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Sihanis,
1817
er SCIENTIA VERITAS
£Quife von Frangoig
SGefammelte Werte in fünf Bänden
Zweiter Band
Frau Erdmutheng
3willingsfühne
Bon
Louife von Frangois
Im Anfel-Berlag zu Leipzig
338
F825
IS18
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2
2321 Erfter Abſchnitt
Was paßt, das muß ſich ränden,
Was ſich verfteht, fich finden,
Was gut iſt, fih verbinden,
Was liebt, beifammenfein.
Ä Rovalis.
ein Vater ftand in dem Amte, das ich heute noch
befleide, wie denn auch fein Bater und Großvater,
das heißt unfere gefamte Gefchlechtsfolge, bie ſich die-
felbe in den Wirren der Religionskriege verliert, in dem
nämlichen Amte geftanden hatten.
Ein derartiges Pfarrerbe war in vielen ritterfchaftlichen
Patronatspfründen meiner fächfifchen Heimat, wennirgend
tunlich, Obfervanz. Der Pfarrfohn erhielt durch Ver⸗
mittlung des Gutsherrn in einer der drei Klofterfchulen
des Kurfürftentumsd ein Alumnat; er bezog auf einer der
beiden Randesuniverfitäten ein Stipendium, dad der
Patron oder einer feiner Sippe zu gewähren hatte, feßte
ſich allda befcheidentlicd, an einen Freitifch im Konvikt,
begleitete darauf feinen Sunfer, wenn ed einen gab, auf
hohe Schulen und Reifen, trat ald Subftitut feinem
Bater zur Seite und wurde, oft erft bei ergrauendem
Haar, deflen Nachfolger, fobald die Mutter das enge
Witwenhaus der Kommune bezog.
Alſo war ed auch in der Familie der Bleibtreu die
Ordnung gemefen, und, wie mid) duͤnkt, zum Segen aller
drei: ded Dominiums, der Gemeinde und der Pfarrei.
Wo nad) Gefeg und Sitte die beiden erften unwandel⸗
bar an eine Scholle gebunden waren, follte auch die
dritte nicht das Neft eined Wandervogeld fein. Einer
gab dem anderen gleidyfam einen Faden in die Sand,
an welchem er in ererbter Liebe weiterfpann. Und weil
RR. 1.
7-29-55 ME
6 Frau Erdmuthens Zwillingefähne
— — — —
auch ich dieſe heimatliche Liebe in meinem Lebenserbe
empfangen hatte, darum habe ich mich nie einen Augen⸗
blick aus jenem Heidewinkel herausgeſehnt, deſſen wei:
terer Umkreis unter den deutſchen Gauen am wenigſten
eines gedeihlichen oder gar reizenden Rufes genoß.
Habt ihr etwa auf einer Reiſe von Dresden oder Leip⸗
zig nach Berlin das rechte Elbufer betreten, ſo wandert
ihr meilenweit in dem muͤrriſchen Schweigen des Kiefern⸗
waldes, der alldort Heide heißt. Muͤhſam ſchleppen ſich
die Fuͤße durch eine bodenloſe Sandſchicht, mit braunen,
toten Nadeln uͤberſtreut; in gleicher Höhe ragen die urs
alten Stämme, von weißgrauen Flechten überzogen; die
ſchwaͤrzlichen Kronen verbreiten einen mißmütigen Däms
mer, im Winter ohne Licht und im Sommer ohne Schat⸗
ten; die Fahlen Reifigäfte neigen fi zu Boden wie Ges
rippenarme. Da ift fein Hügel, kein Unterholz, fein
Wechfel der Farbe und Geſtalt, faum dann und wann
in einer Lichtung ein duͤrftiger Birkenbuſch; felten ein
Wäfferchen, das eine ſchmale Moos⸗ oder Rafenfchicht
beriefelt; da findet ihr dem Auge feine Labe und Feine
dem lechzenden Gaumen ald die herbe blaue oder rote
Heidelbeere.
Wo aber von Zeit zu Zeit der Menfch mit Art und
Spaten dieſe Eindde durchbrochen hat, da ftoßt ihr auf
dürren Sandader, mit faum fußhohen, einzeln ftehenden
Halmen ded Haferd oder Buchweizens beftellt; zwifchens
durch auch wohl auf ein überftaubtes Kartoffels oder
Nübenfeld. Himmel und Erde, Natur und Kultur, alles
grau in grau. Endlich auch ein Dorf oder Fleden mit
halbverfaulten Strohdächern über den von Lehm zus
jammengeflitfchten Hütten, mit ftehenden Pfügen und
Erfter Abfchnitt 1
mageren Dunghaufen vor jeder Tür; zwifchen wandel⸗
baren Planfen klapperduͤrres Weide: und Zugvieh, hart
arbeitend gleich dem Menfchenfchlag, der von Gefchlecht
zu Geſchlecht in fauerem Schweiße ſich pladt, das Fleck⸗
chen Erde, auf welches die Ungunft ded Himmels ihn
gefegt hat, den Nachfahren um kaum ein Werkliches
wohnlicher und nährender zu hinterlaflen.
So der Wanderer, und nicht der grieögrämlichfte feiner
Art, wenn er zur Zeit, da ich jung war, auf der noͤrd⸗
lihen Grenzmark bed Kurfürftentums gleichfam das
Fußgeftell der berüchtigten Sandbüchfe des heiligen
römifchen Reiches deutfcher Nation betrat. Wie anders
aber wir, die wir fie Heimat nannten! Feierlich ges
ftimmt, wie die Bewohner am nordifchen Dünenftrand,
empfanden wir ein Ewiges in diefem unüberfehbaren,
ernften Einerlei, und wenn die Windsbraut durch die
Kiefernwipfel rafte, uralte Baumriefen fällte wie dürre
Splitter, da beugten wir und vor der Gewalt der götts
lihen Natur und haben die Hand bed Meifters in diefer
feiner rauhen Wertitatt nimmer vermißt.
Dann aber die Föftlichen Stunden, in welchen auch
unfer Simmel und unfere Landfchaft Tächelten, wie
danfbar genoffen wir fie juft, weil wir fie zählen konn⸗
ten. Sa, heute, nach länger als einem halben Sahrhuns
dert, fpüre ich noch den Wonnefchauer, der mich übers
riefelte, al8 ich nach der erften Fangen Abwefenheit wieder
meine Heide betrat. Auf einem Fleckchen Erde, das
von Natur ein gefegneter Garten it, war ich vom
Knaben zum Iüngling geworden, der Geift getränft
mit Bildern aus einer hefperifchen Götter: und Menfchen»
welt. Nun raufchte mein Wald im Abendwehen; das
8 Frau Erdinuthens Bwillingsföhne
Summen der Snfeltenfhwärme Fang mir wie Muſik,
ich ſchluͤrfte die würzigen Harzduͤnſte, ald wären es
Drangenbüfte, und die Sonne, deren Ießte Strahlen
farminrot durch die fchlanfen Schäfte gligerten, oben
die weißen Flechten verfilbernd, unten die braunen Na-
dein übergoldend — vor der Dichtergruft am Pofilipp
würde fie mir nicht glorreicher gefunfen fein.
Und wie die Heide nun immer mehr und mehr in
unferen Forft überging; wie die Droffelfchwärme, für
den Winterzug gefammelt, fi in den Wipfeln zur
Nachtraft niederließen, Hirfche und Rehe mich munter
umfprangen, wie endlich, vom Erlenbach durchficert, die
MWaldwiefe fich öffnete, die meinen Ort im Halbkreis
umrahmt, wie der fpiße Kirchturm, das Schieferdach des
Edelhofed auftauchten und endlich dad alte, gute Mond-
geficht diefe Fleine Welt mit ftillem Glanze überzauberte:
da jubelte ich wie das Kind vorm heiligen Chrift und
hätte Heide und Sandfeld, famt jeglicher dürren und
ſchmutzigen Kreatur, die auf ihr weidet und wandelt,
an mein Herz drüden mögen.
Der Ort, deffen Kirchturm ich ragen fah, heute fich
ftolz eine Stadt titulierend, damals war er ein Fleden,
will fagen nicht mehr, fondern weniger ale ein Dorf,
in welchem ſich eine anfäffige Bauernfchaft gefammelt
hat. Mühfam erholt von der Verwuͤſtung der Religions⸗
friege in den beiden früheren Sahrhunderten, hatte der
der fieben Sahre jüngft von neuem die befcheidene Wohl-
fahrt zerftört. Das weitläufige Areal, großenteils Forft,
eignete faft ohne Ausnahme dem Gutsherrn; die Be⸗
wohner waren Fröner ded Hofes, denen faum eine
Handbreit Scholle für den eigenen Nutzen übrig blieb.
Erfter Abſchnitt 3
Neben dieſen Armlingen hockte und hungerte von Vater
auf Sohn eine Weberanſiedlung, deren Grundſtock, wie
ſchon der Name des Ortes und einiger ſeiner Nachbarn
andeuten, auf eine flamlaͤndiſche Einwanderung zur ſaͤch⸗
ſiſch-askaniſchen Zeit zuruͤckgefuͤhrt worden iſt. Der
zuchtloſe Kriegszuſtand hatte dem Forſtfrevel Tor und
Tuͤr geoͤffnet, waͤhrend die Fridericianiſche Regie zum
Schmuggel uͤber die nahe preußiſche Grenze verlockte.
Wie ein Maͤrtyrer kaͤmpfte mein Vater gegen dieſe ſitt⸗
liche Verwilderung; denn nichts iſt dem Volke ſchwerer
begreiflich zu machen, als daß Betrug gegen den Staat
Suͤnde iſt ſo gut wie der gegen einen einzelnen Menſchen.
Die Pfarrſtelle, heute die reichſte der Ephorie, war
ſchon damals auskoͤmmlich dotiert und wuͤrde auch in
jenen boͤſen Zeiten die Verſorgung einer zahlreichen Fa⸗
milie geſtattet haben. Wir waren ihrer acht; eines je
um einen Jahrgang juͤnger als das andere. Aber ein
paar zehrende Maͤulchen werden in einer laͤndlichen
Wirtſchaft nicht allzuſcharf gezaͤhlt, zumal wenn, wie
bei uns, die beiden Hauptſtuͤcke haͤuslicher Ordnung
durch verſchiedene Betonung ſich gedeihlich ergaͤnzen.
Denn mahnte der fromme Herr Vater: „Bete!“, klein⸗
laut hinzuſetzend: „und arbeite“, ſo heiſchte die fleißige
Frau Mutter: „Arbeite!“, und das „Bete“ lallte nur
ſo eben hinterdrein.
Weil aber der fromme Vater ein Mann, dem das ſelige
Geben eine Naturnotwendigkeit war, ein Genuß, den
herrlicherweiſe dad Wort ſeines Meiſters zum Geſetz er-
hoben hatte, und weil er nach Gottes Willen als Pfarr⸗
herr in einer Gemeinde ſtand, die der handgreiflichen
Beweiſe fuͤr ſeine barmherzigen Lehren bedurfte, darum
10 Frau Erdmuthens Iwillingsfähne
famen wir wohl aus von Tag zu Tag, aber zu einer
Sparbüchfe für die Zufunft fonnte ed die praftifche
Pfarrmutter nicht bringen. „Jedwede Lage ift eine Bes
rufung zu unferem Heil und anderer Dienft”; es vers
ging fein Tag, an weldem, in Freude oder Leid, ung
diefer vaͤterliche Wahlfpruch nicht ind Gedächtnis ges
rufen worden wäre.
Ich war der Ältefte von den achten und in einer Aus⸗
nahmsöftellung, deren Vorzüge ich mir fonder Scham ge-
fallen ließ, wie die jüngeren fie fonder Neid gewährten,
denn nicht der Perfon, dem vorbeftimmten geiftlichen
Erben famen fie zugute. Mir folgten vier Schweltern;
ein eines brüderliches Dreiblatt: Gottlieb, Gottlob,
Gotthold ſchloß die Reihe. Sch hieß Gottfried, wie der
Bater, und mir allein wurde der unverfürzte Namens:
lang zuteil, während die anderen, Zeiterfparnie halber,
ſich die fchöne Anfangsfilbe ftreichen laſſen mußten.
Für mich allein wurde der abgetragene väterliche Kafı-
mir und Manchefter kunſtgerecht aufgeftugt, mir allein
von Mein auf das Haar in ein Zöpfchen zufammengefloch-
ten: alle anderen ſchor die mütterliche Hand rattenfahl
und hüllte fie in hausmachenden Drell von naturalifti-
(her Form und Farbe. Sie ftanden unter der Zucht
der Mutter und in der Lehre des Schulmeifterg; ihre
Zufunft war eine Werfftatt, ein Pachthof, dag Seminar
und nur gelegentlicdy, durchaus nicht obligatorifch, ein
Alumnat und Plak im Konvift. Die Pflichten des Seel-
forgerd und die Studien des Gotteögelehrten ließen dem
Bater nicht die Muße, fich der Heranbildung feiner
jugendlichen Herde zu widmen.
Für den Erben im Amte dahingegen durften, ja mußten
Erſter Abſchnitt 5
diefe Studien und Pflichten um reichliche Tagesftunden
verkürzt werden. Mein Lehrer von der Fibel ab war
der teure Dann felbft, er allein. Als künftigen Pors
tenfer führte er mich ftrifte die Wege, durch welche er
fih felber einft gewunden hatte.
Wie aber die beftbereitete Koft abftändig wird, wenn:
fie einem allein gereicht wird von einem allein, fo teilte,
zum Anreiz für Lehrer wie Schüler, ſich in unfer tägliches
geiftiged Mahl — zwar nicht ein Kamerad -, aber doch
eine Kameradin, die gar mandye harte Nuß geſchickter
zu fnaden verftand, ald der Präparand für dag priefters
liche Amt. Diefe Kameradin war die Tochter unferes
Patrond, das Feine Freifräulein Erdmuthe von Fels.
Und fo trete ich denn mit diefem Namen in den Kreis,
deffen Schickfal einen romantifchen Faden in mein ein-
fached Leben gewoben hat. Die Hand ded alten Mannes
zittert. Wird es feine Seele befreien, wenn die nimmer
ruhende Erinnerung zur Enthuͤllung wird?
Ich weiß nicht, ob das Gefchlecht derer von Fels in
anderen Zweigen ale in diefem fächfifchen etwa noch
heute blüht. Unfer Freiherr Hand Herrmann fümmerte
fih nur um den leßteren, hielt fich für deſſen einzigen
Bertreter und die Burg im Heidewinfel für feinen ur-
prünglichen Sig. Das Gut, ein Allodium, war feit
zwei Sahrhunderten um mehr ald dad Doppelte an-
gewachſen; an der Grenze feined Areale hatte ein Klo-
fter geftanden, der Sage nach von einem Bruder des
Burgherrn gegründet, und waren diefer weltliche und
geiftliche Herrfcherfig während des ganzen Mittelalters
die gebietenden meilenweit in der Runde geblieben. ‘Der
legtere ftürzte infolge der Reformation; das Kloftergut
12 Fran Erdmuthens Iwillingsfähne
wurde eingezogen, ber Klofterbau während ber Religions:
friege beftenteild zerſtoͤrt.
Burg und Burgherr flanden auf feiteren Füßen; ja,
e6 glücte dem legteren, einem tapferen Kämpen für die
gereinigte Lehre, den fäfularifierten Grund durch Kauf
und Schenfung der Familie, von der er ftammen follte,
wieder anzueignen. Daß ritterfchaftliche Dominium be⸗
ftand demnach aus zwei zufammenhängenden, aber felb-
ftändigen Anteilen, Burghof und Klofterhof genannt;
weil der Stamm der Fels feit Öenerationen jedoch regel:
mäßig nur einen Sproffen, und zwar einen männlichen,
getrieben hatte, fo war das Doppelgut in der nämlichen
Hand geblieben, die Bewirtfchaftung auch lediglich vom
Burghofe aus betrieben worden.
Zum erften Male fah ber gegenwärtige Namensträger
eine weibliche Blüte dem alten Stamme entfeimen, und
ba fie, wie früherhin die männlichen, eine einzige blieb,
wird man unferem edlen Patron einen heimlichen Miß-
mut nicht übelnehmen. Er hatte bie Gattin, die er ge-
mäß feiner Stammes⸗ und Sinnedart gewählt, von
Herzen geliebt, nichtödeftoweniger gehörte er aber zu
den Erdenherren, welche dad Regiment allein für das
ftarfe Sefchlecht in Anfpruc; nehmen und dem ſchwachen
feine höhere Beſtimmung einräumen, als ihre Gebieter
ausreichend mit Erben zu verforgen.
Der frühe Tod der Dame vor ber Erfüllung ihrer
wefentlichften Lebensaufgabe bewirkte indeffen einen be-
deutungsvollen Umfchlag. Die Kamilienchronif wußte
von feinem Feld, der zu einer zweiten Ehe gefchritten
wäre, und auch unfer Kerr dachte nicht daran, auf
biefem natürlichiten Wege feinen Namen in die Zukunft
Erfter Abſchnitt 18
Tr — —— ——— e e —— ————— Te ——— —
zu leiten. Er liebte die Mutter weiter in dem Kinde;
ſein Dichten und Trachten verſenkte ſich allmaͤhlich in
die Pflege dieſer fremdartigen Knoſpe an dem alten
Baum; ja, er gelangte dahin, in dieſer Wandlung eine
ſegensreiche Fuͤgung zu verehren: eingeimpft auf einen
fremden Stamm, getraͤnkt mit friſchem Safte, ſollte das
edle Reis von neuem und um ſo kraͤftiger erbluͤhen.
Sah er denn nicht an hoͤchſter Stelle, daß ein uraltes
Geſchlecht glaͤnzend, wie die Sonne, nach einem wolken⸗
duͤſteren Tage zur Ruͤſte ging? Die Tochter, in welcher
geiſtig und leiblich die Grundeigenſchaften ſeiner Sippe
ſich zur Vollkommenheit entwickelten, ſollte das Muſter⸗
bild einer regierenden deutſchen Edelfrau werden, wie
die letzte Habsburgerin das einer regierenden deutſchen
Fuͤrſtin war.
Denke ich zuruͤck an unſeren Herrn von Fels, ſo ſteht
er vor mir, wie der aus dem Lande Uz: „ſchlecht und
recht, gottesfuͤrchtig und meidete das Boͤſe.“ Ein Ehren⸗
mann, dem ja ja, nein nein hieß; auch eine ritterliche
Natur, trotzdem er niemals das Schwert gegen einen
Feind gezuͤckt; Geſtalt und Habitus nach dem Urbild
eines Germanen, ohne einen Tropfen jener ſorbiſchen
Beimiſchung, welche dem oberſaͤchſiſchen Stamme die
bewegliche Spezialitaͤt verliehen haben ſoll. Eine gewiſſe
Schwerfaͤlligkeit und Zaͤhigkeit dahingegen nannte er
ſcherzweiſe ſelber, eingedenk der hollaͤndiſchen Einwan⸗
derung, „ſeine flaͤmiſche Ader“. Er liebte derartige
Kombinationen und pflegte zu ſagen: „Willſt du einen
Menſchen kennen, mußt du ſeinen Stammbaum kennen.“
Einfach, nuͤchtern, verſtaͤndig, wie er war, hatte er ſich
ſchon in der Jugend dem erſchoͤpfenden Hoͤflingstreiben
14 Frau Erdmuthens Swillingsföhne
fern und als Schugherr ruhig auf feiner Scholle ges
halten. Auch jeßt, wo ein Regiment feiner Sinnesdart
gemäß die hundertjährige Wüftlingsherrfchaft auf und
neben dem Throne abgelöft hatte, blieb er, bie auf bie
Gelegenheiten einer aufrichtigen Huldigung, ber alten
Burg im Heidewinkel treu, bemüht, den durch die Krieges
zeit arg gefchädigten Grund für fruchtbarere Ernten vor;
zubereiten; bi8 denn im Verlauf die Heranbildung feiner
Tochter zu dem nämlichen Berufe das große Ziel ſeines
Lebens wurde.
Er erzog fie aus diefem Grunde von Haufe aus anders,
als Töchter ihres Standes, zumal einzige Erbtöchter, er-
zogen wurden, widelte fie nicht in Seidenpapier, vers
ſchmaͤhte die Kunftfertigfeiten des weiblichen wie bie
Berfeinerungen des refidenzlicdyen Tageslaufes, fondern
hielt fie fletig unter den Iandfchaftlichen und wirtfchaft-
lichen Eindrüden ihres künftigen Regierungsbezirks.
Eine franzöfifche Gouvernante mußte ſich darauf be⸗
fchränfen, die nun einmal gültige höhere Umgangs⸗
fprache im Kaufe zu pflegen; für alles, was Unterricht
hieß, forderte er einen Mann, und zwar vor allen an-
deren den heimifchen Mann, mit welchem ein von den
Vätern ererbted Vertrauen ihn von Kindeöbeinen an
verband.
„Richt? ‚ihr‘ den Kopf wie deinem Portenfer,“ fagte
er zu meinem Vater. „Es ift aud) eine alma mater, vor
der ‚fie‘ eined Tages beftehen fol.“
Und fo wurde auf der Gelehrtenbant des Pfarrhaufes
bis zu Ovidius und Dezimalbrücen die weltliche Erbin
des geiftlichen Erben Kamerad.
Wenn beide nun aber nad) den faueren Stunden der
Erfter Abſchnitt 15
Arbeit auch die jüßen der Freiheit ald Kameraden treu
zueinander hielten, fo war dies gleichfalls nach unſeres
Herrn Sinn, denn: ‚fie‘ wird eined Tages mehr mit
masculina al& mit feminina umzufpringen und einen
Freund nötiger als eine Freundin haben.
Das, was man Tändelzeug nennt, wurde für das
Burgfräulein fo wenig wie für die Pfarrfinder beliebt
und von jenem fo wenig wie von diefen vermißt. Denn,
wenn unfere Tinen und Phinen die Fleinen Brüderchen
warteten, wenn der Lieb und Lob Gänfe und Ziegen
auf den Anger trieben oder wenn fie Reifig und Zaun:
zapfen fammelten, Erdäpfel puddelten, Winterd Holz
fpalteten, Löffel und Quirfe fchnigten, fo habe ich nie-
mals bemerft, daß fie fih um ihr Kindheitsrecht, um
Wicelpuppe und Stedenpferd betrogen fühlten. Das
Kind arbeitet ja immer, wenn es fpielt, und ed kommt
nur auf eine Methode wie die der anftelligen Pfarr;
mutter an, um ihm die Arbeit zu einem heiteren Spiel
zu machen.
Student und Studentin trabten während deffen Sand
in Hand durch Feld und Flur, durch Scheuer und Stall;
am liebſten aber in Winter: und Sommerzeit, bei Regen
und Sonnenfchein über das Klofter hinaus in die Felsſche
Heide. „Sie muß fich in ihrer Schagfammer audfennen
lernen”, fagte unfer Herr. Und fie lernte fich darin aus⸗
fennen, unter Förftern und Wildhätern, Holzfchlägern
und Kohlenbrennern, unter den Armen, die Reifig und
Beeren fammelten, unter Hirfchen und Rehen, Schnepfen:
und Droffelfhwärmen, auf Weg und Steg. Sie wußte
jede Schonung, jeden Baum, der reif war für Die
fällende Art.
416 Frau Erdmuthens Swillingsföhne
ee En —— — — ——— —“
Nun muͤßt ihr aber, ihr Unbekannten, denen dieſe Er⸗
innerungsblaͤtter dereinſt in die Haͤnde fallen koͤnnten,
unter meiner kleinen Schul- und Waldfreundin beileibe
nicht ein wildes Hummelchen vor Augen haben, keinen
Emil mit langen Zoͤpfen, keine angehende Jaͤgerin und
Amazone, oder wohl gar die gelehrte Frau, wie ſie in
der Fabel ſpielt. Mein Muthchen war von Natur das
ſittigſte Maͤgdlein, das ihr euch malen koͤnnt; echt und
recht eine Fels, reines Sachſenblut, verſtaͤndig, ohne
Traͤumerei, ernſthaft, eine kleine große Dame, doch die
Freundlichkeit ſelbſt. Vor allem aber entfaltete ſie ſchon
als Kind jenen erſten Reiz des Weibes, den ich nicht
deutlicher als den muͤtterlichen zu nennen weiß. Sie
ſpuͤrte jedes Beduͤrfnis der Kreatur und wußte Hilfe fuͤr
alles Fehlende und Verkommende. Ein wurzelkranker
Baum, ein lahmendes Tier, ein ermatteter Arbeitsmann
entging ihren Blicken ſo wenig, als ein durchbrochenes
Gehege, eine wandelbare Felge, ein unſauberer Milch⸗
eimer, eine ſtumpfe Egge oder Axt. Dabei hatte ſie eine
linde, geſchickte Hand, ein mildes und doch feſtes Wort,
einen klaren Schluß. Jedwedem, der ihr nahe kam,
wurde wohl. Ihr Kamerad aber fuͤhlte bei jedem Blick
und Laut, daß ſie anders war, als die Beſten ihrer Art.
Und die Beſten, wo haͤtte er ſie ſuchen ſollen, als unter
den Knoͤſpchen, die neben ihm dem Pfarrgehege ent-
fproßten? Sie blühten weiß und rot, die Zöpfe glänzten
goldig und die blauen Augenfterne blidtten treu wie die
meines Muthchend vom Burghof; groß und fräftig waren
fie nicht minder; ihre Tränen ftrömten noch reichlicher
bei anderer Weh, und das Lachen bei anderer Luft lang
noch viel heller: warum war mein Muthchen nun dennoch
N
Erfter Abſchnitt 47
andere — fchöner oder befler nannte ich ed nicht -
warum fchien fie mir anders als die lieben Tinen und
Phinen daheim? Ich hätte diefe Frage mir nicht bes
antworten können; aber ich ftellte mir diefe Frage auch
nicht. Sch fand ed in ber Ordnung, daß das Muthchen
vom Burghof anders war, als die Tinchen und Phinchen
in der Pfarre.
So war ich vierzehn Jahre alt geworden; fie fünfzehn
und einen Kopf größer ald ich. Zum Winter gedachte
unfer Herr mit ihr zum erftenmal nadı Dresden zu
gehen und ihr den Schliff geben zu laſſen, deſſen eine
Geld bedurfte, wenn fie ihrer Kurfürftiin die Hand zu
füffen hatte. Für die nämliche Zeit war meine Aufs
nahme in Pforta anberaumt. Zuvor follten wir nod)
gemeinfchaftlid; das erfte heilige Mahl von väterlicher
Hand empfangen.
„Laß fie ihr Ehriftengelübde mitfammen fprechen, wie
wir ed mitfammen gefprochen haben, daß fie ſich werben,
was wir und geworden find, mein Freund,” hatte ber
Freiherr gefagt und nicht nachgelaffen, bis mein Vater
das Bedenken überwunden, feinen Erben außerhalb feiner
Kirche und feiner Gemeinde zum Chriften einzufegnen.
Unfere Kirche, vor Jahrhunderten eingeäfchert und nur
als bürftiger Holzbau wieder hergeftellt, war nebft der
Pfarre abfeiten des Fleckens inmitten der beiden Güter
gelegen. Nordwärts zog der Pfarrgarten fich bid an die
Umhegung der Burg, füdwärts der angrenzende Gottes⸗
ader bis an bie Heide, nur durch die mit uralten Ulmen
bepflanzte Fahrftraße von der Klofterruine getrennt.
Selten habe id, für die Stätte der Bergänglichkeit einen
anfprechenderen Hintergrund gefunden ald diefe wald»
xx. 9
18 Frau Erdmuthens Swillingsföhne
umhegten Trümmer, die nur eines Felfenpoftamentd und
etwa eined MWafferfpiegeld bedurft hätten, um neben dem
Altertümler audy den Romantifer herbeizuloden. Eine
Fleine Kapelle, das hohe Chor der einftigen Klofterfirche,
war noch leidlich erhalten und würde einen trefflichen
Abſchluß für einen Neubau abgegeben haben.
Auch der Burg hatte das Alter mitgefpielt, und unfer
Herr fchon feit dem Frieden fidy mit dem Plane ges
tragen, den fchwerfälligen Steinfaften mit feinen uns
heimlichen, Tichtlofen Winkeln wohnlich auszubauen.
Allcd Neue indefjen ging, wie die Saat im ſchweren
nordifchen Boden, langfam in unferem Herrn auf, dann
aber, um tiefgewurzelt und fräftig beftodt den Stürmen
ſtandzuhalten. Eo waͤhrte ed denn auch viele Jahre,
bis jener Plan, dann jedoch nicht ald ein Ausbau,
fondern ald Neubau — zur Vollendung kam. Die Wälle
waren geebnet, die Gräben zu Gärten ausgefüllt, die
riefigen Quadern, welche in unvordenflicher Zeit, Gott
weiß wie und woher, für die Burg im Heidefande
herbeigefchleppt worden waren, gaben den Untergrund
für einen Herrenfig: einfach, folide, ftattlich und behag⸗
lich wie das Gefchlecht, das darin Plag nehmen follte.
Der Name Burg verfchwand und der „dad Schloß“ ers
ftand in der Leute Munde. Die wenigen Freunde des
Altertums ſchrien Zeter, aber die vielen Freunde der
Gegenwart fühlten ſich heimifch in den neuen Räumen,
Das Erdgeſchoß enthielt reichlich Gelaß für eine
Familie, die eined Tages ftärfer fein durfte, als die
jegeitige; der Oberbau Gafts und Feltgemächer, unter
denen der große Ahnenfaal in der gefuppelten Mitte
einen gar vornehmen Eindrud machte. Sahrhunderte
Erfter Abſchnitt 19
hinab zog ſich die Reihe der Bildniffe eines Fräftigen
und felber in den Frauen wefentlic, gleichgearteten Ges
fchlechte; feine beiden erften proteftantifchen Bekenner,
vielbewundert, waren von der Band der Cranachs Bater
und Sohn. Eine Familientradition, welche die malenden
Bürgermeifter der unfernen Lutherftadt und die ritters
lichen Burgherren von Feld zu Seelenfreunden machte,
trägt eine natürliche Glaubwürdigkeit in fich. Mit dem
Pinfel und mit dem Schwert haben beide feit zu ihrer
Sache geftanden.
Die Ahnenreihe, fo zahlreich fie war, füllte nur eine
ber beiden Langfeiten ded Saaled, die andere blieb dem
erhofften Fünftigen Oefchlechte vorbehalten. Die Schmals
feite, dvem Kaupteingange gegenüber, bildete ein Halbs
rund, in welchem die zwei Geftalten unferes Herrn und
feiner vielbetrauerten Gemahlin nur noch für die der
Tochter einen Raum übrig ließen. Denn als Befchließerin
der alten und Begründerin der neuen Reihe müffe ‚fie
zweimal vorhanden fein, meinte unfer Herr.
Unfer Herr war von einem Typus, welchen auch ein
mittelmäßiger Künftler nicht gar leicht verfehlen konnte;
er brauchte nur feinen Herrn Bater oder Großvater abs
jufonterfeien und ihn modifch mit Zopf und goldgeftichtem
Seidenrod auszuftatten, und jedermann würde gerufen
haben: „Unfer Herr!” Seine Frau Gemahlin, die eine
anmutsvolle Dame gewefen fein foll, hatte der Dresdner
Hofmaler mit anfchaulicher Würde im Brautftaate dar-
geftellt. Das Perlenkroͤnchen, ein Erbftüd der Fels,
thronte über dem Myrtenkranze auf dem hochgepuderten
Toupetz den weißen Brofat meinte man raufchen zu
hören, wenn man zu der Trägerin in die Höhe blidte,
20 Srau Erdmuthens Swillingeföhne
Unter diefen beiden Bildern war am Michaelidtage
1780, meined Muthchens Geburtsfefte, ein Altar aufs
gerichtet, und vor demfelben fnieten die beiden Erben
von Burg und Pfarrei zur feierlichen Erneuerung ihres
Ghriftenbunded. Der neue Schloßbau wurde mit diefem
Akte eingeweiht, eine zahlreiche Gefellfchaft des Lands
adels und dad gefamte Gutsperfonal waren ihres Treu⸗
ſpruchs Zeuge. Sie wie er fprachen ihr Bekenntnis in
heiligem Ernft; aber feine Stimme zitterte in der fremd⸗
artigen, ftolzen Umgebung, während die ihre hell wie
eine Glocke den Raum durchhallte, in welchem Ahnen,
Gleiche und Diener die Blicke auf fie richteten. Als wir
und von den Knien erhoben, um die Gluͤckwuͤnſche der
Verfammlung entgegenzunehmen, wagte ich zum erften-
mal die Augen zu meiner Schwefter in Chrifto auf-
zufchlagen. Wie von einem Blige geblendet, ließ ich fie
aber wieder zu Boden finfen. Denn ald id) fie fo an
meiner Seite ftehen fah im fchwarzen, ſchleppenden Gros
de Tours, Fopfeöhoch mid; überragend mit dem funtelns
den Erbfrönchen auf dem Toupet, zu welchem man heute
zum erftenmal die reichen Flechten aufgetürmt und ihren
goldigen Glanz mit dichtem Puder gedämpft hatte, da
durchzuckte mich die Kellficht, daß mit dem Belenntnig,
welches die Menfchen zu Brüdern machen foll, unfere
Geſchwiſterſchaft abgefchloffen, daß fie eine andere für
mich, ich ein anderer für fie geworden fei. Bon diefem
Augenblice an duzte ich fie nicht mehr und nannte fie nicht
mehr mein Muthchen, jondern mein Fräulein Erdmuthe.
Daß heißt, ich nannte fie fo in Gedanken; vernehmlich
habe ich den neuen Würbdentitel nicht ausgeſprochen.
Wir fapen mit gefenften Blicken nebeneinander am
Erfter Abſchnitt 21
Ehrenplatz der feſtlichen Tafel, die dem Weiheakte folgte;
wir redeten kein Wort weder mitſammen, noch mit
anderen, beruͤhrten keinen Biſſen nach dem heiligen Brot
und nippten nur zum Schein, als der Freiherr den alten
Felsſchen Humpen auf das Wohl der jungen Chriſten
leerte. Nach der Tafel trennten wir uns mit einem
ſtummen Haͤndedruck.
Noch bei Sternenſchein am anderen Morgen wanderte
ich, das Raͤnzchen auf dem Ruͤcken, durch unſere Heide
der naͤchſten Poſtſtation entgegen. Der Vater gab mir
das Geleit.
„Jedwede neue Lage iſt eine neue Berufung zu unferem
Heil und unferer Nächften Dienft”“, mit diefem feinem
täglichen Wahrſpruch riß fih der teure Mann aus
meinen Armen. Unter ftrömenden Tränen fletterte idy
in die gelbe Kutfche, die mich aus dem Schuge des
Vaterhaufes unter den der alma mater führen follte.
Die väterliche Vorfchule bewährte ſich. Ich überholte
im Antrittderamen die unterfte Klafle; verlief alles, wie
es verlaufen follte, durfte ich in fünf Jahren ftatt ſechs
die Straße, auf der ich herangezogen war, zurüdziehen
und mich in den KHörfälen der ehrwürdigen Lutherſtadt
niederlaffen. „Solch ein wohlbeftallter Unterfetundaner
koͤnnte mein Fräulein Erdmuthe nun aud fein,” feufzte
ih, als ich mid, zum erftenmal in dem Schlaffaale der
alten Pforte zur Ruhe begab. „Ach wäre fie doch ein
Junker und noch mein Kamerad!“
* %
In einer der englifchen Klofterfchulen, denen die unfrige
in mancher Hinficht ähnlich gebildet ift, wird an einem
22 Frau Erdmuthens Zwillingsföhne
beſtimmten Fruͤhlingstage in feierlichem Aktus eine
lateiniſche Hymne geſungen, welche die Suͤßigkeit des
Heimlebens preiſt.
Die Sage fuͤhrt dieſen Jahrhunderte alten Brauch auf
einen Schuͤler zuruͤck, der aus Sehnſucht nach dem Vater⸗
hauſe an gebrochenem Herzen ſtarb. Er war ſeit ſeinem
Eintritt in die Schule nicht wieder heim geweſen und
hauchte den letzten Seufzer aus, nachdem er den Refrain
der Strophe: „dulce domum“ in eine Baumrinde ein⸗
gegraben hatte.
Die Hymne Contiamus ift meiner Zeit im Shore ber
Pförtner nicht gefungen worden; aber auch in der deut⸗
ſchen Klofterfchule hat es einen Zögling gegeben, weldyer
in feiner fünfjährigen Lehrzeit die füße Heimat nicht
wiederfah. Eine mehrwöchentlihe Sommervafanz war
jener Tage noch nicht eingeführt, und für kurze Feſtferien
wurde eine Reiſe von der füdlichften zur nördlichften
Spitze des Kurfuͤrſtentums der Zeit und der Koften nicht
verlohnend erachtet. So ift der Alumnus Bleibtreu mehr
denn einmal der einzige zwifcdhen den alten Mauern
zurücdgeblieben, hat wohl häufig den Nebel der Sehn⸗
fucht über feinen Augen gefpürt, hat wohl manchen
teuren Heimatsnamen in junge Baumrinden eingefchnigt,
aber dag Herz ift ihm keineswegs gebrochen, im Gegen⸗
teil, ed hat ſich ihm gefeftigt und gefüllt.
Denn ed war eine reihe Sand, welche feine zweite
Mutter dem armen Heidefohn bot, und wenn er an der
rauhen Stchrfeite fid) dann und wann ein wenig wund
gerieben hatte, ei nun, half denn da nidıt der Wahr:
ſpruch, der aus jeder Not eine Tugend madıt?
Wenn Winterd lange vor Tagesgrauen die Glode
Erfter Abſchnitt 23
wecte, während der Sandmann noch hart auf die
ſchweren Lider drüdte, oder wenn am Abend bei dem
einzigen Talglichte für den Tifch von ihrer zehn die ents
zündeten Augen zuftelen über den feinen Lettern der
alten Autoren, dann dadıte er an den Mann fdhmwers
erfämpfter Wiffenfchaft, feinen Vater, und wurde wach.
Wenn higköpfige Kameraden an dem friedfeligen Pedanten
ihre Weütchen fühlten, ihm den Rüden bläuten, ihn kopf»
über in den Waflertrog ftürzten, den Fuchs mit ihm
prelften, das heißt ihn im Bettlafen aufs und nieder:
ſchnellten, da dadıte er an den Wann der Liebe, wieder
feinen Bater, an all den Hohn und Unbill, die er in
feiner armen Schädhyergemeinde erbuldete, und wurde
froh. Aber auch, wenn ihm auf den Tafeln des Zoͤnakels
die Fleifchtöpfe von Ägypten entgegenlachten, dann dachte
er an die magere Spittelfuppe daheim, dachte daran, daß
auf die fetten Sahre die dürren folgen würden, auf den
Kloftertifch der Zifterzienfer dad reformatorifche Konvikt,
und er fchob den dritten Kloß, den er fidy zugelangt,
auf den Teller feines Landsmanns Guſtel Hecht, der von
diefem allfeitigen Teibgericht, zumal wenn ed mit „Schars
wenzen” (fauren Kaldaunen) begleitet war, ein Dugend
ohne Befchwernis in fid, aufzunehmen vermochte.
Daß mir im übrigen zu herzbredyenden Stimmungen
gar nicht einmal die Zeit verblieb, wird jedem billig
Denfenden einleudhten, der in dem nachfolgenden Briefe
die mütterlichen Vorfchriften mit den väterlichen in Ver⸗
bindung bringt. Es ift der einzige Brief, die Waſch⸗
zettel ungerechnet, den die fleißige Frau Mutter mir in
die Fremde gefchrieben hat, denn „ein Wort fo viel wie
taufend“, das war auch eine von den weifen Regeln,
> Frau Erdmuthens Swillingsfähne
nach welchen fie ihr Tagewerk eingeteilt hatte. Der
Brief lautet:
„Du ftudierft anjeßo aufd Amt, mein Sohn, und das
wirft Du fertig bringen. Denn warum? E38 liegt Dir
im Geblät. Aber Ämter und gebratene Tauben fliegen
nicht in der Luft. Erhält der Allmächtige den Herrn
Bater nad) dem Laufe der Natur, wie ic, felbiges alle
Tage auf meinen Knien von ihm erflehe, fo ift Dein
Spatium bis zur Erbfanzel weit. Was alfo vornehmen
in der leeren Zeit? Ein Subftitute ift ein weißer
Sperling. Solange ihm die Zähne nicht ausfallen,
ißt jedweder fein Stud Brot für ſich allein. Der Herr
Bater hat ed auf unferen Schulmeifterpoften für Dich
abgefehen. Denn „Bimmeldfamen muß in der Kindheit
gelegt worden fein,‘ ift ded Herrn Vaterd Wort. Ich
habe nichtd dawider, Gottfried, der Herr Vater muß
das am beften wiffen, aber für Dich paßt dieſe Profeffion
nicht. Weit eher für unferen Hold, der ein Zimmer-
mann werden will. Wer fich in jeglichen Menfchen
apart hineintüfteln und jeglichem Stridy ein Pünktchen
auffegen möchte, daß auch ja richtig ein J daraus wird,
und fo einer bift Du mein Sohn, der mag felber erft
beim Schafhirten in die Lehre gehen. Für jedweden
ein Leiften heißt für feihen ein Schuh, und wer unter
fo einer Rotte Korah nicht aufgebracht ift, verfteht ſich
nicht aufs Traftement.
„Bleibt alfo der Hofmeifter in einem adligen Baus,
ober fonftwo bei feinen Leuten. Und darum, feitbem Du
fort bift, mein Gottfried, rumort’s in mir Tag und Nadıt
und fpähe ich mit Augen und Ohren, was anjetzo in
diefer Branche die Anforderung iſt. Denn für fo ein
Erfter Abfchnitt 35
Junkerchen oder $räulchen, wer fragt da viel, ob einer
auf dem Cicero, oder gar auf den Kirchenvaͤtern fattels
feſt fist? Weit eher auf einem vierfüßigen Geblät.
Einlöffeln fol ex Keinen Abce-Schägen, und mit Sirup
beftrichen obendrein, was er in der Regel felber nicht
eingelöffelt, oder auf gelehrten und hohen Schulen lange
wieder audgefchwigt hat; neue Entdedungen fol er
machen, mit der Zeit fortfchreiten, die Welt auf ben
Kopf ftelen, wie das anjego auf die Tablatur ge-
fommen ift.
„Aber das ift nur Numero eins; die Nullen kommen
hintennach, die erft die Trefferzahl ausmachen. Feine
Conduite fol er haben; wohlreden fol er in eigner und
wälfcher Zunge; einen Carmen fol er reimen können,
zum Tanze auffpielen, felber in einem Taͤnzchen aus»
helfen, ein fchöner Geift fol er fein und derlei Kleinig-
feiten mehr. Darum, mein Sohn, fooft Du einen
freien Augenblid haft, Sonntags und während ber
Vakanzen, da benfe an den Informator, und wenn Du
die Goldmuͤnze der Wiffenfchaft, wie der Herr Vater ee
nennt, in Deine Sparbüchfe geſteckt haft, dann geize auch
nach dem Basen, der im Handel und Wandel gilt.
Bergiß Dein Franzöfifch, vom Schloffe her, nicht, und
wenn Du nur mit Dir felber parlieren follteft; übe Dich
auf dem Klavier auch in weltlichen Weifen; befleißige
Dich der Tanzkunft, daß Du mit Deinen Gliedmaßen
fein fteifer Peter bleibft und weil ein Informator, der
fein Tänzchen verfteht, auf Iändlichen Stellen eine ge-
ſchaͤtzte Perle ift.
„Und ganz zulegt, mein Sohn, nun noch eine Offen⸗
barung, die genau genommen für Deine Jahre noch nicht
26 Srau Erdmuthens Swiltingsfähne
paßt. Nur von wegen, daß jedweder Menſch eine fterb=
liche Kreatur und nichts, mein Sohn, ich fage nichts,
auf die lange Bank zu fdyieben iſt. Merke Dir alfo,
lieber Gottfried: wo ein Kofmeifter im Kaufe gehalten
wird, da foll er anjeßo auch der Borlefer und Ausleger,
wohl gar an langen Abenden ein Geſchichtenerzaͤhler
fein. Die feinen Damen, fo heißt es, lefen und hören
aber alleweile am liebften Kiftorien, die fie Romane
nennen: aus dem Römifchen, denk ich mir, von wannen
ja fhon fo mancher Heiden⸗ und Teufelsſpuk in deutfche
Lande gedrungen ift. Es follen gar abfonderliche Terta
in derlei römischen Gefchichten zur Abhandlung fommen;
Terta, die nur mit Namen zu nennen meiner Zeit die
Zunge ſich gefträubt haben würde, felber bei einem
Ehemann gegen feine angetraute Frau. Aber die Mode
ändert fi), mein Sohn, audy im Punkte der Schams
haftigfeit; und felber da, wo und dad Alte befler ges
fallen hat, follen wir dem Neuen zu Gefallen leben,
denn alle Zeit fommt von dem Herrn. Studiere alfo
auch auf die roͤmiſchen Geſchichten, mein Gottfried,
lege Dich auf die feine Damenwelt; Du wirft ein
feufcher Süngling dabei bleiben. Des bin ich getroft.“
Als id, diefen Brief zu Ende gelefen hatte, würden mir
ohne Zweifel die Haare zu Berge geftiegen fein, wenn
fie mir nicht im Haarbeutel feitgebunden gewefen wären.
„Ach,“ feufzte ich, „warum ift mein Fräulein Erdmuthe
nicht ein Junker, wie unfer Herr einer gewefen ift! Ich
zöge mit ihm auf die Akademie und dann ultra montes,
und alled wäre gut!“
„Kindskopf!“ brummte der große Bär, vor deffen Ohren
ich dieſes Klagelied ausgeftoßen hatte; über fein graues
Erfter Abſchnitt 97
Geficht lohte eine Flamme wie allemal, wenn id) unferes
Herrn und feiner ‚fie vor ihm Erwähnung tat. Und
das gefchah oft.
Bär war mein Obergeſell und Stubenfenior! Mein
Freund, würde ich gefagt haben, wenn zum Freundfein
nicht auch gehörte, daß einer den anderen, welchen er
berät und fchügt, in irgend einem Stüde doch auch wieder
ein wenig nötig haben muß. Albrecht Bär wollte auf
der Welt aber feinen Menfchen nötig haben, und weil
er vor der Hand doch noch zwei Nährmütter nötig hatte,
eine leibliche, die etwas weichmütiger, und eine geiftige,
die etwas rauhmütiger, als feiner Bärenhaut angenehm,
ihre Gaben fpendeten, darum ift er auf der Schule und
anderwärtd wohl der große Bär geworden, aber audy
der Drummer geblieben, der er von Mutterleibe an ges
wefen fein fol.
Er ftammte, wie Guftel Hecht, aus meinem Ort. Hecht,
ein Patrizier, denn fein Vater war Feldfcher Gerichtds
direftor; Bär ein Plcbejer, denn feine Mutter war Aus»
geberin und Witwe ded Kammerdienerd von unferem
Herrn, ihres Sohnes Alumnenftelle aud) Felsſches Pas
tronat. Ob dem jungen Bären wohl auch dad Fell fo
widerborftig gewachſen und die Stimme in einen Brumms
baß umgefchlagen wäre, wenn er ald Freiherr auf die
Welt gefommen und ald Ertraneer in der Pforte gefeflen
hätte? Des Menfchen Schickſal wird in feiner Wiege
großgefchaufelt, war ein Felsſcher Sprud,.
Die Kandeleute Bär und Hecht konnten für Gegenfäße
gelten. Der eine: „groß, ftarf und freydig”, wie ed im
alten Zierbuche von feinen Namensvettern gefchrieben
fteht, rauh und grau, Der andere: Flein, rund, glatt,
28 Frau Erdmuthens Iwillingsfähne
rot und nur dem Magen nach ein Hecht. Baͤr galt fuͤr
ein Lumen; fuͤr ein Lumen galt Hecht nicht, aber fuͤr einen
guten Kerl. Er hatte immer einen Troß um ſich; Baͤr
ging allein. Waͤhrend der Vakanzen rannte er in die
Thuͤringer Berge nnd kehrte immer mit einem geleckteren
Geſicht zurüd, aber nur für ein paar Stunden geledt
und immer allein. Und doch gab es in der Pforte einen,
mit dem er Hand in Hand hätte wandeln können, der
fein Nebenmann in der Klaffe und auch ein Lumen war,
ein Lumen, das dereinft weithin geleuchtet hat in die
deutfche Welt, aus welcher Albrecht der Bär verſchwand.
Das Lumen Numero zwei hieß Johann Gottlieb Fichte,
und hat der Fleine Pfarrerbe in der Nachbarftube damals
leider wenig von feinem Schein gemerft. Kat aber das
Lumen Numero eind den Schein des Numero zwei
denn auch nicht bemerkt? Warum ging das eine rechts,
das andere links? Iſt das aller Lumen Art?
Das Nichtlumen Hecht ftand unter dem Lumen Fichte,
wie dad Nichtlumen Bleibtreu unter dem großen Bär.
Wie der mid, Kindsfopf nannte, nannte jener den
Hecht - - -; die Welt verliert nichtd dran, wenn ich ben
Namen verfchweige, fichtiſch lang er nicht, er hatte auf
feine einzige Hechtähnlichfeit Bezug.
Bär lachte laut über die mich fo lebhaft beunruhigende
Epiftel der Klügften der Jungfrauen mit dem Ölfräglein.
Überhaupt lachte er oft, aber fein Lachen Fang wie Ges
brumm, und man wurde nachdenflich, wenn er lachte.
Hecht lachte niemals fo, daß man es hörte oder fah;
aber dad Herz im Leibe lachte ihm, zumal bei Tafel; ein
jeber wurde Iuftig, der ihm gegenüber faß, und felber
fein ernfthaftes Lumen lachte mit.
Erfter Abſchnitt 29
Was den Informator anbelangte, fo tröftete mich Bär.
Er ſtecke mir in der Wirbelfäule wie das Pfarramt im
Geblüt, meint er, und im Punkte der feinen Damenwelt,
da könnte ichs dermaleinft leicht noch bie zum Schreiber
einer römifchen Gefchichte bringen. Ald Landemann,
Obergeſell und Stubenältefter fühle er indeflen ſich ger
drungen, an den Organen, welche außer dem Gebluͤt
und der Wirbelfäule an einem Menfchenfinde noch aus⸗
zubilden feien, einen Kunſtverſuch zu wagen.
Zunaͤchſt an dem Untergeftell, auf welchem ein jeglicher,
fo gern er fich buͤcke, fidy doch unvermeidlich durch die
befte aller Welten zu fchieben habe. „Auf eignen Füßen,“
war fein Lebensſpruch und „wehre dich deiner Haut“
wurde das caetera censeo feiner KHunftmethode an dem
zu Heil und Dienft berufenen Zögling der Orthopädie.
Sooft wir fortan im Wirtfchaftöhofe nebeneinander
fpazierten, drängte er midy vom Pflafter fo lange, bie
ich in der Entenpfüge watete; er trieb mir die Maifäfer,
die ich nicht leiden fonnte, ind Geficht und hette bee
Rentmeiſters Kläffer, die ich noch weniger leiden konnte,
mir zwifchen die Beine. Oder, er fchnippte mir wie
von ungefähr das Abendbrot aus der Hand, daß es auf
die Butterfeite fiel. Einmal, da er mir beim Auf» und
Abgehen zwifchen den Scheitholzreihen und dem Saal⸗
arm einen Vortrag über fein Lieblingsthema hielt, ſtemmte
er die Ellenbogen in die Hüften, ſchob und fchob, daß
der Raum zwifchen mir und dem Waffer immer fchmäler
ward. Sch fprang an feine rechte Seite; er mit einem
VBärenfage wieder an meine rechte und fo fort, bis end⸗
lich nur noch eine Band breit Ufer für mich übrig blieb.
Ein Steinchen brödelte, und ich rutfchte in den Fluß.
30 Fran Erdmuthens Swillingsföhne
Er holte mich rafch wieder heraus, hielt auch getreulich
in der Sranfenftube bei mir Wacht, bie der Fuß, den
id mir beim Fallen verftaudht hatte, wieder gangbar
war, und wenn ein anderer mit ähnlichen Mandvern in
fein Erziehungswerf pfufchen wollte, hat er fih und
mid, tapfer gewehrt oder geraͤcht. Er hoffte bei feiner
Methode ed weit mit mir zu bringen; zu einer hierarchifchen
Geſtalt, einem Meinen lutherifchen Papft. und dergleichen
mehr. Jedenfalls weiter ald das Lumen in der Nebens
ftube mit der Philofophie bei unferem Landsmann Guſtel
Hecht, da er ihm eines Mittags den zehnten Kloß, wel:
chen Hecht ſich mit feinem Testen Kreuzer eingehandelt
hatte — drei Klöße famen gefeglich nur auf den Mann
- fonder pädagogifche Kunft aus dem Munde fchlug,
ohne ihm dadurch den Appetit auf Klöße herauszuſchla⸗
gen, oder, gettlob! feinen braven Hechtsmagen mit Galle
zu verſetzen.
Wie weit ed der Inftruftor mit feiner Methode ber
Mehrhaftigfeit bei dem Kindskopf gebracht haben würde,
laßt fich leider nicht feftftellen, da der Kurfus ſchon im
nämlichen Semefter jach unterbrochen, Bär von der
Schule relegiert wurde, trogdem er mit feiner fchrifts
lichen Eramenarbeit über die Schlacht an den Thermos
pylen den Preis noch über dem Lumen in der Nebenftube
erhalten hatte. Freilich er trieb ed arg. Mit aufgelöftem
Haarbeutel, eine Tonpfeife im Wunde, wandelte er im
Primanergarten fo lange auf und ab, bid das Auge des
gewaltigen Reftord wie ein Donnerfeil auf den Frevler
niederfanf. Das Haar war glatt gefämmt, und in der
Pfeife ſteckte unangezuͤndet nur ein Eichenblatt, denn
Albrecht Bär hat bis an fein Ende Wirrwarr und Qualm
Erfter Abſchnitt sa
— mit Ausnahme von Pulverqualm — verabfcheut wie
die Sünde. Aber was half ihm das, wenn er franf und
frei in hoher Synode ed ald ein unveräußerliched Mens
ſchenrecht erflärte, feine Mähne wallen zu laffen und
kalt zu rauchen? Solche Menfchenredhte fonnten auch an
einem Lumen nicht geduldet werden, ohne die Fürften»
fchule in ihren Grundfeften zu erfchüttern. Bär mußte
fort.
Sch, aber ich ganz allein, war ber Meinung, Bär
wollte fort. Er hatte auf ein paar kurze Ferientage
feine franfe Mutter, die Kammerdienerwitwe, befudht
und war mit zwei feltfamen Purpurrofen auf den grauen
Wangen zurüdgefehrt. Bei der bloßen Frage nad) uns
ferem Herrn und Fräulein Erdmuthen fchüttelte ihn
gleichfam ein Ficberfroft. Was koſtete es ihn als ein
bißhen Magenfnurren und ein paar Nadıtftunden ger
lehrter Korrektur, um es ald Thomagfchüler in Leipzig
ohne danfbarlichen Kragfuß vor einem gnädigen Patron
und feiner ‚fie‘ vollends zum Bruder Etudio zu bringen?
So fchied er, und außer den meinen wurden feine Abe
fhiedstränen dem Brummer nachgeweint.
Ich aber, ohne fernerweitige Dreffur zu einer hierardhis
fhen Geftalt, bildete mich befcheidentlich weiter für die
beiden Ämter, die mir in Geblät und Wirbelfäule eine
geimpft fein follten, Das Streben zum Pfarrerbe blieb
Numero eins, da aber gewiffe Erinnerungen mir zu
Hilfe famen, frönte aud) das zum Wuftermagifter ein
gewiffer Erfolg. Ich vergaß mein Franzdjifch nicht, denn
ed waren meined Muthchens Lippen, von denen ich es
aufgefangen; ich blieb der edlen Muſika treu, die mein
Bater, feinem großen Meifter nad, eine Prophetenkunft
82 Fran Erdmuthens 3willingsſoͤhne
genannt, auch manch Foftbare Stunde für Orgelfpiel
und Choralgefang mit mir geopfert hatte; wenn ich nun
zurüd daran dachte, wie mein Muthchen ernften Auges,
mit gefalteten Händen und gegenüber gefeflen und zum
Schluß ihre Klare, volle Stimme in unfere Übungen ges
mifcht hatte, ba war ed wahrlich feine Hexerei, e& bis
zum Organiften und Vorfänger im Chore der Portenfer
zu bringen. Auch dad Carmen ift mir flott vom Kerzen
gegangen, dad ich alle Sahre zum Midhaelidtage in kunft-
volle Reime fchmiedete und fo lange in meiner Welten
tafche verborgen trug, bie ein neuer Jahrgang es darin
ablöfte.
Klaͤglich dahingegen, ach, mehr als klaͤglich blieb es mit
jener anderen Rhythmik beftellt, welche die kluge Frau
Mutter ald Perle eines Informators gepriefen hatte und
in welcher auch die weife alma mater dad Bollfommenfte
zu erreichen trachtete. Nun und nimmer bin id) in diefem
einzigen Punkte aud dem Zuftande heimlicher Rebellion
gegen beider Satungen herausgefommen! Die Teicht-
füßige Mufe war und blieb mir ein Heidenfind, und ber
Dienft, weldyen ein Jünger des heiligen Pfarramts ihr
zollen mußte, war und blieb mir ein Gögendienft. Ja,
wenn allenfalls, ftatt des Heinen Guftel Hecht, mein
- Fräulein Erdbmuthe mir in dem Menuett gegenüberge-
ftanden hätte - wer weiß? Aber nein, nein, dreimal
nein! Die fittige, beutfche Maid, im fchleppenden Gros
de Tours, mit dem Erbfrönden auf dem Toupet, fie
fonnte weder mir nod) einem anderen jemals in einem
pas seul gegenüberftehen; ed war fchlechthin unmöglich,
fie fidy in einem Chafle und Balance in Pirouette und
Entrechat auszudenken, und es läßt fich in Worten nicht
Erfter Abſchnitt 83
ausmalen, welch fteifer Peter ich mit meinen Gliedmaßen
geblieben bin.
Dahingegen darf ich mid; rühmen, mit Eifer, Gewandts
heit und Gluͤck das Feld kultiviert zu haben, auf welchem
die mütterliche Weltfiugheit fo fichtbarlich mit der Mo⸗
ralität in Fehde lag. Denn wenn die Allgemeinheit uns
ferer Elaffifchen Bildner auch aus olympifcher Ferne auf
das Gewühl der modernen Belletriſtik herabblidte, das
zarte Geſchlecht an ihrer Seite hatte den Samen der
Zeitblüte liebreich gefammelt und ftreute ihn aus in emps
faͤngliches Jugendland. Mich aber hatte des Schickſals
Gunſt juft in die Richtung geftellt, von welcher der blu⸗
menfchwangere Wind am duftigften wehte.
Die Gemahlin des Tutord, an welchen mein Vater mich
empfohlen hatte, zählte — fi, felber wenigftend — zu den
Auserwählten, die man dazumal ſchoͤne Seelen hieß.
Das Prädikat „Gelehrte“, welches in der Kulturgefchichte
zurüdgebliebene Spötter über fie verhängten, belächelte
fie mit einem mitleidsvollen Blick auf ihren Gatten, der
ein grundgelehrter Herr, aber allerdings nichts weniger
als eine fchöne Seele war. Sch für mein Teil verehrte
die Dame ald ein Wefen höherer Art, bezeigte meine
Bewunderung in den ehrerbietigften Huldigungen und
erntete für meine Pagendienfte unſchaͤtzbar reichen Kohn.
Sch wurde der Amanuenfis der ſchoͤnbeſeelten Frau -
förperlich fchön war fie nicht und jung nicht mehr -,
wurde ald Hausfreund an den Teetiſch geladen, den fie,
feit die Elariffa Mode geworden war, an Stelle des bis
derben deutfchen Abendbrotd wenigftend Sonntage eins
geführt hatte. Ich erhielt das wichtige Amt, die Bücher:
ballen aufzufchnären, die mit jeder Poft, ald Kauf oder
xx. 3
34 Frau Erdmuthens Bwillingefähne
Widmung an die Gönnerin der Mufen einpaffierten, ich
ſchnitt fie zum erften Durchblick auf, ordnete fie nach dem
Einband in den zierlichen Glasſchraͤnkchen des weiblichen
Sanftuariume und hatte fomit den Genuß alled Neuen
und Schönen in jener fruchtbaren Zeit und die Koms
mentare einer fchönen Seele in den Kauf.
Aber damit nicht genug. Die fchöne Seele war natürs
lich auch eine Freundin der Natur. Täglich wandelte
fie mit flatterndem Gelock und einem Strauß am Bufens
tuch, in ein Buch vertieft, die bewaldeten Pfade des
Knabenberges auf und ab; ein weißes Lämmchen, ges
leitet an rofenrotem Bande, hüpfte biöfend hinterdrein.
Sehnfüchtig folgten die Blicke des Juͤngers vom Spiels
plage aus dem rührenden Bilde; während feiner einfamen
Feiertage aber wagte er fid) dann wohl demütiglidy auf
feine Spuren. Bemerfte er ein Steinchen, er flog her⸗
bei, e& zu entfernen, bevor der Sinnenden Fuß darüber
ftolperte; verweilte ihr Auge auf einem Waldblümlein,
er ftürzte, es für fie zu pflüden, voran; entwand fich das
Lamm dem Gängelbande, er fing es ein; entglitt ihr das
Bud, er hob ed auf. Sie erreichte den Quell, deſſen
Gemurmel dem gefeiertiten Sohne der alma mater, dem
Lieblinge ihrer Seele, die erften Klänge feines heiligen
Epos erwect haben fol. Sie nannte den Quell Caftafia.
Welch eine Weiheftatt! Und fie fenkte fich nieder auf
das weiche Moog, das Sinnbild der Unfchuld zu ihren
Füßen; der Junger, auch ein Unfchuldsbild, ihr gegen»
über, an den Stamm eines ehrwuͤrdigen Waldriefen ges
lehnt; mit entzuͤcktem Ohr laufchte er dem Duett des
laͤmmlichen Geblöfs und des wohligen Nedefluffes feiner
Pythia.
Erfter Abſchnitt 35
Tränenlodende DOffenbarungen flöteten nun zum nach⸗
mittägigen Himmel empor, Efftafen raufchten, frifch ges
fhöpft aus dem Born, — ich meine nicht den Born, der
dem buchenbewaldeten Berge, fondern den anderen, der
den beiden Pappendedeln in Pythiad Hand entquoll;
Enthüllungen über Gott, Univerfum und Unfterblichkeit,
erotifche Geheimniſſe in keuſcher, dichteriicher Blumen⸗
hälle; Venus Urania fächelnd mit Dimofenzweigen. Die
Stunden flogen. Weh! Da hallte der Glodenfchlag, ber
die begeifterte Muſe unerbittlich ihrem Sünger entriß,
um fie dem mitfchwefterfichen Auditorium im Kaffees
fränzchen zuzuführen. Schöne Seelen haben eine weit-
verbreitete Miſſion. Seufzend erhob fie fichz fie fchwebte
heimmärts, das Lamm hinter ihr drein. Der Juͤnger aber
firedte fich auf ihre Spur in dem fühlen Moos, träumte
oder fchlürfte die Föftliche Labe, die fie zwifchen den beiden
Pappendedeln in feiner Hand zurüdgelaffen hatte. Eine
Welt von Erfcheinungen ſchwebte an feinen Blicken voruͤber.
Brauche ich nun aber die Leibhaftige zu nennen, in
welche wie durch Zauber auch das duftigſte der Ideal⸗
gebilde ſich verwandelte? Ob es Minona oder Meta,
Amalia oder Laura hieß, ob ſein Rabenhaar im Nacht⸗
winde flatterte oder der Zephir durch ſeidenweiche Locken
ſaͤuſelte, immer wurde jach das Dichterbild „ſie“ im
ſchwarzen Stoff, mit dem Erbkroͤnchen im gepuderten
Toupet, „ſie“, die unter poetiſchem Schleier des Juͤn⸗
gers Traͤume durchgaukelte. Er wuͤrde kein Ende in der
Schilderung dieſer Metamorphoſen finden, will aber nur
uͤber eine derſelben berichten, weil ſie die Vorſchule des
Informators unter dem Blumenzepter der ſchoͤnen Seele
zum Abſchluß brachte.
86 Fran Erdmuthens Swillingsföhne
Es war Pfingften, das legte der Alumnenzeit, die Ka
meradfchaft in Nähe und Ferne audgeflogen. Ganz
allein fchlenderte id; am Nachmittag durd, den Wald.
Mir war weich zu Sinne; halb fehnfüchtig nad) der Zu⸗
funft, halb wehmütig ob des Scheidend und der Wonne
der Gegenwart. Das mütterliche Tal hatte fein Feſt⸗
fleid übergeftreiftz die Nachtigallen Iodten im knoſpen⸗
den Buchengruͤn, Waldmeifter und Maiglocden dufteten.
Wie anmutig ruhte das Klofter im Blütenfranze feiner
Gärten, wie fonnig gligerte der Fluß, vom Frühlings:
wafler der Berge gefchwellt. ber gelbgefprentelte
MWiefenbreiten hınmeg ſchweifte der Blick bis zu den jen-
feitigen Höhen, auf welchen das Rebenlaub fproßte. Ich
gedachte jenes erften Eindrucks, wo der Sohn der Heide
ebene vor diefem rötlichen Felfenufer ftarrte wie vor Ti⸗
tanengebilden, und die Trauben, die auf ihm reiften,
Auge und Gaumen gleich hefperifchen Früchten labten.
Nun war ed zum legten Male in diefer Heimat Mai für
ihn geworden, und wenn je, fo friedlich fchön und reichge-
ſchmuͤckt würde ich die alma mater fchwerlich wiederfehen.
Ich blieb allein. Pythia hatte eine Feftfahrt nad) Dorn-
burg angetreten. Sch warf mid) auf den moofigen Grund
am Didıterborn und zog nad) einigem Widerftreben ein
Bändchen hervor, welches fie am Morgen nad) dem Kirch⸗
gange mir verftohlen unter das Chormäntelchen gefchoben
hatte.
„Sin Evangelium für empfindende Seelen, eine Offen:
barung der heiligften Natur! Trefflicher Süngling, Sie
find reif dafür!“ hatte fie gelifpelt, und diefe Einflüfte-
rung unmittelbar nach der Predigt vom heiligen Pfingft-
munder mich fchier wie eine Gottesläfterung überriefelt.
Erfler Abſchnitt 97
Nun hielt ich das gepriefene Dokument in meiner Band.
Die Neugier fiegte über den Reſt von frommer Ent;
rüftung. Ich fhlug das Titelblatt auf. Es trug einen
mir noch wenig befannten Namen, trogdem dad Datum
fein neues war. Mich wunderte, daß ich es niemals in
dem Glasfchränfchen meiner Gönnerin bemerft hatte;
ed mochte wohl felten genug darin geraftet haben. Die
Farbe des Einbands, rofenrot wie das Kenffeil des
Lamms, hatte fih nur -an wenigen Stellen erhalten;
die Blätter waren zermürbt und befprenfelt, fo als ob
fie von taufend Händen in Fieberglut gewendet worden,
ald ob Ströme heißer Tränen darauf niedergetröpfelt
wären.
Und nun lad ich und las, ohne aufzubliden, bie das
legte Wort verfchlungen war; in Fieberglut wurden die
Blätter gewendet, Tränenftröme tröpfelten darauf nieder,
vielleicht die leßten, die es befeuchteten. Die Schläfen
Hopften, die Nerven zucten bis in die Fingerfpigen.
Und ich war nidyt mehr Gottfried Bleibtreu, der Pfarr:
fohn und Pfarrerbe im Heidewinkel; ich trug nicht mehr
Strümpfe und Schnallenfchuhe, fchwarze Schalaune und
fpanifches Barett; ich trug fteife Stiefeln, gelbe Weite
und blauen Frack; ich war Diplomat und hieß Wilhelm
Werther. Die aber, für welche die Liebe mir den Tod
gab, war nicht ein Burgfräulein, fondern meinedgleichen
von einem Amtögehöft, wenn aud) die braunen Locken
fi) unvermerft in helles Gold und die fchwarzen Augen
blau wie Kornblumen färbten. Sie fehmierte Butter;
brote, loͤſte Pfänder, änderte mit mir nedifch und Iuftig,
wie ich die mit dem Erbfrönchen nimmer gefehen hatte.
Es daͤmmerte im Wald; ich hörte eine Glocke. Aber
38 Frau Erdmuthens Iwillingsföhne
das war nicht dad Gebimmel, das täglich einer Schar
lüfterner Sungen die Hoffnung auf ein Leibgericht er»
wedte; ed war das Sonnenuntergangsläuten von Wahl⸗
heim, ed war Grabesläuten. Mechanifch taumelte ich
heim, faß mutterfeelenallein im Halbdunkel des Zönafels;
ich berührte feinen Biffen, ftürzte nur mit Gier den
Becher hinab, fooft der Aufwärter ihn füllte. O Wunder
von Kanaan! Es war nicht fchäumendes Dünnbier, es
war Wein, Wein golden und feurig gleidy dem, welcher
den todentfchloffenen Süngling beim legten Lebewohl
durchglühte. Beraufcht ſchwankte ich zum Schlaffaal
hinauf, die langen Bettreihen grauften mid) an wie leere
Wertherſaͤrge; ich rafte zwifchen ihnen auf und ab, bie
Fäufte gegen die haͤmmernden Schläfen geballt. Der
Mafchmann trat ein, der wachthaltende Pedant! Er
mahnte, dad Ficht zu Iöfchen, und wünfchte wohl zu
ruhen. Zu ruhen! Als ob ich jemald wieder ruhen
würde!
Dennoch - die Efftafe handelt nicht immer folgerichtig -
dennoch legte ich das zerlefene Bändchen unter das Kopf⸗
fiffen, auf daß fein Genius meinen Traum regiere, und
ſchon wollte ich die blafende Talgkerze Löfchen, um im
Dunfeln weiter auf und ab zu rennen, da gewahrte id
einen Brief, den der Wafchmann unbemerkt zurücgelaffen
hatte; ich erfannte die väterliche Kandfchrift und — o,
du gewohnheitsmäßige Mafchine, Menſch genannt! - ich
erbrad) das Siegel und lag; las eine Pfingftoffenbarung
weit anderer Natur ald die, welche mid; am Dichter-
born durchſchauert hatte. Und nachdem ich gelefen und
wieder von vorn an gelefen, zog ich das tränenfeuchte
Bändchen unter dem Kopffiffen hervor, legte das Wort
Erſter Abſchnitt 89
aus dem Heimatsherzen an feine Stelle, blied das Talg⸗
licht aus, legte mich, betete und fchlief ein; ja, wahrlich,
ich fchlief ein vor dem naͤchſten Stundenfchlage und ers
wachte nicht früher, ald bis die Kirchenglode zum erften
Male läutete.
Ob ich geträumt habe, weiß ich nicht; das aber weiß
ih, daß am Morgen der Legationdrat in der gelben
MWefte mir wie ein Traumgefpinft in Gedanken lag,
daß ich ehrbar in Schalaune und Spanier zur Kirche
ging und bei der nädıften Begegnung am Dicdhterborn
meiner Pythia eine Erklärung gab, die idy aus meinem
fhüchternen Alumnenftil in den Spruch eined Freundes
umfchreiben will, der mir wie tus Batermunde gefluns
gen hat:
„Es gibt eine Tugend, die auch wie die Liebe durch
Leib und Leben geht und in jeder Ader zuckt und ftdrt;
nur daß fie mit vielem Ernfte errungen werden muß.
Wer fie aber errungen hat, dem wird fie reichlich lohnen
bei Regen und Sonnenſchein und wenn der Düftere Freund
mit der Senfe fommt.“
Ich bin an diefem Tage zum legten Wale nady dem
Dichterborngewandelt,unddastränengetränfte Bändchen
war das legte, das id; in die Hand meiner Gönnerin
zuruͤcklegte. Was ich aber mit diefer Abfchweifung, die
mit meiner Gefchichte nicht das Entferntefte zu fchaffen
hat, eigentlich habe fagen wollen, bas ift: Gottfried
Bleibtreu, der Pfarrerbe aus dem Heidewinkel, hat wohl
auch fein Luftfchiffchen fteigen laſſen, aber einen Fall⸗
ſchirm mit ſich geführt, der ihn rechtzeitig auf feinen
Grund zurücgetragen. Er hat ein Traumbild und eine
Heldin in feiner Seele gehegt, aber in ber verwegenften
40 Frau Erdmuthens Iwillingsföhne
Laune ift ihm nicht beigefommen, daß audy er hinwieders
um zum Spdeale feines Sdeald und zum Helden feiner
Heldin berufen fei. Wenn aber - falld heutzutage — ich
weiß es nicht - noch Traumbilder gehegt und Heldinnen
in dem Herzen getragen werden follten, wenn dann dein
Traumbild ein Erbfrönchen trägt, und wenn du deiner
Heldin nur bis zur Schulterhöhe reichft, fo rate ic) dir,
lieber Süngling, tu dedgleichen!
Der Balediftiondtag war vorüber; mein Herz klopfte
wie ein Hammer gegen das Zeugnis, dad den treueften
der Väter wohl erfreuen durfte; dad Stammbuch war
vollgefchrieben die Kreuz und Quer bis aufs legte Blatt.
„Wackrer Süngling, mögen Sie grünen und blühen wie
ein Olbaum!“ mit diefen Worten hatte meine Gönnerin
den legten Haͤndedruck begleitet. Die Abfchiedstränen
firömten, als ich das Raͤnzchen auf dem Rüden durch
das enge Pfortentor fchritt: acht Tage noch, acht Wan⸗
dertage, und ich war heim, heim!
Sch hatte in den fünf Sahren wenig Tatfächliches aus
dem geliebten Heideflecken erfahren; von Fräulein Erds
muthen ftand immer noch ein Gruß den mütterlichen Waſch⸗
zetteln angehängt; die Briefe des Vaters waren lediglich
erziehender Natur. Nun ängftete e8 mich, in den Ent»
fheidungstagen fein ftärfendes Wort aus feinem Herzen
erhalten zu haben.
Die Pfortentür war eben zugefallen, ald mir der Fa⸗
mulus meines Tutors nachgefprungen fam, mit einem
Briefe, der vor etlichen Tagen ald Einfchluß für mid,
angelangt, von dem grundgelehrten Herrn abzugeben
aber vergeffen worden war.
O, diefer väterliche Segensſpruch über das Kind, das
Erfter Abſchnitt 4
aus den Mutterarmen fcheidet hinaus in eine unbefannte
Welt. Er Hang mir wie ein Pfalter. Dreimal, viermal
lad ich ihn vom erften bie zum legten Wort; und erft
nachdem ich ihn mit gefalteten Händen aus dem Ges
dächtniffe wiederholt hatte, fiel mein Blick auf eine Rand⸗
bemerfung, die ich bisher überfehen. „Während deiner
Anwesenheit wird, fo Gott will, auch dad Ehebündnie
unferes lieben Fräulein Erdmuthe gefeiert werden.“
Das war ein Bombenſchlag! Ich ftand ftarr und fteif,
das Geficht hart an dem alten Gemäuer, lange, ich weiß
gar nicht, wie lange ich fo geftanden haben mag, bis die
Frau Tanzmeifterin über mir ihren Rofengeranium bes
goß, und die abfallenden Tropfen mir in den offenen Mund
ſpritzten. Deine Heldin war Braut, mein Ideal nahm einen
Mann! Sch rannte vorwärts, ald würde ich gehegt. -
Und, nicht wahr, nun fpufte wohl gar hinter mir drein
der felige Legationgfefretär mit der geladenen Piftole?
Ei beifeibe nicht folchen Aberglauben, meine Freunde!
Der arme Süngling blieb tot und begraben am Dichter;
born. Ich kann nicht einmal fagen, daß ed eigentlich
Schmerz gemwefen fei, der in mir rumorte, weit eher
Schred, - oder was empfändet ihr denn, wenn jach etwa
der liebe Mond oder fonft ein fchöner Stern zu euren
Füßen niederrollte?
Almählicdy mäßigte fih der Schritt. Adıt Wandertage
in Wind und Heidefand, dann und wann aud ein Re:
genfchauer, das ift nichts Leichtes für einen, der fünf
Sahre lang auf der Schulbanf ftillgefeffen hat; bie
Schuhe drücdten, das ſchwere Felleifen rieb die Schultern
wund, wer weiß, ob nicht felber der felige Legations—
fetretär, hätt er in feinen fteifen Stiefeln die Tour mit
48 Frau Erdmuthens Iwillingsfähne
mir gemacht, zu einem vernuͤnftigen Schluſſe gekommen
waͤre?
Freilich hatte ich mir mein Muthchen niemals in einer
anderen Verfaſſung vorgeſtellt, als der, wo ich ſie zum
erſten Male Fraͤulein Erdmuthe genannt. Aber haͤtte ich
ſie mir ihr Lebtage als Fraͤulein und ſchließlich als altes
Fraͤulein vorſtellen ſollen? Nennt Doktor Martin Luther
nicht die Ehe das große Wunder der Welt, und ſollte
einem Juͤnger Doktor Martin Luthers nicht frauliches,
hausmuͤtterliches Walten das Ideal eines chriſtlichen
Weibes erſt recht in Erfuͤllung bringen? O ſuͤße, drei⸗
mal ſuͤße Heimat, in welcher dieſes Traumbild vollen⸗
deter Schöne wandeln und wirken wird! Seine Strah⸗
lenfrone wuchs Schritt für Schritt, den ich mich feinem
Bereiche näherte, und ihr Glanz wetteiferte mit der
Zauberfönigin Sonne, um über die graue Heide ben
Purpur des Südens auszuſtreuen.
Ich war rüftig zugefchritten, auf daß ich mein Haus
noch an dem Tage erreichte, der mir vor fünf Jahren zu
einem Doppelfefte geworden war. Sie mochten mid)
fhon geftern erwartet haben; nun redjnete ich darauf,
daß alt und jung mir jubelnd, mit audgebreiteten Ars
men, entgegenfommen werde. Die erften Sterne taudıten
auf, als ich aus dem Walde trat. Schon am Klofter
fpähte ich nad) den lieben Gefichtern. Niemand da. An
der Kirchhofdmauer wieder niemand. Auch am Pfarrs
zaun alles feelenftill; das alte, liebe Neft lag wie aus⸗
geftorben. Atemlos Feuchend ruhte ich einen Augenblid
auf der Schwelle; da rief von der Dachluke herab eine
Stimme: „Gottfried! Bruder Gottfried!” und es ſtuͤrmte
einer die Stiege herab in meine ausgefpannten Arme.
Erſter Abſchnitt 48
„Lieb, mein Lich!” - fchluchzte id).
„Ei bewahre, nicht der Lieb, der — —“
„Richtig, der Lob, Herzenslob!“
„Bott behüte, Bruder Gottfried. Auch nicht der Lob!
Ich bin ja der Hold!“
Wahrhaftig; ed war das Neftfüfchen, der Heine Hold
in nagelneuem, fafrangelbem Drell und mit Pausbaden
fo rot wie ein Stettiner Apfel. - „Und du haft mid; gleich
wiedererfannt, mein Hold?” fragte ich.
„Ei warum denn nicht, Bruder Gottfried,” lachte der
Hold. „Der Mond fcheint ja, und du haft einen Ranzen
auf dem Rüden und fiehft aus akkurat wie der Herr
Papa!”
Sch konnte mich nicht fatt herzen an dem guten Geficht.
Sch war gar zu glüdlich, alled-genau fo wiederzufinden,
wie ich es verlafien hatte: den Kolunderzaun, das alte
Haus, die Pausbaden, den Safrandrell und auch mich
felber, ald Ebenbild des geliebten Herrn Papa.
„Aber nun mache, Gottfried!” fagte der Hold, indem
er fi) meinen Armen entwand. „Fir, wafche did; und
weil die Botenfrau deine Sachen erft morgen bringt,
foüft du des Herrn Vaters guten Rod anziehn. ‚Unter
dem Drnate brauche ich ihn nicht,“ hat der Herr Vater
gefagt.“
„Aber wo ift denn der Herr Bater? Wo find fie denn
alle, mein Hold?"
„Na, wo denn anders ald auf dem Schloffe zur Hoch⸗
zeit von Fräulein Erbmuthen?“
Zur Hochzeit von Fräulein Erdmuthen! Wie ein Blitz
fuhr die Poft durch die müden Glieder. Hätt ich mird
denn nicht denken fönnen am Michaelidtage? Aber „den
44 Frau Erdmuthens Swillingsfähne
Gottfried muß man mit der Naſe auf alles druͤcken“,
hatte die Frau Mutter von jeher geſagt.
Nun gings haſt du nicht geſehn. Der Hold ſchlug
Licht und wichſte die Wanderſchuhe, der Zopf wurde
friſch in den Haarbeutel gebunden, der vaͤterliche Braten⸗
rock paßte auf den Leib wie angegoſſen. Dann im Trabe
gings die Ulmen entlang. Von der Terraſſe ſtrahlte das
Schloß in Lichterglanz; Equipagen rollten auf und ab;
die Ortsleute draͤngten ſich Kopf bei Kopf. „Ich bin
auch geladen! Fraͤulein Erdmuthe hat die ganze Pfarre
geladen!“ jubelte der Hold und ſprang wie ein Boͤckchen
um mich herum.
Das Portal war wie vor fünf Jahren mit Laubgewin—⸗
ben befränzt, die Treppe mit Blumen beftreut; im Ahnen:
ſaale flimmerte eine Gefellfchaft noch zahlreicher und
glänzender ald dazumal. Ich ſchob mid; unbemerkt durch
die Füllung der Kofinfaffen im Hintergrunde und die
Wand entlang zwifchen eine Blumengruppe neben dem
Altar. Mein Vater harrte bereit in ftillem Gebet auf
der erhöhten Stufe; eben führte unfer Herr das verlobte
Paar ihm gegenüber. PVielarmige Kandelaber breiteten
Tageöhelle über Fräulein Erdmuthens Geftalt; fein Zuden
ihrer Wimper entging meinen gefpannten Blicken. Sie
war voller geworden, auch noch größer, ich mochte ihr
eben wieder bis zur Schulterhöhe reichen; der fchleppende,
weiße, filberfhimmernde Brofat, der bis zu den Füßen
niederwallende Spitenfchleier über dem Myrtenkranze
und Erbfröndyen auf dem Toupet erhöhten den Zauber
jungfräuficher Majeftät; unverändert aber ruhte über
dem ftillen Antlig jener Ausdruc von Kindesunfchuld und
Muttergüte, der mir von der Wiege bid zum Grabe die
Erfter Abſchnitt | 45
Erfcheinung dieſes Weibes zu einer unvergleichlichen ge-
madıt hat.
Die Trauung gefhah nad Doktor Luthers ftrengenn
Ritual; ald Tertwort aber milderte ed die hohe Liebes—⸗
rede der Ruth, Mit gefalteten Händen und flüfternden
tippen betete id; den goldenen Treufpruch nach bie zu
dem letzten: „Nur der Tod foll dich und mich fcheiden.”
Die Braut hatte die Lider nicht ein einziges Mal vom
Boden erhoben, jett aber, da die bindende Frage an fie
gerichtet ward, fchlug fie die Augen zu dem Mann an
ihrer Seite in die Höhe; und ein Blick wie diefer mag
die Ahnmutter des Weltenheilands verflärt haben, ale
fie fich zu einer ewigen Liebe verlobte; dann aber hallte
ihr Sa Mar und klangvoll durdy den Saal. Der alte
Freiherr hielt beide Arme ausgebreitet, und mir denchte,
ald ob die ritterlichen Ahnen ihre Häupter neigten, wähs
rend der Priefter Segen und Amen fpradı.
Der Schwarm ber Gäfte drängte ſich zum Gluͤckwunſch
um das vermählte Paar; auch ich ſchlich, meinen Ger
fühlen Luft zu machen, aus meinem Verſteck hervor.
MWährend ich nun fo im Hintergrunde auf der Lauer
ftand, ſchoß mir ein fchlauer Einfall durch den Kopf: ich
wollte meine Anrede Tateinifch halten; es dünfte mid,
feierlicher ald die Mutterfprache, eine zartfinnige Ans
Ipielung an die gemeinfame Schulbanf fchien ed mir
auch; was aber doch wohl der Hauptgrund war: ich hatte
ſolch ein Borgefühl, ald ob der junge Herr Gemahl meine
Huldigung in der Mundart bes Horaz nicht verftanden
haben würde, Eine Blumenlefe Haffifcher Sinniprüde
fproßte während weniger Dinuten in meinem Hirne auf,
die alma mater würde ftolz ihrem Zöglinge haben lauſchen
46 Frau Erdmuthens Bwillingsfähne
dürfen. Sept endlidy ift der Moment gefommen; Aug
in Auge ftehe ich dem hehren Weibe gegenüber, und -
da ſtockt der Atem in meiner Bruft, ein Tränenftrom ers
ftit die Stimme, und id) vermag weiter nichts als bie
beiden Hände, die fie mit der liebreichiten Miene mir
entgegenftrect, an mein Herz zu drüden.
In dem nämlichen Augenblicte wurden die Türen zum
Speifefaal aufgefchlagen; das junge Paar eröffnete den
Zug der Bäfte, um oben an der Tafel den Ehrenplag
einzunehmen, an welchem vor fünf Jahren ich neben
meiner Abendmahlgfchwefter präfidiert hatte. Wir, dem
unerwarteten Gaſte im geborgten Frad, ward am ents
gegengefegten Ende ein Gedeck zwifchen dem Verwalter
und Frau Bär, der Ausgeberin, eingefchoben. Nach
alter Felsfcher Sitte nahm, wie jeden Mittag, fo aud)
bei bedeutenden Feltgelegenheiten, alles, was im Haus⸗
ftande nicht im ftrengften Sinne Dienftbote hieß, am Fa⸗
milientifche teil. Heute reihte zu beiden Seiten ber
unteren Spige die muntere Pfarrjugend ſich an, bis dann
gradatim die Standesperfonen in die Höhe rückten.
Wie hatte die Neugier nach allen Veränderungen in
dem lieben Daheim ded wandernden Schülers Schritte
beflügelt! Nun faß dad Chor der Neftlinge um ihn
herum, herangewadhfen die, welche die Kinderfchuhe noch
nicht ausgetreten hatten, ald er fchied; flügge geworden
jene, weldye faum aus dem Ei gefrochen waren. Nun
zwitfcherte e& links und rechts wie im Slanarienfchlag,
einer den andern überbietend. Die merfwürdigften Poften
wurden dem Heimgekehrten vorgetragen, aber fein Ohr
war taub, die Zunge ſtumm. Mun fchimpfte der Vater
feines kleinen Mitſchuͤlers, daß der Guftel im Examen
Erfter Abſchnitt 47
durchgefallen, dahero ein Semefter nacdhzuererzieren und
der Ferienbefuch verbeten worden fei, während die Mutter
feined großen Mitfchülers, den er fo gerne Freund ges
nannt hätte, leife weinte und klagte, daß ihr Student
jede Einladung ihrer gnädigen Kerrfchaft, auch die zum
heutigen Feite, barſch abgefcdylagen und fogar das gute
theologifche Stipendium derfelben im Stich gelaffen habe,
um fortan auf eigene Unfoften auf den Advofaten zu flus
dieren. Was kümmerte den Gottfried Bleibtreu ber
feine Hecht oder der große Bär? Was fümmerten ihn
alle Mitfchüler und Landsleute, was alle Lumen und
Nichtlumen der Welt? Nüchtern feit morgens, wie hatte
der Magen ihm gefnurrt, der Mund ihm gewäffert nad)
einem heimifchen Leibgericht, einem Grügbrei oder Kar:
toffelpuffer; nun faß er an der ftrogenden Hochzeitstafel,
gönnte fich feinen Tropfen noch Biſſen; nur die Augen
fpannten mit Gier, um ja feine Regung, feinen Blick
am Chrenplage zu verfäumen.
Der Nachtifch wurde aufgetragen, ber turmhohe Hoch⸗
zeitöfuchen zerlegt. Am unteren Ende raufchten die Pas
pierbogen aus den Tafchen, in welchen der lieben Familie
ein Xederbiffen heimgetragen werden follte; am oberen
Ende fnallten die Champagnerpfropfen; eine Gefundheit
jagte die andere; das Vergnügen wurde immer größer,
will fagen lauter. Die Brautfräulein erhoben ſich, der
Neuvermählten den Kranz abzunehmen; eine von ihnen
ftülpte das Frauenhäubchen über die Fleine Erbfrone der
Feld. Es war Fräulein Iduna, unverändert wie ich fie
zulegt am Einfegnungstage gefehen hatte, über und über
rofenrot. Der Gerichtödireftor Hecht, der, weil er taub
war, auch große Geheimniffe nicht flüfterte, fondern fchrie,
48 Frau Erdmuthens Bwillingsfähne
erzählte, daß Fräulein Iduna den nämlichen Dienft —
den mit dem Frauenhäubchen - fchon Fräulein Erbmus
thend Frau Mutter erwiefen habe. Dem widerfprad in
geziemender Befcheidenheit Frau Bär: Fräulein Iduna
hatte der gnädigen Frau Mutter der jungen gnädigen
Frau nicht ald Brautjungfer das Frauenhäubdhen aufs
gefegt; fie hatte nur ald findlicher Engel Blumen auf
ihren Bochzeitöpfad geftreut. Frau Bär mußte dad am
beften wiffen, denn fie wußte ed von ihrem feligen Wann,
welcher ja Kammerdiener bei dem gnädigen Herrn Hoch⸗
jeiter gewefen war.
Während diefe wichtige Zeitfrage am unteren Ende ver⸗
handelt wurde, war am oberen eine Paufe entftanden;
die Blicke flogen hinüber und herüber. Dann allgemeine
Bewegung. Die alten Damen ficherten hinter den
Fächern, die jungen blinzelten durch das vorgehaltene
Meffeltüchelchen; die Herren, alt wie jung, rieben fid)
die Hände und ladıten, daß ihnen die Bäuche und Zöpfe
wacdelten. Die Brautführer ftürzten nady dem Ehren-
plage, wie zu einem begehrendwerten Dienft. Was be-
deutete das alled? Ich fpannte mit angehaltenem Atem.
Ich fah eine Blutwelle fi von den Wangen über Hals
und Schultern der Braut ergießen: die Hände kreuzweis
über der Bruft gefaltet, neigte fie fich flüfternd zu dem
Ohr des Vaters, der den Pla zu ihrer Rechten hatte.
War ed Sinnentäufchung, oder blickte fie wirklich an-
deutend zu mir hinunter? Der Freiherr lächelte, nickte,
erhob ſich; er fchritt die Tafel entlang, immer weiter
und weiter. Gerechter Simmel! Da fteht er hinter meinem
Stuhl! Ich fpringe auf, flarre ihm ins Geficht, wie
vor den Kopf gefchlagen.
Erfter Abſchnitt 49
„Grüß did, Gott, mein Junge!” fagt er, indem er mir
herzlich die Sand ſchuͤttelt. „Sch komme als ihr Ab»
gefandter. Du bift ihr alter Kumpan, und fie bittet dich,
eine gute Hochzeitsfitte an ihr wahrzunehmen und ihr
das — Strumpfband abzulöfen.”“
O, du züchtige alma mater! Haſt du darum deinen
Zögling den hohen Platon erponieren laffen, daß er
feinem Ideale das Strumpfband Löfen fol? O, du mein
frommer Kerr Vater, ift dad auch eine Berufung zu
Heil und Dienft? Steht, ach, fteht ihm bei, eurem klaͤg⸗
lichen Sohn! Seht, da taumelt er feinem alten Herrn
hinterdrein; feine Knie fchlottern, Falter Angftfchweiß
tropft von feiner Stirn. Alle Blicke richten fidy auf ihn.
„Gluͤckspilz!“ fchreit der alte Hecht. Schallendes Ges
ächter durch den ganzen Saal.
Sept find wir am oberen Ende. „Courage, mein
Zunge!” fagt der Freiherr, gibt dem Seffel der Tochter
einen Seitenrud und dudt den armen Schächer auf das
Kiffen zu ihren Füßen nieder, fein Kopf finft in ihren
Schoß, und - und nun fragt ihn nicht, was weiter mit
ihm gefchehen oder von ihm verübt worden, und wie
er wieder auf feine Beine gefommen if. Die Augen
fchwimmen ihm; wie durd einen ſchwarzen Flor fieht
er die Schar der Junggefellen ſich reißen um ein rofen-
roted Band in feiner Hand; der junge Gemahl erbeutet
ed ald Sieger. Er preßt fein Weibchen in den Arm
und entführt ed durch eine Seitentür.
Trompetengefchmetter und Gläferflirren, Subelgefchrei
und Händellatfchen! „Und als der Großvater die Groß⸗
mutter nahm”, ſtimmt der Gerichtödireftor an. Der
alte Kumpan aber drüdt ſich die Wände entlang aus
xzX.4
50 Fran Erdmuthens Swillingsfähne
der Tür, ftürmt die Ulmen hinab und hinauf in das
Bodenfämmerchen, in welchem vor wenig Stunden der
Kleine in Safrandrelli nad) ihm ausdlugte, und meint
ihr wohl, daß er die Nadıt auf Rofen gebettet lag?
Als der Morgen daͤmmerte, ftand er - fchon oder noch?
- an der Luke und ftarrte in die Landfchaft hinaus, Die
er geftern in Purpur hatte glühen fehen. Heute vers
fhwammen Himmel und Erde grau in grau; in ihm
und um ihn war es fterbensftille. Auf dem Schloffe
wie im Wirtfchaftshof hatten fie Hochzeit gefeiert bie
zum Hahnenſchrei. Nun fohliefen fie aus; felber das
nüchterne Pfarrhaus lag noch im Schlummer.
Lange hatte ich fo geradeaus in den ftillen, unbemweg-
lichen Nebel geftarrt; da regte ſichs mählich; vom Him⸗
mel herab fehimmerte es gelblich durch den weißen
Schleier; von der Erde herauf Fang ed wie fernee
Geroll. Smmer näher und näher der Hall, immer klarer
das Tageslicht. Da bricht die Sonne durch den Nebel.
Ihr erfter Strahl fällt in den vergoldeten Glaswagen,
welcher das hodhzeitliche Paar zur Reverenz an den fur-
fürftlichen Hof entführt. Die Hände von Mann und
Weib find verfchräntt, die Augen blicken ineinander, wie
in einen Himmel voll Seligfeit. Vorüber am Holunder⸗
zaun, vorüber am Klofterhof, hinein in die Heide! Der
Nebel ift gefallen; die Landſchaft Teuchtet wieder. Sch
breite meine Arme aus und rufe hinein in den Flaren
Morgenhimmel: „Gott fegne dich, Frau Erdmuthe!“
* *
% [4
Das erfte Univerfitätsiahr war abgelaufen. Einem,
der fid) im Joche ded Alumnats nidyt wund gerieben
Erfter Abſchnitt 51
hat, wird auch die afademifche Freiheit nur mäßig zu
Kopfe fteigen; außerdem forgte ſchon das Konvikt für
ruhig Blut. Da ich einige Nepetitionen mit maroden
Nachzuͤglern unter meinen Kommilitonen übernommen
hatte, war idy während ber Zeit nicht im Elternhaufe
eingefehrt und erft zur Herbſtvakanz wieder auf der
Wanderung durd, die Felöfche Heide, um zunaͤchſt mor⸗
gen Frau Erdmuthens dreifachen Ehrentag in ihrer
Heimat zu begehen.
Der Forft lag hinter mir; ich fchlug durch den Klofter-
hof den naͤchſten Weg unter die Ulmen ein und ftand
eine Weile zwifchen den Trümmern ftill. Vielleicht weil
die tiefe, fcharfipigige Woͤlbung, durch die ich blickte,
mich an das Portal meiner Pfortenkirche erinnerte, bes
trachtete ich zum erften Male mit einer Art von archaͤo⸗
Logifchem Intereſſe die Umriffe der Kapelle, welche wie
durch ein Wunder ber übrigen Zerftörung entgangen
waren. Unter Schutt halb vergraben, ftand noch mir
gegenüber der fleinerne Altar; ein fchwarzes Marmor:
freuz lehnte fich an eine Pfeilernifche, die ein Heiligen⸗
bild, einen Weihfeffel oder eine Lampe enthalten haben
mochte, In mir daͤmmerte eine Vorftellung von dem
herrlichen Altarplaß, zu welchem dieſes Bruchftücd her-
geftellt werden könnte, wenn hinter ihm aus den Klofter-
trüummern ein Kirchenfchiff im gleichen Stile errichtet
würde. In folchem Keiligtume dereinft meined Erbam-
ted zu warten — ach Schülertraum! Wie wenig ahnte
ich Zeit und Schickſal, unter welchen er fidy zur Wirk
lichkeit geftalten follte.
Ich wurde in diefer Betrachtung unterbrochen durch
das Dreiblatt in Safrandrell; heute nicht mehr nagel-
52 Frau Erdmuthens Swillingsföhne
neu, fondern wochentägig abgeblaßt. Eine hochwichtige
Poft wurde mir im Chore entgegengefchmettert: Auf
dem Schloffe waren Zwillingsjunfer eingeflogen; „einer
für den Burghof und einer für den Klofterhof“, hatte
unfer Herr gefagt, und für morgen war die Taufe ans
gemeldet. Wieder eine Michaelisfeier in der Heimat!
Als wir über den Gottesader fchritten, fiel eine Reihe
frifcher Grabhügel mir auf. Es ftürben viele Leute, ers
flärten die Brüder;_in der Pfarre wäre aber alles ge-
fund und im Schlofle auch.
Doch fand ich meinen Vater bleich und tiefbefiimmert.
Unfer regelmäßiges Kerbitfieber hatte heuer einen rapis
den, bösartigen Charafter angenommen: bie Menfchen
ftarben hin wie die Fliegen, die geiftige wie die leib-
liche Not war groß. Der herrliche Mann gönnte Nadıt
wie Tag fich feine Ruhe, zu erbauen und aufzurichten,
zu fpenden, wad vom Eigenen irgend entbehrt, von Frems
den irgend erbeten werden fonnte. Sch erfchien ald Bei⸗
ftand zur rechten Zeit; denn, da der Schulmeifter dar:
niederlag, war nicht allein die Schule geſchloſſen, fons
dern auch das Küfteramt verwaift. Mit diefem Nots
poften follte der Pfarrerbe feine Laufbahn beginnen, und
zwar zum erften Dale bei der Taufe der Zwillingsbrüder
auf dem Edelhofe.
So trug ic denn am anderen Morgen, dad Küfter-
mäntelchen über den noch einmal dargeliehenen fhwarzen
Leibrocd gehängt, Taufbecken und Kanne unferer Kirche
- eine Dotation ded erften lutherifchen Feld - dem Pfarr-
herrn hinterdrein zum Schloffe hinan. Wie leblos war
heute der Ulmengang, auf dem ed vor einem Jahre fo
feftlich gewogt hatte. Die Gefahr der Anftedung hielt
Erfter Abſchnitt 58
die ftillfte eier geboten; der Großvater der Täuflinge
hatte die erfte, der Bater die zweite Patenftelle über:
nommen; zum vorfchriftömäßigen dritten Zeugen war
der Gerichtedireftor Hecht erwählt. Auch die Hofdiener⸗
fchaft blieb von dem heutigen Afte ausgefchloffen.
Pfarrer und Küfter waren die erften im Ahnenfaal;
bald folgte der junge Herr mit beforgter Wiene und
der Bitte, die Zeremonie fo weit als tunlich abzufürzen,
da fidy bei feinem Schwiegervater eine Anmwandlung
gezeigt, die Ruhe zu fordern fcheine. In der Tat, ale
unfer alter Herr jegt eintrat, mußten wir nicht, wieviel
von feiner fteberhaften Erregung der Freude über ſeines
Hauſes Glüd, wieviel böfen Vorboten zuzufchreiben fei.
Zudem wurde eine neue Sorgenbotfchaft gebradıt: der
Gerichtödireftor war plöglicdh von einem Schüttelfroft
befallen worden; der dritte Zeuge fehlte demnad. Es
gab ein Hins und Widerlaufen, bie dann endlich, im
Namen Frau Erdmuthens, die Bitte an mich erging,
ihrer Kinder Pate zu werden. Sch, der KüftersStudent!
Das war ein anderer Freundeddienft ald der, zu welchem
ih vor einem Jahre in diefem Naume berufen wurde.
Ich fühlte mich ftolz wie einer, dem man eine Krone ans
getragen hat.
Sobald die Täuflinge auf den Armen ihrer Wärterinnen
hereingebracdht worden waren, öffnete ſich die Seitentür,
durch welche frohlodend damals der Gemahl fein bräuts
liches Weib entführt hatte. Heute rollte er den Seſſel
in den Saal, in welchem die junge Mutter dem Weihe⸗
afte ihrer Kinder beimohnte. Im nämlichen Augenblid
goß der Küfter das Waſſer in dad Beden, und der Ges
vatter ftellte fi) an die Seite feines alten Herrn.
[4
54 Frau Erdmuthens 3willingsſoͤhne
Er hielt den Erftgeborenen feiner Enfel — berfelbe
hatte den Vorfprung einer Stunde -, feinen Namens⸗
erben, auf den Armen, zitterte aber bald fo heftig, daß
er ihn in die meinen legen mußte, während das Brübder-
chen von feinem Vater gehalten ward. Der Taufaft
befchränfte ficy auf die Iutherifche Formel und ein Ge-
bet; und allen war beflommen zu Sinn; der Freiherr
hatte fein Ja kaum noch vernehmlich ſtammeln fönnen;
wir atmeten erleichtert, ald er fich feßen durfte und nun
die Kinder für den fohönen Brauch der Einfegnung in
die Arme der Mutter gelegt wurden.
Wer fiebenzig Sahre Iebt im Laufe diefer Welt, der
lernt gar manches begreifen von dem Erbteil, dem wir
zur Stunde im Namen diefer Kindlein entfagt hatten,
und lernt begreifend es entfchuldigen. Sch weiß daher
heute, und ich wußte es vielleicht damals fchon, daß ein
nicht ftarf gefeftetes Herz fich in begehrender Liebe zu
dem Weibe eined andern verirren mag. Daß aber einer
nach der Mutter von eined andern Kinde begehren könne,
das habe ich niemals begreifen lernen und begriff ed am
wenigften in der Stunde, da id; meine Freundin Erd⸗
muthe, bleicher als fonft, aber fchöner denn je, ihre
Zwillingsföhne im Arm, für das Amt der Mutter den
priefterlichen Segen empfangen fah.
Es waren ftarfentwicelte, wohlgebildete Knaben, beide
unter dem Träufeln des Taufwaſſers erwadıt. Der
ältere, ein Weißköpfchen, blickte, als ob er die ftillende
Nähe fpüre,- unbeweglich zu der Mutter in die Hoͤh;
der andere, ſchon mit kurzem, fchwarzem Gelock, zappelte
und murrte; Frau Erdbmuthe wiegte ihn im Arm, um
während des Gegend einem Ausbruch vorzubeugen.
Erfter Abſchnitt 55
Schwankend, aber mit verflärendem Lächeln, Elammerte
fidy der alte Freiherr an die Lehne des Seſſels, und der
jugendliche Vater blidte freudetrunfen auf fein reiches
Gluͤck; ja felber über die toten Zeugen vergangener
Sahrhunderte zauberte das fcharfe Morgenlicht einen
lebenswarmen Glanz; die Schwerter in der Kauft ber
beiden proteftantifchen Kämpen funfelten wie zu Wehr
und Schuß für dad neue Gefchledht. Frau Erdmuthens
goldener Scheitel leuchtete wie eine Glorie über dem
demäütig gefenkten Haupt. Mein Herz fchlug in hödhfter
Befeligung: nicht die Sungfrau, nicht das Weib, die
Mutter Erdmuthe hatte das Traumbild meiner Seele
erfüllt.
