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Full text of "Louise von François. Gesammelte Werke Band 2 - Frau Erdmuthens Zwillingssöhne"

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A WR fh 


Sihanis, 


1817 


er SCIENTIA VERITAS 





£Quife von Frangoig 
SGefammelte Werte in fünf Bänden 


Zweiter Band 





Frau Erdmutheng 
3willingsfühne 


Bon 


Louife von Frangois 





Im Anfel-Berlag zu Leipzig 


338 
F825 
IS18 
vr 


2 
2321 Erfter Abſchnitt 


Was paßt, das muß ſich ränden, 
Was ſich verfteht, fich finden, 
Was gut iſt, fih verbinden, 
Was liebt, beifammenfein. 


Ä Rovalis. 
ein Vater ftand in dem Amte, das ich heute noch 
befleide, wie denn auch fein Bater und Großvater, 
das heißt unfere gefamte Gefchlechtsfolge, bie ſich die- 
felbe in den Wirren der Religionskriege verliert, in dem 
nämlichen Amte geftanden hatten. 

Ein derartiges Pfarrerbe war in vielen ritterfchaftlichen 
Patronatspfründen meiner fächfifchen Heimat, wennirgend 
tunlich, Obfervanz. Der Pfarrfohn erhielt durch Ver⸗ 
mittlung des Gutsherrn in einer der drei Klofterfchulen 
des Kurfürftentumsd ein Alumnat; er bezog auf einer der 
beiden Randesuniverfitäten ein Stipendium, dad der 
Patron oder einer feiner Sippe zu gewähren hatte, feßte 
ſich allda befcheidentlicd, an einen Freitifch im Konvikt, 
begleitete darauf feinen Sunfer, wenn ed einen gab, auf 
hohe Schulen und Reifen, trat ald Subftitut feinem 
Bater zur Seite und wurde, oft erft bei ergrauendem 
Haar, deflen Nachfolger, fobald die Mutter das enge 
Witwenhaus der Kommune bezog. 

Alſo war ed auch in der Familie der Bleibtreu die 
Ordnung gemefen, und, wie mid) duͤnkt, zum Segen aller 
drei: ded Dominiums, der Gemeinde und der Pfarrei. 
Wo nad) Gefeg und Sitte die beiden erften unwandel⸗ 
bar an eine Scholle gebunden waren, follte auch die 
dritte nicht das Neft eined Wandervogeld fein. Einer 
gab dem anderen gleidyfam einen Faden in die Sand, 


an welchem er in ererbter Liebe weiterfpann. Und weil 
RR. 1. 


7-29-55 ME 


6 Frau Erdmuthens Zwillingefähne 


— — — — 


auch ich dieſe heimatliche Liebe in meinem Lebenserbe 
empfangen hatte, darum habe ich mich nie einen Augen⸗ 
blick aus jenem Heidewinkel herausgeſehnt, deſſen wei: 
terer Umkreis unter den deutſchen Gauen am wenigſten 
eines gedeihlichen oder gar reizenden Rufes genoß. 

Habt ihr etwa auf einer Reiſe von Dresden oder Leip⸗ 
zig nach Berlin das rechte Elbufer betreten, ſo wandert 
ihr meilenweit in dem muͤrriſchen Schweigen des Kiefern⸗ 
waldes, der alldort Heide heißt. Muͤhſam ſchleppen ſich 
die Fuͤße durch eine bodenloſe Sandſchicht, mit braunen, 
toten Nadeln uͤberſtreut; in gleicher Höhe ragen die urs 
alten Stämme, von weißgrauen Flechten überzogen; die 
ſchwaͤrzlichen Kronen verbreiten einen mißmütigen Däms 
mer, im Winter ohne Licht und im Sommer ohne Schat⸗ 
ten; die Fahlen Reifigäfte neigen fi zu Boden wie Ges 
rippenarme. Da ift fein Hügel, kein Unterholz, fein 
Wechfel der Farbe und Geſtalt, faum dann und wann 
in einer Lichtung ein duͤrftiger Birkenbuſch; felten ein 
Wäfferchen, das eine ſchmale Moos⸗ oder Rafenfchicht 
beriefelt; da findet ihr dem Auge feine Labe und Feine 
dem lechzenden Gaumen ald die herbe blaue oder rote 
Heidelbeere. 

Wo aber von Zeit zu Zeit der Menfch mit Art und 
Spaten dieſe Eindde durchbrochen hat, da ftoßt ihr auf 
dürren Sandader, mit faum fußhohen, einzeln ftehenden 
Halmen ded Haferd oder Buchweizens beftellt; zwifchens 
durch auch wohl auf ein überftaubtes Kartoffels oder 
Nübenfeld. Himmel und Erde, Natur und Kultur, alles 
grau in grau. Endlich auch ein Dorf oder Fleden mit 
halbverfaulten Strohdächern über den von Lehm zus 
jammengeflitfchten Hütten, mit ftehenden Pfügen und 


Erfter Abfchnitt 1 


mageren Dunghaufen vor jeder Tür; zwifchen wandel⸗ 
baren Planfen klapperduͤrres Weide: und Zugvieh, hart 
arbeitend gleich dem Menfchenfchlag, der von Gefchlecht 
zu Geſchlecht in fauerem Schweiße ſich pladt, das Fleck⸗ 
chen Erde, auf welches die Ungunft ded Himmels ihn 
gefegt hat, den Nachfahren um kaum ein Werkliches 
wohnlicher und nährender zu hinterlaflen. 

So der Wanderer, und nicht der grieögrämlichfte feiner 
Art, wenn er zur Zeit, da ich jung war, auf der noͤrd⸗ 
lihen Grenzmark bed Kurfürftentums gleichfam das 
Fußgeftell der berüchtigten Sandbüchfe des heiligen 
römifchen Reiches deutfcher Nation betrat. Wie anders 
aber wir, die wir fie Heimat nannten! Feierlich ges 
ftimmt, wie die Bewohner am nordifchen Dünenftrand, 
empfanden wir ein Ewiges in diefem unüberfehbaren, 
ernften Einerlei, und wenn die Windsbraut durch die 
Kiefernwipfel rafte, uralte Baumriefen fällte wie dürre 
Splitter, da beugten wir und vor der Gewalt der götts 
lihen Natur und haben die Hand bed Meifters in diefer 
feiner rauhen Wertitatt nimmer vermißt. 

Dann aber die Föftlichen Stunden, in welchen auch 
unfer Simmel und unfere Landfchaft Tächelten, wie 
danfbar genoffen wir fie juft, weil wir fie zählen konn⸗ 
ten. Sa, heute, nach länger als einem halben Sahrhuns 
dert, fpüre ich noch den Wonnefchauer, der mich übers 
riefelte, al8 ich nach der erften Fangen Abwefenheit wieder 
meine Heide betrat. Auf einem Fleckchen Erde, das 
von Natur ein gefegneter Garten it, war ich vom 
Knaben zum Iüngling geworden, der Geift getränft 
mit Bildern aus einer hefperifchen Götter: und Menfchen» 
welt. Nun raufchte mein Wald im Abendwehen; das 


8 Frau Erdinuthens Bwillingsföhne 

Summen der Snfeltenfhwärme Fang mir wie Muſik, 
ich ſchluͤrfte die würzigen Harzduͤnſte, ald wären es 
Drangenbüfte, und die Sonne, deren Ießte Strahlen 
farminrot durch die fchlanfen Schäfte gligerten, oben 
die weißen Flechten verfilbernd, unten die braunen Na- 
dein übergoldend — vor der Dichtergruft am Pofilipp 
würde fie mir nicht glorreicher gefunfen fein. 

Und wie die Heide nun immer mehr und mehr in 
unferen Forft überging; wie die Droffelfchwärme, für 
den Winterzug gefammelt, fi in den Wipfeln zur 
Nachtraft niederließen, Hirfche und Rehe mich munter 
umfprangen, wie endlich, vom Erlenbach durchficert, die 
MWaldwiefe fich öffnete, die meinen Ort im Halbkreis 
umrahmt, wie der fpiße Kirchturm, das Schieferdach des 
Edelhofed auftauchten und endlich dad alte, gute Mond- 
geficht diefe Fleine Welt mit ftillem Glanze überzauberte: 
da jubelte ich wie das Kind vorm heiligen Chrift und 
hätte Heide und Sandfeld, famt jeglicher dürren und 
ſchmutzigen Kreatur, die auf ihr weidet und wandelt, 
an mein Herz drüden mögen. 

Der Ort, deffen Kirchturm ich ragen fah, heute fich 
ftolz eine Stadt titulierend, damals war er ein Fleden, 
will fagen nicht mehr, fondern weniger ale ein Dorf, 
in welchem ſich eine anfäffige Bauernfchaft gefammelt 
hat. Mühfam erholt von der Verwuͤſtung der Religions⸗ 
friege in den beiden früheren Sahrhunderten, hatte der 
der fieben Sahre jüngft von neuem die befcheidene Wohl- 
fahrt zerftört. Das weitläufige Areal, großenteils Forft, 
eignete faft ohne Ausnahme dem Gutsherrn; die Be⸗ 
wohner waren Fröner ded Hofes, denen faum eine 
Handbreit Scholle für den eigenen Nutzen übrig blieb. 


Erfter Abſchnitt 3 
Neben dieſen Armlingen hockte und hungerte von Vater 
auf Sohn eine Weberanſiedlung, deren Grundſtock, wie 
ſchon der Name des Ortes und einiger ſeiner Nachbarn 
andeuten, auf eine flamlaͤndiſche Einwanderung zur ſaͤch⸗ 
ſiſch-askaniſchen Zeit zuruͤckgefuͤhrt worden iſt. Der 
zuchtloſe Kriegszuſtand hatte dem Forſtfrevel Tor und 
Tuͤr geoͤffnet, waͤhrend die Fridericianiſche Regie zum 
Schmuggel uͤber die nahe preußiſche Grenze verlockte. 
Wie ein Maͤrtyrer kaͤmpfte mein Vater gegen dieſe ſitt⸗ 
liche Verwilderung; denn nichts iſt dem Volke ſchwerer 
begreiflich zu machen, als daß Betrug gegen den Staat 
Suͤnde iſt ſo gut wie der gegen einen einzelnen Menſchen. 

Die Pfarrſtelle, heute die reichſte der Ephorie, war 
ſchon damals auskoͤmmlich dotiert und wuͤrde auch in 
jenen boͤſen Zeiten die Verſorgung einer zahlreichen Fa⸗ 
milie geſtattet haben. Wir waren ihrer acht; eines je 
um einen Jahrgang juͤnger als das andere. Aber ein 
paar zehrende Maͤulchen werden in einer laͤndlichen 
Wirtſchaft nicht allzuſcharf gezaͤhlt, zumal wenn, wie 
bei uns, die beiden Hauptſtuͤcke haͤuslicher Ordnung 
durch verſchiedene Betonung ſich gedeihlich ergaͤnzen. 
Denn mahnte der fromme Herr Vater: „Bete!“, klein⸗ 
laut hinzuſetzend: „und arbeite“, ſo heiſchte die fleißige 
Frau Mutter: „Arbeite!“, und das „Bete“ lallte nur 
ſo eben hinterdrein. 

Weil aber der fromme Vater ein Mann, dem das ſelige 
Geben eine Naturnotwendigkeit war, ein Genuß, den 
herrlicherweiſe dad Wort ſeines Meiſters zum Geſetz er- 
hoben hatte, und weil er nach Gottes Willen als Pfarr⸗ 
herr in einer Gemeinde ſtand, die der handgreiflichen 
Beweiſe fuͤr ſeine barmherzigen Lehren bedurfte, darum 


10 Frau Erdmuthens Iwillingsfähne 


famen wir wohl aus von Tag zu Tag, aber zu einer 
Sparbüchfe für die Zufunft fonnte ed die praftifche 
Pfarrmutter nicht bringen. „Jedwede Lage ift eine Bes 
rufung zu unferem Heil und anderer Dienft”; es vers 
ging fein Tag, an weldem, in Freude oder Leid, ung 
diefer vaͤterliche Wahlfpruch nicht ind Gedächtnis ges 
rufen worden wäre. 

Ich war der Ältefte von den achten und in einer Aus⸗ 
nahmsöftellung, deren Vorzüge ich mir fonder Scham ge- 
fallen ließ, wie die jüngeren fie fonder Neid gewährten, 
denn nicht der Perfon, dem vorbeftimmten geiftlichen 
Erben famen fie zugute. Mir folgten vier Schweltern; 
ein eines brüderliches Dreiblatt: Gottlieb, Gottlob, 
Gotthold ſchloß die Reihe. Sch hieß Gottfried, wie der 
Bater, und mir allein wurde der unverfürzte Namens: 
lang zuteil, während die anderen, Zeiterfparnie halber, 
ſich die fchöne Anfangsfilbe ftreichen laſſen mußten. 
Für mich allein wurde der abgetragene väterliche Kafı- 
mir und Manchefter kunſtgerecht aufgeftugt, mir allein 
von Mein auf das Haar in ein Zöpfchen zufammengefloch- 
ten: alle anderen ſchor die mütterliche Hand rattenfahl 
und hüllte fie in hausmachenden Drell von naturalifti- 
(her Form und Farbe. Sie ftanden unter der Zucht 
der Mutter und in der Lehre des Schulmeifterg; ihre 
Zufunft war eine Werfftatt, ein Pachthof, dag Seminar 
und nur gelegentlicdy, durchaus nicht obligatorifch, ein 
Alumnat und Plak im Konvift. Die Pflichten des Seel- 
forgerd und die Studien des Gotteögelehrten ließen dem 
Bater nicht die Muße, fich der Heranbildung feiner 
jugendlichen Herde zu widmen. 

Für den Erben im Amte dahingegen durften, ja mußten 


Erſter Abſchnitt 5 
diefe Studien und Pflichten um reichliche Tagesftunden 
verkürzt werden. Mein Lehrer von der Fibel ab war 
der teure Dann felbft, er allein. Als künftigen Pors 
tenfer führte er mich ftrifte die Wege, durch welche er 
fih felber einft gewunden hatte. 

Wie aber die beftbereitete Koft abftändig wird, wenn: 
fie einem allein gereicht wird von einem allein, fo teilte, 
zum Anreiz für Lehrer wie Schüler, ſich in unfer tägliches 
geiftiged Mahl — zwar nicht ein Kamerad -, aber doch 
eine Kameradin, die gar mandye harte Nuß geſchickter 
zu fnaden verftand, ald der Präparand für dag priefters 
liche Amt. Diefe Kameradin war die Tochter unferes 
Patrond, das Feine Freifräulein Erdmuthe von Fels. 

Und fo trete ich denn mit diefem Namen in den Kreis, 
deffen Schickfal einen romantifchen Faden in mein ein- 
fached Leben gewoben hat. Die Hand ded alten Mannes 
zittert. Wird es feine Seele befreien, wenn die nimmer 
ruhende Erinnerung zur Enthuͤllung wird? 

Ich weiß nicht, ob das Gefchlecht derer von Fels in 
anderen Zweigen ale in diefem fächfifchen etwa noch 
heute blüht. Unfer Freiherr Hand Herrmann fümmerte 
fih nur um den leßteren, hielt fich für deſſen einzigen 
Bertreter und die Burg im Heidewinfel für feinen ur- 
prünglichen Sig. Das Gut, ein Allodium, war feit 
zwei Sahrhunderten um mehr ald dad Doppelte an- 
gewachſen; an der Grenze feined Areale hatte ein Klo- 
fter geftanden, der Sage nach von einem Bruder des 
Burgherrn gegründet, und waren diefer weltliche und 
geiftliche Herrfcherfig während des ganzen Mittelalters 
die gebietenden meilenweit in der Runde geblieben. ‘Der 
legtere ftürzte infolge der Reformation; das Kloftergut 


12 Fran Erdmuthens Iwillingsfähne 


wurde eingezogen, ber Klofterbau während ber Religions: 
friege beftenteild zerſtoͤrt. 

Burg und Burgherr flanden auf feiteren Füßen; ja, 
e6 glücte dem legteren, einem tapferen Kämpen für die 
gereinigte Lehre, den fäfularifierten Grund durch Kauf 
und Schenfung der Familie, von der er ftammen follte, 
wieder anzueignen. Daß ritterfchaftliche Dominium be⸗ 
ftand demnach aus zwei zufammenhängenden, aber felb- 
ftändigen Anteilen, Burghof und Klofterhof genannt; 
weil der Stamm der Fels feit Öenerationen jedoch regel: 
mäßig nur einen Sproffen, und zwar einen männlichen, 
getrieben hatte, fo war das Doppelgut in der nämlichen 
Hand geblieben, die Bewirtfchaftung auch lediglich vom 
Burghofe aus betrieben worden. 

Zum erften Male fah ber gegenwärtige Namensträger 
eine weibliche Blüte dem alten Stamme entfeimen, und 
ba fie, wie früherhin die männlichen, eine einzige blieb, 
wird man unferem edlen Patron einen heimlichen Miß- 
mut nicht übelnehmen. Er hatte bie Gattin, die er ge- 
mäß feiner Stammes⸗ und Sinnedart gewählt, von 
Herzen geliebt, nichtödeftoweniger gehörte er aber zu 
den Erdenherren, welche dad Regiment allein für das 
ftarfe Sefchlecht in Anfpruc; nehmen und dem ſchwachen 
feine höhere Beſtimmung einräumen, als ihre Gebieter 
ausreichend mit Erben zu verforgen. 

Der frühe Tod der Dame vor ber Erfüllung ihrer 
wefentlichften Lebensaufgabe bewirkte indeffen einen be- 
deutungsvollen Umfchlag. Die Kamilienchronif wußte 
von feinem Feld, der zu einer zweiten Ehe gefchritten 
wäre, und auch unfer Kerr dachte nicht daran, auf 
biefem natürlichiten Wege feinen Namen in die Zukunft 


Erfter Abſchnitt 18 


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zu leiten. Er liebte die Mutter weiter in dem Kinde; 
ſein Dichten und Trachten verſenkte ſich allmaͤhlich in 
die Pflege dieſer fremdartigen Knoſpe an dem alten 
Baum; ja, er gelangte dahin, in dieſer Wandlung eine 
ſegensreiche Fuͤgung zu verehren: eingeimpft auf einen 
fremden Stamm, getraͤnkt mit friſchem Safte, ſollte das 
edle Reis von neuem und um ſo kraͤftiger erbluͤhen. 
Sah er denn nicht an hoͤchſter Stelle, daß ein uraltes 
Geſchlecht glaͤnzend, wie die Sonne, nach einem wolken⸗ 
duͤſteren Tage zur Ruͤſte ging? Die Tochter, in welcher 
geiſtig und leiblich die Grundeigenſchaften ſeiner Sippe 
ſich zur Vollkommenheit entwickelten, ſollte das Muſter⸗ 
bild einer regierenden deutſchen Edelfrau werden, wie 
die letzte Habsburgerin das einer regierenden deutſchen 
Fuͤrſtin war. 

Denke ich zuruͤck an unſeren Herrn von Fels, ſo ſteht 
er vor mir, wie der aus dem Lande Uz: „ſchlecht und 
recht, gottesfuͤrchtig und meidete das Boͤſe.“ Ein Ehren⸗ 
mann, dem ja ja, nein nein hieß; auch eine ritterliche 
Natur, trotzdem er niemals das Schwert gegen einen 
Feind gezuͤckt; Geſtalt und Habitus nach dem Urbild 
eines Germanen, ohne einen Tropfen jener ſorbiſchen 
Beimiſchung, welche dem oberſaͤchſiſchen Stamme die 
bewegliche Spezialitaͤt verliehen haben ſoll. Eine gewiſſe 
Schwerfaͤlligkeit und Zaͤhigkeit dahingegen nannte er 
ſcherzweiſe ſelber, eingedenk der hollaͤndiſchen Einwan⸗ 
derung, „ſeine flaͤmiſche Ader“. Er liebte derartige 
Kombinationen und pflegte zu ſagen: „Willſt du einen 
Menſchen kennen, mußt du ſeinen Stammbaum kennen.“ 

Einfach, nuͤchtern, verſtaͤndig, wie er war, hatte er ſich 
ſchon in der Jugend dem erſchoͤpfenden Hoͤflingstreiben 








14 Frau Erdmuthens Swillingsföhne 


fern und als Schugherr ruhig auf feiner Scholle ges 
halten. Auch jeßt, wo ein Regiment feiner Sinnesdart 
gemäß die hundertjährige Wüftlingsherrfchaft auf und 
neben dem Throne abgelöft hatte, blieb er, bie auf bie 
Gelegenheiten einer aufrichtigen Huldigung, ber alten 
Burg im Heidewinkel treu, bemüht, den durch die Krieges 
zeit arg gefchädigten Grund für fruchtbarere Ernten vor; 
zubereiten; bi8 denn im Verlauf die Heranbildung feiner 
Tochter zu dem nämlichen Berufe das große Ziel ſeines 
Lebens wurde. 

Er erzog fie aus diefem Grunde von Haufe aus anders, 
als Töchter ihres Standes, zumal einzige Erbtöchter, er- 
zogen wurden, widelte fie nicht in Seidenpapier, vers 
ſchmaͤhte die Kunftfertigfeiten des weiblichen wie bie 
Berfeinerungen des refidenzlicdyen Tageslaufes, fondern 
hielt fie fletig unter den Iandfchaftlichen und wirtfchaft- 
lichen Eindrüden ihres künftigen Regierungsbezirks. 
Eine franzöfifche Gouvernante mußte ſich darauf be⸗ 
fchränfen, die nun einmal gültige höhere Umgangs⸗ 
fprache im Kaufe zu pflegen; für alles, was Unterricht 
hieß, forderte er einen Mann, und zwar vor allen an- 
deren den heimifchen Mann, mit welchem ein von den 
Vätern ererbted Vertrauen ihn von Kindeöbeinen an 
verband. 

„Richt? ‚ihr‘ den Kopf wie deinem Portenfer,“ fagte 
er zu meinem Vater. „Es ift aud) eine alma mater, vor 
der ‚fie‘ eined Tages beftehen fol.“ 

Und fo wurde auf der Gelehrtenbant des Pfarrhaufes 
bis zu Ovidius und Dezimalbrücen die weltliche Erbin 
des geiftlichen Erben Kamerad. 

Wenn beide nun aber nad) den faueren Stunden der 





Erfter Abſchnitt 15 


Arbeit auch die jüßen der Freiheit ald Kameraden treu 
zueinander hielten, fo war dies gleichfalls nach unſeres 
Herrn Sinn, denn: ‚fie‘ wird eined Tages mehr mit 
masculina al& mit feminina umzufpringen und einen 
Freund nötiger als eine Freundin haben. 

Das, was man Tändelzeug nennt, wurde für das 
Burgfräulein fo wenig wie für die Pfarrfinder beliebt 
und von jenem fo wenig wie von diefen vermißt. Denn, 
wenn unfere Tinen und Phinen die Fleinen Brüderchen 
warteten, wenn der Lieb und Lob Gänfe und Ziegen 
auf den Anger trieben oder wenn fie Reifig und Zaun: 
zapfen fammelten, Erdäpfel puddelten, Winterd Holz 
fpalteten, Löffel und Quirfe fchnigten, fo habe ich nie- 
mals bemerft, daß fie fih um ihr Kindheitsrecht, um 
Wicelpuppe und Stedenpferd betrogen fühlten. Das 
Kind arbeitet ja immer, wenn es fpielt, und ed kommt 
nur auf eine Methode wie die der anftelligen Pfarr; 
mutter an, um ihm die Arbeit zu einem heiteren Spiel 
zu machen. 

Student und Studentin trabten während deffen Sand 
in Hand durch Feld und Flur, durch Scheuer und Stall; 
am liebſten aber in Winter: und Sommerzeit, bei Regen 
und Sonnenfchein über das Klofter hinaus in die Felsſche 
Heide. „Sie muß fich in ihrer Schagfammer audfennen 
lernen”, fagte unfer Herr. Und fie lernte fich darin aus⸗ 
fennen, unter Förftern und Wildhätern, Holzfchlägern 
und Kohlenbrennern, unter den Armen, die Reifig und 
Beeren fammelten, unter Hirfchen und Rehen, Schnepfen: 
und Droffelfhwärmen, auf Weg und Steg. Sie wußte 
jede Schonung, jeden Baum, der reif war für Die 
fällende Art. 











416 Frau Erdmuthens Swillingsföhne 


ee En —— — — ——— —“ 


Nun muͤßt ihr aber, ihr Unbekannten, denen dieſe Er⸗ 
innerungsblaͤtter dereinſt in die Haͤnde fallen koͤnnten, 
unter meiner kleinen Schul- und Waldfreundin beileibe 
nicht ein wildes Hummelchen vor Augen haben, keinen 
Emil mit langen Zoͤpfen, keine angehende Jaͤgerin und 
Amazone, oder wohl gar die gelehrte Frau, wie ſie in 
der Fabel ſpielt. Mein Muthchen war von Natur das 
ſittigſte Maͤgdlein, das ihr euch malen koͤnnt; echt und 
recht eine Fels, reines Sachſenblut, verſtaͤndig, ohne 
Traͤumerei, ernſthaft, eine kleine große Dame, doch die 
Freundlichkeit ſelbſt. Vor allem aber entfaltete ſie ſchon 
als Kind jenen erſten Reiz des Weibes, den ich nicht 
deutlicher als den muͤtterlichen zu nennen weiß. Sie 
ſpuͤrte jedes Beduͤrfnis der Kreatur und wußte Hilfe fuͤr 
alles Fehlende und Verkommende. Ein wurzelkranker 
Baum, ein lahmendes Tier, ein ermatteter Arbeitsmann 
entging ihren Blicken ſo wenig, als ein durchbrochenes 
Gehege, eine wandelbare Felge, ein unſauberer Milch⸗ 
eimer, eine ſtumpfe Egge oder Axt. Dabei hatte ſie eine 
linde, geſchickte Hand, ein mildes und doch feſtes Wort, 
einen klaren Schluß. Jedwedem, der ihr nahe kam, 
wurde wohl. Ihr Kamerad aber fuͤhlte bei jedem Blick 
und Laut, daß ſie anders war, als die Beſten ihrer Art. 
Und die Beſten, wo haͤtte er ſie ſuchen ſollen, als unter 
den Knoͤſpchen, die neben ihm dem Pfarrgehege ent- 
fproßten? Sie blühten weiß und rot, die Zöpfe glänzten 
goldig und die blauen Augenfterne blidtten treu wie die 
meines Muthchend vom Burghof; groß und fräftig waren 
fie nicht minder; ihre Tränen ftrömten noch reichlicher 
bei anderer Weh, und das Lachen bei anderer Luft lang 
noch viel heller: warum war mein Muthchen nun dennoch 


N 


Erfter Abſchnitt 47 


andere — fchöner oder befler nannte ich ed nicht - 
warum fchien fie mir anders als die lieben Tinen und 
Phinen daheim? Ich hätte diefe Frage mir nicht bes 
antworten können; aber ich ftellte mir diefe Frage auch 
nicht. Sch fand ed in ber Ordnung, daß das Muthchen 
vom Burghof anders war, als die Tinchen und Phinchen 
in der Pfarre. 

So war ich vierzehn Jahre alt geworden; fie fünfzehn 
und einen Kopf größer ald ich. Zum Winter gedachte 
unfer Herr mit ihr zum erftenmal nadı Dresden zu 
gehen und ihr den Schliff geben zu laſſen, deſſen eine 
Geld bedurfte, wenn fie ihrer Kurfürftiin die Hand zu 
füffen hatte. Für die nämliche Zeit war meine Aufs 
nahme in Pforta anberaumt. Zuvor follten wir nod) 
gemeinfchaftlid; das erfte heilige Mahl von väterlicher 
Hand empfangen. 

„Laß fie ihr Ehriftengelübde mitfammen fprechen, wie 
wir ed mitfammen gefprochen haben, daß fie ſich werben, 
was wir und geworden find, mein Freund,” hatte ber 
Freiherr gefagt und nicht nachgelaffen, bis mein Vater 
das Bedenken überwunden, feinen Erben außerhalb feiner 
Kirche und feiner Gemeinde zum Chriften einzufegnen. 

Unfere Kirche, vor Jahrhunderten eingeäfchert und nur 
als bürftiger Holzbau wieder hergeftellt, war nebft der 
Pfarre abfeiten des Fleckens inmitten der beiden Güter 
gelegen. Nordwärts zog der Pfarrgarten fich bid an die 
Umhegung der Burg, füdwärts der angrenzende Gottes⸗ 
ader bis an bie Heide, nur durch die mit uralten Ulmen 
bepflanzte Fahrftraße von der Klofterruine getrennt. 
Selten habe id, für die Stätte der Bergänglichkeit einen 


anfprechenderen Hintergrund gefunden ald diefe wald» 
xx. 9 


18 Frau Erdmuthens Swillingsföhne 


umhegten Trümmer, die nur eines Felfenpoftamentd und 
etwa eined MWafferfpiegeld bedurft hätten, um neben dem 
Altertümler audy den Romantifer herbeizuloden. Eine 
Fleine Kapelle, das hohe Chor der einftigen Klofterfirche, 
war noch leidlich erhalten und würde einen trefflichen 
Abſchluß für einen Neubau abgegeben haben. 

Auch der Burg hatte das Alter mitgefpielt, und unfer 
Herr fchon feit dem Frieden fidy mit dem Plane ges 
tragen, den fchwerfälligen Steinfaften mit feinen uns 
heimlichen, Tichtlofen Winkeln wohnlich auszubauen. 
Allcd Neue indefjen ging, wie die Saat im ſchweren 
nordifchen Boden, langfam in unferem Herrn auf, dann 
aber, um tiefgewurzelt und fräftig beftodt den Stürmen 
ſtandzuhalten. Eo waͤhrte ed denn auch viele Jahre, 
bis jener Plan, dann jedoch nicht ald ein Ausbau, 
fondern ald Neubau — zur Vollendung kam. Die Wälle 
waren geebnet, die Gräben zu Gärten ausgefüllt, die 
riefigen Quadern, welche in unvordenflicher Zeit, Gott 
weiß wie und woher, für die Burg im Heidefande 
herbeigefchleppt worden waren, gaben den Untergrund 
für einen Herrenfig: einfach, folide, ftattlich und behag⸗ 
lich wie das Gefchlecht, das darin Plag nehmen follte. 
Der Name Burg verfchwand und der „dad Schloß“ ers 
ftand in der Leute Munde. Die wenigen Freunde des 
Altertums ſchrien Zeter, aber die vielen Freunde der 
Gegenwart fühlten ſich heimifch in den neuen Räumen, 

Das Erdgeſchoß enthielt reichlich Gelaß für eine 
Familie, die eined Tages ftärfer fein durfte, als die 
jegeitige; der Oberbau Gafts und Feltgemächer, unter 
denen der große Ahnenfaal in der gefuppelten Mitte 
einen gar vornehmen Eindrud machte. Sahrhunderte 


Erfter Abſchnitt 19 


hinab zog ſich die Reihe der Bildniffe eines Fräftigen 
und felber in den Frauen wefentlic, gleichgearteten Ges 
fchlechte; feine beiden erften proteftantifchen Bekenner, 
vielbewundert, waren von der Band der Cranachs Bater 
und Sohn. Eine Familientradition, welche die malenden 
Bürgermeifter der unfernen Lutherftadt und die ritters 
lichen Burgherren von Feld zu Seelenfreunden machte, 
trägt eine natürliche Glaubwürdigkeit in fich. Mit dem 
Pinfel und mit dem Schwert haben beide feit zu ihrer 
Sache geftanden. 

Die Ahnenreihe, fo zahlreich fie war, füllte nur eine 
ber beiden Langfeiten ded Saaled, die andere blieb dem 
erhofften Fünftigen Oefchlechte vorbehalten. Die Schmals 
feite, dvem Kaupteingange gegenüber, bildete ein Halbs 
rund, in welchem die zwei Geftalten unferes Herrn und 
feiner vielbetrauerten Gemahlin nur noch für die der 
Tochter einen Raum übrig ließen. Denn als Befchließerin 
der alten und Begründerin der neuen Reihe müffe ‚fie 
zweimal vorhanden fein, meinte unfer Herr. 

Unfer Herr war von einem Typus, welchen auch ein 
mittelmäßiger Künftler nicht gar leicht verfehlen konnte; 
er brauchte nur feinen Herrn Bater oder Großvater abs 
jufonterfeien und ihn modifch mit Zopf und goldgeftichtem 
Seidenrod auszuftatten, und jedermann würde gerufen 
haben: „Unfer Herr!” Seine Frau Gemahlin, die eine 
anmutsvolle Dame gewefen fein foll, hatte der Dresdner 
Hofmaler mit anfchaulicher Würde im Brautftaate dar- 
geftellt. Das Perlenkroͤnchen, ein Erbftüd der Fels, 
thronte über dem Myrtenkranze auf dem hochgepuderten 
Toupetz den weißen Brofat meinte man raufchen zu 
hören, wenn man zu der Trägerin in die Höhe blidte, 


20 Srau Erdmuthens Swillingeföhne 


Unter diefen beiden Bildern war am Michaelidtage 
1780, meined Muthchens Geburtsfefte, ein Altar aufs 
gerichtet, und vor demfelben fnieten die beiden Erben 
von Burg und Pfarrei zur feierlichen Erneuerung ihres 
Ghriftenbunded. Der neue Schloßbau wurde mit diefem 
Akte eingeweiht, eine zahlreiche Gefellfchaft des Lands 
adels und dad gefamte Gutsperfonal waren ihres Treu⸗ 
ſpruchs Zeuge. Sie wie er fprachen ihr Bekenntnis in 
heiligem Ernft; aber feine Stimme zitterte in der fremd⸗ 
artigen, ftolzen Umgebung, während die ihre hell wie 
eine Glocke den Raum durchhallte, in welchem Ahnen, 
Gleiche und Diener die Blicke auf fie richteten. Als wir 
und von den Knien erhoben, um die Gluͤckwuͤnſche der 
Verfammlung entgegenzunehmen, wagte ich zum erften- 
mal die Augen zu meiner Schwefter in Chrifto auf- 
zufchlagen. Wie von einem Blige geblendet, ließ ich fie 
aber wieder zu Boden finfen. Denn ald id) fie fo an 
meiner Seite ftehen fah im fchwarzen, ſchleppenden Gros 
de Tours, Fopfeöhoch mid; überragend mit dem funtelns 
den Erbfrönchen auf dem Toupet, zu welchem man heute 
zum erftenmal die reichen Flechten aufgetürmt und ihren 
goldigen Glanz mit dichtem Puder gedämpft hatte, da 
durchzuckte mich die Kellficht, daß mit dem Belenntnig, 
welches die Menfchen zu Brüdern machen foll, unfere 
Geſchwiſterſchaft abgefchloffen, daß fie eine andere für 
mich, ich ein anderer für fie geworden fei. Bon diefem 
Augenblice an duzte ich fie nicht mehr und nannte fie nicht 
mehr mein Muthchen, jondern mein Fräulein Erdmuthe. 

Daß heißt, ich nannte fie fo in Gedanken; vernehmlich 
habe ich den neuen Würbdentitel nicht ausgeſprochen. 
Wir fapen mit gefenften Blicken nebeneinander am 


Erfter Abſchnitt 21 


Ehrenplatz der feſtlichen Tafel, die dem Weiheakte folgte; 
wir redeten kein Wort weder mitſammen, noch mit 
anderen, beruͤhrten keinen Biſſen nach dem heiligen Brot 
und nippten nur zum Schein, als der Freiherr den alten 
Felsſchen Humpen auf das Wohl der jungen Chriſten 
leerte. Nach der Tafel trennten wir uns mit einem 
ſtummen Haͤndedruck. 

Noch bei Sternenſchein am anderen Morgen wanderte 
ich, das Raͤnzchen auf dem Ruͤcken, durch unſere Heide 
der naͤchſten Poſtſtation entgegen. Der Vater gab mir 
das Geleit. 

„Jedwede neue Lage iſt eine neue Berufung zu unferem 
Heil und unferer Nächften Dienft”“, mit diefem feinem 
täglichen Wahrſpruch riß fih der teure Mann aus 
meinen Armen. Unter ftrömenden Tränen fletterte idy 
in die gelbe Kutfche, die mich aus dem Schuge des 
Vaterhaufes unter den der alma mater führen follte. 

Die väterliche Vorfchule bewährte ſich. Ich überholte 
im Antrittderamen die unterfte Klafle; verlief alles, wie 
es verlaufen follte, durfte ich in fünf Jahren ftatt ſechs 
die Straße, auf der ich herangezogen war, zurüdziehen 
und mich in den KHörfälen der ehrwürdigen Lutherſtadt 
niederlaffen. „Solch ein wohlbeftallter Unterfetundaner 
koͤnnte mein Fräulein Erdmuthe nun aud fein,” feufzte 
ih, als ich mid, zum erftenmal in dem Schlaffaale der 
alten Pforte zur Ruhe begab. „Ach wäre fie doch ein 
Junker und noch mein Kamerad!“ 

* % 

In einer der englifchen Klofterfchulen, denen die unfrige 

in mancher Hinficht ähnlich gebildet ift, wird an einem 


22 Frau Erdmuthens Zwillingsföhne 


beſtimmten Fruͤhlingstage in feierlichem Aktus eine 
lateiniſche Hymne geſungen, welche die Suͤßigkeit des 
Heimlebens preiſt. 

Die Sage fuͤhrt dieſen Jahrhunderte alten Brauch auf 
einen Schuͤler zuruͤck, der aus Sehnſucht nach dem Vater⸗ 
hauſe an gebrochenem Herzen ſtarb. Er war ſeit ſeinem 
Eintritt in die Schule nicht wieder heim geweſen und 
hauchte den letzten Seufzer aus, nachdem er den Refrain 
der Strophe: „dulce domum“ in eine Baumrinde ein⸗ 
gegraben hatte. 

Die Hymne Contiamus ift meiner Zeit im Shore ber 
Pförtner nicht gefungen worden; aber auch in der deut⸗ 
ſchen Klofterfchule hat es einen Zögling gegeben, weldyer 
in feiner fünfjährigen Lehrzeit die füße Heimat nicht 
wiederfah. Eine mehrwöchentlihe Sommervafanz war 
jener Tage noch nicht eingeführt, und für kurze Feſtferien 
wurde eine Reiſe von der füdlichften zur nördlichften 
Spitze des Kurfuͤrſtentums der Zeit und der Koften nicht 
verlohnend erachtet. So ift der Alumnus Bleibtreu mehr 
denn einmal der einzige zwifcdhen den alten Mauern 
zurücdgeblieben, hat wohl häufig den Nebel der Sehn⸗ 
fucht über feinen Augen gefpürt, hat wohl manchen 
teuren Heimatsnamen in junge Baumrinden eingefchnigt, 
aber dag Herz ift ihm keineswegs gebrochen, im Gegen⸗ 
teil, ed hat ſich ihm gefeftigt und gefüllt. 

Denn ed war eine reihe Sand, welche feine zweite 
Mutter dem armen Heidefohn bot, und wenn er an der 
rauhen Stchrfeite fid) dann und wann ein wenig wund 
gerieben hatte, ei nun, half denn da nidıt der Wahr: 
ſpruch, der aus jeder Not eine Tugend madıt? 

Wenn Winterd lange vor Tagesgrauen die Glode 


Erfter Abſchnitt 23 


wecte, während der Sandmann noch hart auf die 
ſchweren Lider drüdte, oder wenn am Abend bei dem 
einzigen Talglichte für den Tifch von ihrer zehn die ents 
zündeten Augen zuftelen über den feinen Lettern der 
alten Autoren, dann dadıte er an den Mann fdhmwers 
erfämpfter Wiffenfchaft, feinen Vater, und wurde wach. 
Wenn higköpfige Kameraden an dem friedfeligen Pedanten 
ihre Weütchen fühlten, ihm den Rüden bläuten, ihn kopf» 
über in den Waflertrog ftürzten, den Fuchs mit ihm 
prelften, das heißt ihn im Bettlafen aufs und nieder: 
ſchnellten, da dadıte er an den Wann der Liebe, wieder 
feinen Bater, an all den Hohn und Unbill, die er in 
feiner armen Schädhyergemeinde erbuldete, und wurde 
froh. Aber auch, wenn ihm auf den Tafeln des Zoͤnakels 
die Fleifchtöpfe von Ägypten entgegenlachten, dann dachte 
er an die magere Spittelfuppe daheim, dachte daran, daß 
auf die fetten Sahre die dürren folgen würden, auf den 
Kloftertifch der Zifterzienfer dad reformatorifche Konvikt, 
und er fchob den dritten Kloß, den er fidy zugelangt, 
auf den Teller feines Landsmanns Guſtel Hecht, der von 
diefem allfeitigen Teibgericht, zumal wenn ed mit „Schars 
wenzen” (fauren Kaldaunen) begleitet war, ein Dugend 
ohne Befchwernis in fid, aufzunehmen vermochte. 

Daß mir im übrigen zu herzbredyenden Stimmungen 
gar nicht einmal die Zeit verblieb, wird jedem billig 
Denfenden einleudhten, der in dem nachfolgenden Briefe 
die mütterlichen Vorfchriften mit den väterlichen in Ver⸗ 
bindung bringt. Es ift der einzige Brief, die Waſch⸗ 
zettel ungerechnet, den die fleißige Frau Mutter mir in 
die Fremde gefchrieben hat, denn „ein Wort fo viel wie 
taufend“, das war auch eine von den weifen Regeln, 


> Frau Erdmuthens Swillingsfähne 


nach welchen fie ihr Tagewerk eingeteilt hatte. Der 
Brief lautet: 

„Du ftudierft anjeßo aufd Amt, mein Sohn, und das 
wirft Du fertig bringen. Denn warum? E38 liegt Dir 
im Geblät. Aber Ämter und gebratene Tauben fliegen 
nicht in der Luft. Erhält der Allmächtige den Herrn 
Bater nad) dem Laufe der Natur, wie ic, felbiges alle 
Tage auf meinen Knien von ihm erflehe, fo ift Dein 
Spatium bis zur Erbfanzel weit. Was alfo vornehmen 
in der leeren Zeit? Ein Subftitute ift ein weißer 
Sperling. Solange ihm die Zähne nicht ausfallen, 
ißt jedweder fein Stud Brot für ſich allein. Der Herr 
Bater hat ed auf unferen Schulmeifterpoften für Dich 
abgefehen. Denn „Bimmeldfamen muß in der Kindheit 
gelegt worden fein,‘ ift ded Herrn Vaterd Wort. Ich 
habe nichtd dawider, Gottfried, der Herr Vater muß 
das am beften wiffen, aber für Dich paßt dieſe Profeffion 
nicht. Weit eher für unferen Hold, der ein Zimmer- 
mann werden will. Wer fich in jeglichen Menfchen 
apart hineintüfteln und jeglichem Stridy ein Pünktchen 
auffegen möchte, daß auch ja richtig ein J daraus wird, 
und fo einer bift Du mein Sohn, der mag felber erft 
beim Schafhirten in die Lehre gehen. Für jedweden 
ein Leiften heißt für feihen ein Schuh, und wer unter 
fo einer Rotte Korah nicht aufgebracht ift, verfteht ſich 
nicht aufs Traftement. 

„Bleibt alfo der Hofmeifter in einem adligen Baus, 
ober fonftwo bei feinen Leuten. Und darum, feitbem Du 
fort bift, mein Gottfried, rumort’s in mir Tag und Nadıt 
und fpähe ich mit Augen und Ohren, was anjetzo in 
diefer Branche die Anforderung iſt. Denn für fo ein 


Erfter Abfchnitt 35 


Junkerchen oder $räulchen, wer fragt da viel, ob einer 
auf dem Cicero, oder gar auf den Kirchenvaͤtern fattels 
feſt fist? Weit eher auf einem vierfüßigen Geblät. 
Einlöffeln fol ex Keinen Abce-Schägen, und mit Sirup 
beftrichen obendrein, was er in der Regel felber nicht 
eingelöffelt, oder auf gelehrten und hohen Schulen lange 
wieder audgefchwigt hat; neue Entdedungen fol er 
machen, mit der Zeit fortfchreiten, die Welt auf ben 
Kopf ftelen, wie das anjego auf die Tablatur ge- 
fommen ift. 

„Aber das ift nur Numero eins; die Nullen kommen 
hintennach, die erft die Trefferzahl ausmachen. Feine 
Conduite fol er haben; wohlreden fol er in eigner und 
wälfcher Zunge; einen Carmen fol er reimen können, 
zum Tanze auffpielen, felber in einem Taͤnzchen aus» 
helfen, ein fchöner Geift fol er fein und derlei Kleinig- 
feiten mehr. Darum, mein Sohn, fooft Du einen 
freien Augenblid haft, Sonntags und während ber 
Vakanzen, da benfe an den Informator, und wenn Du 
die Goldmuͤnze der Wiffenfchaft, wie der Herr Vater ee 
nennt, in Deine Sparbüchfe geſteckt haft, dann geize auch 
nach dem Basen, der im Handel und Wandel gilt. 
Bergiß Dein Franzöfifch, vom Schloffe her, nicht, und 
wenn Du nur mit Dir felber parlieren follteft; übe Dich 
auf dem Klavier auch in weltlichen Weifen; befleißige 
Dich der Tanzkunft, daß Du mit Deinen Gliedmaßen 
fein fteifer Peter bleibft und weil ein Informator, der 
fein Tänzchen verfteht, auf Iändlichen Stellen eine ge- 
ſchaͤtzte Perle ift. 

„Und ganz zulegt, mein Sohn, nun noch eine Offen⸗ 
barung, die genau genommen für Deine Jahre noch nicht 


26 Srau Erdmuthens Swiltingsfähne 


paßt. Nur von wegen, daß jedweder Menſch eine fterb= 
liche Kreatur und nichts, mein Sohn, ich fage nichts, 
auf die lange Bank zu fdyieben iſt. Merke Dir alfo, 
lieber Gottfried: wo ein Kofmeifter im Kaufe gehalten 
wird, da foll er anjeßo auch der Borlefer und Ausleger, 
wohl gar an langen Abenden ein Geſchichtenerzaͤhler 
fein. Die feinen Damen, fo heißt es, lefen und hören 
aber alleweile am liebften Kiftorien, die fie Romane 
nennen: aus dem Römifchen, denk ich mir, von wannen 
ja fhon fo mancher Heiden⸗ und Teufelsſpuk in deutfche 
Lande gedrungen ift. Es follen gar abfonderliche Terta 
in derlei römischen Gefchichten zur Abhandlung fommen; 
Terta, die nur mit Namen zu nennen meiner Zeit die 
Zunge ſich gefträubt haben würde, felber bei einem 
Ehemann gegen feine angetraute Frau. Aber die Mode 
ändert fi), mein Sohn, audy im Punkte der Schams 
haftigfeit; und felber da, wo und dad Alte befler ges 
fallen hat, follen wir dem Neuen zu Gefallen leben, 
denn alle Zeit fommt von dem Herrn. Studiere alfo 
auch auf die roͤmiſchen Geſchichten, mein Gottfried, 
lege Dich auf die feine Damenwelt; Du wirft ein 
feufcher Süngling dabei bleiben. Des bin ich getroft.“ 
Als id, diefen Brief zu Ende gelefen hatte, würden mir 
ohne Zweifel die Haare zu Berge geftiegen fein, wenn 
fie mir nicht im Haarbeutel feitgebunden gewefen wären. 
„Ach,“ feufzte ich, „warum ift mein Fräulein Erdmuthe 
nicht ein Junker, wie unfer Herr einer gewefen ift! Ich 
zöge mit ihm auf die Akademie und dann ultra montes, 
und alled wäre gut!“ 
„Kindskopf!“ brummte der große Bär, vor deffen Ohren 
ich dieſes Klagelied ausgeftoßen hatte; über fein graues 


Erfter Abſchnitt 97 


Geficht lohte eine Flamme wie allemal, wenn id) unferes 
Herrn und feiner ‚fie vor ihm Erwähnung tat. Und 
das gefchah oft. 

Bär war mein Obergeſell und Stubenfenior! Mein 
Freund, würde ich gefagt haben, wenn zum Freundfein 
nicht auch gehörte, daß einer den anderen, welchen er 
berät und fchügt, in irgend einem Stüde doch auch wieder 
ein wenig nötig haben muß. Albrecht Bär wollte auf 
der Welt aber feinen Menfchen nötig haben, und weil 
er vor der Hand doch noch zwei Nährmütter nötig hatte, 
eine leibliche, die etwas weichmütiger, und eine geiftige, 
die etwas rauhmütiger, als feiner Bärenhaut angenehm, 
ihre Gaben fpendeten, darum ift er auf der Schule und 
anderwärtd wohl der große Bär geworden, aber audy 
der Drummer geblieben, der er von Mutterleibe an ges 
wefen fein fol. 

Er ftammte, wie Guftel Hecht, aus meinem Ort. Hecht, 
ein Patrizier, denn fein Vater war Feldfcher Gerichtds 
direftor; Bär ein Plcbejer, denn feine Mutter war Aus» 
geberin und Witwe ded Kammerdienerd von unferem 
Herrn, ihres Sohnes Alumnenftelle aud) Felsſches Pas 
tronat. Ob dem jungen Bären wohl auch dad Fell fo 
widerborftig gewachſen und die Stimme in einen Brumms 
baß umgefchlagen wäre, wenn er ald Freiherr auf die 
Welt gefommen und ald Ertraneer in der Pforte gefeflen 
hätte? Des Menfchen Schickſal wird in feiner Wiege 
großgefchaufelt, war ein Felsſcher Sprud,. 

Die Kandeleute Bär und Hecht konnten für Gegenfäße 
gelten. Der eine: „groß, ftarf und freydig”, wie ed im 
alten Zierbuche von feinen Namensvettern gefchrieben 
fteht, rauh und grau, Der andere: Flein, rund, glatt, 


28 Frau Erdmuthens Iwillingsfähne 


rot und nur dem Magen nach ein Hecht. Baͤr galt fuͤr 
ein Lumen; fuͤr ein Lumen galt Hecht nicht, aber fuͤr einen 
guten Kerl. Er hatte immer einen Troß um ſich; Baͤr 
ging allein. Waͤhrend der Vakanzen rannte er in die 
Thuͤringer Berge nnd kehrte immer mit einem geleckteren 
Geſicht zurüd, aber nur für ein paar Stunden geledt 
und immer allein. Und doch gab es in der Pforte einen, 
mit dem er Hand in Hand hätte wandeln können, der 
fein Nebenmann in der Klaffe und auch ein Lumen war, 
ein Lumen, das dereinft weithin geleuchtet hat in die 
deutfche Welt, aus welcher Albrecht der Bär verſchwand. 

Das Lumen Numero zwei hieß Johann Gottlieb Fichte, 
und hat der Fleine Pfarrerbe in der Nachbarftube damals 
leider wenig von feinem Schein gemerft. Kat aber das 
Lumen Numero eind den Schein des Numero zwei 
denn auch nicht bemerkt? Warum ging das eine rechts, 
das andere links? Iſt das aller Lumen Art? 

Das Nichtlumen Hecht ftand unter dem Lumen Fichte, 
wie dad Nichtlumen Bleibtreu unter dem großen Bär. 
Wie der mid, Kindsfopf nannte, nannte jener den 
Hecht - - -; die Welt verliert nichtd dran, wenn ich ben 
Namen verfchweige, fichtiſch lang er nicht, er hatte auf 
feine einzige Hechtähnlichfeit Bezug. 

Bär lachte laut über die mich fo lebhaft beunruhigende 
Epiftel der Klügften der Jungfrauen mit dem Ölfräglein. 
Überhaupt lachte er oft, aber fein Lachen Fang wie Ges 
brumm, und man wurde nachdenflich, wenn er lachte. 
Hecht lachte niemals fo, daß man es hörte oder fah; 
aber dad Herz im Leibe lachte ihm, zumal bei Tafel; ein 
jeber wurde Iuftig, der ihm gegenüber faß, und felber 
fein ernfthaftes Lumen lachte mit. 


Erfter Abſchnitt 29 


Was den Informator anbelangte, fo tröftete mich Bär. 
Er ſtecke mir in der Wirbelfäule wie das Pfarramt im 
Geblüt, meint er, und im Punkte der feinen Damenwelt, 
da könnte ichs dermaleinft leicht noch bie zum Schreiber 
einer römifchen Gefchichte bringen. Ald Landemann, 
Obergeſell und Stubenältefter fühle er indeflen ſich ger 
drungen, an den Organen, welche außer dem Gebluͤt 
und der Wirbelfäule an einem Menfchenfinde noch aus⸗ 
zubilden feien, einen Kunſtverſuch zu wagen. 

Zunaͤchſt an dem Untergeftell, auf welchem ein jeglicher, 
fo gern er fich buͤcke, fidy doch unvermeidlich durch die 
befte aller Welten zu fchieben habe. „Auf eignen Füßen,“ 
war fein Lebensſpruch und „wehre dich deiner Haut“ 
wurde das caetera censeo feiner KHunftmethode an dem 
zu Heil und Dienft berufenen Zögling der Orthopädie. 

Sooft wir fortan im Wirtfchaftöhofe nebeneinander 
fpazierten, drängte er midy vom Pflafter fo lange, bie 
ich in der Entenpfüge watete; er trieb mir die Maifäfer, 
die ich nicht leiden fonnte, ind Geficht und hette bee 
Rentmeiſters Kläffer, die ich noch weniger leiden konnte, 
mir zwifchen die Beine. Oder, er fchnippte mir wie 
von ungefähr das Abendbrot aus der Hand, daß es auf 
die Butterfeite fiel. Einmal, da er mir beim Auf» und 
Abgehen zwifchen den Scheitholzreihen und dem Saal⸗ 
arm einen Vortrag über fein Lieblingsthema hielt, ſtemmte 
er die Ellenbogen in die Hüften, ſchob und fchob, daß 
der Raum zwifchen mir und dem Waffer immer fchmäler 
ward. Sch fprang an feine rechte Seite; er mit einem 
VBärenfage wieder an meine rechte und fo fort, bis end⸗ 
lich nur noch eine Band breit Ufer für mich übrig blieb. 
Ein Steinchen brödelte, und ich rutfchte in den Fluß. 


30 Fran Erdmuthens Swillingsföhne 


Er holte mich rafch wieder heraus, hielt auch getreulich 
in der Sranfenftube bei mir Wacht, bie der Fuß, den 
id mir beim Fallen verftaudht hatte, wieder gangbar 
war, und wenn ein anderer mit ähnlichen Mandvern in 
fein Erziehungswerf pfufchen wollte, hat er fih und 
mid, tapfer gewehrt oder geraͤcht. Er hoffte bei feiner 
Methode ed weit mit mir zu bringen; zu einer hierarchifchen 
Geſtalt, einem Meinen lutherifchen Papft. und dergleichen 
mehr. Jedenfalls weiter ald das Lumen in der Nebens 
ftube mit der Philofophie bei unferem Landsmann Guſtel 
Hecht, da er ihm eines Mittags den zehnten Kloß, wel: 
chen Hecht ſich mit feinem Testen Kreuzer eingehandelt 
hatte — drei Klöße famen gefeglich nur auf den Mann 
- fonder pädagogifche Kunft aus dem Munde fchlug, 
ohne ihm dadurch den Appetit auf Klöße herauszuſchla⸗ 
gen, oder, gettlob! feinen braven Hechtsmagen mit Galle 
zu verſetzen. 

Wie weit ed der Inftruftor mit feiner Methode ber 
Mehrhaftigfeit bei dem Kindskopf gebracht haben würde, 
laßt fich leider nicht feftftellen, da der Kurfus ſchon im 
nämlichen Semefter jach unterbrochen, Bär von der 
Schule relegiert wurde, trogdem er mit feiner fchrifts 
lichen Eramenarbeit über die Schlacht an den Thermos 
pylen den Preis noch über dem Lumen in der Nebenftube 
erhalten hatte. Freilich er trieb ed arg. Mit aufgelöftem 
Haarbeutel, eine Tonpfeife im Wunde, wandelte er im 
Primanergarten fo lange auf und ab, bid das Auge des 
gewaltigen Reftord wie ein Donnerfeil auf den Frevler 
niederfanf. Das Haar war glatt gefämmt, und in der 
Pfeife ſteckte unangezuͤndet nur ein Eichenblatt, denn 
Albrecht Bär hat bis an fein Ende Wirrwarr und Qualm 


Erfter Abſchnitt sa 


— mit Ausnahme von Pulverqualm — verabfcheut wie 
die Sünde. Aber was half ihm das, wenn er franf und 
frei in hoher Synode ed ald ein unveräußerliched Mens 
ſchenrecht erflärte, feine Mähne wallen zu laffen und 
kalt zu rauchen? Solche Menfchenredhte fonnten auch an 
einem Lumen nicht geduldet werden, ohne die Fürften» 
fchule in ihren Grundfeften zu erfchüttern. Bär mußte 
fort. 

Sch, aber ich ganz allein, war ber Meinung, Bär 
wollte fort. Er hatte auf ein paar kurze Ferientage 
feine franfe Mutter, die Kammerdienerwitwe, befudht 
und war mit zwei feltfamen Purpurrofen auf den grauen 
Wangen zurüdgefehrt. Bei der bloßen Frage nad) uns 
ferem Herrn und Fräulein Erdmuthen fchüttelte ihn 
gleichfam ein Ficberfroft. Was koſtete es ihn als ein 
bißhen Magenfnurren und ein paar Nadıtftunden ger 
lehrter Korrektur, um es ald Thomagfchüler in Leipzig 
ohne danfbarlichen Kragfuß vor einem gnädigen Patron 
und feiner ‚fie‘ vollends zum Bruder Etudio zu bringen? 
So fchied er, und außer den meinen wurden feine Abe 
fhiedstränen dem Brummer nachgeweint. 

Ich aber, ohne fernerweitige Dreffur zu einer hierardhis 
fhen Geftalt, bildete mich befcheidentlich weiter für die 
beiden Ämter, die mir in Geblät und Wirbelfäule eine 
geimpft fein follten, Das Streben zum Pfarrerbe blieb 
Numero eins, da aber gewiffe Erinnerungen mir zu 
Hilfe famen, frönte aud) das zum Wuftermagifter ein 
gewiffer Erfolg. Ich vergaß mein Franzdjifch nicht, denn 
ed waren meined Muthchens Lippen, von denen ich es 
aufgefangen; ich blieb der edlen Muſika treu, die mein 
Bater, feinem großen Meifter nad, eine Prophetenkunft 


82 Fran Erdmuthens 3willingsſoͤhne 


genannt, auch manch Foftbare Stunde für Orgelfpiel 
und Choralgefang mit mir geopfert hatte; wenn ich nun 
zurüd daran dachte, wie mein Muthchen ernften Auges, 
mit gefalteten Händen und gegenüber gefeflen und zum 
Schluß ihre Klare, volle Stimme in unfere Übungen ges 
mifcht hatte, ba war ed wahrlich feine Hexerei, e& bis 
zum Organiften und Vorfänger im Chore der Portenfer 
zu bringen. Auch dad Carmen ift mir flott vom Kerzen 
gegangen, dad ich alle Sahre zum Midhaelidtage in kunft- 
volle Reime fchmiedete und fo lange in meiner Welten 
tafche verborgen trug, bie ein neuer Jahrgang es darin 
ablöfte. 

Klaͤglich dahingegen, ach, mehr als klaͤglich blieb es mit 
jener anderen Rhythmik beftellt, welche die kluge Frau 
Mutter ald Perle eines Informators gepriefen hatte und 
in welcher auch die weife alma mater dad Bollfommenfte 
zu erreichen trachtete. Nun und nimmer bin id) in diefem 
einzigen Punkte aud dem Zuftande heimlicher Rebellion 
gegen beider Satungen herausgefommen! Die Teicht- 
füßige Mufe war und blieb mir ein Heidenfind, und ber 
Dienft, weldyen ein Jünger des heiligen Pfarramts ihr 
zollen mußte, war und blieb mir ein Gögendienft. Ja, 
wenn allenfalls, ftatt des Heinen Guftel Hecht, mein 
- Fräulein Erdbmuthe mir in dem Menuett gegenüberge- 
ftanden hätte - wer weiß? Aber nein, nein, dreimal 
nein! Die fittige, beutfche Maid, im fchleppenden Gros 
de Tours, mit dem Erbfrönden auf dem Toupet, fie 
fonnte weder mir nod) einem anderen jemals in einem 
pas seul gegenüberftehen; ed war fchlechthin unmöglich, 
fie fidy in einem Chafle und Balance in Pirouette und 
Entrechat auszudenken, und es läßt fich in Worten nicht 


Erfter Abſchnitt 83 


ausmalen, welch fteifer Peter ich mit meinen Gliedmaßen 
geblieben bin. 

Dahingegen darf ich mid; rühmen, mit Eifer, Gewandts 
heit und Gluͤck das Feld kultiviert zu haben, auf welchem 
die mütterliche Weltfiugheit fo fichtbarlich mit der Mo⸗ 
ralität in Fehde lag. Denn wenn die Allgemeinheit uns 
ferer Elaffifchen Bildner auch aus olympifcher Ferne auf 
das Gewühl der modernen Belletriſtik herabblidte, das 
zarte Geſchlecht an ihrer Seite hatte den Samen der 
Zeitblüte liebreich gefammelt und ftreute ihn aus in emps 
faͤngliches Jugendland. Mich aber hatte des Schickſals 
Gunſt juft in die Richtung geftellt, von welcher der blu⸗ 
menfchwangere Wind am duftigften wehte. 

Die Gemahlin des Tutord, an welchen mein Vater mich 
empfohlen hatte, zählte — fi, felber wenigftend — zu den 
Auserwählten, die man dazumal ſchoͤne Seelen hieß. 
Das Prädikat „Gelehrte“, welches in der Kulturgefchichte 
zurüdgebliebene Spötter über fie verhängten, belächelte 
fie mit einem mitleidsvollen Blick auf ihren Gatten, der 
ein grundgelehrter Herr, aber allerdings nichts weniger 
als eine fchöne Seele war. Sch für mein Teil verehrte 
die Dame ald ein Wefen höherer Art, bezeigte meine 
Bewunderung in den ehrerbietigften Huldigungen und 
erntete für meine Pagendienfte unſchaͤtzbar reichen Kohn. 
Sch wurde der Amanuenfis der ſchoͤnbeſeelten Frau - 
förperlich fchön war fie nicht und jung nicht mehr -, 
wurde ald Hausfreund an den Teetiſch geladen, den fie, 
feit die Elariffa Mode geworden war, an Stelle des bis 
derben deutfchen Abendbrotd wenigftend Sonntage eins 
geführt hatte. Ich erhielt das wichtige Amt, die Bücher: 
ballen aufzufchnären, die mit jeder Poft, ald Kauf oder 
xx. 3 


34 Frau Erdmuthens Bwillingefähne 


Widmung an die Gönnerin der Mufen einpaffierten, ich 
ſchnitt fie zum erften Durchblick auf, ordnete fie nach dem 
Einband in den zierlichen Glasſchraͤnkchen des weiblichen 
Sanftuariume und hatte fomit den Genuß alled Neuen 
und Schönen in jener fruchtbaren Zeit und die Koms 
mentare einer fchönen Seele in den Kauf. 

Aber damit nicht genug. Die fchöne Seele war natürs 
lich auch eine Freundin der Natur. Täglich wandelte 
fie mit flatterndem Gelock und einem Strauß am Bufens 
tuch, in ein Buch vertieft, die bewaldeten Pfade des 
Knabenberges auf und ab; ein weißes Lämmchen, ges 
leitet an rofenrotem Bande, hüpfte biöfend hinterdrein. 
Sehnfüchtig folgten die Blicke des Juͤngers vom Spiels 
plage aus dem rührenden Bilde; während feiner einfamen 
Feiertage aber wagte er fid) dann wohl demütiglidy auf 
feine Spuren. Bemerfte er ein Steinchen, er flog her⸗ 
bei, e& zu entfernen, bevor der Sinnenden Fuß darüber 
ftolperte; verweilte ihr Auge auf einem Waldblümlein, 
er ftürzte, es für fie zu pflüden, voran; entwand fich das 
Lamm dem Gängelbande, er fing es ein; entglitt ihr das 
Bud, er hob ed auf. Sie erreichte den Quell, deſſen 
Gemurmel dem gefeiertiten Sohne der alma mater, dem 
Lieblinge ihrer Seele, die erften Klänge feines heiligen 
Epos erwect haben fol. Sie nannte den Quell Caftafia. 
Welch eine Weiheftatt! Und fie fenkte fich nieder auf 
das weiche Moog, das Sinnbild der Unfchuld zu ihren 
Füßen; der Junger, auch ein Unfchuldsbild, ihr gegen» 
über, an den Stamm eines ehrwuͤrdigen Waldriefen ges 
lehnt; mit entzuͤcktem Ohr laufchte er dem Duett des 
laͤmmlichen Geblöfs und des wohligen Nedefluffes feiner 
Pythia. 


Erfter Abſchnitt 35 


Tränenlodende DOffenbarungen flöteten nun zum nach⸗ 
mittägigen Himmel empor, Efftafen raufchten, frifch ges 
fhöpft aus dem Born, — ich meine nicht den Born, der 
dem buchenbewaldeten Berge, fondern den anderen, der 
den beiden Pappendedeln in Pythiad Hand entquoll; 
Enthüllungen über Gott, Univerfum und Unfterblichkeit, 
erotifche Geheimniſſe in keuſcher, dichteriicher Blumen⸗ 
hälle; Venus Urania fächelnd mit Dimofenzweigen. Die 
Stunden flogen. Weh! Da hallte der Glodenfchlag, ber 
die begeifterte Muſe unerbittlich ihrem Sünger entriß, 
um fie dem mitfchwefterfichen Auditorium im Kaffees 
fränzchen zuzuführen. Schöne Seelen haben eine weit- 
verbreitete Miſſion. Seufzend erhob fie fichz fie fchwebte 
heimmärts, das Lamm hinter ihr drein. Der Juͤnger aber 
firedte fich auf ihre Spur in dem fühlen Moos, träumte 
oder fchlürfte die Föftliche Labe, die fie zwifchen den beiden 
Pappendedeln in feiner Hand zurüdgelaffen hatte. Eine 
Welt von Erfcheinungen ſchwebte an feinen Blicken voruͤber. 

Brauche ich nun aber die Leibhaftige zu nennen, in 
welche wie durch Zauber auch das duftigſte der Ideal⸗ 
gebilde ſich verwandelte? Ob es Minona oder Meta, 
Amalia oder Laura hieß, ob ſein Rabenhaar im Nacht⸗ 
winde flatterte oder der Zephir durch ſeidenweiche Locken 
ſaͤuſelte, immer wurde jach das Dichterbild „ſie“ im 
ſchwarzen Stoff, mit dem Erbkroͤnchen im gepuderten 
Toupet, „ſie“, die unter poetiſchem Schleier des Juͤn⸗ 
gers Traͤume durchgaukelte. Er wuͤrde kein Ende in der 
Schilderung dieſer Metamorphoſen finden, will aber nur 
uͤber eine derſelben berichten, weil ſie die Vorſchule des 
Informators unter dem Blumenzepter der ſchoͤnen Seele 
zum Abſchluß brachte. 


86 Fran Erdmuthens Swillingsföhne 


Es war Pfingften, das legte der Alumnenzeit, die Ka 
meradfchaft in Nähe und Ferne audgeflogen. Ganz 
allein fchlenderte id; am Nachmittag durd, den Wald. 
Mir war weich zu Sinne; halb fehnfüchtig nad) der Zu⸗ 
funft, halb wehmütig ob des Scheidend und der Wonne 
der Gegenwart. Das mütterliche Tal hatte fein Feſt⸗ 
fleid übergeftreiftz die Nachtigallen Iodten im knoſpen⸗ 
den Buchengruͤn, Waldmeifter und Maiglocden dufteten. 
Wie anmutig ruhte das Klofter im Blütenfranze feiner 
Gärten, wie fonnig gligerte der Fluß, vom Frühlings: 
wafler der Berge gefchwellt. ber gelbgefprentelte 
MWiefenbreiten hınmeg ſchweifte der Blick bis zu den jen- 
feitigen Höhen, auf welchen das Rebenlaub fproßte. Ich 
gedachte jenes erften Eindrucks, wo der Sohn der Heide 
ebene vor diefem rötlichen Felfenufer ftarrte wie vor Ti⸗ 
tanengebilden, und die Trauben, die auf ihm reiften, 
Auge und Gaumen gleich hefperifchen Früchten labten. 
Nun war ed zum legten Male in diefer Heimat Mai für 
ihn geworden, und wenn je, fo friedlich fchön und reichge- 
ſchmuͤckt würde ich die alma mater fchwerlich wiederfehen. 

Ich blieb allein. Pythia hatte eine Feftfahrt nad) Dorn- 
burg angetreten. Sch warf mid) auf den moofigen Grund 
am Didıterborn und zog nad) einigem Widerftreben ein 
Bändchen hervor, welches fie am Morgen nad) dem Kirch⸗ 
gange mir verftohlen unter das Chormäntelchen gefchoben 
hatte. 

„Sin Evangelium für empfindende Seelen, eine Offen: 
barung der heiligften Natur! Trefflicher Süngling, Sie 
find reif dafür!“ hatte fie gelifpelt, und diefe Einflüfte- 
rung unmittelbar nach der Predigt vom heiligen Pfingft- 
munder mich fchier wie eine Gottesläfterung überriefelt. 


Erfler Abſchnitt 97 


Nun hielt ich das gepriefene Dokument in meiner Band. 
Die Neugier fiegte über den Reſt von frommer Ent; 
rüftung. Ich fhlug das Titelblatt auf. Es trug einen 
mir noch wenig befannten Namen, trogdem dad Datum 
fein neues war. Mich wunderte, daß ich es niemals in 
dem Glasfchränfchen meiner Gönnerin bemerft hatte; 
ed mochte wohl felten genug darin geraftet haben. Die 
Farbe des Einbands, rofenrot wie das Kenffeil des 
Lamms, hatte fih nur -an wenigen Stellen erhalten; 
die Blätter waren zermürbt und befprenfelt, fo als ob 
fie von taufend Händen in Fieberglut gewendet worden, 
ald ob Ströme heißer Tränen darauf niedergetröpfelt 
wären. 

Und nun lad ich und las, ohne aufzubliden, bie das 
legte Wort verfchlungen war; in Fieberglut wurden die 
Blätter gewendet, Tränenftröme tröpfelten darauf nieder, 
vielleicht die leßten, die es befeuchteten. Die Schläfen 
Hopften, die Nerven zucten bis in die Fingerfpigen. 
Und ich war nidyt mehr Gottfried Bleibtreu, der Pfarr: 
fohn und Pfarrerbe im Heidewinkel; ich trug nicht mehr 
Strümpfe und Schnallenfchuhe, fchwarze Schalaune und 
fpanifches Barett; ich trug fteife Stiefeln, gelbe Weite 
und blauen Frack; ich war Diplomat und hieß Wilhelm 
Werther. Die aber, für welche die Liebe mir den Tod 
gab, war nicht ein Burgfräulein, fondern meinedgleichen 
von einem Amtögehöft, wenn aud) die braunen Locken 
fi) unvermerft in helles Gold und die fchwarzen Augen 
blau wie Kornblumen färbten. Sie fehmierte Butter; 
brote, loͤſte Pfänder, änderte mit mir nedifch und Iuftig, 
wie ich die mit dem Erbfrönchen nimmer gefehen hatte. 

Es daͤmmerte im Wald; ich hörte eine Glocke. Aber 





38 Frau Erdmuthens Iwillingsföhne 


das war nicht dad Gebimmel, das täglich einer Schar 
lüfterner Sungen die Hoffnung auf ein Leibgericht er» 
wedte; ed war das Sonnenuntergangsläuten von Wahl⸗ 
heim, ed war Grabesläuten. Mechanifch taumelte ich 
heim, faß mutterfeelenallein im Halbdunkel des Zönafels; 
ich berührte feinen Biffen, ftürzte nur mit Gier den 
Becher hinab, fooft der Aufwärter ihn füllte. O Wunder 
von Kanaan! Es war nicht fchäumendes Dünnbier, es 
war Wein, Wein golden und feurig gleidy dem, welcher 
den todentfchloffenen Süngling beim legten Lebewohl 
durchglühte. Beraufcht ſchwankte ich zum Schlaffaal 
hinauf, die langen Bettreihen grauften mid) an wie leere 
Wertherſaͤrge; ich rafte zwifchen ihnen auf und ab, bie 
Fäufte gegen die haͤmmernden Schläfen geballt. Der 
Mafchmann trat ein, der wachthaltende Pedant! Er 
mahnte, dad Ficht zu Iöfchen, und wünfchte wohl zu 
ruhen. Zu ruhen! Als ob ich jemald wieder ruhen 
würde! 

Dennoch - die Efftafe handelt nicht immer folgerichtig - 
dennoch legte ich das zerlefene Bändchen unter das Kopf⸗ 
fiffen, auf daß fein Genius meinen Traum regiere, und 
ſchon wollte ich die blafende Talgkerze Löfchen, um im 
Dunfeln weiter auf und ab zu rennen, da gewahrte id 
einen Brief, den der Wafchmann unbemerkt zurücgelaffen 
hatte; ich erfannte die väterliche Kandfchrift und — o, 
du gewohnheitsmäßige Mafchine, Menſch genannt! - ich 
erbrad) das Siegel und lag; las eine Pfingftoffenbarung 
weit anderer Natur ald die, welche mid; am Dichter- 
born durchſchauert hatte. Und nachdem ich gelefen und 
wieder von vorn an gelefen, zog ich das tränenfeuchte 
Bändchen unter dem Kopffiffen hervor, legte das Wort 


Erſter Abſchnitt 89 


aus dem Heimatsherzen an feine Stelle, blied das Talg⸗ 
licht aus, legte mich, betete und fchlief ein; ja, wahrlich, 
ich fchlief ein vor dem naͤchſten Stundenfchlage und ers 
wachte nicht früher, ald bis die Kirchenglode zum erften 
Male läutete. 

Ob ich geträumt habe, weiß ich nicht; das aber weiß 
ih, daß am Morgen der Legationdrat in der gelben 
MWefte mir wie ein Traumgefpinft in Gedanken lag, 
daß ich ehrbar in Schalaune und Spanier zur Kirche 
ging und bei der nädıften Begegnung am Dicdhterborn 
meiner Pythia eine Erklärung gab, die idy aus meinem 
fhüchternen Alumnenftil in den Spruch eined Freundes 
umfchreiben will, der mir wie tus Batermunde gefluns 
gen hat: 

„Es gibt eine Tugend, die auch wie die Liebe durch 
Leib und Leben geht und in jeder Ader zuckt und ftdrt; 
nur daß fie mit vielem Ernfte errungen werden muß. 
Wer fie aber errungen hat, dem wird fie reichlich lohnen 
bei Regen und Sonnenſchein und wenn der Düftere Freund 
mit der Senfe fommt.“ 

Ich bin an diefem Tage zum legten Wale nady dem 
Dichterborngewandelt,unddastränengetränfte Bändchen 
war das legte, das id; in die Hand meiner Gönnerin 
zuruͤcklegte. Was ich aber mit diefer Abfchweifung, die 
mit meiner Gefchichte nicht das Entferntefte zu fchaffen 
hat, eigentlich habe fagen wollen, bas ift: Gottfried 
Bleibtreu, der Pfarrerbe aus dem Heidewinkel, hat wohl 
auch fein Luftfchiffchen fteigen laſſen, aber einen Fall⸗ 
ſchirm mit ſich geführt, der ihn rechtzeitig auf feinen 
Grund zurücgetragen. Er hat ein Traumbild und eine 
Heldin in feiner Seele gehegt, aber in ber verwegenften 


40 Frau Erdmuthens Iwillingsföhne 


Laune ift ihm nicht beigefommen, daß audy er hinwieders 
um zum Spdeale feines Sdeald und zum Helden feiner 
Heldin berufen fei. Wenn aber - falld heutzutage — ich 
weiß es nicht - noch Traumbilder gehegt und Heldinnen 
in dem Herzen getragen werden follten, wenn dann dein 
Traumbild ein Erbfrönchen trägt, und wenn du deiner 
Heldin nur bis zur Schulterhöhe reichft, fo rate ic) dir, 
lieber Süngling, tu dedgleichen! 

Der Balediftiondtag war vorüber; mein Herz klopfte 
wie ein Hammer gegen das Zeugnis, dad den treueften 
der Väter wohl erfreuen durfte; dad Stammbuch war 
vollgefchrieben die Kreuz und Quer bis aufs legte Blatt. 
„Wackrer Süngling, mögen Sie grünen und blühen wie 
ein Olbaum!“ mit diefen Worten hatte meine Gönnerin 
den legten Haͤndedruck begleitet. Die Abfchiedstränen 
firömten, als ich das Raͤnzchen auf dem Rüden durch 
das enge Pfortentor fchritt: acht Tage noch, acht Wan⸗ 
dertage, und ich war heim, heim! 

Sch hatte in den fünf Sahren wenig Tatfächliches aus 
dem geliebten Heideflecken erfahren; von Fräulein Erds 
muthen ftand immer noch ein Gruß den mütterlichen Waſch⸗ 
zetteln angehängt; die Briefe des Vaters waren lediglich 
erziehender Natur. Nun ängftete e8 mich, in den Ent» 
fheidungstagen fein ftärfendes Wort aus feinem Herzen 
erhalten zu haben. 

Die Pfortentür war eben zugefallen, ald mir der Fa⸗ 
mulus meines Tutors nachgefprungen fam, mit einem 
Briefe, der vor etlichen Tagen ald Einfchluß für mid, 
angelangt, von dem grundgelehrten Herrn abzugeben 
aber vergeffen worden war. 

O, diefer väterliche Segensſpruch über das Kind, das 


Erfter Abſchnitt 4 


aus den Mutterarmen fcheidet hinaus in eine unbefannte 
Welt. Er Hang mir wie ein Pfalter. Dreimal, viermal 
lad ich ihn vom erften bie zum legten Wort; und erft 
nachdem ich ihn mit gefalteten Händen aus dem Ges 
dächtniffe wiederholt hatte, fiel mein Blick auf eine Rand⸗ 
bemerfung, die ich bisher überfehen. „Während deiner 
Anwesenheit wird, fo Gott will, auch dad Ehebündnie 
unferes lieben Fräulein Erdmuthe gefeiert werden.“ 

Das war ein Bombenſchlag! Ich ftand ftarr und fteif, 
das Geficht hart an dem alten Gemäuer, lange, ich weiß 
gar nicht, wie lange ich fo geftanden haben mag, bis die 
Frau Tanzmeifterin über mir ihren Rofengeranium bes 
goß, und die abfallenden Tropfen mir in den offenen Mund 
ſpritzten. Deine Heldin war Braut, mein Ideal nahm einen 
Mann! Sch rannte vorwärts, ald würde ich gehegt. - 

Und, nicht wahr, nun fpufte wohl gar hinter mir drein 
der felige Legationgfefretär mit der geladenen Piftole? 
Ei beifeibe nicht folchen Aberglauben, meine Freunde! 
Der arme Süngling blieb tot und begraben am Dichter; 
born. Ich kann nicht einmal fagen, daß ed eigentlich 
Schmerz gemwefen fei, der in mir rumorte, weit eher 
Schred, - oder was empfändet ihr denn, wenn jach etwa 
der liebe Mond oder fonft ein fchöner Stern zu euren 
Füßen niederrollte? 

Almählicdy mäßigte fih der Schritt. Adıt Wandertage 
in Wind und Heidefand, dann und wann aud ein Re: 
genfchauer, das ift nichts Leichtes für einen, der fünf 
Sahre lang auf der Schulbanf ftillgefeffen hat; bie 
Schuhe drücdten, das ſchwere Felleifen rieb die Schultern 
wund, wer weiß, ob nicht felber der felige Legations— 
fetretär, hätt er in feinen fteifen Stiefeln die Tour mit 


48 Frau Erdmuthens Iwillingsfähne 


mir gemacht, zu einem vernuͤnftigen Schluſſe gekommen 
waͤre? 

Freilich hatte ich mir mein Muthchen niemals in einer 
anderen Verfaſſung vorgeſtellt, als der, wo ich ſie zum 
erſten Male Fraͤulein Erdmuthe genannt. Aber haͤtte ich 
ſie mir ihr Lebtage als Fraͤulein und ſchließlich als altes 
Fraͤulein vorſtellen ſollen? Nennt Doktor Martin Luther 
nicht die Ehe das große Wunder der Welt, und ſollte 
einem Juͤnger Doktor Martin Luthers nicht frauliches, 
hausmuͤtterliches Walten das Ideal eines chriſtlichen 
Weibes erſt recht in Erfuͤllung bringen? O ſuͤße, drei⸗ 
mal ſuͤße Heimat, in welcher dieſes Traumbild vollen⸗ 
deter Schöne wandeln und wirken wird! Seine Strah⸗ 
lenfrone wuchs Schritt für Schritt, den ich mich feinem 
Bereiche näherte, und ihr Glanz wetteiferte mit der 
Zauberfönigin Sonne, um über die graue Heide ben 
Purpur des Südens auszuſtreuen. 

Ich war rüftig zugefchritten, auf daß ich mein Haus 
noch an dem Tage erreichte, der mir vor fünf Jahren zu 
einem Doppelfefte geworden war. Sie mochten mid) 
fhon geftern erwartet haben; nun redjnete ich darauf, 
daß alt und jung mir jubelnd, mit audgebreiteten Ars 
men, entgegenfommen werde. Die erften Sterne taudıten 
auf, als ich aus dem Walde trat. Schon am Klofter 
fpähte ich nad) den lieben Gefichtern. Niemand da. An 
der Kirchhofdmauer wieder niemand. Auch am Pfarrs 
zaun alles feelenftill; das alte, liebe Neft lag wie aus⸗ 
geftorben. Atemlos Feuchend ruhte ich einen Augenblid 
auf der Schwelle; da rief von der Dachluke herab eine 
Stimme: „Gottfried! Bruder Gottfried!” und es ſtuͤrmte 
einer die Stiege herab in meine ausgefpannten Arme. 


Erſter Abſchnitt 48 

„Lieb, mein Lich!” - fchluchzte id). 

„Ei bewahre, nicht der Lieb, der — —“ 

„Richtig, der Lob, Herzenslob!“ 

„Bott behüte, Bruder Gottfried. Auch nicht der Lob! 
Ich bin ja der Hold!“ 

Wahrhaftig; ed war das Neftfüfchen, der Heine Hold 
in nagelneuem, fafrangelbem Drell und mit Pausbaden 
fo rot wie ein Stettiner Apfel. - „Und du haft mid; gleich 
wiedererfannt, mein Hold?” fragte ich. 

„Ei warum denn nicht, Bruder Gottfried,” lachte der 
Hold. „Der Mond fcheint ja, und du haft einen Ranzen 
auf dem Rüden und fiehft aus akkurat wie der Herr 
Papa!” 

Sch konnte mich nicht fatt herzen an dem guten Geficht. 
Sch war gar zu glüdlich, alled-genau fo wiederzufinden, 
wie ich es verlafien hatte: den Kolunderzaun, das alte 
Haus, die Pausbaden, den Safrandrell und auch mich 
felber, ald Ebenbild des geliebten Herrn Papa. 

„Aber nun mache, Gottfried!” fagte der Hold, indem 
er fi) meinen Armen entwand. „Fir, wafche did; und 
weil die Botenfrau deine Sachen erft morgen bringt, 
foüft du des Herrn Vaters guten Rod anziehn. ‚Unter 
dem Drnate brauche ich ihn nicht,“ hat der Herr Vater 
gefagt.“ 

„Aber wo ift denn der Herr Bater? Wo find fie denn 
alle, mein Hold?" 

„Na, wo denn anders ald auf dem Schloffe zur Hoch⸗ 
zeit von Fräulein Erbmuthen?“ 

Zur Hochzeit von Fräulein Erdmuthen! Wie ein Blitz 
fuhr die Poft durch die müden Glieder. Hätt ich mird 
denn nicht denken fönnen am Michaelidtage? Aber „den 


44 Frau Erdmuthens Swillingsfähne 


Gottfried muß man mit der Naſe auf alles druͤcken“, 
hatte die Frau Mutter von jeher geſagt. 

Nun gings haſt du nicht geſehn. Der Hold ſchlug 
Licht und wichſte die Wanderſchuhe, der Zopf wurde 
friſch in den Haarbeutel gebunden, der vaͤterliche Braten⸗ 
rock paßte auf den Leib wie angegoſſen. Dann im Trabe 
gings die Ulmen entlang. Von der Terraſſe ſtrahlte das 
Schloß in Lichterglanz; Equipagen rollten auf und ab; 
die Ortsleute draͤngten ſich Kopf bei Kopf. „Ich bin 
auch geladen! Fraͤulein Erdmuthe hat die ganze Pfarre 
geladen!“ jubelte der Hold und ſprang wie ein Boͤckchen 
um mich herum. 

Das Portal war wie vor fünf Jahren mit Laubgewin—⸗ 
ben befränzt, die Treppe mit Blumen beftreut; im Ahnen: 
ſaale flimmerte eine Gefellfchaft noch zahlreicher und 
glänzender ald dazumal. Ich ſchob mid; unbemerkt durch 
die Füllung der Kofinfaffen im Hintergrunde und die 
Wand entlang zwifchen eine Blumengruppe neben dem 
Altar. Mein Vater harrte bereit in ftillem Gebet auf 
der erhöhten Stufe; eben führte unfer Herr das verlobte 
Paar ihm gegenüber. PVielarmige Kandelaber breiteten 
Tageöhelle über Fräulein Erdmuthens Geftalt; fein Zuden 
ihrer Wimper entging meinen gefpannten Blicken. Sie 
war voller geworden, auch noch größer, ich mochte ihr 
eben wieder bis zur Schulterhöhe reichen; der fchleppende, 
weiße, filberfhimmernde Brofat, der bis zu den Füßen 
niederwallende Spitenfchleier über dem Myrtenkranze 
und Erbfröndyen auf dem Toupet erhöhten den Zauber 
jungfräuficher Majeftät; unverändert aber ruhte über 
dem ftillen Antlig jener Ausdruc von Kindesunfchuld und 
Muttergüte, der mir von der Wiege bid zum Grabe die 





Erfter Abſchnitt | 45 
Erfcheinung dieſes Weibes zu einer unvergleichlichen ge- 
madıt hat. 

Die Trauung gefhah nad Doktor Luthers ftrengenn 
Ritual; ald Tertwort aber milderte ed die hohe Liebes—⸗ 
rede der Ruth, Mit gefalteten Händen und flüfternden 
tippen betete id; den goldenen Treufpruch nach bie zu 
dem letzten: „Nur der Tod foll dich und mich fcheiden.” 
Die Braut hatte die Lider nicht ein einziges Mal vom 
Boden erhoben, jett aber, da die bindende Frage an fie 
gerichtet ward, fchlug fie die Augen zu dem Mann an 
ihrer Seite in die Höhe; und ein Blick wie diefer mag 
die Ahnmutter des Weltenheilands verflärt haben, ale 
fie fich zu einer ewigen Liebe verlobte; dann aber hallte 
ihr Sa Mar und klangvoll durdy den Saal. Der alte 
Freiherr hielt beide Arme ausgebreitet, und mir denchte, 
ald ob die ritterlichen Ahnen ihre Häupter neigten, wähs 
rend der Priefter Segen und Amen fpradı. 

Der Schwarm ber Gäfte drängte ſich zum Gluͤckwunſch 
um das vermählte Paar; auch ich ſchlich, meinen Ger 
fühlen Luft zu machen, aus meinem Verſteck hervor. 
MWährend ich nun fo im Hintergrunde auf der Lauer 
ftand, ſchoß mir ein fchlauer Einfall durch den Kopf: ich 
wollte meine Anrede Tateinifch halten; es dünfte mid, 
feierlicher ald die Mutterfprache, eine zartfinnige Ans 
Ipielung an die gemeinfame Schulbanf fchien ed mir 
auch; was aber doch wohl der Hauptgrund war: ich hatte 
ſolch ein Borgefühl, ald ob der junge Herr Gemahl meine 
Huldigung in der Mundart bes Horaz nicht verftanden 
haben würde, Eine Blumenlefe Haffifcher Sinniprüde 
fproßte während weniger Dinuten in meinem Hirne auf, 
die alma mater würde ftolz ihrem Zöglinge haben lauſchen 


46 Frau Erdmuthens Bwillingsfähne 


dürfen. Sept endlidy ift der Moment gefommen; Aug 
in Auge ftehe ich dem hehren Weibe gegenüber, und - 
da ſtockt der Atem in meiner Bruft, ein Tränenftrom ers 
ftit die Stimme, und id) vermag weiter nichts als bie 
beiden Hände, die fie mit der liebreichiten Miene mir 
entgegenftrect, an mein Herz zu drüden. 

