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LEHE- UND HANDBUCH
DER
STATISTIK
VON
Dr MAX HAÜSHOFEB
PBOFES80B AN DER K. TECHNISCHEN HOCHSCHULE ZU MÜNCHEN.
ZTEITE, TOLLSTilDIß UI&EiBfiEITETE ADFLiOE.
WIEN 1882.
WILHELM BRAÜMÜLLER
K. K. HOF- UND ÜNIVERSITITSBüCHHÄNDLBR.
>^
Vorwort zur zweiten Auflage.
iaeit dem Erscheinen der ersten Auflage dieses Buches, im J. 1872,
bin ich mir über eine Reihe von Verbesserungen klar geworden, welche
hinsichtlich des Buches theils möglich waren, theils ein unerreichbares
Ideal bleiben mussten.
Die grösste Schwierigkeit, welche mir bei der Bearbeitung beider
Auflagen entgegenstand, lag darin, dass das Buch gleichzeitig die Zwecke
eines Lehrbuches zum Studium, und eines Handbuches zum Nachschlagen
erfüllen wollte. Diese beiden Zwecke schliessen sich, wie ich mittlerweile
beobachten konnte, in einem höheren Grade aus, als ich anfangs geglaubt
hatte. Ein Lehrbuch muss auf eine längere Dauer von Jahren brauchbar
sein ; ein statistisches Handbuch dagegen kann der Natur der Sache nach
nur einen vergänglichen Werth haben.
Wenn ich trotz dieser Erfahrung an eine Neubearbeitung des Buches
gegangen bin, that ich das in der üeberzeugung, dass einem Buche, welches
heutzutage eine zweite Auflage erlebt, selbst mit einem solchen Cardinal-
fehler ein gewisses Recht auf das Dasein zusteht.
Hätte ich dieses Recht ignorirt, so wäre die zweite Auflage ein ganz
anderes Buch geworden : ein System der Socialwissenschaft. in welchem die
Zifl^ern noch weit mehr in den Hintergrund getreten wären, als in der
ersten Auflage.
Da dies vorläufig nicht meine Absicht war, sah ich meine Aufgabe
bei der Neubearbeitung hauptsächlich in Folgendem. Einmal konnten in
dem, dem Zwecke des Lehrbuches dienenden Texte, namentlich im histo-
rischen Theile desselben manche Kürzungen vorgenommen werden. Andern-
Hanshofer, Statistik. 2. Aufl. a
487448
IV Vorwort.
theils aber mussten die alten Zahlenangaben fast ausnahmslos entfernt und
durch die neuesten, die überhaupt verfügbar sind, ersetzt werden. Letztere
Aufgabe, wie mühsam sie auch war, und wie wenig Reiz für die Thätigkeit
des Gedankens sie auch darbieten mochte, hoflfe ich so weit gelöst zu
haben, dass das Buch jetzt in einem weit höheren Grade als Nach-
schlagebuch brauchbar sein dürfte, als seinerzeit die erste Auflage ge-
wesen ist.
Noch etwas Anderes aber hielt ich für meine Pflicht. Dem Brauche
statistischer Handbücher gemäss, hatte ich in der ersten Auflage häufig
Zahlenangaben ohne Mittheilung ihrer Quelle gegeben. Von diesem Brauche
bin ich in der zweiten Auflage abgegangen und habe, fast ohne Ausnahme,
nur mehr solche Ziffern mitgetheilt, welche bis zu ihren Quellen zurück-
verfolgt werden können. Vieles wurde mir dabei erleichtert durch die
liebenswürdige Liberalität, mit welcher mir die Direction der Statistik des
Königreichs Italien ihre reichhaltigen Publicationen sandte.
Ich hatte mir niemals verhehlt, dass die erste Auflage trotz eines
grossen Leserkreises, welchen sie in Oesterreich-Ungarn und im Deutschen
Reiche gefunden hat, trotz einer Uebersetzung ins Polnische, welche sie
(Warschau 1875) erlebte, und trotz mancher Anerkennung, die sie mir
verschaffte, weit entfernt war, meinen eigenen und fremden Ansprüchen
hinsichtlich der Vollständigkeit, Gründlichkeit und Neuheit zu genügen.
Dass die zweite Auflage ein wesentlicher Schritt zur Besserung sei, war
der Gedanke, der mir die Arbeit verschönte.
München, im November 1881.
M. H.
Inhaltsübersicht.
Erstes Buch. Geschichte und Theorie der Statistilc.
I. Capitel. Geschichte der Statistik. §. i— 17.
II. Capitel. Die Statistik als Methode. §. 18—35.
III. Capitel. Die Statistik als Wissenschaft. §. 36—49.
IV. Capitel. Die Statistik als Zweig der Staatsverwaltung. §. 50—58.
Zweites Buch. BevöJIcerungsstatistilc.
I. Abschnitt. Stand der Bevölkernngr.
I. Capitel. Absolute Bevölkerung. §. 59-66.
II. Capitel. Relative Bevölkerung. §. 67-68.
II. Abschnitt. Gang der BevöH^erungr.
I. Capitel. Veränderungen der Volkszahl. §. 89—72.
II. Capitel. Das Werden der Bevölkerung. §. 73—83.
III. Capitel. Das Vergehen der Bevölkerung. §. 84—102.
IV. Capitel. Aeussere Einflüsse auf die Bevölkerungsbewegung. §. 103, 104.
III. Abschnitt. Physisches Leben der Beröllfernngr.
I. Capitel. Die Lebensdauer. §. 105—116.
II. Capitel. Die Altersclassen. §. 117—119.
m. Capitel. Andere körperliche Eigenschaften der Bevölkerung. §. 120—130.
Drittes Buch. Wirthschaftliche Statistilc.
Uebersicht. §. 131, 132.
I. Capitel. Allgemeine Bedingungen der Production. §. 133—138.
11. Capitel. Land- und Forstwirthschaft. §. 139—145.
m. Capitel. Die Gewerbe. §. 146—152.
lY. Capitel. Statistik der Preise. Das Geld. §. 153—161.
V. Capitel. Das Transportwesen. §. 162—165.
VL Capitel. Der Handel. §. 166—168.
Vn. Capitel. Das Volkseinkommen und seine Vertheilung. §. 169 — 172.
Vin. Capitel. Die Consumtion. §. 173—175.
IX. Capitel. Bevölkerung und wirthschaftliches Leben. §. 176 — 180.
VI Inhaltsftbersicht.
Viertes Buch. Das gesellschaftliche und politische Leben.
I, Capitel. Die Wohnsitze der Bevölkerung. §. 181—188.
II. Capitel. Ehe und Familie. §. 189—198.
III. Capitel. Volk und Staatswesen. §. 199—208.
Fünftes Buch. Moraistatistik.
I. Capitel. Uehersicht. §. 209—217.
II. Capitel. Die bestimmenden Ursachen der sittlichen That. §. 218—228.
in. Capitel. Die einzelnen sittlich bedeutungsvollen Handlungen. §. 229—236.
IV. Capitel. Geistiges und religiöses Leben. §. 237—244.
• , • • *
Erstes Buch.
Geschichte und Theorie der Statistik.
Hansbofer, Statistik. 2. Aua.
* • -♦•"•!
I. Capitel.
GrescMclite der Statistik.
§. 1. Kothwendigkeit geschichtlicher Betrachtung.
Der Ausdruck Statistik wird vom lateinischen Status hergeleitet.
Status wurde in klassischen Zeiten blos für den BegriflF „Zustand" ge-
braucht, später auch für den Begriflf „Staat". Statistik lässt sich dem-
nach ebensowohl mit Staatenkunde, Staatserforschung, als mit
Zustandswissenschaft, Zustandserforschung übersetzen.
Seit Anfang des 18. Jahrhunderts wird der Ausdruck Statistik üblich,
und zwar allmälig für verschiedene Richtungen menschlicher Verstandes-
thätigkeit.
Heutzutage nennt man Statistik:
I. Eine Methode der Erforschung von Erscheinungen zu wissen-
schaftlichen und praktischen Zwecken, nämlich die Methode der Massen-
beobachtung.
n. Eine Wissenschaft, welche sich auf ihrem jetzigen Höhepunkte
dieser Methode bedient.
III. Eine amtliche Thätigkeit der Staatsbehörden.
Im Verlaufe der Entwickelungsgeschichte dieser Wissenschaft aber
wurden sehr verschiedene Dinge Statistik genannt. Die Statistiker sahen
die Gegenstände, die Aufgaben, die Methoden und die letzten Zwecke
ihrer Thätigkeit bald in diesem, bald in jenem. Einzelne erfassten die
Statistik als Staatskunde, als Wissenschaft von den Staatsmerkwürdigkeiten,
von der Staatsverfassung, von den Staatskräften, andere als eine Zustands -
Wissenschaft, einige als Zahlenwissenschaft, andere als die Erforschung
geheimer Gesetze. Bald brachte man sie mit Geschichte, bald mit Geo-
graphie, bald mit Staatsrecht und Politik, bald mit der Mathematik und
den Naturwissenschaften in Verbindung. Und während von einigen ihr
A. • ' • • • pjg Statistik im Alterihume.
wissenscfiaTÖicfiir'Clfärakter'lrielir'oder weniger abgeläugnet wurde, hat
sie in anderen Geschichtschreiber ihrer Literatur gefunden*).
Bei einem Gegenstande menschlicher Geistesthätigkeit aber, welcher
so viel umstritten ist, wie der Begriff, die Aufgaben und die Gestaltung
der statistischen Forschung, ist eine Betrachtung der geschichtlichen Ent-
wickelung dringend geboten. Und man darf dabei nicht mit zufälligem
Griffe in die historischen Erscheinungen fahren und wider einander Strei-
tendes als schroffe Beispiele hinstellen, sondern man muss in diesen Er-
scheinungen die Entstehung der Wissenschaft erforschen und die allmälige
Weiterbildung des Gedankens verfolgen.
Anmerkung.
*) Unter den vielen Geschichtschreibern der statistischen Literatur seien
hier zunächst drei der bedeutendsten besonders zu erwähnen, nämlich: R. v.
Mohl: Die Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften, Erlangen 1858,
im III. Bd. — C. G. A. Knies: Die Statistik als selbständige Wissenschaft,
Kassel 1850. — A. Wagner: im Artikel „Statistik" des X. Bandes von
Blunt8chli-Brater''s Staats Wörterbuch. Die letztgenannte sehr umfassende und
gründliche Arbeit bildet auch die Grundlage des folgenden Capitels.
§. 2. Die Statistik im Alterthume.
Fasst man den Begriff der Statistik in geschichtlicher Weise auf,
d. h. betrachtet man alle jene Erscheinungen, welche heute und jemals
Statistik genannt worden sind, so ist die Statistik uralt.
Sie begann höchst wahrscheinlich mit einer Regierungsstatistik zu
militärischen und finanziellen Zwecken. So- werden im Alten Testamente
Volkszählungen der Juden erwähnt^). Die Berichte Herodot's*) lassen
auf eine ausgedehnte finanzielle und militärische Statistik in Persien unter
der Regierung der Achämeniden schliessen. Die Chinesen besassen in dem
von Confiicius gesammelten Buche Schuking statistische Angaben über
die Topographie, über den Zustand des Ackerbaues, der Industrie, des
Verkehrs und der Abgaben von China aus dem 3. Jahrtausend vor Chr.
Im alten Aegypten scheint es Volkszählungen, sogar schon eine Art Civil-
standsregister, Grundkataster u. s. f. gegeben zu haben.
Bei einem so entwickelten Staatsleben, wie das der alten . Hellenen
war, musste gleichfalls eine Art Verwaltungsstatistik bestehen, namentlich
in Bezug auf Bevölkerung, Territorium, Grundbesitz, Finanzen u. s. f. Da-
gegen sind wissenschaftliche Leistungen auf diesem Gebiete nur in zer-
streuten und unbedeutenden Anfangen vorhanden.
Ungleich grossartiger entwickelte sich die Statistik im alten Rom ^),
getragen durch des Volkes eminentes praktisches Staatstalent, und zwar
überall in der Form der Erforschung von solchen Erscheinungen, welche
Die Statistik im Altertliame. 5
für die Verfassung und Verwaltung der Republik Bedeutung hatten. Der
erste Censns, eine Volkszählung mit gleichzeitiger Erhebung des Vermö-
gensstandes, wird bis auf Servius Tullius zurückgeführt und wiederholte
sich zur Zeit der Republik alle fünf Jahre. Das active Militär wurde
besonders gezählt. Die Zählung vollbrachte der Censor, welchem eine
Art statistisches Bureau zur Seite sich befand. In den Zeiten der Re-
publik war der regelmässige fiinQährige Census eine höchst feierliche
Handlung. Es wurde die rechtliche Bevölkerung gezählt; der Familien-
vater musste für sich und seine Angehörigen Namen, Geschlecht, Alter,
Wohnort und Vermögen angeben. In der Kaiserzeit verlor der Census
seine ursprüngliche Bedeutung und diente zumeist Steuerzwecken; er
kam dann alle 10, später alle 15 Jahre zur Ausführung. Der Personal-
census und der Census des Grundvermögens wurden getrennt; ersterer
wurde zu einer der Kopfsteuererhebung dienenden Zählung, letzterer eine
Grundkatastrimng für die Grundsteuererhebung. Der kaiserliche Census
verlangte auch Angaben über die Zahl der Sklaven, über deren Nationa-
lität und Beruf.
Das erhobene Material wurde zusammengestellt und bearbeitet. Es
liegen Resultate der römischen Volkszählungen vor. Im ersten Jahrhun-
dert der Republik schwankt die Censuszahl zwischen 104000 und 150000;
zur Zeit des Kaisers Claudius erreicht sie 49 Millionen.
Die Kaiser interessirten sich fiir diese Zählungen; es wurden Karten
entworfen, statistische üebersichten angelegt. Cicero fordert für den
Staatsmann statistische Kenntnisse — ein „nosse rempublicam". Eine an-
geblich von J. Cäsar begonnene Vermessung führte Augustus aus; der-
selbe hatte üebei-sichten über die Zahl des Militärs, über die Finanz-
verhältnisse. In dem bureaukratisch gestalteten byzantinischen Reiche
finden sich Staatshandbücher, die notitiae omnium dignitatum administra-
tionumque.
Eine wissenschaftliche Statistik gab es bei den Römern nicht; ihre
statistische Thätigkeit diente praktischen Zwecken. Statistische Beamte
waren die Censoren; im Tempel der Libertas war zur Zeit der Grachen
das statistische Bureau, zu Cicero's Zeiten im Tempel der Nymphen.
Wohl aber kannten die politischen Schriftsteller Roms den Werth der
Statistik.
Aumerkuugeu.
*) Moses IV. c. 1 ff. Sie spieleu eine grosse Bolle im Staatslebeu.
*) Herodot IIL 89 V. 52, VII. 60 ff.
*) Ausführliches hierüber befindet sich in Hildebra]id''s Artikel „Die
amtliche Bevölkerungsstatistik im alten Rom" in den Jahrbüchern für National-
ökonomie und Statistik, Jahrg. 1866, LS. 83.
6 Die Statistik vom Ausgange des Mittelalters bis za den Anfangen der neueren Statistik.
§. 3. Die Statistik des Hittelalters.
Aus der ersten Zeit des Mittelalters finden sich noch byzantinische
Aemterverzeichnisse und Kirchensprengellisten als das einzige, was Sta-
tistik genannt werden könnte. Auch die Annalen der Klöster enthalten
zuweilen statistische Daten, ebenso die Werke und Rechtssammlungen der
byzantinischen Historiker und der germanischen Völkerschaften.
Dagegen zeigt sich bei den Arabern, anknüpfend an deren geogra-
phische Forschungen, frühe schon Verständniss för statistische Arbeiten
und deren Werth. Feldherren, Vezire und andere hohe Staatsbeamten
pflegten die von ihnen verwalteten Staatstheile geographisch und topogra^
phisch zu behandeln, wobei statistische Notizen mit einfliessen mussten.
Im germanischen Europa wurden unter Carl dem Grossen finanz-
und militärstatistische Zwecke wieder herrschend, Listen über die dienst-
fähige Mannschaft aufgenommen, auch die kaiserlichen Kammergüter durch
eine Art wirthschaiäicher Statistik behandelt (breviarium rerum fiscalium).
Verwandter Art sind die seit dem 11. Jahrhundert vorkommenden Grund-
bücher und ürbarien, namentlich der Klöster, ferner im grösseren Style
das Domesday-book Wilhelm's des Eroberers (1086), ähnliche Aufzeich-
nungen Eduard's I. von England, das Erdbuch des Dänenkönigs Wal-
demar 11., die Inventarien Friedrich's IL über die sicilischen Kron-
güter u. a.
Grössere statistische Bedeutung haben die wahrscheinlich schon früh
im Mittelalter von der Geistlichkeit gefährten Listen über diejenigen
kirchlichen Acte, welche mit der Bewegung der Bevölkerung in Verbin-
dung stehen, besonders die Begräbniss- oder Todtenregister — diptycha
mortuorum. Sie schlössen sich den kirchlichen Gebühren für den Beistand
der Geistlichen bei Taufen, Trauungen und Begräbnissen an, und kom-
men schon zu Anfang des 4. Jahrhunderts vor. Leider ist von ihnen
nichts auf unsere Zeit herübergekommen.
§. 4. Bie Statistik vom Ausgange des Mittelalters bis zu den Anfängen
der neueren Statistik.
Am Schlüsse des Mittelalters musste mit der Kräftigung der Staats-
idee auch das Bedürfniss einer genauen Kehntniss der eigenen und frem-
der Staaten in den Staatsmännern erwachsen; zugleich musste man nach
einer Methode suchen, wie diese Kenntniss zu erlangen sei. Solche Be-
strebungen zeigen sich namentlich im Staatsleben der venetianischen Re-
publik, wo die Provincialgouverneure und die Gesandten schon seit dem
13. Jahrhundert sogenannte Relazioni, namentlich über den Zustand der
äusseren Machtmittel der Staaten einsenden mussten und fiüh schon die
Anfänge von Volkszählungen und handelsstatistischen Arbeiten sich fin-
Die Statistik vom Ausgange des Mittelalters l)i8 zu den Anflbigen der neueren Statistik. 7
den. In ganz Europa kam das Wesen der Politik mehr und mehr zum
Verständniss; das Bedürfoiss nach Aufklärung über die verschiedenen
Staatswesen rief eine Reihe von Versuchen zu Staatsbeschreibungen her-
vor, mehr oder weniger mit geographischen Arbeiten vermengt.
Weit bedeutungsvoller erscheinen in jener Zeit die praktischen Be-
strebungen der Regierungen, Kenntniss der Zustände der Staaten zu er-
halten. Im Gesandtschaftswesen entwickelte sich ein System gegenseitiger
Beobachtung. Die nach Centralisation und Consolidirung strebenden Staats-
regierungsformen, der Uebergang zur Geldwirthschaft und zu den stehenden
Heeren machte finanz- und militärstatistische Arbeiten dringend noth-
wendig. Die Politik brauchte Mannschaft und Geld; man musste Unter-
suchungen über die Grösse der Bevölkerung und die Steuerfähigkeit des
Landes anstellen, Volkszählungen vornehmen, die Bewegung der Bevöl-
kerung beobachten und einzelne in politischer und finanzieller Hinsicht
besonders wichtige Verhältnisse untersuchen.
So finden sich Volkszählungen im 16. Jahrhundert und werden all-
gemeiner im 17., obgleich vielfach mit blossen Schätzungen vermischt.
Seit dem Ausgange des 15. Jahrhunderts werden auch die Beobach-
tungen über die Bewegung der Bevölkerung geregelt; kirchliche und staat-
liche Verordnungen schreiben die Haltung eigentlicher Kirchenbücher
über die von den Geistlichen vorzunehmenden Handlungen (Taufen, Trau-
ungen, Begräbnisse) vor. Diese Listen wurden im 16. und 17. Jahrhundert
zunächst in England, dann auch in Frankreich und Deutschland voll-
ständiger. Im 16. Jahrhundert wurden in den protestantischen Ländern
Deutschlands, im 17. in den katholischen Kirchenbücher eingeführt.
Auch auf anderen Gebieten machte die Statistik Fortschritte, in
der Beobachtung wirthschaftlicher, militärischer, finanzieller und allgemein
politischer Erscheinungen. So gründete Minister Sully in dem cabinet
complet de politique et de finance eine Art statistischen Bureaus, welches
sich mit der Sammlung der auf Finanzen, Handel, Bergbau, Münzwesen,
Polizei, kirchliche und bürgerliche Veiwaltung und Kriegswesen bezüg-
lichen Materialien zu beschäftigen hatte. Aehnliches .wirkte Richelieu,
und Golbert befasste sich namentlich mit der Statistik des auswärtigen
Handels. Louvois gründete 1688 ein militär-statistisches Bureau (depot
de la guerre), ein anderes statistisches Bureau Necker. In England wurde
die Handelsstatistik seit Wilhelm III. ausgebildet und auch in Deutsch-
land fing man an, mehr und mehr statistische Beobachtungen über
Staatszustände zu sammeln. Der herrschende Despotismus und das Princip
der Vielregiererei machten ja die genaueste Kenntniss staatlicher Zu-
stande zur dringendsten Nothwendigkeit.
8 Die betichr«)ibende Schnle der Statistik.
Die wissenschaftliche Statistik, welche fiiiher in den Beschreibungen
der Staaten mit Geographie und Geschichte, Staatsrecht und Politik ver-
mengt erscheint, beginnt endlich aus dieser Vermischung sich abzulösen
und selbständig aufzutreten.
§. 5. Bie neuere Statistik überhaupt.
Den Stand der Dinge in Staat und Volk genau zu kennen, war
demnach schon längst praktisches Bedürfhiss aller Staatsmänner. AU-
mälig beschäftigte sich mit dem Zustande der Staaten und Völker, mit
ihren Zwecken, Kräften und Mitteln auch die Wissenschaft, anfangs
unsicher tastend, theils in Universitätsvorträgen, theils in Lehrbüchern,
später mit wachsender Sicherheit. Sie nannte sich Statistik oder Staats-
kunde.
Durch Erweiterung ihres Zweckes gewann sie bald an Ausdehnung,
indem man sich nicht mehr auf solche Kenntnisse beschränkte, welche
für die Regierenden und zum Regieren absolut nothwendig waren.
Man bemühte sich ferner, den Umfang der Gegenstände der Sta-
tistik festzustellen, sie von Dingen zu säubern, die ihr nicht angehörten
und neues Eigenthum ihr beizuziehen. Die einen wollten einschränken,
die anderen ausdehnen.
Man begnügte sich auch nicht mehr mit der Erforschung der That-
sachen allein, sondern verlangte auch ihre Ursachen zu kennen.
Weiter gehend, suchte man die Gesetze auf, welche im Wechsel
der Erscheinungen sich erkennen lassen.
Die Genauigkeit des statistischen Wissens suchte man zu erhöhen,
einestheils durch amtliche Beobachtungen, dann durch Beobachtungen
grösserer Massen von Erscheinungen und durch Befolgung des Grund-
satzes, dass die zifFermässige Darstellung die vorzüglichste oder die aus-
schliesslich richtige sei.
So wurde der Begriff, das Wesen, der Umfang, der Gegenstand und
die Methode der jungen Wissenschaft nach verschiedenen Seiten hin ge-
zerrt, bis sich schliesslich eine Reihe verschiedenartiger Anschauungen
über sie bilden konnte.
§. 6. Die beschreibende Schule der Statistik.
Jene wissenschaftlichen Arbeiten, welche zuerst den Namen Statistik
beanspruchten, waren Schilderungen, Beschreibungen von Staats- und
Volkszuständen.
Hermann Co n ring, Professor an der Universität Helmstädt, ver-
suchte zuerst eine systematische Beschreibung der Staaten zu entwerfen,
dieselbe von Geographie, Geschichte und Politik scharf zu trennen und
Die beschieibend« Schale der Statistik. 9
eine neue Disciplin daraus zu bilden^). Conring selbst nannte sie Staats-
kunde, notitia rerum publicarum und führte sie seit 1660 in die Reihe
der academischen Vorlesungen ein. Sie wurde seit jener Zeit, und zwar
meist durch den Professor dels Staatsrechts, der Geschichte oder der
Politik vorgetragen. Ihm folgten eine Reihe von Universitätslehrern und
Schriftstellern*).
Die zweite Hälfte des 18. Jahrhundeits begann epochemachend G.
Ach en wall'), von vielen als der eigentliche Begründer dieser Disciplin
angesehen. Während die Ausländer mehr auf eigenen Wegen gingen,
bildete Achenwall in Deutschland eine Schule der Staatskunde, deren
iVnhänger wohl in mehr oder weniger unbedeutenden Einzelnheiten, nicht
in der Hauptsache von ihrem Meister sich entfernten*).
AchenwalFs Einfluss reicht bis in die neueste Zeit herauf.
Diese Anfänge neuerer Statistik, wesentlich praktische Zwecke ver-
folgend, halten sich demnach an den Begriff des Staates. Aber in der
Auffassung des Staates sind die einzelnen Statistiker von Conring abwärts
verschieden. Jeder fasste den Begriff des Staates so auf, wie es durch die
praktische und theoretische Ausbildung der Staatsidee seiner Zeit bedingt
war. Wenn man aber den Begriff der Statistik in innige Verbindung mit
dem des Staates brachte, musste auch jener beweglich sein. So ziemlich
alle Statistiker eines langen Zeitraums bemühten sich deshalb auch, den
Begriff und die Zwecke des Staates als solchen zu untersuchen, um eine
Grundlage für die Dai-stellung der Staatszustände zu gewinnen.
Schon frühzeitig erhoben sich übrigens Zweifel darüber, ob Staat
und Staatliches ausschliesslich Gegenstand der Statistik sein könnten;
bald wurden mehr und mehr Gegenstände in ihren Bereich gezogen.
In der Hauptsache aber bleibt bei den Anhängern dieser Schule
die AuflPassung der Statistik als einer schildernden, darstellenden Disciplin,
einer Staats- oder Zustandskunde. Die Definitionen sind verschieden; die
Grundanschauung wenig oder gar nicht. Ob man diese Disciplin eine
Wissenschaft von den Staatszuständen, von den Staatsmerkwürdigkeiten,
von der Staatsverfassung, von den Staatskräften oder von den Zuständen
überhaupt nennt: sie bleibt wesentlich dasselbe. Auch die Anwendung
der Mittel macht keinen grossen Unterschied. Ob man mit Ziffern oder
mit Worten darstellt: eine Darstellung und Beschreibung wird immer
eine Beschreibung bleiben.
Man hat zuerst Staatszustände dargestellt, ohne sich dabei be-
stimmte Grenzen zu ziehen. Dann glaubte man den Gegenstand näher
bezeichnen zu müssen durch Betonung des wirklich Merkwürdigen.
Man glaubte ihn ferner näher bezeichnen zu können durch Trennung der
gegenwärtigen und vergangenen Erscheinungen und wies nur jene der
10 IKe beschreibende Schale der Statistik.
Statistik zu*). Andere wieder betonten besonders das formal-rechtliche
Leben im Staate®). Wieder andere sahen den Gegenstand der Statistik
in jedem Zustand'). Ferner hob man die Staatskräfte hervor®).
Man behandelte sie manchmal einseitig, blos die politische, militärische,
finanzielle Macht hervorhebend, bald von höherem Standpunkte aus, als
das im Staats- und Volksleben überhaupt Wirkende. So ward man
dahin geführt, mehr und mehr den ursächlichen Zusammenhang
der Erscheinungen zu erforschen ®).
Alle diese Besti'ebungen gingen theils selbständig einher, theils
aber schlössen sie sich an Politik, Staatsrecht, Nationalökonomie und
Geographie an.
Sie bedienten sich dabei theils der Wörtphrase, theils, namentlich in
ihrer weiteren Entwickelung, der Ziffer**), theils der ethnographischen,
theils der vergleichenden Methode**).
Aumerkuugeu.
*) Er schrieb kein Coinpeudium, soudeni behaudelte diese Disciplin iu
seinen Vorlesungen. Als Mittelpunkt der Erkenntniss des gegenwärtigen Staats-
lebdus stellt er den Staatszweck auf. Er hält sich an die gegenwärtigen
Staatszustände und behandelt jeden Staat für sich. Als Massstab bei der Auf-
nahme der statistischen Materialien gilt ihm : quantam in iis ad felicitatem seu
infelicitatem rei publicae sit positum. Seine neue Wissenschaft ist demnach
eine schildernde Disciplin, eine politische Staatskuiide der Gegenwart, welche
die für den Staatszweck besonders wichtigen Momente zu $uden und zu ord-
nen versuchte.
*) Die Geschichte der statistischen Literatur erwähnt namentlich: Olden-
burger, Sagittarius, Böse. G. Schubart, Beckmann, Gundling, Kemmerich,
Schmeizel, Otto, Köhler, Walch, Maibom, Struve, Spener, Schmauss, Hofmann
und Buder, sämmtlich von der Mitte des 17. bis zur Mitte des 18. Jahrhundeits.
*) G. Achenwall: Staatsverfassung der europäischen Reiche. Gott. 1752.
Er versteht unter Statistik die Keuutuiss der Staatsmerkwürdigkeiten.
Von seinen Nachfolgern Vater der Statistik geuauut, war er es, welcher
diese Disciplin taufte, nach Zweck und Inhalt schärfer bestimmte und dadurch
ron grösserer Bedeutung für sie wurde, als Conring gewesen. Als Staat
erscheint ihm „alles das, was in einer bürgerlichen Gesellschaft und in deren
Lande wirklich angetroffen wird". Das ist ein allerdings etwas oberflächlicher
Begriff vom Staat. Merkwürdig neiint er diejenigen von der Menge wirklicher
Sachen im Staate, welche die Wohlfahrt desselben in einem merklicheren Grade
angehen, hindernd oder befördernd. Zweck der Statistik ist Erkenntniss des
Staats. Die Staatsmerkwürdigkeiten zerfallen in Land und Leute.
Achenwairs Statistik ist, was die seiner Vorgänger gewesen, eine Be-
schreibung des gegenwärtigen Staats.
Direct seiner Definition folgte zunächst Fabri, welcher die verschiedenen
bis zu seiner Zeit aufgestellten Begriffsbestimmungen beurtheilt und sich daun
f4lr die Staatsmerkwürdigkeiten als Gegenstand der Statistik entscheidet.
Di« beschreibende Schule der Statistii. 11
Auch der geistreiche Schlözer aimmt- AcheuwalFs Definition an, rer«
theidigt sie gegenüber anderen Definitionen, erweitert und verschärft aber
doch fast unmerklich den Begriff. Insbesondere wünscht er Ziffermässigkeit
und Genauigkeit der Angaben.
In weit späterer Zeit konunen Holzgethan und Wörl wieder auf den von
Achenwall aufgestellten Begriff zurück.
*) Zu ihnen gehören in Deutschland: Büsching, Toze, Gatterer,
Schlözer als grösster Schüler AchenwallX Dohm, Renier, Lüder, später
ein heftiger Feind der Statistik; ferner Mensel, Mader, Spreugel, Fabrik
Göss, Ni emann, Butte, Zizius, Klotz, Hassel, von Malchus, Mone,
Fischer, Koch-Sternfels, Holzgethan, Schlieben und Wörl; im
Auslande: Ferussac, Feuchet, Donnant, Tamassia, Cagnazzi, Fado-
vani, Graberg v. Hemsö, Eugelstoft, Gioja, Romagnosi und Sampajo.
*) Schon Conring betonte hauptsächlich die gegenwärtigen Staats-
zustände als Gegenstand der Statistik; von den ersten Statistikern sowohl als
später wurde die Gegenwart wiederholt betont. So sagt Achenwall: Wir
wollen den gegenwärtigen, nicht den ehemaligen Staat kennen lernen. Auch
Gatterer fand die Aufgabe der Statistik in der Schilderung des gegen-
wärtigen Zustands eines Staates. Eine solche Zustandsschilderuug sei aus zwei
Hauptbestandtheilen zusammenzusetzen: 'aus der Schilderung von Land und
Leuten und aus jener der Regierungsform. Hieher gehört noch die entsetzlich
schwülstige Definition von Butte, die Statistik sei „die wissenschaftliche Dar-
stellung derjenigen Daten, aus welchen die Wirklichkeit der Realisation des
Staatszweckes gegebener Staaten in einem als Jetztzeit fixirten Momente giünd-
lich erkannt werden könne''.
Mehr und mehr kam übrigens die vorzugsweise Betonung der Gegenwart
in Vergessenheit. Man bemeikte, dass, je mehr man nach dem gegenwärtigen
und neuesten haschte, in desto kürzerer Zeit das Resultat werthlos Wurde.
So klagt schon Hassel, dass wegen der zwischen dem Drucke seines
Werkes und seinen vor ein paar Jahren für seine Vorlesungen gemachten Ar-
beiten liegenden Zwischenzeit alles Maculatur geworden sei!
Diesem Unglück ist man offenbar nicht ausgesetzt, wenn man diese
Maculatur Rotteck überlässt, welcher eine Statistik im weiteren Sinne erfand,
die getheilt wird in: I. die Alterthumskunde, welche die Staatsmerkwürdig-
keiten der alten längst begrabenen Völker darstellt; IL die Staatengeschichte,
welche eine fortlaufende Statistik ist, und III. die Statistik im engeren Sinne,
welche man gleich treffend eine stillstehende Staatengeschichte genannt habe.
*) Wenig verschieden von der Auffassung der Statistik als Staatszu-
standskunde ist ihre Auffassung als Wissenschaft von der Verfassung der Staa-
ten. Dabei wird das Wort Verfassung nicht in der heute gebräuchlichen staats-
rechtlichen Bedeutung (als Constitution) gebraucht, auch nicht t^ls Gegensatz
zur Verwaltung, sondern als die Gesammtheit der wesentlichen staatlichen
Einrichtungen. Auch hier ist also die Statistik eine Schilderung von Zuständen,
nur mit besonderer Betonung des Staatsorganismus als eines geschlossenen Ganzen.
Zu den Vertretern dieser Idee gehört zunächst Herzberg; er nennt die
Statistik „die Kenntniss von der politischen Verfassung der Staaten^, Nach
Rem er ist sie gleichfalls die Wissenschaft von der Verfassung der verschie-
12 Die beschreibende Schale der SUtistüL
denen Staaten. Mehr oder weniger gehören hieher auch Mensel, Butte,
Niemann und Göss.
Diese nächsten Nachfolger AchenwalPs suchten zwar das Object der Sta-
tistik anders zu bezeichnen und genauer zu begrenzen, aber offenbar ohne Er-
folg. Man änderte das Wort, aber den Begriff nur wenig und nicht einmal
zum Vortheil der Sache. Entweder wird der Gegenstand statistischer Forschun-
gen nur auf einen Theil der Staatsmerkwürdigkeiten, nämlich auf die Staats-
einrichtungen im engeren Sinne des Wortes beschränkt und demnach entschie-
den zu eng bestimmt, oder es wird der Ausdruck Verfassung in einem durchaus
unrichtigen Sinne gebraucht. (Mohl.)
^) Den Begriff des Zustands zu betonen und die Statistik als eine
Wissenschaft von Zuständen aufzufassen, war doppelte Veranlassung gegeben.
Schon durch die Etymologie des Wortes Statistik.
Zudem aber waren auch die übrigen Merkmale des Begriffs der Stati-
stik so schwankend, dass es leicht war, von blossen Staatszuständen das
Object der Statistik zu Zuständen überhaupt zu erweitern.
Achenwall hob noch nicht den Begriff des Zustandes hervor. Aber schon
Niemann meint: die Statistik hat es nur mit den Resultaten des Gescheheneu
in ihrem gleichzeitigen Zusammentre£^n zu thun, um den Zustand, der aus
diesem Zusammentreffen herrorgeht, zu beschreiben.
,,In solchen und anderen Stell en% sagt Knies, ,^erkennen wir eine erste
und zwar die yon dem ersten Auftreten der wissenschaftlichen Statistik au
Yorhandene Auffassung des Zustandes, dass er nämlich in dem gleichzeitigen
Nebeneinander bestehe, ohne Rücksicht auf die Dauer der Existenz der als
gleichzeitig nebeneinander geschilderten Dinge'^
Hieher gehört namentlich der anonyme Autor S. der Vierteljahrsschrift
(Jahrgg. 1838, IV.), indem er sagt: Die Wirkung der Staatskräflbe zu einer
bestimmten Zeit ist der Zustand, den sie hervorgebracht haben. Ebenso der
italienische Statistiker Gioja.
®) Diese Anschauung, französischen Ursprunges, geht einen Schritt weiter;
sie sieht die Staatsmerkwürdigkeiten als in einem lebendigen Organismus wir-
kend an und betrachtet die Statistik als Wissenschaft von den Staat s-
kräfteu.
Die Schattenseite dieser Anschauung liegt darin, dass ihre Bekenner
grössteutheils die Kräfte und Mächte des Staatslebeus höchst einseitig und
materiell auffassten. Ueber diese Einseitigkeit erhebt sich der obengenannt«
anonyme Verfasser S. Die Statistik beschäftigt sich nach seiner Anschauung
„mit der Betrachtung von Staatskräften, die zu einer bestimmten Zeit inner-
halb bestimmter politischer Grenzen vorhanden sind*^. „Alles, was Verän-
derungen hervorbringt, heisst uns Kraft, und Staatskräfte sind diejenigen, die
der politischen Vereinigung einer Mehrheit von Menschen zum Staate oder im
Staate angehören. Aus ihrer Wirkung müssen wir sie erkennen. Die Wirkung
der Staatskräfte zu einer bestimmten Zeit ist der Zustand, den sie hervorgebracht
haben". Man muss die Zustände vergleichen, um die Gesetze ihrer Wirk-
samkeit kennen zu lernen. Die Erfassung des Naturgesetzes in der Ent-
wickelung gesellschaftlicher Zustände ist die wichtigste Aufgabe der Statistik,
Die beschreibende Schule der Statistilc. 13
Oflfeubar liegt in der Betonung der Staatskräfte als Gegenstand der Sta-
tistik ein bedeutender Fortschritt in der wissenschaftlichen Entwickelung. Man
sieht die Staatsmerkwürdigkeiten nicht mehr als blosse Curiositäten an, sondern
als etwas im Staats- und Volksleben sich rührendes und wirkendes.
Je nachdem man den Begriff des Staates weiter oder enger fasste, mussten
auch die Staatskräfte yerschieden aufgefasst und verschieden eingetheilt wer-
den. So unterscheidet Donnant: forces physiques, morales et politiques.
Wichtig ist diese Auffassung der Statistik deshalb, weil man nicht von
Kräften sprechen kann, ohne an ihre Wirkungen zu denken, und weil deshalb
gerade diese Auffassung ganz besonders auf die Erforschung von Ursache und
Folge angewiesen ist. Die Einseitigkeit in der früheren Auffassung der Staats-
kräfle verzögerte jedoch lange ein Fortschreiten in dieser Richtung.
*) Schon in den ersten Anfangen der beschreibenden Statistik zeigen sich
Bestrebungen, die Erscheinungen der nächsten Vergangenheit als Ursachen
der gegenwärtigen und die gegenwärtigen als Ursachen künftiger Folgen zu
betrachten. Eine solche Statistik nannte Gatterer pragmatisch oder philoso-
phisch. Diese Bestrebungen waren jedoch sehr dürftig. Lud er sagt darüber:
Fast alle Statistiker beschränken sich auf die Gegenwart und nur wenige
plagte der Kitzel pragmatisch zu sein,
Achenwall selbst hatte gewollt, dass die Statistik die Ursachen der
Staatsmerkwürdigkeiten darlegen solle, „sonst werden wir den Staat nicht ein-
sehen, sondern nur anschauen^. Er bemühte sich aber gar nicht, diesem Ziele
nachzustreben.
Schlözer würdigt weit mehr die materiellen Factoren des Staatslebens,
als dies Achenwall gethan. Er meint, das Wesen jedes Staates würde durch
die Formel ,^yires unitae agunt^ ausgedrückt. Unter diese Formel könnten die
Erscheinungen des Staatslebeus gebracht werden; sie gibt System und Ein-
theilung. Es ist bedeutungsvoll für diese ganze Schule von Statistikern, dass
Schlözer, ihr geistvollster Vertreter, in der Statistik nichts anderes, als eine
Staatskunde, eine beschreibende Disciplin sieht. Das Eingehen auf Ursachen
und Folgen gestattet er dem Statistiker auch nur zu dem Zwecke, um seinen
Vortrag pikanter zu machen. Die Ursachen des Werdens der Dinge im Staats-
leben soll die Staatsgeschichte erforschen. Schlözer will eben, dass die Ge-
schichte das Ganze, die Statistik nur ein Theil desselben sei.
So wie man sich mit den Ursachen der Zustände zu beschäftigen anfing,
musste die Statistik nothwendiger Weise mehr und mehr zur Nationalökonomie
und Wohlfahrtspolitik sich hinneigen.
*•) Fast gleichzeitig mit der Ausbildung der Staatenzustandskunde fing
man an. Zustände in Zahlen auszudrücken. Die Noth wendigkeit von Zahlen-
angaben wurde schon von Achenwall und Schlözer anerkannt. Schlözer schon
bemerkt: Mit allgemeinen Angaben, dass das Laud einen gesegneten
Weinwuchs, schöne Manufacturen, einen blühenden Handel, etwas Korn-
bau u. s. w. habe, dienen alle Erd- und Reisebeschreibuugen; aber mit der-
gleichen Angaben, so lange sie nicht in Zahlen ausgedrückt werden, ist wenig
geholfen. Dies musste sich steigern, je bessere Notizen man erhielt und je
mehr die materiellen Factoren berücksichtigt wurden.
14 Die StatiBÜk als sjstematische MMsenlMobAclitang.
Der Däne Anclierseii machte schon früh (1741) einen Versuch , Daten
über die wichtigsten Verhältnisse der ciyiiisirten Staaten in TabeUen zusam-
menzustellen. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts entstand eine ganze Literatur
Yon tabellarisch-statistischen Schriften : Gaspari, r. Schmidtburg, Jakobi, Brunn,
Randel, Remer, Bötticher, Ockhardt, Hassel, Ehrmann, Hock, Creme, Playfair,
Donnant.
Diese Schriftsteller wollten ebenfalls Staatsbeschreibungen, Zustandsbe-
sühreibuugen geben, aber sie gaben dieselben in Zahleugemälden. Man nannte
sie Tabellenstatistiker und Lineararithmetiker. Sie benützten Zahlendaten yiel-
fach zu geometrischen Darstellungen. Da fast nur materielle Factoren des
Staatslebeus zu jeuer Zeit in Zahleu ausgedrückt werden konnten, hielt man
sich au dieselben uud Hess das politische und staatsrechtliche Element in Hin-
tergruttd treten. Gegen diese Richtung erhob sich die alte Göttinger Schule
Acheuwairs, namentlich Heeren, Brandes, Rehberg, Schlözer und Lüder. Es
eutspauu sich ein Streit in den Göttiuger gelehrten Anzeigen (1806 und 1807);
die Acheüwairsche Schule machte einen Unterschied zwischen höherer und
gemeiner Statistik uud nannte die Zahlenstatistiker, die Vertreter der letzteren,
Tabellenknechte. Diese umgekehrt, stützten sich auf die Exactheit der Zahlen-
darstellung gegenüber den ragen Darstellungen der Phrase, Uebertreibungen
und Einseitigkeiten wurden hüben und drüben nicht vermieden.
Uebrigeus bildete sich schon früh, namentlich bei den Engländern und
Franzosen, der Sprachgebrauch aus, unter Statistik jede übersichtliche Zusam-
menstellung yon bestimmten , in Zahl und Mass ausdrückbaren Zuständen zu
verstehen.
") Wenn die beschreibende Staatskunde einen Staat nach dem anderen
behandelte und ein Bild von ihm zu geben versuchte, nannte sie diese Methode
die ethnographische. Jene Werke, wo die Statistik an die Geographie sieh
inniger anschliesst, bedienten sich vorzugsweise dieser Darstellungsmethode.
Ihr gegenüber steht die sogenannte vergleichende Methode, deren sich
Büsching (Erdkunde, Hambg. 1808) zuerst bediente.
§. 7. Sie Statistik ah systematische Massenbeobachtung.
Eine ganz andere Richtung, als die eben kennen gelernte, baut sich
auf anderen Grundlagen und mit anderen Hilfsmitteln empor. Man kann
sie die moderne Schule der Statistik nennen; ihr Gegenstand sind die
Massen der Erscheinungen; sie ist systematische Massenbeobachtung.
Auch diese Richtung in ihrem geschichtlichen Ursprünge reicht weit
zurück; sie knüpft theils an die Wahrscheinlichkeitsrechnung an, theils
auch an die im vorhergehenden Paragraphen genannte Schule der Staats-
beschreibung.
Der Engländer Graunt suchte schon im J. 1662 aus Londoner
Bevölkerungslisten Regeln über Krankheiten und Todesursachen, über die
Sterblichkeit in verschiedenen Lebensaltern abzuleiten, zu bestimmen, in
welcher Zeit eine Bevölkerung sich verdoppeln könne *).
Die Statistik als systematische Masseiibeol>aehtasg. 15
Sir William Petty *) machte gleichfalls Untersuchungen über die
Zunahme der Londoner Bevölkerung.
Halley^), der grosse Mathematiker, war der erste, welcher Sterb-
lichkeitßtafeln berechnete.
Andere Arbeiten aus dem Gebiete der systematischen Massenbeob-
achtung folgten in Frankreich, Holland, Deutschland und Schweden. So
namentlich durch Derham (1723) und Short (1750), King, Arbuthnot,
de Moivre (1726), Maitland (1739), Simpson, Hodgson, Morris, Wallace,
Price, A. Young, Eden, Wales, Howlett, Chalmers, sämmtlich ungefähr
von 1720 — 1780 in England. In Frankreich sind nennenswerth der
Verfasser einer berühmten Sterblichkeitstafel, Deparcieux (1746), ferner
Duvillard, Messance, Moheau, de Pommelles, BufFon und Dupre St. Maur.
Auch Lavoisier und Laplace befassten sich mit statistischen Problemen.
Der Holländer Kersseboom bemühte sich, aus der Kenntniss der Absterbe-
ordnung die Bevölkerung zu berechnen, ein Problem, welches wegen
Mangels brauchbarer Volkszählungen die Statistiker vielfach beschäftigte.
Hume, Vauban, Boulainvilliers, Montesquieu und Mirabeau sen. beschäf-
tigten sich ebenfalls mit Bevölkerungsfragen. Nieuvetyt und Struyik sind
unter den Holländern, Creme, Gohl und Kundmann unter den Deutschen
zu nennen. Der Mathematiker Euler suchte die Halley'schen Sterblich-
keitsberechnungen zu verbessern; in Schweden schrieb Wargentin über
Bevölkerungsstatistik.
Die meisten dieser Schriftsteller arbeiteten jedoch aus einseitig
praktischem oder rein mathematischem Interesse. Einem Deutschen, dem
preussischen Feldprediger Süssmilch, blieb es vorbehalten, dieser
Richtung höhere wissenschaftliche Weihe zu verleihen. Seine Leistungen
machen Epoche. Seine Beobachtungen der Erscheinungen haben zunächst
nicht den Zweck, den Staat oder die Staatszustände kennen zu lehren;
er sammelt vielmehr systematisch Daten, aus welchen Vorgänge im
menschlichen Leben erklärt, ihre Ursachen und Gesetze aufgefunden
werden können. Durch möglichste Ziffermässigkeit seiner Angaben, durch
genaue Quantitätsbestimmungen sucht er sich der Bestimmung der
Qualitäten zu nähern. Seine 1742 erschienene erste Schrift trägt den
Titel: Die göttliche Ordnung in den Veränderungen des menschlichen
Geschlechts, das ist gründlicher Beweis der göttlichen Vorsehung und
Vorsorge für das menschliche Geschlecht aus der Vergleiohung der Ge-
borenen und Gestorbenen, der Verheiratheten und Geborenen, wie auch
insonderheit aus dem beständigen Verhältniss der geborenen Knaben und
Mädchen u. s. f.
Er construirt sich eine göttliche Ordnung in diesen Veränderungen
auf Grundlage der Bibel und sucht diese Ordnung hernach durch Zahlen
16 Die moderne Schule der Statistik in Belgien.
ZU beweisen, indem diese Ordnung in den grossen Zahlen der Be-
völkerungsphänomene sich zeige. Er verkennt zwar manches, untersucht
die Ursachen und Einflüsse manchmal etwas oberflächlich, leidet an
tendenziöser Darstellung und seine praktischen Anschauungen über das
Wesen der Bevölkerung sind schief. Doch weiss er durch vorzügliche
Combinationsgabe und scharfen Blick sein dürftiges statistisches Material
ausgezeichnet zu verwerthen. Seinen Nachfolgern um drei Viertheile eines
Jahrhunderts voraus, steht er einsam in seiner Zeit, der wissenschaftliche
Begründer der modernen statistischen Methode.
Die nächsten Arbeiter auf diesem Felde waren zumeist die medi-
cinischen Statistiker, Casper vor Allen.
Anmerkungen.
*) J. Grauut (er war Loudouer Tuchmacher): Natural aud political anuota-
tious made upon the hills of mortality. Lond. 1666.
*) W. Petty: Observations upon the Dubliu hills of mortality. Loud. 1683.
Und: Political Arithmetic. Lond. 1690. — Ferner: Discourse etc. Lond. 1699.
') £dm. Halley: An estimate of the degrees of the mortality of mankiud
etc. in: Philos. Transactioiis. 1691.
§. 8. Fortsetzung. Die moderne Schule der Statistik in Belgien.
A. Quetelet, ein Belgier, heute noch der Altmeister der modernen
Statistik, war der erste, der statistische Studien in dieser Richtung ganz
systematisch trieb, der die Aufgaben der Statistik scharf hinstellte, die
geistig-sittlichen Gebiete des Menschenlebens in sie hereinzog und die
Methode genau bestimmte.
Naturforscher von Fach, behauptet er auch in seinen statistischen
Arbeiten einen naturalistischen Gesichtspunkt. Aber er ist kein blosser
Arithmetiker. Er begnügte sich nicht damit, die mathematisch dargestellten
statistischen Materialien blos zu vergleichen. Er suchte vielmehr durch
die Betrachtung grosser Reihen von Thatsachen nachzuweisen , dass in
verschiedenen , das physische und geistige Menschenleben betreffenden
Verhältnissen eine grosse Regelmässigkeit herrscht, welche zwar nicht in
den einzelnen Erscheinungen, wohl aber in der Gesammtheit sich zeigt.
Und dann zog er aus dem ziffermässigen Material die philosophische und
politische Folgerung. Er fasste die Vorgänge im menschlichen Leben als
Aeusserungen von Gesetzen auf und betrachtete die Erforschung dieser
Gesetze als die allein einer Wissenschaft würdige Aufgabe der Statistik.
Sein Hauptwerk (Sur Phomme et le d6veloppement de ses facultes
etc. Par. 1835) nennt er selbst eine Socialphysik. In diesem Werke sollen
die Wirkungen der natürlichen und der zufälligen Einflüsse, die den
Menschen berühren, untersucht werden. Der Mensch, wie Quetelet ihn
Die Solinle der modernen Statistik in Frankreich. 17
beti'achtet, ist in der Gesellschaft dasselbe, was der Schwei-punkt in den
Körpern ist; er ist das Mittel, um welches die Elemente der Gesellschaft
oscilliren, eine Art Durchschnittsmensch.
Quetelet construirt sich nicht wie Snssmilch eine bestimmte Ordnung
der Dinge im voraus, welche er dann erst beweisen soll, sondern er stellt
zuerst die Thatsachen hin und geht von diesen erst zu weiteren Beob-
achtungen, Vergleichen und Schlüssen über. Er stellt über die Erschei-
nungen, die er erforschen will, Massenbeobachtungen an; diese werden
zu genauen Massenbestimmnngen. Wo es möglich, werden sie in Zahlen
ausgedrückt und durch Umstellungen und einfache Rechnungen der
ursächliche Zusammenhang und die Gesetze der Erscheinungen abzuleiten
versucht.
Er beschäftigt sich vorzugsweise mit dem Menschen und ist durch
Hereinziehung des geistig-sittlichen Lebens zum Hauptvertreter der Moral-
statistik geworden. Dadurch, dass er ursächlichen Zusammenhang und
waltende Gesetzmässigkeit in den anscheinend willkürlichsten und zufällig-
sten Erscheinungen und menschlichen Handlungen aufsucht, tritt seine
Statistik in Verbindung mit den grössten und schwersten Aufgaben
menschlicher Forschung.
Neben Quetelet zählt die belgische Wissenschaft noch in Heuschling
und Ducpetiaux ausgezeichnete Statistiker.
§. 9. Bie Schule der modernen Statistik in Frankreich.
Die französische Statistik hat das Verdienst, theils vor Quetelet,
theils unter seiner Zeitgenossenschaft die von ihm so glänzend ausgebildete
Methode am eifrigsten gepflegt zu haben. Man nannte seine Schule die
mathematische oder die Schule der Zahlenstatistik. Mit Unrecht. Die
Zahlen sind nicht Hauptsache dieser Methode; sie hat keinen mathemati-
schen Charakter. Wenn einzelne französische Statistiker, wie namentlich
Dufau und Moreau de Jonnes auf die ZifFermässigkeit der Angaben das
Hauptgewicht legen, so liegt darin eben ein Verkennen der statistischen
Methode, eine Reminiscenz an die ältere Tabellenstatistik.
Guerry^) beschäftigte sich zuerst eingehend mit der Moral Statistik.
Er ist der Anschauung, die Statistik habe es blos mit dem Zusammen-
hange dessen, was ist, durchaus nicht mit der Untersuchung über das,
was sein soll, zu beschäftigen. Die Statistik soll als experimentelle
Basis fär die Philosophie dienen. In dieser Hinsicht unterscheidet er eine
„analytische Statistik " .
Dufau*) weicht in Bezug auf den Gegenstand der Statistik von
Quetelet ab, indem er die Statistik auf den Menschen beschränken will.
Seine Grundanschauungen sind folgende: Die Thatsachen der moralischen
Haaghofer, Statistik. 2. Aufl. 2
18 Die Schale der modernen Statistik in Frankreicli.
Ordnung sind wie jene der natürlichen das Product von bleibenden und
regelmässigen Ursachen, deren Wirkung nach Gesetzen erfolgt; und wenn
diese Gesetze vom menschlichen Verstand nicht direct erkannt werden,
so liegt der Grund darin, dass viele veränderliche und zufällige Umstände
auf die moralische Ordnung einwirken; aber die fortgesetzte Betrachtung
zeigt, dass diese veränderlichen Elemente durch die häufige Wiederholung
derselben Thatsache erzeugt werden, so* dass sich in jeder derselben der
ursprüngliche Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung nachweisen
lässt; zu diesem Zwecke muss eine Reihe analoger Thatsachen betrachtet
und analysirt werden. Durch Anwendung dieser Methode auf eine Reihe
von analogen Thatsachen, welche der moralischen Ordnung angehören,
entsteht eine Wissenschaft — die Statistik .... Ihre Thatsachen müssen
sich vor allem in Ziffern darstellen lassen, damit man mit ihnen rechnen
und der Wissenschaft positiven Charakter geben kann. Durch die Rech-
nung kommt man zu mittleren oder Durchschnittszahlen. Durch Ver-
gleichung zweier Zahlen ergibt sich das Verhältniss. Die durch die Statistik
zu betrachtenden Zahlen sind entweder aus der bürgerlichen, aus der in-
dustriellen oder aus der politischen Gesellschaft.
Moreau de Jonnes^) definirt die Statistik als die Wissenschaft
der in Zahlen ausgedrückten gesellschaftlichen Thatsachen. Ueberall betont
er die ZiiFermässigkeit der Angaben viel zu sehr und steht entschieden
hinter den genannten zurück.
Achille Guillard*) will, dass sich alle Ströme der Statistik in
eine allgemeine Menschheitsbeschreibung (demographie) ergiessen sollen.
Diese Demographie soll eine histoire naturelle et sociale de l'espece
humaine sein. Seine Darstellung leidet an allgemeinen und undeutlichen
Redensarten.
Legoyt^), der sich als Chef der amtlichen Statistik Frankreichs
grosse Verdienste erworben, zeichnet sich durch exacte Ziflfermässigkeit
aus. Vorzüglich ist seine vergleichende Criminalstatistik aller Länder,
seine statistische Beleuchtung der verschiedenen Berufsgruppirung in
Europa u. a.
M. Block*), seit Jahren als ft-uchtbarer Statistiker in Frankreich
thätig, gibt der Statistik die Aufgabe, dass sie die politische, ökonomische
und sociale Lage eines Volkes oder einer Bevölkerungsgruppe darstelle.
Auch er vindicirt ihr das Recht zu Schlussfolgerungen aus den festge-
stellten Thatsachen. Es gibt eine Statistik als Wissenschaft und eine
Statistik in anderen Wissenschaften.
Aumerkungeu.
*) Guerry: Essay sur la statistique morale de la France. 1834. Ferner:
Statist, morale de fAngleterre. Und Anderes.
Die Schule der modernen Statistik in Deutschland. 19
*) P. A. Dufau; Traite de statistique, Par. 1840. Eine neuere ausgezeich-
nete Arbeit von ihm ist: De la methode d'^obsei'vation 1866.
') Moreau de Jonues: Elements de Statistique. Par. 1847.
*) Elements de statistique hümaine ou demographie comparee. Par. 1855.
*) Statistique de la France etc. Und: La France et TEtranger. Par. 1864f
•) Von seinen zahlreichen Arbeiten mögen hier besonders aufgeführt
werden: Statistique de la France. Par. 1875 und: Traite theorique et pratique
de Statistique. Par. 1878. Letzteres auch in einer deutschen Ausgabe yon H. y.
Scheel 1879 bearbeitet (die jedoch von der französischen wesentlich abweicht).
Es yerdient Erwähnung als eines der brauchbarsten Lehrbücher der Statistik.
§. 10. Die Schule der modernen Statistik in Deutschland.
Trotz Süssinilch's bahnbrechender Thätigkeit wurde die moderne
Statistik in Deutschland verhältnissmässig lange vernachlässigt.
F. G. Hoffmann *) ist der erste bedeutende Name nach Süssmilch.
Die preussische Bevölkerungsbewegung fand in ihm einen gründlichen
und scharfsinnigen Beobachter; er gibt exacte Daten über eine Reihe
der wichtigsten Erscheinungen des Volkslebens und versucht diese Gegen-
stände im Zusammenhange mit dem ganzen Entwickelungsgange des Volkes
zu prüfe;i.
Dem Nachfolger Hoflfmann's in der Leitung der amtlichen preussi-
schen Statistik, Dieterici, verdankt man sorgfältige Beobachtungen über
die Sterblichkeitsverhältnisse in Europa, über die Todesarten etc., sowie
eine vortreffliche Vei'waltungsstatistik. Doch blieb er bei den Thatsachen
stehen, ohne sich mit weiter gehenden Untersuchungen von Regelmässig-
keiten und Gesetzen zu befassen.
Neben diesen finden sich in Deutschland schon frühe einzelne An-
näherungen an die Quetelet'sche Schule. Es darf namentlich nicht ver-
gessen werden, dass schon lange vor Quetelet Hufeland, Hofacker, Moser,
der hochverdiente Casper und Andere im Gebiete der medicinischen
Forschung die statistische Methode mit Geist und Gründlichkeit ange-
wandt hatten.
Nach diesen Vorläufern fand die Schule der modernen Statistik
auch in Deutschland einen Meister ersten Ranges in E. Engel*), der
seine Disciplin weit über die blos ziflfermässige Darstellung erhob. Engel
sieht in der Statistik eine Methode und eine Wissenschaft. Als erstere
ist sie die Methode der Massenbeobachtung; als Wissenschaft sucht sie
das Leben der Völker und Staaten in seinen Erscheinungen zu beobachten
und den ursächlichen Zusammenhang darzulegen. Er unterscheidet zwischen
Schilderung und Beschreibung einerseits, Darlegung und Erklärung des
Causalverhäitnisses andererseits. Ferner unterscheidet er auch zwischen
Statistik im engeren und weiteren Sinne; die erstere beschränkt er auf
2*
20 Die Schule der lAodernen Statistik in Deatscbland.
die menschliche Gesellschaft und auf ihre Einrichtungen. Als Methode
steht die Statistik unter anderem auch im Dienste der Naturwissenschaften.
Bei der Anwendung dieser Methode kommen mechanische Thätigkeiten
^vor, wie: die Beobachtung der Thatsachen, die Aufzeichnung, Classification
und Sammlung der Beobachtungen; und kritische Thätigkeiten: die Er-
klärung der Beobachtungen, die Aufsuchung der Ursachen und Gesetze
der Erscheinungen und die Vergleichung der Beobachtungen in Raum
und Zeit.
J. E. Wappäus^) behauptet zwar, dass noch heutigen Tages die
wissenschaftliche Statistik an den Achenwall'schen Begriff derselben an-
zuknüpfen hat, wenn sie den Charakter einer Wissenschaft nicht völlig
verlieren will; doch erhebt er sich selbst in seiner Bevölkerungsstatistik
weit über Achenwall und versucht überall die systematische Massenbeob-
achtung zur Auffindung der Ursachen und Gesetze der Erscheinungen
anzuwenden. Er behauptet, dass die Statistik die factischen socialen Ver-
hältnisse einer Bevölkerung abspiegeln und zugleich über die materielle
und sittliche Entwickelung der Gesellschaft Aufschlüsse gewähren soll,
die auf keinem anderen Wege so sicher zu erlangen und die doch zur
vollkommenen Orientirung in den wichtigsten Fragen der Gegenwart
durchaus unentbehrlich sind.
J. Hain*) definirt die Statistik als diejenige Erfahrungswissenschaft,
welche die Gesetze ermittelt, nach denen die in Zahlen ausdrückbaren
gesellschaftlichen und staatlichen Erscheinungen erfolgen. Er schliesst sich
somit innig an Dufau, ohne jedoch in der Ermittelung von Gesetzen
wesentlich Neues und Grosses zu leisten.
K. Knies ^) hat nicht durch eine statistische Untersuchung, wohl
aber durch seine Arbeit über den Begriff der Statistik Epoche gemacht.
Er lässt als Grundlage für die statistischen Operationen gleichfalls nur
das von der Zahl begleitete exacte Factum zu und schliesst die Wort-
phrase aus. Die Statistik solle sich nicht auf die Gegenwart beschränken;
keine Rücksicht auf Staatliches und Politisches solle ihren Stoff bestimmen,
sondern nur die Bedingung der exacten Zahlenangabe. Der Begriff des
Dauernden und Zuständlichen ist für die Statistik bedeutungslos. Durch
ihre Exactheit wird die Statistik zu einer Physiologie der Gesellschaft,
die unangreifbare Vertreterin der Wahrheit der Dinge, die Basis, auf
welcher allein ein sicheres Heil für die Leitung und Besserung der Er-
scheinungen des öffentlichen Lebens zu erwarten ist. Die Statistik hat als
letzte Aufgabe die Erkenntniss in den gesetzlichen Organismus der mensch-
lichen Gesellschaft. Sie ist eine in sich ganz selbständige und eigenthüm-
liche Wissenschaft mit einer ihr allein angehörigen Aufgabe und Methode
Die Schule der modernen Statistik in Deutschland. 21
und streng zu scheiden von der Achenwall-Schlözer'schen Richtung der
Staatszustandskunde. Ihr Ausgangspunkt ist die politische Arithmetik.
V. Hermann wusste die Leistungen administrativer Statistik mit
den höheren Aufgaben wissenschaftlicher Forschung zu vereinigen. Nach
ihm ist die Aufgabe der Statistik die Darlegung des Messbaren und die
Vergleichung der gewonnenen Resultate im Staat und im Volksleben.
Was sich in den Ergebnissen der Staatsthätigkeit und in den Lebens-
verhältnissen des Volkes auf Grösse und Zahl reduciren und quantitativ
vergleichen lässt, das wird Object der Statistik. Ihre Darlegung gegen-
wärtiger Zustände hat daher nur Werth, wenn sie zugleich die Zustände
vergangener Jahre mit vergleicht. Nur dadurch, dass man Durchschnitte
aus längeren Beobachtungsreihen zieht, erkennt man die Ursachen und
die Gesetze der Erscheinungen *).
Mit Rümelin') hat diese Schule der Statistik einen besonders
anmuthigen und gedankenreichen Vertreter gewonnen. Rümelin sieht in
der Statistik eine methodologische Hilfswissenschaft für alle Wissen-
schaften vom Menschen. Diese Hilfswissenschaft stellt den Wissenschaften
vom Menschen das Material einer universellen Empirie, dessen sie bedürfen,
zur Verfügung. In der Statistik ist die vereinzelte und unmethodische
Beobachtung zur methodischen Massenbeobachtung erweitert. Sie ermittelt
Merkmale menschlicher Gemeinschaften auf Grundlage methodischer Be-
obachtung und Zählung ihrer gleichartigen Erscheinungen.
Auch Rümelin fordert gleich Knies eine Trennung der Statistik von
der Länder-, Völker- und Staatenkunde.
Seine nicht sehr umfangreiche Abhandlung steht wie kaum eine
andere auf der Höhe der Wissenschaft.
Nach A. Wagner^) ist die Statistik „das methodische inductive
Verfahren zur Auflösung und Erklärung des Mechanismus der Menschheit
und der Natur . . . d. h. zur Ableitung und Erklänmg der Gesetze,
nach welchen dieser Mechanismus fungirt und zur Aufdeckung und Er-
forschung des Causalzusammenhanges, welcher zwischen den einzelnen
menschlichen und natürlichen Phänomenen besteht, und zwar vermittelst
eines zu genauen Quantitätsbestimmungen führenden Systems metho-
discher Massenbeobachtungen über jene Phänomene". Die Objecte
der Statistik sind demnach als Wirkungen eines complicirten Verursachungs-
systems aufzufassen. Die Statistik ist eine Methode und eine Wissenschaft.
Eine Methode, nämlich die systematische Massenbeobachtung und eine
Wissenschaft: die inductive Beobachtungswissenschaft. Sie ist etwas anderes
als die Staatskunde, von letzterer für immer zu trennen.
Ausgangspunkt der Statistik ist das allgemeine Causalgesetz, ihre
Objecte alle Erscheinungen der realen Welt in und ausserhalb der
22 I>>® Schule der modernen Statistik in Deutschland.
Menschheit, welche als Functionen von constanten und accidentiellen Ur-
sachen einen im Ganzen durch die constanten Ursachen bedingten regel-
mässigen Charakter haben, also die nicht-typischen Vorgänge in der Natur
— und in der Menschheit.
B. Hildebrand®) schliesst sich gleichfalls an Rümelin an. Auch
ihm ist die Statistik Ersatzmittel des Experiments für die Wissenschaften
vom Menschen.
„Indem die Statistik alle gleichartigen Handlungen und Erlebnisse
der Menschen auf einem gegebenen Räume verzeichnet und das Verhält-
niss der Summe dieser Erscheinungen zu der Gesammtsumme der Men-
schen oder zur Gesammtsumme der Handlungen und Erlebnisse in dem
gleichen Zeit- und Ortsraume berechnet, findet sie Verhältnisszahlen,
welche die in dem Vorkommen der einzelnen Handlungen und Erlebnisse
herrschenden Regeln als unzweifelhafte allgemeine Thatsachen aus-
sprechen ..."
Die Statistik fuhrt Buch über die Handlungen und Zustände des
Staates. „Sie ist eine politische und sociale Messkunst."
A. V. Oettingen will in seinem ausgezeichneten und gediegenen
Werke, das neben dem eigentlichen Gegenstande, der moralstatistischen
Untersuchung, eine ausfuhrliche Geschichte und Theorie der Statistik ent-
hält, diese Disciplin darauf beschränken, das socialpolitische Gesammt-
leben, die Menschheit in ihrer national- volksthümlichen Gruppenbewegung
so zum Gegenstande ihrer Untersuchung zu machen, dass sie aus syste-
matischen quantitativen Massenbeobachtungen den volkswirthschaftlichen
socialen und politischen Charakter der Völker zu erkennen und in einem
wissenschaftlichen Gesammtbilde darzustellen suche *").
G. V. Mayr**) erkennt in der Statistik das wissenschaftliche Mittel
zur Ergründung der in Zahl und Mass fassbaren Eigenart der mensch-
lichen Gesellschaft und zur Feststellung der Gesetzmässigkeit im
Gesellschaftsleben. Wo es sich um die Gesetze des Gesellschafts-
lebens handelt, ist die quantitative Massenbeobachtung keine blos secun-
däre Methode, sondern die einzig mögliche Forschungsweise.
G. F. Knapp**) hat sich das Verdienst erworben, die statistischen
Rechnungsoperationen mit mehr mathematischer Schärfe zu behandeln, als
die meisten seiner Vorgänger. Er ist der Ansicht, dass, wenn die Statistik
überhaupt einem Zwecke dienen und nicht zur sinnlosen Verarbeitung von
Notizen herabsinken soll, noth wendig die begrifflichen Eigenschaften der
verschiedenen Zahlengesammtheiten schärfer untersucht werden müssen.
Es müsse bei statistischen Untersuchungen ein rationelles Verfahren statt
der bisher üblichen rohen Empirie angewendet werden.
'Die b^chale der modernen Statistik in England, Italien etc. 2B
Auch G. Zeuner*^) verfolgt diese K,ichtung und ist der Ansicht,
dass die Sätze der Wahrscheinlichkeitsrechnung bei Behandlung statistischer
Fragen in Anwendung kommen müssen. Bis jetzt aber sei die neue Wissen-
schaft, welche als mathematische oder analytische Statistik bezeichnet
wurde, in den ersten Anfängen. Zeuner vindicirt dieser künftigen analy-
tischen Statistik einen ganz grossartigen Einfluss auf die Entwickelung
der Cultur.
Andere verdienstvolle Namen deutscher Statistiker finden später
geeigneten Orts Erwähnung.
Aumerkuugeu.
*) Hoftmauii: Die Bevölkerung des preuss. Staats. Berl. 1839. — Samm-
lung kleiner Schriften etc. 1843. — Nachlass kleiner Schriften.
-) Die meisten seiner zahlreichen Arbeiten finden sich in der Zeitschr.
des preuss. stat. Bur. Von ganz besonderem Interesse sind auch: Die Bewe-
gung der Bevölkerung im Königreich Sachsen in den Jahren 1834—50. Ferner :
Das Königreich Sachsen in statistischer und staatswirthschaftlicher Beziehung.
*) J. E. Wappäus: Allg. Bevölkerungsstatistik. Ferner seine Arbeiten in
der Neubearbeitung des geographisch- statistischen Werkes von Stein und
Hörsühelmann.
*) J. Hain: Handbuch der Statistik des österreichischen Kaiserstaates.
Wien 1852.
^) a. a. O.
•) Die Bewegung der Bevölkerung im Königr. Bayern. 1863.
') Zeitschr. für die gesammte Staats Wissenschaft. Jahrg. 1863.
*) A. Wagner: Artikel Statistik im X. Bande des Staatswörterbuchs.
Ferner: Die Gesetzmässigkeit in den scheinbar willkürlichen Handlungen etc.
•) B. Hildebrand: Die wissenschaftlichen Aufgaben der Statistik. In den
Jahrbüchern für Nationalök. und Statistik. Jahrgang 1866.
••) Moralstatistik. 1869.
*•) Abgesehen von den zahlreichen Veröffentlichungen des baierischen
Statist. Bureaus, welche unter Leitung Mayr*'s erschienen sind, sei hier besonders
sein theoretisches Werk erwähnt: Die Gesetzmässigkeit im Gesell schaftslebefl.
.München 1877.
*-) G. F. Knapp: lieber die Ermittlung der Sterblichkeit. Leipzig 1868.
*') G. Zeuner: Abhandlungen aus der mathematischen Statistik.
§. 11. Die Schule der modernen Statistik in England, Italien etc.
In England, wo schon vor zwei Jahrhunderten Graunt und Petty
und nach ihnen eine Reihe Anderer ihre statistischen Untersuchungen
angestellt hatten, gewann die Schule der modernen Statistik gleichfalls
mehr und mehr Anhänger. Immer aber blieben die Arbeiten vorzugsweise
praktischen Zwecken gewidmet und nahmen deshalb auf die Entwickelung
der neuen Richtung nicht den Einfluss wie die deutschen und franzö-
sischen. Die englische Statistik entspricht einem Streben nach grossartigen
24 I)io Schale der modernen Statistik in England, Italien etc.
Zahlenbeweisen, namentlich im politischen Leben, einer Stoff- und That-
sachensammlung für die Zwecke der Handelspolitik, Steuerwirthschaft, des
Armenwesens etc.
Und selbst jene englischen Statistiker, die mit Vorliebe einen wissen-
schaftlichen Standpunkt vertreten, unterscheiden sich noch wesentlich von
den französischen und deutschen.
Das Journal of the London Statistical society *), tonangebend für
die englische Statistik, fasst die Aufgabe dieser Disciplin so, dass die-
selbe sich auf Sammlung, Gruppirung und Vergleichung der Thatsachen,
die für die sociale und politische Leitung des Volkes von Bedeutung sind,
beschränken solle. Diö Ursachen der Erscheinungen brauchten nicht unter-
sucht zu werden.
G. R. Porter^), der sich anerkanntermassen die grössten Verdienste
um die englische Statistik erworben, lässt sich denn auch zumeist von
praktischen volkswirthschaftlichen Gedanken leiten; eine Reihe anderer
englischer Schriftsteller haben sich theils auf dem Gebiete der amtlichen
Statistik, theils um volkswirthschaftliche xlufgaben durch Sammlung reicher
und brauchbarer Daten verdient gemacht.
J. Stuart Mill ist in seinem „System der deductiven und in-
ductiven Logik" für die statistische Methode, besonders für die Fest-
stellung von Gesetzen auf den verschiedenen Gebieten wissenschaftlicher
Untersuchung epochemachend, während der Geschichtschreiber Buckle*)
seine Wissenschaft auf den Boden der Statistik zu stellen und die mora-
lischen und geistigen Gesetze der Menschheit nach historisch-statistischer
Methode zu untersuchen anfing.
Auch der Staatsmann G. Com wall Lewis*) hat werthvolle Unter-
suchungen über die stat. Methode angestellt. Ihm ist die Statistik ein
Mittel für die Sammlung und Abwägung gleichartiger Thatsachen. Die
Menschen erscheinen in ihr nur als Objecte der Zählung; die Wissen-
schaft hat aus diesen Zahlen die Verursachung und Gesetzmässigkeit
aufzufinden.
Sehr beachtenswerthe Leistungen sind auch aus Italien^) zu ver-
zeichnen. Hier geht Hand in Hand mit einer ungemein regsamen amt-
lichen Statistik und in innigster Verbindung mit derselben ein sehr leb-
haftes wissenschaftliches Streben. Den noch der älteren Richtung ange-
hörenden Gioja **) und Romagnosi folgten Männer wie Messedaglia '),
Maestri, Bodio*), Morpurgo ®), Lampertico *^), Tammeo **), Gabaglio *^)
und Andere.
Anmerkuugen.
*) Vol. 1. 1839.
*) Porter: The progress of the uatiou in its various social and ecouomical
relations. 1836.
Lftagnang des wissenschaftliclien Charakters der Statistik. 25
') H. Th. Buckle: Geschichte der Cmlisatiou in England. Uebers. you
A. Rüge. 1860.
*) A treatise oii the methods of obsenratiou etc.
*) Vgl. hierüber zwei Artikel in den „Annali di Statistical 1879.
•) Melchiorre Gioja: Filosofia della statistica. Napoli 1827.
^) Messedaglia: Frelezione al corso di filosofia della statistica. Und
Anderes.
®) Bodio: Della statistica nei suoi rapporti coir ecouomia politica etc.
Milano 1869. — Sui documenti statistici del Regno dUtalia. Firenze 1867.
•) Morpurgo: La statistica e le scienze sociali; anch in deutscher Aus-
gabe erschienen. Jena 1877.
^®) F. Lampe rtico: Sulla statistica teorica etc. (Annali di Statistica
1879.) — Della statistica couie scienza.
**) G. Tammeo: La statistica e i problemi sociali. (Annali di Statistica 1879.)
^*) A. Gabaglio: Storia e teoria generale della statistica. Milano 1880.
§. 12. Läugnung des wissenschaftlichen Charakters der Statistik.
Einige Schriftsteller sehen in der Statistik gar keine Wissenschaft,
sondern nur eine Anzahl von Thatsachen, oder gar blos eine Anzahl von
Lügen. Und zwar hat dieser Vorwurf nicht nur eine einzelne, sondern
verschiedene Richtungen der Statistik getroffen; er gehört der Geschichte
der Wissenschaft gleichfalls an. In dieser Hinsicht sind besonders A. F.
Lüder*), der National-Oekonom Say^) und Portlock zu erwähnen.
Anmerkungen.
*) A. F. Lud er: Kritik der Statistik und Politik. Göttingen 1812 und
Kritische Geschichte der Statistik. Göttingen 1817. Lud er, vordem selbst stati-
stischer Schriftsteller, gerieth zuerst in Verzweiflung über diese seine Lieblings-
wissenschaft und erklärte, durch Nachdenken, besonders aber durch die Er-
scheinungen der französischen Umwälzung, erkannt zu haben, dass die Statistik
ein Gemisch von Lügenhaftigkeit und Unbrauchbarkeit sei. Zum Beweise seiner
Behauptungen fuhrt er die verschiedenen Meinungen über den Begriff der Sta-
tistik an, kritisirt ihre falschen Methoden und behauptet die Unzuverlässigkeit
staatlicher Thatsachen. Ausserdem wirft er den Statistikern vor, dass sie den
Regierungen die Lust des Zuvielregierens beibringen, das Mercantilsystem und
die Eroberungslust verbreiten, die stehenden Heere fördern und dergleichen
Sünden mehr. Seine Vorwürfe treffen die Achenwall-Schlözer''sche Schule und
es ist gewiss, dass dieselbe einen Theil dieser Vorwürfe nicht ganz unver-
dient trägt.
*) Say: Handbuch der praktischen Nationalökonomie, übersetzt von
J. V. Th., Stuttgart -18Ä9. VL Bd. pag. 169 ff. Say degradirt die Statistik zu
einer völlig geistlosen Magd der Nationalökonomie; er spricht ihr die Erklärung
der Ursachen oder Folgen ab und weist ihr nur den Nachweis der ins Leben
tretenden Erscheinungen zu.
26 ^i® Entwickelang der amtlichen Statistik.
§. 13. Die Entwickeliing der amtlichen Statistik ^).
Die amtliche Statistik, die schon in den ältesten Zeiten der Wissen-
schaft, unbekümmert um dieselbe, vorangegangen war, wurde im laufenden
Jahrhundert zu einem umfassenden Systeme methodischer Massenbeobach-
tungen über die verschiedensten, namentlich aber über sociale Erschei-
nungen. Sie beeinflusste die wissenschaftlichen Statistiker, wie sie anderer-
seits seit Quetelet selbst von der Wissenschaft geleitet wurde.
Mehr und mehr wurden die Beobachtungen von besonders hiezu
gegründeten Staatsanstalten, den sogenannten statistischen Bureaux ange-
stellt. Die gefundenen Resultate wurden, je mehr mit dem Repräsentativ-
system auch das Princip der OeiFentlichkeit in den Staats Verhältnissen zur
Geltung kam, veröffentlicht. Diese statistischen Beobachtungen wurden für
die Regierungen und für die Völker stets wichtiger. Die Regierungen
wurden durch das System des politischen Gleichgewichts, durch die Sorge
um ihre Existenz genöthigt, die eigenen und fremden Staatskräfte zu
messen und zu vergleichen; der Trieb nach bureaukratischem Vielregieren
forderte umfassende Zustandskenntnisse; die Lasten des Finanzwesens
mussten erträglich veitheilt und hiezu ebenfalls die nothwendigen Kennt-
nisse gewonnen werden. Umgekehrt verlangten auch die Völker selbst
nach einem genauen Einblick in die eigenen und fremden Volks- und
Staatskräfte, ins Finanz- und Militärwesen, in die wirthschaftlichen Ver-
hältnisse und in die Vertheilung der ihrem Seckel entflossenen Werthe
durch die Staatsmaschine.
Mit dem Anfange des 19. Jahrhunderts fängt daher auch eine orga-
nisirte amtliche Statistik an. Eigene Behörden erhielten die Aufgabe, das
bei den Verwaltungsbehörden sich sammelnde, auf die Thatsachen des
Volks- und Staatslebens bezügliche Material zu sammeln und zu ordnen;
die Bureaux wurden häufig auch ermächtigt, selbständig oder mit Hilfe
der Verwaltungsbehörden Beobachtungen über gewisse Erscheinungen an-
zustellen.
So gründete Lucian Bonaparte im Jahre 1800 ein statistisches
Bureau, welches bedeutende Thätigkeit entfaltete. Consul Bonaparte selbst
hielt viel auf die Statistik; berühmt ist sein Satz: La statistique est le
budget des choses, et sans budget point de salut public. 1806 schon er-
schien ein grosses Werk: Generalstatistik Frankreichs. Unter dem Kaiser-
reich aber ward die Thätigkeit des statistischen Bureaux beschränkt und
schliesslich ganz eingestellt. Wollte der Despot seinen Haushalt ver-
schleiern ?
Auch in anderen Staaten bestanden statistische Bureaux, besonders
auch für topographische Aufnahmen.
Aenderuiigen und Vtfrbessef&ngen. 27
In Bayern wurde 1801 durch General Raglovich eines gegründet
und 1813 zu einem geheimen statistischen Bureau umgewandelt. In West-
falen bestand ein solches Bureau seit 1809, in Italien von 1803 bis 1809.
In Oesterreich wurde 1810 ein statistisches Bureau mit dem Staatsrath
vereinigt, durfte aber nichts veröffentlichen. In Preussen ward ein topo-
graphisch-statistisches Bureau 1805 gegründet, 1808 und 1810 unter dem
Director Hofimann umgestaltet.
Aumerkuiigeu.
*) Zur Ent Wickelung der amtlichen Statistik vergleiche:
R. Böckh: Die geschichtliche Eütwickelung der amtlichen Statistik des
preussischen Staates. Berlin 1863.
E. Engel: Compte reudu gener. des trav. du congr. interuat. de statis-
tique etc. Berl. 1863.
A. Wagner, im Staatswörterbuch von Bluntschli a. a. 0. — Handbuch
der Statistik von M. Block, deutsch von Scheel, Leipzig 1869, S. 16 ff.
§. 14. Fortsetzung. Aendenmgen und Verbessenmgen.
Die Herstellung des Friedens wirkte begünstigend auf die amtliche
Statistik, nicht minder der beginnende Constitutionalismus. Letzterer
namentlich bezüglich der OefFentlichkeit der Resultate. Einzelnen Verwal-
tungszweigen wurden statistische Arbeiten aufgetragen. Selbst in absoluti-
stischen Staaten wurden statistische Nachforschungen verschiedener Art
angestellt. Von 1830 bis 1850 nahmen die Regierungen immer mehr
Interesse an der Statistik; erst seit 1848 aber ward die Geheimthuerei in
Sachen der amtlichen Statistik gründlich beseitigt.
Seit dieser Zeit trat das preussische statistische Bureau unter Die-
derici mit grösseren Publicationen auf und blieb auch unter dessen Nach-
folger, E. Engel, ungemein thätig.
In Oesterreich ward 1828 ein statistisches Bureau errichtet; der
obersten Rechnungs- und Controlbehörde zubehörig, musste es seine Auf-
nahmen sorgfältig geheim halten. Seit 1840 heisst es Direction der admi-
nistrativen Statistik, unter Czörnig begann es im Jahre 1842 mit grösseren
Publicationen (ausschliesslich der bis 1848 geheim gehaltenen Finanz-
tabellen). Gegenwärtiger Leiter ist C. Inama-Sternegg. Ausserdem besitzt
Oesterreich ein statistisches Bureau des Handelsministeriums und eines
des Ackerbauministeriums. Die Länder der ungarischen Krone erhielten
1867 ein eigenes statistisches Bureau unter Kelety.
In Bayern begann das statistische Bureau unter Hermann seine
später von Mayr fortgesetzten vorzüglichen Veröffentlichungen; das wüit-
tembergische statistische Bureau hielt länger zurück.
In Sachsen entwickelte sich aus einem halbamtlichen statistischen
Vereine ein solches Bureau unter Engel zu eminenter Leistungsfähigkeit.
28 Aenderungen und Verbesserungen.
Statistische Bureaux und Anstalten bestehen ausserdem in Baden
als selbständiges Institut seit 1866, in Mecklenburg seit 1851, in Braun-
schweig seit 1853, in Oldenburg seit 1835, in Hessen-Barmstadt seit
1861, für die thüringischen Staaten zu Jena seit 1864 (unter Hildebrand),
in den Hansestädten handelsstatistische Bureaux.
Aber auch ausserhalb der statistischen Bureaux. wird amtliche Sta-
tistik getrieben. Einzelne Theile der Staatsverwaltungen haben mitunter
besondere statistische Abtheilungen und veröffentlichen Beobachtungen und
Darstellungen über die Ergebnisse innerhalb ihres Wirkungskreises. Hieher
zählen namentlich die Berichte über Post-, Eisenbahn-, Telegraphenwesen,
über die Justizpflege, über Finanzen und Staatsschuldenwesen. Die amt-
liche Statistik Gesammtdeutschlands war lange nur durch den Zollverein
mit einem ziemlich losen Bande zusammengehalten. Die Resultate waren
handelsstatistische Berichte. Nach der Schöpfung des deutschen Reiches
wurde auch eine gemeinsame Centralstelle tiir Statistik zu Berlin im Jahre
1872 geschaffen, zunächst für Statistik des Handels und der Verbrauchs-
steuern, dann mit einem ausgedehnteren Wirkungskrelse. Es steht unter
Leitung von K. Becker und hat schon eine grosse Anzahl von Bänden
publicirt.
In Belgien wurde 1831 ein statistisches Gentralbureau gegi'ündet,
welches 1841 in eine statistische Centralcommission überging unter Que-
telet, später Heuschling. Dieses Bureau ist das ausgezeichnetste Vorbild
für die Einrichtung, Ausführung und Behandlung der amtlichen Statistik
in der Gegenwart.
In Frankreich erschienen — obgleich damals Äoch kein statistisches
Gentralbureau bestand — seit 1816 handelsstatistische Uebersichten und
seit 1818 Berichte des Kriegsministeriums über die Ergebnisse der Recru-
tirung, seit 1826 die von Guerry de Champneuf eingeführten jährlichen
comptes de l'administration de la justice criminelle, dann auch der justice
civile et commerciale. Thiers gründete 1834 das generalstatistische Bureau,
anfangs unter Moreau de Jonnes, dann unter Legoyt. Diese Centralstelle
publicirt seit 1835. Auch einzelne Ministerien haben in Frankreich beson-
dere statistische Centralstellen.
Holland erhielt ein statistisches Bureau 1848, welches unter Baum-
hauer sehr thätig war, 1878 aber wieder aufgelöst wurde.
Auch die amtliche Statistik Schwedens steht auf hoher Stufe. Hier
war schon 1756 eine sogenannte Tabellen-Commission eingesetzt worden^
wohl das älteste eigentliche statistische Bureau.
Aehnliche Bureaux besteihen in Norwegen und Dänemark; in. Russ-
land findet sich ein statistisches Comite im Ministerium des Innern und
ein Centralcomite (seit 1858) unter der Direction von Semenoff,
Einrichtung der Bnreanx. 29
Auch Finnland hat sein eigenes statistisches Bureau.
Die Schweiz hat ein eidgenössisches statistisches Bureau seit 1860;
in mehreren Cantonen bestehen Cantonalbureaux.
In Italien hat das 1861 errichtete Bureau vorzügliche Publicationen
geliefert, zuerst unter Maestri, dann unter Bodio.
In Spanien und Portugal wurde die administrative Statistik reorga-
nisirt, doch stellten die ßureaux ihre Publicationen bald wieder ein; sogar
in Griechenland ward 1834 ein statistisches Bureau gegründet,, in Rumä-
nien 1859, in Serbien 1862 eine statistische Section im Finanzministe-
rium; auch die Türkei besitzt ein ähnliches Bureau im Finanzministerium,
welches aber nichts publicirt.
In Grossbritannien besteht noch kein eigentliches Centralbureau.
Doch wird eine grosse Masse statistischen Materials gesammelt und in den
Blaubüchem veröffentlicht. Im Handelsamte besteht seit 1832 eine stati-
stische Abtheilung, welche eine sehr werthvolle Handelsstatistik liefert,
die sogenannte Statistical abstracts. Die Registrar general oflßces sind
Centralstellen für Civilstandsbuchführung und bearbeiten auch die Bevöl-
kerungsstatistik.
Ausserhalb Europa's ist in Nordamerika der lOjährige Census zu
einer stets umfassenderen Landes- und Volksbeschreibung geworden. Auch
erfolgen jährliche Publicationen über Finanzen, Geld-, Credit- und Bank-
wesen, Handel und Schififahrt. In einigen Staaten existiren Staatsbureaux.
In den englischen Colonien gibt es theils besondere Bureaux, theils
sammeln die Verwaltungsbehörden statistisches Material. Ebenso in den
französischen und spanischen Colonien. Die mittel- und südamerikanischen
Staaten haben ebenfalls in neuester Zeit namentlich mit Civilstandsregi-
stem und Volkszählungen begonnen, auch mit Schiiffahrts- und Handels-
statistik. So existiren statistische Bureaux in Chile, Peru, Argentina,
Uruguay. Endlich in Aegypten seit 1870; in Japan seit 1875.
§. 15. Fortsetzung. Einrichtung der Bureaux.
Die Behörden, welche den Namen statistische Bureaux führen, sind
sowohl in ihren Einrichtungen als auch bezüglich ihrer Aufgaben ver-
schieden.
Einige haben nur den von Verwaltungsbehörden angehäuften stati-
stischen Stoflf zu sammeln, zusammenzustellen, zu concentriren, zu verar-
beiten und zu veröffentlichen. Andere dagegen haben mehr, wieder andere
die ausgedehnteste Freiheit, welche Arbeiten sie vornehmen, welche Zu-
stande sie beobachten und wie sie die Beobachtung vornehmen wollen.
Das Bedürfniss, statistische Beobachtungen aus allen Gebieten der
Staatsthätigkeit zu erhalten, führte zur Errichtung statistischer Cen-
30 Wirkungskreis und Verfahren der sUtistischen Bureaux.
tralcommißsionen. Sie sind aus Mitgliedern der verschiedenen Verwal-
tungszweige unter Zuziehung wissenschaftlicher Theoretiker zusammen-
gesetzt; sie berathen oder entscheiden über die vorzunehmenden Beobach-
tungen, controliren die Arbeiten. Sie stehen entweder über dem statistischen
Bureau oder sind demselben coordinirt oder leiten seine Arbeiten selbst.
Doch haben sie sich nicht überall bewährt.
Auch zahlreiche grössere Städte haben eigene statistische Bureaux.
Paris und das Seinedepartement seit 1821; ferner Wien, Berlin, Leipzig,
München, Kopenhagen, Rom, Brüssel, New- York etc.
Neben den eigentlichen statistischen Bureaux bestehen auch andere
Anstalten, welche statistische Arbeiten vollbringen.
Zunächst sind es die statistischen Vereine, welche namentlich vor
der heutigen Ausbildung der Bureaux manches förderten. So die statisti-
schen Gesellschaften zu London und Paris.
Vereine und (Korporationen verschiedener Art haben gleichfalls neben
ihrem eigentlichen praktischen Zwecke auch darin einen Theil ihrer Auf-
gabe gesucht, dass sie die Erscheinungen ihres Wirkungskreises statisti-
scher Beobachtung würdigten. So die landwirthschaftlichen Vereine, die
Gewerbe- und Handelskammern, die Verkehrsgesellschaften (Eisenbahnen)?
die Armenpflegvereine u. s. f. Aber auch die Krankenhäuser, Irren-
anstalten etc. liefern Arbeiten und Berichte aus dem Gebiete der medi-
cinischen Statistik; ftir Preis-, Geld- und Creditstatistik findet sich der
f Stoff in Courslisten der Handelsblätter und politischen Zeitungen.
§. 16. Wirkungskreis und Verfahren der statistischen Bureaux.
Keine sociale, ökonomische oder sittliche Thatsache von einiger
Wichtigkeit ist mehr vorhanden, welche nicht Gegenstand einer gelegent-
lichen oder fortwährenden amtlichen Beobachtung bildet. Immer mehr
Gebiete und Erscheinungen sind in das System regelmässiger Beobachtung
hereingezogen worden, lieber jede einzelne Erscheinung sind die Beobach-
tungen häufiger, umfassender und. vollständiger geworden. Die Methoden
wurden stets verbessert. Die amtliche Statistik beschränkt sich längst
' nicht mehr auf die Erscheinungen des menschlichen Lebens; sondern
Beobachtungen über Natur und über menschliche Erscheinungen werden
nach einem bestimmten Systeme massenhaft angestellt, in steter Beziehung
zu einander. Land und Volk werden in ihren Quantitätsverhältnissen
genau bestimmt. Exacte Vermessungen mit den besten Hilfsmitteln werden
angestellt und stets vervollständigt. Genaue Volkszählungen finden . zu
regelmässigen Zeiten nach einem stets besser und vollständiger werdenden
Verfahren statt. Jede besondere, qualitativ verschiedene Erscheinung im
Volksleben wird in ihren quantitativen Elementen erfasst. Der Boden als
Die statistisclieii Gongresee. 31
Wohnsitz und Werkstatt der Menschen, das Grundeigenthum mit seinen
natürlichen, wirthschaftlichen und politischen Unterschieden wird genau
aufgenommen. Die Bevölkerung wird in ihren natürlichen, sittlichen und
geistigen Verschiedenheiten, also nach ihrem Geschlecht, Alter und kör-
perlichen Zustand, nach ihrer Bildung und Moral, nach ihrem Glauben,
ihrem Beruf und Stand, nach ihrem Familienstande bei der Zählung
unterschieden. Für jede beobachtbare Eigenschaft des Menschen erhält
man Zahlenbestimmungen, welche ausdrücken, wie viele Individuen unter
einer gewissen Bevölkerung die beobachtete Eigenschaft besitzen, von
welcher Bedeutung demnach diese Eigenschaft für das gesellschaftliche
Leben ist, wie sie sich zu anderen Eigenschaften verhält u. s. f. Die
Statistik begleitet den Menschen durch alle Theile seines Lebens hindurch
von der Wiege bis zum Grabe. Aus dieser Masse von Quantitätsbestinmiungen
geht dann die beste und genaueste qualitative Volksbeschreibung hervor.
§. 17. Die statistischen Congresse.
Ihre höchste Entwickelung enthält die amtliche Statistik in den seit
1853 stattfindenden statistischen Congressen, durch welche internationale
Gleichförmigkeit und Ordnung in die Statistik gebracht wird. Der erste
solche Congress kam 1853 zu Brüssel zu Stande. Sein Zweck war, Ein-
heit in die amtlichen Statistiken der verschiedenen Staaten zu bringen
und gleichförmige Grundlagen für die statistischen Arbeiten zu erlangen.
Eine solche Einheit ist nothwendig, damit die an verschiedenen Orten und
zu verschiedenen Zeiten erhaltenen Resultate verglichen werden können.
Die statistischen Congresse wollen über alle civilisirten Staaten ein
zusammenhängendes Beobachtungssystem ausbreiten. Man will nicht mehr
das Volk eines Staates, sondern die ganze civilisirte Menschheit unter
fortwährende Beobachtung stellen. Ein solches Beobachtungssystem konnte
nur durch die Staatsgewalt organisirt werden. Sie allein besitzt die Macht,
den Menschen als solchen zu einem Gegenstande der Massenbeobachtung
zu machen und die Beobachtungen ineinander greifen zu lassen. Dem-
nach mussten die statistischen Congresse Versammlungen amtlicher Dele-
girter sein.
Die statistischen Congresse haben vom ersten bis zum letzten ohne
Grübeleien über den Begriff der Statistik nichts anderes in ihr gesehen,
als ein System von Massenbeobachtungen. In der Ausbildung, Vervoll-
ständigung und Verbesserung dieses Systems sahen sie ihre Aufgabe,
welcher mit einer in der Geschichte der menschlichen Wissenschaften un-
erhörten Eintracht und Energie zu Leibe gegangen ward.
Der zweite statistische Congress fand 1855 zu Paris statt, der dritte
1857 zu Wien, der vierte 1860 zu London, der fünfte 1863 zu Berlin,
32 Wesen der Statistik als Methode.
der sechste 1867 zu Florenz, der siebente 1869 in Haag, der achte 1872
zu Petersburg und der neunte 1876 zu Pest.
All diese Congresse haben durch Anregung mancher werthvollen
Untersuchung, durch Ansammlung riesigen Materials, durch Anknüpfung
internationaler Beziehungen zwischen den Statistikern, durch Erleichterung
des Zusammenarbeitens jedenfalls viel Gutes geschaiFen. Das Ideal einer
alle civilisirten Länder durchdringenden gleichförmigen Einrichtung der
amtlichen Statistik wurde freilich nicht erreicht und konnte nicht erreicht
werden. Vielfach waren die Arbeitsaufgaben, welche die Congresse sich
stellten, zu umfangreich; häufig waren auch die Anschauungen und Ein-
richtungen, welche vereinheitlicht werden sollten, doch zu verschieden, um
eine Vereinheitlichung zu gestatten; endlich waren die Theilnehmer an
den Congressen nicht genöthigt, sich seinen Beschlüssen zu unterwerfen.
Um den Schwierigkeiten zu begegnen, welche (^urch diese Hindernisse der
Thätigkeit der Congresse erwuchsen, schuf man eine sogenannte Perma-
nenzcommission (einen bleibenden Ausschuss). Diese soll die Aufgabe haben,
nach Möglichkeit für die Ausführung der Congressbeschlüsse zu sorgen;
insbesondere sich über die Ausführung der Congressbeschlüsse und allen-
fallsige entgegenstehende Hindemisse zu informiren ; auf Einheitlichkeit der
statistischen Publicationen hinzuwirken; die Vorarbeiten für die nächsten
Congresse zu unterstützen; internationale Aufnahmen einzuleiten und die
begonnene internationale Statistik zu fördern; dem Congress die Redaction
der gefassten Beschlüsse vorzulegen.
Ein grosses Verdienst der Congresse war die Inangriffnahme einer
vergleichenden Statistik. Hierbei wurden die sämmtlichen Arbeiten einer
solchen Statistik capitelweise an die statistischen Bureaux der einzelnen
Staaten übertragen. Die Publicationen sollten in französischer Sprache er-
folgen. Leider schreiten diese Publicationen sehr langsam voran.
II. Capitel.
Die Statistik als Methode.
§. 18. Wesen der Statistik als Methode.
Die Statistik ist jene Methode, welche Zustände und Vorgänge auf
dem Wege der Massenbeobachtung erforscht. Diese Methode lässt sich auf
die mannigfaltigsten Erscheinungen anwenden. Ihre Kenntniss und Anwen-
dung auf die grossen menschlichen und staatlichen Räthsel hat einen voll-
ständig wissenschaftlichen Charakter. Sie dringt durch Bekanntes zuni
Die methodische Masfieiibeohschtaiig. 33
Unbekannten vor. Sie fördert Resultate, welche sowohl als Wahrheiten,
als auch durch ihre praktische Bedeutung in der Geschichte des mensch-
lichen Denkens und Forschens Epoche machen. Sie ist unter allen Me-
thoden der Forschung jene, welche die vielseitigste wissenschaftliche
Vorbildung erfordert. Sie löst und erklärt menschliche und natürliche Er-
scheinungen, vergleicht dieselben, , findet ihren ursächlichen Zusammenhang
und bemüht sich, die Gesetze zu untersuchen, welche ihnen zu Grunde
liegen.
Dass diese Methode vom menschlichen Geiste einmal als Werkzeug
angewendet werden muss, ist eine in der Geschichte und im Wesen des
menschlichen Gedankens und im Wesen der Erscheinungen begründete
Nothwendigkeit. Die Einzelnforschung musste zur Massenforschung, die un-
methodische Forschung zur methodischen Forschung werden.
§. 19. Die methodische Massenbeobachtung.
Die methodische Massenbeobachtung besteht darin, dass über ganze
Massen von einzelnen Thatsachen oder Individuen ein Netz von Beobach-
tungen ausgebreitet wird, um nach einer Methode alle gleichartigen
Erscheinungen zu beobachten und zu verzeichnen.
Sowie von einer systematischen Behandlung der Massen die Rede
ist, muss zunächst an ein Ordnen und Messen derselben gedacht werden.
Die Massen müssen in Einheiten aufgelöst werden und die Zahl und das
Zählen ist demnach charakteristisches Merkmal dieser Methode.
Die methodische Massenbeobachtung ist abgegrenzt:
I. Gegen die Einzelnbeobachtung dadurch, dass sie eben immer nur
ganze Massen gleichartiger Erscheinungen zugleich beobachtet.
n. Gegen die unmethodische Massenbeobachtung ist sie abgegrenzt
durch Genauigkeit und Vollständigkeit. Die unmethodische Massenbeob-
achtung ist uralt und ungemein volksthümlich. Jeder Mensch macht eine,
Reihe von einzelnen unsystematischen Massenbeobachtungen. Sie finden
sich allerwärts im täglichen Leben *).
Gerade an die Gegenstände solcher unmethodischer Massenbeob-
achtungen hat die methodische ihre Prüfung ganz besonders anzulegen.
Gegenstände, welche von der Gewohnheit des Volksgeistes so behandelt
zu werden pflegen, bilden die bedeutsamsten und wichtigsten Objecto der
Statistik.
Es ist auch kein Zweifel, dass in der unmethodischen Massenbeob-
achtung der Keim zur methodischen enthalten ist.
Umsomehr, als die Grenze zwischen beiden gerade in einer sehr
wichtigen Beziehung, nämlich in Bezug auf die Zahl der Beobachtungen
eine fliessende ist.
Haushofer, Statistik. 2, Aufl. 3
34 ^<^3 Gesetz der grossen Zahl.
Anmerkung.
*) Mau sagt z. B. „es ist heuer ein kalter Winter ••'. Man fühlt sich zu
dieser Aeusserung veranlasst, weil man in ganz natürlicher, unmethodischer
Weise bemerkt hat, dass ungewöhnlich häufig starker und langer Frost heiTschte.
Zur methodischen Beobachtung würde dies werden, wenn man Tag für Tag
die Temperatur mit dem Thermometer gemessen, hieraus die Durch schnitts-
temperatur des ganzen Winters berechnet und mit den Temperaturverhältnisseii
anderer Winter, die in gleicher Weise beobachtet wurden, verglichen hätte,
§. 20. Das Gesetz der grossen Zahl. .
Bei der Beobachtung der Masse zeigt sich das Gesetz der grossen
Zahl. Dasselbe sagt, dass bei der Beobachtung einer grossen Zahl von
Erscheinungen derselben Art schliesslich ein gewisses constantes Zahlen-
verhältniss hervortritt. Dieses Zahlen verhältniss wird um so früher und
um so deutlicher bemerkt, je zahlreicher und gleichförmiger die Beob-
achtungen sind. In der Statistik sind die grossen Zahlen regelmässig und
diese Regelmässigkeit tritt in ihnen auch zu Tage. Auch die kleinen
Zahlen sind regelmässig; aber ihre Regelmässigkeit ist eine versteckte.
Das Gesetz der grossen Zahl hat seinen Grund in der Verschieden-
heit der Ursachen, welche auf die Erscheinungen wirken.
Diese Ursachen sind nämlich bald mehr bald weniger veränderlich
wirkende. Sie sind:
I. Stetige (constante), d. i. solche, welche auf grössere Massen von
Erscheinungen und dauernd wirken.
IL Wechselnde (zufällige, störende, perturbirende, accidentielle), d. i.
solche, welche nur auf kleinere Massen von Erscheinungen und nur in
vorübergehender zufälliger Weise einwirken.
Die Bezeichnungen „grössere und kleinere Massen," „dauernde und
vorübergehende Wirkung" sind nicht präcis. Und zwar mit Recht; denn
■der Gegensatz zwischen den stetigen und wechselnden Ursachen ist ein
flüssiger. Eine Ursache kann einer zweiten gegenüber wechselnd, einer
dritten gegenüber stetig erscheinen. Indessen ist dieser Gegensatz für die
Beobachtung vorhanden und von Werth.
Nimmt man eine grössere Masse von Einzelnfällen zusammen, so
kommen in dieser Masse die stetigen Ursachen der Erscheinungen zum
Vorschein. Die grosse Zahl deckt dieselben auf.
In den einzelnen Fällen wirken diese stetigen Ursachen auch. Aber
ihre Wirkung ist nicht so ersichtlich; sie wird verdeckt durch die wech-
selnden Ursachen.
So ist es z. B. eine statistische Erscheinung, dass unter den neuge-
borenen Knaben eine gi'össere Sterblichkeit herrscht, als unter den Mäd-
chen. Diese Erscheinung zeigt sich aber nurj wenn man eine grössere
Gliederung der statiBÜRclieu Methode. ' 35
Zahl von Fällen beobachtet. Sie kommt nur in der Masse zum Vorschein.
Wenn man nur eine einzelne Familie betrachtet, kommt diese Erschei-
nung und ihr Gesetz nicht nothwendig zum Vorschein. Es ist sehr mög-
lich, dass in dieser Familie alle neugeborenen Mädchen sterben, und die
Knaben lebend bleiben. In diesem Falle wäre eine Erscheinung sammt
ihrem Gesetze durch die Wirkungen zufälliger Ursachen gestört und
verdeckt.
Aber selbst solche Störungen erfolgen wieder nach einer festen
Ordnung. Man nennt letztere das Gesetz der zufalligen (accidentiellen)
Ursachen.
§. 21. Gliederung der statistischen Methode ^).
Eine sehr falsche Meinung ist die, blosses Zählen, Rechnen und
Zahlengi'uppiren mache den Statistiker. Es kann vielmehr nicht oft genug
gesagt werden, dass die Statistik keine Zahlen Wissenschaft ist.
Die Aufgaben der Statistik sind manchmal höchst einfach, manch-
mal greifen die reichsten und verwickeltsten Erscheinungen ineinander.
Hier muss dann der Statistiker umfassende Bildung mit vielseitigem po-
sitivem Wissen, grosses Combinationsvermögen mit scharfer Logik ver-
binden.
Es handelt sich im Allgemeinen darum, theils solche Erscheinungen,
welche noch nicht von anderen Forschungsmethoden erklärt sind, durch
die statistische Methode erst in Angriff zu nehmen; theils solche, an wel-
chen ein deductives Verfahren schon thätig gewesen, zum Zwecke der
Controlirung auch noch der statistischen Methode zu unterstellen.
Im letzteren Falle muss, wenn die Controle richtig sein soll, die Art
der Beobachtung eben so erfolgen, als wenn das statistische Verfahren
den Anfang zu bilden hätte.
Der Gang der statistischen Forschung setzt sich aus einer Reihe
von verschiedenen Thätigkeiten zusammen. Von diesen Thätigkeiten sind
die einen mehr mechanischer Natur und beanspruchen keine besonders
schwierige geistige Thätigkeit; sie können technisch erlernt werden, wie
die einfacheren Rechnungsarten.
Andere dagegen erfordern bedeutende wissenschaftliche Fähigkeit,
wissenschaftliche ürtheile und Schlüsse. Beide Arten aber gehören zu-
sammen. Die Resultate der blos technischen Operationen bleiben todtes
Material ohne den belebenden Hauch des wissenschaftlichen Urtheils und
Schlusses, während letzterer seinerseits des Materials bedarf ^).
Anmerkungen.
*) Von besonderer Bedeutung hinsichtlich der Darstellung des Ganges
der statistischen Aufgabe sind folgende Arbeiten :
3*
36 Erkennung der Gegenst&nde der Statistik.
A. Quetelet: Sur rhomme etc.
E. Engel: Die Bewegung der Bevölkerung im Königreiche Sachsen.
Dresden 1852.
Derselbe: Ueber die Organisation der amtlichen Statistik in der Zeit-
schrift des preuss. stat. Bureau. Band I.
£. Engel: Die Statistik im Dienste der Verwaltung, a. a. 0. Bd. III.
Derselbe: Das statistische Seminar des preussischen Bureau, a. a. O.
Band IV.
J. St. Mill: System der deductiven und inductiven Logik.
A. Wagner: Artikel Statistik im Staats wörterbuche.
Derselbe: Die Gesetzmässigkeit in den scheinbar willkürlichen Hand-
lungen..
Dufau: De la methode d^observatiou dans son application aux sciences
mor. et polit. Par. 1865.
Derselbe: Traite de la statistique etc.
Fechner: Elemente der Psychophysik. Leipzig 1860.
A. V. Oettingen: Moral Statistik. 1869.
G. Mayr: Die Gesetzmässigkeit im Gesellschaftsleben. Münch. 1877.
M. Block: Traite theoretique et pratique de Statistique. Par. 1878.
A. Gabaglio: Sunto della storia e della teoria etc. Annali di Statistica.
Ser. II. Vol 21.
*) V. Baumhauer (Verhandlungen des statistischen Congresses in Haag)
unterscheidet drei Methoden oder besser Theile der statistischen Methode.
a) Die materielle Operation oder die Kunst, die Thatsachen zu sammeln
und zu ermitteln. Sie erfordere nicht nur ziemliche Sorgfalt und richtiges
Gefühl im Entwerfen der Tabellen, sondern auch eine genaue Kenntniss der
gesammelten Daten und besonders eine systematische Organisation der Arbeit
in den unteren* Verwaltungsinstanzen.
b) Die praktische Operation oder die Methode der Anwendung. Sie
umfasse die Arbeit der verschiedenen statistischen Bureaux, setze die That-
sachen nebeneinander, vergleiche, kritisire, discutire den Werth der bereits
gesammelten und ziehe aus ihnen Resultate.
c) Die wissenschaftliche Operation beschäftige sich mit der Ermittlung
der mehr oder weniger gleichmässigen Regeln, welche das sociale System
beherrschen.
I. §. 22. Erkennung der Gegenstände der Statistik.
Zunächst handelt es sich darum, die Gegenstände der Statistik als
solche zu erkennen und festzustellen. Man wird demgemäss alles aus-
scheiden müssen, was nicht Gegenstand der Statistik sein kann.
Gleich diese erste Thätigkeit des Statistikers ist eine der schwie-
rigsten. Man muss dabei eine Art von Vorbeobachtungen anstellen. Dabei
wird man am sichersten gehen, wenn man annimmt, dass alle Erschei-
nungen des Weltlebens in das Gebiet der Statistik gehören und selbst
die typischen nur scheinbar typisch sein könnten. Von dieser Annahme
Erkennung der Gegenst&nde der Statistik. 37
ausgehend wird man dann zu prüfen haben, ob die Vorbeobachtungen
statistischen Werth haben oder nicht. Und darnach ist dann zu ent-
scheiden, ob die fragliche Erscheinung in das Gebiet der Statistik gehört
oder nicht.
Diese Vorbeobachtungen können weder systematisch noch massenhaft
angestellt werden. Oft reichen wenige Beobachtungen hin, um eine Erschei-
nung als Object der Statistik mit Sicherheit erkennen zu lassen. Es kommt
eben darauf an, die charakteristischen Merkmale der Massenerscheinung
aufzufinden. Allgemeine Regeln lassen sich hieför schwer aufstellen. Wenn
eine Masse von Erscheinungen gewissen Einflüssen und jede Einheit dieser
Masse doch wieder besonderen Einflüssen folgt: dann ist diese Masse von
Erscheinungen Object der statistischen Methode. Diese Haupt- und Neben-
einflüsse rasch zu erkennen : darin besteht eine der schwierigsten Aufgaben
des Statistikers.
Gegenstand der statistischen Methode überhaupt sind alle jene Er-
scheinungen, welche von stetigen und wechselnden Ursachen zugleich be-
wirkt erscheinen und aus diesem Grunde zur Erforschung ihrer Gesetze
der Massenbeobachtung bedürfen.
Ausserhalb der statistischen Methode stehen daher:
I. Alle Erscheinungen, welche nur stetige Ursachen haben, z. B. die
Bewegung der Himmelskörper.
n. Die Ableitungen und Resultate dieser Erscheinungen, z. B. die
Zeitmessung, physikalische, mechanische, chemische Gesetze.
in. Die Ableitungen und Resultate mathematischer Gesetze.
IV. Alle Ableitungen und Resultate logischer Gesetze.
V. Alle Ableitungen aus den durch eigene psychologische Prüfung
geftindenen Gesetzen, nach welchen menschliche Handlungen geschehen.
Solcher Art sind z. B. die wirthschaftlichen Erscheinungen, sofern sie b los
vom menschlichen Eigennutz regulirt werden.
VI. Alle Erscheinungen, welche noch vereinzelt dastehen, anscheinend
Resultate blos zufälliger Ursachen. (Geschichte.)
Die Gegenstände der statistischen Methode werden von anderen Ge-
genständen menschlichen Wissens ausgeschieden:
I. Durch den gleichartigen Charakter ihrer Verursachung, durch das
Zusammenwirken stetiger und wechselnder Ursachen. Die statistische Mas-
senbeobachtung erkennt und scheidet die stetigen und die wechselnden
Ursachen. Beobachtet man die Masse, so erkennt man die stetigen, fasst
man dann die einzelnen Erscheinungen ins Auge, so findet man die
wechselnden Ursachen.
II. Dem entsprechend auch durch die Art und Weise der Forschung,
welche sie herausfordern. So hat es die Statistik nur mit der Gegenwart
38 Erlcenuuug der Gogeustäudo der Statistik.
ZU thun, denn Vergangenes lässt sich nicht beobachten. Man könnte
wohl eine Bevölkerungsstatistik für eine bestimmte Zeit des Alterthums
herstellen, wenn statistische Erhebungen aus jenen Zeiten vorhanden wären.
In. diesem Falle lägen aber die Beobachtungen d. h. also die Grundlage
der Statistik, aus jener Zeit vor und die Gegenwart hätte nur die andere
Aufgabe, zu ordnen und Schlüsse zu ziehen.
Anmerkung.
Zur weitereu Erläuterung des eben Gesagten dürfte noch Folgendes dienen :
Unter allen Erscheinungen, welche das Weltleben uns darbietet, unterscheiden
wir je nach der Verschiedenheit der Ursachen:
I. Erscheinungen, welche blosvon stetigen Ursachen abhängen. Sie
sind absolut gleichförmig, jede einzelne Erscheinung ist ein Typus für alle von
dergleichen Ursachen abhängenden Erscheinungen; sie ist eine typische.
Typisch sind namentlich physikalische und chemische Vorgänge und ihre Ge-
setze. Hier ist das wissenschaftliche Verfahren zur Auffindung der Gesetze sehr
einfach. Eben weil das einzelne typisch ist, weil nur stetige Ursachen gleich-
förmig wirken, berechtigt schon eine einzelne genau constatirte und correct
beobachtete Thatsache zu einem Inductionsschluss. Die Wiederholung der Beob-
achtung ist in der Regel nur zur Prüfung des stattgehabten Verfahrens noth-
wendig.
Wenn Z; B. der Physiker bemerkt hat, dass ein Tropfen Quecksilber bei
einer gewissen Temperatur gefriert, so gilt dies von allen Quecksilbertropfeu
der Welt.
II. Erscheinungen, welche von stetigen und wechselnden Ursachen
abhängig sind. Hier gibt es keine absolute Gleichförmigkeit, sondern je nach
dem Mischungsverhältnisse der stetigen und der wechselnden Ursachen sind die
Erscheinungen mehr oder weniger individuell. Je mehr die wechselnden Ur-
sachen Einfluss haben, desto individueller ist die Erscheinung.
Es können selbst, freilich nur bei oberflächlichster Betrachtung, die Er-
scheinungen als blos von zufälligen Ursachen bewirkt erscheinen. Bei näherer
Untersuchung findet man doch, dass keine Erscheinung etwas ganz zufälliges ist,
sondern dass selbst bei den zufälligsten Ereignissen doch immer auch solche
Ursachen mitgewirkt haben, welche sich stets und überall wiederholen.
Der Gegensatz zwischen dem Typischen und dem Individuellen ist also
ein fliessender.
Die Welt ist Natur- und Menschenleben. Im Allgemeinen kann man die
Naturerscheinungen als typische, die Erscheinungen des Menschenlebens als in-
dividuelle bezeichnen. Aber nur ganz im Allgemeinen. Denn auch bei Natur-
erscheinungen wirken stetige und wechselnde Ursachen gemeinsam. Sehr häufig
findet man auch in der Natur keine typische Gleichförmigkeit, sondern nur eine
sehr grosse Regelmässigkeit. Bei den Witterungserscheinungen namentlich wirken
neben den stetigen Ursachen die mannigfaltigsten wechselnden.
Je höher man in der Reihe der Organisationen emporsteigt, desto zahl-
reicher werden die wirkenden Ursachen, desto häufiger die wechselnden, desto
individueller die Erscheinungen. Das Individuelle mehrt sich mit dem wachsen-
Die Menge der Beobaclilungcu. 39
deu *Ueichihuiii au Lebeusfonueu. Uud diese Mehruug zeigt sich nicht uur, wenn
man uacheiiiauder die Ursachen uud Gesetze anorganischer Erscheinungen, dann
jene von Pflanzen, Thieren und Menschen beobachtet, sondern sie setzen sich
innerhalb des Menschenlebens fort; der Wilde ist typischer als der Europäer,
der Mensch des Alterthunis mehr als der moderne. Der Mann ist individueller
als das Weib; ebenso übertrifft der Erwachsene das Kind. Auf niedrigen Bil-
dungsstufen ist die Volkssitte allmächtig. Sie wirkt als stetige Ursache beinahe
gleichförmig und ruft gleiche Handlungen bei zahllosen Personen im gegebenen
Falle hervor. Dagegen wirken bei gebildeten, bei edlen uud geistreichen Men-
schen zahlreiche wechselnde Ursachen auf ihre Handlungen ein und lassen diese
Handlungen als Resultate stetiger und wechselnder Ursachen viel unregelmässiger
und mannigfaltiger ausfallen.
Damit wird nicht behauptet, das Individuelle sei unbestimmt und gesetzlos.
Auch die Entwickelung des geistig hochbegabten und gemüthreichen Menschen
ist gesetzmässig; aber das Gesetz birgt sich unter der Fülle der störenden
wechselnden Ursachen.
Und so muss denn auch mit der steigenden Organisation der beobachteten
Erscheinung der Inductionsschluss vom Einzelnen auf die Gattung immer weniger
leicht, immer unsicherer werden. (Nach Bümeliu a. a. 0.)
II. §. 23. Die Menge der Beobachtungen.
Hat man nun die Erscheinungen als dem Gebiete der Statistik an-
gehörende erkannt, so ist die nächste Aufgabe die Beobachtung derselben,
und zwar die methodische Massenbeobachtung. Sie unterscheidet sich, wie
schon aus früher Gresagtem hervorgeht, streng von der Einzelnbeobachtung
und von der unmethodischen Massenbeobachtung.
Die methodische Massenbeobachtung nun muss nach folgenden Grund-
sätzen angestellt werden:
Vor allem muss eine so grosse Masse von Erscheinungen beob-
achtet werden, dass man ein Recht hat zu vermuthen, dass alle Ursachen,
welche auf diese Erscheinungen überhaupt einwirken können, auf die be-
obachtete Masse auch eingewirkt haben. Beobachtet man z. B. die Bewe-
gung einer Bevölkerung fünf Jahre lang und zwar während solcher Jahre,
in welcher keine besonderen Ereignisse vorgekommen sind, und bemerkt
man, dass diese Bevölkerung jedes Jahr um n Seelen zugenommen hat, so
wäre man allenfalls berechtigt zu dem Schlüsse, dass diese Bevölkerung
überhaupt jedes Jahr um n Seelen wachse und demnach nach x Jahren
sich verdoppelt haben werde.
Beobachtet man dagegen diese Bevölkerung 50 Jahre lang, so wird
man vielleicht finden, dass unter diesen 50 Jahren 25 waren, welche eine
mittlere Ernte ergaben, und dass in diesen 25 Jahren die Bevölkerung je
um n Seelen zunahm. Man wird ferner vielleicht finden, dass 10 Jahre
vorzüglich gute Ernten ergaben, und dass in diesen 10 Jahren die Bevöl-
40 Die Beobaehtungsinittel.
kerung um n -{- a zunahm, während 10 Jahre sehr schlechte Ernten lie-
ferten und die Bevölkerung in diesen Jahren nur um n — b zunahm.
Endlich wird man vielleicht finden, dass unter diesen 50 Jahren auch 5
waren, die zwar mittlere Ernten hatten, von welchen aber 3 Kriegsjahre
waren, in denen die Bevölkerung nur uin n — c zunahm und 2 Cholera-
jahre, in welchen die Bevölkerung nicht zunahm, sondern um d Seelen im
ersten, um e im zweiten verringert ward. Bei dieser Beobachtung hat man
mehrere auf die Bevölkening einwirkende Ursachen kennen gelernt, und es
stellt sich d^ie Zunahme dieser Bevölkerung in fünfzig Jahren keineswegs
auf 50 n, sondeni auf: 26 n -^ 10 {n -\- a) -\- 10 {n — b) -\-9 (n — c)
— d — e.
Je grösser die Masse der Beobachtungen, desto sicherer die Resultate,
desto grösser der Werth der gefundenen Gesetze. Und je kleiner die Masse,
desto geringer die Zuverlässigkeit. Die anzustellende Masse der Beobach-
tungen hat demnach keine bestimmte Grenze. Der Ausdruck Masse hat
hier, wie überhaupt, nur eine relative Bedeutung.
III. §. 24. Die Beobachtungsmittel.
Der einzelne Statistiker kann zwar auf manchen Gebieten die nöthigen
Beobachtungen selbst anstellen, in der Regel aber nur da, wo es auf
Beobachtung blos der zeitlichen Unterschiede ankommt.
Wo dagegen, wie es meistens der Fall ist, räumliche und zeitliche
Beobachtung vereinigt werden 'muss: da ist auch eine Mehrzahl von Beob-
achtern nothwendig. Meistens muss ein ganzes künstlich ineinandergreifen-
des System von Beobachtungen organisirt werden und man bedarf, da die
Organisation der Privatkräfte nicht hinreichend ist, häufig sogar amtlicher
Beobachtungsanstalten. Namentlich gilt dies für die Beobachtung mensch-
licher und staatlicher Zustände. In diese würde keine Beobachtung ein-
dringen können, wenn nicht staatliche Macht sie unterstützte. So gehen
denn eigene Beobachtungsanstalten des Staates, statistische Bureaux, aus
dem Wesen der statistischen Gegenstände hervor.
Diese Beobachtungsanstalten dienen freilich zunächst praktischen
Verwaltungszwecken. Sie sind nicht errichtet, um der wissenschaftlichen
Forschung zu dienen, sondern ursprünglich nur Werkstätten zur prak-
tischen Erforschung jener Zustände, von welchen die Staatsverwaltung
Kenntniss haben will.
Aber während in diesen Anstalten praktische Zwecke verfolgt werden,
dienen sie auch immerwährend mittelbar der Wissenschaft.
Die Form der Beobachtung. 41
IV. §. 25. Die Form der Beobachtnng.
Die Form der Beobachtung ist die Auflösung der Erscheinungen in
Quantitäten, die Bestimmung der zeitlichen und räumlichen Verschieden-
heiten als quantitativer Veränderungen. Am genauesten werden diese Quan-
titäten natürlich durch Ziffern bestimmt.
Hat man also eine Beobachtungsmasse vor sich, welche eine Reihe
von verschiedenen Erscheinungen bietet, eine Reihe von verschiedenen Be-
wegungen macht, so wird man, um diese Erscheinungen und Bewegungen
des Beobachtungsgegenstandes quantitativ zu bestimmen, untersuchen müssen,
wie oft diese, wie oft jene Erscheinung oder Bewegung stattfindet, wie
oft sie zu dieser und zu jener Zeit stattfindet. Man wird den Beobach-
tungsgegenstand in räumlich verschiedene Theile zerlegen und an jedem
Theile dieselbe Untersuchung anstellen wie am Ganzen. Die Untersuchungs-
fragen lauten demnach immer: wie oft, wie häufig geschieht oder ist dies
und jenes? wie oft ist es zu dieser oder jener Zeit? an diesem oder jenem
Orte? unter diesen oder jenen Verhältnissen? nach diesen oder jenen Vor-
gängen ?
Diese Untersuchungsfragen lassen sich in der Regel durch Ziffern
beantworten, sofern man überhaupt den Gegenstand festhalten kann.
Ziflfermässigkeit ist eine Anforderung an die Statistik. Aber man darf
von ihr nicht ausschliesslich Ziffern verlangen und jede anders als in
Ziffern ausgedrückte Beobachtung verwerfen. Wo Ziffern mangeln, sind
häufig auch ungefähre Grössenbestimmungen brauchbar (z. B. di^ Aus-
drücke viel, wenig, oft, selten, mehr, weniger, grösser, geringer, öfter,
seltener).
Man muss sogar mit solchen ungefähren Quantitätsausdrücken be-
ginnen, bis die Beobachtungsmittel und Methoden genaue Daten liefern.
Zwischen diesen ungefähren Quantitätsausdrücken und den präcisen Ziffern
liegen dann noch Ausdrücke wie : gegen 1000; 800 — lOOO; ungefähr 10000;
u. s. f. Solche Ausdrücke können unter Umständen logisch richtiger sein,
als ganz präcise Ziffern.
Je genauer und ziffermässiger aber die Beobachtungen werden, desto
mehr werden mit dem Beobachtungsmaterial solche Operationen und Schlüsse
vorgenommen werden können, welche dem Rechnen ähnlicher sind und
der Statistik in höherem Grade den Charakter einer exacten "Wissenschaft
geben.
Sofortige Aufzeichnung des gefundenen Beobachtungsmateriales ist
natürlich absolut nothwendig, da es sich um Massenbeobachtungen handelt,
und das menschliche Gedächtniss nicht im Stande ist, den kleinsten Theil
der Ziffermassen, mit welchen eine einzige statistische ünteröuchung operirt,
zu behalten. Diese Thätigkeit ist durchaus mechanisch.
42 Zeitliche und ränmlielie VerHcliiedeuheiUii im Beobacliiuiigsgegcnstaiid.
V. §. 26. Zeitliche und räumliclie Verschiedenheiten im Beobachtungs-
gegenstand.
Die statistischen Objecte liegen und bewegen sich in der Zeit und
im Räume, und zwar in verschiedenen Zeitmomenten und in verschiedenen
Räumen. Diese zeitlichen und räumlichen Verschiedenheiten
müssen von der Beobachtung erfasst werden. Und zwar müssen möglichst
viele solche zeitliche und räumliche Unterscheiduiigspunkte (Phasen, Mo-
mente, Theile) beobachtet werden. Wenn man also z. B. die Bewegung
der Bevölkerung eines Staates erforscht, um ihre Gesetze zu finden, muss
man die Bewegung möglichst vieler Jahre, ja sogar Monate beobachten
und ebenso die Bewegung in den verschiedenen Theilen, Provinzen und
Städten des Staates.
Dadurch wird die Beobachtung zur Massenbeobachtung.
Um aber auch eine methodische Beobachtung zu sein, muss sie alle
diese einzelnen Unterscheidungspunkte doch in Hinsicht auf ihre Zusam-
mengehörigkeit zu einer Gesammterscheinung betrachten.
Zeit und Raum der Gesammterscheinung müssen also in viele kleine
Zeiten und kleine Räume zerlegt werden, und in diesen kleinsten Zeit-
und Raumtheilen muss die Erscheinung fortgesetzt beobachtet werden.
Jede einzelne Beobachtung über den Zustand eines statistischen Ge-
genstandes in einem gegebenen Raum und zu einem bestimmten Zeitpunkte
heisst statistisches Datum. Passendei^eise beschränkt man diesen Aus-
druck auf die Theilbeobachtung einer bestimmten Massenbeobachtung. War
diese Beobachtung eine systematische, dann sind auch die Daten systema-
tische. Beliebig aus verschiedenen Zeiten und Räumen zusammengestellte
statistische Beobachtungen sind keine systematischen Daten, keine Theile
einer fortlaufenden Beobachtungsreihe. Sie bieten auch keine Garantie be-
züglich der Vollständigkeit der mitwirkenden Ursachen, dienen aber als
Nothbehelf.
Was insbesondere:
1. Die Zeitabschnitte betrifft, in welche die statistischen Beob-
achtungen zerlegt werden können, so sind dieselben glücklicherweise fast
allenthalben gleichartig: das Jahr, der Monat, der Tag u. s. f.
Ein anderes wichtiges Erforderniss der Beobachtungen ist in vielen
Fällen ihre Periodicität. Sind die Daten blos Resultate einmaliger Beob-
achtung, so bleiben sie ziemlich werthlos deshalb, weil es dann unmöglich
ist, die Bewegung der beobachteten Erscheinung im Wechsel der Zeiten
zu untersuchen.
2. Die räumlichen Abschnitte dagegen, in welche sich die Beob-
achtungsmassen zerlegen lassen, sind fast überall ungleichmässig und will-
Die Richtigkeit der Zahlen. 43
kürlich, weil die Welttheile und Länder, die Provinzen, Districte und
Landschaften, kurz, weil alle physikalisch oder politisch unterscheidbaren
Theile der Welt von durchaus ungleicher Grösse sind. Dieser Umstand
erschwert die richtige Beobachtung räumlich verschiedener Massen unge-
mein ^).
Anmerkung.
*) Hierüber bemerkt G. Mayr (die Gesetzmässigkeit im Gesellschaftslebeii
S. 23 ff.): Die vergleichende Statistik rechnet in der Regel nur mit Durch-
schnittsergebnissen für ganze Länder oder im besten Fall für grosse, durch die
administrative Haupteintheilung bestimmte Bestand theile derselben. Diese Ver-
gleichung entspricht den tieferen wissenschaftlichen Anforderungen nicht, und
zwar deshalb, weil die einzelnen Länder und Provinzen von sehr verschieden-
artiger Grösse sind, und weil in den Durchschnittsergebnissen für ganze Länder
und Provinzen sehr verschiedenartige Verhältnisse der einzelnen kleineren Ge-
bietsabschnitte zu einem nur scheinbar richtigen Gesammtausd rucke verwischt
werden.... Jeder Zweig der Statistik, der auf Beobachtung räumlich auseiii-
anderliegender Thatsachen bei-uht, hat seine gesonderte Geographie, für
welche die Durchschnitte ganzer Länder und Provinzen nur ein Zerrbild geben.
VI §. 27. Die Vergleichbarkeit statistischer Daten.
Ein Haupterfordern iss der statistischen Daten ist, dass sie analoge
und vergleichbare Fälle umfassen. Wenn man z. B. blos wüsste, wie
viel Pferde Deutschland, wie viel Stück Rinder Frankreich, wie viel Schafe
Oesterreich besitzt, so wäre es aus diesen Ziffern unmöglich, die landwirth-
schaftlichen Zustände dieser Länder zu vergleichen.
Gegen das Erforderniss der wirklichen Vergleichbarkeit statistischer
Daten wird häufig gefehlt. Oft werden deutliche Qualitätsunterschiede der
beobachteten Thatsachen ausser Acht gelassen , entweder, weil diese Qua-
litätsunterschiede überhaupt nicht zur Ziffer gebracht werden konnten oder
aber, weil sie zwar der ziffermässigen ßeti-achtung wohl zugänglich waren,
aber keine im Verhältniss zur aufgewendeten Arbeit stehende Bereicherung
unseres Wissens bilden würden ^).
Anmerkung.
*) G. Mayr. Die Gesetzmässigkeit etc. S. 29.
VU. §. 28. Die Bichtigkeit der Zahlen ').
Auf die Richtigkeit der gefundenen Urzahlen kommt begreiflicher-
weise Alles an. Falsche Zahlen sind eben wegen ihres Scheines von
Sicherheit ungemein gefahrlich. Daher ist vor der Benützung dieser Zahlen
eine Sichtung und formale Kritik nöthig.
44 Die Sammlung, Classification und Oruppirung der Daten. Die Tabelle.
Die Zuverlässigkeit der Zahlen ist jedoch ungemein verschieden,
theils nach der Art und Weise wie dieselben gewonnen werden, theils
nach dem Material, mit welchem sich die Erhebungen beschäftigen.
Zahlen, welche durch amtliche Erhebungen gewonnen werden, müssen
natürlich eine grössere Zuverlässigkeit haben, als solche, die blos durch
Privatfleiss gesammelt werden. Zahlen, welche auf Umwegen (durch Be-
rechnungen, Schätzungen etc.) gewonnen werden, ferner solche Zahlen,
welche sich nicht auf ihren Ursprung zurückverfolgen lassen, sodann
solche, in welchen schon eine oder die andere Unrichtigkeit entdeckt oder
zugestanden ist, werden begreiflicherweise mit weit grösserer Vorsicht be-
handelt werden müssen, als unverdächtige.
Es gibt manche Gegenstände der Statistik, deren Zahlen von vorn-
herein ein grösseres Vertrauen verdienen. Das ist namentlich der Fall bei
jenen Gegenständen, wo — abgesehen von wissenschaftlichen Zwecken —
eine genaue Buchführung aus geschäftlichen Gründen nöthig und einge-
führt ist. So namentlich bei den Ziffern, welche im Bereich des Finanz-,
Zoll-, Post- und Eisenbahnwesens, des Sparcassenwesens etc. erwachsen.
Auch die Ziffern der Bevölkerungsstatistik verdienen heutzutage volles
Vertrauen, wenn auch da kleine Unrichtigkeiten sich einschleichen können.
Dagegen sind die Ziffern auf dem Gebiete des landwirthschaftlichen und
industriellen Lebens, und noch mehr diejenigen, welche sich auf das ge-
sellschaftliche und geistig-sittliche Leben des Volkes beziehen, grossen-
theils sehr unsichere.
Die Ziffer schlechtweg, ohne Kenntniss ihres Ursprunges, gilt und
beweist heutzutage gar nichts mehr. Bei jeder Anwendung von Ziffern
muss die Möglichkeit gegeben sein, dieselben bis auf ihren Ursprung
zurückzuverfolgen. Nur dadurch wird eine Beurtheilung ihres Werthes
überhaupt möglich.
Anmerkung.
*) Vgl. Block- V. Scheel: Handbuch der Statistik. S. 103.
VIII. §. 29. Die Sammlung, Classification und Grappimng der Daten.
Die Tabelle.
Die erhobenen Ziffern müssen gesammelt, classificirt und gruppirt
werden, um sie dem forschenden Blicke wohlgeordnet vorzuführen.
Das wichtigste Mittel übersichtlicher Zusammenstellung und Grup-
pirung ist die Tabelle. Sie erleichtert den Ueberblick und lässt Gleich-
förmigkeiten und Verschiedenheiten sofort erkennen. Auch die formelle
Sichtung wird durch die Tabelle erleichtert; auffällige Abweichungen der
Gleichförmigkeiten, die etwa auf Beobachtungsfehlem beruhen könnten,
werden sofort bemerkt.
Die Sammlnng, Classification und Grappirnng der Daten. Die Tabelle.
45
Die Tabelle ist unentbehrlich als Grundlage weiterer statistischer
Operationen.
Die Gruppirung der statistischen Daten in der Tabelle geschieht zu
dem Zwecke, damit der Blick des Statistikers an jeder Erscheinung die
Regelmässigkeit derselben oder ihre Veränderungen, sowie das Mass, den
Ort und die Zeit dieser Veränderungen in übersichtlicher Weise erfasse.
Die Auffindung dieser Veränderungen ist eine ziemlich mechanische Thä-
tigkeit. Man braucht dazu eine ganz bescheidene statistische Fertigkeit,
welche etwa beobachten kann, ob sich z. B. zwei-, drei- oder mehrziflfrige
Zahlen an gewissen Stellen der Tabelle besonders stark häufen oder in
gewisser Weise vertheilen *).
In einer Tabelle können oft die Wahrheiten eines ganzen dicklei-
bigen Buches, voll' von Theorien und Deductionen, in nuce beisammen
sein. Nur muss man die Schätze zu heben wissen"').
Wenn übrigens die Anfertigung der Tabellen als eine ziemlich
mechanische Thätigkeit bezeichnet wurde, so gilt dies nur von einem
Theile dieses Geschäftes. Die ganze Tabellenarbeit gliedert sich in:
1. die Anlage der Tabellen, die Anordnung der Tabellenköpfe —
eine Thätigkeit, welche zwar manchmal sehr einfach scheint, häufig jedoch
eine hohe statistische Bildung beansprucht;
2. die Ausfüllung der Tabellen, eine blosse Schreiberarbeit, jedoch
60 umfangreich, dass sie bei irgend grösseren Untersuchungen ein eigenes
Schreiber- und Rechnerpersonal beansprucht;
3. das Lesen der Tabellen').
Zur ferneren Erleichterung der Auffindung von Regelmässigkeiten
oder Verschiedenheiten dienen indessen noch andere Mittel.
Anmerkungen.
*) Wagner: Die Gesetzm. I. S. 69.
*) Oettiugen: a. a. 0. S. 281.
') Ein abstractes Beispiel dieses Theiles der Statistik wäre etwa folgendes,
das sich vielleicht als das Eiumaleius der statistischen Methode bezeichnen liesse.
ABC
ß
a
h c h h h h
c f f c d €
c h g f f f a
d a d e a
a c g a c
c g d d d d
d c d f f
d d d
e e c
c c d c d
g b h h g
a 9 g 9 ^
d d d h g c
h e e h h h
h g h e e e e
e a a f f f
a c e 6 e g
e e e e d e e
g e e c J g
g d d d c a
c e e g e g a a
6
^99
9 9 9 9 f f f
e e e g e g e e
D
E
F
46
Die Sammlttn^, Classification und 6ruppirung der Daten. Die Tabelle.
a ß y S repräsentirt eine Masse verschiedener Erscheinungen. Diese Er-
scheinungen sind : a, b, c, d, e, /, g, Ä. Die ganze Masse — sei sie nun die
Bevölkerung eines Landes oder die Criminalfö.lle eines Jahres, oder die in einem
Jahrhundert wechselnden Preise der Lebensmittel oder irgend eine andere
Massenerscheinung — vertheilt sich in gewissen Gruppen. Wäre also a ß y 8
ein Land, so wären Ä B € D E und F die Kreise, Provinzen desselben.
Wäre cc ß ö y ein halbes Jahr, so wären diese Theile die verschiedenen
Monate u. s. f.
Will man nun die verschiedenen Einzelnerscheinungen für die statistische
Beobachtung zurecht richten, so wird man zunächst aufzeichnen müssen:
a erscheint it Mal
^ r> 1 w
d „ 21 .
e erscheint 30 Mal
/ « 13 „
h „ 15 r»
In der ganzen Masse erscheint demnach e am häufigsten, nämlich doppelt
so oft als h und /, nahezu 3 Mal so oft als a und etwa V/^ Mal so oft als c
und d. Als unicum zeigt sich b.
Nach ihrer Frequenz geordnet, stellen sich demnach die beobachteten
Erscheinungen in folgender Reihe:
«, g, € und <i, A, /, a, b.
Berücksichtigt man nun, wie sich die einzelnen Erscheinungen auf die
Theile A^ -B, C, 2>, E und F vertheilen, so findet man
in:
a
h
c
d
e
/
9
A
A
2 Mal
.
6 Mal
6 Mal
2 Mal
— .
5 Mal
B
2 „
IMal
5 ^
4 ^
—
2 «
3 Mal
2 .
€
2 „
—
4 ^
4 „
2 Mal
3 »
5 „
1 «
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So sind die einzelnen Daten dieser Massenerscheinung zur Beobach-
tung in einer Tabelle geordnet und es drängen sich nun folgende Bemer-
kungen auf:
a erscheint äusserst regelmässig, zweimal in jedem Theile des Beobach-
tungsfeldes. Es dürfte demnach diese Erscheinung vom Wechsel der Zeit
und des Ortes und der anderen Erscheinungen unabhängig sein.
b zeigt sich ein einziges Mal, nämlich nur im Theile B des Beobachtungs-
feldes.
c zeigt sich in einzelnen Theilen des Beobachtungsfeldes sehr oft, in anderen
seltener. Es kommt vor: in A 6 Mal, in J9 5 Mal, in C 4 Mal, in D
3 Mal, in E t Mal, in F 1 Mal. Es erreicht demnach die Erscheinung c
in A ein Maximum, in F ein Minimum.
Die graphisclieii Darstellungen. 47
d fiadet sich gleich e überall, seine Häufigkeit nimmt zu und ab mit der
Häufigkeit Ton c, und zwar ziemlich regelmässig. £s muss ein ursäch-
licher Zusammenhang zwischen beiden Erscheinungen bestehen.
e im Gegensatze findet sich gar nicht, wo d und c sehr häufig sind, da-
gegen sehr oft, wo jene selten werden.
Dehnt man die Beobachtung noch weiter aus, so findet man:
/ tritt niemals vereinzelt auf, sondern stets doppelt oder mehrfach neben-
einander, und zwar stets in der Nähe yon o, so dass auch hier ein eigen-
thümlicher Zusammenhang yorliegt.
g findet sich in den meisten Theilen des Beobachtungsfeldes, liebt es aber,
sich in den unteren Gegenden dieser Theile zu concentriren, während
h in den oberen Gebieten sich befindet, und nur da, wo b auftritt, von
demselben mit Entschiedenheit herabgezogen wird.
Und so lassen sich die Regelmässigkeiten und Veränderungen noch weiter
verfolgen. Die Bedeutung der> Resultate wird klar, wenn man sich an die
Stelle der abstracten Zeichen die Zifi^ern wirklich beobachteter Erscheinungen
des Weltlebens denkt.
IX. §. 30. Die graphischen Darstellnngeii.
Auf Grund der statistischen Zahlen können auch graphische Dar-
stellungen der beobachteten Erscheinungen gegeben werden. Diese Dar-
stellungen zerfallen in zwei Hauptgruppen :
A. Diagramme, d. h. einfache geometrische Versinnlichungen sta-
tistischer Zahlen. Dieselben sind wieder, je nachdem Linien oder Flächen
zur Versinnlichung angewendet werden, Linien- oder Flächendiagramme.
1. Die Liniendiagramme würden in ihrer einfachsten Form darin
bestehen, dass man mehrere gerade Linien, welche in ihrer verschiedenen
Länge den darzustellenden Ziffern entsprechen, nebeneinander stellt. Der-
artige Diagramme werden indessen, da sie nicht anschaulich genug sind,
kaum angewendet. Sehr häufig wird dagegen das Liniendiagramm in der
Weise angewendet, dass man die Endpunkte solcher ungleich langer
Linien verbindet, wodurch eine Zickzacklinie entsteht. Es ist indessen
keineswegs nothwendig, ja meistens nicht einmal innerlich gerechtfertigt,
dass diese Zickzacklinie aus einer (in stumpferen oder spitzigeren Winkeln)
gebrochenen Geraden besteht. Dem Wesen der darzustellenden Erschei-
nungen entspricht es vielmehr besser, wenn die genannte Verbindungs-
linie eine krumme Linie ist. Wendet man sie an, so ergibt sich als die
passendste und gewöhnliche Form des Liniendiagramms die Curvenzeich-
nung in einem Coordinatensystem. Sie ist namentlich beliebt, wenn es
sich darum handelt, die Bewegung von Erscheinungen in verschiedenen
Zeiträumen darzustellen.
Hat man z. B. drei Erscheinungen, a, b und c ein ganzes Jahr hin-
durch beobachtet und gefunden, dass diese Erscheinungen nicht jeden
48
Die graphischen Darstellungen.
Monat gleich oft vorkamen, sondern dass ihre Zahl nach Monj^ten wech-
selte, so wird man sich eine graphische Darstellung dieser Bewegung
machen können, indem man sich eine Art Tabelle construirt, welche in
12 verticale Spalten getheilt ist. Dieselben werden oben oder unten mit
den Namen der Monate bezeichnet. Von oben nach unten wird die Tabelle
in so viele Horizontal spalten getheilt sein, dass alle Wechselfälle, die man
beobachtet hat, systematisch darin untergebracht werden können. Nehmen
wir an, die Erscheinung b sei unter den drei beobachteten Erscheinungen
am häufigsten in einem Monate aufgetreten; sie sei in dem Monate, wo
sie am seltensten vorkam, einmal, in jenen dagegen, wo sie am häufigsten
vorkam, zehnmal erschienen. Dann müsste die Tabelle 10 Horizontalspalten,
an der Seite mit den Ziffern 1 — 10 bezeichnet, enthalten. In die so con-
struirte Tabelle werden dann Curven eingezeichnet, welche in ihrem
Steigen und Sinken die Zahl der in jedem Zeitabschnitt erreichten Fälle
bezeichnen.
Kam also z. B. im:
es
SS
04
03
I
-*3
ä
ÖD
<
o.
9
10
4
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8 j 8
5 I 6
6 Mal
3 „
2 .
vor, so wird die graphische Darstellung dieser Vorkommnisse folgende
Gestalt annehmen (s. pag. 49).
Die grössere oder geringere Gleichmässigkeit in der Bewegung der
verschiedenen Erscheinungen zeigt sich hier auf den ersten Blick.
Bei solcher Curvenzeichnung ist . vor allem genaue und gleich-
massige Zeiteintheilung nöthig. Die Zeiteinheiten können dann Monate,
Tage, Jahreszeiten, Jahre, Jahrzehnte oder die verschiedenen iiltersstufen
des menschlichen Lebens sein. In allen Fällen handelt es sich darum,
eine Grundlinie (Abscisse) in so viele gleiche Theile zu theilen, als Zeit-
einheiten beobachtet wurden, auf jedem solchen Theile eine verticale Linie
(Ordinate) zu errichten, deren verschiedene Höhen mit mathematischer
Genauigkeit die verschiedenen Ziffern der Erscheinungen repräsentiren. So
lassen, sich namentlich die Erscheinungen, welche in der Entwicklung
des menschlichen Lebens vorkommen, in sog. Alterscurven darstellen:
die Lebenskraft, die Entwickelung der körperlichen Stärke, des Hanges
zum Verbrechen etc.
Die graphischen DarBtellungen.
49
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1
Bestimmt man in einer solchen Curvenzeichnung durch eine horizon-
tale Linie die Mittelwerthe, so treten die Berg- und Thalbewegungen der
Curve sehr bemerklich hervor und man kann das Mass der Abweichungen
nach oben oder unten, die sog. Sensibilität des beobachteten Gegen-
standes genau messen.
Um richtige Curven zu erhalten, müssen die Abtheilungen der Ab-
öcisse gleich grosse Zeitabschnitte und die Theile der Ordinaten gleich
grosse Massen von Erscheinungen repräsentiren.
Man kann dann auch in einem Coordinatensystem die Bewegung
verschiedener Erscheinungen als Curvenlinien darstellen, und, je nachdem
diese Curven mehr oder weniger parallel laufen oder divergiren, auf das
Vorhandensein oder Fehlen eines bedingenden, ursächlichen Zusammen-
hanges der verschiedenen Erscheinungen schliessen.
Ein Uebelstand an derartigen Darstellungen ist, dass kein festes
inneres Verhältniss für die Höhe und Breite der Darstellung gegeben ist.
Die Höhe der Einheiten, in welche die Geraden getheilt sind, kann eben
80 willkürlich genommen werden, wie ihre Distanz, so dass eine und die-
selbe statistische Thatsache durch verschiedene, sich unähnliche Diagramme
dargestellt werden kann.
Haushofer, Statistik. 2. Aufl. 4
50 I^i® graphisclien Duretelluiigeii.
Es ist keineswegs nothwendig, dass die Basis, auf welcher sich das
Liniendiagramm aufbaut, eine Linie ist. Diese Basis kann auch ein blosser
Punkti^ sein, nämlich der Mittelpunkt eines Kreises, von welchem aus
gerade Linien von verschiedener Länge radienformig ausstrahlen, an ihren
Endpunkten verbunden. Auch kann die Basis der einzelnen Geraden eine
Kreislinie sein, aus welcher die Geraden, deren Endpunkte dann ver-
bunden werden, sich nach dem Centrum erstrecken.
2. Flächendiagramme. Nur einfache geometrische Figuren eignen
sich zu solchen, und zwar bei weitem am besten die Form des Rechtecks.
Soll eine einzelne Gesammtthatsache, die aus mehreren Theilen von ver-
schiedener Grösse besteht, dargestellt werden, so ist am passendsten die
Darstellung durch ein Quadrat, welches in mehrere Rechtecke von ver-
schiedener Grösse zerlegt wird. Sollen hingegen mehrere statistische That-
sachen vergleichend dargestellt werden, so empfiehlt sich die Anwendung
von Rechtecken. Und zwar entweder von Rechtecken mit gleicher Basis,
aber verschiedenen Höhen, oder von solchen mit gleicher Höhe, aber ver-
schiedener Basisbreite. Weniger empfehlenswerth ist die Anwendung anderer
geometrischer Figuren; doch werden mitunter Dreiecke (mit ünterabthei-
lungen, oder nebeneinandergestellt, oder in ein Polygon gebracht), sowie
Kreisflächen angewendet. Durch Anwendung von Farbe und Schraffirung
ist es bei den Flächendiagrammen möglich, mehrfache Verhältnisse in
einem Diagramm darzustellen.
B. Kartogramme. Will man dagegen die Vertheilung einer Er-
scheinung über geographisch verschiedene Räume darstellen, so ist
das nächstliegende Mittel die Kartenzeichnung. Sie kann wieder verschie-
dene Formen annehmen.
1. Kartogramme mit Punkten sind die ursprünglichste und älteste
Form der Kartogramme. Hiebei werden die Punkte hauptsächlich zur
Darstellung der Bewohnungsverhältnisse angewandt, und schon lange wird
durch eine Grössenabstufung der Punkte auf Landkarten die verschiedene
Bevölkerungszahl der Wohnplätze zu berücksichtigen gesucht.
2. Kartogramme mit Linien finden nur selten Anwendung. Doch
sind jedenfalls die Karten, auf welchen Isothermen-Linien angebracht
sind, als Linien-Kartogramme zu bezeichnen.
3. Kartogramme mit Flächendarstellungen sind jedenfalls die
häufigsten und werthvollsten. Hiebei können entweder gewöhnliche Flächen-
diagramme (s. oben) in geographischer Lage vorgeführt werden. Oder es
können Bänder, flussähnliche verzweigte Strömungen von verschiedener
Breite angewandt werden, um die räumliche Bewegung statistischer Er-
scheinungen darzustellen. So z. B. jene Kartogramme, auf welchen die
Frequenz von Eisenbahnlinien durch Bänder von verschiedener Breite
Die statistischen Rechnnngsoperationen. 51
dargestellt ist; oder jene, welche durch farbige Strömungen die Absatz-
gebiete der verschiedenen Steinkohlenlager eines Landes anzeigen. Am
wichtigsten aber unter dieser Gruppe von Kartogrammen sind jene, auf
welchen statistische Thatsachen, die in verschiedenen Landestheilen durch-
schnittlich vorliegen, für diese Landestheile durch Schraffirung oder Farben-
abstufungen dargestellt sind. Wie bei jenen Gebirgskarten , welche dort
am dunkelsten sind, wo die Gebirgserhebung am höchsten, erscheinen bei
diesen statistischen Karten, wenn sie z. B. die Betheiligung eines Volkes
am Verbrechen darstellen sollen, jene Theile am dunkelsten gefärbt, wo
die meisten Verbrechen, jene am hellsten, wo die wenigsten begangen
werden. Stellt man auf mehreren Karten desselben räumlichen Gebietes
verschiedene Erscheinungen in solcher Gestalt dar, so lassen sie nicht nur
Vergleichungen unter sich, sondern sogar mit physikalischen Karten, und
Entdeckung von Gleichmässigkeiten und Verschiedenheiten zu.
Anmerkuug.
Ausführlicheres über graphische Darstellungeu findet sich bei G. Mayi*:
Die Gesetzmässigkeit etc. S. 71 ff. Auch haben sich die statistischen Congresse
za Wien, Haag, Petersburg und Pest mit der kartographischen Methode be-
schäftigt.
Z. §. 31. Sie statistischen Eechnungsoperationen ^).
Mit den durch die Beobachtung gefundenen ürzahlen lässt sich
häufig keine klare Einsicht in das wirkliche Maass der Bewegung, der
Veränderung gewisser Erscheinungen gewinnen. So müssen denn diese
ürzahlen auf ein einheitliches Maass zurückgeführt werden, um wirklich
vergleichbare Werthe zu ergeben. Dazu dienen die einfachsten Rechnungs-
arten. Die überall vorkommenden sind folgende:
1. Die noth wendigste rechnerische Operation ist immer die Addition
der beobachteten Daten. Sind die einzelnen Daten nach ihrer verschiedenen
Qualität gesondert, so müssen sie addirt und die Summen der einzelnen
Gruppen zusammengestellt werden.
2. Eine andere, ebenfalls sehr häufige Operation besteht darin, aus
den durch die Beobachtung gefundenen absoluten Zahlen leicht vergleich-
bare V e Eh ältni SS zahlen (relative Zahlen) zu gewinnen; eine ebenso
einfache, als nützliche Aufgabe. Wüsste man z. B., dass in dem Lande
A unter 3,496350 Einwohnern 1,922992, dagegen in B unter 4,326210
Einwohnern 2,509201 Katholiken sich befinden, so wäre auf den ersten
Blick nicht zu erkennen, wo mehr Katholiken im Verhältniss zur Ge-
sammtbevölkerung sich befinden. Ganz deutlich aber wird dieses Verhält-
niss durch Umrechnung in Procentsätze, da sich alsdann ergibt, dass im
Lande A 55, in B 58 Procent Katholiken sich befinden. Es können jedoch
4*
52 Die statistisclien Rechnnngsoperationen.
solche Reductionen in verschiedener Weise stattfinden. Denkt man sich
nämlich die Verhältnisszahlen als Brüche und denkt man sich mehrere
Bräche mit grossen Zahlen nebeneinander gestellt, so können diese Zahlen
vereinfacht und vergleichbar gemacht werden entweder durch Gewinnung
eines gleichen einfachen Zählers oder eines gleichen und einfachen Nenners.
Weiss man z. B., dass in der Stadt M in einem bestimmten Jahre 4121
Todesfälle bei einer Bevölkerung von 131872 Menschen vorfielen, in der
Stadt N dagegen bei 115956 Einwohnern 3221 Todesfälle, so kann man
entweder die Zahl der Todesfälle oder jene der Einwohner einheitlich und
vergleichbar machen. Im ersten Falle setzt man als Zahl der Todesfälle
1 und berechnet, auf wie viele Einwohner 1 Todesfall in M und in iV
trifft. Für M ergibt sich der Bruch """/ti^j = 32, d. i. 1 Todesfall auf
32 Einwohner; für N dagegen "''*V,„i = 36, d. i. 1 Todesfall auf 36
Einwohner. Hier wurde also der Nenner des Bruches in 1 verwandelt.
Die andere Vereinfachungsmethode würde die Zähler in runde Summen,
u. zw. in 100, 1000 oder 10000 verwandeln. Dann erfährt man, dass in
M 3,13 Procent, in N dagegen 2,77 Procent gestorben sind. Beide Re-
ductionsmethoden sind richtig; die erstere kann unter Umständen einfachere
Zahlen ergeben; doch wird die letztere jetzt häufig vorgezogen, weil dabei
das Fallen und Steigen der Verhältnisszahlen in Uebereinstimmung mit
der Ab- oder Zunahme der beobachteten Erscheinung bleibt.
3. Die dritte unter den rechnerischen Hauptaufgaben der Statistik
ist die Gewinnung von Durchschnitten.
Bei jeder Reihe von periodischen statistischen Daten stellen sich
stets kleinere oder grössere Differenzen ein. Absolute Gleichheit in den
einzelnen Theilen der Zahlenreihen wird sich niemals finden, sondern im
Laufe der Erscheinungen werden sich grössere oder kleinere Schwankungen
ergeben, welche bald gewisse Höhepunkte (Maxima), bald Senkpunkte
(Minima) erreichen, zwischen welchen die wahre Mitte aufgesucht und
gemessen werden muss. Die einzelnen Daten einer statistischen Massen-
erscheinung sind eben wie die Wellenberge und Wellenthäler auf sturm-
bewegtem See; kein Wellenberg, kein Wellenthal gleicht absolut irgend
einem anderen; sie schwingen über und unter derjenigen Linie, welche
aufzusuchen das Werk des Statistikers ist.
Dieses Aufsuchen der Mittelwerthe und Messen der Differenzen ist
eine der geläufigsten rechnerischen Aufgaben der Statistik. Das arithme-
tische Verfahren dabei ist sehr einfach; man nimmt die Summe der ge-
gebenen Zahlen und dividirt sie durch die Anzahl der Fälle, in welchen
gezählt wurde. Hat man z. B. eine Woche lang die Temperatur der Luft
beobachtet und am ersten Tage 16, an den folgenden Tagen 17, 18, 13,
12, 15 und 17 Grad gefunden, so braucht man blos die Zahl aller Grade
Die statistiselien Beehntingsoperatiouen. 53
ZU addiren (108®), durch die Zahl der Beobachtungstage zu dividiren und
man erhält als Resultat die mittlere Temperatur dieser Woche, nämlich
15,4®. Dies ist der Mittelwerth; vier ZiflPern überragen ihn, drei sind
kleiner; um wie viel die Temperatur jedes einzelnen Tages in die Höhe
oder Tiefe von diesem Mittel abweicht, ergibt sich auf den ersten Blick.
Trotz der Einfachheit der Durchschnittsberechnungen muss man sich
dabei vor gewissen Fehlem hüten. Namentlich ist darauf zu achten, dass
man das relative Gewicht, mit welchem die einzelnen Daten in die Durch-
schnittsberechnung aufgenommen werden dürfen, richtig erkennt. Hat man
z. B. an einem Getreidemarkte zwei Tage lang die Weizenpreise beob-
achtet und erfahren, dass am ersten Tage 100 Hectoliter, der Hectoliter
zu 12 Mark, am zweiten Tage 800 Hectoliter, ä zu 14 Mark verkauft
wurden, so darf man nicht etwa den Durchschnitt von 12 und 14, also
13 Mark als den wahren Durchschnittspreis ansehen. Der wahre Durch-
schnittspreis wird gefunden, wenn man die Gesammtsumme für allen ver-
kauften Weizen, d. i. 12400 durch die Gesammtzahl der verkauften
Hectoliter dividirt. Dann erhält man als Durchschnittspreis 13,77 Mark.
Dieses Verfahren ist das richtige, weil die einzelnen Glieder der beob-
achteten Reihe mit sehr verschiedenem Gewicht in dieselbe eingetreten
sind. Man nennt solche Durchschnitte, welche mit Berücksichtigung des
relativen Gewichts der einzelnen Glieder einer Reihe gefunden wurden,
geometrische im Gegensatze zu den arithmetischen, welche ohne
Berücksichtigung dieses Gewichts festgestellt wurden. Die geometrischen
Durchschnitte sind natürlich viel werthvoUer; wo aber das Gewicht der
Glieder einer Reihe nicht bekannt ist, muss man sich mit arithmetischen
Durchschnitten begnügen *).
Betrachtet man die Schwankungen der verschiedenen Glieder einer
Reihe von Thatsachen über das Mittel nach oben und nach unten, so
findet man bei einzelnen Erscheinungen sehr geringe und regelmässige
Abweichungen vom Mittel; die Erscheinungen zeigen eine gewisse Zähig-
keit, Tenacität in ihrer Neigung zum Mittel. Bei anderen bemerkt man
grosse und unregelmässige Abweichungen vom Mittel; diese Erscheinungen
lassen sich durch allerlei Ursachen leicht von ihrem Mittelwerthe ablenken;
man spricht daher von ihrer grösseren oder geringeren Sensibilität.
Geht man noch tiefer in das Wesen derjenigen Erscheinungen ein,
aus deren Reihen Durchschnitte gezogen werden, so findet man einen
bedeutsamen Unterschied.
a) Der Durchschnitt kann nämlich eine Grösse sein, welcher sich
die sämmtlichen beobachteten Erscheinungen nähern, ihr manchmal fast
völlig gleichkommen. Dann nennt man ihn einen Typus aller Einzeln-
erscheinungen. Hat man einen solchen Typus gefunden, so ist es wahr-
54 Die Vei^leichnng der Daten.
scheinlich, dass auch die künftigen Einzelnerscheinungen ihm ziemlich
nahe kommen werden. Hat man z. B. die Zahl der Todesfälle eines
Landes durch 50 Jahre beobachtet und bemerkt, dass in besonders un-
günstigen Jahren 25 Promille, in besonders günstigen Jahren 20 Promille
gestorben sind, während die durchschnittliche Sterblichkeit 22 Promille
betrug, so darf man letztere Zahl den Typus dieser Erscheinung nennen.
b) Der Durchschnitt kann aber auch blos eine rechnerische
Abstraction sein, d. h. eine Grösse, die zwar aus den verschiedenen
Gliedern einer Reihe berechnet wurde, aber mit der Grösse der einzelnen
Glieder in keinem inneren Zusammenhange steht. Ein solcher Durchschnitt
ist z. B. das Durchschnittsalter einer Bevölkerung.
c) Zwischen diesen beiden Arten von Durchschnitten ist keine be-
stimmte Grenze zu ziehen, sondern die Durchschnitte, welche sich aus
den mannigfachsten Erscheinungen ziehen lassen, gehören bald mit mehr,
bald mit weniger Entschiedenheit der einen oder der anderen Art an. Je
grösser die Differenzen der Einzelnerscheinungen sind, aus welchen die
Durchschnitte berechnet wurden, um so mehr nähern sich die letzteren
blos rechnerischen Abstractionen. Man muss bei jeder statistischen Unter-
suchung sich Klarheit darüber verschaffen, wie gross die Differenzen sein
dürfen, um einen lioch brauchbaren Durchschnitt zu ergeben.
d) Bei allen Durchschnitten ist es deshalb wichtig, die Schwankungen
der einzelnen Glieder über oder unter den Durchschnitt zu messen.
Namentlich müssen diese Schwankungen gemessen werden, wenn sich aus
verschiedenen Zahlen gleiche, oder fast gleiche Durchschnitte ergeben*).
e) Immer wird es zur Erklärung des Wesens der beobachteten
Erscheinungen dienen, wenn das Maximum und das Minimum ihrer Reihe
besonders ins Auge gefasst wird.
Anmerkungen.
*) Ausfuhr! . bei Mayr; Die Gesetzmässigkeit etc. S. 51 ff.
*) Ueber die sog. Schwaukungs- oder Oscillationszahl s. a. a. O. S. 56.
XI. §. 32. Sie Vergleichung der Daten ^).
So einfach es erscheint, statistische Daten zu vergleichen, so enthält
doch diese Vergleichung eine wichtige, durchaus nicht blos mechanische
Thätigkeit, nämlich die Beantwortung der Frage, welche Daten überhaupt
vergleichbar sind.
Die Statistik kennt zwei wesentlich verschiedene Arten der Ver-
gleichung. Entweder werden jene Erhebungen mit einander verglichen,
welche in einem geographisch begrenzten Gebiete zu verschiedenen Zeiten
gemacht wurden, oder jene, welche über denselben Gegenstand in ver-
schiedenen Ländern gemacht wurden. Letztere Methode nennt man vor-
Die Aafsnchting der Ursachen. 55
zugsweise vergleichende Statistik, obwohl die erstere diesen Namen mit
ganz demselben Rechte verdient.
Nun ist aber eine hochwichtige Frage, welche Grössen wirklich
vergleichbar sind? OflPenbar nur jene, welche gleiche Einheiten
haben. Dies wird oft nicht beachtet. Man vergleicht z. B. die Criminal-
statistik verschiedener Länder, ohne die Verschiedenartigkeit der Gesetz-
gebung zu berücksichtigen; die Staatsbudgets, ohne die verschiedenen
Staatsbedürfhisse der einzelnen Länder zu beachten.
Solche Unachtsamkeit bei der Vergleichung muss nothwendig das
Vertrauen in die Leistungen der Statistik erschüttern. Der Werth jeder
statistischen Untersuchung ist abhängig von der Richtigkeit der Zahlen
und deren richtiger Würdigung. Letztere aber ist nur dann möglich, wenn
alle verglichenen Erscheinungen Grössen mit gleichen Einheiten sind und
auf gleichem Wege erhoben wurden. In der Regel also nur dann, wenn
die Vergleichung auf einen Staat beschränkt bleibt. Eine Vergleichung
der Zustände verschiedener Staaten ist streng genommen nur in den sel-
tensten Fällen möglich.
Bei der Vergleichung solcher Erscheinungen dagegen, welche in
einem Staate, aber zu verschiedenen Zeiten sich zeigen, ist es mög-
lich, die Erhebungen so zu sichten und zu vergleichen, dass nur wirklich
Vergleichbares gegen einander gehalten wird.
Die zeitliche Vergleichung hat demnach vor der räumlichen ent-
schieden den Vorzug der Sicherheit der Resultate voraus.
Anmerkung.
*) Vergl. G. Mayr: Ueber die Grenzen der Vergleichbarkeit statistischer
Erhebungen. 1866.
ZII. §. 33. Die Aufsuchung der Ursachen ^).
xiuch diese Thätigkeit ist keine blos technische; in ihr zeigt sich
am deutlichsten der Kampf des forschenden Verstandes mit den Räthseln
der Erscheinungen.
Sie wird aber wesentlich unterstützt durch die vorhergegangenen
Operationen, namentlich durch die Tabelle. Die richtig construirte Tabelle
bringt das Verhältniss zwischen einem statistischen Gegenstande und den
auf ihn wirkenden Ursachen zum Ausdruck und lässt meistens sofort er-
kennen, welche Erscheinung sich zu der beobachteten Wirkung füglich
als Ursache verhalten kann.
Man betrachtet also die Erscheinungen als Wirkungen verschiedener
Ursachen und prüft, welche Ursachen etwa auf die in Frage stehenden
Erscheinungen eingewirkt haben können. Dies ergibt sich, wenn man alle
56 l)ie Aufsnchmig der Ursaclien.
diejenigen Erscheinungen , welche verursachend auf andere einwirken
könnten, den letzteren vorhält.
Man sieht also z. B. nach, wie gewisse Erscheinungen oder Hand-
lungen des Menschen über die Jahreszeiten vertheilt sind (Geburten,
Eheschliessungen, Todesfälle, Verbrechen etc.). Man bemerkt dabei in
verschiedenen Jahreszeiten und an verschiedenen Orten Maximal- und
Minimalzahlen.
Sieht man dann, dass die Maximalzahlen, welche man in verschie-
denen Jahren und an verschiedenen Orten bemerkt, nur den einzigen
Umstand gemeinsam haben, in einen bestimmten Monat zu fallen, so kann
man schliessen, dass dieser Umstand, dieser Monat Ursache des Maximums
sei. Oder hat man ein Maximum einer solchen Erscheinung überall und
an allen Orten in dem einen Monat, ein Minimum unter sonst gleichen
Umständen in einem anderen Monat beobachtet, so schliesst man, dass
dieser einzige verschiedene Umstand die Ursache des Minimums hier, des
Maximums dort sei.
Oder man hat schon nachgewiesen, dass eine Erscheinung unter
einem gewissen Einflüsse seltener vorkomme, als unter einem anderen.
Findet man dann, dass sie bei einem gewissen hinzutretenden Umstand
häufiger wahrgenommen wird, so kann man schliessen, dass dieser neu
hinzutretende Einfluss die Ursache der Erscheinung sei, welche durch den
früher bekannten Einfluss nicht aufgeklärt werden konnte.
Oder man betrachtet die Veränderung einer Erscheinung zugleich
mit der Veränderung einer anderen und in derselben Weise und schliesst
dann, dass die eine Erscheinung die Wirkung der anderen sei.
Ob eine Verbindung von Erscheinungen etwas zufälliges oder etwas
regelmässiges sei, prüft man darnach, ob sie häufiger vorkommt, als sie
wahrscheinlich dann vorkommen würde, wenn keine bestimmte Ursache
vorhanden wäre. Eine sehr grosse Zahl von Beobachtungen macht es
möglich, die Wirkung der stetigen von jener der zufälligen Ursachen zu
unterscheiden. Denn in einer sehr grossen Zahl von Beobachtungen werden
sich die wechselnden Ursachen wahrscheinlich gegenseitig aufheben und
man kann dann das Durchschnittsergebniss als Wirkung der stetigen
Ursachen ansehen.
Um die Richtigkeit des Schlusses zu erproben, hat man zu erforschen,
ob bei weiterer Vermehrung der Beobachtungen das Durchschnittsergebniss
sich noch ändert.
So entdeckt man es auch , ob in einer anscheinend blos von wech-
selnden Ursachen bewirkten Erscheinung stetige Ursachen mitwirken oder
nicht. Man entdeckt dies, indem man beobachtet, ob bei der Berechnung
eines Durchschnitts aus einer grossen Zahl von Beobachtungen die ein-
Die Entdeckung von Kegelmftssigkeiten and Gesetzen. 57
zelnen Abweichungen, d. h. die Wirkungen der wechselnden Ursachen,
sich wirklich ausgleichen oder ob eine dauernde Abweichung von jenem
Durchschnitte sich zeigt, der ohne das Vorhandensein einer stetigen Ursache
sich ergeben würde.
Anmerkuug.
*) Nach A. Wagner, Art. Statistik im Staatswörterbuch.
Xm. §. 34. pie Entdeckung von Eegelm&ssigkeiten und Gesetzen.
Ihren Höhepunkt erreicht die Aufgabe der Statistik in der Ent-
deckung von Regelmässigkeiten und Gesetzen.
Dieser weitere Schritt geht aus der Erforschung der Ureachen her-
vor. Man beobachtet, um dauernde Regelmässigkeiten zu finden, eine und
dieselbe Ursache in ihren verschiedenen Wirkungen an den verschiedenen
Erscheinungen und andererseits an einer einzelnen Erscheinung die Wir-
kung der verschiedenen Ursachen.
Streng genommen kann man von einem Gesetze nur da sprechen,
wo man im Stande ist, den bestimmenden Grund durch ein Experi-
ment nachzuweisen, zu isoliren oder gar zu messen. Wo dieser Grund
nur gemuthmasst wird, kann höchstens von Wahrscheinlichkeitsgesetzen
die Rede sein.
Je näher die das Leben des Menschen betreffenden Thatsachen an
die Natur streifen, desto eher wird ein wirkliches Naturgesetz sich finden
lassen. Je weiter man von der Natur sich entfernt, desto weniger lässt
sich eine wirkliche Gesetzmässigkeit nachweisen. Man erhält zwar Regeln,
aber keine Gesetze.
Man weiss z. B. dass auf je 100 Mädchen in gleichen Zeiträumen
105 — 106 Knaben geboren werden. Man kennt jedoch den Grund hievon
nicht und kann daher eigentlich nicht von einem Gesetz, sondern nur von
einer Regel sprechen. Das aber ist ein Gesetz, dass in Theuerungsjahren
mehr Menschen sterben, als in wohlfeilen; denn der einzusehende Grund
dabei ist der Mangel an Nahrungsmitteln. Und eine Consequenz dieses
Gesetzes ist, dass vorzugsweise unter jenem Tlieil der Bevölkerung mehr
sterben, welcher schon in mittleren Jahren auf ein Minimum von Nah-
rungsmitteln angewiesen ist*).
Die Frage, ob man überhaupt von statistischen Gesetzen reden
dürfe, ist öfter discutirt worden. Während von manchen Seiten schlecht-
weg diese oder jene Thatsache als „statistisches Gesetz" bezeichnet wurde,
wird von anderer Seite betont, dass die Statistik keine Gesetze entdeckt,
sondern nur Regelmässigkeiten auffindet; dass ein „statistisches Gesetz"
Weder ein Naturgesetz, noch ein Sittengesetz, noch ein Rechtsgesetz sei,
58 Schlassbemerknngeii.
nichts befehlen, nicht verpflichten, sondern blos constatiren könne, kurz,
dass es blos der Ausdruck eines thatsächlichen Verhältnisses sei *). Es
dürfte wohl das Richtigste sein, wenn man die Frage, ob es sich in der
Statistik um blosse Regelmässigkeiten oder um wirkliche Gesetze handelt,
als eine ziemlich überflüssige bezeichnet*).
Aumerkungeu.
*) Engel: Zeitschr. d. preuss. stat. Bureau 1862, S. 26.
*) Block- V. Scheel: Handburh d. Statistik, S. 97.
') G. Mayr: Gesetzmässigkeit etc., S. 64.
§. 35. SchluBsbemerkungen.
Ob man nun der Statistik die Aufgabe zuweist, wirkliche Gesetze
aufzufinden, oder ob man sie dahin beschränkt, blos gewisse Regelmässig-
keiten im Gang der Erscheinungen und Thatsachen nachzuweisen: jeden-
falls dient sie unaufhörlich dazu, ein wichtiges Gesetz immerfort aufs neue
zu beweisen, das oben erwähnte Gesetz der grossen Zahl. Dieses Gesetz
hat einen sehr bedeutenden Hintergrund.
Es wurde schon oben erwähnt, wie das Gesetz der grossen Zahl Sorge
dafür trägt, dass alle Zufälle, die in einer bestimmten Richtung, in Bezug
auf ein Object sich ereignen, um so weniger zufällig erscheinen und um
so mehr Regelmässigkeit gewinnen, je öfter sie auftreten. An den grossen
Massen erkennt man das Gesetzmässige.
Die grossen Zahlen haben ihre Gesetze, die kleinen scheinbar nicht.
Aber wenn die kleinen sich summiren und zu grossen anwachsen: dann
zeigt sich auf einmal, dass sie auch ihr Gesetz haben. Wie die öfi*entliche
Meinung entsteht es aus der Masse, unmerklich wachsend.
Daraus folgt:
Was im Einzelnen als Zufall erscheint, das verliert den Charakter
des Zufalls in der Masse. Die grossen Zahlen der Ereignisse sind Reihen,
in welcher jedes Glied zur Erkenntniss des Ganzen einen kleinen Beitrag
liefert. Mit der wachsenden Zahl enthüllt sich immer mehr das die Er-
eignisse beherrschende Gesetz. Der Zufall vergeht gegenüber wachsenden
Zeiten und Räumen.
Und wo endlich die Zahlen unendlich gross werden, muss auch der
Zufall ein Ende nehmen und nur mehr das Gesetz herrschen. Der Moment,
das Individuum sind das dem Zufall Unterworfene; Unendlichkeit und Ge-
setzmässigkeit sind identisch.
Die Haaptriclitiiugen der Statistik. 59
III. Capitel.
Die Statistik als Wissenscliaft.
§. 36. Begriff und Wesen der Statistik als Wissenschaft.
Die Statistik ist eine Methode und eine Wissenschaft.
I. Eine Methode ist sie, wenn man sie auflfasst als systematische
Massenerforschung.
n. Um zur Wissenschaft zu werden, muss die Statistik neben der
Einheit der Methode auch eine gewisse Einheit des Gegenstandes haben.
Dieser Gegenstand ist die Masse der Erscheinungen als solche.
Die Statistik ist demnach die Wissenschaft von der Masse,
und zwar insbesondere von der Masse der menschlichen und
staatlichen Erscheinungen, von ihrer Bewegung und den Regeln
derselben *).
Aus dieser Definition ergibt sich eine Statistik im weiteren Sinne:
die Massenerforschung — und eine Statistik im engeren Sinne: die Erfor-
schung der Masse der menschlichen und staatlichen Erscheinungen. Die
Statistik im weiteren Sinne würde namentlich auch die Naturstatistik, die
meteorologische Statistik umfassen, die Statistik im engeren Sinne nicht.
IIL Die Statistik ist aber blos eine Hilfswissenschaft. Sie sucht und
findet Wahrheiten, aber nur solche Wahrheiten, welche von anderen
Wissenschaften weiter verarbeitet werden. Vorherrschend ist daher ihr
Charakter als Methode.
Anmerkung.
*) Eine weitere Erklärung oder Begründung dieser Definition wird hier
unterlassen. Diese Erklärung und Begründung geht aus dem vorigen Capitel
hervor. Es sind übrigens schon über 60, nach anderen über 100 Definitionen
der Statistik als Wissenschaft vorhanden.
§. 37. Die Hauptrichtungen der Statistik.
Die Geschichte der Statistik hat uns zwei Hauptrichtungen dieser
Disciplin gezeigt:
L Eine beschreibende Schule der Staatskunde, von Conring
und Achenwall begründet. Sie ist eine Schilderung der staatsmerkwürdigen
Zustände der Gegenwart. Durch die Ausdehnung des Begriffes Staat wird
auch ihr Gegenstand ausgedehnt. Sie will eine Wortschilderung der Ge-
genwart liefern; den Nachweis der Gesetzmässigkeit der Erscheinungen
will sie nicht geben; sie könnte es auch nicht.
60 Die Hauptrichtungen der Statistik.
IL Eine Schule der erforschenden Statistik, von Süssmilch
und Quetelet begründet, welche die Methode der systematischen Massen-
beobachtung zur Erforschung der Erscheinungen, ihres Zusammenhanges,
ihrer Ursachen, ihrer waltenden Gesetze anwendet.
Das Vorhandensein dieser beiden Richtungen bedarf keines Beweises
mehr. Es ist eine geschichtliche Thatsache. ,
Es treten nun folgende Fragen an uns heran:
I. Sind diese beiden Richtungen wirklich nur verschiedene Rich-
tungen einer und derselben Wissenschaft? Welche ist dann berechtigt,
welche verfehlt?
IL Wenn nicht, sind vielleicht beide blos Theile einer umfassen-
deren, über ihnen stehenden Wissenschaft?
III. Ist auch dieses nicht der Fall, sind vielleicht beide zu selb-
ständigem Leben berechtigte getrennte Wissenschaften?
IV. Verdient nur eines von beiden den Namen einer selbstän-
digen Wissenschaft und bleibt demnach das andere nur Methode?
V. Oder findet ein anderes Verhältniss statt?
Die Beantwortung dieser Fragen dürfte wohl in Folgendem liegen:
L Fasst man diese beiden Schulen, weil sie einen und denselben
Ausgangspunkt haben, als zwei verschiedene Richtungen einer und der-
selben Wissenschaft auf, so ist die Frage, welche von beiden die berech-
tigte, welche die verfehlte sei, zu beantworten. Wer die praktische und
theoretische Bedeutung beider würdigt, wer namentlich beobachtet, wie die
beschreibende Richtung mehr und mehr von der zifFermässigen Darstellung
Gebrauch macht und die Resultate der anderen Richtung berücksichtigt,
wie diese letztere in der amtlichen Statistik ausschliesslich herrscht und
in der neueren wissenschaftlichen Literatur tonangebend ist, kann keinen
Augenblick hierüber im Zweifel sein.
IL Beide Disciplinen als Theile einer und derselben höheren Wissen-
schaft aufzufassen ist unmöglich. Wenn dem so wäre, müsste der eine
Theil eine organische Weiterentwicklung des anderen sein. Es müssten alle
Gegenstände des einen Theiles im anderen sich wieder finden. Dies ist
zwar bei der Verschiedenheit der beiderseitigen Objecto nicht immer der
Fall: doch oft genug, um in dieser Bedingung kein Hindemiss solcher
Einigung zu finden.
Es müsste aber auch ein höheres Ganzes existiren, welchem beide
als Theile untergeordnet werden. Dieses höhere Ganze hat man zu con-
struiren versucht, aber ausser in diesen Constructionsversuchen kann es in
der Geschichte der Wissenschaft nicht gefunden werden.
in. Dass beide Richtungen zu selbständigem Leben berechtigte
getrennte Wissenschaften seien, ist ebenfalls noch Unmöglichkeit. Die Ver-
Die Statistik als Social wissenecliaft. 61
suche, eine solche Trennung herbeizufnhren (vgl. die angeführten Arbeiten
von Knies, Rümelin und Wagner) sind uneinig in Bezug auf den Tren-
nungspunkt.
