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LEIBNIZ' BEDEUTUNG
IN DER
ESCHICHTE DER MATHEMATIK
REDE
FEIER DES GEBURTSTAGES SR. MAJESTÄT DES KÖNIGS
GEHALTEN IN DER
AULA DES POLYTECHNIKUMS ZU DRESDEN
DR AXEL HARNACK
O. PROFESSOR DER MATHEMATIK, O. MITGLIED DER K. SACHS. aESKl.r.<(_ H AI
DER \M << F. N «:( IIA I • TEX
^oH:
DRESDEN
V. ZAHN & JAENSCH
1887
H11
Vorwort.
Einen Vortrag, welcher einem besonderen Zwecke diente,
als selbstständige kleine Schrift erscheinen zu lassen, das be-
darf einer Rechtfertigung oder wenigstens des Versuches einer
solchen. Aber den wissenschaftlichen Reden, welche an den
Hochschulen bei festlichen Gelegenheiten regelmässig gehalten
werden, kommt schliesslich in ihrer Gesammtheit eine histo-
rische Bedeutung zu. Sie geben in jahrelanger Aufeinander-
folge ein Bild von den oft auch wechselnden Zielen und Auf-
fassungsweisen der wissenschaftlichen Arbeit, von den Aufgaben
des Lehrberufes innerhalb des staatlichen Lebens. Für die
einzelne Hochschule aber werden sie von selbst zu einer
eigenartig geschriebenen Geschichte ihrer inneren und äusse-
ren Entwickelung.
Denn die Beziehungen zur Gegenwart sind in solchen
Reden mehr oder minder deutlich stets vorhanden, und diese
würden ihre Aufgabe verfehlen, wenn sie dieselben absicht-
lich vermeiden wollten. Dass ich bei der vorliegenden direkt
einige der Fragen berührt habe, von deren richtiger Lösung
das Gedeihen der technischen Schulen und der höheren Schu-
len überhaupt abhängt, darin liegt für mich ein zweiter Grund,
das gesprochene Wort durch die Schrift zu fixiren. Möge
dieselbe trotz der kurzen Form der Bemerkungen erkennen
lassen, dass ich mich bemüht habe, ein ürtheil „sine ira et
cum studio'^ zu gewinnen.
Dresden, im Juni 1887.
Ax. H.
Aber über diese besonderen Beziehungen zum Staate hin-
aus weist uns die heutige Feier auf den Zusammenhang, in
welchem unsere Arbeit — auch die abstracteste und schein-
bar entlegenste — mit der Entwickelung unseres gesammten
öffentlichen Lebens steht. Für die technischen Hochschulen
zwar ist es in gewissem Sinn kaum noth wendig, diesen Zu-
sammenhang erst noch besonders zu betonen. Es sind gerade
50 Jahre, dass die erste grössere Eisenbahn in Deutschland,
ein Theil der Strecke Leipzig -Dresden, dem öffentlichen Be-
trieb übergeben wurde, und derselbe, verhältnissmässig so
kurze Zeitraum, in welchem sich der Verkehr zwischen allen
continentalen und überseeischen Ländern neu gestaltete, umfasst
zugleich die Geschichte unserer Schulen. Ursprünglich kleine
Gewerbschulen, wie das praktische Bedürfniss sie forderte,
erhoben sie sich rasch zu ihrer gegenwärtigen Grösse, als
Industrie und Handel geradezu eine neue Weltcultur schufen.
Man hat ihnen diese Art der Entwickelung, diese Abhängig-
keit von den praktischen Bedürfnissen des Tages zum Vor-
wurf gemacht; und wer wollte es leugnen, dass dieselbe
manche Gefahren birgt, dass in der systematischen Gliede-
rung unseres Lehrstoffes noch vieles unfertig ist. Und doch
wäre es im höchsten Grade kurzsichtig, wollte man hieraus
den Schluss ziehen, dass die Technik in ihrem wissenschaft-
lichen Ausbau gehemmt wird, dass die Schulung, welche sie
dem Geiste verleiht, eine einseitige, bloss auf den äusseren
Nutzen gerichtete sei. Denn nicht Handel und Industrie haben
die Technik geschaffen, sie sind vielmehr durch dieselbe zu
ihrer mächtigen Ausdehnung gediehen, durch welche sie för-
dernd auch auf rein theoretische Untersuchungen zurückwirken.
Die technischen Wissenschaften selbst aber sind aus der mathe-
matisch-physikalischen und aus der chemischen Naturforschung
hervorgegangen.
So erkennen wir auch, wenn wir tiefer auf die Entwicke-
lung der Wissenschaften eingehen, dass die eigentlichen Keime
unserer Schulen viel weiter zurück liegen, in jenem grossen
mathematischen Zeitalter, in welchem Galilei und Huy-
ghens, Newton und Leibniz die Grundlagen der jetzigen
Mathematik und Naturtbrschung schufen, in jenem Zeitalter,
welches für unsere Cultur auf dem Gebiete der Erkenntniss
ebenso bedeutend geblieben ist, wie das 18. Jahrhundert auf
dem Gebiete des politischen und socialen Lebens. Deutsch-
land verdankt diese Erneuerung des wissenschaftlichen Geistes
seinem grossen Sohne Leibniz. Nach den schwersten Zeiten,
welche das Deutsche Reich jemals erfahren hat, während es
schien, als müsste durch das Elend des eben beendigten
Krieges alles geistige Leben für lange ertödtet sein, erstand
der Mann, so eigenartig, so viel umfassend, so weit hinaus
über seine zeitgenössischen Landsleute, dass überall ein Auf-
schwung deutschen Lebens mit ihm beginnt und wir heute
noch unter den Wirkungen seiner Persönlichkeit stehen. Es
erscheint mir darum der Aufgabe unserer Feier entsprechend,
w^enn ich versuche, Ihnen, hochgeehrte Herren, wenigstens
nach der Richtung, welche mit meiner Berufswissenschaft zu-
sammenfällt, in Bezug auf die Mathematik, den Entwicke-
lungsgang und die nachhaltige Bedeutung von Leibniz zu
schildern. Dürfen wir uns dabei doch überdies daran er-
freuen, dass er der Geburt nach unserem engeren Heimat-
lande angehört.
Leibniz war 26 Jahre alt, als er im Frühling 1672 in
Paris eintraf; erst bei dem Aufenthalt daselbst gelangte er zu
zusammenhängender mathematischer Arbeit. Mit Philosophie,
Jurisprudenz und Politik, aber auch mit abstracten Fragen
aus der Theorie der Bewegung hatte er sich bis dahin vor-
zugsweise beschäftigt; denn wiewohl sein Interesse für die
Mathematik frühzeitig erwacht war, er fand während seines
Studiums keine weitere Anregung. Der Vortrag der Com-
mentare, mit denen die Elemente des Euklid auf der Univer-
sität Leipzig mehr verdunkelt als erläutert wurden, förderte
ihn wenig; und nur die Vorlesungen des originellen Erhard
Weigel in Jena, bei welchem er während eines Semesters die
Anfangsgründe der Arithmetik, der Analysis und Combina-
tionslehre hörte, boten ihm einigen Gewinn.