In dem nämlichen Augenblicte wurden die Türen zum 
Speifefaal aufgefchlagen; das junge Paar eröffnete den 
Zug der Bäfte, um oben an der Tafel den Ehrenplag 
einzunehmen, an welchem vor fünf Jahren ich neben 
meiner Abendmahlgfchwefter präfidiert hatte. Wir, dem 
unerwarteten Gaſte im geborgten Frad, ward am ents 
gegengefegten Ende ein Gedeck zwifchen dem Verwalter 
und Frau Bär, der Ausgeberin, eingefchoben. Nach 
alter Felsfcher Sitte nahm, wie jeden Mittag, fo aud) 
bei bedeutenden Feltgelegenheiten, alles, was im Haus⸗ 
ftande nicht im ftrengften Sinne Dienftbote hieß, am Fa⸗ 
milientifche teil. Heute reihte zu beiden Seiten ber 
unteren Spige die muntere Pfarrjugend ſich an, bis dann 
gradatim die Standesperfonen in die Höhe rückten. 

Wie hatte die Neugier nach allen Veränderungen in 
dem lieben Daheim ded wandernden Schülers Schritte 
beflügelt! Nun faß dad Chor der Neftlinge um ihn 
herum, herangewadhfen die, welche die Kinderfchuhe noch 
nicht ausgetreten hatten, ald er fchied; flügge geworden 
jene, weldye faum aus dem Ei gefrochen waren. Nun 
zwitfcherte e& links und rechts wie im Slanarienfchlag, 
einer den andern überbietend. Die merfwürdigften Poften 
wurden dem Heimgekehrten vorgetragen, aber fein Ohr 
war taub, die Zunge ſtumm. Mun fchimpfte der Vater 
feines kleinen Mitſchuͤlers, daß der Guftel im Examen 


Erfter Abſchnitt 47 


durchgefallen, dahero ein Semefter nacdhzuererzieren und 
der Ferienbefuch verbeten worden fei, während die Mutter 
feined großen Mitfchülers, den er fo gerne Freund ges 
nannt hätte, leife weinte und klagte, daß ihr Student 
jede Einladung ihrer gnädigen Kerrfchaft, auch die zum 
heutigen Feite, barſch abgefcdylagen und fogar das gute 
theologifche Stipendium derfelben im Stich gelaffen habe, 
um fortan auf eigene Unfoften auf den Advofaten zu flus 
dieren. Was kümmerte den Gottfried Bleibtreu ber 
feine Hecht oder der große Bär? Was fümmerten ihn 
alle Mitfchüler und Landsleute, was alle Lumen und 
Nichtlumen der Welt? Nüchtern feit morgens, wie hatte 
der Magen ihm gefnurrt, der Mund ihm gewäffert nad) 
einem heimifchen Leibgericht, einem Grügbrei oder Kar: 
toffelpuffer; nun faß er an der ftrogenden Hochzeitstafel, 
gönnte fich feinen Tropfen noch Biſſen; nur die Augen 
fpannten mit Gier, um ja feine Regung, feinen Blick 
am Chrenplage zu verfäumen. 

Der Nachtifch wurde aufgetragen, ber turmhohe Hoch⸗ 
zeitöfuchen zerlegt. Am unteren Ende raufchten die Pas 
pierbogen aus den Tafchen, in welchen der lieben Familie 
ein Xederbiffen heimgetragen werden follte; am oberen 
Ende fnallten die Champagnerpfropfen; eine Gefundheit 
jagte die andere; das Vergnügen wurde immer größer, 
will fagen lauter. Die Brautfräulein erhoben ſich, der 
Neuvermählten den Kranz abzunehmen; eine von ihnen 
ftülpte das Frauenhäubchen über die Fleine Erbfrone der 
Feld. Es war Fräulein Iduna, unverändert wie ich fie 
zulegt am Einfegnungstage gefehen hatte, über und über 
rofenrot. Der Gerichtödireftor Hecht, der, weil er taub 
war, auch große Geheimniffe nicht flüfterte, fondern fchrie, 


48 Frau Erdmuthens Bwillingsfähne 


erzählte, daß Fräulein Iduna den nämlichen Dienft — 
den mit dem Frauenhäubchen - fchon Fräulein Erbmus 
thend Frau Mutter erwiefen habe. Dem widerfprad in 
geziemender Befcheidenheit Frau Bär: Fräulein Iduna 
hatte der gnädigen Frau Mutter der jungen gnädigen 
Frau nicht ald Brautjungfer das Frauenhäubdhen aufs 
gefegt; fie hatte nur ald findlicher Engel Blumen auf 
ihren Bochzeitöpfad geftreut. Frau Bär mußte dad am 
beften wiffen, denn fie wußte ed von ihrem feligen Wann, 
welcher ja Kammerdiener bei dem gnädigen Herrn Hoch⸗ 
jeiter gewefen war. 

Während diefe wichtige Zeitfrage am unteren Ende ver⸗ 
handelt wurde, war am oberen eine Paufe entftanden; 
die Blicke flogen hinüber und herüber. Dann allgemeine 
Bewegung. Die alten Damen ficherten hinter den 
Fächern, die jungen blinzelten durch das vorgehaltene 
Meffeltüchelchen; die Herren, alt wie jung, rieben fid) 
die Hände und ladıten, daß ihnen die Bäuche und Zöpfe 
wacdelten. Die Brautführer ftürzten nady dem Ehren- 
plage, wie zu einem begehrendwerten Dienft. Was be- 
deutete das alled? Ich fpannte mit angehaltenem Atem. 
Ich fah eine Blutwelle fi von den Wangen über Hals 
und Schultern der Braut ergießen: die Hände kreuzweis 
über der Bruft gefaltet, neigte fie fich flüfternd zu dem 
Ohr des Vaters, der den Pla zu ihrer Rechten hatte. 
War ed Sinnentäufchung, oder blickte fie wirklich an- 
deutend zu mir hinunter? Der Freiherr lächelte, nickte, 
erhob ſich; er fchritt die Tafel entlang, immer weiter 
und weiter. Gerechter Simmel! Da fteht er hinter meinem 
Stuhl! Ich fpringe auf, flarre ihm ins Geficht, wie 
vor den Kopf gefchlagen. 


Erfter Abſchnitt 49 


„Grüß did, Gott, mein Junge!” fagt er, indem er mir 
herzlich die Sand ſchuͤttelt. „Sch komme als ihr Ab» 
gefandter. Du bift ihr alter Kumpan, und fie bittet dich, 
eine gute Hochzeitsfitte an ihr wahrzunehmen und ihr 
das — Strumpfband abzulöfen.”“ 

O, du züchtige alma mater! Haſt du darum deinen 
Zögling den hohen Platon erponieren laffen, daß er 
feinem Ideale das Strumpfband Löfen fol? O, du mein 
frommer Kerr Vater, ift dad auch eine Berufung zu 
Heil und Dienft? Steht, ach, fteht ihm bei, eurem klaͤg⸗ 
lichen Sohn! Seht, da taumelt er feinem alten Herrn 
hinterdrein; feine Knie fchlottern, Falter Angftfchweiß 
tropft von feiner Stirn. Alle Blicke richten fidy auf ihn. 
„Gluͤckspilz!“ fchreit der alte Hecht. Schallendes Ges 
ächter durch den ganzen Saal. 

Sept find wir am oberen Ende. „Courage, mein 
Zunge!” fagt der Freiherr, gibt dem Seffel der Tochter 
einen Seitenrud und dudt den armen Schächer auf das 
Kiffen zu ihren Füßen nieder, fein Kopf finft in ihren 
Schoß, und - und nun fragt ihn nicht, was weiter mit 
ihm gefchehen oder von ihm verübt worden, und wie 
er wieder auf feine Beine gefommen if. Die Augen 
fchwimmen ihm; wie durd einen ſchwarzen Flor fieht 
er die Schar der Junggefellen ſich reißen um ein rofen- 
roted Band in feiner Hand; der junge Gemahl erbeutet 
ed ald Sieger. Er preßt fein Weibchen in den Arm 
und entführt ed durch eine Seitentür. 

Trompetengefchmetter und Gläferflirren, Subelgefchrei 
und Händellatfchen! „Und als der Großvater die Groß⸗ 
mutter nahm”, ſtimmt der Gerichtödireftor an. Der 
alte Kumpan aber drüdt ſich die Wände entlang aus 
xzX.4 


50 Fran Erdmuthens Swillingsfähne 


der Tür, ftürmt die Ulmen hinab und hinauf in das 
Bodenfämmerchen, in welchem vor wenig Stunden der 
Kleine in Safrandrelli nad) ihm ausdlugte, und meint 
ihr wohl, daß er die Nadıt auf Rofen gebettet lag? 

Als der Morgen daͤmmerte, ftand er - fchon oder noch? 
- an der Luke und ftarrte in die Landfchaft hinaus, Die 
er geftern in Purpur hatte glühen fehen. Heute vers 
fhwammen Himmel und Erde grau in grau; in ihm 
und um ihn war es fterbensftille. Auf dem Schloffe 
wie im Wirtfchaftshof hatten fie Hochzeit gefeiert bie 
zum Hahnenſchrei. Nun fohliefen fie aus; felber das 
nüchterne Pfarrhaus lag noch im Schlummer. 

Lange hatte ich fo geradeaus in den ftillen, unbemweg- 
lichen Nebel geftarrt; da regte ſichs mählich; vom Him⸗ 
mel herab fehimmerte es gelblich durch den weißen 
Schleier; von der Erde herauf Fang ed wie fernee 
Geroll. Smmer näher und näher der Hall, immer klarer 
das Tageslicht. Da bricht die Sonne durch den Nebel. 
Ihr erfter Strahl fällt in den vergoldeten Glaswagen, 
welcher das hodhzeitliche Paar zur Reverenz an den fur- 
fürftlichen Hof entführt. Die Hände von Mann und 
Weib find verfchräntt, die Augen blicken ineinander, wie 
in einen Himmel voll Seligfeit. Vorüber am Holunder⸗ 
zaun, vorüber am Klofterhof, hinein in die Heide! Der 
Nebel ift gefallen; die Landſchaft Teuchtet wieder. Sch 
breite meine Arme aus und rufe hinein in den Flaren 
Morgenhimmel: „Gott fegne dich, Frau Erdmuthe!“ 


* * 
% [4 





Das erfte Univerfitätsiahr war abgelaufen. Einem, 
der fid) im Joche ded Alumnats nidyt wund gerieben 


Erfter Abſchnitt 51 


hat, wird auch die afademifche Freiheit nur mäßig zu 
Kopfe fteigen; außerdem forgte ſchon das Konvikt für 
ruhig Blut. Da ich einige Nepetitionen mit maroden 
Nachzuͤglern unter meinen Kommilitonen übernommen 
hatte, war idy während ber Zeit nicht im Elternhaufe 
eingefehrt und erft zur Herbſtvakanz wieder auf der 
Wanderung durd, die Felöfche Heide, um zunaͤchſt mor⸗ 
gen Frau Erdmuthens dreifachen Ehrentag in ihrer 
Heimat zu begehen. 

Der Forft lag hinter mir; ich fchlug durch den Klofter- 
hof den naͤchſten Weg unter die Ulmen ein und ftand 
eine Weile zwifchen den Trümmern ftill. Vielleicht weil 
die tiefe, fcharfipigige Woͤlbung, durch die ich blickte, 
mich an das Portal meiner Pfortenkirche erinnerte, bes 
trachtete ich zum erften Male mit einer Art von archaͤo⸗ 
Logifchem Intereſſe die Umriffe der Kapelle, welche wie 
durch ein Wunder ber übrigen Zerftörung entgangen 
waren. Unter Schutt halb vergraben, ftand noch mir 
gegenüber der fleinerne Altar; ein fchwarzes Marmor: 
freuz lehnte fich an eine Pfeilernifche, die ein Heiligen⸗ 
bild, einen Weihfeffel oder eine Lampe enthalten haben 
mochte, In mir daͤmmerte eine Vorftellung von dem 
herrlichen Altarplaß, zu welchem dieſes Bruchftücd her- 
geftellt werden könnte, wenn hinter ihm aus den Klofter- 
trüummern ein Kirchenfchiff im gleichen Stile errichtet 
würde. In folchem Keiligtume dereinft meined Erbam- 
ted zu warten — ach Schülertraum! Wie wenig ahnte 
ich Zeit und Schickſal, unter welchen er fidy zur Wirk 
lichkeit geftalten follte. 

Ich wurde in diefer Betrachtung unterbrochen durch 
das Dreiblatt in Safrandrell; heute nicht mehr nagel- 


52 Frau Erdmuthens Swillingsföhne 


neu, fondern wochentägig abgeblaßt. Eine hochwichtige 
Poft wurde mir im Chore entgegengefchmettert: Auf 
dem Schloffe waren Zwillingsjunfer eingeflogen; „einer 
für den Burghof und einer für den Klofterhof“, hatte 
unfer Herr gefagt, und für morgen war die Taufe ans 
gemeldet. Wieder eine Michaelisfeier in der Heimat! 

Als wir über den Gottesader fchritten, fiel eine Reihe 
frifcher Grabhügel mir auf. Es ftürben viele Leute, ers 
flärten die Brüder;_in der Pfarre wäre aber alles ge- 
fund und im Schlofle auch. 

Doch fand ich meinen Vater bleich und tiefbefiimmert. 
Unfer regelmäßiges Kerbitfieber hatte heuer einen rapis 
den, bösartigen Charafter angenommen: bie Menfchen 
ftarben hin wie die Fliegen, die geiftige wie die leib- 
liche Not war groß. Der herrliche Mann gönnte Nadıt 
wie Tag fich feine Ruhe, zu erbauen und aufzurichten, 
zu fpenden, wad vom Eigenen irgend entbehrt, von Frems 
den irgend erbeten werden fonnte. Sch erfchien ald Bei⸗ 
ftand zur rechten Zeit; denn, da der Schulmeifter dar: 
niederlag, war nicht allein die Schule geſchloſſen, fons 
dern auch das Küfteramt verwaift. Mit diefem Nots 
poften follte der Pfarrerbe feine Laufbahn beginnen, und 
zwar zum erften Dale bei der Taufe der Zwillingsbrüder 
auf dem Edelhofe. 

So trug ic denn am anderen Morgen, dad Küfter- 
mäntelchen über den noch einmal dargeliehenen fhwarzen 
Leibrocd gehängt, Taufbecken und Kanne unferer Kirche 
- eine Dotation ded erften lutherifchen Feld - dem Pfarr- 
herrn hinterdrein zum Schloffe hinan. Wie leblos war 
heute der Ulmengang, auf dem ed vor einem Jahre fo 
feftlich gewogt hatte. Die Gefahr der Anftedung hielt 


Erfter Abſchnitt 58 


die ftillfte eier geboten; der Großvater der Täuflinge 
hatte die erfte, der Bater die zweite Patenftelle über: 
nommen; zum vorfchriftömäßigen dritten Zeugen war 
der Gerichtedireftor Hecht erwählt. Auch die Hofdiener⸗ 
fchaft blieb von dem heutigen Afte ausgefchloffen. 

Pfarrer und Küfter waren die erften im Ahnenfaal; 
bald folgte der junge Herr mit beforgter Wiene und 
der Bitte, die Zeremonie fo weit als tunlich abzufürzen, 
da fidy bei feinem Schwiegervater eine Anmwandlung 
gezeigt, die Ruhe zu fordern fcheine. In der Tat, ale 
unfer alter Herr jegt eintrat, mußten wir nicht, wieviel 
von feiner fteberhaften Erregung der Freude über ſeines 
Hauſes Glüd, wieviel böfen Vorboten zuzufchreiben fei. 
Zudem wurde eine neue Sorgenbotfchaft gebradıt: der 
Gerichtödireftor war plöglicdh von einem Schüttelfroft 
befallen worden; der dritte Zeuge fehlte demnad. Es 
gab ein Hins und Widerlaufen, bie dann endlich, im 
Namen Frau Erdmuthens, die Bitte an mich erging, 
ihrer Kinder Pate zu werden. Sch, der KüftersStudent! 
Das war ein anderer Freundeddienft ald der, zu welchem 
ih vor einem Jahre in diefem Naume berufen wurde. 
Ich fühlte mich ftolz wie einer, dem man eine Krone ans 
getragen hat. 

Sobald die Täuflinge auf den Armen ihrer Wärterinnen 
hereingebracdht worden waren, öffnete ſich die Seitentür, 
durch welche frohlodend damals der Gemahl fein bräuts 
liches Weib entführt hatte. Heute rollte er den Seſſel 
in den Saal, in welchem die junge Mutter dem Weihe⸗ 
afte ihrer Kinder beimohnte. Im nämlichen Augenblid 
goß der Küfter das Waſſer in dad Beden, und der Ges 
vatter ftellte fi) an die Seite feines alten Herrn. 


[4 


54 Frau Erdmuthens 3willingsſoͤhne 


Er hielt den Erftgeborenen feiner Enfel — berfelbe 
hatte den Vorfprung einer Stunde -, feinen Namens⸗ 
erben, auf den Armen, zitterte aber bald fo heftig, daß 
er ihn in die meinen legen mußte, während das Brübder- 
chen von feinem Vater gehalten ward. Der Taufaft 
befchränfte ficy auf die Iutherifche Formel und ein Ge- 
bet; und allen war beflommen zu Sinn; der Freiherr 
hatte fein Ja kaum noch vernehmlich ſtammeln fönnen; 
wir atmeten erleichtert, ald er fich feßen durfte und nun 
die Kinder für den fohönen Brauch der Einfegnung in 
die Arme der Mutter gelegt wurden. 

Wer fiebenzig Sahre Iebt im Laufe diefer Welt, der 
lernt gar manches begreifen von dem Erbteil, dem wir 
zur Stunde im Namen diefer Kindlein entfagt hatten, 
und lernt begreifend es entfchuldigen. Sch weiß daher 
heute, und ich wußte es vielleicht damals fchon, daß ein 
nicht ftarf gefeftetes Herz fich in begehrender Liebe zu 
dem Weibe eined andern verirren mag. Daß aber einer 
nach der Mutter von eined andern Kinde begehren könne, 
das habe ich niemals begreifen lernen und begriff ed am 
wenigften in der Stunde, da id; meine Freundin Erd⸗ 
muthe, bleicher als fonft, aber fchöner denn je, ihre 
Zwillingsföhne im Arm, für das Amt der Mutter den 
priefterlichen Segen empfangen fah. 

Es waren ftarfentwicelte, wohlgebildete Knaben, beide 
unter dem Träufeln des Taufwaſſers erwadıt. Der 
ältere, ein Weißköpfchen, blickte, als ob er die ftillende 
Nähe fpüre,- unbeweglich zu der Mutter in die Hoͤh; 
der andere, ſchon mit kurzem, fchwarzem Gelock, zappelte 
und murrte; Frau Erdbmuthe wiegte ihn im Arm, um 
während des Gegend einem Ausbruch vorzubeugen. 


Erfter Abſchnitt 55 


Schwankend, aber mit verflärendem Lächeln, Elammerte 
fidy der alte Freiherr an die Lehne des Seſſels, und der 
jugendliche Vater blidte freudetrunfen auf fein reiches 
Gluͤck; ja felber über die toten Zeugen vergangener 
Sahrhunderte zauberte das fcharfe Morgenlicht einen 
lebenswarmen Glanz; die Schwerter in der Kauft ber 
beiden proteftantifchen Kämpen funfelten wie zu Wehr 
und Schuß für dad neue Gefchledht. Frau Erdmuthens 
goldener Scheitel leuchtete wie eine Glorie über dem 
demäütig gefenkten Haupt. Mein Herz fchlug in hödhfter 
Befeligung: nicht die Sungfrau, nicht das Weib, die 
Mutter Erdmuthe hatte das Traumbild meiner Seele 
erfüllt. 

Ach, ed waren büftere Schatten, welche auf lange Zeit 
diefes Sonnenbild verhüllten. Kaum daß die Mutter 
mit den Kindern den Saal verlaffen hatte, fahen wir 
den Freiherrn mit einem Schauder zufammenftürzen. 
Drei Tage fpäter war der athletifche, bis dahin kern⸗ 
gefunde Dann eine Leiche. Ich wandelte während diefer 
Zeit von Siechen⸗ zu Sterbebetten und von diefen hin- 
aus zur legten Ruheſtatt. Auch an dem Lager unferes 
Herrn und an feiner Bahre wachte idy mandje Stunde 
bei Tag und Nadıt; Frau Erdmuthen aber fah ich nicht 
wieder; man hatte ihr die Gefahr ihres Vaters bis zum 
Außerften verheimlicht und gegen den legten Abſchied 
ihre Mutterpflichten angeregt. 

Mein Bater hatte mit faft übermenfchlicher Anftrengung 
bisher ftandgehalten; als er aber den Segen über dem 
Grabe feines alten Freundes gefprochen hatte, bradı 
auch er zufammen. 

Wochenlang faßen wir nun an feinem langjamen 


56 Frau Erdmuthens Swillingsfähne 


Sterbelager; die milde Natur und Gemwöhnung bewährte 
fidh in dem Charafter der Krankheit: er rafte nicht in 
Fieberglut, er klagte über feinen Schmerz, feine Angft; 
fein Geift blieb Far und feine Seele freudig; fterben 
hieß ihm ja in die Heimat berufen werden. D! Wenn 
ich jemals gezweifelt hätte an dem Spruche: „Ihr wißt, 
wo ich hingehe, und ihr wißt auch den Weg“, an die: 
fem Zotenbette wäre mir der Glaube feft geworden. 

Und nun war dad Legte vollbracht, der teure Mann 
zur Ruhe gelegt. Ahnungsſelig wie fonftmald am end⸗ 
ofen Sternenhimmel, hängt nun der Blick an dem frifchen 
Hügel, den die Arme umfpannen können; der Erdenftaub 
verweht, und der Klagelaut verftummt; eine heilige 
Sehnfucht fächelt und mit lindem Engelöflügel. Und 
heute noch fagt der Greid: einen reineren Schmerz, ale 
den des Sünglings, der einen Vater wie diefen verloren 
hat, nein, einen reineren Schmerz gibt ed nicht, — 

Sch hatte bis dahin nur das Loͤſen des ftärfften Blutes⸗ 
und Geiftesbandes empfunden; mir war, ald ob mein 
Leben verfiechen muͤſſe mit dem Quell, der ed genährt. 
Erft die Grabrede eined benachbarten Amtsbruders, 
dem der Gefchiedene das Vormundfchaftsamt übertragen 
hatte, erinnerte mid) daran, daß mit dem Vaternamen 
noch ein anderer Sinn, ald der des Erzeugerd und Bild» 
ner verbunden fei, daß eine Witwe und acht Waifen 
den Berforger verloren hatten. 

Der treue Familienfreund verließ und vor dem friſch 
gefüllten Hügel mit dem Verfprecdhen, morgen zur Ord⸗ 
nung unferer Obliegenheiten zuräczufehren. Auch die 
Mutter, die ſchluchzenden Gefchwifter gingen heim, bie 
Gemeinde zerftreute fich, ein jeder in Tränen. In diefen 


Erfter Abfchnitt 37 


armfeligen, verwilderten Gefchöpfen, von denen faum 
eined ohne Trauerzeichen um einen Begrabenen bed ei- 
genen Blutes gefommen war, regte fich eine Ahnung 
beffen, was fie an diefem Wanne verloren hatten, und 
manches Samentorn, das er ausgeftreut, ging auf in 
dieſer Schattengzeit. 

Es war um die Mittagsſtunde, daß wir ihn hinauöge- 
tragen hatten; als aber die Sonne fant, faß ich noch 
immer auf dem einfamen Huͤgel in hartem Ringen zwi- 
fhen fehnfüchtigen Träumen und dem Bewußtwerden 
meiner Tagespflicht. Endlich war ich mir klar geworden, 
wenn auch nicht völlig über das, was ich zu tun, fo 
doch über das, was ich aufzugeben hatte. Ich legte 
das geiftliche Erbteil der Väter auf dem Grabe bes 
Mannes nieder, der mich dafür gebildet hatte, und in 
diefer Stunde duͤnkte ed mir fein Opfer, das ich brachte. 

Mit ſolchem Abfchluß kehrte ich, als der trübe Oftober- 
tag fidh neigte, nad) dem verwaiften Vaterhaufe zurüd. 
In Tautlofer Stille war während der Krankenwochen 
darin gewaltet worden; das Schweigen des Todes hatte 
die jüngften Tage geweiht; nun graute mich fat vor 
dem erften lauten Wort, das ich fraft meined Vorfates 
in diefem Keiligtume erheben follte. Wie ftarrte ich 
daher auf der Schwelle beim Anblid der Verwandlung, 
die fi) binnen wenigen Stunden darin erhoben hatte. 
Der Fußboden fhwamm, das Herdfeuer praffelte und 
der Suppentopf brodelte; das feftliche Trauerzeug war 
abgelegt, hochgefchärzt und in Hemdsärmeln fchäffterte 
ein jeder am angewiefenen Pla. Die Mutter räumte 
die Sterbefammer auf; die eine Schweſter fcheuerte, die 
andere fochte, zwei fanden vor dem Buͤkefaß; Lieb und 


58 Frau Erdmuthens 3willingsſoͤhne 


— — — — — 


Lob klopften Betten aus, auch dem Juͤngſten waren 
Buͤrſte und Flederwiſch in die Hand gegeben. Keiner 
ſah auf, von aller Stirnen tropfte der Schweiß. 

Mein Herz krampfte zuſammen vor dieſem Werkeltags⸗ 
bild nach der Sabbatſtille. Ein Blick jedoch von den 
rauhen Händen auf die geſchwollenen Lider und abge: 
zehrten Wangen meiner Mutter, und ich begriff, daß, 
wenn eine, diefe Frau gefchaffen fei, adıt Waiſen den 
Vater zu erfegen, und daß mein Teil fein anderer, als 
unter ihrer Führung ftil das Werkzeug in die Band zu 
nehmen. 

So, zum Gehorfam gefaßt, trat ich an fie heran, bittend, 
die unerläßlichen Veränderungen unferer Rage miteins 
ander zu beraten. 

„Erft unfere Mahlzeit“, fagte fie, indem fie mir in 
bie bligblanf hergerichtete Wohnftube voranfchritt. Die 
häusliche Ordnung war während unferer Angftwochen 
unterbrochen und die Sorge für das Leibliche verfäumt 
worden; nun fland die Tafel gedeckt wie zu einem Feft; 
zwei alte Kennen hatten „daran glauben müffen“; auf 
der Reisfchäffel waren Musfate und Safran nicht ges 
ſpart. Die Mutter fegte ſich an ded Vaters Platz, betete 
an feiner Statt und legte vor, mir das zarte Bruſtſtuͤck, 
bas fonft ihm zugute gefommen war; dann füllte fie 
ihren eigenen Teller; die Gefchwifter folgten ohne Nöti- 
gung. Mir widerflande. „IB!“ fagte die Mutter, „des 
Menfchen Notdurft ift Gottes Ordnung“. 

Und wenngleich der erfte Biffen mich wie Wurmfamen 
wuͤrgte, ich fchlang dad Bruftftäc hinunter und auf ein 
zweited muͤtterliches „IB!“ auch eine reichliche Ladung 
Heid. Die Mutter entkorfte darauf eine Flafche, Die 





Erfter Abſchnitt 59 


während ber Krankheit vom Schloffe geſchickt worden 
war, fchenfte jedem ein Spipgläschen voll ein und leerte 
das ihre mit den Worten: „Ihr follt eben, meine Kin» 
der!” 

Noch zögerte ich; ald aber die Mutter fagte: „Trinke, 
mein Sohn”, tranf ich8 auf einen Zug. 

Die legte eßbare Spur war von Tellern und Schüffeln 
verfchwunden, dad Dankgebet wie fonft vom Süngften 
gefprochen; die Schweſtern räumten ab; der muntere 
Schwarm flog aus der Stube, ein jedes an fein Ge⸗ 
ſchaͤft; ich war mit der Mutter allein. „Jetzt rede, 
Gottfried”, fagte fie, nachdem fie die Krümel für bie 
Hühner aus dem Fenfter gefchüttet und das Tiſchtuch 
forgfältig in die urfprünglichen Brüche gelegt hatte, 

Die fräftige Nahrung hatte mir wirklich den Kopf auf: 
geräumt und den fehmebenden Plänen eine beftimmte 
Richtung gegeben. Ob der Grundgedanke der Leichen: 
ſchmaͤuſe etwa doch nicht fo ganz „ohne“ gewefen ift? 

Sch erflärte der Mutter, daß ich entfchloffen fei, nicht 
nad Wittenberg zurücdzufehren, fondern hier am Ort 
mich um die durch den Tod erledigte Lehrers und Küfter- 
ftelle zu bewerben, und zwar nicht ald Übergangsftabium, 
wie der felige Vater es gewünfcht, fondern als Beruf 
für mein ganzes fünftiges Leben. 

Die Mutter ſchwieg eine Weile; mir fchien, daß fie 
eine Träne niederfämpfte; dann brüdte fie mir die Hand 
und fragte: „Iſt Dir der Brief, den ich dir in die Pforte 
gefchrieben habe, noch gegenwärtig, mein Sohn?” Als 
ich die Frage bejahte, fuhr fie fort: „Nun denn, ein 
Wort fo viel, wie taufend, Gottfried: der Menfch fol 
alles wollen, was er fann, aber nichts, was er nicht 


60 Frau Erdmuthens 3willingsſoͤhne 


kann. Im uͤbrigen werden wir die Sache morgen mit 
dem Herrn Vormund beraten. Erſt ausſchlafen! Ja, 
ſchlafen!“ wiederholte ſie, mein unglaͤubiges Kopfſchuͤt⸗ 
teln widerlegend. „Schlafen, um wach zu werden, mein 
Sohn. Wolle nur ſchlafen, und du kannſt auch das. 
Zuvor aber geh noch aufs Schloß; die liebe Gnaͤdige 
hat heute ſchon zweimal nach dir geſchickt.“ 

Sie nahm nach dieſer Rede das Staubtuch wieder auf, 
ein Zeichen, daß ich unwiderruflich entlaſſen ſei. Ich 
machte mich auf den Weg nad) dem Schloſſe. Die haͤus⸗ 
liche Szene hatte meine Lebensgeiſter merflich aufge: 
frifcht. Sch befann mid; darauf, daß der entlaubte 
Ulmengang noch grün geftanden hatte, als ich ihn zum 
legten Wale betreten, und fühlte eö wie einen Vorwurf, 
faum einmal in diefer Zeit der Freundin gedadıt zu 
haben, welche gleiche® Herzeleid wie ich erfahren hatte. 

„Ihro Gnaden erwarten den Mosjoͤ Bleibtreu”, fagte 
der alte Feldfche Kammerdiener, indem er leiſe die Tür 
des Familienzimmersd öffnete und auf ein Kabinett an 
der entgegengefegten Seite wies. 

Mit bangeflopfendem Kerzen ftand ich eine Weile un- 
bemerkt hinter den Falten der Portiere. Sechs Jahre 
hatte ich von den Lippen meiner Freundin feinen Laut 
vernommen, ald das Ta, das fie zur Gattin eines mir 
fremden Mannes machte. Alles in ihrer Umgebung war 
mir neu; felber die häusliche Einrichtung mit Ausnahme 
des Ahnenſaales. 

Das Kabinett war matt durch eine Schirmlampe bes 
leuchtet; dem Eingang gegenüber auf dem Kanapee faß 
Frau Erdmutheintiefem Trauerkleid; die fchwarze Krepp- 
haube über dem goldenen Haar; ihre Züge hatten fidh 


Erfter Abſchnitt 6 


gebehnt; Tränen rannen über die blütenweißen Wangen. 
Meben ihr ftand die Wiege, in welcher die Knaben 
fchlummerten; jetzt regte ſichs in derfelben; fie fegte die 
Schaufel in Bewegung, beugte ſich nieder, haudıte einen 
Kup auf jede Stirn, und ald fie wieder ftill geworden 
waren, erhob fie ſich, ein Lächeln der Glüdfeligfeit auf 
den Lippen. 

Mit ſchwimmenden Augen trat ich nun vor, druͤckte ihre 
Hände und rief: „Meine liebe, liebe gnädige Frau!“ 

Sie fah mid) bei diefer Anrede mit vermunderten Augen 
an und noch einmal flog es wie ein Lächeln über ihre 
Züge; dann fagte fie: „Du haft recht, mein Gottfried, 
unfer Äußeres Verhältnis ift ein andered geworden. 
Heute aber laß ed noch bei dem vertrauten Du; heute 
noch laß und nur die Kinder des teuren Mannes fein, 
ben wir beide beweinen.“ 

Und nun Iöfte fie mir die Seele mit linden Fragen 
uber meine große Erfahrung; Erinnern reihte fidh an 
Erinnern. Sie hatte die heilige Natur des Toten erfaßt 
wie feiner fonftz auch die Freundfchaft wurde berührt, 
die unfere Väter und fchon die Großväter verbunden 
hatte. Während dieſes gegenfeitigen Geflüfterd war 
eines der Sinäbchen laut geworden. „Meine kleinen 
Herren werden und nicht lange mehr Frieden laffen“, 
fagte fie, indem fie das Kind in ihren Armen wieder 
fill wiegte. „Sieh ihn dir einmal an, lieber Gottfried, 
den Heinen Unruhftifter. Du haft während ber Taufe 
nur Augen für fein Brüderchen gehabt; fie find aber 
beide deine Paten; bu wirft beide lieb haben, beide 
gleich lieb, mein Gottfried, nicht wahr?“ 

„Nun aber,” fuhr fie fort, nachdem fie ben Kleinen 


62 Fran Erdmuthens Zwillingsföhne 


wieder niedergelegt hatte, „nun laß und heute noch mit 
einander befprechen, worüber du vor dem Einfchreiten 
des Vormunds in dir felber Har fein mußt. Es ift mein 
innerfted Anliegen, wie dad meined Mannes, den fein 
Dienft in diefen Tagen leider ferne hält.“ 

Sch rücdte meinen Stuhl näher an die Wiege, die ich 
mechanifch fchaufelte. Frau Erdmuthe hob an: 

„Sei überzeugt, lieber Gottfried, daß mein Mann, 
wenn deine Sahre ſich um zwei oder drei vorrücden ließen, 
feinen anderen ald dich in das Amt deines Vaters be- 
rufen würde, Deine wie meine Erziehung war ja auf 
diefen Fortlauf angelegt. Gott hat ed anders gefügt: 
wir müffen ung ein Mittelglied gefallen laffen. Weißt 
du nun einen in diefem Sinne zum Nadıfolger und Vor- 
gänger geeigneteren, ald unferen Nachbar Heidenreuter? 
Meinem Manne empfiehlt er fidy auch darum, weil er 
euer Bormund iſt; bejahrt und ohne eigene Familie; 
bald wird er eines Gehilfen, in berechenbarer Zeit eines 
Nachfolgers bedürftig fein. Diefer Gehilfe, diefer Nach⸗ 
folger bift du. Rede mir nicht darein, Gottfried, du! 

„Wir find feit den Kinderjahren einander fern gewefen, 
aber, wie ald Kind, leſe ich heute noch in deiner Seele 
und ahne die felbftüberwindenden Pläne, mit denen bu 
dich trägft. Nicht immer aber foheint mir das Schwerfte 
auch das Richtige zu fein, und es ift felten weife, in 
rafcher Eingebung die Zukunft der Gegenwart aufzus 
opfern. Sch habe dies Fürzlich an mir felbft erfahren, 
als ich dem Freunde den Platz an meines lieben Vaters 
Lager überließ und an der Wiege meiner Kinder aus- 
harrte. Du wuͤrdeſt deines Heimgegangenen teuerfte 
Erbenhoffnung, deiner Mutter Zufunftötroft zerftären, 


Erfter Abſchnitt 63 


indem du den eingeborenen Beruf verleugneteft. Du 
mußt weiter ftudieren, mußt Pfarrer werden, Gottfried. 

„Du haft did ſchon im erften Univerfitätsjahre faft 
allein erhalten, legſt deiner Familie feine Laften auf; 
als Neuling in jeder anderen Bahn wuͤrdeſt du ihr nur 
eine ſchwache Stüße fein; um fo zuverläffiger dereinft, 
wenn du auf deinem Wege ausgeharrt haft. Die Mutter, 
fo Gott will, wird den ſchweren Schritt in das Witwens 
haus nimmer zu tun haben. Wie follte der einfame 
Pfarrer nicht froh fein, die alte Freundin in den ge- 
wohnten Räumen fchalten zu fehen? Was aber unfere 
Schweitern betrifft, Tieber Gottfried, fo duͤnken vier mid) 
noch nicht genug für alle Hilfe, deren ich, feit meine 
fleine Herren eingezogen find, im Kaufe bedarf. Mit 
wem follte ich ihre Pflege wohl lieber teilen, als mit 
deiner Chriftine, die das geborene Mütterchen ift. Frau 
Bär Fränfelt; ihr Sohn befteht darauf, daß fie unfer 
Haus verläßt. Es ift eine ftolze Natur, diefer Albrecht; 
laß dich durch feine Herbigfeit nicht abfchreden, Tieber 
Gottfried. Er braucht einen Freund, und ich wüßte feinen, 
der ihm Freund fein könnte, wie du. Ich wüßte aber 
auch feine, die mir die treue Frau Bär erfegen könnte, 
als die Martha des Pfarrhofes, deine Ehriftophine. Wenn 
ich aber auf die Berge von Sandarbeiten, die vor mir 
liegen, blide, fo denfe ich mit Schreden daran, daß die 
gute Mutter eine unferer Süngften zu ihrem Veiftande 
behalten möchte. Und wie lange wird es denn dauern, 
ftellen, einer nach dem anderen, die Freier fich ein, um 
fich mit einem Weibchen von der beiten Sorte den ei- 
genen Herd zu begründen. 

„Bleiben alfo die Brüder, von denen der Lieb ja reif 


64 Frau Erdmuthens Iwiltingsföhne 


zur Einfegnung ift. Er hat Luft zur Landwirtfchaft, und 
mein Mann, den fein Dienft fo vielfach an derfelben 
hindert, wird Gott danfen, wenn ihm unter unjeren 
Augen ein tüchtiger Verwalter erwaͤchſt. Die beiden 
Juͤngſten muͤſſen freilich noch Sahr und Tag auf ber 
Schulbank file halten; bleibt aber Lob, der Herums 
fireifer, der Liebe für Wald und Wild getreu, fo wird 
unferem alten Förfter die Gefellfchaft eines munteren 
Lehrlings willkommen fein, und wie werden wir bes 
Zimmermeifterd Hold bedürfen, wenn ed in unferem 
Heideflecken dereinft ein wenig wohnlicher werden fol. 
Alles das find Luftfchlöffer, Lieber Gottfried; die Neigung 
der Kinder kann ſich ändern; Mutter und Bormund haben 
auch ein Wort darein zu reden; das aber fiehft du heute 
fhon, daß in unferem Meinen Reiche mancher Poften 
eined Anwärterd harrt.“ 

Die herrliche Frau hatte im Eifer einen ftillaunigen 
Ton angefchlagen, ber ihrem Wefen fonft ferne lag; mir 
aber war er ein burchfichtiger Schleier, den die Liebe 
über nacdte Hilfe warf, und Gott weiß, wie mir bag 
Herz bei diefer feltenen Anmutögabe ſchwoll! 

„Wenn wir nun aber“, fo fuhr fie nadı einer ftillbes 
wegten Paufe fort, indem fie mir noch einmal die Hand 
reichte, „wenn wir feinen einzigen unferer jungen Freunde 
miffen, fie alle recht feſt an unfere Heimat binden 
möchten, wieviel mehr noch den Bruder von der Wiege 
ab, den vorbeftimmten Erben der Freundfchaft, welche 
die Väter verbunden hat. Meinft du, mein Gottfried, 
dag wir dich Fremden überlaffen könnten, bis du ale 
Sorger für unfere Seelen in dad Amt der Bleibtreu 
aufgerächt bit? Nimmer, nimmermehr! Du kommſt zu 





Erfter Abſchnitt 65 


und. Schau dir meine Lieblinge nody einmal redyt an, 
mein Gottfried; fie werden in zwei, drei Sahren noch 
gar winzige Bürfchchen fein, aber der führenden Hand 
auch dann ſchon bedürfen. Wie verehre ich die Fügung, 
die fie zu deinen Paten machte! Ein Band mehr, das bir 
Mühen und Sorgen erleichtern wird. Du wirft fie hegen 
wie feiner fonft: Gott hat die Kinderliebe auf deine 
Stirn gezeichnet. Not genug werben fie dir freilich 
machen, Freund; der Fleine ſchwarze ift ein gar uns 
bändiger Gefel. Hörft du? Da fchreit er aus vollem 
Halfe. Dein Schaufeln verfchlägt nicht mehr; die ruhige 
Stunde ift um. Gute Nacht, mein Gottfried. Erft gib 
mir aber noch die Hand darauf, daß du zu und fommen 
willſt. Wir werden die Tage zählen, bis wir dich haben 
als den Unferen, den Unferen bis and Ende.“ 

Sie ſchwieg. Und ich? Was hätte ich tun Fönnen, als 
zu ihren Füßen niederfallen, ihre Hände an mein Herz 
druͤcken, dann aber mich über die Wiege beugen, meine 
Lippen auf die Stirnen ber Zwillingsbrüder preflen und 
aus dem Zimmer ftürzenz alles ohne ein Wort, dad ein 
anderer ald die im Himmel vernommen hätte Die 
aber, mein ewiger Vater und der ed hienieden gewefen 
war, fie werben es gehört haben, daß ich gelobte, dieſem 
Weibe und diefen Rindern mein Leben zu weihen, als 
wären fie mein eigenes Weib und meine leiblichen Kin⸗ 
der; und wundert ſich einer, daß ich, fie vor Augen, nies 
mald ein Begehren empfunden habe, ein eigenes Weib 
und leibliche Kinder im Herzen zu tragen? 

Alles ruhte im Pfarrhaufe, als ich dahin zuruͤckkehrte. 
Sch taftete mich ohne Ficht in meine Kammer, legte mic), 
nach muͤtterlichem Befehle, augenblicklich nieder und 
xX.5 


68 Fran Erdmuthens Iwillingsfähne 


fchlief ein. Sa, ich, der vor wenigen Stunden von feiner 
Schlummerfüßigfeit mehr wiffen wollte, als der ewigen, 
die der Gerechte fchläft, ich befchloß meinen Tag mit 
einem Danfgebet für Gottes Herrlichkeit auch im diese 
feitigen Leben, und ic) fchlief fanft wie ein Kind, bis Der 
helle Morgen durch die Scheiben fiel. 

Die Erbfchaftöregulierung am anderen Tage hielt nicht 
lange Zeit auf. Der Hausrat war muͤtterlich Einge- 
bradhtes, die Kaffe erfchöpft, die Bibliothek füllte einen 
fchmalen Raum, denn der Dann der Kiebe hatte ben 
der Wiffenfchaft ftreng im Zaum gehalten. Wäfche und 
Kleider wurden unter den jüngeren Nachwuchs verteilt. 
Ich erbat und erhielt nichts davon ald den euch ſchon 
bekannten feftlichen fchwarzen Rod. Es ift eine Wunders 
dauer in diefem Rod, der keineswegs neu war, als ich 
mich vor Frau Erdmuthens Hochzeit zum erften Male 
mit ihm im Spiegel fah. Nun habe id, ein halbes Jahr⸗ 
hundert lang bei jeder weihevollen Handlung ihn unter 
dem Talare getragen, und er ift heute noch fo ſchmuck 
und paßlich auf meinen Leib, daß ich midh feiner ale 
des würbdigften Sterbefleibes erfrene. 

Im übrigen: wie die Freundin meines ganzen Lebens 
ed ausgefonnen, wie meine grundbrave Mutter es ge- 
billigt hatte: alfo geſchahs. 


Zweiter Abſchnitt 


Was krumm if, muß fich gleichen. 


o hätte Gottfried Bleibtreu ſich denn wie ein Held 
Co Parade aufgepflanzt; fein heimifches Neft, die 
ererbte Schugherrfchaft und felber die fleinen Patrone 
der Zufunft aus dem Grundterte vorgeführt; den gegen» 
wärtigen Teilhaber ded Regiments, den Gatten der 
Seelenfreundin, deren braͤutliches Strumpfband er ges 
Löft, den Vater der Zwillingsbrüder, an deren Tauftifche 
er ald Küfter und Pate geftanden, den aber hat er big 
auf den Namen zu erwähnen vergeflen. Vergeffen? Ei, 
beileibe nicht vergeflen den vielmerten Gönner und Freund, 
mit deffen Eintritt ja erft der Keim zu meiner Bruders 
gefchichte gelegt worden ift. Alles Bisherige war Greifen, 
plauderei; ein Blick in blaue Ferne tut alten Augen fo wohl! 

Eine römifche Geſchichte; traut ed dem Amanuenfis 
der gelehrten Frau nur zu, er wuͤrde allerfrüheftend fie 
begonnen haben. 

„Nach zurücgelegten Eramina trat id; ald Hauslehrer 
in die Familie ded Furfürftlichen Dragonerleutnants, 
Baron Raul von Roc.“ 

Herr Raul von Roc entitammte einem hugenottifchen 
Geflecht, das nach Aufhebung des Edikts von Nantes 
bei dem damald noch proteftantifchen fächfifchen Hofe 
eine Zuflucht und, von Vater auf Sohn, in der fächfifchen 
Armee eine ehrenvolle, wenn auch befcheidene Stellung 
gefunden hatte. Die Familie nannte ſich dazumal Ches 
valiers de Saint Roc, rühmte fich, ihren Ritterfchlag in 
den Kreuzzügen erhalten zu haben, und erinnerte ſich 
eines reichen Edelfiges in ber Provence, der in die Hand 


68 Frau Erdmuthens Zwillingefähne 


eined dem Fatholifchen Glauben treugebliebenen oder zu 
ihm zuruͤckgekehrten Zweiggefchlechtes gefallen fein follte. 

Da indeffen alle heimatlichen Verbindungen aufgehört 
hatten, verſchwammen diefe Traditionen je mehr und 
mehr in ein nebelhafted Sagengebiet, und feit in dem 
großen Belagerungsbrande von Wittenberg 1756 Di- 
plome und Familienpapiere verloren gingen, waren 
auch jene Legenden fo gut wie erlofchen. 

Der Bater unfered Herrn Raul fiel während ber fieben 
Kriegsjahre, ohne den letzten deutſchen Namenderben 
der Saint Roc mit Augen gefehen zu haben. Auf An 
fuchen wurde leßterem vom Kaifer Franz ein neues Di- 
plom mit der für die Prärogative deutfchen Adels voll⸗ 
gültigen Ahnenzahl verliehen, und Herr Raul nannte 
fich, felbigem getreu, Baron von Roc. 

Auch feine Mutter ftarb früh. Da fie, wie auch ihre 
Vorgängerinnen, gleichfalls einer refugierten Adels⸗ 
familie angehörte, hatte im Äußeren des verwaiften 
Knaben der Typus füdlicher Abftammung ſich unge: 
brochen erhalten, während dem geiftigen Naturell bag 
Sahrhundert wohl anzufpüren war, das vier Genera- 
tionen unter einem fälteren Simmel burchlebten. Das 
Temperament hatte fid) gemäßigt, der Geftus war leb⸗ 
hafter ald der Efprit, das Auge flammte kühner als die 
Leidenfchaft, das Herz aber fchlug fo kernbieder und 
treu wie das bes deutfchen Stammes, dem er das Gluͤck 
hatte, fich in aufrichtiger Kiebe zu verbinden. Auch fühlte 
er fi von Grund aus einen deutfchen Mann, hegte 
feinerlei Sympathie für die fränfifchen Stammesgenoffen, 
ald deren Verbündeter fein Vater gefallen war, ohne 
durch feinen Tod feinem fächfifchen Kriegsherrn ein 


Zweiter Abfchnitt CL) 


Lorbeerblatt zu erfaufen, fehnte fid) niemals aus dem 
norbifchen Heidewinkel nadı der holden Wiege feines 
Gefchlechtes. Weil aber fein Organ an dem Wohllaut 
der erften Heimat entwidelt war, klang die Sprache ber 
zweiten rein und gar verlodend für unfer ſaͤchſiſches Ohr. 

Das Reiterregiment, dem er angehörte, garnifonierte 
in einem dem unfrigen benachbarten Bezirk. Dort hatte 
das junge Paar ſich fennen lernen und auf den Hof: 
bällen Dresdens die Befanntfchaft weitergeführt. (Denn 
ach! mein Fräulein Erbmuthe hatte getanzt, gern ge: 
tanzt, fchön getanzt und fogar rund!) Was Wunder, 
daß auf den erften Blick der feurige Kerr lichterloh für 
das Iiebliche, fittige deutfche Fräulein entbrannte und 
daß auch das liebliche, fittige, deutſche Fräulein an dem 
fchönften, Tebhafteften Kavalier ihres Kreifed, dem ver: 
wegenften Reiter, dem zierlichften Tänzer ein Gefallen 
fand, welches ſich allmählich in innigfte Neigung ver: 
wandelte. Die Liebe, fo fagt man ja, entzündet ſich am 
Gegenfag und behauptet fi am färkiten in Naturen 
abweichenden Scjlage®. 

Auffälliger möchte es fcheinen, daß der alte Freiherr 
ſich den Wünfchen feiner Tochter fo bereitwillig fügte. 
Welchen ftichhaltigen Einwand hätte er indeflen gegen 
diefelben erheben können, ald daß unter der Schar ber 
Bewerber Herr Raul von Roc ber ärmfte war und bap 
er einem anderen Blute entflammte, ald dem, aus wels 
chem fein Gefchlecht fich bis dahin ergänzt hatte? 

Juſt in letzterem Punkte jedoch, in dem des Blutes, 
hegte unfer Herr, feitdem feinem Stamm auch die her- 
koͤmmliche einzige männliche Blüte verfagt worden war, 
einen Zug befcheidener Selbfterfenntnig, der fi, nad) 


70 Frau Erdmuthens Iwillingsfähne 


„flaͤmiſcher“ Weife, langſam, aber hartnädig, fei es zu 
einem Wahn, fei es zu einer Wahrheit entwidelte. Wenn 
er nach einem Gang durch feinen Ahnenfaal oder bläts 
ternd in der Familiendhronif die gleiche Artung an Leib 
und Seele zwar veredelt, aber doch Zug für Zug aud 
in der Erfcheinung feiner Tochter wiederfand; nod) 
mehr aber, wenn er an ſich felber inneward, wie fchwers 
fällig der Gedanke zum Entfhluß, der Entfchluß zur 
Tat gedieh, dann fagte er wohl zu feinem alten Freunde 
in der Pfarre: 

„Ss muß ein rafcherer Saft in unfere Adern ergoflen 
werden, oder wir verfiechen. Wögen die niederen Schidhs 
ten fi in gleicher Gattung wie die Tiere der Weide 
fortpflanzen; die zur Führung berufen find, bedürfen ers 
frifchenden Wechſels. Warum hat der britifche Adel 
ſich fo herrfcherfähig behauptet, ald weil der normäns 
nifche Strom den fächhfifchen gefreuzt? Ein jedes Volt 
hat Tugenden, weldye dad andere entbehrt und unter 
beren Verfchmelzung die Mängel bed einen wie bee 
anderen ſich tilgen.” 

„Bid dann endlich der Tag kommt,” fo pflegte der 
geiftliche Freund zu fchließen, „der Tag, wo allefamt, 
einzelne und Bölfer, fid) ald eine große Familie zum 
Segen vereinen, wo jede Zwietracdht ſchwindet und ein 
Reich ewigen Friedens in brüderlicher Liebe beginnt.“ 

Der lebhafte, fchwarzäugige Enkel der provenzalifchen 
Hugenotten war daher der rechte Mann, um die flä- 
mifche Ader aus dem Blute der fächfifchen Barone zu 
verdrängen, und daß fein Name verdeutfcht einen Feld 
bedeutet, ei nun, dad war ein Zufall von denen, die ald 
Wink für unfere Launen genommen werden. Der aber 


Zweiter Abſchnitt 71 


kennt unſern alten Freiherrn ſchlecht, der da meint, er 
werde einen Ehrenmann, bloß weil er arm war, von 
der Schwelle ſeines reichen Hauſes gewieſen haben. 
Der letzte der Fels war ein ſtolzer Herr, aber ſein Stolz 
war ritterlicher Art; eine Heirat um Geld nannte er 
pöbelhaft und feinen alten Namen ein Ehrenpfand, das 
nicht im Aufftridy verhandelt werden dürfe, 

Sa, mehr noch: für die Stellung, zu welcher er feine 
Tochter erzogen hatte, paßte im Grunde nur ein uns 
vermögender Mann. Ein anfäffiger Eidam hätte ihm 
feine Erbin entführt; die Beſitzungen fchmolzen ineins 
ander, die der Feld traten in die zweite Reihe, wurden 
vernachläffigt, audgebeutet, wohl gar verkauft; die Ers 
innerung an das urfprüngliche Gefchlecht verlor fich 
auf dem Boden, der es großgezogen hatte. Dem armen 
Dragonerleutnant gegenüber blieb feine Erbin Numero 
Eins. Herr Raul hatte fein Roß und Schwert, Frau 
Erdmuthe das Regiment in Haus und Hof; Herr Raul, 
der feine Spur von Sinn für die Kandwirtfchaft offen» 
barte und feine Oattin zur Nugnießerin nur fehr bes 
fcheidener Würden machen fonnte, war für das Erbe 
im Seidewinfel der rechte Mann. 

So fagte unfer Herr denn Ga und Amen zu dem 
Bunde, den die Herzen gefchloffen hatten, und wenns 
gleich ed ihm nur ein Jahr lang vergönnt war, Zeuge 
desfelben zu fein, konnte er fid) des erreichten Zieles 
nur erfreuen. Niemald hat ed eine glüdlichere Che 
gegeben, als die von Erbmuthe und Raul. Das Vers 
hältnis zu feiner Gattin war ohne Frage bie ftärfite 
Ceite ded jungen Mannes. Die Reize ded Liebhabers: 
feurige Erregtheit und ritterliche Galanterie fonnten für 


72 Frau Erdmuthens Swillingsföhne 


ein Erbteil feines füdlichen Stammes gelten; die ehe— 
lichen Tugenden: Treue und unerfchütterliched Vertrauen, 
mochte er im Norden eingefogen haben. Sie aber, Erd⸗ 
muthe, ihr Wefen gipfelte vielleicht nicht, aber es erblühte 
auf das holdefte in der Neigung zu dem erwählten 
Manne. Sie ahnte es felber nicht, und er ahnte es 
noch viel weniger, daß fie die beherrfchende Natur in 
ihrem Bunde war, daß er feinen Willen hatte neben 
dem ihren und ihrer Einficht niemals widerſtand. Schwoll 
einmal eine füdlich jache Ader auf feiner Stirn, und fie 
glitt mit ihrer etwas großen, aber ſchlanken weißen Hand 
darüber hin, und fagte nichts weiter, ald „Mein Raul!“, 
jo war die Wallung gedämpft, noch ehe fie aufgekocht. 
Ein zierlicher Handfuß, eine Umarmung, ein Lächeln fo 
feelenvergnügt, wie zuvor, befundeten den weiblichen 
Sieg. Beim Kleinften, was fie außer der Tagesordnung 
befchloß, fragte fie: „Iſt e8 dir recht, mein Raul?“ Und 
dem Herrn Raul würde e8 recht gewefen fein, wenn fie 
den Mond vom Himmel herunter hätte holen wollen. 
Traf fie eine Anordnung, gab fie einen Befehl, fo fagte 
fie niemals: „Sch wünfche, ich will,“ fondern „Unfer 
Herr wünfcht, unfer Kerr will”; alles das aber nicht 
mit der heimlich gefchulten Art, die ald Takt gepriefen 
wird, fondern faum bewußt, im Zartfinn eines liebenden 
Gemuͤts. Wer unter Frau Erdmuthend Dad, geheimft 
hat, konnte ſichs erflären, daß die Ehe unferer großen 
deutfchen Kaiferin mit ihrem Franzel eine fo glückliche 
gewefen und daß weiland ihred Herrn Vaters Majeftät, 
ber im übrigen ja nicht um eine Gluͤckshand zu beneiden 
war, mit feiner pragmatifchen Sanftion foldy einen 
Treffer gezogen hatte. 


Zweiter Abfchnitt 73 


So fügte ſich denn alles nach unferes Herrn Wunſch 
und Willen. Er hatte feinen Eidam adoptiert; berfelbe 
nannte fic mit Furfürftlicher Genehmigung jetzt Roc 
von Feld, ja er nannte fidy in danfbarer Vorliebe kurz⸗ 
weg Baron Fels, und die Zeit lag berechenbar nahe, wo 
der heimifche Feld den fremden Roc vollftändig verdrängt 
haben würde. 

Als eine fernerweitige allerhöchfte Gunftbewilligung an 
unferen wohlaffreditierten alten Herrn ift ed angefehen 
worden, daß die Schwadron, welcher fein Schwiegerfohn 
angehörte und die er fpäter als Rittmeifter führte, gleich 
nach der Verlobung ded jungen Paared unferen Ort 
als Sarnifon bezog. Der Herr Offizier verfah demnach 
feinen Dienft vom Schloffe aus, und Wehr: und Nähr- 
ftand vertrugen fich friedlich unter einem Dach. Zwifchen 
unfer armes, verwahrloftes Heidevoͤlkchen aber Iegte der 
militärifche Zuwachs einen erften gedeihlichen Keim. 
Solch ein paar hundert Roffe und Reiter füllten die 
Stätten, die der Bauer feine Goldgruben nennt; die 
forgfältige Abwartung der Pferde wurbe zum Exempel 
für die des übrigen Getierd; man lernte an dem Loge: 
ment für die Mannfchaft auch die eigene Wohnung rein- 
licher im Stande halten; es fam ein Element von Zucht 
und Ordnung unter und, nachdem uns letztlich die boͤſe 
Seuche eine fo ftrenge Mahnerin geworden war. Wort 
und Beifpiel des Pfarrhaufes waren im Schlendrian 
verpufft, die flämifche Ader der Edelherren hatte diefem 
Schlendrian Borfchub geleiftet: nun griff mans mit 
Händen, wie bie beleidigte Natur fich rächt, ſchaffte 
Luft und Licht um fich herum, befreundete ſich allmäh- 
lich auch mit dem Element, das dem Heidebauer fonft 


74 rau Erdmuthens Zwillingsföhne 


nur in Tropfenform eine Himmelsſpende dünft; Iebte 
arbeitfamer, nüchterner und gradatim befler. Zwei 
Friedensjahrzehnte förderten dad Gedeihen; dad Gemeins 
gefühl wuchs mit der einzelnen Wohlbefinden, und dag 
weibliche Regiment auf dem Edelhofe förderte liebreich 
jeden zarten Trieb. Seit den Tagen Frau Erdmuthens 
erhob fich der wüfte.Beidefleden zu dem Range einer Stadt. 

Ob der Sinn für diefen Fortfchritt auch unferem bes 
dächtigen alten Herrn erwachſen wäre? ch weiß es 
nicht. Als er inmitten der Krifid die Augen fchloß, 
hatte er in dem Doppeltriebe, der dem erneuten Stamme 
entfproß, das Ziel feines Strebens überholt gefehen. 
Selbft wenn diefe Knäbchen die einzigen blieben — und 
fie blieben die einzigen -, fein Name und Erbe waren 
fefter als feit Jahrhunderten der Zufunft verbürgt. 

Welch ein geebneter Pfad fchien diefen Kindern vors 
bereitet! Sie brauchten gar nichts weiter, ald gelaffen 
darauf hinzumandeln, um ſich felbft wie vielen anderen 
zu Luft und Segen ihre Tage abzufpinnen. Schön und 
kraftvoll geftaltet, erzogen in einem Haufe, wo nur Bers 
nunft und Liebe walteten; ein braver Vater, eine Mutter, 
deren Seelenfülle in dem mütterlichen Triebe gipfelte; 
ehrwürdige Familienerinnerungen; Wohlftand ohne Ups 
pigfeit; freie Augflucht in jeden anfprechenden Beruf 
und fichere Ruͤckkehr in eine Heimat, die beiden ein ges 
fondertes, doch in das Brüderliche greifende Feld der 
Tätigkeit öffnete; fo ihre Konftellation. 

Und doch lag unter der blumigen Dede ein Keim vers 
fenft, der, in gewittervoller Zeit erftarfend, alle Heimats⸗ 
blüten überwuchern follte. 

$ * 


Zweiter Abſchnitt 25 


Im lieben, deutichen Baterlande hatte auch auf dem 
Felde der Pädagogif feit zwei Sahrzehnten ſich ein 
Sturm und Drang erhoben, um dad, was zwei Jahr⸗ 
hunderte lang in trägem Schnurrengange hingelaufen 
war, handumdrehende auf den Kopf zu ftellen und ein 
nagelneued Menfchengefchledht aus ſchmetternden Lehr⸗ 
trompeten zufammenzublafen. 

An alle diefe Lehrtrompeten und Yaunenpfeifen und 
Engeldorgeln hatte ich mein Ohr gelegt; ed faufte und 
braufte in meinem Hirn, ich taumelte, wie voll füßen 
Weines, bis denn am Ende mein alter Zuchtmeifter in 
der Menfchenwürde mir wieder auf die Beine half. 

„Zum Kudud, Kindskopf, mit deiner pädagogifchen 
Muſik! Die Erbnnatur - ja, ja, ich bin auch bibelfeft! - 
wirft du ihnen doch nicht aus dem Geblüte blafen. 
Pauke dir erft felber wieder ein, was du deinen Junkers 
rangen einpaufen follft, und außerdem, fagft du denn 
nicht, daß du fie liebſt?“ 

Als Albrecht der Bär diefen Rud in das Natürliche 
an mir verübte, war er im fünften Studienjahre, auf 
Kreuz⸗ und Querzügen durch gotteds und redıtögelehrte 
Labyrinthe, auf der heilwiffenfchaftlichen Verſuchsſtation 
angelangt; ohne indeffen, wie er bereits felber muts 
maßte, auch an diefem Leitfeile den NRuhepunft aus⸗ 
findig zu machen, auf welchem „die beiden Kläffer Kopf 
und Wagen ſich nicht in die Waden beißen”. Einft: 
weilen nagte er an der Rinde, weldye er ale Erbteil im 
Brotfchranfe der Mutter Bär vorgefunden hatte; als er 
aber mit diefem unbeftreitbaren Menfchenrechte beim 
Doftorfchmaufe auf die Neige gefommen war, vers 
fhwand der große Bär aus unferer KHeidezone, und 


76 Fran Erdmuthens Zwillingsföhne 


haben wir viele Sahre vergebens geforfcht, in welchem 
Urmalde er Freiheit und Honig fuchte. 

Sein Informatorenrezept indeffen war nad meinem 
Geſchmack; ich däftelte mir ein Abcbuch aus, in der 
Hoffnung, bei Afchylos und Tacitus mit meinen Schh- 
lern zu enden, und außerdem — liebte ich fie. Als ich 
aber in mein erfted Erbamt trat, waren bie Fleinen 
Herren netto drei Sahr und mehr noch der Muhme 
ale des Abcbuches bebürftig. So machte ich mich denn 
zu ihrer Muhme, rüdte mein Bett zwifchen die ihren 
und ergögte mich mit dem erften und lebten Tagesblick 
an dem wunderbaren Widerfpiel diefes Doppellebens. 

Der alte Freiherr hatte den Saft feines Stammes auf: 
zufrifchen gedacht; ed war aber nicht eine Mifchung, die 
fihh in dem üppigen Erftlingstriebe vollzog: das alte 
wie das neue Reid hatte gefondert einen Sproffen feiner 
Art gezeitigt. Kein Auge würde in diefen Kindern Bruͤ⸗ 
ber, viel weniger Zwillingöbrüder vermutet haben. 

Der Erftgeborene war ein Sadıfe, ein Feld, muskuloͤs, 
hell und blauäugig wie der Großvater, deffen Namen 
er trug, aber mit dem tieferen Ton und Blick, der von 
dem Bilde ded Bekenners in das Auge der Mutter 
übergefprungen fchien. Der Zweite war ein Romane, 
ein Roc, feined Vaters Ebenbild, aber mit dem ge- 
fhärften Ausdrud eines rafcheren Blutes. Sein Auge 
hatte den halbwilden Flimmer des jungen Falfen, dag 
feine Profil fennzeichnete eine frühe Entwidlung. Er 
blicfte und griff nad) den Gegenftänden, wo der andere 
noch lange in die Leere taftete;s er lachte mit hellem 
Klang, wo jener faum noc, die Tippen verzog; als 
Herrmann nody Tallte, artitulierte Raul ſchon verftänd- 


Zweiter Abfchnitt 77 


lich, und feltfam! am leichteſten in der väterlichen Sprache, 
die er doch weit feltener vernahm. Er fchoß auf allen 
Bieren durch bad Zimmer, richtete ſich an jedem Stuhl: 
bein auf, purzelte wohl oftmals, fprang wie ein Steh- 
auf aber immer wieder in die Hoͤh und fehnellte weiter, 
bi8 der Federdruck der zierlichen Gelenfe erlahmte. 
Bruder Herrmann faß währendbeflen unbewegt auf 
dem Teppich oder fchleppte ſich mühfam im Laufforbe 
vorwärts. Eines Tages aber erhob er ſich firamm auf 
die Beinchen, fohritt ohne Fehltritt auf feine Mutter zu 
und ift nicht ein einziged Mal gefallen. 

Das war vor meiner Zeit. Als jedoch unfere Wande⸗ 
rungen durch den Wald begannen, da war Klein-Raul 
immer eine Strede voraus, jagte ſich mit Karnideln 
und Hafen, kletterte ver Eichkatze nach bis in die Wipfel. 
Bald hatte er einen Schmetterling, bald ein Bogelneft 
oder eine Eidechfe ergattert, und bei jedem Fund 
fchmetterte dad Stimmchen wie ein Trompetenftoß. 
Atemlos fam er zurüd, feine Beute zu zeigen, hebte 
dann wieder vorwärts mit dem Windfpiel, feinem Lieb- 
ling, um die Wette, 

Gelaffen ging in der Zeit Groß-Herrmann an meiner 
Seite, aufmerffam horchend auf Namen und Eigen- 
heiten der Waldprodufte, die ic; im Wandeln erklärte; 
hatte Bruder Ungeſtuͤm ung aber einmal über das gefeß- 
mäßige Ziel hinausverlocdt, drüdte der Sonnenbrand 
oder überrafchte und ein Gewitterfchauer, fo hielt jener 
ohne Ermattung aus, während ber Kleine weinend bie 
Flügel hängen ließ und manches Mal hudepad auf dem 
Paten Magifter den Heimweg zurüdlegte, bis dad Hof: 
tor in Sicht und er dann jach wieder voraus war, um 


78 Frau Erdmuthens Smwillingsföhne 


mit feiner Beute und feinen Abenteuern Parade zu 
machen. Ä 

Der Heine Herr war eitel, puste die Nägel und 
fohniegelte vor dem Spiegel die ſchwarzen Loͤckchen, wo 
fein Bruder lange noch fidy gegen Kamm und Bürfte 
fträubte; niemals fonnte er zierlidy genug gekleidet fein, 
hatte feine Sachen aber aufgetragen in der halben Zeit, 
daß die ded Großen noch drall auf dem Körper faßen. 
Freund Raulchen war aud) leder, aß rafch, aber wenig 
wie ein Vogel, Herrmann langfam und viel, wie - ei 
nun, wie ein junger Stier. Surzum, aus taufenderlei 
fleinen Zügen ließe fich der Gegenſatz der Naturen ers 
weifen, und würde fein Ende zu finden fein, follte er 
auch auf geiftigem Gebiete verfolgt werden. 

Auch hier war der Große fcheinbar vom Kleinen über, 
holt. Der hatte die Pointe erfaßt, wo jener noch muͤh⸗ 
fam an den Wurzeln flaubte. Herrmann wußte nichts, 
wenn er nicht dad Ganze wußte; Raul wußte mit einem 
Bruchteil alles, was er zu wiflen verlangte und weflen 
er zu wiffen fähig war. Herrmann griff ſtark an und 
hielt das Ergriffene feftz er fchaute fcharf zu, unterfuchte 
von Grund aus, fam nad) Überlegung zu Schlüffen, an 
denen er unbeugfam und ohne Entmutigung felthieltz 
er gelangte zu einem deal auf dem Wege der dee. 

Seinem Bruder galt jeder ftarfe, perfönliche Impuls 
als Ideal; er ließ es fallen, fobald die Phantafie von 
einem neueren Gegenftand entzündet wurde. Nach jeder 
Lektion hatte er einen Helden, mit dem er fidy identis 
fijierte, bid ihm ein anderer noch heroiſcher entgegen, 
trat. Er fpielte immer einen Zweiten und war immer 
er felbft; aber immer ber Erfte, immer obenan. Dem 


Zweiter Abſchnitt 79 


Älteren genügte von vornherein felten ein Held; er fah 
die Mängel neben den Tugenden; fondierte die Quelle 
und forfchte nad) dem Gefege jedes Tuns. Er war 
immer er felbft und doch mitten in einem Zweiten. 
Seine Stärke war dad Gemwiflen, die ded anderen die 
Begeifterung; jener zügelte felber einen edlen Impuls, 
bis er ihn geprüft, diefer ftand jeden Augenblid unter 
der Herrfchaft eines Affekts. 

Noch einmal: beide waren gleidhfam Typen ihrer 
Kaffen, Feine Urs und Normalnaturen, an denen dem 
gleichgültigen Befchauer nichts Sonderbares aufgefallen 
fein würde, als daß fie gleichzeitig unter einem Kerzen 
und unter einem Himmel ſich entwicdelt hatten. Ich 
aber hätete mich, die Grundfchrift der Natur mit uns 
haltbaren Lettern zu übertündhen, jenen ungelehrten 
Mönchen gleich, die eine unerſetzliche Handfchrift tilgten, 
um für den Elöfterlihen Kanon ein Blättchen Pergas 
ment zu gewinnen. Ein kraͤftiges Gepraͤge wird feine 
Malerkunſt verdrängen, wo aber die Urfchrift ſchwaͤch⸗ 
lich war, verläuft fie mit der Überfchrift, grau in grau, 
zu einem unverftändlichen Pfuſcherwerk. 

Sch nahm meine Kinder fo, wie Gott fie gefchaffen 
hatte, und erftrebte nichts weiter, ald ihre Eigenart den 
ewigen Gefegen dienftbar zu machen, die für jede Naturs 
anlage die gleichen find. Welchem von beiden der Bor; 
zug gebührte, hätte id faum zu unterfcheiden gewußt. 
Wenn aber im Verlauf die Neigung mid) ftärfer zu dem 
Älteren zog, fo gefchah ed um der immer deutlicheren 
Ähnlichkeit mit feiner Mutter willen, deren Wefen id) 
feit dem Bewußtwerden meines Lebens im tiefiten Mits 
gefühl zuftimmte, 


80 Frau Erdmuthens 3willingsſoͤhne 


Aus gleichem Grunde erkläre ich mir die unverhehlte 
Borliebe des Vaters für diefen ihm fo unähnlichen Sohn. 
Ein gut Teil Bequemlichkeit mag hinzugezählt werben, 
denn Kinder, bie nur gefördert fein wollen, fallen uns 
weniger befchwerlich, ald die, welche jeden Augenblick 
einen Zügel herausfordern. Auch im Bereiche der Er- 
ziehung fehen wir in dem Guten, dad wir gedanfenlos 
verfäumen, ein geringeres Unrecht, als in dem Schlimmen, 
zu dem wir im Eifer und reizen laflen. 

Die Mutter ftand zu diefem Älteften ‚ den fie vorzuge- 
weife ihren „Sohn“ nannte, von früh ab in einer 
Harmonie, wie eine Freundin zum Freund; zaͤrtlicher 
dahingegen neigte ſie ſich zu ihrem „Kinde“, ihrem Raul: 
ſei's, daß der Zauber des Vaters in ſeinem Ebenbilde 
fortwirkte, ſei's, daß ſie fuͤr die vaͤterliche Bevorzugung 
des anderen nach einem Ausgleich trachtete. Oder ſollte 
es ein Vorgefuͤhl des Herzeleids geweſen ſein, das ſie 
um dieſen Sohn einſt tragen ſollte? Die Lieblinge der 
Muͤtter ſind ja haͤufig ihre Schmerzenskinder. 

Denn auch dieſe Erfahrung iſt mir zuerſt unter dem 
Dache der Roc von Fels aufgegangen: Nur die Liebe 
zwiſchen Mann und Weib ertraͤgt und verſoͤhnt den 
Widerſpruch der Grundnaturen; in jedem bruͤderlichen 
Verhaͤltniſſe, im Hauſe wie in der Schule, in der Ge⸗ 
meinde wie im Staat, ſtoͤrt und zerſtoͤrt der Gegenſatz die 
Harmonie. Die Skala der einzelnen mag hoͤher ſteigen 
oder tiefer ſinken, der ſimmende Tenor muß derſelbe ſein. 
Freunde ſind Gleichgeſinnte, Bruͤder Gleichgeartete. 

Unſere Bruͤder ſtießen gegeneinander lange, ehe ſie be⸗ 
griffen, was Bruderſein heißt. Die Herausforderung 
gab allemal Raul. Bei jeder Gunſt, jedem Lob, die 





Zweiter Abſchnitt 81 


Herrmann erntete, ſchoß ihm das Blut zu Kopf, und im 
Nu hatte er ihn bei den Haaren. Er ertrug feine Ges 
meinfchaft; alled war fein und nur, was ihm belichte, 
dem anderen. Sein Teil follte immer das erfte, bei 
jedem Spiel wollte er Anordner, Bormann fein. „Ic 
bin der Größte!” fagte dann Herrmann. „Aber idy der 
Kluͤgſte!“ verfegte Raul, und wie ein Kampfhahn fuhr 
er auf den Bruder los. 

Wenn dann die Mutter mit bem einzigen Worte: „Aber 
mein Raul!” dazwifchen trat, da war er freilich auch der 
erfte, feinen Nebenbuhler freizulaffen; ja, er fiel ihm 
um den Bald, füßte ihn, verfpradh, fortan jeden Lecker⸗ 
biffen oder Chrenpoften mit ihm zu teilen. In der 
nächften Stunde aber hatte er fein Wort vergeflen, und 
die Neckerei begann von neuem. 

Anders Herrmann. Auch er hatte bei der mütterlichen 
Mahnung die Fäufte finten laffen, aber der Grimm des 
Beleidigten war nicht verraudyt wie der des Beleidigers. 
Er wehrte ded Bruders Liebfofung ab, und ed währte 
nach ftarfer Erregung flundenlang, daß er wie ein 
Träumender umherging, oder wie eine Heine Salzfäule, 
das Geficht gegen die Wand gekehrt, in einer Ede ftand. 
Hatte er fid) dann endlich beruhigt, fah er immer fchr 
bleich aus, die Lippen waren zufammengefniffen, die 
Augen glanzlod. Er vermied die Begegnung mit dem 
Bruder, und trat diefer, mad niemald ausblieb, mit einer 
neuen Reizung ihm gegenüber, dann floh er, um fein 
Friedendwort zu halten, unter den Schuß der Mutter 
oder den meinen, bis endlich dad Rachegefuͤhl ftärfer 
wurde ald der gute Wille und er dann regelmäßig als 
Sieger aus dem Kampfe ging. 

xx.6 


82 Frau Erdmuthens Swillingsföhne 


Sc hatte dieſes Treiben lange Zeit erflärt mit der 
natürlichen Kinderart, die im Kampfe ihre Kräfte übt. 
Der Vater lachte darüber oder erbofte fich gegen den 
Bruder Ungeftüm. Selber Bruder Ungeftüm, erhob er 
wohl gar die Hand zu einer tätlihen Zurechtweifung, 
wo es dann freilich der Mutter immer leicht gelang, erft 
den großen, dann den Fleinen Liebling zu befchwichtigen. 

Sie, die Mutter, war die erfte, weldye dem gefchwifter> 
lichen Antagonismug eine bängliche Deutung gab. Sie 
hatte feit der erften Lebensſtunde ihrer Kinder ein bes 
feligended Zraumbild brüderlicher Herzendeinigfeit ges 
hegt, wie es für Zwillinge als Poftulat gang und gäbe 
if. Nun weckte bei geringfügigem Anlaß ein grelles 
Licht fie aus dem mütterlichen Wahn, und was bis dahin 
frohe Zuverficht gewefen war, dad wurde zum Dichten 
und Trachten Tag für Tag. 

Es war in der Dämmerung; ich plauderte mit den 
Eltern in der offenen Nebenftube, die Brüder — fie 
mochten etwa vier Jahr alt fein — faßen bei ihrer 
Veſpermilch, und Junker Raul hatte über irgend welchen 
Pappenftiel in die Kriegstrompete geftoßen. 

„Sei doch ftil, Raul,” fagte Herrmann ernfthaft, „da 
oben gudt ja der große liebe Gott." Er zeigte dabei 
auf den Mond, der fich klar und vol über dem Wald⸗ 
horizonte erhob. 

„Dummer Herrmann!“ rief Raul, „das iſt nur der 
Mond, die Sonne ift der liebe Gott!“ 

„Nein, der Mond ift der liebe Gott, die Sonne hat 
fein Geſicht!“ 

„Aber die Sonne glänzt wie lauter Gold!“ 

Und über dieſe metaphyfifche Streitfrage, der wir 


Zweiter Abfchnitt 83 


Tächelnd gelaufcht hatten, gerieten die Disputanten fo 
handgreiflich aneinander, daß im Mu beide Mildı- 
näpfchen Elirrend am Boden lagen. 

„Daß haft du getan, Herrmann!” fchrie Raul. 

„Nein du, Raul, du haft zuerft ausgeholt.“ 

„Aber du haft dich gewehrt!“ 

So fchrien fie durcheinander, hatten ſich bei den Ohren, 
und ehe wir hinzufpringen fonnten, lagen beide in der 
naffen Lache am Boden zwifchen den Scherben. Ein 
väterlicher Denfzettel, zum erftenmal audy an Herrmann 
audgeteilt, ftellte die Ordnung für heute wieder her. 

Die Meine Szene würde nun nichts Außerordentliches 
gewefen fein, hätte Herrmanns grollended Brüten die 
Erinnerung nicht wochenlang feitgehalten. Ob das fleine 
Herz etwas Heiliges verfpottet fühlte? Ob die väters 
liche Strafe ihn wurmte? Er vermied jeden Streit, aber 
auch jeden Scherz, jedes Spiel mit dem Bruder, lange 
nachdem beiden klar gemadht worden war, daß weder 
Sonne noch Mond Gottvaterd Antlig fei. Als aber 
eined Morgens die fchmale Mondfichel in unfere Kammer 
blickte und Bruder Übermut wieder einmal nedte: „Bude, 
Herrmann, wie klein da oben dein großer lieber Gott 
geworden ift!”, da zudte ed grimmig in Herrmanns 
Augen, die Hände ballten fi), und ohne der Mutter 
rafches Dazwifchentreten würde zum erftenmal er der 
Angreifende geweſen fein. 

Frau Erdmuthe war fchon feit jenem abendlichen Bors 
fall bleich und nachdenklich einhergegangen. Sept ſank 
fie wie gebrochen auf einen Stuhl und rief im tieflten 
Weh: „Nein, nein! Sie lieben fidy nicht. Wären fie nicht 
Brüder, fie würden Feinde fein!" 


84 Frau Erdmuthens Swillingsfdhne 


Seitdem diefer verzweifelnde Auffchrei der fonft fo ges 
faßten, linde befchwichtigeniden Frau mir ind Mark ges 
drungen war, wurde ed mein innerfted Anliegen, gegen 
die zwieträchtige Neigung der Brüder eigene, ftärfite 
Kräfte aufzubieten: das großmütige Feuer des einen, 
das ftätige Gewiſſen ded anderen; vor allem aber die 
Liebe zur Mutter, die beide, wenn auch in verfchieden 
temperierten Äußerungen, bis zur Anbetung beherrfchte, 
Die Tätigkeit wurde gefteigert; bei höher geftecften Zielen 
mußten die Vorzüge des einen fcharf in des anderen 
Augen fpringen. Mit der wachlenden Vernunft wuchs 
denn auch die wechfelfeitige Würtigung, und die Ges 
wöhnung eines bis ind Fleinfte gemeinfamen Tageslaufs 
wirfte an dem einigenden Band. Mochten fie nicht 
Freunde werden in jenem fympathifchen Sinne, den die 
Mutter geträumt: fie waren Brüder, edel von der Natur 
gebildet, durch Erziehung und Schickſal behätet, wie nur 
die Slüdlichften in der Kinderwelt es find, warum 
hätten fie nicht friedfertig nebeneinander ein gutes 
menfchliche® Ziel erreichen follen? 

Sa, warum nicht? Weil ein Name, ein Begriff 
trennend zwifchen ihnen auftauchte, der andermwärte bie 
Kinder einer Heimat wie faum ein zweiter mit einem 
brüderlichen Bande umfpannt. Weil der Sturm der 
Zeit ein Bewußtſein aufwirbelte, dad Jahrhunderte 
lang in unferem Volk unter Schutt und Afche fchier bes 
graben gelegen hatte; ein fich kreuzender Strom, welcher 
die Söhne einer Mutter nach entgegengefegten Polen 
auseinander trieb 


Zweiter Abſchnitt 85 


Die erfte tiefgreifende Lebensſorge trat an die teure 
Familie heran, ald im Frühling 1793 der Nittmeifter 
von Roc mit dem fächfifchen Kontingent den am Äheine 
kaͤmpfenden deutfchen Heeren zugeteilt wurde. Frau 
Erdmuthe ertrug die fat dreijährige Trennung von dem 
geliebten Gatten mit der ftillen Würde, die ihr in böfen 
wie in guten Tagen eignete. Bon einem lebhaften 
Intereſſe für den Zwed des Krieges ift, nach der uns 
gehinderten Opferung der franzöfifchen Königsfamilie, 
bei Herrn von Roc fo wenig als bei und anderen die 
Rede gewefen; ebenfo wenig aber empörte ſich in ihm 
eine Ader urfprünglichen Bluts, ald er gegen feine 
Stammverwandten zum Schwerte griff. Er war Soldat 
und folgte feined Kriegsheren Befehl ohne Wahl von 
Freund und Feind. 

Bon allen damaligen Lehrgebieten war Länders und 
Völkerkunde der Neuzeit dad am geringften kultivierte. 
Als meine Zöglinge bereitö den Cornelius Nepos über: 
festen, hatten fie noch feinen Bli auf eine Landkarte 
geworfen und von einem deutichen Reiche fo wenig wie 
von einem Frankenreiche gehört, bid neuerdings bie 
ftrittige Örenzzone beider Reihe dann und wann aud) 
zum Tagedgefpräch in häuslichen Kreifen ward. Hegten 
indeffen wir Alteren blutwenig Anteil an den Spfittern, 
die behauptet oder allenfalld verloren werden fonnten, 
wie hätte von acdhtjährigen Knaben diefer Anteil ers 
wartet werden follen? 

Da nun aber mitunter durchaus nicht unvorhergefehene 
Urfachen durchaus unvorhergefehene Wirkungen haben, 
fo wurde unferem Bildungsſaͤumnis aus dem Stegreife 
nadıgeholfen, als auf einer ihrer Iandfchaftlichen Rund⸗ 





86 Frau Erdmuthens Bwillingsföhne 


reifen Fräulein Iduna, die rote Dame, bei un® eins 
fehrte; jene vielerprobte Familienfreundin, welche Frau 
Erdmuthen das rofiggebänderte Frauenhäubchen aufs 
geftülpt und, wenn nicht Frau Erdmuthens Frau Mutter 
denfelben Dienft erwiefen, fo doch, eingeftandenermaßen, 
im Flügelfleide Blumen auf ihren Hochzeitspfad ges 
ftreut hatte. Daß Fräulein Idunas Freundfchaft fo 
weit gereicht haben würde, ſich felber bag rofiggebänderte 
Frauenhäubchen aufzuftülpen, um den fo früh geräumten 
Platz der leßtgenannten Dame in Liebe wieder aud- 
zufüllen, diefer Aufopferung fich zu rühmen, tft ihrer 
Befcheidenheit nicht beigefommen, von unferem alten 
Herrn aber feinerzeit gebührentlich gewürdigt worden. 
Es war eine vielverbreitete Sage, daß der Jahreslauf 
unferer roten Dame ſich in regelmäßigen Etappen intra 
muros der furfächfifchen Ritterfchaft abzufpinnen pflege. 
Auch will ich im allgemeinen gegen biefe pünftlichen 
Aufmerkfamfeiten feinen Widerfpruch erheben. Wenn 
aber Herr Raul, der ein Fleiner gallifher — nidht 
galliger — Spottvogel war, fo weit ging, Fräulein 
Idunens vielgepriefened „trauted® chez moi” in der 
Refidenz für einen Sig in partibus infidelium zu ers 
flären, fo habe ich gegen ſolche Schlußfolgerung jeder> 
zeit nach Leibeskraͤften proteftiert. Nicht, daß ich mid) 
des Vorzuges rühmen dürfte, ein Eingeweihter des jung⸗ 
fräufichen Heiligtums gewefen zu fein, aber fühlt es 
mir nach, meine Freunde, eine Dame, obendrein eine 
Dame, die ſchon Großmuttern Rofen geftreut, ohne 
gelegentliched eigned Ruhekiſſen, wäre dad nicht eine 
gar zu weheleidige Vorftellung? 

Welche Bewandtnig ed nun aber audy mit der Heim⸗ 


Zweiter Abſchnitt 87 


fehr in das refidenzliche „traute chez moi“ gehabt 
haben mag, fooft dad Signal „der hochverehrten Lands 
trompete“ erfchallte, war Herr Raul der erfte und nicht 
ber einzige, der ihr ein frohes Willtommen entgegen: 
rief. In jenen Tagen, wo die Zeitung noch nicht fich 
zum Range einer Haudfreundin erhoben hatte, wußte 
man ſolch eine wandelnde Chronifa wohl zu fchägen. 
Und nicht bloß zu fchägen. Jung wie alt hatte die rote 
Dame lieb. Denn wie alled Sichtbare ja nur ein Ruͤck⸗ 
ftrabl des Unfichtbaren fein fol, jo war das, was an 
Fräulein Idunen, mit oder ohne Wahl, Außenmenſch 
genannt werden muß — und dad war viel — ein Durch⸗ 
fhimmern der innerlichen Couleur, die zwifchen Roſe 
und Flamme fluftuierte. 

Heuer nun ftand Herr Raul im Feldlager am Rhein, 
und Fräulein Iduna wieder einmal zur Pfingftetappe in 
unferer Mitte, Die Reihe rund war an das hochflopfende 
Herz gedrüdt — mit Ehren zu melden: auch der Pate 
Magifter -; die Zähre bed Wiederfehens dem Auge zwar 
nicht entitrömt, aber doc, darin aufgeftiegen; jene eine 
unverfiegbare Zähre, die fo befcheiden gebildet war, daß 
fie niemald ein trodnendes Tuch herausforderte, daher 
Herr Raul fie den „Tropfen für alles” zu nennen be- 
liebte. 

Wir ſaßen um den Kaffeetiſch vor dem Portal, und 
naturgemaͤß war es die ſaͤchſiſch⸗kontingentliche Ver⸗ 
ſchanzung, durch welche der Redefluß der Freundin 
zuvoͤrderſt ſeine Richtung nahm. Maͤhlich ſchlaͤngelte er 
ſich um ein Gebuͤſch von Blutbuchen und Traͤnenweiden 
herum, ſtaute dann eine Weile und ſtrudelte uͤber die 
Klippe der — nein, nicht der Politik und noch viel 





88 | Frau Erdmuthens Zwillingsſoöͤhne 


weniger uͤber die der Strategie, denn Fraͤulein Iduna 
verſicherte, ohne Widerſpruch zu finden, fie fei ein Weib - 
aber doch über jenes politifchsftrategifche Partikelchen, 
das in fächfifchen Gauen auch für zarte Damenfüßchen 
ald Stein ded Anftoßes im Wege lag, jened unholds 
deutfche Fragment, deffen Schlagbaum feit unvordent; 
lichen Zeiten mitten in unferem Heidegau aufgerichtet 
ftand, und daß feit falt einem Jahrhundert Preußen 
hieß und fogar Koͤnigreich Preußen! 

Das Echo kurfürftlicher Ritterfchaft puftete und fächelte; 
die Couleur hatte einen bedenflichen Grad erreicht; die 
Sonne fhien warm, Galle und Kaffee find erhigende 
Säfte. Ich ruͤckte den Tifch unter den fühlenden Ulmen⸗ 
fchatten, hätte diefe Vorficht aber faum noch nötig ges 
habt, denn befagten Stein preußifcher Perfidie pflichts 
fhuldigft audgeftoßen, fchlug der Strom bereits einen 
furzen Bogen nach jener romantifchen Ede hinüber, wo 
alles, was in Frankreich heute noch edel, ritterlich, hes 
roifch genannt werden durfte, einer Räuberbande „sans 
culottes“ gegenüberftand. 