IV. Auch auf anderem Wege käme man zu einem entsprechenden
Resultate. Wollte man annehmen, die ältere Schule sei die selbständige
Wissenschaft, die moderne Statistik dagegen blos Methode, so würde man
bei Betrachtung des gegenwärtigen Standes der Disciplin finden, dass die
Methode diese angebliche Wissenschaft erst zur Wissenschaft gemacht
hat und aus derselben alles verdrängt, was ihr nicht passt, dass sie es
ist, welche den Gegenstand und die Aufgaben dieser Wissenschaft charak-
terisirt. Auch in diesem Falle wäre demnach die moderne Statistik der
berechtigte und herrschende Theil.
V. Da die Conring-AchenwalPsche Schule eine Zustandsdarstellung
ißt und die moderne Schule der Statistik eine solche enthält, liegt die
Anschauung nahe, die erstere als einen Theil der letzteren aufzufassen.
Dann steht die Schule der Staatskunde zur Statistik in dem Verhältnisse
einer Beschreibung zu einer Untersuchung, Die Beschreibung ist an sich
keine wissenschaftliche Thätigkeit; aber sie ist die Vorbereitung fiir eine
solche und zwar die nothwendige Vorbereitung.
Wenn man das Verhältniss von Staatskunde und Statistik so auf-
fasst — und es lässt sich so auffassen — dann ist keine Trennung beider
Disciplinen mehr nothwendig, wohl aber eine Säuberung der einen von
allem geographischen, ethnographischen, staatsrechtlichen etc. Beiwerk.
Die Staatskunde müsste alles von sich streifen, was für die moderne
Statistik unbrauchbar ist,
VI. Wird diese Frage nicht im obigen Sinne gelöst, so bleibt das
Verhältniss beider Richtungen das bisherige. Die Staatskunde bleibt dann
neben der erforschenden Statistik stehen,' zu selbständigem Leben berech-
tigt, aber nicht als Wissenschaft, sondern als wohlgeordnete Zusammen-
stellung von nützlichen und wissenswürdigen Kenntnissen, in eins ver-
schwimmend mit der politischen Geographie. Ihre Werke sind dann
systematische Staatslexika in Taschenformat, enthaltend das Wichtigste
aus den Gebieten der Statistik, der Politik, Nationalökonomie, politischen
Geographie, Ethnographie, neuesten Geschichte, auch des Staats- und
Verwaltungsrechts.
§. 38. Sie Statistik als Socialwissenschaft.
Indem jene Schule der Statistik, welche heute als die wissenschaft-
lich alleinberechtigte erscheint, die Masse der menschlichen und staatlichen
Erscheinungen, ihre Bewegungen und ihre Regeln zum Gegenstande hat?
62 Die Statistik als Social wissenscliaft.
wird sie zur exacten SociaJwissenschaft. Die menschliche Gesellschaft ent-
steht, lebt und stirbt nach gewissen Regeln.
Diese Regeln wurden erst spät gemeinschaftlich und in ihrer Wechsel-
wirkung auf einander untersucht. Man hat zwar mehr oder weniger voll-
ständige Untersuchungen über einzelne dieser Regeln angestellt, aber exactc
Untei-suchungen über die fortschreitende Entwickelung des- Menschen in
gesellschaftlicher, moralischer und geistiger Beziehung anzustellen: das war
der neuesten Zeit vorbehalten.
Die speculativen Wissenschaften zwar haben sich schon längst nach
Kräften mit der geistigen und sittlichen Entwickelung des Menschen be-
schäftigt. Die Erfahrungswissenschaften nur sind es, welche in dieser Be-
ziehung zurückblieben.
Ursache davon waren wohl zumeist die Schwierigkeiten solcher,
Untersuchungen.
Schon anthropologische Untersuchungen, die sich blos auf die kör-
perliche Entwickelung beziehen, sind mit grossen Schwierigkeiten verknüpft.
Aber man kann bezüglich dieser Erscheinungen wenigstens unangefochten
behaupten, dass sie nach bestimmten Gesetzen sich entwickeln, nach Ge-
setzen, welche in einzelnen Fällen nachgewiesen und selbst in Zahlen aus-
gedrückt werden können.
Aber die Untersuchung der geistigen Entwickelung scheint die gi'össten
Schwierigkeiten zu bieten. Denn es erscheint auf den ersten Anblick ge-
radezu widersinnig, dort Gesetze suchen zu wollen, wo der freie Wille,
ja die bewegliche regellose Laune des Menschen mit im Spiele ist.
Um überhaupt solche Gesetze, nach welchen die menschliche Ent-
wickelung, die menschlichen Handlungen vor sich gehen, zu finden, muss
man den Weg der Erfahrung gehen.
Man muss dabei vom einzelnen Menschen abstrahiren, ihn blos als
ein Bruchtheil einer ganzen Gattung ansehen, seiner Individualität ihn
entkleiden.
Dadurch beseitigt man alles, was zufällig ist.
Die individuellen Eigenheiten sowohl in körperlicher, als in geistiger
Beziehung, verwischen sich um so mehr und die allgemeinen Bedingungen,
auf welchen der Fortbestand und die Erhaltung der Gesellschaft bemht,
beginnen um so vorherrschender zu werden, je grösser die Zahl der zur
Beobachtung gewählten Individuen ist.
Nur wenige ausserordentliche Menschen sind im Stande, einen merk-
lichen Einfluss auf die ganze Gesellschaft zu üben und dieser Einfluss
braucht häufig lange Zeit, um wirksam zu werden.
Die Statistik als Socialwissenschaft. 63
Die Ursachen der menschlichen Handlungen im Grossen betrachtet,
sind lang und still wirkende. Sie üben selbst lange Zeit, nachdem man
sie zu bekämpfen gesucht hat, merkbaren Einfluss aus.
In der Regel ist die menschliche Gesellschaft weit mehr Ursache an
den Handlungen des Einzelnen, als dieser selbst glaubt. Sie trägt Schuld
an seinen guten und schlechten Handlungen. Freilich nicht sie allein,
sondern auch seine Individualität. Als Mitglied der menschlichen Gesell-
schaft erfährt der Mensch fortwährend den Zwang der Ursachen und folgt
diesem Zwange, aber als Mensch hat er auch die Fähigkeit, diese Ein-
flüsse zu behen-schen, ihre Wirkungen zu ändern und zu verbessern.
Durch die Massenbeobachtung kann man die Ursachen und die be-
herrschenden Regeln der menschlichen Handlungen ausfindig machen. „Die
Wahrscheinlichkeitsrechnung zeigt, dass unter übrigens gleichen Umständen
man sich um so mehr der Wahrheit oder den Gesetzen, die man ergrün-
den will, nähert, eine je grössere Anzahl von Individuen den Beobach-
tungen zur Stütze dienen" (Quetelet). ,
Die Regeln der menschlichen Handlungen sind insofeme besonders
merkwürdig :
I. Indem sie nichts Individuelles mehr an sich haben, für die Hand-
lungen und das Dasein des Einzelnen nicht mehr gelten.
n. Indem sie nicht unveränderlich sind. Sie können sich ändern mit
der Natur der Ursachen, aus denen sie entstanden. „So. haben die Fort-
schritte der.Civilisation eine Aenderung der Gesetze der Sterblichkeit zur
nothwendigen Folge gehabt, wie sie auch auf die physische und moralische
Seite de^ Menschen von Einfluss sein müssen" (Quetelet). Diese Aende-
rungen sind von höchster Bedeutung, sie bilden die pragmatische Ge-
schichte der Menschheit. Die Statistik will das Studium der Menschheit
künftighin nicht mehr roher Empirie überlassen, sondern in der genannten
Weise zu einem wissenschaftlichen machen.
„Sind jene Ursachen einmal erkannt, so bemerkt man bei ihren
Schwankungen keine Sprünge . . . sondern sie modificiren sich allmälig.
Durch die Kenntniss der Vergangenheit wird es möglich, über die nächste
Zukunft zu urtheilen ; unsere Conjecturen können sich oft selbst auf einen
Zeitraum von mehreren Jahren erstrecken, ohne dass man befürchten
müsste, dass die Zeit Ergebnisse liefern werde, welche gewisse Schranken
überschreiten, die sich gleichfalls zum Voraus bezeichnen lassen. Diese
Einschränkungen erweitern sich natürlich um so mehr, auf eine je grös-
sere Anzahl von Jahren unsere Vorherbestimmungen sich erstrecken"
(Quetelet).
64 Die auf den MeBschen wirkenden Einflösse insbesondere.
§. 39. Die anf den Menschen wirkenden Einflüsse insbesondere.
Die Regeln, nach welchen der Mensch sich entwickelt und welche
seine scheinbar willkürlichen Handlungen beeinflussen, sind im Allge-
meinen ein Resultat der Natur, in welcher er lebt, seiner physischen,
wirthschaftlichen, politischen Verhältnisse, seiner geistigen und sittlichen
Bildung.
Dazu kommen aber andere, „immer schwer zu ergründende Ein-
wirkungen, von welchen mehrere uns wahrscheinlich für immer verborgen
bleiben werden" (Quetelet).
Die Einflüsse auf die Entwickelung und die Handlungen des Men-
schen Hessen sich ungefähr in folgender Weise classificiren: *)
I. Physische Einflüsse. Bei ihnen müssten wir wieder unterscheiden:
A. Einflüsse äusserer Naturverhältnisse:
1. Klima, Witterung und örtliche Temperatur;
2. Jahreszeiten, monatliche Temperatur und Witterung;
3. Tageszeiten;
4. Oertliche Bodengestaltung und Beschaffenheit im Zusammenhang
mit den Wohnorten etc.: Unterschied von Stadt und Land;
5. Witterungsverhältnisse des Jahres.
B. Einflüsse physischer Lebensverhältnisse des Menschen:
1. Geschlecht;
2. Alter;
3. Körperliche Beschaffenheit;
4. Körperlicher Gesundheitszustand des Menschen, Epidemien.
11. Gesellschaftliche und politische Verhältnisse:
A. Allgemein gesellschaftliche:
1. Geburt (ehelich oder unehelich);
2. Civilstand;
3. Beruf, im Zusammenhange mit dem Wohnort;
4. Oeffentliche Sitte und Sittlichkeit, Familienleben, geselliges Leben,
gesellschaftlicher Rang etc.
B. Politische Verhältnisse:
Nationalität, Staatsverfassung, Justizpflege, Polizeiwesen und Ver-
waltung, Finanzlage, Besteuerung, Heei*wesen etc. Herrschende politische
Strömungen — liberale, conservative oder reactionäre; politische Krisen,
Revolutionen, Kriegs- oder Friedenszeit.
C. Wirthschaftliche Verhältnisse:
Wirthschaftlicher Erwerb, Reichthum, Wohlstand, Armuth. Hand-
werk und Fabrikswesen, Handel. Aber auch die allgemeine Lage der
wirthschaftlichen Verhältnisse. Ganz besonders der Ausfall der Ernte.
Die auf den Menschen wirkenden Einflösse insbesondere. (35
Ferner: Aenderungen in den Productionsmethoden, im Credit- nnd Ver-
kehrswesen: wirthschaftliche Krisen.
D. Verhältnisse geistiger und religiöser Cultur:
1. Bildung — humanistische und exacte;
2. Religion und Confession;
3. Allgemeine Lage der Bildungs- und ünterrichtsangelegenheiten.
Aenderungen in der Weltanschauung des Zeitalters, in der Richtung der
Bildung;
4. Allgemeine Lage der religiösen und kirchlichen Angelegenheiten;
religiöse Indifferenz, Agitation, Toleranz.
Das sind die wichtigsten, aber nicht alle auf den Menschen wir-
kenden Einflüsse. Si'e sind wie eine Menge von unsichtbaren, höchst ela-
stischen Fäden, welche sich an den Menschen knüpfen, sobald er die
Welt betritt, um ihn nach dieser oder jener Richtung hinzuziehen oder
an einem Punkte festzuhalten.
Von grösster Wichtigkeit ist nun die Frage, mit welcher Kraft diese
Einflüsse sich bemerkbar machen.
Der Mensch besitzt die Kräfte, welche ihm gestatten, diesen Ein-
flüssen mit grösserer oder geringerer Energie Widerstand zu leisten.
Aber die Schätzung dieser Kräfte ist ein geheimnissvolles Problem,
dessen Lösung meist über den menschlichen Witz hinausgeht.
Diese den Menschen auszeichnenden Kräfte, welche den Einfluss
äusserer Verhältnisse ändern und abschwächen — wirken sie auf eine
constante Weise und hat der Mensch sie zu allen Zeiten in gleichem Masse
besessen? Besteht eine Analogie zwischen dem Princip der Erhaltung der
Kräfte in der Natur einerseits und Erhaltung dieser geistigen und sitt-
lichen Kräfte des Menschen? Vernünftige Ahnung lässt uns eine solche
Analogie vermuthen.
Der Mensch selbst mit seinen geistigen Kräften nimmt auf die Natur
und speciell auf seine Umgebungen einen entschieden ändeniden (pertur-
birenden) Einfluss. Die Macht dieses Einflusses scheint im innigen Verhält-
nisse mit der menschlichen Intelligenz zu wachsen. Diesem Einflüsse hat
man es zu verdanken, dass die Gesellschaft, wenn man in zwei entlegenen
Zeitaltern sie betrachtet, nicht mehr dieselbe ist.
Aamerkuug.
*) Eine sehr ausführliche derartige Classification fiudet sich in Engers
„synoptischer Tabelle zur Veranschaulichuug der Elemente der Bevölkerung
und der Einflüsse, welche darauf wirken etc," (in: Die Bewegung der Bevöl-
kerung in Sachsen). Es werden da als solche Eiufiüsse genannt:
I. Individuelle und individuell wirkende. A. Physische Lebensverhältnisse:
Greschlecht; Alter; körperliche Beschaffenheit; Lebensweise überhaupt (Wohnung
Hanshofer, Statistik. 2. Aufl. 5
66 Die aaf den Menschen wirkenden Einflftsse insbesondere.
und Nahrung). B. Gesellschaftliche Lebensverhältnisse: CiTÜstand; Religion;
Abstammung oder Race; Stand und Rang in der Gesellschaft; Beruf und Er-
werbszweig; Verdienst, Lohn; Besitz, eigener Herd; Wohlstand und Armuth.
C. Sittliche Lebensrerhältnisse : Sittliche Bildung, Moralität; Enthaltsamkeit;
Reinlichkeit; Sparsamkeit; Familienleben; Kindererziehung; Arbeitslust, Selbst-
hilfe zur Verbesserung.
IL Räumlich wirkende Einflüsse: A. In physischer Hinsicht: Bodengesfcal-
tung, Bodenbeschaffenheit; Klima, örtliche Temperatur und Wittei-ung: Hygie-
nische Beschaffenheit der Luft, des Wassers, des Erdbodens, der ganzen Oert-
lichkeit. B. In geographischer Hinsicht: Proyinzielle Eigeuthümlichkeiten;
Vertheilung der Bewohner, Haushaltungen, Gebäude auf die Wohnplätze und
auf die Oberfläche etc.; Administrativer Charakter der Wohnplätze, Stadt und
Land, Flecken, Vorwerke etc. C. Einwirkungen der materiellen und technischen
Culturverhältnisse : Gewerblicher Charakter der Gegend, de^ Orte; agronomische,
industrielle und commercielle Lage der Orte. D. Der religiösen und geistigen
Culturverhältnisse: Kirchliche, religiöse und örtliche Institute; Uuterrichtsau-
stalten; Anstalten zur Pflege der Künste und Wissenschaften. E. Der sittlichen
Culturverhältnisse: Gemeinnützige locale Anstalten, örtliche Gemeinnützigkeit;
Wohlthätigkeitsanstalten, locale Wohlthätigkeit; öffentliche Sicherheit, Morali-
tät und Criminalität. F. Der socialen Zustände: Schichten der Gesellschaft,
Besitzende und Nichtbesitzende. G. Der Gemeindeverhältnisse: Gemeindehaus-
haltsverhältnisse; localstatutarische Bestimmungen. H. Der politischen Zu-
stände: Politischer Charakter der Orte, politische Wichtigkeit.
III. Zeitliche und universell wirkende Einflüsse: A. Physikalische oder
natürliche (von menschlichen Einrichtungen unabhängige): a) Cosmisch-telluri-
sche: Jahreszeiten, Tageszeiten, Witterung; abnorme elementare Ereignisse.
b) Tellurisch-agronomische: Jahresfruchtbarkeit, Ernteerträge, c) Hygienische:
Oeffentliche Gesundheitszustände der Menschen: Viehkrankheiten, Seuchen,
Pflanzenkrankheiten. B. Von menschlichen Einrichtungen abhängige Wirkun-
gen: a) Des technischen und materiellen Culturzustandes : der Landwirthschaft
und Viehzucht; der Industrie; des Handels und Verkehrs, b) Des religiösen und
geistigen Culturzustandes: Der Kirche und ihrer Satzungen (Toleranz etc.); des
öffentlichen Unterrichtes; der Wissenschaften und Künste, c) Des sittlichen
Culturzustandes: Der Gemeinnützigkeit; der Wohlthätigkeit und des Wohlthä-
tigkeitssinnes; der öffentlichen Sittlichkeit und sittlichen Bildung, d) Der socia-
len Zustände: Der Vertheilung des Grundbesitzes (Erblichkeit desselben); der
Gesellschaftsclassen, der Arbeits- und Dienstverhältnisse, e) Des politischen
Culturzustandes: Der politischen Bildung; der Staatsverfassung, f) Der politi-
schen und staatlichen Organisation und Administration: Der inneren Verwaltung,
Polizei ; der finanziellen Lage und Verwaltung ; der Justiz und Justizpflege ; des
Heerwesens und der Landesvertheidigung; der Vertretung nach aussen, g) Der
politischen Ereignisse und Störungen: Der Kriegs- und Friedenszeiten; der
Revolutionen und Emeuten; der politischen Agitationen.
A. Wagner und Oettingen geben gleichfalls Entwürfe solcher Causa-
tionssysteme. Letzterer bemerkt auch mit Recht dazu, dass es auf dem Gebiete
der Moral Statistik (und ebenso auf anderen) noch bei keiner Specialuntersuchung
durchführbar erscheint, allseitig die möglichen, wahrscheinlichen und wirk-
Der Dnrchsehnittfimensch. 67
liehen, Ursachen und Motire zu einer klar geordneten Causalreihe oder Kette
zusammenzufügen.
§. 40. Der Durchsclmittsinensch.
Der Mensch, wie die Statistik ihn betrachtet, folgt also bestimmten
Regeln; seine Handlungen, seine ganze Entwickelung lassen sich annähe-
rungsweise berechnen.
Nahe liegt der eine Vorwurf, eine solche Behandlung des Menschen
sei grasser Materialismus, und der andere, sie sei ein zu weit getriebenes
Streben nach Ausdehnung der Grenzen der exacten Wissenschaften, sie
veranlasse zu unsinnigen Speculationen, indem sie Dinge ausrechnen wolle,
die nicht ausgerechnet werden können.
Dieser Vorwurf erscheint als ungerechtfertigt, wenn man bedenkt,
dass die Statistik keineswegs jeden einzelnen Menschen ausrechnen will,
sondern dass sie sich blos mit der Erforschung eines mittleren Men-
schen, eines Durchschnittsmenschen beschäftigt.
Dieser mittlere Mensch ist ein abstractes Wesen. Er ist wie das
Niveau eines ruhelosen Meeres. Wogen heben sich und Wellenthäler tiefen
sich ein; aber in aller Unruhe bleibt doch eine ebene Meeresfläche denk-
bar, ein Durchschnitt von Wellenbergen und Wellenthälern. Er ist für die
Gesellschaft, „was der Schwerpunkt in den Körpern ist, er ist das Mittel,
um das die Elemente der Gesellschaft oscilliren" (Quetelet).
Das ist der Mensch, den der Statistiker beobachtet und wie er ihn
überhaupt betrachten darf*).
„Wenn man die Grundlagen einer Physik der menschlichen Gesell-
schaft einigermassen feststellen will, so muss man den Menschen von
diesem Gesichtspunkte auffassen, ohne sich mit den besonderen Fällen,
noch bei den Regelwidrigkeiten aufzuhalten, und ohne zu untersuchen, ob
dieses oder jenes Individuum hinsichtlich einer seiner Fähigkeiten eine
mehr oder weniger hohe Entwickelungsstufe erreichen kann" (Quetelet).
Ein riesenhafter oder herkulisch starker Mann interessirt den Physio-
logen, ein von einer sehr seltenen körperlichen Krankheit Befallener den
Pathologen, ein Narr den Irrenarzt, ein grosser Verbrecher den Grimi-
nalisten, ein sehr schöner Mensch den Künstler. Für den Statistiker aber
ist interessanter als alle diese der Mann von mittlerer Kraft und Grösse,
von mittlerer geistiger und körperlicher Gesundheit, Moral und Schönheit,
der Durchschnittsmensch. ^
Einen solchen Durchschnittsmenschen erhält man, wenn man das
Mittel der ganzen Menschheit nimmt; nimmt man das Mittel für einen
Theil der Menschheit, entweder für ein Volk, für einen Staat oder für
eine Berufsclasse, so erhält man einen Durchschnittsmenschen für 'diese
5*
68 Die Gesellschaftswissenschaft im Kreise anderer Wissenschaften.
kleineren Kreise menschlicher Gesellschaft, z. B. den Durchschnittsdeutschen?
den Durchschnittsfranzosen, den durchschnittlichen Städter und den durch-
schnittlichen Landbewohner u. s. f.
Man erhält ihn auch für verschiedene Zeiten je nach der Zeit der
Beobachtung.
Verfolgt man diesen mittleren Menschen durch den Verlauf der
Zeiten und zugleich die Veränderungen seiner körperlichen und geistigen,
seiner wirthschaftlichen und politischen Verhältnisse, so kann man die
Gesetze bestimmen, denen er unterworfen ist. Man kann, auch wenn die
Oberfläche der Fluth der Erscheinungen hohe Wellen schlägt, doch be-
stimmen, wie hoch der Wasserstand ist, wohin die Wasser strömen, woher
die Lüfte wehen, welche die Oberfläche bewegen und nach welchem Ge-
setze die Wogen steigen und fallen, schäumen und sich überstürzen.
Anmerkung.
*) Jeder Schluss yon diesem mittleren Menschen auf ein Individuum fallt
ausser den Bereich der Statistik.
§. 41. Die OeselkchAftswissenschaft im Kreise anderer Wissenschaften.
Fasst man die Statistik als die exacte Gesellschaftswissenschaft auf,
so muss^ sie einigen Zweigen des menschlichen Wissens mehr oder weniger
fern; anderen dagegen sehr nahe stehen.
Jenen, welche sich auf die Einzelnbeobachtung stützen, welche nur
typische Erscheinungen zum Gegen stände haben, oder sich wesentlich des
deductiven Verfahrens bedienen, muss sie ferne stehen. Dagegen erscheint
sie als Hilfswissenschaft, wo es sich um die Wissenschaften von Menschen
handelt, und zwar besonders um jenen Theil dieser Wissenschaften, dessen
Gegenstände sich der gegenwärtigen Beobachtung in der Breite ihrer
gleichzeitigen räumlichen Ausdehnung und Erscheinung darbieten.
Es kann auch die Statistik als Gesellschaftswissenschaft diejenigen
Disciplinen, welche sich bisher mit gesellschaftlichen Zuständen befasst
oder dieselben gestreift haben, ohne zifl'ermässig zu arbeiten, doch nicht
ignoriren. Im Gesellschaftsleben gibt es eine Art von Erfahrung, welche
— auch ohne Ziflermaterial aufweisen zu können — immerhin eine gewisse
Achtung verdient. Das ist die Notorietät, die öffentliche Erfahrung.
Diese Erfahrung, die z. B. von der Rechtswissenschaft und Politik, von
der Nationalökonomie, der Philosophie und Geschichte so vielfach benützt
und auf welcher so wichtiges aufgebaut wird, muss nothwendig in der
Gesellschaftswissenschaft eine grosse Rolle spielen.
Diejenigen Disciplinen nun, mit welchen die Statistik im Zusammen-
hange steht oder etwa in einem Zusammenhange gedacht werden könnte,
Die Statistik and die Politik. 69
sind: Geographie, Politik, Nationalökonomie, die Rechtswissenschaft, die
Geschichte, die Philosophie, die beschreibenden Naturwissenschaften, die
Mathematik.
§. 42. Die Statistik und die Oeographie ^).
Am häufigsten ist die Statistik mit der Geographie in Verbindung
gebracht worden; eine gewisse Verwandtschaft beider Disciplinen ist auch
unverkennbar.
Die Geographie beschränkt sich auf eine Beschreibung der Erde in
ihren Beziehungen zur Natur und zur Geschichte. Die Erde bildet den
Grund und Boden alles Lebens, die Bühne für die Entwickelung des
Menschengeschlechts und dessen Arbeitsfeld. Die Geographie entlehnt
manches von der Statistik und bietet dafür dieser auch manches. Nament-
lich ist es die politische Geographie, welche mit der Statistik ein so
inniges Verhältniss eingegangen hat, dass beide Disciplinen fast ineinander
zu verschwimmen scheinen und oft genug verwechselt worden sind. Die
politische Geographie betrachtet die Vertheilung der Zustände und Dinge
im Räume; auch die Statistik thut dasselbe, wenn auch nicht immer.
Aber die Geographie fasst das Einzelne, die Statistik dagegen erforscht
die Zustände, die Bewegungen, die Gesetze der Masse. Darin liegt der
bezeichnende Unterschied. Während uns z. B. die wirthschaftliche Geo-
graphie mit der Situation des Suezcanals in den Linien des Weltverkehrs
bekannt macht und uns zeigt, um wie viel Seemeilen der Weg von Triest,
um wie viel jener von Hamburg nach Calcutta abgekürzt wird, wird es
eine Aufgabe der wirthschaftlichen Statistik sein, an der Zahl und dem
Tonnengehalte der den Kanal passirenden Schiffe der verschiedenen Nationen
seine Bedeutung für den Verkehr dieser Völker zu studiren. So haben
beide Wissenschaften ihren Stoff häufig gemeinsam: nach ihrem Zwecke,
nach der Methode ihrer Behandlung aber unterscheiden sie sich.
Anmerkuug.
*) Vgl. hierüber: Jonak a. a. 0.; Viertel jahrsschrift 1838; Kolb a. a. 0.
Vorwort.
§. 43. Die Statistik und die Politik.
Ein inniges Verhältniss besteht auch zwischen der Statistik und der
Politik. Je mehr die Politik in der Wirklichkeit des Staatslebens ihre
Grundlage sucht, desto mehr ist sie auf die Statistik angewiesen.
Dieses Verhältniss ist so alt, als die amtliche Statistik. Die amt-
liche Statistik war von jeher Werkzeug der Politik.
Aber die Statistik hat immer ein Moment der Vergangenheit im
Auge; denn erst muss eine Erscheinung gegeben sein, ehe man sie be-
70 Die Statistik nnd die Kechtswissenschaft.
trachten, ihre Ursachen und Gesetze erforschen kann. „Die Politik dagegen,
in ihrem eigentlichen Sinne als Staatskunst, soll die Zwecke des öffent-
lichen Lebens und die wirksamsten Mittel zur En*eichung derselben kennen
lernen. Sie lehrt also, wie man lenkend und leitend, fördenid oder hem-
mend in die Entwicklung des öffentlichen Lebens eingreifen soll, und ist
darum wesentlich auf die Zukunft des Völkerlebens gerichtet" (Viertel-
jahresschrift 1838).
Um praktische Bedeutung zu gewinnen, muss die Statistik ihrerseits
der Politik dienen, indem sie die im Staatsleben wirkenden Mächte mit
den Staatszwecken in Verbindung bringt. Umgekehrt muss jede ver-
nünftige Politik in ihren besonderen Richtungen, also bezüglich der Ge-
setzgebung, Wiithschaftspflege, Finanzwirthschaft, Polizei, des Militarwesens
auf die statistische Erkenntniss der im Staatswesen vorhandenen Er-
scheinungen sich gründen.
Keinem Zweige der Politik steht die Statistik so nahe als der Be-
völkenmgspolitik. Während alle anderen politischen Wissenschaften ohne
Statistik entstehen konnten und an ihr nur eine neuere bessere Grundlage
fanden, entwuchs die Bevölkerungswissenschaft unmittelbar der Statistik.
§. 44. Die Statistik und die Nationalökonomie.
In der innigsten Wechselbeziehung stehen die Statistik und die
Nationalökonomie. Die Entwicklung nnd Ausbildung beider nahm zu, je
inniger ihre Verbindung war, je klarer es wurde, dass eine dieser Disci-
plinen die andere gar nicht entbehre» kann. Die wirthschaftlichen Erschei-
nungen, die sich ja vorzugsweise für das exacte Verfahren eignen, boten
der Statistik das beste Feld, ein Feld, auf welchem die zu beobachtenden
Erscheinungen sehr häufig in grossen Massen auftreten, wo auch in vielen
Fällen die Vergleichbarkeit der Daten keine solchen Schwierigkeiten bietet,
wie dieselben auf anderen Gebieten sich häufig finden.
„Es leuchtet übrigens ein, dass von der Statistik im Allgemeinen
die wirthschaftliche einen Haupttheil bildet, gerade denjenigen Theil,
welcher für die mathematische Behandlungsweise am zugänglichsten ist.
Wie diese wirthschaftliche Statistik der Nationalökonomie als Führerin
bedarf, so versorgt sie dieselbe ihrerseits wieder mit reichem Material,
sowohlzur Fortsetzung ihres Baues, wie zur Befestigung der bisherigen
Giiindlagen; sie ist zugleich die unerlässliche Bedingung, um volkswirth-
schäftliche Theoreme in der Praxis anzuwenden" (Röscher).
§.45. Die Statistik und die Beohtswissenschaft.
Zur Rechtswissenschaft, einer jener Disciplinen, welche zu besonders
glänzender Entwickelung der deductiven Methode gekommen sind, steht
Die Statistik and die Philosophie. 71
die Statiötik fremd. Die wissenschaftliche Thätigkeit besteht bei der Rechts-
wissenschaft vorzugsweise in der Interpretation, im Subsumiren des Ein-
zelnen unter allgemeine Rechtssätze. Die Criminalstatistik berührt nicht
die Rechtswissenschaft, sondern die Staatswissenschaft, nicht den Richter
und Ausleger des Rechts, sondern den Gesetzgeber. Gleiches gilt von der
Statistik der Civilrechtspflege. Auch sie gibt nicht dem Richter, sondern
dem Gesetzgeber die leitenden Gesichtspunkte.
§. 46. Die Statistik und die Oeschichte.
Fast fremd stehen sich heutzutage diese beiden Disciplinen gegen-
über, und Schlözer's berühmter Ausspruch, die Statistik sei stillstehende
Geschichte und die Geschichte fortlaufende Statistik, hat bei allen, die
mit dem Wesen der Statistik irgendwie vertraut sind, seine Bedeutung für
immer verloren. Auch jene Anschauung ist irrig, die in beiden Disciplinen
ein anderes inniges Verhältniss, z. B. das Verhältaiiss zweier gegenseitiger
Hilfswissenschaften annimmt. Wohl mag die Geschichte die Statistik als
Hilfswissenschaft benützen, namentlich da, wo sie von einer blossen
Dynasten- und Schlachtengeschichte, von einer Geschichte der Staats-
actionen und Friedensschlüsse, Vertragsbrüche und Palastintriguen zu einer
Geschichte der Völker und ihrer Gvilisation sich erhebt. Aber die Sta-
tistik braucht, ausser der Geschichte ihrer eigenen Entwickelung, nicht ein
Jota von der Weltgeschichte.
So steht das Verhältniss dieser beiden Disciplinen allerdings nur
jetzt. In Zukunft freilich, wenn einmal von einer Statistik vergangener
Zeiten gesprochen werden kann, dürfte sich dieses Verhältniss vielleicht
ändern.
§. 47. Die Statistik und die Philosophie.
Zu einer einzigen unter den philosophischen Wissenschaften steht
die Statistik in näherer Beziehung: zur Psychologie. Denn die Psychologie
ist selbst eine Erfahrungswissenschaft und hat wie die Naturwissenschaften
Gesetze auf dem Wege der Beobachtung und Induction zu finden. Statistik
und Psychologie haben sich gegenseitig zwar noch wenig geleistet; denn
die Psychologie ist noch nicht entwickelt genug, um bestimmte Fragen an
die Statistik zu stellen, und die Statistik ihrerseits noch nicht im Stande,
um ihre Methode auf psychische Erscheinungen in ausgedehnte Anwen-
dung zu bringen.
Den übrigen philosophischen Wissenschaften steht die Statistik
fremder gegenüber. Denn diese Wissenschaften bedienen sich der deduc-
tiven Methode. Sie beruhen zwar auf Erfahrung, aber sie erzeugen die
Erfahrung nicht selbst, sondern schöpfen sie aus anderen Wissenschaften.
72 Die Statigtik und die Mathematik.
Je mehr die Philosophie sich auf logische Gedankenoperationen und
auf den speculativen Ausbau einzelner Fundamentalsätze beschränkt: umso
geringere Bedeutung müssen die statistischen Erfahrungen für sie haben.
Sie erlangen dagegen wieder Bedeutung, sobald die an sich blos specula-
tive Richtung wieder objectiver wird.
So kann namentlich die Staatsphilosophie nicht von den Erschei-
nungen des Lebens absehen, sondern muss ihre Grundsätze in wirklichen
Erscheinungen suchen.
§. 48. Die Statistik und die Naturwissenschaften.
Zu den Naturwissenschaften steht die Statistik in innigerer Be-
ziehung, soweit nicht dieselben blos mit typischen Erscheinungen zu thun
haben.
Da indessen das Typische und das Individuelle nicht scharf abge-
grenzt sind, sondern auf den höheren Organisationsstufen das Individuelle,
auf den niedrigeren das Typische vorwaltet; da namentlich im Leben der-
jenigen Thiere und Pflanzen, welche unter menschlicher Einwirkung stehen,
die Natur langsam über den ursprünglichen Typus hinausschreiten und
individuell werden kann: so entsteht ein Gebiet, wo die Statistik auch
auf andere Organismen, als der Mensch ist, sich ausdehnt. Ja, es wird
ihre Methode sogar im Gebiete anorganischer Erscheinungen, bei der
meteorologischen Beobachtung angewendet. Hier wechselt die Erscheinung
nicht von einem Individuum zum anderen, sondern von einem Zeitpunkte
zum andern. Und man ist deshalb auch hier darauf angewiesen, Massen-
beobachtungen anzustellen, Durchschnitte und Mittel werthe zu suchen.
Obgleich nun diese Aufgaben nicht mehr in das Gebiet einer Social-
■ ^Wissenschaft gehören, mögen sie doch als verwandte hier bezeichnet
werden. Namentlich ist es die sogenannte medicinische Statistik, durch
welche ein namhaftes Grenzgebiet zwischen Statistik und Naturwissen-
schaften geschaffen wurde.
§. 49. Die Statistik und die Mathematik.
Eine sehr bemerkenswerthe Stellung nimmt die Statistik zur Mathe-
matik ein. In einer Hinsicht nämlich steht die Statistik zur Mathematik
in gar keiner inneren Beziehung, ihr vielmehr schroff gegenüber, während
in anderer Hinsicht doch auch wichtige Berührungspunkte vorhanden sind.
I. Der wesentliche Unterschied liegt darin, dass die Mathematik
keiner Beobachtung für ihre Lehrsätze bedarf, während die Statistik voll-
ständig auf der Beobachtung beruht.
Es ist daher unrichtig, die Statistik einen Bestandtheil der Mathe-
matik zu nennen.
Die Statistik als Zweig der StAatsvervaltung. 78
Die mathematische Thätigkeit der Statistik beschränkt sich meisten-
theils, wenn auch nicht immer, auf die einfachsten Functionen. Die Sta-
tistik zählt die in ihrem Beobachtungsgebiete liegenden Erscheinungen; sie
stellt dieselben in Zahlengruppen dar und sucht höchstens noch Procent-
verhältnisse und ähnliche einfache Resultate zu gewinnen. Das „begründet
so wenig einen mathematischen Grundcharakter ihrer Methode und Auf-
gabe, als wir einen Cassier oder Buchführer oder den Handwerker, der
elliptische Tische, cylinderförmige Oefen oder Billardkugeln fertigt, einen
Mathematiker nennen" (Rümelin).
Die Mathematik beruht eben auf der Deduction, die Statistik auf
der Induction.
IL Namentlich ist die Statistik häufig in innigeren Zusammen-
hang mit der sogenannten politischen Arithmetik gebracht worden. Die
politische Arithmetik ist keine selbständige Wissenschaft. Sie ist in erster
Linie Arithmetik, d. h. rein formales Wissen; der politische Stoff steht
in zweiter Linie; er ist nur „zufälliger Inhalt, an dessen Stelle man
ebenso den Inhalt der Naturwissenschaften setzen kann, ohne das Wesen
der Wissenschaft zu ändern" (Jonäk). Die politische Arithmetik benützt
einen Theil des Gegenstandes der Statistik, nicht den ganzen Gegenstand.
Nun ist es aber doch eine bemerkenswerthe Thatsache, dass
III. die neuere Entwickelung der Statistik von der politischen Arith-
metik ausgegangen ist. Dessenungeachtet ist der Kreis derjenigen Auf-
gaben, hinsichtlich welcher sich die beiden Disciplinen heutzutage be-
rühren, ungleich kleiner als der Kreis jener, bezüglich deren sie sich
ausschliessen.
IV. Capitel.
Die Statistik als Zweig der Staatsverwaltung 0-
§. 50. Im Allgemeinen.
Die Statistik arbeitet im Dienste nicht nur der Wissenschaft, son-
dern auch der praktischen Staatsverwaltung.
Beides hängt zusammen, denn jede Verwaltung muss wissenschaft-
liche Grundlage haben. Aber nicht alle statistischen Arbeiten haben für
die Wissenschaft und für die Verwaltungspraxis den gleichen Werth. Je
74 Di« Statistik als Zweig der StaatsTerwaltang.
mehr eine statistische Arbeit nach beiden Seiten hin von Bedeutung ist,
desto grösser ist ihr Werth.
Die Mehrzahl aller statistischen Daten beruht auf amtlichen Erhe-
bungen. Diese aber werden weit seltener aus rein wissenschaftlichen
Beweggründen, als zu praktischen Zwecken angestellt. Die Staatsverwal-
tung ist noch nicht dahin gekommen, die Statistik als Selbstzweck zu
betrachten. Sie nimmt Erhebungen vor, welche ihren Zwecken genügen,
wenig bekümmert darum, ob die Wissenschaft grössere Ausführlichkeit
nach dieser oder jener Richtung hin verlangt.
So beobachtet z. B. die Verwaltung bezüglich der Criminal- und
Gefängnissstatistik: die Zahl der Angeklagten mit Nachweisen über die
Anklage und die Persönlichkeit der Angeklagten, dann die Quantität und
Qualität der Verurtheilungen und Freisprechungen. Die Gefängnissstatistik
zeigt die Zahl, den Ab- und Zugang der Gefangenen, die Zahl der erst-
maligen Bestrafung und der Rückfälle, die Gesundheit, den Unterricht
und die Beschäftigung der Gefangenen, endlich die finanziellen Ergebnisse
der Strafanstalten. Die Wissenschaft würde dazu noch erheben: die Mo-
tive des Verbrechens; den Einfluss der Entlausungen auf die Zahl der.
neubegangenen Verbrechen; also die Nachhaltigkeit der Besserung und
die Gewalt des einmal begangenen Verbrechens über den ganzen Men-
schen; ferner die Beschäftigung und den Verdienst der Bestraften nach
ihrer Freilassung.
Gegenwärtig ist der Verwaltungszweck noch das alleinige Motiv oder
wenigstens die Hauptsache der statistischen Forschung. Wissenschaftliche
Zwecke erscheinen als Nebensache. Es ist dies der Entwickelungsgang
der Statistik. Doch hat sich in einigen Staaten die wissenschaftliche Sta-
tistik für gewisse Dinge Bahn gebrochen. Freilich herrscht oft unmittelbar
daneben der roheste Empirismus. Die Schuld dieser Verschiedenheiten
liegt an dem die Statistik noch so sehr beherrschenden Nützlichkeits-
principe. Von dem Drucke dieses Nützlichkeitsprincips befreit, könnte die
Statistik noch viel Grösseres leisten, als bisher.
Zunächst haben wir es jedoch mit der Statistik im Dienste der
Staatsverwaltung zu thun, von dem wissenschaftlichen Werthe ihrer Lei-
stungen ganz abzusehen.
In dieser Hinsicht sieht die amtliche Statistik ihre Aufgabe darin,
„ein möglichst wahrheitsgetreues Bild von den jeweiligen Zuständen des
Staats und des in ihm sich bewegenden öffentlichen Lebens zu liefern,
und dadurch einerseits die unentbehrlichen thatsächlichen Grundlagen für
die Zwecke der Gesetzgebung und der Verwaltung zu gewähren, anderer-
seits im Volke eine gesunde Anschauung und eine richtige Kenntniss der
öffentlichen Verhältnisse zu verbreiten".
Organisation der amtlichen Statistik. 75
Anmerkung.
*) Im WeseiitÜchen uach den verschied eueu , iu der Zeitschrift des
preussischeu statistischen Bureau niedergelegten Arbeiten EngePs über diesen
Gegenstand.
§. 51. Aufig;abe der amtlichen Statistik.
Die Ansprüche, welche an die amtliche Statistik gemacht werden,
sind fortwährend im Steigen.
Sie soll für die Nationalökonomie und Wirthschaftspolitik das sein,
was dem Physiker sein Apparat, dem Chemiker sein Laboratorium ist.
Für die Politik soll sie eine Art Sternwarte sein, deren Instrumente die
Bewegungen und Zustände des Volkes statt der Bewegungen und Coustella-
tionen der Gestirne beobachten.
Die gut angelegte und geleitete Statistik ist für den constitutionellen
Staat „ein Zeuge, der sich weder einschüchtern noch erkaufen lässt, den
man voll Vertrauen und mit Erfolg befragen kann, wenn man sich Auf-
klärung über die Cultur und die Civilisation der Staaten im Allgemeinen,
wie auch über die Güte einzelner staatlicher Einrichtungen verschaffen
.will, so weit sie sich durch wahrnehmbare, der Statistik zugängliche That-
sachen offenbaren. Als vergleichende Statistik verbreitet sie ein helles
Licht über die materiellen Grundlagen, über die Verwaltung, über die
gesellschaftliche Organisation und die mannigfachen Einrichtungen eines
jeden einzelnen Staates und wird dadurch ein Mittel, um unter den ver-
schiedenen Völkern einen heilsamen und mächtigen Wetteifer anzufachen"
(Engel).
Die amtliche Statistik hat diese Aufgaben hier mehr, dort weniger
vollständig erfasst.
Vor Allem liat sie darauf zu sehen, dass sie nicht bei den ersten
Stadien statistischer Thätigkeit stehen bleibt, d. h. dass sie sich nicht
blos auf die Herstellung riesenhafter Zahlenhaufen beschränkt. Sie muss
vielmehr das statistische Material verarbeiten. Nicht die absoluten Zahlen
sind die wichtigen, sondern die relativen, d. h. die zu anderen Zahlen in
Beziehung gebrachten. Trockene Zahlenhaufen haben von jeher und mit
Recht Abscheu gegen die Statistik hervorgerufen. Kunst und Aufgabe des
Statistikers, des wissenschaftlichen wie des amtlichen ist es, den Zahlen
Leben und Geist einzuhauchen, sie sprechen zu lassen.
§. 52. Organisation der amtlichen Statistik.
Um ihrer Aufgabe zu genügen, muss die amtliche Statistik in ge-
wissem Grade centralisirt sein. Sie kann die Erhebung und Verwerthung
der Beobachtungen aus den verschiedenen Zweigen der Verwaltung nicht
76 Organisation der amtlichen Statistik.
den mit diesen Zweigen beschäftigten Behörden allein überlassen. Denn
diese Behörden können eben nur die einseitigen Thatsachen und Erschei-
nungen gerade ihres Verwaltungszweiges beobachten. Sie können nicht
Thatsachen aus verschiedenen Verwaltungsgebieten gegenüberstellen und
die dabei sich ergebenden neuen Gesichtspunkte verfolgen.
Nur eine centralisirte Leitung der amtlichen Statistik kann den
statistischen Stoff nach allen Seiten hin durcharbeiten und die Methoden
der Behandlung stets vervollkommnen.
Dabei ist freilich eine fortwährende innige Verbindung der centra-
lisirten amtlichen Statistik mit allen Spitzen der Verwaltung im Staate,
und eine vollständige Kenntniss der Bedürfnisse und der verschiedenen
statistischen Mittel der einzelnen Verwaltungsorgane nothwendig.
Die Centralisation der amtlichen Statistik wird durch die statistischen
Bureaux erzielt, d. h. durch jene Behörden, welche speciell die amtliche
Aufgabe haben, Statistik zu treiben, die aus verschiedenen Orten und
von Verschiedenen Behörden ihnen zukommenden, sowie die selbst erho-
benen Materialien zu sammeln, zu ordnen, zu verarbeiten und zu ver-
öffentlichen.
Neben oder über den statistischen Bureaux stehen die statistischen'
Centralcommissionen , zusammengesetzt aus Beamten der verschiedenen
Verwaltungszweige und wissenschaftlichen Theoretikern. Diese Commissionen
sind theils wirklich eingeführt, theils angestrebt. Ihre Aufgabe ist, einen
systematischen Plan zu einer einheitlichen und vollständigen statistischen
Erforschung des ganzen Landes und Volkes zu entwerfen. Lücken der
vorhandenen statistischen Arbeiten sowohl als Ueberflüssigkeiten habe sie
zu bezeichnen. Im Ganzen stellen sie sich als eine fach wissenschaftliche
Ergänzung in der Direction der amtlichen Statistik dar.
Das statistische Bureau und die statistische Centralcommission, wo
eine solche besteht, bilden das Centrum der amtlichen Statistik. Ihre Auf-
gaben sind verschieden, je nachdem die einzelnen Ministerien statistische
Specialbureaux haben oder nicht.
Jedenfalls gehören in den Bereich des statistischen Centralbureau :
die Redaction und Veröffentlichung der allgemeinen Statistik des Staates,
die Volkszählungen, die Darstellung der Bevölkerungsbewegung, die Re-
daction einer statistischen Zeitschrift und statistischer Jahrbücher, Ver-
gleichung der statistischen Erscheinungen des eigenen mit jenen fremder
Staaten u. s. f.
So lange nicht jedes Ministerium sein eigenes statistisches Bureau
hat, muss das Centralbureau die diese Verwaltungszweige treffenden sta-
tistischen Arbeiten über sich nehmen.
Organisation der amtlichen Statistik. 77
Diese organisirte Statistik leistet Besseres mit wenigen Kosten und
in weniger Zeit, als die unorganisirte; zugleich repräsentirt sie tiefere
Wahrheit, grössere moralische Macht.
Während so das statistische Centralbureau (mit der Centralcom-
mission) den Mittelpunkt der amtlichen Statistik bildet, soll dieselbe
auch ihre den ganzen Staat umfassenden thätigen Glieder haben. Ihre
Organisation muss neben der geistigen Centralisation auch räumlich ent-
wickelt sein.
In den Provinzial- oder Kreisregierungen, ferner in den Ver-
waltungsämtern*) muss sie weitere Kreise von Organen haben. Diese
Behörden müssen kleinere Mittelpunkte statistischer Thätigkeit bilden.
Noch kleinere solche Mittelpunkte finden sich in den Ortschaften.
Zwar kann nicht jede Ortschaft amtliche Statistik selbständig pflegen; von
den grossen Städten aber geschieht dies theils jetzt schon, theils ist es
zu erwarten^).
Gewisse Corporationen, welche mit mehr oder weniger amtlichen
Befugnissen ausgestattet sind, können gleichfalls als Glieder der Organi-
sation angesehen werden. Sie treiben aber keine allgemeine, sondern
Specialstatistik.
Solche Corporationen sind zunächst die Handels- und Gewerbe-
kammern. Um mit ihren statistischen Arbeiten in das ganze System der
amtlichen Statistik zu passen, ist es fireilich nothwendig, dass sie alle von
gleicher Eintheilung des Stoffes Gebrauch machen.
In loserer Verbindung mit der amtlichen Statistik stehen die land-
wirthschaftlichen Vereine, ferner die Vereine der socialen Selbsthilfe und
der öffentlichen Wohlthätigkeit. Auch ohne amtliche Bevormundung der-
selben ist eine Thätigkeit und Mitwirkung derselben an der amtlichen
Statistik möglich. Bei der hohen Bedeutung, welche diese Vereine fär das
wirthschaftliche und sociale Leben der Gegenwart gewonnen haben, ver-
sucht man theilweise jetzt schon, sie zu organisiren. Von hohem Werthe
wäre es, durch sie fortlaufende Nachrichten über die materiellen Ver-
hältnisse der arbeitenden Glassen zu gewinnen.
Aumerkuugen.
') So yerlangt z. B. die preussische Regierung ron den Laudrätheu
(unterm 27. Juni 186S) statistische Berichte, folgende Gegenstande umfassend:
Territorium; Physiographische Skizze; Klimatische Verhältnisse; Bevölkerung;
Abzüge und Zuzüge der Bevölkerung; Eheliche und Geburtsverhältnisse; Ge-
sundheits- und Sterblichkeitsverhältnisse; Wohnplätze; Gebäude; Grundeigen-
thum; Ackerbau, Viehzucht, Forstwirthschaft; Bergbau- und Hüttenwesen,
Fabrikindustrie und Handwerk; Handel und Verkehr; Land- und Wasserstrassen;
Verhältnisse der arbeitenden Classen, Abwehr der Verarmung; Wohlthätigkeit
und Armenpflege; Polizei- und Gefängnisswesen; Sanitätsanstalten; Kirchliche
78 Amtliche und FriTaistatistik.
Augelegeiiheiteu; üuterriclitsaiigelegenheiteu; Civil- und Crimiual Justiz; Mili-
tärverhältuisse; Staats- und Proviiizialabgabeii; Kreisverwaltuiig uud Kreishaus-
halt; Gemeiudeyerwaltung uud Gemeiudehaushalt.
*) Auf dem Pariser statistischen Congresse wurde als Norm für die Sta-
tistik grosser Städte folgende Eintheilung des Stoffe empfohlen: Topographie;
Oberfläche; Oeffentliche und Privatgebäude; Wohnungen; Commuuicatioiiswege;
Bevölkerung; Oeffentliche Gesundheitspflege; Consumtionen; Industrie und Han-
del; Municipale Organisation; Municipales Budget; Oeffentliche Vergnügungen;
Oeffentliche Wohlthätigkeit; Institute der Selbsthilfe; Oeffentliche Sicherheit;
Civil- und Crimiual Statistik; Oeffentlicher und Privatunterricht; Gottesdienst. —
Dieser Plan entbehrt inneres System.
§. 53. Amtliche und Privatstatistik.
Alle statistischen Forschungen sind theils anitliche, theils private.
Die amtlichen werden fast ausschliesslich zu Verwaltungszwecken vorge-
nommen; die privaten dagegen theils zu wirthschaftlichen, namentlich zu
Vereinszwecken — so im Bereiche des Versicherungswesens — theils aus
wissenschaftlichem Interesse.
Eines aber bedarf des Anderen. Die amtliche Erhebung kann der
Statistik nicht wissenschaftliche Weihe verleihen; es gibt unzählige Dinge,
in welche sie nicht einzudringen vermag. Umgekehrt fehlt der Privat-
statistik, welche wohl aus wissenschaftlichem Interesse und mit Erfolg
Detailschilderungen zu geben vermag, die weitreichende, einen ganzen
Staat umfassende Macht, welche der amtlichen eigen ist.
Aus diesen Gründen ist es dringend wünschenswerth, dass die amt-
liche und die Privatstatistik Hand in Hand gehe.
So wird namentlich eine organisirte Mitwirkung der Bevölkerung,
eine Belebung der statistischen Verein sthätigkeit als Hilfe der amtlichen
Statistik angestrebt. Diese Thätigkeit muss gleichfalls eine massenhafte
sein; denn die eines Einzelnen kann der amtlichen Statistik nichts nützen.
Die Bevölkerung wird sich freilich zu einer solchen Thätigkeit und
Beihilfe nur herbeilassen, wenn die statistischen Forschungen, um die es
sich handelt, innerhalb des allgemeinen Verständnisses liegen und inner-
halb des öffentlichen allgemeinen Interesses. Zu solcher Mithilfe an der
amtlichen Statistik sind namentlich geeignet die landwirthschaftlichen
Vereine, Gewerbevereine, Handelskammern, die wissenschaftlichen Vereine,
ferner eine Reihe von Personen, welche theils amtlich, theils halbamtlich
oder, wenn auch privat, doch täglich in unmittelbare Berührung mit der
Bevölkerung kommen. So die Geistlichen, die Lehrer, die Gerichts- und
Polizeiärzte, die Thierärzte, die Agenten von Versicherungsgesellschaften,
die Directionen und Vorstandschaften von Sparcassen, Arbeiter- und Hand-
werkervereinen, 'Bildungsvereinen, die Directionen grösserer wirthschaft-
Die Qewinnang des Urmateri&ls. 79
licher Unternehmungen, insbesondere von Eisenbahnen, Bergwerken, grossen
Fabriken.
Jeder dieser Gruppen stellt sich die Bevölkerung unter anderen
Erscheinungsformen dar. Werden die Beobachtungen dieser verschiedenen
Erscheinungsformen vereinigt, so geben sie ein deutliches Bild der Bevöl-
kerung mit ihren verschiedenen Eigenschaften*.
§. 54. Die Zeit der statistischen Erhebungen.
Zu welchen Zeitpunkten und in welchen Perioden sollen die von
der amtlichen Statistik zu erforschenden Thatsachen erhoben, bearbeitet
und veröffentlicht werden?
Diese Zeitpunkte und Zeiträume richten sich nach dem Wesen der
Thatsachen.
Es gibt eine Menge Thatsachen, welche ewig fliessen und deshalb
unausgesetzt beobachtet werden müssen. So z. B. die Geburten und Todes-
falle, Aus- und Einwanderungen, Preise etc.
Andere Thatsachen erfordern nur eine nach längeren Perioden wieder-
kehrende Beobachtung, welche dann doch zu richtigen Ansichten führt.
So z. B. die Zahl der Bevölkerung, der Gebäude, des Viehes, die Ver-
theilung des Boden&, unter die verschiedenen Culturarten etc.
Nach der Beobachtungsperiode aber richten sich die Mittel der
Beobachtung.
Jene Beobachtungen, welche gewissermassen als Inventaraufnahme
erscheinen, sollen nicht allzu rasch aufeinander folgen. Schwierigkeit und
Kostspieligkeit müssen berücksichtigt werden.
Jedenfalls müssen alle Zeiträume in einem einfachen und rationalen
Zahlenverhältniss untereinander stehen.
§. 55. Die Gewinnung des Unnaterials.
Urmaterial nennt die Statistik alles durch die Beobachtung gewon-
nene, rohe, noch nicht weiter verarbeitete Ziffern material. Da das Volks-
leben in seinen verschiedenen Regungen sehr mannigfache Punkte dar-
bietet,, an welchen es von der Massenbeobachtung erfasst werden kann;
da aber fast j^der dieser Punkte anderer Mittel bedarf, um erfasst zu
werden, ist die Gewinnung des statistischen ürmaterials durch die damit
beauftragten Behörden keineswegs flir alle Zweige des Volkslebens die
gleiche. So wird die Zahl und die Gruppirung der Bevölkerung nach ihren
wichtigsten Eigenschaften (nach Alter, Geschlecht, Confession, Stand etc.)
durch Volkszählungen ermittelt; die Bewegung der Bevölkerung (Geburten
Trauungen und Todesfälle, sowie Ein- und Auswanderung) durch Führung
von Civilstandsregistem und durch regelmässige Aufzeichnungen in den
80 Die Fragestellung.
Auswanderungshäfen etc.; die Ziffern der wirthschaftlichen Statistik werden
zumeist durch directe amtliche Fragestellung an die einzelnen Landwirthe,
Gewerb- und Handeltreibende etc. gewonnen, theilweise auch durch die
Volkszählungen. Anderes Urmaterial kann aus schon vorhandenen acten-
mässigen Aufzeichnungen gewonnen werden, so z. ß. die Vertheilung des
Grundeigenthums; die Ergebnisse der Civil- und Strafrechtspflege (aus
den Acten der Gerichte), die Statistik der Verkehrs-, Credit- und Spar-
anstalten aus den Rechenschaftsberichten der Eisenbahnen, Banken etc.;
die Statistik der Ein- und Ausfuhr aus den Aufzeichnungen der Zollbehör-
den; das Material der Gesundheitsstatistik aus den Aufzeichnungen des
amtlichen Sanitätspersonals u. s. f.
Anmerkung.
Vgl. ausführl. bei Block -v. Scheel: Handbuch d. Stat., S. 167 ff. In
den folgenden Abschnitten soll übrigens auch bei jedem einzelnen Gegen-
stande das Wichtigste über die Gewinnung des darauf bezüglichen Urmaterial s
erwähnt werden.
§. 56. Die Fragestellung.
Alles statistische Urmaterial wird durch Fragestellung gewonnen.
Die bezüglichen Fragen werden entweder (wie z. B. bei Volkszählungen,
der Gewerbestatistik etc.) an die Objecte der Statistik selbst gerichtet oder
(wie z. B. bei der Statistik der Rechtspflege) an ein vorhandenes, aber
erst aufzusuchendes und zu sammelndes Ziffernmaterial. Zu diesem Zwecke
hat eine die ganze Beobachtung erhebende, leitende Behörde die Fragen
anzuordnen. Dieselben werden entweder in der Form von Tabellen oder in
der Form von Fragebogen gestellt. Bei den Tabellen ist die Frage in die
Form der Tabellenköpfe gekleidet.
Noth wendig ist hiebei:
I. Die Fragestellung muss allgemein verständlich sein.
U. Die Fragen müssen eine kurze, präcise Antwort hervorrufen;
eine Antwort, die entweder in Ziffern oder mit den Worten Ja — nein"
ausgedrückt werden kann.
III. Womöglich sollten solche Fragen gestellt werden, deren Antworten
controlirt werden können.
IV. Es sollen überhaupt nur solche Dinge gefragt werden, welche
sich auch wirklich verwerthen lassen.
Man soll keine Fragen stellen über Dinge, deren Zahlenverhältnisse
man auch auf andere Weise, etwa durch Rechnung, erfahren kann.
Die Fragestellung erfordert bei der amtlichen Statistik ein mehr oder
weniger organisirtes Hilfspersonal, unter Umständen mehrere Instanzen
eines solchen. In welcher Weise dieses Hilfspersonal organisirt sein soll;
Die Vorarbeitang de.8 Urmaterials. 81
wie zahlreich namentlich jenes Hilfspersonale sein soll, welches unmittelbar
die Beantwortung der gestellten Fragen besorgt; in welchen Fristen die
Antworten erfolgen sollen etc.: dies richtet sich ganz nach den so unge-
mein verschiedenen Gegenständen, mit welchen es die Statistik zu
thun hat.
Aumerkuug.
Besonders ausfüfhrlich findet sich die Fragestellung bei Block - v. Scheel,
a. a. 0., S. 185 ff. behandelt.
§. 57. Die Verarbeitung des Urmaterials.
Das durch die Fragestellung gewonnene Urmaterial muss nun ver-
arbeitet werden. Die theoretischen Gesichtspunkte, nach welchen dies zu
geschehen hat, sind schon oben (§§. 25 — 33) entwickelt worden. Bei den
Erhebungen der amtlichen Statistik ist regelmässig das Urmaterial an be-
antworteten Fragen ein sehr umfangreiches, dessen Verarbeitung fast fabrik-
mässig geschehen muss. Das aus Verzeichnissen, Listen, Zählkarten etc.
bestehende Urmaterial muss zu einem klar übersichtlichen Bild in Tabel-
lenform reducirt und gegliedert werden. Bei einer solchen Gliederung
handelt es sich entweder um Gnippirung der Thatsachen nach ihren
eigenthüinlichen Merkmalen, also um Sonderung derselben nach inneren
Verschiedenheiten, oder um Gnippirung der einfachen oder selbst wieder
der inneren sachlichen Gliederung unterworfenen Thatsachen nach Raum
und Zeit.
Die Ausbeutung des Urmaterials in den statistischen Bureaux ge-
schah früher durch die Strichelung. Diese Methode besteht darin, dass die
durch die Fragestellung und Beantwortung gelieferten Aufzeichnungen, und
zwar jede Thatsacheneinheit derselben, durch einen Strich in der bezüg-
lichen Spalte einer grossen Tabelle eingetragen worden. Wenn das ganze
Urmaterial so durchgearbeitet ist, werden die Striche jeder Spalte oder
jedes Faches gezählt.
Weil aber diese Methode bei combinirteren Arbeiten zu mühsam und
unzuverlässig ist, wendet man für solche Arbeiten (namentlich bei Volks-
zählungen) andere Methoden an, welche rascheres Verfahren gestatten.
Solche Methoden sind die der Zählblättchen und Zählkarten. Beide haben
das gemeinsam, dass jede Thatsacheneinheit, welche durch die Erhebung
geliefert wird, für welche aber eine gewisse Anzahl von Angaben gemacht
ißt, ein besonderes kleines Blättchen erhält. Diese Blättchen werden sodann
nach den Gesichtspunkten, welche den Fächern der herzustellenden Tabelle
entsprechen, in Häufchen sortirt und häufchenweise gezählt *). So bringt
man das Urmaterial in die der Tabelle entsprechende Ordnung. Für die
Haushofer, Statistik. 2. Aufl. (5
82 Die VerOifentlichung der Keealtate.
weitere Behandlung des Tabellenmaterialß gelten die in den §§. 25 — 33
vorgeführten Sätze.
Anmerkung.
*) Ueber den Unterschied von Zählblättchen und Zählkarten vgl. später
die von den Volkszählungen handelnden Bemerkungen.
§. 58. Die VeröflTentlichung der Besultate.
Im Interesse der Wissenschaft sowohl als der Anwendung der Sta-
tistik zu praktischen Zwecken liegt endlich noch eine Veröffentlichung der
gewonnenen Resultate. Da die Beobachtungen grösstentheils vom Staate
angestellt werden, müssen auch die Publicationen durch den Staat erfolgen.
Dabei müssen die gefundenen Daten möglichst vollständig veröffentlicht
und mit einem formell erklärenden Commentar begleitet werden.
Am werthvollsten sind jene Publicationen, in welchen durch die
amtliche Statistik selbst die gefundenen Thatsachen untersucht, den Ursa-
chen und Gesetzmässigkeiten nachgegangen ist. Denn die amtliche Sta-
tistik hat mechanische Arbeitskräfte zur Verfügung, welche für grössere
statistische Arbeiten oft unentbehrlich sind. Diese Unentbehrlichkeit eines
Bureau, eines Schreiber- und Rechnerpersonals ist eine Schattenseite der
wissenschaftlichen Behandlung der Statistik. Sie macht es dem Einzeln-
forscher unmöglich, gewissen Fragen selbständig nachzugehen; er ist viel-
mehr darauf angewiesen, das amtlich gesammelte, zum Theile schon ver-
arbeitete Material weiter zu verarbeiten. Die amtlichen Leiter der Bureaux
aber haben dieses Material zunächst in Händen und übersehen es am voll-
ständigsten. Darum werden auch die bedeutungsvollsten und grossartigsten
Leistungen wissenschaftlicher Statistik stets die Vorstände der amtlichen
Statistik zu Urhebern haben. Dies liegt in der Natur der Sache. Wie in
der Statistik die wissenschaftliche Einzelnbeobachtung zur Massenbeobach-
tung sich erweitert; so hat sich auch der Einzelnforscher zu einer Masse
von Forschern vervielfältigt. Der statistische Gedanke ist gewissermassen
ein Gedanke der ganzen Staatsregierung, welche untergeordneten Organen
die technische und wissenschaftlich gebildeten Bureauvorständen die wis-
senschaftliche Leitung dieses Gedankens überlässt.
In der Statistik ist der Staat zum Gelehrten, zum Schriftsteller
geworden.
Die Publicationen statistischer Resultate nehmen verschiedene Formen
an, verschieden je nachdem
I.'der Staat oder die Privatstatistik als Publicist auftritt;
IL je nachdem das statistische Material in einer früheren oder
späteren Phase seiner Verarbeitung publicirt wird.
Die VüröiFüntlichttng der Resultate. 83
Aumerkuug.
Ueber die Form der amtlichen Publicationen dürfte Folgendes zu bemer-
ken sein:
I. Wünschenswerth ist ein handliches Format der Publicationen, um die-
selben für die Benützung leicht und bequem zu machen;
II. die in der Publication gegebenen Tabellen sollen:
1. Aus sich heraus yerständlich sein, ohne als solche eines ausführlichen
Commentars zu bedürfen;
2. nicht zu lang sein, weil sie sonst an Uebersichtlichkeit yerlieren;
3. auch sonst in jeder Weise übersichtlich gestaltet sein und namentlich
die verschiedenen Zahlen und Zahlengattungen deutlich hervortreten lassen.
III. Ausser den Tabellen ist, wie schon oben angedeutet, ein Commentar
beizugeben, der jedoch nicht die Aufgabe haben darf, die Tabellen erst ver-
ständlich zu machen, sondern der den Inhalt der Publication, die Hauptresul-
tate der Tabellen, Vergleichungen derselben mit den Ergebnissen früherer Jahre
und anderer Länder, Erläuterungen über die betreffenden gesetzlichen Bestim-
mungen etc. enthält.
IV. Die Termine der Publicationen richten sich natürlich nach den Ter-
minen der betreffenden Erhebungen. (Ausführl. hierüber bei Block-v. Scheel,
a. a. 0., Seite 194 ff.)
Zweites Buch.
Bevölkerungsstatistik.
L Abschnitt. Stand der Bevölkerung.
I. Capitel.
Absolute Bevölkerung.
§. 59. Einleitung.
Unter allen Gegenständen der statistischen Forschung ist keiner von
grösserer Bedeutung, als die Bevölkerung.
Die Ursache ist klar.
"Wenn man die Statistik als jene wissenschaftliche Disciplin aufFasst,
welche alles in Massen auflöst und erforscht, so muss jene Erscheinung
für sie das grösste Interesse bieten, welche von vornherein dem Blicke sich
als eine grossartige bewegliche Masse darstellt, deren einzelne Theile selbst
wieder Erscheinungen voll des reichsten Inhaltes und der höchsten Be-
deutung für alle menschliche Forschung sind.
Diese Erscheinung ist die Bevölkerung, d. h. die Gesammtheit der
Menschen auf einem gewissen Territorium.
Was an dieser Erscheinung sich zeigt, bezieht sich zwar nicht auf
den einzelnen Menschen, sondern gilt nur für den mittleren Menschen,
doch ist all das von grosser Bedeutung. Denn gerade die Bevölkerung ist
es, in deren Sein und Leben Naturgesetze und freies menschliches Handeln
geheimnissvoll verbunden zusammenwirken. Gerade hier sind stetige und
wechselnde Ursachen mit einander thätig, gerade hier zeigt sich eine tiefe
Gesetzmässigkeit in den anscheinend willkürlichsten Handlungen. Mit un-
heimlich grossartiger Gewalt wirkt diese Gesetzmässigkeit — der einzelne
überschreitet keck und ungestraft ihre Satzung, aber die Gesammtheit folgt
ihr ohne Murren und Widerstreben durch das Leben und in den Tod.
Diese geisterhafte zwingende Macht fordert unser tiefstes Denken
heraus. Die Bedeutung des Menschen in der Welt und namentlich die
88 Absolute BevOlkerang.
Bedeutung seiner geistigen und sittlichen Kräfte gegenüber dem Naturge-
setze und einer allgemeinen Weltordnung, die Dauer des Menschenge-
schlechts im Sturme der Zeit: das sind die gewaltigen Fragen, zu deren
Studium die Beobachtung der Bevölkerung fährt.
Die Erscheinungen an der Bevölkerung sind aber auch von grosser
praktischer Bedeutung.
Zunächst in Bezug auf Politik. Die Bevölkerung ist Inhalt und Zweck
des Staates; auf ihr beruht seine Macht. Viele und wichtige Staatsein-
richtungen sind durch die Bevölkerung bedingt. Und nicht nur die Zahl,
sondern auch die Beschaffenheit der Bevölkerung, ihre Gruppen und Ver-
schiedenheiten haben politische Bedeutung.
Auch die wirthschaftlichen Beziehungen der Bevölkerung sind von
Wichtigkeit. Die Bevölkerung und ihr Verhältniss zur natürlichen Ge-
staltung des Staatsgebietes ist der lebendige Kern der Volkswirthschaft.
Die Bevölkerung schafft den Volksreichthum, lebt in ihm und blüht
durch ihn.
Drei Haupterscheinungen aber sind es, die an der Bevölkerung beob-
achtet werden müssen:
I. Ihr Stand, d. h. die Zahl der auf einem Gebiete vorhandenen
Menschen.
Der Stand der Bevölkerung ist:
A. Ein absoluter, wenn man blos die Volkszahl ins Auge fasst,
ohne ihr Grössenverhältniss gegenüber anderen Erscheinungen zu berück-
sichtigen.
Diese Zahl bedarf besonderer Auftnerksamkeit hinsichtlich
1. der Mittel und Wege, welche gegeben sind, um sie zu finden.
Sie wird nämlich gefunden:
a) durch blosse Schätzungen oder Berechnungen;
b) durch Zählungen.
2. Hinsichtlich derjenigen Theile der Gesammtbevölkerung, welche
etwa als zusammengehöriges Volksganzes zu nehmen sind. Hier
unterscheidet man :
a) rechtliche und
b) facti sehe Bevölkerung. Diese kann wieder entweder die factische
Bevölkerung zur Zählungszeit oder die factische Bevölkerung mit dauern-
dem Aufenthalte sein.
B. Der Stand der Bevölkerung ist ein relativer, wenn man ihn
anderen Verhältnissen gegenüberstellt. Diese Verhältnisse können die
verschiedenartigsten sein. Am wichtigsten aber ist das Verhältniss der
Bevölkerung zur Grösse ihres Landes (die Volksdichtigkeit) und zur
Productionsfähigkeit desselben.
Sch&tznnfpen der Bevölkerunfp. 89
II. Ihr (Jan g, d. h. die Zu- oder Abnabme dieser Zahl. (H. Abschnitt.)
in. Ihre körperlichen Eigenschaften: Geschlecht, Gesundheit etc.
(m. Abschnitt.)
§. 60. Schätzungen der Bevölkerung.
Da, wo keine Volkszählungen gemacht werden, kann eine Bevölkening
abgeschätzt oder berechnet (?) werden. Dieses Verfahren wurde früher
vielfach angewendet und muss, wo Zählungen mangeln, noch angewendet
werden.
Zur Grundlage solcher Schätzungen macht man Verhältnisse, welche
mit der Volkszahl in irgend einem Zusammenhange "stehen. Solche Ver-
hältnisse sind namentlich: die Zahl der Familien, der Wohnhäuser, der
Feuerstellen, der waffenfähigen Männer, die Zahl der Geborenen und
Gestorbenen, der Ehen, der Betrag gewisser allgemeiner Steuern, die
Consumtion gewisser Lebensmittel. Derartige Schätzungen und Berech-
nungen sind natürlich nur Nothbehelfe. Die unzuverlässigste Schätzung
besteht darin, dass man die Volkszahl wenigstens eines Theiles des frag-
lichen Gebietes ausmittelt und nach ihr die Bevölkerung des ganzen
Gebietes bemisst. Aber selbst von dieser Methode muss man Gebrauch
machen, um z. B. die Bevölkerung von Afrika oder Australien annähernd
zu ermitteln.
Wie sehr solche Schätzungen differiren können, ergibt sich aus einer
Zusammenstellung der Schätzungen der Erdbevölkerung *).
Selbst wo man bei einer Bevölkerungsschätzung eine Thatsache zu
Grunde legt, deren Beziehung zur Volksmenge gewiss ist, bleibt die
Schätzung unsicher genug. Die Thatsache kann falsch dargestellt sein und
fiihrt dann auch zu einem falschen Schlüsse.
Auch die Auffindung des Durchschnittsverhältnisses zwischen einer
solchen Thatsache und der Volkszahl ist immer unsicher. Wenn man
z. B. die Zahl der Wohnhäuser in einem Lande genau kennt, so ist es
doch schwierig, die richtige Durchschnittszahl der Bewohner eines Hauses
für ein ganzes Land aufzustellen, fiir Städte und Dörfer, für reiche und
arme Gegenden. Es ergeben sich aber die grössten Unterschiede, je nach-
dem man 6 oder 10 Einwohner für ein Haus annimmt.
Es finden sich demnach unter den vorhandenen Bevölkerungs-
schätzungen neben manchen kühnen und geistreichen Versuchen auch
ganz grundlose Hypothesen. Bei den meisten solchen Schätzungen handelt
es sich um die Bevölkerungen des Alterthums, namentlich um die Frage,
ob die Staaten des Alterthums stärker oder schwächer bevölkert waren,
als dieselben Gebiete heutzutage sind.
90 Sch&tzuiigen der Bevölkerung.
« Moderne Bevölkerangen sind natürlich leichter zu schätzen. Von
einer auf möglichste Genauigkeit anspruchmachenden Berechnung einer
Bevölkerung kann man dagegen dann sprechen, wenn fiir ein Land eine
Volkszählung vorliegt, die aber schon vor einem oder mehr Jahren statt-
gefunden hat, und wenn auf Grund dieser Zählung und mit Zuhilfenahme
des anderweitig bekannt gewordenen seitherigen Zuwachses der Bevölkerung
deren jetzige Zahl ermittelt wird. Eine derartige Berechnung trifft natür-
lich den momentanen Stand der Bevölkerung noch genauer, als selbst die
letzte Zählung *).
A
nmei
kuugen.
Die Bevölkerung der ganzen
Erde wurde
angenommen von:
Riccioli
im
Jahre
1660 zu
1000
Millionen
Süssmilch
n
T)
1742 „ 950-1000
7)
Voltaire
n
r)
1753 „
1600
r>
Volney
w
r>
1804 „
437
r)
Pinkerton
w
T)
1805 „
700
T)
Fabri
v
V
1805 ,
700
T)
Malte-Brun
n
n
1810 „
640
«
Morse
w
ff
1812 „
766
«
Graberg v. Hemsö
r>
n
1813 „
686
n
Balbi
V
«
1816 „
704
y)
Reichard
T)
n
1822 „
732
n
Hassel
T
r>
1824 „
938
n
Stein
«•
n
1833 „
872
r>
Franzi
n
r>
1838 „
950
T)
V. Rougemont
n
n
1838 „
850
n
Omalius d'Halloy
V)
r>
1840 „
750
n
Bemoulli
n
n
1840 „
764
n
Y. Roou
Tfi
V
1840 „
864
T)
Berghaus
n
n
1842 „
1272
V)
Balbi
n
r>
1843 „
739
rt
Kolb
r>
•n
1868 „
1270
•n
Dagegen hatte der Verfasser der Univers. History of the world i. J. 1737
der Erde eine Bevölkerung von 5000 Millionen angerechnet (Wappäus).
Die zuverlässigste Berechnung der neueren Zeit ist jedenfalls die von
Behm und Wagner, welche für d. J. 4880 die Summe von 1456 Mill. Seelen
annimmt.
*) Da in den statistischen Handbüchern die absolute Volkszahl, wie sie
sich nach den vorhandenen Zählungen und Schätzungen darstellt, eiue grosse
Rolle spielt, sollen die Zahlen hier wenigstens aumerkuugsweise erwähnt wer-
den, wobei, um eine spätere Wiederholung der Ländernamen zu vermeiden,
auch der Flächeninhalt der Gebiete angegeben ist. Bevölkening und Flächen-
inhalt betragen nach Behm und Wagner (Ergänzungshefb Nr. 62 zu Petermann*'s
Mittheilungen) in:
Schätzungen der Bevöllcernng. 91
Flächeninhalt Be-
in □Kilom. völkerung
I. Europa (ohne Island, Nowaja-Semlja) 9,710.340 315,929.000
Deutsches Reich (Zählung von 1875) ...... 539.813 48,727.360
(Zählung y. Dec. 1880) 45,194.167
Oesterreich-Ungarn (1876) 622.836 37,342.000
(Schätzung für 1879) 38,000.000
Liechtenstein (1880) 178 9.124
Schweiz (1878) 41.389 2,792.264
Belgien (1878) 29.455 5,476.668
Niederlande (1878) 32.971 3,981.887
Luxemburg (1875) 2.587 205.158
Dänemark (1878, ohne Island und die Far-Öer) . 38.302 1,940.000
(hiezu die Far-Öer) 1.332 11.000
Schweden (1878) 442.818 4,531.863
Norwegen (1876) 318.195 1,806.900
Grossbritannien und Irland (1871, eingerechnet die
Inseln in den brittischen Gewässern, sowie
Soldaten und Matrosen ausser Landes) . . . 314.951 34,517.000
Frankreich (1876) 528.577 36,905.788
Spanien (1877, ohne Canarische Inseln) .... 500.443 16,333.293
„ (mit denselben und den Presidios in Nord-
afrika) 508.066 16,625.860
Portugal (1878, mit Azoren ohne Madeira) . . . 92.013 4,612.903
Italien (1878) 296.322 28,209.620
Griechenland (1879) 51.860 1,679.775
Monaco 15 5.741
San Marino 62 7.816
Andorra 385 12.000
Rumänien (Schätzung) 129.947 5,376.000
Serbien (Schätzung) 48.657 1,589.650
Montenegro (Schätzung) 9.475 286.000
Türkei und Ostrumelien (Schätzung) 214.862 5,713.000
Bulgarien (Schätzung) 63.865 1,965.500
Bosnien und Herzegowina 60.484 1,187.879
Helgoland . 0*5 1.913
Gibraltar 5 25.143
Inselgruppe von Malta 369 152.553
II. Asien 44,572.250 834,707.000
Sibirien 12,469.524 3,440.362
Centralasien 3,984.400 7,682.000
(Hierunter russisches Centralasien) (3,324.096) (4,401.876)
Vorderasien 7,569.644 38,021.000
(Hievon die asiatische Türkei) (1,889.055) (16,132.900)
(Hievon Persien) (1,648.195) (7,000.000)
China (eigentliches) 4,024.690 404,946.000
Nebenländer v. China . 7,789.060 29,680.000
92 Sch&izungen der BeTOHreruag.
Flächeninhalt Be-
iu □Kilom. völkerung
Hongkong 83 139.144
Macao 12 77.230
Japan . .' 379.711 34,338.404
Vorderindien 3,835.659 244,215.000
Hinterindien 2,167.440 36,963.000
Ostindische Inseln 2,002.611 35,205.000
III. Australien und Polynesien 8,953.727 4,031.000
(Hievon das Festland mit zubehörigen Inseln) 7,627.832 2,063.921
IV. Afrika 29,909.444 205,679.000
(Hierunter Aegypten) 1,021.354 5,586.280
(Hierunter ägyptische Nebenländer) .... 1,965.561 11,833.700
V. Amerika 38,389.210 95,495.500
Nordamerika 19,845.121 60,248.000
(Hierunter Brittisch Nordamerika) 8,301.506 3,678.096
( „ Vereinigte Staaten) 9,272.449 47,000.000
( „ dieselben nach neuester Zählung,
1880) 50,152.559
(Hierunter Mexico) 1,921.240 9,389.461
Centralamerika (mit Panama) 547.308 2,759.200
Westindische Inseln 244.478 4,412.700
Südamerika 17,752.303 28,075.600
(Hierunter Brasilien, 1872) 8,337.218 11,108.291
Venezuela (1873) 1,137.615 1,784.197
Columbia ohne Panama (1870) 748.850 2,774.000
Ecuador (1878) 643.295 1,146.000
Peru 1,119.941 3,050.000
Bolivia 1,297.255 2,325.000
Chile (1878) 321.462 2,400.000
Argentina mit Patagonien (1869) 3,051.706 2,400.000
Uruguay (1877) 186.920 447.000
Paraguay (1876) 238.290 293.844
VI. Polarländer (einschliesslich Grönland und Island) 3,859.400 82.000
(HieYon Grönland) 2,169.750 10.000
Island und Jan Mayen . . ; 105.198 72.000
Da die obigen Angaben vorzugsweise den geographischen Zusammenhang
berücksichtigen und ausserdem bei einzelnen der wichtigsten Staaten noch
weitere Detaillirung erwünscht ist, dürften noch folgende Ziffern angeführt
werden :
I. Die einzelnen Staaten des Deutschen Reiches nach der Zählung
von 1880.
Flächeninhalt in GKilom. Bevölkerung
Preussen 347.509 27,251.067
Bayern 75.863 5,271.516
Sachsen 14.992 2,970.220
Württemberg 19.503 1,970.132
Sch&izangen der BeTölkernng.
93
Elsass-Lothi'iugeii . . . . .
Baden
Hessen
Mecklenburg-Schwerin . . .
Hamburg . . .
Braunscbweig
Oldenburg
Sachsen- Weimar
Anhalt
Sachsen-Meiniugeu . . . . *
Sachsen-Coburg-Gotha , . .
Sachgen-Altenburg
Bremen
Lippe (Detmold)
Mecklenburg-Strelitz . . . .
Reuss j. L
Schwarzburg-Rudolstadt . .
Schwarzburg-Sondershausen
Lübeck
Waldeck
Reuss ä. L
Schaumburg-Lippe
Flächeninhalt in nKilom.
k.511
;.083
f.679
1.303
409
t.690
L399
3.593
1.347
1.468
.967
.321
255
.188
L929
829
942
862
282 •
.121
316
443
14.1
15.(
7.(
13.J
4
3.(
6.:
3.{
2.:
2.^
1.-
1.:
1.
2.1
1.
Bevölkerung
1,571.971
1,570.189
936.944
576.827
454.041
349.429
337.454
309.503
231.747
207.147
194.479
155.062
156.229
120.216
100.269
101.265
80.149
71.083
63.571
56.548
50.782
35.332
IL Die Länder von Oesterreich-Ungarn, mit den vorläufig officiellen
Ergebnissen der Volkszählung v. 31. Dec. 1880.
Flächeninhalt in GKilom.
Bevölkerung
f Oesterreich u.
d.
Enns .
19.824
2,329.021
Oesterreich o.
d.
Enns .
11.996
760.879
Salzburg .
7.165
163.566
^
Steiermark .
.
22.454
1,212.367
Kärnten . .
10.373
348.670
Krain . . .
.
9.988
481.176
9
Görz und Gradi
Triest ....
ika . .
. . . . . 2.953
210.241
f
93
144.437
Istrien . . .
4.941
295.854
Tirol . . .
26.724
805.326
i
Vorarlberg
2.602
107.364
g
Böhmen . .
51.955
5,557.134
-g
Mähren . .
22.229
2,151.619
565.772
\$
Schlesien
5.147
Galizien . .
78.477
5,953.170
Bukowina .
10.451
569.599
Dalmatien .
12.829
474.489
Summe (incl. Bruchtheile) . 300.208
22,130.684
94 Schätzungen der Bevölkerung.
Flächeniuhalt in QKilom. Bevölkerung
Ungarn-Siebenbürgen (1876) . ., 280.430 13,670.624
Fiume (1876) ' 19 18.178
Croatien-Slavonien (1876) .... 23.263 1,124.180
Grenzgebiet (1876) .... . . . 18.914 693.733
Summe . 322.628 15,506.715
Hiezu kommt noch ein Theil der nicht ganz eingerechneten Militärbe-
völkerung (1876) der diesseitigen Reichshälfte (mit ? Seelen), der ungarischen
Länder mit 92.100. Hieraus berechnet sich eine Gesammtbevölkerung von rund
38 Millionen.
Flächeninhalt in [QKilom . Bevölkerung
in. Brittisches Reich.
England und Wales (1879) 151.020 25,165.336
Schottland (1879) 78.895 3,627.453
Irland (1879) 84.252 5,363.324
Inseln in den brittischen Gewässern (1879) 783 145.000
Soldaten und Matrosen ausser Landes (1879) 216.000
Summe . 314.951 34,517.000
Hiezu: Indien und Ceylon (1878) .... 2,393.177 193,851.000
Colonien und Besitzungen (1878) . . . . 18,668.841 11,674.130
21,376.969 240,042.130
IV. Russisches Reich.
1. Europäisches Russland (1870) 4,909.193 65,864.910
Königreich Polen (1872) 127.316 6,528.017
Zuwachs in Bessarabien 8.480 127.000
2. Grossherzogthum Finnland (1877) . . . 373.536 1,968.626
3. Kaukasusländer 439,187 5,391.744
Zuwachs in Armenien 25.769 ?
4. Sibirien (1873) 12,495.109 3,440.362
5. Centralasien . 3,324.095 4,401.876
21,702.688 87,722.500
V. Frankreich.
Europäisches Frankreich (1878) 528.577 36,905.788
Algerien 318.334 2,867.626
Colonien 204.852 2,669.308
Schutzstaaten 91.832 922.100
VI. Spanien.
Das Festland nebst den Balearen und Cana-
rieu (1877) 507.715 16,623.384
Colonien 304.295 8,291.450
VILPortugal
Königreich nebst Azoren und Madeira (1878) 92.828 4,745.124
Auswärtiger Besitz 1,823.571 3,247.637
VIII. Niederlande.
Königreich (1878) 32.972 3,981.887
Yolkszählungen. 95
Flächeninhalt iu nKilom. Bevölkeniug
Colouieu: 1. Java und Madura 134.607 18,515.414
2. Uebrige ostind. Besitzungen 1,500.000 (?) 8,000.000 (?)
3. Surinam 119.321 68.531
4. Nieder). Antillen 1.130 41.870
§. 61. Volkszählungen ').
Mit vollster Genauigkeit kann die absolute Bevölkerung eines be-
stimmten Gebietes nur durch eine Volkszählung ermittelt werden. Dies
ist heutzutage allgemein anerkannt. Doch werden Zählungen des Volks
keineswegs in allen Staaten vorgenommen und auch nicht überall mit
gleicher Sorgfalt.
In Aegypten »befahl schon 500 v. Chr. König Amasis, dass jeder
Bewohner sich jährlich dem Ortsvorstand vorzustellen habe, um Namen,
Beruf und Unterhaltsmittel anzugeben.
Imposant war die Ausbildung der Volkszählung bei den alten Juden.
Jakob zog mit 70 Angehörigen zum Joseph nach Aegypten, 430 Jahre
später kehrten 600000 Männer und Jünglinge von dort zurück. Die Zäh-
lung am Berge Sinai ergab 603550 Männer und Jünglinge, ausschliesslich
der Leviten. Nach vierzigjähriger Wüstenfahrt war die Zahl, auf 601000
geschmolzen. Die Zählung König Davids 640 nach der Einwanderung in
Aegypten ergab ohne die Stämme Levi und Benjamin 3,757000 Seelen.
Alle Zählungsverordnungen, die sich im alten Testamente finden, zeugen
von Sicherheit und Vollendung dieses Geschäftes und hingen wohl zu-
sammen mit dem eigenthümlichen mathematischen Talent der chaldäischen
Völker.
Volkszählungen, welche regelmässig wiederholt werden, sogenannte
periodische Zählungen sind zuverlässiger, als solche, die nur bei ein-
zelnen Veranlassungen oder zu bestimmten Regierungszwecken vorgenommen
werden. So haben namentlich bei den für Steuer- oder Recrutirungszwecke
angeordneten Zählungen viele ein Interesse daran, sich der Zählung zu
entziehen. Die Bevölkerung mancher französischer Städte z. B. wurde
Jahre lang von den Gemeindebehörden systematisch falsch angegeben, um
eine höhere Steuer zu verhüten.
Die periodischen Zählungen dagegen haben die Vortheile, dass das
Zählungsgeschäft mit grösserer Uebung, verbesserten Einrichtungen und
genauerer Controle vorgenommen werden kann.
Solche periodische Volkszählungen gehören erst der neueren Zeit an.
In Schweden wurde schon seit 1775 alle fünf Jahre ein amtlicher Bericht
über die Volkszahl verfasst, zwar nicht auf eine eigentliche Zählung,
96 Yolkszahlusgen.
sondern auf die Listen der Geistlichen über die Bewohner ihrer Kirch-
spiele begründet.
Die Vereinigten Staaten von Nordamerika, deren Bevölkerung in
der Bevölkerungswissenschaft eine hervorragende Rolle spielt, gingen mit
eigentlichen Zählungen voran. Ihre Constitution von 1787 schreibt einen
zehnjährigen Census vor, der auch seit 1790 alle zehn Jahre ausgeführt
wurde, namentlich um die Zahl der Repräsentanten im Congress für die
einzelnen Staaten zu bestimmen und gewisse directe Steuern unter die
einzelnen Staaten zu vertheilen.
In England werden zehnjährige Zählungen seit 1801 vorgenommen,
in Norwegen, den Niederlanden, Dänemark ebenfalls alle zehn Jahre, in
Schweden und Frankreich alle fiinf Jahre, in Oesterreich seit 1857 alle
sechs Jahre und im deutschen Zoflverein alle drei Jattre.
Aumerkuug.
') Eiuiges aus der Literatur der Zählungen:
Die Protokolle der statistischen Congresse.
E. Engel: Die Methoden der Volkszählung. Zeitschr. d. preuss. stat.
Bureau. 1861.
Derselbe: Die Volkszählung und ihre Stellung zur Wissenchaft. Ebenda-
selbst. Jahrg. 1862.
Derselbe: Actenmässige Darstellung der Vorbereitung zur Volkszählung
von 1867. Ebend. 1867.
V.Hermann: Die Volkszählung in Bayern 1864. XIII. Heft der Beiträge
zur Statistik in Bayern. 1865. ü. a.
G. Mayr: Die Volkszählung in Bayern 1867. XX. Heft der Beiträge zur
Stat. V. Bayern. 1868.
A. Fabricius: üeber Volkszählungen, Jahrbuch f. Nationalökonomie und
Statistik. 1866.
A. Fabricius: Die Volkszählung im Norddeutschen Bunde vom 3. De-
cember 1867.
Derselbe : Bericht über die Fortschritte der Bevölkerungsstatistik. Behm''s
geogr. Jahrb. 1868.
Derselbe : Zur Theorie und Praxis der Volkszählungen. Zeitschr. d. preuss.
stat. Bur. 1868.
Derselbe: Die Beschlüsse des stat. Congresses in Florenz etc. Tübinger
Staatsw. Zeitschr. 1868.
G. F. Knapp: Das Verfahren bei der preussischen Volkszählung etc.
Zeitschr. d. preuss. stat. Bur. 1867.
Chr. Ficker: Volkszählung. Statistisch-administrative Vorträge etc. 1867.
G» V. Scheel: Zur Technik der Volkszählungen. Jahrb. für Nat. und
Stat. 1869.
Hindernisse und Schwierigkeiten der Volkszfthlungen. 97
§. 62. Hindernisse und Schwierigkeiten der Volkssählnngen.
Ein Hinderniss der Volkszählungen sind ihre Kosten, die grossen
erforderlichen Vorbereitungen. So kostete z. B. die belgische Volkszählung
von 1846 612.600 Fr. Je kürzer die Zählungsperioden sind, desto mehr
sind natürlich diese Kosten zu berücksichtigen. Seltenere Zählungen dürfen
theurer sein als häufige und können deshalb gründlicher angestellt werden.
Dieses Hinderniss ist indessen nicht im Wesen der Zählung selbst
zu suchen wie andere.
Die grösste Schwierigkeit bei den Volkszählungen liegt darin, dass
kein Individuum übergangen und keines mehrfach gezählt werden darf.
Die Ausfiihrung dieses Grundsatzes macht am meisten zu schaffen. Je
lebhafter der Verkehr, je dichter die Bevölkerung, desto sorgsamer ist
auf diesen Grundsatz zu achten.
Man hat als sicherstes Mittel dagegen eine an einem einzigen Tag
im ganzen Lande vorzunehmende Zählung angewendet. Eine solche Zählung,
welcTie 1851 in England stattfand, erforderte allein 30610 Zähler.
Ausserdem werden in mehreren Ländern die einzelnen Gezählten
mit Namen in den Listen vorgeführt, um dadurch Doppelzählungen zu
verhindern.
Das aber lässt sich doch nicht verhindern, dass Jemand nicht ge-
zählt werde. Man lebt, auch ohne gezählt zu werden — Grund genug,
um kein Interesse an der Zählung zu haben.
Vielfach auch ist das Volk den Zählungen abgeneigt. Häufig meint
man, die Zählung geschehe nur, um eine neue Last den Gezählten auf-
bürden zu können, ein Misstrauen, welches namentlich im südlichen
Europa; sehr verbreitet ist. Deshalb kann man annehmen, dass jede Volks-
zählung die Zahl geringer angibt, als sie in Wirklichkeit ist, namentlich
in politisch bewegter Zeit.
Eine andere Schwierigkeit der Volkszählungen liegt darin, dass man
durch sie häufig auch andere Verhältnisse als die einfache Volkszahl
erfahren will. Diese anderen Verhältnisse sind allerdings mit dem Begriff
der Bevölkerung theilweise im innigsten Zusammenhange. So namentlich
der Unterschied von rechtlicher und factischer Bevölkerung.
Eine wichtige Frage ist femer die, ob die Zählungen alle Personen
und Classen der Bevölkerung umfassen oder blos einige, während die
anderen nach anderweitigen Ermittelungen oder Schätzungen gefunden
werden. So wurden z. B. lange in Russland bei den sogen. Revisionen
blos die steuerpflichtigen Männer gezählt, während die nicht steuer-
pflichtigen Männer und das ganze weibliehe Geschlecht nur in einer Art
Schätzung dazu geschlagen wurden. Auch die österreichischen Zählungen
Hanshofer, StaÜstik. 2- Aufl. 7
98 Inhalt der Yolkszalilungon.
waren bis zum Jahre 1850 kaum vollständiger. So waren z. B. in Ungarn
Adel und Clerus von den Zählungen (die zu Steuerzwecken vorgenommen
wurden) ausgenommen.
§. 63. Inhalt der Volkszählungen.
Die Volkszählungen der neueren Zeit suchen neben der Zahl auch
die Beschaffenheit der Bevölkerung zu ermitteln, sind daher nicht blosse
Zählungen, sondern eigentlich Volksbeschreibungen. Durch sie werden die
Eigenschaften der Bevölkerung quantitativ bestimmt. Zu diesem Zwecke
soll eine gute Volkszählung folgende Eigenschaften zu ermitteln suchen:
I. Das Geschlecht. Da es nur zwei gibt, ist die Ermittelung leicht.
U. Das Alter. Bei der Erhebung desselben sollten Altersgruppen
gebildet und dabei das Jahr als Einheit angesehen werden. Die gezählten
Individuen sind dann nach Gruppen zu ordnen, welche je um ein Jahr
aufwärts steigen.
III. Die körperliche Beschaffenheit. Bezüglich derselben kann
man bei den Zählungen nur den Sinnesmangel erfassen, alles andere nur
ungenau.
IV. Die geistige Beschaffenheit. Die Zahl der Blödsinnigen
und jene der Irrsinnigen (mangelnder und zerrütteter Verstand), ihre Zu-
oder Abnahme ist von Wichtigkeit; ihre Angabe sollte in Volkszählungs-
listen nicht fehlen. Wo aber die Angehörigen dieser Unglücklichen deren
Zustand angeben sollen, wird die angegebene Zahl begreiflicher Weise
hinter der AVirklichkeit zurückbleiben.
V. Das Religionsbekenntniss. Die Erhebung durch die Volks-
zählung ist einfach und ungehindert.
VI. Der Familienstand, d. h. jene Verhältnisse des Gezählten,
welche in der Ehe und der Familie wurzeln. Ruft er dem Befragten einen
Makel ins Gedächtniss, z. B. uneheliche Geburt, so eignet er sich nicht
zur Erhebung durch die Zählung. Dagegen wird jedermann unbedenklich
angeben, ob er ledig, verheirathet, verwitwet sei u. s. f. Die Thatsachen,
welche dadurch zifi'ernmässigen x\usdruck gewinnen , sind höchst be-
deutungsvoll.
VII. Stand, Beruf, Erwerb und Vermögen. Es ist*nicht ganz
leicht und einfach, diese Eigenschaften der Gezählten zu erheben. Man
muss zu diesem Zwecke sämmtliche Berufszweige, die es gibt, classificiren.
VIII. Arbeits- und Dienstverhältniss.
IX. Die Art des Aufenthalts. Hievon im nächsten Paragraph.
X. Sprache und Nationalität. Beide sind bis zu einem gewissen
Grade gleichbedeutend. Die Nationalität ist schwer zu erheben, wenn man
sie nicht mit der Sprache in Verbindung bringt.
Rechtliche and factische Bevölkeruiig. 99
§. 64. Bechtliche und factische Bevölkerung.
Je nachdem man bei Volkszählungen von einem rechtlichen oder
einem thatsächlichen Gesichtspunkte ausgeht, unterscheidet man:
I. Rechtliche Bevölkerung, d. i. Angehörige des zählenden Staates
(population de droit).
Will man sie in Erfahrung bringen, so müssen alle Staatsangehörigen
gezählt, alle anderen Bewohner des Staatsgebietes ausgeschlossen werden.
So müssen alle im Lande anwesenden Fremden ausgeschlossen werden;
nicht nur die, welche vorübergehend, auf der Reise, in WiitliÄiäusem
sich aufhalten, sondern alle, die nicht im Staatsverbande sind. Es müssen
dagegen alle im xluslande befindlichen Staatsangehörigen, die noch im
Staatsverbande sind, mitgezählt werden. So namentlich abwesende See-
leute, Reisende.
IL Factische Bevölkerung, d. i. die Summe der auf dem Staats-
gebiet befindlichen Menschen. Sie ist wieder:
A. Factische Bevölkerung im engeren Sinne, d. h. jene Personen,
welche zur Zeit der Zählung im Lande anwesend sind (residence
eifective). Hier müssten auch mitgezählt werden alle Fremden, welche
auch nur auf kurze Zeit in Wirthshäusern wohnen. Bezüglich ihrer kann
man annehmen, dass, wenn sie auch schon am nächsten Tage abreisen,
sie durch andere ersetzt werden. Hier müssten z. B. alle auf den Schifi^en
in Häfen und Gewässern des Staats befindlichen Seeleute mitgezählt
werden, gleichviel welchem Staate sie angehören. Dagegen müssten alle
auch nur auf ganz kurze Zeit im Auslande befindlichen Staatsangehörigen
ausgeschlossen werden.
B. Die Summe derjenigen Personen, welche zur Zeit der Zählung
ihren regelmässigen Aufenthalt im Lande haben (residence habituelle).
Also die Bevölkerung mit dauerndem Aufenthalt. Sie besteht
aus der factischen Bevölkerung, aber mit Hinzurechnung der vorüber-
gehend Abwesenden und mit Abrechnung der vorübergehend Anwesenden.
Die Unterschiede zwischen der rechtlichen, der factischen und der
Bevölkerung mit dauerndem Aufenthalt sind von Bedeutung, besonders
hinsichtlich der Schwierigkeiten beim Zählungsgeschäfte.
l. Die Ermittelung der factischen Bevölkerung macht wenig
Schwierigkeiten. Jene Personen, welche die Nacht in Häusern zubringen,
werden vom Hausbesitzer aufgezeichnet; Schiffe im Hafen behandelt man
wie Wohngebäude; Reisende werden entweder an einer bestimmten Station
oder da, wo sie am Morgen absteigen, gezählt. Die etwa im Freien
Campirenden muss die Polizei zählen.
7*
100 Rechtliche und factische BeTDikerung.
2. Die Bevölkerung mit dauerndem Aufenthalte ist ßchwierige^* zu
ermitteln. Zunächst kommt es darauf an, was man unter dauerndem
Aufenthalt versteht. Gewiss kann man nichts anderes darunter verstehen,
als jenen Ort, wo Jemand den grössten Theil seiner Zeit zubringt. Da
das Jahr Grundlage der Zeitmessung für die Statistik ist, so wird Jemand
seinen dauernden Aufenthalt da haben, wo er den grösseren Theil des
Jahres hindurch sich aufhält. Jene, die überhaupt keinen dauernden
Aufenthalt haben (die nicht wenigstens 6 Monate im Jahre an einem
bestimmten Orte sich aufhalten), d. h. die sogenannte population flottante,
z. B. Hausirer, wandernde Schauspieler, zählt man am besten am augen-
blicklichen Aufenthaltsorte.
3. Die Aufnahme der rechtlichen Bevölkerung ist am schwierigsten.
Die im Inland befindliche oder nur vorübergehend abwesende rechte
liehe Bevölkerung ist leicht zu ermitteln; schwer aber jene Personen,
welche rechtlich dem zählenden Staat angehörend, dauernd sich im Aus-
lande befinden, namentlich dann, wenn dieselben keine Angehörigen
zurückgelassen haben, von welchen sie verzeichnet werden können. Die
Gemeindevorstände des Heimathsortes und die Gesandtschaften und
Consulate müssen hier die Nachforschungen anstellen, deren Resultate
aber stets unsichere sind. Je grösser der Verkehr eines Staats mit einem
anderen ist, desto weniger lässt sich eine solche Zählung richtig durch-
führen. Abgeschlossenheit des Staats und der Nationalität erleichtert sie.
Ob man die rechtliche, die factische oder die Bevölkerung mit
dauerndem Aufenthalte ermittelt: das ist von sehr verschiedener Be-
deutung. Und zwar richtet sich diese Bedeutung nach dem Zwecke,
welchem die Zählung dienen soll.
I. Die rechtliche Bevölkerung muss man kennen, wenn die Volks-
zahl als der Maassstab erscheint, nach welchem die politischen
Rechte und Pflichten auf die einzelnen Provinzen, Kreise und Bezirke
sich vertheilen, wenn es sich also z. B. darum handelt, wie viel Ab-
geordnete ein Wahlbezirk in die Volksvertretung zu senden hat.
II. Die Bevölkerung mit dauerndem Aufenthalte zu kennen ist
von Wichtigkeit, wenn es sich darum handelt, aus der Volkszahl auf
gewisse allgemeine Verhältnisse des Landes zu schliessen, und zwar
solche Verhältnisse, welche eben durch die Bevölkerung mit dauerndem
Aufenthalte bedingt werden, z. B. die Productionsfähigkeit, die Zahl der
Geburten, Trauungen und Sterbefalle, die körperliche und geistige Be-
schafi^enheit des Volks.
ni. In anderen Fällen ist die factische Bevölkerung von grösserer
Bedeutung; da nämlich, wo es sich darum handelt, mit der Volkszahl
solche Thatsachen zu vergleichen, welche nicht von der Dauer des
Die Methoden der VolkszaWüflg. :; •*-••:"-:- : 101
Aufenthalts abhängen. So namentlich die Consumtion. Sie wird durch
die vorübergehend Abwesenden eben so stetig vermindert, als durch die
vorübergehend Anwesenden vermehrt.
Daraus ergibt sich, dass bei Bevölkerungsaufnahmen verschiedene
Gesichtspunkte in Betracht kommen. Am günstigsten für den Statistiker
ist es ofiPenbar, wenn er jene Bevölkerung sich auswählen kann, welche
seinen Forschungszwecken entspricht. Am wenigsten wichtig erscheint die
rechtliche Bevölkerung, am wichtigsten die mit dauerndem Aufenthalte ^).
Die einseitige Durchführung einer Zahlung der factischen Bevöl-
kerung i. e. S. wird dadurch gefährlich, dass diese Zählungen ausser der
Seelenzahl zugleich auch besondere Verhältnisse der Bevölkerung ermit-
teln wollen. So z. B. die Vertheilung der Bevölkerung nach Alter, Ge-
schlecht, Beruf und Confession — Verhältnisse, welche aber nicht den
BegriflF einer blos ordnungslos zusammengehäuften, sondern einer organisch
und politisch verbundenen Menschenzahl voraussetzen. Wollte man daher
bei Ermittlung der factischen Bevölkerung solche Verhältnisse ermitteln,
so erhielte man verzerrte Bilder der wirklichen Zustände.
Aumerkuug.
*) Der iuteniatiouale statistische Cougress zu Berlin hat deu Beschluss
gefasst: „Um eine Volkszählung zu gewinnen, welche allen Bedürfnissen der
Verwaltung entspricht, ist es unerlässlich, nicht blos die factische Bevölkerung
zu zählen, sondern auch die rechtliche jeder Gemeinde und Provinz. Es ist
dazu nöthig, ein Criterium aufzufinden, welches gestattet, aus den Elementen
der gezählten factischen Bevölkerung auf die gleichzeitige rechtliche zu
schliessen.^ Der Congressbeschluss hat demnach die dritte Art der Bevölkerung,
die mit dauerndem Aufenthalt, noch nicht als besondere genommen und den
anderen beiden gegenübergestellt. Die Berliner Sitzungsperiode ist von beson-
derer Bedeutung für den Unterschied zwischen rechtlicher und factischer (im
weitereu Sinne) Bevölkerung; in ihr namentlich die Reden von Correnti und
Fabricius.
§. 65. Sie Methoden der VolkszShlang.
Die Volkszählung selbst kann in verschiedenen Formen ausgefiihrt
werden. Die wesentlichsten sind
I. Construction der Zählung aus Einwohnerlisten.
II. Protokollarische Zählung, d. h. die protokollarische Verneh-
mung der Familienhäupter über ihre Angehörigen, respective der Haus-
besitzer über ihre Hausbewohner, in Gemeindeversammlungen.
HI. Die individuelle, aber nicht namentliche Zählung von Haus
zu Haus durch Ortstabellen.
IV. Die individuelle und namentliche Zählung von Haus zu
Haus durch besondere Zähler mittelst Anwendung von Hauslisten.
102 - ".••••;: iJje Ä«tilod«ii der Volkszählung.
^- ^ j' » * • •••••• • »
V. Die individuelle und namentliche Zählung von Haushalt zu Haus-
halt durch besondere Zähler mittelst Anwendung von Haus halt listen
oder von
VL Zählkarten.
Die zwei letztgenannten Methoden verbinden mit möglichst grosser
Genauigkeit die grösste Vollständigkeit und Schnelligkeit. Es erhält dabei
jede Haushaltung eine besondere Liste oder eine Quantität von Zählkarten
(s. u.), welche von besonders hiezu instruirten Zählern in die Häuser ge-
geben werden. Am Zählungstage nehmen diese Zähler die Listen oder die
Zählkarten wieder in Empfang, die Einträge prüfend und corrigirend, oder
selbst besorgend.
Da diese vorzüglichsten Zählungsmethoden mit sehr grossen Kosten
verknüpft sind, wenn die Zähler besoldet werden, so ist es eine wichtige
Aufgabe, die Bevölkerung selbst zur willigen und gewissenhaften Mitwir-
kung an das grosse Werk der Volkszählung heranzuziehen. Die Zusam-
menstellung und Ordnung des Wissens von Volkszuständen muss Sache
des Volkes selbst werden. Zu diesem Zwecke muss die Volkszählung als
eine Handlung von höchstem nationalem Interesse dem Volke verkündet,
nicht wie eine gewöhnliche polizeiliche Massregel behandelt werden.
Die durch diese Art von Zählung gewonnenen Haushaltungslisten
(oder Zählkarten) sind Grundlage der Volkszählung und Volksbeschrei-
bung. Zu ihrer Controlirung sind die Hauslisten erforderlich, welche auch
Fragen über die Beschaffenheit der Häuser enthalten können, über Land-
wirthschaft und Viehhaltung.
Die Hauslisten ihrerseits werden wieder durch Ortslisten controlirt.
Letztere können gleichfalls auch zu Zwecken der Gebäudestatistik und der
Auswanderangsstatistik benützt werden ^).
Bezüglich der Zeit der Volkszählung hat die Erfahrung gezeigt,
dass die Zählung am genauesten ausfällt, wenn sie an einem Tage be-
gonnen und beendigt wird. Der Monat December eignet sich, weil da die
Bevölkerung am wenigsten sich in Bewegung befindet, am besten.
Aum erkling.
*) Durch diese Methode der Zählung mit ihrer Combiuation. von Haushai-
tuiigs-, Haus- und Ortsh'sten kann man, wenn die Haushaltungslisten den oben
(§. 80) ei-wähnten Inhalt haben und die Haus- und Ortslisten Gebäude-, Land-
wirthschafts- und Auswauderuugsstatistik erheben, eine Reihe der werthrollsten
Kenntnisse gewinnen, nämlich:
A. Hinsichtlich der Bevölkerung:
1. Die Zahl der Bewohner jedes Ortes.
2. Geschlecht und Alter, auch nach Ortschaften und Kreisen.
3. Körperliche und geistige Beschaffenheit der Bevölkeruiig.
4. Religionsbekenntniss.
AusfiLhruDg der Volkszählung. 108
5. Familieuiitaud.
6. Staud und Beruf.
7. Art des Aufenthalts.
8. Sprache und Nationalität.
9. Aus- und Einwanderung.
B. Bezüglich der Gebäude und Wohnplätze:
1. Bestimmung der Gebäude.
2. Abbruch und Neubau.
3. Grösse der Wohngebäude und Dichtigkeit ihrer Bewohuuug.
4. Werth und Verschuldung des städtischen und des ländlichen Grund-
besitzes.
C. Bezüglich der Laudwirthschaft und Viehzucht:
1. Grösse der Grundstücke.
2. Verwendung der Fläche.
3. AnbauYerhäitniss.
4. Landwirthschaftliche Production.
5. Viehstand im Allgemeinen, auf grossem, mittlerem und kleinem Grund-
besitz.
6. Art des Betriebes, als Haupt- oder Nebenerwerb, in eigener Wirth-
schaft oder Pacht.
7. Verschuldung.
D. Bezüglich der Industrie:
1. Kleingewerbe. Darin verwendete Kräfte; Arbeits- und Dienstverhält-
niss. Werth des Umstitzes.
t. Grossindustrie. Persönliche und mechanische Kräfte.
3. Typographische Gewerbe.
4. Umfang der Geschäfte nach der Zahl der Arbeiter.
E. Bezüglich des Handels und Verkehrs:
i. Handels- und Transportgewerbe. Persönliche und mechanische Kräfte.
Umsatz und Absatz.
2. Alter der Firmen.
§. 66. Ausführung der Volkszählung^).
Bei der Ausführung dieser vollkommensten Zählungsmethode sind
folgende Punkte zu berücksichtigen:
I. Die Austheilung der Listen. Sie erfolgt durch die Staatsregierung
an die Ortsobrigkeiten. Diese vertheilen dann die Haus- und Haushal-
tungslisten an die Besitzer und Administratoren der Häuser mit der Ver-
bindlichkeit, letztere Listen an die Haushaltungsvorstände abzugeben.
n. Die Ausfüllung der Listen.* Die Haushaltungslisten werden durch
die Vorstände der Haushaltungen, die Hauslisten durch die Besitzer oder
Administratoren der Häuser und die Ortslisten durch die Ortsobrigkeiten
ausgefüllt. Je mehr Details die Listen enthalten sollen, desto schwieriger
wird es, richtige Ausfüllungen durch die Haushaltungsvorstände zu er-
halten. Aber auch die Ausfüllung durch eigene Zähler ist dann keine
104 Ausf&hrung der Volksz&hlung.
vollständige Garantie tur die Richtigkeit, denn die 2^hier sind ihrerseits
wieder auf die Angaben angewiesen, welche ihnen gemacht werden. Mög-
lichste Richtigkeit ist nur zu erwarten, wo die richtige Ausfüllung der
Listen von der Bevölkerung selbst als eine erfolgreiche und nationale
Pflichterfüllung betrachtet und wo sie der Bevölkeiiing in der Weise er-
leichtert wird, dass auf die in den Listen gestellten Fragen im Wesent-
lichen blos mit Ja und Nein zu antworten ist.
IIL Für die Wiedereinsammlung der ausgefüllten Listen geht der-
selbe Instanzenzug aufwärts, der bei der Austheilung abwärts gestiegen.
Sie muss unmittelbar am Tage nach dem Zählungstage erfolgen.
IV. Hierauf muss eine Prüfung der Einträge erfolgen.
V. Dann eine Zusammenstellung und Concentration der Ergebnisse.
Sie ist Sache der statistischen Technik. Die in den Listen zerstreuten
Materialien müssen verdichtet, aus dem Einzelnen zu Massen angesammelt
werden.
Eine solche Concentrirung kann entweder als decentralisirte bei den
einzelnen Gemeinden erfolgen oder bei dem statistischen Centralbureau.
Beide Methoden haben ihre Vorzüge und Nachtheile.
Für die Bearbeitung der llaushaltungslisten hat man statt der früher
angewandten zeitraubenden und unsicheren Strichelungsmethode (vergl.
(§. 57) jetzt vielfach Zählblättchen und Zählkarten eingeführt. Diese Ein-
richtung besteht darin, dass man Listen anlegt, auf welchen die Angaben
nur für ein gezähltes Individuum sich befinden. Jeder Gezählte erhält
demnach seine eigene Liste oder Karte, wodurch die Gruppirung des Ge-
sammtmaterials erleichtert wird. Diese kleinen Listen sind nun entweder
Zählkarten oder Zählblättchen.
1. Die Zählkarten werden von den Gezählten selbst ausgefüllt.
Es müssen zu diesem Zwecke (im Couvert) in jede Haushaltung so viel
Zählkarten gegeben werden, als dieselbe Personen enthält. Die Zählkarten
sind Blättchen, etwa handgross, wie ordentliche Tabellen gestaltet"). Für
das Publikum sind diese Blättchen allerdings minder bequem als eine
einzige Ilaushaltungsliste ist; auch sind Zählkarten, die vom Publikum
selbst ausgefüllt sind, häufig schwer leserlich»
2. Die Zählblättchen dagegen sind kleine Tabellen, welche für
je eine Person, von den Behörden aus den Haushaltlisten (oder Ilaus-
listen etc.) herausgeschrieben werden.' Hierbei ergibt sich allerdings eine
Mehrarbeit für die Behörden, aber man erhält correcte und gleichfxir-
miger geschriebene Kärtchen, mit welchen sich bequemer manipuliren
lässt. Es lässt sich dabei namentlich durch Wahl verechiedener Farben
der Zählblättchen für die Ilauptunterschiede der beobachteten Thatsachen
das Geschäft des Sortirens ungemein erleichtem.
AasfahniDg der Volkszfthlung. 105
VI. Die Veröffentlichung (vergl. §. 58).
Vir. Die Aufbewahrung der Urlisten. Sie geschieht offenbar am
besten durch die Gemeinden und bietet dann die geeignetste Grundlage
für eine örtliche Statistik, fiir Gemeindebücher, welche sich als Inven-
tarien des gemeindlichen und örtlichen Lebens darstellen. Zugleich bieten
diese aufbewahrten Urlisten Controlmittel für die nächsten Zählungen.
VIII. Die Kosten. Je mehr man die Wichtigkeit der Volkszählungen
einsieht, desto grössere Mittel werden für dieselben aufgewendet. Diese
Kosten Hessen sich allerdings vermindern, je mehr die Zählungen zu
Nationaluntemehmungen gemacht würden.
Aumerkungeu.
*) Nach Eugel iu der Zeitschr. des preuss. »tat. Bur. I. Bd. S. 166.
*) Bei Gelegenheit der Volkszählung im deutschen Reiche für 1875 wurde
von Seite des Reiches folgendes Formular für die Zählkarten empfohlen.
Volkszählung am I. December 1875.
Kreis Gemeinde oder Gutsbezirk
(Zählort)
Zählbezirk Nr Zählbrief Nr Zählkarte Nr..
1. Vor- und Familienname
2. Stellung in der Haushaltung
3. Geschlecht: männlich, weiblich (das nicht zutreffende Wort auszu-
streichen).
4. Geburtyahr.. _
5. Ledig, verheirathet, Terwittwet, geschieden, auf Lebenszeit gericht-
lich getrennt (nicht Zutreffendes auszustreichen.)
6. Religionsbekenutuiss
Hauptberuf \ Bezeichnung
Haupterwerb f ^ ^
od.Nahrungs- 1 Arbeits- oder Dienstverhältuiss
zweig ) ^ „
8. Etwaige mit Erwerb verbundene Nebenbeschäftigung • ^....
9. Staatsangehörigkeit..
10. Wohnort (nur anzugeben, wenn die Person fiir gewöhnlich nicht
an der Haushaltung Theil nimmt) „
11. Für Militärpersonen im activen Dienste: Angabe des Truppentheils etc.
106 l>ie Volksdichtigkeit.
II. Capitel.
Relative Bevölkerung.
§. 67. Die Volksdichtigkeit.
Die Volksdichtigkeit ist das Verhältniss der Volkszahl zum Flächen-
inhalt des Gebietes, auf welchem diese Zahl sich befindet. Das Verhältniss
wird ausgedrückt, indem man angibt, wie viel Menschen durchschnittlich
auf einem bestimmten Räume, in der Regel auf einem Quadratkilometer,
leben.
Kaum eine andere Gruppe unter den wichtigeren statistischen Grössen
zeigt so enorme Verschiedenheiten ihrer Zahlen, als die Volksdichtigkeit.
Ihre Vergleichung bei verschiedenen Ländern sowie innerhalb einßs ein-
zelnen Landes führt auf wichtige Unterschiede der gesellschaftlichen Zu-
stände. Bei solchen Vergleichungen muss man natürlich den gleichen
Maassstab, d. h. eine und dieselbe Flächeneinheit gebrauchen. Mitunter ist
es auch nothwendig, zu berücksichtigen, ob bei der Berechnung der Dich-
tigkeit der Flächeninhalt der Binnengewässer von dem Gesammtflächen-
inhalt des Landes abgezogen wurde oder nicht. Bei Ländern, welche zahl-
reiche und grosse Binnengewässer enthalten, wie z. B. Finnland, das
brittische Nordamerika, lässt sonst die Masse der Binnengewässer die Volks-
dichtigkeit geringer erscheinen, als sie in Wirklichkeit ist.
In vorliegendem Werke ist die Volksdichtigkeit nach der Zahl von
Einwohnern, die auf den Quadratkilometer durchschnittlich treffen, be-
rechnet. Man findet sie, indem man die Zahl der absoluten Bevölkerung
durch die Zahl der Quadratkilometer dividirt.
Nun ist eine gewisse Volksdichtigkeit nothwendig für das Wohl und
die Civil isation der Gesellschaft. Eine über weite Gebiete zerstreute dünne
Bevölkerung ist nicht im Stande, die Naturkräfte dieses Gebiets zu be-
herrschen, sondern muss denselben sich fügen, verwildern, wie dies z. B.
der Fall war bei den' Nachkömmlingen der Spanier in Südamerika und
bei denen der canadischen Franzosen im westlichen Nordamerika.
Man hat daher häufig die Volksdichtigkeit als einen Maassstab für
die Kraft und Civilisation der Staaten betrachtet. Doch darf dieser Maass-
stab keineswegs als ein absoluter gelten und muss mit einer gewissen
Vorsicht gebraucht werden.
Man muss sich wohl hüten, in dieser Hinsicht Staaten und Länder
von sehr verschiedener Grösse miteinander zu vergleichen, sonst erhält
man irrige Anschauungen. So hat man oft die Insel Malta das bevöl-
Di« VolkBdichtigkeit.
107
kertste Land Europa'8 genannt, weil ihre Volksdichtigkeit 399 Seelen
beträgt. Es besitzt diese Insel auf ihrem kleinen Gebiete eben eine be-
deutende Stadt. Aber diese Stadt isl kein Product des staatlichen Lebens
der Insel Malta allein, sondern des ganzen mittelländischen Verkehrs. So
erhielte das Gebiet der Stadt Hamburg eine Volksdichtigkeit von 948
Seelen. Aber auch hier ist diese Volksdichtigkeit nicht die des Gebietes,
sondern ergibt sich aus dem Dasein einer grossen Stadt auf kleinem Ge-
biete. Die Stadt ist aber gleichfalls nicht Product des hamburgischen
Gebietes, sondern Deutschlands. In ähnlicher Weise Hessen sich noch
andere ganz abnorme Volksdichtigkeitsziflfern ausfindig machen; z. B. für
Helgoland 3826, für Gibraltar gar 3028, Hongkong 1676, Bremen 557,
die normannischen Inseln 463.
Diese Beispiele zeigen allein schon, dass man bei der Vergleichung
der Volksdichtigkeit verschiedener Länder grosse Vorsicht anwenden muss,
dass man die Bevölkerung eines Landes keineswegs immer ihm allein
zurechnen darf. Unter diesem Gesichtspunkte wird man sogar die aus-
nehmend starke Volksdichtigkeit einzelner selbstständiger Staaten, z. B.
Belgiens, Grossbritanniens nur zum Theile als ein Product dieser Staaten,
zu einem anderen Theile dagegen als Product des ganzen civilißirten
Europa ansehen müssen. Der Weltverkehr nur Hess diese Ziffern so an-
wachsen.
Anmerkung.
Eine vergleicheude Zusammenstellung der Volksdichtigkeit iu den wich-
tigeren Staaten der Welt ergibt Folgendes:
Auf i Quadratkilometer treffen Einwohner in:
I. Europa 32,5
Belgien 186
Niederlande 128
Grossbritannien und Irland . .110
Italien (nebst Monaco und San
Marino) 95
Deutsches Reich 79
Frankreich 70
Schweiz 57
Oesterreich-Ungarn 51
Dänemark (ohne Faröer und
Island) 51
Liechtenstein 49
Portugal (ohne Azoren und
Madeira) 48
Rumänien 42
Spanien 33
Griechenland 33
Serhien 32
Montenegro 30
Türkei (europäische, mit Bul-
garien) 27
Russland und Finnland ... 14
Schweden 10
Norwegen 6
IL Amerika 2,5
San Salvador 25
Haiti 23
Guatemala 11
Chile 6,6
San Domingo 5,o
Mexico 4,9
Vereinigte Staaten 4,i
Columbia 3,5
Costa Rica . 3,3
Honduras 2,8
Uruguay 2,4
Peru 2,0
108
Verfolgung der Volludichtigkeit ins Einzelne.
Nicaragua 2,o
Boliria 1,8
Veuezuela 1,6
Ecuador 1,5
Paraguay 1,2
Brasilien . 1,2
Argentiua 0,9
in. Asien 18,7
Japan 89
j Chinesisches Reich 37/
J(ini eigentlichen China) . . .100)
British-Ostindien 64
(Dasselbe ohne Tributärstaaten) 82
Hinterindien 20
Asiatische Türkei 9
Persieu 4,2
Russisches Centralasien ... 1,3
Sibirien 0,3
IV. Afrika 6,9
Tunis 18
Aegypten 6
Algerien 9
Brittische Colouien Afrika"*» 2
insbesondere Kapland ... 1,4
V. Australien 0,4
Neusüdwales 0,8
Victoria 3,8
Südaustralien 0,2
Neu-Seeland 1,7
§. 68. Fortsetzung. Verfolgung der Volkadichtigkeit ins Einzelne.
Zur richtigen Beurtheilung des Werthes und der Verschiedenheiten
der Volkßdichtigkeit ist aber erforderlich:
I. Eine Verfolgung der Volksdichtigkeit ins Einzelne. Man muss
die Vertheilung der Bevölkemng über das Staatsgebiet, d. h. also die
Volksdichtigkeit der einzelnen Landestheile ebenfalls berücksichtigen. Eine
Beobachtung der Volksdichtigkeit blos nach sehr grossen räumlichen Ge-
bieten würde zu schiefen Vorstellungen und Schlüssen führen.
In den civilisirten europäischen Staaten ist die Volksdichtigkeit der
einzelnen Landestheile von der des ganzen Landes meist wenig verschieden.
Dagegen finden sich die grössten Contraste hierin in Ländern von junger
Entwickelung.
Bei der Vergleichung verschiedener Staaten hinsichtlich der inner-
halb des Staatsgebiets nach einzelnen Theilen desselben verschiedenen
Volksdichtigkeit darf man die in den verschiedenen Staaten zu verglei-
chenden Theile nicht von sehr abweichender Grösse nehmen, wenn man
richtige Vorstellungen erhalten will. In Frankreich z. Ü. ist die Bevöl-
kerung sehr gleichmässig vertheilt. Aber sie würde ungleichmässig ver-
theilt erscheinen, wenn man die Volksdichtigkeit der einzelnen Depar-
tements vergliche. Denn diese sind gegenüber den politischen ünterabthei-
lungen anderer Länder klein, so dass einzelne stark bevölkerte Städte
gleich dem ganzen Departement eine andere Volksdichtigkeit geben *).
IL Eine besondere Berücksichtigung des Einflusses der Städte
auf die Volksdichtigkeit der Gebiete, in welchen sie sich befinden, ist
daher gleichfalls geboten, aber auch höchst schwierig. Denn man darf die
Bevölkerung der Städte bei der Berechnung der Volksdichtigkeit nur
jenen Landestheilen zurechnen, welchen die Städte ihre Entstehung und
Terfolgniig der Volkadiehtigkeit ins Einzelne. 109
Bevölkerung verdanken. Wie gross aber der Landestheil ist, welchem eine
bestimmte Stadt ihre Entstehung und Bevölkerung verdankt, lässt sich
nur in seltenen Fällen mit einiger Bestimmtheit behaupten. Soll man z. B.
bei der Untersuchung der Volksdichtigkeit Oesterreichs die Bevölkerung
von Wien etwa blos dem Erzherzogthume Oesterreich unter der Enns
anrechnen, während doch andere Theile Oesterreichs gleichfalls Bevölkerung
an die Hauptstadt abgeben? Oder soll man diese hauptstädtische Bevöl-
kerung blos auf die cisleithanischen Länder vertheilen? Oder auf den
ganzen Kaiserstaat? Keinesfalls war Niederösterreich allein im Stande,
eine Stadt von solcher Bevölkerung hervorzubringen und es erscheint
demnach die Volksdichtigkeit Niederösterreichs jener der übrigen Kron-
länder gegenüber unverhältnissmässig stark, indem die Bevölkerung Wien's
ihr zugerechnet wird. Aber wie soll dann die richtige Volksdichtigkeit
jener Landestheile gefunden werden, in welchen grosse Hauptstädte sich
befinden? Den klarsten Ueberblick erhält man nur dann, wenn man
gleichzeitig die Volksdichtigkeit solcher Landestheile mit und jene ohne
Hinzurechnung der Bevölkerung der Hauptstädte angibt. So hat Nieder-
österreich mit Hinzurechnung Wiens eine Volksdichtigkeit von 112, ohne
Wien nur von 61. Die wahre Volksdichtigkeit muss zwischen beiden
Zahlen gedacht werden.
Aehnliche Erwägungen werden auch Platz greifen müssen, wenn
man z. B. die Volksdichtigkeit der preussischen Provinz Brandenburg oder
des französischen Seinedepartements u. s. f. betrachtet.
ni. Die natürlichen Grenzen der Volksdichtigkeit müssen
endlich auch aufgesucht werden, d. h. man muss jene Gebiete abzugrenzen
suchen, in welchen aus natürlichen Gründen die Volksdichtigkeit eine
andere ist, als in benachbarten Gebieten. Man findet diese natürlichen
Grenzen, indem man die grösseren beobachteten Gebiete in möglichst kleine
zertheilt, und an letzteren die Volksdichtigkeitsunterschiede und zugleich
die geographischen und wirthschaftlichen Verschiedenheiten untersucht.
In Gebieten mit gleichen geographischen und wirth-
schaftlichen Lebensbedingungen muss auch die Volksdichtig-
keit nach gleicher Höhe streben. Die Unterschiede der Volksdich-
tigkeit werden neben dem Einflüsse der grossen Städte meist durch den
Gegensatz von Urproduction und Industrie bedingt. Daher die grosse
Volksdichtigkeit des nordwestlichen Theiles von England gegenüber anderen
Theilen, Sachsens gegenüber den anderen deutschen, Böhmens gegenüber
den anderen österreichischen Ländern.
Der wirthschaftliche Landescharakter ist aber wieder abhängig vom
geographischen. Wo die Natur Eisen und Kohle, mildes Klima, üppige
Vegetation, natürliche Verkehrswege geboten: da hat sie auch eine gros-
110 Verfolgung der Yolksdichiigkeit ins Einzelne.
sere Volksdiclitigkeit geschaffen, als wo das Gegentheil der Fall. Aus
diesen Gründen erscheinen auch nicht die Ströme als natürliche Grenzen
der Volksdichtigkeitsunterschiede, sondern die Gebirge, die klimatischen
Grenzen, die Meere. So sind die Alpen eine grosse Scheide der Volks-
dichtigkeit zwischen dem südlichen Deutschland und dem weit stärker
bevölkerten Norditalien; die Pyrenäen zwischen der gi'össeren Volksdich-
tigkeit Frankreichs und der geringeren Spaniens, im kleineren Maassstabe
auch der Harz, die böhmischen Grenzgebirge. Im ganzen europäischen
Festlande haben die üferländer des Rheinstroms in seinem ganzen Laufe
eine hervorragend dichte Bevölkerung, die mit dem Weiterlaufe des Stromes
sich nur steigert, während die Donauländer fast durchgehends weit schwächer
bevölkert sind, um so schwächer, je mächtiger der Strom wird. Die Volks-
dichtigkeitskarte muss mit der geologischen, mit der klimatischen und mit
der Karte der Flussgebiete verglichen werden.
IV. Politische Einflüsse. Die geschichtliche Entwickelung der
Völker macht sich freilich auch mitunter in der Volksdichtigkeit geltend.
Wo gleiche geographische Verhältnisse noch eine ungleiche Volksdichtig-
keit zeigen, haben immer historische Ursachen mit bedeutender Kraft sich
geltend gemacht und wirken noch nach. Sonst hätte der lebendige Ver-
kehr der Gegenwart diese Unterschiede längst ausgeglichen. Dies gilt z. B.,
wenn man betrachtet, wie die Türkei, Spanien, Portugal etc. bei ihrer
Productionsßlhigkeit weit geringer bevölkert sind, als andere europäische
Länder, welche von der Natur weit weniger reich ausgestattet sind.
Eine gleichmässige Volksdichtigkeit darf man stets als ein politisches
und wiithschaftliches Glück, als eine Ursache und Folge gleichmässiger
Entwickelung des Volkslebens in einem Lande ansehen. Deutschland und
Frankreich stehen in dieser Hinsicht — trotz ihrer geographischen Aus-
dehnung — den Staaten der Welt entschieden voran, während in Eng-
land die grösseren Städte und Fabriksdistricte schon einen Einfluss auf
die Volksdichtigkeit üben, der in der Politik und den wirthschaftlichen
Zuständen Englands sich spiegelt und kein günstiger mehr genannt wer-
den kann.
Aumerkuug.
*) Eine Vergleichung der Volksdiclitigkeit iu den verschiedenen Theilcu
der wichtigsten Staaten ergibt Folgendes.
I. In den einzelnen Staaten und den Provinzen der grösseren Staaten des
Deutschen Reiches stellt sich die Volksdichtigkeit wie folgt (187Ö):
Posen 4- . 55,5
Schlesien 95,4
Sachseil 85,9
Schleswig-Holstein 58,7
Hannover 52,7
Preussen . 74,i
Ostpreussen . . . • 50,2
Westpreussen 52,6
Braudeuburg 78,4
Pommern 48,6
Verfolgung der Yolksdichtigkeit int Einzelne.
111
£lsas8-Lothriugeu 105,6
Baden 99,9
Hessen 115,2
Mecklenburg-Schwerin 41,6
Hamburg 948,4
Braunschweig 88,7
Oldenburg 49,9
Sachsen- Weimar 81,s
Anhalt 91,o
Sachsen-Meiningen 78,8
Sachsen-Coburg-Gotha 92,8
Sachsen- Altenburg 110,4
Bremen 557,5
Lippe 94,6
Mecklenburg-Strelitz 32,7
Reuss j. L 111,4
Schwarzburg-Rudolstadt .... 81,4
Schwarzburg-Sondershausen . . . 78,8
Lübeck 201,8
Waldeck 48,2
Reuss ä. L 148,5
Schaumburg-Lippe 74,8
Deutsches Reich 79,i
Westfalen 94,3
Hessen-Nassau . 93,7
Rheinland 141,o
HohenzoUem 58,2
Bayern 66,2
Oberbayern 52,6
Niederbayeru 57,8
Pfalz 108,0
Oberpfalz 52,i
Oberfrankeu 79,8
Mittelfranken 80,3
Unterfranken 71,i
Schwaben 63,4
Sachsen, Königreich 184,i
Regierungsbezirk Bautzen . • 172,8
„ Dresden . . 179,4
^ Leipzig . . . 223,4
„ Zwickau . . 137,3
Württemberg 96,6
Neckarkreis 176,7
Schwarzwaldkreis 95,3
Jag^tkreis 76,o
Douaukreis 71,5
Abgesehen von den Gebieten von Hamburg, Bremen und Lübeck, welche
sich aus früher erwähnten Gründen zur Vergleichung nicht eignen, zeigt daher
das mitteldeutsche Hügel- und Flachland die stärksten Volksdichtigkeitsziffem.
Das Königreich Sachsen mit seiner hochentwickelten Industrie; Schlesien, die
preussische Rheiuprovinz und AVestfalen; ferner die Reussischen Länder, eben-
falls alle mit stark ausgeprägtem industriellem Charakter; ferner der württem-
bergische Neckarkreis, Sachsen - Altenburg, Elsass-Lothringen, Hessen, die
bayerische Rheinpfalz, sämmtlich von bedeutender Fruchtbarkeit des Bodens
aber auch mit starker Industriethätigkeit: Das sind die Landschaften mit der
bedeutendsten Volksdichtigkeit, während die norddeutsche Tiefebene, nament-
lich an den Seeküsten, sowie die südbayerische Hochebene die spärlichsten
Ziffern zeigen.
IL In Oesterreich-Ungarn (nach der Zählung von 1869):
Galizien 69,4
Bukowina 49,i
Dalmatien 37,7
Ungarn — Siebenbürgen .... 48,4
Fiume 902,3
Croatien und Slavonien 49,o
Militärgrenze 34,4
Oesterreichische Länder 67,»
Ungarische Länder 47,9
Gesammtmouarchie (1869) .... 57,6
„ (1880) circa . 60,9
Oesterreich unter der £nns . . . 100,4
Oesterreich ober der £nns . . . 61,4
Salzburg 21,3
Steiermark 50,7
Kärnten 32,«
Krain , 46,7
GOrz, Gradiska, Istrien, Triest . . 75,2
Tirol und Vorarlberg ...... 30,2
Böhmen J 98,9
Mähren 90,7
Schlesien 99,7
112 Verfolgung der Volksdichtigkeii ins Einzelne.
Auch hier lassen sich die Gründe der Volksdichtigkeitsunterschiede un-
schwer erkennen; theils in der Gliederung des Bodens und seiner Ausstattung
mit Klima und Naturproducten, theils im Unterschied der Nationalitäten und
deren verschiedener geschichtlicher Entwickelung. Allerdings sind die einzelnen
Kronländer von zu verschiedener Grösse, und mehrere derselben absolut zu
gross, um verglichen werden zu dürfen. Eine Vergleichung der einzelnen
Districte der Kronländer zeigt in jedem Kronlande eine oder mehrere Dichtig-
keitsinseln (die Umgebung der grösseren Städte) und andererseits erhebliche
Lücken in den Gebirgsdistricten. Auffallend gross, aber leicht erklärlich sind
in der ganzen Monarchie wie in den einzelnen Ländern die Unterschiede der
Volksdichtigkeit.
III. In Frankreich (nach der Zählung von 1876).
Hier ist wegen der geringereu Unterschiede in der Grösse der einzelnen
Departements eine Vergleichung am ehesten gerechtfertigt. Dem Durchschnitt
des ganzen Landes (70 pro Quadratkilometer) nähern sich viele Departements
fast völlig. Unter den. 87 Departements befinden sich 30 mit einer Volksdich-
tigkeit von 60—79. Geringe Volksdichtigkeit (40—59 pro Quadratkilometer)
haben 36 Departements und die auffallend geringe Volksdichtigkeit von weniger
als 40 zeigt sich nur in 5 Departements, nämlich in zwei Alpendepartemeuts,
in dem gebirgigen Lozere, in Corsica und in der öden Heidelandschaft der
Landes. Bedeutend über den Durchschnitt erheben sich mit 80—99 pro Quadrat-
kilometer 7 Departements und ganz ausnehmend stark mit 100 und darüber 9.
Die letzteren erhalten diese starken Ziffern grösstentheils durch die in ihnen
befindlichen bedeutenden Städte; aber auch durch Fruchtbarkeit des Bodens
und Mineralreich thum. Diese 9 Departements sind: Bouches du Rhone (mit der
Stadt Marseille) 109; Loire (mit der Stadt St. Etienne und ihrer industrie-
reichen Umgebung) 124; Nord (mit den grossen Industrieplätzen Lille, Roubaix
und Valenciennes) 267; Pas-de-Calais (mit den Städten AiTas, Calais, Boulogne)
120; Haut Rhin (ganz kleines Departement mit der Festung Beifort) 112;
Rhone (mit Lyon und dessen industrieller Umgebung) 253; Seine (mit Paris)
5035; Seine inferieure (mit Ronen) 132; Seine-et-Oise (mit der stark bevöl-
kerten Umgebung von Paris) 100. Gruppirt man die Departements nach geogra-
phischer Lage, so zeigen die dichteste Bevölkerung die . nordöstlichen Depar-
tements; hierauf folgen die iiord westlichen; sodann die südöstlichen; ferner die
südwestlichen und am spärlichsten bevölkert sind die 9 mittleren Departements.
IV. In Grossbritannien (nach dem Census von 1871).
In den vereinigten Königreichen ergibt sich eine Volksdichtigkeit von
100. England mit Wales allein erreicht 150, Schottland nur 43, Irland 64, die
Insel Man 92, die Normannischen Inseln 463. Im eigentlichen England wird
der Durchschnitt von 150 nur in wenigen Districten überstiegen; dann aber
auch ganz enorm. Das ist namentlich der Fall in den nordwestlichen Industrie-
bezirken. Hier hat die Abtheilung „North Western" eine Volksdichtigkeit von
419; „West Midland^ 170. Der Londoner District muss natürlich ganz ausser
Vergleichung bleiben. In Schottland sind die Dichtigkeitsunterschiede ausser-
ordentlich gross. Bei einem Mittel von 43 zeigt der Südwesten (Glasgow und
Umgebung) eine Dichtigkeit von 199; der Nordwesten nur 9^ der Norden 14.
Verfolgung der Volksdichtigkeit iuB Einzelne. 113
Etwas gleichmässiger ist die Bevölkerung Irlands vertheilt. Auffallend ist die
starke Bevölkerung der Normannischen Inseln.
V. In Italien (nach Berechnung für 1J878).
Auch hier sind die Unterschiede ziemlich bedeutende. Von den 16 Landes-
theilen (Compartimenti) bleiben 8 unter dem Durchschnitt des ganzen Staates,
welcher 95 beträgt, einer erreicht gerade den Durchschnitt (Sicilien); und
7 übersteigen ihn. Die stärksten Ziffern haben Ligurieu 166, Gampanien 160,
die Lombardei i55, Venetien 120, die Emilia 107, Piemont 105. Die spärlichste
Dichtigkeit zeigt Sardinien mit 28, auf dem Festlande die Basilicata mit 50.
Geschichtliche Ereignisse und Unterschiede der Volkssitte dürften auf die Volks-
dichtigkeitsunterschiede in Italien einen grösseren Einfluss genommen haben,
als die Natur der Landestheile.
VI. In Russland.
Im europäischen Russland mit Polen, jedoch ohne Finnland, ergibt sich
eine durchschnittliche Dichtigkeit von 14. Sofern die grosse Verschiedenheit im
Gebietsumfang der einzelnen Gouvernements eine Vergleichung gestattet, ergibt
dieselbe Folgendes: Von den 60 Gouvernements bleiben 12 unter dem Durch-
schnitt des ganzen Reiches, und zwar theils die nördlichsten, wie Archangel
mit 0,4, Olouez mit 2, Nowgorod mit 8, Wologda mit 2, theils südliche und
südöstliche wie Astrachan mit 3, das Gebiet der Donischen Kosaken mit 7,
Taurien mit 11; ferner die östlichen: Ufa mit 11, Perm mit 7, Orenburg mit
ä, Szamara mit 12; aber auch eines der mittleren und westlichen, nämlich
Minsk mit 13 (hier befinden sich ungeheuere Sumpflandschaften). Die stärkste
Volksdichtigkeit zeigen die polnischen Gouvernements, vor allen Warschau 64,
Kaiisch 59, Piotrkow 56, Kielce 51, Plock 43, Radom 42, Lublin 42, Suwaiki
42, Lomza 41. Von den eigentlich russischen Gouvernements zeichnen sich nur
aus: Moskau mit 57, Podolien mit 46, Kiew mit 43, Poltawa und Kursk mit 42.
VII. In den Vereinigten Staaten von Nordamerika (nach dem
Ceusus von 1870).
Hier sind die Unterschiede der Volksdichtigkeit ganz ausserordentlich
gross, entsprechend theils der ungemein verschiedenen Ausstattung des Bodens
mit Fruchtbarkeit, Mineralschätzen etc., theils auch der im Allgemeinen erst seit
ganz kurzer Zeit sich vollziehenden Culturentwickelung, welche sich aus man-
uigfachen Gründen auf einzelne Staaten früher, auf andere später geworfen
hat. Die ansehnlichste Volksdichtigkeit weisen die am atlantischen Ocean ge-
legenen Staaten auf, und zwar namentlich Massachusetts mit 72, Rhode Island
mit 64 und Connecticut mit 43, New Jersey 42, New- York 36, Pennsylvania
29. Aber auch unter den am längsten besiedelten Neu-£nglandstaaten sind
einige dünn bevölkert geblieben, wie Maine mit 6. Die südlichen Staaten, ob-
gleich ebenfalls am atlantischen Ocean, zeigen weit geringere Ziffern; so Vir-«
giuia 12, Georgia 7, beide Carolina 8. Noch spärlicher sind die Staaten
am Golf bevölkert, wo Texas nur l,i pro Quadratkilometer aufzuweisen hat.
Die inneren Staaten zeigen ganz auffallende Unterschiede. Während z. B. Ohio
25 zählt, hat Nebraska nur 0,6; Colorado 0,i. Die 3 pacifischen Staaten ergeben
zusammen eine Dichtigkeit von nur 0,7; die extrem spärlichste Bevölkerung
aber haben die Territorien; unter ihnen Arizona 0,08.
Hatiskofer, Statistik. 2. Aufl. 8
1^4 Yerftnderungen der YollrBKfthl.
IL Abschnitt. Gang der Bevölkerung.
I. Capitel.
Veränderimgen der VolkszaM.
§. 69. Uebenicht.
Ein völliges Stillstehen und Gleichbleiben der absoluten Volkszahl
eines bestimmten Gebietes wäre wohl denkbar, kommt aber in Wirk-
lichkeit nicht vor. Einen solchen Zustand bezeichnet man mit dem Aus-
drucke stationär. Er ist in Wirklichkeit deshalb nicht möglich, weil
die Menschheit erst mit der Entwicklung des von ihr bewohnten Planeten
allmälig entstehen und sich vermehren konnte und weil die Natur, welcher
der Mensch entwachsen ist und die ihn stets beeinflusst, selber niemals
stille steht.
Wie der einzelne Mensch, so ist auch die Bevölkerung eines Ge-
bietes nicht nur ein Seiendes, sondern auch ein Werdendes. Die absolute
Volkszahl erleidet Veränderungen und diese Veränderungen nennt man
den Gang oder clie Bewegung der Bevölkerung.
Den Gang der Bevölkerung zu kennen, ist von grösster Wichtigkeit
für die Beurtheilung der Volkszustände. Man bemerkt dabei:
I. Den Erfolg der Veränderungen. Dieser ist entweder:
A. Eine Vermehrung oder
B. Eine Verminderung der Bevölkening.
II. Die Schnelligkeit der Veränderungen. Zunahme und Ab-
nahme finden entweder mit geringerer oder mit grösserer Schnelligkeit
statt. Von besonderer Wichtigkeit und besonderer Behandlung werth
schien früher die Frage, wie lange eine Bevölkerung braucht, um sich
zu verdoppeln.
in. Die Regelmässigkeit der Veränderungen, die grössere oder
geringere Gleichförmigkeit in ihnen. Dieselben Ursachen, welche keine
Bevölkerung stationär bleiben lassen, gestatten auch keiner eine völlig
gleichförmige Bewegung, und es sind daher nur folgende Formen zu
unterscheiden :
A. Ungleichförmig beschleunigte Zunahme.
B. Ungleichförmig verzögerte Zunahme.
C. Ungleichförmig verzögerte Abnahme.
P. Ungleichförmig beschleunigte Abnahme.
Verftuderun^en der Yolkszahlv 115
Und selbst diese Formen sind nur relative; sie gelten nur für den Zeit-
raum, der eben beobachtet wird. Ergibt sich also z. B. bei einer Bevöl-
kerung, deren Gang während eines Zeitraumes von 50 Jahren man be-
obachtet, als Endresultat eine ungleichförmig verzögerte Zunahme, so
können recht wohl in den einzelnen Jahren und Jahrzehnten dieser Periode
die anderen Formen der Bevölkerungsbewegung geherrscht haben.
IV. Die Ursuchen der Veränderungen. Sie sind entweder:
A. Innere, nämlich das Verhältniss der Geburten und Todesfälle.
Aber hinter den Geburten und Todesfällen stehen wieder andere geheim-
nissvolle Ursachen, deren Erforschung eine der wichtigsten Aufgaben der
Statistik bildet.
Ueberwiegt die Zahl der Geburten, so tritt eine Bevölkerungsmeh-
rung ein, im entgegengesetzten Falle eine Minderung. Mit mehr mathe-
matischer Schärfe ausgedrückt, würde dieser Satz lauten: Eine Vermeh-
rung tritt ein, wenn die Intervalle in der Geburtenfolge kleiner sind, als
in der Folge der Todesfälle; im entgegengesetzten Falle tritt eine Ver-
minderung ein. Bei dieser Ausdrucksweise würde man nämlich von ein-
zelnen Jahrgängen abstrahiren und die Geburten und Todesfälle als Das-
jenige auffassen, was sie wirklich sind: als eine stetige Folge von Ereignissen.
Der innere Zuwachs einer Bevölkerung innerhalb eines bestimmten
Zeitraumes hat seine bestimmte, ziemlich enge Grenze in der physischen
Menschennatur und in der Natur der civilisirten Gesellschaft.
Das heisst: durch den Ueberschuss der Zahl der Geburten über die
Gestorbenen kann eine Bevölkerung in einer bestimmten Zeit nicht über
ein gewisses Bruchtheil der Volkszahl zunehmen.
Der innere Zuwachs wird nämlich beschränkt:
a) Durch das bestimmte Verhältniss der Anzahl derjenigen Frauen,
welche Mütter werden können, zur Gesammtzahl der Bevölkerung.
Dieses Verhältniss ist in civilisirten Staaten ein sehr gleichmässiges
und wird durch ein Naturgesetz bestimmt.
b) Durch die Zeit, welche zwischen zwei Geburten bei einer Frau ver-
fliessen muss.
c) Durch das Mass der nothwendigen Sterblichkeit.
d) Durch bestimmte, in der Civilisation liegende Beschränkungen des
blos natürlichen Menschen, und
e) in sehr geringem Grade auch durch das Verhältniss der Zwillings-
und Mehrgeburten zur Zahl der Einzel ngeburten.
Nach diesen Bedingungen erscheint ein^ innere Vermehrung der
Bevölkerung um drei Procent der Volkszahl jährlich als das Höchste,
was in civilisirten Staaten an Volksvermehrung möglich ist.
116 Vennehrung and Yerminderung.
Selbst in Nordamerika, wo die Volkezahl doch am schnellsten ge-
wachsen, betrug der innere Zuwachs derselben in der günstigsten Zeit,
unmittelbar nach dem Freiheitskriege, nicht ganz 3^ im Jahre.
B. Aeussere Ursachen, nämlich Ein- und Auswanderungen.
(Ausführliches hierüber siehe Cap. IV.)
§. 70. Vermehrung und Verminderung.
Die sämmtlichen civilisirten Völker der Gegenwart zeigen, wenn
man die Völker im Ganzen betrachtet, eine Vermehrung der Bevölkerung.
Als einzige, ganz auffallende Erscheinung, die mit wortloser aber furchtbar
ernster Sprache Zeugniss gibt von der Lage des Volkes, zeigt sich in den
Jahren 1841 — 1851 in Irland eine durchschnittliche jährliche Abnahme
der Bevölkerung von 2,2«^. Dieses Abnehmen währte auch später noch
fort, wenn auch in geringerem Grade. In der Zeit von 1861 — 1877 be-
trug die Abnahme nur mehr O^sx^ jährlich.
Wenn sich dagegen in kleineren Theilen grösserer Staaten eine Ab-
nahme der Bevölkerung ergibt, so ist dies weniger bedenklich. Unter den
deutschen Staaten hat eine Abnahme in Elsass-Lothringen stattgefunden,
wo sie von 1871 — 1875 2,9^ betrug. Sie erklärt sich leicht aus der
gewaltigen politischen Verändeiiing dieses Landestheil es und darf zuver-
sichtlich als eine vorübergehende Erscheinung angesehen werden. Zwei
andere kleine Staaten des Reiches zeigen ebenfalls von 1871 — 1875 eine
Abnahme, nämlich Mecklenburg-Strelitz um 3,4^, Waldeck gar um 6,7.
Die Bevölkerung beider Staaten ist jedoch an sich zu gering, als dass
diese Abnahme gegenüber dem gewaltigen Bevölkerungszuwachs des ganzen
Reichs Bedenken erregen könnte. Weit bedenklicher muss es fär die Sta-
tistik Frankreichs erscheinen, dass daselbst im Jahre 1872 unter 87
Departements nur noch 14 aufgeführt wurden, welche eine Bevölkerungs-
vermehrung seit 1866 aufzuweisen hatten (vgl. M. Block: Statistique de
France, pag. 37, I), während alle übrigen eine Vermindening zeigten.
Bei uncivilisirten Völkerschaften und Stämmen der Erde finden sich
die düstersten Beispiele von Volksverminderung bis zum völligen Ver-
schwinden. Und dieses Verschwinden vollzieht sich so rasch, dass die
ziffeiTimässige Darstellung nicht folgen kann.
So sind seit der Einwanderung der Europäer in Nordamerika die
mächtigsten eingeborenen Indianerstämme ausgestorben oder auf kümmer-
liche Reste hingeschwunden. In dem grossen Becken des Mississippi, von
den canadischen Seen bis zum mexikanischen Golf, hat, wie alte Bau-
denkmäler erweisen, voreinst' eine dichte Ackerbaubevölkerung gewohnt,
die völlig verschwunden ist. Die Bevölkerung einzelner Südseeinseln
schwindet in erschreckendem Maasse. So sank die Bevölkerung der Ladronen
Schnelligkeit der Bevölkerungsbewegung; Verdoppelung.
117
oder Marianen in der Südsee binnen 10 Jahren von 10.000 auf 6000
Seelen herab. (Stein und Hörschelmann, Australien.)
Innerhalb solcher Bevölkerungen, welche aus verschiedenen^ Racen
zusammengesetzt sind, lassen sich häufig Beobachtungen über die Abnahme
einer Race anstellen; Während in Nordamerika die Indianer aussterben,
vermindern sich in einzelnen Theilen von Süd- und Gentralamerika die
weissen Bevölkerungen. So in Neugranada, in der Republik San Salvador.
(Andree: Geogr. d. Welthandels, 11. Bd. S. 632, 660.)
§. 71. Schnelligkeit der Bevölkenmgsbewegung; Verdoppelung.
Je rapider die Aenderungen in der Zahl einer Bevölkerung vor sich
gehen, um so gewaltiger müssen ihre Ursachen sein. Die schnellste Be-
völkerungsbewegung zeigt sich immer da, wo plötzlich nicht nur verschie-
dene Völker, sondern auch grundverschiedene Systeme wirthschaftlichen
Lebens aufeinander platzen. So namentlich in neugegründeten Colonien;
auch in anderen uncultivirten Ländern, welche plötzlich, ohne gerade
Colonien zu werden, mit allen Vorzögen und Fehlem der Civilisation in
Verbindung gebracht werden. Daher die schauerliche Schnelligkeit in der
Bevölkerungsminderung einiger Südseeinseln gegenüber dem riesenhaften
Zuwachs, der z. B. in der Colonie Neuseeland die dortige Bevölkerung
(ausschliesslich der Eingeborenen) in der Zeit von 1851 — 64 von 28.865
auf 171.931 steigerte.
Eine Bevölkerung, welche fortwährend anwächst, muss in bestimmter
Zeit sich verdoppeln. Wenn man den jährlichen Durchschnittszuwachs
kennt, ist die Berechnung der Verdoppelungsperiode nicht schwierig. So
hat man Tabellen über die Verdoppelungsperioden berechnet. Nach einer
solchen Tabelle tritt die Verdoppelung in folgenden Zeiträumen ein:
Bei einer jährlichen
Zunahme Ton:
Bei jährlicher Zunahme
in % ausgedrückt:
Verdoppelungszeit
in Jahren:
500
250
100
50
30
25
0,2
0,4
1
2
3,333
4
346,92
173,63
69,66
35
21,14
17,67
Man hat früher die Verdoppelungsperiode sehr lang genommen.
Graunt und King berechneten sie für England auf 280, resp. 600 Jahre.
Petty nahm als allgemeine Verdoppelungsperiode 360, Süssmilch 100
Jahre. Letzterer sah schon ein, dass es unmöglich sei, die Geschwindigkeit
des Wachsthums und der Verdoppelung so zu bestimmen, dass alle Hin-
118
Bescbleanigte und verzögerte Bewegung.
dernisse der Vermehrung, namentlich Krieg und Pest berücksichtigt
würden.
Bekannt ist die Behauptung von Malthus, dass eine in ihrer Ver-
mehrung ungehemmte Bevölkerung sich in 25 Jahren verdoppeln könne.
Alle derartigen Berechnungen, selbst die sorgfältigsten *), sind nur
aufgestellt für den Fall, dass das Zunahmeverhältniss das gleiche bleibt.
Da dieser Fall in Wirklichkeit kaum jemals eintreten wird, bleibt die
Berechnung blos als theoretisches Beispiel giltig. Die Bevölkerungen nehmen
nicht so zu wie die Capitalien, mit Zins und Zinseszins, sondern folgen
in ihrer Bewegung den mannigfaltigsten Einflüssen. Es braucht keine
socialen Stürme, Kriege, Seuchen, Hungerjahre, um diese Bewegung in
ihrer Regelmässigkeit zu stören; sie lässt sich schon durch den leisesten
unspürbaren Hauch ablenken.
Die Schnelligkeit in der Vermehrung der nordamerikanischen Be-
völkerung verdient besondere Beachtung. Diese Bevölkerung hat sich in
den Jahren 1790—1840, also in der Zeit des Aufschwunges nach den
Freiheitskriegen vervierfacht. Einwanderung trug allerdings viel dazu
bei. Wenn aber Amerikaner aus dieser Volksvermehrung mit Sicherheit
schliessen wollen, dass die Republik in 100 Jahren 300 Millionen Seelen
haben werde, ist dies nur eine höchst willkürliche Vermuthung.
Anmerkung.
*) So uaineutlich die Berechnungen von Wappäus. Derselbe bestimmt die
Verdoppeluugszeiten für einige Staaten folgendermasseu :
F ü r:
Grundlage der Berechnung ist
der jährliche Zuwachs
in den Jahren
Verdoppelmigs-
zeit
(ungeßlhre)
Norwegen . . . .
Dänemark . . . .
Schweden . . . .
Sachsen
Niederlande . . .
Sardinien . . . .
Preussen . . . .
Belgien . . . . .
Grossbritannien . ,
Oesterreich . . .
Frankreich . . ,
Provinz Hannover
1845-55
1845-55
1850-55
1852—55
1840-49
1838—48
1852-55
1846—56
1841—51
1842-50
1851-56
1852-55
1,15 %
0,89 „
0,88 „
0,84 „
0,67 „
0,68 „
0,53 „
0,44 „
0,23 „
0,18 „
0,14 „
0,022 „
61 Jahre
71 .
79
83
103
119
131
158
302
385
405
3152
§. 72. Beschleunigte und verzögerte Bewegung.
Die Beobachtung der Bevölkerungsbewegung zeigt, dass beschleu-
nigte und verzögerte Bewegungen in Wirklichkeit vielfach abwechseln.
Beschleunigte und verzögerte Bewegung. 119
Im Grossen und Ganzen weisen die Bevölkerungen der civilisirten
Staaten mit zunehmender Dichtigkeit eine stets verzögeite Zunahme auf.
Sie wachsen also stets an, doch immer um ein kleineres Stück. Yerglei-
chungen der Staaten in dieser Hinsicht sind schwierig, theils wegen des
Mangels an brauchbarem Material aus früheren Jahrzehnten, theils wegen
der durch Gebietsveränderungen herbeigeführten Veränderungen in der
Volkszahl der Staaten. Versucht man trotz dieser Schwierigkeiten eine
Zusammenstellung der wichtigsten Staaten, so ergibt sich Folgendes:
I. Bezüglich des deutschen Reichsgebietes (in seinem heutigen
Umfange) liegen oflficielle Berechnungen vor. Nach denselben hatte die
Bevölkerung des jetzigen Reichsgebietes Ende 1816 24,831.396 betragen.
Sie stieg bis Ende 1820, also in der Zeit des Friedens nach den Frei-
heitskriegen um 1,43 Jl^ per Jahr; in jedem folgenden Jahrfünft betrug
die durchschnittliche Zunahme: bis 1825 jährl. 1,3«^, bis 1830 jährl.
0,»8, bis 1835 jährl. 0,9», bis 1840 wieder jährl. I,i6, bis 1845 nxTv
0,9«. Von da bis 1850 nur 0,5-; in dieses Lustrum fallt das Theuerungs-
jahr 1847 und das Revolutionsjahr 1848. Das nächste Lustrum, bis 1855,
zeigt noch geringere Zunahme, nämlich nur 0,4o; in diesen Zeitraum
fallen 3 Jahre besonders starker Auswanderung. Bis 1860 wieder jährl.
Zunahme von 0,8» Ji^ ; dann bis 1865 von 0,9». Von 1865 — 70 wieder
nur 0,58 ji^ jährl. Zunahme bei hochgesteigerter Auswanderung. Von 1870
bis 1875 endlich wieder 0^9'i^ jährl. Zunahme. Diese ZiiFem zeigen hin-
reichend, wie unregelmässig der Gang einer an sich bedeutenden Bevöl-
kerung sein kann; sie weisen auch stellenweise gan? deutlich auf die
betreffenden Ursachen hin ').
U. In Oesterreich-Ungarn ergibt sich für die österreichischen
Länder in den Jahren 1830 — 60 ein Zuwachs von 0,6» Ji^; von 1860—78
rascher, nämlich 0,8e Jl^. In den ungarischen Ländern von 1830—60 0,2* ^;
von da bis 1877 aber 0,55 J^. (S. Anm. *).
in. In Grossbritannien mit Irland betrug der jährliche Zuwachs
von 1821—1831 durschschnittlich 1,m)J|^, von 1831—1841 noch 1,07«^,
von 1841—1851 nur 0,23^. Im Ganzen von 1801—01 0,99^, von 1861
bis 1878 0,92 J^. (Vgl. Anm. »).
IV. In Frankreich war die Vermehrung der Bevölkerung seit lange
eine ungleichförmig verzögerte. Sie betrug dort von 1801—1821 einen
Zuwachs von jährlich 0,54 J|^, von 1821 — 1831 0,6*! Jl^ (also in dieser
Periode beschleunigt), von 1831—1841 0,5oJ^, von 1841-1851 0,m^
und von 1851—1856 0,i4j^. Im Ganzen von 1800-:-1860 noch 0,48^,
von 1860 — 1876 nur 0,23 Jl^ Zunahme. Frankreich ist unter den civili-
sirten Staaten derjenige, welcher am nächsten vor einer wirklichen Ab-
nahme der Bevölkerung steht*).
120
Beschleunigte und Tendgerte Bewegung.
V. Italien weist von 1800 — 1861 eine Zunahme von 0,«i9^, von
1861—1878 eine solche von 0,7iJ^ auf*).
VI. Unter den übrigen Staaten Europa's zeigen die meisten
eine ziemlich gleichförmige, wenn auch geringe Zunahme. Besonders be-
schleunigte Zunahme findet sich in Portugal. Hier hatte die Zunahme
von 1801—61 nur 0^9^ betragen, von 1861—74 dagegen l,t:. (Vgl.
die Anm. *) und •).
Aiimerkuagen.
*) Die Ziffern finden sich berechnet im staust. Jahrbuch für das Deutsche
Reich, herausgeg. vonj. kaiserl. stat. Amt. Jahrg. 1880, S. 5.
*) Nach den Publicationen des Italienischen stat. Bur. ^Morimeuto dello
staUy cirile, anni 1862—78." Rom 1880.
') Desgl., theils auch nach Wappäus Bevölkerungsstatistik.
^) Die Ziffern theils nach Wappäus, theils nach der erwähnten italieni-
schen Publication.
*) Nach letztgenannter Publication.
•) Die Vermehrung der Bevölkerung in den europäischen Staaten seit
Anfang des Jahrhunderts, in Procenten ausgedrückt, stellt sich wie folgt (nach
dem oben wiederholt erwähnten Heft der amtl. italien. Statistik):
Staaten
Zeitraum
%
Staaten
Zeitraum
Italien
Grossbritannien u.
Irland ....
n
Irland allein . .
Dänemark
11
Schweden
n
Norwegen
r>
Europ. Russland
Polen insbesondere
r>
Serbien . .
n ' •
Griechenland
n
Portugal . .
1800-61
1861—78
1801—61
1861-78
1801—61
1861—78
1801-60
1860—78
1800—60
1860-78
1800—60
i860-78
1851-63
1863-75
1823-58
1858—77
1834—59
1859—78
1821—61
1861—77
1801—61
1861-74
0,61
0,71
0,99
0,92
0,17
-0,46
0,93
1,11
0,82
1,15
0,99
0,86
1,20
1,11
0,72
1,95
1,92
1,19
1,22
0,97
0,39
1,17
Oesterreich. Länder
r>
Ungarische Länder
7)
Schweiz
Preussen (ohne Zu-
wachs V. i 866) .
Bayern
r>
Sachsen
n .....
Württemberg . .
Niederlande . . .
Belgien
Frankreich . . .
Spanien
r>
1830—60
1860—78
1830—60
1860—77
1837—60
1860-78
1820—61
1861-75
1818—61
1861—78
1820—61
i861-78
1834—61
1861—78
1795 bis
1859
1859—77
1831-60
1860—78
1800—60
1860—77
1800—60
1860—77
0,64
0,86
0,27
0,65
0,59
0,60
1,21
0,98
0,55
0,64
1,41
1,56
0,34
0,76
0,71
0,96
0,76
0,82
0,48
0,23
0,66
0,S5
Holte der OebtutenäfFer. 121
II. Capitel.
Das Werden der Bevölkerung.
§. 73. XTebersicht.
Das Werden der Bevölkerung hat seinen Grund in der Zahl und
den Arten der Geburten. Die Geburten, als eine Masse von Erschei-
nungen, deren Abhängigkeit von stetigen und wechselnden Ursachen schon
der unmethodischen Beobachtung aufiallt, bilden einen Hauptgegenstand
der statistischen Beobachtung. Zwar die absolute Zahl der jährlichen
Geburten eines bestimmten Gebietes ist nur von geringer Bedeutung. Hoch-
wichtig aber wird diese Zahl, verglichen mit anderen Erscheinungen.
Vergleicht man die Zahl der Geburten oder richtiger die Dichtigkeit
der Geburtenfolge eines bestimmten Zeitraumes und Gebietes mit der Zahl
der gleichzeitigen Todesfälle (besser Dichtigkeit der Absterbensfolge), so
erhält man als Resultat die innere Bewegung der Bevölkerung.
Vergleicht man die Zahl der Geburten eines Zeitraumes mit jener
anderer gleich grosser Zeiträume, so findet man eine Regelmässigkeit,
welche uns nicht ^überrascht, weil wir gewohnt sind, sie als eine vom
freien Willen des Menschen nur wenig beeinflusste Naturerscheinung an-
zusehen. Aber es ist an den Gründen dieser Erscheinung zu untersuchen,
was der Natur, was dem Menschen angehört.
Vergleicht man die Zahl der Geburten mit der Zahl der im ent-
sprechenden Zeiträume Lebenden, so erhält man eine sehr beachtenswerthe
Ziffer, welche die Fruchtbarkeit der Bevölkerung ausdrückt; und ver-
gleicht man insbesondere die Zahl der ehelichen Geburten mit jener der
jährlichen Trauungen oder der bestehenden Ehen, so erhält man die
Fruchtbarkeit der Ehen als Resultat.
Die Zahl der Geburten gegenüber der Gesammtbevölkerung diiickt
an sich noch keinen günstigen Zustand aus. Sie darf nicht allein, ohne
Berücksichtigung der gleichzeitigen Sterblichkeit beobachtet werden.
Diese Zahl ist nur die Summe der ehelichen und der unehelichen
Fruchtbarkeit und also die Summe zweier Grössen, welche sehr verschie-
dene Zustände wirthschaftlichen und sittlichen Glückes ausdrücken.
§. 74. Höhe der Geburtenziffer.
Die Geburtenziffer ist die Proportion der Zahl der Geburten
eines Jahres gegenüber der ganzen Volkszahl. Sie wurde früher häufig
so ausgedrückt, dass man angab, auf wie viele Einwohner jährlich eine
122 Höhe d«r Gebarieuidff«r.
Geburt traf. In neuerer Zeit jedoch drückt man sie ebenso wie die Sterb-
lichkeitsziffer etc. durch Procenträtze oder Promillesätze aus.
Zur Feststellung dieses Verhältnisses war demnach eine doppelte
Grundlage erforderlich. Man musste die Zahl der Lebenden durch Volks-
zählungen, die Zahl der Greburten des Jahres durch genaue Geburtslisten
kennen.
Hier stösst man jedoch auf eine beachtenswerthe Schwierigkeit. Bei
der Aufsuchung der Geburtenziffer lag es am nächsten, schlechtweg die
im Beobachtungsjahre oder in einem früheren Jahre durch Volkszählungen
gefundene Zahl der lebenden Bevölkerung durch die Zahl der jährlichen
Geburten zu dividiren. Dies ist ein grober Fehler. Denn da sich die
Volkszahl fortwährend ändert, darf man nicht willkürlich die Geburten-
zahl eines Jahres mit derjenigen Volkszahl vergleichen, die sich in diesem
oder jenem beliebigen Zeitpunkte des Beobachtungsjahres oder eines
früheren Jahres ergeben hat. Diese Ueberzeugung musste die Statistiker
veranlassen, als Dividend diejenige Volkszahl zu nehmen, welche sich
etwa um die Mitte des Jahres ergab, aus welchem man die* Geburten
als Divisor genommen hatte. Aber hiedurch wird der Fehler blos etwas
abgeschwächt, keineswegs gänzlich beseitigt. Es geht nicht an, eine That-
sache als feststehend anzunehmen, die sich fortwährend ändert.
Man darf also weder die Bevölkerung sich als etwas auch nur ein
Jahr lang Gleichbleibendes vorstellen, noch darf man sich zu der will-
kürlichen Vorstellung verleiten lassen, als seien alle Geburten, die wäh-
rend eines Zeitabschnittes stattfinden, in einem einzigen Punkt dieses
Zeitabschnittes zusammengedrängt. Könnte man für jede Stunde oder
wenigstens für jeden Tag des Jahres die wirkliche Volkszahl ermitteln
und aus den einzelnen Daten die Durchschnittssumme der im ganzen
Jahre lebenden Bevölkerung ziehen, so wäre dieses Durchschnittsergebniss
die Grösse, mit welcher die Geburtenzahl des Jahres etwa verglichen
werden dürfte.
Wenn nun trotz der Fehlerhaftigkeit der obenerwähnten Berech-
nungsweise hier mit so berechneten Zahlen operirt wird, so geschieht dies
nur deshalb, weil richtigere Zahlen eben nicht zur Verfügung sind.
Die Geburtenziffer allein kann den Gang der Bevölkerung nicht
bestimmen. Sie kann dies nur im Zusammenhange mit der Zahl der Todes-
fälle. Wenn z. B. bei einer Bevölkerung von 3 Millionen jährlich 100000
Geburten stattfänden, bei einer anderen gleich grossen Bevölkerung blos
50000, so ergibt sich daraus noch nicht, ob die eine oder die andere
dieser Bevölkerung zunimmt. Denn es könnte die erste auch 100000 und
die zweite blos 50000 Todesfälle haben.
Höhe der GebartenzifFer.
123
In Europa stellte sicli diese Ziffer in den letzten Jahrzehnten so,
dass durchschnittlich auf 1000 Einwohner etwa 30 Geburten treffen. Diese
Ziffer schwankt jedoch in den verschiedenen Staaten und auch innerhalb
eines und desselben Staates. Als ihre äussersten Grenzen findet man 25,5
Promille und 49,5 Promille in ganzen Staaten; in kleineren Räumen sind
die Unterschiede noch grösser. Einzelne Provinzen europäischer Staaten
zeigen nämlich Geburtenziffern bis zu 62,5 Promille, (d. i. auf 16 Ein-
wohner eine Geburt); andere nur bis zu 18,5 Promille (auf 54 Einwohner
eine Geburt).
Anmerkung.
Die Geburtenziffer in den europäischen Staaten, ausschliesslich der Todt-
geboreneu betragt (nach der amtl.
anni 1862—78" Rom 1880):
Publication „Movimento dello stato civile,
Länder
Durch-
schnitt der
Jahre
Länder
Durch-
schnitt der
Jahre
© SS o
Italien . . .
Frankreich .
England m. Wales
Schottland .
Irland . . .
Deutsches Reich
Preussen . .
Bayern . .
Sachsen . .
Thüring. Staaten
Württemberg
Baden . . .
Oesterreich (westl
Reichshälfbe)
Ungarn . . .
1865—78
1865—77
1865-78
1872-78
1865—78
«
n
n
1866^-78
1865—78
1865—77
3,70
S,58
3,56
3,52
2,67
3,98
3,87
3,94
4,17
3,66
4,34
3,79
3,88
4,18
Croatien und Sla-
Tonien .
Schweiz . .
Belgien . .
Niederlande
Schweden ..
Norwegen .
Dänemark
rinnland .
Spanien • .
Griechenland
Rumänien .
Serbien . .
Europ. Russland
Russisch Polen
1870—78
1865—78
1865-77
1865—78
1865-70
1865—77
1870—77
1865-78
1867—75
1865—77
4,41
3,08
3,21
3,56
3,04
3,06
3,10
3,47
3,67
2,88
3,04
4,30
4,96
4,23
In Städten Europa's (und Nordamerika's) stellt sich die Geburtenziffer wie
folgt (nach Körosy: Statistique internationale des grandes villes. Budapest 1876).
Auf 1000 Lebende treffen Geburten:
Budapest (1875) 45,4
Wien (1874) 38,4
Prag (1869) 42,6
Triest (1870) 39,8
München (1871) 37,2
Frankfurt a. M (1875) 30,9
Leipzig (1866—75) 32,8
Stuttgart (1871) 34,4
Hamburg „ 34,6
Rom . „ 27,7
Turin (1872) 26,9
Palermo (1871) 31,9
Venedig (1875) 29,5
Mailand (1871) 29,5
Philadelphia (1870) 25,5.
Stockholm (1864—73) 33,4
Christiania (1972) 35,3
Kopenhagen (1870) 31,i
Petersburg (1869) 28,i
Moskau (1871) 33,3
Odessa . .(1873) 27,8
Gent (1863) 32,9
124 Eioflass des Ortes and Klimas.
Lüttich (1866) 32,2
Antwerpen ^ 33,8
Haag (1869) 34,5
Rotterdam (1869) 38,4
Berlin (1871) 33,3
Dresden (1875) 37,5
Köln (1875) 4«,8
Breslau ^ 41,2
Neapel (1871) 35,i
Paris (1869—75) 30,3
London (1871) 34,5
§. 75. EinfluBs des Ortes und Klimas.
So nahe auch die Anschauung liegt, dass Grund und Boden als
Unterlage der Bevölkerung auch die natürlichste Einwirkung auf das
Werden der Bevölkerung hat und dass ebenso auch das Klima, welches
ja dem Boden sein äusseres Gewand verleiht, seine Einflüsse hier mit
Macht spielen lässt: so haben doch die Untersuchungen über diese Ein-
flüsse zu keinen Resultaten geführt. Und zwar einestheils wegen Unzuver-
lässigkeit der Daten, anderntheils wegen der vielen fremden Umstände,
welche den Gegenstand verdunkeln. Denn neben den klimatischen Ein-
flüssen wirken auch noch die materiellen und sittlichen Cultui-verhältnisse
oft sogar vorherrschend.
Vergleicht man die Geburtenziffer mehrerer Bevölkerungen, so findet
man oft zwischen benachbarten Ländern mit gleichem Klima eben solche,
wenn nicht grössere Verschiedenheiten, als bei den entlegensten Ländern
mit ganz entgegengesetzten klimatischen Verhältnissen.
Anmerkung.
Dies zeigt beispielsweise folgende Zusammenstellung Ton Greburtenziffern
aus den rerschiedensten Theilen der Erde.
Croatien und Slavonien (1877) 4,4i %
rinnlaud ^ 3,80 „
Martinique (1876) 3,32 „
St. Pierre und Miquelou „ 3,26 „
Französische Colouien in Indien .... „ 3,23 „
Tasmanien (1877) 2,99 „
Insel Reuuion (1876) 2,4i «
Französisch Guyana „ 1,36 „
Französische Besitzungen am Senegal . „ 0,47 ,,
£s ist ganz unmöglich, zwischen diesen Geburtenziffern und der geogra-
» phischen Lage der Orte eine Beziehung aufzufinden.
Wappäus (Beyölkerungsstatistik I, S. 155) berichtet, dass auf Martinique
(1841—43) bei der dortigen weissen Bevölkerung eine Geburtenziffer von 1 : 39,16
herrschte; bei den freien Farbigen dagegen (1840 — 43) eine solche von
1 : 25,96. -
Hieraus ergibt sich, dass Abstammung und Lebensweise jedenfalls einen
so grossen Einfluss auf die Geburtenziffer nehmen, dass der Einfluss des Ortes
und Klimas dadurch ganz in den Hintergrund gerückt wird.
Einflnes der Tolksdichtigküt. 125
§. 76. EinfluBs des Alten.
Nach Beobachtungen auf Grundlage der Geschlechtsregister englischer
Pairs fand man *) zuerst, dass unter sonst gleichen Umstanden die Frucht-
barkeit der Ehen im Verhältniss zu dem vorgerückten Alter der Eheleute
abnimmt. Im Allgemeinen hat man freilich diese Beobachtung längst auch
ohne Statistik gemacht; letzterer blieb es indessen vorbehalten, diesen
Einfluss des Alters zu messen. Man hat ferner gefunden, dass die Frucht-
barkeit der Ehen ihren höchsten Werth erreicht, wenn die Eltern gleich
alt sind oder wenn der Mann 1 — 6 Jahre älter ist als die Frau.
Das weibliche Geschlecht allein zeigte eine Zunahme der Frucht-
barkeit von 12 bis zu 27 Jahren. Quetelet fasste die bezüglich der Ein-
wirkung des Alters auf die Geburtenhäufigkeit geftindenen Resultate in
folgendem zusammen:
Allzu früh geschlossene Ehen fordern die Unfruchtbarkeit. Vom
33. Jahr bei Männern, vom 26. bei Frauen fängt die Fruchtbarkeit ge-
ringer zu werden an. Zu dieser Frist erreicht sie ihren Höhepunkt. Unter
sonst gleichen Umständen ist sie am grössten, wo der Mann mindestens
eben so alt oder um wenig älter ist als die Frau.
Neuere Untersuchungen haben zwar gleichfalls einen Einfluss des
Alters und der körperlichen Beschaffenheit der Eltern auf die Häufigkeit
der Geburten gezeigt; aber eine genaue Messung dieses Einflusses erfordert
noch breitere ziffermässige Grundlagen *).
Anmerkungen.
') Sadler, nach ihm Quetelet.
') Eugel, Bewegung der Bevölkerung iu Sachsen.
§. 77. Einfluss der VoUudiehtigkeit.
Man hat behauptet, die Geburtenziffer stehe im innigsten Zusammen-
hange mit der Volksdichtigkeit. Diese Annahme gründet sich auf die Er-
wägung, dass mit der Zunahme der Volksdichtigkeit eines Landes auch
die Schwierigkeit des Unterhaltes einer Familie sich steigert.
Doch ist diese Behauptung noch nicht erwiesen; noch viel weniger
das vermeintliche Gesetz, dass die Fruchtbarkeit der Bevölkerung sich
umgekehrt wie ihre Dichtigkeit verhalte. Dies zeigt sich sofort bei der
Vergleichung mehrerer Länder nach Geburtenziffer und Volksdichtigkeit *).
Man wird daher die Geburtenziffer mit der Volksdichtigkeit nur in-
sofern in Verbindung bringen können, als die letztere gleichsam ein Ge-
sammtausdruck für alle geographisch verschiedenen Verhältnisse ist.
Anmerkung.'
*) Man vergleiche folgende Zusammenstellung:
126 KnUuBs der Jahrgänge.
j .. , Volks- Geburtenziffer Rang nach der
i^anaer dichtigkeit (1862-78)% Geburtenziffer
Belgien 186 3,2i 8
Niederlande 128 3,66 7
Italien 95 3,7o 5
Deutsches Reich 79 3,98 3
Frankreich 70 2,98 12
Oesterreich (Westhälfte) ... 67 3,88 4
Ungarische Länder 47 4,i8 2
Spanien 33 3,57 6
Griechenland 33 2,88 11
Serbien 32 4,30 1
Schweden 10 3,04 10
Norwegen 6 3,06 9
§. 78. Einfluss der Jahrgänge.
Der entschiedene Einfluss der Jahrgänge auf die Geburtenziffer ist
durch eine Reihe von Untersuchungen bewiesen ^) *). Die Fruchtbarkeit der
Ehen eines Landes innerhalb eines Jahrhunderts ändert sich nicht auf-
fallend, wenn man die zufälligen Einflüsse einzelner mehr oder weniger
günstiger Jahrgänge dadurch beseitigt, dass man längere Zeiträume zur
Vergleichung wählt. Seuchen, Theuerungsjahre üben den deutlichsten Ein-
fluss auf die Geburtenziffer aus *).
Jede Entbehrung hält die Entwicklung des Menschengeschlechts auf.
Ihre Einwirkung auf die Bevölkeningsbewegung ist dabei keine momentane.
So machen sich namentlich Theuerungsjahre in ihrer Einwirkung auf die
Geburtenziffer regelmässig erst dann fühlbar, wenn fast ein Jahr seit der
Theuerung verflossen ist. Oft zeigen sich die Folgen noch später. Die
Schwankungen in den Lebensmittelpreisen der einzelnen Jahrgänge und in
der Geburtenziffer sind nicht von gleicher Lebhaftigkeit, weil die physischen
Verhältnisse des Menschen nicht so beweglich sind wie die sachlichen, und
weil neben den gerade beobachteten Einflüssen noch andere wirksam sind.