Ueberhaupt waren die mathematischen Wissenschaften in
Deutschland gerade damals auf den Universitäten in ent-
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schiedenem Rückgang begriffen. Zweihundert Jahre zuvor
war von Georg von Peuerbach (1423 — 1461) in Wien das
Studium der Arithmetik nach den Compendien der Araber
eingeführt worden, und während eines Jahrhunderts wurde
dasselbe mit nachhaltigem Erfolg betrieben. Johannes Ile-
giomontanus (1436 — 1476), der grosse Nürnberger Gelehrte,
und Michael Stifel (1487 — 1567), der ehemalige Augustiner-
mönch und Freund Luthers, stehen am Anfang und am Aus-
gang dieser Epoche, in welcher die allgemeine Arithmetik,
d. h. die Buchstabenrechnung mit ganzen und gebrochenen
Exponenten, die Lehre von den Proportionen und Progres-
sionen, von den Binomialzahlen, den Combinationen, und von
den Gleichungen zweiten Grades ausgebildet wurde. Als aber
in Italien die algebraische Lösung der cubischen und biqua-
dratischen Gleichung gefunden war, blieben die deutschen
Leistungen hinter denen der italienischen und französischen
Zeitgenossen zurück. Die deutschen Rechenbücher veralteten
und es zeigte sich jener Hang zu Spielereien mit Zahlgebil-
den, mit mystischen, arithmetischen und geometrischen Figuren
und deren Anwendungen, "welcher auch die mathematische
Erstlingsschrift von Leibniz, seine Dissertation „De arte com-
binatoria" gegenwärtig unlesbar macht, ja der selbst in den
tiefsinnigen Werken Kepplers eine merkwürdige Rolle spielt.
Indem wir aber Keppler nennen, müssen wir noch der
anderen mathematischen Disciplin gedenken, in welcher durch
beharrlichen Fleiss dauernde Leistungen hervorgebracht waren.
Die Astronomie, welche in Deutschland stetig gepflegt wurde,
erforderte die Ausbildung der Trigonometrie, die Berechnung
der trigonometrischen Tafeln. Auch hier haben Peuerbach
und Regiomontan im Anschluss an die Ausgabe des Ptole-
mäus Almagest den Grund gelegt, und zuerst Sinustafeln für
alle Winkel von Minute zu Minute berechnet. 1596 erschien
dann das grosse „Opus Palatinum de triangulis" von Georg
Joachim Rheticus (1514—1576), in welchem die trigono-
metrischen Functionen von zehn zu zehn Sekunden auf zehn
Stellen berechnet waren; es wurde 1613 durch die Tafeln
von Bartholomaeus Pitiscus (1561—1613) ergänzt. Gleich-
zeitig aber hatte in England Lord Napier (1550 — 1617) die
Rechnung mit Logarithmen ausgebildet, und wie dort Henry
Briggs (1556 — 1630), so berechneten in Deutschland meh-
rere Astronomen, an ihrer Spitze Keppler selbst, mit uner-
müdlichem Fleiss die Logarithmen der trigonometrischen Func-
tionen, und überlieferten allen kommenden Zeiten die Grund-
lagen zu den Tafeln, wie wir sie noch heute benutzen.
So gross diese Arbeiten auch waren, es gab in Deutschland
nirgendwo eine eigentliche Schule für die mathematischen
Wissenschaften, und als Leibniz in Paris mit Männern wie
Huyghens, den beiden Arnauds, dem Minister Colbert in Be-
ziehung trat, als er die ausgezeichnetsten Arbeiter in allen
mechanischen Künsten und Gewerben besuchte, und die Schriften
von Cavalieri und Pascal studierte, da musste er erkennen,
wie weit seine Heimat nicht blos in den Wissenschaften, son-
dern auf allen Gebieten der Künste und Gewerbe im Laufe
der letzten Jahrzehnte zurückgeblieben war und bekannte
nocli später; „Wenn ich, wie Pascal, meine Jugend in Paris
zugebracht hätte, würde ich vielleicht die Wissenschaften früher
bereichert haben." ^)
Und doch galt er bei seinen deutschen Freunden bereits
für ein „Wunder", und gleich zu Anfang versetzte er auch
seine neuen Freunde in Paris und London, wohin er auf einige
Monate gegangen war, in Erstaunen. Erstaunlich fürwahr
muss uns auch gegenwärtig die Persönlichkeit des jungen
Leibniz erscheinen. Stets auf praktische Ziele ausgehend, so
dass seine Thätigkeit in Paris mit der Construction einer
Rechenmaschine für zwölf stell ige Zahlen begann, war seine
Denkweise selbst doch eine speculative; im höchsten Sinne
mathematisch beanlagt, verband er mit der Leichtigkeit und
Schärfe der Erfindung, mit der Fähigkeit die abstractesten
Fragen tiefen und weiten Blickes zu umfassen, doch ein un-
ermüdlich thätiges Interesse für das gesammte Leben, das
religiöse, nationale und gewerbliche. Erfüllt von der Kennt-
niss des klassischen Alterthums und der ganzen scholastischen
Begriffs- Gelehrsamkeit, hatte er in einsamem Ringen mit sich
selbst den Bruch mit der Vergangenheit vollzogen, und sich
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der meclianiscben Naturbetrach tun g zugewandt, welche er zu-
erst durch die Schriften von Descartes kennen gelernt hatte.
Nach Paris war er gegangen mit einer politischen Mission
des Mainzer Hofes: er hoffte Deutschland zu retten, indem
er Ludwig XIV. zu einem Eroberungszug nach Aegypten zu
bewegen suchte; — seine Projekte scheiterten, aber als er
nach vier Jahren heimkehrte, stand er als Mathematiker eben-
bürtig neben Newton; er hatte die Infinitesimalrechnung ge-
funden.
