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Full text of "Leibniz' Bedeutung in der Geschichte der Mathematik"

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LEIBNIZ'  BEDEUTUNG 


IN  DER 


ESCHICHTE  DER  MATHEMATIK 


REDE 


FEIER  DES  GEBURTSTAGES  SR.  MAJESTÄT  DES  KÖNIGS 


GEHALTEN    IN    DER 


AULA  DES  POLYTECHNIKUMS  ZU  DRESDEN 


DR   AXEL  HARNACK 

O.  PROFESSOR   DER   MATHEMATIK,    O.  MITGLIED   DER    K.  SACHS.  aESKl.r.<(_  H  AI 
DER    \M  <<  F.  N  «:(  IIA  I  •  TEX 


^oH: 


DRESDEN 

V.    ZAHN    &    JAENSCH 

1887 


H11 


Vorwort. 

Einen  Vortrag,  welcher  einem  besonderen  Zwecke  diente, 
als  selbstständige  kleine  Schrift  erscheinen  zu  lassen,  das  be- 
darf einer  Rechtfertigung  oder  wenigstens  des  Versuches  einer 
solchen.  Aber  den  wissenschaftlichen  Reden,  welche  an  den 
Hochschulen  bei  festlichen  Gelegenheiten  regelmässig  gehalten 
werden,  kommt  schliesslich  in  ihrer  Gesammtheit  eine  histo- 
rische Bedeutung  zu.  Sie  geben  in  jahrelanger  Aufeinander- 
folge ein  Bild  von  den  oft  auch  wechselnden  Zielen  und  Auf- 
fassungsweisen der  wissenschaftlichen  Arbeit,  von  den  Aufgaben 
des  Lehrberufes  innerhalb  des  staatlichen  Lebens.  Für  die 
einzelne  Hochschule  aber  werden  sie  von  selbst  zu  einer 
eigenartig  geschriebenen  Geschichte  ihrer  inneren  und  äusse- 
ren Entwickelung. 

Denn  die  Beziehungen  zur  Gegenwart  sind  in  solchen 
Reden  mehr  oder  minder  deutlich  stets  vorhanden,  und  diese 
würden  ihre  Aufgabe  verfehlen,  wenn  sie  dieselben  absicht- 
lich vermeiden  wollten.  Dass  ich  bei  der  vorliegenden  direkt 
einige  der  Fragen  berührt  habe,  von  deren  richtiger  Lösung 
das  Gedeihen  der  technischen  Schulen  und  der  höheren  Schu- 
len überhaupt  abhängt,  darin  liegt  für  mich  ein  zweiter  Grund, 
das  gesprochene  Wort  durch  die  Schrift  zu  fixiren.  Möge 
dieselbe  trotz  der  kurzen  Form  der  Bemerkungen  erkennen 
lassen,  dass  ich  mich  bemüht  habe,  ein  ürtheil  „sine  ira  et 
cum  studio'^  zu  gewinnen. 

Dresden,  im  Juni    1887. 

Ax.  H. 


Aber  über  diese  besonderen  Beziehungen  zum  Staate  hin- 
aus weist  uns  die  heutige  Feier  auf  den  Zusammenhang,  in 
welchem  unsere  Arbeit  —  auch  die  abstracteste  und  schein- 
bar entlegenste  —  mit  der  Entwickelung  unseres  gesammten 
öffentlichen  Lebens  steht.  Für  die  technischen  Hochschulen 
zwar  ist  es  in  gewissem  Sinn  kaum  noth wendig,  diesen  Zu- 
sammenhang erst  noch  besonders  zu  betonen.  Es  sind  gerade 
50  Jahre,  dass  die  erste  grössere  Eisenbahn  in  Deutschland, 
ein  Theil  der  Strecke  Leipzig -Dresden,  dem  öffentlichen  Be- 
trieb übergeben  wurde,  und  derselbe,  verhältnissmässig  so 
kurze  Zeitraum,  in  welchem  sich  der  Verkehr  zwischen  allen 
continentalen  und  überseeischen  Ländern  neu  gestaltete,  umfasst 
zugleich  die  Geschichte  unserer  Schulen.  Ursprünglich  kleine 
Gewerbschulen,  wie  das  praktische  Bedürfniss  sie  forderte, 
erhoben  sie  sich  rasch  zu  ihrer  gegenwärtigen  Grösse,  als 
Industrie  und  Handel  geradezu  eine  neue  Weltcultur  schufen. 
Man  hat  ihnen  diese  Art  der  Entwickelung,  diese  Abhängig- 
keit von  den  praktischen  Bedürfnissen  des  Tages  zum  Vor- 
wurf gemacht;  und  wer  wollte  es  leugnen,  dass  dieselbe 
manche  Gefahren  birgt,  dass  in  der  systematischen  Gliede- 
rung unseres  Lehrstoffes  noch  vieles  unfertig  ist.  Und  doch 
wäre  es  im  höchsten  Grade  kurzsichtig,  wollte  man  hieraus 
den  Schluss  ziehen,  dass  die  Technik  in  ihrem  wissenschaft- 
lichen Ausbau  gehemmt  wird,  dass  die  Schulung,  welche  sie 
dem  Geiste  verleiht,  eine  einseitige,  bloss  auf  den  äusseren 
Nutzen  gerichtete  sei.  Denn  nicht  Handel  und  Industrie  haben 
die  Technik  geschaffen,  sie  sind  vielmehr  durch  dieselbe  zu 
ihrer  mächtigen  Ausdehnung  gediehen,  durch  welche  sie  för- 
dernd auch  auf  rein  theoretische  Untersuchungen  zurückwirken. 
Die  technischen  Wissenschaften  selbst  aber  sind  aus  der  mathe- 
matisch-physikalischen und  aus  der  chemischen  Naturforschung 
hervorgegangen. 

So  erkennen  wir  auch,  wenn  wir  tiefer  auf  die  Entwicke- 
lung der  Wissenschaften  eingehen,  dass  die  eigentlichen  Keime 
unserer  Schulen  viel  weiter  zurück  liegen,  in  jenem  grossen 
mathematischen  Zeitalter,  in  welchem  Galilei  und  Huy- 
ghens,  Newton  und   Leibniz   die  Grundlagen  der  jetzigen 


Mathematik  und  Naturtbrschung  schufen,  in  jenem  Zeitalter, 
welches  für  unsere  Cultur  auf  dem  Gebiete  der  Erkenntniss 
ebenso  bedeutend  geblieben  ist,  wie  das  18.  Jahrhundert  auf 
dem  Gebiete  des  politischen  und  socialen  Lebens.  Deutsch- 
land verdankt  diese  Erneuerung  des  wissenschaftlichen  Geistes 
seinem  grossen  Sohne  Leibniz.  Nach  den  schwersten  Zeiten, 
welche  das  Deutsche  Reich  jemals  erfahren  hat,  während  es 
schien,  als  müsste  durch  das  Elend  des  eben  beendigten 
Krieges  alles  geistige  Leben  für  lange  ertödtet  sein,  erstand 
der  Mann,  so  eigenartig,  so  viel  umfassend,  so  weit  hinaus 
über  seine  zeitgenössischen  Landsleute,  dass  überall  ein  Auf- 
schwung deutschen  Lebens  mit  ihm  beginnt  und  wir  heute 
noch  unter  den  Wirkungen  seiner  Persönlichkeit  stehen.  Es 
erscheint  mir  darum  der  Aufgabe  unserer  Feier  entsprechend, 
w^enn  ich  versuche,  Ihnen,  hochgeehrte  Herren,  wenigstens 
nach  der  Richtung,  welche  mit  meiner  Berufswissenschaft  zu- 
sammenfällt, in  Bezug  auf  die  Mathematik,  den  Entwicke- 
lungsgang  und  die  nachhaltige  Bedeutung  von  Leibniz  zu 
schildern.  Dürfen  wir  uns  dabei  doch  überdies  daran  er- 
freuen, dass  er  der  Geburt  nach  unserem  engeren  Heimat- 
lande angehört. 

Leibniz  war  26  Jahre  alt,  als  er  im  Frühling  1672  in 
Paris  eintraf;  erst  bei  dem  Aufenthalt  daselbst  gelangte  er  zu 
zusammenhängender  mathematischer  Arbeit.  Mit  Philosophie, 
Jurisprudenz  und  Politik,  aber  auch  mit  abstracten  Fragen 
aus  der  Theorie  der  Bewegung  hatte  er  sich  bis  dahin  vor- 
zugsweise beschäftigt;  denn  wiewohl  sein  Interesse  für  die 
Mathematik  frühzeitig  erwacht  war,  er  fand  während  seines 
Studiums  keine  weitere  Anregung.  Der  Vortrag  der  Com- 
mentare,  mit  denen  die  Elemente  des  Euklid  auf  der  Univer- 
sität Leipzig  mehr  verdunkelt  als  erläutert  wurden,  förderte 
ihn  wenig;  und  nur  die  Vorlesungen  des  originellen  Erhard 
Weigel  in  Jena,  bei  welchem  er  während  eines  Semesters  die 
Anfangsgründe  der  Arithmetik,  der  Analysis  und  Combina- 
tionslehre  hörte,  boten  ihm  einigen  Gewinn. 