Den Einfluss einer Theuerung beobachtend, muss man stets berücksichtigen,
ob wirklich alle Lebensmittel theurer geworden sind oder nur eine Gat-
tung. Oft z. B. sind die Fleischpreise den Getreidepreisen umgekehrt pro-
portional.
In einzelnen Jahrgängen machen sich auch noch andere Einflüsse
geltend, als diese volkswirthschaftlichen.
So zeigte z. B. Engel für Sachsen im Jahre 1849 trotz mittlerer
Getreidepreise und hoher Fleischpreise eine ganz auffallend starke Häufig-
keit der Geburten. Hier machte sich eben neben den Lebensmittelpreisen
ein anderer Einfluss geltend. Augenscheinlich ist es die freisinnige politische
Einflnss der JahresKeiten. 127
Biewegnng des Jahres 1848, welche diese GeburtenziflPer bewirkte. Ob sie
nachhaltig war, ist eine andere Frage*).
Anmerkungen.
^) Die von Süssmilch sind die ältesten. Vgl. namentlich die Tabellen zum
I. Bd. der „Göttlichen Ordnung".
*) Quetelet zeigte dies an einer Tabelle über die Berölkerungsbewegung
der Niederlande in den Jahren 1815—26. Das Jahr 1817, als der Getreidepreis
weit über das Doppelte des Durchschnittes dieser Jahre stieg, hatte eine bedeu-
tende Verminderung der Geburten zu Folge.
*) Den gleichen Beweis liefert y. Hermann für die Bewegung der Bevöl-
kerung Bayerns. Vgl. Die Bewegung' der Bevölkenmg im Königr. Bayern.
Herausgeg. v. K. statist. Bureau. 1863, S. 88. — Vgl. auch: Statist. Mitthei-
lungen aus dem Königr. Sachsen: die Bewegung der BeTölkerung. 18o2. S. 24.
*) Die merkwürdigsten zeitlichen Schwankungen der Geburtenziffer zeigen
junge Colonien. So führt Wappäus eine Geburtenziffer an:
in Neu-Süd- Wales (1841—42) von 1 : 24,i
„ „ „ „ (1849-54) „ 1:28,6
„ Süd -Australien (1840—42) „ 1 : 41,7
„ „ „ (1854-55) „ 1:24,7
Grösseres oder geringeres Ueberwiegen der männlichen über die weibliche Ein-
wanderung ist die leicht erklärliche Ursache. (Wappäus, Bevölkerungsstatistik
L, S. 155.)
§. 79. Einfluss der Jahreszeiten.
Der Umstand, dass bei den Thieren die Fortpflanzung der Art perio-
dischen Einflüssen unterworfen ist, welche mit dem Wechsel der Jahres-
zeiten zusammenhängen, legt es nahe, solche Einflüsse auch beim Menschen
zu vermuthen; obgleich hier von vornherein anzunehmen war, dass die
Civilisation, namentlich in den Städten diese Einflüsse abschwächen musste.
Der Wechsel der Jahreszeiten beeinflusst nicht allein den Wechsel der
Temperatur und der Witterung, sondern auch andere Umstände, welche .
geeignet sind, auf die Geburtenhäufigkeit einzuwirken, und welche anderer-
seits mit dem gesellschaftlichen Leben des Menschen zusammenhängen.
Um den Einfluss der Jahreszeiten auf die Häufigkeit der Geburten
zu beobachten, müsste man natürlich nicht die Monate, in welchen die
Geburten erfolgen, ins Auge fassen, sondern diejenigen Monate, in welchen
die den Geburten entsprechenden Conceptionen vorangingen. Hiebei musste
sich ein Einfluss derjenigen Jahreszeiten ergeben, welche man als Epochen
der Ruhe und Arbeitserholung beobachtet, und jener, welche sich durch
reichliche Nahrungsmittel und erhöhtes gesellschaftliches Leben auszeichnen.
Erniedrigend auf die Häufigkeit der Geburten (resp. Conceptionen) wirken
die Zeiten der beschwerlichen Arbeit (Erntezeit), der Lebensmitteltheuerung,
die strenge Beobachtung der Fastenzeit. (Untersuchungen über den Einfluss
der letzteren wären besonders in jenen Ländern, deren Bevölkenmg der
128
Einfluss der Jahreszeiten.
streng tastenden griechischen Kirche angehörte, interessant.) Die Umstände,
welche den Menschen kräftigen, erhöhen seine Fruchtbarkeit und umgekehrt.
Anmerkung.
Eingehende Untersuchungen über diese Erscheinung finden sich bei
Wappäus, a. a. 0. S. 234 ff., wo auch die werthvoUsten älteren Arbeiten hier-
über Yon Wargeutin, Villerme und Quetelet ausführlich erwähjit sind. Wappäus
stellte die Bewegung der Geburtenzahl nach Monaten für Sardinien, Belgien,
Niederlande, Sachsen, Schweden und Chile zusammen und fand bei diesen Be-
völkerungen deutlich in jedem Jahre ein zweimaliges Steigen und Fallen dieser
Zahl. Er fand ferner, dass diese beiden Bewegungen in allen Ländern der Jah-
reszeit nach sehr nahe übereinstimmen. In den europäischen Staaten zeigte sich
das erste Maximum im Februar und März, das zweite im September. Die Ur-
sache der ersten Steigung ist wohl überwiegend physischer Natur: die Zeit, die
alles organische Leben neu erweckt. Die Ursache der zweiten Steigung (wo die
Conceptionen in den December fallen) kann nicht physischer, sondern muss
socialer Natur sein. Es ist diese Ursache wohl die in den Monat December nach
der Erntezeit fallende Zeit der häuslichen Behaglichkeit und besseren Ernährung.
Die Ursachen beider Steigungen lassen sich in den yerschiedenen Ländern
verfolgen. Man erkennt deutlich, in welchen Ländern die socialen, in welchen
die physischen Ursachen der Steigung vorherrschen und wie sie zu erklären
sind. Am wenigsten regelmässig ist dieses Steigen und Fallen in Sachsen und
es lässt sich dies aus dem vorzugsweise industriellen, von physischen — mit
den Jahreszeiten zusammenhängenden — Einflüssen weniger beherrschten socia-
len Charakter der sächsischen Bevölkerung erklären. Am schärfsten sind unter
den beobachteten Staaten diese Contraste der Vertheilung der Geburtenzahl
nach Jahreszeiten in Chile ausgedrückt. In diesem Lande mit junger Cultur
findet sich die Abhängigkeit der Geburtenzahl von den physischen und socialen
Einflüssen der Jahreszeiten gesteigert — ganz entsprechend dem Charakter einer
vorzugsweise aus Rohproducenten bestehenden Bevölkerung.
Von neueren Beobachtungen über diesen Gegenstand sei nur eine Tabelle
erwähnt, welche sich auf das Deutsche Reich bezieht (in den Vierteljahrsheften
zur Statistik d. Deutschen Reiches, XX. Bd. 2. Heft 1. Abth., S. 52).
Von 100 Geburten
des ganzen Jahres kommen
auf den Monat
Januar . .
Februar ,
März . . .
April . . ,
Mai . . .
Juni . . .
Juli . . .
August . .
September
October . .
November
December
im Jahre
1872
1873
1874
8,61
8,83
8,76
8,08
8,34
8,01
9,11
8,70
8,71
8,68
8,09
8,06
8,56
8,07
8,11
7,71
7,67
7,69
8,04
8,16
8,18
8,28
8,39
8,27
8,47
8,65
8,74
8,20
8,46
8,62
7,99
8,31
8,44
8,37
8,43
8,42
Emilass von Stand, Bernf nad Wolinort. 129
Weun auch die doppelte Hebung wid Senkung hier nicht in jedem Jahre
sich präcis wiederholt, sp zeigt sich doch immerhin deutlich die starke Gebur-
tenziffer im ersten Quartal (entsprechend den Conceptionen der Frühlingsmonate
des Vorjahres) und gleichmässig in allen drei Jahren diejenige des Monats
September (entsprechend den Conceptionen des yorhergegangenen Decembers).
§. 80. Einflass von Stand, Beruf nnd Wohnort.
Der Einflusß von Stand und Beruf auf die Geburtenziffer scheint
durch andere Einflüsse verdeckt zu werden. Von grosser Bedeutung dürfte
er um so weniger sein, als ja die Veränderungen, welche die Lebensweise
des Menschen durch seinen Beruf erleidet, überall andere sind.
Insofern der Unterschied von Stadt und Land mit dem Beruf der
Bevölkerung und mit ihrer Arbeit auf das innigste zusammenhängt, ist
derselbe hier zu beachten. Den Einfluss des Berufs auf die Geburtenziffer
untersuchend, muss man daher zunächst städtische und ländliche, indu-
strielle'und landwirthschaftliche Bevölkerung prüfen. (Die Begriffe städtische
und industrielle Bevölkerung einerseits, ländliche und ackerbautreibende
Bevölkerung andererseits sind keineswegs identisch, weil in manchen Land-
schaften industrielle Thätigkeit und entsprechende Lebensweise auch in den
Dörfern sich findet.) So eingehend die Untei-suchüngen auch sind, welche
in dieser Hinsicht angestellt wurden, so haben dieselben dennoch keine
allgemein giltige Regel zu Tage gefördert ^). Die gemachten Erfahrungen
sind zu widersprechend. Man fand in Sachsen eine geringere Fruchtbarkeit
der Städte als der Dörfer; in Bayern ist nach langjährigen Beobachtungen
die städtische Fruchtbarkeit wenigstens um ^5 geringer, als die ländliche ^);
anderwärts das Gegentheil ') *).
Es scheint aber auch die städtische Geburtenziffer an sich ein
Gegenstand zu sein, der wohl schwer unter irgend eine Regel zu bringen
ist und daher auch nicht mit der ländlichen Geburtenziffer in ein constantes
Verhältniss gebracht werden kann *).
Anmerkungen.
*) Engel hat dies zuerst in gründlichster Weise gethan (in den Statist.
MittheiJuugen aus dem Königr. Sachsen: Die Bewegung der Bevölkerung. Dresden
1852). Bezüglich des Unterschiedes der Geburtenziffer städtischer und ländlicher
BeTölkeruttg bemerkte er eine kleinere Fruchtbarkeit der Städte als der Dörfer,
ludessen darf man daraus keine zu kühnen Schlüsse ziehen, denn die Zahl der
Beobachtungen war verhältnissmässig gering. Man darf die für das Königreich
Sachsen mit meinen aussergewöhn liehen BeTölkerungsverhältnissen gefundene
Wahrnehmung nicht ohne Weiteres yerallgemeinern und als eine für jeden
Staat giltige Regel hinstellen.
Dagegen unterschied Engel die vorzugsweise Ackerbau treibenden Ort-
schaften von jenen, welche vorzugsweise gewerbliche und Handel treibende
Hansliofer, SUtisUk. 2. Aafl. 9
130 Einfluss Ton Stand, Beruf und Wohnort.
Bevölkeruug haben. Er fand, dass während im ganzen Königreich Sachsen in
der Zeit von 1840 49 die Geburtenziffer 1 : 24,4« betrug, sie in den Ortschaften
mit vorzugsweise Ackerbau treibender Bevölkerung auf 1 : 25,80 und in jenen
mit Gewerbe oder Handel treibender Bevölkerung 1 : 23,72 sich stellte.
Dadurch ist klar geworden, dass die industrielle Bevölkening in einer
gegebenen Zeit mehr Geborene erzeugt, als die Ackerbau treibende. Und neben
dieser grösseren Fruchtbarkeit bedingt der vorwaltend gewerbliche Charakter
auch eine grössere Volksdichtigkeit.
*) V. Hermann: Die Bewegung der Bevölkerung *im Königr. Bayern.
Herausgeg. v. kgl. statistischen Bureau. München 1863. S. 89.
') Man vergleiche nur die von Wappäus, Allg. Bevölkerungsstatistik II,
S. 481 mittgetheilte Tabelle. Nach derselben stellt sich die städtische Geburten-
frequenz höher als die ländliche in: Frankreich, den Niederlanden, Belgien,
Dänemark, Sachsen; niedriger dagegen in: Schweden, Schleswig und Holstein,
Württemberg, Hannover, Preussen.
*) Vergleicht man die deutschen Staaten (resp. Preussen die Provinzen)
nach dem Wohnsitz der Bevölkerung und zugleich nach der Geburtenziffer, so
lässt sich ebenfalls keine bestimmte Regel für dieses Verhältniss aufstellen.
Unter den deutschen Ländern zeigen besonders vorwiegende ländliche Bevöl-
kerung (1875): Hohenzollern (wo nur 10,8 % der Bevölkerung in Orten über
2000 Seelen wohnen), Waldeck (12,8 %\ Lippe (17,3 %\ Oldenburg (17,7 %\
Ostpreussen (21,7 %\ Posen (22,5 %), Schwarzburg-Rudolstadt (23,3 %\ Schaum-
burg-Lippe (24,3 %). Die Geburtenziffer beträgt bei Hohenzollern 4,i5 %\
Wal deck 3,71 ; Lippe 3,92; Oldenburg 3,53; Ostpreussen 4,i4; Posen 4,6"; Schwarz-
burg-Rudolstadt 3,65; Schaumburg-Lippe 3,42 %. Demnach finden sich besonders
hohe wie besonders niedrige Geburtenziffern in solchen Ländern, deren Bevöl-
kening vorzugsweise in kleinen Orten wohnt. Umgekehrt zeigt ein fortgesetzter
Vergleich, dass auch besonders hohe wie besonders niedrige Geburtenziffern
sich in Ländern mit vorzugsweise städtischer Bevölkerung finden. Das Stadtge-
biet Lübeck hat eine (für Deutschland) niedrige Geburtenziffer von 3,42 %;
Sachsen dagegen, wo über 52,7 % der Bevölkerung in Ortschaften über 2000
Seelen wohnen, weist die ausnehmend starke Geburtenziffer von 4,4o % auf.
*) In Bayern stellte sich (nach obei-wähnter officieller Publication) für
die Jahre 1835—40 die Geburtenziffer der Städte wie folgt: Schwabach 3,6i %\
Nördliugen 3,5i; Memmingen 3,39; Fürth 3,37; Hof 3,25; Erlangen 3,2o; Nürnberg
3,19; Kaufbeuern 3,i6; Landshut 3,i5; München 3,io; Schweinfurt 3,o7; Bamberg
und Würzburg 2,95; Eichstädt 2,87; Regensburg 2,84; Rothenburg 2,7?; Dinkels-
bühl 2,68; Straubing 2,66; Augsburg 2,64; Neuburg 2,6o; Kempten 2,ö6; Ingol-
stadt 2,53; Ansbach 2,44; Bayreuth 2,:ü; Lindau 2,08; Amberg 1,99; Passau 1,76;
Aschaffenburg 1,66 %. — Diese Ziffern zeigen zunächst wieweit die städtische
Geburtenziffer in einzelnen Fällen unter ihren Durchschnitt (welcher hier für alle
unmittelbaren Städte 2,88 % betrug) herabgehen kann; wie selbst blühende
Industriestädte (wie z. B. Augsburg) mit ihrer starken industriellen Bevölkerung
unter jene Durchschnitte herabgehen können und wie überhaupt die städti-
sche Geburtenziffer sich als eine sehr regellose Grösse darstellt. Das ergibt
sich auch aus folgender Zusammenstellung.
Einfluss der Sittlichkeit. 131
Vergleicht man die Geburteuziffern der Länder mit denen ihrer bedeu-
tendsten Städte, so ergibt sich folgendes Resultat. Auf 100 Lebende treffen
Geburten :
Preussen (1871) 3,37
Berlin „ 3,33
Bayern „ 3,64
München „ 3,72
Sachsen (1875) 4,36
Dresden „ 3,75
Württemberg (1871) 4,09
Stuttgart , 3,44
Oesterreich (1874) 3,9i
Wien „ 3,84
Ungarn (1875) 4,49
Budapest „ 4,54
Frankreich (1865/77) 2,56
Paris (1869/75) 3,03
England . , (1871) 3,5i
London „ 3,46
Italien (1871) 3,7o
Rom „ 2,77
Neapel „ 3,öi
Palermo „ 3,i9
Mailand ,, 2,95
Schweden (1865/78) 3,04
Stockholm (1864/73 3,34
Norwegen (1872) 2,98
Christiania ^ 3,53
Russland (1869) 4,89
Petersburg ^ 2,8i
Russlaud (1871) 5,02
Moskau „ 3,33
Niederlande (1869) 2,83
Haag „ 3,46
Rotterdam „ 3,85
§. 81. Einfluss der Sittlichkeit u. s. w.
Da die Sittlichkeit an und für sich schon eine Erscheinung ist,
welche der Statistik schwer zugänglich bleibt, ist es auch nicht leicht,
ihren Einfluss auf die Fruchtbarkeit der Bevölkerung zu erkennen. Cultur-
historiker, Geographen, Nationalökonomen, Politiker und Mediciner haben
zwar durch Anführung zahlreicher einzelner Fälle gezeigt, wie mächtig
ünsittlichkeiten aller Art die Volksvermehrung beeinträchtigen. Die
Weibergemeinschaft roher Völker wirkt vermindernd auf die Fruchtbar-
keit, wie die Vielweiberei oder die in einzelnen Ländern Hochasiens
übliche Vielmännerei; die Unfruchtbarkeit der Freudenmädchen ist noto-
risch und nicht minder hat die Geschichte das rasche Sinken jener Völker
gezeigt, deren Kraft von unnatürlichen Lastern zerfressen ward. Die Zifl^ern
der Statistik wären fast unnöthig, um noch die Beweise zu liefern, wo
man ganze Völker, die einst an der Spitze der Civilisation einherschritten,
in ihren Lastern dahinsiechen sah; nur zeigt die Gulturgeschichte nicht
exact genug, ob grosse Sterblichkeit oder geringe Fruchtbarkeit den
grösseren Antheil an diesem Verfalle hat.
Dagegen ist Willenskraft und Vorsicht ofl^enbar gleichfalls von ent-
scheidendem Einflüsse auf die Geburtenfrequenz. Wer in unsicherer wirth-
schaftlicher Lage sich befindet, wird sich, wenn Willenskraft und Vorsicht
ihm eigen sind, scheuen, eine Familie zu begründen, während da, wo
Rohheit oder Elend diese Mächte nicht zur Geltung kommen lassen, der
Mensch, unbekümmert um die Zukunft, von thierischen Trieben sich hin-
9*
132 Einflass politischer and religiöser Yerhftltnisse.
reisseo lägst. Ein aufFallendes Beispiel von den Folgen der Armuth und
Entsittlichung einer Bevölkerung bietet die mexikanische Provinz Guana-
xuato mit einer Geburtenziffer von 1 : 16,08 oder 6,21^ (der freilich auch
eine Sterblichkeit von 1 : 19,7o oder 5,oi % gegenüber steht). Man schreibt
diese ungewöhnlich starke Geburtenziffer dem Klima zu, das einestheils
durch den Reichthum seiner Vegetation den Menschen vor Nahrungssorgen
sichert, andemtheils die Willenskraft der Bevölkerung ihren thierischen
Trieben gegenüber lahm legt. Da sind „Myriaden von Kindern, die
grösstentheils nicht einmal das Säuglingsalter überleben" (Quetelet).
§. 82. Einfluss politischer und religiöser Verhältnisse.
Bei dem innigen Zusammenhange , der zwischen den politischen
Institutionen und der politischen Lage einerseits, dem wirthschaftlichen
und socialen Glücke der Bevölkerung andererseits besteht, ist eine Ein-
wirkung jener auf die Geburtenziffer als etwas fast nothwendiges und
leicht erklärliches anzunehmen.
„Die politischen und religiösen Vorurtheile", sagt Ciuetelet, „scheinen
zu allen Zeiten günstig auf die Fortpflanzung der menschlichen Gattung
gewirkt zu haben; in einer grossen Fruchtbarkeit glaubte man unzweifel-
hafte Zeichen des himmlischen Segens und des Wohlstandes zu erkennen,
ohne zu beachten, ob die Geburten auch im Verhältniss stehen mit den
Unterhaltsmitteln" .
Es wird jedoch immer ziemlich schwierig sein, den Einfluss politi-
scher und religiöser Verhältnisse auf die Geburtenziffer so weit von anderen,
ihn verdunkelnden Einflüssen zu isoliren, dass er messbar wird.
So theilt Quetelet mit (nach d'Ivernois), wie die Bevölkerung der
Normandie zur Zeit des ersten französischen Kaiserreichs die durch den
Krieg entstandenen Lücken möglichst rasch wieder auszufüllen suchte,
während späterhin die Häufigkeit der Geburten wieder auf eine normale
Höhe zurückging *). So weist Frankreich 1872 eine stärkere Geburtenziffer
auf, als 7 Jahre vorher und 5 Jahre nachher und es erscheint sehr
gerechtfertigt, dieses Steigen der Geburtenziffer mit dem vorhergegangenen
Kriege in Verbindung zu bringen ^). Der Krieg hatte die Geburtenziffer
ungewöhnlich vermindert; was erscheint natürlicher, als dass der folgende
Friede sie zunächst ungewöhnlich erhöhte und dass später das durch-
schnittliche Verhältniss längerer Friedensjahre zurückkehrte? Im deutschen
Reiche gestaltete sich die Sache anders; auch in den deutschen Staaten
sank während des Krieges die Geburtenziffer ungewöhnlich tief und stieg
hernach wieder über den Durchschnitt, hielt sich jedoch fortan, wegen
des gleichzeitig stattgefundenen wirthschaftlichen Aufschwunges, dauernd
höher »).
Einfluss politischer und religiöser Verhältnisse. 133
Eine andere charakteristische Erscheinung ist jedenfalls die auffallende
Verschiedenheit der Geburtenziffern bei den Völkern germanischen und
romanischen Stammes einerseits, den slavischen Völkerschaften andrerseits.
In gj^nz Europa ragen die slavischen Völkerschaften durch ihre starken
Geburtenziffern hervor. Dies 'zeigt sich nicht allein, wenn man die Länder
mit slavischer Bevölkerung, Russland, Polen, Serbien etc. den übrigen
europäischen Ländern gegenüberstellt *), sondern es zeigt sich ganz besonders
deutlich in Staaten, wo einzelne Provinzen vorzugsweise slavische Be-
völkerung haben. So hat die Provinz Posen eine stärkere Geburtenziffer,
als alle übrigen preussischen ProAdnzen und als alle deutschen Staaten.
In Oesterreich-Ungam ist die Geburtenziffer der östlichen vorzugsweise
slavischen Reichshälfte weit stärker als jene der westlichen Reichshälfte ^).
Ob aber politische, sittliche, religiöse oder wirthschaftliche Verhält-
nisse diese verschiedenen Geburtenziffern vorzugsweise bedingen, lässt sich
vorerst nicht entscheiden.
Schwieriger ist es, den Einfluss religiöser Verhältnisse auf die Ge-
burtenziffern klarzustellen •).
Anmerkungen.
») A. a. 0., S. 106.
*) In Frankreich betrug der Durchschnitt der Geburtenziffer von 1865—68
2,58 %. Sie sank im J. 1871 auf 2,26 % und stieg 1872 wieder auf 2,68 %,
*) So stellten sich in den wichtigsten deutschen Staaten die Geburteu-
ziflfern wie folgt:
. Länder Ste" *«'* 1»'«
Preussen 3,78 3,37 3,97^1^
Bayern 3,94 3,64 3,97 „
Sachsen • 4,i7 3,75 4,24 „
Thüringische Staaten 3,66 3,4i 3,60 „
Württemberg 4,34 4,09 4,35 „
Baden 3,79 3,60 3,99 „
*) Vgl. die Anmerkungen zu §. 79.
*) Sie beträgt im cisleithanischen Oesterreich für den Durchschnitt der
Jahre 1865—78 3,88*, in Ungarn 4,i8 (von 1865—77); in Croatien-Slayonien
(1870-78) 4,41 %.
•) In Sachsen fand Engel eine Geburtsziffer you:
Jahrgang
1847
1848
1849
bei Protestanten
1:25,06
1:25,77
1:23,01
bei Katholiken
1:35,94
1:37,48
1:28,72
134 Schlnssbemerknngen.
Er schreibt jedoch dieses Unterliegen der Geburtenziffer der Katholiken
gegenüber jener der Protestanten keineswegs dem confessionellen Unterschiede
zu, sondern, wie es scheint mit Recht, den zur Begründung eines Familienstandes
weniger geeigneten Berufsarten, welchen die sächsischen Katholiken meist
angehören.
§. 83. Schlxusbemerknngen.
Aus diesen Beobachtungen der auf die Geburtenziffer wirkenden
Einflüsse ergibt sich, dass ^ine hohe Geburtenziffer an sich noch kein
Ausdruck wirthschaftlichen und sittlichen Wohlbefindens
der Gesellschaft ist. Denn eine Zunahme der Geburten im Allgemeinen
kann sowohl aus einer Vermehrung der Eheschliessungen, als auch aus
einer Vermehrung der unehelichen Geburten besonders herrühren. Sie
kann ihren Grund ebensowohl in höherem wirthschaftlichen Glücke, als
auch in grösserem Leichtsinne der Bevölkerung haben. Sie kann endlich
Hand in Hand gehen mit einer geringeren oder mit einer grösseren
Sterblichkeit.
Die allgemeine Geburtenziffer ist übrigens nicht der genaueste Aus-
druck für die Fruchtbarkeit einer Bevölkerung. Denn bei der Ermittelung
der allgemeinen Geburtenziffer wird die Zahl der Geborenen mit der Ge-
sammtheit der Bevölkerung verglichen, während doch ein grosser Theil
der letzteren (Kinder und Greise) an der Fortpflanzung der Bevölkerung
sich nicht betheiligt. Der Altersaufbau der Bevölkerungen ist keineswegs
überall gleich und deshalb darf die Geburtenziffer nicht mit der wirk-
lichen Fruchtbarkeit der an der Fortpflanzung betheiligten Altersclassen
verwechselt werden. Immerhin ist sie der brauchbare Ausdruck für den
inneren Zuwachs der Bevölkerung.
Will man die Geburtenziffer in Zusammenhang mit solchen Er-
scheinungen des gesellschaftlichen Lebens bringen, welche einen ethischen
Hintergrund haben: dann muss von der allgemeinen Geburtenziffer die
Ziffer der ehelichen Geburten ausgeschieden werden, weil nur sie das
Maass fiir jenen inneren Bevölkerungszuwachs gibt, welcher unter der aus-
drücklichen Sanction der gesitteten Gesellschaft stattfinden darf.
Eine vollständige Betrachtung des Geburtenverhältnisses muss end-
lich auch die Mehrgeburten (Zwillinge, Drillinge etc.) in ihren Bereich
ziehen ^), sowie die Todtgeborenen *).
Anmerkungen.
*) Für die Zwecke des vorliegenden Werkes ist die Ziffer der Mehrge-
hurten nur von untergeordneter Bedeutung. Indessen mag doch die Thatsache
constatirt werden, dass selbst in den Mehrgeburten, welche sich der oberfläch-
lichen Beobachtung jedenfalls als eine Abnormität darstellen, eine grosse Regel-
mässigkeit herrscht. In den europäischen Ländern treffen auf 1000 Geburten
Scblassbemerkangen .
135
8,5 (Spanien) bis 14,8 (Croatien und Slavonieii) Mehrgeburteu; beträgt in Italien
(1869—78) 41,6 pro mille; in Prankreich (1865—77) 9,7; in Preussen (1865—78)
12,5; in Bayern (1865—78) 13,?; in Oestenreich (Cisleithanien, 1865-78) 15.6;
iu Belgien (1865—78) 9,7 u.- s. f. Durchschnittlich dürfte demnach die Ziffer
der Mehrgeburten etwa 1 % betragen. Die Mehrgeburteu wiederholen sich Jahr
um Jahr mit auffallender Regelmässigkeit. Von je 100 Mehrgeburten waren in
den genannten Perioden^ in:
Zwillingsgeburten Drillingsgeburten Vierlingsgeburten
Preussen 98,8i l,i7 0,02
Bayern 98,6i 1,39 —
Oesterreich (diesseits) .... 98,6i 1,37 0,02
Frankreich 98,90 1,07 0,03
Italien 98,7i 1,28 0,oi
(Nach der schon wiederholt angeführten Publicatiou des italienischen stat. Bu-
reaus: MoTimento dello stato civile 1862 — 78.)
') Die Ziffer der Todtgeboreneu beträgt auf je 100 Geburten in:
Länder
Durch-
schnitt
der Jahre
Länder
Durch-
schnitt
der Jahre
Italien
Frankreich . . .
Deutsches Beich
Preussen . . . ,
Bayern . . . .
Sachsen . . . .
Schweiz . . . .
1865-78
1865—77
1872-78
1865-78
1870—78
2,60
4,48
3,97
4,09
3,37
4,26
4,44
Belgien . . . .
Niederlande . .
Schweden . . .
Oesterreich (dies-
seits) . . . . .
Spanien . . . .
1865-78
1865—78
1865-77
1865-78
1865-70
4,42
5,14
3,16
2,27
0,99
£s erscheint demnach diese Ziffer als eine, welche bedeutendere Ver-
schiedenheiten von Land zu Land aufweist, wobei jedoch die Unsicherheit der
Ziffern betont werden muss. Die Ermittlung dieser Ziffer geschieht keineswegs
überall nach gleichen Grundsätzen, indem in einzelnen Ländern blos die wirk-
lich Todtgeboreneu ihr zugerechnet werden, anderwärts auch die zwischen der
Geburt und Anmeldung beim Standesamte Verstorbenen. Die Zahl der Todtge-
borenen ist in den Städten weit grösser als auf dem Lande. Unter den unehe-
lichen Kindern findet man eine weit grössere Zahl von Todtgeboreneu, als
auter den ehelichen, indem z. B. im Deutschen Reiche, wo die Gesammtzahl
der Todtgeboreneu 3,97 % aller Geburten beträgt, unter den unehelichen allein
^0 % Todtgeborene sind. Regelmässig finden sich mehr Todtgeborene unter
deu Knaben- als unter den Mädchengeburten.
136 Die SterWifhkeitszifFer,
III. Gapitel.
Das Yergehen der Bevölkerung.
§. 84. Sie SterbUchkeitsxiffer ').
Betrachtet man die Bevölkerung eines bestimmten Gebietes, so
bemerkt man in ihr Jahr für Jahr eine grössere oder kleinere Zahl von
Todesfällen. Vergleicht man die Zahl der innerhalb eines Jahres Ver-
storbenen mit der, etwa um die Mitte desselben Jahres ermittelten Zahl
der in demselben Gebiete Lebenden, so erhält man eine Verhältnisszahl:
die Sterblichkeitsziffer*). Kaum eine andere statistische Ziffer ist
von tieferer Bedeutung für das Leben des Volkes. Man hat die Sterblich-
keitsziffer oft mit der mittleren Lebensdauer verwechselt. Aber mit Un-r
recht. Beide Ziffern hängen zusammen; wem es gelänge, die erste zu be-
einflussen, der wurde unfehlbar die zweite auch bewegen. Aber identisch
sind sie nicht.
Bezüglich der Berechnung der Sterblichkeitsziffer muss hier derselbe
allgemein übliche Fehler coiistatirt werden, den man auch bei der Be-
rechnung der Geburtenziffer findet. Man setzt nämlich die Zahl der Ver-
storbenen eines Zeitraumes nur mit der Volkszahl in Verbindung, die sich
am Anfang, am Ende oder in der Mitte dieses Zeitraumes findet, während
doch die Verstorbenen aus der jeweils vorhandenen Volkszahl
hervorgehen oder, besser ausgedrückt, hinwegfallen. Auch hier muss daraut
hingewiesen werden, dass es richtiger wäre, wenn man den beobachteten
Zeitraum in ganz kleine Abschnitte theilen könnte und von jedem der-
selben die Volkszahl wüsste, wenn sodann für diese kleinen Abschnitte
die Sterblichkeit berechnet und aus ihnen ein Durchschnitt für den ganzen
Zeitraum gebildet würde. Die vollkommenste Sterblichkeitsziffer wäre die-
jenige Summe von Sterblichkeitsziffern, die sich ergibt aus den Verhält-
nissen der Verstorbenen jeden x\ugenblicks zur jeweiligen Volkszahl *),
So lange man die vollkommenste Sterblichkeitsziffer, welche nichts
anderes ist, als „die Wichtigkeit der Abgänge, welche die Volkszahl
während des Zeitraumes durch die Sterbefälle erfährt'* (Knapp), nicht
kennt und nur durch die umständlichste Berechnung erfahren könnte,
bleibt nichts übrig, als, wie bei der Geburtenziffer, mit jenen Sterblich-
keitsziffern zu operiren, welche sich aus den Volkszählungen im Zusam-
menhalt mit den Civilstandsregistern* ergeben.
Entnimmt man diesen Grundlagen die Zahl der Todesfälle eines
Jahres und die der Lebenden dieses Jahres, so kann man das Verhältniss
Die Sterbliclikeitsziifer.
137
zwischeo beiden Zahlen in zweifacher Weise ausdrücken. Entweder indem
man angibt, wie viele Todesfälle auf je 100 Lebende (oder auf 1000
oder 10000) jährlich fallen, also durch einen Procentsatz. Oder indem
man angibt, auf wie viele Lebende jährlich ein Todesfall trifft.
Letztere Bezeichnung ist die einfachere; doch wird die erstere Form
jetzt meistens vorgezogen (vergl. §. 31). Drückt man das Sterblichkeits-
verhältniss durch einen Bruch aus, so ist derselbe der sog. Sterblichkeits-
coefficient (vergl. ausf. §. 105 — 116).
Würden alle Menschen das naturliche Ziel ihres Lebens, d. h. das
Greisenalter erreichen, so wäre die jährliche Sterblichkeit ungefähr 1 : 75.
Das Sterblichkeitsverhältniss ist für jeden einzelnen Menschen weit
interessanter und wichtiger, als das Geburten verhältniss. Nach welchem
Gesetz« wir die Welt betraten, ist uns ziemlich gleichgiltig, von tragischem
Ernste dagegen ist uns das Studium jener Gesetze, welche uns gebieten,
das Leben wieder zu verlassen, jener Einflüsse, unter deren belebendem
oder vergiftendem Hauch die Lebensfähigkeit des Menschengeschlechts
aufblüht oder verdorrt: der Todesursachen.
Anmerkungen.
*) Kein anderes statistisches Object hat so reiche Literatur aufzuweisen,
als das Sterblichkeitsverhältniss. Neben den meisten der, mit der Bevölkerung
überhaupt sich beschäftigenden Werken und neben den Erhebungen der amt-
lichen Statistik, die sich allerwarts mehr oder weniger eingehend mit diesem
Verhältniss beschäftigt, sollen hier nur folgende angeführt werden:
Dieterici: Ueber die Sterblichkeitsverhältnisse in £uropa. Abhandl. der
Acad. d. Wissensch. zu Berlin, Jahrg. 1851.
Derselbe: Ueber den Begriff der mittl. Lebensdauer. 1858.
G. F. Knapp: Ueber die Ermittlung der Sterblichkeit u. s. f. Leipz. 1868.
W. Lazarus: Ueber die Mortalitätsverhältnisse und ihre Ursachen. 1867.
Engel: Sterblichkeit u. Lebenserwartung im preuss. Staate. Zeitschr. d.
stat. Bureaus, 1861 u. 1862.
Zillmer: Ueber die Geburtsziffer, Sterbeziffer etc. Rundschau (Zeitschr.
für das Versicherungswesen. 1863).
Zenner: Abhandlungen aus der mathematischen Statistik. Leipz. 1869.
^) Eine Zusammenstellung der Sterblichkeitsziffem in den europäischen
Läudem ergibt folgende Tabelle. (Nach: Movimento dello stato civil e, anni
1862—78. Rom 1878.) Ausgeschlossen sind die Todtgeborenen.
Län der
Durch-
schnitt
der Jahre
Gestor-
bene auf
100
Einw.
Länder
Durch-
schnitt
der Jahre
Gestor-
bene auf
100
Einw.
Italien .....
Frankreich . . .
England m.Wales
Schottland . . .
1865—78
1865-77
1865-78
2,99
2,40
2,20
2,21
Irland
Deutsches Reich .
Preussen ....
Bayern ....
1865—78
1872—78
1865-78
1,72
%n
2,72
3,09
138
Die Sterblichkeitsziffer, vergliclien mit der Oebnrtenziffer. EiBflass letzterer.
Länder
Durch-
schnitt
der Jahre
Gestor-
bene auf
100
Einw.
Länder
Durch-
schnitt
der Jahre
Gestor-
bene auf
100
Einw,
Sachsen . . .
Thüringen . .
Württemberg .
Baden ....
Oesterreich (Cislei-
thanien) . . .
Ungarn - Sieben-
bürgen ....
Groatieu - Slavo-
yien
Schweiz ....
Belgien ....
1865-78
1866-78
1865-78
1865—77
1870-78
1865—78
2,87
2,48
3,16
2,80
3,18
3,80
4,37
2,38
2,32
Niederlande
Schweden . .
Norwegen . .
Dänemark . .
Finnland . . .
Europ. Russland
Russ. Polen .
Spanien . . .
Griechenland .
Rumänien . .
Serbien . . .
1865—77
1865-78
1867-75
1865—77
1865-70
1865-77
1870-77
1965-78
2,49
1,92
1,73
1,96
2,90
3,67
2,76
3,12
2,09
2,65
3,21
*) Die mathematische Entwickelung der yollkommensten Sterblichkeits-
Ziffer findet sich bei Knapp a. a. 0., S. 112.
§, 85. Die Sterblichkeitszifbr, verglichen mit der Oeburtenzifbr. Einfluss
letzterer.
Die Sterblichkeitsziffer allein beeinflusst die Bewegung einer Be-
völkerung eben so wenig als die Geburtenziffer allein. Es kann bei einer
sehr schlimmen Sterblichkeitsziffer sowohl als bei einer sehr günstigen
eine Bevölkerung zunehmen. Derselbe Ueberschuss der Geburten über die
Todesfälle und somit derselbe innere Bevölkerungszuwachs kann bei ver-
schiedener Proportion der Geburten und der Todesfälle stattfinden.
So kann z. B. ein jährlicher Zuwachs von 2 Procent eintreten,
wenn auf 100 Lebende jährlich 4 Geburten und 2 Todesfälle vorkommen.
Ein gleicher Zuwachs würde auch eintreten, wenn auf 100 Lebende jähr-
lich 6 Geburten und 4 Todesfälle vorkämen.
Für die blosse Volks zahl haben beide Fälle dieselbe Wirkung,
aber sehr verschieden ist ihre Wirkung auf das Glück des Volkes. Tm
zweiten Falle ist der Wechsel von Leben und Tod weit rascher als im
ersten. Aber je rascher der Wechsel von Leben und Tod, um so grösser
und unheilvoller sind auch die Verluste an Lebensglück und an mensch-
licher civilisatorischer Kraft.
Vergleicht man die Sterblichkeit gewisser Gebiete mit der in den-
selben Zeiträumen sich zeigenden Geburtenfrequenz, so bemerkt man bei
der ersteren weit lebhaftere Schwankungen als bei letzterer ^). Dies muss
indessen als sehr begreiflich erscheinen, wenn man bedenkt, dass ausser-
Die St«rblichkeitsziiFer, verglichen mit der GebartenzÜfer. Einfluss letzterer.
139
ordentliche Einflüsse, z. B. Epidemien, Theuerang auf die Sterblichkeit
viel unmittelbarer und mächtiger einwirken müssen, als auf die Geburten.
Vergleicht man den Rang, welchen die europäischen Länder hin-
sichtlich ihrer Geburtenziffer einnehmen mit jenem, welchen sie bezüglich
der Sterblichkeit behaupten, so zeigt sich der innere Znsammenhang beider
Ziffern *). i
Unter allen Einflüssen auf die Sterblichkeit nimmt die Geburten-
ziffer eine ganz wichtige Stellung ein. Sie bestimmt ganz wesentlich und
bis zu einem gewissen Grade ganz allein das Sterblichkeitsverhältniss.
Wo die Zahl der Geburten im Verhältniss zu jener der Lebenden gross
ist, wird schon durch diese Grösse das Sterblichkeitsverhältniss ebenfalls
vergrössert. Einer niedrigen Geburtenziffer dagegen entspricht auch eine
geringere Sterblichkeit.
Demnach wirken alle jene Einflüsse, die für die Geburtenziffer von
Bedeutung sind, indirect auch auf die Sterblichkeit; die Wirkung jedes
einzelnen von ihnen muss aber zurücktreten und in vielen Fällen fast
ganz verschwinden gegenüber jenen Einflüssen, welche direct und unmit-
telbar auf die Sterblichkeit wirken.
War z. B. ein fruchtbares Jahr mit ergiebiger Ernte Veranlassung
zu vermehrten Eheschliessungen und Geburten und es folgte darauf ein
Nothjahr mit bedeutender Sterblichkeit, welche namentlich unter den
Neugeborenen wüthete: dann erscheint offenbar jenes fruchtbare Jahr als
an der späteren erhöhten Sterblichkeit indirect mitwirkend. Denn ohne
jenes fruchtbare Jahr hätte die Bevölkerung nicht so viel kleine Kinder
gewonnen und das spätere Nothjahr hätte seine Todesemte mehr unter
Erwachsenen halten müssen, welche der Noth und dem Elende grösseren
Widerstand darbieten, als die Neugeborenen.
Solchen indirecten Causalzusammenhang statistisch nachzuweisen, ist
freilich eine äusserst schwierige Aufgabe.
Aumerkuugen.
*) So stellten sich, um nur einige der wichtigsteu Staaten zum Beweise
heranzuziehen, diese Schwankungen folgendermassen:
Länder
Zeit-
raum
Geburtenziffer
Mini-
mum
Maxi-
mum
Differenz
zw. Miuim.
U.Maxim.
Sterblichkeitsziffer
Mini-
mum
%
Maxi-
mum
%
Diffe-
renz
Italien
Frankreich . . .
Euglaud u. Wales
Preussen . • . .
1865—78
1865-77
1865^-78
3,50
^,26
3,48
3,37
3,90
2,68
0,66
4,03
0,40
0,42
0,23
0,66
2,77
2,12
2,04
2,56-
3,42
3,48
3,34
3,35
0,65
1,36
0,30
0,79
140
Eiuflass der Kraiikhcitea.
Zeit-
raum
Geburtenziffer
Sterblichkeitsziffer
Länder
Mini-
mum
%
Maxi-
mum
%
Differenz
zw. Miuim.
u. Maxim.
Mini-
mum
%
Maxi-
mum
%
Diffe-
renz
Oesterreich (We
hälfte) . . .
Belgien . . .
st-
n
n
1865-77
1865-78
n
1865-77
1867-75
3,71
3,10
3,39
S,76
2,86
4,06
4,81
4,12
3,31
3,68
3,28
3,19
4,80
5,09
0,41
0,21
0,29
0,63
0,33
0,74
0,28
2,79
2,06
2,22
1,72
1,67
2,92
3,44
4,08
2,86
2,94
2,23
1,89
4,26
4,06
1,29
0,80
0,72
0,61
0,32
1,34
0,62
Niederlande .
Schweden . .
Norwegen . .
Ungarn - Siebei
bürgen . .
Europ. Russland
1-
Nur die beiden skandinarischen Länder machen hier eine Ausnahme. Bei
ihnen stellen sich die Schwankungen der Geburtenziffer um ein ganz Geringes
bedeutender, als jene der Sterblichkeit.
') Eine Gruppirung der europäischen Länder nach diesem Range ergibt
folgende Tabelle:
Länder
Russland ....
Groatien-Slayonien
Württemberg . .
Serbien .....
Polen
Ungarn - Siebenb.
Sachsen
Deutsches Reich .
Bayern
Oesterreich . . .
Preussen ....
Baden
Italien
Thüringen . . .
Rang nach der
Gebur-
tenziffer
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
Sterb-
lichkeit
3
1
5
4
13
2
11
15
8
6
14
12
9
18
Länder
Spanien
England u. Wales
Niederlande
Schottland
Finnland .
Belgien . .
Dänemark
Schweiz . .
Norwegen .
Schweden .
Rumänien .
Griechenland
Irland . .
Frankreich
Rang nach der
Gebur-
tenziffer
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
Sterb-
lichkeit
7
23
17
22
10
21
25
20
27
26
16
24
28
19
§. 86. Einfluss der Krankheiten.
Der unsystematischen Beobachtung erscheinen die Todesursachen
in zwei grossen Gruppen : als natürliche und unnatürliche. Natürlich ist
ihr der Tod aus Altersschwäche und der Tod als Folge einer Krankheit,
unnatürlich der Tod als Folge eines Unglücksfalles, Selbstmordes u. s. f.
Einflnss des AHers. 141
Streng genominen gibt es nur eine einzige Todesursache, welche
natürlich genannt werden kann: die Altersschwäche und neben ihr etwa
noch die Schwäche der Kindheit. Bei einer Reihe von Krankheiten lässt
sich irgend eine Entstehungsursache der Krankheit und somit auch eine
andere Todesursache entdecken, bei anderen mit grösserer oder geringerer
Sicherheit vermuthen.
Darüber an anderem Ort.
Der Tod als Folge der Erkrankung tritt nur bei einem Theile der
Erkrankungen ein. Beachtet man eine lange Reihe von Jahren, und bei
einer grösseren Bevölkerung die vorkommende durchschnittliche Regel-
mässigkeit des Absterbens an gewissen Krankheiten, so erhält man eine
Andeutung der Gleichförmigkeit und des Umfanges der Erkrankungen,
von welchen diejenigen, deren Ausgang der Tod ist, nur einen Theil
bilden. Man erhält die absolute Intensität der verschiedenen Krank-
heiten als Todesursachen, ihre Gefahr för den Gesunden. Wüsste man
auch die Zahl der an jeder Krankheit Erkrankten, so erhielte man die
relative Intensität der Krankheiten, d. h. die in ihnen liegende Todes-
gefahr fiir den Erkrankten.
Aus der Zahl der durch eine Krankheit verursachten Todesfälle
einer bestimmten Bevölkerung darf man begreiflicherweise noch nicht auf
die Häufigkeit dieser Krankheiten unbedingt schliessen.
Die Statistik der Krankheiten als Todesursachen hat jetzt schon
über ein sehr reiches Material zu verfugen, über ein' Material, welches
allerdings an grosser Zerstreuung leidet, und nicht minder an mannig-
fachen Beobachtungsfehlern.
Aumerkuug.
Des iunereu Zusammeuhauges wegen wird an dieser Stelle von einer
weitereu Erörterung dieses Gegenstandes abgesehen und dagegen auf ein spä-
teres Capitel verwiesen, welches sich mit den körperlichen Eigenschaften der
BeTölkerung beschäftigen wird.
§. 87. Einflnss des Alters.
Keine Ursache wirkt mächtiger auf die Sterblichkeit des Menschen
als das Alter. Das Alter ist jene Todesursache, welche, wenn alle anderen
Todesarsachen an der eisernen Gesundheit und dem Glücke eines Men-
schen wirkungslos abgeprallt sind, ihn schliesslich unerbittlich dahinrafiit.
Aber auch schon früher übt es seine Gewalt über das Leben aus.
So verzeichnete die Statistik schon längst eine überraschend grosse
Sterblichkeit der Kinder unmittelbar nach ihrer Geburt. Sie bemerkte,
dass während des ersten Lebensmonates viermal so viele Kinder sterben,
als während des zweiten Monates, und fast so viele als während des
zweiten und dritten Jahres.
142 Einflnss des Alien.
Diese Kindersterblichkeit aber ist länderweise ungemein verschieden.
So beti'ug z. B. im Jahre 1878 der Procentsatz derjenigen Todten, welche
im ersten Lebensjahre starben, in Württemberg 41,«6^ aller Gestorbenen,
in Irland dagegen blos 13,m^. In den europäischen Ländern stirbt über
ein Viertheil der Gesammtbevölkerung vor Beendigung des ersten Lebens-
jahres; in den deutschen Ländern und in Oesterreich bleiben von 100
Lebendgeborenen nach vollendetem fünften Jahre nur etwa 60 übrig.
Vom Ablauf des ersten Lebensjahres an nimmt die Kindersterb-
lichkeit rasch ab, wie sie innerhalb des ersten Jahres auch schon von
Monat zu Monat geringer wird.
Im xllter von 5 Jahren lässt die Sterblichkeit ganz bedeutend nach.
Der Anfang des mannbaren Alters ferner fordert ein Minimum von Todes-
fällen. Nach diesem Alter nimmt die Sterblichkeit zu, zunächst bei den
Frauen, langsamer bei den Männern. Hier verlangt das Alter von 21 bis
25 Jahren, die Zeit stürmischer Leidenschaft, bedeutendere Opfer. Ein
zweites Minimum erreicht die Sterblichkeit der Männer im 30. Jahre.
Vom 40. Jahre an nimmt sie bei beiden Geschlechtern mehr und mehr
zu, mit rapider Energie vom 60. Jahre an. Von dieser Zeit an sterben
mehr Frauen als Männer aus dem einfachen Grunde, weil mehr Frauen
in diesem Alter vorhanden sind, als Männer.
Wer das Menschenleben beobachtet, weiss, dass jedes Alter seine
besonderen Gefahren hat. Sie sind die tieferen Gründe, welche diese
Verschiedenheit der Sterblichkeit in den verschiedenen Lebensjahren be-
einflussen. Ueber dem zarten Kindesalter schwebt die Gefahr eines ver-
unglückten Organismus, einer schlechten Verpflegung. Diese hat bis zum
5. Jahre ihre Opfer gefordert — deshalb von da an die Minderung der
Sterblichkeit. Später treten als neue Gefahren die erwachenden Leiden-
schaften auf und, bei Männern sowohl als bei Frauen, die der verzeh-
renden Berufsthätigkeit, welche aber bei beiden Geschlechtern in ver-
schiedenen Altern wirken und allmälig sich vereinen mit dem Naturgesetz,
welches jedem Menschenleben, auch dem von Gefahren freiesten, seine
Grenze setzt.
Die Sterblichkeit der verschiedenen Altersclassen, mit ihren länder-
weisen Unterschieden, bietet ein sehr reiches Feld für Beobachtungen. Die
Thatsache z. B., dass einzelne Länder mit der bedeutendsten Sterblich-
keit der unter einem Jahre alten Kinder (Württemberg und Bayern) eine
sehr geringe Sterblichkeit der Kinder von 1 — 5 Jahren aufzuweisen haben,
mag wohl auf eine gewisse Ausgleichsthätigkeit der Natur hinweisen. Als
höchst auflfallend muss es z. B. erscheinen, dass gerade Irland die geringste
Sterblichkeit der unter-einjährigen Kinder zeigt; ebenso, dass in drei der
europäischen Staaten, nämlich in Portugal, Spanien und Rumänien die
Einflnss des GeBchlechtes.
143
Sterblichkeit der Kinder von 1 — 10 (resp. 1 — 5) Jahren grösser ist, als
die der unter-einjähriged. Vergleichungen mit der allgemeinen Sterblich-
keitsziffer und mit der Geburtenziffer, sowie mit anderen Erscheinungen
des Völkerlebens können hier noch manchen werthvollen Aufschluss geben.
Aumerkuug. •
Die Sterblichkeit, uach Altersclasseu ausgeschieden, stellt sich in neuerer
Zeit in den wichtigsten europäischen Ländern wie folgt. Unter je 100 Gestor-
benen starben:
Im Alter
a> 1
i^
von
Jahren
^1
Ä2
0- 1
26,73
18,79
32,20
1- 5
21,04
10,51
16,19
5- 10
4,60
2,98
4;o4
10- 15
2,08
1,76
1,66
15- 20
2,17
2,49
1,85
20- 30
5,46
7,80
4,88
30— 40
5,14
6,40
5,34
40— 50
5,45
6,90
5,62
50- 60
6,63
8,83
7,49
60- 70
8,82
12,75
8,91
70- 80
8,14
14,50
8,OT
80- 90
3,33
6,21
2,79
90-100
0,a7
0,57
0,27
über 100
0,01
0,01
0,02
unbekann-
ten Alters
0,08
—
0,72
0) 5« M5
1*17
'S 22 t^
.a I
ei an
^5
W2S
40,47
9,77
2,37
1,00
1,22
4,10
4,65
5,13
7,31
10,67
9,65
3,20
0,23
0,06
31,80
16,20
4,38
1,91
2,14
5,37
5,70
6,44
7,84
8,84
6,74
2,35
0,24
0,01
0,04
26,21
8,11
2,63
1,59
2,13
3,58
6,54
7,17
9,43
13,22
12,39
4,08
0,27
36,21
21,12
5,00
2,07
2,06
4,76
4,97
5,63
6,23
6,38
4,14
1,06
0,16
0,02
0,19
22,93
25,20
3,73
1,98
2,39
5,62
5,90
6,89
7,24
8,62
6,68
2,60
0,31
0,01
24,76
15,78
3,84
1,97
2,69
3,14
6,42
6,68
7,02
8,82
9,72
7,60
2,09
0,12
(Nach den schon wiederholt erwähnten italienischen Publicationen über
die Bevölkerungsbewegung der Jahre 1862—78, pag. CCXXXV.)
Diese Tabelle stellt jedoch lediglich dar, wie die verschiedenen Altersclas-
sen sich an der Gesammtsumme der Gestorbenen, ohne Rücksicht auf deren
Alter, betheiligen. Bringt man die obigen Ziffern in Zusammenhang mit der
Besetzung der Altersclasseu einer Bevölkerung: dann erhält man ein ganz
anderes Bild. Hierüber vgl. §. 117—119.
§. 88. Einfluss des Geschlechtes.
Der Einfluss des Geschlechtes tritt bei den Sterblichkeitsverhält-
nissen in jeder Beziehung sehr stark hervor; er macht sich schon geltend,
ehe noch das Kind das Licht der Welt erblickt hat. So treffen auf 100
todtgeborene Mädchen in Italien 139 todtgeborene Knaben (1865—78),
in Frankreich (1865—77) 144, im Deutschen Reich (1872—78) 129, in
Oerterieich (1865—78) 131 u. s. f. ').
144 Oertliche und klimatische YerhiltniBse.
Es zeigt sich diese grössere Sterblichkeit des männlichen Geschlechtes
auch noch später. Auf 100 Lebende starben (1860 — 65) in Preussen
23,60 Knaben und 20,50 Mädchen von 0—1 Jahr, in Oesterreich 33,io
Knaben und 27,5o Mädchen von 0—1 Jahr*).
Es muss demnach eine Ursache bestehen, welche die Kinder männ-
lichen Geschlechtes vor und bald nach der Geburt energischer hinweg-
rafft, als die Mädchen. Die grössere Sterblichkeit der männlichen Kinder
reicht noch weit über das Säuglingsalter hinaus.
In höheren Lebensjahren gestaltet sie sich allerdings etwas anders.
So zeigt sich eine grössere Sterblichkeit des weiblichen Geschlechtes
namentlich im Alter von 5 — 15 Jahren in Preussen, Frankreich, England etc.;
im Alter von 15 — 30 Jahren auch in England und Belgien ^).
Man hat über die Ursachen dieser Verschiedenheit mannigfache
Vermuthungen aufgestellt, doch sind sie zur Erklärung namentlich der
grösseren Sterblichkeit männlicher Kinder nicht zureichend.
Was die letztere betriffi, so mag wohl die Natur, in der Absicht,
aus dem Manne ein vollkommneres Geschöpf zu bilden, als aus dem
Weibe, dabei auch mehr Hindernisse finden. Ein feinerer Organismus ist
allen schädlichen Einflüssen leichter zugänglich.
In späteren Lebensjahren tragen zu der grösseren Männersterblich-
keit noch andere Umstände bei.
So die anstrengendere Beschäftigung der Männer, der Militärdienst,
nur theilweise ausgeglichen durch die Wochenbetten der Frauen; dann die
öfteren Excesse der Männer in der Lebensweise.
Aumerkuugeu.
') Nach Movimento dello stato civile, 4862—78 pag. CLXXVII.
*) Block-v. Scheel, a. a. 0., S. 267.
') Ebenda.
§. 89. OerÜiche und klimatische Einflüsse.
Die grossen Unterschiede der allgemeinen SterblichkeitsziflPer, welche
sich in verschiedenen Ländern ergeben (vgl. §. 84, Anmerkungen), steigern
sich noch ganz bedeutend, wenn man einzelne Landestheile beobachtet.
Während z. B. im russischen Gouvernement Perm jährlich etwa der
zwanzigste Mensch eine Beute des Todes wird, weist die spanische Provinz
Lugo (1863) eine Sterblichkeit von nur 1:59 oder 1,5» ^ auf*). Ueberhaupt
stellt sich die Sterblichkeit Europa^s am schlimmsten in einigen russischen
Gouvernements (im Osten); am günstigsten in mehreren spanischen Pro-
vinzen (Canarische Inseln, Aviedo, Pontevedra), in Irland etc. Sehr grosse
Extreme finden sich in Spanien, wo neben den vorgenannten Provinzen
die Provinzen Avile, Madrid, Valladolid eine Sterblichkeit von 1:26 oder
Oertliche nnd klimatische Verhältnisse. 145
3,8» ^ (1863) zeigen *). üebrigens haben alle grossen Staaten Europa's be-
deutende Verschiedenheiten der SterblichkeitszifFer ihrer einzelnen Bestand-
theile aufzuweisen. So erscheint im Deutschen Reiche (1878) neben Meck-
lenburg-Schwerin mit 3,319^, Posen mit 4,67 Jl^ Gestorbenen.
Noch grossartiger sind die Unterschiede der Sterblichkeit in den
Städten allein *). Am schlimmsten stellt sich die Sterblichkeit der meisten
russischen Städte. So stirbt in Perm der vierzehnte, in Woronesch der
fünfzehnte, in Kursk der zwanzigste Mensch jährlich.
Die Verschiedenheit der Sterblichkeit nach Städten und Ländern hat
jedoch keineswegs blos eine einzige Ursache, sondern wird bestimmt durch
eine Reihe geographischer, politischer, wirthschaftlicher und socialer Unter-
schiede der Orte.
Quetelet versuchte, indem er Europa nach der Breitenlage in drei
Theile, Nord-, Mittel- und Südeuropa, zerschlug, zu zeigen, dass
im nördlichen Europa auf 41,i Einwohner
„ mittleren „ „ 40,« „
„ südlichen „ „ 33,7 „
ein Todesfall komme und demnach die Sterblichkeit in Mittel- und Süd-
europa grösser sei als im Norden. Ob die Ursache in politischen Zustän-
den oder im Klima liege, wagte er nicht zu entscheiden. Vergleicht man
hiemit die oben (§. 85) mitgetheilte Tabelle, so wird allerdings Quetelet's
Beobachtung bestätigt, ohne dass man jedoch weitere Aufschlüsse über den
Zusammenhang von Klima und Sterblichkeit finden dürfte.
Um den Einfluss der Oertlichkeit noch genauer kennen zu lernen,
müßste man einen beschränkteren Massstab anlegen und die verschiedenen
Theile einer und derselben Provinz vergleichen, je nachdem das Land
eben oder gebirgig, waldig oder sumpfig ist; je nachdem man es femer
mit Landschaften am Meeresufer, mit Flussthälern im Hügelland oder im
Hochlande, mit Hochebenen oder Terrassenlandschaften zu thun hat. Kurz
man müsste in alle einzelnen Details der Bodenconfiguration eindringen.
Den Einfluss des Klimas auf die Sterblichkeit der in demselben Ge-
borenen hat man nicht nur weit überschätzt, sondern sogar geradezu ver-
kehrt betrachtet. Man hatte beobachtet, dass bei uns der Sommer der
menschlichen Gesundheit zuträglicher ist, als der Winter, und hieraus ge-
schlossen, dass in warmen Ländern die Sterblichkeit geringer sein müsse,
als in kalten. Andere dagegen behaupteten, kaltes Klima kräftige den
Menschen und mache ihn för Witterungswechsel unempfindlich. Die Beob-
achtungen sprechen gegen die erstere Behauptung, aber auch nicht son-
derlich zu Gunsten der letzteren. Das günstige Sterblichkeitsverhältniss in
Norwegen und Schweden lässt sich leicht auf die günstigen sittlichen und
materiellen Zustände jener Länder zurückführen. Aber wie erklärt sich
Hanshofe r, Statistik. 2. Aufl. K)
146
Oertliche und klimatische Verhiltnisse.
dann die günstige Sterblichkeit Irlands bei dem notorischen Elend seines
Volks?
Wohl mögen die mannigfaltigsten örtlichen meteorischen und tellu-
rischen Einflüsse auf das Menschenleben und die Sterblichkeit einwirken.
Betrachtet man jedes Land in der oben angegebenen Weise genauer, so
findet man nach den verschiedenen Oertlichkeiten die grössten Verschie-
denheiten der SterblichkeitzifFer. Qu^telet beobachtete in der niederländi-
schen Provinz Zeeland eine Sterblichkeit von 1 : 28,5 (1815 — 24); in der
Provinz Namur dagegen von 1 : 51,8. In der von feuchter Atmosphäre
überlagerten Provinz Zeeland herrschten Fieber und andere Krankheiten.
Aber der Mensch ist in der Lage, je weiter er in der Civilisation
fortschreitet, sich mehr und mehr von der Natur und demnach auch von
klimatischen Einflüssen zu emancipiren.
Anmerkungen.
*) Anuario estadistico de Espana. Madrid 1866 u. 67. pag. 41.
*) Ebenda.
•) In einer Reihe der wichtigsten Grossstädte stellt sich die Sterblichkeit
folgend ermasseu (Kdrosi: Statistique internationale des grandes villes. 1876).
Auf 1000 Lebende treffen jährlich Todesfälle:
Budapest (1875) 40,8
Wien (1869) 33,2
Wien (1874) 29,i
Prag (1869) 41,5
Triest (1870) 40,5
München (1874) 40,9
Frankfurt a/M : (1875) 20,2
Leipzig „ 25,1
Stuttgart (1871) 26,7
Hamburg „ 41,7
Rom (1874) 34,6
Turin (1872) 27,o
Palermo (1871) 25,7
Venedig (1874) 32,8
Mailand (1871) 38,5
Philadelphia (1870) 24,9
New-Orleans (1875) 30,7
Boston (1870) 24,3
St. Louis (1870) 21,8
Stockholm (1864/73) 31,6
Christiania (1864/74) 20,8
Kopenhagen (1871) 23,2
Petersburg (1869) 34,i
Moskau . (1871) 39,7
Odessa (1873) 43,i
Gent (1865) 31,o
Haag (1869) 21,9
Rotterdam (1865/74) 33,2
Berlin (1871) 37,o
Dresden (1875) 26,o
Köln „ 31,5
Breslau „ 31,2
Neapel (1871) 39,i
Paris (1872) 21,4
London . (1845/50) 25,o
London (1871) 24,6
S. Francisco (1875) 20,5
Diese Zahlen müssen jedoch mit einer gewissen Vorsicht betrachtet wer-
den, da bei einzelnen Städten günstigere, bei anderen ungünstigere Jahre
herausgegiiffen wurden. Ein genaues Bild der städtischen Sterblichkeit würde
sich nur ergeben, wenn die Durchschnitte einer längeren Jahresreihe, etwa
Ton 6—10 Jahren ermittelt würden.
Einfluss der Bacen- und Nationalitfttsnnterschiede.
147
§. 90. Einfltus der Eacen- und Nationalitätsulitersohiede.
Racenunterschiede und nationale Eigenthümlichkeiten scheinen noch
weit weniger Einfluss zu haben. Mit einer merkwürdigen Ausnahme.
Das Volk der Juden hat eine ungewöhnlich starke Lebenskraft; es
gedeiht mehr als irgend ein anderes in allen Ländern und klimatischen
Verhältnissen. Man hat bei ihm eine regsamere Vermehrung beobachtet,
namentlich eine geringere Sterblichkeit als bei anderen Völkern.
So zeigten sich in der Stadt Algier i. J. 1856
bei den: Geburten: Todesfalle:
Europäern 1234 1553
Moslhnen 331 514
Juden 211 187
demnach bei den Juden allein eine die Zahl der Todesfälle übersteigende
Zahl der Geburten *). Auch fiir Ungarn ist die Thatsache der jüdischen
Lebenszähigkeit ziffermässig nachgewiesen worden^).
Die Gründe dieser Zähigkeit liegen einestheils wohl in der Vermeidung
harter körperlicher Arbeit und Lebensgefahr, anderntheils in der massigen
nüchternen Lebensweise. Ob beide Momente ausreichen, um diese eigenthüm-
liche Erscheinung in ihrem vollen Umfange zu erklären, ist wohl fraglich.
Anmerkungen.
*) G. F. Kolb: Handbuch d. Tergleicheudeu Statistik, 5. Aufl., S. 574.
Derselbe theilt auch folgende Tabelle mit (nach Neufville), welche den Sterbe-
listen der Stadt Frankfurt in den Jahren 1846 — 48 entnommen ist. Nach den-
selben treffen auf 100 Lebende Todesfalle:
Im Alter
von
Jahren
bei
Christen
bei
Juden
Im Alter
von
Jahren
bei
Christen
bei
Juden
1- 4
5- 9
10-14
15-19
20-24
25-29
30-34
35-39
40-44
45-49
24,1
2,3
1,1
3,4
6,2
6,2
4,8
5,8
5,4
5,6
12,9
0,4
1,5
3,0
4,2
4,6
3,4
6,1
4,6
5,3
50— 54
55— 59
60— 64
65— 69
70- 74
75— 79
80- 84
85- 89
90— 94
95—100
4,6
5,7
5,4
6,0
5,4
4,3
2,6
0,9
0,16
0,04
3,8
6,1
9,6
7,2
11,4
9,1
5,0
1,5
0,4
*) Vgl. V.F. Klun: Statistik von Oesterreich-Ungarn. Wien 1876. S. 116.
10*
148 Einflnss der Acclimatisation.
§. 91. Einflnss von Stadt und Land.
Süssmilch nahm das SterblichkeitsverhältniBs for ganze Länder, Stadt
und Land durcheinander, zu 1 : 36 an ; für das platte Land 1 : 40, tur
kleine Städte 1 : 32; für grössere, wie Berlin 1 : 28 und för ganz grosse,
wie Rom, London 1 : 24 bis 1 : 25, gibt aber zu, dass diese Zahlen vor-
läufig nur eine noch näher zu bestimmende Annahme seien *).
Quetelet jedoch bestätigte diese Thatsache schon dahin, dass die
Sterblichkeit in Stadt und Land wie 4 : 3 sich verhalte *).
Die grössere Sterblichkeit der Städte ist durch alle späteren Beob-
achtungen bestätigt worden*).
Man sieht demnach, dass die Städte ihrem intensiveren Leben Opfer
an Lebenszeit bringen. Indessen darf man die mannigfachen Umstände,
welche auf die Sterblichkeit der Städte gegenüber jener des Landes ein-
wirken, nicht ausser Acht lassen. Ununterbrochen strömt ja in den Städten
fremde Bevölkerung ab und zu. Die Städte ziehen kranke Leute (nament-
lich durch ihre klinischen Anstalten) an und geben andererseits häufig
Neugeborene (also in der Zeit der grössten Sterblichkeit) an das Land ab.
Auch anderseits üben die Städte, z. B. durch ihre Lehranstalten, durch
die Gelegenheit leichten und guten Arbeitsverdienstes, Anziehungskräfte
aus. Eben so ziehen sich ältere Leute — deren Sterblichkeit gleichfalls
wieder eine erhöhte ist — aus der Provinz nach den Städten. Der weniger
reinen Athmosphäre, dem lebenverzehrenden Treiben der Städte gegenüber
stehen wieder die sanitätspolizeilichen Verbesserungen in Bezug auf Rein-
lichkeit u. s. f. Nicht zu unterschätzen ist die Möglichkeit augenblicklicher
ärztlicher Hilfe bei plötzlichen Erkrankungen und Unglücksfällen, welche
in den Städten eine weit grössere ist, als auf dem Lande.
Anmerkungen.
*) A. a. 0. 1. Bd., S. 91.
*) A. a. 0. S. 131.
*) Von denselben möge hieruur noch die Zusammenstellung von Wappäus
a. a. 0. IL Bd., S. 481 hervorgehoben werden. Nach derselben stellte sich die
Sterblichkeit für
in den Städten wie 1 : auf dem Lande wie 1 :
Frankreich (1853-54) .... 31,5i 42,2i
Niederlande (1850—54) . . . 35,65 43,03
Belgien (1851—55) 34,85 44,3i
Schweden (1851—55) . • . . 28,95 46,86
Prenssen (1849) 27,97 34,46
§. 92. Einfluss der Acclimatisation.
Der Mensch ist ein Parasit der Erde. Und nicht nur der Erde,
sondern in der Regel auch speciell eines Theiles der Erde, jenes Theiles,
Einflnss der Acclimatisation. 149
den er seine Heimat nennt. Reisst man ihn los vom Boden, darin er er-
wuchs, so hat er lange und schmerzensreiche Kämpfe zu bestehen, bis er
in fremder Erde Wurzel fasst.
Häufig aber gelingt es ihm niemals, anderwärts eine neue Heimat
zu findea Er fühlt sich körperlich und geistig fremd auf der fremden Erde.
Der moderne Verkehr, der über beschneite Alpen seine Schienen-
stränge legt und Welttheile trennt, um sich Strassen zu bahnen, ist be-
strebt, die Wurzeln, die den Menschen an seine Heimat binden, mehr und
mehr zu lockern.
Derselbe Verkehr hat in rauher und geschäftsmässiger Rücksichts-
losigkeit seit der Entdeckung Amerika^s ein grossartiges Acclimatisations-
system ins Werk gesetzt, um den Menschen aus dem Localthier, aus dem
Heimatsparasiten und Nationalitätswesen zum Kosmopoliten zu machen.
So findet denn seit drei Jahrhunderten ein ununterbrochener Aus-
tausch von Menschen zwischen den Theilen der Erde statt. Aber diese
Jahrhunderte haben noch nicht entfernt hingereicht, um den Menschen
zum Kosmopoliten zu machen.
In den aussereuropäischen Besitzungen der europäischen Staaten
herrscht eine grauenhafte Sterblichkeit, wie namentlich aus den von den
Franzosen in Algerien gemachten Erfahrungen hervorgeht.
Nach diesen Erfahrungen beruht die ganze Lehre von der Acclima-
tisation auf Täuschung.
Eine Vei*pflanzung nach einem Lande mit \^e8entlich anderem Klima
schadet jedem Menschen, mag er dem oder jenem Stamme angehören. Je
länger man in fremder Zone, in ungewohntem Klima lebt, desto mehr ge-
winnen feindselige Einflüsse Gewalt über den Körper. Man gewöhnt sich
nicht an das fremde Klima, sondern man wird stets hinfälliger. Die feind-
seligen Einflüsse häufen sich mehr und mehr.
Selten nur ist die Ausnahme, dass ein Aufenthalt in anderem Klima
fiir gewisse Krankheiten entschieden heilsam wirkt. Besonders gilt dies
von der Lungentuberculose. Man hat solch einen günstigen Einfluss des
Klimas von Madeira auf Lungenkrankheiten statistisch nachgewiesen. Pa-
lermo und Cairo, Mentone und Meran und manche . andere Plätze stehen
in ähnlichem Rufe und es bedarf nur eines eifrigen Weiterbaues der me-
dicinischen Statistik, um die klimatischen Curorte in ihrer gesundheitlichen
Bedeutung für die verschiedenen Krankheitszustände zifi^ermässig darzu-
stellen und die Statistik auch in dieser Beziehung zu einer Freundin und
Helferin der leidenden Menschheit zu machen.
t50 Einflnss der Acclimatisation.
Aumerkuug.
£iue Reihe von hierauf bezüglichen Thatsacheu findet sich mitgetheilt
bei G. F. Kolb: Handbuch der vergleichenden Statistik, 5. Aufl., S. 571 ff.
Das Wichtigste hievou dürfte Folgendes sein:
Man hat im englischen Heere die Erfahrung gemacht, dass von iOOO
Mann auf Ceylon im ersten Jahre 44 starben, im zweiten 48, im dritten 49.
Auf Jamaika starben von 1000 Soldaten im ersten Jahre ihres dortigen
Aufenthaltes 77, im zweiten 87, in den folgenden Jahren 93.
In Guyana dagegen hatte dieselbe Zahl im ersten Jahre 77 Sterbefalle.
In den darauf folgenden 10 Jahren stieg diese Zahl langsam aber stetig bis
auf 140.
Der Besitz von Algerien hat — nach den Angaben Picard''s im Gesetz-
gebenden Körper 1864 — Frankreich nicht nur 3 Milliarden Francs gekostet,
sondern auch das Leben von 150000 braven Soldaten. Von diesen sind blos
4000 vor dem Feinde gefallen; alle übrigen wurden durch mörderische Krank-
heiten dahingerafft.
Die französische Regierung hat sich alle Mühe gegeben, die Colonisation
Algeriens zu fördern. In den Jahren 1830 bis 1855 zogen auch wirklich mehr
als eine Million Auswanderer aus Europa nach Algerien. Und doch betrug bei
einer Zählung im Jahre 1866 die Civil bevölkerung an Europäern blos SI17990.
Gegen achtmalhunderttausend Europäer waren dem fürchterlichen Klima zum
Opfer gefallen oder nach Europa zurückgekehrt.
Die Zahl der Ehen und Geburten ist günstig, denn die Eingewanderten
sind meist kräftige Leute im besten Alter. Aber die Sterblichkeit ist durch-
schnittlich weit grösser. Auf die Bevölkerung des gleichen Alters trafen in
Frankreich bei 1000 Einwohnern 11 Sterbefalle; in Algerien 28—52.
Am meisten leiden die deutschen und schweizerischen Colonisten.
Noch erbarmungsloser aber als unter den Erwachsenen wüthet der Tod
unter den Kindern der Colonisten; sogar die maurische Bevölkerung in deu
Städten und die Negerbevölkerung war nicht im Stande, sich zu vermehren.
Die Zahl der Soldaten, welche in Ostindien seit Anfang des Jahrhunderts
dem Klima erlagen, schätzt man auf 150.000. Auch dort ist es dem Klima
eigen, dass es seine Opfer um so schlimmer behandelt, je länger sie ihm
trotzen wollen.
Man hat seitdem das System der Acclimatisirung im Priucip wenigstens
aufgegeben, um ein System des Wechsels zur Geltung zu bringen, nach wel-
chem kein Corps länger als 3 Jahre in einer Colonie bleiben soll. Damit er-
langte man wesentlich bessere Resultate, so dass auf Jamaika, während beim
System des dauernden Acclimatisirens von 1000 Manu 128 starben, beim System
des Wechsels nur ein Verlust von 39 sich ergab.
Fast überall, wo ein verrufenes Klima herrscht, hat man dieselbe Erfah-
rung gemacht, die Erfahrung, dass die Wirkungen dieses Klimas um so ver-
derblicher werden, je länger die Ursache thätig ist.
Für die Fieberluft der römischen Campagua wird man erst empfanglich,
wenn mau eine Zeit lang iii der Gegend gelebt hat. Die deutscheu, englischen
und französischen |Cünstler in Rom werden fast niemals im ersten, wohl aber
in späteren Jahren ihres dortigen Aufenthaltes fieberkrank. Die französischen
EinfluBS der Jahre sseiten etc. 151
Soldaten, welche, um Joseph Napoleon auf deu neapolitanischen Thron zu er-
heben, die Gampagua durchzogen, hatten weder auf dem Hinmarsche noch auf
dem Bückmarsche Ton der Tieberluft zu leiden. Dagegen starb ein Kapuziner-
kloster, welches Pius VII. dort gründete, bald aus.
Auch Kinder der Fremden, sogar die dort geborenen, sterben in solchen
Gegenden massenhaft hin. Das hat sich in Ostindien und Algerien, in Egypten
und auf den Antillen gezeigt. Ein französischer Arzt, Vital, welcher 16 Jahre
in Algerien zu leben das Glück hatte, fand, dass die Kinder, welche ron euro-
päischen Eltern zu Gonstantine geboren wurden, sofort unerbittlich hinwegge-
rafft werden.
Von den zu Gonstantine geborenen Negern erreichen, wie die Gazette
medicale vom 6. Not. 1852 mittheilt, unter 100 nur t das Jünglings- und
Jungfrauenalter.
Auch in Egypten herrscht dieselbe Fremdensterblichkeit. Von den 90
Kindern Mehemed Ali'^s konnten nur 5 erhalten werden.
Man gibt dieser Erscheinung die Ursache, dass air die Eroberungsrölker,
welche im Laufe der Jahrtausende über Egypten herfielen, sich dort nicht
halten konnten.
Dieser Einfiuss der Acclimatisirungsrersuche auf die Sterblichkeit ist ein
ganz natürlicher. Auch für die Thiere ist ein Verpflanzen nach anderem Klima
nachtheilig, noch weit nachtheiliger, als für den Menschen.
§. 93. Einfluss der Jahreszeiten etc.
Die Jahreszeiten sind, wie auf die Zahl der Geburten auch auf jene
der Todesfälle von entscheidendem Einflüsse, der schon vielfach beobachtet
worden ist. Im Allgemeinen war das jetzt einigermassen als irrig befundene
Resultat der frühesten dieser Beobachtungen, dass die Sterblichkeit im
umgekehrten Verhältnisse mit der Temperatur steigt, so dass bei höchster
Temperatur die Sterblichkeit am geringsten ist und umgekehrt. Die Wir-
kungen dieser Ursachen zeigten sich aber nicht gleichzeitig mit den Ursa-
chen, sondern einen Monat später. So fand man die grösste Kälte im
Januar, die grösste Sterblichkeit aber im Februar und März, sowie die
grösste Wärme im Juli und die geringste Sterblichkeit im August. Dieses
verspätete Erscheinen der Wirkungen ist indessen ganz natürlich; die
schädlichen Einflüsse, des Winters und die heilsamen des Sommers müssen
erst eine Zeit lang auf den Organismus gewirkt haben, ehe sie in der
höheren oder geringeren Sterblichkeit ihren Ausdruck finden.
Ferner haben die Beobachtungen ergeben, dass eine Erhöhung der
Wärme über den normalen Zustand im Winter die Sterblichkeit vermin-
dere, im Sommer sie vermehre, und umgekehrt, dass eine Erniedrigung
der Wärme unter den normalen Zustand im Winter die Sterblichkeit ver-
mehre, im Sommer sie vermindere.
Spätere und umfassendere Beobachtungen erwiesen indessen, dass
das Maximum der Todesfälle keineswegs überall in denselben Monat fällt
152 Einfluss der Jahresteiten etc.
— eben so wenig als das Minimum. In dieser Hinsicht unterscheiden sich
vielmehr die nördlichen Länder wesentlich von den südlicheren, üebrigens
wechseln die Todesfälle monatweise nicht mit der gleichen Regelmässigkeit
wie die Geburten.
Bei genauerer Untersuchung kam man zu dem Resultate, dass nicht
Kälte und Wärme an sich die Zahl der Todesfälle beeinflussen, sondern
dass es einestheils die Excesse der Temperatur sind, welche schädliche
Wirkungen aussein, andererseits, und zwar vorzugsweise, die Unregel-
mässigkeiten der Temperatur. Der menschliche Organismus braucht eine
gewisse Zeit, um sich an eine höhere oder niedrigere Temperatur zu ge-
wöhnen und leidet um so mehr, je grösser und plötzlicher die Abwechse-
lungen von Kälte und Wärme sind.
Die Beobachtungen über den Einfluss der Jahreszeiten auf die Sterb-
lichkeit gehören zu denjenigen, welche mit besonderer Vorliebe und sehr
ausführlich fortgesetzt wurden. Man ist aber, namentlich seit vergleichbares
Material aus verschiedenen Ländern vorliegt, zu Anschauungen gekommen,
welche von den älteren wesentlich abweichen. Man weiss jetzt, dass in
kälteren Ländern die Winterkälte, in wärmeren die Sommerhitze dem
Menschen gefährlicher ist und dass die gesundeste Jahreszeit vom Herbst
und Sommer um so mehr dem Frühling sich nähert, je wärmer das Ge-
sammtklima des Landes ist. So haben in Norwegen der August, in Belgien
und Bayern der Juli, in Frankreich der Juni und in Italien der Mai die
geringste Sterblichkeit, während das Maximum der Todesfälle fiir Norwegen
in den April, für Bayern in den März, für Belgien und Frankreich in
den Februar, für Italien in den August fällt. Hiebei zeigt sich ein Be-
streben der Sterblichkeit, im Laufe des Jahres nicht blos eines, sondern
zwei Maxima umd Minima zu erreichen ; dieses Bestreben ist in den nörd-
lichen Ländern kaum bemerkbar; in Frankreich dagegen zeigt neben dem
Februar auch der August eine sehr bedeutende Sterblichkeit und in Italien
neben dem August, wenn auch etwas geringer, der Februar *).
Noch intensiveres Licht wurde über den Zusammenhang zwischen
der Sterblichkeit und den Jahreszeiten verbreitet, als man begann, die
Monatssterbliehkeit der verschiedenen Altersclassen zu betrachten. Es
zeigte sich nämlich, dass die Monatssterblichkeit der verschiedenen Alters-
classen in einem Lande mit dem fortschreitenden Alter allmälige Aende-
rungen erlebt und dass diese Aenderungen schliesslich grösser sind, als
selbst die Unterschiede der Sterblichkeit sehr verschiedener Breitegrade *).
Schliesslich verdient noch hervorgehoben zu werden, dass der Mensch
jene schädlichen Einflüsse der wechselvollen Temperatm' mehr und mehr
zu beherrschen lerat, dass namentlich die Schwankungen der Sterblichkeit
durch Beschränkung gewisser Epidemien verringert werden müssen, deren
Einfloss wirthscliaftlicher Ereignisse. 153
Häufigkeit und Intensität mit dem Wechsel der Jahreszeiten in einem
gewissen Zusammenhange steht.
Dass man auch den Einfiuss der Tageszeit auf die Sterblichkeit zu
messen versuchte, mag hier nur flüchtig erwähnt werden').
Aumerkaiigeu.
^) G. Mayr: Gesetzmässigkeit im Gesellschaftsleben. S. 287 ff.
*) Im Deutschen Reiche wird die yerschiedene Mouatssterblichkeit durch
folgende Ziffern beleuchtet. Wenn in den Jahren i 872/75 durchschnittlich auf
1 Tag im Jahre 100 Tälle trafen, so trafen auf 1 Tag des betreffenden Monats
(ohne Todtgeborene) im;
Januar 105 April 104 Juli 96 October 92
Februar 111 Mai 98 August 108 November 91
März 112 Juni 91 September 104 December 94
Denmach ergibt sich auch hier ein doppeltes Maximum und ein doppeltes
Minimum. (Nach Block-v. Scheel: a. a. 0., S. 269.)
Im Gegensatze hiezu vertheileu sich in Italien (1878) 12000 Todesfälle
folgeudermassen über die 12 Monate:
Januar 1059 April 1009 Juli 1088 October 922
Februar 1048 Mai 810 August 1085 November 994
März 1077 Juni 886 September 1004 December 1036
Hier fallt das erste kleinere Maximum ebenfalls in den März, das zweite
^össere in den Juli; das erste und zweite Minimum um einen Monat früher,
als im Deutschen Reiche.
*) Quetelet a. a. 0., S. 198 berichtet, dass nach den durch 30 Jahre fort-
gesetzten Beobachtungen des St. Petershospitals zu Brüssel auf je 28 tägliche
TodesfäUe
7 zwischen 12 Uhr Mittags und 6 Uhr Abends
7 „ 12 „ Nachts „ 6 „ Morgens
6 „ 6 „ Abends „ 12 „ Nachts
8 „ 6 „ Morgens „ 12 „ Mittags
auftreten.
Eigenthümlich ist hiebei, ,,dass gerade jene Tageszeit, in der jede Lebens-
thätigkeit in ihrem vollsten Glänze sich äussert, auch an Todesfallen am reich-
sten ist, dass dagegen die Nacht, in der alle Lebensäusserungen wie Scheintod t
damiederliegen, dem individuelleu Leben viel günstiger ist^. Diese Erscheinung
ist jedoch sehr wohl in der Natur begründet. Dasselbe, wodurch im gesunden
Zustande das Leben angeregt und unterhalten wird, kann dem Sterbenden den
letzten Lebensfunken eutreissen.
§. 94. Einflnss wirthscliaftlicher Ereignisse.
Der Einfluss der Theuerungen auf die Sterblichkeit ward schon
frühzeitig beobachtet. Bei solchen Beobachtungen muss man zunächst
berücksichtigen, dass die Sterblichkeit nicht in demselben Augenblicke
wächst, wo der Preis des Brodes steigt. Die gesteigerte Sterblichkeit ist
vielmehr erst eine Wirkung der Entbehrungen und Krankheiten, unter
I
154
EinfloBs wixtbschaftlicber Ereignisse.
welchen die ärmere Bevölkerung während der Theuerung leidet. Meist
ein Jahr erst nach dem Anfange der Theuerung zeigt sich daher ge-
wöhnlich die erhöhte Sterblichkeit. Der Preis der wichtigsten Nahrungs-
mittel kann schon wieder gesunken und die Sterblichkeit doch noch eine
ungewöhnlich hohe sein.
Unbedeutende Preissteigerungen üben keinen sehr merkbaren Einfluss *).
Je mehr Ersparnisse unter der grossen Masse der Bevölkerung vor-
handen sind, desto später wird sich der Einfluss der Theuerung auf die
Sterblichkeit zeigen.
Sogar den Einfluss der Kartofifelkrankheit auf die Sterblichkeit hat
man beobachtet^).
Aber nicht nur die Ernteergebnisse haben solchen Einfluss; auch
andere Calamitäten mit wirthschaftlichen Folgen zeigen ihn. So nament-
lich Revolutions- und Kriegsjahre, welche lähmend auf die wirthschaft-
liche Volksthätigkeit einwirken').
Schön bemerkt Quetelet: es scheint, dass Nothjahre ihr Gepräge
der menschlichen Gattung tief eindiücken, ganz so wie strenge Winter
ihre Spur in dem Holzwuchse unserer Wälder zurückzulassen pflegen.
Anmerkungen.
*) Die Wirkung der Theuerung auf die Sterblichkeit zeigt sich an fol-
gender, Ton Wappäus hergestellten Tabelle, wo Preussen, England und Frank-
reich beobachtet sind :
Preussen:
England:
Frankreich
Jahr
Sterblichkeit
Boggenpreis
d.preuss. Seh.
Sterblichkeit
ezcLTodtgeb.
Weizenpreis
d.preitss.Sch.
Sterblichkeit
Weizenpreis
d.preus8.Sch.
1844
38,85
40V„Sgr.
_^
1 : 43,55
87S|?r.
1845
36,73
51 „
1 : 57,86
96 Sgr.
1 : 45,29
87 «
1846
34,05
W.V„ «
1 : 43,36
103 „
1 : 41,39
106 „
1847
31,59
86'/.. «
1 : 40,47
132 „
1 : 40,22
188 „
1848
30,12
38'/.« «
1 : 43,37
96 „
1 : 40,82
73 r,
1849
32,74
31'/„ «
1 : 39,82
84 «
1 : 35,26
67 «
1850
36,31
36V, «
1 : 38,15
76 „
1 : 44,71
63 „
1851
37,82
49"/.. «
1 : 45,48
73 „
1 : 42,77
64 «
1852
30,39
61*/.. «
1 : 44,72
^^ „
1 : 42,25
76 „
1853
: 32,76
68
1:43,70
101 „
1 : 43,02
98 „
1854*
—
—
1 : 42,52
137 „
—
Mittel:
1
•33,86
1 : 43,79
1 : 41,73
*) E. Engel: Die Bewegung der Berölkerung im Kgr. Sachsen (Statist.
Mittheilungen etc.). Dresden 1852. S. 60.
Einllttss von Relchtliam usd Amratb. 155
') Gasper: Beiträge zur medic. Statistik, S. 162, beobachtet eine uner-
hörte Sterblichkeit in Berlin während der für die Stadt so unglücklichen Jahre
1806—4808.
§. 95. Einfluss von Eeichthum und Armuth.
Einen schmerzlichen Eindruck macht der düstere Einfluss von
Reichthum und Armuth auf die Sterblichkeit. Der Zufall, der ein Kind
auf dem Strohlager der Bettlerin zur Welt kommen lässt, hängt über
dieses Kind das Damoklesschwert einer weit drohenderen Sterblichkeit,
als über jenes glückliche, das im Bette des Reichthums geboren ward.
Untersuchungen über diesen Gegenstand leiden an dem Umstände,
dass es nicht möglich ist, den Reichthum nach unten oder die Armuth
nach oben bestimmt abzugrenzen. Es bleibt demnach nichts übrig, als
sich auf die Vergleichung von Extremen zu beschränken, d. h. von solchen
Bevölkerungsclassen, welche ganz zweifellos als reich oder im Wohlstand
lebend und von solchen, welche ganz zweifellos als arm bezeichnet werden
dürfen. Die ungeheure Menge derjenigen, welche, zwischen beiden Extremen
in Mitte liegend, Uebergangsstufen bilden, muss von der Betrachtung
ausgeschlossen bleiben.
Mit dieser Beschränkung ist es allerdings schon einigermassen ge-
lungen, die Unterschiede der Sterblichkeit bei Wohlhabenden und Armen
zu erkennen. Eine weitere Beschränkung lag darin, dass man in der Regel
blos die Bevölkerungen grösserer Städte als Vergleiehungsmaterial benützen
konnte, während die ländliche Bevölkerung ausgeschlossen blieb. Es ist
aber klar, dass der Unterschied zwischen der Lebensweise der Armen und
jener der Reichen, namentlich in sanitärer Beziehung, in den Städten
viel bedeutender sein muss, als auf dem Lande.
In den grossen Städten ist denn auch dieser Unterschied ein höchst
bedeutender, so bedeutend, dass man z. B. in Paris in ärmeren Stadt-
theilen eine Sterblichkeit von 1:43, in den wohlhabendsten von 1:62
fand. Auch in London, Brüssel, Berlin, Petersburg wurden ähnliche Er-
fahrungen gemacht *).
Zur Ausscheidung der Reichen kann man hiebei diejenigen Stadt-
theile benützen, in welchen die höchsten Miethpreise gezahlt werden. Die
Armensterblichkeit ist ebenfalls durch Ausscheidung der ärmeren Stadt-
theile oder durch Beobachtung der Sterblichkeit der öffentlich Unter-
stützten zu gewinnen. Bei Vergleichung der Sterblichkeit armer und
reicher Provinzen kann man dieselben wohl nur nach den auf den Kopf
treffenden Steuersummen ausscheiden.
Trostreich bei all diesem Elend ist die Erfahrung, welche man ii^
England bei den dortigen friendly societies gemacht hat. Diese friendly
156
Einfiass von Beichthnm und Armath.
societies sind auf Gegenseitigkeit gegründete ünterstützungs-, Sparcassen-
und Versicherungsvereine und haben zu Mitgliedern Leute aus den arbei-
tenden Classen, also aus jenen Classen, die sonst von der stärksten
Sterblichkeit heimgesucht sind. Diese Elite der Arbeiterbevölkerung jedoch,
die den friendly societies angehört, die arbeitsamen, ordentlichen und
nüchternen, für die Zukunft sorgenden Arbeiter haben nicht nur eine
eben so lange Lebensdauer als die wohlhabenden Classen, sondern durch-
gängig sogar eine höhere als die vornehmsten Classen der Gesellschaft,
namentlich als der Adel.
Anmerkung.
*) Die werthvüllste Arbeit in dieser Hinsicht verdankt man Villerme,
welcher in den Annal. d' Hygiene, t. III., S. 294, eine sehr beachteuswerthe
Zusammenstellung gibt. Nach ihr stellen sich Wohlhabenheit und Sterblichkeit
in den verschiedenen Arrondissements von Paris wie folgt:
Arron-
dissement
Procentbetrag
nicht
besteuerter
Wohnungen
Mittlerer Preis
der Wohnungen
in Francs
1821-26
Zahl
der Einwohner
auf 1 Todesfall
1817-21
Zahl
der Einwohner
auf 1 Todesfall
1821-26
2
3
1
4
11
6
5
7
10
9
8
12
0,07%
0,11 „
0,11 „
0,15 „
0,19 „
0,21 „
0,22 „
0,22 „
0,23 „
0,31 „
0,32 „
0,38 „
605
426
498
328
258
242
226
217
285
172
173
148
62
60
58
58
51
54
53
52
50
44
43
43
71
67
66
62
61
58
64
59
49
50
46
44
Dass sich diese Verhältnisse im Laufe langer Jahre nur wenig geändert
haben, zeigt eine neuere Zusammenstellung, ebenfalls für Paris, von M. Block:
Statistique de la France, 2. Edition, tome IL pag. 451. Nach derselben beträgt
die Zahl der Einwohner, auf welche ein Todesfall trifft, in den Arrondissements :
Louvre 58,i
Bourse 62,i
Temple 52,5
HÖtel-de-Ville 45,2
Pantheon 40,2
Luxembourg 54,7
Palais-Bourbon 38,7
Elysee 60,o
Opera 62,3
Saint-Laurent 38,4
Popincourt 33,9
Reuilly 31,3
Gobelins 25,7
Observatoire 22,9
Vaurigard 31,ö
Passy 47,2
Batignolles 39,4
Montmartre 38,2
Chaumont . 30,7
Menilmontaut 32,i
Eiiiilass des Berufes. 157
§. 96. Einflnss des Berufes.
Arbeit kostet Leben. Und weil die Thätigkeit des Menschen auf so
verschiedene Dinge gerichtet ist, ist auch ihr Einfluss als Todesursache
ein höchst mannigfaltiger. Sie steht als geheimnissvolle Mörderin hinter
den Krankheiten, die wir als nächste Todesursachen erkennen.
Es hat denn auch diese interessante Erscheinung eine Reihe von
Bearbeitern gefunden *). Die wichtigsten der gewonnenen Erfahrungen sind
folgende.
Die erste Schwierigkeit, welche sich statistischen Erhebungen hier
entgegenstellt, ist die Classification der Berufsarten zum Zwecke ihrer
Untersuchung als Todesursachen. Es müssen schon einer solchen Ein-
theilung Erfahrungen zu Grunde liegen. Schafft man zu viel Berufs-
kategorien, so verliert man für die einzelne Kategorie an der Sicher-
heit, welche die grosse Zahl der Beobachtungen gewähren soll. Schafft
man zu wenige, so können sich möglicherweise innerhalb einer oder der
anderen verschiedene Einflüsse das Gleichgewicht halten und gegenseitig
verwischen.
Eine erste Reihe von Beobachtungen umfasst vorzugsweise die
höheren Berufsarten. Sie fand die grösste Sterblichkeit bei Aerzten,
Lehrern und Künstlern, eine mittlere bei Landwirthen und Forstleuten,
bei Militärs und Advocaten und die geringste bei Beamten, Kaufleuten
und ganz besonders bei Theologen.
Spätere Beobachtungen bestätigten namentlich das ungünstige Sterb-
lichkeitsverhältniss der Aerzte, das günstige der Geistlichen.
Dann zog man auch die Gewerbe in den Kreis der Beobachtung.
Der Einfluss der verschiedenen Gewerbe sowohl auf die Morbilität (d. h.
der Hang zur Erkrankung) als auch auf die Sterblichkeit ist ein höchst
bedeutender.
Morbilität und Sterblichkeit aber laufen nicht immer parallel. Manche
Gewerbe liefern viel Kranke und wenig Todte; bei anderen ist das Gegen-
theil der Fall.
Den Verlust, welchen eine gegebene Anzahl von einem Gewerbe
angehörigen Individuen im Jahre erleidet, nennt man die Sterblichkeit
dieses Gewerbes.
Die Unterschiede in der Morbilität und Sterblichkeit der Gewerbe
werden durch Momente verursacht, welche im Gewerbe selbst liegen, durch
die verschiedene Lebensweise, welche die einzelnen Handwerke ihren
Angehörigen auferlegen.
Andere Gründe wirken auf die Häufigkeit des Erkrankens, als
auf die Bösartigkeit der Erkrankungen. Die absolute Sterblichkeit
158 Einflüss des Bernfes.
eines Gewerbes aber wird nur von Momenten bedingt, welche über-
wiegenden Einfluss ausüben.
Anhaltendes Sitzen, Arbeit in gebeugter Stellung und wechselnder
Temperatur, mineralischer Staub sind die gefährlichsten Feinde des
Gewerbsmannes.
Alle gelehrten Stände haben durchschnittlich eine kürzere Lebens-
dauer, als die übrige männliche Bevölkerung. Wenn man die Sterbelisten
dieser Berufsarten mit jenen der Handwerker vergleicht, muss man auch
berücksichtigen, dass die letzteren meistens schon mit 15 Jahren ihren
Gewerben zugerechnet werden, die ersteren dagegen in der Regel erst mit
27—30 Jahren.
Bei einzelnen Gewerben wird auch zu berücksichtigen sein, dass
ihnen vorzugsweise schwächliche Knaben bestimmt werden. So ist es
namentlich mit dem Schneidergewerbe. 30 J(^ seiner Angehörigen sterben
im Alter .von 20 — 30 Jahren; mehr als AO^ seiner Gesammtan gehörigen
erliegen der Schwindsucht.
Besondere Aufmerksamkeit verdienen die Todesursachen der Fabriks-
bevölkerungen.
Die Trockenschleifer von Sheffield tragen den Fluch des gefähr-
lichsten Berufes. . Der feine Staub des Stahls und der Schleifsteine, der
die Krankheit der sogenannten Schleifer-Fäule (grinder's rot) erzeugt,
tödtet rasch. Die mit dem Schleifen der Gabeln Beschäftigten erreichen
ein durchschnittliches Alter von 29 Jahren *).
Auch der Beruf der Bergleute ist ein tragischer, voran jener der
Steinkohlengräber Englands.
Die gekrümmte oder liegende Stellung, in welcher die Arbeiter der
Kohlengruben häufig arbeiten, die ungesunde Luft und der Kohlenstaub
sind die Feinde ihres Lebens. Auch in deutschen Gruben, wo die Arbeit
nicht so gefahrvoll ist, als in den englischen Kohlen werken , werden die
meisten Bergleute zwischen 30 und 40 Jahren „bergfertig".
So wird der Mensch ein Opfer seiner eigenen Thätigkeit. Seine
Arbeit tödtet ihn und es ist ein schwankender Trost, dass die Arbeit die
Gesundheit stählt und stärkt, dass Trägheit und Ueppigkeit dieselben
Todesursachen sind wie eine ungesunde Beschäftigung.
Aumerkungeu.
*) Eine Reihe älterer, aber werth voller Uutersuchuugeu über dieseu Ge-
geustaud, uamentlich die von Casper, Chateauneuf, Lombard, Neufyille, fiudeu
sich zusammengestellt uud beleuchtet bei Quetelet und (noch ausführlicher) bei
Oesterlen: Handbuch der medicinischen Statistik. S. 202 ff.
*) Die Vorrichtungen, welche Abhilfe ermöglichen könnten, wurden von
den Arheitern selbst zurückgewiesen. „Das Geschäft geht schlecht genug,''
Sterblichkeit des Müit&rgtandes inBbesoiidere. 159
sagten sie, ^weuu die Leute uoch länger leben, ist es bald übersetzt und nie-
mand kann mehr seine Lebsucht verdienen^.
^Die Dame, welche von ihrem mit Seidenstoff überzogenen Sopha aus
ihren Salon überblickt, möge von den Leiden der Verfertiger beinahe aller
unter ihren Augen befindlicher Gegenstände erfahreu. Wenn diese glänzende
Visitenkarte reden könnte, so würde sie yielleicht von der nun durch Lähmung
befallenen Hand ihres Verfertigers erzählen. Jener herrliche Spiegel, der alle
Pracht des reich ausgestatteten Saales reflectirt, hat ohne Zweifel die zitternde
Gestalt des abgemagerten Arbeiters dargestellt, den die Quecksilberdämpfe bei
dieser Beschäftigung vergifteten. Diese reichen und zierlichen Vorhänge haben
beigetragen, dem armen Weber ein tödtliches Uebel zuzuziehen, indem sie ihn
zu einem beständigen Andrücken seines Magens an den Webstuhl zwangen.
Sogar die Tapete an den Wänden, geschmückt mit einem Glänze wie der Früh-
ling ihn bietet, hat durch ihren giftigen Staub die Finger des Arbeiters mit
Geschwüren bedeckt . . . Und all diese Leiden, wovon so manches zu vermin-
dern wäre, wird hingenommen ohne die leiseste Klage. Der Arbeiter fallt hin-
weg aus der Reihe; augenblicklich tritt ein anderer an seine Stelle, und diesem
folgt vielleicht bald ein dritter."
Kolb: a. a. 0., S. 585.
§. 97. Sterblichkeit des Ulitfixstandes insbesondere.
Selbst im Frieden war bis in die neueste Zeit die Sterblichkeit des
Militärstandes eine weit grössere, als die anderer Berufsclassen. Die Ver-
änderung der Lebensweise und der Nahrungsmittel, das Kasernen wohnen,
Verlockungen zu einem in mancher Hinsicht weniger geordneten Leben
mögen hiezu beitragen.
Nach älteren Beobachtungen hierüber, welche zwischen den Jahren
1830-— 1860 gemacht wurden, stellte sich die Sterblichkeit der europäischen
Armeen selten unter 1,5 — 2^^ während die Sterblichkeit der gleichalterigen
Civilbevölkerung nur 0,8 — 1^2^ betrug. Diese höhere Sterblichkeit des
Militärs muss aber noch weit bedeutender erscheinen, wenn man bedenkt,
dass Schwache und Kränkliche überhaupt nicht zum Militär eingestellt
werden und deshalb die Sterblichkeit der Civilbevölkerung über Gebühr
hoch erscheinen lassen.
In der neuesten Zeit hat sich dies Verhältniss jedoch ganz wesent-
lich zum Besseren geändert, hauptsächlich wohl in Folge besserer Ver-
pflegung, grösserer Salubrität der Kasernen und mancher anderen Ein-
richtung, die zur Erhaltung des Gesundheitszustandes der Soldaten dient *),
So zeigt die preussische Armee im Jahre 1867 nur eine Sterblichkeit von
0,81 Ji^, ein Verhältniss, welches von der gleichalterigen Civilbevölkerung
nur unter günstigen Umständen erreicht wird. Dagegen hatte im Durch-
schnitt von 1846 — 63 die Sterblichkeit noch 0,96^ betragen.
160 Sterbliclikeit des HüiUrstandes insbesondere.
Die Sterblichkeit der Armee ist indessen nicht allein länderweise
weit verschiedener, als jene der Civilbevölkerung, sondern auch innerhalb
einzelner Armeen ergeben sich die grössten Verschiedenheiten *). Dass die
in der Heimat stationirten Truppen eine weit geringere Sterblichkeit
zeigen, als die in den Colonien, erklärt sich leicht aus dem schon
früher erwähnten gefährlichen Einflüsse des fremden Klimas. Dass das
Militär eine wesentlich andere Vertheilung der Sterblichkeit über die
Jahreszeiten hat, als die Gesammtbevölkerung, erklärt sich theils daraus,
dass ja das Militär die Auslese einer gewissen Altersclasse bildet, theils
aus den grösseren Strapazen, welchen dasselbe während einzelner Sommer-
und Herbstmonate ausgesetzt wird. Wie verschieden die Sterblichkeit der
einzelnen Waffengattungen ist, ergibt sich daraus, dass in Preussen in
den Jahren 1846 — 63 eine Sterblichkeit sich zeigte:
bei Infanterie 9,^6 Promille
„ Cavallerie 7,98 „
„ Artillerie 7,7i „
„ Pionnieren 7,i2 . „
„ Train 5,i9
Unter den Krankheiten des Militärs stehen, abgesehen natürlich von
Ausnahmezuständen, die Infectionskrankheiten als Todesursachen obenan,
insbesondere der Typhus.
Anmerkuugen.
*) Zur Orientining über die vormalige und jetzige Sterblichkeit der wich-
tigsten Armeen mögen folgende Uebersicbten dienen.
I. Nach Oesterlen (Handbuch der medicijnischen Statistik S. 239) stellte
sich die Sterblichkeit der Armeen auf
Promille Promille
Dänemark 1854—57 9,5 Frankreich zu Haus 1846—58 16
Vereinigte Staaten ) im Norden . 9 England überhaupt 1837—46 37
1840—50 Jim Süden .33 „ zu Haus allein . . .17,5
Preussen 1829—38 13,i „ , in den Colonien ... 57
Belgien 1850—57 14,3 „ in Bengalen .... 70
Sardinien 1840—50 16,i7 „ in Westindien .... 95
Oesterreich 1840—55 28 „ 1856—59 zu Haus . . 10,i2
„ 1850—60 17,5 „ 1856—59 in Colonien 33,64
Frankreich 1840—46 28,7 Russland 1840—45 42
„ zu Haus allein . . . 19,6 „ 1850—55 39
„ in Algerien .... 64
II. Nach dem statistischen Sanitätsbericht über die kgl. preuss. Armee,
von der Militar-Medicinalabtheilung des Kriegsministeriums, in der Zeitschrift
des preuss. stat. Bureaus, 1870, IV. Heft, pag. 377 stellte sich die Sterblichkeit
in der preussischen Armee 1846—63 auf 9,49 Promille
^ « « ^ 1867 „ 6,19 „ „ .
„ „ franz. Armee (zu Haus) 1867 „ 11,74 „ „
Die Sterblichkeit im Kriege. 161
in der englischen Armee 1867 auf 9,4o Promille
„ „ österreichischen „ „ „ 12,oo „ „
In der russischen Armee (1872) dagegen 18 Promille, immerhin eine be-
deutende Verbesserung gegen frühere Jahre. (Nach dem statist. Sanitätsbericht
über die russische Armee für 1872, vgl. Zeitschr. d. preuss. stat. Bureaus Jahrg.
1876, Heft I-II, S. 112.)
*) In den ersten 7 Monaten des Krimfeldzuges betrug bei der brittischen
Armee die Sterblichkeit 650 : 1000; sie war demnach grösser, als zur Zeit der
Londoner Pest, sank jedoch ganz bedeutend, nachdem für bessere Verpflegung
gesorgt worden war.
§. 98. Die Sterblichkeit im Kriege.
In den blutigsten Kriegen verloren häufig mehr Menschen das Leben
durch Krankheiten als durch feindliche Waffen.
Nach amtlichen englischen Berichten * wurden in dem 22jährigen
Kriege gegen Frankreich 19796 Mann von der englischen Armee ge-
tödtet, 79709 verwundet. Die Seeschlachten forderten weit weniger Opfer,
als die Landschlachten. Während Waterloo 1171 Todte kostete, fielen
bei Trafalgar in einer der grössten Seeschlachten, die je geschlagen worden,
nur 449. Bei der Expedition nach Walchem (1809) fielen blos 217 Mann
durch die feindlichen Waffen, während 4175 an Krankheiten starben. Im
Februar 1855 starben vor dem Feinde nur 6, an Krankheiten im Lager
1407 Mann. (Kolb.)
Besonders grossartig waren die Verluste, welche die Russen in ihren
Feldzügen erlitten. Im Jahre 1812 soll der Verlust — Erkrankte und
Vermieste mitgerechnet — ^'/g, der ganzen Armee betragen haben. Von
115000 Russen, welche 1828 und 1829 in die europäische Türkei ein-
fielen, kamen (nach Moltke) kaum mehr als 10—15000 über den Pruth
zurück.
Nach einer neueren Zusammenstellung haben die von Europäern
geführten Kriege von 1815—64 gegen 2,762000 Menschenleben gekostet,
jährlich durchschnittlich 43800. Von diesen Kriegen verschlang der
Krimkrieg 508600 Menschen, der Kaukasus 330000, der ostindische
Aufstand (1857—58) 196000, der russisch- türkische Krieg (1828—29)
193000, der polnische Aufstand (1831) 190000, die französische Be-
setzung in Algier (1830—1859) 146000, der ungarische Aufstand 142000
und der italienische Krieg (1849) 130000. Dagegen hatten die Kriege von
1793—1815 im Ganzen 5,530000 Menschen oder jähriich 240000 gekostet.
Die Verluste des grossen deutsch-französischen Krieges 1870/71
gestalten sich wie folgt: *)
I. Bei der deutschen Armee betrug der Gesammtverlust 40743
Todte. Von diesen erlagen äusserer Gewalt (im Gefecht gefallen und an
Hausliofer, Statistik. 2. Aufl. n
162 Einflass der Sittlichkeit etc.
Wunden gestorben) 28596; an Krankheiten starben 11179; 4009 blieben
vermisst. Nach Waffengattungen und Chargen unterschieden stellte sich
die Sterblichkeit wie folgt:
a) Nach Waffengattungen:
Hauptquartier etc. 16,03 Promille
Infanterie 52,79 „
Cavallerie 27,08 „
Artillerie 27,22 „
Pionniere 17,63 „
Train 26,39
b) Nach Chargen:
Generale 46,is Promille
Stabsofficiere 105,i8 „
Hauptleute, Rittmeister 86,23 „
Lieutenants 88,«9 „
Aerzte 11,95 „
Militärbeamte 10,84 „
Unteroffic. u. Mannsch. 45,ot „
überhaupt 45,89 Pi'omille.
Verwundungen (tödtliche und leichte zusammen) erlitten überhaupt
112336 Combattanten.
11, Hinsichtlich der französischen Armee ist es fraglich, ob ihr Ge-
sammtverlust jemals genau ermittelt werden kann. Französische Berichte
berechnen die Zahl der Todten und an Wunden gestorbenen auf 89000.
Anmerkung.
*) Nach der Zeitschrift des kgl. preuss. Statist. Bureaus, Jahrg. 1872, Heft
I.-IV., S. i ff.
§. 99. Einflass der Sittlichkeit eto.
Hat man einmal erkannt, wie gross der günstige Einfluss ist, welchen
Arbeitsamkeit und Vorsicht auf die Sterblichkeit nehmen, so liegt es nahe,
auch einen solchen Einfluss der sittlichen Volkszustände zu vermuthen und
ihm nachzuspüren.
Zum Beweis für die Richtigkeit dieser Anschauung weist Quetelet
auf die in den höheren Ständen geringere Sterblichkeit — gegenüber jener
des gemeinen Volkes — hin. Sie rührt nicht blos vom Uebeifluss des einen
und den Entbehrungen des anderen Theiles her, sondern auch davon, dass
jener an Reinlichkeit und Massigkeit gewöhnt ist und weniger von Lei-
denschaften aufgeregt wird *).
Wie sehr heftige Leidenschaften das menschliche Leben beeinträch-
tigen: das zeigt gerade die grosse Sterblichkeit der Männer nach dem
zwanzigsten Lebensjahre, einem Alter, von dem man doch erwarten sollte,
dass es die grösste natürliche Widerstandsfähigkeit gegen alle schädlichen
Einflüsse besitze.
So hat man beobachtet, dass die Verheerungen der Cholera am
meisten unter den Unmässigen gewüthet haben. Man hat ferner bemerkt,
— aber freilich noch nicht durch zahlreiche Beispiele nachgewiesen —
welchen bedeutenden Einfluss die Furcht vor einer Krankheit auf den
Einfltigs der Sittlichkeit etc. 16S
Körper ausübt. Man hat gesehen, dass Leidenschaften, Gemüthsbewegungen,
aufgeregte Einbildungskraft geradezu tödtlich wurden. Statistische Erhe-
bungen über diese Erscheinungen könnten manche Aenderungen unserer
Sitten und Gewohnheiten zur Folge haben.
Einen anderen Beweis des Einflusses der Sittlichkeit auf die. Sterb-
lichkeit liefern die todtgeborenen Kinder, wenn man dabei die ehelich und
unehelich geborenen unterscheidet. „Das traurige Erbtheil des Lasters trifft
das Kind nicht blos vor der Geburt, nein, es verfolgt es auch noch lange
Zeit, nachdem es dieser ersten Gefahr entgangen ist." (Quetelet ^).
Dass die Sterblichkeit der unehelichen Kinder vor und nach der
Geburt eine grössere ist, als jene der ehelichen, ist schon seit Süssmilch
wiederholt beobachtet worden *).
Sittliche Verderbniss macht eben die Mütter unfähig zu jener überaus
hingebenden und sorgfältigen Pflege des Kindes, welche nöthig ist, um das
junge Leben vor den mannigfachsten Gefahren zu behüten. Es spiegelt
sich der materielle und sittliche Zustand einer Bevölkerung im Grade ihrer
Kindersterblichkeit „und zwar um so stärker, als die unteren Klassen der
Bevölkerung, bei denen Vor- und Rückschritt in der Cultur am inten-
sivsten auf das weibliche Geschlecht einwirken, überall den grösseren Theil
einer Bevölkerung bilden". (Wappäus.)
Die Verwüstungen, welche die Sterblichkeit unter den Findelkindern,
die aller mütterlichen Pflege entbehren, anrichtet, sind notorisch und eben-
falls durch mehrfache Beobachtungen erwiesen.
Auch der Missbrauch geistiger Getränke gehört zu jenen Formen der
Unsittlichkeit, deren Einfluss man statistisch beobachtet hat. Schon früh
wurde auf diesen Einfluss hingewiesen; die grosse Sterblichkeit Londons um
die Mitte des vorigen Jahrhunderts darauf zurückgeführt; auch brachte man
die plötzlichen Todesfalle der Provinz Oberschlesien in Zusammenhang mit der
Zunehmenden Menge des versteuerten Branntweins. Neuere Untersuchungen
fiir England und Wales haben ergeben, dass bei den Trunksüchtigen die
Sterblichkeit um das Dreifache erhöht wird. Am verderblichsten hat sich
dies Laster für die jüngeren Altersclassen und fär das weibliche Geschlecht
gezeigt. Unter den Männern verderblicher für die höher gebildeten als für
die arbeitenden Classen, so dass gewissermassen die Verderblichkeit des
Lasters im umgekehrten Verhältnisse mit der Stärke der Versuchung dazu
steht, und sich hierin eine gerechte Vertheilung der Strafe zu erkennen
gibt»).
Anmerkungen.
') Quetelet-Riecke: A. a. 0., S. 247 ff.
*) In neuester Zeit stellt sich das Verhältuiss der todtgeborenen illegi-
timen Kinder zu den Todtgeborenen überhaupt wie folgt:
11*
164
Einflnss der Freiheitsstrafen.
Lau der
Italieu ....
Frankreich . . .
DeUtsclies Reich
Oesterreich diess,
Schweiz . . . .
Belgien . . , .
Niederlande . .
Schweden . . .
(1865-78)
(1865—77)
(1872-78)
(1865-78)
(1870-78)
(1865-78)
(1865-77)
Frocentsatz der
Todtgeborenen
unter allen
Geburten
2,60
4,48
3,97
2,27
4,44
4,42
5,14
3,16
Frocentsatz der
Todtgeborenen
unter den illegit.
Geburten
3,58
7,95
5,03
3,53
6,77
6,17
8,09
') Ausführliches über die einschlägigen Arbeiten bei Quetelet-Riecke, a. a.
0., S. 247.
§. 100. Einfiuss der Freiheitsstrafen.
Die Sterblichkeit in Gefängnissen und Arbeitshäusern verdient eine
ganz besondere Beachtung und hat dieselbe auch gefunden. Diese Sterb-
lichkeit ist bedeutend grösser, als bei Menschen ausserhalb solcher Anstalten.
Um diese Sterblichkeitsziffern zu würdigen, muss man bedenken,
dass unter den Sträflingen keine Kinder sich befinden und dieselben viel-
mehr aus Leuten in den mittleren, den besten Jahren bestehen, wo die
Sterblichkeit eine ganz besonders geringe sein sollte. Nimmt man als
mittleres Alter der Sträflinge 40 Jahre an, so ist ihre Sterblichkeit drei-
bis fünfmal grösser, als die der freien Bevölkerung. Denn in Frankreich
z. ß. beträgt die mittlere Sterblichkeit der Bevölkerung im Alter von
40 Jahren nur 1 : 50 bis 1 : 60, die der Gefangenen dagegen 1 : 23.
Daher sagt Villerme, dass die Justiz mit der Verurtheilung dem
Gefangenen während der ganzen Dauer seiner Haft selbst in den besten
Gefängnissen wenigstens zwanzig Jahre seiner Lebenswahrscheinlichkeit
abspricht.
Offenbar sind die ferneren Ursachen, welche diese hohe Sterblich-
keit der Gefangenen herbeiführen, verschiedene. Sie sind besonders zu
suchen :
I. In der Einrichtung der Gefängnisse und Verwahrungshäuser, der
Behandlung der Gefangenen.
II. In dem Elende und den Entbehrungen, welchen sie vor ihrer
Einkerkerung preisgegeben waren.
in. In ihrem geistigen und sittlichen Zustande; d. h. wenn nicht in
Gewissensschlägen, so doch in dem verzehrenden Hasse gegen die Gesell-
schaft, in der ungestillten Sehnsucht nach Freiheit.
Die gewaltsamen Todesarten. 165
Quetelet stellte — abgesehen von den Verschiedenheiten, welche in
den örtlichen Verhältnissen und in der besseren oder schlechteren Ver-
waltung ihren Grund haben — die Gefangenen in der Ordnung zusam-
men, nach welcher ihre Sterblichkeit zunimmt und fand dabei diese Rei-
henfolge:
I. Angeklagte.
II. Verurtheilte.
ni. In den Verwahrungsanstalten für Bettler Untergebrachte.
Man hat nur in wenigen Ausnahmen ein besonders günstiges Sterb-
lichkeitsverhältniss der Gefangenen gefunden, so z. B. in der Strafanstalt
zu Stade (Hannover) in den Jahren 1848/49 bis 1857/58 nur eine Sterb-
lichkeit wie 1 : 106,1, während die Sterblichkeit der freien hannoverschen
Bevölkerung dieses Alters 1 : 70 betrug.
Abgesehen von solchen seltenen Ausnahmen ist die Gefangenschaft
halber Tod, und die grosse Sterblichkeit der Gefangenen ein Argument
gegen die Aufhebung der Todesstrafe.
Was die in Verwahrungshäusern für Bettler Untergebrachten betrifft,
so beweisen sie, dass vergangenes, bis zum Uebermass getragenes Elend,
sittliche Verkommenheit weit zerstörender das Menschenleben ergreifen, als
die Gewissensbisse des Mörders und Galeerensträflings oder die Angst des
in Untersuchungshaft Befindlichen. Die menschliche Justiz straft die ein-
zelne böse That nicht so grausam, als durch die Natur eine — den
Menschen entwürdigende — Kette von Niedrigkeiten und Gemeinheiten
des Bettlers und Vagabunden bestraft wird.
Bezüglich der Strafgefangenen hat man beobachtet, dass die Sterb-
lichkeit unter den Rückfälligen geringer ist, als unter den zum ersten
Male Eingesperrten. Jene haben eben die Eindrücke der Scham und des
Kummers schon überwunden.
§. 101. Die gewaltsamen Todesarten.
Ein Interesse ganz eigenthümlicher Art bieten die gewaltsamen
Todesfälle:
Der Tod durch unglücklichen Zufall, durch Selbstmord, durch Mord,
durch Zweikampf, oder durch Hinrichtung. Die wichtigsten Gesichtspunkte,
welche bei den gewaltsamen Todesarten zu beachten sind, wären folgende :
I. Die Regelmässigkeit derselben.
Auch bei jenen Todesursachen, welche man als durchaus zufällige
bezeichnen möchte, zeigt sich eine wunderbare Regelmässigkeit, eine perio-
dische Wiederholung der gleichen Zahlen, welche gebieterisch zur Unter-
suchung dieser Erscheinungen auffordert. Jeder grossen Stadt, jedem Lande
kann man für das kommende Jahr ein Budget von Unglücksfällen, Ermor-
166 Die gewaltsamen Todesarten.
dulden u. s. f. aufstellen und die Wirklichkeit wird von den aufgestellten
Zahlen nur wenig abweichen ^).
IL Di^ länderweisen Unterschiede in den Ziffern der gewaltsamen
Todesarten.
Diese Unterschiede sind sehr bedcoteiid. Ihre Erklärung können sie
aber nur durch eine genaue Ausscheidung der <eiBSehien Todesursachen
finden. Im Allgemeinen ergibt sich aus dem durch die Statistik gefondenen
Materiale hauptsächlich, dass die wirthschaftliche Thätigkeit der Nationen
den entscheidenden Einfluss auf diese Ziffeni nimmt. Darum ist die relative
Ziffer der gewaltsamen Todesursachen in England, Schweden und Norwegen
so hoch gegenüber jener anderer Länder. In den genannten Staaten sind
es offenbar Bergbau und überaus regsame Küstenschifffahrt, in England
überdies noch der ungemein rasche Eisenbahnverkehr, welche diese Ziffer
so steigern *).
III. Die Vertheilung der gewaltsamen Todesarten auf die Geschlechter.
Das männliche Geschlecht ist solchen Todesarten begreiflicherweise in weit
höherem Grade ausgesetzt, als das weibliche, namentlich wegen der fast
ausschliesslichen Beschäftigung der Männer mit lebensgefährlichen Arbeiten,
bei der Seeschifffahrt, im Eisenbahndienste, im Bergbau etc. So weist z. B.
die preussische Unfallstatistik nach, dass i. J. 1872 (abgesehen von Er-
mordungen, Selbstmorden, Hinrichtung und Zweikampf) 6737 gewaltsame
Todesfälle durch unglücklichen Zufall sich ereigneten, davon 5665 bei
Männern und nur 1072 bei Frauen *).
IV. Die Vertheilung dieser Todesarten auf die Lebensalter. Es ist
leicht erklärlich, welche Kategorien von gewaltsamen Todesarten vorzugs-
weise die Kinder, und welche vorzugsweise die Erwachsenen treffen müssen.
Die preussische Unfallstatistik *) scheidet Kinder unter 15 Jahren und
Erwachsene aus und weist unter 6737 tödtlichen Unglücksfällen des Jahres
1872 an Erwachsenen 5148, an Kindern unter 15 Jahren 1589 nach,
während z. B. in Bayern das Maximum der Unglücksfälle auf das Alter
von 1 — 5 Jahren fällt, was sich aus der nachlässigen Kinderbeaufsichtigung,
besonders auf dem Lande erklärt. In diesem Alter ist auch die Zahl der
weiblichen Unglücksfälle fast doppelt so gross, als jene der männlichen.
V. Jahreszeit und Tageszeit. Man hat beobachtet, dass im Sommer die
gewaltsamen Todesfälle weit häufiger sind, als im Winter — eine Folge
der häufigeren Arbeit im Freien, der Reisen, des Ertrinkungstodes.
Den Ausschlag geben natürlich die unglücklichen Zußllle. Wie sehr
diese sich in einzelnen Jahreszeiten steigern, zeigt z. B. Italien, wo unter
4087 Todesfällen des Jahres im Juni 403, Juli 479, August 398, dagegen
im December nur 282, Jänner 261, Februar 257 fielen ^). Aehnlich ia
Die gewaltsamen Todesarten.
167
Preußsen. Hier zeigt i. J. 1872 der Juli das Maximum von 894, der Fe-
bruar das Minimum von 423 tödtlichen Unfällen.
VI. Die einzelnen Arten gewaltsamen Todes. Während diejenigen
gewaltsamen Todesfälle, welche im Zusammenhange mit der Volksmoral
stehen, wie die Selbstmorde und Mordthaten, später in Betracht gezogen
werden sollen, verdienen die unglücklichen Zufälle mit tödtlichem Ausgang
hier noch eine gesonderte Betrachtung. Das Geschick der Bevölkerungen
ist ungemein erfinderisch hinsichtlich der Mordwerkzeuge, welche es dem
Völkertode zur Verfügung stellt. Eine Zergliederung der unglücklichen
Ziffern, die auf diesem Gebiet erwachsen, gibt manchen Fingerzeig hin-
sichtlich des Leichtsinns und der Geringschätzung, mit welchen gewohn-
heitsmässig das Menschenleben gewissen Gefahren ausgesetzt wird. Wenn
die Zahl der tödtlich Verunglückten in Preussen allein Jahr um Jahr über
6000 beträgt*), so ist dies ein Verlust, welcher den der grössten Schlachten
(an Todten und Vermissten) übertrifft. Und doch wird der Feldzug der
civilisirten Menschheit gegen den Zufall Jahr um Jahr mit nur wenig
verbesserten Mitteln fortgeführt und in mancher Rubrik will die Ziffer der
Opfer eher grösser werden, als geringer*).
Anmerkungen.
') Ziffern hinsichtlich der regelmässigen Wiederholung der gewaltsamen
Todesfälle. Die Gesammtzahl derselben betrug anf 1 Million Einwohner in:
Jahr
Italien
England
Preussen
0 esterreich
diesseits
1865
294
821
546
399
1866
311
789
732
379
1867
278
777
581
398
1868
281
772
613
429
1869
265
741
575
392
1870
300
737
595
433
1871
278
745
593
439
1872
259
747
581
447
1873
258
738
613
444
1874
243
757
590
472
1875
246
779
614
483
1876
240
757
639
471
1877
238
719
626
404
Nach der amtl. italien. Publication: Moyimento dello stato civile 1862 bis
1877. Rom 1878. pag. CCXXXVII.
*) Mit Unterscheidung der Hauptarten gewaltsamer Todesfalle ergeben
9iok folgende Ziffern in den wichtigsten europäischen Ländern (wobei leider für
168
Die gewaltsamen Todesarten.
Fraukreich kein eutsprecheudes Material vorliegt). Auf 1 Milliou Eiuwohuer
treffen nach der obenerwähnten Quelle:
Länder
Im Durch-
schnitt
der Jahre
Gewalt-
same
Todesfalle
überhaupt
incl. Hin-
richtungen
Selbst-
morde
Mord
und
Todtschlag
Unglück-
liche
Zufälle
tödtlicher
Art
Italien
England m. Wales
Preussen ....
Bayern
Oesterreich (dies-
seits) . ; . . .
Schweiz ....
Belgien ....
Schweden . . .
Norwegen . . .
1865-77
1868-77
1876—77
1870-77
1868—77
1865—74
276
749
603
466
441
889
469
609
707
32
67
144
94
90
206
72
85
74
78
16
19
33
34
39
16
22
9
157
663
439
338
319
644
380
501
613
*) Zeitschr. d. preuss. stat. Bureau, Jahrg. 1873, Heft HI.— IV. pag. 437.
*j Movimento dello stato civile 1862—78, pag. CCCXXIX.
*) Nämlich im Jahre 1869 6382
1870 6084
1871 6719
1872 6737
(Nach der Zeitschr. d. preuss. stat. Bureau a. a. 0.)
•) Ebenda findet sich eine Zusammenstellung der verschiedenen Arten
tödtlicher Verunglückungeu, welche wenigstens im Auszuge mitgetheilt zu
werden verdient. Im J. 1872 verunglückten in Preussen:
Ertrunken (im Meer, au Küsten, Seen, Weihern, Flüsseu, in Gräben,
Pfuhlen, Gruben, Brunnen, Gefässen etc.) 2336
Sturz (von Bäumen, Gerüsten, Dächern, Felsen etc., in Brunnen, Schächte
u. dgl.) 960
Ueberfahren, erdrückt etc. durch Landfuhrwerk 546
„ „ ,, „ Eisenbahnen 460
Durch Maschinen getödtet (Dreschmaschinen, Mühlwerke etc.) 293
Verbrannt durch offenes Feuer, Petroleum, Spiritus, Metall, Säuren etc. . 204
Verbrüht 66
Erstickt (durch Rauch, Gase, Erdrosseln etc.) . 287
Verschüttet (durch Sand, Mergel etc.) 130
Erschlagen (durch Steine, Balken, Lasten, Bäume, Einsturz von Gebäu-
den etc.) 652
Vergiftet 73
Schlag, Stoss oder Biss von Thieren 110
Stich- und Schnittwunden 24
Verblutung 1
Stoss, Schlag von Arbeitsgeräth u. dgl 22
Einflnss der Cmlisation. Resultate. 1(59
Schusäwuudeu 74
Selbstentladuug oder Zerspringeu vou Schusswaffeu 9
Steiu sprengen 6
Explosion 86
Allgemeine Angabe „Verunglückt" 5
Erfroren 142
Blitz 85
Sonnenstich 12
Todtgefunden unter freiem Himmel 142
Unbestimmte Angaben 12
Hiezu muss bemerkt werden, dass selbst die einzelnen Arten der Unfälle
sich mit grosser Regelmässigkeit Jahr für Jahr wiederholen. Greift man einzelne
Arten von Unfällen heraus, so erscheint als besonders wichtig der Ertrinkungs-
tod, dem über */, aller Unfälle zugehören. Die Zahl der erwachsenen Ertrunkenen
beträgt 1435 und es ist keinem Zweifel unterworfen, dass mindestens die Hälfte
derselben gerettet werden konnte, wenn sie des Schwimmens kundig gewesen wäre.
Derartige einfache Künste werden von unserer sonst so vorgeschrittenen und vor-
sichtigen Zeit viel zu sehr vernachlässigt. Die zahlreiche Gruppe der durch Sturz
aus Höhen Verunglückten ist wohl zum weitaus grössten Theile ein Ausdruck
menschlichen Leichtsinns, während das Erschlagenwerden durch herabfallende
Lasten etc. weit eher als wirklicher unglücklicher Zufall betrachtet werden
darf. Als besonders charakteristisch verdient auch hervorgehoben zu werden,
dass die Ziffer der tödtlichen Unfälle durch Landfuhrwerk constant grösser ist,
als die der tödtlichen Eiseubahnunfalle. (Von letzteren soll später noch aus-
führlich die Rede sein, desgleichen von den Seeunfallen.) Die grosse Zahl der
durch Maschinen Verunglückten ist ebenfalls zum grössten Theile dem Leicht-
sinn in der Behandlung der Maschine zuzuschreiben.
Wie sehr der Mensch in der Lage ist, die Zahl der tödtlichen Unfälle
durch verbesserte Einrichtungen zu verringern, ergibt sich unter Anderen aus
Folgendem. Es kommen in den deutschen Steinkohlengruben 1,89, in den bel-
gischen 2,8, in den englischen 4,ö, in denen von Staffordshire 7,3 tödtliche Un-
glücksfälle auf 1000 Arbeiter: So sehr kann die Zahl bei mehr oder weniger
Berücksichtigung des menschlichen Lebens sinken oder steigen. In Englands
Kohlenbergwerken wurden jedes Jahr 850 Menschen getödtet und jede Produc-
tion von 71880 Tonnen Kohlen kostet ein Menschenleben. (Kolb. a. a. 0.,
S. 587.)
§. 102. Einflnss der Civilisation. Besnltate.
Schon Süssmilch fand, dass der Einfluss der natürlichen Ursachen,
des Klimas n. s. f. auf die Sterblichkeit verschwindend sei gegenüber der
Lebensart, dem Laster und der Tugend, der Weichlichkeit und Arbeit-
samkeit. Und alle nachfolgenden Beobachtungen bestätigen diesen Einfluss
der Civilisation, der Gesittung. Die Fortschritte der Civilisation machen
das menschliche Dasein angenehmer; Städte und Wohnungen werden ge-
sünder gemacht, schädliche Einflüsse entfernt. Durch die Entwickelung des
Verkehrs werden Lebensmitteltheuerungen in ihren Wirkungen abge-
170 Einfloss der €iTili8atiQiL Resultate.
schwächt, Hungersnoth fast unmöglich gemacht; Medicin und Sanitäts-
polizei bekämpfen die Sterblichkeit — : so arbeiten die Wissenschaft, die
Politik und die Wirthschaft einmüthig darauf hin, den Menschen vor dem
Tode zu schützen.
Der Mensch ist in so weit Herr seines Lebens, dass es in seine
Macht gegeben ist, sich in Wohlstand zu betten und sein Inneres zu
veredeln. Durch diese Thatsache wäre man wohl veranlasst, von vorn-
herein eine beständige Abnahme der Sterblichkeit für wahrscheinlich
zu halten.
In der That hat man zu wiederholten Malen versucht, diese Ab-
nahme der Sterblichkeit zu beweisen. Mit Entschiedenheit behauptet
Quetelet eine Abnahme der Sterblichkeit *). Neuere Beobachter sind in
dieser Hinsicht ungläubiger geworden. Man darf wohl annehmen, dass die
Sterblichkeit in ganz Europa in den letzten hundert Jahren gesunken ist
und dass dies den Fortschritten der Civilisation zuzuschreiben ist; doch
erst einem künftigen Jahrhundert ist es vorbehalten, diesen Einfluss der
Civilisation durch imponirende Zahlenreihen unwiderleglich zu beweisen.
Indessen mag man wohl die Wirkungen der Civilisation auf die
Sterblichkeit in ihren Einzelnheiten beachten.
Das dem menschlichen Leben von der Natur gesetzte Ziel kann
die Civilisation nicht ändern; gegen den Tod aus Altersschwäche wird
sie keine sanitätliche Massregel finden. Man darf auch die Kindersterb-
lichkeit neben der Alterssterblichkeit für ein natürliches Gresetz halten,
das durch die Fortschritte der Civilisation wohl in seinen Wirkungen
etwas abgeschwächt, niemals aber aufgehoben werden kann. Diese beiden
Todesursachen wären demnach die natürlichen. Wappäus nimmt die von
ihnen allein bewirkte Sterblichkeit wie 1 : 57,7 an; d. h. also wenn keine
anderen Todesursachen wirkten, als die Schwäche des Alters und die der
Kindheit, so würde erst auf 57 bis 58 Lebende jährlich ein Todesfall
kommen.
Jede Erhöhung der Sterblichkeit über diese ihre natürliche untere
Grenze ist unnatürlichen, zußllligen Todesursachen zuzuschreiben. Diese
sind es, welche die Civilisation zu bekämpfen hat. Jeder Schritt näher
zu jener kleinsten möglichen Sterblichkeitsziffer ist ein Sieg der Civilisation.
Dieser Sieg wird erkämpft, theils gegenüber der menschlichen Leiden-
schaft, Rohheit, Unwissenheit, Leichtfertigkeit und Unvorsichtigkeit, theils
gegenüber solchen Naturgewalten, mit welchen der Mensch zwar nicht
nothwendig, aber im Verlaufe seiner wirthschaftlichen Bestrebungen doch
zufällig und häufig in Berührung kommt.
In beiden Richtungen ist die Aufgabe der Civilisation deutlich vor-
gezeichnet,
Einflnss der Civilisation. Resultate. 171
Unter den StaatseiDrichtungen sind es die militaiischeu Aushebungen
und die Kriege, welche als mäx^htige Todesursachen sich stets wiederholen,
den gesündesten und werthvollsten Theil der Bevölkerung treffen: den
Mann auf der Höhe seiner physischen Entwickelung, der eben anfängt,
der Gesellschaft die Schuld zu bezahlen, die er durch die in seiner Kind-
heit erhaltene Pflege sich aufgebürdet hat. In dieser Hinsicht kann die
Civilisation durch eine Politik des Friedens, durch Entwaffnung zur Ver-
minderung der Sterblichkeit beitragen.
Auch den anderen Bemfsarten kann manches schlimm auf die
Sterblichkeit einwirkende Moment genommen werden. So namentlich
durch sorgfältige Aufsicht des Staats auf jene Berufszweige, welche vor-
zugsweise von Unglücksfällen heimgesucht sind, insbesondere auf den
Bergbau; durch Aufsicht femer auf die Kinderarbeit in den Fabriken u. s. f.
Die Fortschritte der ärztlichen Wissenschaften, der Gesundheitspflege
sind gleichfalls ein mächtiger, der Sterblichkeit entgegendringender Damm.
Man erkennt die Fortschritte der Civilisation besonders in der Sorgfalt,
mit der man das Abscheulichste und Unglücklichste, das die Gesellschaft
darbot, zu entfernen wusste. In dieser Beziehung kämpfen Wissenschaft
und Humanität den ruhmreichsten Kampf für das Glück der Menschheit.
So ist man seit lange bestrebt, die Sterblichkeit in den Findel-
häusern, den Entbindungshäusem, den Irrenhäusern und namentlich in
den Krankenhäusern zu vermindern.
In gleicher Weise ist man auch auf die Sterblichkeit der Armen-
häuser und Gefangnisse aufmerksam geworden. Man wird ferner unnöthige
Acclimatisationsversuche unterlassen. Der Einfiuss der Theuerungen als
Todesursachen wird geschwächt durch den wachsenden Verkehr, welcher
die Preise mehr ausgleicht, durch die Ausbildung und Zunahme von
Associationen und Sparcassen der Arbeiterclassen; und die grossen Ver-
kehrsmaschinen der Gegenwart gestatten bei einer verminderten Zahl von
ünglücksßlllen einer weit grösseren Menschenmenge die Bewegung über
die ausgedehntesten Räume.
Anmerkung.
*) Quetelet-Riecke: A. a. 0., S. 261 ff. Er gibt folgende Ziffern für die
Sterblichkeit in England:
im Jahre 1700
„ „ 1750
„ „ 1776—1800
„ „ 1806-1810
„ „ 1816—1820
„ „ 1826-1830
Nach diesen Zahlen hätte die Sterblichkeit bedeutend abgenommen, doch
sind die zu Grande liegenden Todtenlisten nnzurerlässig. In London allein fand
Ton 1
: 43
r> ^
: 42
7) 1 '
: 48
» 1 •
: 49
W * '
: 55
n * '
: 51
172
EinfluBs der Civiliäatioii. Resultate.
mau eiue gauz eutschiedeue Abnahme der Sterblichkeit; sie betrug dort in der
Mitte des vorigen Jahrhunderts uoch 1 : 20, im Jahre 1821 nur 1 : 40. In Frank-
reich betrug sie nach Villerme 1721 uoch 1 : 20, 1802 dagegen 1 : 30, später
1 : 40; in Sohweden um 1760 1 : 35, um 1780 1 : 37 und 1823 1 : 48; in Berlin
um die Mitte des vorigen Jahrhunderts 1 : 28, in den Jahren 1816 bis 1823
dagegen 1 : 34.
Ferner theilt Quetelet am a. 0. folgende Tabelle von Moreau de Jon-
nes mit:
Lände r
Zeit
1 Todesfall
auf
Zeit
1 Todesfall
auf
Schweden . .
Dänemark
Deutschland .
Preussen . .
Württemberg
Oesterreich .
Holland . . .
England allein
Grossbritannien
Frankreich .
Canton Waadt
Lombardei .
Rom. Staaten
Schottland
1754-64
1751-54
1788
1717
1749—54
1822
1800
1690
1785—89
1776
1756-66
1767-74
1767
1801
34
32
32
30
31
40
26
33
43
25,6
35
27,5
21,5
44
1821-25
1819
1825
1821-24
1825
1825-30
1824
1821
1800—04
1825-27
1824
1827-28
1829
1821
45
45
45
39
45
43
40
58
47
39,6
47
31
28
50
Leider muss man sie eine werthlose nennen, da einzelne der Zahlenan-
gaben entschieden falsch und die übrigen schon aus diesem Grunde höchst un-
zuverlässig sind. Die weit sorgfaltigeren Untersuchungen von Wappäus über
die Abnahme der Sterblichkeit haben gezeigt, dass zu solchen Vergleichungen
die erforderlichen statistischen Daten fast überall fehlen. Denn es müsste wäh-
rend der ganzen verglichenen Perioden die Aufzeichnung der Todesfalle sowohl
als die der Gesammtbevölkerung ganz gleichmässig ausgeführt worden sein.
Dies ist streng genommen nirgends der Fall. Nur für Schweden, Preussen und
Frankreich glaubt Wappäus die Sterblichkeit längerer Zeitperioden vergleichen
zu dürfen. Und hier ergibt sich eine Zunahme der Sterblichkeit für Preussen,
eine Abnahme für Schweden und Frankreich.
BevöUcernim^Teniiindening durch Auswandernng. 173
IV. Capitel.
Aetissere Einflüsse auf die Bevölkerungs-
bewegung.
§. 103. Bev81kerung8vennindenmg durch Aaswandenmg.
Ob eine üebersiedelung aus wirthschaftlichen, politischen, religiösen
oder anderen Gründen erfolgt: eine Auswanderung wird sie immer dann
sein, wenn sie mehr als den Charakter einer Reise hat, wenn sie ein
Aufgeben der heimatlichen, wirthschaftlichen und socialen Beziehungen in
sich schliesst. Je genauer begrenzt diese wirthschaftlichen und socialen
Beziehungen sind, auf einem je engeren Gebiete sie sich concentriren :
desto weiter wird der Begriff der Auswanderung für das Individuum, dem
diese Beziehungen angehören. Der Bauer wandert schon aus, wenn er
seinen Hof mit einem solchen in einem benachbarten Kreise vertauscht.
Solche innerstaatliche Auswanderung kümmert indessen die Statistik da
nicht, wo es sich um ganze Bevölkerungen handelt.
Beobachten lassen sich die Resultate der Wanderungen bei dem
jetzigen Zustande von Freizügigkeit nur in der Weise, dass man die Re-
sultate der Volkszählungen mit denjenigen, welche sich aus der Zusam-
menstellung der Geburten und Todesfälle ergeben, vergleicht.
Eine besonders wichtige Art von Auswanderungen, nämlich die-
jenige nach überseeischen Ländern, gestattet wegen ihrer staatlichen
Beaufsichtigung und wegen ihrer Concentration in einzelnen Seehäfen eine
eingehendere Betrachtung.
I. Was zunächst die Zahl der Auswanderer überhaupt und die
dm-ch dieselbe am Stand der Bevölkerung herbeigeführte Verminderung
betrifft, so übersteigt in den meisten Staaten Westeuropa's seit 50 Jahren
die Zahl der Auswanderer jene der Einwanderer bedeutend. Namentlich
in Grossbritannien (zumeist in Irland), femer in der Schweiz und im
Deutschen Reiche.
Die Zahl der Auswanderer betrug in den letzten Jahren (Angehö-
rige der betreffenden Länder):
Grossbritauuien
Jahre
Deutsches Reich')
n. Irland*)
Frankreich')
Italien») .
Schweiz»)
1875
30.773
140.675
4918
?
1772
1876
28.368
109.469
3173
23.430
1741
1877
21.964
-95.195
3936
24.069
1691
1878
24.217
112.902
?
26.850
2608
1879
?
164.274
?
?
?
174 BevOlkeningSYennfiiderung durch Aaswandenmg.
Hinsichtlich der anderen europäischen Länder sind einigermassen
verlässige xlngaben schwer zu erlangen. Bezüglich Oesterreichs ist die
Auswanderung sehr gering; sie betrug aus den cisleithanischen Ländern
1850—68 zusammen nur 57726 Personen*).
Dabei zeigt sich zwischen der Auswanderungsziflfer einzelner Jahre
eine sehr bedeutende Ungleichförmigkeit. So erscheint im Deutschen Reiche
neben den angeführten Jahren das Jahr 1872 mit 125650 Auswanderern;
in Grossbritannien stieg im Jahre 1873 die Auswanderung bis auf 228345.
In Frankreich überstieg sie 20000 Seelen im Jahre seit lange nicht und
beträgt gewöhnlich nur 8 — 9000 Seelen. Ebensoviel ungefähr aus Belgien.
II. Die Auswanderung und der Gang der Bevölkerung.
Wenn nun auch die Bevölkerung im Momente der Auswanderung
wirklich vermindert wird, so wird durch letztere doch der Gang der
Bevölkerung nicht gestört. Die Auswanderung bewirkt keine Hemmung
der Bevölkerungsvermehrung, sondern — wenn nicht das ganze Volk mit
Mann und Maus auswandert — eher das Gegentheil.
Wenn nämlich einem Volke Gelegenheit zur Auswanderung gegeben
ist und wenn diese Gelegenheit benützt wird: dann fängt das Volk auch
an, sie in den Kreis seiner wirthschaftlichen Berechnung zu ziehen. Man
denkt, dass man im schlimmsten Falle selbst auswandern oder durch
Auswanderung Anderer in der Heimat wieder freien Spielraum gewinnen
könne. Durch diesen Gedanken wird eine von den Gegentendenzen der
Volksvermehrung theilweise aufgehoben und die Volksvermehrung findet
wirklich statt. Durch eine regelmässige, namentlich durch eine colonisa-
torische Auswanderung werden fast immer die Hoffnungen und Wünsche
der Begründung eines Familienstandes so angeregt, dass die durch die
Auswanderung entstandenen Lücken schnell wieder zuwachsen, ja dass
die Bevölkerung des Mutterlandes sich sogar vermehrt.
Diese Vermehrung findet sehr schnell statt; so schnell, dass meistens
der Zuwachs, welchen die Bevölkerung jedes Jahr aus dem Ueberschuss
der Geburten über die Todesfälle erhält, den Abgang der Ausgewanderten
überwiegt.
Dies gilt freilich nur von der modernen Auswanderung. Anders war
es bei der ersten historisch bekannten grossen Emigration; bei der 600000
Mann starken Auswanderung der Juden aus Egypten, durch welche die
Bevölkerung Egyptens wesentlich und auf längere Zeit vermindert ward.
Auch der Abgang, welcher dem Lande der Juden durch die letzte Aus-
wanderung seines Volkes ward, ist unersetzt geblieben. Während sich
gegenwärtig die Gesammtzahl der auf Erden lebenden Juden auf 7
Millionen beläuft, existirt im Mutterlande derselben eine verschwindend
kleine Zahl. Solches fast vollständiges Verschwinden der Bevölkerung des
BeYölkerangSTennindenuig durcli Aaswandernng. 175
Matterlandes ist bei der modernen AuBwandemng unerhört. Die deutsche
Auswanderung hat im Jahre 1872, wo die Auswanderungsziflfer sehr hoch
gestiegen war, doch nicht mehr Abgang verursacht, als ungefähr ^/^ des
natürlichen Bevölkerungszuwachses. Die gesammte Auswanderung des
brittischen Reiches, welches doch die grössten Colonien, die blühendste
SchiflfTahrt besitzt, betrug im Durchschnitt der Jahre 1825 — 35 nur etwa
55000, 1836—45 über 80000, 1873 allein, bei höchstgesteigerter Aus-
wanderung 228345, wogegen der jährliche Ueberschuss der Geburten
über die Todesfälle 1800—78 durchschnittlich 227816, dagegen in dem
genannten Jahre 426979, also noch beinahe das Doppelte der Auswan-
derung betrug. Nur die Bevölkerung Irlands ist in Folge ungeheurer
Auswanderung in den 10 Jahren von 1841—51 um etwa 1,660000
Seelen oder 2,26 Procent gesunken.
ni. Gründe der Auswanderung. Mit ihnen hängt auch die
Frage zusammen, welche Theile der Bevölkerung durch die Aus-
wanderung dem Lande entzogen werden. Dies ist verschieden je nach der
Art der Auswanderung, aber von hohem Interesse für die Auswande-
rungsstatistik. Die besten und edelsten Theile der Bevölkerung können
einem Lande nur durch Emigration aus politischen oder religiösen Gründen
entzogen werden. Durch die völlige oder durch die colonisatorische Aus-
wanderung werden der Bevölkerung des Mutterlandes keineswegs die
besten, aber doch auch nicht geradezu die schlechtesten Theile entzogen.
Menschen, die im Mutterlande unbrauchbar sind, sind es in der Regel
auch auswärts. Wer eine behagliche und anständige Stellung im Mutter-
lande errungen hat oder zu erringen hofft, der bleibt. So kommt es, dass
aus einem Staate, wo weder die politische noch die religiöse Freiheit be-
drückt ist, im Grossen und Ganzen nur solche Theile der Bevölkerung
auswandern, welche ungefähr zwischen der Mittelclasse und der untersten
Stufe stehen.
Die Motive der Auswanderung lassen sich in der Regel er-
kennen, wenn man die Auswanderer nach ihren heimatlichen Wohnsitzen,
nach ihrem Stand und Beruf, Geschlecht, Familienstand, Alter, Vermögen,
nach ihrer Religion etc. classificirt hat.
Was insbesondere die deutsche Auswanderung betrifft, so hat die-
selbe ihre Ursache zunächst in politischer und religiöser Bedrückung des
Volkes, welche nach dem dreissigjährigen Kriege begann, unter der Herr-
schaft des Absolutismus. Der missvergnügten kümmerlichen Stellung des
Deutschen in seiner Heimat, wo er nur Object des Steuerdruckes und der
polizeilichen Willkür war, stellten sich mehr oder weniger begründete
Hoffnungen auf ein freies und erfolgreiches Streben, das ihm jenseits des
Oceans winkte, gegenüber. Bis zum Jahre 1816 war indessen die deutsche
176 BevOlkeningsTermiiidening; durch AoBwandeniug.
Auswanderung immer auf einige tausend Seelen im Jahre beschränkt ge-
blieben. Die grosse Hungersnoth von 1816/17 steigerte sie plötzlich auf
über 20000 Seelen; dann sank sie rasch wieder und soll 1821/22 nur
148 betragen haben ^). Sie stieg wieder in der Reactionsperiode der
Dreissiger Jahre ganz bedeutend. Vom Jahre 1847 an, seit welcher Zeit
eigentlich erst zuverlässige Ziffern vorhanden sind, hielt sie sich auf
massiger Höhe, bis das Jahr 1852 eine rapide Steigerung brachte, welche
1854 ihren Höhepunkt erreichte. In diesem Jahre verliessen 127694
Auswanderer (fremde und deutsche) die deutschen Häfen. Ebenso rapid
sank die Ziffer wieder und hielt sich fast ausnahmslos bis 1864 auf
massiger Höhe; ein Minimum erreichte sie besonders 1861 — 63, als der
amerikanische Bürgerkrieg die Aussichten für Auswanderer nach den Ver-
einigten Staaten sehr getrübt hatte. Die Beendigung jenes Krieges liess
die Hoffnungen und mit ihnen die Auswanderungszififer rasch wieder
steigen (von 52756 im Jahre 1864 auf 87549 im Jahre 1865, Deutsche
und Fremde aus deutschen Häfen). Eine weitere Steigerung veranlasste
der Krieg von 1866; in diesem Jahre betrug die Zahl (Fremde und
Deutsche, namentlich unzufriedene Hannoveraner) 106657. Sie hielt sich
auf dieser Höhe und darüber bis 1870, sank dann in Folge des Krieges
auf 79337 und stieg nach dem Frieden sofort wieder bis zu dem Maximum
von 1872 mit 125650 (blos Deutsche, oder 154824 Deutsche und Fremde).
Im Jahre 1874 aber sank sie rapid auf weniger als die Hälfte des Vor-
jahres und behielt seither einen noch weit geringeren Stand. Vieles bleibt
in dem Wechsel der deutschen Auswanderungszififer schwer erklärlich,
namentlich das abnorme Maximum des Jahres 1872, des Jahres höchsten
wirthschaftlichen Aufschwungs.
Die brittische Auswanderung hat ihren Grund im Allgemeinen
unzweifelhaft in der nicht abzuläugnenden verhältnissmässigen üeber-
völkerung des brittischen Europa, wird aber wesentlich gefördert durch
den brittischen Colonialbesitz, durch die englische Seemachtstellung, welche
die englische Nation mehr als jede andere veranlasst, ihren Blick auf
und über das Meer zu richten; auch durch die Leichtigkeit, mit der
eigenen Sprache in den wichtigsten Auswanderungsländern zurecht zu
kommen. Die Auswanderung der Irländer insbesondere, welche seit lange
alle Aufmerksamkeit verdient, erreichte ein unerhörtes Maximum mit der
Hungersnoth von 1846 und brachte von 1845 bis 1854 über Vj^ Millionen
Irländer nach den Vereinigten Staaten. Die gesammte brittische Auswan-
derung beträgt seit 15 Jahren jährlich 165355 Seelen und sank nur in
einem einzigen Jahre dieser Periode unter 100000. Trotzdem sie im
Ganzen nicht abnimmt, zeigt doch die Auswanderung nach den Verei-
nigten Staaten in der zweiten Hälfte dieser Periode eine bedeutende Ab-
BAydlkerangsverminderniig durch Auswanderung. 177
nähme, was aber ausgeglichen wird durch die Auswanderung nach anderen
Ländern. Wenn Grossbritannien eine stets wachsende Zahl von Auswan-
derern nach anderen Ländern, als die Vereinigten Staaten, Brittisch-
Nordamerika, Australien und Neuseeland sind, schickt, so ist ein Grund
hiefiir gewiss in dem Schutze zu suchen, welchen der Engländer auf der
entlegensten Insel des Oceans durch die brittischen Consuln und Kriegs-
schiflfe findet.
Die Geringfügigkeit der Auswanderung Frankreichs hat ihren Grund
im Allgemeinen in dem fast stationären Charakter der französischen Be-
völkerung. Eine Bevölkerung, die sich fast kaum mehr vermehrt, in deren
Mutterland die wirthschaftlichen Zustände und die Volkszahl sich inein-
andergefügt haben und nicht durch gewaltthätige Stömngen in Disharmonie
gerathen, hat keinen Grund zur Auswanderung. Der geringe jährliche
Bevölkerungszuwachs findet fast vollständig Raum in der, durch stetige
Capitalbildung erweiterten und verbesserten Werkstatt des Volkslebens. ^
Unter den Auswanderungsziffem der übrigen europäischen Länder
geben die italienische und die schweizerische einigermassen Veranlassung,
zu fragen, ob nicht auch in diesen Ländern die Bevölkerung schon ein
Gefühl der Beengtheit empfinde, welches wenigstens als Vorbote der
Furcht vor Uebervölkerung angesehen werden kann. Die unbedeutende
Auswanderung der osteuropäischen Länder, einschliesslich Oesterreich-
Ungams, hängt mit den übrigen Bevölkerungsverhältnissen dieser Länder
zusammen, welche deutlich das Bestreben zeigen, den ihnen von der
Natur gebotenen Spielraum durch menschliches Leben auszufüllen.
Als besonders charakteristisch darf der europäischen Auswanderung
hier wohl noch die chinesische gegenübergestellt werden. Man hat die
jährliche Durchschnittszahl der chinesischen Auswanderer, gewiss nicht
überti-ieben, auf mindestens 150000 veranschlagt*). Die ausserordentliche
Volksdichtigkeit des eigentlichen China ist der constante Grund dieser
Auswanderung, welche ganze Völkerwellen landeinwärts nach der Mongolei,
Tibet und Hinterindien, aber auch seewärts nach dem indischen Archipel,
Australien und über den Stillen Ocean treibt. Neben der Beschränktheit
des heimischen Raumes wirkt aber auch in noch höherem Grade die
Leichtigkeit, mit welcher im Auslande der massige und fleissige Chinese
mit den Arbeitern anderer Racen zu concurriren und Ersparnisse zu
sammeln vermag.
IV. Weitere Aufgaben der Auswanderungsstatistik beziehen sich auf
die Reise der Auswanderer. So namentlich auf den Umstand, wie durch-
schnittlich die Emigration sich auf die verschiedenen Jahreszeiten ver-
theilt; ferner auf die wichtigsten Auswanderungshäfen, auf die Fahrpreise
in den verschiedenen Häfen, auf Segelschiffen und Dampf booten; auf die
Hanshofer, Statistik. 2. Aufl. 12
178 BeTölkerungSTerminderung dorch AfUSwandernnf.
mittlere Dauer der Fahrten, die durchschnittliche Sterblichkeit auf den
Schiffen, die Durchschnittszahl der die Auswandererschiffe treffenden
Schiffbrüche und anderen Unglücksfälle.
V. Auch die Bestimmungsorte der Auswanderer sind von statistischer
Wichtigkeit. Es kann für das Heimatland der Auswanderer nicht gleich-
giltig sein, in welchen Theilen der Welt seine Kinder sich verlieren. Eine
Politik, die nicht blos von der Hand in den Mund lebt, muss sich für
die Frage interessiren, wo in anderen Ländern stammverwandtes Volks-
leben erwächst, und was für dessen Erhaltung und Stärkung geschehen
kann. Wenn die Auswanderer nach solchen Ländern ziehen, wo sie als
winzige Minoritäten verschwinden, müssen sie rasch ihre heimische Sitte
und Sprache verlieren; sie werden von fremdem Volksthum völlig aufge-
sogen. Mit den brittischen Auswanderern ist dies am wenigsten der Fall,
sie sind leicht im Stande, überall englische Sprache und Sitte in der
Familie zu bewahren und so jene kosmopolitischen und doch nationalen
Fäden zu spinnen, mit welchen englisches Wesen seine Weltmachtstellung
über alle Meere netzartig ausbreitet. Auch die chinesischen Auswanderer
wissen allenthalben ihre heimische Lebensweise festzuhalten und thun
dies um so zäher, weil sie in dem Gedanken an eine dereinstige Rück-
wanderung arbeiten und sparen. Dagegen ist gerade an den deutschen
Auswanderern das völlige Aufgehen in fremden Nationalitäten am meisten
zu beklagen. Die Deutschen, welche im Laufe dieses Jahrhunderts allein
nach den Vereinigten Staaten auswanderten, wären bei gehöriger Concen-
tration im Stande gewesen, in Südbrasilien oder Argentina ein grosses
blühendes Staatswesen zu bilden. Im Territorium der thätigen energischen
Nordamerikaner war dies natürlich nicht möglich, was gegenüber der
spärlichen, ärmeren und weit weniger thatkräftigen Bevölkerung Süd-
amerika's hätte gelingen müssen. So sehr mittlei^weile deutsche Sitte und
Sprache in den Vereinigten Staaten, wo sich in den grösseren Städten
ganze deutsche Stadtviertel mit deutschen Zeitungen, Gesangvereinen und
Bierschenken gebildet haben, erstarkt ist, erscheint hier doch das deutsche
Wesen als dasjenige einer Fremdencolonie, während es anderwärts zur
Herrschaft hätte gelangen können. Wie überwältigend immer noch die
Anziehungskraft der Vereinigten Staaten auf die deutschen Auswanderer
ist, geht aus dem Umstände hervor, dass von den 24217 Auswanderern
des Jahres 1878 dorthin 20373, nach Brittisch-Nordamerika 89, nach
Centralamerika und Mexiko 22, nach Westindien 74, nach Brasilien
1048, nach Argentina 201, nach Peru 82, nach Chile 94, nach dem
übrigen Südamerika 72, nach Afrika 394, nach Asien 50, nach Austra-
lien 1718 gewandert sind ^).
BeT^Ikervngsyennindening dnreh Auswuidermig. 179
VI. Bedeutende Aufmerksamkeit verdient eine weitere Erscheinung.
Nicht nur in der Bevölkerung selbst wird dem Mutterlande durch Aus-
wanderung ein colossales Capital entzogen, sondern auch durch die klei-
neren Capitalien, welche von den Auswanderern mit in die neue Heimat
genommen werden. Es hat indessen auch mit diesem Verluste keine grosse
Gefahr. Würde jeder Auswanderer durchschnittlich mehr Capital mi1>-
nehmen, als auf den Kopf der im Mutterlande Zurückbleibenden gerechnet
wird: dann müsste gerade durch jede gelungene Auswanderung das Ver-
hältniss der Einwohner zum Gütervorrath ein immer schlimmeres werden ;
die Ausgewanderten würden sich sehr wohl befinden, aber die Zurück-
gebliebenen desto schlechter.
Dies ist kaum von einer Auswanderung zu fürchten. Man glaubt
in Nordamerika von den deutschen Einwanderern, dass sie durchschnittlich
280 Thlr. mitbringen. Die Auswanderer selbst pflegen nicht so viel an-
zugeben. Aus Preussen wanderten 1848—49 8780 Menschen mit 1,713370
Thlr. Vermögen; es trifft sohin auf den Kopf die Summe von 195 Thlr.
In Bayern sind von 1844—51 45300 Personen ausgewandert; die-
selben haben ein Gesammtcapital von 19,233000 fl., also für den Kopf
424 fl. ausgeführt. Es scheint hier der mittlere Betrag des Auswanderer-
vermögens abzunehmen und die Auswanderung aus immer tieferen
Schichten der Bevölkerung hervorzugehen.
Es ist also vorerst nicht daran zu denken, dass bei der gegenwär-
tigen europäischen Auswanderung verhältnissmässig mehr Capitalien als
Menschen auswandern. Eine fortwährende Mehrausfuhr von Capitalien
müsste nöthwendig das Resultat haben, dass die Bevölkerung des Mutter-
landes an Capitalien immer äimer würde und zuletzt nur noch jene
Capitalien behielte, welche überhaupt nicht ausgeführt werden können.
Der Einfluss, welchen jede allmälige Auswanderung auf die Bevöl-
kerung des Mutterlandes nimmt, dürfte sich demnach grossentheils nach
der Menge der mit den Auswanderern entfliehenden Capitalien richten.
Die Bevölkerung des Mutterlandes muss allmälig schwinden, wenn zu viel
Capitalien ausgeführt werden; sie wird durch die Auswanderung keine
merkliche Verändening erleiden, wenn der richtige, auf den Kopf der
Bevölkerung treffende Durchschnitt der Capitalsmengen ausgeführt wird;
wachsen wird sie, wenn verhältnissmässig zu wenig Capitalien ausgeführt
werden.
Wappäus überschätzt die nachtheiligen Wirkungen der Auswanderung
auf den Capitalbestand des Mutterlandes. Er rechnet, dass Deutsehland
in 10 Jahren durch das entflohene Auswanderervermögen" 100 Millionen
Thlr. Capital verloren habe. Kapp berechnet, dass die Vereinigten Staaten
allein von Deutschland in 50 Jahren 500 Millionen Thlr. baar und
12*
180 BeyölkenmgBTermelinuig dnroli Einwaadernng.
1751 Millionen Thlr. an Capitalwerth gewonnen haben, und dass Europa
taglich rund 1 Million Dollars durch seine Auswanderer an die Verei-
nigten Staaten abgibt*). Wie viel Millionen mehr aber gewann es durch
die Arbeit dieser Auswanderer, so lange dieselben daheim waren und wie
viele Millionen wird es noch gewinnen durch die Arbeit Derjenigen,
welche durch die Entfernung jener Auswanderer Raum gewonnen haben?
Anmerkuugeu.
') Nach dem stat. Jahrbuch für i880, S. 19.
*) Nach Statistical abstract from 1865 to 1879, p. 149.
») Block-v. Scheel, p. 274.
*) V. F. Klun: Statistik vou Oesterreich-Ungaru. S. 87.
*) F. Kapp: Ueber Auswanderung. 1871. S. 5 ff.
•) F. Ratzel: Die Chinesische Auswanderung. 1876. S. 63.
§. 104. Bevölkerungsvermehning durch Einwaaderang ^).
I. Weit einflussreicher als die Auswanderung ist beobachtetermassen
för die Bewegung wirklicher Bevölkerungen die Einwanderung. Namentlich
in Staaten mit junger Cultur, wo noch Raum im Ueberfluss für die volks-
wirthschaftliche Entwickelung vorhanden, Grundeigenthum leicht zu erwerben
ist und keine, durch eine lange Geschichte überlieferte Fesseln und Schwie-
rigkeiten sich an die Thätigkeit des Einzelnen hängen.
So hat die Bevölkerung der Vereinigten Staaten von 1820 — 1877
9,875617 Seelen durch Einwanderung gewonnen.
Die schlinunen Zustände Irlands, Revolutionen und Reactionen in
Deutschland und Frankreich, die Erweiterung des Staatsgebietes der Ver-
einigten Staaten, die Entdeckung der californischen Goldmineü und der
Silbergruben von Nevada, dazu die wachsende Anziehungskraft der schon
Uebergesiedelten machen diese stets mächtiger werdende Einwanderung
erklärlich. Kein anderer Staat zeigt einen so starken äusseren Bevölke-
rungszuwachs. Nur einzelne von den brittischen Colonien, Canada, Austra-
lien und Neuseeland, haben in neuerer Zeit einen noch grösseren äusseren
Bevölkerungszuwachs gewonnen. Hier aber sind es blos Theile eines grös-
seren Staates, dessen andere Theile ihnen ihren Ueberfluss an Bevölkerung
abgeben.
II. Auch bei der Einwanderung ist der wirthschaftliche Werth der
Bevölkerungsveränderung zu beachten. Der Bevölkerungszufluss bringt nicht
allein Arbeitskräfte ans Land, welche in Capital umgesetzt werden, sondern
auch Baarcapitalien, welche von den Einwanderern mitgefuhrt werden und
meistens erspriessliche Anwendung finden, namentlich häufig an solchen
Plätzen, wo sie bisher gefehlt haben*).
BevOUcenrngByenDebrang durch Einwandening. 181
ni. Die NatioDalitat der Einwanderer ist für den Staat, welcher den
Zaflüss erhält, von politischer Bedeutung, weil eine grössere Menge von
Einwanderern einer bestimmten Nationalitat immerhin dazu beiträgt, das
Volksthum, die Sitten, Wirthschaftsmethoden und politischen Einrichtungen
des neuen Vaterlandes, wenn auch oft ganz unmerklich, zu modificiren.
Diesen stillwirkenden Einfluss haben die Vereinigten Staaten von der
irischen und von der deutschen Einwanderung im Osten und in den Bin-
nenstaaten, von der chinesischen Einwanderung an der pacifischen Küste
verspürt. Die chinesische Einwanderung wurde so einflussreich, namentlich
hinsichtlich der Arbeitslöhne, dass sich in den Staaten des fernen Westens
die Anfänge eines Racenconflictes zu zeigen beginnen •).
Die Umgestaltungen des politischen und wirthschaftlichen Lebens und
der ganzen Gesittung durch die Einwanderung ist eine von jenen Erschei-
nungen des Völkerlebens, hinsichtlich dessen die notorischen Thatsachen
der Geschichte weit mehr Aufklärung in farbenreichen Bildern liefern, als
die Ziflfem der Statistik. Zwischen der dorischen Wanderung des alten
Hellas und der Einwanderung der Chinesen in San Francisco, zwischen den
verheerenden Invasionen der Gothen und Vandalen und der nun bald
zweitausend Jahre währenden Einwanderung der Juden in das Abendland
stehen unzählige Formen der Einwanderung, haben unzählige Verbindungen
älteren, sesshaften und neuen, zugewanderten Volksthumes stattgefunden,
sind an unzähligen Punkten Fäden angeknüpft, Uebergänge und Vermi-
schungen angebahnt worden, aber auch Völker- und Racenconflicte ent-
brannt, je nachdem die eingewanderte oder die aufnehmende Nation in
dieser oder jener Hinsicht mehr Kraft und Ausdauer entwickelte.
Anmerkungen.
*) Vgl. Wappäus, a. a. 0., S. 102 ff.
*) Doch findet sich hier wieder eine Verschiedenheit. Wenn ein hochcul-
tirirter und dichtbevölkerter Staat durch Einwanderung an Bevölkerung zu-
nimmt, wie z. B. früher Preussen, so kann mau annehmen, die Mehrzahl der
Einwanderer habe aus nicht unbemittelten Erwachsenen bestanden, aus Gre werb-
treibenden, Eaufleuten u. s. w. So sind z. B. in Preussen von 1851 — 1856
10145 Personen mit einem Vermögen von zusammen 11,766465 Thlr. oder
1160 Thlr, auf den Kopf eingewandert. Da bringt also die Einwanderung noch
grösseren Gewinn, als in weniger civilisirten Ländern, wo die Einwanderer
Torzugsweise durch den Eeichthum an unbenutzten culturfahigen Ländereien
angezogen werden. Nach solchen wandern die weniger gebildeten Einwanderer,
zugleich auch meist in ganzen Familien, also nicht vorzugsweise die Producenten.
(Wappäus, a. a. 0.)
*) 9,814908 Einwanderer in die Ver. Staaten bis 1877, vertheilten sich
nach der Nationalität folgendermassen: ^
182
Die Lebensdauer im Lichte der onBystematisGlien Beobachtung.
Grossbritaiinieii . .
Deutschland . . .
Frankreich . . •
Skandinavien . .
Schweiz . . . . .
Niederlande . . .
Dänemark, Island
Spanien, ' Portugal
Italien
Belgien
Oesterreich . . .
Russland, Polen .
Uebriges Europa .
Vor 1820 etwa . ..
4,568.446
2,916.652
305.390
273.100
78.911
42.773
43.243
49.040
60.394
21.865
54.709
45.757
1.141
250.000
Europa .
(Nach dem Gothaischen
British Amerika 491.572
Westindien 60.899
Mexiko 23.856
Centralamerika 1.203
Südamerika 8.526
China 207.270
Japan . '. 341
Australien 8.099
Andere Länder 306.224
Auf See geboren . . . . . . 497
Totale nebst Europa . 9,814.908
8,706.421
Taschenbuch für 1880.)
III. Abschnitt. Physisches Leben der Bevölkerung.
I. Capitel.
Die Lebensdauer.
§. 105. Die Lebensdauer im lichte der unsystematischen Beobachtung.
Wie vergänglich das menschliche Leben ist: das ist nicht nur unter
allen statistischen, sondern überhaupt unter allen Erfahrungen menschlicher
Beobachtung eine der ältesten. Die Dauer des Menschenlebens bestimmt
des Menschen Thaten und seine Geschichte; sie ist der Raum, aufweichen
sein Glück und Unglück, seine Verpflichtungen und Ansprüche vertheilt
werden.
„Unser Leben währt siebzig Jahre; und wenn es hoch kommt, so
sind es achtzig Jahre; und wenn es köstlich gewesen ist, so ist es Mühe
und Arbeit gewesen; denn es fährt schnell dahin, als flögen wir davon.**
Mit diesen Worten beklagt der Psalmist die Kürze des Menschen-
lebens; sie enthalten die populärste Schätzung der Lebensdauer, eine
Schätzung, die für ihre Zeit sehr vernünftig genannt werden kann. Juden,
Egypter und Indier haben Grosses in der Ueberschätzung der menschlichen
Lebensdauer geleistet. Selbst der grosse alte Statistiker Moses griff in seinen
Altersangaben in das Reich des Märchens. Er gibt dem Adam ein Alter
Uebersicht der Aufgabe der Statistik hinsichtlich der Lebensdauer. 183
von 390 Jahren, dem Seth von 912, dem Enos von 905, dem Kenan von
910, dem Mahaleel von 895, dem Methusalem von 962 und dem Noah
von 950 Jahren. Man kann nicht annehmen, dass Moses ganz andere
Jahre, als die unseren sind, gemeint habe; denn Chaldäer und Egypter
waren schon, als Moses am Hofe der Pharaonen lebte, zu gute x\stronomen,
deren Beobachtungen, von vorzüglicher Schärfe, zwei Jahrtausende vor
Christus hinaufreichen. Wahrscheinlich verlieh man jenen ehrwürdigen
Patriarchen ein so hohes Alter, um sie noch ehrwürdiger erscheinen zu
lassen. Uebrigens sind diese Ueberschätzungen massig gegen die der Indier.
Die alte indische Literatur gibt die Lebensdauer gewöhnlicher Menschen
zu 80000, die der Heiligen zu 100000 Jahren an. j,Einer ihrer Köijige,
ein besonders brillanter Charakter, der auch zugleich Heiliger war, trat
seine Regierung erst im Alter von 2 Millionen Jahren an, dann regierte
er 6,300000 Jahre und als er dies ausgeführt hatte, dankte er ab und
schleppte sich noch 100000 Jahre hin" *).
Es darf wohl als charakteristisch für den Optimismus der Menschen
bezeichnet werden, dass die unwissenschaftliche Beobachtung der Lebens-
dauer sich so gerne an die Maximalzahlen, selbst wenn dieselben g;anz
augenfällig zu den Ausnahmen gehören, hält. Es ist, als wollte man damit
die allgemeine Anschauung über die Lebensdauer aus Menschenfreundlich-
keit irreführen. Diese Freude an hohen Lebensaltern zieht sich noch bis
in die Periode wissenschaftlicher Beobachtung herein. So führt namentlich
Süssmilch nicht allein die Namen, sondern selbst die Biographien einzelner
langlebiger Greise vor, die das 140. und 150. Jahr erreichten; ebenso die
Angaben des Plinius, nach welchen dem römischen Kaiser Claudius, als
ihm die Alterslisten einer Volkszählung vorgelegt wurden, das Alter eines
Bologneser Bürgers von 150 Jahren auffiel und beim Gensus des Vespasian
27 Menschen zwischen 110 — 140 Jahren allein in der 8. Region Italiens
angetroffen wurden*).
Aumerkungeii.
*) Buckle: Geschichte der Civilisatioii etc. I. S. 116.
*) Süssmilch: A. a. 0., II. S. 352 ff. (4. Aufl.)
§. 106. Uebersicht der Aufgabe der Statistik hinsichtlich der Lebens-
dauer.
Die Dauer des Menschenlebens wurde sowohl zu unmittelbar prak-
tischen Zwecken — Lebensversicherungen, Leibrenten- und Tontineanstalten,
Witwencassen u. s. f. — erforscht, als auch aus wissenschaftlichem Inter-
esse, um aus ihr Schlüsse auf die Volkszustände zu ziehen. Die Lebens-
dauer einer Bevölkerung wird durch zwei Factoren bestimmt, nämlich
durch:
184 üebeisicht der Aufgrabe der Statistik hinnehtlich der Lebensdauer.
I. Die natürliche Lebenskraft des Menschen. Sie ist weder för alle
Völker, noch für alle Individuen dieselbe und kann daher auch nicht als
beständige Grösse angesehen werden. Doch lässt sich für sie in jedem
Lande und Volke ein Durchschnitt finden.
n. Die sich ihr entgegenstellenden Todesursachen, welche theils
durch die natürliche Beschaffenheit des Landes, theils durch sociale Ver-
hältnisse bedingt werden. Diese Todesursachen möglichst zu entfernen und
abzuschwächen, ist Aufgabe der Heilkunde und der Staatsverwaltung. Eine
Verlängerung der Lebensdauer eines Volkes zeugt von einem Fortschritt
der medicinischen Wissenschaft, von einer Verbesserung gesellschaftlicher
Zustände, von einem Fortschritt in der Civilisation. Die Schwäche der
Jugend und des Alters Hinfö,lligkeit sind unabänderliche Todesursachen;
aber neben ihnen wirken zufällige. Letztere auf ein stets kleineres Gebiet
zurückzudrängen, ist eine der höchsten Pflichten der Civilisation.
Auch da, wo es sich um die Lebensdatier des Menschen handelt,
muss die Statistik, unbeirrt von der längeren oder kürzeren Dauer einzelner
Leben, ihrem obersten Grundsatze getreu, die Lebensdauer des mittleren
Menschen aufsuchen.
Wenn man überhaupt nach der Dauer einer Erscheinung fragt, ist
eine Anfangszeit und ein Ende festzustellen. Bei der Betrachtung der
Dauer einer Massenerscheinung kann sich die Wahl der Einzelnindividuen,
aus welchen sich die Massenerscheinung zusanmiensetzt, verschieden ge-
stalten. Die .unsystematische Massenbeobachtung würde aus der Dauer ver-
schiedener Einzelnleben, welche aus beliebigen Zeiträumen zusammengeholt
sind, ein Durchschnittsergebniss ziehen. Anders die systematische Beob-
achtung. Diese hat je nach den Zeitpunkten, in welchen die Beobachtung
der Einzelnleben anfängt und aufhört, hauptsächlich zwei Standpunkte:
L Man kann nämlich eine gewisse Zahl von Menschenleben beob-
achten, welche eine gleiche Anfangszeit, aber ungleiche Endpunkte
haben.
Hier ist also das bei allen Einzelnerscheinungen gleichartige Beob-
achtungsobject, d. h. die Lebensanfänge der in einem bestimmten Zeit-
abschnitt geborenen Menschen, in der Vergangenheit gelegen. Das
wechselnde Beobächtungsobject, der Tod dieser Menschen, zieht sich von
der Vergangenheit in die Gegenwart herauf und die Beobachtung muss
ihm folgen. Hier ist aber zu berücksichtigen, dass die Geburten eine
stetige Function der Zeit sind und sich über die einzelnen Jahre vertheilen,
dass demnach die Menschen, die in einem Jahre geboren sind, strengge-
nommen keineswegs das gleiche Alter haben, lieber diese Schwierigkeit
jedoch unten.
Die exacte Beobtichtong der LebenBdftner. Absterbetafeln. 185
n. Man kann aber auch eine gewisse Anzahl von Menschenleben
mit verschiedenen Anfangspunkten, aber an einer für Alle gleich-
artigen Beobachtungsstelle erfassen. Man erhält in diesem Falle das Durch-
schnittsalter der in einem gewissen Zeitpunkte Lebenden oder Verstor-
benen. Hier liegt also das bei Allen gleichartige Beobachtungsobject in
der Gegenwart und die vergangenen Anfangspunkte der Erscheinungen
sind verschieden. Je nachdem es sich dabei um Lebende oder Todte
handelt, hat man es zu thun mit:
1. dem Durchschnittsalter der Lebenden oder
2. dem Durchschnittsalter der Gestorbenen.
§. 107. Die exacte Beohachtong der Lebensdauer. Absterbetafeln.
Um die Lebensdauer nicht blos zu schätzen, sondern mit Exactheit
zu untersuchen, ist es nöthig, bei einer grösseren Anzahl Menschen das
Alter ihres Absterbens zu beobachten und eine Tabelle hierüber anzu-
legen. Solche Tabellen werden je nach ihrem Inhalte Absterbelisten oder
Sterblichkeitstafeln, auch Ueberlebenstafeln genannt.
Die Erfahrungen, die man über die menschliche Lebensdauer (im
allgemeinsten Sinne des Wortes) haben kann, beruhen in erster Linie auf
der Art der angesammelten Massenbeobachtungen.
Diese Massenbeobachtungen können sich erstrecken blos auf die
Zahl der Lebenden und Gestorbenen oder auch auf das Alter der Lebenden
und Gestorbenen.
I. Kennt man blos die Zahl der Lebenden, der Geborenen und
Gestorbenen eines gewissen Zeitraumes, so ist es allerdings möglich, aus
diesen Zahlen Resultate zu gewinnen, welche über die Lebenskraft des
Menschengeschlechtes Aufschluss geben. Ob diese Zahlen jedoch dem
Ziele, welches angestrebt werden soll, entsprechen, wird später gezeigt
werden.
n. Kennt man blos das Alter einer Gesammtheit lebender Menschen,
60 lässt sich daraus eine DurchschnittsziJSfer gewinnen, das Durchschnitts-
alter der Lebenden genannt, welche mehrfach als Ausdruck der Lebens-
kraft genommen wurde, diesem Zwecke jedoch am wenigsten entspricht.
ni. Kennt man das Alter einer Gesammtheit gestorbener Menschen,
80 sind folgende Möglichkeiten zu unterscheiden:
A. Die Gestorbenen haben das gemeinsame, sie zu einer Gesammt-
heit stempelnde Merkmal, in einem Jahre gestorben zu sein, während ihre
Geburtszeit in verschiedene Jahre zurückreicht. Dann ist es möglich, aus
dieser Kenntniss das Durchschnittsalter der Gestorbenen zu gewinnen.
Inwiefeme dasselbe als Ausdruck der Lebenskraft der Bevölkerung er-
scheint, soll ebenfalls später gezeigt werden.
186
Die exacte Beobachtung der Lebensdauer. Absterbetafeln.
Einer Beobachtung des Alters von in einem Jahre Gestorbenen kann
indessen noch eine andere Thatsache entnommen werden, nämlich die
Zahl der Grestorbenen einzelner Altersclassen. Dann scheiden sich aus der
Gesammtheit der Gestorbenen des Beobachtungsjahres die kleineren Ge-
sammtheiten der Gestorbenen der verschiedenen Altersclassen aus. Die
üebersicht hierüber wii'd dann ungefähr folgende Gestalt annehmen:
Unter n Gestorbenen des Jahres befanden sich:
im Alter von: Gestorbene:
0 - 1 Jahr a
1- 2 „ b
2- 3 „ c
99—100 „ d
Eine derartige Zusammenstellung kann man als die Grundlage einer
Sterbetafel oder Absterbeliste bezeichnen. Die eigentliche Sterbetafel wird
daraus gewonnen durch Vereinfachung der Zahlen, indem man dieselben
auf Procent- oder Promillesätze reducirt und demgemäss angibt:
Unter 1000 Gestorbenen des genannten Jahres befanden sich:
im Alter yoii:
0— 1
1- 2
Gestorbene:
1000 . a
n
1000 . b
n
1000. c
99—100
1000 . d
Dies ist dann eine eigentliche Sterbetafel.