Diese Entdeckung entsprang aus den neuen geometrischen
Problemen, mit denen er die Mathematiker in Frankreich
beschäftigt fand. Die analytische Geometrie, welcher Des-
cartes die allgemeinste Form gegeben hatte, war dort voll-
ständig eingebürgert. Ihre umfassende Bedeutung liegt darin,
dass sie die Curven durch eine Gleichung zwischen veränder-
lichen Grössen definirt, und dass sie umgekehrt jede Abhängig-
keit zwischen zwei Veränderlichen in dem anschaulichen Bilde
einer Curve betrachten lässt. Der Begriff der veränderlichen
Grösse ist die Grenzlinie, welche die Mathematik der Alten
von der neuen scheidet. Dadurch erschienen die geometri-
schen Aufgaben in neuer, weit allgemeinerer Form. Man
suchte die von den Curven umschlossenen Flächen zu be-
stimmen und die Curvenlänge zu messen. Die Methode, nach
welcher Archimedes die Parabel quadrirt, den cubischen In-
halt von Cylinder- und Rotationsflächen bestimmt hatte, war
von Keppler und Cavalieri in allgemeiner Weise formulirt
worden. Die „untheilbaren Grössen", als die äussersten Ele-
mente, aus denen sich der Flächeninhalt oder das Volumen
zusammensetzt, hatte Letzterer, wenn auch nicht begrifflich
correct, so doch als ein richtig leitendes Princip in die Un-
tersuchung eingeführt. Pascal sowohl als auch der Englän-
der Wallis wandten dasselbe auch bei analytisch definirten
Gebilden an, und ein gleiches Princip, das des unmerklichen
Wachsthumes, legte auch Fermat seiner Bestimmung der
Maxima und Minima zu Grunde. Neben diesen alten Pro-
blemen aber entstanden auch wesentlich neue. Im Jahre
1673 veröffentlichte Huyghens, von dem schon Leibniz
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sagt, dass er dem Galilei und Cartesius nicht nachstehe, sein
„Horologium oscillatorium". Ausser der reichsten Fülle me-
chanischer Principien und Resultate enthielt es zum ersten
Mal die Lehre vom Krümmungskreise und der Evolute. Die
Mathematiker in England aber schufen unter der Führung
Newtons die Theorie der unendlichen Reihen. Die Binomial-
reihe, welche dieser gefunden hatte, wurde die Grundlage für
die Untersuchung über die Berechnung der Wurzeln einer
Gleichung, und für die Anwendung der unendlichen Reihen
zur Längen- und Flächenbestimmung bei Curven.
Es wurde Leibniz nicht schwer, diese Methoden sich an-
zueignen und selbstständig zu bearbeiten. „Zwei Umstände,"
sagte er von sich, „haben mir ausserordentlich gedient, ob-
wohl sie sonst gefährlich und Vielen schädlich mi sein pflegen:
dass ich Autodidakt ivar, und in eifier jeden Wissenschaft
Jcaum, dass ich an sie herangetreten. Nettes suchte, da ich oft
nicht einmal das Gewöhnliche hinlänglich verstand,''^)
Ein grosser Erfolg gleich zum Anfang — etwa im Herbst
des Jahres 1674 — spornte ihn mächtig an. Das alte Pro-
blem der Quadratur des Kreises wurde nicht nur auf geome-
trischem Wege immer noch gesucht, es war auch arithmetisch
nur durch unvollkommene Näherungsmethoden gelöst. Wir
wissen gegenwärtig , aber erst • seit wenigen Jahren, dank den
scharfsinnigen Arbeiten von Hermite und Lindemann, dass
die geometrische Auflösung der Aufgabe mit Zirkel und
Lineal überhaupt unmöglich ist, den einfachsten Weg der
exakten analytischen Lösung aber hat Leibniz gegeben. Da
beim Kreise die Ordinaten nicht rational, sondern mittels
einer Quadratwurzel von den Abscissen abhängen, suchte er
eine Fläche zu construiren, die dem Kreise gleich ist und
deren Ordinaten rationale Functionen der Abscissen sind. Die
Construction dieser Fläche gewann er auf einem sehr allge-
meinen, auch auf alle Kegelschnitte leicht anwendbaren Wege,
indem er die Abschnitte, welche die Tangenten auf einer
festen Axe bestimmen, die Subtangenten einführte. So setzte
er, wie wir jetzt kurz sagen können, an Stelle der Function
aresin x die Function arctang x; um diese zu berechnen,
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brauchte er nur an einer geometrischen Progression (der
Reihe für j-y — ^j die neue Operation auszuführen, welche
er zuerst einfach eine Summation, später aber nach dem Vor-
schlag von Johann Bernoulli die Integration nannte. Für die
numerische Ausführung solcher Rechnung kamen ihm seine
früheren Studien über Differenzen-Reihen zu statten, von denen
schon seine Schrift über die Combinationslehre Zeugniss giebt.
Die einfache Integralformel
X
dx
= arctang x
1+^
o
ist historisch das Fundament der Integralrechnung, und an
dem Dreieck, welches von der Tangente und den Coordinaten-
axen gebildet wird, trat dem Entdecker im geometrischen
Bilde die Bedeutung entgegen, welche das Verhältniss zwischen
der Differenz der Ordinate und der Differenz der Abscissen
gewinnt, wenn diese Differenzen unendlich klein, oder wie er
es nannte, Differentiale werden. Mit dem Differential- und
Integralbegriff war gezeigt, dass die zunächst durch die An-
schauung definirte, stetig veränderliche Grösse quantitativ er-
fasst und beherrscht werden kann. Geometrie und Mechanik
waren nun erst völlig zu einer Grössenlehre geworden, die
den Begriff der Bewegung nicht auszuschliessen brauchte.
Für die methodische Ausbildung dieser Rechnung mit
stetig veränderlichen Grössen, auch für die zutreffenden,
seitdem nie wieder aufgegebenen Bezeichnungen, die Lcib-
niz einführte, war es von besonderem Vortheil, dass ihm die
Probleme der Integralrechnung im Vordergrund standen. Bei
einer algebraisch definirten Curve Eigenschaften der Tangenten
zu entwickeln, das hatten auch Cartesius und seine Schüler
vermocht. Aber von Aufgaben der umgekehrten Art, aus den
Eigenschaften der Tangenten oder Subtangenten die zuge-
hörige Curve zu bestimmen, hatte jener öffentlich bekannt,
dass weder er sie allgemein zu lösen vermöge, noch dass die
berühmtesten Mathematiker von Paris und Toulouse, denen
er sie vorgelegt habe, dazu im Stande seien.
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An der Leichtigkeit, mit welcher er alsbaW Aufgaben
dieser Art erledigte, erkannte Leibniz die Tragweite seiner
Methode. So wurde ihm, wie er erzählt,^) von Claudius
Perraltus, dem gelehrten Arzte und Polyhistor in Paris, die
noch von keinem Mathematiker gelöste Aufgabe gestellt:
Welche Bahn beschreibt ein schwerer Punkt auf einer Hori-
zontalebene, wenn er in dieser Ebene mittels eines Seiles von
gegebener Länge gezogen wird, so zwar, dass das freie Ende
des Seiles längs einer Geraden geführt wird, die mit der an-
fänglichen Richtung des Seiles einen spitzen Winkel bildet?
