes,  Künstlers  etc. 

Die  allgemein  übliche  Anschauung  schliesst  jedoch  vom  Begriff  des 
Gewerbes  auch  noch  den  ganzen  land-  und  forstwirthschaftlichen  Betrieb 
aus,  und  die  officielle  Statistik  thut  das  Gleiche.  Sie  geht  aber  noch 
weiter  und  schliesst  noch  eine  Reihe  anderer  Gewerbszweige  aus*).  Was 
hienach  übrig  bleibt,  das  umfasst  immerhin  noch  Thätigkeiten,  welche 
der  Rohproduction,  der  Industrie,  dem  Handel-  und  Transportwesen  und 
selbst  der  Kategorie  persönlicher  Dienstleistungen  angehören.  Will  man  aus 
dieser  Gesammtheit  von  Erwerbsarten  noch  diejenigen  hervorheben,  welche 
im  engsten  Sinne  des  Wortes  als  Gewerbe  bezeichnet  werden,  so  wird  man 
sie  passenderweise  als  industrielle  Gewerbe  bezeichnen,  d.  h.  diejenigen, 
welche  sich  mit  der  Veredlung  und  Verarbeitung  von  Rohproducten  be- 
schäftigen. 

Die  einzelnen  Erscheinungen,  welche  die  gewerbliche  Statistik  zu 
untersuchen  hat,  sind  folgende: 

I.  Die  gewerbliche  Bevölkerung  in  ihrem  Stand  und  Gange.  Das 
Verhältniss  der  gewerblichen  Bevölkerung  zur  Gesammtbevölkerung  drückt 
aus,  zu  welcher  Höhe  sich  das  gewerbliche  Leben  im  Volke  entwickelt 
hat.  Bei  dem  Mangel  an  gleichmässigen  officiellen  Erhebungen,  und  bei 
der  herrschenden  Unbestimmtheit  des  Begriffes  „Gewerbe"  ist  es  nicht 
thunlich,  die  Zahlen  für  die  wichtigeren  europäischen  Länder  zu  vergleichen. 
Im  Deutschen  Reiche  allein  kommen  an  Gewerbetreibenden  auf  10000 
Einwohner : 


iu 

Betriebe 

Personen 

in 

Betriebe 

Personen 

Preussen     .... 

699 

1408 

Württemberg    .    . 

886 

1530 

Berlin 

932 

2552 

Baden     

769 

1581 

Bayern 

839 

1408 

Hessen 

825 

1519 

Sachsen 

921 

2290 

Elsass-Lothringen 

694 

1604 

Unter  den  einzelnen  Landestheilen  findet  sich  die  geringste  Zahl  von 
gewerbetreibenden  Personen  in  Posen,  nämlich  633  auf  10000  Einwohner; 
die  höchste  (ausschliesslich  der  freien  Städte)  in  Reuss  ä.  L.,  nämlich 
2502. 

Der  Gewerbestand  mehrt  sich  im  Laufe  der  wirthschaftlichen  Ent- 
wickelung   der  Völker   theils   dadurch,    dass   einzelne  Geschäfte,    welche 


282  T>ie  Gewerbe  überhaupt 

früher  häusliche  Nebenarbeit  waren,  besondere  berufsmässige  Gewerbs- 
zweige werden,  theils  durch  das  Auftauchen  neuer  Bedürfnisse  und  in 
Folge  dessen  neuer  Gewerbe. 

In  industriereichen  Ländern  mehrt  sich  der  Gewerbestand  rascher  als 
die  Bevölkerung.  In  Preussen  z.  B.  wuchs  er  von  1846 — 1861  um  SSjl^, 
also  jährlich  um  mehr  als  2jl^,  während  der  Zuwachs  der  Bevölkerung 
nur  1 J6  betrug.  Nur  in  einzelnen  Gewerbszweigen  weist  die  Statistik,  beim 
Uebergang  von  der  Hand-  zur  Maschinenarbeit,  bei  Vertheuerung  von 
Rohstoffen,  beim  Wechsel  der  Bedürfnisse,  momentane  Verminderungen 
der  Beschäftigten  nach.  Neue  Bedürfiiisse,  neuer  industrieller  Aufschwung 
gleichen  solche  Störungen  bald  wieder  aus. 

IL  Die  Zahl  der  Gewerbsanstalten  gibt  wegen  des  sehr  ver- 
schiedenen Umfanges  der  einzelnen  Unternehmungen  an  sich  kein  Bild  der 
gewerblichen  Entwickelung.  Bedeutsam  wird  sie  dagegen,  wenn  man  sie 
mit  der  Zahl  der  gewerblichen  Bevölkerung  vergleicht,  und  zwar  nicht 
nur  im  Ganzen,  sondern  auch  bei  jedem  einzelnen  Gewerbszweige.  Dann 
ergibt  sich 

UL  Der  Betriebsumfang.  In  dieser  Hinsicht  unterscheidet  man 
gewöhnlich : 

A.  Den  Kleinbetrieb,  das  Handwerk  charakteristisch  durch  das 
Mitai'beiten  des  Unternehmers,  die  geringeren  Hilfsmittel. 

B.  Den  Grossbetrieb  oder  die  Fabrication,  charakteristisch  durch 
die  ausgedehntere  Arbeitstheilung,  die  gi'össere  Arbeiterzahl,  die  Anwen- 
dung grossartiger  Arbeitshilfsmittel,  technisch  gebildeter  Leiter. 

Es  ist  jedoch  nicht  leicht  möglich,  eine  bestimmte  Grenze  zwischen 
Klein-  und  Grossbetrieb  zu  ziehen.  Das  sprechendste  Unterscheidungs- 
merkmal ist  jedenfalls  die  Zahl  der  beschäftigten  Personen;  aber  wenn 
man  durch  sie  die  Grenze  zwischen  Klein-  und  Grossbetrieb  fixiren  wollte, 
müsste  diese  Grenze  jedenfalls  bei  jedem  Gewerbe  besonders  aufge- 
sucht werden.  Eine  chemische  Fabrik  z.  B.  mit  5  Arbeitern  steht  jeden- 
falls dem  Grossbetrieb  weit  näher  als  ein  Zimmermann,  der  mit  5  Gesellen 
arbeitet.  Wenn  daher  die  deutsche  Gewerbestatistik  eine  Unterscheidung 
getroffen  hat  zwischen  Gewerbsbetrieben  mit  mehr  als  5  beschäftigten  Ge- 
hilfen und  solchen  mit  weniger,  so  ist  diese  Unterscheidung  keineswegs 
hinreichend,  um  den  Gegensatz  von  Gross-  und  Kleinbetrieb  vollständig 
und  richtig  zum  Ausdruck  zu  bringen.  Im  Deutschen  Reiche  finden  sich: 

Betriebe  überhaupt:  Darunter  mit  mehr  als  5  Gehilfen 

3-230311  mit  84195  Betriebe  mit 

6*470630  beschäftigten  Personen  2*311399  beschäftigten  Personen. 

Die  stetige  Zunahme  des  Grossbetriebes  gegenüber  dem  Kleinbetriebe 
ist  indessen  eine  notorische  Thatsache,  welche  sich  in  allen  Culturländeni 


Die  Gewerbe  ftberhaupt. 

vollzieht.  Der  Grossbetrieb,  welcher  mit  imponirenden  Arbeitermassen  und 
Productenmengen  in  die  Weltwirthschaft  eintritt,  ist  es,  welcher  einzelne 
Völker  mit  Entschiedenheit  zu  Industrievölkem  stempelt. 

Wo  er  die  günstigsten  Bedingungen  seiner  Existenz  findet,  concentrirt 
er  sich  so  aufiullend,  dass  die  Arbeiter  einer  einzelnen  Unternehmung 
Städte  füllen  können.  Obgleich  sich  aber  der  Grossbetrieb  heutzutage 
stetig  mehrerer  Zweige  der  früheren  Haus-  und  Handwerksindustrie  be- 
mächtigt, vermehrt  sich  auch  noch  in  der  neuesten  Zeit  die  Zahl  der  mit 
dem  Handwerk  Beschäftigten  ganz  bedeutend.  Eine  Menge  von  Industrie- 
zweigen eignen  sich  eben  besser  für  den  kleinen,  als  für  den  grossen  Be- 
trieb. Nur  die  Verarbeitung  von  Textilien  und  die  Metallarbeiten  sind  mit 
grösster  Entschiedenheit  dem  Grossbetriebe  anheimgefallen. 

IV.  Betrachtet  man  die  locale  Vertheilung  der  Gewerbe,  so  findet 
man  dieselben  namentlich  in  Städten  und  Flecken.  Aus  ein-er  grossen  Zahl 
von  Werkstätten  und  Gewerbetreibenden  einer  Stadt  oder  Gegend  lässt 
sich  nicht  sofort  auf  Btarke  Gewerbsthätigkeit  und  Lieferung  vorzüglicher 
Erzeugnisse  schliessen.  Die  locale  Vertheilung  des  Handwerkes  und  jene 
der  Industrie  folgen  keineswegs  den  gleichen  Ursachen.  Das  Handwerk 
wächst  weder  in  gerader  Proportion  mit  den  Fabriken,  noch  nimmt  es  in 
gerader  Proportion  mit  ihnen  ab.  Die  Handwerkerziffer  insbesondere  wird 
weder  ausschliesslich  vom  Volkswohlstand  im  Allgemeinen,  noch  von  der 
Volksdichtigkeit  beherrscht;  Zunftverfassung  und  Gewerbegesetzgebung 
haben  wohl  Einfluss  auf  sie,  den  grössten  aber  der  Stammescharakter  und 
die  ganze  wirthschaftliche  Geschichte  eines  Volkes.  (Schmoller.) 

V.  Ueber  Menge  und  Geldwerth  der  Production  sind  richtige 
Nachrichten  schwer  zu  erhalten.  Anhaltspunkte,  aus  welchen  sich  auf  die 
absolute  Masse  der  Producte  schliessen  lässt,  sind  die  Zahl  des  Arbeiter-, 
namentlich  des  Fabrikpersonales,  die  Grösse  der  fixen  Capitalien,  nament- 
lich die  Grösse  der  Baulichkeiten,  die  Menge  der  verwendeten  Naturkräfte 
(Dampfmaschinen-  und  Wasserkräfte),  die  Menge  und  der  Umfang  der 
verschiedenen  zur .  Production  nöthigen  Apparate  (z.  B.  die  Zahl  der 
Spindeln,  der  Webstühle);  auch  die  Menge  des  flüssigen  Capitales,  na- 
mentlich der  verbrauchten  Rohstoffe.  Aber  trotz  all  dieser  Anhaltspunkte 
lassen  sich  nur  höchst  unsichere  Schätzungen  sowohl  über  die  ganze  in- 
dustrielle Production  eines  Volkes,  als  auch  über  die  meisten  der  einzelnen 
Industriezweige  anstellen,  sowie  über  den  relativen  Werth  der  Production 
pro  Kopf  der  Bevölkerung. 

Nicht  minder  wichtig  als  das  Verhältniss  des  Productionswerthes  zur 
Einwohnerzahl  wäre  sein  Verhältniss  zur  Zahl  der  in  jedem  Productions- 
zweige  beschäftigten  Arbeiter.  Denn  dieses  Verhältniss  drückt  im  Wesent- 
lichen den  Erfolg  der  menschlichen  Arbeit  aus.  Je  grösser  der  Productions- 


284  Di«  Gewerbe  ftberhanpt. 

werth  eines  Productionszweiges  im  Verhältniss  zur  Arbeiterzahl:  desto 
höher  steht  dieser  Productionszweig  hinsichtlich  seiner  wirthschaftlichen 
Erfolge  —  abgesehen  natürlich  vom  Capitalaufvrand.  Um  die  wirthschaft- 
lichen Erfolge  jedes  Productionszweiges  klar  zu  stellen,  müsste  daher  auch 
das  Verhältniss  des  Productionswerthes  zu  den  im  Productionszweige 
angelegten  Capitalien  untersucht  werden.  Und  endlich  müssten  Capitalien 
und  Arbeitskräfte  auf  eine  Einheit  reducirt  und  mit  dem  Productionswerthe 
verglichen  werden,  was  allerdings  nur  zulässig  ist,  soweit  die  Arbeit  sich 
abschätzen  lässt. 

In  der  Bewegung  des  absoluten  und  relativen  Productionswerthes, 
welcher  einestheils  vom  Zusammenwirken  der  Productionsfactoren,  anderer- 
seits von  den  Bestimmungsgründen  des  Preises  der  Producte  abhängt,  treffen 
dann  schliesslich  die  mannigfaltigsten  Einflüsse  zusammen. 

VI.  Der  Gang  der  Gewerbe  und  die  auf  denselben,  wie  auf  die 
locale  Vertheilung  der  Gewerbe  wirkenden  Einflüsse,  Das  Aufblühen  oder 
Verkümmern  einzelner  Unternehmungen  oder  ganzer  Industriezweige  folgt 
den  mannigfachsten  Einflüssen.  Diese,  der  statistischen  Untersuchung  bald 
mehr  bald  weniger  zugänglichen  Einflüsse  machen  sich  theils  auf  die  In- 
dustrie im  Ganzen  geltend,  theils  blos  auf  einzelne  Zweige.  Sie  sind  im 
Wesentlichen  folgende: 

A.  Die  Bewegungen  des  Capitalmarktes. 

B.  Die  Gunst  local  erleichterten  Rohproductbezuges.  So  erblüht  die 
Eisenindustrie  in  der  Nähe  grosser  Eisenerz-  und  Kohlenlager  (die  engli- 
schen und  preussischen  Industriegebiete  !),  die  Glasfabrication  in  holz- 
reichen Gegenden  (Böhmerwald),  die  Tabak-  und  Zuckerfabrication  da, 
wo  der  Rohstoff  entweder  als  Rückfracht  von  den  Seeschiffen  aus  über- 
seeischen Ländern  beigefährt  oder  im  Lande  selbst  massenhaft  hervorge- 
bracht wird. 

C.  Die  disponiblen  Naturkräfte.  Gebirgsländer  z.  B.  haben  viel  mehr 
Wassermühlen  als  Flachländer. 

D.  Die  disponiblen  menschlichen  Arbeitskräfte.  Hier  sind  eine  Reihe 
von  einzelnen  Erscheinungen  der  Statistik  zugänglich.  Von  directem  Ein- 
fluss  auf  den  Gang  der  Production  sind: 

1.  Die  Tüchtigkeit  der  Arbeiter  (vgl.  §.  135); 

2.  Die  Arbeitszeit. 

E.  Die  Maschinen  (vgl.  §.  135). 

F.  Die  Gunst  der  Verkehrsmittel.  Sie  macht  sich  in  doppelter  Be- 
ziehung geltend;  einestheils  hinsichtlich  des  Bezuges  der  Rohproducte  und 
Ililfsmaterialien,  andererseits  hinsichtlich  des  Absatzes  der  Producte, 


Die  Gewerbe  fiberliaiipt.  285 

G.  Der  Wechsel  der  Nachfrage.  So  bedeutend  der  Einfluss  ist,  den 
er  auf  den  Gang  der  einzelnen  Gewerbe  nimmt,  lässt  er  sich  doch  nicht 
ziffermässig  bestimmen. 

H.  Besondere  Pflege  einzelner  Gewerbszweige  durch  die  Wirthschafts- 
politik  des  Staates,  z.  B.  durch  Schutzzölle. 

Vn.  Endlich  sind  noch  die  Einflüsse  zu  beachten,  welche  die 
Gewerbe  auf  die  mit  ihnen  beschäftigten  Menschen  in  socialer  und  wirth- 
schaftlicher  Hinsicht  nehmen.  So  namentlich  das  Zahlenverhältniss  zwischen 
Lohnherm  und  Lohnarbeitern  in  den  verschiedenen  Gewerben;  die  Be- 
theiligung der  verschiedenen  Altersclassen  und  beider  Geschlechter;  die 
Arbeitslöhne  u.  A. 

Vni.  Die  einzelnen  Gewerbe. 

Die  gewerbliche  Statistik  pflegt  die  Gewerbe  nach  den  Zwecken 
einzutheilen ,  welchen  sie  dienen.  Es  ist  überaus  schwierig,  eine  richtige 
und  allseits  brauchbare  Eintheilung  der  Gewerbe  zu  treffen.  Man  kann 
dabei  nicht  allein  auf  die  Bedürfnisse  achten,  welche  durch  die  verschie- 
denen Gewerbszweige  befriedigt  werden,  sondern  es  ergibt  sich  auch 
manchmal  die  Nothwendigkeit,  die  wichtigsten  Rohproducte  mit  als  Ein- 
theilungsgründe  zu  benützen.  Manche  Gewerbszweige  arbeiten  zwar  für 
die  gleichen  Zwecke,  doch  in  so  grundverschiedener  Weise  und  mit  so 
verschiedenen  Rohstoffen,  dass  sie  um  der  letzteren  willen  auseinander 
gehalten  werden.  Eiserne  und  hölzerne  Stühle  z.  B.  dienen  ganz  gewiss 
dem  nämlichen  Gebräuchszweck;  dennoch  gehört  ihre  Herstellung  zwei 
ganz  verschiedenen  Gewerbszweigen  an.  Häufig  müssen  deshalb  auch 
Producte,  welche  sehr  verschiedenen  Zwecken  dienen,  einem  Gewerbs- 
zweige zugewiesen  werden.  Die  Producte  der  Waffenschmiede  z.  B.  dienen 
sowohl  häuslichen,  als  gewerblichen  und  militärischen  Zwecken. 

Anmerkungen. 

*)  Mit  der  Gewerbestatistik  beschäfligteu  sich  die  Congresse  zu  Brüssel, 
Wien,  Petersburg  luid  Pest.  In  Wien  wurde  eine  Tabelle  bezüglich  der  Classi- 
fication der  Gewerbe  vorgelegt. 

*)  Eine  üebersicht  der  Hauptresultate  der  deutschen  Gewerbezähluug  vom 
1.  December  1875  ergibt  folgenden  Einblick  in  die  Besetzung  der  verschiedene» 
Gewerbszweige  im  Deutscheu  Reiche: 


286 


Bergbau,  Hfttten-  and  Salinenwesen. 


Gewerbsgruppeu 


Kunst-  und  Handelsgärtuerei  .   . 

Fischerei 

Bergbau-,  Hütten-  und  Salinen- 
wesen      


Industrie  der  Steine  und  Erden  . 

Metallrerarbeitung 

Maschinen,  Werkzeuge,  Instru- 
mente, Apparate 

Chemische  Industrie 

Industrie  d.  Heiz-  u.  Leuchtstoffe 

Textilindustrie 

Papier  und  Leder 

Industrie  d.  Holz-  u.  Schnitzstoffe 

Nahrungs-  und  Genussmittel    .   . 

Bekleidung  und  Reinigung    .   .    . 

Baugewerbe 

Polygraphische  Gewerbe    .... 

Künstlerische  Betriebe  f.  gewerbl. 
Zwecke 

Handelsgewerbe 

Verkehrsgewerbe 

Beherbergung  und  Erquickung    . 

Sämmtliche  19  Gruppen  . 


Zahl  der 

Auf  10000  Ein- 
wohner 

Betriebe 

Personen 

Betriebe 

Personen 

13917 

25464 

3,3 

6,0 

16905 

19626 

4,0 

4,6 

8610 

433206 

8,0 

101,4 

56476 

265555 

13,2 

62,2 

169383 

419752 

39,6 

98,2 

88199 

322029 

20,6 

75,4 

9507 

51698 

2,2 

12,1 

13130 

42507 

3,1 

9,9 

403024 

926767 

94,3 

216,9 

59609 

187285 

13,9 

43,8 

264636 

464048 

61,9 

108,6 

271585 

692600 

63,6 

162,1 

774955 

1,053142 

181,4 

246,6 

234388 

467309 

54,9 

109,4 

8855 

55719 

2,1 

13,0 

5945 

13400 

1,4 

3,1 

529459 

661496 

123,9 

154,8 

82146 

134330 

19,2 

31,4 

219582 

234697 

51,4 

54,9 

3,230311 

6,470630 

•756,0 

1514,4 

Ausgeschlossen  blieben:  a)  Von  der  Militär-  und  Marineverwaltung 
betriebene  Industrien;  b)  Eisenbahn-,  Post-  u.  Telegraphenbetrieb;  c)  Aerzt- 
liches  u.  Todtenbestattuugspersonal;  d)  Versicherungswesen;  e)  Musik,  Theater, 
Schaustellungen;  f)  Gewerbebetrieb  im  Umherziehen;  g)  Industrie  der  Straf- 
und  Besserungsanstalten;  h)  Betriebe,  die  blos  für  den  eigenen  Haushalt 
produciren. 

§.  147.  Bergbau,  Hütten-  und  Salinenwesen. 

Diese  wichtige  Gruppe  von  Gewerben  unterscheidet  sich  in  der 
Statistik  des  Deutschen  Reiches  sowohl  als  auch  in  anderen  Ländern 
vortheilhaft  dadurch,  dass  bei  ihr  auch  Menge  und  Werth  der  Production 
ermittelt  wird. 

Was  zunächst  die  beschäftigten  Personen  betrifft,  so  beschäftigt  die 

ganze  Gruppe: 

Personen  Betriebe 

im  Deutschen  Reich  (1875)          433206  8610 

in    Oesterreich  (1869)                    104342  ? 

„    Ungarn  (1871)                           45862  ? 


B«rgtea.  Hfttten-  und  SaUnenwesen.  287 

Die  grossen  Betriebe  beschäftigen  bei  weitem  den  grössten  Theil 
des  Gesammtpersonals.  Die  örtliche  Verbreitung  dieser  Gruppe  richtet 
sich  natürlich  ganz  nach  dem  Vorkommen  nutzbarer  Mineralien.  Auf 
10000  Einwohner  treffen  beschäftigte  Personen  in  dieser  Gruppe:  in 
Westfalen  512,2,  Rheinland  309,7,  Schlesien  208;8,  ganz  Preussen  140,», 
Sachsen  115,»,  Bayern  20,3.    Dagegen  in  Oesterreich  52,  in  Ungarn  32. 

Was  die  Bergwerke  insbesondere  betrifft,  so  kommt  bei  der  sehr 
ungleichen  Ausdehnung  der  Werke  auf  die  Ziffer  der  Betriebsstätten 
weniger  an.  Weit  wichtiger  ist  das  Quantum  und  der  G^ldwerth  des 
Productes  am  Productionsorte.  Diesen  beiden  wichtigsten  Angaben  reiht 
sich  als  weitere  noch  die  Zahl  der  in  dieser  Production  beschäftigten 
Arbeiter  an. 

In  Deutschland  betrug  (nach  Viebahn  a.  a.  0.  S.  406): 
im  J.  1848  der  Productionswerth  44,6  Mill.  Mk.,  die  Arbeiterzahl  88265, 
.    .    1857    „  „  137,2     „        „       „  „        169151. 

Die  Zunahme  des  Production  swerthes  um  mehr  als  das  dreifache 
zeugt  von  der  Thätigkeit  dieses  Productionszweiges  und  daneben  ist  die 
Zunahme  der  Arbeiter  um  kaum  das  doppelte  ein  Beweis  für  die  erhöhte 
Leistungsfähigkeit  der  Arbeit,  1878  dagegen  betrag  die  Summe  aller 
Bergwerksproducte  324,2  Mill.  Mk.,  die  Arbeiterzahl  289486.  Also  aber- 
mals ein  bedeutender  Fortschritt  der  Production. 

In  der  Hüttenindustrie  betrug  in  Deutschland  (nach  derselben 
Quelle,  Zollverein): 

1848  der  Productionswerth  112,4  Mill.  Mk.,  die  Arbeiterzahl  46835, 
1857    „  „  306,6     „        „       „  „  78365. 

Dagegen  nach  den  neuesten  Erhebungen: 
1878   der   Productionswerth   224,8  Mill.  Mk.,   die   Arbeiterzahl    126808. 
Die    Gesammtproduction    der  Bergwerke,   Hütten   und  Salinen 
nebst  der  beschäftigten  Arbeiterzahl  beträgt: 

Productionswerth 


in  Millionen              Arbeiterzuhl 

im  deutschen  Zollverein  1848 

172,1  Mk.     86,ofl.ö.W.     142134 

deutsches  Reich  .    .    .1878 

564,»    „     282,j  „     „       433206 

in  Oesterreich      .    .    .  1873 

139,0    „       69,5  „     „       112000 

„  Ungarn 1872 

38,»    „       18,3  „     „         45862  ?  (1871) 

Das  Hauptinteresse  der  Statistik  knüpft  sich  begreiflicherweise  an 
die  Production,  ihre  Menge  und  ihren  Werth.  Und  bei  diesem  Gegenstande 
fordert  seine  immense  volkswirthschaftliche  Bedeutung  aueh  dringend  zur 
Sammlung  von  zuverlässigen  Angaben  für  sämmtliche  Länder  auf.  Die 
wichtigsten  Producte  dieser  ganzen  Gruppe  sind: 


•288 


Bergbau,  Hlktten-  und  SaÜnenwesen. 


1.  Die  Steinkohle.   Die  Gesammtausbeute  der  Erde  beträgt  (nach 
Neumann-Spallart  a.  a.  0.  S.  150)  in  Millionen  Tonnen  ä  20  Ztr.: 


Grossbritannien 

Deutschland 

Frankreich 

Belgien 

Oesteiteich 

Russland 

Ungarn 

Spanien 

Schweden 

Italien 

Schweiz 

Portugal 


(1877)  136,7 

(1878)  50,5 
17,0 

13,9 
12,3 

1,« 

0,7 

0,1 
0,1 
0,01 
0,01 


(1877) 
(1878) 
(1877) 


(1875) 

(1876) 

(1871—72) 


Vereinigte  Staaten 

China  jährlich  circa 

Neusüdwales 

Brittisch  Nordamerika 

Brittisch  Ostindien  ca. 

Chile  circa 

Japan 

Asiatische  Türkei  circa 

Andere  Länder  circa 


(1878)  49,» 
3,0 
(1877) 
(1876) 
(1875) 
(1876) 
(1874) 


1,* 

0,8 

0,5 

0,4 

0,3» 

0,1 

0,09 


Alle  aussereuropäischen  Länder  56,7 


Production  der  ganzen  Erde    291,7 
Ganz  Europa  235 
Wie  ungemein  rasch  sich  die  Production  vermehrt,  geht  aus  Fol- 
gendem hervor: 

Die  Gesammtproduction  der  Erde  betrug: 

im  Jahre  1860  circa  136,o  Mill.  metr.  Tonnen 


1866 

.   185,1 

1872 

„   260,0 

1874 

„     274,3 

1876 

.  287,» 

1877 

.  294,0 

1878 

„     290,9 

Die  öfter  aufgeworfene  Frage,  wie  lange  der  Kohlenvorrath  der  Erde 
noch  ausgebeutet  werden  könne,  spitzt  sich  dahin  zu,  dass  nicht  etwa  der 
vorhandene  Vorrath  in  einem  absehbaren  Zeiträume  zu  Ende  geht,  sondern 
dass  mit  dem  zunehmenden  Verbrauch  die  Entfernungen  und  die  Erd- 
tiefen, aus  welchen  die  Kohlen  beschafft  werden  müssen,  immer  grössere 
und  damit  die  Preise  der  Kohlen  immer  höhere  werden,  wenn  nicht  durch 
technische  Fortschritte  diese  Preissteigerung  aufgehalten  wird.  Die  Kohlen- 
felder von  Nordamerika,  China  und  Ostindien  zusammen  werden  auf  über 
400000  engl.  Quadratmeilen  veranschlagt,  während  die  von  Grossbritannien 
und  Irland  blos  9000  engl.  Quadratmeilen  umfassen.  Der  Kohlenbergbau 
beschäftigt  auf  der  ganzen  Erde  etwa  l,i  Mill.  Menschen  und  ergab  im 
Jahre  1877  einen  Werth  (am  Productionsplatz): 

in  Grossbritannien  von  942  Mill.  Mk.  =  471  Mill.  fl.  ö.  W. 
„  Deutschland  „     253     ,        ,     =  126     ,      „    „     „ 

„  Belgien  „     152     „        „     =     76     „      „    „     „ 

„   Oesterreich  „       64     „        „      =     32     „      „    „     „ 


Bergbau,  Hatten-  und  Salinenwesen. 


289 


2.  Das  Eisen.  Die  EiseDproduction  der  wichtigsten  Productions- 
länder  betrug  im  Jahre  1877  (nach  derselben  Quelle): 

in  Grossbritannien  6,71  Mill.  metr.  Tonnen 

„  den  Vereinigten  Staaten  2,io  „  „  „ 

„  Deutschland  (mit  Luxemburg)  l,7i  „  „  „ 

„  Frankreich  1,50  „  n  n 

„  Belgien  0,m  „  „ 

„  Oesterreich-Ungam  0,3»  n  «  « 

„  Russland  0,W)  „  „  „ 

„  Schweden  0,3*  „  „  „ 

Diese  Länder  liefern  zusammen  über  98  Procent  der  Gesammt- 
production,  welche  sich  auf  rund  280  Mill.  Zollzentner  beläuft.  Eine 
Schätzung  des  Werthes  derselben  ist  wegen  der  bedeutenden  Schwankungen 
der  Eisenpreise  nicht  angezeigt. 

3.  Gold  und  Silber.  Bezüglich  der  Production  der  Edelmetalle 
besitzt  man  in  einer  neueren  Arbeit  von  A.  Soetbeer  (Petermann's  Mit- 
theilungen, Ergänzungsheft  Nr.  57)  eine  ausgezeichnete  Darstellung,  welche 
bis  an  den  Ausgang  des  Mittelalters  zurückreicht  und  für  alle  einzelnen 
charakteristischen  Perioden  den  Gang  der  Production  und  die  Ursachen 
ihrer  Veränderungen  nachweist.  Den  von  ihm  gegebenen  Uebersichten  ist 
Folgendes  zu  entnehmen: 

Gesammte  Production  der  Edelmetalle: 


Perioden 

Silber 

Gold 

Gesammt- 

werth  in 

Mill.  Mark 

Werth  in 
Mill.  Mark 

Procent 

Werth  in 
Mill.  Mark 

Procent 

1493-1600 
1601-1700 
1701-1800 
1801—1850 
1851-1855 
1856—1860 
1861-1865 
1866—1870 
1871-1875 

4051 

6702 

10267 

5890 

797 

814 

990 

1205 

1772 

66,2 

72,8 
65,9 
64,1 
22,4 
22,1 
27,7 
31,0 
42,7 

1993 
2504 
5301 
3305 
2755 
2874 
2582 
2677 
2380 

33,8 

27,2 
34,1 
35,9 
77,6 
77,9 
72,8 
69,0 
57,3 

6044 
9206 
15568 
9196 
3552 
3689 
3573 
3882 
4153 

(3oetbeer  a.  a.  0.  S.  112.) 

Die  Gesammtproduction  der  Welt  von  1493  bis  1875  wird  (a.  a.  0. 
S.  107)  berechnet  wie  folgt: 


Haashof  er.  Statistik.  2.  Anfl. 


19 


290 


Bergbau,  Hatten-  und  Salinenwesen. 


Länder 

Silber 
(Werth  in 
Mill.  Mark) 

Gold 
(Werth  in 
Mill.  Mark) 

Zusammen 
(Werth  in 
MilK  Mark) 

Deutschland  .   •     . 

1422 

1398 

1328 

437 

13716 

5619 

6789 

469 

948 

360 

1285 

2883 

2041 

739 

3388 

456 

820 

735 

2893 

5652 

5055 

422 

U22       I 
2683 
1328 
3321 
2041 
14456 
3388 
6076 
7609 
1205 
2893 
6601 
5055 
782 

Oesterreich-Üiigarii      

Versch.  europ.  Länder 

Russisches  Reich 

Afrika 

Mexiko       .    .    .   • 

Neu-Granada 

Peru 

Bolivia 

Chile 

Brasilien 

Vereinigte  Staaten 

Australien 

Diverse 

Zusammen  . 

32492 

26374 

58866 

Für  die  neueste  Zeit  endlich  ergibt  sich  folgende  Production  (jähr- 
liche Production  von  1871—1875): 


Länder 


Deutschland 

Oesterreich-Ungam    .    . 
Versch.  europ.  Länder  . 

Russland 

Afrika 

Mexiko 

Neu-Oranada 

Peru 

Bolivia 

Chile 

Brasilien 

Vereinigte  Staaten  .    .    . 

Australien 

Diverse 

Zusammen 


Gewicht  in  Kilogr. 


Silber 


143080 
38550 

215000 
11495 

601800 

70000 

222500 

82200 

564800 

20000 


1,969425 


Gold 


1395 

33380 
3000 


3500 

360 

2000 

400 

1720 

59500 

59900 

3500 


170675 


Werth  in  Millionen  Mark 


Silber 


25,7 

6,9 

38,7 

2,0 

,108,3 

12,6 

40,0 

14,7 
101,6 

3,6 


354,4 


Gold 


Beide 
zusammen 


3,8 

93,1 

8,3 
5,6 
9,7 

1,0 

5,6 

1,1 

4,7 

166,0 

167,1 

9,7 


476,1 


25,7 

10,8 

38,7 
95,1 

8,3 

113,9 

9,7 

13,6 

45,6 

15,9 

4,7 

267,6 
167,1 

.13,3 


830,6 


Metallindustrie  und  Maschinenbaa.  2^1 

§.  148.  HetallindiLstrie  und  Maschinenbau. 
Diese  grosse  und  mannigfache  Gruppe  beschäftigt  in  allen  civilisirten 
Ländern  einen    beträchtlichen    Theil    der   gewerblichen    Bevölkerung;    im 
Deutschen  Reiche  auf  10000  Einwohner  39,«  Betriebe  und  98,2  beschäftigte 
Personen.    Der  Betriebsumfang  der  einzelnen  Unternehmungen  steigt  vom 
Dorfschmiedej  der  ohne  Gesellen  arbeitet,  bis  zu  colossalen  Etablissements 
mit  tausenden  von  Arbeitern ;  die  Qualität  der  Arbeitskräfte  vom  simplen 
Nagelschmied  bis  zum  wissenschaftlich  gebildeten  technischen  Dirigenten. 
Die  Frequenz,  Ab-  und  Zunahme  und  der  Betriebsumfang  der  einzelnen 
hieher   gehörigen    Gewerbszweige    folgen  sehr  mannigfaltigen  wirthschaft- 
lichen  Einflüssen.  1.  Verarbeitung  edler  Metalle  (Gold-,  Silber- und 
Bijouteriewaaren ,    Gold-  und  Silberschlägereien,    Gold-  und  Silberdraht- 
zieherei,, leonische  Waaren,    Münzstätten).     Man  bezeichnet  diese  Classe 
auch  mit  dem  Ausdruck  „feine  Metallurgie";    sie  ist  in  ihrem  Gedeihen 
und  in  ihrer  Ausdehnung  wesentlich  durch  die  Höhe  des  nationalen  Luxus 
bedingt.     2.    Verarbeitung   unedler   Metalle    und    Legirungen    aus- 
schliesslich  Eisen.     Die    namhaftesten    hieher   gehörigen   Einzelngewerbe, 
nämlich  die  der  Kupferschmiede,    Stück-,    Glocken-,    Gelb-  und  Roth- 
giesser,  Klempner,  Zinn-  und  Bleigiesser  sind  durch  die  um  sich  greifende 
fabrikmässige   Herstellung   von  Blech-  und  Gusswaaren  mehr  und  mehr 
genöthigt,  sich  entweder  auf  Reparaturen  zu  beschränken  oder  ihren  Be- 
trieb selbst  fabrikmässiger  zu  machen.     8.  Verarbeitung  von  Eisen  und 
Stahl.     Dies  ist  bei  weitem  die  stärkste  Classe  dieser  Gruppe,    in  ihr 
besonders  hervoiTagend  die  Gewerbe  der  Hufschmiede,    Schlosser,    Zeug- 
und  Messerschmiede,  Klempner  etc.  Das  Handwerk  der  Hufschmiede  (und 
Grobschmiede)  beschäftigt  im  Deutschen  Reich  134555  Personen.  Es  folgt 
in  seiner  Frequenz  und  örtlichen  Vertheilung  wesentlich  dem  Bedürfniss 
der  Landwirthschaft  und  des  Local Verkehres,   das  Schlosserhandwerk 
den  Baugewerben,  während  die  Gewerbe  der  Messerschmiede,  Feilenhauer, 
Sägeschmiede  etc.,    welche  weniger  auf  den  örtlichen  Bedarf  angewiesen 
sind,  in  ihrer  localen  Vertheilung  von  der  Gunst  der  Productionsfactoren 
mehr  beeinflusst  werden.    Aber  selbst  in  dieser  Classe  ist  trotz  des  stets 
mächtiger  werdenden  Grossbetriebes  Raum  genug  für  den  kleinen  Betrieb. 
Nur  die   Eisengiessereien ,    Emaillirwerke,    Blechfabriken  und  Nähnadel- 
fabriken sind  ganz  entschieden  dem  Grossbetrieb  zugefallen.  4.  Bau  von 
Maschinen,  Werkzeugen,  Instrumenten,  Apparaten.  Diese  Gruppe 
hat   ihre   Vorstufen   in    den    Kleingewerben    der   Stellmacher,    Wagen-, 
Wirthschaftsgeräth-  und  Schiffbauer,  LTirmacher  und  Drechsler.  Die  ganze 
Gruppe    gehört   überwiegend   dem   Grossbetrieb    an;    sie    beschäftigt    im 
Deutschen  Reiche  auf  je  10000  Einwohner  20,6  Betriebe  und  75,»  Per- 
sonen;   aber   von    der  Gesammtzahl  von  322029  beschäftigten  Personen 

i9* 


292  Die  Textilindustrie. 

sind  201473  in  grösseren  Etablissements  beschäftigt.  In  diesen  arbeiten 
überdies  2731  Dampfmaschinen  mit  33913  Pferdekraft.  Die  Gnippe  zer- 
fällt in  folgende  Classen :  a)  Bau  von  Maschinen,  Werkzeugen,  Apparaten. 
Er  beschäftigt  im  Deutschen  Reiche  154096  Personen  in  9978  Etablisse- 
ments. Für  keinen  anderen  Industriezweig  ist  die  Durchfiihning  der 
Arbeitstheilung  von  grösserem  Werthe,  als  für  den  Maschinenbau.  Der 
Betriebsumfang  ist  ausserordentlich  verschieden;  deshalb  ist  die  absolute 
und  relative  Zahl  der  Etablissements  von  geringer  Bedeutung  und  kann 
die  Ausdehnung  des  Maschinenbaues  nur  nach  der  Zahl  der  Maschinen- 
arbeiter bemessen  werden.  Bergbau  und  Landwirthschaft,  Industrie  und 
Verkehr  drängen  mehr  und  mehr  nach  arbeitsparenden  Maschinen  und 
haben  dadurch  die  grossartigste  Massenproduction  auf  diesem  Felde  er- 
möglicht. Der  fabrikmässige  Maschinenbau  ist  in  einer  riesenhaften  Zu- 
nahme begriffen.  Die  locale  Vertheilung  ist  einestheils  bedingt  durch  das 
Bedürfniss,  welches  namentlich  Seitens  der  Industrie,  speciell  der  Textil- 
industrie, der  Eisenbahnen  und  der  Seeschifffahrt  ein  besonders  grosses  ist, 
anderntheils  durch  die  Geschicklichkeit  der  verschiedenen  Arbeiterbevöl- 
kerungen und  durch  die  Möglichkeit  leichter  Beschaffung  von  Rohmaterial, 
insbesondere  von  Eisen  und  Kohle,  b)  Bau  von  Transportmitteln  (aus- 
schliesslich der  Locomotiven).  Also  Wagenbau  und  Schiffbau.  Der  Wagen- 
bau wird  vielfach  noch  handwerksmässig  betrieben,  so  dass  in  Deutschland 
auf  1  Betriebsstätte  durchschnittlich  nur  1,8  beschäftigte  Personen  treffen. 
Dagegen  ist  der  Schiffl)au  Grossbetrieb  und  beschäftigt  an  jeder  Betriebs- 
stätte durchschnittlich  7,8  Personen,  c)  Herstellung  von  Schusswaffen, 
d)  Herstellung  von  mathematischen,  physikalischen,  chemischen  Instru- 
menten und  Apparaten,  auch  Telegraphenanlagen,  anatomischen  Präpa- 
raten. Mit  Wissenschaft  und  Kunst  in  inniger  Verbindung  stehend  kommt 
diese  Classe  von  Gewerbszweigen  zumeist  an  den  Sitzen  regen  wissen- 
schaftlichen und  künstlerischen  Lebens  zur  Ausbildung,  e)  Die  Herstellung 
von  Uhren  etc.  Sie  erscheint  zunächst  noch  durchaus  als  Kleinbetrieb, 
indem  im  Deutschen  Reich  auf  13235  Betriebsstätten  nur  23099  be- 
schäftigte Personen  treffen.  Indess  werden  die  neuen  Artikel  fast  durchaus 
von  Fabriken  bezogen  und  die  Fortdauer  des  Kleingewerbes  hauptsächlich 
durch  die  Reparaturarbeit  ermöglicht,  f)  Herstellung  von  Musikinstrumenten, 
g)  Herstellung  von  chirurgischen  Instrumenten  und  h)  Herstellung  von 
Beleuchtungsapparaten.,  Letztgenannte  Classe  ist  fast  durchaus  Grossbetrieb 
geworden. 

§.  149.  Die  Textilindustrie. 
Die  unter  diesem  Namen  zusammengefassten  Gewerbszweige,  welche 
sich  sämmtlich  mit  der  Verarbeitung  von  Faserstoffen  zu  Fäden,  Geweben 


Die  Textilindustrie.  293 

und  weiter  zu  vollendeten  Kleidungsstücken  und  anderen  Gebrauchsgegen- 
ständen beschäftigen,  bildeten  die  erste  Grundlage  der  Massenproduction 
und  des  Waarenhandels,  namentlich  wegen  der  leichten  Transportfähigkeit 
des  Erzeugnisses.  Die  Fortschritte  der  neueren  Mechanik,  ökonomische 
Arbeitstheilung  und  Wiedervereinigung  in  grossen  Etablissements  haben 
besonders  diese  Gruppe  wesentlich  gefördert,  in  deren  einzelnen  Zweigen 
bald  das  Kleingewerbe,  bald  der  Grossbetrieb  vorherrscht,  aber  auch  die 
häusliche  Nebenbeschäftigung  concurrirt. 

Die  Textilindustrie  selbst  enthält  eine  ganze  Stufenreihe  von  einzelnen 
Proceduren,  bis  das  Product  fertig  dem  Bedürfniss  gegenüber  steht.  Als 
grosse  Hauptstufen  lassen  sich  unterscheiden:  A.  die  Spinnerei;  B.  die 
Weberei,  Wirkerei,  Walkerei  und  Filzerei;  C.  die  Bleiche,  Färberei  und 
Druckerei.  Da  jedoch  viele  Geschäfte  ihr  Material  durch  mehrere  Phasen 
hindurcharbeiten,  ist  es  angemessen,  das  Rohmaterial  hier  als  Eintheilungs- 
grund  anzunehmen.   Die  Gewerbestatistik  unterscheidet: 

1.  Fabrication  von  Gespinnsten  und  Geweben  aus  Seide. 
Die  gesammte  Seidenindustrie  beschäftigt  in  Deutschland  77324  Personen 
in  35810  Betrieben,  dagegen  in  Frankreich  (nach  M.  Block:  Statistique 
de  France,  II.  167)  (1866)  154969  Personen  in  14088  Etablissements. 
Nach  derselben  Quelle  in  Grossbritannien  und  Irland  (1870)  48124 
Arbeiter  in  696  Etablissements.  Die  einzelnen  Zweige  der  Seidenindustrie 
gehören  in  Deutschland  mehr  oder  weniger  dem  Kleinbetrieb  an;  die 
Seidentrocknungs-  und  Conditioniranstalten  blos  dem  Grossbetrieb;  die 
Seidenspinnereien  dem  Letzteren  grossentheils.  Die  Seidenwebereien  dagegen 
sind  vorzugsweise  Kleinbetrieb.  Wie  in  anderen  Ländern,  so  concentrirt 
sich  auch  in  Deutschland  diese  Industrie  in  gewissen  Landschaften. 

Absolut  und  relativ  den  grössten  Umfang  hat  die  Seidenindustrie 
Italiens.  Sie  beschäftigt  200393  Personen  (darunter  120428  Frauen  und 
64273  Kinder).  Die  charakteristischen  Arbeitsmittel  dieser  Industrie  sind 
die  Becken  zum  Abhaspeln,  Spulen  und  Spindeln,  femer  Webstühle  mit 
und  ohne  Jacquardvorrichtung.  Während  in  Italien  die  Spinnerei  überaus 
entwickelt  ist,  stehen  andere  Länder  in  der  Weberei  voran.  Die  Zahl  der 
Seidenwebstühle  beträgt: 

in  Italien  8059,  darunter      665  Kraftstühle, 

„  Frankreich        110433,        „         10470 
i,  Deutschland        55922,        „  2179  « 

„   Kanton  Zürich    41000,        „  1000     -       „ 

„         „       Basel       7374,  ? 

„  England  16082,  ? 

(B.  Jannasch:  Die  Industrie  Italiens.  Zeitschrift  d.  preuss.  Statist. 
Bureau.  1880.  S.  172.).  . 


294 


Die  Texlilindustriü. 


1,276000  Kilogr. 

255000       „ 

40000       „ 

136000       „ 

171000       „ 

? 

4,105000       „ 
1,000000       „ 
240000       „ 
Industriezweig  vordem  übliche 


Nach  der  eben  angeführten  Quelle  beträgt  die  Gesammtproduction 
an  Rohseide  im  Jahre  1879: 
in  Italien 
„  Frankreich 
„   Spanien 

„   der  europ.  Türkei,  Brussa 
„   Syrien 

„   Griechenland,  Persien 
„   China  (Ausfuhr) 
„   Japan 
„   Ostindien 

2.    Wollindustrie.    Die  in  diesem 
Handarbeit   wird    mehr    und    mehr    durch   die  Maschine  verdrängt.     Die 
Wollindustrie  beschäftigte  im  Jahre  1875  (in  Frankreich  1876) : 
in  Deutschland         193668  Personen  in  37832  Betrieben 
„   Frankreich  110954         „ 

„   Grossbritannien    238241         „ 
„   Italien  24930         „ 

(Jannasch  a.  a.  0.  S.  169.) 

Unter  den  Einzelngewerben,  die  der  Wollindustrie  angehören, 
schäftigt  in  Deutschland  die  Streichgarn-  und  Vigogne-Spinnerei 
Weberei  das  grösste  Personal  (88279  in  10533  Betriebsstätten), 
meisten  Betriebsstätten  (20677)  zählt  die  Kamm-  etc.,  Garn-  und  Band- 
weberei; die  grössten  Etablissements  dagegen  (2350  mit  28772)  die  Kamm- 
garnspinnerei. 

Charakteristische  Arbeitsmaschinen  sind  die  Spindeln  und  Webstühle. 
Von  diesen  waren  thätig  in: 

Mechanische  Webstühle 

140274 

38267 

29314 

8000 

2573 


be- 
und 
Die 


Handstühle 
? 

62230 

56214 

34000 

5989 


Spindeln 
Grosßbritennien  (1874)  5,449495 
Frankreich  (1876)  2,946632 

Deutschland  (1875)  2,884607 
Oesterreich  (?)  650000 
Italien  (1876)     305386 

(Jannasch  a.  a.  0.  S.  175.) 

3.  Spinnerei  und  Weberei  in  Flachs,  Hanf,  Werk,  Jute 
etc.  Diese  ganze  Industrie  ist  noch  vielfach  Kleinbetrieb  mit  Ausnahme 
der  Flachsröstanstalten  und  der  Juteweberei.  In  der  Flachsspinnerei  hat 
die  Maschinenarbeit  erst  in  neuester  Zeit  Eingang  gefunden.  Sie  ist  unter 
den  europäischen  Ländern  relativ  am  meisten  in  Irland  verbreitet;  die 
Leinenweberei  dagegen  in  einzelnen  Theilen  Deutschlands. 


Die  Toxiilindiistrie. 


295 


folgt: 


Die  Zahl    der    beschäftigten  Betriebe    und  Personen   stellt  sich  wie 


(1875)  Deutschland        202965  Personen  in  137609  Betrieben. 

(1876)  Frankreich  55108  „  „  618  „ 
(1874)  Grossbritannien  171590  „  „  620  „ 
Die  Zahl  der  charakteristischen  Arbeitsmaschinen  beträgt: 

mechanische 


in 

Spindeln    "" 

»Webstühle 

Handwebstühle 

Grossbritannien  und  Irland 

(1874) 

1.807862 

51601 

? 

Frankreich 

(1870) 

731243 

24646 

42806 

Deutschland 

(1875) 

330561 

9214 

146930 

Oesterreich 

(1875) 

400000 

500 

circa    6000 

Belgien 

200000 

4800 

? 

Italien 

59228 

772 

? 

Schweiz 

8000 

? 

? 

Niederlande 

8000 

1200 

9 

Schweden 

4000 

— 

? 

Spanien 

3500 

1000 

? 

4.  Die  Baumwollindustrie  beschäftigt  in  Deutschland  (nebst  ge- 
mischten Waaren)  104619  Betriebe  und  296827  Personen.  In  Frankreich 
beschäftigte  1866  die  Baumwollindustrie  22360  Etablissements  mit  27995 
Vorständen,  7232  Angestellten,  145258  Arbeiteni  und  97270  Arbeiterinnen 
(Block).  In  Grossbritannien  und  Irland  im  J.  1870  (ebenfalls  nach  Block) 
450087  Arbeiter,  in  Russland  132352  Arbeiter  bei  1879  Etablissements. 
Die  beiden  Hauptzweige  dieser  Industrie  sind: 

A.  Die  Baumwollspinnerei.  Eine  Reihe  äusserst  sinnreicher  Er- 
tindungen  hat  hier  die  ältere  Handspinnerei  gänzlich  verdrängt  und  diesen 
Industriezweig  wie  kaum  einen  anderen  zur  Domäne  der  Maschine  gemacht. 
Diese  Erfindungen  und  die  Verstärkung  der  Betriebskräfte  haben  die 
Production  in  den  letzten  Jahrzehnten  ins  Riesenhafte  gesteigert.  Die  in 
der  Neuzeit  entstehenden  Spinnereien  sind  vorzugsweise  grosse  Actien- 
unternehmungen.  Die  Zahl  der  Spindeln  betrug  ums  Jahr  1877  in : 


Grossbritannien    ....  39,500000 

Frankreich 5,000000 

Deutschland     .    .    ,    .    ,  4,200811 

Russland 2,500000 

Schweiz 1,850000 

Spanien 1,775000 

Oesterreich-Ungarn      .    .  1,558000 


Italien 880000 

Belgien 800000 

Scandinavien    .....  310000 

Niederiande 230000 

Vor.  Staaten 10,000000 

Ostindien 1,231000 

Zusammen 


69,834811 

(In  Deutschland  die  in  der  Weberei  und  Bandweberei  beschäftigten 
Spindeln  nicht  gerechnet.  Nach  Jannasch  a.  a.  O.  Seite  173.) 


296 


Papier-  und  Lederindustrie. 


Die  Hauptgründe  der  englischen  üeberlegenheit  sind  neben  den 
Fortschritten  des  dortigen  Maschinenbaues  die  leichtere  BeschaflPung  guten 
Rohmateriales  und  das  wohlfeilere  Capital. 

B.  Die  Baumwollweberei  stellt  sich  in  ihrer  localen  Vertheilung 
folgendermassen.  Die  Zahl  der  Maschinenstühle  beträgt  (nach  oben  ge- 
nannter Quelle)  in: 


Grossbritannien 

(1875) 

440676 

Frankreich 

(1877) 

51184 

Deutschland 

(1861) 

29448 

n 

(1875) 

80465 

Oesterreich 
Italien 

(1875) 

23000 
13517 

Das  Gedeihen  hängt  zumeist  von  Einführung  der  Maschine,  dem 
wohlfeilen  Capital,  auch  von  der  zunehmenden  Tüchtigkeit  der  Arbeiter- 
bevölkerung ab.  Daneben  freilich  auch  von  anderen  Ursachen.  So  ent- 
wickelte sich  die  deutsche  Baumwollindustrie  zuerst  unter  dem  Einflüsse 
.der  ContinentalspeiTe,  dann  unter  dem  des  Schutzzolles. 

Die  übrigen  der  Textilindustrie  noch  angehörigen  Classen  von  Ge- 
werben haben  geringere  volkswirthschaftliche  BediButung  und  sollen  hier 
blos  erwähnt  werden.  Es  sind: 

5.  Bleicherei,  Färberei  und  Appretur,  soweit  sie  nicht  in  die 
obengenannten  Industrien  eingerechnet  ist. 

6.  Fabrication  von  Geweben  und  Geflechten  aus  Gummi  und 
Haar. 

7.  Erzeugung  von  Wirk-,  Klöppel-,  Häkel-,  Strick-  und 
Stickwaaren. 

8.  Seilerei  und  Reepschlägerei. 

9.  Verfertigung  von  Säcken,  Segeln,  Netzen  etc. 

§.  150.  Papier-  und  lederindastrie. 
1.  Industrie  in  Papier  und  Pappe.  Dieselbe  beschäftigt: 


i  11 

Betriebe 

Personen 

Maschinen 

Pferde- 
kräfte 
(Dampf- 
und Was- 
serkraft) 

Deutschland 1875 

Grossbritaiiuieu    ....  1871 

Frankreich 1876 

Oesterreich ? 

Italien 1877 

2280 
344 
512 
214 
521 

46310 
28050 
28656 

? 
17312 

1091 
456 
? 

200 
168 

53892 
35260 
20378 

? 
13980 

Mahrungs-  and  OenaBsmittelindttstrie.  297 

Die  Production  beläuft  sich  jährlich  auf: 
Id  Deutschland  circa  360  Millionen  Kilogramm 

„  Frankreich        „      141         „  «         ?  werth  103  Millionen  Fr. 

„  Oesterreich       „       70        „  „ 

„  Italien  „        54        „ 

In  allen  Culturländern  zeigt  dieser  Industriezweig  eine  bedeutende 
Steigerung  und  zugleich  ein  fortwährendes  Verdrängen  der  Handarbeit 
durch  die  Maschine. 

■  2.  Leder  und  Ledersurrogate.  Der  Bedarf  an  Leder  hat  mit 
wachsender  Bevölkerung  und  Wohlhabenheit  sehr  zugenommen,  so  dass 
die  mittel-  und  westeuropäische  Häuteproduction  trotz  des  zunehmenden 
Viehstandes  nicht  zureicht  und  seit  1820  Zufuhren  von  Häuten  aus  Amerika, 
Ostindien  und  Osteuropa  häufig  geworden  sind.  Die  Lederbereitung  wird 
theils  handwerks-,  theils  fabriksmässig  betrieben ;  ebenso  die  Verarbeitung 
des  Rohmateriales  zu  Gebrauchsgegenständen.  Der  wichtigste  Zweig  der- 
selben, die  Schuhmacherei,  fällt  in  das  Gebiet  der  Bekleidungsindustrie. 
Zahlen  hinsichtlich  der  Ausdehnung  der  Lederindustrie  stehen  nur  sehr 
spärlich  zu  Gebot.  In  Deutschland  beschäftigt  dieselbe  (einschliesslich  der 
Lohmühlen,  Lohextractfabriken,  Wachstuch-,  Ledertuch-  und  Treibriemen- 
fabriken) 44037  Personen  in  13554  Betrieben,  350  Dampfmaschinen  mit 
3569  Pferdekraft.  Davon  kommen  auf  die  eigentliche  Lederfabrication 
11781  Betriebe  mit  40879  Personen. 

3.  Fabrication  von  Gummi-  und  Guttaperchawaaren. 

4.  Buchbindereien  und  Cartonnagefabriken. 

5.  Riemer,  Sattler  und  Tapezierer.  Diese  Classe  beschäftigt 
in  Deutschland  59819  Personen  in  32402  Betrieben.  Das  Gewerbe  der 
Riemer  und  Sattler  ist  wegen  des  ausgedehnten  localen  Bedarfes  der  Land- 
bevölkerung Kleingewerbe  und  zahlreich  und  gleichmässig  auf  dem  Lande 
verbreitet,  während  die  Taschnerei,  Leder-Galanteriewaarenindustrie  mehr 
dem  Grossbetrieb  angehören  und  ihren  Sitz  in  den  Städten  haben. 

§.  151.  Nahnmgs-  und  Oennssmittelindnstrie. 

Diese  gesammte,  ungemein  wichtige  Gruppe  beschäftigt  in  Deutsch- 
land 692600  Personen  in  271585  Betrieben.  Hierunter  mit  mehr  als  5 
Gehilfen  10505  Betriebe  mit  264170  Personen  nebst  6891  Dampfma- 
schinen von  80978  Pferdekraft.  Auf  10000  Einw.  kommen  63,«  Betriebe 
und  162,1  Personen.  Die  ganze  Gruppe  zerfallt  in  folgende  Classen: 

1.  Herstellung  vegetabilischer  Nahrungsstoffe.  Hieher  ge- 
hören als  wichtigste  Einzelngewerbe  die  Müllerei  und  Bäckerei.  Hin- 
sichtlich der  Müllerei  sind  unter  den  verschiedenen  Arten  von  Mühl- 
werken aus  natürlichen  Gründen  in  Gebirgsländem  mit  reichem  Wasser- 


298  Nahruiigs-  und  öeuussmitlelindustrie. 

gefalle  die  Wassermühlen,  in  ebenen  Ländern,  wo  es  an  Geßlllen  fehlt, 
die  Windmühlen  häufiger.  Die  von  Thieren  getriebenen  Mühlen  ver- 
schwinden mehr  und  mehr;  dagegen  sind  die  Dampfmühlen,  namentlich 
in  wohlhabenden  Gegenden,  wo  es  an  Gefällen  fehlt,  im  Zunehmen.  In 
Deutschland  beschäftigen  59908  Mühlen  ein  Personal  von  126563.  Die 
Bäckerei  mit  der  Conditorei  zusammen  beschäftigt  in  Deutschland  79252 
Betriebe  mit  139034  Personen.  In  Bezug  auf  das  Zahlenverhältniss  zwi- 
schen ]3äckern  und  Einwohnern  finden  länderweise  grosse  Vei'schieden- 
heiten  statt,  namentlich  deshalb,  weil  bei  dünner  Bevölkerung  und  vor- 
wiegendem Landbau  viel  mehr  hausgebacken  es  Brod  bereitet  wird,  als  bei 
dichter  Bevölkerung,  welche  mehr  auf  den  Einkauf  des  Brodes  ange- 
wiesen ist. 

.  Derjenige  Zweig  der  Nahrungsmittelindustrie,  welcher  am  entschie- 
densten dem  Grossbetrieb  zugefallen  ist,  ist  die  Zuckerfabrication. 
Sie  theilt  sich  in  die  Hauptzweige  der  Rohzuckererzeugung  und  der 
Zuckerraffinerie. 

Die  europäische  Rohzuckererzeugung  ist  an  jene  Gegenden  gebunden, 
deren  Boden  und  Klima  die  zuckerreichsten  Rüben  produciren.  Auch 
Zufuhr  des  Brennstoffes  und  Abfuhr  des  Zuckers  kommen  in  Betracht. 
Wie  sehr  die  Leistungen  der  Fabrication  sich  vervollkommnen,  ergibt  sich 
daraus,  dass  bis  zum  Jahre  1845  1  Ztr.  Rohzucker  von  20  Ztr.  Rüben, 
bis  zum  Jahre  1855  1  Ztr.  Rohzucker  von  15  Ztr.  Rüben  und  später  von 
1272  Ztr.  gewonnen  ward.  Die  Zahl  der  Rüben  Zuckerfabriken  betinig  im 
Jahre  1871  (nach  dem  Wiener  Weltausstellungsbericht) 

in  Deutschland 311 

„   OesteiTeich 228 

„   Schweden 4 

„   Russland 439 

„   Polen 42 

„   Frankreich 483 

„  Holland 20 

„   Belgien 125 

„   Grossbritannien 1 

„  Italien 2 

ganz  Europa  .  1655 

Die  Zahl  ist  im  regelmässigen  Steigen,  welches  nur  durch  Steuer- 
erhöhungen unterbrochen  wird.  Die  Zuckerraffinerien,  welche  Colonialzucker 
verarbeiten,  sind  sehr  in  Abnahme;  Grossbritannien  und  die  Niederlande 
zählen  noch  die  meisten.  Die  gesammte  Rohrzuckererzeugung  der' Welt 
wird  auf  41  bis  42  Mill.  Zoll-Ztr.  geschätzt. 


Nalirungs-  und  GenuBümittelindustrie.  299 

Die  gesaminte  Rübenzuckerproduction  Europas  wird    für  das  Cam- 
pagnejahr  1878/79  berechnet  wie  folgt  (Neumann-Spallart  a.  a.  O.  S.  121): 

Frankreich 8,640000  Zollzentner 

Deutschland 8,400000 

Oesterreich-Ungam  ....    7,800000 

Russland,  Polen 4,300000  „ 

Belgien 1,410000 

Andere  Länder 600000 


31,150000  Zollzentner 
Die  deutschen  Rübenzuckerfabriken  insbesondere  haben  sich  bis  zum 
Campagne-Jahr  1877/78  auf  329    vermehrt  und  in  diesem  Jahre  4090 
Millionen  Kilogr.  Rüben  verarbeitet.  Zu  1  Kilo  Rohzucker  wurden  durch- 
schnittlich 10,82  Kilo  Rüben  verbraucht. 

2.  Erzeugung  animalischer  Nahrungsstoffe.  Das  bei  weitem 
wichtigste  Einzelngewerbe  dieser  Classe  ist  die  Fleischerei,  grösstentheils 
Handwerk.  Der  Umfang  des  Fleischer-  oder  Metzgergeschäftes  und  die 
Qualität  des  Productes  hängen  wesentlich  vom  Betriebscapital  und  Credit 
ab.  Die  relative  Häufigkeit  des  Gewerbes  hängt  wie  die  Bäckerei  mit  der 
Volksdichtigkeit  zusammen,  theils  auch  mit  dem  Betriebsumfang.  In 
Deutschland  beschäftigt  das  Gewerbe  110687  Personen  in  77427  Betrieben. 

3.  Getränkefabrication.    Die  wichtigsten  Einzelngewerbe  dieser 

Classe  sind  die  Brauerei  und  Branntweinbrennerei. 

Bei  den  Bierbrauereien  besagt  die  Zahl  der  Etablissements  an 
sich  noch  nichts,  wegen  des  sehr  verschiedenen  Umfanges  derselben.  Da 
der  neuere  Betrieb  dieser  Industrie  hinsichtlich  der  Apparate  und  Ma- 
schinen bedeutende  Anforderungen  stellt,  ist  die  Zahl  derselben  (wenigstens 
in  Deutschland)  in  stetem  Zurückgehen  begriffen.  Diese  Verminderung  trifft 
aber  nur  die  kleineren  Geschäfte;  die  grossen  haben  sich  vermehrt.  Am 
grossartigsten  ist  der  Betrieb  in  Grossbritannien.  In  Deutschland  beschäftigt 
die  Brauerei  18236  Etablissements  mit  67778  Personen  und  1445  Dampf- 
maschinen zu  11470  Pferdekraft.  Die  Production  der  wichtigsten  Pro- 
ductionsländer  wird  (Block:  Stat.  de  France  II.  225)  berechnet  auf  (in 
Hectolitem): 


.Grossbritannien    ....  18,000000 

Belgien 3,116675 

Oesterreich 6,600000 

Preussen   ........    2,800000 


Sachsen 1,072000 

Bayern      5,440000 

Dänemark 1,000000 

Frankreich 7,399683 


Diese  Ziffern  sind  jedenfalls  viel  zu  gering.  In  Deutschland  insbe- 
sondere stellt  sich  1877/78  die  Biei-production  wie  folgt.  Auf  den  Kopf 
der  Bevölkerung  treffen  Liter  in: 


300  Sonstige  Indnsirieu. 


Bayern 275 

Württemberg 203 

Baden 72 


Elsass-Lothringen 52 

Uebriges    Deutschland    (Reichs- 
steuergebiet)      63 


Die  gesammte  Bierproduction  Deutschlands  beträgt  jetzt  (1878/79) 
38  Millionen  Hectoliter. 

In  der  Branntweinbrennerei  und  Spiritusfabrication  wird 
gleichfalls,  seit  der  Spiritus  in  den  Gewerben  massenhaft  verwendet  wird 
und  wichtiger  Handelsgegenstand  geworden  ist,  der  kleine  Betrieb  mehr 
und  mehr  durch  den  grossen  verdrängt.  In  Deutschland  beschäftigt  das 
Gewerbe  16278  Betriebe  mit  37479  Personen.  Die  Production  beträgt  in 
Deutschland  (ausschl.  Bayern,  Württemberg  und  Baden)  4,169200  Hectol. 
oder  11,9  Liter  pro  Kopf. 

4.  Tabakfabrication.  Dieser  Industriezweig,  hochwichtig  für  Be- 
steuerungszwecke, weist  in  den  einzelnen  Ländern  sehr  grosse  Verschieden- 
heiten auf,  je  nach  der  Art  der  Besteuerung  und  nach  der  Beschaffung 
des  Rohmaterials.  In  mehreren  wichtigen  Staaten  Europa's  entzieht  sich 
die  Tabakfabrication,  weil  Staatsmonopol,  dem  Kreise  der  hier  zu  beob- 
achtenden Gewerbe.  So  namentlich  in  Oesterreich-Ungarn  und  in  Frankreich. 

In  Deutschland  beschäftigt  die  Tabakfabrication  10583  Betriebe  mit 
110891  Personen.  Dabei  sind  2506  Betriebe  mit  mehr  als  5  Gehilfen  und 
in  diesen  grösseren  Betrieben  96561  Personen  beschäftigt,  hiezu  129 
Dampfmaschinen  mit  881  Pferdekraft. 

§.  152.  Sonstige  Industrien. 

Von  den  übrigen  industriellen  Gewerben,  welche  sich  sämmtlich 
bisher  keiner  so  sorgfältigen  Betrachtung  zu  erfreuen  hatten,  wie  die 
ebengenannten,  wären  noch  folgende  Hauptgruppen  zu  nennen: 

I.  Industrie  für  Bekleidung  und  Reinigung.  Diese  Gruppe 
beschäftigt  in  •  Deutschland  774955  Betriebe  mit  1,053142  Personen,  wor- 
unter nur  4626  Betriebe  mit  mehr  als  5  Personen,  in  Frankreich  341637 
Betriebe  mit  601395  Personen.  Sie  ist  die  am  zahlreichsten  besetzte 
Gewerbsgruppe  überhaupt.  Auf  10000  Einw.  treffen  in  Deutschland  181,4 
Betriebe  und  246,5  beschäftigte  Personen.  Die  Fortdauer  des  Kleinbe- 
triebes wird  hier  durch  verschiedene  Umstände  ermöglicht:  durch  die 
Häufigkeit  der  Reparaturarbeiten,  durch  die  Allgemeinheit  des  Bedürf- 
nisses, welchem  diese  Gewerbe  dienen  und  welche  es  nöthig  macht,  dass 
dieselben  auch  in  den  kleineren  Ortschaften  vertreten  sind;  auch  durch 
den  Umstand,  dass  diese  Gewerbe,  weil  den  unmittelbarsten  persönlichen 
Bedürfnissen  dienend,  nicht  so  schablonenmässig  arbeiten . können ,  wie 
der  mäschinenmässige  Grossbetrieb. 


Sonstige  Industrien.  301 

Die  wichtigsten  zu  der  Gruppe  gehörigen  Einzelngewerbe  sind  be- 
kanntlich die  der  Schneider  und  Schuhmacher.  Nach  älteren  Angaben 
kommt 

1  Schneider  auf      1  Schuhmacher  auf 

in  Deutschland 252  185  Einw. 

„  Frankreich 238  192      „ 

„  Oesterreich 761  507      „ 

„  Italien 687  555      „ 

Jetzt  arbeiten  im  Deutschen  Reiche  298923  Schneider  und  374203 
Schuhmacher. 

IL  Baugewerbe.  Diese  Gruppe  beschäftigt  in  Deutschland  234388 
Betriebe  mit  467309  Personen,  also  auf  je  10000  Einwohner  54,9  Betriebe 
und  109,4  Personen.  Nur  7964  Betriebe  mit  169326  Personen  haben 
über  5  Gehilfen*  Dieses  Vorherrschen  des  Kleinbetriebes  erklärt  sich  aus 
dem  stark  örtlichen  Charakter  der  ganzen  Gruppe. 

Die  Frequenz  der  ganzen  Gruppe  wird  hauptsächlich  durch  die 
nationale  Bausitte  und  durch  die  jeweilige  Baulust  bedingt;  doch  darf 
man,  da  in  Ackerbaugegenden  die  meisten  Reparaturen  und  viele  Neu- 
bauten vom  Hausbesitzer  unter  Zuzug  von  Handarbeitern  besorgt  werden, 
nur  für  Städte  und  Industriegegenden  aus  der  Zahl  der  Bauhandwerker 
Schlüsse  auf  die  Bauthätigkeit  ziehen.  In  allen  Culturländern  werden 
neben  den  handwerksmässigen  Baugewerken  und  neben  der  fabriksmässigen 
Production  von  Baumaterialien  einzelne  Theile  der  Bauthätigkeit,  nament- 
lich die  Anlage  der  grossen  Verkehrsbauten  vom  Ingenieui-wesen,  die 
höchste  künstlerische  Vollendung  der  Bauwerke  von  der  Kunstindustrie 
und  der  Kunst  beherrscht,  so  dass  in  diesem  Gewerbszweige  alle  Quali- 
täten von  Arbeitskräften  wie  alle  Classen  des  Betriebsumfanges  ver- 
treten sind. 

III.  Die  Industrie  der  Steine  und  Erden  schliesst  sich  an  die 
Baugewerbe  an.  Hieher  gehören: 

A.  Die  verschiedenen  Zweige  der  Gesteinindustrie,  welche  als 
Grundlage  der  Bauausführungen  dienen,'  die  Kalkbrennereien,  Ziegeleien, 
Fabriken  von  Formsteinen  und  schweren  Thonwaaren,  Gyps-,  Cement-, 
Asphaltfabriken,  Schiefer-,  Marmor-,  Dachplattenbrüche  und  Steinbrüche 
überhaupt,  sind  zu  bedeutendem  Umfange  angewachsen  und  werden  zum 
Theil  fabrikmässig  betrieben. 

B.  Die  Keramische  Industrie.  Sie  gehört  theils  dem  handwerks- 
mässigen, theils  dem  fabrikmässigen  Betriebe  an.  Nach  dem  von  ihr  ver- 
arbeiteten Material  zerfällt  sie  in  Glas-,  Porzellan-,  Steingut-  und  Thon- 
waarenindustrie.  Bei  der  Glasindustrie  ist  die  Herstellung  des 
Productes    und    grossentheils    auch    die  Verarbeitung   desselben    vereinigt 


302  Sonstige  Industrien. 

und  gehört  dem  Grossbetrieb  an.  Die  locale  Vertheilung  dieses  Fabri- 
cationszweiges  wird  zumeist  durch  das  nicht  überall  vorhandene  Roh- 
material, sowie  durch  die  gewohnheitsmässige  Uebung  der  Arbeiterbevöl- 
kerung  beeinflusst. 

Die  Glaserei  dagegen  ist  decentralisirter,  ganz  an  die  Baugewerke 
anschliessender  Handwerksbetrieb.  Weit  mehr  centralisirt  als  die  Glas- 
fabrication  ist  die  Porzellanmanufactur.  In  Deutschland  z.  B.  kommen  auf 
jede  Glasfabrik  36,  auf  jede  Spiegelfabrik  50,  auf  jede  Porzellanfabrik 
100  beschäftigte  Personen.  Mit  der  Vertheuerung  des  Holzes  steigt  das 
Bedürfniss,  solche  Anstalten  in  der  Nähe  von  Kohlengruben  anzulegen, 
zumal  die  Fortschritte  der  Technik  die  Erzeugung  der  feinsten  und  werth- 
voUsten  Waare  mit  Steinkohle  ermöglichen.  Die  Steingut-  und  Thon- 
waarenindustrie  duldet  geringeren  Betriebsumfang;  letztere  insbesondere 
ist  allenthalben  noch  Gegenstand  des  Kleingewerbes. 

IV.  Die  chemische  Industrie  im  engeren  Sinne  sowohl  (Fabri- 
cation  von  Chemikalien  zu  pharmaceutischem  und  gewerblichem  Ge- 
brauch, von  Farben  und  Firnissen),  als  auch  eine  Reihe  anderer  hieher 
zu  rechnender  Industriezweige  (Gas-  und  Theer-,  Zündwaaren-,  Seifen- 
und  Stearin-,  Parfömerie-  und  Mineralölfabrication,  Leimsiederei,  Phos- 
phor- und  Kunstdüngerfabrication  u.  s.  f.)  gestatten  zum  Theile  sehr 
bescheidenen,  zum  Theil  erfordern  sie  beträchtlichen  Betiiebsumfang  und 
Capitalaufwand.  Sie  sind  meist  modernen  Ursprungs  und  Ergebniss  wissen- 
schaftlicher Forschung,  und  in  ihrem  Stand  und  Gang  höchst  abhängig 
von  der  Entwickelung  der  Gesammtindustrie. 

V.  Die  Industrie  in  Holz-,  Stroh-  und  kurzen  Waaren  gehört 
theils  dem  kleinen,  theils  dem  grossen  Betrieb  an.  Hinsichtlich  der  Holz- 
waaren  steht  das  weitverbreitete  Gewerbe  der  Tischlerei  obenan.  Dieses 
Gewerbe  scheint  (in  Deutschland  wenigstens)  seit  Anfang  dieses  Jahrhun- 
derts die  Zahl  seiner  Arbeiter,  verglichen  mit  der  Bevölkerung,  verdop- 
pelt zu  haben;  man  zählt  in  Deutschland  230.510  in  Tischlereien  be- 
schäftigte Personen.  Der  fabrikmässige  Betrieb  gehört  erst  der  neueren 
Zeit  an;  schwierigere,  der  Kunstindustrie  angehörende  Leistungen,  pflegen 
von  ihm  auszugehen.  Die  Böttcherei  schliesst  sich  in  ihrer  Ausdehnung 
wesentlich  an  intensiven  Landbau  und  Getränkefabrication  an;  die  Korb- 
flechterei und  Holzschnitzerei  erscheinen,  vielfach  als  häusliche  Neben- 
beschäftigung getrieben,  mit  besonders  geringem  Betriebsumfange.  Die 
Verfertigung  von  Kurzwaaren  aus  Holz,  Hörn,  Bein,  insbesondere  die 
Drechslerei,  Spielwaarenfabrication  u.  dgl.  wird,  da  sie  auch  schon  im 
Kleinen  eingehende  Arbeitstheilung  zulässt  und  keine  grossen  Capitalien 
erfordert,  noch  immer  mit  Erfolg  vom  Kleingewerbe  betrieben;  ganze 
Landstriche   verdanken  ihnen  nicht  unbedeutenden  Wohlstand.    Einzelne 


SlAtistik  der  Preise.  -  Das  Geld.  303 

Zweige  allerdings  gehen  mehr  und  mehr  in  den  fabrikmäßsigen  Betrieb 
über.  Die  Stroh-,  Rohr-  und  Bastwaarenindußtrie  hat  man,  da  sie  auch 
schwächere  Arbeitskräfte  zulässt  und  fast  kein  Capital  beansprucht,  nicht 
ohne  Erfolg  als  Subsistenzmittel  för  verdienstlose  Bevölkerungen  beim  Er- 
liegen anderer  Gewerbszweige  zu  fördern  gesucht.  Lackirte  Waaren  ge- 
hören meist  der  Fabrikindustrie  an;  ebenso  Bleistifte,  Federn  u.  dgl. 


IV.  Capitel. 
Statistik  der  Preise.  —  Das  Geld. 


§.  153.  Im  Allgemeinen. 

Der  Preis  der  Güter  gehört  zu  den  Favoritgegenständen  wirthschaft- 
licher  Statistik.  Er  eignet  sich  aber  auch  ganz  ausnehmend  hiezu.  Denn 
er  ist  ein  bewegliches,  schwankendes  Verhältniss,  welchem  bei  allem 
Schwanken  doch  jene  tiefen  Gesetze  gelten,  die  von  der  ökonomischen 
Wissenschaft  so  schön  präcisirt  worden  sind.  Ganz  im  Allgemeinen  gesagt 
beschäftigt  sich  die  Preisstatistik  mit  den  Tauschwerthen  aller  Güter,  wie 
sie  in  verschiedenen  Zeiten  und  an  verschiedenen  Orten  sich  zeigen,  wie 
sie  gegen  einander  gehalten,  steigen  und  fallen.  Also  mit  Massener- 
scheinungen von  imposanter  Mannigfaltigkeit. 

Auch  diese  Massen  erschein  ungen  haben  ihren  Stand  und  ihren  Gang. 
Beides  zu  beurtheilen  bedarf  es  einiger  Sorgfalt.  Erleichtert  wird  die  Auf- 
gabe ganz  ungemein  durch  das  Vorhandensein  des  Geldes,  als  eines 
Tauschmittels,  welches  zum  einfachsten  Ausdruck  der  Preise  dient. 

Die  Preise,  welche  verglichen  werden  können,  sind  entweder: 
I.  Preise  verschiedener  Waaren,  oder 
II.  Preise  einer  und  derselben  Waare,  aber 

1.  an  verschiedenen  Orten,  oder 

2.  zu  verschiedenen  Zeiten. 

Aus  mehreren  Preisangaben,  welche  sich  auf  eine  bestimmte  Waaren- 
gattung  beziehen,  können  durch  einfache  Rechnung  Durchschnittspreise 
gefunden  werden.  Diese  beseitigen  die  zufälligen  Aenderungen  der  auf  den 
Preis  einwirkenden  Bestimmungsgründe,  und  lassen  mehr  die  dauernde 
Macht  derselben  zum  Vorschein  kommen.  Durchschnittspreise  sind  ideale 
Werthe,  der  Wirklichkeit  umsomehr  entsprechend,  je  massenhafter  und 
regelmässiger  die  einzelnen  Beobachtungen  waren. 


304  Gliederung  der  Aufgabe  der  FreissUtistik. 

Das  wichtigste  ist  immer  die  Untersuchung  über  die  Ursachen,  welche 
die  verschiedenen  Preishöhen  herstellen.  Diese  Ursachen,  die  Bestim- 
mungsgründe des  Preises  ergeben  sich  im  Allgemeinen  zwar  schon 
aus  der  unmethodischen  Massenbeobachtung,  ja  sogar  auf  dem  Wege  der 
deductiven  Forschung,  aber  ihre  wechselnde  Kraft  zu  messen:  dies  ist  die 
eigentliche  Aufgabe  der  Preisstatistik. 

Diese  verschiedenen  Preisbestimmungsgründe  wirken  aber  sämmtlich 
bei  jeder  einzelnen  Preisbestimmung.  Und  dieses  Zusammenwirken  ist  es, 
was  die  Beobachtung  sehr  erschwert.  Denn  Intensität  und  Tenacität  der 
Preisbestimmungsgründe  sind  verschieden,  und  ebenso  die  Sensibilität  der 
Preise  verschiedener  Güter. 

Erleichtert  wird  die  Beobachtung  dagegen  dadurch,  dass  überall,  wo 
der  Güterumlauf  und  die  Preisbestimmung  häufiger  sind,  Marktpreise  sich 
bilden.  In  ihnen  erspart  das  wirthschaftliche  Leben  selbst  dem  Stati- 
stiker einen  Theil  seiner  Arbeit,  eine  Reihe  von  Beobachtungen.  Die 
Marktpreise  aber  streben  nach  möglichst  gleicher  Höhe  mit  den  Produc- 
tionskosten. 

Ein  ganz  stetiges  Preismass  ist  freilich  noch  nicht  gefunden.  Will 
man  daher  beobachten,  ob  ein  Gut  im  Preise  steigt  oder  fällt  und  soll 
diese  Beobachtung  Anspruch  auf  grosse  Genauigkeit  haben,  so  genügt  es 
nicht,  dass  man  einen  beliebigen  Vergleichungsmassstab  (d.  h.  eine  be- 
stimmte Geldart)  nimmt,  ohne  zu  prüfen,  ob  derselbe  auch  immer  und 
überall  der  gleiche  war.  In  solchen  Fällen  wird  es  also  nöthig,  nachzu- 
sehen, wie  der  Preis  des  Geldes  sich  verändert  hat. 

Anmerkung. 

*)  Die  Preise  siud  ein  von  der  Statistik  oft  und  gründlich  behandeltes 
Feld.  Die  statistischen  Congresse  haben  sich  wiederholt  damit  beschäftigt.  So 
der  Londoner  Congress  1860  bezüglich  der  landwirthschaftlichen  Producte,  der 
Berliner  1863  hinsichtlich  der  Preise  von  Haus-  und  Grundbesitz;  der  Wiener 
von  1857  bezüglich  des  Werthes  industrieller  Erzeugnisse  u.  s.  f.  Auch  der 
letzte  Congress  zu  Budapest  befasste  sich  damit. 

Von  der  überaus  zahlreichen  Privatliteratur  über  Statistik  der  Preise 
seien  nur  zwei  Arbeiten  erwähnt.  Die  erste  ist  das  classische  Werk  von  Tooke 
und  New  mar  ch:  Die  Geschichte  und  Bestimmung  der  Preise  während  der 
Jahre  1793 — 1857;  deutsch  von  As  her.  Die  andere  ist  von  K.  Brämer:  Zur 
Theorie  und  Praxis  der  internationalen  Preisstatistik.  In  der  Zeitschr.  d.  preuss. 
stat.  Bureau,  1878.  I.  Heft. 

§.  154.  Oliederimg  der  Aufgabe  der  Preisstatistik. 

Bei  aller  Preisstatistik  sind  folgende  Aufgaben  zu  unterscheiden: 
I.  Die  Constatirung  bestimmter  Preishöhen.    Bei  der  heutigen 
Beschaffenheit  des  Welthandels  ist  es  leicht,  über  den  momentanen  Preis- 


Gliederung  der  Axifga1>e  der  Preisstatutik.  305 

stand  der  Waaren,  den  dieselben  an  jedem  wichtigeren  Händelsplatze  ein- 
nehmen, Nachricht  zu  erhalten.  Der  Preisstand  eines  beliebigen  Tages  ist 
jedoch  nicht,  was  dem  Statistiker  genügen  kann.  Dieser  verlangt  zu 
wissen,  wie  sich  der  Durchschnittspreis  einer  oder  mehrerer  Jahre  stellt. 
Denn  die  wechselnden  Preise  einzelner  Tage  haben  wohl  Einfluss  auf  die 
einzelne  Handelsspec^lation;  aber  dauernden  Einfluss  auf  die  Lage  der 
Production  und  der  Consumtion  nehmen  nur  die  Durchschnittspreise  län- 
gerer Zeiträume.  Diese  sind  es  deshalb  auch,  welche  zu  handelspolitischen 
Zwecken  von  den  Regierungen  ermittelt  werden.;  in  möglichst  gründlicher, 
wenn  auch  ziemlich  ungleichartiger  Weise.  Die  Ermittlung  geschieht  in 
der  Weise,  dass  eine  Behörde  oder  Commission  (ein  statistisches  Amt 
oder  das  Finanz-  oder  Handelsministerium  etc.)  unter  Zuhilfenahme  von 
Cursnotirungen  der  wichtigsten  Börsen,  von  Handelskammer-Gutachten, 
Preiscourants,  von  berufenen  Sachverständigen,  die  zuverlässigsten  Nach- 
richten über  die  an  verschiedenen  Plätzen  wirklich  gezahlten  Waaren- 
preise  sammelt,  prüft  und  vergleicht  und  hieraus  die  Mittelpreise  eines 
Jahres  berechnet.  Dabei  ergeben  sich  freilich  mancherlei  Hindemisse  und 
Schwierigkeiten,  welche  Ursache  sind,  dass  selbst  die  zuverlässigsten  Er- 
hebungen der  Preisstatistik  noch  weit  vom  Ideal  entfernt  sind.  Die 
Durchschnittspreise  sind  überhaupt  schon  Abstractionen  und  als  solche 
etwas  anderes  als  die  Wirklichkeit;  sie  sind  aber  auch  sehr  häufig  un- 
richtige Abstractionen,  weil  bei  ihrer  Bildung  nicht  allein  die  Höhe  der 
Einzelnpreise,  sondern  auch  die  Quantität  der  zu  diesen  Preisen  ver- 
kauften Waaren  in  Betracht  gezogen  werden  müsste,  was  nicht  immer 
geschieht. 

n.  Die  Untersuchung  der  Ursachen  verschiedener  Preishöhen. 
Mit  der  einfachen  Constatirung  der  Preishöhen  ist  nur  ein  Theil  der  ge- 
sammten  Aufgabe  der  Preisstatistik  erledigt.  Nicht  minder  schwierig  als 
sie  ist  das  Eingehen  auf  die  Bestimmungsgründe  des  Preises  in  jedem 
einzelnen  Falle.  So  einfach  es  ist,  die  Bestimmungsgründe  des  Preises  auf 
dem  Wege  psychologischer  Speculation  zu  entwickeln  und  in  zahllosen 
Einzelnfällen  mit  wirthschaftsgeschichtlichen  Beweisen  zu  versehen,  umso 
schwieriger  erscheint  es  dagegen,  diese  Bestimmungsgründe  nach  einer 
gleichmässigen  Methode  quantitativ  festzuhalten.  Es  ist  leicht,  zu  sagen: 
Nachfrage  und  Angebot  bestimmen  den  Preis.  Aber  mit  welchen  Mass- 
stäben misst  man  das  Angebot  und  die  Nachfrage?  Und  wie  trägt  man 
dem  Umstände  Rechnung,  dass  zwischen  das  ursprüngliche  Angebot  der 
Producenten  und  die  ursprüngliche  Nachfrage  der  Consumenten  ein 
Zwischenglied,  die  Speculation  des  Handels  eintritt,  welche  unaufhörlich 
unnatürliche,  künstliche  Verhältnisse  des  Angebots  und  der  Nachfrage 
schafft  und  wieder  auflöst? 

Haashofe r.  Statistik.  2.  Aufl.  |0 


306  Gliederung  der  Aufgabe  der  PreissUtietik. 

Die  Ergebnisse  der  Production,  die  Massen  der  zu  Markt  gebrachten 
Waare  lassen  sich  allerdings  in  vielen  Fällen  mehr  oder  weniger  genau 
constatiren;  ebenso  die  Veränderungen  im  Tauschwerthe  des  Geldes;  häufig 
auch  Veränderungen  der  Productionskosten.  Der  jeweilige  Gebrauchswerth 
der  Waaren  aber  lässt  sich  nicht  zur  Ziffer  bringen. 

ni.  Die  Beobachtung  örtlicher  Preisunterschiede.  Die  Durch- 
schnittspreise, welche  eine  Waare  im  Lande  hat,  setzen  sich  zusammen 
aus  den  Preisen  aller  einzelnen  Orte,  an  welchen  die  Waare  gekauft  und 
verkauft  wird.  Da  es  indessen  unthunlich  ist,  jederzeit  jedem  einzelnen 
kleinsten  Marktplatze  zu  folgen,  muss  man  sich  damit  begnügen,  die 
Preishöhen  der  wichtigeren  Marktplätze  zu  verfolgen.  Dabei  genügt  es 
aber  nicht,  wenn  man  die  Preishöhen  der  einzelnen  Plätze  als  gleich- 
werthig  nimmt.  Sondern  bei  jeder  Preishöhe,  die  als  Factor  bei  der  Be- 
rechnung des  Mittelpreises  auftritt,  muss  auch  die  Waarenmenge  berück- 
sichtigt werden,  die  zu  diesem  Preise  verkauft  ward.  Wenn  am  Platze  A 
1000  Zentner  ä  2,  am  Platze  B  2000  Zentner  ä  3  und  am  Platze  C 
8000  Zentner  ä  4  Mark  oder  Gulden  verkauft  wurden,  so  ist  der  Durch- 

2  +  3  +  4 
schnitt  nicht  etwa  o ==  3,   sondern    die   Gesammtsumme    der 

erzielten  Preise,  dividirt  durch  die  Gesammtsumme  der  verkauften  Zentner, 
,      40000 
*''^  TlÖÖÖ  =  ^*^^- 

Bei  der  Betrachtung  der  örtlichen  Preisverschiedenheiten  ergibt  sich 
vor  Allem,  wie  die  Entfernung  vom  Productionsplatze,  beziehungsweise 
von  der  Einfuhrgrenze  die  Preise  erhöht;  wie  die  grösseren  Marktplätze 
immer  dem  Durchschnittspreise  des  ganzen  Landes  näher  kommen,  als 
die  kleineren;  wie  sich  die  Preise  der  Seeplätze  zu  denen  des  Binnen- 
landes verhalten  u.  s.  f. 

Ein  weiteres  Eingehen  auf  diese  Unterschiede  bei  den  einzelnen 
Waaren  bedarf  immer  noch  handelsgeographischer  Kenntniss  bezüglich 
der  Productions-  und  Consumtionsverhältnisse  etc.  der  einzelnen  Orte. 

IV.  Die  Beobachtung  zeitlicher  Preisunterschiede  fuhrt,  wenn 
sie  sich  über  längere  Zeiträume  erstreckt,  zur  Preisgeschichte.  Diese 
letztere  ist  jedoch  häufig  angewiesen,  ihre  Schlüsse  auf  sehr  vereinzelte 
Preisnotizen  zu  begründen  und  hat  überdies  fortwährend  mit  dem  un- 
gleichmässigen  Werthe  der  Zahlungsmittel  zu  kämpfen.  Für  das  Ver- 
ständniss  der  Preise  ist  aber  die  Preisgeschichte,  auch  wenn  sie  mit 
dürftigem  Material  arbeitet,  eine  weit  reichere  Fundgrube,  als  die  ein- 
gehendste Preisstatistik  moderner  Waarenpreise  ist.  Die  Grenze  zwischen 
Preisgeschichte  und  Preisstatistik  wird  durch  die  Massenbeobachtung  ge- 


Die  Getreidepreise. 


307 


bildet.  Diese  muss  wohl  unterschieden  werden  von  den  vereinzelten  Preis- 
notizen, welche  die  Wirthschaftsgeschichte  uns  vermittelt. 

§.  165.  Die  Oetreidepreise. 

Begreiflicherweise  sind  es  stets  die  wichtigsten  Nahrungsmittel  ge- 
wesen, deren  Preise  die  Statistik  am  meisten  interessirt  haben,  sowohl 
hinsichtlich  ihrer  örtlichen,  als  hinsichtlich  ihrer  zeitlichen  Verschiedenheiten. 

I.  Die  örtlichen  Preisverschiedenheiten.  Die  Unterschiede  des 
Getreidepreises  in  verschiedenen  Ländern  und  an  verschiedenen  Plätzen 
beruhen  vor  Allem  auf  dem  Gegensatze  der  Productions-  und  Consumtions- 
gebiete.  In  je  höherem  Grade  eine  Gegend  den  Charakter  eines  Getreide- 
Productionsgebietes  hat,  um  so  niedriger  sind  die  Preise,  während  dieselben 
um  so  höher  sein  müssen,  je  mehr  die  Macht  der  Consumtion  überwiegt. 
Da  die  Consumtion  jedoch  ihre  Fäden,  die  Verkehrsadern,  nach  den 
Productionsgebieten  ausstreckt,  so  sind  auch  in  den  letzteren  beträchtliche 
Preisverschiedenheiten  vorhanden,  je  nachdem  die  Verkehrs-  und  Absatz- 
gelegenheit mehr  oder  weniger  günstig  ist.  Jede  Verbesserung  der  Trans- 
portmittel muss  zur  Ausgleichung  der  Preisunterschiede  beitragen. 

Im  Jahre  1875  verhielten  sich  die  Preise  der  wichtigsten  Ackerfrüchte 
in  Reichsmark  wie  folgt*): 


Waarengattung 


2      So 


«  2 


O    '    'TS 


boo 

do 


Ver.  Staaten 


S.2       u 
hD^       bo 

9  2^ 

mm    2 


Weizen 

Roggen 

Hafer 

Gersie 

Beis  . 

Mais  . 

Hülsenfrüchte 

Mehl  etc.     . 

Kartoffeln    . 

Klee-  u.  Grassaat 

Oe]saat 


20-21 

a 

17-^18 
18 

24—68 

15 
24—26 
18—72 

5,6—6,4 

120—140 
27—29 


21 
16 
17 

18 
26-28 

16 

20 

32 

6 
50—100 

28 


21—22 

16 
17—18 
17—30 

18 

16 
18—37 
13—66 

9,17 

34-91 


12—13  pro  Hectol. 
9-11      „ 
5-6,7     „ 
7,7-12     „ 
24—66  pro  100  Kilo 
9,8—10,5  pro  Hectol. 

12  pro  Hectol. 
23—32  pro  100  Kilo 
9,9—10  pro  Hectol. 


21 
17 

18 

22 

19 

16 
19—40 
16—46 

5,86 

49—113 

22—29 


Die  Verschiedenheiten  der  Getreidepreise  sind  in  den  Provinzen  eines 
und  desselben  •  Staates  noch  beträchtlicher,  als  die  Unterschiede  in  den 
Hauptculturländem  selbst.  So  stellen  sich  z.  B.  im  Monat  August  des 
Jahres  1877  in  den  verschiedenen  Provinzen  Preussens  die  Getreidepreise 
(Mittelpreise)  wie  folgt  (pro  100  Kilogr.  in  Reichsmark^): 

20* 


308 


Die  QetreidepreiBe, 


Provinz 


Weizen 


Roggen 


Gerste 


Hafer 


Kar- 
toffeln 


Preussen 

Brandenburg    .    .    . 
Pommern   .    .   .   .   . 

Poseii 

Schlesien    .    .    .    .    , 

Sachsen , 

Schleswig-Holstein 
Hannover  .... 
Westfal^  .... 
Hessen-Nassau     . 
Rheinland      ... 


%t,5 
21,3 

22,6 

22,2 

20,7 

23,1 

26,9 

24 

25,4 

23,7 

26,1 


15,7 

16,1 

16,8 

15 

15,2 

18 
17,s 

18 

18,6 
18,7 
18,6 


14,1 

15,3 

16,4 
14,2 
13,6 
17,7 
17,9 
17,2 

17,4 

17,6 
18,6 


U,3 
15,3 
15,6 

13,9 
12,8 
16,3 
18,2 
16,3 
17,7 

16 

17,3 


5,06 

4,86 

5,3 

3,3 

4,6 

5,85 

9,35 

7,6 

7,2. 

7,96 

7,05 


Noch  grösser  werden  die  Differenzen,  wenn  man  blos  einzelne  Plätze 
herausgreift.  So  finden  sich  im  August  1877  in  einzelnen  Städten  Preussens 
folgende  Preise  (in  Mark  pro  100  Kilogr.): 

Weizen :  Hoggeii :  Kartoffel : 

höchster  niedrigster   höchster  niedrigster  höchster    niedrigster 


Berlin     .    . 

.27,0 

20,3 

18,9 

13 

8 

3,7 

Memel    .    . 

.17,0 

15,5 

16,3 

14,8 

7,5 

4 

Breslau  .    . 

.24,» 

17,3 

17,5 

11,8 

6,5 

3,5 

Hadersleben 

.30 

27,5 

18,8 

16 

12 

10,* 

Aachen  .   . 

.  29,5 

27,5 

20,5 

18,5 

11 

9 

Selbst  im  Zeitalter  des  Dampfes,  wo  doch  der  rascheste  Nahrungs- 
mittelverkehr möglich  ist,  so  bedeutende  Differenzen! 

II.  Zeitliche  Verschiedenheiten.  Obgleich  nicht  so  bedeutend 
wie  die  räumlichen,  sind  doch  die  zeitlichen  Schwankungen  der  Getreide- 
preise immer  noch  bedeutend  genug,  wenn  man  bedenkt,  dass  das  Getreide 
dem  gleichmässigsten,  jeden  Tag  wiederkehrenden  Bedürfnisse- des  Menschen 
dient  und  die  Schwankungen  seines  Preises  tief  nicht  nur  in  das  wirth- 
schaftliche,  sondern  in  das  ganze  sittliche  und  gesellschaftliche  Leben  der 
Menschheit  eingreifen. 

Jahr  für  Jahr  ist  es  der  günstige  oder  ungünstige  Ertrag  der  Ernte, 
welcher  Preisunterschiede  verursacht.  Ist  das  Ergebniss  eine  Mittelerate, 
so  werden  sich  auch  Mittelpreise  gestalten;  bei  vorzüglichen  und  schlechten 
Ernten  dagegen  weichen,  wenn  die  Nachfrage  gleich  bleibt,  die  Preise 
nicht  blos  in  demselben  Grad,  wie  das  Ernteergebniss  gegen  die  Mittel- 
erträge, sondern  noch  weit  stärker  von  den  Mittelpreisen  ab. 

Zu  Anfang  und  in  der  ersten  Hälfte  des  laufenden  Jahrhunderts 
konnten  auch  in  Deutschland  Missernten  zu  den  schrecklichsten  Nothlagen 


Die  Getreidepreise. 


309 


fuhren.  So  i.  J.  1771;  auch  1817  und  1818,  und  1847.  Jetzt  sorgen  der 
verbesserte  Verkehr,  namentlich  die  Eisenbahnen  und  die  überseeische 
Schifffahrt  fär  so  bedeutende  •  Getreidezufuhren ,  dass  solche  Calamitäten 
in  dem  Grade  wohl  nicht  wiederkehren  können.  Um  wie  viel  milder  die 
-Preisdifferenzen  geworden  sind,  geht  aus  Folgendem  hervor.    • 

Das  Jahr  1817  war  eines  der  theuersten  des  Jahrhunderts.  Damals 
betrug  in  ganz  Preussen  der  Durchschnittspreis  des  Korns  85  Sgr.  per 
Scheffel,  in. der  Provinz  Preussen  blos  56  Sgr.  10  Pf.,  in  der  Rhein- 
provinz dagegen  132  Sgr.  6  Pf.,  die  Differenz  also  75  Sgr.  8  Pf. 

Im  Jahre  1855  dagegen,  als  das  Korn  im  ganzen  Staate  durch- 
schnittlich noch  theurer  war,  nämlich  91  Sgr.  7  Pf.,  war  die  Differenz 
zwischen  den  höchsten  und  niedrigsten  Preisen  in  den  verschiedenen 
Provinzen  auf  23  Sgr.  herabgesunken  —  hauptsächlich  iils  wohlthätige 
Folge  der  verbesserten  Verkehrsmittel^). 

Hinsichtlich  der  zeitlichen  Preisschwankungen  des  Getreides  ist  noch 
zu  erwähnen,  dass  dieselben  auch  in  weit  kürzeren  Perioden,  als  in  der 
eines,  Jahres  sich  zeigen.  So  besonders  in  den  verschiedenen  Monaten.  Im 
Juli  und  August,  manchmal  schon  im  Juni,  treten  die  bedeutendsten 
Aenderungen  auf,  weil  in  dieser  Zeit  das  Emteergebniss  sich'  ungefähr  vor- 
aussehen lässt.  Dass  diese  nach  Jahreszeiten  sich  ergebenden  Differenzen 
recht  ansehnlich  sein  können,  ergibt  sich  u.  A.  aus  Folgendem.  In  Preussen 
betrugen  1877  die  Preise^)  (pro  100  Kilogramm  in  Reichsmark): 


Mouat 


Weizen 


Roggen 


Gerste 


Hafer 


Kar- 
toffeln 


Januar  .  . 
Fißbruar 
März  .  .  . 
April  .  .  . 
Mai  .  .  . 
Juni  .  .  . 
Juli  ... 
August  «  . 
September 
October- .  . 
Nqvejnb^er.. 
December  . 


21,9 
2i,8 

22,0 

23,7 

25,5 

24,7 

25,0 

23,4 

22,6 

22,6^ 

22,0 

21,6 


18,5 
18,2 
18,2 

19,0 

19,8 

19,0 

18,9 

17,1 
16,1 

16,2 
15,9 
15,4 


16,7 
16,5 
16,7 
17,3 
17,7 
17,3 
16,9 
16,3 
16,5 

17,0 

17,2 
16,9 


16,7 
16,5 
16,6 

17,0 

17,4 

16,8 
16,7, 
15,7 
14,8 

.14,8 
14,7  „ 
14,4 


5,46 

5,7 

6,0 

6,35 

7,05 

8,0 

8,8 

6,05 

5,5 

5,65 

5,8 

5,8 


Anmerkungen. 
*)  Nach   K.   Brämer,   in    der  Zeitschr.  des  preuss.  stat.  Bureaus,    1878, 
i.  S.  95  ff.  " 

»)  Ebenda,  S.  61  ff. 
»)  Viebahn  a.  a.  0.  IL  952. 


310 


Andere  vegetabilische  Bobstoflfe  und  Genussmittel. 


§.  156.  Andere  vegetabiliscke  Bohitoffe  und  Oenussmittel. 