Ach, ed waren büftere Schatten, welche auf lange Zeit
diefes Sonnenbild verhüllten. Kaum daß die Mutter
mit den Kindern den Saal verlaffen hatte, fahen wir
den Freiherrn mit einem Schauder zufammenftürzen.
Drei Tage fpäter war der athletifche, bis dahin kern⸗
gefunde Dann eine Leiche. Ich wandelte während diefer
Zeit von Siechen⸗ zu Sterbebetten und von diefen hin-
aus zur legten Ruheſtatt. Auch an dem Lager unferes
Herrn und an feiner Bahre wachte idy mandje Stunde
bei Tag und Nadıt; Frau Erdmuthen aber fah ich nicht
wieder; man hatte ihr die Gefahr ihres Vaters bis zum
Außerften verheimlicht und gegen den legten Abſchied
ihre Mutterpflichten angeregt.
Mein Bater hatte mit faft übermenfchlicher Anftrengung
bisher ftandgehalten; als er aber den Segen über dem
Grabe feines alten Freundes gefprochen hatte, bradı
auch er zufammen.
Wochenlang faßen wir nun an feinem langjamen
56 Frau Erdmuthens Swillingsfähne
Sterbelager; die milde Natur und Gemwöhnung bewährte
fidh in dem Charafter der Krankheit: er rafte nicht in
Fieberglut, er klagte über feinen Schmerz, feine Angft;
fein Geift blieb Far und feine Seele freudig; fterben
hieß ihm ja in die Heimat berufen werden. D! Wenn
ich jemals gezweifelt hätte an dem Spruche: „Ihr wißt,
wo ich hingehe, und ihr wißt auch den Weg“, an die:
fem Zotenbette wäre mir der Glaube feft geworden.
Und nun war dad Legte vollbracht, der teure Mann
zur Ruhe gelegt. Ahnungsſelig wie fonftmald am end⸗
ofen Sternenhimmel, hängt nun der Blick an dem frifchen
Hügel, den die Arme umfpannen können; der Erdenftaub
verweht, und der Klagelaut verftummt; eine heilige
Sehnfucht fächelt und mit lindem Engelöflügel. Und
heute noch fagt der Greid: einen reineren Schmerz, ale
den des Sünglings, der einen Vater wie diefen verloren
hat, nein, einen reineren Schmerz gibt ed nicht, —
Sch hatte bis dahin nur das Loͤſen des ftärfften Blutes⸗
und Geiftesbandes empfunden; mir war, ald ob mein
Leben verfiechen muͤſſe mit dem Quell, der ed genährt.
Erft die Grabrede eined benachbarten Amtsbruders,
dem der Gefchiedene das Vormundfchaftsamt übertragen
hatte, erinnerte mid) daran, daß mit dem Vaternamen
noch ein anderer Sinn, ald der des Erzeugerd und Bild»
ner verbunden fei, daß eine Witwe und acht Waifen
den Berforger verloren hatten.
Der treue Familienfreund verließ und vor dem friſch
gefüllten Hügel mit dem Verfprecdhen, morgen zur Ord⸗
nung unferer Obliegenheiten zuräczufehren. Auch die
Mutter, die ſchluchzenden Gefchwifter gingen heim, bie
Gemeinde zerftreute fich, ein jeder in Tränen. In diefen
Erfter Abfchnitt 37
armfeligen, verwilderten Gefchöpfen, von denen faum
eined ohne Trauerzeichen um einen Begrabenen bed ei-
genen Blutes gefommen war, regte fich eine Ahnung
beffen, was fie an diefem Wanne verloren hatten, und
manches Samentorn, das er ausgeftreut, ging auf in
dieſer Schattengzeit.
Es war um die Mittagsſtunde, daß wir ihn hinauöge-
tragen hatten; als aber die Sonne fant, faß ich noch
immer auf dem einfamen Huͤgel in hartem Ringen zwi-
fhen fehnfüchtigen Träumen und dem Bewußtwerden
meiner Tagespflicht. Endlich war ich mir klar geworden,
wenn auch nicht völlig über das, was ich zu tun, fo
doch über das, was ich aufzugeben hatte. Ich legte
das geiftliche Erbteil der Väter auf dem Grabe bes
Mannes nieder, der mich dafür gebildet hatte, und in
diefer Stunde duͤnkte ed mir fein Opfer, das ich brachte.
Mit ſolchem Abfchluß kehrte ich, als der trübe Oftober-
tag fidh neigte, nad) dem verwaiften Vaterhaufe zurüd.
In Tautlofer Stille war während der Krankenwochen
darin gewaltet worden; das Schweigen des Todes hatte
die jüngften Tage geweiht; nun graute mich fat vor
dem erften lauten Wort, das ich fraft meined Vorfates
in diefem Keiligtume erheben follte. Wie ftarrte ich
daher auf der Schwelle beim Anblid der Verwandlung,
die fi) binnen wenigen Stunden darin erhoben hatte.
Der Fußboden fhwamm, das Herdfeuer praffelte und
der Suppentopf brodelte; das feftliche Trauerzeug war
abgelegt, hochgefchärzt und in Hemdsärmeln fchäffterte
ein jeder am angewiefenen Pla. Die Mutter räumte
die Sterbefammer auf; die eine Schweſter fcheuerte, die
andere fochte, zwei fanden vor dem Buͤkefaß; Lieb und
58 Frau Erdmuthens 3willingsſoͤhne
— — — — —
Lob klopften Betten aus, auch dem Juͤngſten waren
Buͤrſte und Flederwiſch in die Hand gegeben. Keiner
ſah auf, von aller Stirnen tropfte der Schweiß.
Mein Herz krampfte zuſammen vor dieſem Werkeltags⸗
bild nach der Sabbatſtille. Ein Blick jedoch von den
rauhen Händen auf die geſchwollenen Lider und abge:
zehrten Wangen meiner Mutter, und ich begriff, daß,
wenn eine, diefe Frau gefchaffen fei, adıt Waiſen den
Vater zu erfegen, und daß mein Teil fein anderer, als
unter ihrer Führung ftil das Werkzeug in die Band zu
nehmen.
So, zum Gehorfam gefaßt, trat ich an fie heran, bittend,
die unerläßlichen Veränderungen unferer Rage miteins
ander zu beraten.
„Erft unfere Mahlzeit“, fagte fie, indem fie mir in
bie bligblanf hergerichtete Wohnftube voranfchritt. Die
häusliche Ordnung war während unferer Angftwochen
unterbrochen und die Sorge für das Leibliche verfäumt
worden; nun fland die Tafel gedeckt wie zu einem Feft;
zwei alte Kennen hatten „daran glauben müffen“; auf
der Reisfchäffel waren Musfate und Safran nicht ges
ſpart. Die Mutter fegte ſich an ded Vaters Platz, betete
an feiner Statt und legte vor, mir das zarte Bruſtſtuͤck,
bas fonft ihm zugute gefommen war; dann füllte fie
ihren eigenen Teller; die Gefchwifter folgten ohne Nöti-
gung. Mir widerflande. „IB!“ fagte die Mutter, „des
Menfchen Notdurft ift Gottes Ordnung“.
Und wenngleich der erfte Biffen mich wie Wurmfamen
wuͤrgte, ich fchlang dad Bruftftäc hinunter und auf ein
zweited muͤtterliches „IB!“ auch eine reichliche Ladung
Heid. Die Mutter entkorfte darauf eine Flafche, Die
Erfter Abſchnitt 59
während ber Krankheit vom Schloffe geſchickt worden
war, fchenfte jedem ein Spipgläschen voll ein und leerte
das ihre mit den Worten: „Ihr follt eben, meine Kin»
der!”
Noch zögerte ich; ald aber die Mutter fagte: „Trinke,
mein Sohn”, tranf ich8 auf einen Zug.
Die legte eßbare Spur war von Tellern und Schüffeln
verfchwunden, dad Dankgebet wie fonft vom Süngften
gefprochen; die Schweſtern räumten ab; der muntere
Schwarm flog aus der Stube, ein jedes an fein Ge⸗
ſchaͤft; ich war mit der Mutter allein. „Jetzt rede,
Gottfried”, fagte fie, nachdem fie die Krümel für bie
Hühner aus dem Fenfter gefchüttet und das Tiſchtuch
forgfältig in die urfprünglichen Brüche gelegt hatte,
Die fräftige Nahrung hatte mir wirklich den Kopf auf:
geräumt und den fehmebenden Plänen eine beftimmte
Richtung gegeben. Ob der Grundgedanke der Leichen:
ſchmaͤuſe etwa doch nicht fo ganz „ohne“ gewefen ift?
Sch erflärte der Mutter, daß ich entfchloffen fei, nicht
nad Wittenberg zurücdzufehren, fondern hier am Ort
mich um die durch den Tod erledigte Lehrers und Küfter-
ftelle zu bewerben, und zwar nicht ald Übergangsftabium,
wie der felige Vater es gewünfcht, fondern als Beruf
für mein ganzes fünftiges Leben.
Die Mutter ſchwieg eine Weile; mir fchien, daß fie
eine Träne niederfämpfte; dann brüdte fie mir die Hand
und fragte: „Iſt Dir der Brief, den ich dir in die Pforte
gefchrieben habe, noch gegenwärtig, mein Sohn?” Als
ich die Frage bejahte, fuhr fie fort: „Nun denn, ein
Wort fo viel, wie taufend, Gottfried: der Menfch fol
alles wollen, was er fann, aber nichts, was er nicht
60 Frau Erdmuthens 3willingsſoͤhne
kann. Im uͤbrigen werden wir die Sache morgen mit
dem Herrn Vormund beraten. Erſt ausſchlafen! Ja,
ſchlafen!“ wiederholte ſie, mein unglaͤubiges Kopfſchuͤt⸗
teln widerlegend. „Schlafen, um wach zu werden, mein
Sohn. Wolle nur ſchlafen, und du kannſt auch das.
Zuvor aber geh noch aufs Schloß; die liebe Gnaͤdige
hat heute ſchon zweimal nach dir geſchickt.“
Sie nahm nach dieſer Rede das Staubtuch wieder auf,
ein Zeichen, daß ich unwiderruflich entlaſſen ſei. Ich
machte mich auf den Weg nad) dem Schloſſe. Die haͤus⸗
liche Szene hatte meine Lebensgeiſter merflich aufge:
frifcht. Sch befann mid; darauf, daß der entlaubte
Ulmengang noch grün geftanden hatte, als ich ihn zum
legten Wale betreten, und fühlte eö wie einen Vorwurf,
faum einmal in diefer Zeit der Freundin gedadıt zu
haben, welche gleiche® Herzeleid wie ich erfahren hatte.
„Ihro Gnaden erwarten den Mosjoͤ Bleibtreu”, fagte
der alte Feldfche Kammerdiener, indem er leiſe die Tür
des Familienzimmersd öffnete und auf ein Kabinett an
der entgegengefegten Seite wies.
Mit bangeflopfendem Kerzen ftand ich eine Weile un-
bemerkt hinter den Falten der Portiere. Sechs Jahre
hatte ich von den Lippen meiner Freundin feinen Laut
vernommen, ald das Ta, das fie zur Gattin eines mir
fremden Mannes machte. Alles in ihrer Umgebung war
mir neu; felber die häusliche Einrichtung mit Ausnahme
des Ahnenſaales.
Das Kabinett war matt durch eine Schirmlampe bes
leuchtet; dem Eingang gegenüber auf dem Kanapee faß
Frau Erdmutheintiefem Trauerkleid; die fchwarze Krepp-
haube über dem goldenen Haar; ihre Züge hatten fidh
Erfter Abſchnitt 6
gebehnt; Tränen rannen über die blütenweißen Wangen.
Meben ihr ftand die Wiege, in welcher die Knaben
fchlummerten; jetzt regte ſichs in derfelben; fie fegte die
Schaufel in Bewegung, beugte ſich nieder, haudıte einen
Kup auf jede Stirn, und ald fie wieder ftill geworden
waren, erhob fie ſich, ein Lächeln der Glüdfeligfeit auf
den Lippen.
Mit ſchwimmenden Augen trat ich nun vor, druͤckte ihre
Hände und rief: „Meine liebe, liebe gnädige Frau!“
Sie fah mid) bei diefer Anrede mit vermunderten Augen
an und noch einmal flog es wie ein Lächeln über ihre
Züge; dann fagte fie: „Du haft recht, mein Gottfried,
unfer Äußeres Verhältnis ift ein andered geworden.
Heute aber laß ed noch bei dem vertrauten Du; heute
noch laß und nur die Kinder des teuren Mannes fein,
ben wir beide beweinen.“
Und nun Iöfte fie mir die Seele mit linden Fragen
uber meine große Erfahrung; Erinnern reihte fidh an
Erinnern. Sie hatte die heilige Natur des Toten erfaßt
wie feiner fonftz auch die Freundfchaft wurde berührt,
die unfere Väter und fchon die Großväter verbunden
hatte. Während dieſes gegenfeitigen Geflüfterd war
eines der Sinäbchen laut geworden. „Meine kleinen
Herren werden und nicht lange mehr Frieden laffen“,
fagte fie, indem fie das Kind in ihren Armen wieder
fill wiegte. „Sieh ihn dir einmal an, lieber Gottfried,
den Heinen Unruhftifter. Du haft während ber Taufe
nur Augen für fein Brüderchen gehabt; fie find aber
beide deine Paten; bu wirft beide lieb haben, beide
gleich lieb, mein Gottfried, nicht wahr?“
„Nun aber,” fuhr fie fort, nachdem fie ben Kleinen
62 Fran Erdmuthens Zwillingsföhne
wieder niedergelegt hatte, „nun laß und heute noch mit
einander befprechen, worüber du vor dem Einfchreiten
des Vormunds in dir felber Har fein mußt. Es ift mein
innerfted Anliegen, wie dad meined Mannes, den fein
Dienft in diefen Tagen leider ferne hält.“
Sch rücdte meinen Stuhl näher an die Wiege, die ich
mechanifch fchaufelte. Frau Erdmuthe hob an:
„Sei überzeugt, lieber Gottfried, daß mein Mann,
wenn deine Sahre ſich um zwei oder drei vorrücden ließen,
feinen anderen ald dich in das Amt deines Vaters be-
rufen würde, Deine wie meine Erziehung war ja auf
diefen Fortlauf angelegt. Gott hat ed anders gefügt:
wir müffen ung ein Mittelglied gefallen laffen. Weißt
du nun einen in diefem Sinne zum Nadıfolger und Vor-
gänger geeigneteren, ald unferen Nachbar Heidenreuter?
Meinem Manne empfiehlt er fidy auch darum, weil er
euer Bormund iſt; bejahrt und ohne eigene Familie;
bald wird er eines Gehilfen, in berechenbarer Zeit eines
Nachfolgers bedürftig fein. Diefer Gehilfe, diefer Nach⸗
folger bift du. Rede mir nicht darein, Gottfried, du!
„Wir find feit den Kinderjahren einander fern gewefen,
aber, wie ald Kind, leſe ich heute noch in deiner Seele
und ahne die felbftüberwindenden Pläne, mit denen bu
dich trägft. Nicht immer aber foheint mir das Schwerfte
auch das Richtige zu fein, und es ift felten weife, in
rafcher Eingebung die Zukunft der Gegenwart aufzus
opfern. Sch habe dies Fürzlich an mir felbft erfahren,
als ich dem Freunde den Platz an meines lieben Vaters
Lager überließ und an der Wiege meiner Kinder aus-
harrte. Du wuͤrdeſt deines Heimgegangenen teuerfte
Erbenhoffnung, deiner Mutter Zufunftötroft zerftären,
Erfter Abſchnitt 63
indem du den eingeborenen Beruf verleugneteft. Du
mußt weiter ftudieren, mußt Pfarrer werden, Gottfried.
„Du haft did ſchon im erften Univerfitätsjahre faft
allein erhalten, legſt deiner Familie feine Laften auf;
als Neuling in jeder anderen Bahn wuͤrdeſt du ihr nur
eine ſchwache Stüße fein; um fo zuverläffiger dereinft,
wenn du auf deinem Wege ausgeharrt haft. Die Mutter,
fo Gott will, wird den ſchweren Schritt in das Witwens
haus nimmer zu tun haben. Wie follte der einfame
Pfarrer nicht froh fein, die alte Freundin in den ge-
wohnten Räumen fchalten zu fehen? Was aber unfere
Schweitern betrifft, Tieber Gottfried, fo duͤnken vier mid)
noch nicht genug für alle Hilfe, deren ich, feit meine
fleine Herren eingezogen find, im Kaufe bedarf. Mit
wem follte ich ihre Pflege wohl lieber teilen, als mit
deiner Chriftine, die das geborene Mütterchen ift. Frau
Bär Fränfelt; ihr Sohn befteht darauf, daß fie unfer
Haus verläßt. Es ift eine ftolze Natur, diefer Albrecht;
laß dich durch feine Herbigfeit nicht abfchreden, Tieber
Gottfried. Er braucht einen Freund, und ich wüßte feinen,
der ihm Freund fein könnte, wie du. Ich wüßte aber
auch feine, die mir die treue Frau Bär erfegen könnte,
als die Martha des Pfarrhofes, deine Ehriftophine. Wenn
ich aber auf die Berge von Sandarbeiten, die vor mir
liegen, blide, fo denfe ich mit Schreden daran, daß die
gute Mutter eine unferer Süngften zu ihrem Veiftande
behalten möchte. Und wie lange wird es denn dauern,
ftellen, einer nach dem anderen, die Freier fich ein, um
fich mit einem Weibchen von der beiten Sorte den ei-
genen Herd zu begründen.
„Bleiben alfo die Brüder, von denen der Lieb ja reif
64 Frau Erdmuthens Iwiltingsföhne
zur Einfegnung ift. Er hat Luft zur Landwirtfchaft, und
mein Mann, den fein Dienft fo vielfach an derfelben
hindert, wird Gott danfen, wenn ihm unter unjeren
Augen ein tüchtiger Verwalter erwaͤchſt. Die beiden
Juͤngſten muͤſſen freilich noch Sahr und Tag auf ber
Schulbank file halten; bleibt aber Lob, der Herums
fireifer, der Liebe für Wald und Wild getreu, fo wird
unferem alten Förfter die Gefellfchaft eines munteren
Lehrlings willkommen fein, und wie werden wir bes
Zimmermeifterd Hold bedürfen, wenn ed in unferem
Heideflecken dereinft ein wenig wohnlicher werden fol.
Alles das find Luftfchlöffer, Lieber Gottfried; die Neigung
der Kinder kann ſich ändern; Mutter und Bormund haben
auch ein Wort darein zu reden; das aber fiehft du heute
fhon, daß in unferem Meinen Reiche mancher Poften
eined Anwärterd harrt.“
Die herrliche Frau hatte im Eifer einen ftillaunigen
Ton angefchlagen, ber ihrem Wefen fonft ferne lag; mir
aber war er ein burchfichtiger Schleier, den die Liebe
über nacdte Hilfe warf, und Gott weiß, wie mir bag
Herz bei diefer feltenen Anmutögabe ſchwoll!
„Wenn wir nun aber“, fo fuhr fie nadı einer ftillbes
wegten Paufe fort, indem fie mir noch einmal die Hand
reichte, „wenn wir feinen einzigen unferer jungen Freunde
miffen, fie alle recht feſt an unfere Heimat binden
möchten, wieviel mehr noch den Bruder von der Wiege
ab, den vorbeftimmten Erben der Freundfchaft, welche
die Väter verbunden hat. Meinft du, mein Gottfried,
dag wir dich Fremden überlaffen könnten, bis du ale
Sorger für unfere Seelen in dad Amt der Bleibtreu
aufgerächt bit? Nimmer, nimmermehr! Du kommſt zu
Erfter Abſchnitt 65
und. Schau dir meine Lieblinge nody einmal redyt an,
mein Gottfried; fie werden in zwei, drei Sahren noch
gar winzige Bürfchchen fein, aber der führenden Hand
auch dann ſchon bedürfen. Wie verehre ich die Fügung,
die fie zu deinen Paten machte! Ein Band mehr, das bir
Mühen und Sorgen erleichtern wird. Du wirft fie hegen
wie feiner fonft: Gott hat die Kinderliebe auf deine
Stirn gezeichnet. Not genug werben fie dir freilich
machen, Freund; der Fleine ſchwarze ift ein gar uns
bändiger Gefel. Hörft du? Da fchreit er aus vollem
Halfe. Dein Schaufeln verfchlägt nicht mehr; die ruhige
Stunde ift um. Gute Nacht, mein Gottfried. Erft gib
mir aber noch die Hand darauf, daß du zu und fommen
willſt. Wir werden die Tage zählen, bis wir dich haben
als den Unferen, den Unferen bis and Ende.“
Sie ſchwieg. Und ich? Was hätte ich tun Fönnen, als
zu ihren Füßen niederfallen, ihre Hände an mein Herz
druͤcken, dann aber mich über die Wiege beugen, meine
Lippen auf die Stirnen ber Zwillingsbrüder preflen und
aus dem Zimmer ftürzenz alles ohne ein Wort, dad ein
anderer ald die im Himmel vernommen hätte Die
aber, mein ewiger Vater und der ed hienieden gewefen
war, fie werben es gehört haben, daß ich gelobte, dieſem
Weibe und diefen Rindern mein Leben zu weihen, als
wären fie mein eigenes Weib und meine leiblichen Kin⸗
der; und wundert ſich einer, daß ich, fie vor Augen, nies
mald ein Begehren empfunden habe, ein eigenes Weib
und leibliche Kinder im Herzen zu tragen?
Alles ruhte im Pfarrhaufe, als ich dahin zuruͤckkehrte.
Sch taftete mich ohne Ficht in meine Kammer, legte mic),
nach muͤtterlichem Befehle, augenblicklich nieder und
xX.5
68 Fran Erdmuthens Iwillingsfähne
fchlief ein. Sa, ich, der vor wenigen Stunden von feiner
Schlummerfüßigfeit mehr wiffen wollte, als der ewigen,
die der Gerechte fchläft, ich befchloß meinen Tag mit
einem Danfgebet für Gottes Herrlichkeit auch im diese
feitigen Leben, und ic) fchlief fanft wie ein Kind, bis Der
helle Morgen durch die Scheiben fiel.
Die Erbfchaftöregulierung am anderen Tage hielt nicht
lange Zeit auf. Der Hausrat war muͤtterlich Einge-
bradhtes, die Kaffe erfchöpft, die Bibliothek füllte einen
fchmalen Raum, denn der Dann der Kiebe hatte ben
der Wiffenfchaft ftreng im Zaum gehalten. Wäfche und
Kleider wurden unter den jüngeren Nachwuchs verteilt.
Ich erbat und erhielt nichts davon ald den euch ſchon
bekannten feftlichen fchwarzen Rod. Es ift eine Wunders
dauer in diefem Rod, der keineswegs neu war, als ich
mich vor Frau Erdmuthens Hochzeit zum erften Male
mit ihm im Spiegel fah. Nun habe id, ein halbes Jahr⸗
hundert lang bei jeder weihevollen Handlung ihn unter
dem Talare getragen, und er ift heute noch fo ſchmuck
und paßlich auf meinen Leib, daß ich midh feiner ale
des würbdigften Sterbefleibes erfrene.
Im übrigen: wie die Freundin meines ganzen Lebens
ed ausgefonnen, wie meine grundbrave Mutter es ge-
billigt hatte: alfo geſchahs.
Zweiter Abſchnitt
Was krumm if, muß fich gleichen.
o hätte Gottfried Bleibtreu ſich denn wie ein Held
Co Parade aufgepflanzt; fein heimifches Neft, die
ererbte Schugherrfchaft und felber die fleinen Patrone
der Zufunft aus dem Grundterte vorgeführt; den gegen»
wärtigen Teilhaber ded Regiments, den Gatten der
Seelenfreundin, deren braͤutliches Strumpfband er ges
Löft, den Vater der Zwillingsbrüder, an deren Tauftifche
er ald Küfter und Pate geftanden, den aber hat er big
auf den Namen zu erwähnen vergeflen. Vergeffen? Ei,
beileibe nicht vergeflen den vielmerten Gönner und Freund,
mit deffen Eintritt ja erft der Keim zu meiner Bruders
gefchichte gelegt worden ift. Alles Bisherige war Greifen,
plauderei; ein Blick in blaue Ferne tut alten Augen fo wohl!
Eine römifche Geſchichte; traut ed dem Amanuenfis
der gelehrten Frau nur zu, er wuͤrde allerfrüheftend fie
begonnen haben.
„Nach zurücgelegten Eramina trat id; ald Hauslehrer
in die Familie ded Furfürftlichen Dragonerleutnants,
Baron Raul von Roc.“
Herr Raul von Roc entitammte einem hugenottifchen
Geflecht, das nach Aufhebung des Edikts von Nantes
bei dem damald noch proteftantifchen fächfifchen Hofe
eine Zuflucht und, von Vater auf Sohn, in der fächfifchen
Armee eine ehrenvolle, wenn auch befcheidene Stellung
gefunden hatte. Die Familie nannte ſich dazumal Ches
valiers de Saint Roc, rühmte fich, ihren Ritterfchlag in
den Kreuzzügen erhalten zu haben, und erinnerte ſich
eines reichen Edelfiges in ber Provence, der in die Hand
68 Frau Erdmuthens Zwillingefähne
eined dem Fatholifchen Glauben treugebliebenen oder zu
ihm zuruͤckgekehrten Zweiggefchlechtes gefallen fein follte.
Da indeffen alle heimatlichen Verbindungen aufgehört
hatten, verſchwammen diefe Traditionen je mehr und
mehr in ein nebelhafted Sagengebiet, und feit in dem
großen Belagerungsbrande von Wittenberg 1756 Di-
plome und Familienpapiere verloren gingen, waren
auch jene Legenden fo gut wie erlofchen.
Der Bater unfered Herrn Raul fiel während ber fieben
Kriegsjahre, ohne den letzten deutſchen Namenderben
der Saint Roc mit Augen gefehen zu haben. Auf An
fuchen wurde leßterem vom Kaifer Franz ein neues Di-
plom mit der für die Prärogative deutfchen Adels voll⸗
gültigen Ahnenzahl verliehen, und Herr Raul nannte
fich, felbigem getreu, Baron von Roc.
Auch feine Mutter ftarb früh. Da fie, wie auch ihre
Vorgängerinnen, gleichfalls einer refugierten Adels⸗
familie angehörte, hatte im Äußeren des verwaiften
Knaben der Typus füdlicher Abftammung ſich unge:
brochen erhalten, während dem geiftigen Naturell bag
Sahrhundert wohl anzufpüren war, das vier Genera-
tionen unter einem fälteren Simmel burchlebten. Das
Temperament hatte fid) gemäßigt, der Geftus war leb⸗
hafter ald der Efprit, das Auge flammte kühner als die
Leidenfchaft, das Herz aber fchlug fo kernbieder und
treu wie das bes deutfchen Stammes, dem er das Gluͤck
hatte, fich in aufrichtiger Kiebe zu verbinden. Auch fühlte
er fi von Grund aus einen deutfchen Mann, hegte
feinerlei Sympathie für die fränfifchen Stammesgenoffen,
ald deren Verbündeter fein Vater gefallen war, ohne
durch feinen Tod feinem fächfifchen Kriegsherrn ein
Zweiter Abfchnitt CL)
Lorbeerblatt zu erfaufen, fehnte fid) niemals aus dem
norbifchen Heidewinkel nadı der holden Wiege feines
Gefchlechtes. Weil aber fein Organ an dem Wohllaut
der erften Heimat entwidelt war, klang die Sprache ber
zweiten rein und gar verlodend für unfer ſaͤchſiſches Ohr.
Das Reiterregiment, dem er angehörte, garnifonierte
in einem dem unfrigen benachbarten Bezirk. Dort hatte
das junge Paar ſich fennen lernen und auf den Hof:
bällen Dresdens die Befanntfchaft weitergeführt. (Denn
ach! mein Fräulein Erbmuthe hatte getanzt, gern ge:
tanzt, fchön getanzt und fogar rund!) Was Wunder,
daß auf den erften Blick der feurige Kerr lichterloh für
das Iiebliche, fittige deutfche Fräulein entbrannte und
daß auch das liebliche, fittige, deutſche Fräulein an dem
fchönften, Tebhafteften Kavalier ihres Kreifed, dem ver:
wegenften Reiter, dem zierlichften Tänzer ein Gefallen
fand, welches ſich allmählich in innigfte Neigung ver:
wandelte. Die Liebe, fo fagt man ja, entzündet ſich am
Gegenfag und behauptet fi am färkiten in Naturen
abweichenden Scjlage®.
Auffälliger möchte es fcheinen, daß der alte Freiherr
ſich den Wünfchen feiner Tochter fo bereitwillig fügte.
Welchen ftichhaltigen Einwand hätte er indeflen gegen
diefelben erheben können, ald daß unter der Schar ber
Bewerber Herr Raul von Roc ber ärmfte war und bap
er einem anderen Blute entflammte, ald dem, aus wels
chem fein Gefchlecht fich bis dahin ergänzt hatte?
Juſt in letzterem Punkte jedoch, in dem des Blutes,
hegte unfer Herr, feitdem feinem Stamm auch die her-
koͤmmliche einzige männliche Blüte verfagt worden war,
einen Zug befcheidener Selbfterfenntnig, der fi, nad)
70 Frau Erdmuthens Iwillingsfähne
„flaͤmiſcher“ Weife, langſam, aber hartnädig, fei es zu
einem Wahn, fei es zu einer Wahrheit entwidelte. Wenn
er nach einem Gang durch feinen Ahnenfaal oder bläts
ternd in der Familiendhronif die gleiche Artung an Leib
und Seele zwar veredelt, aber doch Zug für Zug aud
in der Erfcheinung feiner Tochter wiederfand; nod)
mehr aber, wenn er an ſich felber inneward, wie fchwers
fällig der Gedanke zum Entfhluß, der Entfchluß zur
Tat gedieh, dann fagte er wohl zu feinem alten Freunde
in der Pfarre:
„Ss muß ein rafcherer Saft in unfere Adern ergoflen
werden, oder wir verfiechen. Wögen die niederen Schidhs
ten fi in gleicher Gattung wie die Tiere der Weide
fortpflanzen; die zur Führung berufen find, bedürfen ers
frifchenden Wechſels. Warum hat der britifche Adel
ſich fo herrfcherfähig behauptet, ald weil der normäns
nifche Strom den fächhfifchen gefreuzt? Ein jedes Volt
hat Tugenden, weldye dad andere entbehrt und unter
beren Verfchmelzung die Mängel bed einen wie bee
anderen ſich tilgen.”
„Bid dann endlich der Tag kommt,” fo pflegte der
geiftliche Freund zu fchließen, „der Tag, wo allefamt,
einzelne und Bölfer, fid) ald eine große Familie zum
Segen vereinen, wo jede Zwietracdht ſchwindet und ein
Reich ewigen Friedens in brüderlicher Liebe beginnt.“
Der lebhafte, fchwarzäugige Enkel der provenzalifchen
Hugenotten war daher der rechte Mann, um die flä-
mifche Ader aus dem Blute der fächfifchen Barone zu
verdrängen, und daß fein Name verdeutfcht einen Feld
bedeutet, ei nun, dad war ein Zufall von denen, die ald
Wink für unfere Launen genommen werden. Der aber
Zweiter Abſchnitt 71
kennt unſern alten Freiherrn ſchlecht, der da meint, er
werde einen Ehrenmann, bloß weil er arm war, von
der Schwelle ſeines reichen Hauſes gewieſen haben.
Der letzte der Fels war ein ſtolzer Herr, aber ſein Stolz
war ritterlicher Art; eine Heirat um Geld nannte er
pöbelhaft und feinen alten Namen ein Ehrenpfand, das
nicht im Aufftridy verhandelt werden dürfe,
Sa, mehr noch: für die Stellung, zu welcher er feine
Tochter erzogen hatte, paßte im Grunde nur ein uns
vermögender Mann. Ein anfäffiger Eidam hätte ihm
feine Erbin entführt; die Beſitzungen fchmolzen ineins
ander, die der Feld traten in die zweite Reihe, wurden
vernachläffigt, audgebeutet, wohl gar verkauft; die Ers
innerung an das urfprüngliche Gefchlecht verlor fich
auf dem Boden, der es großgezogen hatte. Dem armen
Dragonerleutnant gegenüber blieb feine Erbin Numero
Eins. Herr Raul hatte fein Roß und Schwert, Frau
Erdmuthe das Regiment in Haus und Hof; Herr Raul,
der feine Spur von Sinn für die Kandwirtfchaft offen»
barte und feine Oattin zur Nugnießerin nur fehr bes
fcheidener Würden machen fonnte, war für das Erbe
im Seidewinfel der rechte Mann.
So fagte unfer Herr denn Ga und Amen zu dem
Bunde, den die Herzen gefchloffen hatten, und wenns
gleich ed ihm nur ein Jahr lang vergönnt war, Zeuge
desfelben zu fein, konnte er fid) des erreichten Zieles
nur erfreuen. Niemald hat ed eine glüdlichere Che
gegeben, als die von Erbmuthe und Raul. Das Vers
hältnis zu feiner Gattin war ohne Frage bie ftärfite
Ceite ded jungen Mannes. Die Reize ded Liebhabers:
feurige Erregtheit und ritterliche Galanterie fonnten für
72 Frau Erdmuthens Swillingsföhne
ein Erbteil feines füdlichen Stammes gelten; die ehe—
lichen Tugenden: Treue und unerfchütterliched Vertrauen,
mochte er im Norden eingefogen haben. Sie aber, Erd⸗
muthe, ihr Wefen gipfelte vielleicht nicht, aber es erblühte
auf das holdefte in der Neigung zu dem erwählten
Manne. Sie ahnte es felber nicht, und er ahnte es
noch viel weniger, daß fie die beherrfchende Natur in
ihrem Bunde war, daß er feinen Willen hatte neben
dem ihren und ihrer Einficht niemals widerſtand. Schwoll
einmal eine füdlich jache Ader auf feiner Stirn, und fie
glitt mit ihrer etwas großen, aber ſchlanken weißen Hand
darüber hin, und fagte nichts weiter, ald „Mein Raul!“,
jo war die Wallung gedämpft, noch ehe fie aufgekocht.
Ein zierlicher Handfuß, eine Umarmung, ein Lächeln fo
feelenvergnügt, wie zuvor, befundeten den weiblichen
Sieg. Beim Kleinften, was fie außer der Tagesordnung
befchloß, fragte fie: „Iſt e8 dir recht, mein Raul?“ Und
dem Herrn Raul würde e8 recht gewefen fein, wenn fie
den Mond vom Himmel herunter hätte holen wollen.
Traf fie eine Anordnung, gab fie einen Befehl, fo fagte
fie niemals: „Sch wünfche, ich will,“ fondern „Unfer
Herr wünfcht, unfer Kerr will”; alles das aber nicht
mit der heimlich gefchulten Art, die ald Takt gepriefen
wird, fondern faum bewußt, im Zartfinn eines liebenden
Gemuͤts. Wer unter Frau Erdmuthend Dad, geheimft
hat, konnte ſichs erflären, daß die Ehe unferer großen
deutfchen Kaiferin mit ihrem Franzel eine fo glückliche
gewefen und daß weiland ihred Herrn Vaters Majeftät,
ber im übrigen ja nicht um eine Gluͤckshand zu beneiden
war, mit feiner pragmatifchen Sanftion foldy einen
Treffer gezogen hatte.
Zweiter Abfchnitt 73
So fügte ſich denn alles nach unferes Herrn Wunſch
und Willen. Er hatte feinen Eidam adoptiert; berfelbe
nannte fic mit Furfürftlicher Genehmigung jetzt Roc
von Feld, ja er nannte fidy in danfbarer Vorliebe kurz⸗
weg Baron Fels, und die Zeit lag berechenbar nahe, wo
der heimifche Feld den fremden Roc vollftändig verdrängt
haben würde.
Als eine fernerweitige allerhöchfte Gunftbewilligung an
unferen wohlaffreditierten alten Herrn ift ed angefehen
worden, daß die Schwadron, welcher fein Schwiegerfohn
angehörte und die er fpäter als Rittmeifter führte, gleich
nach der Verlobung ded jungen Paared unferen Ort
als Sarnifon bezog. Der Herr Offizier verfah demnach
feinen Dienft vom Schloffe aus, und Wehr: und Nähr-
ftand vertrugen fich friedlich unter einem Dach. Zwifchen
unfer armes, verwahrloftes Heidevoͤlkchen aber Iegte der
militärifche Zuwachs einen erften gedeihlichen Keim.
Solch ein paar hundert Roffe und Reiter füllten die
Stätten, die der Bauer feine Goldgruben nennt; die
forgfältige Abwartung der Pferde wurbe zum Exempel
für die des übrigen Getierd; man lernte an dem Loge:
ment für die Mannfchaft auch die eigene Wohnung rein-
licher im Stande halten; es fam ein Element von Zucht
und Ordnung unter und, nachdem uns letztlich die boͤſe
Seuche eine fo ftrenge Mahnerin geworden war. Wort
und Beifpiel des Pfarrhaufes waren im Schlendrian
verpufft, die flämifche Ader der Edelherren hatte diefem
Schlendrian Borfchub geleiftet: nun griff mans mit
Händen, wie bie beleidigte Natur fich rächt, ſchaffte
Luft und Licht um fich herum, befreundete ſich allmäh-
lich auch mit dem Element, das dem Heidebauer fonft
74 rau Erdmuthens Zwillingsföhne
nur in Tropfenform eine Himmelsſpende dünft; Iebte
arbeitfamer, nüchterner und gradatim befler. Zwei
Friedensjahrzehnte förderten dad Gedeihen; dad Gemeins
gefühl wuchs mit der einzelnen Wohlbefinden, und dag
weibliche Regiment auf dem Edelhofe förderte liebreich
jeden zarten Trieb. Seit den Tagen Frau Erdmuthens
erhob fich der wüfte.Beidefleden zu dem Range einer Stadt.
Ob der Sinn für diefen Fortfchritt auch unferem bes
dächtigen alten Herrn erwachſen wäre? ch weiß es
nicht. Als er inmitten der Krifid die Augen fchloß,
hatte er in dem Doppeltriebe, der dem erneuten Stamme
entfproß, das Ziel feines Strebens überholt gefehen.
Selbft wenn diefe Knäbchen die einzigen blieben — und
fie blieben die einzigen -, fein Name und Erbe waren
fefter als feit Jahrhunderten der Zufunft verbürgt.
Welch ein geebneter Pfad fchien diefen Kindern vors
bereitet! Sie brauchten gar nichts weiter, ald gelaffen
darauf hinzumandeln, um ſich felbft wie vielen anderen
zu Luft und Segen ihre Tage abzufpinnen. Schön und
kraftvoll geftaltet, erzogen in einem Haufe, wo nur Bers
nunft und Liebe walteten; ein braver Vater, eine Mutter,
deren Seelenfülle in dem mütterlichen Triebe gipfelte;
ehrwürdige Familienerinnerungen; Wohlftand ohne Ups
pigfeit; freie Augflucht in jeden anfprechenden Beruf
und fichere Ruͤckkehr in eine Heimat, die beiden ein ges
fondertes, doch in das Brüderliche greifende Feld der
Tätigkeit öffnete; fo ihre Konftellation.
Und doch lag unter der blumigen Dede ein Keim vers
fenft, der, in gewittervoller Zeit erftarfend, alle Heimats⸗
blüten überwuchern follte.
$ *
Zweiter Abſchnitt 25
Im lieben, deutichen Baterlande hatte auch auf dem
Felde der Pädagogif feit zwei Sahrzehnten ſich ein
Sturm und Drang erhoben, um dad, was zwei Jahr⸗
hunderte lang in trägem Schnurrengange hingelaufen
war, handumdrehende auf den Kopf zu ftellen und ein
nagelneued Menfchengefchledht aus ſchmetternden Lehr⸗
trompeten zufammenzublafen.
An alle diefe Lehrtrompeten und Yaunenpfeifen und
Engeldorgeln hatte ich mein Ohr gelegt; ed faufte und
braufte in meinem Hirn, ich taumelte, wie voll füßen
Weines, bis denn am Ende mein alter Zuchtmeifter in
der Menfchenwürde mir wieder auf die Beine half.
„Zum Kudud, Kindskopf, mit deiner pädagogifchen
Muſik! Die Erbnnatur - ja, ja, ich bin auch bibelfeft! -
wirft du ihnen doch nicht aus dem Geblüte blafen.
Pauke dir erft felber wieder ein, was du deinen Junkers
rangen einpaufen follft, und außerdem, fagft du denn
nicht, daß du fie liebſt?“
Als Albrecht der Bär diefen Rud in das Natürliche
an mir verübte, war er im fünften Studienjahre, auf
Kreuz⸗ und Querzügen durch gotteds und redıtögelehrte
Labyrinthe, auf der heilwiffenfchaftlichen Verſuchsſtation
angelangt; ohne indeffen, wie er bereits felber muts
maßte, auch an diefem Leitfeile den NRuhepunft aus⸗
findig zu machen, auf welchem „die beiden Kläffer Kopf
und Wagen ſich nicht in die Waden beißen”. Einft:
weilen nagte er an der Rinde, weldye er ale Erbteil im
Brotfchranfe der Mutter Bär vorgefunden hatte; als er
aber mit diefem unbeftreitbaren Menfchenrechte beim
Doftorfchmaufe auf die Neige gefommen war, vers
fhwand der große Bär aus unferer KHeidezone, und
76 Fran Erdmuthens Zwillingsföhne
haben wir viele Sahre vergebens geforfcht, in welchem
Urmalde er Freiheit und Honig fuchte.
Sein Informatorenrezept indeffen war nad meinem
Geſchmack; ich däftelte mir ein Abcbuch aus, in der
Hoffnung, bei Afchylos und Tacitus mit meinen Schh-
lern zu enden, und außerdem — liebte ich fie. Als ich
aber in mein erfted Erbamt trat, waren bie Fleinen
Herren netto drei Sahr und mehr noch der Muhme
ale des Abcbuches bebürftig. So machte ich mich denn
zu ihrer Muhme, rüdte mein Bett zwifchen die ihren
und ergögte mich mit dem erften und lebten Tagesblick
an dem wunderbaren Widerfpiel diefes Doppellebens.
Der alte Freiherr hatte den Saft feines Stammes auf:
zufrifchen gedacht; ed war aber nicht eine Mifchung, die
fihh in dem üppigen Erftlingstriebe vollzog: das alte
wie das neue Reid hatte gefondert einen Sproffen feiner
Art gezeitigt. Kein Auge würde in diefen Kindern Bruͤ⸗
ber, viel weniger Zwillingöbrüder vermutet haben.
Der Erftgeborene war ein Sadıfe, ein Feld, muskuloͤs,
hell und blauäugig wie der Großvater, deffen Namen
er trug, aber mit dem tieferen Ton und Blick, der von
dem Bilde ded Bekenners in das Auge der Mutter
übergefprungen fchien. Der Zweite war ein Romane,
ein Roc, feined Vaters Ebenbild, aber mit dem ge-
fhärften Ausdrud eines rafcheren Blutes. Sein Auge
hatte den halbwilden Flimmer des jungen Falfen, dag
feine Profil fennzeichnete eine frühe Entwidlung. Er
blicfte und griff nad) den Gegenftänden, wo der andere
noch lange in die Leere taftete;s er lachte mit hellem
Klang, wo jener faum noc, die Tippen verzog; als
Herrmann nody Tallte, artitulierte Raul ſchon verftänd-
Zweiter Abfchnitt 77
lich, und feltfam! am leichteſten in der väterlichen Sprache,
die er doch weit feltener vernahm. Er fchoß auf allen
Bieren durch bad Zimmer, richtete ſich an jedem Stuhl:
bein auf, purzelte wohl oftmals, fprang wie ein Steh-
auf aber immer wieder in die Hoͤh und fehnellte weiter,
bi8 der Federdruck der zierlichen Gelenfe erlahmte.
Bruder Herrmann faß währendbeflen unbewegt auf
dem Teppich oder fchleppte ſich mühfam im Laufforbe
vorwärts. Eines Tages aber erhob er ſich firamm auf
die Beinchen, fohritt ohne Fehltritt auf feine Mutter zu
und ift nicht ein einziged Mal gefallen.
Das war vor meiner Zeit. Als jedoch unfere Wande⸗
rungen durch den Wald begannen, da war Klein-Raul
immer eine Strede voraus, jagte ſich mit Karnideln
und Hafen, kletterte ver Eichkatze nach bis in die Wipfel.
Bald hatte er einen Schmetterling, bald ein Bogelneft
oder eine Eidechfe ergattert, und bei jedem Fund
fchmetterte dad Stimmchen wie ein Trompetenftoß.
Atemlos fam er zurüd, feine Beute zu zeigen, hebte
dann wieder vorwärts mit dem Windfpiel, feinem Lieb-
ling, um die Wette,
Gelaffen ging in der Zeit Groß-Herrmann an meiner
Seite, aufmerffam horchend auf Namen und Eigen-
heiten der Waldprodufte, die ic; im Wandeln erklärte;
hatte Bruder Ungeſtuͤm ung aber einmal über das gefeß-
mäßige Ziel hinausverlocdt, drüdte der Sonnenbrand
oder überrafchte und ein Gewitterfchauer, fo hielt jener
ohne Ermattung aus, während ber Kleine weinend bie
Flügel hängen ließ und manches Mal hudepad auf dem
Paten Magifter den Heimweg zurüdlegte, bis dad Hof:
tor in Sicht und er dann jach wieder voraus war, um
78 Frau Erdmuthens Smwillingsföhne
mit feiner Beute und feinen Abenteuern Parade zu
machen. Ä
Der Heine Herr war eitel, puste die Nägel und
fohniegelte vor dem Spiegel die ſchwarzen Loͤckchen, wo
fein Bruder lange noch fidy gegen Kamm und Bürfte
fträubte; niemals fonnte er zierlidy genug gekleidet fein,
hatte feine Sachen aber aufgetragen in der halben Zeit,
daß die ded Großen noch drall auf dem Körper faßen.
Freund Raulchen war aud) leder, aß rafch, aber wenig
wie ein Vogel, Herrmann langfam und viel, wie - ei
nun, wie ein junger Stier. Surzum, aus taufenderlei
fleinen Zügen ließe fich der Gegenſatz der Naturen ers
weifen, und würde fein Ende zu finden fein, follte er
auch auf geiftigem Gebiete verfolgt werden.
Auch hier war der Große fcheinbar vom Kleinen über,
holt. Der hatte die Pointe erfaßt, wo jener noch muͤh⸗
fam an den Wurzeln flaubte. Herrmann wußte nichts,
wenn er nicht dad Ganze wußte; Raul wußte mit einem
Bruchteil alles, was er zu wiflen verlangte und weflen
er zu wiffen fähig war. Herrmann griff ſtark an und
hielt das Ergriffene feftz er fchaute fcharf zu, unterfuchte
von Grund aus, fam nad) Überlegung zu Schlüffen, an
denen er unbeugfam und ohne Entmutigung felthieltz
er gelangte zu einem deal auf dem Wege der dee.
Seinem Bruder galt jeder ftarfe, perfönliche Impuls
als Ideal; er ließ es fallen, fobald die Phantafie von
einem neueren Gegenftand entzündet wurde. Nach jeder
Lektion hatte er einen Helden, mit dem er fidy identis
fijierte, bid ihm ein anderer noch heroiſcher entgegen,
trat. Er fpielte immer einen Zweiten und war immer
er felbft; aber immer ber Erfte, immer obenan. Dem
Zweiter Abſchnitt 79
Älteren genügte von vornherein felten ein Held; er fah
die Mängel neben den Tugenden; fondierte die Quelle
und forfchte nad) dem Gefege jedes Tuns. Er war
immer er felbft und doch mitten in einem Zweiten.
Seine Stärke war dad Gemwiflen, die ded anderen die
Begeifterung; jener zügelte felber einen edlen Impuls,
bis er ihn geprüft, diefer ftand jeden Augenblid unter
der Herrfchaft eines Affekts.
Noch einmal: beide waren gleidhfam Typen ihrer
Kaffen, Feine Urs und Normalnaturen, an denen dem
gleichgültigen Befchauer nichts Sonderbares aufgefallen
fein würde, als daß fie gleichzeitig unter einem Kerzen
und unter einem Himmel ſich entwicdelt hatten. Ich
aber hätete mich, die Grundfchrift der Natur mit uns
haltbaren Lettern zu übertündhen, jenen ungelehrten
Mönchen gleich, die eine unerſetzliche Handfchrift tilgten,
um für den Elöfterlihen Kanon ein Blättchen Pergas
ment zu gewinnen. Ein kraͤftiges Gepraͤge wird feine
Malerkunſt verdrängen, wo aber die Urfchrift ſchwaͤch⸗
lich war, verläuft fie mit der Überfchrift, grau in grau,
zu einem unverftändlichen Pfuſcherwerk.
Sch nahm meine Kinder fo, wie Gott fie gefchaffen
hatte, und erftrebte nichts weiter, ald ihre Eigenart den
ewigen Gefegen dienftbar zu machen, die für jede Naturs
anlage die gleichen find. Welchem von beiden der Bor;
zug gebührte, hätte id faum zu unterfcheiden gewußt.
Wenn aber im Verlauf die Neigung mid) ftärfer zu dem
Älteren zog, fo gefchah ed um der immer deutlicheren
Ähnlichkeit mit feiner Mutter willen, deren Wefen id)
feit dem Bewußtwerden meines Lebens im tiefiten Mits
gefühl zuftimmte,
80 Frau Erdmuthens 3willingsſoͤhne
Aus gleichem Grunde erkläre ich mir die unverhehlte
Borliebe des Vaters für diefen ihm fo unähnlichen Sohn.
Ein gut Teil Bequemlichkeit mag hinzugezählt werben,
denn Kinder, bie nur gefördert fein wollen, fallen uns
weniger befchwerlich, ald die, welche jeden Augenblick
einen Zügel herausfordern. Auch im Bereiche der Er-
ziehung fehen wir in dem Guten, dad wir gedanfenlos
verfäumen, ein geringeres Unrecht, als in dem Schlimmen,
zu dem wir im Eifer und reizen laflen.
Die Mutter ftand zu diefem Älteften ‚ den fie vorzuge-
weife ihren „Sohn“ nannte, von früh ab in einer
Harmonie, wie eine Freundin zum Freund; zaͤrtlicher
dahingegen neigte ſie ſich zu ihrem „Kinde“, ihrem Raul:
ſei's, daß der Zauber des Vaters in ſeinem Ebenbilde
fortwirkte, ſei's, daß ſie fuͤr die vaͤterliche Bevorzugung
des anderen nach einem Ausgleich trachtete. Oder ſollte
es ein Vorgefuͤhl des Herzeleids geweſen ſein, das ſie
um dieſen Sohn einſt tragen ſollte? Die Lieblinge der
Muͤtter ſind ja haͤufig ihre Schmerzenskinder.
Denn auch dieſe Erfahrung iſt mir zuerſt unter dem
Dache der Roc von Fels aufgegangen: Nur die Liebe
zwiſchen Mann und Weib ertraͤgt und verſoͤhnt den
Widerſpruch der Grundnaturen; in jedem bruͤderlichen
Verhaͤltniſſe, im Hauſe wie in der Schule, in der Ge⸗
meinde wie im Staat, ſtoͤrt und zerſtoͤrt der Gegenſatz die
Harmonie. Die Skala der einzelnen mag hoͤher ſteigen
oder tiefer ſinken, der ſimmende Tenor muß derſelbe ſein.
Freunde ſind Gleichgeſinnte, Bruͤder Gleichgeartete.
Unſere Bruͤder ſtießen gegeneinander lange, ehe ſie be⸗
griffen, was Bruderſein heißt. Die Herausforderung
gab allemal Raul. Bei jeder Gunſt, jedem Lob, die
Zweiter Abſchnitt 81
Herrmann erntete, ſchoß ihm das Blut zu Kopf, und im
Nu hatte er ihn bei den Haaren. Er ertrug feine Ges
meinfchaft; alled war fein und nur, was ihm belichte,
dem anderen. Sein Teil follte immer das erfte, bei
jedem Spiel wollte er Anordner, Bormann fein. „Ic
bin der Größte!” fagte dann Herrmann. „Aber idy der
Kluͤgſte!“ verfegte Raul, und wie ein Kampfhahn fuhr
er auf den Bruder los.
Wenn dann die Mutter mit bem einzigen Worte: „Aber
mein Raul!” dazwifchen trat, da war er freilich auch der
erfte, feinen Nebenbuhler freizulaffen; ja, er fiel ihm
um den Bald, füßte ihn, verfpradh, fortan jeden Lecker⸗
biffen oder Chrenpoften mit ihm zu teilen. In der
nächften Stunde aber hatte er fein Wort vergeflen, und
die Neckerei begann von neuem.
Anders Herrmann. Auch er hatte bei der mütterlichen
Mahnung die Fäufte finten laffen, aber der Grimm des
Beleidigten war nicht verraudyt wie der des Beleidigers.
Er wehrte ded Bruders Liebfofung ab, und ed währte
nach ftarfer Erregung flundenlang, daß er wie ein
Träumender umherging, oder wie eine Heine Salzfäule,
das Geficht gegen die Wand gekehrt, in einer Ede ftand.
Hatte er fid) dann endlich beruhigt, fah er immer fchr
bleich aus, die Lippen waren zufammengefniffen, die
Augen glanzlod. Er vermied die Begegnung mit dem
Bruder, und trat diefer, mad niemald ausblieb, mit einer
neuen Reizung ihm gegenüber, dann floh er, um fein
Friedendwort zu halten, unter den Schuß der Mutter
oder den meinen, bis endlich dad Rachegefuͤhl ftärfer
wurde ald der gute Wille und er dann regelmäßig als
Sieger aus dem Kampfe ging.
xx.6
82 Frau Erdmuthens Swillingsföhne
Sc hatte dieſes Treiben lange Zeit erflärt mit der
natürlichen Kinderart, die im Kampfe ihre Kräfte übt.
Der Vater lachte darüber oder erbofte fich gegen den
Bruder Ungeftüm. Selber Bruder Ungeftüm, erhob er
wohl gar die Hand zu einer tätlihen Zurechtweifung,
wo es dann freilich der Mutter immer leicht gelang, erft
den großen, dann den Fleinen Liebling zu befchwichtigen.
Sie, die Mutter, war die erfte, weldye dem gefchwifter>
lichen Antagonismug eine bängliche Deutung gab. Sie
hatte feit der erften Lebensſtunde ihrer Kinder ein bes
feligended Zraumbild brüderlicher Herzendeinigfeit ges
hegt, wie es für Zwillinge als Poftulat gang und gäbe
if. Nun weckte bei geringfügigem Anlaß ein grelles
Licht fie aus dem mütterlichen Wahn, und was bis dahin
frohe Zuverficht gewefen war, dad wurde zum Dichten
und Trachten Tag für Tag.
Es war in der Dämmerung; ich plauderte mit den
Eltern in der offenen Nebenftube, die Brüder — fie
mochten etwa vier Jahr alt fein — faßen bei ihrer
Veſpermilch, und Junker Raul hatte über irgend welchen
Pappenftiel in die Kriegstrompete geftoßen.
„Sei doch ftil, Raul,” fagte Herrmann ernfthaft, „da
oben gudt ja der große liebe Gott." Er zeigte dabei
auf den Mond, der fich klar und vol über dem Wald⸗
horizonte erhob.
„Dummer Herrmann!“ rief Raul, „das iſt nur der
Mond, die Sonne ift der liebe Gott!“
„Nein, der Mond ift der liebe Gott, die Sonne hat
fein Geſicht!“
„Aber die Sonne glänzt wie lauter Gold!“
Und über dieſe metaphyfifche Streitfrage, der wir
Zweiter Abfchnitt 83
Tächelnd gelaufcht hatten, gerieten die Disputanten fo
handgreiflich aneinander, daß im Mu beide Mildı-
näpfchen Elirrend am Boden lagen.
„Daß haft du getan, Herrmann!” fchrie Raul.
„Nein du, Raul, du haft zuerft ausgeholt.“
„Aber du haft dich gewehrt!“
So fchrien fie durcheinander, hatten ſich bei den Ohren,
und ehe wir hinzufpringen fonnten, lagen beide in der
naffen Lache am Boden zwifchen den Scherben. Ein
väterlicher Denfzettel, zum erftenmal audy an Herrmann
audgeteilt, ftellte die Ordnung für heute wieder her.
Die Meine Szene würde nun nichts Außerordentliches
gewefen fein, hätte Herrmanns grollended Brüten die
Erinnerung nicht wochenlang feitgehalten. Ob das fleine
Herz etwas Heiliges verfpottet fühlte? Ob die väters
liche Strafe ihn wurmte? Er vermied jeden Streit, aber
auch jeden Scherz, jedes Spiel mit dem Bruder, lange
nachdem beiden klar gemadht worden war, daß weder
Sonne noch Mond Gottvaterd Antlig fei. Als aber
eined Morgens die fchmale Mondfichel in unfere Kammer
blickte und Bruder Übermut wieder einmal nedte: „Bude,
Herrmann, wie klein da oben dein großer lieber Gott
geworden ift!”, da zudte ed grimmig in Herrmanns
Augen, die Hände ballten fi), und ohne der Mutter
rafches Dazwifchentreten würde zum erftenmal er der
Angreifende geweſen fein.
Frau Erdmuthe war fchon feit jenem abendlichen Bors
fall bleich und nachdenklich einhergegangen. Sept ſank
fie wie gebrochen auf einen Stuhl und rief im tieflten
Weh: „Nein, nein! Sie lieben fidy nicht. Wären fie nicht
Brüder, fie würden Feinde fein!"
84 Frau Erdmuthens Swillingsfdhne
Seitdem diefer verzweifelnde Auffchrei der fonft fo ges
faßten, linde befchwichtigeniden Frau mir ind Mark ges
drungen war, wurde ed mein innerfted Anliegen, gegen
die zwieträchtige Neigung der Brüder eigene, ftärfite
Kräfte aufzubieten: das großmütige Feuer des einen,
das ftätige Gewiſſen ded anderen; vor allem aber die
Liebe zur Mutter, die beide, wenn auch in verfchieden
temperierten Äußerungen, bis zur Anbetung beherrfchte,
Die Tätigkeit wurde gefteigert; bei höher geftecften Zielen
mußten die Vorzüge des einen fcharf in des anderen
Augen fpringen. Mit der wachlenden Vernunft wuchs
denn auch die wechfelfeitige Würtigung, und die Ges
wöhnung eines bis ind Fleinfte gemeinfamen Tageslaufs
wirfte an dem einigenden Band. Mochten fie nicht
Freunde werden in jenem fympathifchen Sinne, den die
Mutter geträumt: fie waren Brüder, edel von der Natur
gebildet, durch Erziehung und Schickſal behätet, wie nur
die Slüdlichften in der Kinderwelt es find, warum
hätten fie nicht friedfertig nebeneinander ein gutes
menfchliche® Ziel erreichen follen?
Sa, warum nicht? Weil ein Name, ein Begriff
trennend zwifchen ihnen auftauchte, der andermwärte bie
Kinder einer Heimat wie faum ein zweiter mit einem
brüderlichen Bande umfpannt. Weil der Sturm der
Zeit ein Bewußtſein aufwirbelte, dad Jahrhunderte
lang in unferem Volk unter Schutt und Afche fchier bes
graben gelegen hatte; ein fich kreuzender Strom, welcher
die Söhne einer Mutter nach entgegengefegten Polen
auseinander trieb
Zweiter Abſchnitt 85
Die erfte tiefgreifende Lebensſorge trat an die teure
Familie heran, ald im Frühling 1793 der Nittmeifter
von Roc mit dem fächfifchen Kontingent den am Äheine
kaͤmpfenden deutfchen Heeren zugeteilt wurde. Frau
Erdmuthe ertrug die fat dreijährige Trennung von dem
geliebten Gatten mit der ftillen Würde, die ihr in böfen
wie in guten Tagen eignete. Bon einem lebhaften
Intereſſe für den Zwed des Krieges ift, nach der uns
gehinderten Opferung der franzöfifchen Königsfamilie,
bei Herrn von Roc fo wenig als bei und anderen die
Rede gewefen; ebenfo wenig aber empörte ſich in ihm
eine Ader urfprünglichen Bluts, ald er gegen feine
Stammverwandten zum Schwerte griff. Er war Soldat
und folgte feined Kriegsheren Befehl ohne Wahl von
Freund und Feind.
Bon allen damaligen Lehrgebieten war Länders und
Völkerkunde der Neuzeit dad am geringften kultivierte.
Als meine Zöglinge bereitö den Cornelius Nepos über:
festen, hatten fie noch feinen Bli auf eine Landkarte
geworfen und von einem deutichen Reiche fo wenig wie
von einem Frankenreiche gehört, bid neuerdings bie
ftrittige Örenzzone beider Reihe dann und wann aud)
zum Tagedgefpräch in häuslichen Kreifen ward. Hegten
indeffen wir Alteren blutwenig Anteil an den Spfittern,
die behauptet oder allenfalld verloren werden fonnten,
wie hätte von acdhtjährigen Knaben diefer Anteil ers
wartet werden follen?
Da nun aber mitunter durchaus nicht unvorhergefehene
Urfachen durchaus unvorhergefehene Wirkungen haben,
fo wurde unferem Bildungsſaͤumnis aus dem Stegreife
nadıgeholfen, als auf einer ihrer Iandfchaftlichen Rund⸗
86 Frau Erdmuthens Bwillingsföhne
reifen Fräulein Iduna, die rote Dame, bei un® eins
fehrte; jene vielerprobte Familienfreundin, welche Frau
Erdmuthen das rofiggebänderte Frauenhäubchen aufs
geftülpt und, wenn nicht Frau Erdmuthens Frau Mutter
denfelben Dienft erwiefen, fo doch, eingeftandenermaßen,
im Flügelfleide Blumen auf ihren Hochzeitspfad ges
ftreut hatte. Daß Fräulein Idunas Freundfchaft fo
weit gereicht haben würde, ſich felber bag rofiggebänderte
Frauenhäubchen aufzuftülpen, um den fo früh geräumten
Platz der leßtgenannten Dame in Liebe wieder aud-
zufüllen, diefer Aufopferung fich zu rühmen, tft ihrer
Befcheidenheit nicht beigefommen, von unferem alten
Herrn aber feinerzeit gebührentlich gewürdigt worden.
Es war eine vielverbreitete Sage, daß der Jahreslauf
unferer roten Dame ſich in regelmäßigen Etappen intra
muros der furfächfifchen Ritterfchaft abzufpinnen pflege.
Auch will ich im allgemeinen gegen biefe pünftlichen
Aufmerkfamfeiten feinen Widerfpruch erheben. Wenn
aber Herr Raul, der ein Fleiner gallifher — nidht
galliger — Spottvogel war, fo weit ging, Fräulein
Idunens vielgepriefened „trauted® chez moi” in der
Refidenz für einen Sig in partibus infidelium zu ers
flären, fo habe ich gegen ſolche Schlußfolgerung jeder>
zeit nach Leibeskraͤften proteftiert. Nicht, daß ich mid)
des Vorzuges rühmen dürfte, ein Eingeweihter des jung⸗
fräufichen Heiligtums gewefen zu fein, aber fühlt es
mir nach, meine Freunde, eine Dame, obendrein eine
Dame, die ſchon Großmuttern Rofen geftreut, ohne
gelegentliched eigned Ruhekiſſen, wäre dad nicht eine
gar zu weheleidige Vorftellung?
Welche Bewandtnig ed nun aber audy mit der Heim⸗
Zweiter Abſchnitt 87
fehr in das refidenzliche „traute chez moi“ gehabt
haben mag, fooft dad Signal „der hochverehrten Lands
trompete“ erfchallte, war Herr Raul der erfte und nicht
ber einzige, der ihr ein frohes Willtommen entgegen:
rief. In jenen Tagen, wo die Zeitung noch nicht fich
zum Range einer Haudfreundin erhoben hatte, wußte
man ſolch eine wandelnde Chronifa wohl zu fchägen.
Und nicht bloß zu fchägen. Jung wie alt hatte die rote
Dame lieb. Denn wie alled Sichtbare ja nur ein Ruͤck⸗
ftrabl des Unfichtbaren fein fol, jo war das, was an
Fräulein Idunen, mit oder ohne Wahl, Außenmenſch
genannt werden muß — und dad war viel — ein Durch⸗
fhimmern der innerlichen Couleur, die zwifchen Roſe
und Flamme fluftuierte.
Heuer nun ftand Herr Raul im Feldlager am Rhein,
und Fräulein Iduna wieder einmal zur Pfingftetappe in
unferer Mitte, Die Reihe rund war an das hochflopfende
Herz gedrüdt — mit Ehren zu melden: auch der Pate
Magifter -; die Zähre bed Wiederfehens dem Auge zwar
nicht entitrömt, aber doc, darin aufgeftiegen; jene eine
unverfiegbare Zähre, die fo befcheiden gebildet war, daß
fie niemald ein trodnendes Tuch herausforderte, daher
Herr Raul fie den „Tropfen für alles” zu nennen be-
liebte.
Wir ſaßen um den Kaffeetiſch vor dem Portal, und
naturgemaͤß war es die ſaͤchſiſch⸗kontingentliche Ver⸗
ſchanzung, durch welche der Redefluß der Freundin
zuvoͤrderſt ſeine Richtung nahm. Maͤhlich ſchlaͤngelte er
ſich um ein Gebuͤſch von Blutbuchen und Traͤnenweiden
herum, ſtaute dann eine Weile und ſtrudelte uͤber die
Klippe der — nein, nicht der Politik und noch viel
88 | Frau Erdmuthens Zwillingsſoöͤhne
weniger uͤber die der Strategie, denn Fraͤulein Iduna
verſicherte, ohne Widerſpruch zu finden, fie fei ein Weib -
aber doch über jenes politifchsftrategifche Partikelchen,
das in fächfifchen Gauen auch für zarte Damenfüßchen
ald Stein ded Anftoßes im Wege lag, jened unholds
deutfche Fragment, deffen Schlagbaum feit unvordent;
lichen Zeiten mitten in unferem Heidegau aufgerichtet
ftand, und daß feit falt einem Jahrhundert Preußen
hieß und fogar Koͤnigreich Preußen!
Das Echo kurfürftlicher Ritterfchaft puftete und fächelte;
die Couleur hatte einen bedenflichen Grad erreicht; die
Sonne fhien warm, Galle und Kaffee find erhigende
Säfte. Ich ruͤckte den Tifch unter den fühlenden Ulmen⸗
fchatten, hätte diefe Vorficht aber faum noch nötig ges
habt, denn befagten Stein preußifcher Perfidie pflichts
fhuldigft audgeftoßen, fchlug der Strom bereits einen
furzen Bogen nach jener romantifchen Ede hinüber, wo
alles, was in Frankreich heute noch edel, ritterlich, hes
roifch genannt werden durfte, einer Räuberbande „sans
culottes“ gegenüberftand.
Es erlangte bei diefer Gelegenheit der Muftermagifter
eine zweifache unbeftreitbare Beftätigung zwar nicht von
hiftorifchem, aber doc, von pädagogifchsphuftologifchem
Intereſſe. Einmal die des — von manchen Puriften ans
gezweifelten — Nutzens fremder Spradhfenntnid, denn
würde Fräulein Iduna den charafteriftifchen Gegenftand
zwifchen den Gänfefüßchen in ihren Mutterlauten aus-
zudrücden imftande gewefen fein? Zum anderen aber die,
daß Ohr und Zunge viel fchamhaftigere Organe ale das
Auge find, denn — - idy will eben darum die Beweis⸗
führung einer errötenden Leferin doch Lieber erfparen.
Bweiter Abfchnitt 89
Nach jener romantifchen Schwenfung verbreitete fich
nun aber der Fluß in wohligem Gefäll über dad anges
bautefte feiner Kulturgebiete: Stammbaum, Genealogie,
Geſchlecht, Familie oder wie die mannigfaltigen Glie⸗
derungen alle heißen, die ihren Urfprung daher leiten,
daß über den bräutlichen Kranz ein Frauenhäubchen ges
ftülpt worden ift.
„Es wäre doch wunderbar, Baronin,“ rief ploͤtzlich die
Dame, „wenn Ihr Gemahl unter jenen edlen Bundes⸗
‚genoffen auf ein Glied feiner franzöfifchen Berwandtfchaft
ftoßen ſollte.“ |
„Wiſſen wir denn,” antwortete Frau Erdmuthe Tächelnd,
„ob ihm überhaupt noch eine Berwandtfchaft in Frank⸗
reich zurüdgeblieben ift?“
„Wiffen Sie es wirklich nicht, Belle? Fehlt Ihnen
jede Kunde, haben Sie alle Verbindungen aufgegeben?“
„Nicht erft wir, liebe Iduna; die Verbindung hat aufs
gehört mit dem Schritt, den vor einem Jahrhundert unfer
Altervater über die deutfche Grenze getan.“
„Sie hätten Wiederanktnüpfungen fuchen müffen, Sie
müffen ed noch, fchon aus materiellen Beweggründen,
einzige Frau. Die Saint Roc waren ein reichbegütertes
Gefchlecht, und wie viele reichbegäterte Gefchlechter find
durdy die gegenwärtige Mordbande unter der Buillotine
ausgetilgt worden. Die Religiondunterfchiede find auf-
gehoben, die Konfifationen werden ed werden. Gie
bürfen Erbanfprüche geltend machen. Ein herrlicher Be:
fig, ein Beſitz ohnegleichen in dem reichiten Lande der
Welt kann Shnen nicht entgehen.“
„Wir haben an dem befcheidenen Beftg in unferem ar-
men Vaterlante genug, liebe Freundin.“
90 Frau Erdmuthens Swillingsfähne
„Gute, Liebe, Befte, man kann des Befiged niemals
genug haben,” verficherte hoheitdvoll die Dame mit dem
Siße in partibus infidelium, fügte aber fchnell in liebens⸗
würdiger Gefälligfeit hinzu: „Ich würde Ihnen beim
Berfolgen Ihrer Rechtsanſpruͤche durch meine Verbins
dungen gern die Hand bieten, Baronin. Das heißt,
allerdings nicht im Augenblid, aber in beruhigteren Zei⸗
ten, die ja nicht lange mehr zögern können, wenn nur
erft die hinterhaltige preußifche Heerführung durch uns
feren fächfifchen Einfluß gluͤcklich befeitigt ift. Rechnen
Sie dann durchaus auf mich, teure Frau.“
„Sie find fehr gütig, liebe Freundin,” fagte Frau Erd»
muthe, die bargebotene Hand drüdend.
Es entitand eine Paufe; ein Engel fchwebte zwifchen
dem Feldlager vor Mainz und Fräulein Idunens Luft:
fhlöffern hin und wider.
„A propos, Baronin,“ fagte fie endlich, „welcher Pro:
vinz entftammten die Saint Roc?“
„Aud das wiffen wir nicht mit Beftimmtheit, liebe
Iduna, der Tradition nad) aus der Provence.“
Wenn Frau Erdmuthe Verlangen trug, die hochverehrte
Landtrompete fernerweitige Signale aus dem befreuns
beten Kontingent verfünden zu hören, fo muß ihre [eßte
Andeutung eine unbedadıtfame genannt werden, denn
die eleftrifhe Wirkung derfelben war vorauszufehen.
„Aus der Provence!” rief Fräulein Iduna in die Höhe
fahrend, indem fie ſich mit der Hand vor die Stirn
fhlug. „Aus der Provence! Und dad wußte ich nicht!
Ich Unglüdfelige, daran dachte ich nicht, da doch der
Typus Ihres Gemahld und Ihres Süngften, Baros
nin, handgreiflich auf den Provenzalen deutet? Aus
Bweiter Abfchnttt 9
ber Provence! Wer kann noch zweifeln, aus der Pros
vence!“
So war denn unfere liebe rote Dame heute etwas vor
der Zeit bei der Erinnerung angelangt, die fonfthin uns
vermeidlich in ihr erft aufzutauchen pflegte, wenn der Stoff
aus der Gegenwart auf die Neige ging. Ich meine bie
Reife, die fie vor found fo vielen Jahren mit einer brufts
franfen Coufine nach dem füdlichen Frankreich unters
nommen hatte. Die Scilderei war von Baus aus fo
büftes und farbenfatt aufgetragen worden, daß Barias
tionen bei der Wiederholung dad Bild diefed Gartens
Eden nur beeinträchtigt haben koͤnnten. Das Bild war
und daher keineswegs neu.
Wenn aber Berr Raul das nämliche Bild Strich für
Stridy in einem souvenir de voyage entdeckt haben wollte,
was anderes als die vollfommene Naturwahrheit des
Bildes oder der übereinftimmende Blick von Dichteraugen
würde daraus zu folgern gewefen fein? Sa, ich wage
noch einen Schritt weiter. Gefegt, wie gewifle Spott-
vögel behaupteten, gefegt, aber beileibe nicht zugegeben,
daß während der angeblichen Reifezeit Fräulein Iduna
wirklich in irgendwelchem Dadyftübchen das Verharfchen
böfer Blatternarben abgewartet habe, würden wir, ihre
Zuhörer, reicheren Erinnerungsgenuß, oder würde — bie
DBlatternarben natürlich abgerechnet — Fräulein Iduna
felber ihn fo reich gefoftet haben, wenn fie mit der bruft-
franfen Coufine anftatt mit der blühenden Phantafie in
Hyères geweſen wäre?
„Und da ſitze ich nun an der Quelle,“ rief die Dame,
ſchier an ſich ſelber verzweifelnd, „da ſtehe ich vor der
Schwelle der Stammburg eines ehrwuͤrdigen Geſchlechts;
99 Frau Erdinuthens Zwiltlingsfähne
es koſtet mich einen Blick, eine Frage, einen Maultier⸗
ritt, und meinen teuerften Freunden ift eine urfprüngliche
Heimat wieder aufgefunden, ein koͤſtliches Erbteil vors
bereitet; die intereffanteften Enthüllungen, ein romanti»
fche8 Intermezzo, ein unberechenbares Nachſpiel - -“
Fräulein Iduna wurde unterbrochen; wenigſtens das
unberechenbare Nachfpiel ihrer füdlichen Reife follte ihr
nicht entgangen fein; denn mit Staunen waren meine
Blicke ſchon eine Weile unferem Raul gefolgt. Er war
wie eleftrifiert von feinem Plage aufgefchnellt, hatte fich
atemlos fpannend dicht an die Rednerin gedrängt, die
Augen funkelten, die Pulfe flogen, eine Blutwoge jagte
die andere auf dem zuckenden Kleinen Geficht.
„Wir ftammen aus Frankreich”? Wir find Franzofen,
Mama?” fragte er mit bebender Stimme.
„Nicht doch, mein Kind,” antwortete die Mutter.
„Deines Vaters Vorfahren find vor langen Jahren aus
Frankreich ausgewandert und Deutfche geworden. Du
bift ganz und gar ein deutfched Kind, mein Fleiner
Raul.“
Aber Junker Raul jubelte in die Hände klatſchend:
„Wir find Franzofen, wir heißen Saint Roc!” Er ums
armte feine Mutter, den Bruder, die alte Freundin, ben
Paten Magifter. „Wir ftammen aus Frankreich, Bruder
Herrmann, wir heißen Saint Roc!“
Bruder Herrmann blidte fo gelaffen wie zuvor. Er
hatte diefe plögliche Veränderung noch gar nicht ges
faßt. Fräulein Iduna nidte dem Erregten einftim>
mend zu; die Mutter lächelte; fie hielt feine tolle Freude
für eine jener Launen, welchen der Feine Beißfporn
fdyon bei manchem früheren Anlaß verfallen war. „La
Zweiter Abfchnitt 93
mouche le pique!* fagten dann lächelnd die Eltern, und
die Tarantel verbraufte fo jählings, wie fie heranges
ſchwirrt war.
Heute aber war ed feine flüchtige Laune, heute war es
das Blut der alten Provenzalen, das in ihrem Entel
rumorte. Sooft er fortan den Namen Franfreich hörte
oder ausſprach, da war ed, ald ob er über fich einen
ewig blauen Himmel lächeln fähe, als ob linde, dufts
fchhwangere Lüfte ihn umfächelten, ald ob die Erde blühte,
juft wie Fräulein Sduna ihren Garten Eden gefchildert
hatte. Bon felfigem Geftade fpiegelte ſich im fonnens
goldigen Weere die Erbburg der Saint Roc, und ein
Geſchlecht von denen, die edel, ritterlich, heroifch in
Frankreich geblieben waren, breitete feine Arme nad)
dem im Norden verlorenen Enkel aud. Was Wunder,
dag im Vergleich zu diefen Sdealgeftalten das Voͤlkchen
im unmirtlichen Heidewinkel ſich je mehr und mehr gar
tölpifch und bärenhäutifch abhob und endlich nur noch
die Mutter in ihrer holden Würde darin ftrahlte ald
eine geborene Herzenskoͤnigin.
Meben ihrem Scattenriß über feinem Bette mußte
eine Karte von Franfreich aufgehängt werden; er ftds
berte nach franzöfifchen Büchern, wußte bald „Henriade“
und „Telemach“ auswendig, wurde ein eifriger Zeitungs»
lefer, wobei der Artikel Frankreich einzig ded Interefles
verlohnte — was beiläufig weniger phantafiereichen Leu⸗
ten ebenfo ging. Er fegte ed durch, in die hiftorifchen
Lektionen, die fich bisher auf das heilige und profane
Altertum befchränft hatten, die Gefchichte Frankreichs
aufgenommen zu fehen, und wenn ald Antidotum aud)
die des deutfchen Reiches verabfolgt wurde, fo ift es
[4
94 Frau Erdmuthens Swillingsfähne
nicht eben unerflärlich, wenn die beraufchende Wirkung
der erfteren nur dadurch gehoben wurde.
Alles, was wir Herrliches zu bieten hatten, lag ja fo
fern, gleichſam fadenlos für die zerftädelte Gegenwart;
die glorreiche Epoche der Reformation ſchloß vor einer
unaudfüllbaren Kluft; die edelften Beftrebungen ver-
zudten wie Blige im Waffer; aus den KHeerzügen der
dreißig Jahre leuchtete verflärend nur der König eine
fremden Landes. Dann ein Säfulum dürrer Bradıe
über dem todesmatten Volk: der genialfte Soldat un»
ferer engeren Heimat mußte Franzofe werden und gegen
Deutfchland kämpfen, um fich ein Xorbeerblatt zu er:
werben. Nun ragte aud neuefter Zeit neben und aller>
dings eine Geftalt, an welcher eine hefdenmäßige Phans
tafie fich emporzurichten vermochte. Aber der Name
Friedrichd von Preußen hatte für fächfifhe Organe
einen zu mißliebigen Klang, als daß den unheldenmäßigen
Inftrufteur danach gelüftete, ihn gebührend hervorzus
heben, und war denn nicht durch das jüngfte, zweideutige
oder Fägliche, kriegerifche Refultat - wie gewonnen, fo
zerronnen! — das Erbteil feines Ruhmes bereits aufge
braucht?
Wie anders drüben! Welche Fülle der Erfolge feit
jenem fernen Tage, wo Deutfchlands KHeldenfonne am
Horizonte fanf! In der Zerriffenheit ded Parteienhas
ders felber, hüben und drüben, eine Reihe chevaleresfer
Geftalten, lebendig greifbar, entzündend heute noch; der
Enkel Borbild und Ruhm. Wie verdichten fich dann die
Strahlen zu einem überflammenden Stern; wie fammelt
ſich alles, mad Geiſt und Sinnen fchmeichelt, um den
blendenden Königsthron; wie wächlt Die Macht, während
Zweiter Abfchnitt 95
die unfere zerbrödelt! Dad wenig glorreiche folgende
Halbjahrhundert verſchwimmt in dem Nebel, der den
Helden von Roßbach vor unferen Blicken umdunftet;
und die neuefte Epoche ded Graueng, des Martyriumg,
heroifcher Todesveradhtung: ein Kitel der Imagination
ift auch fie. Das Leben jagt im Sturmfchritt über Leis
chen und Trümmerhaufen dahin; weitfchallende Schlag>
worte begleiten das Volk, das gegen eine Welt in Ketten
fich erhebt, um durch feine Niederlagen fiegen zu lernen:
Meteoren gleich fteigen Helden auf und ab, um endlich,
gebannt durch einen zweiten Caͤſar, den Erdteil fich unter:
wärfig zu machen.
Die frühreife Anlage bes Knaben entwidelte ſich unter
diefen Eindruͤcken, während der Bruder noch lange in
gleichgältiger Läffigkeit verharrte. Sein Geift war noch
nicht fchlüffig geworden, und was er nicht Far fah, das
lag für ihn kalt und tot. Während ded Vaters Ab»
wefenheit zeigte er nur Anteil an deſſen perfönlichem
Geſchick; fpäter fpürte er wohl das Abftoßende, das für
fein deutfched Blut in dem gewaltfamen Umfturz und
jachen Wechfel alled lange oder faum Beftehenden lag.
Aber ed empörte ihn nicht, wie ed jenen begeifterte; der
Tummelplag lag zu fern für feine zögernde Phantafie;
er hatte das Ideal nody nicht gefunden, das er dem Idol
- des anderen gegenüberftellen konnte; feine Leidenfchaft
gegen die ded Ruhms, mit weldyer fein Bruder ſich
fchmwellte. Unbefümmert um die Gegenwart Elaubte er
über Erpofitionen aus Platon und Tacitus, wo jener
faum mehr über einer Aufgabe zu bannen blieb, jeder
Puls ihn zur Tat ind Leben drängte.
So trat denn bei mancherlei Anläffen wohl bie abweis
96 Frau Erdmuthens Swillingsfölne
chende Richtung an den Tag, zu einer feindfeligen Bes
rührung fam ed aber nicht, einfach, weil dem Aufges
regten ein Widerpart fehlte. Haͤufiger ald der Bruder
war ed der Vater, der ein Ärgernis an feiner Entzüdung
nahm. Zorheit und Frevel nannte er die Vorliebe für
eine Nation, die feine Väter audgeftoßen hatte und die
er ſchlechthin haßte, feitdem er ihr ale Feind gegenüber
geftanden. Der mütterlichen Liebe verblieb auch in dies
fem Sinne gar vieled Audzugleichende, und fo hatte id
denn das feltfame Schaufpiel: der Abftammung, dem
Mamen, der Phyfiognomie nach Zug für Zug einen Frans
fen feinen Sohn auf das härtefte aburteilen zu hören,
weil das Grundweſen feines Volks ſich getreu in ihm
widerfpiegelte; während eine deutfche Frau, wie fie
reiner und edler nicht ausgeprägt fein fonnte, die na⸗
türlihen Vorzüge jened Volkes darzuftellen ftrebte in
dem Lichte, dad ihre teuerften Menfchen überftrahlte.
Es war in diefen halbwuͤchſigen Jahren meiner Zoͤg⸗
linge, ald durch den Rittmeifter Thielemann, feit dem
Mheinfeldzuge Herrn von Rocs befreundetem Kameraden,
und die Verſe mitgeteilt wurden, die ich wie einen Leits
faden durch meine Erinnerungen gezogen habe. Kerr
von Thielemann war der Schweftermann von Friedrid)
von Hardenbergs Braut und begleitete die fympathifche
Gabe durch eine genauere Kunde von dem Scheiden des
Dichters, der auch ald Menſch der Familie nahe geftanden
hatte. Wir alle waren tief bewegt. Nachdem Frau
Erdmuthe mit bebender Stimme die zweite Strophe zu
Ende gelefen, ruhten lange Zeit ihre Augen umflort auf
ihren beiden Söhnen. Ich fand in warmer Eingebung
eine kindlich Schöne Bachſche Welodie, die ſich wenig
Zweiter Abſchnitt 97
verändert dem Terte einen ließ. Gleich die erite Probe
gab einen ergreifenden Zufammenflang. Ich präludierte;
die Bruderſtimmen hoben an:
„Reich treulich mir die Haͤnde,
Sei Bruder mir, und wende
Den Blick vor deinem Ende
Nicht wieder ab von mir.“
Nun fielen auch die Eltern ein; ich begleitete:
„Sin Tempel, wo wir fnien,
Ein Fand, wehin wir ziehen,
Ein Glüd, für das wir glühen,
Ein Simmel dir und mir.“
„Dir und mir,” verhallten die Bruderfiimmen wieder
allein. Sie ftanden Arm in Arm. Die Mutter drüdte
beide gleichzeitig an ihr Herz.
„Sie lieben ſich doch!“ flüfterte fie mir zu mit ftrahlens
dem Blid, „Sie werden Freunde fein hier und dort.“
Die Strophe wurde fortan jeden Abend vor dem Gutes
nachtſagen gefungen. Wir nannten fie unfer Bundeslied.
% %
%
Die Brüder näherten ſich dem Alter, in welchem fe
auf eigenen Füßen ind Leben treten mußten. Sie hatten
bisher, mit Ausnahme ded Vaters, der in ritterlichen
Künften Meifter war, mich allein zum Lehrer gehabt
und die heimifche Gegend nur während furzer Ausflüge
nach Leipzig und Dresden verlaffen.
Wil man in diefer Befchränfung einen Tadel für die
Eltern finden, fo muß ich erflären, daß der Vater allers
dings nur daran dachte, feine Kieblinge möglidıft lange
als Herz⸗ und Augenweide zu hegen, daß aber die wiuts
xx.7
98 Frau Erdmuthens Zwiltingsföhne
ter, die nie ein Opfer fcheute, wo ed das Wohl eines
ihr von Gott anvertrauten Menfchen galt, nach geprüf-
ten Plänen handelte. Eben weil die Naturen ihrer
Söhne weit auseinanderftrebten, follten fie in Enge und
Nähe miteinander verwachfen; die dauerhaften Eindrücke
der erften Jugend follten fich ungerftreut an die Heimat
fnüpfen, in welcher fie ald Männer auf einen feiten
Pag geftellt fein würden.
Im übrigen war folcdye häusliche Erziehung junger
Edelleute, zumal wo fein Fach⸗ oder Brotitubium beab-
ſichtigt wurde, durchaus Feine Ausnahme jener Zeitz
und e8 war ja beileibe auch fein einfeitiges oder ein-
fiedlerifches Dafein, zu dem man bie unferen verdammte.
Die Verwaltung eines großen Dominiums, wie die hu⸗
manen Aufgaben, weldye fid) Frau Erdmuthe innerhalb
der Gemeinde geftellt hatte, boten über die Stubdierftube
hinaus ein ernithaftes Intereffe; daneben liebte der Ritt-
meifter die Gefelligfeit, und Gaftfreundfchaft war eine
Erbtugend der Feld. Die Sarnifon brachte Wechfel in
den täglichen Verkehr, der Begriff Nachbarſchaft er-
ftrecfte fich weit über die Heide hinaus, und der Fami-
lientiſch hatte eine dehnbare Eigentümlichkeit.
Schon im Knabenalter pürfchten die Sunfer im wohl-
beftellten Revier; unter KHörnerflang und Meutengebell
auf weitausgreifendem Renner wurde fpäterhin der Eber
gehegt, und felber, einer Phantafie Junker Rauls zu Ge⸗
fallen, der ſchlaue Reineke, dem man bisher nur in Fallen
und Netzen nachgeftellt hatte, unter die auderwählte
Sagdbeute aufgenommen. Es gab reichliche Tafeleien,
gab Wettrennen und Tanzpartien; bei mangelndem Ors
chefter half der Pate Magifter ald Muſikant, auch darf
Zweiter Abfchnitt 99
der Pate Magifter ſich rühmen, ald Partner Fräulein
Idunens mehrfach in einer Efoffaife bewundert worden
zu fein; während unfer neuer Erbjuder, Guftel Hecht,
der Philofophie, welcher er fid, feit jenem Dentzettel
beim zehnten Kloße mit Leidenſchaft ergeben hatte, in
einem Ländler untreu ward. Bon dem Erntefefte auf
Arnheim, das regelmäßig am fechften September, dem
Geburtstage der Zwillingsbrüder, gefeiert wurde, wiffen
die Alten der Pflege heute noch zu erzählen.
Soll ich nun fchließlich noch erwähnen, welch waderer
Borfänger mein Herrmann in dem Chore ward, das ich
feit dem erften Wiederfußfaffen in unferem Heidewinkel
aus deflen jugendlihem Nachwuchs herangebildet hatte,
gebildet mit einem von Geſchlecht zu Geſchlechte tiefer-
greifenden, nicht bloß mufifalifchen Erfolg, der das Her;
des Greifes noch am Grabesrande erquidt? Oder darf
ich, ohne der Wahrheit nahezutreten, unterdrüden, daß
Junker Raul in bedenflicher Frühe anfing, der Held
unferer winterlichen Spinnftuben zu werden, wiewohl
unter Frau Erdmuthens züchtigem Walten in Diefem volks⸗
tuͤmlichen Inſtitut fich die entfittlichende Luft in fittigende
FSröhlichkeit verwandelt hatte? Noch einmal und alles
in allem: nur die Glüdlichften der Knabenwelt werden
in einer fo ungetrübten Atmofphäre wie der unferen zu
Sünglingen herangewadhfen fein. Sie hatten Zucht und
Obhut, Freiheit und Freude, foviel fie irgend bedurften
oder vertrugen, und wenn ihnen einzig allein bie Ges
noffenfchaft fehlte, aus welcher fie fid) Kameraden und
Freunde hätten wählen dürfen, fo gefchah es in der Ab-
ficht, daß fie fich felber zuerft Kameraden und Freunde
werden follten.
100 Grau Erdmuthens 3willingsſoͤhne
Hätte Frau Erdmuthe nur ihre eigene Auffaſſung von
Gluͤck in Betracht gezogen, würde fie das Leben beider
ihrer Söhne diefer einfachen Felsſchen Weife fich auch
weiterhin haben abwideln laffen: ein paar Jahre auf
der Univerfität, ein paar Reifen nad) Italien oder Engs
land, da Paris feit dem jähen Übergang von blutigem
Schreden zu ausgelaflenfter Luſt mehr denn je ald eine
Stätte unverftändlicher Verwilderung erfchien; gelegents
lihe Aufmwartung am furfürftlichen Hofe; bei jungen
Jahren ein eigener Herd und eigene Bewirtfchaftung
der beiden Güter, in welche das Erbe zerfiel. Das
Kaufhaus, das wir aus der Ruine des Heidekloſters
auffteigen ließen, ift eines unferer freundlichften Lufts
fohlöffer in jenen Tagen gewefen.
Herrmanns Neigungen flimmten nun auch zu diefem alt⸗
väterlichen Programm; für feinen Bruder dahingegen fchien
ein Ummeg, wenn aud) mit dem nämlichen Ziele, geboten.
Man fürchtete, daß die flotte Junkerlaune ſich die akademi⸗
fche Freiheit mehr denn zutraͤglich zunuge machen werde,
und zog ed vor, hm unter militärifchem Zügel eine Station
des Austobens zu vergönnen. Zudem liebte der Rittmeifter
feinen Stand, und fein Züngfter kannte feinen höheren.
Ich hatte meine Zöglinge ungefähr den Kurſus der Pors
tenfer durchlaufen laſſen, und im Frühling 1805 wuͤrde
ich dem ftätigen Herrmann ohne Bedingung, feinem bes
weglichen Bruder allenfalld bedingungsmweife das Zeug:
nis der Reife haben augftellen dürfen. Eine Sommer:
reife follte den Übergang in die Freiheit vermitteln, und
mit diefem Reifegeleit die Mentorrolle für mich zum
Abſchluß kommen. Eie hatte fechzehn Jahre lang, aber
feine Stunde mir zu lange gedauert.
Sweiter Abſchnitt 101
Und als hätte unfer Herrgott nur darauf gewartet, bie
ih) dad Schulbuch zugeflappt, um mir die Pforte zu
meinem Erbamte aufzufchließen, fand ich nach der Heim⸗
tehr den Greis im Pfarrhaufe zu feinen Vätern ver:
fammelt. Die Waiſen, deren Bevormundung ihm wenig
Not gemacht hatte, ftanden ald gute, zufriedene Mens
fhen fämtlih am eigenen Herd: die Schweſtern als
Pfarrersfrauen in der Nachbarfchaft, die Älteren Brüder
ald Verwalter und Förfter in Frau Erdmuthens Dienft.
Nur der Züngfte im Safrandrell haute und baute im
Städtchen auf eigene Hand. In der teueren Heimſtaͤtte
aber hat noch manches Jahr eine gluͤckliche Pfarrmutter
gefchaltet.
Dritter Abfchnitt
Was hindert, muß entweicen.
{r hatten und monatelang erft im Reich, dann im
Benetianifchen umhergetrieben, ohne an das Ges
munfel einer europäifchen Verbündung gegen den Ufur-
pator ernfthaft zu glauben und von sfterreichifchen
Rüftungen Bedenkliches zu merken. Weine Sünglinge,
jeder in feiner Weife, hatten vollauf in einer neuen
Schoͤnheitswelt zu ſchwelgen; ich alter Friedensfreund
aber troͤſtete mich damit, daß Kaiſer Franz wohl ein
Haar in Koalitionen gefunden haben moͤge. Was aber
den neugekroͤnten korſiſchen Unband anbelangte, ei was,
der ſtand vor der Hand im Lager von Boulogne, wie
ſieben Jahre fruͤher in dem von Toulon, und ging, ich
zweifelte nicht daran, einem zweiten Abukir entgegen.
Nun, der ſaͤchſiſche Magiſter war kein Politikus; Gott
ſei gedankt, daß er es zu ſein nicht brauchte. Daß aber
andere Leute, die es zu ſein brauchten, die Lage nicht
viel weniger vertrauensſelig angeſchaut haben —, hat
denn nicht in letzter Inſtanz das den Ausſchlag gegeben
für ſieben Jahre ſchmaͤhlichſten Elends über dem ge⸗
ſamten Vaterlande?
Erſt als wir uns Anfang Oktober uͤber Steiermark
der deutſchen Kaiſerſtadt naͤherten, wurden wir des
drohlichen Zuſtandes inne, der ſeit Macks Eindrang in
Bayern heraufbeſchworen war; Etappe für Etappe
ftürmten nunmehr die unerhörteften Poften auf un ein:
Frankreichs Bündnis mit den füddeutfchen Fürften,
Bruderfrieg auf urdeutfchem Grund, Bernadottes heraus⸗
fordernder Durchbruch über preußifches Gebiet!
Dritter Abſchnitt 108
Ein Siechtum Herrmannd, das id) dem ungewohnten
Bergiteigen zufchrieb, zwang und von Graz ab zu häufigen
Raſttagen und kurzen Reifeltunden. Immer deutlicher
dämmerte jet der Mißftand der Dinge: die halbfertige
Rüftung, das Zögern der ruffifchen Hilfe, Preußens
Zweifelhaftigfeit, die Umzingelung der Hauptarmee in
Schwaben. Stunde auf Stunde eine neue, haltbare
oder unhaltbare Kombination, bie wir endlidh Wien
erreichten, faft gleichzeitig mit der Schreckenskunde von
Ulm.
Da hätte ich und nun Flügel anheften mögen, um
mit meinen nunmehro allerfchwärzeften Gefichten hinter
unferen heimifchen Heideſchirm zu flüchten, und ich
mußte gleidhfam inmitten des Feldlagerd ausharren bie
furzen und doch ewig langen Wochen, welche Rüdzug
und Verfolgung der verbündeten Heere von Schwaben
bis Mähren fülten.
Mein Herrmann war in einen Zuftand verfallen, den
die Ärzte ein pathologifches Nätfel zu nennen beliebten.
Es artete nicht, wie anfangs befürchtet, in ein Wienerifches
Mervenfieber aus; der Puls im Gegenteil fchlidy nur
allzuträge; das Hirn fchien unter einem bleiernen Drude
gelähmtz; er fprach nicht, nahm nur mit Efel die nots
dürftigfte Nahrung; bleich mit glanzlofen Augen und
fchlaffen Gliedern faß er den lieben, langen Tag am
Fenfter, ftierte ohne Verſtaͤndnis oder Anteil in das
Wirrfal der Szenen, welche von Stunde zu Stunde auf
der Straße wechfelten. Wenn eifrige Zungen Xüge und
Wahrheit kraus durcheinander bis in unfer Kranfen-
zimmer trugen, er horchte nicht auf, er blieb ftarr und
ftumm.
104 Frau Erdmuthens Smwillingefähne
Hof und Regierung flüchteten aus der Stadt; die ges
fchlagenen Truppen gaben fie preis; hart an ihren
Ferfen überfchritten die Feinde den Strom, zogen durch
die geöffneten Tore, ald wäre ed auf die Parade; wenige
Stunden, und eine franzöfifche Garniſon fehulterte vor
den Poften, welche die Landesfinder geräumt hatten;
mächtige Waffenfchäge wurden ohne Umftände aus—
geliefert, eine ungeheuere Brandfchagung fchmunzelnd
eingeftrichen; flinf wie bei einer Theaterdeforation trat
die fremde Mafchinerie an Stelle der hergebradıten;
einem Heuſchreckenſchwarme gleich, jagte das feindliche
Heer hinter dem der Freunde in dag Land hinein: der
alte Pädagog fchlug die Hände uͤberm Kopfe zufammen,
und dem Süngling zuckte nicht die Wimper.
Nun aber neben des einen ftarrfüchtiger Apathie bie
fieberifche Elektrizität des anderen! Es ift kein feines
Gleichnis, aber Junker Raul hatte Blut gelect und war
auf der Fährte. Seine Augen fprühten, die Muskeln
zucten, was er hörte und fah, wirkte auf ihn wie Sprit
auf eine Flamme, Das Langerfehnte leibte und Iebte
jegt vor feinen Augen gewaltiger ald alle Phantafie:
diefe glorreiche Armee, dieſe tapferften Söhne des
tapferften Menfchenvolfd, die Träger der Kultur, der
Humanität! Nun hörte er es fchlagen, das Herz der
Welt, nun fah er den Titanen, der die empoͤrten Wogen
gebannt und fie als befruchtenden Strom über den Erd-
ball geleitet hatte; den Säfar, den mehr ale Charlemagne
und wie die Schlagworte alle lauteten, mit welchen, von
jenen Tagen an, aud) gewichtigere Leute als unfer Junker
die heimifche Kleinheit vor einer übertriebenen Größe
Blindekuh fpielen ließen.
Dritter Abſchnitt 105
Tage vergingen, Nächte, in denen ich händeringend im
Zimmer des Wadhfchlafenden auf und nieder trabte und
vergeblich nad) den Schritten des Heißſporns aufhordhte.
Er fchwärmte umher — wo? In Gottes lieber Natur
wirds nicht gewefen fein; ſchweifte mit der glorreichen
Kameraderie; fraternifierte mit Heimatöfreunden aus dem
lachenden Eden der Provence, nannte ſich flottweg wieder
Chevalier de Saint Roc; und id, was blieb mir übrig,
ald nur dem Himmel zu danfen, daß er mit den neuen
Brüdern nicht über alle Berge entfloh und von Zeit zu
Zeit doch einmal heimfehrte, um den Paten Magifter
mit den Bildern aus feiner Zauberlaterne zu verblüffen.
Ja, dazumal glic, ich dem richtigen Komödienhofmeifter,
wie er in taufend Angſten ſich windet und kruͤmmt und
feinem Leibe nicht Rat weiß, um — getreulich dem einen
als Falfchirm, dem anderen ald Springfeder - feine
Rolle abzufchließen.
Herrmannd Zuftand änderte fich nicht; bie Ärzte, welts
berühmte Profefforen, fchoben ihn jeder auf etwas
anderes, was fichtbar oder unfichtbar in einem Menfchens
leibe agieren foll: ftärften, reizten, ftillten dann wieder,
ftärften von neuem, verordneten der Himmel weiß was,
jedenfall® viel. Die Sorge der Eltern quälte mich auch:
ich hatte ihnen Herrmanns Derfaffung fo glimpffich als
möglich dargeftellt, aber wußte ich nicht, wie böfe Lagen
in der Entfernung wadıfen? Zudem war der Termin
von Rauls Militäreintritt bereits überfchritten, und die
Ärzte prognoftizierten noch immer die Krife, vor welcher
fie den Patienten nicht aud den Händen laffen wollten.
Sn der Lauer auf diefe Krife faß ich in den legten
Novembertagen fill bei meinem Stillen, ald draußen,
108 Frau Erdmuthens Zwillingsſoͤhne
wo bisher alles wiſpernd auf Socken einhergeſchlichen
war, das Stapfen eines Knotenſtocks die Treppe heran,
dann die Tritte eiſenbezweckter Stiefeln im Vorſaal ers
dröhnten. Die Tür wurde ohne Anflopfen aufgeriflen
und zugefchlagen hinter einer hünenhaften Geftalt mit
einem Matrofenhut über der graumelierten Mähne und
einem dito Bart bis auf die Bruft hinab. „Salve!“ rief
eine Stentorftimme.
Ich winfte abwehrend mit der Hand; aber: „Kindskopf!
Speftafel ift auch Medizin“, brummte Albrecht Bär.
Ya, Albrecht der Heidebär, grau und rauh wie zur
Stunde, da er die Heimatsfeſſeln fprengte, um dem
Edelwilde nachzujagen, das feine Zeitgenoffen Freiheit
nannten! Und, großer, alter Knabe, hätteft du, Hand
aufs Herz, bei erbleichendem Haar beteuern fünnen, daß
dich nicht eine Kata morgana genarrt? KHätteft du Ant-
wort geben können, wenn ein heutiger Pilatus „Wo ift
Freiheit?” dich gefragt?
„Sm Monde,” oder „um Buxtehude herum, auf Robin-
fond Inſel,“ oder „fonft in einem noch wenig auf:
geräumten Sagdgebiet,” würde Bär, wenn überhaupt,
geantwortet haben, zwar nicht auf-die Frage des Pilatus,
aber auf die eure: wo in aller Welt er fich diefe zirka
zwanzig Sahre lang umbhergetrieben? Denn Bären
brummen wohl, daß fie aber auch Gefchichten erzählen,
davon ſteht im alten Tierbuche nichts; am wenigften
Geſchichten, deren Helden fie felber find. Diefer
Spezialität befleißigen ſich ihre Gegenfüßler, Die Magifter.
Auch der plaudernde Magifter kann euch indeffen nicht
berichten, wie und wo und wann, nur daß der ruhelofe
Sreiheitöjäger gar mandjed Mal die Himmeldgegend ge-
Dritter Abſchnitt 107
wechjelt hat! Harfch unter dem Fallbeil hinweg, von dem
blutroten Banner unter das ded Leoparden; über Meer
und Land, bis in die Wüfte und in die Peltzone hinein,
wo der „armfeligfte Pflafterfaften” zu einem Freiheits⸗
fämpfer wird; endlich auf krachendem Schiff unter Kugel»
hagel und Pulverqualm, allüberall Eönnt ihr Albrecht
den Bären fehen. Als er aber jegt, wenig Wochen nadı
den ewig dauernden drei Stunden vor Trafalgar, wieder
feften heimatlicyen Grund betrat, „bloß aus follegialifcher
Neugier,“ wie er fagte, „um zu fehen, was in der los⸗
gelaffenen Bärenhege von deutfchem Geruͤmpel übrig-
bleibt,“ da heilte wohl die Wunde, die feine Bruft am
Bord ded „Siege“ getroffen hatte; die Herzenswunde
aber blutete noch ungeheilt, denn er hatte den Sieges—
beiden fallen fehen, unter dem er zehn Jahre lang feine
Schuldigfeit getan, und wo er fortan die Freiheit fuchen
follte, war ihm dunkel.