Da hier die Länge der Tangente zwischen dem Berührungs-
punkt und dem Schnittpunkt auf der Leitlinie constant bleibt,
so ergab sich die Lösung mittels einer Integration. Die Glei-
chung der Curve, der sogenannten Tractrix, wurde mit ihren
Eigenschaften entwickelt, und sogleich umspannte Leibniz'
weiter Blick alle möglichen Verallgemeinerungen der Aufgabe.
Zu jeder beliebigen Leitcurve kann eine Tractrix gefunden
werden, und umgekehrt lässt sich jede Curve als Tractrix einer
anderen betrachten.
Im vollen Besitz seiner Methode befand sich Leibniz
seit dem Jahre 1676; er hat die Lösung verschiedener Auf-
gaben, ohne ausführliche Erörterung der Rechnung selbst, in
seinen Briefen nach England vom Sommer dieses Jahres an
ausgesprochen, als Antwort auf die reichhaltigen Mittheilungen,
welche ihm von dort aus über Newtons und Jacob Gre-
gorys Entdeckungen auf dem Gebiete der unendlichen Reihen
gemacht wurden. Doch konnte er freilich Newton damit nichts
wesentlich neues sagen: seit zehn Jahren bereits hatte dieser
gewaltige Geist die ,,Fluxionsmethode" , wenigstens in ihren
Grundlagen für sich ausgebildet und theilweise schärfer als
Leibniz bewiesen; sie war dem Wesen nach mit der Leibniz-
schen Rechnung identisch. Beide Entdecker hielten noch
mehrere Jahre mit ausführlichen Mittheilungen zurück. Erst
im Laufe der späteren Arbeiten stellte sich heraus, dass Leib-
niz allgemeiner und darum leichter operiren konnte, dass
seine Bezeichnungsweise sowohl für die geometrischen, wie für
die analytischen Aufgaben eine einheitlichere und bequemere
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Handhabe bot. Hat Leibniz einen reicheren Schatz allgemei-
ner Lehrsätze der Integralrechnung geliefert, so hat doch
Newton die grossartigste Anwendung derselben, die Theorie
der Planetenbewegung, damit geschaffen. Es lag in der Ver-
schiedenheit der Naturen begründet, dass jener, weit mehr
Mathematiker als Naturforscher, sein Genüge daran fand, die
Möglichkeit der Lösung eines Problemes auf Grund allgemeiner
Methoden zu erkennen, während Newton's durchdringender
Geist nicht ruhte, bis er das einzelne physikalische oder astro-
nomische Phänomen zur genauesten mathematischen Darstel-
lung gebracht hatte.
Seit seiner Anstellung am Hofe zu Hannover als Biblio-
thekar und Hofrath hat Leibniz zu anhaltenden mathemati-
schen Studien niemals mehr Zeit gefunden. Denn er war im
wahren Sinne des Wortes ein Berather seines Herzogs Johann
Friedrich und dessen Nachfolger, zumal der edelen Chur-
fürstin Sophie. Die gesammte Staatswirthschaft und Wohl-
fahrt des Landes, der Bergbau des Harzes und das Münz-
wesen, die politischen Sonderinteressen seines Hofes nahmen
ihn in Anspruch; und immer in der umfassenden Weise, dass
er dadurch zu allgemeinen Untersuchungen über Geologie, zu
Schriften über die Principien des Natur- und Völkerrechtes,
zu lange fortgesetzten Bemühungen um die Vereinigung der
getrennten Kirchen veranlasst wurde. Eine ausführliche Ge-
schichte des deutschen Kaiserthumes bis auf Heinrich H. und
eine Specialgeschichte des Hauses Braunschweig, basirt auf
einer selbstständigen Ermittelung und Herausgabe der Quellen,
hatte er zu schreiben begonnen, sie gab ihm Veranlassung zu
einer längeren Reise durch Italien bis nach Rom und zog
sich durch all die letzton Jahrzehnte seines Lebens. Um
ihretwillen besonders musste er, wie er einem Freunde (1695)
schreibt:*) alle mathematischen und philosophischen Arbeiten
wie verstohlen ausführen; „denn Sie wissen, an den Höfen
sucht und erwartet man ganz andere Dinge. Soviel habe ich
jedoch durch die Gnade des Fürsten erlangt, dass ich nach
Ermessen mich der Privat-Processe enthalten Jcann/'
Aber die verstohlen gethane Arbeit führt zu den frucht-
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barsten Ergebnissen. Denn wenn er auch in seiner Infinite-
simalmetbode das mächtigste Hülfsmittel besass, die Grösse
seines mathematischen Genius zeigte sich überdies in der
staunenswerthen Raschheit, mit welcher er, unabhängig von
äusseren Verhältnissen, arbeiten konnte, sobald irgend eine
Frage ihn erfasste.
In einer Stunde hatte er in Paris die Lösung der Auf-
gabe gefunden, welche von Descartes Jahre hindurch ge-
sucht war, und ebenso rasch erledigte er das von Viviani
gestellte, sogenannte Florentiner Problem: „Aus einer Halb-
kugel vier congruente Oeffnungen auszuschneiden, so dass die
nachbleibende Fläche gleich einem gegebenen Quadrat wird."
Im Wagen zwischen Wolfenbüttel und Hannover construirte
er die Linie des schnellsten Falles — die Brachistochrone —
sofort, nachdem er die Aufgabe von Johann Bernoulli erhalten
hatte. Heimkehrend von der Audienz bei Peter dem Grossen
in Torgau entwickelte er die Methode der Differentiation
nach einem Parameter unter dem Integral, durch welche ganz
neue Classen von Aufgaben lösbar wurden. Er selbst empfand
mehr die Kehrseite dieser genialen Anlage, wenn er einem
Freunde schrieb:^) „Mir gehet es wie dem Tigerthier , von
dem man sagt, ivas es nicht im ersten, andern oder dritten
Sprung erreiche, das lasse es laufen."
Den grössten Erfolg mit der Anwendung der neuen Rech-
nungsweise errang Leibniz durch die Bestimmung der Ketten-
linie. Diese Cutwe, welche ein frei herabhängendes, an beiden
Enden aufgehängtes,, homogenes Seil durch sein eignes Gewicht
bildet, zu finden, war eine Aufgabe, die seit Galilei ungelöst
vorlag. Denn dass die Angabe von Galilei, die Curve sei
eine Parabel, falsch war, hatte man erkannt. Jacob Ber-
noulli, der ältere von den beiden Brüdern, die nächst Leibniz
und Newton die Schöpfer der Integralrechnung genannt werden
können, hatte im Jahre 1690 in einer Abhandlung an Leibniz
die Frage gerichtet, ob sein Calcul die Ermittelung dieser
Curve zu leisten vermöge, und dieser fand alsbald jenen ein-
fachen, aus Exponentialfunctionen zusammengesetzten Ausdruck.