I.  Oertliche  Verschiedenheiten.  Auf  die  Preise  dieser  WaÄren 
wirkt  selbstverständlich  am  meisten  die  Entfernung  vom  Productionsplatze. 
Der  Preis  wächst  nicht  allein  mit  der  Dauer,  sondern  auch  mit  der 
Schwierigkeit  des  Transportes  und  der  Aufbewahrung.  Die  (officiell  be- 
stimmten) Preise  der  wichtigsten  Waaren  dieser  Kategorie  betrugen  im 
Jahre   1875   (in  Reichsmark  und  pro  100  Kilogr.  ^): 


Waaren 


Hamburger 

Börsen* 

preis 


Frankreich 


Deutsches 
Reich 


England 


Verein. 
Staaten 


Olivenöl    .    .    .    . 
Hopfen     .... 

Kaffee 

Thee 

Gacao 

Rohzucker  .  .  .. 
Raff.  Zucker  .  . 
Rohtabak  .  .  . 
Rosinen  und  Ko- 
rinthen .  .  . 
Farbholz  .... 

Indigo 

Rohbaumwolle    . 

Flachs 

Hanf 

Jute 

Bau-  u.  Nutzholz 
Harz,  Pech,  Theer 


99 

289 

181 

286 

102 
46-53 
62-87 
16-143 

45-67 

15—20 

1451 

131 

126 

44 

46 
18-45 
11-61 


116-132 

40-56 

175 

376 

114 

36—50 

57-80 

480—960 

56 

15-20 

1232 

101—240 

21-183 

9,6—144 

32-56 

22-27 

8-80 


78-90 

500 

190 

400 
36-120 
44—54 

70 
150-1800 

50 

16-24 

1400 

132 

90 
70 
44 

5-28 
16-20 


78 

186—265 

190 

314 

34—122 

43—48 

61 

2032-3094 

76 

14-16 

1092 

140 

104—173 

53-170 

30 

16—19 


388 

148 

323 

104 

38—79 

73-101 

320—3334 


678 
140—321 

66—84 
17-28 

11-14 


Wie  bedeutend  selbst  die  örtlichen  Unterschiede  in  den  Preisen 
leicht  transportabler  und  allgemein  beliebter  Waaren,  z.  B.  Colonialwaaren 
heutzutage  noch  sein  können,  ergibt  sich  aus  Folgendem.  Es  betrug  im 
Monat  December  1877  der  Durchschnittspreis  für  Java^Kaffee  (pro  Kilo- 
gramm in  Reichsmark)  in  den  verschiedenen  preussischen  Städten*): 


Königsberg  , 

•  2,n 

Stettin  .    .    .    .  2,w 

Breslau      . 

.   .2^ 

Danzig .    .    . 

.  2,90 

Posen    ....  2,80 

Görlitz  .    . 

.   *  3^ 

Berlin   .    .    . 

.  2,80 

Magdeburg    .    .  3,20 

Schleiswig  . 

.   .  3f«o 

Altona  .    .    . 

.  2,40 

Hannover     .    .  2,8o 

Osnabrück 

.     .  2,60 

Münster    ,    , 

.2,80 

Frankfurt  a.  M.  3,20 

Köln     .   . 

.     .  2,30 

Aachen     .    . 

.3 

Koblenz    .    .    .  3,ao 

Düsseldorf 

.    .  3,ko 

Während  der  Mittelpreis  in  ganz  Preussen  2,86  betrug.   Die  Preis- 
differenzen  sind   hier  offenbar   nicht  allein  von  den  Transportkosten  ab- 


Thiere  nnd  thieri&ehe  RohstoiFe.  311 

hängig,  sondern  deuten  darauf  hin,  dass  es  selbst  in  handelsgeographisch 
und  zollpolitisch  ganz  verwandten  Plätzen  Unterschiede  in  den  Consumtions- 
und  Absatzverhältnissen  gibt,  welche  nur  schwer  zu  verfolgen  sind. 

IL  Zeitliche  Verschiedenheiten.  Alle  jene  Producte,  deren 
Erzeugung  hauptsächlich  von  einer  freigebigen,  reichen  Natur  bedingt  wird, 
mussten  im  Verlauf  der  Wirthschaftsgeschichte,  je  mehr  die  Bevölkerung 
der  Länder  zunimmt  und  je  mehr  die  ursprünglich  vorhandenen  Natur- 
schätze schon  ausgebeutet  sind,  immer  höhere  Preise  gewinnen.  So  na- 
mentlich Bau-  und  Werkholz,  Brennholz,  Fai-bholz,  Harze  und  Rinden 
etc.  Diejenigen  der  hieher  gehörigen  Waaren  dagegen,  welche  Jahr  um 
Jahr  angebaut  und  durch  menschlichen  Fleiss  vermehrt  werden  konnten, 
durften  häufig,  durch  Verbesserungen  der  Production  und  der  Verkehrs- 
mittel, Preisermässigungen  auf  dem  Weltmarkte,  trotz  steigender  Preise 
am  Productionsplatz,  erleben.  Die  in  kleineren  Zeiträumen  sich  er- 
gebenden Preisschwankungen  sind  natürlich  sehr  verschieden,  je  nachdem 
es  sich  um  Producte  handelt,  die  bei  jährlichem  Anbau  jährliche  Ernten 
geben,  oder  um  solche,  deren  Anbau  nur  in  läi\geren  Zeiträumen  sich 
wiederholt  und  deren  Ernten  entweder  in  jährlicher  Wiederholung  oder 
ganz  nach  Belieben  gewonnen  werden.  Wo  immer  jährliche  Erneuerung 
der  Erträge  stattfindet,  ergeben  sich  auch  jährliche  Steigungen  und  Sen- 
kungen des  Preises. 

Anmerkung. 
*)  *)  Nach  den  im  yor.  Paragraphen  angegebenen  Quellen. 

§.  157.  Thiere  und  thierisohe  Bohitoffe. 

L  Oertliche  Preis  Verschiedenheiten.  Selbstverständlich  ergeben 
sich  zwischen  den  Productionsgebieten  und  den  Consumtionsgebieten  Preis- 
differenzen, welche  um  so  grösser  sind,  je  schwieriger  bei  der  einzelnen 
Waare  Transport  und  Aufbewahrung  ist.  Diese  Schwierigkeiten  sind  bei 
Thieren  und  thierischen  Rohstoffen  weit  grösser,  als  bei  pflanzlichen  und 
mineralischen  Producten. 

Die  Preise,  welche  für  lebende  Thiere  in  den  verschiedenen  Ländern 
angegeben  werden,  sind  wegen  der  grossen  Qualitätsunterschiede  der  Thiere 
kaum  vergleichbar.  Die  officiellen  Preisangaben  stellen  sich  für  1875  wie 
folgt  (pro  Stück  in  Reichsmark): 


312 


Thiere  und  thierische  Rohstoffe. 


Waare 


Pferde  (auch  Fül- 
len)     

Stiere ,  Ochsen, 
Kühe  .  .  •  • 
Jungvieh,  Kälher 
Schafe  u.  biegen 
Schweine      .    .    . 


Frankreich 


240—1120 

216-368 
42—120 
5,6-40 
16-100 


Deutsches 
Reich 


800 

240—300 

60 

18—30 

18—66 


Ham- 
burger 
Börsenpreis 


1088 


England 


778-1571 
384—1551 

45-237 

72—138 


Vereinigte 
Staaten 


317 

81 

6,2 

48 


Hiebei  ist  insbesondere  zu  beachten,  dass  namentlich  in  Ländern 
mit  hervorragender  Viehzucht  die  Einfuhrpreise  bedeutend  niedriger  sein 
müssen,  als  die  Ausfuhrpreise,  weil  die  ausgeführten  Thiere  in  der  Regel 
feine  Zuchtthiere  sind.  So  sind  namentlich  bei  den  angegebenen  Preisen 
Englands  die  niedrigen  Preise  Einfuhrpreise,  die  hohen  dagegen  Ausfuhr- 
preise. Wie  verschiedene  Werthe  hier  zur  Bildung  von  Durchschnitts- 
preisen verwendet  werden  mussten,  ergibt  der  Vergleich  zwischen  dem 
Werthe  eines  feinen  Zuchtwidders  und  eines  gewöhnlichen  Lammes. 

Eher  lassen  die  thierischen  Producte  Vergleichungen  ihrer  Preise  zu. 
Letztere  stellten  sich  1875  wie  folgt  (pro  100  Kilogramm  in  Reichsmark): 


Waar  en 


Frankreich 


Deutsches 

Reich 


Hamburger 
Börsenpreis 


England 


Fleisch,  Fleischwaaren 

Butter 

Käse  . 

Knochen,  Hörner    .    . 
Elfenbein  u.  dg!.    .    . 

Fischbein 

Haare,  Borsten     .    .    . 

Federn 

Düngstoffe 

Talg  und  Schmalz  .   . 
Thran 


60- 
192- 
120- 

13- 

1600- 

636- 

16- 

400- 

4- 

89- 

76- 


-124 
-252 
-136 

-2000 

-1920 

-1200 

-1520 

-800 

-26 

-212 

-80 


100-132 

220 

132 

12—90 

1800 

120—1000 

80-1100 

360 

16-24 

50-120 

66 


190-198 

238 

128    . 
16—176 

2022 

1061 
29-1187 

298 

12-14 

87-122 

60 


79-139 

233—246 

116—166 

19-58 

1910 

908 

123-599 

266 
574-23 
43—122 


n.  Zeitliche  Verschiedenheiten.  Hinsichtlich  derselben  gilt 
gleichfalls  die  Regel,  dass  diese  Waaren  mit  dem  Wachsthum  der  Be- 
völkerung, mit  der  steten  Einengung  des  Spielraumes,  welcher  der  Natur 
gegeben  ist,  nothwendig  immer  theurer  werden  müssen. 


Preise  der  mmeraUscben  Robstoffe. 


313 


Am  frühesten  zeigt  sich  die  PreiBerhöhung  bei  jenen  Thöilen.  dieser 
Rohproducte,  welche  haltbar  und  leicht  transportabel  sind.  Bei  den  thieri- 
schen  Rohproducten  werden  zuerst  Häute,  Felle,  Haare,  Federn,  Homer 
und  Zahne  theurer.  So  wurden  in  Irland  im  J.  1673  oft  Haut  und  Talg 
eines  Ochsen  in  einer  Handelsstadt  ziemlich  um  dasselbe  verkauft,  was 
der  ganze  Ochse  auf  dem  nächsten  Dorfmarkte  gekostet  hatte.  In  England 
bezahlte  man  1348  für  einen  ganzen  Ochsen  4  Schilling,  für  die  Haut 
1  Schilling,  für  ein  Paar  Stiefel  S^/a  Schilling.  Beim  Fischfang  sind 
entsprechende  Rohproducte  Caviar,  Hausenblase,  Fischbein,  Thran.  Und 
am  spätesten  steigt  der  Preis  bei  jenen  Rohproducten ,  welche  am 
wenigsten  transportabel  sind.  So  namentlich  bei  der  Milch  und  den 
Milchproducten.   (Röscher.) 

Aumerkuug. 

Die  Zahleu  uach  K.  Brämer's  mehrfach  citirter  Arbeit. 


§.  158.  Preise  der  mineralischen  Bohstoffe. 
I.  Oertliche  Verschiedenheiten.  Die  Preisverschiedenheiten, 
welche  durch  die  grössere  oder  geringere  Nähe  und  Ergiebigkeit  der 
Productionsstätten  geschäiFeri'  werden,  stufen  sich  ganz  bedeutend  nach 
dem  Werthe  der  Producte,  verglichen  mit  ihrem  Gewichte,  ab.  Die 
Qualitätsunterschiede  sind  geringer,  als  bei  den  meisten  anderen  Waaren 
und  lassen,  im  Zusammenhange  mit  der  beträchtlichen  Aufbewahrungs- 
und  Transportirungstähigkeit,  die  Preise  der  mineralischen '  Rohproducte 
wohl  vergleichbar  erscheinen.  Die  officiellen  Preise  stellten  sich  1875  (pro 
100  Kilogramm  in  Reichsmark,  nach  der  mehrfach  citirten  Quelle): 


W  aareu 


Frankreich 


Deutsches 
Reich 


Ham- 
burger 
Börsenpreis 


England 


Vereinigte 
Staaten 


Kupfer,  Messing 

Blei 

Zink 

Zinn 

Roheisen  .  .  .  . 
Roh-  u.  Gussstahl 
Steinkohlen 
Schwefel  •  . 
Mineralsäure 
Soda .  .  i  . 
Salz  .... 
Salpeter  .  . 
Petroleum     . 


104—182 
42-46 
50-54 

192 
8,4-32 
20—60 

1,28—2,88 

12—22 
4—320 
13-22 

1,6—2,5 

26—53 
9—36 


50-52 

44—60 

200 

9 
32-50 
0,8-4 

18 
6-180 
12-24 

4 
26—54 

24 


84-183 

50 
48-60 

199 

8,2 

40 

1,8—2,9 

14—28 

6,6—350 

15-32 

;  2>8 

23—57 

22 


79—171 
45—51 
45 
174—184 
20—30 
32-73 

1,32—1,95 


1,4—2,2 

24-48 


143—188 

44 
49-56 

188 
11—19 

1,89—2,62 

15-22 

32 
18—35 

2 
17—80 

13 


314 


Preise  der  Indastrieprodnete. 


TT.  Zeitliche  Preisverschiedenheiten.  Diese  werden  hauptsäch- 
lich verursacht  durch  die  ungleiche  Ausbeute,  welche  die  Productions- 
Stätten  liefern,  und  durch  die  wechselnde  Nachfrage  der  Industrie,  sodann 
auch  durch  Verbesserungen  der  Verkehrsmittel  (so  namentlich  bei  den 
Stcinkohlenpreisen)  und  Tarifanderungen  der  Eisenbahnen. 

§.  159.  Preisß  der  Industrieproduote. 

Dieselben  sind  im  Allgemeinen  wegen  der  sehr  bedeutenden  Qua- 
litätsunterschiede der  Waaren  kaum  zu  Vergleichungen  geeignet. 

I.  Oertliche  Preisverschiedenheiten.  Da  nicht  allein  die 
I^oductionskosten,  sondern  auch  die  durch  den  Grad  der  nationalen  und 
localen  Culturentwickelung  getragene  Nachfrage  sehr  verschieden  sind, 
müssen  auch  die  Preise  ansehnliche  Differenzen  zeigen.  Vergleichbar  sind 
dieselben  jedoch  grösstentheils  nicht.  Trotzdem  mag  es  Interesse  bieten, 
die  officiellen  Preisangaben  zu  kennen.  Dieselben  betragen  im  Jahre  1875 
(pro  100  Kilogramm  in  Reichsmark  *) : 


Waaren 


Frankreich 


Deutsches 
Reich 


Ham- 

burgeir 

Börsenpreis 


England 


Vereinigte 
Staaten 


Seife  (ord.)..    .    , 

Tabakwaaren  .   . 

Baumwollgarn    . 

Baomwolhseuge  . 

LeiBi«i-ii.  Hanf- 
gara 

Lreinwand    .   .   . 

Wollgarn     .   .   . 

Wollzeuge  .    .   . 

Seide 

Seidengewebe     . 

Leder 

Papier  u.  dgl.  .    . 

Porzellan     .   .  , 

Tafelglas  .... 

Spiegel,  Spiegel- 
glas   

Hohlglas  .... 

Stabeisen,  Blech 

Eisenbahnsch  ien. 


52 
400—960 
300—1038 
304—4240 

92-1440 
236-6400 
720—1020 
544—2600 
720—7040 
1680-27200 
300—5440 

60—320 
140—360 


120-168 
14—15 
17—31 
16-17 


44—70 
150—1800 
220-400 
360—1500 

200—280 

72—440 

600—800 

480-1200 

3000—4800 

720-8800 

240—600 

38-160 

104—220 

42 

48-220 

36-72 

11-40 

18 


65 

420 
525 

288 
235—465 

668 

868 
3335 
3721 

306 
32-149 

228 

48 

211 

31 
24-30 
14-28 


50 

232-^1367 
275-300 


117—576 

509—892 

494-4207 

157—1150 

95-284 

294 

34 

157 

22 
77,-31 


62 
320-3334 


3784 

241-622 

78 

44 


24-74 
15-22 


II.  Zeitliche  Preisverschiedenheiten.    Die  gewerblichen  Pro- 
ducte   werden   im   Ganzen    mit   den   Fortschritten    der  wirthschaftlichen 


Die  Preise  der  Edelmetalle.  315 

Zustände  wohlfeiler.  Doch  mit  gewissen  Unterschieden.  Auf  ihre  Preis- 
änderungen wirken  namentlich  zwei  Umstände:  die  Vertheuerung  der 
Rohproducte  erhöht,  die  technischen  Fortschritte  der  Industrie  verringern 
die  Productionskosten.  Es  kommt  also  darauf  an,  was  vorwiegt:  das  Roh- 
material oder  die  Arbeit.  Solche  Waaren,  in  deren  Productionskosten 
der  Arbeitslohn  einen  grossen  Theil  ausmacht,  wo  Betriebsverbesserungen, 
Maschinen  etc.  in  Anwendung  kommen,  werden  wohlfeiler;  andere  dagegen, 
bei  welchen  der  Rohstoff  einen  bedeutenden  Theil  der  Productionskosten 
ausmacht,  werden  entweder  weniger  schnell  wohlfeil,  halten  sich  od«r 
steigen  sogar  im  Preise. 

So  sanken  in  Frankreich  von  1826 — 49  die  feinsten  BaumwoUgewiebe 
auf  125^,  andere  auf  23— 37jl^,  WoUentuch  auf  74,  Uerinos  auf  42^ 
des  früheren  Preises.  Aus  diesem  Gtnnde  kauft  jnan  auch  jene  Industrie- 
producte,  bei  welchen  der  Rohstoff  den  grössten  Theil  der  Productions- 
kosten beansprucht,  am  vortheflbaftesten  aus  solchen  Gegenden,  wo  der 
Rohstoff  billig  ist. 

Wie  bedeutend  diese  Preisänderungen  der  Industrieproducte  sind, 
geht  aus  folgender  Tabelle  hervor,  welche  die  Waarenpreise  von  1696 
mit  jenen  von  1831  vergleicht  *).  Im  Preise 

sanken  auf:  (von  100)  stiegen  auf: 


87^ 

WoUwaaren, 

364^ 

Glas, 

83, 

Kupfer-  und  Messingwaaren, 

249  „ 

Leder, 

62  „ 

Leinenwaaren, 

123  „ 

Seidenwaaren, 

89, 

Baumwollwaaren. 

167  „ 

Eisen-  und  Stahlwaaren 

Anmerkungen. 

*)  Brämer  a.  a.  0. 

*)  W,  Röscher,  Nationalökonomi 

e. 

§.  160.  Die  Preise  der  Edelmetalle. 

Von  ganz  besonderer  Bedeutung  sind  die  Preisänderungen  der  edlen 
Metalle.  Wegen  der  ziemlich  gleichmässigen  Production  und  der  im  Ver- 
hältniss  zum  Werthe  geringen  Yersendirngskosten  sind  diese  Preise  stetiger 
als  andere.  Da  die  Edelmetalle  das  gelaofigste  Preismass  sind,  fragt  sich^s, 
womit  wiederum  dieses  Maa^  zu  messen,  seine  etwaigen  Aenderungen  zu 
pru&n  seien.  Hier  bleibt  nichts  übrig,  als  zu  untersuchen,  ob  die  Edel- 
metalle gegen  die  meisten  anderen  Güter  zugleich  im  Preise  gefallen  oder 
gestiegen  sind.  Ist  dies  der  Fall,  dann  ist  es  ihr  Preis,  der  sich  verändert 
hat,  nicht  jener  der  anderen  Güter. 

Grosse  Aenderungen  im  Angebot  bewirken  diese  Preisänderungen. 
So  glaubt  man,  die  Edelmetallpreise  seien  durch  die  Entdeckung  Amerikas 
und  die  Erschliessung  der  dortigen  Minen,  welche  einen  mächtigen  Gold- 


316 


Die  Preise  der  Edelmetalle. 


und  Silberstrom  nach  Europa  sandten,  auf  den  dritten,  vierten,  ja  sogar 
sechsten  Theil  der  ehemaligen  Preise  gesunken.  Diese  Annahme  bleibt 
indessen  blosse  Schätzung.  Eine  solche  ist  von  Humboldt;  nach  ihr  hätten 
in  Europa  vor  Columbus  170  Mill.  Piaster  circulirt,  um  das  Jahr  1600 
schon  über  600  Mill.,  um  1700  über  1400  Mill.,  um  1809  etwa  1824 
Mill.  Die  blosse  Auffindung  neuer  reicher  Fundorte  muss  den  Preis  nicht 
nöthwendig  drücken;  dies  geschieht  erst,  wenn  auch  die  Productionskosten 
und  die  Absatzwege  sich  günstig  erweisen.  Man  vermuthet,  der  Preis  des 
Metallgeldes  sei  seit  der  Entdeckung  Amerikas  bis  jetzt  im  Verhältniss 
von  3  oder  4 : 1  gesunken.  Seit  zwei  Jahrhunderten  scheinen  die  Preise 
dfer  Umlaufsmittel,  d.  h.  Gold  und  Silber  zusammen,  ziemlich  stationär 
geblieben  zu  sein. 

Der  Preis  des  Goldes,  mit  dem  Silber  verglichen,  wird  auf  die 
Dauer  von  den  Productionskosten  bestimmt,  welche  in  den  ungünstigsten 
Minen  erforderlich  sind.  Im  Ganzen  hat  sich  das  Gold  dem  Silber  gegen- 
über vertheuert;  es  verhielt  sich  nämlich  der  Werth  von  1  Gewichtstheil 
Silber  zu  1  Gewichtetheil  Gold  *): 

In  Asien  zur  Zeit  des  Assyrischen  Weltreiches 

„   Griechenland  400  Jahre  v.  Chr. 

„   Aegypten  unter  den  Ptolemäem 

„    der  römischen  Republik  unverändert 
Zur  Zeit  Constantin's  officiell 

„       „  „  im  freien  Verkehr  wohl 

In  Mitteleuropa  unter  den  Karolingern 

„  England  während  des  Mittelalters 

„   Italien  ^ 

Zu  Anfang  des  16.  Jahrh.  in  Deutschland 
Nach  dem  Augsburger  Reichsabschied  von  1566 
In  Deutschland  im  Jahre  1601 

„       „       1640-1680 
;  „  „       „       1691-1700 

„       „       1791-1800 
Nach  den  Londoner  Preisen  1831 — 1840 
«    .    .  .  «        1861-1870 

n  n  V  V  1875 

w  n  n'  »  1878 

«        «  «  «        1879 


s              wie 

1:137, 

n 

1:12 

n 

1 :  12,5 

rt 

1 :  11,» 

n 

1 :  14,t 

n 

1 :  12  - 

V 

1 :  12 

wie  1:9  bis  1 :  11 

wie 

1  :  1<),5 

n 

1  :  10,8 

66 

1 :  11,5 

V 

1 :  11,8 

rt 

1 :  15,1 

n 

1 :  14,» 

n 

1 :  15,* 

r> 

1 :  15,7 

rf 

1 :  15,» 

» 

1 :  16,« 

n 

1 :  17,» 

n 

1 :  18,» 

Anmerkung. 

*)    A.    Soetbeer:    Edelmetallproductioa    etc.     Ergäuzuugshefb   Nr.    57    zu 
Petenna]m'*s  Mittheilungeu. 


Das  Geld. 


517 


§.  161.  Bas  Geld. 

Die  absolute  Menge  des  in  verschiedenen  wirthschaftlichen  Gebieten 
und  zu  verschiedenen  Zeiten  vorhandenen  Geldes  ist  schwer  zu  ermitteln. 
Der  einzige  Anhaltspunkt  für  eine  Schätzung  desselben  sind  die  Nach- 
richten über  die  Ausprägung  und  den  Druck  von  inländischer  Münze  und 
Papiergeld.  Hinsichtlich  des  letzteren  geht  man  weit  sicherer  in  der 
Schätzung,  als  hinsichtlich  der  Münze,  weil  bei  letzterer  nicht  nur  die 
Masse  dessen,  was  ausgeführt  ward,  sondern  auch  des  zur  Verarbeitung 
eingeschmolzenen  Metalles  unbekannt  bleibt. 

Es  existiren  eine  Reihe  von  Schätzungen  des  hier  und  dort  um- 
laufenden Geldes,  welche  jedoch  grossentheils  als  veraltet  erscheinen  und 
nicht  als  Grundlage  weiterer  Schlussfolgemngen  dienen  könne.  Nach  eiper 
der  populärsten  dieser  Schätzungen  ^)  trafen  in  der  ersten  Hälfte  des 
gegenwärtigen  Jahrhunderts  auf  den  Kopf  der  Bevölkerung  in  Gulden 
süddeutscher  Währung: 


in  Europa                   22      fl. 

in  Portugal                 34          fl. 

„  England                 41'/,  „ 

„  Schweden               11           „ 

„  Niederlande           52      „ 

„  Deutschland           25—30  „ 

„  Belgien                  28      „ 

Dagegen  betrug  der  Gold-  und  Silbervorrath  in  den  Staaten  abend- 

ländischer Civilisation*): 

Jahr                      Gold 

Silber                      Zttsammeu 

1850                    14 

20                         34 

1855                    18 

19                          38 

1860                    21 

19                          40 

1865                   23 

18                           42 

1867                   25 

18                         43 

1874                   30 

20                           50 

Milliarden  Franken. 

Hinsichtlich    einzelner    Staaten 

berechnen    sich    die    Geldvorräthe 

wie  folgt: 

Im  Deutschen  Reiche  sind  bis  Ende  September  1880  geprägt 
worden  1728  Millionen  Mark  in  Gold;  427  Millionen  in  Silber  und 
44,7  Millionen  in  Kupfer  und  Nickel,  zusammen  2199  Mill.  oder  50  Mark 
auf  den  Kopf  der  Bevölkerung  —  ungerechnet  den  noch  umlaufenden 
Betrag  an  Silberthalern. 

In  Oesterreich-Ungarn  betragen  die  Ausmünzungen  in  öster- 
reichischer Währung  ungefähr  (1874): 


318  Das  Geld. 

In  Silbergulden  etc 250  Mill.  Gulden 

.    Gold 90      „         „ 

„    levantinischen  Maria-Theresiathalern   .   .    36     „         „ 

„    Scheidemünze 15      „         „ 

391  Mill.  Gulden 

also  auf  den  Kopf  der  Bevölkerung  lO*/»  fl.   ö.  W.,  wobei   freilich  noch 

die  bisher  stattgefundene  Ausfuhr  und  Einfuhr  (unter  anderem  die  70  Mill. 

Frs.  in  Gold,  welche  einen  Theil  d^s  Baarschatzes  der  österr.-ungar.  Bank 

bilden)  in  Rechnung  gebracht  werden  müssten. 

Immerhin  bieten  diese  Zahlen  einigermassen  ein  Bild  vom  Geldvor- 

rath  der  Culturvölker. 

Die   Menge    des   in    einem   wirthschaftlichen    Gebiete   vorhandenen 

Geldes  hängt  ab: 

1.  Von  der  Menge  und  Grösse  jenes  Güterumlaufs,  der  durch 
Geld  vermittelt  wird.  Dieser  Güterumlauf  steigert  sich  aber  mit  jedem 
Fortschritte  der  Wirthschaft  überhaupt. 

2.  Von  der  Schnelligkeit  des  Geldumlaufs.  Sie  ist  nichts 
willkürliches,  sondern  wird  gleichfalls  durch  lebhafte  productive  Thätig- 
keit,  durch  allgemeine  Verkehrsfreiheit  und  Rechtssicherheit  bedingt.  In 
demselben  Lande  und  Zeitalter  läuft  das  Geld  unter  dem  Einflüsse  übler 
wirthschaftlicher  Zustände  am  langsamsten  um;  in  grossen  Städten  rascher, 
als  auf  dem  Lande,  bei  dichter  Bevölkerung  rascher,  als  bei  dünner,  im 
Handel  rascher  als  im  Ackerbau.  Hinsichtlich  dieser  Schnelligkeit  sind 
nur  annähernde  Schätzungen  möglich. 

3.  Von  der  Menge  und  Umlaufsgeschwindigkeit  der  Stellvertreter 
des  Geldes:  der  Banknoten,  Wechsel,  Anweisungen  etc.  Diese  Geld- 
surrogate ersparen  eine  sehr  bedeutende  Menge  von  baarem  Gelde.  Wie 
bedeutend  der  durch  dieselben  bewirkte  Werthumlauf  ist,  erhellt  aus 
Folgendem : 

Im  Deutschen  Reiche  betrug  der  Umlauf  an  Papierwerthen  im 
September  1880:  159  Milk  Mark  in  Staatspapiergeld,  1259  Mill.  in 
Banknoten  und  ungefähr  (nach  den  Erträgnissen  der  Wechselstenipel- 
steuer  berechnet)  3190  Mill.  Mark  in  Wechseln.  Also  auf  den  Kopf  der 
Bevölkerung  104  Mark  in  papiemen  Geldsurrogaten. 

In  0 esterreich- Ungarn  betrug  Anfangs  1880: 

Der  Notenumlauf  der  Nationalbank  .    .316  Mill.  Gulden 
Die  umlaufenden  Staatsnoten     ....  313     „  „ 

demnach  auf  den  Kopf  der  Bevölkenmg  16,8  fl.  papierhe    Umlaufsmittel, 
abgesehen  von  Wechseln  etc. 

Uebrigens  drückt  sich  in  diesen  Summen  blos  ein  Theil  des  Be- 
dürfnisses nach  Umlaufsmitteln  aus,  weil  ja  in  den  wirthschaftlich  vorge- 


Die  Eisenbahnen.  319 

schrittenen  Ländern  die  grössten  Zahlungen  durch  Abrechnung  und  üeber- 
weisung  abgemacht  werden. 

Anmerkungen. 
*)  Rau:  Grundsätze  der  Volkswirthschaflslehre.  2.  Aufl.  §.  266. 
*)  M,  Wirth:  Oesterreichs  Wiedergeburt.  S.  210. 


V.  Capitel. 
Das  Transportwesen. 


§.  162.  üebersicht. 

So  wichtig  auch  in  der  heutigen  Volkswirthschaft  der  Transport- 
verkehr geworden  ist,  so  entziehen  sich  doch  manche  Transportunterneh- 
mungen einer  statistischen  Betrachtung.  Hieher  gehören  namentlich  die 
Strassen  mit  ihrem  Verkehr.  Würde  die  sehr  ungleiche  Qualität  der 
Strassen  in  den  verschiedenen  Ländern  Vergleichungen  zulassen,  so  gäbe 
die  Meilenzahl  sämmtlicher  Strassen  ein  deutliches  Bild  des  Verkehrs.  Sie 
müsste  indessen  sowohl  mit  der  Volkszahl  als  auch  mit  der  Grösse  des 
Gebiets  verglichen  werden.  Einen  Ersatz  dafür  bieten  indessen  die  von 
den  verschiedenen  Staaten  fiir  Strassenbau  verausgabten  Summen.  Dass 
indessen  in  einzelnen  Ländern  das  Landstrassennetz  sehr  vollständig  ist 
und  daher  fast  nur  Unterhaltungskosten  beansprucht,  während  anderwärts 
noch  grosse  Neubauten  nöthig  sind,   muss   hierbei  berücksichtigt  werden. 

Der  Verkehr  auf  den  Landstrassen  entzieht  sich  so  ziemlich  der 
statistischen  Controle  mit  Ausnahme  jener  Plätze,  wo  Strassen-  oder 
Brückenzölle  erhoben  werden. 

Innerhalb  der  einzelnen  Länder  ist  eine  Statistik  der  Landetrassen 
und  ihres  Verkehrs  nöthig  zum  Zwecke  einer  gleichmässigen  und  ge- 
rechten Vertheilung  der  wirthschaftlichen  Fürsorge  des  Staates  auf  die 
verschiedenen  Theile  seines  Gebietes. 

Auch  die  Schifffahrt  auf  Flüssen  und  Binnenseen  ist  für  statistische 
Betrachtung  theils  nicht  geeignet,  theils  bietet  sie  nicht  genügendes  Inter- 
esse. Das  Gleiche  ist  der  Fall  bei  den  meisten  städtischen  Verkehrs- 
unternehmungen. Dagegen  ist  in  hohem  Grade  entwickelt  die  Statistik  der 
Eisenbahnen,  der  Seeschifffahrt,  der  Post  und  Telegraphie. 

§.  163.  Die  Eisenbahnen. 

Da  sich  kaum  in  einer  anderen  Erscheinung  der  wirthschaftliche 
Geist  des  Jahrhunderts  schärfer  ausprägt,  als  in  den  Eisenbahnen,  bilden 


320 


Die  Eisenbahnen. 


sie  einen  ausgezeichneten  Gegenstand  der  statistischen  Beobachtung,  welche 
wesentlich  erleichtert  wird  durch  die  Gleichartigkeit  der  einzelnen  Ob- 
jecte,  die  sowohl  den  Bau  als  den  Betrieb  von  vornherein  zur  ziffermäs- 
sigen  Darstellung  geeignet  sein  lässt. 

Die  einzelnen  Punkte,  welche  hier  in  ganz  gedrängter  Weise   her- 
vorgehoben zu  werden  verdienen,  dürften  Folgende  sein: 

I.  Die  absolute  und  relative  Ausdehnung   des   Eisenbahn- 
netzes. Diese  stellt  sich  wie  folgt,  in  allen  Ländern  der  Erde^): 


Länder 


Kilometer 
in  Betrieb 
Ende  1879 


"Es  treffen   Kilometer 


auf  10000 
QKilom. 
i.  J.  1879 


auf  100000 
Einwohner 
i.  J.  1878 


Belgien 

Luxemburg 

Grossbritannieu 

Schweiz  (1878) 

Deutsches  Reich    ....... 

Niederlande 

Frankreich 

Dänemark 

Oesterreich-Ungarn 

Italien  (1878) 

Portugal 

Schweden ••    .    . 

Spanien  (1877) 

Rumänien 

Türkei 

Russland  (1880) 

Norwegen    „ 

Bulgarien 

Finnland     ........... 

Griechenland 

Europa 

Brittisch-Indien  (1878)  .... 

Java 

Ceylon  (1878) 

Kaukasus 

Kleinasien 

Japan 

Asien 


4042 
308 

28478 
2623 

33901 
1930 

24919 
1366 

18381 
8159 
1249 
5674 
6199 
1384 
1243 

22644 

1222 

224 

873 

12 


164801 

13221 
381 
175 
1004 
274 
121 


1397 

1190 

904 

634 

627 

585 

471 

357 

295 

276 

139 

128 

124 

106 

45 

45 

39 

35 

23 

2,4 


169 

57 
30 
27 
23 

5,4 
3,2 


68 
150 

80 

90 

74 

49 

64 

74 

48 

29 

25 
115 

38 

23 

20 

30 

56 
? 

44 

0,08 


50 

6,9 
5,7 

0,1 

0,3 


15176 


Die  Eigenbahnen. 


Länder 


Kilometer 
in  Betrieb 
Ende  1879 


Es  treffen  Kilometer 


auf  10000 
QKilom. 
i.  J.  1879 


auf  100000 
Einwohner 
i.  J.  1878 


Vereinigte  Staaten 

Cuba , 

Trinidad 

Chile 

Jamaika  (1878) 

Costa  Rica 

Uruguay 

Argentina 

Peru  (1877) 

Canada  (1878) 

Mexiko  (1880) 

Honduras 

Brasilien 

Paraguay 

Ecuador  

Brittisch-Guyana  (1877)  .... 

Columbia 

Venezuela 

Boliyia 

Amerika 

Australien,  Festland  (1878)    .    . 

Neu-Seeland  (1878) 

Tasmanien  „       

Tahiti 

Australien 

Mauritius 

Algerien 

Tunis . 

Capcolonie 

Aegypten 

Natal   . 

Afrika 


131708 

1382 

26 

1689 

40 

120 

376 

2317 

1852 

9519 

1092 

60 

3058 

72 

122 

34 

103 

13 

50 


153733 

4403 
1722 

278 
4 


6407 

106 
1140 

250 

1067 

1494 

8 


4065 


173 
166 

57 

53 

37 

23 

20 

18 

17 

11 

5,7 
4,9 
3,6 

3,0 

1,9 
i,6 
1,2 
1,0 
0,4 


42 

6 
64 
41 

38 


9,2 

554 
36 
21 
20 
15 

1,7 


275 

45 

? 

81 
8 

32 

85 
120 

68 
268 

8,2 

25 

27 
32 

4,7 

16 

3,4 
6,3 
6,5 


? 

370 

258 

29 


33 

35 

3 

90 

27 

2,5 


Die  Frage,  welche  Reihe  von  Verhältnisszahlen  —  das  Verhältni 
der  Bahnlänge  zur  Einwohnerzahl  oder  jenes  zur  Gebietsgrösse  —  d 
wichtigere  sei,  ist  schwer  zu  entscheiden.  Beide  Verhältnisszahlen  drücke 
das  Verkehrsbedürfniss  aus;    von  besonderer  Wichtigkeit  sind  sie,    inde: 

Haashof  er,  Statistik.  2.  Aufl.  %{ 


322 


Die  BiMBbtlmen. 


gie  Über  die  Grenzen  der  Abhängigkeit  des  Verkehrsbedürfiiisses  von  der 
Volksdichtigkeit  gewisse  Aufschlüsse  geben. 

Die  eine  dieser  Ziffern,  nämlich  das  Verhältniss  der  Bahnlänge  zur 
Einwohnerzahl,  stellt  sich  am  günstigsten  in  den  mächtig  aufblühenden 
jungen  Staaten  und  Colonien  jenseits  des  Oceans  und  zeigt,  dass  die 
Verkehrskraft  der  Völker  bis  zu  einem  gewissen  Grade  unabhängig  ist 
von  der  Volksdichtigkeit,  dass  unter  sonst  günstigen  Bedingungen 
auch  bei  dünner  Bevölkerung  ein  relativ  regeres  Verkehrsleben  sich  ent- 
wickeln kann,  als  selbst  in  den  hochcivilisirten  stark  bevölkerten  Staaten 
der  alten  Welt.  Wenn  in  den  Vereinigten  Staaten  schon  auf  je  100000 
Einwohner  275  Kilometer  Bahn  treffen,  in  Belgien  dagegen  blos  68,  so 
darf  man  aber  daraus  nicht  etwa  schliessen,  dass  durchschnittlich  ein 
Amerikaner  viermal  mehr  Verkehr  treibe,  als  ein  Belgier,  sondern  nur, 
dass  er  zum  Verkehr  viermal  so  viel  Bahngelegenheit  nöthig  hat.  Wo 
die  Bevölkerung  eine  sehr  dichte  ist,  kann  natürlich  eine  viel  gi'össere 
Masse  von  Verkehrsarbeit  ohne  Bahnen  vollbracht  werden,  als  wo  sie 
dünn  ist. 

Das  Verhältniss  der  Bahn  länge  zur  Gebietsgrösse  dagegen  fuhrt 
wieder  zu  dem  Zusammenhang  zwischen  Volksdichtigkeit  und 
Verkehrswegen  zurück;  es  drückt  das  Minimum  von  Verkehrsmitteln 
aus,  nach  welchem  eine  civilisirte  Bevölkerung  von  gewisser  Dichtigkeit 
begehrt.  Daneben  drückt  aber  dieses  Verhältniss  auch  theilweise  die 
Unterschiede  in  der  Schwierigkeit  des  Bahnbaues  aus. 

Die  allgemeine  wirthschaftliche  Lage  eines  Volkes  wird  gewiss  viel 
mehr  durch  die  Verhältnissziffer  zwischen  der  Bahnlänge  und  Gebiets- 
grösse charakterisirt,  als  durch  jene  zwischen  Bahnlänge  und  Bevölkenmg. 
Am  deutlichsten  freilich  durch  beide  Ziffern.  Man  hat  deshalb  auch  beide 
combinirt  und  aus  ihnen  eine  mittlere  Proportionale  gebildet,  welche 
„Eisenbahnausstattungsziffer"  genannt  wurde. 

II.  Das  allmälige  Wachsthum  des  Eisenbahnnetzes.  Die  Ge- 
sammtlänge  des  Weltbahnnetzes  betrug  *) : 


im  Jahre 

Kilometer 

im  Jahre 

Kilometer 

B 

1830 
1840 
1850 
1855 
1860 
1865 

332 

8591 

38022 

68148 

106886 

145114 

1870 
1875 
1877 
1878 
1879 

221980 
295783 
320830 
331136 
344182 

Die  Eisenbalinen. 


323 


Während  die  jährliche  Zunahme  von  1830—1840  durchschnittlich 
blos  826  Kilom.  betrug,  steigerte  sie  sich  1872/73  auf  19039  Kilom,  Es 
war  das  Jahr  des  höchsten  Aufschwunges  im  Eisenbahnbau;  denn  in  den 
folgenden  Jahren  sank  die  jährliche  Zunahme  wieder  auf  10 — 13000 
Kilom.  Allerdings  sind  die  letzteren  Jahre  als  wirthschafklicher  Erfolg 
nicht  geringer  anzuschlagen;  sie  zeugen  immer  noch,  theils  wegen  der 
überwundenen  technischen  Schwierigkeiten,  theils  wegen  des  finanziellen 
Risicos,  von  reichlichem  Unternehmungsgeist. 

III.  Die  Anlagekosten.  Verschieden  nach  den  Bodenpreisen  und 
den  Arbeitslöhnen,  nach  der  Menge  und  Schwierigkeit  der  Kunstbauten, 
wie  auch  nach  der  gesammten  Verkehrsaufgabe  der  verschiedenen  Linien, 
betragen*)  die  Anlagekosten  (1877;  nur  bei  Deutschland  1878): 


absolut 

in 

Mill.  Mk. 


Belgien 

Deutschland  (ohne 

Bayern)  . 
Bayern   .    .    . 
Frankreich     . 
Grossbriiannien 
Italien     ... 
Niederlande 
Norwegen  . 
Oesterreich-Uiig. 
Russland    . 
Schweden  . 
Schweiz  .    . 
Spanien  .   . 


Kostenbetrag 


lOil 

7427 
993 

8135 
13480 

1960 

449 

56 

4931 

5845 
404 
824 

1840 


pro 

Kilomet. 

Mk. 


272507 

275360 
221850 
347635 
490289 
243599 
227457 

69825 
273489 
254762 

84325 
321248 
296822 


Japan      (1876) 

Ostindien    „ 

Aegypten  . 

Chile   .    .    . 

Columbia    . 

Peru    .    .    . 

Ver.  Staaten 

Neuseeland 

ganz  Europa 
„      Asien 
^      A&ika 
„     Amerika 
^     Australien 


Kostenbetrag 


absolut 
in 

Mill.  Mk, 


7 

2295 

291 

333 

44 

554 

19092 

92 

50980 

3412 

822 

22842 

947 


pro 

Kilomet. 

Mk. 


66667 
205571 
165060 
197158 
415094 
350190 
148939 

79585 
308669 
202288 
200537 
154674 
156710 


Das  in  der  ganzen  Welt  um  1877  in  Eisenbahnen  angelegte  Capital 
betrug  demnach  79003  Millionen  Mark;  pro  Kilometer  232466  Mark. 
Von  diesen  Bahnen  ist  allerdings  ein  Theil  (1878  etwa  17000  Kil.  mit 
4000  Mill.  Capital)  noch  im  Bau. 

So  erheblich  auch  die  Differenzen  der  oben  angegebenen  Anlage- 
kosten pro  Kilometer  sind,  so  lassen  sie  sich  doch  in  den  meisten  Fällen 
leicht  erklären.  Die  grossen  Baukosten  Grossbritanniens  und  Frankreichs 
sind  durch  UHistergiltigen,  äusserst  soliden  Bau,  durch  hohe  Bodenpreise 
und  Arbeitslöhne  veranlasst.  Nächst  ihnen  haben  besonders  theuer 
Columbia,   Peru  und    die    Schweiz    gebaut,    meist   wegen    der    gebirgigen 

21* 


324  ^io  Eisenbahnen. 

BodenbeschaflfeDheit,   in  den  ßüdamerikanischen  Ländern  auch  wegen  der 
Schwierigkeit  der  Materialbeschaffung  etc." 

Die  gesammten  Anlagekosten  vertheilen  sich  in  runden  Procentsätzen 
folgendennassen  *) : 

1.  Für  Grunderwerb  und  Entschädigungen 9    91^ 

2.  „  Erdarbeiten,  Dämme  etc ..12„ 

3.  „  Zäune,  Wegübergänge,  Durchlässe,  Brücken    ....  10    „ 

4.  „  Tunnels 1,5  „ 

5.  „  Betriebsvorrichtungen,  Signale,  Wärterhäuser  ....    l,o  „ 

6.  „  Oberbau  und  Weichen 22    „ 

7.  „  Bahnhöfe  und  Haltstellen      12    „ 

8.  „  ausserordentliche  Anlagen 1,5  „ 

9.  „  Betriebsmittel 19    „ 

10.  „  Verwaltungskosten  und  Zinsen  während  des  Baues    .  12     „ 

IV.  Die  Zahl  der  Stationen  und  Haltstellen.  Diese  hängt 
aufs  innigste  mit  der  Volksdichtigkeit  zusammen  und  weist  nicht  allein 
im  Durchschnitt  ganzer  Länder,  sondern  noch  mehr  bei  den  einzelnen 
Linien  grosse  Verschiedenheiten  auf.  Die  vergleichende  Eisenbahn  Statistik 
hat  sich  indessen  mit  diesem  Gegen  Stande  noch  wenig  beschäftigt. 

V.  Die  Ausrüstung  mit  rollendem  Material.  Die  Ausrüstung 
der  Eisenbahnen  mit  Locomotiven,  Personen-  und  Güterwagen  gibt  einiger- 
massen  einen  Einblick  in  die  mögliche  Leistungsfähigkeit  derselben.  Wegen 
der  stetigen  Veränderungen  in  den  Betriebsparken  sind  allerdings  nur 
runde  Zahlen  möglich. 

1875  standen  auf  den  europäischen  Eisenbahnen  42000  Locomo- 
tiven, 90000  Personenwagen  und  1,000000  Güterwagen  in  Betrieb.  Auf 
allen  Bahnen  der  Welt  betrug  die  Zahl  der  Locomotiven  62000,  der 
Personenwagen  112000  und  der  Güterwagen  1,465000. 

Einen  besseren  Ueberblick  über  die  Ausstattung  mit  rollendem  Ma- 
terial geben  folgende  Ziffern. 

Auf  eine  geographische  Meile  Bahnlänge  treffen  ^): 

Locomotiveii      Persoueuwageii      Güterwagen 

In  Deutschland  .    .    . 

„  Oesterreich-Üngarn 

„  Grossbritannien     . 

„  Frankreich    .    .    . 

„  Belgien 

„  Russland V/^  2  25 

„  Schweden 7^  27^  14 

Dieser  Betriebspark  ist  aber  keineswegs  vollauf  beschäftigt.  Eine 
bis  ins  kleipste  Detail  vollkommene  Ausnützung  ist  allerdings  wegen    der 


2 

3V, 

40 

17, 

3 

37 

27» 

67, 

77 

27» 

— 

— 

27» 

77s 

69 

Die  Eisenbaknen.  325 

verschiedeoartigen    Bewegung    des    Verkehrs    unmöglich.    So    hat    man 
beobachtet,    dass    beim    Transport    durch    Güterwagen    durchschnittlich 
nur    4991^     der    Tragfähigkeit    der    Wagen    ausgenützt    werden.     Dieser 
Verlust    ist    gross,    wenn    man    bedenkt,    welches    Capital    im    Güter- 
wagenparke steckt.   Ein  offener  Güterwagen  zu  100  Ztr.  Tragkraft  kostet 
1800—2000,    einer  zu  200  Ztr.  2400—2700,    ein  bedeckter  vierrädriger 
Wagen  3000 — 3600  Mark.  Welcher  Verlust,  wenn  von  dem  ungeheuren, 
im    Güterwagenpark    steckenden    Capital    nur   49^    ausgenützt   werden! 
Auch  Personenwagen  und  Locomotiven  können  nicht  vollständig  ausgenützt 
werden.    Die    durchschnittliche    Belastung    einer   Maschine,    welche    mit 
2 — 3  Mark  Heizungskosten  und  17^ — 2  Mark  Schmier-  und  Reparatur- 
kosten   per    Meile    12 — 20000    Ztr.    ziehen    könnte,    beträgt   daher   nur 
3000  Ztr.  Diese  3000  Ztr.  vertheilen  sich  folgendermassen : 
45  Ztr.  auf  Personen, 
675    „      „    Güter, 
720     „      „    Maschine  und  Tender, 
330     „      „    Personenwagen, 

1230     „      „    Güterwagen. 

Es  wäre  demnach  die  auf  den  Eisenbahnen  geförderte  todte  Last 
dreimal  grösser  als  das  Gewicht  der  eigentlichen  Ladung. 

VI.  Die  Betriebsresultate.  Die  Betriebskosten  zeigen  auf  den 
verschiedenen  Bahnstrecken  eine  Ungleichheit,  welche  durch  mannigfache 
Gründe  herbeigeführt  wird;  durch  die  Art,  die  Kosten  und  Nähe  des 
Brennmaterials,  durch  die  Steigungsverhältnisse,  durch  die  Ausnützung 
des  rollenden  Materials,  durch  die  Menge  der  verwendeten  persönlichen 
Arbeitskräfte  und  deren  Besoldung  u.  s.  f. 

Der  Rohertrag  der  Bahnen  setzt  sich  aus  dem  Ertrag  des  Per- 
sonenverkehrs und  jenem  des  Güterverkehrs  zusammen.  Das  Verhältniss 
beider  gegeneinander  ist  bei  der  Verschiedenheit  der  Verkehrsbedürfnisse 
Örtlich  und  zeitlich  sehr  verschieden  und  wechselnd.  Der  Waarenverkehr 
bekommt  gewöhnlich  (mit  Ausnahme  solcher  Bahnen,  die  fast  nur  für  ihn 
gebaut  sind,  z.  B.  Bergwerksbahnen)  erst  allmälig  Ausdehnung,  je  nach- 
dem die  wirthschaftlichen  Unternehmungen  sich  nach  den  Bahnen  ein- 
richten. So  nimmt  bei  den  meisten  Bahnen  erst  mehrere  Jahre  nach  ihrer 
Vollendung  der  Frachtertrag  stärker  zu,  als  der  Ertrag  des  Personenver- 
kehrs und  übersteigt  letzteren  schliesslich. 

Um  nun  den  finanziellen  Erfolg  der  Bahnen  zu  beurtheilen, 
muss  die  ganze  Roheinnahme  den  Productionskosten  gegenübergestellt 
werden.  Letztere  setzen  sich  aus  der  Verzinsung  der  Anlagekosten  und 
aus  den  Betriebsausgaben  zusammen.  Die  Betriebsausgaben  der  Eisen- 
bahnen nehmen  meistens  mehr  als  die  Hälfte  des  Bruttoertrages  in  Au- 


326 


Di«  Eisenbahnen. 


sprach,  so  dass  nur  die  kleinere  Hälfte  zur  Verzinsung  des  Anlage- 
capitals  und  als  Gewinn  übrig  bleibt.  Folgende  Tabelle  gewährt  einigen 
Einblick  in  diese  Verhaltnisse*): 


Länder 
bez. 

pro  Kilometer  betragen 

in  Reichsmark 

= 

die  Bruttoeinnahme 

die  Kosten  fUr 

Bilanz, 

die 

Einnahme 

ku 

43 

ä^S) 

Eisenbahnen 

vom 
Persona 
verkeh 

vom 
Güter- 
verkeh 

total 

Verzinsi 
der  Auls 

übersteigt  die 

ProductioDS- 

kosten  um 

Deutsches  Reich     .  1877 

7777 

18741 

28077 

15911 

13116 

—     950 

iusb.  Staatsbahnen   .    . 

8044 

17990 

27525 

17121 

13204 

-  2800 

insb.  Privatbahuen  .    . 

7724 

17550 

2660i 

13820 

12357 

+    424 

Oesterreich-Ungani  1877 

5258 

19083 

24798 

11918 

13583 

—     703 

Schweiz 1877 

7948 

10114 

19506 

11565 

12460 

-  4519 

Frankreich     .   .    .    1874 

12347 

20675 

34274 

17887 

19234 

-  2847 

Italien      1876 

6983 

8473 

15626 

10383 

12261 

—  7018 

Rumänien   ....    1877 

14288 

17622 

31966 

12086 

15140 

+  4740 

Belgien,  Staatsb.  .    1878 

10817 

21593 

34102 

20038 

11290 

+  2774 

Holland,        «,        .    1877 

7708 

5477 

13303 

11185 

11395 

—  9277 

Gross  brit.  u.  Irland    1878 

19283 

24070 

45080 

23892 

25117 

-  3929 

Russland      ....    1876 

5752 

15561 

21946 

14583 

10600 

-    3237 

Ver.  Staaten  .    •    .    1877 

4090 

10763 

14855 

9476 

6560 

-  1184 

Argentina   ....    1876 

— 

— 

8325 

5750 

5160 

~  «585 

Ostindien     ....    1878 

4751 

10196 

15743 

7879 

8929 

-  1065 

Aegjpten    ....    1878 

— 

16435 

7493 

17111 

-  8169 

Die  ersten  zwei  Spalten  dieser  Tabelle  zeigen,  dass  fast  ausnahmslos 
die  Einnahme  aus  dem  Güterverkehr  weit  bedeutender  ist,  als  jene  aus 
dem  Pei-sonenverkehr.  Die  Summen  der  ersten  2  Spalten  sind  der  Total- 
summe der  dritten  Spalte  deshalb  oft  nicht  gleich,  weil  die  meisten 
Bahnen  noch  andere  Einnahmsquellen  haben,  als  den  eigentlichen  Personen- 
und  Güterverkehr.  Dass  unter  allen  angeführten  Bahnen  die  brittischen 
die  grössten  Ziffern  der  Roheinnahme  beim  Personen-,  wie  beim  Güter- 
verkehr zeigen,  ist  begreiflich.  Dass  die  Ziffern  der  Spalten  4  und  5  mit 
denen  der  ersten  drei  Spalten  in  einem  innigen  Gausalzusammenhange 
stehen,  braucht  wohl  kaum  gesagt  zu  werden.  Ein  starker  Bruttoertrag 
wird  ja  nur  durch  lebhaften  Verkehr  erzielt;  dieser  erfordert  aber  auch 
höhere  Anstrengungen  und  Kosten  des  Betriebes  und,  wegen  der  noth- 
wendigen  solideren  Ausstattung,  auch  ein  höheres  Anlagecapital.  Die  Zahlen 
der  letzten  Spalte  dürfen  nur  unter  sorgfaltiger  Berücksichtigung  aller  ein- 
schlägigen Verhältnisse  beurtheilt  Werden.  Man  sieht  aus  ihr,  dass  in  den 


Die  Eitienbaliiien. 


327 


meisten  Ländern  die  Kosten  der  Eisenbahnen  nicht  vollständig  gedeckt 
werden.  Da  indessen  unter  den  Productionskosten  eine  Sprocentige  Ver- 
zinsung mit  eingeschlossen  ist,  ist  diese  Differenz  keineswegs  erschreckend. 
YII.  Die  Benützung  und  die  Leistungen  der  Bahnen.  Hin- 
sichtlich der  Benützung  ist  der  Personenverkehr  vom  Güterverkehr 
getrennt  zu  beobachten.  Der  genaueste  Ausdruck  für  den  Personenverkehr 
wäre  eine  Zahl,  welche  angibt,  wie  viele  Kilometer  auf  einem  bestimmten 
Bahngebiete  in  bestimmter  Zeit  von  allen  Reisenden  zurückgelegt  wurden. 
Aber  auch  die  Zahl  der  verkauften  Personenbillets,  sowie  die  Summe  der 
Einnahmen  aus  dem  Verkauf  geben  ziemlich  genaue  Ausdrücke.  Hinsicht- 
lich der  zeitlichen  Verschiedenheiten  des  Personenverkehrs  bemerkt  man  ein 
constantes  Minimum  des  Verkehrs  im  Januar  und  Februar,  ein  Maximum 
im  August.  In  welchem  Grade  sich  die  Benützung  der  Bahnen  steigern 
kann,  ergibt  sich  z.  B.  aus  den  Betriebsresultaten  der  Leipzig-Dresdener 
(über  Riesa)  Bahn.  Die  Zahl  der  Kilometer,  welche  von  allen  Reisenden 
und  Gütertonnen  auf  dieser  Bahn  zurückgelegt  wurden,  betinig*): 


im  Jahre 

Personenkilometer 

GütertoHiieukilometer 

1840 

22,6 

Millionen 

2,* 

Millionen 

1850 

30,6 

n 

8,7 

» 

1860 

40,« 

n 

33,7 

n 

1865 

58,8 

» 

55,« 

n 

1877 

77,2 

n 

134,1 

n 

Der  Gesammtverkehr  dieser  Linie  hat  sich  seit  dem  ersten  Betriebs- 
jahr bis  1877  um  das  52fache  vermehii;. 

Der  Güterverkehr  ist,  wie  man  aus  dem  angegebenen  Beispiel 
sieht,  einer  noch  weit  grösseren  Steigerung  fähig,  als  der  Personenverkehr. 

Und  zwar  entwickelt  sich  die  Eisenbahnverkehrsleistung  rascher,  als 
die  für  sie  gebrachten  Opfer  vei'muthen  Hessen.  So  betrugen  bei  den  zum 
Vereine  deutscher  Eisenbahnverwaltungeu  (Deutschland  und  Oesterreich) 
gehöi'enden  Bahnen: 


Im    Jahre 


1850 


1855 


1860 


1865 


1869 


Länge  der  Bahueu  in  Meilen 
Gesammte  Anlagekosten    in 

MilL  Mark 

Beförderte  Personen,  Mill.     . 
Transportirte   Zentner,   Mill. 


523 

618 

13,2 

58 


1149 

1582 
33,3 
327 


1943 

2979 
60,1 
615 


2635 

4224 

92,fi 
1184 


3449 

5721 
134 

1895 


Es  ist  demnach  im  Zeitraum  dieser  19  Jahre  gestiegen: 
die  Länge  der  Bahnen  um  das  7fache, 


328.  Die  Eisenbabnen. 

die  Anlagekoßten  des  ganzen  Netzes  um  das  9fache, 
die  Zahl  der  beförderten  Personen  um  das  lOfache, 
die  transportirte  Gütermenge  um  das  32fache. 

VIII.  Die  Eisenbahnunfälle.  Die  relative  Zahl  der  Unfälle,  d.h. 
die  Zahl  der  Unfälle  verglichen  mit  jener  der  Reisenden  drückt  einestheils 
die  Sorgfalt  des  Betriebs,  anderntheils  die  der  Reisenden  selbst  aus.  Im 
Allgemeinen  zeigt  die  Statistik  dieser  Unfälle,  dass  in  den  meisten  Fällen 
die  Schuld  des  Unfalles  den  Verletzten  selbst  zufällt.  Weit  grösser  als 
bei  den  Reisenden  ist  die  Zahl  der  Verunglückung  von,  an  den  Eisen- 
bahnen beschäftigten  Beamten  und  Arbeitern.  Aber  auch  hier  sind  die 
selbstverschuldeten  Unglücksfälle  weit  häufiger  als  die  unverschuldeten. 
Ueber  die  Gefährlichkeit  der  verschiedenen  Arten  des  Bahndienstes 
gibt  eine  preussische  Zusammenstellung  der  in  den  10  Jahren  von 
1854 — 1864  verunglückten  äusseren  Beamten  Aufschluss.  Es  verun- 
glückten von: 

I.   Beamten     des     eigentlichen    Zugdienstes:     Zugführern, 

Schaffnern,    Bremsern  etc 0,8w9l6 

II.   Beamten  bei  den  Locomotiven 0,552  „ 

III.   Stationspersonal :  Bahnhofsinspectoren  etc 0,o65  „ 

IV. '  Bahnbewachungspersonal :    Bahnwärtern ,    Weichenstel- 
lern,  etc 9,07*  „ 

Dass  die  Zahl  der  Unfälle  sich  von  Jahr  zu  Jahr  mit  merkwürdiger 
Gleichmässigkeit  wiederholt,  natürlich  gesteigert  durch  die  zunehmende  Zahl 
der  Reisenden,  ergibt  sich  sofort,  wenn  man  die  bezüglichen  Ziffern  einer 
längeren  Jahresreihe  vergleicht.  Relativ  aber  ist  die  Zahl  der  Verletzungen 
in  bedeutender  Zunahme  begriffen.  So  traf  eine  Verletzung,  incl.  der 
tödtlichen,  bei  den  preussischen  Bahnen*): 
im  Jahre  im  Jahre 

1859    auf 103352  1867     auf 72461 

1861      „ 98645  1868      „ 70592 

1863      „ 93116  1869      „ 79219 

1865      „ 72552  1870      „ 60960 

Wichtiger  als  die  blossen  Verletzungen  sind  natürlich  die  Tödtungen. 
Es  kommt  ein  tödtlicher  Unglücksfall  in  (Weber,  a.  a.  0.  S.  549): 

Russland  auf 117000  Reisende 

England  auf     .......    1,660000         „ 

Frankreich  auf 1,76000(3        „ 

Oesterreich-Ungarn  auf  .  .  .  2,400000  „ 
Belgien  auf  ....  ^.  ..  .  5,000000  „ 
Preussen  auf    ......    .  11,500000         „ 


Die  Seeachifffahrt.  329 

Immerhin  aber  ist  das  Eisenbahnreisen  weit  sicherer,  als  die  Trans^ 
portmittel  der  Landstrassen.  Die  Posten  und  die  Messageries  generales 
hatten  in  Frankreich  (1846 — 55)  einen  Getödteten  auf  je  355463,  einen 
Verletzten  schon  auf  je  29571  Reisende. 

Neben  diesen  wichtigsten  Erscheinungen  aus  dem  Gebiete  der  Bahn- 
statistik existiren  noch  eine  Reihe  anderer,  welche  gleichfalls  statistische 
Untersuchung  gestatten.  So  vor  allen  die  volkswirthschaftlichen  Wirkun- 
gen der  Bahnen.  Wie  durch  die  Bahnen  vermöge  der  erhöhten  Umlaufs- 
fähigkeit der  Güter  deren  Preise  ausgeglichen  werden,  wie  die  von  einer 
oder  mehreren  Bahnen  berührten  Orte  zunehmen,  während  andererseits 
mancher  ehedem  wichtige  Verkehrsweg  und  Verkehrsplatz  verödet;  wie 
weit  die  verschiedenen  Bahnen  den  anfänglich  von  ihnen  gehegten  Er- 
wartungen entsprechen  oder  dieselben  übertreffen;  in  welchem  Maasse  die 
Bahnlinien  sich  vermehren  und  wie  diese  Vermehrung  zur  Volksver- 
mehrung, zur  Vermehrung  anderer  Verkehrsmittel,  zum  Aufschwünge  des 
ganzen  wirthschaftlichen  Lebens  sich  verhält;  welche  Ersparnisse  an  Zeit 
und  Geld  durch  den  Bahnverkehr  der  Volkswirthschaft  ermöglicht  werden; 
wie  politische  Ereignisse  hemmend  oder  fördernd  auf  den  Bähnverkehr 
wirken  u.  s.  f.:  all  das  sind  wichtige  Fragen  für  die  Bahn  Statistik.  Ihre 
Erörterung  ist  theils  aus  allgemein  wissenschaftlichem  Interesse,  theils 
zu  besonderen  wirthschaftlichen  Zwecken  nöthig;  zur  Erledigung  der 
Fragen  über  Freiheit  und  Monopol  des  Bahnwesens,  über  staatliche  Unter- 
stützung der  Privatbahnen,  über  Tarifwesen  u.  s.  f. 

Anmerkungen. 

*)  Nach  den  im  Goth.  Hofkai.  1880,  mitgetheilten  Zahlen. 
*)  Nach  Engel:   Das  Zeitalter   des  Dampfes.   Zeitschr.    d.  preuss.    stat. 
Bureau,  1879  und  1880. 

*)  Nach  V.  Weber.  Schule  des  Eisenbahnwesens.  S.  514. 

§.  164.  Die  SeeschifFfahrt. 

I.  Die  Seeflotten.  Für  die  Beurtheilung  derselben  hat  man  mehrere 
Massstäbe:  die  Zahl  der  Schiffe,  deren  Bemannung  und  deren  Tonnen- 
gehalt. Letzterer  ist  jedenfalls  das  entscheidende.  Denn  unter  der  Zahl  der 
Fahrzeuge  sind  unvergleichbare  Grössen  begriffen:  die  kleinsten  Küsten- 
schiffe und  die  gi'össten  Ostindienfahrer  und  Postdampfer. 

Der  Stand  der  europäischen  Handelsmarine  beträgt  in  neuester  Zeit 
(1876—78):  ^ 


330 


Die  SeeBchüffahrt. 


Staaten 


Dampfer 


Segelschiffe 


Zahl 


Gehalt 
in  1000 
Touiieu 


Zahl 


Gehalt 
iu  1000 
Tonnen 


Grossbritannien  und  Irland 

Norwegen 

Deutschland 

Italien 

Frankreich 

Niederlande 

Spanien 

Schweden 

Russland 

Oesterreich-Ungarn    .    .    . 

Dänemark 

Griechenland 

Portugal 

Belgien 

Türkei 


6107 

2492 

873 

46 

336 

183 

15« 

63 

431 

228 

79 

106 

230 

176 

167 

56 

249 

38 

77 

57 

188 

45 

16 

6 

42 

8 

28 

37 

11  ' 

3 

32509 
7791 
4469 
8438 
4262 
HOO 
2685 
1820 
3136 

555 
3091 
1076 

546 
22 

220 


5837 

1446 

934 

966 

671 

537 

381 

371 

264 

229 

213 

192 

53 

10 

34 


Vollständig  vergleichbar  sind  auch  die  gegebenen  Tonnengehalts- 
Ziffern  nicht,  weil  die  Vermessung  der  Schiffe  nicht  in  allen  Ländern 
nach  gleichen  Grundsätzen  vorgenommen  wird  *). 

Als  ein  charakteristischer  Zug  der  modernen  Seeschifffahrt  muss  das 
rasche  Anwachsen  der  Dampferflotten  gegenüber  der  fast  unmerklich 
abnehmenden  Zahl  der  Segelschiffe  constatirt  werden.  So  bestand  die 
europäische  Handelsmarine  i.  J.  1860  aus  2974  Dampfern  und  92272  Segel- 
schiffen. Bis  zum  J.  1877/78  war  die  Zahl  der  Dampfer  auf  8386  gestie- 
gen, jene  der  Segelschiffe  auf  86247  gesunken  ''^). 

Trotz  der  im  Allgemeinen  verringerten  Schiffszahl  ist  die  Leistungs- 
fähigkeit der  europäischen  Handelsflotte  im  Zunehmen,  theils  wegen  der 
rascheren  Fahrten,  die  durch  die  vermehrte  Dampferzahl  ermöglicht  sind, 
theils  auch  durch  die  gesteigerte  Tragfähigkeit  der  Schiffe.  So  betrug  in 
Register-Tonnen  die 


im  Jahre 


Gesammtzabl 

der 

Schiffe 


Tragfähigkeit 

im 

Ganzen 


Durchschnittliche 

Tragfähigkeit  eines 

Schiffes 


1860 

1877/78 


95246 
94633 


10,800647 
15,786687 


113,4 

166,8 


Die  SeesdiiffiTahrt. 


331 


Die  Vermessung  der  Schiffe  geschieht  in  den  meisten  Ländern  amtlich. 
Geläufigstes  Maass  i  st  die  englische  Registertonne,  ein  Raummass, = 2,83  Cubik- 
meter.  Eine  Register-Tonne  entspricht  dem  Raum  und  Gewicht  von  2830  Kg. 
destillirten  Wassers.  Bei  der  Ausmessung  der  Schiffe  ist  der  Brutto-  und 
Nettoraum  zu  unterscheiden.  Bruttoraum  ist  der  gesammte  Raumgehalt 
des  Schiffes;  der  Nettoraum  ergibt  sich,  wenn  von  dem  Brattoraume  die 
Räumlichkeiten  für  Dampfmaschinen,  Kohlen,  Küche,  Mannschaft  etc. 
abgezogen  werden,  so  dass  der  für  die  Ladung  verfugbare  Raum  übrig  bleibt. 

IL  Die  Schifffahrtsbewegung,  Neben  dem  Stand  der  Handels- 
flotten registrirt  die  Schifffahrtsstatistik  auch  die  Thätigkeit  derselben.  Zu 
diesem  Zwecke  werden  von  der  amtlichen  Statistik  in  der  Regel  notirt: 

1.  Die  Zahl  der  angekommenen  und  abgegangenen  Schiffe. 

2.  Art  der  Schiffe  (Dampfer  oder  Segelschiffe). 

3.  Tonnengehalt  der  Schiffe. 

4.  Leistung  der  Schiffe  (d.  i.  ob  dieselben  mit  Ladung  oder  blos 
in  Ballast  gefahren). 

5.  Länder  der  Herkunft  und  Bestimmung. 

Aus  diesen  Angaben  und  deren  Veränderungen  lässt  sich  für  jedes 
Land  ein  deutliches  Bild  seiner  Seeschifffahrt  construiren,  der  Lebhaftig- 
keit seiner  verschiedenen  Häfen  und  Küstenstrecken  und  der  Stärke  jener 
commerciellen  Fäden,  welche  es  mit  den  übrigen  Seehandel  treibenden 
Ländern  verbinden. 

HL  Die  See -Unfälle.  Trotz  aller  technischen  Fortschritte  im 
Schiffbau  wie  trotz  der  zunehmenden  hydrographischen  Kenntniss  ist  die 
Zahl  der  Seeunfalle  immer  eine  sehr  beklagenswerth  grosse,  und  es 
wiederholen  sich  diese  Unfälle  mit  grosser  Regelmässigkeit  von  Jahr  zu  Jahr. 
So  verlor  die  deutsche  Flotte  ^) : 


UD 

Jahre 


1873 

1874 
1875 
1876 
1877 
1878 
1879 


Zahl  der 

verloreneu 

Schiffe 


178 
165 
178 
214 
161 
138 
166 


verloreue 


Mannschaft      Passagiere 


300 
276 
324 
526 
275 
336 
119 


6 

256 

13 

5 
82 

2 


Die  Flotten  der  civilisirten  Staaten  verlieren  jährlich  etwa  2400  Se- 
gelschiffe und  über  170  Dampfer. 


332  ^^  ^»^  Telegrapbie. 

Hinsichtlich  der  räumlichen  Vertheilung  der  Schiflfbrüche  verdienen 
die  jetzt  sorgfältig  angelegten  Schiffbrachkarten  Ei-wähnung  (insbes.  die 
brittischen),  welche  deutlich  die  vei-schiedenen  Kirchhöfe  der  Seeschiffe 
zur  Anschauung  bringen. 

Aumerkuugeu. 

^)  Eugel:  Zeitalter  des  Dampfes. 

*)  Neumanu-Spallart:  Uebersichten, 

»)  Stat.  Jahrb.  f.  1881. 

§.  165.  Post  und  Telegraphie. 

I.  Die  Posten  *).  Die  verschiedenen  Seiten,  von  welchen  die  Sta- 
tistik das  Postwesen  anfasst,  sind  folgende: 

Betrachtet  man  die  Posten  als  verkehrbefördernde  Unternehmungen,  so 
sind  zunächst  die  Ausdehnungen  der  Postcurse,  die  Zahl  der  stabilen 
Postämter  und  Postexpeditionen,  der  Eisenbahnpostämter,  der  Briefsamm- 
lungen und  Postablagen,  der  Posthaltereien,  der  Postbeamten  und  Be- 
diensteten in  ihren  verschiedenen  Kategorien,  der  verwendeten  Pferde 
und  Fuhrwerke  von  Bedeutung.  Neben  der  Beobachtung  der  Verkehrs- 
mittel muss  aber  auch  die  Beobachtung  des  Gebrauches  dieser  Mittel,  des 
wirklichen  Verkehrs  herlaufen,  also ;  der  Zahl  von  beförderten  Passagieren, 
Briefen,  Zeitungen,  Geldsendungen,  Packeten  (mit  Gewichtserhebung). 
Dieser  wirkliche  Verkehr  muss  sodann  in  seiner  Ab-  und  Zunahme,  seiner 
zeitlichen  und  räumlichen  Vertheilung  untersucht  und  die  Einflüsse,  die 
sich  etwa  auf  ihn  geltend  machen,  aufgedeckt  werden. 

Die  Posten  sind  aber  auoh  an  sich  wirthschaftliche  Unternehmungen. 
Betrachtet  man  sie  als  solche,  so  fordert  das  wirthschaftliche  Interesse 
des  Unternehmers  eine  genaue  Statistik  der  in  den  Unternehmungen 
steckenden  Capitalien,  überhaupt  der  Kosten  einerseits,  der  Roh-  und 
Reineiiräge  andererseits. 

Von  grösster  Bedeutung  ist  hier  der  Einfluss  des  Posttarifs  auf 
den  Verkehr. 

n.  Die  Telegraphier).  Die  wichtigsten  Ziffern,  welche  über  sie 
Aufschluss  geben,  sind: 

1.  Die  Länge  der  Telegraphenlinien. 

2.  Die  Länge  der  in  Betrieb  stehenden  Drähte. 

Die  Vergleichung  dieser  Ziffern  fuhrt  zu  dem  Gegensatze  von  exten- 
sivem und  intensivem  Telegraphenbetrieb.  Beim  extensiven  Betrieb  finden 
sich  auf  den  Linien  nur  spärliche  Drähte;  die  Telegramme  bewegen  sich 
über  grosse  Entfernungen,  aber,  im  Verhältniss  zur  Ausdehnung  des 
Netzes,  nur  geringe  an  Zahl.  So  namentlich  in  dünn  bevölkerten  Ländern. 
Dichtbevölkerte  Länder  dagegen  mit  grossen  Städteij  verlangen  intensiven 


Post  nnd  Telegraphie. 


838 


Depeschenverkehr:   'zahlreiche    Drähte    auf    einer    Strecke    und    häufigie 
Depeschen. 

3.  Die  Zahl  der  Stationen. 

4.  Die  Zahl  der  Depeschen. 

Begreiflicherweise  ist  es  hauptsächlich  der  Wirthschaftscharakter 
der  Bevölkerung,  welcher  auf  diese  Ziffern  Einfluss  nimmt.  In  industriellen 
Districten  oder  gar  an  Handelsplätzen  wird  jedes  Tausend  Menschen  einen 
weit  grösseren  Depeschenverkehr  aufweisen,  als  in  Ackerbaugegenden,  wo 
die  Veranlassung  zur  Benützung  des  Telegraphen  verschwindend  gering 
ist.  Fast  ausschliesslich  die  städtische  Bevölkerung  bedient  sich  des  Tele- 
graphen, der  deshalb  am  meisten  üblich  in  solchen  Gegenden  ist,  wo 
auch  die  kleineren  Ortschaften  städtische  Sitten  haben. 

Wichtiger  als  die  absoluten  Zahlen,  bei  welchen  jedoch  überall  die 
Länge  der  Leitung  und  die  Gesammtlänge  der  Drähte  angegeben  werden 
sollte,  ist  die  relative  Ausdehnung,  und  zwar  sowohl  im  Verhältniss  zur 
Ländergrösse  und  Volkszahl,  als  auch  zur  Ausdehnung  der  übrigen  Ver- 
kehrsmittel. 

Auch  beim  Telegraphen  sind  ferner  das  Maass  und  die  schwankenden 
Bewegungen  der  ^  Benützung,  die  Kosten  und  die  Erträge  von  statistischer 
Bedeutung. 

Aumerkuugeu. 

*)  Der  absolute  Postverkehr  der  europäischen  Länder  stellt  sich  in 
neuester  Zeit  wie  folgt  (Goth.  Hofkalender  1881): 


Länder 


H 
pq 


c2§ 
.2  ° 


Länder 


X 

>  B 

P-i  d 
pq 


«4-1     3 

0)    O 


Belgien  .  .  .  1879 
Dänemark  .  1878 
Deutsch.  Reich  1879 
Frankreich 
Griechenland 
Grossbritann. 
Italien  .  .  . 
Luxemburg 
Niederlande 
Norwegen  . 


1877 
1878 


1879 


638. 

159 
9130 
5802 

145 

13881 

3200 

55 

1290 

904 


79,9 
25,6 

627,8 
458,3 

2,7 

1128,0 

152,1 

2,1 

54,7 

13,3 


Oesterr.-Ung. 
Portugal 
Rumänien 
Russland 
Finnland 
Schweden 
Schweiz  . 
Serbien  . 
Spanien  . 
Türkei     . 


1878 
1880 
1879 

1878 

1879 
1875 

1877 
1878 


5980 
863 
233 

4374 
114 

1963 

800 

54 

2530 
429 


287,1 

15,7 

108,3 
3,1 
? 

71,7 
1,3 

78,4 

2,4 


Es  entfallen  jährlich  Briefe  auf  den  Kopf  der  Bevölkerung  in: 


Grossbritannien  .    .    .  32,7 

Australien 27,5 

Schweiz 25,5 

Ver.  Staaten  ....  24,6 


Deutsches .  Reich    .    «  14,7 

Canada 14,6 

Belgien 14,4 

Niederlande    ....  13,3 


Dänemark 12,9 

Frankreich  .  .  .  .12,4 
Oesterreich-Ungarn  .  7,6 
Norwegen 7,4 


334 


Der  Haud«l. 


Schweden 7,2 

Italien 5,4 

Spanien 4,8 

Chile 3,3 

Japan  . 1,8 


Griechenland  ....  1,6 

Finland 1,6 

Russland 1,5 

Rumänien 1,3 

Serbien 0,8 


Aegyptefn    .   .    .   .    «  0,7 
Brittisch  Indien     .    .  0,6 

Mexiko 0,4 

Türkei 0,4 

Persien 0,05 


*)  Hinsichtlich    der   Verbreitung    des    Telegraphen- Verkehrs  mögen  hier 


nur  folgende  Ziffern  Bea 

chtung  finden  (Goth.  Hofkalender  1881^ 

): 

Länder 

Kilometer 

Bureaux 

Depeschen 
(Tausende) 

Auf  100 
Einwohner 
treffen  jähr- 
lich Tele- 
gramme 

Linien 

Draht 

Australien    .    .   .  1878 

41062 

65179 

985 

4600 

156 

Schweiz    ....  1879 

6552 

16007 

995 

2614 

93 

Grossbritannien  .  1878 

41334 

183554 

3858 

23385 

b7 

Niederlande     .    .  1879 

3761 

13655 

185 

2705 

67 

Belgien     .    .   .   .     „ 

5410 

23572 

708 

3242 

59 

Dänemark    .    .    .  1878 

3376 

9016 

127 

939 

48 

Frankreich  .   .    .  1879 

59500 

171500 

4965 

14414 

39 

Norwegen    .   .    .     „ 

7506 

13631 

127 

677 

37 

Deutsches  Reich       „ 

66679 

237527 

6467 

15711 

37 

Canada     ....  1877 

17694 

? 

830 

? 

31 

Oesterr.-Ungarn    1879 

48932 

138453 

3444 

8371 

22 

Italien „ 

25533 

84101 

1462 

5502 

20 

Schweden     .    .    .     „ 

8281 

20295 

177 

859 

19 

Griechenland  .    .  1878 

3068 

4065 

82 

315 

19 

Türkei „ 

27497 

52142 

417 

1344 

19 

Rumänien    .    .    .1879 

5238 

8323 

98 

879 

16 

Portugal  ....  1878 

3711 

8042 

191 

662 

15 

Spanien    ....  1877 

15489 

39070 

324 

1023 

12 

Serbien     ....  1874 

1461 

2146 

37 

165 

10 

Russland  ....  1878 

75082 

143423 

91^9 

5764 

8 

Ver.  Staaten   .... 

152425 

7 

8829 

? 

? 

VI.  GapÜel. 

Der  Handel. 


§.  166.  M  Allgemeineii. 

Die  Statistik  des  Handels  ist  ein  Gebiet,  wo  die  colossalsten  Ziffer- 
massen    auftreten,    die   überhaupt   auf  dem    Grebiete  statistischer  Unter- 


Der  internationale  Handel.  335 

suchungen  erscheinen.  So  häufig  indessen  im  praktischen  Staatsleben  Be- 
standtheile  dieser  Ziifermassen  angewandt  werden,  um  Dies  oder  Jenes  zu 
beweisen:  an  gründlichen  systematischen  Darstellungen  über  die  allgemeine 
Aufgabe  der  Handelsstatistik,  wie  über  ihre  einzelnen  Theile,  ihre  Schwierig- 
keiten und  Hilfsmittel  herrscht  ein  fühlbarer  Mangel. 

Um  einigermassen  einen  Ueberblick  über  die  Gesammtaufgabe  der 
Handelsstatistik  zu  gewinnen,  halte  man  zunächst  die  Subjecte  und  die 
Objecto  des  Handels  auseinander. 

I.  Die  Subjecte  des  Handels.  Jeder  einzelnen  kaufmännischen 
Operation  liegt  eine  statistische  Operation  zu  Grunde,  nämlich  eine  Ver- 
gleichung  der  Einkaufs-  und  Verkaufspreise  und  der  Handelskosten.  Die 
Handelsthätigkeit  jedes  Einzelnen  liefert  ununterbrochen  ein  reiches  Zahlen- 
material, das  zur  Ordnung  des  Geschäftes  stets  übersichtlich  gegliedert 
und  evident  gehalten  werden  muss.  Jeder  einzelne  Handeltreibende  fährt 
in  seiner  Buchhaltung  eine  fortlaufende  Statistik  seines  Geschäftes,  und 
da  jede  Function  seines  Geschäftes  von  ihm  ausgeht,  entgeht  kein  Bruch- 
theil  dieser  Functionen  der  Beobachtung. 

Aber  eine  Handelsbewegung  geht  nicht  allein  von  den  Einzelnen 
aus.  Auch  ganze  Handelsplätze,  Landestheile  und  Länder,  beziehungsweise 
deren  Bevölkerungen,  lassen  sich  als  Subjecte  des  Handels  auffassen. 

Fragt  man  sich  jedoch,  welche  Subjecte  des  Handels  zu  einer  stati- 
stischen Beobachtung  hinreichende  Veranlassung  und  Gelegenheit  bieten, 
so  wird  die  Aufgabe  bedeutend  reducirt.  Der  gesammte  inländische 
Handel  nämlich,  mag  er  Gross-  oder  Kleinhandel  sein,  producirt  kein 
brauchbares  Zahlenmaterial.  Seine  Bewegung  entzieht  sich  der  Controle, 
obgleich  sie  zweifellos  mit  weit  grösseren  Werthen  zu  thun  hat  und  weit 
wichtiger  und  nothwendiger  ist,  als  der  internationale  Handel.  Als  einzige 
Subjecte  der  Handelsstatistik  bleiben  die  Völker  in  ihren  politisch  ge- 
schlossenen Territorien  übrig. 

H.  Objecte  des  Handels  sind  Waaren,  Werthpapiere  und  Geld. 
Hier  können  zunächst  nur  die  Waaren  in  Betracht  kommen.  Zur  Messung 
der  Waarenbewegung  können  zwei  Massstäbe  dienen:  die  Menge  der 
Waaren  (Gewicht,  Stückzahl  etc.)  oder  ihr  Werth. 

§.  167.  Der  internationale  Handel. 

Die  Handelsthätigkeit  zwischen  einem  Volke  und  den  übrigen  lässt 
sich  zunächst  in  Ausfuhr-  und  Einfuhrhandel  unterscheiden.  Die 
Statistik  dieser  Handelsthätigkeit  beruht  auf  den  Zolllisten.  Als  vollständig 
verlässige  Grundlagen  für  die  Handelsstatistik  können  dieselben  allerdings 
nicht  betrachtet  werden,  und  zwar  aus  folgenden  Gründen. 


336  Der  intarnationale  Handel. 

I.  Die  Menge  der  ein-  und  ausgeführten  Waaren  erscheint  nicht 
vollständig  in  den  Zolllisten,  weil  diese  die  Resultate  des  Schleichhandels 
nicht  enthalten  können. 

IL  Weit  grössere  Schwierigkeiten  verursacht  die  Werthschätzung 
der  ein-  und  ausgeführten  Waaren.  Biese  Werthschätzung  kann  wieder 
auf  verschiedenen  Grundlagen  beruhen. 

1.  Werthangabe  durch  die  Waareneigenthümer.  .  Hiebei  werden 
häufig,  um  die  höheren  Zollsätze  zu  umgehen,  die  Preise  zu  niedrig 
declarirt. 

2.  Ermittelung  der  jeweiligen  Marktpreise  durch  die  Zoll- 
beamten ist  mühsam  und  trotzdem  nicht  fehlerfi-ei. 

3.  Amtliche  Preisansätze  für  die  einzelnen  Waarengattungen, 
und  zwar  entweder  unveränderlich,  oder  besser  für  einen  bestimmten 
Zeitraum.  Solche  amtliche  Preisansätze  haben  wiederum  den  Nachtheil, 
dass  sie  den  in  kürzeren  Zeiträumen  sich  verändernden  Marktpreisen  keine 
Rechnung  tragen.  Auch  hinsichtlich  des  Ortes,  für  welchen  man  die  Preise 
berechnet,  bieten  sich  Schwierigkeiten  dar. 

ni.  Die  Verschiedenheiten  in  den  Zollgesetzen  der  verschiedenen 
Länder  erschweren  es  sehr,  für  dieselben  vergleichbare  Resultate  zu  er- 
halten. Einzelne  Länder  haben  z.  B.  Ausfuhrzölle  auf  manche  Waaren, 
andere  Länder  nicht.  Offenbar  ist  die  Handelsstatistik  jener  Länder, 
welche  mehr  und  höhere  Zölle  haben  (Frankreich,  Italien),  zuverlässiger, 
als  dort,  wo  die  Zölle  geringer  sind  und  wo  deshalb  kein  so  zwingendes 
Interesse  den  Staat  nöthigt.  Ein-  und  Ausfuhr  genau  zu  ermitteln. 

Trotz  all  dieser  Schwierigkeiten  bleiben  die  Zoll  listen  das  unschätz- 
barste Mittel  der  Handelsstatistik.  Jedoch  geben  diese  Schwierigkeiten 
genügenden  Grund,  um  beim  Beurtlieilen  des  Werthverhältnisses  zwischen 
Aus-  und  Einfuhr  (der  Handelsbilanz)  möglichst  behutsam  zu  sein. 

Untersucht  man  nun  den  internationalen  Handel,  so  lässt  sich  die 
eingeführte  Gütermenge  sowohl  als  die  ausgeführte  in  zwei  Theile  scheiden: 
die  Ausfuhr  von  eigenen  Erzeugnissen  und  die  Einfahr  von  Waaren, 
welche  im  Lande  consumirt  werden,  bilden  die  eigene  Aus-  und  Ein- 
fuhr; die  Einfuhr  fremder  Waaren  zum  Zwecke  der  Wiederausfuhr  und 
die  Wiederausfuhr  dieser  Waaren  bilden  den  Zwischenhandel.  Die 
Differenz  zwischen  der  Gesammt-Ein-  und  Ausfuhr,  dem  sogen.  General- 
handel, und  der  eigenen  Ein-  und  Ausfuhr,  dem  sogen.  Specialhandel, 
zeigt  den  Umfang  des  Zwischenhandels  an.  Bei  diesen  Erscheinungen  ist 
hauptsächlich  zu  untersuchen: 

I.  Der  Stand  des  Aus-  und  Einfuhrhandels.  Der  Begriff  Stand 
darf  aber,  da  es  sich  um  ewig  wechselnde  Erscheinungen  handelt,  nicht 
im  strictesten  Sinne  genommen  werden,    sondern  man  wird  darunter  nur 


Der  internationale  Handel. 


337 


die  Handelsbewegung  eines  bestimmten  abgeschlossenen  Zeitraumes,  eines 
Jahres  etwa  verstehen  dürfen.  Auch  hier  sind  die  absoluten  und  die 
relativen*)  Zahlen  zu  untersuchen. 

IL  Die  Richtung  des  Aus-  und  Einfuhrhandels*). 
III.  Die  Aenderungen  sowohl  im  Stande^),  als  in  den  Richtungen 
des  gesammten  internationalen  Handels. 

Anmerkungen. 

*)  Von  den  zahlreichen  statistischen  Daten  über  das  Verhältiiiss  von 
Aus-  und  Einfuhr  seien  nur  folgende  angeführt,  wie  sie  für  das  Jahr  1878  von 
Neumann-Spallart  (Uebersichten.  Jahrg.  1879.  S.  287)  mitgetheilt  sind: 


Länder 


Grossbritann.  u.  Irland 

Deutschland 

Frankreich 

Russland 

Oesterreich-Ungarn    ....... 

Niederlande      

Belgien      

Italien 

Türkei 

Spanien 

Schweden 

Dänemark 

Norwegen 

Portugal 

Rumänien 

Griechenland 

Serbien 

Ver.  Staaten (1878/79) 

Brasilien  ....    ....  (1876/77) 

Brittisch  Nordamerika  .    .  (1876/77) 

Cuba 

Brittisch  Ostindien    .    .    .  (1878/79) 

China     . 

Niederländisch   Ostindien 

Australien 

Aegypten 


Werth  in  Mill.  Mark 


der  Einfuhr    der  A  usfuhr 


5375,4 

3738,9 

3340,8 

1917,8 

1104,2 

1376,6 

1178,2 

856,5 

430  (?) 

412,6 

269,4 

214,2 

157,2 

153,8 

80,6 

82,2 

25,9 

1867,2 

361,0 

444,6 

120,0 

731,3 

424,8 

193,1 

988,9 

93,4 


4909,6 
2902,4 
2544,0 

1990,0 
1309,4 
958,6 
889,8 
836,2 
397,0 
372,6 
207,3 
154,6 
102,5 

100,9 

116,0 
54,6 
26,6 

2868,4 
458,5 
344,6 
290,6 

1174,1 
403,0 
349,2 
927,4 
265,2 


*)    Hinsichtlich    der   Richtungen    des    internationalen  Handels  seien,    aus 
Gründen  der  Raumeraparniss,  nur  folgende  ZiflPern  mitgetheilt: 

Hausbofer,  Statistik.  2.  Aufl.  22 


338 


Der  inteinatiouale  Handel. 


A.    Im  Deutschen  Zollgebiet  betrug  1877  der  Werth  der  Eiufuhr 
im  freien  Verkehr  (in  Millionen  Mark): 


Eiufuhr  aus 


Gesammtwerth 


Frocentautheil 

der  einzelnen 

Grenzstrecken  am 

Gesammtwerth 


Nord-  und  Ostsee    .    .  299,6 

Bremen 237,« 

Hamburg 535,7 

Uebrige  Zollausschlüsse  104,9 

Dänemark 16,9 

Russland 521,4 

Oesterreich 798,o 

Schweiz 160,i 

Frankreich 216,4 

Belgien 299,9 

Niederlande 491,i 

Postverkehr  etc.   ...  91,4 


(Block-v.  Scheel  a.  a.  0.  S,  329.) 


7,6 

6,2 
14,2 

2^ 

0,4 

13,9 

21,4 

4,2 

5,7 

7,9 
13,1 

2,4 


B.  Im  Oesterreichisch-Ungarischen  Zollgebiet  stellte  sich  1878  der 
Werth  des  Gesammthandels  (ohne  Edelmetalle,  in  Millionen  Gulden): 


Verkehr 
mit  und  über 


Deutsches  Zollgebiet    . 

( Süddeutschland 
insbes.<  Sachsen     .    .    . 

(Preussen   .    .    . 

Schweiz      

Italien 

Türkei 

Russland 


(Goth.  Hofkalender  1881.) 


Einfuhr  in 
Oesterr.-Ungarn 


420,1 

137,6 

194,8 

87,7 

3,2 

20,2 
34,0 

14,8 


Ausfuhr  aus 
Oesterr.-Ungarn 


326,7 
124,1 

131,9 

70,7 

1,8 

39,0 
83,4 

48,4 


C,  In  Grossbritauiiien  und  Irland  betrug  1879  der  Verkehr  mit  folgenden 
Hauptverkehrsländern  (in  Millionen  Pfund  Sterling): 


Der  internationale  Handel. 


339 


Nordrussische  Häfeii 

Südnissische        „       

Schweden  und  Norwegen     .    .    .    . 

Deutsches  Reich      

Niederlande      

Belgien      

Frankreich 

Spanien 

Italien 

Türkei 

Aegypten      

Ver.  Staaten 

Brasilien 

China 

Sämmtliche  nichtbritt.  Länder  .  . 
Nordamerikanische  Colonien  .  .  . 
Brittisch  Westindien  und  Guyana  . 

Brittisch  Indien , 

Cap  und  Natal 

Sämmtliche  brittische  Besitzungen 

Alles  zusammen  . 


(Statistical  abstract  1880,  p.  30.) 


Einfuhr 
aus 


11,0 
4,8 
8,3 
21,6 
21,9 
10,7 

38,4 

8,3 
3,2 
3,4 
8,8 
91,8 

4,7 

11,0 

284,0 

10,4 

7,0 
24,6 

4,3 

78,9 


362,9 


Ausfuhr 
nach 


9,2 

3,9 
29,6 

15,4 
11,8 

26,5 

3,7 

6,0 

7,7 

2,2 

25,5 

5,9 

5,1 

182,2 

6,1 

.     3,0 

22,7 

5,4 

66,5 


248,7 


*)  Wie  sehr  die  Bewegung  des  gesammten  internationalen  Handels  im 
Laufe  der  Zeit  zunimmt,  namentlich  begünstigt  durch  die  Fortschritte  des  Ver- 
kehrswesens, zeigen  folgende  Ziflfem.  Der  gesammte  Aussenhandel  betrug  (in 
Millionen  Mark): 


Grossbritannien  und  Irland 
Deutsches  Reich      .... 

Frankreich 

Ver.  Staaten 

Russland 

Oesterreich-Ungarn    .    .    . 

Niederlande      

Belgien 

Brittisch  Ostindien      .    .    . 

Italien 

China 


im 
Jahre    1860 


im 
Jahre  1878 


7510 
2173 
3339 
2834 
1080 

952 
1380 

789 
1044 
1126 

600  (?) 


12285 
6641 
5885 
4615 
3908 
2414 
2335 
2068 
20^9 
1693 
827 

22* 


340  Statistik  einzelner  Handelsartikel. 

§.  168.  Statistik  einzelner  Handelsartikel. 

Die  Statistik  beschäftigt  sich  auch  mit  der  Betrachtung,  wie  sich 
die  gesammte  Handelsbewegung  der  Länder  auf  die  verschiedenen  Waaren- 
gattungen  vertheilt  *)  und  endlich  mit  der  speciellen  Betrachtung  einzelner 
Handelsartikel  ^).  In  letzterer  Hinsicht  hat  sie  zu  untersuchen: 

I.  Die  Gesammtmenge  dessen,  was  von  der  fraglichen  Waare  über- 
haupt producirt  wird.  Handelt  es  sich  dabei  um  Waaren  mit  bestimmt 
abgegrenztem  Productionsgebiete,  so  ist  eine  annähernd  richtige  Bestim- 
mung der  Masse  allerdings  möglich;  bei  den  wichtigsten  Gegenständen 
des  Welthandels  aber  muss  man  sich  mit  vagen  Schätzungen  begnügen 
(Baumwolle,  Kohle,  Edelmetalle,  Kaffee  etc.). 

II.  Die  Gesammtmenge  der  Aus-  und  Einfuhr. 

HL  Die  Zunahme  der  Production  und  Ausfuhr  oder  deren  Abnahme. 

IV.  Die  Richtung  der  Aus-  und  Einfuhr. 

V.  Die  Veränderungen  in  der  Richtung  der  Aus-  und  Einfuhr  mit 
ihren  wechselnden  Ursachen,  welche  in  den  Productions Verhältnissen,  dem 
Verkehr  und  seinen  Hindernissen,  in  der  wirthschaftlichen  Lage  des 
Consumtionsgebietes  zu  suchen  sind.  Die  Statistik  der  Rohproduction  und 
der  Industrie,  der  Preise,  des  Verkehrs,  des  ganzen  National  Wohlstandes, 
die  Untersuchung  der  Zoll-  und  Handelspolitik,  die  Beobachtung  des 
gesammten  politischen  und  socialen  Lebens  werden  hier  mehr  oder  weniger 
zur  nothwendigen  Vorbedingung. 

Anmerkungen. 
*)  Es  betrug  (nach  den  höchst  zuverlässigen  Angaben  des  Goth.  Hof  kai. 
vom  J.  1881): 

I.  Im  deutschen  Zollgebiet  für  das  Jahr  1878. 

Der  geschätzte  Werth  der  Ein-  und  Ausfuhr  in  Millionen  Mark: 

Waaren  Einfuhr    Ausfuhr 

a)  Genussmittel 1513,9        1010,4 

insbesondere  Getreide 612,o  375,o 

gegohrene  Getränke 58,7  63,o 

Colonialwaaren 202,0  117,6 

Tabak,  Cigarren 106,6  10,9 

Sämereien,  Früchte 138,o  72,9 

Thiere  und  thierische  Nahrungsmittel   .    .  396,6  371,o 

b)  Rohstoffe       1148,o  664,9 

insbesondere  Haare.  Häute,  Leder 176,3  98,i 

Spinnstoffe 587,o          228,9 

c)  Fabricate 450,4           983,2 

d)  Verschiedene  Waaren 401,4          228,6 

e)  Münzen  und  Edelmetalle .    .    209,o 29,4 

Summe  .  3722,7        2916,5 


Statistik  einzelner  Handelsai-tikel.  341 

Die  wichtigsten  Thatsachen,  welche  in  diesen  Zahlen  liegen,  sind  das 
entschiedene  Ueberwiegen  des  Einfuhrwerthes,  namentlich  an  Nahrungsmitteln 
und  Rohstoffen.  Seine  Einfuhr  bezahlt  Deutschland  mit  Fabricaten,  namentlich 
Gewebwaaren  U]id  mit  Edelmetallen.  Die  Handelsbilanz  Deutschlands  hat  sich 
in  dieser  Hinsicht  gegen  frühere  Jahrzehnte  merklich  verändert.  Im  Jahre  1849 
konnte  Deutschland  noch  eine  Mehrausfuhr  an  Getreide  im  Wörthe  von  59  Mill. 
Mark  berechnen;  uiud  in  den  Jahren  1860 — 64  beti*ug  dieser  Ueberschuss  noch 
88  Mill.  Mark.  Dann  aber  blieb  mehr  und  mehr  der  Ausfuhrwerth  hinter  dem 
Einfuhrwerthe  zurück,  so  dass  jetzt  das  deutsche  Volk  nur  noch  einen  Theil  seines 
Brodes  selbst  erzeugt.  (Vergl.  Bienengräber:  Statistik  des  Verkehrs  etc.  S.  140.) 

IL  In  Oesterreich- Ungarn  ergibt  sich  ohne  die  Edelmetalle  für  1878 
folgende  Bilanz  (Werth  in  Mill.  Gulden): 

Artikel  Einfuhrwerth     Ausfuhrwerth 

a)  Nahrungs-  und  Genussmittel .  147,9  193,o 

insbesondere  Getreide 40,o  87,5 

Colonialwaaren 35,6  47,3 

Tabak .    35,7  4,4 

Thiere  und  Nahrungsmittel  davon    .    17,o  22,5 

b)  Rohstoffe 155,8  102,8 

insbesondere  Brennstoffe 11,9  45,9 

Spinnstoffe 107,2  34,i 

c)  Fabricate 209,3  277,i 

d)  Verschiedenes 83,7  26,8 

Totale  .  596,7  599,7 

Oesterreich-Ungarn  ist  demiiach  in  der  Lage,  den  Ueberschuss  des  Ein- 
fuhrwerthes an  Rohstoffen,  welchen  es  empfangt,  durch  seinen  grösseren  Aus- 
fuhrwerth an  Bodeufrüchte]!,  Brennstoffen  und  Fabricaten  zu  bezahlen. 

III.  In  Grossbritaunieu  und  Irland  ergibt  sich  fiir  1879  folgendes 
Verhältniss  der  Ein-  und  Ausfuhrwerthe.  Werth  in  Millionen  Pf.  St. 

Waarengattuugen  Einfuhr    Ausfuhr 

a)  Genussmittel 174,7  8,8 

insbesondere  Getreide 67,4  0,7 

Colonialwaaren 43,9  2,2 

Thiere  und  Nahrungsmittel  davon   ....    40,i  2,4 

b)  Rohstoffe  (hauptsächlich  Spinnstoffe) 105,7  33,6 

c)  Fabricate 28,2  125,7 

d)  Verschiedene  Waaren .    .    .    .    54,2 23,3 

Summe  des  Waarenverkehrs  .  362,9  191,5 

Münzen  und  Edelmetalle    .    .    24,i  28,5 

IV.  In  Frankreich  stellt  sich  für  1879  das  Verhältniss  des  Aus-  und 
Einfuhrwerthes  folgend ermassen.  Werth  in  Millionen  Francs: 

Waarengattuugen                                     Einfuhr  Ausfuhr 

a)  Genussmittel 1966  800 

b)  Rohstoffe  (hauptsächlich  Spinnstoffe) 1689  478 

c)  Fabricate 438  1578 

d)  Verschiedene  Waaren 499  304 

Waaren  überhaupt 4594  3163 

Münzen  und  Edelmetalle    .    .    339  424 


342  Statistik  einzelner  Handelsartikel. 

V.  lu  deu  Vereinigten  Staaten  für  das  Jahr  1878/79.  Werth  in 
Millionen  Dollars: 

Waarengattungen  Einfuhr    Ausfahr 

a)  Nahrungs-  und  Genussmittel 186,9  384,i 

b)  Rohproducte      73,8  196,4 

c)  Fabricate 129,7  46,7 

d)  Verschiedene  Waaren .-  .    55,9 1%3 

Waaren  überhaupt 445,8  699,5 

Edelmetalle 20,8  17,6 

VI.  In  Russland  1878.  Werth  in  Millionen  Rubel: 

Waarengattungen  Einfuhr    Ausfuhr 

a)  Genussmittel 77,7  439,2 

b)  Rohstoffe 192,2  134,2 

c)  Fabricate 177,8  4,8 

d)  Verschiedene  Waaren .    .  109,9 18,i 

Waaren  überhaupt  .   .  557,7  596,5 

Edelmetalle 16,o  10,8 

•)  Aus  räumlichen  Gründen  ist  es  hier  nur  möglich,  an  einigen  der  wich- 
tigsten Waaren  des  Welthandels  die  Aufgaben  und  Resultate  der  Haudels- 
statistik  zu  zeigen. 