Man konnte die so gefundenen Zahlen auch in Vergleich mit der
Zahl der Lebenden desselben Alters in Verbindung bringen, wodurch die
Tafel dann folgende Gestalt gewinnt:
Alter
Bevölkerung
im Jahre . . . .
Gestorben
im Jahre . . .
Verhältuiss
der Gestorbenen auf
1000 gezählte Personen
0- 1
1- 2
2- 3
99—100
1,232145
1,002123
912321
246429
72042
200
82
78
Die exacte Beobachtung der Lebensdauer. Äbsterbetafeln. 187
B. Hat man eine Anzahl von Verstorbenen, welche das gemeinsame
Merkmal haben, in einem Jahre geboren zu sein, welche also eine Jahres-
generation bilden, so kann man, durch Beobachtung ihrer allmäligen Ver-
minderung bis zum Absterben ihres letzten Mitgliedes, endlich jene üeber-
sichten gewinnen, welche als üeberlebenstafeln bezeichnet werden. In
die oberste Linie einer solchen Tafel stellt man die ganze beobachtete
Generation, in die zweite diejenige Zahl, welche übrig bleibt nach Abzug
der im Laufe des ersten Jahres Gestorbenen, in die dritte Linie die Ge-
sammtzahl der Generation mit Abzug der während des ersten und zweiten
Jahres Gestorbenen u. s. f. Um jedoch die hieraus entstehende Tabelle
übersichtlicher zu machen, werden die wirklichen (absoluten) Zahlen auf
runde umgerechnet. Die Tafel gewinnt dann folgende Gestalt:
Alter: üeberlebeade:
0 1000
1 1000-a
2 1000— a—b
99 1000-x
100 1000-x-y
Solche üeberlebenstafeln besitzt man jetzt in den wichtigsten euro-
päischen Ländern, und zwar für beide Geschlechter gesondert. Nothwendig
ist für deren Herstellung wie erwähnt, dass man eine oder noch besser
eine Reihe von Jahresgenerationen so lange beobachtet, bis das letzte
Mitglied jeder Generation abgestorben ist. Diese Aufgabe hat jedoch mit
den grössten Schwierigkeiten zu kämpfen. Hat man eine bestimmte Jahres-
generation in ihrem Geburtsjahre erfasst, so kann man doch unmöglich
verhüten, dass durch Wegwanderung vom Geburtsorte die Berechnung der
Zahl der üeberlebenden gestört wird. Diese Störung wird um so empfind-
licher, je kleiner die beobachtete Jahresgeneration ist. Weil es nun nicht
möglich scheint, mit wirklichen Jahresgenerationen zu rechnen, rechnet
man mit sogen, „idealen Generationen", welche man durch Combination
der Geburten und Todesfälle einer beschränkteren Jahresreihe erhält,
wobei an Stelle des Altersjahres das Geburtsjahr (welches aber mit dem
Altersjahr keineswegs identisch ist) zu Hilfe genommen wird. •
Aus einer Ueberlebenstafel lassen sich durch einfache Rechnungs-
operationen Zahlenreihen ableiten, welche für die Betrachtung der mensch-
lichen Lebensdauer von höchster Wichtigkeit sind.
Es ist hier nöthig, an einem Beispiele zu zeigen, wie die ersten
Sterbe-, resp. üeberlebenstafeln eingerichtet und erweitert wurden.
Eine Tabelle mit 3 Spalten wird angelegt. Voran stehen die Jahre
der Beobachtung. Hatte man nun z. B. eine Gesammtheit von 1000
188
Oesebichte der Sterbetafeln»
gleichzeitig (innerhalb eines Jahres) Geborenen bis zu ihrem Absterben
beobachtet, so setzte man die Zahl der jährlich Gestorbenen in die mit
1 überschriebene Spalte. Die zweite Spalte wird von denen gefallt, welche
von den 1000 am Anfang jedes folgenden Jahres übrig sind. Die dritte
Spalte enthielt die Summe der zu durchlebenden Jahre. Sie wird gefonden,
indem man an unterster Stelle dieselbe Zahl wie in der zweiten Spalte
einsetzt, bei jeder folgenden aber die Zahlen der zweiten Spalte von unten
auf addirt.
Eine so construirte Absterbetabelle würde daher folgende Gestalt
haben, wenn man es beispielsweise mit 1000 Gestorbenen zu thun hätte,
welche in der in Spalte 1 gegebenen Zahlenordnung im Zeiträume von
5 Jahren abgestorben wären.
Jahre
Gestorbene
2.
Lebende
3.
Summe der zu verlebenden
Jahre
300
850
200
150
100
1000
700
450
250
100
8500
1500
800
350
100
Man könnte auch anstatt dieser blos beispielsweise gewählten ZilFem,
die Zahl der in jedem Jahre Gestorbenen durch Buchstaben bezeichnen.
Dann zeigt sich die Tabelle so:
Jahre
Gestorbene
3.
Lebende
Summe der zu verlebenden
Jahre
a
b
c
d
e
a+b+c+d+e
b 4- c 4- d 4- ®
c + d + e
d + e
e
a + 2b + 3c + 4d + 5e
b + 8c + 3d + 4e
c + 2 d + 3e
d + 8e
e
§. 108. Geschichte der Sterbetafeln.
Das Verdienst, den ersten Versuch zu einer systematischen Unter-
suchung der Lebensdauer gemacht zu haben, gebührt dem Londoner
Graunt, welcher um 1661 oder 1665 seine Beobachtungen über das Ge-
Geschielite der Sterbetafeln. 189
setz der Sterblichkeit veröffentlichte *), Beobachtungen, welchen allerdings
nur ein sehr dürftiges Zahlenmaterial zu Grunde liegt, die aber doch
zeigen, dass er eine klare Vorstellung von dem allmäligen Verschwinden
einer Generation im Laufe ihres Alters hatte.
Nach ihm wurde eine verbesserte Absterbetafel im Jahre 1691
durch den englischen Astronomen Halley veröffentlicht; sie beruhte auf
Todtenregistem der Stadt Breslau. Er nahm aber, was mit den Vorgängen
der Wirklichkeit im Widerspruche steht, an, dass die Bevölkerung eine
stationäre sei, weder zu- noch abnehme und auch das Absterben stets
in gleicher Ordnung erfolge *). Dass diese Annahme unhaltbar sei, war
indessen Halley nicht unbekannt. Ein weiterer Fortschritt geschah durch
den Holländer W. Kersseboom, der 1742 eine Absterbetafel herstellte,
welche sowohl auf Geburts- und Sterberegistem, wie auf Listen von Ver-
sicherungs- oder Rentenanstalten beruhte. Er beobachtet eine bestimmte
Generation (gleichzeitig Geborene) bis zu ihrem Absterben, soweit seine
Nachrichten reichen. Auch er ging jedoch von der Hypothese einer sta-
tionären Bevölkerung, gleichbleibender Geburtenzahl und einer der Ge-
burtenzahl gleichen Zahl von Todes&llen, aus.
Ihm folgte der französische Mathematiker Deparcieux^), dessen
Berechnungen den praktischen Zielen von Altersversorgungscassen zu
Grunde gelegt wurden.
Auch Süssmilch*) gibt eine Sterblichkeitstafel, und beschäftigt
sich eingehend mit den Ableitungen aus derselben. Der Schwede War-
gentin (1766), welcher ein besonders brauchbares Material zur Verfügung
hatte, konnte die Zahl der Gestorbenen mit jener der gleichzeitig Leben-
den vergleichen, auch besondere Absterbeordnungen für beide Geschlechter
berechnen. Während jedoch nach Halley die Tafeln auf eine Generation
von 1000 berechnet wurden, berechnete Wargentin solche, welche sich
auf 1000 Gestorbene beziehen und stellte sie neben die von Halley und
Anderen, ohne den Unterschied zwischen den Grundlagen seiner Tafeln
und der Anderen zu berücksichtigen.
Unter den Mathematikern, welche sich mit dem Problem der Ab-
sterbeordnung beschäftigten, sind besonders Euler*) und Laplace zu
nennen. Letzterer •) weist darauf hin, dass man aus einer grösseren An-
zahl Neugeborener, die man bis zu ihrem Absterben verfolgt, eine Ueber-
lebenstafel anlegen solle.
Ein bedeutender Fortschritt in der Beti'achtung der Absterbeordnung
geschah mit Moser'). Er hat namentlich das Verdienst, die Halley'sche
Hypothese einer stationären Bevölkerung und die Euler'sche Methode für
eine im geometrischen Verhältniss zu- oder abnehmende Bevölkerung
kritisch beurtheilt zu haben. Er koomit zu dem Resultate, dass es nöthig
190 Geschichte der Sterbetafeln.
ist, eine Methode anzuwenden, welche dem wirklich vorhandenen Zustand
einer völlig unregelmässigen Bevölkerung entspricht, nicht gewissen fin-
girten Zuständen. Er wendet sich im weiteren Verlaufe ganz dem Er-
fahrungsstoif zu, welcher durch die Versicherungsgesellschaften angesammelt
wurde und lässt das Material der Bevölkerungsstatistik bei Seite; blieb
indessen dauernd anregend für eine Reihe von Nachfolgern.
Eine weitere Stufe in der Entwickelung dieser Aufgabe wird durch
die Thätigkeit der Vorstände von statistischen Bureaux bezeichnet.
A. Quetelet, angeregt durch Moser, beschäftigte sich ebenfalls
mit dem Problem®), insbesondere mit der Hypothese „d'une population
quelconque", d. h. mit einer Bevölkerung, welche sowohl in Vennehrung,
als in Verminderung begriffen sein kann. Ihm verdankt man auch die
Berechnung einer Ueberlebenstafel für Belgien, auf Grundlage der Civil-
Standsregister von 1841 — 50 und der Volkszählung von 1846. Seine Me-
thode besteht darin, dass er die Zahl der Lebenden jeder Altersclasse
durch die Zahl der Todesfälle dieser Altersclasse dividirt. Die Zahl der
Lebenden findet er aus den Volkszählungen, die der Todesfälle aus den
Civilstandsregistern. Die gleiche Methode ward auch von Baumhauer,
allerdings mit gewissen Verbesserungen, für die Berechnung der Absterbe-
ordnung in den Niederlanden angewandt und weiter vervollkommnet von
Farr in England. Letzterer hat auch das Verdienst, besonders darauf
hingewiesen zu haben, dass die Geburten und Todesfälle nicht auf einen
Zeitpunkt im Jahre fallen, sondern sich über das ganze Jahr unregel-
mässig vertheilen.
Eine Reihe Anderer, welche sich um das Problem ebenfalls verdient
gemacht haben, sollen hier lediglich erwähnt sein. So Berg (von welchem
eine Sterbetafel für Schweden herrührt), Kiaer (Sterbetafel für Norwegen),
David (Tafel für Dänemark), Gisi (Tafel für die Schweiz), desgleichen
Dieterici®), Wappäus *") und EngeP^) in Deutschland. Dagegen
muss besonders ein weiterer Versuch hervorgehoben werden, welcher eine
ganz bestimmte Gesammtheit von Geborenen so lange verfolgt, bis sie
wirklich abgestorben sind. Während schon Laplace auf diese Methode
hinwies, wurde sie von Hermann ^'^) praktisch verwirklicht. Er hatte vom
Jahre 1835 an die Sterbefälle in Bayern nach den einzelnen Altersjahren
aufzeichnen lassen. Dadurch hat man in jedem Jahre auf so weit zurück,
als die Zahl der Geborenen bekannt ist, ein bestimmtes Verhältniss der
Gestorbenen eines bestimmten Altersjahres zu der Zahl der Geborenen,
von der sie herrühren; und, wenn auf solche Weise eine Reihe von
Jahren die in demselben Altersjahre Gestorbenen mit der Zahl der Ge-
borenen des entsprechenden Geburtsjahres zusammengehalten werden, so
ergeben sich nothwendig Zahlen, die den wirklichen Vorgängen entsprechen.
Oesckichte 4er Sterbetafeln. 191
Aber auch diese Methode, so vollkommen sie zu ihrer Zeit erschien, hat
sich als nicht ganz fehlerfrei erwiesen, weil bei ihr die Identität der an
der Reihe der Geburten und Todesfälle betheiligten Personen nicht sicher-
gestellt ist, vielmehr diese Reihe durch die Ein- und Auswanderungen
gestört wird.
Bis in die jüngste Zeit herrschte indessen eine beklagenswerthe Un-
sicherheit hinsichtlich der Bedeutung der Gesammtheiten, aus welchen
durch Division diejenigen Quotienten entstehen, welche man durchschnitt-
liches Alter, Sterblichkeitsziifer, GeburtszilFer, mittlere Lebensdauer etc.
nennt. Diese Unsicherheit veranlasste nicht nur die obenerwähnten Ar-
beiten von Dieterici, Wappäus, Engel und Anderen, sondern auch mehrere
neuere, die einen entschiedenen Fortschritt bezeichnen. Ah solche sind
namentlich zu erwähnen die Arbeiten von Wittstein **), G. Meyer **)
und Zillmer^*). Durch sie wurde wesentlich zur Klärung der bis dahin
so verschwommenen Begriffe beigetragen.
Die bedeutendsten Fortschritte jedoch geschahen in der neuesten
Zeit, und zwar durch die Arbeiten von Becker, Knapp, Zeuner, Le-
xis und Körösi.
G. F. Knapp ^''j hat das Verdienst, mit mehr mathematischer
Schärfe in die Absterbeordnung eingedrungen zu sein, als irgend einer
seiner Vorgänger und Nachfolger. Anknüpfend an Moser füllt er die von
demselben gelassenen Lücken aus,, indem er einestheils eine allgemeine
Messungstheorie anderntheils die allgemeinen Sätze über den Bevöl-
kerungswechsel aufstellt. Die Vorstellung einer Bevölkerung mit herrschen-
der Absterbeordnung wurde von ihm weiter ausgebildet, ohne Beschrän-
kung in Bezug auf den Eintritt der Geborenen. Dies geschah durch die
Darstellung der Geborenen als einer Function der Zeit, woraus der Be-
griff der „Dichtigkeit der Geburtenfolge" entstand. Er fand mit Hilfe der
Analysis den mathematischen Ausdruck für jede Art Lebender oder Ver-
storbener, und damit auch die entsprechenden Messungsmethoden. Da-
neben löste er auch die Aufgabe, die verschiedenen Gesammtheiten der
Lebenden und der Verstorbenen zu unterscheiden, und die zwischen den-
selben stattfindenden Identitäten aufzustellen.
Zeuner hat ebenfalls die. Absterbeordnung einer streng mathe-
matischen Behandlungsweise unterzogen, und zwar ohne die Vorstellung
einer herrschenden Absterbeordnung. Als besonderes Verdienst muss seine
angchauliche geometrische Darstellung gerühmt werden.
Kf Becker hat in mehreren vortrefflichen Abhandlungen gleichfalls
Vieles zur Klärung der Theorie, mehr noch zur Läuterung der Praxis
in der Beobachtung der Absterbeordnung beigetragen. Er unterscheidet
namentlich scharf die Sterblichkeit einer wirklichen von jener einer
192 GescMchte der Sterbetafeln.
ideellen Generation. Seine Sterblichkeitstafeln unterscheiden zum ersten
Male die Verstorbenen nach den drei Merkmalen des Geburtsjahres, der
Altersclasse und des Sterbejahres zugleich. Ein Gutachten, welches er dem
internationalen statistischen Gongresse erstattete, präcisirte entschiedener
als dies vorher geschehen war, alle jene Unterlagen, welche von der
Statistik för die Berechnung richtiger Mortalitätstafeln zu beschaffen sind,
sowohl hinsichtlich des Standes der Bevölkerung, als auch hinsichtlich
der Geburten, der Todesfälle und der Wanderungen ").
W. Lexis ^®) unternahm es, die Knapp'sche Auffassung zu erwei-
tern und die allgemeine Methode darzulegen, nach welcher statistische
Massen als solche in mehreren Veränderungen verschiedener Art verfolgt
werden können.
Arbeiten von Körösi, Lewin und G. Mayr über die Grundlagen,
welche zur Berechnung von Sterblichkeitstabellen erforderlich sind, hängen
mit den Verhandlungen des statistischen Congresses zu Budapest zusam-
men **). Hiemit dürfte wohl das Neueste auf diesem Gebiete Berücksich-
tigung gefunden haben.
Anmerkungen.
*) Das Werk ist betitelt: J. Graunt, Capt.: Natural and political obser-
vations etc., upon the bill of mortality. Die Todteulisteu, welche G. benutzte,
wurden in London zu Ende des 16. Jahrhunderts publicii-t. Sein Verzeichuiss
der Ueberlebenden hat folgenden Inhalt. Von 100 Kindern sind yorhanden
64 im Alter yon 6 Jahren
40
rt
Vi
Vi
16
25
«
Vi
Vi
26
16
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Vi
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Vi
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r>
•n
80
') £. Halley: An estimate of the degrees of mortality of mankind drawn
of tables of the city of Breslau. 1691,
*) Sein Werk führt den Titel: Sur la probabilite de la duree de la vie
humaine. Paris 1746.
*) A. a. 0., IL Bd. S. 319.
*) Euler beschäftigte sich wiederholt mit dem Gegenstande. Seine Arbeiten
hierüber finden sich in den Memoiren der Berliner Akademie 1740, 1760, 1767.
Seine Methode findet sich ausführlich besprochen und kritisirt bei Moser: Ge->
setze der Lebensdauer. S. 125 ff.
•) Laplace: Essai philosophique sur les probabilites.
'') Moser: Die Gesetze der Lebensdauer. Berlin 1839.
') ^gl« das Bulletin de la Commission de Statistique Beige, t. V., Bru-
xelles 1853.
Die neueren Sterblichkeitetafeln selbst. 193
•) Dieterici: Ueber den Betriff der mittleren Lebensdauer und deren
Berechnung für den preuss. Staat. 1858.
") Wappäus: Ueber den Begriff und die Bedeutung der mittleren Lebens-
dauer. 1858. — Derselbe: Allgemeine Bevölkerungsstatistik.
^*) E. Engel: Sterblichkeit und Lebenserwartung im preussischen Staate.
Zeitschrift des preuss. statist. Bureau, Jahrg. 1861 und 1862. — Derselbe
ebenda 1867.
") Y. Hermann: Mortalität und Vitalität im Königreiche Bayern.
München 1867.
") Th. Wittstein: Zur Bevölkenings-Statistik. Zeitschr. d. preuss. stat.
Bureau. 1863. S. 12 ff.
**) G. Meyer: Die mittlere Lebensdauer. Jahrbücher für Nationalökono-
mie und Statistik. 1867.
") Zillmer: Ueber die Geburtsziffer, Sterbeziffer etc. Rundschau (Zeit-
schrift für Versicherungswesen). 1863.
^*) G. F. Knapp: Die Ermittlung der Sterblichkeit aus den Aufzeich-
nungen der Bevölkerungsstatistik. Leipzig 1868. — Derselbe: Die Sterblichkeit
in Sachsen. Leipzig 1869. — Derselbe: Theorie des Bevölkerungswechsels.
Braunschw. 1874.
*^) Die Hauptarbeiten K. Becker's auf diesem Gebiete sind: Preussiscbe
Sterbetafeln etc., in der Zeitschrift des preuss. statist. Bureaus, 1869, S. 125 bis
144. — Ferner: Zur Berechnung von Sterbetafeln an die Bevölkerungsstatistik
zu stellende Anforderungen. Berl. 1874. — Sodann: Stat. Nachrichten über das
Grossherzogth. Oldenburg. Heft 9, 11, 13.
") Einleitung in die Theorie der Bevölkerungsstatistik. Strassb. 1875.
*•) Eine ausführliche Kritik der von Körösi vorgeschlagenen Verbesse-
rungen durch G. Mayr findet sich in der Zeitschr. des bayr. stat. Bur., Jahrg.
1876, S. 178 ff.
§. 109. Die neueren Sterblichkeitstafeln selbst.
Wie schon oben erwähnt ward, besitzt man jetzt für die wichtig-
sten europäischen Staaten Sterblichkeits-, resp. Ueberlebenstafeln, und
zwar für beide Geschlechter gesondert. Im Auszuge (d. h. unter Verzicht
auf die Angabe aller einzelnen Jahre) ergeben diese Tafeln folgende Ab-
sterbeordnung. (Nach Becker in der Zeitschr. des preuss. stat. Bureau.
Jahrg. 1869, S. 135.)
Aus dieser Zusammenstellung ist auch das Mass der länderweisen
Verschiedenheiten, welche in der Absterbeordnung herrschen, zu entneh-
men, sowie die Unterschiede der männlichen und weiblichen Ueberlebens-
raten. Diese Unterschiede sind in allen Ländern zu Gunsten des weib-
lichen Geschlechts.
Haushofer, Statistik. 2. Aufl. |3
194
Ableitungen ans den Sterblichkeitetafeln.
Ueberlebende von
1000 Lebendgeborenen (beider Geschlechter)
Preussen 1859
-^64
9
U
<
England
und Wales
1838-54
t 1
1!
«2
1 •
0» o
bei beiden
Ge-
schlechtern
2
•S2
1^
0
1000
1000
1000
1000
1000
1000
1000
1000
1
796
782
811
851
834
850
857
804
2
737
723
753
797
782
788
816
747
3
707
692
722
769
754
758
792
719
4
686
673
701
750
736
739
771
701
5
. 672
659
687
737
723
725
755
689
10
639
627
652
703
687
689
710
656
15
624
612
636
685
667
663
689
639
20
608
596
620
663
643
635
670
618
25
585
571
600
634
607
604
647
591
30
563
549
577
604
578
573
623
561
40
507
497
517
539
524
511
567
494
50
438
426
451
464
462
440
496
423
60
341
326
357
370
376
345
398
327
70
206
194
218
238
244
216
255
197
80
62
o9
65
90
85
75
90
64
90
6
5
6
12
8
9
9
5
§. 110. Ableitungen aus den Sterblichkeitstafeln.
Aus den, wie im §. 107 gezeigt ward, corißtiiiiiten und allmälig
verbesserten Tafeln wurden durch einfache Rechnungsoperationen noch
folgende weiteren Werthe abgeleitet:
I. Man suchte jenes Lebensalter auf, in welchem die Zahl einer zu
gleicher Zeit geborenen Gesammtheit durch den Tod auf die Hälfte zu-
sammengeschmolzen ist und nannte sie wahrscheinliche Lebens-
dauer (Halley). Nach der Tabelle auf S. 188 wäre dieselbe da zu
suchen, wo sich in der Spalte 2 die Zahl 500 findet, also zwischen dem
2. und 3. Jahra
n. Man dividirte die in der Spalte 3 befindlichen Zahlen durch
die nebenstehenden Zahlen der Spalte 2 und nannte das Resultat mitt-
lere Lebensdauer. Nach dem §. 107 angegebenen Beispiel würde die-
lu ^ .. .T X. 2500 , a+2b + 3c-f 4d + 5e
selbe für die Neugeborenen ^^^ oder ^.^^^^^^^^
betragen.
Ableitungen ans den Sterblichkeitstafeln.
195
Hiebei war allerdings, was mit der Wirklichkeit im Widerspruche steht,
aDgenommen, dass die betreffenden Personen erst am Schlüsse des Jahres
sterben.
ni. Femer berechnete man för jeden Jahrgang, auf wie viele Le-
bende einer stirbt. Diese Ziffer ergibt sich, indem man die Zahlen in
Spalte 2 durch die nebenstehenden in Spalte 1 dividirt. Das Resultat
nennt man passend die Sterblichkeit der Altersstufe (oder des
Jahrgangs). Minder passend ist die Bezeichnung: Lebenssecurität. Nach
1000 a + b + c+d + e
obiger Tabelle würde sie far das erste Jahr -sT^Ti oder
300
700
betragen, für das zweite öcTj «. s. f. Dividirt man umgekehrt die Zahl
in Spalte 1 durch die nebenstehende in Spalte 2, so ergibt sich der sog.
Sterblichkeitscoefficient (vgl. §. 111).
Vermehrt man die Sterbetafel noch um die eben angeführten Werthe,
so erhält sie folgende Gestalt:
1
2
3
4
5
6
7
Alter
Ster-
bende
Le-
bende
Summe
der
zu durch-
lebenden
Jahre
Wabr-
schein-
licbe
Lebens-
dauer
Mittlere
Lebens-
dauer
Es stirbt
Einer
Yon
Sterblich-
keits-
coefficient
(auf 1 Le-
benden
treffen
Todte)
0
196
1000
34975
31
34,976
5,10
0,196
1
36
804
33975
44,7
42,26
22,22
0,046
t
32
768
33171
47,3
43,18
24
0,046
3
27-
736
32403
49,3
44,01
27,26
0,036
4
21
7
09
31667
51
45
•
•
33,76
0,029
9
3
1
3
6
94,5
2
3
0,333
94
1 1
2
3
95
1,5
2
0,000
9
5
1
1
1
—
1
1
1
(Die Ziffern sind der von Moser: Gesetze der Lebensdauer, S. 74,
mitgetheilten Sterblichkeitstafel entnommen.)
13^
196 ^^® Sterblichkeitacoefficienten.
IV. Ferner hat man den Sterblichkeitstafeln auch noch die sog.
Lebens- und Sterbenswahrscheinlichkeit entnommen. Hierüber
\^t zu bemerken:
Die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses ist, mathematisch betrach-
tet, ein echter Bruch, dessen Zähler gleich ist der Anzahl der dem Er-
eigniss günstigen Fälle und dessen Nenner gleich der Anzahl aller mög-
lichen Fälle.
A. Die Lebenswahrscheinlichkeit ist die Wahrscheinlichkeit
für eine Person in einem bestimmten Alter, das nächste Jahr zu durch-
leben. Diese Wahrscheinlichkeit ist gleich einem Bruche. Der Zähler
dieses Bruches ist gleich der Zahl, welche von allen beobachteten Per-
sonen desselben Lebensalters das nächste Jahr wirklich durchlebt.
Nach der §. 107 angelegten Tabelle wäre diese Zahl für das erste
Jahr 1000 — 300 = 700.
Der Nenner ist gleich der Zahl aller möglichen Fälle, nämlich der
Anzahl der beobachteten Personen selbst; nach obiger Tabelle = 1000
und die LebenswahrscheinlicTikeit stellt sich demnach für den Neuge-
borenen bis zum Ablaufe des ersten » Jahres auf:
700 oder in Buchstaben nach der b -|- c -j- d + e
1000 zweiten Tabelle ausgedrückt: a-4-b-|-c-|-d + ^
B. Die Sterbenswahrscheinlichkeit ist der Gegensatz der
Lebenswahrscheinlichkeit. Auch sie ist eine Bnichzahl. Solche entgegen-
gesetzte Wahrscheinlichkeiten bilden in ihrer Summe die Gewissheit; die
beiden Brüche ergänzen sich genau zu einer Einheit. Die Sterbenswahr-
scheinlichkeit würde nach obiger Tabelle für den Neugeborenen bis zum
Ablaufe des ersten Jahres auf ^®7iooo ^^^^ stellen; und
300/ I 700/ 1
/looo "I /looo — ^*
Es lässt sich demnach die eine Wahrscheinlichkeit leicht durch die an-
dere finden.
Einige der erwähnten Ableitungen müssen in Folgendem noch aus-
tührlicher erörtert werden.
§. lU. Die Sterblichkeitsooeffioienten.
Der Sterblichkeitscoeificient einer bestimmten Altersclasse ist die-
jenige Zahl, mit welcher man die Zahl der gleichzeitig Lebenden dieser
xiltersclasse multipliciren muss, um die Zahl der Sterbenden dersel-
ben Altersclasse zu erhalten. Also mit anderen Worten der Quotient,
den man erhält, wenn man die Sterbenden einer Altersclasse durch die
Lebenden derselben Altersclasse dividirt. Der allgemeine Sterblich-
keitscoefficient einer ganzen stationären Bevölkerung ergibt sich aus
der Division der Gesammtzahl der Gestorbenen (eines Jahres) durch die
Die Sterblichkeiiscoefficienten. 197
Gesammtzahl der Lebenden des Jahres *). Dieser allgemeine Sterblichkeits-
coefficient ist demnach das, was schon in einem früheren Capitel als
Sterblichkeitsziffer behandelt wurde, nur etwas anders ausgedrückt. Wenn
auf je 1000 Lebende 25 Sterbende im Jahre treffen, so ist der Sterblich-
keitscoefficient 0,025 oder Y409 ^^® Sterblichkeitsziffer 40.
Betrachtet man die Sterblichkeitcoefficienten der verschiedenen Al-
tersclassen bei einer gegebenen Bevölkerung *), so erscheinen deutlich die
beiden natürlichsten und wichtigsten Todesursachen: Die Lebensschwäche
der Kindheit, welche die Sterblichkeitscoefficienten von der Geburt bis
zu der Altersclasse von 10 — 15 Jahren stets abnehmen lässt, und das
zunehmende Alter, welches die Sterblichkeitscoefficienten fortwährend
steigert.
Der allgemeine Sterblichkeitscoefficient ist mehrfach als Ausdruck
fdr die mittlere Lebensdauer gebraucht worden. Jedoch mit Unrecht. Bei
einer zunehmenden Bevölkerung wird die Sterblichkeitsziffer, oder besser
gesagt, der Nenner des als Bruchzahl ausgedrückten Sterblichkeitscoeffi-
cienten grösser, bei einer abnehmenden kleiner sein, als die mittlere Le-
bensdauer. Bei stationärer Bevölkerung nur wären beide gleich. In ähn-
licher Weise ist auch die Geburtsziffer als Ausdruck für die mittlere
' Lebensdauer betrachtet worden. Bei zunehmender Bevölkerung aber ist
die Geburtsziffer grösser, bei abnehmender kleiner als die mittlere Le-
bensdauer.
Endlich hat man auch geglaubt, das arithmetische Mittel aus
der Geburts- und Sterblichkeitsziffer würde den richtigen Ausdruck für
die mittlere Lebensdauer geben. Auch dies ist irrig. Der Engländer Price
hat vor hundert Jahren diese allerdings höchst einfache Methode ange-
wendet.
Da bei einer stationären Bevölkerung die Geburtsziffer und die
Sterblichkeitsziffer gleich sein müssen, so wird bei einer nicht stationären,
wie alle Bevölkerungen in der That sind, die mittlere Lebensdauer noth-
wendig von diesen Ziffern abweichen müssen. Wie weit sie jedoch von
der einen und von der anderen abweicht: das ist eine andere Frage und
es ist höchst willkürlich, das arithmetische Mittel beider als wirkliche
mittlere Lebensdauer anzunehmen.
Anmerkuugeu.
*) Um die allgemeiueii Steiblichkeitscoefficieuteu der europäischeu Länder
zu finden, dürfen blos die §. 84 mitgetheilten Zahlen durch 100 dividirt werden.
*) Bei einer tabellarischen Uebersicht der Sterblichkeitscoefficienten ver-
schiedener Jahrgänge werden dieselben, um ein Uebermass von Nullen an den
Stellen der Einer, Zehntel und Hundertetel zu vermeiden, passenderweise mit 1000
multiplicirt. Thut man dies, so ergeben sich folgende Verhältnisszahlen (für
beide Geschlechter zusammen):
198
Die mittlere Lebensdauer.
Auf 1000 gleichzeitig Lebeude der betreff. Altersclasse kommeu im
Laufe eines Jahres Sterbende derselben Altersclasse
Alter nach Jahren
Preussen
1859—64
England
und Wales
1838—54
Frankreich
1840—59
0— 1
1— 2
2— 3
3— 4
4— 5
5-10
10-15
15-20
20—25
25-30
30—40
40—50
50—60
60—70
70-80
80—90
90 und mehr
Alle Altersclassen zusammen
236,0
77,2
42,6
29,0
20,7
40,1
4,9
5,2
7,9
10,8
14,6
24,8
48,9
110,4
205,3
275,3
26,7
165,5
65,3
36,0
24,3
17,9
9,6
5,1
6,4
8,8
9,8
11,3
14,7
22,5
42,9
91,2
183,6
336,1
24,4
189,1
63,4
36,2
24,3
17,6
10,2
5,8
7,6
11,3
9,8
9,7
12,6
19,6
41,9
97,9
209,5
299,7
24,9
§. 112. Die mittlere Lebensdauer.
Die mittlere Lebensdauer ist die Zahl der Jahre, welche eine in
einer bestimmten Altersclasse befindliche Person durchschnittlich verlebt.
Sie wird gefunden, wenn man die Summe der verlebten, respective
zu verlebenden Jahre durch die Zahl der Personen dividirt. Die mittlere
Lebensdauer der Neugeborenen stellte sich daher nach dem im §. JO? ge-
gebenen Schema auf:
a 4- 2 b 4- 3 c + 4 d + 5 e
V
2,5 oder:
a-j-b + c-|-d + e
Dabei ist allerdings, was in Wirklichkeit nicht geschieht, angenommen,
dass die betreffenden Personen erst am Schlüsse des Jahres sterben. Rich-
tiger wird es sein, anzunehmen, dass die während eines Jahres sterbenden
Personen durchschnittlich nur die Hälfte des Jahres durchleben konnten
und hiernach die Formel zu verändeni.
Die mittlere Lebensdauer kann sich wieder beziehen:
I. Auf eine Anzahl wirklich abgestorbener Personen, die man in
ihrer Absterbeordnung beobachtet hat. Dann ist sie mittlere Lebens-
dauer im eigentlichen Sinne.
Die wahrscheinliche Lebensdauer.
199
IL Auf eine Anzahl noch lebender Personen. Dann nennt man sie
zu erwartende Lebensdauer oder mittlere Lebenserwartung.
Die mittlere Lebensdauer kann dieselbe bleiben unter Umständen,
welche durchaus nicht gleich günstig sind. Es ist ein grosser Unterschied,
ob von zwei Personen, welche eine mittlere Lebensdauer von 30 Jahren
erreichen, die eine 2, die andere 58, oder die eine 20, die andere
40 Jahre alt geworden ist. Denn im ersteren Falle hat man unter
60 Jahren nur 17 unproductive, im zweiten dagegen 30.
Anmerkung.
Nach Becker's Tabellen in der Zeitschrift d. preuss. stat. Bur. 1869,
S. 140, stellt sich die mittlere Lebensdauer wie folgt (für beide Geschlechter
zusammen) :
Alter
Preusseu
1859-64
Schweden
1856-60
England
1838-54
Nieder-
lande
1850—59
Belgien
1841—50
Frankreich
1840 59
0
1
2
3
4
5
10
15
20
25
30
40
50
60
70
80
90
37,4
45,9
48,5
49,6
50,1
50,1
47,6
43,7
39,8
36,3
32,6
25,6
18,9
12,7
V
4,7
3,6
42,3
48,3
49,7
50,2
50,5
50,6
48,7
45,1
41,3
37,7
34,0
26,9
20,0
13,6
8,3
4,7
2,9
40,8
46,9
49,1
49,9
50,1
50,0
47,3
43,5
39,8
36,5
33,2
26,6
20,1
13,9
8,7
5,1
2,9
37,2
45,2
47,6
48,5
48,7
48,5
45;9
42,1
38,4
35,0
31,8
25,4
18,8
12,8
7,8
4,3
2,3
38,9
44,7
47,2
48,0
48,2
48,2
45,6
42,3
39,0
35,9
32,7
26,1
19,5
13,4
8,3
5,0
3,4
40,0
46,9
49,0
49,8
50,0
49,9
47,4
43,7
40,3
37,5
34,3
27,3
20,3
13,6
8,1
4,6
3,2
§. 113. Die wahrscheinliche Lebensdauer.
Die wahrscheinliche Lebensdauer ist jenes Alter, in welchem die
Zahl der zu gleicher Zeit geborenen Individuen auf die Hälfte zusammen-
geschmolzen ist.
Bei Sterbetafeln nach einjährigen Altersclassen ist die Berechnung
der wahrscheinlichen Lebensdauer nicht schwierig. Umständlicher und
etwas unsicherer wird sie, wo die Sterbetafeln nach mehrjährigen Alters-
classen angelegt sind.
200
Das Durchsc hnittsalter der Lebenden.
Auch diese Ziffer ist ein Massstab fär die Lebenskraft des Menschen
bei einem bestimmten Alter, wenn auch als solches Mass nicht so brauch-
bar, wie die mittlere Lebensdauer. Denn bei der letzteren kommt die
ganze fernere Absterbeordnung in Betracht, bei der wahrscheinlichen
Lebensdauer dagegen nur ein gewisser Punkt in der Absterbeordnung.
„Zwei Generationen, welche beide in derselben Zeit bis auf die Hälfte
absterben, haben dieselbe wahrscheinliche Lebensdauer, mag ihre Sterb-
lichkeit im üebrigen auch noch so verschieden sein" (Becker). Thatsäch-
lich aber pflegt das Absterben der Generationen doch so gleichmässig zu
erfolgen, dass auch die wahrscheinliche Lebensdauer brauchbare Ver-
gleichs-Resultate ergibt.
Aumerkuug.
Die wahrscheiuliche Lebeusdauer beträgt (nach Becker a. a. 0.) bei bei-
den Geschlechtern zusammen:
Im
Alter
von
0
1
3
4
o
10
15
20
25
30
40
50
60
70
80
90
Preussen
Schweden
England
1859—64
1856-60
1838-54
41,2
49,6
45,4
53,6
56,2
53,6
55,6
57,2
55,3
55,9
57,1
55,7
55,8
56,9
55,5
55,4
56,5
55,1
51,8
53,2
51,1
47,5
49,0'
47,4
43,0
44,7
43,3
38,9
40,5
39,4
34,8
36,3
35,5
26,8
28,2
27,9
19,1
20,4
20,4
12,2
13,3
13,5
6,7
^6
'7,9
3,6
3,9
4,2
2,3
2,1
2,3
Nieder-
lande
1850-59
39,2
51,6
53,6
53,9
53,8
53,4
50,0
45,8
41,7
37,8
34,1
26,5
19,0
12,3
■7,0
3,4
1,7
Belgien
1841-50
41,6
50,9
53,3
53,8
53,8
53,4
50,0
46,2
42,4
38,6
34,8
27,2
19,6
12,8
7,3
4,1
2,5
Frankreich
1840—59
44,2
54,9
56,7
57,1
56,9
56,5
53,0
48,8
44,7
41,0
37,1
28,9
20,9
13,3
7,4
3,7
2,3
§. 114. Bas Durchschnittsalter der Lebenden.
Summe der verlebten Jahre heisst die Zahl derjenigen Jahre,
welche alle zu einem gewissen Zeitpunkte gezählten Bewohner eines be-
stimmten Gebietes bis zu diesem Zeitpunkte verlebt haben. Man findet
sie, wenn man in jeder Altersclasse die Summe der ihr angehörenden
Individuen mit der Anzahl der Jahre multipliciit und sämmtliche so er-
haltenen Producte addirt.
Das Durchschnittsalter der Lebenden. 201
Dividirt man diese Summe durch die Zahl der Bewohner, so erhält
man das Durchschnittsalter der Lebenden, d. h. die Zahl der Jahre,
welche die einzelnen Lebenden durchschnittlich zurückgelegt haben. Man
hat sie auch „mittleres" Lebensalter genannt, mit unrecht.
Diese Ziffern erhält man nur durch Volkszählungen mit genauen
Erhebungen über das Alter der Lebenden *).
Ueber den statistischen Werth dieser Ziffer bestehen verschiedene
Ansichten. Die wichtigsten auf sie bezüglichen Sätze sind folgende:
1. Um die Bedeutung dieser Ziffer zu würdigen, müsste man die
Veranlassungen ihrer Verschiedenheit kennen. Diese Veranlassungen sind:
A. Die Frequenz der Geburten. Je grösser die Zahl der Ge-
burten ist, desto stärker sind die jungen Altersclassen, desto niedriger das
Durchschnittsalter der Lebenden. An sich kann man das im Allgemeinen
weder für ein Glück, noch für ein Unglück halten. Es hängt von ver-
schiedenen wirthschaftlichen Verhältnissen ab, ob eine hohe oder eine
mittlere Geburtsziffer erwünschter ist. Nur eine enorm niedrige wäre immer
ein Unglück.
B. Die Kindersterblichkeit. Wäre sie allein von Einfluss auf
das Durchschnittsalter der Lebenden, so würde das letztere bei geringer
Kindersterblichkeit niedrig, bei grosser hoch stehen. Dann wären die Sätze
gerechtfertigt:
L Das mittlere Alter der Lebenden ist desto geringer, je besser die
sanitärischen Verhältnisse eines Landes oder Volkes sind.
2. Das mittlere Alter der Lebenden sinkt mit den Fortschritten des
socialen Wohles des Volkes.
3. Das mittlere Alter der Lebenden steht im umgekehrten Verhält-
niss zur mittleren Lebensdauer. Wenn ersteres sinkt, steigt letzteres und
umgekehrt.
Offenbar aber ist es ein Fehler, die Kindersterblichkeit allein das
Durchschnittsalter der Lebenden bestimmen zu lassen, obgleich sie un-
läugbar grossen Einfluss darauf nimmt.
C. Die Sterblichkeit in den mittleren und höhereii Jahren.
Es ist klar, dass jene Lebensalter einen erhöhten Einfluss auf das Durch-
schnittsalter der Lebenden nehmen, welche eine erhöhte Sterblichkeit
haben. Es kömmt ganz darauf an, ob die Sterbefälle in den Altersclassen
erfolgen, die unter, oder die über der Zeit liegen, in welche das Durch-
schnittsalter der Lebenden fällt. Gedrückt wird dasselbe durch eine ge-
ringe Sterblichkeit in den niederen oder durch eine bedeutende in den
mittleren Altersclassen. Jene ist ein Glück, diese ein Unglück. Erhöht
wird es dagegen sowohl durch eine der Volkswohlfahrt so schädliche
202 !>»■ Durchschnittsalter der Lebenden.
starke Kindersterblichkeit als auch durch eine gewiss höchst vortheilhafte
geringe Sterblichkeit der mittleren Altersclassen.
D. Auch die Ein- und Auswanderungen sind von Einfluss auf
das Durchschnittsalter der Lebenden. Bei ihrer Beurtheilung muss man
noch weit mehr die Zustände der einzelnen Länder berücksichtigen, als
bei jener der Geburten.
IL Es kann demnach sowohl ein hohes als ein niedriges Durch-
schnittsalter ein Glück oder Unglück sein:
A. Ein hohes Durchschnittsalter der Lebenden ist ein Glück, wenn
es herrührt von geringer Sterblichkeit der mittleren und späteren Alter,
ein Unglück, wenn es herrührt von geringer Geburtenzahl oder sehr
grosser Kindersterblichkeit. In einem Volke, wo gar keine Kinder mehr
geboren würden oder alle gleich nach der Geburt stürben und wo dem-
nach die Bevölkerung am Aussterben ist, würde das Durchschnittsalter
der Lebenden von Jahr zu Jahr steigen.
B. Ein geringes Durchschnittsalter der Lebenden ist ein Glück, wenn
es herrührt von geringer Sterblichkeit der Kinder oder — falls die wirth-
schafbliche Lage des Landes Bevölkerungsmehrung als vortheilhaft er-
scheinen lässt — von starker Häufigkeit der Geburten. Ein Unglück
dagegen, wenn es von starker Sterblichkeit der mittleren und höheren
Altersclassen herrührt.
III. Das Durchschnittsalter der Lebenden setzt sich also aus ver-
schiedenen, in ihm nicht mehr unterscheidbaren Factoren zusanmien und
hat an und far sich, ohne im Zusammenhange mit den genannten Er-
scheinungen, die sich als seine Factoren darstellen, betrachtet zu werden,
unsicheren statistischen Werth.
IV. Das Durchschnittsalter der Lebenden darf durchaus nicht, wie
dies häufig geschieht, mit der mittleren Lebensdauer, dem zu erwartenden
Lebensalter, der wahrscheinlichen Lebensdauer verwechselt werden. Iden-
tisch wären letztere Ziffern nur bei einer völlig stationären, in allen
Lebensaltem gleich sterblichen Bevölkerung*). In der That ist auch das
Durchschnittsalter der Lebenden wie jenes der Gestorbenen von der
neueren Statistik unter die Reihe jener Durchschnitte verwiesen worden,
welche, weil viel zu allgemein, als Abstractionen erscheinen, die über die
wirklichen Zustände gar keinen Aufschluss geben ').
Aumerkuugen.
*) Für solche Bevölkerungen, wo genaue Aufnahmen über das Alter jedes
Einzelnen fehlen, hat man diese Ziffer durch Interpolation construirt. So be-
stimmte Wappäus das Durchschnittsalter der Lebenden (Allg. Bevölk.-Stat. IT.
S. 76) fiir:
r>
28,68
n
n
28,16
n
«
27,86
r>
n
27,76
V
V
27,74
n
n
27,66
rt
V
27,63
V
n
27,22
Ji
n
26,66
«
V
26,62
n
n
25,32
«
n
23,10
n
n
21,86
n
n
21,23
n
Das Durchsehnittsalter der Oestorbenen. 203
Frankreich .... (1851) auf 31,o6 Jahre
Belgien (1846)
Kirchenstaat . . . (1853)
Dänemark .... (1845)
Holland (1849)
Schleswig .... (1845)
Schweden .... (1850)
Norwegen . . . (1855)
Sardinien .... (1838)
Grossbritannieu . . (1851)
Holstein (1845)
Irland (1841)
Vereinigte Staaten (1850)
Untercanada . . . (1852)
Obercanada . . . (1852)
Für das Königreich Sachsen berechnet Engel diese Ziffer auf 27,26 Jahre;
fiir Preussen schlägt er es auf 27,60 Jahre an.
!) ^S^- ^' Meyer: Die mittlere Lebensdauer. Jahrb. f. Nationalökonomie
u. Stat. Jahrg. 1867.
*) Vgl. G. V. Mayr: A. a. 0., S. 55.
§. 115. Das Durchschnittsalter der Oestorbenen.
Summirt man die Zahl derjenigen Jahre, welche die innerhalb eines
Zeitraumes Gestorbenen zusammen durchlebt haben, und dividirt man diese
Ziffer durch die Zahl der Gestorbenen, so erhält man das Durch-
schnittsalter der Gestorbenen.
Dieses Alter war in Frankreich im Jahre 1853 mit Ausschluss der
Todtgebomen 37,68 Jahre; in Bayern berechnet es sich för die Jahre
1854 — 56 auf 29,28 Jahre; in Preussen während der Jahre 1816—1860
für das männliche Geschlecht auf 26,%: Jahre, für das weibliche auf 28,6*
und für beide zusammen auf 27,53 Jahre.
Für das Durchschnittsalter des Gestorbenen gilt:
I. Auch in dieser Zahl sind Factoren enthalten, welche man in ihr
nicht unterscheiden kann, nämlich:
A. Die Altersverhältnisse der Lebenden und
B. Die Sterblichkeit jeder Altersclasse.
II. Wollte man aus dem Steigen oder Sinken des Durchschnitts-
alters der Gestorbenen Schlüsse auf die ökonomischen, socialen oder
sanitären Verhältnisse eines Volkes ziehen, so wären diese Schlüsse un-
sichere; dehn
A. Steigt das Durchschnittsalter der Gestorbenen, so kann die Ur-
sache davon sein:
1. Eine Vermehrung der Sterblichkeit in den höheren und mitt-
leren Altersclassen. In diesem Falle wäre die höhere Ziffer — wenn nicht
204 Das Darchschnittsalter der Gestorbenen.
gerade die allerhöchsten Altersclassen durch die höhere Sterblichkeit be-
troffen würden — ein Unglück. Denn hier kann man sagen: Je höher
das Durchschnittsalter der Gestorbenen, desto mehr zehrt es am Wohl-
stande der Nation. So erscheinen z. B. in der preussischen Todtenstatistik
die Cholerajahre als diejenigen, wo das Durchschnittsalter der Gestor-
benen am grössten ist, und zwar umso grösser, je mehr Erwachsene dem
Tode verfallen. Es ist aber klar, dass gerade diese Jahre dem Volks-
glöcke die schmerzlichsten Wunden schlugen, die meisten Witwen und
Waisen machten, am meisten Wohlstand verschlangen.
2. Eine Verminderung der Kindersterblichkeit. In diesem Falle
wäre die Erhöhung des Durchschnittsalters der Gestorbenen ein Glück.
B. Sinkt umgekehrt das Durchschnittsalter der Gestorbenen, so kann
dies eben so wohl von einer verringerten Sterblichkeit der höheren Alters-
classen, als auch von einer vergrösserten Kindersterblichkeit herrühren.
Also auch hier Glück oder Unglück veimuthbar.
in. Auch das Durchschnittsalter der Gestorbenen darf nicht ver-
wechselt werden mit der mittleren Lebensdauer *). Das Glück eines Volkes
hängt nicht von den durch dasselbe bis zu einem gewissen Zeit-
punkte verlebten Jahren ab, sondern von seiner mittleren Lebensdauer.
Als untrügliches Maass des Volksglückes kann das Durchschnitts-
alter der Gestorbenen nicht angesehen werden; in grösseren Zeiträumen
aber immerhin als ein Spiegel der mittleren Lebensdauer. Vielleicht drückt
jene Sterblichkeitsliste das allgemeine Sterblichkeitsverhältniss richtig aus,
wo das Durchschnittsalter der Lebenden mit dem der Gestorbenen über-
einstimmt (Kolb).
IV. Auch die Zahl der von den Verstorbenen durchlebten Jahre
kann nicht als absoluter Massstab des Volksglückes genommen werden.
Denn auch in dieser Zahl sind zwei Factoren:
A. Die Zahl der Gestorbenen und
B. Das Alter der Gestorbenen enthalten.
So hat man erhoben, dass in Preussen die Zahl der von den Ver-
storbenen durchlebten Jahre 1851 10 Millionen, 1860 ebenfalls 10 Mil-
lionen, 1855 dagegen (Cholerajahr) 15 Millionen Jahre betrug, während
das Durchschnittsalter der Gestorbenen im Jahre 1851 25,«o Jahre, im
Jahre 1855 29,82 Jahre und im Jahre 1860 25, n Jahre betrug. Aus
diesem Verhältnisse wollte man den Grundsatz ableiten, dass nicht das
Durchschnittsalter der Gestorbenen, sondern die Zahl der von den Ver-
storbenen durchlebten Jahre der Massstab des Volksglückes sei, da das
Cholerajahr 1855, welches doch gewiss mehr Unheil und Jammer brachte,
als die Jahre 1851 und 1860 bei höherem Durchschnittsalter der Ge-
storbenen eine grössere Zahl von Jahren begrub. Aber man darf aus
Das Durchschnittsalter der Gestorbenen.
205
Außnalimsßlllen keine Grundsätze ziehen. Gleiches Durchschnittsalter der
Gestorbenen an verschiedenen Plätzen, wie gleiche Zahl der von den
Verstorbenen durchlebten Jahre, können sehr verschiedene Bedeutung
haben, je nachdem der Tod seine Opfer in Mitte des Lebens, im Greisen-
alter oder in den Tagen der Kindheit holt.
Es verdient noch bemerkt zu werden, dass man Untersuchungen
angestellt hat über die Frage, ob das Durchschnittsalter der Gestorbenen
und im Zusammenhange damit auch die mittlere Lebensdauer im Zu-
oder Abnehmen sei. Vordem ward eine Verlängerung des menschlichen
Lebens behauptet, aber von Wappäus bezweifelt, von Engel zu widerlegen
gesucht. Nach den Untersuchungen des Letzteren betrug das durchschnitt-
liche Alter der Gestorbenen in Preussen:
=
Jahr
mänuliche Gest.
weibliche
Zusammen
1816—20
1821—30
1831-40
1841-50
1851—60
26,41
27,19
27,41
26,21
23,24
28,80
29,66
29,33
28,30
27,63
27,57
28,39
28,34
27,23
26,40
Wegen der grossen Sterblichkeit der Kinder im ersten Altersjahre
wurden besondere Listen blos für jene Individuen gefertigt, welche das
erste Lebensjahr zurückgelegt hatten.
Dabei ergaben sich folgende Resultate:
Jahr
Gestorbene über 1 Jahr alt
männliche
1816-20
1821—30
1831—40
1841-50
1851-60
36,65
38,01
36,83
35,85
35,14
weibliche
37,67
38,76
37,64
36,89
36,69
Zusammen
37,14
38,87
37,23
36,37
36,91
Engel bemerkt dazu: „Diese Tabelle ist, weil eine Enttäuschung,
gewiss für Viele eine Trauerbotschaft. Ihr Inhalt ist auch frappirend.
Derselbe widerlegt, gestützt auf so grosse Zahlen, wie sie für ähnliche
Arbeiten noch niemals und nirgends verwendet wurden, die süsse Mei-
nung, dass die mit dem Durchschnittsalter der Gestorbenen identificirte
mittlere Lebensdauer stetig wachse oder gewachsen sei".
Trotz der grossen Zahlen aber, die hier zum Beweise dienen, ist bis
jetzt die Bewegung des Durchschnittsalters der Gestorbenen doch nicht
206
Resultate.
lange genug beobachtet worden, um mit Entschiedenheit ein Zu- oder
Abnehmen oder einen Stillstand behaupten zu lassen. Was sind 60 Jahre
im Leben des Menschengeschlechtes?
Anmerkung.
*) So that nameutlich Dieterici : Ueber den Begriff der mittleren Lebens-
dauer und deren Berechnungen für den preussischen Staat. Abhandlungen der
königl. Akademie der Wissenschaften zu Berlin 1858. — £r berechnet für die
drei Jahre 1816, 1836 und 1855 in Preussen das Durchschnittsalter der Gestor-
benen, nennt diese Zahl mittlere Lehensdauer und sucht eine Steigerung der-
selben zu beweisen.
Wappäus (Allg. Bev.-Stat.) nennt gleichfalls das Durchschnittsalter der
Gestorbenen „mittlere Lebensdauer", indem er für die eigentliche mittlere Lebens-
dauer deu Ausdruck Vitalität gebraucht, unter mittlerer Lebensdauer aber hat
man immer eine auf Grund einer Mortalitatstafel berechnete Zahl rerstanden;
einen anderen Begriff unter diesen Ausdruck zu bringen, ist eine Versündigung
au einem alten und guten Sprachgebrauch.
§. 116. Besnltate.
Es sind demnach eine Reihe von Werthen, welche sämmtlich in
gewissem Grade als verwandte Ausdrücke der Kraft des menschlichen
Lebens dienen und, wie nachstehende Tabelle *) zeigt, innerhalb gewisser
Grenzen sich bewegen.
In
2 2
> ^ *. 2
'S «•
I
I
^'s-
5
C5
U (O ^
S
I
* w >►
^
Preussen
Dänemark .
Schweden .
England . .
Niederlande
Belgien . .
Frankreich
37,46
44,05
42,31
40,86
37,27
38,92
40,07
41,2
52,6
49,5
45,4
39,2
41,6
44,2
27,50
27,85
27,66
?
27,76
28,68
31,06
31,10
40,49
40,66
36,92
34,72
38,35
40,36
26,50
32,28
32,39
30,06
30,00
34,35
37,16
35,70
48,71
48,94
33,79
39,45
42,36
43,56
Diese Zahlen kreisen sämmtlich um einen gewissen Mittelpunkt.
Dass derselbe vorhanden ist, muss auch dem Laien auffallen. Es ist
möglich, mit Hilfe genauer Absterbetafeln jede dieser Zahlen vollkommen
genau zu bestimmen. Aber es bleiben diese Zahlen nicht immer die
gleichen. Nur wenn sich eine Bevölkerung in vollständigem Beharrungs-
Resultate. 207
zustande befände, so dass die Todten sich Jahr für Jahr gleichmässig auf
die verschiedenen Altersclassen vertheilten und die dadurch gebildeten
Verhältnisse der Altersclassen nicht durch Ein- und Auswanderungen ge-
stört würden; dann würden mittlere Lebensdauer der Neugeborenen, Ge-
burts- und Sterblichkeitsziffer, Durchschnittsalter der Gestorbenen gleich
sein; nicht aber auch das Durchschnittsalter der Lebenden. (Zillmer.)
Da aber eine stationäre Bevölkerung nicht existirt, sondern bei
jedem wirklichen Volke in all diesen Beziehungen fortwährend grössere
oder kleinere Veränderungen eintreten, so verändern sich auch diese Zahlen,
und zwar nicht in gleicher Proportion. Daher können diese Werthe nie
für einander gesetzt oder von einem sichere Schlüsse auf die anderen ge-
zogen werden.
Als Maass der Kraft des Menschenlebens aber sind all diese Zahlen,
allerdings einige mehr, andere weniger, von hoher praktischer Bedeutung,
und zwar in dreifacher Richtung:
I. Ist die Kenntniss dieser Werthe nothwendig zur Entwerfimg von
Plänen für die auf die menschliche Sterblichkeit gegründeten Versiche-
rungsanstalten: Witwen- und Waisencassen, Lebens- und Rentenversi-
cherungsanstalten, Tontinen etc. Solche Anstalten sind nur dann wirth-
schaftlich wohlthätig, wenn sie keine Leistungen versprechen, die nicht
gehalten werden können oder die Anstalten ruiniren, und wenn zugleich
Diejenigen, welche die Anstalt benützen, nicht zu viel leisten müssen,
gegenüber dem, was die Anstalt ihnen bietet.
Damit diese beiden Erfordernisse erfüllt werden können, müssen die
Leistungen oder Beiträge der einzelnen Theilnehmer zu den ihnen zu ge-
währenden Zahlungen richtig bestinunt sein. Es muss das Gesetz bekannt
sein, nach welchem die Mitglieder solcher Anstalten absterben. Dazu sind
genaue Mortalitätstafeln nothwendig. Die Statistik hat aber nur die That-
sachen, welche sie hinsichtlich der menschlichen Lebensdauer beobachtet
hat, anzugeben. Die praktische Verwerthung dieser Thatsachen auf dem
Wege der Wahrscheinlichkeitsrechnung gehört nicht mehr in ihr Gebiet.
U. Dienen sie, und zwar namentlich die mittlere Lebensdauer und
die Sterblichkeitsziffer, zur Beurtheilung der Volkszustände. Hohe mittlere
Lebensdauer, geringe Sterblichkeit sind immer, hohes Durchschnittsalter
der Gestorbenen sowohl als der Lebenden und starke Geburtenfrequenz
wenigstens unter Umständen ein Glück. Sie zeigen an, wie weit es bei
den verschiedenen Völkern und Volkstheilen der menschlichen Fürsorge,
der fortschreitenden Civilisation, der ärztlichen Kunst und der Sanitäts-
polizei gelungen ist, die das menschliche Leben bedrohenden Todesur-
sachen entweder von vorneherein zu beseitigen oder wenigstens ihre Kraft
abzuschwächen, und die zur Förderung aller, selbst der höchsten Ziele des
208 RosulUte.
Menschengeschlechtes wichtigste Grundlage zu erhalten und zu festigen.
Es wäre sehr traurig, wenn es der Menschheit nicht gelingen sollte, die
Grenzen ihres Lebens weiter hinauszurücken. Denn auch die Aufgaben
unseres Lebens werden immer grössere. Unsere Jahre sind zu wenig ge-
worden gegenüber dem, was wir in diesen Jahren schaffen sollen. Jetzt
schon bringt der gebildete Europäer seine fünfundzwanzig ersten Lebens-
jahre damit zu, blos zu lernen; bei einer mittleren Lebensdauer von 40
Jahren bleiben ihm nur 15 Jahre, um das Gelernte im Dienste der
Menschheit zu verwerthen. Die geistigen Schätze, die sittliche und die
civilisatorische Kraft, welche das herzlose harte Naturgesetz bei einer
mittleren Lebensdauer von 40 Jahren dem Menschengeschlechte raubt,
wachsen ins Riesenhafte. Dem wandelnden Fleischklumpen gegenüber, als
welcher der Mensch der Vorzeit sich uns präsentirt, steht der Mensch der
Gegenwart als ein Geist, der in schmerzlichem Unwillen seine Thätigkeit
an eine armselige Maschine gefesselt sieht, die zusammenbricht, wenn er
ihrer am nothwendigsten bedarf. Der Mensch ist längst grösser geworden
als die Natur, der er entwuchs, und das Gesetz der mittleren Lebens-
dauer ist die Fessel, die einen Sklaven umspannt, welcher edler ist und
weiser als sein Tyrann.
HL Ist die Kenntniss der Lebensdauer für jeden einzelnen Menschen
insofeme von höchster Bedeutung, als sie bei der Anlage aller Lebens-
pläne, bei den wichtigsten Handlungen des Menschen mit in Berechnung
gezogen werden^ sollte.
Die Berufswahl, die Begründung eines Familienstandes, die Unter-
nehmung weit in die Zukunft reichender Arbeiten: das sind lauter Hand-
lungen, bei welchen die mittlere Lebensdauer berücksichtigt werden sollte.
Dies wird indessen kaum jemals geschehen.
Der Mensch handelt nicht nur unter Berücksichtigung der Gesetze
der Statistik, sondern er handelt im Lichte der Hoffnung. Er macht die
Pläne nicht für ein Leben von der durchschnittlichen Dauer des Men-
schenlebens, sondern für ein Leben von der höchsten möglichen Dauer.
Insofeme trägt freilich der sorgsame Hausvater den statistischen Gesetzen
Rechnung, als er, wenn er seiner Familie kein Vermögen hinterlassen
kann, Einzahlungen in Lebensversicherungen, Witwen- und Waisencassen
macht. Aber weiter geht die Berücksichtigung der mittleren Lebens-
dauer nicht.
Würde jeder Mensch die Erfahrungen der Statistik hinsichtlich der
menschlichen Lebensdauer kennen und würde er sich jederzeit vor Augen
halten, wie kurz das menschliche Leben durchschnittlich ist: Manches
würde anders sein. Man würde intensivere Lebensthätigkeit entwickeln als
jetzt. Es ist ein grosser Unterschied, ob man den Tod mit dem fünfund-
Der Aufbau der Altersclassen Oberhaupt. 209
vierzigsten oder ob man ihn mit dem achtzigsten Jahre erwartet. Der
Eine würde noch mehr arbeiten, als er ohnedies arbeitet, der Andere
noch mehr geniessen, als er geniesst; der Eine würde zum Geizhals, der
Andere zum Verschwender. Mancher würde sich besinnen, einen Beruf zu
wählen, der erst mit dem dreissigsten Lebensjahre Früchte trägt, mancher
Andere sich verzehren in der Hast, dies kurze Dasein so gross als möglich
zu machen, und Manchem würde das Lächeln seines neugeborenen Sohnes
nur Furchen der Sorge in die Stime graben — wenn das Gesetz der
Lebensdauer jederzeit mahnend vor seinem Gedanken stände.
Es ist nicht menschlich, immerdar an die erfahrungsmässige Nähe
des Todes zu denken. Wohl ist dem Menschen die Kraft gegeben, den
Gedanken an frahen Tod ertragen zu können; der frischen Jugend
namentlich erscheint der Tod der Altersschwäche gar nicht wünschens-
werth. Aber je mehr der Mensch mitten in dem Glücke des Daseins steht,
desto schattenhafter wird das düstere statistische Gesetz — reich und voll
liegt das Leben vor ihm. Des Herzens Sehnsucht und der Hoffnung Stimme
sind mächtiger als die dürre Ziffer der Wahrscheinlichkeit. Niemals sündigt
der Mensch ärger gegen die Naturgesetze, als dann, wenn er die Bahn
seines Lebens beschreitet, ohne an dessen mittlere Dauer zu denken; aber
auch niemals ist diese Sünde schöner, niemals leichter verzeihlich als hier.
Denn dieselbe Hoffnung, die den Menschen gegen dies Naturgesetz sün-
digen lässt, lässt ihn auch ohne Berücksichtigung der eigenen Schwäche
seine grössten Thaten vollbringen.
Anmerkung.
*) Zu dieser Tabelle muss bemerkt werden, dass auch hier die Todtge-
borenen überall ausser Berücksichtigung gelassen wurden. Die Zahlen der
Spalten 1 und 2 sind der im §. 109 genannten Quelle entnommen. Die Zahlen
der Spalten 3 — 6 dagegen wurden absichtlich nicht aus der. neuesten Zeit ge-
sucht, sondern, um in der Zeit mehr denen der 1. und t. Spalte zu entsprechen,
fast sämmtlich (mit Ausnahme der Angabe für Preussen in der dritten Spalte)
aus Wappäus allg. Bevölkerungsstatistik I. 150, 160; II. 5, 76 entnommen.
II. Capitel.
Die Bevölkerung nacli Altersclassen,
§. 117. Der Aufbau der Altersclassen überhaupt.
Durch die heutigen Volkszählungen, welche bei jeder gezählten
Person das Alters- oder Geburtsjahr constatiren lassen, wird das Ziffern-
material für die Vertheilung der Bevölkerung nach Altersclassen gewonnen.
Haqshofer, Statistik. 2. Aufl. 14
210 I^er Aufbau der AlterBclassen aberhaupt.
Dass die höchsten Altersclassen am geringsten, die niedrigsten am stärksten
besetzt sind, ist eine Thatsache, die auch der unsystematischen Beob-
achtung bekannt ist. Aber in welchem Maasse sich die Besetzung der ver-
schiedenen Altersclassen verringert, je höher man in der Reihe der Jahre
hinansteigt: das kann nur die Statistik untersuchen.
Veranlassung hiezu ist auch gegeben. Denn man kann nicht an eine
Betrachtung der Sterblichkeit oder der menschlichen Lebensdauer denken,
ohne auf den Altersaufbau der Bevölkerung aufmerksam zu werden.
Die durch die Volkszählungen erhobenen Altersangaben liefern zu-
nächst eine Reihe von absoluten Zahlen, indem sie angeben, wie Viele
im 1., 2., 3. Lebensjahre u. s. f. sich befinden, bis zum hundertsten und
darüber. Die so gefundene Zahlenreihe, welche ungefähr 100 einzelne
Glieder enthalten wird, muss jedoch, da sie nicht übersichtlich ist, auf
relative Zahlen reducirt werden, indem man angibt, wie Viele von 0 — 1,
von 1 — 2 Jahr etc. auf je 100 oder 1000 Lebende treffen. Erst aus diesen
relativen Ziffern können weitere Ergebnisse abgeleitet werden.
Den wichtigen Unterschied zwischen der Quantität und der Qualität
der verlebten Jahre hat zuerst Quetelet betont. Man muss unproductive
und productive Lebensjahre unterscheiden. In den unproductiven
Jahren nützt der Mensch nicht nur nichts, sondern kostet. Quetelet be-
rechnet diese Kosten bis zu erlangter Productivität auf 1000 Fran.cs,
Engel auf 40 Thlr. jährlich. In seinen unproductiven Jahren wird also
der Mensch Schuldner seiner Familie und seines Volkes; in den productiven
Jahren muss er diese Schuld bezahlen.
Man unterscheidet demnach für jede Generation:
I. Jene Personen, welche in der Zeit der Unproductivität, d. h. vor
dem 15. Lebensjahre sterben. Sie schädigen das Glück und den Reich-
thum des Volkes; mit ihnen sterben Hoffnungen und Berechtigungen.
Wünschenswerth ist, dass ihre Zahl möglichst klein, ihre Lebensdauer
möglichst kurz sei. Je rascher sie wegsterben, desto weniger haben sie
gekostet, desto weniger Hoffnungen sterben mit ihnen, desto weniger ver-
lieren Volk und Familie an ihnen.
Tl. Jene, welche in der Zeit der Productivität, d. h. vom 15. bis
zum 70. Lebensjahre sterben. Je länger ihre Lebensdauer, desto besser
ist es.
TU. Die Personen über 70 Jahre. Auch sie treten wieder in unpro-
ductive Jahre. Ihr Tod ist kein Verlust mehr. Ihrer geringen Zahl wegen
sind aber auch ihre unproductiven Jahre nur von geringer Bedeutung för
das Volks wohl.
Man kann berechnen, wie viel ein Volk und Staat an den Gestor-
benen jedes Jahres verliert.
OertHclie Verschiedenheiten. 211
I. Bei der unproductiven Bevölkerung unter 15 Jahren verliert das
Volk für jeden Todesfall die aufgewendeten Erziehungskosten.
Der Verlust ist also hier um so grösser, je älter die Person ist;
gleich den Kosten des jährlichen Unterhaltes, multiplicirt mit der Zahl
der Lebensjahre.
IT. Bei der productiven Bevölkerung von 15 bis 70 Jahren entgeht
durch jeden Todesfall dem Volksvermögen so viel, als der Betreffende bis
zur Zeit der vollendeten Productivität über seinen eigenen Unterhalt hin-
aus erworben hätte. In rein materieller Beziehung ist demnach der Ver-
lust um so grösser, je jünger die Person.
III. An der unproductiven Bevölkerung über 70 Jahre verliert das
Volk nichts mehr.
Die socialen Verluste gestalten sich freilich etwas anders als die
ökonomischen. So verliert ein Volk mehr an einem 30jährigen als an
einem 15jährigen Manne, wenn ersterer Familienvater ist.
Es ist auch in einzelnen Fällen sehr möglich, dass der Tod eines
Siebzigjährigen ein grösserer Verlust ist, als der eines Zwanzigjährigen.
Dieser Unterschied in der Qualität der Lebensjahre lässt die Ver-
theilung der Bevölkerung auf die verschiedenen Altersclassen
als ein wichtiges statistisches Object erscheinen. In den statistischen Er-
hebungen der verschiedenen Staaten war indessen lange in dieser Bezie-
hung so wenig System und Regelmässigkeit, dass Vergleichungen sehr
erschwert waren.
Eigentlich sollte man die Vertheilung der Bevölkerung auf jedes
Altersjahr von der Geburt bis zum hundertsten Lebensjahre und darüber
kennen. Wo dies nicht der Fall ist, ist es schon von Werth, wenn
wenigstens die Vertheilung nach Altersclassen von 5 — 10 Jahren bekannt ist.
Die älteren Untersuchungen von Wappäus für eine grössere Zahl
europäischer Länder ergaben, dass in unseren Staaten über ein Dritttheil
der BevölkeiTing aus Individuen bis zum 15. Lebensjahre besteht (33,66 51^).
Ein Zehntheil (9,72 J^) kommt auf die Altersclasse von 15 — 20 Jahren.
Nicht ganz die Hälfte kommt auf die Zeit voller Kraft und Thätigkeit
(48,88 91^) zwischen 20 und 60 Jahren. Auf die Altersclasse von 60 — 70,
wo die Kraft meist schon abnimmt, fällt ein Zwanzigstel (4,»2jl^) und auf
die Zeit des höchsten unproductiven Alters ein Vierzigste (2,8ij|^).
§. 118. Oertliche Verschiedenheiten.
Bei einer Vergleichung der Vertheilung der Bevölkerung nach Al-
tersclassen zeigen sich merkliche Unterschiede für die verschiedenen
Staaten. Ein solcher Unterschied besteht namentlich zwischen Europa und
Amerika.
14*
212 Oertliche Verschiedenheiten.
Offenbar ist jener Staat in dieser Beziehung besonders glücklich zu
nennen, in welchem die thatenkräftigste Altersclasse, d. i. die von 30 — 40
Jahren am besten besetzt ist. Von 1000 Lebenden treffen auf diese Al-
tersclasse in der Schweiz und in Ungarn 141, in Frankreich 139, in
Oesterreich 138, in den Niederlanden 135, im Deutschen Reiche und in
Italien 134, dagegen in Irland blos 103 *).
Uebrigens zeigt sich in allen beobachteten Staaten, dass die jüng-
sten Altersclassen am stärksten besetzt sind und dass von da fortdauernd
und regelmässig, anfangs langsam, dann immer stärker diese Besetzung
abnimmt, weshalb man auch behauptet hat, dass sich die Kraft der Be-
völkerung in den verschiedenen Staaten umgekehrt wie die Proportion der
jüngsten Altersclasse verhält.
Die Alterclassen der unproductiven Jugend von 0 — 15 Jahren sind
jenseits des Oceans weit stärker besetzt, als in Europa. So treffen unter
1000 Lebenden auf das Alter bis zu 15 Jahren: *)
in Canada (1861) 429
„ den Ver. Staaten . . (1871) 387
im Deutschen Reiche . (1875) 348
in England und Wales . (1871) 361
in Oesterreich .... (1869) 437
„ Ungarn „ 370
„ Italien (1870) 324
„ Frankreich , . . . . (1872) 271
Die Altersclasse der unproductiven Jugend beträgt in den wichtig-
sten Ländern meist über Ys der Gesammtbevölkerung, in ganz Europa
dürfte sie etwas geringer sich stellen.
Dagegen ist die Zahl der im unproductiven Greisenalter (über 70
Jahre) Befindlichen verhältnissmässig unbedeutend. Sie beträgt in Deutsch-
land 24, in Oesten'eich 18, in England und Wales 27, in Italien 30, der
Schweiz 28, in Frankreich 43 Promille. Frankreich zeichnet sich unter
allen Ländern aus durch einen auffallend geringen Procentsatz an Kindern
und durch einen auffallend starken Procentsatz an Greisen.
Als Massstab für die Kraft der Bevölkerung dürfen indessen diese
Unterschiede nicht überschätzt werden.
So gibt es manche Staaten, deren kräftigste Bevölkerung häufig
im auswärtigen Handel., in der Seefahrt ihren Erwerb findet oder auch
anderwärts im Auslande Verdienst sucht, um dann mit den Ersparnissen
heimzukehren. Ermittelt man in ihrer Abwesenheit die factische Bevöl-
kerung, so fallen sie aus der Rechnung und es erscheinen dann ihre Al-
tersclassen schwächer besetzt, als sie in Wirklichkeit sind.
Anmerkung.
*) Tabelle über den Altersaufbau der Bevölkerung in den wichtigsten
Staaten. Von jedem Tausend Lebender stehen im Altei* yon:
Einfluss der Oeburtenfreqaenz ond der Sterblichkeit.
213
= i :
Deutsches Rdch (1^75)
Eiigrlinid . . . * (lÖ7n
Sf?Uottlftud , ♦ , ^
Irland . , . . , ^
Dänemark . . . |1H7U)
Norwegen . . . | i 8t>äJ
Scliwedt'ii . , , {lS7n)
OesteiTeicli . . . i ISO**)
Ungarn .... ^
ttaÜen (1870)
St'tiweiz * . , * „
Frankreich . . , ( J87:ä|
Belgien . . . > (i«66)
Niederlande . . (186^1
DürchBeknitt
Verein, Statiten . (1871)
C&nada . . , . {\%%\)
SäniDitL ohige Staaten *
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(Nach Block-v. Scheel: Handbuch d. Statistik S. 236.)
§. 119. Einfluss der Geburtenfrequenz und der Sterblichkeit.
Offenbar muss auf die Vertheilung der Bevölkerung nach Alters-
classen die Geburtenziffer hervorragenden Einfluss nehmen. Denn je grös-
ser die Zahl der jährlich Neugeborenen gegenüber jener der Lebenden ist:
desto grösser muss auch die Zahl der Angehörigen jugendlicher Alters-
classen gegenüber denen des höheren Alters sein.
Eine Vergleichung der Länder nach der Vertheilung ihrer Bevöl-
kerung auf die verschiedenen Altereclassen einerseits und nach der Ge-
burtenziffer andererseits zeigt diesen Einfluss der letzteren ganz deut-
lich. So ist besonders auffallend die geringe Besetzung der jugendlichsten
Alter in Frankreich bei gleichzeitiger ausserordentlich geringer Geburten-
frequenz, sowie andererseits die Länder mit starker Geburtenfrequenz
auch die stärkste Besetzung der jugendlichen Alter aufweisen.
Neben der Geburtenfrequenz wirkt aber auch die Sterblichkeit, und
zwar besonders die verschiedene Sterblichkeit der verschiedenen Lebens-
alter auf die Vertheilung der Bevölkening nach Altersclasscn.
So zeigt sich z. B. im ganzen Deutschen Reiche, dass 347 Pro-
. mille der Bevölkerung Kinder unter 15 J. sind. Wenn nun in den deut-
schen Ländern (abgesehen von Hamburg) die altbayerischen Provinzen
214 Dfts Oeeclilecht.
die geringste Besetzung dieses Alters anweisen (303 Promille), so ist
dies nicht etwa der GeburtenzilBfer, sondern einer auffallend starken Kin-
dersterblichkeit zuzuschreiben. Alles, was auf die Sterblichkeit der Bevöl-
kerung einwirkt, muss demnach auch einen Einfluss auf die Vertheilung
nach Altersclassen ausüben. Einen bedeutenden Einfluss auf die Sterb-
lichkeit und demnach auch auf die Vertheilung der Bevölkerung nach
Altersclassen nimmt gewiss der allgemeine wirthschaftliche und sittliche
Volkszustand.
Einzelne vorübergehende Ereignisse, welche mächtig auf die Sterb-
lichkeit gewisser Altersclassen einwirken, lassen, sich in diesen Wirkun-
gen lange Zeit hindurch verfolgen.
So beobachtete man in Preussen die Nachwirkung der Feldzüge
von 1813 — 1815. Durch dieselben wurden der Bevölkerung eine grosse
Zahl junger Männer zwischen dem 17. und 25. Lebensjahr entrissen. Sie
gehörten der Altersclasse 1788 — 99 an und diese Altersclasse zeigte sich
noch ein halbes Jahrhundert später auffallend schwach besetzt ^).
In gleicher Weise zeigt Wappäus den Einfluss der Feldzüge des
ersten französischen Kaiserreichs auf die Vertheilung des französischen
Volkes nach Altersclassen. Es ward eine ähnliche Einwirkung sogar bei
der Bevölkerung Dänemarks hinsichtlich des deutsch-dänischen Krieges
von 1848—49 bemerkt«).
Und wie sehr wirthschaftliche Nothstände namentlich den Bestand
der jüngsten Altersclassen angreifen, das zeigte* sich ganz auffallend an
der Bevölkerung Irlands. Aber doch dürften diese Einwirkungen nicht so
unheilvoll sein, als jene der Kriege, welche den besten Theil der Bevöl-
kerung dahinraffen und ihre Kraft für lange Zeit verringern.
Anmerkung.
')') Wappäus: Allg. Bevölkerungsstatistik. IL, S. 54 ff.
III. Capitel.
Andere körperliclie Eigenscliafteii der Be-
völkerung.
I. §. 120. Das Geschlecht.
In civilisirten Staaten, wo die Gesittung auf der Ehe und der Fa-
milie beruht, ist das Gleichgewicht der beiden Geschlechter von
grosser Bedeutung. Denn wenn dieses Gleichgewicht gestört würde, wäre .
jedenfalls die Monogamie, die Grundlage unserer Cultur, erschwert.
Das Geschlecht. 215
Ein allgemeines Naturgesetz strebt darnach, bei den Erwachsenen
stets eine Gleichzahl der beiden Geschlechter herzustellen.
Wie weit die Wirklichkeit diesem Streben entspricht, das könnte
man bei der thatsächlichen Verschiedenheit, die dabei in den verschie-
denen Ländern besteht, vollständig erst dann beurtheilen, wenn man die
Zahl der beiden Geschlechter innerhalb der ganzen Menschheit kennte.
Bis jetzt Hess sich nur constatiren, dass die europäischen Länder einen
Ueberschuss an Weibern aufweisen (1021 Frauen auf 1000 Männer),
während das Verhältniss in den anderen Welttheilen, so weit es ermittelt
ist, umgekehrt ist. In Amerika nämlich treffen auf 1000 Männer nur
980, in Afrika 975, in Asien 943 (?), in Australien 818 Weiber, unter
den 600 Millionen Menschen, deren Geschlecht ermittelt werden konnte,
treffen auf 1000 Männer 985 Weiber *).
Hiebei sind aber folgende Erscheinungen zu beobachten:
I. Es werden überhaupt mehr Knaben als Mädchen geboren.
Und zwar in den europäischen Ländern ungefähr auf je 100 Mädchen
105 oder 106 Knaben.
Bei einzelnen Familien zeigt sich keine Spur dieses Gesetzes. Bei
mehreren zusammenwohnenden Familien tritt dieses Gesetz erst nach
einer Reihe von Jahren hervor, in Städten alle Jahre, bei grossen Völ-
kern sogar jeden Tag.
Dieses Verhältniss ist in den einzelnen Ländern indessen ein ziem-
lich verschiedenes. In ganzen Staaten Europa's erreicht der Ueberschuss
der Knabengeburten nirgends 7^; dagegen beträgt in Griechenland die
Zahl der Knaben geburten blos 94 auf 100 Mädchengeburten ^). Berück-
sichtigt man kleinere Landestheile, so werden die Unterschiede grösser.
Im gesammten Deutschen Reich z. B. beträgt*) die relative Zahl der
Knabengeburten 105,9; dagegen im Lübeck'schen 113,«; in Reuss j. L.
112,3; in Waldeck 108,5; in den 4 südl. Provinzen Bayerns 108,2; in
Schaumburg-Lippe nur 94,7.
Es scheint, dass das Klima keinen Einfluss auf die Gleichzahl der
Geschlechter hat. Zur genauen Feststellung hätte man freilich noch grös-
sere Zahlen von Beobachtungen, namentlich aus Tropengegenden nöthig.
Nach Beobachtungen, die man am Kap der guten Hoffnung in den
Jahren 1813 — 20 gemacht hat, zeigte sich Knabenüberschuss nur bei der
Sklavenbevölkerung, während bei der freien Bevölkerung äusserst regel-
mässig mehr Mädchen als Knaben zur Welt karHen.
Der Aufenthalt in den Städten und auf dem platten Lande scheint
nicht ohne. Einfluss auf das Verhältniss der Geschlechter zu sein, indem
auf dem Lande der Ueberschuss der neugeborenen Knaben über die Mäd-
chen grösser ist, als in der Stadt. So hat u. a. die preussische Provinz
216
Das Geschlecht.
Brandenburg (1878) 107,o Knabengeburten auf 100 Mädchen; Berlin
blos 104,3.
Auch die Legitimität der Geburt ist hier von Einflnss. Bei legitimen
Kindern ist das Ueberwiegen der Knaben stärker als bei illegitimen. Un-
tersuchungen und Erklänmgen dieses Gesetzes sind öfters gemacht worden*).
Den grössten Einfluss aber auf die Ungleichheit der Geschlechter
bei den Geborenen dürfte die Altersverschiedenheit der Eltern haben.
Die hierüber angestellten Beobachtungen, deren Zahl leider noch nicht
vollständig genug ist, haben ergeben, dass in den Geborenen das männ-
liche oder das weibliche Geschlecht vorwiegt, je nachdem von den Eltern
der Vater oder die Mutter mehr Jahre zählt*).
Höchst eigenthümlich aber ist das auffallende Vorwiegen der männ-
lichen Geburten bei den Juden. So war z. B. in Oesterreich im Jahre
1851 das Verhältniss der Knabengeburten bei den Juden wie 121:100;
bei den Christen dagegen nur wie 105,9 : 100. Allerdings sind die Beob-
achtungen noch nicht zahlreich genug, um sichere Schlüsse zuzulassen.
Die Ursachen dieser Erscheinung sind unenträthselt •).
II. Aus der Mehrzahl männlicher Geburten folgt auch ein Ueber-
wiegen der männlichen Jugend über die weibliche in der ersten
Altersclasse der Bevölkerung.
Dieses Uebergewicht wird durch wirkliche Volkszählungen bestätigt.
So kommen Mädchen in der Altersclasse von 0 — 5 Jahren auf je 1000
Knaben ') :
im Deutschen Reich . . (1875) 998
in England und Wales . (1871) 999
„ Schottland .... „ 974
„ Irland „ 970
„ Dänemark (1870) 980
„ Norwegen (1865) 969
„ Schweden ..... (1870) 976
III. Demungeachtet überwiegt in den höheren Altersclassen
die Zahl des weiblichen Geschlechtes so sehr, dass bei der
Gesammtbevölkerung Europa^s regelmässig das weibliche Geschlecht stär-
ker besetzt ist als das männliche. So findet man in den oben ange-
gebenen Ländern und Jahren folgendes Verhältniss der Gesammtbevöl-
kerung ;
auf 1000 Männer kommen Weiber:
in Oesterreich . .
. . (1869) 1010
„ Ungarn . . .
. . „ 1011
„ Italien ....
. .(1870) 971
„ Schweiz . . .
. . „ 1005
„ Frankreich . .
. .(1872) 975
„ Belgien . . .
. . (1866) 995
„ Niederlande
. .(1869) 990
im Deutschen Reich .... 1036
in England und Wales . . . 1054
„ Schottland 1096
„ Irland 1044
in Dänemark 1026
„ Norwegen 1036
„ Schweden 1067
„ Oesterreich ....... 1041
Das GescUecht. 217
in üngara 1002
„ Italien 989
„ der Schweiz 1046
in Frankreich . 1008
„ Belgien ........ 995
„ Niederlandien ; 1029
dagegen in den Ver. Staaten 972, in Canada 939.
Es muss gleich hier darauf hingewiesen werden, dass dieses Ver-
hältniss im Laufe der Zeit bemerkenswerthe Aenderungen erleidet. So
kamen nach einer älteren Tabelle ®)
1851 in Fraukreich
auf 100 Männer 101,i2 Weiber
1851 „ England
n
n
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104,16
w
1851 „ Schottland
w
n
7i
110,02
n
1851 „ Irland
7)
»
n
103,37
n
1849 „ Niederlanden
n
w
•n
103,96
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1846 „ Belgien
n
T)
T)
100,47
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1850 „ Schweden
V)
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n
106,40
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1855 „ Norwegen
n
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104,14
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1850 „ Dänemark
V)
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103,30
n
1^52 „ Preussen
»
n
n
100,42
T)
1850 „ Verein. Staaten
w
»
•n
95,06
•n
In den. europäischen Ländern ist demnach die Ueberzahl der Wei-
ber die Regel. Wie schon oben bemerkt ward, findet jedoch ausserhalb
Europa's das Gegentheil statt.
IV. Die Ursachen dieses Verhältnisses dürften sich wohl in
manchen Fällen erklären lassen, in vielen aber auch unenträthselt bleiben.
Wenn unter den europäischen Staaten insbesondere Italien einen so be-
deutenden üeberschuss an Männern aufweist, so könnte man denselben
wohl aus dem bequemeren Leben der Männer, wenigstens in Unteritalien,
erklären wollen; aber eine Vergleichung des Geschlechtsverhältnisses in-
nerhalb der verschiedenen Provinzen Italiens spricht dagegen.
Geht man überhaupt auf provinziale Unterschiede ein, so finden
sich leichter Erklärungen. So lührt wohl die Minderzahl der Frauen in
den preussischen Provinzen * Westfalen (95,9:100 Männer) und Rhein-
land (98,« : 100) vom Charakter der dortigen Industiie (Eisen und Kohlen)
her, welche überwiegend männliche Arbeitskräfte beansprucht.
Auf den Unterschied, welcher in dieser Hinsicht zwischen den europäi-
schen Ländern und Nordamerika besteht, ist die Auswanderung von Einfluss.
Sieht man die Gleichzahl der Geschlechter als eine nothwendige
Bedingung der Familie an, so erscheint wohl als besonders wichtig das
Verhältniss zwischen denjenigen Männern und Frauen, welche im Alter
der Ehemündigkeit sich befinden. Nimmt man dieses Alter bei Männern
zu 20 Jahren, bei Frauen zu 16 J. an, so ergibt sich z. B. im Deutschen
Reich eine Bevölkerung von 11,2 Mill. ehemündigen Männern gegenüber
13,4 Mill. ehemündigen Frauen; oder ein Üeberschuss von über 2*/^
218
Das Geschlecht.
lÄill. ehemündiger Frauen, welche, selbst wenn alle Männer über 20 J.
verheiratet wären, nothwendig im Cölibat leben müssten.
Die üeberzahl der Weiber in den meisten Ländern rührt von
der grösseren Sterblichkeit der Männer her, welche sich ihrerseits wieder
ans der in der zarten Jugend besonders empfindlichen Organisation, aus
der anstrengenderen Beschäftigung, den öfteren Excessen und dem Mili-
tärdienste der Männer erklärt.
Man kann nicht annehmen, dass die Kriege, der Seedienst und die
lebensgefährlichen Arbeiten allein die grössere Sterblichkeit der Männer
verursachen, denn diese Sterblichkeit zeigt sich ja schon bei den kleinen
Knaben, welche jenen Gefahren nicht ausgesetzt sind. Es scheint vielmehr
ein gewisses Gewicht auf die Unterschiede des männlichen und des weib-
lichen Organismus als wesentliche Ursache gelegt werden zu müssen.
Diesem Unterschiede, daneben freilich auch der Berufsthätigkeit und dem
socialen Leben des männlichen Geschlechts ist es zuzuschreiben, wenn
das ursprüngliche Uebergewicht der Männer durch ihr rascheres Abster-
ben um das 15. — 20. Jahr (in den europäischen Ländern) aufhört und
in das Gegentheil umschlägt, und zwar so sehr umschlägt, dass die Zahl
der Greisinnen über 90 Jahre in einzelnen Ländern mehr als doppelt so
gross wird, als jene der gleichalterigen Greise.
Aumerkuiigeu.
*) G. Mayr: Gesetzmässigkeit etc. S. 129.
*) Allzahl der mäunlichen Kiuder, welche auf je 100 weibliche gebo-
ren werden:
Länder
Zeit
Knaben-
geburten
Länder
Zeit
Knaben-
geburten
Italien . . . • .
Frankreich . . .
England u. Wales
Schottland . . .
Irland
Deutsches Reich
Preussen ....
Bayern ....
Sachsen ....
Thüringen . . .
Württemberg . .
Baden . . . . •
Oesterr. (diesseits)
Ungarn ....
1865-78
1866—77
1865-78
1865—75
1865-78
1862—78
1865—78
1865-78
1865—78
1873-78
1865-78
1866-78
1865-78
1866—77
104
103
104
106
106
104
104
103
105
105
102
103
106
104
Croatien-Slaronien
Schweiz
Belgien
Niederlande . . .
Schweden . . . .
Norwegen . . . .
Dänemark . . . .
Finland
Spanien
Griechenland . .
Rumänien . . . .
Serbien
Europ. Russland .
1874-78
1872-78
1865-78
1865-77
1865-78
1865-76
1865-78
1865—78
1865-70
1870—77
1870-77
1865-78
1867—74
104
99
102
102
106
106
104
103
104
94
105
111
105
(Nach der wiederholt citirten italienischen Publication: Morimento dello
§tato cirile 1862—78, p. CXXVI.)
Entwickelnng des menschlichen Wuchses. 219
•) Jahrbuch f. 1880, S. 17.
*) Quetelet: Physique sociale, p. 169.
^) Ebenda.
•) Vgl. Quetelet-Riecke. p. 55.
^) Band XIV, 2. S. VI. 167 der Statistik des Deutschen Reiches und
Monatshefte zur Statistik des Deutschen Reiches. Aprilheft 1878, S. 38.
") Wappäus, a. a. 0. IL, S. 182.
§. 121. Entwickelnng des menschlichen Wnchses.
Indem wir uns der Betrachtung einiger anderer körperlicher Eigen-
schaften des Menschen zuwenden, betreten wir das Gebiet der sogen,
somatologischen Statistik. Dieses Gebiet wird durch mehrere charakte-
ristische Eigenthümlichkeiten von anderen Gebieten der Statistik ausge-
schieden. Die somatologischen Beobachtungen umfassen nämlich gewöhnlich
nicht die ganze Bevölkerung, sondern nur einen Theil derselben: jenen
Theil, welcher sich gerade in solchen Umständen befindet, die eine Beob-,
achtung ermöglichen. An Sicherheit und Zuverlässigkeit stehen daher diese
Beobachtungen weit gegen die bisher behandelten zurück.
Häufig sind auch die Beobachtungen keine amtlichen, sondern blos
private. Es lässt sich bei manchen derselben erkennen, wie sie erst all-
mälig Massenbeobachtungen systematischer Art werden.
Dagegen können häufig die somatologischen Beobachtungen, auch
wenn sie in verhältnissmässig geringer Zahl angestellt werden, schon zu
beachten swerthen Resultaten führen, zu Resultaten, die auch gewöhnlich von
dauerndem Werthe sind, weil sich die KörperbeschafFenheit der Menschheit
jedenfalls nur sehr langsam ändern kann.
Heute noch ist auf diesem Gebiete Quetelet's berühmtes Werk nicht
allein das bahnbrechende, sondern auch dasjenige, welches den Stofi* am
vielseitigsten und am geistvollsten behandelt.
Was zunächst speciell die Entwickelnng des menschlichen Wuchses
betrifft, so sind hiebei als die wichtigsten der beobachteten Erscheinungen
hervorzuheben:
I. Die Entwickelnng des Wuchses in den verschiedenen
Lebensaltern*). Sie ist von der Physiologie schon vor der Geburt des
Menschen beobachtet worden, und zeigt in ihrer weiteren Verfolgung, wie der
menschliche Körper bei beiden Geschlechtern anfangs mit fast gleicher Ge-
schwindigkeit zunimmt und erst vom 4. Lebensjahre an bemerklichere und stets
zunehmende Unterschiede im Wachsthum der Geschlechter sich ergeben. Die
allmälige Abnahme des Wachsthums ist keineswegs eine gleichförmige.
Das Wachsthum des Menschen scheint später zu enden, als man
gewöhnlich annimmt; es dürfte am Schlüsse des fünfundzwanzigsten Jahres
noch nicht ganz beendigt sein.
220 Entwickelung des menschlichen Wuchses.
Auf das Wachsthum machen sich noch verschiedene Einflüsse geltend.
Bei Gefangenen bleibt seine Entwickelung hinter jener der Freien bedeu-
tend zurück. Ganz auffallend bleibt das Wachsthum der in den Fabriken
arbeitenden Kinder zurück hinter dem jener Kinder, die nicht in Fabriken
arbeiten. In sehr heissem und sehr kaltem Klima endet das Wachsthum
rascher, als im gemässigten Klima.
Vom fünfzigsten Lebensjahre an werden die Menschen beider Ge-
schlechter kleiner. Dieses Kleinerwerden wird immer bemerkbarer und
kann bis zum 80. Lebensjahre 6 — 7 Centimeter betragen.
n. Die Unterschiede des vollendeten Wuchses. Auf diese
Unterschiede musste schon die unsystematische Beobachtung aufiAerksam
werden, da die unterschiedliche Köi-perlänge der Völkerstämme eine zu
auffallende Thatsache ist. Wirkliche Messungen können jedoch, namentlich
bei aussereuropäischen Völkern, immer nur einen sehr kleinen Theil der
Gesammtbevölkerung umfassen. Immerhin sind die gewonnenen Resultate
sicher genug, um zu Betrachtungen über die möglichen Ursachen solcher
Verschiedenheiten zu veranlassen. Es handelt sich nämlich hier um eine
Erscheinung, die in hohem Grade typisch genannt werden darf.
Am werth vollsten sind natürlich jene Messungen, welche bei der
Recrutirung vorgenommen werden und daher einen beträchtlichen Theil
der männlichen Bevölkerung umfassen und auch durch ihre jährliche
Wiederholung an Sicherheit gewinnen.
Die Unterschiede des Wuchses, welche man bei verschiedenen Volks-
stämmen beobachtet hat, dürften einestheils auf den Verschiedenheiten
der Lebensweise, andemtheils auf uralten Stammeseigenthümlichkeiten
beruhen -).
Der Unterschied von städtischem und ländlichem Aufenthalt ist nicht
gleichgiltig für die Entwickelung des Wuchses. Vielmehr haben Villerme
und Quetelet gezeigt, dass der Städter im Allgemeinen grösser ist, als der
Landbewohner. Der Wuchs des Menschen wird nicht nur erhöht, sondern
auch beschleunigt durch Wohlstand, gute Kleidung, Wohnung und Nahrung,
durch geringe Anstrengungen, namentlich in der Kindheit.
Anmerkungen.
•) Die Entwickelung des menschlichen Wuchses stellte Quetelet in einer
Tabelle nach einer Reihe von Beobachtungen, die in Schulen, Waisenhäusern
etc. gemacht worden, dar. Nach dieseu Beobachtungen wächst die durchschnitt-
liche Grösse des Menschen in folgendem Maasse:
Das Gewicht des Menschen.
221
Alter
Bei der Geburt
i Jahr
2 Jahre
3 r,
4 «
5 r,
6 „
t r,
8 «
10
11
12
13
14 «
15 „
16 „
17 r,
18 „
19 „
80 „
Vollendetes Wachsthum
Kuabeii
Mädchen
0,500 Meter
0,698 „
0,796 r,
0,867 „
0,930 r,
0,986 „
1,046 „
1,160
1,221
1,280
1,834
1,384
1,431
1,489
1,649
1,600
1,640
1,666
1,684
0,490 Meter
0,780
n
0,863
w
0,913
n
0,978
n
1,036
V
1,091
T)
1,154
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1,205
7i
1,256
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1,286
n
1,340
n
1,417
n
1,475
r)
1,496
r)
1,518
r>
1,553
n
1,664
r>
1,670
r>
1,574
r>
1,579
Vi
162
*) Nach A. Weis b ach (im anthropologischen Theile der Novara-Reise)
beträgt die durchschnittliche Körperlänge (in Centimetern) der:
Patagonier 178-180
Schwaben \
Kaffern 179
Polynesier )
Tscherkesseu 173
Engländer 169—171
Deutsch-Oesterreicher .... 166—168
Neger 165-168
Nordfranzosen 166
Bayern 164
Südfranzosen i
Chinesen
163
Australier
Amboinesen i
Timoresen (
Malayeu y. Malakka
Andamanen
Acka
Lappen 138—150
Obongo 133—152
Semangs 142—145
Buschmänner 130—137
Eskimos • . . . 130
159
157
156
150
§. 122. Das Oewicht des Menschen.
Auch mit dem mittleren Gewicht des Menschen und dem Verhält-
niss desselben zur Entwickelung des Wuchses hat die medicinische Statistik
sich beschäftigt.
Während das mittlere Gewicht des Mannes durchgehends grösser
ist, als das des Weibes, zeigen um das Alter von 12 Jahren die Personen
222 Entwickelang der Muskelkraft.
beiderlei Geschlechts dasselbe mittlere Gewicht: (die Beobachtungen sind
aus Frankreich und Belgien).
Das Maximum seines Gewichtes erreicht der Mann um das vierzigste
Lebensjahr. Mit dem sechzigsten fangt das Gewicht zu schwinden an und
nimmt bis zum achtzigsten um ungefähr 6 Kilogramm ab.
Später als der Mann erreicht das Weib sein Gewichtsmaximum und
wiegt am meisten um das fünfzigste Jahr.
Die Extreme des Gewichtes von regelmässig gebauten Individuen
betragen beim männlichen Geschlechte 49,i Kilogr. als Minimum und
98,5 Kilogr. als Maximum, beim weiblichen 39,8 und 93,8 Kilogr.
Beide Geschlechter wiegen zur Zeit ihrer vollkommenen Entwickelung
fast genau zwanzigmal so viel als bei der Geburt. Das mittlere Gewicht
eines Individuums ohne Rücksicht auf Alter und Geschlecht, also das
Durchschnittsgewicht einer ganzen Bevölkerung (Belgien) beträgt 45,7
Kilogramm.
Während der Entwickelung des Menschen kann man annehmen,
dass bei den verschiedenen Altern die Quadrate der Gewichte sich so
verhalten, wie die fünften Potenzen des der Zeit nach entsprechenden
Wuchses.
§. 193. Entwickelung der Muskelkraft ^).
Von weit grösserem Interesse als die Entwickejung von Wuchs und
Gewicht ist die Entwickelung der menschlichen Muskelkraft. Doch ist die
Bestimmung derselben von Instrumenten, sogen. Dynamometern abhängig,
deren Resultate mit grosser Vorsicht zu behandeln sind.
Man hat gefunden, dass der Mann durchschnittlich im Alter von
25—30 Jahren im Besitze seiner vollsten Kraft ist. Da kommt der Druck
seiner beiden Hände einer Kraft von 50 Kilogrammen gleich und er kann
ein Gewicht von 13 Myriagrammen aufheben.
Spätere Beobachtungen haben indessen eine grössere körperliche
Kraft des mittleren Menschen ermittelt, was wohl vom verschiedenen
Gebrauche der Messungsinstrumente herrührt. Die Versuche müssen ausser-
ordentlich zahlreich und mit grosser Sorgfalt angestellt werden, um richtige
Durchschnittsergebnisse zu liefern. Dann aber werden diese Ergebnisse
gewiss zeigen, dass die Kraft des mittleren Menschen sein Gewicht über-
steigt, dass Wohlstand, gute Nahrung und Uebung der Muskelkräfte die-
selbe steigern, während Armuth und übermässige körperliche Arbeit sie .
schwächen.
Auch die Geschwindigkeit, die Beweglichkeit und einige andere
körperliche Eigenschaften des Menschen lassen Messungen zu. Das be-
Ernfthrnng; und W&rme des EOrpers etc. 223
kannteste Beobachtungsobject dieser Art ist die Schnelligkeit und Länge
des Schrittes beim ausgewachsenen Menschen.
Ein mittlerer Fussgänger legt mit jedem Schritte 8 Decimeter zurück.
Er macht in der Minute 125 Schritt und legt in ihr 100 Meter zurück,
in einer Stunde 6 Kilometer. So kann er täglich 87« Stunden marschiren.
Man schätzt einen mittleren Tagmarsch auf 51 Kilometer.
Wenig bekannt ist die mittlere Geschwindigkeit des Menschen beim
Laufe, auch die Höhe und Länge seines Sprunges.
Anmerkung.
*) Nach Quetelet: Phys. soc. II. p. 105 flf.
§. 124. Ernährung und Wärme des Körpers etc.
Die Physiologen haben beobachtet, dass der Körper eines erwachsenen
Menschen nach 24 Stunden bei hinreichender Nahrung weder schwerer
noch leichter geworden ist. Nach Lavoisier's und Menzies' Versuchen
werden von einem erwachsenen Mann im Jahre 7 — 800 Pfund Sauerstoff-
gas aus der Atmosphäre in den Körper aufgenommen, aber nur, um in
anderer Gestalt wieder aus demselben zu treten *). 10 Milliarden Kubik-
meter Luft gehen täglich durch die unersättlichen Lungen der Menschheit *).
Aus der genauen Bestimmung der Kohlenstoffmenge, welche durch
die Speisen in den Körper kommt und derjenigen Formen, in welchen sie.
wieder austritt, ergibt sich, dass ein erwachsener Mann im Zustande
massiger Bewegung täglich 27,8 Loth Kohlenstoff verzehrt.
Andere Beobachtungen, welche gleichfalls noch an das Gebiet der
Statistik hart anstreifen, zum Theile in dasselbe fallen, beziehen sich auf
die Wärme des Körpers. Thiere, welche schnell athmen und daher viel
Sauerstoff verzehren, besitzen höhere Temperatur als andere. Kinder mehr
(39") als Erwachsene (37,5**). In allen Klimaten aber, an den Polen und
am Aequator ist die Temperatur des Menschen die gleiche, ungeachtet
des höchst ungleichen Wärmeverlustes, den der Mensch an diesen ver-
schiedenen Orten erleidet (Liebig).
Anmerkungen.
^) Im Zusammenhange hiemit mögen auch die Beobachtungen erwähnt
werden, welche über die Zahl der Pulsschläge und Athemzüge bei Menschen
verschiedenen Geschlechtes und Alters, im schlafenden und wachen Zustande
gemacht worden sind. Ausser den Arbeiten, welche Quetelet (Phys. soc. II. p.
119 ff.) hierüber mittheilt, möge noch eine neuere Erwähnung finden, die vom
Italien, stat. Bureau publicirt ist (Annali di stat. Ser. 2' — Vol. 8. p. 28 ff.);
und in welcher auch der Einfluss der wichtigsten Berufsunterschiede auf die
Pulsschläge zu prüfen versucht wird.
*) C. Flammarion: L" atmosphere, p. 87.
224 Die Gesundheit.
§. 125. Der Oesichtstypus eto.
Schon in den dreissiger Jahren war der erste Versuch gemacht
worden, ziffermässige Erhebungen über den Gesichtstypus, insbesondere
über die Farbe der Augen und der Haare, mit anderen statistischen Er-
scheinungen in Verbindung zu bringen ^). Die officielle Statistik hat sich
erst in der neuesten Zeit mit diesem Gegenstande beschäftigt.
Im deutschen Reiche sind Erhebungen in den Schulen gepflogen
worden, um die Farbe der Augen, der Haare und der Haut zu ermitteln.
1876 erstreckte sich die Ermittlung schon auf über 5Va Mill. Individuen.
Von denselben wiesen 32, ii.jl^ äen echt germanischen, blondhaarigen,
blauäugigen und hellhäutigen Typus auf, welcher sich auch in der That
im Lande der alten Cherusker concentrirt. Die Erhebungeu, welche in
Bayern hierüber stattgefunden haben, ergaben, dass die städtische Be-
völkerung verhältnissmässig mehr dunkelhaarige und dunkelhäutige zeigt,
als die ländliche. Die Ermittlungen über die Hautfarbe konnten begreif-
licherweise nur zu minder sicheren Resultaten führen *).
Eine noch eingehendere somatische Statistik wurde in Italien ange-
strebt''), wo man ebenfalls die Farbe der Haut angeben Hess; bezüglich
der Augen aber nicht allein die Farbe, sondern auch die Form, und be-
züglich der Haare ausser deren Farbe auch noch ihre übrige Beschaffen-
heit zu ermitteln suchte und endlich die Beobachtungen auch auf den
Bart und die Zähne, sowie auf die Schnelligkeit des Pulses erstreckte,
beim weiblichen Geschlecht auch noch auf das durchschnittliche Alter der
eintretenden Geschlechtsreife etc. Erhebungen letztgenannter Art sind auch
in Deutschland, Russland, Frankreich, England etc. gemacht worden.
Aumerkuiigeu.
*) Voll Pareut-Duchatelet.
*) G. Mayr: Gesetzmässigkeit etc. S. 212 ff.
») Anuali, Serie TT*, Vol. 8.
§. 126. i)ie Oesundheit.
Eine der wichtigsten Eigenschaften der Bevölkerung ist ihre Ge-
sundheit. Die Aufgabe, welche der Statistik in dieser Hinsicht gestellt
ist, ist eine so reich gegliederte, das Material ein so massenhaftes und
seine Beurtheilung erfordert solche medicinische Kenntnisse, dass dieser
Zweig der Statistik unter dem Namen der medicinischen seine gesonderte
Ausbildung und (namentlich in dem Handbuche der medicinischen Statistik
von Fr. Oesterlen) seine classische Literatur gefunden hat.
Die Gesundheit der Bevölkerung hat ihren Ausdruck und ihr Maass
in ihrer Negation, d. h. in den Krankheiten, und die medicinische Statistik
soll , ähnlich wie Barometer und Thermometer über die Witterung Aus-
Die Gesundheit. 225
kunft geben, durch ihre Zahlen den Gesundheits- und Kmnkheitszustand
jedes Tages, jeder Woche, jedes Jahres, jeder Altersclasse, jeder Berufs-
classe und jeder Generation genau charakterisiren.
I. Diese Aufgabe der medicinischen Statistik lässt sich folgender-
massen gliedern:
a) Zunächst handelt es sich darum, das Kranksein überhaupt, ohne
Unterschied der einzelnen Krankheiten zu constatiren: die sogen.
Morbilität nebst ihren Ursachen.
b) Sodann sind wegen der so sehr verschiedenen Einwirkungen der
unterschiedlichen Krankheiten auf den menschlichen Organismus auch
die einzelnen Krankheiten zu untersuchen, und zwar:
1. nach ihrer absoluten und relativen Häufigkeit,
2. nach ihrer Dauer,
3. nach ihrer grösseren oder geringeren Gefährlichkeit,
4. nach ihren Ursachen, und womöglich
5. nach dem Einfluss der verschiedenen Heilmethoden.
H. Was die Mittel der medicinischen Statistik betrifft, so müsste
dieselbe, um dieser ihrer Aufgabe vollkommen gerecht zu werden, jeden
Menschen durch sein ganzes Leben begleiten. Da dies unmöglich ist, muss
sie wenigstens von gewissen Stadien im Leben jedes einzelnen Individuums
einer Bevölkerung Kenntniss nehmen.
Die in gesundheitlicher Beziehung wichtigsten Abschnitte des Lebens
sind folgende:
1. Die Geburt und das Säuglingsalter.
2. Das Kindesalter bis zum Eintritte der Schulpflichtigkeit.
Gebäranstalten, Findelhäuser, Krippen und Kinderbewahranstalten,
endlich Waisenhäuser können über diese beiden Perioden die sorgfältigsten
Beobachtungen anstellen.
3. Das schulpflichtige Alter. In den Schulen werden indessen nur
ausnahmsweise Gesundheitsverhältnisse beobachtet. In dieser Hinsicht sprach
ein Congress den Wunsch aus, die Schulen sollten Listen über die Er-
krankungen und Todesfälle der Schulkinder, ferner Verzeichnisse und
Beschreibungen der Schul räumlichkeiten anfertigen. Ebenso sollten auch
die Turnvereine die Zwecke der Gesundheitsstatistik ins Auge fassen.
4. Das Alter der körperlichen Reife, der Vorbereitung zum selb-
ständigen Erwerb und zur häuslichen Bildung und Führung eines Haus-
standes. So gefahrlich dieser Abschnitt auch für Gesundheit und Leben
seiner Angehörigen ist, so spärlich sind doch die Kenntnisse über seine
ftesundheitsverhältnisse.
5. Bei der männlichen Bevölkerung insbesondere das militärpflichtige
Alter (vgl. §. 97). Dieses Alter ist für die Mehrzahl der männlichen
Hanshofer, Statistik. 2. Aufl. 15
226 Die Horbilitftt.
Bevölkerung die einzige strenge Gesundheitsrevue im Leben (Engel). Um
80 mehr ist zu wünschen, dass sie nicht blos im einseitigen Interesse des
Militärwesens ausgeführt werde.
6. Bie Zeit der Arbeit, des Erwerbes des täglichen Brodes, der
Begründung einer Familie und Ersparniss von Vermögen für das Alter.
Nimmt man an, dass der Mensch mit dem 60. Jahre invalid wird, so
währt dieser Abschnitt 40 Jahre. Es ist der längste und deshalb wechsel-
vollste. Er ist auch deshalb schicksalsreicher als die übrigen, weil der
Mensch in diesem Zeitabschnitte mehr seinem eigenen Willen folgt. Eine
Menge individueller, räumlicher und zeitlicher Einflüsse konmien hier zur
Geltung. Wie sie auf den Gesundheitszustand einwirken, das liegt noch
vielfach im Dunkeln.
7. Die Periode der Invalidität. Die genaue Ermittlung dieses Zeit-
abschnittes, seiner Dauer, die Ursachen der Invalidität sind von hohem
statistischem Interesse. Mit Rücksicht auf die grosse Verbreitung der
Altersversorgungs- und Unterstützungscassen darf man annehmen, dass
die Gesundheitsverhältnisse dieser Altersclasse ziemlich scharf zu be-
stimmen sein möchten.
§. 127. Die MorbUit&t.
I. Begriff. Vergleicht man die Zahl der Erkrankungen, welche in
einem bestimmten Bevölkerungskreise (z. B. in einer Berufs- oder Alters-
classe, einer Stadt u. s. f.) auftreten, mit der Gesammtzahl der Seelen,
innerhalb welcher man diese Krankheiten beobachtet, so erhält man eine
Verhältnisszahl: die Morbilität oder Häufigkeit der Erkrankungen.
Man gibt dabei an, auf wie viel Lebende eine Erkrankung fällt.
Beobachtet man zugleich die Dauer des Krankseins, so gibt man an, wie
viel Krankheitstage durchschnittlich auf den Kopf des beobachteten
Bevölkerungskreises kommen. So haben z. B. die Erhebungen der eng-
lischen friendly societies (Arbeiterunterstützungs -Vereine) ergeben, dass
die Angehörigen der Vereine vom 15. bis zum 85. Lebensjahre, also
während einer Arbeitszeit von 70 Jahren durchschnittlich 5 Jahre Krank-
heit durchzumachen haben. Es gibt dies ungeföhr ein Bild des Verlustes
an Lebensgenuss und Lebensthätigkeit, welchen der Mensch durch Krank-
heit erleidet.
n. Ursachen. Im Ganzen läuft die Morbilität, d. h. die Er-
krankungshäufigkeit, wie die Dauer und Intensität des Krankseins nicht
parallel mit der Sterblichkeit; beide folgen häufig denselben Ursachen,
, aber keineswegs immer.
Von diesen Ursachen sind folgende bisher genauer untersucht
worden (vgl. Oesterlen a. a. 0.):
Die MorWlitftt 227
A. Das Alter. Mit zunehmendem Alter steigt die Morbilität, die
mittlere Krankheitsdauer und Intensität des Krankseins, die Sterblichkeit
an den meisten Krankheiten, also nicht blos die Gefahr überhaupt zu
erkranken, sondern auch längere Zeit zu leiden und schliesslich an den
Krankheiten zu sterben. Die geringste Morbilität fallt in das Alter von
5 — 15 Jahren, während sie in den ersten Lebensjahren, namentlich von
0 — 1, dann von 1 — 4 Jahren am grössten ist und vom 15. Jahre an bis
in die höchsten Altersclassen beständig steigt. Zwischen der Krankheits-
dauer allein und der Sterblichkeit besteht kein ganz strenger Parallelismus;
denn es steigen zwar mit dem Alter Erkrankungshäufigkeit und Sterblich-
keit, aber nicht minder steigt der Procentbetrag lange dauernder Krank-
heiten im Vergleich zu rasch verlaufenden; insofern widerstehen die
höheren Altersclassen dem schliesslichen Tod länger, als die jüngeren.
B. Das Geschlecht. Gewöhnlich gilt, das weibliche Geschlecht
sei Krankheiten mehr unterworfen, als das männliche. Nimmt man schwere
unA leichte Krankheiten zusammen, so mag dies wohl so sein, berück-
sichtigt man aber die Gefährlichkeit der Krankheiten, so hat das weibliche .
Geschlecht durchschnittlich weniger zu leiden.
C. Der Beruf. Bis jetzt gibt es keine zureichende Statistik tiir die
relative Häufigkeit der Krankheiten nach den verschiedenen Berufsclassen.
Man hat zwar schon seit vierzig Jahren Beobachtungen hierüber angestellt,
welche jedoch mit mannigfachen Schwierigkeiten zu kämpfen habien. So
hat man namentlich in grossen Spitälern den Beruf der eingetretenen
Kranken ermittelt, und die erhaltenen Ziffern verglichen mit der Gesammt-
zahl der Augehörigen der betreffenden Gewerbe. Hiebei ergab sich aller-
dings, dass einzelne Gewerbe relativ weit mehr Angehörige ins Kranken-
haus sandten, als andere.
Um aber aus diesen Zahlen keine falschen Schlüsse zu ziehen, musb
man bedenken, ob einestheils die Zahl der Beobachtungen nicht zu klein
war, sowie andererseits, dass in einer Reihe von Professionen deren An-
gehörige nicht so leicht in das Krankenhaus eintreten, als dies bei den
Angehörigen anderer Professionen der Fall ist; und zwar deshalb, weil
jene theils häufiger verheirathet sind und Hauspflege geniessen, theils
auch vielleicht noch in manchen Fällen fortarbeiten, welche die mit den
schwersten Arbeiten Beschäftigten nöthigen , zum Krankenhause ihre Zu-
flucht zu nehmen.
Um den Einfluss der Profession auf die Morbilität genau zu consta-
tiren, wäre es nöthig, nur solche Professionen zu vergleichen, deten An-
gehörige in allen anderen wichtigen Lebensverhältnissen, in Bezug auf
Alter, Civilstand, Wohlhabenheit, Lebensweise u. s. f. wesentlich gleich
und nur hinsichtlich ihrer Beschäftigung verschieden sind.
15*
228
Die Morbilitftt.
Aus den bis jetzt vorliegenden Untersuchungen scheint nur das mit
Gewissheit hervorzugehen, dass bei den industriellen Classen miteinander
die Morbilität grösser ist, als bei der Gesammtbevölkerung und insbeson-
dere der Landbevölkerung. Dabei sind noch Unterschiede zwischen dem
Kleingewerbe und dem Fabrikwesen; ebenso sind auch unläugbar einige
positiv schädliche Berufszweige vorhanden. Wichtiger als die Beschäftigung
an und für sich sind jedenfalls im Ganzen alle anderen Factoren: Nah-
rung, Lebensweise, Bildung, Vorsicht (Oesterlen).
D. Reichthum und Armuth. Die grössere Sterblichkeit und kür-
zere Lebensdauer armer Volksclassen weisen auf eine höhere Morbilität
derselben hin. Untersuchungen in dieser Richtung sind allerdings noch
nicht in genügendem Umfange angestellt; doch erhellt die grössere Mor-
bilität der Armen schon aus ihrer bedeutend grösseren Kindersterblich-
keit, wie aus der geradezu erschreckenden Sterblichkeit der Armen- und
Arbeitshäuser.
E. Stadt und Land. Auch zur Aufklärung dieses Einflusses liegen
nur dürftige Untersuchungen vor, die indessen immerhin die weit grössere
Morbilität der Städte constatiren.
F. Die Jahreszeiten. Nach den Erhebungen des Frankfurter heil.
Geistspitals kamen von je 1000 Erkrankungsfällen
=■
im Jahre
auf den
Winter
auf den
Frühling
auf den
Sommer
auf den
Herbst
1841-57
1858
1860
268
275
269
257
266
280
253
239
244
222
220
207
Es zeigt demnach der Herbst die geringste Morbilität; nach ihm
erst der Sommer. Hippokrates hatte ^war den Frühling für die günstigste,
den Herbst für die ungünstigste Jahreszeit erklärt; aber seine Beobach-
tungen bezogen sich ja auf das Klima Griechenlands, nicht auf jenes von
Mitteleuropa.
G. Das Klima. Nach den Angaben der Krankheitsgeographen hätte
jede Zone, fast jedes Land, ja jede topographisch irgendwie eigenthüm-
liche Gegend ihre speciellen Krankheiten. So die atlantischen Küsten-
länder, so weit sie vom grossen atlantischen Meereswirbel berührt werden,
das gelbe Fieber; Barbadoes, Ceylon, Malabar etc. die Elephantiasis;
Syrien und Mesopotamien die sogenannte Aleppopustel ; Andalusien das
Fegar; Mexiko die Pinta; Peru die Verrugas; Canada die Ottawa-
Krankheit; Island die Hydatidosis u. s. f. — Umfassendere Beobachtungen
müssen diesen Einfluss erst klar stellen.
Statistik einzelner Krankheiten. 229
H. Die Civilisation und Gesittung. Wie die Sterblichkeit, so
steht auch die Morbilität im umgekehrten Verhältniss zur Grösse des
Wohlstandes, der Intelligenz, Bildung und Sittlichkeit des Einzelnen oder
des Elends ganzer Völker und Volksclassen. Armuth, Trägheit, Bildungs-
und Sittenlosigkeit sind die schlimm&ten Krankheiten eines Staates, schon
deshalb, weil sie Ursachen leiblicher Krankheit werden.
Auf Grund relativ zuverlässiger Erhebungen bei Hilfs-, Kranken-
vereinen u. dgl. erkranken von 100 ihrer Mitglieder im Alter von 10 bis
80 Jahren etwa 25—30 im Jahre und mindestens 2 — 4^ derselben sind
beständig krank. Nimmt man die übrigen Altersclassen mit ihrer beson-
ders hohen Morbilität dazu, so darf man annehmen, dass 30 — 40% aller
Lebenden im Jahre erkranken und etwa 4 — &% beständig krank sind.
Die Frage, ob diese Morbilität eine grössere sei, als die früherer
Jahrhunderte und ob insbesondere unsere Civilisation die Lebenskraft
unserer gegenwärtigen Geschlechter untergraben habe: diese Frage ist wohl
discutirt, aber nicht entschieden. Und sie wird auch nicht entschieden.
§. 128. Statistik einzelner Krankheiten.
I. Tuberculöse Krankheiten. Nach den vorhandenen Unter-
suchungen suchen sie ihre Opfer zumeist in der ersten Kindheit, dann
zwischen dem 25. und 35. Jahre, und zumeist unter den ärmeren Glassen.
15 — 18^ der Bevölkerung (nach Erhebungen aus England und dem
Canton Genf) sterben an diesen Krankheiten, und zwar zumeist an Lun-
genphthise.
II. Krebs. Hinsichtlich dieser fast immer tödtlichen Krankheit hat
die Statistik gefunden, dass das weibliche Geschlecht ihr weit mehr aus-
gesetzt ist, als das männliche; die wohlhabenden Glassen und die Städter
mehr als die Armen und die Landbevölkerung.
III. Wassersucht. Nach englischen Untersuchungen ist die Sterb-
lichkeit des weiblichen Geschlechtes constant grösser als des männlichen.
Der Betrag der Todesfälle steigt vom 1. Lebensjahr bis zum 65. bis 75.,
wo er seinen Höhepunkt findet, um dann wieder zu sinken.
IV. Typhus. Er bewirkt in Europa etwa Yao aller Todesfälle. Die
Häufigkeit derselben ist aber local sehr verschieden. Die Typhus-Todes-
fälle betragen nämlich unter je 1000 Todesfällen in:
Belgien . .
.46
München . .
.60
Berlin . .
. 32
Ohio ....
.15
Grenua . .
.23
Paris . . .
.42
Hannover .
. 70
Ver. Staaten
.40
Irland . .
.80
Wien . . .
.56
280 Statistik einzelner Krankheiten.
Die mittlere Dauer der Krankheit berechnet sich auf 30 Tage; die Sterb-
lichkeit unter den Typhuskranken ist 10 Jl^. Seine Opfer sucht der Typhus
in den kräftigsten Lebensaltem, sodann vorzugsweise in stark bevölkerten
Städten, unter dem Militär, den schlecht genährten, unordentlich lebenden
Bevölkerungsclassen.
V. Blattern. Die Krankheit hat eine ziemlich ausgebildete Statistik.
Der Betrag ihrer Todesfälle war jährlich von je 1000 Todesfällen in:
C. Genf (1838—55) . 2,4 Bayern (1850—58) . 3
England (1859) . . • 8,8 Belgien (1850-55) . 6,4
Preussen (1850—55) . 5 London (1859) . • 18,7
Das männliche Geschlecht leidet durch sie in weit höherem Grade,
als das weibliche, unter allen Altern die Kindheit am' meisten, Städter
mehr 9.1s Landbewohner. Von besonderer praktischer Bedeutung sind
die Untersuchungen über die Zahl und Gefährlichkeit der Blattemerkran-
kungen, um den Einfluss der Impfung zu messen.
VI. Apoplexie. Während die frühere unmethodische Beobachtung
behauptete, das männliche Geschlecht sei hiezu ungleich mehr disponirt,
als das weibliche, haben zuverlässigere Untersuchungen ergeben, dass diese
Differenz zu Ungunsten der Männer eine fast verschwindende ist. Hin-
sichtlich des Alters fallt des Maximum der Schlaganfälle zwischen das
65. bis 75. Jahr.
VIT. Die Krankheiten der Circulationsorgane zusammen verur-
sachen von allen Todesfallen etwa 3,3 — 4^. Auch sie erreichen ihr Ma-
ximum zwischen dem 65. bis 75. Jahre.
VIII. Krankheiten der Athmungsorgane. Diese grosse und wich-
tige Gruppe von Krankheiten verursacht etwa 17 — 20^ aller Todesfalle;
das männliche Geschlecht leidet constant mehr durch sie als das weib-
liche. Längst gilt als ausgemacht, dass sie als Ganzes, ziemlich mit dem
Sinken der mittleren Jahrestemperatur nach den Polen zu immer häufiger
werden. Das haben namentlich Beobachtungen über den Sanitätszustand
der in Colonien, welche unter sehr verschiedenen Breitegraden liegen, sta-
tionirten brittischen Truppen ergeben.
IX. . Krankheiten der Verdauungsorgane. Diese, die zahlreichsten
einzelnen Krankheitsformen umfassende Gruppe verursacht etwa 11 Jl^ aller
Todesfälle. Auch hier überwiegt die Sterblichkeit des männlichen Ge-
schlechtes; die stärkeren Contingente liefern die erste Kindheit und das
55. bis 65. Jahr.
Die Häufigkeit der einzelnen Krankheiten als Todesursachen ist ein
Gegenstand, welcher sich seit langer Zeit einer sehr mannigfaltigen
Beobachtung erfreut.. Aus den zahlreichen Zusammenstellungen, welche
hierüber existiren, mögen, um die relative tödtende Wirksamkeit der
Die Oeisteskraiiklieiten insbesondere. 231
verschiedenen Krankeitsformen vergleichend darzustellen, nur zwei hervor-
gehoben werden, welche sich auf die grössten deutschen Staaten beziehen
und ein ungewöhnlich zahlreiches Material enthalten. (Die Zahlen für
Preussen sind dem wiederholt citirten Werke von Quetelet-Riecke
pag. 201 entnommen, die für Bayern aus der oflßciellen Stisitistik: „Die
Bewegung der Bevölkerung im Königreich Bayern, München 1863." Die
preussischen Ziffern stammen aus den Jahren 1820 — 34, die bayerischen
aus den Jahren 1851 — 57.)
Auf 1000 Todesfälle treffen als Todesursachen :
iu Preusseu: in Bayern:
Todtgeburt 47,i 34,8
Lebensschwäche und Bildungsfehler . . ? 67,4
Innere acute Krankheiten 232,8 229,i
Innere chronische Krankheiten , . » . 379,3 467,6
Plötzlicher Krankheitszufall 72,* 83,9
Aeussere Krankheiten und Gebrechen . 20,2 4,1
Niederkunft und Wochenbett 12,8 5,4
Altersschwäche 123,9 83,o
Aeussere Gewalt 16,5 10,2
Unbestinmite Todesursachen 86,i 13,9
Blattern 8,i 3,3
Hiezu muss bemerkt werden, dass sich allerdings beide Eintheilungen
nicht vollständig decken.
§. 139. Bio Geisteskrankheiten insbesondere.
Die Zahl der Geisteskranken verglichen mit der Volkszahl dient
nicht blos als Massstab für eine eigenthümliche Art menschlichen Unglücks,
sondern auch för einen negativen Factof der Volkskraft. Leider gibt es
keine Erscheinung aus dem geistigen Leben der Menschheit, welche der
Statistik so zugänglich wäre, als eben die Vernichtung und der Mangel
dieses geistigen Lebens, als. Wahnsinn und Blödsinn.
Die statistischen Untersuchungen über ihn sind zahlreich und sorg-*
fältig. Um sie zu würdigen, müssen zunächst zwei Classen von Irrsinn
unterschieden werden: der Blödsinn und der Wahnsinn. Der Blödsinn ist
der Mangel an Verstand, ein Zustand, welcher vom Boden und von
materiellen Einflüssen abhängt; der Wahnsinn dagegen ist die Zerrüttung
des Verstandes, ein Erzeugniss gesellschaftlicher Verhältnisse, geistiger
und sittlicher Einflüsse.
Wie es sich mit der Verbreitung der Geisteskrankheit überhaupt
verhält, ist kaum mit einiger Sicherheit zu ermitteln. Durch Volks-
zählungen wohl am wenigsten, da begreiflicherweise in den Familien eine
232 ^^^ Geisteskrankheiten insbesondere.
grosse Abneigung herrscht, solche Angaben über Familienmitglieder zu
machen, meistens auch die hiezu nöthige ärztliche Kenntniss nicht im
entferntesten vorhanden ist. Sieht man von diesen Schwierigkeiten ab, so
treffen nach einer neueren Zusammenstellung auf je 10000 Einwohner
Greisteskranke*):
In Preussen (1871) 22,3
„ Bayern (1871) 24,7
„ Sachsen (1871) 20,8
„ Thüringen (1875) 20,3
„ Frankreich (1872) 15,7
„ England und Wales (1871) 30,*
„ Schweiz (1870) 29,i
Man hat behauptet, die Geisteskrankheiten würden stets häufiger,
je weiter die Civilisation fortschreitet; der Wahnsinn sei ein Kind der
Civilisation. Diese erschreckende Behauptung bedarf indessen noch sorg-
fältiger Zählungen und Vergleichungen , um als bewiesen zu gelten. Die
Zahl der in den Irrenanstalten der verschiedenen Länder aufbewahrten
Geisteskranken bietet keinen sicheren Massstab. Denn die Sorgfalt, welche
man diesen Unglücklichen zuwendet, ist in den verschiedenen Ländeni
eine verschiedene und gegenwärtig weit grösser als noch vor kurzer Zeit.
Im Gegensatze dazu kommen Andere zu dem Resultat: der Wahn-
sinn ist kein Kind der Ci^dlisation ; selten bei den Wilden, ist er häufiger
unter halbgebildeten Nationen, als in den civilisirtesten Ländern der Erde.
Untersuchungen über den Einfluss des Religionsbekenntnisses auf die
Geisteskranken haben noch zu keinen entschiedenen Ergebnissen geführt.
Auch der Einfluss des wirthschaftlichen Charakters des Wohnortes
war nicht zu ermitteln. Denn nachdem man in England gefunden hatte,
dass die Ackerbaugegenden mehr Geisteskrankheiten aufwiesen, als die
Fabrikdistricte, fand man in Belgien das Gegentheil. Man hat statistische
Anhaltspunkte, zu vermuthen, dass Handel treibende Städte und Provinzen
besonders vom Wahnsinne heimgesucht sind und dass derselbe bei Städtern
häufiger vorkommt, als bei Landbewohnern. Die beiden Geschlechter sind
fast gleich stark heimgesucht, wenn man grössere Massen beobachtet. In
Deutschland, Schottland, Dänemark, Norwegen, Russland fand man die
männlichen Irren zahlreicher, in Holland und Frankreich die weiblichen.
Es scheint, dass die Eitelkeit, die Leidenschaften und die Libertinage,
wo sie ausgebildet sind, das weibliche Geschlecht dem Wahnwitz mehr
aussetzen, während in allen Ländern, wo die Frauen die Grenzen ihres
Wirkungskreises nicht überschreiten, mehr männliche als weibliche
Irre sind.
Dauernde körperliche Fehler. 233
Sorgfältige Beobachtungen haben einen entschiedenen Einfluss der
Jahreszeit aaf den Wahnsinn nachgewiesen, indem die Monate Mai, Juni,
Juli und August als die dem Verstände gefährlichsten erkannt wurden.
Was den Einflugfe des Alters betrifft, so scheint es, dass der Blöd-
sinn der Kindheit, die Manie der Jugend, die Melancholie dem reifen
Lebensalter und der Wahnsinn dem höheren Alter angehört. Im Allge-
meinen ist die Zeit vom 30. bis zum 40. Lebensjahre dem Wahnsinne
zumeist ausgesetzt.
Der Familienstand scheint gleichfalls nicht ohne Einfluss auf den
Wahnsinn zu sein; man fand nämlich den letzteren häufiger bei ünver-
heiratheten, als bei Verheiratheten.
Bezüglich des Einflusses des Berufs haben sorgfältige Untersuchungen
ergeben, dass die höheren Stäride weniger Irre liefern als die niederen,
und Gewerbe, welche die Geisteskräfte weniger in Anspruch nehmen,
mehr als geistige Beschäftigung. Die Arbeit des Gedankens schützt also
den Gedanken gegen den Wahnsinn.
All diese Wahnsinnsursachen fasst man unter dem Begriffe der
prädisponirenden zusammen. Zu ihnen treten dann noch die unmittelbar
veranlassenden Ursachen. Auch mit ihnen hat die Statistik sich be-
schäftigt. Nach einer Zusammenstellung von 1266 Fällen, welche man
Esquirol verdankt, waren veranlasst durch ^):
Erbliche Anlage 337
Häusliche Sorgen 278
Ausschweifungen aller Art 146
Missbrauch geistiger Getränke 134
Vemiögenszerrüttuiig 49
Schrecken 35
Uebermässige Geistesanstreugung 16
Uebermässige Freude ! t
Die übrigen Fälle hatten andere Ursachen, welche gleichfalls als
solche erkannt wurden, aber von geringerem Interesse sind.
Erblichkeit und häusliche Sorgen sind demnach weitaus die häutigsten
veranlassenden Ursachen; die rein körperlichen Ursachen bedingen nahezu
die Hälfte aller Fälle. Als bemerkenswerth verdient hervorgehoben zu
werden, wie gross die Zahl derjenigen Fälle ist, welche als selbstver-
schuldete betrachtet werden müssen.
Anmerkungen.
*) Block-v. Scheel, a. a. 0,, S. 249.
') Nach Quetelet-Riecke, a. a. 0., S. 456.
§. 130. Dauernde körperliche Fehler.
I. Fehler der Sinnesorgane. Die Fehler der Sinnesorgane, Blind-
heit und Taubstummheit, sind ein Gegenstand, hinsichtlich dessen man mit
234 Dauernde körperliche Fehler.
mehr Sicherheit auf zuverlässige Erhebungen rechnen kann. Nach den-
selben beträgt in den meisten europäischen Staaten die Zahl der Blinden
ungefähr 7 — 10, jene der Taubstummen durchschnittlich 6 — 12 Individuen
auf je 10000 Einwohner i).
Die Zahl der Taubstummen und jene der Blinden ist demnach
ziemlich gleich. Sie finden sich unter den productiven Altersclassen nicht
in höherer, sondern eher in geringerer Propoiüon als unter den un-
productiven. Die Proportion der Taubstummen pflegt sehr überwiegend in
den jüngeren Altersclassen ungefähr bis zum 20. Jahre zu sein und von
da an in den höheren Altersclassen abzunehmen, während die Zahl der
Blinden in den jüngeren Altersclassen gering ist und von da an beständig
zunimmt. Die Zahl der Blinden und jene der Taubstummen zusammen ist
im Verhältniss zur Bevölkerung nicht so gross, als jene der Geisteskranken.
Die Zahl der Taubstummen zeigt ländei-weise weit grössere Verschieden-
heiten, als jene der Blinden.
Das Heirathen unter Verwandten ist von der Statistik als eigen-
thümliche Krankheitsursache beobachtet worden. Man will gefunden haben,
dass die Kinder aus Ehen von Verwandten einen ausnehmend grossen
Beitrag zur Zahl der Taubstunmien stellen.
In Frankreich beti'ägt die Zahl der Ehen unter Verwandten kaum
2^ aller Ehen. Dagegen fand man unter den Taubstummen zu Lyon
25^ der Gesammtzahl aus solchen Ehen hervorgegangen, unter jenen zu
Paris 28 Jl^ und jenen zu Bordeaux 30%.
x^dere Untersuchungen haben für Bayern gezeigt, dass unter der
protestantischen Bevölkerung die Zahl der Taubstummen nach Verhältniss
noch einmal so gross ist, als unter der katholischen, was gleichfalls dem
häufigeren Heirathen unter Blutsverwandten bei den Protestanten zu-
geschrieben wird.
Diese Theorie ward indessen mehrfach angegriffen.
II. Andere Fehler und Gebrechen. Der Verlust, welchen die
Kraft der Bevölkerung durch Schwächliche und Gebrechliche verschiedener
Art erleidet, ist sehr bedeutend. In Frankreich und Schweden hat man
bei den Zählungen verschiedene Classen von Gebrechlichen unterschieden.
Damach gab es in Frankreich i. J. 1851 in der ganzen Bevölkerung
317133 Gebrechliche oder 7,^ Procent.
Dagegen betrug in Schweden die Zahl sämmtlicher Gebrechlichen,
Geisteskranken, Taubstummen und Blinden beinahe l.s^ der Gesammt-
bevölkerung.
Für mehrere Staaten haben die Untersuchungen der militärdienst-
pflichtigen jungen Männer nach ihrer Diensttauglichkeit höchst wichtige
statistische Daten ergeben und zu weiteren Untersuchungen veranlasst.
Dauernde körperliche Fehler.
235
Die Bedingungen der Militärtauglichkeit sowohl als die Genauigkeit ihrer
Ermittelung sind allerdings in den verschiedenen Ländern sehr abweichende,
so dass die Ergebnisse der Untersuchungen sich nicht leicht vergleichen
lassen.
Im Durchschnitte sind von allen im 21. Lebensjahre stehenden
Männern 59 ^ zum Militärdienste untauglich und zwar 22 ^ wegen
Mangels an Körpermass und nahezu 37 ^ wegen Krankheiten und
schwächlicher Constitalion. Von 1000 Militärpflichtigen sind durch-
schnittlich nur 405 zum Dienste tauglich. Wenngleich die übrigen nicht
geradezu zur Pi'oduction untauglich sind, so ist immerhin ihre wirth-
schaftliche Kraft nicht in dem Maasse anzuschlagen, wie die der dienst-
tauglichen.
Auinerkuug.
') Auf 100.000 Einwohner treffen (Anuaii di stat. Ser. 1. Vol. 10. p. 65)
Blinde
Taub-
stumme
Idioten
Narren
Italien
Deutsches Reich
Grossbritanuieu
Dänemark (mit Island und
Faröem)
Norwegen
Schweden
Finland
Gestenreich (diesseits) . • .
Ungarn
Schweiz
Niederlande
Belgien
Frankreich
Spanien
Vereinigte Staaten . . . .
Argentiua
105
87
98
78
136
80
%U
55
120
76
44
81
83
112
52
202
74
96
57
62
92
102
?
96
134
245
33
43
62
69
42
380
65
139
129
83
119
39
?
?
119
9
?
50
114
9
63
242
99
88
178
134
185
176
?
?
85
?
?
92
146
?
97
229
Drittes Buch.
Wirthschaftliche Statistik.
Uebersiclit
§. 131. Die Statistik wirthschaftliclieii Lebens überhaupt.
Von den Wechselbeziehungen der Statistik und der Nationalökonomie
war schon fiiiher (§. 44) die Rede. Die wirthschaftlichen Verhältnisse
eines Einzelnen sowohl, als einer Corporation, eines Volkes oder Staates
eignen sich ganz besonders zur ziffermässigen Darstellung und Verarbeitung.
Die Nationalökonomie hat deshalb längst von der statistischen Methode
Gebrauch gemacht; ja man kann geradezu behaupten, sie habe der Statistik
die Verarbeitung der von letzterer erhobenen Daten völlig aus den Händen
gewunden. Der Grund ist sehr einfach. Während die den anderen Kreisen
des menschlichen Lebens angehörenden Massenerscheinungen, wenn sie
beobachtet und ziffermässig dargestellt sind, noch vielfach verwickelter und
mühsamer Behandlung unterstellt werden müssen, ehe sie zur Auffindung
von Regelmässigkeiten, zur Erkennung der Ursachen und Gesetze fuhren,
sprechen die wirthschaftlichen Zahlen beinahe von selbst und drängen dem
Beobachter eine Bemerkung nach der anderen auf.
Man findet daher in den besten nationalökonomischen Werken eine
Fülle statistischen Materiales. Nun arbeitet allerdings die Nationalökonomie
nicht nur nach der statistischen Methode, sondern sie bedient sich zur
Herstellung ihrer Grundsätze auch geschichtlicher Thatsachen und psy-
chologisc)ier Speculation. Lässt man jedoch das, was diesen Methoden
angehört, beiseite, so lassen sich schon aus der vorhandenen reichen
volkswirthschaftlichen Literatur die Grundzüge einer volkswirthschaftlichen
Statistik construiren. Diese mag dann das Ziffernmaterial aus dem sinne-
verwirrenden Reichthum von Zahlen ergänzen, der Tag ffir Tag auf wirth-
schaftlichem Gebiete emporwächst.
Dabei ist die praktische Bedeutung der wirthschaftlichen Statistik
eine unberechenbar grossartige. Die Zahlenangaben über Production, Umsatz,
Vertheilung, Besitz und Verbrauch in jedem Volke sind heutzutage unent-
behrlich geworden. Sie dienen dazu, wirthschaftliche Lehrsätze zu beweisen,
240 Grnppirnng der Aufgaben der wirthschaftlichen Statistik.
neue Gesetze aufzufinden, der Staatsgewalt die Richtung wirthschaftspoli-
tischer Thätigkeit anzudeuten und Aufschlüsse über die Zweckmässigkeit
wirthschaftspolitischer Massregeln zu geben. Dies ist besonders dann der
Fall, wenn reichhaltiges Material zur Vergleichung benützt werden kann,
Material aus verschiedenen räumlichen und zeitlichen Gebieten.
Wie einerseits die Statistik für die Nationalökonomie, so ist auch
diese fiir jene unentbehrlich. Sie gibt der ökonomischen Statistik die Ge-
sichtspunkte, nach welchen die Thatsachen gesammelt, geordnet und ver-
glichen werden müssen.
§. 132. Oruppirung der Aufgaben der wirthschaftlichen Statistik.
Folgt man der gebräuchlichen Art, nach welcher die Nationalöko-
nomie ihren Stoff in Gruppen theilt, so ergibt sich fiir die statistische Be-
handlung des volkswirthschaftlichen Lebens etwa folgende Gruppining.
I. Production der Güter (im engeren Sinne):
1. Die allgemeinen Bedingungen der Production, soweit sie
statistisch erfassbar sind. Dies ist nur in beschränkten Masse
der Fall.
Als Gegenstände der Betrachtung erscheinen demnach zu-
nächst: (I. Cap.)
A. Die Natur,
B. Die Arbeit,
C. Das Capital.
2. Die Hauptzweige der Production, und zwar:
A. Land- und Forstwirthschaft. (Cap. IT.)
B. Industrielle Gewerbe. (Cap. ITI.)
II. Circulation. Das grosse Gebiet der Statistik des Handels und Ver-
kehrs zerfällt naturgemäss in folgende Gruppen:
1. Statistik der Preise. (Cap. IV.)
2. Statistik des Transportwesens. (Cap. V.)
3. Statistik des Handels. (Cap. VI.)
III. Das Volkseinkommen und seine Vertheilung. (Cap. VII.)
1. Volkseinkommen und Volksvermögen überhaupt. Höhe und Be-
wegung desselben.
2. Die Vertheilung des Volkseinkommens. Die Einkommensclassen.
IV. Die Consumtion der Güter. Stand und Gang der Consumtion über-
haupt, sowie der wichtigsten Consumtionsgegenstände. (Cap. VIII.)
V. An diese Betrachtungen muss sich als letzte schliessen eine Betrach-
tung über das Verhältniss zwischen der Bevölkerung und
dem wirthschaftlichen Leben derselben. (Cap. IX.)
Die Natur and ihre Prodncte. 241
I. CapitelJ
Allgemeine Bedingungen der Production^
I. §. 133. Die Hattir und ilire Prodtiote.
I. Die Oberfläche der Erde bietet nur in beschränkter Hinsicht
statistisches Material, ebenso ihr Inhalt.
Auch hier haben wir zwar Massenerscheinungen vor uns. Aber diese
Erscheinungen sind entweder unveränderlicher Natur oder sie ändern sich
so langsam, dass sie fast als unveränderliche erscheinen. Die meisten ge-
statten keinerlei Aufsuchung statistischer Ursachen und Regelmässigkeiten,
sondern blos einzelne Vergleichungen.
Da indessen die Erde doch einmal der Raum ist, auf welchem die
wechselnden Grössen des Völkerlebens sich bewegen, so ist es immerhin
gerechtfertigt, dasjenige an ihr aufzusuchen, was mit den statistischen
Erscheinungen des Völkerlebens im nächsten Zusammenhange steht. Die
Statistik hat mit der Geographie ein gemeinsames Grenzgebiet, welches
sie nicht unbetreten lassen kann. Eine Reihe von statistischen Erschei-
nungen lassen sich nur dann in ihrem Wesen und in ihren Veränderungen
erfassen, wenn man sie als Wirkungen geographischer Unterschiede be-
trachtet; wenn man die Naturmächte als die wirkenden Ursachen erkennt,
auf welchen das Völkerleben sich aufbaut.
Die Gesammtoberfläche der Erde beträgt nach den Berechnungen
BessePs 9,261.203 geogr. Q.-Meilen; ihr Kubikinhalt ungefähr 2650 Mill.
Kubikmeilen.
Diesen unveränderlichen Grössen gegenüber steht die Menschheit als
eine der Grösse nach veränderliche. Bedenkt man jedoch, dass Oberfläche
und Inhalt der Erde je nach den wirthschaftlichen Fortschritten der
Menschheit in einem verschiedenen Grade zugänglich und ausbeutungs-
fähig sind, so erscheint auch die Grösse des Spielraumes und Arbeits-
feldes, welcher der Menschheit zugewiesen ist, als eine nicht ganz unver-
änderliche.
In welchem Verhältnisse jedoch Weltgrösse und Menschenzahl zu
einander stehen müssten, wenn die Aufgaben der Menschheit die möglichst
befiriedigende Lösung finden sollen: das ist eine Frage, welche sich in
dieser Allgemeinheit auch nicht im entferntesten beantworten lässt.
IL Von Wichtigkeit für die Beziehungen der Erde zum Völkerleben
ist der Unterschied von nutzbarer und nicht nutzbarer Erdfläche. Von
der gesammten Erdoberfläche dürften nur ungefähr 2,360.000 Q.-Meilen
bewohnbar sein; das übrige theils Meer, theils öde Eiswüste.
Haushofer, Statistik. 2. Aufl. . {Q
242 Die Natnr und ihre Produete.
ni. Das Verhältniss der Länderfläche zur Ausdehnung der Kü-
stenlinien ist ebenfalls von Bedeutung. Bei Ländern mit ausgedehnter
Küstenentwicklung lassen sich die umgebenden Meerestheile in höherem
Grade als nutzbar betrachten; es wird durch die Küstengliederung der
Lebensspielraum der Völker vergrössert. Das Maass dieser Vergrösserung
ist jedoch nicht zu bestimmen.
IV. Die verticale Bodengliederung steht zwar ebenfalls mit
dem Leben der Völker in einem ganz innigen Zusammenhange, doch ist
keine ziffermässige Behandlung im Stande, diesen Zusammenhang im Ganzen
zu verfolgen, dessen einzelne Fäden da und dort Erwähnung finden. Hi-er
mag nur flüchtig darauf hingewiesen werden, wie die Meereshöhe und
Oberflächengestalt der Länder nothwendig auf Klima, Production und
Verkehr, damit aber auch auf die ganze Culturentwicklung der Völker
einwirken muss; wie die höheren Lagen immer weniger Anbau und be-
ständigen Wohnsitz gestatten, je mehr sie sich der Schneegrenze nähern;
wie dagegen die Gebirge andererseits, als Bewahrer und Spender von
Feuchtigkeit, auf das Culturleben ihrer verschiedenen Stromgebiete wirken ;
wie die Kammhöhen der Gebirge nebst Wüsten und Meeren die grossen
natürlichen Grenzen des Völkerlebens und Verkehrs bilden. All das sind
Cardinalfragen für die vergleichende Geographie; dieselbe wird aber bei
der Behandlung dieser Fragen geeigneten Ortes auch Ziffern heranziehen
und hiemit in das Gebiet der Statistik hereintreten.
V. Die Ausstattung der Erde und ihrer einzelnen Theile mit
nutzbaren Mineralien, sowie mit Pflanzen und Thieren, gestattet gleichfalls
quantitative Untersuchung. Doch ist letztere durch die glücklicherweise
enorme Fülle dieser Naturgestaltungen sehr erschwert.
Ueber die Verbreitung nutzbarer Mineralien durch die, dem
Menschen zugänglichen Theile der Erdrinde, gibt die Statistik der Mon-
tanproduction Aufschlüsse.
Beobachtet man die quantitative Vertheilung der Pflanzen über
die Erdoberfläche, so kann man wohl von einer Statistik der Pflanzen
sprechen. Sie schliesst sich innig an die klimatische Statistik an. Das
vegetabilische Leben hängt in seiner Verbreitung ebensowohl von der
geographischen Lage, als von der absoluten Höhe ab. Zunächst ergibt sich
eine ungleiche numerische Vertheilung der Pflanzenspecies durch die ver-
schiedenen Klimate. Die Botaniker berechnen gegenwärtig die Zahl sämmt^
lieber Pflanzenspecies auf der Erde zu ungefähr 250000, von welchen bis
jetzt etwa 75000 beschrieben sind, darunter gegen 50000 Dikotyledonen,
ungefähr 12000 Monokotyledonen und etwa 13000 Zellenpflanzen *). Im
Allgemeinen nimmt die Zahl der Pflanzenarten von den Polen gegen den
Aequator zu. So hat z. B. die Insel Spitzbergen gegen 30 Pflanzenai*ten,
Die YjBlker Kindev ihrer Natur. 243
Novaja Semlja 90 Arten Phanerogamen und etwa die Hälfte Arten
Kryptogamen, Lappland etwa 500 Phanerogamen uid 600 Kryptogamen,
Frankreich dagegen schon 3600 Phan. und 2300 Krypt. — Ganz Europa
hat etwas ü^er 7000 Phanerogamen; aus Ostindien dagegen sind allein
schon mehr als 6000 durch die Sammlungen der ostindischen Compagnie
bekannt geworden.
Die Pflanzen sind besser als die physikalischen Instrumente Yer-
künder des wahren Klimas. Das Pflanzenleben hängt namentlich in mitt-
leren und höheren Breiten von der mittleren Jahrestemperatur (die nur
an vollkommen die wahren klimatischen Verhältnisse charakterisirt) weniger
ab, als von der Temperatur der einzelnen Jahreszeiten, und zwar gerade
von den Extremen derselben.
Von besonderer Wichtigkeit sind jene Pflanzen, welche von Menschen
angebaut werden, und zwar namentlich die Cerealien aus der Familie der
Gräser. Diese Familie umfasst an 4000 Arten; aber noch nicht 20 von
denselben sind zur Nahrung für den Menschen cultivirt.
Unter den europäischen Cerealien steht der Weizen obenan; seine
Polargrenze ist zumeist yon der mittleren Sommerwärme (weniger von der
mittleren Jahrestemperatur) abhängig. Die Vervielfältigung der Aussaat
nimmt gegen die Pole hin ab. In Mitteleuropa (Frankreich) beträgt die
Ernte durchschnittlich das 5 — 6fache der Aussaat, in Ungarn, Kroatien
und Slavonien das 8 — lOfache, in Sicilien das 10 — 12fache, dagegen in
den Aequatorialgegenden von Mexiko das 25 — 34fache.
Geht man noch weiter, zu einer statistischen Beobachtung der Ver-
breitung der Thierwelt über die verschiedenen Theile der Erde, und zwar
besonders der nutzbaren Thiere, so findet sich auch hier ein Uebergang
von der Naturstatistik zur wirthschaftlichen Statistik. Dieser Uebergang
ist ein allmäliger; die typischen Erscheinungen der Natur werden, je mehr
sie dem Menschenleben näher treten, individueller; und die Beobachtungen
müssen wegen der stets sich mehrenden Ausnahmen von den Regeln immer
zahlreicher werden.
Anmerkung.
^) Dioskorides und Galenus kannten höchstens 600 Pflanzen, Linne 8000;
gegen das J. iMt waren 30000, im J. 1837 gegen 60000, 1849 gegen 100000
Species beschrieben. (Buckle, a. a. 0.) Ein hübscher statistischer Beweis für den
Fortschritt der Naturwissenschaften, wenn derselbe noch uöthig wäre!
§. 134. Die Völker Kinder ihrer Natur.
Zwischen der ziffermässigeh Betrachtung der Naturgestaltungen und
der ziffermässigen Betrachtung des heutigen Volks- und Gesellschaftslebens
ist eine Lücke, welche durch keine Quantitätsbeobachtungen mehr ausge-
16*
244 Die Völker Kinder ihrer Natur.
fällt werden kann. Diese Lücke wird durch die Entwickelungsgeschichte
der Menschheit gebildet. Die Statistik kann zwar in mancher Hinsicht
Aufklärung über den Zusammenhang des heutigen Gesellschaftslebens mit
der äusseren Natur bieten; aber zu untersuchen, wie die Menschheit aus
der Natur herauswächst und ihr als Neues gegenübertritt: das ist Auf-
gabe anderer Disciplinen. An dieser Aufgabe haben Paläontologie, Ana-
tomie und Physiologie, Anthropologie, Ethnographie, prähistorische und
historische Forschung gearbeitet. Mancher von den Schleiern, die über
der Anthropogenie gelegen sind, ist wohl da und dort gelüftet worden;
aber es existiren für eine Reihe der wichtigsten Fragen noch wenig oder
keine Anhaltspunkte.
Dass das Völkerleben von der Natur ganz wesentlich beeinflusst
wird, dafür haben wir unzählige Beweise. Indem die Natur die Bedin-
gungen des Lebens und des menschlichen Verkehrs höchst ungleichmässig
über die Erde vertheiH hat, hat sie Welttheile, Länder und Landstriche,
Völker und Völkertheile auf gewisse Arbeiten, Wirthschaftsmethoden, Le-
benssitten hingewiesen. Sie hat die Bewohner einzelner Landstriche zur
Fischerei und Seefährt veranlasst; andere Menschengruppen zur Benützung
von Waldproducten und jagdbaren Thieren ; andere zur Viehzucht in weit-
gedehnten Grasfluren, einige zur Gewinnung werthvoller Mineralschätze;
andere zum Anbau ihres fruchtbaren Bodens. Häufig hat sie diese ver-
schiedenen Veranlassungen zur Thätigkeit combinirt und durch solche
Combinationen die Resultate zur reichsten Mannigfaltigkeit gebracht. Offen-
bar muss sich das Leben eines Volkes ganz anders gestalten, je nachdem
es ausschliesslich auf den Landbäu angewiesen ist, oder je nachdem sich
damit die Gelegenheit zur Jagd, zur Seefahrt u. s. w. verbindet. Es be-
darf keines Beweises mehr, dass die mannigfache Gestaltung der Länder,
ihre Höhenlagen, Küstengliederung, ihre Flüsse, ihr Klima u. a. die Ge-
schichte der Völker, welche sie später bewohnen sollten, vorausbestimmt
haben, ehe der erste Mensch sie betrat. Aber ebenso gewiss ist, dass
diese dauernde Einwirkung, der Natur doch nicht im Stande ist, den
freien Willen des Menschen im Kampf tims Dasein aufzuheben. Auch
der Grad der Einwirkung^ welche die Natur auf den Menschen nimmt,
ist ungemein verschieden; verschieden in den verschiedenen Zeiten der
Menschengeschichte; so verschieden, als eben die Gestaltung der Länder
ist. Und zu dieser Verschiedenheit kommen die auf der Bethätigung des
freien Willens beruhenden Unterschiede der menschlichen Lebensweise.
Weil der Mensch trotz aller jener natürlichen Einflüsse doch seinen freien
Willen bewahrt, ist er im Stande, seinerseits in der mannigfachsten Weise
auf die Natur einzuwirken. Dass der Einfluss der Natur kein alleinherr-
schender ist, sondern dass neben ihm andere im freien Willen der Völker
}
Die Arbeit. 245
liegende Mächte einen gewaltigen Zug ausüben, zeigt sich darin, dass
Völker mit fast gleichen Lebensbedingungen doch ganz verschiedene Ent-
wickelung nehmen; dass auf einem und demselben Boden im Laufe der
Jahrhunderte Culturzustände erwachsen, die grundverschieden sind, und fiir
deren Verschiedenheit sich als Ursache nicht etwa die veränderte Natur,
wohl aber die, durch einzelne Menschen getragene und veränderte Geschichte
erkennen lässt. Wer wollte es läugnen, dass die Macht des Menschen
über die Natur beständig im Zunehmen ist? Ebenso gewiss ist aber auch,
dass diese Macht ein Resultat der Geistesthätigkeit, und diese wiederum
ein Product des freien Willens der Einzelnen ist.
So besteht einerseits ein beständiger Einfluss der Natur auf den
Mengchen, andererseits ein Gegendruck des Menschengeistes. Der Einfluss
der Natur hat das Bestreben, ein gleichförmiger zu sein; der Einfluss des
Menschen auf die Natur dagegen ist ungleichförmig, weil er nicht von
einem gleichbleibenden Durchschnitt der Menschheit ausgeübt wird, son-
dern zumeist von einzelnen, geistig und willenskräftig hervorragenden
Menschen.
II. §. 135. Die Arbeit.
Die menschliche Arbeit bietet der Statistik ein imposantes Beob-
achtungsfeld, welches von ihr im Ganzen noch nicht, wohl aber hinsicht-
lich einzelner Theile in Angrifi' genommen ist. Von den Ursachen, welche
die verschiedenartige Entwickelung der menschlichen Arbeit bei den ein-
zelnen Völkern und Berufsclassen bedingen, welche auch dominirend auf
den Erfolg der Arbeit einwirken, werden einige wohl immerdar einer
ziffermässigen Betrachtung sich entziehen. So namentlich die verschieden
wirkenden Motive der Arbeit und die national und nach Ständen eben-
falls verschieden geartete Arbeitslust. Was von den Erscheinungen, die
das Arbeitsleben der Culturvölker zeigt, zifi^ermässig erfassbar ist, dürfte
ungefähr Folgendes sein:
L Die nationale Arbeitskraft. Sie hängt theils ab von der
durchschnittlichen Arbeitskraft aller Einzelnen, theils von dem Verhältniss
der Ajrbeiterzahl zui* Gesammtbevölkerung.
Die durchschnittliche Arbeitskraft der Einzelnen wird wieder beein-
flusst durch das Geschlecht und Alter, die Gesundheit des Menschen,
durch die Race, der er angehört, und das Klima, in dem er arbeitet.
Massenhafte Untersuchungen, mit dem Dynamometer angestellt, würden
übiar das Maass dieser Einflüsse genaue Auskunft geben können.
Das Verhältniss der eigentlich arbeitenden Angehörigen eines Volkes
zur Gesammtbevölkerung lässt sich zifi'ermässig kaum feststellen. Die Zahl
der Kinder und der Greise gibt hiefür noch lange nicht genügende An-
246 Die Arbeit.
haltspunkte; deRn es ist iiir keinen Beruf eine Altersstufe fixirt, bei
welcher die Arbeitsfähigkeit anfangt und aufhört. Der Unterschied von
productiven und unproductiven Lebensjahren ist ein ziemlich willkürlicher
und kann höchstens einige Bedeutung bei internationalen Vergleichen
haben.
Mit dieser Reserve und in der Erwägung, dass die eigentliche Bil-
dung des Volkseinkommens Aufgabe der Männer im productiven Alter
ist, mag immerhin das Verhältniss der Zahl arbeitsfähiger Männer zur
Zahl der Frauen, Greise und Kinder zusammen ein gewisses Interesse
bieten. Im Deutschen Reiche stellt sich dieses Verhältniss so, dass auf
1000 Männer in productiven Jahren 2282 Frauen, Kinder (unter 15 J.)
und Greise (über 70 J.) treffen. Besonders günstig stellt sich die -Ziffer
in Berlin, nämlich 1000 : 1740; am günstigsten unter den deutschen
Ländern im rechtsrheinischen Bayern (1000:2159); am ungünstigsten
in Posen (1000 : 2627) und den übrigen östlichen Theilen Preussens.
Thatsächlich ruht jedoch die Bildung des Volkseinkommens bei
weitem nicht allein auf den Schultern der Männer im productiven Alter,
sondern auch Frauen und selbst Kinder betheiligen sich daran. Der Grad
dieser Betheiligung jedoch ist fast überall anders und hängt wesentlich
zusammen mit der Art der vorherrschenden Erwerbszweige, bezüglich der
Kinder selbst mit der Ausdehnung des schulpflichtigen Alters. Wo gewisse,
auch den Frauen und Kindern leicht zugängliche Erwerbszweige, z. B.
Textilindustrie verbreitet sind, wird die Betheiligung der Frauen und Kin-
der an der Einkommensbildung eine weit lebhaftere; sie muss vor Allem
eine ganz andere auf dem Lande sein als in den Städten.
II. Die Arbeitsgeschicklichkeit. Die blosse physische Arbeits^
kraft würde, selbst wenn sie vollständig zur Ziffer gebracht werden könnte,
doch keinen zuverlässigen Einblick in die Leistungsfähigkeit der Völker
gestatten, weil die letztere ja zum grossen Theile auch von der Ausbil-
dung dieser Kraft, von der Arbeitsgeschicklichkeit, bedingt wird. Von
den verschiedenen Merkmalen der Arbeitsgeschicklichkeit ist jedoch kaum
Eines der ziffermässigen Beobachtung zugänglich; am ehesten die Quan-
tität von Producten, welche ein Arbeiter in bestimmter Zeit verfertigen,
oder die Zahl von Apparaten, welche er bedienen kann. Bei vielen Indu-
striezweigen ist dieser Massstab anwendbar und wird wirklich angewendet.
Man darf aber auch hier nur wirklich Gleichartiges vergleichen. So könnte
es wohl als ein deutliches Mass der verschiedenen Arbeitsgeschicklichkeiten
erscheinen, dass tiir 1000 Baumwollspindeln in England 10, in den schwä-
bischen Fabriken 11, in der Schweiz 12, in Frankreich 14, in ganz
Deutschland 20 und in Oesterreich- Ungarn 21 Arbeiter zur Bedienung
erforderlich sind — vorausgesetzt, dass die Umstände, unter welchen diese
Die ArbeH.
247
Arbeiter arbeiten, überall die gleichen wären. Das ist jedoch nicht der
Fall, da die Technik und die Beschaffenheit des Productes grosse Un-
gleichheiten haben.
ni. Die Hilfsmittel der Arbeit: Werkzeuge, Arbeitsthiere, Ma-
schinen. Von ihnen sind lediglich die Arbeitsthiere, sofern sich ihre Menge
aus Viehzählungen ergibt, und die Dampfmaschinen mit Zuverlässigkeit
zur Ziffer zu bringen. Schon vor längeren Jahren wurde in den europäi-
schen Culturstaaten die Gesammtheit der menschlichen Arbeitskräfte von
derjenigen der, im Dienste des Menschen verwendeten Naturkräfte, wenn
man beide Arten auf ein einheitliches Maass reducirte, bei weitem über-
troffen. Heutzutage stellt sich das Verhältniss noch ungleich günstiger, da
immer zahlreichere Arbeitskräfte der Natur in den Dienst des Menschen
gezwungen werden.
Die Dampfmaschinen bilden zwar einen Bestandtheil des nationalen
Gapitals, mögen aber doch, als die wichtigsten Hilfsmittel der mensch-
lichen Arbeit, schon hier Beachtung finden.
In den wichtigsten Staaten stellt sich die Zahl der Maschinen und
ihrer Pferdestärken wie folgt (nach Engel: das Zeitalter des Dampfes.
Zeitschr. d. preuss. stat. Bureau 1879 und 1880):
Länder
Dampf-
maschinen
Pferdestärken
in
Bergbau,
Industrie
und
Landwirth-
schaft
im
Transport-
wesen
Zu-
sammen
Deutsches Reich . (1877/78)
Oesterreich (diesseits) (1876)
Frankreich (1878)
Schweiz (1877)
Belgien (1878)
Grossbritann. u. Irland (1878)
Verein. Staaten . . . (1871)
54631
12390
47559
?
13230
?
?
1,320647
157279
492418
20000
?
2,000000
1,987000
3,038730
1,117797
2,531086
?
?
4,986000
5,505900
4,359377
1,275076
3,024450
?
568139
6,986000
7,492900
Es gibt wohl keine Ziffer, welche ein sprechenderes Bild der indu-
striellen Entwickelung eines Landes bieten könnte, als die Zahl und
Leistungsfähigkeit seiner Dampfmaschinen.
Allenthalben sind die Maschinen in einer Zunahme begriffen, welche
diejenige der Bevölkerung ganz unverhältnissmässig übertrifft. Diejenige
körperliche Arbeit, welche vom Menschen gethan werden muss, bleibt
immer weiter zurück hinter derjenigen, welche von den Naturkräften in
der Gestalt von Maschinen für ihn gethan wird. So lange die Lager
248 Die Arbeit.
mineralischer Brennstoffe, welche die arbeitende Kraft der Maschinen er-
zeugen, vorhalten, findet demnach eine beständige Emancipation des Men-
schen von körperlicher Arbeit statt, welcher allerdings eine fortwährende
Steigerung der geistigen Leistung entspricht.
Verwendung der Dampfmaschinen in den verschiedenen
Arbeitszweigen:
I. Im deutschen Reiche:
Maschinenz&hl
Land- und Forstbau, Gärtnerei 4247
Bergbau, Hütten, Salinen 10849
Industrie der Steine und Erden 2186 -
Metallverarbeitung 1929
Maschinenbau u. dgl 3088
Chemische Industrie 1423
Industrie der Heiz- und Leuchtstoffe ..,.*.. 1076
Textilindustrie 6235
Papier- und Lederindustrie 1830
Holz- und Schnitzindustrie 2613
Nahrungsmittelindustrie 11865
Industrie der Bekleidung und Reinigung 524
Baugewerbe 465
Polygraphische Gewerbe 551
Künstlerische Betriebe für Gewerbe 24
Handelsgewerbe 104
Verkehr (ausschliessl. Dampfschiffe und Locomotiven) 1449
Beherbergung, Erquickung .-.. 17
Häusliche Zwecke 296
Gemischte und unbestimmte Zwecke ........ 2762
Dampfschiffe 1099
Locomotiven 110398
Es ergibt dies eine Gesammtsumme von:
Maschinen mit Pferdestärken
In der Industrie und Landbau etc.:
Feststehende 44.447 1,247.000
Bewegliche 9.085 73.647
Privat-Dampfschiffe (1073) 1.099 179.280
Locomotiven 10.398 2,859.450
Hiezu noch Kriegsdampfer (92) ... 141 151.260
65.170 4,510.637
Die BerufiiclMBen der BeTöIkemng.
249
In Oesterreich (ohne Ungarn, 1875):
Verwendung
Landwirthschaft 632
Bergbau 1.252
Metallindustrie 1.039
Maschinenbau u. *dgl 547
Gesteinsindustrie 203
Holz-, Leder-, Papierindustrie etc. . . . 698
Textilindustrie 1.225
Nahrungsmittelindustrie . 2.543
Chemische Industrie 341
Polygraphische und Kunstindustrie ... 61
Handelsgewerbe, Verkehr 527
Sonstige 232
Locomotiven 2.768
Schiffsmaschinen 322
Zusammen
Maschinen Pferdestärken
4.265
29.609
33.457
8.659
3.065
12.197
31.493
27.520
2.945
546
4.021
1.711
989.922
125.666
12.390 1,275.076
Wie ungemein rasch die Dampfmaschinen sich vermehren, erhellt
aus Folgendem. Man zählte Dampfmaschinen:
im Jahre
1837
1840
1852
1861
1875
1878
ganz Deutschland
Preusseu iusbes. .
Oesterreich (dies.)
423
634
2832
1182
13525
65170
43045
12390
§. 136. Die Bemfsclassen der Bevölkerung.
Der Grundsatz der Arbeitstheilung hat die reiche und mannigfache
Beruiisgruppining erzeugt. Sie wird bei den civilisirten Nationen eine stets
mannigfaltigere. Zweifellos ist die ziffermässige Darstellung der Berufs-
classen eine der interessantesten und wichtigsten Aufgaben der Statistik.
Es ist aber leider zugleich eine Aufgabe, die noch sehr weit von ihrer
Vollendung entfernt ist Eine Betrachtung dessen, was in dieser Hin-
sicht geschehen ist, ist eigentlich mehr eine Betrachtung von Hindernissen,
als von Resultaten. Es sind zwar in allen bedeutenderen Staaten bei den
Volkszählungen auch die Befufsarten ermittelt worden. Aber die Erhe-
bungen waren theils mangelhaft, theils nach zu verschiedenen Einthei-
Inngen angestellt.
Eine der neuesten Zeit angehörige Zusammenstellung von Arbeiten
der Berufsstatistik ergibt folgendes Resultat*):
250
Die BerafBcIassen der BeTOlkenuig.
Staaten
Italien
England und Wales
Frankreich ....
Preussen
Oesterreich . . . .
Ungarn
Belgien
Schweiz
Ver. Staaten ....
u
'S
1871
1«7Ä
1871
1869
1869/70
1866
1870
bo
56,06
47,82
43,18
41,67
58,44
47,25
51,50
49,40
32,44
5«
43,92
52,18
56,82
58,33
41,56
52,75
48,50
50,60
67,66
Von der Gesammtberöl-
kerung beschäftigt bei
&
%
32,60
9,52
17,04
11,58
37,32
32,66
18,11
20,70
15,81
1
12,27
22,33
10,11
12,85
11,15
4,17
19,59
18,33
6,56
^ 'S
1,76
4^
4,29
2,82
1,95
0,86
1,46
3,42
3,09
Man erkennt aus dieser Tabelle zunächst, wie schwierig und unzu-
verlässig auch die einfachste Classification ist. Jedenfalls ist bei den
meisten hier erwähnten Ländern die Zahl derjenigen Individuen, welche
zu nicht näher bestimmten Professionen gerechnet sind, viel zu gross, um
eine gründliche Einsicht in die gesammte Berufsgruppirung zuzulassen.
Sodann scheint offenbar der BegriflP „liberale Professionen" sehr ungleich-
massig erfasst worden zu sein. Um irgendwie einen Schluss zu folgern,
ob in den angeführten Staaten die gesammte nationale Arbeitsaufgabe
vernünftig und glücklich vertheilt ist, dazu reicht eine solche Zusammen-
stellung wohl nicht entfernt aus.
Selbst die besten Erhebungen lassen noch Vieles vermissen. So
namentlich die Berufsermittlung im deutschen Reiche von 1871. Sie ergab
in der Hauptsache Folgisndes *). Von 1000 Einwohnern kommen auf:
Preussen . . . .
Bayern
Sachsen
Württemberg . .
£1 sass-Lothringen
Baden
Deutsches Reich .
1)^
CO S
'S PH
SS
248,1
345,8
158,8
303,9
207,7
360,7
260,9
«95,7
290,z
510,3
385,8
311,4
329,1
318,4
'Sfe
80,1
72,5
93,6
72,9
59,0
82,3
80,9
In dieser Zusammenstellung lässt die
Columnen.das Ganze als wenig brauchbar
Dienstboten, welche bei ihren Arbeitgeb
^-2 S g'SÄ
iiipi
272,5
198,8
143,6
136,3
184,9
156,8
233,0
£1
PQ
47,5
45,2
47,8
57,3
78,7
49,6
40,6
ar
'S I
«'S s
5 E
^ t2
56,1
56,5
45,9
43,8
158,3
21,5
56,2
Unsicherheit der letzten drei
erscheinen. Rechnet man die
ern wohnen, in die änderen
Die Berafsclassen der Bevölkerung. 251
Columnen ein und die letzten beiden Columnen zusammen, so ergibt sich
folgendes Resultat^):
Bergbau, Industrie, Bauwesen 136 Promille
Handel und Verkehr 136 „
Land- und Forstwirthschaft, Jagd und Fischerei, auch
persönliche Dienste und Lohnarbeit wechselnder Art 656 „
Uebrige Berufsarten und ohne Beruf 72 „
Noch weit ungenügender erscheint die letzte Erhebung über die
Berufsarten in Oesterreich-Ungam. Hier ergab die Volkszählung vom
31. December 1869:
Berufsclassen OesteiTeich Ungarn
Geistliche 1,5 Promille 1,3 Promille
Beamte 3,8 „ 2,8 „
Lehrer 2,o „ 1,8 „
Studirende 3,7 „ 4,i „
Literaten, Künstler 0,8 „ 0,8 „
Anwälte, Notare 0,* „ 0,3 „
Aerztliches Personal l,fc „ 0,» „
Haus- und Rentenbesitzer .... 21,o „ 5,2 „
Beim Landbau 371,3 „ 325,* „
Beim Bergbau 5,2 „ 3,2 „
Industrie, Handel, Gewerbe .... 132,i „ 54,i „
Dienstboten för persönl. Leistungen 40,5 „ 74,i „
Ohne bestimmten Erwerb .... 4^5,i „ 526,5 „
Wenn nun auch die hier mitgetheilten Uebersichten fast mehr den
Charakter von abschreckenden Beispielen, als den von gelungenen Erhebun-
gen an sich tragen, so durften sie doch mii^etheilt werden, weil ihre Unvoll-
kommenheit zur Aufklärung über das Ideal einer Berufs-Statistik beiträgt.
Die Aufgabe der Berufs-Statistik liegt darin, Einsicht zu verschaffen
in die Art, wie das Volk seine gesammte Arbeitsaufgabe getheilt hat. Es
soll nachgewiesen werden, wie sich die Gesammtbevölkerung auf die
mannigfachen Nahrungsquellen, welche ihr zu Gebot stehen, vertheilt.
Und bei jeder einzelnen Berufskategorie ist sodann wieder zu unter-
scheiden, wie sich die Gesammtheit ihrer Angehörigen in solche theilt,
welche den Beruf wirklich ausüben und in solche, welche (als Hausfrauen,
Kinder etc.) dem Beruf blos insofern zugerechnet werden müssen, als er ihre
Nahrungsquelle bildet. Und diejenigen, die den Beruf wirklich ausüben („active
Berufsangehörige") müssen wieder ausgeschieden werden in solche, die ihn
selbständig, und in solche, die ihn blos als Gehilfen Anderer ausüben.
Eine derartige Ausführung der Berufsstatistik stösst jedoch auf die
grössten Schwierigkeiten.
Dieselben liegen in der Mannigfaltigkeit der Berufszweigfe, und im
häufigen Mangel fester Grenzen zwischen denselben, sowie in dem Um»-
252
Die Beruf sclasseo der Bevölkerung.
Stande, dass häufig von einem Individuum mehrere Berufszweige getrieben
werden; auch in dem möglichen Berufswechsel. Wie oft kommt es vor,
dass Jemand Weinhändler und Wirth, oder Wirth und Metzger, oder
Fischer und Ueberführer etc. zugleich ist! Und wie oft ist es völlig un-
bestimmbar, ob Söhne und Töchter eines Berufsangehörigen wirklich activ
im väterlichen Beruf arbeiten oder nicht (blos aushilfsweise etc.)! Wie
oft gestattet eine und dieselbe Berufsart verschiedene Bezeichnungen!
In Gegenden, wo Landwirthschaft und Industrie lebhaft neben ein-
ander betrieben werden, wird es stets zweifelhaft sein, ob ein als „Tag-
löhner, Handarbeiter" Bezeichneter eine Hilfskraft des Landbaues oder
der Industrie ist. Auch wird es stets schwierig sein, unter den Dienst-
boten diejenigen, welche blos häusliche Dienste leisten, zu scheiden von
jenen, die an dem Beruf des Dienstgebers mitarbeiten.
Aumerkuugeu.
*) NachL. Bodio: Auiiali di Stat. Ser. la, Vol. 10,* pag. 41 ff.
Dagegen gnippiren sich nach einer älteren Zusammeustelluug you Le-
goyt (in „La France et TEtraiiger") die Berufsclassen wie folgt:
Unter je 1000 arbeitsfähigen Einwohnern (ausschliesslich Kinder) gehörten
Zeit
zum
Ackerbau
zu
zu den
Industrie
liberalen
und
Pro-
Handel
fessionen
340
29
282
227
391
44
339
24
299
46
150
7
166
9
133
29
232
45
406
47
472
24
370
. 22
136
40
297
36
zu anderen,
nicht näher
bestimmten
Professionen
England • ,
Niederlande
Belgien . .
Frankreich •
Dänemark .
Norwegen .
Schweden
Oesterreich .
Bayern . . •
Oldenburg .
Sachsen . .
Preussen . .
Griechenland
Ver. Staaten
1851
1850
1846
1856
1855
1845
1855
1857
1852
1855
1849
1852
1856
1850
236
208
512
529
386
273
488
502
692
512
322
519
658
446
395
285
53
208
279
570
337
336
31
35
182
89
166
221
*) Block-v. Scheel a. a. 0. pag. 281.
») Stat. Jahrb.. f. 1880, S. 15.
Hinsichtlich der übrigen Staaten möge aus der in Anm. 1 genannten
Quelle noch Folgendes angeführt werden :
I. StJhweiz. Nach der eidgenössischen Volkszählung vom 1. Dec. 1870
zerfallt die Bevölkerung in folgende Berufsgruppen:
Die Bernfsclassen der BetOlketnng.
253
B^rufsgruppeii
Rohproduceuten
Industrietreibeude
Handeltreibende
Beim Transportwesen . . .
In liberalen Professionen be-
schäftigt
Arbeiter schlechtweg, Dienst-
personal
Ohne Profession
Zusammen .
557711
483995
69660
21570
44662
26447
1,204045
32873
18874
22779
1353
13876
17352
7345
566372
439900
82735
35963
59394
11852
154434
1,156956
942769
175174
58886
117932
29204
188226
114452
1,350650
2,669147
IL Frankreich. Die Berufsclassification von 1872 unterscheidet folgende
Gruppen (in 1000 Seelen):
Berufsgruppen
(D 0)
cT I
« a 'S
c8
N3
Landwirthschaft
Industrie
Handel
Transportwesen, Credit, Bank-
wesen etc
Verschied. Berufsarten (Gast-
wirthe etc.)
Liberale Professionen . . .
Von Renten Lebende . . .
Ohne Beruf
Nicht classificirte Bevölkerung
Nicht bestimmte Berufsarten
5970
3827
1515
338
156
994
970
11312
4450
1603
501
204
666
795
1231
174
205
42
34
154
337
18513
8451
2960
395
1815
2103
297
439
244
ni. England und Wales. Der Census von 1871 unterscheidet:
Berufsgruppen:
Liberale Professionen (Professional Class.) 684102
Dienende (Domestic Class.) 5,905171
Handel und Verkehr (Commercial Class.) 815424
Landwirthschaft (Agricultural Class.) 1,657138
Industrie (ludustrial Class.) .«...., ' 5,137725
ünbest. Berufsarten u. Berufelose (Indefinite and non productive Class.) 8,512706
22,712266
254
Selbstindige uBd unBelbBt&ndige BerafMurten.
IV. Vereinigte Staaten,
gende Berufsgruppen:
Nach dem Gensus yon 1870 bestehen fol-
Berufsclassen
Absolute
Zahl
Auf 100
Einwohner
J Landbau, Viehzucht, Forstwirthschafb
Fischerei und Jagd
Bergbau, Steinbrüche etc
Industrielle Gewerbe
Handel und Transportwesen
Dienstpersonal . . . ••
Militär und Marine
Oeffentliche Verwaltung
Cultus ,
Justiz
Sanitätspersonal
Erziehung und Belehrung
Schöne Künste
Auf Kosten Anderer lebend, und ohne festen
Beruf
Noch zu den liberalen Professionen
Zusam rneu .
5,922471
27106
152107
2,528208
1,194238
2,007400
25147
67822
43874
40736
63549
126822
2948
26,052448
306495
15,36
0,07
0,99
6,66
3,09
5,22
0,07
0,17
.0,12
0,11
0,16
0,32
0,01
67,66
38,558371
100,00
§. 137. Fortsetzung. Selbständige und unselbständige Berufsarten.
Auch durch den Gegensatz von selbständigen und unselbständigen
Berufsarten wird die Berufsstatistik nicht wenig erschwert. Es ist gewiss
eine der folgenreichsten wirthschaftlichen und socialen Erscheinungen^ dass
nicht jeder Erwachsene in Besitz, Erwerb und Beruf selbständig ist, son-
dern dass der grössere Theil der Angehörigen civilisirter Länder im
Dienste Anderer, nach den Vorschriften und Arbeitsmethoden Anderer
thätig werden muss.
Aber selbst dieser Gegensatz, so wichtig er auch ist, kann nicht in
allen Gebieten menschlicher Berufsthätigkeit genau verfolgt werden. Nament-
lich sind die sogenannten liberalen Professionen, einschliesslich des Be-
amtenthums, einer Unterscheidung von Selbständigen und Gehilfen kaum
zugänglich.