Zuverläfftger indeffen ald mit dem erften Menſchen⸗
rechte ſchien es unferem Bär mit jenem zweiten geglüdt,
in deflen Beſitz fo mancher arme Kettenträger fich ein
Freiherr zu fühlen pflegt. Dem englifchen Flotten⸗
phyſikus fehlte für theoretifche Anwandlungen nicht ein
Ohnmachtsbiſſen und nicht der ftärfende Tropfen für
die Tage, die feinem gefallen. So fommt er denn in
die alte, felber im Elend noch Iuftige Kaiferftadt; der
Zufall fpielt feine Rolle; er vernimmt durd, gelehrte
Kollegen von der pathologifchen Kuriofität des nordifchen
Heidefohns, hört den Namen, der ihn an verhaßtes
Dienfts und Gnadenbrot — und vielleicht nody an etwas
anderes Unausſprechbares erinnert; er rennt herbei.
Und da fteht er nun und blickt mit einem ganz abfonder:
108 Frau Erdmuthens Zwillingaföhne
lichen Baͤrenausdruck in die wohlbefannten, jegt ach, fo
weiten, glanzlofen Felsfchen blauen Augen.
Da fchüttelt er zuerft fich felbit, darauf den armen,
müden, ftillen Jungen, rudt und rüttelt auch „moralifch“
ein bißchen an ihm herum, ftapft in der Stube auf und
ab, und indem er bei jedem Gange eine Medizinflafche
aus dem Fenfter wirft, horcht er geduldig zu, bie der
alte Kindskopf das lange Freudens und legtlich Klages
lied feined Magifterlaufd zu Ende gelungen hat. Er
brummt ein Stüdchen, fchiebt ab, fpringt am Morgen
wieder ein, macht auch die Bekanntfchaft des zweiten
Heimatserben und läßt endlich fid) vernehmen wie folgt:
„Gebt Euch zufrieden, ewiger Magifter! Es müßte ja
feine Öercchtigfeit über den Regenwolfen walten, wenn
Euch Euer paͤdagogiſches Unikum fo im Nebel verpuffen
follte. Sedyzehn Jahre auf einen Jungen! Denn den
anderen, den Schießhund, den werdet Ihr doch wohl
nicht auch für Euer Kunſtwerk ausgeben wollen? Gedhs
zehn Jahre! In der halben Zeit wird Magifter Bonas
parte mit der gefamten Sungfer Europa fertig geworden
fein. In der anderen Hälfte fie vielleicht wieder mit
ihm; denn alte Jungfern find zähe. Laßt Euren Gold»
fohn nur duſeln; er dufelt ſich gefund. Wär er ein
richtiged Wieneriſch Blut, ihm fehmedte fein Wurftel,
und er fänge fein Kiedel feelenvergnügt wie die anderen
auch. Er ift aber einer von der deutfchen Sorte, auf
die fo eine Weltpauferei wirft wie ein Keulenfchlag vor
die Stirn. Wir fchlafen ein und ſchwer wieder aus,
Damit aber, flennt nur nicht gleich, Magifter, damit
bilden wir juft das dauerhafte Element auf diefem wer,
wölfifchen Erdrevier. Wenn der große Sagdherr droben
Dritter Abſchnitt 409
zum legten Halali zufammenblafen laſſen wird, bleibt
drunten einer zurüd, der den Speftafel verfchnardit, und
diefer zweite Adam ift ein deutfher Menſch. Eures
Jungen Kranfheit — nennt fid) deutſche Natur! Bringt
ers zum Ausfchlafen, wird er ein Mann geworden fein.
Den anderen, den laßt laufen. Ihr haltet ihn nicht.
Ein Siebenfchläfer wird der nicht; aber audy fein Mann;
will fagen, was Bären und Magifter unter einem Danne
verftehen.” So Doftor Bär. Am nämlichen Tage
fhrieben audy die Eltern: „Sciden Sie Raul zurüd
und warten Herrmanns Genefung gründlich ab.“ Die
KHauptftadt war ruhig, ja, für den Aufgeregten langweilig
geworden; der Weg durdy Böhmen lag frei. Ich gab
meinen Segen und ließ ihn ziehen.
Sunfer Raul hatte das Siechtum feined Bruders
cavalierement behandelt. „Der Baͤrenhaͤuter!“ fagte er
lachend. „Das Blut eines Fifches müßte wallen. Seines
ftodt. Er nimmt ſich nicht einmal die Mühe, die Augen
zuzufchließen, wenn er fchläft.“
Jetzt trat er zum Lebewohl an ded Kranken Bett. Es
war in der Frühe des legten November. Herrmann
ſchlug die trägen Lider in die Höhe und lallte mühfam:
„Keim — zur Mutter -— Bruder!“
Es waren die erften Laute feit Wochen; der erfte
Abfchied, den die Brüder voneinander nahmen. Hätte
id ahnen können, in welcher Stunde und mit welchem
Gruße fie ſich wieder begegnen würden!
Aber feltfam! Seit diefer Trennung datierte in meined
Patienten Zuitand eine merfliche Belebung. Oder hätte
bed alten Freiheitsdoftord Laͤrmmethode wirklich als
Stimuland gewirft? Er horchte auf, wenn jener feinen
110 Fran Erdmuthens Iwillingsföhne
Brummbaß anftiinmte, er foitete fogar von dem Brats
hahnel und dem Ausbruchflafchel, die fid) der Doftor an
unferer Tafel fchmeden ließ; fein Puld belebte ſich; er
ging auf meinem Arm geftügt im Zimmer auf und ab,
und als faum eine Woche fpäter der alte Ifegrimm die
längft prophezeite Schreckenspoſt von Aufterlig in das
Kranfenzimmer brüllte, da faß der Juͤngling wohl eine
Viertelftunde lang unbeweglich, die Hände vor dem
Gefiht zufammengefchlagen; dann erhob er ſich und
fprach mit fefter Stimme: „Seßt heim auch wir! Ic
bin gefund.”
Sc gedachte der Stunde, in der er ald Kind ohne
fhüchternen Verſuch auf feine Füßchen trat und ficheren
Scritted feiner Mutter in die Arme Tief. Ach, wie
danfte ich Gott!
Anderen Tages ftanden wir zur Abfahrt bereit, als der
Phyſikus — er fand den englifchen Phyfifus etymologifch
für feine Gaben fchicflicher al den deutfchen Doktor -
fich unerwartet zur Mitreife einftellte. Ob er fich wirflich
vor den Spitzeln fürdıtete, die bald genug im deutfchen
Wien auf den Invaliden von Trafalgar vigilieren
würben? Ob der Verlauf der pathologifchen Kuriofität
ihn fo unmwiderftehlich intereffierte? Oder ob auch Bären
in alten Tagen einen Kigel der Neugier fpüren nad
dem Zwinger, in welchem fie an das Tageslicht gefrochen
find? Kurzum, der Doftor reifte mit.
Wie vor zwei Monaten durch Steiermarf, fo ging es
nun in furzen Tagesfahrten durchs VBöhmerland, und
wie damals die unheimlichen Vorboten, fo erwarteten
ung jest von Station zu Station die fchmachvollen Nadhs
zügler des zweiten Dezembertags. Während des legten
Dritter Abſchnitt 111
Öfterreichifchen Borfpanns famen wir für eine immerhin
denfwürdige Begegnung nur um Minuten zu fpät. Die
Reiſewagen zweier preußifchen Emiffäre rollten an uns
vorüber. Der eine — wie fpäterhin befannt wurde -
General Phul, von Berlin mit dem Vorſchlag eines
Friedensproviforiums, der andere, Haugwitz, von Wien
mit dem Friedensdefinitivum kommend, waren hier aus
Zufall aufeinander geftoßen. Bär erfannte den legteren,
„weil er ihn im Wurftelprater. mit dem Freiheitsftempel
der Ehrenlegion auf der Bruft habe fpazieren fehen.“
Er verfuchte auszufpucken, obgleich ihm die Kehle trocken
war. „Bor Gaudium,” fagte er, „über das Meifterftüd,
das diefer große Deutfche in der Tafche unter dem Ehren-
ftern nach Haufe trägt.” Preußens Abfall von der
Koalition galt dem Doktor als Tatfache, fein Buͤndnis
mit Napoleon nur eine Frage der Zeit. Der englifche
Phyſikus fchöpfte Schon Damals aus politifchen Quellen,
die der fächfifche Magifter niemals ergründet hat.
Der Pferdewechfel verzögerte fih. Wir verließen die
laute, dumpfe Paffagierftube, in der ed von beängitigenden
Gerüchten ſchwirrte. Schweigend gingen wir in bie
Winterlandfchaft hinein. Der erfte Schnee gliterte im
Sonnenfchein auf dem blauumdufteten Gebirge. Wir
hätten kein ſchoͤneres Abfchiedebild von unferer Reife
ultra montes heim in die Heide tragen fünnen. Wer
aber freute fich der ewig verfühnenden Natur, wo bie
Unnatur der Geifter fo fchnöde höhnte?
Der alte Friedensprediger war der erfte, dem die
fächfifche Galle überfchwoll. D Freundin Iduna! Kalt
du ed denn in feiner Seele gelefen, wie er in bitterlicher,
grimmer Eiferfucht auf den glücklichen Nachbar, der dem
412 Fran Erdmuthens Swillingafdhne
Staate Martin Luthers das Primat im proteftantifchen
Morden entriffen hatte, von jeher dein heimlicher Sozius
gewefen ift? Heute aber fchmähte und fehmälte er ohne
Kehl, nad Herzendluft. Bär brummte zwifchendurd
mit einem luftigen Grimm, der fid,, Wort um Wort, zu
übermannendem Pathos fteigerte. „Noch lebt Pitt, der
große Leopard, noch gibt ed eine See und einen ‚Sieg‘,
Deutfchland, fahre wohl!“ rief er, daß es zwifchen den
Bergen widerhallte. „Deutfchland, fahre wohl! Das
war dein Lepted.“
„Nicht das Kette!” entgegnete Herrmann, der bisher
ſchweigend mit feinen Elaren, tiefen Augen in die Weite
gefchaut hatte. „Erft noch die Strafe, dann die Sühne.
Der Kreislauf in unferen Adern ift feit Sahrhunderten
unterbunden. Aber dad Blut eines Volkes, das fchon in
der Wiege den Eroberern der Welt Halt geboten hat,
fol ein Blut zerfegt fich nicht in Sahrtaufenden. Im
Kampfe für unfere Natur werden wir den legten Tropfen
retten — oder verftrömen.“ |
Er faßte nad) diefen Worten unfer beider Bände und
hielt fie lange feitgepreßt in den feinen. Mit Staunen
blicfte ich zu meinem Süngling in die Höhe. Die lange
bleihen Wangen blühten in gefundem Rot, die legte
Mattigkeit fchien gefhwunden. Er ftand aufrecht, ftirns
breit höher ald der Hüne Bär. Der Neunzehnjährige
war in den beiden Krankheitsmonden noch gewachfen.
Mit fcherifhem Etrahl fchweifte fein Auge über bie
weißverfchleierten Berge.
Ohne weitered Wort gingen wir, Herrmann voran,
nadı dem Pofthaufe zurüd. „Gratulor!“ fagte der Doftor
zu mir. „Öratulor, Magifter! Euer Zunge ift ein Dann
Dritter Abſchnitt 113
geworden, und diefer Dann hat ein Ziel gefunden, für
‚das er lebt und ftirbt.“
Ich ahnte ed, und ich ahnte noch mehr. Diefer Mann
hatte auch einen Freund gefunden, der ihn auf der Bahn
zu feinem Ziele leiten und begleiten konnte, „ftärfer und
freidiger” ald der alte Pate Magifter. Und der eins
fame, freidige Freund hatte einen Sohn gefunden.
% *
*
Am Weihnachtsabend trafen wir im Elternhaufe ein.
„Herzenserdmuthe, unfer heiliger Chrift!” rief Herr von
Roc, und der Sohn ward gleich einem Neugeborenen
von ben elterlichen Armen umfangen.
Der Doktor machte Miene, fid) unbemerkt zu entfernen.
Aber wo war ba ein Entlommen? Herr Raul umarmte
ihn wie einen alten Freund, Frau Erdmuthe ftredte ihm
wie einem Bruder beide Bände entgegen. Über Albrecht
Baͤrs großes, graues Geficht flog ed wie ein Roſen⸗
ſchimmer der Jugend. Er fagte fein Wort, aber er blieb.
Sindeffen, dad waren nicht nur Freudentränen, welche
die Lider meiner Freundin gerötet hatten, und auch eine
böfe Kalte auf ihres Gatten Stirn, im Moment des
MWillfommend geglättet, grub fich verdrießlich von neuem
wieder ein. Der Lichterbaum wurde angezündet, allein
ed wehte fein Weihnachtögeift wie fonft in dem glüc-
lichen Hauſe. Beamte und Diener, Witwen und Waifen
erhielten reichlich befchert, auch jeder von ung eine vor-
bereitete Gabe; das Tiſchchen aber fehlte, vor welchem
bisher das fröhlichfte Kind gejubelt hatte, und bie
Mutter flüfterte mir zu; „Stil über Raul!“
Die Chriftferzen waren niedergebrannt, bad Habdank
XX.8
114 Frau Erdmuthens Swillingsfähne
war verflungen. Ein jeder trug fein Bündelchen heim.
Die Altvertrauten, heute zum erftenmal mit einem
Sechſten - als Fünfter natürlich der heimifche Kommili-
tone Guftel Hecht -, fegten ſich um den Familientifch, der
heiligabendliche Heringsſalat eröffnete den Bewill⸗
fommnungsfchmaus.
„Harmloſer, Kleiner Meerbewohner, wie fommft du zu
der Ehre, mitten im Heidefande ald Fortunatus verzehrt
zu werden?" Mit diefer erften Tifchrede verfuchte der
Doktor die bängliche Stimmung abzulenken.
Und wie es in häuslichen Krifen oftmald weniger auf
einen gefchickten ald auf einen gutgemeinten Verſuch
anfommt, fo ward auch heute der eingefalzene Fremd⸗
ling wirklich zum Fortunatus, der das Eis der Zurüd:
haltung brach. Ein Wort lockte das andere hervor, Die
dampfende Bowle taute bald des Nittmeifterd gute
Laune wieder auf. „Daß der Teufeldjunge uns die
Schöne Freude fo verfümmern mußte!” rief er aus.
Ein flehender Blick der Gattin fenfte fich in den feinen;
er reichte ihr über den Tifch hinüber Die Hand und fagte
lachend: „Warum nod) länger hinter Dem Berge halten,
mein Engel? Sprechen wir und die Seele frei von dem
drüdenden Verdruß. Sa, Magifter, heute morgen ift er
fort. Zwei Wochen lang habe ich den Tollfopf unter
Schloß und Riegel gehalten. Ich denke, die Lektion wird
gefruchtet haben. Aber Blut und Galle hat fie mir
weiblich in Wallung gebracht, und wieviel Tränen find
aus diefen guten, lieben Mutteraugen gefloffen.“
So fam denn nun Wort um Wort, unter Lachen und
Meinen, Anfchuldigungen und Entfchuldigungen die un-
erbauliche Gefchichte zutage, die dad Vorfpiel der herz-
Dritter Abſchnitt 415
brechendften Kämpfe in dem Haufe friedlichen Gluͤcks
geworden ift.
Sunter Raul war nadı dem Abfchied von Wien nicht
geradeswegd nach Haufe geeilt, fondern in das mährifche
Feldlager abgeſchwenkt juft zur Stunde, um Zeuge der
neuen Glorie feiner Heldenbrübder zu werden. Nach dem
MWaffenftillftande ftürmte er heim und, ohne Atem zu
fchöpfen, dem Vater unter die Augen mit der unums
wundenen Forderung, ihn ftatt in die fächfifche in die
franzöfifche Armee eintreten zu laffen.
„Zaufende von Franzofen,“ fo hatte er ausgerufen,
während der Bater noch ftarr vor Überrafchung mit
feinem auftochenden Zorne rang, „Taufende, deren Väter
unter dem Mordbeile gefallen find, rädyen ſich an ihrem
Baterlande, indem fie ihr Blut für feinen Ruhm vers
gießen. Auch ich will in feinem Dienft mir dad Heimats⸗
recht wiebererobern, das unferen Ahnen geraubt wurde,
Dorthin gehöre ich. Ich bin zum Soldaten geboren.
Aber nur unter Helden kann ich felber zum Helden
werden; hier bei euch bleibe id} ewig ein Paradeknecht!“
In dem Auftritt, der dieſer Apoſtrophe folgte, mag es
hart hergegangen ſein. Frau Erdmuthe konnte auch
ſpaͤterhin feiner nicht ohne Beben gedenken. Das gleich⸗
artige Blut wallte gegeneinander auf; das des Vaters
um fo fchäumender, da ed nur felten auf den Siedepunkt
kam. Dit den fchärfften Worten geißelte er den Uns
dankbaren, ber ſich dem Dienfte feined Heimatlandes ent»
ziehen, ja, früher oder fpäter unzweifelhaft die Waffen
fehren wolle gegen ein Bolt, das ihm zehnfältig alles
erfest habe, was das andere feinen Vätern fchnöde geraubt.
„Ein Bolt?" entgegnete höhnend der Sohn. „Meinft
116 Frau Erdmuthens Swillingsföhne
du das deutfche Volk, Vater? Nun, find ed etwa nicht
Deutfche, welche in diefen Tagen unter Frankreichs
Fahne wieder fiegen gelernt haben? Nennen nicht aud)
Deutfche ſich diefe Preußen, die, wie die Sperlinge auf
dem Dache ſich erzählen, nädıfter Tage im Bunde mit
Franfreich wieder fiegen lernen wollen? Meinft du — -“
„Sc meine uns Sachſen!“ fchrie der Vater, durch den
fpöttifchen Widerfprud, aufs Außerfte gebradıt. „ch
meine deinen fächfifchen Landesherrn und die fächfifche
Fahne, unter der deine Väter geblutet haben. Ich meine
diefen fächfifchen Heimatsgrund, dem du alles, was Gluͤck
heißt, zu lohnen haft: ©efeß und Ordnung, Religion und
Freiheit, Haus und Hof, Hab und Gut und zuerft und
zulegt deine unvergleichliche Mutter. Hier find deine
Landeshrüder, hier find die, deren Sprache du redeft,
beren Ölaube der deine ift; hier find die, in deren Reihen
ber Landöfnecht eines fremden Defpoten eined Tages
feinem Bater und Bruder gegenübertreten würde. Wie
weit willft du, Narr, denn die Stammesgemeinfchaft
zurücdatieren? Warum nicht gleich bis in die Arche
Noah und zu dem Elternpaare im Paradies? Gottlob,
daß du nody ein Knabe bift und ich dich zwingen fann,
wo ich dem Manne fluchen müßte.“
Er padte nad) diefen Worten den ſich Sträubenden bei
den Schultern und fchleppte ihn in fein eigenes Zimmer,
das er hinter fid) verfchloß. Nur der Mutter wurde
Einlaß geftattet, und deren guten, Fugen Worten, ihren
Tränen gelang denn auch allmählich eine Vermittlung,
wenn fie aud) weit davon entfernt war, eine Verſoͤhnung
zu fein. Die erlittene Demütigung hatte die mühlam
gerflegte Geimatsliebe in dem Süngling nahezu ertötet;
Dritter Abſchnitt 117
er grollte dem Vater, dem er fich gezwungen unterwarf;
der einzige Bruder wurde ihm ein Fremder. Nur die
Liebe zur Mutter blieb aufrecht in feinem Herzen, und
die Mutterliebe wuchs unter dem wedhfelfeitigen Zerfall.
Frau Erdmuthend Werk war ed denn auch, daß dem
Gefangenen die befchämende Begegnung mit und Heim⸗
fehrenden erfpart wurde. Ohne den Bater wiederzufehen,
brach er nadı Dresden auf, um anftatt, wie früher be⸗
abfichtigt, in das väterlicye Neiterregiment in eines der
Garde einzutreten. Bielfeitige Kameradfchaft, fereng
Ioyale Familienverbindungen, refidenzliche Gefelligkeit
und vor allem die Gegenwart des verehrten Landesherrn
follten, fo hoffte man, eine gemütlidye Gewoͤhnung, gleich»
fam eine Ausdehnung des verfümmerten Heimatsſinnes,
bewirken, unter welcher die weitfchweifenden Ruhmess
bilder ſich verwifchten.
Und diefe Abficht fchien erreicht zu werben. Unfer
Junker lebte flott und froh; wenn dann und wann ein
wenig über dad Maß von flott und froh; „jung Blut
hat Mut!” Der Bater lachte darob und die Mutter
lächelte. Beider Beängftigungen gingen auf anderer
Fährte Wurde er rafcher ale feitgefegt mit feinem
Wechſel fertig, ei nun, fo hatte ja fchon fein Großvater
fuͤrſorglich Haus gehalten. Verdrehte er den Epigoninnen
der fchönen Koͤnigsmark und Konforten die Köpfe: ei
nun, warum ließen fie fich von einem Mildybart in
Uniform die Köpfe verdrehen? Hatte er mit feinem
Degen einen Denkzettel auögeteilt, trug er den Denk⸗
zettel eines gleichartigen Hitzkopfs an feiner Stirn: ei
nun, ed war beim Kautrigen geblieben und höheren
Ortes vertufcht worden; es gehörte quafi zum Stand,
118 Fran Erdmuthens 3willingsſoöhne
und ſolch ein Nitterzeichen machte den Helden aller
Friedenskünfte um fo intereffanter. Der Liebling der
Spinnftuben rücdte zum Coqueluche in Hofdamenkreiſen
empor. Fräulein Idunas Couleur fteigerte fich zur Höhe
des Karmın, wenn fie fidy mündlich wie fchriftlich über
die zauberifche Wirkung des glutäugigen Kornetts ergoß.
Die erften Partien Furfächfifcher Nitterfchaft fanden,
nach ihrer Beteuerung, auf der Lauer, den Flatterling
mit goldenen Ketten feftzubinden. Frau Erdmuthend
füßefter Traum würde erfüllt worden fein, wenn in
“früher Sugend das Feftbinden an einer Roſenkette ge-
lungen wäre.
Auf der anderen Seite rühmten die Vorgefegten, rühmte
vor allem Freund Thielemann, der den Sunfer häufig in
den angefehenften Berwandtenfreifen fah, feine militärifche
Begabung: Gewandtheit und raſches Erfaffen; bei fran-
zöfifcher Geläufigkeit die in feinem Stande feltene klaſſiſche
Bildung. „Hört, hört, Pate Magifter!” rief der eng-
liſche Phyſikus. Eine glänzende Karriere wurde in Aus-
ficht geftellt; das nächfte, heißerfehnte Ziel der Epauletten
durfte fchon im Sahreslauf erreicht werden. Da ein
Urlaubsbefuch von feiner Seite gewuͤnſcht ward, konnte
die Mutter ſichs nicht verfagen, einen Blick in das freie
Treiben ihres behüteten Kindes zu werfen; fie fam
heiterer zurüd, ald fie gegangen war.
Während diefer Zeit faß fein Bruder unter emfigen
juriftifchen und damals nicht häufigen hiftorifchen Studien
in Leipzig ftill; hielt fidy vom herfömmlichen Studenten:
treiben und felber von gefelligen Zerftreuungen fern,
wenn fchon die leßteren von den Eltern warm empfohlen
worden waren. Alles was einen durch die Vernunft ge-
Dritter Abſchnitt 119
regelten Lebenslauf ftört, fchien diefem Juͤngling fern zu
liegen; während feiner Ferienbefuche nahm auch wohl
die Mutter die frühreife Befonnenheit für ein Erbteil
der flämifchen Ader in ihrem Gefchlecht, und der Vater
fagte befümmert: „Er hat die Braufezeit überfprungen
und kommt um ein guted Teil Lebensfreude zu kurz.
Erft gären, dann langfam ſich Elären, fcheint mir der
ficherfte Weg zum Gluͤck.“ Die Freunde aber, weldhe
den Haͤndedruck ded Juͤnglings in der Stunde von
Peterdwaldau empfunden hatten, fie wußten, daß er ein
großes, felbitlofes Streben in feiner Seele barg und daß
fein Glü darum auf fiherfter Bafid gegründet war.
Die Brüder fahen ſich in diefem Sahre nicht, und
Freundesbriefe mögen fie fi auch nicht gefchrieben
haben. Erſetzt aber wurde feinem von beiden die leere
Stelle. Dem einen nidyt, weil er der Kameraden zu
viele; dem andern nicht, weil er ftatt eined Jugend⸗
genoffen einen Mentor gefunden hatte, der ald Freund
an feiner Seite ging. Diefer Mentor war Albredıt Bär.
Denn, hatten wir von Woche zu Woche gefürchtet,
unferen Bär mit feinem britifchen Honigvorrat das
Weite wieder fuchen zu fehen — er blieb; ohne Erklärung,
vielleicht ohne Plan, aber er blieb. Er richtete fidy feine
Höhle, mit Büchern und Inftrumenten auögeftopft, in
einem Pavillon des Schloßgarteng ein, in welchem felten
ein Menfchentritt oder Menfchenlaut widerhallte, außer
dem eined alten Faktotums — Bedienten halten doch wohl
Bären nicht? -, das auf Soden ging, und, wenn ed nicht
ſtumm war, wenigftend deutfch zu reden nicht verftand
oder liebte, Wegen feined Nanfinghabitd und feiner
Nanfinghaut nannten wir den ftillen Mann den Chineſen;
120 Frau Erdmuthens Bwillingsfähne
ob ers war, autochthon oder nachgeahmt, weiß ich nicht.
Der Gelbe bereitete ſich feine Nahrung felbft nach uns
heimifchen Rezepten, der Graue fchob fich gelegentlich an
Frau Erdmuthens dehnbare Tafel. Er fpradı und ſchwieg,
gab Rat und verfagte Rat, wann und an wen ihm bes
liebte, niemals jedoch innerhalb feiner Höhle, fondern an
einem Tag wie Nacht geöffneten Fenfter, vor welchem,
muͤndlich oder fchriftlich, Die Heildgefuche einer zahlreichen
Klientel angebradyt wurden. Da aber des englifchen
Phyfitus wohlgelaunte Stunden vorzugsweife von denen
getroffen wurden, die feine englifcye Fee in der Tafche
hatten und von welchen auch eine deutjchbefcheidene Tar-
gebühr der Einklagekoften nicht verlohnt haben würde —
und deren waren viele -, fo wurde feine Einbürgerung
zum Gipfelpunft, gleichſam zum Tuͤpfelchen über dem J
der heilfamen Umwandlung in unferem Heidewinkel
unter Frau Erdmuthens mildem Regiment. Ein ftätiger
Bürger wie wir wurde der Doktor indeffen nicht; er ging
und kam zurüd, feiner wußte, wohin oder woher; tage:
lang, wochenlang war er fort und wieder da. Häufig
wird das Studentenftübchen feines „Manns“ das Ziel
gewefen fein. Wäre er ein Sahr fpäter bei und ein-
gefprungen, wohl möglich, daß er ald englifcher Emiffär
verdächtigt und überwacht worden. Da er vor ber Fran:
zofenfreundfchaft fich niedergelaffen, war aber und blieb
der englifche Doktor nur eine Kuriofität weit über unferen
Heidewinfel hinaus. Mit feiner eifengrauen Mähne und
den eifengrauen Augen, die hinter eifengrauen Brauen⸗
büfchen vergraben lagen, im eifengrauen Rogquelaure, auf
eifengrauem Hengſt ward er von jedem Kinde gefannt
und blieb einem jeden fremd und fern. Wenige wußten,
Dritter Abſchnitt 121
und feiner dachte daran, daß er ein Sohn unferer Heimat
war. Er galt ale Ausländer und fon darum ale
Prophet. Dem Haufe, in welchem feine Mutter ihn mit
Dienftbrot aufgezogen hatte, wurde jeßt nidyt nur um
feiner Gaftfreundfchaft willen zugefprochen. Man rühmte
fich de intereflanteften Erfolgs, wenn man unter feinem
Dache auf das englifche Original, den weltberühmten
Doftor, ftieß.
So hatten wir denn, neben dem Fleinen roten einen
großen grauen Kauz, den ernfthaften Humoriſten Bär
neben dem drolligen Philofophen Hecht; „Frau Erd:
muthens drei Knechte“ nannte - meine Wenigfeit ein-
gefchloffen - Herr Raul, ohne Eiferfucht, dad Kleeblatt
der Sunggefellen an feinem häuslichen Herd. Und in
der Tat, wie verfchiedenartig die Natur in Weite und
Enge die heimifchen Kommilitonen ausgewirkt hatte, im
Dienfte ihrer lieben Frau und deren Bereiche ftanden
Phyfitus, Judex und Magifter wie ein einiger Mann.
Albrecht der Bär, welcher der Freiheit nadhgelaufen
war, harfch unter dem Fallbeil weg, bis in die Peftzone
hinein und unter Nelfond Todesflagge, er fand fie in dem
heimatlichen Heidewinkel ald Frau Erdmuthend Knecht!
* +
*
Nach Pitt Tode verficherte unfer Politifus, daß die
ehrenwerte Dame Europa ohne fernerweitige Sperenzien
vor ihrem ungeftimen Bewerber zu Kreuze friechen und
alle Zurbulation vor der Hand ein Ende nehmen werde,
Wir unpolitifchen Beideleute ließen diefe Ausficht und gern
gefallen, vorausgefegt, Daß, wie bisher, unfere furfürftlichen
Reize die feurige Sultandlaune nicht entzündeten.
122 Frau Erdmuthens Swillingsföhne
Der Politifus fchien recht zu behalten. Das heilige
römifche Reich deutfcher Nation Löfte ſich in Wohlgefallen
auf, ohne daß ein Hahn vernehmlich darum gefräht hätte.
Auch wir Kurfächfifchen ließen uns fein graued Haar
darum wachfen; wir hatten ald Schüger, wie ald Schuͤtz⸗
linge des Reichs der weheleidigen Erinnerungen genug,
um ed nicht audy einmal gern auf eigenen Füßen zu ver:
fuhen; und am irdifchen Firmament, fo tröftete ber
Doktor, ginge ja auch fein Rad dem Faiferlichen Wagen
verloren, der fidh im gefegneten Anno Bier vom Fleinen
zum großen Bären aufgefchwungen habe, Denn fein
Freund, der fchwarze Jakob drüben, mache die maje-
ftätifche Sieben voll. Bemerften wir nun im Verlauf,
wie der Allgewaltige Kate und Maus mit unferem
Nachbar im Norden zu fpielen beliebte, fo wäre unter
den Freunden Fräulein Idunas hoͤchſtens ein behaglicher
Kigel zu regiftrieren. Zwei Großhänfe bemühten ſich um
unfere furfächfifche Gunft; beide wurden abgewiefen, und
wir blieben neutral.
Im Spätfommer erhielt der Rittmeifter Die Beförderung
zum Major, gleichzeitig mit der Verſetzung in ein
Thüringifches Regiment. Sein Entfchluß war raſch ges
faßt. „Die Zeit ift friedlich,” fagte er, „der Schwindel
unferes Raul verflogen. Wir haben wieder einen Vers
treter in der Armee; nun ſchon die fünfte Generation,
die ihrem Schugherrn den Zoll der Dankbarkeit ent-
richtet. Ic darf mich zur Ruhe fegen und bei dir
bleiben, meine Erdmuthe.“
Am nämlichen Tage reichte er fein Abfchiedögefuch ein;
ehe er ed aber betätigt erhalten, hatte der Kurfürft dem
preußifchen Drängen nachgegeben. Die Armee wurde
Dritter Abfchnitt 123
mobilifiert, Herr von Roc zog fein Geſuch zurüd. Sein
Sohn, zum Leutnant aufgericdt und dem väterlichen
Regiment zugeteilt, wurde erwartet, um nach dem
Abfchied von der Mutter in Begleitung des Vaters nad
Thüringen aufzubrechen.
Durch diefe Unterhandlungen zog ſich nun aber, ale
Nachſpiel der vorjährigen Szene, eine gar higige Korre⸗
fpondenz unferes Helden in spe. Anfänglich rechnete
er mit Entzüden auf Sachſens Beitritt zum Rheinbund;
fpäter tröftete er ficy zur Not mit unferer Neutralität,
endlich aber behauptete er, Die immer nähertretende
MWahrfcheinlichkeit eines Biündniffes gegen Franfreich
nicht ertragen zu fünnen, und drohte mit Defertion oder
gar Rebellion. „EL wäre Selbftmord,” fo fchloß fein
legter, zum erften Male direft an den Vater gerichteter
Brief, „Selbftmord auch in Deinem patriotifchen Sinne,
Bater. Alle Madıt, die Sadıfen verloren, hat ed an
Preußen verloren. Ald es unter Preußens Führung fein
Fahnlein gegen das neue, noch cdhaotifche Frankenreich
ftellte, hat es fein Blut umfonft verftrömt. Du kaͤmpf⸗
teft unter diefem Fähnlein, Vater. Kannft Du ed er-
tragen, daß unfer Herzblut noch einmal und ftärfer ver-
firömen fol, heute, wo unfere natürliche Schugmadht
unter einem Haupte fteht, dad zum Drdnen audy in diefer
Fäglichen deutfchen Plunderfammer von der Vorfehung
berufen iſt? Noch ſchwankt die Wage; noch fann der
Wille der Armee die Schale des Ruhmes finfen laffen.
Du haft Freunde, Verbindungen, Vater. Viele Offiziere
fühlen wie ich; alle verabfcheuen dad Bündnis mit Preus
Ben, alle! Es ift die legte Stunde. Nie wirft Du Deine
danfbare Treue gegen das Kurhaus ruͤhmlicher bezeigen
124 Frau Erdmuthens Zwiltingsfähne
tönnen. Erhebe Deine Stimme, Bater, handle, bridy
dem Strome eine Bahn, rette dad Land, dad Du Tiebft,
rette Dich felbft und mid. Wir, die in die Irre ges
triebenen Söhne jenes Vorvolks alles defien, was groß
auf Erden ift - der Arm müßte uns ja erlahmen, wenn
er dad Schwert gegen unfere Brüder züdte, unfere
Brüder dem Blute und dem Geifte nad. Der Wahn⸗
finn wirbelt in meinem Hirn. Mit Füßen getreten
werben von denen, die ich bei Aufterlig fiegen fah!
Komme was will: ich kann, idy will, ich werde es nicht
ertragen!“
Der Bater zerfnitterte „den Wiſch“ in der Fauſt und
entfandte an feinen rebellifhen Junker einen reitenden
Boten mit dem fummarifchen Befehl, stante pede Dres:
den zu verlaflen und unter väterlicher Eöforte in das
Lager zu rüden, in weldyes ihr Kriegöherr die Armee
befohlen habe.
Nach diefer Sommation hatte der Major fchon mehrere
Tage auf den Sohn, den Untergebenen, gewartet. Am
folgenden Tage mußte die Armee an der Saale erreidht
fein.
Es war das Geburtstagäfeft feiner Gattin, welches der
Major ald Außerften Termin für die Abreife feitgefegt
hatte. Ein Sceidegruß an diefem guten Tage follte
ihn wie ein Segensſpruch feiern, und die Erinnerung an
zwanzig Sahre faft ungetrübten Gluͤcks das frohefte Weg⸗
geleit fein. Für den Abend hatte er fidh bei Herrmann
in Leipzig angemeldet. Die nahende Mefle erforderte
einige gefchäftliche Abwiclungen, die er dem Sohn über-
tragen wollte.
Bon früh ab ftanden die Pferde zum Anfchirren bereit:
Dritter Abſchnitt 125
Stunde auf Stunde verrann in der Ermartung von
Raul. Mehrmals hatte der Major den Befehl des Ans
ſpannens gegeben und nach einem flehenden Worte feiner
Gattin wieder verfchoben. Immer dunkler ſchwoll die
Ader auf feiner Stirn, immer bleicher wurden die Wans
gen der Mutter. Die Mittagdftunde fam heran; feiner
dachte" an das harrende Mahl. Die Uhr in der Hand,
rannte Herr von Roc im Zimmer auf und ab; böfe,
bitterböfe Worte drängten fi) über feine Lippen; er
wehrte die geliebte Frau von fich, die fich bebend und
fchluchzend in feine Arme warf. Endlich: „Vorfahren,
und fort!“ :
Da hörten wir Huffchlag vom Hofe herauf. „Raul!“
rief die Mutter, an dad Fenfter eilend. Der Reiter war
ſchon abgeftiegen; ftarfe Schritte fhallten im Korridor.
War dad Rauls leichter, elaftifher Gang? Die Tür
wurde geöffnet. Raul? - Nein, Herrmann!
„Sch habe vergeblidy deinen Ruf erwartet, Vater,“
fagte er. „Nun komme ich dir zuvor, um mid) als freis
williger Mitfämpfer unter deinen Befehl zu ftellen.“
Die Dutter war während diefer Worte zum Schatten
erblaßt. „Alle drei!” hauchte fie, indem fie fidy an die
Fenfterbrüftung klammerte. Der Vater aber riß den
Füngling ftürmifh an feine Bruft und rief, funfelnde
Tränen in den Augen: „Sohn meined Herzens! Rocher
d’honneur! Mein Ehrenfels!“
Herrmann entwand fich feinen Armen; er beugte das
Knie vor der Mutter, deren zitternde Hände er an feine
Lippen drüdte. „Muß es fein, mein Sohn?“ fragte fie
leiſe.
Er neigte das Haupt und ſagte ruhig: „Es gilt den
126 Fran Erdmuthens Swillingsföhne
Kampf, der über den Reſt von Deutfchlande Ehre ent:
fcheiden wird.“
Keine Gegenrede wurde weiter laut.
Der Wagen war vorgefahren; die Mutter ruhte am
Kerzen ihres Sohned, Der Major ftand am Fenfter,
Moment für Moment das Abfchiedewort verzögern.
Eine Totenftille fchwebte durch das Zimmer.
„Schmady über den Deferteur!” fchrie endlich der Vater
auf, ſtuͤrzte nach der Tür und fließ auf den Doftor, der
nach mehrmöchentlicher Abmwefenheit unbemerkt einge-
treten war; der Gerichtödireftor hinter ihm.
„Rabenvater!” rief Bär, mit einem Blick auf die Mut-
ter und einer Grimaffe, die wohl ein Lächeln bedeuten
folte. „Darf ein fächfifcher Leutnant nicht mehr die
Freiheit haben, fich mit einem preußifchen Kameraden
herumzupaufen?“
Damit reichte er dem Major einen Drudbogen, mit
dem Finger auf einen Paffus deutend.
„Stimmts?“ fragte er, nachdem der andere gelefen hatte.
Es war das Wochenblättchen unferer Amtöftadt, wels
ches der Doktor, frifch unter der Preffe hinweg, mit-
gebracht hatte. Der Paſſus Tautete:
„Geſtern hat nahe der Grenze ein Säbelduell ftattge-
funden zwifchen einem preußifchen und fächfifchen jungen
Offizier, legtwelcher einen in diefer Gegend hochgefchägten
Namen trägt. Die Herren hatten ſich auf der Dresdener
Straße überholt, und fol der Streit politifcher Natur
gewefen fein. Beide Duellanten wurden verwundet,
indeffen wohl unbedenflicdh, da beide ihren Ritt fort:
fegten, nadhdem unfer Herr Amtsphyfitus ihnen den
Verband angelegt hatte.”
Dritter Abſchnitt 127
Der Doktor hatte die Stadt während der noch allfeitigen
Aufregung über das geftrige Ereignis paffiert, auch den
Kollegen geſprochen, der die erforderliche Hilfe geleiftet.
Doch wußte er Aufflärendered gar nicht und nur, für
die Mutter beruhigend, hinzuzufügen, daß die Armmwunde
ihres Sohnes ohne alle Gefahr, auch auf die Diskretion
des Arztes — der überdies, dem Namen nach, Felöfcher
Hausarzt war — zu rechnen fei. „Ber freilich kann dem
Wochenblättchen fo einen feltenen Biffen vom Munde
ſchnappen“, fagte Bär. Die heutige Nummer hatte er,
„zur Bereicherung fämtlicher Bibliothefen Europas”,
vor der Ausgabe an ſich gebradıt. Er hatte den Sohn
im Elternhaufe vermutet und war eilig dahin aufge:
brochen.
Sn des Vaters Flammen war durch diefe neuefte Kunde
Ol gegoffen. Warum hatte Raul mit dem Aufbruch von
Dresden fo lange gezögert, bis er den Vater bereits fern
im Lager vermuten durfte? Wie durfte er fi, in Er-
wartung des Zufammenftoßed mit dem Feinde, eined po⸗
litiſchen Handels mit einem verbindeten Kameraden
unterfangen? Wo war der Widerfpenftige während der
vierundzwanzig Stunden, die feit dem gefahrlofen Zweis
fampf abgelaufen waren? Der Argwohn der Defertion
verftärkte fich. Ein entfegliches Wort, ein Wort, das
durch feinen Widerruf zu tilgen ift, unterbrad) die Mut-
ter, indem fie mit dem Auffchrei: „Er ift tot!“ ihre
Stirn auf ded Gatten Lippen preßte.
Der Major fchritt nach der Tür; die Mutter ihm nad.
„Vergib ihm, fegne ihn im Geifte, ehe du fcheideft, mein
Raul,” fagte fie. „Du wirft ihn niemald wiederfehn.“
Er umſchlang das unglüdliche Weib, legte die Rechte
128 Frau Erdmuthens Zwillingsfähne
auf ihr Haupt, und wenn er heimlich einen Segensſpruch
gebetet hat, fo war ed der tote, nidyt der lebende Sohn,
dem der Segen galt. Dann riß er ſich los; Herrmann
verfuchte ihn zurüdzuhalten; aber die Mutter winfte,
daß fie fcheiden follten. Der Wagen rollte von dannen.
„Auf Wiederfehn!” rief der Doktor feinem Manne nad).
Noch ftanden wir unter dem Portale, mit unferen Blicken
dem Wagen folgend, bid er hinter dem Klofter in der
Heide verjchwunden war, ald von der Stadtfeite her von
neuem ein Hufſchlag gehört wurde. „Sein Pferd und
ohne ihn!” rief die Mutter, in die Knie zufammen-
brechend.
Wirklich war es der prächtige Nappe, welchen der Ma-
jor feit Jahr und Tag mit Vorliebe geritten und dem
Sohne bei deffen Fürzlicher Beförderung ald Zeichen
ber Berföhnung gefendet hatte. Die Zügel fchleppten
am Boden, an Nüftern und Weichen hing weißer Schaum.
Ein Fröner hatte das Pferd irrend auf einem Heide⸗
pfade, nahe der Landftraße, eingefangen.
„Er ift tot!” Achzte die Mutter. Sie raffte ſich auf
und eilte in der Richtung voran, in welcher der Mann
das Pferd gefunden haben wollte.
„Er hat ſich eine Kugel vor den Kopf gefchoffen!“
fchluchzte händeringend der ehrliche Hecht. Bär aber
verfegte ruhig:
„Sung und toll genug wäre er zu dem Coup; fo in der
Stille aber, ohne dramatifchen Effekt, würde er ihn nicht
ausgeführt haben, Es ift ihm ein Unfall zugeftoßen;
irgendwo in der Heide werden wir ihn finden.“
Damit traf er die erforderlichen Anordnungen. Den
Gerichtödireftor fchickte er eilend& nach der Stadt, um
Dritter Abſchnitt 129
von dort aus die Spur ded Berfchwundenen aufzufuchen;
die Sagdhunde, alte Freunde des Junkers, wurden los⸗
gelaffen, ſaͤmtliche Schloßdiener nad) verfchiedenen Rich⸗
tungen in die Heide dirigiert. Am Cingange derfelben,
vor der Ruine, follte eine Tragbahre bereit halten. Noch
holte er in feiner Wohnung Snftrumententafche und bes
lebende Medikamente und fam mir nad, ale ich bis auf
wenige Schritte die Mutter in der eingefchlagenen Rich⸗
tung erreicht hatte. Wir fahen und fühlten mit ihr die
Schauer, unter denen fie das geliebte Kind ohnmädhtig
feit vierundzwanzig Stunden, verblutend, zerfchmettert,
vielleicht als Leiche, in jedem Winkel ihrer Heide fuchte.
Wir folgten den Tritten der Hufe, welche dem weichen
Sandboden eingeprägt waren. Bald gingen fie hinter
einer Nadelftreu, bald hinter Wurzeltnorren verloren,
bann zeigten fie fid) wieder auf einem freugenden Wege;
immer eine weitausgreifende Spur, die das wildeſte
Jagen andeutete. Weiter und weiter! Die Spur wurde
eine doppelte; der rundliche Huf war vorwärts und ruͤck⸗
wärts dem Boden eingedrüct; vereinzelte Blutstropfen
leiteten im Zickzack und nahe an den Punft zurüd, von
welchem aus wir den Wald betreten hatten. Das ſin⸗
fende Tageslicht fchimmerte durch die dünner werdenden
Stämme; die Blicke der Mutter irrten verzweifelnd nad)
allen Seiten, die Hunde fchnüffelten mit zum Boden ge>
fenftem Kopf und Schweif.
Da, jählings, dicht vor der Ruine, ein fcharfed Gebell.
Hinein, hindurch, zwifchen Geröll und Geftrüpp, bie
Mutter voran! Endlich, dort am Kapellenpfeiler, den
fie fich einft ale Abfchluß ihres „Raulhauſes“ geträumt
hatte, da warf die jammervolle Frau ſich zu Boden, und
1X. 9
180 Frau Erdmuthens Swillinasfähne
ihre Arme umfpannten ihres Herzens Liebling mit Blut
überfchwemmt, eine Flaffende Wunde in der Stirn, kalt,
ftarr, totengleich — oder tot?
Ehe Albrecht Bär diefe Frage zu entfcheiden vermochte,
war die Sonne gefunfen. Ein jeder von uns ahnte,
daß mit ihrem Scheideftrahl der gute Stern fid) geneigt,
der einundzwanzig Sahre über dem Kaufe unferer lieben
Frau geftanden hatte. |
Doch war es Leben, nicht Tod, das fein nädhfter Schein
‚verfündete. Ein wildes Fieber hatte die Ohnmacht ab-
gelöft. Tage und Wochen lang hing das Auge der Mut:
ter ohne bannende Gewalt an den irre fladernden Blicken,
raftlofe Wahnbilder besten den Flüchtling über Berge
und Gee, ftarfe Mannedarme hielten ihn faum. „Fort,
fort!“ fchrie er, „Brudermörder! Kain, Kain!“ Der
Phyfitus fand Methode in diefen Halluzinationen des
Fiebers.
„Habe ichs euch nicht gleich damals beim Herings⸗
ſalat geſagt?“ brummte er auf mich ein. „Laßt das
Windſpiel los, ihr haltets nicht. Heute bellts, morgen
beißts.“ |
Nun ja, er hatte es gefagt, ſchon vor dem Herings⸗
falat und hernadh immer wieder: „Laßt ihn los!“ Er
allein hatte ed gefagt. Die Winpdfpielöfreiheit war
feiner Bärenfreiheit Widerpart; aber ed war nun ein-
mal fein Drang, „jedem Inftrument ein Luftlody aufzu-
drehen, daß es Klinge nach feiner Art.“
Adıt Tage und Nächte hindurdy hatte er als treuefter
Knecht unferer lieben Frau zur Seite geftanden. Am
neunten Morgen reichte er ihr die Hand zum Lebewohl.
Der Puls gehe zwar noch ftarf, meinte er, und die Wunde
Dritter Abfchnitt 181
brauche nun erft recht einen gefchictten Verband. Er
habe aber feine Luft, fich von feinem alten Kollegen eine
Entfhädigungsflage wegen beeinträchtigten Hausrechts
an den Hals hängen zu laffen, und darum Gott befohlen!
Nun, wir fühlten, Daß der Puls ſich gemäßigt hatte, und
fahen, daß die Stirnwunde heilte; wir hatten aber auch ge-
hört, Daß der Doktor den fcheidenden Freunden: „Auf Wie:
derfehen!” nachgerufen hatte, und ahnten, daß es hohe Zeit
zum Worthalten geworben fei. Am Morgen des achten
Oktober war unfer Bär aus der Heide verfchwunden.
Durch den alten Hausarzt, der nun an feine Stelle wieder
einrückte, erfuhren wir einiges Nähere über den böfen Han⸗
del, der unferer Sorgen Anlaß war. Der Gegner, ein
junges Blut wie unfer Raul, fol Adjutant oder wenig-
ftend im Gefolge des Generals Phull, des legten preu:
Bifchen Unterhändlers am fächfifchen Hofe gewefen fein;
vermutlich einer von den Sunfern Obenaus, die und
damals als yreußifche Typen galten. Beide junge
Kampfhähne, die ſich vielleicht nur in der Farbe ihres
Federſchmucks unterfchieden, hätten, fo hieß es, bereits
in Dresden aufeinander losgehackt; ob eine hübfche ita-
Tienifche Choriftin ihren Anlaßteil daran gehabt, foll
dahingeftellt bleiben. Nun fließen fie, beide durch einen
nächtlichen Ritt überreizt, auf der Landſtraße wieder
zufammen: der eine, wie er mit irgendeiner Botſchaft
in das preußifche Hauptquartier nad) Naumburg eilte,
der andere, wie er in fopflofem Grimm, in dußerfter
Stunde feiner Soldatenpflicht Folge Ieiftete. So bei
Wege frifcht der Streit fidy auf; man erhigt ſich, be-
leidigt, fordert fich, gibt ſich in aller Eile Satisfaktion,
laͤßt im nächften Städtchen feine Wunden verbinden,
188 Frau Erdmuthens Swillingsföhne
verföhnt ſich vielleicht aud) wieder und fprengt, ein jeder
feine Straße, weiter. Der Held aus Friedrichs Schule
wird, willd Gott, im Hauptquartier glüclich einges
troffen fein, und auch an dem Hirnfieber des Napoleo»
nifchen Bewundererd mag der Hieb ins Fleifch geringe
Schuld getragen haben. Aber die lange fochende Wut,
der Parforceritt bis in die tiefe zweite Nacht hinein, der
Blutverluft infolge des im Sagen fich Löfenden Verbands:
fo geſchah ed wohl, daß Kraft und Befinnung ſchwan⸗
den, dad Pferd ohne Leitung quermwaldein rannte und
im jachen Anprall gegen dad Gemäuer der herabftürzende
Reiter bedrohlich verlegt und erfchüttert ward.
Im Drange der Zeit ift Genaueres auch fpäterhin nicht
befannt geworden. Raul hat nach feiner Genefung ein
flared Bewußtfein von der Stunde ab, wo er aus den
Toren Dresdens jagte, weder gefunden noch geſucht.
Ein Fahnenflüchtiger, wie der Vater ihn befchuldigt
hatte, war er nicht; aber er folgte mit Wut und In⸗
grimm dem Zwange der Pflicht und rechnete bid zum
legten auf ein befreiendes Ohngefähr. In kommenden
Tagen dahingegen nahm er feinen Unfall nicht als ein
Ohngefähr und nody viel weniger als eine Schuld; er
fah in ihm die Hand der Vorfehung, die den natur:
widrigften Zwang gehindert hatte.
Während die arme Mutter an diefem Krankenbette
freier zu atmen begann, fteigerte fidy nun aber die Sorge
um ihre beiden anderen Bedrohten. Shre Briefe hatten
und Schritt für Schritt ihnen folgen Iaffen bis zu dem
vorgefchobenen Poften, den ihr Regiment unter dem
preußijchen Prinzen im oberen Saaltale innehielt. Des
Majors letztes Schreiben datierte vom neunten Oktober
Dritter Abfchnitt 183
in Erwartung ded Zufammenftoßed mit bem vorbringen»
den Feind. Frau Erdmuthe, fonft fo gefaßt und Mars
fichtig, rang mit unheilvollen Vorgefühlen; fie fah ein
Opfer fallen zur Sühne ber feindfeligen Trennung»
ftunde in dem Kaufe, das auf Liebe und Frieden ges
gründet war.
Und das Opfer fiel. Am verhängnisvollen vierzehnten
Dftober bradıte eine Stafette zwei Briefe. Einen an
die Mutter vom Kommandeur des Regiments, den ans
deren an mid, von Doftor Bär. Sie hatten gleichen
Inhalt. Der Doktor fchrieb:
„Unfere Frau ift Witwe. Tragts mit ihr. Ihren
Sohn nehme ich auf mid, Er hat eine Kugel im
Leibe, aber nicht durch und durch.“
Der Major von Roc war bei Saalfeld gefallen, waͤh⸗
rend jenes letzten Reiterſturmes, den aud) der verzwei⸗
felnde preußifche Prinz mit dem Leben büßte. Eine
Kugel hatte ihm das Herz durchbohrt. Für die Sinnes⸗
art feines jüngeren Sohnes blieb es bedeutungsvoll,
daß Marichall Lannes, gegen deſſen Kohorten er feine
wanfenden Hufaren in hoffnungslofer Wut zum Sturme
antrieb, ein Sohn der alten provenzalifchen Heimat war.
Herrmann, im dunflen Studentenfleide, wurde für tot
an ded Baterd Seite gefunden und durdy Doktor Baͤrs
Obhut der Mutter gerettet. Warum er ihr nicht auch
die legten Reſte des geliebten Gatten für ihre Heimſtaͤtte
gerettet hat? „Würmer daheim nagen wie Würmer in
der Fremde. Ein Phantafiehügel gibt den nämlichen
Troft,” würde er geantwortet und auf der bereitgehalte:
nen Bahre einen noch zudenden Stüdfnedht ftatt des
toten Freundes von dannen getragen haben.
184 Frau Erdmuthens Zwillingsföhne
Was fol ich weiter fagen? Taufende von Frauen
haben in jenen Tagen das gleiche Herzeleid getragen,
feine ficherlich tiefer, treuer, verflärender ald meine
Freundin Erbmuthe. Der Sonnenglanz über ihrem
Leben war entwichen, und in faum geminderter, nur
entwidelter Schöne trat fie bei vierzig Jahren in den
Schatten der Matronenftille. Sie tat ed ohne ermatten>
den Klagelaut. Ihr Herzendgrund und Boden war ja
der Hafen, in welchem zwei auseinandertreibende Schiff:
lein Anker werfen follten.
Für den Augenblick galt ed die Beherrfchung, welche
die Wacht am SKranfenbette heifcht. Ald Raul nad
Wochen das Schiefal feined Hauſes zugleich mit ber
politifchen Wandlung in feinem Geburtslande erfuhr,
will ich ed unentfchieden laffen, was in dem erregbaren
Süngling überwog: der Schmerz der Berwaifung, oder
die Befriedigung, die Fahne, an welche fein Eid ihn
band, wehen zu fehen auf der Bahn, für die fchon vor
der SKataftrophe feine Neigung fich fo Teidenfchaftlich
entfchieden hatte. Neue über das Zerwürfnis mit dem
Gefchiedenen trübte ihm die Empfindung feinerfeits.
Nachdem der Erfolg fein Vorgefühl gerechtfertigt, hatte
die Erinnerung an jenen Zwieſpalt alle Herbigfeit ver-
loren. Raul, Bater wie Sohn, waren feine dauernden
Konfliktönaturen.
Die jugendlichen Kräfte hoben fich wunderfchnell, feit-
dem ein ruhm⸗ und glückverheißendes Feld dem Blicke
vorgezaubert lag. Es wäre fein Halten für ihn geweſen,
und wer hätte den verpflichteten Offizier auch länger ala
geboten von feinem Poften ferne halten mögen? Zu
Neujahr ftand er in den Reihen der Armee, die ſich bei
Dritter Abſchnitt 135
Wittenberg fammelte; ald aber fein Bruder, bleich und
erfchöpft, in das Haus der Mutter zurüdtehrte, da folgte
er bereits mit dem fächftifchen Kontingent dem kaiferlichen
Siegesheere nach Preußen. Sein erfter Brief datierte
aus dem Belagerungsrayon von Danzig; ein fpäterer,
nach der Schlacht von Friedland, verkündete mit Jubel:
gefchmetter einen Ritter der Chrenlegion. Nach dem
Tilfiter Frieden ward der gewandte, tapfere Sachſe dem
Kaifer perfönlich befannt und durch ihn dem väterlichen
Freunde Thielemann attacdhiert, den gewiffe die Bildung
des neuen Herzogtums betreffende Aufträge über Jahr
und Tag in Warfchau fefthielten.
Der damalige Oberftleutnant Thielemann galt in weiten
Kreifen als die bedeutendfte und intereffantefte Perfönlichs
feit unferer fächfifchen Armee. Wie ſchon der ältere Herr
von Roc fein Freund geweſen war, fo trat von jegt ab
der jüngere zu ihm in einen fympathifchen Verkehr; es
walteten zwifchen beiden Bezüge und Ähnlichkeiten fogar
in der Äußeren Erfcheinung, nad) denen man fie für
Bater und Sohn hätte halten dürfen; nur daß dem
ritterblätigen Halbfranzoſen vor dem fächfifchen Bürger:
fohne ein glutvolleres Gepräge und nicht erft angeeignete
Turnuͤre zuftatten kamen. Er ftrid von jest ab den
deutfchen Adoptionamen und nannte fid) einfach Baron
Roc. Lebhafte polnifche Sympathien vertrugen ſich gar
wohl mit den vorwaltend franzöfifchen und traten zu den
heimatlich fächfifchen fozufagen in eine Perfonalunion,
die den lesteren zugute famen. Cine glänzende Lauf:
bahn fchien dem Strebenseifrigen geöffnet; er fhmwamm
in einem Element von Freude, Ehre und Hoffnung.
Während diefer Zeit rang fein Zwillingsbruder mit dem
136 Frau Erdmuthens Iwillingefähne
doppelten Schmerze um einen Bater und um ein Vaters
land; aber mit einem Schmerze, der, in fo reiner Tiefe
empfunden, noch jeden, der ihn trug, geadelt hat. Bei
der Unvorbereitetheit feines freiwilligen Kampfesanteils
war er durd, feinen Fahneneid gebunden und durfte
daher ohne Skrupel fagen: „Ich gehöre fortan jedem
deutfchen Stamme, ber für unfer verwirftes Recht, für
unfere deutfche Natur in die Schranfen tritt.”
Kraͤnkelnd noch, blieb er während des preußifchen Feld⸗
zugs in der Heimat, deren Verwaltung mit der Mutter
teilend; auch der alte Bär verhielt fich ruhig in feiner
Höhle und Heide. Ohne die Liebe zu feinem „Mann“
würde er es ſchwerlich fertig gebracht haben, die Feinde,
noch von unferem Blute triefend, mit dem nämlichen
Blute gegen unfere geftrigen Waffenbrübder fchalten und
ung, als zärtliche Freunde, mit Katzenpfoͤtchen ftreicheln
zu fehen. |
Nach dem Tilfiter Frieden bat Herrmann die Mutter,
feine Studien in Königsberg fortfegen zu dürfen, ber
einzigen deutfdysproteftantifchen Hochſchule, die außer
dem Sprengel direkter frembherrlicher Beeinfluffung lag.
Im Herbſt 1807 ging er, gefolgt von feinem treuen Bär,
nad; Preußen ab. Indem er ſich einfad; ald „Herrmann
von Feld“ immatrifulieren ließ, trennte er fich felber
dem Namen nad von dem Zwillingsbrubder, der, wie er
felbft auf fernem, nordiſchem Boden ftehend, fein eignes
Heil und das des Weltteild auf einer der feinen fchnurs
ftradö zumwiderlaufenden Straße verfolgte.
% *
%
Dritter Abſchnitt 137
So blieb denn die Mutter in der alten Heimat allein,
und für mein innerfted Empfinden waren es gar lieb:
liche Jahre, in denen ich der herrlichen Frau ale nädıfter
Freund und Berater zur Seite ftand, diefe nahezu ſechs
Fahre zwifchen dem tieflten Fall und der Erhebung des
Baterlandes.
Für ihre Söhne waren es bie erften freien Mannsjahre,
und werden biefelben naturgemäß nach innen und außen
reichgefüllt und ftrahlenwechfelnd verfloffen fein, wie die
Zeit der Reife weiterhin ed nur den Seltenften unter
und noch gönnt. Da ich aus dem Leben der Brüder
aber nur das erzähle, woran ich als Augenzeuge teils
genommen habe, werden in meiner Gefchichte jene Jahre
einen fchmalen Raum einnehmen. Sollten felbft die
vorftehenden Skizzen doch nur zu erflären fuchen, wie
zwifchen dem einigen Strome gleidhfam ein Delta ſich
bilden durfte und wie auf dieſem immer breiter werbenden,
trennenden Raume gefchehen Fonnte, gefchehen vielleicht
mußte, das was jenfeit jener Sahre gefchehen ift.
Frau Erbmuthe wußte, daß es eine Zeit vorbereitender
Sühne war, in die wir getreten. Sie fpürte in ihren
Adern den Fortlauf reinen, deutfchen Blutd. Unter dem
Banner der Überwältigten, dort wo ihr Erftgeborener
ftand, wo ihre Ahnen, von den Tagen des Bekenners
an, geftanden haben würden, da ftand auch fie mit
ftarfem Herzenspuls.
Aber fie war beider Söhne Mutter; und in einem Zwies
fpalt, wie dem ihres Hauſes, ift ed dem Weibe ein
Segen, durdy das Gemüt in feltgezogene Schranfen ges
wiefen zu fein. Wie fie beide Söhne mit gleicher Liebe
umfaßte, mußte fie in gleichem Verftändnid beider
138 Frau Erdmuthens Iwillingsföhne
Strebungen gerecht zu werden fuchen. Sie flammerte
ſich an die Hoffnung und mühte fidy ab in der Aufgabe,
daß in der Zwietracht der Schickſale die Eintracht der
Herzen ſich behaupten möge.
Es war died ein Irrtum der von Natur fo hells und
tiefblidenden Frau, ein Irrtum der MWutterliebe, der
fich zu einem Wahnbild raftlofer Seelenängfte ausbilden
follte. Zwietradht der Schicfale heißt von Haus aus
Zwietracht der Herzen. Eintracht der Herzen führt auf
Brudermwege.
Eines aber, ein Seltened, wurde bei diefem Streben
der edlen Frau unverfümmert gewahrt: fie blieb die
Freundin, die Vertraute beider ihrer Söhne. Durfte in
der Beflemmung der Zeit das Trachten ded einen nur
verftohlen angedeutet werden, dad des anderen in feiner
Siegerfreiheit wurde fchallend verkündet. Dort galt es
zu ermutigen, hier zu dämpfen; den perfönlichen Trieb
dort zu pflegen, hier niederzuhalten.
Erft im Frühling 1809 fah Frau Erbmuthe ihre Söhne
wieder; den jüngften nur, um Abfchied zu nehmen für
einen neuen Siegeszug. Er hatte ſich zu einer Schön:
heit, fage ich doch, zu einer männlichen Grazie ent-
wickelt, die ein Künftlerauge entzuͤcken konnte, um wies
viel mehr dad Wutterauge, das zum Entzüden ber
Künftlerfchöne nicht bedarf. Mit ftürmifcher Zärtlichkeit
umfing er die angebetete Frau, mochte fie nad) dem
langen Entbehren faum aus feiner Nähe, aus feinen
Armen laſſen.
Schwach dahingegen äußerte fich das Verlangen nadı
einem Wiederfehen des Bruderd, den er noch länger
entbehrt und mit dem nur ein Gelegenheitöbriefwechfel
Dritter Abſchnitt 189
den Faden Außerlich erhalten hatte. Schwädher aber
noch ald diefes Verlangen, ja, zu fchwächlich felbft für
einen Widerfpruch, erwies ſich der Anteil an Herrmanns
innerlihem Weben und Streben, das die Mutter lieb⸗
reich enthüllte. Ein halb zerſtreutes, halb mitleidiges
Lächeln war der einzige Proteft, und ein Berftändnis
auch der möütterlichen Richtung damit ausgefchloffen.
Als fie dem Schmerze Ausdrud gab, einen Sohn ihres
Hauſes mit einer fächfifchen Hilfsmacht ausziehen zu
fehen zur Unterwerfung des deutfchen Stammes, für den
fie, nächft dem eignen, die ftärffte Neigung ererbt hatte,
geriet er mit einem echt Raulfchen Sprunge auf feine
alten Wünfche zuräd,
„Sch fühle es, Mutter,” fagte er, „fühle es dir nad,
wie viel leichteren Herzens du deinen Sohn ald Frans
ofen, der er ja ift, gegen Öfterreich siehen laffen wuͤrdeſt.
D, warum mußte mein früheftes Sehnen fo graufam
vereitelt werden? Nun iſts die legte Stunde, aber viels
leicht noch nicht zu fpät, um diefem Sehnen Genüge zu
tun. Der Kaifer will mir wohl; idy werde ihm bes
gegnen, er wird mich verftehen, mid) erhören. Sch liebe
dieſe befcheidene fächfifche Fahne; fie hat mir Gluͤck ge:
bracht. Aber es bleibt immer ein Vafallendienft. Mein
Herz fchlägt bei denen, die an der Spige fchreiten. Nicht
in ihrem Gefolge, Schulter an Schulter mit ihnen möchte
ich die Friedenspalmen erfämpfen, die über dem Welt:
teil wehen werden, wenn die Pläne des Titanen in Er:
füllung gegangen find. O, nur dein Sa, meine Mutter,
dein befeligendes Ia, und ich trage fortan den fran-
zöfifchen Degen.“
Da die Mutter indeflen diefes befeligende Ja nicht über
140 Frau Erdmuthens 3willingsſoͤhne
die Lippen brachte, die Stunde auch wirklich fuͤr einen
Fahnenwechſel zu ſpaͤt ſein mochte, nahm der junge Herr
auch fernerhin mit einem, wenigſtens dem Namen nach,
deutſchen Degen fuͤrlieb, um die Plaͤne des Titanen er⸗
fuͤllen zu helfen. Zunaͤchſt wieder in der Region, in
welcher ihn vor vier Jahren die glorreiche Sonne zum
erſtenmal angeſtrahlt hatte.
Kaum eine Woche nach Rauls Aufbruch kehrte Herr⸗
mann aus Preußen zuruͤck; gleichfalls nur auf Tage, zu
ernſter Verſtaͤndigung und einem tiefſchneidenden Lebe⸗
wohl. Seine Spannung war ſo groß, daß auch er das
Verfehlen des Bruders nicht mit Kummer empfand.
Aus Herrmanns Erinnerungsmappe und mehr noch
aus der ſeines treuen Baͤr, wuͤrde ich, laͤge es in meinem
Zweck, gar manchen Charakterkopf jener Zeit als den
eines Befreundeten und Beweiſe davon vorfuͤhren
koͤnnen, was die in Koͤnigsberg dazumal neben dem
Studieren getrieben haben. Ob ſie tatſaͤchlich einer der
weitverzweigten Verbindungen, die unter dem Namen
Tugendbund zuſammengefaßt wurden, angehoͤrten, kann
ich indeſſen nicht behaupten; der hohe Ausdruck min⸗
deſtens wuͤrde unſerem Baͤr nicht mundgerecht geweſen
ſein. Unbeſtritten dahingegen ſtanden ſie in den Reihen
der Eingeweihten, die ſeit Jahr und Tag eine befreiende
Volkserhebung vorbereitet hatten. Wenn nun aber der
alte uͤberallundnirgends Baͤr nicht ſtark genug, um ihm
das Handwerk zu legen, im Geruche ſtand, die Faͤden
der Patrioten nach Steins boͤhmiſchem Aſyle und weiter
nach England hinuͤberzuſpinnen, ſo dankte er das zunaͤchſt
allerdings ſeiner ungenierten Sonderlingsfreiheit, die
ſchon vor der beargwoͤhnenden Zeit weit⸗ und breithin
Dritter Abfchnitt 14
eine gewohnte geworden war. Nicht zum geringften aber
verdanfte er es feinem Mentorverhältnid zu dem jungen
fächfifhen Baron. Denn wohl niemals hat ein Dann,
felber ein deutfcher Wann, weniger als dieſer die Ele:
mente eines Agitatord oder gar Verſchwoͤrers in ſich ge-
hegt und deren aͤußerliche Merkmale an fich getragen:
feine flar befonnene Natur, der etwas fchmerfällige
Habitus, fein Studienernft, die fähfifche Abftammung
und für die Vertrauteren wohl auch feines Bruders
napoleonifche Begeifterung Ienften von vornherein bag
fpähende Mißtrauen von ihm ab und machten ihn eben
darum zu einem gefchictten Vermittler für die zerftreuten
Patrioten.
Er hatte bis zum legten auf einen fräftigen Entfchluß
in Preußen gerechnet; unter denen wollte er fich erheben,
deren Sturz er vor Augen gehabt, deren Schmach er feit
zwei Jahren mitgetragen. Bol bitterer Enttäufchung
fehrte er zurüd. Auf der Höhe war mit Stein dad mutige
Vertrauen gefunfen, und das Volk hatten Kattes wie
Dornbergs Verfuche nicht aufgerüttelt. Nun fam Schill.
Iſt mir recht, fo war ed am dreißigften April, daß er
dicht an unferer Heide vorüber gen Wittenberg zog; die
Augen der Mutter hingen mit Spannung an ded Sohnes
Schritten, und ed mag ein harter Kampf gewefen fein,
ben fein Verlangen mit feinem nüchternen Klarblick bes
fand. Der Doftor, deffen Ruͤckkehr von ihm erwartet
worden war, entfchied. Er fam aus Böhmen und bradıte
die Kunde von dem Mißgeſchick an der Donau, das den
Öfterreichern, ohne Entſcheidungsſchlacht, ein Dritteil
ihres Heeres gefoftet hatte. „Es ift hier im Norden zu
fpät, oder noch zu früh,” fagte Bär. „Unfer Wann vers
148 Frau Erdmuthens Swillingsföhne
diente, den Siegestag der Freiheit zu erfämpfen; er foll
nicht fruchtlog ald Märtyrer enden.“
„Nach Ofterreich denn!“ fagte Herrmann. Die Mutter
legte ſchweigend die Hand zum Segen auf fein Haupt.
In den naͤchſten Tagen gewahrte id) den erften weißen
Faden in ihrem Scheitel und um die Augen einen
dunklen Ring, der nie wieder wid. Dad drohende
Phantom ihrer Witwenjahre war zu Fleifch und Bein
geworden: ihre Zwillingeföhne follten ſich Auge in Auge
und Fauft um Fauft ald Feinde gegenübertreten.
Es wird kein Zufall gewefen fein, der die Freunde -
denn zweifelt ihr, daß der freiwillige Pflafterfaften dem
freiwilligen Degen auch bei diefem zweiten Zuge zur
Seite ftand? - fein Zufall, der fie beimege dem Braun:
ſchweiger ind Garn führte, welcher um diefe Zeit in
Böhmen mit der Bildung feines fchwarzen Korps be-
fhäftigt war. Kaum mochte es zwei ungleichartigere
deutſche Naturen geben, ald den ftarrföpfigen, rache-
glühenden Guelfenfürften und den ruhig befonnenen
fächfifchen Freiherrn, mit dem flämifchen Tropfen in
feinem Blute. Beider Liebe und Haß aber waren die
nämlichen; beide hatten einen Bater auf dem Felde fallen
fehen, auf welchem des Vaterlandes Ehre begraben warb.
So ließ fi denn Herrmann nicht ungern zurüdhalten
und verweilte, folange der Operationsplan ded Herzogs
noch zweifelhaft fchmanfte, fidh und andere im Waffen:
dienft übend, in dem Lager von Nachod. Ale der Fürft
fidh aber unwiderruflich für den Einbruch in Sachſen
entfchied, trennten die Freunde fic von den alten und
neuen Gefinnungdgenoffen. Sie fannten Charafter und
Stimmung ihrer Landsleute genau genug, um nicht auch
Dritter Abfchnitt 148
diefen Verſuch von vornherein für eine Fehlgeburt zu
halten; vielleicht, daß ed aud) Herrmann widerftand, mit
dem erften Schritte gleihfam ale Empoͤrer in feine
Heimat einzudringen. Sie eilten dorthin, wo bie ent-
fcheidende Aktion geliefert werden mußte, und famen nur
um Stunden zu fpät, um an ber alle Hoffnungen bes
lebenden Pfingftfchlacht von Afpern teilzunehmen.
Bon Tag zu Tag wartete Herrmann nun auf einen
rafchen Vordrang, in weldyem die Früchte des blutigen
Abfchlagd geerntet werden durften; nach vergeblichem
Harren aber erhielt er von hoher Stelle, an die er be-
hufs feines Eintritts warm empfohlen war, eine Weifung,
die feine gefpannte Sehnſucht tief herabftimmte.
„Wir wiffen einen tapferen Willen zu fchägen,“ fagte
man ihm. „Was und aber vom hödhften Werte fein
muß, ift, daß der ziindende Funken unfered Sieges nad
Preußen getragen werde. Es ift und befannt, wie miß-
trauifch, fpröde der König ſich gegen uns verhält; er
muß durch feine Umgebungen zu einer Entfcheidung ge-
drängt werden. Der Gouverneur von Pommern ift
Feuer und Flamme; viele der Jüngeren fühlen ihm
gleich. Unſer befondered Augenmerk jedoch ift auf
General Bülow gerichtet, einen. feingefchulten Militär,
deſſen Stimme nicht hoc, genug angefchlagen werden
fann. Eilen Sie nach Preußen zuruͤck; in Schlefien
wirken andere im nämlichen Sinne. Schildern Sie, was
Sie ald Augenzeuge wahrgenommen haben; fpornen Sie
die Schwankenden an; Sie find Sachſe; nichts wirft
ergreifender ald die Zuverficht eines LUnbeteiligten.
Schüren Sie das Feuer der Eifrigen, und wäre ed bis
zu einem offnen Eflat. Englands Hilfsmittel find bereit.
144 Frau Erdmuthens Swillingsfähne
Ein preußifches Korps, oder zwei, die raſch in Hannover
und Sachſen einbrecdhen, fchaffen und an der Donau
Luft; die Freiheit des Kontinents wird durch einen
zweiten fräftigen Schlag gerettet.“
Herrmann war gefommen mit dem Verlangen nadı
frifcher Tat; er hielt dad Ziel jened Auftrags, fo heiß
er felber es erfehnt hatte, nidyt mehr erreichbar, und der
Weg zum Ziel widerftand feiner eigenften Sinnesart; auch
machte er fein Hehl daraus, daß für ein Pronunciamento
eifriger Generale Preußen ihm nicht der Boden feine.
Dennod; mußte er ſich dem Auftrage fügen, wie es ein
jeder muß, der ſich ald Werkzeug einer Sache zu eigen
gegeben hat. Daß er nicht mehr ausrichtete als andere,
welche in amtlicherer Stellung die gleiche Miſſion ver-
folgten, braudyt nicht erſt verfichert zu werden. - Be⸗
deutungevoll aber für fein perfönliched Schickſal und
darum in dieſe Gefchichte gehörig wurde jene Sendung,
weil fie ihn in einen dauernden Zufammenhang mit dem
Manne brachte, auf welchen fein Augenmerk fpeziell ge-
richtet worden war. Sie wurde ed aber auch für die
friedlichen Heimatöfreunde, weil fie auf Sahre hinaus
die Angftgefichte der Mutter in den Hintergrund treten
ließ. Denn als der Abgefandte, faum enttäufcht, wenn
auch tief gebrochen, nach Oſterreich zurüdfehrte, um als
einzelner Mann in den Entfcheidungsfampf zu treten,
war die Schladht von Wagram gefchlagen, und zum zwei⸗
ten Male binnen vier Jahren die Armee auf dem Rüd-
zuge nadı Mähren. Der Waffenftillftand von Znaim
wurde gefchlofien, der heldenmütige Erzherzog legte dag
Kommando nieder — die Zwillingöbräder traten fich nicht
als Feinde gegenüber.
Dritter Abſchnitt 445
Und nun, Staupe um Staupe, fiel der Hagel in die
Frühlingsfaaten der Patrioten. Es fteht in hundert
Büchern aufgezeichnet: aber ihr Nadhgeborenen von
41809, ihr ahnet es nicht, was die Männer von 1809
gelitten haben, ſei's daß fie, wie von den unferen der
Alte, Die Freiheit allerorten, ſei's daß fie, wie der Juͤngere,
deutfches Land und Wefen über alles liebten. Welches
Schickſal freilich unferes proteftantifihen Nordens ge-
harrt haben würde, wenn ohne preußifche Hilfe - und
felber mit diefer fpäten preußifchen Hilfe die Frucht
von Afpern eingeheimft, behauptet und der Kern für
neue Ernten geworden wäre?
Sollte einer der damaligen Patrioten diefe Frage ſich
vorgelegt haben, fo war ed nach der erften Betäubung
der junge fächfifche Freiherr, der eine ftarfe Ausdauer -
in ſich fpürte und dem ein gründliches Entwiceln Not-
wendigfeit war.
„Was uns zu tun bleibt”, fagte er, ald er im Herbſt
zu ung zuruͤckkehrte, „ift, daß ein jeder in feinem Kreife
geduldig und treu an dem Damme baue, an welchem,
früher oder fpäter, die Überflut fid) brechen muß; daß
wir den Willen eined Volks gegen den Willen eines eins
zelnen gewaltig machen. Wie unvergleichlich würde
Friedrich der Große, wie unerfchütterlid, fein Staat in
der Gefchichte ragen, wenn es ihm gegeben gewefen
wäre, Steind heutige Geſetzgebung ſchon bei feinem
Leben durchzuführen! Aber unfere nordifchen Geifter
gleichen der Winterfaat, die erft unter Stürmen erftarft,
und Gottes Mühlen mahlen langfam, aber fein.”
Sn diefem Sinne, nachholend und vorbauend, wirfte
er von jet ab unter und in der unfcheinbaren Stellung
xx. 10
146 Frau Erdmuthens 3willingsſoͤhne
eined Landwirts, ald Adminiftrator der Mutter mit deren
unbefchränftem Vertrauen. Er führte im großen aug,
was fie in Fleinerem Maße angebahnt; fie hatte ed in
barmherziger Liebe getan, um ihren Heimatsbrüdern die
Mühfal des Daſeins zu erleichtern. Nun faßte fie in
patriotifher Sympathie, daß mit den äußerlichen Schrans
fen dem inneren Sinne Kette um Kette bricht. Zweifelt
ihr aber daran, ob auch die drei Knechte dem Sohne
ihrer lieben Frau nad) Kräften beigeftanden haben? Ob
der Phyſikus auf feinem Plate war, da wo es in erfter
Linie galt, gefunde Menfchenleiber aufzurichten, ftarf
zum Waffentragen in einem Freiheitöfampf? Ob ber
rechtfchaffene Suder dort, wo es fidy handelte um Be-
freiungen, Ablöfungen, Bobdenverteilung zum Zmede
von Haus und Hof für viele, die ihn bis dahin entbehrt?
Ob auch der friedfertige Magifter auf der Kanzel und
in der Schulftube das Seinige zur Erweckung der Geifter
getan? Sie alle arbeiteten von jegt ab mit Doppeltem
Eifer daran, den Erdenfled, auf welchen Gott fie gefegt
hatte, menfchlicher ausgefüllt, als fie ihn vorgefunden,
zu verlaflen; wert, ald Heimat mit Gut und Blut vers
teidigt zu werden und ſich eines Tages einem befreiten,
großen Baterlande einzureihen.
Diefe patriarchalifche Emfigfeit unferes Freundes er-
ſtreckte ſich indeſſen nicht auf die fächfifche Erbftätte
allein, ja auf fie im Grunde erft in zweiter Ordnung.
Frau Erdmuthe hatte beim Tode ihres Gatten ihre
Söhne felbftändig gemacht, indem fie die Erfparniffe
ihrer Ehezeit, ohne eignen Anſpruch, als Erbe unter fie
verteilte. Was nun dem forglofen Süngeren in flottem
Zagerleben durch die Finger glitt, dad wurde dem haus⸗
Dritter Abfchnitt 447
hälterifchen Alteren zum Mittel für feinen allesbeherr⸗
ſchenden Zweck.
Seit Öfterreiche notorifcher Erfchöpfung wendeten alle
Hoffnungen Herrmanns fich wieder dem Stamme zu,
unter dem er zum Wanne gereift war. An diefen auf
der Grenzwacht gegen die Barbarei des Oſtens hart ge-
ftählten Nerven und Sehnen fah er die uniformierende
Barbarei des Weſtens fid) brechen und ahnte die Zeit,
in der er felber fich auf ein anderes Bürgerrecht ale dag
in feiner eingeflemmten Heimat zu berufen haben dürfte,
In diefer Vorausficht war ed bei der Entwertung der
Immobilien in der bid auf die Neige ausgezehrten Pros
vinz ihm leicht, einen beträchtlichen Grundbefiß jenfeits
von Königsberg zu erwerben und in diefer fernen Fi-
liale die Theorien feiner Sünglingszeit nahe der Stätte,
wo er fie eingefogen hatte, ind Praftifche umgefegt, zu
verwerten.
Meine beiden Brüder, ber Verwalter und Förfter, folg-
ten ihrem Herrn und Freunde in dieſes neue Gebiet
und vertraten ihn dort, fooft er ferne war; wie fie denn
mit Sud und Pad in blindem Vertrauen dem über alleg
verehrten Manne in die Hölle gefolgt fein und ihn all:
dort vertreten haben würden, wenn er deren Ur- und
Wehrbarmachung von ihnen gefordert hätte. Gelang
es nun aber den beiden fächfifchen Heideföhnen gar bald,
fi) an den fcharfen, preußifchen Oftwind zu gewöhnen,
was Wunder, wenn von Zeit zu Zeit auch unfer welt-
bürgerlicher Sfegrimm in dem mafurifchen Bärenwinfel
ein urmwäldliched Behagen fand? Die Freunde fprangen
aus und ein; für die alte Heimat waren fie in der
neuen, für die neue in der alten; in Wirklichkeit vielleicht
148 Frau Erdmuthens Swillingsföhne
ganz anderdwo. Mehr denn je bedurften jene Tage der
Männer, welche den legten Glauben nicht verloren hatten.
Bei diefem Wechfel von Kommen und Gehen, von ges
fprochenem und gefchriebenem Wort gefchah ed nun aber
faft unmerflich, daß auch die ftillfipenden alten Heimats⸗
freunde ſich in eine Randfchaft eingewöhnten, in welcher
fie bisher mit Grauen die Fuͤchſe ſich hatten Gutenadıt
fagen hören. Selber der Erzſachſe in unferem Kreife,
den bei dem bloßen Namen „Preußen“ jederzeit ein
Ohrenzwang befallen hatte, gelangte dahin, ſich fein
Stedenpferd in der neuen Heimat feines fünftigen Pas
trond behaglicy umzufatteln. Der Sünger der Welts
weisheit, dem fein großer Landsmann in Perfon und
lange zuvor ald dem übrigen Menfchengefchleht — ihr
wißt, es gefchah damald beim zehnten Kloß - die Eri-
ftenz des Nicht-Ichs handgreiflich demonftriert hatte,
hing Ich und Nicht⸗Ich ganz fachte an den Nagel, ins
dem er den Fategorifchen Imperativ für gar feine uns
ebene preußifche Erfindung erflärte. Unfer Mann des
Gefeged fand Geſchmack an Königsberger Marzipan
und wurde Kantianer.
Wenn wir auf diefe Weife nun ohne allzu fchweren
Aufwand der Phantafie uns aus der fächfifchen in die
preußifche Heide verfegen lernten, wollte es ung dahin
gegen um fo weniger gelingen, Pofto zu faſſen in einem
der romantifchen Zaubergärten, zwifchen welchen ber
andere unferer künftigen Patrone während diefer Sahre
fehmwelgte und ſchweifte. Der sfterreihifche Feldzug
hatte dem tapferen Raul das Patent zum Nittmeifter
und den Heinrichsorden eingetragen; in den fiebenten
Himmel aber veriegte ed ihn, daß fein Kaifer, der fe
Dritter Abſchnitt 14%
fehr die Kunft verftand, ſympathiſche Naturen zu ver:
werten, ihn zu einer Sendung an den brüderlichen Hof
nadı Spanien auserfor. Stante pede aus dem Lager
von Wagram ging ed in das von Talavera, in welchem
zur Stunde der arme Schattenfönig Joſeph, von Welling-
ton übel zugerichtet, auf ſchwachen Füßen taumelte,
Aber auch nach dem baldigen Siege über Venegas, an
welchem der ritterliche Deutfchfranzofe flott mit teils
genommen hatte, möchte der fpanifche Aufenthalt für
jeden anderen ziemlich ſchwuͤler Natur geworden fein
und würde auch einen bedeutenden Schwärmer für
das römifche Reich unferer Zeit, für das eine Volk,
mit einer Sprache, unter einem Willen zur Genüge
haben ernüchtern können. Unſer Held gehörte nun aber
einmal zu den Glüdlichen, welche die Dinge fchauen,
wie fie diefelben zu fchauen verlangen. Der heiße füds
Tiche Simmel und die heißen füdlichen Menfchen feiner
Träume find in der Wirklichkeit Herrn Raul nicht allzu
hisig vorgefommen.
Dem flüchtigen fpanifchen Streifzuge folgte ein Ab:
ftecher nadı Italien und ein gründliched Durchftöbern
der Provence, die er von vornherein feine Heimat nannte
und in welcher er die Zuftfchlöffer feiner Zukunft in die
Höhe fteigen ließ. Zwar blieben die Forfchungen nad
etwaigen Geſchlechtsnachkommen ohne Erfolg; der Name
Saint Roc war rings im Languedoc fpurlos verflungen.
Auf einem olivenbefäumten Felfen, am blauummogten
Strande hatte der Forfcher jedoch eine Bergruine ent»
deckt, die er ald den untrüglichen Stammfig der Saint
Roc in Anfpruch nahm, weil über dem zerbröcdelten
Portal, in den Trümmern eined Scildes fich ein ab»
150 Frau Erdmuthens Zwillingsföhne
a —
geſtoßenes Etwas erhalten hatte, das nichts anderes als
den Gipfel des goldenen Felſens, des Wappenzeichens
ſeiner Familie, bedeuten konnte. Der Skeptiker Baͤr ſah
freilich nicht ein, warum ſotanes Etwas nicht ebenſogut
den Zipfel einer heraldiſchen Nachtmuͤtze bedeuten ſollte.
„Hier alſo,“ ſo ſchrieb der gluͤckliche Entdecker, „hier
hat die Wiege meiner Ahnen geſtanden, hier ſoll dereinſt
die Wiege deiner Enkel, meine Mutter, von deiner ſuͤßen
Hand geſchaukelt werden. Ja, das iſt die Heimat meiner
Seele! Das iſt das Land, um das ich geworben habe
wie um eine Braut; wie Jakob um Rahel, als man ihm
die unholde Lea an die Seite draͤngen wollte.“ |
Wir waren an folcherlei Bilderfprache unferes jungen
Freundes gewöhnt, und nahm diefelbe, in zierlichem Frans
zöfifch abgefaßt, ſich aud; lange nicht fo überfchwänglich
wie hier in unfer braves Deutſch umfchrieben aus. Mit
dem legterwähnten Gleichnis fchoß er überdies nicht eins
mal weit über dad gewollte Ziel hinweg. Sa, er erfor
fich ein Heimatdland wie ein fchönes Weib. Wir an-
deren, und fein Bruder zumal, wir liebten das unfere
ohne Wahl, wie einer den Vater liebt, welchen Gott
ihm gegeben hat; und wenn ed ein firenger Bater ift,
dann erft recht. Die Erbtodhter der fächfifchen Freis
herren aber fah von ihren Zwillingsföhnen den einen
als naturalifierten ‘Preußen, den anderen ald Franzofen
der Zufunft der ftaatlichen Befchränfung ihres Geburts»
landes und ſich gegenfeitig als traditionelle Widerfacher
entfremdet. Als fie ubigen Brief zu Ende gelefen, fagte
Frau Erdmuthe mit wehmütigem Lächeln: „Wo unfer
Raulhaus ftehen follte, wollen wir dereinft unfere Fries
dendfirche bauen.“
Dritter Abfchnitt 181
Aus dem Süden ging unfer Glüdlicher - nun erft recht
ein folcher — nach Parie. Dort unter irgendweldyem
fchmeidhlerifchen Titel feftgehalten, fchwanden in beraus
fchendem Taumel zwei Jahre, die dad Gepräge des Voll
franzofen vollendeten. Selber den urfprünglichen Namens»
fang hatte er ſich voll wieder angeeignet. — Erft im
Frühling 1812, in Ausſicht des ruffifchen Feldzuges,
fehrte Baron Raul von Saint Roc audy diesmal nur
im Fluge im Mutterhaufe ein, um ſich darauf — gegen
fein Hoffen wieder ald Sadıfe - der Reiterbrigade ans
zufchließen, welche General Thielemann zu dem Korps
von Latour Maubourg in Kalifch ftoßen ließ. Der Mas
jorsrang und die Führerfchaft des altwerehrten Freundes
mußten für den verlängerten Bafallendienft entfchädigen.
Raul betrachtete den Zug des neuen Alerander mit
deffen eignen ruhmgeblendeten Bliden, deutete ihn nahes
zu mit deſſen eignen fpäterhin fundwerdenden Worten.
„Antizipierte Bulletins“ nannte der Phyſikus feine Briefe
und den Schreiber: „Monfteur Bulletin.”
„Wer hätte Europa von den drängenden Barbarens
horden befreien, wer fie in die afiatifche Steppe zurück
ftoßen fönnen als der verförperte Genius der zivilifierten
Welt?” rief er aus; dann aber ſchweifte die Phantafie
über das bewältigte Rußland hinweg; über Schneefelder
und Eisberge, Taufende von Meilen weit ind Herz der
Tropenzone hinein, um an den Ufern bes lotosbluͤhen⸗
den Ganges, die fchnödefte Krämerherrfchaft der Ges
ſchichte zertrümmernd, den Dreizad ded Neptun an das
Schwert des Mars zu fefleln.
Und die Mutter, vor deren Ohr diefe Schallmellen ſich
ergoffen? Wohl Hangen fie ihr nicht unähnlich denen,
159 ran Erdmuthens Swillinasfähne
welchen fie mit zitterndem Herzen vor Jahren am Bette
des Fieberrafenden gelaufcht hatte; wohl fah fie im
Geifte jene unzähmbaren Mächte, welchen der Wahnfınn
eined Defpoten Kohn zu bieten wagte: aber der, über
deffen Lippen die geflügelte Rede glitt, deffen Blicke in
begeifterndem Siegertraume glühten, er war ihr Kind,
ihr fchönes, zärtliches, glüdliched Kind; er füßte ihre
Hände und ftreichelte fchmeichelnd über Die weißen Fäden,
weldye die Sorge um ihn auf ihrem Haupte gebleicht
hatte. Hätte fie dem Entfremdeten ihrer Heimat grollen
fönnen? verbammen den Kämpen gegen alles, was ihre
Väter heilig gehalten hatten, was ihr Erftgeborener,
was fie felber heilig hielt? Hätten ihre Tränen fpar-
famer fließen follen, weil fie in jenen Mächten, welche
ihren Liebling bedrohten, die Nettung ihrer Heilig-
tümer ahnte? Ich habe mandhe gekannt, welche in jenen
gewalttätigen Zeiten für Gatten, Brüder und Söhne in
entgegengefegten Lagern gezittert haben: feine Mutter
aber wie Frau Erdmuthen, welcher der Zwiefpalt des
Blutd das Herz durchbohrte gleich einem Schwert.
Und wenn ihre Söhne vor dem Kampfe, der mehr als
ein früherer dem einen ein Todeskampf zu werden drohte,
fi mindeftend noch fehen fonnten; wenn fie gefchieden
wären mit einem Händedrud, mit einem brüderlichen Lebe-
wohl! Aber Herrmann hatte ung fchon um Neujahr ver-
laffen in jener höchften Spannung, welche, in der Schwebe
der preußifchen Krife zwifchen Unterwerfung und Er:
hebung, alle Vaterlandsfreunde in Fieber verfegte. Die
Entfcheidung war feitdem gefallen; das Volk, auf welches
fie ihre letzte Hoffnung gebaut hatten, folgte ald wehr:
und willenlofes Scylachtopfer den Fußfpuren des Unter:
Dritter Abſchnitt 158
jochers, anftatt ſich aufzurichten und, wie fein erfter
Minifter vor faum Sahresfrift ftolz verkündet hatte,
Außerftenfalld mit dem Schwerte in ber Fauft zu fter
ben. - In diefem Lichte fahen die Patrioten von damals
den Februarvertrag, den wir heute ald eine Tat ber
Selbftverleugnung und Selbiterhaltung würdigen. Denn
fein Herrfcher hat das Recht, und wäre ed aus dem
höchften Motiv, den ihm anvertrauten Staat einer vors
ausfichtlichen Vernichtung preiszugeben. Hier aber war
es mehr ald die Eriftenz eines einzelnen Staatd, ed war
die Gefamtnatur eines zerfplitterten Volks, die auf dem
Spiele ftand, wenn der bisher unüberwundene Gewalt:
haber auf feinem fzythifchen Zuge den Reſt von Preu-
Ben als eroberte Provinz in feinem Rüden liegen ließ.
Auch Herrmann hat fpäterhin des Könige Entfchluß
als folch ein zwingendes Verhängnis aufgefaßt. In
jenen Wintertagen aber würbe fein perfönliches Erleb>
nis ihn mit Ääßenderer Schärfe getroffen haben. Noch
rang er mit der Verzweiflung, welche viele Geſinnungs⸗
genoffen, ihrem Kaffe Luft zu machen, auf die Pläbe
fremden Widerftandes im Norden oder Süden trieb,
und zeugt ed von ber Unvermwüftlichfeit feines deutfchen
Glaubens, daß er diefe Berfuchung überwunden hat.
Raul Tächelte audy heute, ald ihm die Mutter den
ſchweren Kampf ded Bruders zu deuten fuchte. „So
nimmt er noch immer den Kleinen Mond für feinen gro-
Ben Gott!” oder: „So fpielt er noch immer Vercinge-
torig!” fagte er, Mit diefen Kindheitsbildern war die
Erinnerung an den Bruder abgetan. Sonft fein Ber-
ſtaͤndnis, fein Verlangen, aber auch fein Groll. Zwifchen-
durch ein Anflug von Geringfchägung des germanifchen
154 Frau Erdmuthens Swillingsfähne
Phlegmas gegenüber dem zündenden Genius ber Zeit
und außerdem — Bergeffen.
Die Mutter hatte nad) allen Seiten Boten und Briefe
ausdgefendet, um ihres Sohnes KHeimfehr zu befchleus
nigen. Raul konnte diefelbe nidyt erwarten, da fein Res
giment bereitö aufgebrocdyen war.
„Grüße Herrmann, meine Mutter,” fagte er beim Ab»
fchied. „Unfere Seifter fteuern gegeneinander im Strome
ber Zeit, und wenn fein Schifflein nicht gottlob im
Nothafen feftgebunden läge, hätten wir barfch gegen-
einander rennen fönnen. Das ift Männer Art, auch
wenn fie Brüder find. Operari sequitur esse! - Gie
fehen, daß ich Shrer Schulftube nody Ehre mache, Pate
Magifter. - Aber dad Blut, das in ungleidhem Tempo
durch unfere Adern treibt, ift ein Blut, dein Blut,
Mutter, und welche Madıt könnte fich zwifchen Herzen
drängen, weldye die Mutterliebe eint?“
Welche Macht? Ad, war denn das ungeheure Elend
bed Baterlanded nicht allein ſchon eine Macht, welche
die Kluft der Geifter bid zum Herzgrunde vertiefte?
Übertrug fi) nicht willenlo8 von dem Haſſe gegen den
Unterdrüder eine Regung auf beffen begeifterten Afos
lythen? War nicht der einzelne mit fchuldig an dem
allgemeinen Weh? Selten mißadhtet man den Glück;
lichen, den man beneiden dürfte; aber audy der Gerech⸗
tefte haßt ihn in Momenten, wo dad Bemwußtfein des
Frevels, mit welchem fein Gluͤck erfauft ward, unfere
Bruft zerreißt. Und in einem folchen Momente wurde
die Frage aufgeworfen: Welche Macht kann ſich zwifchen
Herzen drängen, welche die Liebe eint?
„Unfer Geift dringt in die ewige Gerechtigkeit wie das
Dritter Abſchnitt 155
Auge in dad Meer. Es fieht den Grund am Ufer, aber
ed fieht ihn nicht auf hoher See. Und doch ift ein
Grund, und nur die Tiefe verbirgt ihn.”
Diefed Gleichnid des großen Florentiners, mit deffen
Sinn in jenen Tagen der Bruderfehde ich oftmals die
Löfung des tiefſten Lebensrätfeld gefucht habe, diefes
Gleichnis fchliege die lange Einleitung in meine Bruder:
geichichte.
Vierter Abfchnitt
Was fern, muß fich erreichen.
8 war im Mai; wir faßen im milden Sonnenfcein
En Kaffeetiſch vor dem Portal: Frau Erdmuthe,
ihr Sohn, ihre drei Knechte und, nicht zu vergeſſen, die
hochverehrte Familienfreundin, welche auf einer ihrer
ſtoffreichſten Ritterſchaftstouren ſchwer beladen bei uns
eingekehrt war.
Wie lange iſt es doch her, daß ich Fraͤulein Idunen
zu einem kritiſchen Anſtoß auf ihrer Pfingſtetappe vor⸗
gefuͤhrt habe? Die beiden Kaſtanien, welche der alte
Freiherr am Tage der Geburt ſeiner Zwillingsenkel zu
ſeiten des Portals gepflanzt hatte, waren damals zarte
Staͤmmchen; heute ſind ſie ſtattliche Baͤume, uͤber und
uͤber der eine mit weißen, der andere mit roten Bluͤten⸗
kerzen bedeckt. Sie geben ſchon angenehmen Schatten,
wir brauchen den Kaffeetiſch nicht mehr unter die alten
Ulmen zu ruͤcken, wenn Fraͤulein Idunen ihre fliegende
Hitze uͤberfaͤllt.
Ja, es iſt eine Weile her; eine Maͤdchenjugend koͤnnte
auf⸗ und laͤngſt wieder abgebluͤht fein in der Zeit, und
Fräulein Iduna nunmehro allenfalls fchon Urgroßmüt-
tern Blumen auf ihren Hochzeitspfad geftreut haben.
Fräulein Iduna ift aber ohne Wandel unfere liebe, rote
Dame, und dad, was an ihr Außenmenfc genannt wer:
den muß - jeßt noch etwas mehr ald viel -, fpiegelt uns
getrübt wider die innerliche Couleur, die zwifchen Roſe
und Flamme fluftuiert.
Heute jedoch ftrahlt Fräulein Iduna in Purpur und
fprudelt über in eitel Gloria und Subelhymnen. Sie
Vierter Abfchnitt 157
war der Faiferlichen Monarchencour in ihrer Refidenz-
ftadt Zeuge gewefen, und muß das traute chez moi wohl
mit einem Lugefenfterden in die höchften und allers
hödhften Appartements eingerichtet gemefen fein, denn fie
hatte Kenntnis von dem leifeften diplomatifchen Räufs
pern bei diefer erhebenden Gelegenheit und wußte auf
Linienbreite anzugeben, wie niedrig fich diefes und jenes
gefrönte Haupt vor der Majeftät des Weltgebieterd ge:
fenft hatte.
„Bottlob, daß wir Fleinen Leute und nicht fo tief zu
bücen brauchen“, fagte Herrmann lächelnd, als die
echauffierte Dame eine Paufe madıte, um ihren Kaffee
nicht völlig erfalten zu laffen, dann aber Ienfte er die
Rede von dem majeftätifchen Kapitel ab; wohl aus
fchonender Rüdficht auf das Nervenfyftem feines Freuns
des Bär, der vor gewiſſen Klangwellen — deutfchen Or-
ganen fonfthin anmutend geläufig — eine abfonderliche
Reizbarfeit offenbarte; heute zumal, wo Bär nach wochen⸗
langer Ausflucht erft vor einer Stunde zu und zurüd;
gefehrt war, müde, oder doch mit verdroffenerer Miene
als fonft, wenn er „der niemals fattfam zu bewundern⸗
den Göttin der ewigen Jugend“ an Frau Erdmuthens
Tafel gegenüberfaß.
„Daft du Beforgungen in Leipzig, liebe Mutter?“
fragte Herrmann, „id denfe morgen hinzureifen.“
Der Gerichtödireftor machte die erläuternde Bemerkung,
daß der zahlmächentliche Termin vom Herrn Baron ver:
abfäumt worden, dahero eine perfönliche Verhandlung
mit der Firma Frege und Sohn abfolut nicht länger zu
verfchieben fei.
Es hatte nämlich diefer niemald genugfam belaftete
158 Frau Erdmuthens Iwillingsföhne
Knecht unferer lieben Frau zu der Jurisdiktion auf der
einen Schulter, während Herrmanns häufiger Abweſen⸗
heit, die gutöherrliche Kaffenprofura auf die andere ge-
nommen, und griff er jedwede paffende oder unpaflende
Gelegenheit beim Schopf, um von feiner gedeihlichen
Amteverwaltung mit Adam Rieſeſcher Weltweisheit
Rechnung abzulegen.
Frau Erdmuthe ließ ein leiſes Räufpern vernehmen.
Auch Doktor Bär hatte feinen Baß geftimmt. „eben
Sie für Ihre Sparfumme uns einen Schmaus zu Ehren
der welthiftorifchen Kaiſer- und Königsparade, Frau
Mutter,” fiel er ein. „Oder befler noch, fchenfen Sie
fie mir, daß ich mir einen Adelöbrief beftelle. ‚Bär von
Pflafterkaften‘, was meinen Sie dazu, Freundin der
Kitterfchaft? Nach fo königlich anerkannten Verdienften
fönnte mir der königliche Grandfordon der Ehrenmänner
nicht entgehen. Sie erfüllen meinen glühendften Wunfch,
Frau Mutter, und fich felber befreien Sie für ein Weil-
chen von einer endlofen Turbulation. Wahrlich, ich
meine ed gut mit Ihnen. Diefer Tag und Nacht kriegs⸗
bereite Stammhalter läßt Ihnen ja doch feine Ruhe,
bis er Ihren legten Dufaten in Eifen umgefchmolzen
haben wird. Kaum daß er eine heroifche Refrutenfchar
für diefes — allerdings ehrenvolle — Grawertfche Heer:
gefolge aufgefüttert hat, fo rüftet er hinter Ihrem Rüden
fchon wieder für die zivilifatorifche Miſſion, die, fobald
fämtlicye zweibeinige Barbaren mit Samafchen und Es⸗
farpind in.den Kulturzuftand eingetreten fein werden,
gegen meine biderben vierfüßigen Kollegen auf Spip-
bergen und anderwärtd ind Werk gefegt werden fol.
Denfen Sie, wie Shre Enfel, Frau Mutter - -“
Vierter Abfchnitt 4159
— — —
„Meine Enkel!“ unterbrach Frau Erdmuthe den Red⸗
ner. Sie tat es laͤchelnd und gewiß nur in der Abſicht,
mit einem aufgegriffenen Wort fernerweitigen Hechtſchen
Rechenexempeln und Baͤrſchen politiſchen Phantaſien in
den Weg zu treten. Ob nun aber die beſcheidenen vier
Silben, „meine Enkel“ mit einer beſonderen Modulation
ihren Lippen entſchluͤpften oder ſonſt aus welcher ploͤtz⸗
lichen Ideenverbindung, genug, dem Politikus blieb die
Ausfuͤhrung der ziviliſatoriſchen Miſſion fuͤr das zu⸗
kuͤnftige Geſchlecht in der Kehle ſtecken, und Fraͤulein
Iduna ließ vor Erſchuͤtterung den braunen Mokka in
ihre rote Buſenſchleife troͤpfeln.
Auch Herrmann hatte betroffen zu der Mutter hinuͤber⸗
geblickt, und als dieſelbe nach einer allſeitigen kurzen
Stille zu einer haͤuslichen Beſorgung ſich erhob, ging er
ihr nach, indem er ihren Arm in den ſeinen legte.
Fraͤulein Iduna hatte ihre Buſenſchleife abgetrocknet.