Das  Getreide  ist  zweifellos  der  wichtigste  Gegenstand  des  Welthan- 
dels. Der  in  grossartigster  Weise  entwickelte  Getreidehaudel  der  Gegenwart 
hat  die  Preise  weit  mehr  ausgeglichen,  als  -dies  jemals  der  Fall  war,  und  hat 
ein  Zusammenarbeiten  aller  Nationen  an  der  Ernährung  der  ganzen  Mensch- 
heit möglich  gemacht.  Jene  Länder,  welchen  durch  die  Natur  die  Möglichkeit 
gegeben  ist,  Getreide  wohlfeil  und  in  Massen  zu  erzeugen,  haben  ihre  Produc- 
tion  und  Ausfuhr  an  Getreide  im  Laufe  dieses  Jahrhunderts  ins  Riesenhafte 
erweitert,  während  anderwärts  die  Einfuhr  in  ähnlicher  Weise  gestiegen  ist. 
Den  „Uebersichten  über  Production,  Verkehr  und  Handel"  von  Neumann- 
Spallart,  Jahrg.  1879,  ist  hinsichtlich  des  Getreidehandels  Folgendes  zu  ent- 
nehmen : 

a)  Die  wichtigsten  Getreide-Exportländer  sind  die  Vereinigten  Staaten, 
Russland,  Oesterreich-Uugarn,  Rumänien,  Brittisch-Ostindien. 

Die  Vereinigten  Staaten  exportirt«n  im  Jahre  1877/78  für  727  Millionen 
Mark  Getreide  und  Brodstoffe  bei  einer  Einfuhr  von  blos  34  Mill.  Mark.  Die 
Mehrausfuhr  beträgt  demnach  693  Mill.  Mark.  In  Russlaud  ist  die  Getreide- 
ausfuhr von  43  Mill.  Hectoliter  im  Jahre  1873  auf  87  Mill.  Hectoliter  im  Jahre 
1878  gestiegen.  Im  letzteren  Jahre  betrug  der  Werth  der  Ausfuhr  1223  Mill. 
Mark  gegen  197  Mill.  vom  Jahre  1865.  In  Oesterreich-Uiigarn  überwiegt  fast 
regelmässig  die  Ausfuhr  beträchtlich ,  bei  steigendem  Werthe  derselben. 
1878  betrug  der  Werth  der  Einfuhr  an  Getreide,  Hülsenfrüchten  und  Mehl 
99  Mill.  Mark,  jener  der  Ausfuhr  334  Mill.  Mark,  allerdings  ein  sehr  günstiges 
Jahr.  Rumänien  exportirte  1877  für  64  Mill.  Mark  Cerealieu,  bei  4,«  Mill.  Mark 
Einfuhr.  Brittisch-Ostindien  exportirt  steigende  Mengen  von  Weizen  und  Reis. 
Von  letzterem  im  Jahre  1877/78  für  137  Mill.  Mark. 

Ausser  diesen  Hauptexportländern  sind  in  zweiter  Reihe  noch  die  Douau- 
tiefländer  Serbien  und  Bulgarien,  ferner  Dänemark,  Algier,  Australien,  Egypten, 


Statistik  einzelner  Handelsartikel.  343 

Spauteu,    Canada,    Chile,    Tunis,    Japau    (Reis)   uud    Cochiuchiiia    (desgl.)    zu 
nennen. 

b)  Die  wichtigsten  Getreide  einführenden  Länder  sind:  Grossbritannien, 
Frankreich,  das  deutsche  Reich,  Schweiz,  Belgien,  Niederlande,  Italien,  Scan- 
dinavien. 

Grossbritannieu  insbesondere  ist  genöthigt,  Jahr  um  Jahr  grössere  Be- 
träge für  seine  Ernährung  an  das  Ausland  zu  bezahlen.  Der  Werth  der  Ein- 
und  Ausfuhr  an  Cerealien  und  Mehl  betrug  in  Mill.  Pf.  Sterl.: 

Jahr:  1875  1876  1877  1878 

Ausfuhr:  0,5  l,i  1,2  1,3 

Einfuhr:  53,o  51,8  63,5  59,o 

In  den  letzten  Jahren  bezahlt  Grossbritannien  an  die  übrige  Welt  jähr- 
lich 1100 — 1200  Mill.  Mark  für  sein  Brod;  hievon  bei  weitem  das  Meiste  an 
die  Vereinigten  Staaten. 

In  Frankreich  stellt  sich  der  Werth  des  Getreidehaudels  in  jüngster  Zeit 
wie  folgt  (in  Mill.  Mark): 

1876  1877  1878 

Werth  der  Einfuhr:  191  165  461 

Werth  der  Ausfuhr:  117  148  43 

Auch  im  Deutschen  Reiche,  welches  seine  Zufuhr  an  Getreide  und  Mehl 
zumeist  aus  Russlaud  und  Oesterreich-Ungarn  bezieht,  ist  diese  Zufuhr  fort-- 
während  im  Steigen.  Es  betrug  die 

Jahr  Gesammt-Einfuhr  Gesammt-Ausfuhr 

Mill.  Mark 
280 
482 
595 
672 

Von  1872—1878  hatte  das  Reich  jährlich  228  Mill.  Mark  für  Brodfrucht 
und  Mehl  an  das  Ausland  zu  bezahlen. 

Unter  den  Rohmaterialien  und  Fabricaten  der  Textilindustrie  steht  die 
Baumwolle,  der  Favoritgegenstand  des  Welthandels,  obenan.  Seit  Jahrzehnten 
hat  sie  sich  ausgedehnter  Beobachtungen  zu  erfreuen.  Zu  Anfang  des  Jahr- 
hunderts betrug  die  Gesammtmenge  der  in  den  Welthandel  kommenden  Baum- 
wolle 500  Mill.  Pfund;  1860  lieferten  die  Ver.  Staaten  allein  1767  Mill.  Pfund 
zur  Ausfuhr.  Schätzungen  über  die  Gesammtproduction  sind  zwar  angestellt 
worden,  aber  werthlos,  da  aus  den  meisten  Ländern,  welche  Baumwolle  pro- 
duciren,  sichere  Daten  nicht  zu  erhalten  sind  (Japan,  China,  Hinterindien, 
Archipelagus,  Persien,  Centralasien ,  Vorderasien,  Süd-  uud  Centralamerika, 
Mexico  und  Afrika).  Sicher  mag  sich  der  Gesammtbedarf  an  Rohbaumwolle, 
welcher  in  Europa  und  Nordamerika  jetzt  bezogen  und  verarbeitet  wird,  auf 
2000  Mill.  Pfund  belaufen  (K.  Andree).  Europa  war  vor  dem  nordamerikani- 
schen Bürgerkriege  mit  seinem  Baumwollverbrauch  hauptsächlich  auf  die  Ver. 
Staaten  angewiesen.  Von  850  Mill.  Kilogr.,  welche  es  verbrauchte,  bezog  es 
von  dort  716.  Diese  Zufuhr  fiel  in  Folge  des  Krieges  im  ersten  Kriegsjahre  auf 


Mill.  Zollztr. 

1872 

28,8 

1874 

47,1 

1876 

60,5 

1878 

66,4 

Mill.  Zollztr. 

Mill.  Mark 

21,8 

215 

22,2 

229 

22,6 

222 

43,6 

416 

344  Statistik  «inzelner  Handelsartikel. 

108,  im  zweiten  auf  25  Mili.  Kilogr.  Die  anderen  Froductionsl ander  fingen  an, 
den  Ausfall  zu  ersetzen:  Indien  steigerte  seine  Ausfuhr  von  92  Mill.  (1861)  anf 
253  (1864)  und  den  Erlös  von  88  Mill.  Fr.  auf  705  Mill.;  Aegypten  die  Ausfuhr 
von  25—30  auf  80  Mill.  Kilogr.,  Brasilien  von  7  auf  27.  Die  Ver.  Staaten 
dagegen  hatten  selbst  nach  dem  Kriege  in  Folge  der  Zerrüttung  des  Südens 
(1866—67)  nur  eine  Ausfuhr  von  310  Mill.  (M.  Chevalier).  Selbst  Südeuropa 
beschäftigte  sich  seither  erheblicher  mit  dem  Baumwollenbau,  so  dass  Europa 
im  Jahre  1864  den  8.  bis  9.  Theil  seines  Bedarfs  selbst  erzeugte.  Die  Ver, 
Staaten  arbeiteten  indessen  mit  Macht  daran,  ihre  Baumwollproduction  zu  er- 
neuern und  schon  im  Jahre  1870  stieg  die  Ernte  so  hoch,  wie  in  den  besten 
Zeiten  vor  dem  Kriege.  In  den  Jahren  1878/79  und  1879/80  betrugen  die 
Ernten  5  Mill.  Ballen  (a  436—460  Pfd.),  so  dass  dieselben  jetzt  wieder  wie 
vorher  die  Welt  versorgen,  während  Ostindien,  Aegypten  und  Brasilien  einen 
Rückgang  der  Production  zeigen.  In  den  letzten  Jahren  (1876 — 79)  dürfte  sich 
die  Production  der  ganzen  Welt  auf  3166  Mill.  Pfd.  stellen,  wovon  auf  die 
Ver.  Staaten  2400  Mill.  Pfund  treffen,  auf  Brittisch-Ostindien  387  und  auf 
Aegypten  268  Mill.  Pfd.  (Vergl.  Neumann-Spallart  a.  a.  0.  S.  166  ff.)  Hievon 
verbraucht  die  brittische  Industrie  jährlich  circa  1200  Mill.  Pfd.,  der  europäische 
Continent  gegen  1000  Mill.  Pfd. 

Der  Handel  mit  Schafwolle  hat  in  den  letzten  Jahrzehnten  namhaften 
Umschwung  erfahren,  indem  die  Zufuhr  an  aussereuropäischer  Wolle  nach 
Europa  fortwährend  im  Steigen  ist.  Die  gesammte  Wollproduction  der  Welt 
wird  jetzt  auf  1600  Mill.  Zollpfd.  verananschlagt,  wovon  800  Mill.  auf  Europa, 
800  Mill.  auf  überseeische  Länder,  namentlich  Australien,  Argentina  und  Ver. 
Staaten  treffen.  Australien  exportiite  im  Jahre  1877  319  Mill.  Zollpfd.;  Argen- 
tina erzeugt  gegen  200  Mill.;  die  Ver.  Staaten  im  Jahre  1878  187  Mill.  Die 
grössten  Consumenten  sind  (1878)  Grossbritannien  mit  einer  Einfuhr  von 
362  Mill.  Zollpfund,  Frankreich  mit  293,  Deutschland  mit  140,  Belgien  mit 
93  Mill.  Zollpfund.  Ganz  Europa  verbraucht  592  Mill.  Pfd.  mehr  als  es  produ- 
cirt.  (Neumann-Spallart  a.  a.  0.  S.  175  ff.) 

Hinsichtlich  der  Seidenproduction  s.  S.  293.  Die  aussereuropäischen 
Zufuhren  nach  Europa  betragen  jährlich  gegen  6  Mill.  Pfund,  davon  4  Mill. 
aus  China. 

Zucker.  Die  Hauptproductionsgebiete  des  Rohrzuckers  (Cuba,  Brittisch- 
Westindien,  Mauritius,  die  Philippinen,  Java,  Brasilien,  Nordamerika,  die  fran- 
zösischen, brittischen,  holländischen  und  dänischen  Colonien,  Ostindien  liefern 
gegenwärtig  37  Mill.  Zollztr.,  dazu  Deutschland,  Frankreich,  Oesterreich,  Russ- 
land, Belgien  u.  a.  Länder  31  Mill.  Zollzentner  Rübenzucker.  Für  1828  war 
die  Production  der  ganzen  Erde  8,8,  für  1851  auf  23  Mill.  Zentner  berechnet 
worden.  Trotz  der  zunehmenden  Rübenzuckerproduction  bezieht  Europa  noch 
bedeutende  Massen  indischen  Rohrzuckers;  so  im  Jahre  1865  (über  Holland, 
Antwerpen,  Hamburg,  Triest,  Havre,  England)  14  Mill.  Ztr.  Europa  verbraucht 
etwa  die  Hälfte  des  indischen  Rohrzuckers.  (Bienengräber:  Statistik  des  Ver- 
kehrs und  Verbrauchs  im  Zollverein.) 

Kaffee.  Die  Ausfuhr  aus  den  Hauptproductionsländeru  beträgt  in  Millio- 
nen Zollpfuud; 


Statistik  einzelner  Handelsartikel. 


345 


Brasilieu  (1877/78) 428 

Java  etc.  (1877/78) 190 

Ceylon       (1877) 99 

Venezuela    y,       68 

Haiti  „       58 


Brittisch-Ostindien  (1877/78) 

Costarica      (1877) 

Columbien        „        

Guatemala        „       

Portorico  -  .    .    .    . 


30 
26 
25 
19 
12 


Die  Gesaninitproduction  wird  in  den  letzten  Jahren  uuf  10—11  Millionen 
Zentner  veranschlagt,  während  sie  im  Jahre  1832  nur  1,9,  im  Jahre  1844  nur 
0,1  und  im  Jahre  1853  nur  5,7  Mill.  Ztr.  betrug.  England,  Hamburg,  die  hollän- 
dischen Häfen,  Havre  und  Triest  zusammeii  importiren  von  dieser  Gesammt- 
production  jährlich  gegen  6  Millionen  Zentner.  Ernte  und  Ausfuhr  sind  allent- 
halben stark  schwankend.  (Vergl,  Neumann-Spallart  a.  a.  O.  S.  122  ff.) 

Die  Kohle  Grossbritanniens,  über  8  Mill.  Tonnen  Ausfuhr,  geht  nach 
allen  Weltgegenden,  bis  in  die  Südsee.  25  Kohlenhäfeu  betheiligen  sich  am 
Export;  aus  Newcastle  sind  häufig  an  einem  einzigen  Tage  300  Kohleuschiffe 
ausgesegelt.  Da  die  französischen  Kohlenbecken  (62)  für  Abbau  und  Transport 
ungünstig  liegen,  auch  nicht  ergiebig  genug  sind,  findet  starke  Einfuhr  aus 
England,  Belgien  und  den  Rheinlanden  statt.  Belgien  exportirt  etwa  für 
54  Mill.  Eres.  Die  deutschen  Kohlen  haben  die  früher  aus  England  eingeführten 
aus  ganz  Deutschland,  mit  Ausnahme  der  Küsten  der  Nord-  u]id  Ostsee,  ver- 
drängt. Russland  bleibt,  so  lange  ihm  die  nöthigen  Verbindungswege  fehlen, 
von  fremder  Kohle  abhängig.  Es  importirt  aus  England  jetzt  etwa  3  Millioneii 
Zentner  (K.  Andree).  Die  Statistik  des  Kohlenhandels  ist  von  besonderem 
Interesse  deshalb,  weil  kein  aiideres  Handelsobject  so  sehr  als  die  Kohle  von 
der  Gunst  der  Verkehrsmittel  abhängt.  Die  Preise  der  Waare  sind  heftigen 
Schwankungen  ausgesetzt.  So  stiegen  dieselben  auf  dem  Londoner  Markte  für 
die  besten  Sorten  von  17  Schill,  im  Jahre  1870  auf  46  Seh.  im  Jahre  1873,  um 
bis  zum  Jahre  1879  wieder  auf  17  Seh.  zu  sinken  (pro  Tonne).  In  Deutschland 
galt  die  Tonne  im  Jahre  1873  10,9  Mark;  im  J.  1878  nur  5,2  Mark.  (Neumann- 
Spallart  a.  a.  0.) 

Das  Petroleum,  hauptsächlich  in  Pennsylvanien  gewonnen,  ist  im  Lauf 
weniger  Jahre  einer  der  wichtigsten  Ausfuhrartikel  Nordamerika's  geworden. 
Von  1861-67  sollen  an  1300  Mill.  Liter  Petroleum  in  den  Ver.  Staaten  ge- 
wonnen und  nach  Europa  gebraclit  worden  sein.  Die  Ausfuhr  ist  stets  im 
Wachsen;  von  5  Millionen  Liter  (1861)  stieg  sie  auf  mehr  als  300  Millionen 
Liter  (1867);  zu  20—30  Centimes  per  Liter  macht  dies  einen  Verkaufsweith 
von  etwa  100  Mill.  Francs  (Chevalier).  Ob  die  galizischen  und  kaukasischen 
Oelbrunnen  auf  dem  europäischen  Markte. concurrenzföhig  werden  können,  ist 
die  Frage. 


B46  Hohe  des  Volkseinkommem». 


VII.  Capitel. 
Das  Volkseinkommen  und  seine  Vertheilung. 


§.  169.  Höhe  des  Yolkseinkommeiis. 

Das  Masseuverhältniss,  in  welchem  die  Güter,  nachdem  sie  produ- 
cirt  und  in  Umlauf  gekommen  sind,  schliesslich  vertheilt  werden  und  dem 
Vermögen  dieser  oder  jener  Classe  wirthschaftender  Menschen  zuwachsen, 
wird  uns  geofFenbart  durch  die  Untersuchung  des  Einkommens,  durch  die 
verschiedenen  Arten  und  Höhen  desselben. 

Die  Berechnung  des  rohen  und  reinen  Einkommens  ergibt  die 
Wirthschaftsbilanz,  Jene  ist  verschieden  bei  Privatwirthschaften  und  bei 
Volkswirthschaften . 

I.  Bei  Privatwirthschaften  erscheint  diese  Berechnung  in  ihrer  besten 
Form  als  Buchführung.  Sie  ist  eine  Art  von  Statistik  des  einzelnen  Ver- 
mögens und  Einkommens;  am  schwierigsten  da,  wo  einzelne  Theile  des 
Ertrages  vom  Producenten  selbst  verbraucht,  andere  verkauft  werden.  Um 
so  schwieriger,  wenn  das,  was  verbraucht  wird,  bald  in  die  Person  des 
Producenten  verwendet  wird,  bald  in  das  fixe,  bald  in  das  flüssige  Capital. 

Die  nothwendigen  Abschreibungen  vom  Werthe  jener  Vermögens- 
bestände, welche  allmälig  abgenützt  werden,  erschweren  gleichfalls  die 
genaue  Darstellung  des  Vermögens  und  seiner  Bewegung. 

n.  Weit  schwieriger,  als  ein  Privateinkommen,  ist  das  Volksein- 
kommen zu  berechnen.  Hier  tritt  statt  der  Zählung  meist  eine  blosse 
Schätzung  ein.  Die  Berechnung  des  Volkseinkommens  kann  in  zweifacher 
Weise  geschehen: 

A.  Nach  dem  Ertrag  an  Producten,  indem  man  von  den  einge- 
nommenen Gütern  ausgeht.  Dann  besteht  der  Rohertrag  der  Volkswirth- 
schaft  aus: 

1.  den  im  Lande  gewonnenen  Rohproducten; 

2.  den  aus  dem  Auslande  in  irgend  welcher  Weise  gewonnenen 
Producten; 

3.  aus  den  Wertherhöhungen,  welche  diese  Güter  durch  die  ein- 
heimische Industrie  und  Kunst  erfahren; 

4.  aus  den  Dienstleistungen. 

Dies  alles  wird  in  Geld  abgeschätzt  und  von  der  Summe  abge- 
zogen : 


Die  BinkommeDsclasBen.  347 

1.  die  in  den  Producten  verbrauchten  Rohstoffe  und  die  Werth- 
minderungen,  welche  einzelne  Producte  erfahren  haben,  also  Gapitals- 
abnutzungen; 

2.  die  sämmtlichen  Ausfohren,  mit  welchen  die  Einfuhren  bezahlt 
wurden. 

B.  Eine  zweite  Art  der  Berechnung  ist  die  Summirung  der  einzelnen 
Einkommen.  Bei  dieser  Berechnung  muss  man: 

1.  das  reine  Einkommen  aller  selbständigen  Privatwirthschaften  und 

2.  dasjenige  des  Staates,  der  Corporationen,  Gemeinden  und  Stif- 
tungen Summiren. 

Schuldzinsen  müssen  dabei  entweder  ganz  aus  dem  Spiele  gelassen 
oder  auf  Seite  des  Gläubigers  addirt,  auf  Seite  des  Schuldners  subtrahirt 
werden. 

So  viel  Mühe  man  sich  auch  mit  solchen  Berechnungen  geben  mag, 
fehlt  es  dabei  doch  häufig  um  viele  Millionen.  So  hat  man  das  rohe  eng- 
lische Volkseinkommen  bald  auf  514  Mill.  Pfd.  geschätzt,  bald  auf  720 
Mill.;  das  reine  im  Jahre  1799  auf  125,  1823  auf  255  Mill.  —  1860 
betrug  das  einkommensteuerpflichtige  Einkommen  allein  239  Millionen,  in 
neuerer  Zeit  377  Millionen. 

In  Frankreich  schätzte  man  vor  40  Jahren  das  rohe  Volkseinkommen 
bald  auf  6500  Mill.  Frcs.,  später  auf  7000,  auf  12000  und  (M.  Che- 
valier) 10000  Mill.  In  den  Vereinigten  Staaten  soll  das  Volkseinkommen 
im  Jahre  1840  über  1063  Mill.  Doli,  betragen  haben,  in  Oesterreich  im 
Jahre  1859  (v.  Czörnig)  3360  Mill.  fl. 

Man  muss  sich  indessen  hüten,  solche  Schätzungen  zur  Grundlage 
wirthschaftlicher  Lehrsätze  zu  machen.  Sie  sind  zu  trügerisch.  Am  reellsten 
ist  die  Schätzung  nach  der  Einkommensteuer  insofern,  als  sie  niemals  das 
Volkseinkommen  höher  angeben  wird,  als  es  wirklich  ist. 

§.  170.  Die  Einkommensclassen. 

Da  man  ein  Einkommen  aus  Arbeitslohn  (einschliesslich  der 
festen  Gehalte  von  Staatsdienern  etc.),  aus  Capitalzins  oder  aus  Unter- 
nehmergewinn beziehen  kann,  haben  sich  im  Laufe  der  Wirthschafts- 
geschichte  Einkommensclassen  gebildet,  welche  sich  durch  die  Bezugsquelle 
ihres  Einkommens  unterscheiden:  Die  Classen  der  Arbeiter,  der  Capi- 
talisten  und  der  Unternehmer. 

Die  Statistik  ist  jedoch  nicht  im  Stande,  diesen  Unterschied  zu 
fixiren  und  nach  ihm  etwa  die  Bevölkerung  in  Gruppen  zu  bringen.  Denn 
diese  Classen  sind  gegen  einander  nicht  abgeschlossen.  Es  kann  Jemand 
Arbeiter  und  zugleich  Capitalist  sein.  Man  wird  ihn  freilich  immer  dann 
als  Arbeiter  bezeichnen  müssen,  wenn  er  seines  x4.rbeitsIohne6  zum  Leben 


348  ^^^  Einkommenscla^sen. 

bedarf.  Aber  die  ßedarfsgrenze  ist  nicht  zu  bestimmen;  sie  ist  etwas  sub- 
jectives.  Ebenso  kann.  Jemand  Unternehmer  und  Capitalist  zugleich  sein. 
Sehr  häufig  findet  sich  die  Vereinigung  der  Arbeiter-  und  Unternehmer- 
Stellung,  namentlich  im  Kleingewerbe.  Eine  Vereinigung  aller  drei  Ein- 
kommenszweige findet  sich  namentlich  bei  der  landwirthschaftlichen  Be- 
völkerung, —  ausschliesslich  der  Grossgrundbesitzer  —  kann  aber  auch 
in  anderen  Erwerbszweigen  vorkommen. 

Gerade  der  Umstand,  dass  sich  diese  Unterschiede  der  Einkommens- 
classen  zifl'ermässig  nicht  fixiren  lassen,  muss  als  günstig  bezeichnet  werden, 
weil  er  erkennen  lässt,  dass  der  einzelne  Mensch  und  die  einzelne  Familie 
nicht  unabänderlich  an  einen  bestimmten  Einkommenszweig  gebunden  sind. 

Es  gibt  aber  noch  einen  anderen  Classenunterschied,  welcher  nicht 
durch  die  verschiedenen  Quellen,  sondern  durch  die  verschiedenen  Höhen 
des  Einkommens  veranlasst  wird.  Bei  den  Lolmarbeitern,  bei  den  Capi- 
talisten,  wie  bei  den  Unternehmern  finden  sich  alle  denkbaren  Abstu- 
fungen von  Einkommensgrössen.  Durch  diese  Abstufungen  aber  werden 
alle  Gegensätze,  die  sich  auf  dem  Gebiete  des  Einkommens  finden,  ganz 
bedeutend  gemildert. 

Die  Vertheilung  des  Volkseinkommens  nach  seiner  Höhe  ist  wohl 
der  wichtigste,  aber  auch  ein  sehr  dunkler  Gegenstand  der  wirthschaft- 
lichen  Statistik. 

Die  einfachste  Classenunterscheidung  ist  wohl  die  von  grossen,  mitt- 
leren und  kleinen  Einkommen  (für  welche  Unterscheidung  freilich  jeder 
feste  Massstab  fehlt).  Das  Vertheilungsverhältniss  ist  dann  am  günstig- 
sten, wenn  die  Mittelclasse  des  Einkommens  am  zahlreichsten,  die  Unter- 
schiede zwischen  dem  geringsten  und  dem  grössten  Einkommen  möglichst 
klein  sind,  wenn  das  Einkommen  mit  steigendem  Verdienst  und  höherem 
Alter  wächst. 

Die  Vertheilung  des  Einkommens  ist  dagegen  eine  umso  ungünstigere, 
je  mehr  sich  die  verschiedenen  Grade  des  Einkommens  von  einander  ent- 
fernen, je  mehr  namentlich  der  Mittelstand  verschwindet  und  ein  grasser 
Unterschied  zwischen  Reichthum  und  Armuth  erwächst. 

Man  hat  behauptet,  dass  die  Ungleichheit  des  Vermögens  in  stetiger, 
furchtbarer  Zunahme  begriffen  sei;  von  anderer  Seite  ward  das  Gegentheil 
angenommen.  Beide  Behauptungen  sind,  wie  es  scheint,  bei  dem  gegen- 
wärtigen Stande  der  Einkommensstatistik  noch  nicht  mit  Bestimmtheit  zu 
behaupten  oder  zu  widerlegen. 

Nur  für  wenige  Länder  sind  bisher  brauchbare  Anhaltspunkte  zur 
Entscheidung  der  Frage  gewonnen,  wie  sich  die  Vertheilung  der  Einkom- 
mensgrössen in  neuester  Zeit  stellt.  Diese  Anhaltspunkte  sind  die  Ein- 
kommenssteuern (so  namentlich  in  Grossbritannien,  Preussen  und  Sachsen  ^). 


Die  Einkommensciassen. 


349 


Sie  zeigen  allerdings,  dass  die  Zahl  derjenigen  Volkstheile,  welche  nur 
den  nothdürftigen  Lebensunterhalt  bestreiten  können,  über  90^  der  Ge- 
sammtbevölkerung  beträgt. 

Um  die  Zustände  der  Vertheilung  des  Volkseinkommens  in  den 
verschiedenen  Ländern  vergleichbar  zu  machen,  müssten  die  Begriffe: 
Reichthum,  Wohlstand,  Auskommen,  Dürftigkeit  und  Armuth  genau  fixirt 
werden  durch  quantitatives  Ausmass  der  jeden  dieser  Zustände  charak- 
terisirenden  Bedürfnissbefriedigung.  Letztere  müsste  nach  den  örtlich  ver- 
schiedenen Preisen  der  Lebensmittel,  Wohnungen,  persönliehen  Dienste  etc. 
in  Geld  ausgedrückt  werden.  So  erhielte  man  für  jeden  Ort,  wo  eine  solche 
Berechnung  stattgefunden,  das  Maass  dessen,  was  die  Zustände:  Reichthum, 
Wohlstand  u.  s.  f.  bezeichnet.  Selbst  dann  dürften  jedoch  nur  solche  ört- 
liche Verschiedenheiten  verglichen  werden,  bei  denen  nicht  allzu  grosse 
Unterschiede  der  Volkssitten  jede  Vergleichung  unn^öglich  machen. 

Weit  schwieriger  ist  es,  wie  erwähnt,  zifferraässig  die  oft  aufgewor- 
fenen Fragen  zu  entscheiden,  ob  heutzutage  das  Einkommen  das  Bestreben 
habe,  mehr  den  grossen  Massen  der  Bevölkerung  zuzuwachsen  wie  früher; 
oder  ob  es,  wie  Viele  behaupten,  sich  in  immer  weniger  Händen  con- 
centrire;  ob  es  namentlich,  wie  am  häufigsten  behauptet  wird,  wahr  sei, 
dass  der  Mittelstand  mehr  und  mehr  verschwinde^). 

Anmerkungen. 
*)  Nach  den  Angaben  über  das   preussischc   Volkseinkommen    i.  J.   1879 
Tertheilt  sich  dasselbe  wie  folgt: 


Einkommensciasse 


Procentbetrag 
der  Censiten 


ohne  die 
Angehörigen 


mit  den 
Angehörigen 


Durchschnittlicher  Betrag 
der  Einkommen 


pro  Censit 


pro  Kopf 


Unter  525  Mark 

525—     2000       „ 

2000—     6000       „ 

6000—  20000       „ 

20000—100000       „ 

über  100000       „ 

Zusammen  . 


40,62 

54,12 

4,47 
0,70 

]    0,09 


66,80 

5,52 

0,88 

\    0,12 


400 

811 

3196 

9551 

36027 

201421 


100 


100 


909 


208 

252 

881 

2616 

9868 

55173 


310 


(A.  Soetbeer:  Jahrb.  f.  Nationalökonomie  u.  Statistik,   1879,  S.  114.) 
')  Röscher,  Grundlagen  d.  Nationalökonomie,   S.  425,    führt    als    Beleg 
gegen  die  Behauptungen  zunehmender  Vermögensungleicliheit  Folgendes  an : 
In  England  hatten  nach  der  Einkorn menssteuer-Declaration  des  Jahres  1847 : 


obO  Der  Arbeitslohn  insbesondere. 

91101  Persoiieu     130—  500  Pfd.  jährl.  Eiuküufte  uud  darüber 
13287        „  500-1000     „        „  ^  „  ^ 

5234        „  1000-2000      „        „  „  „  „ 

1483        „  2-3000     „         „  ,  „  ^ 

703        „  3-4000      „         .  „  -n  ^ 

400         ^  4-5000      ,,        ^  ^  ^  „ 

1186        „  über  5000     „        ^j  ••  r  ^ 

Vergleicht  man  diese  Zahlen  mit  den  entsprechenden  der  Einkommens- 
steuer Ton  1812,  so  ist  die  Zahl  der  Declaranten: 

von    150—  500  Pfd,  Einnahme  um  19651^  gewachsen 
„       500-1000     „  „  „    148„  „ 

^     1000-2000     „  ^  ,,     148,,  „ 

„     2000-5000     ^  „  ^     118,, 

„     5000  u.  mehr  „  „  ,,     189  „  „ 

während  die  Bevölkerung  im  Allgemeinen  um  etwa  60%  wuchs. 

G.  Hirth  dagegen  (Preis.  Ansichten  der  Volks wirthschaft,  S.  359)  neigt 
sich  zu  der  Ueberzeugung,  dass  durch  die  Bewegung  der  Einkommenssteuer  der 
Beweis  für  das  relativ  stärkere  Anwachsen  der  grossen  Einkommen  erbracht  sei. 

§.  171.  Der  Arbeitslohn  insbesondere. 

Da  in  den  europäischen  Culturländern  der  gröeste  Theil  der  Bevöl- 
kerung vom  Lohne  lebt,  den  er  durch  Arbeit  im  Dienste  Anderer  erwirbt, 
wäre  es,  um  die  wirthschaftliche  Lage  der  Völker,  Länder,  Landestheile 
und  Städte,  sowie  der  verschiedenen  Berufsclassen  richtig  beurtheilen  zu 
können,  von  grossem  Werthe,  wenn  zuverlässige  statistische  Angaben  über 
die  Lohnhöhe  verfügbar  wären. 

Leider  hat  die  Lohnstatistik  mit  so  vielen  Schwierigkeiten  zu 
kämpfen,  dass  diese  wichtige  Aufgabe  bisher  blos  mittelst  vereinzelter 
Versuche  in  Angriff  genommen  worden  ist.  Es  sind  bei  der  Betrachtung 
der  Lohnhöhe  folgende  Punkte  zu  beachten: 

L  Die  Berechnung  der  Durchschnittslöhne.  Fast  in  jedem 
Arbeitszweige  lassen  sich  niedrige  und  höhere  Löhne  unterscheiden.  Ob 
nun  der  Arbeiter  nach  der  Arbeitszeit  oder  nach  dem  Stück  bezahlt  wird: 
überall  wird  der  geschicktere,  fleissigere,  kräftigere  mehr  verdienen,  als 
der  minder  leistungsfähige.  In  manchen  Arbeitszweigen  aber  finden  sich 
mehr,  in  anderen  weniger  Abstufungen  der  Lohnhöhe.  Es  ist  eine  ungemein 
complicirte  Frage,  in  welcher  Weise  bei  diesem  Verhältniss  der  wahre 
Durchschnittslohn  zu  bestimmen  ist.  Wenn  in  einer  Fabrik  die  am  ge- 
ringsten bezahlten  Arbeiter  wöchentlich  10,  die  am  höchsten  bezahlten 
dagegen  20  Mark  verdienen,  so  ist  damit  noch  nicht  erwiesen,  dass  der 
Durchschnittslohn  15  Mark  betrage,  sondern  es  fragt  sich,  wie  viele 
Arbeiter  da  sind,  welche  blos  10,  wie  viele  12,  15,  20  Mark  etc.  ver- 
dienen. 


Der  ArbeitBlohn  insbesondere.  351 

Will  man  sich  nicht  blos  mit  abstracten  Durchschnittszahlen  be- 
gnügen, so  muss  man  auf  diese  Unterschiede  eingehen.  Noch  complicirter 
wird  die  Berechnung  der  Lohnhöhe,  wenn  in  einem  Arbeitszweige  neben 
Männern  auch  Frauen  und  Kinder  beschäftigt  sind.  Die  Löhne  derselben 
müssen  getrennt  von  denen  der  Männer  betrachtet  werden. 

IL  Oertliche  Verschiedenheiten.  In  keinem  Lande  sind  die 
Löhne,  welche  in  den  Städten  und  auf  dem  Lande,  sowie  in  den  ver- 
schiedenen Landestheilen  gezahlt  werden,  von  ganz  gleicher  Höhe.  Die 
Ursache  liegt  in  den  Verschiedenheiten  von  Angebot  und  Nachfrage.  Der 
gemeine  Taglohn  muss  in  den  Städten  schon  deshalb  ein  anderer  sein, 
als  auf  dem  Lande,  weil  die  ländlichen  Arbeiten  grossentheils  im  Freien 
vollbracht  werden,  weil  der  Lebensunterhalt  in  den  Städten  schwieriger 
zu  beschaffen  ist  u.  s.  f.  Aber  auch  der  Lohn  der  für  einzelne  Indu- 
strien geschulten  Arbeiter  ist  in  den  Städten  höher,  als  auf  dem  Lande. 
So  beträgt  der  Durchschnittslohn  der  industriellen  Arbeiter  in  Paris  4,3» 
Frcs.  täglich,  in  ganz  Frankreich  nur  2,3.  Wenn  in  einzelnen,  besojiders 
armen  Landschaften  auffallend  niedrige,  in  einzelnen  Städten  dagegen 
auffallend  hohe  Löhne  gezahlt  werden,  so  darf  dies  bei  der  Betrachtung 
der  Durchschnittslöhne  eines  ganzen  Landes  nicht  ausser  Acht  gelassen 
werden  *). 

III.  Zeitliche  Verschiedenheiten.  Weil  die  mannigfachen  Um- 
stände, welche  auf  die  Lohnhöhe  einwirken,  sich  nicht  gleich  bleiben, 
weisen  auch  verschiedene  Perioden  ungleiche  Lohnhöhen  auf.  Dieses 
Schwanken  vollzieht  sich  in  manchen  Arbeitszweigen  im  Laufe  der  Jahres- 
zeiten einzelner  Jahi'e;  bei  anderen  mit  dem  Wechsel  wirthschaftlichen 
x\uf-  und  Abschwungs;  im  Allgemeinen  lassen  sich  auch  grössere  Lohn- 
veränderungen beobachten,  welche  die  wirthschaftsgeschichtliche  Entwicke- 
lung  der  Völker  begleiten. 

IV.  Die  Gründe  dieser  zeitlichen  und  örtlichen  Verschiedenheiten. 
Betrachtet  man  die  Höhe  der  verschiedenen  Löhne,  welche  in  einem  be- 
stimmten Etablissement  gezahlt  werden,  so  erscheint  als  nächster  Grund 
dieser  Verschiedenheit  der  ungleiche  Werth  der  Arbeit.  Je  werthvoller 
die  Arbeit,  desto  höher  der  Lohn.  Schon  hiedurch  wird  eine  unendliche 
Mannigfaltigkeit  der  Lohnhöhen  verursacht.  Die  verschiedene  Arbeitsge- 
schicklichkeit und  Kraft,  sowie  der  Fleiss  sind  wieder  die  tieferen  Ur- 
sachen. Auf  ihnen  beruhen  insbesondere  die  Unterschiede  zwischen  den 
Lohnhöhen  der  Arbeiter  verschiedener  Altersclassen  und  grossentheils  der 
beiden  Geschlechter.  Deshalb  beträgt  fast  überall  der  Lohn  der  Männer 
ungefähr  das  Doppelte  von  dem  der  Weiber  und  das  Dreifache  von  dem 
der  Kinder. 


o52  Der  Arbeitslohn  insbesondere. 

Die  Differenz  zwischen  dem  höchsten  und  niedrigsten  Lohne  ist  am 
grössten  bei  jenen  Gewerbszweigen,  wo  die  Arbeitsleistung  durch  Kraft, 
Fleiss  und  Geschicklichkeit  am  meisten  gesteigert  werden  kann  (z.  B.  in 
der  Buchdruckerei,  Maschinen-,  Glas-  und  Papierfabrication)  und  um  so 
geringer,  je  weniger  eine  solche  Steigerung  möglich  (Textilindustrie). 

Betrachtet  man  dagegen  die  Lohnverschiedenheiten  ganzer  Erwerbs- 
zweige, Zeitperioden,  Orte  und  Länder,  so  ergeben  sich  noch  mannigfache 
andere  Ursachen:  die  Preise  der  Lebensmittel,  die  Beschwerden  und  Ge- 
fahren mancher  Arbeiten,  die  Sicherheit  und  Regelmässigkeit  von  Erwerb 
und  Lohnzahlung,  die  Zahlungsfähigkeit  der  Arbeitgeber,  die  LebhaWgkeit 
der  Concurrenz  von  Arbeitgebern  und  Arbeitern. 

Diese  Bestimmungsgründe  des  Arbeitslohnes  nun  wirken  mit  einander 
und  je  nachdem  einer  oder  mehrere  von  ihnen  überwiegende  Kraft  äussern, 
gestaltet  sich  das  Resultat.  Gemessen  kann  ihre  Kraft  nur  werden,  wenn 
es  gelingt,  ihre  Wirkungen  von  einander  isolirt  darzustellen.  Diese  Isoli- 
rung  ist  eine  sehr  schwierige  Aufgabe  der  wirthschjaftlichen  Statistik,  nur 
in  einzelnen  Fällen  möglich. 

V.  Die  richtige  Würdigung  der  Lohn  Verschiedenheiten.  Um  die 
Lohnhöhen  richtig  beurtheilen  zu  können,  darf  man  sich  nicht  auf  eine 
blosse  Vergleichung  der  Geldbeträge  des  Lohnes  beschränken,  sondern 
man  muss  zugleich  auf  die  Preise  der  zur  Befriedigung  der  wichtigsten 
Lebensbedürfnisse  nöthigen  Dinge  eingehen  und  fragen,  was  der  Lohn 
hier,  was  er  dort  werth  ist.  Dadurch  wird  die  Aufgabe  einer  gewissen- 
haften Lohnstatistik  noch  ungemein  erschwert*).  Aber  selbst  wenn  man 
mit  solcher  Sorgfalt  bei  der  Vergleichung  der  Löhne  vorgeht,  geben  die 
erhaltenen  Ziffern  noch  keineswegs  ein  deutliches  Bild  von  der  Lage  der 
Arbeiterbevölkening  verschiedener  Länder.  So  wird  es  gewiss  Niemandem 
einfallen  wollen ,  die  Lebensweise  eines  Südeuropäers  mit  der  eines 
Nordeuropäers  vergleichen  zu  wollen,  selbst  wenn  die  Preise  der  Lebens- 
mittel, Kleidung  und  Wohnungen,  sowie  die  Lohnhöhe  in  beiden  vergli- 
chenen Ländern  gleich  wären. 

Die  Annehmlichkeiten  eines  bevorzugten  Klimas  sind  namentlich  für 
die  ärmere  Bevölkerung  gar  nicht  hoch  genug  zu  schätzen;  und  der 
Arbeiter  in  Italien,  Südfrankreich,  Spanien  etc.,  der  sich  den  grössten 
Theil  des  Jahres  hindurch  des  Frühlings  und  Sommers  erfreut,  befindet 
sich  trotz  seiner  geringeren  Kauffahigkeit  in  einer  menschenwürdigeren 
Lage,  als  der  nordeuropäische  Arbeiter,  den  in  langen  Wintern  das  Elend 
armseliger,  luftloser,  kalter,  schmutziger,  mit  Menschen  angepfropfter 
Wohnungen  umgibt  •*). 


Der  Arbeitslolin  insbesondere. 


353 


'Anmerkungen. 

*)  Dem  Congress  der  Vereinigten  Staaten  wurden  unlängst  von  den  ameri- 
kanischen Consuln  iji  Europa  Berichte  über  die  durchschnittliche  Höhe  der 
Arbeitslöhne  und  über  die  Lebensmittelpreise  in  den  europäischen  Ländern  er- 
stattet. Sieht  man  von  der  Schwierigkeit  ab,  welche  sich  ergibt,  wenn  man 
aus  den  in  den  verschiedenen  Städten  und  Gegenden  eines  Landes  gezahlten 
Löhnen  einen  Durchschnitt  berechnen  will,  so  ist  den  genannten  Berichten  Fol- 
gendes zu  entnehmen.  Der  wöchentliche  Arbeitslohn  betrug  i.  J.  1878  in  Mark 
und  Pfennigen: 


Berufsclassen 


Frank- 
reich 


Deutsch- 
land 


Italien 


England 


New- 
York 


Maurer  (Handlauger) 
Zimmerleute,  Tischler 

Gasarbeiter 

Maurer 

Anstreicher 

Gypser . 

Bleidecker 

Schieferdecker .    .   .    . 

Bäcker 

Grobschmiede  .    .    •   . 

Buchbinder 

Messinggiesser .    .    .    . 

Schlächter 

Kunsttischler    .    .    .    . 

Böttcher 

Kupferschmiede  .  .  . 
Messerschmiede    .   .   . 

Gravirer 

Hufschmiede  .  .  .  . 
Mühlenbauer    .    .    .    . 

Drucker 

Sattler 

Segel  macher  .  .  .  . 
Schuhmacher  .  .  .  . 
Schneider  ...... 

Zinngiesser 

Taglöhner  etc.     .    .    . 


16,00 

21,67 

20,00 

19,68 

27,00 
27,17 

21,83 
19,42 

21,68 

24,00 
28,00 

18,33 

21,68 
18,67 

20,00 
19,00 

20,42 
17,58 


14,42 

16,00 

14,58 
17,17 
15,67 
15,17 
14,42 

16,00 
14,00 

14,17 
15,33 
12,83 
15,42 

16,00 

13,17 
13,17 

16,00 
16,00 
13,00 

13,17 
18,83 
14,42 
13,17 

12,60 
14,17 
14,67 
11,67 


13,83 
16,67 

16,00 
16,00 

18,42 
17,42 
15,58 

15,58 
15,58 
15,83 

15,68 

22,00 

16,83 

20,00 

13,33 

15,58 
15,58 

16,00 
14,00 

19,83 
15,58 

14,83 
14,83 
17,33 
17,17 
14,42 
10,42 


32,50 
33,00 

29,00 

32,67 

29,00 

32,42 

31,00 

31,58 

26,00 
32,60 

31,33 

29,68 

29,00 

30,83 

29,17 

29,58 

32,00 
39,00 

29,68 

30,00 
31,00 
27,17 
29,00 

29,42 

29,17 
29,17 
20,00 


48-60 
36-48 
40-56 
48-72 
40-64 
40—60 
48-72 
40-60 
20-32 
40—56 
48-72 
40-56 
32—48 
36-52 
48—64 
48-64 
40—52 
60—100 
48-72 
40-60 
32-72 
48—60 
48-72 
48—72 
40—72 
40-56 
24—36 


(Zeitschr.  d.  preuss.  stat.  Bureau,  1879.  St.  C.) 

*)   Vergleicht   man   die   Durchschnittslöhne  mit  den 
wichtigsten  Nahrungsmittel,  so  ergibt  sich  u.  A.  Folgendes 
eines  gewöhnlichen  Taglöhners  reicht  hin  zur  Bestreitung  d 


Preisen  einiger  der 
.  Der  Wochenlohn 
es  Ankaufes  von: 


Haushofer,  Statistik.  2.  Aufl. 


354 


Di«  Andenstatistik  insbesondere. 


Brod 
engl.  Pfd. 


Rindfleisch 
engl.  Pfd. 


Butter 
engl.  Pfd. 


Kartoffeln 

Bushel 
a  35,3  Liter 


Eier 

in 

Dutzenden 


Belgien  .  . 
Deutschland 
Italien  .  .  . 
Spanien  .  . 
England  .  . 
New- York    . 


63,1 
55,5 

41,6 

41,3 

117,6 

126,3 


16,0 

15,9 
15,5 

16,0 
23,4 
50,0 


8,2 

12,6 

8,8 

6,4 

14,2 

20,5 


5,1 

5,6 

2,4 
2,7 

3,0 
4,0 


12,7 

14,0 

13,8 

10,7 

20,0 
21,0 


(Nach  der  oben  angegebenen  Quelle,  wobei  jedoch  für  New- York  die 
niedrigsten  Löhne  angenommen  wurden.  Trotzdem  ergibt  sich,  dass  in  New- 
York  die  Kauffähigkeit  des  Arbeiters  eine  weit  grössere  ist,  als  in  den  euro- 
päischen Ländern.) 

')  Statistische  Arbeiten  über  den  Lohn  sind  noch  sehr  spärlich  und  be- 
ziehen sich  blos  auf  einzelne  Länder  oder  Landestheile.  Das  Wichtigste  ist  wohl : 

L.  Levi:  Wages  and  Earnings  of  the  working  classes  etc. 

L.  Jacobi:  Die  Arbeitslöhne  in  Niederschlesien. 

Bela  Weisz:  Ueber  d.  Arbeitslohn  etc.  Zeitschr.  d.  preuss.  stat.  Bureau 
1876.  S.  235  ff. 


§.  172.  Die  Annenstatistik  insbesondere. 

Wie  die  verschiedenen  Abstufungen  des  Einkommens  überhaupt,  so 
ist  auch  die  Armuth  ein  durchaus  nicht  feststehender  Begriff.  Man  hat 
zwar  (Hausner)  die  Zahl  der  Armen  in  den  verschiedenen  Staaten  zu- 
sammengestellt; aber  diese  Zahlen  sind  nicht  vergleichbar.  Es  beweist  gar 
nichts,  wenn  für  Preussen  (1861)  ein  öffentlich  Unterstützter  auf  56,05 
Einwohner  und  für  Frankfurt  einer  auf  12,oi  Einwohner  angegeben  ist. 
Denn  weder  ist  der  Begriff  „öffentlich  Unterstützter"  überall  der  gleiche, 
noch  ist  zwischen  vombergehend  und  dauernd  Unterstützten  eine  Unter- 
scheidung getroffen. 

Der  Stand  der  Armenzahl  ist  demnach  vorerst  in  seinen  örtlichen 
Unterschieden  unvergleichbar  *). 

Dafür  gestattet  der  Gang  der  Armenzahl  eine  solche  Vergleichung. 
Einer  Tabelle  von  Emminghaus  *)  ist  in  dieser  Hinsicht  Nachstehendes  zu 
entnehmen.  Ein  Unterstützter  kam  auf  —  Einwohner: 


Die  Armenitatiatik  insbesondere. 


355 


lu  der 
Periode  von 


Am  Aufaug 

der  Periode 

auf 


Am  Schlüsse 

der  Periode 

auf 


Grossbritaunieu 

Preussen 

Kgr.  Sachseu 

Württemberg 

Bayern 

Niederlande 

Norwegen 

Belgien 

Frankreich 


Abnahme 

der 

Unterstützten 


Zunahme 


1855-68 
1849-61 
1856—64 
1855-64 
1855-67 
1854—66 
18Ö1-66 
1844—58 
1853-90 


20,8 
20,6 
54,9 
29,9 
38,9 

5,5 

24,4 

7 

35 


22,2 

56 

56,1 

52 

56,1 

6,6 

20 

6,9 

30,1 


Auch  die  Bewegung  der  Armenlast,  d.  b.  der  Ausgaben,  welche  zur 
Unterstützung  der  Armen  gemacht  werden,  ist  von  Wichtigkeit,  besonders 
unter  Berücksichtigung  des  Unterstützungssystems. 

Die  in  beiden  Beziehungen  (a.  a.  0.)  angestellten  Untersuchungen 
haben  ergeben,  dass  fast  überall  in  Europa  —  mag  die  Armenpflege 
welches  System  immer  haben  —  die  Zahl  der  öffentlich  Unterstützten  in 
den  letzten  20  Jahren  abgenommen  hat;  dass  die  Armenlast  theilweise 
gesteigert,  theilweise  erleichtert  worden  ist,  dass  die  öffentliche  Unter- 
stützung für  jeden  Armen  eine  dem  Geldbetrage  nach  reichlichere  ge- 
worden ist. 

Innerhalb  des  nämlichen  Gesetzgebungsgebietes  spiegelt  die  für  eine 
längere  Epoche  fortgeführte  Armenstatistik  die  Vorzüge  oder  Mängel 
einzelner  gesetzlicher  Bestimmungen,  die  Folgen  gesetzlicher  Aenderungen, 
bis  ins  Einzelne  zurück. 

Anmerkungen. 
*)  Villeneure-Bargemont  gibt  das  Verhältniss  der  Armen  (indigens)  und 
Bettler  (mendians)  für  die  verschiedenen  Staaten  Europa's  (1830)  also  an. 
£s  kommt  in: 


1  Armer 

1  Bettler 

1  Armer 

1  Bettler 

England 

auf    6 

117  Einw. 

Italien 

auf    25 

126  Einw. 

Niederlande 

„      7 

102 

T) 

Portugal 

„      25 

121       „ 

Deutschland 

„    20 

200 

n 

Spanien 

„      30 

154       „ 

Frankreich 

„    20 

166 

Ti 

Preussen 

„      30 

202       „ 

Schweiz 

„    10 

150 

n 

Schweden 

„      25 

243       „ 

Oesterreich 

„    25 

200 

T> 

Russland 

„    100 

1000       „ 

Dänemark 

„    25 

250 

W 

Die   Zahl    der   Bettler  zeugt   offenbar  ungleich  mehr  vom  Zustande  der 
Polizei,  als  von  dem  der  Armuth.  (Bernoulli,  Populationistik,  S.  73.) 

*)  A.  Emmiughaus:  Das  Armenwesen  u.  d.  Armengesetzgebung.  Berl.  1870. 


23 


356  IWö  Consumtion. 


Vm.  Capitel. 
Die   Consumtion. 


§.  173.  Im  Allgemeinen. 

Auch  bei  der  Betrachtung  der  Consumtion  kann  die  Statistik,  wie 
anderwärts,  den  Stand  und  den  Gang  der  bezüglichen  Erscheinungen 
unterscheiden. 

Die  Masse  der  consumirten  Güter,  selbstverständlich  in  relativen 
Ziffern,  d.  h.  mit  der  Zahl  der  Consumenten  verglichen,  drückt  sowohl 
das  Bedürfniss  aus  als  die  Möglichkeit  der  Bedürfnissbefriedigung.  Ergeben 
sich  Verschiedenheiten  der  Consumtion  in  verschiedenen  Zeiten  und  ver- 
schiedenen Räumen,  und  fragt  man  sich,  ob  diese  Verschiedenheiten 
hauptsächlich  durch  die  grössere  oder  geringere  Stärke  des  Bedürfnisses, 
oder  durch  die  verschiedene  Leichtigkeit  der  Bedürfhissbefriedigung  ver- 
ursacht werden,  so  muss  man,  um  diese  Frage  beantworten  zu  können, 
neben  der  Menge  der  Consumtion  auch  die  Preisveröchiedenheiten 
beobachten. 

Die  Bewegung  der  Gesammtconsumtion  wäre  ein  deutliches  Spiegel- 
bild des  gesammten  wirthschaftlichen  Lebens  eines  Volkes,  ist  indessen 
nur  durch  gewagte  Schätzungen  der  Statistik  zugänglich. 

Dagegen  kann  die  Consumtion  einzelner  wichtiger  Verbrauchsgegen- 
stände, namentlich  solcher,  welche  aus  dem  Auslande  eingeführt  oder  im 
Inlande  mit  einer  Productsteuer  belegt  sind,  vollkommen  ziffermässig  dar- 
gestellt werden.  Da  jeder  Consumtionsgegenstand  einem  anderen  Bedürf- 
nisse dient,  hat  die  statistische  Untersuchung  jedes  einzelnen  ein  besonderes 
Interesse.  Man  wird  dabei  nicht  nur  den  Stand  und  Gang  der  Consumtion 
zu  beobachten  haben,  sondern  auch  das  Verhältniss  zu  anderen  Consum- 
tionen  und  —  soweit  eine  Untersuchung  möglich  —  zur  Gesammtconsum- 
tion. Betrachtet  man  das  Verhältniss  einer  Consumtion  zur  anderen,  so 
kann  man  beobachten,  wie  manchmal  eine  Consumtion  die  andere  unter- 
stützt, befördert,  in  ihre  Lücken  einspringt,  oder  aber  sie  verdrängt. 
Selbstverständlich  ist  fast,  dass  nicht  die  absolute  Consumtion  allein  be- 
rücksichtigt werden  darf,  dass  es  vielmehr  weit  wichtiger  ist,  die  Con- 
sumtion der  verschiedenen  Verbrauchsgegenstände  auf  den  Kopf  der  Be- 
völkerung auszuschlagen  und  mit  diesen  Ziffern  zu  operiren,  und  dass,  um 
die  Ursachen  in  der  Bewegung  des  Güterverbrauches  aufzufinden,  die 
Consumtionsziffer  in  Zusammenhang  mit  möglichst  vielen,  ziffermässig  schon 


Ursachen  der  Verschiedenlieiten  der  Consamtion.  357 

dargestellten   Erscheinungen    des   wirthschaftlichen    und   des    allgemeinen 
Culturlebens  der  Völker  gebracht  werden  muss. 

§.  174.  ITrsaohen  der  Verschiedenheiten  der  GonsTuntion. 

Betrachtet  man  die  Einflüsse,  welche  sich  hinsichtlich  der  Consumtion 
der  verschiedenen  Verbrauchsgegenstände  geltend  machen,  so  steht  obenan 
der  Grundsatz:  je  ärmer  ein  Mensch  ist,  um  so  grösser  ist  jene  Quote 
seines  Einkommens,  welche  er  für  schlechterdings  unentbehrlichen  Ver- 
brauch auszugeben  pflegt.  Und  was  vom  Einzelnen  gilt,  gilt  auch  von 
ganzen  Völkern,  von  Landestheilen,  Ortschaften,  von  Bevölkerungsclassen. 
Bei  den  ärmeren  Classen  der  Bevölkerung  betragen  die  nothwendigsten 
Lebensbedürfnisse  (Nahrung,  Kleidung,  Wohnung,  Feuer  und  Licht,  Werk- 
zeug und  Geräth)  95  ^  der  Gesammtconsumtion ,  bei  wohlhabenden 
Familien  nur  etwa  85  % ,  bei  Reichen  noch  weit  weniger  *). 

Ganz  besonders  wächst  mit  dem  Einkommen  die  verhältnissmässige 
Grösse  der  Ausgaben  für  Wohnung,  Bedienung  und  Geselligkeit. 

Vom  grössten  Einflüsse  auf  die  Bewegung  der  Consumtion  bei  den 
verschiedenen  Verkehrsgegenständen  ist  der  Gang  der  allgemeinen  Ge- 
sittung. 

In  rohen  Zeiten  und  bei  rohen  Völkern  ist  auch  die  Consumtion 
eine  rohe;  die  Massenhaftigkeit  des  Verbrauches  überwiegt;  dagegen  fehlt 
die  Mannigfaltigkeit  und  Feinheit  der  Verbrauchsgegenstände.  Fortschritte 
der  Civilisation  und  der  Verbrauch  feinerer  Waaren  gehen  Hand  in  Hand. 
So  ist  man  mit  der  steigenden  Cultur  fast  überall  zum  Genüsse  feineren 
Brodes  übergegangen  *).  Ebenso  vermehren  Culturfortschritte  die  Fleisch- 
consumtion,  die  aus  demselben  Grunde  in  den  Städten  weit  grösser  zu 
sein  pflegt,  als  auf  dem  Lande. 

Sorgfältige  und  complicirte  Angaben  über  den  Verbrauch  an  Mehl, 
Brod,  Fleisch,  Milch,  Kartofi'eln,  Gemüsen  und  anderen  Hauptnahrungs- 
mitteln wären  erforderlich,  um  ein  genaues  Bild  der  Ernährung  der  ver- 
schiedenen Völker  zu  erhalten.  Die  vorhandenen  zeigen  nur,  dass  die 
Massen  der  consumirten  Hauptnahrungsmittel  in  keinem  ersichtlichen  Zu- 
sammenhange mit  der  nationalen  Gesittung  stehen.  Eher  könnte  dies  der 
Fall  sein  bei  jenen  Nahrungsmitteln,  welche  mehr  Luxusgegenstände  sind. 
Aber  niemals  darf  man  aus  dem  verschiedenen  Verbrauch  eines  einzelnen 
Consumtionsgegenstandes  einseitige  Schlüsse  auf  Civilisation  und  Wohl- 
stand ziehen.  So  hat  man  den  Zuckerverbrauch  als  Massstab  des  Wohl- 
standes oder  gar  der  Gesammtcultur  gebraucht;  aber  gewiss  mit  Unrecht. 
Jedes  Volk  hat  einen  oder  mehrere  Lieblingsgegenstände  des  Ver- 
brauches. Die  Natur  seiner  Heimath  und  die  nationale  Production  geben 
meistens  die  Richtungen  dieser  Lieblingsobjecte  an. 


358  Ursachen  der  Verschiedenheiten  der  Oonsnmtion. 

Dies  zeigt  sich  namentlich,  wenn  man  'die  Consumtion  von  Reiz- 
mitteln, Tabak,  geistigen  Getränken  etc.  beobachtet.  So  excellirt  Holland 
im  Kaffeeverbraach.  Die  Ursache  davon  liegt  nur  in  dem  asiatischen 
Colonialbesitz  der  Niederlande  und  seiner  starken  Kaffeeproduction. 

Ebenso  ist  es  mit  dem  Ghokoladeverbrauch ,  hinsichtlich  dessen 
Spanien  sich  auszeichnet.  Auch  hier  ist  der  ehemalige  Colonialbesitz 
Spaniens  in  Mittel-  und  Südamerika  Ursache  dieser  nationalen  Consumtion. 
Die  Colonien  sind  zwar  verloren  gegangen,  aber  die  Vorliebe  für  Chokolade 
hat  sich  erhalten.  So  ist  es  in  verschiedenen  Fällen  die  Leichtigkeit  der 
Production  und  des  Bezuges,  welche  gewisse  Consumtionen  zur  nationalen 
Sitte  werden  lässt,  in  manchen  Fällen  aber  auch  das  Klima,  welches  den 
Menschen  einzelne  Verbrauchsartikel  aufdrängt.  Manchmal  zieht  auch  ein 
beliebt  gewordener  Artikel  die  Consumtion  eines  anderen  nothwendig  mit 
sich  (z.  B.  Theo  und  Kaffee  den  Zucker). 

Andere  Consumtionsunterschiede  lassen  freilich  ganz  klar  auf  grosse 
Verschiedenheiten  entweder  des  nationalen  Reichthums  oder  der  Sitte 
schliessen.  Vor  einem  Vierteljahrhundert  verbrauchte  England  an  Seiden- 
waaren  über  halb  so  viel,  als  das  ganze  übrige  Europa,  ein  Engländer 
über  5 — 6mal  so  viel  als  ein  Franzose,  obgleich  England  kein  Pftmd 
rohe  Seide  erzeugt.  In  England  kommt  eine  jährliche  Consumtion  von 
24  Pfd.  Baumwolle  auf  den  Kopf;  in  der  Türkei  nur  2 — 272  (Röscher). 

Veränderungen  der  Consumtion  im  Laufe  der  Zeit  werden  am  deut- 
lichsten, wenn  man  die  Aenderung  im  Procentverhältniss  zum  früheren 
Stande  darstellt  und  dabei  eine  Reihe  von  Consumtionsgegenständen  ver- 
gleicht, zugleich  auch  die  Bewegung  der  Bevölkerung  daneben  stellt.  So 
stieg  in  Deutschland  die  Bevölkerung  von  1834  bis  1847  um  25,8  Jli; 
dagegen  die  Einfuhr  von  Zucker  um  147,5;  Kaffee  um  117,5;  von  Ge- 
würzen um  58,2;  von  Südfrüchten  um  34,5;  von  Cacao  um  246,2^. 

Gelänge  es,  sehr  zahlreiche  derartige  Beobachtungen  anzustellen,  so 
dass  die  Mehrzahl  aller  jener  Verbrauchsgegenstände  hereingezogen  würde, 
welche  von  einer  geläuterten  wirthschaftlichen  Anschauung  als  wirklich 
zum  Wohlsein  der  Menschheit  beitragende  erkannt  sind:  dann  läge  in 
einer  stetigen  Zunahme  dieser  Consumtion  jedenfalls  ein  Erstarken  eines 
der  Factoren  des  menschlichen  Glücks.  Eine  solche  Zunahme  der  Con- 
sumtionsgegenstände  scheint  auch  in  der  That,  und  zwar  sehr  energisch 
stattzufinden.  Wächst  aber  mit  diesem  einen  Factor  das  gesammte  Glück 
der  menschlichen  Gesellschaft? 

Aumerkaugeu. 
*)    Das   zeigen    Zusammeustelluugen   von   Diicpetiaux  und  Engel,    nach 
welchen  das  Procentverhältniss  unter  den  Familienausgaben  für  nachfolgende 
Cousumtionszwecke  folgendes  ist: 


Die  wi^ehtigsten  Consamtionsartikel. 


359 


Consumtionszwecke 


Nahrung 

Kleider 

Wohnung 

Feuer  und  Licht  .  . 
Geräth,  Werkzeuge  . 
Erziehung,  Unterricht 
Oeflfent liehe  Sicherheit 
Gresundheitspflege  .  . 
Persönliche  Dienste    • 


Ausgaben  einer 


bemittelten  Arbeiter- 
familie in 


Belgien 
Proc. 


61 

15 

10 

5 

4 

1 
1 
1 


95 


Sachsen 
Proc. 


62 

16 

12 

5 

2 
1 
1 
1 


95 


Familie  des 

Mittel- 
standes in 
Sachsen 
Proc. 


55 

18 

12 

5 

3,5 

2 
2 

2,6 


90 


10 


wohlhaben 

den  Familie 

in  Sachsen 

Proc. 


50 

18 

12 

5 

5,5 

3 
3 

3,5 


85 


15 


')  In  Frankreich  betrug  die  Zahl  der  Weissbrodesser  im  J.  1700  =  33^ 
der  Bevölkerung,  1760  =  iO%,  1764  «  39,  1791  =  37,  1811  =  42,  1818  =  45, 
1839  =  ßO%  (Röscher): 


§.  175.  Die  wichtigsten  Constuntionsartikel. 

Geht  man  auf  die  Betrachtang  einzelner  Consamtionsartikel  ein,  so 
werden  theils  die  im  vorigen  Paragraphen  ausgesprochenen  Sätze  bestätigt, 
theils  aber  auch  neue  Gesichtspunkte  gewonnen. 

Folgende  Consumtionsartikel  dürften  besonderes  Interesse  verdienen: 

I.  Getreide,  Mehl  und  Brod.  Der  Verbrauch  hievon  kann  offen- 
bar für  sich  allein  nicht  zu  einem  Massstabe  der  Wohlhabenheit  ge- 
nommen werden,  da  er  nur  einen,  wenn  auch  wichtigen  Bruchtheil  der 
Volksemährung  respräsentirt.  Da  die  Länder  nicht  die  gleichen  Haupt- 
nahrungsmittel haben,  und  der  Minderverbrauch  an  Weizen  und  Roggen 
in  einem  Lande  durch  einen  Mehrverbrauch  an  Mais,  anderwärts  durch 
Hülsenfrüchte,  Kartoffeln  etc.  ausgeglichen  wird,  darf  man  aus  der  ver- 
schiedenen Getreideconsumtion  gar  keinen  zuverlässigen  Schluss  auf  die 
Volksemährung  ziehen  —  abgesehen  davon,  dass  die  Erhebungen  über 
die  gesammte  inländische  Getreideproduction  überall  nur  unsichere  Resul- 
tate ergeben  können,  und  deshalb  nur  mit  grösster  Vorsicht  benützt 
werden  können  *). 

H.  Fleisch.  Aehnlich,  wenn  auch  vielleicht  um  ein  weniges  besser, 
ist  es  mit  der  Statistik  des  Fleischverbrauches  beschaffen.  Aber  auch  hier 
stösst  man  auf  die  grössten  Schwierigkeiten.  Denn  wenn  auch  die  Zahl 
der  im  Lande  befindlichen  Hausthiere,   sowie  der  ein-  und  ausgeführten 


360  I)ie  wichtigsten  Consniationsartikel. 

Stücke  mit  Sicherheit  ermittelt  werden  kann,  so  gibt  dies  nnr  sehr  un- 
sichere Anhaltspunkte  für  die  Ermittelung  des  Fleischgewichts  und  der 
Consumtion  *)  *). 

in.  Zucker,  Kaffee,  Thee  und  andere  Colonialwaaren  sind 
die  Gegenstände,  deren  Consumtion  sich,  weil  dieselben  entweder  von 
auswärts  eingeführt  oder  im  Inlande  versteuert  werden,  am  leichtesten 
nachweisen  lässt. 

Der  Verbrauch  an  Zucker  ist  erheblich  im  Zunehmen.  Er  betrug 
z.  B.  im  deutschen  Zollverein  im  J.  1828  gegen  3,32,  dagegen  im  J.  1869 
schon  10,u  Zollpfund  pro  Kopf*);  in  Frankreich  in  den  Jahren  1812 — 16 
erst  7a  Kilogr.,  1867 — 73  dagegen  6  Kilogr.  *).  Heutzutage  weisen  die 
civilisirten  Länder  in  dieser  Hinsicht  ganz  erhebliche  Verschiedenheiten  auf*). 

Steigerung  des  Verbrauches  zeigen  auch  Kaffee,  Thee,  Reis, 
Südfrüchte,  Gewürze,  Petroleum  etc.').  Nur  darf  man  nicht  aus 
der  verschiedenen  Consumtion  jedes  einzelnen  dieser  Artikel  ohne  weiteres 
Schlüsse  auf  den  Wohlstand  der  Bevölkerungen  ziehen.  Gewiss  lässt  sich 
indessen  annehmen,  dass  von  manchen  hochwichtigen  Artikeln,  z.  B. 
Zucker,  Kaffee,  Thee  etc.,  die  wohlhabenden  und  reichen  Familien  bisher 
schon  so  viel  genossen,  als  sie  überhaupt  zu  geniessen  Lust  hatten,  dass 
also  eine  Steigerung  des  Verbrauches  auf  die  minder  bemittelten  Volks- 
classen  trifft  *)  •). 

IV.  Das  Salz,  als  ein  hochwichtiger  Consumtionsartikel,  ist  durch 
das  Streben,  seinen  Verbrauch  für  Steuerzwecke  zu  benützen,  gleichfalls 
für  die  Statistik  zugänglich  geworden.  Man  darf  wohl  annehmen,  dass 
sich  die  Salzconsumtion  im  Allgemeinen  vermehrt  hat,  in  welcher  Form 
dies  aber  geschehen  ist,  dürfte  zweifelhaft  sein  *®).  So  sehr  man  sich  zu 
der  Annahme  gediängt  fühlt,  die  Salzconsumtion  müsste  von  Jahr  zu  Jahr 
die  denkbar  gleichmässigste  Höhe  erreichen,  weist  sie  doch  Schwankungen 
auf,  welche  relativ  bedeutend  sind. 

V.  Geistige  Getränke.  Auf  die  örtlichen  und  zeitlichen  Ver- 
schiedenheiten ihres  Verbrauches  müssen  nothwendigerweise  sehr  mannig- 
fache Umstände  einwirken:  diejenigen  Bedingungen,  welche  die  Production 
oder  Zufiihr  erleichtem  oder  erschweren;  die  Schwankungen  der  gesammten 
Consumtionsfähigkeit,  aber  auch  polizeiliche  und  Besteuerungsmassregeln; 
dazu  die  mächtige  und  tiefgewurzelte  Volkssitte. 

Die  Weinconsumtion  muss  begreiflicher  Weise  in  jenen  Ländern 
und  Gegenden  am  bedeutendsten  sein,  wo  am  meisten  producirt  wird**). 
Es  müssen  aber  auch,  der  verschiedenen  Ergiebigkeit  der  Jahrgänge  ent- 
sprechend, die  Consumtionsmengen  der  einzelnen  Jahrgänge  sehr  bedeu- 
tend schwanken.  Letzteres  zeigt  sich  namentlich  in  Frankreich,  dem  be- 
deutendsten aller  Weinländer.     Für  längere  Perioden  lassen  sich  jedoch 


Die  wichtigsten  Gonsomtionsartikel.  361 

die  Ziffern  nicht  leicht  vergleichen,  weil  neben  der  Ergiebigkeit  der  Jahr- 
gänge sich  die  verschiedene  Höhe  der  Besteuerung  zu  sehr  fühlbar  macht. 
Die  Bierconsumtion  macht  selbst  in  Weinländem  entschiedene 
Fortschritte.  Als  Massengetränk  tritt  indessen  das  Bier  doch  nur  in  wenigen 
Ländern  auf.  Die  Consumtion  stellt  sich  (nach  Block)  in  Grossbritannien 
am  höchsten,  mit  139  Liter  pro  Kopf.  Dann  folgen  Belgien  mit  138, 
Bayern  mit  125,  Württemberg  mit  91,  die  Schweiz  mit  85,  die  Nieder- 
lande mit  39,  Sachsen  mit  31,  Oesterreich  mit  24,  Preussen  mit  20  Liter. 
Auf  Schweden  treffen  10,  Russland  6,  Spanien  2,  Italien  1  Liter.  In 
Deutschland  nach  officiellen  Erhebungen  88,3  (1872 — 80).  In  diesen  acht 
Jahren  hob  sich  der  Consum  von  81,4  Liter  im  J.  1872  auf  93,i  im 
J,  1875  und  fiel  wieder  auf  82,3  im  J.  1879/80.  Die  Schwankungen  sind 
demnach  ziemlich  bedeutend  und  scheinen  die  wirthschaftliche  Lage  der 
arbeitenden  Bevölkerung  deutlich  zu  spiegeln. 

VI.  Tabak.  Die  Gründe,  welche  die  mannigfachen  örtlichen  Unter- 
schiede des  Tabakverbrauches  verursachen,  sind  schwer  zu  enträthseln. 
In  dieser  Hinsicht  scheint  die  Volkssitte  ziemlich  launenhaft.  Sie  scheint 
in  einzelnen  Ländern  ein  gewisses  Maximum  erreicht  zu  haben  (so  nament- 
lich in  Belgien,  den  Niederlanden,  Deutschland),  während  sie  anderwärts 
noch  bestrebt  ist,  den  Tabakverbrauch  rasch  zu  vermehren  (insbesondere 
in  England).  Die  Consumtionsmengen  der  einzelnen  Jahre  zeigen  innerhalb 
eines  Consumtionsgebietes  sehr  bedeutende  Schwankungen  **). 

Vn.  Andiere  Consumtionsgegenstände  gestatten  zwar  gleichfalls 
noch  eine  ziffermässige  Betrachtung  ihres  Verbrauches,  namentlich  die 
Rohstoffe  der  Textilindustrie,  die  Bergwerksproducte  u.  A.  Doch  geben 
die  bezüglichen  Zahlen  zunächst  nur  einen  Einblick  in  die  Thätigkeit  der 
Industrie,  und  nur  sehr  mittelbar  in  die  Bedürfnissbefriedigung  des  Con- 
sumentenpublikums.  Der  Bestand  vertheilt  sich  durch  zahllose  Canäle  in 
die  Werkstätten  der  Industrie  und  in  die  Waarenlager  der  Kaufleute; 
wann  und  von  wem  seine  endliche  Consumtion  erfolgt,  ist  nicht  mehr  zu 
unterscheiden. 

Aumerkuugeu. 
*)  Von  diesem  Gesichtspunkte  aus  sind  folgende  Angaben  über  Getreide- 
consumtion  zu  beurtheilen.    M.  Block    (Stat.  de  la  France,  II.  394)  gibt  die 
Getreideconsumtion  für  ein  Jahr  (welches?)  auf  den  Kopf  der  Bevölkerung  an: 

in  Belgien  l,io  Hectol. 

Italien  1,40       „ 

der  Schweiz  0,78       „ 

den  Vereinigten  Staaten   1,50       „ 

Neuere  Angaben  desselben  (Traite  de  Stat.  514)  erhöhen  die  Consumtion 
in  Grossbritanuien  auf  2,  in  Frankreich  auf  2,2  Hectol.  —  Im  Deutschen  Reiche 


in  Grossbritannien 

1,80  Hectol. 

„  Russland 

0,69         „ 

„  den  Niederlanden 

0,75          „ 

„  Preussen 

0,64          „ 

„  Oesterreich 

0,77          „ 

362 


Die  wichtigsten  Gonsnmtionsartikel. 


betrug  d878  die  Consumtion  pro  Kopf:    65  Kilogr.   Weizen,    180   Kg.   Roggen, 
55  Kg.  Gerste,  525  Kg.  Kartoffeln.    (Block-y.  Scheel  a.  a.  0.  339.) 

*)  M.  Block  (Traite  de  Stat.  514)  berechnet  deu  JahrescoQsuin  an  Fleisch 
pro  Kopf; 

Kilogr. 


in  Grossbritannien 

39,4 

Küogr. 

in  Oesterreich 

20 

„  Frankreich 

30 

r» 

„  Russland 

20 

„  Mecklenburg 

29 

fl 

„  Sachsen 

19 

„  Baden 

25,4 

n 

„  Preussen 

18,9 

„  der  Schweiz 

23 

•n 

„  den  Niederlanden 

18,2 

„  Dänemark 

22,6 

« 

„  Belgien 

18- 

„  Bayern 

21,9 

n 

„  Italien 

13 

„  Schweden 

20,2 

w 

„  Spanien 

12,9 

*)  Aus  vereinzelten  Nachrichten  über  die  Ernährungsweise  des  germani- 
scheu  Alterthums  und  des  Mittelalters  lässt  sich  entnehmen,  dass  damals  der 
durchschnittliche  Fleischconsum  weit  stärker  gewesen  sei  als  heutzutage.  Nürn- 
berg scheint  um  1520  eine  Fleischconsum tion  von  150—200  Pfund  pro  Kopf 
gehabt  zu  haben.  (Schmoll er,  in  der  Zeitschr.  für  die  ges.  Staatswissenschafb, 
1871.  S.  291.) 

*)  Neumann-Spallart:  Jahrb.  f.  Nationalökonomie  etc.  XVm.  S.  302. 

*)  M.  Block:  Stat.  de  la  France,  II.  410. 

*)  Ebenda  findet  sich  folgende  Yergleichung  des  jetzigen  Consums.  Auf 
den  Kopf  treffen  Kilogr.  (1873)  in: 

4,50 
4,4ß 
4,29 
4,25 

4 

2,70 
2,61 
2,50 
1,50 

Bezüglich  Deutschlands  ist  die  Angabe  zw.  niedrig;   nach    den   officiellen 
Erhebungen  kommt  hier  für  1873/74  eine  Consumtion  von  7,2  Kilogr.  auf  den 
Kopf,  für  die  achtjährige  Periode  von  1871—79  ein  solcher  von  6,5  Kilogr.    — 
Für  1876  gibt  Neumann-Spallart  (Uebersichten  1880,  S.  122)  an: 
Grossbritannien  26,5  Kilogr.  1  Frankreich  7,3  Kilogr. 

Deutsches  Reich  7,6       „       I  Vereinigte  Staaten  16,2       „ 

^)  Im  Deutschen  Reiche  stieg  die  Kopf  consumtion  bei  folgenden  Import- 
artikeln im  angegebenen  Maasse: 


Grossbritannien 

17,40 

Portugal 

den  Vereinigten  Staaten 

12,60 

Italien 

Frankreich 

11,30 

Spanien 

den  Hansestädten 

9,10 

Norwegen 

„    Niederlanden 

7,43 

Schweden 

Dänemark 

6,25 

Griechenland 

Belgien 

5 

Russland 

Deutschland 

5 

Oesterreich 

der  Schweiz 

4,80 

der  Türkei 

1860 

1879 

Kaffee 

1,81 

2,51 

Kilogr. 

Thee 

0,02 

0,06 

w 

Reis 

0,90 

1,84 

Vi 

Häringe 

1,51 

2,16 

r> 

Frische  Südfrüchte 

0,08 

0,18 

r> 

Trockene      „ 

0,24 

0,43 

n 

Gewürze,  ausländ. 

0,09 

0,15 

•n 

Petroleum 

0,90 

5,68 

n 

Die  wlcbtissten  ConsamtionsArtikel. 


363 


")  Beu  Kaffeeyerb rauch  yeranschlagt  Block  (Stat.  de  France,  IL  412) 
für  4873  auf  folgende  Kopfrationen  (in  Kilogr.): 


Niederlande 

6,3 

Norwegen 

2,0 

Belgien 

4,7 

Schweden 

1,9 

Vereinigte  Staaten 

4,0 

Oesterreich 

0,78 

Dänemark 

3,3 

Grossbritannien 

0,5 

Schweiz 

3,0 

Spanien 

0,16 

Deutschland 

2,2 

Russland 

0,07 

•)   üeber   den 

Verbrauch   an    Thee   und   Cacao   gibt 

derselbe   folgende 

Nachrichten  (S.  414). 

Der  Kopf  consumirt  Gramm: 

Thee 

Cacao 

Thee 

Cacao 

Spanien 

— 

426 

Russland 

98 

1 

Vereinigte  Staaten 

310 

800 

Belgien 

9 

52 

Grossbritannien 

1680 

210 

Schweden 

15 

— 

Deutschland 

45 

25 

Dänemark 

100 

— 

Oesterreich 

6 

14 

Niederlande 

400 

70 

Italien 

2 

56 

Norwegen 

5 

— 

Frankreich 

7 

205 

")  Den  Salzyerbrauch  gibt  IM 

.  Block  (Stat.  de  Fr. 

415)  wie  folgt  an 

(pro  Kopf  in  Kilogr.) 

Frankreich 

8,50 

Deutschland 

7,50 

Belgien 

8,70 

Schweiz 

4,99 

Russland 

9,86 

Spanien 

6,39 

Grossbritannieu 

20,60 

Portugal 

5,20 

Oesterreich 

8,30 

Italien 

10,00 

Selbstyerständlich  ist  hiermit  blos  das  eigentliche  Speisesalz  gemeint. 
Die  Quantität  des  zur  Viehnahrung  und  zu  industriellen  Zwecken  yerbrauchten 
Salzes  ist  grösser.  Im  deutschen  Zollgebiet  betrug  nach  den  officiellen  Er- 
hebungen im  Durchschnitt  der  10  Jahre  1870—80  die  Consumtion  yon  Speise- 
salz 7,8,  yom  anderen  Salze  12,4  Kilogr.  pro  Kopf. 

")  Für  die  neueste  Zeit  wird  die  Weinconsumtion  wie  folgt  angegeben. 
Auf  den  Kopf  treffen  jährlich  Liter  in: 


Frankreich 

217 

Preussen                           2,3 

Italien 

120 

Dänemark                         0,9 

Schweiz 

59 

Grossbritannieu                2,3 

Oesterreich 

53 

Norwegen                         0,6 

Spanien 

30 

Schweden                        0,8 

Württemberg 

18,9 

Russland                          0,3 

Niederiande 

4 

Belgien                            0,8 

(Block  a.  a.  0.) 

")    Ebenda   findet 

sich    der  Tab 

a.kyerbrauch  wie  folgt  angegeben. 

den  Kopf  treffen  jährlich 

Gramm  in: 

Belgien 

2500 

Russland                         833 

Niederlande 

2000 

Italien                            571 

Oesterreich 

1245 

Spanien                          490 

Norwegen 

1025 

Schweden                       340 

Dänemark 

1000 

England                         620 

Ungarn 

939 

Frankreich                     822 

Auf 


364  BevMkerang  nnd  wirtbschaftliches  Leben. 

Im  Deutschen  Beiche  ergibt  (officiell)  der  Jahresdurchschnitt  von  1871—80 
einen  Kopfconsum  von  1850  Gramm.  Derselbe  stieg  im  J.  1872/73  auf  2600, 
1878/79  gar  auf  2800  Gramm  und  sank  1879/80  wieder  auf  750  Gramm.  Für 
die  Consumtion  der  Bevölkerung  aber  kann  (wegen  des  Vorraths)  nur  der 
Durchschnitt  mehrerer  Jahre  massgebend  sein.   Er  beträgt  1850  Gr. 


IX.  Capitel. 

Bevölkerung  und  wirthscliaftliclies  Leben. 


§.  176.  ITebersicht. 

Wir  haben  die  Bevölkerung  und  ihr  wirthschaftliches  Leben,  jedes 
gesondert,  statistisch  aufzufassen  versucht.  Das  schwerste  bleibt  übrig:  die 
Aufgabe  nämlich,  das  wirthschaftliche  Leben  der  Bevölkerung  mit  ihrem 
Stand  und  Gang  in  ursächlichen  Zusammenhang  zu  bringen  und  die  Ge- 
setze zu  untersuchen,  naqh  welchen  die  diesem  Zusammenhang  angehören- 
den Erscheinungen  sich  gestalten.  Die  grossen  und  dunklen  Fragen,  welche 
diesem  Gebiete  angehören,  fast  man  zusammen  unter  dem  Ausdrucke 
Bevölkerungstheorie. 

Man  kann  die  Bevölkerung  eines  bestimmten  Gebietes  nicht  nur 
mit  dem  Flächeninhalt  desselben  vergleichen,  sondern,  was  weit  bedeut- 
samer ist,  mit  der  Productionsfähigkeit  des  von  der  fraglichen  Bevölkerung 
bewohnten  Gebietes. 

Die  Möglichkeit  einer  ziffermässigen  Vergleichung  scheitert  jedoch 
bis  jetzt  daran,  dass  es  unmöglich  ist,  die  Productionsfähigkeit  eines  Ge- 
bietes zum  ziffermässigen  Ausdruck  zu  bringen.  Denn  die  Productions- 
fähigkeit eines  Gebietes  wird  bedingt  durch  die  überaus  mannigfaltigen 
Factoren  der  Production,  welche  diesem  Gebiete  angehören.  Von  diesen 
Productionsfactoren  sind  die  nationalen  Capitalien  und  Arbeitskräfte  allen- 
falls einer  Messung  zugänglich,  die  freien  Güter  und  Naturkräfte  nicht. 
Auch  bietet  sich  für  die  Unmöglichkeit  einer  Messung  der  Productions- 
factoren durchaus  kein  Ersatz  in  der  wirklichen  Production,  welche  viel- 
fach der  Productionsfähigkeit  keineswegs  entspricht.  Man  müsste,  um  die 
Bevölkerungen  der  verschiedenen  wirtHschaftHchen  Gebiete  auf  ihr  Ver- 
hältniss  zur  Productionsfähigkeit  zu  prüfen,  zuerst  eine  Bonitirung  der 
Gebiete  vornehmen  unter  Berücksichtigung  aller  natürlichen  und  histo- 
rischen Productionsfactoren  derselben.  Klima,  Bodenconfiguration,  Bewässe- 
rung, Bodenbeschaflfenheit,  Bewaldung,  Mineralreichthum,  natürliche  Ver- 
kehrswege;   das   nationale  Capital    in    seinem   ganzen  Umfange   und   die 


Yerachiedene  Möglichkeiten  der  Zustande.  365 

geschiclitliche  Entwickelung  in  ihrer  ganzen  Bedeutung,  ja  sogar  die  wirth- 
schaftlichen  Verhältnisse  der  Nachbarländer;  endlich  die  Ausbildung  und 
Masse  der  nationalen  Arbeitskraft:  all  das  müsste  dabei  berücksichtigt 
werden.  Und  um  aus  all  diesen  Factoren  ein  arithmetisches  Mittel  der 
Productionsfahigkeit  ziehen  zu  können,  müsste  die  Bedeutung  jedes  ein- 
zelnen gegenüber  allen  übrigen  fixirt  werden. 

Man  sieht,  wenn  irgendwo,  muss  sich  hier  die  Untersuchung  mit 
Schätzungen  und  Vermuthungen  durchhelfen.  Sie  kann  ihr  Ziel  bezeichnen, 
aber  sie  erklärt  zugleich,  dass  die  Entfernung  von  diesem  Ziele  noch  un- 
ermesslich  ist. 

Aumerkuug. 

Von  der  reichen  Literatur  dieser  zwischen  BeTölkeiniugsstatistik  und  Be- 
völkeningspolitik  vermittelnden  Fragen  wäre  Folgendes  das  wichtigste: 
R.  Malthus :  An  inquiry  iuto  the  principle  of  population  1798. 
D.  Hume:  of  the  populonsness  of  ancient  nations.  In  den  Essays,  Band  II. 
B.  Franklin:  Obserrations  conc.  increase  of  maukind. 
Thornton:  Overpopulation  and  its  remedy.  1846. 
Mill:  Principles  of  political  economy.  1848. 
Garnier:  Du  principe  de  population. 
Sadler:  The  law  of  population.  1830. 
Carey:  Principles  of  social  science.  1859. 
Alison:  The  principle  of  population.  1840. 
Hoffmann:  Ueber  die  Besorgnisse,    welche  die  Zunahme  der  Bevölkerung 

hervorruft.  1835. 
Schmidt:  Untersuchungen  über  Bevölkerung  etc.  1836. 
V.  Mangold:  Art.  Bevölkerung  in  Bluntschli''s  Staats  Wörterbuch. 
Gerstner:  Die  Bevölkerungslehre.  1864. 
Röscher:  Grundlagen  der  Nationalökonomie.  1864. 
Mohl:  Polizei  wissen  Schaft.  1866. 

§.  177.  Verschiedene  Möglichkeiten  der  Zustände. 

Thatsächlich  sind  drei  verschiedene  Verhältnisse  der  Bevölkerung 
zur  Ausdehnung  und  Productionsfahigkeit  ihres  Landes  möglich,  nämlich: 

I.  Die  Bevölkerung  ist  so  dünn,  dass  nach  der  natürlichen  Be- 
schaffenheit des  Bodens  leicht  eine  grössere  Anzahl  Nahrung  fände.  Ein 
solches  relativ  geringes  Bevölkerungsverhältniss  findet  seinen  Ausdruck 
darin,  dass  fruchtbarer  Boden  niedrig  im  Preise  steht;  die  Landgüter  sind 
durchschnittlich  gross,  die  Bewirthschaftung  derselben  mehr  eine  extensive 
als  intensive,  die  Wohnorte  spärlich  und  weit  von  einander  entfernt;  Fabriks- 
ßtädte  bestehen  wenige  oder  keine;  es  findet  regelmässige  Ausfuhr  von 
Getreide  oder  Producten  der  Viehzucht  statt.  Solche  Bevölkerungsver- 
hältnisse weisen  in  Europa  Russland,  Rumänien,  die  Türkei,  das  trans- 
leithanische  Oesterreich  auf;  in  Asien  fast  der  ganze  Welttheil  mit  Aus- 


366  Verschiedene  Möglichkeiten  der  Znst&nde. 

nähme  des  eigentlichen  China,  Japans,  Ostindiens;  ferner  ganz  Amerika  mit 
Ausnahme  der  nordöstlichen  ünionsstaaten;  Afrika  und  Australien.  Bei 
solchen  Verhältnissen  ist  es  dem  Einzelnen,  falls  er  Arbeitslust  und 
Arbeitskraft  besitzt,  leicht,  sich  die  nöthigen  Nahrungsmittel  zu  ver- 
schaffen, die  Erwerbung  von  Grundbesitz,  der  Betrieb  ausgedehnter  Vieh- 
zucht oder  lucrativen  Bergbaues  nicht  schwierig.  Dagegen  werden  die 
natürlichen  Reichthumsquellen  des  Bodens  nicht  vollständig  ausgenützt; 
die  Industrie  findet  in  der  Seltenheit  der  Arbeiter  und  dem  oft  hohen 
Arbeitslohne  bedeutende  Schwierigkeiten ;  Handel  und  Verkehr  sind  wegen 
der  unzureichenden  Verkehrsmittel  und  der  geringen  Consumtion  beschränkt. 

II.  Die  Bevölkerung  ist  dichter,  als  sie  nach  der  Productionsfähigkeit 
des  Bodens  sein  sollte;  es  ist  der  Zustand  einer  üebervölkerung  ge- 
geben. Er  findet  seinen  Ausdruck  darin,  dass  im  Lande  die  ganze  bau- 
würdige Oberfläche  in  Privatbesitz  genommen,  der  Boden  in  kleine  und 
kleinste  Zwergwirthschaften  zersplittert  ist;  dass  Waldungen  und  Weiden 
auf  das  noth wendigste  beschränkt,  grosse,  namentlich  Fabriksstädte  vor- 
handen sind.  Dabei  ist  die  Volksdichtigkeit  an  sich  eine  grosse,  auch 
in  mittleren  Jahren  Einfuhr  von  Lebensmitteln  nöthig,  Auswanderungen 
häufig. 

Die  Rohstofiproduction  ist  hier  aufs  höchste  gesteigert,  die  Boden- 
cultur  intensiv;  der  vom  Landbau  nicht  genährte  Theil  der  Bevölkerung 
füllt  Werkstätten  und  Fabriken;  die  Noth  erzwingt  wohlfeile  und  über- 
mässig angestrengte  Arbeit.  Der  Verkehr  ist  flott;  die  Arbeitstheilung 
höchst  ausgebildet.  Bei  all  dem  herrscht  Elend  und  Mangel;  die  Lebens- 
mittel sind  theuer,  die  Sterblichkeit,  namentlich  unter  den  Kindern  gross. 
Noth  und  Verzweiflung  erzeugen  Verbrechen,  Bettel  und  proletarische 
Laster  aller  Art. 

III.  Die  Bevölkerung  hat  die  richtige,  der  Productionsfähigkeit  ihres 
Gebietes  entsprechende  Dichtigkeit.  Man  hat,  um  zu  beobachten,  ob  dies 
der  Fall  ist,  namentlich  drei  besondere  Kennzeichen  zur  Beachtung 
empfohlen. 

Als  ein  besonders  glückliches  Symptom  ist  der  Neubau  von  Häusern 
anzusehen,  d.  h.  eine  die  Volksvermehrung  übersteigende  Häufigkeit  des 
Häuserbaues  —  vorausgesetzt,  dass  es  sich  nicht  um  leichtsinnige  Bau- 
speculationen  handelt. 

Ferner  ist  ein  gutes  Zeichen,  wenn  die  mittlere  Lebensdauer  eine 
hohe  ist,  wenn  keine  aus  Elend  und  Noth  resultirende  Sterblichkeits- 
ursachen wahrgenommen  werden. 

Endlich  kann  es  auch  als  entschieden  günstig  bezeichnet  werden, 
wenn  die  Aus-  und  Einfuhr,  die  Consumtion,  der  Ertrag  gewisser  Steuern 
rascher  sich  vermehren,  als  die  Volkszahl. 


YeTScMedeiie  Möglichkeiten  der  Zusttade.  367 

Zur  richtigen  Würdigung  dieser  möglichen  Zustände  und  ihrer 
Symptome  muss  jedoch  noch  Folgendes  beachtet  werden: 

Jedes  Land  weist  in  seinen  einzelnen  Landestheilen  verschiedene 
Bevölkerungszustände  auf.  Je  nachdem  die  einzelnen  Landschaften  von  der 
Natur  mehr  oder  weniger  reich  ausgestattet  sind,  bieten  sie  die  Bedingungen 
för  eine  grössere  oder  geringere  Volksdichtigkeit  dar.  Auf  einem  Gebiete, 
dessen  Einwohner  blos  von  der  Jagd  leben,  können  schon  10  Einwohner 
pro  □Kilom.  eine  üebervölkerung  sein,  während  in  einer  sehr  fruchtbaren 
Ackerbau-Gegend  mit  intensivem  Wirthschaftsbetrieb  die  achtfache  Zahl 
noch  keineswegs  eine  üebervölkerung  genannt  werden  müsste.  Der  Begriff 
üebervölkerung  dürfte  demnach  eigentlich  nur  für  einzelne  Landestheile 
in  Anwendung  kommen. 

Hergebrachtennassen,  und  wohl  auch  mit  Recht,  spricht  man  von 
üebervölkerung  eines  ganzen  Landes  dann,  wenn  sein  Volk  sich  nicht 
mehr  allein  zu  ernähren  vermag,  sondern  wenn  die  Einfuhr  an  Nahrungs- 
mitteln grösser  ist,  als  die  Ausfuhr.  Dies  ist  der  Fall  bei  allen  west- 
und  mitteleuropäischen  Ländern. 

In  diesem  weitesten  Sinne  gebraucht,  muss  die  üebei^völkerung  noch 
gerade  kein  peinlich  empfundener  Zustand  sein,  sondern  sie  kann  mit  dem 
blühendsten  Wirthschaftsleben  sich  vereinigen.  Namentlich  wenn  üeber- 
gang  zu  intensiverer  Bodencultur  und  Steigerung  der  Nahrungsmittel- 
production  leicht  möglich  ist,  oder  wenn  lebhafter  Verkehr  mit  eigenen 
Colonien  es  dem  Lande  leicht  macht,  überschüssige  Bevölkening  und 
überschüssige  Industrieproducte  dahin  abzusetzen  und  Nahrungsmittel 
wohlfeil  dafür  zu  beziehen. 

und  dasselbe,  was  von  ganzen  Ländern  gilt,  gilt  auch  von  einzelnen 
Landschaften  und  Districten.  Hier  zeigt  sich's  sogar,  dass  eine  theilweise 
üebervölkerung  nothwendige  Bedingung  aller  höheren  Wirthschaftsent- 
wickelung  ist.  Lebhafte  Industriethätigkeit  kann  nur  dann  sich  ausbilden, 
wenn  in  jenen  Gegenden,  welche  Eisen,  Steinkohlen  und  dgl.  besitzen, 
eine  grössere  Bevölkerung  sich  zusammendrängt,  als  durch  die  Nahrungs- 
mittelproduction  des  gleichen  Raumes  ernährt  werden  könnte.  Die  Acker- 
baudistricte  müssen  eben  den  Industriedistricten  die  Nahrungsmittel  liefern, 
das  platte  Land  den  Städten.  So  gleichen  sich  innerhalb  des  Landes 
Bevölkerung  und  Production  aus. 

Dasselbe  ist  nun  freilich  auch  innerhalb  der  gesammten  Weltwirth- 
schaft  der  Fall;  aber  der  internationale  Verkehr  hat  doch  bei  dieser 
seiner  ausgleichenden  Thätigkeit  mit  weit  mehr  Schwierigkeiten  zu  kämpfen. 

Der  Begriff  der  üebervölkerung  ist  demnach  ein  relativer.  Die  üeber- 
völkerung kann  vorhanden,  aber  möglicherweise  nicht  fühlbar  sein;  sie 
kann  sich  steigern  bis  zum  Nothstande.  Ihre  schlimmen  Wirkungen  können 


868  Gesehichte  der  BeTöHcenmgstlieorie. 

in  Perioden  wirthschafklichen  Aufschwunges  zurücktreten,  in  anderen  Perio- 
den wieder  scharf  und  grell  zum  Vorschein  kommen. 

§.  178.  Geschichte  der  fievölkenmgstheorie. 

Während  die  älteren  Politiker  und  Nationalökonomen  mit  geringen 
Ausnahmen  sich  um  das  Verhältniss  der  Bevölkerung  zur  Productions- 
fähigkeit  ihres  Gebietes  entweder  gar  nicht  bekümmerten,  oder  kein 
Verständniss  für  dasselbe  besassen,  gelang  es  R.  Malthus  durch  eine 
tiefe  und  vorurtheilsfreie ,  wenn  auch  von  manchen  Irrthümem  getränkte 
x4.uffa88ung  der  Frage  zum  Begründer  der  Bevölkerungstheorie  zu  werden. 
Der  Inhalt  seiner  Lehre  ist  im  wesentlichen  folgender :  Die  Menschen 
haben  stets  und  allerorten  die  körperliche  Fähigkeit  sowohl,  als  den  sinn- 
lichen und  sittlichen  Trieb  zur  Fortpflanzung.  Ein  Menschenpaar  kann 
stets  eine  grössere  Zahl  als  zwei  Menschen  erzeugen.  Da  diese  dieselben 
Eigenschaften  haben,  so  hat  jede  Bevölkeining  die  Tendenz,  generationen- 
weise in  geometrischer  Progression  zuzunehmen.  Die  Erfahrung 
(Nordamerika)  zeigt,  dass  in  je  25  Jahren  die  Bevölkerung  sich  ver- 
doppeln kann.  Die  Nahrungsmittel  hingegen  sind  nicht  in  diesem  Maasse 
vermehrbar,  denn  ihre  Menge  ist  bedingt  durch  die  unveränderliche  Grösse 
der  Erde  und  die  durchaus  nicht  ins  Unendliche  zu  steigernde  Frucht- 
barkeit derselben.  Es  herrscht  demnach  die  Tendenz,  dass 

die  Bevölkerung  in  je  25  Jahren  wie  1,  2,  4,  8,  16,  32  u.  s.  f. 

die  Nahrungsmittel  dagegen  wie  1,  2,  3,  4,    5,    6  u.  s.  f. 

zunehmen.  Daraus  folgt,  dass  die  Bevölkerung  bald  an  der  Grenze  der 
för  sie  hinreichenden  Nahrungsmittel  ankommt,  und  dann  ein  offenbares 
Missverhältniss  zwischen  der  Menschenzahl  und  dem  Gütervorrath  eintritt, 
wenn  nicht  dem  Vermehrungstriebe  Hindemisse  entgegentreten.  Letzteres 
geschieht  in  der  That;  die  Hindemisse  sind  theils  hemmende,  theils  zer- 
störende. Das  Naturgesetz  straft  den  Menschen  für  den  Frevel,  welcher 
in  der  Uebervölkerung  liegt.  Wo  die  Bevölkemng  gegenüber  den  Unter- 
haltsmitteln zu  rasch  gewachsen  ist,  da  entstehen  Mangel  und  Elend, 
Krankheit  und  Sterblichkeit,  Laster  und  Verbrechen.  Bei  einzelnen  Völkern 
treibt  das  Missverhältniss  zu  unnatürlichen  Sitten. 

Diese  furchtbar  emste  Theorie,  die  den  Hungertod  als  Damokles- 
schwert über  den  Bevölkerungen  enthüllt,  fand  neben  einer  Reihe  aus- 
gezeichneter Anhänger  auch  ihre  Feinde,  welche  theils  einen  oder  beide 
Vordersätze  der  Theorie,  theils  die  Malthus'schen  Schlussfolgerungen  be- 
kämpften. Die  Bevölkerungswissenschaft  erkennt  vorurtheilsfrei  die  Mängel 
und  Vorzüge  der  Malthus'schen  Lehre  an,  und  hat  sich  bemüht.  Be- 
deutendes zur  Läuterung  und  Feststellung  der  hochwichtigen  Fragen  bei- 


Die  Otttervermehrung  und  ihre  Grenzen.  369 

zuti-agen,    welche  das  Verhältniss  zwischen  Bevölkerung  und  Productions- 
fähigkeit  berühren. 