Ohne sein Resultat mitzutheilen, stellte er nun selbst das Problem
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öffentlicli, und noch vor Ablauf der festgesetzten Zeit liefen
zwei Lösungen ein. Die eine derselben stammte von dem
jüngeren Bernoulli, der sich inzwischen gemeinsam mit seinem
Bruder vollständig in die Integralrechnung eingearbeitet hatte.
Die andere gab zwar nicht die explicite Gleichung, aber sie
bestimmte unzweideutig die Curve durch ihre Eigenschaften,
ihre Tangenten, ihre Krümmungskreise, ihre Evolute und
ihre Fläche. Diese Lösung war ohne directe Anwendung der
Integralrechnung gefunden, sie kam von Huyghens. Seit
seinem 15. Jahre hatte sich dieser mit der Aufgabe beschäf-
tigt, jetzt angeregt durch Leibniz' Ausschreiben hatte er in
seinem 61. Lebensjahre die Lösung gefunden. Zugleich aber
erkannte er, welch mächtiges Hülfsmittel für die Mechanik
die neue Analysis, der er bis dahin kein rechtes Vertrauen
schenken wollte, sein müsse. Während der letzten 5 Jahre
seines Lebens hat er noch mit Eifer dieselbe sich angeeignet
trotz aller Schwierigkeiten, welche die Schriften von Leibniz,
der nie eine systematisch vollständige Darstellung gegeben
hat, zumal bei den Definitionen der höheren Differentiale,
enthielten.
Was aber Leibniz zu seinen Entdeckungen verhalf, war
keineswegs blos die neue Rechnungsart mit stetig veränder-
lichen Grössen; als ebenso bedeutend muss der Schritt be-
zeichnet werden, den er that, indem er die sogenannten ele-
mentaren transscendenten Functionen in die Analysis und
Geometrie einführte. Er war sich der Tragw^te dieses Fort-
schrittes wohl bewusst. Wiederholentlich betont er, dass er
die Schranke niedergerissen habe, welche Cartesius zwischen
den „geometrischen" und „mechanischen", d. h. nach Leibniz'
Bezeichnung zwischen den algebraischen und transscendenten
Curven errichtet hatte, eine Schranke, die auch schon durch
die grossen Leistungen Pascals bei den Cycloiden überwunden
war. Es ist das Verdienst von Leibniz und seiner unmittel-
baren Schüler Bernoulli, dass wir mit der Exponentialfunction
und dem Logarithmus, den trigonometrischen und cyclometri-
schen Functionen so geläufig operiren können. Für alles, was
innerhalb der algebraischen und elementartransscendenten Func-
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tionen liegt, hat er, soweit es ohne complexe Zahlen ge-
schehen kann, die Grundlagen ausgebildet. Es ist, kurz ge-
sagt, die Theorie der mit diesen Functionen lösbaren Quadra-
turen und Differentialgleichungen und ihre Anwendung auf
die ebene Geometrie; seine eigenen Untersuchungen gehen bis
an die Grenzen dieses Gebietes, bis zur Reduction und Reihen-
entwickelung für irrationale Integrale höheren Geschlechts.
Nach Leibniz hat die Analysis zwei wesentliche Erwei-
terungen erfahren, die sich freilich nicht mehr so plötzlich
und glänzend vollzogen, sondern auf dem Wege allmäliger
Entwickelung: zuerst die Einführung der partiellen Differen-
tialgleichungen, und damit die Ausbildung der Geometrie des
Raumes und der analytischen Mechanik; sodann die Einführung
der complexen Zahlen und damit die Umgestaltung der alge-
braischen und functionen-theoretischen Probleme.
Für rein geometrische Methoden hatte er weniger Anlage.
Nur die Grundlagen der Euklidischen Geometrie unterzog er
um ihres logischen Inhaltes willen einer öfteren Prüfung. Zu
neuen geometrischen Studien ist er nicht gekommen, wiewohl
ihm in Paris die Hinterlassenschaft Pascals übergeben war,
und seine Gedanken über eine Geometrie und Analysis der
Lagenbeziehungen, im Gegensatze zu der bei Euklid vorwie-
genden Grössenlehre, sind Bruchstücke geblieben. Gering ge-
schätzt hat er diese Keime der jetzigen synthetischen Geometrie
indessen nicht. „Man kann in Conicis noch viel ungethanes
thun,'^ schreibt er in einem Briefe^), f, Hätte ich seihst zivanzkf
Köpfe, oder vielmehr dreissig Freunde, so wollte ich einen, der
sich auf dergleichen hauptsächlich legen tvollte, bitten, die
universalia conica su tractiren, ivie Desargues und Pascal an-
gefangen/^
Er empfand in Deutschland den Mangel an jüngeren
Kräften, auf die er Hoffnung für die Zukunft setzen konnte.
Ein Verbal tniss aber, das zu Johann Bernoulli, hat ihm
eine ungetrübte Befriedigung und die lebendigste Anregung
gewährt. Job. Bernoulli, 21 Jahre jünger als Leibniz, war
diesem seinen Leistungen nach nicht unbekannt, als er sich
im December 1693 an ihn wandte, um seine Fürsprache bei
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dem Herzog von Wolfenbüttel zu erbitten. Von da an hat
die Correspondenz zwischen beiden ununterbrochen bis zu
Leibniz' Tode 23 Jahre hindurch gedauert; sie ist in 238 Briefen
(in der neuen Ausgabe von Gerhard sind es 275) noch von
BernouUi selbst veröffentlicht worden. Der Briefwechsel zwi-
schen diesen Männern, die sich im Leben nie gesehen haben,
gewährt den reichsten Einblick in das wissenschaftliche und
persönliche Geistesleben beider. Bernoulli, der bald darauf
zum Professor in Groningen ernannt wurde, wo er 10 Jahre
bis zu seiner Rückkehr nach Basel weilte, übertrifft Leibniz
in der exacten Durchführung jeder Aufgabe, mit der er sich
beschäftigt, sowie an Präcision der Fragestellung bei mecha-
nischen Problemen; aber an Reichthum der Ideen, an Er-
findungskraft der Methoden bleibt dieser doch ihm überlegen.