Ihre Couleur bekundete einen vielverſprechenden Sprung
der Phantaſie: Kaiſer und Koͤnige waren ploͤtzlich mit
dem Schwamme ausgeloͤſcht. „Meine Enkel!“ fluͤſterte
ſie, anfaͤnglich traͤumeriſch, dann mit wehmuͤtigem Floͤten;
„meine Enkel! Hoͤrten Sies, Magiſter? Meine Enkel,
hat ſie geſagt und laut geſeufzt!“
Ich hatte das Seufzen nicht gehoͤrt; laͤngſt aber ſchon
hatte ich in der Seele meiner Freundin den Wunſch ge⸗
leſen, der wohl einen Seufzer hervorgelockt haben koͤnnte.
Ihr zweiter Sohn, wenn er in einer Friedenspauſe ein⸗
mal eine häusliche Anwandlung fpüren follte, nicht unter
ihren Augen, fie wußte es, in unheimifcher Ferne würde
er einen Herd fich gründen. Alle Hoffnung, Erbe und
Namen der Fels in die Zufunft tragen zu ſehen, beruhte
160 Frau Erdmuthens Iwillingsfähne
auf Herrmann; Herrmann aber hatte noch niemals eine
zärtliche Herzensbewegung gezeigt, und weder Vernunft
noch Gewiſſen fchienen ihn an die Pflichten des Stamm-
halters zu mahnen.
Wie der Mutter nun aber jede Andeutung widerftand,
welche das freie Gefühl ihres Sohnes beirren Fonnte,
fo hatte auch ich, ihrem Sinne gemäß, mid, derfelben
enthalten und bemühte mid, jegt redlich, in dem am
Kaffeetifche zurücdgebliebenen Konvivium der Ehelofen
die Kaifer und Könige anftatt der Enkel wieder auf das
Tapet zu bringen.
Armer Schwachmatifus jedoch, aufd Tapet bringen zu
wollen, felber Kaifer und Könige, wenn unfere liebe,
rote Dame in dad Kapitel eingefprungen war, das ihrer
neidlofen Seele über alle Kaifer- und Königskapitel
ging! „Meine Enkel!“ wiederholte fie mit herzbeweg-
lichem Schluchzen; „meine Enfel! Diefer Engel von einer
Frau, diefe Heilige, diefe beflagenswerte Witwe, diefe
Mutter nach Gottes Herzen! Tränen, helle Tränen
hatte fie in den Augen. Gerichtödireftor, haben Sie die
Tränen gefehen?“
Der ehrliche Gerichtsdireftor hatte die Tränen nicht
gefehen. Aber, wenngleic, feine runden Augen, die wie
himmelblaue Brillengläfer unter den ftrohgelben Loͤck⸗
chen der Perücde lagerten, Eurzfichtig waren, Die Träne
mußte er ja wohl fehen, die eine unverfiechbare Träne,
die jegt in Fräulein Idunens Antlig ihren Aufzug hielt.
Der gerührte Hecht war nahe daran, eine weniger be-
fcheidene Schwefterzähre überlaufen zu laſſen.
Schon aber hatte der Tropfen ded Mitgefühls feinen
Ruͤckzug angetreten, Fräulein Iduna ihre Faflung wieder-
Vierter Abfchnitt 161
gewonnen. Ein heroifches Feuer Iohte in ihren Augens
fternen empor. Sie fprang vom Stuhle in die Höhe,
ſchlug mit beiden Händen gegen den Raum, auf wels
chem nach damaliger Mode die Gürtelfchnalle zu ruhen
pflegte, und rief mit Energie: „Baron Herrmann muß
heiraten! Er mag Luft haben oder nicht, er muß, er
muß!” Da aber der Baron juft während diefes Rufes
aus dem Kaufe zurüdfehrte, ohne die Mutter und in
merfbar nachdenflicher Stimmung, ftürzte fie ihm uns
erfchrodenemit der nämlichen Forderung — beinahe in
Die Arme.
„Sie müffen heiraten, Baron!” erflärte fie. „Es hilft
nichts, Sie müffen. Wir, Ihre treueften Freunde, die
Berehrer Shrer herrlichen Mutter, haben und in diefer
unumftößlichen Forderung geeint. Fragen Sie den Mas
gifter, ob die edle Frau ſich nicht in der Sehnſucht nad)
Entelfreuden verzehrt? Es kann ihr and Leben gehen,
Baron. Bei Gott, and Leben! Doktor, fagten Sie ed
nicht? Sie find ihr diefe Befriedigung fchuldig, Baron.
Auch der Gerichtödireftor meint, daß Sie ed find. Es
ift Shre Pflicht. Sie müffen heiraten, ohne Bedenken,
ohne Verzug, Sie müffen!“
Die feurige rote Dame hatte dad Netz über den hage-
ſtolzen Käuptern zufammengezogen, und fo bei Gelegens
heit diefem Fategorifchen Imperativ gegenübergeftellt,
trug mein friedfertiged Gemüt fein Verlangen zu Oppo⸗
fition. Sc trat mit offenem Pifier unter dad Banner
der Roſe und der Flamme, Aud) Freund Bär brummte
nicht8 weiter ald: „Sch wüßte nicht, was ihm anjego
Klügeres zu tun verbliebe.”
Schwerer waren die Skrupel, welche dad richterliche
xx. 11
162 Frau Erdmuthens Zwillingefähne
Gewiffen zu überwinden hatte. Als Philofoph und Phis
Iofophenfreund konnte Guftel Hecht die Ehelichkeit nicht
befürworten. Saͤmtliche Weltweife feiner geiftigen Ber
fanntichaft waren nicht oder fchledht beweibt. Daß der
jüngfte unter ihnen, ber einzige ihm perfönlidy Bekannte,
der große Landsmann und nftruftor, ausnahmsweiſe
für einen Gutbeweibten galt, konnte die Regel nicht um⸗
ftoßen. Es mußte im Gegenteil zugeftanden werden,
daß juft diefes unfpefulative andere Ich, neben dem
überfpefulativen Nicht-Ich, den ſpekulativen Jünger
des Ich aus den Armen des fächfifchen Kommilitonen
rüdwärtsd getrieben habe in die Fußfpuren des preußis
fhen Vorlaͤufers, der neben anderen ftandfeften Eigen»
fhaften auch die befaß, ein ftandfeftes Einzeln⸗Ich zu
fein. Nein, Hecht, der Kantianer, konnte ſchlechterdings
zur Ehelichkeit nicht feine Zuftimmung geben.
Auf der anderen Seite dahingegen in Anbetracht, daß
der Kantianer Hecht neben der Weltweisheit und noch
vor der Weltweisheit die Jurisdiftion eines koͤniglich
fächfifhen Patrimoniumd zu verwalten und die Ehre
hatte, fidy bei Gelegenheit als feiner gnädigen Patri⸗
monialherrin allergetreueften Knecht und Freund unter:
zeichnen zu dürfen; in fernerweitigem Anbetracht, daß
der Kantianer Hecht auf dem Wege der reinen Vers
nunft ſich der phyfiologifchen Schlußfolgerung nicht ver:
fchließen durfte, daß ed mit fämtlicher Surisdiftion und
Philofophie auf dem Erdenrund in die Pleite gehen
müffe, wenn jedweder Mann ein Kantianer, will fagen
ein Unbeweibter fei, folchergeftalt gelangte auch der Ges
richtödireftor Hecht zu dem abfchließenden Votum, daß
ber junge Kerr Baron nichts Philofophifcheres zu unters
Vierter Abfchnite 168
nehmen vermöchten, als ſich den Wünfchen feiner hoch⸗
verehrten Frau Mutter findlich zu fügen und bei ans
fprechender Gelegenheit zu beweiben.
Waͤhrend diefer gründlichen, weltweifen Deduktion am
oberen Ende des Kaffeetifched war nun aber audy am
unteren Ende der nämlicdhe Gegenftand im Flüftertone
zur Abhandlung gefommen. Unfere Zeit bedürfe der
ledigen Männer, hatte der Patriot gefagt, und fein alter
Pate Magifter ihm ermwidert, daß im Gegenteil diefe
Zeit ded Zornd und Haders zur Pflege dränge jeden ges
mütlichen Keims. Wo fo tiefe Tücken bis in die natür>
lichiten Ordnungen geriffen feien, müflen die Reihen um
fo dichter und dichter gefchloffen werden. Da ftatt der
Gegenrede nur ein Kändedrud erfolgte, fehien auch am
unteren Ende die objeftive Vorfrage erledigt.
Die fubjektive Nachfrage erregte lebhaftere Debatten.
Herrmann erflärte ſich für das altfelsfche Gleich und
gleih; Fräulein Iduna für den Kontraft. Herrmann
verlangte von einer Gattin nichts Geringered ald die
zweite Auflage einer Frau Erdmuthe. „Nach dem Tert
in Folio einen in Duodez“, fpottete der Phyſikus. Auch
der Suder urteilte, daß gnädige Frauen dieſes Kaliber
nicht auf den Bäumen wachſen. Zuftimmung der Mit-
fnechte. Begeifterter Applaus Fräulein Idunas. Eins
helliger Chorus: Frau Erdmuthe hatte nicht ihresgleis
chen, Frau Erdmuthe war unerreichbar!
Warum geftattete fie ſich aber unvergleichlich zu fein,
. wenn fie ihre Söhne zu Stammhaltern erziehen wollte?
wendete ernlchternd der Phyfifus ein. Gute Ehemänner
müffen von Stiefmüttern gefchult worden fein. Unvers
gleichliche Mütter produzierten Junggefellen.
164 Frau Erdmuthens Swillingsföhne
Der Gerichtödirektor beftritt diefe Togif, weniger aus
Philofophie ald aus leidiger Erfahrung. Sooft er ſich
in jungen Sahren mit einer matrimonialen Anwandlung
- er geftand diefe Menfchlichfeit ein — niedergelegt habe,
fei das Gefpenft feiner feligen Stiefmutter ihm im
Traum erfchienen und er am Morgen vor lediger Jung⸗
gefellenluft mit beiden Beinen zugleich aud dem Bette
gefprungen. Dahingegen die Erinnerung an die Strei⸗
chelfinger einer liebevollen Mutter ihn am Ende doch
an Hymens Altar verlocdt haben würde.
Bär fchüttelte, ich nickte — obgleich ich das Bild einer
gütigen Mutter im Herzen trug. Es wäre feine Eini-
gung abzufehen gewefen, hätte nicht Fräulein Iduna,
mit Hilfe einer neuen Taſſe Kaffee zur ftärfften Flamme
angefacdht, die Debatte von der Abfcdyweifung ind urs
fprüngliche Geleis zurücdgelenft und durch ſchlagende
Beweiſe die Liebesregel der Kontrafte gegen die der
Harmonie zum Siege geführt. Fräulein Iduna war ein
Weib, das heißt eine Freundin der Farbe, und die Fürs
bung ihr ftärffted Argument.
„Wählte nicht unfere Baronin“, fo fchloß fie, „einen
Gemahl, weldyer der Gegenfag ihres Selbft genannt
werben fonnte, und würde fie durch einen Gleichartigen
ergänzt worden fein, wie durch ihn? Könnt ihr des
fchwarzen Othello heißgeliebte Desdemona euch anders
vorftellen ald mit blondem Haar? Freilich erwuͤrgt fie
der Wüterich, aber er erfticht fich doch audy gleich hinter»
drein, weil er nicht ohne fie zu leben vermag. Und habe
ich denn nicht felber einen milchweißen Mylord gefannt,
ber, nadıdem ihm feine Dame hell genug gewefen war,
um fie zu der Seinen zu machen, in plöglicher Glut für
Bierter Abſchnitt 105
eine Mohrenkönigin entbrannte und der feligfte der
Sterblidyen in ihren Armen geworden ift.”
„Sie haben den Lord gekannt?” fragte ber ehrliche
Hecht, feine verwunderten Augen ftarr auf die Dame
gerichtet. „Geleſen habe ich die Gefchichte, aber Gnaͤ⸗
digfte, Sie haben ihn gefannt?”
„Böttin der rofenfarbenen Jugend,” führte der Phys
ſikus die Frage weiter, „war ed im Garten Eden oder
in Shrem trauten chez moi, wo Sie die intereffante
Befanntfchaft gemacht?” — Fräulein Iduna nahm den
Scherz nicht übel.
Sie nahm überhaupt nichts übel, fondern alles gut,
will fagen für wahr. Sie verftand Spaß, juft weil fie
ihn nicht verftand. Ihre Phantafie hatte mit der Phi:
Iofophie unfered Hecht die Verwandtſchaft, alles, was
auf dem Erdenrunde kreucht und fleucht, mit ernfthaften
Augen betrachten zu können. Herzſtaͤrkender Erſchuͤtte⸗
rungen bes Zwerchfelld bedurften weder fie noch er. Eben
darum aber erzeugten alle beide diefe Erfchütterungen
fo herzftärfend in anderen, und fühlten alle beide in ihrer
Haut fich fo feelenvergnügt.
Bär, der Spötter, der immer auf dad Zwerchfell zu
wirken fchien, wirfte immer auf den Ernft, und wohl
in feiner Haut fühlte er fich doc; nur den beiden Men-
fchen gegenüber, die feinen Humor in Frieden ließen:
Frau Erdmuthen und ihrem Sohn.
Die Stimmung am Kaffeetiſch wurde immer audges
laffener; felber der weife Richter ein wenig zum Schalf.
Wir fuchten nach den verfehlten Mohrenföniginnen, die
und beflagenswerte Sunggefellen zu glücfeligen Lords
gemacht haben würden. Bär erfor ſich die fchöne Seele
—— — —
166 Frau Erdmuthens Swillingsföhne
feiner einftmaligen Zutorin, die leider fchon längft zu
ihren Schwefterfeelen über den Wolfen aufgeflogen war.
„Sie würde midy neben dem Lamm am blaßroten Leit⸗
ſeile durchs Leben gegängelt haben, und id; werde fie
ewig beweinen”, fagte er. Für den Kindskopf Magifter
wollte er höher hinaus. Die ruffifche Katharina mußte
aus ihrer Kaifergruft auferftehen, um feine ideale Hälfte
abzugeben. Des Philofophen Hecht fand er aber aud)
die gefröntefte Sterbliche nidyt würdig genug. Nur eine
Eifin, die fid mit dem Tropfen aus einem Kilienfeld,
nährt, würde als Nicht⸗Ich dem Ich fich verfchmelzen
haben dürfen.
„Sp hätte denn jeder fein Zeil,” fagte Herrmann
lachend. „Mid; aber, zu deffen Zurechtweifung doch all
diefe Liebesweisheit entfaltet worden ift, mid; Armen
wollt ihr, fo fcheints, ohne ergänzendes Vorbild auf
Freiersfuͤße ftellen.“
Bär runzelte die Stirn, ftrafte feinen Zögling mit einem
verächtlichen Blick und fpradh, indem er feine Hand auf
Fräulein Idunas flammendes Lodenhaupt legte: „Seid
Ihr mit Blindheit gefchlagen, Mann? Wer anders ald
diefe blühende Phantaſie?“
„Sie?“ widerhallte Hecht. Herrmann verbeugte fidh
gegen die Dame. Wir lachten, was wir lachen konnten.
Nur Fräulein Sduna lachte nicht. Sie firedte abweh⸗
rend die Arme gegen den idealen Bewerber aus und
entgegnete in feierlichftem Ernft: „Nein, Baron. Keine
Täufchung zwifchen und. Sa, es find in mir Elemente,
welche die Ihrigen ergänzen könnten. Dennoch: nicht
ich für Sie, nicht Sie für mich. Ich habe Sie lieb, Sie
wiffen ed; von Herzen lieb, was man fo fagt - -“
Vierter Abfchnitt 167
„Eßlieb!“ ergänzte der Judex, der ſich immer auf das
zartefte auszudruͤcken pflegte. Freund Bär würde es
fräftiger getan haben.
„Beliebt aber,” fuhr die Dame unerfchüttert fort, „mit
Leidenfchaft geliebt, hätte ich Sie nie, nie! Das Wefen,
das mich ergänzt haben würde, meine ftärfere Bälfte- -“
„Biel behauptet!” murmelte Bär.
„nur das ideale Weib der ideale Mann waren nicht
Sie, Baron, fondern Ihr Bruder Raul!“ -
„Armer Dann!” feufzte Bär.
Auch Fräulein Idunen fchmerzte der erteile ideale Korb.
Doch gab fie Troft. Auf eine, für welche ihr teuerfter
Freund nicht paßte, wußte fie zehn, die für ihn paßten.
Ga, im rechten Fichte betrachtet, war feine edle Natur
eine von denen, bie für jede Gattin paßten, jeder Herz
gewinnen, jede beglüden mußten. Am Ende audy felbft
ein Wefen wie fie, Fräulein Idunen. Wiewohl fie nadı
vielfältiger Erfahrung und aus wahrhafter Anhaͤnglich⸗
feit ihm raten müffe, fein Augenmerf mehr auf eine
ſolche zu richten, deren Kolorit ein ftärfered Tempera⸗
ment ale das feine befunde. „Nicht blond und blond,
blond und fchwarz gibt — —“ |
„Fuͤchſe!“ ergänzte Bär. Zweifelsohne eine indezente
Andeutung, die das dezente Fräulein trog feiner Güte
für ungut hätte nehmen können, wenn nidyt im nämlichen
Augenblid Frau Erdmuthend Kammerfrau mit einer
Anfrage in Padangelegenheiten herzugetreten wäre.
Denn Fräulein Iduna hatte es dDiedmal von wegen der
Kaifers und Königspoften mit ihrer Rundreife eilig.
Schon morgen wollte fie weiter, und war vorhin zwifchen
und eine gemeinfame Fahrt bi zu ihrer nachbarlichen
168 Fran Erdmuthens Swiltingsfähne
Etappe verabredet worden. Herrmann dadıte von dort
ab feine Leipziger Reife anzutreten, ich meine Chriftos
phine zu befuchen, die an den Zmwölfprediger der naͤchſten
Poftftadt verheiratet war.
Fräulein Iduna hatte fich erhoben. Berrmann bot ihr
den Arm, um fie ind Haus zurüdzuführen. Auc Bär
und ich brachen auf. Unfer Judex dahingegen war nadı
der ungewohnten Schelmerei in tiefes Brüten verfunfen.
Die roten Fleifchftreifen, die, wenn fie behaart find,
Brauen genannt werden, bis an die gelben Tödchen in
die Höhe gezogen, ftarrten die blauen Augen hinauf in
die grünen Ulmenwinfel.
„Eine grundgätige Kreatur, dieſes fozufagen Altliche
Fräulein!“ aͤußerte er endlich, den Doftor beim Roc»
zipfel zurückhaltend. „Jedennoch — obgleich, wiewohl -
infonderheit — nad) Gelegenheit — eine verteufelte Ge⸗
ſchichte, Bär.“
„Welche Gefchichte, Hecht?“
„Die mit der Mohrenkönigin.“
„Sa fo, wegen ded Nicht-Ichs mit dem Elfenmagen.“
„Spaß beifeite, Doftor. Wir drei find feuerfeft, denke
id. Kediglicd; von wegen unfered Barond. Wenn fie
den Teufel an die Wand gemalt hätte, Bär!”
„Schämt Euch, Kantianer!” verfegte Bär, ſich losrei⸗
Bend. „Zweimal in einem Atem den Erzfeind aller reinen
Vernunft. Den überlaßt doch und Gottesgelahrten,
dem Magifter und mir. Hier Euer Problem! Zufunfts-
philofophie, Mann!” Er deutete auf die nur halbges
leerte Kaffeefanne und den nur halbverzehrten Rofinens
fuchen auf dem Tifch. „Soll diefer edle Stoff in Ather
verpuffen? Zwei Taler Foftet das Pfund. Nach dem
Vierter Abſchnitt 4189
erften Siege über die Barbaren wirds dad Doppelte
foften. Sollen die Sperlinge diefed liebe Gut aufpiden,
das auf der Welt fein Menfch wie unfere Frau einzu-
rühren verfteht? Laßt fich8 in Eurem Magen in Weis-
heit verwandeln, und ed wird nicht teuer genug be>
zahlt und nicht Funftgemäß genug eingerührt worben
fein.“
Des Doftord Metaphyſik fand Gehör, Freund Hecht
ruͤckte wieder an den Tifch, brodte fich das Oberkoͤpfchen
voll, ftecdte ein paar Zuderftücdchen hinein, goß Kaffee
und Sahne darüber und ftülpte den Kegel in die Unter;
fchale um. Wir verließen ihn ILöffelnd. Die Zeufele-
geifter der Mohrens und Elfenköniginnen werben über
dieſem Tatendurft entflohen, und der füße Stoff in Ger
Danfenfraft verwandelt worden fein.
Als wir vor dem Oartenhaufe angelangt waren, fragte
Bär: „Apropos Mohrenkönigin, Wagifter, führte bie
Familie unfered weiland Major vor der Ketzerhetze in
Wahrheit den Heiligentitel, den fein Süngfter fich wie⸗
der angehängt hat?“
„Sch habe es immer fagen hören“, antwortete ich.
„Hat fie Rudera drüben zuruͤckgelaſſen?“
„Die Sache ift lange genug her, um zur Mythe ge:
worden zu fein. Aber feit wann legft du dich auf Fa⸗
miliengefchichten, Bär, und was hat fie mit der Mohren⸗
fönigin zu fchaffen?“
„Seit Euer Herr Vater felig mir das fünfte Kapitel
Mofes eingebleut hat, und was die Mohrenfönigin ans
belangt, Näheres morgen in der Stadt im ‚Rautenfrany‘.
Gott befohlen.“
Damit fchob er in feine Höhle. Was mochte er haben?
170 Frau Erdmuthens Swillingsfähne
Eine Schrulle; idy erfuhr fie morgen bei Ehren-Strobel
früh genug. Mein Herz hüpfte vor Luft. Herrmanns
Gewiſſen hatte Feuer gefangen, und wo ein Wille ift,
hat fidy ja noch immer ein Weg gefunden. Idylliſche
Friedenebilder umgaufelten meinen Traum. Ein Hoch⸗
zeitöfarmen fchwebte auf meinen Lippen. Wie Tange
noch, und unfere liebe Frau würde nicht mehr nad)
Enfelfreuden zu feufzen haben!
Am anderen Morgen fchleiften wir alle drei durd die
Felsſche Heide; nicht wie gewöhnlich in Herrmanns
leichtem Korbwägeldhen; denn Fräulein Iduna liebte eg,
ftandedgemäß in den Kreifen der Ritterfchaft aufzutreten,
und Frau Erdmuthe gönnte ed denen, welchen nur Schu-
fterd Rappen zur Verfügung ftanden, fic, dann und wann
in einer Staatdfaroffe zu ſchaukeln. Es war die näm-
liche, die fie vor fiebenundzwanzig Jahren auf der Hoch⸗
zeitsreife durch Die Heide entführt hatte, aber heute faft
nod) wie neu; daß filberne Roc-Felsfche Allianzwappen
an den Schlägen bligend blanf.
Die grundgütige Kreatur war gleich wieder Feuer und
Flamme bei dem geftrigen Kapitel. Eine Teuchtende
Idee war über Nacht in ihr aufgefchoffen, eine Idee,
die unfere Pläne zum rafchen Abfchluß bringen mußte.
Da die Oftermeffe der militärifchen Durchzuͤge halber
ſchwach beſucht gewefen, würden viele Herren ber Ritters
ſchaft jegt, nach eingetretener Ruhe, zur Abwickelung ihrer
Gefchäfte in Leipzig anmwefend und von Gemahlinnen
und Töchtern begleitet fein. Galt es zunächft auch nur,
fid} mit den Moden ded Sommers zu verforgen, wer
wußte denn nicht, wie gern Cupido, der Schelm, ſich
hinter derlei Zierlichfeiten verbirgt. Ihr teuerfter Freund
Vierter Abſchnitt 173
brauchte nur die Augen aufzufchlagen, um zu finden, zu
ſiegen und die Herzenswuͤnſche feiner treueften Freundin
zu erfüllen.
„Morgens zwifchen elf und eind ein Gang durch Auer»
bachs Hof, Baron,“ belehrte die Dame. „Notieren Sie
fich bitte die Firmen: Mathias, Putz; Dallencourt, Quins
caillerien. Table d’hote im Hotel de Sare oder Baviere.
Nachmittags im Rofental bei der Kalten Madame. Dort
treffen Sie die Elite. Bei den Unbekannten haben Sie
fi) nur mit einem Gruß von mir einzuführen und wer;
den mit offenen Armen aufgenommen fein.“
Mit diefem Programm nicht genug, entwidelte die hilfs⸗
bereite Dame aus ihrem rofenbefticten Pompadour ein
Schriftftüd, das fie ihrem teuerften Freunde im felfen-
feften Vertrauen auf feine ritterliche Diskretion zu Händen
gab. Sie hatte der Abfaffung den Schlummer der legten
heurigen Fruͤhlingsnacht unter dem Dache ihrer Alteften
Freunde geopfert, und enthielt e& nichtö Geringered ald
eine Lifte des ritterfchaftlichen weiblichen Blumenflorg,
der dem Brautfahrer bei Wege oder auf Ummegen ers
blühen Fonnte. Reize wie Tugenden follten gewiffenhaft
regiftriert und ich weiß nicht unter welchen von beiden
Rubriken dad, was man gemeinhin Kühner und Gaͤnſe
nennt, bis zu den Gefpinften im mütterlichen Linnen⸗
ſchranke hinab diplomatifch feftgeftelt fein. Die Reihe
war lang, und den Wertanfchlag wird man auch nicht
tief gegriffen haben. Hinter etwelchen fchmachtenden
Blondinen war, wie Schreiberin befürmwortete, in Pa-
renthefe mit roter Tinte angebradht: „Eignet ſich beffer
für den Bruder Major.”
Herrmann gelobte pflichtfchulbige Beruͤckſichtigung aller
172 Srau Erdmuthens Bwillingeföhne
Freundfchaftslehren, füßte der gütigen Dame die rötlich
rundliche Sand, und fo ſchieden wir.
Aber auch nachdem wir beide allein den Weg nach der
Stadt fortfeßten, von welcher aud Herrmann mit der Poft
die Reife nad) Leipzig antreten wollte, fonnten wir aus
dem eingefchlagenen Geleife nicht herausfommen. Nur
daß Liebe und Ehe jegt mehr in dilettantifch Iehrhaftem
Sinne audgebeutet wurden. Während Herrmann die
foftbare Handſchrift, ungelefen in Fleine Stücke zerzupft,
in die Heide verftreute - ein unerfeßlich hiftorifch ftatifti-
fcher Berluft -, kehrte er mit neuen Argumenten zu der
Behauptung zurüd, daß, wie in allen anderen Verhaͤlt⸗
niffen, auch in dem zwifchen Mann und Weib nur gleich:
geartete Naturen ſich zu dauerhaften Glüd verbinden
könnten.
MWenn nun ich, der von Haus aus doc; gewiß nicht ein
Streithorft genannt werden fonnte, diefem meinem eis
genften Fundamentalfage bis zu einem gewiffen Grade
widerſprach, fo geſchah es aus einem jener Nüglichkeitss
gründe, die felten um vieles beffer als offene Lügen find.
Weil ich mic, auf eine baldige Hochzeitsfeier meines
Herzensſohnes ſpitzte und die Ausleſe unter denen, die
feiner Mutter und ihm felber nicht glichen, mir reicher
dünfte als die unter denen, welche beiden glichen, darum
verteidigte ic; Fräulein Idunens Theſe von den befon-
deren Wegen und felber den abrupten Sprüngen, bie
der Liebe eigen fein follen.
Unter derlei ernfts und fcherzhaften Hin- und Wider;
reden traten wir, in Erwartung der Perfonenpoft, im
wohlbefannten ‚Rautenfranze‘ ein. Die Gaftitube war
leer; wir nahmen Plag im Fenfterbogen, Herrmann bes
Vierter Abſchnitt 178
ftellte eine Flaſche Mofelblümchen, meinen Fieblingswein.
Beim eriten Glafe ftieß er mit mir an, indem er lächelnd
den Anfang unferes Bundesliedes zitierte. Ach, wie
lange hatte id) es nicht von feinen Tippen gehört!
„Reich treulich mir die Bände — —“
„Das ift Freundfchaft,“ unterbrady ich ihn, „Sympa⸗
thie!“
„Daß ift Liebe!” fiel er ein, „Liebe, wie fie unferm deut⸗
fhen Wefen frommt und ziemt. Was ald Leidenfchaft
- wahrlich nicht zum Überfluß! - in und glimmt und
zündet, möge auf anderem Gebiete zum Austrag fommen.
Aber fehen Sie doch, Freund,” fuhr er darauf ablenfend
fort, „was treibt denn da draußen unfer Wirt? Er
umfchleicht unferen Wagen, klemmt die Brille auf die
Nafe, ftudiert die Wappen an den Schlägen, vergleicht,
Buchftaben für Buchftaben mit dem Finger weifend, Die
Rocſche Devife mit einem Gegenftand in feiner Hand,
wohl gar einem Ring. Er wiegt dad weife Haupt,
fcheint in höchfter Berwunderung. Nun faßt er gar bes
Kutſchers Rockſchoß und ftellt die nämliche Prüfung mit
feinen Fivreefnöpfen an. Sollte Meifter Strobel die Ab⸗
fiht haben, ſich adeln zu laſſen?“
„Beileibe nicht diefe Vermeffenheit, mein gnädiger Herr
Baron!“ fiel der würdige Herr Strobel ein, der während
der legten Worte in das Zimmer getreten war, „ch
bin und bleibe ein befcheidener Bürgerdmann und möchte,
bei meiner geringen Bildung, nur an hochfreiherrlidhe
Gnaden mir die untertänige Anfrage zu ftellen erlauben,
ob bei einem hohen Adel ed Gefeg und Sitte fei, bloß
innerhalb der Stammesgenoffenfchaft die nämlidyen
Mappenzeichen zu führen? Oder ob, wie bei einem ge-
174 Frau Erdmuthens Zwiltingsfähne
ringfügigen Publifum, jedwedes Individuum auf fein
Petſchaft ftechen Laffen darf, was ihm beliebt? Ich zum
Erxempel einen Rautenkranz; ohne dadurch zu den vielen,
die von Sr. Majeftät unferem allergnädigften König,
den Gott erhalten möge, big zum Schuhpuger hinab das
gleiche Zeichen führen, ein verwandtfchaftliches Verhält-
nid anzufprechen.“
„Petſchieren dürfen auch wir, mit welchem Zeichen und
beliebt,“ entgegnete Herrmann lachend. „Ich tue es
häufig mit einem Sechſer. Ald Wappen führen wir jes
body nur das, was der Familie mit dem Adelsdiplom
verliehen worden ift. Aber feit wann befchäftigen Sie
fih mit Heraldik, alter Freund?“
„Seitdem mir heute morgen gegenwärtiges Kleinodium
an Zahlungs Statt zu Händen gegeben worden ift, gnä-
biger Herr. Es trägt die nämlidye Gravierung wie die
Knöpfe Ihrer Livree und die eine Wappenhälfte auf
Dero Wagenfchlag. Die Sache würde von mir unbe
merft geblieben fein, wenn nicht der Name der Dame,
bie mir den Ring verpfändet hat, an den von Ihro Gna-
den väterlicherfeits erinnerte. Es hängt allerdings vorn
noch etwas daran: hinten aber ift ed ganz der nämliche
Rod."
Herrmann betrachtete währenddeflen das erwähnte
Kleinodium und reichte ed mir in fichtbarer Überrafchung,
ja Bewegung. Einen altertümlicy gefchnittenen und
gefaßten Siegelring, vorliegendem zum Verwechſeln
ähnlich, hatte fein feliger Vater, als einziges Familien-
erbftüd, feiner Braut zur Verlobung an den Finger ges
ſteckt. Der Stein war ein Saphir, dad Wappen das der
Roc, ald Umfchrift die Devife rocher d’honneur. Nach
Vierter Abfchnitt 175
bed Vaters Tode überließ Frau Erdmuthe den Ring
ihrem jüngften Sohne, und ſchaͤtzte Raul diefes Geſchlechts⸗
andenken fo hoch, daß er, glaub ich, leichter als dasſelbige
die Anwartichaft auf den Klofterhof aufgegeben haben
würde. Daß wir den eigenen Erbring vor Augen haben
follten, war demnach nicht anzunehmen.
„Eine Dame gab Ihnen den Ring?“ fragte Herrmann.
„Wer ift die Dame?“
„Die kranke Gemahlin eines franzäfifchen Offiziers,
welche felbigem nad, Polen zu folgen und ihn nody in
hiefiger Gegend zu erreichen gedacht hatte. Da die Dame
nicht deutfch fpricht und ich eben nur ein paar kauder⸗
welfche Brocken aufgefchnappt habe - ich bin und bleibe
ein deutfcher Mann, mein gnädiger Herr! - muß ich wegen
näherer Auskunft auf Hochdero Freund, den englifchen
Herrn Doktor verweifen, der, geftern auf der Durchreife
mein geringes Haus beehrend, von unferm Herrn Amtes
phyfitus über den Zuftand befagter Dame zu Rate ges
zogen worden ift. Leider zu fpät, mein Herr Baron.
Kraͤnkelnd fchon bei der Abreife von Paris, hat das
Übel fidy auf der weiten Tour verfchlimmert, bie fie,
Gott feid geklagt, feft bei mir liegen geblieben ift. Der
Herr Doftor haben mir zu verftehen gegeben, daß fie
‚mein Baus nicht mit lebendigem Leibe verlaflen werde.
Ein graufamer Schlag, mein Herr Baron! Obendrein
bei der handgreiflichen Entblößung der Dame. Urteln
Ihro Gnaden felbft, ob fie ohne rattenfahle Entblößung
mir fotaned Wertſtuͤck ald Pfand angeboten haben wuͤr⸗
den, bis die erwartete Sendung von ihrem Gemahl aus
Polen eintrifft? Aus Polen! Ihro Gnaden wiflen, was
felber in Friedengzeiten in Polen zu holen iſt. Die
176 Frau Erdmuthens Swillingsfähne
Fremde muß fort, heute noch partoutement aus meinem
Haus. Ich bin ein menſchenfreundlicher Mann, mein
Herr Baron. Aber die Zeiten ſind flau, und ein Wirt
muß ſich zu helfen wiſſen.“
„Und wie nennt ſich die fremde Dame?“ fragte Herr⸗
mann.
Der Wirt holte eine leere Medizinflaſche herbei, auf
deren Etikette geſchrieben ſtand: Frau Baronin von Saint⸗
Roc.
Herrmann ſah mich betroffen an. „Es waͤre doch wun⸗
derlich,“ ſagte er in franzoͤſiſcher Sprache zu mir, „wenn
wir in dieſem heilloſen Landſtaͤdtchen und in ſo klaͤg⸗
lichem Zuſtande ein Glied der fremden Vetternſchaft
auffinden ſollten, die in unſerer Familienſage ſolch eine
geheimnisvoll glaͤnzende Rolle ſpielt.“
Ich hoͤrte auf Herrmanns fernere Unterhandlungen
mit dem Wirt nur noch mit halbem Ohr, denn auf der
Straße dicht unter meinen Augen hatte ſich eine Szene
entwickelt, die mit der Erzaͤhlung des Wirts in offen⸗
barem Zuſammenhange ſtand und meine innigſte Zeils
nahme in Anſpruch nahm.
Aus der Torfahrt ſtuͤrmte unſer Phyſikus in merklich
baͤrbeißiger Laune, wie es ſchien, auf der Flucht vor
einem Perſoͤnchen, das ſich mit leidenſchaftlichen Gebaͤr⸗
den an ſeinen Arm klammerte und ihn mit Fragen oder
Bitten uͤberſchuͤttete. Nun las und ſchrieb zwar unſer
Phyſikus in ſieben Sprachen wie in ſeiner eigenen;
Deutſch aber ſprach er mit engliſchem und Franzoͤſiſch
dafuͤr mit ſaͤchſiſchem Akzent. Es mochte der kleinen
Fremden wohl wie chaldaͤiſch klingen, denn ſie zeigte
ziemlich ungebaͤrdig, daß ſie des Doktors Antworten nicht
Vierter Abfchnitt 177
verftand. Möglich auch, daß der Doftor fie nicht vers
ftanden haben wollte. Sie fhüttelte zornig das ſchwarz⸗
gelodte Köpfchen, runzelte die Stirn und ftampfte mit
den niedlidhften Füßen, die id; jemals gefchen habe, auf
den Boden.
Wer war dad fleine Geſchoͤpf? Ein Landeskind offens
bar nicht. Konnte fie die franfe Frau fein, die der Doßs
tor ald rettungslos aufgegeben hatte? Konnte fie übers
haupt eine Frau fein? Weit cher ein halbflügged Bad;
fiſchchen, wenngleich die Geftalt völlig entwidelt ſchien
und hier und da ein Zug, eine Miene oder Gefte auf
die Erfahrungen reiferen Lebens deuteten.
Ihr Anzug, ein wenig vertragen, war von eleganterem
Stoff ald dem, in weldyen deutfche Damen ſich haͤuslich
fleiden, und von einem freieren, graziöferen Schnitt, ale
er felber unferen Modeheldinnen gelingt. Naden und
Arme entblößt, zeigten fid) bei den lebhaften Bewegungen
unter dem kurzen, enganfchließenden Kleide alle Umriffe
in dem reizendften Ebenmaß. Schön war fie nidıt, am
wenigften für einen an Frau Erdmuthens heute nod)
plaftifche Regelmaͤßigkeit und Farbenblüte Gemwöhnten.
Alles an dem Dämchen war flein: die Geftalt, die Glie⸗
der, der Kopf famt Ohrchen, Stumpfnaͤſchen und den
weißen Perlenreihen unter dem halbgeöffneten Mund,
Nur die Augen waren groß, größer ale ich jemals Frau⸗
enaugen gefehen, in der dunflen Umrahmung der Lider
und bis unter die Locken hochgefchwungener Brauen.
War ed nun aber der bligartige Wechfel in diefen fchwarzs
blauen Augen, der den Befchauer fo rafch und feflelnd
in Anfprudy nahm? War es ihre ausdruddvolle Korre⸗
fpondenz mit den fchwellenden, farminroten Lippen, mit
xx. 12
178 Frau Erdmuthens Iwillingsfähne
der fammetartigen Bräune der Haut, die bei jeder Er;
regung durch eine Blutwelle verbunfelt ward? Mein,
der verführerifche Reiz der belebten Phyfiognomie, der
lag in dem Gepräge - ja, wie fage ich nun? - nicht von
Sungfräufichkeit, die und an deutfchen Frauen in diefer
Jugend am hödhften entzüct, aber von bewußter oder
unbewußter Naivetät, wie jene fie faft immer entbehren
und für die wir in dem Worte Kindlichfeit nur eine
halbe Bezeichnung haben. Kinder und Weltfinder vers
tragen ſich bei und nicht; ihre Verbindung madıt uns
die Fremden reizend.
Die gegenwärtige reizende, Eleine Fremde blickte wie in
Verzweiflung nad) einem Dolmeticher umher; dabei fiel
ihr Auge auf unfere vor der Tür entipannt ftehende
Karoffe. Ein angenehmes Behagen, vielleicht die Er-
innerung an glüdlichere Tage, überflog das Fleine Ge-
fiht. Sie trat dicht an den Wagen heran; da id) das
Fenſter geöffnet hatte, konnte ich die Flangvoll vibries
rende Stimme deutlidy vernehmen. „Wem gehört diefe
Equipage?“ fragte fie.
„Einem benachbarten Gutsbeſitzer,“ brummte der Doftor.
„Kurios! Daß eine diefer Wappen ift das meines Papa.“
Der Doftor ließ fih nicht in Erflärungen ein. Er
ftand in Gedanfen, während die Kleine den Wagen ums
tänzelte. Endlich fchien er fidy zu einem kurzen Prozeß
entfchloffen zu haben. Er fchüttelte die Mähne und fchnitt
ein Geſicht, ald ob er eine Dofis Aſafoͤtida nicht ver-
fchreiben, fondern felber verſchlucken follte. Mit feiner
gewaltigen Hand umfpannte er die beiden zierlichen der
Fremden, Eniff die Augen zu und raunte ein paar Worte
in ibr Ohr, die fie wie ein fengender Blig durchzuckten.
Vierter Abfchnitt 179
Ein gellender Schrei, ein Zittern über den ganzen Leib!
Sie klammerte ſich an ded Mannes Bruft: „Bilfe, Hilfe!“
aͤchzte fie.
„Kein Menfch kann helfen,” verfeßte der Doftor.
Sie ließ die Arme finfen und ſprach ihm medanifch
nad: „Kein Menſch!“ Sie ftand erftarrt; jählinge aber
fuhr fie zufammen wie eleftrifiert und rief triumphierens
den Blicks: „Aber Gott!" Dann mit zum Himmel ers
hobenen Armen auf die Knie ftürzend: „Mutter Gottes,
hilf! Sende einen Engel, einen Engel deinem armen Kind!“
Der Doftor hob fie ohne Umftände in die Höhe und
fchob fie in das Tor. Er felber rannte in die gegenübers
liegende Apothefe. Mir am Fenfter madıte er ein Zeis
chen, daß fo viel heißen Fonnte ald: „Seht, wie Ihr mit
dem Unband fertig werdet, laßt aber erft Euren Pofts
paſſagier abgefahren fein.“
Audy Herrmann war bei dem Auffchrei der Fremden
ans Fenfter getreten. „Wer ift diefe Dame?“ fragte er
haftig den Wirt.
„Mamfell Lisfa, die Tochter der kranken Franzöfin,
gnädiger Herr.“
„Liska!“ fagte Herrmann, „wel ein wohlflingender
Name!“
Unfer Wirt fchien abweichenden Geſchmacks. „Meine
Spreewälder JZungmagd wollte partoutement auch Liska
gerufen fein,” meinte er. „Aber id) bin ein bdeutfcher
Mann, Herr Baron; ed blieb bei der Lieſe.“
Die Poftfutfche rüttelte in diefem Augenblick durch die
Straße, aber Herrmann von Feld dadıte nicht mehr
daran, feine Reife fortzufegen.
ꝛ* x
*
180 Fran Erdmuthens Swillingsfähne
„Kein Zweifel länger,” fagte Herrmann zu mir, „Dies
ſes ſchoͤne Mädchen gleidyt unferem Raul wie eine
Schweſter dem Bruder.”
Ich fand nun dieſe überzeugende Ähnlichkeit keines⸗
wegs, freute mich aber, daß Namen und Wappen hin⸗
reichend fuͤr die Stammgenoſſenſchaft ſprachen, um der
gebotenen Wohltat ein ſtandesgemaͤßes Maͤntelchen uͤber⸗
zuwerfen, ließ mich auch gern bewegen, kraft meines
Alters und Amts die verwandtſchaftlichen Beziehungen
einzuleiten. Gern haͤtte ich die delikate Miſſion bis nach
einer Ruͤckſprache mit Freund Baͤr verſchoben, da Herr⸗
mann aber draͤngte, wurden in Eile ein paar Zeilen
abgefaßt, in welchen Geoffroi Bleibtreu, curé d’Arnheim,
um die Ehre bat, der Frau Baronin von Saint-Roc
aufwarten und ihr feine Dienfte anbieten zu dürfen.
Ehren-Strobel übernahm die Beſorgung. Diefer deuts
fhe Biedermann und Wirt — ich darf es, ohne feiner
Kundfchaft zu ſchaden, jegt wohl verraten — hatte, als
id) vor ein paar Wochen mit unferem Raul bei ihm eins
fehrte, gefagt: „Ich bin ein guter Sachfe, ich ſchwaͤrme
für Ihren Kaifer, mein Kerr Major,“ — item unfer ku⸗
lanter Wirt fchnellte wie auf Federn, feitdem der junge
Baron für alle bisherigen und künftigen Zehrfoften gut
gefagt und dafür das altmodifche Kleinodium in Beſitz
genommen hatte,
Herrmann ging ſchweigend im Zimmer auf und ab; auch
ich dachte ftumm über die zu fpielende Rolle nadı, als
nad) etwa zehn Minuten Mademoifelle Liska in atems
Iofer Spannung in dad Zimmer und, ohne meinen Bes
gleiter auch nur zu bemerfen, auf mid zuftürzte.
„Sie find ein Pfarrer, mein Herr,“ rief fie aus. „D,
Mierter Abfchnitt 181
Gott ift gut. Maman hat den ganzen Morgen nadı einem
Pfarrer gefeufzt. Ihr Gebet ift erhört. Folgen Sie mir
rafch, mein Herr. Mama ift frank, fehr franf. Der
Doktor, der fchredliche alte Doftor, fagt, daß fie fterben
müffe. Aber ich glaube ed nicht. Das heilige Sakra⸗
ment wird fie ftärfen. Sie wird wieder gefund werden.
Wir werden weiter reifen zu Papa nad) Polen. Ges
fhwind, geſchwind, mein Herr!“
Ich ftand wie verblüfft. Ich bin gewiß ein banfbarer
Juͤnger Doftor Luthers, in diefem Augenblid aber hätte
ich mid; allenfalls in einen Sünger Loyolas verzaubern
mögen, um die Hoffnung ded armen Kindes nicht fo
graufam zu enttäufchen.
„Barum zögern Sie, Herr Pfarrer?” drängte die Kleine,
indem fie ungeduldig meine Hand ergriff, um mid) fort»
zuziehen. Ä
„Sch zoͤgere,“ ftammelte ich endlich, „weil ich ein Miß⸗
verftändnis befürchte, Mademoifelle; weil ohne Zweifel
Ihre Frau Mutter nach einem fatholifchen Pfarrer vers
langt, und ich Proteftant bin,” faft hätte id) gefagt:
„nur Proteftant.”
Das Daͤmchen ftand wie aus allen Himmeln geftürzt.
„Proteſtant!“ murmelte fie. „Ein Keger!” Ich glaube,
fie ſchauderte. Nach einer Weile aber fragte fie mit
zornig zufammengezogenen Brauen: „Aber Sie meldeten
fih bei und an. Wenn Sie nit ein Diener unferer
Kirche find, was wollten Sie von ung, mein Herr?“
„Sch wollte,“ erwiderte ich, „da ich ale Proteftant die
Snadenmittel Shrer Kirche nicht verwalten darf, als
Shrift mit Ihrer armen, franfen Wutter beten, ihr den
Troft des Evangeliums fpenden, auf weldyem Ihre wie
182 Fran Erdmuthens Iwillinasfähne
unfere Seligfeitöhoffnung beruht. Ich wollte ihre viels
leicht legten Erdenwünfche vernehmen und ihr den Beis
ftand edler Freunde antragen, den Gott Ihnen in der
Berlaffenheit entgegenfendet.“
Ob ed nun der Sinn meiner Worte war oder nur der
lang entbehrte Heimatdflang, genug, der unwillige Auds
druck verſchwand, und es flimmerte wie Sonnenfchein in
den großen, felt auf mich gerichteten Augen der Frans
zöfin. Sie reichte mir die Hand und fagte zutraulich:
„Le bon Dieu ne damne pas les bonnes gens. Sie find
ein guter Mann. Ich danfe Ihnen, mein Herr.“
Sch erzählte ihr nun, daß ein Zweig ihres väterlichen
Geſchlechts vor langen Fahren in diefer Gegend heimifch
geworden fei und daß ein Nachkomme dieſer Ausge⸗
wanderten, ald zufälliger Zeuge ihrer Unterredung mit
dem Arzt, durch Mademoifelled bedeutende Yamiliens
aͤhnlichkeit den Beweis eines verwandtfchaftlichen Zus
fammenhangs gefunden zu haben glaube, ſich nun aber
auch auf diefen Zufammenhang berufe, um den Damen
im fremden Lande feine Dienfte anzutragen.
„Aber daß Flingt ja wie aus einem Roman!” rief Fräus
lein Liska, indem fie vergnügt in die Hände Flatfchte.
„Ich meine,” entgegnete ich, „ed klingt wie aus einer
alten Legende, daß unfer Vater im Himmel die Gebete
findlicher Herzen erhoͤrt.“
Mein junger Freund hatte, abfeits ftehend, Fein Auge
von dem neuen Bäschen verwendet. Sept ftellte ich ihn
vor, und er begrüßte fie mit einem herzlicdyen Händedrud
und der Vitte, für fi) und ihre Kranke den Schug feines
mütterlichen Hauſes anzunehmen.
Das Fräulein mufterte den ſich fo vertrauensvoll An-
Vierter Abſchnitt 188
fündigenden von oben bis unten mit den halb gleich:
gültigen, halb mißtrauifchen Blicken eines Weltkindes
weit eher ald eined Kindes. „Sie fehen nicht aus wie
ein Saint Roc, Monfteur“, fagte fie.
„Aber Sie fehen aud wie eine echte Saint Roc, Mades
moifelle,” verfegte Herrmann. „Auf den erften Blick
habe ich Sie ald Verwandtin an der Ähnlichkeit mit
meinem Vater und Bruder erkannt.“
„Mit einem Vater und Bruder?” fragte dad Fräulein,
jegt wieder vollftändig Kind. „Es ift bisher nur von
einer Mutter die Rede gewefen. Der Wutter gleichen
wohl Sie, nidyt wahr? Wo find Ihr Vater und Bruder,
mein Herr?”
„Mein Bater ift tot Mademoifelle, und mein Bruder
Raul fteht unter den Fahnen Ihres Kaifers in Polen.“
Fräulein Liska hüpfte vor Freuden in die Höhe. „Der
Bruder heißt Raul, wie mein Papa!” rief fie aus. „Er
ift frangöfifcher Soldat; er fteht in der Heimat Mamans
in Polen, das der Kaifer wieder zu einem großen Reiche
machen will; in Polen, wohin wir auf dem Wege find
und wo ic) ihn treffen werde!* O, jegt vertraue ich Ihnen,
mon cousin. Und wie wird Maman glüdlich fein!“
Fräulein Liska fprang wie ein Eichfägchen die Treppe
zu dem Siranfenzimmer hinan, ohne den ſchrecklichen
Doktor zu beachten, der während der legten Unterredung
eingetreten war. Bär brummte ftarf; vielleicht zum erften
Male dem jungen Freunde, den er über alle Berge
glaubte, unverftändlihd. Da er bie Überfieblung der
Kranken nach Arnheim für nicht mehr ausführbar ers
flärte, wurde, zur Ausflucht für die Tochter, ein zweites
Zimmer in der Nähe der Kranfenftube beftellt. Der
184 Fran Erdmuthens Zwillingsfähne
Doftor und idy folgten dem Fraͤulein langfam die Treppe
hinan.
„An die Vetternfchaft glaube, wer Luft hat,” fagte Bär.
„Die fleine Schwarze gleicht dem Major nicht mehr noch
weniger, wie jede richtige Judentrine jedem richtigen
Sudenjungen gleicht. Hand von der Butter wäre befler
gemwefen. Nun meinethalben, verfudhe, ob unfere Frau
noch ein bißchen Schi in die Fleine Here bringt. Ein
Glück, daß die polnifhe Mama heute nody unwiderrufs
lich ihr Lebenslicht audfladfern wird. Ihren, will Gott,
erſchoͤpfenden Erguß mögt Ihr allein mit ihr aushalten,
Magiiter. Die verwandtfchaftliche Temperatur würde
fidh unter demfelben bedeutend abgefühlt, ohne Qua⸗
drillenmufit mit obligater Verlobung unfer Mann die
Sterbeftube aber dennoch nicht verlaflen haben.“
Diefe Erpeftoration auf der Schwelle eined Sterbes
zimmerd dünfte mid, felber aus Bärenmunde nahezu
gottedläfterlich. ine Stunde fpäter jedoch, und auch
ich pried den Himmel, daß mein junger, fittenftrenger
Freund die Aufflärungen über feine neue Familie wähs
renddeflen von reineren Rippen empfangen hatte.
Welch ein Bild fchon dieſes SKranfenzimmer! Das
Bett der Tochter war noch ungemadıt, Koffer und Schubs
laden ftanden geöffnet; ihr Inhalt lag auf Stühlen und
Tiſchen wirr durcheinander geworfen, ein Überfluß von
Trödel, und an dem Notwendigften Mangel; die Luft
war ſchwer und ſchwuͤl, fein Fenfter aufgemadht, fein
Roulcau in die Höhe gezogen. Das kam nun freilich
auf Redynung der jugendlichen Pflegerin. Welche Mut⸗
ter aber wäre nicht haftbar für den Mangel an Pflege,
den die Tochter an ihrem Kranfenbett verfchulder?
Vierter Abfchnitt 185
Neun aber die Leidende felbit. Sie war noch zur Stunde
ein fchöned Weib, größer, ftattlicher, regelmäßiger als
die Tochter; eine Brünette wie diefe, aber von jener
mattweißen Färbung, die den nordifchen Urfprung ver;
riet. Und daß ichs von vornherein fummiere, aud) inners
lich war fie nicht eine Franzofın, fondern eine Polin.
Erregbarer noch, ſchwung⸗ und glutvoller, als jene es
find, aber ohne den praftifchen Ordnungsſinn, welcher
dem fränfifhen Stamme aus ſchweren Berirrungen
immer wieder zurecht geholfen hat, während fein Fehlen
das reichbegabte Sarmatenvolf dem Untergange entgegen»
führte.
Die Frau wußte, daß fie den Tag nicht überleben werde,
und ich bemwunderte die ftoifche Selaffenheit, mit welcher
fie ihrem fläglichen Ende entgegenfah. Daß hatte fie
aber nicht abgehalten, für die legte Szene und den letz⸗
ten Beſucher hienieden fich fo ſtattlich als möglich auf:
zuputzen. uͤber ein zweifelhaftes Untergewand war ein
reichgeſtickter Peignoir geworfen; um das uͤppige, aber
ungefämmte ſchwarze Haar ein tuͤrkiſch bunter Schal
als Turban gewunden, ein ähnlicher Schal lag ald Hülle
‚über den blauwürfligen, groben Bettbezug gebreitet.
Noch ftand auf dem Nadıttifche das Becken, in welchem
fie fi) vor unferem Eintritt die Hände gewafchen hatte,
und fein Inhalt bezeugte, daß die Prozedur nicht von
Überfluß gewefen. Die Kranfe war in fortwährender
Bewegung, fidy mit einem Fächer aus Straußenfedern
Kühlung zuzumehen, oder mit einer ftarf duftenden Effenz
den Atem zu beleben und die ficberheißen Lippen zu
negen. Arme, fterbende Fremde! Wie gern hätte ich
dich für deine legten Stunden in einen der lichten, luf⸗
186 Frau Erdmuthens Zwillingeföhne
tigen Räume gebettet, in welchen Frau Erdmuthe die
Pflege aud) des geringften ihrer franfen Diener übers
wadıt. Ein Fühlender Waffereimer ftcht zu Füßen dee
Bettes, auf dem weiß verhängten Tiſche der immer
frifch gefüllte Krug von Kriftall und die Schale mit
Feldblumen und Waldfräutern, die dad Auge erquicken
und mit würzigem Hauch, ohne zu betäuben, den Atem
beleben. Zu Haͤupten des Bettes aber figt fie felbft, die
hehre, ftille Frau in ihrem weißen Matronengewande,
glättet dir die fchneereinen Kiffen, reicht dir die Früchte,
die fie felber für did) gezogen, den Trank, den fie felber
für dich bereitet hat. Sie legt ihre fühle Sand auf deine
fieberglühende Stirn, und jeder ihrer milden Blicke fagt:
„Scylummre getroft, mein Kind, ich wache über did) und
Gott über uns beide.”
Arme, ambraduftende Fremde, würdeft du den ftummen
Frieden einer deutfchen Krankenmutter aber aud) vers
ftanden haben?
Es bedurfte eined entjchicdenen Befchld der Mutter,
um die Tochter zu bewegen, fidy aus ihren Armen zu
reißen und das Zimmer zu verlaffen. Der Toftor folgte
ihr, nachdem er der Kranken noch einen Trank, „potio
moriforum* raunte er mir zu, gereicht hatte. Wir waren
allein.
Frau von Saint Roc begrüßte mid wie — wenn ben
Scyreibern roͤmiſcher Gefchichten zu glauben ift — wie
eine Pariferin von Diftinftion einen weltgeiftlichen Haus⸗
freund in ihrem Altoven begrüßt haben würde. „Ic
erwartete einen Priefter,“ fagte fie mit einem felbft in
biefer Stunde nod) bezaubernden Lächeln. „Nun fol
mir ein Menfchenfreund ald der Gottgefandte willfoms
Mierter Abſchnitt 187
fommen fein. Statt der Abfolution empfange id; ben
Troft einer guten Tat.“
Sie ftrecfte mir bei diefen Worten beide ſchlanke, bleiche,
abgezehrte Hände entgegen und blickte mid) einen Mo—
ment verwundert an, vielleicht weil ich, ftatt fie an die
Lippen zu ziehen, fie nur leife drüdte. Als ich fie nun
aber bat, ihre der Ruhe bedürftigen Lungen zu fchonen,
unterbrach fie mich mit lebhaften Kopffchätteln. „DO,
laſſen Sie mid) reden, mein Herr. Es fchadet mir nicht;
nicht mehr. Widerfprechen Sie mir nicht. Ich weiß ee:
feit heute erft; aber ich weiß es.“
„Der Arzt kann irren in der Berechnung von Zeit und
Kraft, Madame”, tröftete ich.
„Der Arzt?” fiel fie ein, „der Arzt hat mir nichts ge
fagt, oder ich habe ihn nicht verftanden. Und hätte er
ed, Sie haben recht; er konnte irren. Sie find alle
Schwachkoͤpfe, alle! Und diefer ungefchlachte deutfche
Bär, verzeihen Sie, mein Herr! Sie find audy ein
Deutfcher. Aber Sie hören und fprechen wie ein Frans
sofe. Gewiß, gewiß; Sie haben ein franzöfifches Ohr
und eine franzöfifche Zunge und dann, Sie haben ein
gutes Geficht, ein gutes Freundsgeſicht. Ich liebe Sie,
mein Herr!”
Nun, was wollte ich mehr? Sch drüdte ihr noch eins
mal die Hand, fette mid, an die Bettfeite und machte
aus der Not eine Tugend, indem ich fie ungehindert
plaudern ließ. Sie hatte ja recht, es fchadete ihr nicht,
nicht mehr, und daß fie Wichtigeres zu erfahren ale zu
erzählen haben könne, fchien ihr nicht einzufallen. |
Ich hatte ein Fenfter geöffnet; die frifche Luft und bie
potio moriforum fachten den Lebenggeift an. Die Kranfe
188 Gran Erdmuthens Bwillingsföhne
atmete freier. Bon Minute zu Minute wuchs mein
Staunen. Es gibt audy deutfche Frauen, die fich einer
bedeutenden Fertigfeit der Spradyorgane rühmen dürfen.
Bor diefer fterbenden Franzoͤſin aber hätte felber Fräus
fein Iduna in ihrer Lebensfuͤlle befchämt die Segel ftreis
chen müffen. Dachte idy aber gar an meine ftille, liebe
Frau Erdmuthe!
„Es ift mir,“ fo hob fie an, „bis heute nicht ein eins
ziged Mal eingefallen, daß ich fterben könnte. Auch in
diefer Krankheit nicht. Niemald. Mein Leben war voll
Sonnenfcein gewefen; id) zweifelte nicht, daß ed wieder
fonnig werden müffe; bald wieder, fange noch. Din id)
doch noch nicht vierzig Jahr. Hätten Sie mid) für Alter
gehalten, mein Kerr?"
Mein aufrichtiged Kopfichätteln genügte ihr. Sie fuhr
fort:
„Seit ich aber diefen Morgen ermwachte, fehe ich wie
durch einen böfen Zufall alles im Schatten. Grau in
grau, das was hinter mir und was vorwärts meiner
Tochter liegt. D, meine Liska, ma mignonne! Arme
Sonnenblume, die ich in dieſem dunflen Lande zurüdlaffen
muß, allein, ganz allein, ohne einen Sou, mein Kerr,
ohne einen Sou! Ich habe fo viele Menfchen gekannt,
fo viele Freund genannt. Ich habe mit fo vielen ges
ladıt, bin mit fo vielen glüdlicdy gewefen. So viele
haben mich geliebt, heiß geliebt, ewig geliebt, wie fie
fagten, fo viele! -— Und nun weiß ich nicht einen, in
deſſen Händen ich mein Kind laſſen fönnte; feinen, ald
eine wildfremde Frau von der falten Nation, die id,
feitdem id) von meinem Leben weiß, wie den Erzfeind
gehaßt habe. Alles fort, alles hin, Plunder, Raub, fchauer-
Vierter Abſchnitt 189
liche Nacht, und mein Kind, mein Kind eine bettelnde
Waiſe! Ja, das ift der Tod, der erbarmungslofe, nadte
Hellfeher Tod!“
Ein fonpulfivifcher Anfall, halb Schluchzen halb Lachen,
zwang fie zu einer Paufe. Mich überriefelte ein Fröfteln,
meine Zunge war wie gelähmt. Sie roch an ihrer Eſſenz
und war rafcher erholt ald ih. Noch heute brauft vor
meinem Ohr diefe Hegjagd Wort gewordener Gedanfen
bis zum legten Atemzuge.
„Sie haben meiner Kleinen gefagt, mein Kerr,“ hob
fie von neuem an, „und Gie find gefommen, mir zu
fagen, daß in diefer Gegend eine blutövermandte Fa⸗
milie aufgetaucht fei, die für meine Tochter Sorge tragen
wolle, bis der Vater über ihre Zukunft beftimmt haben
werde. Sc weiß von diefer Familie nichtd; habe nie
ein Wort von einem audgewanderten. Stamme gehört,
und mein Raul, wenn befragt, wird nicht mehr ale id
eine Spur von jened Stammes einftmaligem Dafein
haben. Sclöffer in der Provence! Bah, Luftſchloͤſſer,
mein Herr. Mein Raul hatte nicht Eltern nody Brüder,
nicht Gut noch Geld, als ich ihn fennen lernte. Seine
Heimat war das Eril; dad Patent ald Garde du Corps
und fein Ludwigefreuz, für die er in der Schreckensnacht
von Berfailled geblutet hat, dad waren feine Diplome.
KHugenottifcher Zwielpalt in der Familie? Ach, Seifens
blafen, mein Kerr, längft zerplagt. Mein Raul ift Kas
tholif fo gut wie ich felbft. Voilà tout. Sie find der erfte
Keger- pardon, mein Herr! - der erfte Anderdgläubige, mit
dem ich ein Wort gewechſelt habe, und id) zweifle, daß
mein Raul, armer, angebeteter Raul! - Aber halt, mein
Herr! Seit zwei Monaten habe id) feinen, den id) einen
190 Frau Erdmuthens Zwillingsföhne
Menſchen nennen könnte, gefprochen, feinen Brief ers
halten. Es gibt feine franzöfifche Zeitung unter diefem
barbarifchen Voll, Ich weiß nichts, nichte. Sch bin
wie eine Begrabene, wie verfchlagen an einen wüften
Strand. Sagen Sie, mein Herr, hat der Krieg mit den
Ruffen begonnen?“ |
„Ich glaube nicht, Madame. Nach den neueften Nach⸗
richten ftand der Kaifer noch diesſeit des Niemen.“
„Hat er die Polen zum Kampfe aufgerufen? Sein
Kaiferwort für Polend Wiederherftellung verpfänder?“
„Mir ift nichts davon zu Ohren gefommen, Madame.“
„Er iftein......, wenner ed nicht tut. Sagen Sie,
wird er ed tun? So reden Sie doch. Glauben Sie,
daß er ed tut?“
„Öeftatten Sie mir, Madame, die Kombinationen eines
Napoleon audy nicht im entfernteften mutmaßen zu wollen.“
„Dedant!” rief fie ärgerlich. „Ic fage Ihnen, er wird
Polen wiederherftelen oder mit Polen zugrunde gehen,
und ed wird — — aber zu was daß alle? Sie haben
Blut fo wenig und fo fühl, wie Shre ganze Nation, und
es ift viel, viel anderes, das ich Ihnen noch fagen muß.
Seitdem ich Paris verlaffen, habe ich feine Nachricht
von meinem Raul. Auf drei Briefe, die ich ihm während
der Reife fchrieb, blieb die Antwort aus. Lebt er noch?
Iſt er krank? Wo ftcht er? Ich weiß ed nicht. Hier,
feine legten Worte find vom Marſche aus Teipzig datiert.
Sie erfahren daraus feine Adreſſe.“
Sie ſchlug ihr Neglige auseinander und zog ein zers
fnitterted Papier hervor, aus dem fie ein Amulet ents
widelte. Das Amulet verbarg fie wieder in ihrem Bus
fen, den Brief legte fie in meine Hand und ſprach:
Vierter Abſchnitt 191
„Nehmen Sie, mein Kerr. Dad Blatt ift von vielen
Küffen zerbrüdt, von vielen Tränen zerwaſchen. Es hat
auf dem Herzen feines fterbenden Weibes geruht. Ich
habe ihn glühend geliebt bis zum legten Atemhauche.
Das fchreiben Sie ihm, wenn id) tot bin, melden ihm,
wo unfere Tochter ein Afyl gefunden, fragen ihn, welche
Spuren er von meiner Familie in Polen entdedt hat.
Wenden Sie fid) um Kunde von ihm an Ihren König,
an dad Gouvernement in Warfchau, an feinen Mar;
fhal, an den Kaifer, an Gott und die Welt, aber,
aber - -“
Sie ftocte, ihre Kippen bebten, Nach einer Paufe be-
gann fie von neuem, mehr wie zu fid) felbft als zu mir.
„Armer, vielgeliebter Mann! Selber wenn du diefe Bots
[haft erhalten follteft; felber wenn du diefen mörderifchen
Krieg überftändeft, wenn du noch Tage des Friedens
erlebteft - was würdeft du fagen fönnen, was tun?
Der Kaifer liebt junge Marfchälle und alte Kapitäns.
Du wirft nicht Marfchall werden, armer alter Kapitän!
Südlich genug, wenn du alle Tage deine Flafche fauren
Cider zu trinfen und dein Radies dazu zu beißen haft.
Was folft du für dein lebensluſtiges Fräulein übrig
behalten? Armer, armer, teurer Raul!”
Die Dame feufzte, fchüttelte den Kopf und fog aus dem
Duft ihrer Effenz die Kraft, ihre Umfchau fortzufegen.
„Und meine polnifchen Verwandten, in deren ftolze
Schlöffer wir und fo zuverfichtlich einquartierten — wenn
fie noch eben und Schlöffer ihr eigen nennen: fie haben
feit zwanzig Jahren nicht nad) mir gefragt, ich nicht nad)
ihnen, - die Grafen Golchonsky find großmädhtige Herren
- alle Polen fühlen ſich großmächtige Herren, audy bie
192 Frau Erdmuthens Iwillingefähne
ed nicht find, Monſieur - die Grafen Golchonsky werden
ſich nicht fo viel“ - fie fchnippte mit den Fingerfpigen
— „nicht fo viel um Mademoifelle Liska, die Tochter des
armen Slapitäne der Linie kümmern.“
Ich würde lange fein Ende finden, wollte ich die Ges
danfenfprünge der fterbenden Fremden weiterhin Wort
für Wort überliefern. Es fei daher nur in der flürze
sufammengeftellt, was von ihrem Schickſal zu erfahren
wefentlich ift für das verlaffene Kind, dag fie ald Schuͤtz⸗
ling in den Händen der unbefannten Namensverwandten
zuruͤcklaſſen follte.
Graf Golchonsky, ihr Vater, aus reichbegütertem Ges
Schlecht, hatte fid) nadı der erften polnifchen Teilung mit
bedeutenden Summen abfinden laſſen, um in Franfreid)
heimliche Rachepläne zu fchüren, während feine Brüder
ſich fcheinbar der neuen ruffifchen Oberhoheit unter»
warfen. Die Gräfin war im Kindbett geftorben, die
einzige Tochter begleitete noch ald Wiegenfind den Vater
ind Exil. Die Heine Lodoiska wurde in einem Parifer
Klofter erzogen und verbradhte die erfte Jugend in Marie
Antoinetted damald noch glänzenden Kreijen. Als die
mit dem Tode ringende Frau mir jene Iuftvollen Zeiten
ſchilderte, padte fie buchftäblich ein Erinnerungsfieber.
Ic, fah fie im Schäferhütchen über der Frifur à l'ingé
nue, mit Schürze und Gänfeblümchenftrauß vor dem
Buſentuch, bei den ländlichen Feften in einem Tempel
der Natur, den ihr Vater, der Mode gemäß, in feinem
Parke errichtet hatte.
„Ic war umſchwaͤrmt von Verehrern,“ fagte fie; „jeder
Tag bradıte neue Bewerber. Papa war reich, und id)
war fchön, fehr fchön, mein Kerr. Die Perle Sarmas
Vierter Abſchnitt 4198
tiens hieß ich auf den Bällen von Trianon, und nod) vor
einem Jahre galt ich in Madrid für eine beaute erften
Manged. Nur erft feit der Reiſe in diefem moͤrderiſch
rauhen Lande —“ Sie unterbrad, fi, um von ihrem
Nachttifche einen Fleinen Handfpiegel aufzunehmen und
einen Blick hineinzumerfen. Ein Schauer überlief fie;
fie fchleuderte dad arme wahrheitsgetreue Glas von ſich,
daß es in Scherben zu Boden klirrte. „O, diefes graus
fame Scheufal Tod“, rief fie mit einer Gebaͤrde des Ents
ſetzens, und ed währte eine Weile, bis fie ihre Erzählung
fortfegen konnte.
Frau Lodoiska geftand, daß fie gar nicht ungern diefen
oder jenen ihrer zahlreichen Adorateurd erhört haben
würde, daß fie aber allzu vergnügt gelebt habe, um an
Herzbrechen zu fterben, als ihr Vater ihre Hand einem
jeden von ihnen verweigerte. Der Graf rechnete bis
zum legten auf eine Slataftrophe, die ihm die Heimkehr
geftatten würde, und wollte nur einen Landsmann mit
feinen Dufaten und der Perle Lodoiska beglüden.
„Papa war ein galant-homme felber gegen feine Tochter,“
meinte diefe. „Ic, habe ihn angebetet, und ich habe
mein Vaterland geliebt fo feurig wie er felbft. Aber id)
danfe doch dem Himmel, daß feine Pläne vereitelt wors
den find. Die Herzen in Polen fchlagen heiß wie die
im Süden, aber das Land ift falt und oͤde wie dad
Shre, mein Herr. Sch würde viel Froft und Langeweile
in Polen gehabt haben, und Froft und Langeweile find
Dinge, die ich nun einmal durchaus nicht vertrage.”
Beim Ausbruch der Revolution folgte der Graf mit
feiner Tochter dem Emigrantenfchwarme nad) dem Rhein.
Unterbrochen wurde das Freudenleben auch hier nicht,
xx. 13
194 Fran Erdmuthens 3willingsſoͤhne
aber freilich Koblenz und Trier waren fein Parid. Es
famen die Wirren ded Champagne-Feldzuges, die Hins
richtung ded Königs, der Terrorismus, Entiegen und
Greuel allerorten. Der Graf fränfelte, flüchtete mit
feiner Tochter nach Italien, fuchte in den Bädern von
Pifa Genefung und fand Erlöfung.
In diefer freudenlofen Paufe geſchah ed nun, daß ein
anderer Flüdhtling, Herr Raul von Saint Roc, fid) der
fchönen Waiſe präfentierte, ihr Cicerone, ihr VBefchüger
und bald genug ihr Liebhaber und gluͤcklicher Eroberer
ward, „Er befaß nicht den Sou,“ verficherte lachend
feine Gemahlin; „er hat um Brot Fedytftunden gegeben,
mein Herr. Auch habe ich feinen Herold nad) dem Alter
feines Wappenfchildes befragt. Mir genügte der Ritters
fchlag, den er als einer der bie zum Tode Getreuen in der
Nacht des zehnten Auguft erhalten hatte. Er trug eine
Wunde an der Stirn und das Ludwigskreuz auf der
Bruft. Und er war ein fo fchöner Mann, mein Serr.
Er hatte das Auge des jungen, wilden Falfen, und er
hatte —“ ich will es doch lieber franzöfifch ausdrüden -
„la jambe, ah, la jambe d’un Apollel Er hatte aber auch
ein großes Herz, mein Herr. Ob er fie haßte, die Häfcher
und Mörder feines Könige! Doch blieb er in eriter
Ordnung Franzofe und gab lieber Fechtftunden, ald daß
er, wie viele feinedgleichen, unter dem Banner von Frank⸗
reich8 Feinden dad Schwert gegen feine eigenen Feinde
in Frankreich gezogen hätte. Und ich war eine Polin,
mein Kerr. Aber warum fo viel Gründe für ein grunds
loſes Ding wie das Herz? Enfin, ich verliebte mich in
Raul von Saint Roc, idy heiratete ihn und zog mit ihm
aus dem traurigen Pifa weiter nach Süden.
Vierter Abſchnitt 195
„Zunädft nad Rom. Aber Rom ift eine Stadt für
Künftler oder Heilige, und da weder Raul noch ich das
eine oder andere waren, ennuyierte und Rom. Wir
gingen nad) Neapel, Und dort iſts, wo meine Liska
geboren ward. Mein einziges Kind. Die. Sonne hat
hoch über ihrer Wiege geftanden; o, fie wird frieren,
bitterlich frieren in diefem falten Land. Ma mignonnel
Mein Sommertind!“ |
Frau Lodoiska zerdrüdte eine Träne; die erfte und eins
zige, mit der fie von dem Leben, das ihr fo fchön ges
duͤnkt hatte, Abfchied nahm.
Die erften zehn Sahre verbrachte Fräulein Liska im
Süden, abwechſelnd im Elternhauſe und Klofter. „Sie
war mein Kleinod,” verficherte die Mutter; „mein Leben
pulfierte in dem ihren. Aber was wollen Sie, mein
Herr? Kinder find unbequem; und id, bin nervoͤs. Und
dann: ich hatte fo wenig Zeit. Niemand hat Zeit in
dieſem paradiefifchen Lande, mo feiner etwas anderes
zu tun hat als glüclidy zu fein. Sooft die Geduld mir
riß, brachte ich fie zu den Urfulinerinnen und holte fie
wieder, wenn die Sehnſucht nad, ihr mid) verzehrte,
herzte fie ein paar Wochen oder Monde und fchidte fie
dann wieder zu ihren Nonnen. Sie ift ein fröhliches
Kind gewefen, ma mignonne, und, oh! nie gab es eine
fo gluͤckliche Mutter, ald ich es war, mein Herr!“
Einen vollfommeneren Zuftand ald den Frau Lodoiskas
in diefer Zeit ließ fih, nad) ihrer Anficht, von Feiner
Phantafie erfinden. Zehn Jahre in einer Gefellfchaft fo
gut wie die von Parid, unter dem Himmel ded Paras
diefes, ein fchöner, zärtlicher Gemahl als immer bevors
zugter Rivale eined Schwarmes galanter Cicisbeen, ein
196 Frau Erdmuthens Iwiltingsföhne
Engel von Kind, deflen Laft gefälige Nonnen ihr ab»
nahmen, alled, was dad Herz ſich wuͤnſchte, in Fülle
zehn Jahre lang! Aber leider! Diefer befeligende Zus
ftand foftete Geld. Man hatte ed mit vollen Bänden
audgeftreut. Die verwöhnte Magnatentochter fo wenig
ald der arme Leutnant, der nichts gefannt hatte ald feine
Gage und Schulden, hatte jemald daran gedadıt, daß
ihre Kaffette leer werden könne, und eines Tages tafteten
fie ganz erftaunt nahezu auf den fahlen Boden.
Was follte man tun? Es war die Zeit ded jungen
Napoleonismud. Der lange gehaßte, emporgefommene
General hatte fidy in einen Kaifer umgewandelt, einen
Hof, Adel, Orden, alles, was das zertrümmerte Königs
tum verlodend umgeben hatte, unter neuen Titeln wies
der aufgerichtet; mehr denn jemals beherrfchte den Welt:
teil Frankreichs Glorie, Frankreichs Macht. Der Ex⸗
leutnant der Koͤnigsgarde durfte Hand uͤber Herz legen
und ohne Unehre ſeinen Degen dem Gewaltigen zu fer⸗
neren Siegen offerieren. Zaͤhlte er auch nahezu vierzig
Jahre, bei ſeinem Tatendurſt konnte er es noch zum Ge⸗
neral, ja zum Marſchall bringen.
So wurde denn der Ruhmespfad eingeſchlagen; chemin
faisant noch wohlgemut, wo es ſchoͤn zu raften war, ge
raftet, und das nächte Ziel, Paris, anfangs 1807 ers
reicht, gleichzeitig mit dem Bulletin, nad) welchem der
Kaifer feine fiegreihen Waffen bie Warfchau getragen
und die edle polnifche Nation zum Kampfe für ihre
Freiheit aufgerufen hatte.
Frau Lodoiskas Herz wallte hoch. Der letzte Skrupel
fhwand. Dort in ihrem Baterlande wuchſen Ehren,
Dotationen, Dekorationen, alle Herrlichkeiten der Welt
Vierter Abfchnitt 197
für ihren tapferen Helden Raul. Wie durch Zaubers
ſchlag lebte jählinge auch die Tradition von der unber
fannten und bis dato unbeachteten väterlichen Sippe
wieder auf. Trotz lauerndem Froft und Langeweile
rüftete man ſich zu einer Expedition in die reichen, gafts
Iihen Sarmatenfchlöffer. Bevor der Marfchall in spe
aber noch das Patent eines befcheidenen Leutnants ber
Linie erwirft hatte, war die Schlacht von Friedland ges
fhlagen, der Tilfiter Friede gefchloffen, die gewaltige
Republik in ein Herzogtum Warfchau zufammenges
ſchmolzen; der Leutnant von Saint Roc aber wurde mit
feinem Regiment nad) Spanien gefchict und alldort bes
laſſen, bis 4811 die große Heereswanderung nad) dem
Morden begann. Er hatte allerorten tapfer wie Hektor
gekämpft, weiter aber als bis zum Kapitaͤn hatte er ed zur
Stunde nicht gebradıt; nicht einmal nody das Kreuz ber
Ehrenlegion gegen das des heiligen Ludwig eingetaufcht.
Die Familie folgte dem friegerifchen Herrn nadı Mas
brid, nachdem der Kaifer mit gewohnter Siegfertigfeit
den wanfenden Thron feines Bruders befeftigt hatte,
und trat Fräulein Lisfa, wieder unter einem füdlichen
Himmel, rafch die Kinderfchuhe aus; Lenz und Nadhs
fommer wurden in gleichen Kreifen genoſſen. Freilich
ftachen die Fefte an König Joſephs Hofe gegen die von
Groß⸗ und Kleintrianon ab: aber doch nur im Verhälts
nid der Jugendreize von Tochter und Mutter und der
daraus abzuleitenden Anfprüde. „Ich war zum Glüd
präbdeftiniert,” fagte Frau Lodoiska, „ich fah die Kleine
fi) amüfieren, ohne mich zu verdunfeln. Sie hatte die
Jugend, ich die Schönheit voraus. Der häßliche mütters
liche Neid wurde mir erſpart.“
198 Gran Erdmuthens Swillingsfähne
Schmerz und Sorgen der Trennung von dem angebe-
teten Raul erleichterte man ſich, indem man ſich zeits
weife in feine Nähe unter den lachenden Simmel Ans
balufiens verfegte. Das bisher fo glatte Gluͤck begann
einige abenteuerliche Blafen zu treiben, die indeffen eines
romantifchen Schimmers nicht entbehrten. Auch machte
Frau Lodoiska fein Kehl daraus, daß fie diefes vergnügs
liche fpanifche Treiben, nach abfofut leer gewordener
Kaffette, nur mit dem Opfer bes reichen Golchonskyſchen
Schmuckkaͤſtchens erfaufen fonnte. Unterflügungen des
Hofes, der feinen Zirkel nicht aus Eingeborenen wählen
fonnte, wurden felbftverftändlich ſtolz verfchmäht; ein
forglofes Kreditfyftem nach unten hin erweckte geringere
Sfrupel, bis fein Zufammenbrud; nach dem nordifchen
Vormarſch ded Gemahld auch die Damen jadh zurüd
über die Pyrenden trieb. Moch wurden in aller Eile
einige Tuilerienfefte, in aufrichtiger Huldigung einer ge:
borenen Kaifertochter, mitgefeiert; dann vis-A-vis de rien
wachte zum zweiten Male der polnifche Patriotismus
und tauchten zum zweiten Male die reichen Sarmatens
ſchloͤſer am Horizonte der KHoffnungsfeligen auf. Der
Gemahl zog der Weichfel entgegen. Wan folgte ihm in
dem Glauben, ihn nod) in Dresden, fpäteftens in War:
ſchau zu erreichen.
Wie nun auf der Reiſe erfranft und nad) unberedhne-
ten, häufigen Stationen endlich liegen bleibend, daß letzte
Kleinodium, das einzige, gering gefchägte „Kleinodium“
ber Saint Roc verpfändend, bie vielgefeierte Frau in
bie Lage geriet, ald Abenteurerin zu enden und ihr eins
siged Kind an der Schwelle des Armenhaufes zu vers
laffen, vor dieſem Umfchlag von Licht zu Nacht ftockte
Vierter Abfchnitt 199
fchließlich der Atem der raftlofen Erzählerin. Sooft
ich den Berfuch machte, ihr Einhalt zu tun, rief fie uns
gedufdig: „Laſſen Sie mich. Ich will, daß die, welche
Sie meine deutfchen Verwandten nennen, wiffen, aus
welchem Schoße das fremdartige Kind in den ihren vers
fegt worden ift.“
Sie fagte das mit der unbefangenften Genugtuung.
Diefe Frau achtete ehrlichen Herzens Schönheit und Ers
folg als ihr Verdienft, die forglofe Lebensweiſe für eine
Naturnotwendigfeit. Sie hielt ſich allen Ernftes für ein
tugendhaftee Weib, weil fie den Gatten ihrer Wahl
einen Grad heißer geliebt hatte, ald die Schar ihrer
Gicisbeen. Nur fehr verfchleiert dDämmerte in ihr dag
Bemwußtfein, daß die hilflofe Lage ihrer Tochter eine
Berwahrlofung und nicht bloß das erfte Unglüd in ihrem,
der Mutter, dem Gluͤck geweihten Leben fei.
Mehr ald einmal während diefer langen Erzählung war
Lisfa in das Zimmer und an die Bruft der Mutter ges
ftürzt, von diefer aber immer wieder hinaus befchieden
worden. „Was ich Ihnen mitteile,“ fagte fie, „iſt fein
Geheimnis, auch für die Kleine feind. Aber warum
ihren Schmerz fteigern durdy den Bergleidy von fonft
und jest. Die legten Erinnerungen ihrer Mutter würs
den die eriten ihres eigenen Lebens auffrifchen. Sie fol
fie vergeffen, fie fol audy) mid) vergeſſen lernen.”
Die belebende Wirkung des Sterbetranfd war erfchöpft,
die Kranke rang nur noch mühfam nad) Atem. „Es ifl
vorüber!” feuchte fie, und ich widerfpradh ihr nicht. Doc,
fragte ich nach den Wünfchen, die fie für die Zufunft
ihrer Tochter mir etwa noch zu offenbaren habe.
„Wünfche?“ ypreßte fie hervor, von eifigen Schauern
200 Frau Erdmuthens Swillingsföhne
gefchüttelt, ein unbefchreibbares Lächeln auf den bläus
lichen Lippen. „Wünfche? - Sie ift glüdlicdy gewefen -
fiebzehn Jahre lang - fie it arm — nicht ſchoͤn — — eine
große Leidenſchaft — und dann — den Nonnenfcleier!”
Bei dem legten, ftarf betonten Worte ftürzte Liska von
neuem in das Zimmer. Gie fah die Verheerung der
Kranfenzüge und warf ſich mit einem gellenden Schrei
über das Bett. Der Doktor und Herrmann waren ihr
gefolgt. Die fterbende Frau bemerfte die Geftalt dee
jungen Mannes unter der Tür. Mit auffladerndem Les
ben winfte fie ihn haftig zu fich heran. Ihrem legten
Worte zum Trog ſchien eine Hoffnung anderer Art fie
zu durchzucken.
Herrmann trat an dad Bett und ergriff die ſchon er-
faltete Hand. Die andere wühlte in den Locken ihres
Kinded. Mit weitgeöffneten Augen ftarrte fie in die
ruhigen Felöfchen Züge. Sie fchüttelte den Kopf; die
jähe Hoffnung war verſchwommen.
„Armes Kind! -" röchelte fie, „armes Kind — den Non⸗
nenfchleier!“
Und dieſes Freudenleben war ausgehaudht.
* *
ꝛᷣ⸗
Liska lag, ohne unſerer zu achten, uͤber der toten Ge⸗
ſtalt. Sie kuͤßte die falten Lippen, ald ob ihr jugend⸗
heißer Atem das erftarrte Leben erweden könne. „Hoͤrſt
du mich, Maman? Sprid, Maman!” fchrie fie und ftierte
mit wildem Blick in das weiße Gefiht. „Du bift nicht
tot, du wirft leben, du mußt leben! Du mußt bei mir
bleiben, Maman!“ Sie klammerte ſich immer fefter an
die Leiche.
Vierter Ahfchnitt 201
„Austoben laſſen!“ fagte fi entfernend der Doktor zu
mir. „Die Limonade, die ich ihr drüben eingerührt habe,
wird ftarf genug wirfen, der neuen Vetterſchaft die noͤ⸗
tige Gedanfenruhe zu verfchaffen.”
Auch ich ging, die gefchäftlichen Abmachungen zu erle:
digen und meine Schweſter zur Nachtwache herbeizuhos
len. Herrmann fegte ſich ſchweigend and Fenfter und
blickte hinuber auf die tote und auf die lebende Geftalt.
Als ich nad) ein paar Stunden mit Ehriftophinen zus
rüdfehrte, fand ich beide noch auf Dem nämlichen Plage:
den ftummen Wächter mit verfchränften Armen in der
Fenfternifche, die Waife mit ausgebreiteten quer über
dem Totenbett. Aber ftil war fie geworden. Die Li⸗
monade und die Tränen hatten ihre Schuldigfeit getan.
Das arme Kind fchlief, fchlief, ohne zu erwachen, als
ed Herrmann auf feinen Armen in dad Nebenzimmer
trug, wo meine Schwefter die Obhut übernahm.
Herrmann fuhr unverzüglich nach Arnheim zurüd, um
feine Mutter von dem Erlebten in Kenntnis zu fegen.
Ihrer Zuftimmung zu unferen VBefprechungen war er fo
gewiß, als hätte er in ihrem Auftrage gehandelt.
Der Abend war auf diefe Weife herangebrochen. Meine
braven Gefchwifter übernahmen die legten Dienfte, die
ein armes Menſchenkind hienieden beanfprudht, Dienfte
peinvollfter Art in dem gegenwärtigen Falle. Denn gibt
ed etwas, das die Majeftät ded Todes fo entwürbdigte,
ald den Widermwillen, den ein Leichnam in einem Gaſt⸗
hofe erregt? Der Wirt drang auf die rafchelte Ents
ledigung des abfchredenden Gaſtes; eine Leichenhalle
eriftierte im Städtchen nicht. Was blieb übrig, als die
Beerdigung fchon für morgen abend anzuordnen! Ein
202 Frau Erdmuthens Swillingsfähne
Sarg von fchwarzladiertem Tannenholz wurde zum Gluͤck
vorrätig gefunden. Der Amtsphyſikus fonnte ohne Sfrus
pel die Befcheinigung ausftellen, daß dieſes Leben big
auf die Neige verbraucht worden fei, Freund Bär fchlug
zum Überfluß eine Ader. Herrmanns Wunſche, den Leich⸗
nam zur legten Ruhe nach Arnheim zu überfiedeln, widers
fegte er fi) aber. „Um Eurer Seelenruhe willen feine
weitere Szene,“ fagte er. „Wenn die Kleine Here wirt
ich fo ein Stüdchen Tochter von unferer Frau Mutter
werden fol, muß fie fi) Madame Maman fo bald ale
möglicdy aus dem Sinne fchlagen.“
Sch fonnte nur beipflichten. Hatte das fterbende Welt:
find doch felber gefagt: „Sie fol mid, vergeffen lernen.”
Ein Grabhügel ift ein ewiges Erinnerungszeichen.
Ein guted Teil Mühe hatte meine Chriftophine. Nach⸗
dem fie die noch immer betäubte Waife entfleidet und
zu Bett gebradht hatte, Tieß fie mich ald Wächter bei
derfelben zurüd und ging, im Totenzimmer Ordnung zu
fchaffen. Als richtige Pfarrerdfrau wußte fie an diefen
traurigften Erdenftätten Beſcheid. Zunaͤchſt wurde die
Leiche gewafchen und angezogen; wobei man feine liebe
Not hatte, unter all den Kinferligchen dag Material zu
einem reputierlichen Sterbehemde zufammenzuftoppeln.
Dann ginge an die Verwandlung der Kranfenftube in
eine reinliche Totenfammer, nad) welcher Prozedur meine
Chriftel erflärte, eines Seifenbades bedürftig zu fein.
Zulegt wurden nod Koffer und Schachteln eingepadt,
welche mit dem Fräulein am Morgen nad) Arnheim übers
fiedeln follten, und hat fich die deutiche Pfarrfrau ihr
kebtag nicht darüber zufrieden gegeben, daß gewiſſe
frangöfifche Damen mit Ballfächern und fünftlichen Blu⸗
Vierter Abfchnitt 208
men anftatt mit Xederftiefeln und wollnen Unterröcen
ihren Herrn Angehörigen in die ruffifhe Kampagne
nachgezogen find.
Der Tag war weit vorgefchritten, ald die arme Feine
Schläferin erwadıte. Etliche Minuten währte noch die
helldunfle Befangenheit; der legte fürchterliche Eindrud
ſchien mit einem lieblichen Traumbilde zu ringen, denn
ein Lächeln umfpielte die geöffneten Tippen. Sept aber
fiel ihr Blick auf mid, und die jammervolle Wirklichkeit
ftand Elar vor ihrer Seele. Mit dem herzzerreißenden
Rufe: „Maman!” fprang fie aus dem Bette und in nad»
ten Füßen mit aufgelöftem Saar hinüber in das Sterbes
zimmer; faum daß ich Zeit hatte, ihr die Reifeenveloppe
über das leichte, fpigenberänderte Nachtkleid zu werfen.
Und da ftand fie nun vor der toten Geſtalt, die fie
„Maman”, das heißt, alled was fie bie dahin lieb ges
habt, genannt hatte! Die erfien Stunden, zwifchen dem
Entatmen und Erftarren, die Stunden, welche dem Antlig
häufig einen fo tröftlichen Ausdruck der Seligfeit übers
hauchen, waren vorüber; der Tag heiß und ſchwuͤl;
Spuren der Auflöfung zeigten fich bereits; mir felbft
wurde es ſchwer, unter diefer Verzerrung und Berfärs
bung die von heftifchem Rot gehobenen, im Todesfampfe
noch fehönen Züge der fremden Frau wiederzuerfennen.
Die unglüdliche Tochter aber, die wohl nie einen Leich-
nam gefehen hatte, ftand vor Entfegen felber Teichen-
weiß und ftarr, wie in den Boden gewurzelt. Dann
aber fchauderte fie zufammen, ſchwankte und fanf in die
Arme Frau Erdmutheng, die mit ihrem Sohne angelangt
und unbemerft eingetreten war.
Hätte das verlaffene Kind den Ieifeften Sinn für feine
204 Fran Erdmuthens Iwillingsföhne
Umgebung behalten, die Erfcheinung der fremden Frau,
die ihm am Sarge der Mutter die Arme entgegenbreitete,
müßte ed wie Himmelstroͤſtung ergriffen haben. Frau
Erdmuthe war weiß gefleidet, wie immer, feitdem fie die
Witwentrauer abgelegt hatte; ein leichter Schleier ums
rahmte das Gefichtz fie hielt einen Rofenfranz in ihrer
Sand, und warme Tränen riefelten über ihre Wangen.
Sch fah es ihr an, daß fie, wie ihr Sohn, eine ÄAhnlich⸗
keit zwiſchen der Waiſe und ihrem Raul erkannte; ja,
ſie hat mir ſpaͤterhin geſtanden, daß ſie in dieſer ſelt⸗
ſamen Fuͤgung ein Band geahnt habe, welches die Gegen⸗
ſaͤtze der Bruͤder ausgleichend vermitteln werde. Selt⸗
ſam jedoch, waͤhrend ich ſo frohe Hoffnung in den Mut⸗
teraugen las, ſchwirrten mir baͤnglich vor den Ohren
die Worte, mit welchen Raul von der Heimat geſchieden
war: „Welche Macht koͤnnte ſich zwiſchen Herzen draͤngen,
die die Mutterliebe eint?“
Von dieſem liebreichen Entgegenkommen ſpuͤrte die
Waiſe nun aber nichts. Die Frauen zogen ſie in das
Nebenzimmer, belebten ſie mit den uͤblichen Mitteln,
kleideten ſie an, noͤtigten ihr ſogar ein leichtes Fruͤhſtuͤck
ein. Sie ließ alles mit ſich geſchehen wie ein hilfloſes
Kind; ſie ſprach nicht, ſie weinte nicht, ihre Seele ſchien
vor dem grauſigen Totenbilde erſtarrt. Als ſie auf dem
Wege nach dem Wagen am Sterbezimmer voruͤber kam,
riß ſie ſich von Frau Erdmuthens Arme los, oͤffnete die
Tuͤr, ſtand einen Augenblick ſchwankend auf der Schwelle,
ſchauderte dann aber entſetzt wie vorhin zuſammen und
ließ ſich ohne Widerſtand weiterfuͤhren.
Ich begleitete die Damen. Herrmann verweilte in der
Stadt, bis am Abend der letzte Akt voruͤber war. Er
Vierter Abfchnitt 205
—
Leben ſo viel umgebenen Frau; der Roſenkranz der un⸗
bekannten Namensverwandtin lag als einziger Schmuck
auf ihrem Sarge.
Noch in der Nacht ſetzte Herrmann ſeine Geſchaͤftsreiſe
fort; daß ſie zugleich eine Brautfahrt hatte werden ſollen,
daran dachte von uns keiner wieder, und er ſelbſt gewiß
am wenigſten.
Still und ernſt wurde waͤhrenddeſſen die fremde Waiſe
der neuen Heimat entgegengefuͤhrt. Keines ſprach ein
Wort. Der ſchwere Wagen ſchleifte langſam im fuß⸗
hohen Sande; die Sonne brannte ſengend zwiſchen den
kahlen Kiefernſtaͤmmen auf uns herab. Mich verdroß
es ſchier, nicht ein lockenderes Landſchaftsbild vor den
Augen des unheimiſchen Kindes ſich entrollen zu ſehen.
Doch ſchien ſie ſelber keinen Eindruck von unſerer Heide⸗
oͤde zu empfangen. Sie blickte ſtarr und ſtumm vor ſich
hin; nur der ſtarke Kiengeruch, der uns anderen eine
Wuͤrze deuchte, beruͤhrte ſie widerlich; beim erſten Strom,
den ein Lufthauch in den Wagen trieb, ſchauerte ſie zu⸗
ſammen, winkte unruhig mit der Hand, bis ich das Fenſter
niedergelaſſen hatte, und ſooft ich es wieder hob, er⸗
neuerte ſich das Unbehagen. So in ber gluͤhenden Mits
tagsfchmwüle, mit beflemmtem Atem eingefchloffen im
engen Gehäus, dünfte die zmweimeilige Keidefahrt mir
eine Ewigfeit.
Die Stimmung unferes Gaftes hob ſich indeflen, fobald
wir auf dem Gute anlangten. Der wohnliche Eindrud
des Hauſes, die Kühle der großen, blumenduftenden
Zimmer, die einfache Fülle der Einrichtung und Bedie⸗
nung wedten ein heimatliched Behagen, wie die Tochter
206 Frau Erdmuthens Imwillingsföhne
der beiden Emigranten ed noch niemals empfunden haben
mochte, dahingegen bie Erinnerung an dad glänzend
Überflüfft ige in ihrer früheren Umgebung durch die der
troftlofen Reifemonate getilgt worden war.
Sie ſprach auch jegt noch nicht, allein die jähe Wand⸗
fung ihres Zuftandesd malte ſich in den ausdrucevollen
Zügen wie ein angenchmer Traum. Sie mufterte lächelnd
das freundliche Kabinett, dad Frau Erdmuthe neben
ihrem eigenen Schlafzimmer für fie hatte einrichten laffen,
und genoß mit lange Zeit ungeftilltem Appetit von den
Früchten und Süßigfeiten, die ihr ald Imbiß gereicht
wurden. Ein Glas füdlichen Weines, mit Waſſer ge⸗
miſcht, roͤtete die blaſſen Wangen.
Das Laͤuten hob an, das Sonnenuntergang verkuͤndete;
es war die fuͤr die Beſtattung der Fremden feſtgeſetzte
Stunde. Frau Erdmuthe trat an das offene Fenſter mit
gefalteten Haͤnden. Auch die Waiſe horchte auf. Ob ſie
es ahnte, daß eine Mutter ſich ihr an Stelle der ver⸗
lorenen in ſtillem Gebet verlobte? Oder war es nur der
Glockenklang, der fie an die ernſte Handlung mahnte?
Eine Erinnerung, vielleidt im Kalbfchlummer aufges
fangen? Sie brad, in einen Tränenftrom aus, und als
der legte Laut verhallt war, ftürzte fie zu den Füßen
ihrer Wohltäterin nieder, umflammerte ihre Knie, bes
deckte ihre Hände mit heißen Küffen und Tropfen.
Frau Erdmuthe z0g fie neben fi auf den Sofaplatz,
hielt fie mit ihren Armen umſchlungen und ftreichelte
ind das Köpfchen, dad an ihrem Kerzen ruhte. Da
taute allmählich denn auch die Sprache auf, die diefem
Kinde fo lieblich eignende Sprache, welche leicht franzoͤ⸗
fifche Form mit fonorem italienifchen Wohllaut verband.
Vierter Abſchnitt 207
Fe mehr und mehr plauderte die Kleine im warmen, phans
tafievollen Ausdrud die Erinnerungen ihres jungen Les
bens aus. Auch fie, wie die Mutter, fchwelgte in einem
Himmel von eitel Seligkeiten. Wieviel weniger trüges
rifch aber, ald daS der Abendfonne, erfcheint das Licht,
dad der Zauberer Morgen über die Welt unter unferem
Horizonte ergießt. Die leidvollen jüngften Monate waren
dem Gedächtnis entſchwunden bis auf die legte graufige
Todesfzene; und den Sammer über dad Sceiden der
angebeteten Maman verflärte eine ſchwaͤrmeriſche Dank,
barkeit gegen die Schugheilige, weldye die Himmelsmut⸗
ter dem verlaffenen Kinde gefendet habe. Unaufgefors
dert nannte fie Frau Erdmuthen ihre Wutter, ihre
Seelenmutter. „Mere de mon äme!“ rief fie aus, „mein
ganzes Leben foll ein Gottesdienft für deine Liebe fein.“
Die großen Augen leuchteten während diefed Geplaus
ders, die Lippen färbten fi) purpurn, auf und ab wos
gende Blutwellen gaben den bernfteingelben Wangen
den wirfungsvollen Ton ded Suͤdens.
Die Mutter mußte endlicd, der fieberhaften Steigerung
Einhalt tun und an die Ruheftunde mahnen. Sie führte
fie in ihr Kabinett, entfleidete, bettete fie wie ein Kind
und faß, die Hand auf der fehmalen, glühenden Stirn,
bis die Lider ſich fanft gefchloffen hatten.
Am andern Morgen war Frau Erbmuthe bereits ftuns
denlang in ihrem Haushalte befchäftigt, ald ihr Pfleg⸗
ling aus füßem Schlummer erwadıte. Fräulein Liska
fchlürfte ihre Schofofade und überlich fi mit Tange
entwöhntem Behagen der Bedienung einer Kammerfrau;
dann aber flatterte fie wie ein Schmetterling der Mutter
nach; umgaufelte fie mit kindlichen Zärtlichfeiten auf
208 Frau Erdmuthens Zwillingsfähne
Schritt und Tritt, treppauf, treppab vom Boden bie
zum Keller. Alled war ihr neu, alles intereflant, alle®
wollte fie lernen. „Ich will dir den ganzen Tag hel⸗
fen, du fleißige Mutter“, fagte fie, und Frau Erbmuthe
lächelte.
Erſt ald die Hausfrau die große Leuteftube betrat, um
wie alle Tage der Hauptmahlzeit der Diener und Arbeiter
bed Hofes vorzuftehen, prallte fie fcheu zurüd. Sie floh
in den Garten, erfchien auch nidyt am Familientifche,
der präzis um Mittag angerichtet ward und an weldyem
Berwalter, Audgeberin, Förfter, kurz alles teilnahm, was,
ohne Gefinde zu heißen, zum Gute gehörte und feinen
eigenen Haushalt bildete. Auch jeder auswärtige Bes
fucher und regelmäßig zwei von den Knechten unferer
lieben Frau, Judex und Magifter, feitdem des leßteren
gute Mutter ihm den Tifch nicht mehr richtete. Der
dritte Mitknecht, wir wiflen es fchon, fam nur ad libitum.
Das einzige, aber ftoffreiche Gericht wurde auf altges
wohntem Zinngefchirr aufgetragen und verzehrt. Ges
fprochen wurde wenig, gegeflen viel. Es war nidht ein
Mahl, das man hielt, weit eher ein wichtiger, gefchäfts
licher Akt.
Die Mutter dachte weder heute noch fpäter daran, ihr
neued Töchterchen zur Teilnahme an demfelben zu nötis
gen. Sie ließ fie fchweifen, fidy nach Neigung befchäfs
tigen, Siefta halten und ſich an leichten Näfchereien bes
friedigen, bi8 die Abendtafel — fubftantiellerer Natur
ald der damals nody wenig eingeführte Teetifch — den
engeren Kreis der Angehörigen, mit gelegentlichen Gäften
untermifcht, zu gefelliger Erholung vereinigte. Man
weilte dann nod) ein Stündchen beieinander, je nadı der
Vierter Abfchnitt 209
Jahreszeit im Familienzimmer oder unter den Kaftanien
vor dem Portal, trennte fid) aber bei guter Zeit, um bei
guter Zeit wieder rege zu fein.
Am heutigen Tage aber und an den folgenden ver:
längerte ſich unwillfürlich unfer abendliches Beieinander.
Die Kleine blickte und plauderte fo verlodend; ihre
Lebensgeifter hoben ſich mit dem Abendfchatten; unter
taufend Liebfofungen wußte fie ihre Engelömutter und
ihren bon petit cur& feftzuhalten; fooft man an bie
Hausordnung erinnerte, war es ihr immer viel, ach viel
zu früh, und als endlich doch der Ruͤckzug angetreten
ward, gefchah ed mit dem Vorſatz, noch die ganze Nacht
hindurch ihrem lieben fernen Papa von ihrem großen
Unglüd und ihrem großen, großen Gluͤcke zu erzählen.
Die naͤchſten Tage glichen diefem erften. Unter dem
neuen Behagen fchienen die leidvollen Erinnerungen wie
mit dem Schwamme ausgelöfcht. Der Borfchrift des
Bergeffenfollend ungeachtet, brachte ich es nicht über
dad Herz, ein Mutterleben fo ohne Spur verfchwinden
zu fehen; ich mahnte zu einem Befuche des einfamen
Grabe. Liska fluste einen Augenblid, fie geftand, noch
nie einen Begräbnisplag gefehen zu haben, außer dem
ihrer Nonnen am Pofilipp, der aber nur ein fchöner
Garten gewefen fei. Dann aber wurde fie plöglich Feuer
und Flamme. E3 fonnte nicht rafch genug angefpannt
werden, und da Frau Erdmuthe zur Stunde im Haufe
nicht abkoͤmmlich war, defretierte fie ohne weiteres die
Begleitung ihres guten, Kleinen Pfarr’d. Die fchönften
Blüten im Garten und Treibhaus wurden mit vollen
Händen zufammengerafft. Wir festen und in en
manns Heidekutfchchen und fuhren ab.