Die  wesentlichsten  Punkte  dieses  Verhältnisses  ergeben  sich,  wenn 
man  einerseits  die  Möglichkeit  der  beständigen  Gütervermehrung  und  ihre 
Grenzen,  andererseits  die  Volksvermehrung  und  ihre  Gegentendenzen 
gesondert  betrachtet. 

§.  179.  Die  Gütervermehrung  und  ihre  Grenzen. 

Würde  die  Menschheit  keine  anderen  Güter  gebrauchen,  als  Nahrungs- 
mittel, so  hätte  sie  niemals  über  den  Culturzustand  der  reinen  Ackerbau- 
völker hinausgehen  dürfen;  sie  hätte  keine  Städte,  keine  Industriebezirke, 
keine  lediglich  mit  Handel,  Verkehr  und  mancherlei  Dienstleistungen  be- 
schäftigten Volksclassen  gebraucht.  Sie  hat  aber  nicht  diesen  Entwicke- 
lungsgang  genommen,  sondern  ihren  Culturgang  auf  die  Arbeitstheilung 
und  auf  die  beständige  Vermehrung,  nicht  allein  der  Nahrungsmittel, 
sondern  auch  sehr  mannigfacher  anderer  Güter  gerichtet.  Diese  Güter- 
vermehrung hat  ihr  Motiv  in  den  Bedürfnissen  der  Bevölkerung,  ein  Motiv, 
welches  nicht  nur  mit  der  zunehmenden  Bevölkerung,  sondern  auch  mit 
den  wechselnden  Bedürfnissen  jedes  einzelnen  an  Kraft  gewinnt.  Käme  es 
blos-  darauf  an,  so  könnte  die  Gütervermehrung  bis  in  unberechenbare 
Zeiten  hinaus  rascher  stattfinden,  als  der  Bevölkerungszuwachs.  Aber  sie 
hat  ihre  Hindernisse.  Dieselben  liegen: 

I.  In  der  Trägheit  und  wirthschaftlichen  Unthätigkeit  sowohl  Einzelner, 

als  ganzer  Stände, 
n.  In  den  Mängeln  der  menschlichen  Arbeitskraft. 

III.  In  den  Mängeln  der  Capitalbildung.  Capital  und  Arbeit  müssen  eben 
gleichmässig  fortschreiten. 

IV.  In  dem  nicht  hinlänglich  bemeisterten  Widerstand  der  Natur  und 
den  Grenzen  ihrer  Freigebigkeit. 

V.  In  Schwächen  und  Leidenschaften  der  Menschen,  welche  sociale  und 
politische  Umwälzungen,  unwirthschaftliche  Güterzerstörungen  her- 
beiführen. 

VI.  In  mannigfachen  Zufällen. 

VII.  In  allen  anderen  Fehlem  der  wirthschaftlichen  Entwickelung;  in 
.  jedem  verfehlten  Unternehmen.  Arbeitseinstellungen,  wirthschaftliche 

Krisen,  Stillstände  grosser  Unternehmungen  u.  s.  f.  wirken  hemmend 

auf  die  Gütervermehrung. 

Jedes  einzelne  Unternehmen,  jede  einzelne  wirthschaftliche  Existenz 
oder  Arbeit  ist  ein  'Stift  oder  Rad  im  grossen  Werke  der  Weltwirthschaft. 
Und  jedes  Stillstehen,  jede  Stockung  an  der  kleinsten  Arbeit  wirkt  zurück 
auf  das  Ganze.  Jede  Verschwendung,  jede  Güterzerstörung  durch  feindliche 

Haushofe r,  Statistik.  2.  Aufl.  24 


370  I^i®  VolksTermelirung  und  ihre  Gegentendenzen. 

Naturkräfte  hemmt  irgendwo  die  wirthschaftliche  Thätigkeit.  Es  ist  das 
Böse  in  der  Wirthschaft,  eine  Summe  von  Gegentendenzen  der  Güter- 
vermelirung.  Sie  wirken  theils  auf  die  schon  vorhandenen  Güter,  theils 
auf  jene,  welche  erst  entstehen  sollen,  also  im  ersten  Fall  repressiv,  im 
zweiten  präventiv. 

Ein  einziges  Weizenkorn  treibt  in  einem  Jahre  aus  der  Erde  einige 
Halme;  an  jedem  befindet  sich  eine  Aehre  mit  mehreren  Reihen  von 
Körnern.  Während  ein  Menschenpaar  in  zwei  Jahren  —  zu  Zwillingen 
gerechnet  —  sich  höchstens  vervierfacht,  vertausendfacht  sich  das  Weizen- 
korn in  dieser  Zeit.  Dies  ist  die  Tendenz  des  Wachsthums  der  ünter- 
haltsmittel.  Und  die  übrigen  von  der  Menschheit  gebrauchten  Güter  haben 
sämmtlich,  wenn  auch  in  verschiedenem  Grade,  die  Tendenz  der  Zu- 
nahme. Aber  mit  der  Tendenz  allein  ist  es  nicht  gethan,  denn  so  viel 
Raum  auch  noch  auf  Erden  ist  zur  Colonisation  neuer  Länder,  zu  neuer 
Production :  immerfort  erweitert  sich  der  Boden  nicht.  Auch  die  Menschen 
entwickeln  bei  proletarischer  Vermehrung  nicht  den  entsprechend  höheren 
Grad  von  Arbeitsfruchtbarkeit.  Obgleich  also  die  Natur  jenen  Dingen, 
welche  dem  MensUhen  zur  Nahrung  dienen,  eine  viel  grössere  Vermehrungs- 
fähigkeit gegeben  hat,  als  dem  Menschen  selbst,  so  kann  doch  diese  Ver- 
mehrungsfähigkeit nicht  wirksam  werden.  Zur  beständigen  Gütervermehning 
im  gleichen  Verhältnisse  mit  der  Bevölkerungsvermehrung  gehört  auch, 
dass  die  neu  hinzuwachsenden  Menschenmengen  auf  eine  erspriessliche 
Weise  an  der  Gütervermehrung  mitwirken. 

Das  thun  sie  aber  nicht.  Nicht  alle  Güter,  die  verzehrt  werden, 
ernähren  Arbeiter;  andere  gehen  völlig  wirkungslos  verloren  und  die  Natur, 
welche  stets  neue  Quellen  von  Reichthümern  bieten  soll,  zeigt  sich  theils 
zu  arm,  theils  ungehorsam.  Und  selbst  wo  eine  beständige  Vermehrung 
des  Gesammtwerthes  der  Güter  —  im  Verhältniss  zur  Volksvermehrung  — 
stattfindet,  geht  doch  die  Vermehrung  der  wichtigsten  Gütergrappen  nicht 
harmonisch  genug  vor  sich. 

So  kommt  es  denn,  dass  in  Wirklichkeit  die  Gütermenge  —  wenig- 
stens in  einzelnen  Theilen  —  manchmal^  der  Bevölkerung  gegenüber 
zurückweicht,  während  sie  zu  anderen  Zeiten  und  für  andere  Gruppen 
fortschreitet. 

§.  180.  Die  Yolksyermehning  und  ihre  Gegentendenzen. 

Die  physische  Beschaffenheit  des  Menschen  setzt  denselben  ganz 
unbestreitbar  in  die  Lage,  dass  er  selbst  mit  einer  Person  des  anderen 
Geschlechts  eine  grössere  Zahl  von  Nachkommen  erzeugen  kann.  Die 
physiologische  Möglichkeit  ist  indessen  etwas  wesentlich  anderes,  als 
die  statistischen  T  hat  Sachen.  Letztere  beweisen  als  grösste  Vermehrangs- 


Die  Volksvermehmng  und  ihre  Cegentendenzen.  371 

fähigkeit  eines  Volkes  eine  Verdoppelung  in  25  Jahren.  Nur  in  seltenen 
Fällen  äussert  sich  mit  tragischer  Gewalt  der  Widerspruch  zwischen  der 
Vermehrungsfähigkeit  des  Menschen  und  der  Productionsfähigkeit  seiner 
Erde.  Diese  Seltenheit  hat  ihre  Ursache  darin,  dass  nicht  blos  die  Güter- 
vermehrung ihre  Hindernisse  hat,  sondern  dass  auch  der  Volksvermehrung 
gewisse  präventive  Gegentendenzen  in  den  Weg  treten,  welche  eine  Ueber- 
völkerung  abwenden  und  den  ohnehin  schweren  Kampf  ums  Dasein  nicht 
zum  verzweifelten  werden  lassen,  welche  nicht  gestatten,  dass  repres- 
sive Gegentendenzen  wirken  müssen.  Die  Hindeniisse  der  Volksver- 
mehrung sind  demnach: 

I.  Präventive,  wenn  sie  das  Bestreben  haben,  einen  noch  nicht 
vorhandenen  Bevölkerungszuwachs  zu  verhindern.  Sie  sind  theils  sittlicher, 
theils  unsittlicher  Natur.  Das  einzige  sittliche  ist  die  Selbstbeherrschung 
des  Menschen,  die  ihn  dazu  bringt,  nicht  wie  ein  Thier  seinen  sinnlichen 
Trieben  zu  folgen,  sondern  auf  edler  Liebe  und  genügenden  wirthschaft- 
lichen  Grundlagen  eine  Familie  zu  begründen.  Bei  Menschen,  welche  die 
nothwendigen  Lebensbedürfnisse  zweifellos  befriedigen  können,  wirkt  doch 
oft  die  blosse  Besorgniss,  durch  leichtsinnige  Giündung  und  Vermehrung 
der  Familie  nur  einen  Schritt  im  Wohlstande  herabzusteigen,  schon  prä- 
ventiv. In  der  geringeren  Zahl  der  Ehen,  dem  späteren  Heirathsalter,  der 
geringeren  ehelichen  Fruchtbarkeit  darf  man  die  Aeusserungen  solcher 
präventiver  Gegentendenzen  suchen,  welche  allerdings  nicht  immer  bei 
jedem  Einzelnen  sittlichen  Motiven  entspringen. 

Leider  wirkt  die  freiwillige  Enthaltung  von  der  Bevölkerungsver- 
mehrung gerade  dort  am  wenigsten,  wo  die  Wirkung  am  nützlichsten 
wäre.  Gerade  der  hoffnungslos  Arme,  dem  überdies  die  sittliche  Kraft 
und  Einsicht  durch  beständiges  Elend  geschwächt  ist,  imd  der  selbst  bei 
der  grössten  Enthaltsamkeit  auf  lange  Jahre  hinaus  keine  Besserung  seiner 
Lage  voraussieht,  überlässt  sich  willenlos  seinen  sinnlichen  Trieben.  Ihm 
ist  gleich  elend,  ob  ein  Kind  hungert  oder  sechs. 

In  allen  Ständen  aber  heirathen  die  Männer  thatsächlich  weit  später, 
als  sie  nach  ihrer  physischen  Natur  im  Stande  wären.  Dadurch  wird 
nicht  nur  die  Zahl  der  Kinder  in  den  später  geschlossenen  Ehen  verringert, 
sondern  die  Generationen  werden  auch  weiter  auseinandergerückt.  Diese 
Verschiebung  der  Gründung  einer  Familie  vermehrt  zwar  die  Zahl  der 
unehelichen  Kinder,  aber  bei  weitem  nicht  in  dem  Maasse,  als  sie  die 
Zahl  der  ehelichen  yermindert. 

Bei  dichter  Bevölkerung  ist  auch  die  Nothwendigkeit  des  Heirathens 
geringer.  Die  erhöhte  Geselligkeit,  der  vermehrte  Comfort  bietet  dem 
Einzelnstehenden  manches  von  dem,  was  er,  wäre  die  Bevölkerung  dünn, 
nothwendig  in  einer  Familie  suchen  müsste. 

24* 


872  Die  Volksvermehrung  und  ihre  Gegentendenzen. 

Die  unsittlichen  Gegentendenzen  präventiver  Natur  wirken  nicht  nur 
hindernd  auf  die  Bevölkerungsvermehrung,  sondern  auch  auf  den  Fortschritt 
der  Civilisation.  Am  gefährlichsten  werden  sie  da,  wo  sie  zum  Volksge- 
brauch geworden  sind,  wo  Vielmännerei,  Vielweiberei  und  geschlechtliche 
Unsittlichkeit  überhaupt  herrschen.  Dies  ist  namentlich  der  Fall  bei  sehr 
rohen  und  wilden  Volkszuständen,  wo  wegen  der  geringen  Beherrschung 
der  Naturkräfte  und  der  blos  occupatorischen  Wirthschaft  der  Nahrungs- 
spielraum schon  durch  eine  geringe  Bevölkerung  ausgefüllt  wird.  Hier  wirkt 
einestheils  die  schlechte  Behandlung  und  Arbeitsüberbürdung  des  weiblichen 
Geschlechtes  hemmend  auf  die  Volksvermehnmg,  anderntheils  die  solchen 
Zuständen  eigenthümlichen  Laster.  Die  Weibergemeinschaft,  die  man  hier 
mehr  oder  weniger  ausgebildet  findet,  lässt  sich  eben  so  wenig  mit  einer 
dichten  Bevölkerung  vereinbaren,  als  die  Gütergemeinschaft  mit  einem 
irgend  grösseren  Volksvermögen.  Besonders  vermisst  man  bei  ihr  die 
unumgänglich  nöthige  zarte  Pflege  der  Neugeborenen.  Auch  die  Vielweiberei 
wirkt  hemmend,  indem  sie  die  Kraft  des  Mannes  früh  erschöpft.  Das 
natürliche  Gleichgewicht  der  Geschlechter  erklärt  von  selbst  solche  Formen 
der  Ehe  für  widersinnige. 

Aber  auch  bei  verfallenden  Völkern  zeigen  diese  unsittlichen  Hemm- 
nisse ihre  Wirkung,  namentlich  in  der  Form  der  Prostitution  und  der 
unnatürlichen  Laster.  Wo  diese  Tendenzen  sich  recht  entwickelt  haben, 
überschreiten  sie  wohl  gar  die  Grenze  blosser  Hindemisse  und  die  Volks- 
zahl kann  positiv  abnehmen.  Die  Volkskraft  ist  zu  sehr  geschwächt,  um 
die  durch  Kriege,  Seuchen  etwa  der  Bevölkerung  geschlagenen  Lücken 
wieder  ausfüllen  zu  können. 

n.  Repressive  Gegentendenzen  der  Volksvermehrung  sind  solche, 
welche  bereits  vorhandene  übermässige  Zuwüchse  wieder  zerstören.  Sie 
erscheinen  theils  als  menschliches  Elend,  theils  als  Laster  und  Verbrechen. 

Noth,  Hunger  und  Krankheiten  sind  zunächst  der  Gegendruck,  den 
die  Natur  wider  jede  üebervölkerung  richtet.  Die  Erde  verschlingt  wieder 
jene  Kinder,  welche  sie  nicht  zu  ernähren  vermag;  die  schwächsten  werden 
zuerst  in  den  Abgi'und  des  Elends  gedrängt.  Mangel  an  guten  Wohnungen, 
an  guter  Nahrung,  ja  sogar  an  ordentlicher  Kleidung,  an  gehöriger  Auf- 
sicht über  die  Kinder  lässt  Krankheiten  aller  Arten  entstehen  und  rafft 
die  überschüssige  Volkszahl  dahin.  Jede  schlechte  Ernte  vermehrt  noch 
die  Sterblichkeit.  Und  Unsittlichkeit  und  Laster  wirken  nicht  nur  als 
präventive,  sondern  auch  als  repressive  Gegenströmungen.  Sie  sind  selbst 
in  unseren  hochcultivirten  europäischen  Staaten  von  tragischer  Bedeutung 
geworden;  noch  weit  mehr  bei  den  versinkenden  Völkern  des  Ostens,  wo, 
wie  in  Tibet  und  im  Kaukasus  ein  grosser  Theil  der  neugeborenen  Mädchen 
wenn    nicht    umgebracht    doch   auf  den  Sklavenmarkt   gebracht  werden. 


Die  Yolksyermehrung  und  ihre  Oegentendenzen.  373 

Weiber  aus-  und  Capital  dafür  einzuführen  ist  natürlich  ein  drastisches 
Mittel  gegen  üebervölkerung.  China,  das  Xiiand  der  Kinderaussetzung,  wo 
nach  den  Schätzungen  jesuitischer  Missionäre  zu  Peking  allein  jährlich 
2 — 3000  Kinder  auf  die  Strasse  gesetzt  und  jeden  Morgen  die  todten  und 
lebendigen  Findlinge  auf  einen  Karren  geladen  und  vor  der  Stadt  in  eine 
Grube  geschüttet  werden;  die  afrikanischen  Negervölker,  welche  in  Hunger- 
fehden und  dem  Sklavengeschäfte  eine  sehr  einfache  repressive  Gegen- 
tendenz haben;  die  verhältnissmässig  hoch  cultivirten  früheren  Mexikaner, 
wo  diese  Gegentendenz  in  20 — 50000  jährlichen  Menschenopfern  ihren 
schauerlichen  Ausdruck  fand:  sie  zeigen,  auf  welchen  Wegen  jene  Ge- 
schlechter entfliehen,  die  der  Erde  zu  viel  sind. 

Die  hochgesteigerte  Civilisation  der  europäischen  Cultumationen 
freilich  lässt  die  präventiven  wie  die  repressiven  Gegen tendenzen  der 
Volksvermehrung  in  weit  milderen  Formen  auftreten.  Der  Gegendruck 
gegen  die  üebervölkerung  ist  hier  zwar  vorhanden;  er  kann  selbst  mör- 
derische Gewalt  annehmen;  aber  er  vertheilt  sich  viel  gleichmässiger 
auf  Millionen  und  wird  darum  für  den  Einzelnen  erträglicher.  Wenn 
Europa  Jahr  um  Jahr  hundert-  bis  zweimalhunderttausend  Menschen  an 
andere  Welttheile  als  Auswanderer  abgibt;  wenn  jede  heirathsfähige  Person, 
Mann  oder  Weib,  die  nicht  mit  besonderen  Glücksgütern  gesegnet  ist, 
weit  später  in  die  Ehe  tritt  als  sie  eigentlich  möchte;  wenn  die  Zahl  der 
lebenslänglichen  Cölibatäre  aus  wirthschaftlichen  Gründen  immer  zunimmt; 
wenn  in  den  ärmeren  Familien,  wo  zahlreiche  Kinder  vorhanden  sind, 
statt  fünf  oder  sechs  blos  drei  oder  vier  grossgezogen  werden  können,  weil 
die  übrigen  ein  Opfer  schlechterer  Ernährung  und  Pflege  werden:  so 
weichen  alle  diese  dem  grossen,  geheimen  Gegendruck,  der  sich  gegen  die 
Üebervölkerung  richtet,  ohne  diesen  Feind  zu  erkennen.  Nur  leise  piahnend 
wirkt  diese  Macht;  aber  sie  wirkt  fast  ununterbrochen  und  immer  allge- 
meiner. Und  weil  sie  bei  jeder  Zunahme  der  üebervölkerung  eben  so 
gleichmässig  zunimmt,  ist  nicht  zu  befürchten,  dass  der  Menschheit  plötzlich 
die  nothwendigen  Lebensbedingungen  unter  den  Füssen  zusammenstürzen; 
dass  auf  einmal  in  Allen  zugleich  die  schauerliche  Nothwendigkeit  klar 
werde:  entweder  zu  sterben  oder  die  anderen  zu  tödten. 


Viertes  Buch. 


Das  gesellschaftliche  und  politische  Leb  en. 


I.  Capitel. 

Die  Wohnsitze  der  Bevölkerung. 


§.  181.  Land,  Staatsgebiet. 

Nach  den  Anschauungen  eines  grossen  Theiles  der  älteren  Statistiker 
war  der  Staat  der  einzige  und  wesentliche  Gegenstand  der  Statistik,  und 
diese  Disciplin  nichts  anderes  als  die  Schilderung  seiner  Zustände.  Diese 
ältere  Schule  unterschied  bekanntlich  Staatsgrundmacht,  Staatscultur  und 
Staatsorganismus  als  Haupttheile  ihres  Gegenstandes. 

Als  Staatsgrundmacht  betrachtete  sie  das  Territorium  und  das  Volk. 
Wo  es  sich  um  eine  blosse  Beschreibung  handelt,  ist  eine  solche  Trennung 
freilich  zulässig.  Die  moderne  Statistik  indessen,  welche  den  Ursachen,  dem 
Zusammenhange  der  Erscheinungen  nachgeht,  kann  das  Staatsterritorium 
nicht  anders  auffassen,  als  in  seinem  Zusammenhange  mit  den  wirth- 
schaftlichen  oder  den  politischen  Zuständen  und  Vorgängen. 

I.  Die  Grösse  des  Staatsgebietes  ist  insoferne  von  statistischer  Be- 
deutung, als  sie  die  physische  Basis  der  Bevölkerung  ausdrückt. 

Nun  ist  aber  einestheils  der  Begriff  des  Staates  schon  unbestimmt 
und  andererseits  fragt  es  sich,  was  als  Staatsgebiet  zu  betrachten  ist.  Um 
eine  halbwegs  richtige  Tabelle  über  die  Grösse  der  verschiedenen  Staats- 
gebiete zusammenzustellen,  müsste  bei  den  meisten  Staaten  erst  eine  eigene 
staatsrechtliche  Untersuchung  angestellt  werden.  Soll  nur  das  als  Staats- 
gebiet eingerechnet  werden,  was  einerlei  Verfassung  und  Verwaltung  hat, 
was  den  eigentlichen  Kern  des  ganzen  Staatsterritoriums  bildet,  oder  sollen 
auch  Besitzungen  und  Colonien,  Vasallenstaaten  und  Schutzländer,  deren 
staatsrechtliche  Verbindung  mit  dem  Hauptlande  mehr  oder  weniger  lose, 
oft  nur  nominell  ist,  als  Staatsgebiet  eingerechnet  werden? 

Sucht  man  diese  Schwierigkeiten  zu  beseitigen,  so  gut  es  geht  und 
überblickt  man  irgend  eine  tabellarische  Zusammenstellung  der  Grösse  der 
verschiedenen  Staatsgebiete,  so  bleibt  für  eine  statistische  Untersuchung  so 


378  Land,  Staatsgebiet. 

gut  wie  nichts  übrig.  Die  Einflüsse  auf  die  mannigfaltige  Grösse  der 
Staatsgebiete,  ihre  Ab-  und  Zunahme,  lassen  durchaus  keine  Massen- 
beobachtung zu;  es  handelt  sich  um  lauter  vereinzelte,  der  Geschichte 
angehörige  Erscheinungen. 

II.  Grenzverhältnisse.  Auch  bezüglich  dieser  sind  nur  wenige 
Punkte  statistisch  von  Bedeutung;  und  selbst  diese  wenigen  gestatten  nur 
die  einfachsten  Schlussfolgerungen.  Es  handelt  sich  um: 

A.  Die  Arrondirung  des  Staatsgebietes,  d.h.  das  Verhältniss  von 
Grenzlänge  und  Flächeninhalt.  Während  bei  der  geographischen  Länder- 
gestaltung, insbesondere  fiir  die  Entwickelung  des  Verkehres  jene  Formen 
die  günstigsten  sind,  welche  die  reichste  Gliederung  aufweisen,  sind  unter 
den  Staatsgebieten  sowohl  wegen  ihrer  Wehrkraft,  als  auch  zu  Verwal- 
tungszwecken, insbesondere  zur  Verfolgung  centralistischer  Politik  jene  die 
geeignetsten,  welche  am  meisten  arrondirt  sind.  Dabei  müssen  aber  auch : 

B.  Die  Arten  der  Grenzen  berücksichtigt  werden.  Man  unter- 
scheidet : 

1.  Natürliche:  Gebirge,  Meere,  Wüsten.  Sie  verdanken  ihre  Bildung 
der  Erdgeschichte. 

2.  Nationale  und  Sprachgrenzen,  welche  ihre  Entstehung  im 
Verlaufe  sehr  langer  Perioden  der  Völkergeschichte  finden. 

3.  Künstliche,  politische  Grenzen,  die  oft  in  ganz  kurzen 
Zeiträumen  wechseln,  meist  als  Resultate  von  Kriegen. 

Ein  völlig  harmonisches  Staatsgebilde  kann  nur  jenes  genannt  werden, 
wo  diese  verschiedenen  Grenzen  zusammenfallen,  wie  dies  bei  dem  meer- 
umflossenen  Grossbritannien  der  Fall ;  ferner  annähernd  bei  den  scandina- 
vischen  Reichen,  wo  auf  620  Meilen  (geradlinigen)  Küstenumfang  nur 
124  M.  Binnengrenze  gegen  Finnland  treffen,  bei  der  pyrenäischen  Halb- 
insel, wo  neben  etwa  354  M.  Meeresküste  die  Grenze  gegen  Frankreich, 
55  M.  lang,  mit  dem  Pyrenäenkamme  zusammenfällt  und  daher  als 
künstliche  Grenze  blos  jene  zwischen  Portugal  und  Spanien,  64  Legoas 
(18  auf  1  Grad)  erscheint.  Auch  für  Italien  treffen  die  natürlichen  und 
politischen  Grenzen  fast  durchaus,  die  nationalen  nicht  so  vollständig  zu- 
sammen; für  Frankreich  sind  mit  Ausnahme  der  614  Kilometer  langen 
Grenze  gegen  Belgien  gleichfalls  die  politischen  Grenzen  auch  natürliche; 
die  Sprachgrenzen  etwas  abweichend.  Fast  alle  übrigen  europäischen 
Staaten  sind  in  dieser  Hinsicht  anormal.  So  reicht  die  nationale  Grenze 
Deutschlands  ostwärts  nach  Russland  hinein  und  scheidet  Oesterreich  in 
2  Theile;  üebereinstimmung  zwischen  natürlichen  und  politischen  Grenzen 
zeigt  Deutschland  nur  gegen  Frankreich,  Dänemark,  an  der  Nord-  und 
Ostsee,  gegen  Böhmen.  In  Oesterreich  treffen  natürliche  und  politische 
Grenzen  blos  zusammen  bei  Böhmen,  Siebenbürgen,  Tirol  gegen  Schweiz 


städtische  und  ländliche  Wohnsitze.  379 

und  Italien,  Kärnthen  und  dem  adriatischen  Meere;  von  nationalen  Grenzen 
kann  mit  Ausnahme  der  Sprachgrenzen  Böhmens  und  Ungarns,  für  Oester- 
reich  keine  Rede  sein.  Russland  und  die  Türkei  entbehren  mit  Ausnahme 
ihrer  Seeküsten  jeder  Harmonie  in  dieser  Hinsicht.  Noch  regelloser  sind 
die  Grenzverhältnisse  der  amerikanischen  Staaten,  wo  die  politischen 
Grenzen  vielfach  geradlinig,  parallel  mit  Längen-  und  Breitegraden  laufen, 
die  natürlichen  selten  beachtet  und  nationale  eigentlich  nirgends  vor- 
handen sind. 

ni.  Die  physische  Beschaffenheit  des  Landes.  Was  aus  der- 
selben von  wirklich  statistischem  Interesse  ist,  ward  bereits  angedeutet 
(§.  133,  134).  Der  Zusammenhang  der  physischen  BodenbeschafFenheit 
und  des  gesellschaftlichen  und  politischen  Lebens  dagegen  ist  ein  unendlich 
mannigfaltiger  und  häufig  tief  versteckter.  Unzählige  charakteristische  Ein- 
zelnheiten zeigen  ihn  deutlich;  aber  die  Kraft,  Zähigkeit  und  Ausdehnung 
der  Fäden  zu  messen,  welche  jenen  Zusammenhang  herstellen:  dazu  bedarf 
es  noch  statistischer  Arbeiten,  deren  Umfang  und  Schwierigkeit  sich  jetzt 
kaum  andeuten  lässt. 

§.  182.  Städtische  und  ländliche  Wohnsitze. 

Die  bedeutendste  Erscheinung,  mit  welcher  es  die  Statistik  der 
menschlichen  Wohnsitze  zu  thun  hat,  ist  der  Gegensatz  zwischen  länd- 
lichen und  städtischen  Wohnsitzen  und  seine  Einflüsse  auf  das  geistige, 
physische  und  wirthschaftliche  Leben  der  Bevölkerungen. 

Eine  gewisse  Volksdichtigkeit  ist  noth wendig  zur  Entwickelung 
höherer  Cultur.  Eine  Bevölkerung,  welche  über  gi-osse  Räume  zerstreut 
wohnt,  muss  in  rohen  und  politisch  unausgebiideten  Zuständen  bleiben. 
Eine  vollkommenere  politische  und  Culturentwickelung  ist  nur  möglich, 
wenn  die  Bevölkerung  an  einzelnen  Punkten,  in  Städten,  sich  zusammen- 
häuft und  in  regsten  Wechselverkehr  tritt.  Schon  die  Existenz  von  Städten 
ist  ein  Beweis  solcher  höherer  Entwickelung. 

Wegen  ihrer  Concentration  der  Kräfte  haben  die  Städter  nothwendig 
einen  gewichtigeren  Einfluss  auf  das  gesammte  Leben  der  Bevölkerung, 
als  die  Landbewohner.  Ueberdies  wird  der  Landbewohner  schon  durch 
sein  Gewerbe  in  gewissen  Banden  gehalten;  er  kann  seine  Arbeit  nicht 
nach  Belieben  einrichten,  sondern  muss  sie  gegebenen  Verhältnissen,  dem 
Klima,  der  Jahreszeit  etc.  unterwerfen.  Darum  repräsentirt  auch  die  länd- 
liche Bevölkerung  überall  das  conservative  Element. 

Und  zwar  nicht  nur  in  politischer  Beziehung,  sondern  in  ihrem 
ganzen  Leben  und  Wirthschaften. 

So  pflegt  die  städtische  Bevölkerung  ein  günstigeres  Geburtenver- 
bältniss  zu  haben,  als  die  ländliche;  aber  die  letztere  erhält  ihre  Gebo- 


380  St&dtiBcbe  and  l&ndliche  Wohnsitze. 

renen  mehr.  Die  eigentliche  Lebenskraft  der  Bevölkerung  liegt  mehr  in 
der  ländlichen,  als  in  der  städtischen  Bevölkerung  *). 

Der  dauerhaftere  Zuwachs  der  ländlichen  Bevölkerung  beruht  vor- 
zugsweise auf  dem  Ackerbaucharakter  ihrer  Beschäftigung.  Da,  wo  die 
städtische  Bevölkerung  sich  schon  über  das  platte  Land  verbreitet  hat 
und  in  alle  Dörfer  eingedrungen  ist,  wie  dies  z.  B.  in  Sachsen  der  Fall, 
ist  dieser  Unterschied  im  Sterblichkeitsverhältniss  etc.  nicht  mehr  so  gross, 
fast  verschwindend.  Es  scheint,  dass  in  den  Dörfern  schon  eine  geringe 
Beimischung  von  industriellen  Elementen  den  socialen  Charakter  der  ganzen 
Bevölkerung  ändert. 

Obgleich  nun  die  ackerbauende  Landbevölkerung  mehr  zur  Zunahme 
der  Gesammtbevölkerung  beiträgt,  sehen  wir  doch  in  Wirklichkeit  die 
städtische  Bevölkerung  weit  rascher  zunehmen^). 

Wie  erklärt  sich  dies?  Offenbar  daraus,  dass  überall  die  acker- 
bauende Bevölkerung  den  Städten  einen  grossen  Theil  ihres  Zuwachses 
abgeben  muss.  Diese  Abgabe  der  ländlichen  Bevölkerung  an  die  städtische 
darf  eine  gewisse  Grenze  nicht  überschreiten,  wenn  nicht  die  ganze  Be- 
völkerung leiden  soll.  Jener  Theil  der  Landbevölkerung,  der  in  die  Städte 
gezogen  wird,  geht  offenbar  in  ungünstigere  Bevölkerungs Verhältnisse  über 
und  darf  demnach  nicht  zu  gross  sein.  Wie  gross  er  sein  darf,  das  hängt 
jeweils  vom  Culturzustande  des  Landes,  von  der  wirthschaftlichen,  poli- 
tischen und  socialen  Bedeutung,  von  der  civilisatorischen  Kraft  der 
Städte  ab. 

Manchmal  ist  der  Zug,  der  die  Bevölkerung  vom  platten  Lande 
nach  den  grossen  Städten  treibt,  ein  geradezu  krankhafter,  hervorgeinifen 
weniger  durch  den  wirklichen  Druck  der  heimischen  Verhältnisse,  als 
durch  ein  unklares  und  oft  ungerechtfertigtes  Gefühl  der  UnzuMedenheit, 
durch  unruhiges  Verlangen  nach  Veränderungen,  durch  die  thörichte 
Hoffnung  auf  den  schnellen  Reichthum,  den  die  Städte  geben  können. 

Die  ländliche  Bevölkerung  hat  übrigens  noch  andere  Vorzüge  vor 
der  städtischen  voraus.  So  namentlich  eine  grössere  Proportion  der  Knaben- 
geburten, ein  günstigeres  Verhältniss  des  relativen  Heirathsalters,  eine 
gleichmässigere  numerische  Vertheilung  der  beiden  Geschlechter. 

Von  grösserer  Wichtigkeit  jedoch  erscheint  es,  dass  die  Lebensdauer 
(in  ihren  verschiedenen  Variationen)  auf  dem  Lande  weit  günstiger  ist, 
als  in  den  Städten.  In  vielen  Fällen  freilich  scheint  das  Gegentheil  der 
Fall  —  aber  nur  wegen  der  bedeutenden  Anziehungskraft,  welche  die 
Städte  auf  ältere  Theile  der  Gesammtbevölkerung  ausüben.  In  Wirklichkeit 
hat  sich  z.  B.  in  Holland  für  die  Städte  eine  mittlere  Lebensdauer  von 
30,31,  für  das  Land  dagegen  von  38,i2  Jahren  ergeben.  In  Liverpool  leben 
von    100000   dort   geborenen   Knaben   nur   44797    bis    zum   Alter    von 


städtische  und  Iftndliche  Wohnsitze. 


381 


20  Jahren,  in  der  überwiegend  Ackerbau  und  Viehzucht  treibenden  Graf- 
schaft Surrey  dagegen  70885.  Die  wahrscheinliche  Lebensdauer  ist  in  den 
ungesundesten  englischen  Städten  nur  6,  in  Surrey  52  Jahre. 

Ein  weiterer  Vorzug  der  ländlichen  vor  der  städtischen  Bevölkening 
ist  ihre  grosse  Militärdiensttüchtigkeit.  So  hat  Engel  für  Sachsen  gefunden, 
dass  unter  der  Landbevölkerung  von  100  Militärpflichtigen  26,5»  dienst- 
tauglich waren,  unter  der  städtischen  Bevölkerung  blos  19,73.  Analoge 
Resultate  fand  Helwing  in  Preussen. 

Schon  der  geistvolle  Sully  hatte  von  der  Einfuhrung  der  Industrie, 
besonders  der  Seidenmanufactur,  in  Frankreich  eine  Abnahme  der  Kriegs- 
tüchtigkeit im  Volke  vorhergesagt,  und  auch  Süssmilch  hatte  behauptet, 
der  Ackerbau  gebe  nicht  nur  mehrere,  sondern  auch  stärkere,  tapferere 
und  treuere  Soldaten. 


Anmerkungen: 
*)   Man   braucht,   um    dies   zu   erkennen,   nur   folgende   Tabelle    (nach 
Wappäus)  zu  betrachten: 


Länder 

und 

Beobachtungszeit 

Heiratsfrequeuz 

Geburtenyer- 
hältniss 

1 

Sterblichkeits- 
yerhältniss 

Land- 
gemeinden 
wie  1  zu 

Land- 
gemeinden 
wie  1  zu 

sä 

Land- 
gemeinden 
wie  1  zu 

Frankreich     .  1853—54 
Niederlande    .  1850—54 
Belgien    .   .   .  1851-55 
Schweden   .   .  1851—55 
Dänemark  .    .  1850—54 
Schleswig   .    .  1845-54 
Holstein  .   .   .  1845—54 
Württemberg   1843—52 
Sachsen  .   .    .  1846—49 
Hannoyer    .    .  1854—55 
Preussen      .    .  1849 

121,77 

114,80 

131,01 

126,82 
103,89 
131,63 
120,86 

132,93 
116,32 
109,87 

134,42 

127,69 
148,53 
137,83 
112,63 
128,72 

125,18 

119,05 
126,49 

108,40 

32,74 

27,11 

29,47 
30,82 
28,73 

34,41 

30,26 
24,74 
24,44 
32,86 

24,79 

39,19 
28,70 

33,52 

30,41 

30,29 
32,67 
29,43 

24,67 
24,58 
31,52 

22,80 

31,51 
35,55 

34,35 

:^8,95 
37,41 
35,19 

38,72 

30,06 

31,10 

38,52 
27,97 

42,21 
43,03 
44,31 

46,36 
49,77 
48,49 

44,15 
32,31 
34,70 

41,17 
36,46 

Demnach  ist  die  Heiratsfrequenz  und  die  Geburt eufrequenz  in  den  Städten 
günstiger,  als  bei  der  ländlichen  Bevölkerung.  Dagegen  hat  letztere,  was  das 
entscheidende  ist,  die  geringere  Mortalität. 

Der  rasche  Zuwachs  der  ländlichen  Bevölkerung  gegenüber  der  städtischen 
wird  noch  bedeutsamer  dadurch,  dass  die  eheliche  Fruchtbarkeit  grösser,  die 
Kindersterblichkeit  geriuger  und  die  unehelichen  Geburten  verhältnissmässig 
weniger  zahlreich  sind. 


882  Zahlenverh&ltniss  der  Iftndlichen  und  städtischen  EevOlkerung. 

*)  Die  mittlere  jährliche  Zonahme  betrug  (nach  Wappäus) : 


im 
Jahre 


in  deu 
Städten 


auf  dem 
Laude 


Frankreich  . 

Niederlande  .    , 

Belgien   .   .  . 

Schweden   .  . 

Norwegen  .  . 

Dänemark  .  . 

Sachsen  .    .  . 

Hannover    .  . 

Preussen     •  . 
Grossbritaimien 


1851—56 
1849-59 
1846-56 
1850-55 
1846-55 
1850-55 
1846-49 
1852-55 
1840-55 
1801-51 


0,81  T) 

0,78  n 

1,50  rf 

2,00  r> 

2,46  -n 

1,46  w 

0,39  w 

1,38  w 

1,87  » 


0,35  % 

0,74  n 

0,31  n 

0,81  w 

1,02  T) 

0,94  r> 

0,81  rt 

0,05  n 

0,76  Tf 

1,00  w 


§.  183.  Zahlenverhältniss  der  ländlichen  und  städtischen  Bevölkerung. 

Man  hat  sich  bemüht,  das  Zahlenverhältniss  der  ländlichen  und 
städtischen  Bevölkerung  für  verschiedene  Länder  zu  ermitteln.  Dies  hat 
jedoch  mit  grossen  Schwierigkeiten  zu  kämpfen.  Denn  wenn  auch  die 
Extreme  städtischer  und  ländlicher  Bevölkerung  sich  deutlich  unterscheiden 
lassen;  wenn  es  auch  zulässig  ist,  Ortschaften  unter  einer  gewissen  Volks- 
zahl im  Allgemeinen  zur  ländlichen  und  solche  über  einer  bestimmten 
Volkszahl  zur  städtischen  Bevölkerung  zu  rechnen:  so  gibt  es  doch  sehr 
zahlreiche  Uebergänge  zwischen  beiden.  In  einzelnen  Ländern  hält  sich 
die  ländliche  Bevölkerung  ihre  Eigenart  mit  grösserer,  in  anderen  mit 
geringerer  Ausdauer  aufrecht.  Vielfach  dringt  städtische  Lebensweise  und 
städtischer  Gewerbsbetrieb  in  die  Dörfer  ein  und  verwischt  die  Gegen- 
sätze mehr  und  mehr.  Dörfer  von  Bergleuten  und  Fabriksarbeitem  sind, 
auch  wenn  sie  noch  so  klein  wären,  kaum  der  ländlichen  Bevölkerung 
voll  zuzurechnen. 

Es  gibt  indessen  in  dieser  Hinsicht  notorische  Gegensätze,  welche 
nicht  unbeachtet  gelassen  werden  dürfen.  Unter  der  europäischen  Gesammt- 
bevölkerung  gehört  bei  weitem  der  grössste  Theil  mit  aller  Entschieden- 
heit zur  ländlichen.  Am  meisten  ist  dies  in  den  scandinavischen  Ländern 
der  Fall.  Die  Gegensätze  treten  am  deutlichsten  hervor,  wenn  man  blos 
einzelne  Provinzen,  Districte  etc.  ins  Auge  fasst.  Diese  Verschiedenartig- 
keit im  Zahlenverhältniss  ländlicher  und  städtischer  Bevölkerung  erforderte 
eigentlich  auch  eine  entsprechende  Verschiedenaitigkeit  der  politischen 
Institutionen.  Aber  der  nivellirende  Zug  der  modernen  Staatskunst  duldet 
das  nicht  und  trägt  dadurch  ebenfalls  zur  Verwischung  jenes  Gegensatzes  bei. 

Mit  dem  Zahlenverhältniss  der  städtischen  Bevölkerung  nimmt  auch 
ihre  Concenti'ation  rasch  ab;  d.  h.  je  geringer  die  städtische  Bevölkerung 


Die  Lage  der  Städte. 


383 


eines  Landes  gegenüber  der  ländlichen,  desto  schwächer  an  Volkszahl 
sind  auch  die  einzelnen  Städte.  Eine  an  sich  schon  unbedeutende  städti- 
sche Bevölkerung  muss  aber  gerade  durch  solche  Zersplitterung  noch 
mehr  an  politischer  Bedeutung  verlieren. 

Anmerkung. 

Die  städtische  Bevölkerung  verhält  sich  zur  ländlichen  in  den  wichtigsten 
europäischen  Staaten  folgendergestalt  (nach  Wappäus): 


im  Jahre 


Städtische 


Ländliche 


Grossbritannien 

Niederlande  . 

Sachsen  .    .  . 

Bayern    .    .  . 

Preussen  .    .  . 
Frankreich 

Belgien    .    .  . 

Dänemark  .  . 

Norwegen  .  . 

Schweden  .  . 


1851 
1859 
1855 
1852 
1855 
1856 
1856 
1855 
1855 
1855 


50,37% 

36,17  w 

35,47  T) 

30,34  w 

28,06  r> 

27,31  « 

26,08  « 

21,91  y> 

13,28  w 

10,40  T^ 


49,63  % 

63,83  w 

64,53  ri 

69,66  r> 

71,94  r, 

72,69  " 

73,92  n 

78,09  r> 

86,72  W 

89,60  ri 


Der  Begriff  der  städtischen  und  ländlichen  Bevölkerung  ist  freilich  in 
all  diesen  Ländern  kein  ganz  übereinstimmender  und  diese  Werthe  sind  nicht 
völlig  vergleichbar.  So  ist  z.  B.  in  Bayern  die  Bevölkerung  der  Märkte  mit 
zur  städtischen  gerechnet  und  es  erscheint  deshalb  die  städtische  Bevölkerung 
Bayerns  uuverhältnissmässig  gross  gegenüber  z.  B.  der  sächsischen. 


§.  184.  Sie  Lage  der  Städte. 

Es  gibt  bestimmte  Factoren,  welche  die  Entstehung  der  Städte  be- 
wirken und  deren  constantes  Auftreten  zum  Gesetze  wird.  Je  mehr  solcher 
Factoren  zusammenwirken,  desto  reicher  muss  das  städtische  Leben  sich 
entwickeln.  Diese  Factoren  sind  im  Einzelnen:  *) 

I.  Fundorte  werthvoller  Naturproducte,  insbesondere  nutzbarer 
Mineralien,  Quellen  (z.  B.  die  Bergwerks-  und  Badestädte). 

II.  'Militärische  Festigkeit.  Griechische,  römische  und  Städte 
des  deutschen  Mittelalters  zeigen  diesen  Factor  deutlich. 

III.  Residenzen  geistlicher  oder  weltlicher  Fürsten.  So  sind  nament- 
lich die  deutschen  Reichsstädte  aus  kaiserlichen   oder  Bischofssitzen  her- 


384  Die  Lage  der  Städte. 

vorgegangen.  Die  Residenzen  geistlicher    Fürsten    hängen    in    der    Regel 
zusammen  mit  der  Lage  wichtiger  Tempel,  Klöster,  Wallfahrtsorte. 

IV.  Die  Verkehrslage.  Sie  ist  mit  der  Entwickelung  der  Cultur 
namentlich  für  das  moderne  Städteleben  von  Bedeutung.  Günstige  Ver- 
kehrslage hat  ihren  Grund  wieder  in  verschiedenen  Umständen.  Wo  keine 
bedeutenden  Unterschiede  der  Bodengestaltung  sich  finden,  also  in  Gebieten 
von  überall  gleicher  Wegsamkeit,  erhebt  das  Verkehrsbedürfniss  den 
Mittelpunkt  des  Gebietes  zum  Knotenpunkt  der  wichtigsten  Strassen 
(Moskau,  München,  Prag,  Wien,  Madrid).  Aber  auch  wo  die  wichtigsten 
Unterschiede  der  Bodengestaltung,  wo  das  ebene  Land,  die  Gebirge  und 
Gewässer  zusammenstossen,  erzeugt  sich  stets  eine  höhere  Friction  des 
Verkehrs,  schon  aus  dem  Grunde,  weil  die  Transportmittel  gewechselt 
werden  müssen. 

An  den  Strömen  werden  die  Ufer  in  der  Regel  commerciell  nach 
der  Mündung  zu  immer  werthvoller.  Zur  Hauptstadt  eines  Stromgebiets 
eignet  sich  besonders  der  Platz,  wo  See-  und  Flussschifffahrt  sich  begeg- 
nen und  daher  umgeladen  werden  muss  (Hamburg,  Bremen,  Rotterdam, 
Antwerpen,  Nantes,  Bordeaux,  Glasgow,  Cork,  Bristol,  London,  Calcutta, 
Rangun,  Bangkok,  Nanking,  Quebeck,  Philadelphia,  New- Orleans). 

Weniger  bedeutungsvoll  ist  der  Einfluss  des  oberen  Endes  der  Schiff- 
barkeit eines  Flusses  für  die  Entstehung  der  Städte.  Nur  wenige  nennens- 
werthe  Städte  liegen  an  solchem  Punkte  (Bamberg  am  Main,  Heilbronn 
am  Neckar,  Ulm  an  der  Donau). 

Strombiegungen  erscheinen  häufig  als  Städtegründer  (z.  B.  Ofen- 
Pesth,  Basel,  Magdeburg,  Regensburg,  Toulouse,  Lyon,  Kasan  an  der 
Wolga,  Jekaterinoslaw  am  Dniepr);  seltener  jene  Punkte,  wo  ein  Strom 
in  mehrere  Arme  gabelt  (Kairo)  oder  wo  Nebenflüsse  einmünden  (Mann- 
heim, Mainz,  Koblenz,  St.  Louis). 

Am  Meere  wird  die  Entstehung  der  Städte  zunächst  durch  das 
Vorhandensein  eines  guten  Hafens  beeinflusst,  und  zwar  um  so  energischer, 
je  geringer  die  Zahl  guter  Häfen  ist,  die  eine  Küste  besitzt.  Kopenhagen, 
Lissabon,  San  Francisco,  Marseille,  Alexandria  sind  solche  Hafenstädte. 
Auf  Inseln  fällt  das  Städteleben  der  Küste  zu  (Irland,  Sardinien,  See- 
land, Sicilien  etc.)  Meerbusen  wirken  wie  Strombiegungen;  sie  ziehen 
das  städtische  Leben  vorzugsweise  in  ihren  innersten  Winkel  (Archangel, 
Odessa,  Petersburg,  Riga,  Kiel,  Christiania,  Liverpool,  Edinburgh,  Genua, 
Neapel,  Tarent,  Venedig,  Triest,  Korinth,  Smyrna,  Suez,  Balsora,  Cal- 
cutta, Canton,  Yeddo,  insbesondere  Hamburg  und  London).  Meerengen 
mit  guten  Häfen  müssen  wegen  ihrer  commerciellen  Wichtigkeit  ähnlich 
wirken  (so  bei  Constantinopel,  Messina,  Cadix). 


Die  Grösse  der  Stftdte.  385 

Verkehrshindernisse  nehmen  gleichfalls  Einfluss  auf  die  Städte- 
bildung. So  entstanden  Städte  namentlich  an  den  Umgehungspunkten  der 
Gebirge  (Wien  und  Lyon  fiir  die  Alpen)  und  an  den  Endpunkten  der 
wichtigsten  Durchbruchslinien  (Lyon — Turin,  Augsburg — Mailand,  Mün- 
chen— ^Verona,  Wien — Venedig  für  die  Alpen,  Kabul— ialch  für  den 
Hindukusch  u.  s.  f.). 

Zu  diesen  Hauptfactoren  der  Städtebildung  treten  dann  noch  einige 
minder  wichtige.  Je  mehr  nun  solcher  Factoren  der  Städtebildung  zusammen- 
treffen, desto  grossartiger  muss  das  Resultat  ihrer  Wirkung  sein  *). 

Anmerkungen. 
*)  Vgl.  Röscher:  Betrachtungen  über  die  Lage  grosser  Städte.  1871. 
*)  Vgl.  Schwabe:   Statistik  des  preussischen  Städtewesens.  In  der  Zeit- 
schrift f.  Nat.  u.  Stat.  7.  Bd. 

§.  185.  Die  Orösse  der  Städte. 

Die  eben  genannten  Umstände,  welche  die  Entstehung  der  Städte 
an  gewissen  Punkten  veranlassen,  sind  es  auch,  welche  in  der  Geschichte 
der  Städte  fort  und  fort  sich  geltend  machen  und  die  verschiedene  Grösse 
der  Städte  mit  beeinflussen.  Ausser  ihnen  wirken  auf  diese  Grösse  aber 
noch  andere  Umstände;  zum  Theil  solche,  die  grösstentheils  vereinzelt 
dastehen  und  der  Geschichte  angehören;  zum  Theil  allerdings  auch 
solche,  die  von  der  Statistik  beobachtet  werden  können. 

Die  Volksdichtigkeit  an  und  fiir  sich  übt  einen  Einfluss  nur  auf  die 
Zahl  der  kleineren  und  mittleren  Städte;  vom  überwiegendsten  Einfluss 
auf  die  Bildung  der  ganz  grossen  Städte  ist  die  Grösse  des  Staatsgebietes. 
Denn  alle  Grossstaaten,  selbst  die  sehr  dünn  bevölkerten,  haben  auch 
Grossstädte  gebildet,  z.  B.  Brasilien,  Russland,  Mexiko,  die  Ver.  Staaten. 
Alles  was  nur  irgend  in  politischer,  wirthschaftlicher  oder  geistiger  Be- 
ziehung die  Völker  bewegt,  trägt  zur  Bildung  der  Grossstädte  bei.  Man 
hat  auch  bemerkt,  dass  in  neuerer  Zeit  namentlich  die  Grossstädte  rasch 
zunehmen,  in  einem  weit  günstigeren  Verhältnisse,  als  die  kleineren  und 
mittleren  Städte.  In  England  z.  B.  betrug  in  den  Städten,  welche 
im  Jahre  1851  über  50000  Seelen  hatten,  die  Zunahme  der  vorherge- 
gangenen 10  Jahre  23,37^,  bei  den  Städten  zwischen  20 — 30000  Seelen 
nur  20,29^.  Ebenso  hat  in  Frankreich,  in  Preussen,  Belgien,  Sachsen 
und  den  Niederlanden  die  Einwohnerzahl  der  grossen  Städte  weit  rascher 
zugenommen  als  jene  der  kleinen.  Ausnahmen  von  dieser  Regel  zeigten 
sich  in  Schweden  und  Dänemark. 

Die  Ursache  dieses  auflallenden  Wachsthums  der  Grossstädte  ist 
vorzugsweise  in  den  Eisenbahnen  zu  suchen,  durch  welche  einestheils  die 

Haushofer,  Statistik.  2.  Aufl.  25 


386  I>i«  Grosse  der  St&dte. 

grossen  Städte  geflissentlich  zu  Verkehrsknotenpunkten  gemacht,  anderen- 
theils  die  Möglichkeit  gegeben  wurde,  so  grosse  centralisirte  Volksmassen 
täglich  mit  dem  nöthigsten  zu  versorgen.  Trotz  aller  entgegengesfetzteu 
Bestrebungen  wird  mehr  und  mehr  centralisirt;  wirthschaftliche  und 
geistige  Interessen  ziehen  die  Fäden  der  Staatsverwaltung  stetig  in  die 
Grossstädte. 

Wo  kleinere  Orte  ihre  Bevölkerung  sehr  rasch  vermehren,  ist 
dies  immer  ganz  ausserordentlichen  Umständen  zuzuschreiben.  Die 
Entstehung  von  Eisenbahnknotenpunkten,  Neubegründung  grosser  indu- 
strieller Etablissements,  Erweiterung  oder  Verbesserung  von  Festungen, 
Seehäfen  und  dergl.  sind  solche  Umstände.  So  konnten  von  1867 — 75 
im  Deutschen  Reiche  Wilhemshaven  um  219,  die  Dörfer  Rixdorf  um  131 
und  Lichtenberg  um  170,  Ludwigshafen  um  106,  Kattowitz  um  96, 
Königshütte  um  85  ^  zunehmen.  Besonders  stark  pflegt  auch  die  Zunahme 
von  kleineren  Vororten  grösserer  Städte  zu  sein,  um  so  mehr,  je  weniger 
die  Städte  selbst,  zu  welchen  die  Vororte  gehören,  noch  Raum  zu  weiterer 
Vergrösserung  bieten. 

Anmerkung. 

Es  ist  eine  höchst  undankbare  Aufgabe,  die  Bevölkerungszahlen  der 
wichtigsten  Städte  zu  geben,  weil  dieselben  so  raschen  Veränderungen  unter- 
worfen sind,  dass  das,  was  heute  mitgetheilt  werden  kann,  gestern  schon 
veraltet  war.  Die  zuverlässigsten  Daten  hierüber,  soweit  sie  nicht  in  allgemein 
zugänglichen  amtlichen  Publicationen  enthalten  sind,  finden  sich  in  Petermann'^s 
geographischen  Mittheilungen  (a.  versch.  0.);  übersichtliche  Zusammenstellungen 
auch  im  Goth.  Hofkai.  und  in  Hübner^s  stat.  Tafel.  Unter  Verweisung  auf  diese 
Daten  beschränken  wir  uns  hier  aus  räumlichen  Rücksichten  auf  das  Aller- 
noth dürftigste.  Die  mitgetheilten  Zahlen  sind  mit  Tausend  zu  multipliciren. 

Deutsches  Reich:  Berlin  1118,  Hamburg  290,  Breslau  272,  München  228, 
Dresden  220,  Leipzig  148,  Köln  144,  Königsberg  140,  Frankfurt  137,  Hanno- 
ver 122,  Stuttgart  117,  Bremen  112,  Danzig  108,  Strassburg  106. 

Oesterreich-Ungarn:  Wien  (mit  Vororten)  1020,  Prag  25o,  Triest  120, 
Lemberg  103,  Budapest  347. 

Schweiz:  Bern  42,  Zürich  76,  Basel  61,  Genf  68. 

Brittisches  Reich  (in  Europa):  London  3707,  Glasgow  545,  Liver- 
pool 516,  Manchester  364,  Birmingham  400,  Dublin  315,  Leeds  326,  SheflField  312, 
Edinburgh  215,  Bristol  217,  Bradford  203;  (brittische  Besitzungen):  Mont- 
real 107,  Quebek  62,  Kapstadt  28,  Sidney  134,  Adelaide  40,  Melbourne  193, 
Victoria  102,  Colombo  100,  Singapur  100,  Madras  400,  Bangalur  150,  Bombay  646, 
Ahmedabad  130,  Baroda  140,  Calcutta  1000,  Patna  160,  Murschidabad  147, 
Benares  200,  Delhi  154,  Agra  149,  Kanpur  128,  Allahabad  143,  Lucknow  290, 
Hyderabad  200. 

Frankreich:  Paris  1988,  Lyon  324,  Marseille  318,  Bordeaux  194,  Lille  158, 
Toulouse  125,  Nantes  118,  St.  Etienne  110,  Ronen  102. 

Belgien:  Brüssel  390,  Antwerpen  159,  Gent  131,  Lüttich  .120. 


Stftdti8ch«s  L«b«n.  887 

Niederlande:  Amsterdam  302,  Rotterdam  lt9,  Haag  97;  (Colouieu): 
Batavia  151. 

Dänemark:  Kopenhagen  235. 

Schweden  und  Norwegen:  Stockholm  173,  Gothenburg  76,  Chri- 
stiania  80. 

Russisches  Reich:  Petersburg  691,  Moskau  615,  Warschau  336, 
Odessa  184,  Kijew  127,  Riga  112,  Kischinew  104,  Charkow  104,  Tiflis  104. 

Spanien:  Madrid  398,  Barcelona  249,  Valencia  143,  Sevilla  133, 
Malaga  115;  (Colonien):  Uavana  202,  Manila  165. 

Portugal:  Lissabon  224,  Oporto  89. 

Italien:  Rom  233,  Neapel  450,  Mailand  262,  Turin  214,  Florenz  168, 
Genua  163,  Venedig  125,  Bologna  111,  Palermo  231,  Messina  120. 

Rumänien:  Bukarest  200,  Jassy  90,  Galacz  80. 

Serbien:  Belgrad  27. 

Griechenland:  Athen  68,  Patras  34,  Korfu  24,  Herrn opolis  21. 

Türkei:  Konstantinopel  600,  Salonichi  80,  Adrianopel  62,  Damaskus  120, 
Beirut  90,  Bagdad  90,  Smynia  150,  Brussa  70. 

Vereinigte  Staaten:  Washington  147,  New- York  1206,  Philadelphia  847, 
Brooklyn  566,  Chicago  503,  St.  Louis  350,  Boston  362,  Baltimore  332,  Cincin- 
uati  255,  St.  Francisco  234,  New-Orleans  216. 

Mexiko:  Mexiko  250,  Guadalajara  70. 

Brasilien:  Rio  Janeiro  276,  Bahia  180,  Pemambuco  118. 

Columbia:  Bogota  41,  Panama  18. 

Venezuela:  Caracas  60. 

Ecuador:  Quito  80. 

Peru:  Lima  160,  Cuzco  40,  Callao  30. 

Bolivia:  Sucre  24,  La  Paz  76. 

Chile:  Santjago  150,  Valparaiso  58. 

Argentina:  Buenos  Ayres  178. 

Uruguay:  Montevideo  115. 

China:  Peking  2000,  Su-Tschau  1000,  Siang-Tan  1000,  Tschan-Tscheu- 
Fu  1000,  Hang-Tscheu-Fu  1000,  Signan-Fu  1000,  Canton  1500,  Tientsin  950, 
Haukau  600,  Nanking  500^  Futschen  600,  Shanghai  278. 

Japan:  Yeddo  (Tokei)  1042,  Kagosima  200,  Yokohama  64,  Kanasava  108, 
Osaka  284,  Hakodade  112. 

An  am:  Hue  50,  Kescho  150. 

Birma:  Mandelay  40,  Awa  30. 

Siam:  Bangkok  500. 

Persien:  Teheran  85,  Täbris  HO,  Isfahan  60. 

Aegypten:  Cairo  350,  Alexandria  212. 

Tunis:  Tunis  150. 

Zanzibar:  Zanzibar  85. 

Marokko:  Fez  150,  Marokko  50. 

§.  186.  Städtisches  Leben. 

Die  Motive,  welche  die  Entstehung  und  Grösse  der  Städte  beein- 
flussen, zeigen    auch   die  Qualität   der  Städte    an.  Aber  nicht  nur  ganze 

25* 


388  Dölfer,  Weiler,  Einzelnansiedelungen, 

Städte,  sondern  auch  einzelne  Theile  von  grösseren  und  mittleren  Städten 
haben  ihren  besonderen  Charakter,  welchen  zu  untersuchen  einfache  Be- 
obachtungen hinreichen.  Neben  der  Volksdichtigkeit  der  einzelnen  Stadt- 
theile,  der  Behausungsziffer,  den  Miethzinsen,  der  Berufsstellung  der  Ein- 
wohner, der  Zahl  und  Art  geschäftlicher  Etablissements  gegenüber  den 
Privatwohnungen,  der  Qualität  der  Baulichkeiten,  gestattet  auch  der  Ver- 
kehr der  Strassen  statistische  Darstellung.  Und  zwar  nach  seinen  räum- 
lichen und  zeitlichen  Unterschieden.  Er  wird  beeinflusst  von  der  Bevöl- 
kerung, Form  und  Grösse  der  einzelnen  Strassen,  von  Zahl  und  Form 
ihrer  Seitenstrassen,  von  der  Lage  der  Strassen  zum  Centrum  der  Stadt, 
namentlich  aber  vom  geschäftlichen,  socialen  oder  politischen  Inhalt  der 
Strasse.  Aus  letzterem  ergibt  sich  die  Qualität  des  Verkehrs;  es  erwächst 
daraus  der  Charakter  der  Strassen  als  städtischer  Muökeln,  Knochen, 
Nerven  und  Extremitäten,  als  Arbeits-  und  Genusstheile.  Die  charakter- 
bildende Kraft  grosser  geschäftlicher  und  Staatsanstalten  zeigt  sich  darin, 
dass  sich  in  grossen  Städten  Eisenbahn-,  Gewerbs-,  Handels-,  Militär-, 
Universitäts-,  Schififfahrtsquartiere  bilden  neben  den  grossen  Unterschieden 
armer  und  reicher,  künstlicher  und  natürlicher,  aufblühender  und  ver- 
kommender Stadttheile. 

§.  187.  Dörfer»  Weiler»  Einzelnansiedelxmgen. 

Von  grossem  Werthe  für  die  Kenntniss  der  Ansiedelungsweise  ver- 
schiedener Bevölkerungen  wäre  es,  wenn  die  feineren  Unterschiede  der 
Zerstreuung  des  Volkes  ebenso  untersucht  wären,  wie  das  allgemeinere 
Verhältniss  städtischer  und  ländlicher  Bevölkerung.  Also  namentlich  die 
Zahl  und  Bevölkerung  der  Dörfer  und  Weiler  gegenüber  jener  der  ganz 
verstreut  liegenden  Ansiedelungen. 

Es  scheint,  dass  die  Bevölkerungsstärke  der  einzelnen  Dörfer  an- 
nähernd im  verkehrten  Verhältniss  steht  mit  der  Dichtigkeit  der  Ort- 
schaften. Um  jedoch  Schlussfolgerungen  aus  den  Zahlen  der  Bevölkerungs- 
stärke und  Dichtigkeit  der  Dörfer  ziehen  zu  können,  müsste  der  Begriff 
eines  Dorfes  überall  gleich  fixirt,  die  städtische  Bevölkerung  und  die  all- 
gemeine Volksdichtigkeit  sorgfaltig  berücksichtigt  werden.  Vor  allem  aber 
müsste  man  diese  Erscheinungen  bis  in  ihre  provinziellen  Unterschiede 
verfolgen,  welche  bekanntlich  sehr  bedeutend  sind.  (So  zeigt  z.  B.  im 
südlichen  Bayern  der  altbayerische  Volksstamm  eine  ebenso  entschiedene 
Tendenz  zur  Einzelnansiedelung,  wie  der  benachbarte  schwäbische  Stamm 
zur  Dorfansiedelung.  Die  Grenze  zwischen  beiden  Ansiedelungsformen  lässt 
sich  fast  haarscharf  ziehen).  Sodann  mit  anderen  Ergebnissen  der  Statistik 
verglichen,  würde  die  verschiedene  Zerstreuung  der  Bevölkerung  in  ihrem 
wechselnden  Einflüsse  auf  das  Volksleben  sich  zeigen.  Da  aber  diese  Zer- 


Dörfer,  Weiler.  Einzelnansiedelungen.  389 

Streuung  der  Bevölkerung  zumeist  wiithschaftlichen  Ursachen  folgt,  müsste 
man  schliesslich  zu  dem  Causalzusammenhange  wichtiger  wirthschafts- 
geographischer  und  anderer  Volkseigenthümlichkeiten  gelangen. 

Zunächst  liegt  jedenfalls  die  Frage,  weshalb  wohl  einzelne  Völker 
und  Gegenden  die  dorfweise,  andere  die  Einzelnansiedelung  vorziehen.  Die 
Gründe  dieser  Verschiedenheiten  sind: 

I.  Natürliche  und  wirthschaftliche.  Hier  kommt  es  zumeist  darauf 
an,  in  welchen  Grössenverhältnissen  die  fruchtbareren  Ländereien  zwischen 
den  weniger  fruchtbaren  eingelagert  sind.  Wo  die  fruchtbaren  Landes- 
theile  gross  genug  sind,  um  ganze  ackerbauende  Dorfschaften  zu  tragen, 
da  wird  sich,  wenn  nicht  andere  Gründe  die  Vereinzelung  veranlassen, 
dorfweise  Ansiedelung  finden.  Wo  sich  dagegen  zwischen  weniger  frucht- 
barem Boden  nur  kleinere  Oasen  fruchtbaren  Landes  finden,  gerade  gross 
genug,  um  einer  oder  wenigen  Familien  die  wirthschaftliche  Basis  zu 
bilden:  da  ist  man  nothwendig  zur  Vereinödung  gedrängt.  Letztere  setzt 
immer  einen  gewissen  Grad  von  Selbständigkeit,  Familiensinn,  Sicherheit 
des  Eigenthums  und  Ackerbau  voraus.  Beim  Ackerbau  drängt  das  Be- 
dürfniss  abgerundeten  Grundbesitzes  zur  Vereinödung. 

Aus  diesen  Gründen  findet  man  namentlich  die  Einzelnansiedelung 
bei  den  Völkern  germanischen  Ursprungs  und  in  Alpenländern.  Nomaden-, 
Jäger-  und  Fischervölker  haben  keine  wirthschaftliche  Veranlassung  zur 
Einzelnansiedelung.  Sie  sind  im  Stande,  horden-  und  dorfweise  ihre  Weide- 
und  Jagdplätze  auszubeuten  und  neue  aufzusuchen. 

n.  Politische.  Wo  Unsicherheit  der  Rechtszustände,  namentlich  Be- 
fehdungen einzelner  Stämme  sich  länger  durch  die  Geschichte  eines  Volkes 
ziehen;  da  muss  der  dadurch  nothwendig  gewordene  dorfweise  Zusammen- 
schluss  mit  der  Zeit  zur  nationalen  Sitte  werden.  Daher  kommt  es,  dass 
Völker,  die  schon  längst  aus  dem  nomadisirenden  Zustande  zu  ausgebil- 
deter Landwirthschaft  übergegangen  sind,  doch  noch  dorfweise  wohnen. 

Eine  genaue  Untersuchung  dieser  Erscheinungen  «aüsste  die  Ort- 
schaften nach  ihrer  Bevölkerung  sorgfältig  ausscheiden.  Namentlich  wären 
die  Ortschaften  unter  1000  Einwohner  in  Classen  zu  bringen,  von  10  zu 
20,  20—30  u.  s.  f.,  sodann  von  100  bis  200,  200  bis  800  u.  s.  f.  Ein- 
wohnern. Man  müsste  sodann  bei  den  Gegenden  mit  Einzelnansiedelungen, 
mit  kleinsten  (bis  zu  25  Einwohnern),  kleinen  (bis  zu  100  Einwohnern), 
mittleren  (bis  zu  500),  grösseren  (bis  zu  1000)  und  grössten  (über  1000 
Einwohnern)  nicht  nur  den  wirthschaftlichen  Charakter,  sondern  auch  die 
Bevölkerungsverhältnisse,  die  politische  Gegenwart  und  Vergangenheit 
untersuchen.  Erst  durch  solche  Detaillirung  wäre  richtige  Anschauung  des 
gesammten  Siedelungsverhältnisses  zu  erlangen. 


390 


Die  WühnhftQHer. 


Man  würde  dann  namentlich  finden,  wie  einerseits  die  natürlichen 
und  wirthschaftlichen,  andererseits  die  politischen  Einflüsse,  welche  sich 
auf  die  Ansiedelungsweise  geltend  machen,  sich  gegenseitig  durchkreuzen 
und  verschiedene  Resultate  daraus  hervorgehen. 

Aumerkuug. 
Nach  0.  Hausiier's  Augabeii,  welche  sich   leider  nicht   auf  ihre   Quellen 
zurückverfolgeu  lasseu  und  daher  nur  mit  Vorsicht  aufzunehmen  sind,  kommen: 


durchschnittlich 
an  Einwohnern 
auf  jedes    Dorf 


Dörfer  auf 
1  nMeile 


Norwegen  .  . 
Grossbritannien 
Schwedeji  .  .  . 
Württemberg  . 
Belgien  .  •  .  . 
Serbien  .... 
Spanien  .  .  . 
Portugal  .  .  . 
Frankreich  .  . 
Türkei  .  .  .  . 
Dänemark  .  . 
Russland  .  .  . 
Hannoyer  .  .  . 
Schweiz  .  .  . 
Polen  .  .  .  . 
Mecklenburg  . 
Bayern  .... 


2215 
1081 
995 
857 
817 
753 
703 
677 
664 
299 
289 
240 
209 
179 
163 
156 
127 


0,1 

2,6 
0,43 

4 

8,3 
1,3 
1,36 
2,3 

4 

M 

7 
2,6 

9,7 

14 

9,7 

9,7 

16,8 


§.  188.  Die  Wohnhäuser. 

I.  Das  Behaußungsverhältniss  ^).  Bei  Volkszählungen  pflegt 
man  neben  der  Zahl  der  Bevölkerung  auch  die  der  bewohnten  Häuser  zu 
ermitteln  und  dadurch  das  Material  zur  Berechnung  der  Einwohnerzahl 
herzustellen,  welche  in  einem  Hause  zusammenwohnt. 

Dieses  Zahlenverhältniss  nennt  man  dann  das  B e hau sungs ver- 
hält niss.  Dasselbe  ist  unstreitig  von  Bedeutung  für  das  Wohlbefinden, 
für  sittliche  und  Gesundheitszustände  der  Bevölkerung. 

Bei  gebildeten  und  wohlhabenden  Bevölkerungen  ist  jedenfalls  jenes 
Verhältniss  das  günstigste,  wo  jeder  Selbständige,  besonders  jedes  Fami- 
lienhaupt mit  seiner  Familie  auch  ein  Haus  für  sich  bewohnt.  Das  Be- 
wohnen eines  eigenen  Hauses  bietet  ja  grössere  Freiheit  und  Bequemlich- 
keit als  das  Zusamraenwohnen  mit  anderen  Familien,   wodurch  jede   auf 


Die  WohnhÄuser.  391 

einen  Theil  des  Hauses  beschränkt  ist.  Es  bildet  daher  das  Innehaben 
eines  eigenen  Hanses  in  mancher  Beziehung  die  noth wendige  Bedingung 
für  das  Glück  des  Familienlebens. 

Die  Befriedigung  dieses  Wunsches  hängt  aber  wesentlich  vom  durch- 
schnittlichen Volkswohlstande  ab.  Man  kann  im  Allgemeinen  annehmen, 
dass  ein  Volk  um  so  glücklicher  ist,  je  mehr  verhältnissmässig  Wohn- 
häuser auf  die  Bevölkerung  kommen. 

Zu  einem  unumstösslichen  Schlüsse  bezüglich  des  Wohlstandes  zweier 
Bevölkerungen,  die  man  in  dieser  Hinsicht  vergleicht,  könnte  man  freilich 
nur  dann  kommen,  wenn  auch  die  Art  der  Wohnhäuser  bei  beiden  ganz 
die  gleiche  wäre. 

Darauf  kommt  aber  sehr  viel  an.  Der  Begriff  des  Wohnhauses  für 
eine  Zählung  bleibt  immer  ein  schwankender.  Aus  diesem  Grunde  kann 
die  Durchschnittszahl  der  bei  einer  Bevölkerung  auf  jedes  Wohnhaus 
kommenden  Personen,  d.  h.  die  Behausungsziffer  keinen  sicheren  An- 
haltspunkt für  das  wirkliche  Wohnverhältniss  darbieten.  Denn  ein  Wohn- 
haus ist  ebensowohl  die  armseligste  Taglöhnerhütte,  als  die  palastähnlichen 
Zinshäuser  in  grossen  Städten.  Und  jedenfalls  können  in  einer  solchen 
Zinskaseme  5,  10,  20  und  mehr  Familien  bequemer  und  comfortabler 
wohnen,  als  in  einer  Hütte  auf  dem  Lande  eine  einzige. 

In  Wirklichkeit  finden  entschiedene  Unterschiede  der  Behausungs- 
ziffer bei  verschiedenen  Bevölkerungen  statt  *). 

Bei  den  europäischen  Culturstaaten  kommen,  soweit  das  spärliche 
Material  eine  Beurtheilung  zulässt,  in  Frankreich  durchschnittlich  am 
wenigsten  Personen  auf  ein  Wohnhaus,  im  Mittel  ungefähr  so  viel,  als 
man  auf  einen  Hausstand  mit  einer  Familie  und  ein  bis  zwei  Dienstboten 
rechnen  kann. 

In  England  ist  indessen  die  Behausungsziffer  gi'össer  und  doch  weiss 
Jedermann,  dass  nirgends  das  Glück,  im  eigenen  Hause  zu  wohnen,  höher 
angeschlagen  wird,  als  in  England.  Dieser  Wunsch  hängt  zusammen  mit 
dem  Sinne  für  persönliche  Unabhängigkeit. 

Es  gibt  aber  für  das  Wohnhaus  ein  natürliches  Normalmass.  Wird 
dasselbe  bedeutend  überschritten  oder  ist  man  bedeutend  unter  demsel- 
ben zurückgeblieben,  so  ist  allemal  ein  schlimmer  socialer  Zustand  an- 
gedeutet. In  einem  Falle  erhalten  wir  die  Wohnkaseme,  ein  Product  der 
Uebercivilisation,  im  anderen  die  Hütte,  ein  Product  der  Uncivilisation 
(Riehl). 

Beide  Arten  von  Extrem  sind  in  Frankreich  in  einem  höheren  Grade 
vorhanden  als  in  England.  In  Frankreich  ist  nämlich  die  Differenz  zwi- 
schen der  ländlichen  und  der  städtischen  Behausungsziffer  eine  viel  grössere 
als  in  England.  Daraus  lässt  sich  schliessen,  dass    in    Frankreich    in  den 


392  l>ie  Woliiihauser. 

Städten  die  Wohnkaserne  schon  häufig  das  Wohnhaus  in  seinem  natür- 
lichen Normalmass  verdrängt  hat,  während  auf  dem  Lande  die  Woh- 
nungen vielfach  darunter  bleiben. 

Bei  der  landwirthschaftlichen  Bevölkernng  kann  eine  grössere  Be- 
hausungsziflfer  möglicherweise  sogar  ein  günstigeres  Yerhältniss  ausdrücken, 
als  eine  geringere. 

Wo  z.  B.  unter  den  Bauern  grosser  geschlossener  Grundbesitz  vor- 
herrscht, wo  der  Bauer  auf  seinem  stattlichen  Hofe  eine  grössere  Zahl 
von  Hofgesinde  versammelt,  da  wird  jedenfalls  die  Behausungsziflfer  eine 
grössere  sein  als  da,  wo  Zwergwirthschaft  und  Bodenzerstückelung  herrscht, 
und  doch  ist  jenes  entschieden  der  günstigere  Zustand.  Ersteres  z.  B. 
findet  sich  in  einzelnen  Theilen  von  Niedersachsen,  Westphalen,  Hannover 
und  Altbayern. 

Es  kann  also  der  Wohlstand  der  ländlichen  Bevölkerung  nach  der 
Behausungsziflfer  nicht  bemessen  werden.  Ebenso  muss  man  auch  die  ver- 
schiedenen Länder  nach  dieser  Richtung  hin  in  höchst  behutsamer  Weise 
vergleichen. 

So  kann  man  gewiss  behaupten,  dass  die  auffallend  kleine  Behau- 
sungsziffer von  Frankreich  von  4,4  Personen  ofl^enbar  zu  klein  ist  und  nur 
erklärt  werden  kann  aus  der  geringen  Fruchtbarkeit  der  Ehen  und  aus 
der  grossen  Zahl  der  kleinsten  hüttenähnlichen  Wohnhäuser.  Das  zeigt 
schon  der  Anblick  der  französischen  Dörfer. 

In  den  grossen  Städten  dagegen  wird  sich  die  Behau8ung8zifl*er  eher 
zu  richtigen  Schlüssen  gebrauchen  lassen. 

Den  grössten  Einfluss  auf  ihre  Unterschiede  übt  wohl  die  Nationa- 
lität, der  Racencharakter  der  Bevölkerung  aus. 

Besonders  belehrend  sind  hierin  Belgien  und  Grossbritannien. 

In  Belgien  haben  die  Städte  mit  rein  flamländischer,  d.  h.  germa- 
nischer Bevölkerung,  wie  Geut,  Löwen,  Brügge,  viel  niedrigere  Behau- 
sungsziffer als  die  mit  gemischter  Bevölkerung;  in  Grossbritannien  bildet 
die  eigentlich  englische  Bevölkerung  einen  ähnlichen  Gegensatz  zur  kelti- 
schen und  gälischen.        i 

Von  grossem  Einfluss  auf  die  städtische  Behausungsziflfer  ist  auch 
die  Grösse  der  Stadt.  Denn  je  grösser  die  Stadt,  desto  schwieriger  ist  es, 
jede  Familie  im  eigenen  Hause  unterzubringen. 

Doch  ist  dieser  Einfluss  nicht  so  gross,  wie  jener  der  Nationalität. 
Er  ist  z.  B.  in  England  nicht  so  bemerklich  als  in  Belgien. 

Ebenfalls  von  Einfluss  ist  der  gewerbliche  Charakter  der  Städte. 
Namentlich  aber  der  Umstand,  ob  eine  Stadt  ihre  Grösse  einer  natur- 
gemässen  Entwicklung  durch  Ausbildung  von  Handel  und  Gewerbe  zu  ver- 
(Janken  hat,  oder  ob  sie  mehr  künstlich  zur  Grossstadt  gemacht  worden  ist. 


Die  Wohnhäuser. 


393 


Im  letzteren  Falle  wächst  die  BehausungszilFer  mit  der  Nothwen- 
digkeit  der  Wohnkasernen  ganz  bedeutend.  So  namentlich  in  Residenz- 
städten, welche  zumeist  durch  politische  Centralisirung  gewachsen  sind. 

In  solchen  Städten  erzeugt  die  Vergrösserung,  meist  verbunden  mit 
Verschönerungsbestrebungen  ganz  abnorme  Wohnungsverhältnisse. 

Die  Contraste  zeigen  sich  ganz  besonders  gross  bei  der  Behausungs- 
ziffer der  Haupt-  und  Residenzstädte^). 

Der  Einfluss  der  Grösse  und  des  gewerblichen  Charakters  tritt  hier 
ganz  zurück.  Dagegen  zeigt  sich  beinahe  ein  geographischer  Gegensatz, 
indem  die  Behausungsziffer  von  Südost  gegen  Nordwest  fast  regelmässig 
abnimmt.  Das  kommt  wohl  daher,  weil  gerade  Berlin  und  Wien  in  auf- 
fallendster Weise  gemachte  Grossstädte  sind. 

II.  Vom  Behausungsverhältniss  unterscheidet  man')  das  Wohn- 
lichkeitsverhältniss.  Letzteres  lässt  sich  erst  dann  ermitteln,  wenn 
man  weiss,  welcher  Art  die  Häuser  sind,  ob  sie  die  nöthige  Räumlich- 
keit und  Bequemlichkeit  haben. 

In  dieser  Hinsicht  sind  zunächst  die  Zahlen  der  Thür-  und  Fenster- 
öffnungen von  Wichtigkeit.  Wenn  in  Belgien  auf  je  100  Häuser  im  Jahre 
1821  539,  im  Jahre  1831  544  und  im  Jahre  1835  547  Thüren  und 
Fenster  kamen,  so  drückt  dies  an  sich  noch  keine  Zunahme  der  Wohn- 
lichkeit aus,  sondern  erst  wenn  man  diese  Ziffer  mit  der  Behausungsziffer 
in  Verbindung  bringt  und  dann  fände,  dass  die  Zahl  der  auf  eine  Familie 
treffenden  Thüren  und  Fenster  sich  vermehrt  habe. 

Auch  die  Zahl  der  Stockwerke  ist  bezeichnend  für  das  Wohnlich- 
keitsverhältniss,  am  bezeichnendsten  aber  die  Zahl  der  Zimmer,  verglichen 
mit  der  Zahl  ihrer  Bewohner.  In  Belgien  fand  man  (1846)  auf  je  100 
Einwohner,  darunter  etwa  25  %  kleiner  Kinder,  63  Zimmer.  Passend  wäre 
freilich  erst  ein  Verhältniss  von  100 :  100;  doch  ist  100  :  63  noch  nicht 
als  absolut  schlecht  zu  bezeichnen. 

Aumerkuugeu. 

*)  So  zeigt  sich  z.  B.: 


Zählung 

YOU 


Bei  der  (ie- 
sammthevölk. 
kommen  auf 
1    Wohnhaus 


iu  den 

Städten 

allein 


auf  dem 
Lande 


Frankreich 
Belgien  .  . 
England  . 
Holland  .  . 
Oesterreich 
Bayern  .  . 
Hannover  . 
Schottland  . 
Preussen  . 
Sachsen 


1851 
1846 
1851 
1849 
4857 
1852 
1855 
1851 
1849 
1855 


4,84 
5,42 
5,47 
6,37 
6,37 
6,73 
6,84 
7,80 
8,37 
8,86 


9,12 
6,41 
6,07 
6,92 

8,52 
8,51 

14,11 

11,78 
13,06 


4,4 
5,16 

5,11 
6,10 

6,17 
6,63 

6,05 
7,.2  . 
7,53 


394 


Die  Ehen  und  Familien  im  Allgemeinen. 


•)  Dieselbe  betrag  (Wappäus)  iu 


Bevölkerung  über 

Behausungsziffer 

Haag 

1849 

70000 

7,0 

Loiidoii 

1851 

2,000000 

7,7 

Brüssel 

1846 

100000 

9,7 

Brauiischweig 

1855 

30000 

11,5 

Hannover 

1855 

30000 

16,8 

München 

1852 

70000 

20,6 

Dresden 

1855 

100000 

28,5 

Paris 

1851 

1,000000 

35,1 

Berlin 

1849 

300000 

45,9 

Wien 

1857 

400000 

50,1 

agegen  in  neuerer  Zeit  (meist  nach 

Körösi:  Statistique  international 

ides  yilles)  in 

Bevölkerung  über 

Behausungsziffer 

Berlin 

1875 

968634 

63     ? 

Wien 

1872 

644375 

59 

Paris 

1804 

548000 

21,8 

v 

1856 

1,174000 

40 

V 

1872 

1,794380 

29 

London 

1877 

3,570000  ? 

7,8  ? 

Brüssel 

1866 

198337 

10,6 

München 

1875 

193326 

19,6 

Dresden 

1875 

198755 

31,5  ? 

Moskau 

1871 

611970 

15,7 

Hörn:  Bevölkerungswissenschaftliche 

Studien  aus  Belgien. 

IL 

Capitel 

• 

Ehe  und  Familie. 

§.  189.  Die  Ehen  und  Familien  im  Allgemeinen. 

Im  Interesse  des  Staates  liegt  es,  dass  die  Zahl  der  Ehen  gegen- 
über der  Gesammtbevölkening  möglichst  hoch  sei.  Jenes  Naturgesetz, 
welches  eine  Gleichzahl  der  Ge^^chlechter  fast  vollständig  herstellt,  lä«st 
es  auch  als  möglich  erscheinen,  dass  nahezu  der  ganze  erwachsene  Theil 
der  Bevölkerung  zur  Verheiratung  gelange,  und  jeder  Mann  eine  Frau, 
jede  Frau  einen  Mann  bekomme. 

Diese  Gleichzahl  der  Geschlechter,  durch  welche  schon  die  Natur 
den  Menschen  auf  die  Ehe  verweist,   ist  nun  zwar  vorhanden,  doch  wird 


Die  Zahl  der  Verheirateten.  395 

das  durch  sie  angedeutete  Verhältniss  von  keinem  unserer  civilisirten  Völker 
in  Wirklichkeit  auch  nur  annäherungsweise  erreicht. 

Der  Gründe  sind  mehrere. 

Einmal  der,  dass  zum  Heiraten  nicht  nur  Mann  und  Weib,  sondern 
Tisch  und  Herd,  Wohnung  und  Nahrung  gehören.  Die  Bedingungen  zur 
Erhaltung  einer  Familie  werden  immer  schwerer,  und  es  muss  die  Zahl 
der  Verheiratungen  sich  nach  der  grösseren  oder  geringeren  Schwierigkeit 
richten,  mit  welcher  die  nothwendigen  Subsistenzmittel  gewonnen  werden. 
Da  dies  ini  Zusammenhange  mit  der  allgemeinen  Wohlfahrt  steht,  so  sollte 
man  aus  einer  starken  Heiratsfrequenz  auf  die  Wohlfahrt  der  Bevölkerung 
schliessen  können.  (Vgl.  §.  191.) 

Ein  anderer  Grund,  welcher  die  Heiratsfrequenz  mindert,  liegt  darin, 
dass  viele  Männer,  welche  die  Mittel  zum  Unterhalt  einer  Familie  be- 
sitzen oder  leicht  erwerben  könnten,  aus  Egoismus  unverheiratet  bleiben, 
um  nicht  für  eine  Familie  sorgen  zu  müssen,  das  Leben  besser  zu  ge- 
niessen  und  sich  zu  conserviren.  Wo  dieser  Grund  die  Zahl  der  Hage- 
stolzen vermehrt,  da  lässt  sich  auf  ungesunde  Sittlichkeitszustände  schliessen. 
üebrigens  rächt  sich  solcher  Egoismus  von  selbst,  denn  nach  den  Erfah- 
rungen der  Statistik  ist  durchschnittlich  das  Leben  der  Hagestolzen  viel 
mehr  gefährdet  als  jenes  der  Familienväter,  trotz  der  grösseren  Mühen 
und  Entbehrungen  der  letzteren. 

Die  verschiedenen  Ziffern,  welche  hier  in  Betracht  kommen,  sind: 
l.  Die  Zahl  der  Ehen,   resp.   der  Verheirateten.    Um  sie  zu  er- 
fahren, hat  man  bei  den  neueren  Volkszählungen  auch  den  Civilstand  der 
gezählten  Bevölkerung  untersucht. 

II.  Die  Trauungsziffer  oder  Heiratsfrequenz. 

in.  Das  Heiratsalter. 

IV.  Die  Dauer  der  Ehen. 

V.  Die  Fruchtbarkeit  der  Ehen. 

VI.  Die  Zahl  der  Familien. 

§.  190.  Die  Zahl  der  Verheirateten. 

Um  sie  übersichtlich  darzustellen,  hat  man  (schon  in  den  Jahren 
1846 — 57)  die  Procentsätze  der  Verheirateten  für  19  europäische  Länder, 
welche  zusammen  eine  Bevölkerung  von  121  Mill.  Seelen  haben,  zusam- 
mengestellt*). Nach  dieser  Zusammenstellung  sind  unter  einer  Million  Ein- 
wohner 348817  Verheiratete  und  651183  Unverheiratete.  Der  Betrag  der 
Verheirateten  ist  durchschnittlich  34,88  ^  der  Gesammtbevölkenmg.  Es 
ergab  sich  dabei,  dass  in  den  südeuropäischen  Ländern  romanischer  Be- 
völkerung die  Zahl  der  Unverheirateten  geringer  ist  als  in  den  nordeuropäi- 
schen Ländern  mit  germanischer  Bevölkerung.    Die  Gründe  hievon  findet 


396  Die  Zahl  der  Verheirateten. 

Wappäus  darin,  dass  in  jenen  südlichen  Ländern  wegen  der  früher  ein- 
tretenden Reife  der  Bevölkerung  die  Ehen  früher  geschlossen  werden 
können,  und  darin,  dass  dort  die  nothwendigsten  Lebensbedürfnisse  leichter 
zu  befriedigen  sind,  als  im  Norden. 

Aber  man  kam  auch  schon  früh  zu  der  Ueberzeugung,  weit  wich- 
tiger als  das  Verhältniss  der  Verheirateten  zur  Gesammtzahl  der  Bevöl- 
kerung sei  ihr  Verhältniss  zur  Zahl  der  Erwachsenen. 

Nahm  man  für  beide  Geschlechter  als  mittlere  Anfangsgrenze  des 
heiratsfähigen  Alters  18  Jahre,  so  betrugen  die  Erwachsenen  in  unseren 
Staaten  fast  genau  fünf  Achtel  der  Gesamratbevölkening. 

Stellt  man  den  so  ermittelten  Erwachsenen  die  Zahl  der  Ehen  gegen- 
über, so  lebt  im  Durchschnitt  in  unseren  Staaten  etwas  über  die  Hälfte 
aller  Erwachsenen  in  der  Ehe. 

Um  das  Verhältniss  jener  Personen  zu  erfahren,  welche  dem  Alter 
nach  heiratsfähig,  aber  noch  nicht  zur  Verheiratung  gekommen  sind,  muss 
man  zur  Zahl  der  Verheirateten  noch  die  Zahl  der  verheiratet  gewesenen, 
d.  i.  der  Verwitweten  und  der  Geschiedenen,  hinzuzählen. 

Nach  Wappäus  nun  sind  in  19  beobachteten  europäischen  Landern 
von  je  10000  Erwachsenen  durchschnittlich  6598  verheiratet  oder  ver- 
heiratet gewesen;  die  übrigen  kamen  noch  nicht  zur  Verheiratung. 

Im  Allgemeinen  scheint  die  Zahl  der  Verheirateten  gegenüber  der 
Bevölkerung  regelmässig  abzunehmen. 

Einer  Zusammenstellung  aus  der  neuesten  Zeit  ist  in  dieser  Hinsicht 
zu  entnehmen,  dass  in  den  Culturländem  unter  10000  Erwachsenen  (über 
15  Jahre)  sich  befinden^): 

3731  Ledige 
5319  Verheiratete 
950  Verwitwete  oder  Geschiedene. 

Die  Ziffern  der  Verwitweten  und  Geschiedenen  sind  von  geringerem 

Interesse.    Nach  älteren  Beobachtungen   gehört  etwa  Vi«  ^^^  gesammten 

Bevölkerung  (in  den  europäischen  Ländern)  dem  verwitweten  Stande  an. 

Vergleicht  man   auch  hier  die  Ziffer  der  Verwitweten   mit  der  Zahl  der 

ei-wachsenen  Personen  überhaupt,    so  treffen  auf  10000  Erwachsene  (über 

15  Jahre)  an  Verwitweten  und  Geschiedenen  zusammen: 

Bei  beiden  Geschlechtern      .    .    .    950 

Beim  männlichen  Geschlechte  .    .    595 

Beim  weiblichen  Geschlechte    ,    .  1290 

Die  Zahl  der  Witwen  ist  in  den  europäischen  Ländern  durchschnitt- 
lich doppelt  so  gross,  als  jene  der  Witwer'). 

Dieses  üebergewicht  der  Witwen  hat  seinen  natürlichen  Grund  darin, 
dass,   weil  unter  den  Ehegatten  die  Männer  der  ältere  Theil  sind,    die- 


Die  Zahl  der  Verheiratet«!!. 


397 


selben  eher  sterben,  und  einen  anderen  Grand  darin,  dass  mehr  Witwer 
als  Witwen  sich  wieder  verheiraten. 

Auch  die  Wiederverheiratung  von  verwitweten  Personen  ist  eine 
sehr  regelmässige  Erscheinung.  Gegen  10000  Witwer,  die  sich  wieder 
verheiraten,  gehen  nur  5800 — 6300  Witwen  wieder  eine  Ehe  ein. 

Die  Zahl  der  geschieden  Lebenden  ist  absolut  und  relativ  eine  so 
geringe,  in  einzelnen  Ländern  völlig  verschwindende,  dass  sie  hier  wohl 
ausser  Acht  gelassen  werden  kann.  Weit  bezeichnender  ist  sie  bei  der 
Betrachtung  sittlicher  Volkszustände. 

Anmerkungen. 
*)  Diese  ältere  Tabelle,  von  Wappäus  a.  a.  0.  ist  immerhiu  wegeu  der 
bemerkeuswertheu  Unterschiede  heute  noch  von  Interesse. 


Länder 


Frankreich  • 
Spanien  .  . 
Kirchenstaat 
Sachsen  .  . 
England  .  . 
Dänemark  . 
Freussen  .  . 
Hannover  .  . 
Schweden 
Norwegen  . 
Württemberg 
Niederlande  . 
Belgien .  .  . 
Bayern  .    .   , 


Zählung 


1851 
1857 
1853 
1849 
1851 
1850 
1852 
1852 
1855 
1855 
1846 
1849 
1856 
1852 


Betrag 

der 

Verheirateten 


38,94! 

86,06 

35,06 

34,97 
33,32 

33,80 
33,09 

32,82 
32,59 

32,21 

31,90 
30,68 

30,61 

28,64 


*)  Bei   beiden  Geschlechtem   zusammen   sind    unter    10000  Erwachsenen 
(über  15  Jahre)  (nach  Block-v.  Scheel  a.  a.  0.  S.  254): 


Ledig 


Ver- 
heiratet 


Ver- 
witwet 


Ge- 
schieden 


Deutsches  Reich  .  . 
England  und  Wales 
Dänemark  .... 
Norwegen     .... 

Schweden 

Oesterreich    .... 


3994 
3732 
3929 
4080 
4120 
3945 


5107 
5398 
5191 
5065 
4952 
5241 


873 
880 
830 
839 
919 
809 


26 

50 

16 

9 

4,8 


398 


Die  Heiratafreqnenr. 


1  U 


Ledig 

Ver- 

Ver- 

Ge- 

heiratet 

witwet 

schieden 

2557 

6475 

924 

44 

3751 

5270 

979 

— 

4431 

4582 

940 

47 

3308 

5566 

1126 

— 

4493 

4634 

873 

— 

4157 

4948 

886 

9^ 

Uugani  .  . 
Italien  .  . 
Schweiz  . 
Frankreich 
Belgien  .  . 
Niederlande 


*)  Auf  10000  erwachsene  Männer  bez.  Frauen  finden  sich  (nach  derselben 


Quelle) : 


Witwer 

Witwen 

525 

1202 

573 

1163 

500 

1143 

545 

1112 

561 

1240 

554 

1136 

Witwer 


Witwen 


Deutsches  Reich  . 
England  u.  Wales 
Dänemark  •  .  .  . 
Norwegen  .  .  .  . 
Schweden  .  .  .  . 
Oesterreich     •   •    . 


Ungarn  .  . 
Italien  .  . 
Schweiz  .  . 
Frankreich 
Belgien 
Niederlande 


564 
609 
660 
773 
652 
596 


1386 
1350 
1202 
1471 
1094 
1159 


§.  191.  Die  HeiraUfrequenz. 

Eine  sehr  bedeutungsvolle  Ziffer  ist  die  Zahl  der  in  einem  Zeiträume 
geschlossenen  Ehen.  Sie  drückt  die  Hoffnung  aus,  welche  zu  dieser  Zeit 
in  Bezug  auf  das  ökonomische  Gedeihen  einer  Familie  im  Lande  besteht 
(Hermann).  Solche  Hoffnungen  können  aber  mehr  oder  weniger  leicht- 
sinnige sein,  besonders  in  grossen  Städten  und  Fabriksgegenden. 

Man  kann  aus  der  Proportion  der  Trauungen  nicht  geradezu  auf 
die  Proportion  der  stehenden  Ehen  schliessen.  Nicht  dass  viele  Hochzeiten 
gefeiert  werden,  sondern  dass  die  Proportion  der  Familien  eine  grosse  sei: 
das  ist  vom  volkswirthschaftlichen  und  vom  sittlichen  Standpunkte  er- 
wünscht. Das  Verhältniss  der  stehenden  Ehen  zur  Gesammtbevölkerung 
hängt  ausser  der  Zahl  der  Trauungen  noch  ab  von  der  mittleren  Dauer 
der  ehelichen  Verbindungen. 

Die  Heiratsfrequenz  ist  eine  örtlich  ziemlich  verschiedene  Ziffer.  Sie 
gestattet  indess  nicht,  aus  ihr  sofort  auf  das  Familienglück  der  Bevöl- 
kerungen zu  schliessen. 

Die  Regelmässigkeit  in  der  allgemeinen  Heiratsordnung  zeigt  sich 
merkwürdigerweise  weniger  in  der  Zahl  der  überhaupt  geschlossenen  Hei- 
raten,   als  in  den  mannigfachen  Combinationen,    welche    hinsichtlich  des 


Die  Heiratsfrequenz. 


399 


Gvilstandes  und  Alters  der  Heiratenden,  sowie  hinsichtlich  der  Jahreszeit, 
in  welcher  die  Ehen  geschlossen  werden,  entstehen.  Ob  in  einer  gewissen 
Zeit  Junggesellen  und  Jungfrauen  (erste  Ehen),  Junggesellen  und  Witwen, 
oder  Witwer  mit  Jungfrauen  und  Witwen  (zweite  und  dritte  Ehen)  sich 
verheiraten,  ob  die  Ehen  frühzeitig  (zwischen  dem  16.  und  21.  Jahre), 
ob  sie  rechtzeitig  (normal,  zwischen  dem  21.  und  30.  Jahre),  ob  als  ver- 
spätete (zwischen  dem  30.  und  50.  Jahre)  oder  in  ganz  abnormer  Weise 
(nach  dem  50.,  60.,  70.,  ja  80.  Lebensjahre)  geschlossen  werden,  ob  ganz 
junge  Männer  (unter  30  Jahren)  mit  Frauen  über  45,  ja  über  60  Jahren 
und  junge  Mädchen  mit  uralten  Männern  Ehen  schliessen:  das  vollzieht 
sich  in  viel  gleichmässigerem  Gange  und  zeigt  sich  in  viel  constanteren 
Ziffern  als  die  allgemeine  Heiratstendenz  eines  Landes  oder  Volkes 
(Oettingen). 

Jedenfalls  ist  die  willkürliche  Handlung  der  Eheschliessungen  eine 
sich  weit  regelmässiger  vollziehende,  als  die  im  Allgemeinen  von  physi- 
schen Ursachen  abhängende  Absterbeordnung. 


Anmerkung. 
Nach  ,^Moyimeiito    dello   stato  civile",    Roma  1878,   beträgt  die  Zahl  der 
Trauungen  auf  je  1000  Einwohner: 


l^iib 


W^t't 


imi 


imB 


U6i> 


1870 


lS74|ie7,S  Jgt76 


Mitttil 


Hatieu     .  >  .   4  «   ^  .    ^ 
Prankreich     <   ■  *  .  .  ^ 
England  und  Walue    .   . 
Schottland     ,*.... 

Irland  .    .......   ^ 

Deut^chfie  Rekh  »   .   .    . 
PrenesfiD     ........ 

B&yern    ..,..,»> 

f^acheen  ,   * 

Württemberg 

OtiEl^reiGb  diflas.  d.  L.  . 
Ungarn  n.  Siebenbttrgen 

Sckweiz 

Belgien 

Spanien 

Niederlande 

Schweden 

Norwegen 

D&nemark 

Bomftnien 

Griechenland 

Serbien 

Finnland 

Portugal    .   .   .  1860—62 


9,t 
7,» 

^7 
Q,l 

8, 
iJpj 

9,0 

7,5 
7,» 

8,t 
7,1 
6,« 
8,8 

6,s 
12,1 


^y 

Vi 
8,t 

6,5 

8,0 

7,8 

8,1 

8,3 

6,7 
6,7 

8,t 
5,0 

11,3 

6,1 


1,« 

8,1 
6,1 
B,* 

9,1 
9,0 
9,£ 

0,7 

10,1 

6,9 

7,8 

7,t 

8,3 

6,1 
6,s 

7,6 

5,« 
10,5 
6,4 


7,a 

7,1 
8,0 
6,* 
5,1 

3,8 

13,3 
6,7 

7,8 

6,7 

7,« 

5,5 
6,2 

7,» 
5,« 

10,8 
6,8 


7.S 
ö,o 
6,0 

B,» 

12,3 

»,Ä 

B,* 

10,8 

7,3 

7,» 
8,2 
7,« 

5,8 

6,1 

7,3 

6,5 
11,9 
9,8 


7,3 

6,0 
8,0 

7,t 
&,i 

7,k 
8,» 

8,1 

9,» 
9.8 

7,0 

6,9 
6,2 

8,0 
6,0 
6,4 

7,4 

5,2 
6,3 

10,0 
10,1 


7,1 
8,1 
7j 
^^ 

7,9 

S,4 

IM 

10,4 
7,3 
7,8 

8,0 

6,5 

6,0 

7,8 

5,8 
6,4 
10,3 

9,« 


7,5 
8,7 

5,1 

10,3 

10.  a 
10,1 
10,1 
10,1 

10,7 

7,» 
7,7 

8,8 
7,0 
7,0 

7,5 
7,2 

6,1 
13,5 
8,« 


8,0 
8,4 
8,ft 
'^<,^ 

10,  e 
10, 
9,t 
10,  & 

B,B 

&,* 
11,4 

7,4 

7.7 

8,8 

7,3 
7,2 

8,1 
5,s 
6,1 

10,9 

8,4 


8,b 
7.9 
4,c 
y.i 

9,' 
]0,s 
8,1 

10,7 
8,3 

7,0 
8,4 

7,3 

7,7 

8,1 
6,2 

11,5 
8,9 


8,4 
8,= 

B,4 
T,* 

9,1 
8,1 
lös 
S,i 
8,1 

10,9 

9,0 

7,2 
8,3 

7,1 

7,8 

8,5 
6,« 

10,9 

8,3 


8,2 


7,1 
8.0 

S,t 
7,3 
5,1 

a* 

8,9 

9,1 
»^ 
ß,: 

8,7 
10,5 

7,« 
7,5 
7,» 
8,2 

6,6 

7,0 

7,9 

6,1 
6,1 
11,3 

8,2 
6,3 


400  Die  Heintsfreqnenz  in  verschiedenen  Jahren. 

Hiezu  dürften  noch  folgende  ältere  Zahlen  verglichen  werden.  Auf  iOOO 
Einwohner  kamen  Trauungen  (nach  Wappäus  a.  a.  0.  11.  141): 

in  den  Jahren 


in  Freussen 

1844-53 

8,6 

„  England 

1845—54 

8,4 

„  Oesterreich 

1848-51 

8,3 

^  Dänemark 

1845-54 

8,2 

y,  Sachsen 

1847-56 

8,2 

„  Frankreich 

1845—53 

7,8 

„  Norwegen 

1846-55 

7,7 

^  den  Niederlanden 

1845—54 

7,6 

„  Sardinien 

1828-37 

7,6 

„  Schweden 

1841-50 

7,2 

„  Belgien 

1847-56 

6,8 

„  Bayern 

1842-51 

6,6 

§.  192.  Die  HeiraUfrequenz  in  yenoliiedenen  Jahren. 