Ueberhaupt  waren  die  mathematischen  Wissenschaften  in 
Deutschland    gerade    damals   auf  den   Universitäten   in    ent- 


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schiedenem  Rückgang  begriffen.  Zweihundert  Jahre  zuvor 
war  von  Georg  von  Peuerbach  (1423 — 1461)  in  Wien  das 
Studium  der  Arithmetik  nach  den  Compendien  der  Araber 
eingeführt  worden,  und  während  eines  Jahrhunderts  wurde 
dasselbe  mit  nachhaltigem  Erfolg  betrieben.  Johannes  Ile- 
giomontanus  (1436 — 1476),  der  grosse  Nürnberger  Gelehrte, 
und  Michael  Stifel  (1487 — 1567),  der  ehemalige  Augustiner- 
mönch und  Freund  Luthers,  stehen  am  Anfang  und  am  Aus- 
gang dieser  Epoche,  in  welcher  die  allgemeine  Arithmetik, 
d.  h.  die  Buchstabenrechnung  mit  ganzen  und  gebrochenen 
Exponenten,  die  Lehre  von  den  Proportionen  und  Progres- 
sionen, von  den  Binomialzahlen,  den  Combinationen,  und  von 
den  Gleichungen  zweiten  Grades  ausgebildet  wurde.  Als  aber 
in  Italien  die  algebraische  Lösung  der  cubischen  und  biqua- 
dratischen Gleichung  gefunden  war,  blieben  die  deutschen 
Leistungen  hinter  denen  der  italienischen  und  französischen 
Zeitgenossen  zurück.  Die  deutschen  Rechenbücher  veralteten 
und  es  zeigte  sich  jener  Hang  zu  Spielereien  mit  Zahlgebil- 
den, mit  mystischen,  arithmetischen  und  geometrischen  Figuren 
und  deren  Anwendungen,  "welcher  auch  die  mathematische 
Erstlingsschrift  von  Leibniz,  seine  Dissertation  „De  arte  com- 
binatoria"  gegenwärtig  unlesbar  macht,  ja  der  selbst  in  den 
tiefsinnigen  Werken  Kepplers  eine  merkwürdige  Rolle  spielt. 
Indem  wir  aber  Keppler  nennen,  müssen  wir  noch  der 
anderen  mathematischen  Disciplin  gedenken,  in  welcher  durch 
beharrlichen  Fleiss  dauernde  Leistungen  hervorgebracht  waren. 
Die  Astronomie,  welche  in  Deutschland  stetig  gepflegt  wurde, 
erforderte  die  Ausbildung  der  Trigonometrie,  die  Berechnung 
der  trigonometrischen  Tafeln.  Auch  hier  haben  Peuerbach 
und  Regiomontan  im  Anschluss  an  die  Ausgabe  des  Ptole- 
mäus  Almagest  den  Grund  gelegt,  und  zuerst  Sinustafeln  für 
alle  Winkel  von  Minute  zu  Minute  berechnet.  1596  erschien 
dann  das  grosse  „Opus  Palatinum  de  triangulis"  von  Georg 
Joachim  Rheticus  (1514—1576),  in  welchem  die  trigono- 
metrischen Functionen  von  zehn  zu  zehn  Sekunden  auf  zehn 
Stellen  berechnet  waren;  es  wurde  1613  durch  die  Tafeln 
von  Bartholomaeus  Pitiscus  (1561—1613)  ergänzt.   Gleich- 


zeitig  aber  hatte  in  England  Lord  Napier  (1550 — 1617)  die 
Rechnung  mit  Logarithmen  ausgebildet,  und  wie  dort  Henry 
Briggs  (1556 — 1630),  so  berechneten  in  Deutschland  meh- 
rere Astronomen,  an  ihrer  Spitze  Keppler  selbst,  mit  uner- 
müdlichem Fleiss  die  Logarithmen  der  trigonometrischen  Func- 
tionen, und  überlieferten  allen  kommenden  Zeiten  die  Grund- 
lagen zu  den  Tafeln,  wie  wir  sie  noch  heute  benutzen. 

So  gross  diese  Arbeiten  auch  waren,  es  gab  in  Deutschland 
nirgendwo  eine  eigentliche  Schule  für  die  mathematischen 
Wissenschaften,  und  als  Leibniz  in  Paris  mit  Männern  wie 
Huyghens,  den  beiden  Arnauds,  dem  Minister  Colbert  in  Be- 
ziehung trat,  als  er  die  ausgezeichnetsten  Arbeiter  in  allen 
mechanischen  Künsten  und  Gewerben  besuchte,  und  die  Schriften 
von  Cavalieri  und  Pascal  studierte,  da  musste  er  erkennen, 
wie  weit  seine  Heimat  nicht  blos  in  den  Wissenschaften,  son- 
dern auf  allen  Gebieten  der  Künste  und  Gewerbe  im  Laufe 
der  letzten  Jahrzehnte  zurückgeblieben  war  und  bekannte 
nocli  später;  „Wenn  ich,  wie  Pascal,  meine  Jugend  in  Paris 
zugebracht  hätte,  würde  ich  vielleicht  die  Wissenschaften  früher 
bereichert  haben."  ^) 

Und  doch  galt  er  bei  seinen  deutschen  Freunden  bereits 
für  ein  „Wunder",  und  gleich  zu  Anfang  versetzte  er  auch 
seine  neuen  Freunde  in  Paris  und  London,  wohin  er  auf  einige 
Monate  gegangen  war,  in  Erstaunen.  Erstaunlich  fürwahr 
muss  uns  auch  gegenwärtig  die  Persönlichkeit  des  jungen 
Leibniz  erscheinen.  Stets  auf  praktische  Ziele  ausgehend,  so 
dass  seine  Thätigkeit  in  Paris  mit  der  Construction  einer 
Rechenmaschine  für  zwölf  stell  ige  Zahlen  begann,  war  seine 
Denkweise  selbst  doch  eine  speculative;  im  höchsten  Sinne 
mathematisch  beanlagt,  verband  er  mit  der  Leichtigkeit  und 
Schärfe  der  Erfindung,  mit  der  Fähigkeit  die  abstractesten 
Fragen  tiefen  und  weiten  Blickes  zu  umfassen,  doch  ein  un- 
ermüdlich thätiges  Interesse  für  das  gesammte  Leben,  das 
religiöse,  nationale  und  gewerbliche.  Erfüllt  von  der  Kennt- 
niss  des  klassischen  Alterthums  und  der  ganzen  scholastischen 
Begriffs- Gelehrsamkeit,  hatte  er  in  einsamem  Ringen  mit  sich 
selbst  den  Bruch  mit  der  Vergangenheit  vollzogen,  und  sich 


10 

der  meclianiscben  Naturbetrach  tun  g  zugewandt,  welche  er  zu- 
erst durch  die  Schriften  von  Descartes  kennen  gelernt  hatte. 
Nach  Paris  war  er  gegangen  mit  einer  politischen  Mission 
des  Mainzer  Hofes:  er  hoffte  Deutschland  zu  retten,  indem 
er  Ludwig  XIV.  zu  einem  Eroberungszug  nach  Aegypten  zu 
bewegen  suchte;  —  seine  Projekte  scheiterten,  aber  als  er 
nach  vier  Jahren  heimkehrte,  stand  er  als  Mathematiker  eben- 
bürtig neben  Newton;  er  hatte  die  Infinitesimalrechnung  ge- 
funden. 