XX. 14
210 Frau Erdmuthens Swillingsfähne
Ald wir über den Ulmengang hinaus den Forft erreichs
ten, erneuerte fich der nervoͤſe Widermwille gegen den
Kiefernduft, den Liska fchon bei der ‚Herreife gezeigt
hatte. Sie nannte ihn Leichendunft und glaubte allen
Ernftes, fo weit fie ihn fpürte, fich auf einem Totenfelde
zu befinden, weil der naͤmliche Dunft ihr beim legten
Abfchied von Maman die Befinnung geraubt habe. Wie
ich ihre nun aber erflärte, daß Särge aus Nadelholz ger
zimmert werden und daß Nadelhölzer diefen Duft auds
ftrömen, der mir, wie fein anderer, eine herzftärfende
Würze fcheine, da rief fie entrüftet: „OD, diefer barbarifche
Geſchmack! Den Sinn der Phantafie nannte Maman
den Geruch, und Sie fchredlicher, deutfher Mann!
fchlürfen mit Entzäden, was Ihnen die Schauer bes
Grabes in Erinnerung bringt.”
Indeſſen hatte meine technologifche Aufflärung doch ges
wirft; Fräulein Liska konnte den Heidebrodem vertragen,
nachdem fie wußte, daß ed Fein Keichenfeld war, dem er
entdunftete; fie fing fogar an, ſich für den gefürchteten
cimetitre zu intereffieren, feitdem ich ihr den Sinn uns
ferer deutfchen Benennung zu verbolmetfchen fuchte. „Cour
de la paix, champ du bon Dieu, das ift ſchoͤn!“ fagte fie.
„Ihr adelt das Sterben, ihr Deutfchen. Champ du bon
Dieuf" Sie verfucdhte die Namen im Deutfchen nadızus
fprechen, und das Wort „Gottedader” ift faft das eins
jige geblieben, deffen Laut ihr geläufig wurde.
Der friedlicdye Anbli des Grabes verfcheuchte die lets
ten bänglichen Apprehenfionen. Auf Herrmanns Ans
ordnung war ed mit Raſen belegt und mit blühenden
Monatörofen bepflanzt worden. Es war die Jahreszeit,
in welcher ed auch auf dem Armften Hügel blüht; ringe
Vierter Abfchnitt 211
um buftete ed wie in einem Garten. Das Feine Gehege
glich einer Dafe in der Steppe, durch welche der Weg
und geführt hatte.
Die Augen der Waife füllten fi mit Tränen. „Der
Leib unter Nofen, die Seele bei Gott!“ fläfterte fie,
ftreute ihren Blumenkorb über dem Hügel aus, kniete
nieder und betete ihren Roſenkranz. Ald wir zum Was
gen zurüdfehrten, gab fie mir den Auftrag, ein Monus
ment für ihre füße Maman zu beftellen, reich und kunſt⸗
voll wie für eine Prinzeffin. Sie befchrieb mir das Vor⸗
bild, deffen fie fid) aus einer fpanifchen Kirche erinnerte.
Ich war gutmätig genug, fie nicht zu fragen, auf weffen
Boͤrſe ich den Künftler anweiſen follte; wußte ja auch, daß
der Einfall verfliegen werde, rafch, wie er angeflogen.
Während der Rücdfahrt bemühte ich mich, die angereg-
ten ernften Borftellungen in dem beweglichen Sinne feft-
zuhalten; freilich aber war die Xehre von dem Kampfe
des Lebens und dem Siege im Tote eine herbe Pille für
dag freudedurftige Herz. Sie nannte mid) einen graus
famen Freund und blieb während des ganzen Weges
wie ein eingefchüchterted Kind. Die großen, ftrahlen-
wechfelnden Augen fchweiften zwifchen den büfteren Kie-
ferwipfeln und der duͤrren Nadelfchicht am Boden auf
und nieder. „Traurig, todestraurigl” murmelte fie.
Als wir aber zu Haufe anlangten, war Eoufin Erman
von feiner Meßreife heimgefehrt, und ein Kichterglanz
breitete fich über das Fleine, betrübte Geſicht. Sie ber
grüßte ihn wie eine Schwefter den Bruder, reichte ihm
Hand und Wange zum Kuß, hängte fich plaudernd an
feinen Arm und verlocte ihn zu Fleinen Medereien, die
fonft wenig in feinem Weſen lagen.
212 Frau Erdmuthens Swillingsföhne
Andern Tages wurde das Trauerzeug ausgepadt, das
ber galante Eoufin - auch gegen feine fonftige Art -
dem Bäschen aus KleinsParid mitgebracht hatte. Und
nun ginge, haft du nicht gefehen! Wer nur im Haufe
eine Nadel zu rühren vermochte, durfte nicht aufblicken,
bis nad; Mademoifelled Angabe ein paar Anzüge zu⸗
Rande gebracht waren, die nach beutfcher Anfchauung
fid, allerdings mehr fpanifch als trauermäßig ausnahmen,
dafür aber die kleine Suͤdlaͤnderin um fo reizender Mei-
deten.
In dieſer anmutigen Weiſe vergingen etliche Wochen,
wenig an die Truͤbſal erinnernd, welche die fremde Waiſe
in unſere Mitte gefuͤhrt hatte. Sie zeigte ſich, als waͤre
ſie zu Hauſe; nahm Dienſt und Hilfe an, wenn auch
nicht als ein Recht, fo doch als natürliche Gabe; für
Wohltaͤter wie die ihren die anfprechendfte Art, Wohl-
taten anzunehmen. Sie war froh und machte froh. Die
häusliche Ordnung wurde durd; ihre Gegenwart nicht
unterbrochen, aber fie wurde durch diefelbe belebt und
gleichfam übergoldet. Ein jeder fühlte den Zauber, den
diefe impulfive Natur um fich verbreitete.
„Mir ift, ald wäre ein Sonnenftrahl in unfer Haus ge-
brungen,“ fagte Frau Erdmuthe, „ein u aus dem
blauen Simmel meines Raul.“
Ihr Sohn fagte mit Worten nichts; aber ber rafchere
Taktſchlag feines Weſens ſprach beredt genug für die,
welche gewohnt waren, in feiner Seele zu Iefen. Bär
brummte unverhohlen über fpanifche Eotterwirtfchaft, und
der Sünger der reinen Vernunft fürchtete allen Ernftes,
daß Fräulein Iduna mit ihrer perfönlich gefannten
Mohrenfönigin den Teufel an die Wand gemalt habe.
Vierter Abſchnitt 213
In Sn Wahrheit: hätte ed auf Erben eine geben fönnen,
die weniger ald diefes Mädchen feiner Mutter glich?
Noch wagte ich den Folgeſatz nicht auszudenfen, aber
bangevoll fragte auch ich mid; im ftillen, wie Tange dies
fes kindliche Getändel in dem Haufe firenger Pflichters
füllung währen könne?
Fünfter Abſchnitt
Was fern, muß fih errcichen.
[8 ich Ende Juli von einer PVifitationgreife zurück-
fehrte, merkte ic) Die Spuren der Ernuͤchterung, welche
ich vorausgefehen hatte, zwar nicht an Mutter und
Sohn, aber an der Tochter, die mir wie ein flügellahmes
Bögelchen entgegenſchlich. Ein bläulicher Schatten ums
zirfelte die Augen, die Lider waren müde auf die bleichen
Wangen gefenft. „Sind Sie krank, Liska?“ fragte id}.
Sie fchüttelte langſam den Kopf.
„Nun, was fehlt Ihnen danı?“
„Nichts mehr,“ verfegte fie Tächelnd und meine Baden
ftreichelnd; „mein gutes Vaͤterchen ift ja wieder ba.“
„Dante fchön, Heine Schmeichelfage. Aber ernfthaft,
was fehlt Ihnen, Kind?“
„Maman!“ feufzte fie.
Dagegen war nun freilich nichts einzuwenden. Die
Trauer, die im leidenfchaftlichen Triebe jach abgebrochen
worden war, mußte ja wohl nachwachſen. Aber ed war
nicht diefe natürliche Empfindung allein, und id) fpürte
gar wohl, was ed war.
Die Ernte hatte begonnen, die ödefte Zeit in unferem
Heideboden. Sn der durdhhitten Sandfchicht verdorrt
der frifche Frühlingsfaft rafch, Buſch und Wiefe ent»
färben fich, die Felder deden kahle Stoppelhalme, felber
das Kraut ber Kartoffeln ftirbt ab; alles verftäubt, alles
verläuft grau in grau. Im Garten welfen die Blumen
fo früh, als fie aufgeblüht; die Sommerfrächte, die er
erzeugt, Kirſchen und Beeren find vorüber; die Vögel
find verftummt, bie Bäche ausgetrocnet, Fein Waffers
Fünfter Abſchnitt 215
Tüftchen kühlt den glühenden Sonnenbrand. Die Men:
ſchen aber fchleichen abgefpannt vom mühfeligen Tages
werf; es gibt frühere Arbeitds und darum frühere Ruhes
ftunden; die gleichbefchäftigten Nachbarn bleiben aus,
die mäßigen find auf Reiſen; die gefellige Plauderei
hört auf. Die arme Liska war den ganzen Tag allein,
fie fehnte fich nach Zerftreuung und Wechfel, und weil
fie zu Frau Lodoiskas Zeiten nach beiden ſich niemals
gefehnt hatte, nannte fie das, was ihr fehlte: „Maman!“
„Sehen Sie Ihre Freunde an, Liska,“ mahnte ich, „bie
Mutter und Herrmann — —“
„D bie großen, großen Leute,” unterbrady fie mich, in»
bem fie den Mund zu einem Scippchen zufammenzog.
„Wer kann ohne Unterlaß in die Höhe blicken?“
„Bemühen Sie fich, an ihrer Tätigfeit teilzunehmen, und
Sie werden zu gleicher Höhe mit ihnen heranwachſen.“
Wiederum fehüttelte fie mit einem Seufzer den Kopf
und zeigte dann lädhelnd auf die gepflegten Hände, an
denen fie mit einem Mefferchen pugte.
Doch verfprad, fie Gehorfam und ftellte ſich zunaͤchſt
am. anderen Mittag, nad) kaum vollendeter Toilette und
noch fatt von ihrer Schofolade, an der gemeinfamen
Tafel ein.
Aber ſchon während ich das Tifchgebet ſprach, gähnte
fie; fie rungelte die Stirn, ald Freund Hecht die Suppe
ſchluͤrfte, und ald er fpäter gar einmal das Meffer zwifchen
ben Lippen hindurchzog, wurde fie blaß. Sie wendete
die Augen von den fchwieligen Händen unferer Vers
walter, der bloße Anblid des ſchwarzen Broted erregte
ihr Efel; daß fie Rippefpeer und Puffbohnen ungefoftet
ließ, braucht nicht verfichert zu werden.
216 Frau Erdmuthens Zwillingsfähne
„Unfere Tiere äßen nicht, was euch Deutfchen fchmedt,“
fagte fie mir nad) Tiſch. Den braven Judex nannte fie
Monfieur Averfion und den Doktor Monſieur Antipathie,
obgleich der Doftor — nicht bloß bei Tiſche — ein Gentle-
man und, glaubt cd nur, es nicht erft auf Nelfond Ad⸗
miralöfchiffe geworden war. Fräulein Liska Eonnte es
ihm nicht vergeffen, daß er ihr den eriten Schmerz im
Leben angefündigt hatte. Im übrigen war die Anti-
pathie gegenfeitig.
Wie aber beim Genuß, fo beim Gefchäft. Sie folgte
Frau Erdmuthen in Wildhfeller und Vorratöfammer,
aber fie ftand fteif wie eine Puppe vor allem, was fie
darin hantieren fah, und floh mit einem danfbaren Hand⸗
kuß, ald die Mutter fie freundlicd; ihres Freiwilligendien-
fted entband. „Das Kind ift nicht gefchaffen, um zu nügen,
aber um zu erfreuen,” fagte Frau Erdmuthe laͤchelnd.
„Laffen wir es bei feiner Art, ed tut und genug, wenn
es gluͤcklich ift.“
Fraͤulein Liska aber ſagte, als ſie mir den gelobten
Dienſt auffündigte: „Zu was dieſe Dual? Die Mutter
braucht mic) nicht, und ich werde nie ein deutſches Gut
zu bewirtſchaften haben.“
„Warum nicht, Liska? Wenn Sie nun einen deutſchen
Gutsbeſitzer heiraten?“
„Ich heirate aber keinen, oder halte mir Maͤgde, welche
die Milch abſahnen und Schinken einpoͤkeln. Die Ein⸗
geweide wenden ſich mir um, wenn ichs nur ſehe und
rieche.“
Sie haͤtte nun ein Stuͤck Zeug und die Inſtrumente
aufnehmen koͤnnen, mit welcher Hilfe eine Deutſche,
auch wenn ſie Dame iſt, viel Gram und Sorge verwin⸗
Zünfter Abſchnitt 217
den und in einer Einoͤde heimiſch werden kann. Aber
fie hatte, wie überhaupt wenig, fo auch von Handar⸗
beiten nur gewiſſe Klofterftickereien gelernt, für weldye
in ihrer Hiefigfeit Material und Zweck gebrachen. Sie
hätte fich des Gartens und Gewaͤchſshauſes annehmen
fönnen: aber fie liebte ed wohl, ſich mit Blumen zu
fhmüden und von den Früchten zu nafchen, doch fie
langſam und mühfam heranzupflegen, dazu fehlte ihr die
Geduld.
Alles in allem, fie hatte weder Neigung noch Humor
für unfere Natur und für unfere Menfchen mit ihrer
Laft und Luft. So gingen wir denn ein jeder feinem
Pflichtenfreife nad) und geftatteten der Fremden, eine
Fremde darin zu bleiben. Man hätfchelte fie wie ein
Kind, und juft die Kinderlaune war ed, welche über
Mutter und Sohn einen fo mächtigen Zauber übte.
Der alte Paͤdagog aber fühlte wohl, daß eine ftrenge,
gefegmäßige Zucht vonnöten fein würde, wenn man im
Ernfte daran dachte, das unheimifche Neid in unferem
Gehege Wurzel fchlagen zu Iaffen. Wußte er aber nicht
auch, wie felten folche Zucht Direkt von Menfchen und
obendrein von fremden Menfchen geübt werden kann?
Nur der mähliche Fluß der Zeit und ihrer Niederfchläge
wandelt unfere Eigenart um. „Und gar oft zu einem
Zerrbilde um”, feßte Albrecht Bär hinzu.
Im übrigen bemerften wohl auch Mutter und Sohn
bie Umftimmung ihres Schüglingd, nur daß fie in Gram
und Sorge die hinlängliche Erklärung dafür fanden.
Liska hatte ihrem Vater mehr als einmal gefchrieben
und Herrmann die Briefe durd, die dringendften Emp⸗
fehlungen des Öouvernemente zu fichern geſucht, auch
EP BR LE ET LT EEE
. ma = 2 BB #
u" Ai Due, aba De" Mae > Aut A er ee Se: = Ser ee ——
218 Frau Erdmuthens Iwillingsföhne
Frau Erdmuthe ſich nicht nur an ihren Sohn Raul,
ſondern direkt an General Thielemann gewendet, um
Auskunft uͤber den Kapitaͤn von Saint Roc zu erhalten.
Wie nun aber Woche um Woche ohne Erwiderung ver⸗
lief, da beſchwichtigte die Kleine ihre Ungeduld, indem
ſie die Briefe ſtudierte, welche Raul ſeit dem Eintreffen
in Kaliſch geſchrieben hatte, und wie ſie den Zuſtand
ihres lieben Papas aus dem des fremden Vetters ab-
leitete, identifizierte fie fich in Gedanfen mit dem Wanne,
ald deffen Ebenbild fie die Herzen einer fremden Familie
in Sturm genommen hatte. Sprad; er doch nidyt nur
mit ihren eigenen Lauten, fondern auch mit dem Aus⸗
druck ihres eigenften Gemuͤts. Stolz, Hoffnung, Lebens⸗
freude quollen aus feiner Bruft in die ihre. In den erften
Briefen, bis zum Eintreffen des Kaiſers in Wilna,
brannte er vor Ungeduld nad) der Eröffnung bes Feld-
zugd, der Europa von ber Bedrohung afiatifcher Bar⸗
baren befreien ſollte. Das Seelenbäschen glühte nach⸗
träglidy mit. Er fchalt die Polen, weil fie nicht mit der
erwarteten Begeifterung ſich dem größten zivilifatorifchen
Unternehmen der Gefchichte in die Arme warfen und
an die Herſtellung ihres armfeligen Vaterlandes mehr
ald an den weltgebietenden Ruhm Frankreichs und feis
ned Kaiſers dachten. Mademoifelle Liska ftimmte in dies
fed Schelten ein, obgleich die Geſcholtenen die Landes
leute waren ihrer angebeteten Maman.
Während des Vormarfched der großen Mittelarmee
ſchrieb Raul von Station zu Station in ungebrochener
Siegeszuverſicht. Und das nicht etwa aus militärifcher
Rücficht oder aus Schonung der Familienforge. Seine
elaftifche Natur empfand eben wenig von den Strapazen,
Fünfter Abſchnitt 219
dem Sonnenbrand, dem Mangel, ber ungeheuren Er»
mattung, welchen faft ein Dritteil der Armee fohon vor
dem Kampfe erlag. Es ging ihm wie dem Jaͤger, ber
in blinder Leidenfchaft ein flüchtiges Wild verfolgt und
aus dem blutigen Rauſche erft erwacht, wenn er, vers
ſchmachtend inmitten einer Wildnis, den zurädleitenden
Pfad verloren hat.
Während der Ruhepaufe in Witebsk hatte er ben Brief
der Mutter erhalten, der ihm den Eintritt der fremben
Verwandtin in ihr Haus mitteilte. Er begrüßte fie mit
den wärmften Worten, o, mit wieviel wärmeren als ben
eigenen Zwillingöbruder. Über das Schickſal des Kapi-
taͤns von Saint Roc verfpracdh er die umfaffendften Er:
fundigungen einzuziehen.
Doc, hatte er noch nicht einmal aber den Stand beffen
Regiments etwas Zuverläffiges erfahren können, ald er
am 20. Auguft unmittelbar nad) den Gefechten um Smo-
lensk zum legten Male fchrieb. Seine Seele ging höher
denn je. Er nahm die Erfolge der Seinigen und ben
fortgefegten Ruͤckzug der Gegner für bad, was der letztere
zu jener Zeit wohl auch wirklich noch war, für die Tat
der Notwendigkeit, nicht eined Syftems; er phantafierte
von dem nahen Siegeds und Friedendfefte in der Ka-
pitale des Zarenreichee.
Liskas Wangen glühten nad, biefer jubelvollen Kund⸗
gebung unſeres Monſieur Bulletin. Die Zweifel über
ihren Papa fchlug fie ſich aus dem Sinn; fie war ges
wohnt, ihn in Kriegsgefahr zu wiffen, und vorahnende
Sorge lag nicht in ihrem Naturell. Mädhtige Hoffnungen
waren in ihr angefacht; Hoffnungen nicht bloß auf ben
Stern des Kapitänd. Sie hoffte für ſich ſelbſt; unbe:
220 rau Erdmuthens Zwillingsföpne
ſtimmt, unbewußt vielleicht, wie einer hofft, der das
Bruchteil eines Lofes in einer großen Lotterie befißt und
unter taufend Nieten auf einen Treffer zahlt. Möglich,
daß die reichen Sarmatenfchlöffer wieder erftanden, in
welche Frau Lodoiskas Phantafie ſich geflüchtet hatte.
Vielleicht rechnete fie auch auf eine baldige Ruͤckkehr
nad Frankreich, furzum auf einen ihre Gegenwart ver-
ändernden Wechfel; hier aber oder dort zog die Begeg-
nung mit dem feelenverwandten Raul fid) wie ein roter
Faden durch ihre Träume.
Die nämlichen Ereigniffe nun aber, welche unfer frän-
fifcher Ruhmesritter als weltbezwingende Siege feierte,
diefelben Rüdwärtöbewegungen der ruffifchen Armee
belebten das Freiheitähoffen unferer deutfchen Patrioten,
ja, fie wuchfen zur unerfchütterlichen Zuverficht, als
Schritt für Schritt die anfängliche Notwendigkeit zu
einem ftrategifchen Plane wurde, in dem man bie Seele
bed großen beutfchen Agitatord zu erkennen glaubte.
Das Gold ded Schweigend war von zweifachem Wert
in jener Zeit; den aufmerfenden Freunden aber fpradı
ein ftetiges Handeln beredt genug für den eines ficheren
Zieled bewußten Willen.
Das fächftfche wie preußifche Gut wurden verprovian-
tiert, ale hätte ein Prophet die fieben mageren Jahre
nach ben fetten vorausgefündet; hier wie Dort waren
längft fräftigende Leibesübungen eingeführt, unter Ber-
gnuͤgungsvorwaͤnden Schießftände errichtet, aus England
und Schweden eingefchmuggelte Büchfen verteilt worden.
Schlug die Stunde, nad) welcher feit ſechs Sahren jede
Fiber diefes anfcheinend fo ruhigen Herzens pulfierte,
dann durfte der Junker vom Burghof ein wohlgefchultes
Fünfter Abfchnitt 221
Faͤhnlein dem neuen Kreuzzuge zufuͤhren, und die drei Neſt⸗
linge in weiland Safrandrell wuͤrden ihm als treue Schild⸗
knappen zur Seite ſtehen. Sie bildeten ſchon jetzt gleich⸗
ſam ſein Stabsquartier; gingen, kamen, redeten, ſchwiegen,
handelten blindlings auf ſeinen Wink, bereit, Gut und
Blut mit ihm und fuͤr ihn zu wagen. Durch die Hand
dieſer unverfaͤnglichen Leute verbreiteten ſich weit uͤber
unſere Heimat hinaus die erweckenden Schriften, die, zu⸗
meiſt von Arndt in Rußland ausgehend, heimlich in
Deutſchland gedruckt und kolportiert wurden. Es war
ein ſtumm gefchäftiged Weben und Walten um uns
herum, deffen Sinn wir zu deuten wußten.
Rauls letzter Brief, der durch einen Kurier an den
König ungewöhnlich rafch befördert worden war, er:
reichte und am Vorabend des Geburtötages der Zwillings⸗
brüder, des fechften September, und erwähnte ich wohl
ſchon, daß es Sitte geworden war, mit diefem Freuden:
fefte das unferes Erntedanfed zu vereinen. Wenn nun
in früherer Zeit diefe Feier ſich auf das Gut befchränfte,
da ed in der Gemeinde blutwenig zu ernten gab, fo be>
zeugten fi weiterhin Danf und Freude auch im Orte
Hans für Haus, feitdem durch Frau Erdmuthens men>
fchenfreundliche Verwaltung und mehr noch durch ihres
Sohnes meliorierende Neuerungen der Zuftand der Bür-
gerfchaft fich fo viel gedeihlicher geftaltet hatte, Meben
dem Ahrenkranz der Gutsarbeiter wurde auch der der
Gemeinde in feſtlichem Aufzug in den Burghof gefahren;
an den vollen Tafeln, die darin aufgeſchlagen waren,
nahmen, außer Dienern und Feldarbeitern ſamt Kind und
Kegel, von den Ortsangehoͤrigen Platz, wer Luſt und
Appetit empfand; am Nachmittag ſammelten ſich in den
922 Fran Erdmuthens Iwillingsfähne
befränzten Schloßräumen Freunde und Bekannte aus
der weit ausgedehnten Nachbarfchaft, um das Doppel:
feft miitzufeiern. Daß Fräulein Iduna zu diefem ihrem
Herbfttermine niemals gefehlt hat, braudyt wohl nicht
verfichert zu werden.
Das Triebwerk ded Tages rollt, gleichviel ob die Herzen
in Entzüden oder in Angſten klopfen, und Frau Erd⸗
muthe war die letzte, redlichen Arbeitern eine wohlver⸗
diente Erholungsſtunde zu entziehen, weil ihre eigene
Seele Leid trug. Sie wußte um die ſtuͤndliche Gefahr,
die ihren Lieblingsſohn bedrohte, ſie ahnte das Unheil,
dem er, wenn er noch lebte, ſorglos entgegentaumelte;
ſie kannte auch die heimlichen Ruͤſtungen, mit welchen
der Sohn, welcher ihr Freund war, der Sache ſeines
Bruders entgegenzutreten trachtete; das Haar auf ihrem
Haupte bleichte die Sorge, aber auf ihrem Herde lo⸗
derten maͤchtige Kiefernkloben, die Keſſel brodelten, in
Kuͤche und Keller waltete jenes geſchaͤftige Treiben, das
bei jedem Volke, und unſerem lieben deutſchen zumal,
die Baſis alles Vergnuͤgens wie aller Gaſtfreundſchaft
bildet und in Ewigkeit bilden wird.
Seit ihrer Verwitwung war es Frau Erdmuthens
Lieblingsplan, an Stelle unſeres armſeligen Kirchleins
ein dem Wohlſtande des Patronats entſprechendes Got⸗
teshaus aufzurichten. In einer traurigen Stunde hatte
ſie ja ſchon einmal an die Kloſterruine gedacht, die ſich
fuͤr dieſen Zweck ſo ausgeſprochen eignete. Die politiſche
Unſicherheit und Herrmanns Kulturanlagen ließen den
Plan jedoch in den Hintergrund treten. „Erſt unſer
gutes Recht, dann die Friedenskirche“, ſagte ihr Sohn,
und ſie neigte in ſchweigender Zuſtimmung das Haupt.
Fünfter Abſchnitt 223
Mir für mein Teil war der Auffchub eben recht. Ich
liebte unfere Kirche fo, wie fie war; wie ich den alten
keibroc liebte, den mir mein Vater vererbt hatte, In
einem neuen Rock und in einem neuen Hauſe wuͤrde id
mein Amt nicht mit fo viel Wohligfeit verwaltet haben.
Mir begnügten und daher mit einer forgfältigen Säu:
berung, und da man vorderhand nicht tun konnte, was
den Sinn erhebt, tilgten wir mindeftend, was die Sinne
beleidigt.
Der befcheidene Tempel hatte für die morgende Feier
ein Feftgewand übergeftreift. Gruͤne Gewinde ringelten
fih um die hölzernen Träger; der braune Ziegelboden
war mit einem Teppich von Tannenreid und duftigem
Kalmusrohr belegt, um das dunkle Kreuz über dem Altar
ein voller Ährenfranz gefchlungen. Ich hatte mit meinem
Jugendchor eine Motette vom alten, lieben Vater Badı
probiert und ftand bei einbrechender Dämmerung unter
dem Portal, deffen roh gezimmerted Gewaͤnde fich hinter
einem Rahmen von Sonnenblumen verftedte. Mit Vers
gnügen überblickte ich noch einmal ben wohlgelungenen
Schmuck.
Da kam Liska von der Kloſterſeite her. Es war ihr
Lieblingsweg. Das an Schoͤnheit gewoͤhnte Auge hatte
in der waldumrahmten Ruine den einzigen romantiſchen
Punkt der Gegend ausgefunden, und die kleine Kapelle,
die noch die Kennzeichen des katholiſchen Kultus trug,
weckte ihr heilige Erinnerungen. Der Jubel uͤber Rauls
juͤngſten Brief war in eine elegiſche Stimmung umge⸗
ſchlagen. „Ihr bereitet Freudenfeſte, und ich ano eine
Trauermeffe hören“, klagte fie.
Gie at mir IapR Be Mal bie Sehnſucht nach
924 Frau Erdmuthens Iwillingsfähne
einem kirchlichen Opfer fuͤr die Seelenruhe ihrer Mutter
ausgeſprochen. War dieſelbe doch ohne den Segen der
Sakramente geſtorben und nicht in geweihter Erde be⸗
graben. Welchen beſſeren Troſt aber haͤtte ich ihr zu
geben vermocht, als daß es Gottes Wille ſei, der ihr
zur Zeit dieſe Entbehrung auferlege, und daß das Gebet
eines liebenden Herzens die Kraft eines wundertaͤtigen
Opfers in ſich trage. Heute wie fruͤherhin ſchuͤttelte
ſie den Kopf und ſagte unwillig: „Was verſteht ihr da⸗
von?“
Eine beſſere Wirkung erzielte ich, indem ich die Lebens⸗
hoffnungen, welche der Brief unſeres Sanguinikers er⸗
regt hatte, von neuem in ihr anfachte. „Wie wuͤrde Ihr
Vater, wie würde auch Ihr unbekannter Bruder, Liska,
ſich freuen,“ fagte ich, „wenn fie bei der Heimkehr Sie
den Freunden, die Ihnen fo liebreich die Hände bieten,
innig verbunden fähen. Empfinden Sie mit ihnen den
Segen ihrer Arbeit, für den wir Gott öffentlichen Dank
zu fagen im Begriff find; ed ift eine Gnade, die auch
Ihnen zugute kommt.“
Freundliche Bilder fchienen während diefer Worte in
ihr aufzutauchen. „Sch will mit Ihnen Danf fagen,“
verfegte fie, indem fie einen heiteren Blick in das ges
fhmüdte Bethaus warf. „Auf Wiederfehen morgen in
Shrer Kathedrale, mon bon petit cur&!“ Laͤchelnd ſchwebte
fie voran. Sie war mir nody nie fo liebenswuͤrdig vor-
gefommen. Am Abend zuvor hatte Frau Erdmuthe zum
erften Male den Wunfch einer Verbindung Liskas mit
ihrem Sohne gegen mid) audgefprochen. Die Liebe vers
blendete die fonft fo hellfichtige Frau; nicht nur die Mut—⸗
terliebe, fondern mehr noch die zu dem unvergeßlichen
Fünfter Abfchnitt 225
Gemahl, deffen Abbild fie in dem fremden Kinde erfannte.
Daß ed nur ein Außerliched Abbild war, daß nadı Er⸗
ziehung, Religion, Sprache, Lebensweiſe und Heimats⸗
gefühl, ja felber der Sinnesart nach der Gatte ihr ein
Gleicher gewefen war, dag wollte fie ald Einwand nicht
gelten laffen. „Lieben fie fi nur, wie wir ung liebten,
fo werden fie glüdlich fein, wie wir ed waren,” fagte
fie. „Herrmann liebt fie, ich fühle ee, und follte fie fein
Herz zu diefem herrlichen Freunde faſſen können?”
Ich hatte beflemmt gefchwiegen; nun aber, fo wenig
ich auf eine Profelytin rechnete, fah ich in Liskas Zuges
ſtaͤndnis eine Näherung, die mich weiteres hoffen lief.
Ich folgte ihr nach dem Schlofle, fand fie im Wohns
zimmer mit Herrmann allein und zögerte nicht, Die gute
Botfchaft mit einem Trompetenftoße zu verfünden.
„Dank, Liska,“ fagte Herrmann bewegt, indem er ihre
Sand an fein Herz drüdte. „Werden Sie die unfere je
mehr und mehr, werden Sie ed ganz.“
Nun, das war deutlich. Und fie?
Da ftand ein Mann vor ihr, jung, untadelig an Geift
und Geftalt, mit einem Blick der innigften Liebe in den
treuen Augen und einer Fülle zeitlich guter Gaben, bie
er zu ihren Füßen niederlegte. Ein Lächeln, ein Laut,
ein leifer Gegendrud der Hand, und er war ber Ihre
fürd Leben. Wenige oder feine von Fräulein Sdunas
langem Regifter würde ſolchem ungweideutigen Werben
gegenüber die Spröde gefpielt haben, felber die Günftigfts
geftellte faum. Und diefe heimatslofe Waife, der welt:
verlaffene Schügling feines Hauſes, fie riß fi) von ihm
[08 und fagte lachend: „Dröles d’Allemands! kommen .
Sie, Couſin, fragen wir die Mutter, ob auch fie ein
XX.15
226 Fran Erdmuthens Swillingsföhne
Heldenopfer darin ficht, daß die Dumme Liska ein Stünds
chen ftillfigen und geduldig mit anhören will, wovon fie
feine Silbe verftcht.“
Damit z0g fie ihn aud dem Zimmer. Nehmt ed aber
beileibe nicht für ein gefallfüchtiges Spiel, halb Ja und
halb Nein, das fie in diefer Weife tried. Sie errötete
nicht, ihre Augen glänzten nicht, fie feherzte im Ernſt;
fie ahnte fein Begehren, weil ihm dad ihre nicht ent
gegenfam, fie verftand nur dad, was fie empfand. Die
fleine Franzöfin war manches, was fie nicht hätte fein
follen, aber kofett, wie Franzoͤſinnen fein follen, war fie
nicht. Sie liebte ed zu gefallen, aber nicht mit beredy-
neter Keuchelei. AU meine Siegedhoffnung war in den
Brunnen geftärzt, und eine bittere Aufgabe dafür heraufs
gezogen. Den lieben Freunden mußte ihre Täufchung
benommen werden und bald, ehe fie zum Schmerze ward.
Wie häufig in bemegter Stimmung feßte ich mid) ans
Klavier; ich phantafierte eine Weile und fchlug dann
unwillfürlich die Melodie unfered Bundeslieded an.
Nach einer Weile fühlte ich Serrmannd Hand auf meiner
Schulter, ich hatte ihn nicht wieder eintreten hören.
„Sie hatten recht, treuer Mentor, das ift Freundfchaft“,
fagte er.
„Und wenn ich heute nun fagte, Herrmann, daß ich ale
ein Tor Ihnen widerfpracdh; wenn es dennod) Liebe wäre,
Liebe, wie fie und ziemt und frommt und allein ung
dauernd beglüdt?“
„So würden wir fie beide erffärt haben, ich damals
und Sie heute, wie der Blinde die Farbe erflärt, die er
denkt, ftatt fieht“, fagte er, drücte mir die Hand und
verließ das Zimmer.
Fünfter Abſchnitt 297
„Ad, er Tiebt fie, und fie liebt ihn nicht.“ Diefe alte
Gefchichte, Gott verzeih ed mir, war ftatt des Evange⸗
lientextes der Inhalt meiner feftnächtlichen Betrachtung,
und mein Herz hämmerte gegen die Bettdede, ald wenn
id) felber der ungeliebte Liebhaber wäre. Für meinen
Herrmann freilich fah ich in einer Abweifung nur einen
glüdbringenden Schmerz; was aber wurde aus der hei-
matlofen Waife, nachdem die Abweifung einmal ausges
fprodyen war. Konnte Liska noch länger unter dem
Dache ihrer Beſchuͤtzer mweilen? Fertig gebracht hätte
ſie's allenfalls. Aber Mutter und Sohn? Ich fchlief
endlich ein mit dem tröftlichen Verlaß auf die flämifche
Felsſche Ader, die eine Entfcheidung hinausfchieben
werde, bis irgendeine Ausflucht fich gefunden habe.
Am anderen Morgen faß Liska zwifchen Frau Erd⸗
muthen und Herrmann mir gegenüber in der gutsherr»
lichen Empore, und zum zweiten Male fagte ih: „Gott
verzeihe mir die Sünde,” ich fchielte zu ihr hinüber wie
der Schüler zum Rektor, wenn er ein Examen zu be-
ftehen hat. Schon während ded Morgenliedes fchnitt
fie ein Geficht, al ob fie den biederen Judex die Suppe
fchlürfen höre; auch die Fugenfäge meines Jugendchors
fchienen ihr nichts weniger als ein Ohrenfchmaug zu fein.
Dann fam die Liturgie mit obligatem Stirnrungeln und
Händeballen. Nun dad Erntelied, Es hatte freilich
dreizehn Verſe; als ich dem Küfter den Sirchenzettel dik⸗
tierte, fonnte ich da aber vorausfehen, daß wir eine Zu-
hörerin haben wuͤrden, die immer bläffer und bläffer
wurde und ſich fchüttelte wie jemand, der etwa Kork
fchneiden oder ein Meffer auf dem Teller quietfchen hört?
Sch betrat die Kanzel mit dem gottlofen Vorſatz, ed fo
228 Frau Erdmuthens Zwillingsföhne
kurz zu machen, als meine langatmige Gemeinde es ir⸗
gend vertrug. Unter vier bis fuͤnf Geſichtspunkten, aus
welchen wir den Text betrachteten, konnte ich es indeſſen
durchaus nicht tun, ohne der Wichtigkeit des Tages zu
nahe zu treten. Noch ſchmeichelte ich mir mit der Hoff⸗
nung, daß die Fremde in das rhythmiſche Heben und
Senken der Haͤupter meiner frommen Kirchenmuͤtterchen
einfallen werde. Aber ſie nickte nicht ein; im Gegenteil,
ſie ſchnellte von ihrem Platze empor und ſtand, die Haͤnde
an den Rand der Galerie geklammert, mit zuſammen⸗
gezogenen Brauen und zuckenden Mienen mir drohend
Auge in Auge gegenüber von X bie 3. Nur als zum
Schluß beim Gebet für die herrfchaftlichen Zwillings-
föhne die Gemeinde aufftand und mit Anteil zur Mutter
in die Höhe blickte, war ed der Name „Raul“, der aus
dem bisherigen Chaldäifch ſich ihrem Ohr verftändlich
abzuheben fchien. Ich fah fie die Hände falten und die
Lippen bewegen. Nun fprad) id; den Segen und ent-
floh, während der Schlußgefang verhallte, ohne gewohn-
termaßen die Gutöfreunde zu begrüßen, durch die Sa⸗
Friftei in meinen Garten,
So war von den Häuptern meiner Lieben wenigſtens
das Unwetter abgeleitet; auf das eigene platte ed um
fo ungeftümer nieder. Ic, hatte mein Haus noch nicht
erreicht, ald die Fleine Here an meiner Seite ftand, um
vor ihrem guten Fleinen Pfarr’ die volle Schale der Ems
pörung über und Feterifche Barbaren und unfere ſtupide,
falte, plumpe, Tangweilige Verehrung bed Heiligen aus⸗
zugießen. |
. Ich werde mich wohl hüten, die kindliche Merkuriale
zu wiederholen, verfichern aber will ich, baß die Übers
Fünfter Abfchnitt 229
fchwenglidhfeiten der kleinen Suͤdlaͤnderin ſich weit vers
ftändlicher anhoͤrten als die wortverwandten, welche von
romantiſchen Neubekehrten der eigenen Zone dazumal in
die Mode kamen. Es klang zwar nicht neu, aber doch
natuͤrlich, was die purpurnen Lippen und funkelnden
Augen mir ausmalten. Ich ſah die hohen Kathedralen
und die ſchoͤnen Gläubigen zu Füßen ber ſchoͤnen Ma—
donnenbilder; ich atmete Orangen und Weihraudybüfte,
hörte die Seraphschoͤre, unter denen der Priefter im
weißgoldenen Gewand bad Opfer der Wandlung volls
zieht und ben fichtbaren Gott über den Haͤuptern bei
anbetend nieberfinfenden Schar verkündet.
Und wenn nun unter den dünnen Klängen unferer
Orgel und dem nÄfelnden Gefang der armen Heidege⸗
meinde, unter der chaldäifchen Predigt des Fleinen Pfarre
jene entfchwundenen Herrlichkeiten in dem wiberwilligen
Fremdling Iebendfrifch wieder aufgewacht waren, fo
würde ich ihm dieſes religiöfe Heimweh ohne proteftan-
tifche Skrupel nachgefühlt und nachgefehen haben, hätten
nur die nordifchen Barbaren, die ich liebte und die dem
alleinigen Gott im Herzen feinen Tempel bauten, nicht
allen Ernfted daran gedacht, den Frentdling auch durch
religiöfe Bande unter unferem firengen Himmel heimifch
zu machen.
Sp ließ ich denn Drangens und Weihrauchbüfte ohne
Abwehr über mich ergehen. Bor dem, was aber nun
folgte, verwandelte aller Wohlgeruch fich in eitel Pech⸗
und Schwefeldunft.
„Und biefem Gefang, und dieſer Predigt: zuliebe,”
rief Liska mehr und mehr aufgebradjt, „biefem Falten
Gottesdienft zuliebe Fonnte ein Saint Roc feine fonnige
230 Fran Erdbmuthens Swillingsföhne
Heimat und feine heiligen Stätten verlaffen und in einer
nordifhen Wüfte ein Geſchlecht begründen, froftig und
nüchtern wie der Himmel, zu dem ed aufblidt, und wie
die arme Erde, die ed ernährt.“
„galten Sie ein, törichtes Kind!” rief ich ihr entgegen.
Aber da war fein Halt. Das Mädchen war außer fid.
„Und unter diefen Himmel bin ich ausgeſtoßen,“ fchrie
fie händeringend,. „und unter diefen Menfchen foll ich
leben und fterben, und Gluͤck und Seligfeit opfern - und
ich bin noch nicht achtzehn Jahr!“
Ein konvulſiviſches Schluchzen unterbrad; fie; ich fonnte
zu Worte kommen. Auch mein Blut war ind Kochen
geraten. „Sind Sie endlich fertig, heillofe Toͤrin?“ rief
ich empört. „Und wenn Sie die Sünde nicht fcheuen,
einen Gotteödienft zu Iäftern, deffen Höhe und Tiefe Sie
nicht ermeflen innen, fhämen Sie ſich nicht des Uns
danks gegen die Menfchen, deren Liebe — -“
„Liebe!“ unterbrach fie mich, indem fie verächtlich die
Achſeln zuckte, „Liebe! Wiffen diefe Menfchen, was Liebe
iſt?“
„Nicht, etwa nicht?“ donnerte ich. „Nun gut; ed mag
Mitleiden gewefen fein, Erbarmen, dad die Waife des
fremden, hilflofen Weibes von der Schwelle des Armens
fpitteld unter den Schuß eined edeln Hauſes gerettet
hat; was Sie aber darin feſthaͤlt ohne Gegendienft, fefls
halten möchte lebenslang mit einem Zartfinn, einer Scho>
nung, die der eigenen Tochter nicht gewährt worden
wäre, das ift nicht bloß Mitleiden, das ift Liebe, Liebe,
die fo rein und freudig Shre leibliche Mutter, undank⸗
bare Kreatur - -"
Ich ſtockte; in fehr undhriftlichem Zorn hatte auch ich
Fünfter Abfchnitt 231
über mein Ziel hinausgefchoffen, und fchon wurmte mich
die Wahrheit, die ich fo ſchnoͤde ausgeſprochen. Aber
weld; ein Umſchlag in dem fchäumenden Gegenüber!
Was nicht die mildefte Mahnung hätte vollbringen koͤn—
nen, der gifchende Eifer hatte ed vollbradht. Liska blickte
mich an mit einem Ausdrud von Wehmut, ja faft von
Vernunft; wie ich ihn niemals an ihr wahrgenommen
hatte.
„Mein“, entgegnete fie fanft. „Mein, reiner hätte Mas
man mich nicht geliebt, aber freudiger, Vaͤterchen. Ich
bin nicht undanfbar, nur ungluͤcklich, adh, fo fehr. Deine
MWohltäterin ift eine Heilige, ich beuge meine Knie vor
ihr. Wenn idy fie Mutter nenne, denke ich an die Gnas
denmutter, bie nicht in Sünden geboren if. Maman,
meine füße Maman fchalt mich, wenn id; unartig war;
fie jagte mich von ſich, fie hat mich gefchlagen, ja, ges
fchlagen, Bäterchen. Aber dann küßte fie mid) wieder:
ich fühlte ihre glühenden Tränen und hörte ihr goldenes
Lachen. Sch war Blut von ihrem Blut, und Herz von
ihrem ‚Herzen, ich war ihr Glüd, ihr Leben; mein Tod
würde ihr Tod gewefen fein: und das iſts, was ich lies
ben heiße, Bäterchen, und was eure großen, fühlen Mens
fchen nicht verftchen. Diefe Mutter fieht ihren liebften
Sohn in Todesgefahr — ed ift eine Einbildung, die fie
nun einmal hat. Raul lebt, er wird leben! Aber wer
hat einen Klagelaut aus ihrem Wunde gehört? Ihr
Herz weint, und fie feiert Freudenfeite. Und Erman — -"
Sie brach ploͤtzlich ab.
„Und Herrmann?” fragte ich gefpannt.
Jaͤhlings wie die Wetter der Tropen, ziehen in folchen
Naturchen die Stimmungen auf und ab. Jetzt Blig und
282 Frau Erdmuthens Bwillingsfähne
Schlag, dann kurze graue Stille, und Sonnenfdein wie
zuvor. Dem Parorysmus folgt die Apathie. Made
moifelle unterdräcdte ein Gähnen.
„Und Herrmann? Was wollten Sie von Herrmann
fagen, Liska?“ wiederholte ich.
„Bon Erman?“ antwortete fie gebehnt. „Von Erman?
Nichte. Il m’ennuie, voilä tout.”
Mir fuhre wie Geißelhiebe über den Leib. Die Kehle
war mir zugefchnürt; id) fehrte dem Unhold den Rüden
und ging meinem Haufe zu. Noch hatte ic) feine Schwelle
aber nicht erreicht, als Fisfa mir nachfam und mit bei-
den Händen nad) den meinen faßte.
„Zuͤrnen Sie mir, Vaͤterchen?“ fchmeichelte fie. „Nun
ja, Erman ift Ihr Herzengfohn, und er ift feiner Mutter
Ebenbild, ein Ideal. Aber was wollen Sie? Sch bin
eben fchlechter Laune heute, und — er interefjiert mid)
nicht. Und wiffen Sie, was Maman einmal gefagt hat,
Bäterchen? ‚Sch danke den Menfchen, die mich inters
effieren, mehr als denen, die mir dad Leben gegeben
haben‘, hat Maman gefagt.”
Diefe Phrafe, Frau Lodoiskas würdig, fleigerte nur
meinen Grimm gegen ihre Tochter, die einen Mann wie
Herrmann langweilig fand — und weiter nichts. Hätte
das Schwert des Engeld mir zu Gebote geftanden, ich.
würde ohne Erbarmen dieſes Evchen aus meinem Para-
dies verjagt haben.
Wir fprachen fein Wort weiter, bis wir das Schloß
erreicht hatten. Die Erntefränze wurden eben mit Muſik
in den Hof gefahren, und mein Fleiner Widerpart blickte
nicht ohne Vergnügen auf das buntbelebte Bild. Auch
der Feftgenofjen Sang und Redenwechſel — Iegterer vom
Fuͤnfter Abfchnitt 233
unintereffanten Coufin Erman erwidert — fchienen ihr
unter Gottes freiem Himmel gefälliger anzuhören, als in
einem fegerifchen Tempel. Während nun aber die vollen
Schuͤſſeln und Krüge aufgetragen wurden, die Gefell-
fchaft fi an den weißgededten langen Tafeln nieders
ließ, der Herr Paftor das Tifchgebet ſprach, Gutsfrau
und Gutsfohn mit freundlicher Nötigung die Runde
machten, war das fremde Fräulein nach feinem Zimmer
entflohen, um Siefta zu halten und für den herrfchaft-
lichen Nachmittagsfreis, fo gut die Trauer es zuließ, fich
zu toilettieren.
Mit der erften in ben Hof rollenden Kutfche ftellte
Fräulein Liska fich wieder ein. Das morgendliche Pathos
war verfchlummert und verpugt, verflogen ohne Spur,
der Simmel weiß in welchen Winfel der Seele. Im
fchwarzen Iuftigen Florfleide, eine weiße After über dem
Ohr und eine vor der Bruft, fah fie ganz allerliebft aus.
Pikant, fcharmant fanden fie die Gäfte, deren Mehrzahl
fie heute erft kennen lernte. Man würde fie fharmant
gefunden haben, ſchon weil fie eine Fremde war; aber
fie war in der Tat fcharmant mit ihrer graziöfen Beweg⸗
lichkeit und unbefangenen SKinderlaune; felber der gifs
tige Fleine Pfarr’ mußte ed zugeftehen, und feiner gewiß
tat ed bereitwilliger ald der deutfche Coufin, der ihr
langweilig war und weiter nichts.
Da faß und ftand nun eine Mufterfarte junger Landes
männinnen aufgereiht, alle ftattlicher, wohlerzogener und
im Grunde fchöner als die Fleine, ſchwarze Franzöfin;
die geringfte von ihnen würde leichter ale fie dem Traums
bild, das Herrmann gehegt hatte, entiprodyen haben; an
jeder aber ſchweifte fein Blick gleichgültig vorüber, um
234 Fran Erdmuthens Swiltingsföhne
dann einen Moment mit einem Strahl des Entzüdeng
auf dem laͤchelnden Bäschen auszuruhen. Die Wutter
teilte fein Wohlgefallen; Fräulein Iduna aber war
ſchlechthin in Ekſtaſe. „Welch eine Afquifition, Baro⸗
nin!“ „Eine Delice, eine Charme, dieſe Couſine, Baron!
Ganz Ihr Bruder Raul!“ rief fie ein über das andere Mal.
Nachdem der Kaffee gereicht worden, begann der Tanz,
für welchen am Ausgang der Ulmen eine Bühne errichtet
war. Maͤnniglich reihte man fid zu Paaren. Was Fraͤu⸗
fein Liska da für Augen machte, ald fie ihren ernfthaften
Better auf die dicke Großmagd, Frau Erdmuthen an der
Hand des Großknechts auf eine junge Komtefle zufchrei-
ten fah, mit der Bitte, an ihrer Statt den Tanz zu ers
öffnen. Die Muſik ftimmte einen rafchen Walzer an.
Der Knecht legte feinen fchwieligen Arm um die Taille
der Komteffe, die Magd ihre braunen Fäufte auf die
Schultern ihres Junkers, und dahin ging ed im Wirbel
über die klappernden Dielen unter dem Ulmenfchatten.
Hoch und gering, alt und jung, felber die finder dreh>
ten ſich hinterdrein, nicht als legte aud) Fräulein Iduna
im Arm des weltweifen Juder. Ein paar freuzlahme
Großmuͤtterchen, Säuglingdenfel auf den Armen, abges
rechnet, bildeten Frau Erbmuthe, der englifche Doftor
und felbftverftändlich der Herr Paſtor das einzige zus>
fchauende Publikum. Nein, Liska noch: deren Trauers
leid Kavaliere wie Bauernburfdyen refpeftiert hatten.
Ich ſchaute nicht auf die Tanzgruppe, ich fchaute auf fie.
Fin Schrei entfloh ihren Lippen, eine Glutwelle übers
flog das Geficht, dann ftand fie mit offenem Munde wie
zur Salzſaͤule verfteinert.
Die Tochter des armen Kapitänd, die ihre erften gefell-
Fuͤnfter Abſchnitt 295
ſchaftlichen Eindrüde in den Hoffreifen eined Empors
koͤmmlings empfangen hatte, verftand nichts von patris
archalifcher Sitte; ebenfowenig aber hegte fie die Stans
deöbegriffe, welche für fämtliche anwefende Damen und
Herren, Frau Erdmuthen und felber meinen Serrmann
faum ausgenommen, ein Koder waren. Sie wiirde lies
ber einem Majo ald einem ungierlichen Granden im
Tanze wie im anderweitigen Leben gegenübergeftanden
haben - aber folch einem tölpelhaften, deutfchen Bauerns
Inecht! Dazu der Rundtanz! Sie hatte noch niemals
walzen fehen, Arm in Arm, Bruft an Bruft, Atem gegen
Atem in diefem rafenden Wirbel! Waren das die näm>
lichen Menfchen, die fie heute morgen beten fah? Waren
das die züchtigen, beutfchen Fräulein, von denen Doftor
Bär behauptete, daß fie nicht, ohne rot zu werden, einem
Manne gute Nacht fagen koͤnnten? Dröles d’Allemands!
Sept war ed die Tochter Frau Lodoiskas, welche errötete,
Sobald dem Ehrentanz genügt war, zogen „bie Herr⸗
fhaften“ fi in die inneren Schloßräume zuruͤck; und
lärmte unter den Ulmen die Luftbarfeit um fo zwang»
Iofer bis in die Nacht hinein. Drinnen, wo feit der
Schloßfrau Verwitwung die Ballfreuden ausgefchloffen
waren, unterhielt bid zur Abendtafel ſich die alte Welt
an Boftons und Taroftifchen; für die junge arrangierte
Fräulein Iduna Gefellfchaftöfpiele, und hatte die reis
zende Fremde heute viel Mühe und Laft ihren fräftigen
Schultern abgenommen. Liska war die Königin des
Feſtes; von der allfeitigen Bewunderung aufgeregt,
fprühte fie Funfen wie ein geftreichelted Kägchen. Sämts
lihe junge Herren ftanden in Flammen, und fämtliche
alte wurden wieder jung; fie überließen, fooft fie konn⸗
236 Frau Erdmutheng Zwillingsföhne
ten, die Karten einem Aide und laufchten dem melo⸗
difchen Geplauder der Fleinen Franzoͤſin; felber ihre hei-
mifchen Mitfchweftern gaben fich, anfcheinend neidlog,
dem fremden Zauber hin. Sie zeigte ihnen, wie die
Spanierin die Mantilla im Haar befeftigt, gab franzoͤ⸗
fifche Nätfel auf, fang ohne Ziererei ein italienifchee
Liebesliedchen, das fie mit der Gitarre begleitete, Bes
hende holte fie die Kaftagnetten herbei, die fie nicht ver-
geffen hatte, ihrem Reiſetroͤdel beizufügen, ſchwang fie
zwifchen den Fingerfpigen und fummte die Melodie eines
Fandango dazu, während die Füßchen nach ihrem wech⸗
felnden Tempo trippelten, ald ob auch fie ihrerfeits zu
zeigen Luft hätten, was tanzen heißt. Kurz und gut,
Mademoifelle Lisfa war allerliebft.
„Die Göttin der Tugend fchreit heute Hurra auf ſpa⸗
nifch”, fagte Freund Phyſikus. Eben wogte fie daher,
unfere liebe, rote Dame, atemlos, eine praffelnde Flamme!
„Doktor!“ rief fie, „id bin wie berauſcht!“
„Erklärkich, himmlifche Hebe. Die Baronin hält auf
einen guten Lunel, und Sie lieben auch diefen Franzofen.“
Fräulein Iduna war viel zu begeiftert, um empfindlich
zu fein. Ä
„Magiſter!“ wendete fie fi zu mir, die heranfchwims
mende Zähre zurücdirigierend, „Magifter, Sie haben
die Hagebutte gekannt, als fie noch eine Roſe war.
Sagen Sie, Bleibtreu, ſchauen Sie nicht den Widers
ftrahl meiner achtzehn Jahre, wenn Sie in dieſes Kindes
Auge bliden?“
Und fo ſchloß denn der Erntetag, der unter Sturmes-
großen begonnen hatte, mit einem heiteren Sonnenblid.
“ % %
Fünfter Abfchnitt 237
Es war dad legte Auffladern für lange Zeit. Dem
plöglichen Schwarme folgte eine dauernde Stille; auch
Herrmann verließ und, um erft am Geburtötage ber
Mutter auf ein paar Stunden wieder einzufehren. Er
blickte ernfter ald je, obgleich er mit einem Freudenfchrei
bewillfommnet wurde, denn er brachte den Iangerfehnten
Brief vom Kapitän.
Liska öffnete und überflog ihn in unferer Gegenwart;
plöglic; aber, in Tränen ausbrechend, reichte fie ihn mir,
und fo brachte ich denn zum Vortrag, was das Mutter:
herz bangevoll geahnt, der Bruder im geheimen hoff
nungsverheißend erfahren hatte,
Herr von Saint Roc berichtete zunädhft, daß er, wäh-
rend ded Marfched vom Fieber befallen, in einem weft
preußifchen Flecken liegen geblieben fei, daher feinen
der Neifebriefe von Frau und Toghter erhalten habe und,
deren Aufenthaltes unfundig, fie nicht von feinem Zus
ftande benachrichtigen Fonnte. Anfang Auguft wieder
zum Regiment geftoßen, waren ihm erft nad) dem Auf:
bruche von Smolensk die Briefe zugefommen, für welche
Herrmann die befondere Empfehlung ded Gouvernements
erwirft hatte. Die Antwort datierte vom fünften Sep⸗
tember, angefichtd der rufftifchen Hauptarmee auf der
Straße nad Moskau; unter den einleitenden Gefechten
der Bortruppen und in Erwartung einer Entſcheidungs⸗
fchlacht. Weit mehr als ich ed dem glüdlichen alter ego
Fran Lodoiskas zugetraut haben würde, brüdte das
Schreiben die Stimmung eines durch die Not zur Vers
nunft gefommenen Mannes aus. Nur aber wenn er
allen Ernftes mit dem Leben abgefchloffen hatte, fonnte
ein Franzoſe fähig des ruͤckſichtsloſen Freimuts fein, der
238 dran Erdmuthens Zwillingsſöͤhne
auch den Verblendeten unter uns Heidebewohnern, vor
vielen anderen, die Augen uͤber den wirklichen Zuſtand
der glorreich vorwaͤrtsdringenden Armee geoͤffnet hat.
„Deine Trauerbotſchaft, meine Tochter,“ ſo ſchrieb der
Kapitaͤn, „war ein Todesſtreich fuͤr mein Herz. Ich
blicke auf eine ſehr gluͤckliche Vergangenheit zuruͤck;
meine Gegenwart aber heißt Elend, und fuͤr die Zukunft
habe ich jede Hoffnung aufgegeben, ſeitdem ich dieſes
Land betreten.
„Wenn ich indeſſen von meinem perſoͤnlichen Herzeleid
abſehe, fo muß ich dieſes unvermutete Scheiden als eine
Gnade der Vorſehung verehren. Die Verzweiflung, die
Euch erwartet haͤtte, iſt unausdenkbar, denn der Schutz
Deiner muͤtterlichen Verwandten, liebe Tochter, dieſer
Schutz, auf den wir ſo zuverſichtlich rechneten, war eines
von ben vielen Phantomen unſerer gluͤcklichen Zeit.
Meine Nachforfchungen haben nur nod) einen einzigen
Träger ded Namens Golchonsky ermitteln koͤnnen; Diefer
eine aber hat ſich bereits nach der Revolution von 95
ber ruffifchen Regierung angefchloffen und damit ohne
Zweifel das ficherfte Zeil erwählt. Ohne mid; bei dieſer
Sache aufzuhalten, liebes Kind: die polnifche Nation
Reht nicht in Flammen, wie man uns in Frankreich
glauben gemacht hat; im Gegenteil, ich hoͤrte von man⸗
chem, der, ergrimmt gegen den Kaiſer, durchaus nicht
gewillt war, die Kaſtanien fuͤr ihn aus dem Feuer zu
holen. Selber im Falle unſeres Sieges, an den ich nicht
glaube, wuͤrde dieſe Lauheit dem ungluͤcklichen Volke
grauſam angerechnet werden.
„Verſetze Dich in ſolches Wirrſal, meine Tochter; male
Dir das bittere Elend aus, das Euer in dieſem Lande
Fuͤnfter Abſchnitt 239
geharrt haͤtte. Dort durfte die Mutter wenigſtens mit
dem Troſt ſcheiden, ihr Kind auf eine faſt wunderartige
Weiſe geborgen zu ſehen. In ihrer Heimat wuͤrde ſie
irrend auf der Landſtraße geendet und Dich gluͤcklichſten⸗
falls im Hoſpitale hinterlaſſen haben. Und ich, ich, Dein
Vater, Liska, wuͤrde Dich nicht haben daraus erloͤſen
koͤnnen; auch meine Zeit iſt um. Widerſtaͤnde ich den
Kugeln, die uns vielleicht morgen ſchon niederſchmettern
werden, dem Wurme, der an meinem Marke zehrt, werde
ich nicht widerſtehen. Nimm dieſen Brief zugleich als
Beichte und als mein Teſtament. Ich werde Dich nies
mals wiederfehen, meine Tochter.”
Es folgte nun die Gefchichte feiner Iugend und feiner
forglofen Ehe: in größeren und ftrengeren Umriffen,
wefentlich aber übereinftimmend mit den Erinnerungen
feiner Gattin auf dem Sterbebette. Weiterhin hieß es:
„Sch habe von einem ausgewanderten Zweige meiner
Vorfahren niemals ein Wort gehört. Hätte in meinen
glücklichen Tagen ein deutfcher Saint Roc ſich mir ald
Verwandter vorgeftellt, ich würde ihm vielleicht als
Keber — denn ein guter, rechtgläubiger Chrift zu fein,
auch das war eine meiner Einbildungen - ganz gewiß
aber ald Abenteurer den Rüden gekehrt haben. Heute
preife ich Gott auf meinen Knien für diefed Band dee
Blutes und der Treue, und ich beſchwoͤre Dich, meine
Tochter, verehre Deine Wohltäter mit der danfbaren
Hingebung einer Waiſe; fie machen wieder gut, was der
Leichtfinn Deines Vaterd an Dir verfchuldet hat.“
Den Schluß ded Briefed bildete eine Schilderung ber
grauenvollen Drangfale, welchen die voranfchreitende
Armee Tritt für Tritt erlag, eine Schilderung, welche
240 Frau Erdmuthens Swiltingsfdhne nn
feitdem Iängft geſchichtlich geworden ift, hier aber, unter
dem erften frifchen Eindrud eined Augenzeugen, ung Die
Haare firäuben machte und der vorwärtödrängenden
Phantaſie ein Chaos unerhörter Widerwärtigfeiten ent⸗
huͤllte. Im Angeficht des Todes erlofch das Idol, das
auch diefen Mann geblendet hatte, und die alten Heilig»
tümer erwachten im Herzen des Kämpferd vom zehnten
Auguft. Die Hellficht der Verzweiflung machte den leichts
lebigen Kapitän zum Propheten. „Ich habe einmal“,
das waren feine legten Worte, „in Bicetre einen Narren
gefehen, der ſich einbildete, ein Adler zu fein, und fo lange
in die Sonne geblidt hatte, bi er erblindet war. Dies
fem Wahnfinnigen gleicht der gefrönte Soldat, der zur
Stunde Blut und Saft des Kontinents in diefe nors
bifche Steppe zum Untergange treibt. Sei er ein Ges
neral fo groß wie Alerander, ein ebenfo großer Sgnorant
der Natur wie Alerander und ihr noch größerer Ver⸗
Achter, wird er nicht einmal beffen Bruchteil von einem
Heere in die Heimat zurücdführen. Die Satrapien, die
er gegründet hat, werden ſich gegen den gewiffenlofen
Menfchenfchläcdhter erheben, und eined Tages, wenn er
den legten Franzofen von Hof und Herd, den lebten
Füngling vom Herzen der Mutter geriffen hat, wird er,
verlaffen von aller Welt, als flüchtiger Abenteurer enden.
O Ludwig, mein Märtyrerkönig, ein Kaifer der Frans
zofen hat an deinem verblendeten Volke dein ſchuldloſes
Blut gerädht!“
Als ich den Brief zu Ende gelefen hatte, wanfte bie
unglüdliche Mutter fchattenblaß aus dem Zimmer; Liska,
in der Sofaede zufammengefauert, bebte und ſchluchzte
unter bem Schal, den fie über den Kopf geworfen hatte;
Fünfter Abfchnitt 241
Herrmann ging fchweigend mit großen Schritten im
Zimmer auf und nieder. Ic, aber finde unter dem Das
tum des neunundzwanzigften September 1812 in meinem
Kalender nichts als die Worte aufgezeichnet: „Ja, Flo⸗
rentiner, es ift ein Grund.“
Die Schlacht von Borodino war am fiebenten gefchlas
gen worden. Herrmann hatte die Funde derfelben er;
halten, gleichzeitig mit dem Briefe des Kapitän, der fie
voraudverfündete. Noch ſchwankte im Widerfprudy der
Parteiberichte die Sicherheit ded Erfolges; ald aber bald
darauf die Nachricht von dem Einzuge in Moskau laut
verfündet ward, daneben jedoch erft Ieife, dann immer
deutlichere Gerüchte auftauchten von den Bränden, weldhe
die einziehende Armee empfangen hatten, da täufchten
wir ung freilich nicht mehr, daß ed ein Triumph gewefen
war, den der Kaifer errungen, feit den Tagen der Völfers
wanderung der biutigfte Triumph der Weltgefchichte,
aber wir täufchten und auch nicht über das Verhängnis,
das er heraufbefchworen.
Denn diefem Chaos von Leichen und Trümmerhaufen
entfproßte nicht die fo zuverſichtlich verkündete Friedens⸗
palme. Alles fchwieg. Auch unfer junger, ftolzer Sie⸗
gedherold war verftummt. Sädjftfche und franzöfifche
Scyladhtberichte nannten feinen Namen mit Auszeich⸗
nung; er hatte an der Spige feiner Dragoner ein feind»
liches Schangenbollwerf erftürmt; fein König hatte ihm
den Rang eines Obriftleutnantd, fein Kaifer den Adler
ber Ehrenlegion verliehen. Und er eilte nicht wie fonft,
feine Zorbeeren zu Füßen der angebeteten Mutter audzus
fireuen. Wartervolle Wahrheit, welche diefed Schweis
gen enthüllte!
xX. 16
243 Frau Erdmuthens Iwillingsföhne
Herrmann und der Doktor hatten und am erften Ok⸗
tober verlaflen. Letzterer kehrte monatelang gar nicht,
der Sohn nur in Paufen flundenweife zurid. Wir
fragten nicht, woher er fam und wohin er ging. Es
war eine Zeit, von welcher der Prophet fagt: „Ein jegs
licher traue feinem Bruder nicht.” Bon ſolchen Zeiten
aber ahnet man, daß fie mit wuchtigen Taten fchwanger
gehen.
Dazu das Wetter. Aller Verkehr mit der Außenwelt
war abgefchnitten, den ganzen Dftober Sturm und Strom;
dann der vorzeitige Winter, der Schidfaldwinter von
1812, der in den Sagen der Bölfer nach taufend Jahren
ald ein Gotteögericht fortleben wird. Schon Anfang
November war unfere Heide fußhoch verfchneit, tauten
von ben Fenftern die Eiszapfen nicht mehr ab. Als
einer unferer Leute ftarb, mußten wir einen Kolzftoß
nieberbrennen, um fein Grab ausfchaufeln zu können.
Nur ftundenweife Flapperten die Drefchflegel; die Men:
fchen hockten müßig im Ofenwinkel; dumpfe Vorgefichte
von dem unerhörten Untergang im Norden zogen durch
die Stille der furzen, trüben Tage. Wer aber möchte
die Schauerbilder enthällen, welche in jachem Wechfel
fihh im Herzen der Mutter zufammendrängten? Das
Grauſamſte, was Bölferhaß erfinnen, was gewalttätig
die Natur aufzubieten vermag, das durchlebte die ahnungs⸗
volle Seele mit dem Finde. Sie waltete vor wie nadı
in ihrem hilfreichen Dienft; aber von Tag zu Tag immer
mehr erftarb dad Wort auf ihren Tippen, beugte fich der
ftolze Naden, Iugte aus den treuen Augen das Gefpenft
der Angſt. Das Jahr war angebrochen, in welchem
Frau Erbmuthend goldener Scheitel zur Silberwelle ers
Fünfter Abfchnitt 243
bleichte. Als unfer Erntedanffeit wiederfehrte, war fie
eine Greifin geworden.
Auch Liskas Lage wurde beflagenöwert. Ohne Tätigs
feit, ohne Umgang, ohne irgendwelche Anregung in das
Zimmer gebannt, ftodte in ihren Adern dad Blut, fand
das Leben gleichfam ftil. Sie, die nie eine Schneeflode
gefehen, nie ein Winterfleid getragen hatte, lag einges
mummt, zitternd und fchauernd auf ihrem Nuhebett,
denn die Ofenwärme war ihr fait ebenfo widermwärtig
als der Froft der Luft. Das Feuer der Augen, die
fraftvolle Farbe erlofchen, die Lippen wurden bleich,
welt die Haut, die Stimme immer Ileifer und träger.
Was hätte ich für einen Parorysmus wie den am Erntes
fefte gegeben! Aber fie widerfprad; nicht mehr, fie grollte
nicht mehr, der nordifche Simmel hatte das füdliche
Temperament befiegt. Sie war ftill und geduldig ges
worden - um welchen Preis! Ich fürchtete allen Ernfteg,
fie eined Morgens erftarrt zu finden wie ein armes Sing⸗
vögelchen, das fich auf dem Zuge nadı dem Süden vers
fpätet hat.
Liskas Zuftand war ein Drud mehr auf Frau Erbds
muthend Gemüt. Nach dem „Zeftamente” des Kapitäng
- ob der Mann lebte oder tot war — hatte nicht nur das
Herz, fondern auch das Gewiflen fie zur Schugmutter
einer Waife gemacht; fie fah fie Leid tragen, wie fie
felbft ed trug, und tröftete fie mit Hoffnungen, bie fie
felber faum noch hegte, deren die andere aber faum bes
durfte. Die Kleine litt, aber nicht um den fernen Papa.
Er hatte in melandholifcher Stimmung gefchrieben, aber
follte er nicht mehr am Leben fein, darum weil er nicht
wieder fchrieb? Konnten Poften durch dieſe Schneeberge
244 Frau Erdmuthens Bwiltingsfähne
dringen? Der Fruͤhling brachte einen zweiten, ſiegreichen
Feldzug, brachte den Frieden, die Heimkehr. Im uͤbrigen
hatte ſie zu wenig mit ihrem Vater gelebt, um ihn zu
entbehren, wie ſie die Mutter entbehrte, hatte beider
ſorgloſe Natur ererbt, und ſelber die Sehnſucht der
Phantaſie war in ihr gleichſam eingefroren.
Wie aber blickte Herrmann auf das fluͤgellahme Voͤgel⸗
chen? Ei nun, er erblickte es eben nicht fluͤgellahm.
Denn hatte die kleine uͤbermuͤtige auch geſagt: „Er inters
eſſiert mich nicht”, er war immer ein Mann, ein junger,
fhöner Wann, und denfelben Menfchen, wenn wir ihm
felten begegnen, blicken wir günftiger an als im taͤg⸗
lichen Verkehr. Heißt ed doch fogar in der Ehe: Trennt
euch zuzeiten, um euch neu und wert zu bleiben. Nach
meiner Erfahrung freilich rate idy zum Gegenteil.
Couſin Erman, wenn er ald Gaft bei und einfehrte,
zeigte immer einen frifhen Mut und jene gute Stim⸗
mung, welche dad Wiederfehen anregt; er bradıte eine
ermunternde Neuigfeit, eine zierliche Gabe, allemal einen
Mechfel in das trübe Einerlei. Die Augen des Pflegs
lings leuchteten, Wangen und Lippen färbten ſich einen
Tag oder Abend lang - am andern Morgen war ber
Flüchtige ohne Abfchied verſchwunden, und Liskas Koͤpf⸗
chen hing wieder wie dad einer welfen Blume,
Kein Wunder nun, wenn die Wutter diefe merfliche
Belebung nad) ihren Wünfchen deutete; felber ich ges
langte dahin, die Entfcheidung, welche ich fo baͤnglich
abzuwehren gefucht hatte, ald Rettungsweg für das hins
fiehhende Kind zu betrachten. Während jedes VBefuches
rechnete ich auf KHerrmannd Werbung. Ob er feine
Hoffnungen nun aber aufgegeben, ob die patriotifche
Fünfter Abſchnitt 245
Spannung fie nur verdrängt hatte? Oder ob feine bes
dachtſame Natur erft die letzten Zweifel überwinden
wollte? Er ging, wie er fam, ohne das entfcheidende
Wort. |
So war bie müde Kleine denn faft ausfchließlich auf
den Berfchr mit ihrem alten Pfarrer angewiefen, und
da er mit VBergnügungen leider nicht aufwarten fonnte,
an Ermunterungsverſuchen hat er ed mindeſtens nicht
fehlen laffen. Die Wirtſchaft blieb von vornherein außer
Spiel; ed war zum Wirtfchaften zu kalt. „Und wozu
auch?” war ihm ja fchon in den Hundstagen ermwidert
worden. Auch um Puggegenftände zu fertigen, waren
die Finger zu Hamm. Und wozu au? Wem geftel die
Schöne, hatte fie ſich geputzt? Lohnte es felber doc, faum
ber Mühe, die Augen aufzufchlagen, um einen Blid in
den Spiegel zu werfen. Sie befaß eine angenehme
Stimme und ein empfängliches Ohr. Aber üben, Sol»
feggien und Triller? Und wozu? Wer erfreute ſich jetzt
an Gefang und Spiel?
Die deutfche Grammatif wurde aufgeflappt. Der Eifer
des Paten Magifterd erwachte und hielt ftand ein paar
Wochen lang. Aber nur bei ihm. Denn wozu die Plage,
da alle Welt franzoͤſiſch ſprach? Und eine ſchwere Plage
iftd ja freilich mit unferem lieben Deutfc für jeden,
der ed nicht von Mutterlippen erlernt hat.
„Ste werden heimifcher bei und werden, wenn Gie
unfere Sprache verftehen“, fagte ich.
„Sch werde niemals heimifch bei euch werden, Väter,
chen“, verfegte Liska, indem fie in die Kiffen zuruͤck⸗
fant.
„Sie werden unfere Dichter kennen lernen.”
246 Fran Erdmuthens Zwillingsfähne
„Sch habe erft noch meine Dichter fennen zu lernen.”
Ihre Dichter, fie wußte felber nicht, ob fie Franzofen
oder Staliener damit meinte. Bon Spaniern hatte ich
dazumal faum mehr eine Ahnung, als fie ſelbſt. Mochte
ich ed nun aber mit der Auswahl, die mir zu Gebote
ftand, nicht glüdlich treffen, war das Kind zu lebens⸗
füchtig, um lefeluftig zu fein: - ich fand fie mehr als
einmal über dem Befreiten Serufalem oder Racines Tras
gödien eingefchlafen, und wundergenommen hat mid)
die Wirkung im Grunde nicht.
Ganz zulegt glüdte mir ein Wurf ind Blaue hinein.
„Schreiben Sie, Liska“, fagte ich.
„Schreiben!“ verfegte fie. „An wen denn, Väterchen?
Ich habe ja niemand, an den id, fchreiben könnte.“
Das einfahe Wort ging mir durdy und durch. Sn
Wahrheit, diefes junge, warmblütige Herz hatte feinen,
feinen Menfchen, vor dem ed fich ausfprechen Fonnte,
feinen, den ed verftand, Der ed wieder verftand bis auf den
Grund. - „Wenn id) Maman einen Brief in den Himmel
fohreiben Eönnte, oder wenn ich Sie nicht alle Tage
fähe, Bäterchen, Ihnen ſchriebe ich auch.“
Ich drüdte ihre Hand; in diefem Augenblide und in
mandyem ähnlichen hätte ich meine leibliche Tochter nicht
zärtlicher lieben können.
„Fuͤhren Sie ein Tagebuch, Liska,“ fagte ich. „Gedenk⸗
blätter für die Zufunft. Schreiben Sie ſich die Seele
frei von dem, was Sie bedrüdt. Wenn Ihr Vater heims
ehrt oder dereinft eine Freundin Ihnen nahe tritt, ein
Freund - -“
„Raul“, fiel fie ein, und ihre Augen blitzten.
„Run, meinetwegen Better Raul, den Sie ja gern Ihren
Fünfter Abfchnitt 247
Bruder nennen. Aber wer auch immer, es wird ihm
Freude ſein, auf dieſem Stuͤck fremden Lebens Ihnen
nachzugehen.“
Endlich gegluͤckt! Zum erſten Male wieder flackerte ein
Verlangen und mit dem Verlangen das Flaͤmmchen Un⸗
geduld in der erſtarrten Seele auf. Liska wollte ein
Tagebuch ſchreiben, und ihr altes Vaͤterchen konnte nicht
hurtig genug mit Schere und Kleiſter fertig werden.
Zum Gluͤck fand ſich im Hauſe ein Stammbuch aus
Rauls Knabenzeit, nur wenige Blaͤtter gefuͤllt mit Namen,
deren er ſich heute ſchwerlich noch erinnern wuͤrde. Die
Blaͤtter konnten herausgeſchnitten werden. Der Einband
war verſtaͤubt; ich klebte einen Bogen Goldpapier darum,
der fuͤr die Kettenbehaͤnge des Chriſtbaums vorraͤtig lag.
Auf das Titelblatt ſetzte ich unter den Namen Raul,
den eine erhaltenswerte Blumengirlande umgab, den
von Liska de Saint Roc in kuͤhn geſchwungenen, rot und
ſchwarz getufchten Miffalen. Nun noch fig ein Bund
Krähenfedern aufs feinfte zugefpigt, den Schreibtiſch in
rechtes Licht gerückt, zur Belebung der Infpiration ein
paar duftende Blumenftöcde aus dem Treibhaufe herauf>
geſchleppt - und die Finger der fremden Waiſe flogen
über das erfte Blatt im goldenen Bud).
Und fo ziehe ich denn aus meinem Neliquienfchrein das
goldene Bud und Iöfe die ſchwarze Schnur, die feit
länger als fünfundzwanzig Sahren darum gefchlungen
war. Die Blätter find vergilbt, die Schrift verbleidht;
deutlich aber erfenne ich die Heinen, ungehbten und doch
fo energifchen Züge, und ich frage mich, habe ich in dem
Lebensbilde Frau Erdmuthens und ihrer Söhne die Epi⸗
fode des Fremdlings mit echten Farben gemalt? War
248 Frau Erdmuthens 3willingsſöhne
es ſein Maßſtab und nicht mein eigener, an dem ich die
unheimiſche Natur gemeſſen habe?
Die erſten Seiten fuͤllen kindliche Erinnerungen, kleine
Genrebilder, die ihren Duft verlieren wuͤrden, wollte ich
ſie in unſerer Sprache wiedergeben. Eine Ballſzene,
Maman ſchoͤn wie eine Fee; ein Guerilla⸗Abenteuer auf
einer Reife von Sevilla nady Madrid. Die Heine Liska
fürchtete fidy nicht; die gefpannte Piftole bligt in ber
Hand Mamand. in Bittgang nad) einem wundertäs
tigen Muttergottesbild. Ein Einblid in Frau Lodoiskas
Interieur: fpanifch genug kommt es dem alten, deutfchen
Magifter vor. |
„Sc wußte nicht, daß das ſchoͤn war!” ruft die Tochter
aus. „Ich dachte nicht, Daß man anders leben Fünne.
Eine falte, weiße Dede ift über die Erde gebreitet. Mir
ift, als hätte ich Tange, lange Jahre darunter gelegen
und von dem fchönen Leben nur geträumt. Die Augen
fallen mir zu, mid) fchläfert, mid friert. Und auch du,
füße Maman, du liegft unter der falten, weißen Decke
und fchläfft, ewig, ewig! Nein, nein, du bift wieder
aufgewacht, dort oben im Sonnenfdein, und träumft
von deiner Kleinen und bitteft für fie. Und du, Papa,
fei nicdyt mehr traurig. Sch werde noch einmal meine
Arme um dein Haupt fchlingen und mit dir ziehen und
nicht mehr träumen, aber wieder leben.” _
Einen Tag fpäter.
„Beute, zum erften Male feit vielen Wochen, ift die
harte, weiße Rinde, die fie hier ‚Blumen‘ nennen, von
meinem enfter geſchmolzen. Die Mutter hat mir eine
Pelzfaloppe umgehängt und meine Füße in ihre großen
Stiefeln geſteckt. Sie waren mit Watte ausgeftopft; ich
Fünfter Abſchnitt 249
ſchwankte aber dody darin wie in zwei Filcherfähnen.
Ich follte wieder einmal im Freien Atem holen, fagte
fie. Dan fchaufelte und farrte eine Bahn durd) die
Heide. Ich begegnete dem alten Scyäfer mit dem uns
ausfpredylichen Namen, der alle Tage ftundenweit fommt,
bloß um die Mutter zu fragen, ob fein Sohn in Ruß:
land noch am Leben fei? Er fteht nämlidy bei Rauls
Negiment und ift deffen Reitfnecht, glaube ih. Wie fol
benn die Mutter, oder fonft wer, einen Brief erhalten,
wenn auf einer Strede, weiter ald von hier bid Madrid,
der Schnee in häuferhohen Kaufen liegt? |
„Wie mühfam es aber diefe Menfchen haben! Im
Sommer arbeiten fie fid) aus dem Eand, im Winter
aus dem Schnee. ‚Die Natur überwinden heißt leben‘,
fagte diefer gute, Feine Pfarrer. Er meint damit aud)
die innerliche Natur, und das nennen fie hier Religion.
Sie glauben an Gott, aber ihre Gottheit hat wie die
Luft, die fie atmen, feine Geſtalt. Der, welchen fie ald
feinen Sohn verehren, ift ihnen doch auch nicht viel
mehr ald ein Prophet, der jene formenlofe Religion und
jenes ftrenge, unnatürliche Geſetz verfündet hat.
„Könnte ich auch nur ein menfchliches Wefen lichen,
das id) nicht zu begreifen vermag? Das nicht fühlt wie
ich, nicht denkt wie ich, nicht meinedgleichen iſt? Wies
viel weniger das hoͤchſte Wefen, Gott, ohne die menſchen⸗
gleiche Gottesmutter, die feine Gnaden fpendet, ohne
die fürbittenden Heiligen, welche die Gottesliebe in uns
ferem Herzen fammeln und DIELIERIEAGEN, in des Welten»
vaterd Schoß? |
„Sc bin bis zur Ruine gegangen. Es fon ein Klofte
dort geftanden haben. Sch weiß nicht, ob Mönche oder
250 Frau Erdmuthens Iwillingsfähne
Nonnen darin gelebt. Unfere heiligen Kennzeichen ver:
achten, gehört auch in ihre naturüberwindende Religion.
Ein Kapellchen ift noch erhalten, ein umgeworfener Als
tar mit einem Marmorfreuz; ein Lampenfchrein. Wie
lange ſchon mag dad ewige Licht darin erlofchen fein?
Ich will die Mutter bitten, daß ich ed wieder anzünden
darf und davor beten auch für ihren fernen Sohn, ber
meine Sprache fpricht und meine Heimat liebt, gewiß,
gewiß auch meine heitere, ewige Heimat liebt, für meinen
Bruder Raul!
„Die grauen Mauern ragten wie Gerippe aus einem
weißen Bahrtuche hervor. Dahinter der dunkle, ſchnee⸗
gefprenfelte Wald, darüber die mattgelbe Sonne, in
einen Mebeldunft gehuͤllt. Ringsum Grabesftille. Den
Sinnen diefer Menfchen gilt das für chin. Mauern und
Schnee - o, du mein armes Leben!
„Den Nonnenfchleier! fagteft du, Maman. Zweimal
fagteft du’, ich hörte ed, ed war dein leßted Wort; und
du blickteft mich traurig an, ald du es ſprachſt, todes-
traurig! Dachteft du denn nicht an das Klofter mit der
Palme im Säulenhof und den DOrangengärten rund hers
um, wo bu deine Kleine immer fo glücdlich trafft? Aber
hier, hier! Auf dem eisbedeckten Boden habe ich vor dem
Kreuz gelegen und meine Hände gerungen und die lieben
Heiligen angefleht. Aber froh wie fonft, froh, daß fie mich
erhört hätten, erhob ich mich nicht. Haben die Nonnen
unter diefem Himmel gebetet, was uns beten heißt? Der
Schleier, der und fächelt und fchügt gegen den Sonnen-
brand, hüllte er fie nicht ein, gleich einem Leichentuch?
Mein, nein, nicht hier zwifchen Mauern und Schnee! Und
auch nicht jeßt, wo ich fo müde bin. Schlaftrunfen be-
Fuͤnfter Abſchnitt 253
graben werden zwifchen Mauern und Schnee - fchredlich,
ſchrecklich! Wutter Gottes, erft laß mich erwachen und
dann niederfinten zu deinen Füßen, wo die Palme weht.“
3
Woche auf Woche war hingefchlichen; öffentliche wie
private Kunde audgeblieben. Auch Frau von Thielemann
fchrieb, daß man in Dresden ohne Nachricht von den Bes
freundeten fei. Alles zitterte in Sorge. Der alte Schäs
fer - Kieß aus Rieß war fein unaugfpredhlidher Name -
trat vergebens jeden Tag eine Spur in den Heidefchnee.
Zeit hatte er dazu. Denn warum? Gelber die Schafe
klapperten unter ihrem Pelz, und vom Schneeleden wur:
den fie audy nicht fatt; darum blieben fie im Stall; der
Schäfer aber brauchte feine Motion. Da fam er denn
unverdroffen und fragte nach feinem Jungen, der bei dee
Ohriftleutnantd Dragonern ftand und von dem Obriſt⸗
leutnant zum NReittnecht genommen worden war. Schreis
ben konnte weder der alte, noch der junge Kieg aus Rietz;
da aber die Gnaͤdige und ihr Sohn zu fchreiben verſtan⸗
ben, hatten jene ja auch nicht nötig, fchreiben zu können.
Und alle Tage fchob der arme Alte wieder ab ohne ans
dern Troft ald eine warme Suppe und die Wiederholung
feines welthiftorifchen Klageliedd. Denn fo ein einfam
„latſchender“ Heidefchäfer hat feine abfonderlichen Offen:
barungen, und an Erfahrungen hatte ed dem Kietz aus
Rietz ja auch nicht gefehlt. Seit Adams Zeiten, fo ver:
ficherte er, fei die Menfchheit gefchoren und gefchunden
worden. Zuerft vom Schwedenkoͤnig und dem alten Friß,
dann in der Rheinfampagne, wo er felber unter die Schere
gelangt, darauf wieder fein Bruder bei Sena anno Sechs.
253 Fran Erdmuthens Swillingsfähne
Aber fo ein Schinderhannes wie der Franzofenfaifer fei,
folange die Welt beftche, nody nidyt an der Tablatur ges
wefen. Seinen legten Jungen habe er auch fchon wieder
eingefangen nad) Wittenberg zu den Depots. Aber wie
lange werde ed dauern, daß er fertig mit dem Ruſſen fei,
und dann ginge ed (od wider den Türken, und fein legter
Junge müffe mit.
An jenem Tage nun, wo zum erften Male Liskas Fens
fterblumen geſchmolzen waren, fuhr durdy unfer Still;
leben eine Neuigfeit wie ein Blig in fchwüler Nacht. Die
wohlbefannte Familienforrefpondentin, welche vor feche
Monaten in hellem Keroenfteber die Faiferfiche Revue ges
fhildert hatte, meldete vom fünfzehnten Dezember aus
Dresden das plögliche Erfcheinen und Wiederverfchwins
den ihres Helden. Sie tat ed unter myfteriöfen Schauern,
aber mit einem Detail der Intimität, ald ob fie gewürs
Digt worden wäre, aus ihrem trauten chez moi in bie
Ode feiner großen Seele und feines Fleinen Kutſchkaſtens
einen Bli zu werfen.
Wußten wir nun freilich, daß wir ein gutes Teil ges
fpenftifcher Ode der Phantafie unferer Freundin zugute
fchreiben durften, fo viel ſchien dennoch feftzuftehen: der
Kaifer hatte die Armee verlaffen und, ohne Ankündigung,
ohne Stab noch Seleit, heimlich, wie auf der Flucht, unfer
Land paffiert. Welche Rüdfchluffe von dem Zuftande des
Herrn auf den feiner Armee ſich und aufdrängten, brauche
ich das auszumalen? Nur die Eleine franzöfifche Soldatens
tochter fagte unbefümmert: „Was fol er in dem Falten
Lande? Shn fror. Voild tout. Wenn die Vögel nady
Norden ziehen, wird er wieder an die Spige feiner Braven
treten.” Und im Tagebuche fteht gefchrieben: „Haͤtt ich
Fünfter Abſchnitt 253
mid) zwifchen die Falten feined Mantel verbergen und
mit ihm nach Franfreich eilen können!“
Edyon am andern Tage bradıte die Allgemeine Zeitung
dad letzte Faiferliche Bulletin, datiert von Molodecznos;
für Frankreich den Borläufer des Kaifers, für ung feinen
nadhhinfenden Boten. Zwar nur der Berluft der Rofle
war der Erwähnung wert befunden worden, der Schluß
auf den der Reiter aber nicht allzu fchwer zu zichen, und
wie follte das Elend, welches Roß und Reiter dahinraffte,
nicht noch vielmehr dem armen Kapitän der Infanterie
zum Berderben geworden fein? Nun plöglicd, gähnte auch
vor feiner Tochter Augen died unermeßliche Grab. Wie
von Todegfroft durchſchuͤttelt brach fie neben der fchwans
fenden Mutter zufammen.
In diefem Zuftand aufreibender Seelenfolter traf Herr⸗
mann am Tage vor dem heiligen Abend die beiden Frauen,
Er fam aus Preußen und mochte wohl manches gefchen
und erfahren haben, was er gern vor und verhüllte,
Denn hatte der Patriotismus auch ftarf an feiner Brus
derliebe gezehrt, die Liebe zur Mutter ftand in ihm aufs
rechter denn je, ja, mehr denn je, feitdem er faum n
daran zweifelte, ihr einziger Sohn zu fein.
Sobald er mit mir allein war, fagte er: „Es ift wohl
feine Frage mehr, daß die arme Liska ihren Vater nies
mals wiederfieht. Sie hat feinen Schug im Leben fo
wenig empfunden, daß fie zwifchen Zagen und Hoffen ihn
allmählich vergeffen lernen wird, wenn der Zuſpruch ihrer
Kirche und einige Zerftreuung ihr zu Hilfe fommen. Ans
derd die Mutter; fie bedarf einer Gewißheit. General
Thielemann hat mit einem Häglichen Reſt der fächfifchen
Reitereiönigsberg erreicht. Raul befindet fich nicht unter
254 Frau Erdmuthens Zwillingsfähne
ben Geretteten. Ich erfuhr des Generals Eintreffen leider
zu fpät, um ihn perfönlich zu fprechen. Er ift krank, wird
aber in diefen Tagen von feiner Familie in Dresden er:
wartet. Er, wenn einer, fann und über dad Schidfal
meines Bruders Auskunft geben. Mein Plan ift, ich reife
mit der Mutter und Liska nad) Dresden, und zwar ohne
Berzug.“ |
Der Plan wurde mit Eifer angenommen. Die Mutter
ſchmachtete nad der, wenn auch bitterften, Wahrheit; die
Tochter elektrifierte die Ausficht auf eine Veränderung
wie eine Hilfe aus aller Not. Sie umfchmeichelte den
treuen Freund, der diefen Ausweg eröffnet hatte, mit
ihrem fonnigften Lächeln, und als fie am andern Abend
im Felsfchen Ahnenfaale einen deutfchen Chriftbaum
brennen, die reiche Befcherung fah, welche für hoch und
gering, für Hein und groß der Hofgenoffen, und für
fie felber am allerreichiten, darunter ausgebreitet Tag, da
jubelte fie hell und fröhlich wie ein Kind; die Lichtertanne
verflärte die graue, deutfche Kiefernheide, und ich glaube
wahrhaftig, in der Zobelenvelopye, die fi) warm und
weich an die zierlichen Glieder fohmiegte, fah fie ein Sinn⸗
bild des warmen, weichen, deutfchen Gemuͤts.
„Ihre Freuden beginnen, wo die unferen aufhören, und
wo wir unliebenswärdig werden, muß man fie lieben
lernen.“
Mit diefer ethnographifchen Bemerkung fchließt das Jahr
1812 in dem jüngft geftifteten goldenen Buche. Es war
ruhig daheim geblieben, ald am Chriftmorgen die drei
Freunde ihre Reife nach der Nefidenz antraten.
Am Dreitönigstage empfing ich die Ruͤckkehrenden an
der nächften Station; Berrmann hatte vom Haufe einen
Fünfter Abfchnitt 255
Schlitten beordert, um den für den Reifewagen bejchwer:
lichen Heideweg abzufürzen. Der Doktor, der um Neus
jahr angelommen war, hatte die Nachricht von Rauls
Tode beftätigt, und ald ich der Mutter aus dem Wagen
half, fühlte ich an ihrem Haͤndedruck und fah an ihren
Blicken, Daß auch ihr Die letzte, ſchwache Hoffnung geraubt
worben fei. „Still, bis wir allein find“, flüfterte fie mir zu.
Sch ſchluckte meine Tränen hinunter und begrüßte das
jugendliche Paar. Welch ein Gegenfag! Ach, das Schick⸗
fal hatte es ja fo gefügt, daß Herrmann weniger den
Bruder als den Sohn feiner Mutter beflagte: für diefe
Gebeugte wußte er aber nur einen Erfag, der zugleich bag
Gluͤck feines eignen Herzens in ſich fchloß: Hoffnung und
milde Freudigfeit ftrahlten aus feinen Zügen.
Und fie, die fo zärtlich an feinem Arme hing, war es
das erftarrte Vögelchen, das fich unter unferen rauhen,
grauen Himmel verirrt hatte? Es ſchlug ja die Flügel
und zwitfcherte wie die Xerche, wenn fie in den Sonnen
himmel emporfteigt. War es die nämliche Waife, die vor
wenigen Wochen unter Todesfchauern zufammenbrady?
Man hatte ihr von dem allgemeinen und perfönlichen
Elend nur die Umriffe mitgeteilt, zwifchen welchen die
Hoffnung immer noch hinreichenden Raum fand, und Lis⸗
kas Hoffnungsfraft war ſtark. Welcher Freudenraufc das
hingegen, der fie zwei Wochen lang umfangen gehalten,
er würde fie entzückt haben, auch wenn er fie nicht an das
Land ihrer Sehnfucht erinnert hätte. Der reiche Dienft
ihrer Kirche in Gegenwart eines glänzenden, andädıtigen
Hofes, unter Strömen einer Muſik von nie geahnter Volls
endung, Seraphöflänge nannte Liska die Stimmen der
Italiener; Kunftgebilde, wie ähnliche fie noch niemals
256 Fran Erdmuthens 3willingsſoͤhne
entzuͤckt hatten. Dann, unter Fraͤulein Idunas immer be⸗
reiter Ägide, gefellige Kreife, in welchen aus dem Jahrs
hundert der Üppigfeit ſich ein heiterfreier Ton bie in die
Gegenwart gezogen hatte und zur Stunde felber, wo rau
Erdmuthens Todesängfte in vielen Familien wohlbegrüns
det gewefen fein würden, einen ftarfen Anflang fand; in
diefen Kreifen aber Beifall, Huldigung, Schmeicdheleien
aller Art. Die reigende Fremde war zwei Wochen lang
der Stern der Mode in einer Gefellfchaft, die Frau Los
doiska Fleinftädtifch gefunden und fie beftenfalld an bie
der Bäder von Pifa erinnert haben würde, für ihre Tochter
aber, die nicht die Erbin ihrer vermwöhnenden Reize war,
einen legitimeren Anftricy trug als die ded neuen Hofes
in Madrid. Liska war entzüct und hatte entzüdt; in dem
Gemiſch findlicher Befcheidenheit und dem Bedürfnis des
Gefalleng, ohne zu entzünden, in ihrer bewußten Naivetät
lag nun einmal ein Zauber, mit dem fie ihre Umgebungen
unterjochte, — fobald fie in ihrem Elemente war.
Diefes Element der Freude hatte ſich ihr nun aber völlig
ungeahnt faum eine Tagesfahrt fern von dem geſchmaͤh⸗
ten Heidewinfel aufgetan; eine Heimat, die ſolche Aus⸗
flucht bot, verlor ihren unheimlichen Charafter; ja, in fo
beglücfender Aufregung wurde felber der nordifche Wins
ter .zu einem Stimulant. Augen, Wangen und Tippen
glänzten, fie fprühte Funfen der Laune, tranf ein Glas
heißen Weind und trat and Fenfter der Poftftube, die
nach der Heide hinauslag.
Wir hatten einen jener Wintertage, die auch über unfere
Landfchaft, und über fie befonders, einen Feenfchleier
werfen. Der Himmel war Far, und die finfende Sonne
hauchte einen rötlichen Schimmer über dad mafellofe Weiß
Fünfter Abſchnitt 257
des rundes, derweile über dem Walde im Often der
junge Mond in die Höhe flieg.
An jedem Aſte gligerten phantaftifche Kriftallgebilde,
Eiströpfchen funfelten an den Nadeln wie Diamanten,
auf dunfle Schnur gereiht. Unten fchmetterte das Poft-
horn, und die Schellen Täuteten. Auf Frau Erdmutheng
Wunſch beſtieg ich mit ihr den gefchügten Wagen; Herr⸗
mann, an Liskas Seite, fuhr im Schlitten, den er felber
lenfte, und voran. Am Eingang der Feldfchen Heide, an
dem Förfterhaufe, wo früher mein Bruder geheimft hatte,
follte das leichte Gefährt das fchwere erwarten.
Nun glitt im fußtiefen Schnee der Wagen langſam aͤch⸗
zend dahin; nun war id; allein mit meiner Freundin; nun
hörte ich von den Tippen des mildeften Weſens die Schils
derung jened grauenvollen Trauerfpield, in weldyem die
Natur, ald Partnerin eines halbbarbarifchen, wutents
brannten Volkes, unter allem erdenfbaren Elend eine
Million von Menfchenopfern forderte, um den bandens
[ofen Geift eines einzigen zu bredyen, - und ihn doch nicht
brach.
General Thielemann hatte, vor der alten Freundin min⸗
deſtens, die letzte Zuruͤckhaltung fallen laſſen. Was huͤlfe
auch dem nackten Augenſchein gegenuͤber laͤngeres Diplo⸗
matiſieren? Er war ein geiſtvoller Beobachter, ein Militaͤr
von weltmaͤnniſcher Bildung. Bis zum ruſſiſchen Feld⸗
zuge Napoleons bewundernder Anhänger, dankte er dies
fem Auszeichnung, wie faum ein anderer feiner Bafallens
generale. Nach feinen jüngften Erfahrungen — oder Be⸗
rechnungen? — jedoch erflärte er ſich entichloffen, den
ſaͤchſiſchen Dienft zu verlaffen, falls der König das frans
zöfifche Bündnis aufrechterhalten oder erneuern follte
xx. 17
258 Frau Erdmuthens Zwillingsföhne
Die Stroͤmung der Zeit war gebrochen, er ſah es, er ſagte
es. Warum zoͤgerte er, bis der Wirbelſturm ihn nur als
Fluͤchtling unter das Banner der Zukunft trieb?
Auch uͤber das Schickſal ihres geliebten Sohnes hatte
er der Mutter keine Taͤuſchung vorgeſpiegelt, keine Hoff⸗
nung uͤbriggelaſſen. Raul war bei jenem ruͤhmlich er⸗
waͤhnten Sturm der Schanzen von Borodino verwundet
worden, anſcheinend ungefaͤhrlich, eine Fleiſchwunde im
Oberarm. Auf ſein dringendes Verlangen hatte der Ge⸗
neral davon abſtehen muͤſſen, die Familie von ſeinem Un⸗
fall in Kenntnis zu ſetzen. Er hoffte auf rafche Herſtel⸗
fung, fobald die erfehnte Raftftation in Moskau erreicht
fein werbe.
Man erwies dem tapferen Balbfranzofen, für welchen
der Kaiſer wiederholt ein perfönliches Intereffe bekundet
hatte, ausnehmende Berüdfichtigung. Im eigenen Fuhr-
werf begleitete er die Armee, und zwar feinem Korps
voran, im Gefolge der Tete, die am fünfzehnten Sep⸗
tember die Hauptſtadt erreichte. Hier hört nun jede Spur
von dem Unglüdlichen auf. Dan weiß, welches Unbes
hagen fchon am erften Abend die auflodernden Brände
erregten, und in welches Entfegen ed umfchlug, ald die
von Biertelftunde zu Biertelftunde auflodernden Feuer:
faulen eine gewaltfame Tat verfündeten, wo man ſich
bisher mit Zufälligkeiten getröftet hatte.
Am übernächften Tage rüdte die fächfifche Reiterbrigade
in dieſes Feldlager zwiſchen rauchenden Truͤmmern ein,
und war es eine der erſten Sorgen des Generals, ſich nach
dem vorangegangenen jungen Freunde umzutun. Leider
vergeblich. Alles, was uͤber ihn erkundet werden konnte,
entſtammt dem Berichte ſeines Dieners — des ehrlichen
Fünfter Abfchnitt 259
Kietz aus Nie -, der während der Reife nicht von feiner
Seite gewichen war.
Erfchöpft von Blutverluften und der befchwerlichen Fahrt,
hatte der Verwundete an einem freundlichen Haufe der
weftlichen Borftadt haltmachen laflen. Das Haus trug
ein Gafthoffchild, und zwar, wie der Burfche verficherte,
eins mit dem deutfchen Namenszeichen Weber. Raul
wollte in bemfelben verweilen, bis die Quartierverhält>
niffe fi) geordnet haben würden.
Mit verdrießlicher Überrafchung fand man dad Haus
ausgeräumt, menfchenleer, aller Mundvorräte bar. In
der volfreichen Hauptſtadt hatte man dieſes Flüchten ber
Bewohner, an das man in Dörfern und Hleineren Orten
gewöhnt war, nicht erwartet. Ringsum Feine Seele zu
errufen, zu erfpähen. Der Diener wurde ausgefchickt,
Mein und Brot herbeizufchaffen. Sein Herr, den Mans
telfad® unterm Kopf, ruhte auf der platten Diele.
Der ehrliche Burfche fand alle Läden gefchloflen, alle
Käufer, an die er klopfte, verlaffen. Ratlos irrte er durch
das Gewuͤhl der Truppen, welche erfchöpft, halb betäubt,
zeternd und fluchend, ſich in den oͤden Straßen umher⸗
trieben. Ehe er fich, ohne die gefuchte Beute, in die Vor⸗
ftadt zuruͤckgefunden hatte, war die Nacht hereingebrochen.
Mit Entfegen fah er, daß die ganze Gegend, in welcher
nadı feinem Glauben das Wirtshaus geftanden hatte, in
Flammen loderte. Niemand verfuchte zu Löfchen, niemand
war da, Auskunft zu geben. Der treue Menſch rannte,
den Namen ſeines Herrn fohreiend, durch die feurige Gaſſe.
Er drang in jede Tür, in welcher er die des deutfchen
Gaſthauſes zu erkennen glaubte, und ftürzte endlich, Haut
und Baar verfengt, zu dem nächften Poften zuruͤck, um das
260 Frau Erdmuthens 3willingsſoͤhne
Unheil zu melden, dann aber, zum Tode erſchoͤpft, zuſam⸗
menzubrechen und unter Mangel und Elend zu erliegen.
Armer treuer Junge, und armer Vater Kietz aus Rietz!
Für feinen ungluͤcklichen Herrn kam jede denkbare Hilfe
zu ſpaͤt. Wo die Vortruppen an einer einladenden Garten⸗
ſtadt voruͤbergezogen waren, fand die Hauptarmee nur
rauchende Ruinen. Umſonſt forſchte, ſtoͤberte man nach
dem Lebenden, umſonſt wurden die glimmenden Truͤmmer
nach den Gebeinen durchwuͤhlt. Der Lokaleindruck des
Dieners war ein zu oberflaͤchlicher geweſen, um einen
Anhalt zu bieten, jede anderweitige Auskunft gebrach.
Bei alledem konnte und wollte der General die Hoff⸗
nung nicht aufgeben, daß der gemandte, keineswegs hilf-
loſe junge Dann ſich gerettet und in der meilenweiten
Ausdehnung der Stadt oder ihrer ländlichen Umgebung
ein Aſyl gefunden haben könne, in welchem er erfranft
barniederliege, Einen Monat lang, bid zum endlichen
Ruͤckzuge, fegte er die Nachforſchungen fort - ohne Spur.