Begi'eiflicher Weise ist das Zahlenverhältniss von Selbständigen und
Gehilfen nothwendig in den verschiedenen Hauptberufsgruppen ein sehr
ungleiches. Um nur ein Beispiel herauszugreifen, so sind in Bayern bei
der Landwirthschaft 18 Ji^ selbständig im Besitz, 99^ Angehörige der-
selben, 4^(16 landwirthschaftliche Dienstboten. Dagegen ist daselbst bei
der Industrie die Zahl der Selbständigen und der Gehilfen fast gleich;
Dm Capital. 255
bei der Berufsgnippe „Handel und Verkehr*^ triflFt ein Gehilfe nahezu
erst auf zwei Selbständige *).
Mit der einfachen Unterscheidung von selbständigen und unselb-
ständigen Personen ist aber die sociale Stellung der verschiedenen Volks-
bestandtheile keineswegs erschöpft. Eine eingehendere Gliederung muss
unterscheiden :
1. Selbständige in Besitz, Beruf und Erwerb.
2. Angestellte (mit mehr oder weniger festem und dauerndem Ein-
kommen).
3. Gehilfen, Arbeiter, d. h. Personen, die grösstentheils von der
Hand in den Mund leben.
4. Dienende aller Art.
5. Sonstige Angehörige.
6. Almosenempfanger.
7. Insassen von Anstalten.
Setzt man die erhaltenen Zahlen in Beziehung zur Gesammtbevöl-
kerung, so ergibt sich ein sehr beachtenswerther Ueberblick über die
Quoten, welche die einzelnen socialen Gruppen ausmachen. In Preussen
z. B. traf nach der Aufnahme von 1871 *):
ein Selbständiger in Besitz, Beruf und Erwerb auf 8,i Einwohner
„ Angestellter „ 65,8 „
„ Gehilfe und Arbeiter „ 4,6 „
„ Dienender aller Art „ 15,fc „
„ sonstiger Angehöriger „ 1,8 „
„ Almosenempfanger „ 267,2 „
„ Insasse einer Anstalt „ 257,« „
Anmerkungen.
*) 6. Mayr: Gesetzmässigkeit im Gesellschaftsleben, 192.
*) Stat. Jahrbuch, 1876, S. 134 (9).
m. §. 138. Das Capital.
Die Capitalien der civilisirten Nationen sind der statistischen Beob-
achtung wegen ihrer Mannigfaltigkeit und Massenhafbigkeit nur in sehr
beschränktem Maasse zugäBglic)i. Es sind Milliarden von ewiger Beweglich-
keit. Und von diesen Milliarden haben die einzelnen Bestandtheile die
verschiedensten Bedingungen der Existenz und Vermehrung.
Wie bei der Bevölkerung, so lässt sich auch beim Capital der je-
weilige Stand desselben und sein Gang beobachten. Im Allgemeinen ist
zweifellos bei den meisten Bestandtheilen des Gapitales der Gulturvölker
eine nur selten unterbrochene riesenhafte Vermehrung zu beobachten. Man
muss jedoch, um eine einigermassen richtige Anschauung über die Schwie-
256 Das Capital.
rigkeiten zu gewinnen, welche der Statistik des Capitales entgegenstehen,
die verschiedenen Arten von Capitalien gesondert betrachten. Man wird
sodann finden, welche Mittel gegeben sind, um die einzelnen Bestandtheile
zu messen, und wie verschieden die Zuverlässigkeit dieser Mittel ist.
I. Das stehende Capital. Da dasselbe die Eigenschaft hat,
längere Zeit hindurch erhalten zu bleiben und die Nutzung von sich ab-
lösen zu lassen, ist es der ziffermässigen Beobachtung immerhin leichter
zugänglich als das flüssige Capital. Aber auch hier ist der Spielraum der
blossen Schätzung ganz unverhältnissmässig gross gegenüber wenigen zu-
verlässigen Zahlen. Die Hauptbestandtheile des stehenden Capitales sind:
1. Die Grundstücke. Wenn man auch mit Hilfe der statistischen
Erhebungen, welche jetzt in allen Culturstaaten über Anbau und Benützung
des Bodens gepflogen werden, zu genauen Resultaten über den Umfang
der benützten Ländereien, und zu annähernd genauen Kenntnissen der
Erträgnisse gelangt, so sind damit für den Totalwerth der Grundstücke
nur sehr dürftige Resultate gewonnen. Auch die Bodenwerthe, welche man
erhält, wenn man die bei einzelnen Verkäufen von Grundstücken erzielten
Preise zur Grundlage nimmt, sind keineswegs ganz zuverlässig. Es mag
daher wohl gerechtfertigt erscheinen, wenn man in dieser Hinsicht auf die
Mittheilung von Zahlen verzichtet *).
2. Die Gebäude. Hinsichtlich derselben sind noch weit grössere
Irrungen möglich als hinsichtlich der Gnindstücke. Bezüglich der städtischen
Gebäude können die Miethpreise einigermassen als Anhaltspunkte für die
Werthsermittelung dienen; bezüglich der ländlichen Gebäude dagegen,
welche in der Regel nicht vermiethet und bei Verkäufen als Zubehör der
Grundstücke angesehen werden, fehlen solche Anhaltspunkte und derjenige
Werth, der sich aus den Baukosten entnehmen lässt, müsste für jedes
einzelne Gebäude unter Berücksichtigung . der Abnützung berechnet werden.
Man müsste demnach auch hier auf irgend welche zuverlässige Anhalts-
punkte verzichten. Doch werden solche von ganz anderer Seite her ge-
liefert, nämlich durch die Versicherungsstatistik. Diese nimmt überhaupt
in der Statistik des Capitales eine bedeutende Stellung ein. Die Ziffern
der Feuerversicherungsstatistik geben jedoch auch nicht den wirklichen
Werth der Gebäude an, sondern lediglich diejenige Werthsumme, welche
eben durch die Bevölkerung gegen Brandschaden gesichert werden soll.
Immerhin ist diese Summe bedeutungsvoll genug, wenn auch ihre Zunahme
eben so wohl vom gesteigerten Werth wie von der gesteigerten Vorsicht
herrühren kann.
Im Deutschen Reiche betrug die Gesammtversicherungssumme der
358 inländischen Feuerversicherungsanstalten, welche im Jahre 1876 thätig
waren, 64702 Millionen Mark. Hiebei ist allerdings Immobiliar- und Mo-
Das Ciipital. 257
biliarversicherungssumme zusammengenommen *). Es ergibt sich demnach
eine Feuervei-sicherungssumme von rund 1500 Mark für den Kopf der
Bevölkerung. Dagegen betrug in Frankreich im gleichen Jahre die Ge-
sammtversicherungssumme 80110 Millionen Francs ^), während sie noch
1869 erst 68399 MilL betragen hatte.
Ein grosser Theil derjenigen nationalen Capitalien, welche in Bauten
aller Art dauernd nutzbringend gemacht wurden, entzieht sich jeder
Schätzung, z. B. die Werthe von Strassen, Damm- und Haifenbauten,
Canälen, Brücken etc., während z. B. die Capitalwerthe von Eisenbahnen,
Telegraphenleitungen u. A. in anderer Weise zu ermitteln sind.
3. Werkzeuge, Maschinen, Kunstschätze, Mobilien ver-
schiedener Art. Für eine Schätzung dieser Capitalwerthe fehlt absolut je-
der Massstab.
4. Nutzthiere. üeber die Zahl derselben geben allerdings die
neueren Viehzählungen genaue Auskunft (vgl. das Capital der landwirth-
schaftlichen Statistik); eine Werthschätzung derselben bleibt jedoch immer
etwas sehr willkürliches.
5. Das in Forderungen aller Art bestehende Capital darf den hier
angeführten Capitalien nicht zugerechnet werden, da es ja als Schuld auf
ihnen lastet. Hingegen dürften Forderungen an das Ausland allerdings
zum inländischen Capitale gerechnet werden; doch müssten dem entspre-
chend auch ausländische Forderungen, die auf dem inländischen Capitale
lasten, vom Werthe desselben abgezogen werden. Die fast vollständige
Unkenntniss über den Betrag dieser Forderungen, resp. Schulden ist eben-
falls geeignet, unsere Kenntniss vom Stande des nationalen Capitales als
ganz illusorisch erscheinen zu lassen.
Doch sind auf diesem Gebiete einige Erscheinungen zu registriren,
welche von hoher volkswirthschaftlicher Bedeutung sind, weil sie einen
Einblick in den Process der Neubildung von Capital bieten, welche durch
Vorsicht und Sparsamkeit sich vollzieht. Diese Erscheinungen sind die
Lebensversicherungen und die Einzahlungen in Sparcassen.
Die Lebensversicherungen sind ein deutlicher Ausdruck der
Vorsichtsmassregeln, welche von der Bevölkerung gegen den durch den
Tod ihr zugehenden Capitalverlust ergriffen werden. Von diesem Gesichts-
punkte aus dürfte folgende Uebersicht Interesse bieten. Es liefen Ende
1877 Lebensversicherungen *) :
Haashofe r, Statistik. 2. Aufl. 17
258
Das CapitaL
Zahl der
Gesell-
schafbeu
Zahl der
Versichemngen
Betrag der
Versicherungen
(in Reichsmark)
Deutsches Reich . .
Deutsch-Oesterreich
Deutsche Schweiz .
Frankreich . . . .
England
New- York
38
it
13
109
34
565567
185288
«3018
177300
1,006856
633096
1853 Mill.
386 r,
102 r>
1299 «
7907 r>
6224 r,
Hiezu muss bemerkt werden, dass die Zahl der Versicherungen stets
um etwas weniges grösser ist, als die Zahl der versicherten Personen. Im
Deutschen Reiche stellt ßich die Zahl der letzteren auf 563260,* in Deutsch-
Oesterreich auf 183444.
Was an der vorstehenden Tabelle beobachtet werden kann, ist eines-
theils die verschiedene Verbreitung des Versicherungswesens in den ge-
nannten Ländern, andemtheils die Höhen der Versicherungssummen. Hin-
sichtlich dei^ Verbreitung jener Vorsicht, welche im Versicherungswesen
ihren Ausdruck findet, steht England unter den europäischen Ländern
bei weitem obenan. Dort ist das Versicherungswesen in die breitesten
Schichten des Volkes eingedrungen. Bezüglich der Höhe der Versicherungs-
summen dagegen steht, entsprechend dem ganzen nationalen Wirthschafts-
leben, Amerika voran, wo eine Versicherung durchschnittlich auf die Summe
von 9831 Mark lautet, während die Durchschnittssumme in Deutschland
blos 3278 Mark beträgt.
Aus der Zahl der Sparcassen können gleichfalls Schlüsse auf die
Capitalsschaffung der Bevölkerung und ihren haushälterischen Sinn, auf
ihr durchschnittliches Einkommen dagegen nur unter Vergleichung der
durchschnittlichen Consumtion gezogen werden. Zunächst erkennt man aus
dieser Zahl die im Lande vorhandene Spargel egenheit. 1862 bestanden
in Preussen 483, in der Schweiz 230 und in Sachsen 119 Sparcassen.
In Preussen kam eine Sparcasse auf 10,5 Q.-Meilen und 38303 Einwohner,
in der Schweiz auf 3,2 Q. -Meilen und 10914 Einwohner, in Sachsen auf
2,2 Q,.-M. und 19529 Einwohner. — Es ist demnach nichts aufiallendes,
dass die Zahl der Sparenden in der Schweiz und in Sachsen grösser ist,
als in Preussen. Man hat bemerkt, dass die Zahl der Sparenden durch-
aus in demselben Verhältnisse grösser ist wie die Gelegenheit zum Sparen.
Wenn man die Zahl der Sparcassen vermehrt, mehrt man demnach
auch die Zahl der Sparer.
Zweifellos sind heutzutage die Sparcasseneinlagen der Ausdruck nur
für die bescheidensten Anfänge der Capitalsersparniss, da es ja selbst in
Das Capital.
259
den ärmeren Kreisen der Bevölkerung nicht allzuschwer ist, in kurzer
Zeit wenigstens so viel zu ersparen, um ein kleines Werthpapier zu er-
werben. Wie bedeutend aber das Wachsthum der Sparcassencapitalien
ist, mag schon daraus hervorgehen, dass z. B. in Oesterreich (diesseits)
i. J. 1871 die Summe der Einlagen zu Anfang des Jahres 285, zu Ende des
Jahres dagegen schon 431 Millionen Gulden österreichische Währung betrugt).
Aehnlich in Frankreich *), wo der Credit der Einleger i. J. 1875
von 573 Millionen Francs am Anfange des Jahres auf 660 Millionen am
Ende desselben anwuchs. In- Grossbritannien und Irland weisen die dortigen
Postsparcassen seit 1865 eine ununterbrochene Steigerung ihrer Einlage-
capitalien von 6,5 Millionen Pfund Sterling bis auf 32 Millionen im Jahre
1879 nach ').
Die Sparcassen sind einer der wenigen Gegenstände der wirthschaft-
lichen Statistik, bezüglich deren aus neuester Zeit vergleichfende oflficielle
Erhebungen existiren. Denselben ist Folgendes zu entnehmen *) :
Länder
fO ^ hl)
03
Mill. Fr.
o
.3sS o
J<
Länder
Guthaben
der
Einleger
Auf
1 Einwohner
trifft Francs
Mill. Fr.
124
29,3
130
73,9
289
108,4
18
0,8
8
4,7
1104,9
21,9
1742
397,7
164
181,4
385
396,8
1151
792,3
391
729,3
267
1233,0
162
259,3
168
529,4
32
98,4
99
127,2
0,6
1,4
95
35,5
i
Frankreich . (1872)
Belgien . . (^874)
Niederlande (1872)
Oesterreich . (1874)
Ungarn . . (1873)
Oesterr.-Ungani
Preussen . . (1874)
Sachsen . . „
Thüringen und An-
halt . . . (1872)
Oldenburg . (1874)
Mecklenburg (1872)
Bayern . . (1869)
Württembg. (1873)
Baden . . . (1874)
El8a8s-Lothr.(1872)
Hamburg . (1874)
Bremen . . (1873)
Lübeck . . (1873)
Deutsches Reich .
Grossbritann. (1874)
Dänemark . (1873)
515
62
28
1348
380
1728
1232
54
18
26
62
69
103
7
41
35
3
1941
1615
251
14,2
11,9
6,7
66,6
24,6
48,5
50,0
111,9
49,4
58,4
48,0
12,8
38,0
70,8
4,5
113,3
258,9
66,1
49,2
49,8
137,8
Schweden . (1872)
Norwegen . „
Schweiz . . (1870)
Eur.Ru8sland(1872)
Finnland . . „
Italien . . . (1876)
New-York (Staat)
(1874—75)
New-fersey (1875)
Californien . „
Massachusetts „
Connecticut . „
Rhode-Island „
Maine ... y,
New Hampshire „
Vermont . . ' „
Maryland . „
Minnesota . „
Pennsylvanien „
17*
260 Die Landwirthschaft.
IL Das umlaufende Capital. Hinsichtlich derjenigen Bestand-
theile desselben; welche durch die Roh- und HilfsstoflPe der Industrie so-
wie durch die im Handel befindlichen Waarenvorräthe repräsentirt werden,
muss man auf verlässige Zahlenangaben fast völlig verzichten. Was dagegen
den durch das baare Geld repräsentirten Theil des Umlaufscapitales be-
triflft, so soll über denselben anderen Ortes Mittheilung gemacht werden.
Anmerkungen.
') In manchen privatstatistischen Arbeiten finden sieb allerdings Versuche
zu einer Schätzung des Gesammtbodenwerthes einzelner Länder. So theilt
Neumann-Spallart (Ueber«ichten etc. 1880 S. 6—8) einige der vorzüglichsten
Schätzungen mit, nach welchen in England (von Roh. Giffbn) der Capitals-
werth der Grundstücke für 1875 auf 2007 Mill. Pfd. St. geschätzt wird, in
Frankreich (nach de Foville) auf 100 Milliarden Francs (1878).
^) Zeitschr. des preuss. statistischen Bureaus, 1878, IL Heft.
•) Annuaire statistique, 1878, pag. 527.
•) Block-v. Scheel a. a. 0. S. 343.
*) Statistisches Handbüchlein f. 1871. pag. 66.
•) Annuaire etc. pag. 194.
^) Statistical abstract for the united Kingdom. 1880. pag. 125.
®) Das bezügliche Werk ist: „Statistique internationale des caisses d'epargne.
Compilee par le bureau de statistique du royaume dltalie. Rome 1876. pag. 79.
II. Capitel.
Land- und Forstwirtliscliaft.
I. Die Landwirthscliaft.
§. 139. Febersioht,
Bei der landwirthschaftlichen Statistik sind im einzelnen zu unter-
suchen :
I. Die Productionsfactoren, und zwar zunächst der zur Land-
wirthschaft benützte Boden in seiner Beschaffenheit und Vertheilung,
sodann die Arbeitskräfte: die landwirthschaftliche Bevölkerung.
IL üeber die Productionsmethoden geben Aufschluss einestheils
das Verhältniss der Arbeitskräfte zum Capital , die Anwendung von
Maschinen, die Masse der Betriebsverbesserungen u. s. f., andererseits
auch die
III. Resultate des Betriebes, die Masse der Producte. Zur Unter-
suchung der Betriebsresultate müssen auch die Productionskosten , die
Preise der Producte, die Roh- und Reinerträge beigezogen werden.
Bodenbesehaffenlieit. 261
IV. Die einzelnen Zweige landwirthschaftlicher Thätigkeit, gleich-
falls wieder mit Berücksichtigung der eben genannten Beobachtungsobjecte.
Anmerkung.
Die ersten Versuche eiuer Statistik der Landwirthschafl reichen bis auf
Ludwig XIV. zurück. Finanzielle Gründe veranlassten in Frankreich diese
Anfange. In Schweden wurden 1735 durch den Reichstag landwirthschafblich-
statistische Erhebungen yon den Proyiuzialbehörden gefordert und 1741 specielle
Fragen zur Beantwortung an diese Behörden gerichtet, namentlich bezüglich
der beackerten Bodeufläche, des Saatquantums, des Ertrages etc. Aehnliche
Erhebungen verlangte die sächsische Regierung im Jahre 1755. Schweden und
Sachsen haben demnach zuerst regelmässige Ernteerhebungen vorgenommen,
Sachsen auch den ersten Versuch eiuer Viehzählung (1697).
Die amtliche Statistik beschäftigte sich 1763 in Frankreich noch ver-
geblich mit einer Katastrirung des Landes; doch wurde gleichzeitig eine solche
in der Lombardei durchgeführt. In Frankreich war man deshalb 1790 auf eine
Berechnung Lavoisier''s angewiesen, welcher aus der Zahl der Pflüge die beackerte
Fläche zu bestimmen suchte. 1852 erst wurde ein genaues französisches Kataster
beendet. Die sowohl zu Napoleon''s Zeit als unter der Regierung der Restauration
gestellten landwirthschaftlich-statistischen Fragen wurden entweder gar nicht
oder ungenügend beantwortet.
In Deutschland beginnen erst 1847 allgemeinere statistische Erhebungen
in diesem Grebiete.
Doch selbst in den Beschlüssen der statistischen Congresse zeigt sich
lange kein entschiedener einheitlicher Angriff der landwirthschaftlichen Statistik.
Auf sieben Congressen wurde der Gegenstand behandelt, mit besonderem Glücke
auf dem Pariser, wo die mannigfachen Schwierigkeiten der landw. Statistik
sorgfältig geprüft wurden. Die grösste dieser Schwierigkeiten liegt in der
Abneigung der Landwirthe, Aufschlüsse über ihre Wirthschaft zu geben. Es
sind jedoch solche Aufschlüsse nur durch Aufnahmen von Haus zu Haus über-
haupt zu erhalten.
An Privatarbeiten ist für einzelne Länder allerdings schon ganz Vorzüg-
liches geschaffen worden. So verdient namentlich Erwähnung der betr. Theil
des grossen Werkes von Viebahn: y, Statistik des zoll vereinten etc. Deutsch-
land, ferner das treffliche Werk von Meitzeu über die landw. Verhältnisse
Preussens u. A.
§. 140. BodenbeschafEenheit.
Da die Landwirthschafl; so sehr von der Natur, dem Boden und
Klima abhängig ist, wird die landwirthschaftliche Statistik sich zunächst
mit der BeschaflF^Bnheit des Bodens beschäftigen müssen.
Die Verschiedenheiten des Bodens bezüglich seiner Lage , des
Mischungsverhältnisses seiner Ackerkrume etc. sind gi'oss; ebenso gross
die Verschiedenheiten der Fruchtbarkeit. Man classificirt den Boden theils
nach jenem Mischungsverhältniss (Sand-, Lehm-, Thon-, Kalk- und
Mergelboden), theils nach den Früchten, welche er hervorzubringen ver-
262
Bodenbeschaffenheit.
mag (Weizen-, Gersten-, Hafer-, Roggenboden, absoluter Waldboden,
Moorboden etc.).
Von Bedeutung für die Fruchtbarkeit des Bodens ist nächst diesem
Mischungsverhältniss das rauhere oder mildere Klima bei höherer oder
niedrigerer Lage, die Himmelsrichtung, nach welcher ein Feld sich abdacht,
die äussere Form, die Feuchtigkeit.
Aber nicht nur der Pflanzenwuchs selbst, sondern auch die Boden-
bestellung wird durch das Klima wesentlich beeinflusst. Böden, welche
nur (z. B. wegen hoher rauher Lage) kürzere Zeit sich zur Bearbeitung
eignen , verlangen Bereithaltung grösserer Arbeitskraft und produciren
daher theurer.
Der Boden, wie er jetzt in unseren civilisirten Ländern vorliegt, ist
ein Resultat tausendjähriger Bearbeitung und Verbesserung durch Menschen-
hand. Es ist von Bedeutung, wie viel alte Cultur im Boden steckt, und
welche neue Unternehmungen zu Culturzwecken stattfinden.
Alle diese Einzelheiten eignen sich zur statistischen Untersuchung.
Ganz besonders aber auch die verschiedenen Culturarten: das Verhältniss
von Ackerland, Gärten, Wiesen, Weiden, Waldungen und landwirthschaft-
lich unbenutzbarem Lande. Und zwar dieses Verhältniss nicht nur an sich,
sondern namentlich auch auf den Kopf der Bevölkening berechnet.
Eine Vergleichung verschiedener Länder in dieser Hinsicht wäre
streng genommen nur dann möglich, wenn die Erhebungen über den
Bodenanbau überall nach gleichem System gepflogen würden. Zwischen
bebautem Lande hier und bebautem Lande dort ist ein grosser Unter-
schied, je nachdem man den Begriff der Bodencultur fixirt. Versucht man
trotz dieser Schwierigkeit eine Vergleichung, welche freilich weitere Schluss-
folgerungen ausschliesst, so stellt sich der Procentsatz für die Hauptarten
der Bodenbenützung in den europäischen Ländern folgendermassen *):
Staaten
Acker-
Jaud und
Gäileu
Wiesen
Wein-
gärten
Wälder
üebriges
Land (Oed-
land, Unland,
Wege etc.)
P e r c e n t
Oesterreich diesseits
Ungarn
Deutsches Reich .
Russland
Italien
Schweden ...
Norwegen ....
Dänemark ....
32,63
27,63
48,60
43,19
41,00
7,60
0,66
59,00
10,86
0,86
33,00
8,46
2,07
32,05
17,70
1,00
26,10
7,41
0,69
18,20
24,00
2,00
10,00
2,50
-«
60,00
1,32
—
66,00
6,80
—
5,80
22,75
29,82
6,60
30,61
18,00
30,00
32,18
29,00
BodenbescliAffenlieit.
263
Staaten
Acker
laud und
Gärten
Wiesen
Wein-
gärten
Wälder
Uebriges
Land (Oed'
land, Unland,
Wege etc.)
P e r c e n t
Niederlande . . . . •
Belgien
Grossbritannien u. Irland
a) England
b) Schottland . . .
c) Irland
Schweiz
Spanien
Portugal
Europ. Türkei ....
Griechenland
Frankreich
21,77
51,58
60,00
29,96
12,72
28,33
14,85
41,79
18,34
40,30
10,04
51,9
35,86
10,43
29,00
47,51
14,15
43,23
5,60
13,81
1,32
6,00
1,62
9,8
(Weiden
12,8)
0,01
0,64
1,85
1,02
2,00
1,99
4,3
7,10
35,27
18,52
19,46
4,00
?
7,00
22,53
?
73,13
?
28,44
15,90
63,01
5,52
37,03
4,40
74,92
15,00
36,70
18,83
67,52
17,7
3,5
(sol non
agricole)
Die Ursachen der verschiedenen Bodenverwendung liegen:
I. Im Klima. Daher der geringe Procentsatz angebauten Landes in
Norwegen, Schweden, Schottland, theilweise auch in den Alpenländem.
IL Im Charakter des Bodens, der nicht allein in Gebirgen ausge-
dehnte Flächen unproductiven Landes enthält, sondern auch im ebenen
Lande; z. B. im Deutschen Reiche die Moore Oldenburgs, in Dänemark
die Sandflächen an der jütischen Küste etc.
III. In der Bevölkerung, sei es nun, dass dieselbe aus historischen
Gründen eine ungewöhnlich spärliche ist, dass vergangene politische Fehl-
griffe die landwirthschaftliche Production zurückgeworfen, oder dass Träg-
heit und Unwissenheit der Bevölkerung sie die wirthschaftlichen Interessen
vernachlässigen lässt. Den einen oder den anderen dieser Einflüsse wird
man überall suchen dürfen, wo trotz der Gunst des Klimas und des Bodens
das angebaute Land einen geringen Procentsatz «innimmt. So in einem
grossen Theile von Südeuropa.
Anmerkung.
*) Die Zusammenstellung ist entnommen ans M. Block: Statistique de la
France, U. Ed., Tome IL pag. 27. Bezüglich des Deutschen Reiches und Oester-
reichs dürfte es jedoch angezeigt sein, noch folgende neuere und detaillirtere
Angaben mitzutheilen.
Bodenhenutzung in den Ländern des Deutschen Reiches (1878).
Von je 100 Hectaren der Gesammtfläche des betr. Staates kommen auf:
264
Bodenbeschaffenlieit.
Aecker,
Gärteu,
Wein-
berge
Ostpreusseu
Westpreusseu
Brandeuburg
Pommeru
Posen
Schlesien
Sachsen
Schleswig-Holstein . . .
Hannover
Westfalen
Hessen-Nassau ....
Rheinland
Hohenzollem
ganz Preussen
Frank. Prov. Bayerns .
Üebriges Bayern r. Rh. .
Linksrheinisches Bayern
ganz Bayern
Königreich Sachsen . .
Württemberg
Baden
Hessen
Mecklenburg-Schwerin .
Sachsen-Weimar ....
Mecklenburg-Strelitz . .
Oldenburg
Braunschweig
Sachsen-Meiniugeu . .
„ Altenburg . .
„ Coburg-Gotha .
Anhalt
Schwarzburg-Rudolstadt
„ Sondersh.
Waldeck
Reuss älterer Linie . .
„ jüngerer „ . .
Schaumburg-Lippe . .
Lippe (keine Aufnahme)
Lübeck
Bremen
Hamburg
Elsass-LotUringen . . .
Deutsches Reich ....
(Nach dem ofßciellen
51,0
54,2
46,2
55,1
61,6
55,5
60,8
57,6
32,6
42,0
39,8
46,5
45,8
50,1
45,6
37,7
46,3
40,8
54,3
46,4
43,1
51,0
57,1
56,0
48,1
29,4
50,4
41,6
57,9
53,1
61,5
41,1
59,0
43,4
40,5
39,0
45,2
60,2
24,6
46,9
49,6
48,5
„Statist.
Wiesen
und
Weiden
23,0
17,7
14,9
18,7
12,9
10,5
13,1
28,8
45,4
25,0
15,9
17,2
17,6
20,4
14,2
23,4
9,4
19,5
13,5
18,1
15,1
13,2
12,9
12,1
8,8
22,9
14,3
13,3
10,4
11,7
8,6
9,5
6,8
14,4
18,8
19,9
19,5
11,9
59,6
26,1
14,3
19,1
Jahrbuch
Forst-
land
18,2
21,2
32,1
19,7
20,2
28,9
20,1
6,1
15,8
27,9
40,1
30,7
33,1
23,3
34,9
31,4
38,6
33,0
27,7
30,8
37,6
31,3
16,8
25,3
19,7
8,8
30,3
41,7
28,1
30,5
24,4
45,4
29,7
37,9
36,4
37,7
22,8
12,8
1,6
3,1
30,6
25,7
1880, pag. 21.)
Haus- und
Hofräume,
Wege
0,8
0,7
0,9
0,8
0,9
1,^
1,2
1,1
1,0
1,6
0,9
1,6
0,5
1,1
2,6
2,2
3,0
2,4
3,1
2,0
2,6
3,6
3,7
3,6
2,9
3,6
2,6
3,9
9,6
Oedland,
Unland,
Gewässer
4,5
13,2
6,6
23,4
3,4
3,6
I
S,6
4,3
I
3,*
18,0
8,6
83,9
1
6,7
1,0
6,2
5,9
5,7
4,5
3,7
4,8
6,4
S,2
3,5
3,3
4,0
3,0
5,1
8,7
5,3
8,7
4,3
1,4
1,9
1,6
35,3
1,3
1,1
1,1
0,9
1,7
11,2
4,6
8,9
Die Bodenvertheilung. 265
lu Oesterreich stellt sich der Procentbetrag der Hauptculturarten wie folgt:
Länder
'S
<
g
OD
1
'25
1
9 .
K3
«,»
7,6
31,9
95,6
M
18,7
4,9
32,8
90,8
9,2
10,6
30,5
29,4
80,0
20,0
11,7
15,8
45,1
92,0
8,0
10,9
23,1
40,3
87,5
12,6
16,5
20,4
43,0
94,5
5,5
12,2
38,5
32,4
93,8
6,2
12,0
25,9
37,0
81,1
18,9
1,0
56,5
21,4
96,4
3,6
12,1
7,7
29,0
96,9
3,1
8,6
10,6
25,4
95,8
4,2
7,*
40,6
31,7
96,8
3,2
13,1
40,0
26,8
96,1
3,9
11,7
12,2
40,7
88,5
11,6
Niederösterreich . .
Oberösterreich . . .
Salzburg
Steiermark ....
Känitheu
Kraiu
Küsteulaud . . . .
Tirol u. Vorarlberg
Dalmatieii . . . .
Böhmen
Mähren
Schlesien . . . . .
Galizieu
Bukowina
2,4
40,8
34,4
—
9,5
1,*
18,6
0,1
13,1
1,0
43,6
2,3
17,4
0,3
5,8
5,4
10,9
—
48,1
1,1
50,3
—
47,1
—
46,2
—
24,9
In sämmtlichen österreichischen Ländern beträgt der productive Boden
92,6451$, ^^ Ungarn 83,ii56.
(Klun: Statistik v. Oesterreich-Ungam. S. 223.)
§. 14L Sie BodenvertheUnng.
Die Vertheilun'g des landwirthschaftlichen Eigenthums ist unstreitig
einer der wichtigsten und interessantesten Gegenstände der landwirth-
schaftlichen Statistik. Tief greift sie nicht allein in das wiithschaftliche,
sondern auch in das sociale und politische Leben der Völker ein.
Was hier, zunächst in die Augen fällt, ist der Unterschied von
grossem, mittlerem und kleinem Grundbesitz. A priori wird man geneigt
sein, anzunehmen, dass die örtlichen Unterschiede in dieser Hinsicht zu-
nächst von natürlichen Bedingungen, nämlich dem Klima und der Boden-
fruchtbarkeit, sodann von der Nachfrage nach landwirthschaftlichen Pro-
ducten, abhängen müssen. Man wird geneigt sein, anzunehmen, dass in
jenen Gegenden, wo günstige Bodenverhältnisse und lebhafte Nachft'age
eine intensive Bodencultur ermöglichen, der kleine Grundbesitz vorherrschen
müsse, dass dagegen dort, wo aus den entgegengesetzten Gründen eine
extensive, Wirthschaft geboten scheint, wo namentlich Weidewirthschaft,
Waldwirthschaft angezeigt sind, Veranlassung zur Erhaltung des Gross-
grundbesitzes gegeben ist.
Die wirklichen Thatsachen der Bodenvertheilung zeigen jedoch, dass
diese wirthschaftlichen Bedingungen vielfach durch die geschichtliche Ent-
266 Die Bodenvertheilang.
Wickelung beiseite gesetzt wurden. Die Entwickelung des landwirthschafk-
lichen Eigenthums hat keineswegs einen natürlichen Gang genommen,
sondern erscheint vielfach als eine künstlich gemacht^, als ein Resultat
socialpolitischer Factoren, manchmal sogar als ein Resultat der vielhundert-
jährigen Geltung politischer Rechte, welche heutzutage nicht mehr ganz
verständlich sind.
Wollte man sich lediglich damit begnügen, zu ermitteln, wie gross
der Grundbesitz ist, welcher im Durchschnitt eines ganzen Landes auf
jeden einzelnen Grundbesitzer trifft, so würde man hiemit nur einen sehr
summarischen Ueberblick in die Gestaltung des landwirthschaftlichen Grund-
eigenthums erhalten. Eine genauere Einsicht in dieselbe ist nur möglich,
wenn man die Besitzthümer nach ihrer Grösse in etwa 3 — 5 Classen
bringt und sodann betrachtet, wie viel von der Gesammtfläche des pro-
ductiven Bodens in jede Classe fällt, und wie gross die Bestandtheile der
landwirthschaftlichen Bevölkerung sind, welche sich auf grossem, mittlerem
und kleinem Grundbesitze ernähren. Und dieser Ueberblick muss nicht
allein für ganze Staaten, sondern namentlich auch für einzelne Landes-
theile gewonnen werden. Er darf sich endlich nicht blos mit einem be-
stimmten Zeitpunkte begnügen, sondern muss auch zur Betrachtung jener
Veränderungen fuhren, die sich in der Vertheilung des Grundeigenthums
zutragen.
Auf die Art des Besitzrechtes und das Maass der damit verbundenen
Rechte und Pflichten, sowie die Pachtverhältnisse, welche gleichfalls
Objecte der landwirthschaftlichen Statistik sind, hier einzugehen, würde
zu weit führen.
Anmerkung.
Der Gegenstand ist wichtig genug, um einige Bemerkungen über den
thatsächlichen Zustand der Bodenvertheilung in einigen der wichtigsten Länder
folgen zu lassen.
I. Für die Länder des Deutschen Reiches findet sich werthvolles Material
in einer Arbeit von v. Scheel (Jahrbücher für Nationalökonomie etc. Jahrg. 1865
und bei y. Viebahn: Statistik des zollvereinten etc. Deutschlands, II. S. 551 ff.
Der erstgenannten Arbeit ist zu entnehmen:
In Preussen kommt (1864) auf 1 Eigenthümer:
im ganzen Staat 32 Morgen = 8,i6 Hectaren.
„ östl. Theil 54 „ = 13,78 „
^ westl. y, 10 „ = 2,65 „
In Bayern ist die durchschnittliche Grösse des Besitzthums einer
landwirthschaftl. Grundbesitzersfamilie 23,9 Tagwerk = 8,u Hectaren. »Auf eine
Familie der Gesammtbevölkerung käme ein Areal von 20,7 Tagwerk = 7,06 Hect.
Gruppirt man die deutschen Länder nach geographischen Gesichts-
punkten, so ergibt sich als durchschnittliche Grösse eines land- und forstwirth-
schaftlichen Besitzthums :
Die Bodenyertheilang.
267
Freussische
Morgen
Hectaren
22,6
5,74
16,6
4,23
82,0
20,93
64,1
16,36
46,5
11,87
46,6
11,87
Süddeutschlond (Bayern, Württemberg, Hohen-
zollern)
Westdeutschland (Westfalen, Rheinland, Kur-
hessen, Rheinpfalz)
Norddeutschland (Hannover, Pommern) ....
Ostdeutschland (Schlesien, Brandenburg) . . .
Mitteldeutschland
Deutschland überhaupt
In Deutschland findet sich demnach im Norden und Osten Grossgrund-
besitz, im Süden und Westen, namentlich in den Obst-, Wein- und Tabaks-
gegenden, in der Nähe der Grossstädte und Hauptverkehrsstrassen dagegen
Bodenzersplitteining und Kleiucultur. In Folge der neuen Agrargesetzgebung
ist hier die Zahl der Kleingüter fortwährend im Wachsen.
II. In Oesterreich-Ungarn treffen (nach A. Frantz: Handbuch d.
Statistik. S. 285) von derjenigen Fläche, welche der Grundsteuer unterliegt,
auf 1 Grundbesitzer (in österr. Joch, a = 0,5756 Hectaren):
in
Joch
in
Joch
Unterösterreich
Oberösterreich
Salzburg
Steiermark
Kärnthen
Kraiii
11,1
16,1
37,0
16,6
24,9
13,8
11,0
13,4
11,6
9,4
13,8
Galizien
22,3
27,2
12,9
6,6
17,6
18,4
17,0
13,8
48,0
15,8
Bukowina
Dalmatien
(Venetien)
Ungarn
(Banat)
Croatien — Slavonien . . .
Siebenbürgen
Militärgrenze
ganz Oesterreich-Ungarn .
(oder 9,09 Hectaren)
Küstenland
Tirol und Vorarlberg . . .
Böhmen
Mähren
Schlesien
III. Frankreich. Nach officiellen Erhebungen war 1862 das cultivirte
Land (ausschliesslich der Waldungen) in 3,225877 Wirthschaften getheilt, von
welchen eine durchschnittlich 10*/, Hectaren enthielt. In, Wirklichkeit domiuirt
Kleincultur und Bodenzersplitterung, namentlich seit der Revolution. Unter
obiger Zahl befanden sich nämlich Wirthschaften:
unter 5 Hectaren 56,29^
5-10
10—20
20-30
30—40
40 u. mehr
19,19 „
11,28 „
5,49 „
2,98 „
268 ^io landwirthscliaftliühe Beyölkenuig.
Es habeu also über die Hälfte aller Grund besitzungen weuiger als
5 Hectareii, Das kleine Grundeigenthum umfasst überhaupt 75, das mitttlere
19 und das grosse 4 % des cultiyirten Bodens. (M. Block: Statistique de la
France, IL Ed., Tome II, pag. 89.)
IV. In Grossbritannien existirten (i. J. 1872) 561987 Farms, unter
welchen 54% die Grösse von 20 'Acres (8 Hectaren) nicht überstiegen; tS%
hatten 20—100 Acres und iS% über 100 Acres. (M. Block, a. a. 0.)
§. 142. Sie landwirthschaftliche Bevölkerung.
Die landwirthschaftliche Bevölkerung ist bei dem Stande, welchen
die landwirthschaftliche Thätigkeit selbst in den civilisirtesten Ländern
einnimmt, nicht mit Genauigkeit zu eimitteln, hauptsächlich wohl deshalb,
weil die Landwirthschaft ganz im Kleinen neben anderen Erwerbsarten
betrieben werden kann. Sieht man von dieser Schwierigkeit ab und be-
gnügt man sich mit den zweifelhaften Werthen, welche die officielle
Statistik bezüglich der landwirthschaftlichen Bevölkerung ergibt, so schafft
die Vergleichung der betreffenden Ziffern zunächst den Unterschied von
Ackerbau Völkern einerseits, Industrie- und Handelsvölkern andererseits.
Fast in allen Culturstaaten beträgt die landwirthschaffcliche Bevölkerung
über die Hälfte der Gesammtbevölkerung; scheint jedoch, wenigstens soweit
der Landbau das Hauptgewerbe bildet, mit der zunehmenden industriellen
Entwickelung in fortwährender Verminderung begriffen. Namentlich in der
Nähe grösserer Städte und in Fabrikdistricten zeigt sich die allmälige
Umwandlung vormals landwirthschaftlicher Bevölkerung in gewerbliche am
auffallendsten.
Neben der absoluten und relativen Zahl der landwirthschaftlichen
Bevölkerung überhaupt ist statistisch wichtig auch der Umstand, ob die
Landwirthschaft als Haupt- oder Nebengewerbe betrieben wird. Jener
Bruchtheil der landwirthschaftlichen Bevölkerung nämlich , welcher den
Landbau blos als Nebengewerbe treibt, ist in einzelnen Ländern sehr be-
deutend, in Preussen z. B. über Ya-
Ferner müssen innerhalb der gesammten landwirthschaftlichen Be-
völkerung diejenigen Gruppen unterschieden werden, welche durch das
Herrschafts- beziehungsweise Dienstverhältniss entstehen. Ihre Unterschiede
rühren vielfach aus wirthschaftsgeschichtlichen Thatsachen her, welche
von der Statistik nicht verfolgt werden können.
Anmerkung.
Da die bezüglich der landwirthschaftlichen Bevölkerung ermittelten
Ziffern verschiedener Länder nicht wohl Vergleiche zulassen, kann hier nur
auf das im §. 13ö über die Berufsclasseu Mitgeth eilte Bezug genommen werden.
Einzelne Zweige der LandtmthsehAft. 269
§. 148. Einselne Zweige der LaEdwirthschaft.
I. Der Ackerbau. Neben den Wirthschaftssystemen (Feldeintheilung,
Culturgegenstande, Fruchtwechsel) und dem ländlichen Bauwesen (Gebäude
und Geräthe) hat die Statistik des Ackerbaues besonders die Betriebs-
resultate zu untersuchen, und zwar sowohl die Gesammtproduction, als
auch die Preise der Ackerbauproducte, die Wirthschaftskosten und Rein-
erträge, Bodenrenten und Pachtpreise.
Untersucht man die einzelnen Zweige des Ackerbaues, so verdienen:
A. Die Halmfrüchte besondere Aufmerksamkeit. Die, wenn auch
unmethodischen Massenbeobachtungen über dieselben , namentlich über
das durchschnittliche Verhältniss von Ernte, Anbaufläche und Aussaat
sind uralt.
Da neben dem unaufhörlichen Schwanken guter und schlechter
Jahre auch stetige Aenderungen (in Folge von Boden- und Betriebs-
verbesserungen) hergehen, ist die Ermittelung der Durchschnittsproduction
sehr schwierig und Vergleichungen grösserer räumlicher Verschiedenheiten
fast unmöglich.
Die mittlere Getreideproduction der wichtigsten Länder stellt sich
nach den neuesten und zuverlässigsten Ziffern wie folgt (in Millionen
Hectoliter. Siehe umstehende Tabelle *).
B. Der Anbau der Blatt- und Wurzelgewächse ist mit den
landwirthschaftlichen Fortschritten im Zunehmen begriffen. Was insbeson-
dere den BLartoffelbau betrifft, so könnte seine Ausdehnung, sowie seine
Erträge, verglichen mit der Bevölkerung, wohl nur unter gleichzeitiger
Berücksichtigung der gesammten nationalen (Konsumtion zu einem Maass-
stabe wirthschaftlicher Zustände genommen werden.
Der Vorwurf, dass der Kartoffelgenuss nachtheilig für die Kraft der
Bevölkerung sei, trifft nur für jene Gegenden zu, wo die Kartoffeln als
Hauptnahrungsmittel auftreten. Der Masse nach wird die Getreideernte
von der Kartoffelernte in einigen Staaten Europa's übertroffen; im Ganzen
ist die letztere, obgleich durch Kartoffelbau auf einer und derselben Acker-
fläche das Doppelte an Nahrungsmitteln gegen jede andere bekannte
Getreideart erzeugt werden kann, untergeordnet, in Südeuropa fast ver-
schwindend, wurde jedoch in den letzten Jahrzehnten fast überall be-
deutend ausgedehnt. Sie beträgt als Mittelenite jetzt in Europa, den
Vereinigten Staaten und Australien zusammen 850 Mill. Hectoliter*).
C. Hülsenfrüchte und Handelsgewächse. Letztere namentlich
sind wegen der Zunahme und des Fortschrittes ihrer Cultur beachtens-
werth, besonders Oel- und Gespinnstpflanzen. Diese folgen in ihren Anbau-
verhältnissen jedoch nicht allein besonderen klimatischen Bedingungen,
270
Einzelne Zweige der Landwirthschaft.
sondeni ganz empfindsam auch dem Gange jener Industriezweige, welchen
sie als Rohstoif dienen.
Läuder
0) bQ
bo
bo
O
CS
Russland (1870—74)
Deutsches Reich (1878) . . .
Fraukreich (Mittelenite) . . .
Oesterreich-Uugaru (1869—77)
Grossbritaunien u. Irland (Mit-
telerute)
Italien (Mittelenite 1870—74) .
Spanien (Schätzung)
Untere Donaul äuder (Durchschn.)
Dänemark (Mittelernte 1871-76)
Schweden (1874—76) ....
Belgien (Mittelenite)
Niederlande (Mittel 1861-77)
Portugal (Mittelernte) ....
Norwegen (1873-75) ....
Griechenland (1875)
Vereinigte Staaten (1870—78)
Brittisch Ostindien (Schätzung)
Canada (1870)
Australien (1873—78) . . .
Aegypten (Schätzung) ....
Chile (1871, Schätzung) . . .
Algier (1875-76)
Japan (1874)
Summe dieser Länder .
79,6
41,8
104,2
31,7
.30,9
51,8
53,0
28,7
1,3
1,1
8,2
1,9
3,0
0,1
1,6
105,0
100,0
6,2
7,6
5,5
4,8
9,0
4,0
241,6
101,2
26,3
40,2
0,7
6,7
7,0
6,4
4,7
6,7
6,0
3,5
2,3
0,8
0,0
6,3
?
0,4
0,0
680,9
456,9
44,1
38,7
20,2
26,3
32,9
27,0
13,5
6,9
5,0
1,5
1,6
0,6
1,6
0,6
11,4
?
4,2
0,6
3,9
1,2
16,5
18,0
195,3
119,6
70,3
42,4
62,0
7,4
9,0
3,0
9,7
15,2
7,8
4,1
0,4
3,2
0,0
106,6
?
16,6
3,1
0,6
?
?
10,4
22,0
?
31,1
8,7
23,6
7,1
1,0
394,5
?
1,4
1,8
4,8
0,2
279,6
676,3
506,6
29,4
11,1
19,2
7,5
5,6
?
1,6
1,1
1,8
?
1,2
?
0,7
0,6
3,2
?
1,4
3,6
1,0
12,0
101,0
(Unter die Rubrik „Anderes Getreide" fällt hauptsächlich Buchweizen
und Hirse.)
D.. Wiesen und Weiden. Die Production ist dem Ertrage nach
sehr verschieden, bei den Weiden noch mehr, als bei den Wiesen. Der
Umfang der Weiden wird durch die Fortschritte der Bodencultur mehr
und mehr eingeschränkt. Von Wichtigkeit ist das Verhältniss der Gras-
flächen zum Ackerlande, weil Fruchtfolge und Viehstand davon abhängen.
E. Die Summe aller Naturalerträge, auf Aeckem, Wiesen,
und Weiden, das Verhältniss derselben gegen einander und die darnach
auf den Morgen Land und auf den Kopf der Bevölkerung entfallenden
Einzelne Zweige der Landwirthschaft. 271
Naturalerträge. Letztere müssten, um verglichen werden zu können, auf
einen gemeinsamen Werth reducirt werden.
Je grösser die Mannigfaltigkeit der Naturalerträge ist, desto schwie-
riger wird die Reduction auf gleiche Einheiten und damit die Vergleichung.
Je nach der Natur der Länder und der Volkssitte wiegt in der landwirth-
schaftlichen Production hier dieses, dort jenes Erzeugniss vor.
So zeigt die oben mitgetheilte Uebersicht, wie der Weizen in
Italien, Spanien, den unteren Donauländem (hier vordem der Mais) und
anderwärts das Hauptproduct der Landwirthschaft ist, der Roggen in
Russland, Gerste in Algier, Hafer in Grossbritannien und anderwärts, Mais
in den Vereinigten Staaten, während im Deutschen Reiche die Kartoffel-
production alle übrigen Producte des Landbaues der Masse nach über-
trifft und in Frankreich und Oesterreich etc. wenigstens der Masse nach
ebenfalls das Hauptproduct bildet. Hierbei muss jedoch erwogen werden,
dass nicht die Hectoliterzahl, sondern der Nährwerth und der Marktpreis
das Entscheidende sind.
n. Gartenbau und Kleincultur ist, wie alle seit langer Zeit
civilisirten und stark bevölkerten Länder zeigen, eine Noth wendigkeit bei
stark anwachsender Bevölkerung; sie erhöhen den Nationalreichthum durch
intensive Bodenbenützung und den Lebensgenuss durch Production feinerer
Nahrungsmittel. Besonders charakteristisch beim Gartenbau und der Klein-
cultur sind die hohen Reinerträge, theilweise auch die besondere Abhän-
gigkeit von klimatischen Verhältnissen (Obst-, Wein- und Tabakbau).
Beim Weinbau sind besonders bewegliche Verhältnisse bemerkbar; sogar
die Flächen des Weinlandes sind schwankend; man bemerkt an ihnen
fortwährend Ab- und Zunahme, je nach der Häufigkeit guter und
schlechter Weinjahre. Noch mehr sch^irankt die Production, in Frankreich
z, B. ergab das Jahr 1854 eine Ernte von 10,7, das Jahr 1865 eine
solche von 68,9 Mill. Hektoliter Wein, also eine Differenz um das sieben-
fache. In Preussen schwankte die Production sogar von 1800 — 1858 in
einem Verhältniss wie 1 : 39.
Anmerkungen.
*) Die Uebersicht ist aus Neumaan-Spallart. Uebersichteu über Pro-
duction, Verkehr uud Handel. Jahrg. 1879, pag. 87.
Bezüglich des Deutscheu Reichs uud Oesterreich-Unganis dürften noch
folgeude eingehendere Mittheilungeu am Platze seiu.
I. Im Deutscheu Reiche.
Die Anbauflächen der wichtigsten Bodenfrüchte stellten sich 1878 wie
folgt. Es wurden bebaut Hectar mit:
272
Einzelne Zweige der Landwirthschaft.
i n
Weizen
Spelz,
Emer,
Einkorn
Roggen
Gerste
Hafer
Kar-
toffeln
Preussen ....
Bayern
Sachsen . . . . .
Württemberg . .
Baden
Elsass-Lothringen
im Deutsch. Reich
Im Reich % der
Gesammtfläche .
1,026773
298780
45573
21154
39432
191724
1,813754
3,4
19130
97322
197928
79053
1131
403336
0,8
4,470463
578214
223074
39165
47013
40660
5,934937
11,0
876794
320535
35408
89696
58550
55590
1,620483
3,0
2,465992
439552
174011
133825
58506
92984
3,743070
6,9
1,880241
281949
114765
77050
84910
86915
2,753216
5,1
Die Erntemengen aber stellten sich wie folgt im Reiche:
Weizen .... 2,607186 Tonnen (a 1000 Kilo) oder 1,44 Tonnen pro Hectar
Roggen .... 6,919667 „ „ „ „ 1,17 „ „ „
Gerste 2,325227 „ „ „ „ 1,44 „ „ ^
Hafer 5,040240 „ „ „ „ 1,36 „ „ „
Kartoffeln . . . 23,592781 „ „ „ „ 8,67 „ „ „
IL In Oesterreich-Ungarn stellten sich die Durchschnittsernten an
dfen Hauptgetreidearten wie folgt (in Millionen Hectolitern):
Oesterreich ;
1869-1877
Weizen .... • . . . . 12,3
Roggen 24,8
Gerste 15,9
Hafer 29,9
Mais 5,2
Buchweizen und Hirse . . —
Anderes Getreide . . . . . 3,2
Zusammen . . 91,473
Ungarn:
1869—1877
19,4
15,4
10,3
12,4
16,8
3,4
0,7
79,756
Pro Hectar betragen die Bodenerträge nach achtjährigem Durchschnitt
in Oesteri'eich: in Ungarn:
Weizen 12,7 Hectol. 9,2 Hectol.
Roggen 12,4 „ 10,0 „
Gerste . 14,7 „ 11,8 „
Hafer 16,6 „ 12,6 „
Mais 16,9 „ 11,0 „
*) Die Kartoffelproduction der wichtigsten Länder beträgt nach mehr-
jährigem Durchschnitte in:
Deutsches Reich . . 272 Mill. Hectol.
Frankreich
Russland .
Oesterreich
Ver. Staaten
. 130,5
. 127
. 87,1
. 54,1
Irland 43,8 Mill. Hectol..
Grossbritannien . . . 30,4 „ „
Belgien ...... 26,3 „ „
Schweden 18,5 „ „
Niederlande 17,7 ,. .,
Die Viehzucht 273
üngaru 13,1 Mill.Hectol
Italien 8,1 „ „
Norwegen 7,2 „ „
Spanien 2,2 Mill. Hectol
(Nach Neumann-Spallart a. a. 0. S. 91.)
Dänemark 5,i Mill.Hectol.
Austral. Colonieu . . 3,3 ^ „
Portugal 3,0
§. 144. Sie Vielumcht.
Die Viehzucht, ein Productionszweig, welcher bei vorgeschrittenen
wirthschaftlichen Zuständen als Nebengeschäft des Ackerbaues betrieben
wird und durch Wiesencultur und Bau von Futterkräutern, Racenvered-
lung etc. auch einer intensiven Wirthschaftsmethode Zugang gewährt, ist
in neuerer Zeit gleichfalls ein Lieblingsgegenstand der wirthschaftlichen
Statistik geworden *).
Die Gegenstände der Viehstatistik zerfallen in folgende Haupt-
gruppen :
A. Statistik des Viehstandes. Sie gibt die Stückzahl jeder
Viehgattung, möglichst nach Alter und Geschlecht unterschieden, an. Ge-
schlecht und Alter jeder Viehart bestimmen den Futterbedarf und die
Erträge. Die Vertheilung des Viehstandes auf seine verschiedenen Lebens-
alter gibt Aufschluss über die Zahl der im Aufwuchs begriffenen und der
bereits nutzbar gewordenen Thiere.
Nächst der Stückzahl ist die Qualität wichtig. Schnellwüchsigkeit
und Futterverwerthung, Kraft, Schnelligkeit und Ausdauer, Milch- und
Wollreichthum und Productenwerth können nur durch genaue zahlreiche
Beobachtungen ermittelt werden, noch schwerer andere Eigenschaften, wie
namentlich die Vererbungsfähigkeit.
Von hoher Bedeutung ist das Verhältniss des Viehstandes
zur Boden fläche^). In directer Beziehung zur Bodenfläche steht das
landwirthschaftliche Arbeitsvieh. 35 Stück Grossvieh (Rinder und Pferde)
auf 1 Quadrat-Kilometer ist in Deutschland das durchschnittliche Ver-
hältniss, welches jedoch in den einzelnen Ländern bemerkenswerthe Ver-
schiedenheiten zeigt. Diese innige Beziehung des Viehstandes zur Boden-
fläche wird aber nicht nur durch die Arbeitskraft des Viehes, sondern
auch durch das Düngerbedürfhiss und den Futterzuwachs hergestellt. Boden
und Vieh sind gegenseitig auf einander angewiesen.
Man nimmt an, dass jeder Zentner lebenden Viehgewichts jährlich
11 Ztr. Heuwerth braucht. Berechnet man daher den Futt^rvorrath eines
Landes in Heuwerthen, so erhält man, wenn man dieses Gewicht durch
11 dividirt, das Gewicht des Viehes, welches mit diesem Futter jährlich
zu erhalten ist.
Die Stückzahl des Viehes wird aber auch vielfach durch die Race
und Beschaffenheit des Schlages beeinflusst. Eine gute, stärk gefütterte
HAQshofer, Statistik. 2 An 11. {^
274 Die ViehzncM.
Holländerkuh bedarf wohl das Sfache an Futter und liefert das lOfachc
an Milch gegen einen schlecht genährten Höhenschlag.
Wichtiger ist das Verhältniss des Viehstandes zur Volks-
zahl. Stets ist jene Bevölkerung, welche ihren Bedarf an Vieh aus
eigenem ßeichthume befriedigt, in mannigfacher Weise begünstigt vor
jener, welche durch Einfuhr fär denselben sorgen muss.
Der relative Viehstand hat in Europa in den letzten Jahrzehnten
namhafte Abnahme erlitten, welcher allerdings der Umstand gegenüber-
gestellt werden muss, dass man durch Verbesserung der Racen und durch
rationellere Eraährungsmethoden jetzt werth vollere Thiere erzeugt, als
vordem. So hat man in Frankreich constatirt, dass das Durchschnitts-
gewicht eines lebenden Ochsen von 413 Kilogramm im Jahre 1840 auf
456 Kilogramm im Jahre 1862 gestiegen ist; das Lebendgewicht der
Kühe von 240 Kilo im Jahre 1739 auf 324 im Jahre 1862 und im
gleichen Zeiträume das der Kälber von 48 auf 65 Kilo. Durch solche
Racenverbesserung ist die verminderte Stückzahl mehr als aufgewogen;
und man darf zuversichtlich annehmen, dass Aehnliches auch in den übrigen
Hauptculturländern stattfindet ^).
Wachsende, an Wohlstand zunehmende Bevölkerung, landwirth-
schaftlicher Fortschritt insbesondere verbessern den Viehstand, namentlich
an Milch- und Schlachtvieh. Die Haltung von Handelsvieh und von
Vieh, welches Handelswaare erzeugt, geht nicht mit der Bevölkerungs-
zunahme parallel, weil die Ernährung solchen Viehes bei dichter Bevöl-
kerung zu theuer wird.
Auf die Vermehrung oder Verminderung des Viehstandes nehmen
die Ernten bedeutenden Einfluss. Besonders Schweine, Schafe und Pferde
geringerer Qualität werden bei schlechten Ernten abgeschafft. Auf den
Pferdestand nehmen begreiflicherweise Kriege einen fühlbaren Einfluss.
Ein schnelleres Anwachsen des Viehes als der Bevölkerung bedeutet
unter gleichen Umständen eine Zunahme der landwirthschaftlichen Industrie
und bessere Volksernährung.
Die Standorte der Viehzucht werden hauptsächlich durch die
Haltbarkeit und Transportfähigkeit der Viehproducte gegen die Haupt-
con€umtionsplätze bestimmt.
B. Statistik der Viehzucht. In dieser Hinsicht sind zunächst
Zahl, Beschaffenheit und Race der Zuchtthiere, sowie die zur Zucht ge-
troffenen Anstalten darzustellen. Dann das zur Fortpflanzung geeignete
Verhältniss zwischen der Zahl der Geschlechter, welches bei den verschie-
denen Viehgattungen verschieden ist. Nach den gegenwärtigen Erfahrungen
der Viehzucht reicht zur Fortpflanzung ein männliches Thier bei Pferden
für 50 bis 60, bei Rindern für 30—80, bei Schafen für 60—100, bei
Dit YiehKncht 275
Schweinen für 25 — 40 weibliche Thiere. Audi das Vieh hat seine Alters-
classen, die Perioden der Auffötternng, Erziehung und Abrichtung .(beim
Rindvieh bis zum 2. und 3., bei Pferden bis zum 4. und 5. Jahre), die
der Production und die der Entwerthung.
In der Zeit der Aufzucht sind die Resultate der verschiedenen, den
Thieren gegebenen Futtermittel Gegenstand statistischer Beobachtung.
Nach den Futtermitteln modificiren sich nicht nur die in der Körper-
materie des Thieres ruhenden Eigenschaften: Gediegenheit, Ausdauer,
Kjaft, Schnelligkeit, sondern auch die Producte: Fleisch, Fett, Milch,
Butter, Wolle.
Auch der Abgang ist von statistischem Interesse. Die Lebensdauer
eines Pferdes, so lange es noch arbeiten kann, wird auf 14 — 16 Jahre
angenommen. Das Rind kann ein Alter von 20 — 25 Jahren erreichen,
ist jedoch wohl nur halb so lange nutzbar. Die Lebensdauer der grossen
Niederungsschafe beträgt 10, der Merinos 20 Jahre; die Entwerthung be-
ginnt indessen schon früh. Die Lebensdauer der Schweine ist noch kürzer.
Die seuchenartigen Abgänge und ihre statistische Darstellung sind von
praktischer Wichtigkeit für die Viehversicherung.
C. Statistik der Viehnutzung. Unter Viehnutzung versteht man
die Verwerthung des Viehes für die Land- und Volkswirthschaft. Hier
sind namentlich zu betrachten : Die Roh- und Reinerträge und der Capi-
talswerth.
Bezüglich ersterer fragt sich's, in welchem Maasse das Vieh ausge-
nützt wird, wie sich die Preise von Milch, Butter, Fleisch, Wolle
und lebendem Vieh stellen, und wie hoch daher der jährliche Ertrag
angeschlagen werden kann. Man berechnet in Deutschland den Reinertrag
auf circa:
^ des Rohertrages % des Bestaudwerthes
bei Pferden 10 11
„ Rindern 15 16
„ Borstenvieh 15 21
„ Ziegen 15 22
„ Wollvieh 8 8
Seinen wirthschaftlichen Ausdruck findet der Bestandswerth im
Preise der verkauften Stücke.
Anmerkungen.
*) Die Statistik der Hausthiere hat verhaltnissmässig weniger mit Schwie-
rigkeiten zu kämpfen, als die meisten anderen Zweige der wirthschaftlichen
Statistik. Viehzählungen haben auch schon frühzeitig stattgefunden; in Sachsen
schon 1697. Von älteren deutschen Arbeiten seien die von Hoffmann, Dieterici,
Lengerke, v. Hermann, Engel hier wenigstens erwähnt. In Viebahu's Statistik
des zoll vereinten etc. Deutschlands findet sich eine gediegene und vollständige
18*
276
Die ViehzncM.
Untersuchung über den Viehstand des deutschen Zollvereins, welche hier als
hauptsächlichster Anhaltspunkt benutzt ist — mit Ausschluss der durch die
Zeit überholten Zahlen.
^) £s treffen auf den Quadratkilometer (nach den letzten Viehzählungen
berechnet) ;
a
in
Rinder
Pferde
Schafe
Schwei-
ne
Ziegen
Esel
und
Maulesel
Deutsch. Reich 1873
Preussen . . . „
Bayern . . . „
Sachsen . . . „
Württemberg . „
Oesterreich . .1869
Ungarn . . . „
29,2
24,8
40,4
43,2
48,6
24,7
16,3
6,2
6,6
4,7
7,7
5,0
4,6
6,6
46,2
56,6
17,7
13,8
29,6
16,7
46,6
13,2
12,3
11,6
20,1
13,7
8,4
13,7
4,3
4,3
8,6
7,0
8,0
3,«
1,8
?
?
?
?
?
0,1
0,2
*) Das Verhältniss des Viehstaudes zur Volkszahl hat sich in den euro-
päischen Ländern (soweit sichere Nachrichten darüber vorhanden sind) folgen-
dermassen verändert:
Bevölkerung
der ,
verglichenen
Länder
Auf 1000 Einwohner treffen
Rinder
Schafe
Schweine
Millionen
um das Jahr 1832 circa .
„ ^ „ 1857 „ .
r> « ^ 1869 „ .
in neuester Zeit „
215
244
278
294
328
355
331
310
764
724
700
682
197
156
152
156
(Nach Neumann-Spallart: Uebersichten. Jahrg. 1879, S. 95.)
Eine Uebersicht dieses Verhältnisses in den einzelnen europäischen Staaten
ergibt Folgeüdes. Auf 1000 Einwohner treffen:.
9
'S
'S
CO
CZ3
Frankreich 1872
Grossbritannien und Irland . . . 1876
Belgien 1866
Niederlande 1874
Dänemark 1871
Schweden 1874
79
88
38
74
176
102
313
316
274
375
694
495
684
1070
121
233
1032
390
149
109
131
87
248
94
49
8
41
40
26
Die Forstwirihschaft.
277
5
C/2
'S
«3
?
^
N
Norwegen 1875
Deutsches Reich 1873
Preussen allein ^
Bayern y
Russland 1872
Oesterreich-Ungarn 1869
Schweiz 1876
Italien 1874
Spanien - 1865
Portugal 1870
Griechenland 1867
Rumänien 1866
Serbien ,
Vereinigte Staaten 1875
82
82
92
73
225
91
36
18
41
20
68
117
?
243
537
384
350
630
343
354
382
130
185
119
78
598
609
706
981
609
797
276
699
600
172
324
1404
620
1314
1049
2204
876
58
174
174
179
151
195
117
59
272
478
40
237
1062
751
185
57
60
40
16
73
148
63
?
?
1571
94
?
9
(Nach .M. Block: Traite theorique et pratique de statistique; pag. 497,
wobei jedoch die Ziffern für die deutschen Länder nach den officiellen, Angaben
richtiggestellt wurden.)
n. §. 145. Die Forstwirthschaft ').
Bei der Forststatistik ist, da in der Forstwirthschaft die mensch-
lichen Arbeitskräfte sowohl als das Betriebscapital als Productionsfactoren
in den Hintergrund treten,
L Die Substanz der Wälder ein Hauptgegenstand der Beob-
achtung.
Zunächst handelt es sich darum, die absolute Waldsubstanz eines
bestimmten Gebietes zu ermitteln. Die Ermittlung geschieht theils durch
Messung und Berechnung, theils durch blosse Schätzung.
Geht man zur Beobachtung der relativen Waldsubstanz über, so ist
zu betrachten:
A. Das Verhältniss der Waldungen zur Länderfläche. Der Wald-
reichthum der Länder wird bedingt durch ihre Oberflächen- und Boden-
beschaffenheit. Auf gutem Boden und in milderem Klima gedeiht der
Wald natürlich besser als unter ungünstigen Umständen. Aber er gedeiht
auch noch auf Boden, der für Getreide zu schlecht ist, namentlich auf
unebenen Ländertheilen, in Hochgebirgen.
Die relative Bewaldung ist sowohl in den einzelnen Staaten, welche
eine Forststatistik besitzen, als auch in den einzelnen Staatstheilen eine
sehr verschiedene.
278 Die Forstwirthschaft.
B. Weit bedeutungsvoller ist das Verhältniss der Waldungen zur
Bevölkerung. Dichte Bevölkerung und grosser Waldreichthum können
in der Regel nicht nebeneinander bestehen. Bei zunehmender Bevölkerung
und Landcultur werden die Waldungen nach und nach auf den absoluten
Waldboden beschränkt. Namentlich verschwinden die zusammenhängenden
Waldungen in hochcultivirten, mit gutem Boden gesegneten Ebenen und
Küstenländern *).
Die Frage, wie viel Waldboden dazu gehört, um der Bevölkerung
ihren Holzbedarf zu sichern, lässt sich schwer beantworten. Die Erfah-
rung und die Theorie sind nicht im Stande, ein allgemein giltiges Maass
des durchschnittlichen jährlichen Holzbedarfes für jeden Kopf der Be-
völkerung zu ermitteln, und zwar sowohl an Bau- und Nutz-, als an
Brennholz.
Um ein solches Maass zu ermitteln, müsste man nämlich verschie-
dene örtliche Verhältnisse berücksichtigen:
1. Beim Bauholz die Bauart, ob massiv oder in Fachwerk u. s. f.
gebaut wird, femer die Bedachung, ob mit Schiefer, Stroh, Schindeln u. s. f.
gedeckt wird, endlich ob und wie viel die Fabriken und Bergwerke an
Bauholz bedürfen.
2. Beim Nutzholz, ob in der Gegend solche Holzarten wachsen, die
von Gewerbetreibenden benützt werden können.
3. Beim Brennholz das Klima und die Dauer des Winters, den Um-
fang der Brennholz verbrauchenden Gewerbe und Fabriken, die Menge
der Brennholzsurrogate und die Feuerungseinrichtungen.
Diese Verhältnisse sind die Bestandtheile, aus welchen das Holz-
bedürfniss sich zusammensetzt. Sie sind überall andere und deshalb ist
auch das mittlere Holzbedürfniss in jeder Gegend ein anderes.
Dazu kommt noch, dass der nachhaltige Materialertrag aus den
Forsten sich nur schwer und unsicher ermitteln lässt.
Man hat vor längeren Jahren als Durchschnittsertrag während der
ganzen Umtriebszeit eines Waldes 30 Kubikfuss Holz fiir den preussischen
Morgen angenommen; den Holzbedarf für .den Kopf schlug man eben so
hoch an und kam demnach zu dem Schlüsse, dass jedes Land so viel
Morgen Wald haben müsse, als die Volkszahl beträgt und dass ausser-
dem entweder Waldmangel oder Ueberwaldung herrsche. Die BrennhoU-
surrogate würden das Verhältniss natürlich ändern.
Bei der ungleichen Bewaldung und Bevölkerung der Länder ist das
Verhältniss zwischen Bewaldung und Bevölkerung ein wechselndes.
C. Die Besitzkategorien der Waldungen, d. i. die Vertheilung
der Waldungen als:
Die ForstwirthBchaft.
279
1. Staatsforsten;
2. Gemeindeforsten;
3. Stiftungsforsten und
4. Privatforsten.
Dieses Verhältniss ist von volkswirthschaftlicher Bedeutung deshalb,
weil sich die Forstwirthschaft vorzugsweise für grosse Besitzungen eignet,
weil geregelte Forstwirthschaft bei grosser Zersplitterung des Waldbesitzes
unmöglich ist. Die Waldungen als Staats-, Gemeinde- und Stiftungs-
forsten sind dauernder dem Zwecke der Holzproduction gewidmet, als
wenn sie den wechselnden Interessen einzelner Besitzer dienen sollen. In
Deutschland ist im Ganzen über Y, der gesammten Waldfläche Staats-
forst; nicht ganz die Hälfte derselben ist Privateigenthum, der Rest ist
Besitz von Gemeinden etc.
IL Die Bestand- und Betriebsverhältnisse. Dieselben sind
verschieden :
1. Nach den Holzarten: Laub- und Nadelholz;
2. Nach den Betriebsarten: Hochwald, Mittelwald und Niederwald.
Obwohl in den einzelnen Staaten, welche eine geordnete Forsjver-
waltung besitzen, über diese Verhältnisse zuverlässige Erhebungen be-
stehen, so müssen wir uns hier doch damit begnügen, diese Gegenstände
der Forststatistik blos zu erwähnen; ebenso
tn. die Untersuchung der Roh- und Reinerträge aus den Wal-
dungen, und zwar die Erträge vom Holze sowohl, als jene der anderen
Forstnutzungen.
Anmerkungeu.
*) Auch bezüglich der Forststatistik ist das angeführte Werk von Vie-
bahii: Statistik des zoUvereiiiteu etc. Deutschlands Bd. II, S. 619 ff. als Grund-
lage genommen und nur wo es nöthig schien, neuere Zahlen und solche aus
ausserdeutschen Ländern herangezogen worden.
') Die Ausdehnung der Waldungen beträgt
L In den wichtigsten europäischen Ländern:
'S -»I
Oesterreich-Ungam
Deutsches Reich .
Russland (europ.)
Italien
Schweden ....
Norwegen ....
Niederlande . . .
18004
?
138643
4452
17568
?
?
5 a_g
33,00
26,10
30,90
15,00
60,00
66,00
7,10
|i|
Ja W
Belgien
Grossbritann. u. Irland
der Schweiz
Spanien
Portugal
Europ. Türkei . . . .
Griechenland . . . .
485
?
?
?
?
?
?
I
S a «
-^ a-g
o
18,52
4,00
15,90
5,52
4,40
15,00
18,83
280
Die Gewerbe überhaupt.
(Nach M. Block: Statistique de la Frauce II. Ed. T. II, pag. 27 und 80.
Diese Zahleu fiudeii bezüglich Deutschlands und Oesterreich-Ünganis in Fol-
gendem eine Rectificirung.)
II. Im Deutschen Reich insbesondere gestaltet sich nach den officiellen
Erhebungen über die Bodenbenutzung (Jahrb. f. 1880, S. 21) die Ausdehnung
des Forstlandes wie folgt. Von der Gesammtfläche des Reiches waren
13,839769 Hectaren Forstland, das ist 25,75!^. In den einzelnen Ländern und
Provinzen beträgt die relative Ausstattung mit Forstland:
% der Gesammtfläche:
Das bayrische Franken 34,9
Uebriges Bayern r. Rh. 31,4
Bayern 1. Rh 38,6
Bayern 33,o
Sachsen 27,7
Württemberg .... 30,8
Baden 37,6
Hessen 31,3
Mecklenburg-Schw. 16,8
Sachsen -Weimar . . 25,3
Mecklenburg-Str. . . 19,7
Oldenburg 8,8
Braunschweig .... 30,3 1
Sachsen-Meiningen . . 41,7 | Elsass-Lothringen . 30,6
III. Bezüglich Oesterreich-Ungarns ist nach den officiellen Erhe-
bungen über die Bodencultur i. J. 1869 der Procentbetrag der Waldfläche:
Ostpreussen .... 18,2
Westpreussen . . .21,2
Brandenburg .... 32,i
Pommern . . . . .19,7
Posen 20,2
Schlesien 28,9
Prov. Sachsen . . . 20,i
Schleswig-Holstein . 6,i
Hannover 15,8
Westfalen, 27,9
Hessen-Nassau . . . 40,i
Rheinland 30,7
Hohenzollern .... 33,i
Ganz Preussen . . . 23,3
Sachsen-Altenburg . 28,i
Sachsen-Coburg . . 30,5
Anhalt 24,4
Schwarzb. - Rudolst. 45,4
Schwarzb.-Sondersh. 29,7
Waldeck 37,9
Reuss ä. L 36,4
Reußs j. L 37,7
Schaumburg-Lippe . 22,8
Lippe ?
Lübeck 12,8
Bremen 1,6
Hamburg 3,i
Niederösterreich . .33,7
Oberösterreich . . . 36,0
Salzburg 36,7
Steiermark 48,9
Kärnten 46, i
Krain 45,5
Triest u. Istrien . . . 24,4
Tirol u. Vorarlberg . 30,8
Böhmen 30,o
Mähren 27,2
Schlesien 34,6
Galizien 28,9
Bukowina 50,3
Dalmatien 24,i
Oesterr. Länder . . 33,o
Militärgrenze . . . 34,5
Ungarische Länder*) 29,0
*) (Nach Klun: Stat. von Oesterreich-Ungarn S. 223.)
III. Capitel.
Die Gewerbe.
§. 146. Die Oeworbe überhaupt^).
Mit welchen Schwierigkeiten die Gewerbestatistik zu kämpfen hat,
erkennt man schon, wenn man sich, bemüht, den Begriff des Gewerbes
gehörig zu fixiren. Im weitesten Sinne des Wortes sind unter Gewerben
alle jene Thätigkeiten zu verstehen, welche berufsmässig und dauernd.
Die Gewerbe überhaapt.
281
zum Zwecke von Erwerb und Gewinn ausgeübt werden. In diesem Sinne
dürften als nichtgewerbliche Thätigkeiten blos jene ausgeschlossen werden,
bei welchen die Erfüllung einer moralischen Pflicht oder Aufgabe den
eigentlichen Erwerb in den Hintergrund drängt; also die Thätigkeit des
Beamten, des Soldaten, des Geistlichen, Lehrers, Arztes, Künstlers etc.
Die allgemein übliche Anschauung schliesst jedoch vom Begriff des
Gewerbes auch noch den ganzen land- und forstwirthschaftlichen Betrieb
aus, und die officielle Statistik thut das Gleiche. Sie geht aber noch
weiter und schliesst noch eine Reihe anderer Gewerbszweige aus*). Was
hienach übrig bleibt, das umfasst immerhin noch Thätigkeiten, welche
der Rohproduction, der Industrie, dem Handel- und Transportwesen und
selbst der Kategorie persönlicher Dienstleistungen angehören. Will man aus
dieser Gesammtheit von Erwerbsarten noch diejenigen hervorheben, welche
im engsten Sinne des Wortes als Gewerbe bezeichnet werden, so wird man
sie passenderweise als industrielle Gewerbe bezeichnen, d. h. diejenigen,
welche sich mit der Veredlung und Verarbeitung von Rohproducten be-
schäftigen.
Die einzelnen Erscheinungen, welche die gewerbliche Statistik zu
untersuchen hat, sind folgende:
I. Die gewerbliche Bevölkerung in ihrem Stand und Gange. Das
Verhältniss der gewerblichen Bevölkerung zur Gesammtbevölkerung drückt
aus, zu welcher Höhe sich das gewerbliche Leben im Volke entwickelt
hat. Bei dem Mangel an gleichmässigen officiellen Erhebungen, und bei
der herrschenden Unbestimmtheit des Begriffes „Gewerbe" ist es nicht
thunlich, die Zahlen für die wichtigeren europäischen Länder zu vergleichen.
Im Deutschen Reiche allein kommen an Gewerbetreibenden auf 10000
Einwohner :
iu
Betriebe
Personen
in
Betriebe
Personen
Preussen ....
699
1408
Württemberg . .
886
1530
Berlin
932
2552
Baden
769
1581
Bayern
839
1408
Hessen
825
1519
Sachsen
921
2290
Elsass-Lothringen
694
1604
Unter den einzelnen Landestheilen findet sich die geringste Zahl von
gewerbetreibenden Personen in Posen, nämlich 633 auf 10000 Einwohner;
die höchste (ausschliesslich der freien Städte) in Reuss ä. L., nämlich
2502.
Der Gewerbestand mehrt sich im Laufe der wirthschaftlichen Ent-
wickelung der Völker theils dadurch, dass einzelne Geschäfte, welche
282 T>ie Gewerbe überhaupt
früher häusliche Nebenarbeit waren, besondere berufsmässige Gewerbs-
zweige werden, theils durch das Auftauchen neuer Bedürfnisse und in
Folge dessen neuer Gewerbe.
In industriereichen Ländern mehrt sich der Gewerbestand rascher als
die Bevölkerung. In Preussen z. B. wuchs er von 1846 — 1861 um SSjl^,
also jährlich um mehr als 2jl^, während der Zuwachs der Bevölkerung
nur 1 J6 betrug. Nur in einzelnen Gewerbszweigen weist die Statistik, beim
Uebergang von der Hand- zur Maschinenarbeit, bei Vertheuerung von
Rohstoffen, beim Wechsel der Bedürfnisse, momentane Verminderungen
der Beschäftigten nach. Neue Bedürfiiisse, neuer industrieller Aufschwung
gleichen solche Störungen bald wieder aus.
IL Die Zahl der Gewerbsanstalten gibt wegen des sehr ver-
schiedenen Umfanges der einzelnen Unternehmungen an sich kein Bild der
gewerblichen Entwickelung. Bedeutsam wird sie dagegen, wenn man sie
mit der Zahl der gewerblichen Bevölkerung vergleicht, und zwar nicht
nur im Ganzen, sondern auch bei jedem einzelnen Gewerbszweige. Dann
ergibt sich
UL Der Betriebsumfang. In dieser Hinsicht unterscheidet man
gewöhnlich :
A. Den Kleinbetrieb, das Handwerk charakteristisch durch das
Mitai'beiten des Unternehmers, die geringeren Hilfsmittel.
B. Den Grossbetrieb oder die Fabrication, charakteristisch durch
die ausgedehntere Arbeitstheilung, die gi'össere Arbeiterzahl, die Anwen-
dung grossartiger Arbeitshilfsmittel, technisch gebildeter Leiter.
Es ist jedoch nicht leicht möglich, eine bestimmte Grenze zwischen
Klein- und Grossbetrieb zu ziehen. Das sprechendste Unterscheidungs-
merkmal ist jedenfalls die Zahl der beschäftigten Personen; aber wenn
man durch sie die Grenze zwischen Klein- und Grossbetrieb fixiren wollte,
müsste diese Grenze jedenfalls bei jedem Gewerbe besonders aufge-
sucht werden. Eine chemische Fabrik z. B. mit 5 Arbeitern steht jeden-
falls dem Grossbetrieb weit näher als ein Zimmermann, der mit 5 Gesellen
arbeitet. Wenn daher die deutsche Gewerbestatistik eine Unterscheidung
getroffen hat zwischen Gewerbsbetrieben mit mehr als 5 beschäftigten Ge-
hilfen und solchen mit weniger, so ist diese Unterscheidung keineswegs
hinreichend, um den Gegensatz von Gross- und Kleinbetrieb vollständig
und richtig zum Ausdruck zu bringen. Im Deutschen Reiche finden sich:
Betriebe überhaupt: Darunter mit mehr als 5 Gehilfen
3-230311 mit 84195 Betriebe mit
6*470630 beschäftigten Personen 2*311399 beschäftigten Personen.
Die stetige Zunahme des Grossbetriebes gegenüber dem Kleinbetriebe
ist indessen eine notorische Thatsache, welche sich in allen Culturländeni
Die Gewerbe ftberhaupt.
vollzieht. Der Grossbetrieb, welcher mit imponirenden Arbeitermassen und
Productenmengen in die Weltwirthschaft eintritt, ist es, welcher einzelne
Völker mit Entschiedenheit zu Industrievölkem stempelt.
Wo er die günstigsten Bedingungen seiner Existenz findet, concentrirt
er sich so aufiullend, dass die Arbeiter einer einzelnen Unternehmung
Städte füllen können. Obgleich sich aber der Grossbetrieb heutzutage
stetig mehrerer Zweige der früheren Haus- und Handwerksindustrie be-
mächtigt, vermehrt sich auch noch in der neuesten Zeit die Zahl der mit
dem Handwerk Beschäftigten ganz bedeutend. Eine Menge von Industrie-
zweigen eignen sich eben besser für den kleinen, als für den grossen Be-
trieb. Nur die Verarbeitung von Textilien und die Metallarbeiten sind mit
grösster Entschiedenheit dem Grossbetriebe anheimgefallen.
IV. Betrachtet man die locale Vertheilung der Gewerbe, so findet
man dieselben namentlich in Städten und Flecken. Aus ein-er grossen Zahl
von Werkstätten und Gewerbetreibenden einer Stadt oder Gegend lässt
sich nicht sofort auf Btarke Gewerbsthätigkeit und Lieferung vorzüglicher
Erzeugnisse schliessen. Die locale Vertheilung des Handwerkes und jene
der Industrie folgen keineswegs den gleichen Ursachen. Das Handwerk
wächst weder in gerader Proportion mit den Fabriken, noch nimmt es in
gerader Proportion mit ihnen ab. Die Handwerkerziffer insbesondere wird
weder ausschliesslich vom Volkswohlstand im Allgemeinen, noch von der
Volksdichtigkeit beherrscht; Zunftverfassung und Gewerbegesetzgebung
haben wohl Einfluss auf sie, den grössten aber der Stammescharakter und
die ganze wirthschaftliche Geschichte eines Volkes. (Schmoller.)
V. Ueber Menge und Geldwerth der Production sind richtige
Nachrichten schwer zu erhalten. Anhaltspunkte, aus welchen sich auf die
absolute Masse der Producte schliessen lässt, sind die Zahl des Arbeiter-,
namentlich des Fabrikpersonales, die Grösse der fixen Capitalien, nament-
lich die Grösse der Baulichkeiten, die Menge der verwendeten Naturkräfte
(Dampfmaschinen- und Wasserkräfte), die Menge und der Umfang der
verschiedenen zur . Production nöthigen Apparate (z. B. die Zahl der
Spindeln, der Webstühle); auch die Menge des flüssigen Capitales, na-
mentlich der verbrauchten Rohstoffe. Aber trotz all dieser Anhaltspunkte
lassen sich nur höchst unsichere Schätzungen sowohl über die ganze in-
dustrielle Production eines Volkes, als auch über die meisten der einzelnen
Industriezweige anstellen, sowie über den relativen Werth der Production
pro Kopf der Bevölkerung.
Nicht minder wichtig als das Verhältniss des Productionswerthes zur
Einwohnerzahl wäre sein Verhältniss zur Zahl der in jedem Productions-
zweige beschäftigten Arbeiter. Denn dieses Verhältniss drückt im Wesent-
lichen den Erfolg der menschlichen Arbeit aus. Je grösser der Productions-
284 Di« Gewerbe ftberhanpt.
werth eines Productionszweiges im Verhältniss zur Arbeiterzahl: desto
höher steht dieser Productionszweig hinsichtlich seiner wirthschaftlichen
Erfolge — abgesehen natürlich vom Capitalaufvrand. Um die wirthschaft-
lichen Erfolge jedes Productionszweiges klar zu stellen, müsste daher auch
das Verhältniss des Productionswerthes zu den im Productionszweige
angelegten Capitalien untersucht werden. Und endlich müssten Capitalien
und Arbeitskräfte auf eine Einheit reducirt und mit dem Productionswerthe
verglichen werden, was allerdings nur zulässig ist, soweit die Arbeit sich
abschätzen lässt.
In der Bewegung des absoluten und relativen Productionswerthes,
welcher einestheils vom Zusammenwirken der Productionsfactoren, anderer-
seits von den Bestimmungsgründen des Preises der Producte abhängt, treffen
dann schliesslich die mannigfaltigsten Einflüsse zusammen.
VI. Der Gang der Gewerbe und die auf denselben, wie auf die
locale Vertheilung der Gewerbe wirkenden Einflüsse, Das Aufblühen oder
Verkümmern einzelner Unternehmungen oder ganzer Industriezweige folgt
den mannigfachsten Einflüssen. Diese, der statistischen Untersuchung bald
mehr bald weniger zugänglichen Einflüsse machen sich theils auf die In-
dustrie im Ganzen geltend, theils blos auf einzelne Zweige. Sie sind im
Wesentlichen folgende:
A. Die Bewegungen des Capitalmarktes.
B. Die Gunst local erleichterten Rohproductbezuges. So erblüht die
Eisenindustrie in der Nähe grosser Eisenerz- und Kohlenlager (die engli-
schen und preussischen Industriegebiete !), die Glasfabrication in holz-
reichen Gegenden (Böhmerwald), die Tabak- und Zuckerfabrication da,
wo der Rohstoff entweder als Rückfracht von den Seeschiffen aus über-
seeischen Ländern beigefährt oder im Lande selbst massenhaft hervorge-
bracht wird.
C. Die disponiblen Naturkräfte. Gebirgsländer z. B. haben viel mehr
Wassermühlen als Flachländer.
D. Die disponiblen menschlichen Arbeitskräfte. Hier sind eine Reihe
von einzelnen Erscheinungen der Statistik zugänglich. Von directem Ein-
fluss auf den Gang der Production sind:
1. Die Tüchtigkeit der Arbeiter (vgl. §. 135);
2. Die Arbeitszeit.
E. Die Maschinen (vgl. §. 135).
F. Die Gunst der Verkehrsmittel. Sie macht sich in doppelter Be-
ziehung geltend; einestheils hinsichtlich des Bezuges der Rohproducte und
Ililfsmaterialien, andererseits hinsichtlich des Absatzes der Producte,
Die Gewerbe fiberliaiipt. 285
G. Der Wechsel der Nachfrage. So bedeutend der Einfluss ist, den
er auf den Gang der einzelnen Gewerbe nimmt, lässt er sich doch nicht
ziffermässig bestimmen.
H. Besondere Pflege einzelner Gewerbszweige durch die Wirthschafts-
politik des Staates, z. B. durch Schutzzölle.
Vn. Endlich sind noch die Einflüsse zu beachten, welche die
Gewerbe auf die mit ihnen beschäftigten Menschen in socialer und wirth-
schaftlicher Hinsicht nehmen. So namentlich das Zahlenverhältniss zwischen
Lohnherm und Lohnarbeitern in den verschiedenen Gewerben; die Be-
theiligung der verschiedenen Altersclassen und beider Geschlechter; die
Arbeitslöhne u. A.
Vni. Die einzelnen Gewerbe.
Die gewerbliche Statistik pflegt die Gewerbe nach den Zwecken
einzutheilen , welchen sie dienen. Es ist überaus schwierig, eine richtige
und allseits brauchbare Eintheilung der Gewerbe zu treffen. Man kann
dabei nicht allein auf die Bedürfnisse achten, welche durch die verschie-
denen Gewerbszweige befriedigt werden, sondern es ergibt sich auch
manchmal die Nothwendigkeit, die wichtigsten Rohproducte mit als Ein-
theilungsgründe zu benützen. Manche Gewerbszweige arbeiten zwar für
die gleichen Zwecke, doch in so grundverschiedener Weise und mit so
verschiedenen Rohstoffen, dass sie um der letzteren willen auseinander
gehalten werden. Eiserne und hölzerne Stühle z. B. dienen ganz gewiss
dem nämlichen Gebräuchszweck; dennoch gehört ihre Herstellung zwei
ganz verschiedenen Gewerbszweigen an. Häufig müssen deshalb auch
Producte, welche sehr verschiedenen Zwecken dienen, einem Gewerbs-
zweige zugewiesen werden. Die Producte der Waffenschmiede z. B. dienen
sowohl häuslichen, als gewerblichen und militärischen Zwecken.
Anmerkungen.
*) Mit der Gewerbestatistik beschäfligteu sich die Congresse zu Brüssel,
Wien, Petersburg luid Pest. In Wien wurde eine Tabelle bezüglich der Classi-
fication der Gewerbe vorgelegt.
*) Eine üebersicht der Hauptresultate der deutschen Gewerbezähluug vom
1. December 1875 ergibt folgenden Einblick in die Besetzung der verschiedene»
Gewerbszweige im Deutscheu Reiche:
286
Bergbau, Hfttten- and Salinenwesen.
Gewerbsgruppeu
Kunst- und Handelsgärtuerei . .
Fischerei
Bergbau-, Hütten- und Salinen-
wesen
Industrie der Steine und Erden .
Metallrerarbeitung
Maschinen, Werkzeuge, Instru-
mente, Apparate
Chemische Industrie
Industrie d. Heiz- u. Leuchtstoffe
Textilindustrie
Papier und Leder
Industrie d. Holz- u. Schnitzstoffe
Nahrungs- und Genussmittel . .
Bekleidung und Reinigung . . .
Baugewerbe
Polygraphische Gewerbe ....
Künstlerische Betriebe f. gewerbl.
Zwecke
Handelsgewerbe
Verkehrsgewerbe
Beherbergung und Erquickung .
Sämmtliche 19 Gruppen .
Zahl der
Auf 10000 Ein-
wohner
Betriebe
Personen
Betriebe
Personen
13917
25464
3,3
6,0
16905
19626
4,0
4,6
8610
433206
8,0
101,4
56476
265555
13,2
62,2
169383
419752
39,6
98,2
88199
322029
20,6
75,4
9507
51698
2,2
12,1
13130
42507
3,1
9,9
403024
926767
94,3
216,9
59609
187285
13,9
43,8
264636
464048
61,9
108,6
271585
692600
63,6
162,1
774955
1,053142
181,4
246,6
234388
467309
54,9
109,4
8855
55719
2,1
13,0
5945
13400
1,4
3,1
529459
661496
123,9
154,8
82146
134330
19,2
31,4
219582
234697
51,4
54,9
3,230311
6,470630
•756,0
1514,4
Ausgeschlossen blieben: a) Von der Militär- und Marineverwaltung
betriebene Industrien; b) Eisenbahn-, Post- u. Telegraphenbetrieb; c) Aerzt-
liches u. Todtenbestattuugspersonal; d) Versicherungswesen; e) Musik, Theater,
Schaustellungen; f) Gewerbebetrieb im Umherziehen; g) Industrie der Straf-
und Besserungsanstalten; h) Betriebe, die blos für den eigenen Haushalt
produciren.
§. 147. Bergbau, Hütten- und Salinenwesen.
Diese wichtige Gruppe von Gewerben unterscheidet sich in der
Statistik des Deutschen Reiches sowohl als auch in anderen Ländern
vortheilhaft dadurch, dass bei ihr auch Menge und Werth der Production
ermittelt wird.
Was zunächst die beschäftigten Personen betrifft, so beschäftigt die
ganze Gruppe:
Personen Betriebe
im Deutschen Reich (1875) 433206 8610
in Oesterreich (1869) 104342 ?
„ Ungarn (1871) 45862 ?
B«rgtea. Hfttten- und SaUnenwesen. 287
Die grossen Betriebe beschäftigen bei weitem den grössten Theil
des Gesammtpersonals. Die örtliche Verbreitung dieser Gruppe richtet
sich natürlich ganz nach dem Vorkommen nutzbarer Mineralien. Auf
10000 Einwohner treffen beschäftigte Personen in dieser Gruppe: in
Westfalen 512,2, Rheinland 309,7, Schlesien 208;8, ganz Preussen 140,»,
Sachsen 115,», Bayern 20,3. Dagegen in Oesterreich 52, in Ungarn 32.
Was die Bergwerke insbesondere betrifft, so kommt bei der sehr
ungleichen Ausdehnung der Werke auf die Ziffer der Betriebsstätten
weniger an. Weit wichtiger ist das Quantum und der G^ldwerth des
Productes am Productionsorte. Diesen beiden wichtigsten Angaben reiht
sich als weitere noch die Zahl der in dieser Production beschäftigten
Arbeiter an.
In Deutschland betrug (nach Viebahn a. a. 0. S. 406):
im J. 1848 der Productionswerth 44,6 Mill. Mk., die Arbeiterzahl 88265,
. . 1857 „ „ 137,2 „ „ „ „ 169151.
Die Zunahme des Production swerthes um mehr als das dreifache
zeugt von der Thätigkeit dieses Productionszweiges und daneben ist die
Zunahme der Arbeiter um kaum das doppelte ein Beweis für die erhöhte
Leistungsfähigkeit der Arbeit, 1878 dagegen betrag die Summe aller
Bergwerksproducte 324,2 Mill. Mk., die Arbeiterzahl 289486. Also aber-
mals ein bedeutender Fortschritt der Production.
In der Hüttenindustrie betrug in Deutschland (nach derselben
Quelle, Zollverein):
1848 der Productionswerth 112,4 Mill. Mk., die Arbeiterzahl 46835,
1857 „ „ 306,6 „ „ „ „ 78365.
Dagegen nach den neuesten Erhebungen:
1878 der Productionswerth 224,8 Mill. Mk., die Arbeiterzahl 126808.
Die Gesammtproduction der Bergwerke, Hütten und Salinen
nebst der beschäftigten Arbeiterzahl beträgt:
Productionswerth
in Millionen Arbeiterzuhl
im deutschen Zollverein 1848
172,1 Mk. 86,ofl.ö.W. 142134
deutsches Reich . . .1878
564,» „ 282,j „ „ 433206
in Oesterreich . . . 1873
139,0 „ 69,5 „ „ 112000
„ Ungarn 1872
38,» „ 18,3 „ „ 45862 ? (1871)
Das Hauptinteresse der Statistik knüpft sich begreiflicherweise an
die Production, ihre Menge und ihren Werth. Und bei diesem Gegenstande
fordert seine immense volkswirthschaftliche Bedeutung aueh dringend zur
Sammlung von zuverlässigen Angaben für sämmtliche Länder auf. Die
wichtigsten Producte dieser ganzen Gruppe sind:
•288
Bergbau, Hlktten- und SaÜnenwesen.
1. Die Steinkohle. Die Gesammtausbeute der Erde beträgt (nach
Neumann-Spallart a. a. 0. S. 150) in Millionen Tonnen ä 20 Ztr.:
Grossbritannien
Deutschland
Frankreich
Belgien
Oesteiteich
Russland
Ungarn
Spanien
Schweden
Italien
Schweiz
Portugal
(1877) 136,7
(1878) 50,5
17,0
13,9
12,3
1,«
0,7
0,1
0,1
0,01
0,01
(1877)
(1878)
(1877)
(1875)
(1876)
(1871—72)
Vereinigte Staaten
China jährlich circa
Neusüdwales
Brittisch Nordamerika
Brittisch Ostindien ca.
Chile circa
Japan
Asiatische Türkei circa
Andere Länder circa
(1878) 49,»
3,0
(1877)
(1876)
(1875)
(1876)
(1874)
1,*
0,8
0,5
0,4
0,3»
0,1
0,09
Alle aussereuropäischen Länder 56,7
Production der ganzen Erde 291,7
Ganz Europa 235
Wie ungemein rasch sich die Production vermehrt, geht aus Fol-
gendem hervor:
Die Gesammtproduction der Erde betrug:
im Jahre 1860 circa 136,o Mill. metr. Tonnen
1866
. 185,1
1872
„ 260,0
1874
„ 274,3
1876
. 287,»
1877
. 294,0
1878
„ 290,9
Die öfter aufgeworfene Frage, wie lange der Kohlenvorrath der Erde
noch ausgebeutet werden könne, spitzt sich dahin zu, dass nicht etwa der
vorhandene Vorrath in einem absehbaren Zeiträume zu Ende geht, sondern
dass mit dem zunehmenden Verbrauch die Entfernungen und die Erd-
tiefen, aus welchen die Kohlen beschafft werden müssen, immer grössere
und damit die Preise der Kohlen immer höhere werden, wenn nicht durch
technische Fortschritte diese Preissteigerung aufgehalten wird. Die Kohlen-
felder von Nordamerika, China und Ostindien zusammen werden auf über
400000 engl. Quadratmeilen veranschlagt, während die von Grossbritannien
und Irland blos 9000 engl. Quadratmeilen umfassen. Der Kohlenbergbau
beschäftigt auf der ganzen Erde etwa l,i Mill. Menschen und ergab im
Jahre 1877 einen Werth (am Productionsplatz):
in Grossbritannien von 942 Mill. Mk. = 471 Mill. fl. ö. W.
„ Deutschland „ 253 , , = 126 , „ „ „
„ Belgien „ 152 „ „ = 76 „ „ „ „
„ Oesterreich „ 64 „ „ = 32 „ „ „ „
Bergbau, Hatten- und Salinenwesen.
289
2. Das Eisen. Die EiseDproduction der wichtigsten Productions-
länder betrug im Jahre 1877 (nach derselben Quelle):
in Grossbritannien 6,71 Mill. metr. Tonnen
„ den Vereinigten Staaten 2,io „ „ „
„ Deutschland (mit Luxemburg) l,7i „ „ „
„ Frankreich 1,50 „ n n
„ Belgien 0,m „ „
„ Oesterreich-Ungam 0,3» n « «
„ Russland 0,W) „ „ „
„ Schweden 0,3* „ „ „
Diese Länder liefern zusammen über 98 Procent der Gesammt-
production, welche sich auf rund 280 Mill. Zollzentner beläuft. Eine
Schätzung des Werthes derselben ist wegen der bedeutenden Schwankungen
der Eisenpreise nicht angezeigt.
3. Gold und Silber. Bezüglich der Production der Edelmetalle
besitzt man in einer neueren Arbeit von A. Soetbeer (Petermann's Mit-
theilungen, Ergänzungsheft Nr. 57) eine ausgezeichnete Darstellung, welche
bis an den Ausgang des Mittelalters zurückreicht und für alle einzelnen
charakteristischen Perioden den Gang der Production und die Ursachen
ihrer Veränderungen nachweist. Den von ihm gegebenen Uebersichten ist
Folgendes zu entnehmen:
Gesammte Production der Edelmetalle:
Perioden
Silber
Gold
Gesammt-
werth in
Mill. Mark
Werth in
Mill. Mark
Procent
Werth in
Mill. Mark
Procent
1493-1600
1601-1700
1701-1800
1801—1850
1851-1855
1856—1860
1861-1865
1866—1870
1871-1875
4051
6702
10267
5890
797
814
990
1205
1772
66,2
72,8
65,9
64,1
22,4
22,1
27,7
31,0
42,7
1993
2504
5301
3305
2755
2874
2582
2677
2380
33,8
27,2
34,1
35,9
77,6
77,9
72,8
69,0
57,3
6044
9206
15568
9196
3552
3689
3573
3882
4153
(3oetbeer a. a. 0. S. 112.)
Die Gesammtproduction der Welt von 1493 bis 1875 wird (a. a. 0.
S. 107) berechnet wie folgt:
Haashof er. Statistik. 2. Anfl.
19
290
Bergbau, Hatten- und Salinenwesen.
Länder
Silber
(Werth in
Mill. Mark)
Gold
(Werth in
Mill. Mark)
Zusammen
(Werth in
MilK Mark)
Deutschland . • .
1422
1398
1328
437
13716
5619
6789
469
948
360
1285
2883
2041
739
3388
456
820
735
2893
5652
5055
422
U22 I
2683
1328
3321
2041
14456
3388
6076
7609
1205
2893
6601
5055
782
Oesterreich-Üiigarii
Versch. europ. Länder
Russisches Reich
Afrika
Mexiko . . . •
Neu-Granada
Peru
Bolivia
Chile
Brasilien
Vereinigte Staaten
Australien
Diverse
Zusammen .
32492
26374
58866
Für die neueste Zeit endlich ergibt sich folgende Production (jähr-
liche Production von 1871—1875):
Länder
Deutschland
Oesterreich-Ungam . .
Versch. europ. Länder .
Russland
Afrika
Mexiko
Neu-Oranada
Peru
Bolivia
Chile
Brasilien
Vereinigte Staaten . . .
Australien
Diverse
Zusammen
Gewicht in Kilogr.
Silber
143080
38550
215000
11495
601800
70000
222500
82200
564800
20000
1,969425
Gold
1395
33380
3000
3500
360
2000
400
1720
59500
59900
3500
170675
Werth in Millionen Mark
Silber
25,7
6,9
38,7
2,0
,108,3
12,6
40,0
14,7
101,6
3,6
354,4
Gold
Beide
zusammen
3,8
93,1
8,3
5,6
9,7
1,0
5,6
1,1
4,7
166,0
167,1
9,7
476,1
25,7
10,8
38,7
95,1
8,3
113,9
9,7
13,6
45,6
15,9
4,7
267,6
167,1
.13,3
830,6
Metallindustrie und Maschinenbaa. 2^1
§. 148. HetallindiLstrie und Maschinenbau.
Diese grosse und mannigfache Gruppe beschäftigt in allen civilisirten
Ländern einen beträchtlichen Theil der gewerblichen Bevölkerung; im
Deutschen Reiche auf 10000 Einwohner 39,« Betriebe und 98,2 beschäftigte
Personen. Der Betriebsumfang der einzelnen Unternehmungen steigt vom
Dorfschmiedej der ohne Gesellen arbeitet, bis zu colossalen Etablissements
mit tausenden von Arbeitern ; die Qualität der Arbeitskräfte vom simplen
Nagelschmied bis zum wissenschaftlich gebildeten technischen Dirigenten.
Die Frequenz, Ab- und Zunahme und der Betriebsumfang der einzelnen
hieher gehörigen Gewerbszweige folgen sehr mannigfaltigen wirthschaft-
lichen Einflüssen. 1. Verarbeitung edler Metalle (Gold-, Silber- und
Bijouteriewaaren , Gold- und Silberschlägereien, Gold- und Silberdraht-
zieherei,, leonische Waaren, Münzstätten). Man bezeichnet diese Classe
auch mit dem Ausdruck „feine Metallurgie"; sie ist in ihrem Gedeihen
und in ihrer Ausdehnung wesentlich durch die Höhe des nationalen Luxus
bedingt. 2. Verarbeitung unedler Metalle und Legirungen aus-
schliesslich Eisen. Die namhaftesten hieher gehörigen Einzelngewerbe,
nämlich die der Kupferschmiede, Stück-, Glocken-, Gelb- und Roth-
giesser, Klempner, Zinn- und Bleigiesser sind durch die um sich greifende
fabrikmässige Herstellung von Blech- und Gusswaaren mehr und mehr
genöthigt, sich entweder auf Reparaturen zu beschränken oder ihren Be-
trieb selbst fabrikmässiger zu machen. 8. Verarbeitung von Eisen und
Stahl. Dies ist bei weitem die stärkste Classe dieser Gruppe, in ihr
besonders hervoiTagend die Gewerbe der Hufschmiede, Schlosser, Zeug-
und Messerschmiede, Klempner etc. Das Handwerk der Hufschmiede (und
Grobschmiede) beschäftigt im Deutschen Reich 134555 Personen. Es folgt
in seiner Frequenz und örtlichen Vertheilung wesentlich dem Bedürfniss
der Landwirthschaft und des Local Verkehres, das Schlosserhandwerk
den Baugewerben, während die Gewerbe der Messerschmiede, Feilenhauer,
Sägeschmiede etc., welche weniger auf den örtlichen Bedarf angewiesen
sind, in ihrer localen Vertheilung von der Gunst der Productionsfactoren
mehr beeinflusst werden. Aber selbst in dieser Classe ist trotz des stets
mächtiger werdenden Grossbetriebes Raum genug für den kleinen Betrieb.
Nur die Eisengiessereien , Emaillirwerke, Blechfabriken und Nähnadel-
fabriken sind ganz entschieden dem Grossbetrieb zugefallen. 4. Bau von
Maschinen, Werkzeugen, Instrumenten, Apparaten. Diese Gruppe
hat ihre Vorstufen in den Kleingewerben der Stellmacher, Wagen-,
Wirthschaftsgeräth- und Schiffbauer, LTirmacher und Drechsler. Die ganze
Gruppe gehört überwiegend dem Grossbetrieb an; sie beschäftigt im
Deutschen Reiche auf je 10000 Einwohner 20,6 Betriebe und 75,» Per-
sonen; aber von der Gesammtzahl von 322029 beschäftigten Personen
i9*
292 Die Textilindustrie.
sind 201473 in grösseren Etablissements beschäftigt. In diesen arbeiten
überdies 2731 Dampfmaschinen mit 33913 Pferdekraft. Die Gnippe zer-
fällt in folgende Classen : a) Bau von Maschinen, Werkzeugen, Apparaten.
Er beschäftigt im Deutschen Reiche 154096 Personen in 9978 Etablisse-
ments. Für keinen anderen Industriezweig ist die Durchfiihning der
Arbeitstheilung von grösserem Werthe, als für den Maschinenbau. Der
Betriebsumfang ist ausserordentlich verschieden; deshalb ist die absolute
und relative Zahl der Etablissements von geringer Bedeutung und kann
die Ausdehnung des Maschinenbaues nur nach der Zahl der Maschinen-
arbeiter bemessen werden. Bergbau und Landwirthschaft, Industrie und
Verkehr drängen mehr und mehr nach arbeitsparenden Maschinen und
haben dadurch die grossartigste Massenproduction auf diesem Felde er-
möglicht. Der fabrikmässige Maschinenbau ist in einer riesenhaften Zu-
nahme begriffen. Die locale Vertheilung ist einestheils bedingt durch das
Bedürfniss, welches namentlich Seitens der Industrie, speciell der Textil-
industrie, der Eisenbahnen und der Seeschifffahrt ein besonders grosses ist,
anderntheils durch die Geschicklichkeit der verschiedenen Arbeiterbevöl-
kerungen und durch die Möglichkeit leichter Beschaffung von Rohmaterial,
insbesondere von Eisen und Kohle, b) Bau von Transportmitteln (aus-
schliesslich der Locomotiven). Also Wagenbau und Schiffbau. Der Wagen-
bau wird vielfach noch handwerksmässig betrieben, so dass in Deutschland
auf 1 Betriebsstätte durchschnittlich nur 1,8 beschäftigte Personen treffen.
Dagegen ist der Schiffl)au Grossbetrieb und beschäftigt an jeder Betriebs-
stätte durchschnittlich 7,8 Personen, c) Herstellung von Schusswaffen,
d) Herstellung von mathematischen, physikalischen, chemischen Instru-
menten und Apparaten, auch Telegraphenanlagen, anatomischen Präpa-
raten. Mit Wissenschaft und Kunst in inniger Verbindung stehend kommt
diese Classe von Gewerbszweigen zumeist an den Sitzen regen wissen-
schaftlichen und künstlerischen Lebens zur Ausbildung, e) Die Herstellung
von Uhren etc. Sie erscheint zunächst noch durchaus als Kleinbetrieb,
indem im Deutschen Reich auf 13235 Betriebsstätten nur 23099 be-
schäftigte Personen treffen. Indess werden die neuen Artikel fast durchaus
von Fabriken bezogen und die Fortdauer des Kleingewerbes hauptsächlich
durch die Reparaturarbeit ermöglicht, f) Herstellung von Musikinstrumenten,
g) Herstellung von chirurgischen Instrumenten und h) Herstellung von
Beleuchtungsapparaten., Letztgenannte Classe ist fast durchaus Grossbetrieb
geworden.
§. 149. Die Textilindustrie.
Die unter diesem Namen zusammengefassten Gewerbszweige, welche
sich sämmtlich mit der Verarbeitung von Faserstoffen zu Fäden, Geweben
Die Textilindustrie. 293
und weiter zu vollendeten Kleidungsstücken und anderen Gebrauchsgegen-
ständen beschäftigen, bildeten die erste Grundlage der Massenproduction
und des Waarenhandels, namentlich wegen der leichten Transportfähigkeit
des Erzeugnisses. Die Fortschritte der neueren Mechanik, ökonomische
Arbeitstheilung und Wiedervereinigung in grossen Etablissements haben
besonders diese Gruppe wesentlich gefördert, in deren einzelnen Zweigen
bald das Kleingewerbe, bald der Grossbetrieb vorherrscht, aber auch die
häusliche Nebenbeschäftigung concurrirt.
Die Textilindustrie selbst enthält eine ganze Stufenreihe von einzelnen
Proceduren, bis das Product fertig dem Bedürfniss gegenüber steht. Als
grosse Hauptstufen lassen sich unterscheiden: A. die Spinnerei; B. die
Weberei, Wirkerei, Walkerei und Filzerei; C. die Bleiche, Färberei und
Druckerei. Da jedoch viele Geschäfte ihr Material durch mehrere Phasen
hindurcharbeiten, ist es angemessen, das Rohmaterial hier als Eintheilungs-
grund anzunehmen. Die Gewerbestatistik unterscheidet:
1. Fabrication von Gespinnsten und Geweben aus Seide.
Die gesammte Seidenindustrie beschäftigt in Deutschland 77324 Personen
in 35810 Betrieben, dagegen in Frankreich (nach M. Block: Statistique
de France, II. 167) (1866) 154969 Personen in 14088 Etablissements.
Nach derselben Quelle in Grossbritannien und Irland (1870) 48124
Arbeiter in 696 Etablissements. Die einzelnen Zweige der Seidenindustrie
gehören in Deutschland mehr oder weniger dem Kleinbetrieb an; die
Seidentrocknungs- und Conditioniranstalten blos dem Grossbetrieb; die
Seidenspinnereien dem Letzteren grossentheils. Die Seidenwebereien dagegen
sind vorzugsweise Kleinbetrieb. Wie in anderen Ländern, so concentrirt
sich auch in Deutschland diese Industrie in gewissen Landschaften.
Absolut und relativ den grössten Umfang hat die Seidenindustrie
Italiens. Sie beschäftigt 200393 Personen (darunter 120428 Frauen und
64273 Kinder). Die charakteristischen Arbeitsmittel dieser Industrie sind
die Becken zum Abhaspeln, Spulen und Spindeln, femer Webstühle mit
und ohne Jacquardvorrichtung. Während in Italien die Spinnerei überaus
entwickelt ist, stehen andere Länder in der Weberei voran. Die Zahl der
Seidenwebstühle beträgt:
in Italien 8059, darunter 665 Kraftstühle,
„ Frankreich 110433, „ 10470
i, Deutschland 55922, „ 2179 «
„ Kanton Zürich 41000, „ 1000 - „
„ „ Basel 7374, ?
„ England 16082, ?
(B. Jannasch: Die Industrie Italiens. Zeitschrift d. preuss. Statist.
Bureau. 1880. S. 172.). .
294
Die Texlilindustriü.
1,276000 Kilogr.
255000 „
40000 „
136000 „
171000 „
?
4,105000 „
1,000000 „
240000 „
Industriezweig vordem übliche
Nach der eben angeführten Quelle beträgt die Gesammtproduction
an Rohseide im Jahre 1879:
in Italien
„ Frankreich
„ Spanien
„ der europ. Türkei, Brussa
„ Syrien
„ Griechenland, Persien
„ China (Ausfuhr)
„ Japan
„ Ostindien
2. Wollindustrie. Die in diesem
Handarbeit wird mehr und mehr durch die Maschine verdrängt. Die
Wollindustrie beschäftigte im Jahre 1875 (in Frankreich 1876) :
in Deutschland 193668 Personen in 37832 Betrieben
„ Frankreich 110954 „
„ Grossbritannien 238241 „
„ Italien 24930 „
(Jannasch a. a. 0. S. 169.)
Unter den Einzelngewerben, die der Wollindustrie angehören,
schäftigt in Deutschland die Streichgarn- und Vigogne-Spinnerei
Weberei das grösste Personal (88279 in 10533 Betriebsstätten),
meisten Betriebsstätten (20677) zählt die Kamm- etc., Garn- und Band-
weberei; die grössten Etablissements dagegen (2350 mit 28772) die Kamm-
garnspinnerei.
Charakteristische Arbeitsmaschinen sind die Spindeln und Webstühle.
Von diesen waren thätig in:
Mechanische Webstühle
140274
38267
29314
8000
2573
be-
und
Die
Handstühle
?
62230
56214
34000
5989
Spindeln
Grosßbritennien (1874) 5,449495
Frankreich (1876) 2,946632
Deutschland (1875) 2,884607
Oesterreich (?) 650000
Italien (1876) 305386
(Jannasch a. a. 0. S. 175.)
3. Spinnerei und Weberei in Flachs, Hanf, Werk, Jute
etc. Diese ganze Industrie ist noch vielfach Kleinbetrieb mit Ausnahme
der Flachsröstanstalten und der Juteweberei. In der Flachsspinnerei hat
die Maschinenarbeit erst in neuester Zeit Eingang gefunden. Sie ist unter
den europäischen Ländern relativ am meisten in Irland verbreitet; die
Leinenweberei dagegen in einzelnen Theilen Deutschlands.
Die Toxiilindiistrie.
295
folgt:
Die Zahl der beschäftigten Betriebe und Personen stellt sich wie
(1875) Deutschland 202965 Personen in 137609 Betrieben.
(1876) Frankreich 55108 „ „ 618 „
(1874) Grossbritannien 171590 „ „ 620 „
Die Zahl der charakteristischen Arbeitsmaschinen beträgt:
mechanische
in
Spindeln ""
»Webstühle
Handwebstühle
Grossbritannien und Irland
(1874)
1.807862
51601
?
Frankreich
(1870)
731243
24646
42806
Deutschland
(1875)
330561
9214
146930
Oesterreich
(1875)
400000
500
circa 6000
Belgien
200000
4800
?
Italien
59228
772
?
Schweiz
8000
?
?
Niederlande
8000
1200
9
Schweden
4000
—
?
Spanien
3500
1000
?
4. Die Baumwollindustrie beschäftigt in Deutschland (nebst ge-
mischten Waaren) 104619 Betriebe und 296827 Personen. In Frankreich
beschäftigte 1866 die Baumwollindustrie 22360 Etablissements mit 27995
Vorständen, 7232 Angestellten, 145258 Arbeiteni und 97270 Arbeiterinnen
(Block). In Grossbritannien und Irland im J. 1870 (ebenfalls nach Block)
450087 Arbeiter, in Russland 132352 Arbeiter bei 1879 Etablissements.
Die beiden Hauptzweige dieser Industrie sind:
A. Die Baumwollspinnerei. Eine Reihe äusserst sinnreicher Er-
tindungen hat hier die ältere Handspinnerei gänzlich verdrängt und diesen
Industriezweig wie kaum einen anderen zur Domäne der Maschine gemacht.
Diese Erfindungen und die Verstärkung der Betriebskräfte haben die
Production in den letzten Jahrzehnten ins Riesenhafte gesteigert. Die in
der Neuzeit entstehenden Spinnereien sind vorzugsweise grosse Actien-
unternehmungen. Die Zahl der Spindeln betrug ums Jahr 1877 in :
Grossbritannien .... 39,500000
Frankreich 5,000000
Deutschland . . , . , 4,200811
Russland 2,500000
Schweiz 1,850000
Spanien 1,775000
Oesterreich-Ungarn . . 1,558000
Italien 880000
Belgien 800000
Scandinavien ..... 310000
Niederiande 230000
Vor. Staaten 10,000000
Ostindien 1,231000
Zusammen
69,834811
(In Deutschland die in der Weberei und Bandweberei beschäftigten
Spindeln nicht gerechnet. Nach Jannasch a. a. O. Seite 173.)
296
Papier- und Lederindustrie.
Die Hauptgründe der englischen üeberlegenheit sind neben den
Fortschritten des dortigen Maschinenbaues die leichtere BeschaflPung guten
Rohmateriales und das wohlfeilere Capital.
B. Die Baumwollweberei stellt sich in ihrer localen Vertheilung
folgendermassen. Die Zahl der Maschinenstühle beträgt (nach oben ge-
nannter Quelle) in:
Grossbritannien
(1875)
440676
Frankreich
(1877)
51184
Deutschland
(1861)
29448
n
(1875)
80465
Oesterreich
Italien
(1875)
23000
13517
Das Gedeihen hängt zumeist von Einführung der Maschine, dem
wohlfeilen Capital, auch von der zunehmenden Tüchtigkeit der Arbeiter-
bevölkerung ab. Daneben freilich auch von anderen Ursachen. So ent-
wickelte sich die deutsche Baumwollindustrie zuerst unter dem Einflüsse
.der ContinentalspeiTe, dann unter dem des Schutzzolles.
Die übrigen der Textilindustrie noch angehörigen Classen von Ge-
werben haben geringere volkswirthschaftliche BediButung und sollen hier
blos erwähnt werden. Es sind:
5. Bleicherei, Färberei und Appretur, soweit sie nicht in die
obengenannten Industrien eingerechnet ist.
6. Fabrication von Geweben und Geflechten aus Gummi und
Haar.
7. Erzeugung von Wirk-, Klöppel-, Häkel-, Strick- und
Stickwaaren.
8. Seilerei und Reepschlägerei.
9. Verfertigung von Säcken, Segeln, Netzen etc.
§. 150. Papier- und lederindastrie.
1. Industrie in Papier und Pappe. Dieselbe beschäftigt:
i 11
Betriebe
Personen
Maschinen
Pferde-
kräfte
(Dampf-
und Was-
serkraft)
Deutschland 1875
Grossbritaiiuieu .... 1871
Frankreich 1876
Oesterreich ?
Italien 1877
2280
344
512
214
521
46310
28050
28656
?
17312
1091
456
?
200
168
53892
35260
20378
?
13980
Mahrungs- and OenaBsmittelindttstrie. 297
Die Production beläuft sich jährlich auf:
Id Deutschland circa 360 Millionen Kilogramm
„ Frankreich „ 141 „ « ? werth 103 Millionen Fr.
„ Oesterreich „ 70 „ „
„ Italien „ 54 „
In allen Culturländern zeigt dieser Industriezweig eine bedeutende
Steigerung und zugleich ein fortwährendes Verdrängen der Handarbeit
durch die Maschine.
■ 2. Leder und Ledersurrogate. Der Bedarf an Leder hat mit
wachsender Bevölkerung und Wohlhabenheit sehr zugenommen, so dass
die mittel- und westeuropäische Häuteproduction trotz des zunehmenden
Viehstandes nicht zureicht und seit 1820 Zufuhren von Häuten aus Amerika,
Ostindien und Osteuropa häufig geworden sind. Die Lederbereitung wird
theils handwerks-, theils fabriksmässig betrieben ; ebenso die Verarbeitung
des Rohmateriales zu Gebrauchsgegenständen. Der wichtigste Zweig der-
selben, die Schuhmacherei, fällt in das Gebiet der Bekleidungsindustrie.
Zahlen hinsichtlich der Ausdehnung der Lederindustrie stehen nur sehr
spärlich zu Gebot. In Deutschland beschäftigt dieselbe (einschliesslich der
Lohmühlen, Lohextractfabriken, Wachstuch-, Ledertuch- und Treibriemen-
fabriken) 44037 Personen in 13554 Betrieben, 350 Dampfmaschinen mit
3569 Pferdekraft. Davon kommen auf die eigentliche Lederfabrication
11781 Betriebe mit 40879 Personen.
3. Fabrication von Gummi- und Guttaperchawaaren.
4. Buchbindereien und Cartonnagefabriken.
5. Riemer, Sattler und Tapezierer. Diese Classe beschäftigt
in Deutschland 59819 Personen in 32402 Betrieben. Das Gewerbe der
Riemer und Sattler ist wegen des ausgedehnten localen Bedarfes der Land-
bevölkerung Kleingewerbe und zahlreich und gleichmässig auf dem Lande
verbreitet, während die Taschnerei, Leder-Galanteriewaarenindustrie mehr
dem Grossbetrieb angehören und ihren Sitz in den Städten haben.
§. 151. Nahnmgs- und Oennssmittelindnstrie.
Diese gesammte, ungemein wichtige Gruppe beschäftigt in Deutsch-
land 692600 Personen in 271585 Betrieben. Hierunter mit mehr als 5
Gehilfen 10505 Betriebe mit 264170 Personen nebst 6891 Dampfma-
schinen von 80978 Pferdekraft. Auf 10000 Einw. kommen 63,« Betriebe
und 162,1 Personen. Die ganze Gruppe zerfallt in folgende Classen:
1. Herstellung vegetabilischer Nahrungsstoffe. Hieher ge-
hören als wichtigste Einzelngewerbe die Müllerei und Bäckerei. Hin-
sichtlich der Müllerei sind unter den verschiedenen Arten von Mühl-
werken aus natürlichen Gründen in Gebirgsländem mit reichem Wasser-
298 Nahruiigs- und öeuussmitlelindustrie.
gefalle die Wassermühlen, in ebenen Ländern, wo es an Geßlllen fehlt,
die Windmühlen häufiger. Die von Thieren getriebenen Mühlen ver-
schwinden mehr und mehr; dagegen sind die Dampfmühlen, namentlich
in wohlhabenden Gegenden, wo es an Gefällen fehlt, im Zunehmen. In
Deutschland beschäftigen 59908 Mühlen ein Personal von 126563. Die
Bäckerei mit der Conditorei zusammen beschäftigt in Deutschland 79252
Betriebe mit 139034 Personen. In Bezug auf das Zahlenverhältniss zwi-
schen ]3äckern und Einwohnern finden länderweise grosse Vei'schieden-
heiten statt, namentlich deshalb, weil bei dünner Bevölkerung und vor-
wiegendem Landbau viel mehr hausgebacken es Brod bereitet wird, als bei
dichter Bevölkerung, welche mehr auf den Einkauf des Brodes ange-
wiesen ist.
. Derjenige Zweig der Nahrungsmittelindustrie, welcher am entschie-
densten dem Grossbetrieb zugefallen ist, ist die Zuckerfabrication.
Sie theilt sich in die Hauptzweige der Rohzuckererzeugung und der
Zuckerraffinerie.
Die europäische Rohzuckererzeugung ist an jene Gegenden gebunden,
deren Boden und Klima die zuckerreichsten Rüben produciren. Auch
Zufuhr des Brennstoffes und Abfuhr des Zuckers kommen in Betracht.
Wie sehr die Leistungen der Fabrication sich vervollkommnen, ergibt sich
daraus, dass bis zum Jahre 1845 1 Ztr. Rohzucker von 20 Ztr. Rüben,
bis zum Jahre 1855 1 Ztr. Rohzucker von 15 Ztr. Rüben und später von
1272 Ztr. gewonnen ward. Die Zahl der Rüben Zuckerfabriken betinig im
Jahre 1871 (nach dem Wiener Weltausstellungsbericht)
in Deutschland 311
„ OesteiTeich 228
„ Schweden 4
„ Russland 439
„ Polen 42
„ Frankreich 483
„ Holland 20
„ Belgien 125
„ Grossbritannien 1
„ Italien 2
ganz Europa . 1655
Die Zahl ist im regelmässigen Steigen, welches nur durch Steuer-
erhöhungen unterbrochen wird. Die Zuckerraffinerien, welche Colonialzucker
verarbeiten, sind sehr in Abnahme; Grossbritannien und die Niederlande
zählen noch die meisten. Die gesammte Rohrzuckererzeugung der' Welt
wird auf 41 bis 42 Mill. Zoll-Ztr. geschätzt.
Nalirungs- und GenuBümittelindustrie. 299
Die gesaminte Rübenzuckerproduction Europas wird für das Cam-
pagnejahr 1878/79 berechnet wie folgt (Neumann-Spallart a. a. O. S. 121):
Frankreich 8,640000 Zollzentner
Deutschland 8,400000
Oesterreich-Ungam .... 7,800000
Russland, Polen 4,300000 „
Belgien 1,410000
Andere Länder 600000
31,150000 Zollzentner
Die deutschen Rübenzuckerfabriken insbesondere haben sich bis zum
Campagne-Jahr 1877/78 auf 329 vermehrt und in diesem Jahre 4090
Millionen Kilogr. Rüben verarbeitet. Zu 1 Kilo Rohzucker wurden durch-
schnittlich 10,82 Kilo Rüben verbraucht.
2. Erzeugung animalischer Nahrungsstoffe. Das bei weitem
wichtigste Einzelngewerbe dieser Classe ist die Fleischerei, grösstentheils
Handwerk. Der Umfang des Fleischer- oder Metzgergeschäftes und die
Qualität des Productes hängen wesentlich vom Betriebscapital und Credit
ab. Die relative Häufigkeit des Gewerbes hängt wie die Bäckerei mit der
Volksdichtigkeit zusammen, theils auch mit dem Betriebsumfang. In
Deutschland beschäftigt das Gewerbe 110687 Personen in 77427 Betrieben.
3. Getränkefabrication. Die wichtigsten Einzelngewerbe dieser
Classe sind die Brauerei und Branntweinbrennerei.
Bei den Bierbrauereien besagt die Zahl der Etablissements an
sich noch nichts, wegen des sehr verschiedenen Umfanges derselben. Da
der neuere Betrieb dieser Industrie hinsichtlich der Apparate und Ma-
schinen bedeutende Anforderungen stellt, ist die Zahl derselben (wenigstens
in Deutschland) in stetem Zurückgehen begriffen. Diese Verminderung trifft
aber nur die kleineren Geschäfte; die grossen haben sich vermehrt. Am
grossartigsten ist der Betrieb in Grossbritannien. In Deutschland beschäftigt
die Brauerei 18236 Etablissements mit 67778 Personen und 1445 Dampf-
maschinen zu 11470 Pferdekraft. Die Production der wichtigsten Pro-
ductionsländer wird (Block: Stat. de France II. 225) berechnet auf (in
Hectolitem):
.Grossbritannien .... 18,000000
Belgien 3,116675
Oesterreich 6,600000
Preussen ........ 2,800000
Sachsen 1,072000
Bayern 5,440000
Dänemark 1,000000
Frankreich 7,399683
Diese Ziffern sind jedenfalls viel zu gering. In Deutschland insbe-
sondere stellt sich 1877/78 die Biei-production wie folgt. Auf den Kopf
der Bevölkerung treffen Liter in:
300 Sonstige Indnsirieu.
Bayern 275
Württemberg 203
Baden 72
Elsass-Lothringen 52
Uebriges Deutschland (Reichs-
steuergebiet) 63
Die gesammte Bierproduction Deutschlands beträgt jetzt (1878/79)
38 Millionen Hectoliter.
In der Branntweinbrennerei und Spiritusfabrication wird
gleichfalls, seit der Spiritus in den Gewerben massenhaft verwendet wird
und wichtiger Handelsgegenstand geworden ist, der kleine Betrieb mehr
und mehr durch den grossen verdrängt. In Deutschland beschäftigt das
Gewerbe 16278 Betriebe mit 37479 Personen. Die Production beträgt in
Deutschland (ausschl. Bayern, Württemberg und Baden) 4,169200 Hectol.
oder 11,9 Liter pro Kopf.
4. Tabakfabrication. Dieser Industriezweig, hochwichtig für Be-
steuerungszwecke, weist in den einzelnen Ländern sehr grosse Verschieden-
heiten auf, je nach der Art der Besteuerung und nach der Beschaffung
des Rohmaterials. In mehreren wichtigen Staaten Europa's entzieht sich
die Tabakfabrication, weil Staatsmonopol, dem Kreise der hier zu beob-
achtenden Gewerbe. So namentlich in Oesterreich-Ungarn und in Frankreich.
In Deutschland beschäftigt die Tabakfabrication 10583 Betriebe mit
110891 Personen. Dabei sind 2506 Betriebe mit mehr als 5 Gehilfen und
in diesen grösseren Betrieben 96561 Personen beschäftigt, hiezu 129
Dampfmaschinen mit 881 Pferdekraft.
§. 152. Sonstige Industrien.
Von den übrigen industriellen Gewerben, welche sich sämmtlich
bisher keiner so sorgfältigen Betrachtung zu erfreuen hatten, wie die
ebengenannten, wären noch folgende Hauptgruppen zu nennen:
I. Industrie für Bekleidung und Reinigung. Diese Gruppe
beschäftigt in • Deutschland 774955 Betriebe mit 1,053142 Personen, wor-
unter nur 4626 Betriebe mit mehr als 5 Personen, in Frankreich 341637
Betriebe mit 601395 Personen. Sie ist die am zahlreichsten besetzte
Gewerbsgruppe überhaupt. Auf 10000 Einw. treffen in Deutschland 181,4
Betriebe und 246,5 beschäftigte Personen. Die Fortdauer des Kleinbe-
triebes wird hier durch verschiedene Umstände ermöglicht: durch die
Häufigkeit der Reparaturarbeiten, durch die Allgemeinheit des Bedürf-
nisses, welchem diese Gewerbe dienen und welche es nöthig macht, dass
dieselben auch in den kleineren Ortschaften vertreten sind; auch durch
den Umstand, dass diese Gewerbe, weil den unmittelbarsten persönlichen
Bedürfnissen dienend, nicht so schablonenmässig arbeiten . können , wie
der mäschinenmässige Grossbetrieb.
Sonstige Industrien. 301
Die wichtigsten zu der Gruppe gehörigen Einzelngewerbe sind be-
kanntlich die der Schneider und Schuhmacher. Nach älteren Angaben
kommt
1 Schneider auf 1 Schuhmacher auf
in Deutschland 252 185 Einw.
„ Frankreich 238 192 „
„ Oesterreich 761 507 „
„ Italien 687 555 „
Jetzt arbeiten im Deutschen Reiche 298923 Schneider und 374203
Schuhmacher.
IL Baugewerbe. Diese Gruppe beschäftigt in Deutschland 234388
Betriebe mit 467309 Personen, also auf je 10000 Einwohner 54,9 Betriebe
und 109,4 Personen. Nur 7964 Betriebe mit 169326 Personen haben
über 5 Gehilfen* Dieses Vorherrschen des Kleinbetriebes erklärt sich aus
dem stark örtlichen Charakter der ganzen Gruppe.
Die Frequenz der ganzen Gruppe wird hauptsächlich durch die
nationale Bausitte und durch die jeweilige Baulust bedingt; doch darf
man, da in Ackerbaugegenden die meisten Reparaturen und viele Neu-
bauten vom Hausbesitzer unter Zuzug von Handarbeitern besorgt werden,
nur für Städte und Industriegegenden aus der Zahl der Bauhandwerker
Schlüsse auf die Bauthätigkeit ziehen. In allen Culturländern werden
neben den handwerksmässigen Baugewerken und neben der fabriksmässigen
Production von Baumaterialien einzelne Theile der Bauthätigkeit, nament-
lich die Anlage der grossen Verkehrsbauten vom Ingenieui-wesen, die
höchste künstlerische Vollendung der Bauwerke von der Kunstindustrie
und der Kunst beherrscht, so dass in diesem Gewerbszweige alle Quali-
täten von Arbeitskräften wie alle Classen des Betriebsumfanges ver-
treten sind.
III. Die Industrie der Steine und Erden schliesst sich an die
Baugewerbe an. Hieher gehören:
A. Die verschiedenen Zweige der Gesteinindustrie, welche als
Grundlage der Bauausführungen dienen,' die Kalkbrennereien, Ziegeleien,
Fabriken von Formsteinen und schweren Thonwaaren, Gyps-, Cement-,
Asphaltfabriken, Schiefer-, Marmor-, Dachplattenbrüche und Steinbrüche
überhaupt, sind zu bedeutendem Umfange angewachsen und werden zum
Theil fabrikmässig betrieben.
B. Die Keramische Industrie. Sie gehört theils dem handwerks-
mässigen, theils dem fabrikmässigen Betriebe an. Nach dem von ihr ver-
arbeiteten Material zerfällt sie in Glas-, Porzellan-, Steingut- und Thon-
waarenindustrie. Bei der Glasindustrie ist die Herstellung des
Productes und grossentheils auch die Verarbeitung desselben vereinigt
302 Sonstige Industrien.
und gehört dem Grossbetrieb an. Die locale Vertheilung dieses Fabri-
cationszweiges wird zumeist durch das nicht überall vorhandene Roh-
material, sowie durch die gewohnheitsmässige Uebung der Arbeiterbevöl-
kerung beeinflusst.
Die Glaserei dagegen ist decentralisirter, ganz an die Baugewerke
anschliessender Handwerksbetrieb. Weit mehr centralisirt als die Glas-
fabrication ist die Porzellanmanufactur. In Deutschland z. B. kommen auf
jede Glasfabrik 36, auf jede Spiegelfabrik 50, auf jede Porzellanfabrik
100 beschäftigte Personen. Mit der Vertheuerung des Holzes steigt das
Bedürfniss, solche Anstalten in der Nähe von Kohlengruben anzulegen,
zumal die Fortschritte der Technik die Erzeugung der feinsten und werth-
voUsten Waare mit Steinkohle ermöglichen. Die Steingut- und Thon-
waarenindustrie duldet geringeren Betriebsumfang; letztere insbesondere
ist allenthalben noch Gegenstand des Kleingewerbes.
IV. Die chemische Industrie im engeren Sinne sowohl (Fabri-
cation von Chemikalien zu pharmaceutischem und gewerblichem Ge-
brauch, von Farben und Firnissen), als auch eine Reihe anderer hieher
zu rechnender Industriezweige (Gas- und Theer-, Zündwaaren-, Seifen-
und Stearin-, Parfömerie- und Mineralölfabrication, Leimsiederei, Phos-
phor- und Kunstdüngerfabrication u. s. f.) gestatten zum Theile sehr
bescheidenen, zum Theil erfordern sie beträchtlichen Betiiebsumfang und
Capitalaufwand. Sie sind meist modernen Ursprungs und Ergebniss wissen-
schaftlicher Forschung, und in ihrem Stand und Gang höchst abhängig
von der Entwickelung der Gesammtindustrie.
V. Die Industrie in Holz-, Stroh- und kurzen Waaren gehört
theils dem kleinen, theils dem grossen Betrieb an. Hinsichtlich der Holz-
waaren steht das weitverbreitete Gewerbe der Tischlerei obenan. Dieses
Gewerbe scheint (in Deutschland wenigstens) seit Anfang dieses Jahrhun-
derts die Zahl seiner Arbeiter, verglichen mit der Bevölkerung, verdop-
pelt zu haben; man zählt in Deutschland 230.510 in Tischlereien be-
schäftigte Personen. Der fabrikmässige Betrieb gehört erst der neueren
Zeit an; schwierigere, der Kunstindustrie angehörende Leistungen, pflegen
von ihm auszugehen. Die Böttcherei schliesst sich in ihrer Ausdehnung
wesentlich an intensiven Landbau und Getränkefabrication an; die Korb-
flechterei und Holzschnitzerei erscheinen, vielfach als häusliche Neben-
beschäftigung getrieben, mit besonders geringem Betriebsumfange. Die
Verfertigung von Kurzwaaren aus Holz, Hörn, Bein, insbesondere die
Drechslerei, Spielwaarenfabrication u. dgl. wird, da sie auch schon im
Kleinen eingehende Arbeitstheilung zulässt und keine grossen Capitalien
erfordert, noch immer mit Erfolg vom Kleingewerbe betrieben; ganze
Landstriche verdanken ihnen nicht unbedeutenden Wohlstand. Einzelne
SlAtistik der Preise. - Das Geld. 303
Zweige allerdings gehen mehr und mehr in den fabrikmäßsigen Betrieb
über. Die Stroh-, Rohr- und Bastwaarenindußtrie hat man, da sie auch
schwächere Arbeitskräfte zulässt und fast kein Capital beansprucht, nicht
ohne Erfolg als Subsistenzmittel för verdienstlose Bevölkerungen beim Er-
liegen anderer Gewerbszweige zu fördern gesucht. Lackirte Waaren ge-
hören meist der Fabrikindustrie an; ebenso Bleistifte, Federn u. dgl.
IV. Capitel.
Statistik der Preise. — Das Geld.
§. 153. Im Allgemeinen.
Der Preis der Güter gehört zu den Favoritgegenständen wirthschaft-
licher Statistik. Er eignet sich aber auch ganz ausnehmend hiezu. Denn
er ist ein bewegliches, schwankendes Verhältniss, welchem bei allem
Schwanken doch jene tiefen Gesetze gelten, die von der ökonomischen
Wissenschaft so schön präcisirt worden sind. Ganz im Allgemeinen gesagt
beschäftigt sich die Preisstatistik mit den Tauschwerthen aller Güter, wie
sie in verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten sich zeigen, wie
sie gegen einander gehalten, steigen und fallen. Also mit Massener-
scheinungen von imposanter Mannigfaltigkeit.
Auch diese Massen erschein ungen haben ihren Stand und ihren Gang.
Beides zu beurtheilen bedarf es einiger Sorgfalt. Erleichtert wird die Auf-
gabe ganz ungemein durch das Vorhandensein des Geldes, als eines
Tauschmittels, welches zum einfachsten Ausdruck der Preise dient.
Die Preise, welche verglichen werden können, sind entweder:
I. Preise verschiedener Waaren, oder
II. Preise einer und derselben Waare, aber
1. an verschiedenen Orten, oder
2. zu verschiedenen Zeiten.
Aus mehreren Preisangaben, welche sich auf eine bestimmte Waaren-
gattung beziehen, können durch einfache Rechnung Durchschnittspreise
gefunden werden. Diese beseitigen die zufälligen Aenderungen der auf den
Preis einwirkenden Bestimmungsgründe, und lassen mehr die dauernde
Macht derselben zum Vorschein kommen. Durchschnittspreise sind ideale
Werthe, der Wirklichkeit umsomehr entsprechend, je massenhafter und
regelmässiger die einzelnen Beobachtungen waren.
304 Gliederung der Aufgabe der FreissUtistik.
Das wichtigste ist immer die Untersuchung über die Ursachen, welche
die verschiedenen Preishöhen herstellen. Diese Ursachen, die Bestim-
mungsgründe des Preises ergeben sich im Allgemeinen zwar schon
aus der unmethodischen Massenbeobachtung, ja sogar auf dem Wege der
deductiven Forschung, aber ihre wechselnde Kraft zu messen: dies ist die
eigentliche Aufgabe der Preisstatistik.
Diese verschiedenen Preisbestimmungsgründe wirken aber sämmtlich
bei jeder einzelnen Preisbestimmung. Und dieses Zusammenwirken ist es,
was die Beobachtung sehr erschwert. Denn Intensität und Tenacität der
Preisbestimmungsgründe sind verschieden, und ebenso die Sensibilität der
Preise verschiedener Güter.
Erleichtert wird die Beobachtung dagegen dadurch, dass überall, wo
der Güterumlauf und die Preisbestimmung häufiger sind, Marktpreise sich
bilden. In ihnen erspart das wirthschaftliche Leben selbst dem Stati-
stiker einen Theil seiner Arbeit, eine Reihe von Beobachtungen. Die
Marktpreise aber streben nach möglichst gleicher Höhe mit den Produc-
tionskosten.
Ein ganz stetiges Preismass ist freilich noch nicht gefunden. Will
man daher beobachten, ob ein Gut im Preise steigt oder fällt und soll
diese Beobachtung Anspruch auf grosse Genauigkeit haben, so genügt es
nicht, dass man einen beliebigen Vergleichungsmassstab (d. h. eine be-
stimmte Geldart) nimmt, ohne zu prüfen, ob derselbe auch immer und
überall der gleiche war. In solchen Fällen wird es also nöthig, nachzu-
sehen, wie der Preis des Geldes sich verändert hat.
Anmerkung.
*) Die Preise siud ein von der Statistik oft und gründlich behandeltes
Feld. Die statistischen Congresse haben sich wiederholt damit beschäftigt. So
der Londoner Congress 1860 bezüglich der landwirthschaftlichen Producte, der
Berliner 1863 hinsichtlich der Preise von Haus- und Grundbesitz; der Wiener
von 1857 bezüglich des Werthes industrieller Erzeugnisse u. s. f. Auch der
letzte Congress zu Budapest befasste sich damit.
Von der überaus zahlreichen Privatliteratur über Statistik der Preise
seien nur zwei Arbeiten erwähnt. Die erste ist das classische Werk von Tooke
und New mar ch: Die Geschichte und Bestimmung der Preise während der
Jahre 1793 — 1857; deutsch von As her. Die andere ist von K. Brämer: Zur
Theorie und Praxis der internationalen Preisstatistik. In der Zeitschr. d. preuss.
stat. Bureau, 1878. I. Heft.
§. 154. Oliederimg der Aufgabe der Preisstatistik.
Bei aller Preisstatistik sind folgende Aufgaben zu unterscheiden:
I. Die Constatirung bestimmter Preishöhen. Bei der heutigen
Beschaffenheit des Welthandels ist es leicht, über den momentanen Preis-
Gliederung der Axifga1>e der Preisstatutik. 305
stand der Waaren, den dieselben an jedem wichtigeren Händelsplatze ein-
nehmen, Nachricht zu erhalten. Der Preisstand eines beliebigen Tages ist
jedoch nicht, was dem Statistiker genügen kann. Dieser verlangt zu
wissen, wie sich der Durchschnittspreis einer oder mehrerer Jahre stellt.
Denn die wechselnden Preise einzelner Tage haben wohl Einfluss auf die
einzelne Handelsspec^lation; aber dauernden Einfluss auf die Lage der
Production und der Consumtion nehmen nur die Durchschnittspreise län-
gerer Zeiträume. Diese sind es deshalb auch, welche zu handelspolitischen
Zwecken von den Regierungen ermittelt werden.; in möglichst gründlicher,
wenn auch ziemlich ungleichartiger Weise. Die Ermittlung geschieht in
der Weise, dass eine Behörde oder Commission (ein statistisches Amt
oder das Finanz- oder Handelsministerium etc.) unter Zuhilfenahme von
Cursnotirungen der wichtigsten Börsen, von Handelskammer-Gutachten,
Preiscourants, von berufenen Sachverständigen, die zuverlässigsten Nach-
richten über die an verschiedenen Plätzen wirklich gezahlten Waaren-
preise sammelt, prüft und vergleicht und hieraus die Mittelpreise eines
Jahres berechnet. Dabei ergeben sich freilich mancherlei Hindemisse und
Schwierigkeiten, welche Ursache sind, dass selbst die zuverlässigsten Er-
hebungen der Preisstatistik noch weit vom Ideal entfernt sind. Die
Durchschnittspreise sind überhaupt schon Abstractionen und als solche
etwas anderes als die Wirklichkeit; sie sind aber auch sehr häufig un-
richtige Abstractionen, weil bei ihrer Bildung nicht allein die Höhe der
Einzelnpreise, sondern auch die Quantität der zu diesen Preisen ver-
kauften Waaren in Betracht gezogen werden müsste, was nicht immer
geschieht.
n. Die Untersuchung der Ursachen verschiedener Preishöhen.
Mit der einfachen Constatirung der Preishöhen ist nur ein Theil der ge-
sammten Aufgabe der Preisstatistik erledigt. Nicht minder schwierig als
sie ist das Eingehen auf die Bestimmungsgründe des Preises in jedem
einzelnen Falle. So einfach es ist, die Bestimmungsgründe des Preises auf
dem Wege psychologischer Speculation zu entwickeln und in zahllosen
Einzelnfällen mit wirthschaftsgeschichtlichen Beweisen zu versehen, umso
schwieriger erscheint es dagegen, diese Bestimmungsgründe nach einer
gleichmässigen Methode quantitativ festzuhalten. Es ist leicht, zu sagen:
Nachfrage und Angebot bestimmen den Preis. Aber mit welchen Mass-
stäben misst man das Angebot und die Nachfrage? Und wie trägt man
dem Umstände Rechnung, dass zwischen das ursprüngliche Angebot der
Producenten und die ursprüngliche Nachfrage der Consumenten ein
Zwischenglied, die Speculation des Handels eintritt, welche unaufhörlich
unnatürliche, künstliche Verhältnisse des Angebots und der Nachfrage
schafft und wieder auflöst?
Haashofe r. Statistik. 2. Aufl. |0
306 Gliederung der Aufgabe der PreissUtietik.
Die Ergebnisse der Production, die Massen der zu Markt gebrachten
Waare lassen sich allerdings in vielen Fällen mehr oder weniger genau
constatiren; ebenso die Veränderungen im Tauschwerthe des Geldes; häufig
auch Veränderungen der Productionskosten. Der jeweilige Gebrauchswerth
der Waaren aber lässt sich nicht zur Ziffer bringen.
ni. Die Beobachtung örtlicher Preisunterschiede. Die Durch-
schnittspreise, welche eine Waare im Lande hat, setzen sich zusammen
aus den Preisen aller einzelnen Orte, an welchen die Waare gekauft und
verkauft wird. Da es indessen unthunlich ist, jederzeit jedem einzelnen
kleinsten Marktplatze zu folgen, muss man sich damit begnügen, die
Preishöhen der wichtigeren Marktplätze zu verfolgen. Dabei genügt es
aber nicht, wenn man die Preishöhen der einzelnen Plätze als gleich-
werthig nimmt. Sondern bei jeder Preishöhe, die als Factor bei der Be-
rechnung des Mittelpreises auftritt, muss auch die Waarenmenge berück-
sichtigt werden, die zu diesem Preise verkauft ward. Wenn am Platze A
1000 Zentner ä 2, am Platze B 2000 Zentner ä 3 und am Platze C
8000 Zentner ä 4 Mark oder Gulden verkauft wurden, so ist der Durch-
2 + 3 + 4
schnitt nicht etwa o == 3, sondern die Gesammtsumme der
erzielten Preise, dividirt durch die Gesammtsumme der verkauften Zentner,
, 40000
*''^ TlÖÖÖ = ^*^^-
Bei der Betrachtung der örtlichen Preisverschiedenheiten ergibt sich
vor Allem, wie die Entfernung vom Productionsplatze, beziehungsweise
von der Einfuhrgrenze die Preise erhöht; wie die grösseren Marktplätze
immer dem Durchschnittspreise des ganzen Landes näher kommen, als
die kleineren; wie sich die Preise der Seeplätze zu denen des Binnen-
landes verhalten u. s. f.
Ein weiteres Eingehen auf diese Unterschiede bei den einzelnen
Waaren bedarf immer noch handelsgeographischer Kenntniss bezüglich
der Productions- und Consumtionsverhältnisse etc. der einzelnen Orte.
IV. Die Beobachtung zeitlicher Preisunterschiede fuhrt, wenn
sie sich über längere Zeiträume erstreckt, zur Preisgeschichte. Diese
letztere ist jedoch häufig angewiesen, ihre Schlüsse auf sehr vereinzelte
Preisnotizen zu begründen und hat überdies fortwährend mit dem un-
gleichmässigen Werthe der Zahlungsmittel zu kämpfen. Für das Ver-
ständniss der Preise ist aber die Preisgeschichte, auch wenn sie mit
dürftigem Material arbeitet, eine weit reichere Fundgrube, als die ein-
gehendste Preisstatistik moderner Waarenpreise ist. Die Grenze zwischen
Preisgeschichte und Preisstatistik wird durch die Massenbeobachtung ge-
Die Getreidepreise.
307
bildet. Diese muss wohl unterschieden werden von den vereinzelten Preis-
notizen, welche die Wirthschaftsgeschichte uns vermittelt.
§. 165. Die Oetreidepreise.
Begreiflicherweise sind es stets die wichtigsten Nahrungsmittel ge-
wesen, deren Preise die Statistik am meisten interessirt haben, sowohl
hinsichtlich ihrer örtlichen, als hinsichtlich ihrer zeitlichen Verschiedenheiten.
I. Die örtlichen Preisverschiedenheiten. Die Unterschiede des
Getreidepreises in verschiedenen Ländern und an verschiedenen Plätzen
beruhen vor Allem auf dem Gegensatze der Productions- und Consumtions-
gebiete. In je höherem Grade eine Gegend den Charakter eines Getreide-
Productionsgebietes hat, um so niedriger sind die Preise, während dieselben
um so höher sein müssen, je mehr die Macht der Consumtion überwiegt.
Da die Consumtion jedoch ihre Fäden, die Verkehrsadern, nach den
Productionsgebieten ausstreckt, so sind auch in den letzteren beträchtliche
Preisverschiedenheiten vorhanden, je nachdem die Verkehrs- und Absatz-
gelegenheit mehr oder weniger günstig ist. Jede Verbesserung der Trans-
portmittel muss zur Ausgleichung der Preisunterschiede beitragen.
Im Jahre 1875 verhielten sich die Preise der wichtigsten Ackerfrüchte
in Reichsmark wie folgt*):
Waarengattung
2 So
« 2
O ' 'TS
boo
do
Ver. Staaten
S.2 u
hD^ bo
9 2^
mm 2
Weizen
Roggen
Hafer
Gersie
Beis .
Mais .
Hülsenfrüchte
Mehl etc. .
Kartoffeln .
Klee- u. Grassaat
Oe]saat
20-21
a
17-^18
18
24—68
15
24—26
18—72
5,6—6,4
120—140
27—29
21
16
17
18
26-28
16
20
32
6
50—100
28
21—22
16
17—18
17—30
18
16
18—37
13—66
9,17
34-91
12—13 pro Hectol.
9-11 „
5-6,7 „
7,7-12 „
24—66 pro 100 Kilo
9,8—10,5 pro Hectol.
12 pro Hectol.
23—32 pro 100 Kilo
9,9—10 pro Hectol.
21
17
18
22
19
16
19—40
16—46
5,86
49—113
22—29
Die Verschiedenheiten der Getreidepreise sind in den Provinzen eines
und desselben • Staates noch beträchtlicher, als die Unterschiede in den
Hauptculturländem selbst. So stellen sich z. B. im Monat August des
Jahres 1877 in den verschiedenen Provinzen Preussens die Getreidepreise
(Mittelpreise) wie folgt (pro 100 Kilogr. in Reichsmark^):
20*
308
Die QetreidepreiBe,
Provinz
Weizen
Roggen
Gerste
Hafer
Kar-
toffeln
Preussen
Brandenburg . . .
Pommern . . . . .
Poseii
Schlesien . . . . ,
Sachsen ,
Schleswig-Holstein
Hannover ....
Westfal^ ....
Hessen-Nassau .
Rheinland ...
%t,5
21,3
22,6
22,2
20,7
23,1
26,9
24
25,4
23,7
26,1
15,7
16,1
16,8
15
15,2
18
17,s
18
18,6
18,7
18,6
14,1
15,3
16,4
14,2
13,6
17,7
17,9
17,2
17,4
17,6
18,6
U,3
15,3
15,6
13,9
12,8
16,3
18,2
16,3
17,7
16
17,3
5,06
4,86
5,3
3,3
4,6
5,85
9,35
7,6
7,2.
7,96
7,05
Noch grösser werden die Differenzen, wenn man blos einzelne Plätze
herausgreift. So finden sich im August 1877 in einzelnen Städten Preussens
folgende Preise (in Mark pro 100 Kilogr.):
Weizen : Hoggeii : Kartoffel :
höchster niedrigster höchster niedrigster höchster niedrigster
Berlin . .
.27,0
20,3
18,9
13
8
3,7
Memel . .
.17,0
15,5
16,3
14,8
7,5
4
Breslau . .
.24,»
17,3
17,5
11,8
6,5
3,5
Hadersleben
.30
27,5
18,8
16
12
10,*
Aachen . .
. 29,5
27,5
20,5
18,5
11
9
Selbst im Zeitalter des Dampfes, wo doch der rascheste Nahrungs-
mittelverkehr möglich ist, so bedeutende Differenzen!
II. Zeitliche Verschiedenheiten. Obgleich nicht so bedeutend
wie die räumlichen, sind doch die zeitlichen Schwankungen der Getreide-
preise immer noch bedeutend genug, wenn man bedenkt, dass das Getreide
dem gleichmässigsten, jeden Tag wiederkehrenden Bedürfnisse- des Menschen
dient und die Schwankungen seines Preises tief nicht nur in das wirth-
schaftliche, sondern in das ganze sittliche und gesellschaftliche Leben der
Menschheit eingreifen.
Jahr für Jahr ist es der günstige oder ungünstige Ertrag der Ernte,
welcher Preisunterschiede verursacht. Ist das Ergebniss eine Mittelerate,
so werden sich auch Mittelpreise gestalten; bei vorzüglichen und schlechten
Ernten dagegen weichen, wenn die Nachfrage gleich bleibt, die Preise
nicht blos in demselben Grad, wie das Ernteergebniss gegen die Mittel-
erträge, sondern noch weit stärker von den Mittelpreisen ab.
Zu Anfang und in der ersten Hälfte des laufenden Jahrhunderts
konnten auch in Deutschland Missernten zu den schrecklichsten Nothlagen
Die Getreidepreise.
309
fuhren. So i. J. 1771; auch 1817 und 1818, und 1847. Jetzt sorgen der
verbesserte Verkehr, namentlich die Eisenbahnen und die überseeische
Schifffahrt fär so bedeutende • Getreidezufuhren , dass solche Calamitäten
in dem Grade wohl nicht wiederkehren können. Um wie viel milder die
-Preisdifferenzen geworden sind, geht aus Folgendem hervor. •
Das Jahr 1817 war eines der theuersten des Jahrhunderts. Damals
betrug in ganz Preussen der Durchschnittspreis des Korns 85 Sgr. per
Scheffel, in. der Provinz Preussen blos 56 Sgr. 10 Pf., in der Rhein-
provinz dagegen 132 Sgr. 6 Pf., die Differenz also 75 Sgr. 8 Pf.
Im Jahre 1855 dagegen, als das Korn im ganzen Staate durch-
schnittlich noch theurer war, nämlich 91 Sgr. 7 Pf., war die Differenz
zwischen den höchsten und niedrigsten Preisen in den verschiedenen
Provinzen auf 23 Sgr. herabgesunken — hauptsächlich iils wohlthätige
Folge der verbesserten Verkehrsmittel^).
Hinsichtlich der zeitlichen Preisschwankungen des Getreides ist noch
zu erwähnen, dass dieselben auch in weit kürzeren Perioden, als in der
eines, Jahres sich zeigen. So besonders in den verschiedenen Monaten. Im
Juli und August, manchmal schon im Juni, treten die bedeutendsten
Aenderungen auf, weil in dieser Zeit das Emteergebniss sich' ungefähr vor-
aussehen lässt. Dass diese nach Jahreszeiten sich ergebenden Differenzen
recht ansehnlich sein können, ergibt sich u. A. aus Folgendem. In Preussen
betrugen 1877 die Preise^) (pro 100 Kilogramm in Reichsmark):
Mouat
Weizen
Roggen
Gerste
Hafer
Kar-
toffeln
Januar . .
Fißbruar
März . . .
April . . .
Mai . . .
Juni . . .
Juli ...
August « .
September
October- . .
Nqvejnb^er..
December .
21,9
2i,8
22,0
23,7
25,5
24,7
25,0
23,4
22,6
22,6^
22,0
21,6
18,5
18,2
18,2
19,0
19,8
19,0
18,9
17,1
16,1
16,2
15,9
15,4
16,7
16,5
16,7
17,3
17,7
17,3
16,9
16,3
16,5
17,0
17,2
16,9
16,7
16,5
16,6
17,0
17,4
16,8
16,7,
15,7
14,8
.14,8
14,7 „
14,4
5,46
5,7
6,0
6,35
7,05
8,0
8,8
6,05
5,5
5,65
5,8
5,8
Anmerkungen.
*) Nach K. Brämer, in der Zeitschr. des preuss. stat. Bureaus, 1878,
i. S. 95 ff. "
») Ebenda, S. 61 ff.
») Viebahn a. a. 0. IL 952.
310
Andere vegetabilische Bobstoflfe und Genussmittel.
§. 156. Andere vegetabiliscke Bohitoffe und Oenussmittel.
I. Oertliche Verschiedenheiten. Auf die Preise dieser WaÄren
wirkt selbstverständlich am meisten die Entfernung vom Productionsplatze.
Der Preis wächst nicht allein mit der Dauer, sondern auch mit der
Schwierigkeit des Transportes und der Aufbewahrung. Die (officiell be-
stimmten) Preise der wichtigsten Waaren dieser Kategorie betrugen im
Jahre 1875 (in Reichsmark und pro 100 Kilogr. ^):
Waaren
Hamburger
Börsen*
preis
Frankreich
Deutsches
Reich
England
Verein.
Staaten
Olivenöl . . . .
Hopfen ....
Kaffee
Thee
Gacao
Rohzucker . . ..
Raff. Zucker . .
Rohtabak . . .
Rosinen und Ko-
rinthen . . .
Farbholz ....
Indigo
Rohbaumwolle .
Flachs
Hanf
Jute
Bau- u. Nutzholz
Harz, Pech, Theer
99
289
181
286
102
46-53
62-87
16-143
45-67
15—20
1451
131
126
44
46
18-45
11-61
116-132
40-56
175
376
114
36—50
57-80
480—960
56
15-20
1232
101—240
21-183
9,6—144
32-56
22-27
8-80
78-90
500
190
400
36-120
44—54
70
150-1800
50
16-24
1400
132
90
70
44
5-28
16-20
78
186—265
190
314
34—122
43—48
61
2032-3094
76
14-16
1092
140
104—173
53-170
30
16—19
388
148
323
104
38—79
73-101
320—3334
678
140—321
66—84
17-28
11-14
Wie bedeutend selbst die örtlichen Unterschiede in den Preisen
leicht transportabler und allgemein beliebter Waaren, z. B. Colonialwaaren
heutzutage noch sein können, ergibt sich aus Folgendem. Es betrug im
Monat December 1877 der Durchschnittspreis für Java^Kaffee (pro Kilo-
gramm in Reichsmark) in den verschiedenen preussischen Städten*):
Königsberg ,
• 2,n
Stettin . . . . 2,w
Breslau .
. .2^
Danzig . . .
. 2,90
Posen .... 2,80
Görlitz . .
. * 3^
Berlin . . .
. 2,80
Magdeburg . . 3,20
Schleiswig .
. . 3f«o
Altona . . .
. 2,40
Hannover . . 2,8o
Osnabrück
. . 2,60
Münster , ,
.2,80
Frankfurt a. M. 3,20
Köln . .
. . 2,30
Aachen . .
.3
Koblenz . . . 3,ao
Düsseldorf
. . 3,ko
Während der Mittelpreis in ganz Preussen 2,86 betrug. Die Preis-
differenzen sind hier offenbar nicht allein von den Transportkosten ab-
Thiere nnd thieri&ehe RohstoiFe. 311
hängig, sondern deuten darauf hin, dass es selbst in handelsgeographisch
und zollpolitisch ganz verwandten Plätzen Unterschiede in den Consumtions-
und Absatzverhältnissen gibt, welche nur schwer zu verfolgen sind.
IL Zeitliche Verschiedenheiten. Alle jene Producte, deren
Erzeugung hauptsächlich von einer freigebigen, reichen Natur bedingt wird,
mussten im Verlauf der Wirthschaftsgeschichte, je mehr die Bevölkerung
der Länder zunimmt und je mehr die ursprünglich vorhandenen Natur-
schätze schon ausgebeutet sind, immer höhere Preise gewinnen. So na-
mentlich Bau- und Werkholz, Brennholz, Fai-bholz, Harze und Rinden
etc. Diejenigen der hieher gehörigen Waaren dagegen, welche Jahr um
Jahr angebaut und durch menschlichen Fleiss vermehrt werden konnten,
durften häufig, durch Verbesserungen der Production und der Verkehrs-
mittel, Preisermässigungen auf dem Weltmarkte, trotz steigender Preise
am Productionsplatz, erleben. Die in kleineren Zeiträumen sich er-
gebenden Preisschwankungen sind natürlich sehr verschieden, je nachdem
es sich um Producte handelt, die bei jährlichem Anbau jährliche Ernten
geben, oder um solche, deren Anbau nur in läi\geren Zeiträumen sich
wiederholt und deren Ernten entweder in jährlicher Wiederholung oder
ganz nach Belieben gewonnen werden. Wo immer jährliche Erneuerung
der Erträge stattfindet, ergeben sich auch jährliche Steigungen und Sen-
kungen des Preises.
Anmerkung.
*) *) Nach den im yor. Paragraphen angegebenen Quellen.
§. 157. Thiere und thierisohe Bohitoffe.
L Oertliche Preis Verschiedenheiten. Selbstverständlich ergeben
sich zwischen den Productionsgebieten und den Consumtionsgebieten Preis-
differenzen, welche um so grösser sind, je schwieriger bei der einzelnen
Waare Transport und Aufbewahrung ist. Diese Schwierigkeiten sind bei
Thieren und thierischen Rohstoffen weit grösser, als bei pflanzlichen und
mineralischen Producten.
Die Preise, welche für lebende Thiere in den verschiedenen Ländern
angegeben werden, sind wegen der grossen Qualitätsunterschiede der Thiere
kaum vergleichbar. Die officiellen Preisangaben stellen sich für 1875 wie
folgt (pro Stück in Reichsmark):
312
Thiere und thierische Rohstoffe.
Waare
Pferde (auch Fül-
len)
Stiere , Ochsen,
Kühe . . • •
Jungvieh, Kälher
Schafe u. biegen
Schweine . . .
Frankreich
240—1120
216-368
42—120
5,6-40
16-100
Deutsches
Reich
800
240—300
60
18—30
18—66
Ham-
burger
Börsenpreis
1088
England
778-1571
384—1551
45-237
72—138
Vereinigte
Staaten
317
81
6,2
48
Hiebei ist insbesondere zu beachten, dass namentlich in Ländern
mit hervorragender Viehzucht die Einfuhrpreise bedeutend niedriger sein
müssen, als die Ausfuhrpreise, weil die ausgeführten Thiere in der Regel
feine Zuchtthiere sind. So sind namentlich bei den angegebenen Preisen
Englands die niedrigen Preise Einfuhrpreise, die hohen dagegen Ausfuhr-
preise. Wie verschiedene Werthe hier zur Bildung von Durchschnitts-
preisen verwendet werden mussten, ergibt der Vergleich zwischen dem
Werthe eines feinen Zuchtwidders und eines gewöhnlichen Lammes.
Eher lassen die thierischen Producte Vergleichungen ihrer Preise zu.
Letztere stellten sich 1875 wie folgt (pro 100 Kilogramm in Reichsmark):
Waar en
Frankreich
Deutsches
Reich
Hamburger
Börsenpreis
England
Fleisch, Fleischwaaren
Butter
Käse .
Knochen, Hörner . .
Elfenbein u. dg!. . .
Fischbein
Haare, Borsten . . .
Federn
Düngstoffe
Talg und Schmalz . .
Thran
60-
192-
120-
13-
1600-
636-
16-
400-
4-
89-
76-
-124
-252
-136
-2000
-1920
-1200
-1520
-800
-26
-212
-80
100-132
220
132
12—90
1800
120—1000
80-1100
360
16-24
50-120
66
190-198
238
128 .
16—176
2022
1061
29-1187
298
12-14
87-122
60
79-139
233—246
116—166
19-58
1910
908
123-599
266
574-23
43—122
n. Zeitliche Verschiedenheiten. Hinsichtlich derselben gilt
gleichfalls die Regel, dass diese Waaren mit dem Wachsthum der Be-
völkerung, mit der steten Einengung des Spielraumes, welcher der Natur
gegeben ist, nothwendig immer theurer werden müssen.
Preise der mmeraUscben Robstoffe.
313
Am frühesten zeigt sich die PreiBerhöhung bei jenen Thöilen. dieser
Rohproducte, welche haltbar und leicht transportabel sind. Bei den thieri-
schen Rohproducten werden zuerst Häute, Felle, Haare, Federn, Homer
und Zahne theurer. So wurden in Irland im J. 1673 oft Haut und Talg
eines Ochsen in einer Handelsstadt ziemlich um dasselbe verkauft, was
der ganze Ochse auf dem nächsten Dorfmarkte gekostet hatte. In England
bezahlte man 1348 für einen ganzen Ochsen 4 Schilling, für die Haut
1 Schilling, für ein Paar Stiefel S^/a Schilling. Beim Fischfang sind
entsprechende Rohproducte Caviar, Hausenblase, Fischbein, Thran. Und
am spätesten steigt der Preis bei jenen Rohproducten , welche am
wenigsten transportabel sind. So namentlich bei der Milch und den
Milchproducten. (Röscher.)
Aumerkuug.
Die Zahleu uach K. Brämer's mehrfach citirter Arbeit.
§. 158. Preise der mineralischen Bohstoffe.
I. Oertliche Verschiedenheiten. Die Preisverschiedenheiten,
welche durch die grössere oder geringere Nähe und Ergiebigkeit der
Productionsstätten geschäiFeri' werden, stufen sich ganz bedeutend nach
dem Werthe der Producte, verglichen mit ihrem Gewichte, ab. Die
Qualitätsunterschiede sind geringer, als bei den meisten anderen Waaren
und lassen, im Zusammenhange mit der beträchtlichen Aufbewahrungs-
und Transportirungstähigkeit, die Preise der mineralischen ' Rohproducte
wohl vergleichbar erscheinen. Die officiellen Preise stellten sich 1875 (pro
100 Kilogramm in Reichsmark, nach der mehrfach citirten Quelle):
W aareu
Frankreich
Deutsches
Reich
Ham-
burger
Börsenpreis
England
Vereinigte
Staaten
Kupfer, Messing
Blei
Zink
Zinn
Roheisen . . . .
Roh- u. Gussstahl
Steinkohlen
Schwefel • .
Mineralsäure
Soda . . i .
Salz ....
Salpeter . .
Petroleum .
104—182
42-46
50-54
192
8,4-32
20—60
1,28—2,88
12—22
4—320
13-22
1,6—2,5
26—53
9—36
50-52
44—60
200
9
32-50
0,8-4
18
6-180
12-24
4
26—54
24
84-183
50
48-60
199
8,2
40
1,8—2,9
14—28
6,6—350
15-32
; 2>8
23—57
22
79—171
45—51
45
174—184
20—30
32-73
1,32—1,95
1,4—2,2
24-48
143—188
44
49-56
188
11—19
1,89—2,62
15-22
32
18—35
2
17—80
13
314
Preise der Indastrieprodnete.
TT. Zeitliche Preisverschiedenheiten. Diese werden hauptsäch-
lich verursacht durch die ungleiche Ausbeute, welche die Productions-
Stätten liefern, und durch die wechselnde Nachfrage der Industrie, sodann
auch durch Verbesserungen der Verkehrsmittel (so namentlich bei den
Stcinkohlenpreisen) und Tarifanderungen der Eisenbahnen.
§. 159. Preisß der Industrieproduote.
Dieselben sind im Allgemeinen wegen der sehr bedeutenden Qua-
litätsunterschiede der Waaren kaum zu Vergleichungen geeignet.
I. Oertliche Preisverschiedenheiten. Da nicht allein die
I^oductionskosten, sondern auch die durch den Grad der nationalen und
localen Culturentwickelung getragene Nachfrage sehr verschieden sind,
müssen auch die Preise ansehnliche Differenzen zeigen. Vergleichbar sind
dieselben jedoch grösstentheils nicht. Trotzdem mag es Interesse bieten,
die officiellen Preisangaben zu kennen. Dieselben betragen im Jahre 1875
(pro 100 Kilogramm in Reichsmark *) :
Waaren
Frankreich
Deutsches
Reich
Ham-
burgeir
Börsenpreis
England
Vereinigte
Staaten
Seife (ord.).. . ,
Tabakwaaren . .
Baumwollgarn .
Baomwolhseuge .
LeiBi«i-ii. Hanf-
gara
Lreinwand . . .
Wollgarn . . .
Wollzeuge . . .
Seide
Seidengewebe .
Leder
Papier u. dgl. . .
Porzellan . . ,
Tafelglas ....
Spiegel, Spiegel-
glas
Hohlglas ....
Stabeisen, Blech
Eisenbahnsch ien.
52
400—960
300—1038
304—4240
92-1440
236-6400
720—1020
544—2600
720—7040
1680-27200
300—5440
60—320
140—360
120-168
14—15
17—31
16-17
44—70
150—1800
220-400
360—1500
200—280
72—440
600—800
480-1200
3000—4800
720-8800
240—600
38-160
104—220
42
48-220
36-72
11-40
18
65
420
525
288
235—465
668
868
3335
3721
306
32-149
228
48
211
31
24-30
14-28
50
232-^1367
275-300
117—576
509—892
494-4207
157—1150
95-284
294
34
157
22
77,-31
62
320-3334
3784
241-622
78
44
24-74
15-22
II. Zeitliche Preisverschiedenheiten. Die gewerblichen Pro-
ducte werden im Ganzen mit den Fortschritten der wirthschaftlichen
Die Preise der Edelmetalle. 315
Zustände wohlfeiler. Doch mit gewissen Unterschieden. Auf ihre Preis-
änderungen wirken namentlich zwei Umstände: die Vertheuerung der
Rohproducte erhöht, die technischen Fortschritte der Industrie verringern
die Productionskosten. Es kommt also darauf an, was vorwiegt: das Roh-
material oder die Arbeit. Solche Waaren, in deren Productionskosten
der Arbeitslohn einen grossen Theil ausmacht, wo Betriebsverbesserungen,
Maschinen etc. in Anwendung kommen, werden wohlfeiler; andere dagegen,
bei welchen der Rohstoff einen bedeutenden Theil der Productionskosten
ausmacht, werden entweder weniger schnell wohlfeil, halten sich od«r
steigen sogar im Preise.
So sanken in Frankreich von 1826 — 49 die feinsten BaumwoUgewiebe
auf 125^, andere auf 23— 37jl^, WoUentuch auf 74, Uerinos auf 42^
des früheren Preises. Aus diesem Gtnnde kauft jnan auch jene Industrie-
producte, bei welchen der Rohstoff den grössten Theil der Productions-
kosten beansprucht, am vortheflbaftesten aus solchen Gegenden, wo der
Rohstoff billig ist.
Wie bedeutend diese Preisänderungen der Industrieproducte sind,
geht aus folgender Tabelle hervor, welche die Waarenpreise von 1696
mit jenen von 1831 vergleicht *). Im Preise
sanken auf: (von 100) stiegen auf:
87^
WoUwaaren,
364^
Glas,
83,
Kupfer- und Messingwaaren,
249 „
Leder,
62 „
Leinenwaaren,
123 „
Seidenwaaren,
89,
Baumwollwaaren.
167 „
Eisen- und Stahlwaaren
Anmerkungen.
*) Brämer a. a. 0.
*) W, Röscher, Nationalökonomi
e.
§. 160. Die Preise der Edelmetalle.
Von ganz besonderer Bedeutung sind die Preisänderungen der edlen
Metalle. Wegen der ziemlich gleichmässigen Production und der im Ver-
hältniss zum Werthe geringen Yersendirngskosten sind diese Preise stetiger
als andere. Da die Edelmetalle das gelaofigste Preismass sind, fragt sich^s,
womit wiederum dieses Maa^ zu messen, seine etwaigen Aenderungen zu
pru&n seien. Hier bleibt nichts übrig, als zu untersuchen, ob die Edel-
metalle gegen die meisten anderen Güter zugleich im Preise gefallen oder
gestiegen sind. Ist dies der Fall, dann ist es ihr Preis, der sich verändert
hat, nicht jener der anderen Güter.
Grosse Aenderungen im Angebot bewirken diese Preisänderungen.
So glaubt man, die Edelmetallpreise seien durch die Entdeckung Amerikas
und die Erschliessung der dortigen Minen, welche einen mächtigen Gold-
316
Die Preise der Edelmetalle.
und Silberstrom nach Europa sandten, auf den dritten, vierten, ja sogar
sechsten Theil der ehemaligen Preise gesunken. Diese Annahme bleibt
indessen blosse Schätzung. Eine solche ist von Humboldt; nach ihr hätten
in Europa vor Columbus 170 Mill. Piaster circulirt, um das Jahr 1600
schon über 600 Mill., um 1700 über 1400 Mill., um 1809 etwa 1824
Mill. Die blosse Auffindung neuer reicher Fundorte muss den Preis nicht
nöthwendig drücken; dies geschieht erst, wenn auch die Productionskosten
und die Absatzwege sich günstig erweisen. Man vermuthet, der Preis des
Metallgeldes sei seit der Entdeckung Amerikas bis jetzt im Verhältniss
von 3 oder 4 : 1 gesunken. Seit zwei Jahrhunderten scheinen die Preise
dfer Umlaufsmittel, d. h. Gold und Silber zusammen, ziemlich stationär
geblieben zu sein.
Der Preis des Goldes, mit dem Silber verglichen, wird auf die
Dauer von den Productionskosten bestimmt, welche in den ungünstigsten
Minen erforderlich sind. Im Ganzen hat sich das Gold dem Silber gegen-
über vertheuert; es verhielt sich nämlich der Werth von 1 Gewichtstheil
Silber zu 1 Gewichtetheil Gold *):
In Asien zur Zeit des Assyrischen Weltreiches
„ Griechenland 400 Jahre v. Chr.
„ Aegypten unter den Ptolemäem
„ der römischen Republik unverändert
Zur Zeit Constantin's officiell
„ „ „ im freien Verkehr wohl
In Mitteleuropa unter den Karolingern
„ England während des Mittelalters
„ Italien ^
Zu Anfang des 16. Jahrh. in Deutschland
Nach dem Augsburger Reichsabschied von 1566
In Deutschland im Jahre 1601
„ „ 1640-1680
; „ „ „ 1691-1700
„ „ 1791-1800
Nach den Londoner Preisen 1831 — 1840
« . . . « 1861-1870
n n V V 1875
w n n' » 1878
« « « « 1879
s wie
1:137,
n
1:12
n
1 : 12,5
rt
1 : 11,»
n
1 : 14,t
n
1 : 12 -
V
1 : 12
wie 1:9 bis 1 : 11
wie
1 : 1<),5
n
1 : 10,8
66
1 : 11,5
V
1 : 11,8
rt
1 : 15,1
n
1 : 14,»
n
1 : 15,*
r>
1 : 15,7
rf
1 : 15,»
»
1 : 16,«
n
1 : 17,»
n
1 : 18,»
Anmerkung.
*) A. Soetbeer: Edelmetallproductioa etc. Ergäuzuugshefb Nr. 57 zu
Petenna]m'*s Mittheilungeu.
Das Geld.
517
§. 161. Bas Geld.
Die absolute Menge des in verschiedenen wirthschaftlichen Gebieten
und zu verschiedenen Zeiten vorhandenen Geldes ist schwer zu ermitteln.
Der einzige Anhaltspunkt für eine Schätzung desselben sind die Nach-
richten über die Ausprägung und den Druck von inländischer Münze und
Papiergeld. Hinsichtlich des letzteren geht man weit sicherer in der
Schätzung, als hinsichtlich der Münze, weil bei letzterer nicht nur die
Masse dessen, was ausgeführt ward, sondern auch des zur Verarbeitung
eingeschmolzenen Metalles unbekannt bleibt.
Es existiren eine Reihe von Schätzungen des hier und dort um-
laufenden Geldes, welche jedoch grossentheils als veraltet erscheinen und
nicht als Grundlage weiterer Schlussfolgemngen dienen könne. Nach eiper
der populärsten dieser Schätzungen ^) trafen in der ersten Hälfte des
gegenwärtigen Jahrhunderts auf den Kopf der Bevölkerung in Gulden
süddeutscher Währung:
in Europa 22 fl.
in Portugal 34 fl.
„ England 41'/, „
„ Schweden 11 „
„ Niederlande 52 „
„ Deutschland 25—30 „
„ Belgien 28 „
Dagegen betrug der Gold- und Silbervorrath in den Staaten abend-
ländischer Civilisation*):
Jahr Gold
Silber Zttsammeu
1850 14
20 34
1855 18
19 38
1860 21
19 40
1865 23
18 42
1867 25
18 43
1874 30
20 50
Milliarden Franken.
Hinsichtlich einzelner Staaten
berechnen sich die Geldvorräthe
wie folgt:
Im Deutschen Reiche sind bis Ende September 1880 geprägt
worden 1728 Millionen Mark in Gold; 427 Millionen in Silber und
44,7 Millionen in Kupfer und Nickel, zusammen 2199 Mill. oder 50 Mark
auf den Kopf der Bevölkerung — ungerechnet den noch umlaufenden
Betrag an Silberthalern.
In Oesterreich-Ungarn betragen die Ausmünzungen in öster-
reichischer Währung ungefähr (1874):
318 Das Geld.
In Silbergulden etc 250 Mill. Gulden
. Gold 90 „ „
„ levantinischen Maria-Theresiathalern . . 36 „ „
„ Scheidemünze 15 „ „
391 Mill. Gulden
also auf den Kopf der Bevölkerung lO*/» fl. ö. W., wobei freilich noch
die bisher stattgefundene Ausfuhr und Einfuhr (unter anderem die 70 Mill.
Frs. in Gold, welche einen Theil d^s Baarschatzes der österr.-ungar. Bank
bilden) in Rechnung gebracht werden müssten.
Immerhin bieten diese Zahlen einigermassen ein Bild vom Geldvor-
rath der Culturvölker.
Die Menge des in einem wirthschaftlichen Gebiete vorhandenen
Geldes hängt ab:
1. Von der Menge und Grösse jenes Güterumlaufs, der durch
Geld vermittelt wird. Dieser Güterumlauf steigert sich aber mit jedem
Fortschritte der Wirthschaft überhaupt.
2. Von der Schnelligkeit des Geldumlaufs. Sie ist nichts
willkürliches, sondern wird gleichfalls durch lebhafte productive Thätig-
keit, durch allgemeine Verkehrsfreiheit und Rechtssicherheit bedingt. In
demselben Lande und Zeitalter läuft das Geld unter dem Einflüsse übler
wirthschaftlicher Zustände am langsamsten um; in grossen Städten rascher,
als auf dem Lande, bei dichter Bevölkerung rascher, als bei dünner, im
Handel rascher als im Ackerbau. Hinsichtlich dieser Schnelligkeit sind
nur annähernde Schätzungen möglich.
3. Von der Menge und Umlaufsgeschwindigkeit der Stellvertreter
des Geldes: der Banknoten, Wechsel, Anweisungen etc. Diese Geld-
surrogate ersparen eine sehr bedeutende Menge von baarem Gelde. Wie
bedeutend der durch dieselben bewirkte Werthumlauf ist, erhellt aus
Folgendem :
Im Deutschen Reiche betrug der Umlauf an Papierwerthen im
September 1880: 159 Milk Mark in Staatspapiergeld, 1259 Mill. in
Banknoten und ungefähr (nach den Erträgnissen der Wechselstenipel-
steuer berechnet) 3190 Mill. Mark in Wechseln. Also auf den Kopf der
Bevölkerung 104 Mark in papiemen Geldsurrogaten.
In 0 esterreich- Ungarn betrug Anfangs 1880:
Der Notenumlauf der Nationalbank . .316 Mill. Gulden
Die umlaufenden Staatsnoten .... 313 „ „
demnach auf den Kopf der Bevölkenmg 16,8 fl. papierhe Umlaufsmittel,
abgesehen von Wechseln etc.
Uebrigens drückt sich in diesen Summen blos ein Theil des Be-
dürfnisses nach Umlaufsmitteln aus, weil ja in den wirthschaftlich vorge-
Die Eisenbahnen. 319
schrittenen Ländern die grössten Zahlungen durch Abrechnung und üeber-
weisung abgemacht werden.
Anmerkungen.
*) Rau: Grundsätze der Volkswirthschaflslehre. 2. Aufl. §. 266.
*) M, Wirth: Oesterreichs Wiedergeburt. S. 210.
V. Capitel.
Das Transportwesen.
§. 162. üebersicht.