Diese  Entdeckung  entsprang  aus  den  neuen  geometrischen 
Problemen,  mit  denen  er  die  Mathematiker  in  Frankreich 
beschäftigt  fand.  Die  analytische  Geometrie,  welcher  Des- 
cartes die  allgemeinste  Form  gegeben  hatte,  war  dort  voll- 
ständig eingebürgert.  Ihre  umfassende  Bedeutung  liegt  darin, 
dass  sie  die  Curven  durch  eine  Gleichung  zwischen  veränder- 
lichen Grössen  definirt,  und  dass  sie  umgekehrt  jede  Abhängig- 
keit zwischen  zwei  Veränderlichen  in  dem  anschaulichen  Bilde 
einer  Curve  betrachten  lässt.  Der  Begriff  der  veränderlichen 
Grösse  ist  die  Grenzlinie,  welche  die  Mathematik  der  Alten 
von  der  neuen  scheidet.  Dadurch  erschienen  die  geometri- 
schen Aufgaben  in  neuer,  weit  allgemeinerer  Form.  Man 
suchte  die  von  den  Curven  umschlossenen  Flächen  zu  be- 
stimmen und  die  Curvenlänge  zu  messen.  Die  Methode,  nach 
welcher  Archimedes  die  Parabel  quadrirt,  den  cubischen  In- 
halt von  Cylinder-  und  Rotationsflächen  bestimmt  hatte,  war 
von  Keppler  und  Cavalieri  in  allgemeiner  Weise  formulirt 
worden.  Die  „untheilbaren  Grössen",  als  die  äussersten  Ele- 
mente, aus  denen  sich  der  Flächeninhalt  oder  das  Volumen 
zusammensetzt,  hatte  Letzterer,  wenn  auch  nicht  begrifflich 
correct,  so  doch  als  ein  richtig  leitendes  Princip  in  die  Un- 
tersuchung eingeführt.  Pascal  sowohl  als  auch  der  Englän- 
der Wallis  wandten  dasselbe  auch  bei  analytisch  definirten 
Gebilden  an,  und  ein  gleiches  Princip,  das  des  unmerklichen 
Wachsthumes,  legte  auch  Fermat  seiner  Bestimmung  der 
Maxima  und  Minima  zu  Grunde.  Neben  diesen  alten  Pro- 
blemen aber  entstanden  auch  wesentlich  neue.  Im  Jahre 
1673    veröffentlichte    Huyghens,    von    dem    schon    Leibniz 


11 

sagt,  dass  er  dem  Galilei  und  Cartesius  nicht  nachstehe,  sein 
„Horologium  oscillatorium".  Ausser  der  reichsten  Fülle  me- 
chanischer Principien  und  Resultate  enthielt  es  zum  ersten 
Mal  die  Lehre  vom  Krümmungskreise  und  der  Evolute.  Die 
Mathematiker  in  England  aber  schufen  unter  der  Führung 
Newtons  die  Theorie  der  unendlichen  Reihen.  Die  Binomial- 
reihe,  welche  dieser  gefunden  hatte,  wurde  die  Grundlage  für 
die  Untersuchung  über  die  Berechnung  der  Wurzeln  einer 
Gleichung,  und  für  die  Anwendung  der  unendlichen  Reihen 
zur  Längen-  und  Flächenbestimmung  bei  Curven. 

Es  wurde  Leibniz  nicht  schwer,  diese  Methoden  sich  an- 
zueignen und  selbstständig  zu  bearbeiten.  „Zwei  Umstände," 
sagte  er  von  sich,  „haben  mir  ausserordentlich  gedient,  ob- 
wohl sie  sonst  gefährlich  und  Vielen  schädlich  mi  sein  pflegen: 
dass  ich  Autodidakt  ivar,  und  in  eifier  jeden  Wissenschaft 
Jcaum,  dass  ich  an  sie  herangetreten.  Nettes  suchte,  da  ich  oft 
nicht  einmal  das  Gewöhnliche  hinlänglich  verstand,''^) 

Ein  grosser  Erfolg  gleich  zum  Anfang  —  etwa  im  Herbst 
des  Jahres  1674  —  spornte  ihn  mächtig  an.  Das  alte  Pro- 
blem der  Quadratur  des  Kreises  wurde  nicht  nur  auf  geome- 
trischem Wege  immer  noch  gesucht,  es  war  auch  arithmetisch 
nur  durch  unvollkommene  Näherungsmethoden  gelöst.  Wir 
wissen  gegenwärtig ,  aber  erst  •  seit  wenigen  Jahren,  dank  den 
scharfsinnigen  Arbeiten  von  Hermite  und  Lindemann,  dass 
die  geometrische  Auflösung  der  Aufgabe  mit  Zirkel  und 
Lineal  überhaupt  unmöglich  ist,  den  einfachsten  Weg  der 
exakten  analytischen  Lösung  aber  hat  Leibniz  gegeben.  Da 
beim  Kreise  die  Ordinaten  nicht  rational,  sondern  mittels 
einer  Quadratwurzel  von  den  Abscissen  abhängen,  suchte  er 
eine  Fläche  zu  construiren,  die  dem  Kreise  gleich  ist  und 
deren  Ordinaten  rationale  Functionen  der  Abscissen  sind.  Die 
Construction  dieser  Fläche  gewann  er  auf  einem  sehr  allge- 
meinen, auch  auf  alle  Kegelschnitte  leicht  anwendbaren  Wege, 
indem  er  die  Abschnitte,  welche  die  Tangenten  auf  einer 
festen  Axe  bestimmen,  die  Subtangenten  einführte.  So  setzte 
er,  wie  wir  jetzt  kurz  sagen  können,  an  Stelle  der  Function 
aresin  x   die    Function  arctang  x;    um  diese  zu   berechnen, 


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brauchte    er    nur    an    einer   geometrischen    Progression    (der 

Reihe  für  j-y — ^j   die   neue  Operation   auszuführen,   welche 

er  zuerst  einfach  eine  Summation,  später  aber  nach  dem  Vor- 
schlag von  Johann  Bernoulli  die  Integration  nannte.  Für  die 
numerische  Ausführung  solcher  Rechnung  kamen  ihm  seine 
früheren  Studien  über  Differenzen-Reihen  zu  statten,  von  denen 
schon  seine  Schrift  über  die  Combinationslehre  Zeugniss  giebt. 
Die  einfache  Integralformel 


X 


dx 

=  arctang  x 


1+^ 

o 

ist  historisch  das  Fundament  der  Integralrechnung,  und  an 
dem  Dreieck,  welches  von  der  Tangente  und  den  Coordinaten- 
axen  gebildet  wird,  trat  dem  Entdecker  im  geometrischen 
Bilde  die  Bedeutung  entgegen,  welche  das  Verhältniss  zwischen 
der  Differenz  der  Ordinate  und  der  Differenz  der  Abscissen 
gewinnt,  wenn  diese  Differenzen  unendlich  klein,  oder  wie  er 
es  nannte,  Differentiale  werden.  Mit  dem  Differential-  und 
Integralbegriff  war  gezeigt,  dass  die  zunächst  durch  die  An- 
schauung definirte,  stetig  veränderliche  Grösse  quantitativ  er- 
fasst  und  beherrscht  werden  kann.  Geometrie  und  Mechanik 
waren  nun  erst  völlig  zu  einer  Grössenlehre  geworden,  die 
den  Begriff  der  Bewegung  nicht  auszuschliessen  brauchte. 

Für  die  methodische  Ausbildung  dieser  Rechnung  mit 
stetig  veränderlichen  Grössen,  auch  für  die  zutreffenden, 
seitdem  nie  wieder  aufgegebenen  Bezeichnungen,  die  Lcib- 
niz  einführte,  war  es  von  besonderem  Vortheil,  dass  ihm  die 
Probleme  der  Integralrechnung  im  Vordergrund  standen.  Bei 
einer  algebraisch  definirten  Curve  Eigenschaften  der  Tangenten 
zu  entwickeln,  das  hatten  auch  Cartesius  und  seine  Schüler 
vermocht.  Aber  von  Aufgaben  der  umgekehrten  Art,  aus  den 
Eigenschaften  der  Tangenten  oder  Subtangenten  die  zuge- 
hörige Curve  zu  bestimmen,  hatte  jener  öffentlich  bekannt, 
dass  weder  er  sie  allgemein  zu  lösen  vermöge,  noch  dass  die 
berühmtesten  Mathematiker  von  Paris  und  Toulouse,  denen 
er  sie  vorgelegt  habe,  dazu  im  Stande  seien. 