Und dabei tritt das Wohlwollen, mit welchem Leibniz jeg-
liche Persönlichkeit, jegliche Leistung beurtheilte, in diesen
Briefen aufs schönste zu Tage. Versöhnend suchte er in dem
heftig entbrannten Streite zwischen den beiden Brüdern Ber-
noulli zu wirken, und niemals wohl hat Leibniz ein ungerechtes
und gehässiges Wort über einen Menschen geschrieben und
gesprochen. Seine Urtheile über Newton sind lange noch,
nachdem sich der Prioritätsstreit mit den Engländern erhoben
hatte, anerkennend, bis ihn zuletzt die Erbitterung über jene
maasslosen, seinen Ruf zerstörenden Angriffe übermannte.
Bei alledem war Leibniz eine unpersönliche Natur; in-
timere Beziehungen hat er nie aus eigenem Bedürfniss gepflegt
und sein Leben ist bei aller Mannigfaltigkeit persönlichen
Wirkens ein einsames gewesen. Was ihn an die Menschen
fesselte, war immer nur die unermüdliche Theilnahme und
Mitarbeit für das Gemeinwohl der Menschheit. Dieses In-
teresse überwog in ihm so sehr, dass seine Weltbetrachtung
trotz mancher persönlicher Misserfolge bis zuletzt eine unge-
trübt optimistische blieb, dass er sich neidlos jedes Ver-
dienstes freute, und nur Worte der Anerkennung hatte, wenn
der Same, den er gestreut, von andern zur Reife gebracht
und geerntet wurde, obgleich er auf äussere persönliche Aus-
zeichnung oft allzu grossen Werth legte.
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Es erscheint darum besonders tragisch, dass nicht nur
der Streit um die Entdeckung der Infinitesimalrechnung ihm
die letzten Jahre seines Lebens verdüsterte; er musste auch
seinen Hauptsatz auf dem Gebiete der mechanischen Principien
unausgesetzt gegen Angriffe vertheidigen.
Wir hatten schon Gelegenheit zu bemerken, dass in
Leibniz' speculativ- mathematischer Denkweise die Anlage zur
exacten Naturforschung, zur scharfen experimentellen Erfassung
des einzelnen Phänomenes zurücktrat. Seine Leistungen lassen
sich mit denen von Huyghens und Newton auf diesem Gebiete
nicht messen. Die Trennung zwischen ihm und Newton rührte
im tiefsten Grunde davon her, dass er für den Kern der
Newton'schen Attractionslehre kein rechtes Verständniss hatte
und ihre Bedeutung darum nicht voll zu würdigen wusste.
In bewusster, aber mathematisch so unübertrefflich exacter
Beschränkung hatte dieser sein weltumfassendes Gesetz auf-
gestellt über die Beschleunigung bewegter Massen in gegen-
seitiger Wechselwirkung, und seine Wahrheit an den Bewe-
gungen des Planetensystemes nachgewiesen. Leibniz vermisste
eine deductive Begründung dieses Gesetzes: „Was aus dem
Wesen der Dinge nicht entwickelbar ist,'' schrieb er noch in
einem seiner letzten Briefe,') „ist entweder ein Wunder oder
absurd."
Seine Ideenlehre liess ihn verkennen, dass die deductive
Begriffsentwickelung ihre Grenzen hat, dass schliesslich be-
stimmte Thatsachen der Erscheinungswelt die Anfänge aller
unserer Theorien bilden. Zog sich doch durch sein ganzes
Leben der Plan eines einfachen Alphabetes der Begriffe, mit
dessen Hülfe alle Erfindungen auf rein logischem Wege zu
leisten seien. Eine traumhafte, unmögliche Idee, ein unüber-
wundener Rest seiner scholastischen Logik! Denn nur aus der
stets erneuten, unmittelbaren Beobachtung der Natur sind alle
wahrhaften Fortschritte gewonnen worden, nicht aber aus
der logischen Combination und Deduction einer bestimmten
Anzahl fertiger Begriffe.
Gewiss ist es statthaft auch für die Newton'sche Attraction
weitere begründende Thatsachen zu suchen; die Frage nach
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der Ursaclie des gleichen Drehsinnes aller Planetenbewegungen
und anderes mehr giebt dazu Anlass; und Newton selbst hat
die Fernewirkung nicht als Erklärung, sondern als Postulat
hingestellt. Aber Leibniz begann von vornherein mit den
complicirtesten Vorstellungen über Ursachen hierzu, ohne sich
über Beschleunigung, über Centripetalkraft, und tangentialen
Bewegungsantrieb genugsam Rechenschaft gegeben zu haben.
Nur in der Beurtheilung des Kräftemaasses leitete ihn
ein praktischer, den Leistungen der Maschinen zugewandter
Blick richtig. Er führte die lebendige Kraft ein, die Grösse,
welche der Arbeitsleistung äquivalent ist. Als einem Schüler
von Huyghens steht ihm die Unmöglichkeit eines Perpetuum
mobile oder Erzeugung von Arbeit aus nichts vollkommen
fest. Auf diesem Standpunkt behauptet er, dass die Summe
der lebendigen Kraft erhalten bleibe; und besass so eine ge-
wisse Vorahnung des Satzes von der Erhaltung der Energie,
soweit dies ohne den Potentialbegriff, ohne experimentelle
Forschung über elastische und unelastische Körper, und ohne
das mechanische Wärmeäquivalent möglich war.
Trotz dieser verhältnissmässig kleinen Leistungen auf dem
Gebiete physikalisch-mechanischer Forschung war sein Streben
im letzten Ziele doch ihrem Fortschritte geweiht. „Ich wün-
sche" schrieb er im September 1691 an Huyghens, „wir
Iwnnten noch in diesem Jahrhundert die Analysis der Zahlen
und Curven sur Vollendung bringen, tvenigstens in der Haupt-
sache, sodass ivir die Menschheit von dieser Sorge befreien,
damit von Stund^ an die ganze Schärfe des menschlichen
Geistes sich der Physik zuwende/' Denn dass diese nur mit
Hülfe seiner Entdeckungen vorwärts schreiten werde, sah er
voraus. „Die Zeit wird kommen, wo selbst das Feuer sich
dem Joche beugen wird, dem die übrigen Elemente schon
unterworfen sind, und die Maschinen werden der Rechnung
unterliegen, gleich wie Zahlen/'^)
So rasch wie er es hoffte haben sich die Fortschritte in der
experimentellen und mathematischen Forschung nicht vollzogen ;
aber als er einsam in Hannover 1716 starb, trat sein Jahr-
hundert mit stetig wachsendem Erfolg die Erbschaft an, welche
21
er hinterlassen, und die unzerstörbar in ihrem Werthe be-
stehen muss, solange es eine Cultur der Menschheit geben
wird.