Es erlangte bei diefer Gelegenheit der Muftermagifter 
eine zweifache unbeftreitbare Beftätigung zwar nicht von 
hiftorifchem, aber doc, von pädagogifchsphuftologifchem 
Intereſſe. Einmal die des — von manchen Puriften ans 
gezweifelten — Nutzens fremder Spradhfenntnid, denn 
würde Fräulein Iduna den charafteriftifchen Gegenftand 
zwifchen den Gänfefüßchen in ihren Mutterlauten aus- 
zudrücden imftande gewefen fein? Zum anderen aber die, 
daß Ohr und Zunge viel fchamhaftigere Organe ale das 
Auge find, denn — - idy will eben darum die Beweis⸗ 
führung einer errötenden Leferin doch Lieber erfparen. 


Bweiter Abfchnitt 89 


Nach jener romantifchen Schwenfung verbreitete fich 
nun aber der Fluß in wohligem Gefäll über dad anges 
bautefte feiner Kulturgebiete: Stammbaum, Genealogie, 
Geſchlecht, Familie oder wie die mannigfaltigen Glie⸗ 
derungen alle heißen, die ihren Urfprung daher leiten, 
daß über den bräutlichen Kranz ein Frauenhäubchen ges 
ftülpt worden ift. 

„Es wäre doch wunderbar, Baronin,“ rief ploͤtzlich die 
Dame, „wenn Ihr Gemahl unter jenen edlen Bundes⸗ 
‚genoffen auf ein Glied feiner franzöfifchen Berwandtfchaft 
ftoßen ſollte.“ | 
„Wiſſen wir denn,” antwortete Frau Erdmuthe Tächelnd, 
„ob ihm überhaupt noch eine Berwandtfchaft in Frank⸗ 
reich zurüdgeblieben ift?“ 

„Wiffen Sie es wirklich nicht, Belle? Fehlt Ihnen 
jede Kunde, haben Sie alle Verbindungen aufgegeben?“ 

„Nicht erft wir, liebe Iduna; die Verbindung hat aufs 
gehört mit dem Schritt, den vor einem Jahrhundert unfer 
Altervater über die deutfche Grenze getan.“ 

„Sie hätten Wiederanktnüpfungen fuchen müffen, Sie 
müffen ed noch, fchon aus materiellen Beweggründen, 
einzige Frau. Die Saint Roc waren ein reichbegütertes 
Gefchlecht, und wie viele reichbegäterte Gefchlechter find 
durdy die gegenwärtige Mordbande unter der Buillotine 
ausgetilgt worden. Die Religiondunterfchiede find auf- 
gehoben, die Konfifationen werden ed werden. Gie 
bürfen Erbanfprüche geltend machen. Ein herrlicher Be: 
fig, ein Beſitz ohnegleichen in dem reichiten Lande der 
Welt kann Shnen nicht entgehen.“ 

„Wir haben an dem befcheidenen Beftg in unferem ar- 
men Vaterlante genug, liebe Freundin.“ 


90 Frau Erdmuthens Swillingsfähne 


„Gute, Liebe, Befte, man kann des Befiged niemals 
genug haben,” verficherte hoheitdvoll die Dame mit dem 
Siße in partibus infidelium, fügte aber fchnell in liebens⸗ 
würdiger Gefälligfeit hinzu: „Ich würde Ihnen beim 
Berfolgen Ihrer Rechtsanſpruͤche durch meine Verbins 
dungen gern die Hand bieten, Baronin. Das heißt, 
allerdings nicht im Augenblid, aber in beruhigteren Zei⸗ 
ten, die ja nicht lange mehr zögern können, wenn nur 
erft die hinterhaltige preußifche Heerführung durch uns 
feren fächfifchen Einfluß gluͤcklich befeitigt ift. Rechnen 
Sie dann durchaus auf mich, teure Frau.“ 

„Sie find fehr gütig, liebe Freundin,” fagte Frau Erd» 
muthe, die bargebotene Hand drüdend. 

Es entitand eine Paufe; ein Engel fchwebte zwifchen 
dem Feldlager vor Mainz und Fräulein Idunens Luft: 
fhlöffern hin und wider. 

„A propos, Baronin,“ fagte fie endlich, „welcher Pro: 
vinz entftammten die Saint Roc?“ 

„Aud das wiffen wir nicht mit Beftimmtheit, liebe 
Iduna, der Tradition nad) aus der Provence.“ 

Wenn Frau Erdmuthe Verlangen trug, die hochverehrte 
Landtrompete fernerweitige Signale aus dem befreuns 
beten Kontingent verfünden zu hören, fo muß ihre [eßte 
Andeutung eine unbedadıtfame genannt werden, denn 
die eleftrifhe Wirkung derfelben war vorauszufehen. 
„Aus der Provence!” rief Fräulein Iduna in die Höhe 
fahrend, indem fie ſich mit der Hand vor die Stirn 
fhlug. „Aus der Provence! Und dad wußte ich nicht! 
Ich Unglüdfelige, daran dachte ich nicht, da doch der 
Typus Ihres Gemahld und Ihres Süngften, Baros 
nin, handgreiflich auf den Provenzalen deutet? Aus 


Bweiter Abfchnttt 9 


ber Provence! Wer kann noch zweifeln, aus der Pros 
vence!“ 

So war denn unfere liebe rote Dame heute etwas vor 
der Zeit bei der Erinnerung angelangt, die fonfthin uns 
vermeidlich in ihr erft aufzutauchen pflegte, wenn der Stoff 
aus der Gegenwart auf die Neige ging. Ich meine bie 
Reife, die fie vor found fo vielen Jahren mit einer brufts 
franfen Coufine nach dem füdlichen Frankreich unters 
nommen hatte. Die Scilderei war von Baus aus fo 
büftes und farbenfatt aufgetragen worden, daß Barias 
tionen bei der Wiederholung dad Bild diefed Gartens 
Eden nur beeinträchtigt haben koͤnnten. Das Bild war 
und daher keineswegs neu. 

Wenn aber Berr Raul das nämliche Bild Strich für 
Stridy in einem souvenir de voyage entdeckt haben wollte, 
was anderes als die vollfommene Naturwahrheit des 
Bildes oder der übereinftimmende Blick von Dichteraugen 
würde daraus zu folgern gewefen fein? Sa, ich wage 
noch einen Schritt weiter. Gefegt, wie gewifle Spott- 
vögel behaupteten, gefegt, aber beileibe nicht zugegeben, 
daß während der angeblichen Reifezeit Fräulein Iduna 
wirklich in irgendwelchem Dadyftübchen das Verharfchen 
böfer Blatternarben abgewartet habe, würden wir, ihre 
Zuhörer, reicheren Erinnerungsgenuß, oder würde — bie 
DBlatternarben natürlich abgerechnet — Fräulein Iduna 
felber ihn fo reich gefoftet haben, wenn fie mit der bruft- 
franfen Coufine anftatt mit der blühenden Phantafie in 
Hyères geweſen wäre? 

„Und da ſitze ich nun an der Quelle,“ rief die Dame, 
ſchier an ſich ſelber verzweifelnd, „da ſtehe ich vor der 
Schwelle der Stammburg eines ehrwuͤrdigen Geſchlechts; 


99 Frau Erdinuthens Zwiltlingsfähne 


es koſtet mich einen Blick, eine Frage, einen Maultier⸗ 
ritt, und meinen teuerften Freunden ift eine urfprüngliche 
Heimat wieder aufgefunden, ein koͤſtliches Erbteil vors 
bereitet; die intereffanteften Enthüllungen, ein romanti» 
fche8 Intermezzo, ein unberechenbares Nachſpiel - -“ 

Fräulein Iduna wurde unterbrochen; wenigſtens das 
unberechenbare Nachfpiel ihrer füdlichen Reife follte ihr 
nicht entgangen fein; denn mit Staunen waren meine 
Blicke ſchon eine Weile unferem Raul gefolgt. Er war 
wie eleftrifiert von feinem Plage aufgefchnellt, hatte fich 
atemlos fpannend dicht an die Rednerin gedrängt, die 
Augen funkelten, die Pulfe flogen, eine Blutwoge jagte 
die andere auf dem zuckenden Kleinen Geficht. 

„Wir ftammen aus Frankreich”? Wir find Franzofen, 
Mama?” fragte er mit bebender Stimme. 

„Nicht doch, mein Kind,” antwortete die Mutter. 
„Deines Vaters Vorfahren find vor langen Jahren aus 
Frankreich ausgewandert und Deutfche geworden. Du 
bift ganz und gar ein deutfched Kind, mein Fleiner 
Raul.“ 

Aber Junker Raul jubelte in die Hände klatſchend: 
„Wir find Franzofen, wir heißen Saint Roc!” Er ums 
armte feine Mutter, den Bruder, die alte Freundin, ben 
Paten Magifter. „Wir ftammen aus Frankreich, Bruder 
Herrmann, wir heißen Saint Roc!“ 

Bruder Herrmann blidte fo gelaffen wie zuvor. Er 
hatte diefe plögliche Veränderung noch gar nicht ges 
faßt. Fräulein Iduna nidte dem Erregten einftim> 
mend zu; die Mutter lächelte; fie hielt feine tolle Freude 
für eine jener Launen, welchen der Feine Beißfporn 
fdyon bei manchem früheren Anlaß verfallen war. „La 


Zweiter Abfchnitt 93 


mouche le pique!* fagten dann lächelnd die Eltern, und 
die Tarantel verbraufte fo jählings, wie fie heranges 
ſchwirrt war. 

Heute aber war ed feine flüchtige Laune, heute war es 
das Blut der alten Provenzalen, das in ihrem Entel 
rumorte. Sooft er fortan den Namen Franfreich hörte 
oder ausſprach, da war ed, ald ob er über fich einen 
ewig blauen Himmel lächeln fähe, als ob linde, dufts 
fchhwangere Lüfte ihn umfächelten, ald ob die Erde blühte, 
juft wie Fräulein Sduna ihren Garten Eden gefchildert 
hatte. Bon felfigem Geftade fpiegelte ſich im fonnens 
goldigen Weere die Erbburg der Saint Roc, und ein 
Geſchlecht von denen, die edel, ritterlich, heroifch in 
Frankreich geblieben waren, breitete feine Arme nad) 
dem im Norden verlorenen Enkel aud. Was Wunder, 
dag im Vergleich zu diefen Sdealgeftalten das Voͤlkchen 
im unmirtlichen Heidewinkel ſich je mehr und mehr gar 
tölpifch und bärenhäutifch abhob und endlich nur noch 
die Mutter in ihrer holden Würde darin ftrahlte ald 
eine geborene Herzenskoͤnigin. 

Meben ihrem Scattenriß über feinem Bette mußte 
eine Karte von Franfreich aufgehängt werden; er ftds 
berte nach franzöfifchen Büchern, wußte bald „Henriade“ 
und „Telemach“ auswendig, wurde ein eifriger Zeitungs» 
lefer, wobei der Artikel Frankreich einzig ded Interefles 
verlohnte — was beiläufig weniger phantafiereichen Leu⸗ 
ten ebenfo ging. Er fegte ed durch, in die hiftorifchen 
Lektionen, die fich bisher auf das heilige und profane 
Altertum befchränft hatten, die Gefchichte Frankreichs 
aufgenommen zu fehen, und wenn ald Antidotum aud) 
die des deutfchen Reiches verabfolgt wurde, fo ift es 


[4 


94 Frau Erdmuthens Swillingsfähne 


nicht eben unerflärlich, wenn die beraufchende Wirkung 
der erfteren nur dadurch gehoben wurde. 

Alles, was wir Herrliches zu bieten hatten, lag ja fo 
fern, gleichſam fadenlos für die zerftädelte Gegenwart; 
die glorreiche Epoche der Reformation ſchloß vor einer 
unaudfüllbaren Kluft; die edelften Beftrebungen ver- 
zudten wie Blige im Waffer; aus den KHeerzügen der 
dreißig Jahre leuchtete verflärend nur der König eine 
fremden Landes. Dann ein Säfulum dürrer Bradıe 
über dem todesmatten Volk: der genialfte Soldat un» 
ferer engeren Heimat mußte Franzofe werden und gegen 
Deutfchland kämpfen, um fich ein Xorbeerblatt zu er: 
werben. Nun ragte aud neuefter Zeit neben und aller> 
dings eine Geftalt, an welcher eine hefdenmäßige Phans 
tafie fich emporzurichten vermochte. Aber der Name 
Friedrichd von Preußen hatte für fächfifhe Organe 
einen zu mißliebigen Klang, als daß den unheldenmäßigen 
Inftrufteur danach gelüftete, ihn gebührend hervorzus 
heben, und war denn nicht durch das jüngfte, zweideutige 
oder Fägliche, kriegerifche Refultat - wie gewonnen, fo 
zerronnen! — das Erbteil feines Ruhmes bereits aufge 
braucht? 

Wie anders drüben! Welche Fülle der Erfolge feit 
jenem fernen Tage, wo Deutfchlands KHeldenfonne am 
Horizonte fanf! In der Zerriffenheit ded Parteienhas 
ders felber, hüben und drüben, eine Reihe chevaleresfer 
Geftalten, lebendig greifbar, entzündend heute noch; der 
Enkel Borbild und Ruhm. Wie verdichten fich dann die 
Strahlen zu einem überflammenden Stern; wie fammelt 
ſich alles, mad Geiſt und Sinnen fchmeichelt, um den 
blendenden Königsthron; wie wächlt Die Macht, während 


Zweiter Abfchnitt 95 


die unfere zerbrödelt! Dad wenig glorreiche folgende 
Halbjahrhundert verſchwimmt in dem Nebel, der den 
Helden von Roßbach vor unferen Blicken umdunftet; 
und die neuefte Epoche ded Graueng, des Martyriumg, 
heroifcher Todesveradhtung: ein Kitel der Imagination 
ift auch fie. Das Leben jagt im Sturmfchritt über Leis 
chen und Trümmerhaufen dahin; weitfchallende Schlag> 
worte begleiten das Volk, das gegen eine Welt in Ketten 
fich erhebt, um durch feine Niederlagen fiegen zu lernen: 
Meteoren gleich fteigen Helden auf und ab, um endlich, 
gebannt durch einen zweiten Caͤſar, den Erdteil fich unter: 
wärfig zu machen. 

Die frühreife Anlage bes Knaben entwidelte ſich unter 
diefen Eindruͤcken, während der Bruder noch lange in 
gleichgältiger Läffigkeit verharrte. Sein Geift war noch 
nicht fchlüffig geworden, und was er nicht Far fah, das 
lag für ihn kalt und tot. Während ded Vaters Ab» 
wefenheit zeigte er nur Anteil an deſſen perfönlichem 
Geſchick; fpäter fpürte er wohl das Abftoßende, das für 
fein deutfched Blut in dem gewaltfamen Umfturz und 
jachen Wechfel alled lange oder faum Beftehenden lag. 
Aber ed empörte ihn nicht, wie ed jenen begeifterte; der 
Tummelplag lag zu fern für feine zögernde Phantafie; 
er hatte das Ideal nody nicht gefunden, das er dem Idol 
- des anderen gegenüberftellen konnte; feine Leidenfchaft 
gegen die ded Ruhms, mit weldyer fein Bruder ſich 
fchmwellte. Unbefümmert um die Gegenwart Elaubte er 
über Erpofitionen aus Platon und Tacitus, wo jener 
faum mehr über einer Aufgabe zu bannen blieb, jeder 
Puls ihn zur Tat ind Leben drängte. 

So trat denn bei mancherlei Anläffen wohl bie abweis 


96 Frau Erdmuthens Swillingsfölne 


chende Richtung an den Tag, zu einer feindfeligen Bes 
rührung fam ed aber nicht, einfach, weil dem Aufges 
regten ein Widerpart fehlte. Haͤufiger ald der Bruder 
war ed der Vater, der ein Ärgernis an feiner Entzüdung 
nahm. Zorheit und Frevel nannte er die Vorliebe für 
eine Nation, die feine Väter audgeftoßen hatte und die 
er ſchlechthin haßte, feitdem er ihr ale Feind gegenüber 
geftanden. Der mütterlichen Liebe verblieb auch in dies 
fem Sinne gar vieled Audzugleichende, und fo hatte id 
denn das feltfame Schaufpiel: der Abftammung, dem 
Mamen, der Phyfiognomie nach Zug für Zug einen Frans 
fen feinen Sohn auf das härtefte aburteilen zu hören, 
weil das Grundweſen feines Volks ſich getreu in ihm 
widerfpiegelte; während eine deutfche Frau, wie fie 
reiner und edler nicht ausgeprägt fein fonnte, die na⸗ 
türlihen Vorzüge jened Volkes darzuftellen ftrebte in 
dem Lichte, dad ihre teuerften Menfchen überftrahlte. 
Es war in diefen halbwuͤchſigen Jahren meiner Zoͤg⸗ 
linge, ald durch den Rittmeifter Thielemann, feit dem 
Mheinfeldzuge Herrn von Rocs befreundetem Kameraden, 
und die Verſe mitgeteilt wurden, die ich wie einen Leits 
faden durch meine Erinnerungen gezogen habe. Kerr 
von Thielemann war der Schweftermann von Friedrid) 
von Hardenbergs Braut und begleitete die fympathifche 
Gabe durch eine genauere Kunde von dem Scheiden des 
Dichters, der auch ald Menſch der Familie nahe geftanden 
hatte. Wir alle waren tief bewegt. Nachdem Frau 
Erdmuthe mit bebender Stimme die zweite Strophe zu 
Ende gelefen, ruhten lange Zeit ihre Augen umflort auf 
ihren beiden Söhnen. Ich fand in warmer Eingebung 
eine kindlich Schöne Bachſche Welodie, die ſich wenig 


Zweiter Abſchnitt 97 


verändert dem Terte einen ließ. Gleich die erite Probe 
gab einen ergreifenden Zufammenflang. Ich präludierte; 
die Bruderſtimmen hoben an: 

„Reich treulich mir die Haͤnde, 

Sei Bruder mir, und wende 

Den Blick vor deinem Ende 

Nicht wieder ab von mir.“ 

Nun fielen auch die Eltern ein; ich begleitete: 

„Sin Tempel, wo wir fnien, 

Ein Fand, wehin wir ziehen, 

Ein Glüd, für das wir glühen, 

Ein Simmel dir und mir.“ 

„Dir und mir,” verhallten die Bruderfiimmen wieder 
allein. Sie ftanden Arm in Arm. Die Mutter drüdte 
beide gleichzeitig an ihr Herz. 

„Sie lieben ſich doch!“ flüfterte fie mir zu mit ftrahlens 
dem Blid, „Sie werden Freunde fein hier und dort.“ 

Die Strophe wurde fortan jeden Abend vor dem Gutes 
nachtſagen gefungen. Wir nannten fie unfer Bundeslied. 


% % 
% 


Die Brüder näherten ſich dem Alter, in welchem fe 
auf eigenen Füßen ind Leben treten mußten. Sie hatten 
bisher, mit Ausnahme ded Vaters, der in ritterlichen 
Künften Meifter war, mich allein zum Lehrer gehabt 
und die heimifche Gegend nur während furzer Ausflüge 
nach Leipzig und Dresden verlaffen. 

Wil man in diefer Befchränfung einen Tadel für die 
Eltern finden, fo muß ich erflären, daß der Vater allers 
dings nur daran dachte, feine Kieblinge möglidıft lange 
als Herz⸗ und Augenweide zu hegen, daß aber die wiuts 
xx.7 


98 Frau Erdmuthens Zwiltingsföhne 


ter, die nie ein Opfer fcheute, wo ed das Wohl eines 
ihr von Gott anvertrauten Menfchen galt, nach geprüf- 
ten Plänen handelte. Eben weil die Naturen ihrer 
Söhne weit auseinanderftrebten, follten fie in Enge und 
Nähe miteinander verwachfen; die dauerhaften Eindrücke 
der erften Jugend follten fich ungerftreut an die Heimat 
fnüpfen, in welcher fie ald Männer auf einen feiten 
Pag geftellt fein würden. 

Im übrigen war folcdye häusliche Erziehung junger 
Edelleute, zumal wo fein Fach⸗ oder Brotitubium beab- 
ſichtigt wurde, durchaus Feine Ausnahme jener Zeitz 
und e8 war ja beileibe auch fein einfeitiges oder ein- 
fiedlerifches Dafein, zu dem man bie unferen verdammte. 
Die Verwaltung eines großen Dominiums, wie die hu⸗ 
manen Aufgaben, weldye fid) Frau Erdmuthe innerhalb 
der Gemeinde geftellt hatte, boten über die Stubdierftube 
hinaus ein ernithaftes Intereffe; daneben liebte der Ritt- 
meifter die Gefelligfeit, und Gaftfreundfchaft war eine 
Erbtugend der Feld. Die Sarnifon brachte Wechfel in 
den täglichen Verkehr, der Begriff Nachbarſchaft er- 
ftrecfte fich weit über die Heide hinaus, und der Fami- 
lientiſch hatte eine dehnbare Eigentümlichkeit. 

Schon im Knabenalter pürfchten die Sunfer im wohl- 
beftellten Revier; unter KHörnerflang und Meutengebell 
auf weitausgreifendem Renner wurde fpäterhin der Eber 
gehegt, und felber, einer Phantafie Junker Rauls zu Ge⸗ 
fallen, der ſchlaue Reineke, dem man bisher nur in Fallen 
und Netzen nachgeftellt hatte, unter die auderwählte 
Sagdbeute aufgenommen. Es gab reichliche Tafeleien, 
gab Wettrennen und Tanzpartien; bei mangelndem Ors 
chefter half der Pate Magifter ald Muſikant, auch darf 


Zweiter Abfchnitt 99 


der Pate Magifter ſich rühmen, ald Partner Fräulein 
Idunens mehrfach in einer Efoffaife bewundert worden 
zu fein; während unfer neuer Erbjuder, Guftel Hecht, 
der Philofophie, welcher er fid, feit jenem Dentzettel 
beim zehnten Kloße mit Leidenſchaft ergeben hatte, in 
einem Ländler untreu ward. Bon dem Erntefefte auf 
Arnheim, das regelmäßig am fechften September, dem 
Geburtstage der Zwillingsbrüder, gefeiert wurde, wiffen 
die Alten der Pflege heute noch zu erzählen. 

Soll ich nun fchließlich noch erwähnen, welch waderer 
Borfänger mein Herrmann in dem Chore ward, das ich 
feit dem erften Wiederfußfaffen in unferem Heidewinkel 
aus deflen jugendlihem Nachwuchs herangebildet hatte, 
gebildet mit einem von Geſchlecht zu Geſchlechte tiefer- 
greifenden, nicht bloß mufifalifchen Erfolg, der das Her; 
des Greifes noch am Grabesrande erquidt? Oder darf 
ich, ohne der Wahrheit nahezutreten, unterdrüden, daß 
Junker Raul in bedenflicher Frühe anfing, der Held 
unferer winterlichen Spinnftuben zu werden, wiewohl 
unter Frau Erdmuthens züchtigem Walten in Diefem volks⸗ 
tuͤmlichen Inſtitut fich die entfittlichende Luft in fittigende 
FSröhlichkeit verwandelt hatte? Noch einmal und alles 
in allem: nur die Glüdlichften der Knabenwelt werden 
in einer fo ungetrübten Atmofphäre wie der unferen zu 
Sünglingen herangewadhfen fein. Sie hatten Zucht und 
Obhut, Freiheit und Freude, foviel fie irgend bedurften 
oder vertrugen, und wenn ihnen einzig allein bie Ges 
noffenfchaft fehlte, aus welcher fie fid) Kameraden und 
Freunde hätten wählen dürfen, fo gefchah es in der Ab- 
ficht, daß fie fich felber zuerft Kameraden und Freunde 
werden follten. 


100 Grau Erdmuthens 3willingsſoͤhne 


Hätte Frau Erdmuthe nur ihre eigene Auffaſſung von 
Gluͤck in Betracht gezogen, würde fie das Leben beider 
ihrer Söhne diefer einfachen Felsſchen Weife fich auch 
weiterhin haben abwideln laffen: ein paar Jahre auf 
der Univerfität, ein paar Reifen nad) Italien oder Engs 
land, da Paris feit dem jähen Übergang von blutigem 
Schreden zu ausgelaflenfter Luſt mehr denn je ald eine 
Stätte unverftändlicher Verwilderung erfchien; gelegents 
lihe Aufmwartung am furfürftlichen Hofe; bei jungen 
Jahren ein eigener Herd und eigene Bewirtfchaftung 
der beiden Güter, in welche das Erbe zerfiel. Das 
Kaufhaus, das wir aus der Ruine des Heidekloſters 
auffteigen ließen, ift eines unferer freundlichften Lufts 
fohlöffer in jenen Tagen gewefen. 

Herrmanns Neigungen flimmten nun auch zu diefem alt⸗ 
väterlichen Programm; für feinen Bruder dahingegen fchien 
ein Ummeg, wenn aud) mit dem nämlichen Ziele, geboten. 
Man fürchtete, daß die flotte Junkerlaune ſich die akademi⸗ 
fche Freiheit mehr denn zutraͤglich zunuge machen werde, 
und zog ed vor, hm unter militärifchem Zügel eine Station 
des Austobens zu vergönnen. Zudem liebte der Rittmeifter 
feinen Stand, und fein Züngfter kannte feinen höheren. 

Ich hatte meine Zöglinge ungefähr den Kurſus der Pors 
tenfer durchlaufen laſſen, und im Frühling 1805 wuͤrde 
ich dem ftätigen Herrmann ohne Bedingung, feinem bes 
weglichen Bruder allenfalld bedingungsmweife das Zeug: 
nis der Reife haben augftellen dürfen. Eine Sommer: 
reife follte den Übergang in die Freiheit vermitteln, und 
mit diefem Reifegeleit die Mentorrolle für mich zum 
Abſchluß kommen. Eie hatte fechzehn Jahre lang, aber 
feine Stunde mir zu lange gedauert. 


Sweiter Abſchnitt 101 


Und als hätte unfer Herrgott nur darauf gewartet, bie 
ih) dad Schulbuch zugeflappt, um mir die Pforte zu 
meinem Erbamte aufzufchließen, fand ich nach der Heim⸗ 
tehr den Greis im Pfarrhaufe zu feinen Vätern ver: 
fammelt. Die Waiſen, deren Bevormundung ihm wenig 
Not gemacht hatte, ftanden ald gute, zufriedene Mens 
fhen fämtlih am eigenen Herd: die Schweſtern als 
Pfarrersfrauen in der Nachbarfchaft, die Älteren Brüder 
ald Verwalter und Förfter in Frau Erdmuthens Dienft. 
Nur der Züngfte im Safrandrell haute und baute im 
Städtchen auf eigene Hand. In der teueren Heimſtaͤtte 
aber hat noch manches Jahr eine gluͤckliche Pfarrmutter 
gefchaltet. 


Dritter Abfchnitt 
Was hindert, muß entweicen. 


{r hatten und monatelang erft im Reich, dann im 
Benetianifchen umhergetrieben, ohne an das Ges 
munfel einer europäifchen Verbündung gegen den Ufur- 
pator ernfthaft zu glauben und von sfterreichifchen 
Rüftungen Bedenkliches zu merken. Weine Sünglinge, 
jeder in feiner Weife, hatten vollauf in einer neuen 
Schoͤnheitswelt zu ſchwelgen; ich alter Friedensfreund 
aber troͤſtete mich damit, daß Kaiſer Franz wohl ein 
Haar in Koalitionen gefunden haben moͤge. Was aber 
den neugekroͤnten korſiſchen Unband anbelangte, ei was, 
der ſtand vor der Hand im Lager von Boulogne, wie 
ſieben Jahre fruͤher in dem von Toulon, und ging, ich 
zweifelte nicht daran, einem zweiten Abukir entgegen. 
Nun, der ſaͤchſiſche Magiſter war kein Politikus; Gott 
ſei gedankt, daß er es zu ſein nicht brauchte. Daß aber 
andere Leute, die es zu ſein brauchten, die Lage nicht 
viel weniger vertrauensſelig angeſchaut haben —, hat 
denn nicht in letzter Inſtanz das den Ausſchlag gegeben 
für ſieben Jahre ſchmaͤhlichſten Elends über dem ge⸗ 
ſamten Vaterlande? 

Erſt als wir uns Anfang Oktober uͤber Steiermark 
der deutſchen Kaiſerſtadt naͤherten, wurden wir des 
drohlichen Zuſtandes inne, der ſeit Macks Eindrang in 
Bayern heraufbeſchworen war; Etappe für Etappe 
ftürmten nunmehr die unerhörteften Poften auf un ein: 
Frankreichs Bündnis mit den füddeutfchen Fürften, 
Bruderfrieg auf urdeutfchem Grund, Bernadottes heraus⸗ 
fordernder Durchbruch über preußifches Gebiet! 


Dritter Abſchnitt 108 


Ein Siechtum Herrmannd, das id) dem ungewohnten 
Bergiteigen zufchrieb, zwang und von Graz ab zu häufigen 
Raſttagen und kurzen Reifeltunden. Immer deutlicher 
dämmerte jet der Mißftand der Dinge: die halbfertige 
Rüftung, das Zögern der ruffifchen Hilfe, Preußens 
Zweifelhaftigfeit, die Umzingelung der Hauptarmee in 
Schwaben. Stunde auf Stunde eine neue, haltbare 
oder unhaltbare Kombination, bie wir endlidh Wien 
erreichten, faft gleichzeitig mit der Schreckenskunde von 
Ulm. 

Da hätte ich und nun Flügel anheften mögen, um 
mit meinen nunmehro allerfchwärzeften Gefichten hinter 
unferen heimifchen Heideſchirm zu flüchten, und ich 
mußte gleidhfam inmitten des Feldlagerd ausharren bie 
furzen und doch ewig langen Wochen, welche Rüdzug 
und Verfolgung der verbündeten Heere von Schwaben 
bis Mähren fülten. 

Mein Herrmann war in einen Zuftand verfallen, den 
die Ärzte ein pathologifches Nätfel zu nennen beliebten. 
Es artete nicht, wie anfangs befürchtet, in ein Wienerifches 
Mervenfieber aus; der Puls im Gegenteil fchlidy nur 
allzuträge; das Hirn fchien unter einem bleiernen Drude 
gelähmtz; er fprach nicht, nahm nur mit Efel die nots 
dürftigfte Nahrung; bleich mit glanzlofen Augen und 
fchlaffen Gliedern faß er den lieben, langen Tag am 
Fenfter, ftierte ohne Verſtaͤndnis oder Anteil in das 
Wirrfal der Szenen, welche von Stunde zu Stunde auf 
der Straße wechfelten. Wenn eifrige Zungen Xüge und 
Wahrheit kraus durcheinander bis in unfer Kranfen- 
zimmer trugen, er horchte nicht auf, er blieb ftarr und 
ftumm. 


104 Frau Erdmuthens Smwillingefähne 


Hof und Regierung flüchteten aus der Stadt; die ges 
fchlagenen Truppen gaben fie preis; hart an ihren 
Ferfen überfchritten die Feinde den Strom, zogen durch 
die geöffneten Tore, ald wäre ed auf die Parade; wenige 
Stunden, und eine franzöfifche Garniſon fehulterte vor 
den Poften, welche die Landesfinder geräumt hatten; 
mächtige Waffenfchäge wurden ohne Umftände aus— 
geliefert, eine ungeheuere Brandfchagung fchmunzelnd 
eingeftrichen; flinf wie bei einer Theaterdeforation trat 
die fremde Mafchinerie an Stelle der hergebradıten; 
einem Heuſchreckenſchwarme gleich, jagte das feindliche 
Heer hinter dem der Freunde in dag Land hinein: der 
alte Pädagog fchlug die Hände uͤberm Kopfe zufammen, 
und dem Süngling zuckte nicht die Wimper. 

Nun aber neben des einen ftarrfüchtiger Apathie bie 
fieberifche Elektrizität des anderen! Es ift kein feines 
Gleichnis, aber Junker Raul hatte Blut gelect und war 
auf der Fährte. Seine Augen fprühten, die Muskeln 
zucten, was er hörte und fah, wirkte auf ihn wie Sprit 
auf eine Flamme, Das Langerfehnte leibte und Iebte 
jegt vor feinen Augen gewaltiger ald alle Phantafie: 
diefe glorreiche Armee, dieſe tapferften Söhne des 
tapferften Menfchenvolfd, die Träger der Kultur, der 
Humanität! Nun hörte er es fchlagen, das Herz der 
Welt, nun fah er den Titanen, der die empoͤrten Wogen 
gebannt und fie als befruchtenden Strom über den Erd- 
ball geleitet hatte; den Säfar, den mehr ale Charlemagne 
und wie die Schlagworte alle lauteten, mit welchen, von 
jenen Tagen an, aud) gewichtigere Leute als unfer Junker 
die heimifche Kleinheit vor einer übertriebenen Größe 
Blindekuh fpielen ließen. 


Dritter Abſchnitt 105 


Tage vergingen, Nächte, in denen ich händeringend im 
Zimmer des Wadhfchlafenden auf und nieder trabte und 
vergeblich nad) den Schritten des Heißſporns aufhordhte. 
Er fchwärmte umher — wo? In Gottes lieber Natur 
wirds nicht gewefen fein; ſchweifte mit der glorreichen 
Kameraderie; fraternifierte mit Heimatöfreunden aus dem 
lachenden Eden der Provence, nannte ſich flottweg wieder 
Chevalier de Saint Roc; und id, was blieb mir übrig, 
ald nur dem Himmel zu danfen, daß er mit den neuen 
Brüdern nicht über alle Berge entfloh und von Zeit zu 
Zeit doch einmal heimfehrte, um den Paten Magifter 
mit den Bildern aus feiner Zauberlaterne zu verblüffen. 
Ja, dazumal glic, ich dem richtigen Komödienhofmeifter, 
wie er in taufend Angſten ſich windet und kruͤmmt und 
feinem Leibe nicht Rat weiß, um — getreulich dem einen 
als Falfchirm, dem anderen ald Springfeder - feine 
Rolle abzufchließen. 

Herrmannd Zuftand änderte fich nicht; bie Ärzte, welts 
berühmte Profefforen, fchoben ihn jeder auf etwas 
anderes, was fichtbar oder unfichtbar in einem Menfchens 
leibe agieren foll: ftärften, reizten, ftillten dann wieder, 
ftärften von neuem, verordneten der Himmel weiß was, 
jedenfall® viel. Die Sorge der Eltern quälte mich auch: 
ich hatte ihnen Herrmanns Derfaffung fo glimpffich als 
möglich dargeftellt, aber wußte ich nicht, wie böfe Lagen 
in der Entfernung wadıfen? Zudem war der Termin 
von Rauls Militäreintritt bereits überfchritten, und die 
Ärzte prognoftizierten noch immer die Krife, vor welcher 
fie den Patienten nicht aud den Händen laffen wollten. 

Sn der Lauer auf diefe Krife faß ich in den legten 
Novembertagen fill bei meinem Stillen, ald draußen, 


108 Frau Erdmuthens Zwillingsſoͤhne 


wo bisher alles wiſpernd auf Socken einhergeſchlichen 
war, das Stapfen eines Knotenſtocks die Treppe heran, 
dann die Tritte eiſenbezweckter Stiefeln im Vorſaal ers 
dröhnten. Die Tür wurde ohne Anflopfen aufgeriflen 
und zugefchlagen hinter einer hünenhaften Geftalt mit 
einem Matrofenhut über der graumelierten Mähne und 
einem dito Bart bis auf die Bruft hinab. „Salve!“ rief 
eine Stentorftimme. 

Ich winfte abwehrend mit der Hand; aber: „Kindskopf! 
Speftafel ift auch Medizin“, brummte Albrecht Bär. 

Ya, Albrecht der Heidebär, grau und rauh wie zur 
Stunde, da er die Heimatsfeſſeln fprengte, um dem 
Edelwilde nachzujagen, das feine Zeitgenoffen Freiheit 
nannten! Und, großer, alter Knabe, hätteft du, Hand 
aufs Herz, bei erbleichendem Haar beteuern fünnen, daß 
dich nicht eine Kata morgana genarrt? KHätteft du Ant- 
wort geben können, wenn ein heutiger Pilatus „Wo ift 
Freiheit?” dich gefragt? 

„Sm Monde,” oder „um Buxtehude herum, auf Robin- 
fond Inſel,“ oder „fonft in einem noch wenig auf: 
geräumten Sagdgebiet,” würde Bär, wenn überhaupt, 
geantwortet haben, zwar nicht auf-die Frage des Pilatus, 
aber auf die eure: wo in aller Welt er fich diefe zirka 
zwanzig Sahre lang umbhergetrieben? Denn Bären 
brummen wohl, daß fie aber auch Gefchichten erzählen, 
davon ſteht im alten Tierbuche nichts; am wenigften 
Geſchichten, deren Helden fie felber find. Diefer 
Spezialität befleißigen ſich ihre Gegenfüßler, Die Magifter. 

Auch der plaudernde Magifter kann euch indeffen nicht 
berichten, wie und wo und wann, nur daß der ruhelofe 
Sreiheitöjäger gar mandjed Mal die Himmeldgegend ge- 


Dritter Abſchnitt 107 


wechjelt hat! Harfch unter dem Fallbeil hinweg, von dem 
blutroten Banner unter das ded Leoparden; über Meer 
und Land, bis in die Wüfte und in die Peltzone hinein, 
wo der „armfeligfte Pflafterfaften” zu einem Freiheits⸗ 
fämpfer wird; endlich auf krachendem Schiff unter Kugel» 
hagel und Pulverqualm, allüberall Eönnt ihr Albrecht 
den Bären fehen. Als er aber jegt, wenig Wochen nadı 
den ewig dauernden drei Stunden vor Trafalgar, wieder 
feften heimatlicyen Grund betrat, „bloß aus follegialifcher 
Neugier,“ wie er fagte, „um zu fehen, was in der los⸗ 
gelaffenen Bärenhege von deutfchem Geruͤmpel übrig- 
bleibt,“ da heilte wohl die Wunde, die feine Bruft am 
Bord ded „Siege“ getroffen hatte; die Herzenswunde 
aber blutete noch ungeheilt, denn er hatte den Sieges— 
beiden fallen fehen, unter dem er zehn Jahre lang feine 
Schuldigfeit getan, und wo er fortan die Freiheit fuchen 
follte, war ihm dunkel. 

Zuverläfftger indeffen ald mit dem erften Menſchen⸗ 
rechte ſchien es unferem Bär mit jenem zweiten geglüdt, 
in deflen Beſitz fo mancher arme Kettenträger fich ein 
Freiherr zu fühlen pflegt. Dem englifchen Flotten⸗ 
phyſikus fehlte für theoretifche Anwandlungen nicht ein 
Ohnmachtsbiſſen und nicht der ftärfende Tropfen für 
die Tage, die feinem gefallen. So fommt er denn in 
die alte, felber im Elend noch Iuftige Kaiferftadt; der 
Zufall fpielt feine Rolle; er vernimmt durd, gelehrte 
Kollegen von der pathologifchen Kuriofität des nordifchen 
Heidefohns, hört den Namen, der ihn an verhaßtes 
Dienfts und Gnadenbrot — und vielleicht nody an etwas 
anderes Unausſprechbares erinnert; er rennt herbei. 
Und da fteht er nun und blickt mit einem ganz abfonder: 





108 Frau Erdmuthens Zwillingaföhne 


lichen Baͤrenausdruck in die wohlbefannten, jegt ach, fo 
weiten, glanzlofen Felsfchen blauen Augen. 

Da fchüttelt er zuerft fich felbit, darauf den armen, 
müden, ftillen Jungen, rudt und rüttelt auch „moralifch“ 
ein bißchen an ihm herum, ftapft in der Stube auf und 
ab, und indem er bei jedem Gange eine Medizinflafche 
aus dem Fenfter wirft, horcht er geduldig zu, bie der 
alte Kindskopf das lange Freudens und legtlich Klages 
lied feined Magifterlaufd zu Ende gelungen hat. Er 
brummt ein Stüdchen, fchiebt ab, fpringt am Morgen 
wieder ein, macht auch die Bekanntfchaft des zweiten 
Heimatserben und läßt endlich fid) vernehmen wie folgt: 

„Gebt Euch zufrieden, ewiger Magifter! Es müßte ja 
feine Öercchtigfeit über den Regenwolfen walten, wenn 
Euch Euer paͤdagogiſches Unikum fo im Nebel verpuffen 
follte. Sedyzehn Jahre auf einen Jungen! Denn den 
anderen, den Schießhund, den werdet Ihr doch wohl 
nicht auch für Euer Kunſtwerk ausgeben wollen? Gedhs 
zehn Jahre! In der halben Zeit wird Magifter Bonas 
parte mit der gefamten Sungfer Europa fertig geworden 
fein. In der anderen Hälfte fie vielleicht wieder mit 
ihm; denn alte Jungfern find zähe. Laßt Euren Gold» 
fohn nur duſeln; er dufelt ſich gefund. Wär er ein 
richtiged Wieneriſch Blut, ihm fehmedte fein Wurftel, 
und er fänge fein Kiedel feelenvergnügt wie die anderen 
auch. Er ift aber einer von der deutfchen Sorte, auf 
die fo eine Weltpauferei wirft wie ein Keulenfchlag vor 
die Stirn. Wir fchlafen ein und ſchwer wieder aus, 
Damit aber, flennt nur nicht gleich, Magifter, damit 
bilden wir juft das dauerhafte Element auf diefem wer, 
wölfifchen Erdrevier. Wenn der große Sagdherr droben 


Dritter Abſchnitt 409 


zum legten Halali zufammenblafen laſſen wird, bleibt 
drunten einer zurüd, der den Speftafel verfchnardit, und 
diefer zweite Adam ift ein deutfher Menſch. Eures 
Jungen Kranfheit — nennt fid) deutſche Natur! Bringt 
ers zum Ausfchlafen, wird er ein Mann geworden fein. 
Den anderen, den laßt laufen. Ihr haltet ihn nicht. 
Ein Siebenfchläfer wird der nicht; aber audy fein Mann; 
will fagen, was Bären und Magifter unter einem Danne 
verftehen.” So Doftor Bär. Am nämlichen Tage 
fhrieben audy die Eltern: „Sciden Sie Raul zurüd 
und warten Herrmanns Genefung gründlich ab.“ Die 
KHauptftadt war ruhig, ja, für den Aufgeregten langweilig 
geworden; der Weg durdy Böhmen lag frei. Ich gab 
meinen Segen und ließ ihn ziehen. 

Sunfer Raul hatte das Siechtum feined Bruders 
cavalierement behandelt. „Der Baͤrenhaͤuter!“ fagte er 
lachend. „Das Blut eines Fifches müßte wallen. Seines 
ftodt. Er nimmt ſich nicht einmal die Mühe, die Augen 
zuzufchließen, wenn er fchläft.“ 

Jetzt trat er zum Lebewohl an ded Kranken Bett. Es 
war in der Frühe des legten November. Herrmann 
ſchlug die trägen Lider in die Höhe und lallte mühfam: 
„Keim — zur Mutter -— Bruder!“ 

Es waren die erften Laute feit Wochen; der erfte 
Abfchied, den die Brüder voneinander nahmen. Hätte 
id ahnen können, in welcher Stunde und mit welchem 
Gruße fie ſich wieder begegnen würden! 

Aber feltfam! Seit diefer Trennung datierte in meined 
Patienten Zuitand eine merfliche Belebung. Oder hätte 
bed alten Freiheitsdoftord Laͤrmmethode wirklich als 
Stimuland gewirft? Er horchte auf, wenn jener feinen 


110 Fran Erdmuthens Iwillingsföhne 


Brummbaß anftiinmte, er foitete fogar von dem Brats 
hahnel und dem Ausbruchflafchel, die fid) der Doftor an 
unferer Tafel fchmeden ließ; fein Puld belebte ſich; er 
ging auf meinem Arm geftügt im Zimmer auf und ab, 
und als faum eine Woche fpäter der alte Ifegrimm die 
längft prophezeite Schreckenspoſt von Aufterlig in das 
Kranfenzimmer brüllte, da faß der Juͤngling wohl eine 
Viertelftunde lang unbeweglich, die Hände vor dem 
Gefiht zufammengefchlagen; dann erhob er ſich und 
fprach mit fefter Stimme: „Seßt heim auch wir! Ic 
bin gefund.” 

Sc gedachte der Stunde, in der er ald Kind ohne 
fhüchternen Verſuch auf feine Füßchen trat und ficheren 
Scritted feiner Mutter in die Arme Tief. Ach, wie 
danfte ich Gott! 

Anderen Tages ftanden wir zur Abfahrt bereit, als der 
Phyſikus — er fand den englifchen Phyfifus etymologifch 
für feine Gaben fchicflicher al den deutfchen Doktor - 
fich unerwartet zur Mitreife einftellte. Ob er fich wirflich 
vor den Spitzeln fürdıtete, die bald genug im deutfchen 
Wien auf den Invaliden von Trafalgar vigilieren 
würben? Ob der Verlauf der pathologifchen Kuriofität 
ihn fo unmwiderftehlich intereffierte? Oder ob auch Bären 
in alten Tagen einen Kigel der Neugier fpüren nad 
dem Zwinger, in welchem fie an das Tageslicht gefrochen 
find? Kurzum, der Doftor reifte mit. 

Wie vor zwei Monaten durch Steiermarf, fo ging es 
nun in furzen Tagesfahrten durchs VBöhmerland, und 
wie damals die unheimlichen Vorboten, fo erwarteten 
ung jest von Station zu Station die fchmachvollen Nadhs 
zügler des zweiten Dezembertags. Während des legten 


Dritter Abſchnitt 111 


Öfterreichifchen Borfpanns famen wir für eine immerhin 
denfwürdige Begegnung nur um Minuten zu fpät. Die 
Reiſewagen zweier preußifchen Emiffäre rollten an uns 
vorüber. Der eine — wie fpäterhin befannt wurde - 
General Phul, von Berlin mit dem Vorſchlag eines 
Friedensproviforiums, der andere, Haugwitz, von Wien 
mit dem Friedensdefinitivum kommend, waren hier aus 
Zufall aufeinander geftoßen. Bär erfannte den legteren, 

„weil er ihn im Wurftelprater. mit dem Freiheitsftempel 
der Ehrenlegion auf der Bruft habe fpazieren fehen.“ 
Er verfuchte auszufpucken, obgleich ihm die Kehle trocken 
war. „Bor Gaudium,” fagte er, „über das Meifterftüd, 
das diefer große Deutfche in der Tafche unter dem Ehren- 
ftern nach Haufe trägt.” Preußens Abfall von der 
Koalition galt dem Doktor als Tatfache, fein Buͤndnis 
mit Napoleon nur eine Frage der Zeit. Der englifche 
Phyſikus fchöpfte Schon Damals aus politifchen Quellen, 
die der fächfifche Magifter niemals ergründet hat. 

Der Pferdewechfel verzögerte fih. Wir verließen die 
laute, dumpfe Paffagierftube, in der ed von beängitigenden 
Gerüchten ſchwirrte. Schweigend gingen wir in bie 
Winterlandfchaft hinein. Der erfte Schnee gliterte im 
Sonnenfchein auf dem blauumdufteten Gebirge. Wir 
hätten kein ſchoͤneres Abfchiedebild von unferer Reife 
ultra montes heim in die Heide tragen fünnen. Wer 
aber freute fich der ewig verfühnenden Natur, wo bie 
Unnatur der Geifter fo fchnöde höhnte? 

Der alte Friedensprediger war der erfte, dem die 
fächfifche Galle überfchwoll. D Freundin Iduna! Kalt 
du ed denn in feiner Seele gelefen, wie er in bitterlicher, 
grimmer Eiferfucht auf den glücklichen Nachbar, der dem 


412 Fran Erdmuthens Swillingafdhne 


Staate Martin Luthers das Primat im proteftantifchen 
Morden entriffen hatte, von jeher dein heimlicher Sozius 
gewefen ift? Heute aber fchmähte und fehmälte er ohne 
Kehl, nad Herzendluft. Bär brummte zwifchendurd 
mit einem luftigen Grimm, der fid,, Wort um Wort, zu 
übermannendem Pathos fteigerte. „Noch lebt Pitt, der 
große Leopard, noch gibt ed eine See und einen ‚Sieg‘, 
Deutfchland, fahre wohl!“ rief er, daß es zwifchen den 
Bergen widerhallte. „Deutfchland, fahre wohl! Das 
war dein Lepted.“ 

„Nicht das Kette!” entgegnete Herrmann, der bisher 
ſchweigend mit feinen Elaren, tiefen Augen in die Weite 
gefchaut hatte. „Erft noch die Strafe, dann die Sühne. 
Der Kreislauf in unferen Adern ift feit Sahrhunderten 
unterbunden. Aber dad Blut eines Volkes, das fchon in 
der Wiege den Eroberern der Welt Halt geboten hat, 
fol ein Blut zerfegt fich nicht in Sahrtaufenden. Im 
Kampfe für unfere Natur werden wir den legten Tropfen 
retten — oder verftrömen.“ | 

Er faßte nad) diefen Worten unfer beider Bände und 
hielt fie lange feitgepreßt in den feinen. Mit Staunen 
blicfte ich zu meinem Süngling in die Höhe. Die lange 
bleihen Wangen blühten in gefundem Rot, die legte 
Mattigkeit fchien gefhwunden. Er ftand aufrecht, ftirns 
breit höher ald der Hüne Bär. Der Neunzehnjährige 
war in den beiden Krankheitsmonden noch gewachfen. 
Mit fcherifhem Etrahl fchweifte fein Auge über bie 
weißverfchleierten Berge. 

Ohne weitered Wort gingen wir, Herrmann voran, 
nadı dem Pofthaufe zurüd. „Gratulor!“ fagte der Doftor 
zu mir. „Öratulor, Magifter! Euer Zunge ift ein Dann 


Dritter Abſchnitt 113 


geworden, und diefer Dann hat ein Ziel gefunden, für 
‚das er lebt und ftirbt.“ 

Ich ahnte ed, und ich ahnte noch mehr. Diefer Mann 
hatte auch einen Freund gefunden, der ihn auf der Bahn 
zu feinem Ziele leiten und begleiten konnte, „ftärfer und 
freidiger” ald der alte Pate Magifter. Und der eins 
fame, freidige Freund hatte einen Sohn gefunden. 


% * 
* 


Am Weihnachtsabend trafen wir im Elternhaufe ein. 
„Herzenserdmuthe, unfer heiliger Chrift!” rief Herr von 
Roc, und der Sohn ward gleich einem Neugeborenen 
von ben elterlichen Armen umfangen. 

Der Doktor machte Miene, fid) unbemerkt zu entfernen. 
Aber wo war ba ein Entlommen? Herr Raul umarmte 
ihn wie einen alten Freund, Frau Erdmuthe ftredte ihm 
wie einem Bruder beide Bände entgegen. Über Albrecht 
Baͤrs großes, graues Geficht flog ed wie ein Roſen⸗ 
ſchimmer der Jugend. Er fagte fein Wort, aber er blieb. 

Sindeffen, dad waren nicht nur Freudentränen, welche 
die Lider meiner Freundin gerötet hatten, und auch eine 
böfe Kalte auf ihres Gatten Stirn, im Moment des 
MWillfommend geglättet, grub fich verdrießlich von neuem 
wieder ein. Der Lichterbaum wurde angezündet, allein 
ed wehte fein Weihnachtögeift wie fonft in dem glüc- 
lichen Hauſe. Beamte und Diener, Witwen und Waifen 
erhielten reichlich befchert, auch jeder von ung eine vor- 
bereitete Gabe; das Tiſchchen aber fehlte, vor welchem 
bisher das fröhlichfte Kind gejubelt hatte, und bie 
Mutter flüfterte mir zu; „Stil über Raul!“ 

Die Chriftferzen waren niedergebrannt, bad Habdank 
XX.8 


114 Frau Erdmuthens Swillingsfähne 


war verflungen. Ein jeder trug fein Bündelchen heim. 
Die Altvertrauten, heute zum erftenmal mit einem 
Sechſten - als Fünfter natürlich der heimifche Kommili- 
tone Guftel Hecht -, fegten ſich um den Familientifch, der 
heiligabendliche Heringsſalat eröffnete den Bewill⸗ 
fommnungsfchmaus. 

„Harmloſer, Kleiner Meerbewohner, wie fommft du zu 
der Ehre, mitten im Heidefande ald Fortunatus verzehrt 
zu werden?" Mit diefer erften Tifchrede verfuchte der 
Doktor die bängliche Stimmung abzulenken. 

Und wie es in häuslichen Krifen oftmald weniger auf 
einen gefchickten ald auf einen gutgemeinten Verſuch 
anfommt, fo ward auch heute der eingefalzene Fremd⸗ 
ling wirklich zum Fortunatus, der das Eis der Zurüd: 
haltung brach. Ein Wort lockte das andere hervor, Die 
dampfende Bowle taute bald des Nittmeifterd gute 
Laune wieder auf. „Daß der Teufeldjunge uns die 
Schöne Freude fo verfümmern mußte!” rief er aus. 

Ein flehender Blick der Gattin fenfte fich in den feinen; 
er reichte ihr über den Tifch hinüber Die Hand und fagte 
lachend: „Warum nod) länger hinter Dem Berge halten, 
mein Engel? Sprechen wir und die Seele frei von dem 
drüdenden Verdruß. Sa, Magifter, heute morgen ift er 
fort. Zwei Wochen lang habe ich den Tollfopf unter 
Schloß und Riegel gehalten. Ich denke, die Lektion wird 
gefruchtet haben. Aber Blut und Galle hat fie mir 
weiblich in Wallung gebracht, und wieviel Tränen find 
aus diefen guten, lieben Mutteraugen gefloffen.“ 

So fam denn nun Wort um Wort, unter Lachen und 
Meinen, Anfchuldigungen und Entfchuldigungen die un- 
erbauliche Gefchichte zutage, die dad Vorfpiel der herz- 


Dritter Abſchnitt 415 


brechendften Kämpfe in dem Haufe friedlichen Gluͤcks 
geworden ift. 

Sunter Raul war nadı dem Abfchied von Wien nicht 
geradeswegd nach Haufe geeilt, fondern in das mährifche 
Feldlager abgeſchwenkt juft zur Stunde, um Zeuge der 
neuen Glorie feiner Heldenbrübder zu werden. Nach dem 
MWaffenftillftande ftürmte er heim und, ohne Atem zu 
fchöpfen, dem Vater unter die Augen mit der unums 
wundenen Forderung, ihn ftatt in die fächfifche in die 
franzöfifche Armee eintreten zu laffen. 

„Zaufende von Franzofen,“ fo hatte er ausgerufen, 
während der Bater noch ftarr vor Überrafchung mit 
feinem auftochenden Zorne rang, „Taufende, deren Väter 
unter dem Mordbeile gefallen find, rädyen ſich an ihrem 
Baterlande, indem fie ihr Blut für feinen Ruhm vers 
gießen. Auch ich will in feinem Dienft mir dad Heimats⸗ 
recht wiebererobern, das unferen Ahnen geraubt wurde, 
Dorthin gehöre ich. Ich bin zum Soldaten geboren. 
Aber nur unter Helden kann ich felber zum Helden 
werden; hier bei euch bleibe id} ewig ein Paradeknecht!“ 

In dem Auftritt, der dieſer Apoſtrophe folgte, mag es 
hart hergegangen ſein. Frau Erdmuthe konnte auch 
ſpaͤterhin feiner nicht ohne Beben gedenken. Das gleich⸗ 
artige Blut wallte gegeneinander auf; das des Vaters 
um fo fchäumender, da ed nur felten auf den Siedepunkt 
kam. Dit den fchärfften Worten geißelte er den Uns 
dankbaren, ber ſich dem Dienfte feined Heimatlandes ent» 
ziehen, ja, früher oder fpäter unzweifelhaft die Waffen 
fehren wolle gegen ein Bolt, das ihm zehnfältig alles 
erfest habe, was das andere feinen Vätern fchnöde geraubt. 

„Ein Bolt?" entgegnete höhnend der Sohn. „Meinft 


116 Frau Erdmuthens Swillingsföhne 


du das deutfche Volk, Vater? Nun, find ed etwa nicht 
Deutfche, welche in diefen Tagen unter Frankreichs 
Fahne wieder fiegen gelernt haben? Nennen nicht aud) 
Deutfche ſich diefe Preußen, die, wie die Sperlinge auf 
dem Dache ſich erzählen, nädıfter Tage im Bunde mit 
Franfreich wieder fiegen lernen wollen? Meinft du — -“ 

„Sc meine uns Sachſen!“ fchrie der Vater, durch den 
fpöttifchen Widerfprud, aufs Außerfte gebradıt. „ch 
meine deinen fächfifchen Landesherrn und die fächfifche 
Fahne, unter der deine Väter geblutet haben. Ich meine 
diefen fächfifchen Heimatsgrund, dem du alles, was Gluͤck 
heißt, zu lohnen haft: ©efeß und Ordnung, Religion und 
Freiheit, Haus und Hof, Hab und Gut und zuerft und 
zulegt deine unvergleichliche Mutter. Hier find deine 
Landeshrüder, hier find die, deren Sprache du redeft, 
beren Ölaube der deine ift; hier find die, in deren Reihen 
ber Landöfnecht eines fremden Defpoten eined Tages 
feinem Bater und Bruder gegenübertreten würde. Wie 
weit willft du, Narr, denn die Stammesgemeinfchaft 
zurücdatieren? Warum nicht gleich bis in die Arche 
Noah und zu dem Elternpaare im Paradies? Gottlob, 
daß du nody ein Knabe bift und ich dich zwingen fann, 
wo ich dem Manne fluchen müßte.“ 

Er padte nad) diefen Worten den ſich Sträubenden bei 
den Schultern und fchleppte ihn in fein eigenes Zimmer, 
das er hinter fid) verfchloß. Nur der Mutter wurde 
Einlaß geftattet, und deren guten, Fugen Worten, ihren 
Tränen gelang denn auch allmählich eine Vermittlung, 
wenn fie aud) weit davon entfernt war, eine Verſoͤhnung 
zu fein. Die erlittene Demütigung hatte die mühlam 
gerflegte Geimatsliebe in dem Süngling nahezu ertötet; 


Dritter Abſchnitt 117 


er grollte dem Vater, dem er fich gezwungen unterwarf; 
der einzige Bruder wurde ihm ein Fremder. Nur die 
Liebe zur Mutter blieb aufrecht in feinem Herzen, und 
die Mutterliebe wuchs unter dem wedhfelfeitigen Zerfall. 

Frau Erdmuthend Werk war ed denn auch, daß dem 
Gefangenen die befchämende Begegnung mit und Heim⸗ 
fehrenden erfpart wurde. Ohne den Bater wiederzufehen, 
brach er nadı Dresden auf, um anftatt, wie früher be⸗ 
abfichtigt, in das väterlicye Neiterregiment in eines der 
Garde einzutreten. Bielfeitige Kameradfchaft, fereng 
Ioyale Familienverbindungen, refidenzliche Gefelligkeit 
und vor allem die Gegenwart des verehrten Landesherrn 
follten, fo hoffte man, eine gemütlidye Gewoͤhnung, gleich» 
fam eine Ausdehnung des verfümmerten Heimatsſinnes, 
bewirken, unter welcher die weitfchweifenden Ruhmess 
bilder ſich verwifchten. 

Und diefe Abficht fchien erreicht zu werben. Unfer 
Junker lebte flott und froh; wenn dann und wann ein 
wenig über dad Maß von flott und froh; „jung Blut 
hat Mut!” Der Bater lachte darob und die Mutter 
lächelte. Beider Beängftigungen gingen auf anderer 
Fährte Wurde er rafcher ale feitgefegt mit feinem 
Wechſel fertig, ei nun, fo hatte ja fchon fein Großvater 
fuͤrſorglich Haus gehalten. Verdrehte er den Epigoninnen 
der fchönen Koͤnigsmark und Konforten die Köpfe: ei 
nun, warum ließen fie fich von einem Mildybart in 
Uniform die Köpfe verdrehen? Hatte er mit feinem 
Degen einen Denkzettel auögeteilt, trug er den Denk⸗ 
zettel eines gleichartigen Hitzkopfs an feiner Stirn: ei 
nun, ed war beim Kautrigen geblieben und höheren 
Ortes vertufcht worden; es gehörte quafi zum Stand, 


118 Fran Erdmuthens 3willingsſoöhne 


und ſolch ein Nitterzeichen machte den Helden aller 
Friedenskünfte um fo intereffanter. Der Liebling der 
Spinnftuben rücdte zum Coqueluche in Hofdamenkreiſen 
empor. Fräulein Idunas Couleur fteigerte fich zur Höhe 
des Karmın, wenn fie fidy mündlich wie fchriftlich über 
die zauberifche Wirkung des glutäugigen Kornetts ergoß. 
Die erften Partien Furfächfifcher Nitterfchaft fanden, 
nach ihrer Beteuerung, auf der Lauer, den Flatterling 
mit goldenen Ketten feftzubinden. Frau Erdmuthend 
füßefter Traum würde erfüllt worden fein, wenn in 
“früher Sugend das Feftbinden an einer Roſenkette ge- 
lungen wäre. 

Auf der anderen Seite rühmten die Vorgefegten, rühmte 
vor allem Freund Thielemann, der den Sunfer häufig in 
den angefehenften Berwandtenfreifen fah, feine militärifche 
Begabung: Gewandtheit und raſches Erfaffen; bei fran- 
zöfifcher Geläufigkeit die in feinem Stande feltene klaſſiſche 
Bildung. „Hört, hört, Pate Magifter!” rief der eng- 
liſche Phyſikus. Eine glänzende Karriere wurde in Aus- 
ficht geftellt; das nächfte, heißerfehnte Ziel der Epauletten 
durfte fchon im Sahreslauf erreicht werden. Da ein 
Urlaubsbefuch von feiner Seite gewuͤnſcht ward, konnte 
die Mutter ſichs nicht verfagen, einen Blick in das freie 
Treiben ihres behüteten Kindes zu werfen; fie fam 
heiterer zurüd, ald fie gegangen war. 

Während diefer Zeit faß fein Bruder unter emfigen 
juriftifchen und damals nicht häufigen hiftorifchen Studien 
in Leipzig ftill; hielt fidy vom herfömmlichen Studenten: 
treiben und felber von gefelligen Zerftreuungen fern, 
wenn fchon die leßteren von den Eltern warm empfohlen 
worden waren. Alles was einen durch die Vernunft ge- 


Dritter Abſchnitt 119 


regelten Lebenslauf ftört, fchien diefem Juͤngling fern zu 
liegen; während feiner Ferienbefuche nahm auch wohl 
die Mutter die frühreife Befonnenheit für ein Erbteil 
der flämifchen Ader in ihrem Gefchlecht, und der Vater 
fagte befümmert: „Er hat die Braufezeit überfprungen 
und kommt um ein guted Teil Lebensfreude zu kurz. 
Erft gären, dann langfam ſich Elären, fcheint mir der 
ficherfte Weg zum Gluͤck.“ Die Freunde aber, weldhe 
den Haͤndedruck ded Juͤnglings in der Stunde von 
Peterdwaldau empfunden hatten, fie wußten, daß er ein 
großes, felbitlofes Streben in feiner Seele barg und daß 
fein Glü darum auf fiherfter Bafid gegründet war. 

Die Brüder fahen ſich in diefem Sahre nicht, und 
Freundesbriefe mögen fie fi auch nicht gefchrieben 
haben. Erſetzt aber wurde feinem von beiden die leere 
Stelle. Dem einen nidyt, weil er der Kameraden zu 
viele; dem andern nicht, weil er ftatt eined Jugend⸗ 
genoffen einen Mentor gefunden hatte, der ald Freund 
an feiner Seite ging. Diefer Mentor war Albredıt Bär. 

Denn, hatten wir von Woche zu Woche gefürchtet, 
unferen Bär mit feinem britifchen Honigvorrat das 
Weite wieder fuchen zu fehen — er blieb; ohne Erklärung, 
vielleicht ohne Plan, aber er blieb. Er richtete fidy feine 
Höhle, mit Büchern und Inftrumenten auögeftopft, in 
einem Pavillon des Schloßgarteng ein, in welchem felten 
ein Menfchentritt oder Menfchenlaut widerhallte, außer 
dem eined alten Faktotums — Bedienten halten doch wohl 
Bären nicht? -, das auf Soden ging, und, wenn ed nicht 
ſtumm war, wenigftend deutfch zu reden nicht verftand 
oder liebte, Wegen feined Nanfinghabitd und feiner 
Nanfinghaut nannten wir den ftillen Mann den Chineſen; 


120 Frau Erdmuthens Bwillingsfähne 


ob ers war, autochthon oder nachgeahmt, weiß ich nicht. 
Der Gelbe bereitete ſich feine Nahrung felbft nach uns 
heimifchen Rezepten, der Graue fchob fich gelegentlich an 
Frau Erdmuthens dehnbare Tafel. Er fpradı und ſchwieg, 
gab Rat und verfagte Rat, wann und an wen ihm bes 
liebte, niemals jedoch innerhalb feiner Höhle, fondern an 
einem Tag wie Nacht geöffneten Fenfter, vor welchem, 
muͤndlich oder fchriftlich, Die Heildgefuche einer zahlreichen 
Klientel angebradyt wurden. Da aber des englifchen 
Phyfitus wohlgelaunte Stunden vorzugsweife von denen 
getroffen wurden, die feine englifcye Fee in der Tafche 
hatten und von welchen auch eine deutjchbefcheidene Tar- 
gebühr der Einklagekoften nicht verlohnt haben würde — 
und deren waren viele -, fo wurde feine Einbürgerung 
zum Gipfelpunft, gleichſam zum Tuͤpfelchen über dem J 
der heilfamen Umwandlung in unferem Heidewinkel 
unter Frau Erdmuthens mildem Regiment. Ein ftätiger 
Bürger wie wir wurde der Doktor indeffen nicht; er ging 
und kam zurüd, feiner wußte, wohin oder woher; tage: 
lang, wochenlang war er fort und wieder da. Häufig 
wird das Studentenftübchen feines „Manns“ das Ziel 
gewefen fein. Wäre er ein Sahr fpäter bei und ein- 
gefprungen, wohl möglich, daß er ald englifcher Emiffär 
verdächtigt und überwacht worden. Da er vor ber Fran: 
zofenfreundfchaft fich niedergelaffen, war aber und blieb 
der englifche Doktor nur eine Kuriofität weit über unferen 
Heidewinfel hinaus. Mit feiner eifengrauen Mähne und 
den eifengrauen Augen, die hinter eifengrauen Brauen⸗ 
büfchen vergraben lagen, im eifengrauen Rogquelaure, auf 
eifengrauem Hengſt ward er von jedem Kinde gefannt 
und blieb einem jeden fremd und fern. Wenige wußten, 


Dritter Abſchnitt 121 


und feiner dachte daran, daß er ein Sohn unferer Heimat 
war. Er galt ale Ausländer und fon darum ale 
Prophet. Dem Haufe, in welchem feine Mutter ihn mit 
Dienftbrot aufgezogen hatte, wurde jeßt nidyt nur um 
feiner Gaftfreundfchaft willen zugefprochen. Man rühmte 
fich de intereflanteften Erfolgs, wenn man unter feinem 
Dache auf das englifche Original, den weltberühmten 
Doftor, ftieß. 

So hatten wir denn, neben dem Fleinen roten einen 
großen grauen Kauz, den ernfthaften Humoriſten Bär 
neben dem drolligen Philofophen Hecht; „Frau Erd: 
muthens drei Knechte“ nannte - meine Wenigfeit ein- 
gefchloffen - Herr Raul, ohne Eiferfucht, dad Kleeblatt 
der Sunggefellen an feinem häuslichen Herd. Und in 
der Tat, wie verfchiedenartig die Natur in Weite und 
Enge die heimifchen Kommilitonen ausgewirkt hatte, im 
Dienfte ihrer lieben Frau und deren Bereiche ftanden 
Phyfitus, Judex und Magifter wie ein einiger Mann. 

Albrecht der Bär, welcher der Freiheit nadhgelaufen 
war, harfch unter dem Fallbeil weg, bis in die Peftzone 
hinein und unter Nelfond Todesflagge, er fand fie in dem 
heimatlichen Heidewinkel ald Frau Erdmuthend Knecht! 


* + 
* 


Nach Pitt Tode verficherte unfer Politifus, daß die 
ehrenwerte Dame Europa ohne fernerweitige Sperenzien 
vor ihrem ungeftimen Bewerber zu Kreuze friechen und 
alle Zurbulation vor der Hand ein Ende nehmen werde, 
Wir unpolitifchen Beideleute ließen diefe Ausficht und gern 
gefallen, vorausgefegt, Daß, wie bisher, unfere furfürftlichen 
Reize die feurige Sultandlaune nicht entzündeten. 


122 Frau Erdmuthens Swillingsföhne 


Der Politifus fchien recht zu behalten. Das heilige 
römifche Reich deutfcher Nation Löfte ſich in Wohlgefallen 
auf, ohne daß ein Hahn vernehmlich darum gefräht hätte. 
Auch wir Kurfächfifchen ließen uns fein graued Haar 
darum wachfen; wir hatten ald Schüger, wie ald Schuͤtz⸗ 
linge des Reichs der weheleidigen Erinnerungen genug, 
um ed nicht audy einmal gern auf eigenen Füßen zu ver: 
fuhen; und am irdifchen Firmament, fo tröftete ber 
Doktor, ginge ja auch fein Rad dem Faiferlichen Wagen 
verloren, der fidh im gefegneten Anno Bier vom Fleinen 
zum großen Bären aufgefchwungen habe, Denn fein 
Freund, der fchwarze Jakob drüben, mache die maje- 
ftätifche Sieben voll. Bemerften wir nun im Verlauf, 
wie der Allgewaltige Kate und Maus mit unferem 
Nachbar im Norden zu fpielen beliebte, fo wäre unter 
den Freunden Fräulein Idunas hoͤchſtens ein behaglicher 
Kigel zu regiftrieren. Zwei Großhänfe bemühten ſich um 
unfere furfächfifche Gunft; beide wurden abgewiefen, und 
wir blieben neutral. 

Im Spätfommer erhielt der Rittmeifter Die Beförderung 
zum Major, gleichzeitig mit der Verſetzung in ein 
Thüringifches Regiment. Sein Entfchluß war raſch ges 
faßt. „Die Zeit ift friedlich,” fagte er, „der Schwindel 
unferes Raul verflogen. Wir haben wieder einen Vers 
treter in der Armee; nun ſchon die fünfte Generation, 
die ihrem Schugherrn den Zoll der Dankbarkeit ent- 
richtet. Ic darf mich zur Ruhe fegen und bei dir 
bleiben, meine Erdmuthe.“ 

Am nämlichen Tage reichte er fein Abfchiedögefuch ein; 
ehe er ed aber betätigt erhalten, hatte der Kurfürft dem 
preußifchen Drängen nachgegeben. Die Armee wurde 


Dritter Abfchnitt 123 


mobilifiert, Herr von Roc zog fein Geſuch zurüd. Sein 
Sohn, zum Leutnant aufgericdt und dem väterlichen 
Regiment zugeteilt, wurde erwartet, um nach dem 
Abfchied von der Mutter in Begleitung des Vaters nad 
Thüringen aufzubrechen. 

Durch diefe Unterhandlungen zog ſich nun aber, ale 
Nachſpiel der vorjährigen Szene, eine gar higige Korre⸗ 
fpondenz unferes Helden in spe. Anfänglich rechnete 
er mit Entzüden auf Sachſens Beitritt zum Rheinbund; 
fpäter tröftete er ficy zur Not mit unferer Neutralität, 
endlich aber behauptete er, Die immer nähertretende 
MWahrfcheinlichkeit eines Biündniffes gegen Franfreich 
nicht ertragen zu fünnen, und drohte mit Defertion oder 
gar Rebellion. „EL wäre Selbftmord,” fo fchloß fein 
legter, zum erften Male direft an den Vater gerichteter 
Brief, „Selbftmord auch in Deinem patriotifchen Sinne, 
Bater. Alle Madıt, die Sadıfen verloren, hat ed an 
Preußen verloren. Ald es unter Preußens Führung fein 
Fahnlein gegen das neue, noch cdhaotifche Frankenreich 
ftellte, hat es fein Blut umfonft verftrömt. Du kaͤmpf⸗ 
teft unter diefem Fähnlein, Vater. Kannft Du ed er- 
tragen, daß unfer Herzblut noch einmal und ftärfer ver- 
firömen fol, heute, wo unfere natürliche Schugmadht 
unter einem Haupte fteht, dad zum Drdnen audy in diefer 
Fäglichen deutfchen Plunderfammer von der Vorfehung 
berufen iſt? Noch ſchwankt die Wage; noch fann der 
Wille der Armee die Schale des Ruhmes finfen laffen. 
Du haft Freunde, Verbindungen, Vater. Viele Offiziere 
fühlen wie ich; alle verabfcheuen dad Bündnis mit Preus 
Ben, alle! Es ift die legte Stunde. Nie wirft Du Deine 
danfbare Treue gegen das Kurhaus ruͤhmlicher bezeigen 


124 Frau Erdmuthens Zwiltingsfähne 


tönnen. Erhebe Deine Stimme, Bater, handle, bridy 
dem Strome eine Bahn, rette dad Land, dad Du Tiebft, 
rette Dich felbft und mid. Wir, die in die Irre ges 
triebenen Söhne jenes Vorvolks alles defien, was groß 
auf Erden ift - der Arm müßte uns ja erlahmen, wenn 
er dad Schwert gegen unfere Brüder züdte, unfere 
Brüder dem Blute und dem Geifte nad. Der Wahn⸗ 
finn wirbelt in meinem Hirn. Mit Füßen getreten 
werben von denen, die ich bei Aufterlig fiegen fah! 
Komme was will: ich kann, idy will, ich werde es nicht 
ertragen!“ 

Der Bater zerfnitterte „den Wiſch“ in der Fauſt und 
entfandte an feinen rebellifhen Junker einen reitenden 
Boten mit dem fummarifchen Befehl, stante pede Dres: 
den zu verlaflen und unter väterlicher Eöforte in das 
Lager zu rüden, in weldyes ihr Kriegöherr die Armee 
befohlen habe. 

Nach diefer Sommation hatte der Major fchon mehrere 
Tage auf den Sohn, den Untergebenen, gewartet. Am 
folgenden Tage mußte die Armee an der Saale erreidht 
fein. 

Es war das Geburtstagäfeft feiner Gattin, welches der 
Major ald Außerften Termin für die Abreife feitgefegt 
hatte. Ein Sceidegruß an diefem guten Tage follte 
ihn wie ein Segensſpruch feiern, und die Erinnerung an 
zwanzig Sahre faft ungetrübten Gluͤcks das frohefte Weg⸗ 
geleit fein. Für den Abend hatte er fidh bei Herrmann 
in Leipzig angemeldet. Die nahende Mefle erforderte 
einige gefchäftliche Abwiclungen, die er dem Sohn über- 
tragen wollte. 

Bon früh ab ftanden die Pferde zum Anfchirren bereit: 


Dritter Abſchnitt 125 


Stunde auf Stunde verrann in der Ermartung von 
Raul. Mehrmals hatte der Major den Befehl des Ans 
ſpannens gegeben und nach einem flehenden Worte feiner 
Gattin wieder verfchoben. Immer dunkler ſchwoll die 
Ader auf feiner Stirn, immer bleicher wurden die Wans 
gen der Mutter. Die Mittagdftunde fam heran; feiner 
dachte" an das harrende Mahl. Die Uhr in der Hand, 
rannte Herr von Roc im Zimmer auf und ab; böfe, 
bitterböfe Worte drängten fi) über feine Lippen; er 
wehrte die geliebte Frau von fich, die fich bebend und 
fchluchzend in feine Arme warf. Endlich: „Vorfahren, 
und fort!“ : 

Da hörten wir Huffchlag vom Hofe herauf. „Raul!“ 
rief die Mutter, an dad Fenfter eilend. Der Reiter war 
ſchon abgeftiegen; ftarfe Schritte fhallten im Korridor. 
War dad Rauls leichter, elaftifher Gang? Die Tür 
wurde geöffnet. Raul? - Nein, Herrmann! 

„Sch habe vergeblidy deinen Ruf erwartet, Vater,“ 
fagte er. „Nun komme ich dir zuvor, um mid) als freis 
williger Mitfämpfer unter deinen Befehl zu ftellen.“ 

Die Dutter war während diefer Worte zum Schatten 
erblaßt. „Alle drei!” hauchte fie, indem fie fidy an die 
Fenfterbrüftung klammerte. Der Vater aber riß den 
Füngling ftürmifh an feine Bruft und rief, funfelnde 
Tränen in den Augen: „Sohn meined Herzens! Rocher 
d’honneur! Mein Ehrenfels!“ 

Herrmann entwand fich feinen Armen; er beugte das 
Knie vor der Mutter, deren zitternde Hände er an feine 
Lippen drüdte. „Muß es fein, mein Sohn?“ fragte fie 
leiſe. 

Er neigte das Haupt und ſagte ruhig: „Es gilt den 


126 Fran Erdmuthens Swillingsföhne 


Kampf, der über den Reſt von Deutfchlande Ehre ent: 
fcheiden wird.“ 

Keine Gegenrede wurde weiter laut. 

Der Wagen war vorgefahren; die Mutter ruhte am 
Kerzen ihres Sohned, Der Major ftand am Fenfter, 
Moment für Moment das Abfchiedewort verzögern. 
Eine Totenftille fchwebte durch das Zimmer. 

„Schmady über den Deferteur!” fchrie endlich der Vater 
auf, ſtuͤrzte nach der Tür und fließ auf den Doftor, der 
nach mehrmöchentlicher Abmwefenheit unbemerkt einge- 
treten war; der Gerichtödireftor hinter ihm. 

„Rabenvater!” rief Bär, mit einem Blick auf die Mut- 
ter und einer Grimaffe, die wohl ein Lächeln bedeuten 
folte. „Darf ein fächfifcher Leutnant nicht mehr die 
Freiheit haben, fich mit einem preußifchen Kameraden 
herumzupaufen?“ 

Damit reichte er dem Major einen Drudbogen, mit 
dem Finger auf einen Paffus deutend. 

„Stimmts?“ fragte er, nachdem der andere gelefen hatte. 

Es war das Wochenblättchen unferer Amtöftadt, wels 
ches der Doktor, frifch unter der Preffe hinweg, mit- 
gebracht hatte. Der Paſſus Tautete: 

„Geſtern hat nahe der Grenze ein Säbelduell ftattge- 
funden zwifchen einem preußifchen und fächfifchen jungen 
Offizier, legtwelcher einen in diefer Gegend hochgefchägten 
Namen trägt. Die Herren hatten ſich auf der Dresdener 
Straße überholt, und fol der Streit politifcher Natur 
gewefen fein. Beide Duellanten wurden verwundet, 
indeffen wohl unbedenflicdh, da beide ihren Ritt fort: 
fegten, nadhdem unfer Herr Amtsphyfitus ihnen den 
Verband angelegt hatte.” 


Dritter Abſchnitt 127 


Der Doktor hatte die Stadt während der noch allfeitigen 
Aufregung über das geftrige Ereignis paffiert, auch den 
Kollegen geſprochen, der die erforderliche Hilfe geleiftet. 
Doch wußte er Aufflärendered gar nicht und nur, für 
die Mutter beruhigend, hinzuzufügen, daß die Armmwunde 
ihres Sohnes ohne alle Gefahr, auch auf die Diskretion 
des Arztes — der überdies, dem Namen nach, Felöfcher 
Hausarzt war — zu rechnen fei. „Ber freilich kann dem 
Wochenblättchen fo einen feltenen Biffen vom Munde 
ſchnappen“, fagte Bär. Die heutige Nummer hatte er, 
„zur Bereicherung fämtlicher Bibliothefen Europas”, 
vor der Ausgabe an ſich gebradıt. Er hatte den Sohn 
im Elternhaufe vermutet und war eilig dahin aufge: 
brochen. 

Sn des Vaters Flammen war durch diefe neuefte Kunde 
Ol gegoffen. Warum hatte Raul mit dem Aufbruch von 
Dresden fo lange gezögert, bis er den Vater bereits fern 
im Lager vermuten durfte? Wie durfte er fi, in Er- 
wartung des Zufammenftoßed mit dem Feinde, eined po⸗ 
litiſchen Handels mit einem verbindeten Kameraden 
unterfangen? Wo war der Widerfpenftige während der 
vierundzwanzig Stunden, die feit dem gefahrlofen Zweis 
fampf abgelaufen waren? Der Argwohn der Defertion 
verftärkte fich. Ein entfegliches Wort, ein Wort, das 
durch feinen Widerruf zu tilgen ift, unterbrad) die Mut- 
ter, indem fie mit dem Auffchrei: „Er ift tot!“ ihre 
Stirn auf ded Gatten Lippen preßte. 

Der Major fchritt nach der Tür; die Mutter ihm nad. 
„Vergib ihm, fegne ihn im Geifte, ehe du fcheideft, mein 
Raul,” fagte fie. „Du wirft ihn niemald wiederfehn.“ 

Er umſchlang das unglüdliche Weib, legte die Rechte 


128 Frau Erdmuthens Zwillingsfähne 


auf ihr Haupt, und wenn er heimlich einen Segensſpruch 
gebetet hat, fo war ed der tote, nidyt der lebende Sohn, 
dem der Segen galt. Dann riß er ſich los; Herrmann 
verfuchte ihn zurüdzuhalten; aber die Mutter winfte, 
daß fie fcheiden follten. Der Wagen rollte von dannen. 
„Auf Wiederfehn!” rief der Doktor feinem Manne nad). 
Noch ftanden wir unter dem Portale, mit unferen Blicken 
dem Wagen folgend, bid er hinter dem Klofter in der 
Heide verjchwunden war, ald von der Stadtfeite her von 
neuem ein Hufſchlag gehört wurde. „Sein Pferd und 
ohne ihn!” rief die Mutter, in die Knie zufammen- 
brechend. 

Wirklich war es der prächtige Nappe, welchen der Ma- 
jor feit Jahr und Tag mit Vorliebe geritten und dem 
Sohne bei deffen Fürzlicher Beförderung ald Zeichen 
ber Berföhnung gefendet hatte. Die Zügel fchleppten 
am Boden, an Nüftern und Weichen hing weißer Schaum. 
Ein Fröner hatte das Pferd irrend auf einem Heide⸗ 
pfade, nahe der Landftraße, eingefangen. 

„Er ift tot!” Achzte die Mutter. Sie raffte ſich auf 
und eilte in der Richtung voran, in welcher der Mann 
das Pferd gefunden haben wollte. 

„Er hat ſich eine Kugel vor den Kopf gefchoffen!“ 
fchluchzte händeringend der ehrliche Hecht. Bär aber 
verfegte ruhig: 

„Sung und toll genug wäre er zu dem Coup; fo in der 
Stille aber, ohne dramatifchen Effekt, würde er ihn nicht 
ausgeführt haben, Es ift ihm ein Unfall zugeftoßen; 
irgendwo in der Heide werden wir ihn finden.“ 

Damit traf er die erforderlichen Anordnungen. Den 
Gerichtödireftor fchickte er eilend& nach der Stadt, um 


Dritter Abſchnitt 129 


von dort aus die Spur ded Berfchwundenen aufzufuchen; 
die Sagdhunde, alte Freunde des Junkers, wurden los⸗ 
gelaffen, ſaͤmtliche Schloßdiener nad) verfchiedenen Rich⸗ 
tungen in die Heide dirigiert. Am Cingange derfelben, 
vor der Ruine, follte eine Tragbahre bereit halten. Noch 
holte er in feiner Wohnung Snftrumententafche und bes 
lebende Medikamente und fam mir nad, ale ich bis auf 
wenige Schritte die Mutter in der eingefchlagenen Rich⸗ 
tung erreicht hatte. Wir fahen und fühlten mit ihr die 
Schauer, unter denen fie das geliebte Kind ohnmädhtig 
feit vierundzwanzig Stunden, verblutend, zerfchmettert, 
vielleicht als Leiche, in jedem Winkel ihrer Heide fuchte. 

Wir folgten den Tritten der Hufe, welche dem weichen 
Sandboden eingeprägt waren. Bald gingen fie hinter 
einer Nadelftreu, bald hinter Wurzeltnorren verloren, 
bann zeigten fie fid) wieder auf einem freugenden Wege; 
immer eine weitausgreifende Spur, die das wildeſte 
Jagen andeutete. Weiter und weiter! Die Spur wurde 
eine doppelte; der rundliche Huf war vorwärts und ruͤck⸗ 
wärts dem Boden eingedrüct; vereinzelte Blutstropfen 
leiteten im Zickzack und nahe an den Punft zurüd, von 
welchem aus wir den Wald betreten hatten. Das ſin⸗ 
fende Tageslicht fchimmerte durch die dünner werdenden 
Stämme; die Blicke der Mutter irrten verzweifelnd nad) 
allen Seiten, die Hunde fchnüffelten mit zum Boden ge> 
fenftem Kopf und Schweif. 

Da, jählings, dicht vor der Ruine, ein fcharfed Gebell. 
Hinein, hindurch, zwifchen Geröll und Geftrüpp, bie 
Mutter voran! Endlich, dort am Kapellenpfeiler, den 
fie fich einft ale Abfchluß ihres „Raulhauſes“ geträumt 
hatte, da warf die jammervolle Frau ſich zu Boden, und 
1X. 9 


180 Frau Erdmuthens Swillinasfähne 


ihre Arme umfpannten ihres Herzens Liebling mit Blut 
überfchwemmt, eine Flaffende Wunde in der Stirn, kalt, 
ftarr, totengleich — oder tot? 

Ehe Albrecht Bär diefe Frage zu entfcheiden vermochte, 
war die Sonne gefunfen. Ein jeder von uns ahnte, 
daß mit ihrem Scheideftrahl der gute Stern fid) geneigt, 
der einundzwanzig Sahre über dem Kaufe unferer lieben 
Frau geftanden hatte. | 

Doch war es Leben, nicht Tod, das fein nädhfter Schein 
‚verfündete. Ein wildes Fieber hatte die Ohnmacht ab- 
gelöft. Tage und Wochen lang hing das Auge der Mut: 
ter ohne bannende Gewalt an den irre fladernden Blicken, 
raftlofe Wahnbilder besten den Flüchtling über Berge 
und Gee, ftarfe Mannedarme hielten ihn faum. „Fort, 
fort!“ fchrie er, „Brudermörder! Kain, Kain!“ Der 
Phyfitus fand Methode in diefen Halluzinationen des 
Fiebers. 

„Habe ichs euch nicht gleich damals beim Herings⸗ 
ſalat geſagt?“ brummte er auf mich ein. „Laßt das 
Windſpiel los, ihr haltets nicht. Heute bellts, morgen 
beißts.“ | 

Nun ja, er hatte es gefagt, ſchon vor dem Herings⸗ 
falat und hernadh immer wieder: „Laßt ihn los!“ Er 
allein hatte ed gefagt. Die Winpdfpielöfreiheit war 
feiner Bärenfreiheit Widerpart; aber ed war nun ein- 
mal fein Drang, „jedem Inftrument ein Luftlody aufzu- 
drehen, daß es Klinge nach feiner Art.“ 

Adıt Tage und Nächte hindurdy hatte er als treuefter 
Knecht unferer lieben Frau zur Seite geftanden. Am 
neunten Morgen reichte er ihr die Hand zum Lebewohl. 
Der Puls gehe zwar noch ftarf, meinte er, und die Wunde 


Dritter Abfchnitt 181 


brauche nun erft recht einen gefchictten Verband. Er 
habe aber feine Luft, fich von feinem alten Kollegen eine 
Entfhädigungsflage wegen beeinträchtigten Hausrechts 
an den Hals hängen zu laffen, und darum Gott befohlen! 
Nun, wir fühlten, Daß der Puls ſich gemäßigt hatte, und 
fahen, daß die Stirnwunde heilte; wir hatten aber auch ge- 
hört, Daß der Doktor den fcheidenden Freunden: „Auf Wie: 
derfehen!” nachgerufen hatte, und ahnten, daß es hohe Zeit 
zum Worthalten geworben fei. Am Morgen des achten 
Oktober war unfer Bär aus der Heide verfchwunden. 
Durch den alten Hausarzt, der nun an feine Stelle wieder 
einrückte, erfuhren wir einiges Nähere über den böfen Han⸗ 
del, der unferer Sorgen Anlaß war. Der Gegner, ein 
junges Blut wie unfer Raul, fol Adjutant oder wenig- 
ftend im Gefolge des Generals Phull, des legten preu: 
Bifchen Unterhändlers am fächfifchen Hofe gewefen fein; 
vermutlich einer von den Sunfern Obenaus, die und 
damals als yreußifche Typen galten. Beide junge 
Kampfhähne, die ſich vielleicht nur in der Farbe ihres 
Federſchmucks unterfchieden, hätten, fo hieß es, bereits 
in Dresden aufeinander losgehackt; ob eine hübfche ita- 
Tienifche Choriftin ihren Anlaßteil daran gehabt, foll 
dahingeftellt bleiben. Nun fließen fie, beide durch einen 
nächtlichen Ritt überreizt, auf der Landſtraße wieder 
zufammen: der eine, wie er mit irgendeiner Botſchaft 
in das preußifche Hauptquartier nad) Naumburg eilte, 
der andere, wie er in fopflofem Grimm, in dußerfter 
Stunde feiner Soldatenpflicht Folge Ieiftete. So bei 
Wege frifcht der Streit fidy auf; man erhigt ſich, be- 
leidigt, fordert fich, gibt ſich in aller Eile Satisfaktion, 
laͤßt im nächften Städtchen feine Wunden verbinden, 


188 Frau Erdmuthens Swillingsföhne 


verföhnt ſich vielleicht aud) wieder und fprengt, ein jeder 
feine Straße, weiter. Der Held aus Friedrichs Schule 
wird, willd Gott, im Hauptquartier glüclich einges 
troffen fein, und auch an dem Hirnfieber des Napoleo» 
nifchen Bewundererd mag der Hieb ins Fleifch geringe 
Schuld getragen haben. Aber die lange fochende Wut, 
der Parforceritt bis in die tiefe zweite Nacht hinein, der 
Blutverluft infolge des im Sagen fich Löfenden Verbands: 
fo geſchah ed wohl, daß Kraft und Befinnung ſchwan⸗ 
den, dad Pferd ohne Leitung quermwaldein rannte und 
im jachen Anprall gegen dad Gemäuer der herabftürzende 
Reiter bedrohlich verlegt und erfchüttert ward. 