Von  grossem  Interesse  ist  es,  die  Bewegung  der  Heiratsfrequenz  von 
Jahr  zu  Jahr  zu  verfolgen. 

Schon  vor  mehr  als  dreissig  Jahren  zeigte  sich's  in  den  europäischen 
Culturländern,  wie  bedeutend  allgemeine  Nothstände  die  Heiratsfrequenz 
mindern.  Das  Jahr  1847  ergab  für  ganz  Mitteleuropa  in  Folge  sehr 
schlechter  Ernten  eine  ganz  ungewöhnliche  Theuerung.  In  Folge  derselben 
sank  aber  auch  die  Heiratsfrequenz  ganz  ausserordentlich.  Am  stärksten 
wurde  dieser  Einfiuss  in  Belgien  fiihlbar.  Vielleicht  war  der  Misswachs 
und  die  daraus  entstandene  Theuerung  in  den  verschiedenen  Ländern  nicht 
gleich;  sicherer  aber  waren  auch  die  Bevölkerungen  diesem  Einflüsse  nicht 
gleichmässig  zugänglich.  Es  scheint  wirklich  eine  verschiedene  Widerstands- 
fähigkeit gegen  eine  plötzlich  hervorbrechende  Calamität  den  verschiedenen 
Völkern  innezuwohnen  *). 

Mehr  als  alle  die  genannten  Länder  zeichnete  sich  Bayern  durch 
die  grosse  Gleichmässigkeit  seiner  Heiratsfrequenz  von  Jahr  zu  Jahr  aus  *). 
Diese  geringe  Schwankung  muss  als  ein  günstiges  Verhältniss  angesehen 
werden;  sie  zeigt,  dass  mehr  als  die  eben  zur  Begründung  eines  Haus- 
standes nothdürftig  hinreichenden  Mittel  vorhanden  sind.  Hoffnung  und 
Furcht  haben  offenbar  um  so  geringeren  Einfiuss,  je  solider  der  Boden  ist, 
auf  welchem  der  Mensch  lebt  und  haust.  Aber  es  war  nicht  allein  der 
vorwiegende  Ackerbaucharakter  des  Landes ,  der  seinem  Volke  diese 
Widerstandskraft  verlieh,  sondern  gewiss  auch  seine  vormalige  Gesetz- 
gebung, welche  das  Heiraten  nur  bei  völlig  genügender  Ei-werbsfähigkeit 
gestattete. 

Auch  in  neuerer  Zeit  lässt  sich  die  Einwirkung  ausserordentlicher 
Umstände  und  Ereignisse  auf  die  Heiratsfrequenz  deutlich  beobachten. 


Die  Heiratsfrequenz  in  verschiedenen  Jahren. 


401 


So  hat  in  Frankreich  der  unglückliche  Feldzug  von  1870,  von  ent- 
sprechender volkßwirthschaftlicher  Schädigung  begleitet,  die  Heiratsfrequenz 
der  Jahre  1870  und  1871  ungewöhnlich  tief  herabgedrückt,  während  sie 
im  Jahre  1872,  gewissermassen  zum  Ersatz,  sich  wieder  weit  über  den 
Durchschnitt  erhob.  So  hat  im  Deutschen  Reiche  und  in  Oesterreich- 
Ungam  der  Einfiuss  der  1873  eingetretenen  wirthschaftlichen  Krisis  und. 
ihrer  Folgen  ein  Spiegelbild  in  der  Heiratsfrequenz  dieser  Länder  gefunden. 
Die  Heiratsfrequenz  Oesterreichs  und  Italiens  scheint  den  Feldzug  von 
1866  zu  empfinden,  wie  diejenige  Irlands  nun  seit  Jahren  den  der  irischen 
Agrarfrage.  (Vergl.  hiefür  die  in  Anmerkung  1  zum  vorigen  Paragraphen 
mitgetheilten  Zahlen.)  Die  Heiratsfrequenz  ist  demnach  allerdings  ein  sehr 
empfindliches  Barometer  derjenigen  Hoffnungen,  welche  die  grössere  Masse 
der  Bevölkerung  von  der  Zukunft  hat;  aber  um  so  empfindlicher,  je 
weniger  wirthschaftliche  und  sittliche  Widerstandsfähigkeit  eine  Bevöl- 
kerung besitzt. 

In  dem  sehr  industriellen  Sachsen  zeigt  sich  neben  der  Wirkung 
der  Theuerung  auch  eine  solche  der  Handelsconjuncturen. 

Uebrigens  braucht  in  einem  dichter  bevölkerten  Staat  die  Zahl  der 
geschlossenen  und  der  vorhandenen  Ehen  der  Zahl  der  Unverheirateten 
gegenüber  nicht  zu  steigen.  Wenn  sie  nicht  sinkt,  muss  dies  schon  als 
ein  günstiges  Zeichen  angesehen  werden.  Denn  mit  dem  Dichterwerden 
der  Bevölkerung  würde  die  Schwierigkeit  der  Familiengründung  nothwendig 
grösser,  wenn  nicht  ein  gleichzeitiger,  namentlich  wirthschaftlicher  Cultur- 
aufschwung  stattfände. 

Anmerkuugeu. 

*)  Auf  eine  Trauung  kamen  Einwohner  (nach  Wappäus,  a.  a.  0., 
II.  246)  in: 


Jahr 

Preussen 

England 

Oesterreich 

Sachsen 

Frankreich 

Belgien 

1844 

111 



124 

_ 

124 

_ 

1845 

112 

116 

131 

— 

124 

— 

1846 

116 

116 

125 

-— 

131 

— 

1847 

129 

126 

136 

130 

142 

180 

1848 

122 

125 

117 

124 

121 

152 

1849 

109 

123 

112 

117 

127 

138 

1850 

106 

116 

105 

104 

119 

130 

1851 

109 

116 

103 

103 

124 

133 

1852 

118 

114 

— 

117 

127 

142 

1853 

117 

111 

_ 

121 

127 

145 

1854 

— 

HO 

— 

131 

— 

152 

Haashofe r,  Statistik.  2.  Aufl. 


26 


402  I^ie  Heiratsfrequenz  nach  dem  Civilstande  der  Heiratenden. 

*)  Hier  kamen  Eiuwohuer  auf  eine  Trauung: 


im  Jahre  1841/42 

149 

im  Jahre  1846/47 

159 

1842/43 

150 

1847/48 

152 

1843/44 

150 

1848/49 

148 

1844/45 

151 

1849/50 

151 

1845/46 

154 

1850/51 

147 

§.  193.  Die  HeiraUfrequenz  nach  dem  Civilstande  der  Heiratenden. 

Eine  überwiegende  Zahl  von  Ehen  sind  erstmalige,  denn  es  werden 
in  den  europäischen  Ländern  durchschnittlich  von  je  1000  Ehen  750 
bis  850  zwischen  Jünglingen  und  Jungfrauen  geschlossen,  35 — 60  zwischen 
Jünglingen  und  Witwen,  80 — 100  zwischen  Witwern  und  Jungfrauen, 
20 — 55  zwischen  Witwern  und  Witwen  *). 

Diese  Verhältnisse  sind  ungewöhnlich  constant;  sie  müssen  auf  das 
innigste  mit  dem  socialen  Volkscharakter  zusammenhängen.  Die  Gründe 
dieser  Unterschiede  aber  sind  vorerst  nicht  zu  enträthseln. 

Als  allgemeine  Unterlage  der  hierauf  bezüglichen  Untersuchungen 
dürfte  gelten,  dass  im  Ganzen  eine  grosse  Proportion  der  ersten  Ehen  als 
das  günstigste  Verhältniss  anzusehen  ist.  Denn  in  glücklichen  Zeiten  steigt 
diese  Proportion  überall.  In  glücklichen  Zeiten  haben  Witwer  oder 
Witwen  weniger  Chancen  sich  zu  verheiraten;  die  zweiten  Ehen  sind 
überhaupt  weniger  Schwankungen  unterworfen  als  die  ersten.  Der  Grund 
davon  liegt  in  den  ökonomischen  Verhältnissen. 

Wer  schon  eine  Ehe  hinter  sich  hat,  steht  ökonomisch  jedenfalls 
fester,  als  wer  die  erste  schliessen  will. 

Hieher  gehört  auch  noch  die  Verhältnisszahl  der  sich  wieder  ver- 
heiratenden Geschiedenen.  In  Sachsen  verheiraten  sich  von  den  Geschie- 
denen wieder  7^^  von  den  geschiedenen  Männern  11  und  von  den  ge- 
schiedenen Frauen  5^.  Ein  Beweis  für  die  Scheu,  welche  das  Volks- 
bewusstsein  vor  geschiedenen  Frauen  hat. 

Anmerkung. 

*)  Die  Trauungsziffer  nach  dem  Civilstande  der  Getrauten.  Unter  100 
Heiraten  fanden  statt: 


Das  Heiratsalter. 


403 


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1*1 


lii 

N  g  § 


2g-S 

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Sil 


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Italien 

Frankreich 

Belgien 

England  nnd  Wales   . 

Prenssen 

Bayern 

Sachsen 

Württemberg    .   .  .  . 
Oesterreich  (o.  üng.)  . 

Niederlande 

Schweiz 

Dftnemark 

Schweden 

Norwegen 

Spanien 

Griechenland    .  .  t  . 

Rumänien 

Finnland 


1865-77 
1865-76 
1865-76 
1866—76 
1867-77 
1866-76 

1876 
1871—77 
1865-77 
1866—77 

1877 
1865-76 
1865-77 
1865-74 
1866—70 
1866—69 
1870—76 
1869—74 


82,5 
84,0 
82,7 

81,6 

79,8 
82,s 
81,0 
81,s 
75,4 
79,8 
76,« 

81,3 

84.7 
84,5 
81,0 
85,8 
84,0 
76,1 


3,8 

4,0 
6,11 
4,* 

5,8 
6,3 

3,6 
? 

6,4 

4,5 

4,3 
5,2 
8,5 
3,8 

4,0 
4,0 
3,0 
6,1 


9,8 

8,1 
8,6 

8,6 
10,8 

10,6 

8.8 

? 

13,1 
10,» 
10,0 
10,0 

9,3 
9,5 

10,0 

6,7 
6,2 

12,1 


3,8 

3,7 
8,5 
6,8 

3,6 

1,7 

4,1 
? 

4,9 

4,8 
3,0 
2,1 
2,1 

2,0 

4,8 
8,8 
6,8 

5,4 


0,82         0,10        0,20         0,15 


0,02 


0,03 


0,85 

0,85 

0,61 

0,88 

0,10 

? 

•     ? 

? 

? 

? 

0,12 

0,04 

0,0» 

0,0« 

0,01 

1,24 

0,3« 

0,75 

0,4« 

0,22 

0,53 

0,10 

0,42 

0,1» 

0,08 

0,03 

- 

0,0» 

-- 

0,04 

- 

- 

- 

- 

- 

(Nach:  Moyimeuto  dello  stato  civile.  Roma  1878.  XXIX.) 


§.  194.  Das  Heiratsalter. 

lieber  das  Heiratsalter  hat  die  Statistik  interessante  Daten  geliefert, 
welche  indessen  eine  Vergleichung  noch  ziemlich  schwierig  erscheinen 
lassen,  weil  man  es  dabei  nicht  blos  mit  dem  Alter  des  Mannes  oder  der 
Frau  allein,  sondern  auch  mit  den  mannigfachen  Combinationen  beider 
zu  thun  hat. 

Unterscheidet  man  die  Heiraten  nach  dem  Heiratsalter,  so  kann 
man  sie  im  Allgemeinen  in  frühzeitige,  rechtzeitige  und  verspätete  unter- 
scheiden. Begreiflicherweise  kann  aber  eine  Heirat  für  den  einen  Theil 
eine  rechtzeitige  und  für  den  anderen  eine  frühzeitige,  oder  für  den  einen 
Theil  eine  verspätete  und  für  den  anderen  eine  rechtzeitige  sein  u.  s.  f., 
so  dass  sich  in  dieser  Hinsicht  einfache  Beobachtungen  nicht  wohl  an- 
stellen lassen.  Ausserdem  hat  man  gar  keinen  bestimmten  Grund  dafür, 
in  welchen  Lebensjahren  bei  Männern,  in  welchen  bei  Frauen  und  in 
welchen  bei  beiden  Geschlechtern  zusammengenommen  man  von  früh- 
zeitigen, rechtzeitigen  oder  verspäteten  Ehen  sprechen  kann. 

Das  Alter,  in  welchem  die  Männer  in  die  Ehe  treten,  wird  haupt- 
sächlich durch  ihre  Erwerbsfähigkeit  bedingt,  ausserdem  durch  die  Volks- 
Bitte,  durch  die  Gesetzgebung,  durch  den  Militärdienst  und    andere    üm- 

26* 


404  ^^  Heiratsalter. 

stände.  Wesentlich  anders  steht  es  mit  dem  Heiratsalter  des  weiblichen 
Geschlechtes.  Bei  letzterem  ist  das  Heiratsalter  von  der  eigenen  Erwerbs- 
fähigkeit fast  ganz  unabhängig,  muss  aber,  der  Natur  und  der  allmäch- 
tigen Volkssitte  gemäss,  hauptsächlich  vom  Heiratsalter  der  Männer  be- 
dingt werden,  ausserdem  in  weit  höherem  Grade  als  jenes  der  Männer, 
von  klimatischen  Unterschieden,  welche  auf  die  frühere  oder  spätere  Reife 
der  Weiber  einwirken.  Es  scheint  demnach  gerechtfertigt,  bei  der  Be- 
trachtung dieses  Gegenstandes  zunächst  das  Heiratsalter  der  beiden  Ge- 
schlechter zu  unterscheiden. 

I.  Das  Heiratsalter  der  Männer  zeigt  ganz  bemerkenswerthe 
Verschiedenheiten  in  den  einzelnen  Ländern. 

Frühzeitige  Ehen  können  bei  Männern  jene  genannt  werden,  welche 
vor  dem  24.  oder  25.  Jahre  geschlossen  werden.  Erstreckt  man  diese 
Frist  bis  zum  25.  Jahre,  so  zeigen  sich  höchst  auffallende  Unterschiede. 
In  England  und  Wales  z.  B.  sind  51,9oJl^  aller  heiratenden  Männer  im 
Alter  bis  zu  25  Jahren;  in  Russland  sogar  68,3iJI^,  dagegen  in  Bayern 
nur  16,36  Ji^,  in  Dänemark  nur  19,4331^  *). 

Es  ist  wohl  natürlich,  dass  diese  Unterschiede  auch  auf  die  Ver- 
theilung  der  rechtzeitigen  Ehen  (in  ihren  Einzelnheiten)  und  selbst  auf 
die  verspäteten  Ehen  sich  erstrecken. 

Sehr  schwierig  aber  dürfte  es  sein,  auf  alle  hier  einwirkenden 
Gründe  einzugehen.  Einige  lassen  sich  allerdigs  erkennen.  Dasjenige  euro- 
päische Land,  wo  das  Heiratsalter  der  Männer  am  weitesten  hinaus- 
geschoben erscheint,  Bayern,  erkennt  als  Grund  davon  seine,  mit  der 
Volkssitte  innig  verwachsene,  vormalige  Socialgesetzgebung,  welche  das 
Heiraten  ungemein  erschwerte.  Jetzt  ist  zwar  die  Gesetzgebung  geändert; 
aber  die  Volkssitte  folgt  nur  langsam  nach  und  lässt  das  Heiratsalter  der 
Männer  von  Jahr  zu  Jahr  in  eine  frühere  Lebenszeit  vorrücken.  Warum 
aber  in  England  und  in  Russland,  —  also  in  Ländern  von  der  denkbar 
grössten  Verschiedenheit  in  Bezug  auf  Sitte,  Gesetzgebung,  Natur  und 
Volkswirthschaft  —  am  frühesten  geheiratet  wird,  das  lässt  wohl  schwer 
hinreichende  Erklärungen  zu.  In  England  mögen  wohl  der  bedeutende 
Nationalreichthum,  das  Fehlen  der  allgemeinen  Wehrpflicht  und  die 
starke  Fabrikbevölkerung  mit  Hauptursachen  sein.  Aber  Russland  ist  kein 
Fabrik-,  sondern  ein  Ackerbaustaat,  und  verheiratet  seine  Männer  noch 
früher!  Man  steht  hier  vor  einem  jener  socialen  Räthsel,  zu  deren  Lösung 
die  dürre  Ziffer  der  Statistik  absolut  unzureichend  ist. 

n.  Das  Heiratsalter  der  Frauen  wird,  wie  schon  oben  bemerkt 
ward,  theilweise  vom  Heiratsalter  der  Männer,  theilweise  aber  auch  von 
anderen  Ursachen  bestimmt.  Das  Heiratsalter  der  Männer  wirkt  auf  jenes 
der  Frauen  in  doppelter  Hinsicht.  Indem  zahlreiche  Männer  ihre  späteren 


Das  Heiratsalter. 


405 


Frauen  schon  kennen  lernen,  längere  Zeit,  ehe  sie  sich  einen  eigenen 
Herd  begründen  können,  sind  sie  veranlasst,  mit  ihrem  eigenen  Heirats- 
alter auch  dasjenige  ihrer  Frauen  hinauszuschieben.  Andererseits  pflegen 
doch  auch  jene  Männer,  die  überhaupt  erst  in  späteren  Jahren  an  die 
Ehe  denken,  allzugrosse  Altersungleichheit  zu  vermeiden.  Die  Unterschiede, 
welche  das  Heiratsalter  der  Frauen  in  den  verschiedenen  Ländern  zeigt, 
sind  übrigens  grösser  als  bezüglich  der  Männer.  So  heiraten  z.  B.  in 
Russland  57,27,  in  Ungarn  35,i6^  der  Frauen  vor  oder  mit  dem  20.  Jahre, 
in  Bayern  blos  5,W)  und  in  Schweden  nur  5,09^.  In  England,  wo  die 
Männer  so  frühzeitig  heiraten,  wird  (wie  in  Schweden)  das  Heiratsalter 
der  Frauen  durch  die  spätere  physische  Entwickelung  des  Weibes  hinaus- 
geschoben. Es  zeigt  sich  demnach,  dass  bei  dem  Heiratsalter  der  Frauen 
die  physikalischen  Einflüsse  des  Klimas  stärker  sind,  als  jener  wirth- 
schaftliche  Bestimmungsgnind,  welcher  in  der  früheren  oder  späteren 
Erwerbsfähigkeit  der  Männer  liegt. 

in.  Bei  beiden  Geschlechtern  aber  werden  die  Ehen  später 
geschlossen,  als  es  durch  die  Natur  angezeigt  und  durch  die  Menschen 
gewünscht  ist.  Die  sociale  Ordnung  setzt  dem  Einzelnen  Schranken;  aber 
diese  Schranken  sind  nicht  unübersteiglich  und  sind  auch  kein  äusserer 
Zwang,  sondern  wirken  eben  sehr  gleichmässig  auf  die  Ueberlegung  aller 
einzelnen  Individuen  ein.  Im  Allgemeinen  werden  7io  ^^^  Ehen  vor  dem 
40.  Jahre  geschlossen.  Einfachere  Volkszustände  sind  in  dieser  Hinsicht 
besser  daran,  als  die  Uebercivilisation  des  westlichen  und  mittleren  Europa. 

Aumerkungeu. 
^)  Bezüglich  «des  Heiratsalters  der  Mäuuer   dürften    folgende    Ziffern    für 
die    wichtigsten    europäischen    Länder    mitgetheilt   werden    (nach    „Movimento 
dello  stato  civile,  Roma  1880").  Unter  100  heiratenden  Männern  heirateten: 


(Durchschnitt  der 
Jahre) 


Frühzeitige  Ehen 


unter  25  J.    Von  25—30  J 


Ehen 
zwischen 
30  u.  40  J. 


Späte  Ehen 


über  40  J. 


Italien  .    . 
Frankreich 
England  . 
Preussen  . 
Bayern     . 
Sachsen    , 
Oesterreich 
Ungarn     ,  . 
Schweden 
Kassland  . 


.  (1872-78) 
.  (1871-77) 
.  (1872-78) 
.  (1871—78) 
.  (1870—78) 
.  (1866—70) 
.  (1870-78) 
, (1876 ,  77) 
.  (1871-78) 
.  (1867-75) 


26,27 
26,99 
^1,90^ 

16,36 

24,02 


21,70 

68,31 


67,16 


61,51 

76,51 


37,10 
36,01 

24,69 

37,07 

43,69 


35,79 
11,82 


25,96 
26,29 
14,41 

23,09 

31,39 

22,6» 

23,86 
12,98 
29,96 
12,21 


10,67 
10,71 

9,00 

9,75 

15,18 
9,60 
14,63 
10,51 
12,56 
7,66 


406 


Die  Dauer  der  Ehen. 


')  Nach  derselben  Quelle  wie  oben  stellt  sich  das  Heiratsalter  der  Frauen 
wie  folgt.  Von  dOO  heiratenden  Frauen  heirateten  (die  Beubachtungsjahre 
wie  oben): 


Frühzeitige  Ehen 

25—30  J. 

Späte 

Ehen 

1  n 

Unter  20  J. 

Von  20— 25  J. 

30—40  J. 

Ueber 
40  J. 

Italien   .... 

17,08 

43,65 

22,04 

12,57 

4,66 

Frankreich 

20,43 

38,51 

20,83 

14,44 

5,79 

England    . 

14,86 

49,16 

18,87 

11,12 

5,99 

Preussen    . 

11,10 

68 

,57 

15,19 

5,14 

Bayern  .    . 

5,40 

33,65 

30,44 

21,84 

8,67 

Sachsen     . 

7,44 

45,19 

28,16 

14,31 

4,<K) 

Oesterreich 

17,99 

56 

,48 

17,71 

7,82 

Ungarn     . 

35,16 

50,34 

8,65 

5,85 

Schweden 

5,09 

32,85 

31,45 

23,22 

7,39 

Russland   . 

57,27 

26,31 

7,10 

6,39 

2,93 

§.  195.  Die  Dauer  der  Ehen. 

Die  mittlere  Dauer  der  Ehe  ist  ein  Ausdruck  der  zeitlichen  Aus- 
dehnung des  Familienglücks.  Sie  hängt  von  mehreren  Umstanden  ab. 

Zunächst  von  der  mittleren  Lebensdauer  einer  Bevölkerang. 

Dann  aber  von  dem  Umstände,  ob  die  wirthschaftlichen  Zustände 
dem  grösseren  Theile  des  Volkes  eine  frühere,  oder  ob  sie  erst  eine  spätere 
Verheiratung  gestatten.  Da,  wo  früher  geheiratet  wird,  ist  dadurch  die 
mittlere  Dauer  der  Ehen  eine  längere. 

Endlich  auch  vom  Unterschied  im  Heiratsalter  der  beiden  Geschlechter. 
Je  weniger  sich  dieser  Unterschied  von  der  Differenz  des  mittleren  Lebens- 
alters beider  Geschlechter  entfernt,  desto  länger  wird  die  mittlere  Dauer 
der  Ehen  sein. 

Eine  gewisse  längere  Dauer  der  Ehe  ist  aber  nothwendig,  wenn  der 
Hauptzweck  der  Ehe,  nämlich  die  Erziehung  und  Heranbildung  der  Kinder 
zu  selbständiger  Existenz,  erreicht  werden  soll. 

Selbst  wenn  die  Ehegatten  die  Grenzen  der  productiven  Lebens- 
jahre schon  überschritten  haben,  ist  die  lange  Dauer  der  Ehen  noch  als 
ein  glücklicher  Zustand  nicht  nur  für  die  Betreffenden,  sondern  überhaupt 
anzusehen.  Der  wohlthätige  Einfluss,  den  die  Erhaltung  des  elterlichen 
Hauses  als  gemeinschaftlichen  moralischen  Bandes  für  die  Familie  ausübt, 
wirkt  bis  in  die  spätesten  Jahre. 


Die  Frachtbarkelt  der  Ehen.  407 

Man  berechnet  die  durchschnittliche  Dauer  der  Ehen  gewöhnlich, 
indem  man  die  Zahl  der  im  Lande  bestehenden  Ehen  durch  die  Zahl 
der  jährlichen  Trauungen  dividirt.  Diese  Berechnung  ergäbe  ganz  richtige 
Resultate  nur  bei  einer  constanten  Zahl  jährlicher  Trauungen.  Richtiger 
erhält  man  die  mittlere  Dauer  der  Ehen,  wenn  man  die  vorhandenen 
Ehen  durch  das  arithmetische  Mittel  der  geschlossenen  und  aufgelösten 
(durch  Tod  etc.)  dividirt^). 

Am  richtigsten  wäre  das  Resultat,  wenn  man  das  mittlere  Heirats- 
alter und  die  mittlere  Lebensdauer  fiir  beide  Geschlechter  kennte. 

Anmerkung. 

*)  Nach  der  zweiten  augeführten  Methode  berechnet  Wappäus  die  mitt- 
lere Dauer  der  Ehen  auf: 


in  Bayern 23,2  Jahre 

„  Holstein 23,o      „ 

„  Sachsen 22,8      „ 

„  Niederlande 21,6      „ 

„  Hannover 21,3      „ 

„  Preussen 20,7      „ 


in  Frankreich 26,4  Jahre 

„  Sardinien     ......  25,4      „ 

„  Schweden 25,o      „ 

„  Norwegen 24,o      „ 

„  Belgien 23,9      „ 

„   Schleswig 23,8      „ 

„  Dänemark 23,3      „ 

Diese  Zahlen  sind  indess  nicht  sehr  zuverlässig.  Immerhin  ist  doch  klar, 
dass  die  hier  bevorzugt  erscheinenden  Länder  die  lange  Dauer  ihrer  Ehen  zu- 
meist ihren  früh  geschlossenen  Ehen  verdanken,  obwohl  die  anderen  auf  die 
Dauer  der  Ehen  einwirkenden  Umstände  gleichfalls  daneben  sich  gelteud 
machen. 

§.  196.  Die  Fraohtbarkeit  der  Ehen. 

Unter  Fruchtbarkeit  der  Ehen  versteht  man  die  Zahl  der  durch- 
schnittlich aus  jeder  Ehe  geborenen  Kinder.  Bei  einer  stationären  Bevöl- 
kerung würde  man  die  Ziffer  erhalten,  wenn  man  die  Zahl  der  jährlich 
geborenen  Kinder  durch  die  Zahl  der  jährlich  geschlossenen  oder  aufge- 
lösten Ehen  dividirte.  Da  keine  Bevölkerung  stationär  ist,  erreicht  man 
das  richtigste  Resultat,  wenn  man  als  Divisor  das  arithmetische  Mittel 
zwischen  der  Zahl  der  aufgelösten  und  jener  der  neuen  Ehen  nimmt.  Denn 
nähme  man  die  Zahl  der  geschlossenen  oder  jene  der  aufgelösten  Ehen 
allein,  so  würde  man  unrichtige  Resultate  erhalten,  weil  diese  Zahlen 
nicht  nothwendig  gleich  sind,  sondern  die  Zahl  der  Ehen  entweder  wachsen 
oder  abnehmen  kann. 

Die  richtigere  Art  der  Berechnung  ist  indessen  nur  selten  möglich  ^). 

Wie  die  Geburtshäufigkeit  überhaupt,  so  ist  auch  diese  Ziffer  für 
die  Prosperität  einer  Bevölkenmg  ein  ziemlich  zweifelhafter  Massstab. 

Man  hat  es  seinerzeit  als  ein  „Gesetz  der  Bevölkerung"  aufgestellt, 
dass   jene   Länder,   in   welchen   jährlich   die   meisten   Ehen    geschlossen 


408  DiB  Zahl  dHr  Familien  and  Haushaltungen. 

werden,  zugleich  diejenigen  sind,  wo  die  Fruchtbarkeit  der  Ehen  ain  ge- 
ringsten ist.  Dieser  Satz  kann  indessen  bis  jetzt  noch  nicht  als  durch  die 
Statistik  bewiesen  gelten,  obwohl  er  wahrscheinlich  gichtig  ist^). 

Vom  Einflüsse  des  Alters  der  Eltern,  hier  also  des  Heiratsalters  auf 
die  Geburtenfrequenz  war  schon  früher  die  Rede. 

Mit  jenen  Ziff"ern,  welche  über  die  Stärke  der  Familien  Aufschluss 
geben,  ist  die  eheliche  Fruchtbarkeit  nicht  in  Zusammenhang  zu  bringen, 
denn  aus  der  Zahl  der  geborenen  lässt  sich  die  Zahl  der  lebenden  ehe- 
lichen Kinder  nicht  ableiten. 

Es  scheint,  dass  in  den  meisten  europäischen  Ländern  die  eheliche 
Fruchtbarkeit  abnimmt  ^). 

Anmerkungen. 
*)  Nach  der  einfachsten  Methode  (Division  der  Zahl  der  ehelichen  Kinder 
durch  die  Zahl  der  gleichzeitigen  Trauungen)  und  nach  den  im  MoYimento  dello 
stato  civile  pro  1862/78  gegebenen  Ziffern  berechnet,  stellt  sich  die  eheliche 
Fruchtbarkeit  wie  folgt.  Die  Zahl  der  (lebend  geborenen)  Kinder  einer  Ehe 
beträgt  in: 

Schweiz  (1878) 4,o 

Belgien       „        4,3 

Niederlande  (1877) 4,8 

Schweden      (1878) 4,i 

Norwegen         „        3,9 

Dänemark         „        3,8 

Spanien  (1870) 1    .    .  5,4 

Serbien  (1878) 4,i 

Griechenland  (1877) 4,9 

Rumänien  „  5,i 

Russland  (1875) 5,i 

*)  Sadler:  Law  of  population.  II.  514. 

*)  Zu  dieser  Ansicht  führt  wenigstens  die  Vergleichung  obiger  Ziffern 
mit  den  von  Wappäus  a.  a.  0.  II.  S.  319  gegebenen  älteren  Zahlen. 

§.  197.  Die  Zahl  der  Familien  und  Haushaltungen. 

Statistisch  wichtiger  als  die  Eintheilung  nach  dem  Civilstande  wäre 
die  Eintheilung  der  Bevölkerung  nach  Familiengliedern  und  Allein- 
stehenden. 

Dazu  müsste  man  die  Zahl  und  die  Stärke  der  Familien  kennen. 

Bei  den  Volkszählungen  mehrerer  Länder  werden  auch  in  der  That 
die  Familien  gezählt.  Aber  der  Begriff  der  Familie  ist  überall  noch  ein 
sehr  unbestimmter.  Die  besten  Volkszählungen  haben  den  Begriff  der 
Familie  mit  der  Haushaltung  (Menage)  gleichgesetzt. 

Man  hat  die  Familienstärke,  d.  h.  die  durchschnittliche  Mitglieder- 
zahl einer  Familie  berechnet.    Diese    Untersuchungen    ergaben,    dass   die 


Italien  (1878) 4,7 

Frankreich  (1877) 3,i 

England  (1878) 4,3 

Schottland     „ 4,7 

Irland  „        5,i 

Deutsches  Reich  (1878)  • 4,6 

Preussen  insbes.       „        4,6 

Sachsen        „  „        4,3 

Bayern  „  „        4,8 

Oesterreich  (1878) 4,3 

Ungarn  (1877) 4,3 


Die  Zahl  der  Familien  und  Haushaltungen.  409 

Familienstärke    vorzüglich    durch    die   grössere    oder   geringere    Zahl    der 
kleinen  Haushaltungen  bestimmt  werde  *). 

Es  ist  natürlich,  dass,  je  grösser  die  Zahl  der  ein-  und  zweiperso- 
nigen  Haushaltungen  ist,  dadurch  um  so  mehr  die  Ziffer  der  Familien- 
stärke herabgedrückt  wird.  Eine  Familienstatistik,  welche  wirklich  die 
Familienverhältnisse  einer  Bevölkerung  untersuchen  wollte,  müsste  min- 
destens die  blossen  Haushaltungen  und  die  eigentlichen  Familien,  und 
unter  den  letzteren  wieder  die  mit  und  ohne  Kinder  unterscheiden  ^). 

Die  Beobachtungen,  welche  über  die  Familienstärke  gemacht  wurden, 
haben  die  Thatsache  ergeben,  dass  die  Familien  durchschnittlich  nicht 
etwa  5 — 6  Personen  stark  sind,  wie  gewöhnlich  angenommen  wird,  son- 
dern nur  etwas  über  4  Personen.  Ueberdies  ist  constatirt .  worden,  dass 
diese  durchschnittliche  Familienstärke  in  Abnahme  begriffen  ist*).  Diese 
eigenthümliche  Erscheinung  lässt  sich  wohl  —  wenigstens  in  den  Län- 
dern, wo  sie  beobachtet  wurde  —  am  ehesten  durch  die  zunehmende 
Concentration  des  Volkslebens  in  den  Städten  erklären.  Denn  die  Städte 
mit  ihren  Miethwohnungen,  Wirthshäuseni,  mit  ihrer  Bequemlichkeit  hin- 
sichtlich des  Bezuges  an  Lebensbedarf,  sind  offenbar  den  kleinen  Haus- 
haltungen günstiger,  als  das  Landleben.  Patriarchalische  Zustände  nur 
gestatten  das  Zusammenleben  grosser  Familien. 

Aumerkungeu. 

*)  Hörn:  Bevölkeruiigs wissenschaftliche  Studien  aus  Belgien.  S.  87  ff. 
*)  Wappäus  macht  in  dieser  Beziehung  folgende  Eintheilung: 
I.   Solche  Haushaltungen,    welche  zugleich  eine  Vereinigung  von  näher 
verwandten  Personen  bilden.  Hier  wären  wieder  zu  unterscheiden: 
1.  Wirkliche  oder  natürliche  Familien.    Sie  sind 

a)  Vollständige  oder  vollkommene  Familien,  d.  h.  Ehepaare  mit  Kindern 
und  Enkeln  lebend; 

b)  Unvollständige  Familien,  d.  h.  Verwitwete  mit  Kindern  oder  Enkeln 
lebend. 

t.  Familien  im  weiteren  Sinne,  nämlich 

a)  Zusammenlebende  Ehepaare  ohne  Kinder  (kinderlos  oder  die  Kinder 
sind  abwesend); 

b)  Vereinigung  von  nahen  Verwandten  zu  einem  Hausstande,  nämlich 
entweder  von  unverheirateten  Geschwistern  oder  von  Seitenver- 
wandten. 

n.  Solche  Vereinigungen,  in  welchen  verschiedene  Personen  nicht  durch 
die  Bande  der  Familie,  sondern  nur  ökonomisch  zu  einer  gemeinsamen  Haus- 
haltung vereinigt  sind. 

Bei  diesen  verschiedenen  Hausständen  müsste  weiter  ermittelt  werden: 

I.  Die  Zahl  der  zur  Familie  gehörenden  Personen; 

n.  Die  Zahl  der  zum  Hausstande  gehörenden  Dienstboten,  Geschäftsge- 
hilfen, Kostgänger  etc. 


410 


SchlnBsbemerkungen. 


Die  durch  solche  Unterscheidung  erhaltenen  Ziffern  würden  ein  sehr 
werthvolles  Material  zur  Darstellung  des  Familienlehens  einer  Bevölkerung 
hieten. 

*)  Obwohl  die  bezüglichen  Ziffern,  welche  Hörn  a.  a.  0.  mittheilt,  aus 
der  ersten  Hälfte  dieses  Jahrhunderts  stammen,  sind  sie  doch  wegen  der  Vor- 
sicht und  Sorgfalt,  mit  welcher  sie  als  Beweismaterial  angewandt  wurden,  von 
hoher  Beweiskraft.  Die  durchschnittliche  Familienstärke  betrag: 


8= 

i  n 

Jahr 

Familienstärke 

Jahr 

Familienstärke 

Belgien 

Niederlande   .... 

Kurhessen 

Sachsen 

Bayern 

1829 
1840 
1834 
1832 

1827 

4,92 
4,97' 
5,45 
4,60 
4,80 

1846 
1850 
1846 
1840 
1846 

4,86 
4,81 
5,02 
4,43 
4,4« 

§.  198.  Schlussbemerkungen. 

Wenn  die  Statistik  des  Familienlebens  die  Zahl  der  Ehen  und 
Familien,  und  zwar  die  absolute  und  relative  Zahl  derselben  (d.  h.  ihre 
Zahl  im  Verhältniss  zur  Zahl  der  Erwachsenen  überhaupt),  sodann  die 
Zahl  der  Geschiedenen,  der  Verwitweten,  die  Heiratsfrequenz  in  ihren 
Unterschieden,  das  Heiratsalter,  die  Dauer  der  Ehen  und  ihre  Fruchtbar- 
keit, die  Zahl  der  Haushaltungen  zum  Ausgangspunkte  ihrer  Untereuchun- 
gen  macht,  so  sind  dies  nur  die  Anfänge  einer  exacten  Untersuchung 
des  Familienlebens.  Ganz  andere  Aufgaben  sind  hier  noch,  zu  erfüllen. 
Es  gilt,  die  Familie  als  eine  Persönlichkeit  zu  untersuchen,  welche  ihr 
eigenes  Leben  führt,  ihre  körperlichen  und  geistigen  Eigenschaften,  ihre 
Fehler  und  Verdienste  hat,  ihren  eigenen  Weg  auf  Erden  dahingeht,  zum 
Glück  oder  zum  Unglück,  empor  oder  abwärts,  schneller  oder  langsamer. 
Es  gilt  zu  untersuchen,  mit  welcher  Kraft  und  Schnelligkeit  bei  den  ver- 
schiedenen Völkern,  Sitten  und  Ständen  die  Familie  ihre  körperlichen 
und  geistigen  Eigenschaften,  ihre  charakteristischen  Merkmale,  ihren  Wohn- 
sitz, ihr  Vermögen  festhält,  vermehrt  oder  vermindert,  nach  dieser  oder 
nach  jener  Richtung  hin  ändert.  Es  gilt  zu  untersuchen,  wie  die  Eigen- 
schaften der  Ahnen  in  den  Enkeln  sich  verflüchtigen  oder  steigern  und 
nach  welchem  Gesetze  dies  geschieht.  Wenn  die  unsystematische  Beob- 
achtung schon  zeigt,  dass  die  grössten  Väter  von  ihren  Söhnen  nicht 
übertroflfen,  ja  nur  ganz  ausnahmsweise  eingeholt  werden,  während  doch 
der  grösste  Meister  seine  Schüler  findet,  die  ihn  in  Schatten  stellen,  so 
liegt  dieser  Thatsache  wohl  ein  dunkles  Gesetz  zu  Grunde,  ein  Gesetz, 
welches   besagt,    dass   die   geistigen  Kräfte   und  Vorzüge    nicht   in    der 


Volk  und  Staatswesen.  411 

Familie  fortwachsen  dürfen  von  Geschlecht  zu  Geschlecht,  wie  auch  um- 
gekehrt die  Schwächen  und  Sünden  des  Grossvaters  nicht  in  jedem  Enkel 
schlimmer  werden,  sondern  dass  ein  heilsamer  Wechsel,  ein  Auf-  und 
Niederwogen  im  Glück  und  in  den  Tugenden  auch  der  einzelnen  Familie 
stattfinden  muss.  Dieses  dunkle  Gesetz  aber  zu  messen,  zu  untersuchen, 
wie  lange  die  Generationen  sich  ihm  entziehen  können:  das  ist  eine  der 
letzten  und  höchsten  Aufgaben  der  Familien  Statistik. 

Aber  noch  weitere  Gesichtspunkte  drängen  sich  bei  der  Betrachtung 
der  Familie  auf.  Nicht  neu  ist  die  Klage  über  die  Lockerung  der  Familien- 
bande. Sie  ist  so  alt,  als  überhaupt  die  Betrachtung  der  Familie  ist.  Sie 
wird  hervorgerafen  durch  den  Umstand,  dass  es  immer  gewisse  familien- 
feindliche Gewalten  gegeben  hat,  gegen  deren  Einwirkungen  die 
Familie  nunmehr  in  einem  mehrtausendjährigen  Kampfe  sich  zu  wehren 
hat.  Solche  familienfeindliche  Gewalten  verschwinden  manchmal  völlig  aus 
der  Geschichte  der  Menschheit.  So  namentlich  die  Sklaverei.  Das  Mittel- 
alter hatte  als  bedeutendste  familienfeindliche  Gewalt  den  Cölibat  und 
die  Klöster  gebracht.  Mit  dem  Rückgange  der  letzteren  traten  aber  neue 
solche  Gewalten  in  die  Culturgeschichte  ein:  Die  Erleichterungen  des  Ver- 
kehrs; der  fabrikmässige  Grossbetrieb;  die  allgemeine  Schulpflicht;  die 
grossen  stehenden  Heere;  die  städtische  Concentrirung  des  Volkslebens 
mit  ihren  Wirthshäusern  etc.;  die  Heranziehung  der  Frauen  zu  Berufs- 
arten, welche  ihnen  vordem  verschlossen  waren,  und  manches  Andere. 
Die  dauerndste  der  familien feindlichen  Gewalten  aber,  die  niemals  ver- 
schwindet, ist  die  aussereheliche  Liebe,  die  bald  durch  Gesetzgebung, 
Sitte  und  Religion  mehr  zurückgedrängt  wird,  bald  wieder  freieren  Spiel- 
raum gewinnt. 

All  diese  familienfeindliche  Gewalten  in  ihrem  Auf-  und  Nieder- 
wogen zu  betrachten  und  in  ihrer  culturgeschichtlichen  Bedeutung  zu 
würdigen:  das  gehörte  mit  zu  einer  im  grossen  Styl  gehaltenen  Familien- 
statistik. 


III.  Capitel. 

Volk   und   Staatswesen, 


§.  199.  XJebersicht. 
Die  Statistik  kann  unter  einem  Volke  nichts  anderes  verstehen,  als 
einen  staatlich  zusammengeschlossenen  Theil  der  Menschheit.    Jedes  Volk 
hat  seine  bestimmten  charakteristischen  Eigenschaften.  Sofern  diese  Eigen- 


412  Gesellschaftliche  und  politische  Gliederung  des  Volkes. 

Schäften  sich  auf  die  physische  Existenz,  auf  Leben  und  Sterben,  Vermehrang, 
körperliche  Entwickeluug  und  Gesundheit  beziehen,  gehen  sie  die  Bevöl- 
kerungsstatistik an.  Aber  alle  diese  Eigenschaften  haben  auch  ihre  politi- 
sche Bedeutung.  Und  ebenso  hat  auch  das  wirthschaftliche,  sowie  das 
geistig-sittliche  Leben  des  Volkes  politische  Bedeutung.  Der  lebendige 
Inhalt  des  Volkes  schaiFt  sich  seine  ihm  passende  rechtlich-politische 
Form.  In  dieser  Form  zeigt  sich  zunächst  eine  gewisse  Gliederung  der 
ganzen  Volksmasse.  Ferner  zeigt  sich,  dass  im  Laufe  der  Völkerge- 
schichte nicht  alle  Theile  der  Menschheit,  welche  gleichen  Entwicklungs- 
gang genommen  und  gleiche  Sitte  und  Sprache  ausgebildet  haben,  auch 
schliesslich  zu  einer  einheitlichen  politischen  Form  gekommen  sind.  Es 
ergibt  sich  ein  Unterschied  zwischen  Volk  und  Nationalität.  Ungleicher 
Inhalt  ist  dabei  oft  in  gleiche  Form  gezwängt  und  gleicher  Inhalt  in  ver- 
schiedene Formen  vertheilt.  Beides  berücksichtigend  muss  die  Statistik  die 
Eigenthümlichkeiten  nicht  nur  jedes  staatlichen  Volksganzen,  sondern  auch 
seiner  nach  Stamm,  Sprache,  Sitte  und  Siedelung  verschiedenen  Theile 
untersuchen  und  prüfen,  wo  Verwandtes  getrennt  ist  und  wie  stark  die 
Fäden  sind,  welche  jeden  Theil  des  Volks  an  sein  ursprünglich  Verwandtes 
und  wie  stark  jene  sind,  die  ihn  an  sein  neu  Verbundenes  knüpfen.  Letz- 
teres, also  den  Staat  allein,  betrachtend  hat  sie,  soweit  es  möglich  ist, 
Verfassung  und  Politik  in  Quantitäten  aufzulösen  und  die  Kraft  des 
Staatswesens  zu  messen.  Letztere  ruht  zwar  im  Grunde  auf  den  physischen 
und  geistigen  Eigenschaften  des  Volkes,  wie  auf  seinen  wirthschaftlichen 
Fähigkeiten,  äussert  sich  aber  ganz  besonders  in  der  Wehrkraft  des 
Volkes  und  im  Staatshaushalt.  Die  innere  Thätigkeit  des  Staates  findet, 
wie  in  der  Gesammtverwaltung,  so  namentlich  im  Staatshaushalt  einen 
zifFermässigen  Ausdruck  und  erreicht  ihren  moralischen  Höhepunkt  in 
der  Rechtspflege.  Daneben  gibt  es  freilich  Imponderabilien  staatlicher 
Macht,  welche  von  höchster  Bedeutung  sind,  moralische  Streitkräfte  im 
Kampf  um  Leben  und  Civilisation.  Solche  sind:  ein  von  der  Regierung 
mit  Ausdauer  verfolgtes  Ziel,  die  herzliche  Theilnahme  des  Volkes  an 
diesem  Ziel  der  Regierung;  der  Enthusiasmus,  selbst  die  Leidenschaften 
als  vorübergehend  Verbündete  zur  Erreichung  eines  grossen  Zieles;  die 
öffentliche  Meinung,  das  Talent,  das  Genie  des  Leiters  der  Regierung 
(Block). 

§.  200.  Gesellschaftliche  und  politische  Oliederong  des  Volkes. 

Jedes  auf  dem  Wege  der  Civilisation  vorgeschrittene  Volk  bildet 
von  der  kleinsten  Gruppe  menschlicher  Vergesellschaftung,  der  Familie, 
an,  bis  zur  grössten,  dem  Staate,  eine  Reihe  von  anderen  Lebenskreisen: 
politische   und    kirchliche   Gemeinden,    Corporationen,    Vereine,    Stände. 


(resellschaftliche  und  politische  Gliederung  des  Volkes.  413 

Solche  gesellschaftliche  Kreise  mit  ihren  Kräften  und  ihrem  Leben  zu 
erfassen,  ist  eine  von  jenen  Aufgaben  der  Statistik,  welche  noch  sehr  im 
Argen  Helgen,  obgleich  keine  der  schwierigsten  unter  diesen  Aufgaben. 
Denn  die  meisten  dieser  Kreise  sind  durch  ihre  Zwecke  sowohl  als  durch 
die  Verantwortlichkeit  gegenüber  ihren  Mitgliedern  genothigt,  ihre  eigenen 
Zustände  fortwährend  statistisch  darzustellen.  Was  im  Allgemeinen: 

I.  Die  Zahl  dieser  Kreise  corporativen  Lebens  betrifft,  so  wird  sie 
um  so  grösser  sein,  je  grösser  die  Lücke  ist  zwischen  der  Familie  und 
dem  Staate,  je  dringender  das  Bedürfniss  für  den  Einzelnen  ist,  zwischen 
der  Familie  und  dem  Staate  noch  andere  gesellschaftliche  Halt-  und  Stütz- 
punkte zu  finden; 

n.  ihr  Umfang  wird  den  gleichen  Beweggiünden  folgen;  daneben 
auch  mit  der  Volksdichtigkeit  im  Zusammenhang  stehen  und 

in.  die  Intensität  ihrer  Lebensthätigkeit  wird  einestheils  von 
der  politischen  Verfassung  und  Verwaltung  des  Volkes  abhängig  sein, 
anderentheils  ebenfalls  von  der  Wichtigkeit  der  corporativen  Zwecke  und 
vom  ganzen  Culturgrade  der  Nation. 

Im  Einzelnen  lassen  sich  unterscheiden: 

I.  Corporation en  mit  staatlich  anerkannter  politischer  Stellung:  Ge- 
meinden, und  zwar  solche,  die  blos  Ortschaften,  als  auch  solche,  die  ganze 
Landestheile  (Districte,  Bezirke,  Cantone,  Kreise,  Grafschaften,  Provinzen 
u.  s.  f.)  umfassen. 

Die  Statistik  dieser  kleineren  politischen  Bestandtheile  ist  nur  ein 
Theil  des  ganzen  Organismus  der  amtlichen  Statistik;  denn  es  handelt 
sich  hier  um  die  wichtigsten  Gegenstände  auch  der  amtlichen  Statistik, 
um  die  Bevölkerung  der  Gemeinde  in  ihrem  Stand  und  Gange  und  ihren 
physischen  Eigenschaften,  um  ihre  Wohnsitze,  ihren  Haushalt  (Vermögen, 
Schulden,  Einnahmen  und  Ausgaben),  zum  Theil  auch  um  ihr  geistig- 
sittliches Leben.  Von  Wichtigkeit  ist  auch  da,  wo  mehrere  solche  corpo- 
rative  Gebilde  ineinander  geschachtelt  sind  (wo  also  etwa  der  Staat 
mehrere  Provinzialgemeinden,  jede  Provinzialgemeinde  mehrere  Districts- 
gemeinden,  jede  Districtsgemeinde  mehrere  Ortsgemeinden  enthält),  das 
Verhältniss  derselben  zu  einander.  Denn  es  drückt  den  Grad  der  Centra- 
lisation  oder  Decentralisation  des  ganzen  staatlichen  Lebens  aus. 

n.  Gorporationen  ohne  staatlich  anerkannte  politische  Stellung. 
Sie  unterscheiden  sich  nach  ihren  sehr  mannigfaltigen  Zwecken  haupt- 
sächlich in: 

A.  Wirthschaftliche  Associationen.  Die  meisten  von  ihnen  sind  in 
den  civilisirten  Ländern  in  sehr  erheblicher  Zunahme  begriffen.  So  nament- 
lich die  Versicherungsgesellschaften. 


414  GeMllschaftliühe  und  politische  Gliederung  des  Volkes. 

Die  Asgociationen  zum  Sparen  insbesondere  sind  in  sehr  erfreu- 
lichem x\ufschwunge  begriffen  und  ebenso  die  Associationen  zu  Zwecken 
socialer  Selbsthilfe.  Die  Zahl  dieser  Associationen  Hess  gich  1863 
allein  für  Deutschland  auf  1000  mit  33  Mill.  Thlr.  Umsatz  und  Ver- 
kehr veranschlagen.  Grossartiger  freilich  sind  die  Summen  der  in  Indu- 
strie- und  Gewerbegesellschaften  angelegten  Capitalien,  indem  die 
deutschen  Eisenbahngesellschaften  allein  1862  mit  einer  Gapitalanlage  von 
1049  Mill.  Thlr.  auftreten. 

B.  Associationen  zu  ideellen  Zwecken.  Man  unterscheidet: 

1.  Associationen  zu  geselliger  Unterhaltung,  die  allenthalben  mit 
und  ohne  Abschliessung  einzelner  Stände  bestehen. 

2.  Associationen  zu  sittlichen  Zwecken:  Frauen  vereine;  Krippen; 
Vereine  zur  Unterstützung  Armer  überhaupt,  sodann  Kranker,  Krüppel; 
Baugesellschaften;  Gesellschaften  zur  Unterstützung  und  Besserung  ver- 
wahrloster und  verkommener  Personen;  Vereine  zur  Bildung  der  unteren 
Volksclassen;  Gesellen-  und  Jünglingsvereine;  Orden  mit  Wohlthätigkeits- 
zwecken  (Johanniter  etc.). 

3.  Freimaurerlogen,  deren  Ausbreitung  in  den  meisten  civilisirten 
Staaten  kein  Hinderniss  mehr  findet. 

4.  CoiTporationen  mit  religiösen  und  kirchlichen  Zwecken.  Auf  keinem 
Lebensgebiete  zeigt  sich  die  Association  rühriger  und  erfolgreicher,  als 
auf  dem  religiösen  und  kirchlichen.  Es  lassen  sich  dabei  wieder  unter- 
scheiden: Associationen  aus  dogmatischen  Gründen,  wohin  insbesondere 
die  grösseren  christlichen  und  ausserchristlichen  Religions-  und  Confes- 
sionsgesellschaften  mit  ihren  Dissidenten  gehören.  Diese  werden  indessen 
besser  an  anderer  Stelle  ausführlich  behandelt.  Ferner  die  kirchlichen 
Associationen  zu  religiöser  Bethätigung :  Bonifacius-,  Vincentius-,  Missions- 
vereine, Tractat-  und  Bibelgesellschaften,  Gustav-Adolf- Verein,  freireli- 
giöse Gemeinden  etc. 

5.  Associationen  für  Fach-  und  Kunstbildung  und  Interessen:  Ge- 
werbevereine, Arbeiterbildungsvereine,  landwirthschaftliche  Vereine  etc.; 
sodann  gemeinnützige  Gesellschaften  und  Academien;  Geschichts-  und 
Alterthums-,  literarische  und  Lesevereine,  Academien  der  Wissenschaften, 
der  Künste,  Kunst-  und  Musikvereine  etc. 

6.  Associationen  zu*  nationalen  und  politischen  Zwecken,  wie  der 
deutsche  Nationalverein,  der  deutsche  Turnerbund  mit  (1863)  1701  Tuni- 
vereinen  und  170000  Turnern;  Schützen-,  Militär-,  Veteranen-,  Invali- 
denvereine; Wahl-,  Verfassungs-  und  Volksvereine. 

So  sehr  all  diese  Associationen  damit  beschäftigt  sind,  ihre  eigenen 
Angelegenheiten  statistisch  zu  beobachten,  und  so  sehr  eine  vollständige 
Statistik  des  Vereinswesens  geeignet  wäre,  lehrreiche  und  bedeutungsvolle 


Gesellschaftliche  und  politische  Gliederung  des  Volkes.  415 

Aufschlüsse  über  eine  Menge  von  Lebensbeziehungen  zu  geben,  welche 
anderweitig  gar  nicht  oder  nur  unvollständig  zu  erhalten  sind:  so  fehlt  es 
doch  an  einer  Concentration  des  riesenhaften  vereinzelten  Materials,  an 
einer  systematischen  Beobachtung  des  gesammten  Genossenschaftswesens. 
Sie  hätte  bei  allen  einzelnen  Genossenschaften  sowohl  als  bei  den  die 
verschiedenen  Zwecke  derselben  verfolgenden  Hauptgruppen  Zahl,  Wohn- 
sitz, Mitgliederzahl  und  Mittel  zu  erheben,  und  weiter  sorgfältige  Beobach- 
tungen der  Veränderungen  anzustellen.  Würden  diese  Veränderungen  ver- 
glichen mit  den  Veränderungen,  welche  die  von  den  Vereinszwecken 
repräsentirten  Lebenserscheinungen  überhaupt  erleiden,  so  würde  dies 
neue  Aufschlüsse  geben  sowohl  über  die  Macht  des  genossenschaftlichen 
Zusammenhanges  überhaupt,  als  auch  über  jeden  einzelnen  von  den  Ver- 
einen als  Zweck  verfolgten  Lebenskreis. 

in.  Stände.  Der  Unterschied  der  Geburtsstände  (gestützt  auf 
die  Abstammung  und  die  damit  zusammenhängenden  Heimats-  und  Be- 
sitzverhältnißse),  d.  h.  der  Unterschied  von  Adel-,  Bürger-  und  Bauern- 
stand hat  wesentlich  nur  mehr  historisches  Interesse.  Denn  einestheils 
sind  die  Verschiedenheiten  in  der  politischen  Stellung  dieser  Stände  fast 
vollkommen  verschwunden,  anderentheils  sind  auch  die  gesellschaftlichen 
und  wirthschaftlichen  Unterschiede,  welche  diese  Stände  früher  trennten, 
sehr  abgeschwächt  worden  durch  die  Ausbildung  eines  vierten  Standes 
der,  an  sich  eine  Negation  aller  ständischen  Gliederung,  in  jene  drei  histo- 
rischen Stände  eindrang,  sie  zersetzend  und  die  Grenzen  zwischen  ihnen 
verwischend.  Von  statistischem  Interesse  sind  heutzutage  nur  mehr  die 
Berufsstände,  deren  Untersuchung  jedoch  der  wirthschaftlichen  Stati- 
stik angehört. 

IV.  Eink.ommensclassen.  Die  durch  die  verschiedenen  Höhen 
und  Quellen  des  Einkommens  gebildeten  Classenunterschiede  finden  ihre 
Betrachtung  passenderweise  durch  die  wirthschaftliche  Statistik. 

V.  Jene  Classenunterschiede,  welche  durch  Bildung  und  ge- 
sellschaftliche Stellung  geschaffen  werden,  sind  fast  vollständig 
unerfassbar.  Und  es  muss  entschieden  als  ein  politisches  und  sociales  Glück 
erscheinen,  wenn  bei  hoher  Gesammtbildung  des  Volks  diese  Unterschiede 
so  fliessende  sind,  dass  sie  der  Statistik  unzugänglich  bleiben;  wenn  der 
Rang  der  Stände  und  Classen  respectirt  wird,  soweit  er  auf  Bildung  beruht, 
aber  der  Uebergang  von  einem  zum  anderen  leicht  ist. 

Doch  so  gewaltig  auch  der  nivellirende  Zug  im  socialen  Leben  von 
heute  ist:  es  scheint  dennoch,  als  sei  der  Trieb  zur  Bildung  und  Abgren- 
zung neuer  gesellschaftlicher  Classenunterschiede  nicht  abgestorben,  son- 
dern werde  nur  von  Zeit  zu  Zeit  in  andere  Bahnen  gelenkt. 


416  VOlkerfamilien,  Stftniine,  Nationalitäten. 

Durch  die  Verbesserungen  des  Schulwesens  sind  die  Unterschiede 
der  Bildungsclassen  insofern  modificirt  worden,  als  diejenige  Minimalbil- 
dung, welche  den  untersten  Bildungsclassen  zukommt,  eine  höhere  und 
allgemeinere  geworden  ist.  Die  Vervielfachung  der  Schularten  hat  gewiss 
dazu  beigetragen,  die  Unterschiede  der  Bildungsclassen  abzuschwächen. 
Dagegen  hat  in  einzelnen  Ländern,  so  insbesondere  in  Deutschland  und 
Oesterreich,  das  Institut  der  Einjährig-Freiwilligen  unbestreitbar  den  An- 
lass  zu  einer  Neubildung  eines  Bildungs-  und  socialen  Rangunterschieds 
geschaiFen. 

§.  201.  Völkerfamilien,  Stämme,  Nationalitäten. 

I.  Wesen  der  Nationalitäten.  Die  Familie  erweitert  sich,  der 
allgemeinen  Tendenz  der  Bevölkerungsvermehrung  folgend,  zu  Horden, 
Nationen,  Volksstämmen.  Die  Nationen  sind  die  natürlichen  Völker, 
deren  Zusammengehörigkeit  vorzugsweise  auf  physischen  Eigenthümlich- 
keiten  beruht  oder  wenigstens  auf  vielhundertjähriger  Gemeinsamkeit  des 
Lebens  und  der  Sitte,  während  die  politischen  Völker  zum  gemeiösämen 
Bande  ihren  Staat,  ihr  Recht,  ihre  Politik,  ihre  Wehr-  und  Finanzkraft 
haben. 

Bei  den  meisten  höher  entwickelten  Staaten  hat  die  Betrachtung  des 
natürlichen  Volkes  mehr  ein  historisches  als  ein  statistisches  Interesse.  Von 
den  heutigen  grösseren  Staaten  hat  keiner  ein  einheitliches  natürliches  Volk 
von  ungemischter  Abstammung,  ganz  gleicher  Sprache  und  Sitte.  Die 
statistische  Untersuchung  der  natürlichen  Völker  ist  indessen  dann  von 
besonderer  praktisch-politischer  Bedeutung,  wenn  Theile  der  Bevölkerung 
eines  Staates  durch  ihre  Eigenthümlichkeiten  den  Culturzustand  des  Staates 
wesentlich  bedingen.  Es  ist  ein  Bestreben  jedes  Staates,  seine  Bevölkerung 
zu  einer  Einheit  heranzubilden  und  die  bestehenden  natürlichen  Unter- 
schiede zu  verschmelzen.  Eine  lebendige  Entwickelung  jener  Staaten  ist 
immer  schwierig,  wo  die  Bevölkerung  aus  Nationalitäten  von  sehr  ver- 
schiedenem Charakter  besteht,  unter  welchen  nicht  eine  ganz  entschieden 
das  politische  und  moralische  Uebergewicht  hat.  Solche  Staaten  sind  immer 
mehr  Kunstwerke  als  lebendige  Körper;  sie  werden  mehr  durch  äussere 
Kraft  als  durch  innere  Anziehung  zusammengehalten.  Ein  lebendiges  und 
nationales  Staatsleben  kann  sich  dort  erst  nach  langen  und  heftigen  Rei- 
bungen, Schwankungen  und  Kämpfen  entwickeln,  wenn  entweder  ein 
Volksstamm  durch  Gewalt  oder  geistiges  Uebergewicht  der  herrschende 
geworden,  oder  wenn  allmälige  Ausgleichung  der  Unterschiede  und  Stamm- 
vermischung stattgefunden  hat. 

Je  mehr  deutliche  Eigenthümlichkeiten  jeder  Stamm  hat,  desto 
schwieriger  ist  solche  Vermischung. 


Völlrerfainilien,  Stämme,  Nationalititen.  417 

IT.  Die  unterscheidenden  Kennzeichen  der  Völkerfamilien  aber 
sind  im  Wesentlichen  folgende: 

1.  Der  Körperbau,  und  zwar  insbesondere  die  Schädel-  und  Ge- 
sichtsbildung. In  letzterer  Hinsicht  unterscheidet  man  Orthognaten  (mit 
vortretender  Stirn  und  geradem  Kiefer,  die  meisten  Europäer)  und  Pro- 
gnathen  (mit  zurücktretender  Stirn  und  vorgeschobenem  Kiefer,  Asiaten 
und  Amerikaner).  Schädelform  und  Gesichtsbildung  werden  innerhalb  ge- 
wisser Grenzen  während  der  Entwickelung  des  menschlichen  Organismus 
umgestaltet.  Je  gleichartiger  die  Ursachen  dieser  Umgestaltung  wirken, 
desto  typischer  werden  Kopf  und  Gesicht  einer  Mehrzahl  von  Individuen. 
Die  Civilisation  mit  ihrer  Mannigfaltigkeit  von  Einflüssen  lässt  solche 
Gleichartigkeit  der  Körperbildung  nicht  sich  ausbilden;  sie  verändert  den 
ursprünglichen  Typus  mehr  und  mehr  und  macht  ihn  unkenntlich. 

2.  Die  Hautfarbe.  Mit  mehreren  anderen  Eigenthümlichkeiten  zu- 
sammen ist  sie  Haupteintheilungsgrund  der  von  der  älteren  Ethnographie 
beliebten  Racenunterscheidung.  Sie  umfasst  die  kaukasische  Race 
(weiss,  etwa  375  Mill.  oder  28,8^  aller  Menschen);  die  mongolische 
(gelb^  mit  geschlitzten  Augen  und  vortretenden  Backenknochen,  etwa  528 
Mill.  oder  40,6^);  die  äthiopische  (schwarz,  mit  Kraushaar,  vortretenden 
Kiefern,  wulstigen  Lippen,  stumpfer  Nase,  196  Mill.  oder  15  Jl^);  dieamerik. 
(röthlich-braun,  mit  schwarzem  Haar,  breitem  Gesicht,  etwa  10 — 11  Mill.) 
und  die  malayische  (braun  mit  schwarzem  Haar,  breiter  Nase,  grossem 
Mund,  200  Mill.  oder  15,3j6).  Auch  die  Hautfarbe  ist  keine  absolut  fest- 
stehende Eigenschaft;  sie  ändert  sich  im  Laufe  der  Zeit  bei  verändertem 
Wohnsitz  und  Mischehen. 

3.  Andere  körperliche  Abzeichen,  so  namentlich  die  Beschnei- 
dung der  Juden  und  Moslimen.  Körperliche  Abzeichen  überhaupt  sondern 
die  Volksstämme  am  hartnäckigsten  von  einander  ab. 

4.  Die  Urheimat,  die  ältesten  Siedelungen.  Die  bestimmte  Natur 
jedes  Theiles  der  Erde  muss  nothwendig  einen  äusserst  constanten  und 
gleichmachenden  Einfluss  auf  seine  Bewohner  ausüben  und  zwar  auf  deren 
körperliche  Entwickelung  sowohl  als  auf  ihr  wirthschaftliches  und  geistig- 
sittliches Leben.  So  schafft  die  Natur  ihres  Wohnsitzes  den  Völkerfamilien 
eine  ganze  Reihe  von  charakteristischen  Eigenthümlichkeiten,  deren  Ursprung 
zu  verfolgen  aber  nicht  Sache  der  Statistik,  sondern  historischer  Forschung 
ist.  Nur  da,  wo  Völkerschaften  nachweisbar  seit  unvordenklichen  Zeiten 
bestimmte  Wohnsitze  innehaben,  kann  die  Statistik  dieses  Kennzeichen 
ohne  weiteres  benützen. 

5.  Die  Sitte,  die  Art  und  Weise,  in  den  wichtigsten  Lebensver- 
hältnissen sich  zu  benehmen.  Je  nach  dem  Kreise  von  Menschen,  innerhalb 
dessen  sie  herrschend  geworden  ist,  ist  sie  allgemein  menschliche  Sitte; 

Haushofer,  Statistik.  2.  Aufl.  27 


418  YölkQTfamilien,  SUmme,  Nationalitftten. 

religiöse  S.  (christliche,  jüdische  S.);  nationale  S.;  Standessitte; 
Classensitte;  iocale  Sitte.  Die  nationale  Sitte,  welche  hier  allein  in 
Betracht  kommt,  wird  dem  Volke  grossentheils  durch  die  Natur  seines 
Wohnsitzes,  auch  durch  einzelne  geschichtliche  Ereignisse  aufgedrungen. 
Auf  ihre  Unterschiede  wirkt  die  Civilisation  vorzugsweise  nivellirend  ein. 
Nationale  Sitte  äussert  sich  zunächst  in  der  Wohnung,  wo  sie  jedoch, 
wenn  nicht  klimatische  Verhältnisse  es  hindern,  gerne  dem  Comfort  der 
Civilisation  weicht;  sodann  in  der  Nahrung,  welche  wesentlich  vom 
Charakter  der  Rohproduction  abhängt.  Auch  in  der  Kleidung,  In  diesem 
Punkte  hängt  die  nationale  Sitte  zäher  am  hergebrachten,  so  dass  eigene 
Nationaltrachten,  wo  sie  im  Gebrauche  sind,  scharf  absondern  und  ihre 
künstliche  Einbürgerung  sogar  als  nationalpolitisches  Agitationsmittel  ge- 
braucht wird.  Ferner  zeigt  sich  nationale  Sitte  in  den  Gebräuchen  des 
Volkes  bei  den  Hauptabschnitten  des  Lebens,  bei  der  Geburt,  Erziehung, 
Eheschliessung  etc.  Hier  aber  scheidet  sie  die  Nationen  nicht  scharf  und 
weicht  mehr  und  mehr  allgemeinen  Moden  der  Civilisation  wohl  deshalb 
so  leicht,  weil  es  sich  ja  doch  vielfach  nur  um  äussere  Formen  handelt. 
Ebenso  ist  dies  der  Fall  hinsichtlich  nationaler  Vergnügungen,  welche 
gleichfalls  als  Theil  nationaler  Sitte  erscheinen,  aber,  wenn  sie  es  verdienen 
und  häufig  auch  wenn  sie  es  nicht  verdienen,  bereitwilligst  von  anderen 
Nationen  angenommen  werden.  Gebräuche  und  Vergnügungen  bleiben  um 
so  constanter  national,  je  inniger  sie  mit  dem  Wohnsitze  des  Volkes  und 
seinen  wirthschaftlichen  Lebensverhältnissen  zusammenhängen. 

Alle  diese  Kennzeichen  aber  gestatten  meistens  nur  mangelhafte 
Massenbeobachtung.  Völlig  ausgeschlossen  ist  dieselbe  jedoch  durchaus 
nicht.  Es  gibt  nationale  Arbeits sitten,  welche  recht  wohl  eine  zifFer- 
mässige  Beobachtung  gestatten  (z.  B.  die  übliche  Arbeitszeit;  die  Zahl  der 
üblichen  Festtage  etc.)  und  Genusssitten,  bei  welchen  das  Gleiche  der 
Fall  ist.  Zum  B.  der  durchschnittlich  übliche  Lebensbedarf  der  Arbeiter- 
familie; manche  landesübliche  Consumtionen  (s.  d.)  und  dgl. 

6.  Als  gewöhnlichstes  Kennzeichen  der  Angehörigkeit  zu  einer 
Nationalität  gilt  die  Sprache.  Dieses  Kennzeichen  ist  im  Allgemeinen 
auch  das  richtigste,  reicht  aber  fär  sich  allein  nicht  aus.  Es  ist  ein 
natürliches  und  historisches. 

Einzelne  Individuen,  welche  unter  eine  andere  Nation  versetzt  werden, 
nehmen  häufig,  ihre  Nachkommen  fast  immer  die  Sprache  der  neuen 
Heimat  an.  Auch  ganze  Gruppen  von  Eingewanderten,  Bruchstücke  und 
Trümmer  ganzer  Nationen  wurden  dahin  gebracht,  die  Sprache  jener 
Länder  anzunehmen,  in  welche  sie  eingewandert  sind.  So  reden  die  Juden 
in  Deutschland  deutsch.  Und  doch  wird  Niemand  läugnen,  dass  sie  den 
Stammeseigenthümlichkeiten  der  germanischen  Nationalität  femer  stehen, 


YOllerfamilien,  Stftmine ,  Nationalitäten. 


419 


als  z.  B.  die  Franzosen,  welche  französisch  reden.  In  solchen  Fällen  ist 
offenbar  die  Sprache  nicht  hinreichend,  um  die  Nationalität  als  solche 
abzuschliessen.  Sie  weist  eben  manchmal  nicht  auf  die  Abstammung  hin, 
sondern  auf  Erziehung  und  Unterricht. 

Namentlich  dann  ist  die  Sprache  gar  kein  Kennzeichen  der  Natio- 
nalität, wenn  sie  den  Voreltern  eines  Volkes  durch  Eroberer  eingepflanzt 
wurde. 

Anmerkung. 

Eine  gedrängte  Uebersicht  der  Stamm-  und  Nationalitäteuverhältnisse  in 
den  verschiedenen  Ländern  ergibt  folgendes  Resultat.  (Wo  nicht  andere  Quellen 
augegeben,  nach  dem  Goth.  Hofk.) 

Im  Deutschen  Reiche  lassen  sich  unterscheiden  (1871): 

1,  Deutsche  Bevölkerung  im  Ganzen  37,820000. 

a)  Oberdeutsche  Stämme  (Bayern,    Schwaben,    Alemannen)  zusammen 
etwa  6  Mill. 

b)  Niederdeutsche  (Niedersachsen,  Friesen,  Westfalen,  Märker,  Pommern, 
Preussen)  zusammen  etwa  14 — 15  Mill. 

c)  Mitteldeutsche    (Frauken,  Rheinländer,  Pfälzer,  Hessen,  Thüriuger, 
Sachsen,  Schlesier)  16—17  Mill. 

2.  Nichtdeutsche  Bevölkerung,  im  Gauzen  3,160000,  d.  i.  S%  der  Ge- 
sammtbevölkerung.  Im  Einzelnen:  2,450000  Polen,  140000  Wenden, 
50000  Czechen,  150000  Lithaüer,  150000  Dänen,  220000  Franzosen. 

In  0  es  ter  reich -Ungarn  erscheint  die  nationale  Zersplitterung  haupt- 
sächlich deshalb  so  bedeutend,  weil  die  Hauptnationen  des  Staates  sich  au- 
uähei-ud  im  Gleichgewichte  halten.  Für  1876  wurden  (nach  Sprachen)  ange- 
nommen : 


Oesterreich 

Ungarn 

Zusammen 
Millionen 

Deutsche 

7,800000 

1,800000 

9,6 

Czechen 

5,000000 

2,000000 

7 

Rutheneu 

2,600000 

.600000 

3,2 

Polen 

2,500000 

— 

2,5 

Kroaten,  Serben 

580000 

2,570000 

3,1 

Slovenen 

1,190000 

60000 

1,2 

Armenier 

4000 

5000 

Albanesen 

1500 

2100 

Magyaren 

20000 

5,680000 

5,7 

Romanen 

185000 

2,800000 

2,9 

Italiener 

630000 

3000 

0,6 

Israeliten 

860000 

580000 

M 

Zigeuner 

8000 

159000 

0,1 

Bulgaren 

— 

30000 

Griechen 

2300 

1000 

Andere 

13000 

7100 

Grossbritannien. 

Der  Stammesunterschied  unter  der  Bevölkerung  ist 

grösser   als  gewöhnlich  geglaubt 

wird.    Man 

nimmt  6  Hauptstämme  an:    den 

27* 

420  Völkerfamilien,  Stämme,  Nationalitäten. 

Englischen,  Germanisch-Schottischen,  Gälisch-Schottischen,  Wallisischen  (Kym- 
rischen),  Irischen  und  Französischen  (auf  den  normannischen  Inseln).  Zahlen- 
angaben über  deren  Stärke  fehlen. 

Schweiz.  Die  Nationalitäten  sind  hier  nicht  nach  einzelnen  Personen, 
sondern  nach  Haushaltungen  classificirt.  Man  erhielt  dabei  im  Jahre  1870 
folgendes  Resultat: 

1.  Deutsche:  384538  Haushaltungen.  14  Cautone  sprechen  nur  deutsch. 

2.  Franzosen:  133575  Haushaltungen,  vorzugsweise  in  Waadt,  Neuenburg 
und  Genf,  dann  auch  in  Wallis,  Freiburg  und  Bern. 

3.  Italiener:  3t)079  Haushaltungen,  meist  im  Canton  Tessin. 

4.  Rhätier:  8778  Haushaltungen,  fast  alle  in  Graubünden.  Letztere  sind 
in  starkem  Rückgange.  —  Dabei  leben  in  der  Schweiz  über  150000  Ausländer 
=  5,7%  der  Bevölkerung. 

Belgien.  1.  Deutscher  Volksstamm  mit  flämischer  Sprache,  */?  ^^^  G®~ 
sammtbevölkerung  in  den  beiden  flandrischen  Provinzen,  Antwerpen,  Limburg 
und  Brabant. 

2.  Keltischer  Volksstamm  mit  französischer  oder  wallonischer  Sprache, 
'/y,  in  Lüttich,  Luxemburg,  Namur,  Hennegau  und  einem  Theile  von  Brabant 
(Heuschling). 

Von  5,3  Mill.  Einwohnern  Belgiens  sprechen  2,659890  flämisch,  2,256860 
französisch,  340770  flämisch  und  französisch,  38070  deutsch. 

Niederlande:  1.  Holländer  und  Batavier,  etwa  2,400000  in  Holland, 
Zeeland,  Utrecht  und  Geldern.  Sprache  plattdeutsch. 

2.  Friesen,  7i  ^i^^-  "i  Friesland,  Groningen,  Drenthe  und  Oberyssel,  mit 
holländischer  Mundart. 

3.  Flamänder,  gegen  400000  in  Nordbrabant  und  Limburg. 

4.  Niederdeutsche,  50000,  in  Limburg  (Kolb). 
Frankreich.  Der  Abstammung  nach  unterscheidet  Block: 

1.  Den  keltischen  Stamm  mit  zwei  grossen  Familien:  der  gallischen  und 
kimrischen,  von  welchen  die  letztere  wieder  in  Kimrer  der  ersten  und  zweiten 
Invasion  zerfällt. 

2.  Den  iberischen  Stamm  mit  zwei  Aesten :  den  Aquitaniern  und  Liguriem, 
wohnhaft  an  den  Pyrenäen,  der  Garonne,  dem  Mittel meer. 

3.  Den  pelasgischen  Stamm,  enthaltend  die  griechisch-jonische  Familie, 
wohnhaft  in  einem  Theile  der  Provence,  und  die  griechisch-lateinische,  wohn- 
haft in  Corsica. 

4.  Den  arabischen  Stamm,  d.  i.  die  Israeliten  Frankreichs. 

5.  Den  germanischen  Stamm  in  Elsass  und  Lothringen  (vor  dem  J.  1871). 
Der  Sprache  nach  dürften  etwa  20  Mill.  rein  französisch  sprechen,    12*/^ 

Mill.  provencalisch. 

Dänemark.  Die  Bevölkerung  gehört  durchgängig  zum  germanisch- 
skandinavischen Volksstamm.  Island  und  die  Faröer  wurden  von  Dänemark 
und  Norwegen  aus  bevölkert. 

Schweden.  Die  Bewohner  gehören  (1870),  mit  Ausnahme  von  6711 
mongolischen  Lappen  in  den  sog.  Lappmarken,  und  von  14932  Finnen,  welche 
aber  ihre  ursprüngliche  Sprache  aufgegeben  haben,  zum  germanisch-skandina- 


Yölkerfamilien,  St&mme,  Nationalitäten.  421 

Yischeu  Volksstamme,  welcher  sich  hier  im  Laufe  der  Geschichte  zu  einer  be- 
sonderen schwedischen  Nationalität  auggebildet  hat. 

Norwegen.  Neben  den  germanischen  Norwegern  sind  (im  J.  1875)  15718 
Lappen,  hier  Finnen  genannt,  darunter  1073  Nomaden;  dann  7594  Kwänen. 
Ausserdem  gemischte  Racen  der  Norweger  und  Kwänen,  Norweger  und  Finnen, 
Kwänen  und  Finnen.  Die  Kwänen  sind  Einwanderer  aus  Finnland. 

Spanien.  Die  eigentlichen  Spanier  sind  ein  Gemisch  der  früher  da 
hausenden  Völker:  Kelten,  Römer,  Alanen,  Gothen,  Sueven,  Vandalen,  Mauren 
und  Araber.  Das  maurisch -arabische  Element  ist  besonders  in  Andalusien 
herrschend.  Ausser  den  Spaniern  etwa  */«  Mill.  Basken, .  60000  Moriskos,  Ab- 
kömmlinge der  Mauren  in  den  Thälern  der  Sierra  Nevada  und  in  den  Apuljaren; 
etwa  1000  deutsche  Colonisten  in  der  Sierra  Morena,  45000  Zigeuner  und 
wenig  Juden. 

Portugal.  Die  Stammrerschiedenheit  der  gegenwärtigen  Bevölkerung 
ist  unbedeutend;  an  den  Handelsplätzen  haben  sich  viele  Engländer  angesiedelt, 
Neger,  spanische  Galizier  und  Creolen  finden  sich  in  der  arbeitenden  und 
dienenden  Classe;  Juden  sehr  wenige. 

Italien.  Als  ein  politischer  Vorzug  Italiens  vor  ^anderen  grösseren  Staaten 
ist  es  zu  betrachten,  dass  seine  Gesammtbevölkerung  mit  Ausnahme  von  i^Z% 
der  gleichen  Nationalität  angehört.  Zu  23,928870  Italienern  kamen  nach  der 
Zählung  von  1861  noch  d 34435  Franzosen,  55453  Albanesen,  29233  Juden, 
26892  Slovenen,  20418  Griechen,  20393  Deutsche,  7036  Catalonier,  5546  Eng- 
länder u.  s.  f.  Zum  deutschen  Stamme  insbesondere  gehören  ausser  den  Fremden 
die  Bevölkerung  in  einigen  Gebirgsthälern  der  Kreise  Aosta ,  Ossola  und 
Valsesia,  die  sog.  Sette  communi  in  der  Provinz  Vicenza  und  die  Tredici  com- 
muni  in  der  Provinz  Verona  (Brachelli). 

Griechenland.  Ueber  900000  eigentliche  Griechen  —  nach  Fall meray er 
ein  albanesisches  Mischlingsvolk ;  gegen  280000  Albanesen ,  Arnauten ,  ein 
bulgarisch-slavisches  Mischlingsvolk;  20—30000  Armenier,  eine  Anzahl  sogen. 
Franken,  d.  i.  Westeuropäer.  Im  eigentlichen  Griechenland  höchstens  500,  auf 
den  Inseln  aber  etwa  6000  Juden. 

Türkei.  Das  verworrene  Völkergemisch  der  Balkanhalbinsel  hat  sich 
zwar  ein  wenig  gelichtet,  seit  einige  der  vormals  türkischen  Schutzländer  als 
selbständige  Staaten  sich  consolidiren  konnten;  doch  herrscht  immer  noch  ein 
höchst  bedenkliches  ethnographisches  Durcheinander.  Was  jetzt  noch  zu  den 
unmittelbaren  Besitzungen  des  türkischen  Reiches  in  Europa  gehört,  wird 
ausser  den  Osmanen  oder  eigentlichen  Türken  noch  bewohnt  von:  Albanesen 
(Skipetaren,  Arnauten,  etwa  1,3  Miil.),  Griechen,  Zinzaren  (Makedowlacheu) 
Serben  und  Bulgaren,  Zigeunern,  Arabern,  Juden,  Tartaren,  Armeniern,  Tscher- 
kessen  u.  s.  f.  Die  Zahl  der  Osmanli  wird  in  den  unmittelbaren  Besitzungen 
auf  1,9  Mill.,  in  der  ganzen  Türkei  mit  Hinzurechnung  von  Ostrumelien.  Bul- 
garien und  Bosnien  dagegen  auf  3,4  Mill.  veranschlagt. 

Russland.  Eine  nicht  sehr  verlässige  Schätzung  gibt  an: 

Grossrussen 33,000000 

Kleinrussen  (Ruthenen) 11,200000 

Weissrusseu .   .    3,600000 

Fürtrag  .  47,800000 


422  VOlkerfamllien,  St&mme,  Nationalit&ten. 

Uebertrag .  47,800000 

Lithauer  und  Polen 7,000000 

Finnen  und  Letten 3,300000 

Tartaren 2,400000 

Deutsche 600000 

Grusen  und  Armenier 2,000000 

Juden 1,500000 

üralische  Stämme 600000 

Zusammen  .  65,200000 
Eine  andere  Schätzung  rechnet:  44  Mill.  Grossrussen,  8  M.  Kleinrussen, 
1,8  M.  Kosaken  etc.,  5  M.  Polen,  dann  3,8  M.  Finnen  oder  Tschudeu  (sammt 
Baschkiren);  fast  5  M.  Tartaren,  1,8  M.  Angehörige  der  lithauisch-lettischen 
Familie,  2  M.  Kaukasusbewohner,  2  M.  Juden,  700000  Deutsche,  212000  Schwe- 
den, 700000  Rumänen,  400000  Mongolen,  16000  Samojeden  etc. 

Vereinigte  Staaten.  Eine  genaue  Ausscheidung  der  verschiedenen 
Zweige  des  kaukasischen  Stammes  ist  unmöglich.  Die  Zahl  der  Deutscheu 
möchte  allerdings,  wenn  man  die  Nachkommen  der  Eingewanderten  einrechnet, 
5  Mill.  sein;  allein  diese  Nachkommen  haben  in  grösster  Anzahl  aufgehört, 
Deutsche  zu  sein.  Nach  dem  Census  ron  1870  waren  von  den  Einwohnern 
32,9  Mill.  in  den  Ver.  Staaten  geboren,  5,5  im  Auslande.  Von  letzteren  stammten 
2,6  Mill..  aus  Grossbritannien,  1,6  Mill.  aus  Deutschland,  0,6  Mill.  aus  dem  übrigen 
Europa.  Man  zählt  33,5  Mill.  Weisse,  4,8  Mill.  Farbige,  383712  Indianer,  63254 
Chinesen. 

Bei  den  im  Folgenden  noch  weiter  angegebenen  Staaten  und  Ländern 
ist  von  einer  genauen  Zählung  der  Nationalität  nicht  die  Rede.  Namentlich 
die  Zahlen  derjenigen  Stämme,  welche  nicht  der  weissen  Race  angehören, 
benihen  blos  auf  Schätzungen.  Es  mögen  daher  die  folgenden  Angaben  blos 
dazu  dienen,  einen  ungefähren  Ueberblick  zu  geben. 

Mexiko  (Wappäus): 

1.  Indianer  (Reste  zahlreicher  Völkerschaften,  von  welchen  einige  früher 
bedeutende  Cultur  entwickelt  hatten):  4,8  Mill. 

2.  Weisse:  1  Mill.  " 

3.  Mischlinge  (Mestizos,  Zambos,  Mulattos  etc.):  2,1  Mill. 

4.  Neger:  6000. 

Die  indianischen  Sprachen  Mexikos  allein  betragen  wenigstens  an  40. 
Centralamerika: 

1.  Weisse:  100000  (überwiegend  spanische  Creolen). 

2.  Mischlinge:  800000. 

3.  Indianer:  l,i  Mill.  (mit  zahlreichen  Sprachen). 

4.  Neger:  19000. 

Columbien  (Neugranada): 

1.  Weisse  und  Mestizen  mit  vorherrschend  europäischem  Element:  1,6  Mill., 
darunter  rein  weiss  kaum  420000. 

2.  Indianer:  447000. 

3.  Mischlinge  (Mestizen,  Mulatten,  Zambos):  466000. 

4.  Neger:  86000. 


VOlkerfamilion,  Stftmme,  Nationalitäten.  423 

Venezuela  (1839): 

1.  Weisse  (Hispauo-Amerikaiier  und  Fremde):  260000. 

2.  Mischlinge  von  Weissen,  Negern  und  Indianern:  414151. 

3.  Neger:  49782. 

4.  Ciyilisirte  Indianer:  155000. 

5.  Unterworfene  Indianer:  14000. 

6.  Unabhängige  Indianer:  52415. 

Guyana.  Ausser  den  holländischen,  englischen  und  französischen  Colo- 
nisten  Indianer  und  unabhängige  Busch-Neger. 

Ecuador.  1.  Weisse  und  Mestizen:  601219,  darunter  vielleicht  100000 
rein  weiss. 

2.  Civilisirte  Indianer  reiner  Race:  462400. 

3.  Reine  Neger:  7831. 

4.  Mischlinge  von  Negern  mit  Weissen  und  Indianern:  36592. 

5.  Wilde  Indianer,  etwa  200000. 

Peru.  Von  der  Gesammtbevölkerung  zu  2,5  Mill.  kommen  auf  die  Indianer 
57,  auf  die  Mestizen  22,  auf  die  Weissen  14  und  auf  die  Neger  mit  ihren 
Mischlingen  7^. 

Bolivia.  659398  Weisse  (die  meisten  wohl  Mischlinge)  und  701558 
Indianer. 

Chile  zählt  unter  seiner  Bevölkerung  von  1,8  Mill.  150—200000  Weisse, 
Vi  Mill.  Neger,  die  übrigen  Mischlinge  und  Indianer.  Unter  den  eingewanderten 
Europäern  sind:  3876  Deutsche,  2818  Britten,  2483  Franzosen,  1247  Spanier, 
1037  Italiener,  313  Portugiesen,  831  Nordamerikaner. 

Argentinische  Republik.  Weisse,  etwa  250000,  meist  romanischen 
Stammes  (Italiener,  Franzosen,  Spanier);  Mestizen,  Indianer  (civilisirte,  halb- 
civilisirte  und  wilde),  Mulatten,  Neger  und  Zambos. 

Uruguay.  Nationale  (Orientales,  d.  h.  Weisse,  vielfach  mit  indianischem 
Blut  gemischt)  etwa  6091$,  das  übrige  Fremde.  Unter  ihnen  2891^  Brasilianer, 
27%  Spanier,  14J|$  Italiener,  13%  Franzosen. 

Paraguay.  '/^  der  Bevölkerung  sind  Weisse  mit  Beimischung  indiani- 
schen Blutes,  aber  sehr  ausgeglichenem  Raceucharakter ,  welche  trotz  der  be- 
deutenden Zufuhr  indianischer  Elemente  den  kaukasischen  Typus  festhalten. 
Dazu  Vs  reine,  christianisirte  Indianer,  Vs  Mestizen  und  Farbige. 

Brasilien.  Die  rein  Weissen  bilden  einen  sehr  kleinen  Bnichtheil  der 
Bevölkerung;  die  Neger,  theils  Sklaven,  theils  Freie,  bilden  die  zahlreichste 
unvermischte  Race.  Wenig  zahlreich  sind  die  ansässigen  Indianer  unvermischten 
Blutes.  Die  Mischlingsracen,  unter  einander  und  mit  den  reinen  Racen  in  den 
verschiedensten  Verhältnissen  gekreuzt,  bilden  die  Mehrzahl  der  Bevölkerung. 
Die  unabhängigen  Indianer  zerfallen  in  mehr  als  250  Horden,  Stämme  und 
Nationen. 

Westindien.  Europäische  Einwanderer  (etwa  89%  Spanier,  6%  Britten, 
5%  anderer  Nationalitäten)  haben  die  eingebornen  Stämme  ausgerottet.  Zu 
ihnen  treten  Neger  (auf  Hayti  herrschende  Race),  Mulatten,  aus  Ostindien 
importirte  Kuli''s  und  Chinesen. 

Afrika.  Zur  kaukasischen  Race  gehören  die  Berbern,  Bischarin,  Nubier, 
Abessyuier  und  Kopten,  die  eingewanderten  Araber,  Juden,  Türken,  Armenier 


424  Staatsverfassung  und  Politik. 

und  Europäer  aller  Nationen.  Die  südlichen  Nubier  und  die  Oasenbewohuer 
sind  kaukasisch-äthiopische  Mischlinge.  Die  zahlreichen  Völker  der  äthiopischen 
Race  sprechen  etwa  150  Sprachen. 

Asien.  Von  einer  ziffermässigen  Gliederung  der  Nationalitäten  und 
Stämme  kann  kaum  die  Rede  sein.  Man  unterscheidet: 

1.  Die  chinesisch-japanesische  Gruppe,  zu  welcher  Chinesen,  Japanesen, 
Koreaner,  Birmanen,  Peguanen,  Laos  und  Siamesen,  Tonkinesen,  Cochinchinesen 
und  Cambodja- Völker  mit  sehr  verschiedenen  Sprachen  gehören. 

t.  Den  tartarischen  oder  hochasiatischen  Stamm  in  den  4  Hauptstämmen 
der  Tibetaner,  Taitaren  oder  Mongolen,  Tungusen  und  Türken.  Ihre  Sprachen 
zerfallen  in  unzählige  Dialecte. 

3.  Die  tschudischen  Völker  im  sibirischen  Tieflande. 

4.  Die  Malayen  auf  den  Inseln. 

5.  Den  indo-europäischen  Stamm,  umfassend  etwa  40  Stämme  in  Vorder- 
indien, dann  die  Bei udschen,  Afghanen,  Neuperser  und  Kurden,  Armenier, 
Georgier  und  kaukasischen  Bergvölker,  Syrer  und  Araber. 

Australien.  Neben  den  mehr  und  mehr  schwindenden  Ureinwohnern 
des  australischen  Contineuts  und  den  mit  diesen  verwandten  Australnegern 
(Negritos)  der  Inseln  unterscheidet  man  den  culturfähigeren  hellfarbigen  Volks- 
stamm der  Inseln,  zerfallend  in  Poljnesier  und  Mikronesier.  Dazu  kommt  allent- 
halben die  mächtig  eindringende  europäische  Einwanderung. 

§.  202.  Staatsverfassung  und  Politik. 

Sammlung  und  Darstellung  der  Verfassungsgesetze  der  verschiedenen 
Staaten  ist  keine  Statistik.  Eine  Statistik  des  Verfassungslebens  der  Staaten 
hat  vielmehr  die  Aufgabe,  die  dahin  gehörenden  Erscheinungen  in  Quan- 
titäten aufzulösen.  Diese  Aufgabe  ist  bisher  erst  angebahnt. 

Diejenigen  Quantitäten ,  um  die  es  sich  hier  handelt,  sind  die 
Summen  der  vei-schiedenen  einzelnen  Willen,  welche  auf  die  Leitung  der 
Staaten  Einfluss  haben.  Aber  diese  Einflüsse  sind  qualitativ  sehr  ver- 
schieden. 

Ist  der  Staate  um  Jessen  Verfassungsstatistik  es  sich  handelt,  eine 
absolute  Monarchie,  dann  ist  ein  einziger  staatlicher  Wille  vorhanden; 
derselbe  ist  in  seiner  Geltendmachung  durch  den  Druck  der  öffentlichen 
Meinung  zwar  beschränkt,  dass  Maass  dieser  Beschränkung  aber  ist  unbe- 
rechenbar. 

Handelt  es  sich  um  eine  constitutionelle  Monarchie,  so  stehen  dem 
Einzelnwillen  des  Monarchen  eine  Reihe  von  anderen  Willensmächten 
verfassungsmässig  zur  Seite;  miteinander  stellen  sie  eine  politische  Quan- 
tität dar.  Auch  hier  fehlt  es  an  einem  Maasse  für  die  Beurtheilung  des 
quantitativen  Verhältnisses  beider  Factoren  zu  einander.  Doch,  gibt  es 
einige  Punkte,  welche  in  den  Gesichtskreis  der  Statistik  fallen.  Diese  sind : 


Staatsverfassung  und  Politik.  425 

1.  Die  Zahl  der  Abgeordneten. 

Nach  dem  Gesetze  der  grossen  Zahl  ist  die 'Stimme  der  Volksver- 
tretung ein  desto  deutlicherer  und  genauerer  Ausdruck  des  Volkswillens, 
je  grösser  die  Zahl  der  Repräsentanten. 

Nun  ist  freilich  die  Art  der  Volksvertretungen  wieder  verschieden. 
Die  nach  Ständen  gegliederten  Volksvertretungen  haben  einen  wesentlich 
anderen  Charakter  als  jene  ohne  ständische  Gliederung.  Die  vom  Monarchen 
etwa  ernannten,  die  aus  der  Verfassung  berufenen,  die  durch  indirecte  und 
die  durch  directe  Wahlen  erwählten  Repräsentanten  vertreten  nicht  die 
gleichen  Richtungen  des  Volkswillens. 

Der  Wille  der  Regierung  ist  um  so  energischer,  je  kleiner  die  Zahl 
der  herrschenden  Personen.  In  einer  Versammlung,  welche  regiert,  hat 
jedes  Mitglied  neben  allem  Patriotismus  seine  besondere  Meinung,  durch 
welche  die  Kraft  des  Gesammtwillens  geschwächt  wird.  In  der  reinen 
Demokratie  ist  die  Staatsgewalt  am  schwächsten,  weil  jeder  Staatsbürger 
einen  geringen  Antheil  an  der  Macht  und  am  Gesammtinteresse  hat,  gegen 
welchen  sein  Privatinteresse  häufig  weit  überwiegt. 

Je  grösser  Gebiet  und  Bevölkerung  sind,  desto  mehr  liebt  es  die 
Staatsgewalt,  sich  zu  concenti-iren. 

Es  ist  klar,  dass  in  einem  constitutionellen  oder  republikanischen 
Staatswesen  der  Antheil  jedes  Staatbürgers  an  der  Staatsgewalt  in  eben 
dem  Verhältnisse  abnimmt,  als  die  Bevölkerung  wächst.  In  einem  Staate, 
welcher  500000  Staatsbürger  hat,  ist  der  Antheil  jedes  einzelnen  an  der 
Herrschaft  =  Vsooooo^  während  die  ganze.  Staatsgewalt  auf  ihn  als  Unter- 
than  drückt. 

Die  Grösse  der  Bevölkerung  ist  in  Hinsicht  auf  das  Repräsentativ- 
system von  solcher  Wichtigkeit,  dass  sich  darnach  ganz  verschiedene  Be- 
dingungen und  Resultate  ergeben. 

Ausser  den  Zahlenverhältnissen  kommen  freilich  noch  andere  Fac- 
toren  ins  Spiel,  deren  Berücksichtigung  nöthig,  so  dass  kaum  eine  andere 
politische  Handlung  so  eingehender  statistischer  und  politischer  Vorarbeiten 
bedarf,  als  die  Anfertigung  eines  Wahlgesetzes. 

In  einem  grossen  Einheitsstaate,  wo  die  Mehrzahl  der  Wähler  die 
Candidaten  nicht  kennt  und  wegen  des  geringen  Werthes  der  individuellen 
Wahlberechtigung  nur  wenig  Interesse  für  die  Wahlen  hat,  kann  je  nach 
der  Lage  die  Regierung  oder  eine  Oppositionspartei  die  Wahlen  dirigiren. 
Anders  bei  einem  aus  verschiedenen  Stämmen  oder  Nationalitäten,  welche 
föderativ  verbunden  sind,  bestehenden  Staatswesen. 

Ein  anderer  hier  gleichfalls  nicht  zu  vergessender  Factor  liegt  darin, 
ob    für    die  Kirchthurminteressen  locale  kleinere  Vertretungen  vorhanden 


426  Staatsverfassimg  and  Politik. 

sind   oder   ob    diese   Interessen  gleichfalls  die  grosse  Repräsentantenver- 
sammlung als  Tummelplatz  ansehen  *). 

2.  Das  active  Wahlrecht.  Das  Verhältniss  zwischen  der  Zahl 
der  activ  Stimmberechtigten  und  der  Bevölkerung  überhaupt  ist  verschieden 
je  nach  dem  Wahlgesetze.  Die  neuere  Zeit  zeigt  in  dieser  Hinsicht  eine 
Tendenz  zur  Verallgemeinerung  des  Stimmrechtes.  Die  politischen  Rechte 
gewinnen  allgemeinere  Verbreitung  als  jemals  *). 

Die  günstigste  Verhältnissziflfer  stellt  das  allgemeine  Stimmrecht  her. 
Vor  kurzem  noch  verachtet,  ist  es  in  der  Schweiz,  in  Italien,  Frankreich 
und  für  das  Deutsche  Reich  proclamirt.  Es  umfasst  in  der  Regel  die  ganze 
einheimische  Bevölkerung.  Fasst  man  die  Stimmberechtigten  als  Procent- 
satz der  Gesammtbevölkerung,  so  ist  die  grösste  Ziffer  die  liberalste.  Diese 
Ziffer  wird  beeinflusst  durch  die  verschiedenen  Beschränkungen  des  Stimm- 
rechtes. 

Beim  allgemeinen  Stimmrechte  ist  fraglich,  ob  die  arithmetische 
Gleichheit  des  Stimmrechtes  in  ihren  Resultaten '  stets  den  Durchschnitt 
des  Volkswillens  ergibt.  Die  Massen  folgen  meist  irgend  einer  Autorität: 
der  Regierung,  der  Geistlichkeit  oder  einer  politischen  Partei.  Die  Einflüsse 
dieser  allgemeinen  Autoritäten  werden  häufig  wieder  durch  besondere 
Localautoritäten  durchkreuzt.  Da  hiedurch  schliesslich  die  Minderheiten 
mehr  als  gut  ist,  unterdrückt  werden,  ist  eine  der  wichtigsten  neueren 
Fragen  auf  diesem  Gebiete  die  Vertretung  der  Minorität.  Bei  den  modernen 
Wahleinrichtungen  bleiben  Minderheiten  unvertreten.  Denkbar  ist  sogar, 
dass  die  wirkliche  Mehrheit  der  ganzen  Bevölkerung  in  eine  Minderheit 
versetzt  wird. 

3.  Die  Benützung  des  activen  Wahlrechtes  durch  die  Stimmbe- 
rechtigten, also  die  Zahl  derjenigen  Wahlberechtigten,  welche  von  ihrem 
Stimmrechte  Gebrauch  machen,  gegenüber  denjenigen,  welche  dies  unter- 
lassen. Diese  Zahlen  werden  namentlich  dann  wichtig,  wenn  man  beob- 
achtet, wie  sie  in  verschiedenen  Zeiten  und  Zuständen  sich  andere  gestalten. 
Je  grösser  die  politische  Bildung,  je  bedeutungsvoller  die  politische  Lage, 
desto  grösser  ist  die  Ziffer  der  Wählenden^). 