So wichtig auch in der heutigen Volkswirthschaft der Transport-
verkehr geworden ist, so entziehen sich doch manche Transportunterneh-
mungen einer statistischen Betrachtung. Hieher gehören namentlich die
Strassen mit ihrem Verkehr. Würde die sehr ungleiche Qualität der
Strassen in den verschiedenen Ländern Vergleichungen zulassen, so gäbe
die Meilenzahl sämmtlicher Strassen ein deutliches Bild des Verkehrs. Sie
müsste indessen sowohl mit der Volkszahl als auch mit der Grösse des
Gebiets verglichen werden. Einen Ersatz dafür bieten indessen die von
den verschiedenen Staaten fiir Strassenbau verausgabten Summen. Dass
indessen in einzelnen Ländern das Landstrassennetz sehr vollständig ist
und daher fast nur Unterhaltungskosten beansprucht, während anderwärts
noch grosse Neubauten nöthig sind, muss hierbei berücksichtigt werden.
Der Verkehr auf den Landstrassen entzieht sich so ziemlich der
statistischen Controle mit Ausnahme jener Plätze, wo Strassen- oder
Brückenzölle erhoben werden.
Innerhalb der einzelnen Länder ist eine Statistik der Landetrassen
und ihres Verkehrs nöthig zum Zwecke einer gleichmässigen und ge-
rechten Vertheilung der wirthschaftlichen Fürsorge des Staates auf die
verschiedenen Theile seines Gebietes.
Auch die Schifffahrt auf Flüssen und Binnenseen ist für statistische
Betrachtung theils nicht geeignet, theils bietet sie nicht genügendes Inter-
esse. Das Gleiche ist der Fall bei den meisten städtischen Verkehrs-
unternehmungen. Dagegen ist in hohem Grade entwickelt die Statistik der
Eisenbahnen, der Seeschifffahrt, der Post und Telegraphie.
§. 163. Die Eisenbahnen.
Da sich kaum in einer anderen Erscheinung der wirthschaftliche
Geist des Jahrhunderts schärfer ausprägt, als in den Eisenbahnen, bilden
320
Die Eisenbahnen.
sie einen ausgezeichneten Gegenstand der statistischen Beobachtung, welche
wesentlich erleichtert wird durch die Gleichartigkeit der einzelnen Ob-
jecte, die sowohl den Bau als den Betrieb von vornherein zur ziffermäs-
sigen Darstellung geeignet sein lässt.
Die einzelnen Punkte, welche hier in ganz gedrängter Weise her-
vorgehoben zu werden verdienen, dürften Folgende sein:
I. Die absolute und relative Ausdehnung des Eisenbahn-
netzes. Diese stellt sich wie folgt, in allen Ländern der Erde^):
Länder
Kilometer
in Betrieb
Ende 1879
"Es treffen Kilometer
auf 10000
QKilom.
i. J. 1879
auf 100000
Einwohner
i. J. 1878
Belgien
Luxemburg
Grossbritannieu
Schweiz (1878)
Deutsches Reich .......
Niederlande
Frankreich
Dänemark
Oesterreich-Ungarn
Italien (1878)
Portugal
Schweden •• . .
Spanien (1877)
Rumänien
Türkei
Russland (1880)
Norwegen „
Bulgarien
Finnland ...........
Griechenland
Europa
Brittisch-Indien (1878) ....
Java
Ceylon (1878)
Kaukasus
Kleinasien
Japan
Asien
4042
308
28478
2623
33901
1930
24919
1366
18381
8159
1249
5674
6199
1384
1243
22644
1222
224
873
12
164801
13221
381
175
1004
274
121
1397
1190
904
634
627
585
471
357
295
276
139
128
124
106
45
45
39
35
23
2,4
169
57
30
27
23
5,4
3,2
68
150
80
90
74
49
64
74
48
29
25
115
38
23
20
30
56
?
44
0,08
50
6,9
5,7
0,1
0,3
15176
Die Eigenbahnen.
Länder
Kilometer
in Betrieb
Ende 1879
Es treffen Kilometer
auf 10000
QKilom.
i. J. 1879
auf 100000
Einwohner
i. J. 1878
Vereinigte Staaten
Cuba ,
Trinidad
Chile
Jamaika (1878)
Costa Rica
Uruguay
Argentina
Peru (1877)
Canada (1878)
Mexiko (1880)
Honduras
Brasilien
Paraguay
Ecuador
Brittisch-Guyana (1877) ....
Columbia
Venezuela
Boliyia
Amerika
Australien, Festland (1878) . .
Neu-Seeland (1878)
Tasmanien „
Tahiti
Australien
Mauritius
Algerien
Tunis .
Capcolonie
Aegypten
Natal .
Afrika
131708
1382
26
1689
40
120
376
2317
1852
9519
1092
60
3058
72
122
34
103
13
50
153733
4403
1722
278
4
6407
106
1140
250
1067
1494
8
4065
173
166
57
53
37
23
20
18
17
11
5,7
4,9
3,6
3,0
1,9
i,6
1,2
1,0
0,4
42
6
64
41
38
9,2
554
36
21
20
15
1,7
275
45
?
81
8
32
85
120
68
268
8,2
25
27
32
4,7
16
3,4
6,3
6,5
?
370
258
29
33
35
3
90
27
2,5
Die Frage, welche Reihe von Verhältnisszahlen — das Verhältni
der Bahnlänge zur Einwohnerzahl oder jenes zur Gebietsgrösse — d
wichtigere sei, ist schwer zu entscheiden. Beide Verhältnisszahlen drücke
das Verkehrsbedürfniss aus; von besonderer Wichtigkeit sind sie, inde:
Haashof er, Statistik. 2. Aufl. %{
322
Die BiMBbtlmen.
gie Über die Grenzen der Abhängigkeit des Verkehrsbedürfiiisses von der
Volksdichtigkeit gewisse Aufschlüsse geben.
Die eine dieser Ziffern, nämlich das Verhältniss der Bahnlänge zur
Einwohnerzahl, stellt sich am günstigsten in den mächtig aufblühenden
jungen Staaten und Colonien jenseits des Oceans und zeigt, dass die
Verkehrskraft der Völker bis zu einem gewissen Grade unabhängig ist
von der Volksdichtigkeit, dass unter sonst günstigen Bedingungen
auch bei dünner Bevölkerung ein relativ regeres Verkehrsleben sich ent-
wickeln kann, als selbst in den hochcivilisirten stark bevölkerten Staaten
der alten Welt. Wenn in den Vereinigten Staaten schon auf je 100000
Einwohner 275 Kilometer Bahn treffen, in Belgien dagegen blos 68, so
darf man aber daraus nicht etwa schliessen, dass durchschnittlich ein
Amerikaner viermal mehr Verkehr treibe, als ein Belgier, sondern nur,
dass er zum Verkehr viermal so viel Bahngelegenheit nöthig hat. Wo
die Bevölkerung eine sehr dichte ist, kann natürlich eine viel gi'össere
Masse von Verkehrsarbeit ohne Bahnen vollbracht werden, als wo sie
dünn ist.
Das Verhältniss der Bahn länge zur Gebietsgrösse dagegen fuhrt
wieder zu dem Zusammenhang zwischen Volksdichtigkeit und
Verkehrswegen zurück; es drückt das Minimum von Verkehrsmitteln
aus, nach welchem eine civilisirte Bevölkerung von gewisser Dichtigkeit
begehrt. Daneben drückt aber dieses Verhältniss auch theilweise die
Unterschiede in der Schwierigkeit des Bahnbaues aus.
Die allgemeine wirthschaftliche Lage eines Volkes wird gewiss viel
mehr durch die Verhältnissziffer zwischen der Bahnlänge und Gebiets-
grösse charakterisirt, als durch jene zwischen Bahnlänge und Bevölkenmg.
Am deutlichsten freilich durch beide Ziffern. Man hat deshalb auch beide
combinirt und aus ihnen eine mittlere Proportionale gebildet, welche
„Eisenbahnausstattungsziffer" genannt wurde.
II. Das allmälige Wachsthum des Eisenbahnnetzes. Die Ge-
sammtlänge des Weltbahnnetzes betrug *) :
im Jahre
Kilometer
im Jahre
Kilometer
B
1830
1840
1850
1855
1860
1865
332
8591
38022
68148
106886
145114
1870
1875
1877
1878
1879
221980
295783
320830
331136
344182
Die Eisenbalinen.
323
Während die jährliche Zunahme von 1830—1840 durchschnittlich
blos 826 Kilom. betrug, steigerte sie sich 1872/73 auf 19039 Kilom, Es
war das Jahr des höchsten Aufschwunges im Eisenbahnbau; denn in den
folgenden Jahren sank die jährliche Zunahme wieder auf 10 — 13000
Kilom. Allerdings sind die letzteren Jahre als wirthschafklicher Erfolg
nicht geringer anzuschlagen; sie zeugen immer noch, theils wegen der
überwundenen technischen Schwierigkeiten, theils wegen des finanziellen
Risicos, von reichlichem Unternehmungsgeist.
III. Die Anlagekosten. Verschieden nach den Bodenpreisen und
den Arbeitslöhnen, nach der Menge und Schwierigkeit der Kunstbauten,
wie auch nach der gesammten Verkehrsaufgabe der verschiedenen Linien,
betragen*) die Anlagekosten (1877; nur bei Deutschland 1878):
absolut
in
Mill. Mk.
Belgien
Deutschland (ohne
Bayern) .
Bayern . . .
Frankreich .
Grossbriiannien
Italien ...
Niederlande
Norwegen .
Oesterreich-Uiig.
Russland .
Schweden .
Schweiz . .
Spanien . .
Kostenbetrag
lOil
7427
993
8135
13480
1960
449
56
4931
5845
404
824
1840
pro
Kilomet.
Mk.
272507
275360
221850
347635
490289
243599
227457
69825
273489
254762
84325
321248
296822
Japan (1876)
Ostindien „
Aegypten .
Chile . . .
Columbia .
Peru . . .
Ver. Staaten
Neuseeland
ganz Europa
„ Asien
^ A&ika
„ Amerika
^ Australien
Kostenbetrag
absolut
in
Mill. Mk,
7
2295
291
333
44
554
19092
92
50980
3412
822
22842
947
pro
Kilomet.
Mk.
66667
205571
165060
197158
415094
350190
148939
79585
308669
202288
200537
154674
156710
Das in der ganzen Welt um 1877 in Eisenbahnen angelegte Capital
betrug demnach 79003 Millionen Mark; pro Kilometer 232466 Mark.
Von diesen Bahnen ist allerdings ein Theil (1878 etwa 17000 Kil. mit
4000 Mill. Capital) noch im Bau.
So erheblich auch die Differenzen der oben angegebenen Anlage-
kosten pro Kilometer sind, so lassen sie sich doch in den meisten Fällen
leicht erklären. Die grossen Baukosten Grossbritanniens und Frankreichs
sind durch UHistergiltigen, äusserst soliden Bau, durch hohe Bodenpreise
und Arbeitslöhne veranlasst. Nächst ihnen haben besonders theuer
Columbia, Peru und die Schweiz gebaut, meist wegen der gebirgigen
21*
324 ^io Eisenbahnen.
BodenbeschaflfeDheit, in den ßüdamerikanischen Ländern auch wegen der
Schwierigkeit der Materialbeschaffung etc."
Die gesammten Anlagekosten vertheilen sich in runden Procentsätzen
folgendennassen *) :
1. Für Grunderwerb und Entschädigungen 9 91^
2. „ Erdarbeiten, Dämme etc ..12„
3. „ Zäune, Wegübergänge, Durchlässe, Brücken .... 10 „
4. „ Tunnels 1,5 „
5. „ Betriebsvorrichtungen, Signale, Wärterhäuser .... l,o „
6. „ Oberbau und Weichen 22 „
7. „ Bahnhöfe und Haltstellen 12 „
8. „ ausserordentliche Anlagen 1,5 „
9. „ Betriebsmittel 19 „
10. „ Verwaltungskosten und Zinsen während des Baues . 12 „
IV. Die Zahl der Stationen und Haltstellen. Diese hängt
aufs innigste mit der Volksdichtigkeit zusammen und weist nicht allein
im Durchschnitt ganzer Länder, sondern noch mehr bei den einzelnen
Linien grosse Verschiedenheiten auf. Die vergleichende Eisenbahn Statistik
hat sich indessen mit diesem Gegen Stande noch wenig beschäftigt.
V. Die Ausrüstung mit rollendem Material. Die Ausrüstung
der Eisenbahnen mit Locomotiven, Personen- und Güterwagen gibt einiger-
massen einen Einblick in die mögliche Leistungsfähigkeit derselben. Wegen
der stetigen Veränderungen in den Betriebsparken sind allerdings nur
runde Zahlen möglich.
1875 standen auf den europäischen Eisenbahnen 42000 Locomo-
tiven, 90000 Personenwagen und 1,000000 Güterwagen in Betrieb. Auf
allen Bahnen der Welt betrug die Zahl der Locomotiven 62000, der
Personenwagen 112000 und der Güterwagen 1,465000.
Einen besseren Ueberblick über die Ausstattung mit rollendem Ma-
terial geben folgende Ziffern.
Auf eine geographische Meile Bahnlänge treffen ^):
Locomotiveii Persoueuwageii Güterwagen
In Deutschland . . .
„ Oesterreich-Üngarn
„ Grossbritannien .
„ Frankreich . . .
„ Belgien
„ Russland V/^ 2 25
„ Schweden 7^ 27^ 14
Dieser Betriebspark ist aber keineswegs vollauf beschäftigt. Eine
bis ins kleipste Detail vollkommene Ausnützung ist allerdings wegen der
2
3V,
40
17,
3
37
27»
67,
77
27»
—
—
27»
77s
69
Die Eisenbaknen. 325
verschiedeoartigen Bewegung des Verkehrs unmöglich. So hat man
beobachtet, dass beim Transport durch Güterwagen durchschnittlich
nur 4991^ der Tragfähigkeit der Wagen ausgenützt werden. Dieser
Verlust ist gross, wenn man bedenkt, welches Capital im Güter-
wagenparke steckt. Ein offener Güterwagen zu 100 Ztr. Tragkraft kostet
1800—2000, einer zu 200 Ztr. 2400—2700, ein bedeckter vierrädriger
Wagen 3000 — 3600 Mark. Welcher Verlust, wenn von dem ungeheuren,
im Güterwagenpark steckenden Capital nur 49^ ausgenützt werden!
Auch Personenwagen und Locomotiven können nicht vollständig ausgenützt
werden. Die durchschnittliche Belastung einer Maschine, welche mit
2 — 3 Mark Heizungskosten und 17^ — 2 Mark Schmier- und Reparatur-
kosten per Meile 12 — 20000 Ztr. ziehen könnte, beträgt daher nur
3000 Ztr. Diese 3000 Ztr. vertheilen sich folgendermassen :
45 Ztr. auf Personen,
675 „ „ Güter,
720 „ „ Maschine und Tender,
330 „ „ Personenwagen,
1230 „ „ Güterwagen.
Es wäre demnach die auf den Eisenbahnen geförderte todte Last
dreimal grösser als das Gewicht der eigentlichen Ladung.
VI. Die Betriebsresultate. Die Betriebskosten zeigen auf den
verschiedenen Bahnstrecken eine Ungleichheit, welche durch mannigfache
Gründe herbeigeführt wird; durch die Art, die Kosten und Nähe des
Brennmaterials, durch die Steigungsverhältnisse, durch die Ausnützung
des rollenden Materials, durch die Menge der verwendeten persönlichen
Arbeitskräfte und deren Besoldung u. s. f.
Der Rohertrag der Bahnen setzt sich aus dem Ertrag des Per-
sonenverkehrs und jenem des Güterverkehrs zusammen. Das Verhältniss
beider gegeneinander ist bei der Verschiedenheit der Verkehrsbedürfnisse
Örtlich und zeitlich sehr verschieden und wechselnd. Der Waarenverkehr
bekommt gewöhnlich (mit Ausnahme solcher Bahnen, die fast nur für ihn
gebaut sind, z. B. Bergwerksbahnen) erst allmälig Ausdehnung, je nach-
dem die wirthschaftlichen Unternehmungen sich nach den Bahnen ein-
richten. So nimmt bei den meisten Bahnen erst mehrere Jahre nach ihrer
Vollendung der Frachtertrag stärker zu, als der Ertrag des Personenver-
kehrs und übersteigt letzteren schliesslich.
Um nun den finanziellen Erfolg der Bahnen zu beurtheilen,
muss die ganze Roheinnahme den Productionskosten gegenübergestellt
werden. Letztere setzen sich aus der Verzinsung der Anlagekosten und
aus den Betriebsausgaben zusammen. Die Betriebsausgaben der Eisen-
bahnen nehmen meistens mehr als die Hälfte des Bruttoertrages in Au-
326
Di« Eisenbahnen.
sprach, so dass nur die kleinere Hälfte zur Verzinsung des Anlage-
capitals und als Gewinn übrig bleibt. Folgende Tabelle gewährt einigen
Einblick in diese Verhaltnisse*):
Länder
bez.
pro Kilometer betragen
in Reichsmark
=
die Bruttoeinnahme
die Kosten fUr
Bilanz,
die
Einnahme
ku
43
ä^S)
Eisenbahnen
vom
Persona
verkeh
vom
Güter-
verkeh
total
Verzinsi
der Auls
übersteigt die
ProductioDS-
kosten um
Deutsches Reich . 1877
7777
18741
28077
15911
13116
— 950
iusb. Staatsbahnen . .
8044
17990
27525
17121
13204
- 2800
insb. Privatbahuen . .
7724
17550
2660i
13820
12357
+ 424
Oesterreich-Ungani 1877
5258
19083
24798
11918
13583
— 703
Schweiz 1877
7948
10114
19506
11565
12460
- 4519
Frankreich . . . 1874
12347
20675
34274
17887
19234
- 2847
Italien 1876
6983
8473
15626
10383
12261
— 7018
Rumänien .... 1877
14288
17622
31966
12086
15140
+ 4740
Belgien, Staatsb. . 1878
10817
21593
34102
20038
11290
+ 2774
Holland, «, . 1877
7708
5477
13303
11185
11395
— 9277
Gross brit. u. Irland 1878
19283
24070
45080
23892
25117
- 3929
Russland .... 1876
5752
15561
21946
14583
10600
- 3237
Ver. Staaten . • . 1877
4090
10763
14855
9476
6560
- 1184
Argentina .... 1876
—
—
8325
5750
5160
~ «585
Ostindien .... 1878
4751
10196
15743
7879
8929
- 1065
Aegjpten .... 1878
—
16435
7493
17111
- 8169
Die ersten zwei Spalten dieser Tabelle zeigen, dass fast ausnahmslos
die Einnahme aus dem Güterverkehr weit bedeutender ist, als jene aus
dem Pei-sonenverkehr. Die Summen der ersten 2 Spalten sind der Total-
summe der dritten Spalte deshalb oft nicht gleich, weil die meisten
Bahnen noch andere Einnahmsquellen haben, als den eigentlichen Personen-
und Güterverkehr. Dass unter allen angeführten Bahnen die brittischen
die grössten Ziffern der Roheinnahme beim Personen-, wie beim Güter-
verkehr zeigen, ist begreiflich. Dass die Ziffern der Spalten 4 und 5 mit
denen der ersten drei Spalten in einem innigen Gausalzusammenhange
stehen, braucht wohl kaum gesagt zu werden. Ein starker Bruttoertrag
wird ja nur durch lebhaften Verkehr erzielt; dieser erfordert aber auch
höhere Anstrengungen und Kosten des Betriebes und, wegen der noth-
wendigen solideren Ausstattung, auch ein höheres Anlagecapital. Die Zahlen
der letzten Spalte dürfen nur unter sorgfaltiger Berücksichtigung aller ein-
schlägigen Verhältnisse beurtheilt Werden. Man sieht aus ihr, dass in den
Die Eitienbaliiien.
327
meisten Ländern die Kosten der Eisenbahnen nicht vollständig gedeckt
werden. Da indessen unter den Productionskosten eine Sprocentige Ver-
zinsung mit eingeschlossen ist, ist diese Differenz keineswegs erschreckend.
YII. Die Benützung und die Leistungen der Bahnen. Hin-
sichtlich der Benützung ist der Personenverkehr vom Güterverkehr
getrennt zu beobachten. Der genaueste Ausdruck für den Personenverkehr
wäre eine Zahl, welche angibt, wie viele Kilometer auf einem bestimmten
Bahngebiete in bestimmter Zeit von allen Reisenden zurückgelegt wurden.
Aber auch die Zahl der verkauften Personenbillets, sowie die Summe der
Einnahmen aus dem Verkauf geben ziemlich genaue Ausdrücke. Hinsicht-
lich der zeitlichen Verschiedenheiten des Personenverkehrs bemerkt man ein
constantes Minimum des Verkehrs im Januar und Februar, ein Maximum
im August. In welchem Grade sich die Benützung der Bahnen steigern
kann, ergibt sich z. B. aus den Betriebsresultaten der Leipzig-Dresdener
(über Riesa) Bahn. Die Zahl der Kilometer, welche von allen Reisenden
und Gütertonnen auf dieser Bahn zurückgelegt wurden, betinig*):
im Jahre
Personenkilometer
GütertoHiieukilometer
1840
22,6
Millionen
2,*
Millionen
1850
30,6
n
8,7
»
1860
40,«
n
33,7
n
1865
58,8
»
55,«
n
1877
77,2
n
134,1
n
Der Gesammtverkehr dieser Linie hat sich seit dem ersten Betriebs-
jahr bis 1877 um das 52fache vermehii;.
Der Güterverkehr ist, wie man aus dem angegebenen Beispiel
sieht, einer noch weit grösseren Steigerung fähig, als der Personenverkehr.
Und zwar entwickelt sich die Eisenbahnverkehrsleistung rascher, als
die für sie gebrachten Opfer vei'muthen Hessen. So betrugen bei den zum
Vereine deutscher Eisenbahnverwaltungeu (Deutschland und Oesterreich)
gehöi'enden Bahnen:
Im Jahre
1850
1855
1860
1865
1869
Länge der Bahueu in Meilen
Gesammte Anlagekosten in
MilL Mark
Beförderte Personen, Mill. .
Transportirte Zentner, Mill.
523
618
13,2
58
1149
1582
33,3
327
1943
2979
60,1
615
2635
4224
92,fi
1184
3449
5721
134
1895
Es ist demnach im Zeitraum dieser 19 Jahre gestiegen:
die Länge der Bahnen um das 7fache,
328. Die Eisenbabnen.
die Anlagekoßten des ganzen Netzes um das 9fache,
die Zahl der beförderten Personen um das lOfache,
die transportirte Gütermenge um das 32fache.
VIII. Die Eisenbahnunfälle. Die relative Zahl der Unfälle, d.h.
die Zahl der Unfälle verglichen mit jener der Reisenden drückt einestheils
die Sorgfalt des Betriebs, anderntheils die der Reisenden selbst aus. Im
Allgemeinen zeigt die Statistik dieser Unfälle, dass in den meisten Fällen
die Schuld des Unfalles den Verletzten selbst zufällt. Weit grösser als
bei den Reisenden ist die Zahl der Verunglückung von, an den Eisen-
bahnen beschäftigten Beamten und Arbeitern. Aber auch hier sind die
selbstverschuldeten Unglücksfälle weit häufiger als die unverschuldeten.
Ueber die Gefährlichkeit der verschiedenen Arten des Bahndienstes
gibt eine preussische Zusammenstellung der in den 10 Jahren von
1854 — 1864 verunglückten äusseren Beamten Aufschluss. Es verun-
glückten von:
I. Beamten des eigentlichen Zugdienstes: Zugführern,
Schaffnern, Bremsern etc 0,8w9l6
II. Beamten bei den Locomotiven 0,552 „
III. Stationspersonal : Bahnhofsinspectoren etc 0,o65 „
IV. ' Bahnbewachungspersonal : Bahnwärtern , Weichenstel-
lern, etc 9,07* „
Dass die Zahl der Unfälle sich von Jahr zu Jahr mit merkwürdiger
Gleichmässigkeit wiederholt, natürlich gesteigert durch die zunehmende Zahl
der Reisenden, ergibt sich sofort, wenn man die bezüglichen Ziffern einer
längeren Jahresreihe vergleicht. Relativ aber ist die Zahl der Verletzungen
in bedeutender Zunahme begriffen. So traf eine Verletzung, incl. der
tödtlichen, bei den preussischen Bahnen*):
im Jahre im Jahre
1859 auf 103352 1867 auf 72461
1861 „ 98645 1868 „ 70592
1863 „ 93116 1869 „ 79219
1865 „ 72552 1870 „ 60960
Wichtiger als die blossen Verletzungen sind natürlich die Tödtungen.
Es kommt ein tödtlicher Unglücksfall in (Weber, a. a. 0. S. 549):
Russland auf 117000 Reisende
England auf ....... 1,660000 „
Frankreich auf 1,76000(3 „
Oesterreich-Ungarn auf . . . 2,400000 „
Belgien auf .... ^. .. . 5,000000 „
Preussen auf ...... . 11,500000 „
Die Seeachifffahrt. 329
Immerhin aber ist das Eisenbahnreisen weit sicherer, als die Trans^
portmittel der Landstrassen. Die Posten und die Messageries generales
hatten in Frankreich (1846 — 55) einen Getödteten auf je 355463, einen
Verletzten schon auf je 29571 Reisende.
Neben diesen wichtigsten Erscheinungen aus dem Gebiete der Bahn-
statistik existiren noch eine Reihe anderer, welche gleichfalls statistische
Untersuchung gestatten. So vor allen die volkswirthschaftlichen Wirkun-
gen der Bahnen. Wie durch die Bahnen vermöge der erhöhten Umlaufs-
fähigkeit der Güter deren Preise ausgeglichen werden, wie die von einer
oder mehreren Bahnen berührten Orte zunehmen, während andererseits
mancher ehedem wichtige Verkehrsweg und Verkehrsplatz verödet; wie
weit die verschiedenen Bahnen den anfänglich von ihnen gehegten Er-
wartungen entsprechen oder dieselben übertreffen; in welchem Maasse die
Bahnlinien sich vermehren und wie diese Vermehrung zur Volksver-
mehrung, zur Vermehrung anderer Verkehrsmittel, zum Aufschwünge des
ganzen wirthschaftlichen Lebens sich verhält; welche Ersparnisse an Zeit
und Geld durch den Bahnverkehr der Volkswirthschaft ermöglicht werden;
wie politische Ereignisse hemmend oder fördernd auf den Bähnverkehr
wirken u. s. f.: all das sind wichtige Fragen für die Bahn Statistik. Ihre
Erörterung ist theils aus allgemein wissenschaftlichem Interesse, theils
zu besonderen wirthschaftlichen Zwecken nöthig; zur Erledigung der
Fragen über Freiheit und Monopol des Bahnwesens, über staatliche Unter-
stützung der Privatbahnen, über Tarifwesen u. s. f.
Anmerkungen.
*) Nach den im Goth. Hofkai. 1880, mitgetheilten Zahlen.
*) Nach Engel: Das Zeitalter des Dampfes. Zeitschr. d. preuss. stat.
Bureau, 1879 und 1880.
*) Nach V. Weber. Schule des Eisenbahnwesens. S. 514.
§. 164. Die SeeschifFfahrt.
I. Die Seeflotten. Für die Beurtheilung derselben hat man mehrere
Massstäbe: die Zahl der Schiffe, deren Bemannung und deren Tonnen-
gehalt. Letzterer ist jedenfalls das entscheidende. Denn unter der Zahl der
Fahrzeuge sind unvergleichbare Grössen begriffen: die kleinsten Küsten-
schiffe und die gi'össten Ostindienfahrer und Postdampfer.
Der Stand der europäischen Handelsmarine beträgt in neuester Zeit
(1876—78): ^
330
Die SeeBchüffahrt.
Staaten
Dampfer
Segelschiffe
Zahl
Gehalt
in 1000
Touiieu
Zahl
Gehalt
iu 1000
Tonnen
Grossbritannien und Irland
Norwegen
Deutschland
Italien
Frankreich
Niederlande
Spanien
Schweden
Russland
Oesterreich-Ungarn . . .
Dänemark
Griechenland
Portugal
Belgien
Türkei
6107
2492
873
46
336
183
15«
63
431
228
79
106
230
176
167
56
249
38
77
57
188
45
16
6
42
8
28
37
11 '
3
32509
7791
4469
8438
4262
HOO
2685
1820
3136
555
3091
1076
546
22
220
5837
1446
934
966
671
537
381
371
264
229
213
192
53
10
34
Vollständig vergleichbar sind auch die gegebenen Tonnengehalts-
Ziffern nicht, weil die Vermessung der Schiffe nicht in allen Ländern
nach gleichen Grundsätzen vorgenommen wird *).
Als ein charakteristischer Zug der modernen Seeschifffahrt muss das
rasche Anwachsen der Dampferflotten gegenüber der fast unmerklich
abnehmenden Zahl der Segelschiffe constatirt werden. So bestand die
europäische Handelsmarine i. J. 1860 aus 2974 Dampfern und 92272 Segel-
schiffen. Bis zum J. 1877/78 war die Zahl der Dampfer auf 8386 gestie-
gen, jene der Segelschiffe auf 86247 gesunken ''^).
Trotz der im Allgemeinen verringerten Schiffszahl ist die Leistungs-
fähigkeit der europäischen Handelsflotte im Zunehmen, theils wegen der
rascheren Fahrten, die durch die vermehrte Dampferzahl ermöglicht sind,
theils auch durch die gesteigerte Tragfähigkeit der Schiffe. So betrug in
Register-Tonnen die
im Jahre
Gesammtzabl
der
Schiffe
Tragfähigkeit
im
Ganzen
Durchschnittliche
Tragfähigkeit eines
Schiffes
1860
1877/78
95246
94633
10,800647
15,786687
113,4
166,8
Die SeesdiiffiTahrt.
331
Die Vermessung der Schiffe geschieht in den meisten Ländern amtlich.
Geläufigstes Maass i st die englische Registertonne, ein Raummass, = 2,83 Cubik-
meter. Eine Register-Tonne entspricht dem Raum und Gewicht von 2830 Kg.
destillirten Wassers. Bei der Ausmessung der Schiffe ist der Brutto- und
Nettoraum zu unterscheiden. Bruttoraum ist der gesammte Raumgehalt
des Schiffes; der Nettoraum ergibt sich, wenn von dem Brattoraume die
Räumlichkeiten für Dampfmaschinen, Kohlen, Küche, Mannschaft etc.
abgezogen werden, so dass der für die Ladung verfugbare Raum übrig bleibt.
IL Die Schifffahrtsbewegung, Neben dem Stand der Handels-
flotten registrirt die Schifffahrtsstatistik auch die Thätigkeit derselben. Zu
diesem Zwecke werden von der amtlichen Statistik in der Regel notirt:
1. Die Zahl der angekommenen und abgegangenen Schiffe.
2. Art der Schiffe (Dampfer oder Segelschiffe).
3. Tonnengehalt der Schiffe.
4. Leistung der Schiffe (d. i. ob dieselben mit Ladung oder blos
in Ballast gefahren).
5. Länder der Herkunft und Bestimmung.
Aus diesen Angaben und deren Veränderungen lässt sich für jedes
Land ein deutliches Bild seiner Seeschifffahrt construiren, der Lebhaftig-
keit seiner verschiedenen Häfen und Küstenstrecken und der Stärke jener
commerciellen Fäden, welche es mit den übrigen Seehandel treibenden
Ländern verbinden.
HL Die See -Unfälle. Trotz aller technischen Fortschritte im
Schiffbau wie trotz der zunehmenden hydrographischen Kenntniss ist die
Zahl der Seeunfalle immer eine sehr beklagenswerth grosse, und es
wiederholen sich diese Unfälle mit grosser Regelmässigkeit von Jahr zu Jahr.
So verlor die deutsche Flotte ^) :
UD
Jahre
1873
1874
1875
1876
1877
1878
1879
Zahl der
verloreneu
Schiffe
178
165
178
214
161
138
166
verloreue
Mannschaft Passagiere
300
276
324
526
275
336
119
6
256
13
5
82
2
Die Flotten der civilisirten Staaten verlieren jährlich etwa 2400 Se-
gelschiffe und über 170 Dampfer.
332 ^^ ^»^ Telegrapbie.
Hinsichtlich der räumlichen Vertheilung der Schiflfbrüche verdienen
die jetzt sorgfältig angelegten Schiffbrachkarten Ei-wähnung (insbes. die
brittischen), welche deutlich die vei-schiedenen Kirchhöfe der Seeschiffe
zur Anschauung bringen.
Aumerkuugeu.
^) Eugel: Zeitalter des Dampfes.
*) Neumanu-Spallart: Uebersichten,
») Stat. Jahrb. f. 1881.
§. 165. Post und Telegraphie.
I. Die Posten *). Die verschiedenen Seiten, von welchen die Sta-
tistik das Postwesen anfasst, sind folgende:
Betrachtet man die Posten als verkehrbefördernde Unternehmungen, so
sind zunächst die Ausdehnungen der Postcurse, die Zahl der stabilen
Postämter und Postexpeditionen, der Eisenbahnpostämter, der Briefsamm-
lungen und Postablagen, der Posthaltereien, der Postbeamten und Be-
diensteten in ihren verschiedenen Kategorien, der verwendeten Pferde
und Fuhrwerke von Bedeutung. Neben der Beobachtung der Verkehrs-
mittel muss aber auch die Beobachtung des Gebrauches dieser Mittel, des
wirklichen Verkehrs herlaufen, also ; der Zahl von beförderten Passagieren,
Briefen, Zeitungen, Geldsendungen, Packeten (mit Gewichtserhebung).
Dieser wirkliche Verkehr muss sodann in seiner Ab- und Zunahme, seiner
zeitlichen und räumlichen Vertheilung untersucht und die Einflüsse, die
sich etwa auf ihn geltend machen, aufgedeckt werden.
Die Posten sind aber auoh an sich wirthschaftliche Unternehmungen.
Betrachtet man sie als solche, so fordert das wirthschaftliche Interesse
des Unternehmers eine genaue Statistik der in den Unternehmungen
steckenden Capitalien, überhaupt der Kosten einerseits, der Roh- und
Reineiiräge andererseits.
Von grösster Bedeutung ist hier der Einfluss des Posttarifs auf
den Verkehr.
n. Die Telegraphier). Die wichtigsten Ziffern, welche über sie
Aufschluss geben, sind:
1. Die Länge der Telegraphenlinien.
2. Die Länge der in Betrieb stehenden Drähte.
Die Vergleichung dieser Ziffern fuhrt zu dem Gegensatze von exten-
sivem und intensivem Telegraphenbetrieb. Beim extensiven Betrieb finden
sich auf den Linien nur spärliche Drähte; die Telegramme bewegen sich
über grosse Entfernungen, aber, im Verhältniss zur Ausdehnung des
Netzes, nur geringe an Zahl. So namentlich in dünn bevölkerten Ländern.
Dichtbevölkerte Länder dagegen mit grossen Städteij verlangen intensiven
Post nnd Telegraphie.
838
Depeschenverkehr: 'zahlreiche Drähte auf einer Strecke und häufigie
Depeschen.
3. Die Zahl der Stationen.
4. Die Zahl der Depeschen.
Begreiflicherweise ist es hauptsächlich der Wirthschaftscharakter
der Bevölkerung, welcher auf diese Ziffern Einfluss nimmt. In industriellen
Districten oder gar an Handelsplätzen wird jedes Tausend Menschen einen
weit grösseren Depeschenverkehr aufweisen, als in Ackerbaugegenden, wo
die Veranlassung zur Benützung des Telegraphen verschwindend gering
ist. Fast ausschliesslich die städtische Bevölkerung bedient sich des Tele-
graphen, der deshalb am meisten üblich in solchen Gegenden ist, wo
auch die kleineren Ortschaften städtische Sitten haben.
Wichtiger als die absoluten Zahlen, bei welchen jedoch überall die
Länge der Leitung und die Gesammtlänge der Drähte angegeben werden
sollte, ist die relative Ausdehnung, und zwar sowohl im Verhältniss zur
Ländergrösse und Volkszahl, als auch zur Ausdehnung der übrigen Ver-
kehrsmittel.
Auch beim Telegraphen sind ferner das Maass und die schwankenden
Bewegungen der ^ Benützung, die Kosten und die Erträge von statistischer
Bedeutung.
Aumerkuugeu.
*) Der absolute Postverkehr der europäischen Länder stellt sich in
neuester Zeit wie folgt (Goth. Hofkalender 1881):
Länder
H
pq
c2§
.2 °
Länder
X
> B
P-i d
pq
«4-1 3
0) O
Belgien . . . 1879
Dänemark . 1878
Deutsch. Reich 1879
Frankreich
Griechenland
Grossbritann.
Italien . . .
Luxemburg
Niederlande
Norwegen .
1877
1878
1879
638.
159
9130
5802
145
13881
3200
55
1290
904
79,9
25,6
627,8
458,3
2,7
1128,0
152,1
2,1
54,7
13,3
Oesterr.-Ung.
Portugal
Rumänien
Russland
Finnland
Schweden
Schweiz .
Serbien .
Spanien .
Türkei .
1878
1880
1879
1878
1879
1875
1877
1878
5980
863
233
4374
114
1963
800
54
2530
429
287,1
15,7
108,3
3,1
?
71,7
1,3
78,4
2,4
Es entfallen jährlich Briefe auf den Kopf der Bevölkerung in:
Grossbritannien . . . 32,7
Australien 27,5
Schweiz 25,5
Ver. Staaten .... 24,6
Deutsches . Reich . « 14,7
Canada 14,6
Belgien 14,4
Niederlande .... 13,3
Dänemark 12,9
Frankreich . . . .12,4
Oesterreich-Ungarn . 7,6
Norwegen 7,4
334
Der Haud«l.
Schweden 7,2
Italien 5,4
Spanien 4,8
Chile 3,3
Japan . 1,8
Griechenland .... 1,6
Finland 1,6
Russland 1,5
Rumänien 1,3
Serbien 0,8
Aegyptefn . . . . « 0,7
Brittisch Indien . . 0,6
Mexiko 0,4
Türkei 0,4
Persien 0,05
*) Hinsichtlich der Verbreitung des Telegraphen- Verkehrs mögen hier
nur folgende Ziffern Bea
chtung finden (Goth. Hofkalender 1881^
):
Länder
Kilometer
Bureaux
Depeschen
(Tausende)
Auf 100
Einwohner
treffen jähr-
lich Tele-
gramme
Linien
Draht
Australien . . . 1878
41062
65179
985
4600
156
Schweiz .... 1879
6552
16007
995
2614
93
Grossbritannien . 1878
41334
183554
3858
23385
b7
Niederlande . . 1879
3761
13655
185
2705
67
Belgien . . . . „
5410
23572
708
3242
59
Dänemark . . . 1878
3376
9016
127
939
48
Frankreich . . . 1879
59500
171500
4965
14414
39
Norwegen . . . „
7506
13631
127
677
37
Deutsches Reich „
66679
237527
6467
15711
37
Canada .... 1877
17694
?
830
?
31
Oesterr.-Ungarn 1879
48932
138453
3444
8371
22
Italien „
25533
84101
1462
5502
20
Schweden . . . „
8281
20295
177
859
19
Griechenland . . 1878
3068
4065
82
315
19
Türkei „
27497
52142
417
1344
19
Rumänien . . .1879
5238
8323
98
879
16
Portugal .... 1878
3711
8042
191
662
15
Spanien .... 1877
15489
39070
324
1023
12
Serbien .... 1874
1461
2146
37
165
10
Russland .... 1878
75082
143423
91^9
5764
8
Ver. Staaten ....
152425
7
8829
?
?
VI. GapÜel.
Der Handel.
§. 166. M Allgemeineii.
Die Statistik des Handels ist ein Gebiet, wo die colossalsten Ziffer-
massen auftreten, die überhaupt auf dem Grebiete statistischer Unter-
Der internationale Handel. 335
suchungen erscheinen. So häufig indessen im praktischen Staatsleben Be-
standtheile dieser Ziifermassen angewandt werden, um Dies oder Jenes zu
beweisen: an gründlichen systematischen Darstellungen über die allgemeine
Aufgabe der Handelsstatistik, wie über ihre einzelnen Theile, ihre Schwierig-
keiten und Hilfsmittel herrscht ein fühlbarer Mangel.
Um einigermassen einen Ueberblick über die Gesammtaufgabe der
Handelsstatistik zu gewinnen, halte man zunächst die Subjecte und die
Objecto des Handels auseinander.
I. Die Subjecte des Handels. Jeder einzelnen kaufmännischen
Operation liegt eine statistische Operation zu Grunde, nämlich eine Ver-
gleichung der Einkaufs- und Verkaufspreise und der Handelskosten. Die
Handelsthätigkeit jedes Einzelnen liefert ununterbrochen ein reiches Zahlen-
material, das zur Ordnung des Geschäftes stets übersichtlich gegliedert
und evident gehalten werden muss. Jeder einzelne Handeltreibende fährt
in seiner Buchhaltung eine fortlaufende Statistik seines Geschäftes, und
da jede Function seines Geschäftes von ihm ausgeht, entgeht kein Bruch-
theil dieser Functionen der Beobachtung.
Aber eine Handelsbewegung geht nicht allein von den Einzelnen
aus. Auch ganze Handelsplätze, Landestheile und Länder, beziehungsweise
deren Bevölkerungen, lassen sich als Subjecte des Handels auffassen.
Fragt man sich jedoch, welche Subjecte des Handels zu einer stati-
stischen Beobachtung hinreichende Veranlassung und Gelegenheit bieten,
so wird die Aufgabe bedeutend reducirt. Der gesammte inländische
Handel nämlich, mag er Gross- oder Kleinhandel sein, producirt kein
brauchbares Zahlenmaterial. Seine Bewegung entzieht sich der Controle,
obgleich sie zweifellos mit weit grösseren Werthen zu thun hat und weit
wichtiger und nothwendiger ist, als der internationale Handel. Als einzige
Subjecte der Handelsstatistik bleiben die Völker in ihren politisch ge-
schlossenen Territorien übrig.
H. Objecte des Handels sind Waaren, Werthpapiere und Geld.
Hier können zunächst nur die Waaren in Betracht kommen. Zur Messung
der Waarenbewegung können zwei Massstäbe dienen: die Menge der
Waaren (Gewicht, Stückzahl etc.) oder ihr Werth.
§. 167. Der internationale Handel.
Die Handelsthätigkeit zwischen einem Volke und den übrigen lässt
sich zunächst in Ausfuhr- und Einfuhrhandel unterscheiden. Die
Statistik dieser Handelsthätigkeit beruht auf den Zolllisten. Als vollständig
verlässige Grundlagen für die Handelsstatistik können dieselben allerdings
nicht betrachtet werden, und zwar aus folgenden Gründen.
336 Der intarnationale Handel.
I. Die Menge der ein- und ausgeführten Waaren erscheint nicht
vollständig in den Zolllisten, weil diese die Resultate des Schleichhandels
nicht enthalten können.
IL Weit grössere Schwierigkeiten verursacht die Werthschätzung
der ein- und ausgeführten Waaren. Biese Werthschätzung kann wieder
auf verschiedenen Grundlagen beruhen.
1. Werthangabe durch die Waareneigenthümer. . Hiebei werden
häufig, um die höheren Zollsätze zu umgehen, die Preise zu niedrig
declarirt.
2. Ermittelung der jeweiligen Marktpreise durch die Zoll-
beamten ist mühsam und trotzdem nicht fehlerfi-ei.
3. Amtliche Preisansätze für die einzelnen Waarengattungen,
und zwar entweder unveränderlich, oder besser für einen bestimmten
Zeitraum. Solche amtliche Preisansätze haben wiederum den Nachtheil,
dass sie den in kürzeren Zeiträumen sich verändernden Marktpreisen keine
Rechnung tragen. Auch hinsichtlich des Ortes, für welchen man die Preise
berechnet, bieten sich Schwierigkeiten dar.
ni. Die Verschiedenheiten in den Zollgesetzen der verschiedenen
Länder erschweren es sehr, für dieselben vergleichbare Resultate zu er-
halten. Einzelne Länder haben z. B. Ausfuhrzölle auf manche Waaren,
andere Länder nicht. Offenbar ist die Handelsstatistik jener Länder,
welche mehr und höhere Zölle haben (Frankreich, Italien), zuverlässiger,
als dort, wo die Zölle geringer sind und wo deshalb kein so zwingendes
Interesse den Staat nöthigt. Ein- und Ausfuhr genau zu ermitteln.
Trotz all dieser Schwierigkeiten bleiben die Zoll listen das unschätz-
barste Mittel der Handelsstatistik. Jedoch geben diese Schwierigkeiten
genügenden Grund, um beim Beurtlieilen des Werthverhältnisses zwischen
Aus- und Einfuhr (der Handelsbilanz) möglichst behutsam zu sein.
Untersucht man nun den internationalen Handel, so lässt sich die
eingeführte Gütermenge sowohl als die ausgeführte in zwei Theile scheiden:
die Ausfuhr von eigenen Erzeugnissen und die Einfahr von Waaren,
welche im Lande consumirt werden, bilden die eigene Aus- und Ein-
fuhr; die Einfuhr fremder Waaren zum Zwecke der Wiederausfuhr und
die Wiederausfuhr dieser Waaren bilden den Zwischenhandel. Die
Differenz zwischen der Gesammt-Ein- und Ausfuhr, dem sogen. General-
handel, und der eigenen Ein- und Ausfuhr, dem sogen. Specialhandel,
zeigt den Umfang des Zwischenhandels an. Bei diesen Erscheinungen ist
hauptsächlich zu untersuchen:
I. Der Stand des Aus- und Einfuhrhandels. Der Begriff Stand
darf aber, da es sich um ewig wechselnde Erscheinungen handelt, nicht
im strictesten Sinne genommen werden, sondern man wird darunter nur
Der internationale Handel.
337
die Handelsbewegung eines bestimmten abgeschlossenen Zeitraumes, eines
Jahres etwa verstehen dürfen. Auch hier sind die absoluten und die
relativen*) Zahlen zu untersuchen.
IL Die Richtung des Aus- und Einfuhrhandels*).
III. Die Aenderungen sowohl im Stande^), als in den Richtungen
des gesammten internationalen Handels.
Anmerkungen.
*) Von den zahlreichen statistischen Daten über das Verhältiiiss von
Aus- und Einfuhr seien nur folgende angeführt, wie sie für das Jahr 1878 von
Neumann-Spallart (Uebersichten. Jahrg. 1879. S. 287) mitgetheilt sind:
Länder
Grossbritann. u. Irland
Deutschland
Frankreich
Russland
Oesterreich-Ungarn .......
Niederlande
Belgien
Italien
Türkei
Spanien
Schweden
Dänemark
Norwegen
Portugal
Rumänien
Griechenland
Serbien
Ver. Staaten (1878/79)
Brasilien .... .... (1876/77)
Brittisch Nordamerika . . (1876/77)
Cuba
Brittisch Ostindien . . . (1878/79)
China .
Niederländisch Ostindien
Australien
Aegypten
Werth in Mill. Mark
der Einfuhr der A usfuhr
5375,4
3738,9
3340,8
1917,8
1104,2
1376,6
1178,2
856,5
430 (?)
412,6
269,4
214,2
157,2
153,8
80,6
82,2
25,9
1867,2
361,0
444,6
120,0
731,3
424,8
193,1
988,9
93,4
4909,6
2902,4
2544,0
1990,0
1309,4
958,6
889,8
836,2
397,0
372,6
207,3
154,6
102,5
100,9
116,0
54,6
26,6
2868,4
458,5
344,6
290,6
1174,1
403,0
349,2
927,4
265,2
*) Hinsichtlich der Richtungen des internationalen Handels seien, aus
Gründen der Raumeraparniss, nur folgende ZiflPern mitgetheilt:
Hausbofer, Statistik. 2. Aufl. 22
338
Der inteinatiouale Handel.
A. Im Deutschen Zollgebiet betrug 1877 der Werth der Eiufuhr
im freien Verkehr (in Millionen Mark):
Eiufuhr aus
Gesammtwerth
Frocentautheil
der einzelnen
Grenzstrecken am
Gesammtwerth
Nord- und Ostsee . . 299,6
Bremen 237,«
Hamburg 535,7
Uebrige Zollausschlüsse 104,9
Dänemark 16,9
Russland 521,4
Oesterreich 798,o
Schweiz 160,i
Frankreich 216,4
Belgien 299,9
Niederlande 491,i
Postverkehr etc. ... 91,4
(Block-v. Scheel a. a. 0. S, 329.)
7,6
6,2
14,2
2^
0,4
13,9
21,4
4,2
5,7
7,9
13,1
2,4
B. Im Oesterreichisch-Ungarischen Zollgebiet stellte sich 1878 der
Werth des Gesammthandels (ohne Edelmetalle, in Millionen Gulden):
Verkehr
mit und über
Deutsches Zollgebiet .
( Süddeutschland
insbes.< Sachsen . . .
(Preussen . . .
Schweiz
Italien
Türkei
Russland
(Goth. Hofkalender 1881.)
Einfuhr in
Oesterr.-Ungarn
420,1
137,6
194,8
87,7
3,2
20,2
34,0
14,8
Ausfuhr aus
Oesterr.-Ungarn
326,7
124,1
131,9
70,7
1,8
39,0
83,4
48,4
C, In Grossbritauiiien und Irland betrug 1879 der Verkehr mit folgenden
Hauptverkehrsländern (in Millionen Pfund Sterling):
Der internationale Handel.
339
Nordrussische Häfeii
Südnissische „
Schweden und Norwegen . . . .
Deutsches Reich
Niederlande
Belgien
Frankreich
Spanien
Italien
Türkei
Aegypten
Ver. Staaten
Brasilien
China
Sämmtliche nichtbritt. Länder . .
Nordamerikanische Colonien . . .
Brittisch Westindien und Guyana .
Brittisch Indien ,
Cap und Natal
Sämmtliche brittische Besitzungen
Alles zusammen .
(Statistical abstract 1880, p. 30.)
Einfuhr
aus
11,0
4,8
8,3
21,6
21,9
10,7
38,4
8,3
3,2
3,4
8,8
91,8
4,7
11,0
284,0
10,4
7,0
24,6
4,3
78,9
362,9
Ausfuhr
nach
9,2
3,9
29,6
15,4
11,8
26,5
3,7
6,0
7,7
2,2
25,5
5,9
5,1
182,2
6,1
. 3,0
22,7
5,4
66,5
248,7
*) Wie sehr die Bewegung des gesammten internationalen Handels im
Laufe der Zeit zunimmt, namentlich begünstigt durch die Fortschritte des Ver-
kehrswesens, zeigen folgende Ziflfem. Der gesammte Aussenhandel betrug (in
Millionen Mark):
Grossbritannien und Irland
Deutsches Reich ....
Frankreich
Ver. Staaten
Russland
Oesterreich-Ungarn . . .
Niederlande
Belgien
Brittisch Ostindien . . .
Italien
China
im
Jahre 1860
im
Jahre 1878
7510
2173
3339
2834
1080
952
1380
789
1044
1126
600 (?)
12285
6641
5885
4615
3908
2414
2335
2068
20^9
1693
827
22*
340 Statistik einzelner Handelsartikel.
§. 168. Statistik einzelner Handelsartikel.
Die Statistik beschäftigt sich auch mit der Betrachtung, wie sich
die gesammte Handelsbewegung der Länder auf die verschiedenen Waaren-
gattungen vertheilt *) und endlich mit der speciellen Betrachtung einzelner
Handelsartikel ^). In letzterer Hinsicht hat sie zu untersuchen:
I. Die Gesammtmenge dessen, was von der fraglichen Waare über-
haupt producirt wird. Handelt es sich dabei um Waaren mit bestimmt
abgegrenztem Productionsgebiete, so ist eine annähernd richtige Bestim-
mung der Masse allerdings möglich; bei den wichtigsten Gegenständen
des Welthandels aber muss man sich mit vagen Schätzungen begnügen
(Baumwolle, Kohle, Edelmetalle, Kaffee etc.).
II. Die Gesammtmenge der Aus- und Einfuhr.
HL Die Zunahme der Production und Ausfuhr oder deren Abnahme.
IV. Die Richtung der Aus- und Einfuhr.
V. Die Veränderungen in der Richtung der Aus- und Einfuhr mit
ihren wechselnden Ursachen, welche in den Productions Verhältnissen, dem
Verkehr und seinen Hindernissen, in der wirthschaftlichen Lage des
Consumtionsgebietes zu suchen sind. Die Statistik der Rohproduction und
der Industrie, der Preise, des Verkehrs, des ganzen National Wohlstandes,
die Untersuchung der Zoll- und Handelspolitik, die Beobachtung des
gesammten politischen und socialen Lebens werden hier mehr oder weniger
zur nothwendigen Vorbedingung.
Anmerkungen.
*) Es betrug (nach den höchst zuverlässigen Angaben des Goth. Hof kai.
vom J. 1881):
I. Im deutschen Zollgebiet für das Jahr 1878.
Der geschätzte Werth der Ein- und Ausfuhr in Millionen Mark:
Waaren Einfuhr Ausfuhr
a) Genussmittel 1513,9 1010,4
insbesondere Getreide 612,o 375,o
gegohrene Getränke 58,7 63,o
Colonialwaaren 202,0 117,6
Tabak, Cigarren 106,6 10,9
Sämereien, Früchte 138,o 72,9
Thiere und thierische Nahrungsmittel . . 396,6 371,o
b) Rohstoffe 1148,o 664,9
insbesondere Haare. Häute, Leder 176,3 98,i
Spinnstoffe 587,o 228,9
c) Fabricate 450,4 983,2
d) Verschiedene Waaren 401,4 228,6
e) Münzen und Edelmetalle . . 209,o 29,4
Summe . 3722,7 2916,5
Statistik einzelner Handelsai-tikel. 341
Die wichtigsten Thatsachen, welche in diesen Zahlen liegen, sind das
entschiedene Ueberwiegen des Einfuhrwerthes, namentlich an Nahrungsmitteln
und Rohstoffen. Seine Einfuhr bezahlt Deutschland mit Fabricaten, namentlich
Gewebwaaren U]id mit Edelmetallen. Die Handelsbilanz Deutschlands hat sich
in dieser Hinsicht gegen frühere Jahrzehnte merklich verändert. Im Jahre 1849
konnte Deutschland noch eine Mehrausfuhr an Getreide im Wörthe von 59 Mill.
Mark berechnen; uiud in den Jahren 1860 — 64 beti*ug dieser Ueberschuss noch
88 Mill. Mark. Dann aber blieb mehr und mehr der Ausfuhrwerth hinter dem
Einfuhrwerthe zurück, so dass jetzt das deutsche Volk nur noch einen Theil seines
Brodes selbst erzeugt. (Vergl. Bienengräber: Statistik des Verkehrs etc. S. 140.)
IL In Oesterreich- Ungarn ergibt sich ohne die Edelmetalle für 1878
folgende Bilanz (Werth in Mill. Gulden):
Artikel Einfuhrwerth Ausfuhrwerth
a) Nahrungs- und Genussmittel . 147,9 193,o
insbesondere Getreide 40,o 87,5
Colonialwaaren 35,6 47,3
Tabak . 35,7 4,4
Thiere und Nahrungsmittel davon . 17,o 22,5
b) Rohstoffe 155,8 102,8
insbesondere Brennstoffe 11,9 45,9
Spinnstoffe 107,2 34,i
c) Fabricate 209,3 277,i
d) Verschiedenes 83,7 26,8
Totale . 596,7 599,7
Oesterreich-Ungarn ist demiiach in der Lage, den Ueberschuss des Ein-
fuhrwerthes an Rohstoffen, welchen es empfangt, durch seinen grösseren Aus-
fuhrwerth an Bodeufrüchte]!, Brennstoffen und Fabricaten zu bezahlen.
III. In Grossbritaunieu und Irland ergibt sich fiir 1879 folgendes
Verhältniss der Ein- und Ausfuhrwerthe. Werth in Millionen Pf. St.
Waarengattuugen Einfuhr Ausfuhr
a) Genussmittel 174,7 8,8
insbesondere Getreide 67,4 0,7
Colonialwaaren 43,9 2,2
Thiere und Nahrungsmittel davon .... 40,i 2,4
b) Rohstoffe (hauptsächlich Spinnstoffe) 105,7 33,6
c) Fabricate 28,2 125,7
d) Verschiedene Waaren . . . . 54,2 23,3
Summe des Waarenverkehrs . 362,9 191,5
Münzen und Edelmetalle . . 24,i 28,5
IV. In Frankreich stellt sich für 1879 das Verhältniss des Aus- und
Einfuhrwerthes folgend ermassen. Werth in Millionen Francs:
Waarengattuugen Einfuhr Ausfuhr
a) Genussmittel 1966 800
b) Rohstoffe (hauptsächlich Spinnstoffe) 1689 478
c) Fabricate 438 1578
d) Verschiedene Waaren 499 304
Waaren überhaupt 4594 3163
Münzen und Edelmetalle . . 339 424
342 Statistik einzelner Handelsartikel.
V. lu deu Vereinigten Staaten für das Jahr 1878/79. Werth in
Millionen Dollars:
Waarengattungen Einfuhr Ausfahr
a) Nahrungs- und Genussmittel 186,9 384,i
b) Rohproducte 73,8 196,4
c) Fabricate 129,7 46,7
d) Verschiedene Waaren .- . 55,9 1%3
Waaren überhaupt 445,8 699,5
Edelmetalle 20,8 17,6
VI. In Russland 1878. Werth in Millionen Rubel:
Waarengattungen Einfuhr Ausfuhr
a) Genussmittel 77,7 439,2
b) Rohstoffe 192,2 134,2
c) Fabricate 177,8 4,8
d) Verschiedene Waaren . . 109,9 18,i
Waaren überhaupt . . 557,7 596,5
Edelmetalle 16,o 10,8
•) Aus räumlichen Gründen ist es hier nur möglich, an einigen der wich-
tigsten Waaren des Welthandels die Aufgaben und Resultate der Haudels-
statistik zu zeigen.
Das Getreide ist zweifellos der wichtigste Gegenstand des Welthan-
dels. Der in grossartigster Weise entwickelte Getreidehaudel der Gegenwart
hat die Preise weit mehr ausgeglichen, als -dies jemals der Fall war, und hat
ein Zusammenarbeiten aller Nationen an der Ernährung der ganzen Mensch-
heit möglich gemacht. Jene Länder, welchen durch die Natur die Möglichkeit
gegeben ist, Getreide wohlfeil und in Massen zu erzeugen, haben ihre Produc-
tion und Ausfuhr an Getreide im Laufe dieses Jahrhunderts ins Riesenhafte
erweitert, während anderwärts die Einfuhr in ähnlicher Weise gestiegen ist.
Den „Uebersichten über Production, Verkehr und Handel" von Neumann-
Spallart, Jahrg. 1879, ist hinsichtlich des Getreidehandels Folgendes zu ent-
nehmen :
a) Die wichtigsten Getreide-Exportländer sind die Vereinigten Staaten,
Russland, Oesterreich-Uugarn, Rumänien, Brittisch-Ostindien.
Die Vereinigten Staaten exportirt«n im Jahre 1877/78 für 727 Millionen
Mark Getreide und Brodstoffe bei einer Einfuhr von blos 34 Mill. Mark. Die
Mehrausfuhr beträgt demnach 693 Mill. Mark. In Russlaud ist die Getreide-
ausfuhr von 43 Mill. Hectoliter im Jahre 1873 auf 87 Mill. Hectoliter im Jahre
1878 gestiegen. Im letzteren Jahre betrug der Werth der Ausfuhr 1223 Mill.
Mark gegen 197 Mill. vom Jahre 1865. In Oesterreich-Uiigarn überwiegt fast
regelmässig die Ausfuhr beträchtlich , bei steigendem Werthe derselben.
1878 betrug der Werth der Einfuhr an Getreide, Hülsenfrüchten und Mehl
99 Mill. Mark, jener der Ausfuhr 334 Mill. Mark, allerdings ein sehr günstiges
Jahr. Rumänien exportirte 1877 für 64 Mill. Mark Cerealieu, bei 4,« Mill. Mark
Einfuhr. Brittisch-Ostindien exportirt steigende Mengen von Weizen und Reis.
Von letzterem im Jahre 1877/78 für 137 Mill. Mark.
Ausser diesen Hauptexportländern sind in zweiter Reihe noch die Douau-
tiefländer Serbien und Bulgarien, ferner Dänemark, Algier, Australien, Egypten,
Statistik einzelner Handelsartikel. 343
Spauteu, Canada, Chile, Tunis, Japau (Reis) uud Cochiuchiiia (desgl.) zu
nennen.
b) Die wichtigsten Getreide einführenden Länder sind: Grossbritannien,
Frankreich, das deutsche Reich, Schweiz, Belgien, Niederlande, Italien, Scan-
dinavien.
Grossbritannieu insbesondere ist genöthigt, Jahr um Jahr grössere Be-
träge für seine Ernährung an das Ausland zu bezahlen. Der Werth der Ein-
und Ausfuhr an Cerealien und Mehl betrug in Mill. Pf. Sterl.:
Jahr: 1875 1876 1877 1878
Ausfuhr: 0,5 l,i 1,2 1,3
Einfuhr: 53,o 51,8 63,5 59,o
In den letzten Jahren bezahlt Grossbritannien an die übrige Welt jähr-
lich 1100 — 1200 Mill. Mark für sein Brod; hievon bei weitem das Meiste an
die Vereinigten Staaten.
In Frankreich stellt sich der Werth des Getreidehaudels in jüngster Zeit
wie folgt (in Mill. Mark):
1876 1877 1878
Werth der Einfuhr: 191 165 461
Werth der Ausfuhr: 117 148 43
Auch im Deutschen Reiche, welches seine Zufuhr an Getreide und Mehl
zumeist aus Russlaud und Oesterreich-Ungarn bezieht, ist diese Zufuhr fort--
während im Steigen. Es betrug die
Jahr Gesammt-Einfuhr Gesammt-Ausfuhr
Mill. Mark
280
482
595
672
Von 1872—1878 hatte das Reich jährlich 228 Mill. Mark für Brodfrucht
und Mehl an das Ausland zu bezahlen.
Unter den Rohmaterialien und Fabricaten der Textilindustrie steht die
Baumwolle, der Favoritgegenstand des Welthandels, obenan. Seit Jahrzehnten
hat sie sich ausgedehnter Beobachtungen zu erfreuen. Zu Anfang des Jahr-
hunderts betrug die Gesammtmenge der in den Welthandel kommenden Baum-
wolle 500 Mill. Pfund; 1860 lieferten die Ver. Staaten allein 1767 Mill. Pfund
zur Ausfuhr. Schätzungen über die Gesammtproduction sind zwar angestellt
worden, aber werthlos, da aus den meisten Ländern, welche Baumwolle pro-
duciren, sichere Daten nicht zu erhalten sind (Japan, China, Hinterindien,
Archipelagus, Persien, Centralasien , Vorderasien, Süd- uud Centralamerika,
Mexico und Afrika). Sicher mag sich der Gesammtbedarf an Rohbaumwolle,
welcher in Europa und Nordamerika jetzt bezogen und verarbeitet wird, auf
2000 Mill. Pfund belaufen (K. Andree). Europa war vor dem nordamerikani-
schen Bürgerkriege mit seinem Baumwollverbrauch hauptsächlich auf die Ver.
Staaten angewiesen. Von 850 Mill. Kilogr., welche es verbrauchte, bezog es
von dort 716. Diese Zufuhr fiel in Folge des Krieges im ersten Kriegsjahre auf
Mill. Zollztr.
1872
28,8
1874
47,1
1876
60,5
1878
66,4
Mill. Zollztr.
Mill. Mark
21,8
215
22,2
229
22,6
222
43,6
416
344 Statistik «inzelner Handelsartikel.
108, im zweiten auf 25 Mili. Kilogr. Die anderen Froductionsl ander fingen an,
den Ausfall zu ersetzen: Indien steigerte seine Ausfuhr von 92 Mill. (1861) anf
253 (1864) und den Erlös von 88 Mill. Fr. auf 705 Mill.; Aegypten die Ausfuhr
von 25—30 auf 80 Mill. Kilogr., Brasilien von 7 auf 27. Die Ver. Staaten
dagegen hatten selbst nach dem Kriege in Folge der Zerrüttung des Südens
(1866—67) nur eine Ausfuhr von 310 Mill. (M. Chevalier). Selbst Südeuropa
beschäftigte sich seither erheblicher mit dem Baumwollenbau, so dass Europa
im Jahre 1864 den 8. bis 9. Theil seines Bedarfs selbst erzeugte. Die Ver,
Staaten arbeiteten indessen mit Macht daran, ihre Baumwollproduction zu er-
neuern und schon im Jahre 1870 stieg die Ernte so hoch, wie in den besten
Zeiten vor dem Kriege. In den Jahren 1878/79 und 1879/80 betrugen die
Ernten 5 Mill. Ballen (a 436—460 Pfd.), so dass dieselben jetzt wieder wie
vorher die Welt versorgen, während Ostindien, Aegypten und Brasilien einen
Rückgang der Production zeigen. In den letzten Jahren (1876 — 79) dürfte sich
die Production der ganzen Welt auf 3166 Mill. Pfd. stellen, wovon auf die
Ver. Staaten 2400 Mill. Pfund treffen, auf Brittisch-Ostindien 387 und auf
Aegypten 268 Mill. Pfd. (Vergl. Neumann-Spallart a. a. 0. S. 166 ff.) Hievon
verbraucht die brittische Industrie jährlich circa 1200 Mill. Pfd., der europäische
Continent gegen 1000 Mill. Pfd.
Der Handel mit Schafwolle hat in den letzten Jahrzehnten namhaften
Umschwung erfahren, indem die Zufuhr an aussereuropäischer Wolle nach
Europa fortwährend im Steigen ist. Die gesammte Wollproduction der Welt
wird jetzt auf 1600 Mill. Zollpfd. verananschlagt, wovon 800 Mill. auf Europa,
800 Mill. auf überseeische Länder, namentlich Australien, Argentina und Ver.
Staaten treffen. Australien exportiite im Jahre 1877 319 Mill. Zollpfd.; Argen-
tina erzeugt gegen 200 Mill.; die Ver. Staaten im Jahre 1878 187 Mill. Die
grössten Consumenten sind (1878) Grossbritannien mit einer Einfuhr von
362 Mill. Zollpfund, Frankreich mit 293, Deutschland mit 140, Belgien mit
93 Mill. Zollpfund. Ganz Europa verbraucht 592 Mill. Pfd. mehr als es produ-
cirt. (Neumann-Spallart a. a. 0. S. 175 ff.)
Hinsichtlich der Seidenproduction s. S. 293. Die aussereuropäischen
Zufuhren nach Europa betragen jährlich gegen 6 Mill. Pfund, davon 4 Mill.
aus China.
Zucker. Die Hauptproductionsgebiete des Rohrzuckers (Cuba, Brittisch-
Westindien, Mauritius, die Philippinen, Java, Brasilien, Nordamerika, die fran-
zösischen, brittischen, holländischen und dänischen Colonien, Ostindien liefern
gegenwärtig 37 Mill. Zollztr., dazu Deutschland, Frankreich, Oesterreich, Russ-
land, Belgien u. a. Länder 31 Mill. Zollzentner Rübenzucker. Für 1828 war
die Production der ganzen Erde 8,8, für 1851 auf 23 Mill. Zentner berechnet
worden. Trotz der zunehmenden Rübenzuckerproduction bezieht Europa noch
bedeutende Massen indischen Rohrzuckers; so im Jahre 1865 (über Holland,
Antwerpen, Hamburg, Triest, Havre, England) 14 Mill. Ztr. Europa verbraucht
etwa die Hälfte des indischen Rohrzuckers. (Bienengräber: Statistik des Ver-
kehrs und Verbrauchs im Zollverein.)
Kaffee. Die Ausfuhr aus den Hauptproductionsländeru beträgt in Millio-
nen Zollpfuud;
Statistik einzelner Handelsartikel.
345
Brasilieu (1877/78) 428
Java etc. (1877/78) 190
Ceylon (1877) 99
Venezuela y, 68
Haiti „ 58
Brittisch-Ostindien (1877/78)
Costarica (1877)
Columbien „
Guatemala „
Portorico - . . . .
30
26
25
19
12
Die Gesaninitproduction wird in den letzten Jahren uuf 10—11 Millionen
Zentner veranschlagt, während sie im Jahre 1832 nur 1,9, im Jahre 1844 nur
0,1 und im Jahre 1853 nur 5,7 Mill. Ztr. betrug. England, Hamburg, die hollän-
dischen Häfen, Havre und Triest zusammeii importiren von dieser Gesammt-
production jährlich gegen 6 Millionen Zentner. Ernte und Ausfuhr sind allent-
halben stark schwankend. (Vergl, Neumann-Spallart a. a. O. S. 122 ff.)
Die Kohle Grossbritanniens, über 8 Mill. Tonnen Ausfuhr, geht nach
allen Weltgegenden, bis in die Südsee. 25 Kohlenhäfeu betheiligen sich am
Export; aus Newcastle sind häufig an einem einzigen Tage 300 Kohleuschiffe
ausgesegelt. Da die französischen Kohlenbecken (62) für Abbau und Transport
ungünstig liegen, auch nicht ergiebig genug sind, findet starke Einfuhr aus
England, Belgien und den Rheinlanden statt. Belgien exportirt etwa für
54 Mill. Eres. Die deutschen Kohlen haben die früher aus England eingeführten
aus ganz Deutschland, mit Ausnahme der Küsten der Nord- u]id Ostsee, ver-
drängt. Russland bleibt, so lange ihm die nöthigen Verbindungswege fehlen,
von fremder Kohle abhängig. Es importirt aus England jetzt etwa 3 Millioneii
Zentner (K. Andree). Die Statistik des Kohlenhandels ist von besonderem
Interesse deshalb, weil kein aiideres Handelsobject so sehr als die Kohle von
der Gunst der Verkehrsmittel abhängt. Die Preise der Waare sind heftigen
Schwankungen ausgesetzt. So stiegen dieselben auf dem Londoner Markte für
die besten Sorten von 17 Schill, im Jahre 1870 auf 46 Seh. im Jahre 1873, um
bis zum Jahre 1879 wieder auf 17 Seh. zu sinken (pro Tonne). In Deutschland
galt die Tonne im Jahre 1873 10,9 Mark; im J. 1878 nur 5,2 Mark. (Neumann-
Spallart a. a. 0.)
Das Petroleum, hauptsächlich in Pennsylvanien gewonnen, ist im Lauf
weniger Jahre einer der wichtigsten Ausfuhrartikel Nordamerika's geworden.
Von 1861-67 sollen an 1300 Mill. Liter Petroleum in den Ver. Staaten ge-
wonnen und nach Europa gebraclit worden sein. Die Ausfuhr ist stets im
Wachsen; von 5 Millionen Liter (1861) stieg sie auf mehr als 300 Millionen
Liter (1867); zu 20—30 Centimes per Liter macht dies einen Verkaufsweith
von etwa 100 Mill. Francs (Chevalier). Ob die galizischen und kaukasischen
Oelbrunnen auf dem europäischen Markte. concurrenzföhig werden können, ist
die Frage.
B46 Hohe des Volkseinkommem».
VII. Capitel.
Das Volkseinkommen und seine Vertheilung.
§. 169. Höhe des Yolkseinkommeiis.
Das Masseuverhältniss, in welchem die Güter, nachdem sie produ-
cirt und in Umlauf gekommen sind, schliesslich vertheilt werden und dem
Vermögen dieser oder jener Classe wirthschaftender Menschen zuwachsen,
wird uns geofFenbart durch die Untersuchung des Einkommens, durch die
verschiedenen Arten und Höhen desselben.
Die Berechnung des rohen und reinen Einkommens ergibt die
Wirthschaftsbilanz, Jene ist verschieden bei Privatwirthschaften und bei
Volkswirthschaften .
I. Bei Privatwirthschaften erscheint diese Berechnung in ihrer besten
Form als Buchführung. Sie ist eine Art von Statistik des einzelnen Ver-
mögens und Einkommens; am schwierigsten da, wo einzelne Theile des
Ertrages vom Producenten selbst verbraucht, andere verkauft werden. Um
so schwieriger, wenn das, was verbraucht wird, bald in die Person des
Producenten verwendet wird, bald in das fixe, bald in das flüssige Capital.
Die nothwendigen Abschreibungen vom Werthe jener Vermögens-
bestände, welche allmälig abgenützt werden, erschweren gleichfalls die
genaue Darstellung des Vermögens und seiner Bewegung.
n. Weit schwieriger, als ein Privateinkommen, ist das Volksein-
kommen zu berechnen. Hier tritt statt der Zählung meist eine blosse
Schätzung ein. Die Berechnung des Volkseinkommens kann in zweifacher
Weise geschehen:
A. Nach dem Ertrag an Producten, indem man von den einge-
nommenen Gütern ausgeht. Dann besteht der Rohertrag der Volkswirth-
schaft aus:
1. den im Lande gewonnenen Rohproducten;
2. den aus dem Auslande in irgend welcher Weise gewonnenen
Producten;
3. aus den Wertherhöhungen, welche diese Güter durch die ein-
heimische Industrie und Kunst erfahren;
4. aus den Dienstleistungen.
Dies alles wird in Geld abgeschätzt und von der Summe abge-
zogen :
Die BinkommeDsclasBen. 347
1. die in den Producten verbrauchten Rohstoffe und die Werth-
minderungen, welche einzelne Producte erfahren haben, also Gapitals-
abnutzungen;
2. die sämmtlichen Ausfohren, mit welchen die Einfuhren bezahlt
wurden.
B. Eine zweite Art der Berechnung ist die Summirung der einzelnen
Einkommen. Bei dieser Berechnung muss man:
1. das reine Einkommen aller selbständigen Privatwirthschaften und
2. dasjenige des Staates, der Corporationen, Gemeinden und Stif-
tungen Summiren.
Schuldzinsen müssen dabei entweder ganz aus dem Spiele gelassen
oder auf Seite des Gläubigers addirt, auf Seite des Schuldners subtrahirt
werden.
So viel Mühe man sich auch mit solchen Berechnungen geben mag,
fehlt es dabei doch häufig um viele Millionen. So hat man das rohe eng-
lische Volkseinkommen bald auf 514 Mill. Pfd. geschätzt, bald auf 720
Mill.; das reine im Jahre 1799 auf 125, 1823 auf 255 Mill. — 1860
betrug das einkommensteuerpflichtige Einkommen allein 239 Millionen, in
neuerer Zeit 377 Millionen.
In Frankreich schätzte man vor 40 Jahren das rohe Volkseinkommen
bald auf 6500 Mill. Frcs., später auf 7000, auf 12000 und (M. Che-
valier) 10000 Mill. In den Vereinigten Staaten soll das Volkseinkommen
im Jahre 1840 über 1063 Mill. Doli, betragen haben, in Oesterreich im
Jahre 1859 (v. Czörnig) 3360 Mill. fl.
Man muss sich indessen hüten, solche Schätzungen zur Grundlage
wirthschaftlicher Lehrsätze zu machen. Sie sind zu trügerisch. Am reellsten
ist die Schätzung nach der Einkommensteuer insofern, als sie niemals das
Volkseinkommen höher angeben wird, als es wirklich ist.
§. 170. Die Einkommensclassen.
Da man ein Einkommen aus Arbeitslohn (einschliesslich der
festen Gehalte von Staatsdienern etc.), aus Capitalzins oder aus Unter-
nehmergewinn beziehen kann, haben sich im Laufe der Wirthschafts-
geschichte Einkommensclassen gebildet, welche sich durch die Bezugsquelle
ihres Einkommens unterscheiden: Die Classen der Arbeiter, der Capi-
talisten und der Unternehmer.
Die Statistik ist jedoch nicht im Stande, diesen Unterschied zu
fixiren und nach ihm etwa die Bevölkerung in Gruppen zu bringen. Denn
diese Classen sind gegen einander nicht abgeschlossen. Es kann Jemand
Arbeiter und zugleich Capitalist sein. Man wird ihn freilich immer dann
als Arbeiter bezeichnen müssen, wenn er seines x4.rbeitsIohne6 zum Leben
348 ^^^ Einkommenscla^sen.
bedarf. Aber die ßedarfsgrenze ist nicht zu bestimmen; sie ist etwas sub-
jectives. Ebenso kann. Jemand Unternehmer und Capitalist zugleich sein.
Sehr häufig findet sich die Vereinigung der Arbeiter- und Unternehmer-
Stellung, namentlich im Kleingewerbe. Eine Vereinigung aller drei Ein-
kommenszweige findet sich namentlich bei der landwirthschaftlichen Be-
völkerung, — ausschliesslich der Grossgrundbesitzer — kann aber auch
in anderen Erwerbszweigen vorkommen.
Gerade der Umstand, dass sich diese Unterschiede der Einkommens-
classen zifl'ermässig nicht fixiren lassen, muss als günstig bezeichnet werden,
weil er erkennen lässt, dass der einzelne Mensch und die einzelne Familie
nicht unabänderlich an einen bestimmten Einkommenszweig gebunden sind.
Es gibt aber noch einen anderen Classenunterschied, welcher nicht
durch die verschiedenen Quellen, sondern durch die verschiedenen Höhen
des Einkommens veranlasst wird. Bei den Lolmarbeitern, bei den Capi-
talisten, wie bei den Unternehmern finden sich alle denkbaren Abstu-
fungen von Einkommensgrössen. Durch diese Abstufungen aber werden
alle Gegensätze, die sich auf dem Gebiete des Einkommens finden, ganz
bedeutend gemildert.
Die Vertheilung des Volkseinkommens nach seiner Höhe ist wohl
der wichtigste, aber auch ein sehr dunkler Gegenstand der wirthschaft-
lichen Statistik.
Die einfachste Classenunterscheidung ist wohl die von grossen, mitt-
leren und kleinen Einkommen (für welche Unterscheidung freilich jeder
feste Massstab fehlt). Das Vertheilungsverhältniss ist dann am günstig-
sten, wenn die Mittelclasse des Einkommens am zahlreichsten, die Unter-
schiede zwischen dem geringsten und dem grössten Einkommen möglichst
klein sind, wenn das Einkommen mit steigendem Verdienst und höherem
Alter wächst.
Die Vertheilung des Einkommens ist dagegen eine umso ungünstigere,
je mehr sich die verschiedenen Grade des Einkommens von einander ent-
fernen, je mehr namentlich der Mittelstand verschwindet und ein grasser
Unterschied zwischen Reichthum und Armuth erwächst.
Man hat behauptet, dass die Ungleichheit des Vermögens in stetiger,
furchtbarer Zunahme begriffen sei; von anderer Seite ward das Gegentheil
angenommen. Beide Behauptungen sind, wie es scheint, bei dem gegen-
wärtigen Stande der Einkommensstatistik noch nicht mit Bestimmtheit zu
behaupten oder zu widerlegen.
Nur für wenige Länder sind bisher brauchbare Anhaltspunkte zur
Entscheidung der Frage gewonnen, wie sich die Vertheilung der Einkom-
mensgrössen in neuester Zeit stellt. Diese Anhaltspunkte sind die Ein-
kommenssteuern (so namentlich in Grossbritannien, Preussen und Sachsen ^).
Die Einkommensciassen.
349
Sie zeigen allerdings, dass die Zahl derjenigen Volkstheile, welche nur
den nothdürftigen Lebensunterhalt bestreiten können, über 90^ der Ge-
sammtbevölkerung beträgt.
Um die Zustände der Vertheilung des Volkseinkommens in den
verschiedenen Ländern vergleichbar zu machen, müssten die Begriffe:
Reichthum, Wohlstand, Auskommen, Dürftigkeit und Armuth genau fixirt
werden durch quantitatives Ausmass der jeden dieser Zustände charak-
terisirenden Bedürfnissbefriedigung. Letztere müsste nach den örtlich ver-
schiedenen Preisen der Lebensmittel, Wohnungen, persönliehen Dienste etc.
in Geld ausgedrückt werden. So erhielte man für jeden Ort, wo eine solche
Berechnung stattgefunden, das Maass dessen, was die Zustände: Reichthum,
Wohlstand u. s. f. bezeichnet. Selbst dann dürften jedoch nur solche ört-
liche Verschiedenheiten verglichen werden, bei denen nicht allzu grosse
Unterschiede der Volkssitten jede Vergleichung unn^öglich machen.
Weit schwieriger ist es, wie erwähnt, zifferraässig die oft aufgewor-
fenen Fragen zu entscheiden, ob heutzutage das Einkommen das Bestreben
habe, mehr den grossen Massen der Bevölkerung zuzuwachsen wie früher;
oder ob es, wie Viele behaupten, sich in immer weniger Händen con-
centrire; ob es namentlich, wie am häufigsten behauptet wird, wahr sei,
dass der Mittelstand mehr und mehr verschwinde^).
Anmerkungen.
*) Nach den Angaben über das preussischc Volkseinkommen i. J. 1879
Tertheilt sich dasselbe wie folgt:
Einkommensciasse
Procentbetrag
der Censiten
ohne die
Angehörigen
mit den
Angehörigen
Durchschnittlicher Betrag
der Einkommen
pro Censit
pro Kopf
Unter 525 Mark
525— 2000 „
2000— 6000 „
6000— 20000 „
20000—100000 „
über 100000 „
Zusammen .
40,62
54,12
4,47
0,70
] 0,09
66,80
5,52
0,88
\ 0,12
400
811
3196
9551
36027
201421
100
100
909
208
252
881
2616
9868
55173
310
(A. Soetbeer: Jahrb. f. Nationalökonomie u. Statistik, 1879, S. 114.)
') Röscher, Grundlagen d. Nationalökonomie, S. 425, führt als Beleg
gegen die Behauptungen zunehmender Vermögensungleicliheit Folgendes an :
In England hatten nach der Einkorn menssteuer-Declaration des Jahres 1847 :
obO Der Arbeitslohn insbesondere.
91101 Persoiieu 130— 500 Pfd. jährl. Eiuküufte uud darüber
13287 „ 500-1000 „ „ ^ „ ^
5234 „ 1000-2000 „ „ „ „ „
1483 „ 2-3000 „ „ , „ ^
703 „ 3-4000 „ . „ -n ^
400 ^ 4-5000 ,, ^ ^ ^ „
1186 „ über 5000 „ ^j •• r ^
Vergleicht man diese Zahlen mit den entsprechenden der Einkommens-
steuer Ton 1812, so ist die Zahl der Declaranten:
von 150— 500 Pfd, Einnahme um 19651^ gewachsen
„ 500-1000 „ „ „ 148„ „
^ 1000-2000 „ ^ ,, 148,, „
„ 2000-5000 ^ „ ^ 118,,
„ 5000 u. mehr „ „ ,, 189 „ „
während die Bevölkerung im Allgemeinen um etwa 60% wuchs.
G. Hirth dagegen (Preis. Ansichten der Volks wirthschaft, S. 359) neigt
sich zu der Ueberzeugung, dass durch die Bewegung der Einkommenssteuer der
Beweis für das relativ stärkere Anwachsen der grossen Einkommen erbracht sei.
§. 171. Der Arbeitslohn insbesondere.
Da in den europäischen Culturländern der gröeste Theil der Bevöl-
kerung vom Lohne lebt, den er durch Arbeit im Dienste Anderer erwirbt,
wäre es, um die wirthschaftliche Lage der Völker, Länder, Landestheile
und Städte, sowie der verschiedenen Berufsclassen richtig beurtheilen zu
können, von grossem Werthe, wenn zuverlässige statistische Angaben über
die Lohnhöhe verfügbar wären.
Leider hat die Lohnstatistik mit so vielen Schwierigkeiten zu
kämpfen, dass diese wichtige Aufgabe bisher blos mittelst vereinzelter
Versuche in Angriff genommen worden ist. Es sind bei der Betrachtung
der Lohnhöhe folgende Punkte zu beachten:
L Die Berechnung der Durchschnittslöhne. Fast in jedem
Arbeitszweige lassen sich niedrige und höhere Löhne unterscheiden. Ob
nun der Arbeiter nach der Arbeitszeit oder nach dem Stück bezahlt wird:
überall wird der geschicktere, fleissigere, kräftigere mehr verdienen, als
der minder leistungsfähige. In manchen Arbeitszweigen aber finden sich
mehr, in anderen weniger Abstufungen der Lohnhöhe. Es ist eine ungemein
complicirte Frage, in welcher Weise bei diesem Verhältniss der wahre
Durchschnittslohn zu bestimmen ist. Wenn in einer Fabrik die am ge-
ringsten bezahlten Arbeiter wöchentlich 10, die am höchsten bezahlten
dagegen 20 Mark verdienen, so ist damit noch nicht erwiesen, dass der
Durchschnittslohn 15 Mark betrage, sondern es fragt sich, wie viele
Arbeiter da sind, welche blos 10, wie viele 12, 15, 20 Mark etc. ver-
dienen.
Der ArbeitBlohn insbesondere. 351
Will man sich nicht blos mit abstracten Durchschnittszahlen be-
gnügen, so muss man auf diese Unterschiede eingehen. Noch complicirter
wird die Berechnung der Lohnhöhe, wenn in einem Arbeitszweige neben
Männern auch Frauen und Kinder beschäftigt sind. Die Löhne derselben
müssen getrennt von denen der Männer betrachtet werden.
IL Oertliche Verschiedenheiten. In keinem Lande sind die
Löhne, welche in den Städten und auf dem Lande, sowie in den ver-
schiedenen Landestheilen gezahlt werden, von ganz gleicher Höhe. Die
Ursache liegt in den Verschiedenheiten von Angebot und Nachfrage. Der
gemeine Taglohn muss in den Städten schon deshalb ein anderer sein,
als auf dem Lande, weil die ländlichen Arbeiten grossentheils im Freien
vollbracht werden, weil der Lebensunterhalt in den Städten schwieriger
zu beschaffen ist u. s. f. Aber auch der Lohn der für einzelne Indu-
strien geschulten Arbeiter ist in den Städten höher, als auf dem Lande.
So beträgt der Durchschnittslohn der industriellen Arbeiter in Paris 4,3»
Frcs. täglich, in ganz Frankreich nur 2,3. Wenn in einzelnen, besojiders
armen Landschaften auffallend niedrige, in einzelnen Städten dagegen
auffallend hohe Löhne gezahlt werden, so darf dies bei der Betrachtung
der Durchschnittslöhne eines ganzen Landes nicht ausser Acht gelassen
werden *).
III. Zeitliche Verschiedenheiten. Weil die mannigfachen Um-
stände, welche auf die Lohnhöhe einwirken, sich nicht gleich bleiben,
weisen auch verschiedene Perioden ungleiche Lohnhöhen auf. Dieses
Schwanken vollzieht sich in manchen Arbeitszweigen im Laufe der Jahres-
zeiten einzelner Jahi'e; bei anderen mit dem Wechsel wirthschaftlichen
x\uf- und Abschwungs; im Allgemeinen lassen sich auch grössere Lohn-
veränderungen beobachten, welche die wirthschaftsgeschichtliche Entwicke-
lung der Völker begleiten.
IV. Die Gründe dieser zeitlichen und örtlichen Verschiedenheiten.
Betrachtet man die Höhe der verschiedenen Löhne, welche in einem be-
stimmten Etablissement gezahlt werden, so erscheint als nächster Grund
dieser Verschiedenheit der ungleiche Werth der Arbeit. Je werthvoller
die Arbeit, desto höher der Lohn. Schon hiedurch wird eine unendliche
Mannigfaltigkeit der Lohnhöhen verursacht. Die verschiedene Arbeitsge-
schicklichkeit und Kraft, sowie der Fleiss sind wieder die tieferen Ur-
sachen. Auf ihnen beruhen insbesondere die Unterschiede zwischen den
Lohnhöhen der Arbeiter verschiedener Altersclassen und grossentheils der
beiden Geschlechter. Deshalb beträgt fast überall der Lohn der Männer
ungefähr das Doppelte von dem der Weiber und das Dreifache von dem
der Kinder.
o52 Der Arbeitslohn insbesondere.
Die Differenz zwischen dem höchsten und niedrigsten Lohne ist am
grössten bei jenen Gewerbszweigen, wo die Arbeitsleistung durch Kraft,
Fleiss und Geschicklichkeit am meisten gesteigert werden kann (z. B. in
der Buchdruckerei, Maschinen-, Glas- und Papierfabrication) und um so
geringer, je weniger eine solche Steigerung möglich (Textilindustrie).
Betrachtet man dagegen die Lohnverschiedenheiten ganzer Erwerbs-
zweige, Zeitperioden, Orte und Länder, so ergeben sich noch mannigfache
andere Ursachen: die Preise der Lebensmittel, die Beschwerden und Ge-
fahren mancher Arbeiten, die Sicherheit und Regelmässigkeit von Erwerb
und Lohnzahlung, die Zahlungsfähigkeit der Arbeitgeber, die LebhaWgkeit
der Concurrenz von Arbeitgebern und Arbeitern.
Diese Bestimmungsgründe des Arbeitslohnes nun wirken mit einander
und je nachdem einer oder mehrere von ihnen überwiegende Kraft äussern,
gestaltet sich das Resultat. Gemessen kann ihre Kraft nur werden, wenn
es gelingt, ihre Wirkungen von einander isolirt darzustellen. Diese Isoli-
rung ist eine sehr schwierige Aufgabe der wirthschjaftlichen Statistik, nur
in einzelnen Fällen möglich.
V. Die richtige Würdigung der Lohn Verschiedenheiten. Um die
Lohnhöhen richtig beurtheilen zu können, darf man sich nicht auf eine
blosse Vergleichung der Geldbeträge des Lohnes beschränken, sondern
man muss zugleich auf die Preise der zur Befriedigung der wichtigsten
Lebensbedürfnisse nöthigen Dinge eingehen und fragen, was der Lohn
hier, was er dort werth ist. Dadurch wird die Aufgabe einer gewissen-
haften Lohnstatistik noch ungemein erschwert*). Aber selbst wenn man
mit solcher Sorgfalt bei der Vergleichung der Löhne vorgeht, geben die
erhaltenen Ziffern noch keineswegs ein deutliches Bild von der Lage der
Arbeiterbevölkening verschiedener Länder. So wird es gewiss Niemandem
einfallen wollen , die Lebensweise eines Südeuropäers mit der eines
Nordeuropäers vergleichen zu wollen, selbst wenn die Preise der Lebens-
mittel, Kleidung und Wohnungen, sowie die Lohnhöhe in beiden vergli-
chenen Ländern gleich wären.
Die Annehmlichkeiten eines bevorzugten Klimas sind namentlich für
die ärmere Bevölkerung gar nicht hoch genug zu schätzen; und der
Arbeiter in Italien, Südfrankreich, Spanien etc., der sich den grössten
Theil des Jahres hindurch des Frühlings und Sommers erfreut, befindet
sich trotz seiner geringeren Kauffahigkeit in einer menschenwürdigeren
Lage, als der nordeuropäische Arbeiter, den in langen Wintern das Elend
armseliger, luftloser, kalter, schmutziger, mit Menschen angepfropfter
Wohnungen umgibt •*).
Der Arbeitslolin insbesondere.
353
'Anmerkungen.
*) Dem Congress der Vereinigten Staaten wurden unlängst von den ameri-
kanischen Consuln iji Europa Berichte über die durchschnittliche Höhe der
Arbeitslöhne und über die Lebensmittelpreise in den europäischen Ländern er-
stattet. Sieht man von der Schwierigkeit ab, welche sich ergibt, wenn man
aus den in den verschiedenen Städten und Gegenden eines Landes gezahlten
Löhnen einen Durchschnitt berechnen will, so ist den genannten Berichten Fol-
gendes zu entnehmen. Der wöchentliche Arbeitslohn betrug i. J. 1878 in Mark
und Pfennigen:
Berufsclassen
Frank-
reich
Deutsch-
land
Italien
England
New-
York
Maurer (Handlauger)
Zimmerleute, Tischler
Gasarbeiter
Maurer
Anstreicher
Gypser .
Bleidecker
Schieferdecker . . . .
Bäcker
Grobschmiede . . • .
Buchbinder
Messinggiesser . . . .
Schlächter
Kunsttischler . . . .
Böttcher
Kupferschmiede . . .
Messerschmiede . . .
Gravirer
Hufschmiede . . . .
Mühlenbauer . . . .
Drucker
Sattler
Segel macher . . . .
Schuhmacher . . . .
Schneider ......
Zinngiesser
Taglöhner etc. . . .
16,00
21,67
20,00
19,68
27,00
27,17
21,83
19,42
21,68
24,00
28,00
18,33
21,68
18,67
20,00
19,00
20,42
17,58
14,42
16,00
14,58
17,17
15,67
15,17
14,42
16,00
14,00
14,17
15,33
12,83
15,42
16,00
13,17
13,17
16,00
16,00
13,00
13,17
18,83
14,42
13,17
12,60
14,17
14,67
11,67
13,83
16,67
16,00
16,00
18,42
17,42
15,58
15,58
15,58
15,83
15,68
22,00
16,83
20,00
13,33
15,58
15,58
16,00
14,00
19,83
15,58
14,83
14,83
17,33
17,17
14,42
10,42
32,50
33,00
29,00
32,67
29,00
32,42
31,00
31,58
26,00
32,60
31,33
29,68
29,00
30,83
29,17
29,58
32,00
39,00
29,68
30,00
31,00
27,17
29,00
29,42
29,17
29,17
20,00
48-60
36-48
40-56
48-72
40-64
40—60
48-72
40-60
20-32
40—56
48-72
40-56
32—48
36-52
48—64
48-64
40—52
60—100
48-72
40-60
32-72
48—60
48-72
48—72
40—72
40-56
24—36
(Zeitschr. d. preuss. stat. Bureau, 1879. St. C.)
*) Vergleicht man die Durchschnittslöhne mit den
wichtigsten Nahrungsmittel, so ergibt sich u. A. Folgendes
eines gewöhnlichen Taglöhners reicht hin zur Bestreitung d
Preisen einiger der
. Der Wochenlohn
es Ankaufes von:
Haushofer, Statistik. 2. Aufl.
354
Di« Andenstatistik insbesondere.
Brod
engl. Pfd.
Rindfleisch
engl. Pfd.
Butter
engl. Pfd.
Kartoffeln
Bushel
a 35,3 Liter
Eier
in
Dutzenden
Belgien . .
Deutschland
Italien . . .
Spanien . .
England . .
New- York .
63,1
55,5
41,6
41,3
117,6
126,3
16,0
15,9
15,5
16,0
23,4
50,0
8,2
12,6
8,8
6,4
14,2
20,5
5,1
5,6
2,4
2,7
3,0
4,0
12,7
14,0
13,8
10,7
20,0
21,0
(Nach der oben angegebenen Quelle, wobei jedoch für New- York die
niedrigsten Löhne angenommen wurden. Trotzdem ergibt sich, dass in New-
York die Kauffähigkeit des Arbeiters eine weit grössere ist, als in den euro-
päischen Ländern.)
') Statistische Arbeiten über den Lohn sind noch sehr spärlich und be-
ziehen sich blos auf einzelne Länder oder Landestheile. Das Wichtigste ist wohl :
L. Levi: Wages and Earnings of the working classes etc.
L. Jacobi: Die Arbeitslöhne in Niederschlesien.
Bela Weisz: Ueber d. Arbeitslohn etc. Zeitschr. d. preuss. stat. Bureau
1876. S. 235 ff.
§. 172. Die Annenstatistik insbesondere.
Wie die verschiedenen Abstufungen des Einkommens überhaupt, so
ist auch die Armuth ein durchaus nicht feststehender Begriff. Man hat
zwar (Hausner) die Zahl der Armen in den verschiedenen Staaten zu-
sammengestellt; aber diese Zahlen sind nicht vergleichbar. Es beweist gar
nichts, wenn für Preussen (1861) ein öffentlich Unterstützter auf 56,05
Einwohner und für Frankfurt einer auf 12,oi Einwohner angegeben ist.
Denn weder ist der Begriff „öffentlich Unterstützter" überall der gleiche,
noch ist zwischen vombergehend und dauernd Unterstützten eine Unter-
scheidung getroffen.
Der Stand der Armenzahl ist demnach vorerst in seinen örtlichen
Unterschieden unvergleichbar *).
Dafür gestattet der Gang der Armenzahl eine solche Vergleichung.
Einer Tabelle von Emminghaus *) ist in dieser Hinsicht Nachstehendes zu
entnehmen. Ein Unterstützter kam auf — Einwohner:
Die Armenitatiatik insbesondere.
355
lu der
Periode von
Am Aufaug
der Periode
auf
Am Schlüsse
der Periode
auf
Grossbritaunieu
Preussen
Kgr. Sachseu
Württemberg
Bayern
Niederlande
Norwegen
Belgien
Frankreich
Abnahme
der
Unterstützten
Zunahme
1855-68
1849-61
1856—64
1855-64
1855-67
1854—66
18Ö1-66
1844—58
1853-90
20,8
20,6
54,9
29,9
38,9
5,5
24,4
7
35
22,2
56
56,1
52
56,1
6,6
20
6,9
30,1
Auch die Bewegung der Armenlast, d. b. der Ausgaben, welche zur
Unterstützung der Armen gemacht werden, ist von Wichtigkeit, besonders
unter Berücksichtigung des Unterstützungssystems.
Die in beiden Beziehungen (a. a. 0.) angestellten Untersuchungen
haben ergeben, dass fast überall in Europa — mag die Armenpflege
welches System immer haben — die Zahl der öffentlich Unterstützten in
den letzten 20 Jahren abgenommen hat; dass die Armenlast theilweise
gesteigert, theilweise erleichtert worden ist, dass die öffentliche Unter-
stützung für jeden Armen eine dem Geldbetrage nach reichlichere ge-
worden ist.
Innerhalb des nämlichen Gesetzgebungsgebietes spiegelt die für eine
längere Epoche fortgeführte Armenstatistik die Vorzüge oder Mängel
einzelner gesetzlicher Bestimmungen, die Folgen gesetzlicher Aenderungen,
bis ins Einzelne zurück.
Anmerkungen.
*) Villeneure-Bargemont gibt das Verhältniss der Armen (indigens) und
Bettler (mendians) für die verschiedenen Staaten Europa's (1830) also an.
£s kommt in:
1 Armer
1 Bettler
1 Armer
1 Bettler
England
auf 6
117 Einw.
Italien
auf 25
126 Einw.
Niederlande
„ 7
102
T)
Portugal
„ 25
121 „
Deutschland
„ 20
200
n
Spanien
„ 30
154 „
Frankreich
„ 20
166
Ti
Preussen
„ 30
202 „
Schweiz
„ 10
150
n
Schweden
„ 25
243 „
Oesterreich
„ 25
200
T>
Russland
„ 100
1000 „
Dänemark
„ 25
250
W
Die Zahl der Bettler zeugt offenbar ungleich mehr vom Zustande der
Polizei, als von dem der Armuth. (Bernoulli, Populationistik, S. 73.)
*) A. Emmiughaus: Das Armenwesen u. d. Armengesetzgebung. Berl. 1870.
23
356 IWö Consumtion.
Vm. Capitel.
Die Consumtion.
§. 173. Im Allgemeinen.
Auch bei der Betrachtung der Consumtion kann die Statistik, wie
anderwärts, den Stand und den Gang der bezüglichen Erscheinungen
unterscheiden.
Die Masse der consumirten Güter, selbstverständlich in relativen
Ziffern, d. h. mit der Zahl der Consumenten verglichen, drückt sowohl
das Bedürfniss aus als die Möglichkeit der Bedürfnissbefriedigung. Ergeben
sich Verschiedenheiten der Consumtion in verschiedenen Zeiten und ver-
schiedenen Räumen, und fragt man sich, ob diese Verschiedenheiten
hauptsächlich durch die grössere oder geringere Stärke des Bedürfnisses,
oder durch die verschiedene Leichtigkeit der Bedürfhissbefriedigung ver-
ursacht werden, so muss man, um diese Frage beantworten zu können,
neben der Menge der Consumtion auch die Preisveröchiedenheiten
beobachten.
Die Bewegung der Gesammtconsumtion wäre ein deutliches Spiegel-
bild des gesammten wirthschaftlichen Lebens eines Volkes, ist indessen
nur durch gewagte Schätzungen der Statistik zugänglich.
Dagegen kann die Consumtion einzelner wichtiger Verbrauchsgegen-
stände, namentlich solcher, welche aus dem Auslande eingeführt oder im
Inlande mit einer Productsteuer belegt sind, vollkommen ziffermässig dar-
gestellt werden. Da jeder Consumtionsgegenstand einem anderen Bedürf-
nisse dient, hat die statistische Untersuchung jedes einzelnen ein besonderes
Interesse. Man wird dabei nicht nur den Stand und Gang der Consumtion
zu beobachten haben, sondern auch das Verhältniss zu anderen Consum-
tionen und — soweit eine Untersuchung möglich — zur Gesammtconsum-
tion. Betrachtet man das Verhältniss einer Consumtion zur anderen, so
kann man beobachten, wie manchmal eine Consumtion die andere unter-
stützt, befördert, in ihre Lücken einspringt, oder aber sie verdrängt.
Selbstverständlich ist fast, dass nicht die absolute Consumtion allein be-
rücksichtigt werden darf, dass es vielmehr weit wichtiger ist, die Con-
sumtion der verschiedenen Verbrauchsgegenstände auf den Kopf der Be-
völkerung auszuschlagen und mit diesen Ziffern zu operiren, und dass, um
die Ursachen in der Bewegung des Güterverbrauches aufzufinden, die
Consumtionsziffer in Zusammenhang mit möglichst vielen, ziffermässig schon
Ursachen der Verschiedenlieiten der Consamtion. 357
dargestellten Erscheinungen des wirthschaftlichen und des allgemeinen
Culturlebens der Völker gebracht werden muss.
§. 174. ITrsaohen der Verschiedenheiten der GonsTuntion.
Betrachtet man die Einflüsse, welche sich hinsichtlich der Consumtion
der verschiedenen Verbrauchsgegenstände geltend machen, so steht obenan
der Grundsatz: je ärmer ein Mensch ist, um so grösser ist jene Quote
seines Einkommens, welche er für schlechterdings unentbehrlichen Ver-
brauch auszugeben pflegt. Und was vom Einzelnen gilt, gilt auch von
ganzen Völkern, von Landestheilen, Ortschaften, von Bevölkerungsclassen.
Bei den ärmeren Classen der Bevölkerung betragen die nothwendigsten
Lebensbedürfnisse (Nahrung, Kleidung, Wohnung, Feuer und Licht, Werk-
zeug und Geräth) 95 ^ der Gesammtconsumtion , bei wohlhabenden
Familien nur etwa 85 % , bei Reichen noch weit weniger *).
Ganz besonders wächst mit dem Einkommen die verhältnissmässige
Grösse der Ausgaben für Wohnung, Bedienung und Geselligkeit.
Vom grössten Einflüsse auf die Bewegung der Consumtion bei den
verschiedenen Verkehrsgegenständen ist der Gang der allgemeinen Ge-
sittung.
In rohen Zeiten und bei rohen Völkern ist auch die Consumtion
eine rohe; die Massenhaftigkeit des Verbrauches überwiegt; dagegen fehlt
die Mannigfaltigkeit und Feinheit der Verbrauchsgegenstände. Fortschritte
der Civilisation und der Verbrauch feinerer Waaren gehen Hand in Hand.
So ist man mit der steigenden Cultur fast überall zum Genüsse feineren
Brodes übergegangen *). Ebenso vermehren Culturfortschritte die Fleisch-
consumtion, die aus demselben Grunde in den Städten weit grösser zu
sein pflegt, als auf dem Lande.
Sorgfältige und complicirte Angaben über den Verbrauch an Mehl,
Brod, Fleisch, Milch, Kartofi'eln, Gemüsen und anderen Hauptnahrungs-
mitteln wären erforderlich, um ein genaues Bild der Ernährung der ver-
schiedenen Völker zu erhalten. Die vorhandenen zeigen nur, dass die
Massen der consumirten Hauptnahrungsmittel in keinem ersichtlichen Zu-
sammenhange mit der nationalen Gesittung stehen. Eher könnte dies der
Fall sein bei jenen Nahrungsmitteln, welche mehr Luxusgegenstände sind.
Aber niemals darf man aus dem verschiedenen Verbrauch eines einzelnen
Consumtionsgegenstandes einseitige Schlüsse auf Civilisation und Wohl-
stand ziehen. So hat man den Zuckerverbrauch als Massstab des Wohl-
standes oder gar der Gesammtcultur gebraucht; aber gewiss mit Unrecht.
Jedes Volk hat einen oder mehrere Lieblingsgegenstände des Ver-
brauches. Die Natur seiner Heimath und die nationale Production geben
meistens die Richtungen dieser Lieblingsobjecte an.
358 Ursachen der Verschiedenheiten der Oonsnmtion.
Dies zeigt sich namentlich, wenn man 'die Consumtion von Reiz-
mitteln, Tabak, geistigen Getränken etc. beobachtet. So excellirt Holland
im Kaffeeverbraach. Die Ursache davon liegt nur in dem asiatischen
Colonialbesitz der Niederlande und seiner starken Kaffeeproduction.
Ebenso ist es mit dem Ghokoladeverbrauch , hinsichtlich dessen
Spanien sich auszeichnet. Auch hier ist der ehemalige Colonialbesitz
Spaniens in Mittel- und Südamerika Ursache dieser nationalen Consumtion.
Die Colonien sind zwar verloren gegangen, aber die Vorliebe für Chokolade
hat sich erhalten. So ist es in verschiedenen Fällen die Leichtigkeit der
Production und des Bezuges, welche gewisse Consumtionen zur nationalen
Sitte werden lässt, in manchen Fällen aber auch das Klima, welches den
Menschen einzelne Verbrauchsartikel aufdrängt. Manchmal zieht auch ein
beliebt gewordener Artikel die Consumtion eines anderen nothwendig mit
sich (z. B. Theo und Kaffee den Zucker).
Andere Consumtionsunterschiede lassen freilich ganz klar auf grosse
Verschiedenheiten entweder des nationalen Reichthums oder der Sitte
schliessen. Vor einem Vierteljahrhundert verbrauchte England an Seiden-
waaren über halb so viel, als das ganze übrige Europa, ein Engländer
über 5 — 6mal so viel als ein Franzose, obgleich England kein Pftmd
rohe Seide erzeugt. In England kommt eine jährliche Consumtion von
24 Pfd. Baumwolle auf den Kopf; in der Türkei nur 2 — 272 (Röscher).
Veränderungen der Consumtion im Laufe der Zeit werden am deut-
lichsten, wenn man die Aenderung im Procentverhältniss zum früheren
Stande darstellt und dabei eine Reihe von Consumtionsgegenständen ver-
gleicht, zugleich auch die Bewegung der Bevölkerung daneben stellt. So
stieg in Deutschland die Bevölkerung von 1834 bis 1847 um 25,8 Jli;
dagegen die Einfuhr von Zucker um 147,5; Kaffee um 117,5; von Ge-
würzen um 58,2; von Südfrüchten um 34,5; von Cacao um 246,2^.
Gelänge es, sehr zahlreiche derartige Beobachtungen anzustellen, so
dass die Mehrzahl aller jener Verbrauchsgegenstände hereingezogen würde,
welche von einer geläuterten wirthschaftlichen Anschauung als wirklich
zum Wohlsein der Menschheit beitragende erkannt sind: dann läge in
einer stetigen Zunahme dieser Consumtion jedenfalls ein Erstarken eines
der Factoren des menschlichen Glücks. Eine solche Zunahme der Con-
sumtionsgegenstände scheint auch in der That, und zwar sehr energisch
stattzufinden. Wächst aber mit diesem einen Factor das gesammte Glück
der menschlichen Gesellschaft?
Aumerkaugeu.
*) Das zeigen Zusammeustelluugen von Diicpetiaux und Engel, nach
welchen das Procentverhältniss unter den Familienausgaben für nachfolgende
Cousumtionszwecke folgendes ist:
Die wi^ehtigsten Consamtionsartikel.
359
Consumtionszwecke
Nahrung
Kleider
Wohnung
Feuer und Licht . .
Geräth, Werkzeuge .
Erziehung, Unterricht
Oeflfent liehe Sicherheit
Gresundheitspflege . .
Persönliche Dienste •
Ausgaben einer
bemittelten Arbeiter-
familie in
Belgien
Proc.
61
15
10
5
4
1
1
1
95
Sachsen
Proc.
62
16
12
5
2
1
1
1
95
Familie des
Mittel-
standes in
Sachsen
Proc.
55
18
12
5
3,5
2
2
2,6
90
10
wohlhaben
den Familie
in Sachsen
Proc.
50
18
12
5
5,5
3
3
3,5
85
15
') In Frankreich betrug die Zahl der Weissbrodesser im J. 1700 = 33^
der Bevölkerung, 1760 = iO%, 1764 « 39, 1791 = 37, 1811 = 42, 1818 = 45,
1839 = ßO% (Röscher):
§. 175. Die wichtigsten Constuntionsartikel.
Geht man auf die Betrachtang einzelner Consamtionsartikel ein, so
werden theils die im vorigen Paragraphen ausgesprochenen Sätze bestätigt,
theils aber auch neue Gesichtspunkte gewonnen.
Folgende Consumtionsartikel dürften besonderes Interesse verdienen:
I. Getreide, Mehl und Brod. Der Verbrauch hievon kann offen-
bar für sich allein nicht zu einem Massstabe der Wohlhabenheit ge-
nommen werden, da er nur einen, wenn auch wichtigen Bruchtheil der
Volksemährung respräsentirt. Da die Länder nicht die gleichen Haupt-
nahrungsmittel haben, und der Minderverbrauch an Weizen und Roggen
in einem Lande durch einen Mehrverbrauch an Mais, anderwärts durch
Hülsenfrüchte, Kartoffeln etc. ausgeglichen wird, darf man aus der ver-
schiedenen Getreideconsumtion gar keinen zuverlässigen Schluss auf die
Volksemährung ziehen — abgesehen davon, dass die Erhebungen über
die gesammte inländische Getreideproduction überall nur unsichere Resul-
tate ergeben können, und deshalb nur mit grösster Vorsicht benützt
werden können *).
H. Fleisch. Aehnlich, wenn auch vielleicht um ein weniges besser,
ist es mit der Statistik des Fleischverbrauches beschaffen. Aber auch hier
stösst man auf die grössten Schwierigkeiten. Denn wenn auch die Zahl
der im Lande befindlichen Hausthiere, sowie der ein- und ausgeführten
360 I)ie wichtigsten Consniationsartikel.
Stücke mit Sicherheit ermittelt werden kann, so gibt dies nnr sehr un-
sichere Anhaltspunkte für die Ermittelung des Fleischgewichts und der
Consumtion *) *).
in. Zucker, Kaffee, Thee und andere Colonialwaaren sind
die Gegenstände, deren Consumtion sich, weil dieselben entweder von
auswärts eingeführt oder im Inlande versteuert werden, am leichtesten
nachweisen lässt.
Der Verbrauch an Zucker ist erheblich im Zunehmen. Er betrug
z. B. im deutschen Zollverein im J. 1828 gegen 3,32, dagegen im J. 1869
schon 10,u Zollpfund pro Kopf*); in Frankreich in den Jahren 1812 — 16
erst 7a Kilogr., 1867 — 73 dagegen 6 Kilogr. *). Heutzutage weisen die
civilisirten Länder in dieser Hinsicht ganz erhebliche Verschiedenheiten auf*).
Steigerung des Verbrauches zeigen auch Kaffee, Thee, Reis,
Südfrüchte, Gewürze, Petroleum etc.'). Nur darf man nicht aus
der verschiedenen Consumtion jedes einzelnen dieser Artikel ohne weiteres
Schlüsse auf den Wohlstand der Bevölkerungen ziehen. Gewiss lässt sich
indessen annehmen, dass von manchen hochwichtigen Artikeln, z. B.
Zucker, Kaffee, Thee etc., die wohlhabenden und reichen Familien bisher
schon so viel genossen, als sie überhaupt zu geniessen Lust hatten, dass
also eine Steigerung des Verbrauches auf die minder bemittelten Volks-
classen trifft *) •).
IV. Das Salz, als ein hochwichtiger Consumtionsartikel, ist durch
das Streben, seinen Verbrauch für Steuerzwecke zu benützen, gleichfalls
für die Statistik zugänglich geworden. Man darf wohl annehmen, dass
sich die Salzconsumtion im Allgemeinen vermehrt hat, in welcher Form
dies aber geschehen ist, dürfte zweifelhaft sein *®). So sehr man sich zu
der Annahme gediängt fühlt, die Salzconsumtion müsste von Jahr zu Jahr
die denkbar gleichmässigste Höhe erreichen, weist sie doch Schwankungen
auf, welche relativ bedeutend sind.
V. Geistige Getränke. Auf die örtlichen und zeitlichen Ver-
schiedenheiten ihres Verbrauches müssen nothwendigerweise sehr mannig-
fache Umstände einwirken: diejenigen Bedingungen, welche die Production
oder Zufiihr erleichtem oder erschweren; die Schwankungen der gesammten
Consumtionsfähigkeit, aber auch polizeiliche und Besteuerungsmassregeln;
dazu die mächtige und tiefgewurzelte Volkssitte.
Die Weinconsumtion muss begreiflicher Weise in jenen Ländern
und Gegenden am bedeutendsten sein, wo am meisten producirt wird**).
Es müssen aber auch, der verschiedenen Ergiebigkeit der Jahrgänge ent-
sprechend, die Consumtionsmengen der einzelnen Jahrgänge sehr bedeu-
tend schwanken. Letzteres zeigt sich namentlich in Frankreich, dem be-
deutendsten aller Weinländer. Für längere Perioden lassen sich jedoch
Die wichtigsten Gonsomtionsartikel. 361
die Ziffern nicht leicht vergleichen, weil neben der Ergiebigkeit der Jahr-
gänge sich die verschiedene Höhe der Besteuerung zu sehr fühlbar macht.
Die Bierconsumtion macht selbst in Weinländem entschiedene
Fortschritte. Als Massengetränk tritt indessen das Bier doch nur in wenigen
Ländern auf. Die Consumtion stellt sich (nach Block) in Grossbritannien
am höchsten, mit 139 Liter pro Kopf. Dann folgen Belgien mit 138,
Bayern mit 125, Württemberg mit 91, die Schweiz mit 85, die Nieder-
lande mit 39, Sachsen mit 31, Oesterreich mit 24, Preussen mit 20 Liter.
Auf Schweden treffen 10, Russland 6, Spanien 2, Italien 1 Liter. In
Deutschland nach officiellen Erhebungen 88,3 (1872 — 80). In diesen acht
Jahren hob sich der Consum von 81,4 Liter im J. 1872 auf 93,i im
J, 1875 und fiel wieder auf 82,3 im J. 1879/80. Die Schwankungen sind
demnach ziemlich bedeutend und scheinen die wirthschaftliche Lage der
arbeitenden Bevölkerung deutlich zu spiegeln.
VI. Tabak. Die Gründe, welche die mannigfachen örtlichen Unter-
schiede des Tabakverbrauches verursachen, sind schwer zu enträthseln.
In dieser Hinsicht scheint die Volkssitte ziemlich launenhaft. Sie scheint
in einzelnen Ländern ein gewisses Maximum erreicht zu haben (so nament-
lich in Belgien, den Niederlanden, Deutschland), während sie anderwärts
noch bestrebt ist, den Tabakverbrauch rasch zu vermehren (insbesondere
in England). Die Consumtionsmengen der einzelnen Jahre zeigen innerhalb
eines Consumtionsgebietes sehr bedeutende Schwankungen **).
Vn. Andiere Consumtionsgegenstände gestatten zwar gleichfalls
noch eine ziffermässige Betrachtung ihres Verbrauches, namentlich die
Rohstoffe der Textilindustrie, die Bergwerksproducte u. A. Doch geben
die bezüglichen Zahlen zunächst nur einen Einblick in die Thätigkeit der
Industrie, und nur sehr mittelbar in die Bedürfnissbefriedigung des Con-
sumentenpublikums. Der Bestand vertheilt sich durch zahllose Canäle in
die Werkstätten der Industrie und in die Waarenlager der Kaufleute;
wann und von wem seine endliche Consumtion erfolgt, ist nicht mehr zu
unterscheiden.
Aumerkuugeu.
*) Von diesem Gesichtspunkte aus sind folgende Angaben über Getreide-
consumtion zu beurtheilen. M. Block (Stat. de la France, II. 394) gibt die
Getreideconsumtion für ein Jahr (welches?) auf den Kopf der Bevölkerung an:
in Belgien l,io Hectol.
Italien 1,40 „
der Schweiz 0,78 „
den Vereinigten Staaten 1,50 „
Neuere Angaben desselben (Traite de Stat. 514) erhöhen die Consumtion
in Grossbritanuien auf 2, in Frankreich auf 2,2 Hectol. — Im Deutschen Reiche
in Grossbritannien
1,80 Hectol.
„ Russland
0,69 „
„ den Niederlanden
0,75 „
„ Preussen
0,64 „
„ Oesterreich
0,77 „
362
Die wichtigsten Gonsnmtionsartikel.
betrug d878 die Consumtion pro Kopf: 65 Kilogr. Weizen, 180 Kg. Roggen,
55 Kg. Gerste, 525 Kg. Kartoffeln. (Block-y. Scheel a. a. 0. 339.)
*) M. Block (Traite de Stat. 514) berechnet deu JahrescoQsuin an Fleisch
pro Kopf;
Kilogr.
in Grossbritannien
39,4
Küogr.
in Oesterreich
20
„ Frankreich
30
r»
„ Russland
20
„ Mecklenburg
29
fl
„ Sachsen
19
„ Baden
25,4
n
„ Preussen
18,9
„ der Schweiz
23
•n
„ den Niederlanden
18,2
„ Dänemark
22,6
«
„ Belgien
18-
„ Bayern
21,9
n
„ Italien
13
„ Schweden
20,2
w
„ Spanien
12,9
*) Aus vereinzelten Nachrichten über die Ernährungsweise des germani-
scheu Alterthums und des Mittelalters lässt sich entnehmen, dass damals der
durchschnittliche Fleischconsum weit stärker gewesen sei als heutzutage. Nürn-
berg scheint um 1520 eine Fleischconsum tion von 150—200 Pfund pro Kopf
gehabt zu haben. (Schmoll er, in der Zeitschr. für die ges. Staatswissenschafb,
1871. S. 291.)
*) Neumann-Spallart: Jahrb. f. Nationalökonomie etc. XVm. S. 302.
*) M. Block: Stat. de la France, II. 410.
*) Ebenda findet sich folgende Yergleichung des jetzigen Consums. Auf
den Kopf treffen Kilogr. (1873) in:
4,50
4,4ß
4,29
4,25
4
2,70
2,61
2,50
1,50
Bezüglich Deutschlands ist die Angabe zw. niedrig; nach den officiellen
Erhebungen kommt hier für 1873/74 eine Consumtion von 7,2 Kilogr. auf den
Kopf, für die achtjährige Periode von 1871—79 ein solcher von 6,5 Kilogr. —
Für 1876 gibt Neumann-Spallart (Uebersichten 1880, S. 122) an:
Grossbritannien 26,5 Kilogr. 1 Frankreich 7,3 Kilogr.
Deutsches Reich 7,6 „ I Vereinigte Staaten 16,2 „
^) Im Deutschen Reiche stieg die Kopf consumtion bei folgenden Import-
artikeln im angegebenen Maasse:
Grossbritannien
17,40
Portugal
den Vereinigten Staaten
12,60
Italien
Frankreich
11,30
Spanien
den Hansestädten
9,10
Norwegen
„ Niederlanden
7,43
Schweden
Dänemark
6,25
Griechenland
Belgien
5
Russland
Deutschland
5
Oesterreich
der Schweiz
4,80
der Türkei
1860
1879
Kaffee
1,81
2,51
Kilogr.
Thee
0,02
0,06
w
Reis
0,90
1,84
Vi
Häringe
1,51
2,16
r>
Frische Südfrüchte
0,08
0,18
r>
Trockene „
0,24
0,43
n
Gewürze, ausländ.
0,09
0,15
•n
Petroleum
0,90
5,68
n
Die wlcbtissten ConsamtionsArtikel.
363
") Beu Kaffeeyerb rauch yeranschlagt Block (Stat. de France, IL 412)
für 4873 auf folgende Kopfrationen (in Kilogr.):
Niederlande
6,3
Norwegen
2,0
Belgien
4,7
Schweden
1,9
Vereinigte Staaten
4,0
Oesterreich
0,78
Dänemark
3,3
Grossbritannien
0,5
Schweiz
3,0
Spanien
0,16
Deutschland
2,2
Russland
0,07
•) üeber den
Verbrauch an Thee und Cacao gibt
derselbe folgende
Nachrichten (S. 414).
Der Kopf consumirt Gramm:
Thee
Cacao
Thee
Cacao
Spanien
—
426
Russland
98
1
Vereinigte Staaten
310
800
Belgien
9
52
Grossbritannien
1680
210
Schweden
15
—
Deutschland
45
25
Dänemark
100
—
Oesterreich
6
14
Niederlande
400
70
Italien
2
56
Norwegen
5
—
Frankreich
7
205
") Den Salzyerbrauch gibt IM
. Block (Stat. de Fr.
415) wie folgt an
(pro Kopf in Kilogr.)
Frankreich
8,50
Deutschland
7,50
Belgien
8,70
Schweiz
4,99
Russland
9,86
Spanien
6,39
Grossbritannieu
20,60
Portugal
5,20
Oesterreich
8,30
Italien
10,00
Selbstyerständlich ist hiermit blos das eigentliche Speisesalz gemeint.
Die Quantität des zur Viehnahrung und zu industriellen Zwecken yerbrauchten
Salzes ist grösser. Im deutschen Zollgebiet betrug nach den officiellen Er-
hebungen im Durchschnitt der 10 Jahre 1870—80 die Consumtion yon Speise-
salz 7,8, yom anderen Salze 12,4 Kilogr. pro Kopf.
") Für die neueste Zeit wird die Weinconsumtion wie folgt angegeben.
Auf den Kopf treffen jährlich Liter in:
Frankreich
217
Preussen 2,3
Italien
120
Dänemark 0,9
Schweiz
59
Grossbritannieu 2,3
Oesterreich
53
Norwegen 0,6
Spanien
30
Schweden 0,8
Württemberg
18,9
Russland 0,3
Niederiande
4
Belgien 0,8
(Block a. a. 0.)
") Ebenda findet
sich der Tab
a.kyerbrauch wie folgt angegeben.
den Kopf treffen jährlich
Gramm in:
Belgien
2500
Russland 833
Niederlande
2000
Italien 571
Oesterreich
1245
Spanien 490
Norwegen
1025
Schweden 340
Dänemark
1000
England 620
Ungarn
939
Frankreich 822
Auf
364 BevMkerang nnd wirtbschaftliches Leben.
Im Deutschen Beiche ergibt (officiell) der Jahresdurchschnitt von 1871—80
einen Kopfconsum von 1850 Gramm. Derselbe stieg im J. 1872/73 auf 2600,
1878/79 gar auf 2800 Gramm und sank 1879/80 wieder auf 750 Gramm. Für
die Consumtion der Bevölkerung aber kann (wegen des Vorraths) nur der
Durchschnitt mehrerer Jahre massgebend sein. Er beträgt 1850 Gr.
IX. Capitel.
Bevölkerung und wirthscliaftliclies Leben.
§. 176. ITebersicht.
Wir haben die Bevölkerung und ihr wirthschaftliches Leben, jedes
gesondert, statistisch aufzufassen versucht. Das schwerste bleibt übrig: die
Aufgabe nämlich, das wirthschaftliche Leben der Bevölkerung mit ihrem
Stand und Gang in ursächlichen Zusammenhang zu bringen und die Ge-
setze zu untersuchen, naqh welchen die diesem Zusammenhang angehören-
den Erscheinungen sich gestalten. Die grossen und dunklen Fragen, welche
diesem Gebiete angehören, fast man zusammen unter dem Ausdrucke
Bevölkerungstheorie.
Man kann die Bevölkerung eines bestimmten Gebietes nicht nur
mit dem Flächeninhalt desselben vergleichen, sondern, was weit bedeut-
samer ist, mit der Productionsfähigkeit des von der fraglichen Bevölkerung
bewohnten Gebietes.
Die Möglichkeit einer ziffermässigen Vergleichung scheitert jedoch
bis jetzt daran, dass es unmöglich ist, die Productionsfähigkeit eines Ge-
bietes zum ziffermässigen Ausdruck zu bringen. Denn die Productions-
fähigkeit eines Gebietes wird bedingt durch die überaus mannigfaltigen
Factoren der Production, welche diesem Gebiete angehören. Von diesen
Productionsfactoren sind die nationalen Capitalien und Arbeitskräfte allen-
falls einer Messung zugänglich, die freien Güter und Naturkräfte nicht.
Auch bietet sich für die Unmöglichkeit einer Messung der Productions-
factoren durchaus kein Ersatz in der wirklichen Production, welche viel-
fach der Productionsfähigkeit keineswegs entspricht. Man müsste, um die
Bevölkerungen der verschiedenen wirtHschaftHchen Gebiete auf ihr Ver-
hältniss zur Productionsfähigkeit zu prüfen, zuerst eine Bonitirung der
Gebiete vornehmen unter Berücksichtigung aller natürlichen und histo-
rischen Productionsfactoren derselben. Klima, Bodenconfiguration, Bewässe-
rung, Bodenbeschaflfenheit, Bewaldung, Mineralreichthum, natürliche Ver-
kehrswege; das nationale Capital in seinem ganzen Umfange und die
Yerachiedene Möglichkeiten der Zustande. 365
geschiclitliche Entwickelung in ihrer ganzen Bedeutung, ja sogar die wirth-
schaftlichen Verhältnisse der Nachbarländer; endlich die Ausbildung und
Masse der nationalen Arbeitskraft: all das müsste dabei berücksichtigt
werden. Und um aus all diesen Factoren ein arithmetisches Mittel der
Productionsfahigkeit ziehen zu können, müsste die Bedeutung jedes ein-
zelnen gegenüber allen übrigen fixirt werden.
Man sieht, wenn irgendwo, muss sich hier die Untersuchung mit
Schätzungen und Vermuthungen durchhelfen. Sie kann ihr Ziel bezeichnen,
aber sie erklärt zugleich, dass die Entfernung von diesem Ziele noch un-
ermesslich ist.
Aumerkuug.
Von der reichen Literatur dieser zwischen BeTölkeiniugsstatistik und Be-
völkeningspolitik vermittelnden Fragen wäre Folgendes das wichtigste:
R. Malthus : An inquiry iuto the principle of population 1798.
D. Hume: of the populonsness of ancient nations. In den Essays, Band II.
B. Franklin: Obserrations conc. increase of maukind.
Thornton: Overpopulation and its remedy. 1846.
Mill: Principles of political economy. 1848.
Garnier: Du principe de population.
Sadler: The law of population. 1830.
Carey: Principles of social science. 1859.
Alison: The principle of population. 1840.
Hoffmann: Ueber die Besorgnisse, welche die Zunahme der Bevölkerung
hervorruft. 1835.
Schmidt: Untersuchungen über Bevölkerung etc. 1836.
V. Mangold: Art. Bevölkerung in Bluntschli''s Staats Wörterbuch.
Gerstner: Die Bevölkerungslehre. 1864.
Röscher: Grundlagen der Nationalökonomie. 1864.
Mohl: Polizei wissen Schaft. 1866.
§. 177. Verschiedene Möglichkeiten der Zustände.
Thatsächlich sind drei verschiedene Verhältnisse der Bevölkerung
zur Ausdehnung und Productionsfahigkeit ihres Landes möglich, nämlich:
I. Die Bevölkerung ist so dünn, dass nach der natürlichen Be-
schaffenheit des Bodens leicht eine grössere Anzahl Nahrung fände. Ein
solches relativ geringes Bevölkerungsverhältniss findet seinen Ausdruck
darin, dass fruchtbarer Boden niedrig im Preise steht; die Landgüter sind
durchschnittlich gross, die Bewirthschaftung derselben mehr eine extensive
als intensive, die Wohnorte spärlich und weit von einander entfernt; Fabriks-
ßtädte bestehen wenige oder keine; es findet regelmässige Ausfuhr von
Getreide oder Producten der Viehzucht statt. Solche Bevölkerungsver-
hältnisse weisen in Europa Russland, Rumänien, die Türkei, das trans-
leithanische Oesterreich auf; in Asien fast der ganze Welttheil mit Aus-
366 Verschiedene Möglichkeiten der Znst&nde.
nähme des eigentlichen China, Japans, Ostindiens; ferner ganz Amerika mit
Ausnahme der nordöstlichen ünionsstaaten; Afrika und Australien. Bei
solchen Verhältnissen ist es dem Einzelnen, falls er Arbeitslust und
Arbeitskraft besitzt, leicht, sich die nöthigen Nahrungsmittel zu ver-
schaffen, die Erwerbung von Grundbesitz, der Betrieb ausgedehnter Vieh-
zucht oder lucrativen Bergbaues nicht schwierig. Dagegen werden die
natürlichen Reichthumsquellen des Bodens nicht vollständig ausgenützt;
die Industrie findet in der Seltenheit der Arbeiter und dem oft hohen
Arbeitslohne bedeutende Schwierigkeiten ; Handel und Verkehr sind wegen
der unzureichenden Verkehrsmittel und der geringen Consumtion beschränkt.
II. Die Bevölkerung ist dichter, als sie nach der Productionsfähigkeit
des Bodens sein sollte; es ist der Zustand einer üebervölkerung ge-
geben. Er findet seinen Ausdruck darin, dass im Lande die ganze bau-
würdige Oberfläche in Privatbesitz genommen, der Boden in kleine und
kleinste Zwergwirthschaften zersplittert ist; dass Waldungen und Weiden
auf das noth wendigste beschränkt, grosse, namentlich Fabriksstädte vor-
handen sind. Dabei ist die Volksdichtigkeit an sich eine grosse, auch
in mittleren Jahren Einfuhr von Lebensmitteln nöthig, Auswanderungen
häufig.
Die Rohstofiproduction ist hier aufs höchste gesteigert, die Boden-
cultur intensiv; der vom Landbau nicht genährte Theil der Bevölkerung
füllt Werkstätten und Fabriken; die Noth erzwingt wohlfeile und über-
mässig angestrengte Arbeit. Der Verkehr ist flott; die Arbeitstheilung
höchst ausgebildet. Bei all dem herrscht Elend und Mangel; die Lebens-
mittel sind theuer, die Sterblichkeit, namentlich unter den Kindern gross.
Noth und Verzweiflung erzeugen Verbrechen, Bettel und proletarische
Laster aller Art.
III. Die Bevölkerung hat die richtige, der Productionsfähigkeit ihres
Gebietes entsprechende Dichtigkeit. Man hat, um zu beobachten, ob dies
der Fall ist, namentlich drei besondere Kennzeichen zur Beachtung
empfohlen.
Als ein besonders glückliches Symptom ist der Neubau von Häusern
anzusehen, d. h. eine die Volksvermehrung übersteigende Häufigkeit des
Häuserbaues — vorausgesetzt, dass es sich nicht um leichtsinnige Bau-
speculationen handelt.
Ferner ist ein gutes Zeichen, wenn die mittlere Lebensdauer eine
hohe ist, wenn keine aus Elend und Noth resultirende Sterblichkeits-
ursachen wahrgenommen werden.
Endlich kann es auch als entschieden günstig bezeichnet werden,
wenn die Aus- und Einfuhr, die Consumtion, der Ertrag gewisser Steuern
rascher sich vermehren, als die Volkszahl.
YeTScMedeiie Möglichkeiten der Zusttade. 367
Zur richtigen Würdigung dieser möglichen Zustände und ihrer
Symptome muss jedoch noch Folgendes beachtet werden:
Jedes Land weist in seinen einzelnen Landestheilen verschiedene
Bevölkerungszustände auf. Je nachdem die einzelnen Landschaften von der
Natur mehr oder weniger reich ausgestattet sind, bieten sie die Bedingungen
för eine grössere oder geringere Volksdichtigkeit dar. Auf einem Gebiete,
dessen Einwohner blos von der Jagd leben, können schon 10 Einwohner
pro □Kilom. eine üebervölkerung sein, während in einer sehr fruchtbaren
Ackerbau-Gegend mit intensivem Wirthschaftsbetrieb die achtfache Zahl
noch keineswegs eine üebervölkerung genannt werden müsste. Der Begriff
üebervölkerung dürfte demnach eigentlich nur für einzelne Landestheile
in Anwendung kommen.
Hergebrachtennassen, und wohl auch mit Recht, spricht man von
üebervölkerung eines ganzen Landes dann, wenn sein Volk sich nicht
mehr allein zu ernähren vermag, sondern wenn die Einfuhr an Nahrungs-
mitteln grösser ist, als die Ausfuhr. Dies ist der Fall bei allen west-
und mitteleuropäischen Ländern.
In diesem weitesten Sinne gebraucht, muss die üebei^völkerung noch
gerade kein peinlich empfundener Zustand sein, sondern sie kann mit dem
blühendsten Wirthschaftsleben sich vereinigen. Namentlich wenn üeber-
gang zu intensiverer Bodencultur und Steigerung der Nahrungsmittel-
production leicht möglich ist, oder wenn lebhafter Verkehr mit eigenen
Colonien es dem Lande leicht macht, überschüssige Bevölkening und
überschüssige Industrieproducte dahin abzusetzen und Nahrungsmittel
wohlfeil dafür zu beziehen.
und dasselbe, was von ganzen Ländern gilt, gilt auch von einzelnen
Landschaften und Districten. Hier zeigt sich's sogar, dass eine theilweise
üebervölkerung nothwendige Bedingung aller höheren Wirthschaftsent-
wickelung ist. Lebhafte Industriethätigkeit kann nur dann sich ausbilden,
wenn in jenen Gegenden, welche Eisen, Steinkohlen und dgl. besitzen,
eine grössere Bevölkerung sich zusammendrängt, als durch die Nahrungs-
mittelproduction des gleichen Raumes ernährt werden könnte. Die Acker-
baudistricte müssen eben den Industriedistricten die Nahrungsmittel liefern,
das platte Land den Städten. So gleichen sich innerhalb des Landes
Bevölkerung und Production aus.
Dasselbe ist nun freilich auch innerhalb der gesammten Weltwirth-
schaft der Fall; aber der internationale Verkehr hat doch bei dieser
seiner ausgleichenden Thätigkeit mit weit mehr Schwierigkeiten zu kämpfen.
Der Begriff der üebervölkerung ist demnach ein relativer. Die üeber-
völkerung kann vorhanden, aber möglicherweise nicht fühlbar sein; sie
kann sich steigern bis zum Nothstande. Ihre schlimmen Wirkungen können
868 Gesehichte der BeTöHcenmgstlieorie.
in Perioden wirthschafklichen Aufschwunges zurücktreten, in anderen Perio-
den wieder scharf und grell zum Vorschein kommen.
§. 178. Geschichte der fievölkenmgstheorie.
Während die älteren Politiker und Nationalökonomen mit geringen
Ausnahmen sich um das Verhältniss der Bevölkerung zur Productions-
fähigkeit ihres Gebietes entweder gar nicht bekümmerten, oder kein
Verständniss für dasselbe besassen, gelang es R. Malthus durch eine
tiefe und vorurtheilsfreie , wenn auch von manchen Irrthümem getränkte
x4.uffa88ung der Frage zum Begründer der Bevölkerungstheorie zu werden.
Der Inhalt seiner Lehre ist im wesentlichen folgender : Die Menschen
haben stets und allerorten die körperliche Fähigkeit sowohl, als den sinn-
lichen und sittlichen Trieb zur Fortpflanzung. Ein Menschenpaar kann
stets eine grössere Zahl als zwei Menschen erzeugen. Da diese dieselben
Eigenschaften haben, so hat jede Bevölkeining die Tendenz, generationen-
weise in geometrischer Progression zuzunehmen. Die Erfahrung
(Nordamerika) zeigt, dass in je 25 Jahren die Bevölkerung sich ver-
doppeln kann. Die Nahrungsmittel hingegen sind nicht in diesem Maasse
vermehrbar, denn ihre Menge ist bedingt durch die unveränderliche Grösse
der Erde und die durchaus nicht ins Unendliche zu steigernde Frucht-
barkeit derselben. Es herrscht demnach die Tendenz, dass
die Bevölkerung in je 25 Jahren wie 1, 2, 4, 8, 16, 32 u. s. f.
die Nahrungsmittel dagegen wie 1, 2, 3, 4, 5, 6 u. s. f.
zunehmen. Daraus folgt, dass die Bevölkerung bald an der Grenze der
för sie hinreichenden Nahrungsmittel ankommt, und dann ein offenbares
Missverhältniss zwischen der Menschenzahl und dem Gütervorrath eintritt,
wenn nicht dem Vermehrungstriebe Hindemisse entgegentreten. Letzteres
geschieht in der That; die Hindemisse sind theils hemmende, theils zer-
störende. Das Naturgesetz straft den Menschen für den Frevel, welcher
in der Uebervölkerung liegt. Wo die Bevölkemng gegenüber den Unter-
haltsmitteln zu rasch gewachsen ist, da entstehen Mangel und Elend,
Krankheit und Sterblichkeit, Laster und Verbrechen. Bei einzelnen Völkern
treibt das Missverhältniss zu unnatürlichen Sitten.
Diese furchtbar emste Theorie, die den Hungertod als Damokles-
schwert über den Bevölkerungen enthüllt, fand neben einer Reihe aus-
gezeichneter Anhänger auch ihre Feinde, welche theils einen oder beide
Vordersätze der Theorie, theils die Malthus'schen Schlussfolgerungen be-
kämpften. Die Bevölkerungswissenschaft erkennt vorurtheilsfrei die Mängel
und Vorzüge der Malthus'schen Lehre an, und hat sich bemüht. Be-
deutendes zur Läuterung und Feststellung der hochwichtigen Fragen bei-
Die Otttervermehrung und ihre Grenzen. 369
zuti-agen, welche das Verhältniss zwischen Bevölkerung und Productions-
fähigkeit berühren.
Die wesentlichsten Punkte dieses Verhältnisses ergeben sich, wenn
man einerseits die Möglichkeit der beständigen Gütervermehrung und ihre
Grenzen, andererseits die Volksvermehrung und ihre Gegentendenzen
gesondert betrachtet.
§. 179. Die Gütervermehrung und ihre Grenzen.
Würde die Menschheit keine anderen Güter gebrauchen, als Nahrungs-
mittel, so hätte sie niemals über den Culturzustand der reinen Ackerbau-
völker hinausgehen dürfen; sie hätte keine Städte, keine Industriebezirke,
keine lediglich mit Handel, Verkehr und mancherlei Dienstleistungen be-
schäftigten Volksclassen gebraucht. Sie hat aber nicht diesen Entwicke-
lungsgang genommen, sondern ihren Culturgang auf die Arbeitstheilung
und auf die beständige Vermehrung, nicht allein der Nahrungsmittel,
sondern auch sehr mannigfacher anderer Güter gerichtet. Diese Güter-
vermehrung hat ihr Motiv in den Bedürfnissen der Bevölkerung, ein Motiv,
welches nicht nur mit der zunehmenden Bevölkerung, sondern auch mit
den wechselnden Bedürfnissen jedes einzelnen an Kraft gewinnt. Käme es
blos- darauf an, so könnte die Gütervermehrung bis in unberechenbare
Zeiten hinaus rascher stattfinden, als der Bevölkerungszuwachs. Aber sie
hat ihre Hindernisse. Dieselben liegen:
I. In der Trägheit und wirthschaftlichen Unthätigkeit sowohl Einzelner,
als ganzer Stände,
n. In den Mängeln der menschlichen Arbeitskraft.
III. In den Mängeln der Capitalbildung. Capital und Arbeit müssen eben
gleichmässig fortschreiten.
IV. In dem nicht hinlänglich bemeisterten Widerstand der Natur und
den Grenzen ihrer Freigebigkeit.
V. In Schwächen und Leidenschaften der Menschen, welche sociale und
politische Umwälzungen, unwirthschaftliche Güterzerstörungen her-
beiführen.
VI. In mannigfachen Zufällen.
VII. In allen anderen Fehlem der wirthschaftlichen Entwickelung; in
. jedem verfehlten Unternehmen. Arbeitseinstellungen, wirthschaftliche
Krisen, Stillstände grosser Unternehmungen u. s. f. wirken hemmend
auf die Gütervermehrung.
Jedes einzelne Unternehmen, jede einzelne wirthschaftliche Existenz
oder Arbeit ist ein 'Stift oder Rad im grossen Werke der Weltwirthschaft.
Und jedes Stillstehen, jede Stockung an der kleinsten Arbeit wirkt zurück
auf das Ganze. Jede Verschwendung, jede Güterzerstörung durch feindliche
Haushofe r, Statistik. 2. Aufl. 24
370 I^i® VolksTermelirung und ihre Gegentendenzen.
Naturkräfte hemmt irgendwo die wirthschaftliche Thätigkeit. Es ist das
Böse in der Wirthschaft, eine Summe von Gegentendenzen der Güter-
vermelirung. Sie wirken theils auf die schon vorhandenen Güter, theils
auf jene, welche erst entstehen sollen, also im ersten Fall repressiv, im
zweiten präventiv.
Ein einziges Weizenkorn treibt in einem Jahre aus der Erde einige
Halme; an jedem befindet sich eine Aehre mit mehreren Reihen von
Körnern. Während ein Menschenpaar in zwei Jahren — zu Zwillingen
gerechnet — sich höchstens vervierfacht, vertausendfacht sich das Weizen-
korn in dieser Zeit. Dies ist die Tendenz des Wachsthums der ünter-
haltsmittel. Und die übrigen von der Menschheit gebrauchten Güter haben
sämmtlich, wenn auch in verschiedenem Grade, die Tendenz der Zu-
nahme. Aber mit der Tendenz allein ist es nicht gethan, denn so viel
Raum auch noch auf Erden ist zur Colonisation neuer Länder, zu neuer
Production : immerfort erweitert sich der Boden nicht. Auch die Menschen
entwickeln bei proletarischer Vermehrung nicht den entsprechend höheren
Grad von Arbeitsfruchtbarkeit. Obgleich also die Natur jenen Dingen,
welche dem MensUhen zur Nahrung dienen, eine viel grössere Vermehrungs-
fähigkeit gegeben hat, als dem Menschen selbst, so kann doch diese Ver-
mehrungsfähigkeit nicht wirksam werden. Zur beständigen Gütervermehning
im gleichen Verhältnisse mit der Bevölkerungsvermehrung gehört auch,
dass die neu hinzuwachsenden Menschenmengen auf eine erspriessliche
Weise an der Gütervermehrung mitwirken.
Das thun sie aber nicht. Nicht alle Güter, die verzehrt werden,
ernähren Arbeiter; andere gehen völlig wirkungslos verloren und die Natur,
welche stets neue Quellen von Reichthümern bieten soll, zeigt sich theils
zu arm, theils ungehorsam. Und selbst wo eine beständige Vermehrung
des Gesammtwerthes der Güter — im Verhältniss zur Volksvermehrung —
stattfindet, geht doch die Vermehrung der wichtigsten Gütergrappen nicht
harmonisch genug vor sich.
So kommt es denn, dass in Wirklichkeit die Gütermenge — wenig-
stens in einzelnen Theilen — manchmal^ der Bevölkerung gegenüber
zurückweicht, während sie zu anderen Zeiten und für andere Gruppen
fortschreitet.
§. 180. Die Yolksyermehning und ihre Gegentendenzen.
Die physische Beschaffenheit des Menschen setzt denselben ganz
unbestreitbar in die Lage, dass er selbst mit einer Person des anderen
Geschlechts eine grössere Zahl von Nachkommen erzeugen kann. Die
physiologische Möglichkeit ist indessen etwas wesentlich anderes, als
die statistischen T hat Sachen. Letztere beweisen als grösste Vermehrangs-
Die Volksvermehmng und ihre Cegentendenzen. 371
fähigkeit eines Volkes eine Verdoppelung in 25 Jahren. Nur in seltenen
Fällen äussert sich mit tragischer Gewalt der Widerspruch zwischen der
Vermehrungsfähigkeit des Menschen und der Productionsfähigkeit seiner
Erde. Diese Seltenheit hat ihre Ursache darin, dass nicht blos die Güter-
vermehrung ihre Hindernisse hat, sondern dass auch der Volksvermehrung
gewisse präventive Gegentendenzen in den Weg treten, welche eine Ueber-
völkerung abwenden und den ohnehin schweren Kampf ums Dasein nicht
zum verzweifelten werden lassen, welche nicht gestatten, dass repres-
sive Gegentendenzen wirken müssen. Die Hindeniisse der Volksver-
mehrung sind demnach:
I. Präventive, wenn sie das Bestreben haben, einen noch nicht
vorhandenen Bevölkerungszuwachs zu verhindern. Sie sind theils sittlicher,
theils unsittlicher Natur. Das einzige sittliche ist die Selbstbeherrschung
des Menschen, die ihn dazu bringt, nicht wie ein Thier seinen sinnlichen
Trieben zu folgen, sondern auf edler Liebe und genügenden wirthschaft-
lichen Grundlagen eine Familie zu begründen. Bei Menschen, welche die
nothwendigen Lebensbedürfnisse zweifellos befriedigen können, wirkt doch
oft die blosse Besorgniss, durch leichtsinnige Giündung und Vermehrung
der Familie nur einen Schritt im Wohlstande herabzusteigen, schon prä-
ventiv. In der geringeren Zahl der Ehen, dem späteren Heirathsalter, der
geringeren ehelichen Fruchtbarkeit darf man die Aeusserungen solcher
präventiver Gegentendenzen suchen, welche allerdings nicht immer bei
jedem Einzelnen sittlichen Motiven entspringen.
Leider wirkt die freiwillige Enthaltung von der Bevölkerungsver-
mehrung gerade dort am wenigsten, wo die Wirkung am nützlichsten
wäre. Gerade der hoffnungslos Arme, dem überdies die sittliche Kraft
und Einsicht durch beständiges Elend geschwächt ist, imd der selbst bei
der grössten Enthaltsamkeit auf lange Jahre hinaus keine Besserung seiner
Lage voraussieht, überlässt sich willenlos seinen sinnlichen Trieben. Ihm
ist gleich elend, ob ein Kind hungert oder sechs.
In allen Ständen aber heirathen die Männer thatsächlich weit später,
als sie nach ihrer physischen Natur im Stande wären. Dadurch wird
nicht nur die Zahl der Kinder in den später geschlossenen Ehen verringert,
sondern die Generationen werden auch weiter auseinandergerückt. Diese
Verschiebung der Gründung einer Familie vermehrt zwar die Zahl der
unehelichen Kinder, aber bei weitem nicht in dem Maasse, als sie die
Zahl der ehelichen yermindert.
Bei dichter Bevölkerung ist auch die Nothwendigkeit des Heirathens
geringer. Die erhöhte Geselligkeit, der vermehrte Comfort bietet dem
Einzelnstehenden manches von dem, was er, wäre die Bevölkerung dünn,
nothwendig in einer Familie suchen müsste.
24*
872 Die Volksvermehrung und ihre Gegentendenzen.
Die unsittlichen Gegentendenzen präventiver Natur wirken nicht nur
hindernd auf die Bevölkerungsvermehrung, sondern auch auf den Fortschritt
der Civilisation. Am gefährlichsten werden sie da, wo sie zum Volksge-
brauch geworden sind, wo Vielmännerei, Vielweiberei und geschlechtliche
Unsittlichkeit überhaupt herrschen. Dies ist namentlich der Fall bei sehr
rohen und wilden Volkszuständen, wo wegen der geringen Beherrschung
der Naturkräfte und der blos occupatorischen Wirthschaft der Nahrungs-
spielraum schon durch eine geringe Bevölkerung ausgefüllt wird. Hier wirkt
einestheils die schlechte Behandlung und Arbeitsüberbürdung des weiblichen
Geschlechtes hemmend auf die Volksvermehnmg, anderntheils die solchen
Zuständen eigenthümlichen Laster. Die Weibergemeinschaft, die man hier
mehr oder weniger ausgebildet findet, lässt sich eben so wenig mit einer
dichten Bevölkerung vereinbaren, als die Gütergemeinschaft mit einem
irgend grösseren Volksvermögen. Besonders vermisst man bei ihr die
unumgänglich nöthige zarte Pflege der Neugeborenen. Auch die Vielweiberei
wirkt hemmend, indem sie die Kraft des Mannes früh erschöpft. Das
natürliche Gleichgewicht der Geschlechter erklärt von selbst solche Formen
der Ehe für widersinnige.
Aber auch bei verfallenden Völkern zeigen diese unsittlichen Hemm-
nisse ihre Wirkung, namentlich in der Form der Prostitution und der
unnatürlichen Laster. Wo diese Tendenzen sich recht entwickelt haben,
überschreiten sie wohl gar die Grenze blosser Hindemisse und die Volks-
zahl kann positiv abnehmen. Die Volkskraft ist zu sehr geschwächt, um
die durch Kriege, Seuchen etwa der Bevölkerung geschlagenen Lücken
wieder ausfüllen zu können.
n. Repressive Gegentendenzen der Volksvermehrung sind solche,
welche bereits vorhandene übermässige Zuwüchse wieder zerstören. Sie
erscheinen theils als menschliches Elend, theils als Laster und Verbrechen.
Noth, Hunger und Krankheiten sind zunächst der Gegendruck, den
die Natur wider jede üebervölkerung richtet. Die Erde verschlingt wieder
jene Kinder, welche sie nicht zu ernähren vermag; die schwächsten werden
zuerst in den Abgi'und des Elends gedrängt. Mangel an guten Wohnungen,
an guter Nahrung, ja sogar an ordentlicher Kleidung, an gehöriger Auf-
sicht über die Kinder lässt Krankheiten aller Arten entstehen und rafft
die überschüssige Volkszahl dahin. Jede schlechte Ernte vermehrt noch
die Sterblichkeit. Und Unsittlichkeit und Laster wirken nicht nur als
präventive, sondern auch als repressive Gegenströmungen. Sie sind selbst
in unseren hochcultivirten europäischen Staaten von tragischer Bedeutung
geworden; noch weit mehr bei den versinkenden Völkern des Ostens, wo,
wie in Tibet und im Kaukasus ein grosser Theil der neugeborenen Mädchen
wenn nicht umgebracht doch auf den Sklavenmarkt gebracht werden.
Die Yolksyermehrung und ihre Oegentendenzen. 373
Weiber aus- und Capital dafür einzuführen ist natürlich ein drastisches
Mittel gegen üebervölkerung. China, das Xiiand der Kinderaussetzung, wo
nach den Schätzungen jesuitischer Missionäre zu Peking allein jährlich
2 — 3000 Kinder auf die Strasse gesetzt und jeden Morgen die todten und
lebendigen Findlinge auf einen Karren geladen und vor der Stadt in eine
Grube geschüttet werden; die afrikanischen Negervölker, welche in Hunger-
fehden und dem Sklavengeschäfte eine sehr einfache repressive Gegen-
tendenz haben; die verhältnissmässig hoch cultivirten früheren Mexikaner,
wo diese Gegentendenz in 20 — 50000 jährlichen Menschenopfern ihren
schauerlichen Ausdruck fand: sie zeigen, auf welchen Wegen jene Ge-
schlechter entfliehen, die der Erde zu viel sind.
Die hochgesteigerte Civilisation der europäischen Cultumationen
freilich lässt die präventiven wie die repressiven Gegen tendenzen der
Volksvermehrung in weit milderen Formen auftreten. Der Gegendruck
gegen die üebervölkerung ist hier zwar vorhanden; er kann selbst mör-
derische Gewalt annehmen; aber er vertheilt sich viel gleichmässiger
auf Millionen und wird darum für den Einzelnen erträglicher. Wenn
Europa Jahr um Jahr hundert- bis zweimalhunderttausend Menschen an
andere Welttheile als Auswanderer abgibt; wenn jede heirathsfähige Person,
Mann oder Weib, die nicht mit besonderen Glücksgütern gesegnet ist,
weit später in die Ehe tritt als sie eigentlich möchte; wenn die Zahl der
lebenslänglichen Cölibatäre aus wirthschaftlichen Gründen immer zunimmt;
wenn in den ärmeren Familien, wo zahlreiche Kinder vorhanden sind,
statt fünf oder sechs blos drei oder vier grossgezogen werden können, weil
die übrigen ein Opfer schlechterer Ernährung und Pflege werden: so
weichen alle diese dem grossen, geheimen Gegendruck, der sich gegen die
Üebervölkerung richtet, ohne diesen Feind zu erkennen. Nur leise piahnend
wirkt diese Macht; aber sie wirkt fast ununterbrochen und immer allge-
meiner. Und weil sie bei jeder Zunahme der üebervölkerung eben so
gleichmässig zunimmt, ist nicht zu befürchten, dass der Menschheit plötzlich
die nothwendigen Lebensbedingungen unter den Füssen zusammenstürzen;
dass auf einmal in Allen zugleich die schauerliche Nothwendigkeit klar
werde: entweder zu sterben oder die anderen zu tödten.
Viertes Buch.
Das gesellschaftliche und politische Leb en.
I. Capitel.
Die Wohnsitze der Bevölkerung.
§. 181. Land, Staatsgebiet.
Nach den Anschauungen eines grossen Theiles der älteren Statistiker
war der Staat der einzige und wesentliche Gegenstand der Statistik, und
diese Disciplin nichts anderes als die Schilderung seiner Zustände. Diese
ältere Schule unterschied bekanntlich Staatsgrundmacht, Staatscultur und
Staatsorganismus als Haupttheile ihres Gegenstandes.
Als Staatsgrundmacht betrachtete sie das Territorium und das Volk.
Wo es sich um eine blosse Beschreibung handelt, ist eine solche Trennung
freilich zulässig. Die moderne Statistik indessen, welche den Ursachen, dem
Zusammenhange der Erscheinungen nachgeht, kann das Staatsterritorium
nicht anders auffassen, als in seinem Zusammenhange mit den wirth-
schaftlichen oder den politischen Zuständen und Vorgängen.
I. Die Grösse des Staatsgebietes ist insoferne von statistischer Be-
deutung, als sie die physische Basis der Bevölkerung ausdrückt.
Nun ist aber einestheils der Begriff des Staates schon unbestimmt
und andererseits fragt es sich, was als Staatsgebiet zu betrachten ist. Um
eine halbwegs richtige Tabelle über die Grösse der verschiedenen Staats-
gebiete zusammenzustellen, müsste bei den meisten Staaten erst eine eigene
staatsrechtliche Untersuchung angestellt werden. Soll nur das als Staats-
gebiet eingerechnet werden, was einerlei Verfassung und Verwaltung hat,
was den eigentlichen Kern des ganzen Staatsterritoriums bildet, oder sollen
auch Besitzungen und Colonien, Vasallenstaaten und Schutzländer, deren
staatsrechtliche Verbindung mit dem Hauptlande mehr oder weniger lose,
oft nur nominell ist, als Staatsgebiet eingerechnet werden?
Sucht man diese Schwierigkeiten zu beseitigen, so gut es geht und
überblickt man irgend eine tabellarische Zusammenstellung der Grösse der
verschiedenen Staatsgebiete, so bleibt für eine statistische Untersuchung so
378 Land, Staatsgebiet.
gut wie nichts übrig. Die Einflüsse auf die mannigfaltige Grösse der
Staatsgebiete, ihre Ab- und Zunahme, lassen durchaus keine Massen-
beobachtung zu; es handelt sich um lauter vereinzelte, der Geschichte
angehörige Erscheinungen.
II. Grenzverhältnisse. Auch bezüglich dieser sind nur wenige
Punkte statistisch von Bedeutung; und selbst diese wenigen gestatten nur
die einfachsten Schlussfolgerungen. Es handelt sich um:
A. Die Arrondirung des Staatsgebietes, d.h. das Verhältniss von
Grenzlänge und Flächeninhalt. Während bei der geographischen Länder-
gestaltung, insbesondere fiir die Entwickelung des Verkehres jene Formen
die günstigsten sind, welche die reichste Gliederung aufweisen, sind unter
den Staatsgebieten sowohl wegen ihrer Wehrkraft, als auch zu Verwal-
tungszwecken, insbesondere zur Verfolgung centralistischer Politik jene die
geeignetsten, welche am meisten arrondirt sind. Dabei müssen aber auch :
B. Die Arten der Grenzen berücksichtigt werden. Man unter-
scheidet :
1. Natürliche: Gebirge, Meere, Wüsten. Sie verdanken ihre Bildung
der Erdgeschichte.
2. Nationale und Sprachgrenzen, welche ihre Entstehung im
Verlaufe sehr langer Perioden der Völkergeschichte finden.
3. Künstliche, politische Grenzen, die oft in ganz kurzen
Zeiträumen wechseln, meist als Resultate von Kriegen.
Ein völlig harmonisches Staatsgebilde kann nur jenes genannt werden,
wo diese verschiedenen Grenzen zusammenfallen, wie dies bei dem meer-
umflossenen Grossbritannien der Fall ; ferner annähernd bei den scandina-
vischen Reichen, wo auf 620 Meilen (geradlinigen) Küstenumfang nur
124 M. Binnengrenze gegen Finnland treffen, bei der pyrenäischen Halb-
insel, wo neben etwa 354 M. Meeresküste die Grenze gegen Frankreich,
55 M. lang, mit dem Pyrenäenkamme zusammenfällt und daher als
künstliche Grenze blos jene zwischen Portugal und Spanien, 64 Legoas
(18 auf 1 Grad) erscheint. Auch für Italien treffen die natürlichen und
politischen Grenzen fast durchaus, die nationalen nicht so vollständig zu-
sammen; für Frankreich sind mit Ausnahme der 614 Kilometer langen
Grenze gegen Belgien gleichfalls die politischen Grenzen auch natürliche;
die Sprachgrenzen etwas abweichend. Fast alle übrigen europäischen
Staaten sind in dieser Hinsicht anormal. So reicht die nationale Grenze
Deutschlands ostwärts nach Russland hinein und scheidet Oesterreich in
2 Theile; üebereinstimmung zwischen natürlichen und politischen Grenzen
zeigt Deutschland nur gegen Frankreich, Dänemark, an der Nord- und
Ostsee, gegen Böhmen. In Oesterreich treffen natürliche und politische
Grenzen blos zusammen bei Böhmen, Siebenbürgen, Tirol gegen Schweiz
städtische und ländliche Wohnsitze. 379
und Italien, Kärnthen und dem adriatischen Meere; von nationalen Grenzen
kann mit Ausnahme der Sprachgrenzen Böhmens und Ungarns, für Oester-
reich keine Rede sein. Russland und die Türkei entbehren mit Ausnahme
ihrer Seeküsten jeder Harmonie in dieser Hinsicht. Noch regelloser sind
die Grenzverhältnisse der amerikanischen Staaten, wo die politischen
Grenzen vielfach geradlinig, parallel mit Längen- und Breitegraden laufen,
die natürlichen selten beachtet und nationale eigentlich nirgends vor-
handen sind.
ni. Die physische Beschaffenheit des Landes. Was aus der-
selben von wirklich statistischem Interesse ist, ward bereits angedeutet
(§. 133, 134). Der Zusammenhang der physischen BodenbeschafFenheit
und des gesellschaftlichen und politischen Lebens dagegen ist ein unendlich
mannigfaltiger und häufig tief versteckter. Unzählige charakteristische Ein-
zelnheiten zeigen ihn deutlich; aber die Kraft, Zähigkeit und Ausdehnung
der Fäden zu messen, welche jenen Zusammenhang herstellen: dazu bedarf
es noch statistischer Arbeiten, deren Umfang und Schwierigkeit sich jetzt
kaum andeuten lässt.
§. 182. Städtische und ländliche Wohnsitze.
Die bedeutendste Erscheinung, mit welcher es die Statistik der
menschlichen Wohnsitze zu thun hat, ist der Gegensatz zwischen länd-
lichen und städtischen Wohnsitzen und seine Einflüsse auf das geistige,
physische und wirthschaftliche Leben der Bevölkerungen.
Eine gewisse Volksdichtigkeit ist noth wendig zur Entwickelung
höherer Cultur. Eine Bevölkerung, welche über gi-osse Räume zerstreut
wohnt, muss in rohen und politisch unausgebiideten Zuständen bleiben.
Eine vollkommenere politische und Culturentwickelung ist nur möglich,
wenn die Bevölkerung an einzelnen Punkten, in Städten, sich zusammen-
häuft und in regsten Wechselverkehr tritt. Schon die Existenz von Städten
ist ein Beweis solcher höherer Entwickelung.
Wegen ihrer Concentration der Kräfte haben die Städter nothwendig
einen gewichtigeren Einfluss auf das gesammte Leben der Bevölkerung,
als die Landbewohner. Ueberdies wird der Landbewohner schon durch
sein Gewerbe in gewissen Banden gehalten; er kann seine Arbeit nicht
nach Belieben einrichten, sondern muss sie gegebenen Verhältnissen, dem
Klima, der Jahreszeit etc. unterwerfen. Darum repräsentirt auch die länd-
liche Bevölkerung überall das conservative Element.
Und zwar nicht nur in politischer Beziehung, sondern in ihrem
ganzen Leben und Wirthschaften.
So pflegt die städtische Bevölkerung ein günstigeres Geburtenver-
bältniss zu haben, als die ländliche; aber die letztere erhält ihre Gebo-
380 St&dtiBcbe and l&ndliche Wohnsitze.
renen mehr. Die eigentliche Lebenskraft der Bevölkerung liegt mehr in
der ländlichen, als in der städtischen Bevölkerung *).
Der dauerhaftere Zuwachs der ländlichen Bevölkerung beruht vor-
zugsweise auf dem Ackerbaucharakter ihrer Beschäftigung. Da, wo die
städtische Bevölkerung sich schon über das platte Land verbreitet hat
und in alle Dörfer eingedrungen ist, wie dies z. B. in Sachsen der Fall,
ist dieser Unterschied im Sterblichkeitsverhältniss etc. nicht mehr so gross,
fast verschwindend. Es scheint, dass in den Dörfern schon eine geringe
Beimischung von industriellen Elementen den socialen Charakter der ganzen
Bevölkerung ändert.
Obgleich nun die ackerbauende Landbevölkerung mehr zur Zunahme
der Gesammtbevölkerung beiträgt, sehen wir doch in Wirklichkeit die
städtische Bevölkerung weit rascher zunehmen^).
Wie erklärt sich dies? Offenbar daraus, dass überall die acker-
bauende Bevölkerung den Städten einen grossen Theil ihres Zuwachses
abgeben muss. Diese Abgabe der ländlichen Bevölkerung an die städtische
darf eine gewisse Grenze nicht überschreiten, wenn nicht die ganze Be-
völkerung leiden soll. Jener Theil der Landbevölkerung, der in die Städte
gezogen wird, geht offenbar in ungünstigere Bevölkerungs Verhältnisse über
und darf demnach nicht zu gross sein. Wie gross er sein darf, das hängt
jeweils vom Culturzustande des Landes, von der wirthschaftlichen, poli-
tischen und socialen Bedeutung, von der civilisatorischen Kraft der
Städte ab.
Manchmal ist der Zug, der die Bevölkerung vom platten Lande
nach den grossen Städten treibt, ein geradezu krankhafter, hervorgeinifen
weniger durch den wirklichen Druck der heimischen Verhältnisse, als
durch ein unklares und oft ungerechtfertigtes Gefühl der UnzuMedenheit,
durch unruhiges Verlangen nach Veränderungen, durch die thörichte
Hoffnung auf den schnellen Reichthum, den die Städte geben können.
Die ländliche Bevölkerung hat übrigens noch andere Vorzüge vor
der städtischen voraus. So namentlich eine grössere Proportion der Knaben-
geburten, ein günstigeres Verhältniss des relativen Heirathsalters, eine
gleichmässigere numerische Vertheilung der beiden Geschlechter.
Von grösserer Wichtigkeit jedoch erscheint es, dass die Lebensdauer
(in ihren verschiedenen Variationen) auf dem Lande weit günstiger ist,
als in den Städten. In vielen Fällen freilich scheint das Gegentheil der
Fall — aber nur wegen der bedeutenden Anziehungskraft, welche die
Städte auf ältere Theile der Gesammtbevölkerung ausüben. In Wirklichkeit
hat sich z. B. in Holland für die Städte eine mittlere Lebensdauer von
30,31, für das Land dagegen von 38,i2 Jahren ergeben. In Liverpool leben
von 100000 dort geborenen Knaben nur 44797 bis zum Alter von
städtische und Iftndliche Wohnsitze.
381
20 Jahren, in der überwiegend Ackerbau und Viehzucht treibenden Graf-
schaft Surrey dagegen 70885. Die wahrscheinliche Lebensdauer ist in den
ungesundesten englischen Städten nur 6, in Surrey 52 Jahre.
Ein weiterer Vorzug der ländlichen vor der städtischen Bevölkening
ist ihre grosse Militärdiensttüchtigkeit. So hat Engel für Sachsen gefunden,
dass unter der Landbevölkerung von 100 Militärpflichtigen 26,5» dienst-
tauglich waren, unter der städtischen Bevölkerung blos 19,73. Analoge
Resultate fand Helwing in Preussen.
Schon der geistvolle Sully hatte von der Einfuhrung der Industrie,
besonders der Seidenmanufactur, in Frankreich eine Abnahme der Kriegs-
tüchtigkeit im Volke vorhergesagt, und auch Süssmilch hatte behauptet,
der Ackerbau gebe nicht nur mehrere, sondern auch stärkere, tapferere
und treuere Soldaten.
Anmerkungen:
*) Man braucht, um dies zu erkennen, nur folgende Tabelle (nach
Wappäus) zu betrachten:
Länder
und
Beobachtungszeit
Heiratsfrequeuz
Geburtenyer-
hältniss
1
Sterblichkeits-
yerhältniss
Land-
gemeinden
wie 1 zu
Land-
gemeinden
wie 1 zu
sä
Land-
gemeinden
wie 1 zu
Frankreich . 1853—54
Niederlande . 1850—54
Belgien . . . 1851-55
Schweden . . 1851—55
Dänemark . . 1850—54
Schleswig . . 1845-54
Holstein . . . 1845—54
Württemberg 1843—52
Sachsen . . . 1846—49
Hannoyer . . 1854—55
Preussen . . 1849
121,77
114,80
131,01
126,82
103,89
131,63
120,86
132,93
116,32
109,87
134,42
127,69
148,53
137,83
112,63
128,72
125,18
119,05
126,49
108,40
32,74
27,11
29,47
30,82
28,73
34,41
30,26
24,74
24,44
32,86
24,79
39,19
28,70
33,52
30,41
30,29
32,67
29,43
24,67
24,58
31,52
22,80
31,51
35,55
34,35
:^8,95
37,41
35,19
38,72
30,06
31,10
38,52
27,97
42,21
43,03
44,31
46,36
49,77
48,49
44,15
32,31
34,70
41,17
36,46
Demnach ist die Heiratsfrequenz und die Geburt eufrequenz in den Städten
günstiger, als bei der ländlichen Bevölkerung. Dagegen hat letztere, was das
entscheidende ist, die geringere Mortalität.
Der rasche Zuwachs der ländlichen Bevölkerung gegenüber der städtischen
wird noch bedeutsamer dadurch, dass die eheliche Fruchtbarkeit grösser, die
Kindersterblichkeit geriuger und die unehelichen Geburten verhältnissmässig
weniger zahlreich sind.
882 Zahlenverh<niss der Iftndlichen und städtischen EevOlkerung.
*) Die mittlere jährliche Zonahme betrug (nach Wappäus) :
im
Jahre
in deu
Städten
auf dem
Laude
Frankreich .
Niederlande . ,
Belgien . . .
Schweden . .
Norwegen . .
Dänemark . .
Sachsen . . .
Hannover . .
Preussen • .
Grossbritaimien
1851—56
1849-59
1846-56
1850-55
1846-55
1850-55
1846-49
1852-55
1840-55
1801-51
0,81 T)
0,78 n
1,50 rf
2,00 r>
2,46 -n
1,46 w
0,39 w
1,38 w
1,87 »
0,35 %
0,74 n
0,31 n
0,81 w
1,02 T)
0,94 r>
0,81 rt
0,05 n
0,76 Tf
1,00 w
§. 183. Zahlenverhältniss der ländlichen und städtischen Bevölkerung.
Man hat sich bemüht, das Zahlenverhältniss der ländlichen und
städtischen Bevölkerung für verschiedene Länder zu ermitteln. Dies hat
jedoch mit grossen Schwierigkeiten zu kämpfen. Denn wenn auch die
Extreme städtischer und ländlicher Bevölkerung sich deutlich unterscheiden
lassen; wenn es auch zulässig ist, Ortschaften unter einer gewissen Volks-
zahl im Allgemeinen zur ländlichen und solche über einer bestimmten
Volkszahl zur städtischen Bevölkerung zu rechnen: so gibt es doch sehr
zahlreiche Uebergänge zwischen beiden. In einzelnen Ländern hält sich
die ländliche Bevölkerung ihre Eigenart mit grösserer, in anderen mit
geringerer Ausdauer aufrecht. Vielfach dringt städtische Lebensweise und
städtischer Gewerbsbetrieb in die Dörfer ein und verwischt die Gegen-
sätze mehr und mehr. Dörfer von Bergleuten und Fabriksarbeitem sind,
auch wenn sie noch so klein wären, kaum der ländlichen Bevölkerung
voll zuzurechnen.
Es gibt indessen in dieser Hinsicht notorische Gegensätze, welche
nicht unbeachtet gelassen werden dürfen. Unter der europäischen Gesammt-
bevölkerung gehört bei weitem der grössste Theil mit aller Entschieden-
heit zur ländlichen. Am meisten ist dies in den scandinavischen Ländern
der Fall. Die Gegensätze treten am deutlichsten hervor, wenn man blos
einzelne Provinzen, Districte etc. ins Auge fasst. Diese Verschiedenartig-
keit im Zahlenverhältniss ländlicher und städtischer Bevölkerung erforderte
eigentlich auch eine entsprechende Verschiedenaitigkeit der politischen
Institutionen. Aber der nivellirende Zug der modernen Staatskunst duldet
das nicht und trägt dadurch ebenfalls zur Verwischung jenes Gegensatzes bei.
Mit dem Zahlenverhältniss der städtischen Bevölkerung nimmt auch
ihre Concenti'ation rasch ab; d. h. je geringer die städtische Bevölkerung
Die Lage der Städte.
383
eines Landes gegenüber der ländlichen, desto schwächer an Volkszahl
sind auch die einzelnen Städte. Eine an sich schon unbedeutende städti-
sche Bevölkerung muss aber gerade durch solche Zersplitterung noch
mehr an politischer Bedeutung verlieren.
Anmerkung.
Die städtische Bevölkerung verhält sich zur ländlichen in den wichtigsten
europäischen Staaten folgendergestalt (nach Wappäus):
im Jahre
Städtische
Ländliche
Grossbritannien
Niederlande .
Sachsen . . .
Bayern . . .
Preussen . . .
Frankreich
Belgien . . .
Dänemark . .
Norwegen . .
Schweden . .
1851
1859
1855
1852
1855
1856
1856
1855
1855
1855
50,37%
36,17 w
35,47 T)
30,34 w
28,06 r>
27,31 «
26,08 «
21,91 y>
13,28 w
10,40 T^
49,63 %
63,83 w
64,53 ri
69,66 r>
71,94 r,
72,69 "
73,92 n
78,09 r>
86,72 W
89,60 ri
Der Begriff der städtischen und ländlichen Bevölkerung ist freilich in
all diesen Ländern kein ganz übereinstimmender und diese Werthe sind nicht
völlig vergleichbar. So ist z. B. in Bayern die Bevölkerung der Märkte mit
zur städtischen gerechnet und es erscheint deshalb die städtische Bevölkerung
Bayerns uuverhältnissmässig gross gegenüber z. B. der sächsischen.
§. 184. Sie Lage der Städte.
Es gibt bestimmte Factoren, welche die Entstehung der Städte be-
wirken und deren constantes Auftreten zum Gesetze wird. Je mehr solcher
Factoren zusammenwirken, desto reicher muss das städtische Leben sich
entwickeln. Diese Factoren sind im Einzelnen: *)
I. Fundorte werthvoller Naturproducte, insbesondere nutzbarer
Mineralien, Quellen (z. B. die Bergwerks- und Badestädte).
II. 'Militärische Festigkeit. Griechische, römische und Städte
des deutschen Mittelalters zeigen diesen Factor deutlich.
III. Residenzen geistlicher oder weltlicher Fürsten. So sind nament-
lich die deutschen Reichsstädte aus kaiserlichen oder Bischofssitzen her-
384 Die Lage der Städte.
vorgegangen. Die Residenzen geistlicher Fürsten hängen in der Regel
zusammen mit der Lage wichtiger Tempel, Klöster, Wallfahrtsorte.
IV. Die Verkehrslage. Sie ist mit der Entwickelung der Cultur
namentlich für das moderne Städteleben von Bedeutung. Günstige Ver-
kehrslage hat ihren Grund wieder in verschiedenen Umständen. Wo keine
bedeutenden Unterschiede der Bodengestaltung sich finden, also in Gebieten
von überall gleicher Wegsamkeit, erhebt das Verkehrsbedürfniss den
Mittelpunkt des Gebietes zum Knotenpunkt der wichtigsten Strassen
(Moskau, München, Prag, Wien, Madrid). Aber auch wo die wichtigsten
Unterschiede der Bodengestaltung, wo das ebene Land, die Gebirge und
Gewässer zusammenstossen, erzeugt sich stets eine höhere Friction des
Verkehrs, schon aus dem Grunde, weil die Transportmittel gewechselt
werden müssen.
An den Strömen werden die Ufer in der Regel commerciell nach
der Mündung zu immer werthvoller. Zur Hauptstadt eines Stromgebiets
eignet sich besonders der Platz, wo See- und Flussschifffahrt sich begeg-
nen und daher umgeladen werden muss (Hamburg, Bremen, Rotterdam,
Antwerpen, Nantes, Bordeaux, Glasgow, Cork, Bristol, London, Calcutta,
Rangun, Bangkok, Nanking, Quebeck, Philadelphia, New- Orleans).
Weniger bedeutungsvoll ist der Einfluss des oberen Endes der Schiff-
barkeit eines Flusses für die Entstehung der Städte. Nur wenige nennens-
werthe Städte liegen an solchem Punkte (Bamberg am Main, Heilbronn
am Neckar, Ulm an der Donau).
Strombiegungen erscheinen häufig als Städtegründer (z. B. Ofen-
Pesth, Basel, Magdeburg, Regensburg, Toulouse, Lyon, Kasan an der
Wolga, Jekaterinoslaw am Dniepr); seltener jene Punkte, wo ein Strom
in mehrere Arme gabelt (Kairo) oder wo Nebenflüsse einmünden (Mann-
heim, Mainz, Koblenz, St. Louis).
Am Meere wird die Entstehung der Städte zunächst durch das
Vorhandensein eines guten Hafens beeinflusst, und zwar um so energischer,
je geringer die Zahl guter Häfen ist, die eine Küste besitzt. Kopenhagen,
Lissabon, San Francisco, Marseille, Alexandria sind solche Hafenstädte.
Auf Inseln fällt das Städteleben der Küste zu (Irland, Sardinien, See-
land, Sicilien etc.) Meerbusen wirken wie Strombiegungen; sie ziehen
das städtische Leben vorzugsweise in ihren innersten Winkel (Archangel,
Odessa, Petersburg, Riga, Kiel, Christiania, Liverpool, Edinburgh, Genua,
Neapel, Tarent, Venedig, Triest, Korinth, Smyrna, Suez, Balsora, Cal-
cutta, Canton, Yeddo, insbesondere Hamburg und London). Meerengen
mit guten Häfen müssen wegen ihrer commerciellen Wichtigkeit ähnlich
wirken (so bei Constantinopel, Messina, Cadix).
Die Grösse der Stftdte. 385
Verkehrshindernisse nehmen gleichfalls Einfluss auf die Städte-
bildung. So entstanden Städte namentlich an den Umgehungspunkten der
Gebirge (Wien und Lyon fiir die Alpen) und an den Endpunkten der
wichtigsten Durchbruchslinien (Lyon — Turin, Augsburg — Mailand, Mün-
chen— ^Verona, Wien — Venedig für die Alpen, Kabul— ialch für den
Hindukusch u. s. f.).
Zu diesen Hauptfactoren der Städtebildung treten dann noch einige
minder wichtige. Je mehr nun solcher Factoren der Städtebildung zusammen-
treffen, desto grossartiger muss das Resultat ihrer Wirkung sein *).
Anmerkungen.
*) Vgl. Röscher: Betrachtungen über die Lage grosser Städte. 1871.
*) Vgl. Schwabe: Statistik des preussischen Städtewesens. In der Zeit-
schrift f. Nat. u. Stat. 7. Bd.
§. 185. Die Orösse der Städte.
Die eben genannten Umstände, welche die Entstehung der Städte
an gewissen Punkten veranlassen, sind es auch, welche in der Geschichte
der Städte fort und fort sich geltend machen und die verschiedene Grösse
der Städte mit beeinflussen. Ausser ihnen wirken auf diese Grösse aber
noch andere Umstände; zum Theil solche, die grösstentheils vereinzelt
dastehen und der Geschichte angehören; zum Theil allerdings auch
solche, die von der Statistik beobachtet werden können.
Die Volksdichtigkeit an und fiir sich übt einen Einfluss nur auf die
Zahl der kleineren und mittleren Städte; vom überwiegendsten Einfluss
auf die Bildung der ganz grossen Städte ist die Grösse des Staatsgebietes.
Denn alle Grossstaaten, selbst die sehr dünn bevölkerten, haben auch
Grossstädte gebildet, z. B. Brasilien, Russland, Mexiko, die Ver. Staaten.
Alles was nur irgend in politischer, wirthschaftlicher oder geistiger Be-
ziehung die Völker bewegt, trägt zur Bildung der Grossstädte bei. Man
hat auch bemerkt, dass in neuerer Zeit namentlich die Grossstädte rasch
zunehmen, in einem weit günstigeren Verhältnisse, als die kleineren und
mittleren Städte. In England z. B. betrug in den Städten, welche
im Jahre 1851 über 50000 Seelen hatten, die Zunahme der vorherge-
gangenen 10 Jahre 23,37^, bei den Städten zwischen 20 — 30000 Seelen
nur 20,29^. Ebenso hat in Frankreich, in Preussen, Belgien, Sachsen
und den Niederlanden die Einwohnerzahl der grossen Städte weit rascher
zugenommen als jene der kleinen. Ausnahmen von dieser Regel zeigten
sich in Schweden und Dänemark.
Die Ursache dieses auflallenden Wachsthums der Grossstädte ist
vorzugsweise in den Eisenbahnen zu suchen, durch welche einestheils die
Haushofer, Statistik. 2. Aufl. 25
386 I>i« Grosse der St&dte.
grossen Städte geflissentlich zu Verkehrsknotenpunkten gemacht, anderen-
theils die Möglichkeit gegeben wurde, so grosse centralisirte Volksmassen
täglich mit dem nöthigsten zu versorgen. Trotz aller entgegengesfetzteu
Bestrebungen wird mehr und mehr centralisirt; wirthschaftliche und
geistige Interessen ziehen die Fäden der Staatsverwaltung stetig in die
Grossstädte.
Wo kleinere Orte ihre Bevölkerung sehr rasch vermehren, ist
dies immer ganz ausserordentlichen Umständen zuzuschreiben. Die
Entstehung von Eisenbahnknotenpunkten, Neubegründung grosser indu-
strieller Etablissements, Erweiterung oder Verbesserung von Festungen,
Seehäfen und dergl. sind solche Umstände. So konnten von 1867 — 75
im Deutschen Reiche Wilhemshaven um 219, die Dörfer Rixdorf um 131
und Lichtenberg um 170, Ludwigshafen um 106, Kattowitz um 96,
Königshütte um 85 ^ zunehmen. Besonders stark pflegt auch die Zunahme
von kleineren Vororten grösserer Städte zu sein, um so mehr, je weniger
die Städte selbst, zu welchen die Vororte gehören, noch Raum zu weiterer
Vergrösserung bieten.