Im Drange der Zeit ift Genaueres auch fpäterhin nicht 
befannt geworden. Raul hat nach feiner Genefung ein 
flared Bewußtfein von der Stunde ab, wo er aus den 
Toren Dresdens jagte, weder gefunden noch geſucht. 
Ein Fahnenflüchtiger, wie der Vater ihn befchuldigt 
hatte, war er nicht; aber er folgte mit Wut und In⸗ 
grimm dem Zwange der Pflicht und rechnete bid zum 
legten auf ein befreiendes Ohngefähr. In kommenden 
Tagen dahingegen nahm er feinen Unfall nicht als ein 
Ohngefähr und nody viel weniger als eine Schuld; er 
fah in ihm die Hand der Vorfehung, die den natur: 
widrigften Zwang gehindert hatte. 

Während die arme Mutter an diefem Krankenbette 
freier zu atmen begann, fteigerte fidy nun aber die Sorge 
um ihre beiden anderen Bedrohten. Shre Briefe hatten 
und Schritt für Schritt ihnen folgen Iaffen bis zu dem 
vorgefchobenen Poften, den ihr Regiment unter dem 
preußijchen Prinzen im oberen Saaltale innehielt. Des 
Majors letztes Schreiben datierte vom neunten Oktober 


Dritter Abfchnitt 183 


in Erwartung ded Zufammenftoßed mit bem vorbringen» 
den Feind. Frau Erdmuthe, fonft fo gefaßt und Mars 
fichtig, rang mit unheilvollen Vorgefühlen; fie fah ein 
Opfer fallen zur Sühne ber feindfeligen Trennung» 
ftunde in dem Kaufe, das auf Liebe und Frieden ges 
gründet war. 

Und das Opfer fiel. Am verhängnisvollen vierzehnten 
Dftober bradıte eine Stafette zwei Briefe. Einen an 
die Mutter vom Kommandeur des Regiments, den ans 
deren an mid, von Doftor Bär. Sie hatten gleichen 
Inhalt. Der Doktor fchrieb: 

„Unfere Frau ift Witwe. Tragts mit ihr. Ihren 
Sohn nehme ich auf mid, Er hat eine Kugel im 
Leibe, aber nicht durch und durch.“ 

Der Major von Roc war bei Saalfeld gefallen, waͤh⸗ 
rend jenes letzten Reiterſturmes, den aud) der verzwei⸗ 
felnde preußifche Prinz mit dem Leben büßte. Eine 
Kugel hatte ihm das Herz durchbohrt. Für die Sinnes⸗ 
art feines jüngeren Sohnes blieb es bedeutungsvoll, 
daß Marichall Lannes, gegen deſſen Kohorten er feine 
wanfenden Hufaren in hoffnungslofer Wut zum Sturme 
antrieb, ein Sohn der alten provenzalifchen Heimat war. 

Herrmann, im dunflen Studentenfleide, wurde für tot 
an ded Baterd Seite gefunden und durdy Doktor Baͤrs 
Obhut der Mutter gerettet. Warum er ihr nicht auch 
die legten Reſte des geliebten Gatten für ihre Heimſtaͤtte 
gerettet hat? „Würmer daheim nagen wie Würmer in 
der Fremde. Ein Phantafiehügel gibt den nämlichen 
Troft,” würde er geantwortet und auf der bereitgehalte: 
nen Bahre einen noch zudenden Stüdfnedht ftatt des 
toten Freundes von dannen getragen haben. 


184 Frau Erdmuthens Zwillingsföhne 


Was fol ich weiter fagen? Taufende von Frauen 
haben in jenen Tagen das gleiche Herzeleid getragen, 
feine ficherlich tiefer, treuer, verflärender ald meine 
Freundin Erbmuthe. Der Sonnenglanz über ihrem 
Leben war entwichen, und in faum geminderter, nur 
entwidelter Schöne trat fie bei vierzig Jahren in den 
Schatten der Matronenftille. Sie tat ed ohne ermatten> 
den Klagelaut. Ihr Herzendgrund und Boden war ja 
der Hafen, in welchem zwei auseinandertreibende Schiff: 
lein Anker werfen follten. 

Für den Augenblick galt ed die Beherrfchung, welche 
die Wacht am SKranfenbette heifcht. Ald Raul nad 
Wochen das Schiefal feined Hauſes zugleich mit ber 
politifchen Wandlung in feinem Geburtslande erfuhr, 
will ich ed unentfchieden laffen, was in dem erregbaren 
Süngling überwog: der Schmerz der Berwaifung, oder 
die Befriedigung, die Fahne, an welche fein Eid ihn 
band, wehen zu fehen auf der Bahn, für die fchon vor 
der SKataftrophe feine Neigung fich fo Teidenfchaftlich 
entfchieden hatte. Neue über das Zerwürfnis mit dem 
Gefchiedenen trübte ihm die Empfindung feinerfeits. 
Nachdem der Erfolg fein Vorgefühl gerechtfertigt, hatte 
die Erinnerung an jenen Zwieſpalt alle Herbigfeit ver- 
loren. Raul, Bater wie Sohn, waren feine dauernden 
Konfliktönaturen. 

Die jugendlichen Kräfte hoben fich wunderfchnell, feit- 
dem ein ruhm⸗ und glückverheißendes Feld dem Blicke 
vorgezaubert lag. Es wäre fein Halten für ihn geweſen, 
und wer hätte den verpflichteten Offizier auch länger ala 
geboten von feinem Poften ferne halten mögen? Zu 
Neujahr ftand er in den Reihen der Armee, die ſich bei 


Dritter Abſchnitt 135 


Wittenberg fammelte; ald aber fein Bruder, bleich und 
erfchöpft, in das Haus der Mutter zurüdtehrte, da folgte 
er bereits mit dem fächftifchen Kontingent dem kaiferlichen 
Siegesheere nach Preußen. Sein erfter Brief datierte 
aus dem Belagerungsrayon von Danzig; ein fpäterer, 
nach der Schlacht von Friedland, verkündete mit Jubel: 
gefchmetter einen Ritter der Chrenlegion. Nach dem 
Tilfiter Frieden ward der gewandte, tapfere Sachſe dem 
Kaifer perfönlich befannt und durch ihn dem väterlichen 
Freunde Thielemann attacdhiert, den gewiffe die Bildung 
des neuen Herzogtums betreffende Aufträge über Jahr 
und Tag in Warfchau fefthielten. 

Der damalige Oberftleutnant Thielemann galt in weiten 
Kreifen als die bedeutendfte und intereffantefte Perfönlichs 
feit unferer fächfifchen Armee. Wie ſchon der ältere Herr 
von Roc fein Freund geweſen war, fo trat von jegt ab 
der jüngere zu ihm in einen fympathifchen Verkehr; es 
walteten zwifchen beiden Bezüge und Ähnlichkeiten fogar 
in der Äußeren Erfcheinung, nad) denen man fie für 
Bater und Sohn hätte halten dürfen; nur daß dem 
ritterblätigen Halbfranzoſen vor dem fächfifchen Bürger: 
fohne ein glutvolleres Gepräge und nicht erft angeeignete 
Turnuͤre zuftatten kamen. Er ftrid von jest ab den 
deutfchen Adoptionamen und nannte fid) einfach Baron 
Roc. Lebhafte polnifche Sympathien vertrugen ſich gar 
wohl mit den vorwaltend franzöfifchen und traten zu den 
heimatlich fächfifchen fozufagen in eine Perfonalunion, 
die den lesteren zugute famen. Cine glänzende Lauf: 
bahn fchien dem Strebenseifrigen geöffnet; er fhmwamm 
in einem Element von Freude, Ehre und Hoffnung. 

Während diefer Zeit rang fein Zwillingsbruder mit dem 


136 Frau Erdmuthens Iwillingefähne 


doppelten Schmerze um einen Bater und um ein Vaters 
land; aber mit einem Schmerze, der, in fo reiner Tiefe 
empfunden, noch jeden, der ihn trug, geadelt hat. Bei 
der Unvorbereitetheit feines freiwilligen Kampfesanteils 
war er durd, feinen Fahneneid gebunden und durfte 
daher ohne Skrupel fagen: „Ich gehöre fortan jedem 
deutfchen Stamme, ber für unfer verwirftes Recht, für 
unfere deutfche Natur in die Schranfen tritt.” 

Kraͤnkelnd noch, blieb er während des preußifchen Feld⸗ 
zugs in der Heimat, deren Verwaltung mit der Mutter 
teilend; auch der alte Bär verhielt fich ruhig in feiner 
Höhle und Heide. Ohne die Liebe zu feinem „Mann“ 
würde er es ſchwerlich fertig gebracht haben, die Feinde, 
noch von unferem Blute triefend, mit dem nämlichen 
Blute gegen unfere geftrigen Waffenbrübder fchalten und 
ung, als zärtliche Freunde, mit Katzenpfoͤtchen ftreicheln 
zu fehen. | 

Nach dem Tilfiter Frieden bat Herrmann die Mutter, 
feine Studien in Königsberg fortfegen zu dürfen, ber 
einzigen deutfdysproteftantifchen Hochſchule, die außer 
dem Sprengel direkter frembherrlicher Beeinfluffung lag. 
Im Herbſt 1807 ging er, gefolgt von feinem treuen Bär, 
nad; Preußen ab. Indem er ſich einfad; ald „Herrmann 
von Feld“ immatrifulieren ließ, trennte er fich felber 
dem Namen nad von dem Zwillingsbrubder, der, wie er 
felbft auf fernem, nordiſchem Boden ftehend, fein eignes 
Heil und das des Weltteild auf einer der feinen fchnurs 
ftradö zumwiderlaufenden Straße verfolgte. 


% * 
% 


Dritter Abſchnitt 137 


So blieb denn die Mutter in der alten Heimat allein, 
und für mein innerfted Empfinden waren es gar lieb: 
liche Jahre, in denen ich der herrlichen Frau ale nädıfter 
Freund und Berater zur Seite ftand, diefe nahezu ſechs 
Fahre zwifchen dem tieflten Fall und der Erhebung des 
Baterlandes. 

Für ihre Söhne waren es bie erften freien Mannsjahre, 
und werden biefelben naturgemäß nach innen und außen 
reichgefüllt und ftrahlenwechfelnd verfloffen fein, wie die 
Zeit der Reife weiterhin ed nur den Seltenften unter 
und noch gönnt. Da ich aus dem Leben der Brüder 
aber nur das erzähle, woran ich als Augenzeuge teils 
genommen habe, werden in meiner Gefchichte jene Jahre 
einen fchmalen Raum einnehmen. Sollten felbft die 
vorftehenden Skizzen doch nur zu erflären fuchen, wie 
zwifchen dem einigen Strome gleidhfam ein Delta ſich 
bilden durfte und wie auf dieſem immer breiter werbenden, 
trennenden Raume gefchehen Fonnte, gefchehen vielleicht 
mußte, das was jenfeit jener Sahre gefchehen ift. 

Frau Erbmuthe wußte, daß es eine Zeit vorbereitender 
Sühne war, in die wir getreten. Sie fpürte in ihren 
Adern den Fortlauf reinen, deutfchen Blutd. Unter dem 
Banner der Überwältigten, dort wo ihr Erftgeborener 
ftand, wo ihre Ahnen, von den Tagen des Bekenners 
an, geftanden haben würden, da ftand auch fie mit 
ftarfem Herzenspuls. 

Aber fie war beider Söhne Mutter; und in einem Zwies 
fpalt, wie dem ihres Hauſes, ift ed dem Weibe ein 
Segen, durdy das Gemüt in feltgezogene Schranfen ges 
wiefen zu fein. Wie fie beide Söhne mit gleicher Liebe 
umfaßte, mußte fie in gleichem Verftändnid beider 


138 Frau Erdmuthens Iwillingsföhne 


Strebungen gerecht zu werden fuchen. Sie flammerte 
ſich an die Hoffnung und mühte fidy ab in der Aufgabe, 
daß in der Zwietracht der Schickſale die Eintracht der 
Herzen ſich behaupten möge. 

Es war died ein Irrtum der von Natur fo hells und 
tiefblidenden Frau, ein Irrtum der MWutterliebe, der 
fich zu einem Wahnbild raftlofer Seelenängfte ausbilden 
follte. Zwietradht der Schicfale heißt von Haus aus 
Zwietracht der Herzen. Eintracht der Herzen führt auf 
Brudermwege. 

Eines aber, ein Seltened, wurde bei diefem Streben 
der edlen Frau unverfümmert gewahrt: fie blieb die 
Freundin, die Vertraute beider ihrer Söhne. Durfte in 
der Beflemmung der Zeit das Trachten ded einen nur 
verftohlen angedeutet werden, dad des anderen in feiner 
Siegerfreiheit wurde fchallend verkündet. Dort galt es 
zu ermutigen, hier zu dämpfen; den perfönlichen Trieb 
dort zu pflegen, hier niederzuhalten. 

Erft im Frühling 1809 fah Frau Erbmuthe ihre Söhne 
wieder; den jüngften nur, um Abfchied zu nehmen für 
einen neuen Siegeszug. Er hatte ſich zu einer Schön: 
heit, fage ich doch, zu einer männlichen Grazie ent- 
wickelt, die ein Künftlerauge entzuͤcken konnte, um wies 
viel mehr dad Wutterauge, das zum Entzüden ber 
Künftlerfchöne nicht bedarf. Mit ftürmifcher Zärtlichkeit 
umfing er die angebetete Frau, mochte fie nad) dem 
langen Entbehren faum aus feiner Nähe, aus feinen 
Armen laſſen. 

Schwach dahingegen äußerte fich das Verlangen nadı 
einem Wiederfehen des Bruderd, den er noch länger 
entbehrt und mit dem nur ein Gelegenheitöbriefwechfel 


Dritter Abſchnitt 189 


den Faden Außerlich erhalten hatte. Schwädher aber 
noch ald diefes Verlangen, ja, zu fchwächlich felbft für 
einen Widerfpruch, erwies ſich der Anteil an Herrmanns 
innerlihem Weben und Streben, das die Mutter lieb⸗ 
reich enthüllte. Ein halb zerſtreutes, halb mitleidiges 
Lächeln war der einzige Proteft, und ein Berftändnis 
auch der möütterlichen Richtung damit ausgefchloffen. 
Als fie dem Schmerze Ausdrud gab, einen Sohn ihres 
Hauſes mit einer fächfifchen Hilfsmacht ausziehen zu 
fehen zur Unterwerfung des deutfchen Stammes, für den 
fie, nächft dem eignen, die ftärffte Neigung ererbt hatte, 
geriet er mit einem echt Raulfchen Sprunge auf feine 
alten Wünfche zuräd, 

„Sch fühle es, Mutter,” fagte er, „fühle es dir nad, 
wie viel leichteren Herzens du deinen Sohn ald Frans 
ofen, der er ja ift, gegen Öfterreich siehen laffen wuͤrdeſt. 
D, warum mußte mein früheftes Sehnen fo graufam 
vereitelt werden? Nun iſts die legte Stunde, aber viels 
leicht noch nicht zu fpät, um diefem Sehnen Genüge zu 
tun. Der Kaifer will mir wohl; idy werde ihm bes 
gegnen, er wird mich verftehen, mid) erhören. Sch liebe 
dieſe befcheidene fächfifche Fahne; fie hat mir Gluͤck ge: 
bracht. Aber es bleibt immer ein Vafallendienft. Mein 
Herz fchlägt bei denen, die an der Spige fchreiten. Nicht 
in ihrem Gefolge, Schulter an Schulter mit ihnen möchte 
ich die Friedenspalmen erfämpfen, die über dem Welt: 
teil wehen werden, wenn die Pläne des Titanen in Er: 
füllung gegangen find. O, nur dein Sa, meine Mutter, 
dein befeligendes Ia, und ich trage fortan den fran- 
zöfifchen Degen.“ 

Da die Mutter indeflen diefes befeligende Ja nicht über 


140 Frau Erdmuthens 3willingsſoͤhne 


die Lippen brachte, die Stunde auch wirklich fuͤr einen 
Fahnenwechſel zu ſpaͤt ſein mochte, nahm der junge Herr 
auch fernerhin mit einem, wenigſtens dem Namen nach, 
deutſchen Degen fuͤrlieb, um die Plaͤne des Titanen er⸗ 
fuͤllen zu helfen. Zunaͤchſt wieder in der Region, in 
welcher ihn vor vier Jahren die glorreiche Sonne zum 
erſtenmal angeſtrahlt hatte. 

Kaum eine Woche nach Rauls Aufbruch kehrte Herr⸗ 
mann aus Preußen zuruͤck; gleichfalls nur auf Tage, zu 
ernſter Verſtaͤndigung und einem tiefſchneidenden Lebe⸗ 
wohl. Seine Spannung war ſo groß, daß auch er das 
Verfehlen des Bruders nicht mit Kummer empfand. 

Aus Herrmanns Erinnerungsmappe und mehr noch 
aus der ſeines treuen Baͤr, wuͤrde ich, laͤge es in meinem 
Zweck, gar manchen Charakterkopf jener Zeit als den 
eines Befreundeten und Beweiſe davon vorfuͤhren 
koͤnnen, was die in Koͤnigsberg dazumal neben dem 
Studieren getrieben haben. Ob ſie tatſaͤchlich einer der 
weitverzweigten Verbindungen, die unter dem Namen 
Tugendbund zuſammengefaßt wurden, angehoͤrten, kann 
ich indeſſen nicht behaupten; der hohe Ausdruck min⸗ 
deſtens wuͤrde unſerem Baͤr nicht mundgerecht geweſen 
ſein. Unbeſtritten dahingegen ſtanden ſie in den Reihen 
der Eingeweihten, die ſeit Jahr und Tag eine befreiende 
Volkserhebung vorbereitet hatten. Wenn nun aber der 
alte uͤberallundnirgends Baͤr nicht ſtark genug, um ihm 
das Handwerk zu legen, im Geruche ſtand, die Faͤden 
der Patrioten nach Steins boͤhmiſchem Aſyle und weiter 
nach England hinuͤberzuſpinnen, ſo dankte er das zunaͤchſt 
allerdings ſeiner ungenierten Sonderlingsfreiheit, die 
ſchon vor der beargwoͤhnenden Zeit weit⸗ und breithin 


Dritter Abfchnitt 14 


eine gewohnte geworden war. Nicht zum geringften aber 
verdanfte er es feinem Mentorverhältnid zu dem jungen 
fächfifhen Baron. Denn wohl niemals hat ein Dann, 
felber ein deutfcher Wann, weniger als dieſer die Ele: 
mente eines Agitatord oder gar Verſchwoͤrers in ſich ge- 
hegt und deren aͤußerliche Merkmale an fich getragen: 
feine flar befonnene Natur, der etwas fchmerfällige 
Habitus, fein Studienernft, die fähfifche Abftammung 
und für die Vertrauteren wohl auch feines Bruders 
napoleonifche Begeifterung Ienften von vornherein bag 
fpähende Mißtrauen von ihm ab und machten ihn eben 
darum zu einem gefchictten Vermittler für die zerftreuten 
Patrioten. 

Er hatte bis zum legten auf einen fräftigen Entfchluß 
in Preußen gerechnet; unter denen wollte er fich erheben, 
deren Sturz er vor Augen gehabt, deren Schmach er feit 
zwei Jahren mitgetragen. Bol bitterer Enttäufchung 
fehrte er zurüd. Auf der Höhe war mit Stein dad mutige 
Vertrauen gefunfen, und das Volk hatten Kattes wie 
Dornbergs Verfuche nicht aufgerüttelt. Nun fam Schill. 

Iſt mir recht, fo war ed am dreißigften April, daß er 
dicht an unferer Heide vorüber gen Wittenberg zog; die 
Augen der Mutter hingen mit Spannung an ded Sohnes 
Schritten, und ed mag ein harter Kampf gewefen fein, 
ben fein Verlangen mit feinem nüchternen Klarblick bes 
fand. Der Doftor, deffen Ruͤckkehr von ihm erwartet 
worden war, entfchied. Er fam aus Böhmen und bradıte 
die Kunde von dem Mißgeſchick an der Donau, das den 
Öfterreichern, ohne Entſcheidungsſchlacht, ein Dritteil 
ihres Heeres gefoftet hatte. „Es ift hier im Norden zu 
fpät, oder noch zu früh,” fagte Bär. „Unfer Wann vers 


148 Frau Erdmuthens Swillingsföhne 


diente, den Siegestag der Freiheit zu erfämpfen; er foll 
nicht fruchtlog ald Märtyrer enden.“ 

„Nach Ofterreich denn!“ fagte Herrmann. Die Mutter 
legte ſchweigend die Hand zum Segen auf fein Haupt. 
In den naͤchſten Tagen gewahrte id) den erften weißen 
Faden in ihrem Scheitel und um die Augen einen 
dunklen Ring, der nie wieder wid. Dad drohende 
Phantom ihrer Witwenjahre war zu Fleifch und Bein 
geworden: ihre Zwillingeföhne follten ſich Auge in Auge 
und Fauft um Fauft ald Feinde gegenübertreten. 

Es wird kein Zufall gewefen fein, der die Freunde - 
denn zweifelt ihr, daß der freiwillige Pflafterfaften dem 
freiwilligen Degen auch bei diefem zweiten Zuge zur 
Seite ftand? - fein Zufall, der fie beimege dem Braun: 
ſchweiger ind Garn führte, welcher um diefe Zeit in 
Böhmen mit der Bildung feines fchwarzen Korps be- 
fhäftigt war. Kaum mochte es zwei ungleichartigere 
deutſche Naturen geben, ald den ftarrföpfigen, rache- 
glühenden Guelfenfürften und den ruhig befonnenen 
fächfifchen Freiherrn, mit dem flämifchen Tropfen in 
feinem Blute. Beider Liebe und Haß aber waren die 
nämlichen; beide hatten einen Bater auf dem Felde fallen 
fehen, auf welchem des Vaterlandes Ehre begraben warb. 
So ließ fi denn Herrmann nicht ungern zurüdhalten 
und verweilte, folange der Operationsplan ded Herzogs 
noch zweifelhaft fchmanfte, fidh und andere im Waffen: 
dienft übend, in dem Lager von Nachod. Ale der Fürft 
fidh aber unwiderruflich für den Einbruch in Sachſen 
entfchied, trennten die Freunde fic von den alten und 
neuen Gefinnungdgenoffen. Sie fannten Charafter und 
Stimmung ihrer Landsleute genau genug, um nicht auch 


Dritter Abfchnitt 148 


diefen Verſuch von vornherein für eine Fehlgeburt zu 
halten; vielleicht, daß ed aud) Herrmann widerftand, mit 
dem erften Schritte gleihfam ale Empoͤrer in feine 
Heimat einzudringen. Sie eilten dorthin, wo bie ent- 
fcheidende Aktion geliefert werden mußte, und famen nur 
um Stunden zu fpät, um an ber alle Hoffnungen bes 
lebenden Pfingftfchlacht von Afpern teilzunehmen. 

Bon Tag zu Tag wartete Herrmann nun auf einen 
rafchen Vordrang, in weldyem die Früchte des blutigen 
Abfchlagd geerntet werden durften; nach vergeblichem 
Harren aber erhielt er von hoher Stelle, an die er be- 
hufs feines Eintritts warm empfohlen war, eine Weifung, 
die feine gefpannte Sehnſucht tief herabftimmte. 

„Wir wiffen einen tapferen Willen zu fchägen,“ fagte 
man ihm. „Was und aber vom hödhften Werte fein 
muß, ift, daß der ziindende Funken unfered Sieges nad 
Preußen getragen werde. Es ift und befannt, wie miß- 
trauifch, fpröde der König ſich gegen uns verhält; er 
muß durch feine Umgebungen zu einer Entfcheidung ge- 
drängt werden. Der Gouverneur von Pommern ift 
Feuer und Flamme; viele der Jüngeren fühlen ihm 
gleich. Unſer befondered Augenmerk jedoch ift auf 
General Bülow gerichtet, einen. feingefchulten Militär, 
deſſen Stimme nicht hoc, genug angefchlagen werden 
fann. Eilen Sie nach Preußen zuruͤck; in Schlefien 
wirken andere im nämlichen Sinne. Schildern Sie, was 
Sie ald Augenzeuge wahrgenommen haben; fpornen Sie 
die Schwankenden an; Sie find Sachſe; nichts wirft 
ergreifender ald die Zuverficht eines LUnbeteiligten. 
Schüren Sie das Feuer der Eifrigen, und wäre ed bis 
zu einem offnen Eflat. Englands Hilfsmittel find bereit. 


144 Frau Erdmuthens Swillingsfähne 


Ein preußifches Korps, oder zwei, die raſch in Hannover 
und Sachſen einbrecdhen, fchaffen und an der Donau 
Luft; die Freiheit des Kontinents wird durch einen 
zweiten fräftigen Schlag gerettet.“ 

Herrmann war gefommen mit dem Verlangen nadı 
frifcher Tat; er hielt dad Ziel jened Auftrags, fo heiß 
er felber es erfehnt hatte, nidyt mehr erreichbar, und der 
Weg zum Ziel widerftand feiner eigenften Sinnesart; auch 
machte er fein Hehl daraus, daß für ein Pronunciamento 
eifriger Generale Preußen ihm nicht der Boden feine. 
Dennod; mußte er ſich dem Auftrage fügen, wie es ein 
jeder muß, der ſich ald Werkzeug einer Sache zu eigen 
gegeben hat. Daß er nicht mehr ausrichtete als andere, 
welche in amtlicherer Stellung die gleiche Miſſion ver- 
folgten, braudyt nicht erſt verfichert zu werden. - Be⸗ 
deutungevoll aber für fein perfönliched Schickſal und 
darum in dieſe Gefchichte gehörig wurde jene Sendung, 
weil fie ihn in einen dauernden Zufammenhang mit dem 
Manne brachte, auf welchen fein Augenmerk fpeziell ge- 
richtet worden war. Sie wurde ed aber auch für die 
friedlichen Heimatöfreunde, weil fie auf Sahre hinaus 
die Angftgefichte der Mutter in den Hintergrund treten 
ließ. Denn als der Abgefandte, faum enttäufcht, wenn 
auch tief gebrochen, nach Oſterreich zurüdfehrte, um als 
einzelner Mann in den Entfcheidungsfampf zu treten, 
war die Schladht von Wagram gefchlagen, und zum zwei⸗ 
ten Male binnen vier Jahren die Armee auf dem Rüd- 
zuge nadı Mähren. Der Waffenftillftand von Znaim 
wurde gefchlofien, der heldenmütige Erzherzog legte dag 
Kommando nieder — die Zwillingöbräder traten fich nicht 
als Feinde gegenüber. 





Dritter Abſchnitt 445 


Und nun, Staupe um Staupe, fiel der Hagel in die 
Frühlingsfaaten der Patrioten. Es fteht in hundert 
Büchern aufgezeichnet: aber ihr Nadhgeborenen von 
41809, ihr ahnet es nicht, was die Männer von 1809 
gelitten haben, ſei's daß fie, wie von den unferen der 
Alte, Die Freiheit allerorten, ſei's daß fie, wie der Juͤngere, 
deutfches Land und Wefen über alles liebten. Welches 
Schickſal freilich unferes proteftantifihen Nordens ge- 
harrt haben würde, wenn ohne preußifche Hilfe - und 
felber mit diefer fpäten preußifchen Hilfe die Frucht 
von Afpern eingeheimft, behauptet und der Kern für 
neue Ernten geworden wäre? 

Sollte einer der damaligen Patrioten diefe Frage ſich 
vorgelegt haben, fo war ed nach der erften Betäubung 
der junge fächfifche Freiherr, der eine ftarfe Ausdauer - 
in ſich fpürte und dem ein gründliches Entwiceln Not- 
wendigfeit war. 

„Was uns zu tun bleibt”, fagte er, ald er im Herbſt 
zu ung zuruͤckkehrte, „ift, daß ein jeder in feinem Kreife 
geduldig und treu an dem Damme baue, an welchem, 
früher oder fpäter, die Überflut fid) brechen muß; daß 
wir den Willen eined Volks gegen den Willen eines eins 
zelnen gewaltig machen. Wie unvergleichlich würde 
Friedrich der Große, wie unerfchütterlid, fein Staat in 
der Gefchichte ragen, wenn es ihm gegeben gewefen 
wäre, Steind heutige Geſetzgebung ſchon bei feinem 
Leben durchzuführen! Aber unfere nordifchen Geifter 
gleichen der Winterfaat, die erft unter Stürmen erftarft, 
und Gottes Mühlen mahlen langfam, aber fein.” 

Sn diefem Sinne, nachholend und vorbauend, wirfte 
er von jet ab unter und in der unfcheinbaren Stellung 
xx. 10 


146 Frau Erdmuthens 3willingsſoͤhne 


eined Landwirts, ald Adminiftrator der Mutter mit deren 
unbefchränftem Vertrauen. Er führte im großen aug, 
was fie in Fleinerem Maße angebahnt; fie hatte ed in 
barmherziger Liebe getan, um ihren Heimatsbrüdern die 
Mühfal des Daſeins zu erleichtern. Nun faßte fie in 
patriotifher Sympathie, daß mit den äußerlichen Schrans 
fen dem inneren Sinne Kette um Kette bricht. Zweifelt 
ihr aber daran, ob auch die drei Knechte dem Sohne 
ihrer lieben Frau nad) Kräften beigeftanden haben? Ob 
der Phyſikus auf feinem Plate war, da wo es in erfter 
Linie galt, gefunde Menfchenleiber aufzurichten, ftarf 
zum Waffentragen in einem Freiheitöfampf? Ob ber 
rechtfchaffene Suder dort, wo es fidy handelte um Be- 
freiungen, Ablöfungen, Bobdenverteilung zum Zmede 
von Haus und Hof für viele, die ihn bis dahin entbehrt? 
Ob auch der friedfertige Magifter auf der Kanzel und 
in der Schulftube das Seinige zur Erweckung der Geifter 
getan? Sie alle arbeiteten von jegt ab mit Doppeltem 
Eifer daran, den Erdenfled, auf welchen Gott fie gefegt 
hatte, menfchlicher ausgefüllt, als fie ihn vorgefunden, 
zu verlaflen; wert, ald Heimat mit Gut und Blut vers 
teidigt zu werden und ſich eines Tages einem befreiten, 
großen Baterlande einzureihen. 

Diefe patriarchalifche Emfigfeit unferes Freundes er- 
ſtreckte ſich indeſſen nicht auf die fächfifche Erbftätte 
allein, ja auf fie im Grunde erft in zweiter Ordnung. 
Frau Erdmuthe hatte beim Tode ihres Gatten ihre 
Söhne felbftändig gemacht, indem fie die Erfparniffe 
ihrer Ehezeit, ohne eignen Anſpruch, als Erbe unter fie 
verteilte. Was nun dem forglofen Süngeren in flottem 
Zagerleben durch die Finger glitt, dad wurde dem haus⸗ 


Dritter Abfchnitt 447 


hälterifchen Alteren zum Mittel für feinen allesbeherr⸗ 
ſchenden Zweck. 

Seit Öfterreiche notorifcher Erfchöpfung wendeten alle 
Hoffnungen Herrmanns fich wieder dem Stamme zu, 
unter dem er zum Wanne gereift war. An diefen auf 
der Grenzwacht gegen die Barbarei des Oſtens hart ge- 
ftählten Nerven und Sehnen fah er die uniformierende 
Barbarei des Weſtens fid) brechen und ahnte die Zeit, 
in der er felber fich auf ein anderes Bürgerrecht ale dag 
in feiner eingeflemmten Heimat zu berufen haben dürfte, 
In diefer Vorausficht war ed bei der Entwertung der 
Immobilien in der bid auf die Neige ausgezehrten Pros 
vinz ihm leicht, einen beträchtlichen Grundbefiß jenfeits 
von Königsberg zu erwerben und in diefer fernen Fi- 
liale die Theorien feiner Sünglingszeit nahe der Stätte, 
wo er fie eingefogen hatte, ind Praftifche umgefegt, zu 
verwerten. 

Meine beiden Brüder, ber Verwalter und Förfter, folg- 
ten ihrem Herrn und Freunde in dieſes neue Gebiet 
und vertraten ihn dort, fooft er ferne war; wie fie denn 
mit Sud und Pad in blindem Vertrauen dem über alleg 
verehrten Manne in die Hölle gefolgt fein und ihn all: 
dort vertreten haben würden, wenn er deren Ur- und 
Wehrbarmachung von ihnen gefordert hätte. Gelang 
es nun aber den beiden fächfifchen Heideföhnen gar bald, 
fi) an den fcharfen, preußifchen Oftwind zu gewöhnen, 
was Wunder, wenn von Zeit zu Zeit auch unfer welt- 
bürgerlicher Sfegrimm in dem mafurifchen Bärenwinfel 
ein urmwäldliched Behagen fand? Die Freunde fprangen 
aus und ein; für die alte Heimat waren fie in der 
neuen, für die neue in der alten; in Wirklichkeit vielleicht 


148 Frau Erdmuthens Swillingsföhne 


ganz anderdwo. Mehr denn je bedurften jene Tage der 
Männer, welche den legten Glauben nicht verloren hatten. 

Bei diefem Wechfel von Kommen und Gehen, von ges 
fprochenem und gefchriebenem Wort gefchah ed nun aber 
faft unmerflich, daß auch die ftillfipenden alten Heimats⸗ 
freunde ſich in eine Randfchaft eingewöhnten, in welcher 
fie bisher mit Grauen die Fuͤchſe ſich hatten Gutenadıt 
fagen hören. Selber der Erzſachſe in unferem Kreife, 
den bei dem bloßen Namen „Preußen“ jederzeit ein 
Ohrenzwang befallen hatte, gelangte dahin, ſich fein 
Stedenpferd in der neuen Heimat feines fünftigen Pas 
trond behaglicy umzufatteln. Der Sünger der Welts 
weisheit, dem fein großer Landsmann in Perfon und 
lange zuvor ald dem übrigen Menfchengefchleht — ihr 
wißt, es gefchah damald beim zehnten Kloß - die Eri- 
ftenz des Nicht-Ichs handgreiflich demonftriert hatte, 
hing Ich und Nicht⸗Ich ganz fachte an den Nagel, ins 
dem er den Fategorifchen Imperativ für gar feine uns 
ebene preußifche Erfindung erflärte. Unfer Mann des 
Gefeged fand Geſchmack an Königsberger Marzipan 
und wurde Kantianer. 

Wenn wir auf diefe Weife nun ohne allzu fchweren 
Aufwand der Phantafie uns aus der fächfifchen in die 
preußifche Heide verfegen lernten, wollte es ung dahin 
gegen um fo weniger gelingen, Pofto zu faſſen in einem 
der romantifchen Zaubergärten, zwifchen welchen ber 
andere unferer künftigen Patrone während diefer Sahre 
fehmwelgte und ſchweifte. Der sfterreihifche Feldzug 
hatte dem tapferen Raul das Patent zum Nittmeifter 
und den Heinrichsorden eingetragen; in den fiebenten 
Himmel aber veriegte ed ihn, daß fein Kaifer, der fe 


Dritter Abſchnitt 14% 


fehr die Kunft verftand, ſympathiſche Naturen zu ver: 
werten, ihn zu einer Sendung an den brüderlichen Hof 
nadı Spanien auserfor. Stante pede aus dem Lager 
von Wagram ging ed in das von Talavera, in welchem 
zur Stunde der arme Schattenfönig Joſeph, von Welling- 
ton übel zugerichtet, auf ſchwachen Füßen taumelte, 
Aber auch nach dem baldigen Siege über Venegas, an 
welchem der ritterliche Deutfchfranzofe flott mit teils 
genommen hatte, möchte der fpanifche Aufenthalt für 
jeden anderen ziemlich ſchwuͤler Natur geworden fein 
und würde auch einen bedeutenden Schwärmer für 
das römifche Reich unferer Zeit, für das eine Volk, 
mit einer Sprache, unter einem Willen zur Genüge 
haben ernüchtern können. Unſer Held gehörte nun aber 
einmal zu den Glüdlichen, welche die Dinge fchauen, 
wie fie diefelben zu fchauen verlangen. Der heiße füds 
Tiche Simmel und die heißen füdlichen Menfchen feiner 
Träume find in der Wirklichkeit Herrn Raul nicht allzu 
hisig vorgefommen. 

Dem flüchtigen fpanifchen Streifzuge folgte ein Ab: 
ftecher nadı Italien und ein gründliched Durchftöbern 
der Provence, die er von vornherein feine Heimat nannte 
und in welcher er die Zuftfchlöffer feiner Zukunft in die 
Höhe fteigen ließ. Zwar blieben die Forfchungen nad 
etwaigen Geſchlechtsnachkommen ohne Erfolg; der Name 
Saint Roc war rings im Languedoc fpurlos verflungen. 
Auf einem olivenbefäumten Felfen, am blauummogten 
Strande hatte der Forfcher jedoch eine Bergruine ent» 
deckt, die er ald den untrüglichen Stammfig der Saint 
Roc in Anfpruch nahm, weil über dem zerbröcdelten 
Portal, in den Trümmern eined Scildes fich ein ab» 


150 Frau Erdmuthens Zwillingsföhne 


a — 


geſtoßenes Etwas erhalten hatte, das nichts anderes als 
den Gipfel des goldenen Felſens, des Wappenzeichens 
ſeiner Familie, bedeuten konnte. Der Skeptiker Baͤr ſah 
freilich nicht ein, warum ſotanes Etwas nicht ebenſogut 
den Zipfel einer heraldiſchen Nachtmuͤtze bedeuten ſollte. 

„Hier alſo,“ ſo ſchrieb der gluͤckliche Entdecker, „hier 
hat die Wiege meiner Ahnen geſtanden, hier ſoll dereinſt 
die Wiege deiner Enkel, meine Mutter, von deiner ſuͤßen 
Hand geſchaukelt werden. Ja, das iſt die Heimat meiner 
Seele! Das iſt das Land, um das ich geworben habe 
wie um eine Braut; wie Jakob um Rahel, als man ihm 
die unholde Lea an die Seite draͤngen wollte.“ | 

Wir waren an folcherlei Bilderfprache unferes jungen 
Freundes gewöhnt, und nahm diefelbe, in zierlichem Frans 
zöfifch abgefaßt, ſich aud; lange nicht fo überfchwänglich 
wie hier in unfer braves Deutſch umfchrieben aus. Mit 
dem legterwähnten Gleichnis fchoß er überdies nicht eins 
mal weit über dad gewollte Ziel hinweg. Sa, er erfor 
fich ein Heimatdland wie ein fchönes Weib. Wir an- 
deren, und fein Bruder zumal, wir liebten das unfere 
ohne Wahl, wie einer den Vater liebt, welchen Gott 
ihm gegeben hat; und wenn ed ein firenger Bater ift, 
dann erft recht. Die Erbtodhter der fächfifchen Freis 
herren aber fah von ihren Zwillingsföhnen den einen 
als naturalifierten ‘Preußen, den anderen ald Franzofen 
der Zufunft der ftaatlichen Befchränfung ihres Geburts» 
landes und ſich gegenfeitig als traditionelle Widerfacher 
entfremdet. Als fie ubigen Brief zu Ende gelefen, fagte 
Frau Erdmuthe mit wehmütigem Lächeln: „Wo unfer 
Raulhaus ftehen follte, wollen wir dereinft unfere Fries 
dendfirche bauen.“ 


Dritter Abfchnitt 181 


Aus dem Süden ging unfer Glüdlicher - nun erft recht 
ein folcher — nach Parie. Dort unter irgendweldyem 
fchmeidhlerifchen Titel feftgehalten, fchwanden in beraus 
fchendem Taumel zwei Jahre, die dad Gepräge des Voll 
franzofen vollendeten. Selber den urfprünglichen Namens» 
fang hatte er ſich voll wieder angeeignet. — Erft im 
Frühling 1812, in Ausſicht des ruffifchen Feldzuges, 
fehrte Baron Raul von Saint Roc audy diesmal nur 
im Fluge im Mutterhaufe ein, um ſich darauf — gegen 
fein Hoffen wieder ald Sadıfe - der Reiterbrigade ans 
zufchließen, welche General Thielemann zu dem Korps 
von Latour Maubourg in Kalifch ftoßen ließ. Der Mas 
jorsrang und die Führerfchaft des altwerehrten Freundes 
mußten für den verlängerten Bafallendienft entfchädigen. 

Raul betrachtete den Zug des neuen Alerander mit 
deffen eignen ruhmgeblendeten Bliden, deutete ihn nahes 
zu mit deſſen eignen fpäterhin fundwerdenden Worten. 
„Antizipierte Bulletins“ nannte der Phyſikus feine Briefe 
und den Schreiber: „Monfteur Bulletin.” 

„Wer hätte Europa von den drängenden Barbarens 
horden befreien, wer fie in die afiatifche Steppe zurück 
ftoßen fönnen als der verförperte Genius der zivilifierten 
Welt?” rief er aus; dann aber ſchweifte die Phantafie 
über das bewältigte Rußland hinweg; über Schneefelder 
und Eisberge, Taufende von Meilen weit ind Herz der 
Tropenzone hinein, um an den Ufern bes lotosbluͤhen⸗ 
den Ganges, die fchnödefte Krämerherrfchaft der Ges 
ſchichte zertrümmernd, den Dreizad ded Neptun an das 
Schwert des Mars zu fefleln. 

Und die Mutter, vor deren Ohr diefe Schallmellen ſich 
ergoffen? Wohl Hangen fie ihr nicht unähnlich denen, 





159 ran Erdmuthens Swillinasfähne 


welchen fie mit zitterndem Herzen vor Jahren am Bette 
des Fieberrafenden gelaufcht hatte; wohl fah fie im 
Geifte jene unzähmbaren Mächte, welchen der Wahnfınn 
eined Defpoten Kohn zu bieten wagte: aber der, über 
deffen Lippen die geflügelte Rede glitt, deffen Blicke in 
begeifterndem Siegertraume glühten, er war ihr Kind, 
ihr fchönes, zärtliches, glüdliched Kind; er füßte ihre 
Hände und ftreichelte fchmeichelnd über Die weißen Fäden, 
weldye die Sorge um ihn auf ihrem Haupte gebleicht 
hatte. Hätte fie dem Entfremdeten ihrer Heimat grollen 
fönnen? verbammen den Kämpen gegen alles, was ihre 
Väter heilig gehalten hatten, was ihr Erftgeborener, 
was fie felber heilig hielt? Hätten ihre Tränen fpar- 
famer fließen follen, weil fie in jenen Mächten, welche 
ihren Liebling bedrohten, die Nettung ihrer Heilig- 
tümer ahnte? Ich habe mandhe gekannt, welche in jenen 
gewalttätigen Zeiten für Gatten, Brüder und Söhne in 
entgegengefegten Lagern gezittert haben: feine Mutter 
aber wie Frau Erdmuthen, welcher der Zwiefpalt des 
Blutd das Herz durchbohrte gleich einem Schwert. 

Und wenn ihre Söhne vor dem Kampfe, der mehr als 
ein früherer dem einen ein Todeskampf zu werden drohte, 
fi mindeftend noch fehen fonnten; wenn fie gefchieden 
wären mit einem Händedrud, mit einem brüderlichen Lebe- 
wohl! Aber Herrmann hatte ung fchon um Neujahr ver- 
laffen in jener höchften Spannung, welche, in der Schwebe 
der preußifchen Krife zwifchen Unterwerfung und Er: 
hebung, alle Vaterlandsfreunde in Fieber verfegte. Die 
Entfcheidung war feitdem gefallen; das Volk, auf welches 
fie ihre letzte Hoffnung gebaut hatten, folgte ald wehr: 
und willenlofes Scylachtopfer den Fußfpuren des Unter: 


Dritter Abſchnitt 158 


jochers, anftatt ſich aufzurichten und, wie fein erfter 
Minifter vor faum Sahresfrift ftolz verkündet hatte, 
Außerftenfalld mit dem Schwerte in ber Fauft zu fter 
ben. - In diefem Lichte fahen die Patrioten von damals 
den Februarvertrag, den wir heute ald eine Tat ber 
Selbftverleugnung und Selbiterhaltung würdigen. Denn 
fein Herrfcher hat das Recht, und wäre ed aus dem 
höchften Motiv, den ihm anvertrauten Staat einer vors 
ausfichtlichen Vernichtung preiszugeben. Hier aber war 
es mehr ald die Eriftenz eines einzelnen Staatd, ed war 
die Gefamtnatur eines zerfplitterten Volks, die auf dem 
Spiele ftand, wenn der bisher unüberwundene Gewalt: 
haber auf feinem fzythifchen Zuge den Reſt von Preu- 
Ben als eroberte Provinz in feinem Rüden liegen ließ. 
Auch Herrmann hat fpäterhin des Könige Entfchluß 
als folch ein zwingendes Verhängnis aufgefaßt. In 
jenen Wintertagen aber würbe fein perfönliches Erleb> 
nis ihn mit Ääßenderer Schärfe getroffen haben. Noch 
rang er mit der Verzweiflung, welche viele Geſinnungs⸗ 
genoffen, ihrem Kaffe Luft zu machen, auf die Pläbe 
fremden Widerftandes im Norden oder Süden trieb, 
und zeugt ed von ber Unvermwüftlichfeit feines deutfchen 
Glaubens, daß er diefe Berfuchung überwunden hat. 
Raul Tächelte audy heute, ald ihm die Mutter den 
ſchweren Kampf ded Bruders zu deuten fuchte. „So 
nimmt er noch immer den Kleinen Mond für feinen gro- 
Ben Gott!” oder: „So fpielt er noch immer Vercinge- 
torig!” fagte er, Mit diefen Kindheitsbildern war die 
Erinnerung an den Bruder abgetan. Sonft fein Ber- 
ſtaͤndnis, fein Verlangen, aber auch fein Groll. Zwifchen- 
durch ein Anflug von Geringfchägung des germanifchen 


154 Frau Erdmuthens Swillingsfähne 


Phlegmas gegenüber dem zündenden Genius ber Zeit 
und außerdem — Bergeffen. 

Die Mutter hatte nad) allen Seiten Boten und Briefe 
ausdgefendet, um ihres Sohnes KHeimfehr zu befchleus 
nigen. Raul konnte diefelbe nidyt erwarten, da fein Res 
giment bereitö aufgebrocdyen war. 

„Grüße Herrmann, meine Mutter,” fagte er beim Ab» 
fchied. „Unfere Seifter fteuern gegeneinander im Strome 
ber Zeit, und wenn fein Schifflein nicht gottlob im 
Nothafen feftgebunden läge, hätten wir barfch gegen- 
einander rennen fönnen. Das ift Männer Art, auch 
wenn fie Brüder find. Operari sequitur esse! - Gie 
fehen, daß ich Shrer Schulftube nody Ehre mache, Pate 
Magifter. - Aber dad Blut, das in ungleidhem Tempo 
durch unfere Adern treibt, ift ein Blut, dein Blut, 
Mutter, und welche Madıt könnte fich zwifchen Herzen 
drängen, weldye die Mutterliebe eint?“ 

Welche Macht? Ad, war denn das ungeheure Elend 
bed Baterlanded nicht allein ſchon eine Macht, welche 
die Kluft der Geifter bid zum Herzgrunde vertiefte? 
Übertrug fi) nicht willenlo8 von dem Haſſe gegen den 
Unterdrüder eine Regung auf beffen begeifterten Afos 
lythen? War nicht der einzelne mit fchuldig an dem 
allgemeinen Weh? Selten mißadhtet man den Glück; 
lichen, den man beneiden dürfte; aber audy der Gerech⸗ 
tefte haßt ihn in Momenten, wo dad Bemwußtfein des 
Frevels, mit welchem fein Gluͤck erfauft ward, unfere 
Bruft zerreißt. Und in einem folchen Momente wurde 
die Frage aufgeworfen: Welche Macht kann ſich zwifchen 
Herzen drängen, welche die Liebe eint? 

„Unfer Geift dringt in die ewige Gerechtigkeit wie das 


Dritter Abſchnitt 155 


Auge in dad Meer. Es fieht den Grund am Ufer, aber 
ed fieht ihn nicht auf hoher See. Und doch ift ein 
Grund, und nur die Tiefe verbirgt ihn.” 

Diefed Gleichnid des großen Florentiners, mit deffen 
Sinn in jenen Tagen der Bruderfehde ich oftmals die 
Löfung des tiefſten Lebensrätfeld gefucht habe, diefes 
Gleichnis fchliege die lange Einleitung in meine Bruder: 
geichichte. 





Vierter Abfchnitt 


Was fern, muß fich erreichen. 


8 war im Mai; wir faßen im milden Sonnenfcein 
En Kaffeetiſch vor dem Portal: Frau Erdmuthe, 
ihr Sohn, ihre drei Knechte und, nicht zu vergeſſen, die 
hochverehrte Familienfreundin, welche auf einer ihrer 
ſtoffreichſten Ritterſchaftstouren ſchwer beladen bei uns 
eingekehrt war. 

Wie lange iſt es doch her, daß ich Fraͤulein Idunen 
zu einem kritiſchen Anſtoß auf ihrer Pfingſtetappe vor⸗ 
gefuͤhrt habe? Die beiden Kaſtanien, welche der alte 
Freiherr am Tage der Geburt ſeiner Zwillingsenkel zu 
ſeiten des Portals gepflanzt hatte, waren damals zarte 
Staͤmmchen; heute ſind ſie ſtattliche Baͤume, uͤber und 
uͤber der eine mit weißen, der andere mit roten Bluͤten⸗ 
kerzen bedeckt. Sie geben ſchon angenehmen Schatten, 
wir brauchen den Kaffeetiſch nicht mehr unter die alten 
Ulmen zu ruͤcken, wenn Fraͤulein Idunen ihre fliegende 
Hitze uͤberfaͤllt. 

Ja, es iſt eine Weile her; eine Maͤdchenjugend koͤnnte 
auf⸗ und laͤngſt wieder abgebluͤht fein in der Zeit, und 
Fräulein Iduna nunmehro allenfalls fchon Urgroßmüt- 
tern Blumen auf ihren Hochzeitspfad geftreut haben. 
Fräulein Iduna ift aber ohne Wandel unfere liebe, rote 
Dame, und dad, was an ihr Außenmenfc genannt wer: 
den muß - jeßt noch etwas mehr ald viel -, fpiegelt uns 
getrübt wider die innerliche Couleur, die zwifchen Roſe 
und Flamme fluftuiert. 

Heute jedoch ftrahlt Fräulein Iduna in Purpur und 
fprudelt über in eitel Gloria und Subelhymnen. Sie 


Vierter Abfchnitt 157 


war der Faiferlichen Monarchencour in ihrer Refidenz- 
ftadt Zeuge gewefen, und muß das traute chez moi wohl 
mit einem Lugefenfterden in die höchften und allers 
hödhften Appartements eingerichtet gemefen fein, denn fie 
hatte Kenntnis von dem leifeften diplomatifchen Räufs 
pern bei diefer erhebenden Gelegenheit und wußte auf 
Linienbreite anzugeben, wie niedrig fich diefes und jenes 
gefrönte Haupt vor der Majeftät des Weltgebieterd ge: 
fenft hatte. 

„Bottlob, daß wir Fleinen Leute und nicht fo tief zu 
bücen brauchen“, fagte Herrmann lächelnd, als die 
echauffierte Dame eine Paufe madıte, um ihren Kaffee 
nicht völlig erfalten zu laffen, dann aber Ienfte er die 
Rede von dem majeftätifchen Kapitel ab; wohl aus 
fchonender Rüdficht auf das Nervenfyftem feines Freuns 
des Bär, der vor gewiſſen Klangwellen — deutfchen Or- 
ganen fonfthin anmutend geläufig — eine abfonderliche 
Reizbarfeit offenbarte; heute zumal, wo Bär nach wochen⸗ 
langer Ausflucht erft vor einer Stunde zu und zurüd; 
gefehrt war, müde, oder doch mit verdroffenerer Miene 
als fonft, wenn er „der niemals fattfam zu bewundern⸗ 
den Göttin der ewigen Jugend“ an Frau Erdmuthens 
Tafel gegenüberfaß. 

„Daft du Beforgungen in Leipzig, liebe Mutter?“ 
fragte Herrmann, „id denfe morgen hinzureifen.“ 

Der Gerichtödireftor machte die erläuternde Bemerkung, 
daß der zahlmächentliche Termin vom Herrn Baron ver: 
abfäumt worden, dahero eine perfönliche Verhandlung 
mit der Firma Frege und Sohn abfolut nicht länger zu 
verfchieben fei. 

Es hatte nämlich diefer niemald genugfam belaftete 


158 Frau Erdmuthens Iwillingsföhne 


Knecht unferer lieben Frau zu der Jurisdiktion auf der 
einen Schulter, während Herrmanns häufiger Abweſen⸗ 
heit, die gutöherrliche Kaffenprofura auf die andere ge- 
nommen, und griff er jedwede paffende oder unpaflende 
Gelegenheit beim Schopf, um von feiner gedeihlichen 
Amteverwaltung mit Adam Rieſeſcher Weltweisheit 
Rechnung abzulegen. 

Frau Erdmuthe ließ ein leiſes Räufpern vernehmen. 
Auch Doktor Bär hatte feinen Baß geftimmt. „eben 
Sie für Ihre Sparfumme uns einen Schmaus zu Ehren 
der welthiftorifchen Kaiſer- und Königsparade, Frau 
Mutter,” fiel er ein. „Oder befler noch, fchenfen Sie 
fie mir, daß ich mir einen Adelöbrief beftelle. ‚Bär von 
Pflafterkaften‘, was meinen Sie dazu, Freundin der 
Kitterfchaft? Nach fo königlich anerkannten Verdienften 
fönnte mir der königliche Grandfordon der Ehrenmänner 
nicht entgehen. Sie erfüllen meinen glühendften Wunfch, 
Frau Mutter, und fich felber befreien Sie für ein Weil- 
chen von einer endlofen Turbulation. Wahrlich, ich 
meine ed gut mit Ihnen. Diefer Tag und Nacht kriegs⸗ 
bereite Stammhalter läßt Ihnen ja doch feine Ruhe, 
bis er Ihren legten Dufaten in Eifen umgefchmolzen 
haben wird. Kaum daß er eine heroifche Refrutenfchar 
für diefes — allerdings ehrenvolle — Grawertfche Heer: 
gefolge aufgefüttert hat, fo rüftet er hinter Ihrem Rüden 
fchon wieder für die zivilifatorifche Miſſion, die, fobald 
fämtlicye zweibeinige Barbaren mit Samafchen und Es⸗ 
farpind in.den Kulturzuftand eingetreten fein werden, 
gegen meine biderben vierfüßigen Kollegen auf Spip- 
bergen und anderwärtd ind Werk gefegt werden fol. 
Denfen Sie, wie Shre Enfel, Frau Mutter - -“ 


Vierter Abfchnitt 4159 


— — — 


„Meine Enkel!“ unterbrach Frau Erdmuthe den Red⸗ 
ner. Sie tat es laͤchelnd und gewiß nur in der Abſicht, 
mit einem aufgegriffenen Wort fernerweitigen Hechtſchen 
Rechenexempeln und Baͤrſchen politiſchen Phantaſien in 
den Weg zu treten. Ob nun aber die beſcheidenen vier 
Silben, „meine Enkel“ mit einer beſonderen Modulation 
ihren Lippen entſchluͤpften oder ſonſt aus welcher ploͤtz⸗ 
lichen Ideenverbindung, genug, dem Politikus blieb die 
Ausfuͤhrung der ziviliſatoriſchen Miſſion fuͤr das zu⸗ 
kuͤnftige Geſchlecht in der Kehle ſtecken, und Fraͤulein 
Iduna ließ vor Erſchuͤtterung den braunen Mokka in 
ihre rote Buſenſchleife troͤpfeln. 

Auch Herrmann hatte betroffen zu der Mutter hinuͤber⸗ 
geblickt, und als dieſelbe nach einer allſeitigen kurzen 
Stille zu einer haͤuslichen Beſorgung ſich erhob, ging er 
ihr nach, indem er ihren Arm in den ſeinen legte. 

Fraͤulein Iduna hatte ihre Buſenſchleife abgetrocknet. 
Ihre Couleur bekundete einen vielverſprechenden Sprung 
der Phantaſie: Kaiſer und Koͤnige waren ploͤtzlich mit 
dem Schwamme ausgeloͤſcht. „Meine Enkel!“ fluͤſterte 
ſie, anfaͤnglich traͤumeriſch, dann mit wehmuͤtigem Floͤten; 
„meine Enkel! Hoͤrten Sies, Magiſter? Meine Enkel, 
hat ſie geſagt und laut geſeufzt!“ 

Ich hatte das Seufzen nicht gehoͤrt; laͤngſt aber ſchon 
hatte ich in der Seele meiner Freundin den Wunſch ge⸗ 
leſen, der wohl einen Seufzer hervorgelockt haben koͤnnte. 
Ihr zweiter Sohn, wenn er in einer Friedenspauſe ein⸗ 
mal eine häusliche Anwandlung fpüren follte, nicht unter 
ihren Augen, fie wußte es, in unheimifcher Ferne würde 
er einen Herd fich gründen. Alle Hoffnung, Erbe und 
Namen der Fels in die Zufunft tragen zu ſehen, beruhte 





160 Frau Erdmuthens Iwillingsfähne 


auf Herrmann; Herrmann aber hatte noch niemals eine 
zärtliche Herzensbewegung gezeigt, und weder Vernunft 
noch Gewiſſen fchienen ihn an die Pflichten des Stamm- 
halters zu mahnen. 

Wie der Mutter nun aber jede Andeutung widerftand, 
welche das freie Gefühl ihres Sohnes beirren Fonnte, 
fo hatte auch ich, ihrem Sinne gemäß, mid, derfelben 
enthalten und bemühte mid, jegt redlich, in dem am 
Kaffeetifche zurücdgebliebenen Konvivium der Ehelofen 
die Kaifer und Könige anftatt der Enkel wieder auf das 
Tapet zu bringen. 

Armer Schwachmatifus jedoch, aufd Tapet bringen zu 
wollen, felber Kaifer und Könige, wenn unfere liebe, 
rote Dame in dad Kapitel eingefprungen war, das ihrer 
neidlofen Seele über alle Kaifer- und Königskapitel 
ging! „Meine Enkel!“ wiederholte fie mit herzbeweg- 
lichem Schluchzen; „meine Enfel! Diefer Engel von einer 
Frau, diefe Heilige, diefe beflagenswerte Witwe, diefe 
Mutter nach Gottes Herzen! Tränen, helle Tränen 
hatte fie in den Augen. Gerichtödireftor, haben Sie die 
Tränen gefehen?“ 

Der ehrliche Gerichtsdireftor hatte die Tränen nicht 
gefehen. Aber, wenngleic, feine runden Augen, die wie 
himmelblaue Brillengläfer unter den ftrohgelben Loͤck⸗ 
chen der Perücde lagerten, Eurzfichtig waren, Die Träne 
mußte er ja wohl fehen, die eine unverfiechbare Träne, 
die jegt in Fräulein Idunens Antlig ihren Aufzug hielt. 
Der gerührte Hecht war nahe daran, eine weniger be- 
fcheidene Schwefterzähre überlaufen zu laſſen. 

Schon aber hatte der Tropfen ded Mitgefühls feinen 
Ruͤckzug angetreten, Fräulein Iduna ihre Faflung wieder- 


Vierter Abfchnitt 161 


gewonnen. Ein heroifches Feuer Iohte in ihren Augens 
fternen empor. Sie fprang vom Stuhle in die Höhe, 
ſchlug mit beiden Händen gegen den Raum, auf wels 
chem nach damaliger Mode die Gürtelfchnalle zu ruhen 
pflegte, und rief mit Energie: „Baron Herrmann muß 
heiraten! Er mag Luft haben oder nicht, er muß, er 
muß!” Da aber der Baron juft während diefes Rufes 
aus dem Kaufe zurüdfehrte, ohne die Mutter und in 
merfbar nachdenflicher Stimmung, ftürzte fie ihm uns 
erfchrodenemit der nämlichen Forderung — beinahe in 
Die Arme. 

„Sie müffen heiraten, Baron!” erflärte fie. „Es hilft 
nichts, Sie müffen. Wir, Ihre treueften Freunde, die 
Berehrer Shrer herrlichen Mutter, haben und in diefer 
unumftößlichen Forderung geeint. Fragen Sie den Mas 
gifter, ob die edle Frau ſich nicht in der Sehnſucht nad) 
Entelfreuden verzehrt? Es kann ihr and Leben gehen, 
Baron. Bei Gott, and Leben! Doktor, fagten Sie ed 
nicht? Sie find ihr diefe Befriedigung fchuldig, Baron. 
Auch der Gerichtödireftor meint, daß Sie ed find. Es 
ift Shre Pflicht. Sie müffen heiraten, ohne Bedenken, 
ohne Verzug, Sie müffen!“ 

Die feurige rote Dame hatte dad Netz über den hage- 
ſtolzen Käuptern zufammengezogen, und fo bei Gelegens 
heit diefem Fategorifchen Imperativ gegenübergeftellt, 
trug mein friedfertiged Gemüt fein Verlangen zu Oppo⸗ 
fition. Sc trat mit offenem Pifier unter dad Banner 
der Roſe und der Flamme, Aud) Freund Bär brummte 
nicht8 weiter ald: „Sch wüßte nicht, was ihm anjego 
Klügeres zu tun verbliebe.” 

Schwerer waren die Skrupel, welche dad richterliche 
xx. 11 





162 Frau Erdmuthens Zwillingefähne 


Gewiffen zu überwinden hatte. Als Philofoph und Phis 
Iofophenfreund konnte Guftel Hecht die Ehelichkeit nicht 
befürworten. Saͤmtliche Weltweife feiner geiftigen Ber 
fanntichaft waren nicht oder fchledht beweibt. Daß der 
jüngfte unter ihnen, ber einzige ihm perfönlidy Bekannte, 
der große Landsmann und nftruftor, ausnahmsweiſe 
für einen Gutbeweibten galt, konnte die Regel nicht um⸗ 
ftoßen. Es mußte im Gegenteil zugeftanden werden, 
daß juft diefes unfpefulative andere Ich, neben dem 
überfpefulativen Nicht-Ich, den ſpekulativen Jünger 
des Ich aus den Armen des fächfifchen Kommilitonen 
rüdwärtsd getrieben habe in die Fußfpuren des preußis 
fhen Vorlaͤufers, der neben anderen ftandfeften Eigen» 
fhaften auch die befaß, ein ftandfeftes Einzeln⸗Ich zu 
fein. Nein, Hecht, der Kantianer, konnte ſchlechterdings 
zur Ehelichkeit nicht feine Zuftimmung geben. 

Auf der anderen Seite dahingegen in Anbetracht, daß 
der Kantianer Hecht neben der Weltweisheit und noch 
vor der Weltweisheit die Jurisdiftion eines koͤniglich 
fächfifhen Patrimoniumd zu verwalten und die Ehre 
hatte, fidy bei Gelegenheit als feiner gnädigen Patri⸗ 
monialherrin allergetreueften Knecht und Freund unter: 
zeichnen zu dürfen; in fernerweitigem Anbetracht, daß 
der Kantianer Hecht auf dem Wege der reinen Vers 
nunft ſich der phyfiologifchen Schlußfolgerung nicht ver: 
fchließen durfte, daß ed mit fämtlicher Surisdiftion und 
Philofophie auf dem Erdenrund in die Pleite gehen 
müffe, wenn jedweder Mann ein Kantianer, will fagen 
ein Unbeweibter fei, folchergeftalt gelangte auch der Ges 
richtödireftor Hecht zu dem abfchließenden Votum, daß 
ber junge Kerr Baron nichts Philofophifcheres zu unters 





Vierter Abfchnite 168 


nehmen vermöchten, als ſich den Wünfchen feiner hoch⸗ 
verehrten Frau Mutter findlich zu fügen und bei ans 
fprechender Gelegenheit zu beweiben. 

Waͤhrend diefer gründlichen, weltweifen Deduktion am 
oberen Ende des Kaffeetifched war nun aber audy am 
unteren Ende der nämlicdhe Gegenftand im Flüftertone 
zur Abhandlung gefommen. Unfere Zeit bedürfe der 
ledigen Männer, hatte der Patriot gefagt, und fein alter 
Pate Magifter ihm ermwidert, daß im Gegenteil diefe 
Zeit ded Zornd und Haders zur Pflege dränge jeden ges 
mütlichen Keims. Wo fo tiefe Tücken bis in die natür> 
lichiten Ordnungen geriffen feien, müflen die Reihen um 
fo dichter und dichter gefchloffen werden. Da ftatt der 
Gegenrede nur ein Kändedrud erfolgte, fehien auch am 
unteren Ende die objeftive Vorfrage erledigt. 

Die fubjektive Nachfrage erregte lebhaftere Debatten. 
Herrmann erflärte ſich für das altfelsfche Gleich und 
gleih; Fräulein Iduna für den Kontraft. Herrmann 
verlangte von einer Gattin nichts Geringered ald die 
zweite Auflage einer Frau Erdmuthe. „Nach dem Tert 
in Folio einen in Duodez“, fpottete der Phyſikus. Auch 
der Suder urteilte, daß gnädige Frauen dieſes Kaliber 
nicht auf den Bäumen wachſen. Zuftimmung der Mit- 
fnechte. Begeifterter Applaus Fräulein Idunas. Eins 
helliger Chorus: Frau Erdmuthe hatte nicht ihresgleis 
chen, Frau Erdmuthe war unerreichbar! 

Warum geftattete fie ſich aber unvergleichlich zu fein, 

. wenn fie ihre Söhne zu Stammhaltern erziehen wollte? 
wendete ernlchternd der Phyfifus ein. Gute Ehemänner 
müffen von Stiefmüttern gefchult worden fein. Unvers 
gleichliche Mütter produzierten Junggefellen. 


164 Frau Erdmuthens Swillingsföhne 


Der Gerichtödirektor beftritt diefe Togif, weniger aus 
Philofophie ald aus leidiger Erfahrung. Sooft er ſich 
in jungen Sahren mit einer matrimonialen Anwandlung 
- er geftand diefe Menfchlichfeit ein — niedergelegt habe, 
fei das Gefpenft feiner feligen Stiefmutter ihm im 
Traum erfchienen und er am Morgen vor lediger Jung⸗ 
gefellenluft mit beiden Beinen zugleich aud dem Bette 
gefprungen. Dahingegen die Erinnerung an die Strei⸗ 
chelfinger einer liebevollen Mutter ihn am Ende doch 
an Hymens Altar verlocdt haben würde. 

Bär fchüttelte, ich nickte — obgleich ich das Bild einer 
gütigen Mutter im Herzen trug. Es wäre feine Eini- 
gung abzufehen gewefen, hätte nicht Fräulein Iduna, 
mit Hilfe einer neuen Taſſe Kaffee zur ftärfften Flamme 
angefacdht, die Debatte von der Abfcdyweifung ind urs 
fprüngliche Geleis zurücdgelenft und durch ſchlagende 
Beweiſe die Liebesregel der Kontrafte gegen die der 
Harmonie zum Siege geführt. Fräulein Iduna war ein 
Weib, das heißt eine Freundin der Farbe, und die Fürs 
bung ihr ftärffted Argument. 

„Wählte nicht unfere Baronin“, fo fchloß fie, „einen 
Gemahl, weldyer der Gegenfag ihres Selbft genannt 
werben fonnte, und würde fie durch einen Gleichartigen 
ergänzt worden fein, wie durch ihn? Könnt ihr des 
fchwarzen Othello heißgeliebte Desdemona euch anders 
vorftellen ald mit blondem Haar? Freilich erwuͤrgt fie 
der Wüterich, aber er erfticht fich doch audy gleich hinter» 
drein, weil er nicht ohne fie zu leben vermag. Und habe 
ich denn nicht felber einen milchweißen Mylord gefannt, 
ber, nadıdem ihm feine Dame hell genug gewefen war, 
um fie zu der Seinen zu machen, in plöglicher Glut für 


Bierter Abſchnitt 105 


eine Mohrenkönigin entbrannte und der feligfte der 
Sterblidyen in ihren Armen geworden ift.” 

„Sie haben den Lord gekannt?” fragte ber ehrliche 
Hecht, feine verwunderten Augen ftarr auf die Dame 
gerichtet. „Geleſen habe ich die Gefchichte, aber Gnaͤ⸗ 
digfte, Sie haben ihn gefannt?” 

„Böttin der rofenfarbenen Jugend,” führte der Phys 
ſikus die Frage weiter, „war ed im Garten Eden oder 
in Shrem trauten chez moi, wo Sie die intereffante 
Befanntfchaft gemacht?” — Fräulein Iduna nahm den 
Scherz nicht übel. 

Sie nahm überhaupt nichts übel, fondern alles gut, 
will fagen für wahr. Sie verftand Spaß, juft weil fie 
ihn nicht verftand. Ihre Phantafie hatte mit der Phi: 
Iofophie unfered Hecht die Verwandtſchaft, alles, was 
auf dem Erdenrunde kreucht und fleucht, mit ernfthaften 
Augen betrachten zu können. Herzſtaͤrkender Erſchuͤtte⸗ 
rungen bes Zwerchfelld bedurften weder fie noch er. Eben 
darum aber erzeugten alle beide diefe Erfchütterungen 
fo herzftärfend in anderen, und fühlten alle beide in ihrer 
Haut fich fo feelenvergnügt. 

Bär, der Spötter, der immer auf dad Zwerchfell zu 
wirken fchien, wirfte immer auf den Ernft, und wohl 
in feiner Haut fühlte er fich doc; nur den beiden Men- 
fchen gegenüber, die feinen Humor in Frieden ließen: 
Frau Erdmuthen und ihrem Sohn. 

Die Stimmung am Kaffeetiſch wurde immer audges 
laffener; felber der weife Richter ein wenig zum Schalf. 
Wir fuchten nach den verfehlten Mohrenföniginnen, die 
und beflagenswerte Sunggefellen zu glücfeligen Lords 
gemacht haben würden. Bär erfor ſich die fchöne Seele 


—— — — 


166 Frau Erdmuthens Swillingsföhne 


feiner einftmaligen Zutorin, die leider fchon längft zu 
ihren Schwefterfeelen über den Wolfen aufgeflogen war. 

„Sie würde midy neben dem Lamm am blaßroten Leit⸗ 
ſeile durchs Leben gegängelt haben, und id; werde fie 
ewig beweinen”, fagte er. Für den Kindskopf Magifter 
wollte er höher hinaus. Die ruffifche Katharina mußte 
aus ihrer Kaifergruft auferftehen, um feine ideale Hälfte 
abzugeben. Des Philofophen Hecht fand er aber aud) 
die gefröntefte Sterbliche nidyt würdig genug. Nur eine 
Eifin, die fid mit dem Tropfen aus einem Kilienfeld, 
nährt, würde als Nicht⸗Ich dem Ich fich verfchmelzen 
haben dürfen. 

„Sp hätte denn jeder fein Zeil,” fagte Herrmann 
lachend. „Mid; aber, zu deffen Zurechtweifung doch all 
diefe Liebesweisheit entfaltet worden ift, mid; Armen 
wollt ihr, fo fcheints, ohne ergänzendes Vorbild auf 
Freiersfuͤße ftellen.“ 

Bär runzelte die Stirn, ftrafte feinen Zögling mit einem 
verächtlichen Blick und fpradh, indem er feine Hand auf 
Fräulein Idunas flammendes Lodenhaupt legte: „Seid 
Ihr mit Blindheit gefchlagen, Mann? Wer anders ald 
diefe blühende Phantaſie?“ 

„Sie?“ widerhallte Hecht. Herrmann verbeugte fidh 
gegen die Dame. Wir lachten, was wir lachen konnten. 
Nur Fräulein Sduna lachte nicht. Sie firedte abweh⸗ 
rend die Arme gegen den idealen Bewerber aus und 
entgegnete in feierlichftem Ernft: „Nein, Baron. Keine 
Täufchung zwifchen und. Sa, es find in mir Elemente, 
welche die Ihrigen ergänzen könnten. Dennoch: nicht 
ich für Sie, nicht Sie für mich. Ich habe Sie lieb, Sie 
wiffen ed; von Herzen lieb, was man fo fagt - -“ 


Vierter Abfchnitt 167 


„Eßlieb!“ ergänzte der Judex, der ſich immer auf das 
zartefte auszudruͤcken pflegte. Freund Bär würde es 
fräftiger getan haben. 

„Beliebt aber,” fuhr die Dame unerfchüttert fort, „mit 
Leidenfchaft geliebt, hätte ich Sie nie, nie! Das Wefen, 
das mich ergänzt haben würde, meine ftärfere Bälfte- -“ 

„Biel behauptet!” murmelte Bär. 

„nur das ideale Weib der ideale Mann waren nicht 
Sie, Baron, fondern Ihr Bruder Raul!“ - 

„Armer Dann!” feufzte Bär. 

Auch Fräulein Idunen fchmerzte der erteile ideale Korb. 
Doch gab fie Troft. Auf eine, für welche ihr teuerfter 
Freund nicht paßte, wußte fie zehn, die für ihn paßten. 
Ga, im rechten Fichte betrachtet, war feine edle Natur 
eine von denen, bie für jede Gattin paßten, jeder Herz 
gewinnen, jede beglüden mußten. Am Ende audy felbft 
ein Wefen wie fie, Fräulein Idunen. Wiewohl fie nadı 
vielfältiger Erfahrung und aus wahrhafter Anhaͤnglich⸗ 
feit ihm raten müffe, fein Augenmerf mehr auf eine 
ſolche zu richten, deren Kolorit ein ftärfered Tempera⸗ 
ment ale das feine befunde. „Nicht blond und blond, 
blond und fchwarz gibt — —“ | 

„Fuͤchſe!“ ergänzte Bär. Zweifelsohne eine indezente 
Andeutung, die das dezente Fräulein trog feiner Güte 
für ungut hätte nehmen können, wenn nidyt im nämlichen 
Augenblid Frau Erdmuthend Kammerfrau mit einer 
Anfrage in Padangelegenheiten herzugetreten wäre. 
Denn Fräulein Iduna hatte es dDiedmal von wegen der 
Kaifers und Königspoften mit ihrer Rundreife eilig. 
Schon morgen wollte fie weiter, und war vorhin zwifchen 
und eine gemeinfame Fahrt bi zu ihrer nachbarlichen 


168 Fran Erdmuthens Swiltingsfähne 


Etappe verabredet worden. Herrmann dadıte von dort 
ab feine Leipziger Reife anzutreten, ich meine Chriftos 
phine zu befuchen, die an den Zmwölfprediger der naͤchſten 
Poftftadt verheiratet war. 

Fräulein Iduna hatte fich erhoben. Berrmann bot ihr 
den Arm, um fie ind Haus zurüdzuführen. Auc Bär 
und ich brachen auf. Unfer Judex dahingegen war nadı 
der ungewohnten Schelmerei in tiefes Brüten verfunfen. 
Die roten Fleifchftreifen, die, wenn fie behaart find, 
Brauen genannt werden, bis an die gelben Tödchen in 
die Höhe gezogen, ftarrten die blauen Augen hinauf in 
die grünen Ulmenwinfel. 

„Eine grundgätige Kreatur, dieſes fozufagen Altliche 
Fräulein!“ aͤußerte er endlich, den Doftor beim Roc» 
zipfel zurückhaltend. „Jedennoch — obgleich, wiewohl - 
infonderheit — nad) Gelegenheit — eine verteufelte Ge⸗ 
ſchichte, Bär.“ 

„Welche Gefchichte, Hecht?“ 

„Die mit der Mohrenkönigin.“ 

„Sa fo, wegen ded Nicht-Ichs mit dem Elfenmagen.“ 

„Spaß beifeite, Doftor. Wir drei find feuerfeft, denke 
id. Kediglicd; von wegen unfered Barond. Wenn fie 
den Teufel an die Wand gemalt hätte, Bär!” 

„Schämt Euch, Kantianer!” verfegte Bär, ſich losrei⸗ 
Bend. „Zweimal in einem Atem den Erzfeind aller reinen 
Vernunft. Den überlaßt doch und Gottesgelahrten, 
dem Magifter und mir. Hier Euer Problem! Zufunfts- 
philofophie, Mann!” Er deutete auf die nur halbges 
leerte Kaffeefanne und den nur halbverzehrten Rofinens 
fuchen auf dem Tifch. „Soll diefer edle Stoff in Ather 
verpuffen? Zwei Taler Foftet das Pfund. Nach dem 


Vierter Abſchnitt 4189 


erften Siege über die Barbaren wirds dad Doppelte 
foften. Sollen die Sperlinge diefed liebe Gut aufpiden, 
das auf der Welt fein Menfch wie unfere Frau einzu- 
rühren verfteht? Laßt fich8 in Eurem Magen in Weis- 
heit verwandeln, und ed wird nicht teuer genug be> 
zahlt und nicht Funftgemäß genug eingerührt worben 
fein.“ 

Des Doftord Metaphyſik fand Gehör, Freund Hecht 
ruͤckte wieder an den Tifch, brodte fich das Oberkoͤpfchen 
voll, ftecdte ein paar Zuderftücdchen hinein, goß Kaffee 
und Sahne darüber und ftülpte den Kegel in die Unter; 
fchale um. Wir verließen ihn ILöffelnd. Die Zeufele- 
geifter der Mohrens und Elfenköniginnen werben über 
dieſem Tatendurft entflohen, und der füße Stoff in Ger 
Danfenfraft verwandelt worden fein. 

Als wir vor dem Oartenhaufe angelangt waren, fragte 
Bär: „Apropos Mohrenkönigin, Wagifter, führte bie 
Familie unfered weiland Major vor der Ketzerhetze in 
Wahrheit den Heiligentitel, den fein Süngfter fich wie⸗ 
der angehängt hat?“ 

„Sch habe es immer fagen hören“, antwortete ich. 

„Hat fie Rudera drüben zuruͤckgelaſſen?“ 

„Die Sache ift lange genug her, um zur Mythe ge: 
worden zu fein. Aber feit wann legft du dich auf Fa⸗ 
miliengefchichten, Bär, und was hat fie mit der Mohren⸗ 
fönigin zu fchaffen?“ 

„Seit Euer Herr Vater felig mir das fünfte Kapitel 
Mofes eingebleut hat, und was die Mohrenfönigin ans 
belangt, Näheres morgen in der Stadt im ‚Rautenfrany‘. 
Gott befohlen.“ 

Damit fchob er in feine Höhle. Was mochte er haben? 


170 Frau Erdmuthens Swillingsfähne 


Eine Schrulle; idy erfuhr fie morgen bei Ehren-Strobel 
früh genug. Mein Herz hüpfte vor Luft. Herrmanns 
Gewiſſen hatte Feuer gefangen, und wo ein Wille ift, 
hat fidy ja noch immer ein Weg gefunden. Idylliſche 
Friedenebilder umgaufelten meinen Traum. Ein Hoch⸗ 
zeitöfarmen fchwebte auf meinen Lippen. Wie Tange 
noch, und unfere liebe Frau würde nicht mehr nad) 
Enfelfreuden zu feufzen haben! 

Am anderen Morgen fchleiften wir alle drei durd die 
Felsſche Heide; nicht wie gewöhnlich in Herrmanns 
leichtem Korbwägeldhen; denn Fräulein Iduna liebte eg, 
ftandedgemäß in den Kreifen der Ritterfchaft aufzutreten, 
und Frau Erdmuthe gönnte ed denen, welchen nur Schu- 
fterd Rappen zur Verfügung ftanden, fic, dann und wann 
in einer Staatdfaroffe zu ſchaukeln. Es war die näm- 
liche, die fie vor fiebenundzwanzig Jahren auf der Hoch⸗ 
zeitsreife durch Die Heide entführt hatte, aber heute faft 
nod) wie neu; daß filberne Roc-Felsfche Allianzwappen 
an den Schlägen bligend blanf. 

Die grundgütige Kreatur war gleich wieder Feuer und 
Flamme bei dem geftrigen Kapitel. Eine Teuchtende 
Idee war über Nacht in ihr aufgefchoffen, eine Idee, 
die unfere Pläne zum rafchen Abfchluß bringen mußte. 
Da die Oftermeffe der militärifchen Durchzuͤge halber 
ſchwach beſucht gewefen, würden viele Herren ber Ritters 
ſchaft jegt, nach eingetretener Ruhe, zur Abwickelung ihrer 
Gefchäfte in Leipzig anmwefend und von Gemahlinnen 
und Töchtern begleitet fein. Galt es zunächft auch nur, 
fid} mit den Moden ded Sommers zu verforgen, wer 
wußte denn nicht, wie gern Cupido, der Schelm, ſich 
hinter derlei Zierlichfeiten verbirgt. Ihr teuerfter Freund 


Vierter Abſchnitt 173 


brauchte nur die Augen aufzufchlagen, um zu finden, zu 
ſiegen und die Herzenswuͤnſche feiner treueften Freundin 
zu erfüllen. 

„Morgens zwifchen elf und eind ein Gang durch Auer» 
bachs Hof, Baron,“ belehrte die Dame. „Notieren Sie 
fich bitte die Firmen: Mathias, Putz; Dallencourt, Quins 
caillerien. Table d’hote im Hotel de Sare oder Baviere. 
Nachmittags im Rofental bei der Kalten Madame. Dort 
treffen Sie die Elite. Bei den Unbekannten haben Sie 
fi) nur mit einem Gruß von mir einzuführen und wer; 
den mit offenen Armen aufgenommen fein.“ 

Mit diefem Programm nicht genug, entwidelte die hilfs⸗ 
bereite Dame aus ihrem rofenbefticten Pompadour ein 
Schriftftüd, das fie ihrem teuerften Freunde im felfen- 
feften Vertrauen auf feine ritterliche Diskretion zu Händen 
gab. Sie hatte der Abfaffung den Schlummer der legten 
heurigen Fruͤhlingsnacht unter dem Dache ihrer Alteften 
Freunde geopfert, und enthielt e& nichtö Geringered ald 
eine Lifte des ritterfchaftlichen weiblichen Blumenflorg, 
der dem Brautfahrer bei Wege oder auf Ummegen ers 
blühen Fonnte. Reize wie Tugenden follten gewiffenhaft 
regiftriert und ich weiß nicht unter welchen von beiden 
Rubriken dad, was man gemeinhin Kühner und Gaͤnſe 
nennt, bis zu den Gefpinften im mütterlichen Linnen⸗ 
ſchranke hinab diplomatifch feftgeftelt fein. Die Reihe 
war lang, und den Wertanfchlag wird man auch nicht 
tief gegriffen haben. Hinter etwelchen fchmachtenden 
Blondinen war, wie Schreiberin befürmwortete, in Pa- 
renthefe mit roter Tinte angebradht: „Eignet ſich beffer 
für den Bruder Major.” 

Herrmann gelobte pflichtfchulbige Beruͤckſichtigung aller 


172 Srau Erdmuthens Bwillingeföhne 


Freundfchaftslehren, füßte der gütigen Dame die rötlich 
rundliche Sand, und fo ſchieden wir. 

Aber auch nachdem wir beide allein den Weg nach der 
Stadt fortfeßten, von welcher aud Herrmann mit der Poft 
die Reife nad) Leipzig antreten wollte, fonnten wir aus 
dem eingefchlagenen Geleife nicht herausfommen. Nur 
daß Liebe und Ehe jegt mehr in dilettantifch Iehrhaftem 
Sinne audgebeutet wurden. Während Herrmann die 
foftbare Handſchrift, ungelefen in Fleine Stücke zerzupft, 
in die Heide verftreute - ein unerfeßlich hiftorifch ftatifti- 
fcher Berluft -, kehrte er mit neuen Argumenten zu der 
Behauptung zurüd, daß, wie in allen anderen Verhaͤlt⸗ 
niffen, auch in dem zwifchen Mann und Weib nur gleich: 
geartete Naturen ſich zu dauerhaften Glüd verbinden 
könnten. 

MWenn nun ich, der von Haus aus doc; gewiß nicht ein 
Streithorft genannt werden fonnte, diefem meinem eis 
genften Fundamentalfage bis zu einem gewiffen Grade 
widerſprach, fo geſchah es aus einem jener Nüglichkeitss 
gründe, die felten um vieles beffer als offene Lügen find. 
Weil ich mic, auf eine baldige Hochzeitsfeier meines 
Herzensſohnes ſpitzte und die Ausleſe unter denen, die 
feiner Mutter und ihm felber nicht glichen, mir reicher 
dünfte als die unter denen, welche beiden glichen, darum 
verteidigte ic; Fräulein Idunens Theſe von den befon- 
deren Wegen und felber den abrupten Sprüngen, bie 
der Liebe eigen fein follen. 

Unter derlei ernfts und fcherzhaften Hin- und Wider; 
reden traten wir, in Erwartung der Perfonenpoft, im 
wohlbefannten ‚Rautenfranze‘ ein. Die Gaftitube war 
leer; wir nahmen Plag im Fenfterbogen, Herrmann bes 





Vierter Abſchnitt 178 


ftellte eine Flaſche Mofelblümchen, meinen Fieblingswein. 
Beim eriten Glafe ftieß er mit mir an, indem er lächelnd 
den Anfang unferes Bundesliedes zitierte. Ach, wie 
lange hatte id) es nicht von feinen Tippen gehört! 

„Reich treulich mir die Bände — —“ 

„Das ift Freundfchaft,“ unterbrady ich ihn, „Sympa⸗ 
thie!“ 

„Daß ift Liebe!” fiel er ein, „Liebe, wie fie unferm deut⸗ 
fhen Wefen frommt und ziemt. Was ald Leidenfchaft 
- wahrlich nicht zum Überfluß! - in und glimmt und 
zündet, möge auf anderem Gebiete zum Austrag fommen. 
Aber fehen Sie doch, Freund,” fuhr er darauf ablenfend 
fort, „was treibt denn da draußen unfer Wirt? Er 
umfchleicht unferen Wagen, klemmt die Brille auf die 
Nafe, ftudiert die Wappen an den Schlägen, vergleicht, 
Buchftaben für Buchftaben mit dem Finger weifend, Die 
Rocſche Devife mit einem Gegenftand in feiner Hand, 
wohl gar einem Ring. Er wiegt dad weife Haupt, 
fcheint in höchfter Berwunderung. Nun faßt er gar bes 
Kutſchers Rockſchoß und ftellt die nämliche Prüfung mit 
feinen Fivreefnöpfen an. Sollte Meifter Strobel die Ab⸗ 
fiht haben, ſich adeln zu laſſen?“ 

„Beileibe nicht diefe Vermeffenheit, mein gnädiger Herr 
Baron!“ fiel der würdige Herr Strobel ein, der während 
der legten Worte in das Zimmer getreten war, „ch 
bin und bleibe ein befcheidener Bürgerdmann und möchte, 
bei meiner geringen Bildung, nur an hochfreiherrlidhe 
Gnaden mir die untertänige Anfrage zu ftellen erlauben, 
ob bei einem hohen Adel ed Gefeg und Sitte fei, bloß 
innerhalb der Stammesgenoffenfchaft die nämlidyen 
Mappenzeichen zu führen? Oder ob, wie bei einem ge- 


174 Frau Erdmuthens Zwiltingsfähne 





ringfügigen Publifum, jedwedes Individuum auf fein 
Petſchaft ftechen Laffen darf, was ihm beliebt? Ich zum 
Erxempel einen Rautenkranz; ohne dadurch zu den vielen, 
die von Sr. Majeftät unferem allergnädigften König, 
den Gott erhalten möge, big zum Schuhpuger hinab das 
gleiche Zeichen führen, ein verwandtfchaftliches Verhält- 
nid anzufprechen.“ 

„Petſchieren dürfen auch wir, mit welchem Zeichen und 
beliebt,“ entgegnete Herrmann lachend. „Ich tue es 
häufig mit einem Sechſer. Ald Wappen führen wir jes 
body nur das, was der Familie mit dem Adelsdiplom 
verliehen worden ift. Aber feit wann befchäftigen Sie 
fih mit Heraldik, alter Freund?“ 

„Seitdem mir heute morgen gegenwärtiges Kleinodium 
an Zahlungs Statt zu Händen gegeben worden ift, gnä- 
biger Herr. Es trägt die nämlidye Gravierung wie die 
Knöpfe Ihrer Livree und die eine Wappenhälfte auf 
Dero Wagenfchlag. Die Sache würde von mir unbe 
merft geblieben fein, wenn nicht der Name der Dame, 
bie mir den Ring verpfändet hat, an den von Ihro Gna- 
den väterlicherfeits erinnerte. Es hängt allerdings vorn 
noch etwas daran: hinten aber ift ed ganz der nämliche 
Rod." 