4.  Die  Zusammensetzung  der  Volksvertretung,  das  Verhältniss 
der  in  ihr  befindlichen  Partei-  und  Standesangehörigen.  Man  erkennt  aus 
dieser  Zusammensetzung,  welche  Stände  in  politisch  bewegten,  welche  in 
ruhigen  Zeiten  zumeist  Antheil  an  der  Volksvertretung  haben.  Immer  zeigt 
sich  dabei,  dass  die  Gewählten  einer  höheren  Stufe  des  Vermögens  und 
der  Bildung  angehören,  als  der  Durchschnitt  der  Wähler,  dass  also  die 
letzteren  freiwillig  ein  gewisses  Uebergewicht  von  Wohlstand  und  Bildung 
anerkennen.  Wichtig  ist  namentlich  auch  die  Frage,  wie  sich  die  Partei- 
stärke der  Wähler  zur  Parteistärke  der  Gewählten  verhält  *). 


Staatgrerfassimg  und  Politik.  427 

5.  Die  Abstimmungen  innerhalb  der  Versammlung  und  die  Resul- 
tate derselben  sind  der  statistischen  Beobachtung  ebenfalls  zugänglich.  Die 
Zählung  der  Stimmen,  also  der  einzelnen  politischen  Willen  ist  eine  eminent 
statistische  Thätigkeit.  Von  besonderer  Bedeutung  werden  die  Abstimmungen, 
wenn  man  beobachtet,  wie  bei  einzelnen  Fragen  durch  besondere  Einflüsse 
das  allgemeine  Stimmenverhältniss  der  Parteien  geändert  wird.  Hier  zeigen 
sich  oft  sehr  deutlich  die  accidentiellen  Ursachen  (höchstpersönliche  Motive) 
in  ihrem  Verhältnisse  zu  den  constanten  (den  Verpflichtungen  des  Ver- 
treters gegenüber  dem  Programme  seiner  Wähler).  Strenge  Parteidisciplin 
lässt  die  accidentiellen  Ursachen  nicht  durchdringen. 

6.  Die  Resultate- des  politischen  Lebens.  Die  politischen  Ein- 
richtungen sind  demnach  eine  grosse;  Zahl  von  Objecten  der  .Politik;  um 
diese  grosse  Zahl  kämpft  eine  andere  grosse  Zahl,  nämlich  die  Zahl  der 
verschiedenen  Einzelnwillen,  der  politischen  Subjecte.  Und  diese  Einzeln- 
willen kämpfen  nicht  allein  um  den  ganzen  Organismus,  sondern  auch  um 
jeden  seiner  Theile.  Das  zeigt  sich  im  Kleinen  in  den  allgemeinen  und 
den  speciellen  Debatten  über  die  neueinzuföhrenden  Gesetze  bei  allen 
Volksvertretungen.  Je  nachdem  sich  die  Zahl  der  Einzeln  willen  gruppirt, 
gestaltet  sich  dann  ein  Ganzes  nach  dem  Willen  der  Majorität  oder  die 
Majorität  nimmt  zwar  den  grösseren  Theil  eines  gegebenen  politischen 
Ganzen  an,  ändert  aber  im  Einzelnen;  oder  sie  verwirft  das  Ganze,  ob- 
wohl einzelne  Punkte  darin  ihre  Zustimmung  hätten.  Diese  einzelnen  Punkte, 
in  welchen  die  Willen  der  Majorität  sich  finden,  bilden  dann  die  Wegweiser 
und  Grundlagen  künftiger  Politik. 

Aus  diesem  Einfluss  der  verschiedenen  Willen  auf  die  Theile  und 
auf  das  Ganze  der  politischen  Einrichtungen  resultirt  dann  die  Wirklichkeit. 
Und  diese  hat  darum  so  häufig  die  Gestalt  des  Compromisses,  welches  sich 
wirklich  als  das  Mittel  zwischen  zwei  herrschenden  Ideen  darstellt. 

Das  ganze  Majoritätsprincip,  auf  dem  die  Politik  der  Gegenwart  be- 
ruht, ist  etwas  durch  und  durch  Statistisches.  Mit  ihm  gilt  das  Gesetz  der 
grossen  Zahl  auch  in  der  Politik. 

Aber  nicht  nur  in  der  Politik,  sondern  noch  darüber  hinaus.  Die 
ganze  öffentliche  Meinung  ist  ein  Resultat  des  Denkens  der  Masse. 

Aumerkuugeu. 

')  Vergleicht  mau  die  Zahl  der  Abgeordueteu  mit  der  Volkszahl,  so 
ergibt  sich  Folgendes: 


428 


Staatsverfassung  und  Politik. 


Einwohner- 

Einwohner- 

zahl, auf 

zahl,  auf 

Staaten 

Jahr 

welche  1 

Abgeordneter 

trifft 

Jahr 

welche  1 

Abgeordneter 

trifft 

Norwegen  .   .    . 

1875 

16386 

Portugal     .    .    . 

1874 

41012 

Dänemark  .    .    . 

1876 

18656 

Spanien  .... 

1870 

41467 

Württemberg     . 

1875 

20231 

Niederlande  .    . 

i876 

48319 

Schweiz  .... 

1876 

20444 

Grossbritannien 

1877 

51517 

Schweden  .    .    . 

1877 

22649 

Italien    .... 

1877 

55139 

Bayern    .... 

1875 

32195 

Preussen     .    .    . 

1875 

59451 

Sachsen  .... 

1875 

34507 

Oesterreich     .    . 

1878 

62239 

Ungarn    .... 

1876 

34686 

Frankreich 

1876 

70163 

Belgien   .... 

1875 

40932 

Deutsches  Reich 

1875 

107625 

(Neumann-Spallart:  Die  Reichsrathswahlen  etc.  Stuttgart  1880.  (S.  2.) 

*)  Die  relative  Wahlberechtigung  stellt  sich  in  den  wichtigsten  euro- 
päischen Ländern  wie  folgt'  (nach  obiger  Quelle,  S.  10).  Auf  100  Einwohner 
kommen  Wähler  in: 


Frankreich 25,6 

Deutschland 21,4 

Württemberg 19,4 

Grossbritannien 8,7 

Oesterreich 5,9 


Schweden 5,9 

Portugal 5,4 

Belgien 2,3 

Italien 2,2 


')  Unter  100  Abgeordneten  geben  ihre  Stimmen  ab  (nach  obiger  Quelle) : 


in  Oesterreich  (1879) 65,6 

„  Frankreich   (1876) 76,o 

„  Italien  (1874) 45 


im  deutschen  Reich  (1878)  .  .  .  65,i 
in  Grossbritannien  (1874)  ....  79,3 
„   Italien  (1876) 59,2 


*)  In    den    deutschen  Reichsrathswahlen  1878    verhielt   sich    die  perceu- 
tuale  Parteistärke  der  Wähler  zu  den  Gewählten,  wie  folgt: 


Parteien 


%  Wähler 


9^  Ge- 
wählte 


Parteien 


%  Wähler 


9^Ge- 
wählte 


Deutschconser- 

vativ  .  .  . 
Freiconservativ 
Lib.  Reichspartei 
Liberal  .  .  . 
Nationalliberal 
Fortschritt .    . 


12,6 

13,6 

2,7 

24,2 

6,8 


14,9 
14,4 

2,5 

24,9 

6,5 


Centrum  .  . 
Polen  .... 
Socialdemokr. 
Volkspartei  . 
Particularisten 
Protestpartei 


23,3 

3,7 

7,3 

2,7 
1,5 


24,9 

3,5 

2,3 
0,8 
3,5 
1,8 


Die  WeliAraft.  429 

Die  Wehrkraft. 

Neben  natürlicher  Geschlossenheit  des  Territoriums,  nationaler  Ein- 
heit und  den  früher  genannten  Imponderabilien  beruht  die  Macht  des 
Staatswesens  nach  aussen  auf  seiner  "Wehrkraft.  Sie  ist  Object  der 
militärischen  Statistik.  Für  letztere  sind  daher  zu  untersuchen  namentlich : 

1.  Die  absolute  Kriegs-  und  Friedensstärke  des  Heeres. 
Wegen  der  bedeutenden  Unterschiede  in  der  Kriegstüchtigkeit  und  Schlag- 
fertigkeit der  verschiedenen  Völker  und  ihrer  Armeen  lassen  sich  jedoch 
aus  kleineren  Zahlenunterschieden  noch  keine  sicheren  Schlüsse  auf  die 
Verschiedenheit  der  gesammten  Wehrkraft  ziehen. 

Bei  den  meisten  neueren  Armeen  lassen  sich  —  mag  man  nun  die 
Kriegs-  oder  die  Friedensstärke*  derselben  ins  Auge  fassen  —  hinsichtlich 
der  Verfügbarkeit  und  Schlagfertigkeit  unterscheiden: 

a)  Feldtruppen,  d.  h.  die  sogleich  zur  ILriegführung  im  freien  Felde 
verwendbaren  und  verfugbaren  Truppen. 

b)  Reservetruppen,  diejenigen  Truppen,  die  zwar  nach  ihrer  Aus- 
rüstung und  Ausbildung  für  den  Felddienst  brauchbar,  jedoch  nicht 
sofort,   sondern  erst  nach  einem  gewissen  Zeitraum  verfügbar  sind. 

c)  Besatzungstruppen,  die  nothwendigen  Besatzungen  der  Festungen 
und  grossen  Städte. 

d)  Landesvertheidigung,  diejenigen  übrigen  Streitkräfte,  deren  Organi- 
sation und  Aufstellung  für  den  Fall  eines  feindlichen  Einfalls  wenigstens 
vorbereitet  ist. 

Einen  genauen  Einblick  in  die  Stärke  der  Armeen  erhielte  man 
nur  durch  Unterscheidung  dieser  Bestandtheil.e,  von  welchen  nur  die  zwei 
erstgenannten  sich  für  den  Offensivkrieg  eignen. 

2.  Das  Verhältniss  der  Stärke  des  Heeres  auf  Friedensfuss  zu 
jener  auf  Kriegsfuss  drückt  ungefähr  die  schnellere  oder  langsamere 
Schlagfertigkeit  aus.  Je  grösser  diese  Differenz  ist,  desto  schwächer  ist 
das  Heer  bei  einem  raschen  Kriegsfalle. 

3.  Die  Verhältnisse  der  einzelnen  Heerestheile;  die  Zahlen- 
verhältnisse der  einzelnen  Waffengattungen,  der  Kanonen,  der  Pferde;  da 
wo  eine  Seemacht  besteht,  der  Schiffe,  Kanonen,  Pferdekräfte  der  Schiffs- 
maschinen u.  s.  f. 

4.  Das  Verhältniss  zwischen  der  Mannschaftszahl  und  der 
Volks  zahl,  resp.  der  Zahl  der  kriegsdiensttauglichen  Männer.  Dieses 
Verhältniss  drückt  die  grössere  oder  geringere  Nachhaltigkeit  der  Kriegs- 
stärke eines  Staates  aus  und  zugleich  die  relative  Grösse  der  Arbeitskraft, 
welche  durch  das  Heer  den  übrigen  Staatsinteressen,  namentlich  der 
wirthschaftlichen  Thätigkeit  entzogen  wird. 


430  Die  Wehrkraft. 

5.  Die  Kosten  des  Militärs,  und  zwar  sot^ohl  der  absolute  Militär- 
aufwand, als  auch  im  Vergleich  mit  dem  Gesammtstaatsaufwand,  mit 
einzelnen  Posten  des  Staatsaufwandes,  mit  der  Bevölkerang. 

6.  Wie  die  Sterblichkeit  und  Morbilität  des  Militärs  überhaupt 
in  das  Gebiet  der  Militärstatistik  hineinragt,  so  gehören  ganz  insbesondere 
die  Verluste  an  Menschenleben,  welche  durch  die  Kiiege  verursacht  wer- 
den, hieher  (vgl.  §.  97,  98). 

Anmerkung. 

Sieht  man  ab  von  der  Unterscheidung  in  Feldtruppen,  Reservetruppeii 
etc.,  welche  Unterscheidung  nur  mit  grosser  Mühe  und  genauester  Kenntniss 
der  militärischen  Einrichtungen  aller  Länder  durchgeführt  werden  könnte,  so 
ergibt  sich  für  die  wichtigsten  Armeen  und  die  neueste  Zeit: 

Deutsches  Reich:  Friedensstärke:  401659  Mann,  179120  Officiere, 
Kriegsst.:  1,39S011  Mann,  33281  Off.  (ohne  Landsturm). 

Oesterreich-Ungarn  (1879):  Friedensst.:  272527  Mann,  16663  Off., 
Kriegsst.:  1,094025  Mann,  31808  Off. 

Frankreich:  Active  Armee:  502764,  Kriegsstärke:  1,780300  Manu. 

Italien  (1879):  Stehendes  Heer:  737565,  Provinzialmiliz  240064,  Reserve- 
Officiere:   2736,  Territorial-Miliz:  564300. 

Russland:  Reguläre  Armee,  Friedenst.:  839065,  Kriegsst.:  2,149300, 
hiezu  irreguläre  Armee,  Kriegsf.:  163560. 

Grossbritannien:  Reguläre  Armee  237678;  hiezu  Territorial -Armee 
359742;  kaiserl.  Armee  in  Indien:  127150. 

Schweiz  (1880):    Auszug  H9678,    Landwehr  95116,   zusammen  215063. 

Belgien:  Friedensst.  46383. 

Niederlande:  Stehende  Armee,  Kriegsfuss  63525.  Hiezu  eine  Art  Com- 
munalgarde,  die  „Schutteryen". 

Dänemark  (1880):  Kriegsfuss  49054  (bestehend  aus  I.  und  IL  Aufgebot). 

Schweden  (1873):  Kriegsfuss  171510. 

Norwegen  (1873):  Kriegsfuss  33000. 

Türkei:  610200  Kriegsstand. 

Rumänien:  Friedensst.  19732.  Dieselbe  wurde  jedoch  in  den  letzten 
Jahren  bis  auf  circa  48000  Mann  erhöht.  Hiezu  74000  Mann  Territorialarmee, 
33000  Mann  Miliz. 

Serbien:  Stehendes  Heer  50000.  Kriegst.  215000  (?). 

Griechenland:  Friedensst.  11459  Mann,  659  Off.,  Kriegst.  35000  Mann. 

Spanien  (1879):  Active  Armee  90000,  Kriegsstärke  450000.  Auf  Cuba 
38000,  Philippinen  10500  M. 

Portugal:  Friedensst.  33231  M.  und  1643  Off.;  Kriegsst.  75336  M.  und 
2688  Officiere. 

Vereinigte  Staaten:  Normaler  Effectivstand :  25000  M.  mit  2153  Off.; 
organisirte  Miliz  145219  M.  Im  Nothfall  können  3,434058  Bürger  zur  Miliz 
einberufen  werden. 


Der  Staatshanslialt.  431 

§.  204.  Der  Staatshaushalt. 

Die  finanziellen  Zustände  kümmern  den  Statistiker  aus  zweifachem 
Grunde. 

Einestheils  beruht  das  ganze  Finanzwesen  der  civilisirten  Staaten 
auf  einer  Reihe  von  statistischen  Operationen;  andemtheils  sind  die  finan- 
ziellen Zustände  Objecte  der  Statistik,  indem  letztere  sich  häufig  bemüht, 
diese  Zustände  bei  verschiedenen  Staaten  zu  vergleichen,  um  daraus 
weitere  Schlüsse  zu  ziehen. 

Die  im  Finanzwesen  auftretenden  Thatsachen  sind  die  Einnahmen 
und  Ausgaben  des  Staates.  Diese  Thatsachen  sind  im  höchsten  Grade 
des  ziffermässigen  Ausdrucks  fähig;  sie  sind  weder  völlig  willkürlich,  noch 
völlig  gleichbleibend,  so  dass  ihre  Verschiedenheit,  ihre  Bewegung  sie 
von  vorneherein  schon  zu  statistischen  Daten  stempelt.  Die  Staatsein- 
nahmen werden  durch  die  Einnahmsquellen,  die  Ausgaben  durch  die 
Staatsbedürfnisse  in  ihren  Veränderungen  bedingt,  so  dass  auch  die 
Forschung  nach  den  Ursachen  der  Erscheinungen  hier  ein  ausgedehntes 
Feld  findet. 

Es  hat  aus  diesen  Gründen  die  Finanzstatistik  schon  eine  verbreitete 
Anwendung  gefunden,  indem  die  meisten  finanzwissenschaftlichen  Arbeiten 
auf  zahlreichen  statistischen  Untersuchungen  ruhen.  Die  Finanzwissenschaft 
arbeitet  vollständig  nach  der  statistischen  Methode. 

Die  statistischen  Materialien  sind  indessen  gerade  hier  von  über- 
wältigendem Reichthume,  so  dass  sie  nur  gruppenweise  berührt  werden 
können.  Es  handelt  sich  bei  den  Einnahmen  wie  bei  den  Ausgaben  um 
die  absolute  Höhe  der  einzelnen  Posten,  um  die  relative  Höhe  derselben, 
verglichen  mit  der  Gesammtsumme  der  Einnahmen  und  Ausgaben,  um 
die  Verursachung  dieser  verschiedenen  Höhen,  um  die  Vergleichung  der 
Einnahmen  und  Ausgaben,  sowie  der  Staatsschulden,  mit  der  Bevölke- 
rung u.  s.  f. 

Im  weitesten  Sinne  des  Wortes  soll  die  Finanzstatistik  eine  Statistik 
aller  pecuniären  und  materiellen  Verpflichtungen  sein,  die  auf  dem  socialen 
Leben  ruhen  (v.  Baumhauer).  Sie  begreift  deshalb  in  sich  nicht  blos  die 
Verwaltung  des  Staates,  sondern  auch  der  Provinzen,  Kreise,  Gemeinden, 
Kirchenverbände  wie  aller  öffentlichen  Anstalten,  welche  über  den  Seckel 
des  Bürgers  verfugen  und  auf  seine  Kosten  Ausgaben  machen.  Dazu  be- 
darf die  Statistik  der  abgeschlossenen  Rechnungsabi egungen  über  die 
wirklich  stattgehabten  Einnahmen  und  Ausgaben.  Die  Budgets  genügen 
dafür  nicht,  da  sie  später  noch  geändert  werden  können. 

Im  Einzelnen  dürfte  Folgendes  hervorzuheben  sein: 

I.  Die  Vergleichung  der  Budgets  ganzer  Staaten  unter  ein- 
ander hat  grosse  Schwierigkeiten.  Mit  der  Anfiihrung  der  Staatseinnahmen 


432  Der  Staatehaushalt. 

und  Staatsausgaben  ist  verhältnissmässig  wenig  gethan.  Das  sind  Brutto- 
ziffern, die  bei  scheinbar  grosser  Verschiedenheit  doch  grosse  Aehnlichkeit 
haben  können  und  umgekehrt. 

Solche  Vergleichungen  werden  vorgenommen,  um  ein  bestimmtes 
Maass  für  die  Machtverhältnisse  der  Staaten  zu  gewinnen.  Aber  mit  dem 
Stande  der  Finanzen  ist  noch  nicht  ihre  Spannkraft,  ihre  Entwicklungs- 
fähigkeit dargestellt;  es  ist  damit  noch  nicht  bewiesen,  wie  weit  sich 
durch  den  Gemeinsinn  des  Volkes  und  die  Harmonie  zwischen  Volk 
und  Regierung  in  Nothfallen  die  Einkünfte  gestalten  können.  Diese 
Potenzen  sind  unschätzbar  und  höchst  elastisch.  Die  Finanzlage  eines 
Staates  und  seine  Finanzkraft  sind  verschiedene  Dinge.  Aus  den  Steuer- 
quoten kann  man  noch  nicht  auf  die  Finanzkraft,  sondern  nur  auf  die 
Finanzlage  schliessen,  und  auch  auf  diese  nicht  sicher  wegen  des  örtlich 
so  sehr  verschiedenen  Werthes  des  Geldes.  Wenn  z.  B.  in  Deutschland 
die  Budgets  niedriger  sind  als  in  Grossbritannien,  so  muss  man  bedenken, 
dass  auch  die  Leistungen,  welche  bezahlt  werden  müssen,  nicht  so  theuer 
bezahlt  werden.  Um  auf  all  das  Rücksicht  zu  nehmen:  dazu  ist  die 
Finanzstatistik  noch  nicht  ausgebildet  genug. 

Ausserdem  gibt  es  sogenannte  verborgene  Einnahmen  und  Ausgaben 
(v.  Hermann),  welche  in  den  Budgets  nicht  erscheinen  und  daher  die 
wirkliche  Finanzlage  und  Finanzkraft  verdunkeln.  So  z.  B.  der  colossale 
Betrag  für  die  Militärdienstleistung,  welcher  von  den  Wehrpflichtigen  ein- 
gefordert wird,  indem  sie  ihre  Dienste  für  eine  Löhnung  hergeben,  die  weit 
geringer  ist,  als  ihr  Lohn  bei  freier  Arbeit  sein  würde.  Die  Opfer  an 
Zeit  und  Arbeit,  welche  von  Volksvertretern,  Ständen,  Geschworenen, 
von  Beisitzern  in  Handels-  und  Gewerbegerichten,  von  wissenschaftlichen 
und  technischen  Vereinen  und  Körperschaften  dem  Staate  gebracht  wer- 
den, erscheinen  gleichfalls  nicht  in  den  Budgets;  eben  so  wenig  die  Lei- 
stungen unbesoldeter  Staatsdienstaspiranten  und  anderes.  Ja  die  ganzen 
ungeheuren  Leistungen  der  freiwilligen  Armenpflege  gehören  ebenfalls  zu 
den  verdeckten  Einnahmen  und  Ausgaben. 

n.  Die  zeitlichen  Veränderungen  im  Staatshaushalt.  Inner- 
halb einzelner  Staaten  zeigt  die  Vergleichung  ihrer  Haushaltsziffern,  dass 
Ausgaben  und  Einnahmen  fortwährend  in  bedeutender  Zunahme  sind. 
Ueberall  erweitera  sich  die  Functionen  des  Staates  und  damit  steigern 
sich  seine  Ausgaben,  so  dass  die  Klagen  hierüber  in  der  Presse  und  in 
den  Volksvertretungen,  wie  in  der  Volksstimme  selbst  nicht  mehr  zum 
Schweigen  kommen. 

Vielfach  sind  diese  Klagen  vielleicht  berechtigt,  vielfach  aber  gewiss 
auch  übertrieben  und  ohne  gebührende  Beachtung  der  gesteigerten  Staats- 


Die  Staatsaasga^en. 


433 


leistungen  erhoben.    Will   man  grosse  Staatshandlungen,    so  müssen  die 
Staatsbürger  grosse  Opfer  bringen.    Denn  keine  Wirkung  ohne  Ursache. 

Es  ist  daher  auch  falsch,  zu  sagen,  die  Ausgaben  eines  Staates 
müssten  sich  nach  seinen  Einnahmen  richten.  Kaum  richtiger  aber  ist  es, 
dass  die  Einnahmen  sich  nach  den  Ausgaben  richten  müssen. 

Beide  Lesarten  führen  ins  Absurde,  die  letztere  noch  mehr.  Denn 
für  die  Ausgaben  des  Staates  lassen  sich  keine  anderen  Grenzen  ziehen 
als  die  Einnahmen.  Sollten  sich  die  Einnahmen  nach  den  Ausgaben  richten, 
so  würde  ins  Unendliche  ausgegeben;  die  Staatszwecke  dehnen  sich  aus, 
so  wie  sie  die  Mittel  erhalten.  Das  Ideal  ist  demnach  eine  stetige,  nicht 
zu  ungleichförmige  und  möglichst  von  allen  Classen  der  Bevölkerung  ge- 
billigte Steigerung  der  Einnahmen  und  der  Ausgaben,  die  den  Körper 
weder  platzen  noch  verdorren  lässt. 

§.  205.  Fortsetzung.  Die  Staatsausgaben. 

Allenthalben  sind  die  bedeutendsten  Ausgabeposten  die  für  das 
Militär,  für  die  Flotte,  für  die  öffentliche  Schuld  und  für  die  Finanzen. 
Es  entfallen  in  den  europäischen  Staaten  durchschnittlich  von  der  Ge- 
sammtausgabe  auf  (nach  v.  Czörnig): 


die  öffentliche  Schuld    .    .    .    .26 

den  Hofstaat 2,2 

den  Repräsentativkörper    ...    0,3 
die  Centralbehörden  .....    0,5 

das  Auswärtige 0,7 

das  Innere 2,o 

die  Humanitätsanstalten    ...    0,3 

die  Polizei 1,5 

die  Justiz 3,2 

die  Strafanstalten l,i 

Finanz-,  Erhebungs-  und  Ver- 
waltungskosten     20,3 

Die  Gesammtsumme    der   Ausgaben   stellt   sich   in  den  wichtigsten 
Staaten  wie  folgt: 


Cultus      2,7 

Unterricht,     Wissenschaft     und 

Kunst 2,2 

Landescultur,  Bergwesen    ...  0,5 

Gewerbe,  Handel,  Schifffahrt    .  3,2 

Oeffentliche  Bauten 4,2 

Colonien 0,8 

Allgemeine     und     verschiedene 

Auslagen 0,6 

Militär 21,3 

Flotte  . 7,1 


Hausliofer,  Statistik.  2.  Aufl. 


28 


434 


Die  Staatsausgaben. 


Staaten 


Jahr 


Ausgabeu 


in  Mill. 
Mark 


pro  Kopf 
Mark 


Deutsches  Reich (Budget) 

Preussen r, 

Bayern „ 

Oesterreich-Uugam     ...         „ 

Frankreich 

Grossbritannien 

Italien 

Russland „ 

Schweiz  .    .    .     (Cantone  und  Bund) 

Schweden (Budget) 

Norwegen 

Dänemark „ 

Belgien „ 

Niederlande „ 

Spanien „ 

Portugal „ 

Rumänien 

Griechenland ,, 


1881 


1880 


1876 

1881 
1878/79 
1880/81 

1880 

1879/80 

1880/81 

1879 

1880 


539,2 

11,9 

799,2 

29,3 

221,7 

42,0 

1460 

38,4 

2234 

60,5 

1682 

49,3 

1114 

39,5 

2131 

25,9 

49,9 

17,8 

84 

18,7 

41 

22,8 

46,6 

23,8 

223 

40,6 

193,6 

48,6 

662,5 

39,8 

147,7 

33,7 

91,4 

17,0 

37,9 

22,6 

Ein  Ausdruck  der  wirklichen  Belastung  des  Volkes  sind  indessen 
die  relativen  AusgabenzifFern  nicht.  Diese  Belastung  wird  erst  durch  die 
Betrachtung  der  Einnahmequellen  vergleichbar. 

Dagegen  sind  einige  der  wichtigsten  Ausgabeposten,  auf  den  Kopf 
der  Bevölkerung  ausgeschlagen,  ziemlich  deutlich  sprechende  Zahlen. 

So  zunächst  die  Kosten  der  Landesvertheidigung.  Sie  betragen  in 
neuester  Zeit  (1878,  79,  80)  für  den  Kopf  der  Bevölkerung  (Reichs- 
mark) in: 


Grossbritannien 18,7 

Frankreich 15,7 

Niederlande 14,9 

Argentina 11,5 

Türkei 10,3 

Deutschland    ..,,....    8,« 

Brasilien 8,5 

Dänemark 8,» 

Russland 7,3 

Griechenland .7,3 

Oesterreich 6,9 

Spanien 6,9 


Belgien 6,9 

Italien 6,2 

Rumänien ,6,2 

Norwegen 6,t 

Verein.  Staaten 6,0 

Portugal 5,8 

Schweden 5,« 

Schweiz 4,7 

Ungarn 4,« 

Chile 3,8 

Serbien 3,6 

Canada 0,7 


Die  Staatseinnahmeu. 


435 


Die  Kosten  der  Staatsschuld    dagegen  betragen    pro  Kopf  (Reichs- 


mark) in: 

Frankreich 24,* 

Argentina 18,i 

Grossbritannien  . 16,« 

Italien .  14,o 

Spanien 12,o 

Württemberg ll,k 

Belgien    . .  ll,k 

Verein.  Staaten 10,7 

Oesterreich 10,5 

Sachsen 10,3 

Portugal 10,0 

Niederlande     ........    9,6 

Canada 9,5 

Ungarn 9,4 

Baden 9,i 


Bayern 8,4 

Griechenland 7,4 

Brasilien •   •    •  7,o 

Rumänien 6,i 

Chile 6,5 

Deutsches  Reich 4,9 

Dänemark 4,5 

Russland 4,4 

Norwegen 3,4 

Türkei 3,3 

Preussen.. 3^1 

Schweden 2,6 

Serbien 0,9 

Schweiz 0,6 


§.  206.  Fortsetzung.  Die  Staatseinnahmen. 

Die  Zusammensetzung  der  Einnahmebudgets  bietet  ein  sehr  reiches 
Feld  für  Jeden,  der  sich  mit  Finanzstatistik  beschäftigt.  Bei  jeder  ein- 
zelnen Gruppe  von  Staats-Einnahmen  sind  hauptsächlich  zwei  Verhält- 
nisszahlen besonders  wichtig:- der  Procentbetrag,  welchen  die  Einnahme  von 
der  Gesammteinnahme,  beziehungsweise  von  der  Gesämmtausgabe  be- 
ansprucht, und  der  Einnahmen-Betrag,  welcher  auf  den  Kopf  der  Bevöl- 
kerung trifft. 

Man  unterscheidet  zunächst  zwei  Hauptgruppen  von  Staatseinnahmen: 
Privaterwerb  des  Staates  und  die  Auflagen. 

A.  Der  Privaterwerb  des  Staats.  Rechnet  man  hiezu:  Domänen 
und  Forsten,  Zinsen  und  Geldgeschäfte,  Staatslotterie  (als  Monopol  eigent- 
lich zu  den  Auflagen  gehörend),  Berg-  und  Hüttenwerke,  Salinen,  Staats- 
industrien und  Staatsverkehrsanstalten,  so  entziffert  der  Nettoertrag  all 
dieser  Einnahmen  in: 


Staaten 

Absolut  in 

Millionen 

Mark 

pro 
Kopf 
Mark 

Staaten 

Absolut  in 

Millionen 

Mark 

pro 
Kopf 
Mark 

Prenssen     ... 

Bayern 

Sachsen  .... 

183,8- 
66,8.    . 

41,9 

7,1 

13,8 

15,1 

12,0 

4,2 

8,3 

Grossbritannien 
Italien    .... 
Oesterreich    .    . 
Ungarn  .... 
Russland    ... 
Frankreich  ■ .  • . 
Schweden 

103,5 
94,7 

19,4 

24,4 

•  157,5' 

•  47.8 

9,0 

.  .  . 

2,9 
3,3 
0,8 
1,6 
1,6 

2,0 

Württemberg     . 
Baden  .   .    ... 
Uebr.  Deutsche 

Staaten   .    . , . 
Ganz  Deutschi.  . 

45,6 
367,3 

28^ 


436 


Die  StaatseinnaliiDen. 


Bezüglich  der  einzelnen  Arten  des  Privaterwerbs  des  Staates  ist 
hervorzuheben : 

1.  Domänen  und  Forsten.  Von  den  Nettoausgaben  der  Staaten 
werden  durch  den  Reinertrag  der  Domänen  und  Forsten  gedeckt  in: 


Bayern 15,9  Jl^ 

Württemberg 9,9  „ 

Deutsches  Reich 9,i  „ 

Sachsen 8,9  „ 

Preussen 7,5  „ 

Dänemark 4,6  „ 

Schweden 4,5  „ 

Baden 3,9  „ 

Griechenland 3,*  „ 

Ungarn 2,7  „ 

Chile    . 2,3  „ 


Spanien 2,2  Ji^ 

Italien 2,o  „ 

Fi'ankreich 1,9  „ 

Niederlande 1,3  „ 

Belgien 0,9  „ 

Grossbritannien 0,7  „ 

Norwegen 0,7  „ 

Verein.  Staaten 0,7  „ 

Russland 0,*  „ 

Oesterreich .    .  0,«  „ 

Portugal •    .    .  0,2  „ 


Bezüglich  des  Verhältnisses  von  Brutto-  und  Nettoertrag  ist  her- 
vorzuheben: Der  Ertrag  der  Domänen  und  Forsten  beläuft  sich  (in  Mil- 
lionen Mark)  auf: 


i  n 

Brutto 

Netto 

i  n 

Brutto 

Netto 

Deutsche  Staaten  . 
Preussen  insbes.   . 
Bayern         „ 
Baden           „ 
Frankreich     .    .    . 

Belgien 

Dänemark      .   .   . 
Spanien 

167,1 

78,0 
39,2 

7,0 
42,3 

2,1 

2,8 

? 

109,4 
42,5 
24,5 

3,4 

35,0 

1,9 

1,8 

11,3 

Italien     .... 
Oesterreich     . 
Ungarn  .... 
Russland    .    . 
Niederlande  . 
Schweden  .    . 
Ver.  Staaten 
Rumänien  .   .   . 

27,8 

7,5 

22,3 

66,0 

3,1 

3,9 

? 

14,6 

17,5 

1,1 
6,1 
7,4 

2,5 

3,1 

4,5 

? 

2.  Zinsen  und  Geldgeschäfte.  Hieher  gehört  der  Ertrag  fest 
angelegter  Activcapitalien,  sowie  Antheil  des  Staates  am  Gewinn  von 
Banken  und  Geldinstituten.  Die  Nettoeinnahmen  hieraus  betragen : 


i  n 

Millionen 
Mark 

i  n 

Millionen 
Mark 

Deutsches  Reich  .... 

Frankreich 

Grossbritannien     .... 

Italien 

Schweden 

Oesterreich 

Ungarn 

66,4 

3,3 

32,9 

45,0 

1,4 

3,7 

? 

Russland 

Spanien . 

Portugal 

Belgien 

Dänemark 

Niederlande 

Norwegen 

86,7 
30,8 

4,6 

1,4 
4,2 
? 
1,9 

Die  SI«atseiiiMkaicA. 


437 


3.  Staatslotterien.   Dieselben   sind  zwar  eigentlich  als  Regalien 
anfzafassen,  können  jedoch  —  da  die  betr.  Staaten  auch  die  Concurretix 


von  Privatlotterien  dulden    —  auch 
ertrage  sind  in  Millionen  Mark  in: 

Preussen 3,s 

Sachsen 3,o 

Andere  Deutsche  Staaten      .    .    1,% 

Italien 18,3 

Oesterreich 14,« 


hier  eingereiht  werden.   Die  Netto- 

Ungarn 8^s 

Spanien ? 

Dänemark 0,» 

Niederlande 0^7 


4.  Berg-    und   Hüttenwerke,    Salinen.    Dieselben    liefern    in 
Mill.  Mark: 


i  n                   Brutto 

Netto 

i  n 

Brutto 

Netto 

Allen  Deutschen 
Staaten   .... 

Preussen     .... 

Bayern 

Sachsen 

Württemberg    .    . 

Baden 

Uebr.  Deutsche 
Staaten   .... 

Russland     .... 

88,32 
7,17 

? 
? 

0,w 

3,66 

? 

16,91 
H,88 
0,83 
1,22 
0,71 
0,2g 

2,03 

? 

Schweiz     .    . 
Italien    .    .   . 
Oesterreich    , 
Ungarn  .   .   . 
Spanien  ,   . 
Türkei    .   . 
Belgien  .   • 
Norwegen  . 
Serbien  .   . 

? 

11,19 

18,07 

9,73 

? 

? 

? 

1,22 

? 

? 

«,07 

0,42 

9,50 

10,40 

? 

? 

0,61 
0,006 

5.  Staatsanstalten,  gewerbliche,  insbesondere  Druckereien  etc. 
Der  Nettoertrag  liefert  in  Mill.  Mark  in: 


Deutsches  Reich 5,37 

Frankreich 4,i2 

Grossbritannien 1,93 

Oesterreich     ........  0,*7 

Ungarn I,t3 

Russland 19,io 

Belgien 0,18 

Dänemark 0,io 


Griechenland 0,oo* 

Portugal 0,»o 

Serbien 0,i« 

Spanien ? 

Türkei ? 

Niederlande ? 

Norwegen ? 

Rumänien ? 


438 


Die  Staatseiimahmen. 


6.  Staats  Verkehrsanstalten  (Post,  Telegraphen,  Staatseisenbahnen, 
Canäle  etc.)  Ertrag  in  Mill.  Mark: 


Brutto 


Netto 


Brutto 


Netto 


Preusseu     .    .    .   . 

Bayern 

Sach^eu 

Württemberg    .    . 

Baden      

Uebrige  Deutsche 
Staaten  .    .    .    . 
Ganz  Deutschland 
Frankreich     .    .    . 
Gross  britannien    . 

Italien 

Oesterreich     .   .    . 
Ungarn 


285,1 
97,1 
? 

9 

5,9 

27,3 

101,8 

162,0 
57,3 
40,2 

31,7 


78,9 
35,5 

26,3 
14,0 

0,8 

4,9 

160,6 

22,5 
58,8 

13,7 

8,2 


Russland 
Spanien  . 
Türkei  . 
Belgien  . 
Dänemark 
Griechenland 
Niederlande 
Noi'wegen  . 
Portugal  . 
Rumänien  . 
Schweden  . 
Schweiz  .  . 
Serbien   .    . 


74,9 
? 

3,8 
81,7 

12,0 
? 

14,2 
5,8 

8,2 
9 

11,6 

13,8 


34,7 

? 

-1,5 

26,0 
1,1 

0,8 
2,2 
4,4 
1,0 
9 

4,6 

1,1 
0,2 


B.  Auflagen.  Fasst  man  unter  diesem  Ausdrucke  die  directen  und 
indirecten  Steuern  (einschliesslich  der  in  Form  von  Monopolen  erhobenen), 
sowie  die  Gebühren  zusammen,  so  ergibt  sich  Folgendes:  Der  Netto-Ertrag 
der  Auflagen  beträgt  pro  Kopf  in  Reichsmark  in : 


Frankreich  .........  46,s 

Grossbritannien .  39,2 

Niederlande 37,3 

Italien 26,8 

Oesterreich 24,4 

Belgien    .    .    .  • 19,7 

Portugal 19,« 

Ungarn 18,0 

Baden. 16,e 

Russland 16,3 


Bayern     .    .  ' 16,i 

Deutsches  Reich 14,o 

Wüi-ttemberg  ...    .....  14,o 

Sachsen 13,i 

Griechenland .13,5 

Preussen 13,o 

Dänemark  . 12,6 

Schweden    ........    .  12,2 

Serbien 6,« 

Spanien •5,6 


Da  indessen  der  Wohlstand,  die  Steuerfähigkeit  der  Völker  sehr 
verschieden  ist,  dürfen  diese  Zahlen  nur  mit  Vorsicht  verglichen  werden. 

Interessant  ist  die  Vergleichung  des  Steuerbetrages  mit  der  Volks- 
dichtigkeit. Dabei  zeigt  sich,  dass  in  grossen  Städten  auf  einen  Einwohner 
mehr  Steuer  kommt,  als  sonst  im  Lande.  Die  Städte  sind  eben  der  Sitz 
des  Reichthums.  Gegenden  mit  unfruchtbarem  Boden  haben  einen  gerin- 
gen Steuerbeitrag  des  Kopfes;  fruchtbare  und  sehr  industrielle  einen  hohen. 
Bei  sehr  dichter  Bevölkerung  ist  die  Steuerfähigkeit  niedriger,  als  bei 
mittlerer  Volksdichtigkeit. 


Die  Staatseinnahmen. 


439 


Hinsichtlich  der  einzelnen  Arten  der  Auflagen  ist  hervorzuheben : 

1.  Die  directen  Steuern,  umfassend:  Grundsteuer,  Gebäudesteuer 
(auch  Thür-  und  Fenstersteuer),  Einkommensteuer,  Kopf-,  Personal-, 
Capital-,  Renten-,  Erwerb-,  Mobiliensteuer,  Gewerbesteuer,  Handelspatente, 
Zehnten,  Vieh-  und  Hundesteuer,  Luxussteuern,  liefern  folgende  Erträge 
(nebst  Belastung  pro  Kopf  in  Reichsmark): 


i  n 

Ertrag  in 
Mill.  Mark 

i  n 

Ertrag  in 
Mill.  Mark 

Belastung  pro 
Kopf  Mk. 

• 

1 
g 

1 

1 

Deutsche  Staat. 

265,2 

249,5 

6,1 

Dänemark    .    . 

11,1 

10,9 

5,7 

Frankreich  .    . 

364,1 

348,4 

9,3 

Griechenland  . 

9,3 

9,1 

5,6 

Grossbritanuieu 

289,1 

283,1 

8,3 

Niederlande     . 

41,3 

41,1? 

10,3 

Italien  .... 

309,4 

302,8 

10,9 

Norwegen    .   . 

? 

? 

? 

Oesterreich   .    . 

182,1 

181,5? 

8,2 

Portugal  .    .    . 

24,5 

22,7? 

5,6 

Ungarn      .    .    . 

165,2 

163,6? 

10,6 

Rumänien     .    . 

18,7 

16,6  ? 

3,3 

Russland  .   .   . 

425,1 

412,5 

4,8 

Schweden     .    . 

14,5 

? 

3,2 

Spanien     .    .    . 

188,4? 

31,8 

11,5? 

Schweiz     .    .    . 

? 

? 

? 

Türkei  .... 

49,6 

? 

? 

Serbien     .    .    . 

7,9 

7,6 

6,0 

Belgien     .    .    . 

35,5 

34,8 

6,4 

Ver.  Staaten 

164,4 

? 

4,2 

2.  Consumsteuern. 

BezügKch  der  Aufwandsteuern  im  Allgemeinen  ist  es  eine  wich- 
tige Aufgabe  der  Finanzstatistik,  tiir  jede  besteuerte  Waare  ein  gewisses 
Maass  der  Steuer  zu  ermitteln,  bei  welchem  die  letztere  am  meisten  ein- 
trägt. So  hat  man  häufig  von  der  Steuerermässigung  eine  Vermehrung  der 
Einnahme  empfunden. 

Die  unter  dem  Namen  Consumsteuern  hier  zusammengefassten  Steuer- 
arten sind:  Tabaks-  und  Salzmonopol  (beziehungsweise  Steuer),  Rüben- 
zuckersteuer, Getränkesteuern  (einschliesslich  Licenzen  für  Schankwirth- 
schaften),  ferner  Mahl-  und  Schlachtsteuern,  Steuern  auf  Getreide,  Glas, 
Cichorien,  Papier,  Pulver,  Petroleum,  Seife,  Zündhölzchen. 

Die  Gesammtheit  dieser  Steuern  liefert  in  den  meisten  Staaten 
einen  sehr  erheblichen,  in  einzelnen  den  grössten  Theil  des  Staatsein- 
kommens. 


440 


Die  Staatseinnahmen. 


Gesammtertrag    der    Cousumsteueru 


Absolut  iu 
Mill.  Mark 


m 


pq  ^ 


Absolut  iu 
Mill.  Mark 


PQ 


^ 


^  o 


Deutsches  Reich 
Frankreich  .  . 
Grossbritaunieu 
Italien  .... 
Oesterreich  .  . 
Ungarn 
Russland 
Spanien 
Türkei  . 
Belgien 


241,9 

161,6 

785,1 

704,7? 

485,9 

449,3 

«81,7 

266,8 

288,9 

266,1 

116,0 

80,7? 

775,5 

729,4 

113,4 

19,0 

8,8 

? 

24,9 

i9,i? 

D,6 

21,2 

14,0 

9,9 

13,1 

8,6 
6,9 

? 

4,5 


Dänemark    . 

Griechenland 

Niederlande 

Norwegen 

Portugal  , 

Rumänien 

Schweden 

Schweiz 

Serbien     . 


7,5 

? 
65,6 

4,6 
28,6 

? 

16,9 

? 

0,8 


7,4 
? 

61,2? 
4,4 

26,8? 
? 

16,3 

? 

0,7 


3,8 

? 

16,4 

2,5 
6,5 

? 

3,7 

? 

0,5 


Hinsichtlich  der  wichtigsten  Consumsteuern  ist  zu  erwähnen: 

a)  Der  Tabak  gibt  erhebliche  Erträge  zur  Besteuerung  in  jenen 
Staaten,  wo  das  Tabakmonopol  eingeführt  ist.  Der  Bruttoertrag  der  Tabak- 
steuer (bez.  Monopol)  liefert: 


i  n 

Absolut 

in  Mill. 

Mark 

pro 
Kopf 

i  n 

Absolut 

iu  Mill. 

Mark 

pro 
Kopf 

Deutsches  Reich 

1,1 

0,02 

Ungarn  .... 

55,9 

3,5 

Frankreich     .    . 

263,5 

7,1 

Russland    .    .   . 

43,9 

0,5 

Italien     .... 

89,6 

3,1 

Türkei    .... 

3,2 

? 

Oesterreich     ,    . 

118,0 

5,3 

Portugal    .    .    . 

12,7 

2,9 

Dagegen  in  den  Vereinigten  Staaten  (1875)  4,5o  Mark  pro  Kopf. 

Die  Erti'äge,  welche  Spanien,  Rumänien,  die  Niederlande  und  die 
Schweiz  aus  der  Besteuerung  des  Tabaks  gewinnen,  sind   nicht  bekannt. 

b)  Salzsteuer  und  Salzmonopol.  In  einzelnen  Staaten  ist  Salz- 
production  und  Salzhandel,  in  anderen  blos  der  Salzhandel  als  Regal  ein- 
geführt worden;  andere  begnügten  sich  mit  einer  Salzsteuer;  andere  Hessen 
das  Salz  ganz  frei.  Die  Brutto-Einnahme  aus  dem  Salze  beträgt: 


Die  Staatseinnahmen. 


441 


s= 

i  n 

Absolut 

in  Mill. 

Mark 

pro 
Kopf 
Mark 

i  n 

Absolut 

in  Mill. 

Mark 

pro 
Kopf 
Mark 

Deutsches  Reich 
Frankreich     .    . 
Italien     .... 
Oesterreich     .    . 

35,9 

26,8 
64,8 
38,7 

0,86 
0,72 
2,65 
1,76 

Ungarn  .... 
Russland    .   .    . 
Serbien  .... 

27,8 
35,9 

0,25 

1,78 
0,40 
0,16 

c)  Getränkesteuern.  Diese  wichtigste  und  ergiebigste  Gruppe  der 
Consumsteuem  liefert  folgende  Brutto-Erträge : 


Absolut 

pro 

Absolut 

pro 

i  n 

in  Mill. 

Kopf 

1  n 

in  Mill, 

Kopf 

Mark 

Mark 

Mark 

Mark 

Preussen     .    .    . 

59,9 

2,3 

Oesterreich    .   . 

69,8 

3,1 

Bayern    .... 

22,6- 

4,4 

Ungarn  .   .   , 

21,8 

1,4 

Sachsen  .... 

6,4 

2,3 

Russland    . 

677,7 

7,7 

Württemberg     . 

6,« 

3,5 

Belgien  .    . 

22,2 

4,0 

Uebrige  Deutsche 

Dänemark 

3,8 

1,9 

Staaten    .   .   . 

14,7 

— 

Niederlande 

38,0 

9,6 

Deutsches  Reich 

110,3 

2,5 

Norwegen 

4,5 

2,6 

Frankreich     .    . 

319,2 

8,6 

Portugal    . 

1,2     . 

0,2 

Grossbritannien 

314,0 

9,0 

Schweden  . 

16,8 

3,7 

Italien     .... 

3,4 

0,12 

3.  Zölle.  Der  Ertrag  derselben    (mit   Ausschluss    der   Schifffahrts- 
abgaben) stellt  sich  wie  folgt: 


Staaten . 

Absolut  in 
Mill.  Mark 

Brutto  pro 
Kopf  Mark 

Absolut  in 
Mill.  Mark 

S 
2 

© 

Staaten 

S 

s 

Deutsches  Reich 
Frankreich   .   . 
•  Grossbritannien 
Italien  .... 
Oesterreich  .    , 
Ungarn     .    .   . 
Russland  .    .   . 
Spanien     .   .  • 
Türkei   .... 
Belgien     •  .   . 

114,7 

203,9 

409,9 

93,2 

53,0 

0,9 

241,0 
199,5 

28,8 

14,7 

105,9 

178,8 

390,7 

78,8 

29,2 

217,0 
33,5 

25,0 

11,3 

2,6  : 

5,5 

11,8 

3,3 

2,4 
0,06 
2,7 
12,2 
3,2? 

.   2,6 

Dänemark    . 
Griechenland 
Niederlande 
Norwegen     . 
Portugal   .    . 
Rumänien 
Schweden 
Schweiz     . 
Serbien     . 

17,0 

11,3 

7,8 

23,6 

33,5 

? 

27,7 
12,1 

1,8 

14,5 

10,6 

6,6 

21,5 

29,1 

? 

23,4 

10,9 
1,6 

8,0 

6,7 

8,0 
13,0 

7,7 

? 

6,1 

4,3 

1,1 

442 


Die  Staatsschulden. 


4.  Sonstige  Auflagen. 

Ausser  den  hier  genannten  einzelnen  Auflagen  existiren  in  den 
europäischen  Staaten  noch  mancherlei  Arten  derselben:  Stempelsteuern, 
Einregistrirung,  Gerichtssporteln  und  mannigfache  Gebühren,  Erbschafts- 
steuern, Eisenbahnsteiiem  etc.  Es  ißt  selbstverständlich,  dass  eine  ein- 
gehende Finanzstatistik  auch  diese  Auflagen,  welche  grösstentheils  ein 
sehr  günstiges  Verhältniss  zwischen  Brutto-  und  Nettoertrag  aufweisen, 
auszuscheiden  und  zu  prüfen  hätte. 

Der  Gesammtbetrag  aller  nicht  unter  den  directen  Steuern  ge- 
nannten Auflagen  verdient  gleichfalls  Erwähnung,  weil  er,  unter  Hinzu- 
rechnung der  (oben  Ziff'er  1  aufgeführten)  directen  Steuern,  ein  Ausdruck 
der  Gesammtbelastung  der  Völker  ift.  Die  unter  Ziffer  2 — 4  genannten 
Auflagen  betragen  zusammen: 


Absolut  in 
Mill.  Mark 


PQ 


I 
5i^ 


Absolut  iu 
Mill.  Mark 


g 

PQ 


P^  cd 

U    O 


Preusseii  .  .  . 
Bayern  .... 
Sachsen  .  .  . 
Württemberg  . 
Badeu  .... 
Uebr.  Deutsche 
Staaten  .  . 
Deutsches  Reich 
Frankreich  .  . 
Grossbritannien 
Italien  .... 
Oesterreich  .  . 
Ungarn     .    .    . 


273,8 

65,9 
20,4 

15,8 

16,1 

60,4 
452,6 
1543,8 
1128,3 
484,7 
441,6 
160,8 


187,0 
56,6 

18,8 
13,4 
14,7 

53,6 

344,4 

1437,3 

1069,0 

453,7 

353,3 

115,1? 


10,5 

41,0 
32,5 

i7,i 
20,0 

10,2 


Russland  . 
Spanien  . 
Türkei  .  . 
Belgien  . 
Dänemark 
Griechenland 
Niederlande 
Norwegen 
Portugal  . 
Rumänien 
Schweden 
Schweiz     . 


1135,2 

369,6? 
39,2? 
83,6? 
33,0 

15,7 
115,4 

29,8 
76,2 

31,2 

50,2 

12,1? 


1061,7 
60,9? 

25,0? 
72,8? 
30,4 
14,0 
107,6? 
27,4 
70,0 
? 
44,4 

10,9? 


12,8 

22,6? 
? 
? 

17,0 

9,3 

29,0 

16,5 

17,5 

5,8 

11,0 

? 


§.  207.  Fortsetzung«  Die  Staatsschulden. 

Der  jetzige  Schuldenstand  der  europäischen  Culturländer  hat  eine 
erstaunliche  Höhe  erreicht,  üin  ihn  jedoch  richtig  zu  würdigen,  ist  es 
nöthig,  von  der  Gesammtschuld  die  Eisenbahnschulden  auszuscheiden,  weil 
letztere  in  den  bezüglichen  Bahnen  ein  rentirliches  Werthäquivalent  haben. 
Die  Uebersicht  für  die  letzten  Jahre  ergibt  (nach  den  im'  goth.  Hofk.  pro 
1881  angegebenen  Ziffern  berechnet): 


Die  Staatsschulden. 


443 


Eigentliche 

Schuld 

Gesammtschuld 

Eisenbahn- 

Staaten 

Jahr 

^ä^ 

^'S.'^ 

schuld  in 

^^^ 

^'S.'^ 

i^  U 

ll^S 

Mill.  Mark 

1-   o8 

I^^S 

^.s^ 

^^^ 

J^S 

^ws 

Preusseii  .    .    . 

1880-81 

831,2 

32 

829,4 

1660,7 

64 

Bayern    .    .   . 

1879 

407,3 

81 

904,0 

1311,4 

261 

Sachsen    .    .    . 

1880 

454,9 

164 

230,9 

685,8 

248 

Württemberg 

1879 

107,1 

56 

289,0 

396,1 

208 

Baden  .... 

1880 

27,1 

18 

324,1 

35i,2 

233 

üebr.  Deutsche 

Staaten    .   . 

^ 

292,2 

50 

121,1 

413,4 

71 

Ganz  Deutschi. 

— 

2120,1 

49 

2698,6 

»  4818,8 

112 

Frankreich  .    . 

1880 

23947,8 

605 

849,7 

24797,6 

624 

Grossbritannien 

1879-80 

14834,3 

425 

— 

14834,3 

425 

Italien  .... 

1880 

10006,4 

354 

— 

10006,4 

354 

Oesterreich  .    . 

n 

6419,5 

289 

— 

6419,5 

289 

Ungarn    .   .   . 

•n 

1398,6 

89 

173,3 

1572,0 

100 

Busslaud  .   .   . 

v 

5437,8 

61 

1773,5 

7211,4 

81 

Spanien    .    .    . 

1879 

9810,7 

590 

522,1 

10332,8 

621 

Türkei  .... 

1879-80 

5727,1 

826 

— 

5727,1 

826 

Belgien     .   .    . 

1880 

1128,8 

203 

504,0 

4632,8 

294 

Dänemark  .    . 

1878—79 

193,9 

94 

__ 

193,9 

94 

Griechenland  . 

1880 

226,9 

134 

— 

226,9 

134 

Niederlande    . 

n 

1578,9 

440 

— . 

1578,9 

440 

Norwegen    .    . 

1879 

17,1 

9 

— 

17,1 

9 

Portugal  .    .    . 

7) 

1745,3 

367 

— 

1745,3 

367 

Rumänien    .   . 

n 

132,5 

24 

244,9 

377,4 

70 

Schweden    .    . 

n 

3,0 

0,6 

217,0 

220,0 

48 

Schweiz   .    .    . 

1880 

Ueber- 
schuss 

— 

— 

Activ- 
überschuss 

— 

Serbien     .    .    . 

1879 

28,0 

16 

— 

28,0 

16 

Ver.  Staaten  . 

1879 

8384,9 

109 

— 

8394,9 

109 

Diese  Ziffern  sind  der  Ausdruck  einer  sehr  weit  getriebenen  An- 
spannung des  Staatscredits.  Sieht  man  von  den  Eisenbahnschulden  ab,  so 
sind  die  meisten  Schulden  entstanden,  um  die  Mittel  zu  Kriegen  bieten 
zu  können,  haben  also  kein  anderes  Werthäquivalent,  als  die  Erhaltung 
der  Staaten  und  allenfalls  noch  die  Erhöhung  des  politischen  Einflusses 
einzelner  derselben.  Es  ist  ein  unheilvoller  Weg,  welchen  die  Culturstaaten 
Europa's  mit  dieser  enormen  Anspannung  ihres  Credits  betreten  haben. 
Fortwährend  werden  durch  die  gegenwärtige  Generation  ihren  Nachkommen 
Lasten  neu  aufgebürdet,  und  es  ist  kein  Ende  dieses  Verfahrens  abzu- 
sehen. Niemand  wird  bestreiten  können,  dass  die  Staatsschulden,    die   ja 


444  Die  Rechtspflege. 

doch  durch  die  Steuerkraft  des  Volkeß  verzinst  werden  müssen,  aus  diesem 
Grunde  auch  Schulden  aller  einzelnen  Steuerzahler  sind  und  als  solche 
auf  der  gesammten  Volkswirthschaft  lasten. 

§.  208.  Die  Bechtspflege  ^). 

Die  Justizstatistik  soll  die  Anwendung  der  Gesetze  durch  die  Ge- 
richte bis  in  das  kleinste  Detail  verfolgen  und  alle  richterlichen  Erfah- 
rungen wissenschaftlich  zusammenstellen.  Dadurch  offenbart  sie  die  Fehler 
und  Vorzüge  der  bestehenden  Gesetze,  wird  zur  sicheren  Grundlage  für 
die  Weiterentwickelung  der  Gesetzgebung  und  gibt  ausserdem  Aufschlüsse 
über  die  wirthschaftliche  und  sittliche  Cultur  der  Bevölkerung. 

So  wichtig  hiemach  die  Statistik  der  Rechtspflege  erscheint,  so  ist 
dennoch  nur  ein  Theil  derselben,  die  Criminalstatistik  bisher  mit  Sorgfalt 
gepflegt,  die  Civilrechtspflege  dagegen  vernachlässigt  worden.  Jene  wird  der 
Einheit  des  Gegenstandes  wegen  besser  im  Zusammenhange  mit  der  ge- 
sammten Sitten  Statistik  behandelt. 

Das  Recht  ist  das  in  ewiger  Weltordnung  begründete  und  durch 
menschliche  Satzung  festgestellte  Gleichgewicht  der  menschlichen  Willen. 
Unaufhörlich  wird  durch  menschliche  Schwäche  und  Leidenschaft  dieses 
Gleichgewicht  gestört  und  durch  die  geordnete  Beobachtung  jener  Satzung 
Seitens  der  Staatsgesellschaft  wieder  herzustellen  gesucht.  Das  Maass 
dieser  Störungen,  ihre  Bewegung,  ihre  Wiederausgleichung  darzustellen 
und  zu  untersuchen,  in  Zusammenhang  zu  bringen  mit  anderen  Erschei- 
nungen des  Menschen-  und  Völkerlebens:  das  ist  die  Aufgabe  der  Rechts- 
statistik. 

Die  Statistik  der  Civilrechtspflege  insbesondere  ist  mit  der 
Criminalstatistik  verwandt  wegen  einer  gewissen  Gleichartigkeit  des  Beob- 
achtungsgegenstandes —  da  es  sich  bei  dieser  wie  bei  jener  um  Rechts- 
fälle handelt  —  und  der  Erhebungsmittel. 

Doch  besteht  ein  ganz  wesentlicher  Unterschied.  Denn  während  die 
Criminalstatistik  mit  sittlichen  Zuständen  sich  beschäftigt,  spiegelt  die 
Civilrechtspflege  mit  wenigen  Ausnahmen  (z.  B.  Ehescheidungen)  wirth- 
schaftliche Volkszustände  ab.  Wir  unterscheiden  hier: 

I.  Die  streitige  Gerichtsbarkeit.  Wichtig  ist  schon: 
1.  Die  Zahl  der  Processe*).  Sie  ist  bedingt: 

A.  durch  die  Zahl  der  abgeschlossenen  Rechtsgeschäfte; 

B.  durch  die  grössere  oder  geringere  Streitsucht  der  Bevölkerung; 
aber  auch 

C.  durch  die  Beschaffenheit  des  geltenden  Civilrechts   und   Pro- 
cesses. 


Die  Beehtspfleg«.  445 

Die  Zahl  der  Processe  läset  Schlüsse  auf  ihre  Bedingungen  ziehen. 
Aber  man  muss  sammtliche  Bedingungen  im  Auge  behalten.  Eine  kleine 
Zahl  von  Processen  kann  ebensowohl  Folge  vertraglichen  Volkscharakters 
sein,  als  auch  unentwickelten  Verkehrslebens  oder  grosser  Schwierigkeit 
der  Processfuhrung. 

2.  Der  Werth  der  Streitgegenstände. 

3.  Die  Art  der  Processerledigung,  namentlich  die  Zahl  der 
geschlossenen  Vergleiche,  der  vergeblich  oder  erfolgreich  gehaltenen  Sühne- 
termine u.  s.  f. 

4.  Die  Dauer  der  Processe.  Aus  dem  raschen  oder  schleppenden 
Gange  der  Justiz  ist  erkennbar,  ob  und  welche  Aenderungen  im  Process- 
verfahren  erforderlich  sind.  Auch  der  Pflichteifer  der  Richter. 

5.  Die  Gegenstände  der  Processe.  So  die  Zahl  der  Schuld* 
und  der  Alimentationsklagen,  der  Eigenthums-  und  der  Besitzstreitig- 
keiten. Im  Ganton  Bern  hat  man  beobachtet,  dass  nach  schlechten  Ernten 
die  Schuld-,  nach  guten  die  Injurienklagen  vorherrschen.  So  werfen  auch 
die  Processgegenstände  Streiflichter  auf  Volkszustände.  Indessen  ist  es  oft 
sehr  schwierig,  die  Gegenstände  der  Processe  in  Kategorien  zu  bringen. 

6.  Die  Zahl  der  erlassenen  Zahlungsbefehle  und  Executions- 
mandate  verschaflt  gleichfalls  Einblicke  in  die  ökonomische  Lage  der 
Bevölkerung.  Dabei  ist  noch  nöthig,  Nachrichten  über  die  Höhe  der  Sum- 
men, über  Stand  und  Beruf  der  betheiligten  Personen  zu  haben.  Nament- 
lich auch  über  die  wegen  Schulden  eingesperrten  Personen. 

7.  Die  Zahl  der  Zahlungsstundungen  und  ihre  Folgen. 

8.  Die  Concurse.  Sie  liefern  höchst  wichtige  Beiträge  zur  Kennt- 
niss  der  wirthschaftlichen  Lage  der  Bevölkeining ').  .Von  Interesse  sind 
dabei : 

a)  Die  Summe  der  Activa  und  Passiva.  Sind  die  kleinen  Vermögen 
mehr  überschuldet,  so  liegt  die  Ursache  der  Concurse  meist  in  Arbeits- 
mangel, Erwerbslosigkeit,  geringem  Betriebscapital  etc.  Trifft  die  Ueber- 
schuldung  mehr  die  grossen  Vermögen,  so  hat  sie  ihre  Ursachen  regel- 
mässig in  verfehlter  Speculation,  in  Luxus  und  Verschwendung.  Auch  die 
Höhe  der  im  Concurs  bezahlten  Procente  ist  von  Wichtigkeit. 

b)  Die  persönlichen  Verhältnisse  der  Schuldner.  Namentlich  das 
Verhältniss  zwischen  städtischen  und  ländlichen  Vergantungen,  der  Berufs- 
stand des  Concursschuldners. 

9.  Die  von  den  Parteien  bezahlten  Kosten  des  Gerichts- 
verfahrens, besonders  im  Verhältnisse  zum  Werthe  des  Processgegen- 
standes. 


446  Die  Rechtspflege. 

II.  Die  freiwillige  Gerichtsbarkeit  ist  vod  weit  grösserer  stati- 
stischer BedeutuDg,  als  die  streitige,  aber  in  dieser  Bedeutung  noch  wenig 
gewürdigt. 

Vor  allem  scheinen  besonderen  statistischen  Werth  zu  haben : 

1.  Die  eingetragenen  Handelsfirmen.  Die  Kenntniss  der  sich 
bildenden  und  wieder  auflösenden  Handelsgeschäfte,  namentlich  der  Han- 
delsgesellschaften ist  höchst  wichtig  für  die  Beurtheilung  der  Lage  des 
Handels  und  der  Industrie,  ihres  Standes  und  Ganges.  Nothwendig  ist 
aber  zur  Vervollständigung  dieser  Kenntniss,  dass  auch  die  einzelnen. Ge- 
werbs-  und  Handelszweige  mit  angegeben  werden  und  sich  bezüglich  der 
Classification  den  bei  den  gewerbestatistischen  Aufnahmen  eingeführten 
Kategorien  anschliessen.  Auch  das  Verhältniss  der  Zahl  der  Einzelnfirmen 
gegenüber  den  Gesellschaftsfirmen,  sowie  das  der  Zahl  der  verschiedenen 
Arten  von  Gesellschaften  unter  sich  ist  von  Bedeutung.  Da  nach  handels- 
gesetzlichen Bestimmungen  jeder  Kaufmann  (auch  die  grösseren  Indu- 
striellen) Namen  und  Firma  in  das  Handelsregister  eintragen  lassen  müssen, 
ist  das  statistische  Material  in  dieser  Richtung  leicht  zu  beschaflTen. 

2.  Die  Veränderungen  des  Grundeigenthums.  Da  diese  Ver- 
änderungen zur  Kenntniss  der  die  Grundbücher  fahrenden  Beamten  kommen, 
wären  auch  hier  die  statistischen  Erhebungen  leicht.  Man  sieht  aus  diesen 
Veränderungen  namentlich,  ob  die  Lage  der  Verhältnisse  des  Grundeigen- 
thums die  Bildung  von  Latifundien  oder  Zwergwirthschaften  oder  das 
richtige  Maass  mittlerer  Besitzthümer  begünstigt.  Man  erkennt,  ob  und  in 
welcher  Weise  die  Gesetzgebung  auf  die  Grösse  und  Gestaltung  des 
Grundbesitzes  einwirkt,  wie  diese  Erscheinungen  in  den  verschiedenen 
Ländern  sich  verhalten  u.  s.  f.  Lauter  Fragen  von  grösster  nationalöko- 
nomischer Wichtigkeit. 

3.  Die  Erbtheilungen  insbesondere.  Bezüglich  der  wirthschaft- 
lichen  Stellung  des  Familienvermögens  und  seiner  Schicksale  ist  es  von 
Wichtigkeit,  zu  wissen,  wie  oft  Intestat-  und  wie  oft  testamentarische 
Erbfolge  eintritt,  von  sittlicher  Bedeutung  sogar  die  Zahl  der  Verletzungen 
des  Notherbenrechts. 

4.  Die  Verschuldung  des  Grundeigenthums.  Auch  die  hiefiir 
aus  den  Hypothekenbüchern  zu  schöpfenden  statistischen  Materialien  sind 
von  hoher  statistischer  Bedeutung.  Man  erfahrt  aus  ihnen,  wie  weit  die 
Verschuldung  des  Grundeigenthums  in  einem  gewissen  Zeitpunkte  ging, 
wie  sie  sich  in  Folge  der  etwa  entstandenen  Bodencreditanstalten  änderte; 
wie  hoch  die  aufgenommenen  Capitalien  und  die  dafür  gezahlten  Zinsen 
überhaupt  und  bei  den  verschiedenen  Arten  von  Gläubigern  sind. 

5.  Die  von  den  Parteien  bezahlten  Kosten. 


Die  B«clitapic«e-  447 

Aamerkungen. 

*)  Vgl.  die  Jahrb.  f.  Nationalökonomie  n.  Stat.,  IV.  Bd.;  Ueber  die  Orga- 
nisation der  Statistik  der  Rechtspil^e. 

*)  In  Prenssen  hat  man  (mit  Ansschlnss  des  Appellationsgerichtsbezirks 
Köln)  Yon  1840 — 1862  folgende  Vermehrung  der  Cirilprocesse  bemerkt:  im  Jahre 
1840:  778551;  im  Jahre  1858:  1,294092;  im  Jahre  1862:  1,492000. 

*)  Die  Statistik  der  württembergrischen  Rechtspflege  zeigt,  dass  die  Zahl 
der  Gantprocesse  weit  sensibler  ist  als  jene  der  Ciyilprocesse  überhaupt. 


Fünftes  Buch. 


Moralstatistik. 


Haas hof e r,  Statistik.  2.  Aafl.  %9 


I.  Capitel. 
Uebersichit 


Wesen  und  Schwierigkeiten  der  Horalstatistik. 

Die  Moralstatistik  ist  die  statistische  Untersuchung  derjenigen  Er- 
scheinungen in  der  menschlichen  Gesellschaft,  welche  beim  Einzelnen  aus 
auf  freier  sittlicher  Willensentschliessung  beruhender  That  hervorgehen. 

Es  liegt  in  der  Natur  der  Sache,  dass  die  sittlichen  Eigenschaften 
des  Menschen  weit  schwieriger  zu  beobachten  sind,  als  seine  wirthschaft- 
lichen,  gesellschaftlichen  und  politischen  Verhältnisse  schlechthin. 

Einzelne  moralische  Eigenschaften  kann  man  in  der  Voraussetzung 
schätzen,  dass  sie  mit  ihren  Wirkungen  im  Verhältniss  stehen.  Aber  bei 
vielen  fehlt  jeder  Massstab.  Wie  man  den  Werth  eines  dichterischen 
Talents  nicht  nach  der  Seitenzahl  seiner  Werke  messen  kann,  so  lässt 
sich  auch  die  Barmherzigkeit  nicht  nach  der  Höhe  des  Almosens  allein, 
die  Verschuldung  des  Diebes  nicht  nach  dem  Werthe  des  Gestohlenen 
allein  bemessen. 

Alle  Handlungen,  welche  der  Ausdruck  freier  sittlicher  Willensent- 
schliessung sind,  lassen  sich  zunächst  in  positiv  und  negativ  sittliche 
unterscheiden,  d.  h.  in  solche,  welche  das  sittliche  Leben  fördern  und  in 
solche,  welche  einen  Mangel  an  Sittlichkeit  anzeigen.  Da  sich  das  Gute 
nicht  so  leicht  aufzeichnen  lässt  als  das  Schlechte,  sind  die  meisten  Ge- 
genstände der  Moralstatistik  Handlungen  wider  das  Sittengesetz,  welche 
über  den  im  Menschen  wohnenden  Hang  zum  Bösen  Aufschluss  geben. 

Weil  nur  ein  Theil  der  sittlich  wichtigen  Handlungen  äusserlich  zur 
Erscheinung  kommt  und  beobachtbar  wird,  ein  anderer  Theil  sich  der 
Beobachtung  entzieht,  so  entsteht  die  Frage,  wie  es  möglich  ist,  trotz  der 
Verborgenheit  einer  Zahl  solcher  Handlungen  das  sittliche  Leben  zur  Ziffer 
zu  bringen  (vgl.  §.  214). 

Da  die  einzelnen  sittlichen  Handlungen  qualitativ  unendlich  ver- 
schieden sind,  so  fragt  es  sich  um  die  Werthbestimmung  derselben 
zum  Zwecke  der  Vergleichung  (§.  215). 

29* 


452  ^^^  sittliche  Werth  des  Durchsclmittgmensclien. 

Ist  80  die  Möglichkeit  gegeben,  den  dem  Menschengeschlechte  inne- 
wohnenden Hang  zum  Bösen  überhaupt  messbar  zu  machen,  so  wird 
man  seine  Regelmässigkeit,  seine  Tenacität  zu  untersuchen  haben  (§.  216 
und  217). 

Sodann  die  verschiedenen  Einflüsse,  die  sich  auf  den  Hang  zum 
Bösen  im  Allgemeinen  geltend  machen   (vgl.  II.  Cap.). 

Endlich  die  einzelnen   sittlich  bedeutungsvollen  Handlungen    (vergl. 

m.  Cap.). 

Anmerkung. 

Während  schou  Süssmilch  als  Vorläufer  der  ueueren  Moralstatistik  er- 
scheint, wurde  dieselbe  systematisch  durch  Quetelet,  Guerry,  Legoyt  ttud  andere 
zuerst  iu  Angriff  genommen,  in  England  durch  Buckle  und  J.  St.  Mill,  in 
Deutschland  durch  Hoffmaun  und  Dieterici,  A.  Wagner,  Drobisch  (die  mora- 
lische Statistik  und  die  Willensfreiheit,  1867)  uud  Mayr  weseutlich  gefördert, 
um  endlich  iu  v.  Oettingeu'«  grossem  Werk  ,^MoraIstatistik,  Erl.  1868"  eine 
höchst  umfassende  uud  gediegene  Behandlung  zu  fiuden.  Sie  ist  jedenfalls  das 
interessanteste,  aber  auch  an  Schwierigkeiten  reichste  Gebiet  der  gesammteu 
Statistik.  Eine  ausführliche  Geschichte  der  Moral  Statistik  siehe  bei   Oettingeu. 

§.  210.  Der  sittliche  Werth  des  DurchschnittsuLenschen. 

Wenn  die  Moralstatistik  eine  grosse  Zahl  von  solchen  menschlichen 
Handlungen,  welche  auf  der  Entwickelung  des  sittlichen  Lebens  beruhen, 
beobachtet,  so  lassen  sich  allerdings  einzelne  sittliche  Eigenschaften  des 
Menschen  unter  gewisse  Regeln  bringen.  Diese  Regeln  gelten  für  den 
Durchschnittsmenschen,  aber  auch  für  ihn  nicht  als  unabweisliches  Gesetz. 
Für  den  einzelnen  erleiden  sie  mannigfache  Ausnahmen;  doch  dienen  sie 
trotzdem  am  besten  zur  Aufklärung  über  den  sittlichen  Zustand  der  Ge- 
sellschaft. Wir  sehen  bei  den  verschiedenen  Menschen  die  Fähigkeiten 
verschieden  entwickelt;  den  einen  finden  wir  geizig,  den  anderen  ver- 
schwenderisch, den  einen  hochgebildet,  den  anderen  roh,  bei  einem  be- 
merken wir  einen  ungewöhnlich  starken  Zug  von  Grausamkeit,  bei  einem 
anderen  von  Habsucht  u.  s.  f.  Schon  die  Thatsache,  dass  wir  solche 
Charakterzüge,  wenn  sie  bestehen,  bemerken,  spricht  dafür,  dass  wir  eine 
Ahnung  von  einer  allgemeinen  Regel  der  Entwickelung  haben  und  bei 
unserem  Urtheile  Gebrauch  davon  machen. 

Aber  man  darf  den  Menschen,  wie  er  sich  durchschnittlich  in  sitt- 
licher Beziehung  darstellt,  nicht  als  eine  Art  Ideal  ansehen,  und  Quetelet 
hat  Unrecht,  wenn  er  behauptet;  „Wäre  der  mittlere  Mensch  vollkommen 
bestimmt,  so  könnte  man  ihn  als  den  Typus  des  Schönen  und  Guten  be- 
trachten". 

Der  mittlere  Mensch  ist  vielmehr  ein  leidlicher  Durchschnitt  von 
Gutem  und  Bösem,  ein  zusammenaddirtes  Gespenst,    das  alle  Schwächen 


Moralstatistik  und  Willensfreiheit.  453 

und  Leidenschaften,  aber  auch  alle  Tugenden  des  Menschengeschlechtes  in 
sich  vereinigt.  Von  jeder  Schurkerei,  wie  von  jeder  edelmüthigen  und 
hochherzigen  Handlung,  die  begangen  wird,  haftet  ein  Stückchen  auf  dem 
Gewissen  des  Durchschnittsmenschen.  Und  ebenso  ist  es  mit  seinen  geistigen 
Eigenschaften.  Er  ist  eine  Mischung  von  Thorheit  und  Verstand,  von 
Bildung  und  Geistesrohheit.  Er  ist  in  allem  der  Typus  der  Menschheit 
oder  —  je  nach  den  beobachteten  Theilen  der  Menschheit  —  der  Typus 
seines  Volkes,  aber  nicht  der  Typus  des  Schönen  und  Guten.  Der 
Typus  des  Schönen  und  Guten  ist  ein  Ideal,  welchem  der  Mensch  nach- 
streben soll,  ein  Ideal,  welches  alle  Tugend  und  Hoheit  des  Menschen- 
geschlechtes, aber  nicht  dessen  Fehler  besitzt. 

Es  gibt  grosse  und  edle  Menschen,  die  weit  über  den  mittleren 
Menschen  hinausragen,  der  Stolz  des  Menschengeschlechtes.  Sie  sind  die 
Ideale  und  als  solche  weit  einflussreicher,  als  Millionen  Durchschnitts- 
menschen. Aus  der  grossen  Masse  der  letzteren  sich  losringend,  streben 
sie  empor  und  zwingen  jene  Masse,  mit  ihnen  sich  zu  erheben. 

§.  211.  Moralstatistik  und  Willensfreiheit. 

Man  hat  der  Moralstatistik  den  gewichtigen  Einwand  entgegen- 
gehalten, dass  Handlungen,  welche  von  der  Willensfreiheit  des  Menschen 
abhängen,  wie  z.  B.  üebertretungen  der  Sittengesetze  und  Strafgesetze, 
sich  nicht  der  zifFermässigen  Behandlung  unterwerfen  lassen,  weil  ja  der 
menschliche  Wille  ein  freier  sei. 

Aber  man  muss  bedenken,  dass  die  menschlichen  Willensentschlies- 
sungen von  einer  ganzen  Reihe  verschiedenartiger  Einflüsse  abhängen.  Von 
diesen  Einflüssen  wirken  jene  mehr,  diese  weniger  stark,  die  einen  gleich- 
massig,  die  anderen  ungleichmässig  und  der  Mensch  folgt  diesen  Einflüssen 
fortwährend,  obgleich  er  die  Freiheit  und  die  Macht  hat,  ihnen  nicht  zu 
folgen.  Die  Freiheit  seines  Willens  besteht  eben  darin,  dass  er  sich,  wann 
und  wo  es  ihm  beliebt,  »von  jenen  Einflüssen  emancipiren  kann.  Jene  Ein- 
flüsse sind  wie  Geisterstimmen,  welche  jedem  Menschen  auf  der  Wan- 
derung durch  das  Leben  unaufhörlich  zurufen:  jetzt  thue  dies,  jetzt  das; 
jetzt  wende  dich  rechts,  jetzt  links!  Durchschnittlich  folgt  der  Mensch 
diesen  Stimmen;  aber  sie  sind  nur  lockende  und  rathende,  keine  ge- 
bietenden. Folgt  er  ihnen  auch  neunundneunzigmal,  so  hat  er  es  doch 
das  hundertste  Mal  in  der  Gewalt,  Rath  und  Lockung  zu  verschmähen. 
Und  damit  ist  auch  dem  menschlichen  Willen  seine  Freiheit  gewahrt. 

Eine  äussere  Gesetzmässigkeit  für  die  menschlichen  Handlungen  gibt 
es  nicht.  Wenn  der  Mensch  seine  Handlungen  durch  Motive  bestimmen 
lässt,  welche  aus  der  zufälligen  Geburt,  Erziehung  und  Umgebung  des 
Einzelnen    erwachsen,    so    liegt    darin    keine    Gesetzmässigkeit,    sondern 


454  Die  Kreise  sittlicher  Lebensbethatigung. 

höchstens  eine  gewisse  Regelmässigkeit.  Wo  Regelmässigkeit  herrscht,  da 
gibt  es  xlusnahmen,  und  wo  der  Einzelne  Ausnahmen  machen  kann,  wenn 
er  will,  da  ist  Freiheit.  Gäbe  es  gar  keine  Regelmässigkeit  in  der  Be- 
folgung von  Beweggründen  durch  den  Menschen,  so  wäre  das  ganze 
Leben  der  Menschheit  auf  die  grundlose  Augenblickslaune  aller  Einzelnen 
gestellt.  Jeder  Einzelne  wäre  selbst  seinem  Nächsten  unberechenbar; 
völliger  Mangel  an  Vertrauen,  Unmöglichkeit  irgend  einer  Menschen- 
kenntniss  und  Lebenserfahrung  wären  die  Folgen.  Und  dies  würde  ein 
Zusammenleben  der  Menschen  ganz  unmöglich  machen. 

Anmerkung. 

Scharf  präcisirt  Knapp  (die  neueren  Ansichten  über  Moral  Statistik,  1871), 
die  verschiedeuen  Richtungen  der  Moral  Statistiker  gegenüber  dem.  Problem  der 
menschlichen  Willensfreiheit:  Quetelet  habe  den  Menschen  zuerst  gewissermasseu 
als  bewegtes  Atom  der  Gesellschaft  hingestellt,  Buckle  als  sein  Herold  die  in 
der  Welt  unerbittlich  herrschende  Causal Verbindung  verkündet,  Wagner  das 
Gleiche  in  Deutschland  gethau.  Damit  sei  die  Moralstatistik  auf  der  Höhe  der 
Uehertreibung  angelangt  und  ein  Rückschlag  eingetreten,  die  französische 
Schule  (Quetelet-Buckle)  bei  der  Läugnung  der  Willensfreiheit  stehen  geblieben, 
die  deutsche  dagegen^{Drobisch  an  der  Spitze)  zu  jener  Vorstellung  gekommen, 
die  den  Menschen  als  ein  Wesen  denkt,  dessen  Entschliessungen  nicht  auf  dem 
Wege  äusseren  Zwanges,  sondern  innerer  Motivirung  zu  Stande  kommen.  Be- 
hält die  französische  Schule  Rechte  so  ist  die  Willensfreiheit  experimentell 
widerlegt,  im  entgegengesetzten  Falle  begnügt  sich  die  Sittenstatistik  mit  ge- 
ringeren praktischen  Leistungen  im  Dienste  einer  Social-Ethik ,  die  noch  in 
ihrer  Entwicklung  begriffen  ist. 

§.  212.  Die  Kreise  sittlicher  Lebensbeth&tigimg. 

Das  sittliche  Leben  äussert  sich  in  allen  Sphären  menschlichen 
Lebens  überhaupt,  nämlich: 

I.  Schon  in  der  Sphäre  der  Erzeugung  menschlichen  Lebens,  ins- 
besondere in  der  Geschlechtsgemeinschaft  der  Menschen  (Ehe,  Eheschei- 
dung, unsittliche  Geschlechtsgemeinschaft,  verbrecherische  Geschlechts- 
gemeinschaft) ferner  in  der  Geburtenziffer  (eheliche  und  uneheliche). 

II.  In  der  Sphäre  des  wirthschaftlichen  Lebens  (Arbeit  und  Spar- 
samkeit, Proletariat  und  Eigenthum,  Armenpflege  und  Association  sind 
hier  bedeutsame  Erscheinungen). 

IIL  In  der  Sphäre  des  Staats-  und  Rechtslebens.  Das  Recht  ordnet 
gesellschaftliche,  politische,  wirthschaftliche  und  speciell  sittliche  Zustande. 
Weil  aber  alle  Ordnung  schon  an  sich  eine  sittliche  Idee  ist,  ist  nicht 
allein  die  durch  das  Recht  geschützte  Moral  etwas  sittliches,  sondern 
auch  jene  Rechtsgestaltungen,  deren  Inhalt  Arbeit  und  Eigenthum,  Familie 
und  Staat  sind. 


Bekannte  und  unbekannte  Thaten.  455 

IV.  In  der  Sphäre  der  intellectuell-ästhetischen  Bildung. 

V.  In  der  Sphäre  des  Unterganges  menschlichen  Lebens.  (Geistige 
und  körperliche  Krankheiten  als  Folgen  sittlicher  Entartung,  verschuldete 
Kindersterblichkeit,  Mord,  Krieg,  Todesstrafe,  Selbstmord.) 

§.  213.  Die  Crimmalstatistik  insbesondere. 

Die  menschliche  Rechtsordnung  schützt,  so  weit  es  ihr  möglich  ist, 
die  sittliche  Idee.  Dieser  Schutz  findet  seinen  Ausdruck  in  der  Straf- 
gesetzgebung. Diejenigen  Handlungen,  welche  in  ihren  Bereich  fallen,  die 
Verbrechen  im  weitesten  Sinn  des  Wortes  sind  die  Favoritgegenstände 
der  Sittenstatistik.  Die  Verbrechen  sind  jene  Thatsachen,  welche  vor 
allen  anderen  zu  einer  Erkenntniss  sittlicher  Volkszustände  führen  können. 

Ihre  Beobachtung  und  Untersuchung  (die  Criminal-Statistik)  wird 
indessen  doch  durch  mehrere  Umstände  sehr  erschwert. 

I.  Es  gibt  nur  für  wenige  Länder  ein  statistisch  brauchbares  Material. 

II.  Nicht  nur  nach  der  verschiedenen  Volksanschauung,  sondern 
auch  nach  den  verschiedenen  Gesetzgebungen  sind  BegriflP  und  Arten  der 
Verbrechen  schwankend. 

III.  Auch  die  Verfolgung,  Aburtheilung  und  Bestrafung  der  Ver- 
brechen ist  örtlich  verschieden  geartet. 

Trotz  dieser  Schwierigkeiten  hat  sich  die  Statistik  schon  früh  und 
energisch  mit  den  Verbrechen  beschäftigt  und  einige  Regeln  erkannt, 
welche  für  die  menschliche  Natur  in  ihren  verbrecherischen  Anwandlungen 
bestehen.  Da  die  wichtigsten  negativ  sittlichen  Handlungen  unter  das 
Strafgesetz  fallen,  ist  es  natürlich,  dass  die  Criminalstatistik  den  Kern 
der  gesammten  Sittenstatistik  bildet,  dass  namentlich  der  Hang  des 
Menschen  zum  Bösen  überhaupt  und  die  verschiedenen  Einflüsse  auf  den- 
selben fast  allein  aus  der  Untersuchung  der  criminalstatistischen  Daten 
erkannt  werden. 

§.  214.  Bekannte  und  unbekannte  Thaten. 

Schon  vor  Quetelet  hat  man  bemerkt,  dass  die  statistischen  Beob- 
achtungen nur  eine  gewisse  Zahl  bekannter  und  abgeurtheilter  Verbrechen 
unter  einer  unbekannten  Totalsumme  von  begangenen  Verbrechen  treffen. 

Diese  Total  summe  der  begangenen  Verbrechen  wird  wahrscheinlich 
immer  unbekannt  bleiben  und  alle  Criminalstatistik  wäre  werthlos,  wenn 
man  nicht  zugibt,  dass  zwischen  den  bekannten  und  abgeuitheilten  Ver- 
brechen und  der  unbekannten  Totalsumme  der  Verbrechen  ein  nur  wenig 
schwankendes  Verhältniss  besteht. 

In  einem  Staate  mit  guter  Polizei  und  Rechtspflege  werden  die 
schwersten  Verbrechen,  Tödtungen  und  Morde,  fast  immer  bekannt,   und 


456  Werthbestimmang  der  sittlichen  Handlungen. 

es  wird  demnach  bezüglich  dieser  Thaten  die  Zahl  der  bekannten  und 
gerichtlich  verfolgten  Verbrechen  fast  gleich  sein  der  Totalsumme  der 
begangenen  Verbrechen.  Diebstähle  und  andere  geringere  Frevel  gegen 
die  Rechtsordnung  werden  häufiger  unbekannt  bleiben.  Entweder  merken 
die  Beschädigten  den  Schaden  gar  nicht,  oder  sie  wollen  den  Thäter 
nicht  verfolgen  oder  die  Gerichte  bekommen  nicht  die  zur  Einschreitung 
nöthigen  Judicien  in  die  Hand. 

Das  Verhältniss  zwischen  den  entdeckten  Verbrechen  und  der  Total- 
summe der  begangenen  Verbrechen  ist  sonach  verschieden: 
I.  Nach  der  Art  und  Schwere  der  Rechtsverletzung. 

II.  Nach  der  Thätigkeit  der  Justiz  bei  Verfolgung  des  Schuldigen. 

III.  Nach  der  Mühe,  welche  die  Schuldigen  anwenden,  um  unent- 
deckt  zu  bleiben,  also  nach  deren  Vorsicht  und  Schlauheit. 

IV.  Nach  der  Bekanntschaft  der  Beschädigten  mit  dem  ihnen  zu- 
gefügten Schaden.  Diese  Bekanntschaft  ist  bei  verschiedenen  Gnippen  von 
Rechtsverletzungen  sehr  verschieden.  Einen  Diebstahl  an  seinen  Kleidern 
z.  B.  merkt  der  Beschädigte  jedenfalls  leichter,  als  einen  Holzdiebstahl 
in  seinem  Walde* 

V.  Nach  dem  Willen  des  Beschädigten,  die  Hilfe  der  Justiz  zu  be- 
anspruchen. Dieser  Wille  wird  offenbar  grösser  mit  der  Zuverlässigkeit 
der  Justiz  selber. 

Wenn  alle  diese  Momente,  welche  auf  das  Verhältniss  der  ent- 
deckten Verbrechen  zur  Gesammtsumme  der  begangenen  einwirken,  die- 
selben bleiben,  wird  auch  die  Wirkung  gleichbleiben. 

Dieser  Schluss  wird  bestätigt,  wenn  man  beobachtet,  wie  beharrlich 
die  Zahlen  der  Criminal Statistik  alljährlich  wiederkehren.  Wenn  man 
bedenkt,  dass  jährlich  fast  die  gleiche  Zahl  von  Verbrechern  vor  die 
verschiedenen  Gerichtshöfe  gebracht  wird,  dass  in  der  Art  der  Ver- 
brechen, sowie  in  der  Zahl  der  Aburtheilungen  und  Freisprechungen  die 
grösste  Regelmässigkeit  herrscht:  dann  darf  man  zuversichtlich  annehmen, 
dass  auch  die  Zahl  derjenigen  Verbrecher,  welche  der  Justiz  entschlüpfen, 
Jahr  fiir  Jahr  nur  geringe  Unterschiede  haben  kann. 

§.  215.  Werthbestimmnng  der  sittlichen  Handlimgen. 

Um  sittliche  Handlungen,  die  verschiedenen  Inhalt  und  verschiedene 
Objecte  haben,  vergleichen  zu  können,  muss  man  einen  Massstab  suchen, 
mit  welchem  sie  gemessen  werden  können.  An  einen  solchen  kann  man 
höchstens  bei  den  Verbrechen  denken. 

Ueber  den  Massstab,  welcher  bei  der  Beurtheilung  und  Werthbe- 
stimmnng der  Verbrechen  angelegt  werden  soll,  existiren  indess  sehr  ver- 
schiedene Anschauungen. 


Der  Hang  zum  Bösen.  457 

Einige  wollen  blos  die  factischen  Verurtheilungen  berücksichtigen, 
weil  nur  diese  das  wirkliche  Maass  der  constatirten  Gesetzwidrigkeit  er- 
kennen Hessen,  während  unter  den  blos  Angeklagten  auch  viele  unschuldig 
zur  Untersuchung  gezogene  sich  fänden. 

Andere  beurtheilen  die  sociale  Verschuldung  nach  der  Zahl  der 
officiell  bekannt  gewordenen  Reate. 

Wieder  andere  nehmen  als  Maass  dieser  Verschuldung  die  relative 
Anzahl  der  Verbrechen,  namentlich  die  Intensität  derselben  im  Verhältniss 
zur  criminalfähigen  Bevölkerung. 

Eine  fernere  Anschauung  hält  das  Verhältniss  der  Freisprechungen 
zu  den  Verurtheilungen  für  einen  besonders  charakteristischen  Ausdruck 
der  öffentlichen  Moral. 

Die  einen  berücksichtigten  vorzugsweise  die  schweren  Verbrechen, 
um  nach  der  Qualität  derselben  die  sittlichen  Krankheitszustände  des 
Volkes  zu  messen. 

Anderen  erscheint  die  verschiedene  Betheiligung  der  Bevölkeinings- 
gruppen  nach  Alter,  Geschlecht,  Beruf  von  grösster  Bedeutung. 

Am  genauesten  ist  wohl  jener  Massstab  für  die  verschiedenen  Ver- 
brechen, Vergehen  und  Uebertretungen,  welcher  die  sämmtlichen  Straf- 
rechtsverletzungen nach  dem  Strafmass  berechnet  und  nach  gewissen 
Vergehenseinheiten  die  mannigfaltigen  Reate  auf  einen  möglichst  genauen 
quantitativen  Ausdruck  zu  reduciren  sucht.  (Wie  nanientlich  für  die  bay- 
rische Statistik  durch  Mayr  geschehen.) 

Von  hohem  Interesse  ist  dabei  auch  die  Feststellung  jener  Summe 
von  Rechtsverletzung,  welche  die  Bevölkerung  ungestraft  verübt  und 
ungesühnt  erduldet;  damit  ist  zugleich  ein  Maass  für  die  Leistungs- 
fähigkeit der  Polizei  und  Criminal Justiz  gegeben. 

§.  216.  Der  Hang  zum  Bösen. 

Hang  zum  Verbrechen  —  le  penchant  au  crime  —  nennt  Quetelet 
ausgehend  von  der  Voraussetzung,  dass  die  Verhältnisse,  in  denen  die 
Menschen  leben,  die  gleichen  seien,  die  grössere  oder  geringere  Wahr- 
scheinlichkeit, ein  Verbrechen  zu  begehen. 

So  lange  die  strafrechtliche  Verfolgung  und  Bestrafung  der  Verbrechen 
in  einem  Staate  sich  nicht  ändert,  wiederholen  sich  die  Verbrechen 
nach  ihrer  Art  und  Zahl,  sowie  nach  ihrer  Vertheilung  auf  Alter  und 
Geschlecht  mit  grösster  Regelmässigkeit. 

Dieses  Resultat  fand  Quetelet  zuerst  aus  der  Untersuchung  der 
tabellarischen  Uebersichten,  welche  in  Frankreich  und  Belgien  über  die 
Zahl    der  jährlich    angeklagten    und   verurtheilten    Personen    mit  Unter- 


458  Der  Hang  zum  BOseii. 

Scheidung  der  Verbrechen  nach  einigen  Ilaaptarten  bekannt  gemacht 
wurden. 

Nach  ihnen  ergibt  sich,  dass  die  Grenzen,  zwischen  denen  die  jähr- 
lichen Verbrechen  in  Frankreich  nach  ihrer  Zahl  und  nach  ihrer  Ver- 
theilung  auf  die  verschiedenen  Alter  schwankten,  enger  sind,  als  die 
Grenzen  der  jährlichen  Sterblichkeit.  Die  Verbrechen  haben  also,  obgleich 
freie  menschliche  Handlungen,  doch  mehr  Regelmässigkeit  in  sich,  als  das 
sehr  unfreiwillige  und  naturgesetzliche  Sterben  des  Menschen.  Diese  That- 
sache  veranlasste,  von  einem  Hange  zum  Verbrechen  zu  sprechen.  Qu6telet 
drückt  sie  mit  den  berühmt  gewordenen  Worten  aus:  es  gibt  ein  Budget, 
das  mit  einer  schrecklichen  Regelmässigkeit  bezahlt  wird:  es  ist  das  der 
Gefängnisse,  der  Galeeren  und  der  SchafFotte. 

Der  Hang  zum  Verbrechen,  wenn  auch  oft  unerkennbar,  sucht 
Eingang  in  jedem  Herzen.  Deshalb  ist  es  Selbstüberschätzung,  wenn  wir 
die  Auswürflinge  der  Gesellschaft  hochmüthig  verachten  in  dem  Bewusst- 
sein,  über  die  Fähigkeit  und  den  Hang  zum  Verbrechen  weit  erhaben  zu 
sein.  Als  Mitglied  der  menschlichen  Gemeinschaft  hat  jeder  eine  Mitver- 
ant^^ortlichkeit  und  Mitschuld  an  den  Thaten  des  Verbrechers.  Dass  nicht 
in  jedem  Menschen  die  Sünde  bis  zum  Verbrechen  gediehen  ist,  mag  uns 
vor  dem  menschlichen  Richterstuhle  unbescholten  erscheinen  lassen,  niemals 
vor  dem  Richterstuhle  des  Gewissens. 

Und  wie  unser  Gewissen  schon  wegen  jedes  bösen  Hanges  reagirt: 
so  reagirt  das  öffentliche  Gewissen,  das  Rechtsbewusstsein  des  Volkes  gegen 
die  Bethätigung  des  verbrecherischen  Hanges,  indem  es  straft  (vgl.  Oettingen 
a.  a.  ().). 

Wenn  nun  aus  den  statistischen  Daten  ein  solcher  Hang  zum  Ver- 
brechen und  eine  Regelmässigkeit  in  ihm  gefunden  wird,  mag  wohl  mancher 
veranlasst  werden,  an  eine  düstere  dämonische  Machtentfaltung  des  Bösen 
in  diesem  „Gesetz  der  Sünde"  zu  denken,  an  eine  Machtentfaltung,  welche 
durch  die  Geschichte  der  Völker  unheimlich  sich  heraufzieht  und  schwarze 
Schatten  in  den  Glanz  unserer  Civilisation  zeichnet.  Dann  erscheinen  die 
einzelnen  Verbrechen  und  Verbrecher  nur  als  Anzeichen  einer  bösen 
inneren  Krankheit  des  Menschengeschlechtes;  sie  weisen  auf  einen  verur- 
sachenden Willen  hin,  von  welchem  der  Einzelne  in  dämonischer  Weise 
erfasst  wird.  Der  Fluch  der  bösen  That,  fortzeugend  Böses  zu  gebären, 
weist  auf  solch  ein  geistig  geartetes  Verursachungssystem,  auf  eine  ver- 
suchliche Macht  des  bösen  Geistes  innerhalb  der  Herzens-  und  Lebens- 
geschichte, nicht  blos  der  einzelnen  Menschen,  sondern  auch  der  wüsten 
Menge  hin. 

Diesem  dämonischen  bösen  Willen,  der  im  Herzen  der  Menschheit 
wühlt,    tritt    fortwährend    in    der   Form    geistig-sittlichen    Kampfes    eine 


Die  Sensibilität  der  Berölkerang  zur  bösen  Thai;  Tenadtit  des  Bdsen.  450 

bessernde  Reaction  entgegen.  Die  ganze  Gescliiclite  menschlicher  Gesetz- 
gebung, namentlich  der  Strafgesetzgebung,  ist  ein  stetiger  Ausdruck  dieser 
Reaction.  Aber  sie  ist  auch  ein  Beweis,  dass  man  die  Macht  des  Bösen 
nicht  als  eine  unbezwingbare  Naturgewalt  ansieht,  an  der  sich  nichts 
ändern  lässt,  sondern  als  eine  Verschuldung,  gegen  welche  das  öffentliche 
Gewissen  ankämpfen  kann  und  soll.  Und  dieser  Kampf  ist  nicht  fruchtlos. 

§.  217.   Die  Sensibilität  der  Bevölkerimg  für  die  böse  That;   Tenacit&t 

des  Bösen. 

Soll  ein  vollständiges  Bild  der  Gestaltung  des  verbrecherischen 
Hanges  erreicht  werden,  so  ist  es  nöthig,  längere  Zeit  hindurch  das  Maass 
der  Schwankungen  der  Verbrecherzahl  über  und  unter  den  Durchschnitt 
zu  beachten.  Denn  diese  Schwankungen  zeigen  die  Sensibilität  der 
Bevölkerung  für  die  einzelnen  Arten  verbrecherischen  Handelns.  Je  ge- 
ringfügiger die  x\bweichungen  vom  Durchschnitt  sind,  um  so  gleichmässiger 
ist  die  Wirkung  der  äusseren  und  inneren  Veranlassungen  des  Verbrechens. 
Und  umgekehrt  *). 

Ein  sehr  schlimmes  Symptom  verbrecherischen  Hanges  ist  die  Zahl 
der  Rückfälligen.  Vergleicht  man  sie  mit  der  Zahl  derjenigen  Bestraften, 
welche  nicht  rückfällig  werden,  so  ist  sie  ein  Ausdruck  der  Macht,  mit 
welcher  die  Verbrecher  am  Verbrechen  festgehalten  werden.  Vergleicht 
man  die  Zahl  der  rückfälligen  Verbrecher  mit  der  Gesammtzahl  der  Ver- 
brecher, so  drückt  ihre  Zahl  den  Einfluss  begangener  Schuld  auf  den  ver- 
brecherischen Hang  der  ganzen  Bevölkerung  aus.  Beide  Verhältnisse  lassen 
Schlüsse  auf  die  bessernde  Macht  der  Bestrafung  zu  '^). 

Im  ganzen  mehrt  sich  die  Zahl  der  habituellen  Verbrecher  sichtlich 
(Oettingen). 

Bedingt  wird  diese  Zahl  nicht  nur  durch  die  Kraft,  mit  welcher  das 
Böse  im  Herzen  des  Verbrechers  Wurzel  geschlagen,  sondern  auch  durch 
den  Zustand  der  Besserungsmittel  und  die  grössere  oder  geringere  Schwie- 
rigkeit für  den  Verbrecher,  sich  in  der  Gesellschaft  wieder  zurechtzufinden. 

Aiimerkuugeu. 
*)  Für  Bayern  ist  (Mayr)  die  Sensibilität  der  Bevölkerung  für  die  ver- 
schiedenen Arten  verbrecherischer  That  folgende.  Die  Angriffe  auf  das  Leben 
erfolgen  mit  grösster  Regelmässigkeit;  hier  ist  demnach  die  Tenacität  des  Bösen 
am  grössten,  die  Sensibilität  der  Bevölkerung  für  Veranlassungen  zur  That  am 
geringsten.  Grösser  ist  die  Sensibilität  der  Bevölkerung  bei  Angriffen  auf  die 
Person.  Dagegen  vollziehen  sich  die  Eigenthumsbeeinträchtiguugen  mit  grosser 
Regelmässigkeit,  während  Eigenthumsbeschädigungen,  Betrug  und  Untreue  noch 
grössere  Unregelmässigkeiten  und  die  öffentlichen  Verbrechen  die  grösste  Sensi- 
bilität zeigen. 


460  Die  bestimmenden  Ursachen  der  sittlichen  That. 

*)  Für  Frankreich  ist  coiistatirt,  dass  40—45%  der  Gefangenen  rückfallige 
Verbrecher  sind,  (Oettingen  a.  a.  O.  S.  705.) 