13 

An  der  Leichtigkeit,  mit  welcher  er  alsbaW  Aufgaben 
dieser  Art  erledigte,  erkannte  Leibniz  die  Tragweite  seiner 
Methode.  So  wurde  ihm,  wie  er  erzählt,^)  von  Claudius 
Perraltus,  dem  gelehrten  Arzte  und  Polyhistor  in  Paris,  die 
noch  von  keinem  Mathematiker  gelöste  Aufgabe  gestellt: 
Welche  Bahn  beschreibt  ein  schwerer  Punkt  auf  einer  Hori- 
zontalebene, wenn  er  in  dieser  Ebene  mittels  eines  Seiles  von 
gegebener  Länge  gezogen  wird,  so  zwar,  dass  das  freie  Ende 
des  Seiles  längs  einer  Geraden  geführt  wird,  die  mit  der  an- 
fänglichen Richtung  des  Seiles  einen  spitzen  Winkel  bildet? 
Da  hier  die  Länge  der  Tangente  zwischen  dem  Berührungs- 
punkt und  dem  Schnittpunkt  auf  der  Leitlinie  constant  bleibt, 
so  ergab  sich  die  Lösung  mittels  einer  Integration.  Die  Glei- 
chung der  Curve,  der  sogenannten  Tractrix,  wurde  mit  ihren 
Eigenschaften  entwickelt,  und  sogleich  umspannte  Leibniz' 
weiter  Blick  alle  möglichen  Verallgemeinerungen  der  Aufgabe. 
Zu  jeder  beliebigen  Leitcurve  kann  eine  Tractrix  gefunden 
werden,  und  umgekehrt  lässt  sich  jede  Curve  als  Tractrix  einer 
anderen  betrachten. 

Im  vollen  Besitz  seiner  Methode  befand  sich  Leibniz 
seit  dem  Jahre  1676;  er  hat  die  Lösung  verschiedener  Auf- 
gaben, ohne  ausführliche  Erörterung  der  Rechnung  selbst,  in 
seinen  Briefen  nach  England  vom  Sommer  dieses  Jahres  an 
ausgesprochen,  als  Antwort  auf  die  reichhaltigen  Mittheilungen, 
welche  ihm  von  dort  aus  über  Newtons  und  Jacob  Gre- 
gorys Entdeckungen  auf  dem  Gebiete  der  unendlichen  Reihen 
gemacht  wurden.  Doch  konnte  er  freilich  Newton  damit  nichts 
wesentlich  neues  sagen:  seit  zehn  Jahren  bereits  hatte  dieser 
gewaltige  Geist  die  ,,Fluxionsmethode" ,  wenigstens  in  ihren 
Grundlagen  für  sich  ausgebildet  und  theilweise  schärfer  als 
Leibniz  bewiesen;  sie  war  dem  Wesen  nach  mit  der  Leibniz- 
schen  Rechnung  identisch.  Beide  Entdecker  hielten  noch 
mehrere  Jahre  mit  ausführlichen  Mittheilungen  zurück.  Erst 
im  Laufe  der  späteren  Arbeiten  stellte  sich  heraus,  dass  Leib- 
niz allgemeiner  und  darum  leichter  operiren  konnte,  dass 
seine  Bezeichnungsweise  sowohl  für  die  geometrischen,  wie  für 
die  analytischen  Aufgaben  eine  einheitlichere  und  bequemere 


14 

Handhabe  bot.  Hat  Leibniz  einen  reicheren  Schatz  allgemei- 
ner Lehrsätze  der  Integralrechnung  geliefert,  so  hat  doch 
Newton  die  grossartigste  Anwendung  derselben,  die  Theorie 
der  Planetenbewegung,  damit  geschaffen.  Es  lag  in  der  Ver- 
schiedenheit der  Naturen  begründet,  dass  jener,  weit  mehr 
Mathematiker  als  Naturforscher,  sein  Genüge  daran  fand,  die 
Möglichkeit  der  Lösung  eines  Problemes  auf  Grund  allgemeiner 
Methoden  zu  erkennen,  während  Newton's  durchdringender 
Geist  nicht  ruhte,  bis  er  das  einzelne  physikalische  oder  astro- 
nomische Phänomen  zur  genauesten  mathematischen  Darstel- 
lung gebracht  hatte. 

Seit  seiner  Anstellung  am  Hofe  zu  Hannover  als  Biblio- 
thekar und  Hofrath  hat  Leibniz  zu  anhaltenden  mathemati- 
schen Studien  niemals  mehr  Zeit  gefunden.     Denn  er  war  im 
wahren  Sinne  des  Wortes  ein  Berather  seines  Herzogs  Johann 
Friedrich   und    dessen    Nachfolger,   zumal   der   edelen    Chur- 
fürstin   Sophie.     Die    gesammte   Staatswirthschaft  und  Wohl- 
fahrt  des  Landes,   der  Bergbau  des  Harzes  und  das  Münz- 
wesen, die  politischen  Sonderinteressen  seines  Hofes  nahmen 
ihn  in  Anspruch;  und  immer  in  der  umfassenden  Weise,  dass 
er  dadurch  zu  allgemeinen  Untersuchungen  über  Geologie,  zu 
Schriften  über   die   Principien   des  Natur-  und  Völkerrechtes, 
zu  lange  fortgesetzten  Bemühungen  um  die  Vereinigung  der 
getrennten  Kirchen   veranlasst  wurde.     Eine  ausführliche  Ge- 
schichte des  deutschen  Kaiserthumes  bis  auf  Heinrich  H.  und 
eine  Specialgeschichte   des  Hauses  Braunschweig,   basirt   auf 
einer  selbstständigen  Ermittelung  und  Herausgabe  der  Quellen, 
hatte  er  zu  schreiben  begonnen,  sie  gab  ihm  Veranlassung  zu 
einer   längeren  Reise    durch  Italien    bis   nach  Rom  und  zog 
sich    durch    all    die    letzton    Jahrzehnte    seines    Lebens.     Um 
ihretwillen  besonders  musste  er,  wie  er  einem  Freunde  (1695) 
schreibt:*)  alle  mathematischen  und  philosophischen  Arbeiten 
wie  verstohlen  ausführen;  „denn  Sie  wissen,   an  den  Höfen 
sucht  und  erwartet  man  ganz  andere  Dinge.   Soviel  habe  ich 
jedoch  durch  die  Gnade  des  Fürsten  erlangt,  dass  ich  nach 
Ermessen  mich  der  Privat-Processe  enthalten  Jcann/' 

Aber  die  verstohlen  gethane  Arbeit  führt  zu  den  frucht- 


15 

barsten  Ergebnissen.  Denn  wenn  er  auch  in  seiner  Infinite- 
simalmetbode  das  mächtigste  Hülfsmittel  besass,  die  Grösse 
seines  mathematischen  Genius  zeigte  sich  überdies  in  der 
staunenswerthen  Raschheit,  mit  welcher  er,  unabhängig  von 
äusseren  Verhältnissen,  arbeiten  konnte,  sobald  irgend  eine 
Frage  ihn  erfasste. 

In  einer  Stunde  hatte  er  in  Paris  die  Lösung  der  Auf- 
gabe gefunden,  welche  von  Descartes  Jahre  hindurch  ge- 
sucht war,  und  ebenso  rasch  erledigte  er  das  von  Viviani 
gestellte,  sogenannte  Florentiner  Problem:  „Aus  einer  Halb- 
kugel vier  congruente  Oeffnungen  auszuschneiden,  so  dass  die 
nachbleibende  Fläche  gleich  einem  gegebenen  Quadrat  wird." 
Im  Wagen  zwischen  Wolfenbüttel  und  Hannover  construirte 
er  die  Linie  des  schnellsten  Falles  —  die  Brachistochrone  — 
sofort,  nachdem  er  die  Aufgabe  von  Johann  Bernoulli  erhalten 
hatte.  Heimkehrend  von  der  Audienz  bei  Peter  dem  Grossen 
in  Torgau  entwickelte  er  die  Methode  der  Differentiation 
nach  einem  Parameter  unter  dem  Integral,  durch  welche  ganz 
neue  Classen  von  Aufgaben  lösbar  wurden.  Er  selbst  empfand 
mehr  die  Kehrseite  dieser  genialen  Anlage,  wenn  er  einem 
Freunde  schrieb:^)  „Mir  gehet  es  wie  dem  Tigerthier ,  von 
dem  man  sagt,  ivas  es  nicht  im  ersten,  andern  oder  dritten 
Sprung  erreiche,  das  lasse  es  laufen." 