Herrmann betrachtete währenddeflen das erwähnte 
Kleinodium und reichte ed mir in fichtbarer Überrafchung, 
ja Bewegung. Einen altertümlicy gefchnittenen und 
gefaßten Siegelring, vorliegendem zum Verwechſeln 
ähnlich, hatte fein feliger Vater, als einziges Familien- 
erbftüd, feiner Braut zur Verlobung an den Finger ges 
ſteckt. Der Stein war ein Saphir, dad Wappen das der 
Roc, ald Umfchrift die Devife rocher d’honneur. Nach 


Vierter Abfchnitt 175 


bed Vaters Tode überließ Frau Erdmuthe den Ring 
ihrem jüngften Sohne, und ſchaͤtzte Raul diefes Geſchlechts⸗ 
andenken fo hoch, daß er, glaub ich, leichter als dasſelbige 
die Anwartichaft auf den Klofterhof aufgegeben haben 
würde. Daß wir den eigenen Erbring vor Augen haben 
follten, war demnach nicht anzunehmen. 

„Eine Dame gab Ihnen den Ring?“ fragte Herrmann. 
„Wer ift die Dame?“ 

„Die kranke Gemahlin eines franzäfifchen Offiziers, 
welche felbigem nad, Polen zu folgen und ihn nody in 
hiefiger Gegend zu erreichen gedacht hatte. Da die Dame 
nicht deutfch fpricht und ich eben nur ein paar kauder⸗ 
welfche Brocken aufgefchnappt habe - ich bin und bleibe 
ein deutfcher Mann, mein gnädiger Herr! - muß ich wegen 
näherer Auskunft auf Hochdero Freund, den englifchen 
Herrn Doktor verweifen, der, geftern auf der Durchreife 
mein geringes Haus beehrend, von unferm Herrn Amtes 
phyfitus über den Zuftand befagter Dame zu Rate ges 
zogen worden ift. Leider zu fpät, mein Herr Baron. 
Kraͤnkelnd fchon bei der Abreife von Paris, hat das 
Übel fidy auf der weiten Tour verfchlimmert, bie fie, 
Gott feid geklagt, feft bei mir liegen geblieben ift. Der 
Herr Doftor haben mir zu verftehen gegeben, daß fie 
‚mein Baus nicht mit lebendigem Leibe verlaflen werde. 
Ein graufamer Schlag, mein Herr Baron! Obendrein 
bei der handgreiflichen Entblößung der Dame. Urteln 
Ihro Gnaden felbft, ob fie ohne rattenfahle Entblößung 
mir fotaned Wertſtuͤck ald Pfand angeboten haben wuͤr⸗ 
den, bis die erwartete Sendung von ihrem Gemahl aus 
Polen eintrifft? Aus Polen! Ihro Gnaden wiflen, was 
felber in Friedengzeiten in Polen zu holen iſt. Die 


176 Frau Erdmuthens Swillingsfähne 


Fremde muß fort, heute noch partoutement aus meinem 
Haus. Ich bin ein menſchenfreundlicher Mann, mein 
Herr Baron. Aber die Zeiten ſind flau, und ein Wirt 
muß ſich zu helfen wiſſen.“ 

„Und wie nennt ſich die fremde Dame?“ fragte Herr⸗ 
mann. 

Der Wirt holte eine leere Medizinflaſche herbei, auf 
deren Etikette geſchrieben ſtand: Frau Baronin von Saint⸗ 
Roc. 

Herrmann ſah mich betroffen an. „Es waͤre doch wun⸗ 
derlich,“ ſagte er in franzoͤſiſcher Sprache zu mir, „wenn 
wir in dieſem heilloſen Landſtaͤdtchen und in ſo klaͤg⸗ 
lichem Zuſtande ein Glied der fremden Vetternſchaft 
auffinden ſollten, die in unſerer Familienſage ſolch eine 
geheimnisvoll glaͤnzende Rolle ſpielt.“ 

Ich hoͤrte auf Herrmanns fernere Unterhandlungen 
mit dem Wirt nur noch mit halbem Ohr, denn auf der 
Straße dicht unter meinen Augen hatte ſich eine Szene 
entwickelt, die mit der Erzaͤhlung des Wirts in offen⸗ 
barem Zuſammenhange ſtand und meine innigſte Zeils 
nahme in Anſpruch nahm. 

Aus der Torfahrt ſtuͤrmte unſer Phyſikus in merklich 
baͤrbeißiger Laune, wie es ſchien, auf der Flucht vor 
einem Perſoͤnchen, das ſich mit leidenſchaftlichen Gebaͤr⸗ 
den an ſeinen Arm klammerte und ihn mit Fragen oder 
Bitten uͤberſchuͤttete. Nun las und ſchrieb zwar unſer 
Phyſikus in ſieben Sprachen wie in ſeiner eigenen; 
Deutſch aber ſprach er mit engliſchem und Franzoͤſiſch 
dafuͤr mit ſaͤchſiſchem Akzent. Es mochte der kleinen 
Fremden wohl wie chaldaͤiſch klingen, denn ſie zeigte 
ziemlich ungebaͤrdig, daß ſie des Doktors Antworten nicht 


Vierter Abfchnitt 177 


verftand. Möglich auch, daß der Doftor fie nicht vers 
ftanden haben wollte. Sie fhüttelte zornig das ſchwarz⸗ 
gelodte Köpfchen, runzelte die Stirn und ftampfte mit 
den niedlidhften Füßen, die id; jemals gefchen habe, auf 
den Boden. 

Wer war dad fleine Geſchoͤpf? Ein Landeskind offens 
bar nicht. Konnte fie die franfe Frau fein, die der Doßs 
tor ald rettungslos aufgegeben hatte? Konnte fie übers 
haupt eine Frau fein? Weit cher ein halbflügged Bad; 
fiſchchen, wenngleich die Geftalt völlig entwidelt ſchien 
und hier und da ein Zug, eine Miene oder Gefte auf 
die Erfahrungen reiferen Lebens deuteten. 

Ihr Anzug, ein wenig vertragen, war von eleganterem 
Stoff ald dem, in weldyen deutfche Damen ſich haͤuslich 
fleiden, und von einem freieren, graziöferen Schnitt, ale 
er felber unferen Modeheldinnen gelingt. Naden und 
Arme entblößt, zeigten fid) bei den lebhaften Bewegungen 
unter dem kurzen, enganfchließenden Kleide alle Umriffe 
in dem reizendften Ebenmaß. Schön war fie nidıt, am 
wenigften für einen an Frau Erdmuthens heute nod) 
plaftifche Regelmaͤßigkeit und Farbenblüte Gemwöhnten. 
Alles an dem Dämchen war flein: die Geftalt, die Glie⸗ 
der, der Kopf famt Ohrchen, Stumpfnaͤſchen und den 
weißen Perlenreihen unter dem halbgeöffneten Mund, 
Nur die Augen waren groß, größer ale ich jemals Frau⸗ 
enaugen gefehen, in der dunflen Umrahmung der Lider 
und bis unter die Locken hochgefchwungener Brauen. 
War ed nun aber der bligartige Wechfel in diefen fchwarzs 
blauen Augen, der den Befchauer fo rafch und feflelnd 
in Anfprudy nahm? War es ihre ausdruddvolle Korre⸗ 
fpondenz mit den fchwellenden, farminroten Lippen, mit 
xx. 12 


178 Frau Erdmuthens Iwillingsfähne 


der fammetartigen Bräune der Haut, die bei jeder Er; 
regung durch eine Blutwelle verbunfelt ward? Mein, 
der verführerifche Reiz der belebten Phyfiognomie, der 
lag in dem Gepräge - ja, wie fage ich nun? - nicht von 
Sungfräufichkeit, die und an deutfchen Frauen in diefer 
Jugend am hödhften entzüct, aber von bewußter oder 
unbewußter Naivetät, wie jene fie faft immer entbehren 
und für die wir in dem Worte Kindlichfeit nur eine 
halbe Bezeichnung haben. Kinder und Weltfinder vers 
tragen ſich bei und nicht; ihre Verbindung madıt uns 
die Fremden reizend. 

Die gegenwärtige reizende, Eleine Fremde blickte wie in 
Verzweiflung nad) einem Dolmeticher umher; dabei fiel 
ihr Auge auf unfere vor der Tür entipannt ftehende 
Karoffe. Ein angenehmes Behagen, vielleicht die Er- 
innerung an glüdlichere Tage, überflog das Fleine Ge- 
fiht. Sie trat dicht an den Wagen heran; da id) das 
Fenſter geöffnet hatte, konnte ich die Flangvoll vibries 
rende Stimme deutlidy vernehmen. „Wem gehört diefe 
Equipage?“ fragte fie. 

„Einem benachbarten Gutsbeſitzer,“ brummte der Doftor. 

„Kurios! Daß eine diefer Wappen ift das meines Papa.“ 

Der Doftor ließ fih nicht in Erflärungen ein. Er 
ftand in Gedanfen, während die Kleine den Wagen ums 
tänzelte. Endlich fchien er fidy zu einem kurzen Prozeß 
entfchloffen zu haben. Er fchüttelte die Mähne und fchnitt 
ein Geſicht, ald ob er eine Dofis Aſafoͤtida nicht ver- 
fchreiben, fondern felber verſchlucken follte. Mit feiner 
gewaltigen Hand umfpannte er die beiden zierlichen der 
Fremden, Eniff die Augen zu und raunte ein paar Worte 
in ibr Ohr, die fie wie ein fengender Blig durchzuckten. 








Vierter Abfchnitt 179 








Ein gellender Schrei, ein Zittern über den ganzen Leib! 
Sie klammerte ſich an ded Mannes Bruft: „Bilfe, Hilfe!“ 
aͤchzte fie. 

„Kein Menfch kann helfen,” verfeßte der Doftor. 

Sie ließ die Arme finfen und ſprach ihm medanifch 
nad: „Kein Menſch!“ Sie ftand erftarrt; jählinge aber 
fuhr fie zufammen wie eleftrifiert und rief triumphierens 
den Blicks: „Aber Gott!" Dann mit zum Himmel ers 
hobenen Armen auf die Knie ftürzend: „Mutter Gottes, 
hilf! Sende einen Engel, einen Engel deinem armen Kind!“ 

Der Doftor hob fie ohne Umftände in die Höhe und 
fchob fie in das Tor. Er felber rannte in die gegenübers 
liegende Apothefe. Mir am Fenfter madıte er ein Zeis 
chen, daß fo viel heißen Fonnte ald: „Seht, wie Ihr mit 
dem Unband fertig werdet, laßt aber erft Euren Pofts 
paſſagier abgefahren fein.“ 

Audy Herrmann war bei dem Auffchrei der Fremden 
ans Fenfter getreten. „Wer ift diefe Dame?“ fragte er 
haftig den Wirt. 

„Mamfell Lisfa, die Tochter der kranken Franzöfin, 
gnädiger Herr.“ 

„Liska!“ fagte Herrmann, „wel ein wohlflingender 
Name!“ 

Unfer Wirt fchien abweichenden Geſchmacks. „Meine 
Spreewälder JZungmagd wollte partoutement auch Liska 
gerufen fein,” meinte er. „Aber id) bin ein bdeutfcher 
Mann, Herr Baron; ed blieb bei der Lieſe.“ 

Die Poftfutfche rüttelte in diefem Augenblick durch die 
Straße, aber Herrmann von Feld dadıte nicht mehr 
daran, feine Reife fortzufegen. 


ꝛ* x 
* 





180 Fran Erdmuthens Swillingsfähne 


„Kein Zweifel länger,” fagte Herrmann zu mir, „Dies 
ſes ſchoͤne Mädchen gleidyt unferem Raul wie eine 
Schweſter dem Bruder.” 

Ich fand nun dieſe überzeugende Ähnlichkeit keines⸗ 
wegs, freute mich aber, daß Namen und Wappen hin⸗ 
reichend fuͤr die Stammgenoſſenſchaft ſprachen, um der 
gebotenen Wohltat ein ſtandesgemaͤßes Maͤntelchen uͤber⸗ 
zuwerfen, ließ mich auch gern bewegen, kraft meines 
Alters und Amts die verwandtſchaftlichen Beziehungen 
einzuleiten. Gern haͤtte ich die delikate Miſſion bis nach 
einer Ruͤckſprache mit Freund Baͤr verſchoben, da Herr⸗ 
mann aber draͤngte, wurden in Eile ein paar Zeilen 
abgefaßt, in welchen Geoffroi Bleibtreu, curé d’Arnheim, 
um die Ehre bat, der Frau Baronin von Saint-Roc 
aufwarten und ihr feine Dienfte anbieten zu dürfen. 

Ehren-Strobel übernahm die Beſorgung. Diefer deuts 
fhe Biedermann und Wirt — ich darf es, ohne feiner 
Kundfchaft zu ſchaden, jegt wohl verraten — hatte, als 
id) vor ein paar Wochen mit unferem Raul bei ihm eins 
fehrte, gefagt: „Ich bin ein guter Sachfe, ich ſchwaͤrme 
für Ihren Kaifer, mein Kerr Major,“ — item unfer ku⸗ 
lanter Wirt fchnellte wie auf Federn, feitdem der junge 
Baron für alle bisherigen und künftigen Zehrfoften gut 
gefagt und dafür das altmodifche Kleinodium in Beſitz 
genommen hatte, 

Herrmann ging ſchweigend im Zimmer auf und ab; auch 
ich dachte ftumm über die zu fpielende Rolle nadı, als 
nad) etwa zehn Minuten Mademoifelle Liska in atems 
Iofer Spannung in dad Zimmer und, ohne meinen Bes 
gleiter auch nur zu bemerfen, auf mid zuftürzte. 

„Sie find ein Pfarrer, mein Herr,“ rief fie aus. „D, 


Mierter Abfchnitt 181 


Gott ift gut. Maman hat den ganzen Morgen nadı einem 
Pfarrer gefeufzt. Ihr Gebet ift erhört. Folgen Sie mir 
rafch, mein Herr. Mama ift frank, fehr franf. Der 
Doktor, der fchredliche alte Doftor, fagt, daß fie fterben 
müffe. Aber ich glaube ed nicht. Das heilige Sakra⸗ 
ment wird fie ftärfen. Sie wird wieder gefund werden. 
Wir werden weiter reifen zu Papa nad) Polen. Ges 
fhwind, geſchwind, mein Herr!“ 

Ich ftand wie verblüfft. Ich bin gewiß ein banfbarer 
Juͤnger Doftor Luthers, in diefem Augenblid aber hätte 
ich mid; allenfalls in einen Sünger Loyolas verzaubern 
mögen, um die Hoffnung ded armen Kindes nicht fo 
graufam zu enttäufchen. 

„Barum zögern Sie, Herr Pfarrer?” drängte die Kleine, 
indem fie ungeduldig meine Hand ergriff, um mid) fort» 
zuziehen. Ä 

„Sch zoͤgere,“ ftammelte ich endlich, „weil ich ein Miß⸗ 
verftändnis befürchte, Mademoifelle; weil ohne Zweifel 
Ihre Frau Mutter nach einem fatholifchen Pfarrer vers 
langt, und ich Proteftant bin,” faft hätte id) gefagt: 
„nur Proteftant.” 

Das Daͤmchen ftand wie aus allen Himmeln geftürzt. 
„Proteſtant!“ murmelte fie. „Ein Keger!” Ich glaube, 
fie ſchauderte. Nach einer Weile aber fragte fie mit 
zornig zufammengezogenen Brauen: „Aber Sie meldeten 
fih bei und an. Wenn Sie nit ein Diener unferer 
Kirche find, was wollten Sie von ung, mein Herr?“ 

„Sch wollte,“ erwiderte ich, „da ich ale Proteftant die 
Snadenmittel Shrer Kirche nicht verwalten darf, als 
Shrift mit Ihrer armen, franfen Wutter beten, ihr den 
Troft des Evangeliums fpenden, auf weldyem Ihre wie 


182 Fran Erdmuthens Iwillinasfähne 


unfere Seligfeitöhoffnung beruht. Ich wollte ihre viels 
leicht legten Erdenwünfche vernehmen und ihr den Beis 
ftand edler Freunde antragen, den Gott Ihnen in der 
Berlaffenheit entgegenfendet.“ 

Ob ed nun der Sinn meiner Worte war oder nur der 
lang entbehrte Heimatdflang, genug, der unwillige Auds 
druck verſchwand, und es flimmerte wie Sonnenfchein in 
den großen, felt auf mich gerichteten Augen der Frans 
zöfin. Sie reichte mir die Hand und fagte zutraulich: 
„Le bon Dieu ne damne pas les bonnes gens. Sie find 
ein guter Mann. Ich danfe Ihnen, mein Herr.“ 

Sch erzählte ihr nun, daß ein Zweig ihres väterlichen 
Geſchlechts vor langen Fahren in diefer Gegend heimifch 
geworden fei und daß ein Nachkomme dieſer Ausge⸗ 
wanderten, ald zufälliger Zeuge ihrer Unterredung mit 
dem Arzt, durch Mademoifelled bedeutende Yamiliens 
aͤhnlichkeit den Beweis eines verwandtfchaftlichen Zus 
fammenhangs gefunden zu haben glaube, ſich nun aber 
auch auf diefen Zufammenhang berufe, um den Damen 
im fremden Lande feine Dienfte anzutragen. 

„Aber daß Flingt ja wie aus einem Roman!” rief Fräus 
lein Liska, indem fie vergnügt in die Hände Flatfchte. 

„Ich meine,” entgegnete ich, „ed klingt wie aus einer 
alten Legende, daß unfer Vater im Himmel die Gebete 
findlicher Herzen erhoͤrt.“ 

Mein junger Freund hatte, abfeits ftehend, Fein Auge 
von dem neuen Bäschen verwendet. Sept ftellte ich ihn 
vor, und er begrüßte fie mit einem herzlicdyen Händedrud 
und der Vitte, für fi) und ihre Kranke den Schug feines 
mütterlichen Hauſes anzunehmen. 

Das Fräulein mufterte den ſich fo vertrauensvoll An- 


Vierter Abſchnitt 188 


fündigenden von oben bis unten mit den halb gleich: 
gültigen, halb mißtrauifchen Blicken eines Weltkindes 
weit eher ald eined Kindes. „Sie fehen nicht aus wie 
ein Saint Roc, Monfteur“, fagte fie. 

„Aber Sie fehen aud wie eine echte Saint Roc, Mades 
moifelle,” verfegte Herrmann. „Auf den erften Blick 
habe ich Sie ald Verwandtin an der Ähnlichkeit mit 
meinem Vater und Bruder erkannt.“ 

„Mit einem Vater und Bruder?” fragte dad Fräulein, 
jegt wieder vollftändig Kind. „Es ift bisher nur von 
einer Mutter die Rede gewefen. Der Wutter gleichen 
wohl Sie, nidyt wahr? Wo find Ihr Vater und Bruder, 
mein Herr?” 

„Mein Bater ift tot Mademoifelle, und mein Bruder 
Raul fteht unter den Fahnen Ihres Kaifers in Polen.“ 

Fräulein Liska hüpfte vor Freuden in die Höhe. „Der 
Bruder heißt Raul, wie mein Papa!” rief fie aus. „Er 
ift frangöfifcher Soldat; er fteht in der Heimat Mamans 
in Polen, das der Kaifer wieder zu einem großen Reiche 
machen will; in Polen, wohin wir auf dem Wege find 
und wo ic) ihn treffen werde!* O, jegt vertraue ich Ihnen, 
mon cousin. Und wie wird Maman glüdlich fein!“ 

Fräulein Liska fprang wie ein Eichfägchen die Treppe 
zu dem Siranfenzimmer hinan, ohne den ſchrecklichen 
Doktor zu beachten, der während der legten Unterredung 
eingetreten war. Bär brummte ftarf; vielleicht zum erften 
Male dem jungen Freunde, den er über alle Berge 
glaubte, unverftändlihd. Da er bie Überfieblung der 
Kranken nach Arnheim für nicht mehr ausführbar ers 
flärte, wurde, zur Ausflucht für die Tochter, ein zweites 
Zimmer in der Nähe der Kranfenftube beftellt. Der 


184 Fran Erdmuthens Zwillingsfähne 


Doftor und idy folgten dem Fraͤulein langfam die Treppe 
hinan. 

„An die Vetternfchaft glaube, wer Luft hat,” fagte Bär. 
„Die fleine Schwarze gleicht dem Major nicht mehr noch 
weniger, wie jede richtige Judentrine jedem richtigen 
Sudenjungen gleicht. Hand von der Butter wäre befler 
gemwefen. Nun meinethalben, verfudhe, ob unfere Frau 
noch ein bißchen Schi in die Fleine Here bringt. Ein 
Glück, daß die polnifhe Mama heute nody unwiderrufs 
lich ihr Lebenslicht audfladfern wird. Ihren, will Gott, 
erſchoͤpfenden Erguß mögt Ihr allein mit ihr aushalten, 
Magiiter. Die verwandtfchaftliche Temperatur würde 
fidh unter demfelben bedeutend abgefühlt, ohne Qua⸗ 
drillenmufit mit obligater Verlobung unfer Mann die 
Sterbeftube aber dennoch nicht verlaflen haben.“ 

Diefe Erpeftoration auf der Schwelle eined Sterbes 
zimmerd dünfte mid, felber aus Bärenmunde nahezu 
gottedläfterlich. ine Stunde fpäter jedoch, und auch 
ich pried den Himmel, daß mein junger, fittenftrenger 
Freund die Aufflärungen über feine neue Familie wähs 
renddeflen von reineren Rippen empfangen hatte. 

Welch ein Bild fchon dieſes SKranfenzimmer! Das 
Bett der Tochter war noch ungemadıt, Koffer und Schubs 
laden ftanden geöffnet; ihr Inhalt lag auf Stühlen und 
Tiſchen wirr durcheinander geworfen, ein Überfluß von 
Trödel, und an dem Notwendigften Mangel; die Luft 
war ſchwer und ſchwuͤl, fein Fenfter aufgemadht, fein 
Roulcau in die Höhe gezogen. Das kam nun freilich 
auf Redynung der jugendlichen Pflegerin. Welche Mut⸗ 
ter aber wäre nicht haftbar für den Mangel an Pflege, 
den die Tochter an ihrem Kranfenbett verfchulder? 


Vierter Abfchnitt 185 


Neun aber die Leidende felbit. Sie war noch zur Stunde 
ein fchöned Weib, größer, ftattlicher, regelmäßiger als 
die Tochter; eine Brünette wie diefe, aber von jener 
mattweißen Färbung, die den nordifchen Urfprung ver; 
riet. Und daß ichs von vornherein fummiere, aud) inners 
lich war fie nicht eine Franzofın, fondern eine Polin. 
Erregbarer noch, ſchwung⸗ und glutvoller, als jene es 
find, aber ohne den praftifchen Ordnungsſinn, welcher 
dem fränfifhen Stamme aus ſchweren Berirrungen 
immer wieder zurecht geholfen hat, während fein Fehlen 
das reichbegabte Sarmatenvolf dem Untergange entgegen» 
führte. 

Die Frau wußte, daß fie den Tag nicht überleben werde, 
und ich bemwunderte die ftoifche Selaffenheit, mit welcher 
fie ihrem fläglichen Ende entgegenfah. Daß hatte fie 
aber nicht abgehalten, für die legte Szene und den letz⸗ 
ten Beſucher hienieden fich fo ſtattlich als möglich auf: 
zuputzen. uͤber ein zweifelhaftes Untergewand war ein 
reichgeſtickter Peignoir geworfen; um das uͤppige, aber 
ungefämmte ſchwarze Haar ein tuͤrkiſch bunter Schal 
als Turban gewunden, ein ähnlicher Schal lag ald Hülle 
‚über den blauwürfligen, groben Bettbezug gebreitet. 
Noch ftand auf dem Nadıttifche das Becken, in welchem 
fie fi) vor unferem Eintritt die Hände gewafchen hatte, 
und fein Inhalt bezeugte, daß die Prozedur nicht von 
Überfluß gewefen. Die Kranfe war in fortwährender 
Bewegung, fidy mit einem Fächer aus Straußenfedern 
Kühlung zuzumehen, oder mit einer ftarf duftenden Effenz 
den Atem zu beleben und die ficberheißen Lippen zu 
negen. Arme, fterbende Fremde! Wie gern hätte ich 
dich für deine legten Stunden in einen der lichten, luf⸗ 


186 Frau Erdmuthens Zwillingeföhne 


tigen Räume gebettet, in welchen Frau Erdmuthe die 
Pflege aud) des geringften ihrer franfen Diener übers 
wadıt. Ein Fühlender Waffereimer ftcht zu Füßen dee 
Bettes, auf dem weiß verhängten Tiſche der immer 
frifch gefüllte Krug von Kriftall und die Schale mit 
Feldblumen und Waldfräutern, die dad Auge erquicken 
und mit würzigem Hauch, ohne zu betäuben, den Atem 
beleben. Zu Haͤupten des Bettes aber figt fie felbft, die 
hehre, ftille Frau in ihrem weißen Matronengewande, 
glättet dir die fchneereinen Kiffen, reicht dir die Früchte, 
die fie felber für did) gezogen, den Trank, den fie felber 
für dich bereitet hat. Sie legt ihre fühle Sand auf deine 
fieberglühende Stirn, und jeder ihrer milden Blicke fagt: 
„Scylummre getroft, mein Kind, ich wache über did) und 
Gott über uns beide.” 

Arme, ambraduftende Fremde, würdeft du den ftummen 
Frieden einer deutfchen Krankenmutter aber aud) vers 
ftanden haben? 

Es bedurfte eined entjchicdenen Befchld der Mutter, 
um die Tochter zu bewegen, fidy aus ihren Armen zu 
reißen und das Zimmer zu verlaffen. Der Toftor folgte 
ihr, nachdem er der Kranken noch einen Trank, „potio 
moriforum* raunte er mir zu, gereicht hatte. Wir waren 
allein. 

Frau von Saint Roc begrüßte mid wie — wenn ben 
Scyreibern roͤmiſcher Gefchichten zu glauben ift — wie 
eine Pariferin von Diftinftion einen weltgeiftlichen Haus⸗ 
freund in ihrem Altoven begrüßt haben würde. „Ic 
erwartete einen Priefter,“ fagte fie mit einem felbft in 
biefer Stunde nod) bezaubernden Lächeln. „Nun fol 
mir ein Menfchenfreund ald der Gottgefandte willfoms 


Mierter Abſchnitt 187 


fommen fein. Statt der Abfolution empfange id; ben 
Troft einer guten Tat.“ 

Sie ftrecfte mir bei diefen Worten beide ſchlanke, bleiche, 
abgezehrte Hände entgegen und blickte mid) einen Mo— 
ment verwundert an, vielleicht weil ich, ftatt fie an die 
Lippen zu ziehen, fie nur leife drüdte. Als ich fie nun 
aber bat, ihre der Ruhe bedürftigen Lungen zu fchonen, 
unterbrach fie mich mit lebhaften Kopffchätteln. „DO, 
laſſen Sie mid) reden, mein Herr. Es fchadet mir nicht; 
nicht mehr. Widerfprechen Sie mir nicht. Ich weiß ee: 
feit heute erft; aber ich weiß es.“ 

„Der Arzt kann irren in der Berechnung von Zeit und 
Kraft, Madame”, tröftete ich. 

„Der Arzt?” fiel fie ein, „der Arzt hat mir nichts ge 
fagt, oder ich habe ihn nicht verftanden. Und hätte er 
ed, Sie haben recht; er konnte irren. Sie find alle 
Schwachkoͤpfe, alle! Und diefer ungefchlachte deutfche 
Bär, verzeihen Sie, mein Herr! Sie find audy ein 
Deutfcher. Aber Sie hören und fprechen wie ein Frans 
sofe. Gewiß, gewiß; Sie haben ein franzöfifches Ohr 
und eine franzöfifche Zunge und dann, Sie haben ein 
gutes Geficht, ein gutes Freundsgeſicht. Ich liebe Sie, 
mein Herr!” 

Nun, was wollte ich mehr? Sch drüdte ihr noch eins 
mal die Hand, fette mid, an die Bettfeite und machte 
aus der Not eine Tugend, indem ich fie ungehindert 
plaudern ließ. Sie hatte ja recht, es fchadete ihr nicht, 
nicht mehr, und daß fie Wichtigeres zu erfahren ale zu 
erzählen haben könne, fchien ihr nicht einzufallen. | 

Ich hatte ein Fenfter geöffnet; die frifche Luft und bie 
potio moriforum fachten den Lebenggeift an. Die Kranfe 


188 Gran Erdmuthens Bwillingsföhne 


atmete freier. Bon Minute zu Minute wuchs mein 
Staunen. Es gibt audy deutfche Frauen, die fich einer 
bedeutenden Fertigfeit der Spradyorgane rühmen dürfen. 
Bor diefer fterbenden Franzoͤſin aber hätte felber Fräus 
fein Iduna in ihrer Lebensfuͤlle befchämt die Segel ftreis 
chen müffen. Dachte idy aber gar an meine ftille, liebe 
Frau Erdmuthe! 

„Es ift mir,“ fo hob fie an, „bis heute nicht ein eins 
ziged Mal eingefallen, daß ich fterben könnte. Auch in 
diefer Krankheit nicht. Niemald. Mein Leben war voll 
Sonnenfcein gewefen; id) zweifelte nicht, daß ed wieder 
fonnig werden müffe; bald wieder, fange noch. Din id) 
doch noch nicht vierzig Jahr. Hätten Sie mid) für Alter 
gehalten, mein Kerr?" 

Mein aufrichtiged Kopfichätteln genügte ihr. Sie fuhr 
fort: 

„Seit ich aber diefen Morgen ermwachte, fehe ich wie 
durch einen böfen Zufall alles im Schatten. Grau in 
grau, das was hinter mir und was vorwärts meiner 
Tochter liegt. D, meine Liska, ma mignonne! Arme 
Sonnenblume, die ich in dieſem dunflen Lande zurüdlaffen 
muß, allein, ganz allein, ohne einen Sou, mein Kerr, 
ohne einen Sou! Ich habe fo viele Menfchen gekannt, 
fo viele Freund genannt. Ich habe mit fo vielen ges 
ladıt, bin mit fo vielen glüdlicdy gewefen. So viele 
haben mich geliebt, heiß geliebt, ewig geliebt, wie fie 
fagten, fo viele! -— Und nun weiß ich nicht einen, in 
deſſen Händen ich mein Kind laſſen fönnte; feinen, ald 
eine wildfremde Frau von der falten Nation, die id, 
feitdem id) von meinem Leben weiß, wie den Erzfeind 
gehaßt habe. Alles fort, alles hin, Plunder, Raub, fchauer- 


Vierter Abſchnitt 189 


liche Nacht, und mein Kind, mein Kind eine bettelnde 
Waiſe! Ja, das ift der Tod, der erbarmungslofe, nadte 
Hellfeher Tod!“ 

Ein fonpulfivifcher Anfall, halb Schluchzen halb Lachen, 
zwang fie zu einer Paufe. Mich überriefelte ein Fröfteln, 
meine Zunge war wie gelähmt. Sie roch an ihrer Eſſenz 
und war rafcher erholt ald ih. Noch heute brauft vor 
meinem Ohr diefe Hegjagd Wort gewordener Gedanfen 
bis zum legten Atemzuge. 

„Sie haben meiner Kleinen gefagt, mein Kerr,“ hob 
fie von neuem an, „und Gie find gefommen, mir zu 
fagen, daß in diefer Gegend eine blutövermandte Fa⸗ 
milie aufgetaucht fei, die für meine Tochter Sorge tragen 
wolle, bis der Vater über ihre Zukunft beftimmt haben 
werde. Sc weiß von diefer Familie nichtd; habe nie 
ein Wort von einem audgewanderten. Stamme gehört, 
und mein Raul, wenn befragt, wird nicht mehr ale id 
eine Spur von jened Stammes einftmaligem Dafein 
haben. Sclöffer in der Provence! Bah, Luftſchloͤſſer, 
mein Herr. Mein Raul hatte nicht Eltern nody Brüder, 
nicht Gut noch Geld, als ich ihn fennen lernte. Seine 
Heimat war das Eril; dad Patent ald Garde du Corps 
und fein Ludwigefreuz, für die er in der Schreckensnacht 
von Berfailled geblutet hat, dad waren feine Diplome. 
KHugenottifcher Zwielpalt in der Familie? Ach, Seifens 
blafen, mein Kerr, längft zerplagt. Mein Raul ift Kas 
tholif fo gut wie ich felbft. Voilà tout. Sie find der erfte 
Keger- pardon, mein Herr! - der erfte Anderdgläubige, mit 
dem ich ein Wort gewechſelt habe, und id) zweifle, daß 
mein Raul, armer, angebeteter Raul! - Aber halt, mein 
Herr! Seit zwei Monaten habe id) feinen, den id) einen 


190 Frau Erdmuthens Zwillingsföhne 


Menſchen nennen könnte, gefprochen, feinen Brief ers 
halten. Es gibt feine franzöfifche Zeitung unter diefem 
barbarifchen Voll, Ich weiß nichts, nichte. Sch bin 
wie eine Begrabene, wie verfchlagen an einen wüften 
Strand. Sagen Sie, mein Herr, hat der Krieg mit den 

Ruffen begonnen?“ | 

„Ich glaube nicht, Madame. Nach den neueften Nach⸗ 
richten ftand der Kaifer noch diesſeit des Niemen.“ 

„Hat er die Polen zum Kampfe aufgerufen? Sein 
Kaiferwort für Polend Wiederherftellung verpfänder?“ 

„Mir ift nichts davon zu Ohren gefommen, Madame.“ 

„Er iftein......, wenner ed nicht tut. Sagen Sie, 
wird er ed tun? So reden Sie doch. Glauben Sie, 
daß er ed tut?“ 

„Öeftatten Sie mir, Madame, die Kombinationen eines 
Napoleon audy nicht im entfernteften mutmaßen zu wollen.“ 

„Dedant!” rief fie ärgerlich. „Ic fage Ihnen, er wird 
Polen wiederherftelen oder mit Polen zugrunde gehen, 
und ed wird — — aber zu was daß alle? Sie haben 
Blut fo wenig und fo fühl, wie Shre ganze Nation, und 
es ift viel, viel anderes, das ich Ihnen noch fagen muß. 
Seitdem ich Paris verlaffen, habe ich feine Nachricht 
von meinem Raul. Auf drei Briefe, die ich ihm während 
der Reife fchrieb, blieb die Antwort aus. Lebt er noch? 
Iſt er krank? Wo ftcht er? Ich weiß ed nicht. Hier, 
feine legten Worte find vom Marſche aus Teipzig datiert. 
Sie erfahren daraus feine Adreſſe.“ 

Sie ſchlug ihr Neglige auseinander und zog ein zers 
fnitterted Papier hervor, aus dem fie ein Amulet ents 
widelte. Das Amulet verbarg fie wieder in ihrem Bus 
fen, den Brief legte fie in meine Hand und ſprach: 


Vierter Abſchnitt 191 


„Nehmen Sie, mein Kerr. Dad Blatt ift von vielen 
Küffen zerbrüdt, von vielen Tränen zerwaſchen. Es hat 
auf dem Herzen feines fterbenden Weibes geruht. Ich 
habe ihn glühend geliebt bis zum legten Atemhauche. 
Das fchreiben Sie ihm, wenn id) tot bin, melden ihm, 
wo unfere Tochter ein Afyl gefunden, fragen ihn, welche 
Spuren er von meiner Familie in Polen entdedt hat. 
Wenden Sie fid) um Kunde von ihm an Ihren König, 
an dad Gouvernement in Warfchau, an feinen Mar; 
fhal, an den Kaifer, an Gott und die Welt, aber, 
aber - -“ 

Sie ftocte, ihre Kippen bebten, Nach einer Paufe be- 
gann fie von neuem, mehr wie zu fid) felbft als zu mir. 
„Armer, vielgeliebter Mann! Selber wenn du diefe Bots 
[haft erhalten follteft; felber wenn du diefen mörderifchen 
Krieg überftändeft, wenn du noch Tage des Friedens 
erlebteft - was würdeft du fagen fönnen, was tun? 
Der Kaifer liebt junge Marfchälle und alte Kapitäns. 
Du wirft nicht Marfchall werden, armer alter Kapitän! 
Südlich genug, wenn du alle Tage deine Flafche fauren 
Cider zu trinfen und dein Radies dazu zu beißen haft. 
Was folft du für dein lebensluſtiges Fräulein übrig 
behalten? Armer, armer, teurer Raul!” 

Die Dame feufzte, fchüttelte den Kopf und fog aus dem 
Duft ihrer Effenz die Kraft, ihre Umfchau fortzufegen. 
„Und meine polnifchen Verwandten, in deren ftolze 
Schlöffer wir und fo zuverfichtlich einquartierten — wenn 
fie noch eben und Schlöffer ihr eigen nennen: fie haben 
feit zwanzig Jahren nicht nad) mir gefragt, ich nicht nad) 
ihnen, - die Grafen Golchonsky find großmädhtige Herren 
- alle Polen fühlen ſich großmächtige Herren, audy bie 


192 Frau Erdmuthens Iwillingefähne 


ed nicht find, Monſieur - die Grafen Golchonsky werden 
ſich nicht fo viel“ - fie fchnippte mit den Fingerfpigen 
— „nicht fo viel um Mademoifelle Liska, die Tochter des 
armen Slapitäne der Linie kümmern.“ 

Ich würde lange fein Ende finden, wollte ich die Ges 
danfenfprünge der fterbenden Fremden weiterhin Wort 
für Wort überliefern. Es fei daher nur in der flürze 
sufammengeftellt, was von ihrem Schickſal zu erfahren 
wefentlich ift für das verlaffene Kind, dag fie ald Schuͤtz⸗ 
ling in den Händen der unbefannten Namensverwandten 
zuruͤcklaſſen follte. 

Graf Golchonsky, ihr Vater, aus reichbegütertem Ges 
Schlecht, hatte fid) nadı der erften polnifchen Teilung mit 
bedeutenden Summen abfinden laſſen, um in Franfreid) 
heimliche Rachepläne zu fchüren, während feine Brüder 
ſich fcheinbar der neuen ruffifchen Oberhoheit unter» 
warfen. Die Gräfin war im Kindbett geftorben, die 
einzige Tochter begleitete noch ald Wiegenfind den Vater 
ind Exil. Die Heine Lodoiska wurde in einem Parifer 
Klofter erzogen und verbradhte die erfte Jugend in Marie 
Antoinetted damald noch glänzenden Kreijen. Als die 
mit dem Tode ringende Frau mir jene Iuftvollen Zeiten 
ſchilderte, padte fie buchftäblich ein Erinnerungsfieber. 
Ic, fah fie im Schäferhütchen über der Frifur à l'ingé 
nue, mit Schürze und Gänfeblümchenftrauß vor dem 
Buſentuch, bei den ländlichen Feften in einem Tempel 
der Natur, den ihr Vater, der Mode gemäß, in feinem 
Parke errichtet hatte. 

„Ic war umſchwaͤrmt von Verehrern,“ fagte fie; „jeder 
Tag bradıte neue Bewerber. Papa war reich, und id) 
war fchön, fehr fchön, mein Kerr. Die Perle Sarmas 


Vierter Abſchnitt 4198 


tiens hieß ich auf den Bällen von Trianon, und nod) vor 
einem Jahre galt ich in Madrid für eine beaute erften 
Manged. Nur erft feit der Reiſe in diefem moͤrderiſch 
rauhen Lande —“ Sie unterbrad, fi, um von ihrem 
Nachttifche einen Fleinen Handfpiegel aufzunehmen und 
einen Blick hineinzumerfen. Ein Schauer überlief fie; 
fie fchleuderte dad arme wahrheitsgetreue Glas von ſich, 
daß es in Scherben zu Boden klirrte. „O, diefes graus 
fame Scheufal Tod“, rief fie mit einer Gebaͤrde des Ents 
ſetzens, und ed währte eine Weile, bis fie ihre Erzählung 
fortfegen konnte. 

Frau Lodoiska geftand, daß fie gar nicht ungern diefen 
oder jenen ihrer zahlreichen Adorateurd erhört haben 
würde, daß fie aber allzu vergnügt gelebt habe, um an 
Herzbrechen zu fterben, als ihr Vater ihre Hand einem 
jeden von ihnen verweigerte. Der Graf rechnete bis 
zum legten auf eine Slataftrophe, die ihm die Heimkehr 
geftatten würde, und wollte nur einen Landsmann mit 
feinen Dufaten und der Perle Lodoiska beglüden. 

„Papa war ein galant-homme felber gegen feine Tochter,“ 
meinte diefe. „Ic, habe ihn angebetet, und ich habe 
mein Vaterland geliebt fo feurig wie er felbft. Aber id) 
danfe doch dem Himmel, daß feine Pläne vereitelt wors 
den find. Die Herzen in Polen fchlagen heiß wie die 
im Süden, aber das Land ift falt und oͤde wie dad 
Shre, mein Herr. Sch würde viel Froft und Langeweile 
in Polen gehabt haben, und Froft und Langeweile find 
Dinge, die ich nun einmal durchaus nicht vertrage.” 

Beim Ausbruch der Revolution folgte der Graf mit 
feiner Tochter dem Emigrantenfchwarme nad) dem Rhein. 
Unterbrochen wurde das Freudenleben auch hier nicht, 
xx. 13 


194 Fran Erdmuthens 3willingsſoͤhne 


aber freilich Koblenz und Trier waren fein Parid. Es 
famen die Wirren ded Champagne-Feldzuges, die Hins 
richtung ded Königs, der Terrorismus, Entiegen und 
Greuel allerorten. Der Graf fränfelte, flüchtete mit 
feiner Tochter nach Italien, fuchte in den Bädern von 
Pifa Genefung und fand Erlöfung. 

In diefer freudenlofen Paufe geſchah ed nun, daß ein 
anderer Flüdhtling, Herr Raul von Saint Roc, fid) der 
fchönen Waiſe präfentierte, ihr Cicerone, ihr VBefchüger 
und bald genug ihr Liebhaber und gluͤcklicher Eroberer 
ward, „Er befaß nicht den Sou,“ verficherte lachend 
feine Gemahlin; „er hat um Brot Fedytftunden gegeben, 
mein Herr. Auch habe ich feinen Herold nad) dem Alter 
feines Wappenfchildes befragt. Mir genügte der Ritters 
fchlag, den er als einer der bie zum Tode Getreuen in der 
Nacht des zehnten Auguft erhalten hatte. Er trug eine 
Wunde an der Stirn und das Ludwigskreuz auf der 
Bruft. Und er war ein fo fchöner Mann, mein Serr. 
Er hatte das Auge des jungen, wilden Falfen, und er 
hatte —“ ich will es doch lieber franzöfifch ausdrüden - 
„la jambe, ah, la jambe d’un Apollel Er hatte aber auch 
ein großes Herz, mein Herr. Ob er fie haßte, die Häfcher 
und Mörder feines Könige! Doch blieb er in eriter 
Ordnung Franzofe und gab lieber Fechtftunden, ald daß 
er, wie viele feinedgleichen, unter dem Banner von Frank⸗ 
reich8 Feinden dad Schwert gegen feine eigenen Feinde 
in Frankreich gezogen hätte. Und ich war eine Polin, 
mein Kerr. Aber warum fo viel Gründe für ein grunds 
loſes Ding wie das Herz? Enfin, ich verliebte mich in 
Raul von Saint Roc, idy heiratete ihn und zog mit ihm 
aus dem traurigen Pifa weiter nach Süden. 


Vierter Abſchnitt 195 


„Zunädft nad Rom. Aber Rom ift eine Stadt für 
Künftler oder Heilige, und da weder Raul noch ich das 
eine oder andere waren, ennuyierte und Rom. Wir 
gingen nad) Neapel, Und dort iſts, wo meine Liska 
geboren ward. Mein einziges Kind. Die. Sonne hat 
hoch über ihrer Wiege geftanden; o, fie wird frieren, 
bitterlich frieren in diefem falten Land. Ma mignonnel 
Mein Sommertind!“ | 

Frau Lodoiska zerdrüdte eine Träne; die erfte und eins 
zige, mit der fie von dem Leben, das ihr fo fchön ges 
duͤnkt hatte, Abfchied nahm. 

Die erften zehn Sahre verbrachte Fräulein Liska im 
Süden, abwechſelnd im Elternhauſe und Klofter. „Sie 
war mein Kleinod,” verficherte die Mutter; „mein Leben 
pulfierte in dem ihren. Aber was wollen Sie, mein 
Herr? Kinder find unbequem; und id, bin nervoͤs. Und 
dann: ich hatte fo wenig Zeit. Niemand hat Zeit in 
dieſem paradiefifchen Lande, mo feiner etwas anderes 
zu tun hat als glüclidy zu fein. Sooft die Geduld mir 
riß, brachte ich fie zu den Urfulinerinnen und holte fie 
wieder, wenn die Sehnſucht nad, ihr mid) verzehrte, 
herzte fie ein paar Wochen oder Monde und fchidte fie 
dann wieder zu ihren Nonnen. Sie ift ein fröhliches 
Kind gewefen, ma mignonne, und, oh! nie gab es eine 
fo gluͤckliche Mutter, ald ich es war, mein Herr!“ 

Einen vollfommeneren Zuftand ald den Frau Lodoiskas 
in diefer Zeit ließ fih, nad) ihrer Anficht, von Feiner 
Phantafie erfinden. Zehn Jahre in einer Gefellfchaft fo 
gut wie die von Parid, unter dem Himmel ded Paras 
diefes, ein fchöner, zärtlicher Gemahl als immer bevors 
zugter Rivale eined Schwarmes galanter Cicisbeen, ein 


196 Frau Erdmuthens Iwiltingsföhne 


Engel von Kind, deflen Laft gefälige Nonnen ihr ab» 
nahmen, alled, was dad Herz ſich wuͤnſchte, in Fülle 
zehn Jahre lang! Aber leider! Diefer befeligende Zus 
ftand foftete Geld. Man hatte ed mit vollen Bänden 
audgeftreut. Die verwöhnte Magnatentochter fo wenig 
ald der arme Leutnant, der nichts gefannt hatte ald feine 
Gage und Schulden, hatte jemald daran gedadıt, daß 
ihre Kaffette leer werden könne, und eines Tages tafteten 
fie ganz erftaunt nahezu auf den fahlen Boden. 

Was follte man tun? Es war die Zeit ded jungen 
Napoleonismud. Der lange gehaßte, emporgefommene 
General hatte fidy in einen Kaifer umgewandelt, einen 
Hof, Adel, Orden, alles, was das zertrümmerte Königs 
tum verlodend umgeben hatte, unter neuen Titeln wies 
der aufgerichtet; mehr denn jemals beherrfchte den Welt: 
teil Frankreichs Glorie, Frankreichs Macht. Der Ex⸗ 
leutnant der Koͤnigsgarde durfte Hand uͤber Herz legen 
und ohne Unehre ſeinen Degen dem Gewaltigen zu fer⸗ 
neren Siegen offerieren. Zaͤhlte er auch nahezu vierzig 
Jahre, bei ſeinem Tatendurſt konnte er es noch zum Ge⸗ 
neral, ja zum Marſchall bringen. 

So wurde denn der Ruhmespfad eingeſchlagen; chemin 
faisant noch wohlgemut, wo es ſchoͤn zu raften war, ge 
raftet, und das nächte Ziel, Paris, anfangs 1807 ers 
reicht, gleichzeitig mit dem Bulletin, nad) welchem der 
Kaifer feine fiegreihen Waffen bie Warfchau getragen 
und die edle polnifche Nation zum Kampfe für ihre 
Freiheit aufgerufen hatte. 

Frau Lodoiskas Herz wallte hoch. Der letzte Skrupel 
fhwand. Dort in ihrem Baterlande wuchſen Ehren, 
Dotationen, Dekorationen, alle Herrlichkeiten der Welt 


Vierter Abfchnitt 197 


für ihren tapferen Helden Raul. Wie durch Zaubers 
ſchlag lebte jählinge auch die Tradition von der unber 
fannten und bis dato unbeachteten väterlichen Sippe 
wieder auf. Trotz lauerndem Froft und Langeweile 
rüftete man ſich zu einer Expedition in die reichen, gafts 
Iihen Sarmatenfchlöffer. Bevor der Marfchall in spe 
aber noch das Patent eines befcheidenen Leutnants ber 
Linie erwirft hatte, war die Schlacht von Friedland ges 
fhlagen, der Tilfiter Friede gefchloffen, die gewaltige 
Republik in ein Herzogtum Warfchau zufammenges 
ſchmolzen; der Leutnant von Saint Roc aber wurde mit 
feinem Regiment nad) Spanien gefchict und alldort bes 
laſſen, bis 4811 die große Heereswanderung nad) dem 
Morden begann. Er hatte allerorten tapfer wie Hektor 
gekämpft, weiter aber als bis zum Kapitaͤn hatte er ed zur 
Stunde nicht gebradıt; nicht einmal nody das Kreuz ber 
Ehrenlegion gegen das des heiligen Ludwig eingetaufcht. 

Die Familie folgte dem friegerifchen Herrn nadı Mas 
brid, nachdem der Kaifer mit gewohnter Siegfertigfeit 
den wanfenden Thron feines Bruders befeftigt hatte, 
und trat Fräulein Lisfa, wieder unter einem füdlichen 
Himmel, rafch die Kinderfchuhe aus; Lenz und Nadhs 
fommer wurden in gleichen Kreifen genoſſen. Freilich 
ftachen die Fefte an König Joſephs Hofe gegen die von 
Groß⸗ und Kleintrianon ab: aber doch nur im Verhälts 
nid der Jugendreize von Tochter und Mutter und der 
daraus abzuleitenden Anfprüde. „Ich war zum Glüd 
präbdeftiniert,” fagte Frau Lodoiska, „ich fah die Kleine 
fi) amüfieren, ohne mich zu verdunfeln. Sie hatte die 
Jugend, ich die Schönheit voraus. Der häßliche mütters 
liche Neid wurde mir erſpart.“ 


198 Gran Erdmuthens Swillingsfähne 


Schmerz und Sorgen der Trennung von dem angebe- 
teten Raul erleichterte man ſich, indem man ſich zeits 
weife in feine Nähe unter den lachenden Simmel Ans 
balufiens verfegte. Das bisher fo glatte Gluͤck begann 
einige abenteuerliche Blafen zu treiben, die indeffen eines 
romantifchen Schimmers nicht entbehrten. Auch machte 
Frau Lodoiska fein Kehl daraus, daß fie diefes vergnügs 
liche fpanifche Treiben, nach abfofut leer gewordener 
Kaffette, nur mit dem Opfer bes reichen Golchonskyſchen 
Schmuckkaͤſtchens erfaufen fonnte. Unterflügungen des 
Hofes, der feinen Zirkel nicht aus Eingeborenen wählen 
fonnte, wurden felbftverftändlich ſtolz verfchmäht; ein 
forglofes Kreditfyftem nach unten hin erweckte geringere 
Sfrupel, bis fein Zufammenbrud; nach dem nordifchen 
Vormarſch ded Gemahld auch die Damen jadh zurüd 
über die Pyrenden trieb. Moch wurden in aller Eile 
einige Tuilerienfefte, in aufrichtiger Huldigung einer ge: 
borenen Kaifertochter, mitgefeiert; dann vis-A-vis de rien 
wachte zum zweiten Male der polnifche Patriotismus 
und tauchten zum zweiten Male die reichen Sarmatens 
ſchloͤſer am Horizonte der KHoffnungsfeligen auf. Der 
Gemahl zog der Weichfel entgegen. Wan folgte ihm in 
dem Glauben, ihn nod) in Dresden, fpäteftens in War: 
ſchau zu erreichen. 

Wie nun auf der Reiſe erfranft und nad) unberedhne- 
ten, häufigen Stationen endlich liegen bleibend, daß letzte 
Kleinodium, das einzige, gering gefchägte „Kleinodium“ 
ber Saint Roc verpfändend, bie vielgefeierte Frau in 
bie Lage geriet, ald Abenteurerin zu enden und ihr eins 
siged Kind an der Schwelle des Armenhaufes zu vers 
laffen, vor dieſem Umfchlag von Licht zu Nacht ftockte 


Vierter Abfchnitt 199 


fchließlich der Atem der raftlofen Erzählerin. Sooft 
ich den Berfuch machte, ihr Einhalt zu tun, rief fie uns 
gedufdig: „Laſſen Sie mich. Ich will, daß die, welche 
Sie meine deutfchen Verwandten nennen, wiffen, aus 
welchem Schoße das fremdartige Kind in den ihren vers 
fegt worden ift.“ 

Sie fagte das mit der unbefangenften Genugtuung. 
Diefe Frau achtete ehrlichen Herzens Schönheit und Ers 
folg als ihr Verdienft, die forglofe Lebensweiſe für eine 
Naturnotwendigfeit. Sie hielt ſich allen Ernftes für ein 
tugendhaftee Weib, weil fie den Gatten ihrer Wahl 
einen Grad heißer geliebt hatte, ald die Schar ihrer 
Gicisbeen. Nur fehr verfchleiert dDämmerte in ihr dag 
Bemwußtfein, daß die hilflofe Lage ihrer Tochter eine 
Berwahrlofung und nicht bloß das erfte Unglüd in ihrem, 
der Mutter, dem Gluͤck geweihten Leben fei. 

Mehr ald einmal während diefer langen Erzählung war 
Lisfa in das Zimmer und an die Bruft der Mutter ges 
ftürzt, von diefer aber immer wieder hinaus befchieden 
worden. „Was ich Ihnen mitteile,“ fagte fie, „iſt fein 
Geheimnis, auch für die Kleine feind. Aber warum 
ihren Schmerz fteigern durdy den Bergleidy von fonft 
und jest. Die legten Erinnerungen ihrer Mutter würs 
den die eriten ihres eigenen Lebens auffrifchen. Sie fol 
fie vergeffen, fie fol audy) mid) vergeſſen lernen.” 

Die belebende Wirkung des Sterbetranfd war erfchöpft, 
die Kranke rang nur noch mühfam nad) Atem. „Es ifl 
vorüber!” feuchte fie, und ich widerfpradh ihr nicht. Doc, 
fragte ich nach den Wünfchen, die fie für die Zufunft 
ihrer Tochter mir etwa noch zu offenbaren habe. 

„Wünfche?“ ypreßte fie hervor, von eifigen Schauern 


200 Frau Erdmuthens Swillingsföhne 


gefchüttelt, ein unbefchreibbares Lächeln auf den bläus 
lichen Lippen. „Wünfche? - Sie ift glüdlicdy gewefen - 
fiebzehn Jahre lang - fie it arm — nicht ſchoͤn — — eine 
große Leidenſchaft — und dann — den Nonnenfcleier!” 

Bei dem legten, ftarf betonten Worte ftürzte Liska von 
neuem in das Zimmer. Gie fah die Verheerung der 
Kranfenzüge und warf ſich mit einem gellenden Schrei 
über das Bett. Der Doktor und Herrmann waren ihr 
gefolgt. Die fterbende Frau bemerfte die Geftalt dee 
jungen Mannes unter der Tür. Mit auffladerndem Les 
ben winfte fie ihn haftig zu fich heran. Ihrem legten 
Worte zum Trog ſchien eine Hoffnung anderer Art fie 
zu durchzucken. 

Herrmann trat an dad Bett und ergriff die ſchon er- 
faltete Hand. Die andere wühlte in den Locken ihres 
Kinded. Mit weitgeöffneten Augen ftarrte fie in die 
ruhigen Felöfchen Züge. Sie fchüttelte den Kopf; die 
jähe Hoffnung war verſchwommen. 

„Armes Kind! -" röchelte fie, „armes Kind — den Non⸗ 
nenfchleier!“ 

Und dieſes Freudenleben war ausgehaudht. 


* * 
ꝛᷣ⸗ 


Liska lag, ohne unſerer zu achten, uͤber der toten Ge⸗ 
ſtalt. Sie kuͤßte die falten Lippen, ald ob ihr jugend⸗ 
heißer Atem das erftarrte Leben erweden könne. „Hoͤrſt 
du mich, Maman? Sprid, Maman!” fchrie fie und ftierte 
mit wildem Blick in das weiße Gefiht. „Du bift nicht 
tot, du wirft leben, du mußt leben! Du mußt bei mir 
bleiben, Maman!“ Sie klammerte ſich immer fefter an 
die Leiche. 


Vierter Ahfchnitt 201 


„Austoben laſſen!“ fagte fi entfernend der Doktor zu 
mir. „Die Limonade, die ich ihr drüben eingerührt habe, 
wird ftarf genug wirfen, der neuen Vetterſchaft die noͤ⸗ 

tige Gedanfenruhe zu verfchaffen.” 

Auch ich ging, die gefchäftlichen Abmachungen zu erle: 
digen und meine Schweſter zur Nachtwache herbeizuhos 
len. Herrmann fegte ſich ſchweigend and Fenfter und 
blickte hinuber auf die tote und auf die lebende Geftalt. 

Als ich nad) ein paar Stunden mit Ehriftophinen zus 
rüdfehrte, fand ich beide noch auf Dem nämlichen Plage: 
den ftummen Wächter mit verfchränften Armen in der 
Fenfternifche, die Waife mit ausgebreiteten quer über 
dem Totenbett. Aber ftil war fie geworden. Die Li⸗ 
monade und die Tränen hatten ihre Schuldigfeit getan. 
Das arme Kind fchlief, fchlief, ohne zu erwachen, als 
ed Herrmann auf feinen Armen in dad Nebenzimmer 
trug, wo meine Schwefter die Obhut übernahm. 

Herrmann fuhr unverzüglich nach Arnheim zurüd, um 
feine Mutter von dem Erlebten in Kenntnis zu fegen. 
Ihrer Zuftimmung zu unferen VBefprechungen war er fo 
gewiß, als hätte er in ihrem Auftrage gehandelt. 

Der Abend war auf diefe Weife herangebrochen. Meine 
braven Gefchwifter übernahmen die legten Dienfte, die 
ein armes Menſchenkind hienieden beanfprudht, Dienfte 
peinvollfter Art in dem gegenwärtigen Falle. Denn gibt 
ed etwas, das die Majeftät ded Todes fo entwürbdigte, 
ald den Widermwillen, den ein Leichnam in einem Gaſt⸗ 
hofe erregt? Der Wirt drang auf die rafchelte Ents 
ledigung des abfchredenden Gaſtes; eine Leichenhalle 
eriftierte im Städtchen nicht. Was blieb übrig, als die 
Beerdigung fchon für morgen abend anzuordnen! Ein 


202 Frau Erdmuthens Swillingsfähne 


Sarg von fchwarzladiertem Tannenholz wurde zum Gluͤck 
vorrätig gefunden. Der Amtsphyſikus fonnte ohne Sfrus 
pel die Befcheinigung ausftellen, daß dieſes Leben big 
auf die Neige verbraucht worden fei, Freund Bär fchlug 
zum Überfluß eine Ader. Herrmanns Wunſche, den Leich⸗ 
nam zur legten Ruhe nach Arnheim zu überfiedeln, widers 
fegte er fi) aber. „Um Eurer Seelenruhe willen feine 
weitere Szene,“ fagte er. „Wenn die Kleine Here wirt 
ich fo ein Stüdchen Tochter von unferer Frau Mutter 
werden fol, muß fie fi) Madame Maman fo bald ale 
möglicdy aus dem Sinne fchlagen.“ 

Sch fonnte nur beipflichten. Hatte das fterbende Welt: 
find doch felber gefagt: „Sie fol mid, vergeffen lernen.” 
Ein Grabhügel ift ein ewiges Erinnerungszeichen. 

Ein guted Teil Mühe hatte meine Chriftophine. Nach⸗ 
dem fie die noch immer betäubte Waife entfleidet und 
zu Bett gebradht hatte, Tieß fie mich ald Wächter bei 
derfelben zurüd und ging, im Totenzimmer Ordnung zu 
fchaffen. Als richtige Pfarrerdfrau wußte fie an diefen 
traurigften Erdenftätten Beſcheid. Zunaͤchſt wurde die 
Leiche gewafchen und angezogen; wobei man feine liebe 
Not hatte, unter all den Kinferligchen dag Material zu 
einem reputierlichen Sterbehemde zufammenzuftoppeln. 
Dann ginge an die Verwandlung der Kranfenftube in 
eine reinliche Totenfammer, nad) welcher Prozedur meine 
Chriftel erflärte, eines Seifenbades bedürftig zu fein. 
Zulegt wurden nod Koffer und Schachteln eingepadt, 
welche mit dem Fräulein am Morgen nad) Arnheim übers 
fiedeln follten, und hat fich die deutiche Pfarrfrau ihr 
kebtag nicht darüber zufrieden gegeben, daß gewiſſe 
frangöfifche Damen mit Ballfächern und fünftlichen Blu⸗ 


Vierter Abfchnitt 208 


men anftatt mit Xederftiefeln und wollnen Unterröcen 
ihren Herrn Angehörigen in die ruffifhe Kampagne 
nachgezogen find. 

Der Tag war weit vorgefchritten, ald die arme Feine 
Schläferin erwadıte. Etliche Minuten währte noch die 
helldunfle Befangenheit; der legte fürchterliche Eindrud 
ſchien mit einem lieblichen Traumbilde zu ringen, denn 
ein Lächeln umfpielte die geöffneten Tippen. Sept aber 
fiel ihr Blick auf mid, und die jammervolle Wirklichkeit 
ftand Elar vor ihrer Seele. Mit dem herzzerreißenden 
Rufe: „Maman!” fprang fie aus dem Bette und in nad» 
ten Füßen mit aufgelöftem Saar hinüber in das Sterbes 
zimmer; faum daß ich Zeit hatte, ihr die Reifeenveloppe 
über das leichte, fpigenberänderte Nachtkleid zu werfen. 

Und da ftand fie nun vor der toten Geſtalt, die fie 
„Maman”, das heißt, alled was fie bie dahin lieb ges 
habt, genannt hatte! Die erfien Stunden, zwifchen dem 
Entatmen und Erftarren, die Stunden, welche dem Antlig 
häufig einen fo tröftlichen Ausdruck der Seligfeit übers 
hauchen, waren vorüber; der Tag heiß und ſchwuͤl; 
Spuren der Auflöfung zeigten fich bereits; mir felbft 
wurde es ſchwer, unter diefer Verzerrung und Berfärs 
bung die von heftifchem Rot gehobenen, im Todesfampfe 
noch fehönen Züge der fremden Frau wiederzuerfennen. 

Die unglüdliche Tochter aber, die wohl nie einen Leich- 
nam gefehen hatte, ftand vor Entfegen felber Teichen- 
weiß und ftarr, wie in den Boden gewurzelt. Dann 
aber fchauderte fie zufammen, ſchwankte und fanf in die 
Arme Frau Erdmutheng, die mit ihrem Sohne angelangt 
und unbemerft eingetreten war. 

Hätte das verlaffene Kind den Ieifeften Sinn für feine 


204 Fran Erdmuthens Iwillingsföhne 


Umgebung behalten, die Erfcheinung der fremden Frau, 
die ihm am Sarge der Mutter die Arme entgegenbreitete, 
müßte ed wie Himmelstroͤſtung ergriffen haben. Frau 
Erdmuthe war weiß gefleidet, wie immer, feitdem fie die 
Witwentrauer abgelegt hatte; ein leichter Schleier ums 
rahmte das Gefichtz fie hielt einen Rofenfranz in ihrer 
Sand, und warme Tränen riefelten über ihre Wangen. 
Sch fah es ihr an, daß fie, wie ihr Sohn, eine ÄAhnlich⸗ 
keit zwiſchen der Waiſe und ihrem Raul erkannte; ja, 
ſie hat mir ſpaͤterhin geſtanden, daß ſie in dieſer ſelt⸗ 
ſamen Fuͤgung ein Band geahnt habe, welches die Gegen⸗ 
ſaͤtze der Bruͤder ausgleichend vermitteln werde. Selt⸗ 
ſam jedoch, waͤhrend ich ſo frohe Hoffnung in den Mut⸗ 
teraugen las, ſchwirrten mir baͤnglich vor den Ohren 
die Worte, mit welchen Raul von der Heimat geſchieden 
war: „Welche Macht koͤnnte ſich zwiſchen Herzen draͤngen, 
die die Mutterliebe eint?“ 

Von dieſem liebreichen Entgegenkommen ſpuͤrte die 
Waiſe nun aber nichts. Die Frauen zogen ſie in das 
Nebenzimmer, belebten ſie mit den uͤblichen Mitteln, 
kleideten ſie an, noͤtigten ihr ſogar ein leichtes Fruͤhſtuͤck 
ein. Sie ließ alles mit ſich geſchehen wie ein hilfloſes 
Kind; ſie ſprach nicht, ſie weinte nicht, ihre Seele ſchien 
vor dem grauſigen Totenbilde erſtarrt. Als ſie auf dem 
Wege nach dem Wagen am Sterbezimmer voruͤber kam, 
riß ſie ſich von Frau Erdmuthens Arme los, oͤffnete die 
Tuͤr, ſtand einen Augenblick ſchwankend auf der Schwelle, 
ſchauderte dann aber entſetzt wie vorhin zuſammen und 
ließ ſich ohne Widerſtand weiterfuͤhren. 

Ich begleitete die Damen. Herrmann verweilte in der 
Stadt, bis am Abend der letzte Akt voruͤber war. Er 


Vierter Abfchnitt 205 


— 


Leben ſo viel umgebenen Frau; der Roſenkranz der un⸗ 
bekannten Namensverwandtin lag als einziger Schmuck 
auf ihrem Sarge. 

Noch in der Nacht ſetzte Herrmann ſeine Geſchaͤftsreiſe 
fort; daß ſie zugleich eine Brautfahrt hatte werden ſollen, 
daran dachte von uns keiner wieder, und er ſelbſt gewiß 
am wenigſten. 

Still und ernſt wurde waͤhrenddeſſen die fremde Waiſe 
der neuen Heimat entgegengefuͤhrt. Keines ſprach ein 
Wort. Der ſchwere Wagen ſchleifte langſam im fuß⸗ 
hohen Sande; die Sonne brannte ſengend zwiſchen den 
kahlen Kiefernſtaͤmmen auf uns herab. Mich verdroß 
es ſchier, nicht ein lockenderes Landſchaftsbild vor den 
Augen des unheimiſchen Kindes ſich entrollen zu ſehen. 
Doch ſchien ſie ſelber keinen Eindruck von unſerer Heide⸗ 
oͤde zu empfangen. Sie blickte ſtarr und ſtumm vor ſich 
hin; nur der ſtarke Kiengeruch, der uns anderen eine 
Wuͤrze deuchte, beruͤhrte ſie widerlich; beim erſten Strom, 
den ein Lufthauch in den Wagen trieb, ſchauerte ſie zu⸗ 
ſammen, winkte unruhig mit der Hand, bis ich das Fenſter 
niedergelaſſen hatte, und ſooft ich es wieder hob, er⸗ 
neuerte ſich das Unbehagen. So in ber gluͤhenden Mits 
tagsfchmwüle, mit beflemmtem Atem eingefchloffen im 
engen Gehäus, dünfte die zmweimeilige Keidefahrt mir 
eine Ewigfeit. 

Die Stimmung unferes Gaftes hob ſich indeflen, fobald 
wir auf dem Gute anlangten. Der wohnliche Eindrud 
des Hauſes, die Kühle der großen, blumenduftenden 
Zimmer, die einfache Fülle der Einrichtung und Bedie⸗ 
nung wedten ein heimatliched Behagen, wie die Tochter 


206 Frau Erdmuthens Imwillingsföhne 


der beiden Emigranten ed noch niemals empfunden haben 
mochte, dahingegen bie Erinnerung an dad glänzend 
Überflüfft ige in ihrer früheren Umgebung durch die der 
troftlofen Reifemonate getilgt worden war. 

Sie ſprach auch jegt noch nicht, allein die jähe Wand⸗ 
fung ihres Zuftandesd malte ſich in den ausdrucevollen 
Zügen wie ein angenchmer Traum. Sie mufterte lächelnd 
das freundliche Kabinett, dad Frau Erdmuthe neben 
ihrem eigenen Schlafzimmer für fie hatte einrichten laffen, 
und genoß mit lange Zeit ungeftilltem Appetit von den 
Früchten und Süßigfeiten, die ihr ald Imbiß gereicht 
wurden. Ein Glas füdlichen Weines, mit Waſſer ge⸗ 
miſcht, roͤtete die blaſſen Wangen. 

Das Laͤuten hob an, das Sonnenuntergang verkuͤndete; 
es war die fuͤr die Beſtattung der Fremden feſtgeſetzte 
Stunde. Frau Erdmuthe trat an das offene Fenſter mit 
gefalteten Haͤnden. Auch die Waiſe horchte auf. Ob ſie 
es ahnte, daß eine Mutter ſich ihr an Stelle der ver⸗ 
lorenen in ſtillem Gebet verlobte? Oder war es nur der 
Glockenklang, der fie an die ernſte Handlung mahnte? 
Eine Erinnerung, vielleidt im Kalbfchlummer aufges 
fangen? Sie brad, in einen Tränenftrom aus, und als 
der legte Laut verhallt war, ftürzte fie zu den Füßen 
ihrer Wohltäterin nieder, umflammerte ihre Knie, bes 
deckte ihre Hände mit heißen Küffen und Tropfen. 

Frau Erdmuthe z0g fie neben fi auf den Sofaplatz, 
hielt fie mit ihren Armen umſchlungen und ftreichelte 
ind das Köpfchen, dad an ihrem Kerzen ruhte. Da 
taute allmählich denn auch die Sprache auf, die diefem 
Kinde fo lieblich eignende Sprache, welche leicht franzoͤ⸗ 
fifche Form mit fonorem italienifchen Wohllaut verband. 





Vierter Abſchnitt 207 


Fe mehr und mehr plauderte die Kleine im warmen, phans 
tafievollen Ausdrud die Erinnerungen ihres jungen Les 
bens aus. Auch fie, wie die Mutter, fchwelgte in einem 
Himmel von eitel Seligkeiten. Wieviel weniger trüges 
rifch aber, ald daS der Abendfonne, erfcheint das Licht, 
dad der Zauberer Morgen über die Welt unter unferem 
Horizonte ergießt. Die leidvollen jüngften Monate waren 
dem Gedächtnis entſchwunden bis auf die legte graufige 
Todesfzene; und den Sammer über dad Sceiden der 
angebeteten Maman verflärte eine ſchwaͤrmeriſche Dank, 
barkeit gegen die Schugheilige, weldye die Himmelsmut⸗ 
ter dem verlaffenen Kinde gefendet habe. Unaufgefors 
dert nannte fie Frau Erdmuthen ihre Wutter, ihre 
Seelenmutter. „Mere de mon äme!“ rief fie aus, „mein 
ganzes Leben foll ein Gottesdienft für deine Liebe fein.“ 

Die großen Augen leuchteten während diefed Geplaus 
ders, die Lippen färbten fi) purpurn, auf und ab wos 
gende Blutwellen gaben den bernfteingelben Wangen 
den wirfungsvollen Ton ded Suͤdens. 

Die Mutter mußte endlicd, der fieberhaften Steigerung 
Einhalt tun und an die Ruheftunde mahnen. Sie führte 
fie in ihr Kabinett, entfleidete, bettete fie wie ein Kind 
und faß, die Hand auf der fehmalen, glühenden Stirn, 
bis die Lider ſich fanft gefchloffen hatten. 

Am andern Morgen war Frau Erbmuthe bereits ftuns 
denlang in ihrem Haushalte befchäftigt, ald ihr Pfleg⸗ 
ling aus füßem Schlummer erwadıte. Fräulein Liska 
fchlürfte ihre Schofofade und überlich fi mit Tange 
entwöhntem Behagen der Bedienung einer Kammerfrau; 
dann aber flatterte fie wie ein Schmetterling der Mutter 
nach; umgaufelte fie mit kindlichen Zärtlichfeiten auf 


208 Frau Erdmuthens Zwillingsfähne 


Schritt und Tritt, treppauf, treppab vom Boden bie 
zum Keller. Alled war ihr neu, alles intereflant, alle® 
wollte fie lernen. „Ich will dir den ganzen Tag hel⸗ 
fen, du fleißige Mutter“, fagte fie, und Frau Erbmuthe 
lächelte. 

Erſt ald die Hausfrau die große Leuteftube betrat, um 
wie alle Tage der Hauptmahlzeit der Diener und Arbeiter 
bed Hofes vorzuftehen, prallte fie fcheu zurüd. Sie floh 
in den Garten, erfchien auch nidyt am Familientifche, 
der präzis um Mittag angerichtet ward und an weldyem 
Berwalter, Audgeberin, Förfter, kurz alles teilnahm, was, 
ohne Gefinde zu heißen, zum Gute gehörte und feinen 
eigenen Haushalt bildete. Auch jeder auswärtige Bes 
fucher und regelmäßig zwei von den Knechten unferer 
lieben Frau, Judex und Magifter, feitdem des leßteren 
gute Mutter ihm den Tifch nicht mehr richtete. Der 
dritte Mitknecht, wir wiflen es fchon, fam nur ad libitum. 
Das einzige, aber ftoffreiche Gericht wurde auf altges 
wohntem Zinngefchirr aufgetragen und verzehrt. Ges 
fprochen wurde wenig, gegeflen viel. Es war nidht ein 
Mahl, das man hielt, weit eher ein wichtiger, gefchäfts 
licher Akt. 

Die Mutter dachte weder heute noch fpäter daran, ihr 
neued Töchterchen zur Teilnahme an demfelben zu nötis 
gen. Sie ließ fie fchweifen, fidy nach Neigung befchäfs 
tigen, Siefta halten und ſich an leichten Näfchereien bes 
friedigen, bi8 die Abendtafel — fubftantiellerer Natur 
ald der damals nody wenig eingeführte Teetifch — den 
engeren Kreis der Angehörigen, mit gelegentlichen Gäften 
untermifcht, zu gefelliger Erholung vereinigte. Man 
weilte dann nod) ein Stündchen beieinander, je nadı der 


Vierter Abfchnitt 209 


Jahreszeit im Familienzimmer oder unter den Kaftanien 
vor dem Portal, trennte fid) aber bei guter Zeit, um bei 
guter Zeit wieder rege zu fein. 

Am heutigen Tage aber und an den folgenden ver: 
längerte ſich unwillfürlich unfer abendliches Beieinander. 
Die Kleine blickte und plauderte fo verlodend; ihre 
Lebensgeifter hoben ſich mit dem Abendfchatten; unter 
taufend Liebfofungen wußte fie ihre Engelömutter und 
ihren bon petit cur& feftzuhalten; fooft man an bie 
Hausordnung erinnerte, war es ihr immer viel, ach viel 
zu früh, und als endlich doch der Ruͤckzug angetreten 
ward, gefchah ed mit dem Vorſatz, noch die ganze Nacht 
hindurch ihrem lieben fernen Papa von ihrem großen 
Unglüd und ihrem großen, großen Gluͤcke zu erzählen. 

Die naͤchſten Tage glichen diefem erften. Unter dem 
neuen Behagen fchienen die leidvollen Erinnerungen wie 
mit dem Schwamme ausgelöfcht. Der Borfchrift des 
Bergeffenfollend ungeachtet, brachte ich es nicht über 
dad Herz, ein Mutterleben fo ohne Spur verfchwinden 
zu fehen; ich mahnte zu einem Befuche des einfamen 
Grabe. Liska fluste einen Augenblid, fie geftand, noch 
nie einen Begräbnisplag gefehen zu haben, außer dem 
ihrer Nonnen am Pofilipp, der aber nur ein fchöner 
Garten gewefen fei. Dann aber wurde fie plöglich Feuer 
und Flamme. E3 fonnte nicht rafch genug angefpannt 
werden, und da Frau Erdmuthe zur Stunde im Haufe 
nicht abkoͤmmlich war, defretierte fie ohne weiteres die 
Begleitung ihres guten, Kleinen Pfarr’d. Die fchönften 
Blüten im Garten und Treibhaus wurden mit vollen 
Händen zufammengerafft. Wir festen und in en 
manns Heidekutfchchen und fuhren ab. 

XX. 14 


210 Frau Erdmuthens Swillingsfähne 


Ald wir über den Ulmengang hinaus den Forft erreichs 
ten, erneuerte fich der nervoͤſe Widermwille gegen den 
Kiefernduft, den Liska fchon bei der ‚Herreife gezeigt 
hatte. Sie nannte ihn Leichendunft und glaubte allen 
Ernftes, fo weit fie ihn fpürte, fich auf einem Totenfelde 
zu befinden, weil der naͤmliche Dunft ihr beim legten 
Abfchied von Maman die Befinnung geraubt habe. Wie 
ich ihre nun aber erflärte, daß Särge aus Nadelholz ger 
zimmert werden und daß Nadelhölzer diefen Duft auds 
ftrömen, der mir, wie fein anderer, eine herzftärfende 
Würze fcheine, da rief fie entrüftet: „OD, diefer barbarifche 
Geſchmack! Den Sinn der Phantafie nannte Maman 
den Geruch, und Sie fchredlicher, deutfher Mann! 
fchlürfen mit Entzäden, was Ihnen die Schauer bes 
Grabes in Erinnerung bringt.” 

Indeſſen hatte meine technologifche Aufflärung doch ges 
wirft; Fräulein Liska konnte den Heidebrodem vertragen, 
nachdem fie wußte, daß ed Fein Keichenfeld war, dem er 
entdunftete; fie fing fogar an, ſich für den gefürchteten 
cimetitre zu intereffieren, feitdem ich ihr den Sinn uns 
ferer deutfchen Benennung zu verbolmetfchen fuchte. „Cour 
de la paix, champ du bon Dieu, das ift ſchoͤn!“ fagte fie. 
„Ihr adelt das Sterben, ihr Deutfchen. Champ du bon 
Dieuf" Sie verfucdhte die Namen im Deutfchen nadızus 
fprechen, und das Wort „Gottedader” ift faft das eins 
jige geblieben, deffen Laut ihr geläufig wurde. 

Der friedlicdye Anbli des Grabes verfcheuchte die lets 
ten bänglichen Apprehenfionen. Auf Herrmanns Ans 
ordnung war ed mit Raſen belegt und mit blühenden 
Monatörofen bepflanzt worden. Es war die Jahreszeit, 
in welcher ed auch auf dem Armften Hügel blüht; ringe 





Vierter Abfchnitt 211 


um buftete ed wie in einem Garten. Das Feine Gehege 
glich einer Dafe in der Steppe, durch welche der Weg 
und geführt hatte. 

Die Augen der Waife füllten fi mit Tränen. „Der 
Leib unter Nofen, die Seele bei Gott!“ fläfterte fie, 
ftreute ihren Blumenkorb über dem Hügel aus, kniete 
nieder und betete ihren Roſenkranz. Ald wir zum Was 
gen zurüdfehrten, gab fie mir den Auftrag, ein Monus 
ment für ihre füße Maman zu beftellen, reich und kunſt⸗ 
voll wie für eine Prinzeffin. Sie befchrieb mir das Vor⸗ 
bild, deffen fie fid) aus einer fpanifchen Kirche erinnerte. 
Ich war gutmätig genug, fie nicht zu fragen, auf weffen 
Boͤrſe ich den Künftler anweiſen follte; wußte ja auch, daß 
der Einfall verfliegen werde, rafch, wie er angeflogen. 

Während der Rücdfahrt bemühte ich mich, die angereg- 
ten ernften Borftellungen in dem beweglichen Sinne feft- 
zuhalten; freilich aber war die Xehre von dem Kampfe 
des Lebens und dem Siege im Tote eine herbe Pille für 
dag freudedurftige Herz. Sie nannte mid) einen graus 
famen Freund und blieb während des ganzen Weges 
wie ein eingefchüchterted Kind. Die großen, ftrahlen- 
wechfelnden Augen fchweiften zwifchen den büfteren Kie- 
ferwipfeln und der duͤrren Nadelfchicht am Boden auf 
und nieder. „Traurig, todestraurigl” murmelte fie. 

Als wir aber zu Haufe anlangten, war Eoufin Erman 
von feiner Meßreife heimgefehrt, und ein Kichterglanz 
breitete fich über das Fleine, betrübte Geſicht. Sie ber 
grüßte ihn wie eine Schwefter den Bruder, reichte ihm 
Hand und Wange zum Kuß, hängte fich plaudernd an 
feinen Arm und verlocte ihn zu Fleinen Medereien, die 
fonft wenig in feinem Weſen lagen. 


212 Frau Erdmuthens Swillingsföhne 


Andern Tages wurde das Trauerzeug ausgepadt, das 
ber galante Eoufin - auch gegen feine fonftige Art - 
dem Bäschen aus KleinsParid mitgebracht hatte. Und 
nun ginge, haft du nicht gefehen! Wer nur im Haufe 
eine Nadel zu rühren vermochte, durfte nicht aufblicken, 
bis nad; Mademoifelled Angabe ein paar Anzüge zu⸗ 
Rande gebracht waren, die nach beutfcher Anfchauung 
fid, allerdings mehr fpanifch als trauermäßig ausnahmen, 
dafür aber die kleine Suͤdlaͤnderin um fo reizender Mei- 
deten. 

In dieſer anmutigen Weiſe vergingen etliche Wochen, 
wenig an die Truͤbſal erinnernd, welche die fremde Waiſe 
in unſere Mitte gefuͤhrt hatte. Sie zeigte ſich, als waͤre 
ſie zu Hauſe; nahm Dienſt und Hilfe an, wenn auch 
nicht als ein Recht, fo doch als natürliche Gabe; für 
Wohltaͤter wie die ihren die anfprechendfte Art, Wohl- 
taten anzunehmen. Sie war froh und machte froh. Die 
häusliche Ordnung wurde durd; ihre Gegenwart nicht 
unterbrochen, aber fie wurde durch diefelbe belebt und 
gleichfam übergoldet. Ein jeder fühlte den Zauber, den 
diefe impulfive Natur um fich verbreitete. 

„Mir ift, ald wäre ein Sonnenftrahl in unfer Haus ge- 
brungen,“ fagte Frau Erdmuthe, „ein u aus dem 
blauen Simmel meines Raul.“ 

Ihr Sohn fagte mit Worten nichts; aber ber rafchere 
Taktſchlag feines Weſens ſprach beredt genug für die, 
welche gewohnt waren, in feiner Seele zu Iefen. Bär 
brummte unverhohlen über fpanifche Eotterwirtfchaft, und 
der Sünger der reinen Vernunft fürchtete allen Ernftes, 
daß Fräulein Iduna mit ihrer perfönlich gefannten 
Mohrenfönigin den Teufel an die Wand gemalt habe. 


Vierter Abſchnitt 213 


In Sn Wahrheit: hätte ed auf Erben eine geben fönnen, 
die weniger ald diefes Mädchen feiner Mutter glich? 
Noch wagte ich den Folgeſatz nicht auszudenfen, aber 
bangevoll fragte auch ich mid; im ftillen, wie Tange dies 
fes kindliche Getändel in dem Haufe firenger Pflichters 
füllung währen könne? 


Fünfter Abſchnitt 
Was fern, muß fih errcichen. 


[8 ich Ende Juli von einer PVifitationgreife zurück- 
fehrte, merkte ic) Die Spuren der Ernuͤchterung, welche 
ich vorausgefehen hatte, zwar nicht an Mutter und 
Sohn, aber an der Tochter, die mir wie ein flügellahmes 
Bögelchen entgegenſchlich. Ein bläulicher Schatten ums 
zirfelte die Augen, die Lider waren müde auf die bleichen 
Wangen gefenft. „Sind Sie krank, Liska?“ fragte id}. 

Sie fchüttelte langſam den Kopf. 

„Nun, was fehlt Ihnen danı?“ 

„Nichts mehr,“ verfegte fie Tächelnd und meine Baden 
ftreichelnd; „mein gutes Vaͤterchen ift ja wieder ba.“ 

„Dante fchön, Heine Schmeichelfage. Aber ernfthaft, 
was fehlt Ihnen, Kind?“ 

„Maman!“ feufzte fie. 

Dagegen war nun freilich nichts einzuwenden. Die 
Trauer, die im leidenfchaftlichen Triebe jach abgebrochen 
worden war, mußte ja wohl nachwachſen. Aber ed war 
nicht diefe natürliche Empfindung allein, und id) fpürte 
gar wohl, was ed war. 

Die Ernte hatte begonnen, die ödefte Zeit in unferem 
Heideboden. Sn der durdhhitten Sandfchicht verdorrt 
der frifche Frühlingsfaft rafch, Buſch und Wiefe ent» 
färben fich, die Felder deden kahle Stoppelhalme, felber 
das Kraut ber Kartoffeln ftirbt ab; alles verftäubt, alles 
verläuft grau in grau. Im Garten welfen die Blumen 
fo früh, als fie aufgeblüht; die Sommerfrächte, die er 
erzeugt, Kirſchen und Beeren find vorüber; die Vögel 
find verftummt, bie Bäche ausgetrocnet, Fein Waffers 


Fünfter Abſchnitt 215 


Tüftchen kühlt den glühenden Sonnenbrand. Die Men: 
ſchen aber fchleichen abgefpannt vom mühfeligen Tages 
werf; es gibt frühere Arbeitds und darum frühere Ruhes 
ftunden; die gleichbefchäftigten Nachbarn bleiben aus, 
die mäßigen find auf Reiſen; die gefellige Plauderei 
hört auf. Die arme Liska war den ganzen Tag allein, 
fie fehnte fich nach Zerftreuung und Wechfel, und weil 
fie zu Frau Lodoiskas Zeiten nach beiden ſich niemals 
gefehnt hatte, nannte fie das, was ihr fehlte: „Maman!“ 

„Sehen Sie Ihre Freunde an, Liska,“ mahnte ich, „bie 
Mutter und Herrmann — —“ 

„D bie großen, großen Leute,” unterbrady fie mich, in» 
bem fie den Mund zu einem Scippchen zufammenzog. 
„Wer kann ohne Unterlaß in die Höhe blicken?“ 

„Bemühen Sie fich, an ihrer Tätigfeit teilzunehmen, und 
Sie werden zu gleicher Höhe mit ihnen heranwachſen.“ 

Wiederum fehüttelte fie mit einem Seufzer den Kopf 
und zeigte dann lädhelnd auf die gepflegten Hände, an 
denen fie mit einem Mefferchen pugte. 

Doch verfprad, fie Gehorfam und ftellte ſich zunaͤchſt 
am. anderen Mittag, nad) kaum vollendeter Toilette und 
noch fatt von ihrer Schofolade, an der gemeinfamen 
Tafel ein. 

Aber ſchon während ich das Tifchgebet ſprach, gähnte 
fie; fie rungelte die Stirn, ald Freund Hecht die Suppe 
ſchluͤrfte, und ald er fpäter gar einmal das Meffer zwifchen 
ben Lippen hindurchzog, wurde fie blaß. Sie wendete 
die Augen von den fchwieligen Händen unferer Vers 
walter, der bloße Anblid des ſchwarzen Broted erregte 
ihr Efel; daß fie Rippefpeer und Puffbohnen ungefoftet 
ließ, braucht nicht verfichert zu werden. 


216 Frau Erdmuthens Zwillingsfähne 


„Unfere Tiere äßen nicht, was euch Deutfchen fchmedt,“ 
fagte fie mir nad) Tiſch. Den braven Judex nannte fie 
Monfieur Averfion und den Doktor Monſieur Antipathie, 
obgleich der Doftor — nicht bloß bei Tiſche — ein Gentle- 
man und, glaubt cd nur, es nicht erft auf Nelfond Ad⸗ 
miralöfchiffe geworden war. Fräulein Liska Eonnte es 
ihm nicht vergeffen, daß er ihr den eriten Schmerz im 
Leben angefündigt hatte. Im übrigen war die Anti- 
pathie gegenfeitig. 