Der Strom geistigen Lebens, der von ihm für Deutsch-
land ausging, floss zuerst mehr breit als tief. Aber in allen
Schulen, den mittleren sowohl wie den höheren, ist sein Ein-
Huss bemerklich. Auf den deutschen Hochschulen fand die
Infinitesimalrechnung alsbald ihre Vertreter, in den mittleren
vertiefte und erweiterte sich der mathematische Unterricht,
zum Theil mit viel zu weit gehenden Anwendungen auf tech-
nische Handfertigkeiten und Künste. Damals entstanden die
neuen Realschulen, welche freilich zuerst bedenkliche Vermi-
schungen des Gymnasialunterrichtes mit gewerblichen Fach-
schulen darboten. Denn es erhob sich jene wohlberechtigte
Forderung einer zugleich mathematisch-naturwissenschaftlichen
Bildung, die gegenwärtig noch zu einer Trennung unserer
Mittelschulen geführt hat.
Vielleicht wird dieser Zwiespalt sich mit der Zeit wenn
auch nicht völlig lösen, so doch mildern. Irre ich nicht, so
muss sich eine Einigung über das Maass der in der Mathematik
und Naturwissenschaft zu stellenden Anforderungen erzielen
lassen. Denn wenn von der einen Seite zugestanden wird,
dass eine gründliche Vorbildung in diesen Wissenschaften für
unsere jetzige Jugendbildung und zwar für jeden höheren
Beruf un erlässlich ist, so wird man andererseits zugeben
müssen, dass detaillirte Kenntnisse auf dem Gebiete der Na-
turerscheinungen sich nicht frühzeitig anlernen lassen, dass
daher in der Chemie sowohl wie in der Physik jede Steige-
rung der Anforderungen, die über die Grundlagen hinausgeht,
von Uebel sein würde. Dann wird nicht mehr der mathe-
matisch-naturwissenschaftliche Unterricht in Gegensatz zu dem
der klassischen Sprachen gestellt werden können — der Bil-
dungswerth zwischen diesen verschieden gearteten Fächern lässt
sich überhaupt nicht abwägen, — sondern es wird die Frage
die leichter discutirbare Form gewinnen: ob die alten oder die
neueren Sprachen vorzugsweise das historische und sprachliche
Bildungselement im Jugendunterricht sein sollen.
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Man hat Leibniz verantwortlich gemacht für die theil-
weise Verflachung, in welche die Schulen durch die Betonung
des reinen Nützlichkeitsprincipes geriethen, und man kann
auch mit einigem Recht dazu seine pädagogischen Gelegen-
heitsschriften anführen, in denen er diesen Standpunkt mit
nackten Worten vertritt. Gewiss, auch er war nicht frei von
manchen Modethorheiten seiner Zeit, in welcher zumal das
höfische Wesen zu einem Unwesen wurde; aber allen seinen
Plänen lag doch stets ein tieferes ethisches Princip zu Grunde.
Aus der politischen und commerciellen Niederlage hoffte er
Deutschland zu heben, durch eine Erziehung nicht der unteren
Schichten, sondern der höheren Kreise, vor allem der Fürsten.
Seine pädagogischen Schriften haben dies Ziel vor Augen und
wollen von diesem zunächst politischen Gesichtspunkt aus be-
trachtet sein. Der Mann, der in seinen eigensten Arbeiten
die abstractesten Fragen der Mathematik behandelte, der sich
durch drei Jahrzehnte in die ältesten Quellen der vaterlän-
dischen Geschichte vertiefte, erkannte, dass in Deutschland
eine engere Verbindung von Leben und Wissenschaft herge-
stellt werden müsse, und verkündete dies, wie es leicht ge-
schieht, in einer Form, durch welche die wissenschaftliche
Arbeit selbst herabgewürdigt schien. Wir finden sein Urtheil
mehr als einseitig, wenn ei* die philologische Gelehrsamkeit
verwirft, „von deren Folianten kaum der hundertste Theil
etwas für das Leben brauchbares enthält,"^) dagegen die
allergenaueste Kenntniss der Mathematik und Mechanik und
der ganzen praktischen Physik fordert; aber heilsam musste
auch solch eine Forderung dazumal sein, als die ganze ge-
lehrte Jugendbildung vorwiegend eine grammatikalische war.
Die neuen Realschulen, mochten sie auch zuerst theilweise
missglücken, führten doch allmälig zu einer nothwendigen
Reform der Gymnasien, und die Francke'sche Schule in Halle
hat in ihrer Schulordnung von 1721 bei aller üebertreibung
des Lehrplanes in den mechanischen und physikalischen P'ächern
zum ersten Mal den Werth des mathematischen Unterrichtes
richtig präcisirt.^ö) Wir lächeln heute über Leibniz' Denk-
schrift zur Errichtung der Berliner Akademie, welche den
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Zweck haben solle, „theoriam cum praxi zu vereinigen und
nicht allein die Künste und Wissenschaften, sondern auch
Land und Leute, Feldbau und Manufacturen und Commercium
und mit einem Wort die Nahrungsmittel zu verbessern" ^^) und
doch war dieses ein weit vorgreifender Plan zu einer Zeit, in
welcher es auf den Universitäten kaum eine andere Natur-
wissenschaft als die ersten Anfänge der Medicin und Aristote-
lische Classificationen der Naturreiche gab, ein Plan, der
jetzt, wenn auch indirect, durch die ganze wissenschaftliche
Naturforschung gefördert wird.
Das grosse Gebiet der mechanischen und chemischen
Wissenschaften in ihrer unmittelbareren Beziehung zur Tech-
nik hat sich im Laufe der letzten Jahrzehnte seine eigenen
^Bildungsstätten, die technischen Hochschulen, geschaffen.
Gegründet auf ein genaues mathematisch - naturwissen-
schaftliches Studium, sich anschliessend an eine feste, histo-
rische und sprachliche Ausbildung sind sie hervorgegangen
aus einer Verbindung der Wissenschaft mit dem praktischen
Leben, wie er sie anstrebte, als eine Repräsentation des Geistes,
der durch Leibniz in Deutschland gezeugt worden ist.
Was er als einzelne Persönlichkeit darstellte, wir ver-
mögen es jetzt nur durch ganze Collegien zum Ausdruck zu
bringen. Nur in der festen Einigung eines solchen aber, wo-
bei jeder mit seiner Arbeit sich nicht von der Gesammtheit
loslöst, sondern innerhalb derselben steht, liegt allein die Ge-
währ für erspriessliche Leistungen. Die Verantwortung für
dieselben wird darum auch nicht nur von jedem einzelnen
getragen, sie muss ein Anliegen und ein Recht der gesammten
Körperschaft sein, und dieser zu einer unabweislichen Pflicht
gemacht werden.
Für die neu begonnene Arbeit dieses Semesters aber
lassen Sie uns, meine Herren Commilitonen, noch des W^ahl-
spruches von Leibniz gedenken: Am Lehen verliert, tver die
Stunde verdirbt! Pars vitae, quoties perditiir hora, perit.