Den  grössten  Erfolg  mit  der  Anwendung  der  neuen  Rech- 
nungsweise errang  Leibniz  durch  die  Bestimmung  der  Ketten- 
linie. Diese  Cutwe,  welche  ein  frei  herabhängendes,  an  beiden 
Enden  aufgehängtes,,  homogenes  Seil  durch  sein  eignes  Gewicht 
bildet,  zu  finden,  war  eine  Aufgabe,  die  seit  Galilei  ungelöst 
vorlag.  Denn  dass  die  Angabe  von  Galilei,  die  Curve  sei 
eine  Parabel,  falsch  war,  hatte  man  erkannt.  Jacob  Ber- 
noulli, der  ältere  von  den  beiden  Brüdern,  die  nächst  Leibniz 
und  Newton  die  Schöpfer  der  Integralrechnung  genannt  werden 
können,  hatte  im  Jahre  1690  in  einer  Abhandlung  an  Leibniz 
die  Frage  gerichtet,  ob  sein  Calcul  die  Ermittelung  dieser 
Curve  zu  leisten  vermöge,  und  dieser  fand  alsbald  jenen  ein- 
fachen, aus  Exponentialfunctionen  zusammengesetzten  Ausdruck. 
Ohne  sein  Resultat  mitzutheilen,  stellte  er  nun  selbst  das  Problem 


16 

öffentlicli,  und  noch  vor  Ablauf  der  festgesetzten  Zeit  liefen 
zwei  Lösungen  ein.  Die  eine  derselben  stammte  von  dem 
jüngeren Bernoulli,  der  sich  inzwischen  gemeinsam  mit  seinem 
Bruder  vollständig  in  die  Integralrechnung  eingearbeitet  hatte. 
Die  andere  gab  zwar  nicht  die  explicite  Gleichung,  aber  sie 
bestimmte  unzweideutig  die  Curve  durch  ihre  Eigenschaften, 
ihre  Tangenten,  ihre  Krümmungskreise,  ihre  Evolute  und 
ihre  Fläche.  Diese  Lösung  war  ohne  directe  Anwendung  der 
Integralrechnung  gefunden,  sie  kam  von  Huyghens.  Seit 
seinem  15.  Jahre  hatte  sich  dieser  mit  der  Aufgabe  beschäf- 
tigt, jetzt  angeregt  durch  Leibniz'  Ausschreiben  hatte  er  in 
seinem  61.  Lebensjahre  die  Lösung  gefunden.  Zugleich  aber 
erkannte  er,  welch  mächtiges  Hülfsmittel  für  die  Mechanik 
die  neue  Analysis,  der  er  bis  dahin  kein  rechtes  Vertrauen 
schenken  wollte,  sein  müsse.  Während  der  letzten  5  Jahre 
seines  Lebens  hat  er  noch  mit  Eifer  dieselbe  sich  angeeignet 
trotz  aller  Schwierigkeiten,  welche  die  Schriften  von  Leibniz, 
der  nie  eine  systematisch  vollständige  Darstellung  gegeben 
hat,  zumal  bei  den  Definitionen  der  höheren  Differentiale, 
enthielten. 

Was  aber  Leibniz  zu  seinen  Entdeckungen  verhalf,  war 
keineswegs  blos  die  neue  Rechnungsart  mit  stetig  veränder- 
lichen Grössen;  als  ebenso  bedeutend  muss  der  Schritt  be- 
zeichnet werden,  den  er  that,  indem  er  die  sogenannten  ele- 
mentaren transscendenten  Functionen  in  die  Analysis  und 
Geometrie  einführte.  Er  war  sich  der  Tragw^te  dieses  Fort- 
schrittes wohl  bewusst.  Wiederholentlich  betont  er,  dass  er 
die  Schranke  niedergerissen  habe,  welche  Cartesius  zwischen 
den  „geometrischen"  und  „mechanischen",  d.  h.  nach  Leibniz' 
Bezeichnung  zwischen  den  algebraischen  und  transscendenten 
Curven  errichtet  hatte,  eine  Schranke,  die  auch  schon  durch 
die  grossen  Leistungen  Pascals  bei  den  Cycloiden  überwunden 
war.  Es  ist  das  Verdienst  von  Leibniz  und  seiner  unmittel- 
baren Schüler  Bernoulli,  dass  wir  mit  der  Exponentialfunction 
und  dem  Logarithmus,  den  trigonometrischen  und  cyclometri- 
schen  Functionen  so  geläufig  operiren  können.  Für  alles,  was 
innerhalb  der  algebraischen  und  elementartransscendenten  Func- 


17 

tionen  liegt,  hat  er,  soweit  es  ohne  complexe  Zahlen  ge- 
schehen kann,  die  Grundlagen  ausgebildet.  Es  ist,  kurz  ge- 
sagt, die  Theorie  der  mit  diesen  Functionen  lösbaren  Quadra- 
turen und  Differentialgleichungen  und  ihre  Anwendung  auf 
die  ebene  Geometrie;  seine  eigenen  Untersuchungen  gehen  bis 
an  die  Grenzen  dieses  Gebietes,  bis  zur  Reduction  und  Reihen- 
entwickelung   für    irrationale    Integrale    höheren    Geschlechts. 

Nach  Leibniz  hat  die  Analysis  zwei  wesentliche  Erwei- 
terungen erfahren,  die  sich  freilich  nicht  mehr  so  plötzlich 
und  glänzend  vollzogen,  sondern  auf  dem  Wege  allmäliger 
Entwickelung:  zuerst  die  Einführung  der  partiellen  Differen- 
tialgleichungen, und  damit  die  Ausbildung  der  Geometrie  des 
Raumes  und  der  analytischen  Mechanik;  sodann  die  Einführung 
der  complexen  Zahlen  und  damit  die  Umgestaltung  der  alge- 
braischen und  functionen-theoretischen  Probleme. 

Für  rein  geometrische  Methoden  hatte  er  weniger  Anlage. 
Nur  die  Grundlagen  der  Euklidischen  Geometrie  unterzog  er 
um  ihres  logischen  Inhaltes  willen  einer  öfteren  Prüfung.  Zu 
neuen  geometrischen  Studien  ist  er  nicht  gekommen,  wiewohl 
ihm  in  Paris  die  Hinterlassenschaft  Pascals  übergeben  war, 
und  seine  Gedanken  über  eine  Geometrie  und  Analysis  der 
Lagenbeziehungen,  im  Gegensatze  zu  der  bei  Euklid  vorwie- 
genden Grössenlehre,  sind  Bruchstücke  geblieben.  Gering  ge- 
schätzt hat  er  diese  Keime  der  jetzigen  synthetischen  Geometrie 
indessen  nicht.  „Man  kann  in  Conicis  noch  viel  ungethanes 
thun,'^  schreibt  er  in  einem  Briefe^),  f, Hätte  ich  seihst  zivanzkf 
Köpfe,  oder  vielmehr  dreissig  Freunde,  so  wollte  ich  einen,  der 
sich  auf  dergleichen  hauptsächlich  legen  tvollte,  bitten,  die 
universalia  conica  su  tractiren,  ivie  Desargues  und  Pascal  an- 
gefangen/^ 

Er  empfand  in  Deutschland  den  Mangel  an  jüngeren 
Kräften,  auf  die  er  Hoffnung  für  die  Zukunft  setzen  konnte. 
Ein  Verbal tniss  aber,  das  zu  Johann  Bernoulli,  hat  ihm 
eine  ungetrübte  Befriedigung  und  die  lebendigste  Anregung 
gewährt.  Job.  Bernoulli,  21  Jahre  jünger  als  Leibniz,  war 
diesem  seinen  Leistungen  nach  nicht  unbekannt,  als  er  sich 
im  December  1693  an  ihn  wandte,  um   seine  Fürsprache  bei 

2 


18 

dem  Herzog  von  Wolfenbüttel  zu  erbitten.  Von  da  an  hat 
die  Correspondenz  zwischen  beiden  ununterbrochen  bis  zu 
Leibniz'  Tode  23  Jahre  hindurch  gedauert;  sie  ist  in  238  Briefen 
(in  der  neuen  Ausgabe  von  Gerhard  sind  es  275)  noch  von 
BernouUi  selbst  veröffentlicht  worden.  Der  Briefwechsel  zwi- 
schen diesen  Männern,  die  sich  im  Leben  nie  gesehen  haben, 
gewährt  den  reichsten  Einblick  in  das  wissenschaftliche  und 
persönliche  Geistesleben  beider.  Bernoulli,  der  bald  darauf 
zum  Professor  in  Groningen  ernannt  wurde,  wo  er  10  Jahre 
bis  zu  seiner  Rückkehr  nach  Basel  weilte,  übertrifft  Leibniz 
in  der  exacten  Durchführung  jeder  Aufgabe,  mit  der  er  sich 
beschäftigt,  sowie  an  Präcision  der  Fragestellung  bei  mecha- 
nischen Problemen;  aber  an  Reichthum  der  Ideen,  an  Er- 
findungskraft der  Methoden  bleibt  dieser  doch  ihm  überlegen. 
Und  dabei  tritt  das  Wohlwollen,  mit  welchem  Leibniz  jeg- 
liche Persönlichkeit,  jegliche  Leistung  beurtheilte,  in  diesen 
Briefen  aufs  schönste  zu  Tage.  Versöhnend  suchte  er  in  dem 
heftig  entbrannten  Streite  zwischen  den  beiden  Brüdern  Ber- 
noulli zu  wirken,  und  niemals  wohl  hat  Leibniz  ein  ungerechtes 
und  gehässiges  Wort  über  einen  Menschen  geschrieben  und 
gesprochen.  Seine  Urtheile  über  Newton  sind  lange  noch, 
nachdem  sich  der  Prioritätsstreit  mit  den  Engländern  erhoben 
hatte,  anerkennend,  bis  ihn  zuletzt  die  Erbitterung  über  jene 
maasslosen,  seinen  Ruf  zerstörenden  Angriffe  übermannte. 