Wie aber beim Genuß, fo beim Gefchäft. Sie folgte 
Frau Erdmuthen in Wildhfeller und Vorratöfammer, 
aber fie ftand fteif wie eine Puppe vor allem, was fie 
darin hantieren fah, und floh mit einem danfbaren Hand⸗ 
kuß, ald die Mutter fie freundlicd; ihres Freiwilligendien- 
fted entband. „Das Kind ift nicht gefchaffen, um zu nügen, 
aber um zu erfreuen,” fagte Frau Erdmuthe laͤchelnd. 
„Laffen wir es bei feiner Art, ed tut und genug, wenn 
es gluͤcklich ift.“ 

Fraͤulein Liska aber ſagte, als ſie mir den gelobten 
Dienſt auffündigte: „Zu was dieſe Dual? Die Mutter 
braucht mic) nicht, und ich werde nie ein deutſches Gut 
zu bewirtſchaften haben.“ 

„Warum nicht, Liska? Wenn Sie nun einen deutſchen 
Gutsbeſitzer heiraten?“ 

„Ich heirate aber keinen, oder halte mir Maͤgde, welche 
die Milch abſahnen und Schinken einpoͤkeln. Die Ein⸗ 
geweide wenden ſich mir um, wenn ichs nur ſehe und 
rieche.“ 

Sie haͤtte nun ein Stuͤck Zeug und die Inſtrumente 
aufnehmen koͤnnen, mit welcher Hilfe eine Deutſche, 
auch wenn ſie Dame iſt, viel Gram und Sorge verwin⸗ 


Zünfter Abſchnitt 217 


den und in einer Einoͤde heimiſch werden kann. Aber 
fie hatte, wie überhaupt wenig, fo auch von Handar⸗ 
beiten nur gewiſſe Klofterftickereien gelernt, für weldye 
in ihrer Hiefigfeit Material und Zweck gebrachen. Sie 
hätte fich des Gartens und Gewaͤchſshauſes annehmen 
fönnen: aber fie liebte ed wohl, ſich mit Blumen zu 
fhmüden und von den Früchten zu nafchen, doch fie 
langſam und mühfam heranzupflegen, dazu fehlte ihr die 
Geduld. 

Alles in allem, fie hatte weder Neigung noch Humor 
für unfere Natur und für unfere Menfchen mit ihrer 
Laft und Luft. So gingen wir denn ein jeder feinem 
Pflichtenfreife nad) und geftatteten der Fremden, eine 
Fremde darin zu bleiben. Man hätfchelte fie wie ein 
Kind, und juft die Kinderlaune war ed, welche über 
Mutter und Sohn einen fo mächtigen Zauber übte. 
Der alte Paͤdagog aber fühlte wohl, daß eine ftrenge, 
gefegmäßige Zucht vonnöten fein würde, wenn man im 
Ernfte daran dachte, das unheimifche Neid in unferem 
Gehege Wurzel fchlagen zu Iaffen. Wußte er aber nicht 
auch, wie felten folche Zucht Direkt von Menfchen und 
obendrein von fremden Menfchen geübt werden kann? 
Nur der mähliche Fluß der Zeit und ihrer Niederfchläge 
wandelt unfere Eigenart um. „Und gar oft zu einem 
Zerrbilde um”, feßte Albrecht Bär hinzu. 

Im übrigen bemerften wohl auch Mutter und Sohn 
bie Umftimmung ihres Schüglingd, nur daß fie in Gram 
und Sorge die hinlängliche Erklärung dafür fanden. 
Liska hatte ihrem Vater mehr als einmal gefchrieben 
und Herrmann die Briefe durd, die dringendften Emp⸗ 
fehlungen des Öouvernemente zu fichern geſucht, auch 


EP BR LE ET LT EEE 


. ma = 2 BB # 


u" Ai Due, aba De" Mae > Aut A er ee Se: = Ser ee —— 


218 Frau Erdmuthens Iwillingsföhne 


Frau Erdmuthe ſich nicht nur an ihren Sohn Raul, 
ſondern direkt an General Thielemann gewendet, um 
Auskunft uͤber den Kapitaͤn von Saint Roc zu erhalten. 
Wie nun aber Woche um Woche ohne Erwiderung ver⸗ 
lief, da beſchwichtigte die Kleine ihre Ungeduld, indem 
ſie die Briefe ſtudierte, welche Raul ſeit dem Eintreffen 
in Kaliſch geſchrieben hatte, und wie ſie den Zuſtand 
ihres lieben Papas aus dem des fremden Vetters ab- 
leitete, identifizierte fie fich in Gedanfen mit dem Wanne, 
ald deffen Ebenbild fie die Herzen einer fremden Familie 
in Sturm genommen hatte. Sprad; er doch nidyt nur 
mit ihren eigenen Lauten, fondern auch mit dem Aus⸗ 
druck ihres eigenften Gemuͤts. Stolz, Hoffnung, Lebens⸗ 
freude quollen aus feiner Bruft in die ihre. In den erften 
Briefen, bis zum Eintreffen des Kaiſers in Wilna, 
brannte er vor Ungeduld nad) der Eröffnung bes Feld- 
zugd, der Europa von ber Bedrohung afiatifcher Bar⸗ 
baren befreien ſollte. Das Seelenbäschen glühte nach⸗ 
träglidy mit. Er fchalt die Polen, weil fie nicht mit der 
erwarteten Begeifterung ſich dem größten zivilifatorifchen 
Unternehmen der Gefchichte in die Arme warfen und 
an die Herſtellung ihres armfeligen Vaterlandes mehr 
ald an den weltgebietenden Ruhm Frankreichs und feis 
ned Kaiſers dachten. Mademoifelle Liska ftimmte in dies 
fed Schelten ein, obgleich die Geſcholtenen die Landes 
leute waren ihrer angebeteten Maman. 

Während des Vormarfched der großen Mittelarmee 
ſchrieb Raul von Station zu Station in ungebrochener 
Siegeszuverſicht. Und das nicht etwa aus militärifcher 
Rücficht oder aus Schonung der Familienforge. Seine 
elaftifche Natur empfand eben wenig von den Strapazen, 


Fünfter Abſchnitt 219 


dem Sonnenbrand, dem Mangel, ber ungeheuren Er» 
mattung, welchen faft ein Dritteil der Armee fohon vor 
dem Kampfe erlag. Es ging ihm wie dem Jaͤger, ber 
in blinder Leidenfchaft ein flüchtiges Wild verfolgt und 
aus dem blutigen Rauſche erft erwacht, wenn er, vers 
ſchmachtend inmitten einer Wildnis, den zurädleitenden 
Pfad verloren hat. 

Während der Ruhepaufe in Witebsk hatte er ben Brief 
der Mutter erhalten, der ihm den Eintritt der fremben 
Verwandtin in ihr Haus mitteilte. Er begrüßte fie mit 
den wärmften Worten, o, mit wieviel wärmeren als ben 
eigenen Zwillingöbruder. Über das Schickſal des Kapi- 
taͤns von Saint Roc verfpracdh er die umfaffendften Er: 
fundigungen einzuziehen. 

Doc, hatte er noch nicht einmal aber den Stand beffen 
Regiments etwas Zuverläffiges erfahren können, ald er 
am 20. Auguft unmittelbar nad) den Gefechten um Smo- 
lensk zum legten Male fchrieb. Seine Seele ging höher 
denn je. Er nahm die Erfolge der Seinigen und ben 
fortgefegten Ruͤckzug der Gegner für bad, was der letztere 
zu jener Zeit wohl auch wirklich noch war, für die Tat 
der Notwendigkeit, nicht eined Syftems; er phantafierte 
von dem nahen Siegeds und Friedendfefte in der Ka- 
pitale des Zarenreichee. 

Liskas Wangen glühten nad, biefer jubelvollen Kund⸗ 
gebung unſeres Monſieur Bulletin. Die Zweifel über 
ihren Papa fchlug fie ſich aus dem Sinn; fie war ges 
wohnt, ihn in Kriegsgefahr zu wiffen, und vorahnende 
Sorge lag nicht in ihrem Naturell. Mädhtige Hoffnungen 
waren in ihr angefacht; Hoffnungen nicht bloß auf ben 
Stern des Kapitänd. Sie hoffte für ſich ſelbſt; unbe: 


220 rau Erdmuthens Zwillingsföpne 


ſtimmt, unbewußt vielleicht, wie einer hofft, der das 
Bruchteil eines Lofes in einer großen Lotterie befißt und 
unter taufend Nieten auf einen Treffer zahlt. Möglich, 
daß die reichen Sarmatenfchlöffer wieder erftanden, in 
welche Frau Lodoiskas Phantafie ſich geflüchtet hatte. 
Vielleicht rechnete fie auch auf eine baldige Ruͤckkehr 
nad Frankreich, furzum auf einen ihre Gegenwart ver- 
ändernden Wechfel; hier aber oder dort zog die Begeg- 
nung mit dem feelenverwandten Raul fid) wie ein roter 
Faden durch ihre Träume. 

Die nämlichen Ereigniffe nun aber, welche unfer frän- 
fifcher Ruhmesritter als weltbezwingende Siege feierte, 
diefelben Rüdwärtöbewegungen der ruffifchen Armee 
belebten das Freiheitähoffen unferer deutfchen Patrioten, 
ja, fie wuchfen zur unerfchütterlichen Zuverficht, als 
Schritt für Schritt die anfängliche Notwendigkeit zu 
einem ftrategifchen Plane wurde, in dem man bie Seele 
bed großen beutfchen Agitatord zu erkennen glaubte. 
Das Gold ded Schweigend war von zweifachem Wert 
in jener Zeit; den aufmerfenden Freunden aber fpradı 
ein ftetiges Handeln beredt genug für den eines ficheren 
Zieled bewußten Willen. 

Das fächftfche wie preußifche Gut wurden verprovian- 
tiert, ale hätte ein Prophet die fieben mageren Jahre 
nach ben fetten vorausgefündet; hier wie Dort waren 
längft fräftigende Leibesübungen eingeführt, unter Ber- 
gnuͤgungsvorwaͤnden Schießftände errichtet, aus England 
und Schweden eingefchmuggelte Büchfen verteilt worden. 
Schlug die Stunde, nad) welcher feit ſechs Sahren jede 
Fiber diefes anfcheinend fo ruhigen Herzens pulfierte, 
dann durfte der Junker vom Burghof ein wohlgefchultes 


Fünfter Abfchnitt 221 
Faͤhnlein dem neuen Kreuzzuge zufuͤhren, und die drei Neſt⸗ 
linge in weiland Safrandrell wuͤrden ihm als treue Schild⸗ 
knappen zur Seite ſtehen. Sie bildeten ſchon jetzt gleich⸗ 
ſam ſein Stabsquartier; gingen, kamen, redeten, ſchwiegen, 
handelten blindlings auf ſeinen Wink, bereit, Gut und 
Blut mit ihm und fuͤr ihn zu wagen. Durch die Hand 
dieſer unverfaͤnglichen Leute verbreiteten ſich weit uͤber 
unſere Heimat hinaus die erweckenden Schriften, die, zu⸗ 
meiſt von Arndt in Rußland ausgehend, heimlich in 
Deutſchland gedruckt und kolportiert wurden. Es war 
ein ſtumm gefchäftiged Weben und Walten um uns 
herum, deffen Sinn wir zu deuten wußten. 

Rauls letzter Brief, der durch einen Kurier an den 
König ungewöhnlich rafch befördert worden war, er: 
reichte und am Vorabend des Geburtötages der Zwillings⸗ 
brüder, des fechften September, und erwähnte ich wohl 
ſchon, daß es Sitte geworden war, mit diefem Freuden: 
fefte das unferes Erntedanfed zu vereinen. Wenn nun 
in früherer Zeit diefe Feier ſich auf das Gut befchränfte, 
da ed in der Gemeinde blutwenig zu ernten gab, fo be> 
zeugten fi weiterhin Danf und Freude auch im Orte 
Hans für Haus, feitdem durch Frau Erdmuthens men> 
fchenfreundliche Verwaltung und mehr noch durch ihres 
Sohnes meliorierende Neuerungen der Zuftand der Bür- 
gerfchaft fich fo viel gedeihlicher geftaltet hatte, Meben 
dem Ahrenkranz der Gutsarbeiter wurde auch der der 
Gemeinde in feſtlichem Aufzug in den Burghof gefahren; 
an den vollen Tafeln, die darin aufgeſchlagen waren, 
nahmen, außer Dienern und Feldarbeitern ſamt Kind und 
Kegel, von den Ortsangehoͤrigen Platz, wer Luſt und 
Appetit empfand; am Nachmittag ſammelten ſich in den 


922 Fran Erdmuthens Iwillingsfähne 


befränzten Schloßräumen Freunde und Bekannte aus 
der weit ausgedehnten Nachbarfchaft, um das Doppel: 
feft miitzufeiern. Daß Fräulein Iduna zu diefem ihrem 
Herbfttermine niemals gefehlt hat, braudyt wohl nicht 
verfichert zu werden. 

Das Triebwerk ded Tages rollt, gleichviel ob die Herzen 
in Entzüden oder in Angſten klopfen, und Frau Erd⸗ 
muthe war die letzte, redlichen Arbeitern eine wohlver⸗ 
diente Erholungsſtunde zu entziehen, weil ihre eigene 
Seele Leid trug. Sie wußte um die ſtuͤndliche Gefahr, 
die ihren Lieblingsſohn bedrohte, ſie ahnte das Unheil, 
dem er, wenn er noch lebte, ſorglos entgegentaumelte; 
ſie kannte auch die heimlichen Ruͤſtungen, mit welchen 
der Sohn, welcher ihr Freund war, der Sache ſeines 
Bruders entgegenzutreten trachtete; das Haar auf ihrem 
Haupte bleichte die Sorge, aber auf ihrem Herde lo⸗ 
derten maͤchtige Kiefernkloben, die Keſſel brodelten, in 
Kuͤche und Keller waltete jenes geſchaͤftige Treiben, das 
bei jedem Volke, und unſerem lieben deutſchen zumal, 
die Baſis alles Vergnuͤgens wie aller Gaſtfreundſchaft 
bildet und in Ewigkeit bilden wird. 

Seit ihrer Verwitwung war es Frau Erdmuthens 
Lieblingsplan, an Stelle unſeres armſeligen Kirchleins 
ein dem Wohlſtande des Patronats entſprechendes Got⸗ 
teshaus aufzurichten. In einer traurigen Stunde hatte 
ſie ja ſchon einmal an die Kloſterruine gedacht, die ſich 
fuͤr dieſen Zweck ſo ausgeſprochen eignete. Die politiſche 
Unſicherheit und Herrmanns Kulturanlagen ließen den 
Plan jedoch in den Hintergrund treten. „Erſt unſer 
gutes Recht, dann die Friedenskirche“, ſagte ihr Sohn, 
und ſie neigte in ſchweigender Zuſtimmung das Haupt. 


Fünfter Abſchnitt 223 


Mir für mein Teil war der Auffchub eben recht. Ich 
liebte unfere Kirche fo, wie fie war; wie ich den alten 
keibroc liebte, den mir mein Vater vererbt hatte, In 
einem neuen Rock und in einem neuen Hauſe wuͤrde id 
mein Amt nicht mit fo viel Wohligfeit verwaltet haben. 
Mir begnügten und daher mit einer forgfältigen Säu: 
berung, und da man vorderhand nicht tun konnte, was 
den Sinn erhebt, tilgten wir mindeftend, was die Sinne 
beleidigt. 

Der befcheidene Tempel hatte für die morgende Feier 
ein Feftgewand übergeftreift. Gruͤne Gewinde ringelten 
fih um die hölzernen Träger; der braune Ziegelboden 
war mit einem Teppich von Tannenreid und duftigem 
Kalmusrohr belegt, um das dunkle Kreuz über dem Altar 
ein voller Ährenfranz gefchlungen. Ich hatte mit meinem 
Jugendchor eine Motette vom alten, lieben Vater Badı 
probiert und ftand bei einbrechender Dämmerung unter 
dem Portal, deffen roh gezimmerted Gewaͤnde fich hinter 
einem Rahmen von Sonnenblumen verftedte. Mit Vers 
gnügen überblickte ich noch einmal ben wohlgelungenen 
Schmuck. 

Da kam Liska von der Kloſterſeite her. Es war ihr 
Lieblingsweg. Das an Schoͤnheit gewoͤhnte Auge hatte 
in der waldumrahmten Ruine den einzigen romantiſchen 
Punkt der Gegend ausgefunden, und die kleine Kapelle, 
die noch die Kennzeichen des katholiſchen Kultus trug, 
weckte ihr heilige Erinnerungen. Der Jubel uͤber Rauls 
juͤngſten Brief war in eine elegiſche Stimmung umge⸗ 
ſchlagen. „Ihr bereitet Freudenfeſte, und ich ano eine 
Trauermeffe hören“, klagte fie. 

Gie at mir IapR Be Mal bie Sehnſucht nach 


924 Frau Erdmuthens Iwillingsfähne 


einem kirchlichen Opfer fuͤr die Seelenruhe ihrer Mutter 
ausgeſprochen. War dieſelbe doch ohne den Segen der 
Sakramente geſtorben und nicht in geweihter Erde be⸗ 
graben. Welchen beſſeren Troſt aber haͤtte ich ihr zu 
geben vermocht, als daß es Gottes Wille ſei, der ihr 
zur Zeit dieſe Entbehrung auferlege, und daß das Gebet 
eines liebenden Herzens die Kraft eines wundertaͤtigen 
Opfers in ſich trage. Heute wie fruͤherhin ſchuͤttelte 
ſie den Kopf und ſagte unwillig: „Was verſteht ihr da⸗ 
von?“ 

Eine beſſere Wirkung erzielte ich, indem ich die Lebens⸗ 
hoffnungen, welche der Brief unſeres Sanguinikers er⸗ 
regt hatte, von neuem in ihr anfachte. „Wie wuͤrde Ihr 
Vater, wie würde auch Ihr unbekannter Bruder, Liska, 
ſich freuen,“ fagte ich, „wenn fie bei der Heimkehr Sie 
den Freunden, die Ihnen fo liebreich die Hände bieten, 
innig verbunden fähen. Empfinden Sie mit ihnen den 
Segen ihrer Arbeit, für den wir Gott öffentlichen Dank 
zu fagen im Begriff find; ed ift eine Gnade, die auch 
Ihnen zugute kommt.“ 

Freundliche Bilder fchienen während diefer Worte in 
ihr aufzutauchen. „Sch will mit Ihnen Danf fagen,“ 
verfegte fie, indem fie einen heiteren Blick in das ges 
fhmüdte Bethaus warf. „Auf Wiederfehen morgen in 
Shrer Kathedrale, mon bon petit cur&!“ Laͤchelnd ſchwebte 
fie voran. Sie war mir nody nie fo liebenswuͤrdig vor- 
gefommen. Am Abend zuvor hatte Frau Erdmuthe zum 
erften Male den Wunfch einer Verbindung Liskas mit 
ihrem Sohne gegen mid) audgefprochen. Die Liebe vers 
blendete die fonft fo hellfichtige Frau; nicht nur die Mut—⸗ 
terliebe, fondern mehr noch die zu dem unvergeßlichen 


Fünfter Abfchnitt 225 


Gemahl, deffen Abbild fie in dem fremden Kinde erfannte. 
Daß ed nur ein Außerliched Abbild war, daß nadı Er⸗ 
ziehung, Religion, Sprache, Lebensweiſe und Heimats⸗ 
gefühl, ja felber der Sinnesart nach der Gatte ihr ein 
Gleicher gewefen war, dag wollte fie ald Einwand nicht 
gelten laffen. „Lieben fie fi nur, wie wir ung liebten, 
fo werden fie glüdlich fein, wie wir ed waren,” fagte 
fie. „Herrmann liebt fie, ich fühle ee, und follte fie fein 

Herz zu diefem herrlichen Freunde faſſen können?” 
Ich hatte beflemmt gefchwiegen; nun aber, fo wenig 
ich auf eine Profelytin rechnete, fah ich in Liskas Zuges 
ſtaͤndnis eine Näherung, die mich weiteres hoffen lief. 
Ich folgte ihr nach dem Schlofle, fand fie im Wohns 
zimmer mit Herrmann allein und zögerte nicht, Die gute 
Botfchaft mit einem Trompetenftoße zu verfünden. 

„Dank, Liska,“ fagte Herrmann bewegt, indem er ihre 
Sand an fein Herz drüdte. „Werden Sie die unfere je 
mehr und mehr, werden Sie ed ganz.“ 

Nun, das war deutlich. Und fie? 

Da ftand ein Mann vor ihr, jung, untadelig an Geift 
und Geftalt, mit einem Blick der innigften Liebe in den 
treuen Augen und einer Fülle zeitlich guter Gaben, bie 
er zu ihren Füßen niederlegte. Ein Lächeln, ein Laut, 
ein leifer Gegendrud der Hand, und er war ber Ihre 
fürd Leben. Wenige oder feine von Fräulein Sdunas 
langem Regifter würde ſolchem ungweideutigen Werben 
gegenüber die Spröde gefpielt haben, felber die Günftigfts 
geftellte faum. Und diefe heimatslofe Waife, der welt: 
verlaffene Schügling feines Hauſes, fie riß fi) von ihm 
[08 und fagte lachend: „Dröles d’Allemands! kommen . 
Sie, Couſin, fragen wir die Mutter, ob auch fie ein 
XX.15 


226 Fran Erdmuthens Swillingsföhne 


Heldenopfer darin ficht, daß die Dumme Liska ein Stünds 
chen ftillfigen und geduldig mit anhören will, wovon fie 
feine Silbe verftcht.“ 

Damit z0g fie ihn aud dem Zimmer. Nehmt ed aber 
beileibe nicht für ein gefallfüchtiges Spiel, halb Ja und 
halb Nein, das fie in diefer Weife tried. Sie errötete 
nicht, ihre Augen glänzten nicht, fie feherzte im Ernſt; 
fie ahnte fein Begehren, weil ihm dad ihre nicht ent 
gegenfam, fie verftand nur dad, was fie empfand. Die 
fleine Franzöfin war manches, was fie nicht hätte fein 
follen, aber kofett, wie Franzoͤſinnen fein follen, war fie 
nicht. Sie liebte ed zu gefallen, aber nicht mit beredy- 
neter Keuchelei. AU meine Siegedhoffnung war in den 
Brunnen geftärzt, und eine bittere Aufgabe dafür heraufs 
gezogen. Den lieben Freunden mußte ihre Täufchung 
benommen werden und bald, ehe fie zum Schmerze ward. 

Wie häufig in bemegter Stimmung feßte ich mid) ans 
Klavier; ich phantafierte eine Weile und fchlug dann 
unwillfürlich die Melodie unfered Bundeslieded an. 
Nach einer Weile fühlte ich Serrmannd Hand auf meiner 
Schulter, ich hatte ihn nicht wieder eintreten hören. 

„Sie hatten recht, treuer Mentor, das ift Freundfchaft“, 
fagte er. 

„Und wenn ich heute nun fagte, Herrmann, daß ich ale 
ein Tor Ihnen widerfpracdh; wenn es dennod) Liebe wäre, 
Liebe, wie fie und ziemt und frommt und allein ung 
dauernd beglüdt?“ 

„So würden wir fie beide erffärt haben, ich damals 
und Sie heute, wie der Blinde die Farbe erflärt, die er 
denkt, ftatt fieht“, fagte er, drücte mir die Hand und 
verließ das Zimmer. 


Fünfter Abſchnitt 297 


„Ad, er Tiebt fie, und fie liebt ihn nicht.“ Diefe alte 
Gefchichte, Gott verzeih ed mir, war ftatt des Evange⸗ 
lientextes der Inhalt meiner feftnächtlichen Betrachtung, 
und mein Herz hämmerte gegen die Bettdede, ald wenn 
id) felber der ungeliebte Liebhaber wäre. Für meinen 
Herrmann freilich fah ich in einer Abweifung nur einen 
glüdbringenden Schmerz; was aber wurde aus der hei- 
matlofen Waife, nachdem die Abweifung einmal ausges 
fprodyen war. Konnte Liska noch länger unter dem 
Dache ihrer Beſchuͤtzer mweilen? Fertig gebracht hätte 
ſie's allenfalls. Aber Mutter und Sohn? Ich fchlief 
endlich ein mit dem tröftlichen Verlaß auf die flämifche 
Felsſche Ader, die eine Entfcheidung hinausfchieben 
werde, bis irgendeine Ausflucht fich gefunden habe. 

Am anderen Morgen faß Liska zwifchen Frau Erd⸗ 
muthen und Herrmann mir gegenüber in der gutsherr» 
lichen Empore, und zum zweiten Male fagte ih: „Gott 
verzeihe mir die Sünde,” ich fchielte zu ihr hinüber wie 
der Schüler zum Rektor, wenn er ein Examen zu be- 
ftehen hat. Schon während ded Morgenliedes fchnitt 
fie ein Geficht, al ob fie den biederen Judex die Suppe 
fchlürfen höre; auch die Fugenfäge meines Jugendchors 
fchienen ihr nichts weniger als ein Ohrenfchmaug zu fein. 
Dann fam die Liturgie mit obligatem Stirnrungeln und 
Händeballen. Nun dad Erntelied, Es hatte freilich 
dreizehn Verſe; als ich dem Küfter den Sirchenzettel dik⸗ 
tierte, fonnte ich da aber vorausfehen, daß wir eine Zu- 
hörerin haben wuͤrden, die immer bläffer und bläffer 
wurde und ſich fchüttelte wie jemand, der etwa Kork 
fchneiden oder ein Meffer auf dem Teller quietfchen hört? 
Sch betrat die Kanzel mit dem gottlofen Vorſatz, ed fo 


228 Frau Erdmuthens Zwillingsföhne 


kurz zu machen, als meine langatmige Gemeinde es ir⸗ 
gend vertrug. Unter vier bis fuͤnf Geſichtspunkten, aus 
welchen wir den Text betrachteten, konnte ich es indeſſen 
durchaus nicht tun, ohne der Wichtigkeit des Tages zu 
nahe zu treten. Noch ſchmeichelte ich mir mit der Hoff⸗ 
nung, daß die Fremde in das rhythmiſche Heben und 
Senken der Haͤupter meiner frommen Kirchenmuͤtterchen 
einfallen werde. Aber ſie nickte nicht ein; im Gegenteil, 
ſie ſchnellte von ihrem Platze empor und ſtand, die Haͤnde 
an den Rand der Galerie geklammert, mit zuſammen⸗ 
gezogenen Brauen und zuckenden Mienen mir drohend 
Auge in Auge gegenüber von X bie 3. Nur als zum 
Schluß beim Gebet für die herrfchaftlichen Zwillings- 
föhne die Gemeinde aufftand und mit Anteil zur Mutter 
in die Höhe blickte, war ed der Name „Raul“, der aus 
dem bisherigen Chaldäifch ſich ihrem Ohr verftändlich 
abzuheben fchien. Ich fah fie die Hände falten und die 
Lippen bewegen. Nun fprad) id; den Segen und ent- 
floh, während der Schlußgefang verhallte, ohne gewohn- 
termaßen die Gutöfreunde zu begrüßen, durch die Sa⸗ 
Friftei in meinen Garten, 

So war von den Häuptern meiner Lieben wenigſtens 
das Unwetter abgeleitet; auf das eigene platte ed um 
fo ungeftümer nieder. Ic, hatte mein Haus noch nicht 
erreicht, ald die Fleine Here an meiner Seite ftand, um 
vor ihrem guten Fleinen Pfarr’ die volle Schale der Ems 
pörung über und Feterifche Barbaren und unfere ſtupide, 
falte, plumpe, Tangweilige Verehrung bed Heiligen aus⸗ 
zugießen. | 
. Ich werde mich wohl hüten, die kindliche Merkuriale 
zu wiederholen, verfichern aber will ich, baß die Übers 


Fünfter Abfchnitt 229 


fchwenglidhfeiten der kleinen Suͤdlaͤnderin ſich weit vers 
ftändlicher anhoͤrten als die wortverwandten, welche von 
romantiſchen Neubekehrten der eigenen Zone dazumal in 
die Mode kamen. Es klang zwar nicht neu, aber doch 
natuͤrlich, was die purpurnen Lippen und funkelnden 
Augen mir ausmalten. Ich ſah die hohen Kathedralen 
und die ſchoͤnen Gläubigen zu Füßen ber ſchoͤnen Ma— 
donnenbilder; ich atmete Orangen und Weihraudybüfte, 
hörte die Seraphschoͤre, unter denen der Priefter im 
weißgoldenen Gewand bad Opfer der Wandlung volls 
zieht und ben fichtbaren Gott über den Haͤuptern bei 
anbetend nieberfinfenden Schar verkündet. 

Und wenn nun unter den dünnen Klängen unferer 
Orgel und dem nÄfelnden Gefang der armen Heidege⸗ 
meinde, unter der chaldäifchen Predigt des Fleinen Pfarre 
jene entfchwundenen Herrlichkeiten in dem wiberwilligen 
Fremdling Iebendfrifch wieder aufgewacht waren, fo 
würde ich ihm dieſes religiöfe Heimweh ohne proteftan- 
tifche Skrupel nachgefühlt und nachgefehen haben, hätten 
nur die nordifchen Barbaren, die ich liebte und die dem 
alleinigen Gott im Herzen feinen Tempel bauten, nicht 
allen Ernfted daran gedacht, den Frentdling auch durch 
religiöfe Bande unter unferem firengen Himmel heimifch 
zu machen. 

Sp ließ ich denn Drangens und Weihrauchbüfte ohne 
Abwehr über mich ergehen. Bor dem, was aber nun 
folgte, verwandelte aller Wohlgeruch fich in eitel Pech⸗ 
und Schwefeldunft. 

„Und biefem Gefang, und dieſer Predigt: zuliebe,” 
rief Liska mehr und mehr aufgebradjt, „biefem Falten 
Gottesdienft zuliebe Fonnte ein Saint Roc feine fonnige 


230 Fran Erdbmuthens Swillingsföhne 


Heimat und feine heiligen Stätten verlaffen und in einer 
nordifhen Wüfte ein Geſchlecht begründen, froftig und 
nüchtern wie der Himmel, zu dem ed aufblidt, und wie 
die arme Erde, die ed ernährt.“ 

„galten Sie ein, törichtes Kind!” rief ich ihr entgegen. 

Aber da war fein Halt. Das Mädchen war außer fid. 
„Und unter diefen Himmel bin ich ausgeſtoßen,“ fchrie 
fie händeringend,. „und unter diefen Menfchen foll ich 
leben und fterben, und Gluͤck und Seligfeit opfern - und 
ich bin noch nicht achtzehn Jahr!“ 

Ein konvulſiviſches Schluchzen unterbrad; fie; ich fonnte 
zu Worte kommen. Auch mein Blut war ind Kochen 
geraten. „Sind Sie endlich fertig, heillofe Toͤrin?“ rief 
ich empört. „Und wenn Sie die Sünde nicht fcheuen, 
einen Gotteödienft zu Iäftern, deffen Höhe und Tiefe Sie 
nicht ermeflen innen, fhämen Sie ſich nicht des Uns 
danks gegen die Menfchen, deren Liebe — -“ 

„Liebe!“ unterbrach fie mich, indem fie verächtlich die 
Achſeln zuckte, „Liebe! Wiffen diefe Menfchen, was Liebe 
iſt?“ 

„Nicht, etwa nicht?“ donnerte ich. „Nun gut; ed mag 
Mitleiden gewefen fein, Erbarmen, dad die Waife des 
fremden, hilflofen Weibes von der Schwelle des Armens 
fpitteld unter den Schuß eined edeln Hauſes gerettet 
hat; was Sie aber darin feſthaͤlt ohne Gegendienft, fefls 
halten möchte lebenslang mit einem Zartfinn, einer Scho> 
nung, die der eigenen Tochter nicht gewährt worden 
wäre, das ift nicht bloß Mitleiden, das ift Liebe, Liebe, 
die fo rein und freudig Shre leibliche Mutter, undank⸗ 
bare Kreatur - -" 

Ich ſtockte; in fehr undhriftlichem Zorn hatte auch ich 


Fünfter Abfchnitt 231 


über mein Ziel hinausgefchoffen, und fchon wurmte mich 
die Wahrheit, die ich fo ſchnoͤde ausgeſprochen. Aber 
weld; ein Umſchlag in dem fchäumenden Gegenüber! 
Was nicht die mildefte Mahnung hätte vollbringen koͤn— 
nen, der gifchende Eifer hatte ed vollbradht. Liska blickte 
mich an mit einem Ausdrud von Wehmut, ja faft von 
Vernunft; wie ich ihn niemals an ihr wahrgenommen 
hatte. 

„Mein“, entgegnete fie fanft. „Mein, reiner hätte Mas 
man mich nicht geliebt, aber freudiger, Vaͤterchen. Ich 
bin nicht undanfbar, nur ungluͤcklich, adh, fo fehr. Deine 
MWohltäterin ift eine Heilige, ich beuge meine Knie vor 
ihr. Wenn idy fie Mutter nenne, denke ich an die Gnas 
denmutter, bie nicht in Sünden geboren if. Maman, 
meine füße Maman fchalt mich, wenn id; unartig war; 
fie jagte mich von ſich, fie hat mich gefchlagen, ja, ges 
fchlagen, Bäterchen. Aber dann küßte fie mid) wieder: 
ich fühlte ihre glühenden Tränen und hörte ihr goldenes 
Lachen. Sch war Blut von ihrem Blut, und Herz von 
ihrem ‚Herzen, ich war ihr Glüd, ihr Leben; mein Tod 
würde ihr Tod gewefen fein: und das iſts, was ich lies 
ben heiße, Bäterchen, und was eure großen, fühlen Mens 
fchen nicht verftchen. Diefe Mutter fieht ihren liebften 
Sohn in Todesgefahr — ed ift eine Einbildung, die fie 
nun einmal hat. Raul lebt, er wird leben! Aber wer 
hat einen Klagelaut aus ihrem Wunde gehört? Ihr 
Herz weint, und fie feiert Freudenfeite. Und Erman — -" 
Sie brach ploͤtzlich ab. 

„Und Herrmann?” fragte ich gefpannt. 

Jaͤhlings wie die Wetter der Tropen, ziehen in folchen 
Naturchen die Stimmungen auf und ab. Jetzt Blig und 


282 Frau Erdmuthens Bwillingsfähne 


Schlag, dann kurze graue Stille, und Sonnenfdein wie 
zuvor. Dem Parorysmus folgt die Apathie. Made 
moifelle unterdräcdte ein Gähnen. 

„Und Herrmann? Was wollten Sie von Herrmann 
fagen, Liska?“ wiederholte ich. 

„Bon Erman?“ antwortete fie gebehnt. „Von Erman? 
Nichte. Il m’ennuie, voilä tout.” 

Mir fuhre wie Geißelhiebe über den Leib. Die Kehle 
war mir zugefchnürt; id) fehrte dem Unhold den Rüden 
und ging meinem Haufe zu. Noch hatte ic) feine Schwelle 
aber nicht erreicht, als Fisfa mir nachfam und mit bei- 
den Händen nad) den meinen faßte. 

„Zuͤrnen Sie mir, Vaͤterchen?“ fchmeichelte fie. „Nun 
ja, Erman ift Ihr Herzengfohn, und er ift feiner Mutter 
Ebenbild, ein Ideal. Aber was wollen Sie? Sch bin 
eben fchlechter Laune heute, und — er interefjiert mid) 
nicht. Und wiffen Sie, was Maman einmal gefagt hat, 
Bäterchen? ‚Sch danke den Menfchen, die mich inters 
effieren, mehr als denen, die mir dad Leben gegeben 
haben‘, hat Maman gefagt.” 

Diefe Phrafe, Frau Lodoiskas würdig, fleigerte nur 
meinen Grimm gegen ihre Tochter, die einen Mann wie 
Herrmann langweilig fand — und weiter nichts. Hätte 
das Schwert des Engeld mir zu Gebote geftanden, ich. 
würde ohne Erbarmen dieſes Evchen aus meinem Para- 
dies verjagt haben. 

Wir fprachen fein Wort weiter, bis wir das Schloß 
erreicht hatten. Die Erntefränze wurden eben mit Muſik 
in den Hof gefahren, und mein Fleiner Widerpart blickte 
nicht ohne Vergnügen auf das buntbelebte Bild. Auch 
der Feftgenofjen Sang und Redenwechſel — Iegterer vom 


Fuͤnfter Abfchnitt 233 


unintereffanten Coufin Erman erwidert — fchienen ihr 
unter Gottes freiem Himmel gefälliger anzuhören, als in 
einem fegerifchen Tempel. Während nun aber die vollen 
Schuͤſſeln und Krüge aufgetragen wurden, die Gefell- 
fchaft fi an den weißgededten langen Tafeln nieders 
ließ, der Herr Paftor das Tifchgebet ſprach, Gutsfrau 
und Gutsfohn mit freundlicher Nötigung die Runde 
machten, war das fremde Fräulein nach feinem Zimmer 
entflohen, um Siefta zu halten und für den herrfchaft- 
lichen Nachmittagsfreis, fo gut die Trauer es zuließ, fich 
zu toilettieren. 

Mit der erften in ben Hof rollenden Kutfche ftellte 
Fräulein Liska fich wieder ein. Das morgendliche Pathos 
war verfchlummert und verpugt, verflogen ohne Spur, 
der Simmel weiß in welchen Winfel der Seele. Im 
fchwarzen Iuftigen Florfleide, eine weiße After über dem 
Ohr und eine vor der Bruft, fah fie ganz allerliebft aus. 
Pikant, fcharmant fanden fie die Gäfte, deren Mehrzahl 
fie heute erft kennen lernte. Man würde fie fharmant 
gefunden haben, ſchon weil fie eine Fremde war; aber 
fie war in der Tat fcharmant mit ihrer graziöfen Beweg⸗ 
lichkeit und unbefangenen SKinderlaune; felber der gifs 
tige Fleine Pfarr’ mußte ed zugeftehen, und feiner gewiß 
tat ed bereitwilliger ald der deutfche Coufin, der ihr 
langweilig war und weiter nichts. 

Da faß und ftand nun eine Mufterfarte junger Landes 
männinnen aufgereiht, alle ftattlicher, wohlerzogener und 
im Grunde fchöner als die Fleine, ſchwarze Franzöfin; 
die geringfte von ihnen würde leichter ale fie dem Traums 
bild, das Herrmann gehegt hatte, entiprodyen haben; an 
jeder aber ſchweifte fein Blick gleichgültig vorüber, um 


234 Fran Erdmuthens Swiltingsföhne 


dann einen Moment mit einem Strahl des Entzüdeng 
auf dem laͤchelnden Bäschen auszuruhen. Die Wutter 
teilte fein Wohlgefallen; Fräulein Iduna aber war 
ſchlechthin in Ekſtaſe. „Welch eine Afquifition, Baro⸗ 
nin!“ „Eine Delice, eine Charme, dieſe Couſine, Baron! 
Ganz Ihr Bruder Raul!“ rief fie ein über das andere Mal. 

Nachdem der Kaffee gereicht worden, begann der Tanz, 
für welchen am Ausgang der Ulmen eine Bühne errichtet 
war. Maͤnniglich reihte man fid zu Paaren. Was Fraͤu⸗ 
fein Liska da für Augen machte, ald fie ihren ernfthaften 
Better auf die dicke Großmagd, Frau Erdmuthen an der 
Hand des Großknechts auf eine junge Komtefle zufchrei- 
ten fah, mit der Bitte, an ihrer Statt den Tanz zu ers 
öffnen. Die Muſik ftimmte einen rafchen Walzer an. 
Der Knecht legte feinen fchwieligen Arm um die Taille 
der Komteffe, die Magd ihre braunen Fäufte auf die 
Schultern ihres Junkers, und dahin ging ed im Wirbel 
über die klappernden Dielen unter dem Ulmenfchatten. 
Hoch und gering, alt und jung, felber die finder dreh> 
ten ſich hinterdrein, nicht als legte aud) Fräulein Iduna 
im Arm des weltweifen Juder. Ein paar freuzlahme 
Großmuͤtterchen, Säuglingdenfel auf den Armen, abges 
rechnet, bildeten Frau Erbmuthe, der englifche Doftor 
und felbftverftändlich der Herr Paſtor das einzige zus> 
fchauende Publikum. Nein, Liska noch: deren Trauers 
leid Kavaliere wie Bauernburfdyen refpeftiert hatten. 
Ich ſchaute nicht auf die Tanzgruppe, ich fchaute auf fie. 
Fin Schrei entfloh ihren Lippen, eine Glutwelle übers 
flog das Geficht, dann ftand fie mit offenem Munde wie 
zur Salzſaͤule verfteinert. 

Die Tochter des armen Kapitänd, die ihre erften gefell- 


Fuͤnfter Abſchnitt 295 


ſchaftlichen Eindrüde in den Hoffreifen eined Empors 
koͤmmlings empfangen hatte, verftand nichts von patris 
archalifcher Sitte; ebenfowenig aber hegte fie die Stans 
deöbegriffe, welche für fämtliche anwefende Damen und 
Herren, Frau Erdmuthen und felber meinen Serrmann 
faum ausgenommen, ein Koder waren. Sie wiirde lies 
ber einem Majo ald einem ungierlichen Granden im 
Tanze wie im anderweitigen Leben gegenübergeftanden 
haben - aber folch einem tölpelhaften, deutfchen Bauerns 
Inecht! Dazu der Rundtanz! Sie hatte noch niemals 
walzen fehen, Arm in Arm, Bruft an Bruft, Atem gegen 
Atem in diefem rafenden Wirbel! Waren das die näm> 
lichen Menfchen, die fie heute morgen beten fah? Waren 
das die züchtigen, beutfchen Fräulein, von denen Doftor 
Bär behauptete, daß fie nicht, ohne rot zu werden, einem 
Manne gute Nacht fagen koͤnnten? Dröles d’Allemands! 
Sept war ed die Tochter Frau Lodoiskas, welche errötete, 

Sobald dem Ehrentanz genügt war, zogen „bie Herr⸗ 
fhaften“ fi in die inneren Schloßräume zuruͤck; und 
lärmte unter den Ulmen die Luftbarfeit um fo zwang» 
Iofer bis in die Nacht hinein. Drinnen, wo feit der 
Schloßfrau Verwitwung die Ballfreuden ausgefchloffen 
waren, unterhielt bid zur Abendtafel ſich die alte Welt 
an Boftons und Taroftifchen; für die junge arrangierte 
Fräulein Iduna Gefellfchaftöfpiele, und hatte die reis 
zende Fremde heute viel Mühe und Laft ihren fräftigen 
Schultern abgenommen. Liska war die Königin des 
Feſtes; von der allfeitigen Bewunderung aufgeregt, 
fprühte fie Funfen wie ein geftreichelted Kägchen. Sämts 
lihe junge Herren ftanden in Flammen, und fämtliche 
alte wurden wieder jung; fie überließen, fooft fie konn⸗ 


236 Frau Erdmutheng Zwillingsföhne 


ten, die Karten einem Aide und laufchten dem melo⸗ 
difchen Geplauder der Fleinen Franzoͤſin; felber ihre hei- 
mifchen Mitfchweftern gaben fich, anfcheinend neidlog, 
dem fremden Zauber hin. Sie zeigte ihnen, wie die 
Spanierin die Mantilla im Haar befeftigt, gab franzoͤ⸗ 
fifche Nätfel auf, fang ohne Ziererei ein italienifchee 
Liebesliedchen, das fie mit der Gitarre begleitete, Bes 
hende holte fie die Kaftagnetten herbei, die fie nicht ver- 
geffen hatte, ihrem Reiſetroͤdel beizufügen, ſchwang fie 
zwifchen den Fingerfpigen und fummte die Melodie eines 
Fandango dazu, während die Füßchen nach ihrem wech⸗ 
felnden Tempo trippelten, ald ob auch fie ihrerfeits zu 
zeigen Luft hätten, was tanzen heißt. Kurz und gut, 
Mademoifelle Lisfa war allerliebft. 

„Die Göttin der Tugend fchreit heute Hurra auf ſpa⸗ 
nifch”, fagte Freund Phyſikus. Eben wogte fie daher, 
unfere liebe, rote Dame, atemlos, eine praffelnde Flamme! 

„Doktor!“ rief fie, „id bin wie berauſcht!“ 

„Erklärkich, himmlifche Hebe. Die Baronin hält auf 
einen guten Lunel, und Sie lieben auch diefen Franzofen.“ 

Fräulein Iduna war viel zu begeiftert, um empfindlich 
zu fein. Ä 

„Magiſter!“ wendete fie fi zu mir, die heranfchwims 
mende Zähre zurücdirigierend, „Magifter, Sie haben 
die Hagebutte gekannt, als fie noch eine Roſe war. 
Sagen Sie, Bleibtreu, ſchauen Sie nicht den Widers 
ftrahl meiner achtzehn Jahre, wenn Sie in dieſes Kindes 
Auge bliden?“ 

Und fo ſchloß denn der Erntetag, der unter Sturmes- 


großen begonnen hatte, mit einem heiteren Sonnenblid. 
“ % % 


Fünfter Abfchnitt 237 


Es war dad legte Auffladern für lange Zeit. Dem 
plöglichen Schwarme folgte eine dauernde Stille; auch 
Herrmann verließ und, um erft am Geburtötage ber 
Mutter auf ein paar Stunden wieder einzufehren. Er 
blickte ernfter ald je, obgleich er mit einem Freudenfchrei 
bewillfommnet wurde, denn er brachte den Iangerfehnten 
Brief vom Kapitän. 

Liska öffnete und überflog ihn in unferer Gegenwart; 
plöglic; aber, in Tränen ausbrechend, reichte fie ihn mir, 
und fo brachte ich denn zum Vortrag, was das Mutter: 
herz bangevoll geahnt, der Bruder im geheimen hoff 
nungsverheißend erfahren hatte, 

Herr von Saint Roc berichtete zunädhft, daß er, wäh- 
rend ded Marfched vom Fieber befallen, in einem weft 
preußifchen Flecken liegen geblieben fei, daher feinen 
der Neifebriefe von Frau und Toghter erhalten habe und, 
deren Aufenthaltes unfundig, fie nicht von feinem Zus 
ftande benachrichtigen Fonnte. Anfang Auguft wieder 
zum Regiment geftoßen, waren ihm erft nad) dem Auf: 
bruche von Smolensk die Briefe zugefommen, für welche 
Herrmann die befondere Empfehlung ded Gouvernements 
erwirft hatte. Die Antwort datierte vom fünften Sep⸗ 
tember, angefichtd der rufftifchen Hauptarmee auf der 
Straße nad Moskau; unter den einleitenden Gefechten 
der Bortruppen und in Erwartung einer Entſcheidungs⸗ 
fchlacht. Weit mehr als ich ed dem glüdlichen alter ego 
Fran Lodoiskas zugetraut haben würde, brüdte das 
Schreiben die Stimmung eines durch die Not zur Vers 
nunft gefommenen Mannes aus. Nur aber wenn er 
allen Ernftes mit dem Leben abgefchloffen hatte, fonnte 
ein Franzoſe fähig des ruͤckſichtsloſen Freimuts fein, der 


238 dran Erdmuthens Zwillingsſöͤhne 


auch den Verblendeten unter uns Heidebewohnern, vor 
vielen anderen, die Augen uͤber den wirklichen Zuſtand 
der glorreich vorwaͤrtsdringenden Armee geoͤffnet hat. 

„Deine Trauerbotſchaft, meine Tochter,“ ſo ſchrieb der 
Kapitaͤn, „war ein Todesſtreich fuͤr mein Herz. Ich 
blicke auf eine ſehr gluͤckliche Vergangenheit zuruͤck; 
meine Gegenwart aber heißt Elend, und fuͤr die Zukunft 
habe ich jede Hoffnung aufgegeben, ſeitdem ich dieſes 
Land betreten. 

„Wenn ich indeſſen von meinem perſoͤnlichen Herzeleid 
abſehe, fo muß ich dieſes unvermutete Scheiden als eine 
Gnade der Vorſehung verehren. Die Verzweiflung, die 
Euch erwartet haͤtte, iſt unausdenkbar, denn der Schutz 
Deiner muͤtterlichen Verwandten, liebe Tochter, dieſer 
Schutz, auf den wir ſo zuverſichtlich rechneten, war eines 
von ben vielen Phantomen unſerer gluͤcklichen Zeit. 
Meine Nachforfchungen haben nur nod) einen einzigen 
Träger ded Namens Golchonsky ermitteln koͤnnen; Diefer 
eine aber hat ſich bereits nach der Revolution von 95 
ber ruffifchen Regierung angefchloffen und damit ohne 
Zweifel das ficherfte Zeil erwählt. Ohne mid; bei dieſer 
Sache aufzuhalten, liebes Kind: die polnifche Nation 
Reht nicht in Flammen, wie man uns in Frankreich 
glauben gemacht hat; im Gegenteil, ich hoͤrte von man⸗ 
chem, der, ergrimmt gegen den Kaiſer, durchaus nicht 
gewillt war, die Kaſtanien fuͤr ihn aus dem Feuer zu 
holen. Selber im Falle unſeres Sieges, an den ich nicht 
glaube, wuͤrde dieſe Lauheit dem ungluͤcklichen Volke 
grauſam angerechnet werden. 

„Verſetze Dich in ſolches Wirrſal, meine Tochter; male 
Dir das bittere Elend aus, das Euer in dieſem Lande 


Fuͤnfter Abſchnitt 239 


geharrt haͤtte. Dort durfte die Mutter wenigſtens mit 
dem Troſt ſcheiden, ihr Kind auf eine faſt wunderartige 
Weiſe geborgen zu ſehen. In ihrer Heimat wuͤrde ſie 
irrend auf der Landſtraße geendet und Dich gluͤcklichſten⸗ 
falls im Hoſpitale hinterlaſſen haben. Und ich, ich, Dein 
Vater, Liska, wuͤrde Dich nicht haben daraus erloͤſen 
koͤnnen; auch meine Zeit iſt um. Widerſtaͤnde ich den 
Kugeln, die uns vielleicht morgen ſchon niederſchmettern 
werden, dem Wurme, der an meinem Marke zehrt, werde 
ich nicht widerſtehen. Nimm dieſen Brief zugleich als 
Beichte und als mein Teſtament. Ich werde Dich nies 
mals wiederfehen, meine Tochter.” 

Es folgte nun die Gefchichte feiner Iugend und feiner 
forglofen Ehe: in größeren und ftrengeren Umriffen, 
wefentlich aber übereinftimmend mit den Erinnerungen 
feiner Gattin auf dem Sterbebette. Weiterhin hieß es: 
„Sch habe von einem ausgewanderten Zweige meiner 
Vorfahren niemals ein Wort gehört. Hätte in meinen 
glücklichen Tagen ein deutfcher Saint Roc ſich mir ald 
Verwandter vorgeftellt, ich würde ihm vielleicht als 
Keber — denn ein guter, rechtgläubiger Chrift zu fein, 
auch das war eine meiner Einbildungen - ganz gewiß 
aber ald Abenteurer den Rüden gekehrt haben. Heute 
preife ich Gott auf meinen Knien für diefed Band dee 
Blutes und der Treue, und ich beſchwoͤre Dich, meine 
Tochter, verehre Deine Wohltäter mit der danfbaren 
Hingebung einer Waiſe; fie machen wieder gut, was der 
Leichtfinn Deines Vaterd an Dir verfchuldet hat.“ 

Den Schluß ded Briefed bildete eine Schilderung ber 
grauenvollen Drangfale, welchen die voranfchreitende 
Armee Tritt für Tritt erlag, eine Schilderung, welche 


240 Frau Erdmuthens Swiltingsfdhne nn 


feitdem Iängft geſchichtlich geworden ift, hier aber, unter 
dem erften frifchen Eindrud eined Augenzeugen, ung Die 
Haare firäuben machte und der vorwärtödrängenden 
Phantaſie ein Chaos unerhörter Widerwärtigfeiten ent⸗ 
huͤllte. Im Angeficht des Todes erlofch das Idol, das 
auch diefen Mann geblendet hatte, und die alten Heilig» 
tümer erwachten im Herzen des Kämpferd vom zehnten 
Auguft. Die Hellficht der Verzweiflung machte den leichts 
lebigen Kapitän zum Propheten. „Ich habe einmal“, 
das waren feine legten Worte, „in Bicetre einen Narren 
gefehen, der ſich einbildete, ein Adler zu fein, und fo lange 
in die Sonne geblidt hatte, bi er erblindet war. Dies 
fem Wahnfinnigen gleicht der gefrönte Soldat, der zur 
Stunde Blut und Saft des Kontinents in diefe nors 
bifche Steppe zum Untergange treibt. Sei er ein Ges 
neral fo groß wie Alerander, ein ebenfo großer Sgnorant 
der Natur wie Alerander und ihr noch größerer Ver⸗ 
Achter, wird er nicht einmal beffen Bruchteil von einem 
Heere in die Heimat zurücdführen. Die Satrapien, die 
er gegründet hat, werden ſich gegen den gewiffenlofen 
Menfchenfchläcdhter erheben, und eined Tages, wenn er 
den legten Franzofen von Hof und Herd, den lebten 
Füngling vom Herzen der Mutter geriffen hat, wird er, 
verlaffen von aller Welt, als flüchtiger Abenteurer enden. 
O Ludwig, mein Märtyrerkönig, ein Kaifer der Frans 
zofen hat an deinem verblendeten Volke dein ſchuldloſes 
Blut gerädht!“ 

Als ich den Brief zu Ende gelefen hatte, wanfte bie 
unglüdliche Mutter fchattenblaß aus dem Zimmer; Liska, 
in der Sofaede zufammengefauert, bebte und ſchluchzte 
unter bem Schal, den fie über den Kopf geworfen hatte; 





Fünfter Abfchnitt 241 


Herrmann ging fchweigend mit großen Schritten im 
Zimmer auf und nieder. Ic, aber finde unter dem Das 
tum des neunundzwanzigften September 1812 in meinem 
Kalender nichts als die Worte aufgezeichnet: „Ja, Flo⸗ 
rentiner, es ift ein Grund.“ 

Die Schlacht von Borodino war am fiebenten gefchlas 
gen worden. Herrmann hatte die Funde derfelben er; 
halten, gleichzeitig mit dem Briefe des Kapitän, der fie 
voraudverfündete. Noch ſchwankte im Widerfprudy der 
Parteiberichte die Sicherheit ded Erfolges; ald aber bald 
darauf die Nachricht von dem Einzuge in Moskau laut 
verfündet ward, daneben jedoch erft Ieife, dann immer 
deutlichere Gerüchte auftauchten von den Bränden, weldhe 
die einziehende Armee empfangen hatten, da täufchten 
wir ung freilich nicht mehr, daß ed ein Triumph gewefen 
war, den der Kaifer errungen, feit den Tagen der Völfers 
wanderung der biutigfte Triumph der Weltgefchichte, 
aber wir täufchten und auch nicht über das Verhängnis, 
das er heraufbefchworen. 

Denn diefem Chaos von Leichen und Trümmerhaufen 
entfproßte nicht die fo zuverſichtlich verkündete Friedens⸗ 
palme. Alles fchwieg. Auch unfer junger, ftolzer Sie⸗ 
gedherold war verftummt. Sädjftfche und franzöfifche 
Scyladhtberichte nannten feinen Namen mit Auszeich⸗ 
nung; er hatte an der Spige feiner Dragoner ein feind» 
liches Schangenbollwerf erftürmt; fein König hatte ihm 
den Rang eines Obriftleutnantd, fein Kaifer den Adler 
ber Ehrenlegion verliehen. Und er eilte nicht wie fonft, 
feine Zorbeeren zu Füßen der angebeteten Mutter audzus 
fireuen. Wartervolle Wahrheit, welche diefed Schweis 
gen enthüllte! 

xX. 16 


243 Frau Erdmuthens Iwillingsföhne 


Herrmann und der Doktor hatten und am erften Ok⸗ 
tober verlaflen. Letzterer kehrte monatelang gar nicht, 
der Sohn nur in Paufen flundenweife zurid. Wir 
fragten nicht, woher er fam und wohin er ging. Es 
war eine Zeit, von welcher der Prophet fagt: „Ein jegs 
licher traue feinem Bruder nicht.” Bon ſolchen Zeiten 
aber ahnet man, daß fie mit wuchtigen Taten fchwanger 
gehen. 

Dazu das Wetter. Aller Verkehr mit der Außenwelt 
war abgefchnitten, den ganzen Dftober Sturm und Strom; 
dann der vorzeitige Winter, der Schidfaldwinter von 
1812, der in den Sagen der Bölfer nach taufend Jahren 
ald ein Gotteögericht fortleben wird. Schon Anfang 
November war unfere Heide fußhoch verfchneit, tauten 
von ben Fenftern die Eiszapfen nicht mehr ab. Als 
einer unferer Leute ftarb, mußten wir einen Kolzftoß 
nieberbrennen, um fein Grab ausfchaufeln zu können. 
Nur ftundenweife Flapperten die Drefchflegel; die Men: 
fchen hockten müßig im Ofenwinkel; dumpfe Vorgefichte 
von dem unerhörten Untergang im Norden zogen durch 
die Stille der furzen, trüben Tage. Wer aber möchte 
die Schauerbilder enthällen, welche in jachem Wechfel 
fihh im Herzen der Mutter zufammendrängten? Das 
Grauſamſte, was Bölferhaß erfinnen, was gewalttätig 
die Natur aufzubieten vermag, das durchlebte die ahnungs⸗ 
volle Seele mit dem Finde. Sie waltete vor wie nadı 
in ihrem hilfreichen Dienft; aber von Tag zu Tag immer 
mehr erftarb dad Wort auf ihren Tippen, beugte fich der 
ftolze Naden, Iugte aus den treuen Augen das Gefpenft 
der Angſt. Das Jahr war angebrochen, in welchem 
Frau Erbmuthend goldener Scheitel zur Silberwelle ers 


Fünfter Abfchnitt 243 


bleichte. Als unfer Erntedanffeit wiederfehrte, war fie 
eine Greifin geworden. 

Auch Liskas Lage wurde beflagenöwert. Ohne Tätigs 
feit, ohne Umgang, ohne irgendwelche Anregung in das 
Zimmer gebannt, ftodte in ihren Adern dad Blut, fand 
das Leben gleichfam ftil. Sie, die nie eine Schneeflode 
gefehen, nie ein Winterfleid getragen hatte, lag einges 
mummt, zitternd und fchauernd auf ihrem Nuhebett, 
denn die Ofenwärme war ihr fait ebenfo widermwärtig 
als der Froft der Luft. Das Feuer der Augen, die 
fraftvolle Farbe erlofchen, die Lippen wurden bleich, 
welt die Haut, die Stimme immer Ileifer und träger. 
Was hätte ich für einen Parorysmus wie den am Erntes 
fefte gegeben! Aber fie widerfprad; nicht mehr, fie grollte 
nicht mehr, der nordifche Simmel hatte das füdliche 
Temperament befiegt. Sie war ftill und geduldig ges 
worden - um welchen Preis! Ich fürchtete allen Ernfteg, 
fie eined Morgens erftarrt zu finden wie ein armes Sing⸗ 
vögelchen, das fich auf dem Zuge nadı dem Süden vers 
fpätet hat. 

Liskas Zuftand war ein Drud mehr auf Frau Erbds 
muthend Gemüt. Nach dem „Zeftamente” des Kapitäng 
- ob der Mann lebte oder tot war — hatte nicht nur das 
Herz, fondern auch das Gewiflen fie zur Schugmutter 
einer Waife gemacht; fie fah fie Leid tragen, wie fie 
felbft ed trug, und tröftete fie mit Hoffnungen, bie fie 
felber faum noch hegte, deren die andere aber faum bes 
durfte. Die Kleine litt, aber nicht um den fernen Papa. 
Er hatte in melandholifcher Stimmung gefchrieben, aber 
follte er nicht mehr am Leben fein, darum weil er nicht 
wieder fchrieb? Konnten Poften durch dieſe Schneeberge 


244 Frau Erdmuthens Bwiltingsfähne 


dringen? Der Fruͤhling brachte einen zweiten, ſiegreichen 
Feldzug, brachte den Frieden, die Heimkehr. Im uͤbrigen 
hatte ſie zu wenig mit ihrem Vater gelebt, um ihn zu 
entbehren, wie ſie die Mutter entbehrte, hatte beider 
ſorgloſe Natur ererbt, und ſelber die Sehnſucht der 
Phantaſie war in ihr gleichſam eingefroren. 

Wie aber blickte Herrmann auf das fluͤgellahme Voͤgel⸗ 
chen? Ei nun, er erblickte es eben nicht fluͤgellahm. 
Denn hatte die kleine uͤbermuͤtige auch geſagt: „Er inters 
eſſiert mich nicht”, er war immer ein Mann, ein junger, 
fhöner Wann, und denfelben Menfchen, wenn wir ihm 
felten begegnen, blicken wir günftiger an als im taͤg⸗ 
lichen Verkehr. Heißt ed doch fogar in der Ehe: Trennt 
euch zuzeiten, um euch neu und wert zu bleiben. Nach 
meiner Erfahrung freilich rate idy zum Gegenteil. 

Couſin Erman, wenn er ald Gaft bei und einfehrte, 
zeigte immer einen frifhen Mut und jene gute Stim⸗ 
mung, welche dad Wiederfehen anregt; er bradıte eine 
ermunternde Neuigfeit, eine zierliche Gabe, allemal einen 
Mechfel in das trübe Einerlei. Die Augen des Pflegs 
lings leuchteten, Wangen und Lippen färbten ſich einen 
Tag oder Abend lang - am andern Morgen war ber 
Flüchtige ohne Abfchied verſchwunden, und Liskas Koͤpf⸗ 
chen hing wieder wie dad einer welfen Blume, 

Kein Wunder nun, wenn die Wutter diefe merfliche 
Belebung nad) ihren Wünfchen deutete; felber ich ges 
langte dahin, die Entfcheidung, welche ich fo baͤnglich 
abzuwehren gefucht hatte, ald Rettungsweg für das hins 
fiehhende Kind zu betrachten. Während jedes VBefuches 
rechnete ich auf KHerrmannd Werbung. Ob er feine 
Hoffnungen nun aber aufgegeben, ob die patriotifche 


Fünfter Abſchnitt 245 


Spannung fie nur verdrängt hatte? Oder ob feine bes 
dachtſame Natur erft die letzten Zweifel überwinden 
wollte? Er ging, wie er fam, ohne das entfcheidende 
Wort. | 

So war bie müde Kleine denn faft ausfchließlich auf 
den Berfchr mit ihrem alten Pfarrer angewiefen, und 
da er mit VBergnügungen leider nicht aufwarten fonnte, 
an Ermunterungsverſuchen hat er ed mindeſtens nicht 
fehlen laffen. Die Wirtſchaft blieb von vornherein außer 
Spiel; ed war zum Wirtfchaften zu kalt. „Und wozu 
auch?” war ihm ja fchon in den Hundstagen ermwidert 
worden. Auch um Puggegenftände zu fertigen, waren 
die Finger zu Hamm. Und wozu au? Wem geftel die 
Schöne, hatte fie ſich geputzt? Lohnte es felber doc, faum 
ber Mühe, die Augen aufzufchlagen, um einen Blid in 
den Spiegel zu werfen. Sie befaß eine angenehme 
Stimme und ein empfängliches Ohr. Aber üben, Sol» 
feggien und Triller? Und wozu? Wer erfreute ſich jetzt 
an Gefang und Spiel? 

Die deutfche Grammatif wurde aufgeflappt. Der Eifer 
des Paten Magifterd erwachte und hielt ftand ein paar 
Wochen lang. Aber nur bei ihm. Denn wozu die Plage, 
da alle Welt franzoͤſiſch ſprach? Und eine ſchwere Plage 
iftd ja freilich mit unferem lieben Deutfc für jeden, 
der ed nicht von Mutterlippen erlernt hat. 

„Ste werden heimifcher bei und werden, wenn Gie 
unfere Sprache verftehen“, fagte ich. 

„Sch werde niemals heimifch bei euch werden, Väter, 
chen“, verfegte Liska, indem fie in die Kiffen zuruͤck⸗ 
fant. 

„Sie werden unfere Dichter kennen lernen.” 


246 Fran Erdmuthens Zwillingsfähne 


„Sch habe erft noch meine Dichter fennen zu lernen.” 

Ihre Dichter, fie wußte felber nicht, ob fie Franzofen 
oder Staliener damit meinte. Bon Spaniern hatte ich 
dazumal faum mehr eine Ahnung, als fie ſelbſt. Mochte 
ich ed nun aber mit der Auswahl, die mir zu Gebote 
ftand, nicht glüdlich treffen, war das Kind zu lebens⸗ 
füchtig, um lefeluftig zu fein: - ich fand fie mehr als 
einmal über dem Befreiten Serufalem oder Racines Tras 
gödien eingefchlafen, und wundergenommen hat mid) 
die Wirkung im Grunde nicht. 

Ganz zulegt glüdte mir ein Wurf ind Blaue hinein. 
„Schreiben Sie, Liska“, fagte ich. 

„Schreiben!“ verfegte fie. „An wen denn, Väterchen? 
Ich habe ja niemand, an den id, fchreiben könnte.“ 

Das einfahe Wort ging mir durdy und durch. Sn 
Wahrheit, diefes junge, warmblütige Herz hatte feinen, 
feinen Menfchen, vor dem ed fich ausfprechen Fonnte, 
feinen, den ed verftand, Der ed wieder verftand bis auf den 
Grund. - „Wenn id) Maman einen Brief in den Himmel 
fohreiben Eönnte, oder wenn ich Sie nicht alle Tage 
fähe, Bäterchen, Ihnen ſchriebe ich auch.“ 

Ich drüdte ihre Hand; in diefem Augenblide und in 
mandyem ähnlichen hätte ich meine leibliche Tochter nicht 
zärtlicher lieben können. 

„Fuͤhren Sie ein Tagebuch, Liska,“ fagte ich. „Gedenk⸗ 
blätter für die Zufunft. Schreiben Sie ſich die Seele 
frei von dem, was Sie bedrüdt. Wenn Ihr Vater heims 
ehrt oder dereinft eine Freundin Ihnen nahe tritt, ein 
Freund - -“ 

„Raul“, fiel fie ein, und ihre Augen blitzten. 

„Run, meinetwegen Better Raul, den Sie ja gern Ihren 


Fünfter Abfchnitt 247 


Bruder nennen. Aber wer auch immer, es wird ihm 
Freude ſein, auf dieſem Stuͤck fremden Lebens Ihnen 
nachzugehen.“ 

Endlich gegluͤckt! Zum erſten Male wieder flackerte ein 
Verlangen und mit dem Verlangen das Flaͤmmchen Un⸗ 
geduld in der erſtarrten Seele auf. Liska wollte ein 
Tagebuch ſchreiben, und ihr altes Vaͤterchen konnte nicht 
hurtig genug mit Schere und Kleiſter fertig werden. 

Zum Gluͤck fand ſich im Hauſe ein Stammbuch aus 
Rauls Knabenzeit, nur wenige Blaͤtter gefuͤllt mit Namen, 
deren er ſich heute ſchwerlich noch erinnern wuͤrde. Die 
Blaͤtter konnten herausgeſchnitten werden. Der Einband 
war verſtaͤubt; ich klebte einen Bogen Goldpapier darum, 
der fuͤr die Kettenbehaͤnge des Chriſtbaums vorraͤtig lag. 
Auf das Titelblatt ſetzte ich unter den Namen Raul, 
den eine erhaltenswerte Blumengirlande umgab, den 
von Liska de Saint Roc in kuͤhn geſchwungenen, rot und 
ſchwarz getufchten Miffalen. Nun noch fig ein Bund 
Krähenfedern aufs feinfte zugefpigt, den Schreibtiſch in 
rechtes Licht gerückt, zur Belebung der Infpiration ein 
paar duftende Blumenftöcde aus dem Treibhaufe herauf> 
geſchleppt - und die Finger der fremden Waiſe flogen 
über das erfte Blatt im goldenen Bud). 

Und fo ziehe ich denn aus meinem Neliquienfchrein das 
goldene Bud und Iöfe die ſchwarze Schnur, die feit 
länger als fünfundzwanzig Sahren darum gefchlungen 
war. Die Blätter find vergilbt, die Schrift verbleidht; 
deutlich aber erfenne ich die Heinen, ungehbten und doch 
fo energifchen Züge, und ich frage mich, habe ich in dem 
Lebensbilde Frau Erdmuthens und ihrer Söhne die Epi⸗ 
fode des Fremdlings mit echten Farben gemalt? War 








248 Frau Erdmuthens 3willingsſöhne 


es ſein Maßſtab und nicht mein eigener, an dem ich die 
unheimiſche Natur gemeſſen habe? 

Die erſten Seiten fuͤllen kindliche Erinnerungen, kleine 
Genrebilder, die ihren Duft verlieren wuͤrden, wollte ich 
ſie in unſerer Sprache wiedergeben. Eine Ballſzene, 
Maman ſchoͤn wie eine Fee; ein Guerilla⸗Abenteuer auf 
einer Reife von Sevilla nady Madrid. Die Heine Liska 
fürchtete fidy nicht; die gefpannte Piftole bligt in ber 
Hand Mamand. in Bittgang nad) einem wundertäs 
tigen Muttergottesbild. Ein Einblid in Frau Lodoiskas 
Interieur: fpanifch genug kommt es dem alten, deutfchen 
Magifter vor. | 

„Sc wußte nicht, daß das ſchoͤn war!” ruft die Tochter 
aus. „Ich dachte nicht, Daß man anders leben Fünne. 
Eine falte, weiße Dede ift über die Erde gebreitet. Mir 
ift, als hätte ich Tange, lange Jahre darunter gelegen 
und von dem fchönen Leben nur geträumt. Die Augen 
fallen mir zu, mid) fchläfert, mid friert. Und auch du, 
füße Maman, du liegft unter der falten, weißen Decke 
und fchläfft, ewig, ewig! Nein, nein, du bift wieder 
aufgewacht, dort oben im Sonnenfdein, und träumft 
von deiner Kleinen und bitteft für fie. Und du, Papa, 
fei nicdyt mehr traurig. Sch werde noch einmal meine 
Arme um dein Haupt fchlingen und mit dir ziehen und 
nicht mehr träumen, aber wieder leben.” _ 

Einen Tag fpäter. 

„Beute, zum erften Male feit vielen Wochen, ift die 
harte, weiße Rinde, die fie hier ‚Blumen‘ nennen, von 
meinem enfter geſchmolzen. Die Mutter hat mir eine 
Pelzfaloppe umgehängt und meine Füße in ihre großen 
Stiefeln geſteckt. Sie waren mit Watte ausgeftopft; ich 


Fünfter Abſchnitt 249 


ſchwankte aber dody darin wie in zwei Filcherfähnen. 
Ich follte wieder einmal im Freien Atem holen, fagte 
fie. Dan fchaufelte und farrte eine Bahn durd) die 
Heide. Ich begegnete dem alten Scyäfer mit dem uns 
ausfpredylichen Namen, der alle Tage ftundenweit fommt, 
bloß um die Mutter zu fragen, ob fein Sohn in Ruß: 
land noch am Leben fei? Er fteht nämlidy bei Rauls 
Negiment und ift deffen Reitfnecht, glaube ih. Wie fol 
benn die Mutter, oder fonft wer, einen Brief erhalten, 
wenn auf einer Strede, weiter ald von hier bid Madrid, 
der Schnee in häuferhohen Kaufen liegt? | 

„Wie mühfam es aber diefe Menfchen haben! Im 
Sommer arbeiten fie fid) aus dem Eand, im Winter 
aus dem Schnee. ‚Die Natur überwinden heißt leben‘, 
fagte diefer gute, Feine Pfarrer. Er meint damit aud) 
die innerliche Natur, und das nennen fie hier Religion. 
Sie glauben an Gott, aber ihre Gottheit hat wie die 
Luft, die fie atmen, feine Geſtalt. Der, welchen fie ald 
feinen Sohn verehren, ift ihnen doch auch nicht viel 
mehr ald ein Prophet, der jene formenlofe Religion und 
jenes ftrenge, unnatürliche Geſetz verfündet hat. 

„Könnte ich auch nur ein menfchliches Wefen lichen, 
das id) nicht zu begreifen vermag? Das nicht fühlt wie 
ich, nicht denkt wie ich, nicht meinedgleichen iſt? Wies 
viel weniger das hoͤchſte Wefen, Gott, ohne die menſchen⸗ 
gleiche Gottesmutter, die feine Gnaden fpendet, ohne 
die fürbittenden Heiligen, welche die Gottesliebe in uns 
ferem Herzen fammeln und DIELIERIEAGEN, in des Welten» 
vaterd Schoß? | 

„Sc bin bis zur Ruine gegangen. Es fon ein Klofte 
dort geftanden haben. Sch weiß nicht, ob Mönche oder 


250 Frau Erdmuthens Iwillingsfähne 


Nonnen darin gelebt. Unfere heiligen Kennzeichen ver: 
achten, gehört auch in ihre naturüberwindende Religion. 
Ein Kapellchen ift noch erhalten, ein umgeworfener Als 
tar mit einem Marmorfreuz; ein Lampenfchrein. Wie 
lange ſchon mag dad ewige Licht darin erlofchen fein? 
Ich will die Mutter bitten, daß ich ed wieder anzünden 
darf und davor beten auch für ihren fernen Sohn, ber 
meine Sprache fpricht und meine Heimat liebt, gewiß, 
gewiß auch meine heitere, ewige Heimat liebt, für meinen 
Bruder Raul! 

„Die grauen Mauern ragten wie Gerippe aus einem 
weißen Bahrtuche hervor. Dahinter der dunkle, ſchnee⸗ 
gefprenfelte Wald, darüber die mattgelbe Sonne, in 
einen Mebeldunft gehuͤllt. Ringsum Grabesftille. Den 
Sinnen diefer Menfchen gilt das für chin. Mauern und 
Schnee - o, du mein armes Leben! 

„Den Nonnenfchleier! fagteft du, Maman. Zweimal 
fagteft du’, ich hörte ed, ed war dein leßted Wort; und 
du blickteft mich traurig an, ald du es ſprachſt, todes- 
traurig! Dachteft du denn nicht an das Klofter mit der 
Palme im Säulenhof und den DOrangengärten rund hers 
um, wo bu deine Kleine immer fo glücdlich trafft? Aber 
hier, hier! Auf dem eisbedeckten Boden habe ich vor dem 
Kreuz gelegen und meine Hände gerungen und die lieben 
Heiligen angefleht. Aber froh wie fonft, froh, daß fie mich 
erhört hätten, erhob ich mich nicht. Haben die Nonnen 
unter diefem Himmel gebetet, was uns beten heißt? Der 
Schleier, der und fächelt und fchügt gegen den Sonnen- 
brand, hüllte er fie nicht ein, gleich einem Leichentuch? 
Mein, nein, nicht hier zwifchen Mauern und Schnee! Und 
auch nicht jeßt, wo ich fo müde bin. Schlaftrunfen be- 


Fuͤnfter Abſchnitt 253 


graben werden zwifchen Mauern und Schnee - fchredlich, 
ſchrecklich! Wutter Gottes, erft laß mich erwachen und 
dann niederfinten zu deinen Füßen, wo die Palme weht.“ 


3 


Woche auf Woche war hingefchlichen; öffentliche wie 
private Kunde audgeblieben. Auch Frau von Thielemann 
fchrieb, daß man in Dresden ohne Nachricht von den Bes 
freundeten fei. Alles zitterte in Sorge. Der alte Schäs 
fer - Kieß aus Rieß war fein unaugfpredhlidher Name - 
trat vergebens jeden Tag eine Spur in den Heidefchnee. 
Zeit hatte er dazu. Denn warum? Gelber die Schafe 
klapperten unter ihrem Pelz, und vom Schneeleden wur: 
den fie audy nicht fatt; darum blieben fie im Stall; der 
Schäfer aber brauchte feine Motion. Da fam er denn 
unverdroffen und fragte nach feinem Jungen, der bei dee 
Ohriftleutnantd Dragonern ftand und von dem Obriſt⸗ 
leutnant zum NReittnecht genommen worden war. Schreis 
ben konnte weder der alte, noch der junge Kieg aus Rietz; 
da aber die Gnaͤdige und ihr Sohn zu fchreiben verſtan⸗ 
ben, hatten jene ja auch nicht nötig, fchreiben zu können. 
Und alle Tage fchob der arme Alte wieder ab ohne ans 
dern Troft ald eine warme Suppe und die Wiederholung 
feines welthiftorifchen Klageliedd. Denn fo ein einfam 
„latſchender“ Heidefchäfer hat feine abfonderlichen Offen: 
barungen, und an Erfahrungen hatte ed dem Kietz aus 
Rietz ja auch nicht gefehlt. Seit Adams Zeiten, fo ver: 
ficherte er, fei die Menfchheit gefchoren und gefchunden 
worden. Zuerft vom Schwedenkoͤnig und dem alten Friß, 
dann in der Rheinfampagne, wo er felber unter die Schere 
gelangt, darauf wieder fein Bruder bei Sena anno Sechs. 


253 Fran Erdmuthens Swillingsfähne 


Aber fo ein Schinderhannes wie der Franzofenfaifer fei, 
folange die Welt beftche, nody nidyt an der Tablatur ges 
wefen. Seinen legten Jungen habe er auch fchon wieder 
eingefangen nad) Wittenberg zu den Depots. Aber wie 
lange werde ed dauern, daß er fertig mit dem Ruſſen fei, 
und dann ginge ed (od wider den Türken, und fein legter 
Junge müffe mit. 

An jenem Tage nun, wo zum erften Male Liskas Fens 
fterblumen geſchmolzen waren, fuhr durdy unfer Still; 
leben eine Neuigfeit wie ein Blig in fchwüler Nacht. Die 
wohlbefannte Familienforrefpondentin, welche vor feche 
Monaten in hellem Keroenfteber die Faiferfiche Revue ges 
fhildert hatte, meldete vom fünfzehnten Dezember aus 
Dresden das plögliche Erfcheinen und Wiederverfchwins 
den ihres Helden. Sie tat ed unter myfteriöfen Schauern, 
aber mit einem Detail der Intimität, ald ob fie gewürs 
Digt worden wäre, aus ihrem trauten chez moi in bie 
Ode feiner großen Seele und feines Fleinen Kutſchkaſtens 
einen Bli zu werfen. 

Wußten wir nun freilich, daß wir ein gutes Teil ges 
fpenftifcher Ode der Phantafie unferer Freundin zugute 
fchreiben durften, fo viel ſchien dennoch feftzuftehen: der 
Kaifer hatte die Armee verlaffen und, ohne Ankündigung, 
ohne Stab noch Seleit, heimlich, wie auf der Flucht, unfer 
Land paffiert. Welche Rüdfchluffe von dem Zuftande des 
Herrn auf den feiner Armee ſich und aufdrängten, brauche 
ich das auszumalen? Nur die Eleine franzöfifche Soldatens 
tochter fagte unbefümmert: „Was fol er in dem Falten 
Lande? Shn fror. Voild tout. Wenn die Vögel nady 
Norden ziehen, wird er wieder an die Spige feiner Braven 
treten.” Und im Tagebuche fteht gefchrieben: „Haͤtt ich 


Fünfter Abſchnitt 253 


mid) zwifchen die Falten feined Mantel verbergen und 
mit ihm nach Franfreich eilen können!“ 

Edyon am andern Tage bradıte die Allgemeine Zeitung 
dad letzte Faiferliche Bulletin, datiert von Molodecznos; 
für Frankreich den Borläufer des Kaifers, für ung feinen 
nadhhinfenden Boten. Zwar nur der Berluft der Rofle 
war der Erwähnung wert befunden worden, der Schluß 
auf den der Reiter aber nicht allzu fchwer zu zichen, und 
wie follte das Elend, welches Roß und Reiter dahinraffte, 
nicht noch vielmehr dem armen Kapitän der Infanterie 
zum Berderben geworden fein? Nun plöglicd, gähnte auch 
vor feiner Tochter Augen died unermeßliche Grab. Wie 
von Todegfroft durchſchuͤttelt brach fie neben der fchwans 
fenden Mutter zufammen. 

In diefem Zuftand aufreibender Seelenfolter traf Herr⸗ 
mann am Tage vor dem heiligen Abend die beiden Frauen, 
Er fam aus Preußen und mochte wohl manches gefchen 
und erfahren haben, was er gern vor und verhüllte, 
Denn hatte der Patriotismus auch ftarf an feiner Brus 
derliebe gezehrt, die Liebe zur Mutter ftand in ihm aufs 
rechter denn je, ja, mehr denn je, feitdem er faum n 
daran zweifelte, ihr einziger Sohn zu fein. 

Sobald er mit mir allein war, fagte er: „Es ift wohl 
feine Frage mehr, daß die arme Liska ihren Vater nies 
mals wiederfieht. Sie hat feinen Schug im Leben fo 
wenig empfunden, daß fie zwifchen Zagen und Hoffen ihn 
allmählich vergeffen lernen wird, wenn der Zuſpruch ihrer 
Kirche und einige Zerftreuung ihr zu Hilfe fommen. Ans 
derd die Mutter; fie bedarf einer Gewißheit. General 
Thielemann hat mit einem Häglichen Reſt der fächfifchen 
Reitereiönigsberg erreicht. Raul befindet fich nicht unter 


254 Frau Erdmuthens Zwillingsfähne 


ben Geretteten. Ich erfuhr des Generals Eintreffen leider 
zu fpät, um ihn perfönlich zu fprechen. Er ift krank, wird 
aber in diefen Tagen von feiner Familie in Dresden er: 
wartet. Er, wenn einer, fann und über dad Schidfal 
meines Bruders Auskunft geben. Mein Plan ift, ich reife 
mit der Mutter und Liska nad) Dresden, und zwar ohne 
Berzug.“ | 

Der Plan wurde mit Eifer angenommen. Die Mutter 
ſchmachtete nad der, wenn auch bitterften, Wahrheit; die 
Tochter elektrifierte die Ausficht auf eine Veränderung 
wie eine Hilfe aus aller Not. Sie umfchmeichelte den 
treuen Freund, der diefen Ausweg eröffnet hatte, mit 
ihrem fonnigften Lächeln, und als fie am andern Abend 
im Felsfchen Ahnenfaale einen deutfchen Chriftbaum 
brennen, die reiche Befcherung fah, welche für hoch und 
gering, für Hein und groß der Hofgenoffen, und für 
fie felber am allerreichiten, darunter ausgebreitet Tag, da 
jubelte fie hell und fröhlich wie ein Kind; die Lichtertanne 
verflärte die graue, deutfche Kiefernheide, und ich glaube 
wahrhaftig, in der Zobelenvelopye, die fi) warm und 
weich an die zierlichen Glieder fohmiegte, fah fie ein Sinn⸗ 
bild des warmen, weichen, deutfchen Gemuͤts. 

„Ihre Freuden beginnen, wo die unferen aufhören, und 
wo wir unliebenswärdig werden, muß man fie lieben 
lernen.“ 

Mit diefer ethnographifchen Bemerkung fchließt das Jahr 
1812 in dem jüngft geftifteten goldenen Buche. Es war 
ruhig daheim geblieben, ald am Chriftmorgen die drei 
Freunde ihre Reife nach der Nefidenz antraten. 

Am Dreitönigstage empfing ich die Ruͤckkehrenden an 
der nächften Station; Berrmann hatte vom Haufe einen 


Fünfter Abfchnitt 255 


Schlitten beordert, um den für den Reifewagen bejchwer: 
lichen Heideweg abzufürzen. Der Doktor, der um Neus 
jahr angelommen war, hatte die Nachricht von Rauls 
Tode beftätigt, und ald ich der Mutter aus dem Wagen 
half, fühlte ich an ihrem Haͤndedruck und fah an ihren 
Blicken, Daß auch ihr Die letzte, ſchwache Hoffnung geraubt 
worben fei. „Still, bis wir allein find“, flüfterte fie mir zu. 

Sch ſchluckte meine Tränen hinunter und begrüßte das 
jugendliche Paar. Welch ein Gegenfag! Ach, das Schick⸗ 
fal hatte es ja fo gefügt, daß Herrmann weniger den 
Bruder als den Sohn feiner Mutter beflagte: für diefe 
Gebeugte wußte er aber nur einen Erfag, der zugleich bag 
Gluͤck feines eignen Herzens in ſich fchloß: Hoffnung und 
milde Freudigfeit ftrahlten aus feinen Zügen. 

Und fie, die fo zärtlich an feinem Arme hing, war es 
das erftarrte Vögelchen, das fich unter unferen rauhen, 
grauen Himmel verirrt hatte? Es ſchlug ja die Flügel 
und zwitfcherte wie die Xerche, wenn fie in den Sonnen 
himmel emporfteigt. War es die nämliche Waife, die vor 
wenigen Wochen unter Todesfchauern zufammenbrady? 

Man hatte ihr von dem allgemeinen und perfönlichen 
Elend nur die Umriffe mitgeteilt, zwifchen welchen die 
Hoffnung immer noch hinreichenden Raum fand, und Lis⸗ 
kas Hoffnungsfraft war ſtark. Welcher Freudenraufc das 
hingegen, der fie zwei Wochen lang umfangen gehalten, 
er würde fie entzückt haben, auch wenn er fie nicht an das 
Land ihrer Sehnfucht erinnert hätte. Der reiche Dienft 
ihrer Kirche in Gegenwart eines glänzenden, andädıtigen 
Hofes, unter Strömen einer Muſik von nie geahnter Volls 
endung, Seraphöflänge nannte Liska die Stimmen der 
Italiener; Kunftgebilde, wie ähnliche fie noch niemals 


256 Fran Erdmuthens 3willingsſoͤhne 


entzuͤckt hatten. Dann, unter Fraͤulein Idunas immer be⸗ 
reiter Ägide, gefellige Kreife, in welchen aus dem Jahrs 
hundert der Üppigfeit ſich ein heiterfreier Ton bie in die 
Gegenwart gezogen hatte und zur Stunde felber, wo rau 
Erdmuthens Todesängfte in vielen Familien wohlbegrüns 
det gewefen fein würden, einen ftarfen Anflang fand; in 
diefen Kreifen aber Beifall, Huldigung, Schmeicdheleien 
aller Art. Die reigende Fremde war zwei Wochen lang 
der Stern der Mode in einer Gefellfchaft, die Frau Los 
doiska Fleinftädtifch gefunden und fie beftenfalld an bie 
der Bäder von Pifa erinnert haben würde, für ihre Tochter 
aber, die nicht die Erbin ihrer vermwöhnenden Reize war, 
einen legitimeren Anftricy trug als die ded neuen Hofes 
in Madrid. Liska war entzüct und hatte entzüdt; in dem 
Gemiſch findlicher Befcheidenheit und dem Bedürfnis des 
Gefalleng, ohne zu entzünden, in ihrer bewußten Naivetät 
lag nun einmal ein Zauber, mit dem fie ihre Umgebungen 
unterjochte, — fobald fie in ihrem Elemente war. 

Diefes Element der Freude hatte ſich ihr nun aber völlig 
ungeahnt faum eine Tagesfahrt fern von dem geſchmaͤh⸗ 
ten Heidewinfel aufgetan; eine Heimat, die ſolche Aus⸗ 
flucht bot, verlor ihren unheimlichen Charafter; ja, in fo 
beglücfender Aufregung wurde felber der nordifche Wins 
ter .zu einem Stimulant. Augen, Wangen und Tippen 
glänzten, fie fprühte Funfen der Laune, tranf ein Glas 
heißen Weind und trat and Fenfter der Poftftube, die 
nach der Heide hinauslag. 

Wir hatten einen jener Wintertage, die auch über unfere 
Landfchaft, und über fie befonders, einen Feenfchleier 
werfen. Der Himmel war Far, und die finfende Sonne 
hauchte einen rötlichen Schimmer über dad mafellofe Weiß 


Fünfter Abſchnitt 257 


des rundes, derweile über dem Walde im Often der 
junge Mond in die Höhe flieg. 

An jedem Aſte gligerten phantaftifche Kriftallgebilde, 
Eiströpfchen funfelten an den Nadeln wie Diamanten, 
auf dunfle Schnur gereiht. Unten fchmetterte das Poft- 
horn, und die Schellen Täuteten. Auf Frau Erdmutheng 
Wunſch beſtieg ich mit ihr den gefchügten Wagen; Herr⸗ 
mann, an Liskas Seite, fuhr im Schlitten, den er felber 
lenfte, und voran. Am Eingang der Feldfchen Heide, an 
dem Förfterhaufe, wo früher mein Bruder geheimft hatte, 
follte das leichte Gefährt das fchwere erwarten. 