Anmerkung.
Es ist eine höchst undankbare Aufgabe, die Bevölkerungszahlen der
wichtigsten Städte zu geben, weil dieselben so raschen Veränderungen unter-
worfen sind, dass das, was heute mitgetheilt werden kann, gestern schon
veraltet war. Die zuverlässigsten Daten hierüber, soweit sie nicht in allgemein
zugänglichen amtlichen Publicationen enthalten sind, finden sich in Petermann'^s
geographischen Mittheilungen (a. versch. 0.); übersichtliche Zusammenstellungen
auch im Goth. Hofkai. und in Hübner^s stat. Tafel. Unter Verweisung auf diese
Daten beschränken wir uns hier aus räumlichen Rücksichten auf das Aller-
noth dürftigste. Die mitgetheilten Zahlen sind mit Tausend zu multipliciren.
Deutsches Reich: Berlin 1118, Hamburg 290, Breslau 272, München 228,
Dresden 220, Leipzig 148, Köln 144, Königsberg 140, Frankfurt 137, Hanno-
ver 122, Stuttgart 117, Bremen 112, Danzig 108, Strassburg 106.
Oesterreich-Ungarn: Wien (mit Vororten) 1020, Prag 25o, Triest 120,
Lemberg 103, Budapest 347.
Schweiz: Bern 42, Zürich 76, Basel 61, Genf 68.
Brittisches Reich (in Europa): London 3707, Glasgow 545, Liver-
pool 516, Manchester 364, Birmingham 400, Dublin 315, Leeds 326, SheflField 312,
Edinburgh 215, Bristol 217, Bradford 203; (brittische Besitzungen): Mont-
real 107, Quebek 62, Kapstadt 28, Sidney 134, Adelaide 40, Melbourne 193,
Victoria 102, Colombo 100, Singapur 100, Madras 400, Bangalur 150, Bombay 646,
Ahmedabad 130, Baroda 140, Calcutta 1000, Patna 160, Murschidabad 147,
Benares 200, Delhi 154, Agra 149, Kanpur 128, Allahabad 143, Lucknow 290,
Hyderabad 200.
Frankreich: Paris 1988, Lyon 324, Marseille 318, Bordeaux 194, Lille 158,
Toulouse 125, Nantes 118, St. Etienne 110, Ronen 102.
Belgien: Brüssel 390, Antwerpen 159, Gent 131, Lüttich .120.
Stftdti8ch«s L«b«n. 887
Niederlande: Amsterdam 302, Rotterdam lt9, Haag 97; (Colouieu):
Batavia 151.
Dänemark: Kopenhagen 235.
Schweden und Norwegen: Stockholm 173, Gothenburg 76, Chri-
stiania 80.
Russisches Reich: Petersburg 691, Moskau 615, Warschau 336,
Odessa 184, Kijew 127, Riga 112, Kischinew 104, Charkow 104, Tiflis 104.
Spanien: Madrid 398, Barcelona 249, Valencia 143, Sevilla 133,
Malaga 115; (Colonien): Uavana 202, Manila 165.
Portugal: Lissabon 224, Oporto 89.
Italien: Rom 233, Neapel 450, Mailand 262, Turin 214, Florenz 168,
Genua 163, Venedig 125, Bologna 111, Palermo 231, Messina 120.
Rumänien: Bukarest 200, Jassy 90, Galacz 80.
Serbien: Belgrad 27.
Griechenland: Athen 68, Patras 34, Korfu 24, Herrn opolis 21.
Türkei: Konstantinopel 600, Salonichi 80, Adrianopel 62, Damaskus 120,
Beirut 90, Bagdad 90, Smynia 150, Brussa 70.
Vereinigte Staaten: Washington 147, New- York 1206, Philadelphia 847,
Brooklyn 566, Chicago 503, St. Louis 350, Boston 362, Baltimore 332, Cincin-
uati 255, St. Francisco 234, New-Orleans 216.
Mexiko: Mexiko 250, Guadalajara 70.
Brasilien: Rio Janeiro 276, Bahia 180, Pemambuco 118.
Columbia: Bogota 41, Panama 18.
Venezuela: Caracas 60.
Ecuador: Quito 80.
Peru: Lima 160, Cuzco 40, Callao 30.
Bolivia: Sucre 24, La Paz 76.
Chile: Santjago 150, Valparaiso 58.
Argentina: Buenos Ayres 178.
Uruguay: Montevideo 115.
China: Peking 2000, Su-Tschau 1000, Siang-Tan 1000, Tschan-Tscheu-
Fu 1000, Hang-Tscheu-Fu 1000, Signan-Fu 1000, Canton 1500, Tientsin 950,
Haukau 600, Nanking 500^ Futschen 600, Shanghai 278.
Japan: Yeddo (Tokei) 1042, Kagosima 200, Yokohama 64, Kanasava 108,
Osaka 284, Hakodade 112.
An am: Hue 50, Kescho 150.
Birma: Mandelay 40, Awa 30.
Siam: Bangkok 500.
Persien: Teheran 85, Täbris HO, Isfahan 60.
Aegypten: Cairo 350, Alexandria 212.
Tunis: Tunis 150.
Zanzibar: Zanzibar 85.
Marokko: Fez 150, Marokko 50.
§. 186. Städtisches Leben.
Die Motive, welche die Entstehung und Grösse der Städte beein-
flussen, zeigen auch die Qualität der Städte an. Aber nicht nur ganze
25*
388 Dölfer, Weiler, Einzelnansiedelungen,
Städte, sondern auch einzelne Theile von grösseren und mittleren Städten
haben ihren besonderen Charakter, welchen zu untersuchen einfache Be-
obachtungen hinreichen. Neben der Volksdichtigkeit der einzelnen Stadt-
theile, der Behausungsziffer, den Miethzinsen, der Berufsstellung der Ein-
wohner, der Zahl und Art geschäftlicher Etablissements gegenüber den
Privatwohnungen, der Qualität der Baulichkeiten, gestattet auch der Ver-
kehr der Strassen statistische Darstellung. Und zwar nach seinen räum-
lichen und zeitlichen Unterschieden. Er wird beeinflusst von der Bevöl-
kerung, Form und Grösse der einzelnen Strassen, von Zahl und Form
ihrer Seitenstrassen, von der Lage der Strassen zum Centrum der Stadt,
namentlich aber vom geschäftlichen, socialen oder politischen Inhalt der
Strasse. Aus letzterem ergibt sich die Qualität des Verkehrs; es erwächst
daraus der Charakter der Strassen als städtischer Muökeln, Knochen,
Nerven und Extremitäten, als Arbeits- und Genusstheile. Die charakter-
bildende Kraft grosser geschäftlicher und Staatsanstalten zeigt sich darin,
dass sich in grossen Städten Eisenbahn-, Gewerbs-, Handels-, Militär-,
Universitäts-, Schififfahrtsquartiere bilden neben den grossen Unterschieden
armer und reicher, künstlicher und natürlicher, aufblühender und ver-
kommender Stadttheile.
§. 187. Dörfer» Weiler» Einzelnansiedelxmgen.
Von grossem Werthe für die Kenntniss der Ansiedelungsweise ver-
schiedener Bevölkerungen wäre es, wenn die feineren Unterschiede der
Zerstreuung des Volkes ebenso untersucht wären, wie das allgemeinere
Verhältniss städtischer und ländlicher Bevölkerung. Also namentlich die
Zahl und Bevölkerung der Dörfer und Weiler gegenüber jener der ganz
verstreut liegenden Ansiedelungen.
Es scheint, dass die Bevölkerungsstärke der einzelnen Dörfer an-
nähernd im verkehrten Verhältniss steht mit der Dichtigkeit der Ort-
schaften. Um jedoch Schlussfolgerungen aus den Zahlen der Bevölkerungs-
stärke und Dichtigkeit der Dörfer ziehen zu können, müsste der Begriff
eines Dorfes überall gleich fixirt, die städtische Bevölkerung und die all-
gemeine Volksdichtigkeit sorgfaltig berücksichtigt werden. Vor allem aber
müsste man diese Erscheinungen bis in ihre provinziellen Unterschiede
verfolgen, welche bekanntlich sehr bedeutend sind. (So zeigt z. B. im
südlichen Bayern der altbayerische Volksstamm eine ebenso entschiedene
Tendenz zur Einzelnansiedelung, wie der benachbarte schwäbische Stamm
zur Dorfansiedelung. Die Grenze zwischen beiden Ansiedelungsformen lässt
sich fast haarscharf ziehen). Sodann mit anderen Ergebnissen der Statistik
verglichen, würde die verschiedene Zerstreuung der Bevölkerung in ihrem
wechselnden Einflüsse auf das Volksleben sich zeigen. Da aber diese Zer-
Dörfer, Weiler. Einzelnansiedelungen. 389
Streuung der Bevölkerung zumeist wiithschaftlichen Ursachen folgt, müsste
man schliesslich zu dem Causalzusammenhange wichtiger wirthschafts-
geographischer und anderer Volkseigenthümlichkeiten gelangen.
Zunächst liegt jedenfalls die Frage, weshalb wohl einzelne Völker
und Gegenden die dorfweise, andere die Einzelnansiedelung vorziehen. Die
Gründe dieser Verschiedenheiten sind:
I. Natürliche und wirthschaftliche. Hier kommt es zumeist darauf
an, in welchen Grössenverhältnissen die fruchtbareren Ländereien zwischen
den weniger fruchtbaren eingelagert sind. Wo die fruchtbaren Landes-
theile gross genug sind, um ganze ackerbauende Dorfschaften zu tragen,
da wird sich, wenn nicht andere Gründe die Vereinzelung veranlassen,
dorfweise Ansiedelung finden. Wo sich dagegen zwischen weniger frucht-
barem Boden nur kleinere Oasen fruchtbaren Landes finden, gerade gross
genug, um einer oder wenigen Familien die wirthschaftliche Basis zu
bilden: da ist man nothwendig zur Vereinödung gedrängt. Letztere setzt
immer einen gewissen Grad von Selbständigkeit, Familiensinn, Sicherheit
des Eigenthums und Ackerbau voraus. Beim Ackerbau drängt das Be-
dürfniss abgerundeten Grundbesitzes zur Vereinödung.
Aus diesen Gründen findet man namentlich die Einzelnansiedelung
bei den Völkern germanischen Ursprungs und in Alpenländern. Nomaden-,
Jäger- und Fischervölker haben keine wirthschaftliche Veranlassung zur
Einzelnansiedelung. Sie sind im Stande, horden- und dorfweise ihre Weide-
und Jagdplätze auszubeuten und neue aufzusuchen.
n. Politische. Wo Unsicherheit der Rechtszustände, namentlich Be-
fehdungen einzelner Stämme sich länger durch die Geschichte eines Volkes
ziehen; da muss der dadurch nothwendig gewordene dorfweise Zusammen-
schluss mit der Zeit zur nationalen Sitte werden. Daher kommt es, dass
Völker, die schon längst aus dem nomadisirenden Zustande zu ausgebil-
deter Landwirthschaft übergegangen sind, doch noch dorfweise wohnen.
Eine genaue Untersuchung dieser Erscheinungen «aüsste die Ort-
schaften nach ihrer Bevölkerung sorgfältig ausscheiden. Namentlich wären
die Ortschaften unter 1000 Einwohner in Classen zu bringen, von 10 zu
20, 20—30 u. s. f., sodann von 100 bis 200, 200 bis 800 u. s. f. Ein-
wohnern. Man müsste sodann bei den Gegenden mit Einzelnansiedelungen,
mit kleinsten (bis zu 25 Einwohnern), kleinen (bis zu 100 Einwohnern),
mittleren (bis zu 500), grösseren (bis zu 1000) und grössten (über 1000
Einwohnern) nicht nur den wirthschaftlichen Charakter, sondern auch die
Bevölkerungsverhältnisse, die politische Gegenwart und Vergangenheit
untersuchen. Erst durch solche Detaillirung wäre richtige Anschauung des
gesammten Siedelungsverhältnisses zu erlangen.
390
Die WühnhftQHer.
Man würde dann namentlich finden, wie einerseits die natürlichen
und wirthschaftlichen, andererseits die politischen Einflüsse, welche sich
auf die Ansiedelungsweise geltend machen, sich gegenseitig durchkreuzen
und verschiedene Resultate daraus hervorgehen.
Aumerkuug.
Nach 0. Hausiier's Augabeii, welche sich leider nicht auf ihre Quellen
zurückverfolgeu lasseu und daher nur mit Vorsicht aufzunehmen sind, kommen:
durchschnittlich
an Einwohnern
auf jedes Dorf
Dörfer auf
1 nMeile
Norwegen . .
Grossbritannien
Schwedeji . . .
Württemberg .
Belgien . • . .
Serbien ....
Spanien . . .
Portugal . . .
Frankreich . .
Türkei . . . .
Dänemark . .
Russland . . .
Hannoyer . . .
Schweiz . . .
Polen . . . .
Mecklenburg .
Bayern ....
2215
1081
995
857
817
753
703
677
664
299
289
240
209
179
163
156
127
0,1
2,6
0,43
4
8,3
1,3
1,36
2,3
4
M
7
2,6
9,7
14
9,7
9,7
16,8
§. 188. Die Wohnhäuser.
I. Das Behaußungsverhältniss ^). Bei Volkszählungen pflegt
man neben der Zahl der Bevölkerung auch die der bewohnten Häuser zu
ermitteln und dadurch das Material zur Berechnung der Einwohnerzahl
herzustellen, welche in einem Hause zusammenwohnt.
Dieses Zahlenverhältniss nennt man dann das B e hau sungs ver-
hält niss. Dasselbe ist unstreitig von Bedeutung für das Wohlbefinden,
für sittliche und Gesundheitszustände der Bevölkerung.
Bei gebildeten und wohlhabenden Bevölkerungen ist jedenfalls jenes
Verhältniss das günstigste, wo jeder Selbständige, besonders jedes Fami-
lienhaupt mit seiner Familie auch ein Haus für sich bewohnt. Das Be-
wohnen eines eigenen Hauses bietet ja grössere Freiheit und Bequemlich-
keit als das Zusamraenwohnen mit anderen Familien, wodurch jede auf
Die WohnhÄuser. 391
einen Theil des Hauses beschränkt ist. Es bildet daher das Innehaben
eines eigenen Hanses in mancher Beziehung die noth wendige Bedingung
für das Glück des Familienlebens.
Die Befriedigung dieses Wunsches hängt aber wesentlich vom durch-
schnittlichen Volkswohlstande ab. Man kann im Allgemeinen annehmen,
dass ein Volk um so glücklicher ist, je mehr verhältnissmässig Wohn-
häuser auf die Bevölkerung kommen.
Zu einem unumstösslichen Schlüsse bezüglich des Wohlstandes zweier
Bevölkerungen, die man in dieser Hinsicht vergleicht, könnte man freilich
nur dann kommen, wenn auch die Art der Wohnhäuser bei beiden ganz
die gleiche wäre.
Darauf kommt aber sehr viel an. Der Begriff des Wohnhauses für
eine Zählung bleibt immer ein schwankender. Aus diesem Grunde kann
die Durchschnittszahl der bei einer Bevölkerung auf jedes Wohnhaus
kommenden Personen, d. h. die Behausungsziffer keinen sicheren An-
haltspunkt für das wirkliche Wohnverhältniss darbieten. Denn ein Wohn-
haus ist ebensowohl die armseligste Taglöhnerhütte, als die palastähnlichen
Zinshäuser in grossen Städten. Und jedenfalls können in einer solchen
Zinskaseme 5, 10, 20 und mehr Familien bequemer und comfortabler
wohnen, als in einer Hütte auf dem Lande eine einzige.
In Wirklichkeit finden entschiedene Unterschiede der Behausungs-
ziffer bei verschiedenen Bevölkerungen statt *).
Bei den europäischen Culturstaaten kommen, soweit das spärliche
Material eine Beurtheilung zulässt, in Frankreich durchschnittlich am
wenigsten Personen auf ein Wohnhaus, im Mittel ungefähr so viel, als
man auf einen Hausstand mit einer Familie und ein bis zwei Dienstboten
rechnen kann.
In England ist indessen die Behausungsziffer gi'össer und doch weiss
Jedermann, dass nirgends das Glück, im eigenen Hause zu wohnen, höher
angeschlagen wird, als in England. Dieser Wunsch hängt zusammen mit
dem Sinne für persönliche Unabhängigkeit.
Es gibt aber für das Wohnhaus ein natürliches Normalmass. Wird
dasselbe bedeutend überschritten oder ist man bedeutend unter demsel-
ben zurückgeblieben, so ist allemal ein schlimmer socialer Zustand an-
gedeutet. In einem Falle erhalten wir die Wohnkaseme, ein Product der
Uebercivilisation, im anderen die Hütte, ein Product der Uncivilisation
(Riehl).
Beide Arten von Extrem sind in Frankreich in einem höheren Grade
vorhanden als in England. In Frankreich ist nämlich die Differenz zwi-
schen der ländlichen und der städtischen Behausungsziffer eine viel grössere
als in England. Daraus lässt sich schliessen, dass in Frankreich in den
392 l>ie Woliiihauser.
Städten die Wohnkaserne schon häufig das Wohnhaus in seinem natür-
lichen Normalmass verdrängt hat, während auf dem Lande die Woh-
nungen vielfach darunter bleiben.
Bei der landwirthschaftlichen Bevölkernng kann eine grössere Be-
hausungsziflfer möglicherweise sogar ein günstigeres Yerhältniss ausdrücken,
als eine geringere.
Wo z. B. unter den Bauern grosser geschlossener Grundbesitz vor-
herrscht, wo der Bauer auf seinem stattlichen Hofe eine grössere Zahl
von Hofgesinde versammelt, da wird jedenfalls die Behausungsziflfer eine
grössere sein als da, wo Zwergwirthschaft und Bodenzerstückelung herrscht,
und doch ist jenes entschieden der günstigere Zustand. Ersteres z. B.
findet sich in einzelnen Theilen von Niedersachsen, Westphalen, Hannover
und Altbayern.
Es kann also der Wohlstand der ländlichen Bevölkerung nach der
Behausungsziflfer nicht bemessen werden. Ebenso muss man auch die ver-
schiedenen Länder nach dieser Richtung hin in höchst behutsamer Weise
vergleichen.
So kann man gewiss behaupten, dass die auffallend kleine Behau-
sungsziffer von Frankreich von 4,4 Personen ofl^enbar zu klein ist und nur
erklärt werden kann aus der geringen Fruchtbarkeit der Ehen und aus
der grossen Zahl der kleinsten hüttenähnlichen Wohnhäuser. Das zeigt
schon der Anblick der französischen Dörfer.
In den grossen Städten dagegen wird sich die Behau8ung8zifl*er eher
zu richtigen Schlüssen gebrauchen lassen.
Den grössten Einfluss auf ihre Unterschiede übt wohl die Nationa-
lität, der Racencharakter der Bevölkerung aus.
Besonders belehrend sind hierin Belgien und Grossbritannien.
In Belgien haben die Städte mit rein flamländischer, d. h. germa-
nischer Bevölkerung, wie Geut, Löwen, Brügge, viel niedrigere Behau-
sungsziffer als die mit gemischter Bevölkerung; in Grossbritannien bildet
die eigentlich englische Bevölkerung einen ähnlichen Gegensatz zur kelti-
schen und gälischen. i
Von grossem Einfluss auf die städtische Behausungsziflfer ist auch
die Grösse der Stadt. Denn je grösser die Stadt, desto schwieriger ist es,
jede Familie im eigenen Hause unterzubringen.
Doch ist dieser Einfluss nicht so gross, wie jener der Nationalität.
Er ist z. B. in England nicht so bemerklich als in Belgien.
Ebenfalls von Einfluss ist der gewerbliche Charakter der Städte.
Namentlich aber der Umstand, ob eine Stadt ihre Grösse einer natur-
gemässen Entwicklung durch Ausbildung von Handel und Gewerbe zu ver-
(Janken hat, oder ob sie mehr künstlich zur Grossstadt gemacht worden ist.
Die Wohnhäuser.
393
Im letzteren Falle wächst die BehausungszilFer mit der Nothwen-
digkeit der Wohnkasernen ganz bedeutend. So namentlich in Residenz-
städten, welche zumeist durch politische Centralisirung gewachsen sind.
In solchen Städten erzeugt die Vergrösserung, meist verbunden mit
Verschönerungsbestrebungen ganz abnorme Wohnungsverhältnisse.
Die Contraste zeigen sich ganz besonders gross bei der Behausungs-
ziffer der Haupt- und Residenzstädte^).
Der Einfluss der Grösse und des gewerblichen Charakters tritt hier
ganz zurück. Dagegen zeigt sich beinahe ein geographischer Gegensatz,
indem die Behausungsziffer von Südost gegen Nordwest fast regelmässig
abnimmt. Das kommt wohl daher, weil gerade Berlin und Wien in auf-
fallendster Weise gemachte Grossstädte sind.
II. Vom Behausungsverhältniss unterscheidet man') das Wohn-
lichkeitsverhältniss. Letzteres lässt sich erst dann ermitteln, wenn
man weiss, welcher Art die Häuser sind, ob sie die nöthige Räumlich-
keit und Bequemlichkeit haben.
In dieser Hinsicht sind zunächst die Zahlen der Thür- und Fenster-
öffnungen von Wichtigkeit. Wenn in Belgien auf je 100 Häuser im Jahre
1821 539, im Jahre 1831 544 und im Jahre 1835 547 Thüren und
Fenster kamen, so drückt dies an sich noch keine Zunahme der Wohn-
lichkeit aus, sondern erst wenn man diese Ziffer mit der Behausungsziffer
in Verbindung bringt und dann fände, dass die Zahl der auf eine Familie
treffenden Thüren und Fenster sich vermehrt habe.
Auch die Zahl der Stockwerke ist bezeichnend für das Wohnlich-
keitsverhältniss, am bezeichnendsten aber die Zahl der Zimmer, verglichen
mit der Zahl ihrer Bewohner. In Belgien fand man (1846) auf je 100
Einwohner, darunter etwa 25 % kleiner Kinder, 63 Zimmer. Passend wäre
freilich erst ein Verhältniss von 100 : 100; doch ist 100 : 63 noch nicht
als absolut schlecht zu bezeichnen.
Aumerkuugeu.
*) So zeigt sich z. B.:
Zählung
YOU
Bei der (ie-
sammthevölk.
kommen auf
1 Wohnhaus
iu den
Städten
allein
auf dem
Lande
Frankreich
Belgien . .
England .
Holland . .
Oesterreich
Bayern . .
Hannover .
Schottland .
Preussen .
Sachsen
1851
1846
1851
1849
4857
1852
1855
1851
1849
1855
4,84
5,42
5,47
6,37
6,37
6,73
6,84
7,80
8,37
8,86
9,12
6,41
6,07
6,92
8,52
8,51
14,11
11,78
13,06
4,4
5,16
5,11
6,10
6,17
6,63
6,05
7,.2 .
7,53
394
Die Ehen und Familien im Allgemeinen.
•) Dieselbe betrag (Wappäus) iu
Bevölkerung über
Behausungsziffer
Haag
1849
70000
7,0
Loiidoii
1851
2,000000
7,7
Brüssel
1846
100000
9,7
Brauiischweig
1855
30000
11,5
Hannover
1855
30000
16,8
München
1852
70000
20,6
Dresden
1855
100000
28,5
Paris
1851
1,000000
35,1
Berlin
1849
300000
45,9
Wien
1857
400000
50,1
agegen in neuerer Zeit (meist nach
Körösi: Statistique international
ides yilles) in
Bevölkerung über
Behausungsziffer
Berlin
1875
968634
63 ?
Wien
1872
644375
59
Paris
1804
548000
21,8
v
1856
1,174000
40
V
1872
1,794380
29
London
1877
3,570000 ?
7,8 ?
Brüssel
1866
198337
10,6
München
1875
193326
19,6
Dresden
1875
198755
31,5 ?
Moskau
1871
611970
15,7
Hörn: Bevölkerungswissenschaftliche
Studien aus Belgien.
IL
Capitel
•
Ehe und Familie.
§. 189. Die Ehen und Familien im Allgemeinen.
Im Interesse des Staates liegt es, dass die Zahl der Ehen gegen-
über der Gesammtbevölkening möglichst hoch sei. Jenes Naturgesetz,
welches eine Gleichzahl der Ge^^chlechter fast vollständig herstellt, lä«st
es auch als möglich erscheinen, dass nahezu der ganze erwachsene Theil
der Bevölkerung zur Verheiratung gelange, und jeder Mann eine Frau,
jede Frau einen Mann bekomme.
Diese Gleichzahl der Geschlechter, durch welche schon die Natur
den Menschen auf die Ehe verweist, ist nun zwar vorhanden, doch wird
Die Zahl der Verheirateten. 395
das durch sie angedeutete Verhältniss von keinem unserer civilisirten Völker
in Wirklichkeit auch nur annäherungsweise erreicht.
Der Gründe sind mehrere.
Einmal der, dass zum Heiraten nicht nur Mann und Weib, sondern
Tisch und Herd, Wohnung und Nahrung gehören. Die Bedingungen zur
Erhaltung einer Familie werden immer schwerer, und es muss die Zahl
der Verheiratungen sich nach der grösseren oder geringeren Schwierigkeit
richten, mit welcher die nothwendigen Subsistenzmittel gewonnen werden.
Da dies ini Zusammenhange mit der allgemeinen Wohlfahrt steht, so sollte
man aus einer starken Heiratsfrequenz auf die Wohlfahrt der Bevölkerung
schliessen können. (Vgl. §. 191.)
Ein anderer Grund, welcher die Heiratsfrequenz mindert, liegt darin,
dass viele Männer, welche die Mittel zum Unterhalt einer Familie be-
sitzen oder leicht erwerben könnten, aus Egoismus unverheiratet bleiben,
um nicht für eine Familie sorgen zu müssen, das Leben besser zu ge-
niessen und sich zu conserviren. Wo dieser Grund die Zahl der Hage-
stolzen vermehrt, da lässt sich auf ungesunde Sittlichkeitszustände schliessen.
üebrigens rächt sich solcher Egoismus von selbst, denn nach den Erfah-
rungen der Statistik ist durchschnittlich das Leben der Hagestolzen viel
mehr gefährdet als jenes der Familienväter, trotz der grösseren Mühen
und Entbehrungen der letzteren.
Die verschiedenen Ziffern, welche hier in Betracht kommen, sind:
l. Die Zahl der Ehen, resp. der Verheirateten. Um sie zu er-
fahren, hat man bei den neueren Volkszählungen auch den Civilstand der
gezählten Bevölkerung untersucht.
II. Die Trauungsziffer oder Heiratsfrequenz.
in. Das Heiratsalter.
IV. Die Dauer der Ehen.
V. Die Fruchtbarkeit der Ehen.
VI. Die Zahl der Familien.
§. 190. Die Zahl der Verheirateten.
Um sie übersichtlich darzustellen, hat man (schon in den Jahren
1846 — 57) die Procentsätze der Verheirateten für 19 europäische Länder,
welche zusammen eine Bevölkerung von 121 Mill. Seelen haben, zusam-
mengestellt*). Nach dieser Zusammenstellung sind unter einer Million Ein-
wohner 348817 Verheiratete und 651183 Unverheiratete. Der Betrag der
Verheirateten ist durchschnittlich 34,88 ^ der Gesammtbevölkenmg. Es
ergab sich dabei, dass in den südeuropäischen Ländern romanischer Be-
völkerung die Zahl der Unverheirateten geringer ist als in den nordeuropäi-
schen Ländern mit germanischer Bevölkerung. Die Gründe hievon findet
396 Die Zahl der Verheirateten.
Wappäus darin, dass in jenen südlichen Ländern wegen der früher ein-
tretenden Reife der Bevölkerung die Ehen früher geschlossen werden
können, und darin, dass dort die nothwendigsten Lebensbedürfnisse leichter
zu befriedigen sind, als im Norden.
Aber man kam auch schon früh zu der Ueberzeugung, weit wich-
tiger als das Verhältniss der Verheirateten zur Gesammtzahl der Bevöl-
kerung sei ihr Verhältniss zur Zahl der Erwachsenen.
Nahm man für beide Geschlechter als mittlere Anfangsgrenze des
heiratsfähigen Alters 18 Jahre, so betrugen die Erwachsenen in unseren
Staaten fast genau fünf Achtel der Gesamratbevölkening.
Stellt man den so ermittelten Erwachsenen die Zahl der Ehen gegen-
über, so lebt im Durchschnitt in unseren Staaten etwas über die Hälfte
aller Erwachsenen in der Ehe.
Um das Verhältniss jener Personen zu erfahren, welche dem Alter
nach heiratsfähig, aber noch nicht zur Verheiratung gekommen sind, muss
man zur Zahl der Verheirateten noch die Zahl der verheiratet gewesenen,
d. i. der Verwitweten und der Geschiedenen, hinzuzählen.
Nach Wappäus nun sind in 19 beobachteten europäischen Landern
von je 10000 Erwachsenen durchschnittlich 6598 verheiratet oder ver-
heiratet gewesen; die übrigen kamen noch nicht zur Verheiratung.
Im Allgemeinen scheint die Zahl der Verheirateten gegenüber der
Bevölkerung regelmässig abzunehmen.
Einer Zusammenstellung aus der neuesten Zeit ist in dieser Hinsicht
zu entnehmen, dass in den Culturländem unter 10000 Erwachsenen (über
15 Jahre) sich befinden^):
3731 Ledige
5319 Verheiratete
950 Verwitwete oder Geschiedene.
Die Ziffern der Verwitweten und Geschiedenen sind von geringerem
Interesse. Nach älteren Beobachtungen gehört etwa Vi« ^^^ gesammten
Bevölkerung (in den europäischen Ländern) dem verwitweten Stande an.
Vergleicht man auch hier die Ziffer der Verwitweten mit der Zahl der
ei-wachsenen Personen überhaupt, so treffen auf 10000 Erwachsene (über
15 Jahre) an Verwitweten und Geschiedenen zusammen:
Bei beiden Geschlechtern . . . 950
Beim männlichen Geschlechte . . 595
Beim weiblichen Geschlechte , . 1290
Die Zahl der Witwen ist in den europäischen Ländern durchschnitt-
lich doppelt so gross, als jene der Witwer').
Dieses üebergewicht der Witwen hat seinen natürlichen Grund darin,
dass, weil unter den Ehegatten die Männer der ältere Theil sind, die-
Die Zahl der Verheiratet«!!.
397
selben eher sterben, und einen anderen Grand darin, dass mehr Witwer
als Witwen sich wieder verheiraten.
Auch die Wiederverheiratung von verwitweten Personen ist eine
sehr regelmässige Erscheinung. Gegen 10000 Witwer, die sich wieder
verheiraten, gehen nur 5800 — 6300 Witwen wieder eine Ehe ein.
Die Zahl der geschieden Lebenden ist absolut und relativ eine so
geringe, in einzelnen Ländern völlig verschwindende, dass sie hier wohl
ausser Acht gelassen werden kann. Weit bezeichnender ist sie bei der
Betrachtung sittlicher Volkszustände.
Anmerkungen.
*) Diese ältere Tabelle, von Wappäus a. a. 0. ist immerhiu wegeu der
bemerkeuswertheu Unterschiede heute noch von Interesse.
Länder
Frankreich •
Spanien . .
Kirchenstaat
Sachsen . .
England . .
Dänemark .
Freussen . .
Hannover . .
Schweden
Norwegen .
Württemberg
Niederlande .
Belgien . . .
Bayern . . ,
Zählung
1851
1857
1853
1849
1851
1850
1852
1852
1855
1855
1846
1849
1856
1852
Betrag
der
Verheirateten
38,94!
86,06
35,06
34,97
33,32
33,80
33,09
32,82
32,59
32,21
31,90
30,68
30,61
28,64
*) Bei beiden Geschlechtem zusammen sind unter 10000 Erwachsenen
(über 15 Jahre) (nach Block-v. Scheel a. a. 0. S. 254):
Ledig
Ver-
heiratet
Ver-
witwet
Ge-
schieden
Deutsches Reich . .
England und Wales
Dänemark ....
Norwegen ....
Schweden
Oesterreich ....
3994
3732
3929
4080
4120
3945
5107
5398
5191
5065
4952
5241
873
880
830
839
919
809
26
50
16
9
4,8
398
Die Heiratafreqnenr.
1 U
Ledig
Ver-
Ver-
Ge-
heiratet
witwet
schieden
2557
6475
924
44
3751
5270
979
—
4431
4582
940
47
3308
5566
1126
—
4493
4634
873
—
4157
4948
886
9^
Uugani . .
Italien . .
Schweiz .
Frankreich
Belgien . .
Niederlande
*) Auf 10000 erwachsene Männer bez. Frauen finden sich (nach derselben
Quelle) :
Witwer
Witwen
525
1202
573
1163
500
1143
545
1112
561
1240
554
1136
Witwer
Witwen
Deutsches Reich .
England u. Wales
Dänemark • . . .
Norwegen . . . .
Schweden . . . .
Oesterreich • • .
Ungarn . .
Italien . .
Schweiz . .
Frankreich
Belgien
Niederlande
564
609
660
773
652
596
1386
1350
1202
1471
1094
1159
§. 191. Die HeiraUfrequenz.
Eine sehr bedeutungsvolle Ziffer ist die Zahl der in einem Zeiträume
geschlossenen Ehen. Sie drückt die Hoffnung aus, welche zu dieser Zeit
in Bezug auf das ökonomische Gedeihen einer Familie im Lande besteht
(Hermann). Solche Hoffnungen können aber mehr oder weniger leicht-
sinnige sein, besonders in grossen Städten und Fabriksgegenden.
Man kann aus der Proportion der Trauungen nicht geradezu auf
die Proportion der stehenden Ehen schliessen. Nicht dass viele Hochzeiten
gefeiert werden, sondern dass die Proportion der Familien eine grosse sei:
das ist vom volkswirthschaftlichen und vom sittlichen Standpunkte er-
wünscht. Das Verhältniss der stehenden Ehen zur Gesammtbevölkerung
hängt ausser der Zahl der Trauungen noch ab von der mittleren Dauer
der ehelichen Verbindungen.
Die Heiratsfrequenz ist eine örtlich ziemlich verschiedene Ziffer. Sie
gestattet indess nicht, aus ihr sofort auf das Familienglück der Bevöl-
kerungen zu schliessen.
Die Regelmässigkeit in der allgemeinen Heiratsordnung zeigt sich
merkwürdigerweise weniger in der Zahl der überhaupt geschlossenen Hei-
raten, als in den mannigfachen Combinationen, welche hinsichtlich des
Die Heiratsfrequenz.
399
Gvilstandes und Alters der Heiratenden, sowie hinsichtlich der Jahreszeit,
in welcher die Ehen geschlossen werden, entstehen. Ob in einer gewissen
Zeit Junggesellen und Jungfrauen (erste Ehen), Junggesellen und Witwen,
oder Witwer mit Jungfrauen und Witwen (zweite und dritte Ehen) sich
verheiraten, ob die Ehen frühzeitig (zwischen dem 16. und 21. Jahre),
ob sie rechtzeitig (normal, zwischen dem 21. und 30. Jahre), ob als ver-
spätete (zwischen dem 30. und 50. Jahre) oder in ganz abnormer Weise
(nach dem 50., 60., 70., ja 80. Lebensjahre) geschlossen werden, ob ganz
junge Männer (unter 30 Jahren) mit Frauen über 45, ja über 60 Jahren
und junge Mädchen mit uralten Männern Ehen schliessen: das vollzieht
sich in viel gleichmässigerem Gange und zeigt sich in viel constanteren
Ziffern als die allgemeine Heiratstendenz eines Landes oder Volkes
(Oettingen).
Jedenfalls ist die willkürliche Handlung der Eheschliessungen eine
sich weit regelmässiger vollziehende, als die im Allgemeinen von physi-
schen Ursachen abhängende Absterbeordnung.
Anmerkung.
Nach ,^Moyimeiito dello stato civile", Roma 1878, beträgt die Zahl der
Trauungen auf je 1000 Einwohner:
l^iib
W^t't
imi
imB
U6i>
1870
lS74|ie7,S Jgt76
Mitttil
Hatieu . > . 4 « ^ . ^
Prankreich < ■ * . . ^
England und Walue . .
Schottland ,*....
Irland . ....... ^
Deut^chfie Rekh » . . .
PrenesfiD ........
B&yern ..,..,»>
f^acheen , *
Württemberg
OtiEl^reiGb diflas. d. L. .
Ungarn n. Siebenbttrgen
Sckweiz
Belgien
Spanien
Niederlande
Schweden
Norwegen
D&nemark
Bomftnien
Griechenland
Serbien
Finnland
Portugal . . . 1860—62
9,t
7,»
^7
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9,0
7,5
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7,1
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6,5
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8,1
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6,7
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7,t
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10,5
6,4
7,a
7,1
8,0
6,*
5,1
3,8
13,3
6,7
7,8
6,7
7,«
5,5
6,2
7,»
5,«
10,8
6,8
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12,3
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7,3
7,»
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6,1
7,3
6,5
11,9
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7,3
6,0
8,0
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9.8
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8,0
6,0
6,4
7,4
5,2
6,3
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7,9
S,4
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10,4
7,3
7,8
8,0
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6,0
7,8
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6,4
10,3
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7,5
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10. a
10,1
10,1
10,1
10,7
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7,7
8,8
7,0
7,0
7,5
7,2
6,1
13,5
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8,1
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7,5
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6,6
7,0
7,9
6,1
6,1
11,3
8,2
6,3
400 Die Heintsfreqnenz in verschiedenen Jahren.
Hiezu dürften noch folgende ältere Zahlen verglichen werden. Auf iOOO
Einwohner kamen Trauungen (nach Wappäus a. a. 0. 11. 141):
in den Jahren
in Freussen
1844-53
8,6
„ England
1845—54
8,4
„ Oesterreich
1848-51
8,3
^ Dänemark
1845-54
8,2
y, Sachsen
1847-56
8,2
„ Frankreich
1845—53
7,8
„ Norwegen
1846-55
7,7
^ den Niederlanden
1845—54
7,6
„ Sardinien
1828-37
7,6
„ Schweden
1841-50
7,2
„ Belgien
1847-56
6,8
„ Bayern
1842-51
6,6
§. 192. Die HeiraUfrequenz in yenoliiedenen Jahren.
Von grossem Interesse ist es, die Bewegung der Heiratsfrequenz von
Jahr zu Jahr zu verfolgen.
Schon vor mehr als dreissig Jahren zeigte sich's in den europäischen
Culturländern, wie bedeutend allgemeine Nothstände die Heiratsfrequenz
mindern. Das Jahr 1847 ergab für ganz Mitteleuropa in Folge sehr
schlechter Ernten eine ganz ungewöhnliche Theuerung. In Folge derselben
sank aber auch die Heiratsfrequenz ganz ausserordentlich. Am stärksten
wurde dieser Einfiuss in Belgien fiihlbar. Vielleicht war der Misswachs
und die daraus entstandene Theuerung in den verschiedenen Ländern nicht
gleich; sicherer aber waren auch die Bevölkerungen diesem Einflüsse nicht
gleichmässig zugänglich. Es scheint wirklich eine verschiedene Widerstands-
fähigkeit gegen eine plötzlich hervorbrechende Calamität den verschiedenen
Völkern innezuwohnen *).
Mehr als alle die genannten Länder zeichnete sich Bayern durch
die grosse Gleichmässigkeit seiner Heiratsfrequenz von Jahr zu Jahr aus *).
Diese geringe Schwankung muss als ein günstiges Verhältniss angesehen
werden; sie zeigt, dass mehr als die eben zur Begründung eines Haus-
standes nothdürftig hinreichenden Mittel vorhanden sind. Hoffnung und
Furcht haben offenbar um so geringeren Einfiuss, je solider der Boden ist,
auf welchem der Mensch lebt und haust. Aber es war nicht allein der
vorwiegende Ackerbaucharakter des Landes , der seinem Volke diese
Widerstandskraft verlieh, sondern gewiss auch seine vormalige Gesetz-
gebung, welche das Heiraten nur bei völlig genügender Ei-werbsfähigkeit
gestattete.
Auch in neuerer Zeit lässt sich die Einwirkung ausserordentlicher
Umstände und Ereignisse auf die Heiratsfrequenz deutlich beobachten.
Die Heiratsfrequenz in verschiedenen Jahren.
401
So hat in Frankreich der unglückliche Feldzug von 1870, von ent-
sprechender volkßwirthschaftlicher Schädigung begleitet, die Heiratsfrequenz
der Jahre 1870 und 1871 ungewöhnlich tief herabgedrückt, während sie
im Jahre 1872, gewissermassen zum Ersatz, sich wieder weit über den
Durchschnitt erhob. So hat im Deutschen Reiche und in Oesterreich-
Ungam der Einfiuss der 1873 eingetretenen wirthschaftlichen Krisis und.
ihrer Folgen ein Spiegelbild in der Heiratsfrequenz dieser Länder gefunden.
Die Heiratsfrequenz Oesterreichs und Italiens scheint den Feldzug von
1866 zu empfinden, wie diejenige Irlands nun seit Jahren den der irischen
Agrarfrage. (Vergl. hiefür die in Anmerkung 1 zum vorigen Paragraphen
mitgetheilten Zahlen.) Die Heiratsfrequenz ist demnach allerdings ein sehr
empfindliches Barometer derjenigen Hoffnungen, welche die grössere Masse
der Bevölkerung von der Zukunft hat; aber um so empfindlicher, je
weniger wirthschaftliche und sittliche Widerstandsfähigkeit eine Bevöl-
kerung besitzt.
In dem sehr industriellen Sachsen zeigt sich neben der Wirkung
der Theuerung auch eine solche der Handelsconjuncturen.
Uebrigens braucht in einem dichter bevölkerten Staat die Zahl der
geschlossenen und der vorhandenen Ehen der Zahl der Unverheirateten
gegenüber nicht zu steigen. Wenn sie nicht sinkt, muss dies schon als
ein günstiges Zeichen angesehen werden. Denn mit dem Dichterwerden
der Bevölkerung würde die Schwierigkeit der Familiengründung nothwendig
grösser, wenn nicht ein gleichzeitiger, namentlich wirthschaftlicher Cultur-
aufschwung stattfände.
Anmerkuugeu.
*) Auf eine Trauung kamen Einwohner (nach Wappäus, a. a. 0.,
II. 246) in:
Jahr
Preussen
England
Oesterreich
Sachsen
Frankreich
Belgien
1844
111
124
_
124
_
1845
112
116
131
—
124
—
1846
116
116
125
-—
131
—
1847
129
126
136
130
142
180
1848
122
125
117
124
121
152
1849
109
123
112
117
127
138
1850
106
116
105
104
119
130
1851
109
116
103
103
124
133
1852
118
114
—
117
127
142
1853
117
111
_
121
127
145
1854
—
HO
—
131
—
152
Haashofe r, Statistik. 2. Aufl.
26
402 I^ie Heiratsfrequenz nach dem Civilstande der Heiratenden.
*) Hier kamen Eiuwohuer auf eine Trauung:
im Jahre 1841/42
149
im Jahre 1846/47
159
1842/43
150
1847/48
152
1843/44
150
1848/49
148
1844/45
151
1849/50
151
1845/46
154
1850/51
147
§. 193. Die HeiraUfrequenz nach dem Civilstande der Heiratenden.
Eine überwiegende Zahl von Ehen sind erstmalige, denn es werden
in den europäischen Ländern durchschnittlich von je 1000 Ehen 750
bis 850 zwischen Jünglingen und Jungfrauen geschlossen, 35 — 60 zwischen
Jünglingen und Witwen, 80 — 100 zwischen Witwern und Jungfrauen,
20 — 55 zwischen Witwern und Witwen *).
Diese Verhältnisse sind ungewöhnlich constant; sie müssen auf das
innigste mit dem socialen Volkscharakter zusammenhängen. Die Gründe
dieser Unterschiede aber sind vorerst nicht zu enträthseln.
Als allgemeine Unterlage der hierauf bezüglichen Untersuchungen
dürfte gelten, dass im Ganzen eine grosse Proportion der ersten Ehen als
das günstigste Verhältniss anzusehen ist. Denn in glücklichen Zeiten steigt
diese Proportion überall. In glücklichen Zeiten haben Witwer oder
Witwen weniger Chancen sich zu verheiraten; die zweiten Ehen sind
überhaupt weniger Schwankungen unterworfen als die ersten. Der Grund
davon liegt in den ökonomischen Verhältnissen.
Wer schon eine Ehe hinter sich hat, steht ökonomisch jedenfalls
fester, als wer die erste schliessen will.
Hieher gehört auch noch die Verhältnisszahl der sich wieder ver-
heiratenden Geschiedenen. In Sachsen verheiraten sich von den Geschie-
denen wieder 7^^ von den geschiedenen Männern 11 und von den ge-
schiedenen Frauen 5^. Ein Beweis für die Scheu, welche das Volks-
bewusstsein vor geschiedenen Frauen hat.
Anmerkung.
*) Die Trauungsziffer nach dem Civilstande der Getrauten. Unter 100
Heiraten fanden statt:
Das Heiratsalter.
403
'SS
3-0
CO fl'^
Sgl
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1*1
lii
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2g-S
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Sil
•g-s
Italien
Frankreich
Belgien
England nnd Wales .
Prenssen
Bayern
Sachsen
Württemberg . . . .
Oesterreich (o. üng.) .
Niederlande
Schweiz
Dftnemark
Schweden
Norwegen
Spanien
Griechenland . . t .
Rumänien
Finnland
1865-77
1865-76
1865-76
1866—76
1867-77
1866-76
1876
1871—77
1865-77
1866—77
1877
1865-76
1865-77
1865-74
1866—70
1866—69
1870—76
1869—74
82,5
84,0
82,7
81,6
79,8
82,s
81,0
81,s
75,4
79,8
76,«
81,3
84.7
84,5
81,0
85,8
84,0
76,1
3,8
4,0
6,11
4,*
5,8
6,3
3,6
?
6,4
4,5
4,3
5,2
8,5
3,8
4,0
4,0
3,0
6,1
9,8
8,1
8,6
8,6
10,8
10,6
8.8
?
13,1
10,»
10,0
10,0
9,3
9,5
10,0
6,7
6,2
12,1
3,8
3,7
8,5
6,8
3,6
1,7
4,1
?
4,9
4,8
3,0
2,1
2,1
2,0
4,8
8,8
6,8
5,4
0,82 0,10 0,20 0,15
0,02
0,03
0,85
0,85
0,61
0,88
0,10
?
• ?
?
?
?
0,12
0,04
0,0»
0,0«
0,01
1,24
0,3«
0,75
0,4«
0,22
0,53
0,10
0,42
0,1»
0,08
0,03
-
0,0»
--
0,04
-
-
-
-
-
(Nach: Moyimeuto dello stato civile. Roma 1878. XXIX.)
§. 194. Das Heiratsalter.
lieber das Heiratsalter hat die Statistik interessante Daten geliefert,
welche indessen eine Vergleichung noch ziemlich schwierig erscheinen
lassen, weil man es dabei nicht blos mit dem Alter des Mannes oder der
Frau allein, sondern auch mit den mannigfachen Combinationen beider
zu thun hat.
Unterscheidet man die Heiraten nach dem Heiratsalter, so kann
man sie im Allgemeinen in frühzeitige, rechtzeitige und verspätete unter-
scheiden. Begreiflicherweise kann aber eine Heirat für den einen Theil
eine rechtzeitige und für den anderen eine frühzeitige, oder für den einen
Theil eine verspätete und für den anderen eine rechtzeitige sein u. s. f.,
so dass sich in dieser Hinsicht einfache Beobachtungen nicht wohl an-
stellen lassen. Ausserdem hat man gar keinen bestimmten Grund dafür,
in welchen Lebensjahren bei Männern, in welchen bei Frauen und in
welchen bei beiden Geschlechtern zusammengenommen man von früh-
zeitigen, rechtzeitigen oder verspäteten Ehen sprechen kann.
Das Alter, in welchem die Männer in die Ehe treten, wird haupt-
sächlich durch ihre Erwerbsfähigkeit bedingt, ausserdem durch die Volks-
Bitte, durch die Gesetzgebung, durch den Militärdienst und andere üm-
26*
404 ^^ Heiratsalter.
stände. Wesentlich anders steht es mit dem Heiratsalter des weiblichen
Geschlechtes. Bei letzterem ist das Heiratsalter von der eigenen Erwerbs-
fähigkeit fast ganz unabhängig, muss aber, der Natur und der allmäch-
tigen Volkssitte gemäss, hauptsächlich vom Heiratsalter der Männer be-
dingt werden, ausserdem in weit höherem Grade als jenes der Männer,
von klimatischen Unterschieden, welche auf die frühere oder spätere Reife
der Weiber einwirken. Es scheint demnach gerechtfertigt, bei der Be-
trachtung dieses Gegenstandes zunächst das Heiratsalter der beiden Ge-
schlechter zu unterscheiden.
I. Das Heiratsalter der Männer zeigt ganz bemerkenswerthe
Verschiedenheiten in den einzelnen Ländern.
Frühzeitige Ehen können bei Männern jene genannt werden, welche
vor dem 24. oder 25. Jahre geschlossen werden. Erstreckt man diese
Frist bis zum 25. Jahre, so zeigen sich höchst auffallende Unterschiede.
In England und Wales z. B. sind 51,9oJl^ aller heiratenden Männer im
Alter bis zu 25 Jahren; in Russland sogar 68,3iJI^, dagegen in Bayern
nur 16,36 Ji^, in Dänemark nur 19,4331^ *).
Es ist wohl natürlich, dass diese Unterschiede auch auf die Ver-
theilung der rechtzeitigen Ehen (in ihren Einzelnheiten) und selbst auf
die verspäteten Ehen sich erstrecken.
Sehr schwierig aber dürfte es sein, auf alle hier einwirkenden
Gründe einzugehen. Einige lassen sich allerdigs erkennen. Dasjenige euro-
päische Land, wo das Heiratsalter der Männer am weitesten hinaus-
geschoben erscheint, Bayern, erkennt als Grund davon seine, mit der
Volkssitte innig verwachsene, vormalige Socialgesetzgebung, welche das
Heiraten ungemein erschwerte. Jetzt ist zwar die Gesetzgebung geändert;
aber die Volkssitte folgt nur langsam nach und lässt das Heiratsalter der
Männer von Jahr zu Jahr in eine frühere Lebenszeit vorrücken. Warum
aber in England und in Russland, — also in Ländern von der denkbar
grössten Verschiedenheit in Bezug auf Sitte, Gesetzgebung, Natur und
Volkswirthschaft — am frühesten geheiratet wird, das lässt wohl schwer
hinreichende Erklärungen zu. In England mögen wohl der bedeutende
Nationalreichthum, das Fehlen der allgemeinen Wehrpflicht und die
starke Fabrikbevölkerung mit Hauptursachen sein. Aber Russland ist kein
Fabrik-, sondern ein Ackerbaustaat, und verheiratet seine Männer noch
früher! Man steht hier vor einem jener socialen Räthsel, zu deren Lösung
die dürre Ziffer der Statistik absolut unzureichend ist.
n. Das Heiratsalter der Frauen wird, wie schon oben bemerkt
ward, theilweise vom Heiratsalter der Männer, theilweise aber auch von
anderen Ursachen bestimmt. Das Heiratsalter der Männer wirkt auf jenes
der Frauen in doppelter Hinsicht. Indem zahlreiche Männer ihre späteren
Das Heiratsalter.
405
Frauen schon kennen lernen, längere Zeit, ehe sie sich einen eigenen
Herd begründen können, sind sie veranlasst, mit ihrem eigenen Heirats-
alter auch dasjenige ihrer Frauen hinauszuschieben. Andererseits pflegen
doch auch jene Männer, die überhaupt erst in späteren Jahren an die
Ehe denken, allzugrosse Altersungleichheit zu vermeiden. Die Unterschiede,
welche das Heiratsalter der Frauen in den verschiedenen Ländern zeigt,
sind übrigens grösser als bezüglich der Männer. So heiraten z. B. in
Russland 57,27, in Ungarn 35,i6^ der Frauen vor oder mit dem 20. Jahre,
in Bayern blos 5,W) und in Schweden nur 5,09^. In England, wo die
Männer so frühzeitig heiraten, wird (wie in Schweden) das Heiratsalter
der Frauen durch die spätere physische Entwickelung des Weibes hinaus-
geschoben. Es zeigt sich demnach, dass bei dem Heiratsalter der Frauen
die physikalischen Einflüsse des Klimas stärker sind, als jener wirth-
schaftliche Bestimmungsgnind, welcher in der früheren oder späteren
Erwerbsfähigkeit der Männer liegt.
in. Bei beiden Geschlechtern aber werden die Ehen später
geschlossen, als es durch die Natur angezeigt und durch die Menschen
gewünscht ist. Die sociale Ordnung setzt dem Einzelnen Schranken; aber
diese Schranken sind nicht unübersteiglich und sind auch kein äusserer
Zwang, sondern wirken eben sehr gleichmässig auf die Ueberlegung aller
einzelnen Individuen ein. Im Allgemeinen werden 7io ^^^ Ehen vor dem
40. Jahre geschlossen. Einfachere Volkszustände sind in dieser Hinsicht
besser daran, als die Uebercivilisation des westlichen und mittleren Europa.
Aumerkungeu.
^) Bezüglich «des Heiratsalters der Mäuuer dürften folgende Ziffern für
die wichtigsten europäischen Länder mitgetheilt werden (nach „Movimento
dello stato civile, Roma 1880"). Unter 100 heiratenden Männern heirateten:
(Durchschnitt der
Jahre)
Frühzeitige Ehen
unter 25 J. Von 25—30 J
Ehen
zwischen
30 u. 40 J.
Späte Ehen
über 40 J.
Italien . .
Frankreich
England .
Preussen .
Bayern .
Sachsen ,
Oesterreich
Ungarn , .
Schweden
Kassland .
. (1872-78)
. (1871-77)
. (1872-78)
. (1871—78)
. (1870—78)
. (1866—70)
. (1870-78)
, (1876 , 77)
. (1871-78)
. (1867-75)
26,27
26,99
^1,90^
16,36
24,02
21,70
68,31
67,16
61,51
76,51
37,10
36,01
24,69
37,07
43,69
35,79
11,82
25,96
26,29
14,41
23,09
31,39
22,6»
23,86
12,98
29,96
12,21
10,67
10,71
9,00
9,75
15,18
9,60
14,63
10,51
12,56
7,66
406
Die Dauer der Ehen.
') Nach derselben Quelle wie oben stellt sich das Heiratsalter der Frauen
wie folgt. Von dOO heiratenden Frauen heirateten (die Beubachtungsjahre
wie oben):
Frühzeitige Ehen
25—30 J.
Späte
Ehen
1 n
Unter 20 J.
Von 20— 25 J.
30—40 J.
Ueber
40 J.
Italien ....
17,08
43,65
22,04
12,57
4,66
Frankreich
20,43
38,51
20,83
14,44
5,79
England .
14,86
49,16
18,87
11,12
5,99
Preussen .
11,10
68
,57
15,19
5,14
Bayern . .
5,40
33,65
30,44
21,84
8,67
Sachsen .
7,44
45,19
28,16
14,31
4,<K)
Oesterreich
17,99
56
,48
17,71
7,82
Ungarn .
35,16
50,34
8,65
5,85
Schweden
5,09
32,85
31,45
23,22
7,39
Russland .
57,27
26,31
7,10
6,39
2,93
§. 195. Die Dauer der Ehen.
Die mittlere Dauer der Ehe ist ein Ausdruck der zeitlichen Aus-
dehnung des Familienglücks. Sie hängt von mehreren Umstanden ab.
Zunächst von der mittleren Lebensdauer einer Bevölkerang.
Dann aber von dem Umstände, ob die wirthschaftlichen Zustände
dem grösseren Theile des Volkes eine frühere, oder ob sie erst eine spätere
Verheiratung gestatten. Da, wo früher geheiratet wird, ist dadurch die
mittlere Dauer der Ehen eine längere.
Endlich auch vom Unterschied im Heiratsalter der beiden Geschlechter.
Je weniger sich dieser Unterschied von der Differenz des mittleren Lebens-
alters beider Geschlechter entfernt, desto länger wird die mittlere Dauer
der Ehen sein.
Eine gewisse längere Dauer der Ehe ist aber nothwendig, wenn der
Hauptzweck der Ehe, nämlich die Erziehung und Heranbildung der Kinder
zu selbständiger Existenz, erreicht werden soll.
Selbst wenn die Ehegatten die Grenzen der productiven Lebens-
jahre schon überschritten haben, ist die lange Dauer der Ehen noch als
ein glücklicher Zustand nicht nur für die Betreffenden, sondern überhaupt
anzusehen. Der wohlthätige Einfluss, den die Erhaltung des elterlichen
Hauses als gemeinschaftlichen moralischen Bandes für die Familie ausübt,
wirkt bis in die spätesten Jahre.
Die Frachtbarkelt der Ehen. 407
Man berechnet die durchschnittliche Dauer der Ehen gewöhnlich,
indem man die Zahl der im Lande bestehenden Ehen durch die Zahl
der jährlichen Trauungen dividirt. Diese Berechnung ergäbe ganz richtige
Resultate nur bei einer constanten Zahl jährlicher Trauungen. Richtiger
erhält man die mittlere Dauer der Ehen, wenn man die vorhandenen
Ehen durch das arithmetische Mittel der geschlossenen und aufgelösten
(durch Tod etc.) dividirt^).
Am richtigsten wäre das Resultat, wenn man das mittlere Heirats-
alter und die mittlere Lebensdauer fiir beide Geschlechter kennte.
Anmerkung.
*) Nach der zweiten augeführten Methode berechnet Wappäus die mitt-
lere Dauer der Ehen auf:
in Bayern 23,2 Jahre
„ Holstein 23,o „
„ Sachsen 22,8 „
„ Niederlande 21,6 „
„ Hannover 21,3 „
„ Preussen 20,7 „
in Frankreich 26,4 Jahre
„ Sardinien ...... 25,4 „
„ Schweden 25,o „
„ Norwegen 24,o „
„ Belgien 23,9 „
„ Schleswig 23,8 „
„ Dänemark 23,3 „
Diese Zahlen sind indess nicht sehr zuverlässig. Immerhin ist doch klar,
dass die hier bevorzugt erscheinenden Länder die lange Dauer ihrer Ehen zu-
meist ihren früh geschlossenen Ehen verdanken, obwohl die anderen auf die
Dauer der Ehen einwirkenden Umstände gleichfalls daneben sich gelteud
machen.
§. 196. Die Fraohtbarkeit der Ehen.
Unter Fruchtbarkeit der Ehen versteht man die Zahl der durch-
schnittlich aus jeder Ehe geborenen Kinder. Bei einer stationären Bevöl-
kerung würde man die Ziffer erhalten, wenn man die Zahl der jährlich
geborenen Kinder durch die Zahl der jährlich geschlossenen oder aufge-
lösten Ehen dividirte. Da keine Bevölkerung stationär ist, erreicht man
das richtigste Resultat, wenn man als Divisor das arithmetische Mittel
zwischen der Zahl der aufgelösten und jener der neuen Ehen nimmt. Denn
nähme man die Zahl der geschlossenen oder jene der aufgelösten Ehen
allein, so würde man unrichtige Resultate erhalten, weil diese Zahlen
nicht nothwendig gleich sind, sondern die Zahl der Ehen entweder wachsen
oder abnehmen kann.
Die richtigere Art der Berechnung ist indessen nur selten möglich ^).
Wie die Geburtshäufigkeit überhaupt, so ist auch diese Ziffer für
die Prosperität einer Bevölkenmg ein ziemlich zweifelhafter Massstab.
Man hat es seinerzeit als ein „Gesetz der Bevölkerung" aufgestellt,
dass jene Länder, in welchen jährlich die meisten Ehen geschlossen
408 DiB Zahl dHr Familien and Haushaltungen.
werden, zugleich diejenigen sind, wo die Fruchtbarkeit der Ehen ain ge-
ringsten ist. Dieser Satz kann indessen bis jetzt noch nicht als durch die
Statistik bewiesen gelten, obwohl er wahrscheinlich gichtig ist^).
Vom Einflüsse des Alters der Eltern, hier also des Heiratsalters auf
die Geburtenfrequenz war schon früher die Rede.
Mit jenen Ziff"ern, welche über die Stärke der Familien Aufschluss
geben, ist die eheliche Fruchtbarkeit nicht in Zusammenhang zu bringen,
denn aus der Zahl der geborenen lässt sich die Zahl der lebenden ehe-
lichen Kinder nicht ableiten.
Es scheint, dass in den meisten europäischen Ländern die eheliche
Fruchtbarkeit abnimmt ^).
Anmerkungen.
*) Nach der einfachsten Methode (Division der Zahl der ehelichen Kinder
durch die Zahl der gleichzeitigen Trauungen) und nach den im MoYimento dello
stato civile pro 1862/78 gegebenen Ziffern berechnet, stellt sich die eheliche
Fruchtbarkeit wie folgt. Die Zahl der (lebend geborenen) Kinder einer Ehe
beträgt in:
Schweiz (1878) 4,o
Belgien „ 4,3
Niederlande (1877) 4,8
Schweden (1878) 4,i
Norwegen „ 3,9
Dänemark „ 3,8
Spanien (1870) 1 . . 5,4
Serbien (1878) 4,i
Griechenland (1877) 4,9
Rumänien „ 5,i
Russland (1875) 5,i
*) Sadler: Law of population. II. 514.
*) Zu dieser Ansicht führt wenigstens die Vergleichung obiger Ziffern
mit den von Wappäus a. a. 0. II. S. 319 gegebenen älteren Zahlen.
§. 197. Die Zahl der Familien und Haushaltungen.
Statistisch wichtiger als die Eintheilung nach dem Civilstande wäre
die Eintheilung der Bevölkerung nach Familiengliedern und Allein-
stehenden.
Dazu müsste man die Zahl und die Stärke der Familien kennen.
Bei den Volkszählungen mehrerer Länder werden auch in der That
die Familien gezählt. Aber der Begriff der Familie ist überall noch ein
sehr unbestimmter. Die besten Volkszählungen haben den Begriff der
Familie mit der Haushaltung (Menage) gleichgesetzt.
Man hat die Familienstärke, d. h. die durchschnittliche Mitglieder-
zahl einer Familie berechnet. Diese Untersuchungen ergaben, dass die
Italien (1878) 4,7
Frankreich (1877) 3,i
England (1878) 4,3
Schottland „ 4,7
Irland „ 5,i
Deutsches Reich (1878) • 4,6
Preussen insbes. „ 4,6
Sachsen „ „ 4,3
Bayern „ „ 4,8
Oesterreich (1878) 4,3
Ungarn (1877) 4,3
Die Zahl der Familien und Haushaltungen. 409
Familienstärke vorzüglich durch die grössere oder geringere Zahl der
kleinen Haushaltungen bestimmt werde *).
Es ist natürlich, dass, je grösser die Zahl der ein- und zweiperso-
nigen Haushaltungen ist, dadurch um so mehr die Ziffer der Familien-
stärke herabgedrückt wird. Eine Familienstatistik, welche wirklich die
Familienverhältnisse einer Bevölkerung untersuchen wollte, müsste min-
destens die blossen Haushaltungen und die eigentlichen Familien, und
unter den letzteren wieder die mit und ohne Kinder unterscheiden ^).
Die Beobachtungen, welche über die Familienstärke gemacht wurden,
haben die Thatsache ergeben, dass die Familien durchschnittlich nicht
etwa 5 — 6 Personen stark sind, wie gewöhnlich angenommen wird, son-
dern nur etwas über 4 Personen. Ueberdies ist constatirt . worden, dass
diese durchschnittliche Familienstärke in Abnahme begriffen ist*). Diese
eigenthümliche Erscheinung lässt sich wohl — wenigstens in den Län-
dern, wo sie beobachtet wurde — am ehesten durch die zunehmende
Concentration des Volkslebens in den Städten erklären. Denn die Städte
mit ihren Miethwohnungen, Wirthshäuseni, mit ihrer Bequemlichkeit hin-
sichtlich des Bezuges an Lebensbedarf, sind offenbar den kleinen Haus-
haltungen günstiger, als das Landleben. Patriarchalische Zustände nur
gestatten das Zusammenleben grosser Familien.
Aumerkungeu.
*) Hörn: Bevölkeruiigs wissenschaftliche Studien aus Belgien. S. 87 ff.
*) Wappäus macht in dieser Beziehung folgende Eintheilung:
I. Solche Haushaltungen, welche zugleich eine Vereinigung von näher
verwandten Personen bilden. Hier wären wieder zu unterscheiden:
1. Wirkliche oder natürliche Familien. Sie sind
a) Vollständige oder vollkommene Familien, d. h. Ehepaare mit Kindern
und Enkeln lebend;
b) Unvollständige Familien, d. h. Verwitwete mit Kindern oder Enkeln
lebend.
t. Familien im weiteren Sinne, nämlich
a) Zusammenlebende Ehepaare ohne Kinder (kinderlos oder die Kinder
sind abwesend);
b) Vereinigung von nahen Verwandten zu einem Hausstande, nämlich
entweder von unverheirateten Geschwistern oder von Seitenver-
wandten.
n. Solche Vereinigungen, in welchen verschiedene Personen nicht durch
die Bande der Familie, sondern nur ökonomisch zu einer gemeinsamen Haus-
haltung vereinigt sind.
Bei diesen verschiedenen Hausständen müsste weiter ermittelt werden:
I. Die Zahl der zur Familie gehörenden Personen;
n. Die Zahl der zum Hausstande gehörenden Dienstboten, Geschäftsge-
hilfen, Kostgänger etc.
410
SchlnBsbemerkungen.
Die durch solche Unterscheidung erhaltenen Ziffern würden ein sehr
werthvolles Material zur Darstellung des Familienlehens einer Bevölkerung
hieten.
*) Obwohl die bezüglichen Ziffern, welche Hörn a. a. 0. mittheilt, aus
der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts stammen, sind sie doch wegen der Vor-
sicht und Sorgfalt, mit welcher sie als Beweismaterial angewandt wurden, von
hoher Beweiskraft. Die durchschnittliche Familienstärke betrag:
8=
i n
Jahr
Familienstärke
Jahr
Familienstärke
Belgien
Niederlande ....
Kurhessen
Sachsen
Bayern
1829
1840
1834
1832
1827
4,92
4,97'
5,45
4,60
4,80
1846
1850
1846
1840
1846
4,86
4,81
5,02
4,43
4,4«
§. 198. Schlussbemerkungen.
Wenn die Statistik des Familienlebens die Zahl der Ehen und
Familien, und zwar die absolute und relative Zahl derselben (d. h. ihre
Zahl im Verhältniss zur Zahl der Erwachsenen überhaupt), sodann die
Zahl der Geschiedenen, der Verwitweten, die Heiratsfrequenz in ihren
Unterschieden, das Heiratsalter, die Dauer der Ehen und ihre Fruchtbar-
keit, die Zahl der Haushaltungen zum Ausgangspunkte ihrer Untereuchun-
gen macht, so sind dies nur die Anfänge einer exacten Untersuchung
des Familienlebens. Ganz andere Aufgaben sind hier noch, zu erfüllen.
Es gilt, die Familie als eine Persönlichkeit zu untersuchen, welche ihr
eigenes Leben führt, ihre körperlichen und geistigen Eigenschaften, ihre
Fehler und Verdienste hat, ihren eigenen Weg auf Erden dahingeht, zum
Glück oder zum Unglück, empor oder abwärts, schneller oder langsamer.
Es gilt zu untersuchen, mit welcher Kraft und Schnelligkeit bei den ver-
schiedenen Völkern, Sitten und Ständen die Familie ihre körperlichen
und geistigen Eigenschaften, ihre charakteristischen Merkmale, ihren Wohn-
sitz, ihr Vermögen festhält, vermehrt oder vermindert, nach dieser oder
nach jener Richtung hin ändert. Es gilt zu untersuchen, wie die Eigen-
schaften der Ahnen in den Enkeln sich verflüchtigen oder steigern und
nach welchem Gesetze dies geschieht. Wenn die unsystematische Beob-
achtung schon zeigt, dass die grössten Väter von ihren Söhnen nicht
übertroflfen, ja nur ganz ausnahmsweise eingeholt werden, während doch
der grösste Meister seine Schüler findet, die ihn in Schatten stellen, so
liegt dieser Thatsache wohl ein dunkles Gesetz zu Grunde, ein Gesetz,
welches besagt, dass die geistigen Kräfte und Vorzüge nicht in der
Volk und Staatswesen. 411
Familie fortwachsen dürfen von Geschlecht zu Geschlecht, wie auch um-
gekehrt die Schwächen und Sünden des Grossvaters nicht in jedem Enkel
schlimmer werden, sondern dass ein heilsamer Wechsel, ein Auf- und
Niederwogen im Glück und in den Tugenden auch der einzelnen Familie
stattfinden muss. Dieses dunkle Gesetz aber zu messen, zu untersuchen,
wie lange die Generationen sich ihm entziehen können: das ist eine der
letzten und höchsten Aufgaben der Familien Statistik.
Aber noch weitere Gesichtspunkte drängen sich bei der Betrachtung
der Familie auf. Nicht neu ist die Klage über die Lockerung der Familien-
bande. Sie ist so alt, als überhaupt die Betrachtung der Familie ist. Sie
wird hervorgerafen durch den Umstand, dass es immer gewisse familien-
feindliche Gewalten gegeben hat, gegen deren Einwirkungen die
Familie nunmehr in einem mehrtausendjährigen Kampfe sich zu wehren
hat. Solche familienfeindliche Gewalten verschwinden manchmal völlig aus
der Geschichte der Menschheit. So namentlich die Sklaverei. Das Mittel-
alter hatte als bedeutendste familienfeindliche Gewalt den Cölibat und
die Klöster gebracht. Mit dem Rückgange der letzteren traten aber neue
solche Gewalten in die Culturgeschichte ein: Die Erleichterungen des Ver-
kehrs; der fabrikmässige Grossbetrieb; die allgemeine Schulpflicht; die
grossen stehenden Heere; die städtische Concentrirung des Volkslebens
mit ihren Wirthshäusern etc.; die Heranziehung der Frauen zu Berufs-
arten, welche ihnen vordem verschlossen waren, und manches Andere.
Die dauerndste der familien feindlichen Gewalten aber, die niemals ver-
schwindet, ist die aussereheliche Liebe, die bald durch Gesetzgebung,
Sitte und Religion mehr zurückgedrängt wird, bald wieder freieren Spiel-
raum gewinnt.
All diese familienfeindliche Gewalten in ihrem Auf- und Nieder-
wogen zu betrachten und in ihrer culturgeschichtlichen Bedeutung zu
würdigen: das gehörte mit zu einer im grossen Styl gehaltenen Familien-
statistik.
III. Capitel.
Volk und Staatswesen,
§. 199. XJebersicht.
Die Statistik kann unter einem Volke nichts anderes verstehen, als
einen staatlich zusammengeschlossenen Theil der Menschheit. Jedes Volk
hat seine bestimmten charakteristischen Eigenschaften. Sofern diese Eigen-
412 Gesellschaftliche und politische Gliederung des Volkes.
Schäften sich auf die physische Existenz, auf Leben und Sterben, Vermehrang,
körperliche Entwickeluug und Gesundheit beziehen, gehen sie die Bevöl-
kerungsstatistik an. Aber alle diese Eigenschaften haben auch ihre politi-
sche Bedeutung. Und ebenso hat auch das wirthschaftliche, sowie das
geistig-sittliche Leben des Volkes politische Bedeutung. Der lebendige
Inhalt des Volkes schaiFt sich seine ihm passende rechtlich-politische
Form. In dieser Form zeigt sich zunächst eine gewisse Gliederung der
ganzen Volksmasse. Ferner zeigt sich, dass im Laufe der Völkerge-
schichte nicht alle Theile der Menschheit, welche gleichen Entwicklungs-
gang genommen und gleiche Sitte und Sprache ausgebildet haben, auch
schliesslich zu einer einheitlichen politischen Form gekommen sind. Es
ergibt sich ein Unterschied zwischen Volk und Nationalität. Ungleicher
Inhalt ist dabei oft in gleiche Form gezwängt und gleicher Inhalt in ver-
schiedene Formen vertheilt. Beides berücksichtigend muss die Statistik die
Eigenthümlichkeiten nicht nur jedes staatlichen Volksganzen, sondern auch
seiner nach Stamm, Sprache, Sitte und Siedelung verschiedenen Theile
untersuchen und prüfen, wo Verwandtes getrennt ist und wie stark die
Fäden sind, welche jeden Theil des Volks an sein ursprünglich Verwandtes
und wie stark jene sind, die ihn an sein neu Verbundenes knüpfen. Letz-
teres, also den Staat allein, betrachtend hat sie, soweit es möglich ist,
Verfassung und Politik in Quantitäten aufzulösen und die Kraft des
Staatswesens zu messen. Letztere ruht zwar im Grunde auf den physischen
und geistigen Eigenschaften des Volkes, wie auf seinen wirthschaftlichen
Fähigkeiten, äussert sich aber ganz besonders in der Wehrkraft des
Volkes und im Staatshaushalt. Die innere Thätigkeit des Staates findet,
wie in der Gesammtverwaltung, so namentlich im Staatshaushalt einen
zifFermässigen Ausdruck und erreicht ihren moralischen Höhepunkt in
der Rechtspflege. Daneben gibt es freilich Imponderabilien staatlicher
Macht, welche von höchster Bedeutung sind, moralische Streitkräfte im
Kampf um Leben und Civilisation. Solche sind: ein von der Regierung
mit Ausdauer verfolgtes Ziel, die herzliche Theilnahme des Volkes an
diesem Ziel der Regierung; der Enthusiasmus, selbst die Leidenschaften
als vorübergehend Verbündete zur Erreichung eines grossen Zieles; die
öffentliche Meinung, das Talent, das Genie des Leiters der Regierung
(Block).
§. 200. Gesellschaftliche und politische Oliederong des Volkes.
Jedes auf dem Wege der Civilisation vorgeschrittene Volk bildet
von der kleinsten Gruppe menschlicher Vergesellschaftung, der Familie,
an, bis zur grössten, dem Staate, eine Reihe von anderen Lebenskreisen:
politische und kirchliche Gemeinden, Corporationen, Vereine, Stände.
(resellschaftliche und politische Gliederung des Volkes. 413
Solche gesellschaftliche Kreise mit ihren Kräften und ihrem Leben zu
erfassen, ist eine von jenen Aufgaben der Statistik, welche noch sehr im
Argen Helgen, obgleich keine der schwierigsten unter diesen Aufgaben.
Denn die meisten dieser Kreise sind durch ihre Zwecke sowohl als durch
die Verantwortlichkeit gegenüber ihren Mitgliedern genothigt, ihre eigenen
Zustände fortwährend statistisch darzustellen. Was im Allgemeinen:
I. Die Zahl dieser Kreise corporativen Lebens betrifft, so wird sie
um so grösser sein, je grösser die Lücke ist zwischen der Familie und
dem Staate, je dringender das Bedürfniss für den Einzelnen ist, zwischen
der Familie und dem Staate noch andere gesellschaftliche Halt- und Stütz-
punkte zu finden;
n. ihr Umfang wird den gleichen Beweggiünden folgen; daneben
auch mit der Volksdichtigkeit im Zusammenhang stehen und
in. die Intensität ihrer Lebensthätigkeit wird einestheils von
der politischen Verfassung und Verwaltung des Volkes abhängig sein,
anderentheils ebenfalls von der Wichtigkeit der corporativen Zwecke und
vom ganzen Culturgrade der Nation.
Im Einzelnen lassen sich unterscheiden:
I. Corporation en mit staatlich anerkannter politischer Stellung: Ge-
meinden, und zwar solche, die blos Ortschaften, als auch solche, die ganze
Landestheile (Districte, Bezirke, Cantone, Kreise, Grafschaften, Provinzen
u. s. f.) umfassen.
Die Statistik dieser kleineren politischen Bestandtheile ist nur ein
Theil des ganzen Organismus der amtlichen Statistik; denn es handelt
sich hier um die wichtigsten Gegenstände auch der amtlichen Statistik,
um die Bevölkerung der Gemeinde in ihrem Stand und Gange und ihren
physischen Eigenschaften, um ihre Wohnsitze, ihren Haushalt (Vermögen,
Schulden, Einnahmen und Ausgaben), zum Theil auch um ihr geistig-
sittliches Leben. Von Wichtigkeit ist auch da, wo mehrere solche corpo-
rative Gebilde ineinander geschachtelt sind (wo also etwa der Staat
mehrere Provinzialgemeinden, jede Provinzialgemeinde mehrere Districts-
gemeinden, jede Districtsgemeinde mehrere Ortsgemeinden enthält), das
Verhältniss derselben zu einander. Denn es drückt den Grad der Centra-
lisation oder Decentralisation des ganzen staatlichen Lebens aus.
n. Gorporationen ohne staatlich anerkannte politische Stellung.
Sie unterscheiden sich nach ihren sehr mannigfaltigen Zwecken haupt-
sächlich in:
A. Wirthschaftliche Associationen. Die meisten von ihnen sind in
den civilisirten Ländern in sehr erheblicher Zunahme begriffen. So nament-
lich die Versicherungsgesellschaften.
414 GeMllschaftliühe und politische Gliederung des Volkes.
Die Asgociationen zum Sparen insbesondere sind in sehr erfreu-
lichem x\ufschwunge begriffen und ebenso die Associationen zu Zwecken
socialer Selbsthilfe. Die Zahl dieser Associationen Hess gich 1863
allein für Deutschland auf 1000 mit 33 Mill. Thlr. Umsatz und Ver-
kehr veranschlagen. Grossartiger freilich sind die Summen der in Indu-
strie- und Gewerbegesellschaften angelegten Capitalien, indem die
deutschen Eisenbahngesellschaften allein 1862 mit einer Gapitalanlage von
1049 Mill. Thlr. auftreten.
B. Associationen zu ideellen Zwecken. Man unterscheidet:
1. Associationen zu geselliger Unterhaltung, die allenthalben mit
und ohne Abschliessung einzelner Stände bestehen.
2. Associationen zu sittlichen Zwecken: Frauen vereine; Krippen;
Vereine zur Unterstützung Armer überhaupt, sodann Kranker, Krüppel;
Baugesellschaften; Gesellschaften zur Unterstützung und Besserung ver-
wahrloster und verkommener Personen; Vereine zur Bildung der unteren
Volksclassen; Gesellen- und Jünglingsvereine; Orden mit Wohlthätigkeits-
zwecken (Johanniter etc.).
3. Freimaurerlogen, deren Ausbreitung in den meisten civilisirten
Staaten kein Hinderniss mehr findet.
4. CoiTporationen mit religiösen und kirchlichen Zwecken. Auf keinem
Lebensgebiete zeigt sich die Association rühriger und erfolgreicher, als
auf dem religiösen und kirchlichen. Es lassen sich dabei wieder unter-
scheiden: Associationen aus dogmatischen Gründen, wohin insbesondere
die grösseren christlichen und ausserchristlichen Religions- und Confes-
sionsgesellschaften mit ihren Dissidenten gehören. Diese werden indessen
besser an anderer Stelle ausführlich behandelt. Ferner die kirchlichen
Associationen zu religiöser Bethätigung : Bonifacius-, Vincentius-, Missions-
vereine, Tractat- und Bibelgesellschaften, Gustav-Adolf- Verein, freireli-
giöse Gemeinden etc.
5. Associationen für Fach- und Kunstbildung und Interessen: Ge-
werbevereine, Arbeiterbildungsvereine, landwirthschaftliche Vereine etc.;
sodann gemeinnützige Gesellschaften und Academien; Geschichts- und
Alterthums-, literarische und Lesevereine, Academien der Wissenschaften,
der Künste, Kunst- und Musikvereine etc.
6. Associationen zu* nationalen und politischen Zwecken, wie der
deutsche Nationalverein, der deutsche Turnerbund mit (1863) 1701 Tuni-
vereinen und 170000 Turnern; Schützen-, Militär-, Veteranen-, Invali-
denvereine; Wahl-, Verfassungs- und Volksvereine.
So sehr all diese Associationen damit beschäftigt sind, ihre eigenen
Angelegenheiten statistisch zu beobachten, und so sehr eine vollständige
Statistik des Vereinswesens geeignet wäre, lehrreiche und bedeutungsvolle
Gesellschaftliche und politische Gliederung des Volkes. 415
Aufschlüsse über eine Menge von Lebensbeziehungen zu geben, welche
anderweitig gar nicht oder nur unvollständig zu erhalten sind: so fehlt es
doch an einer Concentration des riesenhaften vereinzelten Materials, an
einer systematischen Beobachtung des gesammten Genossenschaftswesens.
Sie hätte bei allen einzelnen Genossenschaften sowohl als bei den die
verschiedenen Zwecke derselben verfolgenden Hauptgruppen Zahl, Wohn-
sitz, Mitgliederzahl und Mittel zu erheben, und weiter sorgfältige Beobach-
tungen der Veränderungen anzustellen. Würden diese Veränderungen ver-
glichen mit den Veränderungen, welche die von den Vereinszwecken
repräsentirten Lebenserscheinungen überhaupt erleiden, so würde dies
neue Aufschlüsse geben sowohl über die Macht des genossenschaftlichen
Zusammenhanges überhaupt, als auch über jeden einzelnen von den Ver-
einen als Zweck verfolgten Lebenskreis.
in. Stände. Der Unterschied der Geburtsstände (gestützt auf
die Abstammung und die damit zusammenhängenden Heimats- und Be-
sitzverhältnißse), d. h. der Unterschied von Adel-, Bürger- und Bauern-
stand hat wesentlich nur mehr historisches Interesse. Denn einestheils
sind die Verschiedenheiten in der politischen Stellung dieser Stände fast
vollkommen verschwunden, anderentheils sind auch die gesellschaftlichen
und wirthschaftlichen Unterschiede, welche diese Stände früher trennten,
sehr abgeschwächt worden durch die Ausbildung eines vierten Standes
der, an sich eine Negation aller ständischen Gliederung, in jene drei histo-
rischen Stände eindrang, sie zersetzend und die Grenzen zwischen ihnen
verwischend. Von statistischem Interesse sind heutzutage nur mehr die
Berufsstände, deren Untersuchung jedoch der wirthschaftlichen Stati-
stik angehört.
IV. Eink.ommensclassen. Die durch die verschiedenen Höhen
und Quellen des Einkommens gebildeten Classenunterschiede finden ihre
Betrachtung passenderweise durch die wirthschaftliche Statistik.
V. Jene Classenunterschiede, welche durch Bildung und ge-
sellschaftliche Stellung geschaffen werden, sind fast vollständig
unerfassbar. Und es muss entschieden als ein politisches und sociales Glück
erscheinen, wenn bei hoher Gesammtbildung des Volks diese Unterschiede
so fliessende sind, dass sie der Statistik unzugänglich bleiben; wenn der
Rang der Stände und Classen respectirt wird, soweit er auf Bildung beruht,
aber der Uebergang von einem zum anderen leicht ist.
Doch so gewaltig auch der nivellirende Zug im socialen Leben von
heute ist: es scheint dennoch, als sei der Trieb zur Bildung und Abgren-
zung neuer gesellschaftlicher Classenunterschiede nicht abgestorben, son-
dern werde nur von Zeit zu Zeit in andere Bahnen gelenkt.
416 VOlkerfamilien, Stftniine, Nationalitäten.
Durch die Verbesserungen des Schulwesens sind die Unterschiede
der Bildungsclassen insofern modificirt worden, als diejenige Minimalbil-
dung, welche den untersten Bildungsclassen zukommt, eine höhere und
allgemeinere geworden ist. Die Vervielfachung der Schularten hat gewiss
dazu beigetragen, die Unterschiede der Bildungsclassen abzuschwächen.
Dagegen hat in einzelnen Ländern, so insbesondere in Deutschland und
Oesterreich, das Institut der Einjährig-Freiwilligen unbestreitbar den An-
lass zu einer Neubildung eines Bildungs- und socialen Rangunterschieds
geschaiFen.
§. 201. Völkerfamilien, Stämme, Nationalitäten.
I. Wesen der Nationalitäten. Die Familie erweitert sich, der
allgemeinen Tendenz der Bevölkerungsvermehrung folgend, zu Horden,
Nationen, Volksstämmen. Die Nationen sind die natürlichen Völker,
deren Zusammengehörigkeit vorzugsweise auf physischen Eigenthümlich-
keiten beruht oder wenigstens auf vielhundertjähriger Gemeinsamkeit des
Lebens und der Sitte, während die politischen Völker zum gemeiösämen
Bande ihren Staat, ihr Recht, ihre Politik, ihre Wehr- und Finanzkraft
haben.
Bei den meisten höher entwickelten Staaten hat die Betrachtung des
natürlichen Volkes mehr ein historisches als ein statistisches Interesse. Von
den heutigen grösseren Staaten hat keiner ein einheitliches natürliches Volk
von ungemischter Abstammung, ganz gleicher Sprache und Sitte. Die
statistische Untersuchung der natürlichen Völker ist indessen dann von
besonderer praktisch-politischer Bedeutung, wenn Theile der Bevölkerung
eines Staates durch ihre Eigenthümlichkeiten den Culturzustand des Staates
wesentlich bedingen. Es ist ein Bestreben jedes Staates, seine Bevölkerung
zu einer Einheit heranzubilden und die bestehenden natürlichen Unter-
schiede zu verschmelzen. Eine lebendige Entwickelung jener Staaten ist
immer schwierig, wo die Bevölkerung aus Nationalitäten von sehr ver-
schiedenem Charakter besteht, unter welchen nicht eine ganz entschieden
das politische und moralische Uebergewicht hat. Solche Staaten sind immer
mehr Kunstwerke als lebendige Körper; sie werden mehr durch äussere
Kraft als durch innere Anziehung zusammengehalten. Ein lebendiges und
nationales Staatsleben kann sich dort erst nach langen und heftigen Rei-
bungen, Schwankungen und Kämpfen entwickeln, wenn entweder ein
Volksstamm durch Gewalt oder geistiges Uebergewicht der herrschende
geworden, oder wenn allmälige Ausgleichung der Unterschiede und Stamm-
vermischung stattgefunden hat.
Je mehr deutliche Eigenthümlichkeiten jeder Stamm hat, desto
schwieriger ist solche Vermischung.
Völlrerfainilien, Stämme, Nationalititen. 417
IT. Die unterscheidenden Kennzeichen der Völkerfamilien aber
sind im Wesentlichen folgende:
1. Der Körperbau, und zwar insbesondere die Schädel- und Ge-
sichtsbildung. In letzterer Hinsicht unterscheidet man Orthognaten (mit
vortretender Stirn und geradem Kiefer, die meisten Europäer) und Pro-
gnathen (mit zurücktretender Stirn und vorgeschobenem Kiefer, Asiaten
und Amerikaner). Schädelform und Gesichtsbildung werden innerhalb ge-
wisser Grenzen während der Entwickelung des menschlichen Organismus
umgestaltet. Je gleichartiger die Ursachen dieser Umgestaltung wirken,
desto typischer werden Kopf und Gesicht einer Mehrzahl von Individuen.
Die Civilisation mit ihrer Mannigfaltigkeit von Einflüssen lässt solche
Gleichartigkeit der Körperbildung nicht sich ausbilden; sie verändert den
ursprünglichen Typus mehr und mehr und macht ihn unkenntlich.
2. Die Hautfarbe. Mit mehreren anderen Eigenthümlichkeiten zu-
sammen ist sie Haupteintheilungsgrund der von der älteren Ethnographie
beliebten Racenunterscheidung. Sie umfasst die kaukasische Race
(weiss, etwa 375 Mill. oder 28,8^ aller Menschen); die mongolische
(gelb^ mit geschlitzten Augen und vortretenden Backenknochen, etwa 528
Mill. oder 40,6^); die äthiopische (schwarz, mit Kraushaar, vortretenden
Kiefern, wulstigen Lippen, stumpfer Nase, 196 Mill. oder 15 Jl^); dieamerik.
(röthlich-braun, mit schwarzem Haar, breitem Gesicht, etwa 10 — 11 Mill.)
und die malayische (braun mit schwarzem Haar, breiter Nase, grossem
Mund, 200 Mill. oder 15,3j6). Auch die Hautfarbe ist keine absolut fest-
stehende Eigenschaft; sie ändert sich im Laufe der Zeit bei verändertem
Wohnsitz und Mischehen.
3. Andere körperliche Abzeichen, so namentlich die Beschnei-
dung der Juden und Moslimen. Körperliche Abzeichen überhaupt sondern
die Volksstämme am hartnäckigsten von einander ab.
4. Die Urheimat, die ältesten Siedelungen. Die bestimmte Natur
jedes Theiles der Erde muss nothwendig einen äusserst constanten und
gleichmachenden Einfluss auf seine Bewohner ausüben und zwar auf deren
körperliche Entwickelung sowohl als auf ihr wirthschaftliches und geistig-
sittliches Leben. So schafft die Natur ihres Wohnsitzes den Völkerfamilien
eine ganze Reihe von charakteristischen Eigenthümlichkeiten, deren Ursprung
zu verfolgen aber nicht Sache der Statistik, sondern historischer Forschung
ist. Nur da, wo Völkerschaften nachweisbar seit unvordenklichen Zeiten
bestimmte Wohnsitze innehaben, kann die Statistik dieses Kennzeichen
ohne weiteres benützen.
5. Die Sitte, die Art und Weise, in den wichtigsten Lebensver-
hältnissen sich zu benehmen. Je nach dem Kreise von Menschen, innerhalb
dessen sie herrschend geworden ist, ist sie allgemein menschliche Sitte;
Haushofer, Statistik. 2. Aufl. 27
418 YölkQTfamilien, SUmme, Nationalitftten.
religiöse S. (christliche, jüdische S.); nationale S.; Standessitte;
Classensitte; iocale Sitte. Die nationale Sitte, welche hier allein in
Betracht kommt, wird dem Volke grossentheils durch die Natur seines
Wohnsitzes, auch durch einzelne geschichtliche Ereignisse aufgedrungen.
Auf ihre Unterschiede wirkt die Civilisation vorzugsweise nivellirend ein.
Nationale Sitte äussert sich zunächst in der Wohnung, wo sie jedoch,
wenn nicht klimatische Verhältnisse es hindern, gerne dem Comfort der
Civilisation weicht; sodann in der Nahrung, welche wesentlich vom
Charakter der Rohproduction abhängt. Auch in der Kleidung, In diesem
Punkte hängt die nationale Sitte zäher am hergebrachten, so dass eigene
Nationaltrachten, wo sie im Gebrauche sind, scharf absondern und ihre
künstliche Einbürgerung sogar als nationalpolitisches Agitationsmittel ge-
braucht wird. Ferner zeigt sich nationale Sitte in den Gebräuchen des
Volkes bei den Hauptabschnitten des Lebens, bei der Geburt, Erziehung,
Eheschliessung etc. Hier aber scheidet sie die Nationen nicht scharf und
weicht mehr und mehr allgemeinen Moden der Civilisation wohl deshalb
so leicht, weil es sich ja doch vielfach nur um äussere Formen handelt.
Ebenso ist dies der Fall hinsichtlich nationaler Vergnügungen, welche
gleichfalls als Theil nationaler Sitte erscheinen, aber, wenn sie es verdienen
und häufig auch wenn sie es nicht verdienen, bereitwilligst von anderen
Nationen angenommen werden. Gebräuche und Vergnügungen bleiben um
so constanter national, je inniger sie mit dem Wohnsitze des Volkes und
seinen wirthschaftlichen Lebensverhältnissen zusammenhängen.
Alle diese Kennzeichen aber gestatten meistens nur mangelhafte
Massenbeobachtung. Völlig ausgeschlossen ist dieselbe jedoch durchaus
nicht. Es gibt nationale Arbeits sitten, welche recht wohl eine zifFer-
mässige Beobachtung gestatten (z. B. die übliche Arbeitszeit; die Zahl der
üblichen Festtage etc.) und Genusssitten, bei welchen das Gleiche der
Fall ist. Zum B. der durchschnittlich übliche Lebensbedarf der Arbeiter-
familie; manche landesübliche Consumtionen (s. d.) und dgl.
6. Als gewöhnlichstes Kennzeichen der Angehörigkeit zu einer
Nationalität gilt die Sprache. Dieses Kennzeichen ist im Allgemeinen
auch das richtigste, reicht aber fär sich allein nicht aus. Es ist ein
natürliches und historisches.
Einzelne Individuen, welche unter eine andere Nation versetzt werden,
nehmen häufig, ihre Nachkommen fast immer die Sprache der neuen
Heimat an. Auch ganze Gruppen von Eingewanderten, Bruchstücke und
Trümmer ganzer Nationen wurden dahin gebracht, die Sprache jener
Länder anzunehmen, in welche sie eingewandert sind. So reden die Juden
in Deutschland deutsch. Und doch wird Niemand läugnen, dass sie den
Stammeseigenthümlichkeiten der germanischen Nationalität femer stehen,
YOllerfamilien, Stftmine , Nationalitäten.
419
als z. B. die Franzosen, welche französisch reden. In solchen Fällen ist
offenbar die Sprache nicht hinreichend, um die Nationalität als solche
abzuschliessen. Sie weist eben manchmal nicht auf die Abstammung hin,
sondern auf Erziehung und Unterricht.
Namentlich dann ist die Sprache gar kein Kennzeichen der Natio-
nalität, wenn sie den Voreltern eines Volkes durch Eroberer eingepflanzt
wurde.
Anmerkung.
Eine gedrängte Uebersicht der Stamm- und Nationalitäteuverhältnisse in
den verschiedenen Ländern ergibt folgendes Resultat. (Wo nicht andere Quellen
augegeben, nach dem Goth. Hofk.)
Im Deutschen Reiche lassen sich unterscheiden (1871):
1, Deutsche Bevölkerung im Ganzen 37,820000.
a) Oberdeutsche Stämme (Bayern, Schwaben, Alemannen) zusammen
etwa 6 Mill.
b) Niederdeutsche (Niedersachsen, Friesen, Westfalen, Märker, Pommern,
Preussen) zusammen etwa 14 — 15 Mill.
c) Mitteldeutsche (Frauken, Rheinländer, Pfälzer, Hessen, Thüriuger,
Sachsen, Schlesier) 16—17 Mill.
2. Nichtdeutsche Bevölkerung, im Gauzen 3,160000, d. i. S% der Ge-
sammtbevölkerung. Im Einzelnen: 2,450000 Polen, 140000 Wenden,
50000 Czechen, 150000 Lithaüer, 150000 Dänen, 220000 Franzosen.
In 0 es ter reich -Ungarn erscheint die nationale Zersplitterung haupt-
sächlich deshalb so bedeutend, weil die Hauptnationen des Staates sich au-
uähei-ud im Gleichgewichte halten. Für 1876 wurden (nach Sprachen) ange-
nommen :
Oesterreich
Ungarn
Zusammen
Millionen
Deutsche
7,800000
1,800000
9,6
Czechen
5,000000
2,000000
7
Rutheneu
2,600000
.600000
3,2
Polen
2,500000
—
2,5
Kroaten, Serben
580000
2,570000
3,1
Slovenen
1,190000
60000
1,2
Armenier
4000
5000
Albanesen
1500
2100
Magyaren
20000
5,680000
5,7
Romanen
185000
2,800000
2,9
Italiener
630000
3000
0,6
Israeliten
860000
580000
M
Zigeuner
8000
159000
0,1
Bulgaren
—
30000
Griechen
2300
1000
Andere
13000
7100
Grossbritannien.
Der Stammesunterschied unter der Bevölkerung ist
grösser als gewöhnlich geglaubt
wird. Man
nimmt 6 Hauptstämme an: den
27*
420 Völkerfamilien, Stämme, Nationalitäten.
Englischen, Germanisch-Schottischen, Gälisch-Schottischen, Wallisischen (Kym-
rischen), Irischen und Französischen (auf den normannischen Inseln). Zahlen-
angaben über deren Stärke fehlen.
Schweiz. Die Nationalitäten sind hier nicht nach einzelnen Personen,
sondern nach Haushaltungen classificirt. Man erhielt dabei im Jahre 1870
folgendes Resultat:
1. Deutsche: 384538 Haushaltungen. 14 Cautone sprechen nur deutsch.
2. Franzosen: 133575 Haushaltungen, vorzugsweise in Waadt, Neuenburg
und Genf, dann auch in Wallis, Freiburg und Bern.
3. Italiener: 3t)079 Haushaltungen, meist im Canton Tessin.
4. Rhätier: 8778 Haushaltungen, fast alle in Graubünden. Letztere sind
in starkem Rückgange. — Dabei leben in der Schweiz über 150000 Ausländer
= 5,7% der Bevölkerung.
Belgien. 1. Deutscher Volksstamm mit flämischer Sprache, */? ^^^ G®~
sammtbevölkerung in den beiden flandrischen Provinzen, Antwerpen, Limburg
und Brabant.
2. Keltischer Volksstamm mit französischer oder wallonischer Sprache,
'/y, in Lüttich, Luxemburg, Namur, Hennegau und einem Theile von Brabant
(Heuschling).
Von 5,3 Mill. Einwohnern Belgiens sprechen 2,659890 flämisch, 2,256860
französisch, 340770 flämisch und französisch, 38070 deutsch.
Niederlande: 1. Holländer und Batavier, etwa 2,400000 in Holland,
Zeeland, Utrecht und Geldern. Sprache plattdeutsch.
2. Friesen, 7i ^i^^- "i Friesland, Groningen, Drenthe und Oberyssel, mit
holländischer Mundart.
3. Flamänder, gegen 400000 in Nordbrabant und Limburg.
4. Niederdeutsche, 50000, in Limburg (Kolb).
Frankreich. Der Abstammung nach unterscheidet Block:
1. Den keltischen Stamm mit zwei grossen Familien: der gallischen und
kimrischen, von welchen die letztere wieder in Kimrer der ersten und zweiten
Invasion zerfällt.
2. Den iberischen Stamm mit zwei Aesten : den Aquitaniern und Liguriem,
wohnhaft an den Pyrenäen, der Garonne, dem Mittel meer.
3. Den pelasgischen Stamm, enthaltend die griechisch-jonische Familie,
wohnhaft in einem Theile der Provence, und die griechisch-lateinische, wohn-
haft in Corsica.
4. Den arabischen Stamm, d. i. die Israeliten Frankreichs.
5. Den germanischen Stamm in Elsass und Lothringen (vor dem J. 1871).
Der Sprache nach dürften etwa 20 Mill. rein französisch sprechen, 12*/^
Mill. provencalisch.
Dänemark. Die Bevölkerung gehört durchgängig zum germanisch-
skandinavischen Volksstamm. Island und die Faröer wurden von Dänemark
und Norwegen aus bevölkert.
Schweden. Die Bewohner gehören (1870), mit Ausnahme von 6711
mongolischen Lappen in den sog. Lappmarken, und von 14932 Finnen, welche
aber ihre ursprüngliche Sprache aufgegeben haben, zum germanisch-skandina-
Yölkerfamilien, St&mme, Nationalitäten. 421
Yischeu Volksstamme, welcher sich hier im Laufe der Geschichte zu einer be-
sonderen schwedischen Nationalität auggebildet hat.
Norwegen. Neben den germanischen Norwegern sind (im J. 1875) 15718
Lappen, hier Finnen genannt, darunter 1073 Nomaden; dann 7594 Kwänen.
Ausserdem gemischte Racen der Norweger und Kwänen, Norweger und Finnen,
Kwänen und Finnen. Die Kwänen sind Einwanderer aus Finnland.
Spanien. Die eigentlichen Spanier sind ein Gemisch der früher da
hausenden Völker: Kelten, Römer, Alanen, Gothen, Sueven, Vandalen, Mauren
und Araber. Das maurisch -arabische Element ist besonders in Andalusien
herrschend. Ausser den Spaniern etwa */« Mill. Basken, . 60000 Moriskos, Ab-
kömmlinge der Mauren in den Thälern der Sierra Nevada und in den Apuljaren;
etwa 1000 deutsche Colonisten in der Sierra Morena, 45000 Zigeuner und
wenig Juden.
Portugal. Die Stammrerschiedenheit der gegenwärtigen Bevölkerung
ist unbedeutend; an den Handelsplätzen haben sich viele Engländer angesiedelt,
Neger, spanische Galizier und Creolen finden sich in der arbeitenden und
dienenden Classe; Juden sehr wenige.
Italien. Als ein politischer Vorzug Italiens vor ^anderen grösseren Staaten
ist es zu betrachten, dass seine Gesammtbevölkerung mit Ausnahme von i^Z%
der gleichen Nationalität angehört. Zu 23,928870 Italienern kamen nach der
Zählung von 1861 noch d 34435 Franzosen, 55453 Albanesen, 29233 Juden,
26892 Slovenen, 20418 Griechen, 20393 Deutsche, 7036 Catalonier, 5546 Eng-
länder u. s. f. Zum deutschen Stamme insbesondere gehören ausser den Fremden
die Bevölkerung in einigen Gebirgsthälern der Kreise Aosta , Ossola und
Valsesia, die sog. Sette communi in der Provinz Vicenza und die Tredici com-
muni in der Provinz Verona (Brachelli).
Griechenland. Ueber 900000 eigentliche Griechen — nach Fall meray er
ein albanesisches Mischlingsvolk ; gegen 280000 Albanesen , Arnauten , ein
bulgarisch-slavisches Mischlingsvolk; 20—30000 Armenier, eine Anzahl sogen.
Franken, d. i. Westeuropäer. Im eigentlichen Griechenland höchstens 500, auf
den Inseln aber etwa 6000 Juden.
Türkei. Das verworrene Völkergemisch der Balkanhalbinsel hat sich
zwar ein wenig gelichtet, seit einige der vormals türkischen Schutzländer als
selbständige Staaten sich consolidiren konnten; doch herrscht immer noch ein
höchst bedenkliches ethnographisches Durcheinander. Was jetzt noch zu den
unmittelbaren Besitzungen des türkischen Reiches in Europa gehört, wird
ausser den Osmanen oder eigentlichen Türken noch bewohnt von: Albanesen
(Skipetaren, Arnauten, etwa 1,3 Miil.), Griechen, Zinzaren (Makedowlacheu)
Serben und Bulgaren, Zigeunern, Arabern, Juden, Tartaren, Armeniern, Tscher-
kessen u. s. f. Die Zahl der Osmanli wird in den unmittelbaren Besitzungen
auf 1,9 Mill., in der ganzen Türkei mit Hinzurechnung von Ostrumelien. Bul-
garien und Bosnien dagegen auf 3,4 Mill. veranschlagt.
Russland. Eine nicht sehr verlässige Schätzung gibt an:
Grossrussen 33,000000
Kleinrussen (Ruthenen) 11,200000
Weissrusseu . . 3,600000
Fürtrag . 47,800000
422 VOlkerfamllien, St&mme, Nationalit&ten.
Uebertrag . 47,800000
Lithauer und Polen 7,000000
Finnen und Letten 3,300000
Tartaren 2,400000
Deutsche 600000
Grusen und Armenier 2,000000
Juden 1,500000
üralische Stämme 600000
Zusammen . 65,200000
Eine andere Schätzung rechnet: 44 Mill. Grossrussen, 8 M. Kleinrussen,
1,8 M. Kosaken etc., 5 M. Polen, dann 3,8 M. Finnen oder Tschudeu (sammt
Baschkiren); fast 5 M. Tartaren, 1,8 M. Angehörige der lithauisch-lettischen
Familie, 2 M. Kaukasusbewohner, 2 M. Juden, 700000 Deutsche, 212000 Schwe-
den, 700000 Rumänen, 400000 Mongolen, 16000 Samojeden etc.
Vereinigte Staaten. Eine genaue Ausscheidung der verschiedenen
Zweige des kaukasischen Stammes ist unmöglich. Die Zahl der Deutscheu
möchte allerdings, wenn man die Nachkommen der Eingewanderten einrechnet,
5 Mill. sein; allein diese Nachkommen haben in grösster Anzahl aufgehört,
Deutsche zu sein. Nach dem Census ron 1870 waren von den Einwohnern
32,9 Mill. in den Ver. Staaten geboren, 5,5 im Auslande. Von letzteren stammten
2,6 Mill.. aus Grossbritannien, 1,6 Mill. aus Deutschland, 0,6 Mill. aus dem übrigen
Europa. Man zählt 33,5 Mill. Weisse, 4,8 Mill. Farbige, 383712 Indianer, 63254
Chinesen.
Bei den im Folgenden noch weiter angegebenen Staaten und Ländern
ist von einer genauen Zählung der Nationalität nicht die Rede. Namentlich
die Zahlen derjenigen Stämme, welche nicht der weissen Race angehören,
benihen blos auf Schätzungen. Es mögen daher die folgenden Angaben blos
dazu dienen, einen ungefähren Ueberblick zu geben.
Mexiko (Wappäus):
1. Indianer (Reste zahlreicher Völkerschaften, von welchen einige früher
bedeutende Cultur entwickelt hatten): 4,8 Mill.
2. Weisse: 1 Mill. "
3. Mischlinge (Mestizos, Zambos, Mulattos etc.): 2,1 Mill.
4. Neger: 6000.
Die indianischen Sprachen Mexikos allein betragen wenigstens an 40.
Centralamerika:
1. Weisse: 100000 (überwiegend spanische Creolen).
2. Mischlinge: 800000.
3. Indianer: l,i Mill. (mit zahlreichen Sprachen).
4. Neger: 19000.
Columbien (Neugranada):
1. Weisse und Mestizen mit vorherrschend europäischem Element: 1,6 Mill.,
darunter rein weiss kaum 420000.
2. Indianer: 447000.
3. Mischlinge (Mestizen, Mulatten, Zambos): 466000.
4. Neger: 86000.
VOlkerfamilion, Stftmme, Nationalitäten. 423
Venezuela (1839):
1. Weisse (Hispauo-Amerikaiier und Fremde): 260000.
2. Mischlinge von Weissen, Negern und Indianern: 414151.
3. Neger: 49782.
4. Ciyilisirte Indianer: 155000.
5. Unterworfene Indianer: 14000.
6. Unabhängige Indianer: 52415.
Guyana. Ausser den holländischen, englischen und französischen Colo-
nisten Indianer und unabhängige Busch-Neger.
Ecuador. 1. Weisse und Mestizen: 601219, darunter vielleicht 100000
rein weiss.
2. Civilisirte Indianer reiner Race: 462400.
3. Reine Neger: 7831.
4. Mischlinge von Negern mit Weissen und Indianern: 36592.
5. Wilde Indianer, etwa 200000.
Peru. Von der Gesammtbevölkerung zu 2,5 Mill. kommen auf die Indianer
57, auf die Mestizen 22, auf die Weissen 14 und auf die Neger mit ihren
Mischlingen 7^.
Bolivia. 659398 Weisse (die meisten wohl Mischlinge) und 701558
Indianer.
Chile zählt unter seiner Bevölkerung von 1,8 Mill. 150—200000 Weisse,
Vi Mill. Neger, die übrigen Mischlinge und Indianer. Unter den eingewanderten
Europäern sind: 3876 Deutsche, 2818 Britten, 2483 Franzosen, 1247 Spanier,
1037 Italiener, 313 Portugiesen, 831 Nordamerikaner.
Argentinische Republik. Weisse, etwa 250000, meist romanischen
Stammes (Italiener, Franzosen, Spanier); Mestizen, Indianer (civilisirte, halb-
civilisirte und wilde), Mulatten, Neger und Zambos.
Uruguay. Nationale (Orientales, d. h. Weisse, vielfach mit indianischem
Blut gemischt) etwa 6091$, das übrige Fremde. Unter ihnen 2891^ Brasilianer,
27% Spanier, 14J|$ Italiener, 13% Franzosen.
Paraguay. '/^ der Bevölkerung sind Weisse mit Beimischung indiani-
schen Blutes, aber sehr ausgeglichenem Raceucharakter , welche trotz der be-
deutenden Zufuhr indianischer Elemente den kaukasischen Typus festhalten.
Dazu Vs reine, christianisirte Indianer, Vs Mestizen und Farbige.
Brasilien. Die rein Weissen bilden einen sehr kleinen Bnichtheil der
Bevölkerung; die Neger, theils Sklaven, theils Freie, bilden die zahlreichste
unvermischte Race. Wenig zahlreich sind die ansässigen Indianer unvermischten
Blutes. Die Mischlingsracen, unter einander und mit den reinen Racen in den
verschiedensten Verhältnissen gekreuzt, bilden die Mehrzahl der Bevölkerung.
Die unabhängigen Indianer zerfallen in mehr als 250 Horden, Stämme und
Nationen.
Westindien. Europäische Einwanderer (etwa 89% Spanier, 6% Britten,
5% anderer Nationalitäten) haben die eingebornen Stämme ausgerottet. Zu
ihnen treten Neger (auf Hayti herrschende Race), Mulatten, aus Ostindien
importirte Kuli''s und Chinesen.
Afrika. Zur kaukasischen Race gehören die Berbern, Bischarin, Nubier,
Abessyuier und Kopten, die eingewanderten Araber, Juden, Türken, Armenier
424 Staatsverfassung und Politik.
und Europäer aller Nationen. Die südlichen Nubier und die Oasenbewohuer
sind kaukasisch-äthiopische Mischlinge. Die zahlreichen Völker der äthiopischen
Race sprechen etwa 150 Sprachen.
Asien. Von einer ziffermässigen Gliederung der Nationalitäten und
Stämme kann kaum die Rede sein. Man unterscheidet:
1. Die chinesisch-japanesische Gruppe, zu welcher Chinesen, Japanesen,
Koreaner, Birmanen, Peguanen, Laos und Siamesen, Tonkinesen, Cochinchinesen
und Cambodja- Völker mit sehr verschiedenen Sprachen gehören.
t. Den tartarischen oder hochasiatischen Stamm in den 4 Hauptstämmen
der Tibetaner, Taitaren oder Mongolen, Tungusen und Türken. Ihre Sprachen
zerfallen in unzählige Dialecte.
3. Die tschudischen Völker im sibirischen Tieflande.
4. Die Malayen auf den Inseln.
5. Den indo-europäischen Stamm, umfassend etwa 40 Stämme in Vorder-
indien, dann die Bei udschen, Afghanen, Neuperser und Kurden, Armenier,
Georgier und kaukasischen Bergvölker, Syrer und Araber.
Australien. Neben den mehr und mehr schwindenden Ureinwohnern
des australischen Contineuts und den mit diesen verwandten Australnegern
(Negritos) der Inseln unterscheidet man den culturfähigeren hellfarbigen Volks-
stamm der Inseln, zerfallend in Poljnesier und Mikronesier. Dazu kommt allent-
halben die mächtig eindringende europäische Einwanderung.
§. 202. Staatsverfassung und Politik.
Sammlung und Darstellung der Verfassungsgesetze der verschiedenen
Staaten ist keine Statistik. Eine Statistik des Verfassungslebens der Staaten
hat vielmehr die Aufgabe, die dahin gehörenden Erscheinungen in Quan-
titäten aufzulösen. Diese Aufgabe ist bisher erst angebahnt.
Diejenigen Quantitäten , um die es sich hier handelt, sind die
Summen der vei-schiedenen einzelnen Willen, welche auf die Leitung der
Staaten Einfluss haben. Aber diese Einflüsse sind qualitativ sehr ver-
schieden.
Ist der Staate um Jessen Verfassungsstatistik es sich handelt, eine
absolute Monarchie, dann ist ein einziger staatlicher Wille vorhanden;
derselbe ist in seiner Geltendmachung durch den Druck der öffentlichen
Meinung zwar beschränkt, dass Maass dieser Beschränkung aber ist unbe-
rechenbar.
Handelt es sich um eine constitutionelle Monarchie, so stehen dem
Einzelnwillen des Monarchen eine Reihe von anderen Willensmächten
verfassungsmässig zur Seite; miteinander stellen sie eine politische Quan-
tität dar. Auch hier fehlt es an einem Maasse für die Beurtheilung des
quantitativen Verhältnisses beider Factoren zu einander. Doch, gibt es
einige Punkte, welche in den Gesichtskreis der Statistik fallen. Diese sind :
Staatsverfassung und Politik. 425
1. Die Zahl der Abgeordneten.
Nach dem Gesetze der grossen Zahl ist die 'Stimme der Volksver-
tretung ein desto deutlicherer und genauerer Ausdruck des Volkswillens,
je grösser die Zahl der Repräsentanten.
Nun ist freilich die Art der Volksvertretungen wieder verschieden.
Die nach Ständen gegliederten Volksvertretungen haben einen wesentlich
anderen Charakter als jene ohne ständische Gliederung. Die vom Monarchen
etwa ernannten, die aus der Verfassung berufenen, die durch indirecte und
die durch directe Wahlen erwählten Repräsentanten vertreten nicht die
gleichen Richtungen des Volkswillens.
Der Wille der Regierung ist um so energischer, je kleiner die Zahl
der herrschenden Personen. In einer Versammlung, welche regiert, hat
jedes Mitglied neben allem Patriotismus seine besondere Meinung, durch
welche die Kraft des Gesammtwillens geschwächt wird. In der reinen
Demokratie ist die Staatsgewalt am schwächsten, weil jeder Staatsbürger
einen geringen Antheil an der Macht und am Gesammtinteresse hat, gegen
welchen sein Privatinteresse häufig weit überwiegt.
Je grösser Gebiet und Bevölkerung sind, desto mehr liebt es die
Staatsgewalt, sich zu concenti-iren.
Es ist klar, dass in einem constitutionellen oder republikanischen
Staatswesen der Antheil jedes Staatbürgers an der Staatsgewalt in eben
dem Verhältnisse abnimmt, als die Bevölkerung wächst. In einem Staate,
welcher 500000 Staatsbürger hat, ist der Antheil jedes einzelnen an der
Herrschaft = Vsooooo^ während die ganze. Staatsgewalt auf ihn als Unter-
than drückt.
Die Grösse der Bevölkerung ist in Hinsicht auf das Repräsentativ-
system von solcher Wichtigkeit, dass sich darnach ganz verschiedene Be-
dingungen und Resultate ergeben.
Ausser den Zahlenverhältnissen kommen freilich noch andere Fac-
toren ins Spiel, deren Berücksichtigung nöthig, so dass kaum eine andere
politische Handlung so eingehender statistischer und politischer Vorarbeiten
bedarf, als die Anfertigung eines Wahlgesetzes.
In einem grossen Einheitsstaate, wo die Mehrzahl der Wähler die
Candidaten nicht kennt und wegen des geringen Werthes der individuellen
Wahlberechtigung nur wenig Interesse für die Wahlen hat, kann je nach
der Lage die Regierung oder eine Oppositionspartei die Wahlen dirigiren.
Anders bei einem aus verschiedenen Stämmen oder Nationalitäten, welche
föderativ verbunden sind, bestehenden Staatswesen.
Ein anderer hier gleichfalls nicht zu vergessender Factor liegt darin,
ob für die Kirchthurminteressen locale kleinere Vertretungen vorhanden
426 Staatsverfassimg and Politik.
sind oder ob diese Interessen gleichfalls die grosse Repräsentantenver-
sammlung als Tummelplatz ansehen *).
2. Das active Wahlrecht. Das Verhältniss zwischen der Zahl
der activ Stimmberechtigten und der Bevölkerung überhaupt ist verschieden
je nach dem Wahlgesetze. Die neuere Zeit zeigt in dieser Hinsicht eine
Tendenz zur Verallgemeinerung des Stimmrechtes. Die politischen Rechte
gewinnen allgemeinere Verbreitung als jemals *).
Die günstigste Verhältnissziflfer stellt das allgemeine Stimmrecht her.
Vor kurzem noch verachtet, ist es in der Schweiz, in Italien, Frankreich
und für das Deutsche Reich proclamirt. Es umfasst in der Regel die ganze
einheimische Bevölkerung. Fasst man die Stimmberechtigten als Procent-
satz der Gesammtbevölkerung, so ist die grösste Ziffer die liberalste. Diese
Ziffer wird beeinflusst durch die verschiedenen Beschränkungen des Stimm-
rechtes.
Beim allgemeinen Stimmrechte ist fraglich, ob die arithmetische
Gleichheit des Stimmrechtes in ihren Resultaten ' stets den Durchschnitt
des Volkswillens ergibt. Die Massen folgen meist irgend einer Autorität:
der Regierung, der Geistlichkeit oder einer politischen Partei. Die Einflüsse
dieser allgemeinen Autoritäten werden häufig wieder durch besondere
Localautoritäten durchkreuzt. Da hiedurch schliesslich die Minderheiten
mehr als gut ist, unterdrückt werden, ist eine der wichtigsten neueren
Fragen auf diesem Gebiete die Vertretung der Minorität. Bei den modernen
Wahleinrichtungen bleiben Minderheiten unvertreten. Denkbar ist sogar,
dass die wirkliche Mehrheit der ganzen Bevölkerung in eine Minderheit
versetzt wird.
3. Die Benützung des activen Wahlrechtes durch die Stimmbe-
rechtigten, also die Zahl derjenigen Wahlberechtigten, welche von ihrem
Stimmrechte Gebrauch machen, gegenüber denjenigen, welche dies unter-
lassen. Diese Zahlen werden namentlich dann wichtig, wenn man beob-
achtet, wie sie in verschiedenen Zeiten und Zuständen sich andere gestalten.
Je grösser die politische Bildung, je bedeutungsvoller die politische Lage,
desto grösser ist die Ziffer der Wählenden^).
4. Die Zusammensetzung der Volksvertretung, das Verhältniss
der in ihr befindlichen Partei- und Standesangehörigen. Man erkennt aus
dieser Zusammensetzung, welche Stände in politisch bewegten, welche in
ruhigen Zeiten zumeist Antheil an der Volksvertretung haben. Immer zeigt
sich dabei, dass die Gewählten einer höheren Stufe des Vermögens und
der Bildung angehören, als der Durchschnitt der Wähler, dass also die
letzteren freiwillig ein gewisses Uebergewicht von Wohlstand und Bildung
anerkennen. Wichtig ist namentlich auch die Frage, wie sich die Partei-
stärke der Wähler zur Parteistärke der Gewählten verhält *).
Staatgrerfassimg und Politik. 427
5. Die Abstimmungen innerhalb der Versammlung und die Resul-
tate derselben sind der statistischen Beobachtung ebenfalls zugänglich. Die
Zählung der Stimmen, also der einzelnen politischen Willen ist eine eminent
statistische Thätigkeit. Von besonderer Bedeutung werden die Abstimmungen,
wenn man beobachtet, wie bei einzelnen Fragen durch besondere Einflüsse
das allgemeine Stimmenverhältniss der Parteien geändert wird. Hier zeigen
sich oft sehr deutlich die accidentiellen Ursachen (höchstpersönliche Motive)
in ihrem Verhältnisse zu den constanten (den Verpflichtungen des Ver-
treters gegenüber dem Programme seiner Wähler). Strenge Parteidisciplin
lässt die accidentiellen Ursachen nicht durchdringen.
6. Die Resultate- des politischen Lebens. Die politischen Ein-
richtungen sind demnach eine grosse; Zahl von Objecten der .Politik; um
diese grosse Zahl kämpft eine andere grosse Zahl, nämlich die Zahl der
verschiedenen Einzelnwillen, der politischen Subjecte. Und diese Einzeln-
willen kämpfen nicht allein um den ganzen Organismus, sondern auch um
jeden seiner Theile. Das zeigt sich im Kleinen in den allgemeinen und
den speciellen Debatten über die neueinzuföhrenden Gesetze bei allen
Volksvertretungen. Je nachdem sich die Zahl der Einzeln willen gruppirt,
gestaltet sich dann ein Ganzes nach dem Willen der Majorität oder die
Majorität nimmt zwar den grösseren Theil eines gegebenen politischen
Ganzen an, ändert aber im Einzelnen; oder sie verwirft das Ganze, ob-
wohl einzelne Punkte darin ihre Zustimmung hätten. Diese einzelnen Punkte,
in welchen die Willen der Majorität sich finden, bilden dann die Wegweiser
und Grundlagen künftiger Politik.
Aus diesem Einfluss der verschiedenen Willen auf die Theile und
auf das Ganze der politischen Einrichtungen resultirt dann die Wirklichkeit.
Und diese hat darum so häufig die Gestalt des Compromisses, welches sich
wirklich als das Mittel zwischen zwei herrschenden Ideen darstellt.
Das ganze Majoritätsprincip, auf dem die Politik der Gegenwart be-
ruht, ist etwas durch und durch Statistisches. Mit ihm gilt das Gesetz der
grossen Zahl auch in der Politik.
Aber nicht nur in der Politik, sondern noch darüber hinaus. Die
ganze öffentliche Meinung ist ein Resultat des Denkens der Masse.
Aumerkuugeu.
') Vergleicht mau die Zahl der Abgeordueteu mit der Volkszahl, so
ergibt sich Folgendes:
428
Staatsverfassung und Politik.
Einwohner-
Einwohner-
zahl, auf
zahl, auf
Staaten
Jahr
welche 1
Abgeordneter
trifft
Jahr
welche 1
Abgeordneter
trifft
Norwegen . . .
1875
16386
Portugal . . .
1874
41012
Dänemark . . .
1876
18656
Spanien ....
1870
41467
Württemberg .
1875
20231
Niederlande . .
i876
48319
Schweiz ....
1876
20444
Grossbritannien
1877
51517
Schweden . . .
1877
22649
Italien ....
1877
55139
Bayern ....
1875
32195
Preussen . . .
1875
59451
Sachsen ....
1875
34507
Oesterreich . .
1878
62239
Ungarn ....
1876
34686
Frankreich
1876
70163
Belgien ....
1875
40932
Deutsches Reich
1875
107625
(Neumann-Spallart: Die Reichsrathswahlen etc. Stuttgart 1880. (S. 2.)
*) Die relative Wahlberechtigung stellt sich in den wichtigsten euro-
päischen Ländern wie folgt' (nach obiger Quelle, S. 10). Auf 100 Einwohner
kommen Wähler in:
Frankreich 25,6
Deutschland 21,4
Württemberg 19,4
Grossbritannien 8,7
Oesterreich 5,9
Schweden 5,9
Portugal 5,4
Belgien 2,3
Italien 2,2
') Unter 100 Abgeordneten geben ihre Stimmen ab (nach obiger Quelle) :
in Oesterreich (1879) 65,6
„ Frankreich (1876) 76,o
„ Italien (1874) 45
im deutschen Reich (1878) . . . 65,i
in Grossbritannien (1874) .... 79,3
„ Italien (1876) 59,2
*) In den deutschen Reichsrathswahlen 1878 verhielt sich die perceu-
tuale Parteistärke der Wähler zu den Gewählten, wie folgt:
Parteien
% Wähler
9^ Ge-
wählte
Parteien
% Wähler
9^Ge-
wählte
Deutschconser-
vativ . . .
Freiconservativ
Lib. Reichspartei
Liberal . . .
Nationalliberal
Fortschritt . .
12,6
13,6
2,7
24,2
6,8
14,9
14,4
2,5
24,9
6,5
Centrum . .
Polen ....
Socialdemokr.
Volkspartei .
Particularisten
Protestpartei
23,3
3,7
7,3
2,7
1,5
24,9
3,5
2,3
0,8
3,5
1,8
Die WeliAraft. 429
Die Wehrkraft.
Neben natürlicher Geschlossenheit des Territoriums, nationaler Ein-
heit und den früher genannten Imponderabilien beruht die Macht des
Staatswesens nach aussen auf seiner "Wehrkraft. Sie ist Object der
militärischen Statistik. Für letztere sind daher zu untersuchen namentlich :
1. Die absolute Kriegs- und Friedensstärke des Heeres.
Wegen der bedeutenden Unterschiede in der Kriegstüchtigkeit und Schlag-
fertigkeit der verschiedenen Völker und ihrer Armeen lassen sich jedoch
aus kleineren Zahlenunterschieden noch keine sicheren Schlüsse auf die
Verschiedenheit der gesammten Wehrkraft ziehen.
Bei den meisten neueren Armeen lassen sich — mag man nun die
Kriegs- oder die Friedensstärke* derselben ins Auge fassen — hinsichtlich
der Verfügbarkeit und Schlagfertigkeit unterscheiden:
a) Feldtruppen, d. h. die sogleich zur ILriegführung im freien Felde
verwendbaren und verfugbaren Truppen.
b) Reservetruppen, diejenigen Truppen, die zwar nach ihrer Aus-
rüstung und Ausbildung für den Felddienst brauchbar, jedoch nicht
sofort, sondern erst nach einem gewissen Zeitraum verfügbar sind.
c) Besatzungstruppen, die nothwendigen Besatzungen der Festungen
und grossen Städte.
d) Landesvertheidigung, diejenigen übrigen Streitkräfte, deren Organi-
sation und Aufstellung für den Fall eines feindlichen Einfalls wenigstens
vorbereitet ist.
Einen genauen Einblick in die Stärke der Armeen erhielte man
nur durch Unterscheidung dieser Bestandtheil.e, von welchen nur die zwei
erstgenannten sich für den Offensivkrieg eignen.
2. Das Verhältniss der Stärke des Heeres auf Friedensfuss zu
jener auf Kriegsfuss drückt ungefähr die schnellere oder langsamere
Schlagfertigkeit aus. Je grösser diese Differenz ist, desto schwächer ist
das Heer bei einem raschen Kriegsfalle.
3. Die Verhältnisse der einzelnen Heerestheile; die Zahlen-
verhältnisse der einzelnen Waffengattungen, der Kanonen, der Pferde; da
wo eine Seemacht besteht, der Schiffe, Kanonen, Pferdekräfte der Schiffs-
maschinen u. s. f.
4. Das Verhältniss zwischen der Mannschaftszahl und der
Volks zahl, resp. der Zahl der kriegsdiensttauglichen Männer. Dieses
Verhältniss drückt die grössere oder geringere Nachhaltigkeit der Kriegs-
stärke eines Staates aus und zugleich die relative Grösse der Arbeitskraft,
welche durch das Heer den übrigen Staatsinteressen, namentlich der
wirthschaftlichen Thätigkeit entzogen wird.
430 Die Wehrkraft.
5. Die Kosten des Militärs, und zwar sot^ohl der absolute Militär-
aufwand, als auch im Vergleich mit dem Gesammtstaatsaufwand, mit
einzelnen Posten des Staatsaufwandes, mit der Bevölkerang.
6. Wie die Sterblichkeit und Morbilität des Militärs überhaupt
in das Gebiet der Militärstatistik hineinragt, so gehören ganz insbesondere
die Verluste an Menschenleben, welche durch die Kiiege verursacht wer-
den, hieher (vgl. §. 97, 98).
Anmerkung.
Sieht man ab von der Unterscheidung in Feldtruppen, Reservetruppeii
etc., welche Unterscheidung nur mit grosser Mühe und genauester Kenntniss
der militärischen Einrichtungen aller Länder durchgeführt werden könnte, so
ergibt sich für die wichtigsten Armeen und die neueste Zeit:
Deutsches Reich: Friedensstärke: 401659 Mann, 179120 Officiere,
Kriegsst.: 1,39S011 Mann, 33281 Off. (ohne Landsturm).
Oesterreich-Ungarn (1879): Friedensst.: 272527 Mann, 16663 Off.,
Kriegsst.: 1,094025 Mann, 31808 Off.
Frankreich: Active Armee: 502764, Kriegsstärke: 1,780300 Manu.
Italien (1879): Stehendes Heer: 737565, Provinzialmiliz 240064, Reserve-
Officiere: 2736, Territorial-Miliz: 564300.
Russland: Reguläre Armee, Friedenst.: 839065, Kriegsst.: 2,149300,
hiezu irreguläre Armee, Kriegsf.: 163560.
Grossbritannien: Reguläre Armee 237678; hiezu Territorial -Armee
359742; kaiserl. Armee in Indien: 127150.
Schweiz (1880): Auszug H9678, Landwehr 95116, zusammen 215063.
Belgien: Friedensst. 46383.
Niederlande: Stehende Armee, Kriegsfuss 63525. Hiezu eine Art Com-
munalgarde, die „Schutteryen".
Dänemark (1880): Kriegsfuss 49054 (bestehend aus I. und IL Aufgebot).
Schweden (1873): Kriegsfuss 171510.
Norwegen (1873): Kriegsfuss 33000.
Türkei: 610200 Kriegsstand.
Rumänien: Friedensst. 19732. Dieselbe wurde jedoch in den letzten
Jahren bis auf circa 48000 Mann erhöht. Hiezu 74000 Mann Territorialarmee,
33000 Mann Miliz.
Serbien: Stehendes Heer 50000. Kriegst. 215000 (?).
Griechenland: Friedensst. 11459 Mann, 659 Off., Kriegst. 35000 Mann.
Spanien (1879): Active Armee 90000, Kriegsstärke 450000. Auf Cuba
38000, Philippinen 10500 M.
Portugal: Friedensst. 33231 M. und 1643 Off.; Kriegsst. 75336 M. und
2688 Officiere.
Vereinigte Staaten: Normaler Effectivstand : 25000 M. mit 2153 Off.;
organisirte Miliz 145219 M. Im Nothfall können 3,434058 Bürger zur Miliz
einberufen werden.
Der Staatshanslialt. 431
§. 204. Der Staatshaushalt.
Die finanziellen Zustände kümmern den Statistiker aus zweifachem
Grunde.
Einestheils beruht das ganze Finanzwesen der civilisirten Staaten
auf einer Reihe von statistischen Operationen; andemtheils sind die finan-
ziellen Zustände Objecte der Statistik, indem letztere sich häufig bemüht,
diese Zustände bei verschiedenen Staaten zu vergleichen, um daraus
weitere Schlüsse zu ziehen.
Die im Finanzwesen auftretenden Thatsachen sind die Einnahmen
und Ausgaben des Staates. Diese Thatsachen sind im höchsten Grade
des ziffermässigen Ausdrucks fähig; sie sind weder völlig willkürlich, noch
völlig gleichbleibend, so dass ihre Verschiedenheit, ihre Bewegung sie
von vorneherein schon zu statistischen Daten stempelt. Die Staatsein-
nahmen werden durch die Einnahmsquellen, die Ausgaben durch die
Staatsbedürfnisse in ihren Veränderungen bedingt, so dass auch die
Forschung nach den Ursachen der Erscheinungen hier ein ausgedehntes
Feld findet.
Es hat aus diesen Gründen die Finanzstatistik schon eine verbreitete
Anwendung gefunden, indem die meisten finanzwissenschaftlichen Arbeiten
auf zahlreichen statistischen Untersuchungen ruhen. Die Finanzwissenschaft
arbeitet vollständig nach der statistischen Methode.
Die statistischen Materialien sind indessen gerade hier von über-
wältigendem Reichthume, so dass sie nur gruppenweise berührt werden
können. Es handelt sich bei den Einnahmen wie bei den Ausgaben um
die absolute Höhe der einzelnen Posten, um die relative Höhe derselben,
verglichen mit der Gesammtsumme der Einnahmen und Ausgaben, um
die Verursachung dieser verschiedenen Höhen, um die Vergleichung der
Einnahmen und Ausgaben, sowie der Staatsschulden, mit der Bevölke-
rung u. s. f.
Im weitesten Sinne des Wortes soll die Finanzstatistik eine Statistik
aller pecuniären und materiellen Verpflichtungen sein, die auf dem socialen
Leben ruhen (v. Baumhauer). Sie begreift deshalb in sich nicht blos die
Verwaltung des Staates, sondern auch der Provinzen, Kreise, Gemeinden,
Kirchenverbände wie aller öffentlichen Anstalten, welche über den Seckel
des Bürgers verfugen und auf seine Kosten Ausgaben machen. Dazu be-
darf die Statistik der abgeschlossenen Rechnungsabi egungen über die
wirklich stattgehabten Einnahmen und Ausgaben. Die Budgets genügen
dafür nicht, da sie später noch geändert werden können.
Im Einzelnen dürfte Folgendes hervorzuheben sein:
I. Die Vergleichung der Budgets ganzer Staaten unter ein-
ander hat grosse Schwierigkeiten. Mit der Anfiihrung der Staatseinnahmen
432 Der Staatehaushalt.
und Staatsausgaben ist verhältnissmässig wenig gethan. Das sind Brutto-
ziffern, die bei scheinbar grosser Verschiedenheit doch grosse Aehnlichkeit
haben können und umgekehrt.
Solche Vergleichungen werden vorgenommen, um ein bestimmtes
Maass für die Machtverhältnisse der Staaten zu gewinnen. Aber mit dem
Stande der Finanzen ist noch nicht ihre Spannkraft, ihre Entwicklungs-
fähigkeit dargestellt; es ist damit noch nicht bewiesen, wie weit sich
durch den Gemeinsinn des Volkes und die Harmonie zwischen Volk
und Regierung in Nothfallen die Einkünfte gestalten können. Diese
Potenzen sind unschätzbar und höchst elastisch. Die Finanzlage eines
Staates und seine Finanzkraft sind verschiedene Dinge. Aus den Steuer-
quoten kann man noch nicht auf die Finanzkraft, sondern nur auf die
Finanzlage schliessen, und auch auf diese nicht sicher wegen des örtlich
so sehr verschiedenen Werthes des Geldes. Wenn z. B. in Deutschland
die Budgets niedriger sind als in Grossbritannien, so muss man bedenken,
dass auch die Leistungen, welche bezahlt werden müssen, nicht so theuer
bezahlt werden. Um auf all das Rücksicht zu nehmen: dazu ist die
Finanzstatistik noch nicht ausgebildet genug.
Ausserdem gibt es sogenannte verborgene Einnahmen und Ausgaben
(v. Hermann), welche in den Budgets nicht erscheinen und daher die
wirkliche Finanzlage und Finanzkraft verdunkeln. So z. B. der colossale
Betrag für die Militärdienstleistung, welcher von den Wehrpflichtigen ein-
gefordert wird, indem sie ihre Dienste für eine Löhnung hergeben, die weit
geringer ist, als ihr Lohn bei freier Arbeit sein würde. Die Opfer an
Zeit und Arbeit, welche von Volksvertretern, Ständen, Geschworenen,
von Beisitzern in Handels- und Gewerbegerichten, von wissenschaftlichen
und technischen Vereinen und Körperschaften dem Staate gebracht wer-
den, erscheinen gleichfalls nicht in den Budgets; eben so wenig die Lei-
stungen unbesoldeter Staatsdienstaspiranten und anderes. Ja die ganzen
ungeheuren Leistungen der freiwilligen Armenpflege gehören ebenfalls zu
den verdeckten Einnahmen und Ausgaben.
n. Die zeitlichen Veränderungen im Staatshaushalt. Inner-
halb einzelner Staaten zeigt die Vergleichung ihrer Haushaltsziffern, dass
Ausgaben und Einnahmen fortwährend in bedeutender Zunahme sind.
Ueberall erweitera sich die Functionen des Staates und damit steigern
sich seine Ausgaben, so dass die Klagen hierüber in der Presse und in
den Volksvertretungen, wie in der Volksstimme selbst nicht mehr zum
Schweigen kommen.
Vielfach sind diese Klagen vielleicht berechtigt, vielfach aber gewiss
auch übertrieben und ohne gebührende Beachtung der gesteigerten Staats-
Die Staatsaasga^en.
433
leistungen erhoben. Will man grosse Staatshandlungen, so müssen die
Staatsbürger grosse Opfer bringen. Denn keine Wirkung ohne Ursache.
Es ist daher auch falsch, zu sagen, die Ausgaben eines Staates
müssten sich nach seinen Einnahmen richten. Kaum richtiger aber ist es,
dass die Einnahmen sich nach den Ausgaben richten müssen.
Beide Lesarten führen ins Absurde, die letztere noch mehr. Denn
für die Ausgaben des Staates lassen sich keine anderen Grenzen ziehen
als die Einnahmen. Sollten sich die Einnahmen nach den Ausgaben richten,
so würde ins Unendliche ausgegeben; die Staatszwecke dehnen sich aus,
so wie sie die Mittel erhalten. Das Ideal ist demnach eine stetige, nicht
zu ungleichförmige und möglichst von allen Classen der Bevölkerung ge-
billigte Steigerung der Einnahmen und der Ausgaben, die den Körper
weder platzen noch verdorren lässt.
§. 205. Fortsetzung. Die Staatsausgaben.
Allenthalben sind die bedeutendsten Ausgabeposten die für das
Militär, für die Flotte, für die öffentliche Schuld und für die Finanzen.
Es entfallen in den europäischen Staaten durchschnittlich von der Ge-
sammtausgabe auf (nach v. Czörnig):
die öffentliche Schuld . . . .26
den Hofstaat 2,2
den Repräsentativkörper ... 0,3
die Centralbehörden ..... 0,5
das Auswärtige 0,7
das Innere 2,o
die Humanitätsanstalten ... 0,3
die Polizei 1,5
die Justiz 3,2
die Strafanstalten l,i
Finanz-, Erhebungs- und Ver-
waltungskosten 20,3
Die Gesammtsumme der Ausgaben stellt sich in den wichtigsten
Staaten wie folgt:
Cultus 2,7
Unterricht, Wissenschaft und
Kunst 2,2
Landescultur, Bergwesen ... 0,5
Gewerbe, Handel, Schifffahrt . 3,2
Oeffentliche Bauten 4,2
Colonien 0,8
Allgemeine und verschiedene
Auslagen 0,6
Militär 21,3
Flotte . 7,1
Hausliofer, Statistik. 2. Aufl.
28
434
Die Staatsausgaben.
Staaten
Jahr
Ausgabeu
in Mill.
Mark
pro Kopf
Mark
Deutsches Reich (Budget)
Preussen r,
Bayern „
Oesterreich-Uugam ... „
Frankreich
Grossbritannien
Italien
Russland „
Schweiz . . . (Cantone und Bund)
Schweden (Budget)
Norwegen
Dänemark „
Belgien „
Niederlande „
Spanien „
Portugal „
Rumänien
Griechenland ,,
1881
1880
1876
1881
1878/79
1880/81
1880
1879/80
1880/81
1879
1880
539,2
11,9
799,2
29,3
221,7
42,0
1460
38,4
2234
60,5
1682
49,3
1114
39,5
2131
25,9
49,9
17,8
84
18,7
41
22,8
46,6
23,8
223
40,6
193,6
48,6
662,5
39,8
147,7
33,7
91,4
17,0
37,9
22,6
Ein Ausdruck der wirklichen Belastung des Volkes sind indessen
die relativen AusgabenzifFern nicht. Diese Belastung wird erst durch die
Betrachtung der Einnahmequellen vergleichbar.
Dagegen sind einige der wichtigsten Ausgabeposten, auf den Kopf
der Bevölkerung ausgeschlagen, ziemlich deutlich sprechende Zahlen.
So zunächst die Kosten der Landesvertheidigung. Sie betragen in
neuester Zeit (1878, 79, 80) für den Kopf der Bevölkerung (Reichs-
mark) in:
Grossbritannien 18,7
Frankreich 15,7
Niederlande 14,9
Argentina 11,5
Türkei 10,3
Deutschland ..,,.... 8,«
Brasilien 8,5
Dänemark 8,»
Russland 7,3
Griechenland .7,3
Oesterreich 6,9
Spanien 6,9
Belgien 6,9
Italien 6,2
Rumänien ,6,2
Norwegen 6,t
Verein. Staaten 6,0
Portugal 5,8
Schweden 5,«
Schweiz 4,7
Ungarn 4,«
Chile 3,8
Serbien 3,6
Canada 0,7
Die Staatseinnahmeu.
435
Die Kosten der Staatsschuld dagegen betragen pro Kopf (Reichs-
mark) in:
Frankreich 24,*
Argentina 18,i
Grossbritannien . 16,«
Italien . 14,o
Spanien 12,o
Württemberg ll,k
Belgien . . ll,k
Verein. Staaten 10,7
Oesterreich 10,5
Sachsen 10,3
Portugal 10,0
Niederlande ........ 9,6
Canada 9,5
Ungarn 9,4
Baden 9,i
Bayern 8,4
Griechenland 7,4
Brasilien • • • 7,o
Rumänien 6,i
Chile 6,5
Deutsches Reich 4,9
Dänemark 4,5
Russland 4,4
Norwegen 3,4
Türkei 3,3
Preussen.. 3^1
Schweden 2,6
Serbien 0,9
Schweiz 0,6
§. 206. Fortsetzung. Die Staatseinnahmen.
Die Zusammensetzung der Einnahmebudgets bietet ein sehr reiches
Feld für Jeden, der sich mit Finanzstatistik beschäftigt. Bei jeder ein-
zelnen Gruppe von Staats-Einnahmen sind hauptsächlich zwei Verhält-
nisszahlen besonders wichtig:- der Procentbetrag, welchen die Einnahme von
der Gesammteinnahme, beziehungsweise von der Gesämmtausgabe be-
ansprucht, und der Einnahmen-Betrag, welcher auf den Kopf der Bevöl-
kerung trifft.
Man unterscheidet zunächst zwei Hauptgruppen von Staatseinnahmen:
Privaterwerb des Staates und die Auflagen.
A. Der Privaterwerb des Staats. Rechnet man hiezu: Domänen
und Forsten, Zinsen und Geldgeschäfte, Staatslotterie (als Monopol eigent-
lich zu den Auflagen gehörend), Berg- und Hüttenwerke, Salinen, Staats-
industrien und Staatsverkehrsanstalten, so entziffert der Nettoertrag all
dieser Einnahmen in:
Staaten
Absolut in
Millionen
Mark
pro
Kopf
Mark
Staaten
Absolut in
Millionen
Mark
pro
Kopf
Mark
Prenssen ...
Bayern
Sachsen ....
183,8-
66,8. .
41,9
7,1
13,8
15,1
12,0
4,2
8,3
Grossbritannien
Italien ....
Oesterreich . .
Ungarn ....
Russland ...
Frankreich ■ . • .
Schweden
103,5
94,7
19,4
24,4
• 157,5'
• 47.8
9,0
. . .
2,9
3,3
0,8
1,6
1,6
2,0
Württemberg .
Baden . . ...
Uebr. Deutsche
Staaten . . , .
Ganz Deutschi. .
45,6
367,3
28^
436
Die StaatseinnaliiDen.
Bezüglich der einzelnen Arten des Privaterwerbs des Staates ist
hervorzuheben :
1. Domänen und Forsten. Von den Nettoausgaben der Staaten
werden durch den Reinertrag der Domänen und Forsten gedeckt in:
Bayern 15,9 Jl^
Württemberg 9,9 „
Deutsches Reich 9,i „
Sachsen 8,9 „
Preussen 7,5 „
Dänemark 4,6 „
Schweden 4,5 „
Baden 3,9 „
Griechenland 3,* „
Ungarn 2,7 „
Chile . 2,3 „
Spanien 2,2 Ji^
Italien 2,o „
Fi'ankreich 1,9 „
Niederlande 1,3 „
Belgien 0,9 „
Grossbritannien 0,7 „
Norwegen 0,7 „
Verein. Staaten 0,7 „
Russland 0,* „
Oesterreich . . 0,« „
Portugal • . . 0,2 „
Bezüglich des Verhältnisses von Brutto- und Nettoertrag ist her-
vorzuheben: Der Ertrag der Domänen und Forsten beläuft sich (in Mil-
lionen Mark) auf:
i n
Brutto
Netto
i n
Brutto
Netto
Deutsche Staaten .
Preussen insbes. .
Bayern „
Baden „
Frankreich . . .
Belgien
Dänemark . . .
Spanien
167,1
78,0
39,2
7,0
42,3
2,1
2,8
?
109,4
42,5
24,5
3,4
35,0
1,9
1,8
11,3
Italien ....
Oesterreich .
Ungarn ....
Russland . .
Niederlande .
Schweden . .
Ver. Staaten
Rumänien . . .
27,8
7,5
22,3
66,0
3,1
3,9
?
14,6
17,5
1,1
6,1
7,4
2,5
3,1
4,5
?
2. Zinsen und Geldgeschäfte. Hieher gehört der Ertrag fest
angelegter Activcapitalien, sowie Antheil des Staates am Gewinn von
Banken und Geldinstituten. Die Nettoeinnahmen hieraus betragen :
i n
Millionen
Mark
i n
Millionen
Mark
Deutsches Reich ....
Frankreich
Grossbritannien ....
Italien
Schweden
Oesterreich
Ungarn
66,4
3,3
32,9
45,0
1,4
3,7
?
Russland
Spanien .
Portugal
Belgien
Dänemark
Niederlande
Norwegen
86,7
30,8
4,6
1,4
4,2
?
1,9
Die SI«atseiiiMkaicA.
437
3. Staatslotterien. Dieselben sind zwar eigentlich als Regalien
anfzafassen, können jedoch — da die betr. Staaten auch die Concurretix
von Privatlotterien dulden — auch
ertrage sind in Millionen Mark in:
Preussen 3,s
Sachsen 3,o
Andere Deutsche Staaten . . 1,%
Italien 18,3
Oesterreich 14,«
hier eingereiht werden. Die Netto-
Ungarn 8^s
Spanien ?
Dänemark 0,»
Niederlande 0^7
4. Berg- und Hüttenwerke, Salinen. Dieselben liefern in
Mill. Mark:
i n Brutto
Netto
i n
Brutto
Netto
Allen Deutschen
Staaten ....
Preussen ....
Bayern
Sachsen
Württemberg . .
Baden
Uebr. Deutsche
Staaten ....
Russland ....
88,32
7,17
?
?
0,w
3,66
?
16,91
H,88
0,83
1,22
0,71
0,2g
2,03
?
Schweiz . .
Italien . . .
Oesterreich ,
Ungarn . . .
Spanien , .
Türkei . .
Belgien . •
Norwegen .
Serbien . .
?
11,19
18,07
9,73
?
?
?
1,22
?
?
«,07
0,42
9,50
10,40
?
?
0,61
0,006
5. Staatsanstalten, gewerbliche, insbesondere Druckereien etc.
Der Nettoertrag liefert in Mill. Mark in:
Deutsches Reich 5,37
Frankreich 4,i2
Grossbritannien 1,93
Oesterreich ........ 0,*7
Ungarn I,t3
Russland 19,io
Belgien 0,18
Dänemark 0,io
Griechenland 0,oo*
Portugal 0,»o
Serbien 0,i«
Spanien ?
Türkei ?
Niederlande ?
Norwegen ?
Rumänien ?
438
Die Staatseiimahmen.
6. Staats Verkehrsanstalten (Post, Telegraphen, Staatseisenbahnen,
Canäle etc.) Ertrag in Mill. Mark:
Brutto
Netto
Brutto
Netto
Preusseu . . . .
Bayern
Sach^eu
Württemberg . .
Baden
Uebrige Deutsche
Staaten . . . .
Ganz Deutschland
Frankreich . . .
Gross britannien .
Italien
Oesterreich . . .
Ungarn
285,1
97,1
?
9
5,9
27,3
101,8
162,0
57,3
40,2
31,7
78,9
35,5
26,3
14,0
0,8
4,9
160,6
22,5
58,8
13,7
8,2
Russland
Spanien .
Türkei .
Belgien .
Dänemark
Griechenland
Niederlande
Noi'wegen .
Portugal .
Rumänien .
Schweden .
Schweiz . .
Serbien . .
74,9
?
3,8
81,7
12,0
?
14,2
5,8
8,2
9
11,6
13,8
34,7
?
-1,5
26,0
1,1
0,8
2,2
4,4
1,0
9
4,6
1,1
0,2
B. Auflagen. Fasst man unter diesem Ausdrucke die directen und
indirecten Steuern (einschliesslich der in Form von Monopolen erhobenen),
sowie die Gebühren zusammen, so ergibt sich Folgendes: Der Netto-Ertrag
der Auflagen beträgt pro Kopf in Reichsmark in :
Frankreich ......... 46,s
Grossbritannien . 39,2
Niederlande 37,3
Italien 26,8
Oesterreich 24,4
Belgien . . . • 19,7
Portugal 19,«
Ungarn 18,0
Baden. 16,e
Russland 16,3
Bayern . . ' 16,i
Deutsches Reich 14,o
Wüi-ttemberg ... ..... 14,o
Sachsen 13,i
Griechenland .13,5
Preussen 13,o
Dänemark . 12,6
Schweden ........ . 12,2
Serbien 6,«
Spanien •5,6
Da indessen der Wohlstand, die Steuerfähigkeit der Völker sehr
verschieden ist, dürfen diese Zahlen nur mit Vorsicht verglichen werden.
Interessant ist die Vergleichung des Steuerbetrages mit der Volks-
dichtigkeit. Dabei zeigt sich, dass in grossen Städten auf einen Einwohner
mehr Steuer kommt, als sonst im Lande. Die Städte sind eben der Sitz
des Reichthums. Gegenden mit unfruchtbarem Boden haben einen gerin-
gen Steuerbeitrag des Kopfes; fruchtbare und sehr industrielle einen hohen.
Bei sehr dichter Bevölkerung ist die Steuerfähigkeit niedriger, als bei
mittlerer Volksdichtigkeit.
Die Staatseinnahmen.
439
Hinsichtlich der einzelnen Arten der Auflagen ist hervorzuheben :
1. Die directen Steuern, umfassend: Grundsteuer, Gebäudesteuer
(auch Thür- und Fenstersteuer), Einkommensteuer, Kopf-, Personal-,
Capital-, Renten-, Erwerb-, Mobiliensteuer, Gewerbesteuer, Handelspatente,
Zehnten, Vieh- und Hundesteuer, Luxussteuern, liefern folgende Erträge
(nebst Belastung pro Kopf in Reichsmark):
i n
Ertrag in
Mill. Mark
i n
Ertrag in
Mill. Mark
Belastung pro
Kopf Mk.
•
1
g
1
1
Deutsche Staat.
265,2
249,5
6,1
Dänemark . .
11,1
10,9
5,7
Frankreich . .
364,1
348,4
9,3
Griechenland .
9,3
9,1
5,6
Grossbritanuieu
289,1
283,1
8,3
Niederlande .
41,3
41,1?
10,3
Italien ....
309,4
302,8
10,9
Norwegen . .
?
?
?
Oesterreich . .
182,1
181,5?
8,2
Portugal . . .
24,5
22,7?
5,6
Ungarn . . .
165,2
163,6?
10,6
Rumänien . .
18,7
16,6 ?
3,3
Russland . . .
425,1
412,5
4,8
Schweden . .
14,5
?
3,2
Spanien . . .
188,4?
31,8
11,5?
Schweiz . . .
?
?
?
Türkei ....
49,6
?
?
Serbien . . .
7,9
7,6
6,0
Belgien . . .
35,5
34,8
6,4
Ver. Staaten
164,4
?
4,2
2. Consumsteuern.
BezügKch der Aufwandsteuern im Allgemeinen ist es eine wich-
tige Aufgabe der Finanzstatistik, tiir jede besteuerte Waare ein gewisses
Maass der Steuer zu ermitteln, bei welchem die letztere am meisten ein-
trägt. So hat man häufig von der Steuerermässigung eine Vermehrung der
Einnahme empfunden.
Die unter dem Namen Consumsteuern hier zusammengefassten Steuer-
arten sind: Tabaks- und Salzmonopol (beziehungsweise Steuer), Rüben-
zuckersteuer, Getränkesteuern (einschliesslich Licenzen für Schankwirth-
schaften), ferner Mahl- und Schlachtsteuern, Steuern auf Getreide, Glas,
Cichorien, Papier, Pulver, Petroleum, Seife, Zündhölzchen.
Die Gesammtheit dieser Steuern liefert in den meisten Staaten
einen sehr erheblichen, in einzelnen den grössten Theil des Staatsein-
kommens.
440
Die Staatseinnahmen.
Gesammtertrag der Cousumsteueru
Absolut iu
Mill. Mark
m
pq ^
Absolut iu
Mill. Mark
PQ
^
^ o
Deutsches Reich
Frankreich . .
Grossbritaunieu
Italien ....
Oesterreich . .
Ungarn
Russland
Spanien
Türkei .
Belgien
241,9
161,6
785,1
704,7?
485,9
449,3
«81,7
266,8
288,9
266,1
116,0
80,7?
775,5
729,4
113,4
19,0
8,8
?
24,9
i9,i?
D,6
21,2
14,0
9,9
13,1
8,6
6,9
?
4,5
Dänemark .
Griechenland
Niederlande
Norwegen
Portugal ,
Rumänien
Schweden
Schweiz
Serbien .
7,5
?
65,6
4,6
28,6
?
16,9
?
0,8
7,4
?
61,2?
4,4
26,8?
?
16,3
?
0,7
3,8
?
16,4
2,5
6,5
?
3,7
?
0,5
Hinsichtlich der wichtigsten Consumsteuern ist zu erwähnen:
a) Der Tabak gibt erhebliche Erträge zur Besteuerung in jenen
Staaten, wo das Tabakmonopol eingeführt ist. Der Bruttoertrag der Tabak-
steuer (bez. Monopol) liefert:
i n
Absolut
in Mill.
Mark
pro
Kopf
i n
Absolut
iu Mill.
Mark
pro
Kopf
Deutsches Reich
1,1
0,02
Ungarn ....
55,9
3,5
Frankreich . .
263,5
7,1
Russland . . .
43,9
0,5
Italien ....
89,6
3,1
Türkei ....
3,2
?
Oesterreich , .
118,0
5,3
Portugal . . .
12,7
2,9
Dagegen in den Vereinigten Staaten (1875) 4,5o Mark pro Kopf.
Die Erti'äge, welche Spanien, Rumänien, die Niederlande und die
Schweiz aus der Besteuerung des Tabaks gewinnen, sind nicht bekannt.
b) Salzsteuer und Salzmonopol. In einzelnen Staaten ist Salz-
production und Salzhandel, in anderen blos der Salzhandel als Regal ein-
geführt worden; andere begnügten sich mit einer Salzsteuer; andere Hessen
das Salz ganz frei. Die Brutto-Einnahme aus dem Salze beträgt:
Die Staatseinnahmen.
441
s=
i n
Absolut
in Mill.
Mark
pro
Kopf
Mark
i n
Absolut
in Mill.
Mark
pro
Kopf
Mark
Deutsches Reich
Frankreich . .
Italien ....
Oesterreich . .
35,9
26,8
64,8
38,7
0,86
0,72
2,65
1,76
Ungarn ....
Russland . . .
Serbien ....
27,8
35,9
0,25
1,78
0,40
0,16
c) Getränkesteuern. Diese wichtigste und ergiebigste Gruppe der
Consumsteuem liefert folgende Brutto-Erträge :
Absolut
pro
Absolut
pro
i n
in Mill.
Kopf
1 n
in Mill,
Kopf
Mark
Mark
Mark
Mark
Preussen . . .
59,9
2,3
Oesterreich . .
69,8
3,1
Bayern ....
22,6-
4,4
Ungarn . . ,
21,8
1,4
Sachsen ....
6,4
2,3
Russland .
677,7
7,7
Württemberg .
6,«
3,5
Belgien . .
22,2
4,0
Uebrige Deutsche
Dänemark
3,8
1,9
Staaten . . .
14,7
—
Niederlande
38,0
9,6
Deutsches Reich
110,3
2,5
Norwegen
4,5
2,6
Frankreich . .
319,2
8,6
Portugal .
1,2 .
0,2
Grossbritannien
314,0
9,0
Schweden .
16,8
3,7
Italien ....
3,4
0,12
3. Zölle. Der Ertrag derselben (mit Ausschluss der Schifffahrts-
abgaben) stellt sich wie folgt:
Staaten .
Absolut in
Mill. Mark
Brutto pro
Kopf Mark
Absolut in
Mill. Mark
S
2
©
Staaten
S
s
Deutsches Reich
Frankreich . .
• Grossbritannien
Italien ....
Oesterreich . ,
Ungarn . . .
Russland . . .
Spanien . . •
Türkei ....
Belgien • . .
114,7
203,9
409,9
93,2
53,0
0,9
241,0
199,5
28,8
14,7
105,9
178,8
390,7
78,8
29,2
217,0
33,5
25,0
11,3
2,6 :
5,5
11,8
3,3
2,4
0,06
2,7
12,2
3,2?
. 2,6
Dänemark .
Griechenland
Niederlande
Norwegen .
Portugal . .
Rumänien
Schweden
Schweiz .
Serbien .
17,0
11,3
7,8
23,6
33,5
?
27,7
12,1
1,8
14,5
10,6
6,6
21,5
29,1
?
23,4
10,9
1,6
8,0
6,7
8,0
13,0
7,7
?
6,1
4,3
1,1
442
Die Staatsschulden.
4. Sonstige Auflagen.
Ausser den hier genannten einzelnen Auflagen existiren in den
europäischen Staaten noch mancherlei Arten derselben: Stempelsteuern,
Einregistrirung, Gerichtssporteln und mannigfache Gebühren, Erbschafts-
steuern, Eisenbahnsteiiem etc. Es ißt selbstverständlich, dass eine ein-
gehende Finanzstatistik auch diese Auflagen, welche grösstentheils ein
sehr günstiges Verhältniss zwischen Brutto- und Nettoertrag aufweisen,
auszuscheiden und zu prüfen hätte.
Der Gesammtbetrag aller nicht unter den directen Steuern ge-
nannten Auflagen verdient gleichfalls Erwähnung, weil er, unter Hinzu-
rechnung der (oben Ziff'er 1 aufgeführten) directen Steuern, ein Ausdruck
der Gesammtbelastung der Völker ift. Die unter Ziffer 2 — 4 genannten
Auflagen betragen zusammen:
Absolut in
Mill. Mark
PQ
I
5i^
Absolut iu
Mill. Mark
g
PQ
P^ cd
U O
Preusseii . . .
Bayern ....
Sachsen . . .
Württemberg .
Badeu ....
Uebr. Deutsche
Staaten . .
Deutsches Reich
Frankreich . .
Grossbritannien
Italien ....
Oesterreich . .
Ungarn . . .
273,8
65,9
20,4
15,8
16,1
60,4
452,6
1543,8
1128,3
484,7
441,6
160,8
187,0
56,6
18,8
13,4
14,7
53,6
344,4
1437,3
1069,0
453,7
353,3
115,1?
10,5
41,0
32,5
i7,i
20,0
10,2
Russland .
Spanien .
Türkei . .
Belgien .
Dänemark
Griechenland
Niederlande
Norwegen
Portugal .
Rumänien
Schweden
Schweiz .
1135,2
369,6?
39,2?
83,6?
33,0
15,7
115,4
29,8
76,2
31,2
50,2
12,1?
1061,7
60,9?
25,0?
72,8?
30,4
14,0
107,6?
27,4
70,0
?
44,4
10,9?
12,8
22,6?
?
?
17,0
9,3
29,0
16,5
17,5
5,8
11,0
?
§. 207. Fortsetzung« Die Staatsschulden.
Der jetzige Schuldenstand der europäischen Culturländer hat eine
erstaunliche Höhe erreicht, üin ihn jedoch richtig zu würdigen, ist es
nöthig, von der Gesammtschuld die Eisenbahnschulden auszuscheiden, weil
letztere in den bezüglichen Bahnen ein rentirliches Werthäquivalent haben.
Die Uebersicht für die letzten Jahre ergibt (nach den im' goth. Hofk. pro
1881 angegebenen Ziffern berechnet):
Die Staatsschulden.
443
Eigentliche
Schuld
Gesammtschuld
Eisenbahn-
Staaten
Jahr
^ä^
^'S.'^
schuld in
^^^
^'S.'^
i^ U
ll^S
Mill. Mark
1- o8
I^^S
^.s^
^^^
J^S
^ws
Preusseii . . .
1880-81
831,2
32
829,4
1660,7
64
Bayern . . .
1879
407,3
81
904,0
1311,4
261
Sachsen . . .
1880
454,9
164
230,9
685,8
248
Württemberg
1879
107,1
56
289,0
396,1
208
Baden ....
1880
27,1
18
324,1
35i,2
233
üebr. Deutsche
Staaten . .
^
292,2
50
121,1
413,4
71
Ganz Deutschi.
—
2120,1
49
2698,6
» 4818,8
112
Frankreich . .
1880
23947,8
605
849,7
24797,6
624
Grossbritannien
1879-80
14834,3
425
—
14834,3
425
Italien ....
1880
10006,4
354
—
10006,4
354
Oesterreich . .
n
6419,5
289
—
6419,5
289
Ungarn . . .
•n
1398,6
89
173,3
1572,0
100
Busslaud . . .
v
5437,8
61
1773,5
7211,4
81
Spanien . . .
1879
9810,7
590
522,1
10332,8
621
Türkei ....
1879-80
5727,1
826
—
5727,1
826
Belgien . . .
1880
1128,8
203
504,0
4632,8
294
Dänemark . .
1878—79
193,9
94
__
193,9
94
Griechenland .
1880
226,9
134
—
226,9
134
Niederlande .
n
1578,9
440
— .
1578,9
440
Norwegen . .
1879
17,1
9
—
17,1
9
Portugal . . .
7)
1745,3
367
—
1745,3
367
Rumänien . .
n
132,5
24
244,9
377,4
70
Schweden . .
n
3,0
0,6
217,0
220,0
48
Schweiz . . .
1880
Ueber-
schuss
—
—
Activ-
überschuss
—
Serbien . . .
1879
28,0
16
—
28,0
16
Ver. Staaten .
1879
8384,9
109
—
8394,9
109
Diese Ziffern sind der Ausdruck einer sehr weit getriebenen An-
spannung des Staatscredits. Sieht man von den Eisenbahnschulden ab, so
sind die meisten Schulden entstanden, um die Mittel zu Kriegen bieten
zu können, haben also kein anderes Werthäquivalent, als die Erhaltung
der Staaten und allenfalls noch die Erhöhung des politischen Einflusses
einzelner derselben. Es ist ein unheilvoller Weg, welchen die Culturstaaten
Europa's mit dieser enormen Anspannung ihres Credits betreten haben.
Fortwährend werden durch die gegenwärtige Generation ihren Nachkommen
Lasten neu aufgebürdet, und es ist kein Ende dieses Verfahrens abzu-
sehen. Niemand wird bestreiten können, dass die Staatsschulden, die ja
444 Die Rechtspflege.
doch durch die Steuerkraft des Volkeß verzinst werden müssen, aus diesem
Grunde auch Schulden aller einzelnen Steuerzahler sind und als solche
auf der gesammten Volkswirthschaft lasten.
§. 208. Die Bechtspflege ^).
Die Justizstatistik soll die Anwendung der Gesetze durch die Ge-
richte bis in das kleinste Detail verfolgen und alle richterlichen Erfah-
rungen wissenschaftlich zusammenstellen. Dadurch offenbart sie die Fehler
und Vorzüge der bestehenden Gesetze, wird zur sicheren Grundlage für
die Weiterentwickelung der Gesetzgebung und gibt ausserdem Aufschlüsse
über die wirthschaftliche und sittliche Cultur der Bevölkerung.
So wichtig hiemach die Statistik der Rechtspflege erscheint, so ist
dennoch nur ein Theil derselben, die Criminalstatistik bisher mit Sorgfalt
gepflegt, die Civilrechtspflege dagegen vernachlässigt worden. Jene wird der
Einheit des Gegenstandes wegen besser im Zusammenhange mit der ge-
sammten Sitten Statistik behandelt.
Das Recht ist das in ewiger Weltordnung begründete und durch
menschliche Satzung festgestellte Gleichgewicht der menschlichen Willen.
Unaufhörlich wird durch menschliche Schwäche und Leidenschaft dieses
Gleichgewicht gestört und durch die geordnete Beobachtung jener Satzung
Seitens der Staatsgesellschaft wieder herzustellen gesucht. Das Maass
dieser Störungen, ihre Bewegung, ihre Wiederausgleichung darzustellen
und zu untersuchen, in Zusammenhang zu bringen mit anderen Erschei-
nungen des Menschen- und Völkerlebens: das ist die Aufgabe der Rechts-
statistik.
Die Statistik der Civilrechtspflege insbesondere ist mit der
Criminalstatistik verwandt wegen einer gewissen Gleichartigkeit des Beob-
achtungsgegenstandes — da es sich bei dieser wie bei jener um Rechts-
fälle handelt — und der Erhebungsmittel.
Doch besteht ein ganz wesentlicher Unterschied. Denn während die
Criminalstatistik mit sittlichen Zuständen sich beschäftigt, spiegelt die
Civilrechtspflege mit wenigen Ausnahmen (z. B. Ehescheidungen) wirth-
schaftliche Volkszustände ab. Wir unterscheiden hier:
I. Die streitige Gerichtsbarkeit. Wichtig ist schon:
1. Die Zahl der Processe*). Sie ist bedingt:
A. durch die Zahl der abgeschlossenen Rechtsgeschäfte;
B. durch die grössere oder geringere Streitsucht der Bevölkerung;
aber auch
C. durch die Beschaffenheit des geltenden Civilrechts und Pro-
cesses.
Die Beehtspfleg«. 445
Die Zahl der Processe läset Schlüsse auf ihre Bedingungen ziehen.
Aber man muss sammtliche Bedingungen im Auge behalten. Eine kleine
Zahl von Processen kann ebensowohl Folge vertraglichen Volkscharakters
sein, als auch unentwickelten Verkehrslebens oder grosser Schwierigkeit
der Processfuhrung.
2. Der Werth der Streitgegenstände.
3. Die Art der Processerledigung, namentlich die Zahl der
geschlossenen Vergleiche, der vergeblich oder erfolgreich gehaltenen Sühne-
termine u. s. f.
4. Die Dauer der Processe. Aus dem raschen oder schleppenden
Gange der Justiz ist erkennbar, ob und welche Aenderungen im Process-
verfahren erforderlich sind. Auch der Pflichteifer der Richter.
5. Die Gegenstände der Processe. So die Zahl der Schuld*
und der Alimentationsklagen, der Eigenthums- und der Besitzstreitig-
keiten. Im Ganton Bern hat man beobachtet, dass nach schlechten Ernten
die Schuld-, nach guten die Injurienklagen vorherrschen. So werfen auch
die Processgegenstände Streiflichter auf Volkszustände. Indessen ist es oft
sehr schwierig, die Gegenstände der Processe in Kategorien zu bringen.
6. Die Zahl der erlassenen Zahlungsbefehle und Executions-
mandate verschaflt gleichfalls Einblicke in die ökonomische Lage der
Bevölkerung. Dabei ist noch nöthig, Nachrichten über die Höhe der Sum-
men, über Stand und Beruf der betheiligten Personen zu haben. Nament-
lich auch über die wegen Schulden eingesperrten Personen.
7. Die Zahl der Zahlungsstundungen und ihre Folgen.
8. Die Concurse. Sie liefern höchst wichtige Beiträge zur Kennt-
niss der wirthschaftlichen Lage der Bevölkeining '). .Von Interesse sind
dabei :
a) Die Summe der Activa und Passiva. Sind die kleinen Vermögen
mehr überschuldet, so liegt die Ursache der Concurse meist in Arbeits-
mangel, Erwerbslosigkeit, geringem Betriebscapital etc. Trifft die Ueber-
schuldung mehr die grossen Vermögen, so hat sie ihre Ursachen regel-
mässig in verfehlter Speculation, in Luxus und Verschwendung. Auch die
Höhe der im Concurs bezahlten Procente ist von Wichtigkeit.
b) Die persönlichen Verhältnisse der Schuldner. Namentlich das
Verhältniss zwischen städtischen und ländlichen Vergantungen, der Berufs-
stand des Concursschuldners.
9. Die von den Parteien bezahlten Kosten des Gerichts-
verfahrens, besonders im Verhältnisse zum Werthe des Processgegen-
standes.
446 Die Rechtspflege.
II. Die freiwillige Gerichtsbarkeit ist vod weit grösserer stati-
stischer BedeutuDg, als die streitige, aber in dieser Bedeutung noch wenig
gewürdigt.
Vor allem scheinen besonderen statistischen Werth zu haben :
1. Die eingetragenen Handelsfirmen. Die Kenntniss der sich
bildenden und wieder auflösenden Handelsgeschäfte, namentlich der Han-
delsgesellschaften ist höchst wichtig für die Beurtheilung der Lage des
Handels und der Industrie, ihres Standes und Ganges. Nothwendig ist
aber zur Vervollständigung dieser Kenntniss, dass auch die einzelnen. Ge-
werbs- und Handelszweige mit angegeben werden und sich bezüglich der
Classification den bei den gewerbestatistischen Aufnahmen eingeführten
Kategorien anschliessen. Auch das Verhältniss der Zahl der Einzelnfirmen
gegenüber den Gesellschaftsfirmen, sowie das der Zahl der verschiedenen
Arten von Gesellschaften unter sich ist von Bedeutung. Da nach handels-
gesetzlichen Bestimmungen jeder Kaufmann (auch die grösseren Indu-
striellen) Namen und Firma in das Handelsregister eintragen lassen müssen,
ist das statistische Material in dieser Richtung leicht zu beschaflTen.
2. Die Veränderungen des Grundeigenthums. Da diese Ver-
änderungen zur Kenntniss der die Grundbücher fahrenden Beamten kommen,
wären auch hier die statistischen Erhebungen leicht. Man sieht aus diesen
Veränderungen namentlich, ob die Lage der Verhältnisse des Grundeigen-
thums die Bildung von Latifundien oder Zwergwirthschaften oder das
richtige Maass mittlerer Besitzthümer begünstigt. Man erkennt, ob und in
welcher Weise die Gesetzgebung auf die Grösse und Gestaltung des
Grundbesitzes einwirkt, wie diese Erscheinungen in den verschiedenen
Ländern sich verhalten u. s. f. Lauter Fragen von grösster nationalöko-
nomischer Wichtigkeit.
3. Die Erbtheilungen insbesondere. Bezüglich der wirthschaft-
lichen Stellung des Familienvermögens und seiner Schicksale ist es von
Wichtigkeit, zu wissen, wie oft Intestat- und wie oft testamentarische
Erbfolge eintritt, von sittlicher Bedeutung sogar die Zahl der Verletzungen
des Notherbenrechts.
4. Die Verschuldung des Grundeigenthums. Auch die hiefiir
aus den Hypothekenbüchern zu schöpfenden statistischen Materialien sind
von hoher statistischer Bedeutung. Man erfahrt aus ihnen, wie weit die
Verschuldung des Grundeigenthums in einem gewissen Zeitpunkte ging,
wie sie sich in Folge der etwa entstandenen Bodencreditanstalten änderte;
wie hoch die aufgenommenen Capitalien und die dafür gezahlten Zinsen
überhaupt und bei den verschiedenen Arten von Gläubigern sind.
5. Die von den Parteien bezahlten Kosten.
Die B«clitapic«e- 447
Aamerkungen.
*) Vgl. die Jahrb. f. Nationalökonomie n. Stat., IV. Bd.; Ueber die Orga-
nisation der Statistik der Rechtspil^e.
*) In Prenssen hat man (mit Ansschlnss des Appellationsgerichtsbezirks
Köln) Yon 1840 — 1862 folgende Vermehrung der Cirilprocesse bemerkt: im Jahre
1840: 778551; im Jahre 1858: 1,294092; im Jahre 1862: 1,492000.
*) Die Statistik der württembergrischen Rechtspflege zeigt, dass die Zahl
der Gantprocesse weit sensibler ist als jene der Ciyilprocesse überhaupt.
Fünftes Buch.
Moralstatistik.
Haas hof e r, Statistik. 2. Aafl. %9
I. Capitel.
Uebersichit
Wesen und Schwierigkeiten der Horalstatistik.
Die Moralstatistik ist die statistische Untersuchung derjenigen Er-
scheinungen in der menschlichen Gesellschaft, welche beim Einzelnen aus
auf freier sittlicher Willensentschliessung beruhender That hervorgehen.
Es liegt in der Natur der Sache, dass die sittlichen Eigenschaften
des Menschen weit schwieriger zu beobachten sind, als seine wirthschaft-
lichen, gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse schlechthin.
Einzelne moralische Eigenschaften kann man in der Voraussetzung
schätzen, dass sie mit ihren Wirkungen im Verhältniss stehen. Aber bei
vielen fehlt jeder Massstab. Wie man den Werth eines dichterischen
Talents nicht nach der Seitenzahl seiner Werke messen kann, so lässt
sich auch die Barmherzigkeit nicht nach der Höhe des Almosens allein,
die Verschuldung des Diebes nicht nach dem Werthe des Gestohlenen
allein bemessen.
Alle Handlungen, welche der Ausdruck freier sittlicher Willensent-
schliessung sind, lassen sich zunächst in positiv und negativ sittliche
unterscheiden, d. h. in solche, welche das sittliche Leben fördern und in
solche, welche einen Mangel an Sittlichkeit anzeigen. Da sich das Gute
nicht so leicht aufzeichnen lässt als das Schlechte, sind die meisten Ge-
genstände der Moralstatistik Handlungen wider das Sittengesetz, welche
über den im Menschen wohnenden Hang zum Bösen Aufschluss geben.
Weil nur ein Theil der sittlich wichtigen Handlungen äusserlich zur
Erscheinung kommt und beobachtbar wird, ein anderer Theil sich der
Beobachtung entzieht, so entsteht die Frage, wie es möglich ist, trotz der
Verborgenheit einer Zahl solcher Handlungen das sittliche Leben zur Ziffer
zu bringen (vgl. §. 214).
Da die einzelnen sittlichen Handlungen qualitativ unendlich ver-
schieden sind, so fragt es sich um die Werthbestimmung derselben
zum Zwecke der Vergleichung (§. 215).
29*
452 ^^^ sittliche Werth des Durchsclmittgmensclien.
Ist 80 die Möglichkeit gegeben, den dem Menschengeschlechte inne-
wohnenden Hang zum Bösen überhaupt messbar zu machen, so wird
man seine Regelmässigkeit, seine Tenacität zu untersuchen haben (§. 216
und 217).
Sodann die verschiedenen Einflüsse, die sich auf den Hang zum
Bösen im Allgemeinen geltend machen (vgl. II. Cap.).
Endlich die einzelnen sittlich bedeutungsvollen Handlungen (vergl.
m. Cap.).
Anmerkung.
Während schou Süssmilch als Vorläufer der ueueren Moralstatistik er-
scheint, wurde dieselbe systematisch durch Quetelet, Guerry, Legoyt ttud andere
zuerst iu Angriff genommen, in England durch Buckle und J. St. Mill, in
Deutschland durch Hoffmaun und Dieterici, A. Wagner, Drobisch (die mora-
lische Statistik und die Willensfreiheit, 1867) uud Mayr weseutlich gefördert,
um endlich iu v. Oettingeu'« grossem Werk ,^MoraIstatistik, Erl. 1868" eine
höchst umfassende uud gediegene Behandlung zu fiuden. Sie ist jedenfalls das
interessanteste, aber auch an Schwierigkeiten reichste Gebiet der gesammteu
Statistik. Eine ausführliche Geschichte der Moral Statistik siehe bei Oettingeu.
§. 210. Der sittliche Werth des DurchschnittsuLenschen.
Wenn die Moralstatistik eine grosse Zahl von solchen menschlichen
Handlungen, welche auf der Entwickelung des sittlichen Lebens beruhen,
beobachtet, so lassen sich allerdings einzelne sittliche Eigenschaften des
Menschen unter gewisse Regeln bringen. Diese Regeln gelten für den
Durchschnittsmenschen, aber auch für ihn nicht als unabweisliches Gesetz.
Für den einzelnen erleiden sie mannigfache Ausnahmen; doch dienen sie
trotzdem am besten zur Aufklärung über den sittlichen Zustand der Ge-
sellschaft. Wir sehen bei den verschiedenen Menschen die Fähigkeiten
verschieden entwickelt; den einen finden wir geizig, den anderen ver-
schwenderisch, den einen hochgebildet, den anderen roh, bei einem be-
merken wir einen ungewöhnlich starken Zug von Grausamkeit, bei einem
anderen von Habsucht u. s. f. Schon die Thatsache, dass wir solche
Charakterzüge, wenn sie bestehen, bemerken, spricht dafür, dass wir eine
Ahnung von einer allgemeinen Regel der Entwickelung haben und bei
unserem Urtheile Gebrauch davon machen.
Aber man darf den Menschen, wie er sich durchschnittlich in sitt-
licher Beziehung darstellt, nicht als eine Art Ideal ansehen, und Quetelet
hat Unrecht, wenn er behauptet; „Wäre der mittlere Mensch vollkommen
bestimmt, so könnte man ihn als den Typus des Schönen und Guten be-
trachten".
Der mittlere Mensch ist vielmehr ein leidlicher Durchschnitt von
Gutem und Bösem, ein zusammenaddirtes Gespenst, das alle Schwächen
Moralstatistik und Willensfreiheit. 453
und Leidenschaften, aber auch alle Tugenden des Menschengeschlechtes in
sich vereinigt. Von jeder Schurkerei, wie von jeder edelmüthigen und
hochherzigen Handlung, die begangen wird, haftet ein Stückchen auf dem
Gewissen des Durchschnittsmenschen. Und ebenso ist es mit seinen geistigen
Eigenschaften. Er ist eine Mischung von Thorheit und Verstand, von
Bildung und Geistesrohheit. Er ist in allem der Typus der Menschheit
oder — je nach den beobachteten Theilen der Menschheit — der Typus
seines Volkes, aber nicht der Typus des Schönen und Guten. Der
Typus des Schönen und Guten ist ein Ideal, welchem der Mensch nach-
streben soll, ein Ideal, welches alle Tugend und Hoheit des Menschen-
geschlechtes, aber nicht dessen Fehler besitzt.
Es gibt grosse und edle Menschen, die weit über den mittleren
Menschen hinausragen, der Stolz des Menschengeschlechtes. Sie sind die
Ideale und als solche weit einflussreicher, als Millionen Durchschnitts-
menschen. Aus der grossen Masse der letzteren sich losringend, streben
sie empor und zwingen jene Masse, mit ihnen sich zu erheben.
§. 211. Moralstatistik und Willensfreiheit.
Man hat der Moralstatistik den gewichtigen Einwand entgegen-
gehalten, dass Handlungen, welche von der Willensfreiheit des Menschen
abhängen, wie z. B. üebertretungen der Sittengesetze und Strafgesetze,
sich nicht der zifFermässigen Behandlung unterwerfen lassen, weil ja der
menschliche Wille ein freier sei.
Aber man muss bedenken, dass die menschlichen Willensentschlies-
sungen von einer ganzen Reihe verschiedenartiger Einflüsse abhängen. Von
diesen Einflüssen wirken jene mehr, diese weniger stark, die einen gleich-
massig, die anderen ungleichmässig und der Mensch folgt diesen Einflüssen
fortwährend, obgleich er die Freiheit und die Macht hat, ihnen nicht zu
folgen. Die Freiheit seines Willens besteht eben darin, dass er sich, wann
und wo es ihm beliebt, »von jenen Einflüssen emancipiren kann. Jene Ein-
flüsse sind wie Geisterstimmen, welche jedem Menschen auf der Wan-
derung durch das Leben unaufhörlich zurufen: jetzt thue dies, jetzt das;
jetzt wende dich rechts, jetzt links! Durchschnittlich folgt der Mensch
diesen Stimmen; aber sie sind nur lockende und rathende, keine ge-
bietenden. Folgt er ihnen auch neunundneunzigmal, so hat er es doch
das hundertste Mal in der Gewalt, Rath und Lockung zu verschmähen.
Und damit ist auch dem menschlichen Willen seine Freiheit gewahrt.
Eine äussere Gesetzmässigkeit für die menschlichen Handlungen gibt
es nicht. Wenn der Mensch seine Handlungen durch Motive bestimmen
lässt, welche aus der zufälligen Geburt, Erziehung und Umgebung des
Einzelnen erwachsen, so liegt darin keine Gesetzmässigkeit, sondern
454 Die Kreise sittlicher Lebensbethatigung.
höchstens eine gewisse Regelmässigkeit. Wo Regelmässigkeit herrscht, da
gibt es xlusnahmen, und wo der Einzelne Ausnahmen machen kann, wenn
er will, da ist Freiheit. Gäbe es gar keine Regelmässigkeit in der Be-
folgung von Beweggründen durch den Menschen, so wäre das ganze
Leben der Menschheit auf die grundlose Augenblickslaune aller Einzelnen
gestellt. Jeder Einzelne wäre selbst seinem Nächsten unberechenbar;
völliger Mangel an Vertrauen, Unmöglichkeit irgend einer Menschen-
kenntniss und Lebenserfahrung wären die Folgen. Und dies würde ein
Zusammenleben der Menschen ganz unmöglich machen.