Bei  alledem  war  Leibniz  eine  unpersönliche  Natur;  in- 
timere Beziehungen  hat  er  nie  aus  eigenem  Bedürfniss  gepflegt 
und  sein  Leben  ist  bei  aller  Mannigfaltigkeit  persönlichen 
Wirkens  ein  einsames  gewesen.  Was  ihn  an  die  Menschen 
fesselte,  war  immer  nur  die  unermüdliche  Theilnahme  und 
Mitarbeit  für  das  Gemeinwohl  der  Menschheit.  Dieses  In- 
teresse überwog  in  ihm  so  sehr,  dass  seine  Weltbetrachtung 
trotz  mancher  persönlicher  Misserfolge  bis  zuletzt  eine  unge- 
trübt optimistische  blieb,  dass  er  sich  neidlos  jedes  Ver- 
dienstes freute,  und  nur  Worte  der  Anerkennung  hatte,  wenn 
der  Same,  den  er  gestreut,  von  andern  zur  Reife  gebracht 
und  geerntet  wurde,  obgleich  er  auf  äussere  persönliche  Aus- 
zeichnung oft  allzu  grossen  Werth  legte. 


19 

Es  erscheint  darum  besonders  tragisch,  dass  nicht  nur 
der  Streit  um  die  Entdeckung  der  Infinitesimalrechnung  ihm 
die  letzten  Jahre  seines  Lebens  verdüsterte;  er  musste  auch 
seinen  Hauptsatz  auf  dem  Gebiete  der  mechanischen  Principien 
unausgesetzt  gegen  Angriffe  vertheidigen. 

Wir  hatten  schon  Gelegenheit  zu  bemerken,  dass  in 
Leibniz'  speculativ- mathematischer  Denkweise  die  Anlage  zur 
exacten  Naturforschung,  zur  scharfen  experimentellen  Erfassung 
des  einzelnen  Phänomenes  zurücktrat.  Seine  Leistungen  lassen 
sich  mit  denen  von  Huyghens  und  Newton  auf  diesem  Gebiete 
nicht  messen.  Die  Trennung  zwischen  ihm  und  Newton  rührte 
im  tiefsten  Grunde  davon  her,  dass  er  für  den  Kern  der 
Newton'schen  Attractionslehre  kein  rechtes  Verständniss  hatte 
und  ihre  Bedeutung  darum  nicht  voll  zu  würdigen  wusste. 
In  bewusster,  aber  mathematisch  so  unübertrefflich  exacter 
Beschränkung  hatte  dieser  sein  weltumfassendes  Gesetz  auf- 
gestellt über  die  Beschleunigung  bewegter  Massen  in  gegen- 
seitiger Wechselwirkung,  und  seine  Wahrheit  an  den  Bewe- 
gungen des  Planetensystemes  nachgewiesen.  Leibniz  vermisste 
eine  deductive  Begründung  dieses  Gesetzes:  „Was  aus  dem 
Wesen  der  Dinge  nicht  entwickelbar  ist,''  schrieb  er  noch  in 
einem  seiner  letzten  Briefe,')  „ist  entweder  ein  Wunder  oder 
absurd." 

Seine  Ideenlehre  liess  ihn  verkennen,  dass  die  deductive 
Begriffsentwickelung  ihre  Grenzen  hat,  dass  schliesslich  be- 
stimmte Thatsachen  der  Erscheinungswelt  die  Anfänge  aller 
unserer  Theorien  bilden.  Zog  sich  doch  durch  sein  ganzes 
Leben  der  Plan  eines  einfachen  Alphabetes  der  Begriffe,  mit 
dessen  Hülfe  alle  Erfindungen  auf  rein  logischem  Wege  zu 
leisten  seien.  Eine  traumhafte,  unmögliche  Idee,  ein  unüber- 
wundener Rest  seiner  scholastischen  Logik!  Denn  nur  aus  der 
stets  erneuten,  unmittelbaren  Beobachtung  der  Natur  sind  alle 
wahrhaften  Fortschritte  gewonnen  worden,  nicht  aber  aus 
der  logischen  Combination  und  Deduction  einer  bestimmten 
Anzahl  fertiger  Begriffe. 

Gewiss  ist  es  statthaft  auch  für  die  Newton'sche  Attraction 
weitere  begründende  Thatsachen  zu  suchen;  die  Frage  nach 


20 

der  Ursaclie  des  gleichen  Drehsinnes  aller  Planetenbewegungen 
und  anderes  mehr  giebt  dazu  Anlass;  und  Newton  selbst  hat 
die  Fernewirkung  nicht  als  Erklärung,  sondern  als  Postulat 
hingestellt.  Aber  Leibniz  begann  von  vornherein  mit  den 
complicirtesten  Vorstellungen  über  Ursachen  hierzu,  ohne  sich 
über  Beschleunigung,  über  Centripetalkraft,  und  tangentialen 
Bewegungsantrieb   genugsam  Rechenschaft  gegeben  zu  haben. 

Nur  in  der  Beurtheilung  des  Kräftemaasses  leitete  ihn 
ein  praktischer,  den  Leistungen  der  Maschinen  zugewandter 
Blick  richtig.  Er  führte  die  lebendige  Kraft  ein,  die  Grösse, 
welche  der  Arbeitsleistung  äquivalent  ist.  Als  einem  Schüler 
von  Huyghens  steht  ihm  die  Unmöglichkeit  eines  Perpetuum 
mobile  oder  Erzeugung  von  Arbeit  aus  nichts  vollkommen 
fest.  Auf  diesem  Standpunkt  behauptet  er,  dass  die  Summe 
der  lebendigen  Kraft  erhalten  bleibe;  und  besass  so  eine  ge- 
wisse Vorahnung  des  Satzes  von  der  Erhaltung  der  Energie, 
soweit  dies  ohne  den  Potentialbegriff,  ohne  experimentelle 
Forschung  über  elastische  und  unelastische  Körper,  und  ohne 
das  mechanische  Wärmeäquivalent  möglich  war. 

Trotz  dieser  verhältnissmässig  kleinen  Leistungen  auf  dem 
Gebiete  physikalisch-mechanischer  Forschung  war  sein  Streben 
im  letzten  Ziele  doch  ihrem  Fortschritte  geweiht.  „Ich  wün- 
sche" schrieb  er  im  September  1691  an  Huyghens,  „wir 
Iwnnten  noch  in  diesem  Jahrhundert  die  Analysis  der  Zahlen 
und  Curven  sur  Vollendung  bringen,  tvenigstens  in  der  Haupt- 
sache, sodass  ivir  die  Menschheit  von  dieser  Sorge  befreien, 
damit  von  Stund^  an  die  ganze  Schärfe  des  menschlichen 
Geistes  sich  der  Physik  zuwende/'  Denn  dass  diese  nur  mit 
Hülfe  seiner  Entdeckungen  vorwärts  schreiten  werde,  sah  er 
voraus.  „Die  Zeit  wird  kommen,  wo  selbst  das  Feuer  sich 
dem  Joche  beugen  wird,  dem  die  übrigen  Elemente  schon 
unterworfen  sind,  und  die  Maschinen  werden  der  Rechnung 
unterliegen,  gleich  wie  Zahlen/'^) 

So  rasch  wie  er  es  hoffte  haben  sich  die  Fortschritte  in  der 
experimentellen  und  mathematischen  Forschung  nicht  vollzogen ; 
aber  als  er  einsam  in  Hannover  1716  starb,  trat  sein  Jahr- 
hundert mit  stetig  wachsendem  Erfolg  die  Erbschaft  an,  welche 


21 

er  hinterlassen,  und  die  unzerstörbar  in  ihrem  Werthe  be- 
stehen muss,  solange  es  eine  Cultur  der  Menschheit  geben 
wird. 