In  England  betrugen  die  Rückfälligen  1841—53  durchschnittlich  25,3%, 
steigen  1846  bis  auf  26,i%,  1849  bis  auf  26,3%  (a.  a.  O.  S.  711.)  Die  Abweichung 
vom  Mittel  beträgt  in  dieser  ganzen  Periode  nie  mehr  als  1%.  Namentlich  zeigt 
sich  eine  ausnehmend  starke  Tendenz  zum  Rückfall  bei  den  jugendlichen  Ver- 
brechern, welche,  kaum  dass  sie  eine  Strafe  überstanden,  mit  dämonischer 
Hast  von  neuem  die  Gefangnisse  füllen. 

Auch  die  Weiber  leiden  besonders  unter  dem  Rückfall,  wie  schon  Benoiston 
de  Chäteauneuf  erwähnt,  und  wie  sich  neuerdings  namentlich  in  Sachsen  ge- 
zeigt hat. 


II.  Capitel. 

Die  bestimmenden  Ursaclien  der  sittlichen  That. 


§.  218.  Im  Allgemeinen. 

Jede  einzelne  positiv  oder  negativ  sittliche  That  hat  eine  nächste 
Ursache,  durch  welche  sie  unmittelbar  veranlasst  wird.  Aber  diese  nächsten 
Ursachen  sind  wieder  die  Folgen  anderer  fernerer  Ursachen. 

I.  Die  nächsten  Ursachen  der  sittlich  wichtigen  Handlungen  sind  die 
menschlichen  Triebe  und  Leidenschaften.  Sind  diese  Triebe  im  einzelnen 
Menschen  haimonisch  entwickelt,  so  erscheinen  sie  als  Tugenden  und 
erzeugen  positiv  sittliche  Thaten;  ist  ihre  Harmonie  gestört,  so  haben 
sie  den  Charakter  des  Lasters  und  erzeugen  unsittliche  Thaten.  Classificirt 
man  die  wichtigsten  dieser  Triebe,  so  erhält  man: 

A.  Den  Selbsterhaltungstrieb.  In  seiner  harmonischen  Entwickelung 
bewirkt  er  den  gerechten  und  sittlichen  Kampf  des  Menschen  um  sein 
Dasein.  Eine  engere  Form  desselben  ist  der  Erw^erbstri^b,  dem  als  positiv 
sittliche  Früchte  Arbeit  und  Sparsamkeit,  als  negativ  sittliche  Geiz  und 
Habsucht,  Diebstahl  und  Betrug  entwachsen.  Wird  der  Selbsterhaltungs- 
trieb anderen  als  wirthschaftlichen  Gefahren  gegenübergestellt,  so  zeigt 
er  sich  positiv  sittlich  als  Vorsicht  und  Massigkeit,   negativ  als  Feigheit. 

B.  Der  Familientrieb  erscheint  als  eine  Erweiterung  des  Selbst- 
erhaltungstriebes und  hat  im  wesentlichen  dieselben  Wirkungen. 

C.  Der  Trieb  nach  Ruhe  und  Bequemlichkeit  erscheint  in  seiner 
Entartung  als  Trägheit  und  wird  in  dieser  Form  Ursache  der  statistischen 
Erscheinung  des  Bettler-  und  Vagabundenthums ;  in  äusserster  Degenera- 
tion, in  den  schwersten  Conflicten  führt  er  bis  zum  Selbstmord. 

D.  Der  Geschlechtstrieb  hängt  in  seiner  sittlichen  Entwickelung  mit 
dem  Familientriebe  zusammen,  in  seiner  Entartung   wird  er  zur   bestim- 


Die  bestimmenden  Ursachen  der  sittlichen  That.  461 

menden  Ursache  der  geschlechtlichen  Verbrechen,  der  unehelichen  Geburten, 
der  Ehescheidungen,  theilweise  auch  der  Prostitution  und  anderer  sitten- 
statistischer Erscheinungen. 

E.  Der  Trieb  nach  Erheiterung  und  Belustigung  erzeugt  in  gesunder 
harmonischer  Entwickelung  allen  sittlichen  Luxus,*  in  seiner  Entartung 
erscheint  er  als  unsittlicher  Leichtsinn,  Trunksucht,  verschwenderischer 
Luxus. 

F.  Der  Trieb  nach  Geltendmachung  körperlicher  Kraft  ist  in  seiner 
Entwickelung  physischer  Muth  ,(mit  dem  Erheiterungstriebe  verbunden 
erzeugt  er  den  Sport);  in  seiner  Entartung  erscheint  er  als  Rohheit  und 
wird  Ursache  von  Angriffen  gegen  die  Person,  seltener  gegen  das  Eigen- 
thum.  Seine  schlimmste  Entartung  ist  die  Grausamkeit.  Häufig  verbunden 
mit  ihm  ist: 

G.  Der  Trieb  nach  Geltendmachung  des  eigenen  Willens,  der  geisti- 
gen Persönlichkeit.  Er  erscheint,  sittlich  entwickelt  als  Freiheitstrieb,  ent- 
artet als  Zorn,  Herrschsucht,  Hass  und  Rachsucht  und  wird  statistisch 
greifbar  in  vielen  Verbrechen  gegen  die  Person. 

Aber  selbst  die  edelsten  Triebe  des  Menschen  können  so  entarten, 
das»  sie  die  unmittelbaren  Ursachen  unsittlicher  Thaten  werden.  So 
erscheinen  religiöser  Fanatismus  (Entartung  des  religiösen  Triebes),  unsitt- 
licher Ehrgeiz  (Entartung  des  Triebes  nach  Anerkennung),  ebenso  politische 
Leidenschatten  (Entartungen  des  Staats-  und  Rechtsbewusstseins),  Liebe 
und  Freundschaft,  namentlich  erstere,  und  selbst  das  Geföhl  der  Reue  (in 
seiner  Steigerung  bis  zur  Verzweiflung)  als  mächtige  Motive  nicht  nur 
sittlicher,  sondern  auch  unsittlicher  That.  Eine  Untersuchung  der  Häufig- 
keit aller  dieser  Motive  könnte  zu  einer  Messung  der  Gewalt  menschlicher 
Leidenschaften  führen. 

n.  Neben  diesen,  die  einzelne  gute  oder  böse  That  unmittelbar  ver- 
ursachenden Beweggründen  bestehen  aber  auch  zahlreiche  äussere  Ein- 
flüsse, deren  Bedeutung  für  den  Hang  zum  Bösen  überhaupt  als  auch 
für  einzelne  besondere  Richtungen  unsittlichen  Handelns  untersucht  werden 
kann.  Eine  genaue  Untersuchung  ist  allerdings  nur  bei  jenen  sittlich  be- 
deutungsvollen Thaten  möglich,  die  überhaupt  genaue  Beobachtung  zulassen. 

Diese  Einflüsse  sind  nicht  Gemüthsregungen,  sondern  Lebensver- 
hältnisse, welche  erst  wieder  Ursachen  von  Gemüthsregungen  werden. 
Wenn  natürliche,  familiäre,  gesellschaftliche,  wirthschaftliche,  politische 
und  religiöse  Verhältnisse  durch  längere  Dauer  gewisse  Triebe  im  Menschen 
grossgezogen  haben  und  sodann  Aendeningen  eintreten,  welche  eine  gleiche 
Wirksamkeit  dieser  Triebe  nicht  mehr  gestatten :  dann  reagirt  die  mensch- 
liche Leidenschaft  und  die  Triebe  zeigen  sich  in  ihrer  Entartung.  Und 
deshalb    tragen   auch    die   Lebensverhältnisse    des  Menschen,    d.    h.    der 


462  Einfluss  der  Zeit  und  CiTÜisation. 

Collectivmenscli,  der  dieselben  geschalFen,  stets  einen  Theil  der  Schuld 
und  der  Verdienste  des  Einzelnen. 

Man  wird  daher,  wenn  man  diese  Einflüsse  beobachtet,  namentlich 
zu  untersuchen  haben,  ob  nicht  da,  wo  sie  sich  geltend  machen,  früher 
andere  Verhältnisse  geherrscht  haben. 

Wenn  diese  Einflüsse,  obgleich  sie  als  fernere  Ursachen  der  mensch- 
lichen Handlungen  zu  betrachten  sind,  doch  genauer  untersucht  sind,  als 
die  näheren,  so  liegt  der  Grund  darin,  dass  äussere  Lebensverhältnisse 
der  Statistik  zugänglicher  sind,  als  Gemüthsbewegungen.  Aber  als  fernere 
Ursachen  sittlich  wichtiger  Thaten  müssen  sie  von  den  Regungen  des 
menschlichen  Gemüthes,  welche  die  nächsten  Ursachen  sind,  wohl  unter- 
schieden werden  *), 

Die  wichtigsten  dieser  Einflüsse  sind  folgende: 

Anmerkung. 

*)  Der  Florentiner  statistische  Congress  gibt  folgende  Classification  der 
Motive  zum  Verbrechen,  bei  welcher  sowohl  Gemüthsregungen  als  auch  Lebens- 
verhältnisse als  Motive  auftreten.  Die  Classification  entspricht  zwar  nicht  den 
Anfordeningen  strenger  Systematik,  aber  den  Erfahrungen  der  Crim inalisten. 
Sie  unterscheidet  als  Motive: 

I.  Erhaltung  der  eigenen  und  Anderer  Ehre,  Leben  und  Eigenthum. 
II.  Aberglaube  und  Vorurtheile. 

III.  Religiöse  Leidenschaften. 

IV.  Politische  Leidenschaften. 

V.  Wirthschaftliche  oder  sociale  Differenzen. 
VI.  Liebe,  erlaubte  und  unerlaubte. 
VII.  Zorn  und  Trunkenheit. 
VIII.  Hass,  Rache. 
IX.  Habsucht. 
X.  Rohheit. 
XI.  Lieferung  der  Mittel,    die  Verbrechen    Anderer   zu    erleichtem  oder  ihre 

Verfolgung  unmöglich  zu  machen. 
XII.  Häusliche  Misshelligkeiten. 

XIII.  Mangel. 

XIV.  Verschiedene  und  unbekannte  Motive. 

§.  219.  Einfluss  der  Zeit  und  Civilisation. 

Die  Criminalstatistik  ist  noch  nicht  alt  genug,  um  behaupten  zu 
können,  ob  in  unseren  modernen  Staaten  bei  fortschreitender  Cultur  eine 
Abnahme  oder  Zunahme  der  Verbrechen  stattfindet. 

In  Frankreich  hat  in  neuerer  Zeit  die  officielle  Statistik  eine  Ver- 
minderung zu  entdecken  und  zu  Gunsten  des  Kaiserthums  auszulegen 
versucht.    Bei    näherer  Betrachtung   zeigte   sich,    dass    die  Verminderung 


Einfluss  des  Alten».  463 

einestheils  nur  scheinbar,  anderntheils  blos  in  Bezug  auf  einzelne  Ver- 
brechen stattgefunden  hat. 

Der  immer  noch  grauenhaften  Regelmässigkeit  der  Verbrechen 
gegenüber  ist  es  nur  ein  schwacher  Trost,  dass  mitunter  in  einem  einzelnen 
Jahre  eine  Verminderung  der  Verbrechen  eintritt.  Gewisse  gewaltsame 
Verbrechen,  wie  der  Strassenraub,  müssen  freilich  in  Folge  der  grösseren 
polizeilichen  Sorge  für  die  Sicherheit  der  Sti-assen  und  des  Verkehrs 
regelmässig  abnehmen. 

Andere  Verbrechen  von  schlimmster  sittlicher  Bedeutung  aber,  z.  B. 
die  Morde  werden  nicht  seltener.  Die  Verbrechen  gegen  die  Sittlichkeit, 
Nothzucht  u.  dergl.  sind  in  Frankreich,  Preussen  und  anderen  beobach- 
teten Ländern  in  bemerklicher  Vermehrung  begriffen. 

Gleiches  gilt  von  den  mit  Falschheit,  Betrug,  Hinterlist  und  Täu- 
schung verbundenen  sogenannten  feinen  Verbrechen  gegen  das  Eigenthum. 
Theilweise  auch  von  den  aus  Bosheit  gegen  das  Eigenthum  begangenen 
Verbrechen  und  Vergehen,  z.  B.  von  den  Brandstiftungen. 

Anmerkung. 
Das  beste  Material  für  diese  Frage  liefert,  theils  wegen  der  langen  Beob- 
achtungszeit, theils  wegen  der  gleichmässig  gebliebenen  Strafgesetzgebung,  die 
seit    dem   Jahre   1826   fortgeführte  Criminalstatistik    Frankreichs.    Ihr   ist   (bis 
1878)  zu  entnehmen: 

I.  Die  Gesammtsumme  der  Verbrechen  und  Vergehen  hat  im  Verlaufe 
eines  halben  Jahrhunderts  sehr  bedeutend  zugenommen. 

II.  Vermindert  haben  sich  dabei  nur  die  Verbrechen  gegen  das  Eigenthum. 

III.  Die  Verbrechen  gegen  die  Person  dagegen  haben  eine  massige,  die 
blossen  Vergehen  eine  bedeutende  Steigerung  erfahren.  Ihren  Ausdruck  finden 
diese  Veränderungen  in  folgenden  Verhältnisszahlen: 

1826—30  1874-78 

Verhandlungen  wegen  Verbrechen  gegen  das  Eigenthum  .  100  38 

Angeschuldigte  hiebei 100  51 

Verhandlungen  wegen  Verbrechen  gegen  Personen     ...  100  127 

Angeichuldigte  hiebei 100  106 

Verhandlungen  wegen  Vergehen  . 400  346 

Angeschuldigte  hiebei 100  295 

(Annali  di  Stat.  Ser.  2,  Vol.  21,  pag.  198.) 

§.  220.  Einfluss  des  Alters. 

Unter  allen  Einflüssen  auf  den  Hang  zum  Verbrechen  ist  keiner 
wichtiger  als  das  Alter.  Die  Ursache  ist  klar.  Mit  dem  Alter  entwickeln 
sich  —  und  zwar  nicht  mit  gleicher  Energie  —  Körperkraft,  Leidenschaft 
und  Vernunft.  Betrachtet  man  diese  drei  Kräfte,  so  könnte  man  a  priori 
die  Stufen  bestimmen,  welche  der  Hang  zum  Verbrechen  in  den  ver- 
schiedenen Lebensaltern  durchlaufen  muss. 


464  Einflnss  des  Alters. 

Nach  den  meisterhaften  Untersuchungen,  welche  Quetelet  hierüber 
angestellt  hat,  begleitet  uns  der  Hang  zum  Diebstahl  durch  das  ganze 
Leben.  Mit  ihm  beginnt  der  Verbrecher.  Haus-  und  Familiendiebstahl 
machten  den  Anfang;  gewöhnlicher  Diebstahl  folgt.  Bei  weiterer  Ent- 
wickelung  der  körperlichen  Kräfte  geht  der  Verbrecher  zur  Gewaltthat, 
zum  Einbruch  und  Strassenraub  über.  Dazu  kommen  dann  Mord  und 
Todtschlag;  häufig  auch  Vergehen  und  Verbrechen  gegen  die  Sittlichkeit. 
Der  Hang  zu  letzteren  entwickelt  sich  schon  früher,  in  der  Zeit  der  un- 
gezügeltsten Herzenswildheit. 

Später  schwinden  die  wilderen  Leidenschaften;  der  Mensch  wird 
kälter  und  vernünftiger,  er  berechnet  und  überlegt  sein  Verbrechen  sorg- 
fältiger; die  Gewalt  weicht  der  Tücke  und  Hinterlist,  der  Täuschung.  Der 
Verbrecher  greift  zu  Gift,  Dolch  und  Meuchelmord,  überfällt  sein  Opfer 
im  Dunkeln  oder  zündet  ihm  das  Dach  über  dem  Kopfe  an;  zwingt 
Kinder  oder  schwache  Frauen  unter  seine  halberloschenen  niedrigen  Be- 
gierden; attakirt  das  Eigenthum  auf  dem  Wege  des  Betruges,  der  Fälschung 
und  des  Meineids  und  bietet  so  auf  seiner  letzten  Stufe  ein  ekelhaftes  und 
xlbscheu  erregendes  Bild. 

Diese  Schilderung  lässt  sich  Punkt  für  Punkt  statistisch  erweisen. 
Die  Untersuchung  der  Criminalität  der  verschiedenen  Altersclassen  hat 
übrigens  noch  andere  bemerkenswerthe  Resultate  ergeben.  Sie  zeigt  nicht 
nur,  dass  jedes  Alter  seine  eigenthümlichen  Gefahren  zu  gewissen  Aus- 
schreitungen in  sich  trägt;  sie  zeigt  auch  die  Modificationen  des  Einflusses 
des  Alters  durch  andere  Einflüsse. 

In  Frankreich  hat  man  seinerzeit  die  Beobachtung  gemacht,  dass 
die  jüngere  Generation  (unter  35  Jahren)  die  constant  sich  verbessernde, 
die  ältere  dagegen  die  degenerirtere  zu  sein  schien.  Das  hatte  eine  ganz 
eigenthümliche  Ursache.  Die  Altersclasse  von  40 — 70  Jahren,  welche  sich 
seit  dem  Jahre  1851  als  besonders  gesetzwidrig  erwies,  ist  zwischen  1791 
und  1811  geboren,  also  in  der  Revolutions-  und  Kriegszeit.  Dieses  Ge- 
schlecht, welches  nach  der  Criminalstatistik  am  ungünstigsten  dastand, 
hatte  demnach  den  Hang  zur  Gesetzwidrigkeit  und  Gewaltthat  gleichsam 
mit  der  Muttermilch  eingesogen. 

Engel  fand  als  Resultat  criminal statistischer  Beobachtungen  in  Sachsen, 
dass  der  Hang  zum  Verbrechen  unter  der  Altersclasse  von  16 — 21  Jahren 
dem  der  gesammten  Bevölkerung  überraschend  ähnlich  sei.  Es  findet  offen- 
bar ein  Wechsel verhältniss  zwischen  dem  sittlichen  Werthe  der  Jugend 
und  dem  des  ganzen  Volkes  statt.  Man  bessere  jene,  so  wird  das  ganze 
Volk  besser  werden. 


Einfloss  des  Gesclileclites. 


465 


§.  881.  Einflnss  des  Geschlechtes. 

üeber  den  Einflass  des  Geschlechtes  auf  den  Hang  zum  Verbrechen 
fand  Quetelet  im  Wesentlichen  Folgendes: 

Der  Hang  zum  Verbrechen  ist,  wenigstens  in  Frankreich,  bei  den 
Männern  ungefähr  viennal  so  stark,  als  bei  den  Frauen  (100 :  23).  Auch 
sind  die  Verbrechen,  welche  bei  den  Frauen  um  so  viel  seltener  sind, 
nicht  schwerer  als  die  von  Männern  begangenen. 

Den  Grund,  weshalb  die  Frau  einen  viel  geringeren  Hang  zum 
Verbrechen  hat,  durfte  man  darin  suchen,  dass  sie  in  moralischer  Be- 
ziehung durch  das  Schamgefühl,  in  Rücksieht  auf  die  Gelegenheit  zum 
Verbrechen  durch  ihre  Abhängigkeit  und  ihre  grössere  Zurückgezogenheit, 
in  Hinsicht  auf  die  Fähigkeit  zur  Ausführung  durch  ihre  physische 
Schwäche  von  den  Verbrechen  abgehalten  wird.  Das  sind  die  drei  Haupt- 
ursachen des  Unterschiedes  in  der  Criminalität  beider  Geschlechter.  Da, 
wo  diese  Ursachen  nicht  oder  in  geringerem  Maasse  wirken,  wird  auch 
die  Zahl  der  weiblichen  Verbrecher  den  männlichen  ziemlich  gleich.  Bei 
den  Vergiftungen  z.  B.  ist  namentlich  die  Anzahl  der  Angeklagten  bei 
beiden  Geschlechtem  fast  dieselbe.  Wo  Körperkraft  zum  Verbrechen 
nöthig  ist,  nimmt  die  Zahl  der  angeklagten  Frauen  ab. 

Nach  neueren  Untersuchungen*)  ist  die  weibliche  Criminalität  noch 
weit  geringer  und  es  kommt  erst  auf  5 — 6  verbrecherische  Männer  eine 
Verbrecherin.  Diese  Verhältnissziffer  ist  indessen  länderweise  ziemlich 
verschieden.  So  befanden  sich  unter  100  wegen  schwerer  Verbrechen 
Angeklagten: 


Mäuuer 


Weiber 


Verhältuiss 


Euglaud      

Bayern 

Hannover 

Oesterreich 

Holland 

Belgien 

Frankreich 

Baden 

Preussen 

Sachsen 

Baltische  Prorinzen 

Spanien 

Russland 

Durchschnitt 

Haushof  er,  Statistik.  2.  Aufl. 


75 
75 

77 
81 
82 
82 
82 
84 
85 
85 
86 
88 
89 
84 


25 
25 
23 

19 
18 
18 
18 
16 
15 
15 
14 
12 
11 
16 


3  :1 
3  :1 
3,3:1 
4,3:1 

4,6:1 
4,5:1 
4,5:1 
5,3:1 
5,7:1 
5,7 : 1 
6,1 :1 
7,3:1 
8,1 : 1 
5,3:1 


30 


466  Oertliche  Einfltlsse. 

Bei  Männern  wie  bei  Frauen  ist  indessen  die  Betheiligung  der 
Verheirateten  stets  geringer  als  die  der  Unverheirateten.  Das  beweist  die 
sittlich  kräftigende  Macht  des  Familienlebens  trotz  seiner  grösseren  Berufs- 
und Nahrungssorgen.  Namentlich  wirkt  auf  die  Frauen  isolirte  Stellung 
immer  ungünstig  ein. 

So  zeigt  sich  auch  in  grossen  Städten  eine  ganz  colossale  Crimi- 
nalität  jener,  die  an  Ort  und  Stelle  fremd  sind,  isolirt  stehen. 

Bezüglich  der  Altersbetheiligung  zeigen  beide  Geschlechter  einen 
ähnlichen  Gang  der  Entwickelung.  Die  männliche  Jugend  beginnt  etwas 
früher  an  den  Verbrechen  sich  zu  betheiligen;  der  Höhepunkt  fällt  beim 
Weibe  etwas  später,  in  das  25. — 26.  Jahr. 

Die  Zunahme  der  weiblichen  Criminalität  in  Frankreich  kann  man 
mit  Recht  als  ein  tragisches  Zeugniss  der  dortigen  sittlichen  Zustände 
ansehen,  ebenso  die  Criminalität  der  weiblichen  Jugend  in  England.  Die 
englischen  Mädchen  der  zartesten  Jugend  sind  verdorbener  als  in  irgend 
einem  anderen  Lande  der  Welt  (vgl.  Porter  a.  a.  0.). 

England  zeigt  auch  eine  andere  schlimme  Eigenthümlichkeit  der 
weiblichen  Criminalität.  Es  ist  das  die  grauenhafte  Zähigkeit  der  Weiber 
im  Verbrechen.  Unter  den  Rückfälligen  finden  sich  verhältnissmässig  weit 
mehr  Weiber,  als  unter  den  zum  erstenmale  Bestraften.  In  Sachsen  über- 
trifft die  Zahl  der  rückfälligen  Weiber  sogar  absolut  jene  der  rückfälligen 
Männer. 

Wenn  man  alles  dies  in  Betracht  zieht,  dann  erscheint  wohl  der 
verbrecherische  Hang  der  Männer  nicht  so  sehr  viel  grösser,  als  jener  der 
Frauen.  Es  ist  eben  die  Gelegenheit  und  Fähigkeit  zum  Vollzug  des 
Verbrechens,  welche' den  Frauen  in  vielen  Fällen  fehlt  und  ihr  ganzes 
Geschlecht  besser  erscheinen  lässt. 

So  fanden  unter  903  Tödtungen,  welche  Quetelet  aus  den  Jahren 
1826—29  aufgezeichnet,  446  in  Folge  von  Wirthshausstreitigkeiten  statt, 
also  in  Folge  von  Versuchungen,  welche  an  die  Frauen  gar  nicht  heran- 
treten. 

Anmerkung. 

*)  Oettingen  a.  a.  0.  S.  758. 

§.  222.  Oerttiche  Einflüsse. 

Zwischen  Staaten  mit  verschiedener  Strafgesetzgebung  erscheint  eine 
Vergleichung  des  criminellen  Hanges  als  etwas  höchst  gefährliches,  was 
allzuleicht  zu  ganz  falschen  Resultaten  führen  kann.  Wohl  aber  ist  eine 
Vergleichung  möglich  bezüglich  einzelner  Provinzen  oder  sonst  wie  um- 
grenzter Kreise,   welche  in  juridisch-staatlicher  Beziehung  gleich  stehen. 


Oertliche  Einflasse. 


467 


Es  scheint,  dass  jedes  Land  seine  ihm  eigenthümliche  Lieblingssünde 
hat  und  festhält. 

So  hat  z.  B.  in  der  Criminalität  Frankreichs  Corsica  als  eigenthüm- 
liches  Verbrechen  die  Angriffe  auf  Personen,  während  es  an  Diebstahl 
sich  fast  gar  nicht  betheiligt.  Das  Seinedepai*tement  dagegen  steht  in 
letzterer  Hinsicht  äusserst  schlimm  da,  während  es  wiedenim  bezüglich 
der  Brandstiftungen  und  Sittlichkeitsverbrechen  fast  ganz  unbetheiligt  er- 
schBint  gegenüber  dem  Departement  Vaucluse,  wo  die  Nothzucht  fast  zur 
Gewohnheit  geworden  ist. 

Aehnliches  zeigt  sich  in  England.  Hier  ist  London  gross  in  Bezug 
auf  den  Diebstahl,  mittelmässig  stark  hinsichtlich  der  Morde  und  Sittlich- 
keitsverbrechen. Dagegen  florirt  in  Chester,  StaflPord,  Monmouth  und 
Southampton  die  Nothzucht,  in  Derby  constant  der  Mord. 

Bayern  bietet  trotz  seines  geringen  Umfanges  in  dieser  Hinsicht  sehr 
interessante  Gegensätze. 

Nur  in  den  drei  Gebieten  von  Ober-,  Mittel-  und  Unterfranken 
zeigt  sich  ein  verwandter  Typus  der  Criminalität.  Sonst  sind  die  Unter- 
schiede der  Provinzen  auffallend,  wie  bei  Einzeln  Charakteren.  Mittelfranken 
und  Oberbayern  stehen  mit  ihren  Diebstählen  obenan,  Niederbayern  mit 
den  Angriffen  auf  Leib  und  Leben,  die  Pfalz  in  der  Widersetzlichkeit 
gegen  obrigkeitliche  Autorität,  Schwaben  im  Betrug. 

Dabei  steht  offenbar,  provinziell  betrachtet,  die  Frequenz  der  klag- 
bar gewordenen  Uebertretungen  in  umgekehrtem  Verhältniss  mit  der 
Frequenz  der  Vergehen  und  Verbrechen. 

Schon  die  älteren  Untersuchungen  Guerry's  weisen  einen  Einfluss 
des  Klima  auf  die  Criminalität  nach.  Er  theilte  Frankreich  in  fiinf  Zonen 
und  fand  unter  100  Verbrechern  in: 


Verbrecher 


ttördl.  Zone 


sfidl.  Zone 


Centrum 


gegen  Personen    .    .    . 
gegen  das  Eigenthum 


24,4 

43,0 


23,8 

11,4 


14,8 
12,2 


Da  indessen  die  Bevölkerungszahl  dieser  Zonen  sehr  verschieden  ist, 
musste  eine  Reduction  der  Zahlen  vorgenommen  werden.  Sie  ergab,  dass 
die  Verbrechen  gegen  Personen  im  Süden  doppelt  so  häufig  waren  als  im 
Norden,  und  die  Verbrechen  gegen  das  Eigenthum  im  Norden  doppelt  so 
häufig  als  im  Süden,  während  das  Centrum  in  beiden  Beziehungen  die 
Mitte  einhielt. 

30* 


468 


EiBflnRS  der  Nationalit&t. 


§.  223.  Einfluss  der  Fationalit&t. 

Wenn  sich  nun  schon  so  bedeutende  provinzielle  Unterschiede  der 
Criminalitat  ergeben,  so  liegt  der  Schluss  auf  der  Hand,  dass  auch  nationale 
Unterschiede  vorhanden  sein  müssen,  obgleich  sie  wegen  der  Verschiedenheit 
der  Strafgesetzgebungen  nicht  quantitativ  bestimmbar  sind. 

Nur .  diejenigen  Staaten,  deren  Bevölkerung  aus  mehreren  Nationali- 
täten zusammengesetzt  sind,  liefern  vergleichbares  Material. 

So  vergleicht  v.  Oettingen  fiir  Russland  die  Criminalitat  der  balti- 
schen Provinzen,  des  europäischen  Russlands  und  Sibiriens*). 

Zuvor  dürfte  erwähnt  werden,  dass  für  ganz  Russland  zwei  Rubriken 
von  Verbrechen  besonders  charakteristisch  sind:  die  Verbrechen  gegen  die 
Religion  und  die  Gesetzwidrigkeiten  in  Folge  von  Unvorsichtigkeiten  oder 
Unglücksfällen.  Auffallend  stark  ist  der  russische  Nationalcharakter  in 
Widersetzlichkeiten  gegen  die  Obrigkeiten  und  Verletzungen  des  öffentlichen 
Eigenthums. 

Die  nationalen  Unterschiede  der  Criminalitat  innerhalb  Russlands 
sind  von  seltener  Grösse.  So  kommen  auf  je  10000  Einwohner  angeklagte 
Verbrecher : 


Jahr 


in  deu  baltischeu 
Provinzen 


1860 
1861 
1862 
1863 


7,6 
7,6 

7,7 

8,6 


ganz  Russland 


47,7 
52,7 
54,6 
53,8 


klagbar  ge- 


Also  in  ganz  Russland  beinahe  die  siebenfache  Anzah 
wordener  Gesetzwidrigkeiten! 

Würde  man  nur  die  Verurtheilten  als  Massstab  der  Criminalitat 
nehmen,  so  stellte  sich  das  Verhältniss  weit  günstiger.  Dies  ist  aber 
wegen  der  schlecht  gehandhabten  Justiz  nicht  zulässig.  In  der  ganzen 
civilisirten  Welt  ist  der  Procentsatz  der  wirklich  Verurtheilten  unter  den 
Angeklagten  nirgends  geringer,  als  in  Russland. 

Selbst  russische  Forscher  geben  zu,  dass  die  baltischen  Provinzen 
sich  durch  den  geringsten  Procentsatz  von  Verbrechern  auszeichnen. 

Dagegen  scheint  in  den  Gouvernements  Petersburg  und  Perm,  in 
Cherson  und  Bessarabien  die  Criminalitat  wie  eine  Krankheit  zu  wüthen. 

Zu  welch  ein  gen  artigen  Resultaten  man  kommen  kann,  wenn  man 
willkürlich  die  Zahlen  der  Verbrecherstatistik  zusammenstellt  und  welch 
falsche  Schlüsse  man  aus  diesen  Zahlen  ziehen  müsste,  wenn  man  sie 
vergleichen  wollte,  ohne  auf  die  Verschiedenheiten  der  Strafgesetzgebungen 


Einfluss  der  Jahreszeiten.  469 

ZU  achten,    zeigt  folgende  Zusammenstellung  von  Legoyt  über  das  Ver- 
hältniss  der  wirklich  Verurtheilten.  Es  kämen  von  denselben  in: 

Oesterreich  einer  auf  81,9  Einwohner 

Spanien  „  „     81,8 

Holland  „  »71,8          „ 

Belgien  „  „     58,i 

Frankreich  „  „     55,i          „ 

England  „  „     47,9 

Preussen  „  „     22,9          „ 

Hannover  „  „     12,8          „ 

Oesterreich  und  Spanien  stünden  demnach  obenan  in  der  Moralität 
und  die  wackeren  Hannoveraner  wären  sechsmal  unmoralischer  als  die 
Spanier!  In  Preussen  und  Hannover  wird  eben  die  Justiz  scharf  gehand- 
habt und  in  der  Zahl  der  Verbrechen  sind  bei  diesen  Ländern  hundert- 
tausende von  kleinen  Holzfreveln  mitgerechnet,  die  anderwärts  gar  nicht 
verfolgt  werden.  Solche  Zahlen  dürfen  gar  nicht  zusammengestellt  werden? 
wenn  man  sich  nicht  an  der  Statistik  versündigen  wilP). 

Aumerkuugen. 

')  Oettiugen  a.  a.  0.,  S.  733  ff. 
«)  Ebenda,  S.  707, 

§.  224.  Einfluss  der  Jahreszeiten. 

Quetelet  erkennt  einen  sehr  entschiedenen  Einfluss  der  Jahreszeiten 
auf  die  Häufigkeit  der  Verbrechen,  ebenso  Guerry.  Die  Beobachtungen  des 
letzteren  haben  sich  seit  mehr  als  dreissig  Jahren  als  ganz  richtig  bewährt. 

Man  hat  bemerkt,  dass  die  Verbrechen  gegen  das  Eigenthum  am 
häufigsten  im  Winter  begangen  werden,  während  zu  dieser  Jahreszeit  die 
Verbrechen  gegen  Personen  am  seltensten  sind  und  ihr  Maximum  im 
Sommer  erreichen.  Die  Erscheinung  ist  leicht  erklärbar,  indem  im  Winter 
zumeist  die  Noth  sich  fühlbar  macht  und  zu  den  Verbrechen  gegen  das 
Eigenthum  treibt,  während  im  Sommer  die  Leidenschaften  feuriger  und 
durch  den  in  dieser  Jahreszeit  gesteigerten  gesellschaftlichen  Verkehr 
noch  erregbarer  werden. 

Dabei  ergeben  sich  aber  noch  verschiedene  Eigenthümlichkeiten. 
Bei  allen  gröberen  vorbedachten  Verbrechen,  bei  Mord,  Brandstiftung, 
Meineid,  Vergiftung  etc.  lässt  sich  keine  solche  Regelmässigkeit  nachweisen. 

Ifach  Guerry  wurden  von  je  100  Verbrechen  verübt  im; 


470 


Einflnss  wirthschaftlicher  Zustände. 


gegen  die 
Sittlichkeit 

gegen 
Personen 

gegen 
Eigenthum 

Herbstquartal 

(September,  October,  Novemb.) 
Wiuterquartal 

(December,  Jänner,  Februar)     . 
Frühlinifsquartal 

(März,  April,  Mai)    .' 

Spmmerquartal 

(Juni,  Juli,  August) 

20,64 
15,93 

26,08 

37,35 

24,1 
22,1 
25,6 
28,3 

24,4 

27,9 
23,6 
23,1 

100 

100 

100 

§.  225.  Einfluss  wirthschaftlicher  Zustände. 

Eine  der  populärsten  statistischen  Erscheinungen  ist  der  Einfluss  von 
Theuerung  und  Wohlfeilheit  auf  die  Verbrechen.  Bei  steigender  Theuerung 
nehmen  die  Diebstähle  zu,  während  die  Angriffe  auf  die  Personen  sich 
mindern  und  umgekehrt. 

So  hat  man  namentlich  in  Bayern  (Mayr)  die  Beobachtung  ge- 
macht, dass  während  der  Periode  von  1835 — 61  jeder  Sechser,  um  welchen 
der  Scheffel  Getreide  im  Preise  stieg,  auf  je  100000  Einwohner  einen 
Diebstahl  mehr  im  Lande  hervorgerufen  hat,  während  andererseits  das 
Fallen  des  Getreidepreises  um  je  einen  Sechser  einen  Diebstahl  bei  der 
gleichen  Zahl  von  Einwohnern  verhütet  hat.  Zugleich  zeigt  sich  bei  einer 
Preisemiedrigung  ein  Steigen  der  Verbrechen  gegen  die  Person. 

Der  criminelle  Hang,  wie  eine  einmal  in  gewisser  Richtung  sich 
bewegende  Kraft  überwindet  immer  noch  geringere  Hindemisse,  um  in 
seinem  zeitweiligen  Schwünge  nach  unten  oder  nach  oben  zu  verharren. 
Erst  grössere  Hindernisse  verändern  seine  Bewegung  entschieden. 

In  England  scheint  die  gewaltige  Handelskrisis  von  1857 — 58  sich 
in  einem  besonders  starken  criminellen  Hange  zu  spiegeln.  Gegenüber  den 
Revolutionszeiten  haben  die  Zeiten  der  Theuerung  vorzugsweise  Einfluss 
auf  die  Criminalität  der  Weiber  und  der  Jugend,  während  jene  mehr  die 
Männer  und  das  reifere  Alter  zu  Gesetzesverletzungen  veranlassen. 

üebrigens  zeigt  die  Statistik,  dass  nicht  die  Armuth  an  sich  schon 
den  verbrecherischen  Hang  des  Menschen  unterstützt.  Mehrere  französische 
Departements,  obgleich  als  die  ärmsten  bekannt,  sind  zugleich  die  sitt- 
lichsten. Aber  dann  wird  der  Mensch  häufig  dem  Abgrunde  einer  Ver- 
brecherlaufbahn entgegengefuhrt,  wenn  er  sich  plötzlich  aus  dem  Wohlstand 
ins  Elend  versetzt  sieht,  wenn  es  gilt,  Bedürfnisse  mit  Resignation  und 
Charakterstärke  zu  reduciren. 


Einflass  der  Bildun;.  471 

§.  226.  EinfloBs  des  Berufes. 

Bezüglich  des  Erwerbszweiges  nimmt  Quetelet  einen  bedeutenden 
Einfluss  auf  den  verbrecherischen  Hang  an.  Individuen,  meint  er,  welche 
einem  freien  Beruf  angehören,  begehen  mehr  Verbrechen  an  Personen,  die 
arbeitende  und  dienende  Classe  mehr  Verbrechen  am  Eigenthum. 

üebrigens  ist  die  Berufsstatistik  noch  zu  wenig  ausgebildet,  um 
tiefere  Schlussfolgerungen  zu  gestatten  (Oettingen). 

In  England  und  Wales  angestellte  Erhebungen  ergeben  in  dieser 
Hinsicht  folgendes  charakteristische  Resultat.  Im  Jahre  1859  traf  ein 
Individuum  der  sogenannten  criminellen  Classen  bei  der  städtischen  Be- 
völkerung: 

in  London auf  194  Einw. 

„    Vergnügungsstädten  (Bath,  Dover  etc.)    .    .    .    „      87     „ 

„    Städten  der  Landbaudistricte „      86     „ 

„    Handelshäfen „      96     „ 

„    Baumwoll-  und  Leinenmanufacturstädten    .    „    125     „ 

„    Wollwaarenmanufacturstädten „    137     „ 

„    Städten  mit  feiner  und  gemischter  Weberei  .    „    119     „ 

„    Städten  mit  Eisenindustrie „      54     „. 

(Mayr.  Stat.  der  gerichtl.  Polizei.) 

§.  327.  Einfluss  der  Bildung. 

Wirkt  die  intellectuelle  Bildung  vortheilhaft  oder  nachtheilig  auf  die 
Sittlichkeit  überhaupt  und  auf  den  verbrecherischen  Hang  insbesondere? 
Diese  Frage  ist  von  hoher  civilisatorischer  Tragweite:  aber  die  Statistiker 
sind  noch  nicht  einig  über  sie. 

Bekanntlich  herrscht  heutzutage  in  weiten  Kreisen  die  üeberzeugung 
von  unbedingt  günstigem  Einfluss,  während  auch  die  gegentheilige  zahl- 
reiche Vertreter  hat.  Auch  in  der  Wissenschaft  besteht  dieser  Gegensatz  ^). 
Das  eine  scheint  zwar  klar,  dass  der  geschulte  Mensch  jedenfalls 
mehr  Motive  hat,  gröbere  Gesetzwidrigkeiten  zu  vermeiden,  wie  er  auch 
schon  die  Fähigkeit  besitzt,  sich  sein  Brod  leichter  zu  erwerben  und 
dadurch  vor  Eigenthumsverbrechen  mehr  bewahrt  ist*). 

Und  dennoch  wird  man  auch  in  dieser  Hinsicht  schmerzlich  ent- 
täuscht, wenn  man  die  Qualität  der  Bildung  bei  den  Angeklagten  ver- 
gleicht. Unter  1000  Angeklagten  in  Frankreich 

(1826—50)    (1860) 

konnten  weder  lesen  noch  schreiben  554  427 

„       nur  schlecht  lesen  und  schreiben    309  407 

„       gut  lesen  und  schreiben  106  104 

hatten  eine  höhere  Bildung  31  62 


472 


Einflasg  der  Bildung. 


So  hat  sich  der  Antheil  der  höher  Gebildeten  am  Verbrechen  fast 
verdoppelt! 

Dazu  kommt,  dass  bei  allgemein  steigender  Volksbildung  in  den 
europäischen  Staaten  die  Verbrechen  nicht  ab-,   sondern  eher  zunehmen. 

Die  Sittlichkeitsattentate  mehren  sich  allgemein  bei  zunehmender 
Civilisation;  der  Rückfall  wird  häufiger;  der  Kindsmord  wächst  masslos; 
die  Weibercriminalität  steigt^). 

Gewandtheit  im  Lesen,  Schreiben  und  Rechnen  schützt  nicht  vor 
jener  Gesinnung,  welche  das  Verbrechen  erwachsen  lässt.  Aber  wer  höhere 
Bildung  besitzt,  kommt  doch  leichter  in  Beiührung  mit  allem  Guten  und 
Edlen,  was  die  Menschheit  geschaffen  hat.  Freilich  auch  mit  vielem 
Schlechten.  Sollte  aber  nicht  jenes  stärker  auf  ihn  einwirken? 


Anmerkuugeu. 

*)  So  behauptet  Guerry,  der  Unterricht  sei  ein  Werkzeug,  von  welchem 
man  ebenso  gut  einen  guten  als  einen  schlechten  Gebrauch  machen  kann. 
Mayhew  nennt  es  einen  höchst  gefährlichen  Irrthum,  wenn  man  glaubt,  dass 
vom  Lesen,  Schreiben  und  Rechnen  eine  Verminderung  der  jugendlichen  Ver- 
brecher erhofft  werden  könne  und  Guerry  liefert  den  Beweis  für  die  gleiche 
Anschauung  aus  der  geographischen  Verbreitung  der  Bildung  und  der  Crimi- 
nalität.  So  haben  die  ungebildeten  Departements  Frankreichs,  AUier,  Haut- 
Vienne,  Indre,  Cher,  Nievre  und  Creuse  die  geringste,  die  hochgebildeten  nord- 
östlichen Partien  eine  auffallend  grosse  Criminalität.  Gleiches  zeigt  sich  bei  der 
Vergleichung  englischer  Grafschaften. 

Umgekehrt  stellt  Corne  ganz  schroff  die  Behauptung  auf:  wo  am  meisten 
Ignoranz,  da  kommen  auch  die  meisten  Verbrechen  vor.  Und  Engel  meint,  jede 
Ausgabe  im  Budget  des  Unterrichts  werde  reichlich  aufgewogen  durch  die 
Ersparnisse  im  Budget  der  Criminaljustiz. 

*)  In  Frankreich  fand  mau  gänzlich  Ungebildete  (Oettingen  a.  a.  0. 
S.  809): 


im  Jahre 


1827—28 
1829-30 
1831-32 
1833—34 
1835-36 
1847—48 
1863—64 
1865—66 


unter  den 
Recruten 


56  % 

52  „ 

49  „ 

47  „ 

47  „ 

36  „ 

28  „ 

25  „ 


unter  den 
Verbrechern 


62  % 

61  „ 

59  „ 

58  „ 

57  „ 

50  „ 

42  „ 

36  „ 


Einflnss  der  ConfeBsion.  473 

Nach  diesöii  Zahlen  hat  die  Volksbildung  entschieden  rascher  zuge- 
nommen als  die  Zahl  der  gebildeten  Verbrecher,  und  es  fanden  sich  mehr  Un- 
gebildete unter  den  Verbrechern,  als  sich  finden  würden,  wenn  die  Gebildeten 
und  Ungebildeten  sich  gleich  am  Verbrechen  betheiligten. 

')  Ebenda  S.  810. 

§.  228.  Einfluss  der  Confession. 

Man  hat  die  Bemerkung  gemacht,  dass  unter  sonst  gleichen  Um- 
ständen die  sogenannten  herrschenden  Kirchen  stets  eine  schlimmere  Crimi- 
nalität  ihrer  Angehörigen  aufweisen,   als  die  nur  geduldeten    (Oettingen). 

So  gestaltet  sich  in  Bayern  die  Criminalität  ungünstiger  für  die 
Katholiken,  als  für  die  Protestanten.  Diese  Behauptung  kann  freilich  nur 
ganz  im  Allgemeinen  aufgestellt  werden  aus  dem  Umstände,  dass  Ober- 
und  Niederbayern  mit  dem  grössten  Procentsatz  katholischer  Bevölkerung 
die  höchste,  Ober-  und  Mittelfranken  die  geringste  Verbrecherfrequenz  in 
einem  26jährigen  Durchschnitt  aufweisen. 

Ein  absoluter  und  constanter  Zusammenhang  zwischen  der  Confes- 
sion und  Criminalität  kann  bei  einer  so  gemischten  Bevölkerung  nicht 
nachgewiesen  werden. 

In  Preussen  dagegen  stellen  sich  in  crimineller  Hinsicht  Westfalen 
und  Rheinland  am  günstigsten. 

In  Hannover,  in  der  Schweiz  und  in  Holland  stehen  die  in  der 
Minorität  lebenden  Katholiken  absolut  günstiger,  so  dass  man  wohl  be- 
haupten kann,  der  Einfluss  der  Confession  auf  die  Criminalität  sei  dort 
ein  besserer,  wo  keine  staatliche  Bevormundung  besteht,  wo  das  Massen- 
bekenntniss  zurücktritt  und  in  Folge  dieser  Umstände  strengere  Selbstcon- 
trole  und  kirchliche  Zucht  ermöglicht  ist. 

Dagegen  lassen  sich  solche  Staaten,  welche  heterogene  Stammes- 
eigenthümlichkeiten,  Culturzustände  und  Gesetzgebungen  aufweisen,  nicht 
leicht  in  dieser  Hinsicht  vergleichen,  weil  der  confessionelle  Factor  nicht 
isolirt  werden  kann*).. 

Eine  ganz  eigenthümliche  Erscheinung  bieten  wie  in  mancher  anderen 
Hinsicht  so  auch  in  dieser  die  Juden.  Auf  sie  fällt  in  den  meisten  Län- 
dern der  relativ  kleinste  Procentsatz  der  öffentlich  geahndeten  Verbrechen. 
In  Baden  z.  B.  kam  1856 — 59  ein  angeklagter  Jude  auf  etwa  315  jüdische 
Einwohner  und  ein  angeklagter  Christ  auf  etwa  265  christliche  Einwohner. 
Auch  die  bayerische  Criminalstatistik  spricht  zu  Gunsten  der  Juden  *). 

Anmerkungen. 

*)  Eine  solche  Vergleichung  ist  z.  B.  die  von  Hausuer,  wonach  in  Europa 
die  Criminalität  der  Confessiouen  sich  folgend ergestalt  stellen  würde: 


474  Der  Selbstmord. 

Bei  röm.  Katholiken         1  Verbrecher  auf  1531  Einw. 
„     Protestauten  1  ^  „    1383      „ 

„    ^iech.  Orthodoxen     1  „  „    1058       „ 

(Hausner:  Vergl.  Statistik,  I.  138.) 

*)  Vergl.  Oettingen  a.  a.  0.  S»  844. 


III.  Capitel. 

Die  einzelnen  sittlicli  bedeutungsvollen  Hand- 
lungen. 


§.  229.  Vebersicht. 

Wenn  die  Sitten  Statistik  den  Hang  des  Menschen  zum  Guten  und 
zum  Bösen  im  Allgemeinen,  sowie  die  auf  ihn  wirkenden  Einflüsse  unter- 
sucht hat,  sind  schliesslich  noch  die  einzelnen  Aeusserungen  dieses  Hanges 
zu  untersuchen.  Eine  den  Anfordeiningen  strenger  Systematik  ebenso  als 
den  bisherigen  Resultaten  der  Sittenstatistik  entsprechende  Eintheilung 
dieser  Aeusserungen  zu  geben,  ist  schwierig.  Zwei  Eintheilungsgründe 
stehen  im  Vordergrunde.  Die  Lebenskreise,  in  welchen  die  sittlichen 
Kräfte  sich  bethätigen  (§.  212)  und  die  unmittelbaren  Objecte  der  sitt- 
lichen Handlungen,  d.  h.  jene  sittlichen  Güter,  welche  verletzt  oder  ge- 
fördert werden  können.  Nimmt  man  seiner  Einfachheit  wegen  den  letz- 
teren Eintheilungsgrund  an,  so  sind  die  wichtigsten  dieser  sittlichen  Güter 
etwa  folgende; 

[.  Leib  und  Leben  des  Menschen.  Diejenigen  moralstatistischen  Er- 
scheinungen, welche  hier  in  Betracht  kommen,  sind:  Selbstmord,  Mord 
und  Körperverletzung,  Krankheiten  in  Folge  von  Lastern  (§.  230  fF.). 

n.  Arbeit,  Sparsamkeit  und  Besitz. 

lU.  Die  Familie  und  ihr  Bestand. 

IV.  Das  sittliche  Verhältniss  der  Geschlechter.  In  dieser  Hinsicht 
sind  ziflPermässig  fassbar  die  Sittlichkeitsverbrechen,  die  Prostitution,  die 
ausserehelichen  Geburten. 

V.  Geistige  und  künstlerische  Bildung  und  Thätigkeit. 

VI.  Religiöse  Lebensthätigkeit. 

§.  230.  Der  Selbstmord. 

Das  leibliche  Dasein  ist,  als  nothwendige  Vorbedingung  für  alles 
Streben  nach  Vervollkommnung,  auch  ein  sittliches  Gut.  Jene  Hand- 
lungen, welche  dieses  Leben  zu  bewahren  streben,  gehen  zwar   zunächst 


Der  SelbstniOTd.  475 

vom  Selbsterhaltungstriebe  aus,  der  auch  dem  Thiere  eigen,  nichts  an  sich 
sittliches  ist.  Sittlicher  Muth  und  sittliche  Ausdauer  machen  aber  auch 
diesen  Kampf  ums'  Dasein  zur  sittlichen  That.  Alle  Lebenszerstörung 
dagegen  ist  entschieden  unsittlich. 

Das  verletzte  oder  zerstörte  Leben  kann  entweder  des  Handelnden 
eigenes  oder  ein  fremdes  sein.  Im  ersteren  Falle  ist  die  unsittliche  That 
entweder  eine  rasche  Zerstörung  des  Lebens,  eine  verzweifelte  Flucht  aus 
dem  Kampfe  ums  Dasein,  oder  eine  langsame  verschuldete  Zerstörung  der 
Lebenskräfte. 

Erstere  findet  ihren  statistischen  Ausdnick  im  Selbstmord,  einer 
der  merkwürdigsten  in  das  Gebiet  der  Sittenstatistik  fallenden  Erschei- 
nungen. 

In  ausgezeichneter  Weise  fiir  die  Statistik  geeignet,  hat  diese  Er- 
scheinung zur  Beobachtung  geradezu  herausgefordert  und  in  der  That  auch 
eine  Reihe  von  Forschungen  veranlasst.  Die  Resultate  der  gründlichsten 
dieser  Forschungen  bestehen  im  Wesentlichen  in  Folgendem  *) : 

1.  Von  Jahr  zu  Jahr  zeigt  sich  eine  ganz  eigenthümliche  Gleich- 
mässigkeit  in  den  Selbstmordzahlen.  Sobald  man  mit  etwas  grösseren 
Zahlen  operirt,  ist  das  nicht  zu  verkennen.  In  den  grösseren  Staaten 
pflegt  selbst  in  längeren  Zeiträumen  die  mittlere  jährliche  Abweichung 
der  wirklichen  von  der  idealen  Zahlenreihe  bei  den  Selbstmorden  kleiner 
als  bei  den  Todesfällen  im  Allgemeinen  zu  sein,  d.  h.  die  Selbstmorde, 
anscheinend  höchst  willkürliche  Handlungen,  sind  regelmässiger  als  die 
Todesfalle  überhaupt  *). 

2.  Der  Selbstmord  ist  in  Europa  in  regelmässiger,  die  Bevölke- 
rungsvermehrung meistens  übersteigender  Zunahme  begriffen^). 

3.  Ein  Einfluss  des  Klimas  auf  die  Selbstmordfrequenz  scheint 
zwar  vorhanden  zu  sein,  ohne  jedoch  den  Zahlen  bestimmteres  Gepräge 
aufzudrücken.  Im  centralen  Europa  ist  der  Selbstmord  am  häufigsten  und 
wird  seltener  gegen  Osten  und  Westen,  wie  gegen  Nord  und  Süd. 

4.  Die  Jahreszeiten  äussern  einen  entschiedenen  Einfluss  auf  die 
Häufigkeit  der  Selbstmorde.  Entscheidend  sind  die  üebergangszeiten  mit 
starken  Temperaturwechseln.  Namentlich  zeigen  die  Monate  Mai  bis  Juli 
die  meisten  Selbstmorde. 

^  5.  Der  Einfluss  des  Geschlechts  ist  ein  sehr  gleichmässiger.  Ueberall 

betheiligen  sich  die  Männer  weit  stärker  am  Selbstmord  als  die  Frauen. 
Der  Selbstmord  ist  3 — 472^1^1  so  häufig  bei  Männern  als  bei  Frauen.  Die 
Zunahme  der  Selbstmorde  trifft  beide  Geschlechter  gleichmässig. 

6.  Das  Alter  beeinflusst  die  Häufigkeit  der  Selbstmorde  so  bedeu- 
tend und  gleichmässig,  dass  man  schon  von  einem  Gesetz  der  Vertheilung 
der  SelI)Stmorde  über  die   Lebensalter   sprechen   kann.    Der   Selbstmord 


476  Der  Selbstmord. 

nimmt  regelmässig  von  der  Jagend  bis  in   das  Alter   za;    eine    Abnahme 
erleidet  er  erst  im  höchsten  Alter;  nach  dem  70.  bis  80.  Jahre. 

Es  widerspricht  dies  einer  von  den  älteren  Statistikern  und  Medi- 
cinem  gehegten  Ansicht,  dass  im  höheren  Alter,  wo  der  Mensch  gerade 
mehr  am  Leben  hänge,  der  Selbstmord  seltener  sei. 

7.  Die  körperliche  und  die  natürlich  geistige  Beschaffenheit 
äussern  ihren  Einfluss  insoferne,  als  der  Selbstmord  viel  häufiger  unter 
Geisteskranken,  wie  unter  körperlich  Kranken  oder  gar  Gesunden  vor- 
kommt. 

8.  Die  Abstammung  und  Nationalität  äussern  einen  wesent- 
lichen Einfluss  auf  die  Häufigkeit  der  Selbstmorde.  Dieser  Einfluss  ist 
allerdings  schwer  zu  isoliren.  Der  Selbstmord  ist  unter  den  germanischen 
Stämmen  häufiger  als  unter  den  romanischen,  unter  diesen  häufiger  als 
unter  Slaven,  etwa  im  Verhältnisse  wie  5:4:2. 

Ob  jedoch  das  Klima  der  Länder  oder  wirklich  der  Nationalcharakter 
entscheidend  sind,  oder  in  welchem  Grade  noch  andere  Factoren  mass- 
gebend sind,  ist  vorläufig  nicht  zu  ermitteln*). 

9.  Von  den  socialen  Verhältnissen  übt,  wie  es  scheint,  der  Civil- 
stand  wirklich  einen  Einfluss  aus.  Die  Ehe  wirkt  selbstmordvermindemd, 
der  ledige  Stand  ungünstig,  noch  schlimmer  der  verwitwete  Stand  und  am 
schlimmsten  die  geschiedene  Ehe.  Und  zwar  letztere  beiden  Einflüsse  auf 
die  Männer  mehr  als  auf  die  Frauen. 

10.  Einen  ganz  entschiedenen  Einfluss  üben  Religion  und  Con- 
fession  auf  die  Selbstmordfrequenz. 

Namentlich  bei  der  Vergleichung  von  Katholiken  und  Protestanten 
zeigt  sich  dies  ganz  auflallend.  So  kommen  auf  je  100  katholische  Selbst- 
mörder: 


in  Preussen 

322  protestantische 

„    Bayern 

276 

„    Württemberg 

131 

„    Oesterreich 

155 

Unter  den  Protestanten  ist  der  Selbstmord  am  häufigsten,  seltener 
unter  den  Katholiken  und  am  seltensten  unter  griechischen  Christen  und 
Juden. 

Der  Einfluss  der  Abstammung  macht  sich  neben  dem  der  Confes- 
sion  geltend,  was  beim  Vergleich  von  katholischen  und  protestantischen 
Ländern  und  noch  deutlicher  unter  gemischter  Bevölkerung  hervortritt.  Es 
scheint,  dass  der  Selbstmord  selten  ist  in  Ländern,  welche  ihren  religiösen 
Glauben  unberührt  gehalten  und  wo  die  modernen  Neigungen  zur  Gleich- 
giltigkeit  und  Glaubenslosigkeit  noch  wenige  Fortschritte  gemacht  haben. 
Leider  liegen  statistische  Beobachtungen  bezüglich  anderer  Religionen  nicl^t 


Der  Selbstmord.  477 

vor;  man  weiss  indessen,  wie  gering  die  Zahl  der  Selbstmorde  bei  Molia- 
medanern  ist  gegenüber  den  selbstmordreichen  Gebieten,  welche  der  Sitz 
des  Buddhaismus  sind. 

11.  Die  allgemeine  Bildung  und  ihre  Verbreitung  ist  der  Häufig- 
keit der  Selbstmorde  jedenfalls  nicht  hinderlich.  In  Frankreich  hat  man 
specielle  Beobachtungen  hierüber  angestellt.  Die  Zunahme  der  Selbstmorde 
bei  gleichzeitiger  Ausdehnung  und  Verbesserung  des  ünterrichtswesens 
macht  es  wahrscheinlich,  dass  grössere  geistige  Bildung  und  Aufklärung 
öfter  zum  Selbstmord  versucht  oder  doch  jene  sittlichen  Mächte  schwächt, 
durch  welche  solche  Versuchungen  überwunden  werden. 

Ueberhaupt  ist  der  Selbstmord  unter  den  gebildeteren  Classen  häu- 
figer als  unter  Ungebildeten. 

12.  Der  Einfluss  des  Berufes  zeigt  sich  zunächst  in  der  verschie- 
denen Häufigkeit  der  Selbstmorde  in  Stadt  und  Land. 

Der  Selbstmord  ist  in  den  Städten  häufiger  als  auf  dem  Lande,  in 
den  grossen  Weltstädten  häufiger  als  in  kleinen  Städten.  Es  scheint 
indessen,  dass  nicht  so  sehr  die  wirthschaftliche,  als  vielmehr  die  sociale 
culturliche  Seite  des  Stadtlebens  diesen  Einfluss  nimmt. 

Der  Einfluss  des  speciellen  Berufes  lässt  sich  aus  Mangel  an  stati- 
stischem Material  nicht  feststellen.  Verhältnissmässig  am  häufigsten  ist 
der  Selbstmord  bei  Dienstboten  beiderlei  Geschlechtes  und  bei  Soldaten. 
Sehr  häufig  auch  bei  jenen  Personen,  welche  keinen  Beruf  haben  und  bei 
den  sogenannten  bedenklichen  Classen.  Die  Selbstmordfrequenz  der  libe- 
i-alen  Professionen  und  der  höher  gebildeten  Stände  übertriflit  die  durch- 
schnittliche Frequenz  des  ganzen  Volkes.  Landleute  und  Gewerbetreibende 
stehen  in  ihrer  Selbstmordfrequenz  fast  gleich. 

Beachtung  verdient  es,  dass  jene  Classen  die  meisten  Selbstmorde 
zählen,  welche  in  ihrer  persönlichen  Freiheit  am  stärksten  beschränkt  sind. 

13.  Auch  in  der  Wahl  der  Selbstmordarten  zeigt  sich  eine 
merkwürdige  Gleichförmigkeit.  Die  einzelnen  Arten  des  Selbstmordes 
kehren  jährlich  in  demselben  Verhältniss  wieder  und  verändern  ihre  Zifl^er 
in  längeren  Zeiträumen  nur  wenig.  Erhängen  und  Ertränken  sind  die 
häufigsten  Selbstmordmittel;  ersteres  findet  2— 3mal  so  oft  statt  als  letz- 
teres. Schusswafl^en  sind  seltener  üblich,  noch  weniger  stechende  und 
schneidende  Instrumente.  Aber  selbst  die  am  seltensten  gewählten  Mittel 
zeigen  grosse  Regelmässigkeit. 

14.  Die  nächste  Ursache  des  Selbstmordes  ist  immer  ein  Zustand 
des  Unglücks.  Kein  Glücklicher  ermordet  sich.  Aber  unendlich  mannig- 
faltig sind  die  Arten  menschlichen  Unglücks. 

Französische  und  belgische  Tabellen  haben  es  verstanden,  diese 
Arten  am  besten  zu  classificiren,  um  sie  als  nächste   Selbstmordursachen 


478  Der  Selbetmord. 

in  ihrer  verschiedenen  Mächtigkeit  hinzustellen.  Die  Unterscheidungen  sind 
fein  und  psychologisch  richtig  *). 

In  diesen  Zusammenstellungen  liegt  der  Anfang  zu  einer  Messung 
der  Factoren  des  menschlichen  Unglücks.  Die  Zahlen  sind  von 
wahrhaft  tragischer  Bedeutung.  Denn  während  die  Factoren  des  Glücks 
den  Augen  der  Forschung  sich  entziehen,  präsentiren  sich  in  diesen  Zahlen 
die  Dämonen  der  irdischen  Hölle,  eine  Reihe  schwarzgeflügelter  Unholde, 
welche  dem  von  ihnen  Verfolgten  den  Strick  um  den  Hals  legen  und 
sich  an  ihn  stemmen,  wenn  er  zögert,  den  Sprung  von  der  Brücke 
zu  thun. 

Das  hohe  moralische  Gewicht  dieser  Zahlen  liegt  darin,  dass  sie 
zeigen,  wie  sehr  der  Mensch  des  eigenen  Glückes  Schmied  ist.  Rechnet 
man  die  im  Wahnsinn  begangenen  Selbstmorde  ab,  so  sind  die  Mehrzahl 
der  übrigen  Selbstmörder  Opfer  selbstverschuldeten  Unglücks.  Sittliche 
WaflPen  hätten  ihnen  im  Kampfe  wider  das  Unglück  den  Sieg  verliehen. 

Sehr  klein  erscheint  die  Zahl  der  den  grossaiügsten  Leidenschaften 
werdenden  Opfer:  der  Selbstmörder  aus  Eifersucht,  Ehrgeiz,  unglücklicher 
Liebe;  noch  kleiner  die  Zahl  jener,  welche  der  Kummer  über  theure 
Angehörige  dahinreisst.  Geistige  und  körperliche  Krankheiten,  von  welchen 
die  ersteren  jedenfalls  zum  Theile  als  selbstverschuldete  angenommen 
werden  dürfen,  Aimuth  und  Elend,  häuslicher  Unfriede,  Laster  aller  Art 
erscheinen  als  die  thätigsten  unter  den  Dämonen  der  irdischen  Hölle. 

Um  mit  den  SelbstmordziflPern  rechnen  zu  können,  müssten  aller- 
dings die  Beobachtungen  noch  zahlreicher  und  namentlich  eine  genaue 
Untersuchung  der  Ursachen  möglich  sein.  Letztere  ist  indessen  schwierig. 
Namentlich  müssten  die  im  Wahnsinn  begangenen  Selbstmorde  aus  der 
Rechnung  gelassen  und  statt  ihrer  die  Wahnsinnsursachen  substituirt  werden. 
Und  selbst  dann  ist  in  diesen  Zahlen  nicht  zu  unterscheiden,  ob  die 
grössere  Intensität,  Häufigkeit  oder  Zähigkeit  des  Unglücks  den  Selbstmord 
herbeigeführt  hat. 

Die  Macht  oder  Intensität  des  Unglücks,  sein  momentaner  Grimm, 
ist  vorerst  unmessbar.  Eben  solche  Schwierigkeiten  hat  auch  eine  Messung 
der  Zähigkeit,  mit  welcher  das  Unglück  sich  an  die  Fersen  seines 
Opfers  heftet,  und  durch  unablässige  Wirksamkeit  reichlich  das  ersetzt, 
was  ihm  an  momentaner  Wucht  mangelt.  Nur  die  Häufigkeit  des 
Unglücks,  d.  h.  die  Zahl  der  von  einem  bestimmten  Unglück  heimge- 
suchten Menschen  ist  für  einzelne  Leiden  des  Daseins  festgestellt  (Krank- 
heit, Krüppelhaftigkeit,  Armuth,  Witwenthum  etc.). 

Wenn  trotz  der  Energie,  mit  welcher  in  unseren  Culturstaaten 
Recht  und  Polizei,  Wissenschaft  und  Wirthschaft  an  der  Einschränkung 
des  Unglücks  thätig  sind,  die  Selbstmorde  sich    noch    bedeutend  mehren, 


Der  Selbstmord. 


479 


so  ist  dies  ein  deutliches  Zeichen,  dass  die  Kraft  jener  sittlichen  Factoren, 
welche  im  Menschen  selbst  wider  das  Unglück  ankämpfen,  im  Abnehmen  ist. 
Intensität  und  Extensität  des  Unglücks  bewegen  sich  in  verkehrtem 
Verhältniss.  Die  Macht  des  Unglücks  gegenüber  dem  Menschenherzen  ist 
im  Zunnehmen;  es  scheint,  als  nähme  sie  um  so  energischer  zu,  je  mehr 
Mittel  und  Wege  die  Menschheit  hat,  um  der  Ausdehnung  des  Unglücks 
Schranken  zu  setzen.  Je  reicher  und  voller  die  Schätze  unserer  Wirth- 
schaft  auf  den  Weltmarkt  sich  drängen,  um  so  bitterer  wird  uns  die 
Armuth;  je  reicher  und  schöner  theures  Leben  um  uns  blüht,  um  so 
grauenhafter  schauen  die  leeren  Augen  des  Todes  uns  an.  Darin  liegt 
eine  grosse  und  tiefernste  Lehre.  Wie  das  Leben  des  Einzelnen  einen 
Sättigungspunkt  am  Glück  hat:  so  auch  das  Leben  der  Menschheit. 

Anmerkungen. 

*)  Vgl.  häuptsächlich:  A.  Wagner:  Die  Gesetzmässigkeit  in  den  schein- 
bar willkürlichen  Handlungen  des  Menschen. 

^)  Man  beobachte  z.  B.  die  absolute  Selbstmordzahl  in  Oesterreich  in 
den  14  Jahren  von  1865—1878.  Sie  betrug  in  den  einzelnen  Jahren:  1464, 
1265,  1407,  1556,  1375,  1510,  1560,  1677,  1863,  2151,  2217,  2438,  2648,  2578. 
Charakteristisch  dabei  ist  die  plötzliche  Steigening,  welche  durch  den  grossen 
Krach  y.  J.  1873  herbeigeführt  wurde  (Movim.  dello  stato  civile,  1862—78,  p.  322). 

')  So  zeigt  sich  z.  B.  eine  durchschnittliche  jährliche  Selbstmordzahl: 


in  den  Jahren 

Frankreich 

Belgien 

England 

Dänemark 

Norwegen 

1836-40 
1856-60 

2574 
4002 

183 
220 

967 
1305 

272 
426 

133 
145 

Und  zwar  zeigt  sich  diese  Zunahme  nicht  nur  in  den  Städten,  sondern 
auch  auf  dem  platten  Lande.  Sie  steigert  sich  namentlich  in  den  letzten  Jahren. 
Nach  Movimento  dello  stato  civile,  anni  1862 — 78,  pag.  CCCXIX  betrug  die 
Zahl  der  Selbstmorde  auf  je  1  Mill.  Einwohner: 


im 

im 

im 

im 

"= 

1  n 

Zeitraum 

ersten 
Jahre 

letzten 
Jahre 

1  n 

Zeitraum 

ersten 
Jahre 

letzten 
Jahre 

Italien  .   .   . 

1865-78 

29 

41 

Bayern     .    . 

1868-77 

91 

127 

England  .   . 

T) 

66 

71 

Sachsen    .    . 

1865-78 

262 

389 

Schottland   . 

1865-75 

42 

36 

Thüringen    . 

1868  -78 

353 

342 

Irland  .    .    . 

1865-78 

14 

17 

Baden  .    .    . 

1866-78 

132 

206 

Oesterreich 

rt 

74 

118 

Schweden    . 

1865-78 

80 

91 

Belgien     .    . 

1870-78 

66 

89 

Norwegen    . 

1855-75 

85 

78 

Preussen  .    . 

1865-77 

121 

174 

Finnland  .    . 

1869-77 

38 

35 

480 


Der  Selbstmord. 


£iue  gauz  bemerkeuswerthe  Ausnahme  you  dieser  Regel  bilden  die 
scandiuavisehen  Völker. 

*)  Gruppirt  mau  die  Läuder  nach  der  Häufigkeit  der  Selbstmorde,  so 
stellen  sie  sich  in  folgender  Reihe  dar.  Auf  1  Mill.  Eiuw.  treffen  Selbstmorde: 


i  n 

im  Durch- 

s  chuitt  der 

Jahre 

Selbst- 
morde 
auf  1 

Mill. 

i  n 

im  Durch- 
schnitt der 
Jahre 

Selbst- 
morde 
auf  1 

Mill. 

Sachsen  .... 

1865-78 

300,7 

Norwegen     .    . 

1865-75 

74,fi 

Thüringen  .   .    . 

1868-78 

269,8 

Belgien     .    .    . 

1870-78 

74,1 

Schweiz  .... 

1876-78 

213,0 

England    .    .   . 

1865-78 

67,5 

Württemberg    . 

1873-76 

168,0 

Schottland    .    . 

1865-75 

36,9 

Baden      .... 

1866-78 

157,8 

Italien       ... 

1865-78 

32,8 

Frankreich     .    . 

1872-75 

149,9 

Croatieii-Slavo- 

Preussen     .   .    . 

1865—77 

142,0 

nien   .... 

1874-78 

32,4 

Bayern    .... 

1868-77 

94,2 

Finnland   .    .   . 

1869—77 

31,2 

Oesterr.  (diess.)  . 

1865-78 

88,1 

Irland    .... 

i865-78 

16,7 

Schweden  .    .    . 

.1865-78 

85,9 

Spanien     ... 

1859—62 

14,4 

(Die  Ziffern  für  Frankreich  sind  nach  dem  Aunuaire  stat.  de  la  France 
1878,  pag.  94  berechnet;  für  Spanien  nach  dem  Anuario  estadistico  1862 — 65, 
pag.  166;  für  die  übrigen  Läuder  nach  dem  Movimeuto  dello  st.  civ.  1862 — 78.) 

*)  Nach  A.  Wagner''s  hierüber  mitgetheilter  Tabelle  gruppirten  sich  in 
Frankreich  bei  einer  Gesammtzahl  von  24462  Selbstmorden  die  einzelnen 
Motive  folgendermassen . 

Motive:  Zahl  der  Fälle: 

1.  Unbekannt 2139 

2.  Lebensüberdruss  schlechtweg 951 

3.  Geisteskrankheit    (Wahnsinn,  Melancholie,  Blödsinn  etc.) 7421 

4.  Mit  Geistesstörung  verbundene  Leidenschaft  (religiöse  und  politische 
Exaltation) ' 24 

5.  Körperliche  Leiden 2651 

6.  Leidenschaften  (Zorn  13,  unglückl.  Liebe  601,  Eifersucht  131)     ...    745 

7.  Laster  (Betrunkenheit  419,  Trunksucht  1427,  liederliches  Leben  821, 
Spielsucht  und  Verlust  38,  Tagdieberei  27) 2732 

8.  Kummer  und  Betrübniss  über  Andere  (Verlust  v.  Angehörigen,  Heim- 
weh etc.) 331 

9.  Zwist  mit  der  Familie  (u.  mit  Vorgesetzten) 2600 

10.  Kummer  über  Vermögens  Verhältnisse  (Elend  u.  Furcht  vor  demselben, 
Zerrüttung  u.  Verlust  des  Vermögens,  Arbeitsmangel,  Processverlust, 
getäuschte  Hoffnungen) .  2764 

11.  Unzufriedenheit  mit  der  Lage  (mit  der  socialen  Stellung,  namentlich 

mit  dem  Militärdienst  etc.) 253 

12.  Reue  und  Scham  (Gewissensbisse,  Furcht  vor  Schande)  .......    158 

13.  Furcht  vor  Strafe 1528 

14.  Selbstmord  nach  Mord  und  dergl.  ^ 165 


Krankheiten  in  Folge  Ton  Lastern.  481 

§.  231.  Fortsetzung.  Krankheiten  in  Folge  von  Lastern. 

Gewisse  Laster  finden  ihren  statistischen  Ausdruck  in  einem  schlei- 
chenden Selbstmord,  in  Krankheiten,  welche  als  Folgen  unsittlicher  Hand- 
lungsweise auftreten. 

I.  Der  Branntweingenuss  erscheint  nicht  nur  als  Ursache,  sondern 
auch  als  Symptom  und  Folge  sittlicher  Verkommenheit.  Er  wirkt  völker- 
verderbend und  mit  ihm  führen  die  anderen  verdorbenen  Sitten  der  Ge- 
sellschaft eine  Verweichlichung,  ja  sogar  Vergiftung  des  gesellschaftlichen 
Körpers  herbei.  Der  Branntwein  verbrauch  steigt  sehr  regelmässig  von  Jahr 
zu  Jahr;  Nothstände,  entfesselte  politische  und  sociale  Leidenschaft  stei- 
gern ihn,  wie  Engel  für  Sachsen  ziffermässig  erweist. 

In  den  preussischen  Provinzen  hat  man  einen  innigen  Zusammen- 
hang der  ßranntweinconsumtion  und  der  unehelichen  Geburten  beobachtet. 
Brandenburg  und  Pommern  zeigten  sich  in  beiden  Beziehungen  höchst 
excessiv,  Westfalen  und  Rheinprovinz  sehr  massig. 

Die  Branntweinconsumtion  ist  jedoch  nur  eines  von  den  Merkmalen 
des  Hanges  zum  Trünke.  Ein  zweites  ist  die  Zahl  der  wegen  Trunkenheit 
aufgegriffenen  Personen,  namentlich  auch  die  verschiedene  Betheiligung 
beider  Geschlechter.  Der  angelsächsische  Volksstamm  steht  in  dieser  Hin- 
sicht *  auffallend  tief.  So  wurden  in  New- York  im  Jahre  1868  in  das 
dortige  Asyl  für  Trunkenbolde  2153  Personen  aus  den  bemittelteren 
Ständen  aufgenommen,  darunter  nicht  weniger  als  1300  Töchter  aus 
„reichen  Häusern"!  (Oettingeti.)  In  ganz  England  kamen  auf  100  Säufer 
29  Säuferinnen  (Neison  und  Oesterlen),  zu  Livei-pool  im  Jahre  1858  sogar 
4349  polizeilich  eingezogene  Säuferinnen  auf  5480  Säufer!     , 

Die  Verderben  bringende  Wirkung  dieses  Lasters  ziffermässig  dar- 
zustellen wurde  schon  öfter  versucht.  Engel  und  Franz  sind  der  Ansicht, 
dass  die  Abnahme  der  Lebensdauer  der  preussischen  Bevölkerung  in  den 
letzten  Jahrzehnten  im  Zusammenhange  stehe  mit  der  Zunahme  des  Alko- 
holgenusses. Nach  älteren  Berechnungen  ist  in  England  die  Sterblichkeit 
bei  Trinkern  von  21 — 50  Jahren  4 — 5mal,  von  50 — 60  Jahren  dreimal 
und  bei  Gewohnheitssäufern  von  mehr  als  60  Jahren  doppelt  so  gross  als 
bei  der  Gesammtbevölkerung  *). 

n.  Ein  anderes  gleichfalls  auf  sittlicher  Entartung  beruhendes  Siech- 
thum  ist  die  Syphilis,  deren  Extensität  und  Intensität  im  allgemeinen 
immer  dem  Grade  socialer  und  sittlicher  Nothstände  parallel  laufen.  Zeiten 
gesellschaftlicher  Erregung,  wo  geschlechtliche  Ausschweifung  sich  steigert, 
spiegeln  sich  in  der  Verbreitung  der  syphilitischen  Erkrankung.  So 
namentlich  im  Zeitraum  von  1845 — 54  die  Jahre  1848  und  49.  Tragisch 
ist  die  stetige  Zunahme  der  Syphilis  als  Todesursache,  sowie  ihre  Ver- 
breitung unter  den  Neugeborenen,  ihre  Erblichkeit.  In  England  und  Wales 

Haushofe r,  Statistik.  2.  Aufl.  3 \ 


482  Der  Mord. 

z.  B.  fanden  ßich  jährlich  unter  100000  Todesfällen    folgende  Zahlen  an 
Syphilis  Verstorbener  *) :  / 

1849—51 146 

1858 223 

1859    . 247 

III.  Mit  Recht  führen  neuere  Moralstatistiker  den  Wahnsinn 
gleichfalls  als  eine  Erscheinung  auf,  der  vielfach  eine  gewisse  sittliche 
Verschuldung  wenn  nicht  des  Einzelnen,  so  jedenfalls  der  ganzen  Ge- 
sellschaft zu  Grunde  liegt.  Namentlich  erscheint  der  so  moderne  Grössen- 
wahn  als  eine  Frucht  ziellosen  und  überreizten  Ehrgeizes. 

Anmerkungen. 
*)  Oesterlen:  Med.  Statistik.  S.  721. 
*)  Ebenda,  673. 

§.  232.  Der  Mord. 

Während  das  eigene  Dasein  ein  sittliches  Gut  ist,  auf  welches  zu 
verzichten  Niemand  gehindert  werden  kann  und  dessen  freiwillige  Preis- 
gebung von  der  gegenwärtigen  humanen  Weltanschauung  mehr  bemitleidet 
als  getadelt  wird,  ist  das  Leben  unseres  Mitmenschen,  der  um  seines 
eigenen  und  um  des  Glückes  seiner  Familie  und  seines  Volkes  willen 
lebt  und  arbeitet,  als  das  empfindlichste  und  ehrwürdigste  sittliche  Gut 
besonders  deshalb  angesehen,  weil  ein  Ersatz  oder  eine  Vergütung  bei 
Beschädigungen  dieses  Gutes  unmöglich  ist. 

Bezeichnet  wird  die  Achtung  und  Sicherheit  fremden  Lebens  auf 
negativer  Seite  durch  die  statistische  Erscheinung  des  Mordes  in  seinen 
verschiedenen  Formen,  auf  positiver  Seite  durch  den  Abscheu  der  gesitteten 
Gesellschaft  vor  der  Verletzung  fremden  Lebens  und  durch  die  rächende 
That  ihrer  StraJQustiz. 

„Wie  der  Tod  selbst  nicht  blos  ein  Augenblick,  sondern  ein  Process 
ist,  der  leise  anhebt  und  mit  der  Verwesung  endet,  so  sind  auch  die 
sittlichen  Schäden,  die  den  Tod  inner  der  Menschheit  befördern,  schling- 
pflanzenartig verwachsen,  ein  unheimliches  Gewebe  von  selbstsüchtigen 
Trieben  und  Motiven,  die  zuchtlos  bethätigt,  den  Collectivmord  und  Selbst- 
mord in  der  menschlichen  Gesellschaft  befördern  und  beschleunigen" 
(Oettingen). 

Diese  mörderischen  Tendenzen  sind  verschiedener  Art;  bald  fallen  sie 
in  den  Bereich  des  Verbrechens,  bald  sind  sie  der  Strafjustiz  unerreich- 
bar. Diejenigen  aus  ihnen,  welche  der  statistischen  Beobachtung  zugäng- 
lich sind,  lassen  sich  etwa  folgendermassen  gruppiren: 

I.  Der  Kindermord  in  seinen  verschiedenen  gröberen  und  feineren 
Schattirungen. 


Dei  Mord.  488 

Hieher  gehört  zunächst  der  vom  Strafgesetze  als  solcher  bezeichnete 
Kindermord,  den  wir  in  ftirchtbarer  Progression  sich  mehren  sehen. 

So  kamen  in  Frankreich  unter  100  schweren  Verbrechen  Kinder- 
morde vor: 


1831-35  2,25 
1836-40  2,97 
1841—45    3,M 


1846-50  3,n 
1861—55  4,28 
1856—60    6,45 


Das  Verbrechen  der  Fruchtabtreibung  wächst  in  noch  rascherer 
Progression;  so  in  Frankreich  in  den  erwähnten  Zeiträumen  von  0,i9  auf 
0,28;  0,4*;  0,5»;  0,85;  0,97.  In  Nordamerika,  dessen  geistreiche  und  eman- 
cipirte  Frauen  nicht  mehr  Mütter  werden  wollen,  ist  dieses  Verbrechen 
nahezu  eine  Landescaiamität  geworden. 

Hieher  gehört  aber  auch  jene  Herzlosigkeit,  welche  langsam  und 
systematisch  durch  Vernachlässigung  die  Leben  der  Kinder  hinmordet. 
Dieser  feinere  Mord  findet  seinen  Ausdruck  in  der  Sterblichkeit  der 
ausserehelichen  Kinder  und  jener  Kinder,  welche  —  eheliche  oder  unehe- 
liche —  fremden  Händen  zur  Pflege  anvertraut  werden,  oft  nur,  um  sie 
flii-  immer  verschwinden  zu  lassen.  Schon  im  ersten  Lebensjahre  wird 
ihre  Zahl  fast  halbiit  durch  schlechte  Behandlung,  durch  den  Mangel  ah 
derjenigen  Liebe,  die  für  sie  so  wichtig  ist,  wie  der  Sonnenstrahl  fär  die 
Pflanze.  Auch  in  der  häufigeren  Todtgeburt  der  ausserehelichen  Kinder 
liegt  ein  verschleierter  Mord,  der  sich  mit  schrecklicher  Deutlichkeit  aus 
der  Geschlechtssünde  heraus  entwickelt. 

In  der  geradezu  riesenhaften  Sterblichkeit  der  Findelkinder  erscheint 
wieder  ein  anderer  Ausläufer  desselben  Mordsystems.  Dieses  System 
wächst  als  Drachensaat  aus  einem  verfluchten  Boden  und  trägt  noch 
andere  Früchte. 

IL  Das  eigentliche  Verbrechen  des  Mordes  ist  nur  eine  von  diesen 
Früchten.  In  Europa  (ohne  Türkei)  kommen  jährlich  über  10000  Mordthaten 
vor.  Der  grobe  Mord  tritt  freilich  etwas  zurück,  aber  nur  in  Folge  besserer 
Polizei,  geordneten  Verkehrs  und  glatterer  gesellschaftlicher  Formen;  der 
chronische  schleichende  Mord  dagegen  ist  im  Wachsen.  In  den  meisten  Län- 
dern, welche  überhaupt  Criminalstatistik  treiben,  zeigt  sich  diese  Zunahme. 
In  Frankreich  finden  sich  vor  den  Assisen  an  schwersten  Verbre- 
chen gegen  die  Person  jährlich  *) : 

1826-30  4866-69 

Todtschlag 229  119 

Mord 197  209 

Eltemmord 9  9 

Kindennord    .......  102  123 

Vergiftung 29  23 

31* 


484  I>er  Mord. 

In  England  sehen  wir  die  Angeklagten  wegen  Verbrechen  gegen 
die  Person  anwachsen  von  jährl.  1985  in  der  Zeit  von  1834 — 40  auf 
2292  in  der  Zeit  von  1867  —  70.  In  Oesterreich  erfolgten  1856  wegen 
Mord  343  Verurtheilungen,  dagegen  in  den  Jahren  1863 — 65  weit  mehr, 
nämlich  736 — 708 — 663  ^).  In  vielen  Ländern  sind,  wegen  Aenderungen 
der  Gesetzgebung,  ältere  und  neuere  Ziffern  nicht  leicht  vergleichbar. 

Die  mörderische  Gesinnung  ist  national  ungemein  verschieden.  Auf 
100000  Einwohner  treffen  Mordthaten»):  in  Italien  (1870)  10,7;  England 
(1867)  1,»;  Spanien  (1862)  8,2;  Belgien  (1865)  0,i;  Schweden  (1866)  2,o. 

IIL  Die  Todesstrafe  erscheint  als  eine  eigenthümliche  Reaction  des 
gesellschaftlichen  Gewissens  gegen  die  gesellschaftliche  Mordlust.  Sie  hat 
sich,  namentlich  bezüglich  ihres  Vollzuges  in  allen  Ländern  bedeutend 
^verringert.  In  Europa  sind  1859 — 62  von  etwa  560  alljährlichen  Todes- 
urtheilen  ungefähr  180  vollstreckt  worden,  in  Bayern  sogar  1862  von 
41  Todesurtheilen  nur  3*). 

IV.  Der  Krieg  in  seiner  Tod  bringenden  Gewalt  ist  nicht  blos 
„ein  noth wendiges  Symptom  des  unüberwundenen  Völkeregoismus,  sondera 
auch  eine  unumgängliche  Geissei  für  depravirte  Zeiten  und  faulwerdende 
Massen''  (Oettingen).  Trotz  dieser  Noth  wendigkeit  bleibt  er  doch  ein 
riesenhafter  Ausdruck  für  die  selbstsüchtige  mörderische  Gesinnung  der 
Menschheit.  Nicht  einzelne  gewaltige  Charaktere,  nicht  einzelne  Tyrannen 
tragen  die  Schuld  an  dem  vergossenen  Blute,  sondeni  der  Völkerhass, 
der  sich  zusammendrängt  und  gipfelt  und  jene  Millionen  Leben  verschlingt, 
welche  auf  Schlachtfeldern  oder  in  Spitälern  dahinstarben  oder  der  hohen 
Militärsterblichkeit  zum  Opfer  fielen  (vgl.  g.  97). 

V.  Als  ein  allerdings  in  seinen  Folgen  weniger  furchtbarer,  aber 
immerhin  bezeichnender  Ausdruck  mörderischer  Gesinnung  erscheinen  end- 
lich auch  alle  körperlichen  Beschädigungen  des  Mitmenschen.  Eine  be- 
sonders ziffermässige  Behandlung  gestatten  sie  da,  wo  zum  Zwecke  der 
Bestrafung  die  Dauer  der  verursachten  Arbeitsunfähigkeit  erhoben  wird. 
Da  man  z.  B.  in  Bayern  annimmt,  dass  jede  Körperverletzung  durch- 
schnittlich eine  achttägige  Arbeitsunfähigkeit  herbeifuhrt,  so  resultirt  daraus 
schon  ein  höchst  bedeutender  ökonomischer  Verlust,  abgesehen  von  der 
Einbusse  des  Verletzten  an  persönlichem  Wohlbefinden  und  von  den 
unberechenbaren  späteren  Folgen  solcher  Ausbrüche  der  Gemüthsrohheit 
und  Grausamkeit. 

Die  Untersuchung  aller  gegen  das  menschliche  Leben  gerichteten 
Angriffe  hat  ergeben,  dass  sie  im  Allgemeinen  bei  eintretender  Nahrungs- 
erleichterung zunehmen,  bei  der  Nahrungserschwerung  dagegen  sich  ver- 
mindern. Leidenschaft  und  übermüthige  Rohheit  treiben  demnach  leichter 
zu   Angriffen    gegen    das    Leben,    als  Noth  und  Elend.    Eine  Ausnahme 


Die  wirthsohaftllche  Existeni.  485 

hiervon  machen  blos  zwei  Arten  von  Verbrechen:  Kindermord  und  Kinder- 
abtreibung. Bei  ihnen  ist  der .  Einfluss  der  Nahrungserschwerung  un- 
verkennbar, 

Anraerkuiigeii: 

')')  Block:  Stat.  de  la  France  I,  147  ff. 

*)  E.  Morpurgo:  Die  Statistik  etc.  S.  496. 

*)  Oettingeu  a.  a.  0.  S.  894. 

§.  233.  Die  wirthschaftliche  Existenz. 

Erkennt  man  im  Kampfe  des  Menschen  um  sein  Dasein  überhaupt 
eine  nothwendige  Vorbedingung  alles  Strebens  nach  Vervollkommnung 
und  die  erste  sittliche  That,  so  erscheint  auch  das  ganze  wirthschaftliche 
Leben  im  Lichte  der  Sittlichkeit.  Aber  die  wirthschaftliche  That  ist  eine 
sittliche  nur  dann,  wenn  sie  als  Mittel  zu  sittlichen  Zwecken  dient.  Wenn 
das  Mittel  Selbstzweck  wird,  schadet  es  dem  höheren  Zwecke.  So  hoch 
ein  reges  wirthschaftliches  Leben  bei  einem  Volke  zu  schätzen  ist,  dessen 
geistig-sittliches  Leben  gleiche  Regsamkeit  zeigt:  so  wenig  darf  es  miss- 
verstanden werden.  Der  Industrialismus  entnervt  die  Bevölkerung  und 
hinter  der  hochgesteigerten  wirthschaftlichen  Thätigkeit  der  Gegenwart 
lauern  Elend  und  Brodlosigkeit,  geisttödtende  Fabriksarbeit,  Zersetzung  der 
Arbeiterbevölkerung,  namentlich  auch  in  ihrem  Familienleben,  und  bereiten 
so  den  Boden  für  das  Gauner-  und  Verbrecherthum. 

Demnach  hat  das  wirthschaftliche  Leben  der  Menschheit  seine 
positiv  und  seine  negativ  sittlichen  Seiten.  Und  dieses  Doppelgesicht  zeigt 
sich  bei  allen  einzelnen  wirthschaftlichen  Erscheinungen. 

So  wirkt  die  Arbeit  einerseits  bildend  und  anregend,  als  sittliches 
Element,  wo  sie  dergestalt  angeordnet  ist,  dass  ßie  die  Kräfte  des  Menschen 
ausbildet  und  ihm  Zeit  zur  sittlichen  Entwickelung  lässt  —  andererseits 
aber,  auch  feindlich  und  zerstörend,  wo  sie  den  unter  ihrem  Drucke 
keuchenden  Arbeiter  in  seiner  sittlichen  Entwickelung  hindert  (Frauen- 
und  Kinderarbeit  in  den  Fabriken),  in  physischem  und  wirthschaftlichem 
Elend  ihn  fesselt  und  die  Ideen  des  Communismus  auftauchen  lässt. 

So  ist  das  Capital  ohne  sittliche  Tendenz  und  Schranke  ein  Zer-. 
störer,  mit  ihr  eine  Grundlage  der  Volks  Wohlfahrt;  so  ist  der  Credit 
Mittel  und  Resultat  sowohl  sittlicher,  als  unsittlicher  Bestrebungen. 

Indessen  lassen  sich  doch  einige  wirthschaftliche  Erscheinungen 
unterscheiden,  welche  entschieden  positiv,  und  andere,  die  noch  ent- 
schiedener negativ  sittlich,  und  dabei  ziffermässig  darstellbar  sind. 

Solche  Erscheinungen  mit  sittlichem  Gehalt  sind: 

I.  Mit  positiv  sittlichem  Gehalt: 

1.  Das  Sparcassenwesen. 


486  I>ie  wirthschaftliche  Existenz. 

2.  Das  Associationswesen. 

3.  Die  Armenpflege.  Die  grossartigen  Leistungen  der  freiwilligen 
Armenpflege  werden  jedoch  immer  nur  zu  einem  kleinen  Theile  sich 
ziffermässig  fixiten  lassen. 

n.  Mit  negativ  sittlichem  Gehalt: 

1.  Bettel  undVagantenthum.  Arbeitslosigkeit,  Bettel  und  Land- 
streicherei ist  .der  Anfang  der  Gaunerlaufbahn,  die  Einleitung  zu  allen 
Freveln  gegen  fremdes  Eigenthum.  Es  existiren  ganze  Classen  von 
Menschen,  die  sogenannten  bedenklichen  Classen,  welche,  arbeitslos, 
bettelhaft  und  landstreichend,  eine  Art  üppig  fruchtbaren  Boden  bilden, 
in  welchem  das  Verbrechen  nach  allen  Seiten  hin  Wurzeln  treiben  kann. 

Die  ziffermässige  Feststellung  dieses  criminellen  Proletariates  ist 
leider  sehr  schwierig.  Nur  für  zwei  Staaten,  nämlich  für  Bayern  und 
England  existiren  zuverlässige,  langjährige  ofi^icielle  Beobachtungen. 

Man  hat  dabei  bemerkt,  dass  der  Getreidepreis  auf  die  Häufigkeit 
des  Bettlerthums  (Mendicität)  einen  ganz  entschiedenen  Einfluss  ausübt. 
Dieser  Einfluss  wird  aber  gekreuzt,  ja  überboten  durch  socialpolitische 
Factoren^). 

Dabei  zeigt  sich  das  Gesetz  der  Trägheit  auch  bei  den  socialen 
Massen  sehr  deutlich  darin,  dass  die  schwachen  Anfange  der  Preissteigerung 
noch  nicht  die  schlimmen  Zustände  der  Bevölkerung  verschlimmern, 
sondern  erst  die  anhaltende  und  starke.  Theuening.  Eben  so  erhält  sich, 
auch  wenn  die  Preise  wieder  sinken,  die  Landstreicherei  und  Arbeitsscheu 
nicht  blos  constant,  sondern  geht  sogar  noch  eine  Zeit  lang  in  die  Höhe. 

Von  Interesse  ist  auch  die  Untersuchung  über  die  Betheiligung  der 
beiden  Geschlechter  und  der  Kinder  am  Vagabundenthum.  Diese  Betheili- 
gung ist  im  Ganzen  sehr  regelmässig,    was  darauf  schliessen  lässt,    dass* 
die  häuslichen   und  Familienverhältnisse   einen   gleichbleibenden  und  tief- 
greifenden Einfluss  hier  ausüben. 

Bei  der  Weiberbetheiligung  ist  insbesondere  die  Zähigkeit  derselben 
von  Interesse,  analog  jener  der  weiblichen  Criminalität.  In  Theuerungs- 
jahren  ist  die  Kinderbetheiligung  eine  auffallend  grosse. 

In  England  zeigen  sich  im  Ganzen  dieselben  Erscheinungen. 

Unter  den  englischen  criminal  classes  fungiren  bekannte  Diebe, 
notorische  Hehler,  öffentliche  Dirnen,  verdächtige  Personen,  Vaganten 
und  Bettler  und  die  beobachtete  Jahresquote  jedes  Alters  und  Geschlechts 
bleibt  in  der  Gesammtsumme  dieselbe. 

Vergleicht  man  die  Bewegung  der  Mendicität  und  Criminalität,  so 
findet  man  eine  ziemliche  Uebereinstimmung  in  der  Abnahme  und  Zu- 
nahme beider.  (Mayr). 


Die  wirthschaftliche  Existenz.  487 

2.  Die  Angriffe  gegen  das  Eigenthum.  Sie  zerfallen  in  eine 
Reihe  einzelner  Verbrechen  und  Vergehen.  Unter  ihnen  steht,  was  Häufig- 
keit betrifft,  der  Diebstahl  obenan.  Noch  entschiedener  ist  der  ökonomische 
Nachtheil  bei  Eigenthumsbeschädigungen ,  insbesondere  Brandstiftungen, 
die  leider  erhebliche  Zunahme  zeigen. 

Die  Eigenthumsbeeinträchtigungen  durch  Betrug  unterscheiden  sich 
ökonomisch  wenig  vom  Diebstahl ;  da  aber  im  Betrug  ausser  einer  Eigen- 
thumsbeeinträchtigung  auch  noch  eine  Schädigung  der  Wahrheit  enthalten 
ist,  liegt  in  der  allgemeinen  Rechtsunsicherheit,  welche  durch  die  leider 
bedeutende  Steigerung  dieser  Handlungen,  insbesondere  durch  die  Zunahme 
des  Meineids  bewirkt  wird,  ein  Hauptnachtheil  der  Eigenthumsbeein- 
trächtigungen. 

Urkundenfälschung,  Münzfälschung,  Bestechung,  Beschädigung  öffent- 
lichen Eigenthums  stehen  zum  Theile  ökonomisch  gleich  den  Verletzungen 
von  Privateigenthum,  der  Ziffer  nach  bedeutend  im  Hintergrunde. 

Die  Ab-  und  Zunahme  der  Angriffe  gegen  die  Person  und  jene  der  An- 
griffe gegen  das  Eigenthum  bewegen  sich  constant  in  entgegengesetzter  Rich- 
tung. Denn  wie  die  Angriffe  gegen  Personen  bei  Nahrungserleichterung 
sich  mehren,  so  vermindern  sich  in  diesem  Falle  die  Eigenthumsbeein- 
trächtigungen. Wie  namentlich  wirthschaftliche  Zustände  und  im  Zusammen- 
hange mit  ihnen  die  Jahreszeiten  insbesondere  die  Bewegung  der  Dieb- 
stähle beeinflussen,  ward  schon  früher  erwähnt;  bei  anderen  weniger 
häufigen  Eigenthumsangriffen,  z.  B.  Brandstiftung,  Fälschung  zeigen  sich 
diese  Einflüsse  nicht  in  gleicher  Weise.  Der  Hausdiebstahl  macht  gleich- 
falls eine  Ausnahme;  er  hält  sich  frei  vom  Einflüsse  der  Jahreszeit,  wohl 
weil  er  mehr. durch  augenblickliche  Gelegenheit  als  durch  wirkliche  Noth 
veranlasst  wird. 

3.  Die  Bankrotte,  Hinter  der  Zahl  derselben  stecken  zweifellos 
nicht  blos  wirthschaftliche,  sondern  auch  gewisse  moralische  Ursachen: 
Leichtsinn,  Unvorsichtigkeit,  in  schlimmeren  Fällen  Gewissenlosigkeit.  Es 
ist  indessen  nicht  leicht  möglich,  den  Einfluss  der  wirthschaftlichen  und 
jenen  der  moralischen  Ursachen  zu  isoliren. 

4.  Unsittliche  Verschwendung.  Hieher  gehört  insbesondere 
die  Spielsucht,  welche  wenigstens  in  den  Ländern,  wo  öffentliche  Glücks- 
spiele geduldet  oder  gar  vom  Staate  betrieben  werden,  quantitativ  fass- 
bar   ist. 

Aumerkuug. 
^)  So  sieht  man,  dass  in  der  revolutionären  Periode  um  1848  herum  die 
Mendicität  überall  steigt.  In  Bayern  kamen  yon  1841—46  durchschnittlich 
jährlich  1638  aufgegriffene  Bettler  und  Vaganten  auf  je  100000  Einwohner- 
in  den  darauffolgenden  5  Jahren,  welche  sich  um  das  Jahr  1848  gruppiren, 
schon   1706,   obgleich   der  Getreidepreis  sehr  gesunken  war.    Mit  zunehmender 


488  Das  Famlllenglück. 

Theueruiig  steigt  später  die  Meudicitat  ganz  ausnehmend  stark,  offenbar  unter 
dem  doppelten  Einflüsse  der  Theuerung  und  der  socialen  Zuchtlosigkeit  und 
sinkt  erst  wieder  von  1855/56  ab  mit  den  bedeutend  sinkenden  Getreidepreisen. 

§.  234.    Die  öffentlichen  Vergehen  und  Verbrechen. 

Auch  der  Staat  als  solcher,  in  seiner  Ordnung  und  seinem  Bestände 
ist  von  höchster  sittlicher  Bedeutung.  In  ihm  und  durch  ihn  lebt  und 
arbeitet  das,  was  wir  Civilisation  nennen;  in  ihm  geht  mit  der  höheren 
göttlichen  Idee  des  Rechts  Hand  in  Hand  die  reale  Gewalt,  der  eventuelle 
Zwang  zum  Recht.  Abhängig  von  den  physischen  und  wirthschaftlichen 
Zuständen,  vom  Charakter,  der  Bildungsstufe  und  den  Schicksalen  des 
Volkes  verläuft  im  Staate  die  Bildungsgeschichte  des  Rechts.  Mehr  und 
mehr  umgibt  der  Staat  die  Person  und  das  Elgenthum,  die  Freiheit  und 
die  Aufklärung   mit  den    schützenden  Wällen  seiner  Ordnung. 

So  erscheinen  denn  auch  alle  jene  Handlungen,  die  geeignet  sind, 
das  staatliche  Leben  zu  fördern,  als  sittliche,  als  patriotische  Tugen- 
den und  jedes  Rütteln  an  den  richtig  und  harmonisch  ausgebildeten  Ge- 
staltungen der  staatlichen  Ordnung  als  unsittlich  und  rechtswidrig. 

Wenn  auch  die  patriotischen  Tugenden  einer  Bevölkerung  keine 
statistische  Untersuchung  zulassen,  so  ist  eine  solche  doch  möglich  bei 
den  Angriffen  gegen  die  staatliche  Ordnung.  Jede  Rechtsverletzung  ist 
zwar*  ein  Angriff  gegen  den  Staat,  aber  es  gibt  einzelne  Rechtsverletzungen, 
deren   unmittelbares  Object  der  Bestand  und   die  Hoheit  des  Staates  ist. 

Diese  Verbrechen  und  Vergehen,  welche  direct  gegen  die  Staats- 
gewalt gerichtet  sind,  enthalten  indessen  auch  eine  indirecte,  unter  Um- 
ständen sehr  weit  gehende  Bedrohu'ng  der  Person  und  des  Eigenthums. 
Ihr  Maximum  fällt  erklärlicher  Weise  in  die  Jahre  politischer  Aufregung. 