Wohl mag die Betrachtung der Leistungen eines Mannes wie
dieses einen Jeden verzagen lassen. Aber die Grösse des
Genius offenbart sich, wenn wir tiefer blicken, in der Be-
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harrlichkeit des geistigen Strebens. Dies ist ein Ziel, nach
welchem sich ringen lässt. Entscheidend für Ihre ganze Zu-
kunft wird es sein, wieviel Sie von solcher Beharrlichkeit sich
während Ihrer Studienjahre erworben haben.
Nur in dem festen Zusammenwirken von Lehrern und
Schülern kann unsere Hochschule die Aufgaben erfüllen, welche
ihr in dem geistigen Leben unseres Staates zugewiesen sind.
Unser Streben für das Gedeihen dieser Arbeit, unsere Wünsche
für die Wohlfahrt des Landes unter dem glorreichen Scepter
unseres Königs, des thatkräftigen Beschirmers und Förderers
der Schulen, legen wir hinein in den freudigen Ruf:
„Seine Majestät König Albert lebe hoch!''
Anmerkungen.
') Guhrauer, Gottfried Wilhelm Freiherr r. Leibnitz. Eine
Biographie. Breslau 1846. Bd. 1. pag. 26.
■2) Guhrauer, a. a. 0. Bd. 1. pag. 20.
^) ßupplementum geometriae dimensoriae' etc. (Act. Erudit. Lips.
ann. 1693.) L.'s mathemat. Schriften, herausgegeben von Gerhardt.
2. Abth. Bd. 1.
*) Brief an Placcius. Guhrauer, a. a. 0. Bd. 2. pag. 116. Des-
gleichen schreibt er in einem Briefe (Juli 1697) an Job. Bernoulli:
,,Mirari non debes si profundiora Tua non nisi perfunctorie attingere
nunc possum, cui tot alia sunt meditanda, legenda, scribenda, agenda;
in Aula, in officio, cum amicis, cum exteris, coram et per litteras
[quarum ultra 300 quotannis scribo], imo et per dissertationes, veluti
de Juribus Principum, de Historia Brunswicensi , de aliis Historico-
Politicis, de controversiis religionis, in quibus saepe etiam scriptis
exerceor. His adde inspectionem Bibliothecae Guelfebytanae, Augustae,
et nostrae Electoralis, volutationem qualemcunqüe novorum librorum
et Relationum alicujus momenti, ne sim hospes in re Publica et Lit-
teraria; curam publicandi scriptores historicos ineditos ex veteribus
membranis [quales nunc sub prelo sunt], ubi opus recensione diligenti;
prosecutionem Codicis Juris Gentium Diplomatici, cujus volumen jam
edidi, tum multa quae quotidie veniunt in mentem, non in Mathesi
tantum sed et Physica, et Philosophia profundiore et Historia et Jure,
aliisque, quae paucis verbis in schedis consignare soleo, ne pereant.
Adde etiam cogitata de Elementis Juris Naturae constituendis longe
aliter, quam vulgo opinantur, de quo subinde meditor; jam enim pro-
misi publice ante multos annos; sed ita ago, ut rem conferam cum
Legibus Romanis et usu Fori: sed inprimis molior novam Analysin
multo recepta sublimiorem, pro omni ratiocinatione humana; Chemica
etiam, Technica, Mechanica, in quae subinde operarios alo. Ita judi-
care potes an liceat mihi saepe in profundioribus geometricis versari.
Ac proinde non debes, vel indignari, vel verbis durioribus impatien-
tiam animi ostendere, quoties non statim omnia videor die er e ad men-
tem Tuam."
^) An den Freiherrn v. Bodenhausen. Gerhardt, a. a. 0.
2. Abth. Bd. 3. pag. 378.
^) Desgleichen. Gerhardt, ebenda, pag. 370.
') An Joh. Bernoulli, Juni 1716.
26
^) ,Dissertatio exoterica de statu praesenti et incrementis novissi-
mis deque usu geometriae.' Nach einem Manuscript veröffentlicht von
Gerhardt, 2. Abth. Bd. 3. pag. 316. „Geometria plerisque videtur
scientia figurarum tantum, de Lineis, de Triangulis, de Circulis, de
Solidis, de Cylindro, Cono, Sphaera. Docti vero ita judicant, unam
eandemque esse scientiara illam, quae per omne rerum genus diffusa
accuratas et in longum protractas ratiocinationes exercet .... Unde
constat Veteres cum Apollonium geometrae nomine velut praecipuo
honestassent , omnibus doctrinae solidioris laudibus a se cumulatum
credidisse: et hodieque si quem hoc nomine homines in his studiis
versati appellent, ab ingenio illo mathematico laudare quod per lon-
ginqua et difficilia non tentandi arte aut divinandi felicitate, sed
quodam animi vigore sibi viam facit .... Uli prae caeteris apti ad
indagationem veritatis, pariter et inventa vitae utilia in lucem pro-
ducenda, qui combinatorio ingenio Studium acre Geometriae et pro-
fundae meditationis aut etiam si materia postulet experiundi patien-
tiam junxere .... Sane non est dubium, elateres et sonos et ipsam
musicen geometricis legibus subjici, et artem projiciendi perfici posse,
et tempus venturum quo ignis ipse jugum subibit, quod caetera ele-
menta jam patiuntur. Multa restant dicenda de motu liquidorum, quae
geometram expectant, sed et in solidis detrimenta, quae machinae a
frictione patiuntur, aliaque quae vulgo experientiae committuntur,
aestimationem ferunt, quae ubi absoluta erunt, perfectum de machina-
rum vi Judicium in nostra potestate erit: nunc enim illud saltem pos-
sumus, ne nimium promittamus, tunc licebit machinas calculo subji-
cere ad instar numerorum, ubi primum experimenta quaedam funda-
mentalia diligenter capta erunt .... Duplex est geometriae utilitas,
nam una ad augendas vitae commoditates pertinet, altera in ipsa
mentis perfectione consistit. lUam geometrae omnibus communicant,
hanc servant sibi, ut scilicet sid aliquod illis pretium operae, etiamsi
nemo gratiam haberet."
^) Paulsen, Geschichte des gelehrten Unterrichts. Leipzig, 1885.
pag. 336.
^^) Mitgetheilt bei H e y m : ,Zur Geschichte des mathematischen und
naturwissenschaftlichen Unterrichtes an Gymnasien, insbesondere an der
Thomasschule in Leij)zig.' Programm der Thomasschule 1872/73.
^^) Guhrauer, a. a. 0. Bd. 2. pag. 193.
Druck von Pöschel & Trepte in Leipzig.
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