Der  Strom  geistigen  Lebens,  der  von  ihm  für  Deutsch- 
land ausging,  floss  zuerst  mehr  breit  als  tief.  Aber  in  allen 
Schulen,  den  mittleren  sowohl  wie  den  höheren,  ist  sein  Ein- 
Huss  bemerklich.  Auf  den  deutschen  Hochschulen  fand  die 
Infinitesimalrechnung  alsbald  ihre  Vertreter,  in  den  mittleren 
vertiefte  und  erweiterte  sich  der  mathematische  Unterricht, 
zum  Theil  mit  viel  zu  weit  gehenden  Anwendungen  auf  tech- 
nische Handfertigkeiten  und  Künste.  Damals  entstanden  die 
neuen  Realschulen,  welche  freilich  zuerst  bedenkliche  Vermi- 
schungen des  Gymnasialunterrichtes  mit  gewerblichen  Fach- 
schulen darboten.  Denn  es  erhob  sich  jene  wohlberechtigte 
Forderung  einer  zugleich  mathematisch-naturwissenschaftlichen 
Bildung,  die  gegenwärtig  noch  zu  einer  Trennung  unserer 
Mittelschulen  geführt  hat. 

Vielleicht  wird  dieser  Zwiespalt  sich  mit  der  Zeit  wenn 
auch  nicht  völlig  lösen,  so  doch  mildern.  Irre  ich  nicht,  so 
muss  sich  eine  Einigung  über  das  Maass  der  in  der  Mathematik 
und  Naturwissenschaft  zu  stellenden  Anforderungen  erzielen 
lassen.  Denn  wenn  von  der  einen  Seite  zugestanden  wird, 
dass  eine  gründliche  Vorbildung  in  diesen  Wissenschaften  für 
unsere  jetzige  Jugendbildung  und  zwar  für  jeden  höheren 
Beruf  un erlässlich  ist,  so  wird  man  andererseits  zugeben 
müssen,  dass  detaillirte  Kenntnisse  auf  dem  Gebiete  der  Na- 
turerscheinungen sich  nicht  frühzeitig  anlernen  lassen,  dass 
daher  in  der  Chemie  sowohl  wie  in  der  Physik  jede  Steige- 
rung der  Anforderungen,  die  über  die  Grundlagen  hinausgeht, 
von  Uebel  sein  würde.  Dann  wird  nicht  mehr  der  mathe- 
matisch-naturwissenschaftliche Unterricht  in  Gegensatz  zu  dem 
der  klassischen  Sprachen  gestellt  werden  können  —  der  Bil- 
dungswerth  zwischen  diesen  verschieden  gearteten  Fächern  lässt 
sich  überhaupt  nicht  abwägen,  —  sondern  es  wird  die  Frage 
die  leichter  discutirbare  Form  gewinnen:  ob  die  alten  oder  die 
neueren  Sprachen  vorzugsweise  das  historische  und  sprachliche 
Bildungselement  im  Jugendunterricht  sein  sollen. 


22 

Man  hat  Leibniz  verantwortlich  gemacht  für  die  theil- 
weise  Verflachung,  in  welche  die  Schulen  durch  die  Betonung 
des  reinen  Nützlichkeitsprincipes  geriethen,  und  man  kann 
auch  mit  einigem  Recht  dazu  seine  pädagogischen  Gelegen- 
heitsschriften anführen,  in  denen  er  diesen  Standpunkt  mit 
nackten  Worten  vertritt.  Gewiss,  auch  er  war  nicht  frei  von 
manchen  Modethorheiten  seiner  Zeit,  in  welcher  zumal  das 
höfische  Wesen  zu  einem  Unwesen  wurde;  aber  allen  seinen 
Plänen  lag  doch  stets  ein  tieferes  ethisches  Princip  zu  Grunde. 
Aus  der  politischen  und  commerciellen  Niederlage  hoffte  er 
Deutschland  zu  heben,  durch  eine  Erziehung  nicht  der  unteren 
Schichten,  sondern  der  höheren  Kreise,  vor  allem  der  Fürsten. 
Seine  pädagogischen  Schriften  haben  dies  Ziel  vor  Augen  und 
wollen  von  diesem  zunächst  politischen  Gesichtspunkt  aus  be- 
trachtet sein.  Der  Mann,  der  in  seinen  eigensten  Arbeiten 
die  abstractesten  Fragen  der  Mathematik  behandelte,  der  sich 
durch  drei  Jahrzehnte  in  die  ältesten  Quellen  der  vaterlän- 
dischen Geschichte  vertiefte,  erkannte,  dass  in  Deutschland 
eine  engere  Verbindung  von  Leben  und  Wissenschaft  herge- 
stellt werden  müsse,  und  verkündete  dies,  wie  es  leicht  ge- 
schieht, in  einer  Form,  durch  welche  die  wissenschaftliche 
Arbeit  selbst  herabgewürdigt  schien.  Wir  finden  sein  Urtheil 
mehr  als  einseitig,  wenn  ei*  die  philologische  Gelehrsamkeit 
verwirft,  „von  deren  Folianten  kaum  der  hundertste  Theil 
etwas  für  das  Leben  brauchbares  enthält,"^)  dagegen  die 
allergenaueste  Kenntniss  der  Mathematik  und  Mechanik  und 
der  ganzen  praktischen  Physik  fordert;  aber  heilsam  musste 
auch  solch  eine  Forderung  dazumal  sein,  als  die  ganze  ge- 
lehrte Jugendbildung  vorwiegend  eine  grammatikalische  war. 
Die  neuen  Realschulen,  mochten  sie  auch  zuerst  theilweise 
missglücken,  führten  doch  allmälig  zu  einer  nothwendigen 
Reform  der  Gymnasien,  und  die  Francke'sche  Schule  in  Halle 
hat  in  ihrer  Schulordnung  von  1721  bei  aller  üebertreibung 
des  Lehrplanes  in  den  mechanischen  und  physikalischen  P'ächern 
zum  ersten  Mal  den  Werth  des  mathematischen  Unterrichtes 
richtig  präcisirt.^ö)  Wir  lächeln  heute  über  Leibniz'  Denk- 
schrift  zur   Errichtung   der   Berliner  Akademie,   welche   den 


23 

Zweck  haben  solle,  „theoriam  cum  praxi  zu  vereinigen  und 
nicht  allein  die  Künste  und  Wissenschaften,  sondern  auch 
Land  und  Leute,  Feldbau  und  Manufacturen  und  Commercium 
und  mit  einem  Wort  die  Nahrungsmittel  zu  verbessern"  ^^)  und 
doch  war  dieses  ein  weit  vorgreifender  Plan  zu  einer  Zeit,  in 
welcher  es  auf  den  Universitäten  kaum  eine  andere  Natur- 
wissenschaft als  die  ersten  Anfänge  der  Medicin  und  Aristote- 
lische Classificationen  der  Naturreiche  gab,  ein  Plan,  der 
jetzt,  wenn  auch  indirect,  durch  die  ganze  wissenschaftliche 
Naturforschung  gefördert  wird. 

Das  grosse  Gebiet  der  mechanischen  und  chemischen 
Wissenschaften  in  ihrer  unmittelbareren  Beziehung  zur  Tech- 
nik hat  sich  im  Laufe  der  letzten  Jahrzehnte  seine  eigenen 
^Bildungsstätten,  die  technischen  Hochschulen,  geschaffen. 

Gegründet  auf  ein  genaues  mathematisch  -  naturwissen- 
schaftliches Studium,  sich  anschliessend  an  eine  feste,  histo- 
rische und  sprachliche  Ausbildung  sind  sie  hervorgegangen 
aus  einer  Verbindung  der  Wissenschaft  mit  dem  praktischen 
Leben,  wie  er  sie  anstrebte,  als  eine  Repräsentation  des  Geistes, 
der  durch  Leibniz  in  Deutschland  gezeugt  worden  ist. 

Was  er  als  einzelne  Persönlichkeit  darstellte,  wir  ver- 
mögen es  jetzt  nur  durch  ganze  Collegien  zum  Ausdruck  zu 
bringen.  Nur  in  der  festen  Einigung  eines  solchen  aber,  wo- 
bei jeder  mit  seiner  Arbeit  sich  nicht  von  der  Gesammtheit 
loslöst,  sondern  innerhalb  derselben  steht,  liegt  allein  die  Ge- 
währ für  erspriessliche  Leistungen.  Die  Verantwortung  für 
dieselben  wird  darum  auch  nicht  nur  von  jedem  einzelnen 
getragen,  sie  muss  ein  Anliegen  und  ein  Recht  der  gesammten 
Körperschaft  sein,  und  dieser  zu  einer  unabweislichen  Pflicht 
gemacht  werden. 