Das Entfegen dieſes Rüczuges, die ftündlichen Opfer der
werteften Waffengefährten, der Eifer, einen Reft von Ord⸗
nung in feiner zufammengefchmolzenen Truppe zu erhal»
ten, die Laft, welche der Kaifer ihm aufbürdete, indem er
ihn zu einem Kommandanten der zufammengeftoppelten
„Heiligen Legion“ ernannte, verdrängten endlich feine Er⸗
innerung an den werten jungen Freund; heute aber pried
er ihn gluͤcklich, in ungebrochenem Siegerglauben, vor
den entmenſchlichenden Eindruͤcken der letzten Monate und,
ſo Gott wollte, ohne allzu ſchweren Kampf geendet zu
ſein. „Sein raſches Blut“, ſo ſchloß der General, „wuͤrde
auf dem Scheidepunkte, dem wir entgegentreiben, ſich
ſchwer behauptet haben.“
Fünfter Abſchnitt 261
Ich habe diefe Mitteilungen nüchtern im Zufammen-
hange dargeftellt. In jener Stunde waren ed nur Bruch⸗
ftüde, die ic) empfing. Mir war, ald trüge die unglüds
lihe Mutter die glühenden Kohlen, die den Leib ihres
Lieblings verfengt hatten, in ihren Händen herbei, ale
wöge fie einen Stein um den anderen, deren Wudht ihn
gerfchmetterte. Ich dachte nicht daran, eine Hoffnung an⸗
juregen, die ich felber nicht empfand. Sie wußte, daß
ich mein Kind in dem ihren verloren hatte und daß ich
freudig mein Leben gegeben haben würde, um ihr das
feine zu erhalten.
Ich fchwieg, und fie verftummte; ihre Hand in der meis
nen, faßen wir ohne Regung, bis das Förfterhaus erreicht
war. Hier warteten der Schlitten und der Diener des
Schloſſes, welche beiden Fuhrwerken durch die verfchneite
Heide vorleuchten follten. Frau Erdmuthe blieb im Wagen
fiten, ich flieg aus, die finder zur Weiterfahrt aufzus
fordern. Herrmann ftand harrend unter der Tür, er hatte
die Qual diefer aufflärenden Stunde dem Herzen ber
Mutter nachgefühlt. Sept trat er an den Schlag, faßte
ihre Hand und drüdte die Tippen auf ihre Stirn, Eine
Träne aus feinen Augen glitt über ihre Wangen. Sie
fchlang die Arme um feinen Hals, wie fie fonft nur den
zärtlicheren Raul zu umfchlingen pflegte: „Mein Sohn,
mein einziger Sohn!” fchludhzte fie.
Liska ſchwebte herbei, froh aufjubelnd über die koͤſtliche
Fahrt. „So über die Erde zu fliegen!” rief fie aud. „DO,
meine Mutter, fo glücdlicdy wie heute war ich noch nie!“
Wieder fchmetterte das Pofthorn, die Pechfackeln wurden
angezündet; blutrot flackerte dad Licht über die Friftallis
fiexten Zweige. Die Roſſe wieherten, die Schellen laͤu⸗
262 Fran Erdmuthens Iwillingsföhne
teten, der leichte Schlitten glitt voran, der ſchwere Wagen
ſchwankte ihm nach.
„Es iſt ein Schmerz fuͤrs Leben,“ begann Frau Erd⸗
muthe nach einer langen Stille. „Aber ein Schmerz, der
Frieden gibt uͤber das Leben hinaus. Er ſcheucht das Ge⸗
ſpenſt, das ſeit dem Tode meines teueren Mannes mich
bedroht hat Tag und Nacht. Gott hatte mich mit zwei
Soͤhnen geſegnet, wo ich einen erfleht. Er ſei gelobt, daß er
mir einen nahm vor der Stunde, in der ich fragen mußte:
war es des andern Hand, die ihm den Tod gegeben?
Und zweifeln Sie, mein Freund, daß dieſe Stunde aus⸗
gehoben hat?“
Fuͤrwahr, es war eine große, eine heilige Liebe, die das
Herz dieſer Mutter regierte!
Die Fahrt durch die Heide war muͤhſam; die Kinder
mochten uns laͤnger als eine Stunde voraus ſein. End⸗
lich hielten wir. Der Schnee hatte das Rollen der Raͤder
gedeckt; ehe unſer Kommen bemerkt ward, oͤffnete ich die
Tuͤr des Familienzimmers, und nach dem ſchweren Ent-
ſagungskampfe blickte die Mutter auf ein Bild der Er⸗
fuͤllung.
Ihr gegenuͤber, im Fenſterbogen, ſtand der Sohn; das
Maͤdchen, das er liebte, ſchmiegte ſich an ſeine Bruſt, und
ſein Geſicht ruhte geſenkt auf ihren Locken.
Mit einem Schrei der uͤberraſchung riß ſich Liska von
ihm los und ſtuͤrzte ſich an den Hals der Mutter. Feuchten
Auges druͤckte Herrmann beider Haͤnde an ſein Herz.
„Nimm ſie als Tochter fuͤr den Sohn, den du verlorſt,
und ſegne deine Kinder, meine Mutter“, ſagte er.
Schweigend umfaßte ſie die Gluͤcklichen, ein Traͤnenſtrom
loͤſte ihre Bruſt. Aber es war der Erſchuͤtterung zu viel;
Fünfter Abſchnitt 263
fie fchwantte; auf Herrmann geftügt, fuchte fie die Stille
ihres Zimmers.
Ich ftand noch immer wie im Traum, und feltfam! in
einem bänglichen Traum.
„Freuen Sie ſich denn nicht, Väterchen?” rief Liska,
indem fie mich auf beide Baden füßte.
„Lieben Sie ihn, Liska?“ fragte ich.
„Wie meinen Schugengell“ antwortete fie.
Sechſter Abfchnitt
Was keimt, das muß gedeihen
ls ich am andern Morgen im Begriff war, aufs Schloß
I, gehen, ftürmte der Doktor bei mir ein, blaß, atem⸗
[08, mit einem Blick, ald ob er, ftatt der unvermeidlichen
Zeitung, dad Meffer zu einem Schnitt auf Tod und Leben
in der Hand halte. |
„Wißt ihre ſchon?“ Feuchte er.
„Daß unfer Raul tot ift, leider!”
„Borauszufehen!“
„Und Serrmann verlobt - —“
„Eine Torheit mehr in der Welt, aber auch vorauszu⸗
fehen. Nein, das!“
Er breitete die Zeitung vor meinen Augen aus, und ich
las - was freilich nicht vorausdzufehen war — „die Kapis
tulation von York!“
„Auf dem Schloffe ift auch fchon Alarm Bez rief
Bar im Weiterrennen.
Sch eilte zu den Meinen. Das Wohnzimmer war leer; ich
fand fie in Herrn von Rocs früherem Kabinett, jegt feiner
Gattin ftillem Afyl, wenn fie um Frieden rang. Sie hatte
den weißen Anzug mit einem trauerartigen vertaufcht und
faß im Lehnftuhl am Ofen. Herrmann, in höchfter Bes
wegung, ftand vor ihr, ihre beiden Bände in den feinen.
Kein Wort mag gewechfelt worden fein; aber die Tippen
der Mutter bebten wie damals, als fie fagte: „Alle drei!“
Liska lehnte im Fenfter gegenüber, mit großen Augen
die Gruppe betrachtend. Die Mutter drüdte mir, auf
die Tochter weifend, die Band; dann verließ fie das
Zimmer; Herrmann folgte ihr.
Sechſter Abſchnitt 265
„Was bedeutet das?" fragte Liska.
„Es bedeutet, Liska, daß Sie die Braut eines beutfchen
Mannes geworden find, und daß diefer Mann im Bes
griffe fteht, für die Befreiung feines Baterlandes in den
Kampf zu treten.“
„zur die Befreiung von ruffifcher Barbarei? Er tut
recht daran.“
„Für die Befreiung von Napoleon, Liska.“
„Aber eure Könige find ja die Freunde des Kaiſers.“
„Sie waren gezwungen feine Bundesgenoflen und wers
den, willd Gott, ed nidyt lange mehr bleiben“, vers
ſetzte ich.
Sch erflärte hierauf in kurzen Worten die Tat in Ofts
preußen und deren Rüdwirfung aud) auf Herrmanns Ges
ſchick, ſoweit diefelbe im erften Moment zu überbliden
war, Die kleine Franzöfin unterbrady mid Saß für
Sag mit einem zornigen „Ah“ und „Oh“, „Feigheit!
Berrat! Schande!” fchrie fie, ftampfte mit den Füßen,
ballte die Hände und rollte die Augen wie ein Teufelchen.
Herrmann trat wieder ein.
„Sit ed wahr, Erman,” rief fie ihm entgegenftürzend,
„it es wahr, was diefer abfcheuliche, alte Mann bes
hauptet, bift du ein Verfchwörer, ein Verräter, ein Res
beil? Zichft du ind Feld gegen den Kaifer? Willft du dag
Blut deined Bruders vergießen, der für den Kaifer
fampft?“
„Noch ift der Krieg nicht ausgebrochen, in den ich ziehen
müßte,” entgegnete Herrmann ruhig, „und mein Bruder -
du fahft die Trauerfleider unferer Mutter, Liska —, mein
armer Bruder ift tot.” —
„Warum ſoll er tot fein?” rief Liska Teidenfchaftlich.
266 Frau Erdmuthens Swillingsfähne
„Er lebt, fo wahr, wie ich felber lebe. Auch mein Bater
lebt. Auch gegen ihn willft du die Hand erheben!”
„Lied den Brief deines Vaters noch einmal, Liska,“
fagte Herrmann fehr ernft. „Wenn er dir einen zweiten
fchriebe, würde er did mahnen: „Kerne gerecht fein gegen
die Freunde, die du bis jegt nicht verftehft. Sie fämpfen
den heiligften Kampf, den Menfchen kämpfen können.
Seit dem Tode meines Vaters, Liska, lebe ich in der Er⸗
wartung diefer Kampfesftunde.“
„Monstre!“ fchrie die Fleine Furie, aus dem Zimmer
fliegend.
Herrmann ftand lange unbeweglich, die Hände vor dag
Geſicht gefchlagen. „Sie ift noch ein Kind,” fagte er
endlich, mit einem Verſuche zu lächeln, „und ein frans
zöfifches Kind. Es gilt auch hier einen patriotifchen
Sieg. Ic redyne auf die Liebe und auf Ihren Beiftand,
alter Freund.“
Lisfa erfchien nicht am Familientifche, wie man es von
der Verlobten des Erbherrn hätte erwarten dürfen. Die
Tafelrunde war einfilbiger denn je; der Phyſikus fehlte,
und der Zufpruch der reinen Vernunft weckte feinen
MWiderhall. Dem Weltweifen und den Feldweifen ſchmeckte
ed wenigftend. Mutter und Sohn berührten feinen Biffen.
Nach dem Eſſen verfuchte ich Liska zu ſprechen. Sie
fchlafe feit, fagte die Kammerfrau mit einem fpöttifchen
Blick. Die Verlobung war rudybar, die Ausficht auf eine
Frau Erbmuthen fo unähnliche Herrin aber mit wenig
Beifall aufgenommen worden. Für den Hausgebrauch
huldigt das Volk der Theorie von gleich und gleich,
wenn ed in Sahrmarftsbuden audy gern nach einer
Mohrenkönigin ausfchaut. Herrmanns Koffer wurden
Sechſter Abfchnitt 267
gepadt. Da der Kampfplag zwifchen Franzofen und
Nuffen auf preußifches Gebiet verlegt war, konnte bie
rafche Abreife des Gutsherrn von Ganditten, auch da er
Bräutigam geworden, nicht befremden.
Am Abend hatte Mademoifelle ihren Zorn verfchlafen.
Sie trat in dad Wohnzimmer rofig lächelnd wie - ei
nun, wie eine echte Braut. Sie reichte dem abfcheulichen,
alten Manne die Sand mit den Worten: „Querelle d’Alle-
mands! Wie nennen Sie das auf deutfch, Väterchen?“
„Streiten um Kaiferd Bart“, antwortete id).
„Wie das paßt!“ rief fie beluftigt. „Der Kaifer hat
feinen Bart, alfo Streit um nichts.“
Dann zufchwebend auf Herrmann, dem fie, wie fonft
beim Kommen und Gehen, die Stirn zum Kuffe bot,
fagte fie: „Auch wir find wieder Freunde, nidyt wahr,
Erman? Der dumme General, - wie heißt er doch, der
preußifche Romana? - fein König liefert ihn aus, der
Kaiſer läßt ihn erfchießen — oder auch nicht erfchießen.
Wir lachen über ihn. Voilä tout!“
Die Mutter blidte ftill vor fi hin. Sonft fpann fie
bei Abend an einem Nädchen von fchwarzem Holz mit
Perlmuttereinlagen, noch einem Geſchenke des feligen
Majors. Heute ruhten ihre Hände im Schoß. Herrmann
druͤckte und küßte die Hände von Zeit zu Zeitz dann wieder
die feiner Braut. Das wenige, was er fpradh, Fang
mild und weich wie noch nie.
Liska funkelte von nedifchem Übermut. Vielleicht fteis
gerte fie ſich felbft, um die Trauergeifter zu bannen, an
die fie nicht glauben wollte. Raul lebte ja, und Papa
lebte auch. Warum follten fie nicht leben? Zum erften
Male wurde Frau Erbmuthen ihre Beweglichkeit zu viel.
268 Frau Erdmuthens Iwillingsfähne
Sie erhob fidy mit den Worten: „Wir find geftern fpät zur
Ruhe gefommen;z holen wir es heute nach, liche Tochter.“
Liska folgte nur widermillig, und wahrlich! mein Herr;
mann zitterte. Zwei⸗, dreimal drücdte er fie an ſich, ald
fönne er fie nicht laffen, big fie fich endlich Iachend von
ihm losriß und ihren Arm in den der Mutter legte,
von der fie fich jeden Abend wie ein Kindchen zur Ruhe
bringen ließ.
„Bann reifen Sie, Herrmann?” fragte ich, nadıdem
wir allein waren. |
„Diefe Nacht,” antwortete er. „Machen Sie ihr ver,
ftändlich, warum es fein mußte. Sch — ich vermochte
nicht Abfchied von ihr zu nehmen.“
Können denn zwei, die fich lieben, voneinander gehen,
auf lange Zeit, vielleicht auf ewig voneinander gehen
ohne Lebewohl? dadıte ich und feufste.
Herrmann teilte mir mit, daß er durch vertraute Hand
die Kunde von Tauroggen fhon im Moment der Abs
reife von Dresden erhalten und daraufhin feine Wers
bung befchleunigt habe; nicht nur, um die Mutter durdy
Erfüllung eines Lieblingswunſches aufzurichten, fondern
auch um Liska eine feftere Stellung im Haufe, in der
Geſellſchaft und im eignen Bewußtſein zu gewähren.
Er zweifelte nicht, daß die rufjifche Hauptmacht, raſch
den Bortruppen folgend, ſich mit den Preußen vereinen,
baß der Slönig jedes diplomatifierende Schwanfen fallen
laffen, der klaͤgliche Reſt der Feinde bis zum Frühjahr
über den Rhein gedrängt fein werde.
Die Mutter trat wieder einz ich wollte mich entfernen.
„Bleiben Sie, Freund,” bat fie, „wir bedürfen Ihres
Rats,“
Sechſter Abfchnitt 269
Sie war fehr gefaßt. Ic nahm Platz an ihrer Seite,
Herrmann und gegenüber. Nach einer Paufe hob fie
an: „Du gehft, mein Sohn, und ich widerfpreche dir
nicht. Sch weiß, es ift dein innerfted Anliegen und deine
heifigfte Pflicht. Aber die Entfcheidung kann jich ver
zögern; warum morgen ſchon, Herrmann?“
Er ſchwieg, vielleicht einen Auffchub erwägend. Die
Mutter blicfte ihn aufmerffam an, dann fuhr fie fort:
„Sc bitte nicht um meinetwillen, mein Sohn; um Liskas
willen. Zwei Wochen Auffchub, allenfalld nur eine, und
du hätteft fie ald deine Gattin zurüdlaffen können.“
Der junge Dann fuhr zufammen wie. unter einem elek⸗
trifchen Schlag. Ein Glutſtrom übermwogte fein Geficht,
die Adern der breiten Schläfen Flopften, aus den Augen
bligte ein Verlangen, das ich nur während diefer einzigen
Minuten in ihm wallen fah. Er fprang vom Stuhle in
die Höhe und fchritt wohl eine Viertelftunde lang ſchwei⸗
gend im Zimmer auf und ab. Dann preßte er hervor,
wie zu fich felbft: „Nein, nein, dad Gluͤck madıt laß.“
Und nad, einer Weile beruhigter: „Erft unfern guten
Kampf -, dann den Preis - meine Mutter.“
„Du verleumbeft das Gluͤck, weil du es nicht Fennft,
mein Sohn,“ wendete, ein wenig verftimmt, Frau Erd⸗
muthe ein. „Wir tun unfere Pflicht völliger nach einer
fhönen Erfüllung, ald wenn und dad Sehnen darnadı
zerftreut.”
„Möglich, daß du recht haft, liebe Mutter,“ verfegte
Herrmann wieder vollfommen gefaßt. „Aber denfe an
Liska. Im Bemußtfein ihrer Abhängigfeit würde fie
faum widerfprechen £önnen, vielleicht auch nicht wollen.
Allein der Umfchlag wäre zu jäh. Sie muß allmählich
270 Frau Erdmutheus Bwillingeföhne
das Fremde uͤberwinden, muß erſt die Unſere werden,
ehe ſie ganz die Meine werden darf.“
Es war das erſte, das einzige Mal, daß der Sohn der
Mutter widerſprach bei einem Anlaß, wo ſie ſein inner⸗
ſtes Begehren zu ſtillen dachte. War es die ererbte
flaͤmiſche Ader, war es ſein Genius, der ihn im Banne
hielt?
Mutter und Sohn ſaßen noch tief in die Nacht hinein
beieinander. Sie hatten Bedeutendes feſtzuſtellen; Vor⸗
bereitendes fuͤr die nahende Zeit; zukuͤnftig Segenwirken⸗
des in einem weiten Bezirk. Sie machten auch ihr Teſta⸗
ment in wechſelſeitigem uͤbereinkommen, verbindlich fuͤr
einen wie den andern der uͤberlebenden, wie ſonſt nur
Ehegatten ſich in ſolchem Akt zu einen pflegen.
Am andern Morgen war Herrmann abgereiſt. Das Ab⸗
ſchiedswort, das er fuͤr Liska zuruͤckließ, iſt im goldenen
Buche aufbewahrt:
„Sc ſcheide von Dir, Geliebte, ehe Du es ahnt. Ewig
Dant, daß Du meine Liebe verjtandeft. Kerne auch vers
ftehen, was außer diefer Liebe mein Herz regiert. Werde
glüdlich, Lisfa, bei den Deinen und durch die Deinen.
Herrmann.”
*
}:
Könnte ein Erzähler doch immer zu einem goldenen
Buche feine Zuflucht nehmen, wenn der Faden des Ges
fhehenden, das heißt die Wandlung in den Herzen, ihm
entfchlüpft! Denn wer ermißt ohne Willfür die Ent-
wicklung eined Menfchen im Kontakt mit feiner wechfelns
den Umgebung? Wer fchaut der Natur, felbft der eignen,
bis auf den treibenden Grund? Wer bürgt auch mir
Schfter Abſchnitt 271
dafür, daß das Bild der fremden Waife nicht ſchon in
der Anlage einen falfchen Zug erhalten hat, daß es weit
gefälliger euch anlächeln wuͤrde, hätte ihre eigene, junge,
weiche Hand den Griffel geführt, anftatt der welfen,
fteifen des Paten Magifter?
Aber das ift ja eben ein Merkmal der Wandlung, die
ich fchildern möchte, daß das mir vorliegende goldene
Buch, nachdem ed ein paar Wochen lang die Schale ge:
wefen, in welches ein Strom eigenften Lebens ſich ergoß,
je mehr und mehr zur Mappe wurde, zu einem angeeigs
neten Sammelfurium, das ein innerliched Stoden be>
fundete. Nur über die Eindrüde der nächiten Tage finde
ich eine Aufflärung, die mir manche Weitläufigfeit ers
fpart. |
„Herrmann ift fort, und fie nennen mich feine Braut.
Er felber hat mich nidyt Braut genannt. Er fagte zu
mir: Sch liebe dich! Und vielleicht, ich weiß es nicht eins
mal, fagte ich zu ihm das nämliche. Der Pfarrer be;
hauptet, wir hätten dad Wort Braut in unferer Sprache
nicht. Promise bedeute etwas Außerlicheres und viel
weniger. Mir ift ſchon promise viel zu innerlich und
viel zu viel. Heimlich, über Nacht, ift er fort, und bie
Liebe einer Stunde ift mit ihm verflogen. Aber wie
feltfam! Sonft, wenn er fort war, dachte ich niemalg
an ihn, fam er aber wieder, dann freute idy mich. Kehrte
er morgen zurüd, würde ich mich gar nicht freuen, aber
ich denke über ihn nadıy den ganzen Tag. Sonft, da
intereffierte er mich nicht, aber ich traute ihm. Er ift
gut, fagte ich mir; alle andern fagtend ja auch. Und
nun? Diefer ruhige Mann mit den Haren, treuen Augen,
das ift ein Heuchler von Herzensgrund, ein Verſchwoͤrer,
272 Kran Erdmuthens Zwillingsföhne
ein Empörer, gegen den die heißblütigen Spanier Kinder
waren. Diefer gutmütige Mann hegt feit fieben Sahren
nichts als Haß gegen das Volk, dem feine Väter ent⸗
ftammten, finnt feit fieben Sahren nichts ald Rache gegen
das Genie, dem der Weltteil zu Füßen liegt.
„Und diefe milde, leife Frau, die ich Mutter nenne, in
deren Nähe mir allezeit war, als liebte mid) Gott, deren
Lieblingsfohn Ruhm und Gluͤck im begeifterten Kampfe
mit feinen Stammgenoffen gefunden hat, vielleicht auch
den Tod, — nein, nein, nicht den Tod! — diefe friedliche
Frau ift die Bertraute, die Hehlerin, die Kelfershelferin
jener argen Pläne, fie fegnet, was der Carbonaro, ber
fid) Patriot nennt, will und was er tut.
„Run gar aber der Dritte in ihrem Bunde, diefer alte,
fegerifche, Feine Pfarrer! Mit dem unfchuldigften Lamm⸗
geficht predigt er mir vor auf Schritt und Tritt von der
deutfchen Treue und dem deutfchen Recht, für welche fein
Herzensfohn das Blut vergießen will, Öffentlich aber auf
der Kanzel betet er für feinen frommen, fatholifchen
Landesvater, welcher der danfbarfte Anhänger des Kaiſers
it! In welchen Hinterhalt bin ich denn geraten? Wo
ift hier Wahrheit und wo Lüge? Wer Iöft mir dieſes
dunkle, deutfche Menfchenrätfel?“
In folder Stimmung trat und Liska, feitdem fie
Braut hieß, gegenüber. Wir waren nunmehr erft recht
gründlich in den Winter hineingeraten; immer dichter
trieb, immer höher lagerte der Schnee über der Heide,
ed braufte und krachte zwifchen den Wipfeln. Aber
Liska glich nicht mehr dem flügellahmen Bögelchen
im Novemberfturm; weniger freilich noch dem freudes
fprühenden Luftgeift vom Dreifönigsabend. Sie nahm
Sechſter Abſchnitt 278
auch jetzt nicht teil am haͤuslichen Treiben, aber ſie wall⸗
fahrtete auch nicht mehr ſehnſuͤchtig nach der Kloſter⸗
ruine. Von Tage zu Tage fand ich ſie — gewachſen will
ich nicht ſagen —, aber geſtreckter, ernſter, kaͤlter, ge⸗
meſſener; aus dem launenhaften Kinde wurde eine Dame,
weit eher nach Frau Erdmuthens als nach Frau Lodoiskas
Schlag. Sie nannte mich nicht mehr Vaͤterchen, und
wenn ſie ihre Wohltaͤterin noch Mutter nannte, ſo merkte
man, daß Madame oder ma tante ihr flotter vom Herzen
gekommen ſein wuͤrde. Die großen, deutſchen Leute impo⸗
nierten ihr nicht mehr, ſeitdem ſie ihr ein Raͤtſel geworden
waren, und ich erwartete mit Bangen, ob des Raͤtſels
Loͤſung Liebe ſein werde oder Haß. Moͤglich auch, daß,
trotz der Verleugnung ihres Brautſtandes, das Bewußt⸗
werden einer geſicherten Stellung ihr das Koͤpfchen ſo
viel hoͤher richtete. Monſieur Antipathie wenigſtens ver⸗
ſicherte, ſie habe die Landſtraße nach Deutſchland einge⸗
ſchlagen, was natuͤrlich nicht ausſchloͤſſe, daß fie mit dem
eriten beiten franzöfifchen Kurier wieder fehrt machen
werde. Die alles begütigende Mutter dahingegen nahm
die gemilderte Temperatur für den naturgemäßen Rüds
ſchlag bräutlicher Wallungen, und zweifle ich nidht, daß
fie durch diefe Bemerkung ihrem Sohne den Schmerz der
jähen Trennung zu lindern fuchte,
Herrmannd nicht zahlreiche Briefe find im ——
Buche aufbewahrt und allerdings nur ſchwach in den
Liebhaberfarben aufgetragen, mit welchen ſein Vater
noch als alternder Ehemann ſeine Erdmuthe bezauberte.
uͤberdies lebte er zu viel, zu voll nach einer anderen
Seite hin, um aͤngſtlich auszuſondern, was dem Ver⸗
ſtaͤndnis eine Bruͤcke ſchlagen konnte. Briefſchreiber
xx. 18
274 Fran Erdmuthens 3willingsſoͤhne
muͤſſen gleiche Intereſſen hegen, wenn ſie nicht lang⸗
weilig wirken ſollen. Selber in Herrmanns Briefen an
die Mutter waltete jetzt indeſſen eine nuͤchterne Zuruͤck⸗
haltung, welche die Zeitlage rechtfertigen mochte. Viel⸗
leicht, daß ed ihm aber auch peinlich war, dad Freunds
fehafteverhältnig zu der einen zum Nachteil der anderen
fo deutlic, zum Ausdrud zu bringen.
Eingehendered über fein Treiben erfuhren wir erft, ale
Ende Februar mein Bruder Gottlieb flüchtig bei und
einfehrte. Der bewährte Verwalter hatte ald Trains
offiziant fid) dem Reſervekorps angefchloffen, das General
Bülow an der Weichfel zufammengezogen und jegt, unter
den Behelligungen von Franzofen und Ruffen, zur freien
Verfügung feines Königs nach dem Innern führte. Nun
fam der wadere Lieb, um auch im heimatlichen Aus⸗
ande zu fammeln und zu werben. Unfere beiden jüns
geren Brüder find ihm fpäter in dad Bülowfche Korps
gefolgt, fein Herr war bereitd dem Stabe ded Generals
aggregiert.
In weld, gefpannter Stimmung Serrmann Bülow vor
Jahren zum erften Male begegnet war, habe ich erwähnt;
gewiß war ed aber nicht, wie zwifchen Raul und Thieles
mann, die verwandte Eigenart, welche den jungen, ruhigen,
deutfchen Patrioten mit dem alternden, rafch erregten
Kriegskünftler aus Friedrich Schule dauernd verbunden
hat; auch z0g ihn nicht die Ölorie einer heldenmäßigen
Bergangenheit. Bülow wurde ja erft ald Greig der allers
orten glücliche Sieger. So möchte ic) diefe Unterftellung
aus freier Wahl und Neigung fchlechthin eine fataliftifche
nennen; ruhmbringend für das foldatifche, verhängnids
ſchwer für dag perfönliche Geſchick. Wie anders würde
Sechſter Abſchnitt 273
dereinſt die Erinnerung in Frau Erdmuthens Sohn ge⸗
waltet haben, wenn er, was damals nahe lag, in das
Nationalkavallerieregiment oder in jedes andere von
Yorks Heerteil getreten wäre! |
Bevor Herrmann jedoch zu den Fahnen eilte, war er
Zeuge und Teilnehmer der politifchen Vorgänge in Königs:
berg. Der Gutöherr von Ganditten gehörte zu der Depus
tation, welche den von feinem König verleugneten York
unter die durch Stein zufammenberufenen Stände führte.
Als aber jegt ein einfacher Landmann ung fchilderte, wie
der alte, ftarrföpfige, rauhe General vor den ftaatlichen
Megeneratoren, denen er fo lange gegrollt hatte, den
Treuſpruch leiftete, den eigenmächtig erhobenen Kampf zu
Ende zu führen und Außerftenfalld mit Ehren zu fterben;
als jener mit bebender Stimme den hohen Schwung der
Berfammlung fchilderte; den mannhaften Geift in der
durch zwei drohende Heere, Die ſich beide Freunde nannten
und beide wie Feinde gebärbeten, gleich einer Infel vom
Mutterlande [osgeriffenen Provinz; den warmen Herzens⸗
puls über dem winterlich erftarrten Grund, den Opfers
trieb in dem bis aufs Blut erfchöpften Volke: da zog ein
Schauer der Dafeinsfuft durch die Taufchenden Hörer im
fächfifchen Heidefchloß, und eine Friegerifche Ader rumorte
felber in dem Kerzen des friedfeligen, alten Magifters.
Nein, folch ein Auffhwung war noch auf feinem Blatte
deutfcher Gefchichte verzeichnet; felber dem herrlichiten der⸗
felben, der religiöfen Reinigung im fechzehnten Jahr⸗
hundert, fehlte die Volksgewalt, der Einklang, das felbft-
Iofe Wollen von Recht und Freiheit um jeden Preis.
Frau Erbmuthe ftand mit gefalteten Händen und zum
Simmel erhobenem Blick; der weltweife Richter erflärte
276 Frau Erdmuthens Smwillingsfähne
fich, fozufagen der reinen Vernunft zufolge, für ein Koͤnigs⸗
berger Kind, und der alte Freiheitsphyſikus fchämte fich
ber erften Tränen nidht, die ein Freund in feinen Augen
ſchwimmen fah.
Auch die Kleine Franzoſi n war von unferer Bewegung
ergriffen worden. Sc mußte ihr die Schilderung ber
Junta im Schnee in ihre Sprache übertragenz fie reichte
dem Don Amadeo die Hand mit einem Kächeln, das fie
feit Wochen verlernt zu haben fchien, und ald wir in
gutem, altem Malvafier auf das Heil des tapferen, deut»
fchen Baterlandes anftießen, da leerte fie ihr Glas, ohne
einen Tropfen Gift oder Galle in den feurigen Saft zu
mifchen.
Don Amadeo wird diefen fympathifchen Empfang fei-
nem Herrn zu rühmen gewußt haben; der Erfolg des
deutfchen Brautftandes fchien im Borwärtäfchreiten, und
bald erhielt er Sukkurs von einer Seite, da wir ihn am
wenigften erwartet hatten.
Zum erften Male feit Liskas Anmwefenheit beherbergten
wir anfangs März franzöfifche Quartiergäfte. Es war
ber Zeil der Berliner Befagung, welche der Vizefönig
vor Wittgenfteind nahender Vorhut nad, Wittenberg zus
rücdzog; ein buntes Gemifch, zum Zeil erft kuͤrzlich aus
. Stalien herbeigezogen. Mademoifelle ſchwelgte ein paar
Tage lang, wie jedes Wefen, in feinem natürlichen Eles
ment; das war ein Plaudern und Tachen, ein füdliches
Erinnern und Haͤndedruͤcken, ein bien venu und A revoir!
„Binge der Ruͤckmarſch weiter ald bis zur Elbe vor der
Hand, wir hätten dad Glüd, eine Deferteurin aus dem
bräutlichen Lager zu beweinen“, brummte Bär.
Um fo ernfter befchäftigt war Frau Erdmuthe. Es gab
ee, Schfter Abſchnitt 277
viele Verwundete unter der Truppe; Trümmer des ruſſi⸗
fhen Feldzugs, winterliche Grauenbilder zurüdrufend;
auch Kranke, Opfer des mehrwoͤchentlichen Biwaks auf dem
Berliner Straßenpflafter, feit dem erften Koſakenuͤberfall.
Die, weldye am fchwerften litten, wurden zurüdgehalten,
um fich in dem guten Haufe heil zu pflegen.
Unter diefen Halbinvaliden befand ſich eine Marketen⸗
derin, welche erft kürzlich aus Italien herbeigezogen, ſich
feiner angenehmen Befanntfchaft mit deutfchem Schnee
und Glatteis ruͤhmen durfte. Die Zehen erfroren, bie
Knöchel verftaucht, humpelte fie noch an Krüden und
ließ fich8 gern gefallen, dag Wieberflottwerden bei ung
abzuwarten. Sie war eine Bretonin, nannte ſich Mas
dame Barbe und verficherte, die Witwe eines Helden zu
fein, der, den Marſchallsſtab in der Taſche, fich bereits
zum Sousleutnant aufgefhwungen hatte, ald die moͤr⸗
derifche Kugel ihn bei Marengo traf. Eingefehen habe
ich das Trauatteſt allerdings nicht, aber auch feinen pſy⸗
chologifchen Grund gefunden, dad Saframent vor der
Trommel zu bezweifeln. Madame Barbe war die ehr:
lichfte Haut und das Fraftreichite Menfcheneremplar, das
mir von jenfeit ded Rheined zu Geſicht gefommen ift:
hartfehnig, wetterbraun, in dem dicken fchwarzen Zopfe
noch fein ergrauted Haar, und fein Zahn laͤdiert hinter
den firfchroten, vollen Lippen. Gab es ihresgleichen
drüben mehr, hätte der Kaiſer die Konffription für feinen
nächften Feldzug unter dem ſchwachen Gefchlecht bewerk⸗
ftelligen und dem armen Sünglingeblut einmal Ruhe
gönnen follen. Auch der Marfchallinnenftab würde in der
rechten Hand gewefen fein, obgleich dad Kerrfchertalent
fid, hinter tiefen Kuiren und einer durchaus nicht bres
278 Frau Erdmuthens Bwillingsfähne
toniſchen Unterwuͤrfigkeit verbarg. Bewußt oder unbe-
wußt uͤbte Madame Barbe eine hoͤfliche Diktatur.
Wie es nun aber in jedem energiſchen Menſchenleben,
ſei es noch ſo rund und glatt entwickelt, eine Vertiefung
oder einen Auswuchs gibt, in oder auf welchem das Licht
ſich abweichend bricht, ſo hegte auch dieſes hartgeſottene
Weltkind eine ſeltſam erbauliche Antitheſe. Die Witwe
des Marſchalls in spe wuͤrde vor Teufel und Hoͤlle ſtand⸗
gehalten haben und dem großen Napoleon in das Fege⸗
feuer gefolgt ſein, wenn beſagte Inſtitutionen ſichtbar⸗
lich ſchon auf dieſer Erde eingerichtet worden waͤren;
fuͤr die himmliſchen Angelegenheiten aber hatte ſie ſich
aus ihrem eigenen Fleiſch und Blut gleichſam einen Stell⸗
vertreter herangezogen, Monſieur Anſelme Barbe, ihren
einzigen Sohn. |
Sie erzählte gern, daß fie ihn fchon von der Wiege ab
ferngehalten von dem Tourbillon, der ihr Element ges
worden war; fpäter ließ fie ihn im Seminar erziehen,
fparte und fammelte für fein „Seelenheil”. Gefehen
hatte fie ihn nur wenigemal und auch dann nur auf
wenige Momente: „Gekuͤßt habe ich ihn nie, um feiner
Heiligkeit feinen Schaden zu tun”, fagte fie befcheident-
lich. Seitdem er die Weihen empfangen hatte, beichtete
fie ihm, das heißt brieflich, und trug feine Abfolution
ftatt Amulett auf ihrer Bruft.
Bor kurzem war Kerr Anfelme nun Cure in einer Ge⸗
meinde der Dauphine, aber, o weh! gleichzeitig ein bitter:
böfer Widerfacher des großen Kaiferd geworden, ſeitdem
derfelbe in päpftlichen Angelegenheiten die Ießte Hülle
bes Antichriftd abgeworfen hatte. Kraft des priefterlichen
Amtes wurde der Frau Mutter anbefohlen, fich aus dem
Sechſter Abſchnitt 279
Dienſte des Faͤlſchers und Schwindlers am Heiligtume
zuruͤckzuziehen. Idol und Ideal der braven Vivandieère
lagen ſich in den Haaren; der Unfall auf dem Berliner
Glatteis mußte ſchlechthin als providentielle Vermittlung
betrachtet werden.
Nichts haͤtte ihr daher willkommener ſein koͤnnen, als
in angemeſſener Beſchaͤftigung auf neutralem Boden ſich
fuͤr den ſchließlich doch unvermeidlichen Ruͤckzug in die
Sphaͤre der Heiligung vorzubereiten. Bald von ihrem
Unfall erholt, nahm Madame mit empressement Frau
Erdmuthens Einladung zu längerem Verweilen an.
Sie machte fein Hehl daraus, vor ihrer glorreichen
Fahnenzeit auf einem Edelhofe der Vendée gedient zu
haben; ob ald Milchmagd oder Köchin, oder in welcher
anderen wirtfchaftlichen Stellung, ließ fich nicht präfus
mieren. Madame war jedem Facje gerecht, „aller Prak⸗
tifen Großmutter” nannte fie Doktor Bär. Die idylli-
fhen Jugenderinnerungen wachten auf in dem Kerzen
der alten Heldin, nicht zum geringften die an ihre Chas
telaine, für welche in der deutſchen Schloßfrau ein aufs
richtig bewunderted Abbild gefunden ward. Nun fügte
ed ſich aber günftig für ihre Wünfche, daß unfere bes
währte Auggeberin plöglich an dad Kranfenbett ihrer
Mutter berufen wurde. Madame Barbe bot fidh ald
Stellvertreterin an, und Frau Erdmuthe fagte willig ja;
Ge überließ ihr fogar umfaflendere Dienfte, als fie früher
ihren Gehilfinnen eingeräumt hatte, da fie feit Diefem
Trauerjahr gern die Hände ruhen ließ, fobald fie ihre
Pflegebefohlenen nicht darunter leiden fah. Madame
Barbe war aber raſch bei der Hand, jeded Herrſcherrecht
auszubeuten.
280 rau Erdmuthens Zwillingsſoͤhne
„Ein Teufelsweib!“ rief der Phyſikus, ſooft ſie beie einer
Amputation oder anderweitigen ärztlichen Liebhabereien
Chirurgendienſte leiftete.
„Sin Öötterweib!“ rief wonnefchnalzend der Kantianer,
als fie ftatt Meerrettig oder Majoran die erfte frifche
Morchelfauce auf die Tafel brachte. Unſere liebe Frau
lief Gefahr, zwei ihrer Knechte an die Witwe ded Sous⸗
leutnants zu verlieren.
Den wichtigſten Umfchlag in unferer Hausordnung bes
wirfte jedoch der Einfluß, den Madame Barbe auf ihre
junge Randemännin gewonnen hatte. Liska fchloß ſich
ihr an, wie ein Kind fich, idy will nicht fagen an die
Teibliche Mutter, aber an die Nährs oder Pflegemutter
fehließt, trogdem die Sympathie durchaus feine gegen
feitige war. Bei aller hoͤflichen Form blickte die erfahs
rene, alte Dame ziemlicd, von oben herab auf das Daͤm⸗
chen Ungeſchick. Des Daͤmchens zufünftige Stellung in
dieſem Vorhofe der Heiligung war aber nicht zu unters
fhägen, und die Erziehung für diefe Stellung fein Ges
fchäft, vor dem eine Barbe zurüdichredte, wohl aber ein
Dienft mehr, durch welchen ſich eine anftändige und
feffelnde Dankbarkeit beweifen ließ.
So hing die junge Franzöfin denn am Rockſchoß der
alten wie eine Klette; und wenn über die Bildungsforts
fhritte in Keller und Vorratskammer mir fein gültiges
Urteil zufteht, im Gewaͤchshaus und Treibbeet, fpäterhin
auch in der Gartenfultur, waren diefelben nicht zu vers
kennen. Seitdem die Witwe ded Sousleutnants mit
Tranchiermeſſer und Vorlegelöffel an unferer Tafel res
gierte, fehlte auch die Waife Frau Lodoiskas an derfelben
nicht, trog Nachbarfchaft und Gegenüber von „Meffteurs
F Sechſter Abſchnitt 281
Anthipathie und Averſion“; des galliſchen Einfluſſes auf
Menu und Konverfation möge dabei mit Rühmen gedacht
werden. | | |
Alles in allem: die Braut bed deutfchen Mannes fchien
nicht ohne Behagen fich in das Unvermeidliche fügen und
in Haus und Herd die Löfung des deutfchen Raͤtſels
finden zu lernen. Ihre Meifterin nannte - und aufrichs
tigen Herzens — dad Bereich der deutfchen Chatelaine
eine Schule für das Himmelreich; Liebe und Ehe aber
behandelte fie ald internationale Angelegenheiten.
Mid; freilid) wurmte ed, daß ich der Praris eines ders
ben Berftandes gelingen fah, woran der Geiſt der Liebe
und Wuttergüte gefcheitert war. Frau Erdmuthe dahins
gegen freute fid, ohne Eiferfucht ded guten Erfolges.
„Es ift ein Unterfchied, ob unfere Sprache natürlich oder
gleihfam ald Kunft zu und geredet wird,” fagte fie.
„Lehre und Beifpiel der beften Fremden würden auch auf
und, mein Freund, nicht fo bildend gewirft haben wie
Heimatslaut und Geſchick.“
Die legten Winterwochen vergingen ung auf dieſe Weife
in einem leidlichen Ruhezuftande. Bon Herrmann hatten
wir feit meines Bruders Abreife feine Kunde. Der Krieg
war noch immer nicht erflärt; doch erfuhren wir, daß
unfer Landesvater vor drängenden Entfchlüffen fidy ges
rettet habe, erft an die Grenze, dann über diefelbe hins
aus auf neutraled Gebiet. Er war ein gütiger, frommer
Herr, und wir liebten ihn; an Heroenkultus machten wir
feinen Anſpruch. Nur der alte Bär, der in diefen ges
fpannten Monaten häufig bei und eingefprungen war,
brummte ftärfer denn je und würdigte Freund Hecht
feiner Entgegnung mehr, wenn derfelbe und Tag für
282 Fran Erdmuthens Zwillingsföhne
Tag verficherte, ed widele fid) alles ganz ſachte wieder
ab, da ja, vom Standpunfte der reinen Vernunft betrach⸗
tet, jeglicher Krieg ein vermeidbared Unding fei.
” *
*
Ald wir aber Frühlingsanfang fchrieben, ſenkte fich die
friedfelige Peruͤcke, und die borftige Kriegermähne fträubte
fich ftolz empor. Der Doktor fchmetterte die gewaltigen
Poften vom fiebzehnten März im Schloffe aus: die Kriegs⸗
erflärung; ben Volksaufruf; des grimmen Entfcheidungss
mannes von Tauroggen Triumpheinzug in das jauchzende
Berlin. Aud) daß Vorf Herrmanns Hoͤchſtkommandie⸗
render geworden, war für die Mutter von Bedeutung;
fie faß in Gedanfen und blickte fragend in die werdende
Zeit.
Liska verftand von der reichen Botfchaft nur, was ihr
übertragen ward durch die alte Franzöfin, deren Ohr
und Zunge in ber kurzen Zeit ihred deutfchen Aufenthalte
unferer Sprache bewundernswert mächtig geworden was
ren. Keine von beiden zweifelte an dem raſch zerfchmet-
ternden Siege ihres Kaiſers. Die Alte aber hatte den
Takt, die Sunge die Nachahmung, zu fchweigen; bald
machte auch die Tiſchglocke aller Politifa ein Ende.
Die Kohlfuppe — auch eine franzöfifche Neuerung -
war verzehrt, Madame am unteren Tafelende zerlegte
einen faftigen Hammelruͤcken, Mademoifelle am oberen
mifchte den erften Latticdyfalat des Jahres. Ploͤtzlich
fchallte ein ftarfer Tritt vom Flur herein, und zwifchen
dem Rahmen der Türe erfchien eine mächtige, blondbärs
tige Geſtalt in blauer Litewka und hohen Veiterftiefeln,
den Scyleppfäbel umgefchnallt, an der Müge das ſchwarz⸗
Sechſter Abfchnitt 283
weiße Landwehrfreus; das ganze Wefen durchleuchtet von
froh bewußter Kraft; ein Freudenfchrei derZifchgenoffen:
-— „Herrmann!“
Und da hielt er auch fchon die Mutter an feinem Herzen
fchweigend ein paar Minuten lang; dann nahte er ſich
feiner Braut. Sie war um einen Schimmer erblaßt,
reichte ihm aber willig, wie fonft, die Stirn zum Kuß.
Nun gings mit Händefchätteln und Willkommen die Tafel
rund herum bis hinunter zu ihrem neueften Gaſte. Mas
dame Barbe Enirte bis zur Erde mit dem Ausdruck ftaus
nenden Entzüdend Ich ruͤckte an ihre Seite, den Platz
zwifchen Mutter und Braut dem Freunde überlaffend.
„Welch ein Mann!“ rief Madame Barbe. „Ein Her⸗
fules! Mein feliger Leutnant reichte ihm nicht bis an
die Schulter, und mein Eure, — er ift groß an Geift,
Monſieur, aber dem Leibe nach ift er zum Heiligen ges
boren. Gibt es unter den Deutfchen viele ſolche Männer,
Monfieur?“
„Sch habe feinen, der ihm gleich ift, gefehen, Madame”,
antwortete ich ohne Prahlerei.
„Mademoifelle ift ein Sonntagefind, folhen Gemahl!“
fagte die Barbe, ihrer Landemännin eine Kußhand und
einen Blick zuwerfend, die dieſe Tächelnd erwiderte.
Herrmann erzählte, daß er die Nacht hindurch geritten,
um dad Feft der Sonnenwende mit feinen Lieben zu feiern,
daß er vor Abend jedod) fchon wieder aufzubrechen ges
zwungen ſei. Liska war gehalten, aber freundlich; fie
verforgte ihn mit ungefannter Aufmerffamfeit, ſchaͤlte
ihm einen Apfel und knackte Nüffe, die fie felber fehr
liebte. Ahr Benehmen glidy dem jedes wohlerzogenen
deutfchen Fräufeind in gleicher Lage. Nie aber werde
284 Frau Erdmuthens Swillingsföhne -- - - -
ich das glüdfelige Lächeln vergeflen, mit welchem ber
junge Dann dieſes hausfraufiche Walten betrachtete,
„Diefe Berliebten!” brummte Bär in mein Ohr. „Erft
entzüct fie ihn, weil fie andere ift wie die anderen, und
nun ſie's den anderen gleichtut, entzuͤckt fie ihn erft recht.“
Nach dem Danfgebet empfahlen fid) die Tifchgenoflenz
audy Madame Barbe machte ihre Reverenz, um ihre
Landsleute in den Kranfenftuben mittägig zu verforgen.
Liska folgte ihr mit einer Schuͤſſel Krumen für den Huͤhner⸗
hof. Die Mutter, Bär und ich blieben mit dem Sohne
allein, und ed fam nun zur Ausſprache, was fo mädıtig
die Herzen bedrängt hatte. Sch will mich nicht mit der
Wiederholung aufhalten: der junge Patriot fam von Bers
lin, und wir fchrieben den einundzwanzigften März 1813!!
Nach einer Weile erhob ſich Herrmann, die Geliebte
aufzufuchen. Er fand fie weder im Garten, noch in ihrem
Kabinett; fie bereitete im Wohnzimmer den Kaffee, wir
traten juft von der anderen Seite ein, und zu einem Bei⸗
einander unter vier Augen fam es nidht.
Mancherlei Geſchaͤftliches drängte fih darauf an den
Sohn ded Hauſes heran, ed war ein ununterbrochenes
Kommen und Gehen, bid dad Abenddunfel hereinbradh.
Sein Korps zog, wie der Doftor gelegentlich verriet,
weftwärtd der Elbe zu. Herrmann aber hatte fich ein
Relaispferd ſuͤdwaͤrts aufden halben Weg nad, Torgau
beftellt. In Torgau hielt Thielemann die reorganifierte
fächfifche Armee konzentriert. Das Schickſal unferes Lans
bes lag in diefed Mannes Hand. Traute man ihm, dem
bevorzugten Bewunderer Napoleond,die Rolle eines York
zu, noch jeßt zu, nadydem faft drei Monate feit der Tat
von Tauroggen verlaufen waren und der Klaifer im Ins
Schfter Abfchnitt 285
und Auslande ein gewaltiged Aufgebot mit Meifterfertig»
feit zufammenfcjweißte? Hatte der junge Sadıfe aus
Buͤlows Stab den Auftrag, mit dem alten Familienfreunde
zu unterhandeln? Wer verfällt in foldyen Schwebezeiten
nicht auf Kombinationen!
Herrmanns Pferd ftampfte unter dem Kenfter.
„Einmal noch unfer Bundeslied“, bat die Mutter.
Ich öffnete das Klavier, Hermann fah ſich nadı der Ges
liebten um; fie war nicht im Zimmer. So faßte er der
Mutter Hand und hob die traute Brudermeife feiner Sus
gend an. Seit fieben Jahren war fie in diefen Räumen
verhallt; zwei unferer Abendfänger waren vorangezogen
in dag eine Land,
Aud) der Mutter noch immer Hangvolle Stimme ftodte.
Herrmann allein mit gebämpfter Kraft führte die Strophe
zu Ende, Dachte er an Verföhnung mit dem entfremdeten
Toten? An das Entweichen des noch Fremden in der
Seele des geliebten Weibes? Bei dem fchließenden „Dir
und mir” beugte er das Knie vor der Mutter; fie legte
fegnend die Hand auf das Haupt des einzigen Sohnes.
Tränen riefelten auf ihr Trauerfleid hinab. Als er fich
erhob, flanden die beiden Franzöfinnen unter der Tür.
Er preßte die Braut an fein Herz und ſchritt haftig
hinaus.
Madame Barbe fchaute ihm nach mit einem Blick, der
fie zu Fräulein Idunens Schweſter madıte.
„Er ift Proteftant”, fagte fie zu mir. „Pardon, Mons
fieur! Sie find ed auch. Aber glaubt er an Gott?“
„An Gott und feinen Sohn fo feit, wie Ihr Eure und
auch wie ih, Madame.“
„Daß genügt!“ fagte fie, indem fie meine Sand drüdte.
286 Fran Erdmuthens Iwillingsfähne
„DMademoifelle wird glüdlich fein und felig werden mit
diefem Mann.”
Die alte Franzdfin if, wenn auch nicht ohne einige be>
rechnende Bintergedanfen, diefer Überzeugung treu ge⸗
blieben, troßdem diefer Mann ein Feind ihres Kaifers
und in den Augen ihres Eure ein Keger war.
Auch auf Liska hatte das Abfchiedslied Eindruck gemadıt.
Ich mußte ihr die Worte überfegen und ihre Bedeutung
für unfer Haus erflärenz; oft fummte fie die rafch erfaßte
Melodie vor ſich hin. Eine nadjklingende Wirkung finde
ich im goldenen Buche aufbewahrt, das aus jener Zeit —
mit Ausnahme eines Nezeptes zu Croquant — nur leere
Blätter enthält. Mademoifelle hatte die Korrefpondenz
mit dem heiligen Pfarrherrn in der Dauphine über-
nommen, da die Feder eind von den wenigen Inſtru⸗
menten war, an welchen Madame die Erfahrung vom
Hand und Händchen machte. Manch perfönlicher Erguß
mag ſich dem mütterlichen Diftate angefchloffen haben.
Eine Probe von den eingehenden Zurechtweifungen des
fernen Beichtigerd aber geben die folgenden Zeilen, die
einige Wochen nach Herrmanns Abfchied datiert find.
„Der diefe Strophe dichtete, Mademoifelle, ift einer,
welcher mit vollem Herzen in den Schoß unferer ewigen
Gemeinfchaft zurücgefehrt ift. Die edelften Geifter des
deutfchen Nordend haben diefen Schritt vor ihm und nach
ihm getan. Die Proteftanten verhöhnen die Heimkehr
der Stolberg, fie leugnen bie des Novalid. Aber feine
Poeſien bezeugen fie. Auch diefed Lied. So lieben nur
die, welche unfere heilige Slirche vereint. So liebte Ruth,
die gebenebdeite Ahnin der unbefleckten Gottesmutter. Sei
das Lied Ihnen, Mademoifelle, eine mahnende Stimme
Sechſter Abſchnitt 287
aus der Hoͤh'. Sie ſind, wie durch ein Wunder, in das
Haus der Abtruͤnnigen Ihres Geſchlechts gefuͤhrt worden,
gefuͤhrt zu einer hohen Miſſion, zur hoͤchſten, die Men⸗
ſchen haben koͤnnen. Arbeiten Sie ſelbſtlos und treu,
wenn auch mit uͤberwindung. Was iſt Erdengluͤck gegen
Himmelsheil? Scheitern Sie dennoch, werden Sie ſich
erinnern, wo die Heimſtaͤtte glaͤubiger Waiſen iſt.“
Alſo Mademoiſelle ſollte ihren ketzeriſchen Braͤutigam
bekehren oder Nonne werden. Nun, fuͤr das erſte hatte
ſie zunaͤchſt nicht die Gelegenheit, und zu dem anderen
ſchien ſie auch kein ſtarkes Verlangen zu ſpuͤren, ſeitdem
ſie ſo flink in Haus und Garten hantierte und ſeitdem
der Fruͤhling ſich regte, der ſelbſt die Heide zu einem
Paradiesgaͤrtlein macht. Auch die Loblieder, welche Muts
ter Barbe unverdroffen auf den fchönen großen Baron
und fein reiched Erbhaus anftimmte, bewirften Feine
Elöfterlichen Geluͤſte. Beifall ift immer eine ftärfende
Liebeswuͤrze.
Von dem geſamten haͤuslichen Treiben war es jetzt nur
noch der ſonntaͤgige Kirchgang, an welchem die beiden
Fremden nicht teilnahmen; die junge, weil er fie lang⸗
weilte, die alte, weil, wie fie ehrlich befannte, ihr Eure
gefchrieben: fein Gottesdienft fei beffer als ein falfcher.
Das praftifhe Weib hatte indeffen bald eine Aushilfe
erfonnen, für deren Durchführung Frau Erdmuthe gern
die Erlaubnis gab. Mit Hilfe etlicher Arbeiter ward
die Feine Klofterfapelle binnen weniger Tage in ein
gar ſchmuckes Tempelchen umgewandelt; der Schutt ent-
fernt, der Boden reinlich mit Sand beftreut, in den nad)
dem Kloftergarten führenden, leeren Türbogen ein ab⸗
fchließendes Gatter eingefügt. Über dem Altar ftand das
288 Fran Erdmuthens Swillingefähne
umgefunfene Marmorkreuz aufgerichtet; im Nifchens
fohrein brannte ein Lämpchen Tag und Nadıt. Wehten
durch die fenfterlofen Steingemände auch die Winde,
was tat ed, da es Frühlingswinde waren, die da wehten,
und dunkler Efeu gleicd, einem Vorhang die Öffnungen
verhüllte? Auch im Innern fehlte es nicht an grünem
Schmuck; zunädhft konnten ed nur Tannenreifer fein,
mit der Zeit aber wurdend Blumen, immer bunter und
reicher.
Nach diefem Weihepläschen pilgerten bie unzertrenns
lichen Landemänninnen nun Tag für Tag; die eine, um
fchäffternd an ihren Sohn zu denfen, die andere, um
ihren Roſenkranz abzubeten. Spurlos im Heideſande
verweht war der Miffiondsauftrag meines rechtgläubigen
Herrn Amtöbruderd daher nicht. Auch beziehe ich auf die
Schilderung der Fleinen Kapelle folgende im goldenen
Buche verwahrten Worte von feiner Band: „Solche wohls
erhaltene Zeugniffe der Vergangenheit find Bürgen für
die Zufunft; was war, kann wieder werden, muß werben,
wird werden.” |
Mehrere Wochen vergingen ohne Kunde von und über
Herrmann; um fo unbegreiflicher, da wir fein Korps nicht
allzufern von ung, nahe der Elbe, wußten. Freund Bär
hatte mindeftend den guten Gefchmad, die brummende
Ungeduld in feine Höhle einzufchließen. Endlidy aber
fam er mit einem Subelfignal und einem Blatt feines
Manns, das den Erfolg von Möcern, den erften Erfolg
bes glücklichen Bülow meldete. Herrmann hatte ſich den
Dragonern angefchloffen, welche der General den Oppens
fhen Bortruppen bei Zehdenid zu Hilfe fandte.
„Eine erſte Probe,“ fo ſchrieb er, „in jedem Sinne weit⸗
Sechſter Abſchnitt 289
ab von den Erwartungen, mit welchen ich im Winter
von Euch fchied. Die Truppen des Bizefönigs find vom
rechten Elbufer verdrängt; ficher nur für furze Frift.“
„Gleichviel, fie haben Blut geledt”, fagte der Phyſi⸗
tus. Am anderen Morgen erhielt id) von ihm daß fols
gende Dlatt:
„Mich kigelts, ein paar Gliedmaßen abzufägen. Kommts
Fieber, verlaßt Euch auf den lieben Kerrgott und die
Brühen der Vivandiere. Ihr werdet ohne Doktor nicht
mehr Leichenpredigten zu halten haben.“
* ®
»
Der. Doktor war fortgegangen an dem erften wirffichen
Frühlingstage, der nicht bloß im Kalender ftand. Auch
und hatte der Sonnenfchein über den Garten hinaudges
lot. Die Ulmen fprengten ihre bräunlichen Knofpen,
und die Wiefe glänzte wie ein Smaragd; dazwifchen
plätfcherte das Bächlein in ſtolzem Übermut, als ob feine
Frühlingsfülle fein Ende nehmen könne; unter Erlen und
Maienfproffen, hod) oben im Blau, allerorten Mufit und
Iuftiged Bewegen. Sogar der langgefchnabelte Haus⸗
freund zeigte Happernd an, daß er die alte Sommers
wohnung in der fahlen Pappel wieder bezogen- habe,
„Was bedeutet das?" fragte Liska, die noch nie ein
Storchenliebeslied gehört hatte.
„Es bedeutet, daß ein Kindchen vom Simmel in unferen
Schornftein fällt“, antwortete ich lachend. Sie ladıte
auch und tänzelte voran mit den Badhftelzen um die
Wette. Während der Winterreife hatte fie das ſchwarze
Kleid abgelegt; feitdem trug fie’d wieder; vielleicht aus
Ruͤckſicht auf die trauernde Mutter; vielleicht aus ſpa⸗
xx.19
290 Fran Erdmuthens Zwillingefähne
nifcher Gewöhnung. Statt ded Hutes war ein Spitzen⸗
ſchal über den Kopf geworfen; der erfte Veilchenftrauß
des Jahres ftecte über dem Ohr. Ich folgte ihr über
die Ruine hinaus; Frau Erdmuthe und die Barbe bogen
in den Kirchhof ein, auf den Die Kapelle ihren Ausgang hat.
Ein tätiges Treiben waltete hier, feitdem der Boden
aufgetaut war. Der höderige Plag wurde geebnet, mit
reinlichen Wegen durchkreuzt, in grüne Rafenfelder ein>
geteilt; Lindenalleen waren bereitö gepflanzt, eine lebens
dige Umzäunung angelegt. Die mwüfte Stätte follte fid}
zum würdigen Empfang von Gäften vorbereiten, und dieſe
Säfte follten Tote fein.
Mit dem alten Freiherrn war in der Felöfchen Erbgruft
unter unferer Kirche der legte Plag ausgefüllt, und hatte
feine Tochter von jeher dem neuen Öefchlechte eine Ruhes
ftatt unter freiem Gotteshimmel beftimmt. Seitdem der
Tod des Kloftererben zur Gewißheit geworden, ward
nun der Umkreis der Kapelle zu biefer Stätte auderfehen,
in ein Öärtchen umgewandelt und mit einer Roſenhecke
von dem weiteren Raum getrennt, welcher der Gemeinde
ald neuer Gottesacker überlaffen werden follte, wenn,
berechenbar mit Abſchluß des Jahres, der gegenüberlies
gende Ältere fich gefüllt haben werde. Eine Steinbanf
dicht vor dem Slapellengatter bezeichnete den Platz, auf
welchem unfere liebe Frau ihr Tettes Bett fich erwählt
hatte.
Die Gegend bot feinen Blick fo freundlich ernft wie
von diefer Bank. Vorwärts, über die dereinftigen Grab⸗
reihen hinweg, die Bachwiefe mit ihren Erlenbüfchen;
zur Rechten der dichte Ulmengang, der Stadt und Schloß
verhüllte, links ein junger Birfenwald, und im Hinter⸗
Sechſter Abſchnitt 291
grunde die Ruine, von den Wipfeln der Heide uͤberragt.
Ein Vorhof, zur Beſchaulichkeit einladend, fuͤr unſere
einſtige Friedenskirche.
Heute zum erſten Male ruhte Frau Erdmuthe auf ihrer
Bank, und wie innig mag ſie an die beiden Graͤber ge⸗
dacht haben, die ſie ſo gern an ihrer Seite geſehen haͤtte:
an das friedliche in den Thuͤringer Bergen und an das
grauſige zwiſchen den verkohlten Truͤmmern der alten
Zarenſtadt! Die Barbe putzte mit ihrem Gartenmeſſer
an den Efeuzweigen, welche die Kapelle umrankten.
Liska und ich hatten die Heideſtraße bis zu den aͤußerſten
Ruinenmauern verfolgt. Zwiſchen dem ſchuͤtzenden Ge⸗
ſtein ſproßten Straͤucher und Ranken in friſchem Laub;
die Droſſeln lockten, die erſten Schmetterlinge hatten ſich
entpuppt, auf dem durchwaͤrmten Boden regten ſich Kaͤfer
und Gewuͤrm. Wir hatten Oſtern, ringsum herrſchte
Seelenſtille. Landleute feiern in der freien Natur, die
ihre Werkſtatt iſt, auch nicht am erſten wonnigen Jahres⸗
tag. Es war faſt ein Wunder, daß von weitem ein Leiter⸗
wagen langſam im Sande einherſchleifte. Jetzt hielt er
an und lenkte zuruͤck. Ein Bauer, der ausgeſtiegen war,
kam uns muͤhſelig am Stocke entgegen; er ſchien es eilig
zu haben, mußte aber oftmals innehalten; er trug einen
Schafpelz und tief in die Stirn gedruͤckt eine Pudelmuͤtze,
auch kniehohe Juchtenſtiefel, die nicht unſere Bauern⸗
mode ſind.
Liskas Falkenaugen waren auf ihn gerichtet; als er noch
etwa zehn Schritte von und entfernt war, ftärzte fie auf
ihn zu mit audgebreiteten Armen. „Lisfal" „Raul!“
fchallte ed wie aus einem Wunde; fie lagen umfchlungen
Herz an Herz. Dann zog fie ihn an ber Hand mitten
238 Grau Erdmuthens ISwiltimgsföhne
burd; die Ruine. Das Mark ded Mannes fchien plöglic,
verjüngt. War ed denn Raul? Ich folgte fo haftig ich
vermochte, meine Knie zitterten. War ed Raul? Noch
immer erfannte ic) ihn nicht. Aber woran hatte fie ihn
erkannt, den fie niemals gefehen?
Die Kapelle lag hinter ihnen; jegt fanden fie unter dem
Öatter.
„Sin Kind ift vom Simmel gefallen, ba haft bus,
Mutter, da haft du deinen Raul!“ rief Liska in Subels
tönen.
Der Dunn warf ſich zu Boden, er umflammerte bie Knie
der trauernden Frau; er bebte und fchluchzte, die Müge
glitt von feiner Stirn. Ja, ed war Raul!
Mer hat die Freude in folder Erfchütterung gefehen ?
Mer malt fie aus? Nicht Mutter noch Sohn gaben einen
Laut; nur Liska hüpfte rund um die Bank herum, Hlatfchte
in die Hände und lockte wie ein junger Pirol: „Raul,
Maul, Raul!“
Die Mutter zog ihn vom Boden in die Höhe; num bes
merfte er auch mid); er fprang mir an den Hals. Der
alte, warmherzige Sunge füßte mir die Baden, den Kopf,
die Schultern, die Hände, dann rannte er zuruͤck zur
Mutter, zu Liska, alled wie im Taumel.
Nun rüdten fie auf der Banf zufammen Hand in Band,
der Sohn zwifchen Mutter und Tochter. Sie blicten
ihm in die Augen, in welchen noch viel von Krankheit
und Elend gefchrieben ftand. Auch die Freudenblüte auf
feinen Wangen erloſch wieder, jach wie fie aufgeblühtz
er wurde immer weißer und matter, fein Kopf fant auf
ber Mutter Schulter hinab. „Er ftirbtl” fchrie fie auf.
‘hr erftes Wort.
Sechſter Abſchnitt —283
„Monſieur wird noch nuͤchtern ſein“, beruhigte Madame
Barbe, zog aus ihrer Schuͤrzentaſche ein Stuͤck Brot und
ſchob es ihm ohne Umſtaͤnde in den Mund. Er verſchlang
es mit Gier; ich ſprang nach Wein in die Pfarre; er ſog
die Flaſche aus auf einen Zug. Nun war er erholt; er
taumelte und lallte; aber das war vom Wein. Sie zogen
ihn in die Höhe von dem Grabe der Zukunft- wer dachte
daran? Die Mutter auf der einen Seite, Liska auf der
anderen legten den Arm um feinen Leib; fo führten fie
ihn die Ulmen entlang nadı dem Schloffe.
Die Mutter verfchwand mit ihm in ihrem Sabinett;
früher hatte ihr Gemahl ed bewohnt, nun räumte fie ed
dem Sohn. Wir waren im Wohnzimmer zurücgeblieben;
Lisfa ausgelaflen vor Luft. Sie fprang vor den Trus
meau und nidte lachend ind Glas, ald wärs einem ans
dern ind Gefiht. Dann hüpfte fie hinaus und fehrte
nach einer Weile umgefleidet wieder; fie trug ein weißes
Kleid und eine Monaterofe in den Locken; fo fah fie
body noch viel reizender aus ald mit den Veilchen im
ernften Schwarz. Sie horchte an der Tür ded Kabinetts,
Tief hin und herz ftreichelte ihre alte Barbe, nannte mid)
wieder Vaͤterchen; horchte von neuem, fummte von dem
Bundeslied immer nur die einzige Zeile: „Un bonheur que
nous aspirons!“ und laufchte noch einmal. Sm goldenen
Buche fteht unter dem Datum dieſes Frühlingsfonntags:
„Sc habe auf ihn gewartet wie auf meinen Stern und
ihn erfannt an meinem Spiegelbild.“
Als nach dem Friedensſchluß fat bie halbe fächfifche
Nitterfchaft eine preußifche geworden war, hatte Fraͤu⸗
291 Frau Erdmutheus Iwillingsföhne
lein Iduna die Haͤlfte ihres Wirkungskreiſes eingebuͤßt,
und nehme ich an - obgleich es auch andere Auslegungen
gibt -, daß fie freiwillig ein patriotiſches Opfer brachte,
als fie, vor dem preußifchen Sohanniterfreuze über dem
Herzen einftiger Freunde erfchaudernd, die abtrünnige
KHemifphäre von ihrem Stationswechfel ausfchloß. Als
Beleg aber, daß energifche Naturen aus einer bedeutenden
Bahn ſchwer zu verdrängen find, werden von meinen
Lefern diejenigen, welche Claurens Almanach und die
Abendzeitung noch in Erinnerung haben, längft im Maren
darüber fein, daß die fächfifche rote Dame für ihren Un⸗
terhaltungsberuf nur das Vehikel gewechfelt hatte.
So ift denn auch die wunderbare Rettung des Süng-
lings, den fie mit Leidenfchaft geliebt haben würde, wenn
fie nicht feiner Großmutter Blumen auf den Hochzeits⸗
pfad geftreut, von ihr novelliftifch behandelt worden. Sie
hat in den Farben getufcht, die aus ihrem Innern durch
das Äußere tranfpirierten, in der Zeichnung aber einen
Aufwand der Erfindung als Überfluß erachtet; — eit
erotifches Zwifchenfpiel abgerechnet, zu welchem der Bis
ftorifer ber Zwilliingsbrüber weber Ja, noch Nein zu fagen
weiß, das aber die Unfchuld Feiner Mimofa fenfitiva
jener Tage gefränft haben wird. — Studiert alfo den
„Ritter der Provence”, die Novelle ift wahr.
Nur eines fehlt in derfelben, das in ber Gefdyichte der
Zwillingsbräder nachgetragen zu werben verdient. Zu
ber Autorin Rechtfertigung fei befannt: ed durfte, ja es
mußte darin fehlen, da ber provenzalifche Held dort ein
Vollblut, hier ein Halbblut und weniger ift. |
Der arme, junge Schäferfohn Kietz aus Rieg hatte ber
Wahrheit gemäß audgefagt. Ja, bie Herberge mit dem
Sechſter Abfchniti 293
anlodenden Schilde in der Vorftadt von Moskau war
eined Deutfchen Haus. Ein deutfches Mütterchen hörte
ben Hilferuf, der fich dem Unglüdlichen in feiner Mutter⸗
ſprache entrang, als er, aus betäubendem Schlummer
erwachend, fid; von züngelnden Flammen umringt fah,
bie ſchwelenden Balken über ſich frachen hörte. Einen
fremden Motfchrei würde fie nicht verftanden ober ihr
Dhr dagegen verftopft haben. Der alte Heimatslaut
dringt in der ftumpffinnigen Greifin Herz. Sie zerrt den
Sohn herbei, der verzweifelnd den Reſt feines Wohls
ſtandes zu retten bemüht ift. Auch er hört das: „Wutter,
lebe wohl!“, das der fremde Mann, halberftickt, unfähig,
fih in die Höhe zu richten, mit zum Simmel erhobenen
Händen hervorpreßt: „Mutter, lebe wohl!“
Und fie laffen ruhig die Habe verbrennen, um mit Les
bensgefahr den Landsmann zu retten, ber ald Feind in
ihre neue Heimat gelommen ift; zwiſchen Dualm und
Trümmern ziehen fie ihn hervor, fchleppen ihn in den
Garten, beleben ihn, hüllen ihn in ruffifche Kleider; dann
unter Betten und Hausrat verpadt, fahren fie ihn im
eigenen Karren, als ihren Sohn und Bruder, ſuͤdwaͤrts
ind Sand hinein, wo in der Nähe von Tula, zwifchen
deutfchen Anfiedlern, eine Tochter häuslich eingerichtet
iſt; dort pflegen fie ihn heil von Typhus und Wunden,
teilen ihre Armut mit ihm, und als die Gegend frei ift
vom fremden wie eigenen Heere, da geleiten fie ihn,
Strede für Strede, heimmärts bis an die galizifche
Grenze.
Nun aber leſt es nach im „Ritter der Provence,“ wie er,
von dort ab ganz allein, ſchwach, matt und doch wieder
obenauf, einen ſpaͤrlichen uno immer ſpaͤrlicheren Not-
296 Frau Erdmuthens Iwillingsfähne
pfennig in der Tafche, die heute Iuftigften, morgen fchauers
lichſten Abenteuer befteht: in Paläften und Hütten, zwi⸗
fchen Schneebergen und Eidfchollen, unter Juden, Polen
und ruffiihen Nachzuͤglern, bald ald Deutfcher, bald
ald Franzofe, ald ZTafchenfpieler und Komddiant, als
Tanzmeifter, dann und wann auch ald Bettler um einen
Biffen Brot; wie er endlich in dem vom Feinde befegten
fächfifchen Heimatslande kaum der Gefangenfchaft ents
fhlüpft: alles das ift abenteuerlicy unterhaltend barges
ftellt; aber Hunderte haben ſich ebenfo abenteuerlich
durchgewunden. Seltſam, nein, wundervoll ift ed nur,
daß es ein Notfchrei in feiner gefchmähten Mutterfprache,
daß ed der Muttername war, der ihn gerettet hat, baß
ed Menfchen aus feinem verleugneten Baterlande waren,
die ihn dem Leben erhalten haben.
„Schone dich, mein Raul. Uns genügt für heute, daß
du gerettet bift, heim bei deiner glüdlichen Mutter“,
fo unterbrad, mehr ald einmal Frau Erdmuthe den uns
ermüdlichen Erzähler, ald wir und am Abend im Familien
zimmer wieder zufammengefunden hatten. Er hatte ein
Bad genommen, ſich umgefleidet, Hunger und Durft ges
ftillt, ein paar Stunden gefchlafen; nun faß er bläffer
und fihmäler als fonft, aber der alte, fröhliche Raul,
auf einem Schemel zu Füßen der Mutter, und ihre milde
Hand ftreichelte die Töckchen, die nadı der fchweren Krank⸗
heit über der Stirn zu fproffen begannen.
Jetzt zum erften Male fragte er nach dem Bruder. Der
Mutter hatte vor diefer Berührung gebangt. Raul wußte
ja noch nicht, daß mit dem Blute von Mödern der Krieg
eine Tatfache geworden und Herrmann unwiderruflich in
das lager der Gegner getreten war. Doc) nahm er’s heiter.
Schfter Abfchnitt 297
„Bercingetorig!” fagte er lachend. „Es wird eine kurze
Siegeöfreude fein.” Damit ward abgetan.
Während der Nacht fiel mir ein, daß von Liskas bräuts
lichem Verhältnis gar nicht die Rede gewefen war. Ald
ich am andern Morgen den beiden jungen Verwandten
im Garten begegnete, fagte ich daher mit Abficht: „Ich
habe Gelegenheit durd; den Doktor. Wollen Sie mir
eine Einlage an Ihren Bräutigam geben, Liska?“
„Nein“, antwortete fie kurz angebunden. Raul fragte
erftaunt:
„Du bift Braut, Liska? Weflen Braut?“
„Shres Bruders, lieber Raul”, fagte ich.
„Und das erfahre ich erft jegt? Ich habe euch freilich
noch wenig zu Atem fommen laffen“, verfegte er lachend.
Liska aber fiel ein mit gefräufelter Stirn: „Ich bin
nicht feine Braut; er hat fein Wort von der Zufunft
mit mir gefprochen. Ich weiß von nichts.”
„Liska, Liska!“ mahnte ic, „Sie wiffen, wie Herrmann
Sie liebt!“
„Bah! Eine Stunde lang. Heiratet man fi darum?
Über Nacht war die Flamme verflogen. Die Sunta im
Schnee hat fie ausgelöfcht.”
ch hielt eine Rede über der Mutter Wünfche und Herrs
manns Gluͤck. Aber hörten fie darauf? Sie e Iherzten
fchon wieder miteinander.
„Sc möchte wohl fehen, wie ihr miteinander Schritt
haltet,“ fagte Raul; „das Heine, ſchwarze Affchen und ber
große, weiße Elefant. Komm, Mignonne, laß und pros
bieren, wie weit bu mir reichſt.“
Sie ftellte fich neben ihn. „Bis zur Schulter!“ rief fie
ſtolz.
298 Fran Erdmuthens Bwillingsfähne
„Ihm alfo bis in die Magengegend, wo ja, nad)
Freund Hecht und anderen, die Seele ded Menfchen
ihren Sig haben fol,” erwiderte Raul. „Nun, ich gra⸗
tuliere, gluͤckliches Paar.”
Und fo unter Lachen und Neden war auch biefe Au⸗
gelegenheit abgetan.
Es folgten nun ein paar Wochen allſeitigen Behagens.
Nach der leidenſchaftlichen Unruhe freuten wir uns der
friedlichen Stunde, freuten uns des Lenzes nach dem
ſchwer laſtenden Winter. Frau Erdmuthe war gluͤcklich,
ſolange ihr Liebling ſchwach, pflegebeduͤrftig, vielleicht
fuͤr allezeit kampfesunfaͤhig unter ihrem Dache weilte,
ja, ſie atmete leichter, als ſie ſeit dem Tode ihres Gatten
geatmet hatte. Oft rief ſie wohl mit einem Seufzer:
„Herrmann!“, aber der Seufzer galt nur der Sehnſucht
nach dem Wiederſehen und Wiederfinden der Bruͤder.
Auf dem Kriegsſchauplatze war ja nach der erſten gluͤck⸗
lichen Tat eine Pauſe eingetreten und Herrmann uͤber⸗
haupt eine von den feſten Naturen, um welche auch der
Liebendſte ſelten ein Bangen fuͤhlt. Seine reine Sache
feite ihn in den Augen der Mutter. Und wenn im alten
Tierbuche geſchrieben ſteht, daß ſchon das gedoͤrrte Auge
des Baͤren „groß, ſtark und freydig“ als Schutzmittel
wirkt gegen Furcht und Geſchrei, wieviel mehr
noch wirkt ein lebendiges Baͤrenauge, wenn man es auf
einen Sohn „groß, ſtark und freydig“ gerichtet weiß!
Ja, die Mutter war froh und getroſt. Oft ſprach ſie
von einer Reiſe nach dem Suͤden, die ihrem Geneſenden
die Kraͤfte wiedergeben und in einer Stunde, die ſie her⸗
anruͤcken ſah, ihn von dem Platze der Entſcheidung fern⸗
halten ſollte. Leider fehlte uns ein mutiger Griff, wie
Sechſter Abſchnitt 299
der unferes Doftord, um für diefen Plan die mandhers
feitö auftauchenden Schwierigkeiten rafch zu befeitigen.
Selber Rauls Einwände würden in jener Zeit nicht uns
überwindlich gewefen fein.
„Barum reifen?” fagte er. „Bin ich nicht genug ums
hergetrieben worden? Diefe köftlihe Ruhe tut fo gut.
Nie habe ich mid; behaglicher gefühlt, Mama. Mir ift,
als ob ich Kindermärchen erzählen, Kinderlieder fingen
follte. Auch muß die Entfcheidung ja erft abgewartet
werben. Zum Winter, Mama, wenn Frieben ift, dann!”
Er hatte gleich nach der Heimkehr fidy fehriftlich bei
General Thielemann gemeldet und einen kurzen Erhos
fungsurlaub erbeten. Umgehend erhielt er denfelben auf
unbeftimmt ausgedehnte Zeit, zugleich mit der Augficht
auf Einreihung in eines der neugebildeten Kavalleries
regimenter. Bertraulic, hatte der alte Freund beigefügt:
„Sratulieren Sie ſich, während diefer defperaten Lage
mit Ehren Invalide fein zu bürfen. Die Kataftrophe
fann nicht zögern. Haben Sie Ihren trefflichen Bruder
gefehen? Sch prophezeie ihm eine glänzende Karriere.”
Raul, zuverfichtlidy wie nur je ein Glüdlicher, fand in
dieſem Nachſatz Fein Arg. Er, wie wir, erfuhr von der
Außenwelt faum dad Allgemeinfte. Deutfche Zeitungen
madhten in jener Zeit nicht den Anfpruch, Orakel zu fein,
und ber Politifus unferes Kreiſes fehlte. Sachſen nannte
fih neutral, obgleich Ruffen und Preußen das Land
durchzogen und obgleidy — oder weil? - fein König im
Auslande refidierte. Raul fpottete darüber, beflagte es
aber während feiner gegenwärtigen Hinfaͤlligkeit nicht.
„Armer General!” fagte er, nachdem er Thielemannd
Schreiben gelefen. „Wer möchte in feiner Klemme ſtecken?
800 Frau Erdmuthens Imiltingeföhne
Aber er ift der Dann, fidy hindurdhzuminden, und ber
Alerander ja auch ſchon auf dem Wege, ber biefen fäch»
fifhen Knoten durdhhauen wird.’
Herrmann, durch den Doftor benachrichtigt, fandte dem
aus dem Grabe Erretteten einen brüderlichen Gruß. Er
hielt ihn für hilfe» und fchonungsbedürftiger ald er war.
Politifche oder militärifche Andeutungen waren ver»
mieden. ‚Laß Dich”, fo fchloß er, „geduldig von ber
Mutter heil pflegen und Dir von meiner Fleinen Lisfa
die Zeit vertändeln. Sie wird glüdlic, fein, in Dir einen
Bruder lieben zu können!”
„Alles mögliche,” fagte lachend Raul, „daß er auf bie
Rolle ded Armin dem Bruder Flaviud gegenüber von
vornherein verzichtet.”
Und die Eleine Tändlerin, wie fteht fie während diefer
Frühlingswochen in der Erinnerung bed alten Mas
giſters? Froh, ja, auch fie. Aber merfen wir ed denn
genau, wie Tag für Tag ein Kinöfpchen zur Blume
ſchwillt? Die Nacht, in der fie plöglich die Hülle ges
fprengt hat, lag nod; fern. Liska war nicht mehr bie
fchäffternde Wirtin und nicht mehr die werdende Dame
aus der Winterzeit; noch viel weniger aber war fie dad
fiechende Vögelhen und die ſchmachtende Nonne vom
Herbft. Sie war wieder unfer Sommerfind; nur deffen
Launen und heimatfüchtiger Eigenfinn fchienen ſpurlos
verweht. Dad Nadelharz buftete im Frühlingsfchuß
ſtark wie fonft; wenn fie aber am Arme ihred Kameraden
durch die Heide fchlenderte, im leichten Wagen oder auf
munterem Pferdchen an feiner Seite fie freuz und quer
durchftreifte, da verlangte fie nicht nad; dem Orangen»
weihrauch am Poftlipp, und wenn fie am häuslichen
Sechſter Abfhnttt 801
Mittagstifche ihrem Ebenbilde gegenüberfaß, da ſchmeck⸗
ten ihr Kohl und Nadieschen fo gut wie Dliven und
Feigen. Ja, auch Liska war glüdlich, aber ed war ein
fo offenes natürliches Gluͤck, daß auch ein Schwarzfeher
nur Freude, nicht Arg aus feinem Anblick hätte ziehen
können.
Zufpruc, von außen hatten wir in diefen Wochen wenig.
Der Frühling ift für Landedelleute eine ungaftliche Zeit.
Die Müpigen zögern im ftädtifchen Winterquartier; die
Tätigen haben mit der VBeftellung die Hände voll zu
fhaffen. Heuer zudem war die Spannung allerorten
groß. Nur der zur Tat entfchloffene Wille treibt in fols
chen Zeiten ded Hangend und Bangens zueinander; wir
aber waren ja neutral, und ich täufche mid) wohl nicht,
wenn Frau Erdmuthend gaſtliches Haus bedenklich ges
mieden wurde, feitdem der politifche Zwiefpalt ihrer
Söhne offenkundig geworden war. Die ed heimlich mit
Herrmann gehalten hatten, blieben aus, da ein frans
zoͤſſſches Buͤndnis noch immer in der Schwebe hing;
Rauls gleichgefinnte Franzofenfreunde mochten für den
Fall eines ruffifchen Sieges — an einen preußiſchen Sieg
dachte man nicht — durch eine voreilige Verbrüderung
fidy doch auch nicht fompromittieren. Ein jeder flammerte
ſich an dad Wort Neutralität, obgleich ein jeder im ftillen
eine Sänfehaut über feinen Leichnam riefeln fühlte, wenn
er der Not gedachte, welche ftatt eines vor den Kopf
geftoßenen Bewerbers ihrer zwei über unferen ſchutzloſen
Heimatsboden bringen mußte.
Auf dieſe Weiſe ſaßen wir hinter dem gruͤnen Schirm
unſerer Heide, vor Zugluft von außen geſchuͤtzt. Wir
wußten, daß es vielleicht dis !eßte Gunſt einer friedlichen
802 Fran Erdmuchens Zwillingsföhne
Stunde war; eben darum aber fcheute fich ein jeder, an
den Pendelfchlag zu erinnern, der dem anderen fagte:
Sie ift abgelaufen. Und da ging ed und denn wie dem
Älpler, wenn er angftvoll lauſcht auf ben Föhn, der die
Lawine zu feinen Häupten in dad Tal herniedertreiben
kann, indeflen der Flügelfchlag eines Vogels den Floden
Löft, der, rollend und grollend und immer dichter fidh
ballend, zum Sturze wird und des Taled Saaten begräbt.
5 ı$
*
Das Vögelchen, welches die Lawine über unferem Saufe
zum Sturze bringen follte, war wieder einmal die vers
ehrte Kamilienfreundin, die ihre Pfingftftation verfrüht
hatte, um den zufünftigen Helden der Provence mit einer
Jubelhymne zu begrüßen. Leider jedoch war es nicht
Seligfeit allein, welche die Getreue ſchon am erften
Maientage in unfere Arme führte. Kaum daß die De-
amation der Hymne beendet war, die Wonnezähre fich
ruͤckwaͤrts verlaufen hatte, fo entlaftete Fräulein Iduna
ihr fchmwerbedrängtes Gemüt von der Wiffenfchaft um
die ungeheuerfte Perfidie, welche die Weltgefchichte bis⸗
her gekannt hatte. Der Gouverneur von Torgau unter:
handelte wegen Übergabe der nneinnehmbarften Feftung
in Europa mit den - nein, nicht mit den Ruſſen, denn
ed war die Rede von einer Perfidie! - er unterhandelte
mit den Preußen.
Raul nahm die Sache fpaßhaft. Sein Gönner, fein
Freund, der feurigfte, dankbarſte Anhänger bes großen
Kaifers, mit gleichem Recht hätte er, er, Raul von Saint
Roc, ald Abtrünniger verläftert werben fönnen. Er
lachte ob der Phantafıe.
Sechſter Abſchnitt 803
Aber Fräulein Iduna beteuerte mit ihrem „Ehrenwort“,
daß fie nicht ald Dichterin, nur ald Echo die Stimme
ber Gefellfchaft wiedergebe; fie fdhilderte mit Rührung
bie peinvolle Lage der armen, in Dresden weilenden Ges
neralin und ihrer Kinder; fie führte Szenen vor der Bers
legenheit, ber Entrüftung in den verwandten und bes
freundeten Familien; fie nannte die Namen der Offi⸗
ziere, welche entfchloffen waren, in Öfterreichifche Dienfte
auszuweichen. Einer von Thielemanns Adjutanten, Rauls
naheftehendfter Kamerad, war unter diefer Zahl. Raul
lachte nicht mehr. Er ging mit heftigen Schritten im
Zimmer auf und ab; feine Hände waren geballt, die Bruft
wogte.
Als nun aber auch unfer friedfertiger Philofoph mit
dem Geftändnis hervorrücte, ähnliche Gerüchte auch in
bürgerlichen Kreifen vernommen, aber nicht geglaubt zu
haben, da fah ich, daß die Lawine im Rollen und der
Verſchuͤttung nur durch rafche Flucht zu entkommen fei.
Ich beftätigte, daß bie preußifchen Patrioten auf einen
Entfchluß des fächhfifchen Generals rechneten, auf eine
eigenmäcdhtige Tat, die ihrem Heere den Rüden decken
würde.
„Nimmer! Nimmermehr!" rief Raul außer ſich. „Thies
lemann ift fein Wallenftein, Fein York, fein Niederträchs
tiger!“ |
„Und wenn er durch einen zwingenden Entfchluß uns
ferem teuren König fein Land erhalten könnte, bad Land,
das deine Heimat ift, mein Raul? Wenn er dem heutfchen
Baterlande ein ftarker Helfer werben koͤnntef“ fagte
mit bebender Stimme Frau Erdmuthe.
„Auch du, Wutter!” fchrie Raul wie ein Befeffener.
304 Frau Erdmuthens Iwillingsfähne
„Auch du? Nun wohlan: den Sandhaufen dem Bers
räter! Und den Untergang dem zagen, zähen, alten Mann,
der ſich König ſchelten laͤßt! Ich aber werde der Stunde
fluchen, in der ich dir und deiner, nidht meiner Hei⸗
mat zu Liebe Vafallendienfte nahm, wo id) Kerrendienfte
nehmen durfte. ich werde dem König den Degen vor
die Füße werfen, werde mich, und wärs ald Stüdfnecht,
unter dad Banner derer ftellen, zu denen ich gehöre, ges
hört habe, gehören werde bis zum legten Atemzuge.“
Er ftürmte hinaus, Liska ihm nad), Sie hatte nur
feine Wallung, nicht die Worte, verftanden, denn jegt
in der Wut, wie damals in der Todesnet, hatte er die
Spradje geredet, die er ald die feine verleugnete.
„Weldy ein Charakter!” rief Fräulein Iduna begeiftert,
ber fächfifchen Schmähung zum Trog. „Ein alter Römer:
ein Goriolanus! Glüdfelige Gracchenmutter!“
Ach, die unglüdfelige Mutter war tödlidy getroffen in
die Knie zufammengebrodhyen. Die alte Franzöfin hielt
fie mit ihren Armen umfchlungen. Audy fie hatte den
Sinn der wilden Rede nicht gefaßt. Aber fie fühlte, daß
ein Frevel an der Natur begangen, ein Fauftfchlag auf
das Mutterherz geführt worden war, und ed war ein
böfer Blicd, den fie dem Ritter ihres Kaiſers nachfandte.
Sch ftand am Fenfter wie eingegraben. Ein Pferd
wurde auf die Rampe geführt. Liska warf ſich an Raul
Bruft, der fie ungeftüm von fich abmwehrte; er ftieg auf
und fprengte die Ulmen entlang. Ich hätte ihn nicht
zurüchalten mögen.
„Er geht nad; Torgau und dann zum Kaiſer!“ rief Liska
jubelnd, als fie wieder in das Zimmer trat.
Die Aufregung, der jache Ritt fonnten den noch fo Sins
—
Sechſter Abſchnitt 305
faͤlligen toͤten; ſobald die Mutter wieder Herrin ihrer
Sinne geworden war, ſchickte ſie ihm den treuen Joch⸗
mus, den alten Diener ihres Gemahls, zu Wagen nach.
Er erreichte ihn erſt in Torgau.
Den Mitteilungen dieſes zuverlaͤſſigen Mannes entnehme
ich die Erlebniſſe der naͤchſten Wochen. Raul war nicht,
wie Herrmann, zuruͤckhaltend gegen Untergebene.
Er fand die Lage in Torgau verzweifelter, als er er⸗
wartet hatte; die Stimmung der Buͤrgerſchaft, die des
Offizierkorps faſt durchgaͤngig antifranzoͤſiſch; den Gene-
ral zwar entſchloſſen, dem koͤniglichen Befehle gemaͤß,
die in jedem Sinne ungenuͤgend ausgeruͤſtete Feſtung
wie bisher gegen beide Parteien abzuſperren, aber auch
ſich bewußt, daß er dieſen Befehl nicht uͤber den erſten
Zuſammenſtoß hinaus werde halten koͤnnen. Und der
Kaiſer ſtand bereits an der Saale. Alles Unheil, das
dem Koͤnig, dem Lande, ihm perſoͤnlich aus dieſer Zwitter⸗
ſtellung erwachſen mußte, ſah er klar vor Augen.
Vergebens beſchwor ihn Raul, dem zweifelloſen Ver⸗
langen des Koͤnigs zuvorkommend, das Buͤndnis mit
Frankreich eigenmaͤchtig zu erneuern, mit den ſaͤchſiſchen
Truppen Wittenberg zu entſetzen, im Ruͤcken der Feinde
dem Kaiſer die Hand zu reichen. Er wendete ſich an
jung und alt, hoch und gering, und fand nicht einen, der
ihm zugeſtimmt haͤtte. Keiner ſeiner Kameraden wuͤnſchte
die Ruͤckkehr unter den napoleoniſchen Oberbefehl; we⸗
nige würden aber auch zu einer Initiative in entgegen
gefegter Richtung entfchloffen geweſen fein. Nur der
Eintritt in die neutrale sfterreichifche Armee fchien einem
und dem anderen der geftattete Ausweg.
Die legte Begegnung zwifchen dem jungen und alten
XX. 20
306 Frau Erdmuthens Bwillingsfähne
Waffenfreunde war erfchütternd. Raul hatte dem Gene:
ral angehangen wie einem Vater, war ihm gefolgt mit
blindem Vertrauen. Er allein hatte ihm den Dienft in
dem befcheidenen deutfchen Hilfäheere wert gemacht. Und
ale er jest von ihm mit dem Bewußtſein ded Nimmer⸗
wiederfehens fchied, da war der geliebte Führer gebrochen
an Leib und Seele, von zwei Seiten mit ſcheuem Miß⸗
trauen angeblickt, harfch an der Grenze der Wahl zwifchen
Galeere und Defertion ind feindliche Lager.
Diefes abſchreckende Opfer einer Zwitterftellung vor der
Seele, feiner felbft faum mächtig, verließ Raul Torgau
an dem Abend, wo bei Lügen das Schidfal ſich erfüllte,
an dem er feinen Augenblick gezweifelt hatte, In Dresden
fand er die nämlichen Stimmungen, denen er voll Hohn
und Grimm entwichen war. Er eilte weiter nach Prag.
Bor einem noch, vor dem Höchften, wollte er an die Treue
appellieren, die der Größe und dem Unglüc gebührt.
In der jachen Äußeren Bewegung, der ungeheueren
innerlichen Aufregung brachen die kaum geheilten
Wunden wieder auf. Er wurde zu Meinen Tagereifen
gezwungen, mußte mehr ald einmal in einem elenden
böhmifchen Dorfe übernachten; immer aber wieder vors
wärts trieb ihn die fieberhafte Einbildung, der Entfcheis
dung einen Anftoß zu geben oder ein verächtlich gewors
denes Band mit Eflat zu Iöfen.
Sp langte er in Prag an, faft gleichzeitig mit der
Siegesbotfchaft von Fügen und des Triumphators fum-
marifcher Forderung der Heimkehr des Könige. Die
Kunde wirkte wie Balfam auf Wunden; fie ftärfte die
Glieder wie ein Zaubertrant. Die herrfcherifche Som⸗
mation demuͤtigte ihn nicht in der Seele des alten koͤnig⸗
Sechſter Abſchnitt 807
lichen Herrn, den er zag und zähe genannt hatte. Er
wurde von demfelben mit faft väterlicher Güte empfangen.
Der Einflang eines jungen, feurigen Landeskindes mit
feiner innerlichften Herzensſtimmung tat dem Vielbe⸗
ftürmten wohl. Die lauwarmen Berater, die ihn bis
zum legten an das unhaltbare öfterreichifche Buͤndnis
gefeflelt, hatten ihn verlaffen. Es fchmerzte ihn. „Sch
würde fie gefchügt haben,” fagte er. „Auch mein treuer
Thielemann foll ruhig fein. Er hat nur nadı den Be-
fehlen gehandelt, welche die Situation mir abndtigte.
Sch werde feine Sache führen. Der Kaifer ift der groß-
mütigfte aller Freunde,’
Raul kehrte im Gefolge des Königs nad) Dresden zu-
rüd, und er war Zeuge des Triumphe, mit welchem Nas
poleon feinen Bafallen durch die in Hecken gereihte Aller-
weltdarmee in des Vaſallen Fönigliche Hauptftadt eins
führte. So bewillfommnet ein galanter Hausherr einen
hohen Saft. Die Bevölkerung jubelte ihr Willlommen
unter den Obfervanzen, die nun einmal feiner neuen
Erfindung Raum zu gewähren fcheinen. Drei Wochen
früher hatte fie den befreienden Monarchen gleichfalls
unter Ehrenpforten, Blumenftreuen und Lichterglanz ent»
gegengejubelt, und waren ihre Vertreter darob redht ſchul⸗
bubenartig von dem großen Kaifer abgefanzelt worden.
Rauls franzoͤſiſches Naturell fühlte die Ironie diefer
Zuftände fchärfer ald mancher unferer heimifchen Bieber-
männer; aber er fühlte fie nur mit Spott, nicht mit
Schmerz. Das „zappelnde” Kleine Heimatland feiner
Mutter hatte ja nun feinen natürlichen Schwerpunft
wieder gefunden.
Die fächfifche Armee wurde einem franzdfifchen Korps
308 Grau Erdmuthens Iwillingsfähne
einverleibt, und fo unter franzöfifcher Führung und mit
franzöfifcher Ausfüllung konnte der Herzensfranzoſe ſich
ben fernerweitigen Bafallendienft fchon gefallen Laffen.
Die Ausſicht auf die erfte erledigte Stelle eines Regi⸗
mentskommandeurs und eine fchöne weiße Rüraffieruni-
form waren auch Feine verächtlichen Zugaben.
Während bed Vormarfches nadı Baugen verfchlimmerte
indeffen fein Gefundheitäzuftand ſich fo bedenklich, daß
er trog allen Widerftrebens von General Gablen;, feinem
neuen Brigadier, auf halbem Wege nach Haufe gefchickt
wurde. Am Tage der Borfämpfe von Luͤtzen war ein
Verzweifelnder daraus fortgeftürmt; am Tage des bluti-
gen Treffens von Koͤnigswartha fehrte er heim, in Ber-
bände und Deden gewidelt, aber mit dem Frohloden
bed Siegers. Alle ftachelnde Erinnerung war wie weg-
geblafen.
„Dein Sohn fommt ald dein Landsmann wieder,
Mama!“ rief er diesmal franzoͤſiſch — indem er die
Mutter umarmte.
Sie lächelte mit wehem Kerzen; ihr Haupt war tief
zur Bruft hinabgefunfen, feitvem der Furze Friedenstraum
fo harfch durchriß.
Die arme Mutter trug ſchwer an den Schickſalswuͤrfen,
die den einen ihrer Söhne befeligend in die Höhe
fhnellten und die Manneshoffnungen des anderen tief
banieberfchmetterten. In den Stunden, wo der Juͤng⸗
ling Bater und Vaterland vor feinen Augen zufammens
brechen fah, war Herrmann nicht f chmerzhafter erſchuͤttert
worden. Er täufchte fid nicht wie viele andere in jenen
Tagen über die Bedeutung diefes erften Niederfchlags.
„Wir find zuruͤckgewichen,“ ſchrieb er der Mutter, „haben
Sechſter Abſchnitt 809
nn
alles aufs und preiögegeben, auch die Siegeshoffnung
für unberechenbare Zeit. Ich habe unfere Helden nicht
fämpfen und fterben fehen; aber die fie kaͤmpfen und
fterben fahen, bezeugen ed: wenn wir bereinft die Sieger
bleiben, wird feine Schlacht von und gefchlagen worden
fein fo treu und tapfer wie die erfte, die wir verloren.“
Und diefem Ehrenzeugnid des einen gegenüber mußte
die deutfche Mutter ed erleben, daß unter ihrem eigenen
Dache der andere ihrer Söhne ohne Erröten die Proflas
mation verfündigte, in welcher der Kaifer die Befiegten
von Lügen Verbrecher, Empoͤrer, Deferteure, die Hefe
Europas nannte!
Herrmann hatte zu den Buͤlowſchen Truppen gehört,
weldye am zweiten Mai Halle glüdlich erftärmten, nur
um ed anderen Tage wieder zu räumen und fidy an die
Elbe zurüdzuziehen. Er teilte darauf die angft- und
laftvolle Arbeit zum Schuge Berlins, die Bülow, als
Oberbefehlshaber der Marken, erft in fpäterer Zeit ges
dankt worden ift. Wochen vergingen ohne Nachricht
von dem Freunde, wenngleich er während der Schwens
fung nach der Laufig feine Heimatögegend nahezu ftreifte.
Es war diefem flarf ausdauernden Wanne die Prüfung
auferlegt, an ber Seite des Feldherrn, dem er fich in
freier Neigung unterftelt hatte, in diefem Frühlings-
feldzuge dreimal zu fiegen ohne Ernte. Auch der Erfolg
des graufigen Brandfampfes von Luckau wurde hinfällig,
da der Waffenftilftand den feindlichen Anſchlaͤgen auf
Berlin vorläufig cin Ziel ſetzte. Die heimifchen Freunde
nahmen, im Geifte der Patrioten, diefen glüdlichen Ab»
fhluß als einen Strahl von Abendrot, der nach düfterem
Wettertage einen heiteren Morgen verfündet. Für unfer
— — — — —— —— —
310 Frau Erdmuthens Iwiltingsfähne
ſchwer heimgefuchtes Land aber, wie für unfer häus-
liches Schidfal fegneten wir bie Waffenruhe, die beide
Lager peinvoll überrafchte, ald Gnadenpaufe in einem
lange drohenden Verhängnis.
Sch bin über die Maienfämpfe von 1813 fo rafdı
hinweggefchlüpft, ald ich durfte. Leider gehörten fie in
meine Familiengefchichte.
*
>
Ende der erften Suniwoche fam der Doftor zurüd mit
„einem Transport von Prachteremplaren von Verwun⸗
dung nebft obligater Verkohlung, die immer noch Menfch
genannt werden konnten”. Er hatte fie aus den Laza⸗
retten von Luckau entführt, um fie feiner lieben Frau
als Zeichen untertäniger Verehrung zu widmen und für
feine Perfon exakte Brandftudien zu betreiben, da nady
dem heidenmäßigen Gefchäft von Pläswig der Firma
Freiheit und Kompagnie eine flaue Zeit in Ausficht ftehe.
Der alte Politifus wußte befler als viele, daß das Ge⸗
fhäft von Plaͤswitz ein ſolches geweſen, welches die
Firma Freiheit und Kompagnie vom Banferott gerettet
hatte, aber jedes Tierchen hat fein Manierchen. Bären
brummen, auch wenn fie Amen fagen.
Die Pradjteremplare wurden willtommen geheißen; ihr
Führer fam erwünfcht. Rauls Wunden heilten fchlecht,
da die Untaͤtigkeit während des neuen Faiferlichen Triumph:
zuges ihn folterte. Nun aber, binnen der den Feinden
gegönnten Galgenfrift, „einem Akte der Hochherzigfeit,
deffen nur ein Halbgott fähig war”, durfte er in Seelen-
ruhe fich ausfurieren, um beim legten Heldenſchlage
Sechſter Abſchnitt 311
— — — ee — — — — — — — — — — — — — — —
Wie der Kur. Der erprobte Berater ſollte entſcheiden.
Ich hatte beim Abladen der Verwundeten mit Hand an⸗
gelegt; nun fuͤhrte uns die Mutter in den Garten, wo
Raul im Sonnenſchein ruhte. Liska leiſtete ihm Geſell⸗
ſchaft. Der Braͤutigam haͤtte ihr dieſen Dienſt gar nicht
ausdruͤcklich anzuempfehlen gebraucht; fie verfah ihn frei⸗
willig. Und das muß wahr ſein, einer allerliebſteren
Zeitvertreiberin hat noch kein Konvaleſzent ſich ruͤhmen
duͤrfen. Sie ließ ſich necken und ein bißchen ſcheren,
immer laͤchelte und plauderte ſie, immer ſtand ihr ein
Einfall zu Gebote, ein Plaͤnchen, ein pikantes Wort, eine
kleine taͤndelnde Szene. Heute hatte ſie ihm einen Kranz
von Pfingſtroͤschen aufgeſetzt. Er lag ausgeſtreckt, ſie
ſtand hinter ihm auf der Kante der Bank und beugte ſich
uͤber ihn, um von oben herab ihrem Spiegelbilde in die
Augen zu ſehen. Es war eine gar liebliche Gruppe: er
zu ihr in die Hoͤh, ſie auf ihn niederblickend; beider
ſchwarze Locken ſich beruͤhrend, beide laͤchelnd wie das
Gluͤck und der blaue Himmel uͤber ihnen.
Liska wurde uns gewahr und huͤpfte von der Bank.
„Wir ſpielen jeux floreaux mit verkehrter Welt,“ ſagte
ſie unbefangen. „Sieh ihn an, Maman, ich habe ihn
zum Roſenkoͤnig gekroͤnt.“
„Feuerkoͤnig und Schneekoͤnig gratulor!“ rief der Dok⸗
tor, indem er Raul die Hand reichte. Die Konſultation
erforderte nicht viel Zeit. Der Gebrauch der Teplitzer
Baͤder wurde angeraten, ſo bald und ſo energiſch als
moͤglich. Dem neuen Charlemagne duͤrfe ja ſein Roland
nicht fehlen, wenn er zum Henkerſtreich auf die deutſchen
Barbaren ausholte.
312 Frau Erdmuthens Zwillingeföhne
Frau Erdmuthe erflärte, daß fie ihren Sohn begleiten
werde und daß der Aufbruch ſchon morgenden Tages er-
folgen fönne, da der Haushalt in Madame Barbed Hän-
den wohlverforgt fei. Liska eilte ind Haus, die Barbe
herbeizurufen.