Anmerkung.
Scharf präcisirt Knapp (die neueren Ansichten über Moral Statistik, 1871),
die verschiedeuen Richtungen der Moral Statistiker gegenüber dem. Problem der
menschlichen Willensfreiheit: Quetelet habe den Menschen zuerst gewissermasseu
als bewegtes Atom der Gesellschaft hingestellt, Buckle als sein Herold die in
der Welt unerbittlich herrschende Causal Verbindung verkündet, Wagner das
Gleiche in Deutschland gethau. Damit sei die Moralstatistik auf der Höhe der
Uehertreibung angelangt und ein Rückschlag eingetreten, die französische
Schule (Quetelet-Buckle) bei der Läugnung der Willensfreiheit stehen geblieben,
die deutsche dagegen^{Drobisch an der Spitze) zu jener Vorstellung gekommen,
die den Menschen als ein Wesen denkt, dessen Entschliessungen nicht auf dem
Wege äusseren Zwanges, sondern innerer Motivirung zu Stande kommen. Be-
hält die französische Schule Rechte so ist die Willensfreiheit experimentell
widerlegt, im entgegengesetzten Falle begnügt sich die Sittenstatistik mit ge-
ringeren praktischen Leistungen im Dienste einer Social-Ethik , die noch in
ihrer Entwicklung begriffen ist.
§. 212. Die Kreise sittlicher Lebensbeth&tigimg.
Das sittliche Leben äussert sich in allen Sphären menschlichen
Lebens überhaupt, nämlich:
I. Schon in der Sphäre der Erzeugung menschlichen Lebens, ins-
besondere in der Geschlechtsgemeinschaft der Menschen (Ehe, Eheschei-
dung, unsittliche Geschlechtsgemeinschaft, verbrecherische Geschlechts-
gemeinschaft) ferner in der Geburtenziffer (eheliche und uneheliche).
II. In der Sphäre des wirthschaftlichen Lebens (Arbeit und Spar-
samkeit, Proletariat und Eigenthum, Armenpflege und Association sind
hier bedeutsame Erscheinungen).
IIL In der Sphäre des Staats- und Rechtslebens. Das Recht ordnet
gesellschaftliche, politische, wirthschaftliche und speciell sittliche Zustande.
Weil aber alle Ordnung schon an sich eine sittliche Idee ist, ist nicht
allein die durch das Recht geschützte Moral etwas sittliches, sondern
auch jene Rechtsgestaltungen, deren Inhalt Arbeit und Eigenthum, Familie
und Staat sind.
Bekannte und unbekannte Thaten. 455
IV. In der Sphäre der intellectuell-ästhetischen Bildung.
V. In der Sphäre des Unterganges menschlichen Lebens. (Geistige
und körperliche Krankheiten als Folgen sittlicher Entartung, verschuldete
Kindersterblichkeit, Mord, Krieg, Todesstrafe, Selbstmord.)
§. 213. Die Crimmalstatistik insbesondere.
Die menschliche Rechtsordnung schützt, so weit es ihr möglich ist,
die sittliche Idee. Dieser Schutz findet seinen Ausdruck in der Straf-
gesetzgebung. Diejenigen Handlungen, welche in ihren Bereich fallen, die
Verbrechen im weitesten Sinn des Wortes sind die Favoritgegenstände
der Sittenstatistik. Die Verbrechen sind jene Thatsachen, welche vor
allen anderen zu einer Erkenntniss sittlicher Volkszustände führen können.
Ihre Beobachtung und Untersuchung (die Criminal-Statistik) wird
indessen doch durch mehrere Umstände sehr erschwert.
I. Es gibt nur für wenige Länder ein statistisch brauchbares Material.
II. Nicht nur nach der verschiedenen Volksanschauung, sondern
auch nach den verschiedenen Gesetzgebungen sind BegriflP und Arten der
Verbrechen schwankend.
III. Auch die Verfolgung, Aburtheilung und Bestrafung der Ver-
brechen ist örtlich verschieden geartet.
Trotz dieser Schwierigkeiten hat sich die Statistik schon früh und
energisch mit den Verbrechen beschäftigt und einige Regeln erkannt,
welche für die menschliche Natur in ihren verbrecherischen Anwandlungen
bestehen. Da die wichtigsten negativ sittlichen Handlungen unter das
Strafgesetz fallen, ist es natürlich, dass die Criminalstatistik den Kern
der gesammten Sittenstatistik bildet, dass namentlich der Hang des
Menschen zum Bösen überhaupt und die verschiedenen Einflüsse auf den-
selben fast allein aus der Untersuchung der criminalstatistischen Daten
erkannt werden.
§. 214. Bekannte und unbekannte Thaten.
Schon vor Quetelet hat man bemerkt, dass die statistischen Beob-
achtungen nur eine gewisse Zahl bekannter und abgeurtheilter Verbrechen
unter einer unbekannten Totalsumme von begangenen Verbrechen treffen.
Diese Total summe der begangenen Verbrechen wird wahrscheinlich
immer unbekannt bleiben und alle Criminalstatistik wäre werthlos, wenn
man nicht zugibt, dass zwischen den bekannten und abgeuitheilten Ver-
brechen und der unbekannten Totalsumme der Verbrechen ein nur wenig
schwankendes Verhältniss besteht.
In einem Staate mit guter Polizei und Rechtspflege werden die
schwersten Verbrechen, Tödtungen und Morde, fast immer bekannt, und
456 Werthbestimmang der sittlichen Handlungen.
es wird demnach bezüglich dieser Thaten die Zahl der bekannten und
gerichtlich verfolgten Verbrechen fast gleich sein der Totalsumme der
begangenen Verbrechen. Diebstähle und andere geringere Frevel gegen
die Rechtsordnung werden häufiger unbekannt bleiben. Entweder merken
die Beschädigten den Schaden gar nicht, oder sie wollen den Thäter
nicht verfolgen oder die Gerichte bekommen nicht die zur Einschreitung
nöthigen Judicien in die Hand.
Das Verhältniss zwischen den entdeckten Verbrechen und der Total-
summe der begangenen Verbrechen ist sonach verschieden:
I. Nach der Art und Schwere der Rechtsverletzung.
II. Nach der Thätigkeit der Justiz bei Verfolgung des Schuldigen.
III. Nach der Mühe, welche die Schuldigen anwenden, um unent-
deckt zu bleiben, also nach deren Vorsicht und Schlauheit.
IV. Nach der Bekanntschaft der Beschädigten mit dem ihnen zu-
gefügten Schaden. Diese Bekanntschaft ist bei verschiedenen Gnippen von
Rechtsverletzungen sehr verschieden. Einen Diebstahl an seinen Kleidern
z. B. merkt der Beschädigte jedenfalls leichter, als einen Holzdiebstahl
in seinem Walde*
V. Nach dem Willen des Beschädigten, die Hilfe der Justiz zu be-
anspruchen. Dieser Wille wird offenbar grösser mit der Zuverlässigkeit
der Justiz selber.
Wenn alle diese Momente, welche auf das Verhältniss der ent-
deckten Verbrechen zur Gesammtsumme der begangenen einwirken, die-
selben bleiben, wird auch die Wirkung gleichbleiben.
Dieser Schluss wird bestätigt, wenn man beobachtet, wie beharrlich
die Zahlen der Criminal Statistik alljährlich wiederkehren. Wenn man
bedenkt, dass jährlich fast die gleiche Zahl von Verbrechern vor die
verschiedenen Gerichtshöfe gebracht wird, dass in der Art der Ver-
brechen, sowie in der Zahl der Aburtheilungen und Freisprechungen die
grösste Regelmässigkeit herrscht: dann darf man zuversichtlich annehmen,
dass auch die Zahl derjenigen Verbrecher, welche der Justiz entschlüpfen,
Jahr fiir Jahr nur geringe Unterschiede haben kann.
§. 215. Werthbestimmnng der sittlichen Handlimgen.
Um sittliche Handlungen, die verschiedenen Inhalt und verschiedene
Objecte haben, vergleichen zu können, muss man einen Massstab suchen,
mit welchem sie gemessen werden können. An einen solchen kann man
höchstens bei den Verbrechen denken.
Ueber den Massstab, welcher bei der Beurtheilung und Werthbe-
stimmnng der Verbrechen angelegt werden soll, existiren indess sehr ver-
schiedene Anschauungen.
Der Hang zum Bösen. 457
Einige wollen blos die factischen Verurtheilungen berücksichtigen,
weil nur diese das wirkliche Maass der constatirten Gesetzwidrigkeit er-
kennen Hessen, während unter den blos Angeklagten auch viele unschuldig
zur Untersuchung gezogene sich fänden.
Andere beurtheilen die sociale Verschuldung nach der Zahl der
officiell bekannt gewordenen Reate.
Wieder andere nehmen als Maass dieser Verschuldung die relative
Anzahl der Verbrechen, namentlich die Intensität derselben im Verhältniss
zur criminalfähigen Bevölkerung.
Eine fernere Anschauung hält das Verhältniss der Freisprechungen
zu den Verurtheilungen für einen besonders charakteristischen Ausdruck
der öffentlichen Moral.
Die einen berücksichtigten vorzugsweise die schweren Verbrechen,
um nach der Qualität derselben die sittlichen Krankheitszustände des
Volkes zu messen.
Anderen erscheint die verschiedene Betheiligung der Bevölkeinings-
gruppen nach Alter, Geschlecht, Beruf von grösster Bedeutung.
Am genauesten ist wohl jener Massstab für die verschiedenen Ver-
brechen, Vergehen und Uebertretungen, welcher die sämmtlichen Straf-
rechtsverletzungen nach dem Strafmass berechnet und nach gewissen
Vergehenseinheiten die mannigfaltigen Reate auf einen möglichst genauen
quantitativen Ausdruck zu reduciren sucht. (Wie nanientlich für die bay-
rische Statistik durch Mayr geschehen.)
Von hohem Interesse ist dabei auch die Feststellung jener Summe
von Rechtsverletzung, welche die Bevölkerung ungestraft verübt und
ungesühnt erduldet; damit ist zugleich ein Maass für die Leistungs-
fähigkeit der Polizei und Criminal Justiz gegeben.
§. 216. Der Hang zum Bösen.
Hang zum Verbrechen — le penchant au crime — nennt Quetelet
ausgehend von der Voraussetzung, dass die Verhältnisse, in denen die
Menschen leben, die gleichen seien, die grössere oder geringere Wahr-
scheinlichkeit, ein Verbrechen zu begehen.
So lange die strafrechtliche Verfolgung und Bestrafung der Verbrechen
in einem Staate sich nicht ändert, wiederholen sich die Verbrechen
nach ihrer Art und Zahl, sowie nach ihrer Vertheilung auf Alter und
Geschlecht mit grösster Regelmässigkeit.
Dieses Resultat fand Quetelet zuerst aus der Untersuchung der
tabellarischen Uebersichten, welche in Frankreich und Belgien über die
Zahl der jährlich angeklagten und verurtheilten Personen mit Unter-
458 Der Hang zum BOseii.
Scheidung der Verbrechen nach einigen Ilaaptarten bekannt gemacht
wurden.
Nach ihnen ergibt sich, dass die Grenzen, zwischen denen die jähr-
lichen Verbrechen in Frankreich nach ihrer Zahl und nach ihrer Ver-
theilung auf die verschiedenen Alter schwankten, enger sind, als die
Grenzen der jährlichen Sterblichkeit. Die Verbrechen haben also, obgleich
freie menschliche Handlungen, doch mehr Regelmässigkeit in sich, als das
sehr unfreiwillige und naturgesetzliche Sterben des Menschen. Diese That-
sache veranlasste, von einem Hange zum Verbrechen zu sprechen. Qu6telet
drückt sie mit den berühmt gewordenen Worten aus: es gibt ein Budget,
das mit einer schrecklichen Regelmässigkeit bezahlt wird: es ist das der
Gefängnisse, der Galeeren und der SchafFotte.
Der Hang zum Verbrechen, wenn auch oft unerkennbar, sucht
Eingang in jedem Herzen. Deshalb ist es Selbstüberschätzung, wenn wir
die Auswürflinge der Gesellschaft hochmüthig verachten in dem Bewusst-
sein, über die Fähigkeit und den Hang zum Verbrechen weit erhaben zu
sein. Als Mitglied der menschlichen Gemeinschaft hat jeder eine Mitver-
ant^^ortlichkeit und Mitschuld an den Thaten des Verbrechers. Dass nicht
in jedem Menschen die Sünde bis zum Verbrechen gediehen ist, mag uns
vor dem menschlichen Richterstuhle unbescholten erscheinen lassen, niemals
vor dem Richterstuhle des Gewissens.
Und wie unser Gewissen schon wegen jedes bösen Hanges reagirt:
so reagirt das öffentliche Gewissen, das Rechtsbewusstsein des Volkes gegen
die Bethätigung des verbrecherischen Hanges, indem es straft (vgl. Oettingen
a. a. ().).
Wenn nun aus den statistischen Daten ein solcher Hang zum Ver-
brechen und eine Regelmässigkeit in ihm gefunden wird, mag wohl mancher
veranlasst werden, an eine düstere dämonische Machtentfaltung des Bösen
in diesem „Gesetz der Sünde" zu denken, an eine Machtentfaltung, welche
durch die Geschichte der Völker unheimlich sich heraufzieht und schwarze
Schatten in den Glanz unserer Civilisation zeichnet. Dann erscheinen die
einzelnen Verbrechen und Verbrecher nur als Anzeichen einer bösen
inneren Krankheit des Menschengeschlechtes; sie weisen auf einen verur-
sachenden Willen hin, von welchem der Einzelne in dämonischer Weise
erfasst wird. Der Fluch der bösen That, fortzeugend Böses zu gebären,
weist auf solch ein geistig geartetes Verursachungssystem, auf eine ver-
suchliche Macht des bösen Geistes innerhalb der Herzens- und Lebens-
geschichte, nicht blos der einzelnen Menschen, sondern auch der wüsten
Menge hin.
Diesem dämonischen bösen Willen, der im Herzen der Menschheit
wühlt, tritt fortwährend in der Form geistig-sittlichen Kampfes eine
Die Sensibilität der Berölkerang zur bösen Thai; Tenadtit des Bdsen. 450
bessernde Reaction entgegen. Die ganze Gescliiclite menschlicher Gesetz-
gebung, namentlich der Strafgesetzgebung, ist ein stetiger Ausdruck dieser
Reaction. Aber sie ist auch ein Beweis, dass man die Macht des Bösen
nicht als eine unbezwingbare Naturgewalt ansieht, an der sich nichts
ändern lässt, sondern als eine Verschuldung, gegen welche das öffentliche
Gewissen ankämpfen kann und soll. Und dieser Kampf ist nicht fruchtlos.
§. 217. Die Sensibilität der Bevölkerimg für die böse That; Tenacit&t
des Bösen.
Soll ein vollständiges Bild der Gestaltung des verbrecherischen
Hanges erreicht werden, so ist es nöthig, längere Zeit hindurch das Maass
der Schwankungen der Verbrecherzahl über und unter den Durchschnitt
zu beachten. Denn diese Schwankungen zeigen die Sensibilität der
Bevölkerung für die einzelnen Arten verbrecherischen Handelns. Je ge-
ringfügiger die x\bweichungen vom Durchschnitt sind, um so gleichmässiger
ist die Wirkung der äusseren und inneren Veranlassungen des Verbrechens.
Und umgekehrt *).
Ein sehr schlimmes Symptom verbrecherischen Hanges ist die Zahl
der Rückfälligen. Vergleicht man sie mit der Zahl derjenigen Bestraften,
welche nicht rückfällig werden, so ist sie ein Ausdruck der Macht, mit
welcher die Verbrecher am Verbrechen festgehalten werden. Vergleicht
man die Zahl der rückfälligen Verbrecher mit der Gesammtzahl der Ver-
brecher, so drückt ihre Zahl den Einfluss begangener Schuld auf den ver-
brecherischen Hang der ganzen Bevölkerung aus. Beide Verhältnisse lassen
Schlüsse auf die bessernde Macht der Bestrafung zu '^).
Im ganzen mehrt sich die Zahl der habituellen Verbrecher sichtlich
(Oettingen).
Bedingt wird diese Zahl nicht nur durch die Kraft, mit welcher das
Böse im Herzen des Verbrechers Wurzel geschlagen, sondern auch durch
den Zustand der Besserungsmittel und die grössere oder geringere Schwie-
rigkeit für den Verbrecher, sich in der Gesellschaft wieder zurechtzufinden.
Aiimerkuugeu.
*) Für Bayern ist (Mayr) die Sensibilität der Bevölkerung für die ver-
schiedenen Arten verbrecherischer That folgende. Die Angriffe auf das Leben
erfolgen mit grösster Regelmässigkeit; hier ist demnach die Tenacität des Bösen
am grössten, die Sensibilität der Bevölkerung für Veranlassungen zur That am
geringsten. Grösser ist die Sensibilität der Bevölkerung bei Angriffen auf die
Person. Dagegen vollziehen sich die Eigenthumsbeeinträchtiguugen mit grosser
Regelmässigkeit, während Eigenthumsbeschädigungen, Betrug und Untreue noch
grössere Unregelmässigkeiten und die öffentlichen Verbrechen die grösste Sensi-
bilität zeigen.
460 Die bestimmenden Ursachen der sittlichen That.
*) Für Frankreich ist coiistatirt, dass 40—45% der Gefangenen rückfallige
Verbrecher sind, (Oettingen a. a. O. S. 705.)
In England betrugen die Rückfälligen 1841—53 durchschnittlich 25,3%,
steigen 1846 bis auf 26,i%, 1849 bis auf 26,3% (a. a. O. S. 711.) Die Abweichung
vom Mittel beträgt in dieser ganzen Periode nie mehr als 1%. Namentlich zeigt
sich eine ausnehmend starke Tendenz zum Rückfall bei den jugendlichen Ver-
brechern, welche, kaum dass sie eine Strafe überstanden, mit dämonischer
Hast von neuem die Gefangnisse füllen.
Auch die Weiber leiden besonders unter dem Rückfall, wie schon Benoiston
de Chäteauneuf erwähnt, und wie sich neuerdings namentlich in Sachsen ge-
zeigt hat.
II. Capitel.
Die bestimmenden Ursaclien der sittlichen That.
§. 218. Im Allgemeinen.
Jede einzelne positiv oder negativ sittliche That hat eine nächste
Ursache, durch welche sie unmittelbar veranlasst wird. Aber diese nächsten
Ursachen sind wieder die Folgen anderer fernerer Ursachen.
I. Die nächsten Ursachen der sittlich wichtigen Handlungen sind die
menschlichen Triebe und Leidenschaften. Sind diese Triebe im einzelnen
Menschen haimonisch entwickelt, so erscheinen sie als Tugenden und
erzeugen positiv sittliche Thaten; ist ihre Harmonie gestört, so haben
sie den Charakter des Lasters und erzeugen unsittliche Thaten. Classificirt
man die wichtigsten dieser Triebe, so erhält man:
A. Den Selbsterhaltungstrieb. In seiner harmonischen Entwickelung
bewirkt er den gerechten und sittlichen Kampf des Menschen um sein
Dasein. Eine engere Form desselben ist der Erw^erbstri^b, dem als positiv
sittliche Früchte Arbeit und Sparsamkeit, als negativ sittliche Geiz und
Habsucht, Diebstahl und Betrug entwachsen. Wird der Selbsterhaltungs-
trieb anderen als wirthschaftlichen Gefahren gegenübergestellt, so zeigt
er sich positiv sittlich als Vorsicht und Massigkeit, negativ als Feigheit.
B. Der Familientrieb erscheint als eine Erweiterung des Selbst-
erhaltungstriebes und hat im wesentlichen dieselben Wirkungen.
C. Der Trieb nach Ruhe und Bequemlichkeit erscheint in seiner
Entartung als Trägheit und wird in dieser Form Ursache der statistischen
Erscheinung des Bettler- und Vagabundenthums ; in äusserster Degenera-
tion, in den schwersten Conflicten führt er bis zum Selbstmord.
D. Der Geschlechtstrieb hängt in seiner sittlichen Entwickelung mit
dem Familientriebe zusammen, in seiner Entartung wird er zur bestim-
Die bestimmenden Ursachen der sittlichen That. 461
menden Ursache der geschlechtlichen Verbrechen, der unehelichen Geburten,
der Ehescheidungen, theilweise auch der Prostitution und anderer sitten-
statistischer Erscheinungen.
E. Der Trieb nach Erheiterung und Belustigung erzeugt in gesunder
harmonischer Entwickelung allen sittlichen Luxus,* in seiner Entartung
erscheint er als unsittlicher Leichtsinn, Trunksucht, verschwenderischer
Luxus.
F. Der Trieb nach Geltendmachung körperlicher Kraft ist in seiner
Entwickelung physischer Muth ,(mit dem Erheiterungstriebe verbunden
erzeugt er den Sport); in seiner Entartung erscheint er als Rohheit und
wird Ursache von Angriffen gegen die Person, seltener gegen das Eigen-
thum. Seine schlimmste Entartung ist die Grausamkeit. Häufig verbunden
mit ihm ist:
G. Der Trieb nach Geltendmachung des eigenen Willens, der geisti-
gen Persönlichkeit. Er erscheint, sittlich entwickelt als Freiheitstrieb, ent-
artet als Zorn, Herrschsucht, Hass und Rachsucht und wird statistisch
greifbar in vielen Verbrechen gegen die Person.
Aber selbst die edelsten Triebe des Menschen können so entarten,
das» sie die unmittelbaren Ursachen unsittlicher Thaten werden. So
erscheinen religiöser Fanatismus (Entartung des religiösen Triebes), unsitt-
licher Ehrgeiz (Entartung des Triebes nach Anerkennung), ebenso politische
Leidenschatten (Entartungen des Staats- und Rechtsbewusstseins), Liebe
und Freundschaft, namentlich erstere, und selbst das Geföhl der Reue (in
seiner Steigerung bis zur Verzweiflung) als mächtige Motive nicht nur
sittlicher, sondern auch unsittlicher That. Eine Untersuchung der Häufig-
keit aller dieser Motive könnte zu einer Messung der Gewalt menschlicher
Leidenschaften führen.
n. Neben diesen, die einzelne gute oder böse That unmittelbar ver-
ursachenden Beweggründen bestehen aber auch zahlreiche äussere Ein-
flüsse, deren Bedeutung für den Hang zum Bösen überhaupt als auch
für einzelne besondere Richtungen unsittlichen Handelns untersucht werden
kann. Eine genaue Untersuchung ist allerdings nur bei jenen sittlich be-
deutungsvollen Thaten möglich, die überhaupt genaue Beobachtung zulassen.
Diese Einflüsse sind nicht Gemüthsregungen, sondern Lebensver-
hältnisse, welche erst wieder Ursachen von Gemüthsregungen werden.
Wenn natürliche, familiäre, gesellschaftliche, wirthschaftliche, politische
und religiöse Verhältnisse durch längere Dauer gewisse Triebe im Menschen
grossgezogen haben und sodann Aendeningen eintreten, welche eine gleiche
Wirksamkeit dieser Triebe nicht mehr gestatten : dann reagirt die mensch-
liche Leidenschaft und die Triebe zeigen sich in ihrer Entartung. Und
deshalb tragen auch die Lebensverhältnisse des Menschen, d. h. der
462 Einfluss der Zeit und CiTÜisation.
Collectivmenscli, der dieselben geschalFen, stets einen Theil der Schuld
und der Verdienste des Einzelnen.
Man wird daher, wenn man diese Einflüsse beobachtet, namentlich
zu untersuchen haben, ob nicht da, wo sie sich geltend machen, früher
andere Verhältnisse geherrscht haben.
Wenn diese Einflüsse, obgleich sie als fernere Ursachen der mensch-
lichen Handlungen zu betrachten sind, doch genauer untersucht sind, als
die näheren, so liegt der Grund darin, dass äussere Lebensverhältnisse
der Statistik zugänglicher sind, als Gemüthsbewegungen. Aber als fernere
Ursachen sittlich wichtiger Thaten müssen sie von den Regungen des
menschlichen Gemüthes, welche die nächsten Ursachen sind, wohl unter-
schieden werden *),
Die wichtigsten dieser Einflüsse sind folgende:
Anmerkung.
*) Der Florentiner statistische Congress gibt folgende Classification der
Motive zum Verbrechen, bei welcher sowohl Gemüthsregungen als auch Lebens-
verhältnisse als Motive auftreten. Die Classification entspricht zwar nicht den
Anfordeningen strenger Systematik, aber den Erfahrungen der Crim inalisten.
Sie unterscheidet als Motive:
I. Erhaltung der eigenen und Anderer Ehre, Leben und Eigenthum.
II. Aberglaube und Vorurtheile.
III. Religiöse Leidenschaften.
IV. Politische Leidenschaften.
V. Wirthschaftliche oder sociale Differenzen.
VI. Liebe, erlaubte und unerlaubte.
VII. Zorn und Trunkenheit.
VIII. Hass, Rache.
IX. Habsucht.
X. Rohheit.
XI. Lieferung der Mittel, die Verbrechen Anderer zu erleichtem oder ihre
Verfolgung unmöglich zu machen.
XII. Häusliche Misshelligkeiten.
XIII. Mangel.
XIV. Verschiedene und unbekannte Motive.
§. 219. Einfluss der Zeit und Civilisation.
Die Criminalstatistik ist noch nicht alt genug, um behaupten zu
können, ob in unseren modernen Staaten bei fortschreitender Cultur eine
Abnahme oder Zunahme der Verbrechen stattfindet.
In Frankreich hat in neuerer Zeit die officielle Statistik eine Ver-
minderung zu entdecken und zu Gunsten des Kaiserthums auszulegen
versucht. Bei näherer Betrachtung zeigte sich, dass die Verminderung
Einfluss des Alten». 463
einestheils nur scheinbar, anderntheils blos in Bezug auf einzelne Ver-
brechen stattgefunden hat.
Der immer noch grauenhaften Regelmässigkeit der Verbrechen
gegenüber ist es nur ein schwacher Trost, dass mitunter in einem einzelnen
Jahre eine Verminderung der Verbrechen eintritt. Gewisse gewaltsame
Verbrechen, wie der Strassenraub, müssen freilich in Folge der grösseren
polizeilichen Sorge für die Sicherheit der Sti-assen und des Verkehrs
regelmässig abnehmen.
Andere Verbrechen von schlimmster sittlicher Bedeutung aber, z. B.
die Morde werden nicht seltener. Die Verbrechen gegen die Sittlichkeit,
Nothzucht u. dergl. sind in Frankreich, Preussen und anderen beobach-
teten Ländern in bemerklicher Vermehrung begriffen.
Gleiches gilt von den mit Falschheit, Betrug, Hinterlist und Täu-
schung verbundenen sogenannten feinen Verbrechen gegen das Eigenthum.
Theilweise auch von den aus Bosheit gegen das Eigenthum begangenen
Verbrechen und Vergehen, z. B. von den Brandstiftungen.
Anmerkung.
Das beste Material für diese Frage liefert, theils wegen der langen Beob-
achtungszeit, theils wegen der gleichmässig gebliebenen Strafgesetzgebung, die
seit dem Jahre 1826 fortgeführte Criminalstatistik Frankreichs. Ihr ist (bis
1878) zu entnehmen:
I. Die Gesammtsumme der Verbrechen und Vergehen hat im Verlaufe
eines halben Jahrhunderts sehr bedeutend zugenommen.
II. Vermindert haben sich dabei nur die Verbrechen gegen das Eigenthum.
III. Die Verbrechen gegen die Person dagegen haben eine massige, die
blossen Vergehen eine bedeutende Steigerung erfahren. Ihren Ausdruck finden
diese Veränderungen in folgenden Verhältnisszahlen:
1826—30 1874-78
Verhandlungen wegen Verbrechen gegen das Eigenthum . 100 38
Angeschuldigte hiebei 100 51
Verhandlungen wegen Verbrechen gegen Personen ... 100 127
Angeichuldigte hiebei 100 106
Verhandlungen wegen Vergehen . 400 346
Angeschuldigte hiebei 100 295
(Annali di Stat. Ser. 2, Vol. 21, pag. 198.)
§. 220. Einfluss des Alters.
Unter allen Einflüssen auf den Hang zum Verbrechen ist keiner
wichtiger als das Alter. Die Ursache ist klar. Mit dem Alter entwickeln
sich — und zwar nicht mit gleicher Energie — Körperkraft, Leidenschaft
und Vernunft. Betrachtet man diese drei Kräfte, so könnte man a priori
die Stufen bestimmen, welche der Hang zum Verbrechen in den ver-
schiedenen Lebensaltern durchlaufen muss.
464 Einflnss des Alters.
Nach den meisterhaften Untersuchungen, welche Quetelet hierüber
angestellt hat, begleitet uns der Hang zum Diebstahl durch das ganze
Leben. Mit ihm beginnt der Verbrecher. Haus- und Familiendiebstahl
machten den Anfang; gewöhnlicher Diebstahl folgt. Bei weiterer Ent-
wickelung der körperlichen Kräfte geht der Verbrecher zur Gewaltthat,
zum Einbruch und Strassenraub über. Dazu kommen dann Mord und
Todtschlag; häufig auch Vergehen und Verbrechen gegen die Sittlichkeit.
Der Hang zu letzteren entwickelt sich schon früher, in der Zeit der un-
gezügeltsten Herzenswildheit.
Später schwinden die wilderen Leidenschaften; der Mensch wird
kälter und vernünftiger, er berechnet und überlegt sein Verbrechen sorg-
fältiger; die Gewalt weicht der Tücke und Hinterlist, der Täuschung. Der
Verbrecher greift zu Gift, Dolch und Meuchelmord, überfällt sein Opfer
im Dunkeln oder zündet ihm das Dach über dem Kopfe an; zwingt
Kinder oder schwache Frauen unter seine halberloschenen niedrigen Be-
gierden; attakirt das Eigenthum auf dem Wege des Betruges, der Fälschung
und des Meineids und bietet so auf seiner letzten Stufe ein ekelhaftes und
xlbscheu erregendes Bild.
Diese Schilderung lässt sich Punkt für Punkt statistisch erweisen.
Die Untersuchung der Criminalität der verschiedenen Altersclassen hat
übrigens noch andere bemerkenswerthe Resultate ergeben. Sie zeigt nicht
nur, dass jedes Alter seine eigenthümlichen Gefahren zu gewissen Aus-
schreitungen in sich trägt; sie zeigt auch die Modificationen des Einflusses
des Alters durch andere Einflüsse.
In Frankreich hat man seinerzeit die Beobachtung gemacht, dass
die jüngere Generation (unter 35 Jahren) die constant sich verbessernde,
die ältere dagegen die degenerirtere zu sein schien. Das hatte eine ganz
eigenthümliche Ursache. Die Altersclasse von 40 — 70 Jahren, welche sich
seit dem Jahre 1851 als besonders gesetzwidrig erwies, ist zwischen 1791
und 1811 geboren, also in der Revolutions- und Kriegszeit. Dieses Ge-
schlecht, welches nach der Criminalstatistik am ungünstigsten dastand,
hatte demnach den Hang zur Gesetzwidrigkeit und Gewaltthat gleichsam
mit der Muttermilch eingesogen.
Engel fand als Resultat criminal statistischer Beobachtungen in Sachsen,
dass der Hang zum Verbrechen unter der Altersclasse von 16 — 21 Jahren
dem der gesammten Bevölkerung überraschend ähnlich sei. Es findet offen-
bar ein Wechsel verhältniss zwischen dem sittlichen Werthe der Jugend
und dem des ganzen Volkes statt. Man bessere jene, so wird das ganze
Volk besser werden.
Einfloss des Gesclileclites.
465
§. 881. Einflnss des Geschlechtes.
üeber den Einflass des Geschlechtes auf den Hang zum Verbrechen
fand Quetelet im Wesentlichen Folgendes:
Der Hang zum Verbrechen ist, wenigstens in Frankreich, bei den
Männern ungefähr viennal so stark, als bei den Frauen (100 : 23). Auch
sind die Verbrechen, welche bei den Frauen um so viel seltener sind,
nicht schwerer als die von Männern begangenen.
Den Grund, weshalb die Frau einen viel geringeren Hang zum
Verbrechen hat, durfte man darin suchen, dass sie in moralischer Be-
ziehung durch das Schamgefühl, in Rücksieht auf die Gelegenheit zum
Verbrechen durch ihre Abhängigkeit und ihre grössere Zurückgezogenheit,
in Hinsicht auf die Fähigkeit zur Ausführung durch ihre physische
Schwäche von den Verbrechen abgehalten wird. Das sind die drei Haupt-
ursachen des Unterschiedes in der Criminalität beider Geschlechter. Da,
wo diese Ursachen nicht oder in geringerem Maasse wirken, wird auch
die Zahl der weiblichen Verbrecher den männlichen ziemlich gleich. Bei
den Vergiftungen z. B. ist namentlich die Anzahl der Angeklagten bei
beiden Geschlechtem fast dieselbe. Wo Körperkraft zum Verbrechen
nöthig ist, nimmt die Zahl der angeklagten Frauen ab.
Nach neueren Untersuchungen*) ist die weibliche Criminalität noch
weit geringer und es kommt erst auf 5 — 6 verbrecherische Männer eine
Verbrecherin. Diese Verhältnissziffer ist indessen länderweise ziemlich
verschieden. So befanden sich unter 100 wegen schwerer Verbrechen
Angeklagten:
Mäuuer
Weiber
Verhältuiss
Euglaud
Bayern
Hannover
Oesterreich
Holland
Belgien
Frankreich
Baden
Preussen
Sachsen
Baltische Prorinzen
Spanien
Russland
Durchschnitt
Haushof er, Statistik. 2. Aufl.
75
75
77
81
82
82
82
84
85
85
86
88
89
84
25
25
23
19
18
18
18
16
15
15
14
12
11
16
3 :1
3 :1
3,3:1
4,3:1
4,6:1
4,5:1
4,5:1
5,3:1
5,7:1
5,7 : 1
6,1 :1
7,3:1
8,1 : 1
5,3:1
30
466 Oertliche Einfltlsse.
Bei Männern wie bei Frauen ist indessen die Betheiligung der
Verheirateten stets geringer als die der Unverheirateten. Das beweist die
sittlich kräftigende Macht des Familienlebens trotz seiner grösseren Berufs-
und Nahrungssorgen. Namentlich wirkt auf die Frauen isolirte Stellung
immer ungünstig ein.
So zeigt sich auch in grossen Städten eine ganz colossale Crimi-
nalität jener, die an Ort und Stelle fremd sind, isolirt stehen.
Bezüglich der Altersbetheiligung zeigen beide Geschlechter einen
ähnlichen Gang der Entwickelung. Die männliche Jugend beginnt etwas
früher an den Verbrechen sich zu betheiligen; der Höhepunkt fällt beim
Weibe etwas später, in das 25. — 26. Jahr.
Die Zunahme der weiblichen Criminalität in Frankreich kann man
mit Recht als ein tragisches Zeugniss der dortigen sittlichen Zustände
ansehen, ebenso die Criminalität der weiblichen Jugend in England. Die
englischen Mädchen der zartesten Jugend sind verdorbener als in irgend
einem anderen Lande der Welt (vgl. Porter a. a. 0.).
England zeigt auch eine andere schlimme Eigenthümlichkeit der
weiblichen Criminalität. Es ist das die grauenhafte Zähigkeit der Weiber
im Verbrechen. Unter den Rückfälligen finden sich verhältnissmässig weit
mehr Weiber, als unter den zum erstenmale Bestraften. In Sachsen über-
trifft die Zahl der rückfälligen Weiber sogar absolut jene der rückfälligen
Männer.
Wenn man alles dies in Betracht zieht, dann erscheint wohl der
verbrecherische Hang der Männer nicht so sehr viel grösser, als jener der
Frauen. Es ist eben die Gelegenheit und Fähigkeit zum Vollzug des
Verbrechens, welche' den Frauen in vielen Fällen fehlt und ihr ganzes
Geschlecht besser erscheinen lässt.
So fanden unter 903 Tödtungen, welche Quetelet aus den Jahren
1826—29 aufgezeichnet, 446 in Folge von Wirthshausstreitigkeiten statt,
also in Folge von Versuchungen, welche an die Frauen gar nicht heran-
treten.
Anmerkung.
*) Oettingen a. a. 0. S. 758.
§. 222. Oerttiche Einflüsse.
Zwischen Staaten mit verschiedener Strafgesetzgebung erscheint eine
Vergleichung des criminellen Hanges als etwas höchst gefährliches, was
allzuleicht zu ganz falschen Resultaten führen kann. Wohl aber ist eine
Vergleichung möglich bezüglich einzelner Provinzen oder sonst wie um-
grenzter Kreise, welche in juridisch-staatlicher Beziehung gleich stehen.
Oertliche Einflasse.
467
Es scheint, dass jedes Land seine ihm eigenthümliche Lieblingssünde
hat und festhält.
So hat z. B. in der Criminalität Frankreichs Corsica als eigenthüm-
liches Verbrechen die Angriffe auf Personen, während es an Diebstahl
sich fast gar nicht betheiligt. Das Seinedepai*tement dagegen steht in
letzterer Hinsicht äusserst schlimm da, während es wiedenim bezüglich
der Brandstiftungen und Sittlichkeitsverbrechen fast ganz unbetheiligt er-
schBint gegenüber dem Departement Vaucluse, wo die Nothzucht fast zur
Gewohnheit geworden ist.
Aehnliches zeigt sich in England. Hier ist London gross in Bezug
auf den Diebstahl, mittelmässig stark hinsichtlich der Morde und Sittlich-
keitsverbrechen. Dagegen florirt in Chester, StaflPord, Monmouth und
Southampton die Nothzucht, in Derby constant der Mord.
Bayern bietet trotz seines geringen Umfanges in dieser Hinsicht sehr
interessante Gegensätze.
Nur in den drei Gebieten von Ober-, Mittel- und Unterfranken
zeigt sich ein verwandter Typus der Criminalität. Sonst sind die Unter-
schiede der Provinzen auffallend, wie bei Einzeln Charakteren. Mittelfranken
und Oberbayern stehen mit ihren Diebstählen obenan, Niederbayern mit
den Angriffen auf Leib und Leben, die Pfalz in der Widersetzlichkeit
gegen obrigkeitliche Autorität, Schwaben im Betrug.
Dabei steht offenbar, provinziell betrachtet, die Frequenz der klag-
bar gewordenen Uebertretungen in umgekehrtem Verhältniss mit der
Frequenz der Vergehen und Verbrechen.
Schon die älteren Untersuchungen Guerry's weisen einen Einfluss
des Klima auf die Criminalität nach. Er theilte Frankreich in fiinf Zonen
und fand unter 100 Verbrechern in:
Verbrecher
ttördl. Zone
sfidl. Zone
Centrum
gegen Personen . . .
gegen das Eigenthum
24,4
43,0
23,8
11,4
14,8
12,2
Da indessen die Bevölkerungszahl dieser Zonen sehr verschieden ist,
musste eine Reduction der Zahlen vorgenommen werden. Sie ergab, dass
die Verbrechen gegen Personen im Süden doppelt so häufig waren als im
Norden, und die Verbrechen gegen das Eigenthum im Norden doppelt so
häufig als im Süden, während das Centrum in beiden Beziehungen die
Mitte einhielt.
30*
468
EiBflnRS der Nationalit&t.
§. 223. Einfluss der Fationalit&t.
Wenn sich nun schon so bedeutende provinzielle Unterschiede der
Criminalitat ergeben, so liegt der Schluss auf der Hand, dass auch nationale
Unterschiede vorhanden sein müssen, obgleich sie wegen der Verschiedenheit
der Strafgesetzgebungen nicht quantitativ bestimmbar sind.
Nur . diejenigen Staaten, deren Bevölkerung aus mehreren Nationali-
täten zusammengesetzt sind, liefern vergleichbares Material.
So vergleicht v. Oettingen fiir Russland die Criminalitat der balti-
schen Provinzen, des europäischen Russlands und Sibiriens*).
Zuvor dürfte erwähnt werden, dass für ganz Russland zwei Rubriken
von Verbrechen besonders charakteristisch sind: die Verbrechen gegen die
Religion und die Gesetzwidrigkeiten in Folge von Unvorsichtigkeiten oder
Unglücksfällen. Auffallend stark ist der russische Nationalcharakter in
Widersetzlichkeiten gegen die Obrigkeiten und Verletzungen des öffentlichen
Eigenthums.
Die nationalen Unterschiede der Criminalitat innerhalb Russlands
sind von seltener Grösse. So kommen auf je 10000 Einwohner angeklagte
Verbrecher :
Jahr
in deu baltischeu
Provinzen
1860
1861
1862
1863
7,6
7,6
7,7
8,6
ganz Russland
47,7
52,7
54,6
53,8
klagbar ge-
Also in ganz Russland beinahe die siebenfache Anzah
wordener Gesetzwidrigkeiten!
Würde man nur die Verurtheilten als Massstab der Criminalitat
nehmen, so stellte sich das Verhältniss weit günstiger. Dies ist aber
wegen der schlecht gehandhabten Justiz nicht zulässig. In der ganzen
civilisirten Welt ist der Procentsatz der wirklich Verurtheilten unter den
Angeklagten nirgends geringer, als in Russland.
Selbst russische Forscher geben zu, dass die baltischen Provinzen
sich durch den geringsten Procentsatz von Verbrechern auszeichnen.
Dagegen scheint in den Gouvernements Petersburg und Perm, in
Cherson und Bessarabien die Criminalitat wie eine Krankheit zu wüthen.
Zu welch ein gen artigen Resultaten man kommen kann, wenn man
willkürlich die Zahlen der Verbrecherstatistik zusammenstellt und welch
falsche Schlüsse man aus diesen Zahlen ziehen müsste, wenn man sie
vergleichen wollte, ohne auf die Verschiedenheiten der Strafgesetzgebungen
Einfluss der Jahreszeiten. 469
ZU achten, zeigt folgende Zusammenstellung von Legoyt über das Ver-
hältniss der wirklich Verurtheilten. Es kämen von denselben in:
Oesterreich einer auf 81,9 Einwohner
Spanien „ „ 81,8
Holland „ »71,8 „
Belgien „ „ 58,i
Frankreich „ „ 55,i „
England „ „ 47,9
Preussen „ „ 22,9 „
Hannover „ „ 12,8 „
Oesterreich und Spanien stünden demnach obenan in der Moralität
und die wackeren Hannoveraner wären sechsmal unmoralischer als die
Spanier! In Preussen und Hannover wird eben die Justiz scharf gehand-
habt und in der Zahl der Verbrechen sind bei diesen Ländern hundert-
tausende von kleinen Holzfreveln mitgerechnet, die anderwärts gar nicht
verfolgt werden. Solche Zahlen dürfen gar nicht zusammengestellt werden?
wenn man sich nicht an der Statistik versündigen wilP).
Aumerkuugen.
') Oettiugen a. a. 0., S. 733 ff.
«) Ebenda, S. 707,
§. 224. Einfluss der Jahreszeiten.
Quetelet erkennt einen sehr entschiedenen Einfluss der Jahreszeiten
auf die Häufigkeit der Verbrechen, ebenso Guerry. Die Beobachtungen des
letzteren haben sich seit mehr als dreissig Jahren als ganz richtig bewährt.
Man hat bemerkt, dass die Verbrechen gegen das Eigenthum am
häufigsten im Winter begangen werden, während zu dieser Jahreszeit die
Verbrechen gegen Personen am seltensten sind und ihr Maximum im
Sommer erreichen. Die Erscheinung ist leicht erklärbar, indem im Winter
zumeist die Noth sich fühlbar macht und zu den Verbrechen gegen das
Eigenthum treibt, während im Sommer die Leidenschaften feuriger und
durch den in dieser Jahreszeit gesteigerten gesellschaftlichen Verkehr
noch erregbarer werden.
Dabei ergeben sich aber noch verschiedene Eigenthümlichkeiten.
Bei allen gröberen vorbedachten Verbrechen, bei Mord, Brandstiftung,
Meineid, Vergiftung etc. lässt sich keine solche Regelmässigkeit nachweisen.
Ifach Guerry wurden von je 100 Verbrechen verübt im;
470
Einflnss wirthschaftlicher Zustände.
gegen die
Sittlichkeit
gegen
Personen
gegen
Eigenthum
Herbstquartal
(September, October, Novemb.)
Wiuterquartal
(December, Jänner, Februar) .
Frühlinifsquartal
(März, April, Mai) .'
Spmmerquartal
(Juni, Juli, August)
20,64
15,93
26,08
37,35
24,1
22,1
25,6
28,3
24,4
27,9
23,6
23,1
100
100
100
§. 225. Einfluss wirthschaftlicher Zustände.
Eine der populärsten statistischen Erscheinungen ist der Einfluss von
Theuerung und Wohlfeilheit auf die Verbrechen. Bei steigender Theuerung
nehmen die Diebstähle zu, während die Angriffe auf die Personen sich
mindern und umgekehrt.
So hat man namentlich in Bayern (Mayr) die Beobachtung ge-
macht, dass während der Periode von 1835 — 61 jeder Sechser, um welchen
der Scheffel Getreide im Preise stieg, auf je 100000 Einwohner einen
Diebstahl mehr im Lande hervorgerufen hat, während andererseits das
Fallen des Getreidepreises um je einen Sechser einen Diebstahl bei der
gleichen Zahl von Einwohnern verhütet hat. Zugleich zeigt sich bei einer
Preisemiedrigung ein Steigen der Verbrechen gegen die Person.
Der criminelle Hang, wie eine einmal in gewisser Richtung sich
bewegende Kraft überwindet immer noch geringere Hindemisse, um in
seinem zeitweiligen Schwünge nach unten oder nach oben zu verharren.
Erst grössere Hindernisse verändern seine Bewegung entschieden.
In England scheint die gewaltige Handelskrisis von 1857 — 58 sich
in einem besonders starken criminellen Hange zu spiegeln. Gegenüber den
Revolutionszeiten haben die Zeiten der Theuerung vorzugsweise Einfluss
auf die Criminalität der Weiber und der Jugend, während jene mehr die
Männer und das reifere Alter zu Gesetzesverletzungen veranlassen.
üebrigens zeigt die Statistik, dass nicht die Armuth an sich schon
den verbrecherischen Hang des Menschen unterstützt. Mehrere französische
Departements, obgleich als die ärmsten bekannt, sind zugleich die sitt-
lichsten. Aber dann wird der Mensch häufig dem Abgrunde einer Ver-
brecherlaufbahn entgegengefuhrt, wenn er sich plötzlich aus dem Wohlstand
ins Elend versetzt sieht, wenn es gilt, Bedürfnisse mit Resignation und
Charakterstärke zu reduciren.
Einflass der Bildun;. 471
§. 226. EinfloBs des Berufes.
Bezüglich des Erwerbszweiges nimmt Quetelet einen bedeutenden
Einfluss auf den verbrecherischen Hang an. Individuen, meint er, welche
einem freien Beruf angehören, begehen mehr Verbrechen an Personen, die
arbeitende und dienende Classe mehr Verbrechen am Eigenthum.
üebrigens ist die Berufsstatistik noch zu wenig ausgebildet, um
tiefere Schlussfolgerungen zu gestatten (Oettingen).
In England und Wales angestellte Erhebungen ergeben in dieser
Hinsicht folgendes charakteristische Resultat. Im Jahre 1859 traf ein
Individuum der sogenannten criminellen Classen bei der städtischen Be-
völkerung:
in London auf 194 Einw.
„ Vergnügungsstädten (Bath, Dover etc.) . . . „ 87 „
„ Städten der Landbaudistricte „ 86 „
„ Handelshäfen „ 96 „
„ Baumwoll- und Leinenmanufacturstädten . „ 125 „
„ Wollwaarenmanufacturstädten „ 137 „
„ Städten mit feiner und gemischter Weberei . „ 119 „
„ Städten mit Eisenindustrie „ 54 „.
(Mayr. Stat. der gerichtl. Polizei.)
§. 327. Einfluss der Bildung.
Wirkt die intellectuelle Bildung vortheilhaft oder nachtheilig auf die
Sittlichkeit überhaupt und auf den verbrecherischen Hang insbesondere?
Diese Frage ist von hoher civilisatorischer Tragweite: aber die Statistiker
sind noch nicht einig über sie.
Bekanntlich herrscht heutzutage in weiten Kreisen die üeberzeugung
von unbedingt günstigem Einfluss, während auch die gegentheilige zahl-
reiche Vertreter hat. Auch in der Wissenschaft besteht dieser Gegensatz ^).
Das eine scheint zwar klar, dass der geschulte Mensch jedenfalls
mehr Motive hat, gröbere Gesetzwidrigkeiten zu vermeiden, wie er auch
schon die Fähigkeit besitzt, sich sein Brod leichter zu erwerben und
dadurch vor Eigenthumsverbrechen mehr bewahrt ist*).
Und dennoch wird man auch in dieser Hinsicht schmerzlich ent-
täuscht, wenn man die Qualität der Bildung bei den Angeklagten ver-
gleicht. Unter 1000 Angeklagten in Frankreich
(1826—50) (1860)
konnten weder lesen noch schreiben 554 427
„ nur schlecht lesen und schreiben 309 407
„ gut lesen und schreiben 106 104
hatten eine höhere Bildung 31 62
472
Einflasg der Bildung.
So hat sich der Antheil der höher Gebildeten am Verbrechen fast
verdoppelt!
Dazu kommt, dass bei allgemein steigender Volksbildung in den
europäischen Staaten die Verbrechen nicht ab-, sondern eher zunehmen.
Die Sittlichkeitsattentate mehren sich allgemein bei zunehmender
Civilisation; der Rückfall wird häufiger; der Kindsmord wächst masslos;
die Weibercriminalität steigt^).
Gewandtheit im Lesen, Schreiben und Rechnen schützt nicht vor
jener Gesinnung, welche das Verbrechen erwachsen lässt. Aber wer höhere
Bildung besitzt, kommt doch leichter in Beiührung mit allem Guten und
Edlen, was die Menschheit geschaffen hat. Freilich auch mit vielem
Schlechten. Sollte aber nicht jenes stärker auf ihn einwirken?
Anmerkuugeu.
*) So behauptet Guerry, der Unterricht sei ein Werkzeug, von welchem
man ebenso gut einen guten als einen schlechten Gebrauch machen kann.
Mayhew nennt es einen höchst gefährlichen Irrthum, wenn man glaubt, dass
vom Lesen, Schreiben und Rechnen eine Verminderung der jugendlichen Ver-
brecher erhofft werden könne und Guerry liefert den Beweis für die gleiche
Anschauung aus der geographischen Verbreitung der Bildung und der Crimi-
nalität. So haben die ungebildeten Departements Frankreichs, AUier, Haut-
Vienne, Indre, Cher, Nievre und Creuse die geringste, die hochgebildeten nord-
östlichen Partien eine auffallend grosse Criminalität. Gleiches zeigt sich bei der
Vergleichung englischer Grafschaften.
Umgekehrt stellt Corne ganz schroff die Behauptung auf: wo am meisten
Ignoranz, da kommen auch die meisten Verbrechen vor. Und Engel meint, jede
Ausgabe im Budget des Unterrichts werde reichlich aufgewogen durch die
Ersparnisse im Budget der Criminaljustiz.
*) In Frankreich fand mau gänzlich Ungebildete (Oettingen a. a. 0.
S. 809):
im Jahre
1827—28
1829-30
1831-32
1833—34
1835-36
1847—48
1863—64
1865—66
unter den
Recruten
56 %
52 „
49 „
47 „
47 „
36 „
28 „
25 „
unter den
Verbrechern
62 %
61 „
59 „
58 „
57 „
50 „
42 „
36 „
Einflnss der ConfeBsion. 473
Nach diesöii Zahlen hat die Volksbildung entschieden rascher zuge-
nommen als die Zahl der gebildeten Verbrecher, und es fanden sich mehr Un-
gebildete unter den Verbrechern, als sich finden würden, wenn die Gebildeten
und Ungebildeten sich gleich am Verbrechen betheiligten.
') Ebenda S. 810.
§. 228. Einfluss der Confession.
Man hat die Bemerkung gemacht, dass unter sonst gleichen Um-
ständen die sogenannten herrschenden Kirchen stets eine schlimmere Crimi-
nalität ihrer Angehörigen aufweisen, als die nur geduldeten (Oettingen).
So gestaltet sich in Bayern die Criminalität ungünstiger für die
Katholiken, als für die Protestanten. Diese Behauptung kann freilich nur
ganz im Allgemeinen aufgestellt werden aus dem Umstände, dass Ober-
und Niederbayern mit dem grössten Procentsatz katholischer Bevölkerung
die höchste, Ober- und Mittelfranken die geringste Verbrecherfrequenz in
einem 26jährigen Durchschnitt aufweisen.
Ein absoluter und constanter Zusammenhang zwischen der Confes-
sion und Criminalität kann bei einer so gemischten Bevölkerung nicht
nachgewiesen werden.
In Preussen dagegen stellen sich in crimineller Hinsicht Westfalen
und Rheinland am günstigsten.
In Hannover, in der Schweiz und in Holland stehen die in der
Minorität lebenden Katholiken absolut günstiger, so dass man wohl be-
haupten kann, der Einfluss der Confession auf die Criminalität sei dort
ein besserer, wo keine staatliche Bevormundung besteht, wo das Massen-
bekenntniss zurücktritt und in Folge dieser Umstände strengere Selbstcon-
trole und kirchliche Zucht ermöglicht ist.
Dagegen lassen sich solche Staaten, welche heterogene Stammes-
eigenthümlichkeiten, Culturzustände und Gesetzgebungen aufweisen, nicht
leicht in dieser Hinsicht vergleichen, weil der confessionelle Factor nicht
isolirt werden kann*)..
Eine ganz eigenthümliche Erscheinung bieten wie in mancher anderen
Hinsicht so auch in dieser die Juden. Auf sie fällt in den meisten Län-
dern der relativ kleinste Procentsatz der öffentlich geahndeten Verbrechen.
In Baden z. B. kam 1856 — 59 ein angeklagter Jude auf etwa 315 jüdische
Einwohner und ein angeklagter Christ auf etwa 265 christliche Einwohner.
Auch die bayerische Criminalstatistik spricht zu Gunsten der Juden *).
Anmerkungen.
*) Eine solche Vergleichung ist z. B. die von Hausuer, wonach in Europa
die Criminalität der Confessiouen sich folgend ergestalt stellen würde:
474 Der Selbstmord.
Bei röm. Katholiken 1 Verbrecher auf 1531 Einw.
„ Protestauten 1 ^ „ 1383 „
„ ^iech. Orthodoxen 1 „ „ 1058 „
(Hausner: Vergl. Statistik, I. 138.)
*) Vergl. Oettingen a. a. 0. S» 844.
III. Capitel.
Die einzelnen sittlicli bedeutungsvollen Hand-
lungen.
§. 229. Vebersicht.
Wenn die Sitten Statistik den Hang des Menschen zum Guten und
zum Bösen im Allgemeinen, sowie die auf ihn wirkenden Einflüsse unter-
sucht hat, sind schliesslich noch die einzelnen Aeusserungen dieses Hanges
zu untersuchen. Eine den Anfordeiningen strenger Systematik ebenso als
den bisherigen Resultaten der Sittenstatistik entsprechende Eintheilung
dieser Aeusserungen zu geben, ist schwierig. Zwei Eintheilungsgründe
stehen im Vordergrunde. Die Lebenskreise, in welchen die sittlichen
Kräfte sich bethätigen (§. 212) und die unmittelbaren Objecte der sitt-
lichen Handlungen, d. h. jene sittlichen Güter, welche verletzt oder ge-
fördert werden können. Nimmt man seiner Einfachheit wegen den letz-
teren Eintheilungsgrund an, so sind die wichtigsten dieser sittlichen Güter
etwa folgende;
[. Leib und Leben des Menschen. Diejenigen moralstatistischen Er-
scheinungen, welche hier in Betracht kommen, sind: Selbstmord, Mord
und Körperverletzung, Krankheiten in Folge von Lastern (§. 230 fF.).
n. Arbeit, Sparsamkeit und Besitz.
lU. Die Familie und ihr Bestand.
IV. Das sittliche Verhältniss der Geschlechter. In dieser Hinsicht
sind ziflPermässig fassbar die Sittlichkeitsverbrechen, die Prostitution, die
ausserehelichen Geburten.
V. Geistige und künstlerische Bildung und Thätigkeit.
VI. Religiöse Lebensthätigkeit.
§. 230. Der Selbstmord.
Das leibliche Dasein ist, als nothwendige Vorbedingung für alles
Streben nach Vervollkommnung, auch ein sittliches Gut. Jene Hand-
lungen, welche dieses Leben zu bewahren streben, gehen zwar zunächst
Der SelbstniOTd. 475
vom Selbsterhaltungstriebe aus, der auch dem Thiere eigen, nichts an sich
sittliches ist. Sittlicher Muth und sittliche Ausdauer machen aber auch
diesen Kampf ums' Dasein zur sittlichen That. Alle Lebenszerstörung
dagegen ist entschieden unsittlich.
Das verletzte oder zerstörte Leben kann entweder des Handelnden
eigenes oder ein fremdes sein. Im ersteren Falle ist die unsittliche That
entweder eine rasche Zerstörung des Lebens, eine verzweifelte Flucht aus
dem Kampfe ums Dasein, oder eine langsame verschuldete Zerstörung der
Lebenskräfte.
Erstere findet ihren statistischen Ausdnick im Selbstmord, einer
der merkwürdigsten in das Gebiet der Sittenstatistik fallenden Erschei-
nungen.
In ausgezeichneter Weise fiir die Statistik geeignet, hat diese Er-
scheinung zur Beobachtung geradezu herausgefordert und in der That auch
eine Reihe von Forschungen veranlasst. Die Resultate der gründlichsten
dieser Forschungen bestehen im Wesentlichen in Folgendem *) :
1. Von Jahr zu Jahr zeigt sich eine ganz eigenthümliche Gleich-
mässigkeit in den Selbstmordzahlen. Sobald man mit etwas grösseren
Zahlen operirt, ist das nicht zu verkennen. In den grösseren Staaten
pflegt selbst in längeren Zeiträumen die mittlere jährliche Abweichung
der wirklichen von der idealen Zahlenreihe bei den Selbstmorden kleiner
als bei den Todesfällen im Allgemeinen zu sein, d. h. die Selbstmorde,
anscheinend höchst willkürliche Handlungen, sind regelmässiger als die
Todesfalle überhaupt *).
2. Der Selbstmord ist in Europa in regelmässiger, die Bevölke-
rungsvermehrung meistens übersteigender Zunahme begriffen^).
3. Ein Einfluss des Klimas auf die Selbstmordfrequenz scheint
zwar vorhanden zu sein, ohne jedoch den Zahlen bestimmteres Gepräge
aufzudrücken. Im centralen Europa ist der Selbstmord am häufigsten und
wird seltener gegen Osten und Westen, wie gegen Nord und Süd.
4. Die Jahreszeiten äussern einen entschiedenen Einfluss auf die
Häufigkeit der Selbstmorde. Entscheidend sind die üebergangszeiten mit
starken Temperaturwechseln. Namentlich zeigen die Monate Mai bis Juli
die meisten Selbstmorde.
^ 5. Der Einfluss des Geschlechts ist ein sehr gleichmässiger. Ueberall
betheiligen sich die Männer weit stärker am Selbstmord als die Frauen.
Der Selbstmord ist 3 — 472^1^1 so häufig bei Männern als bei Frauen. Die
Zunahme der Selbstmorde trifft beide Geschlechter gleichmässig.
6. Das Alter beeinflusst die Häufigkeit der Selbstmorde so bedeu-
tend und gleichmässig, dass man schon von einem Gesetz der Vertheilung
der SelI)Stmorde über die Lebensalter sprechen kann. Der Selbstmord
476 Der Selbstmord.
nimmt regelmässig von der Jagend bis in das Alter za; eine Abnahme
erleidet er erst im höchsten Alter; nach dem 70. bis 80. Jahre.
Es widerspricht dies einer von den älteren Statistikern und Medi-
cinem gehegten Ansicht, dass im höheren Alter, wo der Mensch gerade
mehr am Leben hänge, der Selbstmord seltener sei.
7. Die körperliche und die natürlich geistige Beschaffenheit
äussern ihren Einfluss insoferne, als der Selbstmord viel häufiger unter
Geisteskranken, wie unter körperlich Kranken oder gar Gesunden vor-
kommt.
8. Die Abstammung und Nationalität äussern einen wesent-
lichen Einfluss auf die Häufigkeit der Selbstmorde. Dieser Einfluss ist
allerdings schwer zu isoliren. Der Selbstmord ist unter den germanischen
Stämmen häufiger als unter den romanischen, unter diesen häufiger als
unter Slaven, etwa im Verhältnisse wie 5:4:2.
Ob jedoch das Klima der Länder oder wirklich der Nationalcharakter
entscheidend sind, oder in welchem Grade noch andere Factoren mass-
gebend sind, ist vorläufig nicht zu ermitteln*).
9. Von den socialen Verhältnissen übt, wie es scheint, der Civil-
stand wirklich einen Einfluss aus. Die Ehe wirkt selbstmordvermindemd,
der ledige Stand ungünstig, noch schlimmer der verwitwete Stand und am
schlimmsten die geschiedene Ehe. Und zwar letztere beiden Einflüsse auf
die Männer mehr als auf die Frauen.
10. Einen ganz entschiedenen Einfluss üben Religion und Con-
fession auf die Selbstmordfrequenz.
Namentlich bei der Vergleichung von Katholiken und Protestanten
zeigt sich dies ganz auflallend. So kommen auf je 100 katholische Selbst-
mörder:
in Preussen
322 protestantische
„ Bayern
276
„ Württemberg
131
„ Oesterreich
155
Unter den Protestanten ist der Selbstmord am häufigsten, seltener
unter den Katholiken und am seltensten unter griechischen Christen und
Juden.
Der Einfluss der Abstammung macht sich neben dem der Confes-
sion geltend, was beim Vergleich von katholischen und protestantischen
Ländern und noch deutlicher unter gemischter Bevölkerung hervortritt. Es
scheint, dass der Selbstmord selten ist in Ländern, welche ihren religiösen
Glauben unberührt gehalten und wo die modernen Neigungen zur Gleich-
giltigkeit und Glaubenslosigkeit noch wenige Fortschritte gemacht haben.
Leider liegen statistische Beobachtungen bezüglich anderer Religionen nicl^t
Der Selbstmord. 477
vor; man weiss indessen, wie gering die Zahl der Selbstmorde bei Molia-
medanern ist gegenüber den selbstmordreichen Gebieten, welche der Sitz
des Buddhaismus sind.
11. Die allgemeine Bildung und ihre Verbreitung ist der Häufig-
keit der Selbstmorde jedenfalls nicht hinderlich. In Frankreich hat man
specielle Beobachtungen hierüber angestellt. Die Zunahme der Selbstmorde
bei gleichzeitiger Ausdehnung und Verbesserung des ünterrichtswesens
macht es wahrscheinlich, dass grössere geistige Bildung und Aufklärung
öfter zum Selbstmord versucht oder doch jene sittlichen Mächte schwächt,
durch welche solche Versuchungen überwunden werden.
Ueberhaupt ist der Selbstmord unter den gebildeteren Classen häu-
figer als unter Ungebildeten.
12. Der Einfluss des Berufes zeigt sich zunächst in der verschie-
denen Häufigkeit der Selbstmorde in Stadt und Land.
Der Selbstmord ist in den Städten häufiger als auf dem Lande, in
den grossen Weltstädten häufiger als in kleinen Städten. Es scheint
indessen, dass nicht so sehr die wirthschaftliche, als vielmehr die sociale
culturliche Seite des Stadtlebens diesen Einfluss nimmt.
Der Einfluss des speciellen Berufes lässt sich aus Mangel an stati-
stischem Material nicht feststellen. Verhältnissmässig am häufigsten ist
der Selbstmord bei Dienstboten beiderlei Geschlechtes und bei Soldaten.
Sehr häufig auch bei jenen Personen, welche keinen Beruf haben und bei
den sogenannten bedenklichen Classen. Die Selbstmordfrequenz der libe-
i-alen Professionen und der höher gebildeten Stände übertriflit die durch-
schnittliche Frequenz des ganzen Volkes. Landleute und Gewerbetreibende
stehen in ihrer Selbstmordfrequenz fast gleich.
Beachtung verdient es, dass jene Classen die meisten Selbstmorde
zählen, welche in ihrer persönlichen Freiheit am stärksten beschränkt sind.
13. Auch in der Wahl der Selbstmordarten zeigt sich eine
merkwürdige Gleichförmigkeit. Die einzelnen Arten des Selbstmordes
kehren jährlich in demselben Verhältniss wieder und verändern ihre Zifl^er
in längeren Zeiträumen nur wenig. Erhängen und Ertränken sind die
häufigsten Selbstmordmittel; ersteres findet 2— 3mal so oft statt als letz-
teres. Schusswafl^en sind seltener üblich, noch weniger stechende und
schneidende Instrumente. Aber selbst die am seltensten gewählten Mittel
zeigen grosse Regelmässigkeit.
14. Die nächste Ursache des Selbstmordes ist immer ein Zustand
des Unglücks. Kein Glücklicher ermordet sich. Aber unendlich mannig-
faltig sind die Arten menschlichen Unglücks.
Französische und belgische Tabellen haben es verstanden, diese
Arten am besten zu classificiren, um sie als nächste Selbstmordursachen
478 Der Selbetmord.
in ihrer verschiedenen Mächtigkeit hinzustellen. Die Unterscheidungen sind
fein und psychologisch richtig *).
In diesen Zusammenstellungen liegt der Anfang zu einer Messung
der Factoren des menschlichen Unglücks. Die Zahlen sind von
wahrhaft tragischer Bedeutung. Denn während die Factoren des Glücks
den Augen der Forschung sich entziehen, präsentiren sich in diesen Zahlen
die Dämonen der irdischen Hölle, eine Reihe schwarzgeflügelter Unholde,
welche dem von ihnen Verfolgten den Strick um den Hals legen und
sich an ihn stemmen, wenn er zögert, den Sprung von der Brücke
zu thun.
Das hohe moralische Gewicht dieser Zahlen liegt darin, dass sie
zeigen, wie sehr der Mensch des eigenen Glückes Schmied ist. Rechnet
man die im Wahnsinn begangenen Selbstmorde ab, so sind die Mehrzahl
der übrigen Selbstmörder Opfer selbstverschuldeten Unglücks. Sittliche
WaflPen hätten ihnen im Kampfe wider das Unglück den Sieg verliehen.
Sehr klein erscheint die Zahl der den grossaiügsten Leidenschaften
werdenden Opfer: der Selbstmörder aus Eifersucht, Ehrgeiz, unglücklicher
Liebe; noch kleiner die Zahl jener, welche der Kummer über theure
Angehörige dahinreisst. Geistige und körperliche Krankheiten, von welchen
die ersteren jedenfalls zum Theile als selbstverschuldete angenommen
werden dürfen, Aimuth und Elend, häuslicher Unfriede, Laster aller Art
erscheinen als die thätigsten unter den Dämonen der irdischen Hölle.
Um mit den SelbstmordziflPern rechnen zu können, müssten aller-
dings die Beobachtungen noch zahlreicher und namentlich eine genaue
Untersuchung der Ursachen möglich sein. Letztere ist indessen schwierig.
Namentlich müssten die im Wahnsinn begangenen Selbstmorde aus der
Rechnung gelassen und statt ihrer die Wahnsinnsursachen substituirt werden.
Und selbst dann ist in diesen Zahlen nicht zu unterscheiden, ob die
grössere Intensität, Häufigkeit oder Zähigkeit des Unglücks den Selbstmord
herbeigeführt hat.
Die Macht oder Intensität des Unglücks, sein momentaner Grimm,
ist vorerst unmessbar. Eben solche Schwierigkeiten hat auch eine Messung
der Zähigkeit, mit welcher das Unglück sich an die Fersen seines
Opfers heftet, und durch unablässige Wirksamkeit reichlich das ersetzt,
was ihm an momentaner Wucht mangelt. Nur die Häufigkeit des
Unglücks, d. h. die Zahl der von einem bestimmten Unglück heimge-
suchten Menschen ist für einzelne Leiden des Daseins festgestellt (Krank-
heit, Krüppelhaftigkeit, Armuth, Witwenthum etc.).
Wenn trotz der Energie, mit welcher in unseren Culturstaaten
Recht und Polizei, Wissenschaft und Wirthschaft an der Einschränkung
des Unglücks thätig sind, die Selbstmorde sich noch bedeutend mehren,
Der Selbstmord.
479
so ist dies ein deutliches Zeichen, dass die Kraft jener sittlichen Factoren,
welche im Menschen selbst wider das Unglück ankämpfen, im Abnehmen ist.
Intensität und Extensität des Unglücks bewegen sich in verkehrtem
Verhältniss. Die Macht des Unglücks gegenüber dem Menschenherzen ist
im Zunnehmen; es scheint, als nähme sie um so energischer zu, je mehr
Mittel und Wege die Menschheit hat, um der Ausdehnung des Unglücks
Schranken zu setzen. Je reicher und voller die Schätze unserer Wirth-
schaft auf den Weltmarkt sich drängen, um so bitterer wird uns die
Armuth; je reicher und schöner theures Leben um uns blüht, um so
grauenhafter schauen die leeren Augen des Todes uns an. Darin liegt
eine grosse und tiefernste Lehre. Wie das Leben des Einzelnen einen
Sättigungspunkt am Glück hat: so auch das Leben der Menschheit.
Anmerkungen.
*) Vgl. häuptsächlich: A. Wagner: Die Gesetzmässigkeit in den schein-
bar willkürlichen Handlungen des Menschen.
^) Man beobachte z. B. die absolute Selbstmordzahl in Oesterreich in
den 14 Jahren von 1865—1878. Sie betrug in den einzelnen Jahren: 1464,
1265, 1407, 1556, 1375, 1510, 1560, 1677, 1863, 2151, 2217, 2438, 2648, 2578.
Charakteristisch dabei ist die plötzliche Steigening, welche durch den grossen
Krach y. J. 1873 herbeigeführt wurde (Movim. dello stato civile, 1862—78, p. 322).
') So zeigt sich z. B. eine durchschnittliche jährliche Selbstmordzahl:
in den Jahren
Frankreich
Belgien
England
Dänemark
Norwegen
1836-40
1856-60
2574
4002
183
220
967
1305
272
426
133
145
Und zwar zeigt sich diese Zunahme nicht nur in den Städten, sondern
auch auf dem platten Lande. Sie steigert sich namentlich in den letzten Jahren.
Nach Movimento dello stato civile, anni 1862 — 78, pag. CCCXIX betrug die
Zahl der Selbstmorde auf je 1 Mill. Einwohner:
im
im
im
im
"=
1 n
Zeitraum
ersten
Jahre
letzten
Jahre
1 n
Zeitraum
ersten
Jahre
letzten
Jahre
Italien . . .
1865-78
29
41
Bayern . .
1868-77
91
127
England . .
T)
66
71
Sachsen . .
1865-78
262
389
Schottland .
1865-75
42
36
Thüringen .
1868 -78
353
342
Irland . . .
1865-78
14
17
Baden . . .
1866-78
132
206
Oesterreich
rt
74
118
Schweden .
1865-78
80
91
Belgien . .
1870-78
66
89
Norwegen .
1855-75
85
78
Preussen . .
1865-77
121
174
Finnland . .
1869-77
38
35
480
Der Selbstmord.
£iue gauz bemerkeuswerthe Ausnahme you dieser Regel bilden die
scandiuavisehen Völker.
*) Gruppirt mau die Läuder nach der Häufigkeit der Selbstmorde, so
stellen sie sich in folgender Reihe dar. Auf 1 Mill. Eiuw. treffen Selbstmorde:
i n
im Durch-
s chuitt der
Jahre
Selbst-
morde
auf 1
Mill.
i n
im Durch-
schnitt der
Jahre
Selbst-
morde
auf 1
Mill.
Sachsen ....
1865-78
300,7
Norwegen . .
1865-75
74,fi
Thüringen . . .
1868-78
269,8
Belgien . . .
1870-78
74,1
Schweiz ....
1876-78
213,0
England . . .
1865-78
67,5
Württemberg .
1873-76
168,0
Schottland . .
1865-75
36,9
Baden ....
1866-78
157,8
Italien ...
1865-78
32,8
Frankreich . .
1872-75
149,9
Croatieii-Slavo-
Preussen . . .
1865—77
142,0
nien ....
1874-78
32,4
Bayern ....
1868-77
94,2
Finnland . . .
1869—77
31,2
Oesterr. (diess.) .
1865-78
88,1
Irland ....
i865-78
16,7
Schweden . . .
.1865-78
85,9
Spanien ...
1859—62
14,4
(Die Ziffern für Frankreich sind nach dem Aunuaire stat. de la France
1878, pag. 94 berechnet; für Spanien nach dem Anuario estadistico 1862 — 65,
pag. 166; für die übrigen Läuder nach dem Movimeuto dello st. civ. 1862 — 78.)
*) Nach A. Wagner''s hierüber mitgetheilter Tabelle gruppirten sich in
Frankreich bei einer Gesammtzahl von 24462 Selbstmorden die einzelnen
Motive folgendermassen .
Motive: Zahl der Fälle:
1. Unbekannt 2139
2. Lebensüberdruss schlechtweg 951
3. Geisteskrankheit (Wahnsinn, Melancholie, Blödsinn etc.) 7421
4. Mit Geistesstörung verbundene Leidenschaft (religiöse und politische
Exaltation) ' 24
5. Körperliche Leiden 2651
6. Leidenschaften (Zorn 13, unglückl. Liebe 601, Eifersucht 131) ... 745
7. Laster (Betrunkenheit 419, Trunksucht 1427, liederliches Leben 821,
Spielsucht und Verlust 38, Tagdieberei 27) 2732
8. Kummer und Betrübniss über Andere (Verlust v. Angehörigen, Heim-
weh etc.) 331
9. Zwist mit der Familie (u. mit Vorgesetzten) 2600
10. Kummer über Vermögens Verhältnisse (Elend u. Furcht vor demselben,
Zerrüttung u. Verlust des Vermögens, Arbeitsmangel, Processverlust,
getäuschte Hoffnungen) . 2764
11. Unzufriedenheit mit der Lage (mit der socialen Stellung, namentlich
mit dem Militärdienst etc.) 253
12. Reue und Scham (Gewissensbisse, Furcht vor Schande) ....... 158
13. Furcht vor Strafe 1528
14. Selbstmord nach Mord und dergl. ^ 165
Krankheiten in Folge Ton Lastern. 481
§. 231. Fortsetzung. Krankheiten in Folge von Lastern.
Gewisse Laster finden ihren statistischen Ausdruck in einem schlei-
chenden Selbstmord, in Krankheiten, welche als Folgen unsittlicher Hand-
lungsweise auftreten.
I. Der Branntweingenuss erscheint nicht nur als Ursache, sondern
auch als Symptom und Folge sittlicher Verkommenheit. Er wirkt völker-
verderbend und mit ihm führen die anderen verdorbenen Sitten der Ge-
sellschaft eine Verweichlichung, ja sogar Vergiftung des gesellschaftlichen
Körpers herbei. Der Branntwein verbrauch steigt sehr regelmässig von Jahr
zu Jahr; Nothstände, entfesselte politische und sociale Leidenschaft stei-
gern ihn, wie Engel für Sachsen ziffermässig erweist.
In den preussischen Provinzen hat man einen innigen Zusammen-
hang der ßranntweinconsumtion und der unehelichen Geburten beobachtet.
Brandenburg und Pommern zeigten sich in beiden Beziehungen höchst
excessiv, Westfalen und Rheinprovinz sehr massig.
Die Branntweinconsumtion ist jedoch nur eines von den Merkmalen
des Hanges zum Trünke. Ein zweites ist die Zahl der wegen Trunkenheit
aufgegriffenen Personen, namentlich auch die verschiedene Betheiligung
beider Geschlechter. Der angelsächsische Volksstamm steht in dieser Hin-
sicht * auffallend tief. So wurden in New- York im Jahre 1868 in das
dortige Asyl für Trunkenbolde 2153 Personen aus den bemittelteren
Ständen aufgenommen, darunter nicht weniger als 1300 Töchter aus
„reichen Häusern"! (Oettingeti.) In ganz England kamen auf 100 Säufer
29 Säuferinnen (Neison und Oesterlen), zu Livei-pool im Jahre 1858 sogar
4349 polizeilich eingezogene Säuferinnen auf 5480 Säufer! ,
Die Verderben bringende Wirkung dieses Lasters ziffermässig dar-
zustellen wurde schon öfter versucht. Engel und Franz sind der Ansicht,
dass die Abnahme der Lebensdauer der preussischen Bevölkerung in den
letzten Jahrzehnten im Zusammenhange stehe mit der Zunahme des Alko-
holgenusses. Nach älteren Berechnungen ist in England die Sterblichkeit
bei Trinkern von 21 — 50 Jahren 4 — 5mal, von 50 — 60 Jahren dreimal
und bei Gewohnheitssäufern von mehr als 60 Jahren doppelt so gross als
bei der Gesammtbevölkerung *).
n. Ein anderes gleichfalls auf sittlicher Entartung beruhendes Siech-
thum ist die Syphilis, deren Extensität und Intensität im allgemeinen
immer dem Grade socialer und sittlicher Nothstände parallel laufen. Zeiten
gesellschaftlicher Erregung, wo geschlechtliche Ausschweifung sich steigert,
spiegeln sich in der Verbreitung der syphilitischen Erkrankung. So
namentlich im Zeitraum von 1845 — 54 die Jahre 1848 und 49. Tragisch
ist die stetige Zunahme der Syphilis als Todesursache, sowie ihre Ver-
breitung unter den Neugeborenen, ihre Erblichkeit. In England und Wales
Haushofe r, Statistik. 2. Aufl. 3 \
482 Der Mord.
z. B. fanden ßich jährlich unter 100000 Todesfällen folgende Zahlen an
Syphilis Verstorbener *) : /
1849—51 146
1858 223
1859 . 247
III. Mit Recht führen neuere Moralstatistiker den Wahnsinn
gleichfalls als eine Erscheinung auf, der vielfach eine gewisse sittliche
Verschuldung wenn nicht des Einzelnen, so jedenfalls der ganzen Ge-
sellschaft zu Grunde liegt. Namentlich erscheint der so moderne Grössen-
wahn als eine Frucht ziellosen und überreizten Ehrgeizes.
Anmerkungen.
*) Oesterlen: Med. Statistik. S. 721.
*) Ebenda, 673.
§. 232. Der Mord.
Während das eigene Dasein ein sittliches Gut ist, auf welches zu
verzichten Niemand gehindert werden kann und dessen freiwillige Preis-
gebung von der gegenwärtigen humanen Weltanschauung mehr bemitleidet
als getadelt wird, ist das Leben unseres Mitmenschen, der um seines
eigenen und um des Glückes seiner Familie und seines Volkes willen
lebt und arbeitet, als das empfindlichste und ehrwürdigste sittliche Gut
besonders deshalb angesehen, weil ein Ersatz oder eine Vergütung bei
Beschädigungen dieses Gutes unmöglich ist.
Bezeichnet wird die Achtung und Sicherheit fremden Lebens auf
negativer Seite durch die statistische Erscheinung des Mordes in seinen
verschiedenen Formen, auf positiver Seite durch den Abscheu der gesitteten
Gesellschaft vor der Verletzung fremden Lebens und durch die rächende
That ihrer StraJQustiz.
„Wie der Tod selbst nicht blos ein Augenblick, sondern ein Process
ist, der leise anhebt und mit der Verwesung endet, so sind auch die
sittlichen Schäden, die den Tod inner der Menschheit befördern, schling-
pflanzenartig verwachsen, ein unheimliches Gewebe von selbstsüchtigen
Trieben und Motiven, die zuchtlos bethätigt, den Collectivmord und Selbst-
mord in der menschlichen Gesellschaft befördern und beschleunigen"
(Oettingen).
Diese mörderischen Tendenzen sind verschiedener Art; bald fallen sie
in den Bereich des Verbrechens, bald sind sie der Strafjustiz unerreich-
bar. Diejenigen aus ihnen, welche der statistischen Beobachtung zugäng-
lich sind, lassen sich etwa folgendermassen gruppiren:
I. Der Kindermord in seinen verschiedenen gröberen und feineren
Schattirungen.
Dei Mord. 488
Hieher gehört zunächst der vom Strafgesetze als solcher bezeichnete
Kindermord, den wir in ftirchtbarer Progression sich mehren sehen.
So kamen in Frankreich unter 100 schweren Verbrechen Kinder-
morde vor:
1831-35 2,25
1836-40 2,97
1841—45 3,M
1846-50 3,n
1861—55 4,28
1856—60 6,45
Das Verbrechen der Fruchtabtreibung wächst in noch rascherer
Progression; so in Frankreich in den erwähnten Zeiträumen von 0,i9 auf
0,28; 0,4*; 0,5»; 0,85; 0,97. In Nordamerika, dessen geistreiche und eman-
cipirte Frauen nicht mehr Mütter werden wollen, ist dieses Verbrechen
nahezu eine Landescaiamität geworden.
Hieher gehört aber auch jene Herzlosigkeit, welche langsam und
systematisch durch Vernachlässigung die Leben der Kinder hinmordet.
Dieser feinere Mord findet seinen Ausdruck in der Sterblichkeit der
ausserehelichen Kinder und jener Kinder, welche — eheliche oder unehe-
liche — fremden Händen zur Pflege anvertraut werden, oft nur, um sie
flii- immer verschwinden zu lassen. Schon im ersten Lebensjahre wird
ihre Zahl fast halbiit durch schlechte Behandlung, durch den Mangel ah
derjenigen Liebe, die für sie so wichtig ist, wie der Sonnenstrahl fär die
Pflanze. Auch in der häufigeren Todtgeburt der ausserehelichen Kinder
liegt ein verschleierter Mord, der sich mit schrecklicher Deutlichkeit aus
der Geschlechtssünde heraus entwickelt.
In der geradezu riesenhaften Sterblichkeit der Findelkinder erscheint
wieder ein anderer Ausläufer desselben Mordsystems. Dieses System
wächst als Drachensaat aus einem verfluchten Boden und trägt noch
andere Früchte.
IL Das eigentliche Verbrechen des Mordes ist nur eine von diesen
Früchten. In Europa (ohne Türkei) kommen jährlich über 10000 Mordthaten
vor. Der grobe Mord tritt freilich etwas zurück, aber nur in Folge besserer
Polizei, geordneten Verkehrs und glatterer gesellschaftlicher Formen; der
chronische schleichende Mord dagegen ist im Wachsen. In den meisten Län-
dern, welche überhaupt Criminalstatistik treiben, zeigt sich diese Zunahme.
In Frankreich finden sich vor den Assisen an schwersten Verbre-
chen gegen die Person jährlich *) :
1826-30 4866-69
Todtschlag 229 119
Mord 197 209
Eltemmord 9 9
Kindennord ....... 102 123
Vergiftung 29 23
31*
484 I>er Mord.
In England sehen wir die Angeklagten wegen Verbrechen gegen
die Person anwachsen von jährl. 1985 in der Zeit von 1834 — 40 auf
2292 in der Zeit von 1867 — 70. In Oesterreich erfolgten 1856 wegen
Mord 343 Verurtheilungen, dagegen in den Jahren 1863 — 65 weit mehr,
nämlich 736 — 708 — 663 ^). In vielen Ländern sind, wegen Aenderungen
der Gesetzgebung, ältere und neuere Ziffern nicht leicht vergleichbar.
Die mörderische Gesinnung ist national ungemein verschieden. Auf
100000 Einwohner treffen Mordthaten»): in Italien (1870) 10,7; England
(1867) 1,»; Spanien (1862) 8,2; Belgien (1865) 0,i; Schweden (1866) 2,o.
IIL Die Todesstrafe erscheint als eine eigenthümliche Reaction des
gesellschaftlichen Gewissens gegen die gesellschaftliche Mordlust. Sie hat
sich, namentlich bezüglich ihres Vollzuges in allen Ländern bedeutend
^verringert. In Europa sind 1859 — 62 von etwa 560 alljährlichen Todes-
urtheilen ungefähr 180 vollstreckt worden, in Bayern sogar 1862 von
41 Todesurtheilen nur 3*).
IV. Der Krieg in seiner Tod bringenden Gewalt ist nicht blos
„ein noth wendiges Symptom des unüberwundenen Völkeregoismus, sondera
auch eine unumgängliche Geissei für depravirte Zeiten und faulwerdende
Massen'' (Oettingen). Trotz dieser Noth wendigkeit bleibt er doch ein
riesenhafter Ausdruck für die selbstsüchtige mörderische Gesinnung der
Menschheit. Nicht einzelne gewaltige Charaktere, nicht einzelne Tyrannen
tragen die Schuld an dem vergossenen Blute, sondeni der Völkerhass,
der sich zusammendrängt und gipfelt und jene Millionen Leben verschlingt,
welche auf Schlachtfeldern oder in Spitälern dahinstarben oder der hohen
Militärsterblichkeit zum Opfer fielen (vgl. g. 97).
V. Als ein allerdings in seinen Folgen weniger furchtbarer, aber
immerhin bezeichnender Ausdruck mörderischer Gesinnung erscheinen end-
lich auch alle körperlichen Beschädigungen des Mitmenschen. Eine be-
sonders ziffermässige Behandlung gestatten sie da, wo zum Zwecke der
Bestrafung die Dauer der verursachten Arbeitsunfähigkeit erhoben wird.
Da man z. B. in Bayern annimmt, dass jede Körperverletzung durch-
schnittlich eine achttägige Arbeitsunfähigkeit herbeifuhrt, so resultirt daraus
schon ein höchst bedeutender ökonomischer Verlust, abgesehen von der
Einbusse des Verletzten an persönlichem Wohlbefinden und von den
unberechenbaren späteren Folgen solcher Ausbrüche der Gemüthsrohheit
und Grausamkeit.
Die Untersuchung aller gegen das menschliche Leben gerichteten
Angriffe hat ergeben, dass sie im Allgemeinen bei eintretender Nahrungs-
erleichterung zunehmen, bei der Nahrungserschwerung dagegen sich ver-
mindern. Leidenschaft und übermüthige Rohheit treiben demnach leichter
zu Angriffen gegen das Leben, als Noth und Elend. Eine Ausnahme
Die wirthsohaftllche Existeni. 485
hiervon machen blos zwei Arten von Verbrechen: Kindermord und Kinder-
abtreibung. Bei ihnen ist der . Einfluss der Nahrungserschwerung un-
verkennbar,
Anraerkuiigeii:
')') Block: Stat. de la France I, 147 ff.
*) E. Morpurgo: Die Statistik etc. S. 496.
*) Oettingeu a. a. 0. S. 894.
§. 233. Die wirthschaftliche Existenz.
Erkennt man im Kampfe des Menschen um sein Dasein überhaupt
eine nothwendige Vorbedingung alles Strebens nach Vervollkommnung
und die erste sittliche That, so erscheint auch das ganze wirthschaftliche
Leben im Lichte der Sittlichkeit. Aber die wirthschaftliche That ist eine
sittliche nur dann, wenn sie als Mittel zu sittlichen Zwecken dient. Wenn
das Mittel Selbstzweck wird, schadet es dem höheren Zwecke. So hoch
ein reges wirthschaftliches Leben bei einem Volke zu schätzen ist, dessen
geistig-sittliches Leben gleiche Regsamkeit zeigt: so wenig darf es miss-
verstanden werden. Der Industrialismus entnervt die Bevölkerung und
hinter der hochgesteigerten wirthschaftlichen Thätigkeit der Gegenwart
lauern Elend und Brodlosigkeit, geisttödtende Fabriksarbeit, Zersetzung der
Arbeiterbevölkerung, namentlich auch in ihrem Familienleben, und bereiten
so den Boden für das Gauner- und Verbrecherthum.
Demnach hat das wirthschaftliche Leben der Menschheit seine
positiv und seine negativ sittlichen Seiten. Und dieses Doppelgesicht zeigt
sich bei allen einzelnen wirthschaftlichen Erscheinungen.
So wirkt die Arbeit einerseits bildend und anregend, als sittliches
Element, wo sie dergestalt angeordnet ist, dass ßie die Kräfte des Menschen
ausbildet und ihm Zeit zur sittlichen Entwickelung lässt — andererseits
aber, auch feindlich und zerstörend, wo sie den unter ihrem Drucke
keuchenden Arbeiter in seiner sittlichen Entwickelung hindert (Frauen-
und Kinderarbeit in den Fabriken), in physischem und wirthschaftlichem
Elend ihn fesselt und die Ideen des Communismus auftauchen lässt.
So ist das Capital ohne sittliche Tendenz und Schranke ein Zer-.
störer, mit ihr eine Grundlage der Volks Wohlfahrt; so ist der Credit
Mittel und Resultat sowohl sittlicher, als unsittlicher Bestrebungen.
Indessen lassen sich doch einige wirthschaftliche Erscheinungen
unterscheiden, welche entschieden positiv, und andere, die noch ent-
schiedener negativ sittlich, und dabei ziffermässig darstellbar sind.
Solche Erscheinungen mit sittlichem Gehalt sind:
I. Mit positiv sittlichem Gehalt:
1. Das Sparcassenwesen.
486 I>ie wirthschaftliche Existenz.
2. Das Associationswesen.
3. Die Armenpflege. Die grossartigen Leistungen der freiwilligen
Armenpflege werden jedoch immer nur zu einem kleinen Theile sich
ziffermässig fixiten lassen.
n. Mit negativ sittlichem Gehalt:
1. Bettel undVagantenthum. Arbeitslosigkeit, Bettel und Land-
streicherei ist .der Anfang der Gaunerlaufbahn, die Einleitung zu allen
Freveln gegen fremdes Eigenthum. Es existiren ganze Classen von
Menschen, die sogenannten bedenklichen Classen, welche, arbeitslos,
bettelhaft und landstreichend, eine Art üppig fruchtbaren Boden bilden,
in welchem das Verbrechen nach allen Seiten hin Wurzeln treiben kann.
Die ziffermässige Feststellung dieses criminellen Proletariates ist
leider sehr schwierig. Nur für zwei Staaten, nämlich für Bayern und
England existiren zuverlässige, langjährige ofi^icielle Beobachtungen.
Man hat dabei bemerkt, dass der Getreidepreis auf die Häufigkeit
des Bettlerthums (Mendicität) einen ganz entschiedenen Einfluss ausübt.
Dieser Einfluss wird aber gekreuzt, ja überboten durch socialpolitische
Factoren^).
Dabei zeigt sich das Gesetz der Trägheit auch bei den socialen
Massen sehr deutlich darin, dass die schwachen Anfange der Preissteigerung
noch nicht die schlimmen Zustände der Bevölkerung verschlimmern,
sondern erst die anhaltende und starke. Theuening. Eben so erhält sich,
auch wenn die Preise wieder sinken, die Landstreicherei und Arbeitsscheu
nicht blos constant, sondern geht sogar noch eine Zeit lang in die Höhe.
Von Interesse ist auch die Untersuchung über die Betheiligung der
beiden Geschlechter und der Kinder am Vagabundenthum. Diese Betheili-
gung ist im Ganzen sehr regelmässig, was darauf schliessen lässt, dass*
die häuslichen und Familienverhältnisse einen gleichbleibenden und tief-
greifenden Einfluss hier ausüben.
Bei der Weiberbetheiligung ist insbesondere die Zähigkeit derselben
von Interesse, analog jener der weiblichen Criminalität. In Theuerungs-
jahren ist die Kinderbetheiligung eine auffallend grosse.
In England zeigen sich im Ganzen dieselben Erscheinungen.
Unter den englischen criminal classes fungiren bekannte Diebe,
notorische Hehler, öffentliche Dirnen, verdächtige Personen, Vaganten
und Bettler und die beobachtete Jahresquote jedes Alters und Geschlechts
bleibt in der Gesammtsumme dieselbe.
Vergleicht man die Bewegung der Mendicität und Criminalität, so
findet man eine ziemliche Uebereinstimmung in der Abnahme und Zu-
nahme beider. (Mayr).
Die wirthschaftliche Existenz. 487
2. Die Angriffe gegen das Eigenthum. Sie zerfallen in eine
Reihe einzelner Verbrechen und Vergehen. Unter ihnen steht, was Häufig-
keit betrifft, der Diebstahl obenan. Noch entschiedener ist der ökonomische
Nachtheil bei Eigenthumsbeschädigungen , insbesondere Brandstiftungen,
die leider erhebliche Zunahme zeigen.
Die Eigenthumsbeeinträchtigungen durch Betrug unterscheiden sich
ökonomisch wenig vom Diebstahl ; da aber im Betrug ausser einer Eigen-
thumsbeeinträchtigung auch noch eine Schädigung der Wahrheit enthalten
ist, liegt in der allgemeinen Rechtsunsicherheit, welche durch die leider
bedeutende Steigerung dieser Handlungen, insbesondere durch die Zunahme
des Meineids bewirkt wird, ein Hauptnachtheil der Eigenthumsbeein-
trächtigungen.
Urkundenfälschung, Münzfälschung, Bestechung, Beschädigung öffent-
lichen Eigenthums stehen zum Theile ökonomisch gleich den Verletzungen
von Privateigenthum, der Ziffer nach bedeutend im Hintergrunde.
Die Ab- und Zunahme der Angriffe gegen die Person und jene der An-
griffe gegen das Eigenthum bewegen sich constant in entgegengesetzter Rich-
tung. Denn wie die Angriffe gegen Personen bei Nahrungserleichterung
sich mehren, so vermindern sich in diesem Falle die Eigenthumsbeein-
trächtigungen. Wie namentlich wirthschaftliche Zustände und im Zusammen-
hange mit ihnen die Jahreszeiten insbesondere die Bewegung der Dieb-
stähle beeinflussen, ward schon früher erwähnt; bei anderen weniger
häufigen Eigenthumsangriffen, z. B. Brandstiftung, Fälschung zeigen sich
diese Einflüsse nicht in gleicher Weise. Der Hausdiebstahl macht gleich-
falls eine Ausnahme; er hält sich frei vom Einflüsse der Jahreszeit, wohl
weil er mehr. durch augenblickliche Gelegenheit als durch wirkliche Noth
veranlasst wird.
3. Die Bankrotte, Hinter der Zahl derselben stecken zweifellos
nicht blos wirthschaftliche, sondern auch gewisse moralische Ursachen:
Leichtsinn, Unvorsichtigkeit, in schlimmeren Fällen Gewissenlosigkeit. Es
ist indessen nicht leicht möglich, den Einfluss der wirthschaftlichen und
jenen der moralischen Ursachen zu isoliren.
4. Unsittliche Verschwendung. Hieher gehört insbesondere
die Spielsucht, welche wenigstens in den Ländern, wo öffentliche Glücks-
spiele geduldet oder gar vom Staate betrieben werden, quantitativ fass-
bar ist.
Aumerkuug.
^) So sieht man, dass in der revolutionären Periode um 1848 herum die
Mendicität überall steigt. In Bayern kamen yon 1841—46 durchschnittlich
jährlich 1638 aufgegriffene Bettler und Vaganten auf je 100000 Einwohner-
in den darauffolgenden 5 Jahren, welche sich um das Jahr 1848 gruppiren,
schon 1706, obgleich der Getreidepreis sehr gesunken war. Mit zunehmender
488 Das Famlllenglück.
Theueruiig steigt später die Meudicitat ganz ausnehmend stark, offenbar unter
dem doppelten Einflüsse der Theuerung und der socialen Zuchtlosigkeit und
sinkt erst wieder von 1855/56 ab mit den bedeutend sinkenden Getreidepreisen.
§. 234. Die öffentlichen Vergehen und Verbrechen.
Auch der Staat als solcher, in seiner Ordnung und seinem Bestände
ist von höchster sittlicher Bedeutung. In ihm und durch ihn lebt und
arbeitet das, was wir Civilisation nennen; in ihm geht mit der höheren
göttlichen Idee des Rechts Hand in Hand die reale Gewalt, der eventuelle
Zwang zum Recht. Abhängig von den physischen und wirthschaftlichen
Zuständen, vom Charakter, der Bildungsstufe und den Schicksalen des
Volkes verläuft im Staate die Bildungsgeschichte des Rechts. Mehr und
mehr umgibt der Staat die Person und das Elgenthum, die Freiheit und
die Aufklärung mit den schützenden Wällen seiner Ordnung.
So erscheinen denn auch alle jene Handlungen, die geeignet sind,
das staatliche Leben zu fördern, als sittliche, als patriotische Tugen-
den und jedes Rütteln an den richtig und harmonisch ausgebildeten Ge-
staltungen der staatlichen Ordnung als unsittlich und rechtswidrig.
Wenn auch die patriotischen Tugenden einer Bevölkerung keine
statistische Untersuchung zulassen, so ist eine solche doch möglich bei
den Angriffen gegen die staatliche Ordnung. Jede Rechtsverletzung ist
zwar* ein Angriff gegen den Staat, aber es gibt einzelne Rechtsverletzungen,
deren unmittelbares Object der Bestand und die Hoheit des Staates ist.
Diese Verbrechen und Vergehen, welche direct gegen die Staats-
gewalt gerichtet sind, enthalten indessen auch eine indirecte, unter Um-
ständen sehr weit gehende Bedrohu'ng der Person und des Eigenthums.
Ihr Maximum fällt erklärlicher Weise in die Jahre politischer Aufregung.
§. 235. Das Familienglück.
In der Gleichzahl der Geschlechter weist schon die Natur den
Mjenschen an die Monogamie und die Familie. Wenn man die Familie
als die natürliche Grundlage der civilisirten Gesellschaft erkennt, sind
auch die Heiratsfrequenz, der Procentbetrag der Verheirateten und die
eheliche iFruchtbarkeit Massenerscheinungen von entschieden sittlichem
Werthe. Sie geben Aufschluss zwar nicht unmittelbar über die Quantität
des Familienglücks in einer Bevölkerung, aber wenigstens mittelbar. Denn
der Familienbestand ist die nothwendige Vorbedingung des Familienglückes
und wo dieser Bestand in reicherem Maasse gesichert ist, muss unter sonst
gleichen Umständen auch die Summe des auf ihm ruhenden Glückes eine
grössere sein.
Pas Familienglaclc. 489
Zur Ergänzung dieser Erscheinungen dienen der Sittenstatistik aber
auch einige, speciell hinsichtlich des Familienlebens negativ sittliche. Als
entschiedenste Negation des Familienlebens zeigt sich die Frequenz der
unehelichen Geburten. Wichtig sind aber auch die Angaben über die
durch Zwietracht gestörten oder völlig zerrütteten Familien. Allerdings
entzieht sich das Familienglück gerne der statistischen Beobachtung, aus-
genommen da, wo Familienzwistigkeiten vor Gemeinde-, Justiz- oder Polizei-
behörden zum Austrage kommen. Eine höchst charakteristische Erscheinung
auf diesem Gebiete sind aber für die Statistik die Ehescheidungen.
Das Familienleben, die Erziehung der Jugend, die gute Sitte und
die öffentliche Meinung fordern oder unterstützen wenigstens die ünauf-
löslichkeit der Ehe, so dass die Ehescheidung als ein den Bestand der
Gesellschaft untergrabender Frevel erscheint.
Diese Unlauterkeit der Ehescheidungen tritt schon hervor, wenn man
den eigenthüm liehen Zusammenhang der Ehescheidungsfrequenz mit der
Frequenz der unehelichen Geburten betrachtet '). Je leichtfertiger die
Gesellschaft über die Ehe urtheilt, um so trüber müssen alle geschlecht-
lichen Gemeinschaften werden. Die Statistik der Ehescheidungen und der
Trauung Geschiedener mit anderen zeigt, dass vielfach das Gelüste nach
Abwechslung die stehenden Ehen zerstört.
Die Regelmässigkeit in den Ehescheidungsziffern zu beobachten, ist
nicht leicht; einestheils ist die Erscheinung an sich sehr selten, anderen-
theils die Daten mangelhaft. Trotzdem ist die Kegel mässigkeit dieser
Erscheinung eine auffallende, selbst wenn man nur kurze Zeiträume
beobachtet *).
Merkwürdig constant ist auch die Zahl der geschieden lebenden
Personen.
Man hat sogar beobachtet, dass die Zahl der geschieden Lebenden
regelmässiger ist als die der Verwitweten, obgleich die erstere Erscheinung
ganz vom freien Willen des Menschen abhängt ^).
Der Einfluss von Stadt und Land auf die Ehescheidungsfrequenz
zeigt sich sehr deutlich in der Thatsache, dass die geschieden Lebenden
in den Städten relativ doppelt so zahlreich sind als auf dem Lande. So
kamen z. B. in Sachsen auf je 10000 Einwohner in den Städten 36 ge-
schieden Lebende, auf dem Lande nur 19.
Nothjahre haben sich als entschieden ungünstig hinsichtlich der Ehe-
scheidungen erwiesen. Es ist auch leicht einzusehen, dass sie schon zer-
rüttete Verhältnisse vollständig sprengen.
Bei der Beobachtung der individuellen Ehescheidungsmotive hat sich
gezeigt, dass das weibliche Geschlecht am häufigsten zu Ehescheidungs-
klagen veranlasst ist.
490
Das Familieoglack.
Leider stehen in Bezag auf die Heilighaltung der Ehe gerade die
gebildeten Classen besonders tief.
Dass sich die geschiedenen Frauen viel leichter wieder verheiraten,
als die geschiedenen Männer, ist gleichfalls nachgewiesen worden und
beweist, dass meist eine aussereheliche Leidenschaft das Motiv der Schei-
dung gewesen sein muss.
- Die öffentliche Meinung beurtheilt zwar die gerichtlich geschiedenen
Eheleute nie sehr günstig, doch ist in ihrem ürtheil allezeit mehr Spott,
als sittlicher Ernst und ehrlicher Tadel, so dass man auch die Scheidung
als sociales sittliches Uebel weniger dem Einzelnen zur Last legen darf,
als der ganzen Gesellschaft in ihrer leichtfertigen Gesinnung*).
Anmerkungen.
^) So findet man unter Anderem in den preussischen Provinzen 1860—64
(Oettingen a. a. 0. S. 448):
Provinz
Ehescheidungen
Auf 1 uneheliches
Kind treffen
eheliche
Brandenburg
Schlesien
Pommern
Sachsen
Posen ;
1721
1104
755
754
371
41
4
7,81
7,91
9,23
9,25
U,ii
25,01
25,48
Westfalen
Rheinland
*) So ergaben sich z. B. in Belgien (a. a. 0. S. 423):
1860
1861
1862
1863
1864
55 Ehescheidungen bei 35112 Trauungen
56 „ „ 33802 „
57 „ „ 34146
65 „ ^ 35813
66 „ „ 36959
•) So befanden sich in Sachsen unter 10000 Einwohnern (ebenda S. 425):
Verwitwete
Gesch
iedene
im Jahre
Männer
Frauen
Männer
Frauen
1834
163
402
9
15
. 1837
159
367
9
15
1840
159
407
9
15
1843
159
397
9
15
1846
162
407
9
16
1849
165
4H
9
17
*) A. V. Oettingen a. a. 0. S. 416 S.
Oeschldchtliche Sittlichkeit. 491
§. 236. Geschlechtliche Sittlichkeit.
Im innigsten Zusammenhange zunächst mit dem Familienglücke,
dann aber auch mit der geistigen und physischen Gesundheit, mit der
gesellschaftlichen Ehre und dem wirthschäftlichen Glücke steht die ge-
schlechtliche Sittlichkeit. Ihren positiven Ausdruck findet die Statistik
der geschlechtlichen Sitte in der Familienstatistik. Von negativ sittlichen
Erscheinungen in dieser Richtung sind hauptsächlich folgende zu be-
zeichnen. Leider weisen sie auf einen stetigen Verfall der geschlechtlichen
Sittlichkeit hin.
i. Die Unzuchtverbrechen. Die allgemeine Entsittlichung findet
einen scheusslichen rohesten Ausdruck namentlich in den constanten
Unzuchtverbrechen. Diese Verbrechen haben leider in allen Staaten
Europa's stark zugenommen *).
Günstige äussere Verhältnisse, günstiges Klima, die bessere Jahres-
zeit, Wohlstand und Prosperität wirken auf die Unzuchtverbrechen ver-
schlimmernd. Leider hat die Statistik auch beobachtet, . dass die schlimmste
Sorte dieser Verbrechen, die Nothzucht an Kindern, ihre Urheber er-
schreckend häufig unter den Gebildeten , den sogenannten liberalen Pro-
fessionen findet.
II. Die Prostitution. Es ist noch die Frage, was überhaupt auf
diesem Gebiete sich feststellen lässt. Da gerade die geschlechtliche Sünde
so sehr die Verborgenheit liebt und Winkelprostitution, Maitressenwirth-
schaft und Concubinat sich der polizeilichen Controle entziehen, bleibt
nur ein Theil jener Zahlen übrig, welche der geschlechtlichen Unsittlich-
keit angehören. Man kann nur schwer aus diesen Zahlen einige sichere
Schlüsse ziehen.
Bei der moralstatistischen Beobachtung der Unzucht tritt vor Allem
zweierlei zu Tage: die furchtbare Zähigkeit des Lasters und seine überall
zunehmende Ausdehnung.
Es beträgt u. A. die Zahl der Bordelle in London (1858) über 4500,
die Zahl der öffentlichen Mädchen im Ganzen gegen 70000. In Liverpool
zählt man 770 Bordelle, in Edinburg 203, in New- York 618, in Hamburg
124, in Paris 204 (etwa 35000 prostituirte Mädchen «).
Man muss sich indess hüten, solche Zahlen vergleichen und aus
ihnen Schlüsse auf die Moralität der verschiedenen Städte oder Länder
ziehen zu wollen. Die Verschiedenheit der polizeilichen Controle macht
diese Verhältnisse' unvergleichbar *).
Von wirklich statistischem Interesse ist es dagegen, an einzelnen
Orten, von welchen solide Daten vorliegen, die regelmässige und periodische
Bewegung zu beobachten.
492 Gesclilechtliche Sittlichkeit.
Die Prostitution ist fast überall im Zunehmen, weit mehr als die
Bevölkerung. Die Zunahme des Selbstmordes bildet ein düsteres Gegen-
stück dazu.
So stieg u. A. die Zahl der Prostituirten in Berlin *) von 1858 — 63
um 66^, die Bevölkerung nur lim 20 Jl^, während die Prostitution in
London und Paris dem gegenüber fast stationär erscheint.
Aus den Beobachtungen, welche man in Paris in längeren Zeiträumen
angestellt hat, ergibt sich, dass allgemeinere Factoren auf diese Seite des
sittlichen Lebens dauernden Einfluss nehmen und dass wir es auch hier
mit einer Collectivschuld der Gesellschaft zu thun haben, welche dem
einzelnen Opfer derselben nicht so sehr zur Last gelegt werden darf, als
eben der Gesellschaft.
Wie sehr die in den Städten sich verbreitende Unsittlichkeit das
ganze Land in Mitleidenschaft zieht ergibt sich aus der Untersuchung
darüber, woher die Opfer der Prostitution kommen.
Unter den Einflüssen auf die Prostitutionsfrequenz scheint das Elend
obenan zu stehen. So fand Parent-Duchatelet, dass unter 3084 Mädchen,
deren Beruf er erforschte, nur 3 etwas bemittelte waren. Die Betheiligung
der ungebildeten und namentlich der schlecht gebildeten ist weit grösser
als die der gebildeten. Familien Zerrüttung, das Elend der Arbeiterwoh-
nungen, die unsittliche Atmosphäre, in welcher Tausende von Kindern
aufwachsen und täglich Schmachvolles hören und sehen: das sind die
Motive und darin liegt die Collectivschuld der Gesellschaft.
UL Die i^nehelichen Geburten.
Unbestreitbar ist die Häufigkeit au&serehelicher Geburten von ernster
Bedeutung für das sittliche Leben der Bevölkerungen. Doch ist diese Er-
scheinung schwer zu beurtheilen wegen der verschiedenen auf sie einwir-
kenden Gründe.
Diese Schwierigkeit zeigt sich am deutlichsten in der verschiedenen
Werthbestimmung« der unehelichen Geburten durch die einzelnen Sta-
tistiker.
So betrachtet Hausner die unehelichen Geburten als einen werth-
vollen Sittlichkeitsmassstab und stellt ausdrücklich in Abrede, dass ein
Land, welches gegen zwanzigmal mehr Mädchen zählt, die einen offen-
kundigen Beweis der Uebertretung der Keuschheit darlegen, als ein
anderes, diesem letzteren an Ehrbarkeit und Sittenreinheit der Frauen
gleichkommen könne. Er bestreitet auch, dass die unehelichen Geburten
vom Niederlassungsgesetz , Heiratsconsens und anderen administrativen .
Einrichtungen abhängig seien.
Umgekehrt meint Engel: Die unehelichen Geburten repräsentiren
nicht den tausendsten Theil der factischen Unzucht^ sondern nur die da-
Geschlechtliche Sittlichkeit.
493
bei stattgehabte grössere Unvorsichtigkeit und Leidenschaftlichkeit und
— grössere Unschuld, wäre man fast versucht, hinzuzufügen: .... denn
die Lüderlichkeit, die sich anderwärts und im Schoosse der Ehen bei Treu-
losigkeit der Männer und Frauen verbirgt, wird wohl nie zur Ziffer zu
bringen sein, obschon die Existenz jener Lüderlichkeit in einzelnen Theilen
des Landes, als eine Schattenseite der gesteigerten Civilisation, ein öffent-
liches Geheimniss ist.
So viel nun auch diese zweite Ansicht für sich hat, so ist doch
gewiss, dass an die uneheliche Geburt viel Elend sich hängt. Die Statistik
hat längst gefunden, dass die unehelichen Kinder körperlich hinfälliger
sind als die ehelichen, dass sie zu Geisteskrankheit, Blödsinn, Selbstmord
und Verbrechen aller Art mehr hinneigen.
Es ist daher wohl gerechtfertigt, dass man die unehelichen Geburten
mit ganz besonderer Aufmerksamkeit behandelt hat. '
In ganz Europa mit Ausnahme der Türkei werden jährlich über
700000 uneheliche Kinder geboren, also täglich etwa 2000 oder 7 % aller
geborenen. Dabei zeigt sich eine merkwürdige Regelmässigkeit dieser Er-
scheinung. In Frankreich z. B. schwankt das Procentverhältniss der unehe-
lichen Geburten jährlich um kaum ^l^%.
Noch vor kurzer Zeit klagte die Moralstatistik über die allgemeine
Zunahme der unehelichen Geburten (Wappäus, Oettingen), und versuchte
diese Klage ziffermässig zu beweisen. Diese Klage ist heutzutage nicht
mehr allgemein berechtigt, indem gerade das verflossene Jahrzehnt in den
meisten Ländern einen Rückgang, in mehreren einen Stillstand und nur
ausnahmsweise eine Zunahme des Procentbetrages ausserehelicher Kinder
aufweist.
Es stellte sich nämlich (mit Ausschluss der Todtgeborenen, welche
nur far die ältere Periode bei Sachsen, Württemberg und Holland mit-
gezählt sind) dieser Procentbetrag wie folgt ^) :
I u
vor 1860
Jahre %
111 neuerer
Zeit
in neuester
Zeit
Jahre
%
Jahr
%
Bayern
Sachsen . . . . .
Württemberg . .
Dänemark ....
Oesterreich (total)
Oesterreich allein
Ungarn .... .
1841-51
1847—56
1845-54
1842-51
20,54
(14,65)
(12,26)
11,32
11,21
1865—78
1865-76
1865-78
1865—77
15,30
13,41
11,31
11,05
13,50
7,09
1878
1876
1878
1877
12,69
12,25
8,20
9,98
14,05
7,41
494
OeschlechtUcbe Sittlichkeit
vor 1860
m neuerer
Zeit
in neuester
Zeit
Jahre
%
Jahre
%
Jahre
Norwegen . . .
Schweden . . .
Belgien ....
Frankreich . • .
Preussen ....
England ....
Niederlande . .
Italien
Schottland . . .
Irland
Deutsches Reich
Baden .....
Schweiz ....
Finnland ....
Spanien ....
Griechenland . .
Rumänien • . .
Serbien ....
Europ. Russland
1846—55
1841-50
1846-55
1844-53
1850—59
1845-54
8,77
8,64
8,16
7,17
7,21
6,67
(4,79)
1865-78
1865-77
1865-78
1865—77
1865—78
1872-78
1866-78
1872-78
1865-78
1865-70
1865—77
1870-77
1865-78
1867—75
8,49
10,20
7,08
7,36
7,60
5,43
3,49
6,46
9,26
2,73
8,67
iO,ii
4,78
7,81
5,63
1,32
3,79
0,43
2,87
1878
1877
1878
1877
1878
1870
1877
7,70
9,75.
7,32
7,08
7,46
4,73
3,22
7,16
8,35
2,31
8,68
7,26
4,67
7,43
5,55
1,47
4,77
0,67
2,77
Unbestreitbar ergibt sich aus vorstehender Tabelle im Allgemeinen
eine Besserung des Verhältnisses. Die auffallendsten Contraste haben eine
Milderung erfahren. Sollte man hiebei vielleicht an einen internationalen
Ausgleichungsprocess der Volksmoral denken dürfen?
Die Jahreszeiten und die Nahrungsmittelpreise üben einen bemerk-
baren Einfluss auf die Häufigkeit der unehelichen Geburten aus. Karge
Zeiten hemmen diese Häufigkeit, wohlfeile fördern sie. So wirkte nament-^
lieh der Misswachs des Jahres 1846 als ein sehr heilsames Zuchtmittel.
Dagegen überschwemmte das Revolutionsjahr 1848 Europa mit Bastarden.
In ein und demselben Lande finden sich bezüglich der unehelichen
Geburten oft die wunderbarsten Gegensätze hart nebeneinander. Das zeigt
sich namentlich in Oesterreich-Ungarn. Hier finden wir (1869?) einen
Procentsatz von unehelichen Kindern, welcher ein Maximum in Kärnten
(44,5551^), ein Minimum in Dalmatien (ß,ss^) erreicht. Im Deutschen
Reiche hatten (1879) die altbayerischen Provinzen 14,49^ uneheliche
Geburten, Westfalen nur 2^d^^,
Eine bekannte Thatsache ist das üeberwiegen der unehelichen Ge-
burten in den Städten gegenüber der Landbevölkerung. Der Procentbetrag
stellt sich wie folgt*):
Geschlechtliche Sittlichkeit.
495
Jahr
Jahr
%
Wien . .
Budapest
Prag . .
München
Frankfurt
Breslau .
Berlin . .
Hamburg
Rom . .
Paris . .
M.
1865—74
1872—75
1865—74
1868-74
1867—75
1871 ?
1871—74
1869-75
44,96
29,91
43,90
43,97
13,18
18,57
15,40
13,85
40,60
26,83
Mailand .
Stockholm
Christian! a
Kopenhagen
Petersburg
Bukarest .
Antwerpen
Haag . .
Rotterdam
London
1869—74
?
?
?
1866-72
1868—74
1865-74
?
9
20,43
39,63
16,17
25,95
23,58
17,47
8,99
7,61
9
Man hat, wie es scheint vergeblich, versucht, den Einfluss der Ge-
setzgebung und der Confession auf diese Ziffer zu beweisen.
Nationale Eigenthümlichkeit und alte locale Sitte dürfte vielmehr
den stärksten Einfluss ausüben. Doch war seinerzeit jedenfalls in einigen
deutschen Ländern auch die Gesetzgebung, welche früher das Heiraten
vielfach erschwerte, sehr einflussreich.
Anmerkungen.
*) So wuchsen z. B. die Nothzuchtverbrechen folgendergestalt. Es kamen
Fälle vor in:
England
1830-34 ...... 837
1835—39 973
1840—44 1221
1845—49 1263
1850-54 1395
(Oettingen a. a. 0. S. 495.)
*) Ebenda S. 453.
*) So ist z. B. die Zusammenstellung von Hausner eine sehr gewagte.
Nach ihm kommt in (a. a. 0. I. S. 179) :
1855
Preussen
. 325
1856
. 414
1857
. 569
1858
1859
.587
.580
Hamburg .
Berlin . .
London
Algier . .
Liverpool .
Wien . .
Rotterdam
Neapel . .
München .
Paris . . .
Rom . . .
1 Prostituirte auf 48 Einwohner
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« 208
n
' T)
■n 220
f)-
«247
, 288
5?
496 Bildtmg und Wissenschaft.
Oettingen behauptet denn auch, diese Zusammenstellung sei Tendenz-
statistik im katholischen Interesse. Aber treibt nicht auch Oettingen Tendenz-
Statistik im protestantischen Interesse, indem er behauptet, Wien, München,
Neapel und Paris seien „mit Recht"" die verrufensten Orte (mit welchem Recht?),
die nur deshalb rielleicht besser scheinen, weil von dem Schmutz ,, vieles von
welscher Glätte gefallig übertüncht ist?*' Alle Grossstädte stellen bedeutende
ZiflFeru zur Prostitution und wenn man sich auf die Notorietät stützt, verdient
doch zunächst Hamburg verrufen zu sein.
•) Oettingen a. a. 0. S. 456.
*) Nach Movimento di stato civile 1862—78. Die Ziffern für die ältere
Periode sind den Werken von Wappäus (II, 387) und Oettingen (S. 549) ent-
nommen.
•) Nach Körösi: Statistique intern, des grandes villes. Wo die Jahreszahl
nicht angegeben ist, sind die Angaben jedenfalls der Zeit zwischen 1865—1875
entnommen.
IV. Capitel.
Geistiges und religiöses Leben.
§. 237. Bildung und Wissenschaft.
Wenn auch die geistige Bildung, die Erkenntniss der Wahrheit, nicht
ohne weiteres mit sittlicher Bildung verwechselt werden darf, so besteht
doch eine unläugbare Wechselwirkung zwischen der geistigen Cultur der
Völker einerseits, andererseits ihrem physischen und wirthschaftlichen,
rechtlichen und politischen, sittlichen und religiösen Leben. Kein Gebiet
im Reiche des menschlichen Daseins lässt sich vollständig isoliren.
Innerhalb des .gesammten geistigen Lebens eines Volkes zeigen sich
als einzelne Erscheinungen seine Wissenschaft und seine Kunst, seine
Sprachentwicklung und Literatur, der Volksunterricht, die Presse und
Correspondenz etc.
Und wie das sittliche Leben des Einzelnen im engsten Sinne, seine
Tugenden und Laster, vielfach bedingt werden durch den sittlichen. Boden,
durch das Volk, dem er entwachsen ist: so ist es auch im geistigen Leben;
der Einzelne hat gebend und empfangend Theil am geistigen Leben seines
ganzen Volkes. Die Sprache vermittelt ihm diese Verbindung in lebendiger
Schönheit.
lieber die statistische Messung geistiger Lebensthätigkeit äussert sich
Quetelet folgendergestalt :
Man kann die Fähigkeiten nur nach ihren Wirkungen, d. h. nach
ihren Handlungen oder den Werken, die sie hervorbringen, schätzen. In-
Bildung und Wiesenschaft. 497
dem man aber z. B; einem Volke, eben so wie man es bei einem Indi-
viduum machen würde, alle Werke, die ihm ihre Entstehung verdanken,
zurechnen würde, würde man zu gleicher Zeit seine Fruchtbarkeit und
seine intellectuellen Fähigkeiten im Verhältniss zu anderen Nationen be-
urtheilen, abgesehen von den Einflüssen, welcher der Erzeugung solcher
Werke ein Hinderüiss in den Weg legen könnten. Indem man sodann auf
die Lebensalter Rücksicht nähme, in welchen die Schriftsteller jene Werke
producirt haben, erhielte man die nöthigen Elemente, um die Entwicklung
der Intelligenz oder ihrer Productionskraft zu verfolgen. Bei einer solchen
Untersuchung müsste man die verschiedenen Arten von Werken trennen,
die der zeichnenden Künste, die der Musik, die mathematischen, schön-
wissenschaftlichen, philosophischen Schriften u. s. w. für sich zusammen-
stellen, um desto leichter die Schattirungen zu erkennen, welche die Ent-
wicklung unserer verschiedenen Fähigkeiten charakterisiren.
Diese Untersuchung müsste man, von einer Nation zur anderen
übergehend, wiederholen, um zu wissen, ob die 'Gesetze der Entwicklung
mehr in Beziehung auf die Länder oder auf die producirten Werke
variiren.
Die gegenwärtig von der Statistik der intellectuellen Bildung ver-
folgte Aufgabe gliedert sich folgendermassen :
I. Zunächst handelt es sich darum, die verschiedenen Bildungs-
mittel kennen zu lernen, nämlich die Schulen (Volksschulen, humanistische
und technische Mittelschulen, Hochschulen und Fachschulen), Academien,
Sammlungen, Bibliotheken, die Presse, den Buchhandel, die künstlerischen
Thätigkeiten.
IL Bei jedem einzelnen dieser Bildungsmittel wird dann untersucht
werden müssen:
A. Das Verhältniss der Quantität des Bildungsmittels zur Bevölke-
rung. Bei den Schulen also insbesondere die Zahl der Schulen und die
Zahl der Lehrer, beide verglichen mit der Volkszahl. In analoger Weise
würde dieses Verhältniss auch bei den anderen Bildungsmitteln zu be-
handeln sein.
B. Die von der Nation fiir die Bildungsmittel gebrachten Geldopfer
sind gleichfalls ein deutliches Bild der Culturbestrebung.
C. Wenn das Bildungsmittel gegeben ist, handelt es sich noch immer
um die quantitative Benützung desselben, z. B. bei den Schulen um die
Zahl der Schüler, verglichen mit der Volkszahl, und endlich
D. um die Resultate dieser Benützung, deren Ermittelung freilich
nur ausnabJUQflweise möglich ist.
Hanshofer, Statistik. '2. Aufl. 3^
498 I>i<) Lehranstalten.
Anmerkung.
Strenge genommen müssten die Statistik der geistigen und jene der
ästhetischen Bildung neben der Sitteustatistik als besondere Theile einer
Statistik des gesammteu geistig-sittlichen Völkerlebens stehen. Die bescheidene
Ausbildung jedoch, welche jene beiden Theile bisher gefunden haben, war
Veranlassung, sie hier unterzubringen.
§. 238. Die Lehranstalten.
I. Die Volksschulen, welche die Mittheilung der noth wendigsten
Grundlagen aller weiteren Geistesbildung bezwecken, sind der wichtigste
Gegenstand für die Statistik der geistigen Bildung. Es ist die Aufgabe
jedes civilisirten Staates, zu erstreben, dass keiner seiner Angehörigen
ohne die Bildung der Volksschule sei. Von dem Verhältnisse, in welchem
die Staatsangehörigen an dieser Bildung Theil haben, lässt sich, am
sichersten auf die allgemeine Volksbildung schliessen.
A. Was zunächst das Verhältniss der Zahl der Schulen zur Volks-
zahl betrifft, so gibt schon dieses Verhältniss einen Einblick in die Aus-
dehnung der elementaren Volksbildung. Es kommt beispielsweise in:
Thüringen eine Schule auf 683 Einw.
Bayern „ „ „ 581 „
Württemberg. . . . „ „ „ 794 „
Hannover „ „ „ 524 „
Altpreussen . . . . „ „ „ 765 „
Sachsen „ „ „ 770 „
Oesterreich . . . . „ „ „1172 „
Grossbrit. (ohne Irland) „ „ „ 2658 „
Die übrigen europäischen Staaten stehen gleichfalls weit hinter den
Deutschen zurück. In Frankreich hatten im Jahre 1865 noch 694 Ge-
meinden gar keine Schule. Nur die Niederlande, wo 1861 auf 1412 Ein-
wohner eine Schule kam, machten eine rühmliche Ausnahme.
B. Nächst der Zahl der Schulen ist die relative Lehrerzahl von
Bedeutung.
Die Zahl der Schüler, auf welche ein Lehrer trifft, beträgt u. A. in :
Bayern 63
Württemberg 63
Hannover 67
Thüringen 68
Altpreussen 80
Sachsen 103
Die Volksdichtigkeit dürfte bei sonst gleichen Verhältnissen diese
Ziffer beinflussen. Da die Schulen nur innerhalb bestimmter Entfernungen
von Kindern besucht werden können, so muss offenbar in dünn bevölkerten
Ländern die Zahl der Schüler, welche einem Lehrer angehören, ge-
ringer sein.
Die Lehranstalten.
499
C. Die Zahl derjenigen Kinder, welche die Schule besuchen, ver-
glichen mit der Volkszahl oder mit der schulpflichtigen Jugend gibt gleich-
falls einen interessanten Massstab für das nationale Bildungsstreben.
So ist es für Frankreich charakteristisch, dass (1863) eine Million
Kinder gar keine Schule besuchten.
Der Procentsatz derjenigen schulfähigen Kinder, welche die Schule
wirklich besuchten, stellte sich 1860/61 auf (nach Oettingen):
in
Sachsen- Weimar 102 J!^
Kgr. Sachsen 100 „
Württemberg 99 „
Baden 98 „
Preussen 96 „
Schweiz 95 „
Dänemark 89 „
Bayern 83 „
Frankreich 76 „
m
England 76 ^
Belgien 66 „
Oesterreich 45 „
Spanien (?) 45 „
Italien 31 „
Kirchenstaat 16 „
Türkei 10 „
Russland 6 -
Freilich kommt es nun erst recht darauf an, was der Schulbesuch
gewirkt hat. Da erfahren wir denn, dass unter 657401 Schülern, welche
i. J. 1863 in Frankreich die Schule verliessen, nur 60^1^ des Schreibens
und Rechnens kundig waren.
Auch für England wird die Zahl der Kinder, welche ununterrichtet
bleiben, trotz stetiger Steigerung des wirklichen Schulbesuches, i. J. 1861
noch auf mehr als 1 Million angegeben.
Die Zahl der schulbesuchenden Kinder gegenüber den schulfähigen
ist offenbar ein weit genauerer Massstab des Bildungsstrebens, als diese
Zahl gegenüber der ganzen Bevölkerung. Letzteres Verhältniss gibt Hübner
(stat. Tafel) folgendermassen an. Auf je 10000 Seelen trefi'en Elementar-
schulbesucher in:
Preussen 1520
Grossbritannien 1400
Holland 1280
Frankreich 1160
Belgien 1140
Oesterreich 830
Spanien 620
Italien 500
Russland . 150
II. Die Mittelschulen. Die Benützung der Mittelschulen hat in
den letzten Jahren fortwährend machtvoll zugenommen. So zählte man
z. B. in Preussen;
32^
500
Die Lehranstalten.
Schuler in den
i. J. 1843
i. J. 1861
sog. Mittelschulen
Volkslehrersemiuarieu
Gymnasien
Progymnasien
höheren Bürger- nnd Realschulen
79001
2546
25013
1979
14795
101469
3405
43305
3247
24908
Äehnliche Verhältnisse zeigen sich anderwärts.
Von hohem Werthe wäre eine in den Mittelschulen durchzuführende
Statistik der Leistungen der Schüler. Eine ziffermässige Darstellung dieser
Leistungen fand früher an manchen Gymnasien bereits statt. Die Leistung
jedes Schülers in jedem einzelnen Fache hatte ihre besondere Ziffer, so
dass sich wohl untersuchen Hess, ob und wie oft ausgezeichnete Leistungen
in allen Fächern neben einander vorkamen oder wie sich mathematisches,
sprachliches Talent, Gedächtniss, allgemeine Bildung zu einander verhalten.
Würde man die Entwicklung der einzelnen geistigen Fähigkeiten der
Schüler mit ihren Lebensaltern, ihren häuslichen Verhältnissen, ihrer
Nationalität, Confession etc. combiniren, so erhielte man ein statistisches
Material von höchster pädagogischer Bedeutung. Die letztere würde noch
gesteigert, wenn es gelänge, die so durch ihre Studienjahre hindurch
beobachteten jungen Geister bis in ihre späteren Lebensbahnen zu ver-
folgen.
in. Die Hochschulen. Es ist einleuchtend, dass die wechselnde
Zahl der Studirenden an Hochschulen und namentlich die wechselnde
Frequenz der verschiedenen Wissenszweige die jeweiligen Strömungen des
Zeitgeistes deutlich signalisiren muss.
So zeigte unlängst die Zunahme der Frequenz der polytechnischen
Schulen gegenüber jener der Universitäten, wie sehr die realistische Bildung
in der Gegenwart sich in den Vordergrund drängt. Es waren z. B. im
Polytechnikum von Hannover die Studirenden von 153 i. J. 18*%^ auf
460 i. J. 18*761 gestiegen, während die Zahl der in Göttingen studirenden
Inländer von 436 i. J. 18*V45 auf 402 i. J. 18*76i gesunken war. Aehn-
liches zeigte sich in Tübingen, Giessen, Marburg, Leipzig, München,
Heidelberg. In Oesterreich sank an den 8 Universitäten die Frequenz von
13751 i. J. 18*7« auf 7655 i. J. 1859! (s. u.)
Als man die einzelnen Fächer des Universitätsstudiums durch 40
Semester (von 1820 — 1839) beobachtete, fand man eine direct entgegen-
gesetzte Bewegung des Bildungsstrebens für die Theologie und die Medicin.
Resultate der Volksbildung. 501
Das Maximum der Tmmatriculation für Theologie fällt zusammen mit dem
Minimum fiir Medicin. (Oettingen.)
Bedeutende geistige Bewegungen im Völkerleben haben den entschie-
densten Einfluss auf das academische Studium. So haben z. B. die politisch
erregten Jahre 1830 und 1849, das erste dem Studium der Theologiet,
das zweite dem academischen Studium überhaupt, empfindliche Stusse
beigebracht.
Höchst charakteristisch war auch die Abnahme, welche zu End,e
der sechziger und Anfangs der siebziger Jahre die Universitäten erlitten,
als allenthalben technische Hochschulen entstanden, und die Zeit des
wirthschaftlichen Aufschwunges zahlreiche gebildete Techniker verlangte.
Jetzt ist seit der industriellen Krisis von 1873 ein stetiger Rückgang des
technischen Studiums und dem gegenüber eine mächtige Anschwellung des
üniversitätsstudiums zu constatiren.
§. 239. Eesultate der Volksbildung.
Um beurtheilen zu können , in welchem Grade das Volk von den
ihm gebotenen Bildungsmitteln Gebrauch macht und wie lange die Früchte
dieses Gebrauches etwa anhalten, hat man verschiedene Wege gesucht.
I. Man hat, so namentlich in England schon seit 1754 bei den
Unterzeichnungen der Ehecontracte die Schreibfähigen von denjenigen
unterschieden, welche ihren Namen nicht unterzeichnen konnten.
Hier zeigte sich bei den Weibern ein geringerer Grad von Schreib-
fähigkeit als bei den Männern, im Allgemeinen jedoch ein Fortschritt.
Es betrug nämlich die Zahl der Schreibfähigen (in fjd ausgedrückt):
Männer Weiber
in England 1840 66 50
1850 69 54
1860 74 64
1865 78 68
und in Frankreich 1855 68 52
1864 72 57
In Italien dagegen sind die „Analfabeti" weit zahlreicher. Dort
konnten 1877 blos 24^ der Ehecontracte von beiden Brautleuten
unterzeichnet werden.
Die Unterschiede sind indess innerhalb dieser Länder nach Städten
und Provinzen sehr gross. Für Italien z. B. beträgt die Zahl der Analfabeti
in Piemont nur 50^, während in Calabrien und Sicilien 87 — 88^ un-
unterrichtet sind *). Auch in den englischen Städten sind die Unterschiede
sehr gros». So besass 1864 London nur 14 J!^, Wolverhampton dagegen
502 Besultate der Volksbildungr.
47 Jl^ schreibunfähige Brautleute. Die grossen Fabrikstädte waren am
übelsten berathen. (Oettingen, Tabelle 150.)
Diese Methode, die Volksbildung zu messen, hat den grossen Vor-
theil, auch das weibliche Geschlecht zu berücksichtigen. Dagegen ist sie
deshalb höchst unsicher, weil eine Masse Leute der unteren Volksschichten
wohl ihren Namen aber sonst nichts schreiben können. Rechnet man
alle diese unter die Schreibfahigen , so erhält man ein viel zu günstiges
Resultat;
II. Die statistischen Aufzeichnungen über den Bildungsgrad der zum
Militär Eingestellten bieten jedenfalls verlässlicheres Material, schliessen
aber' freilich das weibliche Geschlecht aus. Auch hier hat man wesent-
liche Fortschritte beobachtet. So hatten in Frankreich Elementarbildung
(Oettingen) :
im Jahre %
1827/28 44
1829/30 47
1831/32 50
1834/35 53
im Jahre %
1847/48 65
1863 72
1865 74
1866 76
Die Unterschiede in den verschiedenen Ländern sind sehr bedeutend,
aber wegen der Ungleichheit des angewandten Massstabes nicht wohl
vergleichbar.
Wie hoch die deutsche Nation mit ihrer Schulbildung fast alle
übrigen überragt, zeigt sich nicht nur aus den im Deutschen Reiche
herrschenden^), sondern insbesondere auch aus den Bildungsverhältnissen
des national so mannigfach zusammengesetzten österreichischen Kaiser-
thums. Hier waren (1865) schreibkundige Recruten in'):
Unterösterreich 86^
Oberösterreich 83 „
Salzburg 57 „
Steiermark 54 „
Kärnten 7 „
Krain . 2 „
Küstenland ........ 2 „
Tirol 35 „
Böhmen 64 „
Mähren 44 9^
Schlesien 59 „
Galizien 4 „
Bukowina 3 „
Dalmatien 0,8 „
Ungarn 25 „
Croatien und Slavonien . . 4 „
Siebenbürgen 4 „
Anmerkungeu.
*) Nach dem AuuuafSo statistico 1881.
*) Nach^dem Statist. Jahrb. für 1865, pag. 138.
*) Bezüglich der Recruteubildung noch:
Schweiz. 1878 waren uuter den Recruteu 1,6«^ Schwachsiuuige und
Analphabeten. Im Canton Freiburg allein 7,i5^. Die Recruten werden einer
Brief- und ZeitungsTerkehr.
503
Prüfung unterworfen, wobei der Canton Genf am günstigsten besteht, am un-
jrünstigsteu Appenzell-Innerrhodeu. (Zeitschrift d. preuss. Statist. Bureaus 1879.
Stat. Corr. LIX.)
Deutsches Reich. Unter den 1876 --77 eingestellten Recruten waren
ohne Schulbildung unter 100 in:
Deutsches Reich 2,i2
Preussen 2,9i
insbesondere Posen 12,93
Bayern 0,93
Sachsen 0,25
Württemberg 0,03
(a. a. 0., Jahrg. 1877, S. 410).
Baden 0,i6
Hessen 0,ii
Sachsen-Coburg 0,oo
Waldeck 0,oo
Hamburg 0,oo
Elsass-Lothringen 3,98
§. 240. Brief- und Zeitungsverkehr.
Der Postverkehr mit Briefen ist zwar immerhin ein Zeichen geistiger,
aber anch geschäftlicher Regsamkeit. Man muss sich hüten, aus einem
sehr lebhaften Briefverkehr unbedingt auch auf einen sehr hohen Bildungs-
grad schliessen zu wollen. Mancher Handlungscommis schreibt weit mehr
Briefe als ein üniversitälsprofessor oder Staatsmann, ohne deshalb gebil-
deter zu sein. Ebenso ist es mit ganzen Nationen. Bei Handelsvölkem ist
der Briefverkehr am entwickeltsten.
Mit diesem Vorbehalt ist es aufzunehmen, wenn auf den Kopf der
Bevölkerung jährlich folgende Zahl von Briefen kommt in:
Grossbritannien 32,7
Australien 27,5
Schweiz 25,5
Vereinigte Staaten . . . . , 24,6
Deutsches Reich 14,7
Ganada 14,6
Belgien 14,4
Niederlande . , ' 13,3
Dänemark 12,o
Frankreich 12,4
Oesterreich-Üngarn 7,6
Norwegen , ........ 7,4
Schweden 7,2
Italien 5,4
Spanien 4,8
Ghile 3,3
Argentina 2,6
Uruguay 2,4
Algerien 2,4
Japan 1,8
Griechenland 1,6
Brasilien 1,6
Finnland .1,6
Russland ......... 1,5
Rumänien 1,3
Aegypten 0,7
Brittisch Indien 0,6
Mexiko 0,4
Türkei 0,4
Persien 0,05
Die Lebendigkeit des Zeitungsverkehres ist nicht nur bedingt durch
das Interesse der Bevölkerung für das politische und wirthschaftliche
Leben, sondern vielfach auch durch die Preise der Zeitungen und durch
den Zeitungsstempel. Wo grosse und kostspielige Zeitungen gelesen werden
504 Literatur.
und der Staat eine Stempelgebühr für dieselben erhebt, wird die Zahl
derselben selbstverständlich geringer sein, als anderwärts.
Dies der Grund, warum in folgender Tabelle namentlich Oesterreich
ob "tin^littfetig dasteht. Es trafen nämlich versendete Zeitungsblätter,
Drucksachen und Waarenproben auf den Kopf der Bevölkerung im Jahre
1878 in:
Crrossbritannien 9,6
Schweiz 24,»
Deutschland 12,6
Niederlande 10,»
Frankreich 12,8
Belgien 17,o
Luxemburg 9,9
Oesterreich 4,3
Dänemark 12,9
Schweden 5,6
(Neumann-Spallart: Uebersichten pro 1879, S. 280.)
Italien 5,2
Norwegen 4,8
Spanien (1877) 2,7
Ungarn 2,-
Portugal . 2,1
Griechenland (1877) .... 1,3
Rumänien 0,8
Russland l,i
Türkei (1874) 0,i
§. 241. Literatur.
Ueber die Zahl der Buchhandlungen, Zeitungen, Fachblätter und
neu erscheinenden Bücher existiren meist nur rohe unverarbeitete Angaben.
Und in diesen Angaben stehen ungeschieden die kleinsten werthlosesten
Broschüren und Blättchen neben grossen werth vollen, auf jahrelanger
wissenschaftlicher Bemühung beruhenden Werken. Das erschwert offenbar
sehr die Werthung der auf dem Büchermarkt erscheinenden Zahlen *).
Nach den Beobachtungen, die man bezüglich der im sächsischen
Verlage jährlich erscheinenden Druckschriften gemacht hat, ist die Zahl
dieser Verlagsartikel Jahr für Jahr fast die gleiche. Und zwar behält jede
Sphäre geistiger Production ihre constante Verhältnissziffer. „Wenn man
sich vergegenwärtigt, wie viele tausend verschiedene Gehirne sich dafür
angestrengt, wie verschiedenartige Geister in seufzender Nachtarbeit oder
in leichtfertigem Schafiungseifer sich an diesen Productionen betheiligt
haben ... so erscheint die hervorgehobene Regelmässigkeit als ein un-
widerleglicher Beweis dafür, dass gewisse geistige Factoren constant wirksam
sind in der productiven Bewegung des Ganzen" . . . (Oettingen).
Gewiss wäre es vom grössten Interesse, auf Grund solider und aus-
gedehnter Daten durch eine grössere Reihe von Jahren die Schwankungen
dieser verschiedenen Richtungen geistiger Production zu studiren.
Die Jahreszeiten sind nicht ohne Einfluss auf die literarische Pro-
duction. Denn die letztere findet alljälirlich eine Steigerung von Quartal
zu Quartal bis zum letzten. - -
Die Kunst. 505
Auch nationale Unterschiede machen sich bezüglich der literarischen
Production sehr geltend ^).
Aiimerkuiigeii.
*) Von allem geistigen Nährstoff des deutschen lesenden Piiblicums ge-
hören, nach den sächsischen Verlagsartikeln (1851), zu:
Eucyklopädie und literarischen Sammelwerken ... 2,2 Procent
Staats- und Rechtswissenschaften 10,3 „
Theologie 17,7 „
Medicin 4,9 „
Naturwissenschaften 5,9 „
Philosophie 0,9 «5
Pädagogik 13,4 „
Philologie, Archäologie, Sprachen 5,9 „
Geschichte 5,6 „
Geographie 2,6 „
Mathematik und Astronomie l,i „
Handel, Gewerbe, Bauwissenschaft 4,1 „
Landwirthschaft 2,8 „
Belletristik und schönen Künsten .12 „
Volksschriften 2 „
Vermischtes 8,4 „
(Oettingen a. a. 0. Anhang S. 136.) *
*) So muss es gewiss höchst charakteristisch erscheinen, dass unter den
im J. 1864 in Frankreich und London neu erschienenen Verlagsartikeln sich
einzelne Hauptgegenstände mit folgenden ungemein verschiedenen Ziffern ver-
treten finden:
in London in Frankreich
Religion 715 426
Geschichte 233 540
Rechtswissenschaft, Parlament . 79 232
Medicin 124 390
Kunst, Architectur 52 203
Belletristik, Literatur 1407 1010
§. 242. Kunst.
Hierin hat die Statistik jene Gebiete betreten, wo es fast unmöglich
scheint, das menschliche Geistesleben noch ziffermässig zu erfassen. Den-
noch existirt auch auf dem Gebiete der Kunst eine Reihe von Erschei-
nungen, welche der statistischen Beobachtung leicht zugänglich sind. So
vor allem Stand und Gang des Künstlervolkes, ausgeschieden nach den
verschiedenen Zweigen künstlerischer Thätigkeit — nach Dichtkunst, Musik,
Malerei, Sculptur, Architectur und dramatischer Kunst. Die verschiedene
Begabung der Völker für die Kunst überhaupt, als auch für die einzelnen
Kunstzweige muss sich, bis zu einer gewissen Grenze, statistisch unter-
506 Die Kunst.
suchen und in ursachlichen Zusammenhang mit anderen nationalen Eigen-
thümlichkeiten bringen lassen ^).
Noch leichter zifFermässig erfassbar ist die Betheiligung des Publicums
am Kunstleben. Sie äussert sich namentlich in der grösseren oder geringeren
Frequenz des Theater- und Concertbesuches, wobei sogar die herrschende
Geschmacksrichtung quantitativ dargestellt werden kann; femer in dem
Werthe und der Richtung der vom Publicum und den Kunstvereinen
angekauften Kunstwerke. Auch hier wird sich ein Einfluss wirthschaft-
licher, politischer und allgemeiner Culturzustände auf das nationale Kunst-
leben allenthalben ergeben und den tiefinneren Zusammenhang aller Er-
scheinungen des Völkerlebens erweisen. Allerdings muss man bei jeder
statistischen Untersuchung, welche das Gebiet der Kunst betritt, bedenken,
dass auf diesem Gebiete das Einzelne weit höher über die Masse hinaus-
zuragen pflegt, als irgendwo anders. Ein Rafael, ein Goethe, ein Beethoven
wiegt schwerer, als die Mittelmässigkeiten ganzer Jahrhunderte, und der
Statistiker hat auf dem Gebiete der Kunst blos das Recht, über das
Namenlose zu verfügen.
Anmerkung.
*) Yon Versuchen, künstlerische Production zur Ziffer zu bringen, sei hier
Folgeudes erwähnt: v
Quetelet machte den Versuch, Frankreich und England hinsichtlich ihrer
dramatischen Productionsfahigkeit und hinsichtlich des Alters der Dichter stati-
stisch zu untersuchen. Aus den gefundenen Zahlen construirte er eine Curve
der Entwickelung des dramatischen Talents, aus welcher sich ergibt, dass die
Autoren in England sich früher zu yoUer Productionskraft entwickeln als in
Frankreich, dass der Höhepunkt derselben zwischen dem 30. und 45. Jahre
liegt und dass sie erst vom 50. Jahre an bedeutend abnimmt. Ferner fand er,
dass das tragische Talent sich schneller entwickelt als das komische.
Einen anderen statistischen Versuch über die Formen des lateinischen
Hexameters machte Drobisch. Durch die Zahl und das Lagenverhältniss der
Versfüsse suchte er darzustellen, ob der Dichter mit grösserer oder geringerer
rhythmischer Genauigkeit, ob er episch, lyrisch, didactisch schreiben wollte
und wie seine charakteristische Eigenthümlichkeit darin zur Erscheinung komme.
So wurden Virgil, Horaz und Homer hinsichtlich der von ihnen gebrauchten
Formen untersucht.
Bezüglich der Verbreitung musikalischen Talents im Volke sind folgende
Ziffern von Interesse: Unter den 80717 Recruten, welche in Oesterreich-üngarn
im J. 1865 zum Heer gestellt wurden, waren musikkundig:
aus der Gesammtmouarchie l,i%
„ Böhmen insbesondere 3,0 „
„ Mähren 2,7 „
„ Ungarn 0,6 „
„ Galizien 0,i „
„ Lombardei- Venetien 0,7 „
(Stat. Jahrb. für 1865. S. 138.)
Religion, Confesslon und Gottesdienot. 507
§. 243. Beligion, Confession und Oottasdienst.
Das religiöse Leben der Völker ist bisher von der Statistik nur an
wenigen Punkten und mit grosser Schüchternheit erfasst worden. Der
Grund ist klar. Die Religion gehört dem innersten Herzen an und ihre
Kundgebungen nach aussen müssen nicht nothwendig im Verhältnisse zu
ihrer inneren Kraft stehen.
Doch darf man auch hier annehmen, dass bei einer grossen Zahl
von Beobachtungen, z. B. bei der Beobachtung des religiösen Charakters
ganzer Städte oder Völker die äusserlichen, bemerkbaren Leistungen der
inneren Kraft des religiösen Lebens im Ganzen entsprechen.
So hat man denn wirklich auch nach verschiedenen statistischen
Massstäben gesucht, um das religiöse Leben und seine Kraft zu messen.
Man hat als solche Massstäbe genommen : die Zahl der verbreiteten
Bibelexemplare oder der bekehrten Heiden und Juden, anderwärts die
Summe der freiwilligen Stiftungen und Geldopfer zu wohlthätigen klöster-
lichen und kirchlichen Stiftungen u. s. f.
Von grösserer Wichtigkeit sind Untersuchungen, welche man über
die Quantität solcher Handlungen, die nothwendig zu einem religiösen
Cultus gehören, angestellt hat.
So hat man in Sachsen eine genaue Zählung der Kirchenbesucher
vorgeschlagen. In einigen Kirchen Berlins neuestens wirklich vorgenommene
Zählungen lieferten das klägliche Resultat, dass wenig über 2 % der Ge-
meindeglieder sich am Gottesdienst betheiligen. Von grossem Werthe wäre
es u. a., die Betheiligung nach Alter, Geschlecht, Beruf und Civilstand
zu kennen, zu wissen, in welchem Masse für kirchliche Zwecke Geld-
spenden gegeben werden u. s. f.
Von protestantischer Seite hat man Tabellen über die Zahl der-
jenigen Gemeindeglieder, welche an der Communion theilnehmen, ange-
legt. Nach diesen Tabellen trafen (1858—61) jährlich auf je 100 Ge-
meindeglieder folgende Zahlen von Communicanten in:
Oesterreich 109
Kurhessen . 82
Bayern 76
Sachsen 72
Württemberg 70
Grossh. Hessen 69
Baden 68
Man erkennt auf den ersten Blick, dass der kirchliche Eifer ein
grösserer ist in jenen Ländern, wo die Protestanten nicht die herrschende
Gruppe bilden.
Hannover 63
Preussen 52
Braunschweig 41
Oldenburg 35
Holstein 29
Frankfurt a. M. ........ 18
508 Belifjrion, Confession and Gottesdienst.
Ferner haben diese Erhebungen auch ergeben, dass dieser Eifer
unter den Landbewohnern (in Sachsen) nahezu doppelt so stark ist als
bei den Städtern.
Tn Sachsen \"erglich man auch die Zahl der protestantischen Com-
municanten mit jener der katholischen. Man fand auf je 100 erwachsene
Gemeindeglieder Communicanten :
im Jahre bei Katholiken: bei Protestanten:
1862 121 102
1863 124 101
1864 130 98
Die Zahl der Kirchen, Klöster und Geistlichen kann immerhin,
namentlich in ihrer Zu- oder Abnahme als ein werthvolles Zeichen
kirchlicher Regsamkeit betrachtet werden, obgleich man sich hüten wird,
zu behaupten, die Menschheit sei dort wirklich von der grössten Religio-
sität, wo die meisten Geistlichen sind ^) ^) •').
Stand und Bewegung der Confessionen, resp. ihrer Anhänger sind
jedenfalls diejenigen Erscheinungen, welche der Statistik des kirchlichen
Lebens am nächsten liegen. Aber für die Untersuchung des eigentlichen
religiösen Lebens sind sie die werthlosesten. Denn die Angehörigkeit
zu einer Confession ist an sich gar keine sittliche Handlung; zu einer
solchen gehört ausser der Angehörigkeit auch die Anhänglichkeit.
Immerhin zeigt aber die blos formale Angehörigkeit schon das eine
an, dass der Angehörige einer gewissen Confession wenigstens eine Zeit
lang (während der Schulzeit) in den Grundsätzen dieser Confession
erzogen und dadurch seinem geistig-sittlichen Leben eine gewisse Rich-
tung gegeben wurde, welche nur ausnahmsweise wieder vollständig ver-
lassen wird.
Was zunächst den Stand der Confessionen betrifft;, so dürfte sich
die Gesammtzahl der Menschen nach Confessionen etwa folgendermassen
vertheilen :
Christen:
Katholiken 190 Mill.
Protestanten 108 „
Griechen 80 „
Andere Christen .... 15 „
NichtChristen:
Mohamedaner .... 85 Mill.
Juden 7 „
Buddhisten ...... 500 „ ?
Hindus 190 „ ?
Heiden . 280 „ ?
393 Mill
Von sämffltlichen Menschen bekennen sich sonach etwa 30^ zum
Christenthum. In diesem bilden die Katholiken nicht ganz die Hälfte *).
Hinsichtlich der Bewegung der Confessionen liegt noch wenig Material
vor. Dabei hat man zunächst die wichtige Beobachtung gemacht, dass
die stärkere oder schwächere Zunahme einer Confession gegenüber den
Religion, Confession und Gottesdienst.
509
anderen nur zum allergeringsten Theile durch persönlichen Confessions Wech-
sel der Einzelnen, meistens durch die gemischten Ehen und die verschie-
dene Geburtenfrequenz verursacht wird ^).
Aumerkungeu.
*) Hausiier a. a. 0. II, 454 gibt über die absolute und relatire Zahl
der Weltgeistlicheii eiue Uebersicht, welcher Folgendes zu eutnehmeli ist. Die
Zahl der Einwohner, auf welche ein Weltgeistlicher triflft, beträgt in:
Vorm. Kirchenstaat (1862) ... 82
Sicilien (1864) 186
Ganz Italien (1864) . 246
Griechenland (1861) 248
Spanien y, 407
Belgien „ 483
Bayern ^ 590
Russland (1861) 600
Frankreich (1862) . 660
Oesterreich-Ungarn (1863) ... 665
Grossbritaunien (1861) 814
Ganz Deutschland (1861) .... 865
Protestant. Deutschland (1861) . 1552
") Die absolute Zahl des Ordensclerus beträgt:
1 n
Jahr
Mönche
Nonnen
Deutschland . . .
Schweiz
Oesterreich . . .
Ungarn
Croatien-Slavonien
Stadt u. Prov. Rom
Uebr. Italien . . .
Frankreich . . .
Spanien
Portugal ....
Grossbritannien
Irland
Belgien
Holland
Russland u. Polen
1872—74
1871
1870
1871
1866
1861
1867
1857-58
1875
1864
1866
1862
1864
2588
546
7389
2243
cir
4326
24543
17776
1506
857
860?
2991
820
3540
16846
2020
6001
915
320
3825
13853
90343
14725
1560
3320?
1700?
15205
2187
1069
(A. Schwietzke. Die religiöse» Orden etc. — Zeitschr. d. preuss. stat.
Bureaus 1875. S. 51. if.)
*) Bezüglich der Kirchen sei nur beispielsweise die merkwürdige That-
sache angeführt, dass die Zahl der Pfarr- und Filialkirchen in Preussen vom
Jahre 1858 bis 1864 sich vermehrte (Oettingen a. a. 0. S. 830):
bei den Evangelischen von 8325 auf 8401, also um 76
„ „ Katholischen „ 5317 „ 5548, „ ,, 231
*) In neuester Zeit stellt sich die Vertheilung der Bevölkerung nach
Confessioncn wie folgt (nach den Angaben des Goth. Hofk. 1881):
510
Religion. Confession und Gotteedienst
9
Lander
Jahr
Katholiken
Protestanten
Griech. Kirche
Juden
Absolut
%
Absolut
%
Absolut
%
Absolut
%
Dentsches Beich . .
Oesterreich-Ungarn
Grossbritannien . .
Frankreich ....
D&nemark*
Italien
Niederlande ....
Schweden
Norwegen
Schweiz
Spanien
Rnm&nien
Serbien
1876
1869
1871
1872
1870
1871
1869
1870
1876
1870
1877
1878
1866
15,8 MUl.
27,» ,
6,» »
85,8 ,
1867
26,8 MiU.
1,» .
587
502
1,08 Mill.
116000
4161
86,0
77,7
17,5
98,0
40,6
26,7 Mill.
26,0 ,
680767
1,7 MiU.
68661
2,1 MiU.
4,i .
1.« .
1,* .
10000?
30000
463
62,5
9,8
82,*
16
99,1
58,7
3,0 MiU.
5,2 MiU.
1,» .
8,5
87
620575
1,8 Mill.
46000
49439
86356
68008
1836
34
6996
5000?
400000
2049
l,a
8,8
0,1
0,1
7,*
Hiezu noch: Belgien ist mit 5,4 Mill. £inw. fast ganz katholisch, die
Zahl der Protestanten wird anf 150000 geschätzt; hiezu 3000 Juden. — In
Portugal neben 4,7 Mill. Katholiken verschwindend wenig andere Confessious-
angehörige. — Im Russischen Reich: 57,i Mill, Griechischer Kirche, 535000
Armenier, 6,7 Mill. Katholiken, 4,i Mill. Protestanten, 21,3 Mill. Juden, 5,6 Mill.
Mohamedaner, 481000 Heiden. — Türkisches Reich (Schätzung): 2,9 Mill.
griechisch-orthodox, 2,8 Mill. Mohamedaner, 200000 römisch-katholisch, 100000
Juden, 70000 Armenier (gregorianisch), 10000 Protestanten. — Ver. Staaten
circa 6 Mill. Katholiken, 12 Mill. evangelisch und hochkirchlich, 10 Mill. grie-
chische und andere Christen (Sectirer), 500000 Juden.
*) Die verhältnissmässige Vermehrung der Katholiken, Protestanten und
Juden in den Hauptländern Europa'*s stellt sich folgeudermassen dar (Oettingen,
a. a. 0. Anhang, S. 140):
es
Staaten
in der Zeit
von
Vermehrung im Jahresdurchschnitt
in Procent bei
Katholiken
Protestanten Juden
Frankreich
Oesterreich
Italien
Schweiz
Spanien
Portugal
Belgien
Niederlande
Grossbritannien ....
Irland
Schweden
Norwegen
1851-1861
„ -1857
„ -1861
1850-1860
1849- „
1850-1861
„ -1864
1849-1859
1851-1861
i 850—1864
1855-1865
0,26
0,82
0,49
0,53
0,93
0,58
0,80
0,12
— 1,15
0,M
0,42
0,1«
1,11
1,21
1,«
1,96
3,40
0,(ß
SchlusBbem erkangen.
511
Staaten
in der Zeit
von
Vermehrung im Jahresdurchschnitt
in Procent bei
Katholiken Protestanten Juden
Dänemark
Preussen . .
Hannover . .
Baden . . .
Württemberg
Bayern . . .
Sachsen . .
1850-1860
18511—1864
1846- „
1852— ^
1849- „
0,3a
0,15
0,02
0,46
2,71
1,35
—
1,11
i,29
0,50
0,86
0,60
0,36
0,04
0,34
0,45
0,42
1,53
6,81
Diese Ziffern eignen sich indessen wohl nur dazu, um die Bedeutung der
Religionsunterschiede für die Fruchtbarkeit der Bevölkerung zu studiren. Natio-
nale und locale Eigenthümlichkeiten scheinen vom grössten Einflüsse auf sie
§. 244. Schlussbemerkungen.
Die Eintheilung, welche in den vorliegenden fünf Büchern der Sta-
tistik getroffen ist, macht keinerlei Anspruch darauf, mustergiltig zu sein;
nur ihre Einfachheit mag sie einigermassen rechtfertigen. Eine vollkom-
mene Eintheilung der Statistik als Methode und Wissenschaft zu geben,
ist deshalb noch nicht möglich, weil einestheils die Methode stets ver-
vollkommnet wird, anderentheils stets neue Gegenstände in ihren Kreis
hereingezogen werden. Vermessen hiesse es, einen ^ Zweig menschlicher
Geistesthätigkeit, der noch so sehr in Gährung und Entwickelung begriffen
ist, wie die Statistik, anders als fragmentarisch zu behandeln.
Aber schon die Fragmente zeigen den Charakter dieses eigenthüm-
lichen Wissenszweiges deutlich genug. Schon jetzt erkennen wir die Sta-
tistik als Buchhalter des menschlichen und gesellschaftlichen Lebens.
Als solcher verbucht sie nicht allein materielle, sondern auch geistige und
sittliche Werthe. Wir erkennen sie sodann als Anatom und Patholog
des mittleren Menschen. Ebenso ist sie dessen Biogjaph, der mit unbe-
stechlicher Wahrhaftigkeit seine Fehler und Vorzüge verzeichnet. Und
schliesslich erkennen wir in ihr auch die Sprache des gesellschaftlichen
Gewissens. Sie ist der grosse Personalact, den die menschliche Gesell-
schaft über sich selbst, ihr Leben und Treiben angelegt hat.
Es zeigen sich innerhalb dieser wissenschaftlichen Thätigkeit Be-
strebungen zur Anwendung der höheren Mathematik auf die durch die
•Beobachtung gefundenen Quantitäten. Ob fliese, bis jetzt einsam stehen-
den Bestrebungen die Zukunft der Disciplin repräsentiren : diese Frage zu
5l2 " Schlussbemerkungen.
entscheiden, ist hier nicht der Ort. Jedenfalls reichen schon die ein-
fachsten Mittel quantitativer Untersuchung hin , um in jene Theile des
Staats- und Gesellschaftswissens, in welche sie eingedrungen sind, mehr
Licht zu bringen , als die alte beschreibende Schule jemals vermocht
hätte.
So ist die Statistik das Maass der Kraft der Völker, aber auch
ihrer Schwäche. Sie misst das Wachsthum, das Sein und Vergehen des
mittleren Menschen zunächst in all den Phasen, in welche die Natur ihn
versetzt. Schon ehe der Mensch das zweifelhafte Licht der Welt erblickt,
beurtheilt sie die Bedingungen seines Entstehens, die verschiedenen Gründe,
die ihn entweder ins Dasein treten oder ungeboren bleiben lassen. Sie
belehrt uns zwar nicht über die Berechtigung des Entstehens jedes Ein-
zelnen, aber über das Recht der Masse auf das Dasein. Sie beurtheilt die
Schwäche und Entwickelung des Kindes, die Kraft des Mannes und
Weibes und die Gesetze des Todes. Und sie beurtheilt nicht blos, sondern
berechnet. Es ist wahr: auch der mittlere Mensch wird geboren und ent-
wickelt sich, altert und stirbt, wie der einzelne. Aber neben diesem ver-
gänglichen Dasein führt er noch ein anderes, unendlich grossartigeres; ein
Dasein, das in die tiefumwölkte Urzeit hinaufreicht. Stets vergehend, ent-
steht er stets aufs neue aus dem Grabe. Dieses andere längere Leben des
mittleren Menschen kennt die Statistik nicht; es gehört der Geschichte
an und das, was von ihm vergangen ist, wird nie gemessen werden. Was
wir vom Leben des mittleren Menschen kennen, ist kaum so viel, als
wenn wir eine Stunde aus dem Dasein eines einzelnen Menschen kennten.
Dürfen wir von dieser Stunde auf ein ganzes ereignissreiches Leben
schli essen?
Die Statistik ist das Maass der Thaten des mittleren Menschen..
Seine Aufgaben zwar sind ihr in den letzten Ausläufern verhüllt, aber
sein Streben, diesen Aufgaben gerecht zu werden: das ermisst und wägt
sie. Sie beschäftigt sich mit dem Kampf des Menschen um sein Dasein;
als wirthschaftliche Statistik misst sie seine Arbeit und Sparsamkeit,
seinen Reichthum in jden verschiedenen Phasen desselben. Und indem sie
zuletzt noch die Wohnsitze, die gesellschaftliche und politische Ordnung,
Glück und Elend, Recht und Sittlichkeit, Bildung und Religion erfasst,
wo sie fassbar werden, wird sie zum Maasse der Civil isation. Mit dem
Werthe, den alles Streben nach Wahrheit hat, in sich, gewinnt sie auch
noch sittlichen Werth, indem sie uns belehrt, dass wir nicht wie astrono-
mische Gebilde in festvorgeschriebenen Bahnen des Guten und Bösen
gehen , sondern dass wir zwar selbst noch Ziffern im grossen Ziffer- .
meere sind, aber Ziffern, die ihre Grösse selbst bestimmen; dass jeder
Schlussbumeikungen. 513
Einzelne weit über die Sphäre des Durchschnittsmenschen sich aufzu-
schwingen und an tausend gesellschaftlichen Fäden das Ganze nachzu-
ziehen vermag.
Das Beste, was in der Menschheit ist und von ihr geschaffen wird,
entzieht sich der Statistik. Die Zahl hat keinen Ausdruck dafür^ Die Höhe
des Lebens beginnt auf einem Boden, welcher über den Zahlen steht und
es ist die Aufgabe des Einzelnen, jene Höhe zu erreichen.
fiauskufer, Statistik. 2. Aufl. 33
AlpMetisches Sach- und Autorenregister.
Seite
Abscisse 48
Absolute Bevölkerung 87
Absterbetafeln 185
Abstimmungen 427
Abstractionen, rechnerische .... 54
Acclimatisation 148
Achenwall 9
Ackerbau 269
Aethiopische Race 417
Alter der Heiratenden 403
Alter, sein Einfluss auf Verbrechen 463
Altersaufbau 209
Altersclassen 209
Alterscurven 48
Alterssterblichkeit 141
Amerikanische Race 417
Amtliche Statistik 73
Analfabeti . • 501
Anchersen 14
Anlagekosten der Eisenbahnen . . 323
Ansledlungsverhältniss 388
Arbeit 245
Arbeitsgeschicklichkeit 246
Arbeitskraft 245
Arbeitslohn 350
Arithmetische Durchschnitte ... 53
Armeen, Kosten derselben .... 434
Armeen, Stärke derselben .... 429
Armenstatistik 354
Associationen 414
Aufenthalt, Art desselben .... 99
Auflagen 438
Seite
Aufwandsteuem 439
Ausfuhrhandel 335
Auswanderung 173
Bankrotte 487
Baugewerbe 301
Baumhauer 36
Baum Wollhandel 343
Baum Wollindustrie 295
Becker 191
Behausungsverhältniss 390
Behausungsziflfer 391
Bekleidungsindustrie 300
Beobachtungsperioden 79
Berg 190
Bergbau 286
Bernoulli 355
Beruf und Criminalität 471
Berufe, Sterblichkeit derselben . . 157
Berufsclassen 249
Beschleunigte Bewegung 118
Beschreibende Schule 59
Bettel 486
Bevölkerung 87
Bevölkerungsstatistik 87
Bevölkerungstheorie 364
Bewegung der Bevölkerung ... 114
Bierbrauereien 299
Bierconsumtion 361
Bildung 496
Bildung und Criminalität .... 471
Bildungsclasscn .........415
Alphabetisches Sach- und Autorenregister.
515
Seite
Blinde 234
Block 18
BodenbeschafFenheit 261
Bodengliederung 242
Bodenvertheilung 265
Bodenverwendung 262
Bodio 24
Brämer 304
Branntweinbrennerei 300
Öranntweingehuss 481
Briefverkehr 503
Budgets, Vergleichung derselben . 431
Bücher, Statistik der ...... 504
Büsching 14
Bureaux, statistische 26
Butte 11
Capital 2o5
Census 5
Centralcommissionen, statistische . 76
Christen 508
Civilisation und Sterblichkeit ... 169
Civilrcchtspflege . ^ 444
Classenunterschiede 415
Communicanten 508
Concurse, Zahl derselben . . . » . 445
Confession 507
Confessionen, Criminalität derselben 473
Congresse, statistische 31
Consumsteuern 439
Conring 8
Consumtion 456
Cornwall Lewis 24
Corporationen 413
Criminalstatistik 455
Crimineller Hang 457
Culturarten 262
Curvenzeichnung 47
Czörnig 433
Dampfmaschinen 247
Dampfschiffe 330
Datum, statistisches 42
David 190
Deparcieux 189
Diagramme ^ • . 47
Diebstahl 487
Seite
Dieterici 19
Dörfer 388
Domänen 436
Drobisch 452
Durchschnitte 52
Durchschnittsalter der Gestorbenen 203
„ „ Lebenden . 200
Durchschnittsmensch 67
Dufau 17
Edelmetalle, Preise derselben . . 315
Edelmetallproduction 289
Ehe 394
Ehen, Dauer derselben 406
Eheliche Fruchtbarkeit 407
Ehescheidungen 489
Eigenthumsverletzungen ... . . 487
Einflüsse, auf d. Menschen wirkende 64
Einfuhrhandel 335
Einkommen . 346
Einkommensclassen 347
Einwanderung 180
Einwohnerlisten 101
Einzelnansiedlung 388
Eisenbahnen 319
Eisenbahnunfälle 328
Eisenpro duction 289
Emminghaus 354
Engel 19
Erde, Bevölkerung derselben ... 90
Erde, Oberfläche derselben . . . . 241
Euler 189
Fabricate, deren Preise 314
Factische Bevölkerung 99
Famüie 394
Familien, Zahl derselben 408
Familienglück 488
Familienleben und CriminaHtät . . 466
Familienstärke 409
Farr 190
Feuerversicherungsstatistik .... 256
Finanzstatistik 431
Flächendiagramme 50
Fleischconsumtion 339
Florentiner statistischer Congress . 462
Forsten und Domänen 436
516
Alphab etiecbes Sach- und Autorenregister.
Forststatistik
Forstwirthschaft
Fragestellang
Freiheit des Willens
Freiheitsstrafen und Sterblichkeit
Fruchtbarkeit der Ehen ....
Gabaglio
Gang der Bevölkerung
Gebäudewerth
€SeVräuche
€tel5rechliche
Geburten, Geburtenziffer
Geburtenfrequenz s. -Geburtenziffer
Geburtsstände
Gefängnisse, Sterblichkeit derselben
Gegentendenzen d. Volksvermehrung
Geisteskranlcheiten
Geistliche
GriM
Geldsurrogate
Geographie und Statistik
Geometrische Durchschnitte . . .
Gerstner
Geschichte der Statistik
Geschichte und Statistik
Geschlecht
Geschlecht, Einfluss desselben auf
die Verbrechen
Geschlechtliche Sitte
Gesellschaft
Gesetze der Statistik
Gesichtstypus
Gesundheit
Getränkesteuern
Getreideconsumtion
Getreidehandel
Getreidepreise
Gewaltsame Todesarten
Gewerbe
Gewerbliche Bevölkerung
Gewicht, menschliches
Gisi
Gliederung des Volkes
Goldpreis
Goldproduction
Grenzen, politische etc
Seite
277
277
80
453
164
407
24
114
256
418
234
121
121
415
164
370
231
509
317
318
69
53
365
3
71
214
465
491
412
57
224
224
441
359
342
307
165
280
281
221
190
412
316
289
378
Seite
Graphische Darstellungen .... 47
Graunt : . 14
Grösse des Menschen 219
Grossbetrieb 282
Grossstädte 385
Grundeigenthum 265
Grundstücke, Werth derselben . . 256
Guerry • • • 17
Guillard 18
Gymnasien 500
Haarfarbe 224
Hain 20
Halley 189
Handel, Handelsstatistik 334
Handelsbilanz 336
Handelsmarine 329
Hang zum Bösen 457
Hassel 11
Häuser 390
Haushaltlisten 102
Haushaltungen 408
Hauslisten . . . .* 101
Hausner 390, 473
Hautfarbe 224, 417
Heere, Stärke derselben 429
Heimat 417
Heiratsalter 403
Heiratsfrequenz 398
Hermann 21
Herodot 4
Herzberg 11
Hildebrand 22
Hochschulen 500
Hoffmann 19
Hörn 394
Hüttenwesen 286
Industrieproducte, deren Preise . . 314
Innerer Zuwachs 115
Jacobi 354
Jahreszeiten und Criminalität ... 469
Jahreszeiten, Sterblichkeit derselben ^51
Jannasch . 293
Juden, Criminalität derselbeii . . . 473
Alpliabetiachea Sach- und Autorenregister.
517
Seite
Juden, Sterblichkeit derselben . . 147
Juden, Volkszählungen derselben . 95
Kaffeehandel 344
Kammevgüter 6
Kartogramme 50
Kartographische Methode .... 51
Katholiken, Zahl derselben . . . . 510
Kaukasier 417
Kersseboom 189
Kiaer 190
Kindermord 482
Kindersterblichkeit 141
Kirchen 508
Kirchenbücher 7
Kirchensprengellisten ...... 6
Kleinbetrieb 282
Klima und Sterblichkeit 144
Klimatische Curorte 149
Knapp 22, 191
Knies 20
Körösi 192
Körperbau 417
Körperliche Eigenschaften .... 214
Kohlenhandel . 345
Kohlenproduction 288
Sörpeiyerletzungen 484
Krankheiten des Lasters 481
Krankheiten, einzelne 229
Krieg 484
Kriege, Opfer derselben 161
Kunst 505
Lage der Städte 383
Lampertico 24
Landbevölkerung ' 379
Landstrassen 319
Landwirthschaftliche Bevölkerung . 268
Landwirthschaftliche Statistik . . . 260
Laplace 189
Lazarus 137
Lebensbethätigung, sittliche . . . 454
Lebensdauer 182
Lebensverhältnisse 461
Lebensversicherung 257, 207
Lebens Wahrscheinlichkeit .... . 196
Lederindustrie -. '. 297
Seite
Legoyt 18
Lehranstalten i . . . 498
Lehrerzahl 498
Leinenindustrie 294
Levi 354
Lexis 192
Liniendiagrarame 47 ^
Listen für Volkszählungen .... 103
Literatur 504
Lohnstatistik 350
Lüder 25
Maestri 24
Malayische Race 417
Malthus 368
Mangold 365
Maschinen 247
Maschinenbau 291
Massenbeobachtung 33
Mathematik und Statistik .... 72
Maxima 52
Mayr 22
Medicinische Statistik 224
Mendicität 486
Messedaglia 24
Metallindustrie 291
Methode, statistische 32
Militär 429
Militär, Kosten desselben 434
Militärsterblichkeit 159
Mill, J. St U
Mineralien, nutzbare 242
Mineralische Rohstoffe (Preise) . . 313
Minima 52
Minoritäten 426
Mittelschulen • . 499
Mittelwerthe 52
Mittlere Lebensdauer 198
Mittlerer Mensch (57
Mönche 509
Monatssterblichkeit ....... 152
Mongolische Race 417
Moralstatistik 451
Morbilität 225
MöTd 482
Moreau de Jonnfes 18
Morpurgo 24
518
Alphabetisches Sach- und Autoren-Repster.
Mortalität, s. Sterblichkeit.
Moser
Münzvorrath
Musikalisches Talent . .
Muskelkraft, menschliche .
Vahningsmittelindastrie ....
Nation, Nationalität
Nationalität und Criminalität . .
Nationalökonomie und Statistik .
Naturproducte
Naturwissenschaften und Statistik
Neumann-Spallart
Niemann
Nonnen
Notenumlauf
Nothzucht
Notorietät
Oesterlen .
Oettingen
Ordinate
Organisation der amtlichen Statistik
Orden, geistliche
Ortschaften
Oscillationszahl
Papierfabrication
Papiergeld
Periodische Beobachtung
Periodische Zählungen
Petroleum
Petty
Pflanzenwelt, die
Philosophie und Statistik ....
Physisches Leben der Bevölkerung
PoHtik
Politik und Statistik
Politische Verbrechen
Porter
Portlock
Post . . . ,
Präventive Gegentendenzen ....
Preise, Statistik derselben ....
Preisbestimmungsgründe
Preisgeschichte
Preisstand
Seite
189
3\1
506
297
416
468
70
241
72
260
12
509
318
495
68
224
22
48
75
509
388
54
296
318
79
95
345
15
242
71
182
424
69
488
24
25
332
371
303
305
306
304
Seite
Preisunterschiede 306
Privatstatistik 78
Procentsätze . 51
Processe, Zahl derselben ..... 444
Production, Statistik derselben . . 241
Productive Jahre 210
Prostitution 491
Protestanten, Zahl derselben . . . 510
Protokollarische Zählung ..... 101
Psychologie und Statistik .... 71
Publicationen, statistische .... 82
Quantitätsausdrücke 41
Qu^telet 16
Bacen 417
Rechnungsoperationen, statistische . 51
Rechtliche Bevölkerung ..... 99
Rechtspflege 444.
Rechtswissenschaft und Statistik . 70
Recrutenbildung 502
Regelmässigkeiten, statistische . . 57
Relative Bevölkerung . . . . • . 106
Relative Zahlen 51
Relazioni 6
Religion , . . 507
Remer 11
Repressive Gegentendenzen .... 372
Riehl 391
Rohstofi'e, Preise derselben . . . . 310
Romagnosi 24
Rotteck 11
Rückfällige 459
Rümelin 21
Sadler *. 408
Salinenwesen 286
Salzconsumtion 360
Salzsteuer, Ertrag 440
Say 25
Schätzungen der Bevölkerung . . 89
Schififahrtsstatistik . 329
Schlözer 13
Schmoller 362
Schreibfähige 501
Schulbesuch 499
Schulbildung und CriminaHtät . . 471
Alphabetisches Sach* und Autoren-Register.
519
Seite
Schulen 497
Schulkinder 499
Schwabe 385
Seeschiffahrt 329
See-Unfälle 331
Seidenindustrie 293
Selbsterhaltungstrieb 460
Selbstmord ! ..... 474
Sensibilität 49, 53
Silberpreis 316
Silberproduction 289
Sinnesorgane, Fehler derselben . . 233
Sitte 417
Social-Ethik 454
Socialwissenschaft 61
Soetbeer 289
Sparcassen 258
Sprache 418
Staat 411
Staatsausgaben 433
Staatseinnahmen 435
Staatsgebiet 377
Staatshaushalt 431
Staatsindustrien 437
Staatslotterie, Einnahmen derselben 437
Staatsschulden 442
Staatsschulden, Kosten derselben . 435
Staatsverfassung 424
Staatsverkehrsanstalten, Einnahmen
derselben 438
Stadt und Land 379
Städte 379
Städte, Qualität derselben .... 387
Städte, Sterblichkeit derselben 146, 148
Stand der Bevölkerung 88
Stände 415
Standessitte 418
Stationäre Bevölkerung 114
Stehende Heere 429
Steinkohle 288
Steinkohlenhandel 345
Sterbenswahrscheinlichkeit .... 196
Sterblichkeit 136
Sterblichkeit in Städten 146
Sterblichkeitscoefficient 196
Sterblichkeitstafeln 485
Sterblichkeitsziffer ........ 136
Seite
Steuern 438
Stimmrecht 426
Strafgesetzgebung 459
Strassen 319
Strichelung 81
Süssmilch 15
Syphilis 481
Tabakconsumtion 361
Tabakfabrication 300
Tabaksteuer, Ertrag 440
Tabelle 44
Tammeo 24
Taubstumme 234
Telegraphie 332
Tenacität 53
Tendenz der Gütervermehrung . . 369
„ „ Volksvermehrung . . 370
Textilindustrie 292
Theuerung und Criminalität . . . 470
Theuerung und Sterblichkeit . . . 153
Thiere, Preise derselben 311
Todesstrafe . 484
Todesursachen 136
Todtenregister 6
Tooke & Newmarch 304
Transportwesen 319
Trauungsziffer 398
Typhussterblichkeit 229
Typus 53
Ueberlebenstafeln 185
üebervölkerung 366
Uneheliche Geburten 492
Unfälle, Unfallstatistik 166
Unglück, Messung desselben . . . 478
Universitätsstudium 500
Unproductive Jahre 210
Unzuchtsverbrechen 491
Ürmaterial 79
Ursachen der Bevölkerungsbewegung 1 15
Ursachen der Erscheinungen ... 55
Ursachen der sittlichen That . . . 460
Vagantenthum 486
Verbrechen, Statistik derselben . . 455
Verbrechen, Regelmässigkeit der . 458
520
Alphftbetiselitff Sach* und Autoren-Beg^ister.
Seit«
Verdoppelung der Bevölkerung . . H7
Verfassungsleben 484
Vergleichung der Daten 54
Verhältnisszahlen 51
Verheiratete, Zahl derselben . . . 395
Verkehrslage 384
Verkehrsmittel 319
Verlagsartikel 505
Vennehrung der Bevölkerung . . . H6
Verminderung der Bevölkerung . . 116
Versicherungsgesellschaften .... 414
Verunglückungen 166
Verwaltungsstatistik 73
Verzögerte Bewegung 118
Viehpreise 311
Viehproducte, Preise derselben . . 3 IS
Viehstand 273
Viehstatistik 273
Viehzucht 273
Villeneuve 355
Volk 4il
Völkerfamilien 416
Volksbildung und Criminalität . . 471
Volksdichtigkeit 106
Volkseinkommen 346
Volksschulen 498
Volksstämme 416
Volksvertretungen, Statistik ders. 424
Volkszählungen 95
Wagner, A 4, 21
Wahlstatistik 424
Wahrscheinliche Lebensdauer . . . 199
Wald, Wälder 277
Wappäus 20
Seite
Wargentin 189
Wechseluralauf 318
Wehrkraft 429
Weibercriminalifät 465
Weiler 388
Weinconsumtion 360
Weisz 354
Werthbestimmung sittlicher Hand-
lungen 456
Werthrelation 316
Willensfreiheit 453
Wirthschaftliche Statistik .... 239
Wissenschaft 496
Wittstein 191
Wohlstand und Sterblichkeit . . . 155
Wohnhäuser 390
Wohnlichkeitsverhältniss 393
Wohnsitze 377
Wohnungen 393
Wollhandel 344
Wollindustrie 894
Wuchs, Entwickelung desselben . . 219
Zahl, Gesetz der grossen 34
Zähler 97
Zählblättchen 104
Zählkarten 104
Zählungen der Bevölkerung ... 95
Zeitungsverkehr 503
Zeuner 23, 191
Zölle, Ertrag derselben 441
Zuckerconsumtion 360
Zuckerfabrication 298
Zufall 58
C. U«b«iT«utar'«cb«9 Uacbdruckenu (U. SaImf) la Wi«B.
THI8 BOOK 18 DX7E OK THE LAST DATE
8TAMPED BELOW
AN INITIAL FINE OF 25 CENTS
WILL BB AS8E8SBD POR FAILURB TO RCTURN
THIS BOOK ON THK DATB DUE. THB PENALTY
WILL INCREASE TO 80 CBNTS ON THE FOURTH
DAY AND TO fl.OO ON THE SEVENTM DAY
OVERDUE.
MAY 25 ta^ia
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\944
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'^^m
Wt^
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LD 21-100m-7,'39(402s)
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487448
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