Für  die  neu  begonnene  Arbeit  dieses  Semesters  aber 
lassen  Sie  uns,  meine  Herren  Commilitonen,  noch  des  W^ahl- 
spruches  von  Leibniz  gedenken:  Am  Lehen  verliert,  tver  die 
Stunde  verdirbt!  Pars  vitae,  quoties  perditiir  hora,  perit. 
Wohl  mag  die  Betrachtung  der  Leistungen  eines  Mannes  wie 
dieses  einen  Jeden  verzagen  lassen.  Aber  die  Grösse  des 
Genius  offenbart  sich,  wenn   wir  tiefer   blicken,    in   der  Be- 


24 

harrlichkeit  des  geistigen  Strebens.  Dies  ist  ein  Ziel,  nach 
welchem  sich  ringen  lässt.  Entscheidend  für  Ihre  ganze  Zu- 
kunft wird  es  sein,  wieviel  Sie  von  solcher  Beharrlichkeit  sich 
während  Ihrer  Studienjahre  erworben  haben. 

Nur  in  dem  festen  Zusammenwirken  von  Lehrern  und 
Schülern  kann  unsere  Hochschule  die  Aufgaben  erfüllen,  welche 
ihr  in  dem  geistigen  Leben  unseres  Staates  zugewiesen  sind. 
Unser  Streben  für  das  Gedeihen  dieser  Arbeit,  unsere  Wünsche 
für  die  Wohlfahrt  des  Landes  unter  dem  glorreichen  Scepter 
unseres  Königs,  des  thatkräftigen  Beschirmers  und  Förderers 
der  Schulen,  legen  wir  hinein  in  den  freudigen  Ruf: 

„Seine  Majestät  König  Albert  lebe  hoch!'' 


Anmerkungen. 


')  Guhrauer,  Gottfried  Wilhelm  Freiherr  r.  Leibnitz.  Eine 
Biographie.     Breslau  1846.     Bd.  1.  pag.  26. 

■2)  Guhrauer,  a.  a.  0.    Bd.  1.  pag.  20. 

^)  ßupplementum  geometriae  dimensoriae'  etc.  (Act.  Erudit.  Lips. 
ann.  1693.)  L.'s  mathemat.  Schriften,  herausgegeben  von  Gerhardt. 
2.  Abth.  Bd.  1. 

*)  Brief  an  Placcius.  Guhrauer,  a.  a.  0.  Bd.  2.  pag.  116.  Des- 
gleichen schreibt  er  in  einem  Briefe  (Juli  1697)  an  Job.  Bernoulli: 
,,Mirari  non  debes  si  profundiora  Tua  non  nisi  perfunctorie  attingere 
nunc  possum,  cui  tot  alia  sunt  meditanda,  legenda,  scribenda,  agenda; 
in  Aula,  in  officio,  cum  amicis,  cum  exteris,  coram  et  per  litteras 
[quarum  ultra  300  quotannis  scribo],  imo  et  per  dissertationes,  veluti 
de  Juribus  Principum,  de  Historia  Brunswicensi ,  de  aliis  Historico- 
Politicis,  de  controversiis  religionis,  in  quibus  saepe  etiam  scriptis 
exerceor.  His  adde  inspectionem  Bibliothecae  Guelfebytanae,  Augustae, 
et  nostrae  Electoralis,  volutationem  qualemcunqüe  novorum  librorum 
et  Relationum  alicujus  momenti,  ne  sim  hospes  in  re  Publica  et  Lit- 
teraria;  curam  publicandi  scriptores  historicos  ineditos  ex  veteribus 
membranis  [quales  nunc  sub  prelo  sunt],  ubi  opus  recensione  diligenti; 
prosecutionem  Codicis  Juris  Gentium  Diplomatici,  cujus  volumen  jam 
edidi,  tum  multa  quae  quotidie  veniunt  in  mentem,  non  in  Mathesi 
tantum  sed  et  Physica,  et  Philosophia  profundiore  et  Historia  et  Jure, 
aliisque,  quae  paucis  verbis  in  schedis  consignare  soleo,  ne  pereant. 
Adde  etiam  cogitata  de  Elementis  Juris  Naturae  constituendis  longe 
aliter,  quam  vulgo  opinantur,  de  quo  subinde  meditor;  jam  enim  pro- 
misi  publice  ante  multos  annos;  sed  ita  ago,  ut  rem  conferam  cum 
Legibus  Romanis  et  usu  Fori:  sed  inprimis  molior  novam  Analysin 
multo  recepta  sublimiorem,  pro  omni  ratiocinatione  humana;  Chemica 
etiam,  Technica,  Mechanica,  in  quae  subinde  operarios  alo.  Ita  judi- 
care  potes  an  liceat  mihi  saepe  in  profundioribus  geometricis  versari. 
Ac  proinde  non  debes,  vel  indignari,  vel  verbis  durioribus  impatien- 
tiam  animi  ostendere,  quoties  non  statim  omnia  videor  die  er  e  ad  men- 
tem Tuam." 

^)  An  den  Freiherrn  v.  Bodenhausen.  Gerhardt,  a.  a.  0. 
2.  Abth.  Bd.  3.  pag.  378. 

^)  Desgleichen.     Gerhardt,  ebenda,     pag.  370. 

')  An  Joh.  Bernoulli,  Juni  1716. 


26 

^)  ,Dissertatio  exoterica  de  statu  praesenti  et  incrementis  novissi- 
mis  deque  usu  geometriae.'  Nach  einem  Manuscript  veröffentlicht  von 
Gerhardt,  2.  Abth.  Bd.  3.  pag.  316.  „Geometria  plerisque  videtur 
scientia  figurarum  tantum,  de  Lineis,  de  Triangulis,  de  Circulis,  de 
Solidis,  de  Cylindro,  Cono,  Sphaera.  Docti  vero  ita  judicant,  unam 
eandemque  esse  scientiara  illam,  quae  per  omne  rerum  genus  diffusa 
accuratas  et  in  longum  protractas  ratiocinationes  exercet  ....  Unde 
constat  Veteres  cum  Apollonium  geometrae  nomine  velut  praecipuo 
honestassent ,  omnibus  doctrinae  solidioris  laudibus  a  se  cumulatum 
credidisse:  et  hodieque  si  quem  hoc  nomine  homines  in  his  studiis 
versati  appellent,  ab  ingenio  illo  mathematico  laudare  quod  per  lon- 
ginqua  et  difficilia  non  tentandi  arte  aut  divinandi  felicitate,  sed 
quodam  animi  vigore  sibi  viam  facit  ....  Uli  prae  caeteris  apti  ad 
indagationem  veritatis,  pariter  et  inventa  vitae  utilia  in  lucem  pro- 
ducenda,  qui  combinatorio  ingenio  Studium  acre  Geometriae  et  pro- 
fundae  meditationis  aut  etiam  si  materia  postulet  experiundi  patien- 
tiam  junxere  ....  Sane  non  est  dubium,  elateres  et  sonos  et  ipsam 
musicen  geometricis  legibus  subjici,  et  artem  projiciendi  perfici  posse, 
et  tempus  venturum  quo  ignis  ipse  jugum  subibit,  quod  caetera  ele- 
menta  jam  patiuntur.  Multa  restant  dicenda  de  motu  liquidorum,  quae 
geometram  expectant,  sed  et  in  solidis  detrimenta,  quae  machinae  a 
frictione  patiuntur,  aliaque  quae  vulgo  experientiae  committuntur, 
aestimationem  ferunt,  quae  ubi  absoluta  erunt,  perfectum  de  machina- 
rum  vi  Judicium  in  nostra  potestate  erit:  nunc  enim  illud  saltem  pos- 
sumus,  ne  nimium  promittamus,  tunc  licebit  machinas  calculo  subji- 
cere  ad  instar  numerorum,  ubi  primum  experimenta  quaedam  funda- 
mentalia  diligenter  capta  erunt  ....  Duplex  est  geometriae  utilitas, 
nam  una  ad  augendas  vitae  commoditates  pertinet,  altera  in  ipsa 
mentis  perfectione  consistit.  lUam  geometrae  omnibus  communicant, 
hanc  servant  sibi,  ut  scilicet  sid  aliquod  illis  pretium  operae,  etiamsi 
nemo  gratiam  haberet." 

^)  Paulsen,  Geschichte  des  gelehrten  Unterrichts.  Leipzig,  1885. 
pag.  336. 

^^)  Mitgetheilt  bei  H  e  y  m :  ,Zur  Geschichte  des  mathematischen  und 
naturwissenschaftlichen  Unterrichtes  an  Gymnasien,  insbesondere  an  der 
Thomasschule  in  Leij)zig.'    Programm  der  Thomasschule  1872/73. 

^^)  Guhrauer,  a.  a.  0.  Bd.  2.  pag.  193. 


Druck  von  Pöschel  &  Trepte  in  Leipzig. 


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