Der Doktor empfahl ſich; die Sehnfucht nad) feinen
Prachteremplaren ließ ihm feine Ruhe. ch begleitete
ihn. Sobald wir aus dem Gehörkfreis der Freunde waren,
fragte er: „Haben die Zwillinge ihre Schägchen getaufcht,
oder teilen fie ſich brüderlich in das eine?”
„Ich verftehe dich nicht, Bär’, verfeßte ich.
„Der Simmel ftärfe Euere blöden Augen, alter Kinde-
kopf!“ brummte der Bär. „Dieſe Rofenwirtfchaft ver-
ftände Guftel Hecht, der Kantianifchen Philofophie zum
Trog.”
„Wie das Vorurteil dich vergiftet,” fagte ich nach einer
herzbrechenden Paufe. „Seines Bruders Braut! Schäme
dich, Bär.”
„Wenn einem Franzmann feines Nachbars Weib ge-
fällt, entführt er e& ihm, und will der Nachbar e8 wie-
der haben, fchreit er: Raub! hat ſchon Weißfönig Theuer-
danf gefagt. 's kann auch ein anderer gewefen fein.
An der Sache aͤnderts nichts.”
„Sprich ernfthaft, Freund. Wie hätte ed der Mutter
entgehen Eönnen, die fo angftvoll -— -”
„Sieht wo fie fliegen, aber nicht wo fie friechen! Wäre
fie die erfte, die aus Angft vor dem einäfchernden Blitz
nach der Wolfe über ihrem Haufe ftarrt, dermweile ein
gemütliches Käschen aus der Herdafche ven Funken un-
ter die Dachfparren trägt?”
„Und wenn bu recht hätteft, Bär, was müßte gefchehen %
Sechſter Abſchnitt 318
„Geſchehen laffı en, alter Magifter; je früher er er ben kleinen
Teufelsbraten los wird, um fo beffer für unferen Mann.
Dem anderen gönn ich ihn.”
„Sch befchwöre dich, ernfihaft, Freund! Denk an bie
Mutter.”
„Barum hat fie Zwillinge auf die Welt gebracht. Sie
fonnte an einem genug haben.” |
„Ihre Söhne auch noch Nebenbuhler! Sie ertrüg es
nicht. Ich werde mit Raul reden.”
„Den Zeufel an die Wand malen - nn! ifch aus⸗
gedrüdt. Wohl bekomms!“
„Und was denn?”
„Die Sefchichte totfchweigen und das Volk auseinander;
treiben. Die Sache ift im Gange. Der Roſenkoͤnig geht
ind Bad, dann ind Feld.”
„Und Liska?“
„Bleibt bei Dame Barbe und läßt ſich vom Judex die
Cour madyen.”
„Benn fie aber nicht zu Haufe bleiben, wenn fie gar
mitreifen will?” ftöhnte ich, von der plößlichen Vorſtel⸗
lung gepadt.
Bär wurde rabiat. „Nun hört aber auf mit Eueren
Wenns und Wies, alter Drangfalsfchlaudy!” rief er im
Bondannenrennen. „Sperrt fie ein; bindet fie feft! Mit
einem Fläfchchen Specucuanha, am Reifemorgen in die
Scofolade zu gießen, ftehe ich auch zu Dienften. Mit
darf fie nicht, wenn nicht durch den einen verübt werden
fol, was, Gott fei Danf, über furz oder lang durch einen
anderen dennoch veruͤbt werben wird.”
Einen Zentner auf der Bruft, taumelte ich zu den Freun⸗
den im arten zurüd. Die Barbe hatte fich zu ihnen gefellt.
314 Frau Erdmuthens Bwillingefähne
„Ich reife mit, Väterchen, ich reife mit!” frohlockte mir
Liska entgegen.
„Mit!“ ſtammelte ich. „Unmoͤglich!“
„Barum unmöglich, Freund?” fragte Frau Erbmuthe.
„Das Kind bedarf einer Zerftreuung, auch eines Gottes-
dienftes in feiner Kirche; nicht wahr, liebe Barbe?“
„zuverläffig, Madame,” antwortete Barbe mit einem
Knix. „Mademoiſelle hat die öfterliche Zeit nicht inne-
halten koͤnnen; Fronleichnam ift vor der Tür, und mein
Eure fagt -”
„Gleichviel was Ihr Eure fagt,” braufte ich auf. „„Die
Braut des Sohned muß ald Stellvertreterin der Mutter
im Hauſe zurücdbleiben. Das fage ich.”
„Hausmuͤtterchen Liska!“ fpottete Raul, aus vollem
Halſe lachend.
Auch die Mutter lächelte. „Meine Stelle ift durch die
gute Barbe aufs befte vertreten”, fagte fie.
„Und an Herrmann denkt feiner?” wendete ich ein.
„Wie wird er ſich nach einem Wiederfehen fehnen! Sein
Korps bleibt in der Marf — -”
„Bir gehören aber zu Sachſen, und Sachſen den Kai-
ferlichen,” fagte Raul.
„Sr würbe, fäme er, feinen Verräter unter uns finden,”
rief ich aufgebracht; „allenfalls eine Fahrt über die Örenze
auch für uns ohne Schwierigkeit fein.”
„Seht mir den alten Liebesprokurator!“ rief Tachend
Raul. Gottlob, er lachte!
„Sie wiflen ed noch nicht, Freund,” ſprach die Mutter
darauf, indem fie einen Brief in meine Hand legte, „Da,
fefen Sie. Doftor Bär brachte ihn mit. Gewiß würde
auch ich mich nicht entfernen, ohne meinen Sohn gefehen
Sechſter Abfchnitt 815
zu haben, folange er mir irgend erreichbar blieb. Aber
Herrmann iſt im Auftrage feines Generals auf dem Wege
zum Kronprinzen von Schweden nadı Stralfund, und feine
fpätere Beftimmung ungewiß.“
Ach, ich wußte ed ja; der Doktor hatte es mir erzählt.
Ich hatte nur auf gut Gluͤck meinen legten Trumpf aus-
gefpielt und - verloren. Nun hört ich nur noch das
Fluchwort, welches Raul gegen den Gasfogner zwifchen
den Zähnen nirfchte; fah, wie die Mutter den Sohn in
das Haus zurädführte und Liska das Paar wie eine Li⸗
belle umfchwebte, feelenvergnügt, mit den anderen ziehen
zu dürfen, während der eine, dem fie angehörte, in un⸗
erreichbarer Ferne war.
Sch war wie vernichtet auf die Bank gefunfen. Moͤg⸗
(ich, daß ich geächzt und die Hände gerungen habe. Sch
achtete nicht darauf, daß ich einen Zeugen hatte. Die
alte Franzoͤſin war zurüdgeblieben. Sie hatte den Grund
meines Widerftrebend im Nu begriffen.
„Monfteur nehmen die Sadje zu ernft,” fagte fie, an
mich heranfnirend. „Mein Eure würde fie ebenfo nehmen.
Es liegt das im Amt. Aber beruhigen Sie fich, Monſieur;
es ift feine Gefahr dabei.”
„Woher wiſſen Sie das?” fuhr ich auf. „Haben Sie
mit Mademoifelle darüber gefprochen?”
„Keineswegs, mein Herr. Worte zünden öfter als fie
löfchen. Aber man hat Augen, und man hat Erfahrung.
Das wäre meine Paffion? Streiten fie fich, verfühnen
fie fi)? Werben fie rot oder blaß? Und die Blicke, mein
Herr, die Blide. Pardon, Monfteur, Sie find ein Hei⸗
figer, wie mein Cure; aber find das Liebesblicke? Stockt
ihnen der Atem? Schlägt ihnen das Herz? Was tun fie
316 Frau Erdmutheus Zwillingsfähne
denn? Sie gucken ſich an, ſie lachen ſich an; ſie necken
ſich; ſie ſchwatzen miteinander, ſcherzen, ſpielen mitein⸗
ander, wie Couſin und Couſine oder Bruder und Schwe⸗
ſter von gleich fröhlicher Natur” “
„Um fo frevelhafter, wenn ed nur ein Spiel iſt!“ uns
terbradh ich die franzöfifche Geläufigkeit. Madame vers
neigte ſich und fchüttelte lachend den ſchwarzen Zopf.
Zwifchen ihren roten Lippen und weißen Zähnen ftand
deutlich zu Iefen: beutfcher Pedant! Warum follten fie
nicht fpielen, wenn fie Kinder waren? Was fchadete es
der Treue, wenn ein paar junge Kameraden miteinander
lachen und Iuftig find?
Um es kurz zu machen: Kameradfchaft und Paffion
fchlöffen einander aus wie Ol und Wein, erflärte die
ftofffundige Vivandiere. Sie huldigte der Liebestheorie
Fräulein Idunens infofern, als fie an Stelle des Fremd⸗
artigen, Gegenfäglidyen dad Impoſante treten ließ; das
Staunenerregende, Atemverfeßende, Anprall und Abprall,
Furor, Gewalt! Eine gelinde Züchtigung, die unfere Ge-
ſetzbuͤcher doch nur als Liebes- und Ehehindernis nicht
gelten laſſen, fchien ald Liebesbeweis und eheliches Binde-
mittel betrachtet zu werden.
Der Eifer ihrer Erfahrungswiflenfchaft ließ die höfliche
Dame alle fchuldige Rücficht aus den Augen fegen. Sie
erflärte ed wie gegen Weltflugheit und Seelenheil, fo
fchlechthin gegen das Naturgefeß, daß eine unbedeutende,
prickelnde, Heine franzöfifche Mamſell, die nicht das Pfühl
unter bem Kopfe ihr eigen nenne, dem ruhigen, großen,
beutfchen Schloßherrn, dem fchönften Manne der Welt,
einen Iufligen Offizier vorziehen follte, wie fie deren in
ihrem Baterlande zu Dußenden auf der Straße begegnen
Sechſter Abſchnitt 317
koͤnne. Einen Viveur nannte Madame Barbe den Herrn
Obriſtleutnant von Saint Roc, einen Viveur, der nie
etwas anderes ſein als Soldat, im Feldlager ſein Hab
und Gut durch die Finger laufen laſſen und in jedem
Quartier eine andere Amourette haben werde. Aber Ma⸗
demoiſelle denke im Ernſt auch gar nicht an den kleinen
Mann. Mademoifelle bewunderte ihren ſtattlichen Braͤu⸗
tigam und wuͤrde ſeinen Herrn Bruder keines Blickes
würdigen, wenn fie den Herrn Baron tagtäglich, kopfes⸗
hoch über dem anderen ragend, an ihrer Seite figen fähe.
Nur die Entfernung bed Herrn Barond und feine Lieb⸗
habermweife — un peu trop allemand, nannte fie Madame
Barbe - trügen die Schuld, daß die Flamme nicht bereits
mit ftärferer Gewalt zum Ausbruch gefommen fei. Die
Flamme werde aber zum Ausbruch fommen und mit fo
übermwältigender Vehemenz, daß der aus der Ferne beidh-
tigende Herr Curé das Seelenheil feiner jungen Lands⸗
männin in dringender Gefahr erachte und auf deren Heim⸗
fehr in rechtgläubige Umgebungen dringe.
Für die Beruhigung des Herrn Eure biete ein zeitweifer
Aufenthalt im katholiſchen Böhmerlande nun die will-
fommenfte Gelegenheit, wie denn auch gegen zerftreuende
Velleltäten, welche die Empfindlichfeit deö fernen Herrn
Bräutigamd erweden könnten, es fein vorbeugenderes
Mittel gäbe, ald die Heilquellen, welche dem Beichtſtuhl
- entftrömen. Madame werde dem Herrn Eure heute nod)
von dem Reifeplan in Kenntnis und der Herr Cure ſich
unverzüglich mit feinem böhmifchen Amtsbruder in Ver:
bindung fegen. Denn in SHeildangelegenheiten wirken
die Diener der Kirche in allen Ländern als wahrhaftige
Brüder Hand in Hand, fage ihr Eure.
318 Frau Erdmuthens Iwillingsföhne
Wer hatte nun recht, der unerfahrene deutfche Hage⸗
ftolz, der ohne Beweisführung behauptete: „Sie lieben
ſich“, oder die erfahrene franzöfifche Witwe, Die mit weits
laͤufigen Argumenten verficherte: „Sie lieben ſich nicht?”
Die Witwe! tröftete ich mich, wie mich ſchon vorhin das
harmlofe Lachen des Viveurs getröftet hatte.
Und dann: was war denn auch zu tun? Gewarnt hatte
ich deutlic; genug; Raul aufmerffam madjen follte ich
nicht; Herrmann zu Hilfe rufen konnte ich nicht. Liska
mit Vernunft oder Gewalt in ihren Pflichtenfreis bannen,
hätte auch wohl ein anderer als der arme, kindskoͤpfiſche
Magifter nicht zuftande gebracht. E8 blieb nur der Appell
an die Mutter. Auch nahm ich einen fchüchternen An⸗
lauf und — wurde nicht verftanden. Sa, ald ich für eine
verlobte Braut auf das bedenkliche und vielleicht nicht
ganz fchicliche nahe Zufammenleben mit einem anderen
jungen Manne deutete, beleidigte idy meine Freundin zum
erftenmal im Leben. Wo konnte die Tochter geborgener
fein, ald unter den Augen der Mutter, an der Seite des
Bruderd? Frau Erbmuthe erflärte, eher felber von ber
Neifebegleitung abzuftehen, ald die Braut ihres Sohnes
unter dem augfchließlichen Schuß einer fremden Marke⸗
tenderin im Haufe zurüdzulaffen.
Und ich? — ach, war ed mir denn unverftänblich, daß
ein Menfchenherz das Gift, das Untreue hieß, nicht ahnt?
Ad, war ed mir denn möglich, das Gift, das Argwohn
heißt, in diefes reine Herz zu träufeln? Sch ließ fie ziehen.
Es gibt eine Reue des Unterlaffenen, die fchärfer nagt,
ald manche böfe Tat. Die unfruchtbare Neue, für bie
es feine Sühne gibt.
BB *
Sechſter Abſchnitt 319
Die zwei Monate der Waffenruhe ſchlichen hin in jener
geſpannten, ruͤhrigen Stille, in welcher die Zwietracht
deutſchen Strebens ſich zum, wolle es doch Gott, letzten
blutigen Austrag ſammelte. Auch in den ſaͤchſiſchen
Heidewinkel wehte ein Strom von dem Geiſte, der jen⸗
ſeits der Grenze regierte, und manchen unſerer Soͤhne
hat dieſer Strom uͤber die Heidegrenze hinausgetrieben.
Im Hauſe ſchaltete die alte Marketenderin mit ſo viel
Geſchick, daß es mich oftmals wurmte, das Reich der
Liebe faſt ohne Luͤcke durch die Routine ausgefuͤllt zu
ſehen. Nach jedem neu eingeführten Ragout verwandelte
ſich der Suder immer treulofer aus einem Knecht der
deutfchen in einen Sklaven der franzöfifchen Dame, und
auch der Phyfitus wurde nach jeder gemeinfchaftlichen
Dperation an den wertvollen Pradhteremplaren ihr immer
feurigerer Berehrer.
„Gehts wieder los, ziehen Sie ald mein Amanuenſis 8
mit ind Feld. Chirurgie ift eine internationale Ange⸗
legenheit“, fagte er eined Taged. Ald Madame aber
achjelzudend erflärte, daß ihr Eure fie unwiderruflich im
Herbſt zur Ohrenbeichte in der Heimat erwarte, da ges
riet dem armen Kantianer während eines tiefen Seuf-
zers ein Huͤhnerknoͤchelchen in die unrechte Kehle, und er
würde, wie Bär verficherte, in feinem Berufe geftorben
fein, wenn die Hochverehrte nicht durch Fräftiges Klop-
fen ing Genic feine Lebendretterin geworden wäre. Bär -
und Hecht flanden auf dem Punfte, Nebenbuhler zu
werden.
Bon unferen Reifenden erhielten wir beruhigende Kunde.
Raul heilte fich nad) jedem Bade fihtbarer aus. Doc
meldete die Mutter ed nur mit geteilter Freude; denn
320 Frau Erdmuthens Zwillingsfäöhne
ſchon pridelte ihm wieder der Degen in der Hand, und
Frau Erdmuthens Hoffnungen auf ein friedliches Reful-
tat ded Prager Kongrefles waren tief gefunfen, ſeitdem
fie mit dem alten Freunde Thielemann zufammengetrof-
fen war.
„Wie feltfam berührte ed mich,” fo ſchrieb fie mir unter
anderem, „bie Lebendaufgabe meines älteften Sohnes
warm vertreten zu fehen von dem Wanne, beffen Nach»
eiferer der jüngfte bis vor wenig Wochen gewefen war.
Heute vermochte Raul nicht einen Gruß über fih. Der
General nahm ed entfchuldigend. ‚Sch habe fchwereren
Unglimpf dulden müffen,‘ fagte er mit einem Lächeln,
das mir wehe tat. ‚Ihr Sohn hat mich einen Yord! ge-
fholten. Eine zu große Ehre für mid) und unfer Land.
Ein Staat, der felbftändig fallen und felbftändig allen-
falls fichh wieder erheben darf, kann einen Nord produs
zieren. Einer der zum Anflammern berufen ift, leider
nur — einen Thielemann.‘ ”
Das Verhältnis Rauls zu Liska erwähnte die Mutter
mit Freude. „An ihrem gefchwifterlich heiteren Anfchluß
lerne ich fennen, welch ein Gluͤck der Befig einer Tochter
ift. Brüder gehen wohl nur felten einmätig Hand in
Hand. Smmer drängt fidy mir der erfte Eindrud auf,
daß das liebe Kind berufen fei, ein Band zwifchen den
Entfremdeten zu weben.”
Auch Liska fchrieb etlichemal an ihre alte Barbe in der
von der Mutter angedeuteten unverfänglichen Weife. Sie
amäfterte fich, erzählte von reizenden Partien in die Um⸗
gegend, von eleganten Begegnungen während ber Pro-
menabenftunden im Schloßgarten. „Ein paar Groß-
fürftinnen ziehen an der Spite, die ganze Gefellfchaft
Sechſter Abfchnitt 321
hinterdrein. Es ift zu komiſch, Barbe, ‚deutfch‘ nennt es
Raul. Aber fchön find diefe Ruffinnen, vollfommene
Damen, Barbe. Du haft dir die Barbarenfrauen gewiß
ganz anders vorgeftellt.”
„Ich bin Fein foldyes Kind”, murrte Madame Barbe.
Für ihr Väterchen hatte Mademoifelle Liska in einem
Poftffriptum beigefügt, daß auch ein deutfcher Dichter
mit ihr gefprochen und fie im beiten Franzoͤſiſch „ſchoͤnes
Kind” genannt habe. Der größte deutfche Dichter, habe
Raul gefagt, und der höchfte Verehrer des großen Kai⸗
ferd. Sein Kopf gleiche dem eines alten Heidengotteg,
deffen Büfte Raul im Louvre geſehen habe. Auf den
Namen des Dichters und feines göttlichen Urbildes be-
finne fie ſich im Augenblicke nicht; doch habe er, der Dich⸗
ter nämlich, ihr den feinen zum Andenken auf ein Blatt
gefchrieben, wie das in Deutfchland Mode fet.
Wirklich findet ſich auf einem Iofen Blatt im goldnen
Buche eine Rauffche Überf etzung von Klärchend Soldaten
lied — die ich zugunften des Lieds wie bee Überfeßers
aber lieber unveröffentlicht laſſen will -, darunter fteht
in wohlbefannten großen Herrſcherzuͤgen: „Approuve,
Goethe.“ So hätte das goldene Bud am Ende noch
einen literarhiftorifchen Wert gewonnen!
Bon Liskas Hand enthält ed außer einem ſummariſchen
„delicieux“| aus diefer Zeit fein Wort. Wie Frau Lo⸗
doiska vor zwanzig Sahren am Fuße des Poftlipp, fo
hatte die befcheidenere Tochter im böhmifchen Mittelges
birge zu nichts anderem Zeit gehabt, ald froh zu fein.
Sie dachte an Luftbarkeiten, Raul an Krieg; beides bünfte
mid) nicht Verliebtenlaune.
In einem fpäteren Briefe berührte Liska auch die fird)-
xx. 21
322 Frau Erdmuthens Iwillingsfähne
— — — —
lichen Troͤſtungen, die ſo ſchwer fuͤr die Reiſebegleitung
ind Gewicht gefallen waren. Aber, o weh! die Gottes⸗
haͤuſer glichen geſchmacklos aufgepugten Sahrmarftöbuden.
Raul hatte die Bilder Klexereien und die lieben Heiligen
Puͤppchen genannt.
„Mein Eure zelebriert auch nicht in einer Kathedrale”,
fchaltete aufgebracht Madame Barbe ein.
Bon genoffenem Beichtfegen war nichtd erwähnt; da⸗
hingegen ftand weiterhin zu lefen: „Die Prozeffton zu
Fronleichnam habe ich nicht mitgemacht. Kein Badegaft
tut ed; nur geringes Volk und die Bauern der Gegend.
Raul lachte, als fie über den Schloßplag zogen; und es
war auch fo armfelig unfeierlich, daß man lachen mußte,
wenn man zum Weinen feine Luft hatte. Das darfſt Du
aber ja Deinem Cure nicht fchreiben, Barbe.“
„Ich werde es ihm aber doch fchreiben”, fagte Madame
Barbe.
Sp der Tat feßte fie, obgleich fie felbigen Tages ein
Rindsſchlachten angeordnet hatte, dad Inftrument in Be-
wegung, das ihr von allen, die auch Frauenhände trafs
tieren, das einzige ungeläufige geblieben war, und ein
paar Stunden darauf trug ein Ertrabote einen Brief an
den Herrn Pfarrer von Saint Marimin nach der naͤch⸗
ften Poftftation.
Am Abend fragte mich die Franzöfin: „Was ift ein
Atheift, mein Herr?”
„Das Gegenteil von einem Ehriften, Madame,”
„And ein Kalvinift, mein Herr?”
„Das Gegenteil von einem Atheiften, Madame.”
Bon diefem Tage ab ſchien die Mutter des Herrn Cure
von dem Vorwurf geplagt, in dem Heilsgeſchaͤft, deffen
Sechſter Abſchnitt 328
nur halb eingeweihter Sozius ſie war, einen Mißgriff
getan zu haben. Gruͤndlicher eingeweiht, haͤtte ſie wohl
gewußt, daß leichter als ein Kalviniſt ein Atheift - wenn
unfer lachender Biveur nun einmal Atheift genannt wers
den foll - in den Schoß der alleinfeligmacdhenden Kirche
zurüdgeführt wird.
Über Herrmanns Kreuz und Querzuͤge während diefer
zwei Monate hatte die Mutter nur die Kenntnis erhalten,
die ich durd, den Doktor einfchmuggelte. Er war in
vertraulichen Sendungen zwifchen dem ſchwediſchen und
ſchleſiſchen Hauptquartier hin und her geeilt und erft
Mitte Auguft in der Mark zu dem Heere geftoßen, um
beffen preußifchen Kern ſich die ruffifchen und ſchwe⸗
difchen Truppenteile gruppierten. Troß der geringfügis
gen Anzahl der letteren ftand der Volföglaube an den
Dberfeldherrn, ald ehemaligen Napoleonifchen Mars
fchall, fo hoch, daß die von ihm befehligte Nordarmee
allgemein bie fchwedifche oder kurzweg der Schwede hieß,
bid dann freilich bald genug die Siege Buͤlows und
Tauengiend ihren preußifchen Charakter zur Geltung
brachten.
Beim Abbruch der Friedensverhandlungen machte fich
auch fchleunigft unfer Bär mit einem Halleluja wieder
auf den Weg. ch begleitete ihn, um meinen Brüdern
und meinem jungen Freunde vor dem Kampfe noch ein»
mal die Hand zu drüden. Herrmann, zum Nittmeifter
aufgerüdt, gehörte wieder zu Buͤlows Stab. Wadıts
meifter Lieb ftand quaſi ald Adjutant bei dem Adjutans
ten. Wir trafen fie vor Saarmund. Alles erwartete
einen rafchen feindlichen Vorftoß auf Berlin.
Herrmann hatte den Niederfchlag feiner Frühlingss
\
324 Frau Erdmuthens Zwillingsföhne
hoffnungen nur in fchwerem Kampf mit fich felbft über-
wunden. Er, der rein und feft, der Beſten einer, eines
großen Vaterlandes Wiederaufrichtung aus eigner Kraft
ale Lebengziel erfaßt hatte, fah Deutfchland zerflüftet
wie nur je vor der Unterwerfung und ermaß Haren
Blicks die Opfer, die es dem befreienden Vorvolke Eoften
werde, indem ed ald gering angefchlagener Teil nicht
mehr eine beutfche, fondern eine europäifche Tat volls
bringen half. Mochte deren Endziel für den gewaltigen
Bund faum noch in Zweifel zu ziehen fein: die Nebens
zwecke freuzten fich, die Wege waren verworren, und ber
Siegerpreis für uns blieb beftenfalld ein Keim.
„Sch baue auf die flämifche Ader in unferem Bolt,“
fagte der Freund mit wehmütigem Lächeln. „Wir reis
nigen den Boden und fireuen aus, auf daß die Enfel
unfere Saaten ernten. Was treibt, das muß gebeihn.“
Sein ganzes Wefen war fo ſtark nad) diefer Richtung
hin gefpannt, daß für das perfönliche Erlebnis kaum
noch eine Dehnung übrig blieb. Noch arg- und neib-
Iofer, ald e8 feiner treuen Natur allezeit eignete, vernahm
er daher von dem gedeihlichen Frohleben der Seinen in
der Ferne. Was auf den Anteil der Mutter davon ab-
zuziehen war, wußte er ja; dem fremdgewordenen Brus
ber gönnte er die Erholung, die Stimmung feiner Braut
aber erflärte er aus ihrer elementaren Freudenfraft und
entjchuldigte fie doppelt durd, die mangelnde: Vertrau⸗
lichkeit, die ihr Verhältnis zurzeit bedingte.
Als ich den Zwang beflagte, in welchen diefed Nicht-
verftandenwerden ihn zu feinem nächften Weſen verfegte,
fo gab er das einfach zu, fügte aber bei: „Nennen Sie
mir ein Gluͤck, dad nicht mit der Befchränfung perfön-
Schfter Abfchnitt 325
licher Freiheit erfauft werden muß, wenn auch in ber
Hoffnung, diefe Freiheit Schritt für Schritt zuruͤckzu⸗
erobern. Schranfenlofes Ausleben ift der gefährlichite
Egoismus, weil er in eine Einoͤde führt. Liska und id,
haben manches gegeneinander aufzugeben. Ihr Opfer
ift das größere; dafür muß jegt meine Nachſicht und foll
meine Dankbarkeit die größere fein, wenn die Zeit zum
Gluͤcklichſein gefommen ift.“
Wie leicht hätte ich bei diefer refignierten Anfchauung
ihn auf ein tieferfchneidendes Entfagen haben vorbereis
ten koͤnnen. Alle meine früheren Angfte waren aber
durch die harmlofen Reifebriefe von Mutter und Tochter
eingefchläfert, und die Leifefte voreilige Spur ded Miß⸗
trauend würde mir ald Frevel erfchienen fein.
Bald ward denn aud) das Gefpräd; in die beherrfchende
Richtung zurücgeführt. Es verlautete, daß der fran>
zöftifchen Armee, weldye Dudinot durch die Lauſitz gegen
Berlin heranführte, auch Reyniers Korps mit den
Sachſen zugeteilt fei, und Herrmann fagte gedanfenvoll:
„Hundert Meilen weit gefpannt ift der Bogen der Arena,
von den Quellen der Elbe bis zu ihrer Mündung; welch
eine fonderbare Fügung wäre ed nun, wenn Raul und
ich nad) acht Trennungsjahren, in denen die Knaben
Männer wurden, und auf heimifchem Grund mit den
Waffen in der Hand begegnen follten.“
Und faft mit den nämlichen, aber wehelautenden Wor⸗
ten empfing mid) daheim die Mutter, die während meiner
Abmwefenheit zurücgefehrt war. Raul hatte fid) erft am
Morgen auf der Poftftation von ihr getrennt, um fid)
noch am nämlichen Tage bei dem Marſchall in Baruth
zu melden. Die Sachſen waren wirklich Dem Nordheere
326 Frau Erdmuthens Zwillingefähne
gegenübergeftellt; der Tag bed Zufammenftoßes konnte
nahezu berechnet werden.
„Es ift fein Zufall,“ flüfterte die Mutter fchattenbleich.
„Auch das Unheil hat fein Gefeg. Was treibt, das muß
gedeihn.“
Bon diefer Stunde an faß fie in lautlofer Spannung,
die Hände im Schoß gefaltet, und ftarrte in die grauen
Wolken, die zwifchen den Wipfeln niederhingen. Vom
Himmel riefelte ed gleichfoͤrmig Nadıt und Tag. Bei
jedem anderen Geraͤuſch zudte fie zufammen. War, was
geichehen mußte, geſchehen? Der vernichtende Stahl
hing über ihrem Haupte an einem Haar.
Liska fchien nicht forgenvoll; aber fie war verändert.
„Sie kommen mir gewachſen vor, Liska,“ fagte id).
„Erzählen Sie, was haben Sie erlebt?“
„Großes!“ antwortete fie mit leuchtenden Augen.
„Etwas deutlicher, bitte. Welches Große?“
„Sc habe den Kaifer in Dresden geſehen.“
„Weiter nichts?“
„Sch bin auf Mamans Grabe gewefen.“
„Ganz allein?“
„Mit Raul.“
„Mit Raul? Sie famen geftern abend erft an, und
früh am Morgen ging er weiter. Wann waren Sie am
Grabe?"
Sie antwortete nicht, fie wich mir aus; aber nicht mit
der Miene von Neue oder Angft, weit eher mit der
eines überfrohen Herzens, das ein Machtwort im Banne
hielt.
Sollte fie wirflicy nody gewachfen fein? Oder waren
ed nur die Wangen, weldye die kindliche Rundung vers
Sechſter Abſchnitt 327
loren hatten, die Augen, die weiter geworden und mit
einem Schatten umzogen waren? Sie ſprach nicht, aber
bei jedem ſtillen Gedanken wogte die Farbe heller und
dunkler unter der braͤunlichen Haut. Ruhelos wechſelte
ſie den Platz. Dieſe Minute hinaus in den tropfenden
Garten, in der naͤchſten zuruͤck an der Mutter Herz. Sie
kuͤßte ihre Haͤnde, Traͤnen rieſelten darauf nieder. Aber
es waren keine matten Kummertraͤnen. Ein Wort draͤngte
ſich auf die Lippen, das ſie gewaltſam zuruͤckpreßte. Alle
anderen vermied ſie, auch die Barbe, und nicht ein ein⸗
ziges Mal wallfahrte fie nach dem kleinen Heiligtum
in der Ruine,
Ic fah über dem Haupte der Mutter noch einen zweis
ten Stahl, der fchärfer gefchliffen als der erfte war.
** *
*
In dieſem lauernden Zuſtande ſchlich die Woche hin.
Wir hatten von keinem der Unſeren Nachricht erhalten,
von einem erſten Zuſammenſtoß nichts gehoͤrt oder ge⸗
leſen. Ringsum ohne Wechſel breitete ſich das Truͤb⸗
ſalsbild der Heide im Regen.
Es war am zweiundzwanzigſten, Mittag voruͤber. Die
Mutter ſaß ſtill am Fenſterplatz; Liska in der anderen
Niſche ſchaute nach dem Himmel, an welchem die Sonne
unter dichtgrauem Gewoͤlk um einen Durchblick rang.
Pıöglich horchten beide Frauen auf. Huftritte fchallten
weitwärtd von der freien Landfeite her in den Hof;
Frau Erdmuthe Flammerte fich zitternd an den Sims,
Liska fchrie auf: „Raul!“
Ja, Raul! Raul, den das Mutterherz im Bruderfampfe
ſtehen jah, er Fam angefprengt auf halbtot gehegtem Raps
328 Frau Erdmuthens 3willingsſöhne
pen, im dunklen Reitermantel, kotbeſpritzt bis an den
Hals, naß bis auf die Haut, aber heil und wohlgemut
wie ein Fifch.
Raul war fein Geheimniöfrämer und würde ald Kund⸗
ſchafter ſchlechte Gefchäfte gemacht haben. Indeſſen, des
Landes und der Leute fundig, ber verwegenfte Reiter,
ber er war, hatte unmittelbar nadh feiner Meldung beim
Marſchall derfelbe ihn auserfehen, auf dem möglicht ab⸗
gefürzten Wege einen Auftrag oder fonft dergleichen an
dad Generallommando in Magdeburg zu befördern.
Mitten durd, Hirfchfelde Stellungen hindurch war das
fede Reiterftüd gelungen; Raul würde fchon vor Abend
das Hauptquartier, das er in Trebbin annahm, wieder
erreicht haben, wenn er nicht Durch die bereits bis über
Zreuenbriegen hinaus plänfelnden Koſaken gezwungen
worben wäre, einen Bogen füdwärts zu ſchlagen und
in der Heimat Relais zu nehmen.
Sein halbtotes Pferd Fonnte notdärftig nur durch dag
unferes Inſpektors erfegt werden. Doch bedurfte das⸗
ſelbe eines Hufbeſchlags, und bevor der Schmied, erſt
vom Felde herbeigeholt, ſein Geſchaͤft vollendete, gingen
ein paar Stunden hin. Auch dem Reiter, ſo ungeduldig
er war, taten trockne Kleider und ein Ausruhen not.
Ein nachtraͤgliches Mittagsmahl wurde von Madame
Barbe angeordnet; doch zeigte ſie ſich bei Tafel nicht.
Ein Brief ihres Sohnes, den ſie am Morgen erhalten
hatte, ſchien ihr im Kopfe herumzugehen. Liska fragte
nicht danach; ſie ſaß wieder ihrem Ebenbilde gegenuͤber
und flammte mit ihren Augen in die ſeinen.
Raul, nuͤchtern ſeit geſtern und uͤberhungert, aß wenig,
trank aber mehr und ſtaͤrkeren Wein als gewoͤhnlich.
Sechſter Abſchnitt 329
— —— — — — —— — — — — —— —— —— — —— — —
Wir verweilten beim Nachtiſch, dann im Gartenſaal
beim Kaffee, den Raul mit Kirſchwaſſer nahm. Anfaͤng⸗
lich in uͤbereile, um noch in der Nacht vor dem Aufbruch
das Hauptquartier zu erreichen, duͤnkte es ihm jetzt zum
Weiterritt vollauf Zeit. Er wollte das Zuruͤckdraͤngen
der feindlichen Vorlinie am geſtrigen Tage erfahren
haben und hielt einen Kampf diesſeits Berlins nicht
fuͤr annehmbar, falls Bernadotte, den er nie ohne Fluch⸗
wort nannte, den Beſitz der preußiſchen Hauptſtadt uͤber⸗
haupt eines Kampfes wert halten ſollte. Es genuͤgte,
wenn er im Lauf des morgenden Tages die vorruͤckende
Armee einholte. Er dehnte ſich behaglich; Liskas Augen
gluͤhten.
Die Mutter hatte ploͤtzlich Leben gewonnen; fie beſann
fih auf Verbandzeug und Stärfungsmittel, welche in
die Satteltafchen gepadt werden follten, ordnete, da die
Barbe unfichtbar blieb, alles felbft, ging hin und wider.
Es dämmerte bereits, der graue Himmel verkürzte den
Tag; doch hatte der Regen eine Paufe gemacht; milde
Luft, ein weicher Refedaduft drangen von den Garten⸗
beeten durch die geöffneten Fenfter. Auch idy mußte mich
in einem Amtsgefchäft entfernen; Raul und Liska blieben
allein.
Eine unfagbare Angft beflemmte mir die Bruft; ich
haftete meinen Schritt. Zufällig fiel im Gehen mein
Blick auf die Fahle Pappel. Ihr treuer Sommergaft
hatte fie geräumt, einen oder den anderen Tag früher,
als es feine Regel war. Ich gedachte der Stunde, ald
er und heuer zum erften Male daraus begrüßte. O, dag
dad Kind nicht vom Himmel an unferen Herd gefallen
wäre, ja, daß es heute lieber im Bruderlampfe ftände,
830 Frau Erdmuthens Zwillingsfähne
ald unter feiner Wutter Dach! Ich fchalt mich einen
Narren, einen Frevler, aber id) dachte fo.
Als ich zurüdkehrte, war es völlig Abend geworben.
Raul und Liska ftanden aneinandergefchmiegt im Feniter-
bogen. Sie bemerften mein Eintreten nicht; fchienen
Gott und Menfchen vergeflen zu haben. Sie flüfterten
fich ind Ohr und wendeten ſich nach der Tür.
„Soll ich Shr Pferd vorführen laſſen, Raul?” fragte ich.
„Es eilt nicht,“ antwortete er und wollte an mir vor⸗
über.
Auf der Schwelle trat ihnen die Mutter entgegen. Sie
drang auf eine Ruheftunde für den Sohn. Haſtig ver-
ſprach er, fid, hier im Gartenfaal aufs Sofa zu legen,
um ohne Störung ded Hauſes um Mitternacht aufbrechen
zu können. Das Pferd follte gefattelt im Stalle bereit
ftehen. Es war in der Erntezeit, alled fchlafbedürftig;
doch fiel mir diefe Rüdficht an dem Sorglofen auf.
Lisfa ging ſchweigend in den Garten; das war feit der
Heimkehr auch bei Abend ihre Gewohnheit. „Sch fehe
dic noch, mein Raul”, fagte die Mutter und ging in
ihr Kabinett. Raul gab mir zum Abfchied die Band
und warf fid) aufs Sofa.
Sch nahm den Weg durch den Garten. Der Durftige
Sand hatte die Regenmaffen raſch aufgefaugt. Es dun-
ftete wie Weihraudy in der ſchwuͤlen, waſſerſchweren
Luft. Ich fah mich nach Liska um; fie war nicht mehr
im Garten; fie mochte vom Hofe her in das Haus zurüd-
gekehrt fein. Ic lauſchte eine Weile, alles blieb ftin,
Zögernd entfernte idy mid).
Aber ic; legte mich nicht. Auch an meinem Pulte fand
ich feine Ruhe. Sch rannte im Zimmer auf und ab. Der
Sechſter Abfchnitt 831
Angſtſchweiß tropfte mir von der Stirn. Die Uhr fchlug
elf. Ich hielt e& nicht länger aus; ich wollte nach dem
Scloffe, Raul ein mahnendes Wort vor dem Abfchied
fagen, die Mutter warnen, oder - Gott weiß, was fonft.
Da, - wo mein Weg unter die Ulmen einbog, fah ich
von der Ruine her einen weißen Schimmer fich aus dem
Dunkel abheben. Ich ftand ftil. Er ſchwebte näher und
näher. Sie war ed, im weißen Kleid; den Kopf an
feine Schulter gelehnt, den Leib von feinem Arm ums
fchlungen. Sch trat ihnen in den Weg und padte feine
Schulter. Er zudte zufammen. Sie flammerte fid) nur
noch fefter an feinen Arm.
„Sehen Sie voran, Liska,“ preßte ich hervor. „Sie,
Raul, folgen mir in meine Wohnung.“
„Sc werde meine Couſine nach Kaufe begleiten, dann
ftehe ich zu Dienften,“ verſetzte Raul.
Sie fchritten weiter; ich ging in die Pfarre. Sch wars
tete, mir fchien es eine Ewigkeit; vielleicht, daß es nur
Minuten geweſen find. Schon zweifelte ich, daß er
fommen werde; aber er hatte nur der Wutter Lebewohl
gefagt und fein Pferd an meine Tür beitellt. Endlich
trat er ein. Sch hatte Fein Licht angezuͤndet; unfere
Worte wechfelten fich beffer im Duntel.
„Sneulpat ftellt ſich zum Verhör,” rief er mir lachend
entgegen. „Machen Sie’d gnädig, Pate Magifter.“
„Affektieren Sie feinen Scherz,“ entgegnete id. „Er
fteht Ihnen häßlich in einer Stunde, wo Sie Ihres
Bruders Ehre mit Füßen getreten - -“
„Sie übertreiben!” unterbrach er mid).
„Bo Sie einen tödlichen Schlag gegen das Herz Ihrer
Mutter geführt haben“, fuhr ich fort.
332 Frau Erdmuthens Zwillingsfähne
Er madıte ein paar Gänge durchs Zimmer. Ich fegte
mich, denn meine Füße trugen midy nicht. „Die Mutter,
die Mutter!” murmelte er.
Dann trat er mir gegenüber und begann ernithafter,
befonnener, als ich ihn jemals gehört: „Nun ja, bie
Mutter! Um ihretwillen bin id; gefommen; um ihret-
willen berühre id; einen Punkt, über welchen der Dann
fonft auch feinem Vater nicht Rede fteht. Sie hat ein
Traumbild brüderlicher Harmonie in fich groß gezogen,
das fid in einen bämonifchen Quaͤlgeiſt verwandelte,
ale die Wege ihrer Söhne ſich naturgemäß ſchieden.
Nicht durch meine Schuld; ich bin auf legaler Bahn
geblieben; Sie wiffen ed. Auch Elage ich Herrmann
nicht an. Operari sequitur esse. Aber ich fehe feinen
Untergang, und mid; jammert die Mutter. Nicht die .
hartnädigfte Natur ertrüge auf die Dauer ſolche Folter:
qual. Nun noc, diefer Konflift weit intimerer Art, -
er würde ſich Iöfen Iaffen, leicht loͤſen, hätte ich Zeit,
fie vorzubereiten, fie zu überzeugen; — aber ich muß fort,
und jeder Dritte, oder gar der Zufall - Sie haben recht:
es könnte ihr Herz brechen.“
„Und wenn Sie dad mwußten, warum — -" Er ließ
mich nicht ausreden.
„So fragt, wer die Leidenſchaft nicht gekannt oder
lange vergeſſen hat,“ rief er aus. „Will einer, was
ihn uͤberwallt? Merkt er die heimlichen Schliche, mit
denen eine Paſſion ſich unſerer bemaͤchtigt? Dachte ich
daran? Ich ahnte es nicht einmal. Mir war wohl wie
einem, der nach langer Kerkerhaft in einem ſonnigen
Blumengarten erwacht. Ich habe ſchon manche Frau
reizend gefunden, manche reizender als dieſe. Ich be⸗
Sechſter Abſchnitt 333
trachtete ſie nicht als die eines anderen, aber ich begehrte
auch nicht nach ihr. Ich bin kein Schaͤfer, kein Werther
von Natur; alles Verlangen war nach außen hin ge
fpannt. So fpürte ichs im anderen Herzen früher als
im eignen und aud) im anderen erft in der legten Stunde.
Solchen füdlichen Kindern ift nicht wie euren deutſchen
die Liebe eine Metamorphofe, aber ein natürliches Ele⸗
ment. Drüben am Grabe der Mutter, - in der Ber;
zweiflung des Abſchieds — -“
„Und fo in leichtfinnigem Spiel, dad nicht einmal bie
Leidenfchaft entjchuldigt,” rief ich aus, „mit faltem Her⸗
zen ftehlen Sie das Lebensgluͤck Ihres nächften Menfchen,
den Frieden — —“ |
„Nicht mit kaltem Herzen,“ unterbrad) er mich. „Auch
ftahl ich nichts. Sch fand bei Wege ein herrenlofes
Gut. Da idy8 aber gefunden, ba ed fidy freiwillig mir
zugeeignet hat, gibt e& Feine Macht, Die e& mir wieder
abfordern dürfte, - auch die Mutterliebe nicht.“
Mir war die Kehle zugefchnärt. Es entftand eine Paufe.
Dann fuhr er fort:
„Und Herrmannd Lebendglüd Hanıtent Sie ed. Zus
geftanden, daß der Berluft feine Eigenliebe fränft. Aber,
Hand aufs Herz: war Liskas Liebe wirflid fein Gluͤck?
Er hat fie niemals beſeſſen.“
„Sie hat ihm das Gegenteil beteuert - -“
„Sn einem Moment der Überrafchung, der Erregung,
bevor fie ahnte, was lieben fei.“
„Sie hat gelobt, fein Weib zu werden — -”
„Mit nichten. Sie hat vom erften Tage ab gegen die
Konfequenzen ihrer Übereilung proteftiert. Einft war
er ihr gleichguͤltig, heute würde er ihr antipathifch fein.
834 Frau Erdmuthens Zwillingefähne
Und was böte er ihr ale Entgelt für ein leeres, wider:
williged Herz? Das feine etwa? Liebt er fie? Mein,
er liebt fie nicht.”
„Welches Urteil haben Sie darüber?“
„Leſen Sie feine Briefe; hören Sie Liska, felber die
Mutter über ihn. Und welche Gegenfäte in ihrem ſuͤd⸗
lichen Blut und feiner flämifchen Ader? Klingen fie
zufammen im einfacıften Sa oder Nein? Würde ich eine
Frau nad feinem Schlage Tieben können? Weiß ein
Deutfcher überhaupt, was Lieben ift? Mit Liebe Lieben,
wie wir anderen es nennen?”
„Mit Hingebung lieben, mit Treue fürd Leben, mit
Willen und Gewiffen keiner befler, als diefer deutfche
Mann,“ fagte ich, und er ergänzte:
„Nun ja, mit alledem, was Kiebe nicht iſt.“
„Sparen Sie Ihr Raifonnement,” rief ich empört.
„Woher ftammt denn unfer Unheil, ald daß Sie feinen
Sinn haben für Ihres Bruders Wert?”
„Beſtreite ich feinen Wert?” verfeßte er. „Ich beftreite
nur Ihren Gradmeſſer feiner Temperatur. Sch fehe ihn
vor mir. Er fuchte unferer Mutter eine Tochter ald Er-
faß für den Sohn, den fie verloren glaubte. Liska war
ihm die Nächfte. Er tat an der Waife ein gutes Werk;
er ift ja ein Menfchenfreund; Idealiſt in den realften
Dingen. Sie mag ihm audy gefallen haben; wem geftele
fie nicht? Dabei dachte er aber an eine Frau für Haug
und Hof; an ein Mütterchen in der Kinderftube, an alles
das, was Liska nicht ift, noch jemals werden kann. Gönnte
er fidy Ruhe zur Prüfung, er würde feinen Irrtum eins
fehen und fie dem überlaffen, den fie begluͤckt, fo wie fie
ift und allezeit bleiben wird.”
Schfter Abſchnitt 835
„Wenn Sie fo ficheren Glaubens waren, warum vers
ftändigten Sie ficy nicht mit ihm? Wer nimmt ohne
Schenfung eined anderen Eigentum, fo wertlos oder gar
ſchaͤdlich er es für ihn halten möge?”
„Wie follte ich ihn erreihen? Es war in der legten
Stunde, id fagte ed ja. Schon fand er in Reih und
Glied unferem Lager gegenüber.”
„Sie konnten ihm fchreiben, Sie können ed noch. Tun
Sie es hier; gleich, aus vollem Kerzen. Ich übernehme
die Beförderung.”
„Das fchriftliche Wort ift leblos,“ verfegte Raul, zum
erftenmal merflicd, befangen. „Die Zeit drängt: wir find
und fo lange entfremdet, würden ung fo ſchwer verftehen.
Und dann — und dann — er liebt fie nicht, es ift wahr;
es ift nicht fein Gluͤck, um das es fich handelt, aber, aber
- e8 gibt einen Punkt - - Sie felber haben ihn zuerft
genannt - und er ift mein Bruder! Er dürfte nicht Ges
nugtuung von mir fordern nach Männerart; ich nicht fie
ihm gewähren. Wir werden und mit den Waffen in der
Hand gegenüberftehen, bald, vielleicht morgen ſchon. Sch
fann fallen; er kanns. Soll er mein Todfeind fein, wenn
fein Auge bricht ?”
Wieder eine Paufe. Er ging mit ftürmifchen Schritten
im Zimmer auf und ab. In mir fochte ed. Heiliger
Gott, heiliger Gott, diefer Mutter Sohn zog feine Rech⸗
nung auf feines Bruders Tod! Er fchien diefen Hoͤllen⸗
gedanken in meiner Seele zu lefen. „In beruhigter
Stunde wird auch ein beruhigender Abjchluß zu finden
fein”, warf er hin.
„And wie denken Sie ſich den Abfchluß des fchnöden
Spield?” fragte ich nach einer langen Stille.
336 rau Erdmuthens Iwillingsföhne
Er antwortete fchon wieder unbefangen, ja mit einem
Anflug von Beluftigung: „Verlobung und Hochzeit und
- Hütten bauen, nicht wahr? Alles fein ehrbar und folge-
recht nach guter deutfcher Art. Aber wer denft daran,
wenn der Boden unter unferen Füßen zittert? Sat der
Kaifer einmal in dieſem tollföpfigen Europa vollends
aufgeräumt, kommts zum Frieden, - nun gut, dann wird
fie die Meine, und Frankreich unfer Vaterland. Herr⸗
mann bleibe alles, was deutfche® Erbe heißt. Auch die
Mutter wird ihm bleiben, ich fühle ed.” — Er feufzte. -
„Alles fein, und mein nur diefed fremde Kind. Sc
denke: das ift Fein unbrüderlicher Tauſch. Bis dahin
aber, bis ich felber, ich allein, die Mutter mit der Wand⸗
lung der Berhältniffe ausföhnen kann, bleibe ihr diefe
Wandlung verhält. Stehen Sie mir darin bei, auch
Liska gegenüber, der das Geheimnis das Herz abpreßt.
Huͤten Sie Liskas Impulſe, und ſchweigen auch Sie.”
Sein Pferd wurde bei diefen Worten vorgeführt; er
faßte meine Hand, ald ob er mir ein Berfprechen abneh-
‚men wollte. Sch erhob mich.
„Raul,“ fagte ich, „das urewige Band bed Blutes haben
Sie zerriffen, und an eine jenfeitige Verantwortung, fo
fcheint es, glauben Sie nicht mehr. Aber fo wahr es
eine Gerechtigfeit gibt, Sie werden auch hienieden an
biefem Frevel tragen, folange Shre Augen offen ftehen.
Und mit Ihnen wir alle, die wir in deutfchem Glauben
das Mutterhaus für eine Freiftatt der Treue und das
Brudergut für ein Ehrenpfand gehalten haben. Nun ja,
ich will bis zum Außerften den vernichtenden Schlag von
Ihrer Mutter abzuwenden fuchen; — eine kurze Gnaden⸗
frift! Ihrem Bruder aber werde ich die Wahrheit fagen,
Sechſter Abſchnitt 837
wann und wo id) ihn erreichen fann. Gibts aus dieſem
Wirrſal der Suͤnde eine Löfung, fo iſts durch ihn, ber
allein der Schuldlofe an demfelben ift. Als Ihr Tods
feind vielleicht, aber nicht ald der Genarrte Ihrer Raus
nen foll er Ihnen im Leben und Sterben gegenüber,
ftehen.”
„Seid darum!“ verfegte Raul. „Es plädiert fich Teiche
ter in einer fremden als in der eigenen Sache. Plädieren
Sie für dad Natürliche vor dem Juͤnger der Idee. Schonen
Sie midy nicht, aber fchonen Sie die Mutter.”
Dad Hang wohl leichtfertig, aber er war doch bewegt.
Er drüdte meine Hand, und die feine zitterte. Ich glaube:
den naͤchſten Triumph feines Kaiſers hätte er Darum ges
geben, wenn er dad ‚„Natürliche” in dad Mebelreich der
Ideen hätte verfegen koͤnnen. Nur daß es feine Sache
wenig verbeflerte, wenn der feichtgepflanzte Trieb nicht
bis in die Tiefe ded Muttergrundes drang.
In diefer Nacht zaufte ich mich herum, wie man fo fagt,
mit Gott und der Welt. Bon dem Erzböfewicht rede id)
nicht einmal, das war ja nur ein fortgefeßtes Gefchäft.
Aber da hatte ich auch ein altes, franzoͤſiſches Kuppler⸗
mweib beim Schopf, das von einem winzig Fleinen, ſchwar⸗
zen Sefuitchen am Schürzenbande gegängelt wurde und
die Ruine in der Heide mit Teufels Gewalt wieder in
ein Klofter verwandeln wollte. Dann fanzelte ich einen
flämifchen Ulanenrittmeifter ab, weil er yartout nur
Trompete blafen und nicht audy ein bißchen Flöte fpielen
lernen wollte. Selber mit der ftillen, weißen Frau, die
ein Erbfrönchen trug, konnte ich nicht Frieden halten,
wenngleich fie doc; ausfah wie der liebe Frieden felbft.
Warum hatte fie Zwillinge auf die Welt gebracht? Was
xX.22
838 Frau Erdmuthens Swillingsfähne
rum hatte ſie einen franzoͤſiſchen Viveur großgehaͤtſchelt?
Warum ſtarrte ſie immerzu hinauf in den blitzenden
Wolkenkegel, derweilen ein funkenſpruͤhendes, ſchwarzes
Kaͤtzchen ganz unverſchaͤmt an ihrem Bettvorhange in die
Hoͤhe krabbelte und ihr Haus in Flammen ſetzte? Am
aͤrgſten jedoch ſpielte ich einem kindskoͤpfiſchen alten Ma⸗
giſter mit, der den Funken anglimmen ſah und, anſtatt
„Feuer!“ zu ſchreien, nicht aus der Melodie „uͤb immer
Treu und Redlichkeit“ herauszubringen war.
Seltfam, aber nur der unverfchämten, fchwarzen, Kleinen
Kape, die doch den ganzen Schaden angerichtet hatte, der
konnte ich gar nicht recht zu Leibe kommen, denn fie ku⸗
gelte fich feelenvergnügt im Kreife um mich herum und
ſchnurrte in einem fort: „Raul, Raul, Raul!”
Am andern Morgen fühlte idy mic, zum erftenmal im
Leben krank. Ic, fprang aus dem Bette und wollte
firadö zu meinem Herrmann in Buͤlows Lager vor Bers
lin, taumelte aber zurüd und blieb liegen, bis die Fieber⸗
angft mid, von neuem in die Höhe ſchnellte.
Aber audy, ald ich tags darauf ruhiger wurde, ja, je
ruhiger ich wurde, um fo feſter wurde ich in der Er⸗
enntnis, daß Herrmann allein die Krife in feinem Kaufe
beſchwoͤren könne. Ich fragte mid) faum nad) dem Wie
und Wodurch, fo fiher war ich feiner -reinen, flarfen
Natur. Eine weftliche Biegung entfernte mich von ber
Marfchroute der franzöfifchen Armee, Mein Ziel war
Berlin; vielleicht erreichte ich e& noch vor dem Zuſam⸗
menftoß. Pr a
%
Sc hatte am Morgen eben mein Bündeldhen gepackt
und grübelte nad) einem Vorwand, ber die befchloflene
Sechſter Abſchnitt 839
Irrfahrt Frau Erdmuthen begreiflich machte, dem erften
Borwand in unferem Freundedleben. Da trat fie felber
bei mir ein, Freudentränen in den Augen, verjüngt um
ein Sahrzehnt.
Und wohl war ed eine verjüngende Kunde, die äber
Nacht den Weg in unfere Heide gefunden hatte. Der
Streid, auf Berlin war abgewehrt, der Sieg von Großs
beeren errungen worden, felbftändig von Bülow - und
das hieß und von Herrmann! — errungen worden vor
der Stunde, daß berechenbar fein Bruder ihm mit dem
Schwerte in der Hand gegenüberftehen konnte.
„Der barmherzige Gott hat meinen Kleinglauben noch
einmal befchämt,” fagte die edle Frau, „ich werde ihm.
_ fortan demütiger vertrauen lernen, mein Freund.”
Und wirklich richtete fie fidy feit diefem Tage auf. Das
quälende Phantom vieler Jahre wich einer tröftlichen
Zuverfidht. Mir durdhfchnittd das Herz.
Mein Reifeplan ward durch biefe Kunde verzögert.
Dennoch belebte fie auch mich. Der erfte errungene Lors
beer war ein fühlendes Blatt auf die Wunde, die dem
Kerzen bed Freundes gefchlagen werden mußte.
Im Laufe ded Tages erfuhren wir Näheres durch uns
feren Inſpektor, der Rauls zurüdgebliebenen Rappen,
zum Austaufch gegen das Gutöpferd, halben Wegs nad)
Trebbin geritten, ihn dort aber nicht, wie verabrebet,
einem Diener, fondern dem Herrn felbft übergeben hatte.
Die Armee war in vollem Rüdzug auf Wittenberg; Raul
fnirfchend vor Scham und Wut.
Die Sachſen hätten die Schlappe verfchuldet, fo fprus
delte er hervor, die Sachſen allein. Durch eine franzss
fifche Divifion fei das Gefecht zwar wieder hergeftellt,
340 Fran Erdmuthens Swillingsfähne
das Schlachtfeld behauptet worden; die Demoralifation
der Sachſen aber fo groß, daß der Marfchall den Ruͤck⸗
zug geboten erachtete. Der handgreifliche Gewinn Ber⸗
lind wäre durch die Überrumpelung der Sachſen - vers
eitelt nun freilich nicht — aber doch verzögert worden.
Der ehrliche Inſpektor hatte einen Bruder beim Regis
ment Low; noch wußte er nicht, daß berfelbe zu den
Opfern dieſes tapferen Regiments gehörte; dennoch wies
derholte er und jene naturmwidrige Schmähung, Tränen
in den Augen und fchamesrot. War es denn aber wirks
lich nur franzöfifche Eitelkeit, der fie herz- und gedanken⸗
[08 nachgefprochen wurde? Raul hätte in den verhängs
nisoollen Stunden fchmwerlich noch ein Zeuge der Wahr:
heit werden, ſicherlich an der Enticheidung nicht das
geringfte ändern können. Aber dachte er an den Frevel,
der ihn über Gebühr von dem Kampfplatze ferne gehals
ten hatte? Das Gewiffen macht nidyt nur reuige Bes
fenner, ed macht auch fchreiende Lügner aus und fün-
digen Menfchen.
Das Kriegegetümmel hatte ſich während diefer Tage in
unfere Nachbarſchaft gefchoben. Zwar dedte der dichte
Heidefchirm und gegen Often vor der rüdwärts ziehen
den Armee; bei Süterbog? wurde aber bereitd gefämpft.
Der Inſpektor, der aus diefer Richtung fam, verficherte,
daß ed nur noch Oudinots Nachhut fei, welche die vers
folgenden Koſaken erreicht hätten; wir zweifelten nicht,
daß das Gros der verbündeten Armee den Plänflern
auf dem Fuße folgen werde, Seder Tag fonnte Herr⸗
mann in unfere Nähe führen.
In Schloß und Pfarre wurden Vorräte aufgeftapelt
und Lazaretteinrichtungen getroffen, Tettere auch auf
Sechſter Abſchnitt 341
etliche geeignete Stadthaͤuſer ausgedehnt. Madame Barbe
bewaͤhrte ein unuͤbertreffliches Organiſationstalent.
Als ich am ſiebenundzwanzigſten zum erſten Male nach
dem Schloſſe ging, hielt im Hofe eine kleine Wagenburg
zur Abfahrt bereit, um Verbandzeug und Nahrungsmittel
auf den Kampfplatz, als Ruͤckfracht aber eine Ladung
Verwundeter in unſere Pflegeſtaͤtten zu fuͤhren. Der
Heidefoͤrſter hatte heute fruͤh erneuertes Feuern aus der
Gegend von Juͤterbogk gemeldet.
An der Spitze der Kolonne, auf Herrmanns leichtem
Korbwagen thronte zwiſchen Kruken und Kobern Madame
Barbe, Zuͤgel und Peitſche in der Hand. Schon hatte
ſie das Signal zum Aufbruch gegeben, als mit einem
Heldenanlauf Freund Hecht an den Wagen trat und
ſich zur Begleitung der Expedition gedrungen erklaͤrte.
Der brave Direktor war, ſeit geſtern die erſten Schuͤſſe
jenſeits der Heide gehoͤrt worden waren, aus dem ein⸗
ſamen Gerichtshauſe in das Schloß uͤberſiedelt. Denn
da bis dato noch kein weltweiſer Mann geleugnet hat,
daß der Menſch ein Geſellſchaftsweſen ſei, ſo hatte unſer
weltweiſer Mann bei einem Maſſaker — was war Kinds⸗
braten liebenden Baſchkiren⸗ und Kirgiſenpulks nicht
zuzutrauen!- doch die philoſophiſche Genugtuung, wenig⸗
ſtens in naturgemaͤßer Geſellſchaft maſſakriert zu werden.
Beim Anblick der heroiſchen Amazone regte ſich nun aber
der ritterliche Inſtinkt, den auch die reinſte Vernunft in
gewiſſen Momenten nicht im Zaume zu halten vermag.
„Koͤnnen der Herr Direktor auch Blut ſehen?“ fragte
Madame Barbe in bereits voͤllig fließendem Deutſch,
indem ſie ſtatt der Knie die Peitſche eine devote Nei⸗
gung vollbringen ließ.
812 Frau Erdmuthens Iwillingsfähne
Der Direktor erflärte, daß er zwar noch fein Blut ges
fehen habe, mit Ausnahme etlidyer Tropfen, weldye ein
ungefchidter Barbier feiner Oberlippe abgezapft, baß
aber die Philofophie - -
„Die Nerven fpotten aller Philofophie,“ unterbrach ihn
Madame Barbe. „Der Herr Direktor werden, unmaß⸗
geblich, wohler tun, über dero gelehrten Aktenſtoͤßen zu
verbleiben.” Zu mir gewendet fette fie in ihrer eignen
Sprache hinzu: „Der Herr Direktor erfreut ſich eines
bedeutenden Appetitd; die Frau Baronin aber wünfct,
ihre Erfrifchungen den Verwundeten zugute fommen zu
laſſen.“
Das ritterliche Intermezzo hatte einen kleinen Aufſchub
bewirkt. Ploͤtzlich ſtutzte die Amazone. Sie horchte ge⸗
ſpannt nach der der Heide entgegengeſetzten freien Land⸗
ſeite hin. Auch vor meinen Ohren brummte es wie
fernes Wagen⸗ und Donnerrollen.
„Dorthin!“ kommandierte Barbe. Die Wagen lenken
um; der der Dame ſetzte ſich wieder an die Spitze. Mich
durchzuckte es. Wenn dort Buͤlow kaͤmpfte! Ohne Be⸗
ſinnen ſchwang ich mich an die Seite der tapferen Fuͤh⸗
rerin, wurde mit einem huldvollen Peitſchenneigen be⸗
gruͤßt, und dahin ging es, dem Schalle nach, auf dem
Belziger Wege. |
Ich hatte vorhin zum erften Dale feit jenem verhäng-
nisvollen Abend Liska wiedergefehen; verlegen etwa?
Fa, ich Alter vielleicht. Sie leuchtete im Stolze ihrer
Liebe; fie brannte danach, mit dem einzigen Vertrauten
von ihrem Gluͤck zu reden. Ich war ihr ausgewichen.
Daß ihr Herzendfieg ein Frevel fei, daß er den Frieden,
ja, den Beftand einer Familie bedrohe, hätte fie ja doc,
Sechſter Ubfhnitt 813
nicht verftanden. Menfchen der Leidenfchaft meſſen mit
dem leichteften und mit dem ſchwerſten Maße zu gleicher
Zeit.
Und dennoch — oder eben darum? - vermochte ich nicht
mit diefer Natur zu rechten. Sa, unter ihrem freimuͤti⸗
gen Bezeigen überfiel mich plöglich eine Sorge, welche
Die Pein unferer Lage noch verfchärfte. Die fremde Waife
hatte auf der Gotteswelt feine andere Zuflucht, als das
Haus der Mutter, deren Sohn fie verraten. Durfte fie
unter feinem Dache weilen, nach der Stunde, die den
Verrat enthüllte?
Zum erften Male im Leben wagte ich für die Hands
Iungsweife meiner Freundin Erdmuthe nicht einzuftehen.
Nun und nimmer aber, das wußte ich,-würbe fie einem
erflärten Verhältnis zu dem Betrüger, eben weil er ihr
Sohn war, ihren Schuß verliehen haben. Was wurde
nun aus dem unheimifchen Kinde? Und follte ed ein
gleiches Bedenken fein, welches Raul fo Aängftlich auf
die Wahrung des Geheimniffes dringen ließ?
Sch glaube es nicht. Es gab nur einen Menſchen,
fuͤr welchen Raul eines ſorgenden Vorgefuͤhls faͤhig
war, und dieſer eine war ſeine Mutter. Alle ſeine Be⸗
rechnungen gruͤndeten ſich zudem auf einen Erfolg der
franzoͤſiſchen Waffen, der ſeinen Bruder fuͤr lange Zeit
von der Heimat ferne hielt. Dieſe Berechnung aber war
mit dem Ruͤckzuge von Großbeeren hinfaͤllig geworden.
Die Sieger konnten, ja mußten jede Stunde in unſerer
Naͤhe erwartet, die heilloſe Lage konnte, ja mußte jede
Stunde der Mutter offenbar werden. Auch die Ents
fheidung über Liskas Zufunft fah ich daher in Herr⸗
mannd Hand gelegt, und audy"diefe mit Vertrauen.
844 Frau Erdmuthens Swillingsfähne
In ſolcher Stimmung trat ich, gedruͤckt und geſpannt
zugleich, meine Schlachtenfahrt an. Ich hegte keine Luſt,
mich zu unterhalten, und ſtellte mich angegriffener, als
ich in Wahrheit noch war.
Indeſſen hatte ich bei dieſem Spiel den Spuͤrſinn
meiner Nachbarin außer Rechnung gelaſſen. Kaum zehn
Minuten, und ihre Zunge war in vollem Zuge, meine
Ohren, und wenn ich ihrer ein Dutzend gehabt haͤtte,
waren es aber auch.
Madame, in ihrer allerhoͤflichſten Manier, bat zuvoͤr⸗
derſt ums Wort; darauf um Entſchuldigung, mich, gegen
ihr eigenes Dafuͤrhalten, in einer bewußten Angelegen⸗
heit leider nicht voͤllig der Wirklichkeit entſprechend be⸗
raten zu haben; endlich um die Erlaubnis, mir ihre un⸗
maßgebliche Meinung uͤber den gegenwaͤrtigen Stand
und die allein moͤgliche Loͤſung der bewußten Angelegen⸗
heit vortragen zu duͤrfen.
Sie geſtand von vornherein zu, den kirchlichen Einfluß
auf Mademoiſelles Seelenheil ein wenig zu hoch an⸗
geſchlagen zu haben; bei weitem zu niedrig aber den
Reiz der Gelegenheit des ſtuͤndlichen Beieinanderſeins,
und ſo weiter und ſo weiter. Indeſſen halte ſie auch
heute noch die Sache fuͤr einen Zeitvertreib, fuͤr eine
Belleite, gegen welche im Grunde ſelber ein ſtrupuloͤſer
Eheherr wenig Erhebliches einzuwenden haben dürfte.
Das einzige Gluͤck für Mademoifelle fei und bleibe ber
Herr Baron.
„Sie fchütteln unmwillig den Kopf, mein Herr," fagte
fie. „Der Herr Obriftleutnant meinen Sie? Sie fchäts
teln wieder. Gut; fo find wir einig. Das heißt: Mon;
fteur und mein Sure. Mademoifelle heiratet feinen von
nor Sechſter Abſchnitt 315
beiden. Sagen wir, vor der Hand feinen von beiden.
Mademoiſelle begleitet mich zuruͤck nach Frankreich.“
„Das wäre ganz gut,“ verfeßte ich, „aber Mademoiſelle
hat keine Angehörigen in Franfreich, und in den Schuß
welches Hauſes würden Sie fie zu ftellen haben, Mas
dame Barbe?“
„Monfteur werden mir die Genugtuung gewähren, vors
anuszufegen, nicht unter den Schuß meines eigenen Haus
ſes,“ entgegnete Madame Barbe mit einer Peitfchen:
fenfung. „Sch weiß, was fich ziemt. Ich habe etwas
übrig für Mademoifelle, in jedem Sinne übrig, mein
Herr. Audy würde eine ſolche Einladung nicht unſtandes⸗
gemäß für die Tochter eines Kapitänd unferer Armee
zu nennen fein. Monfieur Barbe war Offizier, er würbe
ed hoch gebracht haben; und mein Sohn ift Cure. Aber
Mademoifelle ift die Pflegetochter, die ermählte Schwie-
gertochter der Chätelaine von Arnheim, und ich war
Bivandiere. Mademoifelle wird meine Schwelle nicht be⸗
treten; Mademoifelle geht ind Kloſter.“
„Ind Klofter!” rief ich, trog aller Verlegenheit ents
feßt. Der große Martin Luther bäumte fich auf in dem
Meinen fächfifchen Magiſter. Raſch aber befann ich mich
und verfegte lachend: „Schon recht, Madame Barbe.
Nur leider, daß Sie in Frankreich Feine Klöfter mehr
haben.“
„Berzeihung, mein Herr, noch nicht wieder haben,
fagt mein Eure,” entgegnete Madame Barbe. „Aber
Monfieur find im Recht; ich hatte mich voreilig auds
gedrückt. Ich bitte daher um die Gnade, mich etwas
außführlicher vernehmen laſſen zu duͤrfen.“
Sie erzählte darauf, daß fie infolge bedenklicher Wahrs
846 Fran Erdmuthens Smwiltingsfähne
nehmungen DMademoifelled Reifebriefe ihrem Sohne ges
ſchickt und diefer feinen Befcheid nicht verzögert habe.
„Er ift mein Beichtvater, mein Kerr, er erteilt mir die
geiftliche Direktion. Bis jegt nur noch brieflich; bald
aber, er dringt darauf, aud) von Mund zu Mund.“
Sie zog bei diefen Worten einen Brief hervor, den fie
zur Beglaubigung mir überreichte, während fie feinen
Inhalt Wort für Wort mir vorbeflamierte. Sie ver⸗
fiherte, alle Briefe ihres Cur& fo lange zu fludieren,
bis fie ihren Inhalt auswendig wüßte.
(Beiläufig: ift das savoir par coeur nicht ein Ausdrud,
um den wir unfere Nachbarn beneiden dürfen? Wenn
der unfrige doc; wenigftend inwendig lernen oder ins
wendig wiffen lautete.)
„Sn Ermanglung und in Erwartung vom Staate an
erfannter Klöfter” — fo fchrieb mein Fathofifcher Amts
bruder, augenfcheinlich an eine andere Adreffe als die
nominelle ſeines mütterlichen Beichtkindes gerichtet —
„haben fich freiwillige Gemeinfchaften gebildet mit halb⸗
geiftlicher, halbweltlicher Obfervanz. Damen jedes Als
ters ziehen ſich zeitweife oder auch lebenslang in ſolch
ein Afyl zurüd: Witwen, Getrennte von Tifch und Bett,
Unverheiratete, Berlaffene, die den geziemenden Platz in
Familie und Welt verloren oder nicht zu finden gemußt
haben. Keine Gefellfchaft wird für die höheren Stände,
deren Zuchtmeifter nicht die Arbeit ift, Derartige Zufluchts⸗
ftätten entbehren können, auch der Proteftantismus fich
ihrer Notwendigkeit — wie mancher anderen — wieder
beugen lernen. Die Damen find durd, fein Gelübde ges
bunden, das ja überdies der erfte befte Gensd'arme zu
annullieren dad Recht hätte: fie haben zu jeder Zeit Die
Sechſter Abſchnitt 347
Freiheit auszuſcheiden, leben in einem Penſionat und
zahlen Koſtgeld nach ihrem Vermoͤgen.“
Es folgte hierauf eine Schilderung derartiger Laiinnen⸗
gemeinſchaften in verſchiedenen, dem Herrn Curé be⸗
kannten, ſuͤdoͤſtlich franzoͤſiſchen Plaͤtzen, die an Genauig⸗
keit nichts zu wuͤnſchen uͤbrig ließ. Ein Beweis mehr,
daß noch andere als die aufs Wort glaubende Mutter
von den Vorzuͤgen dieſer Inſtitute uͤberzeugt werden
ſollten. Ein beſonderes Augenmerk aber war auf eines
derſelben gerichtet, das die verwitwete Graͤfin von Saint
Maximin in ihrem nach der Revolution wieder angeeig⸗
neten Schloſſe unter Mitwirkung des Herrn Curé An⸗
ſelme gegruͤndet hatte. Lokal⸗ wie Perſonalverhaͤltniſſe
in demſelben waren anſchaulich und einladend dargeſtellt,
auch ein eigenhaͤndiges Schreiben der Graͤfin douairière
an die Frau Baronin Roc von Feld beigefügt, in wels
chem fie, wie der Herr Curé bemerfte, ihrer verwaiften
Landemännin den Schutz jened Aſyls zur Verfügung
ftellte, fall& diefelbe ein geiftiged oder leibliches Heim⸗
weh empfinden und ihre großmütige Pflegemutter geneigt
fein follte, die fehnfüchtige Stimmung zu befriedigen.
Sm Herzkaͤmmerlein des proteftantifchen Magifters hielt
während diefes langen Vortrags der Ehegemahl Kathas
rina von Boras einen gar bedenklichen Rüczug und bie
Communaute von Saint Marimin Iodte verführerifch
von bem weinumrantten Felfen der Dauphind. „Kommt
Zeit, fommt Rat!“ fagte ich möglichft gleichgültig, ins
dem ich bat, das Schreiben der frommen douairitre nicht
ohne vorherige Ruͤckſprache mit mir an feine Adreffe ab»
zugeben. Madame Barbe war damit einverflanden.
Die kluge Dame, ich merfte ed wohl, interpretierte die
348 Frau Erdmuthens Iwillingsfähne
geiftliche Direktion ihres Seelforgerd nad; ihren eigenen
weltlichen Wünfchen. Sie gedachte, in jenem wohl»
anftändigen Afyle nur ein wenig Gras über die Velleite
ihrer kleinen Landsmaͤnnin wachen zu Iaffen, um der-
felben die deutfche Baronie und ihrer eigenen Perfon
den anheimelnden Poften einer Schloßverwalterin für
bie Zufunft offen zu halten. Ihr Sohn dahingegen, ob-
ſchon er von unferen jüngften häuslichen Vorgängen
noch nicht unterrichtet war, hatte die Miffion bei dem
deutfchgewordenen Hugenotten ald ausſichtslos aufges
geben, — falls diefe Miffton jemals außerhalb einer ge-
wiſſen proteftantifchen Phantafie gehegt worden fein follte.
Mochte in letter Inftanz die geiftliche Heimführung bes
franzöfifch gefinnten Saint Roc dem eifrigen Herrn ale
Stufenbau in den Himmel vorfchweben, in erfter In⸗
ftanz war ed doch nur die Erhaltung des jungen Maͤd⸗
chens in feiner angeftammten Kirche, die ihn zu den be⸗
fannten Heilsvorſchlaͤgen trieb. Und wer hätte ihm das
Recht zu benfelben beftreiten mögen, vorausgefegt , daß
die Glaubenögenoffin im Herzensgrunde mit ihnen eins
verflanden war? ein proteftantifcher Amtsbruder ges
wißlich nicht.
Freilich mußte derfelbe fich fagen, daß der Heine Stoͤren⸗
fried unferes Hauſes in feiner gegenwärtigen Verfaffung
weit eher unter bad Marketenderzelt der Witwe des
Sousleutnants flüchten ald fich von deren Sohne über
bie Schwelle eined Kloſters ber Zufunft führen Laffen
werde. Es gab auf der Welt nur einen Menfchen, ver
in einem aͤußerſten Kalle Lisfa zu diefer Ausflucht hätte
bewegen können, und während ich fo gleichgültig: „Kommt
Zeit, kommt Rat“ murmelte, überlegte ich bereits im
Schfter Abſchnitt J 349
ſtillen, wie ſich Rauls Einfluß zur Verwirklichung des
katholiſchen Projektes gewinnen ließe. Das iſts, was
man Konſequenz nennt, meine Freunde!
Ein immer naͤheres, ſtaͤrkeres Gewehr⸗ und Geſchuͤtz⸗
feuer hatte dieſe kloͤſterlichen Erwaͤgungen begleitet. Nun
ſtanden wir vor dem Terrain, auf welchem der Kampf
am Nachmittage entbrannt war, und wie Spinnweben,
wenn eine Windsbraut uͤber die Erde fegt, wurde alles
perſoͤnliche Herzeleid von der entfeſſelten Furie fort⸗
geriſſen.
Welche unheimlichen Gewalten hatte ich in meiner hei⸗
miſchen Heide doch ſchon wuͤten ſehen: Wolken⸗ und
Windsbruch, Schneetreiben und Waldbrand; ich hatte
die Bewohner aͤchzen hoͤren in Fieberſeuchen und Hungers⸗
not. Heute zum erſten Male ſah ich die Heide in Blut,
und was ſind alle Naturgewalten neben der, welche
Menſchen widereinander treibt ohne Wahl, mit Wut, mit
Luſt; die den Haß zum Ruhm, den Mord zur Tugend
macht! Iſt es in Wahrheit denn aber eine Elementar⸗
gewalt, die unuͤberwindliche Gewalt des eingebornen
Bluts? Iſt es nicht vielmehr eine Ausgeburt, ein beſtiali⸗
ſcher Reſt aus dem Erſtlingsringen um die menſchliche
Exiſtenz, welchen einſtige Geſchlechter nicht mehr ver⸗
ſtehen und doch beſtehen werden, wie wir Jetzigen manche
Barbarei vergangener Geſchlechter nicht mehr verſtehen
und erſt recht beſtehen?
Das blutige Handgemenge von Hagelsberg iſt hiſtoriſch;
mit der Geſchichte der Zwillingsbruͤder hat es nichts zu
ſchaffen; weder Buͤlow noch die Sachſen kaͤmpften in
dieſen Stunden. Wohl aber ſtanden Deutſche gegen
Deutſche auch hier; Neulinge in den Waffen auf beiden
850 Frau Erdmuthens Iwillingsfähne
Seiten: märfifche Wehrmänner gegen rheinifcye Refruten.
War ed Raul, der dem armen jungen Blut neulidy den
Befehl zum Aufbruch gebradyt hatte? Zum Aufbruch in
den Untergang, hart an ber Grenze feined mütterlichen
Grundes?
Solange meine Augen offen ſtehen, wird es vor mir
leben als ein Gleichnis der Hoͤlle, wie Menſchen von
Menſchenhand, Chriſten von Chriſtenhand, Volkesbruͤder
von Bruderhand gemetzelt wurden mit raſender Gier,
zwiſchen Mauern zerquetſcht, mit den Kolben nieder⸗
geſchlagen; wie die Wut zehnfaͤltig wieder einbrachte,
was das Ungeſchick an Wunden ſparte.
O, du Unendlicher! Die hier unten erſtarrt liegen, die
Waffe feſt in der gekrampften Fauſt, Zorn und Haß in
den Furchen der Stirn, iſt der Grimm mit ihrem Lebens⸗
ſafte verſtroͤmt? Werden ſie droben weiterleben als
Bruͤder Hand in Hand? Werden ihre Enkel hienieden
Maͤnnertugend ohne Blutesprobe erlernen?
Die Hilfe, die wir brachten, glich einem Tropfen auf
gluͤhendem Stein. An keiner Einrichtung deutlicher als
an denen der Verwundetenpflege ließ ſich erkennen, daß
nie ein aͤrmeres Volk als das preußiſche von 1843 ſich
fuͤr ſeine Freiheit erhoben hat. Rechnet dazu die duͤrf⸗
tige Landſchaft, die Ferne einer groͤßeren Stadt, und
daß es zwei vereinzelte Truppenteile waren, die abge⸗
trennt vom Hauptquartier aus Zufall aufeinanderſtießen.
Es fehlte an allem und jedem; im Umſehen waren unſere
Wagen mit jammervollen Menſchentruͤmmern uͤberfuͤllt.
Unvergeſſen aber ſoll es ſein und laut geprieſen, wie
beherzt und geſchickt in dieſem Wirrſal von Elend die
alte Vivandiere ihre Haͤnde geregt hat ohne Wahl von
J
Sechſter Abſchnitt 851
Freund oder Feind; wie fie hohen Hauptes einherfchritt
zwifchen Krüppeln und Keichen, zwifchen fliegenden Kus
geln und Kofafenpferden, zufammenftärzenden Mauern
und brennenden Balken, würdig ded Marfchalld, der in
dem Soudleutnant Barbe bei Marengo in die Grube
geſenkt worden war. Haͤtte der fromme Kerr Eure bie
Mutter im Belziger Bufche gefehen, er würde ihr als
Vorftufe zum Himmelreich das Schlachtfeld auch ferners
hin geftattet haben.
Es gab nun Arbeit volauf. Am anderen Tage wurde
eine zweite Ladung herbeigeführt, jammervoller noch ala
die erfte; denn vierundzwanzig Stunden hatten in den
offenen Wunden gewählt. Mancher halb Verſchmach⸗
tende ſchleppte fich blutend in unfer Afyl. Der brave
Direktor ließ mit philofophifcher Ergebung auch das
Gerichtshaus in ein Lazarett umwandeln und ſich, famt
Aktenbündeln und der Kritif der reinen Vernunft, auf
ein Bodenkaͤmmerchen dicht neben dem feiner Keroine
befchränfen. Der Doftor fehlte allerorten. Madame
Barbe hätte jegt nicht an die Beichtreife denken dürfen;
aber fie dachte auch nicht daran. Noch nie hatte ich den
teueren Vaterrod fo oft angetan, als in diefen Tagen
der Tröftung und Beftattung, und noch nie hatte das
Herz mir fo frampfhaft darunter gezittert. Der alte
Gottesacker ward gefüllt bis auf wenige Pläße, bald
würde ein Afternbeet des Klofterhofd in ein erftes Grab
verwandelt werben müffen.
Segen unfer Erwarten blieb alle Spur und Kunde vom
Nachrüden der Sieger von Großbeeren noch tagelang
aus; nur die von Hagelsberg hielten den behaupteten
Poſten feft, und Kofafenhaufen fchwärmten bis in bie
852 Frau Erdmuthens Iwillingsfähne
Juͤterbogker Gegend. Ohne ed zu begreifen, - wir waren
feine Strategen! — vermuteten wir allen Ernfted ben
Kronprinzen in bie fo widerwillig aufgegebene Stellung
vor Berlin zurücigefehrt. Gerüchte von einem erneuten
Anſchlag des Kaiferd auf die preußifche Hauptſtadt ließen
und diefe Ruͤckwaͤrtsbewegung zwar nicht fiegerifch, aber
doch erflärlich erfcheinen.
Auf diefe Gerüchte hin machte ich mich, bevor der Weg
mir gänzlich verfperrt fein würde, an einem der nädhften
Tage auf den Weg nach Wittenberg. Es mangelten ung
manche Lazarettbebürfniffe, die ich dort einhandeln zu
tönnen hoffte; der dringendfte Anlaß war mir aber eine
Ruͤckſprache mit Raul, der fo wenig wie fein Bruder
von ſich hatte hören laſſen.
Mein Neifebegleiter war der alte Schäfer Kietz aus
Kieß, dem die Hirfchfeldfchen von feiner anvertrauten
Herde feinen Schwanz, von feinem Privateigentum aber
doch eine Wurft übrig gelaflen hatten. Die Wurft gönnte
er ben Preußen nicht; Zeit hatte er auch; fo überfiedelte
er denn, feinen Befigftand in der Tafche, zu und, wo
Frau Erdmuthe, feitdem fie den Opfertod feines Sohnes
für den ihren erfahren, ihm einen Ruheplatz eingerichtet
hatte. Kann aber einer ruhig fißen bleiben, der fechzig
Jahre lang von Sonnenaufgang bis ⸗untergang hinter
einer Herde im Sande „gelatſcht“ iſt? Der Kietz aus
Rietz latſchte ohne Herde weiter, aus purem Plaͤſier.
Heute zum erſten Male im Leben fuhr er aber ſtolz in
einer Kutſche. Da er ſelber keine Nahrungsſorgen mehr
hatte, gedachte er ſein Eigentum als Schenkung unter
Lebenden ſeinem einzigen Leibeserben, der mit den Ep⸗
ſchelwitzſchen im Lager vor Wittenberg ſtehen ſollte, aus⸗
Sechſter Abſchnitt 353
zuhaͤndigen; gelegentlich auch dem „Wohltaͤter“ einen
Dankbarkeitsbiſſen zu koſten zu geben. Der „Wohltaͤter“,
das war der Sohn der Wohltaͤterin, die es dem Kietz
aus Rietz fuͤr ſeine alten Tage ſo bequem gemacht hatte,
daß er nur noch zum Plaͤſier im Sande zu latſchen
brauchte, und wird der Kietz aus Rietz wohl der einzige
Menſch geweſen ſein, der unſeren Raul, trotz ſeiner
ſplendiden Soldatenlaune, „Wohltaͤter“ benamſet hat.
Hinter Kroppſtaͤdt, wo unſer Weg in die Wittenberger
Chauſſee einbog, ſtieg der alte Schaͤfer aus. Die Kal⸗
daunen wendeten ſich ihm um, meinte er. Ob vom
fixen Fahren, wie er ſelber dafuͤrhielt, oder von auf⸗
geregter Galle gegen den Schinderhannes, den er ſo bei
Wege nach Herzensluſt wohl ein dutzendmal unter das
Hackebeil geliefert hatte, waͤre der Diagnoſe unſeres
Phyſikus zu uͤberlaſſen geweſen. Freund Kietz kam, auf
Feldwegen latſchend, wohl auch noch zeitig genug an
ſein Ziel, und wenn nicht, war morgen ja auch noch
ein Tag und ein Stoppelacker, mit einer Rauchwurſt als
Pfuͤhl, beileibe kein veraͤchtliches Schaͤferbett.
Ich hatte meine liebe, alte Lutherſtaͤtte ſeit dem Zers
ftörungsbrande der Franzofen während der preußifchen
Belagerung im April nicht wiedergefehen. Heute, ach,
welch ein Elendebild! Die Univerfität war nach Schmiedes
berg geflüchtet, dba der große Kaiſer ja defretiert hatte,
daß die fächfifche Kurftadt ftatt eine Kochfchule der
Wiffenfchaft eine der Kriegswaffen werden müffe, - Gott
ſeis geflagt, daß ed nach dem Frieden, unter unferem
neuen proteftantifchen Herrn, bei dem Dekret geblieben
ift! — die ehrwürbige Kirche war ein Vorratöfchuppen
geworben, die Borftädte Tagen in Trümmern, Haus bei
xx. 23
554 Frau Erdmuthens Iwillingsfähne
Haus herrfchten Hunger, Seuchen, Verzweiflung in jegs
licher Geftalt. Lazarettgegenftände wurden gebraudht,
aber nicht verhandelt.
Die Armee ftand feit dem Rüdzuge zufammengebrängt
diegfeitö der Stadt in einem Lager, das ich paſſieren
mußte. So ftieß ich auf verfchiedene fächfifche Offiziere,
die mir ald Quartiergäfte von Arnheim befannt waren,
und erfuhr von ihnen, daß Raul zum Obriften und Koms
mandeur eines Küraffierregimentsernanntworbenfei. Sch
fpürte mandherlei Verftiimmung gegen ihn. Vielleicht nur
aus Eiferfucht über feine unerhörte Bevorzugung, mögs
lich aber auch wegen feiner rüdfichtslofen Befchuldigungen
nach dem Unftern von Großbeeren.
Überhaupt fam mir vor, ald ob eine antifranzöfifche
Gaͤrung zu brüten begänne; in der Stadt, die ich uns
gehindert betreten durfte, war fie allgemein. Man mun⸗
felte von einem baldigen Wiedervormarfch, der fchon
durch Mangel und Krankheiten geboten erfchien. Doms
browskis Polen hatten die geriffene Luͤcke ergänzt, ber
Herzog von Reggio war zum Korpsfommandeur eins
gefchrumpftz der tapfere Ney, ja der Kaifer felber wurde
als Oberanführer erwartet. Ob aber von neuem Berlin
oder ob Dresden das Ziel fein werde, Bernadotte oder
Schwarzenberg ber Gegner, dem man zu Leibe rüde,
darüber herrfchten Zweifel.
Raul traf ich nach dem Mittagstifch noch im Wirtes
haufe in der Stadt. Ich hatte wohlweislich den Paten
Magifter zu Kaufe gelaffen und mir eine rein gefchäfts
fihe Abmachung einftudiert; auch Raul fand diefen Ton
bequem. Dennoch habe ich niemals wie in diefer Stunde
erfahren, wie ſchwer es ift, felber für bewegliche Naturen,
Sechſter Abſchnitt 855
über eine Schicht hinwegzufeßen, die fich zwifchen zwei
zur Vertraulichkeit berufenen Menfchen aufgetürmt hat.
Ich begann meinen Vortrag mit der Erwägung, daß
die veränderte friegerifche Lage Herrmann jede Stunde
auf dem Durchmarſch in feine Heimat führen könne.
Raul bezweifelte ed. Der Kaifer werde früher an ber
Spree ald der Gascogner an der Elbe ftehen, meinte er.
Zu meiner Auffaffung, daß nach der Enthüllung, gleich⸗
viel von welcher Seite fie kommen möge, Fräulein Liska
ihren Plag im Haufe der Mutter nicht länger werde bes
haupten koͤnnen, zudte er fchweigend die Achſeln. Feuer
und Flamme aber wurde er bei dem Plane von Mades
moifelled Ruͤckkehr nad Frankreich und, in Ermangelung
eines fchicklichen weltlichen Unterfommeng, des ihres Eins
tritts in die Flöfterliche Communaute von Saint Marimin.
Er kannte dem Namen nad die alte Familie der Gräfin,
wußte im Lager einen Almofenier, der, aus jener Öegend
ftammenbd, ihm zuverläffige Ausfunft über dag beſprochene
Aſyl gewähren fünne, verfprach, was ja mein Haupt⸗
anliegen war, unverzüglich an hervorragender Stelle
einen saufconduit für die reifenden Damen zu erwirfen
und ihn ficher in meine Hand zu befördern. Er war
wie eleftrifiert; am liebften hätte er die Geliebte heute
noch in einen Luftballon gefegt und über Sura und Alpen
in dad Klofter der Zukunft fliegen laſſen. Nur fort aus
feiner Mutter Haufe, fo raſch als möglich fort! Liska
zur Abreife zu bewegen, hielt er für finderleicht; auf
eine Feine religiöfe Komoͤdie der Mutter gegenüber fam
ed ihm nicht an.
Ic fragte, wie er es zu bewerfftelligen gebente, feinen
Einflup für Liskas baldige Abreife geltend zu machen,
6
356 Frau Erdmuthens Zwillingsfdhne
worauf er lachend entgegnete, daß troß der plänfelnden
Kofaken ein Ritt von Wittenberg nad Arnheim ihm
fein Heldenſtuͤck erfcheine.
Diefem durchaus nicht wünfchenswerten Intermezzo vor⸗
zubeugen, brachte id; eine briefliche Verftändigung und
den Tag für Tag in diefer Gegend umbherftreifenden,
unverfänglichen Schäfer Kieß aus Niet als Postillon
d’amour in Vorfchlag. Derfelbe würde Brief und Ges
leitfchein im Förfterhaufe niederlegen, von wo fie durch
meine Vermittelung an ihre Adreffe gelangen follten.
„Tant mieux!* fagte Raul. Er zweifelte nicht, fchrift-
lich ebenfo ficher zum Ziele zu fommen, und fchien nadı
einem Wiederfehen der Geliebten nicht das leifelte Vers
langen zu fpüren. Wie die Sprache, die er die feine
nannte, ein Wort für Sehnfucht nicht befißt, fo war
Raul eine von den Naturen, die den Begriff derfelben
in ihrem Innern nie erfahren haben. Sie lieben, folange
fie fehen, und lieben wohl auch wieder, fobald fie wieder
fehen. In der Zwifchenzeit behelfen fie fich ohne Liebe,
oder mit einer anderen Liebe, welche Ießtere durchaus
nicht fchlechthin eine Untreue genannt werben fol; weit
eher eine Liebhaberei. Auc, Rauld Entfremden von
feinem Bruder war eine Folge der äußeren Trennung.
Herrmanns Abfonderung dahingegen würde auch im
Zufammenleben, ja da erft recht, unvermeidlich gewefen
fein.
Mit diefem Abkommen fchieden wir. Wenn wir um
einen Roßfauf miteinander zu verhandeln gehabt hätten,
würden wir ung nicht nüchterner gegenüber gefeffen haben.
In der Nacht zuruͤckkehrend, fand ich unfern Ort plög-
lich von Preußen überfchwemmt. Buͤlowſche Vortruppen,
Sechſter Abſchnitt | 837
die im Laufe ded Tages auf der Straße nad Witten
berg weiterzogen. Oppenſche Schwadronen loͤſten fie
ab. Bülow nahm für die Nacht Quartier im Schloß.
Herrmann war nicht mit ihm.
Er habe bei Großbeeren mit Bravour gefochten, fein eifer>
ned Kreuz verdient, meinte der General und bebauerte,
daß er ihn juft in diefen Tagen habe abfommandieren und
die verehrte Mutter eines kurzen, ſtolzen Wiederfeheng
berauben müffen.
Durch meinen Bruder erfuhr ich fpäter, daß Herrmann,
als Führer einer fliegenden Kolonne, den Auftrag hatte,
mit dem von Often herbeiziehenden Tauengienfchen Korps
Fühlung zu erhalten. Mich korrekt ftrategifdy auszu⸗
drücken, habe ich von dem Älteften in weiland Safran>
drell gelernt) Als man dann fpäter den Aufbruch der
Neyfchen Armee aus dem Lager vor Wittenberg erfuhr,
da lag ed dem Landedfundigen ob, die eingefcdjlagene
Richtung auszuforfchen.
Bei aller, ein wenig althöftfchen Galanterie gegen die
Dame ded Haufes bemerften wir an unferes Herrmann
hohem Gönner und Freund die unverhohlen allerübelfte
Generaldlaune. In beißenden Anekdoͤtchen und Aperçus
fprudelte er bei Tafel einen Hohn und Grimm gegen „den
ſchwediſch gegerbten gascognifchen Bocksbeutel“ aus, wie
ein franzöfifcher Kamerad fie faum in ftärferem Maße
gegen den abtrünnigen Marfchall hätte aufbieten koͤnnen.
Er bewirkte mit diefen Sarfasmen, daß uns früher als
manchen anderen, die wie wir in Kriegs⸗ und Staats⸗
funft Stümper waren, ein Heldenglaube getrübt ward,
Dem wir um bed Vaterlandes und um unferes Freundes
willen doppelt hätten Raum geben mögen.
B58 Frau Erdmuthens Swiltingsfähne
Bei alledem tat ed indeffen doch gar wohl, bad Lob bes
Freundes am anderen Tage auch noch aud dem Munde
unferes geftärzten Helden zu vernehmen. Weldye Mutter
wuͤrde ed nicht erquict haben, unter den Ahnenbildern
ihres Hauſes ihren Erben von dem Erben eined Thrones
„einen Typus germanifcher Straft und Schönhelt an Leib
und Seele” nennen zu hören? Daß im Verlauf der
Zafel der beredfame Hoͤchſtkommandierende nicht wie fein
deutfcher General die Gutöherrin mit ftrategifch politi⸗
[chen Aphorismen unterhielt, fondern eine Parallele lands
wirtfchaftlicher Betriebfamfeit zwifchen Schweden und
Deutfchland zum beften gab, fanden wir in der Ordnung.
Tags darauf wurde aud) bad Hauptquartier weiter nach
Süden hin verlegt; und verblieb nur ein Teil der ſchwe⸗
difchen Nachhut. Da General Hirfchfeld aber feine Stel⸗
lung im Norden beibehielt, von Oſten her Tauengien
ſich näherte, faßen wir rings von einem feindlichen Wafs
fenwall umfchloffen und erwarteten mit Herzklopfen, ob,
wann und wo bie, zu welchen unfere Randesbrüder ges
hörten, fich eine Straße brechen würden.
Die fonft im Gefelligen nicht ffrupulds wählende Liska
verweilte während der Anmefenheit beider Feldherren
ftill in ihrem Zimmer, und hielt Frau Erdmuthe der Frans
zöfin zugute, was der Tochter des Hauſes verübelt wers
den konnte.
„Es ift feine heuchlerifche Aber in dem Fleinen Herzen,“
fagte die Mutter lächelnd. „Würde es ihr fchon ſchwer
angefommen fein, den fürzlichen Sieger über ein kaiſer⸗
liches Heer zu begrüßen, fo hätte Die Begegnung mit einem
Abtrünnigen ihres Baterlandes fie geradezu empört. Takt
genug, daß fie fich ſchweigend zuruͤckzog. Ich preife aber
Sechſter Abfchnitt 359
body meines Sohnes richtiges Gefühl, ald er gegen meis
nen Wunfch das Kind nicht früher zu der Seinen machen
wollte, bi8 e& annähernd die Unfere geworden ſei.“
„Liska wird in Herrmanns Sinne nun und nimmer
die UInfere werden“, entgegnete id).
„Nicht früher wenigftend werden, bis wir in friedliche
Zeiten dauernd eingelen?t find”, fagte die Mutter mit
einem Seufzer.
Ich Tieß den Gegenftand fallen, wenngleich ich fpürte,
daß Liska ſich mit feinem Atemzuge um befiegte oder
abtrünnige Marfchälle kümmerte. Sie hatte nur noch
einen Helden, und der hieß Raul; nur nody ein Vaters
land, in welcher Zone ed liegen mochte, das ihres Raul;
fie blickte nur nad) einem Sterne, dem Sterne Rauls. Ya,
wenn fie überhaupt einen Schußgeift angerufen hat in
biefer Zeit, fo trug ber Heilige den Namen Raul. Die
Strahlen ihres Herzend zogen fidy in dem einen Bilde
zufammen wie die Pupille vor dem Sonnenlicht. Leife
und langſam ging fie in der Dämmerung nad) der Ka⸗
pelle, wo fie zulegt ihres Glüdes froh geworden war,
faß fill für fi in der Gartenlaube oder in der Fenfters
nifche. Bei Abend lag fie fchweigend in der Sofaede,
bie Augen gefchloflen, die ſchwellenden Lippen halb ges
öffnet; wadhend und fohlummernd träumte fie von Raul.
% *
»
Es war am 4. September, ald die Mutter mir vors
ftehende Bemerkung machte. Übermorgen würde nad)
alter Regel dad Dank» und Freudenfeft auf Arnheim ges
feiert worden fein. Heuer aber, wo unfere Ader von
Hufen zertreten, Scheuern und Ställe auögeleert waren,
360 Frau Erdmuthens Zwillingsfähne
wo nur der Tod eine reiche Ernte auf unferer Flur ges
halten hatte und die Söhne des Hauſes ſich mit den
Maffen in der Hand harſch gegenüberftanden, heuer
dachten wir nicht an Feltefeiern. Nach dem Sonntagss
gottesdienft ein Gebet für die Erhaltung der Zwillinge
brüder und die Eintracht ihrer Herzen inmitten des Schick⸗
faldfampfes, fo hatte ed die Mutter verordnet, ehe ich
mid; am Abend von ihr trennte. Arme Mutter! Noch
ahnteft du den Zwiefpalt nicht, den nur ein Gotteswuns
der in Wiedereintradhyt verwandeln fonnte. Mich fraß
es wie eine Lüge, Unmögliches an heiliger Stätte erflehen
zu follen.
Schweren Herzens ging id) durd; die Ulmen heim. Den
Auguftfirömen war eine frühe Sturmzeit gefolgt; es
braufte von der Heide herüber; am Simmel fcheuchten
Wolken über die aufglimmenden Sterne. cd, grübelte,
wie ich Herrmann erreichen könne, ehe fein Truppenteil
diefe Gegend verlaffen habe.
Da, nahe meinem Haufe, fühlte idy mich jählings von
ein paar gewaltigen Soldatenarmen eingepreßt, die Backen
von einem urmwäldlichen Soldatenbarte zerkratzt.
„Hurra!“ fchrie Held Gottlieb mit jauchzendem Baß.
„Hurra, Öruderherz! Vater Bluͤcher hat die Franzofen
aus Schlefien hinausgeworfen!“
„Und wo fteht dein Herr?" fragte ich.
„Unverbefferlicher Magifter!” fchalt Tachend Ehrenlieb.
„Sin Hurra auch unferem Herrn! Wo er zur Stunde
aber fteht, fann bir und mir ja wohl gleichgültig fein.
Auf dem Anftand gegen den Feind, des fei gewiß. Für
morgen nachmittag bin ich zu ihm ind Quartier des
Generals befohlen.“
Sechſter Abſchnitt 361
Morgen endlich, morgen wußte ich ihn zu erreichen und
war entſchloſſen, nicht zuruͤckzukehren, bis ich die Laſt
meines Herzens auf das ſeine gewaͤlzt. Morgen!
Der wohlbekannte Verwalter kam in die alte Heimat,
wie er ſagte, als Bettelmoͤnch fuͤr ſeine Schwadron.
Denn die Brotbeutel waͤren leer und eine wuchtige Fauſt
taͤte in dieſen Tagen wieder not.
Ach, viel in den Bettelſack zu ſtecken hatte der nordiſche
Heuſchreckenſchwarm bei uns freilich nicht uͤbriggelaſſen!
Bei gutem Willen geht es ja aber heute noch wie mit
den Broten und Fiſchen im Evangelium. Hatten wir
keine Ochſen mehr und von Pferden nur noch einen knick⸗
ſchaͤligen Reſt, eine Kuh und ein paar Hammel konnten
auf dem Schloſſe immer noch abgegeben werden, und auch
in der Stadt ließ ſich manches Maß heimlich vergrabe⸗
ner Kartoffeln oder Ruͤben fuͤr den bittenden Heimats⸗
freund dem eigenen Munde entziehen. Wer aber Zeuge
der maͤrkiſchen Schlachten geweſen iſt, der weiß, fuͤr wel⸗
chen Leckerbiſſen eine Handvoll in Aſche des Wachtfeuers
geroͤſteter Kartoffeln galt, oder eine Mohrruͤbe, die im
Sande ber zertretenen Äcker geſtoppelt wurde.
Bei Tagesgrauen machte unter Fuͤhrung unſeres In⸗
ſpektors eine kleine Proviantkolonne, mit den letzten Guts⸗
pferden beſpannt, ſich auf den Weg. Nach der Kirch⸗
ſtunde wollte mein Wachtmeiſter mit der Nachleſe und
den indeſſen gebackenen Broten folgen, ich ihn begleiten.
Gottlieb hatte einen Brief ſeines Herrn an die Mutter
mitgebracht, bei der er ſich in ſo ſpaͤter Stunde nicht
perſoͤnlich einzufuͤhren wagte. So ging ich an ſeiner
Statt nach dem Schloſſe zuruͤck.
Frau Erdmuthe ſaß mit gefalteten Haͤnden und las bei
862 Fran Erdmuthens Swillingsfähne
gebämpftem Lampenlicht in ber Felsfchen Erbbibel das
Mocenevangelium im zehnten Lufasfapitel. „Wo ihr
in ein Haus fommt, fo fprechet zuerft: Friede fei in
diefem Haus.” Es war ihr eigenfter Kerzendtert, der
mit diefen Worten feit fiebenundzwanzig Jahren am Fefte
der Brüder verfündet wurbe.
Liska, Lächelnd mit müben Lidern, lag im Lehnſtuhl, der
Mutter gegenüber. Läffig nahm fie die Einlage, weldye
jene ihr reichte, und richtete fich zögernd auf, um fie zu
erbredhen.
Während des Lefend bebte das Blatt in der Mutter
Band; fchweigend legte fie ed in die meine. Ich warf
einen Ölid darauf; ed wurde mir ſchwarz vor ben Augen;
mir fchwindelte. Ich brady zufammen wie ein armer
Sünder.
Ein gellender Aufichrei brachte mich wieder zu mir felbft.
„Niemals! Niemals!" Freifchte Liska, indem fie aus dem
Zimmer ftürzte.
Der Brief an Liska ift der einzige von Herrmanns Hand,
der nicht im goldenen Buche aufbewahrt ift. Die Zeilen
an die Mutter enthielten die Bitte um eine ftille Traus
ung mit feiner Braut am morgenden Tage; ohne Forms
licjfeiten, wie die kriegeriſche Zeit es geftatte.