§.  235.  Das  Familienglück. 

In  der  Gleichzahl  der  Geschlechter  weist  schon  die  Natur  den 
Mjenschen  an  die  Monogamie  und  die  Familie.  Wenn  man  die  Familie 
als  die  natürliche  Grundlage  der  civilisirten  Gesellschaft  erkennt,  sind 
auch  die  Heiratsfrequenz,  der  Procentbetrag  der  Verheirateten  und  die 
eheliche  iFruchtbarkeit  Massenerscheinungen  von  entschieden  sittlichem 
Werthe.  Sie  geben  Aufschluss  zwar  nicht  unmittelbar  über  die  Quantität 
des  Familienglücks  in  einer  Bevölkerung,  aber  wenigstens  mittelbar.  Denn 
der  Familienbestand  ist  die  nothwendige  Vorbedingung  des  Familienglückes 
und  wo  dieser  Bestand  in  reicherem  Maasse  gesichert  ist,  muss  unter  sonst 
gleichen  Umständen  auch  die  Summe  des  auf  ihm  ruhenden  Glückes  eine 
grössere  sein. 


Pas  Familienglaclc.  489 

Zur  Ergänzung  dieser  Erscheinungen  dienen  der  Sittenstatistik  aber 
auch  einige,  speciell  hinsichtlich  des  Familienlebens  negativ  sittliche.  Als 
entschiedenste  Negation  des  Familienlebens  zeigt  sich  die  Frequenz  der 
unehelichen  Geburten.  Wichtig  sind  aber  auch  die  Angaben  über  die 
durch  Zwietracht  gestörten  oder  völlig  zerrütteten  Familien.  Allerdings 
entzieht  sich  das  Familienglück  gerne  der  statistischen  Beobachtung,  aus- 
genommen da,  wo  Familienzwistigkeiten  vor  Gemeinde-,  Justiz-  oder  Polizei- 
behörden zum  Austrage  kommen.  Eine  höchst  charakteristische  Erscheinung 
auf  diesem  Gebiete  sind  aber  für  die  Statistik  die  Ehescheidungen. 

Das  Familienleben,  die  Erziehung  der  Jugend,  die  gute  Sitte  und 
die  öffentliche  Meinung  fordern  oder  unterstützen  wenigstens  die  ünauf- 
löslichkeit  der  Ehe,  so  dass  die  Ehescheidung  als  ein  den  Bestand  der 
Gesellschaft  untergrabender  Frevel  erscheint. 

Diese  Unlauterkeit  der  Ehescheidungen  tritt  schon  hervor,  wenn  man 
den  eigenthüm liehen  Zusammenhang  der  Ehescheidungsfrequenz  mit  der 
Frequenz  der  unehelichen  Geburten  betrachtet ').  Je  leichtfertiger  die 
Gesellschaft  über  die  Ehe  urtheilt,  um  so  trüber  müssen  alle  geschlecht- 
lichen Gemeinschaften  werden.  Die  Statistik  der  Ehescheidungen  und  der 
Trauung  Geschiedener  mit  anderen  zeigt,  dass  vielfach  das  Gelüste  nach 
Abwechslung  die  stehenden  Ehen  zerstört. 

Die  Regelmässigkeit  in  den  Ehescheidungsziffern  zu  beobachten,  ist 
nicht  leicht;  einestheils  ist  die  Erscheinung  an  sich  sehr  selten,  anderen- 
theils  die  Daten  mangelhaft.  Trotzdem  ist  die  Kegel mässigkeit  dieser 
Erscheinung  eine  auffallende,  selbst  wenn  man  nur  kurze  Zeiträume 
beobachtet  *). 

Merkwürdig  constant  ist  auch  die  Zahl  der  geschieden  lebenden 
Personen. 

Man  hat  sogar  beobachtet,  dass  die  Zahl  der  geschieden  Lebenden 
regelmässiger  ist  als  die  der  Verwitweten,  obgleich  die  erstere  Erscheinung 
ganz  vom  freien  Willen  des  Menschen  abhängt  ^). 

Der  Einfluss  von  Stadt  und  Land  auf  die  Ehescheidungsfrequenz 
zeigt  sich  sehr  deutlich  in  der  Thatsache,  dass  die  geschieden  Lebenden 
in  den  Städten  relativ  doppelt  so  zahlreich  sind  als  auf  dem  Lande.  So 
kamen  z.  B.  in  Sachsen  auf  je  10000  Einwohner  in  den  Städten  36  ge- 
schieden Lebende,  auf  dem  Lande  nur  19. 

Nothjahre  haben  sich  als  entschieden  ungünstig  hinsichtlich  der  Ehe- 
scheidungen erwiesen.  Es  ist  auch  leicht  einzusehen,  dass  sie  schon  zer- 
rüttete Verhältnisse  vollständig  sprengen. 

Bei  der  Beobachtung  der  individuellen  Ehescheidungsmotive  hat  sich 
gezeigt,  dass  das  weibliche  Geschlecht  am  häufigsten  zu  Ehescheidungs- 
klagen veranlasst  ist. 


490 


Das  Familieoglack. 


Leider  stehen  in  Bezag  auf  die  Heilighaltung  der  Ehe  gerade  die 
gebildeten  Classen  besonders  tief. 

Dass  sich  die  geschiedenen  Frauen  viel  leichter  wieder  verheiraten, 
als  die  geschiedenen  Männer,  ist  gleichfalls  nachgewiesen  worden  und 
beweist,  dass  meist  eine  aussereheliche  Leidenschaft  das  Motiv  der  Schei- 
dung gewesen  sein  muss. 

-  Die  öffentliche  Meinung  beurtheilt  zwar  die  gerichtlich  geschiedenen 
Eheleute  nie  sehr  günstig,  doch  ist  in  ihrem  ürtheil  allezeit  mehr  Spott, 
als  sittlicher  Ernst  und  ehrlicher  Tadel,  so  dass  man  auch  die  Scheidung 
als  sociales  sittliches  Uebel  weniger  dem  Einzelnen  zur  Last  legen  darf, 
als  der  ganzen  Gesellschaft  in  ihrer  leichtfertigen  Gesinnung*). 

Anmerkungen. 

^)  So  findet  man  unter  Anderem  in  den  preussischen  Provinzen  1860—64 
(Oettingen  a.  a.  0.  S.  448): 


Provinz 

Ehescheidungen 

Auf  1  uneheliches 

Kind  treffen 

eheliche 

Brandenburg 

Schlesien 

Pommern 

Sachsen      

Posen      ; 

1721 

1104 

755 

754 

371 

41 

4 

7,81 
7,91 
9,23 
9,25 

U,ii 
25,01 

25,48 

Westfalen      

Rheinland 

*)  So  ergaben  sich  z.  B.  in  Belgien  (a.  a.  0.  S.  423): 


1860 
1861 
1862 
1863 
1864 


55  Ehescheidungen  bei  35112  Trauungen 

56  „       „  33802    „ 

57  „       „  34146 

65  „       ^  35813 

66  „       „  36959 


•)  So  befanden  sich  in  Sachsen  unter  10000  Einwohnern  (ebenda  S.  425): 


Verwitwete 

Gesch 

iedene 

im  Jahre 

Männer 

Frauen 

Männer 

Frauen 

1834 

163 

402 

9 

15 

.  1837 

159 

367 

9 

15 

1840 

159 

407 

9 

15 

1843 

159 

397 

9 

15 

1846 

162 

407 

9 

16 

1849 

165 

4H 

9 

17 

*)  A.  V.  Oettingen  a.  a.  0.  S.  416  S. 


Oeschldchtliche  Sittlichkeit.  491 

§.  236.  Geschlechtliche  Sittlichkeit. 

Im  innigsten  Zusammenhange  zunächst  mit  dem  Familienglücke, 
dann  aber  auch  mit  der  geistigen  und  physischen  Gesundheit,  mit  der 
gesellschaftlichen  Ehre  und  dem  wirthschäftlichen  Glücke  steht  die  ge- 
schlechtliche Sittlichkeit.  Ihren  positiven  Ausdruck  findet  die  Statistik 
der  geschlechtlichen  Sitte  in  der  Familienstatistik.  Von  negativ  sittlichen 
Erscheinungen  in  dieser  Richtung  sind  hauptsächlich  folgende  zu  be- 
zeichnen. Leider  weisen  sie  auf  einen  stetigen  Verfall  der  geschlechtlichen 
Sittlichkeit  hin. 

i.  Die  Unzuchtverbrechen.  Die  allgemeine  Entsittlichung  findet 
einen  scheusslichen  rohesten  Ausdruck  namentlich  in  den  constanten 
Unzuchtverbrechen.  Diese  Verbrechen  haben  leider  in  allen  Staaten 
Europa's  stark  zugenommen  *). 

Günstige  äussere  Verhältnisse,  günstiges  Klima,  die  bessere  Jahres- 
zeit, Wohlstand  und  Prosperität  wirken  auf  die  Unzuchtverbrechen  ver- 
schlimmernd. Leider  hat  die  Statistik  auch  beobachtet, .  dass  die  schlimmste 
Sorte  dieser  Verbrechen,  die  Nothzucht  an  Kindern,  ihre  Urheber  er- 
schreckend häufig  unter  den  Gebildeten ,  den  sogenannten  liberalen  Pro- 
fessionen findet. 

II.  Die  Prostitution.  Es  ist  noch  die  Frage,  was  überhaupt  auf 
diesem  Gebiete  sich  feststellen  lässt.  Da  gerade  die  geschlechtliche  Sünde 
so  sehr  die  Verborgenheit  liebt  und  Winkelprostitution,  Maitressenwirth- 
schaft  und  Concubinat  sich  der  polizeilichen  Controle  entziehen,  bleibt 
nur  ein  Theil  jener  Zahlen  übrig,  welche  der  geschlechtlichen  Unsittlich- 
keit  angehören.  Man  kann  nur  schwer  aus  diesen  Zahlen  einige  sichere 
Schlüsse  ziehen. 

Bei  der  moralstatistischen  Beobachtung  der  Unzucht  tritt  vor  Allem 
zweierlei  zu  Tage:  die  furchtbare  Zähigkeit  des  Lasters  und  seine  überall 
zunehmende  Ausdehnung. 

Es  beträgt  u.  A.  die  Zahl  der  Bordelle  in  London  (1858)  über  4500, 
die  Zahl  der  öffentlichen  Mädchen  im  Ganzen  gegen  70000.  In  Liverpool 
zählt  man  770  Bordelle,  in  Edinburg  203,  in  New- York  618,  in  Hamburg 
124,  in  Paris  204  (etwa  35000  prostituirte  Mädchen «). 

Man  muss  sich  indess  hüten,  solche  Zahlen  vergleichen  und  aus 
ihnen  Schlüsse  auf  die  Moralität  der  verschiedenen  Städte  oder  Länder 
ziehen  zu  wollen.  Die  Verschiedenheit  der  polizeilichen  Controle  macht 
diese  Verhältnisse'  unvergleichbar  *). 

Von  wirklich  statistischem  Interesse  ist  es  dagegen,  an  einzelnen 
Orten,  von  welchen  solide  Daten  vorliegen,  die  regelmässige  und  periodische 
Bewegung  zu  beobachten. 


492  Gesclilechtliche  Sittlichkeit. 

Die  Prostitution  ist  fast  überall  im  Zunehmen,  weit  mehr  als  die 
Bevölkerung.  Die  Zunahme  des  Selbstmordes  bildet  ein  düsteres  Gegen- 
stück dazu. 

So  stieg  u.  A.  die  Zahl  der  Prostituirten  in  Berlin  *)  von  1858 — 63 
um  66^,  die  Bevölkerung  nur  lim  20  Jl^,  während  die  Prostitution  in 
London  und  Paris  dem  gegenüber  fast  stationär  erscheint. 

Aus  den  Beobachtungen,  welche  man  in  Paris  in  längeren  Zeiträumen 
angestellt  hat,  ergibt  sich,  dass  allgemeinere  Factoren  auf  diese  Seite  des 
sittlichen  Lebens  dauernden  Einfluss  nehmen  und  dass  wir  es  auch  hier 
mit  einer  Collectivschuld  der  Gesellschaft  zu  thun  haben,  welche  dem 
einzelnen  Opfer  derselben  nicht  so  sehr  zur  Last  gelegt  werden  darf,  als 
eben  der  Gesellschaft. 

Wie  sehr  die  in  den  Städten  sich  verbreitende  Unsittlichkeit  das 
ganze  Land  in  Mitleidenschaft  zieht  ergibt  sich  aus  der  Untersuchung 
darüber,  woher  die  Opfer  der  Prostitution  kommen. 

Unter  den  Einflüssen  auf  die  Prostitutionsfrequenz  scheint  das  Elend 
obenan  zu  stehen.  So  fand  Parent-Duchatelet,  dass  unter  3084  Mädchen, 
deren  Beruf  er  erforschte,  nur  3  etwas  bemittelte  waren.  Die  Betheiligung 
der  ungebildeten  und  namentlich  der  schlecht  gebildeten  ist  weit  grösser 
als  die  der  gebildeten.  Familien  Zerrüttung,  das  Elend  der  Arbeiterwoh- 
nungen, die  unsittliche  Atmosphäre,  in  welcher  Tausende  von  Kindern 
aufwachsen  und  täglich  Schmachvolles  hören  und  sehen:  das  sind  die 
Motive  und  darin  liegt  die  Collectivschuld  der  Gesellschaft. 

UL  Die  i^nehelichen  Geburten. 

Unbestreitbar  ist  die  Häufigkeit  au&serehelicher  Geburten  von  ernster 
Bedeutung  für  das  sittliche  Leben  der  Bevölkerungen.  Doch  ist  diese  Er- 
scheinung schwer  zu  beurtheilen  wegen  der  verschiedenen  auf  sie  einwir- 
kenden Gründe. 

Diese  Schwierigkeit  zeigt  sich  am  deutlichsten  in  der  verschiedenen 
Werthbestimmung«  der  unehelichen  Geburten  durch  die  einzelnen  Sta- 
tistiker. 

So  betrachtet  Hausner  die  unehelichen  Geburten  als  einen  werth- 
vollen  Sittlichkeitsmassstab  und  stellt  ausdrücklich  in  Abrede,  dass  ein 
Land,  welches  gegen  zwanzigmal  mehr  Mädchen  zählt,  die  einen  offen- 
kundigen Beweis  der  Uebertretung  der  Keuschheit  darlegen,  als  ein 
anderes,  diesem  letzteren  an  Ehrbarkeit  und  Sittenreinheit  der  Frauen 
gleichkommen  könne.  Er  bestreitet  auch,  dass  die  unehelichen  Geburten 
vom  Niederlassungsgesetz ,  Heiratsconsens  und  anderen  administrativen . 
Einrichtungen  abhängig  seien. 

Umgekehrt  meint  Engel:  Die  unehelichen  Geburten  repräsentiren 
nicht  den  tausendsten  Theil  der  factischen  Unzucht^  sondern  nur  die  da- 


Geschlechtliche  Sittlichkeit. 


493 


bei  stattgehabte  grössere  Unvorsichtigkeit  und  Leidenschaftlichkeit  und 
—  grössere  Unschuld,  wäre  man  fast  versucht,  hinzuzufügen:  ....  denn 
die  Lüderlichkeit,  die  sich  anderwärts  und  im  Schoosse  der  Ehen  bei  Treu- 
losigkeit der  Männer  und  Frauen  verbirgt,  wird  wohl  nie  zur  Ziffer  zu 
bringen  sein,  obschon  die  Existenz  jener  Lüderlichkeit  in  einzelnen  Theilen 
des  Landes,  als  eine  Schattenseite  der  gesteigerten  Civilisation,  ein  öffent- 
liches Geheimniss  ist. 

So  viel  nun  auch  diese  zweite  Ansicht  für  sich  hat,  so  ist  doch 
gewiss,  dass  an  die  uneheliche  Geburt  viel  Elend  sich  hängt.  Die  Statistik 
hat  längst  gefunden,  dass  die  unehelichen  Kinder  körperlich  hinfälliger 
sind  als  die  ehelichen,  dass  sie  zu  Geisteskrankheit,  Blödsinn,  Selbstmord 
und  Verbrechen  aller  Art  mehr  hinneigen. 

Es  ist  daher  wohl  gerechtfertigt,  dass  man  die  unehelichen  Geburten 
mit  ganz  besonderer  Aufmerksamkeit  behandelt  hat.     ' 

In  ganz  Europa  mit  Ausnahme  der  Türkei  werden  jährlich  über 
700000  uneheliche  Kinder  geboren,  also  täglich  etwa  2000  oder  7  %  aller 
geborenen.  Dabei  zeigt  sich  eine  merkwürdige  Regelmässigkeit  dieser  Er- 
scheinung. In  Frankreich  z.  B.  schwankt  das  Procentverhältniss  der  unehe- 
lichen Geburten  jährlich  um  kaum  ^l^%. 

Noch  vor  kurzer  Zeit  klagte  die  Moralstatistik  über  die  allgemeine 
Zunahme  der  unehelichen  Geburten  (Wappäus,  Oettingen),  und  versuchte 
diese  Klage  ziffermässig  zu  beweisen.  Diese  Klage  ist  heutzutage  nicht 
mehr  allgemein  berechtigt,  indem  gerade  das  verflossene  Jahrzehnt  in  den 
meisten  Ländern  einen  Rückgang,  in  mehreren  einen  Stillstand  und  nur 
ausnahmsweise  eine  Zunahme  des  Procentbetrages  ausserehelicher  Kinder 
aufweist. 

Es  stellte  sich  nämlich  (mit  Ausschluss  der  Todtgeborenen,  welche 
nur  far  die  ältere  Periode  bei  Sachsen,  Württemberg  und  Holland  mit- 
gezählt sind)  dieser  Procentbetrag  wie  folgt  ^) : 


I  u 


vor  1860 


Jahre         % 


111  neuerer 

Zeit 


in  neuester 
Zeit 


Jahre 


% 


Jahr 


% 


Bayern 

Sachsen    .    .    .    .    . 

Württemberg     .    . 

Dänemark    .... 

Oesterreich  (total) 
Oesterreich  allein 
Ungarn     ....    . 


1841-51 
1847—56 
1845-54 

1842-51 


20,54 

(14,65) 

(12,26) 

11,32 

11,21 


1865—78 


1865-76 

1865-78 
1865—77 


15,30 
13,41 

11,31 
11,05 

13,50 

7,09 


1878 


1876 

1878 
1877 


12,69 

12,25 

8,20 

9,98 

14,05 
7,41 


494 


OeschlechtUcbe  Sittlichkeit 


vor  1860 


m  neuerer 
Zeit 


in  neuester 
Zeit 


Jahre 


% 


Jahre 


% 


Jahre 


Norwegen  .  .  . 
Schweden  .  .  . 
Belgien  .... 
Frankreich  .  •  . 
Preussen  .... 
England  .... 
Niederlande     .    . 

Italien 

Schottland  .   .   . 

Irland 

Deutsches  Reich 
Baden  ..... 
Schweiz  .... 
Finnland  .... 
Spanien  .... 
Griechenland  .  . 
Rumänien  •  .  . 
Serbien  .... 
Europ.  Russland 


1846—55 
1841-50 
1846-55 
1844-53 

1850—59 
1845-54 


8,77 
8,64 
8,16 
7,17 
7,21 
6,67 
(4,79) 


1865-78 


1865-77 
1865-78 

1865—77 
1865—78 


1872-78 
1866-78 
1872-78 
1865-78 
1865-70 
1865—77 
1870-77 
1865-78 
1867—75 


8,49 
10,20 
7,08 
7,36 
7,60 
5,43 
3,49 
6,46 
9,26 
2,73 
8,67 

iO,ii 

4,78 
7,81 
5,63 
1,32 
3,79 
0,43 
2,87 


1878 


1877 
1878 

1877 
1878 


1870 
1877 


7,70 

9,75. 

7,32 

7,08 

7,46 

4,73 

3,22 

7,16 

8,35 

2,31 

8,68 

7,26 

4,67 

7,43 

5,55 

1,47 

4,77 

0,67 

2,77 


Unbestreitbar  ergibt  sich  aus  vorstehender  Tabelle  im  Allgemeinen 
eine  Besserung  des  Verhältnisses.  Die  auffallendsten  Contraste  haben  eine 
Milderung  erfahren.  Sollte  man  hiebei  vielleicht  an  einen  internationalen 
Ausgleichungsprocess  der  Volksmoral  denken  dürfen? 

Die  Jahreszeiten  und  die  Nahrungsmittelpreise  üben  einen  bemerk- 
baren Einfluss  auf  die  Häufigkeit  der  unehelichen  Geburten  aus.  Karge 
Zeiten  hemmen  diese  Häufigkeit,  wohlfeile  fördern  sie.  So  wirkte  nament-^ 
lieh  der  Misswachs  des  Jahres  1846  als  ein  sehr  heilsames  Zuchtmittel. 
Dagegen  überschwemmte  das  Revolutionsjahr  1848  Europa  mit  Bastarden. 

In  ein  und  demselben  Lande  finden  sich  bezüglich  der  unehelichen 
Geburten  oft  die  wunderbarsten  Gegensätze  hart  nebeneinander.  Das  zeigt 
sich  namentlich  in  Oesterreich-Ungarn.  Hier  finden  wir  (1869?)  einen 
Procentsatz  von  unehelichen  Kindern,  welcher  ein  Maximum  in  Kärnten 
(44,5551^),  ein  Minimum  in  Dalmatien  (ß,ss^)  erreicht.  Im  Deutschen 
Reiche  hatten  (1879)  die  altbayerischen  Provinzen  14,49^  uneheliche 
Geburten,  Westfalen  nur  2^d^^, 

Eine  bekannte  Thatsache  ist  das  üeberwiegen  der  unehelichen  Ge- 
burten in  den  Städten  gegenüber  der  Landbevölkerung.  Der  Procentbetrag 
stellt  sich  wie  folgt*): 


Geschlechtliche  Sittlichkeit. 


495 


Jahr 


Jahr 


% 


Wien  .  . 
Budapest 
Prag  .  . 
München 
Frankfurt 
Breslau  . 
Berlin  .  . 
Hamburg 
Rom  .  . 
Paris    .   . 


M. 


1865—74 
1872—75 
1865—74 
1868-74 
1867—75 

1871  ? 

1871—74 
1869-75 


44,96 

29,91 
43,90 

43,97 
13,18 
18,57 
15,40 
13,85 

40,60 

26,83 


Mailand     . 

Stockholm 

Christian!  a 

Kopenhagen 

Petersburg 

Bukarest  . 

Antwerpen 

Haag     .    . 

Rotterdam 

London 


1869—74 
? 

? 

? 
1866-72 
1868—74 
1865-74 

? 

9 


20,43 
39,63 
16,17 

25,95 
23,58 
17,47 


8,99 
7,61 
9 


Man  hat,  wie  es  scheint  vergeblich,  versucht,  den  Einfluss  der  Ge- 
setzgebung und  der  Confession  auf  diese  Ziffer  zu  beweisen. 

Nationale  Eigenthümlichkeit  und  alte  locale  Sitte  dürfte  vielmehr 
den  stärksten  Einfluss  ausüben.  Doch  war  seinerzeit  jedenfalls  in  einigen 
deutschen  Ländern  auch  die  Gesetzgebung,  welche  früher  das  Heiraten 
vielfach  erschwerte,    sehr  einflussreich. 

Anmerkungen. 

*)  So  wuchsen  z.  B.  die  Nothzuchtverbrechen  folgendergestalt.  Es  kamen 
Fälle  vor  in: 

England 
1830-34  ......    837 

1835—39 973 

1840—44 1221 

1845—49 1263 

1850-54 1395 

(Oettingen  a.  a.  0.  S.  495.) 

*)  Ebenda  S.  453. 

*)  So  ist  z.  B.  die  Zusammenstellung  von  Hausner  eine  sehr  gewagte. 
Nach  ihm  kommt  in  (a.  a.  0.  I.  S.  179) : 


1855 

Preussen 

.  325 

1856 

.  414 

1857 

.  569 

1858 
1859 

.587 
.580 

Hamburg  . 
Berlin  .  . 
London 
Algier  .  . 
Liverpool  . 
Wien  .  . 
Rotterdam 
Neapel  .  . 
München  . 
Paris  .  .  . 
Rom    .    .    . 


1  Prostituirte  auf  48  Einwohner 

*                   V) 

r,     68 

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^             w 

„    91 

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*             r) 

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„  159 

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„  171 

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«  208 

n 

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■n  220 

f)- 

«247 
,  288 

5? 

496  Bildtmg  und  Wissenschaft. 

Oettingen  behauptet  denn  auch,  diese  Zusammenstellung  sei  Tendenz- 
statistik im  katholischen  Interesse.  Aber  treibt  nicht  auch  Oettingen  Tendenz- 
Statistik  im  protestantischen  Interesse,  indem  er  behauptet,  Wien,  München, 
Neapel  und  Paris  seien  „mit  Recht""  die  verrufensten  Orte  (mit  welchem  Recht?), 
die  nur  deshalb  rielleicht  besser  scheinen,  weil  von  dem  Schmutz  ,, vieles  von 
welscher  Glätte  gefallig  übertüncht  ist?*'  Alle  Grossstädte  stellen  bedeutende 
ZiflFeru  zur  Prostitution  und  wenn  man  sich  auf  die  Notorietät  stützt,  verdient 
doch  zunächst  Hamburg  verrufen  zu  sein. 

•)  Oettingen  a.  a.  0.  S.  456. 

*)  Nach  Movimento  di  stato  civile  1862—78.  Die  Ziffern  für  die  ältere 
Periode  sind  den  Werken  von  Wappäus  (II,  387)  und  Oettingen  (S.  549)  ent- 
nommen. 

•)  Nach  Körösi:  Statistique  intern,  des  grandes  villes.  Wo  die  Jahreszahl 
nicht  angegeben  ist,  sind  die  Angaben  jedenfalls  der  Zeit  zwischen  1865—1875 
entnommen. 


IV.  Capitel. 
Geistiges  und  religiöses  Leben. 


§.  237.  Bildung  und  Wissenschaft. 

Wenn  auch  die  geistige  Bildung,  die  Erkenntniss  der  Wahrheit,  nicht 
ohne  weiteres  mit  sittlicher  Bildung  verwechselt  werden  darf,  so  besteht 
doch  eine  unläugbare  Wechselwirkung  zwischen  der  geistigen  Cultur  der 
Völker  einerseits,  andererseits  ihrem  physischen  und  wirthschaftlichen, 
rechtlichen  und  politischen,  sittlichen  und  religiösen  Leben.  Kein  Gebiet 
im  Reiche  des  menschlichen  Daseins  lässt  sich  vollständig  isoliren. 

Innerhalb  des  .gesammten  geistigen  Lebens  eines  Volkes  zeigen  sich 
als  einzelne  Erscheinungen  seine  Wissenschaft  und  seine  Kunst,  seine 
Sprachentwicklung  und  Literatur,  der  Volksunterricht,  die  Presse  und 
Correspondenz  etc. 

Und  wie  das  sittliche  Leben  des  Einzelnen  im  engsten  Sinne,  seine 
Tugenden  und  Laster,  vielfach  bedingt  werden  durch  den  sittlichen.  Boden, 
durch  das  Volk,  dem  er  entwachsen  ist:  so  ist  es  auch  im  geistigen  Leben; 
der  Einzelne  hat  gebend  und  empfangend  Theil  am  geistigen  Leben  seines 
ganzen  Volkes.  Die  Sprache  vermittelt  ihm  diese  Verbindung  in  lebendiger 
Schönheit. 

lieber  die  statistische  Messung  geistiger  Lebensthätigkeit  äussert  sich 
Quetelet  folgendergestalt : 

Man  kann  die  Fähigkeiten  nur  nach  ihren  Wirkungen,  d.  h.  nach 
ihren  Handlungen  oder  den  Werken,  die  sie  hervorbringen,  schätzen.  In- 


Bildung  und  Wiesenschaft.  497 

dem  man  aber  z.  B;  einem  Volke,  eben  so  wie  man  es  bei  einem  Indi- 
viduum machen  würde,  alle  Werke,  die  ihm  ihre  Entstehung  verdanken, 
zurechnen  würde,  würde  man  zu  gleicher  Zeit  seine  Fruchtbarkeit  und 
seine  intellectuellen  Fähigkeiten  im  Verhältniss  zu  anderen  Nationen  be- 
urtheilen,  abgesehen  von  den  Einflüssen,  welcher  der  Erzeugung  solcher 
Werke  ein  Hinderüiss  in  den  Weg  legen  könnten.  Indem  man  sodann  auf 
die  Lebensalter  Rücksicht  nähme,  in  welchen  die  Schriftsteller  jene  Werke 
producirt  haben,  erhielte  man  die  nöthigen  Elemente,  um  die  Entwicklung 
der  Intelligenz  oder  ihrer  Productionskraft  zu  verfolgen.  Bei  einer  solchen 
Untersuchung  müsste  man  die  verschiedenen  Arten  von  Werken  trennen, 
die  der  zeichnenden  Künste,  die  der  Musik,  die  mathematischen,  schön- 
wissenschaftlichen,  philosophischen  Schriften  u.  s.  w.  für  sich  zusammen- 
stellen, um  desto  leichter  die  Schattirungen  zu  erkennen,  welche  die  Ent- 
wicklung unserer  verschiedenen  Fähigkeiten  charakterisiren. 

Diese  Untersuchung  müsste  man,  von  einer  Nation  zur  anderen 
übergehend,  wiederholen,  um  zu  wissen,  ob  die 'Gesetze  der  Entwicklung 
mehr  in  Beziehung  auf  die  Länder  oder  auf  die  producirten  Werke 
variiren. 

Die  gegenwärtig  von  der  Statistik  der  intellectuellen  Bildung  ver- 
folgte Aufgabe  gliedert  sich  folgendermassen : 

I.  Zunächst  handelt  es  sich  darum,  die  verschiedenen  Bildungs- 
mittel kennen  zu  lernen,  nämlich  die  Schulen  (Volksschulen,  humanistische 
und  technische  Mittelschulen,  Hochschulen  und  Fachschulen),  Academien, 
Sammlungen,  Bibliotheken,  die  Presse,  den  Buchhandel,  die  künstlerischen 
Thätigkeiten. 

IL  Bei  jedem  einzelnen  dieser  Bildungsmittel  wird  dann  untersucht 
werden  müssen: 

A.  Das  Verhältniss  der  Quantität  des  Bildungsmittels  zur  Bevölke- 
rung. Bei  den  Schulen  also  insbesondere  die  Zahl  der  Schulen  und  die 
Zahl  der  Lehrer,  beide  verglichen  mit  der  Volkszahl.  In  analoger  Weise 
würde  dieses  Verhältniss  auch  bei  den  anderen  Bildungsmitteln  zu  be- 
handeln sein. 

B.  Die  von  der  Nation  fiir  die  Bildungsmittel  gebrachten  Geldopfer 
sind  gleichfalls  ein  deutliches  Bild  der  Culturbestrebung. 

C.  Wenn  das  Bildungsmittel  gegeben  ist,  handelt  es  sich  noch  immer 
um  die  quantitative  Benützung  desselben,  z.  B.  bei  den  Schulen  um  die 
Zahl  der  Schüler,  verglichen  mit  der  Volkszahl,  und  endlich 

D.  um  die  Resultate  dieser  Benützung,  deren  Ermittelung  freilich 
nur  ausnabJUQflweise  möglich  ist. 

Hanshofer,  Statistik.  '2.  Aufl.  3^ 


498  I>i<)  Lehranstalten. 

Anmerkung. 

Strenge  genommen  müssten  die  Statistik  der  geistigen  und  jene  der 
ästhetischen  Bildung  neben  der  Sitteustatistik  als  besondere  Theile  einer 
Statistik  des  gesammteu  geistig-sittlichen  Völkerlebens  stehen.  Die  bescheidene 
Ausbildung  jedoch,  welche  jene  beiden  Theile  bisher  gefunden  haben,  war 
Veranlassung,  sie  hier  unterzubringen. 

§.  238.  Die  Lehranstalten. 

I.  Die  Volksschulen,  welche  die  Mittheilung  der  noth wendigsten 
Grundlagen  aller  weiteren  Geistesbildung  bezwecken,  sind  der  wichtigste 
Gegenstand  für  die  Statistik  der  geistigen  Bildung.  Es  ist  die  Aufgabe 
jedes  civilisirten  Staates,  zu  erstreben,  dass  keiner  seiner  Angehörigen 
ohne  die  Bildung  der  Volksschule  sei.  Von  dem  Verhältnisse,  in  welchem 
die  Staatsangehörigen  an  dieser  Bildung  Theil  haben,  lässt  sich,  am 
sichersten  auf  die  allgemeine  Volksbildung  schliessen. 

A.  Was  zunächst  das  Verhältniss  der  Zahl  der  Schulen  zur  Volks- 
zahl betrifft,  so  gibt  schon  dieses  Verhältniss  einen  Einblick  in  die  Aus- 
dehnung der  elementaren  Volksbildung.  Es  kommt  beispielsweise  in: 

Thüringen eine  Schule  auf    683  Einw. 

Bayern „         „         „      581      „ 

Württemberg.    .    .    .     „         „         „      794      „ 

Hannover „         „         „      524      „ 

Altpreussen     .    .    .    .     „         „         „      765      „ 

Sachsen „         „         „      770      „ 

Oesterreich     .    .    .    .     „         „         „1172      „ 
Grossbrit.  (ohne  Irland)  „         „         „    2658      „ 
Die  übrigen  europäischen  Staaten  stehen  gleichfalls  weit  hinter  den 
Deutschen  zurück.     In  Frankreich  hatten  im  Jahre  1865  noch  694  Ge- 
meinden gar  keine  Schule.  Nur  die  Niederlande,  wo  1861  auf  1412  Ein- 
wohner eine  Schule  kam,  machten  eine  rühmliche  Ausnahme. 

B.  Nächst  der  Zahl  der  Schulen  ist  die  relative  Lehrerzahl  von 
Bedeutung. 

Die  Zahl  der  Schüler,  auf  welche  ein  Lehrer  trifft,  beträgt  u.  A.  in : 


Bayern 63 

Württemberg 63 

Hannover 67 


Thüringen 68 

Altpreussen 80 

Sachsen 103 


Die  Volksdichtigkeit  dürfte  bei  sonst  gleichen  Verhältnissen  diese 
Ziffer  beinflussen.  Da  die  Schulen  nur  innerhalb  bestimmter  Entfernungen 
von  Kindern  besucht  werden  können,  so  muss  offenbar  in  dünn  bevölkerten 
Ländern  die  Zahl  der  Schüler,  welche  einem  Lehrer  angehören,  ge- 
ringer sein. 


Die  Lehranstalten. 


499 


C.  Die  Zahl  derjenigen  Kinder,  welche  die  Schule  besuchen,  ver- 
glichen mit  der  Volkszahl  oder  mit  der  schulpflichtigen  Jugend  gibt  gleich- 
falls einen  interessanten  Massstab  für  das  nationale  Bildungsstreben. 

So  ist  es  für  Frankreich  charakteristisch,  dass  (1863)  eine  Million 
Kinder  gar  keine  Schule  besuchten. 

Der  Procentsatz  derjenigen  schulfähigen  Kinder,  welche  die  Schule 
wirklich  besuchten,  stellte  sich  1860/61  auf  (nach  Oettingen): 
in 

Sachsen- Weimar 102  J!^ 

Kgr.  Sachsen 100  „ 

Württemberg 99  „ 

Baden 98  „ 

Preussen 96  „ 

Schweiz 95  „ 

Dänemark 89  „ 

Bayern 83  „ 

Frankreich 76  „ 


m 

England 76  ^ 

Belgien 66  „ 

Oesterreich 45  „ 

Spanien  (?) 45  „ 

Italien 31  „ 

Kirchenstaat 16  „ 

Türkei 10  „ 

Russland 6  - 


Freilich  kommt  es  nun  erst  recht  darauf  an,  was  der  Schulbesuch 
gewirkt  hat.  Da  erfahren  wir  denn,  dass  unter  657401  Schülern,  welche 
i.  J.  1863  in  Frankreich  die  Schule  verliessen,  nur  60^1^  des  Schreibens 
und  Rechnens  kundig  waren. 

Auch  für  England  wird  die  Zahl  der  Kinder,  welche  ununterrichtet 
bleiben,  trotz  stetiger  Steigerung  des  wirklichen  Schulbesuches,  i.  J.  1861 
noch  auf  mehr  als  1  Million  angegeben. 

Die  Zahl  der  schulbesuchenden  Kinder  gegenüber  den  schulfähigen 
ist  offenbar  ein  weit  genauerer  Massstab  des  Bildungsstrebens,  als  diese 
Zahl  gegenüber  der  ganzen  Bevölkerung.  Letzteres  Verhältniss  gibt  Hübner 
(stat.  Tafel)  folgendermassen  an.  Auf  je  10000  Seelen  trefi'en  Elementar- 
schulbesucher in: 


Preussen 1520 

Grossbritannien 1400 

Holland 1280 

Frankreich 1160 

Belgien 1140 


Oesterreich      830 

Spanien 620 

Italien 500 

Russland .  150 


II.  Die  Mittelschulen.  Die  Benützung  der  Mittelschulen  hat  in 
den  letzten  Jahren  fortwährend  machtvoll  zugenommen.  So  zählte  man 
z.  B.  in  Preussen; 


32^ 


500 


Die  Lehranstalten. 


Schuler  in  den 


i.  J.  1843 


i.  J.  1861 


sog.  Mittelschulen 

Volkslehrersemiuarieu 

Gymnasien 

Progymnasien 

höheren  Bürger-  nnd  Realschulen 


79001 
2546 

25013 
1979 

14795 


101469 
3405 

43305 
3247 

24908 


Äehnliche  Verhältnisse  zeigen  sich  anderwärts. 

Von  hohem  Werthe  wäre  eine  in  den  Mittelschulen  durchzuführende 
Statistik  der  Leistungen  der  Schüler.  Eine  ziffermässige  Darstellung  dieser 
Leistungen  fand  früher  an  manchen  Gymnasien  bereits  statt.  Die  Leistung 
jedes  Schülers  in  jedem  einzelnen  Fache  hatte  ihre  besondere  Ziffer,  so 
dass  sich  wohl  untersuchen  Hess,  ob  und  wie  oft  ausgezeichnete  Leistungen 
in  allen  Fächern  neben  einander  vorkamen  oder  wie  sich  mathematisches, 
sprachliches  Talent,  Gedächtniss,  allgemeine  Bildung  zu  einander  verhalten. 
Würde  man  die  Entwicklung  der  einzelnen  geistigen  Fähigkeiten  der 
Schüler  mit  ihren  Lebensaltern,  ihren  häuslichen  Verhältnissen,  ihrer 
Nationalität,  Confession  etc.  combiniren,  so  erhielte  man  ein  statistisches 
Material  von  höchster  pädagogischer  Bedeutung.  Die  letztere  würde  noch 
gesteigert,  wenn  es  gelänge,  die  so  durch  ihre  Studienjahre  hindurch 
beobachteten  jungen  Geister  bis  in  ihre  späteren  Lebensbahnen  zu  ver- 
folgen. 

in.  Die  Hochschulen.  Es  ist  einleuchtend,  dass  die  wechselnde 
Zahl  der  Studirenden  an  Hochschulen  und  namentlich  die  wechselnde 
Frequenz  der  verschiedenen  Wissenszweige  die  jeweiligen  Strömungen  des 
Zeitgeistes  deutlich  signalisiren  muss. 

So  zeigte  unlängst  die  Zunahme  der  Frequenz  der  polytechnischen 
Schulen  gegenüber  jener  der  Universitäten,  wie  sehr  die  realistische  Bildung 
in  der  Gegenwart  sich  in  den  Vordergrund  drängt.  Es  waren  z.  B.  im 
Polytechnikum  von  Hannover  die  Studirenden  von  153  i.  J.  18*%^  auf 
460  i.  J.  18*761  gestiegen,  während  die  Zahl  der  in  Göttingen  studirenden 
Inländer  von  436  i.  J.  18*V45  auf  402  i.  J.  18*76i  gesunken  war.  Aehn- 
liches  zeigte  sich  in  Tübingen,  Giessen,  Marburg,  Leipzig,  München, 
Heidelberg.  In  Oesterreich  sank  an  den  8  Universitäten  die  Frequenz  von 
13751  i.  J.  18*7«  auf  7655  i.  J.  1859!  (s.  u.) 

Als  man  die  einzelnen  Fächer  des  Universitätsstudiums  durch  40 
Semester  (von  1820 — 1839)  beobachtete,  fand  man  eine  direct  entgegen- 
gesetzte Bewegung  des  Bildungsstrebens  für  die  Theologie  und  die  Medicin. 


Resultate  der  Volksbildung.  501 

Das  Maximum  der  Tmmatriculation  für  Theologie  fällt  zusammen  mit  dem 
Minimum  fiir  Medicin.  (Oettingen.) 

Bedeutende  geistige  Bewegungen  im  Völkerleben  haben  den  entschie- 
densten Einfluss  auf  das  academische  Studium.  So  haben  z.  B.  die  politisch 
erregten  Jahre  1830  und  1849,  das  erste  dem  Studium  der  Theologiet, 
das  zweite  dem  academischen  Studium  überhaupt,  empfindliche  Stusse 
beigebracht. 

Höchst  charakteristisch  war  auch  die  Abnahme,  welche  zu  End,e 
der  sechziger  und  Anfangs  der  siebziger  Jahre  die  Universitäten  erlitten, 
als  allenthalben  technische  Hochschulen  entstanden,  und  die  Zeit  des 
wirthschaftlichen  Aufschwunges  zahlreiche  gebildete  Techniker  verlangte. 
Jetzt  ist  seit  der  industriellen  Krisis  von  1873  ein  stetiger  Rückgang  des 
technischen  Studiums  und  dem  gegenüber  eine  mächtige  Anschwellung  des 
üniversitätsstudiums  zu  constatiren. 

§.  239.  Eesultate  der  Volksbildung. 

Um  beurtheilen  zu  können ,  in  welchem  Grade  das  Volk  von  den 
ihm  gebotenen  Bildungsmitteln  Gebrauch  macht  und  wie  lange  die  Früchte 
dieses  Gebrauches  etwa  anhalten,  hat  man  verschiedene  Wege  gesucht. 

I.  Man  hat,  so  namentlich  in  England  schon  seit  1754  bei  den 
Unterzeichnungen  der  Ehecontracte  die  Schreibfähigen  von  denjenigen 
unterschieden,  welche  ihren  Namen  nicht  unterzeichnen  konnten. 

Hier  zeigte  sich  bei  den  Weibern  ein  geringerer  Grad  von  Schreib- 
fähigkeit als  bei  den  Männern,  im  Allgemeinen  jedoch  ein  Fortschritt. 
Es  betrug  nämlich  die  Zahl  der  Schreibfähigen  (in   fjd  ausgedrückt): 

Männer  Weiber 

in  England  1840 66  50 

1850 69  54 

1860 74  64 

1865 78  68 

und  in  Frankreich  1855 68  52 

1864 72  57 

In  Italien  dagegen  sind  die  „Analfabeti"  weit  zahlreicher.  Dort 
konnten  1877  blos  24^  der  Ehecontracte  von  beiden  Brautleuten 
unterzeichnet  werden. 

Die  Unterschiede  sind  indess  innerhalb  dieser  Länder  nach  Städten 
und  Provinzen  sehr  gross.  Für  Italien  z.  B.  beträgt  die  Zahl  der  Analfabeti 
in  Piemont  nur  50^,  während  in  Calabrien  und  Sicilien  87 — 88^  un- 
unterrichtet  sind  *).  Auch  in  den  englischen  Städten  sind  die  Unterschiede 
sehr  gros».     So  besass  1864  London  nur  14 J!^,    Wolverhampton  dagegen 


502  Besultate  der  Volksbildungr. 

47  Jl^  schreibunfähige  Brautleute.  Die  grossen  Fabrikstädte  waren  am 
übelsten  berathen.  (Oettingen,  Tabelle  150.) 

Diese  Methode,  die  Volksbildung  zu  messen,  hat  den  grossen  Vor- 
theil,  auch  das  weibliche  Geschlecht  zu  berücksichtigen.  Dagegen  ist  sie 
deshalb  höchst  unsicher,  weil  eine  Masse  Leute  der  unteren  Volksschichten 
wohl  ihren  Namen  aber  sonst  nichts  schreiben  können.  Rechnet  man 
alle  diese  unter  die  Schreibfahigen ,  so  erhält  man  ein  viel  zu  günstiges 
Resultat; 

II.  Die  statistischen  Aufzeichnungen  über  den  Bildungsgrad  der  zum 
Militär  Eingestellten  bieten  jedenfalls  verlässlicheres  Material,  schliessen 
aber' freilich  das  weibliche  Geschlecht  aus.  Auch  hier  hat  man  wesent- 
liche Fortschritte  beobachtet.  So  hatten  in  Frankreich  Elementarbildung 
(Oettingen) : 


im  Jahre  % 

1827/28 44 

1829/30 47 

1831/32 50 

1834/35 53 


im  Jahre  % 

1847/48 65 

1863 72 

1865 74 

1866 76 


Die  Unterschiede  in  den  verschiedenen  Ländern  sind  sehr  bedeutend, 
aber  wegen  der  Ungleichheit  des  angewandten  Massstabes  nicht  wohl 
vergleichbar. 

Wie  hoch  die  deutsche  Nation  mit  ihrer  Schulbildung  fast  alle 
übrigen  überragt,  zeigt  sich  nicht  nur  aus  den  im  Deutschen  Reiche 
herrschenden^),  sondern  insbesondere  auch  aus  den  Bildungsverhältnissen 
des  national  so  mannigfach  zusammengesetzten  österreichischen  Kaiser- 
thums.  Hier  waren  (1865)  schreibkundige  Recruten  in'): 


Unterösterreich 86^ 

Oberösterreich 83  „ 

Salzburg 57  „ 

Steiermark 54  „ 

Kärnten 7  „ 

Krain .    2  „ 

Küstenland    ........    2  „ 

Tirol 35  „ 

Böhmen 64  „ 


Mähren 44  9^ 

Schlesien 59  „ 

Galizien 4  „ 

Bukowina 3  „ 

Dalmatien 0,8  „ 

Ungarn 25  „ 

Croatien  und  Slavonien     .    .    4  „ 

Siebenbürgen 4  „ 


Anmerkungeu. 
*)  Nach  dem  AuuuafSo  statistico  1881. 
*)  Nach^dem  Statist.  Jahrb.  für  1865,  pag.  138. 
*)  Bezüglich  der  Recruteubildung  noch: 

Schweiz.     1878   waren    uuter   den  Recruteu   1,6«^  Schwachsiuuige  und 
Analphabeten.     Im  Canton  Freiburg  allein  7,i5^.    Die  Recruten  werden  einer 


Brief-  und  ZeitungsTerkehr. 


503 


Prüfung  unterworfen,  wobei  der  Canton  Genf  am  günstigsten  besteht,  am  un- 
jrünstigsteu  Appenzell-Innerrhodeu.  (Zeitschrift  d.  preuss.  Statist.  Bureaus  1879. 
Stat.  Corr.  LIX.) 

Deutsches   Reich.     Unter  den  1876 --77  eingestellten   Recruten  waren 
ohne  Schulbildung  unter  100  in: 


Deutsches  Reich 2,i2 

Preussen 2,9i 

insbesondere  Posen 12,93 

Bayern 0,93 

Sachsen 0,25 

Württemberg 0,03 

(a.  a.  0.,  Jahrg.  1877,  S.  410). 


Baden 0,i6 

Hessen 0,ii 

Sachsen-Coburg 0,oo 

Waldeck 0,oo 

Hamburg 0,oo 

Elsass-Lothringen 3,98 


§.  240.  Brief-  und  Zeitungsverkehr. 

Der  Postverkehr  mit  Briefen  ist  zwar  immerhin  ein  Zeichen  geistiger, 
aber  anch  geschäftlicher  Regsamkeit.  Man  muss  sich  hüten,  aus  einem 
sehr  lebhaften  Briefverkehr  unbedingt  auch  auf  einen  sehr  hohen  Bildungs- 
grad schliessen  zu  wollen.  Mancher  Handlungscommis  schreibt  weit  mehr 
Briefe  als  ein  üniversitälsprofessor  oder  Staatsmann,  ohne  deshalb  gebil- 
deter zu  sein.  Ebenso  ist  es  mit  ganzen  Nationen.  Bei  Handelsvölkem  ist 
der  Briefverkehr  am  entwickeltsten. 

Mit  diesem  Vorbehalt  ist  es  aufzunehmen,  wenn  auf  den  Kopf  der 
Bevölkerung  jährlich  folgende  Zahl  von  Briefen  kommt  in: 


Grossbritannien 32,7 

Australien 27,5 

Schweiz 25,5 

Vereinigte  Staaten   .    .    .    .    ,  24,6 

Deutsches  Reich 14,7 

Ganada      14,6 

Belgien 14,4 

Niederlande  .    ,  ' 13,3 

Dänemark 12,o 

Frankreich 12,4 

Oesterreich-Üngarn 7,6 

Norwegen  ,    ........    7,4 

Schweden 7,2 

Italien 5,4 

Spanien 4,8 


Ghile 3,3 

Argentina 2,6 

Uruguay 2,4 

Algerien 2,4 

Japan 1,8 

Griechenland 1,6 

Brasilien 1,6 

Finnland .1,6 

Russland  .........  1,5 

Rumänien 1,3 

Aegypten 0,7 

Brittisch  Indien 0,6 

Mexiko 0,4 

Türkei 0,4 

Persien 0,05 


Die  Lebendigkeit  des  Zeitungsverkehres  ist  nicht  nur  bedingt  durch 
das  Interesse  der  Bevölkerung  für  das  politische  und  wirthschaftliche 
Leben,  sondern  vielfach  auch  durch  die  Preise  der  Zeitungen  und  durch 
den  Zeitungsstempel.  Wo  grosse  und  kostspielige  Zeitungen  gelesen  werden 


504  Literatur. 

und  der  Staat   eine  Stempelgebühr  für  dieselben  erhebt,    wird    die   Zahl 
derselben  selbstverständlich  geringer  sein,  als  anderwärts. 

Dies  der  Grund,  warum  in  folgender  Tabelle  namentlich  Oesterreich 
ob  "tin^littfetig  dasteht.  Es  trafen  nämlich  versendete  Zeitungsblätter, 
Drucksachen  und  Waarenproben  auf  den  Kopf  der  Bevölkerung  im  Jahre 
1878  in: 


Crrossbritannien 9,6 

Schweiz 24,» 

Deutschland 12,6 

Niederlande 10,» 

Frankreich 12,8 

Belgien 17,o 

Luxemburg 9,9 

Oesterreich 4,3 

Dänemark 12,9 

Schweden 5,6 

(Neumann-Spallart:  Uebersichten  pro  1879,  S.  280.) 


Italien 5,2 

Norwegen 4,8 

Spanien  (1877) 2,7 

Ungarn 2,- 

Portugal     . 2,1 

Griechenland  (1877)    ....  1,3 

Rumänien 0,8 

Russland l,i 

Türkei  (1874) 0,i 


§.  241.  Literatur. 

Ueber  die  Zahl  der  Buchhandlungen,  Zeitungen,  Fachblätter  und 
neu  erscheinenden  Bücher  existiren  meist  nur  rohe  unverarbeitete  Angaben. 
Und  in  diesen  Angaben  stehen  ungeschieden  die  kleinsten  werthlosesten 
Broschüren  und  Blättchen  neben  grossen  werth vollen,  auf  jahrelanger 
wissenschaftlicher  Bemühung  beruhenden  Werken.  Das  erschwert  offenbar 
sehr  die  Werthung  der  auf  dem  Büchermarkt  erscheinenden  Zahlen  *). 

Nach  den  Beobachtungen,  die  man  bezüglich  der  im  sächsischen 
Verlage  jährlich  erscheinenden  Druckschriften  gemacht  hat,  ist  die  Zahl 
dieser  Verlagsartikel  Jahr  für  Jahr  fast  die  gleiche.  Und  zwar  behält  jede 
Sphäre  geistiger  Production  ihre  constante  Verhältnissziffer.  „Wenn  man 
sich  vergegenwärtigt,  wie  viele  tausend  verschiedene  Gehirne  sich  dafür 
angestrengt,  wie  verschiedenartige  Geister  in  seufzender  Nachtarbeit  oder 
in  leichtfertigem  Schafiungseifer  sich  an  diesen  Productionen  betheiligt 
haben  ...  so  erscheint  die  hervorgehobene  Regelmässigkeit  als  ein  un- 
widerleglicher Beweis  dafür,  dass  gewisse  geistige  Factoren  constant  wirksam 
sind  in  der  productiven  Bewegung  des  Ganzen"  .  .  .  (Oettingen). 

Gewiss  wäre  es  vom  grössten  Interesse,  auf  Grund  solider  und  aus- 
gedehnter Daten  durch  eine  grössere  Reihe  von  Jahren  die  Schwankungen 
dieser  verschiedenen  Richtungen  geistiger  Production  zu  studiren. 

Die  Jahreszeiten  sind  nicht  ohne  Einfluss  auf  die  literarische  Pro- 
duction. Denn  die  letztere  findet  alljälirlich  eine  Steigerung  von  Quartal 
zu  Quartal  bis  zum  letzten.  -  - 


Die  Kunst.  505 

Auch  nationale  Unterschiede  machen  sich  bezüglich  der  literarischen 
Production  sehr  geltend  ^). 

Aiimerkuiigeii. 
*)  Von   allem  geistigen   Nährstoff  des  deutschen  lesenden  Piiblicums  ge- 
hören, nach  den  sächsischen  Verlagsartikeln  (1851),  zu: 

Eucyklopädie  und  literarischen  Sammelwerken      ...    2,2  Procent 

Staats-  und  Rechtswissenschaften 10,3        „ 

Theologie 17,7         „ 

Medicin 4,9        „ 

Naturwissenschaften 5,9         „ 

Philosophie 0,9         «5 

Pädagogik 13,4         „ 

Philologie,  Archäologie,  Sprachen 5,9         „ 

Geschichte 5,6        „ 

Geographie 2,6         „ 

Mathematik  und  Astronomie l,i         „ 

Handel,  Gewerbe,  Bauwissenschaft 4,1        „ 

Landwirthschaft 2,8         „ 

Belletristik  und  schönen  Künsten .12  „ 

Volksschriften 2  „ 

Vermischtes 8,4        „ 

(Oettingen  a.  a.  0.  Anhang  S.  136.)  * 

*)  So  muss  es  gewiss  höchst  charakteristisch  erscheinen,  dass  unter  den 
im  J.  1864  in  Frankreich  und  London  neu  erschienenen  Verlagsartikeln  sich 
einzelne  Hauptgegenstände  mit  folgenden  ungemein  verschiedenen  Ziffern  ver- 
treten finden: 

in  London         in  Frankreich 

Religion 715  426 

Geschichte 233  540 

Rechtswissenschaft,  Parlament    .      79  232 

Medicin 124  390 

Kunst,  Architectur 52  203 

Belletristik,  Literatur 1407  1010 

§.  242.  Kunst. 

Hierin  hat  die  Statistik  jene  Gebiete  betreten,  wo  es  fast  unmöglich 
scheint,  das  menschliche  Geistesleben  noch  ziffermässig  zu  erfassen.  Den- 
noch existirt  auch  auf  dem  Gebiete  der  Kunst  eine  Reihe  von  Erschei- 
nungen, welche  der  statistischen  Beobachtung  leicht  zugänglich  sind.  So 
vor  allem  Stand  und  Gang  des  Künstlervolkes,  ausgeschieden  nach  den 
verschiedenen  Zweigen  künstlerischer  Thätigkeit  —  nach  Dichtkunst,  Musik, 
Malerei,  Sculptur,  Architectur  und  dramatischer  Kunst.  Die  verschiedene 
Begabung  der  Völker  für  die  Kunst  überhaupt,  als  auch  für  die  einzelnen 
Kunstzweige  muss  sich,   bis  zu  einer  gewissen  Grenze,    statistisch    unter- 


506  Die  Kunst. 

suchen  und  in  ursachlichen  Zusammenhang  mit  anderen  nationalen  Eigen- 
thümlichkeiten  bringen  lassen  ^). 

Noch  leichter  zifFermässig  erfassbar  ist  die  Betheiligung  des  Publicums 
am  Kunstleben.  Sie  äussert  sich  namentlich  in  der  grösseren  oder  geringeren 
Frequenz  des  Theater-  und  Concertbesuches,  wobei  sogar  die  herrschende 
Geschmacksrichtung  quantitativ  dargestellt  werden  kann;  femer  in  dem 
Werthe  und  der  Richtung  der  vom  Publicum  und  den  Kunstvereinen 
angekauften  Kunstwerke.  Auch  hier  wird  sich  ein  Einfluss  wirthschaft- 
licher,  politischer  und  allgemeiner  Culturzustände  auf  das  nationale  Kunst- 
leben allenthalben  ergeben  und  den  tiefinneren  Zusammenhang  aller  Er- 
scheinungen des  Völkerlebens  erweisen.  Allerdings  muss  man  bei  jeder 
statistischen  Untersuchung,  welche  das  Gebiet  der  Kunst  betritt,  bedenken, 
dass  auf  diesem  Gebiete  das  Einzelne  weit  höher  über  die  Masse  hinaus- 
zuragen pflegt,  als  irgendwo  anders.  Ein  Rafael,  ein  Goethe,  ein  Beethoven 
wiegt  schwerer,  als  die  Mittelmässigkeiten  ganzer  Jahrhunderte,  und  der 
Statistiker  hat  auf  dem  Gebiete  der  Kunst  blos  das  Recht,  über  das 
Namenlose  zu  verfügen. 

Anmerkung. 
*)  Yon  Versuchen,  künstlerische  Production  zur  Ziffer  zu  bringen,  sei  hier 
Folgeudes  erwähnt:  v 

Quetelet  machte  den  Versuch,  Frankreich  und  England  hinsichtlich  ihrer 
dramatischen  Productionsfahigkeit  und  hinsichtlich  des  Alters  der  Dichter  stati- 
stisch zu  untersuchen.  Aus  den  gefundenen  Zahlen  construirte  er  eine  Curve 
der  Entwickelung  des  dramatischen  Talents,  aus  welcher  sich  ergibt,  dass  die 
Autoren  in  England  sich  früher  zu  yoUer  Productionskraft  entwickeln  als  in 
Frankreich,  dass  der  Höhepunkt  derselben  zwischen  dem  30.  und  45.  Jahre 
liegt  und  dass  sie  erst  vom  50.  Jahre  an  bedeutend  abnimmt.  Ferner  fand  er, 
dass  das  tragische  Talent  sich  schneller  entwickelt  als  das  komische. 

Einen  anderen  statistischen  Versuch  über  die  Formen  des  lateinischen 
Hexameters  machte  Drobisch.  Durch  die  Zahl  und  das  Lagenverhältniss  der 
Versfüsse  suchte  er  darzustellen,  ob  der  Dichter  mit  grösserer  oder  geringerer 
rhythmischer  Genauigkeit,  ob  er  episch,  lyrisch,  didactisch  schreiben  wollte 
und  wie  seine  charakteristische  Eigenthümlichkeit  darin  zur  Erscheinung  komme. 
So  wurden  Virgil,  Horaz  und  Homer  hinsichtlich  der  von  ihnen  gebrauchten 
Formen  untersucht. 

Bezüglich  der  Verbreitung  musikalischen  Talents  im  Volke  sind  folgende 
Ziffern  von  Interesse:  Unter  den  80717  Recruten,  welche  in  Oesterreich-üngarn 
im  J.  1865  zum  Heer  gestellt  wurden,  waren  musikkundig: 

aus  der  Gesammtmouarchie l,i% 

„    Böhmen  insbesondere 3,0  „ 

„    Mähren 2,7  „ 

„    Ungarn 0,6  „ 

„    Galizien 0,i  „ 

„    Lombardei- Venetien 0,7  „ 

(Stat.  Jahrb.  für  1865.  S.  138.) 


Religion,  Confesslon  und  Gottesdienot.  507 

§.  243.  Beligion,  Confession  und  Oottasdienst. 

Das  religiöse  Leben  der  Völker  ist  bisher  von  der  Statistik  nur  an 
wenigen  Punkten  und  mit  grosser  Schüchternheit  erfasst  worden.  Der 
Grund  ist  klar.  Die  Religion  gehört  dem  innersten  Herzen  an  und  ihre 
Kundgebungen  nach  aussen  müssen  nicht  nothwendig  im  Verhältnisse  zu 
ihrer  inneren  Kraft  stehen. 

Doch  darf  man  auch  hier  annehmen,  dass  bei  einer  grossen  Zahl 
von  Beobachtungen,  z.  B.  bei  der  Beobachtung  des  religiösen  Charakters 
ganzer  Städte  oder  Völker  die  äusserlichen,  bemerkbaren  Leistungen  der 
inneren  Kraft  des  religiösen  Lebens  im  Ganzen  entsprechen. 

So  hat  man  denn  wirklich  auch  nach  verschiedenen  statistischen 
Massstäben  gesucht,  um  das  religiöse  Leben  und  seine  Kraft  zu  messen. 

Man  hat  als  solche  Massstäbe  genommen :  die  Zahl  der  verbreiteten 
Bibelexemplare  oder  der  bekehrten  Heiden  und  Juden,  anderwärts  die 
Summe  der  freiwilligen  Stiftungen  und  Geldopfer  zu  wohlthätigen  klöster- 
lichen und  kirchlichen  Stiftungen  u.  s.  f. 

Von  grösserer  Wichtigkeit  sind  Untersuchungen,  welche  man  über 
die  Quantität  solcher  Handlungen,  die  nothwendig  zu  einem  religiösen 
Cultus  gehören,  angestellt  hat. 

So  hat  man  in  Sachsen  eine  genaue  Zählung  der  Kirchenbesucher 
vorgeschlagen.  In  einigen  Kirchen  Berlins  neuestens  wirklich  vorgenommene 
Zählungen  lieferten  das  klägliche  Resultat,  dass  wenig  über  2  %  der  Ge- 
meindeglieder sich  am  Gottesdienst  betheiligen.  Von  grossem  Werthe  wäre 
es  u.  a.,  die  Betheiligung  nach  Alter,  Geschlecht,  Beruf  und  Civilstand 
zu  kennen,  zu  wissen,  in  welchem  Masse  für  kirchliche  Zwecke  Geld- 
spenden gegeben  werden  u.  s.  f. 

Von  protestantischer  Seite  hat  man  Tabellen  über  die  Zahl  der- 
jenigen Gemeindeglieder,  welche  an  der  Communion  theilnehmen,  ange- 
legt. Nach  diesen  Tabellen  trafen  (1858—61)  jährlich  auf  je  100  Ge- 
meindeglieder folgende  Zahlen  von  Communicanten  in: 


Oesterreich 109 

Kurhessen .    82 

Bayern 76 

Sachsen 72 

Württemberg 70 

Grossh.  Hessen 69 

Baden 68 

Man  erkennt  auf  den  ersten  Blick,  dass  der  kirchliche  Eifer  ein 
grösserer  ist  in  jenen  Ländern,  wo  die  Protestanten  nicht  die  herrschende 
Gruppe  bilden. 


Hannover 63 

Preussen 52 

Braunschweig 41 

Oldenburg 35 

Holstein 29 

Frankfurt  a.  M.  ........  18 


508  Belifjrion,  Confession  and  Gottesdienst. 

Ferner  haben  diese  Erhebungen  auch  ergeben,  dass  dieser  Eifer 
unter  den  Landbewohnern  (in  Sachsen)  nahezu  doppelt  so  stark  ist  als 
bei  den  Städtern. 

Tn  Sachsen  \"erglich  man  auch  die  Zahl  der  protestantischen  Com- 
municanten  mit  jener  der  katholischen.  Man  fand  auf  je  100  erwachsene 
Gemeindeglieder  Communicanten : 
im  Jahre  bei  Katholiken:     bei  Protestanten: 

1862 121  102 

1863 124  101 

1864 130  98 

Die  Zahl  der  Kirchen,  Klöster  und  Geistlichen  kann  immerhin, 
namentlich  in  ihrer  Zu-  oder  Abnahme  als  ein  werthvolles  Zeichen 
kirchlicher  Regsamkeit  betrachtet  werden,  obgleich  man  sich  hüten  wird, 
zu  behaupten,  die  Menschheit  sei  dort  wirklich  von  der  grössten  Religio- 
sität, wo  die  meisten  Geistlichen  sind  ^)  ^)  •'). 

Stand  und  Bewegung  der  Confessionen,  resp.  ihrer  Anhänger  sind 
jedenfalls  diejenigen  Erscheinungen,  welche  der  Statistik  des  kirchlichen 
Lebens  am  nächsten  liegen.  Aber  für  die  Untersuchung  des  eigentlichen 
religiösen  Lebens  sind  sie  die  werthlosesten.  Denn  die  Angehörigkeit 
zu  einer  Confession  ist  an  sich  gar  keine  sittliche  Handlung;  zu  einer 
solchen  gehört  ausser  der  Angehörigkeit  auch  die  Anhänglichkeit. 

Immerhin  zeigt  aber  die  blos  formale  Angehörigkeit  schon  das  eine 
an,  dass  der  Angehörige  einer  gewissen  Confession  wenigstens  eine  Zeit 
lang  (während  der  Schulzeit)  in  den  Grundsätzen  dieser  Confession 
erzogen  und  dadurch  seinem  geistig-sittlichen  Leben  eine  gewisse  Rich- 
tung gegeben  wurde,  welche  nur  ausnahmsweise  wieder  vollständig  ver- 
lassen wird. 

Was  zunächst  den  Stand  der  Confessionen  betrifft;,  so  dürfte  sich 
die  Gesammtzahl  der  Menschen  nach  Confessionen  etwa  folgendermassen 
vertheilen : 


Christen: 

Katholiken 190  Mill. 

Protestanten 108     „ 

Griechen 80     „ 

Andere  Christen     ....    15     „ 


NichtChristen: 
Mohamedaner     ....    85  Mill. 

Juden 7      „ 

Buddhisten      ......  500      „     ? 

Hindus 190     „     ? 

Heiden .  280     „     ? 


393  Mill 

Von  sämffltlichen  Menschen  bekennen  sich  sonach  etwa  30^  zum 
Christenthum.  In  diesem   bilden  die  Katholiken  nicht  ganz  die  Hälfte  *). 

Hinsichtlich  der  Bewegung  der  Confessionen  liegt  noch  wenig  Material 
vor.  Dabei  hat  man  zunächst  die  wichtige  Beobachtung  gemacht,  dass 
die  stärkere  oder   schwächere   Zunahme  einer  Confession  gegenüber  den 


Religion,  Confession  und  Gottesdienst. 


509 


anderen  nur  zum  allergeringsten  Theile  durch  persönlichen  Confessions Wech- 
sel der  Einzelnen,  meistens  durch  die  gemischten  Ehen  und  die  verschie- 
dene Geburtenfrequenz  verursacht  wird  ^). 

Aumerkungeu. 

*)  Hausiier  a.  a.  0.  II,  454  gibt  über  die  absolute  und  relatire  Zahl 
der  Weltgeistlicheii  eiue  Uebersicht,  welcher  Folgendes  zu  eutnehmeli  ist.  Die 
Zahl  der  Einwohner,  auf  welche  ein  Weltgeistlicher  triflft,  beträgt  in: 


Vorm.  Kirchenstaat  (1862)      ...    82 

Sicilien  (1864) 186 

Ganz  Italien  (1864) .  246 

Griechenland  (1861) 248 

Spanien  y,  407 

Belgien  „  483 

Bayern  ^  590 


Russland  (1861) 600 

Frankreich  (1862) .    660 

Oesterreich-Ungarn  (1863)    ...    665 

Grossbritaunien  (1861) 814 

Ganz  Deutschland  (1861)  ....    865 
Protestant.  Deutschland  (1861)    .  1552 


")  Die  absolute  Zahl  des  Ordensclerus  beträgt: 


1  n 


Jahr 


Mönche 


Nonnen 


Deutschland  .    .    . 

Schweiz 

Oesterreich      .    .    . 

Ungarn 

Croatien-Slavonien 
Stadt  u.  Prov.  Rom 
Uebr.  Italien  .    .    . 
Frankreich      .    .    . 

Spanien 

Portugal      .... 
Grossbritannien 

Irland 

Belgien 

Holland 

Russland  u.  Polen 


1872—74 
1871 
1870 
1871 


1866 
1861 
1867 
1857-58 
1875 
1864 
1866 
1862 
1864 


2588 

546 

7389 

2243 

cir 

4326 

24543 

17776 

1506 

857 
860? 

2991 
820 

3540 


16846 

2020 

6001 

915 

320 

3825 

13853 

90343 

14725 

1560 

3320? 

1700? 

15205 

2187 

1069 


(A.  Schwietzke.  Die  religiöse»  Orden  etc.  —  Zeitschr.  d.  preuss.  stat. 
Bureaus  1875.  S.  51.  if.) 

*)  Bezüglich  der  Kirchen  sei  nur  beispielsweise  die  merkwürdige  That- 
sache  angeführt,  dass  die  Zahl  der  Pfarr-  und  Filialkirchen  in  Preussen  vom 
Jahre  1858  bis  1864  sich  vermehrte  (Oettingen  a.  a.  0.  S.  830): 

bei  den  Evangelischen  von  8325  auf  8401,  also  um   76 
„      „     Katholischen       „     5317     „    5548,     „       ,,  231 

*)  In  neuester  Zeit  stellt  sich  die  Vertheilung  der  Bevölkerung  nach 
Confessioncn  wie  folgt  (nach  den  Angaben  des  Goth.  Hofk.  1881): 


510 


Religion.  Confession  und  Gotteedienst 


9 

Lander 

Jahr 

Katholiken 

Protestanten 

Griech.  Kirche 

Juden 

Absolut 

% 

Absolut 

% 

Absolut 

% 

Absolut 

% 

Dentsches  Beich  .  . 
Oesterreich-Ungarn 
Grossbritannien    .  . 
Frankreich     .... 

D&nemark* 

Italien     

Niederlande  .... 

Schweden  

Norwegen 

Schweiz 

Spanien 

Rnm&nien 

Serbien 

1876 
1869 
1871 
1872 
1870 
1871 
1869 
1870 
1876 
1870 
1877 
1878 
1866 

15,8  MUl. 

27,»      , 

6,»      » 

85,8      , 

1867 

26,8  MiU. 

1,»      . 

587 

502 

1,08  Mill. 

116000 
4161 

86,0 
77,7 

17,5 

98,0 
40,6 

26,7  Mill. 

26,0     , 
680767 
1,7  MiU. 
68661 
2,1  MiU. 
4,i     . 
1.«     . 
1,*     . 
10000? 
30000 
463 

62,5 
9,8 
82,* 
16 
99,1 

58,7 

3,0  MiU. 

5,2  MiU. 
1,»      . 

8,5 

87 

620575 

1,8  Mill. 

46000 

49439 

86356 

68008 

1836 

34 

6996 

5000? 

400000 

2049 

l,a 

8,8 

0,1 
0,1 

7,* 

Hiezu  noch:  Belgien  ist  mit  5,4  Mill.  £inw.  fast  ganz  katholisch,  die 
Zahl  der  Protestanten  wird  anf  150000  geschätzt;  hiezu  3000  Juden.  —  In 
Portugal  neben  4,7  Mill.  Katholiken  verschwindend  wenig  andere  Confessious- 
angehörige.  —  Im  Russischen  Reich:  57,i  Mill,  Griechischer  Kirche,  535000 
Armenier,  6,7  Mill.  Katholiken,  4,i  Mill.  Protestanten,  21,3  Mill.  Juden,  5,6  Mill. 
Mohamedaner,  481000  Heiden.  —  Türkisches  Reich  (Schätzung):  2,9  Mill. 
griechisch-orthodox,  2,8  Mill.  Mohamedaner,  200000  römisch-katholisch,  100000 
Juden,  70000  Armenier  (gregorianisch),  10000  Protestanten.  —  Ver.  Staaten 
circa  6  Mill.  Katholiken,  12  Mill.  evangelisch  und  hochkirchlich,  10  Mill.  grie- 
chische und  andere  Christen  (Sectirer),  500000  Juden. 

*)  Die  verhältnissmässige  Vermehrung  der  Katholiken,  Protestanten  und 
Juden  in  den  Hauptländern  Europa'*s  stellt  sich  folgeudermassen  dar  (Oettingen, 
a.  a.  0.  Anhang,  S.  140): 


es 

Staaten 

in  der  Zeit 
von 

Vermehrung  im  Jahresdurchschnitt 
in  Procent  bei 

Katholiken 

Protestanten      Juden 

Frankreich 

Oesterreich 

Italien 

Schweiz 

Spanien 

Portugal 

Belgien 

Niederlande 

Grossbritannien    .... 

Irland 

Schweden 

Norwegen 

1851-1861 

„    -1857 

„    -1861 

1850-1860 

1849-    „ 

1850-1861 

„    -1864 

1849-1859 

1851-1861 

i  850—1864 
1855-1865 

0,26 
0,82 
0,49 
0,53 
0,93 
0,58 
0,80 
0,12 

—   1,15 

0,M 

0,42 

0,1« 
1,11 

1,21 
1,« 

1,96 
3,40 

0,(ß 

SchlusBbem  erkangen. 


511 


Staaten 


in  der  Zeit 
von 


Vermehrung  im  Jahresdurchschnitt 
in  Procent  bei 


Katholiken    Protestanten     Juden 


Dänemark 

Preussen     .  . 

Hannover  .  . 

Baden     .    .  . 
Württemberg 

Bayern  .    .  . 

Sachsen      .  . 


1850-1860 
18511—1864 

1846-    „ 

1852—    ^ 

1849-    „ 


0,3a 

0,15 
0,02 
0,46 

2,71 


1,35 

— 

1,11 

i,29 

0,50 

0,86 

0,60 

0,36 

0,04 

0,34 

0,45 

0,42 

1,53 

6,81 

Diese  Ziffern  eignen  sich  indessen  wohl  nur  dazu,  um  die  Bedeutung  der 
Religionsunterschiede  für  die  Fruchtbarkeit  der  Bevölkerung  zu  studiren.  Natio- 
nale und  locale  Eigenthümlichkeiten  scheinen    vom   grössten  Einflüsse   auf  sie 


§.  244.  Schlussbemerkungen. 

Die  Eintheilung,  welche  in  den  vorliegenden  fünf  Büchern  der  Sta- 
tistik getroffen  ist,  macht  keinerlei  Anspruch  darauf,  mustergiltig  zu  sein; 
nur  ihre  Einfachheit  mag  sie  einigermassen  rechtfertigen.  Eine  vollkom- 
mene Eintheilung  der  Statistik  als  Methode  und  Wissenschaft  zu  geben, 
ist  deshalb  noch  nicht  möglich,  weil  einestheils  die  Methode  stets  ver- 
vollkommnet wird,  anderentheils  stets  neue  Gegenstände  in  ihren  Kreis 
hereingezogen  werden.  Vermessen  hiesse  es,  einen  ^  Zweig  menschlicher 
Geistesthätigkeit,  der  noch  so  sehr  in  Gährung  und  Entwickelung  begriffen 
ist,  wie  die  Statistik,  anders  als  fragmentarisch  zu  behandeln. 

Aber  schon  die  Fragmente  zeigen  den  Charakter  dieses  eigenthüm- 
lichen  Wissenszweiges  deutlich  genug.  Schon  jetzt  erkennen  wir  die  Sta- 
tistik als  Buchhalter  des  menschlichen  und  gesellschaftlichen  Lebens. 
Als  solcher  verbucht  sie  nicht  allein  materielle,  sondern  auch  geistige  und 
sittliche  Werthe.  Wir  erkennen  sie  sodann  als  Anatom  und  Patholog 
des  mittleren  Menschen.  Ebenso  ist  sie  dessen  Biogjaph,  der  mit  unbe- 
stechlicher Wahrhaftigkeit  seine  Fehler  und  Vorzüge  verzeichnet.  Und 
schliesslich  erkennen  wir  in  ihr  auch  die  Sprache  des  gesellschaftlichen 
Gewissens.  Sie  ist  der  grosse  Personalact,  den  die  menschliche  Gesell- 
schaft über  sich  selbst,  ihr  Leben  und  Treiben  angelegt  hat. 

Es   zeigen    sich    innerhalb  dieser  wissenschaftlichen  Thätigkeit  Be- 
strebungen   zur    Anwendung    der  höheren  Mathematik  auf  die  durch  die 
•Beobachtung  gefundenen  Quantitäten.    Ob  fliese,  bis  jetzt  einsam  stehen- 
den Bestrebungen  die  Zukunft  der  Disciplin  repräsentiren :  diese  Frage  zu 


5l2  "  Schlussbemerkungen. 

entscheiden,  ist  hier  nicht  der  Ort.  Jedenfalls  reichen  schon  die  ein- 
fachsten Mittel  quantitativer  Untersuchung  hin ,  um  in  jene  Theile  des 
Staats-  und  Gesellschaftswissens,  in  welche  sie  eingedrungen  sind,  mehr 
Licht  zu  bringen ,  als  die  alte  beschreibende  Schule  jemals  vermocht 
hätte. 

So  ist  die  Statistik  das  Maass  der  Kraft  der  Völker,  aber  auch 
ihrer  Schwäche.  Sie  misst  das  Wachsthum,  das  Sein  und  Vergehen  des 
mittleren  Menschen  zunächst  in  all  den  Phasen,  in  welche  die  Natur  ihn 
versetzt.  Schon  ehe  der  Mensch  das  zweifelhafte  Licht  der  Welt  erblickt, 
beurtheilt  sie  die  Bedingungen  seines  Entstehens,  die  verschiedenen  Gründe, 
die  ihn  entweder  ins  Dasein  treten  oder  ungeboren  bleiben  lassen.  Sie 
belehrt  uns  zwar  nicht  über  die  Berechtigung  des  Entstehens  jedes  Ein- 
zelnen, aber  über  das  Recht  der  Masse  auf  das  Dasein.  Sie  beurtheilt  die 
Schwäche  und  Entwickelung  des  Kindes,  die  Kraft  des  Mannes  und 
Weibes  und  die  Gesetze  des  Todes.  Und  sie  beurtheilt  nicht  blos,  sondern 
berechnet.  Es  ist  wahr:  auch  der  mittlere  Mensch  wird  geboren  und  ent- 
wickelt sich,  altert  und  stirbt,  wie  der  einzelne.  Aber  neben  diesem  ver- 
gänglichen Dasein  führt  er  noch  ein  anderes,  unendlich  grossartigeres;  ein 
Dasein,  das  in  die  tiefumwölkte  Urzeit  hinaufreicht.  Stets  vergehend,  ent- 
steht er  stets  aufs  neue  aus  dem  Grabe.  Dieses  andere  längere  Leben  des 
mittleren  Menschen  kennt  die  Statistik  nicht;  es  gehört  der  Geschichte 
an  und  das,  was  von  ihm  vergangen  ist,  wird  nie  gemessen  werden.  Was 
wir  vom  Leben  des  mittleren  Menschen  kennen,  ist  kaum  so  viel,  als 
wenn  wir  eine  Stunde  aus  dem  Dasein  eines  einzelnen  Menschen  kennten. 
Dürfen  wir  von  dieser  Stunde  auf  ein  ganzes  ereignissreiches  Leben 
schli  essen? 

Die  Statistik  ist  das  Maass  der  Thaten  des  mittleren  Menschen.. 
Seine  Aufgaben  zwar  sind  ihr  in  den  letzten  Ausläufern  verhüllt,  aber 
sein  Streben,  diesen  Aufgaben  gerecht  zu  werden:  das  ermisst  und  wägt 
sie.  Sie  beschäftigt  sich  mit  dem  Kampf  des  Menschen  um  sein  Dasein; 
als  wirthschaftliche  Statistik  misst  sie  seine  Arbeit  und  Sparsamkeit, 
seinen  Reichthum  in  jden  verschiedenen  Phasen  desselben.  Und  indem  sie 
zuletzt  noch  die  Wohnsitze,  die  gesellschaftliche  und  politische  Ordnung, 
Glück  und  Elend,  Recht  und  Sittlichkeit,  Bildung  und  Religion  erfasst, 
wo  sie  fassbar  werden,  wird  sie  zum  Maasse  der  Civil isation.  Mit  dem 
Werthe,  den  alles  Streben  nach  Wahrheit  hat,  in  sich,  gewinnt  sie  auch 
noch  sittlichen  Werth,  indem  sie  uns  belehrt,  dass  wir  nicht  wie  astrono- 
mische Gebilde  in  festvorgeschriebenen  Bahnen  des  Guten  und  Bösen 
gehen ,  sondern  dass  wir  zwar  selbst  noch  Ziffern  im  grossen  Ziffer- . 
meere  sind,  aber  Ziffern,    die    ihre    Grösse    selbst  bestimmen;    dass  jeder 


Schlussbumeikungen.  513 

Einzelne  weit  über  die  Sphäre  des  Durchschnittsmenschen  sich  aufzu- 
schwingen und  an  tausend  gesellschaftlichen  Fäden  das  Ganze  nachzu- 
ziehen vermag. 

Das  Beste,  was  in  der  Menschheit  ist  und  von  ihr  geschaffen  wird, 
entzieht  sich  der  Statistik.  Die  Zahl  hat  keinen  Ausdruck  dafür^  Die  Höhe 
des  Lebens  beginnt  auf  einem  Boden,  welcher  über  den  Zahlen  steht  und 
es  ist  die  Aufgabe  des  Einzelnen,  jene  Höhe  zu  erreichen. 


fiauskufer,  Statistik.  2.  Aufl.  33 


AlpMetisches  Sach-  und  Autorenregister. 


Seite 

Abscisse 48 

Absolute  Bevölkerung 87 

Absterbetafeln 185 

Abstimmungen 427 

Abstractionen,  rechnerische  ....  54 

Acclimatisation 148 

Achenwall 9 

Ackerbau 269 

Aethiopische  Race 417 

Alter  der  Heiratenden 403 

Alter,  sein  Einfluss  auf  Verbrechen  463 

Altersaufbau 209 

Altersclassen 209 

Alterscurven 48 

Alterssterblichkeit 141 

Amerikanische  Race 417 

Amtliche  Statistik 73 

Analfabeti    .    • 501 

Anchersen 14 

Anlagekosten  der  Eisenbahnen     .    .  323 

Ansledlungsverhältniss 388 

Arbeit 245 

Arbeitsgeschicklichkeit 246 

Arbeitskraft 245 

Arbeitslohn 350 

Arithmetische  Durchschnitte    ...  53 

Armeen,  Kosten  derselben    ....  434 

Armeen,  Stärke  derselben    ....  429 

Armenstatistik 354 

Associationen 414 

Aufenthalt,   Art  desselben    ....  99 

Auflagen 438 


Seite 

Aufwandsteuem 439 

Ausfuhrhandel 335 

Auswanderung 173 

Bankrotte 487 

Baugewerbe 301 

Baumhauer 36 

Baum  Wollhandel 343 

Baum  Wollindustrie 295 

Becker 191 

Behausungsverhältniss 390 

Behausungsziflfer 391 

Bekleidungsindustrie 300 

Beobachtungsperioden 79 

Berg 190 

Bergbau 286 

Bernoulli 355 

Beruf  und  Criminalität 471 

Berufe,  Sterblichkeit  derselben    .   .  157 

Berufsclassen 249 

Beschleunigte  Bewegung 118 

Beschreibende  Schule 59 

Bettel 486 

Bevölkerung 87 

Bevölkerungsstatistik 87 

Bevölkerungstheorie 364 

Bewegung  der  Bevölkerung     ...  114 

Bierbrauereien 299 

Bierconsumtion 361 

Bildung 496 

Bildung  und  Criminalität     ....  471 
Bildungsclasscn  .........415 


Alphabetisches  Sach-  und  Autorenregister. 


515 


Seite 

Blinde 234 

Block 18 

BodenbeschafFenheit 261 

Bodengliederung 242 

Bodenvertheilung 265 

Bodenverwendung 262 

Bodio 24 

Brämer 304 

Branntweinbrennerei 300 

Öranntweingehuss 481 

Briefverkehr 503 

Budgets,  Vergleichung  derselben     .  431 

Bücher,  Statistik  der     ......  504 

Büsching 14 

Bureaux,  statistische 26 

Butte 11 

Capital 2o5 

Census 5 

Centralcommissionen,  statistische    .  76 

Christen 508 

Civilisation  und  Sterblichkeit  ...  169 

Civilrcchtspflege     .    ^ 444 

Classenunterschiede 415 

Communicanten 508 

Concurse,  Zahl  derselben  .    .    .    »    .  445 

Confession 507 

Confessionen,  Criminalität  derselben  473 

Congresse,  statistische 31 

Consumsteuern 439 

Conring 8 

Consumtion 456 

Cornwall  Lewis 24 

Corporationen 413 

Criminalstatistik 455 

Crimineller  Hang 457 

Culturarten 262 

Curvenzeichnung 47 

Czörnig 433 

Dampfmaschinen 247 

Dampfschiffe 330 

Datum,  statistisches 42 

David 190 

Deparcieux 189 

Diagramme ^  •   .  47 

Diebstahl 487 


Seite 

Dieterici 19 

Dörfer 388 

Domänen 436 

Drobisch 452 

Durchschnitte 52 

Durchschnittsalter  der  Gestorbenen  203 

„                 „    Lebenden     .  200 

Durchschnittsmensch 67 

Dufau 17 

Edelmetalle,  Preise  derselben      .    .  315 

Edelmetallproduction 289 

Ehe 394 

Ehen,  Dauer  derselben 406 

Eheliche  Fruchtbarkeit 407 

Ehescheidungen 489 

Eigenthumsverletzungen   ...    .    .  487 

Einflüsse,  auf  d.  Menschen  wirkende  64 

Einfuhrhandel 335 

Einkommen      . 346 

Einkommensclassen 347 

Einwanderung 180 

Einwohnerlisten 101 

Einzelnansiedlung 388 

Eisenbahnen 319 

Eisenbahnunfälle 328 

Eisenpro  duction 289 

Emminghaus 354 

Engel 19 

Erde,  Bevölkerung  derselben    ...  90 

Erde,  Oberfläche  derselben   .    .    .    .  241 

Euler 189 

Fabricate,  deren  Preise 314 

Factische  Bevölkerung 99 

Famüie 394 

Familien,  Zahl  derselben 408 

Familienglück 488 

Familienleben  und  CriminaHtät  .   .  466 

Familienstärke 409 

Farr 190 

Feuerversicherungsstatistik  ....  256 

Finanzstatistik 431 

Flächendiagramme 50 

Fleischconsumtion 339 

Florentiner  statistischer  Congress  .  462 

Forsten  und  Domänen 436 


516 


Alphab  etiecbes  Sach-  und  Autorenregister. 


Forststatistik 

Forstwirthschaft 

Fragestellang 

Freiheit  des  Willens 

Freiheitsstrafen  und  Sterblichkeit 
Fruchtbarkeit  der  Ehen   .... 


Gabaglio 

Gang  der  Bevölkerung 

Gebäudewerth 

€SeVräuche 

€tel5rechliche 

Geburten,  Geburtenziffer 

Geburtenfrequenz  s.  -Geburtenziffer 

Geburtsstände 

Gefängnisse,  Sterblichkeit  derselben 
Gegentendenzen  d.  Volksvermehrung 

Geisteskranlcheiten 

Geistliche 

GriM 

Geldsurrogate 

Geographie  und  Statistik 

Geometrische  Durchschnitte     .    .    . 

Gerstner 

Geschichte  der  Statistik 

Geschichte  und  Statistik 

Geschlecht 

Geschlecht,  Einfluss   desselben  auf 

die  Verbrechen 

Geschlechtliche  Sitte 

Gesellschaft 

Gesetze  der  Statistik 

Gesichtstypus 

Gesundheit 

Getränkesteuern 

Getreideconsumtion 

Getreidehandel 

Getreidepreise 

Gewaltsame  Todesarten 

Gewerbe 

Gewerbliche  Bevölkerung 

Gewicht,  menschliches 

Gisi 

Gliederung  des  Volkes 

Goldpreis 

Goldproduction 

Grenzen,  politische  etc 


Seite 
277 
277 
80 
453 
164 
407 

24 
114 
256 
418 
234 
121 
121 
415 
164 
370 
231 
509 
317 
318 

69 

53 

365 

3 

71 
214 

465 
491 
412 
57 
224 
224 
441 
359 
342 
307 
165 
280 
281 
221 
190 
412 
316 
289 
378 


Seite 

Graphische  Darstellungen     ....  47 

Graunt :    .  14 

Grösse  des  Menschen 219 

Grossbetrieb 282 

Grossstädte         385 

Grundeigenthum 265 

Grundstücke,  Werth  derselben     .    .  256 

Guerry •    •   •  17 

Guillard 18 

Gymnasien 500 

Haarfarbe 224 

Hain 20 

Halley 189 

Handel,  Handelsstatistik 334 

Handelsbilanz 336 

Handelsmarine 329 

Hang  zum  Bösen 457 

Hassel 11 

Häuser 390 

Haushaltlisten 102 

Haushaltungen 408 

Hauslisten    .    .   .   .* 101 

Hausner 390,  473 

Hautfarbe 224,  417 

Heere,  Stärke  derselben 429 

Heimat 417 

Heiratsalter 403 

Heiratsfrequenz 398 

Hermann 21 

Herodot 4 

Herzberg 11 

Hildebrand 22 

Hochschulen 500 

Hoffmann 19 

Hörn 394 

Hüttenwesen 286 

Industrieproducte,  deren  Preise  .   .  314 

Innerer  Zuwachs 115 

Jacobi 354 

Jahreszeiten  und  Criminalität  ...  469 

Jahreszeiten,  Sterblichkeit  derselben  ^51 

Jannasch  . 293 

Juden,  Criminalität  derselbeii .   .    .  473 


Alpliabetiachea  Sach-  und  Autorenregister. 


517 


Seite 

Juden,  Sterblichkeit  derselben    .   .  147 

Juden,  Volkszählungen  derselben    .  95 

Kaffeehandel 344 

Kammevgüter 6 

Kartogramme 50 

Kartographische  Methode     ....  51 

Katholiken,  Zahl  derselben  .    .    .    .  510 

Kaukasier 417 

Kersseboom 189 

Kiaer 190 

Kindermord 482 

Kindersterblichkeit 141 

Kirchen 508 

Kirchenbücher 7 

Kirchensprengellisten     ......  6 

Kleinbetrieb 282 

Klima  und  Sterblichkeit 144 

Klimatische  Curorte 149 

Knapp 22, 191 

Knies 20 

Körösi 192 

Körperbau 417 

Körperliche  Eigenschaften    ....  214 

Kohlenhandel .  345 

Kohlenproduction 288 

Sörpeiyerletzungen 484 

Krankheiten  des  Lasters 481 

Krankheiten,  einzelne 229 

Krieg 484 

Kriege,  Opfer  derselben 161 

Kunst 505 

Lage  der  Städte 383 

Lampertico 24 

Landbevölkerung  ' 379 

Landstrassen 319 

Landwirthschaftliche  Bevölkerung  .  268 

Landwirthschaftliche  Statistik  .    .    .  260 

Laplace 189 

Lazarus 137 

Lebensbethätigung,  sittliche     .    .    .  454 

Lebensdauer 182 

Lebensverhältnisse 461 

Lebensversicherung 257,  207 

Lebens  Wahrscheinlichkeit  ....    .  196 

Lederindustrie  -.  '. 297 


Seite 

Legoyt 18 

Lehranstalten i   .    .    .  498 

Lehrerzahl 498 

Leinenindustrie 294 

Levi 354 

Lexis 192 

Liniendiagrarame 47  ^ 

Listen  für  Volkszählungen   ....  103 

Literatur 504 

Lohnstatistik 350 

Lüder 25 

Maestri 24 

Malayische  Race 417 

Malthus 368 

Mangold 365 

Maschinen 247 

Maschinenbau 291 

Massenbeobachtung 33 

Mathematik  und  Statistik    ....  72 

Maxima 52 

Mayr 22 

Medicinische  Statistik 224 

Mendicität 486 

Messedaglia 24 

Metallindustrie 291 

Methode,  statistische 32 

Militär 429 

Militär,  Kosten  desselben 434 

Militärsterblichkeit 159 

Mill,  J.  St U 

Mineralien,  nutzbare      242 

Mineralische  Rohstoffe  (Preise)   .    .  313 

Minima 52 

Minoritäten 426 

Mittelschulen •  .  499 

Mittelwerthe 52 

Mittlere  Lebensdauer        198 

Mittlerer  Mensch (57 

Mönche 509 

Monatssterblichkeit    .......  152 

Mongolische  Race 417 

Moralstatistik 451 

Morbilität 225 

MöTd 482 

Moreau  de  Jonnfes      18 

Morpurgo 24 


518 


Alphabetisches  Sach-  und  Autoren-Repster. 


Mortalität,  s.  Sterblichkeit. 

Moser 

Münzvorrath 

Musikalisches  Talent     .    . 
Muskelkraft,  menschliche  . 


Vahningsmittelindastrie   .... 

Nation,  Nationalität 

Nationalität  und  Criminalität .    . 
Nationalökonomie  und  Statistik  . 

Naturproducte 

Naturwissenschaften  und  Statistik 

Neumann-Spallart 

Niemann 

Nonnen 

Notenumlauf 

Nothzucht 

Notorietät 


Oesterlen . 

Oettingen 

Ordinate 

Organisation  der  amtlichen  Statistik 

Orden,  geistliche 

Ortschaften 

Oscillationszahl 

Papierfabrication 

Papiergeld 

Periodische  Beobachtung 

Periodische  Zählungen 

Petroleum 

Petty 

Pflanzenwelt,  die 

Philosophie  und  Statistik     .... 
Physisches  Leben  der  Bevölkerung 

PoHtik 

Politik  und  Statistik 

Politische  Verbrechen 

Porter 

Portlock 

Post  .   .    .   , 

Präventive  Gegentendenzen  .... 
Preise,  Statistik  derselben    .... 

Preisbestimmungsgründe 

Preisgeschichte 

Preisstand 


Seite 

189 
3\1 
506 

297 
416 
468 

70 
241 

72 
260 

12 
509 
318 
495 

68 

224 

22 
48 
75 
509 
388 
54 

296 
318 

79 

95 
345 

15 
242 

71 
182 
424 

69 
488 

24 

25 
332 
371 
303 
305 
306 
304 


Seite 

Preisunterschiede 306 

Privatstatistik 78 

Procentsätze    . 51 

Processe,  Zahl  derselben  .....  444 

Production,  Statistik  derselben    .    .  241 

Productive  Jahre 210 

Prostitution 491 

Protestanten,  Zahl  derselben    .    .    .  510 

Protokollarische  Zählung  .....  101 

Psychologie  und  Statistik     ....  71 

Publicationen,  statistische    ....  82 

Quantitätsausdrücke 41 

Qu^telet 16 

Bacen 417 

Rechnungsoperationen,  statistische  .  51 

Rechtliche  Bevölkerung     .....  99 

Rechtspflege 444. 

Rechtswissenschaft  und  Statistik     .  70 

Recrutenbildung 502 

Regelmässigkeiten,  statistische     .   .  57 

Relative  Bevölkerung     .   .    .    .  •    .  106 

Relative  Zahlen 51 

Relazioni 6 

Religion ,    .    .  507 

Remer 11 

Repressive  Gegentendenzen  ....  372 

Riehl 391 

Rohstofi'e,  Preise  derselben  .    .    .   .  310 

Romagnosi 24 

Rotteck 11 

Rückfällige 459 

Rümelin 21 

Sadler *. 408 

Salinenwesen 286 

Salzconsumtion 360 

Salzsteuer,  Ertrag 440 

Say 25 

Schätzungen  der  Bevölkerung      .    .  89 

Schififahrtsstatistik    . 329 

Schlözer 13 

Schmoller 362 

Schreibfähige 501 

Schulbesuch 499 

Schulbildung  und  CriminaHtät    .   .  471 


Alphabetisches  Sach*  und  Autoren-Register. 


519 


Seite 

Schulen 497 

Schulkinder 499 

Schwabe 385 

Seeschiffahrt 329 

See-Unfälle 331 

Seidenindustrie 293 

Selbsterhaltungstrieb 460 

Selbstmord !    .....  474 

Sensibilität 49,  53 

Silberpreis 316 

Silberproduction      289 

Sinnesorgane,  Fehler  derselben   .    .  233 

Sitte 417 

Social-Ethik 454 

Socialwissenschaft 61 

Soetbeer 289 

Sparcassen 258 

Sprache 418 

Staat 411 

Staatsausgaben 433 

Staatseinnahmen 435 

Staatsgebiet 377 

Staatshaushalt 431 

Staatsindustrien 437 

Staatslotterie,  Einnahmen  derselben  437 

Staatsschulden 442 

Staatsschulden,  Kosten  derselben    .  435 

Staatsverfassung 424 

Staatsverkehrsanstalten,  Einnahmen 

derselben 438 

Stadt  und  Land 379 

Städte 379 

Städte,  Qualität  derselben    ....  387 

Städte,  Sterblichkeit  derselben    146,  148 

Stand  der  Bevölkerung 88 

Stände 415 

Standessitte 418 

Stationäre  Bevölkerung 114 

Stehende  Heere 429 

Steinkohle 288 

Steinkohlenhandel 345 

Sterbenswahrscheinlichkeit    ....  196 

Sterblichkeit 136 

Sterblichkeit  in  Städten 146 

Sterblichkeitscoefficient 196 

Sterblichkeitstafeln 485 

Sterblichkeitsziffer  ........  136 


Seite 

Steuern 438 

Stimmrecht 426 

Strafgesetzgebung      459 

Strassen 319 

Strichelung 81 

Süssmilch 15 

Syphilis 481 

Tabakconsumtion 361 

Tabakfabrication 300 

Tabaksteuer,  Ertrag 440 

Tabelle 44 

Tammeo 24 

Taubstumme 234 

Telegraphie 332 

Tenacität 53 

Tendenz  der  Gütervermehrung    .    .  369 

„          „    Volksvermehrung     .   .  370 

Textilindustrie 292 

Theuerung  und  Criminalität    .    .    .  470 

Theuerung  und  Sterblichkeit   .    .    .  153 

Thiere,  Preise  derselben 311 

Todesstrafe  . 484 

Todesursachen 136 

Todtenregister 6 

Tooke  &  Newmarch 304 

Transportwesen 319 

Trauungsziffer 398 

Typhussterblichkeit 229 

Typus 53 

Ueberlebenstafeln 185 

üebervölkerung 366 

Uneheliche  Geburten 492 

Unfälle,  Unfallstatistik 166 

Unglück,  Messung  desselben    .    .    .  478 

Universitätsstudium 500 

Unproductive  Jahre 210 

Unzuchtsverbrechen 491 

Ürmaterial 79 

Ursachen  der  Bevölkerungsbewegung  1 15 

Ursachen  der  Erscheinungen    ...  55 

Ursachen  der  sittlichen  That  .   .   .  460 

Vagantenthum 486 

Verbrechen,  Statistik  derselben    .    .  455 

Verbrechen,  Regelmässigkeit  der     .  458 


520 


Alphftbetiselitff  Sach*  und  Autoren-Beg^ister. 


Seit« 

Verdoppelung  der  Bevölkerung  .    .  H7 

Verfassungsleben 484 

Vergleichung  der  Daten 54 

Verhältnisszahlen 51 

Verheiratete,  Zahl  derselben    .    .    .  395 

Verkehrslage 384 

Verkehrsmittel 319 

Verlagsartikel 505 

Vennehrung  der  Bevölkerung  .    .   .  H6 

Verminderung  der  Bevölkerung  .   .  116 

Versicherungsgesellschaften  ....  414 

Verunglückungen 166 

Verwaltungsstatistik 73 

Verzögerte  Bewegung 118 

Viehpreise 311 

Viehproducte,  Preise  derselben    .   .  3  IS 

Viehstand 273 

Viehstatistik 273 

Viehzucht 273 

Villeneuve 355 

Volk 4il 

Völkerfamilien 416 

Volksbildung  und  Criminalität    .    .  471 

Volksdichtigkeit 106 

Volkseinkommen 346 

Volksschulen 498 

Volksstämme       416 

Volksvertretungen,    Statistik    ders.  424 

Volkszählungen 95 

Wagner,  A 4,  21 

Wahlstatistik 424 

Wahrscheinliche  Lebensdauer  .    .    .  199 

Wald,  Wälder 277 

Wappäus 20 


Seite 

Wargentin 189 

Wechseluralauf 318 

Wehrkraft 429 

Weibercriminalifät 465 

Weiler 388 

Weinconsumtion 360 

Weisz 354 

Werthbestimmung  sittlicher  Hand- 
lungen    456 

Werthrelation 316 

Willensfreiheit 453 

Wirthschaftliche  Statistik     ....  239 

Wissenschaft 496 

Wittstein 191 

Wohlstand  und  Sterblichkeit   .    .    .  155 

Wohnhäuser 390 

Wohnlichkeitsverhältniss 393 

Wohnsitze 377 

Wohnungen 393 

Wollhandel 344 

Wollindustrie 894 

Wuchs,  Entwickelung  desselben  .    .  219 

Zahl,  Gesetz  der  grossen 34 

Zähler 97 

Zählblättchen 104 

Zählkarten 104 

Zählungen  der  Bevölkerung     ...  95 

Zeitungsverkehr 503 

Zeuner 23,  191 

Zölle,  Ertrag  derselben 441 

Zuckerconsumtion 360 

Zuckerfabrication 298 

Zufall 58 


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