Nun glitt im fußtiefen Schnee der Wagen langſam aͤch⸗ 
zend dahin; nun war id; allein mit meiner Freundin; nun 
hörte ich von den Tippen des mildeften Weſens die Schils 
derung jened grauenvollen Trauerfpield, in weldyem die 
Natur, ald Partnerin eines halbbarbarifchen, wutents 
brannten Volkes, unter allem erdenfbaren Elend eine 
Million von Menfchenopfern forderte, um den bandens 
[ofen Geift eines einzigen zu bredyen, - und ihn doch nicht 
brach. 

General Thielemann hatte, vor der alten Freundin min⸗ 
deſtens, die letzte Zuruͤckhaltung fallen laſſen. Was huͤlfe 
auch dem nackten Augenſchein gegenuͤber laͤngeres Diplo⸗ 
matiſieren? Er war ein geiſtvoller Beobachter, ein Militaͤr 
von weltmaͤnniſcher Bildung. Bis zum ruſſiſchen Feld⸗ 
zuge Napoleons bewundernder Anhänger, dankte er dies 
fem Auszeichnung, wie faum ein anderer feiner Bafallens 
generale. Nach feinen jüngften Erfahrungen — oder Be⸗ 
rechnungen? — jedoch erflärte er ſich entichloffen, den 
ſaͤchſiſchen Dienft zu verlaffen, falls der König das frans 
zöfifche Bündnis aufrechterhalten oder erneuern follte 
xx. 17 


258 Frau Erdmuthens Zwillingsföhne 


Die Stroͤmung der Zeit war gebrochen, er ſah es, er ſagte 
es. Warum zoͤgerte er, bis der Wirbelſturm ihn nur als 
Fluͤchtling unter das Banner der Zukunft trieb? 

Auch uͤber das Schickſal ihres geliebten Sohnes hatte 
er der Mutter keine Taͤuſchung vorgeſpiegelt, keine Hoff⸗ 
nung uͤbriggelaſſen. Raul war bei jenem ruͤhmlich er⸗ 
waͤhnten Sturm der Schanzen von Borodino verwundet 
worden, anſcheinend ungefaͤhrlich, eine Fleiſchwunde im 
Oberarm. Auf ſein dringendes Verlangen hatte der Ge⸗ 
neral davon abſtehen muͤſſen, die Familie von ſeinem Un⸗ 
fall in Kenntnis zu ſetzen. Er hoffte auf rafche Herſtel⸗ 
fung, fobald die erfehnte Raftftation in Moskau erreicht 
fein werbe. 

Man erwies dem tapferen Balbfranzofen, für welchen 
der Kaiſer wiederholt ein perfönliches Intereffe bekundet 
hatte, ausnehmende Berüdfichtigung. Im eigenen Fuhr- 
werf begleitete er die Armee, und zwar feinem Korps 
voran, im Gefolge der Tete, die am fünfzehnten Sep⸗ 
tember die Hauptſtadt erreichte. Hier hört nun jede Spur 
von dem Unglüdlichen auf. Dan weiß, welches Unbes 
hagen fchon am erften Abend die auflodernden Brände 
erregten, und in welches Entfegen ed umfchlug, ald die 
von Biertelftunde zu Biertelftunde auflodernden Feuer: 
faulen eine gewaltfame Tat verfündeten, wo man ſich 
bisher mit Zufälligkeiten getröftet hatte. 

Am übernächften Tage rüdte die fächfifche Reiterbrigade 
in dieſes Feldlager zwiſchen rauchenden Truͤmmern ein, 
und war es eine der erſten Sorgen des Generals, ſich nach 
dem vorangegangenen jungen Freunde umzutun. Leider 
vergeblich. Alles, was uͤber ihn erkundet werden konnte, 
entſtammt dem Berichte ſeines Dieners — des ehrlichen 


Fünfter Abfchnitt 259 


Kietz aus Nie -, der während der Reife nicht von feiner 
Seite gewichen war. 

Erfchöpft von Blutverluften und der befchwerlichen Fahrt, 
hatte der Verwundete an einem freundlichen Haufe der 
weftlichen Borftadt haltmachen laflen. Das Haus trug 
ein Gafthoffchild, und zwar, wie der Burfche verficherte, 
eins mit dem deutfchen Namenszeichen Weber. Raul 
wollte in bemfelben verweilen, bis die Quartierverhält> 
niffe fi) geordnet haben würden. 

Mit verdrießlicher Überrafchung fand man dad Haus 
ausgeräumt, menfchenleer, aller Mundvorräte bar. In 
der volfreichen Hauptſtadt hatte man dieſes Flüchten ber 
Bewohner, an das man in Dörfern und Hleineren Orten 
gewöhnt war, nicht erwartet. Ringsum Feine Seele zu 
errufen, zu erfpähen. Der Diener wurde ausgefchickt, 
Mein und Brot herbeizufchaffen. Sein Herr, den Mans 
telfad® unterm Kopf, ruhte auf der platten Diele. 

Der ehrliche Burfche fand alle Läden gefchloflen, alle 
Käufer, an die er klopfte, verlaffen. Ratlos irrte er durch 
das Gewuͤhl der Truppen, welche erfchöpft, halb betäubt, 
zeternd und fluchend, ſich in den oͤden Straßen umher⸗ 
trieben. Ehe er fich, ohne die gefuchte Beute, in die Vor⸗ 
ftadt zuruͤckgefunden hatte, war die Nacht hereingebrochen. 
Mit Entfegen fah er, daß die ganze Gegend, in welcher 
nadı feinem Glauben das Wirtshaus geftanden hatte, in 
Flammen loderte. Niemand verfuchte zu Löfchen, niemand 
war da, Auskunft zu geben. Der treue Menſch rannte, 
den Namen ſeines Herrn fohreiend, durch die feurige Gaſſe. 
Er drang in jede Tür, in welcher er die des deutfchen 
Gaſthauſes zu erkennen glaubte, und ftürzte endlich, Haut 
und Baar verfengt, zu dem nächften Poften zuruͤck, um das 


260 Frau Erdmuthens 3willingsſoͤhne 





Unheil zu melden, dann aber, zum Tode erſchoͤpft, zuſam⸗ 
menzubrechen und unter Mangel und Elend zu erliegen. 
Armer treuer Junge, und armer Vater Kietz aus Rietz! 

Für feinen ungluͤcklichen Herrn kam jede denkbare Hilfe 
zu ſpaͤt. Wo die Vortruppen an einer einladenden Garten⸗ 
ſtadt voruͤbergezogen waren, fand die Hauptarmee nur 
rauchende Ruinen. Umſonſt forſchte, ſtoͤberte man nach 
dem Lebenden, umſonſt wurden die glimmenden Truͤmmer 
nach den Gebeinen durchwuͤhlt. Der Lokaleindruck des 
Dieners war ein zu oberflaͤchlicher geweſen, um einen 
Anhalt zu bieten, jede anderweitige Auskunft gebrach. 
Bei alledem konnte und wollte der General die Hoff⸗ 
nung nicht aufgeben, daß der gemandte, keineswegs hilf- 
loſe junge Dann ſich gerettet und in der meilenweiten 
Ausdehnung der Stadt oder ihrer ländlichen Umgebung 
ein Aſyl gefunden haben könne, in welchem er erfranft 
barniederliege, Einen Monat lang, bid zum endlichen 
Ruͤckzuge, fegte er die Nachforſchungen fort - ohne Spur. 
Das Entfegen dieſes Rüczuges, die ftündlichen Opfer der 
werteften Waffengefährten, der Eifer, einen Reft von Ord⸗ 
nung in feiner zufammengefchmolzenen Truppe zu erhal» 
ten, die Laft, welche der Kaifer ihm aufbürdete, indem er 
ihn zu einem Kommandanten der zufammengeftoppelten 
„Heiligen Legion“ ernannte, verdrängten endlich feine Er⸗ 
innerung an den werten jungen Freund; heute aber pried 
er ihn gluͤcklich, in ungebrochenem Siegerglauben, vor 
den entmenſchlichenden Eindruͤcken der letzten Monate und, 
ſo Gott wollte, ohne allzu ſchweren Kampf geendet zu 
ſein. „Sein raſches Blut“, ſo ſchloß der General, „wuͤrde 
auf dem Scheidepunkte, dem wir entgegentreiben, ſich 
ſchwer behauptet haben.“ 


Fünfter Abſchnitt 261 


Ich habe diefe Mitteilungen nüchtern im Zufammen- 
hange dargeftellt. In jener Stunde waren ed nur Bruch⸗ 
ftüde, die ic) empfing. Mir war, ald trüge die unglüds 
lihe Mutter die glühenden Kohlen, die den Leib ihres 
Lieblings verfengt hatten, in ihren Händen herbei, ale 
wöge fie einen Stein um den anderen, deren Wudht ihn 
gerfchmetterte. Ich dachte nicht daran, eine Hoffnung an⸗ 
juregen, die ich felber nicht empfand. Sie wußte, daß 
ich mein Kind in dem ihren verloren hatte und daß ich 
freudig mein Leben gegeben haben würde, um ihr das 
feine zu erhalten. 

Ich fchwieg, und fie verftummte; ihre Hand in der meis 
nen, faßen wir ohne Regung, bis das Förfterhaus erreicht 
war. Hier warteten der Schlitten und der Diener des 
Schloſſes, welche beiden Fuhrwerken durch die verfchneite 
Heide vorleuchten follten. Frau Erdmuthe blieb im Wagen 
fiten, ich flieg aus, die finder zur Weiterfahrt aufzus 
fordern. Herrmann ftand harrend unter der Tür, er hatte 
die Qual diefer aufflärenden Stunde dem Herzen ber 
Mutter nachgefühlt. Sept trat er an den Schlag, faßte 
ihre Hand und drüdte die Tippen auf ihre Stirn, Eine 
Träne aus feinen Augen glitt über ihre Wangen. Sie 
fchlang die Arme um feinen Hals, wie fie fonft nur den 
zärtlicheren Raul zu umfchlingen pflegte: „Mein Sohn, 
mein einziger Sohn!” fchludhzte fie. 

Liska ſchwebte herbei, froh aufjubelnd über die koͤſtliche 
Fahrt. „So über die Erde zu fliegen!” rief fie aud. „DO, 
meine Mutter, fo glücdlicdy wie heute war ich noch nie!“ 

Wieder fchmetterte das Pofthorn, die Pechfackeln wurden 
angezündet; blutrot flackerte dad Licht über die Friftallis 
fiexten Zweige. Die Roſſe wieherten, die Schellen laͤu⸗ 


262 Fran Erdmuthens Iwillingsföhne 


teten, der leichte Schlitten glitt voran, der ſchwere Wagen 
ſchwankte ihm nach. 

„Es iſt ein Schmerz fuͤrs Leben,“ begann Frau Erd⸗ 
muthe nach einer langen Stille. „Aber ein Schmerz, der 
Frieden gibt uͤber das Leben hinaus. Er ſcheucht das Ge⸗ 
ſpenſt, das ſeit dem Tode meines teueren Mannes mich 
bedroht hat Tag und Nacht. Gott hatte mich mit zwei 
Soͤhnen geſegnet, wo ich einen erfleht. Er ſei gelobt, daß er 
mir einen nahm vor der Stunde, in der ich fragen mußte: 
war es des andern Hand, die ihm den Tod gegeben? 
Und zweifeln Sie, mein Freund, daß dieſe Stunde aus⸗ 
gehoben hat?“ 

Fuͤrwahr, es war eine große, eine heilige Liebe, die das 
Herz dieſer Mutter regierte! 

Die Fahrt durch die Heide war muͤhſam; die Kinder 
mochten uns laͤnger als eine Stunde voraus ſein. End⸗ 
lich hielten wir. Der Schnee hatte das Rollen der Raͤder 
gedeckt; ehe unſer Kommen bemerkt ward, oͤffnete ich die 
Tuͤr des Familienzimmers, und nach dem ſchweren Ent- 
ſagungskampfe blickte die Mutter auf ein Bild der Er⸗ 
fuͤllung. 

Ihr gegenuͤber, im Fenſterbogen, ſtand der Sohn; das 
Maͤdchen, das er liebte, ſchmiegte ſich an ſeine Bruſt, und 
ſein Geſicht ruhte geſenkt auf ihren Locken. 

Mit einem Schrei der uͤberraſchung riß ſich Liska von 
ihm los und ſtuͤrzte ſich an den Hals der Mutter. Feuchten 
Auges druͤckte Herrmann beider Haͤnde an ſein Herz. 

„Nimm ſie als Tochter fuͤr den Sohn, den du verlorſt, 
und ſegne deine Kinder, meine Mutter“, ſagte er. 

Schweigend umfaßte ſie die Gluͤcklichen, ein Traͤnenſtrom 
loͤſte ihre Bruſt. Aber es war der Erſchuͤtterung zu viel; 


Fünfter Abſchnitt 263 
fie fchwantte; auf Herrmann geftügt, fuchte fie die Stille 
ihres Zimmers. 

Ich ftand noch immer wie im Traum, und feltfam! in 
einem bänglichen Traum. 

„Freuen Sie ſich denn nicht, Väterchen?” rief Liska, 
indem fie mich auf beide Baden füßte. 

„Lieben Sie ihn, Liska?“ fragte ich. 

„Wie meinen Schugengell“ antwortete fie. 


Sechſter Abfchnitt 


Was keimt, das muß gedeihen 


ls ich am andern Morgen im Begriff war, aufs Schloß 
I, gehen, ftürmte der Doktor bei mir ein, blaß, atem⸗ 
[08, mit einem Blick, ald ob er, ftatt der unvermeidlichen 
Zeitung, dad Meffer zu einem Schnitt auf Tod und Leben 
in der Hand halte. | 

„Wißt ihre ſchon?“ Feuchte er. 

„Daß unfer Raul tot ift, leider!” 

„Borauszufehen!“ 

„Und Serrmann verlobt - —“ 

„Eine Torheit mehr in der Welt, aber auch vorauszu⸗ 
fehen. Nein, das!“ 

Er breitete die Zeitung vor meinen Augen aus, und ich 
las - was freilich nicht vorausdzufehen war — „die Kapis 
tulation von York!“ 

„Auf dem Schloffe ift auch fchon Alarm Bez rief 
Bar im Weiterrennen. 

Sch eilte zu den Meinen. Das Wohnzimmer war leer; ich 
fand fie in Herrn von Rocs früherem Kabinett, jegt feiner 
Gattin ftillem Afyl, wenn fie um Frieden rang. Sie hatte 
den weißen Anzug mit einem trauerartigen vertaufcht und 
faß im Lehnftuhl am Ofen. Herrmann, in höchfter Bes 
wegung, ftand vor ihr, ihre beiden Bände in den feinen. 
Kein Wort mag gewechfelt worden fein; aber die Tippen 
der Mutter bebten wie damals, als fie fagte: „Alle drei!“ 

Liska lehnte im Fenfter gegenüber, mit großen Augen 
die Gruppe betrachtend. Die Mutter drüdte mir, auf 
die Tochter weifend, die Band; dann verließ fie das 
Zimmer; Herrmann folgte ihr. 


Sechſter Abſchnitt 265 


„Was bedeutet das?" fragte Liska. 

„Es bedeutet, Liska, daß Sie die Braut eines beutfchen 
Mannes geworden find, und daß diefer Mann im Bes 
griffe fteht, für die Befreiung feines Baterlandes in den 
Kampf zu treten.“ 

„zur die Befreiung von ruffifcher Barbarei? Er tut 
recht daran.“ 

„Für die Befreiung von Napoleon, Liska.“ 

„Aber eure Könige find ja die Freunde des Kaiſers.“ 

„Sie waren gezwungen feine Bundesgenoflen und wers 
den, willd Gott, ed nidyt lange mehr bleiben“, vers 
ſetzte ich. 

Sch erflärte hierauf in kurzen Worten die Tat in Ofts 
preußen und deren Rüdwirfung aud) auf Herrmanns Ges 
ſchick, ſoweit diefelbe im erften Moment zu überbliden 
war, Die kleine Franzöfin unterbrady mid Saß für 
Sag mit einem zornigen „Ah“ und „Oh“, „Feigheit! 
Berrat! Schande!” fchrie fie, ftampfte mit den Füßen, 
ballte die Hände und rollte die Augen wie ein Teufelchen. 
Herrmann trat wieder ein. 

„Sit ed wahr, Erman,” rief fie ihm entgegenftürzend, 
„it es wahr, was diefer abfcheuliche, alte Mann bes 
hauptet, bift du ein Verfchwörer, ein Verräter, ein Res 
beil? Zichft du ind Feld gegen den Kaifer? Willft du dag 
Blut deined Bruders vergießen, der für den Kaifer 
fampft?“ 

„Noch ift der Krieg nicht ausgebrochen, in den ich ziehen 
müßte,” entgegnete Herrmann ruhig, „und mein Bruder - 
du fahft die Trauerfleider unferer Mutter, Liska —, mein 
armer Bruder ift tot.” — 

„Warum ſoll er tot fein?” rief Liska Teidenfchaftlich. 


266 Frau Erdmuthens Swillingsfähne 


„Er lebt, fo wahr, wie ich felber lebe. Auch mein Bater 
lebt. Auch gegen ihn willft du die Hand erheben!” 

„Lied den Brief deines Vaters noch einmal, Liska,“ 
fagte Herrmann fehr ernft. „Wenn er dir einen zweiten 
fchriebe, würde er did mahnen: „Kerne gerecht fein gegen 
die Freunde, die du bis jegt nicht verftehft. Sie fämpfen 
den heiligften Kampf, den Menfchen kämpfen können. 
Seit dem Tode meines Vaters, Liska, lebe ich in der Er⸗ 
wartung diefer Kampfesftunde.“ 

„Monstre!“ fchrie die Fleine Furie, aus dem Zimmer 
fliegend. 

Herrmann ftand lange unbeweglich, die Hände vor dag 
Geſicht gefchlagen. „Sie ift noch ein Kind,” fagte er 
endlich, mit einem Verſuche zu lächeln, „und ein frans 
zöfifches Kind. Es gilt auch hier einen patriotifchen 
Sieg. Ic redyne auf die Liebe und auf Ihren Beiftand, 
alter Freund.“ 

Lisfa erfchien nicht am Familientifche, wie man es von 
der Verlobten des Erbherrn hätte erwarten dürfen. Die 
Tafelrunde war einfilbiger denn je; der Phyſikus fehlte, 
und der Zufpruch der reinen Vernunft weckte feinen 
MWiderhall. Dem Weltweifen und den Feldweifen ſchmeckte 
ed wenigftend. Mutter und Sohn berührten feinen Biffen. 

Nach dem Eſſen verfuchte ich Liska zu ſprechen. Sie 
fchlafe feit, fagte die Kammerfrau mit einem fpöttifchen 
Blick. Die Verlobung war rudybar, die Ausficht auf eine 
Frau Erbmuthen fo unähnliche Herrin aber mit wenig 
Beifall aufgenommen worden. Für den Hausgebrauch 
huldigt das Volk der Theorie von gleich und gleich, 
wenn ed in Sahrmarftsbuden audy gern nach einer 
Mohrenkönigin ausfchaut. Herrmanns Koffer wurden 


Sechſter Abfchnitt 267 


gepadt. Da der Kampfplag zwifchen Franzofen und 
Nuffen auf preußifches Gebiet verlegt war, konnte bie 
rafche Abreife des Gutsherrn von Ganditten, auch da er 
Bräutigam geworden, nicht befremden. 

Am Abend hatte Mademoifelle ihren Zorn verfchlafen. 
Sie trat in dad Wohnzimmer rofig lächelnd wie - ei 
nun, wie eine echte Braut. Sie reichte dem abfcheulichen, 
alten Manne die Sand mit den Worten: „Querelle d’Alle- 
mands! Wie nennen Sie das auf deutfch, Väterchen?“ 

„Streiten um Kaiferd Bart“, antwortete id). 

„Wie das paßt!“ rief fie beluftigt. „Der Kaifer hat 
feinen Bart, alfo Streit um nichts.“ 

Dann zufchwebend auf Herrmann, dem fie, wie fonft 
beim Kommen und Gehen, die Stirn zum Kuffe bot, 
fagte fie: „Auch wir find wieder Freunde, nidyt wahr, 
Erman? Der dumme General, - wie heißt er doch, der 
preußifche Romana? - fein König liefert ihn aus, der 
Kaiſer läßt ihn erfchießen — oder auch nicht erfchießen. 
Wir lachen über ihn. Voilä tout!“ 

Die Mutter blidte ftill vor fi hin. Sonft fpann fie 
bei Abend an einem Nädchen von fchwarzem Holz mit 
Perlmuttereinlagen, noch einem Geſchenke des feligen 
Majors. Heute ruhten ihre Hände im Schoß. Herrmann 
druͤckte und küßte die Hände von Zeit zu Zeitz dann wieder 
die feiner Braut. Das wenige, was er fpradh, Fang 
mild und weich wie noch nie. 

Liska funkelte von nedifchem Übermut. Vielleicht fteis 
gerte fie ſich felbft, um die Trauergeifter zu bannen, an 
die fie nicht glauben wollte. Raul lebte ja, und Papa 
lebte auch. Warum follten fie nicht leben? Zum erften 
Male wurde Frau Erbmuthen ihre Beweglichkeit zu viel. 





268 Frau Erdmuthens Iwillingsfähne 


Sie erhob fidy mit den Worten: „Wir find geftern fpät zur 
Ruhe gefommen;z holen wir es heute nach, liche Tochter.“ 

Liska folgte nur widermillig, und wahrlich! mein Herr; 
mann zitterte. Zwei⸗, dreimal drücdte er fie an ſich, ald 
fönne er fie nicht laffen, big fie fich endlich Iachend von 
ihm losriß und ihren Arm in den der Mutter legte, 
von der fie fich jeden Abend wie ein Kindchen zur Ruhe 
bringen ließ. 

„Bann reifen Sie, Herrmann?” fragte ich, nadıdem 
wir allein waren. | 

„Diefe Nacht,” antwortete er. „Machen Sie ihr ver, 
ftändlich, warum es fein mußte. Sch — ich vermochte 
nicht Abfchied von ihr zu nehmen.“ 

Können denn zwei, die fich lieben, voneinander gehen, 
auf lange Zeit, vielleicht auf ewig voneinander gehen 
ohne Lebewohl? dadıte ich und feufste. 

Herrmann teilte mir mit, daß er durch vertraute Hand 
die Kunde von Tauroggen fhon im Moment der Abs 
reife von Dresden erhalten und daraufhin feine Wers 
bung befchleunigt habe; nicht nur, um die Mutter durdy 
Erfüllung eines Lieblingswunſches aufzurichten, fondern 
auch um Liska eine feftere Stellung im Haufe, in der 
Geſellſchaft und im eignen Bewußtſein zu gewähren. 
Er zweifelte nicht, daß die rufjifche Hauptmacht, raſch 
den Bortruppen folgend, ſich mit den Preußen vereinen, 
baß der Slönig jedes diplomatifierende Schwanfen fallen 
laffen, der klaͤgliche Reſt der Feinde bis zum Frühjahr 
über den Rhein gedrängt fein werde. 

Die Mutter trat wieder einz ich wollte mich entfernen. 

„Bleiben Sie, Freund,” bat fie, „wir bedürfen Ihres 
Rats,“ 


Sechſter Abfchnitt 269 


Sie war fehr gefaßt. Ic nahm Platz an ihrer Seite, 

Herrmann und gegenüber. Nach einer Paufe hob fie 
an: „Du gehft, mein Sohn, und ich widerfpreche dir 
nicht. Sch weiß, es ift dein innerfted Anliegen und deine 
heifigfte Pflicht. Aber die Entfcheidung kann jich ver 
zögern; warum morgen ſchon, Herrmann?“ 

Er ſchwieg, vielleicht einen Auffchub erwägend. Die 
Mutter blicfte ihn aufmerffam an, dann fuhr fie fort: 
„Sc bitte nicht um meinetwillen, mein Sohn; um Liskas 
willen. Zwei Wochen Auffchub, allenfalld nur eine, und 
du hätteft fie ald deine Gattin zurüdlaffen können.“ 

Der junge Dann fuhr zufammen wie. unter einem elek⸗ 
trifchen Schlag. Ein Glutſtrom übermwogte fein Geficht, 
die Adern der breiten Schläfen Flopften, aus den Augen 
bligte ein Verlangen, das ich nur während diefer einzigen 
Minuten in ihm wallen fah. Er fprang vom Stuhle in 
die Höhe und fchritt wohl eine Viertelftunde lang ſchwei⸗ 
gend im Zimmer auf und ab. Dann preßte er hervor, 
wie zu fich felbft: „Nein, nein, dad Gluͤck madıt laß.“ 
Und nad, einer Weile beruhigter: „Erft unfern guten 
Kampf -, dann den Preis - meine Mutter.“ 

„Du verleumbeft das Gluͤck, weil du es nicht Fennft, 
mein Sohn,“ wendete, ein wenig verftimmt, Frau Erd⸗ 
muthe ein. „Wir tun unfere Pflicht völliger nach einer 
fhönen Erfüllung, ald wenn und dad Sehnen darnadı 
zerftreut.” 

„Möglich, daß du recht haft, liebe Mutter,“ verfegte 
Herrmann wieder vollfommen gefaßt. „Aber denfe an 
Liska. Im Bemußtfein ihrer Abhängigfeit würde fie 
faum widerfprechen £önnen, vielleicht auch nicht wollen. 
Allein der Umfchlag wäre zu jäh. Sie muß allmählich 


270 Frau Erdmutheus Bwillingeföhne 


das Fremde uͤberwinden, muß erſt die Unſere werden, 
ehe ſie ganz die Meine werden darf.“ 

Es war das erſte, das einzige Mal, daß der Sohn der 
Mutter widerſprach bei einem Anlaß, wo ſie ſein inner⸗ 
ſtes Begehren zu ſtillen dachte. War es die ererbte 
flaͤmiſche Ader, war es ſein Genius, der ihn im Banne 
hielt? 

Mutter und Sohn ſaßen noch tief in die Nacht hinein 
beieinander. Sie hatten Bedeutendes feſtzuſtellen; Vor⸗ 
bereitendes fuͤr die nahende Zeit; zukuͤnftig Segenwirken⸗ 
des in einem weiten Bezirk. Sie machten auch ihr Teſta⸗ 
ment in wechſelſeitigem uͤbereinkommen, verbindlich fuͤr 
einen wie den andern der uͤberlebenden, wie ſonſt nur 
Ehegatten ſich in ſolchem Akt zu einen pflegen. 

Am andern Morgen war Herrmann abgereiſt. Das Ab⸗ 
ſchiedswort, das er fuͤr Liska zuruͤckließ, iſt im goldenen 
Buche aufbewahrt: 

„Sc ſcheide von Dir, Geliebte, ehe Du es ahnt. Ewig 
Dant, daß Du meine Liebe verjtandeft. Kerne auch vers 
ftehen, was außer diefer Liebe mein Herz regiert. Werde 
glüdlich, Lisfa, bei den Deinen und durch die Deinen. 


Herrmann.” 


* 
}: 


Könnte ein Erzähler doch immer zu einem goldenen 
Buche feine Zuflucht nehmen, wenn der Faden des Ges 
fhehenden, das heißt die Wandlung in den Herzen, ihm 
entfchlüpft! Denn wer ermißt ohne Willfür die Ent- 
wicklung eined Menfchen im Kontakt mit feiner wechfelns 


den Umgebung? Wer fchaut der Natur, felbft der eignen, 
bis auf den treibenden Grund? Wer bürgt auch mir 


Schfter Abſchnitt 271 


dafür, daß das Bild der fremden Waife nicht ſchon in 
der Anlage einen falfchen Zug erhalten hat, daß es weit 
gefälliger euch anlächeln wuͤrde, hätte ihre eigene, junge, 
weiche Hand den Griffel geführt, anftatt der welfen, 
fteifen des Paten Magifter? 

Aber das ift ja eben ein Merkmal der Wandlung, die 
ich fchildern möchte, daß das mir vorliegende goldene 
Buch, nachdem ed ein paar Wochen lang die Schale ge: 
wefen, in welches ein Strom eigenften Lebens ſich ergoß, 
je mehr und mehr zur Mappe wurde, zu einem angeeigs 
neten Sammelfurium, das ein innerliched Stoden be> 
fundete. Nur über die Eindrüde der nächiten Tage finde 
ich eine Aufflärung, die mir manche Weitläufigfeit ers 
fpart. | 

„Herrmann ift fort, und fie nennen mich feine Braut. 
Er felber hat mich nidyt Braut genannt. Er fagte zu 
mir: Sch liebe dich! Und vielleicht, ich weiß es nicht eins 
mal, fagte ich zu ihm das nämliche. Der Pfarrer be; 
hauptet, wir hätten dad Wort Braut in unferer Sprache 
nicht. Promise bedeute etwas Außerlicheres und viel 
weniger. Mir ift ſchon promise viel zu innerlich und 
viel zu viel. Heimlich, über Nacht, ift er fort, und bie 
Liebe einer Stunde ift mit ihm verflogen. Aber wie 
feltfam! Sonft, wenn er fort war, dachte ich niemalg 
an ihn, fam er aber wieder, dann freute idy mich. Kehrte 
er morgen zurüd, würde ich mich gar nicht freuen, aber 
ich denke über ihn nadıy den ganzen Tag. Sonft, da 
intereffierte er mich nicht, aber ich traute ihm. Er ift 
gut, fagte ich mir; alle andern fagtend ja auch. Und 
nun? Diefer ruhige Mann mit den Haren, treuen Augen, 
das ift ein Heuchler von Herzensgrund, ein Verſchwoͤrer, 


272 Kran Erdmuthens Zwillingsföhne 
ein Empörer, gegen den die heißblütigen Spanier Kinder 
waren. Diefer gutmütige Mann hegt feit fieben Sahren 
nichts als Haß gegen das Volk, dem feine Väter ent⸗ 
ftammten, finnt feit fieben Sahren nichts ald Rache gegen 
das Genie, dem der Weltteil zu Füßen liegt. 

„Und diefe milde, leife Frau, die ich Mutter nenne, in 
deren Nähe mir allezeit war, als liebte mid) Gott, deren 
Lieblingsfohn Ruhm und Gluͤck im begeifterten Kampfe 
mit feinen Stammgenoffen gefunden hat, vielleicht auch 
den Tod, — nein, nein, nicht den Tod! — diefe friedliche 
Frau ift die Bertraute, die Hehlerin, die Kelfershelferin 
jener argen Pläne, fie fegnet, was der Carbonaro, ber 
fid) Patriot nennt, will und was er tut. 

„Run gar aber der Dritte in ihrem Bunde, diefer alte, 
fegerifche, Feine Pfarrer! Mit dem unfchuldigften Lamm⸗ 
geficht predigt er mir vor auf Schritt und Tritt von der 
deutfchen Treue und dem deutfchen Recht, für welche fein 
Herzensfohn das Blut vergießen will, Öffentlich aber auf 
der Kanzel betet er für feinen frommen, fatholifchen 
Landesvater, welcher der danfbarfte Anhänger des Kaiſers 
it! In welchen Hinterhalt bin ich denn geraten? Wo 
ift hier Wahrheit und wo Lüge? Wer Iöft mir dieſes 
dunkle, deutfche Menfchenrätfel?“ 

In folder Stimmung trat und Liska, feitdem fie 
Braut hieß, gegenüber. Wir waren nunmehr erft recht 
gründlich in den Winter hineingeraten; immer dichter 
trieb, immer höher lagerte der Schnee über der Heide, 
ed braufte und krachte zwifchen den Wipfeln. Aber 
Liska glich nicht mehr dem flügellahmen Bögelchen 
im Novemberfturm; weniger freilich noch dem freudes 
fprühenden Luftgeift vom Dreifönigsabend. Sie nahm 


Sechſter Abſchnitt 278 


auch jetzt nicht teil am haͤuslichen Treiben, aber ſie wall⸗ 
fahrtete auch nicht mehr ſehnſuͤchtig nach der Kloſter⸗ 
ruine. Von Tage zu Tage fand ich ſie — gewachſen will 
ich nicht ſagen —, aber geſtreckter, ernſter, kaͤlter, ge⸗ 
meſſener; aus dem launenhaften Kinde wurde eine Dame, 
weit eher nach Frau Erdmuthens als nach Frau Lodoiskas 
Schlag. Sie nannte mich nicht mehr Vaͤterchen, und 
wenn ſie ihre Wohltaͤterin noch Mutter nannte, ſo merkte 
man, daß Madame oder ma tante ihr flotter vom Herzen 
gekommen ſein wuͤrde. Die großen, deutſchen Leute impo⸗ 
nierten ihr nicht mehr, ſeitdem ſie ihr ein Raͤtſel geworden 
waren, und ich erwartete mit Bangen, ob des Raͤtſels 
Loͤſung Liebe ſein werde oder Haß. Moͤglich auch, daß, 
trotz der Verleugnung ihres Brautſtandes, das Bewußt⸗ 
werden einer geſicherten Stellung ihr das Koͤpfchen ſo 
viel hoͤher richtete. Monſieur Antipathie wenigſtens ver⸗ 
ſicherte, ſie habe die Landſtraße nach Deutſchland einge⸗ 
ſchlagen, was natuͤrlich nicht ausſchloͤſſe, daß fie mit dem 
eriten beiten franzöfifchen Kurier wieder fehrt machen 
werde. Die alles begütigende Mutter dahingegen nahm 
die gemilderte Temperatur für den naturgemäßen Rüds 
ſchlag bräutlicher Wallungen, und zweifle ich nidht, daß 
fie durch diefe Bemerkung ihrem Sohne den Schmerz der 
jähen Trennung zu lindern fuchte, 

Herrmannd nicht zahlreiche Briefe find im —— 
Buche aufbewahrt und allerdings nur ſchwach in den 
Liebhaberfarben aufgetragen, mit welchen ſein Vater 
noch als alternder Ehemann ſeine Erdmuthe bezauberte. 
uͤberdies lebte er zu viel, zu voll nach einer anderen 
Seite hin, um aͤngſtlich auszuſondern, was dem Ver⸗ 
ſtaͤndnis eine Bruͤcke ſchlagen konnte. Briefſchreiber 
xx. 18 


274 Fran Erdmuthens 3willingsſoͤhne 


muͤſſen gleiche Intereſſen hegen, wenn ſie nicht lang⸗ 
weilig wirken ſollen. Selber in Herrmanns Briefen an 
die Mutter waltete jetzt indeſſen eine nuͤchterne Zuruͤck⸗ 
haltung, welche die Zeitlage rechtfertigen mochte. Viel⸗ 
leicht, daß ed ihm aber auch peinlich war, dad Freunds 
fehafteverhältnig zu der einen zum Nachteil der anderen 
fo deutlic, zum Ausdrud zu bringen. 

Eingehendered über fein Treiben erfuhren wir erft, ale 
Ende Februar mein Bruder Gottlieb flüchtig bei und 
einfehrte. Der bewährte Verwalter hatte ald Trains 
offiziant fid) dem Reſervekorps angefchloffen, das General 
Bülow an der Weichfel zufammengezogen und jegt, unter 
den Behelligungen von Franzofen und Ruffen, zur freien 
Verfügung feines Königs nach dem Innern führte. Nun 
fam der wadere Lieb, um auch im heimatlichen Aus⸗ 
ande zu fammeln und zu werben. Unfere beiden jüns 
geren Brüder find ihm fpäter in dad Bülowfche Korps 
gefolgt, fein Herr war bereitd dem Stabe ded Generals 
aggregiert. 

In weld, gefpannter Stimmung Serrmann Bülow vor 
Jahren zum erften Male begegnet war, habe ich erwähnt; 
gewiß war ed aber nicht, wie zwifchen Raul und Thieles 
mann, die verwandte Eigenart, welche den jungen, ruhigen, 
deutfchen Patrioten mit dem alternden, rafch erregten 
Kriegskünftler aus Friedrich Schule dauernd verbunden 
hat; auch z0g ihn nicht die Ölorie einer heldenmäßigen 
Bergangenheit. Bülow wurde ja erft ald Greig der allers 
orten glücliche Sieger. So möchte ic) diefe Unterftellung 
aus freier Wahl und Neigung fchlechthin eine fataliftifche 
nennen; ruhmbringend für das foldatifche, verhängnids 
ſchwer für dag perfönliche Geſchick. Wie anders würde 


Sechſter Abſchnitt 273 


dereinſt die Erinnerung in Frau Erdmuthens Sohn ge⸗ 
waltet haben, wenn er, was damals nahe lag, in das 
Nationalkavallerieregiment oder in jedes andere von 
Yorks Heerteil getreten wäre! | 
Bevor Herrmann jedoch zu den Fahnen eilte, war er 
Zeuge und Teilnehmer der politifchen Vorgänge in Königs: 
berg. Der Gutöherr von Ganditten gehörte zu der Depus 
tation, welche den von feinem König verleugneten York 
unter die durch Stein zufammenberufenen Stände führte. 
Als aber jegt ein einfacher Landmann ung fchilderte, wie 
der alte, ftarrföpfige, rauhe General vor den ftaatlichen 
Megeneratoren, denen er fo lange gegrollt hatte, den 
Treuſpruch leiftete, den eigenmächtig erhobenen Kampf zu 
Ende zu führen und Außerftenfalld mit Ehren zu fterben; 
als jener mit bebender Stimme den hohen Schwung der 
Berfammlung fchilderte; den mannhaften Geift in der 
durch zwei drohende Heere, Die ſich beide Freunde nannten 
und beide wie Feinde gebärbeten, gleich einer Infel vom 
Mutterlande [osgeriffenen Provinz; den warmen Herzens⸗ 
puls über dem winterlich erftarrten Grund, den Opfers 
trieb in dem bis aufs Blut erfchöpften Volke: da zog ein 
Schauer der Dafeinsfuft durch die Taufchenden Hörer im 
fächfifchen Heidefchloß, und eine Friegerifche Ader rumorte 
felber in dem Kerzen des friedfeligen, alten Magifters. 
Nein, folch ein Auffhwung war noch auf feinem Blatte 
deutfcher Gefchichte verzeichnet; felber dem herrlichiten der⸗ 
felben, der religiöfen Reinigung im fechzehnten Jahr⸗ 
hundert, fehlte die Volksgewalt, der Einklang, das felbft- 
Iofe Wollen von Recht und Freiheit um jeden Preis. 
Frau Erbmuthe ftand mit gefalteten Händen und zum 
Simmel erhobenem Blick; der weltweife Richter erflärte 


276 Frau Erdmuthens Smwillingsfähne 


fich, fozufagen der reinen Vernunft zufolge, für ein Koͤnigs⸗ 
berger Kind, und der alte Freiheitsphyſikus fchämte fich 
ber erften Tränen nidht, die ein Freund in feinen Augen 
ſchwimmen fah. 

Auch die Kleine Franzoſi n war von unferer Bewegung 
ergriffen worden. Sc mußte ihr die Schilderung ber 
Junta im Schnee in ihre Sprache übertragenz fie reichte 
dem Don Amadeo die Hand mit einem Kächeln, das fie 
feit Wochen verlernt zu haben fchien, und ald wir in 
gutem, altem Malvafier auf das Heil des tapferen, deut» 
fchen Baterlandes anftießen, da leerte fie ihr Glas, ohne 
einen Tropfen Gift oder Galle in den feurigen Saft zu 
mifchen. 

Don Amadeo wird diefen fympathifchen Empfang fei- 
nem Herrn zu rühmen gewußt haben; der Erfolg des 
deutfchen Brautftandes fchien im Borwärtäfchreiten, und 
bald erhielt er Sukkurs von einer Seite, da wir ihn am 
wenigften erwartet hatten. 

Zum erften Male feit Liskas Anmwefenheit beherbergten 
wir anfangs März franzöfifche Quartiergäfte. Es war 
ber Zeil der Berliner Befagung, welche der Vizefönig 
vor Wittgenfteind nahender Vorhut nad, Wittenberg zus 
rücdzog; ein buntes Gemifch, zum Zeil erft kuͤrzlich aus 
. Stalien herbeigezogen. Mademoifelle ſchwelgte ein paar 
Tage lang, wie jedes Wefen, in feinem natürlichen Eles 
ment; das war ein Plaudern und Tachen, ein füdliches 
Erinnern und Haͤndedruͤcken, ein bien venu und A revoir! 
„Binge der Ruͤckmarſch weiter ald bis zur Elbe vor der 
Hand, wir hätten dad Glüd, eine Deferteurin aus dem 
bräutlichen Lager zu beweinen“, brummte Bär. 

Um fo ernfter befchäftigt war Frau Erdmuthe. Es gab 


ee, Schfter Abſchnitt 277 


viele Verwundete unter der Truppe; Trümmer des ruſſi⸗ 
fhen Feldzugs, winterliche Grauenbilder zurüdrufend; 
auch Kranke, Opfer des mehrwoͤchentlichen Biwaks auf dem 
Berliner Straßenpflafter, feit dem erften Koſakenuͤberfall. 
Die, weldye am fchwerften litten, wurden zurüdgehalten, 
um fich in dem guten Haufe heil zu pflegen. 

Unter diefen Halbinvaliden befand ſich eine Marketen⸗ 
derin, welche erft kürzlich aus Italien herbeigezogen, ſich 
feiner angenehmen Befanntfchaft mit deutfchem Schnee 
und Glatteis ruͤhmen durfte. Die Zehen erfroren, bie 
Knöchel verftaucht, humpelte fie noch an Krüden und 
ließ fich8 gern gefallen, dag Wieberflottwerden bei ung 
abzuwarten. Sie war eine Bretonin, nannte ſich Mas 
dame Barbe und verficherte, die Witwe eines Helden zu 
fein, der, den Marſchallsſtab in der Taſche, fich bereits 
zum Sousleutnant aufgefhwungen hatte, ald die moͤr⸗ 
derifche Kugel ihn bei Marengo traf. Eingefehen habe 
ich das Trauatteſt allerdings nicht, aber auch feinen pſy⸗ 
chologifchen Grund gefunden, dad Saframent vor der 
Trommel zu bezweifeln. Madame Barbe war die ehr: 
lichfte Haut und das Fraftreichite Menfcheneremplar, das 
mir von jenfeit ded Rheined zu Geſicht gefommen ift: 
hartfehnig, wetterbraun, in dem dicken fchwarzen Zopfe 
noch fein ergrauted Haar, und fein Zahn laͤdiert hinter 
den firfchroten, vollen Lippen. Gab es ihresgleichen 
drüben mehr, hätte der Kaiſer die Konffription für feinen 
nächften Feldzug unter dem ſchwachen Gefchlecht bewerk⸗ 
ftelligen und dem armen Sünglingeblut einmal Ruhe 
gönnen follen. Auch der Marfchallinnenftab würde in der 
rechten Hand gewefen fein, obgleich dad Kerrfchertalent 
fid, hinter tiefen Kuiren und einer durchaus nicht bres 


278 Frau Erdmuthens Bwillingsfähne 


toniſchen Unterwuͤrfigkeit verbarg. Bewußt oder unbe- 
wußt uͤbte Madame Barbe eine hoͤfliche Diktatur. 

Wie es nun aber in jedem energiſchen Menſchenleben, 
ſei es noch ſo rund und glatt entwickelt, eine Vertiefung 
oder einen Auswuchs gibt, in oder auf welchem das Licht 
ſich abweichend bricht, ſo hegte auch dieſes hartgeſottene 
Weltkind eine ſeltſam erbauliche Antitheſe. Die Witwe 
des Marſchalls in spe wuͤrde vor Teufel und Hoͤlle ſtand⸗ 
gehalten haben und dem großen Napoleon in das Fege⸗ 
feuer gefolgt ſein, wenn beſagte Inſtitutionen ſichtbar⸗ 
lich ſchon auf dieſer Erde eingerichtet worden waͤren; 
fuͤr die himmliſchen Angelegenheiten aber hatte ſie ſich 
aus ihrem eigenen Fleiſch und Blut gleichſam einen Stell⸗ 
vertreter herangezogen, Monſieur Anſelme Barbe, ihren 
einzigen Sohn. | 

Sie erzählte gern, daß fie ihn fchon von der Wiege ab 
ferngehalten von dem Tourbillon, der ihr Element ges 
worden war; fpäter ließ fie ihn im Seminar erziehen, 
fparte und fammelte für fein „Seelenheil”. Gefehen 
hatte fie ihn nur wenigemal und auch dann nur auf 
wenige Momente: „Gekuͤßt habe ich ihn nie, um feiner 
Heiligkeit feinen Schaden zu tun”, fagte fie befcheident- 
lich. Seitdem er die Weihen empfangen hatte, beichtete 
fie ihm, das heißt brieflich, und trug feine Abfolution 
ftatt Amulett auf ihrer Bruft. 

Bor kurzem war Kerr Anfelme nun Cure in einer Ge⸗ 
meinde der Dauphine, aber, o weh! gleichzeitig ein bitter: 
böfer Widerfacher des großen Kaiferd geworden, ſeitdem 
derfelbe in päpftlichen Angelegenheiten die Ießte Hülle 
bes Antichriftd abgeworfen hatte. Kraft des priefterlichen 
Amtes wurde der Frau Mutter anbefohlen, fich aus dem 








Sechſter Abſchnitt 279 


Dienſte des Faͤlſchers und Schwindlers am Heiligtume 
zuruͤckzuziehen. Idol und Ideal der braven Vivandieère 
lagen ſich in den Haaren; der Unfall auf dem Berliner 
Glatteis mußte ſchlechthin als providentielle Vermittlung 
betrachtet werden. 

Nichts haͤtte ihr daher willkommener ſein koͤnnen, als 
in angemeſſener Beſchaͤftigung auf neutralem Boden ſich 
fuͤr den ſchließlich doch unvermeidlichen Ruͤckzug in die 
Sphaͤre der Heiligung vorzubereiten. Bald von ihrem 
Unfall erholt, nahm Madame mit empressement Frau 
Erdmuthens Einladung zu längerem Verweilen an. 

Sie machte fein Hehl daraus, vor ihrer glorreichen 
Fahnenzeit auf einem Edelhofe der Vendée gedient zu 
haben; ob ald Milchmagd oder Köchin, oder in welcher 
anderen wirtfchaftlichen Stellung, ließ fich nicht präfus 
mieren. Madame war jedem Facje gerecht, „aller Prak⸗ 
tifen Großmutter” nannte fie Doktor Bär. Die idylli- 
fhen Jugenderinnerungen wachten auf in dem Kerzen 
der alten Heldin, nicht zum geringften die an ihre Chas 
telaine, für welche in der deutſchen Schloßfrau ein aufs 
richtig bewunderted Abbild gefunden ward. Nun fügte 
ed ſich aber günftig für ihre Wünfche, daß unfere bes 
währte Auggeberin plöglich an dad Kranfenbett ihrer 
Mutter berufen wurde. Madame Barbe bot fidh ald 
Stellvertreterin an, und Frau Erdmuthe fagte willig ja; 
Ge überließ ihr fogar umfaflendere Dienfte, als fie früher 
ihren Gehilfinnen eingeräumt hatte, da fie feit Diefem 
Trauerjahr gern die Hände ruhen ließ, fobald fie ihre 
Pflegebefohlenen nicht darunter leiden fah. Madame 
Barbe war aber raſch bei der Hand, jeded Herrſcherrecht 
auszubeuten. 


280 rau Erdmuthens Zwillingsſoͤhne 


„Ein Teufelsweib!“ rief der Phyſikus, ſooft ſie beie einer 
Amputation oder anderweitigen ärztlichen Liebhabereien 
Chirurgendienſte leiftete. 

„Sin Öötterweib!“ rief wonnefchnalzend der Kantianer, 
als fie ftatt Meerrettig oder Majoran die erfte frifche 
Morchelfauce auf die Tafel brachte. Unſere liebe Frau 
lief Gefahr, zwei ihrer Knechte an die Witwe ded Sous⸗ 
leutnants zu verlieren. 

Den wichtigſten Umfchlag in unferer Hausordnung bes 
wirfte jedoch der Einfluß, den Madame Barbe auf ihre 
junge Randemännin gewonnen hatte. Liska fchloß ſich 
ihr an, wie ein Kind fich, idy will nicht fagen an die 
Teibliche Mutter, aber an die Nährs oder Pflegemutter 
fehließt, trogdem die Sympathie durchaus feine gegen 
feitige war. Bei aller hoͤflichen Form blickte die erfahs 
rene, alte Dame ziemlicd, von oben herab auf das Daͤm⸗ 
chen Ungeſchick. Des Daͤmchens zufünftige Stellung in 
dieſem Vorhofe der Heiligung war aber nicht zu unters 
fhägen, und die Erziehung für diefe Stellung fein Ges 
fchäft, vor dem eine Barbe zurüdichredte, wohl aber ein 
Dienft mehr, durch welchen ſich eine anftändige und 
feffelnde Dankbarkeit beweifen ließ. 

So hing die junge Franzöfin denn am Rockſchoß der 
alten wie eine Klette; und wenn über die Bildungsforts 
fhritte in Keller und Vorratskammer mir fein gültiges 
Urteil zufteht, im Gewaͤchshaus und Treibbeet, fpäterhin 
auch in der Gartenfultur, waren diefelben nicht zu vers 
kennen. Seitdem die Witwe ded Sousleutnants mit 
Tranchiermeſſer und Vorlegelöffel an unferer Tafel res 
gierte, fehlte auch die Waife Frau Lodoiskas an derfelben 
nicht, trog Nachbarfchaft und Gegenüber von „Meffteurs 


F Sechſter Abſchnitt 281 


Anthipathie und Averſion“; des galliſchen Einfluſſes auf 
Menu und Konverfation möge dabei mit Rühmen gedacht 
werden. | | | 

Alles in allem: die Braut bed deutfchen Mannes fchien 
nicht ohne Behagen fich in das Unvermeidliche fügen und 
in Haus und Herd die Löfung des deutfchen Raͤtſels 
finden zu lernen. Ihre Meifterin nannte - und aufrichs 
tigen Herzens — dad Bereich der deutfchen Chatelaine 
eine Schule für das Himmelreich; Liebe und Ehe aber 
behandelte fie ald internationale Angelegenheiten. 

Mid; freilid) wurmte ed, daß ich der Praris eines ders 
ben Berftandes gelingen fah, woran der Geiſt der Liebe 
und Wuttergüte gefcheitert war. Frau Erdmuthe dahins 
gegen freute fid, ohne Eiferfucht ded guten Erfolges. 
„Es ift ein Unterfchied, ob unfere Sprache natürlich oder 
gleihfam ald Kunft zu und geredet wird,” fagte fie. 
„Lehre und Beifpiel der beften Fremden würden auch auf 
und, mein Freund, nicht fo bildend gewirft haben wie 
Heimatslaut und Geſchick.“ 

Die legten Winterwochen vergingen ung auf dieſe Weife 
in einem leidlichen Ruhezuftande. Bon Herrmann hatten 
wir feit meines Bruders Abreife feine Kunde. Der Krieg 
war noch immer nicht erflärt; doch erfuhren wir, daß 
unfer Landesvater vor drängenden Entfchlüffen fidy ges 
rettet habe, erft an die Grenze, dann über diefelbe hins 
aus auf neutraled Gebiet. Er war ein gütiger, frommer 
Herr, und wir liebten ihn; an Heroenkultus machten wir 
feinen Anſpruch. Nur der alte Bär, der in diefen ges 
fpannten Monaten häufig bei und eingefprungen war, 
brummte ftärfer denn je und würdigte Freund Hecht 
feiner Entgegnung mehr, wenn derfelbe und Tag für 


282 Fran Erdmuthens Zwillingsföhne 


Tag verficherte, ed widele fid) alles ganz ſachte wieder 
ab, da ja, vom Standpunfte der reinen Vernunft betrach⸗ 
tet, jeglicher Krieg ein vermeidbared Unding fei. 


” * 
* 


Ald wir aber Frühlingsanfang fchrieben, ſenkte fich die 
friedfelige Peruͤcke, und die borftige Kriegermähne fträubte 
fich ftolz empor. Der Doktor fchmetterte die gewaltigen 
Poften vom fiebzehnten März im Schloffe aus: die Kriegs⸗ 
erflärung; ben Volksaufruf; des grimmen Entfcheidungss 
mannes von Tauroggen Triumpheinzug in das jauchzende 
Berlin. Aud) daß Vorf Herrmanns Hoͤchſtkommandie⸗ 
render geworden, war für die Mutter von Bedeutung; 
fie faß in Gedanfen und blickte fragend in die werdende 
Zeit. 

Liska verftand von der reichen Botfchaft nur, was ihr 
übertragen ward durch die alte Franzöfin, deren Ohr 
und Zunge in ber kurzen Zeit ihred deutfchen Aufenthalte 
unferer Sprache bewundernswert mächtig geworden was 
ren. Keine von beiden zweifelte an dem raſch zerfchmet- 
ternden Siege ihres Kaiſers. Die Alte aber hatte den 
Takt, die Sunge die Nachahmung, zu fchweigen; bald 
machte auch die Tiſchglocke aller Politifa ein Ende. 

Die Kohlfuppe — auch eine franzöfifche Neuerung - 
war verzehrt, Madame am unteren Tafelende zerlegte 
einen faftigen Hammelruͤcken, Mademoifelle am oberen 
mifchte den erften Latticdyfalat des Jahres. Ploͤtzlich 
fchallte ein ftarfer Tritt vom Flur herein, und zwifchen 
dem Rahmen der Türe erfchien eine mächtige, blondbärs 
tige Geſtalt in blauer Litewka und hohen Veiterftiefeln, 
den Scyleppfäbel umgefchnallt, an der Müge das ſchwarz⸗ 


Sechſter Abfchnitt 283 


weiße Landwehrfreus; das ganze Wefen durchleuchtet von 
froh bewußter Kraft; ein Freudenfchrei derZifchgenoffen: 
-— „Herrmann!“ 

Und da hielt er auch fchon die Mutter an feinem Herzen 
fchweigend ein paar Minuten lang; dann nahte er ſich 
feiner Braut. Sie war um einen Schimmer erblaßt, 
reichte ihm aber willig, wie fonft, die Stirn zum Kuß. 
Nun gings mit Händefchätteln und Willkommen die Tafel 
rund herum bis hinunter zu ihrem neueften Gaſte. Mas 
dame Barbe Enirte bis zur Erde mit dem Ausdruck ftaus 
nenden Entzüdend Ich ruͤckte an ihre Seite, den Platz 
zwifchen Mutter und Braut dem Freunde überlaffend. 

„Welch ein Mann!“ rief Madame Barbe. „Ein Her⸗ 
fules! Mein feliger Leutnant reichte ihm nicht bis an 
die Schulter, und mein Eure, — er ift groß an Geift, 
Monſieur, aber dem Leibe nach ift er zum Heiligen ges 
boren. Gibt es unter den Deutfchen viele ſolche Männer, 
Monfieur?“ 

„Sch habe feinen, der ihm gleich ift, gefehen, Madame”, 
antwortete ich ohne Prahlerei. 

„Mademoifelle ift ein Sonntagefind, folhen Gemahl!“ 
fagte die Barbe, ihrer Landemännin eine Kußhand und 
einen Blick zuwerfend, die dieſe Tächelnd erwiderte. 

Herrmann erzählte, daß er die Nacht hindurch geritten, 
um dad Feft der Sonnenwende mit feinen Lieben zu feiern, 
daß er vor Abend jedod) fchon wieder aufzubrechen ges 
zwungen ſei. Liska war gehalten, aber freundlich; fie 
verforgte ihn mit ungefannter Aufmerffamfeit, ſchaͤlte 
ihm einen Apfel und knackte Nüffe, die fie felber fehr 
liebte. Ahr Benehmen glidy dem jedes wohlerzogenen 
deutfchen Fräufeind in gleicher Lage. Nie aber werde 


284 Frau Erdmuthens Swillingsföhne -- - - - 


ich das glüdfelige Lächeln vergeflen, mit welchem ber 
junge Dann dieſes hausfraufiche Walten betrachtete, 

„Diefe Berliebten!” brummte Bär in mein Ohr. „Erft 
entzüct fie ihn, weil fie andere ift wie die anderen, und 
nun ſie's den anderen gleichtut, entzuͤckt fie ihn erft recht.“ 

Nach dem Danfgebet empfahlen fid) die Tifchgenoflenz 
audy Madame Barbe machte ihre Reverenz, um ihre 
Landsleute in den Kranfenftuben mittägig zu verforgen. 
Liska folgte ihr mit einer Schuͤſſel Krumen für den Huͤhner⸗ 
hof. Die Mutter, Bär und ich blieben mit dem Sohne 
allein, und ed fam nun zur Ausſprache, was fo mädıtig 
die Herzen bedrängt hatte. Sch will mich nicht mit der 
Wiederholung aufhalten: der junge Patriot fam von Bers 
lin, und wir fchrieben den einundzwanzigften März 1813!! 

Nach einer Weile erhob ſich Herrmann, die Geliebte 
aufzufuchen. Er fand fie weder im Garten, noch in ihrem 
Kabinett; fie bereitete im Wohnzimmer den Kaffee, wir 
traten juft von der anderen Seite ein, und zu einem Bei⸗ 
einander unter vier Augen fam es nidht. 

Mancherlei Geſchaͤftliches drängte fih darauf an den 
Sohn ded Hauſes heran, ed war ein ununterbrochenes 
Kommen und Gehen, bid dad Abenddunfel hereinbradh. 
Sein Korps zog, wie der Doftor gelegentlich verriet, 
weftwärtd der Elbe zu. Herrmann aber hatte fich ein 
Relaispferd ſuͤdwaͤrts aufden halben Weg nad, Torgau 
beftellt. In Torgau hielt Thielemann die reorganifierte 
fächfifche Armee konzentriert. Das Schickſal unferes Lans 
bes lag in diefed Mannes Hand. Traute man ihm, dem 
bevorzugten Bewunderer Napoleond,die Rolle eines York 
zu, noch jeßt zu, nadydem faft drei Monate feit der Tat 
von Tauroggen verlaufen waren und der Klaifer im Ins 


Schfter Abfchnitt 285 


und Auslande ein gewaltiged Aufgebot mit Meifterfertig» 
feit zufammenfcjweißte? Hatte der junge Sadıfe aus 
Buͤlows Stab den Auftrag, mit dem alten Familienfreunde 
zu unterhandeln? Wer verfällt in foldyen Schwebezeiten 
nicht auf Kombinationen! 

Herrmanns Pferd ftampfte unter dem Kenfter. 

„Einmal noch unfer Bundeslied“, bat die Mutter. 

Ich öffnete das Klavier, Hermann fah ſich nadı der Ges 
liebten um; fie war nicht im Zimmer. So faßte er der 
Mutter Hand und hob die traute Brudermeife feiner Sus 
gend an. Seit fieben Jahren war fie in diefen Räumen 
verhallt; zwei unferer Abendfänger waren vorangezogen 
in dag eine Land, 

Aud) der Mutter noch immer Hangvolle Stimme ftodte. 
Herrmann allein mit gebämpfter Kraft führte die Strophe 
zu Ende, Dachte er an Verföhnung mit dem entfremdeten 
Toten? An das Entweichen des noch Fremden in der 
Seele des geliebten Weibes? Bei dem fchließenden „Dir 
und mir” beugte er das Knie vor der Mutter; fie legte 
fegnend die Hand auf das Haupt des einzigen Sohnes. 
Tränen riefelten auf ihr Trauerfleid hinab. Als er fich 
erhob, flanden die beiden Franzöfinnen unter der Tür. 
Er preßte die Braut an fein Herz und ſchritt haftig 
hinaus. 

Madame Barbe fchaute ihm nach mit einem Blick, der 
fie zu Fräulein Idunens Schweſter madıte. 

„Er ift Proteftant”, fagte fie zu mir. „Pardon, Mons 
fieur! Sie find ed auch. Aber glaubt er an Gott?“ 

„An Gott und feinen Sohn fo feit, wie Ihr Eure und 
auch wie ih, Madame.“ 

„Daß genügt!“ fagte fie, indem fie meine Sand drüdte. 


286 Fran Erdmuthens Iwillingsfähne 


„DMademoifelle wird glüdlich fein und felig werden mit 
diefem Mann.” 

Die alte Franzdfin if, wenn auch nicht ohne einige be> 
rechnende Bintergedanfen, diefer Überzeugung treu ge⸗ 
blieben, troßdem diefer Mann ein Feind ihres Kaifers 
und in den Augen ihres Eure ein Keger war. 

Auch auf Liska hatte das Abfchiedslied Eindruck gemadıt. 
Ich mußte ihr die Worte überfegen und ihre Bedeutung 
für unfer Haus erflärenz; oft fummte fie die rafch erfaßte 
Melodie vor ſich hin. Eine nadjklingende Wirkung finde 
ich im goldenen Buche aufbewahrt, das aus jener Zeit — 
mit Ausnahme eines Nezeptes zu Croquant — nur leere 
Blätter enthält. Mademoifelle hatte die Korrefpondenz 
mit dem heiligen Pfarrherrn in der Dauphine über- 
nommen, da die Feder eind von den wenigen Inſtru⸗ 
menten war, an welchen Madame die Erfahrung vom 
Hand und Händchen machte. Manch perfönlicher Erguß 
mag ſich dem mütterlichen Diftate angefchloffen haben. 
Eine Probe von den eingehenden Zurechtweifungen des 
fernen Beichtigerd aber geben die folgenden Zeilen, die 
einige Wochen nach Herrmanns Abfchied datiert find. 

„Der diefe Strophe dichtete, Mademoifelle, ift einer, 
welcher mit vollem Herzen in den Schoß unferer ewigen 
Gemeinfchaft zurücgefehrt ift. Die edelften Geifter des 
deutfchen Nordend haben diefen Schritt vor ihm und nach 
ihm getan. Die Proteftanten verhöhnen die Heimkehr 
der Stolberg, fie leugnen bie des Novalid. Aber feine 
Poeſien bezeugen fie. Auch diefed Lied. So lieben nur 
die, welche unfere heilige Slirche vereint. So liebte Ruth, 
die gebenebdeite Ahnin der unbefleckten Gottesmutter. Sei 
das Lied Ihnen, Mademoifelle, eine mahnende Stimme 


Sechſter Abſchnitt 287 


aus der Hoͤh'. Sie ſind, wie durch ein Wunder, in das 
Haus der Abtruͤnnigen Ihres Geſchlechts gefuͤhrt worden, 
gefuͤhrt zu einer hohen Miſſion, zur hoͤchſten, die Men⸗ 
ſchen haben koͤnnen. Arbeiten Sie ſelbſtlos und treu, 
wenn auch mit uͤberwindung. Was iſt Erdengluͤck gegen 
Himmelsheil? Scheitern Sie dennoch, werden Sie ſich 
erinnern, wo die Heimſtaͤtte glaͤubiger Waiſen iſt.“ 

Alſo Mademoiſelle ſollte ihren ketzeriſchen Braͤutigam 
bekehren oder Nonne werden. Nun, fuͤr das erſte hatte 
ſie zunaͤchſt nicht die Gelegenheit, und zu dem anderen 
ſchien ſie auch kein ſtarkes Verlangen zu ſpuͤren, ſeitdem 
ſie ſo flink in Haus und Garten hantierte und ſeitdem 
der Fruͤhling ſich regte, der ſelbſt die Heide zu einem 
Paradiesgaͤrtlein macht. Auch die Loblieder, welche Muts 
ter Barbe unverdroffen auf den fchönen großen Baron 
und fein reiched Erbhaus anftimmte, bewirften Feine 
Elöfterlichen Geluͤſte. Beifall ift immer eine ftärfende 
Liebeswuͤrze. 

Von dem geſamten haͤuslichen Treiben war es jetzt nur 
noch der ſonntaͤgige Kirchgang, an welchem die beiden 
Fremden nicht teilnahmen; die junge, weil er fie lang⸗ 
weilte, die alte, weil, wie fie ehrlich befannte, ihr Eure 
gefchrieben: fein Gottesdienft fei beffer als ein falfcher. 
Das praftifhe Weib hatte indeffen bald eine Aushilfe 
erfonnen, für deren Durchführung Frau Erdmuthe gern 
die Erlaubnis gab. Mit Hilfe etlicher Arbeiter ward 
die Feine Klofterfapelle binnen weniger Tage in ein 
gar ſchmuckes Tempelchen umgewandelt; der Schutt ent- 
fernt, der Boden reinlich mit Sand beftreut, in den nad) 
dem Kloftergarten führenden, leeren Türbogen ein ab⸗ 
fchließendes Gatter eingefügt. Über dem Altar ftand das 


288 Fran Erdmuthens Swillingefähne 


umgefunfene Marmorkreuz aufgerichtet; im Nifchens 
fohrein brannte ein Lämpchen Tag und Nadıt. Wehten 
durch die fenfterlofen Steingemände auch die Winde, 
was tat ed, da es Frühlingswinde waren, die da wehten, 
und dunkler Efeu gleicd, einem Vorhang die Öffnungen 
verhüllte? Auch im Innern fehlte es nicht an grünem 
Schmuck; zunädhft konnten ed nur Tannenreifer fein, 
mit der Zeit aber wurdend Blumen, immer bunter und 
reicher. 

Nach diefem Weihepläschen pilgerten bie unzertrenns 
lichen Landemänninnen nun Tag für Tag; die eine, um 
fchäffternd an ihren Sohn zu denfen, die andere, um 
ihren Roſenkranz abzubeten. Spurlos im Heideſande 
verweht war der Miffiondsauftrag meines rechtgläubigen 
Herrn Amtöbruderd daher nicht. Auch beziehe ich auf die 
Schilderung der Fleinen Kapelle folgende im goldenen 
Buche verwahrten Worte von feiner Band: „Solche wohls 
erhaltene Zeugniffe der Vergangenheit find Bürgen für 
die Zufunft; was war, kann wieder werden, muß werben, 
wird werden.” | 

Mehrere Wochen vergingen ohne Kunde von und über 
Herrmann; um fo unbegreiflicher, da wir fein Korps nicht 
allzufern von ung, nahe der Elbe, wußten. Freund Bär 
hatte mindeftend den guten Gefchmad, die brummende 
Ungeduld in feine Höhle einzufchließen. Endlidy aber 
fam er mit einem Subelfignal und einem Blatt feines 
Manns, das den Erfolg von Möcern, den erften Erfolg 
bes glücklichen Bülow meldete. Herrmann hatte ſich den 
Dragonern angefchloffen, welche der General den Oppens 
fhen Bortruppen bei Zehdenid zu Hilfe fandte. 

„Eine erſte Probe,“ fo ſchrieb er, „in jedem Sinne weit⸗ 


Sechſter Abſchnitt 289 


ab von den Erwartungen, mit welchen ich im Winter 
von Euch fchied. Die Truppen des Bizefönigs find vom 
rechten Elbufer verdrängt; ficher nur für furze Frift.“ 

„Gleichviel, fie haben Blut geledt”, fagte der Phyſi⸗ 
tus. Am anderen Morgen erhielt id) von ihm daß fols 
gende Dlatt: 

„Mich kigelts, ein paar Gliedmaßen abzufägen. Kommts 
Fieber, verlaßt Euch auf den lieben Kerrgott und die 
Brühen der Vivandiere. Ihr werdet ohne Doktor nicht 
mehr Leichenpredigten zu halten haben.“ 


* ® 
» 


Der. Doktor war fortgegangen an dem erften wirffichen 
Frühlingstage, der nicht bloß im Kalender ftand. Auch 
und hatte der Sonnenfchein über den Garten hinaudges 
lot. Die Ulmen fprengten ihre bräunlichen Knofpen, 
und die Wiefe glänzte wie ein Smaragd; dazwifchen 
plätfcherte das Bächlein in ſtolzem Übermut, als ob feine 
Frühlingsfülle fein Ende nehmen könne; unter Erlen und 
Maienfproffen, hod) oben im Blau, allerorten Mufit und 
Iuftiged Bewegen. Sogar der langgefchnabelte Haus⸗ 
freund zeigte Happernd an, daß er die alte Sommers 
wohnung in der fahlen Pappel wieder bezogen- habe, 
„Was bedeutet das?" fragte Liska, die noch nie ein 
Storchenliebeslied gehört hatte. 

„Es bedeutet, daß ein Kindchen vom Simmel in unferen 
Schornftein fällt“, antwortete ich lachend. Sie ladıte 
auch und tänzelte voran mit den Badhftelzen um die 
Wette. Während der Winterreife hatte fie das ſchwarze 
Kleid abgelegt; feitdem trug fie’d wieder; vielleicht aus 
Ruͤckſicht auf die trauernde Mutter; vielleicht aus ſpa⸗ 
xx.19 


290 Fran Erdmuthens Zwillingefähne 


nifcher Gewöhnung. Statt ded Hutes war ein Spitzen⸗ 
ſchal über den Kopf geworfen; der erfte Veilchenftrauß 
des Jahres ftecte über dem Ohr. Ich folgte ihr über 
die Ruine hinaus; Frau Erdmuthe und die Barbe bogen 
in den Kirchhof ein, auf den Die Kapelle ihren Ausgang hat. 

Ein tätiges Treiben waltete hier, feitdem der Boden 
aufgetaut war. Der höderige Plag wurde geebnet, mit 
reinlichen Wegen durchkreuzt, in grüne Rafenfelder ein> 
geteilt; Lindenalleen waren bereitö gepflanzt, eine lebens 
dige Umzäunung angelegt. Die mwüfte Stätte follte fid} 
zum würdigen Empfang von Gäften vorbereiten, und dieſe 
Säfte follten Tote fein. 

Mit dem alten Freiherrn war in der Felöfchen Erbgruft 
unter unferer Kirche der legte Plag ausgefüllt, und hatte 
feine Tochter von jeher dem neuen Öefchlechte eine Ruhes 
ftatt unter freiem Gotteshimmel beftimmt. Seitdem der 
Tod des Kloftererben zur Gewißheit geworden, ward 
nun der Umkreis der Kapelle zu biefer Stätte auderfehen, 
in ein Öärtchen umgewandelt und mit einer Roſenhecke 
von dem weiteren Raum getrennt, welcher der Gemeinde 
ald neuer Gottesacker überlaffen werden follte, wenn, 
berechenbar mit Abſchluß des Jahres, der gegenüberlies 
gende Ältere fich gefüllt haben werde. Eine Steinbanf 
dicht vor dem Slapellengatter bezeichnete den Platz, auf 
welchem unfere liebe Frau ihr Tettes Bett fich erwählt 
hatte. 

Die Gegend bot feinen Blick fo freundlich ernft wie 
von diefer Bank. Vorwärts, über die dereinftigen Grab⸗ 
reihen hinweg, die Bachwiefe mit ihren Erlenbüfchen; 
zur Rechten der dichte Ulmengang, der Stadt und Schloß 
verhüllte, links ein junger Birfenwald, und im Hinter⸗ 





Sechſter Abſchnitt 291 


grunde die Ruine, von den Wipfeln der Heide uͤberragt. 
Ein Vorhof, zur Beſchaulichkeit einladend, fuͤr unſere 
einſtige Friedenskirche. 

Heute zum erſten Male ruhte Frau Erdmuthe auf ihrer 
Bank, und wie innig mag ſie an die beiden Graͤber ge⸗ 
dacht haben, die ſie ſo gern an ihrer Seite geſehen haͤtte: 
an das friedliche in den Thuͤringer Bergen und an das 
grauſige zwiſchen den verkohlten Truͤmmern der alten 
Zarenſtadt! Die Barbe putzte mit ihrem Gartenmeſſer 
an den Efeuzweigen, welche die Kapelle umrankten. 

Liska und ich hatten die Heideſtraße bis zu den aͤußerſten 
Ruinenmauern verfolgt. Zwiſchen dem ſchuͤtzenden Ge⸗ 
ſtein ſproßten Straͤucher und Ranken in friſchem Laub; 
die Droſſeln lockten, die erſten Schmetterlinge hatten ſich 
entpuppt, auf dem durchwaͤrmten Boden regten ſich Kaͤfer 
und Gewuͤrm. Wir hatten Oſtern, ringsum herrſchte 
Seelenſtille. Landleute feiern in der freien Natur, die 
ihre Werkſtatt iſt, auch nicht am erſten wonnigen Jahres⸗ 
tag. Es war faſt ein Wunder, daß von weitem ein Leiter⸗ 
wagen langſam im Sande einherſchleifte. Jetzt hielt er 
an und lenkte zuruͤck. Ein Bauer, der ausgeſtiegen war, 
kam uns muͤhſelig am Stocke entgegen; er ſchien es eilig 
zu haben, mußte aber oftmals innehalten; er trug einen 
Schafpelz und tief in die Stirn gedruͤckt eine Pudelmuͤtze, 
auch kniehohe Juchtenſtiefel, die nicht unſere Bauern⸗ 
mode ſind. 

Liskas Falkenaugen waren auf ihn gerichtet; als er noch 
etwa zehn Schritte von und entfernt war, ftärzte fie auf 
ihn zu mit audgebreiteten Armen. „Lisfal" „Raul!“ 
fchallte ed wie aus einem Wunde; fie lagen umfchlungen 
Herz an Herz. Dann zog fie ihn an ber Hand mitten 


238 Grau Erdmuthens ISwiltimgsföhne 


burd; die Ruine. Das Mark ded Mannes fchien plöglic, 
verjüngt. War ed denn Raul? Ich folgte fo haftig ich 
vermochte, meine Knie zitterten. War ed Raul? Noch 
immer erfannte ic) ihn nicht. Aber woran hatte fie ihn 
erkannt, den fie niemals gefehen? 

Die Kapelle lag hinter ihnen; jegt fanden fie unter dem 
Öatter. 

„Sin Kind ift vom Simmel gefallen, ba haft bus, 
Mutter, da haft du deinen Raul!“ rief Liska in Subels 
tönen. 

Der Dunn warf ſich zu Boden, er umflammerte bie Knie 
der trauernden Frau; er bebte und fchluchzte, die Müge 
glitt von feiner Stirn. Ja, ed war Raul! 

Mer hat die Freude in folder Erfchütterung gefehen ? 
Mer malt fie aus? Nicht Mutter noch Sohn gaben einen 
Laut; nur Liska hüpfte rund um die Bank herum, Hlatfchte 
in die Hände und lockte wie ein junger Pirol: „Raul, 
Maul, Raul!“ 

Die Mutter zog ihn vom Boden in die Höhe; num bes 
merfte er auch mid); er fprang mir an den Hals. Der 
alte, warmherzige Sunge füßte mir die Baden, den Kopf, 
die Schultern, die Hände, dann rannte er zuruͤck zur 
Mutter, zu Liska, alled wie im Taumel. 

Nun rüdten fie auf der Banf zufammen Hand in Band, 
der Sohn zwifchen Mutter und Tochter. Sie blicten 
ihm in die Augen, in welchen noch viel von Krankheit 
und Elend gefchrieben ftand. Auch die Freudenblüte auf 
feinen Wangen erloſch wieder, jach wie fie aufgeblühtz 
er wurde immer weißer und matter, fein Kopf fant auf 
ber Mutter Schulter hinab. „Er ftirbtl” fchrie fie auf. 
‘hr erftes Wort. 


Sechſter Abſchnitt —283 


„Monſieur wird noch nuͤchtern ſein“, beruhigte Madame 
Barbe, zog aus ihrer Schuͤrzentaſche ein Stuͤck Brot und 
ſchob es ihm ohne Umſtaͤnde in den Mund. Er verſchlang 
es mit Gier; ich ſprang nach Wein in die Pfarre; er ſog 
die Flaſche aus auf einen Zug. Nun war er erholt; er 
taumelte und lallte; aber das war vom Wein. Sie zogen 
ihn in die Höhe von dem Grabe der Zukunft- wer dachte 
daran? Die Mutter auf der einen Seite, Liska auf der 
anderen legten den Arm um feinen Leib; fo führten fie 
ihn die Ulmen entlang nadı dem Schloffe. 

Die Mutter verfchwand mit ihm in ihrem Sabinett; 
früher hatte ihr Gemahl ed bewohnt, nun räumte fie ed 
dem Sohn. Wir waren im Wohnzimmer zurücgeblieben; 
Lisfa ausgelaflen vor Luft. Sie fprang vor den Trus 
meau und nidte lachend ind Glas, ald wärs einem ans 
dern ind Gefiht. Dann hüpfte fie hinaus und fehrte 
nach einer Weile umgefleidet wieder; fie trug ein weißes 
Kleid und eine Monaterofe in den Locken; fo fah fie 
body noch viel reizender aus ald mit den Veilchen im 
ernften Schwarz. Sie horchte an der Tür ded Kabinetts, 
Tief hin und herz ftreichelte ihre alte Barbe, nannte mid) 
wieder Vaͤterchen; horchte von neuem, fummte von dem 
Bundeslied immer nur die einzige Zeile: „Un bonheur que 
nous aspirons!“ und laufchte noch einmal. Sm goldenen 
Buche fteht unter dem Datum dieſes Frühlingsfonntags: 

„Sc habe auf ihn gewartet wie auf meinen Stern und 
ihn erfannt an meinem Spiegelbild.“ 


Als nach dem Friedensſchluß fat bie halbe fächfifche 
Nitterfchaft eine preußifche geworden war, hatte Fraͤu⸗ 


291 Frau Erdmutheus Iwillingsföhne 


lein Iduna die Haͤlfte ihres Wirkungskreiſes eingebuͤßt, 
und nehme ich an - obgleich es auch andere Auslegungen 
gibt -, daß fie freiwillig ein patriotiſches Opfer brachte, 
als fie, vor dem preußifchen Sohanniterfreuze über dem 
Herzen einftiger Freunde erfchaudernd, die abtrünnige 
KHemifphäre von ihrem Stationswechfel ausfchloß. Als 
Beleg aber, daß energifche Naturen aus einer bedeutenden 
Bahn ſchwer zu verdrängen find, werden von meinen 
Lefern diejenigen, welche Claurens Almanach und die 
Abendzeitung noch in Erinnerung haben, längft im Maren 
darüber fein, daß die fächfifche rote Dame für ihren Un⸗ 
terhaltungsberuf nur das Vehikel gewechfelt hatte. 

So ift denn auch die wunderbare Rettung des Süng- 
lings, den fie mit Leidenfchaft geliebt haben würde, wenn 
fie nicht feiner Großmutter Blumen auf den Hochzeits⸗ 
pfad geftreut, von ihr novelliftifch behandelt worden. Sie 
hat in den Farben getufcht, die aus ihrem Innern durch 
das Äußere tranfpirierten, in der Zeichnung aber einen 
Aufwand der Erfindung als Überfluß erachtet; — eit 
erotifches Zwifchenfpiel abgerechnet, zu welchem der Bis 
ftorifer ber Zwilliingsbrüber weber Ja, noch Nein zu fagen 
weiß, das aber die Unfchuld Feiner Mimofa fenfitiva 
jener Tage gefränft haben wird. — Studiert alfo den 
„Ritter der Provence”, die Novelle ift wahr. 

Nur eines fehlt in derfelben, das in ber Gefdyichte der 
Zwillingsbräder nachgetragen zu werben verdient. Zu 
ber Autorin Rechtfertigung fei befannt: ed durfte, ja es 
mußte darin fehlen, da ber provenzalifche Held dort ein 
Vollblut, hier ein Halbblut und weniger ift. | 

Der arme, junge Schäferfohn Kietz aus Rieg hatte ber 
Wahrheit gemäß audgefagt. Ja, bie Herberge mit dem 


Sechſter Abfchniti 293 


anlodenden Schilde in der Vorftadt von Moskau war 
eined Deutfchen Haus. Ein deutfches Mütterchen hörte 
ben Hilferuf, der fich dem Unglüdlichen in feiner Mutter⸗ 
ſprache entrang, als er, aus betäubendem Schlummer 
erwachend, fid; von züngelnden Flammen umringt fah, 
bie ſchwelenden Balken über ſich frachen hörte. Einen 
fremden Motfchrei würde fie nicht verftanden ober ihr 
Dhr dagegen verftopft haben. Der alte Heimatslaut 
dringt in der ftumpffinnigen Greifin Herz. Sie zerrt den 
Sohn herbei, der verzweifelnd den Reſt feines Wohls 
ſtandes zu retten bemüht ift. Auch er hört das: „Wutter, 
lebe wohl!“, das der fremde Mann, halberftickt, unfähig, 
fih in die Höhe zu richten, mit zum Simmel erhobenen 
Händen hervorpreßt: „Mutter, lebe wohl!“ 

Und fie laffen ruhig die Habe verbrennen, um mit Les 
bensgefahr den Landsmann zu retten, ber ald Feind in 
ihre neue Heimat gelommen ift; zwiſchen Dualm und 
Trümmern ziehen fie ihn hervor, fchleppen ihn in den 
Garten, beleben ihn, hüllen ihn in ruffifche Kleider; dann 
unter Betten und Hausrat verpadt, fahren fie ihn im 
eigenen Karren, als ihren Sohn und Bruder, ſuͤdwaͤrts 
ind Sand hinein, wo in der Nähe von Tula, zwifchen 
deutfchen Anfiedlern, eine Tochter häuslich eingerichtet 
iſt; dort pflegen fie ihn heil von Typhus und Wunden, 
teilen ihre Armut mit ihm, und als die Gegend frei ift 
vom fremden wie eigenen Heere, da geleiten fie ihn, 
Strede für Strede, heimmärts bis an die galizifche 
Grenze. 

Nun aber leſt es nach im „Ritter der Provence,“ wie er, 
von dort ab ganz allein, ſchwach, matt und doch wieder 
obenauf, einen ſpaͤrlichen uno immer ſpaͤrlicheren Not- 


296 Frau Erdmuthens Iwillingsfähne 


pfennig in der Tafche, die heute Iuftigften, morgen fchauers 
lichſten Abenteuer befteht: in Paläften und Hütten, zwi⸗ 
fchen Schneebergen und Eidfchollen, unter Juden, Polen 
und ruffiihen Nachzuͤglern, bald ald Deutfcher, bald 
ald Franzofe, ald ZTafchenfpieler und Komddiant, als 
Tanzmeifter, dann und wann auch ald Bettler um einen 
Biffen Brot; wie er endlich in dem vom Feinde befegten 
fächfifchen Heimatslande kaum der Gefangenfchaft ents 
fhlüpft: alles das ift abenteuerlicy unterhaltend barges 
ftellt; aber Hunderte haben ſich ebenfo abenteuerlich 
durchgewunden. Seltſam, nein, wundervoll ift ed nur, 
daß es ein Notfchrei in feiner gefchmähten Mutterfprache, 
daß ed der Muttername war, der ihn gerettet hat, baß 
ed Menfchen aus feinem verleugneten Baterlande waren, 
die ihn dem Leben erhalten haben. 

„Schone dich, mein Raul. Uns genügt für heute, daß 
du gerettet bift, heim bei deiner glüdlichen Mutter“, 
fo unterbrad, mehr ald einmal Frau Erdmuthe den uns 
ermüdlichen Erzähler, ald wir und am Abend im Familien 
zimmer wieder zufammengefunden hatten. Er hatte ein 
Bad genommen, ſich umgefleidet, Hunger und Durft ges 
ftillt, ein paar Stunden gefchlafen; nun faß er bläffer 
und fihmäler als fonft, aber der alte, fröhliche Raul, 
auf einem Schemel zu Füßen der Mutter, und ihre milde 
Hand ftreichelte die Töckchen, die nadı der fchweren Krank⸗ 
heit über der Stirn zu fproffen begannen. 

Jetzt zum erften Male fragte er nach dem Bruder. Der 
Mutter hatte vor diefer Berührung gebangt. Raul wußte 
ja noch nicht, daß mit dem Blute von Mödern der Krieg 
eine Tatfache geworden und Herrmann unwiderruflich in 
das lager der Gegner getreten war. Doc) nahm er’s heiter. 


Schfter Abfchnitt 297 


„Bercingetorig!” fagte er lachend. „Es wird eine kurze 
Siegeöfreude fein.” Damit ward abgetan. 

Während der Nacht fiel mir ein, daß von Liskas bräuts 
lichem Verhältnis gar nicht die Rede gewefen war. Ald 
ich am andern Morgen den beiden jungen Verwandten 
im Garten begegnete, fagte ich daher mit Abficht: „Ich 
habe Gelegenheit durd; den Doktor. Wollen Sie mir 
eine Einlage an Ihren Bräutigam geben, Liska?“ 

„Nein“, antwortete fie kurz angebunden. Raul fragte 
erftaunt: 

„Du bift Braut, Liska? Weflen Braut?“ 

„Shres Bruders, lieber Raul”, fagte ich. 

„Und das erfahre ich erft jegt? Ich habe euch freilich 
noch wenig zu Atem fommen laffen“, verfegte er lachend. 

Liska aber fiel ein mit gefräufelter Stirn: „Ich bin 
nicht feine Braut; er hat fein Wort von der Zufunft 
mit mir gefprochen. Ich weiß von nichts.” 

„Liska, Liska!“ mahnte ic, „Sie wiffen, wie Herrmann 
Sie liebt!“ 

„Bah! Eine Stunde lang. Heiratet man fi darum? 
Über Nacht war die Flamme verflogen. Die Sunta im 
Schnee hat fie ausgelöfcht.” 

ch hielt eine Rede über der Mutter Wünfche und Herrs 
manns Gluͤck. Aber hörten fie darauf? Sie e Iherzten 
fchon wieder miteinander. 

„Sc möchte wohl fehen, wie ihr miteinander Schritt 
haltet,“ fagte Raul; „das Heine, ſchwarze Affchen und ber 
große, weiße Elefant. Komm, Mignonne, laß und pros 
bieren, wie weit bu mir reichſt.“ 

Sie ftellte fich neben ihn. „Bis zur Schulter!“ rief fie 
ſtolz. 


298 Fran Erdmuthens Bwillingsfähne 

„Ihm alfo bis in die Magengegend, wo ja, nad) 
Freund Hecht und anderen, die Seele ded Menfchen 
ihren Sig haben fol,” erwiderte Raul. „Nun, ich gra⸗ 
tuliere, gluͤckliches Paar.” 

Und fo unter Lachen und Neden war auch biefe Au⸗ 
gelegenheit abgetan. 

Es folgten nun ein paar Wochen allſeitigen Behagens. 
Nach der leidenſchaftlichen Unruhe freuten wir uns der 
friedlichen Stunde, freuten uns des Lenzes nach dem 
ſchwer laſtenden Winter. Frau Erdmuthe war gluͤcklich, 
ſolange ihr Liebling ſchwach, pflegebeduͤrftig, vielleicht 
fuͤr allezeit kampfesunfaͤhig unter ihrem Dache weilte, 
ja, ſie atmete leichter, als ſie ſeit dem Tode ihres Gatten 
geatmet hatte. Oft rief ſie wohl mit einem Seufzer: 
„Herrmann!“, aber der Seufzer galt nur der Sehnſucht 
nach dem Wiederſehen und Wiederfinden der Bruͤder. 
Auf dem Kriegsſchauplatze war ja nach der erſten gluͤck⸗ 
lichen Tat eine Pauſe eingetreten und Herrmann uͤber⸗ 
haupt eine von den feſten Naturen, um welche auch der 
Liebendſte ſelten ein Bangen fuͤhlt. Seine reine Sache 
feite ihn in den Augen der Mutter. Und wenn im alten 
Tierbuche geſchrieben ſteht, daß ſchon das gedoͤrrte Auge 
des Baͤren „groß, ſtark und freydig“ als Schutzmittel 
wirkt gegen Furcht und Geſchrei, wieviel mehr 
noch wirkt ein lebendiges Baͤrenauge, wenn man es auf 
einen Sohn „groß, ſtark und freydig“ gerichtet weiß! 

Ja, die Mutter war froh und getroſt. Oft ſprach ſie 
von einer Reiſe nach dem Suͤden, die ihrem Geneſenden 
die Kraͤfte wiedergeben und in einer Stunde, die ſie her⸗ 
anruͤcken ſah, ihn von dem Platze der Entſcheidung fern⸗ 
halten ſollte. Leider fehlte uns ein mutiger Griff, wie 


Sechſter Abſchnitt 299 


der unferes Doftord, um für diefen Plan die mandhers 
feitö auftauchenden Schwierigkeiten rafch zu befeitigen. 
Selber Rauls Einwände würden in jener Zeit nicht uns 
überwindlich gewefen fein. 

„Barum reifen?” fagte er. „Bin ich nicht genug ums 
hergetrieben worden? Diefe köftlihe Ruhe tut fo gut. 
Nie habe ich mid; behaglicher gefühlt, Mama. Mir ift, 
als ob ich Kindermärchen erzählen, Kinderlieder fingen 
follte. Auch muß die Entfcheidung ja erft abgewartet 
werben. Zum Winter, Mama, wenn Frieben ift, dann!” 