„In patriotifchem Sinne”, fo lautete der Schluß, „wird
Liska zu feiner Zeit mit und übereinftimmen lernen, und
dürften wir mit ihr darum rechten, meine Mutter? Mit
Entzuͤcken habe ich dagegen ſchon im Frühjahr den Eins
fluß des deutfchen Haufes auf fie wahrgenommen; habe
gefehen, wie lieblich fie fich unter Deinem Dache einges
lebt hat. Ein Teil der vorgefegten Prüfung wäre damit
erfüllt. Und auch ein guter Sieg ift ja erfämpftz längft
Schfter Abſchnitt | 563
noch nicht der, deffen wir bedürfen; aber binnen einer
Woche zwei deutfche Provinzen vom Feinde befreit, das
gibt frohen Mut zur Vollendung. Es wird, fo Gott
will, nicht lange mehr in dieſer Gegend gezaudert wer;
den, die Gunft eines flüchtigen Wiederfehens fo bald
nicht wieberfehren. Ic aber würde fefteren Herzens den
Wechſelfaͤllen der Zukunft entgegengehen, wenn id; bie
Geliebte unauflöslich mir verbunden, wenn id) fie auch
vor dem Geſetze, auch vor der Welt ald Tochter in dem
teueren Mutterhaufe geborgen wüßte.”
Auf einem fpäter eingefügten Blättchen ftand: „Ich
fann nicht vor Abend und hödhfteng für eine Stunde bei
Euch fein. Vielleicht auch erft in der Frühe des fechften.
Welch köftliche Geburtstagsfeier wäre das!“
„Sie müffen diefes Vorhaben hindern um jeden Preis!“
fagte ich, nachdem ich mich mühfam gefaßt hatte. „Schreis
ben Sie Herrmann durch meinen Bruder. €8 ift eine
Übereilung, ein Irrtum. Es würde ein Unglüd fein.
Er darf nicht fommen. Er darf Liska jetzt nicht wieder,
ſehen.“
Die Mutter blickte mich wie einen Unzurechnungsfaͤhi⸗
gen an.
„Sie haben ihren Widerſpruch gehoͤrt“, fuhr ich fort.
„Das uͤberraſchende erſchreckte fie”, wendete Frau Erd»
muthe ein.
„Es war mehr ald Schred, ed war ein Proteft!“ fagte
ih. „Wie fremd fie und geblieben ift, haben Sie felber
heute abend ausgefprochen und Ihres Sohnes ridıtiged
Gefühl gepriefen, als er ein unauflöslicyes Binden vers
ſchob.“
„Wollen wir ſeinem richtigen Gefuͤhl nicht auch ver⸗
364 Frau Erdmuthens Swillingsföhne
trauen, wo er den Augenblid dazu gefommen glaubt?“
entgegnete die Mutter merklich verftimmt.
„Nein, nein,” rief id; verzweiflungsvoll. „Er war fern,
er ift ihr fremd geworben. Es wäre zu fpät — oder zu
früh. Sie liebt ihn nicht - nicht mehr — noch nicht wie⸗
der — -”
„Er hat darüber zu entfcheiden, nicht wir“, unterbrad;
mich die Mutter, indem fie dad Zimmer verließ. Sie
hatte vieles zu ordnen in fich wie außer ſich und wird
die Nadıt wenig Ruhe gefunden haben.
Ich ging zu Liska. „Niemals! Niemals!“ fchrie fie mir
entgegen.
„Werden Sie dies harfche Wort aud) dem Manne ent-
gegenfchreien, den Sie Ihren Schugengel nannten?“
fragte ich.
„Niemals! Niemals!” wiederholte fie.
„Wiffend und wollend, Liska, daß mit dieſem Wort ber
Brand ded Bruberhaffes in das Haus Ihrer Wohltäter
gefchleudert wird?“
Sie brach in Tränen aus. „Ich kann nicht anders -
niemals!” ſchluchzte fie.
„Wiffend und wollend, daß diefed Wort das Herz ber
beften Mutter, auch Ihrer Mutter, Liska, brechen wird?"
„st Raul nicht auch ihr Sohn?” entgegnete fie faft
troßig. „Bleibe ich nicht ihre Tochter, werde ich nicht
erft wahrhaft ihre Tochter, wenn ich den anderen liebe
ftatt des einen, den id; nimmermehr lieben kann?“
„Niemals, Liska, niemald!" fagte nun auch ich. „Das
Haus diefer Mutter ift gegründet auf Ehre und Treue
von feinem Anbeginn. Niemals wirb die, welche e8
hütet mit reinen Händen ald ein anvertrauted Gut, nie:
Sechſter Abſchnitt 865
mald wird fie Verrat und Unehre unter feinem Dache
dulden; am wenigften bulden, wenn der Verräter der
Bruder bed Verratenen ift. In der Stunde, in welcher
der Frevel fich offenbart, werden Sie dieſes Haus ver-
laffen und niemals, niemals, Liska, wiederfehen.“
Sie ſchwieg; ich weiß nicht, ob fie betreten oder nur
überrafcht durch meine Rede war. Nach einer Paufe
fragte ich: „Wohin werden Sie ſich wenden, bevor oder
nachdem morgen abend Ihre Weigerung unwiderruflich
geworden ift? Sie find entfchloffen, Shre Freundin nad)
Frankreich zuruͤckzubegleiten?“
„Ins Kloſter!“ rief ſie mit einem Schauder, der aber
raſch durch helles Auflachen verdraͤngt wurde. „Ich danke
ſchoͤn, Herr Pfarrer, ich danke ſchoͤn!“
Die Barbe hatte demnach ihren Plan zum Vortrag ge⸗
bracht und war, wie ich vorausgeſehen, geſcheitert. Uns
fere Lage wurbe wenig dadurch geändert. Brief und
Geleitfchein von Raul waren nicht abgegeben worden;
die Kataftrophe war zu nahe gerüdt, um Liskas Abreife,
freiwillig oder erzmwungen, durch irgend einen Vorwand
noch zu ermöglichen. Ein Bekenntnis der Wahrheit war
nicht Tänger zu verfchieben. Sch fchwieg. Liska fuhr fort, .
dreiften Muts:
„Habe ich denn nicht den Sohn, wenn mid) die Mutter
verftößt? Bin ich nicht Rauls? Ich gehe zu Raul!“
„zu Raul, wohin, Törin?“ fragte ich. „Raul fteht im
Feldlager, geräftet zur Schladht. Er hat Ihnen Feine
Heimftätte zu bieten. Sie find eine Waife, ohne Afyl
als diefed Haus - -“
„Nun wohlan,“ rief fie, indem fie händeringend im
Zimmer auf und niederrannte; „nun wohlan: fliehen bis
866 Fran Erdmuthens Swiltingsföhne
ans Ende der Welt, betteln, fterben; aber einem anderen
angehören, ald meinem Raul, niemals, niemals!"
Nach einer langen Paufe fagte ich: „Noch eined, das
legte, Liöfa. Schreiben Sie an Herrmann; befennen
Sie die Wahrheit und legen die Entfcheidung in bes
edelften Mannes Herz.”
„Sch darf nicht“, antwortete fie.
„Sie haben nur gegen die Mutter Schweigen gelobt,
und es ift die Außerfte Stunde.”
„Sch kann nicht, VBäterchen.”
„Sie können und müffen, Liska. Bringen Sie mir ben
Brief bis morgen früh; ich werde ihn in Herrmanns
Hand beforgen.“
Sie ſchwieg; aber ich wußte, daß ed nicht gefchah. Ich
entfernte mich. Unter der Tuͤr hörte ich, daß fie fich zu
Boden warf undrief: „Nette mich, Raul! Komm, komm!“
Im Korridor begegnete mir der Gaͤrtner, der mir ge-
heimnisvoll zuflüfterte, daß Shro Gnaden zu morgen einen
Myrtenfranz und eine Blumengruppe in den Ahnenfaal
beftellt habe. Zitternd flieg ich die Treppe hinan; ich
war entfchloffen, das Außerfte zu tun, die ganze Wahr-
heit zu enthüllen, nachdem die halbe Wahrheit bezweifelt
worden war, zu fagen: „Sie liebt ihren Verlobten nicht,
weil fie feinen Bruder liebt.“
Die Tür nad) dem Ahnenfaal war offen. Frau Erb-
muthe mit gefalteten Händen ftand in der Nifche und
blickte zu ben Bildern ihrer Eltern in die Höhe. Ihr
Gemahl war gefchieden, ehe er die neue Reihe eröffnet
hatte, Sollte fie für allezeit uneröffnet bleiben? Kein
Sohn in diefem Raume zu einem Vater in bie Höhe
blicken?
Sechſter Abſchnitt 367
Ich ſchlich mich unbemerkt wieder zuruͤck. Vierundzwanzig
Stunden noch, und die Enthuͤllung war unausweichlich,
gleichguͤltig, aus welchem Munde ſie kam. Aber jede
Stunde des Friedens, die Ruhe einer Nacht duͤnkte mich
ein Gewinn. Ich wußte Herrmann zu finden. Er mußte
der Lage Herr werden; er allein konnte, wenn nicht zur
Verſoͤhnung, ſo doch mit Wuͤrde den Knoten loͤſen. Als
ich an Liskas Zimmer voruͤberkam, trat eben die Kammer⸗
frau heraus und ſagte mir, daß Mademoiſelle mit Schrei⸗
ben beſchaͤftigt ſei und ſie vor dem Auskleiden entlaſſen
habe.
Was aber Folterqual heißt, das habe ich erfahren in
dieſer Nacht. Ich haͤtte mir Fluͤgel anheften moͤgen,
mich von dem Sturmwind treiben laſſen, der draußen
durch die Wipfel raſte, und ich mußte ausharren, ſtill⸗
ſitzen bis zur Mittagszeit. Nein, nicht ſtillſitzen. Mir lag
ob fruͤh am Morgen die Beſtattung eines ſeinen Wun⸗
den Erlegenen, dann der Gottesdienſt mit dem Friedens⸗
gebet fuͤr die Bruderherzen. O Hohn! Gab es denn hie⸗
nieden wieder Frieden nach ſo ſchnoͤdem Raub? Konnte
die Mutterliebe ihn bringen? Reue hier, Entſagung
. dort? Kommender Tage Ungluͤck oder Gluͤck? Sa, die
Gottesfurcht felber, die vergeben heifcht, fchaffte fie die
Berfühnung, aus welcher Herzensfrieden fließt?
Daß. legte Grab auf dem alten Kirchhof war gefüllt;
die Ehrenfalve der fchwedifchen Kompagnie Aber dem
Hügel des fchwäbifchen Rekruten verhallt, eine Feind»
fchaft, von welcher die Herzen nichtd gewußt hatten, vers
fhüttet. Die Menge drängte vom Gottedader nad) dem
Gotteöhaufe. Sch hatte, vor dem Grabe ftehend, eine
weiße Geftalt ſich in der Richtung nad) der Ruine bes
868 Frau Erdmuthens Swiltingsfähne
wegen fehen. Liska fo früh am Tage und in der Nähe
eined Schaufpiel®, das fie bisher fo widermillig gemies
den hattel Sollte fie dennod; den Brief an Herrmann
in meinem Kaufe niedergelegt haben? Sudhte fie eine
Ruͤckſprache mit mir? Oder war fie nur ber Mutter aus⸗
gewichen, die ihre Begleitung beim Kirchgang gewuͤnſcht
haben würde?
Ich hätte ihr folgen mögen; aber fie war zwifchen Heide
und Trümmern verfchwunden, und fchon mahnte der erfte
Glockenruf. Zum Üherfluß wurde ich am Pförtchen noch
von Freund Hecht aufgehalten, der doch fonft — obgleid)
oder weil ein Sünger der reinen Bernunft? — diefer
Stätte der Bergänglichkeit fo gefliffentlich wie das vers
nunftfeindliche Naturfind aus dem Wege ging.
Er war in gewaltiger Aufregung und fam ale Abges
fandter unferer lieben Frau, die ihn im füßeften Morgens
fchlummer hatte wecken laffen. Sie wuͤnſchte feine Rechts⸗
anſicht über die Zuläffigkeit eines ein für allemaligen
heutigen Aufgebotd der Verlobten, da ohne diefen öffent:
lichen Akt die Bermählung des Erbherrn, zumal mit einer
anderdgläubigen Ausländerin, von der Gemeinde ſchwer⸗
lich für vollftändig erachtet werden dürfte.
Nach dem Dafürhalten des weltweifen Nichterd würde
die Gemeinde nun feine Hochzeit für vollftändig erachten,
die nicht mit einem Schmaufe gefeiert worbem ſei. Im
übrigen gehöre der Kafus vor das geiftliche Konfiftorium,
fei in der Arnheimer Prarid noch nicht vorgefommen und
fehle zur Forſchung in einfchlägigen Kompendien bie Zeit.
Vom rechtsphilofophifchen Gefichtöpunfte aus betrachtet,
muͤſſe jedoch das Urteil abgegeben werden, daß, wenn
der Ausnahmezuftand des Krieges die Konfequenz der
Bu Sechſter Abſchnitt 865
Prämiffe, will fagen die Trauung, fonder Präliminarien
ftatthaft werden Iaffe, die Prämiffe der Konfequenz, will
fagen das ein für allemalige Aufgebot vor der Trauung,
fonder Präliminarien, ald da find: Taufzeugnis, Toten»
fchein der abgefchiedenen Eltern, Sonfenfus der noch
lebenden, Conſenſus des geiftlichen Conſiſtorii et caetera
et caetera, auch feine ftraffällige Übertretung involviere.
Habe daher der vollziehende Paftor bereits die Trauung
ohne Aufgebot famt Präliminarien auf feine Kappe ger
nommen, fo dürfe er, der Paftor, — infonderheit aus ges
ziemender Willfährigfeit gegen eine gnädige Patronatds
herrfchaft, — hinterdrein audy noch das Aufgebot fonder
Präliminarien auf feine Kappe nehmen und für den Fall
einer Verantwortung feines, ded Antragitellere, richter⸗
lichen Beiſtandes gewärtig fein.
Ich fagte,. daß ich Die Sache mir Überlegen wolle. Wenn
ich aber gehofft hatte, den gelehrten Argumentator das
mit loszuwerden, hatte ich nur den halben Dann gezählt;
der Rechtsphiloſoph zog fich zurüd, der Kavalier war
erft im Anzuge: Madame Barbe wollte fort, partout,
mutterfeelenallein, heute noch, wo alles Fuhrwerk mit
dem Proviante abgerüdt war. Unfere gnädige Frau hatte
das Heidekutſchchen bewilligt, aber auf dem Schloffe
wie in der Stadt war fein Huf aufzutreiben. Madame
hatte fich gleich felber auf die Suche nad, einem Roß
gemacht und er, der Kavalier, fei auf dem Wege nad
Dahnsdorf, den Paftor um feinen Schimmel anzugehen,
der, weil mit Bfindheit gefchlagen, den räuberifchen Res
quifitionen möglichermweife entronnen fein könne. In
Brandenburg, fpäteftend Magdeburg wurde auf ie
pferde gerechnet.
xx.M
870 Frau Erdmuthens Zwillingsfähne
„Wir treiben nichts Vierfüßiges auf,“ fchloß der Freund
in höchftem Alarm. „Aber Ihr werdets erleben, Was
gifter, Ihr erlebts, dieſes außerordentliche Frauenzim⸗
mer ſetzt das Fortkommen durch, und wenn es fich in eige-
ner Perfon vor das Wägelchen fpannen ſollte. Wale
ich mir aber das Riſiko aus, ftehen mir die Haare zu
Berge, Magifter. Vorwärts und rüdwärtd ber Preuße,
von allen Seiten Kofaten! Und wenn fie zehnmal eine
Leutnantswitwe ift, fie bleibt doch immer ein Mitglied
des zarten Geſchlechts, und man bleibt ein Mann. Ich
werde fie beſchuͤtzen müffen, Magifter!“
Wie war mir doch eben noch das Herz fo beflommen,
als ich die Bilder der leidvollften Tage aus meiner Er-
innerungsmappe zog, und wie herzlich habe ich geladıt,
da der ritterliche Kantianer auf einmal mitten in die
Gruppe tritt. O, großer Brite! Du haft das Menfchen-
bebürfnis erfannt, wenn bu ein Haͤuflein närrifcher Käuze
fich zwifchen deinen graufen Keldenfzenen tummeln Läffeft.
Zu jener Stunde freilich, wo ich von dem Grabe des Res
fruten in meine traute, alte Kirche ging, da fpürte ich
fein Flimmerchen von dem Silberblid des Humors, und
felber das goldene Sonnenlicht der Religion lag hinter
grauen Nebelfchichten verhüllt. Der Fluchtplan ber alten
Franzoͤſin änderte an unferem Schickſale nichts. Was
half ed, den Zankapfel zu entfernen, wenn juft durch
diefe Entfernung das unheilbare Zerwuͤrfnis zutage kam?
Ja, Glaube und Hoffnung lagen wuͤſtenduͤrr in meiner
Bruft, als ich die Kanzel betrat. Sch hatte mich nicht
vorbereitet und wußte nicht, was ich predigen werde. Es
muß aber doch ein Strahl aus dem ewigen Born ges
weien fein, der mit dem alten Tageöfpruch in die Höhe
Schfter Abfchnitt 871
quoll. „Zretet ihr in ein Haus, fo faget zuerft: Friede
fei in diefem Haus!” Meine alten Kirchenmütterdhen
erwachten unter bem Schludyzen und Schnäuzen der Ju⸗
gend aus der wohlverdienten Sonntagsruhe und fchluchz-
ten und fchnäuzten wie fie; die Augen der Männer ſtan⸗
den voll Tränen, als fie hinauf in die Kapelle blidten,
wo die weiße, ftille Mutter, dad Haupt in ihre Hände '
vergraben, unbeweglicd; mir gegenüber faß.
Deflen aber erinnere ich mich deutlich, ald wäre es
geftern erlebt, daß meine eigenen Augen überftrömten,
als ich mid, beim Schluß zum erften Male in meinem
Amte auf die Knie warf und betete um das Gotteswun⸗
ber ber Verſoͤhnung in den Bruderherzen. „Wenn fie mit
den Schwerte in der Band fich gegenübertreten, wenn
die Wogen der Leidenschaft über ihren Lebensfchiffen zus
ſammenſchlagen, daß dann der Strom ded Bruderbluted
fie in die Heimat der ewigen Liebe zurüdtreibe; daß fie
ſich Hammern an den Anker ded Mutterherzend und auf:
richten an dem Kreuze, an welchem ber göttliche Vers
föhner für feine irrenden Brüder geftorben ift, daß fie
leben lernen.“
Nun noch einen Blick auf die Empore, in welcher die
Mutter, auch auf den Knien, das Aufgebot erwartete,
bad — heute vom Küfter am Betpult — nicht wie fie
hoffte, aus dem Kirchenregifter verlefen ward. Raſch ſtieg
ich dann die Kanzel hinab und fehlüpfte durch die Sa-
Friftei in meinen Garten, vor welchem mein Bruder mit
dem bepackten Reiterwagen bereits wartete.
® 3
%
872 Fran Erdmuthens Swiltingsföhne
Ich nahm mir nicht die Zeit, das Orna, und den teue⸗
ren Erbrod darunter abzulegen. (Ein Fuͤnkchen von bem,
was man Aberglauben nennt, mag in diefem Anbehalten
ber $riedendfleider mitgefpielt haben.) Zwifchen Brote
laiben und Spedfeiten nahm ich Plag auf einem Kar⸗
toffelfac; Bruder Wehrmann hieb auf den knickſchaͤligen
Baul, neben den er fein Dienftpferd eingefpannt hatte.
Bevor dad Schlußlied in ber Kirche ausgeklungen war,
bogen wir um die Ruine in die Heide hinein, und wies
der war mirs, als fähe ich Liskas weißes Kleid zwifchen
dem Gemäuer flattern. Sie hatte fein Wort für Herr⸗
mann bei mir niedergelegt. Sie verftedte ſich; vor mem?
Bor der Mutter, der Barbe, vor Herrmann, vor mir?
Der Wind wirbelte Wolken von Sand und dürren Nas
bein in die Höhe; die Fahrt ging bei der ſchweren La,
bung langfam vorwärtd. Da die Orber des Eintreffene
aber erft auf die zweite Nachmittagsſtunde lautete, Tief
ber Kuhrmann ſich Zeit zum Plaudern. Er hatte vieles
zu berichten, für das er meinen Anteil voraugfepte. Von
meiner innerlichen Verfaffung ahnte er nichts; er wußte,
baß id} feinen Herrn in einer wichtigen Privatangelegen»
heit zu ſprechen verlange, dad genügte ihm.
Ald wir über die Förfterei hinaus ind offene Feld ges
langten, hörten wir wieder, wie am Tage von Kagelds
berg, ein ferned Rollen und Grollen. Auch ich wußte
jest, Daß ed Kampf bedeute; mein Geleitömann aber fah
plöglic, feine Dispofition verändert. Er vermutete, nad
der Richtung des Schalld, Tauengiend Vortruppen im
Gefecht; indeflen konnte feit vierundzwanzig Stunden
auch von den Bülowfchen eine Bewegung und ein Zus
fammenftoß mit den Feinden flattgefunden haben. Ohne
Sechſter Ubfhnitt 873
weiteres fchirrte er fein ‘Pferd aus und fprengte in der
Richtung auf Marzahne voran. Indem er mir einfchärfte,
die von Ruſſen und Schweden befegten Dorfidyaften zu
vermeiden und die foftbare Ladung dem Freundedappes
tite zu bewahren, überließ er ed mir, das ſchwere Gefährt
querfeldein zu fchleifen. Er wollte Erktundigungen eins
ziehen auch über den Verbleib feines Herrn, verfprad)
nach Möglichkeit Beſcheid zu bringen oder zu fenden.
Und da vergingen denn Stunden, in welchen der alte
Magifter, in Talar und Barett neben dem Karren her,
trollend und den nichts weniger ald feurigen Saul vors
wärtöpeitfchend, mehrmals zwifchen Stoppelädern irres
gehend, ſich nur Iangfam feinem Ziele näherte, Noch
hatte der Kampf ſich nicht bis in diefe Gegend erftredt,
aber ber rechte Flügel der bei Großbeeren Gefchlagenen
hatte fie geitreift, und die Hauptmaſſe ded Nordheeres
feit einer Woche fid) darin ausgebreitet. Die Ernte war
in dem Regenfommer verzögert worden, Erd» und Som⸗
merfrucht nody nicht eingeheimftz nun lagen bie bürfs
tigen Felder von den Hufen zerftampft; die Fleinen zer»
ftreuten Fichtenfchonungen, der legte Fruchtbaum, mühs
fam im fargen Boden aufgezogen, die einzige Linde auf
bem Dorfanger waren am Wachtfeuer verbrannt. Auch
in einem Paradiefeögarten mag Krieg ein Orauen fein;
wo aber bie Natur fo unguͤtig waltet, wie in unferem
Heideland, da wirken ſchon die Vorboten ded Krieges
ein Bild Ahnlidy dem, vor welchem das Weib bes Loth
eritarrte.
Die Sonne fand tief, ald mein Bruder wieder zu mir
ftieß, begleitet von ein paar Kameraden, bie ohne Um⸗
ftände fidy eine Spedfeite zu Gemüte führten und mit
374 Frau Erdmuthens 3willingsſöhne
der uͤbrigen Ladung ſamt Karren und Gaul in das Lager
zuruͤcklenkten. In meiner Privatangelegenheit erhielt ich
den zweifelvollſten Beſcheid. Herrmann war gegen Mit⸗
tag eingetroffen mit einer Erkundung, die wohl von Wich⸗
tigkeit fein mochte, da ſich unverzüglich etliche Buͤlowſche
Bataillone in ber Richtung auf Seyda in Bewegung
festen. Man glaubte Tauengien dort angegriffen. Da
dad Feuern inbeffen aufgehört hatte, war eine rechts
zeitige Unterftägung fraglich geworden. Auch ber Gene»
ral war aufgebrochen, wie ed hieß, zu einem Kriegsrat,
der beim Kronpringen gehalten wurde, Bruder Stratege
erwartete eine Aktion für den nächiten Tag, weil ber
Bormarfch der Feinde nadı Norden hin unzweifelhaft
geworben war. Ob Herrmann feinen Chef begleitet, ob
er einen anderen Auftrag erhalten habe, konnte nicht ans
gegeben werden. Im Lager anwefend war er zur Stunde
nicht. Wit der Lektion: „Herr Bruder, ein Soldat im
Felde hat feine Privatangelegenheiten“, fprengte mein
MWachtmeifter wohlgemut feinem Proviantlarren nad).
Mir aber, was blieb mir übrig, ald nad) der Witten⸗
berger Straße abzubiegen und auf derfelben den Heim⸗
weg einzufcjlagen. Trat Herrmann vom Hauptquartiere
aus den unfeligen Kodjzeitöritt an, mußte er mich auf
derfelben überholen. Gefchah es nicht, durfte ich an-
nehmen, daß die bevorftehende Aktion feinen Plan vers
eitelt habe. ch betete zu Gott, daß dem fo fei.
Nun Fam ich durch die Dörfer. Ich Fannte fie alle
meilenweit in der Runde. Wer fo wie ich auf einem
Erbpoften altert, verwächft auch mit einer breiten Nach⸗
barichaft. Wie oft hatte ich einen Amtöbruder vertreten,
wenn er franf banicderlag; wie oft feiner Gemeinde bag
Sechſter Abfchnitt 875
Abendmahl gefpendet, wenn er felber an dem Genuffe
teilnahm. Wie manchem hatte ich die Einführungsrede,
wie mandhem anderen die Grabrede gehalten; da war
fein Gehöft, in welchem der Pfarrer von Arnheim nicht
als Freund begrüßt worden wäre.
Nun ftanden die armen Lehmhuͤtten ohne Dadı; Ges
baͤlk und Schindeln waren zu ben Wachtfeuern getragen,
das Stroh den Pferden unterbreitet worden; in feiner
Scheuer ein Halm, fein Biffen im Schranf. Die Dung-
haufen ftroßten nach wie vor, aber feine Kenne gaderte
darauf, und ftatt der flachshaarigen vierbeinigen Ferkel
waren ed flachshaarige nadte Zweibeine, die ſchmutz⸗
ftarrend in den Kartoffelfchalen nach einem Hunger⸗
biffen wählten. Die Männer waren fhon am Morgen
dem Kanonenfchalle nachgezogen. Was follten fie auch
Nugbringenderes tun? Dort immer noch eher ald das
heim fiel ein Brocken für ben fnurrenden Magen ab;
und wenn nicht, gab ed was Erfchredliched zu hören
oder zu fehen, über dem der Menſch ein Weildyen feinen
Hunger vergaß. Vor den tärenlofen Käufern hodten
Weiber und Iendenlahme Greife, die fidy um die Wette
in Heulen und Schreien überboten. Die Not war groß,
aber ihr Regifter kurz; die Litanei des einen war für den
anderen fchier ſchon abftändig geworden. Da fam der
fremde Paftor denn gleichfam ald Saugeſchwamm für die
Zrübfal juft zurecht. An jedem Rodzipfel hing ihm ein
Klageweib. „Ad, Kerr Paftor, meine Kuh! Weine
Ziegen! Kerr Paftor, mein Schwein!” wehflagte und
zeterte es im Chor.
„Herr Paftor, mein armer Junge!” wehllagte auch der
alte Kieß aus Rietz, den ich fchon im Morgennebel vor
376 Fran Erdmuthens 3willingsſöhne
meiner Pfarre hatte vorüberlatfchen fehen und den ich
nun im Abenddunfel jenfeitd des letzten Dorfes, noch
immer mit der Burft in feiner Tafche, auf der Retour
überholte. Er hatte die Schenfung unter Lebenden auch
heute nicht regulieren können. Keinen fehnlicheren Wunſch
aber hegte er, ſeitdem die Schießerei nun losgegangen,
als daß feinem legten Jungen redyt bald eine Kleinigs
feit abgefchoffen werden möge, fo ein paar Zinten am
linken Bein oder Finger an der linken Hand, die einer
für das Haus nicht braudıt, die aber zu Napoleonifchen
Gefchäften am Ende body unentbehrlich, find. „Denn los
frieg id meinen Jungen fonften nicht, wenns auch zehn»
mal mein einziger iftz Eleine friegen fie den Napoleon
auch nicht, Ruhe hält er nicht, und ein ärgerer Schinder-
hannes ift noch nicht an der Tablatur gewejen.”
Weiß denn nun aber die Welt, durdy wen, aller Mut⸗
maßung nach, die erfte zuverläffige Kenntnie nicht nur
von dem Ausmarſch, fondern auch von der Marſchrich⸗
tung ded Meyfchen Heeres dem preußifchen Bülow zu
Ohren gelommen ift? Durd, feinen geringeren, als den
Exſchaͤfer Kietz aus Rietz, der zum Plaͤſier Iatfchend, fie
fhon feit zwei Tagen beobachtet und durch gleichfalls
latichende Kollegen feine Beobadjtungen vervollſtaͤndigt
hatte. Er verlautbarte diefelben gegen den Bruder bes
Mohltäterd, mit dem er heute morgen fo bei Wege zu«
fammengeftoßen war. Auch daß es nicht bloß „ein paar“
waren, bie die Straße nadı Juͤterbogk eingefchlagen, ſon⸗
bern „die ganze Klerifei”; die Landesfinder mit ben
Epfchelmigfchen juft in der Witte. Der Kietz aus Niet
machte diefe Berlautbarung, ohne fich etwas dabei zu
benfen. Hätte er ſich etwas babei gebadht, würde er fie
Schfter Abſchnitt | 877
nicht gemacht haben, und die Schlacht von Dennewig
vielleicht nicht gefchlagen worden fein. Wenn aber nur
bad, was gedadht worden ift, Geſchichte werben follte,
würde gar manche ihrer Tafeln unausgefüllt geblieben
fein. Buͤlows Wegmweifer, der Exſchaͤfer Kietz aus Rieg,
gehört in die Weltgefchichte.
Daß er aber auch in die Gefchichte der Zwillingöbrüber
gehört, follte ich zu meinem Entfegen noch in diefer naͤm⸗
lichen Stunde erfahren, nachdem der Alte ſich die Bruft
von feinem täglichen Texte erleichtert hatte.
„Gluͤcklich angetroffen!” raunte er mir ind Ohr, indem
er neben der Wurft aus feiner Zafche einen Brief her,
vorzog und mir übergab.
„Wen angetroffen?” fragte ich, indem ich die Antwort
voraudwußte, denn nur die Adreffe lautete an mich; ber
Brief war an Liska, und der verfprochene sauf-conduit,
von Marfchall Ney perſoͤnlich ausgeftellt, ihm beigefügt.
„Den Wohltäter angetroffen”, antwortete der Schäfer,
„und alles richtig an ihn beftellt,“ fegte er mit einem
felbftbewußten Lächeln hinzu.
„Was .beftellt, Kietz?“
„Den Brief von der fremden Mamſell, Kerr Paſtor.“
Ein Brief von Liska an Raul! An ihn flatt an Herr,
mann hatte fie gefchrieben; ihn von ihrer heillofen Lage
unterrichtet, ihn ohne Zweifel zur Hilfe herbeigerufen!
Mort um Wort erfuhr ich nun, daß die fremde Mam⸗
fell mitten in der Nacht fid, über den Hof in des Alten
Kammer gefchlichen, ihn mit dem Mamen- bed Wohls
täter& geweckt, den Brief der Frau „Mama“ nebft einem
harten Taler in feine Hand gelegt und fo lange Zeichen
gemacht habe, bie der Kietz begriff, was fein ſchlauer
878 Frau Erdmuthens 3willingsſoͤhne
Kopf, wie er meinte, auch ohne Zeichen begriffen haben
wuͤrde: daß er den Brief heimlich, von wegen des
Schweden, und ſo raſch als moͤglich an den Wohltaͤter
befoͤrdern ſollte.
Der Taler war leichter verdient, als der Alte gefuͤrchtet
hatte. Daß er nicht bis ins Wittenberger Lager zu lat⸗
ſchen brauche, wußte er freilich ſchon ſeit geſtern, daß
er aber ſchon diesſeits Seyda auf den Wohltaͤter ſtoßen
ſollte, war einer von den gluͤcklichen oder unglüdlichen
Zufällen, bei welchen der Kieß aus Rietz ſich ein für
allemal nichts zu denken pflegte.
Raul war ganz allein, feinem Korps weit voran, in
einen dunklen Mantel über der weißen Uniform gewidelt,
querfeldein daher gefprengt. Als er den Schäfer bes
merfte, übergab er ihm zur Beftellung an mid, das Schrift⸗
ftäd, deffen ich erwähnte, und empfing dagegen dag, was
jener fo geheimnisvoll an ihn abzugeben hatte.
Beim erften Blid in dadfelbe war er, wie ber Alte
meinte, weiß geworben wie eine Wand. Gefagt hatte
er fein Wort; nicht einmal Hab Dank. Schon im Begriff,
weiter vorwärts zu jagen, hörte er das beginnende Feuer
in feinem Rüden. Er riß aus feiner Brieftafche ein
Blatt, fchrieb zwei Worte mit Bleiftift darauf, die er
dem Boten zur Beftellung an die fremde Mamfell, und
einen goldenen Dukaten obendrein, in die Hand warf,
und fprengte auf dem Wege, den er gekommen, zurüd,
ohne von der Wurft Notiz zu nehmen, weldye der Kiek
aus Rietz ihm zu gütiger Beftelung an feinen Jungen
bei den Epſchelwitzſchen oder auch zu eigener Appetitös
befriedigung darreichte.
Ehren⸗Kietz fpürte eine Anwandlung von Bequemlich⸗
Sechſter Abſchnitt 379
keit, ſeitdem er uͤber Nacht ein Kapitaliſt geworden war.
Er hatte ſich muͤde gelatſcht, verlangte im Dorfe zu naͤch⸗
tigen und uͤbergab das Blatt, deſſen Beſtellung er uͤber⸗
nommen, dem zufaͤlligen Begegner, durch welchen es ja
ebenſo ſicher und jedenfalls fruͤher als durch ihn, in die
rechte Hand befoͤrdert werden wuͤrde. Ehren⸗Kietz ahnte
nicht, daß ein Natternſtich ſeinen Boten nicht boͤsartiger
haͤtte treffen koͤnnen als die beiden Worte: Je vien-
drai!*
Er kommt! Mit diefem haarfträubenden Gedanken
feßte ich meine einfame Wanderung fort. Als ich von
der Landftraße in den Arnheimer Weg einbog, war es
völlig dunfel geworden. Auch meine einzigen Begleiter,
die Krähen, hatten ihr Nachtlied ausgefrächzt und waren
zur Raft voran unter die Heidewipfel gefchwärmt. Alles
feelenftil. Nur immer näher und näher das Braufen
des Windes vom Forfte herüber; immer lauter in mir
das Geftöhn: Er kommt! Immer fchwächer die Hoff⸗
nung, daß das friegerifche Spiel die heillofefte Begeg⸗
nung gehindert habe.
Da jählings fpritte ein Sandwirbel um mid) herum.
Ein Reiter in geftredtem Karriere faufte an mir vorüber.
Der leichte Boden hatte den Hufſchlag gebedt, Nacht
und Staub hinderten das Erkennen. „Berrmann, Herr
mann!“ fchrie ich und rannte fchreiend ihm nad), bis
der Atem mir ftodte. Kein Gehör. Der Reiter war im
Walde verſchwunden.
Jetzt blickte ein Lichtftrahl aus der Förfterei. Sch hörte
Gewieher. „Herrmann, Herrmann!“ Ein Reiter jagte
vor mir her. War ed der nämliche von vorhin, mußte
er im Förfterhaufe Halt gemacht haben. Endlich ftand
880 Frau Erdmuthens Imwillingsfähne
ich vor der offenen Tuͤr. Die Foͤrſterin zuͤndete im Flur
die Laterne an. „Der Baron?“ keuchte ich.
„Der Bruder!” fluͤſterte ſie. Die Antwort, die ich ers
wartet hatte. Die Frau vor der Tür gewahrend, von
ihr gewahr werbend, hatte er gefragt, ob das Schloß
von Feinden befegt fei, und als fie ed bejahte, war er
weiter geritten; ob vorwärts oder rüädwärts, wußte fie
nicht, da ein Windftoß ibr die Lampe ausgeblafen hatte.
Sch wußte, daß es vorwärts war.
Auf die Frage, ob audy Herrmann bed Weges gekom⸗
men fei, erhielt ich ein entfchiedened Mein. Die Foͤr⸗
fterin hatte bi8 zum Dunkelwerden mit ihrer Arbeit vor
der Haustür gefeffen und auch feit der Lichtftunde im
offenen Flur geweilt und nad) ihren Kindern audges
fhaut, bie fi auf einem Gange nach der Stadt vers
fpätet hatten. Auch ihr Wann war abwefend im Forft.
Meine legte Hoffnung beruhte auf diefem Mein.
Diesfeitd des Förfterhaufes mündete nur ein einziger
Weg in den Wald. Herrmann konnte nicht unbemerkt
vorüber gefommen fein. Jenſeits des Hauſes freilich
freuzten ſich mit der Fahrftraße mancherlei Pfade, bie
auch ein Reiter einſchlagen konnte. Hier von Herrmann
überholt zu werden, war zweifelhaft. Am Förfterhaufe
auf ihn warten burfte ich nicht. So rafch als möglich
dem Uinglädfeligen, ber einen fo weiten Borfprung vor
mir hatte, zu folgen, fchlug ich den abkuͤrzendſten Seitens
pfad nach dem Schloffe ein.
Die Zörfterin hatte mir ihre Laterne mitgegeben. Ich
fteuerte dem Winde entgegen, ber immer heftiger zu
rafen begann. Er trieb mir ben Sand in bie Augen;
er entführte mir bad Barett, er verfing fich in dem fals
Sechſter Abſchnitt 881
tigen Gewande. Da neſtelte ſichs feſt an einen geknick⸗
ten Aſt, dort an eine flatternde Ranke. Schritt fuͤr
Schritt ſtolperte ich uͤber Staͤmme, die der Sturm ge⸗
faͤllt, über Knorren, die er entbloͤßt hatte. Es krachte
und kraͤchzte zwiſchen den Wipfeln. Und ſtel da nicht
ein Schuß? Drang nicht Pferdegewieher, Stimmenlärm,
“ein Alarmfignal durd dad Didicht? Oder war alles
sur Täufchung bed wogenden Blutd, der feuchenden
Bruft, der Fibern, die ich in jeder Fingerſpitze klopfen
fühlte? j
Sch grübelte mir aus und wählte in mich hinein, wie
‚daheim alles gefommen fein Eonnte, gefommen fein mußte,
und wie ed in Wirklichkeit denn auch faft buchftäblich
gefommen iſt. Die Angft, die Blinde macht, fann auch
Hellſichtige machen.
Liska würde in ihrem Pindifchen Verſteck bald genug
entdeckt worden fein, wenn fie vermißt worden wäre.
Aber die Barbe war feit dem frühen Morgen fern, und
Frau Erdmuthe, welche die Tochter felten am Vormittag
fah, ohne Arg, felbft als jene bei Tifche fehlte. Sie hatte
fidy neuerdings wieder häufig von demfelben fern ger
halten, mochte auch mit der alten Barbe, die fie num fo
bald verlieren follte, über Land gegangen fein. Die
Mutter vermutete fie durch die Üübereilte Zeremonie bes
unruhigt, verftimmt, vielleicht fchmollend; fie hatte ja
ihre Kinderlaunen immer entfchuldigt; es fogar entſchul⸗
bigt, ald geftern am fpäten Abend fie noch einmal zu
einer Ruͤckſprache bei ihr eingetreten war und auf ihr
Zureden nichts ald Tränen und ſtumme Senfzer erwidert
befam.
Diefe Hartnädigfeit, neben manchem anderen, nicht
983 Fran Erdmuthens Iwillingsföhne
bloß Außerlichem, nahm die Gedanfen der Mutter in Ans
fpruch. Schon geftern mein leidenſchaftlicher Widerfpruch,
heute die von tiefer Erfchütterung zeugende Predigt neben
dem Berweigern des Aufgebotd und endlich meine un⸗
erflärte Entfernung, da doc, fo Bedeutendes zwifchen
und abzufpredhen war, alles das ftel ihr ſchwer aufs
Herz. Sie befchloß eine ernfte, mahnende Vorſtellung
an den Sohn, bevor fie den unwiderruflichen Aft ges
fhehen ließ. Da nun am Nachmittage die Gerüchte
eines unfernen Kampfes fie beftürmten, wurde fie von
dem unartigen Kinde vollends abgezogen.
Erft als bei eintretender Dämmerung bie alte Franzsfin
zuruͤckkehrte, wirklich mit etwas Vierfüßigem, das fie ein-
gehandelt hatte, aber ohne Liska und ohne von ihr zu
wiffen, als fie vergebend in Haus und Garten, in ber
Pfarre, der Stadt gefucht ward, ald ohne Antwort ihr
Name zwifchen die Trümmer der Ruine gerufen warb,
- fein Menfch fie feit nachts, wo ein Knecht fie über den
Hof ſchleichend bemerkt haben wollte, gefehen hatte, erft
dann wurde die Sorge überwältigend und konnte die
Enthuͤllung nicht länger verzögert werden.
Die Barbe hatte die Tage rafch überfchautz fie faßte fie
fhärfer auf, als fie in Liskas Charakter begründet lag.
Die Unglüdfelige war entflohen, heimlich, ſchon in der
Nacht entflohen zu Raul, den fie noch in Wittenberg vers
mutete. Sch hatte die Flucht entdeckt und verfolgte fie;
ohne Zweifel würde ich fie auffinden und bald zurüd-
führen; weit konnten ihre Füße fie ja nicht getragen
haben, Helfershelfer hatte fie nicht, Raul war ununters
richtet und voraugfichtlich in den ausgebrochenen Kampf
verwidelt.
Sechſter Abſchnitt 883
So loͤſte fidy das Geheimnis nadter, fchroffer, graufamer,
ald alle Furcht vorausgefehen hatte. Die Wirkung war
erfchätternd, felber für das Herz des hartgeftählten Weis
bes, das den Schleier lüftete. Zum erften Male im Leben
fhwanden Frau Erdmuthen die Sinne, und ed mwährte
lange, bis die entfegliche Wahrheit ihr klar vor Augen
ftand. Dann aber handelte fie feft entfchloffen, ohne
Wanfen. Sie traf alle Vorkehrungen zur fchleunigen
Entfernung der beiden Frauen, fobald die Flüchtige auf-
gefunden fein werde; Madame Barbe felber im fürzlic,
eingehandelten Vehikel machte ſich auf den Weg, Liskas
Spur in der Heide aufzuſuchen; der brave Gerichtöbirefs
tor eilte bei Nacht und Mebel zu Fuß nad, Belzig, um
von General Hirfchfeld einen Oeleitfchein zu erwirfen,
der bie reifenden Frauen ungehindert die preußifche Linie
paffieren ließ; er felbft, wenn nicht ich, follte fie begleiten,
bis fie innerhalb der franzöfifchen Zone in Sicherheit fein
würden. Alle Einleitungen wurden wie für eine fcheidende
Tochter getroffen, aber wiederfehen wollte die Mutter fie
nicht. - An Herrmann fchrieb fie einige Worte, in denen
fie ihn befhwor, auf dem Wege nach Arnheim umzus
fehren. Der zuverläffige Inſpektor, zur Hälfte in die
Lage eingeweiht, zur Hälfte fie ahnend, wurde dem Ers
warteten entgegengefendet; möglich, daß er noch das
Förfterhausd erreichte, vor welchem ein Begegnen mit
Sicherheit anzunehmen war.
Kaum aber hatte der Abgefandte ſich entfernt, ald von
der Stadtfeite ein Alarmfignal gehört wurde. Auf dem.
Hofe verbreitete ſich die Kunde, daß ein fächfifcher Spion
in der Nähe der Ruinen entdeckt worden fei. Mit der
Ahnung des Entfeglichften verließ die Mutter das Haus,
584 Fran Erdmuthens Swillingsföhne
Rauls vermegener Ritt bis an die Außerfte Grenze des
feindlichen Rayons kann nur erflärt werden durch feine
perfönliche kecke Sorglofigkeit und durch die allgemeine
Untenntnis der verbindeten Stellungen. Hatte Raul am
Morgen den alten Schäfer ja nicht einmal befragt, ob
die Gegend feindlich befegt fet. Die nachmittägigen Bors
poftengefechte erfolgten gegen dad Tauengienfche Korpg,
das mit leichter Mühe noch weiter nad) Often zurüdges
ftoßen werben würde. Die Hauptarmee vermutete man
in weltlichen Stellungen, einen Elbübergang fuchend.
Die Kunde von dem vernicdhtenden Faiferlichen Siege bei
Dresden hatte überdied wie ein Raufch die legte Vorſicht
eingeſchlaͤfert.
Die Feldwege, welche Raul beim zweiten Ausritt aus
Seyda, ſchon in der Daͤmmerung, paſſierte, waren men⸗
ſchenleer. Es war eine faſt muͤßige Frage, welche er an
die ihn bemerkende Foͤrſtersfrau ſtellte, wahrſcheinlich nur,
um den eigentlichen Zweck ſeiner Gegenwart zu bemaͤn⸗
teln. Er haͤtte nicht Raul ſein muͤſſen, wenn er auf den
unerwarteten Beſcheid hin, ſo nahe dem Ziele, umgekehrt
wäre. uͤberdies, je tiefer in der Nacht er den Rückweg
antrat, um fo ungefährdeter durfte er ihn vorausſetzen.
Wuͤrde er aber das Schifal ded morgenden Tages von
feinen Freunden abgewendet haben, wenn er fein perfün-
liches Wagnis aufgebend, die Erfundigung vervollftändigt
und jene rechtzeitig davon unterrichtet hätte?
Welches war denn nun aber fein Vorhaben, ald er auf
Liskas Hilferuf bin fein Kommen verfprady und breift
genug vollbradhte? Die Geliebte aufs Pferd nehmen und
ind Blaue hinein entführen? Ja, in Polen oder in
Spanien einft wärbe fold, ein Don Juanſtreich ihm zus
Sechſter Abfchnitt 885
zutrauen gewefen fein. In dem Haufe feiner Mutter -
nimmer. Oder: der Mutter und dem beleidigten Bruder
in der verhängnisvollen Stunde mit einem offenen Bes
fenntnid gegenübertreten? Er würde nicht dad Herz
dazu gehabt haben, auch wenn dad Schloß von Feinden
unbefegt geweſen wäre. Er hattenur mit Einer zu unter⸗
handeln, und die Eine wußte er unentdedt zu finden.
Konnte fie ſich verborgen halten, bis am Morgen durd;
das gegenfeitige Vorrüden der Armeen eine entfcheidende
Szene verhindert war, gut. Konnte fie ed nicht, nun fo
mußte fie die halbe Wahrheit, das heißt ihren Wider⸗
willen gegen eine Verbindung mit Herrmann - ohne den
Grund desfelben — eingeftehen; unter allen Umftänden,
womoͤglich ſchon am anderen Tage, mußte die Reife nadı
Tranfreich auf Nimmerwiederfehr angetreten werben.
So die heimifchen Zuftände, wie fie ſich feit meiner
fruchtlofen Entfernung geftaltet hatten. Würde meine Ans
wefenheit die Kataftrophe gemildert, Neden und Schwei⸗
gen zu rechter Zeit fie gehindert haben? Entfcheidets.
Es wäre nicht das erftemal, daß ein Knoten, der durch⸗
hauen werden mußte, in der Hand eined Schwaͤchlings
zur Schlinge wurde, oder daß es fich rächt, wenn ein Tor
fi, vermißt, in ein reif gewordenes Schickſal hemmend
einzugreifen. Was treibt, das muß gedeihen!
Endlich, endlicd, lag die Heide hinter mir, die Heide im
Sturm. Mein Weg mündete abfeiten der Ruine nahe
der Pfarre. Zur Rechten blickten die Lichter der Stadt.
Ich merfte eine lebhafte Bewegung, Hörnerruf ertönte;
ein paar von der Befagung eilteri an mir vorüber.
Dicht vor meinem Haufe überholte mid) der ſchwediſche
Leutnant, ber mein Quartiergaft war und ald Pommer
IX 2%
386 Frau Erdmuthens Zwillingsfähne
beutfch fprach. „Blinder Lärm!“ rief er mir lachend ent»
gegen. „Unfere Leute wollten auf die Spur einer ſaͤchſi⸗
fhen Uniform gefommen fein, die in unferem Revier
refognofzierte. Sie dadıten an eine Umgehung, eine
Überrumpelung. Welche geographifche Unmöglichkeit
fcheint denen nicht möglich, die nie einen Bli auf eine
Landkarte getan haben! Der fächfifche Spion entpuppte
ſich als ein preußifcher Adjutant, der ben Befehl zum ſo⸗
fortigen Aufbruch aus dem Hauptquartier brachte. Das
omindfe Pferd, das innerhalb der Ruine angebunden war,
hat der Gutsinfpeftor, der den preußifchen Offizier zu
fennen fchien, für das feinige erfannt. Wie werden die
Preußen uns auslachen, daß wir den tapferen Ney für
einen Herenmeifter gehalten, der nahe daran war, feinem
ci-devant Kollegen das Netz über dem Haupte zufammens
zugiehen.“
„Und wann enthüllte ſich das Quiproquo?“ ftammelteidh.
„Bor zwei, drei Minuten, fo lange ald man braucht, um
vom Klofter nad) Ihrem Haufe, Herr Prediger, zu eilen.“
„Und wiffen Sie, wohin der Adjutant fich gewendet
hat, Herr von Mühlenfels?“
„Möglich, daß er unferen Hauptmann nad) dem Schloffe
begleitet hat; wahrfcheinlicher, daß er unmittelbar in
das Hauptquartier zurücgeritten if. Wir rechnen für
morgen auf eine Aktion. Hören Sie, ed wird zum Sam-
meln geblafen. Sch fehe Sie wohl noch vor dem Aus-
marſch, Herr Pfarrer.“
Er eilte nach der Stadtſeite; ich hatte aufs Schloß ge⸗
wollt; aber ich ſah von dorther etwas Weißes ſich die
Ulmen entlang bewegen; ich rannte dem Schimmer nach.
„Liska, Liska!“ rief ich. Kein Einhalt, keine Antwort.
Sechſter Abſchnitt 387
Am Kloſterhof hatte ich die Geſtalt bis auf wenige
Schritte erreicht. Es war nicht Liska, — es war die Mutter.
„Bleiben Sie zurüd“, flehte ich; aber fie hörte nicht; fie
ftürzte voran, ich hinter ihr drein.
est ftand fie unter der Kapellenpforte, bleich wie ein
Grabesbild. Sie wußte alles; und was ihr Auge jekt
erfaßte, mit einem einzigen Blick, was ihr Ohr mit einem
einzigen Laut, das war nur die Beftegelung.
Shr gegenüber unter dem erhellten Lampenfchrein ftan-
den aneinandergeflammert Liska und Raul. Der Alarm
vor der Ruine hatte fie in den äußerften Winkel gefcheucht.
Er hielt den Degen gezogen und horchte gefpannt rüd-
wärts nach dem Gemäuer; ald aber der Schein meiner
Laterne von der entgegengefeßten Seite in dad Halb⸗
dunfel drang, rieß er fich aus den umſtrickenden Armen
und flürzte und entgegen.
Es war bie Regung eined Augenblicks, nicht länger als
die zwei Silben brauchten, die gleichzeitig, wie ein Don-
nerfchlag, die Mauern durchhallten: „Schurfe!” Das
erfte Wort, das nad) acht Sahren der Bruder in das Ohr
des Bruders fchrie. Fahl wie ein Gefpenft ftand Kerr:
mann zwifchen dem gottverlaffenen Paar.
Der Stahl eines Nafenden züdte auf feine Bruftz er
würde fie durchbohrt haben, hätte der Arm der Mutter
den Streich nicht aufgehalten. Sie lag am Halſe des
Sohnes, Blutötropfen riefelten über ihr weißes Gewand.
Den Tod, aber nicht die Todfünde hatte fie abgewehrt.
„Muttermörder!“ fchrie der Unglüdliche, der fie ge:
troffen. Wie ein Spielwerf hatte Herrmann ihm den
Degen aus der erfchlafften Band genommen, Im naͤch⸗
ften Moment ftärzte Raul ſich aufihn; hätte er die Waffe
388 Fran Erdmuthens ISwillingsfähne
ihm entwinden können, nicht gegen ded Bruders Bruft,
gegen bie eigene würde er fie gefehrt haben. Nun wand
er fi am Boden wie ein Wurm. Auch Liska war auf
die Knie gefunfen.
Mer zählte die erftarrenden Minuten, die dem jachen
Augenblic folgten? Wer fchilderte fie? Herrmann war
der erfte, fich zu faffen. Er Iöfte fi) aud den Armen ber
Mutter, die ihn noch immer umfchlungen hielt, trug fie
ruͤckwaͤrts und ließ fie nieder auf die Stufe unter dem
Lampenfchrein. Ich wand ein Tuch um den blutenden
"Arm. „Es ift nichts, mein Sohn, nichts!" hauchte fie.
Raul rutjchte auf den Knien nad) ihrem Site hin. Er
wagte es nicht, ihr Kleid, ihre Füße zu berühren, aber er
faugte die Spuren ihred Blutes vom Boden auf. Herr⸗
mann ftand ihr zur Seite, feine Hände ftägten ihr Haupt,
bas ſich an feine Knie lehnte.
Wieder war ed minutenlang ftill; nur des Unglüdlichen
Bruft ftöhnte in Todesqual. Die Mutter erhob fi:
„Komm, mein Sohn.”, fagte fie mit bemühter Kraft.
Sie wollte fidy entfernen; fie ſchwankte und zitterte nicht.
Herrmann faßteihre Band. „Biſt du ftarf genug, meine
Mutter, für die Entfcheidung, welche dieſe Außerfte
Minute heifcht?“ fragte er.
Sie hielt den Schritt an und neigte befahend das Haupt.
Sie und ich erwarteten einen Richterſpruch. Er ſchwieg
einige Augenblide, dann fagte er fehr Ieife und langſam,
jeded Wort gewogen, der Leidenfchaft abgerungen:
„Iſt ed noch dein Wille, Mutter, daß diefe — Dame
ald Tochter in deinem Haufe weile?“
Die Mutter fah ihm groß in die Augen; fie hatte ihn
nicht verftanden.
Sechſter Abfchnitt 889
„Senehmigit du,” fuhr er noch leifer fort, auf bie
beiden deutend, die vor ihr am Boden lagen, - „ges
nehmigit du die Ehe — zwifchen diefem Mann - und
diefem Weib?“
„Mein Sohn!“ rief die Mutter mit einem Klang, idy
weiß nicht, ob der Bewunderung oder des Entſetzens.
Doch neigte fie nad) einer Paufe zuftimmend ihr Haupt
und legte ed dann von neuem an das Herz ded Sohnes.
Liska fchien Herrmannd Worte und von dem Trauers
fpiel vor ihren Augen, in voller Bedeutung, nur diefe
Wendung zum Glüd verftanden zu haben. Sie fprang
mit einem Freudenfchrei in die Höhe, preßte ihre Lippen
auf den verwundeten Arm der Wutter und tat Herr⸗
mann entgegen einen Schritt mit dargebotener Band.
Er zog die feine zurüd und führte die Wutter auf ihren
vorigen Platz. Dann fagte er zu mir, indem ein felts
famer Blick mein verwilderted Priefterfleid ftreifte:
„Bollziehen Sie Ihr Amt, wiedie brängende Lage es ges
ftattet.”
Sch fühlte, daß der geforderte Weiheakt nicht eine Vers
föhnung, aber Feindſchaft fürs Leben befiegeln werde.
Nie konnte der eine dieſe geringfchägige Großmut vers
geben, nie der andere die Unehre, die ihn zu diefer Tat
ber Ehre trieb. Dennody ſchwankte ich nicht, und auch
die Mutter neigte zum dritten Male dad Haupt tief herab
auf ihre Bruft, ald beuge fie fid) dem ficherften Willen.
Ich näherte mid Raul, ihn vom Boden zu erheben.
Er ſtieß mid, zuruͤck. „Ich will nicht!” knirſchte er.
„Mein Raul!” fagte Liska Fofend, indem fie mit beiden
Armen feinen Kopf umfdhlang.
„Sch will nicht!” wiederholte er. Seine Züge waren
390 Fran Erdmuthens Zwillingsfähne
verzerrt, die Hände geballt; Schaum ftand vor feinem
Munde. Er glich einem Wahnfinnigen oder vom Krampf
Defallenen.
„Raul, mein Raul!” jammerte die Geliebte. Er achtete
nicht darauf.
Da fagte auch die Mutter: „Raul!“ Sie fagte ed mit
gebietendem Ton, wie er ihn niemals von ihr vernommen
hatte. Aber ſchon fein Name aus ihrem Munde elek⸗
trifierte ihn. Er ſchleppte fich Auf den Knien an fie her
an, brücdte die Lippen auf ihre Wunde, erhob fidy und
folgte meinem Wink an den feit kurzem wieder aufge-
richteten Altar. Herrmann trat an ihn heran, ihm den
Degen zurüdgebend, dann nahm er wieder feinen Plag
hinter der Mutter. Liska ſchwebte an die Seite ded Ges
liebten; das, was fie von der Qual des rafchen Vorgangs
mitempfunden, zerfchmolz unter der Seligfeit des Beſitzes
und einer unbefangenen Dankbarkeit gegen den, welchen
fte fchon einmal ihren Schugengel genannt hatte,
Und fo gab ich denn unter den Trümmern und nach der
ftrengen Regel von drei Sahrhunderten Liska und Raul von
Saint Roc für Zeit und Ewigkeit zufammen ald ein ehes
liches Paar. Laut und Form der Handlung war der einen
fremd, dem anderen war fie eine zwingende Folter. Sie
wechfelten die Erbringe ihres Gefchlechts, die fich auf fo
feltfame Weife zueinander gefunden hatten; aus ber
zudenden Hand Flirrte der feine zu Boden, und ald auch
das bindende Wort gefordert wurde, vernahm ich von
feinen Lippen nur einen Fnirfchenden Ton, während Liskas
Fa freudig den Raum durdhfchallte. Sch ſprach das Ge-
bet und blickte auf. Der Plag hinter der Mutter war leer.
Herrmannd Schritte verhallten zwifchen dem Gemaͤuer.
Schfter Abſchnitt 394
Raul wehrte Liskas Umarmung ab; er flarrte auf die
Mutter, der er nicht zu nahen wagte. Sie trat auf ihn
zu ohne Segenöwunfch für den fträflichen Bund; aber
mit reiner Wutterliebe reichte fie ihm die Hand, an der
die Blutfpuren hafteten. Schaudernd brach er in einen
ZTränenftrom aus. „Dein Blut, bein Herzblut, Mutter!“
fchluchzte er. Sie flüfterte: „Daß ich den legten Tropfen
zu deiner Sühne vergießen dürfte.“
„Mutter, Mutter, fei wieder gut!“ bat Liska, ihre
Hände küffend. „Was können wir dafür, daß wir und
fo lieb gehabt?“
Bon der Stadt her tönte von neuem Hoͤrnerruf. „Eilen
Sie, Raul," fagte ich. „Es ift feiner mehr hier, der Sie
beſchuͤtzt.“
„Ach nein, ſie gehen ja fort. Bleibe, bleibe bis zum
Morgen”, ſchmeichelte Liska, ihn umfaſſend.
„Geh, Raul!“ gebot die Mutter.
Er ſank noch einmal zu ihren Füßen, preßte noch eins
mal die Lippen auf ihre Wunde, raffte fi) dann auf und
ftürzte, ohne der Geliebten zu achten, von bannen. Wenige
Augenblice, und wir hörten den Tritt feines Pferdes in
der Beide verfchwinden.
Sch führte die Mutter über den Klofterhof nach dem
Schloſſe zuräd, Kein Wort wurde gefprochen. Vor dem
Portal überholte und Liska, die Dem Geliebten durch die
Ruine nachgeflogen war, ohne ihn zu erreichen. Gie
ftrahlte von Gluͤck und wirb niemals füßer geträumt
haben, als in diefer Hochzeitsnacht. Als ich nad) der
Pfarre zuruͤckging, verließen die Schweden die Stadt.
Der feindliche Spion, den fie verfolgt hatten, entfam in
der Aäußerften Minute.
892 Frau Erdmuthens Zwillingsföhne
Dad Schwert über dem teuerften Haupte war gefallen,
fchärfer, zerfchneidender, als die Ängfte ed geahnt. Aber
ed war gefallen. Es gab fein Wenden und Winden
mehr. In der vergangenen Nacht zitterte ich, in dieſer
habe ich gefchlafen!
® z ®
Es Tiegt in der Frauenfeele ein Hort, der unter den
Schlägen des Schickſals nicht zertrümmert, fondern nur
immer ftärfer feine Süllen fprengt; wo Wunden zu heilen
und Tränen zu trocknen find, wo es eine Bürde zu teilen
gibt, da fteht aufrecht Die Liebe, welche ihre Freuden bes
graben hat.
Und fo fand auch die Mutter, deren Herz in bdiefer
Nacht ein fengender Strahl getroffen hatte, an demalten
Freudenmorgen ihres Hauſes bleich und ftill, aber feit
gerichtet auf ihrem Grund, waltend der Tiebe, die je mehr
und mehr ihr Tagewerk werden follte; der Liebe, von der
es heißt, fie wird dich tröften, wie eine Mutter tröftet.
Die alte Franzöfin nahm an dem Herzeleid der Frau,
die fie mit Überzeugung eine Heilige nannte, doppelten
Zeil, weil ihr Mutterfinn ed nur zur Hälfte verftand;
fie hatte feinen Sohn, der einen Bruder berauben Eonnte.
Nachdem die nächtliche Kataftrophe ihr kecklich behaups
tetes Entweder⸗Oder fo unerwartet vereitelt hatte, würbe
fie am Morgen in mißmütigfter Stimmung ihre Beidht-
und Heimfahrt ohne Begleitung angetreten haben.
Da aber ihr für die Schallwellen, welche der Pulvers
dampf erzeugt, fein zugefpigtes Ohr fchon in der Frühe
eine ftarfe Aktion gegen Oſten hin auefpürte, wurde eö
{hr vergönnt, mit einem trefflichen Abfchluß aus dem
Sechſter Abſchnitt 38
liebgewordenen deutſchen Haufe zu ſcheiden. Ohne Bes
finnen verfchob fie die Abreife, rüftete und ordnete mit
erprobtem Geſchick und zog an der Spige der Fuhrwerke,
die erft in der Nacht aus dem Bülowfchen Lager heim
gelehrt waren, im eigenen, glüdlic, erhanbelten Vehikel
dem Schalle nach durch die Heide.
Mid, hatten Amtögefchäfte zurücgehalten; um Mittag
aber hielt der Infpektor zu unferer Abfahrt bereit in
Herrmannd Wagen, den die Mutter mit ganz befonderer
Sorgfalt ausgerüftet hatte. „Für das Opfer!” fagte fie
leife zu mir, bad einzige Wort, das fie an diefem Tage
fprady. Sie hatte die Schuld nicht geahnt, der harrenden
Sühne war fie fich bewußt.
Liska kam in den Hof, in rofenfarbenem Kleid mit
Blumen gefhmädt. Sie hatte ſchon die Barbe begleiten
wollen; nun bat fie audy mich: „Nehmen Sie midy mit”,
und als ich wie jene ed kurz verweigerte, fchalt fie mich
„Barbar!" An Gamariterdienfte dachte fie natürlich
nicht; fie dachte nicht einmal ernftlich an Gefahr für den
Einzigen, beffen Wohlfein ihr werter ald das eigene
Wohlfein galt. Er hatte ihr von dem ZTriumphe des
Kaiferd gefprochen; fie nahm die geftrigen Vorftöße
für gewonnene Schlachten, das heutige Feuer mochte ein
kleines Nachfpiel bedeuten; für den tapferften der Mars
fchälle gab es feinen Halt; die Straße nach der preußis
ſchen Hauptſtadt lag offen ohne Widerftand, den Siegen
folgte der Friede, dem Frieden die Seligfeit im Beſitze
des geliebten Mannes. Gie wollte nur ihm näher fein,
ihn, und wäre ed aus der Ferne nur, fehen, von ihm
hören, vielleicht auf eine Stunde ihn mit fidy führen,
ebe er an der heimatlichen Heide vorüberzog. Wie es
394 Frau Erdmuthens Iwillingsföhne
Magnete gibt für das Sonnenlidht, fo war das Herz
dieſes Weibes ein Magnet für das Freudenlicht. Sn
der Glut der Leidenfchaft hatte fie ed aufgefogen, nun
ftrahlte fie ed aus inmitten der Todesfchatten, die fie um⸗
fchmwebten.
Wir fuhren auf dem geftrigen Wege durch die Heide;
wieder faufte und ftöhnte ed unter den Wipfeln, wieder
wirbelten Staub und bürre Nadeln uns ind Geficht,
wieder famen wir an zerftampften Feldern, an zerftörten
Dörfern vorüber, und die hungernden Bewohner waren
nicht müde geworben, zu aͤchzen und zu ſchreien. Auch
das Knattern und Rollen der Salven drang aus der
geftrigen Richtung zu und herüber, nur viel näher, ftärfer,
dauernder. Weiter am Nachmittag zog es ſich vernehms
lich nadı Welten hin; das war fein Treffen mehr, das
war eine Schlacht!
Sn den von den Schweden befegten Ortfchaften wurde
zum Aufbruch gefammelt, auch an ruffifchen Kolonnen
famen wir vorüber; oftmald ward unferem Wägelchen
ein Riegel vorgefchoben, wir mußten ausbiegen nach links
und rechts.
Während foldy eines Aufenthalts führte ein Zufall
unfere am Morgen audgerücdte Hilfskolonne an und vor;
über, die, dem Schalle folgend, auf den Weg nad) Süter-
bogf geraten war. Die fundige Führerin hatte Labſal
ausgeteilt, Wunden verbunden und Blut geftillt nad)
Kräften, nun leitete fie, fo viele ald die Fahrzeuge faßten,
in die gute Herberge hinter dem Heideſchirm. Es waren
Franzoſen und Italiener, alte Kameraden ber tapferen
Barbe, Oftpreußen und Schlefier, auch ein rufftfcher
Artillerift; aber von denen, die und zunächft am Kerzen
Sechſter Abſchnitt 395
lagen, von Oppens und Gablenzens Reitern, war keiner
darunter.
Es iſt etwas Herzbeklemmendes, ſo im Nebel in ein
gewaltiges Verhaͤngnis loszuſteuern. Heute weiß es jedes
Kind, wie aus dem ſorgloſen Angriff auf Juͤterbogk, mit
welchem ber glänzendfte Marfchall des Kaiferreichs auf
feinem Zuge nach Berlin eine feindliche Abteilung beifeite
ftoßen wollte, durdy das Standhalten und den entfchloffe>
nen Eingriff zweier bis dahin unberühmter preußifcher
Generale die Schlacht von Dennewitz gefchlagen worden
ift, nad) Zweck, Entwurf und Ausführung die preußifchte
Tat in dem Befreiungsherbftl. In jener Stunde aber,
wo Sinn und Vorftellung fi in einem Chaos von
Dualm und Schall verirrten, gab eine furze Schilderung
der alten Vivandiere mir den erften Anhaltspunft.
Nun fah ich die Kämpfer und den Kampfplatz, auf
welchem die Unſeren die blutige Leſe gehalten hatten.
Dort zwifchen dem Badı und dem Fichtenbufch hielt
Durutte, von Reynierd Korps, den Weg verfperrt, als
Bülow mit der Hälfte feiner Brigaden dem vor der Stabt
hart bedrängten Tauengien die Hand zu reichen Fam.
Sch fah auch Herrmann an der Seite feines Generals,
und als der Erfolg an diefer Stelle gefichert fchien, da
fah ich beide ſuͤdwaͤrts ſprengen, wo jenfeitd des Baches,
auf einem dritten Felde, der Reft ihres Korps mit dem
Nefte Reynierd um den Preis ded Taged rang. Der
Heft von Neynier aber, das waren die Sadıfen. Bruder
gegen Bruder, Feind gegen Feind ftand in diefen Stunden
auf engbegrenztem Raum!
„Aber woher wiflen Sie das alles?" hatte ich die alte
Franzoͤſin gefragt, und fie mit höflichem Stolz geantwortet:
396 Frau Erdmuthens Iwillingsföhne
„Sch bin die Witwe eines frangöfifchen Offiziere,
ber ein geborener Stratege war. Und ich bin Wutter,
mein Herr. Die Intereffen der Frau Baronin find meine
eigenen Intereſſen, da ic, die Ehre habe, ald Dero Abge⸗
fandte auf diefer Stelle zu ftehen. Ich werde der Frau
Baronin melden, daß idy wenigftend den einen ihrer
Herren Söhne unverfehrt gefehen habe.“
„Sie fahen ihn, Madame Barbe!“
„Ich fah und fprady den Herrn Baron, mein Herr.
Der Herr Baron jagten ventre & terre an mir vors
über - -"
„Wann, wo, Madame Barbe?“
„Bor einer Stunde, und in ber Richtung der Witten
berger Straße, von weldyer, wie man fagt, ein preußis
fcher General zur Aushilfe erwartetwird. ‚Schaffen Sie
Berbandzeug nach Goͤlsdorf, Sie finden dort Doktor Bär!‘
riefen der Herr Baron mir zu. ‚Sch werde dem Befehl
des Herrn Baron gehorchen, fobald ich diefe Ungluͤcklichen
unter Obhut Dero gnädiger Frau Mutter geftellt habe‘,
antwortete ich. Der Kerr Baron hörten jedod; meinen
untertänigen Einwand nicht zu Ende. Der Herr Baron
fahen fehr blaß aus, mein Kerr. Eine finftere Falte lag
auf der früher fo heiteren Stirn. Ob der Stand der
Schlacht, ob perfönliche Erinnerungen fie eingegraben
hatte, unterftehe ich mid) nicht zu deuten.“
Indem wir nun die von der Barbe bezeichnete Richtung
nach Goͤlsdorf einſchlugen, gerieten wir in den Zuzug
der Borftellfchen Bataillone. Wir vermuteten, daß Herr⸗
mann ausgefendet worden war, die Befchleunigung ihres
Bormarfches zu betreiben. Er mochte längit zuräd fein.
Trab, trab ginge, Inscheltief im Sande, Staubwirbel
Sechſter Abſchnitt 397
ins Geſicht. Menſchenhaufen wogten geſcheucht zuruͤck
und neugierig wieder vorwaͤrts. Immer naͤher drang das
Knattern und Droͤhnen, immer dichter der Qualm, lauter
das Hurra der Stuͤrmenden, das Zetergeſchrei der ge⸗
fluͤchteten Bauern, das Gewimmer und Gewieher der ver⸗
ſtuͤmmelten Kreatur. Das Dorf ſtand in Flammen; bis
in die Kirche zog ſich das Gemetzel; Borſtell hatte ſeine
erſten Bataillone vorgefuͤhrt.
Es gibt in der Gegend ein paar Sandwellen, die wir
Heideleute Berge nennen; die Windmuͤhlen auf dieſen
Bergen ſind auf dem waſſerarmen Flaͤming ein wichtiges
Inſtitut. Auch um die ſaͤchſiſchen Batterien dort oben
hatte der Kampf ſtundenlang gewuͤtet. Unten im Dorfe,
oben auf den Hoͤhen, Sturm, Abſchlag und Wiederſturm.
Ruͤckwaͤrts der Hoͤhen, hart am Waldesſaum, ſtand eine
weiße Flagge aufgepflanzt; unſeres Doktors Banner!
Wir ſteuerten darauf zu. Bald ſahen wir die huͤnenhafte
Geſtalt mit Imperatorenſchritten ſich hin und her bewegen;
ſein langes, graues Haar flatterte im Winde.
Welches auch immer die Szene, es iſt immer ein froher
Anblick, einem Menſchen auf feinem Gipfelpunkt zu be
gegnen. Nicht im Eifer der Wiffenfchaft, in Hörs und
Buͤcherſaͤlen; nicht über Land und Meer, wo er die Freis
heit gefucht, nicht auf dem Siegesfchiffe, wo er den
fremden Helden fterben fah, auch nicht im Dienfte der
Menfchheit, an den Kranfenbetten der Armen, ald Frau
Erdmuthend Knecht: hier in der Befreiungsfchladht auf
heimifchem Grund ftand Albredit Bär, faft ein Greis, auf
feiner Gipfelhöhe; hier waltete er fo frei und ficher in
feinem Element, daß mir war, ald ob alle Wunden, die
er berührte, heilen müßten.
398 Fran Erdmuthens 3willingsſoͤhne
Er hatte ſchon daheim aus eigenen Mitteln eine Hilfs⸗
fompagnie angeworben und nadı eigenem VBerftande ge⸗
fchult; meiftenteild Studenten, die zu ſchwach waren, die
Musfete zu tragen. Ed war aber eine Luft zu fehen, wie
er auch unfer gaffendes, dickfelliges Heidevolk anftellig
zu machen wußte. Nur Heimatöbrüder üben foldye Macht.
Hohen Haupts, ein Scherzwort auf den Lippen, umging
er unter einem Sugelregen den Huͤgel, tapfer die Ge⸗
hilfen, zaghaft die Bahrenträger hinter ihm. Bis in die
lodernden Häufer hinein wurde gefucht und gefammelt,
dann wieder ruͤckwaͤrts aufden Waldplag hinter der weißen
Flagge, in das Bereich der Meffer und Zangen, und
immer von neuem rüftig voran. Mein Begleiter und ich
hatten und ihm angefchloffen.
Sein Aumor war in einem wilden Überlauf von Angft
zu Luft; der wortfarge Spötter hatte fich in einen Schwäger
verfehrt. Nicht einen Augenblid hielt er den Mund.
„'s hing an einem Haar, Magifter,“ fagte er, „an einem
Haar, daß die himmlifchfte Dispofition zum Teufel ging.
Als der Dudinot anrüdte, ftanden hier unten ihrer fünf
gegen eind. Schwereangft! Meine Hände habe ich aufs
gehoben, gebetet wie Altvater Mofes wider den Amalef;
gefchrien habe ich: Borftell, fomm, Borftel, fomm! Noch
auf dem Marfche hat diefer gottverdammte Schwede ihn
anf den zweiten Rang feiner Zufchauerbühne komman⸗
dieren wollen. Ein ewiges Gluͤck, daß diefe Preußen vom
alten Sfegrimm gelernt haben, gelegentlich eine Inſub⸗
ordination zu veruͤben. Magifter, fo ein widerborftiger,
preußifcher General, das ift Euch ein kuͤſſenswerter Gegen»
ftand! Seht die ffandinavifchen Orgelpfeifen dort oben,
bie haben auch contre ordre aufgeipielt. Die Hauptſache
Schfter Abſchnitt 399
ift nun fertig. ZTauengien und Thuͤmen haben drüben
reinen Tifch gemacht. Soldy eine Bande preußifchen Ges
findels, den Bravften der Braven in den Sumpf zu
fchmeißen - pfui Teufel! Hier unten ift freilich die Nuß
nod hart, und fein renitenter Preuße mehr vorhanden,
der fie knacken könnte. Aber was ift dag? O beätise,
o göttliche betise der geiftreichften Nation! Magifter,
feht, Snfpeftor, feht! — Schaut doch nur, fchaut!“ Der
alte Bär fprang wie ein junger Bod: „Monfteur Oudinot
zieht ab, er zieht zu feinen glorreichen Brüdern in den
Sumpf. Nun Gnade Gott unferen armen Sachſen!“
Wir fanden während der legten Worte neben dem
MWindmühlenftumpf, vor welchem eine ſchwediſche Batterie
ſich eigenmächtig einlogiert hatte. Das dreiteilige Schladhts
feld im Aagrunde follte ſich von hier aus überfchauen
laffen. Der Doktor fagte ed, indem er mir feinen Tubus
vor die Augen hielt. Ich freilich fah nichts als die Feuer-
faulen im Dorfe, das die Preußen zum legten Male ers
ftürmt hatten. Qualm und Staub fraßen mir in ben
Augen und herbe, herbe Tropfen! Sch mochte auch nichte
weiter fehen, ich hatte an dem Graufen, zwifchen dem ich
ftand, genug und an dem „Gnade Gott unferen armen,
verlaffenen Sachſen!“
Da lagen fie zu Saufen über und unter den Preußen,
verfchmachtend, zerfeßt, verbrannt, erfchlagen, durchbohrt.
Zaufend Hände wären nur für die erfte Hilfe nicht zu
viel gewefen. Der Doktor arbeitete wie ein Bär, und
ftatt zu brummen, funsnte er dad Gaudeamus. Manches
befannte Geſicht war unter denen, von denen ed hieß:
„Borbei! In die Grube!“ Unfer armer Infpeftor erfuhr,
daß fein Bruder vom Regiment Low fchon vor zwei
400 Fran Erdmuthens Swillingsföhne
Wochen hineingebettet worden war. Aber der Kieß von
Nie erhielt das gewünfchte Teil. Seinem Jungen von
den Epfchelmigfchen war ein Auge ausgefchoflen, und
obendrein nur das linfel Der Alte ſchwenkte vor Vers
gnügen die Pudelmüge in die Luft, zog feine Wurft aus
ber Tafche, befah fie hin und her, fchob fie ſachte dem
Doktor zu und ſteckte fie fchmunzelnd wieder ein, ald der
Doftor feine Miene machte, fidy für die frohe Botfchaft
belohnen zu laffen. Nach dem Verband Iud er feinen
ungen auf einen Schiebfarren, um ihn zur Önädigen
in das Schloß zu fahren. Seelenvergnügt, denn mit
einem Auge würde der Schinderhanned den Jungen
doch nicht wiederhaben wollen, wenns auch das rechte
Auge war.
Es dunfelte bereits. Das Dorf war zum legten Dale
von den Preußen erftürmt. Was von unten herantobte,
war fchon die Flucht, die wilde, kopflofe Flucht. Bon
den Brüdern nicht eine Spur, nicht eine Kunde. Kein
einziger preußifcher oder fächfifcher Reiter lag auf dem
Felde, wo wir „geftoppelt” hatten. Der Doktor, wie
nad, ihm die alte Franzöfin, hatte Herrmann gefehen,
als er, mit feinem General von dem Kampfe bei Nieder-
görsdorf eingetroffen, in der Richtung voranjagte, von
welcher Borftell fo fehnfüchtig erwartet wurde. Es war
in dem Ffritifchen Moment, wo das Dorf zum zweiten
Male verloren, die Mannfchaft erfchöpft, Fein Erſatz
mehr vorzuführen war und Oudinots Heranzug fich immer
ftärfer entwickelte.
„Ihr hättet unferen Dann nicht wiedererfannt, Mas
gifter,” fagte der Doftor. „Die Scylachtenfurie über»
pinfelt aus einem preußifchen Topf. Geſtern nachmittag
Sechſter Abſchnitt 401
— — — —
roſenrot wie ein Braͤutigam, heute morgen ſchwarz auf
weiß, wie einer von den fahlen Reitern der Apokalypſe.
Das Gift gegen den Schweden prickelte ihm aus allen
Poren.“
Wenn es doch nur Gift gegen den Schweden geweſen
waͤre, das in ihm prickelte! ſeufzte mein Herz.
Er mußte ſeit Stunden von jenem Ritte zuruͤck ſein,
konnte ſeit Stunden ſeinem Bruder, ſeinem bitterſten
Feinde, gegenuͤber geſtanden haben. Der ſchwediſche Ar⸗
tilleriehauptmann hatte einer glaͤnzenden Attacke erwaͤhnt,
welche die Oppenſche Kavallerie gegen die von Reynier
ausgefuͤhrt. Das Terrain war nicht ſo ausgedehnt, die
Zahl der Kaͤmpfer nicht ſo groß, daß zwei einander un⸗
bemerkt hätten bleiben können, die eifrig einander ſuch⸗
ten, wenn auch nur, um fich auszumweichen. Ich war
entfchloffen, an diefer Stelle auszuharren, und wäre es
die Nacht hindurch, um der Mutter fagen zu koͤnnen,
wie die Entfcheidung gefallen, vor der fie fieben Jahre
lang gezittert hatte.
Und id) follte nicht lange mehr auf diefe Entfcheidung
warten.
Ein wildes Getümmel wogte aus dem Grunde herauf;
von allen Seiten drängte der Schwarm ber Verfolgten
und Verfolger. Rüdwärts fperrten die Ruffen die Wits
tenberger Straße, vorwärts auf der nadı Torgau ftaute
ſich vor Dennewig der Troß der bei Süterbogf und Nies
bergölsdorf Gefchlagenen. Wirr und zügellos wälzten
fidy die Knaͤuel nach dem Waldesdunkel. Vergebeng,
daß wir unfere Verwundeten hinter den Bäumen ges
borgen und und unter dem weißen Banner in des Dofs
tors Hand wie eine Hede vor ihnen aufgeftellt hatten.
xX. 26
4028 Frau Erdmuthens Zwillingsfähne
Mancher arme, verſtuͤmmelte Leib wurde von Menſchen⸗
und Huftritten zermalmt.
Jetzt ſchwaͤrmt wieder eine Wolke daher: rote ſaͤchſiſche
Dragoner; hinter ihnen dunkle, preußiſche Ulanen. Auf
einen Wink des Fuͤhrers zieht ſich ein Wall von Lanzen
ſchuͤtzend um den Friedensplatz. „Herrmann!“ ſchrie ich
auf. „Viktoria!“ jauchzte der Doktor. „Aber ſteigen
Sie ab, Sie bluten, Mann!“
„Es iſt nichts!“ ſagte Herrmann und wollte weiter.
„Nicht viel, ſo Gott will. Aber ſchade um jeden un⸗
nuͤtzen Tropfen Heldenbluts. Fuͤr die armen Teufel
dort hinten ſorgen ſchon die Koſaken.“
Herrmann ſtieg ab; er trug das eiſerne Kreuz auf der
Bruſt und hatte einen Saͤbelhieb uͤber der Hand. Sein
Geſicht war mit einer Schicht von Qualm und Staub
überzogen, aber die finſtere Stirnfalte hatte ſich ge⸗
glaͤttet, und ſeine Augen leuchteten.
Der Doktor preßte ihn an ſeine Bruſt wie einen Sohn.
Es iſt das einzige Mal, daß ich Albrecht Baͤr einen
Menſchen habe umarmen ſehen. Waͤhrend er die Wunde
auswuſch, ſagte er: „Schaut ihn an, Magiſter. In ſol⸗
chem Glanze werdet Ihr dieſen Mann nicht wiederſehen,
auch wenn Ihr ihm eines Tages die Hochzeitsrede haltet.“
Es durchzuckte Herrmann; aber nur einen Moment; ſein
Auge und Ohr, ſein ganzes Weſen ſpannte nach einem
dunklen Knaͤuel, der aus der Ferne herandraͤngte. Ohne
ein Wort zu ſagen, riß er ſich los, ſchwang ſich aufs
Pferd und ſprengte von dannen. Das Verhängnis er⸗
fuͤllte ſich.
* *
Sechſter Abfchnitt 403
Daß ichs furz fage, was zu fagen bleibt. Nachzuſagen;
denn miterlebt habe ich ja nur das Ende.
„Ihr Deutfhen müßt alle maſſakriert werden, ehe ihr
gegen ung fechtet.” Ob diefes graufame Wort zwifchen
den Schlachten von Großbeeren und Dennewig wirklich
von einem franzöfifchen General fo nadt hin, wie die
Rede lief, ausgefprochen worden ift? Ich glaube es
nicht; aber das weiß ich, daß es eine von den Schmäs
hungen war, die und dad Herz ummenden, welches den
begeiftertften deutfchen Anhänger des Kaifers, den Mann
mit dem wieder aufgelebten franzöfifchen Namen, mit
dem franzöfifch wallenden Blut wie ein Todesſtreich ges
troffen hat.
Eine Fügung, die wir fo leichthin Zufall nennen, hatte
die Brüder auch in dem engeren Ringen biefed Tages
auseinander gehalten. Während der eine mit den Sad)»
fen um Gölsdorf fämpfte, ftand der andere neben Bülow
gegen Durutte. Dann kam die Sendung zu Borftell,
und ald Herrmann mit der fieghaften Botfchaft: „Er
kommt!“ zuruͤckkehrte, um an dem Oppenfchen Reiters
angriff teilzunehmen, da war Raul abwärts in Neys
Hauptquartier. Reynier hatte ihn dorthin entfendet in
dem fritifchen Augenblick, ald der Befehl des Aufbruchs
nach Dennewig an das zwölfte Korps erlaffen worden
war, während bei den Gegnern nicht nur Borftell eins
traf, fondern audy die fchwedifchen und ruffifchen Spigen
ſich näherten.
Maul fieht die Niederlage Bertrands und Duruttes,
fhon drängen Tauengien und Thuͤmen über Dennewiß
hinaus; hier ift nichts mehr zu halten. Nur auf dem
linken Flügel kann die Schlacht noch zum Stehen ges
404 Frau Erdmuthens Iwillingsföhne
bracht, morgen fiegreid) erneuert werden, falld Oudinot
bleibt. Ehre oder Schmach des Tages hängt an dem
zurüdgenommenen Befehl.
Alles das fchildert er, er befchwort, er fleht aus fran⸗
zöfifchem Herzen, in der Glut für den Ruhm dee Helden,
den er wie einen Kalbgott verehrt. Nun fteht ihm Der
Heros gegenüber in fchäumender, finnlofer Wut, inmitten
feiner gefchlagenen franzöfifchen Korps, und der Sadıfe
muß fich ind Geficht fchleudern laſſen, daß die Feigheit
feiner Landsleute, fie allein! das Unglüd des Tages vers
fhuldet habe.
Zwei Wochen früher, nach Großbeeren, hatte Raul die
gleiche Befchuldigung ohne Widerrede angehört und nach⸗
gefprochen. Nie hätte er einem beutfchen Führer das
Genie eines franzöfifchen, nie einer deutfchen Truppe,
und wäre es die eigene, Die Bravour einer franzöfifchen
zuerfannt. Heute hatte er mit den Sachſen gekämpft,
ihre Anftrengungen geteilt, ihre Opfer fallen fehen; heute
war der Vorwurf eine Schmad; für ihn felbft, ein Flecken
auf dem eigenen Ehrenfchild. Alles, was gerecht in ihm
heißt, was Menfchliches die blinde Vorliebe nicht ver-
fchlungen hat, empört fich; fein Blut wallt auf. Jach,
wie in der Nacht auf die Bruderbruft, zudt die Hand
nad) dem Schwert. Gott weiß, wie zu anderer Stunde
diefer Auftritt geendet hätte.
In der Wirrfal des Augenblicks achtet Feiner auf ihn.
Er jagt zurüd, den Tod im Herzen. Nur eine äuferfte
Tat, ein Überbieten der Kräfte fann ihn rein wafchen
und retten. Ä
Sein Weg geht mitten durch das franzöfifche Korps,
dad gen Dennewig zieht. Er erneuert fein Drängen
Schfter Abſchnitt 405
vor Dudinot, der ihm fürzlicdy noch fo wohlgewollt hat;
jeden einzelnen Führer befchwört er nur um ein paar
Bataillone, eine frifche Batterie „Helft Euch, wie Ihr
koͤnnt!“ ift der einzige Beſcheid, den er erhält. „Die
Unferen brauchen und!“ heißt cd. „Gottlob, daß wir
von Reyniers Pechvoͤgeln los find!” Dder: „Wir haben
Euch ja die Bayern gelaffen!” wird ihm höhnend nach⸗
gerufen von dem und jenem, ber in früheren Tagen ben
bevorzugten Sachſen beneidet haben mag. Zu fpät ers
fennt der Unglüdliche, um welchen Lohn ein Hilfsvolk
blutet.
Als er vor Goͤlsdorf zuruͤckkommt, find Dorf und Höhen
von den Preußen genommen, der legte Widerftand ges
brochen, die Flucht unaufhaltfam. Er wird aller Faflung
unmächtig; die Kameraden, an denen er vorüberfprengt,
halten ihn für einen Tollen. Stieren Auges, Schaum
vor den Tippen, fahl wie ein Gefpenft ftürzt er ſich mit
gezüctem Säbel einem Trupp feiner eigenen Küraffiere
entgegen, ber querfeldein von dannen fprengt, preußifche
Ulanen hart auf den Haden. Keiner hört auf fein „Kalt!“
Die Säbel der Seinen ftreifen ihn. Auf dem Wege ftopft
fihe. Sein Pferd ftürzt, er taumelt; feine eigenen Leute
jagen über ihn hinweg. Er rafft fidy auf, ftcht allein,
wehrt fidy mit gezuͤcktem Säbel einer gegen zehn, die ihm
die Tanzen entgegenftreden. Der Säbel wird aus feiner
Hand gefchlagen; frampfhaft hält die andere das Piftol
gefpannt. Noch ein Blick in die Runde: feine Rettung,
fein Entrinnen, er ift ein Oefangener! Er ftemmt das
Piftol gegen dad Herz.
In diefem Augenblid hört er eine Stimme „Halt!“ ges
bieten. Der Lanzenwall ift durchbrochen, — ein Schauer
406 Frau Erdmuthens Zwillingsföhne
überläuft ihn; die Waffe wird feiner Hand entwunden;
noch einmal bäumt er ſich auf, dann ftürzte er zu des
Bruders Füßen - tot!
Seinen Leib mit beiden Armen umfpannend, trug ihn
Herrmann auf unferen Platz. Das Blut der Brüder
riefelte gemifcht über das weiße Kollett des Leblofen.
Seine Lippen waren nicht fahler, feine Züge nicht ftarrer,
als die des Lebenden.
„Sc bin nicht fein Mörder, aber er war mein Todfeind,
als fein Auge brach.“ Herrmann ſprach diefe Worte
nicht, aber fie waren feinem Blicke eingeprägt, eingeprägt
ber tiefen Furche der Stirn, die fein Erdenglüd wieder
glätten konnte.
Er hielt den Bruder im Arm, während wir den ſchwar⸗
zen Küraß löften und dad weiße, rotgetränfte Kollett.
Der Doktor ſchuͤttelte ſchweigend den Kopf und legte mit
Gewalt die Binde um Herrmanns Hand, aus der das
Blut ſchoß. Er fträubte fi, aber ed gefchah. Signale
erfchallten; die Schweden rüdten auf das Kampffeld des
Tages, Kofatenfhwärme fauften vorüber. Ein Ulan
brachte Herrmanng Pferd. Herrmann blickte noch einmal
fragend in des Doftord hoffnungslofes Auge. Nun ließ
er den toten Bruder nieder auf meinen Schoß. „Zur
Mutter!” preßte er hervor, ſchwang ſich auf und fprengte,
ohne ruͤckwaͤrts zu blicken, in das Getuͤmmel.
„Daß dem herrlichen Menfchen die Freude diefed Tages
fo vergällt werden muß!” fagte Bär nad) feiner Weife
bewegt. Der Körper wurde entfleidet und gründlid,
unterfudht. Er war von Wunden zerfegt, aber feine fchien
tief genug, um tödlich zu fein, und feine Kugel hatte ihn ges
troffen. Ich blickte in die frampfverzerrten Züge; ich hoffte
Sechſter Abſchnitt 407
noch. Der Doktor taſtete, horchte, rieb, wuſch, verband,
benetzte die uͤbereinandergepreßten Lippen mit aͤtzenden
Tropfen — keine Regung. „Ein inneres Gefäß iſt zer
fprengt; die Wut hat ihn umgebracht“, fagte Bär.
„Und wenn er dennoch wieder erwachte?“ fragte ich.
„So erwachte er, um zu fterben. Bringt ihn heim. Sch
bleibe, wo ich helfen kann.“
So fuhren wir denn heim in der Nadıt; Schritt für
Schritt durch Stoppeln und Sand. Der Infpeftor Ientte;
ein doppelte Weh im Herzen. „Das Opfer“ Tag auds
geftredt auf dem Lager, das die Mutter bereitet hatte,
fein Haupt in meinen Armen. Alle Rüdwärtöftellungen
waren von den Truppen geräumt, das Feuer verftummte.
Nach dem Höllenlärm Zotenftille. Nur von der Beide
herüber ächzte und ftöhnte ed aud) heute, und am Himmel
jagten die Wollen über Mond und Sterne.
Bor dem Forfthaufe warteten Diener mit Windlichtern,
welche die Mutter und entgegengefchickt hatte. Adıt Mos
nate waren es, daß Fadelträger einer jubelnden Braut
durch die Heide vorangeleuchtet hatten; heute leuchteten
fie einem Leichenzug, und ihr blutroter Schein Iodte in
die Nadıt hinaus die Braut, die eined anderen Mannes
Weib geworden war.
Dort an der Klofterpforte ftand fie in ruhelofer Hoff»
nung, mit Blumen gefhmäüdt. Ein Schrei fchrillte durch
die Nacht, — o, ein Schrei! Iſt das fchlummernde Herz
nicht erwacht von diefem Schrei? Fühlt ed nicht den
warmen Leib, der ſich über den erftarrten ftürzt? Nicht
die glühenden Lippen, die fich auf die frampfgefchloffenen
prefien? Kann der Tod diefem heifchenden Leben widers
ftehen?
408 Fran Erdmuthens Swillingefähne
Und weiterhin unter dem Portal fland die andere, die
andere, die auch einen Heimkehrenden erwartet hatte,
aber nicht mit frohem Vorgefühl, die Haͤnde über der
Bruſt gefreuzt, dad Haupt tief hinabgefunfen, marmor⸗
weiß, „wie die Geduld auf einer Gruft”. Lautlos empfing
fie ihn, wintte und fchritt voran.
Er wurde in ihr Zimmer getragen und auf ihr Ruhe⸗
bett gelegt. Liska warf ſich zu feinen Füßen auf die
Knie. Die Mutter füßte ihn auf die Stirn, faßte feine
beiden Hände und hielt fie feft in den ihren. Der Tag,
an welchem er ihr gefchenft worden war, nahte feinem
Ablauf.
Und wie fie feine Hände fo umflammert hielt und ihre
Augen unverwenbdet auf fein Angeficht gerichtet waren,
da Iöfte fi der Krampf in den erftarrten Zügen. Die
Befinnung erwacte auf dem Punkte, wo fie fill ges
ftanden. Seine Rechte zudte nach eined anderen Rechten;
er fchlug die Augen auf zu denen, die er für eines ans
deren Augen hielt. „Bruder !" hauchte er, „mein Bruder!“
„Er lebt!” fchrie Liska. Sie warf ſich über ihn, während
nun die Mutter auf ihre Knie ſank.
Ein Blutftrom quoll aus feinem Munde. Sept erft war er
tot, und filled Entzuͤcken goß ſich über fein Antlig aus.
Tod heißt das Gottedwunder, das die Herzen verföhnt.
* *
%
Früh am Morgen fchrieb mir die Mutter:
„Laſſen Sie mid) heute noch ftill bei meinem Sind, und
handeln Sie für mi. Morgen, wenn die Sonne aufs
geht, das Letzte. Neben meiner Bank, wir beide allein,
der Dritte, der zu und gehörte, fehlt. Still, ganz ftill.
Sechſter Abſchnitt 409
Und dann Liska. Meine beiden Söhne haben fie geliebt,
fie würde mir zweimal eine Tochter fein. Aber ic) weiß
ed ja, daß fie nicht mehr die Unſere werden fann. Auch
diefer Sonnenftrahl entweidht. Wein Raul, mein Raul!
Sie haben ihn auch geliebt, ald ob Sie Rechenſchaft für
ihn zu geben hätten. Wir bleiben Freunde in der
Traurigkeit.”
So hatte ic) denn ein reichliches Tagewerf und fah weder
Mutter noch Tochter. Mit der alten Franzöfin verhan⸗
delte ich Aber die Zufunft der Witwe von Frau Erd»
muthend Sohn. Sooft id) nad) Liska fragte, hieß es:
„Madame betet. Madame hat nadyzuholen und wieder
gutzumachen.“ Die Mutter faß ftil bei ihrem Kind.
Erft fpät am Abend Iöfte ich fie ab, daß fie ein paar
Stunden ruhe vor dem legten Geleit.
Sie hatte den Toten nicht in den Ahnenfaal bringen
laffen, in welchem der Letzte ihres Namens eingefegnet
worden war und noch der Brautaltar fürihrennun einzigen
Erben gefhmüdt ftand. Diefer Sohn war ein Fremp-
ling geblieben unter dem Gefchlecht, dad von den Wänden
auf die Feierafte der Enfel niederblickte. Bei der Mutter
allein hatte er ſich heimifch gefühlt, und fo behielt fie
ihn bei fidy bis zum legten. Die friegerifchen Ehren, die
er für feinen Grabgang erfehnt haben würde, Fonnte fie
ihm nicht gewähren.
Das Zimmer lag im Dunfel; nur eine Ampel zu Häupten
goß ein mildes Licht über dad marmorbleiche Geſicht.
Der ftile Sterbenefrieden ließ ihm fchön, fehöner ale
jemals Luft und Fülle des Lebend. Ich Fonnte meine
Augen nicht abziehen von dem herrlichen Bilde in der
weißen Reitertradht und dem Lorbeerkranz in dem Dunkel»
410 ran Erdmuthens Swiltingsfähne
gelodten Haar. Das umrankte Fenſter ftand geöffnet,
Düfte des Herbftjelängerjelieberd ftrömten in das Zimmer.
Der Sturm hatte fich gelegt; es waltete Frieden auch in
der Matur. Stunden der Betrachtung verliefen, ald ob
ed Minuten wären.
Ich hörte den Wagen vorfahren; ben Hochzeitswagen
der Wutter, der das fremde Kind in ihr Haus geführt
hatte und ed nun wieder hinaudführen follte in feine
eigene Heimat. Auf dem Korridor regten ſich leiſe Schritte;
ich zog mich in die Fenfternifche zuruͤck. Liska trat ein
im dunfeln Reifekleid. Sanft beugte fie fidy über den Ge⸗
liebten und füßte ihn zum legten Dale. Zu den Loden,
die fie von ihrem Haupte kurz abgefchnitten hatte, fügte fie
eine von den feinen, weldye bieher auf ihrem Kerzen
geruht, und legte fie auf das ihres Raul. Auch ihren
Trauring ftedte fie über den feinen; die letzten Klein-
odien ihres Gefchlechtd waren wieder vereinigt an einer
Hand, an einer Totenhand. Dann madıte fie bad
Kreuzegzeichen über ihn, betete auf ihren Knien laut ein
Ave und ließ fi) von der Begleiterin ohne Widerftand
aus dem Zimmer führen. Die alte Franzöfin meinte;
die junge nicht. Auf der Schwelle drücdte ich beiden
fhweigend zum Lebewohl die Hand. In der meinen blieb
das goldene Erinnerungsbud) zuräc, ummunden von einem
fchwarzen Bande.
Dad Bud; enthielt eine Spur von allem, was die fremde
Waiſe unter diefem Dache erlebt hatte; aber von der Zeit
an, wo fie darunter des Lebens froh geworden, da waren
die Blätter weiß. Auf dem letzten fanden die Worte:
„Eine große Leidenfchaft, und dann den Nonnenfchleier.“
Der Morgenftern flieg auf, und abendwärts verhallte
Sechſter Abſchnitt 411
eine Wagenſpur. Ich entfernte mich; der letzte Abſchied
gebuͤhrte der Mutter allein.
Von der Stadt her wurde es lebendig. Da ich jedes
Gefolge verbeten hatte, reihten ſich die Bewohner zu beiden
Seiten der Ulmen, ohne Geſchwaͤtz und Gedraͤnge; Kinder
freuten Tannenzweige auf den Weg; unfer Jugendchor
fammelte ſich in der Kapelle.
Moc im Frühnebel kehrte ich zuräd; die Mutter ftand
vor dem Portale neben dem Sarg. Sie hatte felbft den
Dedel niedergelaffen und einen Rofenfranz darauf bes
feftigt. Die Diener ded Hauſes trugen ihn an Sands
haben voran, dahinter fdhritt nur die Wutter, auf meinen
Arm geftügt.
Ald wir durch die Pforte bed Klofterhofs traten, der
heut zum Friedhof ward, drang die Sonne goldig Far
durch den Nebel, und dad Morgengeläut hob an; als wir
aber den Sarg neben der Bank der Mutter niederließen,
ftand unter dem Kapellenbogen ein hoher Mann im dunfeln
Reitermantel. Aus den übernädhtig fahlen Zügen fprad)
nicht von Freude über das glorreiche Gelingen, in
beffen Verlangen er fieben Jahre lang gelebt und geftrebt;
der einft fo Flaren Stirn war tief die finftere Falte eins
gebrücdt wie in der Stunde, ba er dee feindlidyen Bruders
Auge brechen fah. Dennoch wehte ein Hauch ungeahnten
Gluͤcks über das Angeficht der Mutter; fie ftellte ſich an
feine Seite und nahm feine Hand in die ihre.
Ich hatte nur den Segen und ein Gebet fprechen wollen;
nun der Dritte gefommen war, der zu und gehörte, ent»
firömte ed Wort um Wort dem übervollen Herzen.
„Rein macht der Tod und Far,“ fo mag id, gefprochen
haben, „Mar und rein hat er auch den gemadht, den wir
418 Fran Erdmuthens Swillingsfähne
jegt betten in den ewigen Lebensſchoß, hat Irrtum in
Sühne verwandelt und Grol in Danf. Sein letztes
Taften war nad) der Bruderhand, die einem verzweifelten
Sterben wehrte; fein legted Wort war ‚Bruder!‘, mit dem
legten Blick flchte er: ‚Bergib!‘, und das tote Antlig vers
Härte der Frieden deffen, dem vergeben worden ift; Tod
heißt das verföhnende Lebenswunder.“
Die Mutter lehnte ihr Haupt an ded Sohnes Schulter.
Eine Blutwoge trieb über feine Wange und Etirn.
„Und wie ed ded Menfchen würdig iſt,“ fuhr ich fort,
„in allem Gefchehenden ein Sinnbild wahrzunehmen, in
bem Einzelnen bad Ganze, in dem Ich das AU, fo fehen
wir in diefem Sterben den Sinn der Zeit, in die wir
geftellt worden find, auf daß wir Schritt um Schritt
weiterringen, aus Haß zur Liebe, aud Tod zum Leben
in das vollendende Einft. Sei ed das Iettemal, daß
Brüder gegeneinander ftanden, daß einer begehret nad)
des anderen Gluͤck; tilge das Blut, was dad Blut vers
brach; aud dem Hader quelle die Verföhnung, aus ber
Zwietracht fproffe die Einigkeit; e8 fomme der Tag, den
wir ahnend erfchauen, der Tag, wo ed nur noch Brüder
gibt: Blutesbruͤder, Volfesbrüder, Menfchens, Ehriftens
brüder. Was treibt, dad muß gedeihen.”
Herrmannd Knie zitterten, er fchlug die Hände vor dad
Geſicht. Aus der Kapelle drang ein milder, flüfternder
Sang, der ſich in mählicher Wiederholung zu fieghafter
Sreudigfeit erhob. Dir fang cr wie ein Engelddjor.
„Sin Slüd, für das wir glühen,
Ein Tempel, wo wir fnieen,
Ein Sand, wohin wir ziehen,
Ein Himmel dir und mir.“
Sechſter Abſchnitt 418
„Bruder! Mein Bruder!” ſchluchzte Herrmann. Er brad)
in feine Knie zufammen, beugte ſich über den Sarg, bes
negte ihn mit heißen Tränen. Die Mutter legte die
Hand auf fein Haupt; ich ſprach den Segen über beide
ihrer Söhne.
Nun noch die erfte Hand voll Erbe in dad Brudergrab,
und dann weiter voran auf der befreienden Bahn.
Drud der Roßberg’fchen
Buchdruckerei in Leipzig
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