Er hatte gleich nach der Heimkehr fidy fehriftlich bei 
General Thielemann gemeldet und einen kurzen Erhos 
fungsurlaub erbeten. Umgehend erhielt er denfelben auf 
unbeftimmt ausgedehnte Zeit, zugleich mit der Augficht 
auf Einreihung in eines der neugebildeten Kavalleries 
regimenter. Bertraulic, hatte der alte Freund beigefügt: 

„Sratulieren Sie ſich, während diefer defperaten Lage 
mit Ehren Invalide fein zu bürfen. Die Kataftrophe 
fann nicht zögern. Haben Sie Ihren trefflichen Bruder 
gefehen? Sch prophezeie ihm eine glänzende Karriere.” 

Raul, zuverfichtlidy wie nur je ein Glüdlicher, fand in 
dieſem Nachſatz Fein Arg. Er, wie wir, erfuhr von der 
Außenwelt faum dad Allgemeinfte. Deutfche Zeitungen 
madhten in jener Zeit nicht den Anfpruch, Orakel zu fein, 
und ber Politifus unferes Kreiſes fehlte. Sachſen nannte 
fih neutral, obgleich Ruffen und Preußen das Land 
durchzogen und obgleidy — oder weil? - fein König im 
Auslande refidierte. Raul fpottete darüber, beflagte es 
aber während feiner gegenwärtigen Hinfaͤlligkeit nicht. 
„Armer General!” fagte er, nachdem er Thielemannd 
Schreiben gelefen. „Wer möchte in feiner Klemme ſtecken? 


800 Frau Erdmuthens Imiltingeföhne 


Aber er ift der Dann, fidy hindurdhzuminden, und ber 
Alerander ja auch ſchon auf dem Wege, ber biefen fäch» 
fifhen Knoten durdhhauen wird.’ 

Herrmann, durch den Doftor benachrichtigt, fandte dem 
aus dem Grabe Erretteten einen brüderlichen Gruß. Er 
hielt ihn für hilfe» und fchonungsbedürftiger ald er war. 
Politifche oder militärifche Andeutungen waren ver» 
mieden. ‚Laß Dich”, fo fchloß er, „geduldig von ber 
Mutter heil pflegen und Dir von meiner Fleinen Lisfa 
die Zeit vertändeln. Sie wird glüdlic, fein, in Dir einen 
Bruder lieben zu können!” 

„Alles mögliche,” fagte lachend Raul, „daß er auf bie 
Rolle ded Armin dem Bruder Flaviud gegenüber von 
vornherein verzichtet.” 

Und die Eleine Tändlerin, wie fteht fie während diefer 
Frühlingswochen in der Erinnerung bed alten Mas 
giſters? Froh, ja, auch fie. Aber merfen wir ed denn 
genau, wie Tag für Tag ein Kinöfpchen zur Blume 
ſchwillt? Die Nacht, in der fie plöglich die Hülle ges 
fprengt hat, lag nod; fern. Liska war nicht mehr bie 
fchäffternde Wirtin und nicht mehr die werdende Dame 
aus der Winterzeit; noch viel weniger aber war fie dad 
fiechende Vögelhen und die ſchmachtende Nonne vom 
Herbft. Sie war wieder unfer Sommerfind; nur deffen 
Launen und heimatfüchtiger Eigenfinn fchienen ſpurlos 
verweht. Dad Nadelharz buftete im Frühlingsfchuß 
ſtark wie fonft; wenn fie aber am Arme ihred Kameraden 
durch die Heide fchlenderte, im leichten Wagen oder auf 
munterem Pferdchen an feiner Seite fie freuz und quer 
durchftreifte, da verlangte fie nicht nad; dem Orangen» 
weihrauch am Poftlipp, und wenn fie am häuslichen 


Sechſter Abfhnttt 801 


Mittagstifche ihrem Ebenbilde gegenüberfaß, da ſchmeck⸗ 
ten ihr Kohl und Nadieschen fo gut wie Dliven und 
Feigen. Ja, auch Liska war glüdlich, aber ed war ein 
fo offenes natürliches Gluͤck, daß auch ein Schwarzfeher 
nur Freude, nicht Arg aus feinem Anblick hätte ziehen 
können. 

Zufpruc, von außen hatten wir in diefen Wochen wenig. 
Der Frühling ift für Landedelleute eine ungaftliche Zeit. 
Die Müpigen zögern im ftädtifchen Winterquartier; die 
Tätigen haben mit der VBeftellung die Hände voll zu 
fhaffen. Heuer zudem war die Spannung allerorten 
groß. Nur der zur Tat entfchloffene Wille treibt in fols 
chen Zeiten ded Hangend und Bangens zueinander; wir 
aber waren ja neutral, und ich täufche mid) wohl nicht, 
wenn Frau Erdmuthend gaſtliches Haus bedenklich ges 
mieden wurde, feitdem der politifche Zwiefpalt ihrer 
Söhne offenkundig geworden war. Die ed heimlich mit 
Herrmann gehalten hatten, blieben aus, da ein frans 
zoͤſſſches Buͤndnis noch immer in der Schwebe hing; 
Rauls gleichgefinnte Franzofenfreunde mochten für den 
Fall eines ruffifchen Sieges — an einen preußiſchen Sieg 
dachte man nicht — durch eine voreilige Verbrüderung 
fidy doch auch nicht fompromittieren. Ein jeder flammerte 
ſich an dad Wort Neutralität, obgleich ein jeder im ftillen 
eine Sänfehaut über feinen Leichnam riefeln fühlte, wenn 
er der Not gedachte, welche ftatt eines vor den Kopf 
geftoßenen Bewerbers ihrer zwei über unferen ſchutzloſen 
Heimatsboden bringen mußte. 

Auf dieſe Weiſe ſaßen wir hinter dem gruͤnen Schirm 
unſerer Heide, vor Zugluft von außen geſchuͤtzt. Wir 
wußten, daß es vielleicht dis !eßte Gunſt einer friedlichen 


802 Fran Erdmuchens Zwillingsföhne 


Stunde war; eben darum aber fcheute fich ein jeder, an 
den Pendelfchlag zu erinnern, der dem anderen fagte: 
Sie ift abgelaufen. Und da ging ed und denn wie dem 
Älpler, wenn er angftvoll lauſcht auf ben Föhn, der die 
Lawine zu feinen Häupten in dad Tal herniedertreiben 
kann, indeflen der Flügelfchlag eines Vogels den Floden 
Löft, der, rollend und grollend und immer dichter fidh 
ballend, zum Sturze wird und des Taled Saaten begräbt. 


5 ı$ 
* 


Das Vögelchen, welches die Lawine über unferem Saufe 
zum Sturze bringen follte, war wieder einmal die vers 
ehrte Kamilienfreundin, die ihre Pfingftftation verfrüht 
hatte, um den zufünftigen Helden der Provence mit einer 
Jubelhymne zu begrüßen. Leider jedoch war es nicht 
Seligfeit allein, welche die Getreue ſchon am erften 
Maientage in unfere Arme führte. Kaum daß die De- 
amation der Hymne beendet war, die Wonnezähre fich 
ruͤckwaͤrts verlaufen hatte, fo entlaftete Fräulein Iduna 
ihr fchmwerbedrängtes Gemüt von der Wiffenfchaft um 
die ungeheuerfte Perfidie, welche die Weltgefchichte bis⸗ 
her gekannt hatte. Der Gouverneur von Torgau unter: 
handelte wegen Übergabe der nneinnehmbarften Feftung 
in Europa mit den - nein, nicht mit den Ruſſen, denn 
ed war die Rede von einer Perfidie! - er unterhandelte 
mit den Preußen. 

Raul nahm die Sache fpaßhaft. Sein Gönner, fein 
Freund, der feurigfte, dankbarſte Anhänger bes großen 
Kaifers, mit gleichem Recht hätte er, er, Raul von Saint 
Roc, ald Abtrünniger verläftert werben fönnen. Er 
lachte ob der Phantafıe. 


Sechſter Abſchnitt 803 


Aber Fräulein Iduna beteuerte mit ihrem „Ehrenwort“, 
daß fie nicht ald Dichterin, nur ald Echo die Stimme 
ber Gefellfchaft wiedergebe; fie fdhilderte mit Rührung 
bie peinvolle Lage der armen, in Dresden weilenden Ges 
neralin und ihrer Kinder; fie führte Szenen vor der Bers 
legenheit, ber Entrüftung in den verwandten und bes 
freundeten Familien; fie nannte die Namen der Offi⸗ 
ziere, welche entfchloffen waren, in Öfterreichifche Dienfte 
auszuweichen. Einer von Thielemanns Adjutanten, Rauls 
naheftehendfter Kamerad, war unter diefer Zahl. Raul 
lachte nicht mehr. Er ging mit heftigen Schritten im 
Zimmer auf und ab; feine Hände waren geballt, die Bruft 
wogte. 

Als nun aber auch unfer friedfertiger Philofoph mit 
dem Geftändnis hervorrücte, ähnliche Gerüchte auch in 
bürgerlichen Kreifen vernommen, aber nicht geglaubt zu 
haben, da fah ich, daß die Lawine im Rollen und der 
Verſchuͤttung nur durch rafche Flucht zu entkommen fei. 
Ich beftätigte, daß bie preußifchen Patrioten auf einen 
Entfchluß des fächhfifchen Generals rechneten, auf eine 
eigenmäcdhtige Tat, die ihrem Heere den Rüden decken 
würde. 

„Nimmer! Nimmermehr!" rief Raul außer ſich. „Thies 
lemann ift fein Wallenftein, Fein York, fein Niederträchs 
tiger!“ | 

„Und wenn er durch einen zwingenden Entfchluß uns 
ferem teuren König fein Land erhalten könnte, bad Land, 
das deine Heimat ift, mein Raul? Wenn er dem heutfchen 
Baterlande ein ftarker Helfer werben koͤnntef“ fagte 
mit bebender Stimme Frau Erdmuthe. 

„Auch du, Wutter!” fchrie Raul wie ein Befeffener. 


304 Frau Erdmuthens Iwillingsfähne 


„Auch du? Nun wohlan: den Sandhaufen dem Bers 
räter! Und den Untergang dem zagen, zähen, alten Mann, 
der ſich König ſchelten laͤßt! Ich aber werde der Stunde 
fluchen, in der ich dir und deiner, nidht meiner Hei⸗ 
mat zu Liebe Vafallendienfte nahm, wo id) Kerrendienfte 
nehmen durfte. ich werde dem König den Degen vor 
die Füße werfen, werde mich, und wärs ald Stüdfnecht, 
unter dad Banner derer ftellen, zu denen ich gehöre, ges 
hört habe, gehören werde bis zum legten Atemzuge.“ 

Er ftürmte hinaus, Liska ihm nad), Sie hatte nur 
feine Wallung, nicht die Worte, verftanden, denn jegt 
in der Wut, wie damals in der Todesnet, hatte er die 
Spradje geredet, die er ald die feine verleugnete. 

„Weldy ein Charakter!” rief Fräulein Iduna begeiftert, 
ber fächfifchen Schmähung zum Trog. „Ein alter Römer: 
ein Goriolanus! Glüdfelige Gracchenmutter!“ 

Ach, die unglüdfelige Mutter war tödlidy getroffen in 
die Knie zufammengebrodhyen. Die alte Franzöfin hielt 
fie mit ihren Armen umfchlungen. Audy fie hatte den 
Sinn der wilden Rede nicht gefaßt. Aber fie fühlte, daß 
ein Frevel an der Natur begangen, ein Fauftfchlag auf 
das Mutterherz geführt worden war, und ed war ein 
böfer Blicd, den fie dem Ritter ihres Kaiſers nachfandte. 

Sch ftand am Fenfter wie eingegraben. Ein Pferd 
wurde auf die Rampe geführt. Liska warf ſich an Raul 
Bruft, der fie ungeftüm von fich abmwehrte; er ftieg auf 
und fprengte die Ulmen entlang. Ich hätte ihn nicht 
zurüchalten mögen. 

„Er geht nad; Torgau und dann zum Kaiſer!“ rief Liska 
jubelnd, als fie wieder in das Zimmer trat. 

Die Aufregung, der jache Ritt fonnten den noch fo Sins 


— 


Sechſter Abſchnitt 305 
faͤlligen toͤten; ſobald die Mutter wieder Herrin ihrer 
Sinne geworden war, ſchickte ſie ihm den treuen Joch⸗ 
mus, den alten Diener ihres Gemahls, zu Wagen nach. 
Er erreichte ihn erſt in Torgau. 

Den Mitteilungen dieſes zuverlaͤſſigen Mannes entnehme 
ich die Erlebniſſe der naͤchſten Wochen. Raul war nicht, 
wie Herrmann, zuruͤckhaltend gegen Untergebene. 

Er fand die Lage in Torgau verzweifelter, als er er⸗ 
wartet hatte; die Stimmung der Buͤrgerſchaft, die des 
Offizierkorps faſt durchgaͤngig antifranzoͤſiſch; den Gene- 
ral zwar entſchloſſen, dem koͤniglichen Befehle gemaͤß, 
die in jedem Sinne ungenuͤgend ausgeruͤſtete Feſtung 
wie bisher gegen beide Parteien abzuſperren, aber auch 
ſich bewußt, daß er dieſen Befehl nicht uͤber den erſten 
Zuſammenſtoß hinaus werde halten koͤnnen. Und der 
Kaiſer ſtand bereits an der Saale. Alles Unheil, das 
dem Koͤnig, dem Lande, ihm perſoͤnlich aus dieſer Zwitter⸗ 
ſtellung erwachſen mußte, ſah er klar vor Augen. 

Vergebens beſchwor ihn Raul, dem zweifelloſen Ver⸗ 
langen des Koͤnigs zuvorkommend, das Buͤndnis mit 
Frankreich eigenmaͤchtig zu erneuern, mit den ſaͤchſiſchen 
Truppen Wittenberg zu entſetzen, im Ruͤcken der Feinde 
dem Kaiſer die Hand zu reichen. Er wendete ſich an 
jung und alt, hoch und gering, und fand nicht einen, der 
ihm zugeſtimmt haͤtte. Keiner ſeiner Kameraden wuͤnſchte 
die Ruͤckkehr unter den napoleoniſchen Oberbefehl; we⸗ 
nige würden aber auch zu einer Initiative in entgegen 
gefegter Richtung entfchloffen geweſen fein. Nur der 
Eintritt in die neutrale sfterreichifche Armee fchien einem 
und dem anderen der geftattete Ausweg. 

Die legte Begegnung zwifchen dem jungen und alten 
XX. 20 


306 Frau Erdmuthens Bwillingsfähne 


Waffenfreunde war erfchütternd. Raul hatte dem Gene: 
ral angehangen wie einem Vater, war ihm gefolgt mit 
blindem Vertrauen. Er allein hatte ihm den Dienft in 
dem befcheidenen deutfchen Hilfäheere wert gemacht. Und 
ale er jest von ihm mit dem Bewußtſein ded Nimmer⸗ 
wiederfehens fchied, da war der geliebte Führer gebrochen 
an Leib und Seele, von zwei Seiten mit ſcheuem Miß⸗ 
trauen angeblickt, harfch an der Grenze der Wahl zwifchen 
Galeere und Defertion ind feindliche Lager. 

Diefes abſchreckende Opfer einer Zwitterftellung vor der 
Seele, feiner felbft faum mächtig, verließ Raul Torgau 
an dem Abend, wo bei Lügen das Schidfal ſich erfüllte, 
an dem er feinen Augenblick gezweifelt hatte, In Dresden 
fand er die nämlichen Stimmungen, denen er voll Hohn 
und Grimm entwichen war. Er eilte weiter nach Prag. 
Bor einem noch, vor dem Höchften, wollte er an die Treue 
appellieren, die der Größe und dem Unglüc gebührt. 

In der jachen Äußeren Bewegung, der ungeheueren 
innerlichen Aufregung brachen die kaum geheilten 
Wunden wieder auf. Er wurde zu Meinen Tagereifen 
gezwungen, mußte mehr ald einmal in einem elenden 
böhmifchen Dorfe übernachten; immer aber wieder vors 
wärts trieb ihn die fieberhafte Einbildung, der Entfcheis 
dung einen Anftoß zu geben oder ein verächtlich gewors 
denes Band mit Eflat zu Iöfen. 

Sp langte er in Prag an, faft gleichzeitig mit der 
Siegesbotfchaft von Fügen und des Triumphators fum- 
marifcher Forderung der Heimkehr des Könige. Die 
Kunde wirkte wie Balfam auf Wunden; fie ftärfte die 
Glieder wie ein Zaubertrant. Die herrfcherifche Som⸗ 
mation demuͤtigte ihn nicht in der Seele des alten koͤnig⸗ 








Sechſter Abſchnitt 807 
lichen Herrn, den er zag und zähe genannt hatte. Er 
wurde von demfelben mit faft väterlicher Güte empfangen. 
Der Einflang eines jungen, feurigen Landeskindes mit 
feiner innerlichften Herzensſtimmung tat dem Vielbe⸗ 
ftürmten wohl. Die lauwarmen Berater, die ihn bis 
zum legten an das unhaltbare öfterreichifche Buͤndnis 
gefeflelt, hatten ihn verlaffen. Es fchmerzte ihn. „Sch 
würde fie gefchügt haben,” fagte er. „Auch mein treuer 
Thielemann foll ruhig fein. Er hat nur nadı den Be- 
fehlen gehandelt, welche die Situation mir abndtigte. 
Sch werde feine Sache führen. Der Kaifer ift der groß- 
mütigfte aller Freunde,’ 

Raul kehrte im Gefolge des Königs nad) Dresden zu- 
rüd, und er war Zeuge des Triumphe, mit welchem Nas 
poleon feinen Bafallen durch die in Hecken gereihte Aller- 
weltdarmee in des Vaſallen Fönigliche Hauptftadt eins 
führte. So bewillfommnet ein galanter Hausherr einen 
hohen Saft. Die Bevölkerung jubelte ihr Willlommen 
unter den Obfervanzen, die nun einmal feiner neuen 
Erfindung Raum zu gewähren fcheinen. Drei Wochen 
früher hatte fie den befreienden Monarchen gleichfalls 
unter Ehrenpforten, Blumenftreuen und Lichterglanz ent» 
gegengejubelt, und waren ihre Vertreter darob redht ſchul⸗ 
bubenartig von dem großen Kaifer abgefanzelt worden. 

Rauls franzoͤſiſches Naturell fühlte die Ironie diefer 
Zuftände fchärfer ald mancher unferer heimifchen Bieber- 
männer; aber er fühlte fie nur mit Spott, nicht mit 
Schmerz. Das „zappelnde” Kleine Heimatland feiner 
Mutter hatte ja nun feinen natürlichen Schwerpunft 
wieder gefunden. 

Die fächfifche Armee wurde einem franzdfifchen Korps 








308 Grau Erdmuthens Iwillingsfähne 


einverleibt, und fo unter franzöfifcher Führung und mit 
franzöfifcher Ausfüllung konnte der Herzensfranzoſe ſich 
ben fernerweitigen Bafallendienft fchon gefallen Laffen. 
Die Ausſicht auf die erfte erledigte Stelle eines Regi⸗ 
mentskommandeurs und eine fchöne weiße Rüraffieruni- 
form waren auch Feine verächtlichen Zugaben. 

Während bed Vormarfches nadı Baugen verfchlimmerte 
indeffen fein Gefundheitäzuftand ſich fo bedenklich, daß 
er trog allen Widerftrebens von General Gablen;, feinem 
neuen Brigadier, auf halbem Wege nach Haufe gefchickt 
wurde. Am Tage der Borfämpfe von Luͤtzen war ein 
Verzweifelnder daraus fortgeftürmt; am Tage des bluti- 
gen Treffens von Koͤnigswartha fehrte er heim, in Ber- 
bände und Deden gewidelt, aber mit dem Frohloden 
bed Siegers. Alle ftachelnde Erinnerung war wie weg- 
geblafen. 

„Dein Sohn fommt ald dein Landsmann wieder, 
Mama!“ rief er diesmal franzoͤſiſch — indem er die 
Mutter umarmte. 

Sie lächelte mit wehem Kerzen; ihr Haupt war tief 
zur Bruft hinabgefunfen, feitvem der Furze Friedenstraum 
fo harfch durchriß. 

Die arme Mutter trug ſchwer an den Schickſalswuͤrfen, 
die den einen ihrer Söhne befeligend in die Höhe 
fhnellten und die Manneshoffnungen des anderen tief 
banieberfchmetterten. In den Stunden, wo der Juͤng⸗ 
ling Bater und Vaterland vor feinen Augen zufammens 
brechen fah, war Herrmann nicht f chmerzhafter erſchuͤttert 
worden. Er täufchte fid nicht wie viele andere in jenen 
Tagen über die Bedeutung diefes erften Niederfchlags. 
„Wir find zuruͤckgewichen,“ ſchrieb er der Mutter, „haben 


Sechſter Abſchnitt 809 


nn 


alles aufs und preiögegeben, auch die Siegeshoffnung 
für unberechenbare Zeit. Ich habe unfere Helden nicht 
fämpfen und fterben fehen; aber die fie kaͤmpfen und 
fterben fahen, bezeugen ed: wenn wir bereinft die Sieger 
bleiben, wird feine Schlacht von und gefchlagen worden 
fein fo treu und tapfer wie die erfte, die wir verloren.“ 

Und diefem Ehrenzeugnid des einen gegenüber mußte 
die deutfche Mutter ed erleben, daß unter ihrem eigenen 
Dache der andere ihrer Söhne ohne Erröten die Proflas 
mation verfündigte, in welcher der Kaifer die Befiegten 
von Lügen Verbrecher, Empoͤrer, Deferteure, die Hefe 
Europas nannte! 

Herrmann hatte zu den Buͤlowſchen Truppen gehört, 
weldye am zweiten Mai Halle glüdlich erftärmten, nur 
um ed anderen Tage wieder zu räumen und fidy an die 
Elbe zurüdzuziehen. Er teilte darauf die angft- und 
laftvolle Arbeit zum Schuge Berlins, die Bülow, als 
Oberbefehlshaber der Marken, erft in fpäterer Zeit ges 
dankt worden ift. Wochen vergingen ohne Nachricht 
von dem Freunde, wenngleich er während der Schwens 
fung nach der Laufig feine Heimatögegend nahezu ftreifte. 

Es war diefem flarf ausdauernden Wanne die Prüfung 
auferlegt, an ber Seite des Feldherrn, dem er fich in 
freier Neigung unterftelt hatte, in diefem Frühlings- 
feldzuge dreimal zu fiegen ohne Ernte. Auch der Erfolg 
des graufigen Brandfampfes von Luckau wurde hinfällig, 
da der Waffenftilftand den feindlichen Anſchlaͤgen auf 
Berlin vorläufig cin Ziel ſetzte. Die heimifchen Freunde 
nahmen, im Geifte der Patrioten, diefen glüdlichen Ab» 
fhluß als einen Strahl von Abendrot, der nach düfterem 
Wettertage einen heiteren Morgen verfündet. Für unfer 


— — — — —— —— — 


310 Frau Erdmuthens Iwiltingsfähne 


ſchwer heimgefuchtes Land aber, wie für unfer häus- 
liches Schidfal fegneten wir bie Waffenruhe, die beide 
Lager peinvoll überrafchte, ald Gnadenpaufe in einem 
lange drohenden Verhängnis. 

Sch bin über die Maienfämpfe von 1813 fo rafdı 
hinweggefchlüpft, ald ich durfte. Leider gehörten fie in 
meine Familiengefchichte. 








* 
> 


Ende der erften Suniwoche fam der Doftor zurüd mit 
„einem Transport von Prachteremplaren von Verwun⸗ 
dung nebft obligater Verkohlung, die immer noch Menfch 
genannt werden konnten”. Er hatte fie aus den Laza⸗ 
retten von Luckau entführt, um fie feiner lieben Frau 
als Zeichen untertäniger Verehrung zu widmen und für 
feine Perfon exakte Brandftudien zu betreiben, da nady 
dem heidenmäßigen Gefchäft von Pläswig der Firma 
Freiheit und Kompagnie eine flaue Zeit in Ausficht ftehe. 
Der alte Politifus wußte befler als viele, daß das Ge⸗ 
fhäft von Plaͤswitz ein ſolches geweſen, welches die 
Firma Freiheit und Kompagnie vom Banferott gerettet 
hatte, aber jedes Tierchen hat fein Manierchen. Bären 
brummen, auch wenn fie Amen fagen. 

Die Pradjteremplare wurden willtommen geheißen; ihr 
Führer fam erwünfcht. Rauls Wunden heilten fchlecht, 
da die Untaͤtigkeit während des neuen Faiferlichen Triumph: 
zuges ihn folterte. Nun aber, binnen der den Feinden 
gegönnten Galgenfrift, „einem Akte der Hochherzigfeit, 
deffen nur ein Halbgott fähig war”, durfte er in Seelen- 
ruhe fich ausfurieren, um beim legten Heldenſchlage 


Sechſter Abſchnitt 311 


— — — ee — — — — — — — — — — — — — — — 


Wie der Kur. Der erprobte Berater ſollte entſcheiden. 

Ich hatte beim Abladen der Verwundeten mit Hand an⸗ 
gelegt; nun fuͤhrte uns die Mutter in den Garten, wo 
Raul im Sonnenſchein ruhte. Liska leiſtete ihm Geſell⸗ 
ſchaft. Der Braͤutigam haͤtte ihr dieſen Dienſt gar nicht 
ausdruͤcklich anzuempfehlen gebraucht; fie verfah ihn frei⸗ 
willig. Und das muß wahr ſein, einer allerliebſteren 
Zeitvertreiberin hat noch kein Konvaleſzent ſich ruͤhmen 
duͤrfen. Sie ließ ſich necken und ein bißchen ſcheren, 
immer laͤchelte und plauderte ſie, immer ſtand ihr ein 
Einfall zu Gebote, ein Plaͤnchen, ein pikantes Wort, eine 
kleine taͤndelnde Szene. Heute hatte ſie ihm einen Kranz 
von Pfingſtroͤschen aufgeſetzt. Er lag ausgeſtreckt, ſie 
ſtand hinter ihm auf der Kante der Bank und beugte ſich 
uͤber ihn, um von oben herab ihrem Spiegelbilde in die 
Augen zu ſehen. Es war eine gar liebliche Gruppe: er 
zu ihr in die Hoͤh, ſie auf ihn niederblickend; beider 
ſchwarze Locken ſich beruͤhrend, beide laͤchelnd wie das 
Gluͤck und der blaue Himmel uͤber ihnen. 

Liska wurde uns gewahr und huͤpfte von der Bank. 
„Wir ſpielen jeux floreaux mit verkehrter Welt,“ ſagte 
ſie unbefangen. „Sieh ihn an, Maman, ich habe ihn 
zum Roſenkoͤnig gekroͤnt.“ 

„Feuerkoͤnig und Schneekoͤnig gratulor!“ rief der Dok⸗ 
tor, indem er Raul die Hand reichte. Die Konſultation 
erforderte nicht viel Zeit. Der Gebrauch der Teplitzer 
Baͤder wurde angeraten, ſo bald und ſo energiſch als 
moͤglich. Dem neuen Charlemagne duͤrfe ja ſein Roland 
nicht fehlen, wenn er zum Henkerſtreich auf die deutſchen 
Barbaren ausholte. 


312 Frau Erdmuthens Zwillingeföhne 

Frau Erdmuthe erflärte, daß fie ihren Sohn begleiten 
werde und daß der Aufbruch ſchon morgenden Tages er- 
folgen fönne, da der Haushalt in Madame Barbed Hän- 
den wohlverforgt fei. Liska eilte ind Haus, die Barbe 
herbeizurufen. 

Der Doktor empfahl ſich; die Sehnfucht nad) feinen 
Prachteremplaren ließ ihm feine Ruhe. ch begleitete 
ihn. Sobald wir aus dem Gehörkfreis der Freunde waren, 
fragte er: „Haben die Zwillinge ihre Schägchen getaufcht, 
oder teilen fie ſich brüderlich in das eine?” 

„Ich verftehe dich nicht, Bär’, verfeßte ich. 

„Der Simmel ftärfe Euere blöden Augen, alter Kinde- 
kopf!“ brummte der Bär. „Dieſe Rofenwirtfchaft ver- 
ftände Guftel Hecht, der Kantianifchen Philofophie zum 
Trog.” 

„Wie das Vorurteil dich vergiftet,” fagte ich nach einer 
herzbrechenden Paufe. „Seines Bruders Braut! Schäme 
dich, Bär.” 

„Wenn einem Franzmann feines Nachbars Weib ge- 
fällt, entführt er e& ihm, und will der Nachbar e8 wie- 
der haben, fchreit er: Raub! hat ſchon Weißfönig Theuer- 
danf gefagt. 's kann auch ein anderer gewefen fein. 
An der Sache aͤnderts nichts.” 

„Sprich ernfthaft, Freund. Wie hätte ed der Mutter 
entgehen Eönnen, die fo angftvoll -— -” 

„Sieht wo fie fliegen, aber nicht wo fie friechen! Wäre 
fie die erfte, die aus Angft vor dem einäfchernden Blitz 
nach der Wolfe über ihrem Haufe ftarrt, dermweile ein 
gemütliches Käschen aus der Herdafche ven Funken un- 
ter die Dachfparren trägt?” 

„Und wenn bu recht hätteft, Bär, was müßte gefchehen % 


Sechſter Abſchnitt 318 


„Geſchehen laffı en, alter Magifter; je früher er er ben kleinen 
Teufelsbraten los wird, um fo beffer für unferen Mann. 
Dem anderen gönn ich ihn.” 

„Sch befchwöre dich, ernfihaft, Freund! Denk an bie 
Mutter.” 

„Barum hat fie Zwillinge auf die Welt gebracht. Sie 
fonnte an einem genug haben.” | 

„Ihre Söhne auch noch Nebenbuhler! Sie ertrüg es 
nicht. Ich werde mit Raul reden.” 

„Den Zeufel an die Wand malen - nn! ifch aus⸗ 
gedrüdt. Wohl bekomms!“ 

„Und was denn?” 

„Die Sefchichte totfchweigen und das Volk auseinander; 
treiben. Die Sache ift im Gange. Der Roſenkoͤnig geht 
ind Bad, dann ind Feld.” 

„Und Liska?“ 

„Bleibt bei Dame Barbe und läßt ſich vom Judex die 
Cour madyen.” 

„Benn fie aber nicht zu Haufe bleiben, wenn fie gar 
mitreifen will?” ftöhnte ich, von der plößlichen Vorſtel⸗ 
lung gepadt. 

Bär wurde rabiat. „Nun hört aber auf mit Eueren 
Wenns und Wies, alter Drangfalsfchlaudy!” rief er im 
Bondannenrennen. „Sperrt fie ein; bindet fie feft! Mit 
einem Fläfchchen Specucuanha, am Reifemorgen in die 
Scofolade zu gießen, ftehe ich auch zu Dienften. Mit 
darf fie nicht, wenn nicht durch den einen verübt werden 
fol, was, Gott fei Danf, über furz oder lang durch einen 
anderen dennoch veruͤbt werben wird.” 

Einen Zentner auf der Bruft, taumelte ich zu den Freun⸗ 
den im arten zurüd. Die Barbe hatte fich zu ihnen gefellt. 





314 Frau Erdmuthens Bwillingefähne 
„Ich reife mit, Väterchen, ich reife mit!” frohlockte mir 
Liska entgegen. 

„Mit!“ ſtammelte ich. „Unmoͤglich!“ 

„Barum unmöglich, Freund?” fragte Frau Erbmuthe. 
„Das Kind bedarf einer Zerftreuung, auch eines Gottes- 
dienftes in feiner Kirche; nicht wahr, liebe Barbe?“ 

„zuverläffig, Madame,” antwortete Barbe mit einem 
Knix. „Mademoiſelle hat die öfterliche Zeit nicht inne- 
halten koͤnnen; Fronleichnam ift vor der Tür, und mein 
Eure fagt -” 

„Gleichviel was Ihr Eure fagt,” braufte ich auf. „„Die 
Braut des Sohned muß ald Stellvertreterin der Mutter 
im Hauſe zurücdbleiben. Das fage ich.” 

„Hausmuͤtterchen Liska!“ fpottete Raul, aus vollem 
Halſe lachend. 

Auch die Mutter lächelte. „Meine Stelle ift durch die 
gute Barbe aufs befte vertreten”, fagte fie. 

„Und an Herrmann denkt feiner?” wendete ich ein. 
„Wie wird er ſich nach einem Wiederfehen fehnen! Sein 
Korps bleibt in der Marf — -” 

„Bir gehören aber zu Sachſen, und Sachſen den Kai- 
ferlichen,” fagte Raul. 

„Sr würbe, fäme er, feinen Verräter unter uns finden,” 
rief ich aufgebracht; „allenfalls eine Fahrt über die Örenze 
auch für uns ohne Schwierigkeit fein.” 

„Seht mir den alten Liebesprokurator!“ rief Tachend 
Raul. Gottlob, er lachte! 

„Sie wiflen ed noch nicht, Freund,” ſprach die Mutter 
darauf, indem fie einen Brief in meine Hand legte, „Da, 
fefen Sie. Doftor Bär brachte ihn mit. Gewiß würde 
auch ich mich nicht entfernen, ohne meinen Sohn gefehen 





Sechſter Abfchnitt 815 
zu haben, folange er mir irgend erreichbar blieb. Aber 
Herrmann iſt im Auftrage feines Generals auf dem Wege 
zum Kronprinzen von Schweden nadı Stralfund, und feine 
fpätere Beftimmung ungewiß.“ 

Ach, ich wußte ed ja; der Doktor hatte es mir erzählt. 
Ich hatte nur auf gut Gluͤck meinen legten Trumpf aus- 
gefpielt und - verloren. Nun hört ich nur noch das 
Fluchwort, welches Raul gegen den Gasfogner zwifchen 
den Zähnen nirfchte; fah, wie die Mutter den Sohn in 
das Haus zurädführte und Liska das Paar wie eine Li⸗ 
belle umfchwebte, feelenvergnügt, mit den anderen ziehen 
zu dürfen, während der eine, dem fie angehörte, in un⸗ 
erreichbarer Ferne war. 

Sch war wie vernichtet auf die Bank gefunfen. Moͤg⸗ 
(ich, daß ich geächzt und die Hände gerungen habe. Sch 
achtete nicht darauf, daß ich einen Zeugen hatte. Die 
alte Franzoͤſin war zurüdgeblieben. Sie hatte den Grund 
meines Widerftrebend im Nu begriffen. 

„Monfteur nehmen die Sadje zu ernft,” fagte fie, an 
mich heranfnirend. „Mein Eure würde fie ebenfo nehmen. 
Es liegt das im Amt. Aber beruhigen Sie fich, Monſieur; 
es ift feine Gefahr dabei.” 

„Woher wiſſen Sie das?” fuhr ich auf. „Haben Sie 
mit Mademoifelle darüber gefprochen?” 

„Keineswegs, mein Herr. Worte zünden öfter als fie 
löfchen. Aber man hat Augen, und man hat Erfahrung. 
Das wäre meine Paffion? Streiten fie fich, verfühnen 
fie fi)? Werben fie rot oder blaß? Und die Blicke, mein 
Herr, die Blide. Pardon, Monfteur, Sie find ein Hei⸗ 
figer, wie mein Cure; aber find das Liebesblicke? Stockt 
ihnen der Atem? Schlägt ihnen das Herz? Was tun fie 


316 Frau Erdmutheus Zwillingsfähne 


denn? Sie gucken ſich an, ſie lachen ſich an; ſie necken 
ſich; ſie ſchwatzen miteinander, ſcherzen, ſpielen mitein⸗ 
ander, wie Couſin und Couſine oder Bruder und Schwe⸗ 
ſter von gleich fröhlicher Natur” “ 

„Um fo frevelhafter, wenn ed nur ein Spiel iſt!“ uns 
terbradh ich die franzöfifche Geläufigkeit. Madame vers 
neigte ſich und fchüttelte lachend den ſchwarzen Zopf. 
Zwifchen ihren roten Lippen und weißen Zähnen ftand 
deutlich zu Iefen: beutfcher Pedant! Warum follten fie 
nicht fpielen, wenn fie Kinder waren? Was fchadete es 
der Treue, wenn ein paar junge Kameraden miteinander 
lachen und Iuftig find? 

Um es kurz zu machen: Kameradfchaft und Paffion 
fchlöffen einander aus wie Ol und Wein, erflärte die 
ftofffundige Vivandiere. Sie huldigte der Liebestheorie 
Fräulein Idunens infofern, als fie an Stelle des Fremd⸗ 
artigen, Gegenfäglidyen dad Impoſante treten ließ; das 
Staunenerregende, Atemverfeßende, Anprall und Abprall, 
Furor, Gewalt! Eine gelinde Züchtigung, die unfere Ge- 
ſetzbuͤcher doch nur als Liebes- und Ehehindernis nicht 
gelten laſſen, fchien ald Liebesbeweis und eheliches Binde- 
mittel betrachtet zu werden. 

Der Eifer ihrer Erfahrungswiflenfchaft ließ die höfliche 
Dame alle fchuldige Rücficht aus den Augen fegen. Sie 
erflärte ed wie gegen Weltflugheit und Seelenheil, fo 
fchlechthin gegen das Naturgefeß, daß eine unbedeutende, 
prickelnde, Heine franzöfifche Mamſell, die nicht das Pfühl 
unter bem Kopfe ihr eigen nenne, dem ruhigen, großen, 
beutfchen Schloßherrn, dem fchönften Manne der Welt, 
einen Iufligen Offizier vorziehen follte, wie fie deren in 
ihrem Baterlande zu Dußenden auf der Straße begegnen 


Sechſter Abſchnitt 317 


koͤnne. Einen Viveur nannte Madame Barbe den Herrn 
Obriſtleutnant von Saint Roc, einen Viveur, der nie 
etwas anderes ſein als Soldat, im Feldlager ſein Hab 
und Gut durch die Finger laufen laſſen und in jedem 
Quartier eine andere Amourette haben werde. Aber Ma⸗ 
demoiſelle denke im Ernſt auch gar nicht an den kleinen 
Mann. Mademoifelle bewunderte ihren ſtattlichen Braͤu⸗ 
tigam und wuͤrde ſeinen Herrn Bruder keines Blickes 
würdigen, wenn fie den Herrn Baron tagtäglich, kopfes⸗ 
hoch über dem anderen ragend, an ihrer Seite figen fähe. 
Nur die Entfernung bed Herrn Barond und feine Lieb⸗ 
habermweife — un peu trop allemand, nannte fie Madame 
Barbe - trügen die Schuld, daß die Flamme nicht bereits 
mit ftärferer Gewalt zum Ausbruch gefommen fei. Die 
Flamme werde aber zum Ausbruch fommen und mit fo 
übermwältigender Vehemenz, daß der aus der Ferne beidh- 
tigende Herr Curé das Seelenheil feiner jungen Lands⸗ 
männin in dringender Gefahr erachte und auf deren Heim⸗ 
fehr in rechtgläubige Umgebungen dringe. 

Für die Beruhigung des Herrn Eure biete ein zeitweifer 
Aufenthalt im katholiſchen Böhmerlande nun die will- 
fommenfte Gelegenheit, wie denn auch gegen zerftreuende 
Velleltäten, welche die Empfindlichfeit deö fernen Herrn 
Bräutigamd erweden könnten, es fein vorbeugenderes 
Mittel gäbe, ald die Heilquellen, welche dem Beichtſtuhl 
- entftrömen. Madame werde dem Herrn Eure heute nod) 
von dem Reifeplan in Kenntnis und der Herr Cure ſich 
unverzüglich mit feinem böhmifchen Amtsbruder in Ver: 
bindung fegen. Denn in SHeildangelegenheiten wirken 
die Diener der Kirche in allen Ländern als wahrhaftige 
Brüder Hand in Hand, fage ihr Eure. 


318 Frau Erdmuthens Iwillingsföhne 


Wer hatte nun recht, der unerfahrene deutfche Hage⸗ 
ftolz, der ohne Beweisführung behauptete: „Sie lieben 
ſich“, oder die erfahrene franzöfifche Witwe, Die mit weits 
laͤufigen Argumenten verficherte: „Sie lieben ſich nicht?” 

Die Witwe! tröftete ich mich, wie mich ſchon vorhin das 
harmlofe Lachen des Viveurs getröftet hatte. 

Und dann: was war denn auch zu tun? Gewarnt hatte 
ich deutlic; genug; Raul aufmerffam madjen follte ich 
nicht; Herrmann zu Hilfe rufen konnte ich nicht. Liska 
mit Vernunft oder Gewalt in ihren Pflichtenfreis bannen, 
hätte auch wohl ein anderer als der arme, kindskoͤpfiſche 
Magifter nicht zuftande gebracht. E8 blieb nur der Appell 
an die Mutter. Auch nahm ich einen fchüchternen An⸗ 
lauf und — wurde nicht verftanden. Sa, ald ich für eine 
verlobte Braut auf das bedenkliche und vielleicht nicht 
ganz fchicliche nahe Zufammenleben mit einem anderen 
jungen Manne deutete, beleidigte idy meine Freundin zum 
erftenmal im Leben. Wo konnte die Tochter geborgener 
fein, ald unter den Augen der Mutter, an der Seite des 
Bruderd? Frau Erbmuthe erflärte, eher felber von ber 
Neifebegleitung abzuftehen, ald die Braut ihres Sohnes 
unter dem augfchließlichen Schuß einer fremden Marke⸗ 
tenderin im Haufe zurüdzulaffen. 

Und ich? — ach, war ed mir denn unverftänblich, daß 
ein Menfchenherz das Gift, das Untreue hieß, nicht ahnt? 
Ad, war ed mir denn möglich, das Gift, das Argwohn 
heißt, in diefes reine Herz zu träufeln? Sch ließ fie ziehen. 

Es gibt eine Reue des Unterlaffenen, die fchärfer nagt, 
ald manche böfe Tat. Die unfruchtbare Neue, für bie 
es feine Sühne gibt. 


BB * 


Sechſter Abſchnitt 319 


Die zwei Monate der Waffenruhe ſchlichen hin in jener 
geſpannten, ruͤhrigen Stille, in welcher die Zwietracht 
deutſchen Strebens ſich zum, wolle es doch Gott, letzten 
blutigen Austrag ſammelte. Auch in den ſaͤchſiſchen 
Heidewinkel wehte ein Strom von dem Geiſte, der jen⸗ 
ſeits der Grenze regierte, und manchen unſerer Soͤhne 
hat dieſer Strom uͤber die Heidegrenze hinausgetrieben. 

Im Hauſe ſchaltete die alte Marketenderin mit ſo viel 
Geſchick, daß es mich oftmals wurmte, das Reich der 
Liebe faſt ohne Luͤcke durch die Routine ausgefuͤllt zu 
ſehen. Nach jedem neu eingeführten Ragout verwandelte 
ſich der Suder immer treulofer aus einem Knecht der 
deutfchen in einen Sklaven der franzöfifchen Dame, und 
auch der Phyfitus wurde nach jeder gemeinfchaftlichen 
Dperation an den wertvollen Pradhteremplaren ihr immer 
feurigerer Berehrer. 

„Gehts wieder los, ziehen Sie ald mein Amanuenſis 8 
mit ind Feld. Chirurgie ift eine internationale Ange⸗ 
legenheit“, fagte er eined Taged. Ald Madame aber 
achjelzudend erflärte, daß ihr Eure fie unwiderruflich im 
Herbſt zur Ohrenbeichte in der Heimat erwarte, da ges 
riet dem armen Kantianer während eines tiefen Seuf- 
zers ein Huͤhnerknoͤchelchen in die unrechte Kehle, und er 
würde, wie Bär verficherte, in feinem Berufe geftorben 
fein, wenn die Hochverehrte nicht durch Fräftiges Klop- 
fen ing Genic feine Lebendretterin geworden wäre. Bär - 
und Hecht flanden auf dem Punfte, Nebenbuhler zu 
werden. 

Bon unferen Reifenden erhielten wir beruhigende Kunde. 
Raul heilte fich nad) jedem Bade fihtbarer aus. Doc 
meldete die Mutter ed nur mit geteilter Freude; denn 


320 Frau Erdmuthens Zwillingsfäöhne 


ſchon pridelte ihm wieder der Degen in der Hand, und 
Frau Erdmuthens Hoffnungen auf ein friedliches Reful- 
tat ded Prager Kongrefles waren tief gefunfen, ſeitdem 
fie mit dem alten Freunde Thielemann zufammengetrof- 
fen war. 

„Wie feltfam berührte ed mich,” fo ſchrieb fie mir unter 
anderem, „bie Lebendaufgabe meines älteften Sohnes 
warm vertreten zu fehen von dem Wanne, beffen Nach» 
eiferer der jüngfte bis vor wenig Wochen gewefen war. 
Heute vermochte Raul nicht einen Gruß über fih. Der 
General nahm ed entfchuldigend. ‚Sch habe fchwereren 
Unglimpf dulden müffen,‘ fagte er mit einem Lächeln, 
das mir wehe tat. ‚Ihr Sohn hat mich einen Yord! ge- 
fholten. Eine zu große Ehre für mid) und unfer Land. 
Ein Staat, der felbftändig fallen und felbftändig allen- 
falls fichh wieder erheben darf, kann einen Nord produs 
zieren. Einer der zum Anflammern berufen ift, leider 
nur — einen Thielemann.‘ ” 

Das Verhältnis Rauls zu Liska erwähnte die Mutter 
mit Freude. „An ihrem gefchwifterlich heiteren Anfchluß 
lerne ich fennen, welch ein Gluͤck der Befig einer Tochter 
ift. Brüder gehen wohl nur felten einmätig Hand in 
Hand. Smmer drängt fidy mir der erfte Eindrud auf, 
daß das liebe Kind berufen fei, ein Band zwifchen den 
Entfremdeten zu weben.” 

Auch Liska fchrieb etlichemal an ihre alte Barbe in der 
von der Mutter angedeuteten unverfänglichen Weife. Sie 
amäfterte fich, erzählte von reizenden Partien in die Um⸗ 
gegend, von eleganten Begegnungen während ber Pro- 
menabenftunden im Schloßgarten. „Ein paar Groß- 
fürftinnen ziehen an der Spite, die ganze Gefellfchaft 


Sechſter Abfchnitt 321 


hinterdrein. Es ift zu komiſch, Barbe, ‚deutfch‘ nennt es 
Raul. Aber fchön find diefe Ruffinnen, vollfommene 
Damen, Barbe. Du haft dir die Barbarenfrauen gewiß 
ganz anders vorgeftellt.” 

„Ich bin Fein foldyes Kind”, murrte Madame Barbe. 

Für ihr Väterchen hatte Mademoifelle Liska in einem 
Poftffriptum beigefügt, daß auch ein deutfcher Dichter 
mit ihr gefprochen und fie im beiten Franzoͤſiſch „ſchoͤnes 
Kind” genannt habe. Der größte deutfche Dichter, habe 
Raul gefagt, und der höchfte Verehrer des großen Kai⸗ 
ferd. Sein Kopf gleiche dem eines alten Heidengotteg, 
deffen Büfte Raul im Louvre geſehen habe. Auf den 
Namen des Dichters und feines göttlichen Urbildes be- 
finne fie ſich im Augenblicke nicht; doch habe er, der Dich⸗ 
ter nämlich, ihr den feinen zum Andenken auf ein Blatt 
gefchrieben, wie das in Deutfchland Mode fet. 

Wirklich findet ſich auf einem Iofen Blatt im goldnen 
Buche eine Rauffche Überf etzung von Klärchend Soldaten 
lied — die ich zugunften des Lieds wie bee Überfeßers 
aber lieber unveröffentlicht laſſen will -, darunter fteht 
in wohlbefannten großen Herrſcherzuͤgen: „Approuve, 
Goethe.“ So hätte das goldene Bud am Ende noch 
einen literarhiftorifchen Wert gewonnen! 

Bon Liskas Hand enthält ed außer einem ſummariſchen 
„delicieux“| aus diefer Zeit fein Wort. Wie Frau Lo⸗ 
doiska vor zwanzig Sahren am Fuße des Poftlipp, fo 
hatte die befcheidenere Tochter im böhmifchen Mittelges 
birge zu nichts anderem Zeit gehabt, ald froh zu fein. 
Sie dachte an Luftbarkeiten, Raul an Krieg; beides bünfte 
mid) nicht Verliebtenlaune. 

In einem fpäteren Briefe berührte Liska auch die fird)- 
xx. 21 





322 Frau Erdmuthens Iwillingsfähne 


— — — — 


lichen Troͤſtungen, die ſo ſchwer fuͤr die Reiſebegleitung 
ind Gewicht gefallen waren. Aber, o weh! die Gottes⸗ 
haͤuſer glichen geſchmacklos aufgepugten Sahrmarftöbuden. 
Raul hatte die Bilder Klexereien und die lieben Heiligen 
Puͤppchen genannt. 

„Mein Eure zelebriert auch nicht in einer Kathedrale”, 
fchaltete aufgebracht Madame Barbe ein. 

Bon genoffenem Beichtfegen war nichtd erwähnt; da⸗ 
hingegen ftand weiterhin zu lefen: „Die Prozeffton zu 
Fronleichnam habe ich nicht mitgemacht. Kein Badegaft 
tut ed; nur geringes Volk und die Bauern der Gegend. 
Raul lachte, als fie über den Schloßplag zogen; und es 
war auch fo armfelig unfeierlich, daß man lachen mußte, 
wenn man zum Weinen feine Luft hatte. Das darfſt Du 
aber ja Deinem Cure nicht fchreiben, Barbe.“ 

„Ich werde es ihm aber doch fchreiben”, fagte Madame 
Barbe. 

Sp der Tat feßte fie, obgleich fie felbigen Tages ein 
Rindsſchlachten angeordnet hatte, dad Inftrument in Be- 
wegung, das ihr von allen, die auch Frauenhände trafs 
tieren, das einzige ungeläufige geblieben war, und ein 
paar Stunden darauf trug ein Ertrabote einen Brief an 
den Herrn Pfarrer von Saint Marimin nach der naͤch⸗ 
ften Poftftation. 

Am Abend fragte mich die Franzöfin: „Was ift ein 
Atheift, mein Herr?” 

„Das Gegenteil von einem Ehriften, Madame,” 

„And ein Kalvinift, mein Herr?” 

„Das Gegenteil von einem Atheiften, Madame.” 

Bon diefem Tage ab ſchien die Mutter des Herrn Cure 
von dem Vorwurf geplagt, in dem Heilsgeſchaͤft, deffen 


Sechſter Abſchnitt 328 
nur halb eingeweihter Sozius ſie war, einen Mißgriff 
getan zu haben. Gruͤndlicher eingeweiht, haͤtte ſie wohl 
gewußt, daß leichter als ein Kalviniſt ein Atheift - wenn 
unfer lachender Biveur nun einmal Atheift genannt wers 
den foll - in den Schoß der alleinfeligmacdhenden Kirche 
zurüdgeführt wird. 

Über Herrmanns Kreuz und Querzuͤge während diefer 
zwei Monate hatte die Mutter nur die Kenntnis erhalten, 
die ich durd, den Doktor einfchmuggelte. Er war in 
vertraulichen Sendungen zwifchen dem ſchwediſchen und 
ſchleſiſchen Hauptquartier hin und her geeilt und erft 
Mitte Auguft in der Mark zu dem Heere geftoßen, um 
beffen preußifchen Kern ſich die ruffifchen und ſchwe⸗ 
difchen Truppenteile gruppierten. Troß der geringfügis 
gen Anzahl der letteren ftand der Volföglaube an den 
Dberfeldherrn, ald ehemaligen Napoleonifchen Mars 
fchall, fo hoch, daß die von ihm befehligte Nordarmee 
allgemein bie fchwedifche oder kurzweg der Schwede hieß, 
bid dann freilich bald genug die Siege Buͤlows und 
Tauengiend ihren preußifchen Charakter zur Geltung 
brachten. 

Beim Abbruch der Friedensverhandlungen machte fich 
auch fchleunigft unfer Bär mit einem Halleluja wieder 
auf den Weg. ch begleitete ihn, um meinen Brüdern 
und meinem jungen Freunde vor dem Kampfe noch ein» 
mal die Hand zu drüden. Herrmann, zum Nittmeifter 
aufgerüdt, gehörte wieder zu Buͤlows Stab. Wadıts 
meifter Lieb ftand quaſi ald Adjutant bei dem Adjutans 
ten. Wir trafen fie vor Saarmund. Alles erwartete 
einen rafchen feindlichen Vorftoß auf Berlin. 

Herrmann hatte den Niederfchlag feiner Frühlingss 


\ 


324 Frau Erdmuthens Zwillingsföhne 


hoffnungen nur in fchwerem Kampf mit fich felbft über- 
wunden. Er, der rein und feft, der Beſten einer, eines 
großen Vaterlandes Wiederaufrichtung aus eigner Kraft 
ale Lebengziel erfaßt hatte, fah Deutfchland zerflüftet 
wie nur je vor der Unterwerfung und ermaß Haren 
Blicks die Opfer, die es dem befreienden Vorvolke Eoften 
werde, indem ed ald gering angefchlagener Teil nicht 
mehr eine beutfche, fondern eine europäifche Tat volls 
bringen half. Mochte deren Endziel für den gewaltigen 
Bund faum noch in Zweifel zu ziehen fein: die Nebens 
zwecke freuzten fich, die Wege waren verworren, und ber 
Siegerpreis für uns blieb beftenfalld ein Keim. 

„Sch baue auf die flämifche Ader in unferem Bolt,“ 
fagte der Freund mit wehmütigem Lächeln. „Wir reis 
nigen den Boden und fireuen aus, auf daß die Enfel 
unfere Saaten ernten. Was treibt, das muß gebeihn.“ 

Sein ganzes Wefen war fo ſtark nad) diefer Richtung 
hin gefpannt, daß für das perfönliche Erlebnis kaum 
noch eine Dehnung übrig blieb. Noch arg- und neib- 
Iofer, ald e8 feiner treuen Natur allezeit eignete, vernahm 
er daher von dem gedeihlichen Frohleben der Seinen in 
der Ferne. Was auf den Anteil der Mutter davon ab- 
zuziehen war, wußte er ja; dem fremdgewordenen Brus 
ber gönnte er die Erholung, die Stimmung feiner Braut 
aber erflärte er aus ihrer elementaren Freudenfraft und 
entjchuldigte fie doppelt durd, die mangelnde: Vertrau⸗ 
lichkeit, die ihr Verhältnis zurzeit bedingte. 

Als ich den Zwang beflagte, in welchen diefed Nicht- 
verftandenwerden ihn zu feinem nächften Weſen verfegte, 
fo gab er das einfach zu, fügte aber bei: „Nennen Sie 
mir ein Gluͤck, dad nicht mit der Befchränfung perfön- 


Schfter Abfchnitt 325 


licher Freiheit erfauft werden muß, wenn auch in ber 
Hoffnung, diefe Freiheit Schritt für Schritt zuruͤckzu⸗ 
erobern. Schranfenlofes Ausleben ift der gefährlichite 
Egoismus, weil er in eine Einoͤde führt. Liska und id, 
haben manches gegeneinander aufzugeben. Ihr Opfer 
ift das größere; dafür muß jegt meine Nachſicht und foll 
meine Dankbarkeit die größere fein, wenn die Zeit zum 
Gluͤcklichſein gefommen ift.“ 

Wie leicht hätte ich bei diefer refignierten Anfchauung 
ihn auf ein tieferfchneidendes Entfagen haben vorbereis 
ten koͤnnen. Alle meine früheren Angfte waren aber 
durch die harmlofen Reifebriefe von Mutter und Tochter 
eingefchläfert, und die Leifefte voreilige Spur ded Miß⸗ 
trauend würde mir ald Frevel erfchienen fein. 

Bald ward denn aud) das Gefpräd; in die beherrfchende 
Richtung zurücgeführt. Es verlautete, daß der fran> 
zöftifchen Armee, weldye Dudinot durch die Lauſitz gegen 
Berlin heranführte, auch Reyniers Korps mit den 
Sachſen zugeteilt fei, und Herrmann fagte gedanfenvoll: 

„Hundert Meilen weit gefpannt ift der Bogen der Arena, 
von den Quellen der Elbe bis zu ihrer Mündung; welch 
eine fonderbare Fügung wäre ed nun, wenn Raul und 
ich nad) acht Trennungsjahren, in denen die Knaben 
Männer wurden, und auf heimifchem Grund mit den 
Waffen in der Hand begegnen follten.“ 

Und faft mit den nämlichen, aber wehelautenden Wor⸗ 
ten empfing mid) daheim die Mutter, die während meiner 
Abmwefenheit zurücgefehrt war. Raul hatte fid) erft am 
Morgen auf der Poftftation von ihr getrennt, um fid) 
noch am nämlichen Tage bei dem Marſchall in Baruth 
zu melden. Die Sachſen waren wirklich Dem Nordheere 


326 Frau Erdmuthens Zwillingefähne 


gegenübergeftellt; der Tag bed Zufammenftoßes konnte 
nahezu berechnet werden. 

„Es ift fein Zufall,“ flüfterte die Mutter fchattenbleich. 
„Auch das Unheil hat fein Gefeg. Was treibt, das muß 
gedeihn.“ 

Bon diefer Stunde an faß fie in lautlofer Spannung, 
die Hände im Schoß gefaltet, und ftarrte in die grauen 
Wolken, die zwifchen den Wipfeln niederhingen. Vom 
Himmel riefelte ed gleichfoͤrmig Nadıt und Tag. Bei 
jedem anderen Geraͤuſch zudte fie zufammen. War, was 
geichehen mußte, geſchehen? Der vernichtende Stahl 
hing über ihrem Haupte an einem Haar. 

Liska fchien nicht forgenvoll; aber fie war verändert. 

„Sie kommen mir gewachſen vor, Liska,“ fagte id). 
„Erzählen Sie, was haben Sie erlebt?“ 

„Großes!“ antwortete fie mit leuchtenden Augen. 

„Etwas deutlicher, bitte. Welches Große?“ 

„Sc habe den Kaifer in Dresden geſehen.“ 

„Weiter nichts?“ 

„Sch bin auf Mamans Grabe gewefen.“ 

„Ganz allein?“ 

„Mit Raul.“ 

„Mit Raul? Sie famen geftern abend erft an, und 
früh am Morgen ging er weiter. Wann waren Sie am 
Grabe?" 

Sie antwortete nicht, fie wich mir aus; aber nicht mit 
der Miene von Neue oder Angft, weit eher mit der 
eines überfrohen Herzens, das ein Machtwort im Banne 
hielt. 

Sollte fie wirflicy nody gewachfen fein? Oder waren 
ed nur die Wangen, weldye die kindliche Rundung vers 


Sechſter Abſchnitt 327 


loren hatten, die Augen, die weiter geworden und mit 
einem Schatten umzogen waren? Sie ſprach nicht, aber 
bei jedem ſtillen Gedanken wogte die Farbe heller und 
dunkler unter der braͤunlichen Haut. Ruhelos wechſelte 
ſie den Platz. Dieſe Minute hinaus in den tropfenden 
Garten, in der naͤchſten zuruͤck an der Mutter Herz. Sie 
kuͤßte ihre Haͤnde, Traͤnen rieſelten darauf nieder. Aber 
es waren keine matten Kummertraͤnen. Ein Wort draͤngte 
ſich auf die Lippen, das ſie gewaltſam zuruͤckpreßte. Alle 
anderen vermied ſie, auch die Barbe, und nicht ein ein⸗ 
ziges Mal wallfahrte fie nach dem kleinen Heiligtum 
in der Ruine, 

Ic fah über dem Haupte der Mutter noch einen zweis 
ten Stahl, der fchärfer gefchliffen als der erfte war. 


** * 
* 


In dieſem lauernden Zuſtande ſchlich die Woche hin. 
Wir hatten von keinem der Unſeren Nachricht erhalten, 
von einem erſten Zuſammenſtoß nichts gehoͤrt oder ge⸗ 
leſen. Ringsum ohne Wechſel breitete ſich das Truͤb⸗ 
ſalsbild der Heide im Regen. 

Es war am zweiundzwanzigſten, Mittag voruͤber. Die 
Mutter ſaß ſtill am Fenſterplatz; Liska in der anderen 
Niſche ſchaute nach dem Himmel, an welchem die Sonne 
unter dichtgrauem Gewoͤlk um einen Durchblick rang. 
Pıöglich horchten beide Frauen auf. Huftritte fchallten 
weitwärtd von der freien Landfeite her in den Hof; 
Frau Erdmuthe Flammerte fich zitternd an den Sims, 
Liska fchrie auf: „Raul!“ 

Ja, Raul! Raul, den das Mutterherz im Bruderfampfe 
ſtehen jah, er Fam angefprengt auf halbtot gehegtem Raps 


328 Frau Erdmuthens 3willingsſöhne 


pen, im dunklen Reitermantel, kotbeſpritzt bis an den 
Hals, naß bis auf die Haut, aber heil und wohlgemut 
wie ein Fifch. 

Raul war fein Geheimniöfrämer und würde ald Kund⸗ 
ſchafter ſchlechte Gefchäfte gemacht haben. Indeſſen, des 
Landes und der Leute fundig, ber verwegenfte Reiter, 
ber er war, hatte unmittelbar nadh feiner Meldung beim 
Marſchall derfelbe ihn auserfehen, auf dem möglicht ab⸗ 
gefürzten Wege einen Auftrag oder fonft dergleichen an 
dad Generallommando in Magdeburg zu befördern. 
Mitten durd, Hirfchfelde Stellungen hindurch war das 
fede Reiterftüd gelungen; Raul würde fchon vor Abend 
das Hauptquartier, das er in Trebbin annahm, wieder 
erreicht haben, wenn er nicht Durch die bereits bis über 
Zreuenbriegen hinaus plänfelnden Koſaken gezwungen 
worben wäre, einen Bogen füdwärts zu ſchlagen und 
in der Heimat Relais zu nehmen. 

Sein halbtotes Pferd Fonnte notdärftig nur durch dag 
unferes Inſpektors erfegt werden. Doch bedurfte das⸗ 
ſelbe eines Hufbeſchlags, und bevor der Schmied, erſt 
vom Felde herbeigeholt, ſein Geſchaͤft vollendete, gingen 
ein paar Stunden hin. Auch dem Reiter, ſo ungeduldig 
er war, taten trockne Kleider und ein Ausruhen not. 
Ein nachtraͤgliches Mittagsmahl wurde von Madame 
Barbe angeordnet; doch zeigte ſie ſich bei Tafel nicht. 
Ein Brief ihres Sohnes, den ſie am Morgen erhalten 
hatte, ſchien ihr im Kopfe herumzugehen. Liska fragte 
nicht danach; ſie ſaß wieder ihrem Ebenbilde gegenuͤber 
und flammte mit ihren Augen in die ſeinen. 

Raul, nuͤchtern ſeit geſtern und uͤberhungert, aß wenig, 
trank aber mehr und ſtaͤrkeren Wein als gewoͤhnlich. 


Sechſter Abſchnitt 329 


— —— — — — —— — — — — —— —— —— — —— — — 


Wir verweilten beim Nachtiſch, dann im Gartenſaal 
beim Kaffee, den Raul mit Kirſchwaſſer nahm. Anfaͤng⸗ 
lich in uͤbereile, um noch in der Nacht vor dem Aufbruch 
das Hauptquartier zu erreichen, duͤnkte es ihm jetzt zum 
Weiterritt vollauf Zeit. Er wollte das Zuruͤckdraͤngen 
der feindlichen Vorlinie am geſtrigen Tage erfahren 
haben und hielt einen Kampf diesſeits Berlins nicht 
fuͤr annehmbar, falls Bernadotte, den er nie ohne Fluch⸗ 
wort nannte, den Beſitz der preußiſchen Hauptſtadt uͤber⸗ 
haupt eines Kampfes wert halten ſollte. Es genuͤgte, 
wenn er im Lauf des morgenden Tages die vorruͤckende 
Armee einholte. Er dehnte ſich behaglich; Liskas Augen 
gluͤhten. 

Die Mutter hatte ploͤtzlich Leben gewonnen; fie beſann 
fih auf Verbandzeug und Stärfungsmittel, welche in 
die Satteltafchen gepadt werden follten, ordnete, da die 
Barbe unfichtbar blieb, alles felbft, ging hin und wider. 

Es dämmerte bereits, der graue Himmel verkürzte den 
Tag; doch hatte der Regen eine Paufe gemacht; milde 
Luft, ein weicher Refedaduft drangen von den Garten⸗ 
beeten durch die geöffneten Fenfter. Auch idy mußte mich 
in einem Amtsgefchäft entfernen; Raul und Liska blieben 
allein. 

Eine unfagbare Angft beflemmte mir die Bruft; ich 
haftete meinen Schritt. Zufällig fiel im Gehen mein 
Blick auf die Fahle Pappel. Ihr treuer Sommergaft 
hatte fie geräumt, einen oder den anderen Tag früher, 
als es feine Regel war. Ich gedachte der Stunde, ald 
er und heuer zum erften Male daraus begrüßte. O, dag 
dad Kind nicht vom Himmel an unferen Herd gefallen 
wäre, ja, daß es heute lieber im Bruderlampfe ftände, 


830 Frau Erdmuthens Zwillingsfähne 


ald unter feiner Wutter Dach! Ich fchalt mich einen 
Narren, einen Frevler, aber id) dachte fo. 

Als ich zurüdkehrte, war es völlig Abend geworben. 
Raul und Liska ftanden aneinandergefchmiegt im Feniter- 
bogen. Sie bemerften mein Eintreten nicht; fchienen 
Gott und Menfchen vergeflen zu haben. Sie flüfterten 
fich ind Ohr und wendeten ſich nach der Tür. 

„Soll ich Shr Pferd vorführen laſſen, Raul?” fragte ich. 

„Es eilt nicht,“ antwortete er und wollte an mir vor⸗ 
über. 

Auf der Schwelle trat ihnen die Mutter entgegen. Sie 
drang auf eine Ruheftunde für den Sohn. Haſtig ver- 
ſprach er, fid, hier im Gartenfaal aufs Sofa zu legen, 
um ohne Störung ded Hauſes um Mitternacht aufbrechen 
zu können. Das Pferd follte gefattelt im Stalle bereit 
ftehen. Es war in der Erntezeit, alled fchlafbedürftig; 
doch fiel mir diefe Rüdficht an dem Sorglofen auf. 
Lisfa ging ſchweigend in den Garten; das war feit der 
Heimkehr auch bei Abend ihre Gewohnheit. „Sch fehe 
dic noch, mein Raul”, fagte die Mutter und ging in 
ihr Kabinett. Raul gab mir zum Abfchied die Band 
und warf fid) aufs Sofa. 

Sch nahm den Weg durch den Garten. Der Durftige 
Sand hatte die Regenmaffen raſch aufgefaugt. Es dun- 
ftete wie Weihraudy in der ſchwuͤlen, waſſerſchweren 
Luft. Ich fah mich nach Liska um; fie war nicht mehr 
im Garten; fie mochte vom Hofe her in das Haus zurüd- 
gekehrt fein. Ic lauſchte eine Weile, alles blieb ftin, 
Zögernd entfernte idy mid). 

Aber ic; legte mich nicht. Auch an meinem Pulte fand 
ich feine Ruhe. Sch rannte im Zimmer auf und ab. Der 





Sechſter Abfchnitt 831 


Angſtſchweiß tropfte mir von der Stirn. Die Uhr fchlug 
elf. Ich hielt e& nicht länger aus; ich wollte nach dem 
Scloffe, Raul ein mahnendes Wort vor dem Abfchied 
fagen, die Mutter warnen, oder - Gott weiß, was fonft. 

Da, - wo mein Weg unter die Ulmen einbog, fah ich 
von der Ruine her einen weißen Schimmer fich aus dem 
Dunkel abheben. Ich ftand ftil. Er ſchwebte näher und 
näher. Sie war ed, im weißen Kleid; den Kopf an 
feine Schulter gelehnt, den Leib von feinem Arm ums 
fchlungen. Sch trat ihnen in den Weg und padte feine 
Schulter. Er zudte zufammen. Sie flammerte fid) nur 
noch fefter an feinen Arm. 

„Sehen Sie voran, Liska,“ preßte ich hervor. „Sie, 
Raul, folgen mir in meine Wohnung.“ 

„Sc werde meine Couſine nach Kaufe begleiten, dann 
ftehe ich zu Dienften,“ verſetzte Raul. 

Sie fchritten weiter; ich ging in die Pfarre. Sch wars 
tete, mir fchien es eine Ewigkeit; vielleicht, daß es nur 
Minuten geweſen find. Schon zweifelte ich, daß er 
fommen werde; aber er hatte nur der Wutter Lebewohl 
gefagt und fein Pferd an meine Tür beitellt. Endlich 
trat er ein. Sch hatte Fein Licht angezuͤndet; unfere 
Worte wechfelten fich beffer im Duntel. 

„Sneulpat ftellt ſich zum Verhör,” rief er mir lachend 
entgegen. „Machen Sie’d gnädig, Pate Magifter.“ 

„Affektieren Sie feinen Scherz,“ entgegnete id. „Er 
fteht Ihnen häßlich in einer Stunde, wo Sie Ihres 
Bruders Ehre mit Füßen getreten - -“ 

„Sie übertreiben!” unterbrach er mid). 

„Bo Sie einen tödlichen Schlag gegen das Herz Ihrer 
Mutter geführt haben“, fuhr ich fort. 


332 Frau Erdmuthens Zwillingsfähne 


Er madıte ein paar Gänge durchs Zimmer. Ich fegte 
mich, denn meine Füße trugen midy nicht. „Die Mutter, 
die Mutter!” murmelte er. 

Dann trat er mir gegenüber und begann ernithafter, 
befonnener, als ich ihn jemals gehört: „Nun ja, bie 
Mutter! Um ihretwillen bin id; gefommen; um ihret- 
willen berühre id; einen Punkt, über welchen der Dann 
fonft auch feinem Vater nicht Rede fteht. Sie hat ein 
Traumbild brüderlicher Harmonie in fich groß gezogen, 
das fid in einen bämonifchen Quaͤlgeiſt verwandelte, 
ale die Wege ihrer Söhne ſich naturgemäß ſchieden. 
Nicht durch meine Schuld; ich bin auf legaler Bahn 
geblieben; Sie wiffen ed. Auch Elage ich Herrmann 
nicht an. Operari sequitur esse. Aber ich fehe feinen 
Untergang, und mid; jammert die Mutter. Nicht die . 
hartnädigfte Natur ertrüge auf die Dauer ſolche Folter: 
qual. Nun noc, diefer Konflift weit intimerer Art, - 
er würde ſich Iöfen Iaffen, leicht loͤſen, hätte ich Zeit, 
fie vorzubereiten, fie zu überzeugen; — aber ich muß fort, 
und jeder Dritte, oder gar der Zufall - Sie haben recht: 
es könnte ihr Herz brechen.“ 

„Und wenn Sie dad mwußten, warum — -" Er ließ 
mich nicht ausreden. 

„So fragt, wer die Leidenſchaft nicht gekannt oder 
lange vergeſſen hat,“ rief er aus. „Will einer, was 
ihn uͤberwallt? Merkt er die heimlichen Schliche, mit 
denen eine Paſſion ſich unſerer bemaͤchtigt? Dachte ich 
daran? Ich ahnte es nicht einmal. Mir war wohl wie 
einem, der nach langer Kerkerhaft in einem ſonnigen 
Blumengarten erwacht. Ich habe ſchon manche Frau 
reizend gefunden, manche reizender als dieſe. Ich be⸗ 


Sechſter Abſchnitt 333 


trachtete ſie nicht als die eines anderen, aber ich begehrte 
auch nicht nach ihr. Ich bin kein Schaͤfer, kein Werther 
von Natur; alles Verlangen war nach außen hin ge 
fpannt. So fpürte ichs im anderen Herzen früher als 
im eignen und aud) im anderen erft in der legten Stunde. 
Solchen füdlichen Kindern ift nicht wie euren deutſchen 
die Liebe eine Metamorphofe, aber ein natürliches Ele⸗ 
ment. Drüben am Grabe der Mutter, - in der Ber; 
zweiflung des Abſchieds — -“ 

„Und fo in leichtfinnigem Spiel, dad nicht einmal bie 
Leidenfchaft entjchuldigt,” rief ich aus, „mit faltem Her⸗ 
zen ftehlen Sie das Lebensgluͤck Ihres nächften Menfchen, 
den Frieden — —“ | 

„Nicht mit kaltem Herzen,“ unterbrad) er mich. „Auch 
ftahl ich nichts. Sch fand bei Wege ein herrenlofes 
Gut. Da idy8 aber gefunden, ba ed fidy freiwillig mir 
zugeeignet hat, gibt e& Feine Macht, Die e& mir wieder 
abfordern dürfte, - auch die Mutterliebe nicht.“ 

Mir war die Kehle zugefchnärt. Es entftand eine Paufe. 
Dann fuhr er fort: 

„Und Herrmannd Lebendglüd Hanıtent Sie ed. Zus 
geftanden, daß der Berluft feine Eigenliebe fränft. Aber, 
Hand aufs Herz: war Liskas Liebe wirflid fein Gluͤck? 
Er hat fie niemals beſeſſen.“ 

„Sie hat ihm das Gegenteil beteuert - -“ 

„Sn einem Moment der Überrafchung, der Erregung, 
bevor fie ahnte, was lieben fei.“ 

„Sie hat gelobt, fein Weib zu werden — -” 

„Mit nichten. Sie hat vom erften Tage ab gegen die 
Konfequenzen ihrer Übereilung proteftiert. Einft war 
er ihr gleichguͤltig, heute würde er ihr antipathifch fein. 


834 Frau Erdmuthens Zwillingefähne 


Und was böte er ihr ale Entgelt für ein leeres, wider: 
williged Herz? Das feine etwa? Liebt er fie? Mein, 
er liebt fie nicht.” 

„Welches Urteil haben Sie darüber?“ 

„Leſen Sie feine Briefe; hören Sie Liska, felber die 
Mutter über ihn. Und welche Gegenfäte in ihrem ſuͤd⸗ 
lichen Blut und feiner flämifchen Ader? Klingen fie 
zufammen im einfacıften Sa oder Nein? Würde ich eine 
Frau nad feinem Schlage Tieben können? Weiß ein 
Deutfcher überhaupt, was Lieben ift? Mit Liebe Lieben, 
wie wir anderen es nennen?” 

„Mit Hingebung lieben, mit Treue fürd Leben, mit 
Willen und Gewiffen keiner befler, als diefer deutfche 
Mann,“ fagte ich, und er ergänzte: 

„Nun ja, mit alledem, was Kiebe nicht iſt.“ 

„Sparen Sie Ihr Raifonnement,” rief ich empört. 
„Woher ftammt denn unfer Unheil, ald daß Sie feinen 
Sinn haben für Ihres Bruders Wert?” 

„Beſtreite ich feinen Wert?” verfeßte er. „Ich beftreite 
nur Ihren Gradmeſſer feiner Temperatur. Sch fehe ihn 
vor mir. Er fuchte unferer Mutter eine Tochter ald Er- 
faß für den Sohn, den fie verloren glaubte. Liska war 
ihm die Nächfte. Er tat an der Waife ein gutes Werk; 
er ift ja ein Menfchenfreund; Idealiſt in den realften 
Dingen. Sie mag ihm audy gefallen haben; wem geftele 
fie nicht? Dabei dachte er aber an eine Frau für Haug 
und Hof; an ein Mütterchen in der Kinderftube, an alles 
das, was Liska nicht ift, noch jemals werden kann. Gönnte 
er fidy Ruhe zur Prüfung, er würde feinen Irrtum eins 
fehen und fie dem überlaffen, den fie begluͤckt, fo wie fie 
ift und allezeit bleiben wird.” 


Schfter Abſchnitt 835 


„Wenn Sie fo ficheren Glaubens waren, warum vers 
ftändigten Sie ficy nicht mit ihm? Wer nimmt ohne 
Schenfung eined anderen Eigentum, fo wertlos oder gar 
ſchaͤdlich er es für ihn halten möge?” 

„Wie follte ich ihn erreihen? Es war in der legten 
Stunde, id fagte ed ja. Schon fand er in Reih und 
Glied unferem Lager gegenüber.” 

„Sie konnten ihm fchreiben, Sie können ed noch. Tun 
Sie es hier; gleich, aus vollem Kerzen. Ich übernehme 
die Beförderung.” 

„Das fchriftliche Wort ift leblos,“ verfegte Raul, zum 
erftenmal merflicd, befangen. „Die Zeit drängt: wir find 
und fo lange entfremdet, würden ung fo ſchwer verftehen. 
Und dann — und dann — er liebt fie nicht, es ift wahr; 
es ift nicht fein Gluͤck, um das es fich handelt, aber, aber 
- e8 gibt einen Punkt - - Sie felber haben ihn zuerft 
genannt - und er ift mein Bruder! Er dürfte nicht Ges 
nugtuung von mir fordern nach Männerart; ich nicht fie 
ihm gewähren. Wir werden und mit den Waffen in der 
Hand gegenüberftehen, bald, vielleicht morgen ſchon. Sch 
fann fallen; er kanns. Soll er mein Todfeind fein, wenn 
fein Auge bricht ?” 

Wieder eine Paufe. Er ging mit ftürmifchen Schritten 
im Zimmer auf und ab. In mir fochte ed. Heiliger 
Gott, heiliger Gott, diefer Mutter Sohn zog feine Rech⸗ 
nung auf feines Bruders Tod! Er fchien diefen Hoͤllen⸗ 
gedanken in meiner Seele zu lefen. „In beruhigter 
Stunde wird auch ein beruhigender Abjchluß zu finden 
fein”, warf er hin. 

„And wie denken Sie ſich den Abfchluß des fchnöden 
Spield?” fragte ich nach einer langen Stille. 








336 rau Erdmuthens Iwillingsföhne 


Er antwortete fchon wieder unbefangen, ja mit einem 
Anflug von Beluftigung: „Verlobung und Hochzeit und 
- Hütten bauen, nicht wahr? Alles fein ehrbar und folge- 
recht nach guter deutfcher Art. Aber wer denft daran, 
wenn der Boden unter unferen Füßen zittert? Sat der 
Kaifer einmal in dieſem tollföpfigen Europa vollends 
aufgeräumt, kommts zum Frieden, - nun gut, dann wird 
fie die Meine, und Frankreich unfer Vaterland. Herr⸗ 
mann bleibe alles, was deutfche® Erbe heißt. Auch die 
Mutter wird ihm bleiben, ich fühle ed.” — Er feufzte. - 
„Alles fein, und mein nur diefed fremde Kind. Sc 
denke: das ift Fein unbrüderlicher Tauſch. Bis dahin 
aber, bis ich felber, ich allein, die Mutter mit der Wand⸗ 
lung der Berhältniffe ausföhnen kann, bleibe ihr diefe 
Wandlung verhält. Stehen Sie mir darin bei, auch 
Liska gegenüber, der das Geheimnis das Herz abpreßt. 
Huͤten Sie Liskas Impulſe, und ſchweigen auch Sie.” 

Sein Pferd wurde bei diefen Worten vorgeführt; er 
faßte meine Hand, ald ob er mir ein Berfprechen abneh- 
‚men wollte. Sch erhob mich. 

„Raul,“ fagte ich, „das urewige Band bed Blutes haben 
Sie zerriffen, und an eine jenfeitige Verantwortung, fo 
fcheint es, glauben Sie nicht mehr. Aber fo wahr es 
eine Gerechtigfeit gibt, Sie werden auch hienieden an 
biefem Frevel tragen, folange Shre Augen offen ftehen. 
Und mit Ihnen wir alle, die wir in deutfchem Glauben 
das Mutterhaus für eine Freiftatt der Treue und das 
Brudergut für ein Ehrenpfand gehalten haben. Nun ja, 
ich will bis zum Außerften den vernichtenden Schlag von 
Ihrer Mutter abzuwenden fuchen; — eine kurze Gnaden⸗ 
frift! Ihrem Bruder aber werde ich die Wahrheit fagen, 


Sechſter Abſchnitt 837 


wann und wo id) ihn erreichen fann. Gibts aus dieſem 
Wirrſal der Suͤnde eine Löfung, fo iſts durch ihn, ber 
allein der Schuldlofe an demfelben ift. Als Ihr Tods 
feind vielleicht, aber nicht ald der Genarrte Ihrer Raus 
nen foll er Ihnen im Leben und Sterben gegenüber, 
ftehen.” 

„Seid darum!“ verfegte Raul. „Es plädiert fich Teiche 
ter in einer fremden als in der eigenen Sache. Plädieren 
Sie für dad Natürliche vor dem Juͤnger der Idee. Schonen 
Sie midy nicht, aber fchonen Sie die Mutter.” 

Dad Hang wohl leichtfertig, aber er war doch bewegt. 
Er drüdte meine Hand, und die feine zitterte. Ich glaube: 
den naͤchſten Triumph feines Kaiſers hätte er Darum ges 
geben, wenn er dad ‚„Natürliche” in dad Mebelreich der 
Ideen hätte verfegen koͤnnen. Nur daß es feine Sache 
wenig verbeflerte, wenn der feichtgepflanzte Trieb nicht 
bis in die Tiefe ded Muttergrundes drang. 

In diefer Nacht zaufte ich mich herum, wie man fo fagt, 
mit Gott und der Welt. Bon dem Erzböfewicht rede id) 
nicht einmal, das war ja nur ein fortgefeßtes Gefchäft. 
Aber da hatte ich auch ein altes, franzoͤſiſches Kuppler⸗ 
mweib beim Schopf, das von einem winzig Fleinen, ſchwar⸗ 
zen Sefuitchen am Schürzenbande gegängelt wurde und 
die Ruine in der Heide mit Teufels Gewalt wieder in 
ein Klofter verwandeln wollte. Dann fanzelte ich einen 
flämifchen Ulanenrittmeifter ab, weil er yartout nur 
Trompete blafen und nicht audy ein bißchen Flöte fpielen 
lernen wollte. Selber mit der ftillen, weißen Frau, die 
ein Erbfrönchen trug, konnte ich nicht Frieden halten, 
wenngleich fie doc; ausfah wie der liebe Frieden felbft. 
Warum hatte fie Zwillinge auf die Welt gebracht? Was 
xX.22 


838 Frau Erdmuthens Swillingsfähne 


rum hatte ſie einen franzoͤſiſchen Viveur großgehaͤtſchelt? 
Warum ſtarrte ſie immerzu hinauf in den blitzenden 
Wolkenkegel, derweilen ein funkenſpruͤhendes, ſchwarzes 
Kaͤtzchen ganz unverſchaͤmt an ihrem Bettvorhange in die 
Hoͤhe krabbelte und ihr Haus in Flammen ſetzte? Am 
aͤrgſten jedoch ſpielte ich einem kindskoͤpfiſchen alten Ma⸗ 
giſter mit, der den Funken anglimmen ſah und, anſtatt 
„Feuer!“ zu ſchreien, nicht aus der Melodie „uͤb immer 
Treu und Redlichkeit“ herauszubringen war. 

Seltfam, aber nur der unverfchämten, fchwarzen, Kleinen 
Kape, die doch den ganzen Schaden angerichtet hatte, der 
konnte ich gar nicht recht zu Leibe kommen, denn fie ku⸗ 
gelte fich feelenvergnügt im Kreife um mich herum und 
ſchnurrte in einem fort: „Raul, Raul, Raul!” 

Am andern Morgen fühlte idy mic, zum erftenmal im 
Leben krank. Ic, fprang aus dem Bette und wollte 
firadö zu meinem Herrmann in Buͤlows Lager vor Bers 
lin, taumelte aber zurüd und blieb liegen, bis die Fieber⸗ 
angft mid, von neuem in die Höhe ſchnellte. 

Aber audy, ald ich tags darauf ruhiger wurde, ja, je 
ruhiger ich wurde, um fo feſter wurde ich in der Er⸗ 
enntnis, daß Herrmann allein die Krife in feinem Kaufe 
beſchwoͤren könne. Ich fragte mid) faum nad) dem Wie 
und Wodurch, fo fiher war ich feiner -reinen, flarfen 
Natur. Eine weftliche Biegung entfernte mich von ber 
Marfchroute der franzöfifchen Armee, Mein Ziel war 
Berlin; vielleicht erreichte ich e& noch vor dem Zuſam⸗ 
menftoß. Pr a 

% 

Sc hatte am Morgen eben mein Bündeldhen gepackt 

und grübelte nad) einem Vorwand, ber die befchloflene 


Sechſter Abſchnitt 839 


Irrfahrt Frau Erdmuthen begreiflich machte, dem erften 
Borwand in unferem Freundedleben. Da trat fie felber 
bei mir ein, Freudentränen in den Augen, verjüngt um 
ein Sahrzehnt. 

Und wohl war ed eine verjüngende Kunde, die äber 
Nacht den Weg in unfere Heide gefunden hatte. Der 
Streid, auf Berlin war abgewehrt, der Sieg von Großs 
beeren errungen worden, felbftändig von Bülow - und 
das hieß und von Herrmann! — errungen worden vor 
der Stunde, daß berechenbar fein Bruder ihm mit dem 
Schwerte in der Hand gegenüberftehen konnte. 

„Der barmherzige Gott hat meinen Kleinglauben noch 
einmal befchämt,” fagte die edle Frau, „ich werde ihm. 
_ fortan demütiger vertrauen lernen, mein Freund.” 

Und wirklich richtete fie fidy feit diefem Tage auf. Das 
quälende Phantom vieler Jahre wich einer tröftlichen 
Zuverfidht. Mir durdhfchnittd das Herz. 

Mein Reifeplan ward durch biefe Kunde verzögert. 

Dennoch belebte fie auch mich. Der erfte errungene Lors 
beer war ein fühlendes Blatt auf die Wunde, die dem 
Kerzen bed Freundes gefchlagen werden mußte. 
Im Laufe ded Tages erfuhren wir Näheres durch uns 
feren Inſpektor, der Rauls zurüdgebliebenen Rappen, 
zum Austaufch gegen das Gutöpferd, halben Wegs nad) 
Trebbin geritten, ihn dort aber nicht, wie verabrebet, 
einem Diener, fondern dem Herrn felbft übergeben hatte. 
Die Armee war in vollem Rüdzug auf Wittenberg; Raul 
fnirfchend vor Scham und Wut. 

Die Sachſen hätten die Schlappe verfchuldet, fo fprus 
delte er hervor, die Sachſen allein. Durch eine franzss 
fifche Divifion fei das Gefecht zwar wieder hergeftellt, 


340 Fran Erdmuthens Swillingsfähne 


das Schlachtfeld behauptet worden; die Demoralifation 
der Sachſen aber fo groß, daß der Marfchall den Ruͤck⸗ 
zug geboten erachtete. Der handgreifliche Gewinn Ber⸗ 
lind wäre durch die Überrumpelung der Sachſen - vers 
eitelt nun freilich nicht — aber doch verzögert worden. 

Der ehrliche Inſpektor hatte einen Bruder beim Regis 
ment Low; noch wußte er nicht, daß berfelbe zu den 
Opfern dieſes tapferen Regiments gehörte; dennoch wies 
derholte er und jene naturmwidrige Schmähung, Tränen 
in den Augen und fchamesrot. War es denn aber wirks 
lich nur franzöfifche Eitelkeit, der fie herz- und gedanken⸗ 
[08 nachgefprochen wurde? Raul hätte in den verhängs 
nisoollen Stunden fchmwerlich noch ein Zeuge der Wahr: 
heit werden, ſicherlich an der Enticheidung nicht das 
geringfte ändern können. Aber dachte er an den Frevel, 
der ihn über Gebühr von dem Kampfplatze ferne gehals 
ten hatte? Das Gewiffen macht nidyt nur reuige Bes 
fenner, ed macht auch fchreiende Lügner aus und fün- 
digen Menfchen. 

Das Kriegegetümmel hatte ſich während diefer Tage in 
unfere Nachbarſchaft gefchoben. Zwar dedte der dichte 
Heidefchirm und gegen Often vor der rüdwärts ziehen 
den Armee; bei Süterbog? wurde aber bereitd gefämpft. 
Der Inſpektor, der aus diefer Richtung fam, verficherte, 
daß ed nur noch Oudinots Nachhut fei, welche die vers 
folgenden Koſaken erreicht hätten; wir zweifelten nicht, 
daß das Gros der verbündeten Armee den Plänflern 
auf dem Fuße folgen werde, Seder Tag fonnte Herr⸗ 
mann in unfere Nähe führen. 

In Schloß und Pfarre wurden Vorräte aufgeftapelt 
und Lazaretteinrichtungen getroffen, Tettere auch auf 


Sechſter Abſchnitt 341 


etliche geeignete Stadthaͤuſer ausgedehnt. Madame Barbe 
bewaͤhrte ein unuͤbertreffliches Organiſationstalent. 

Als ich am ſiebenundzwanzigſten zum erſten Male nach 
dem Schloſſe ging, hielt im Hofe eine kleine Wagenburg 
zur Abfahrt bereit, um Verbandzeug und Nahrungsmittel 
auf den Kampfplatz, als Ruͤckfracht aber eine Ladung 
Verwundeter in unſere Pflegeſtaͤtten zu fuͤhren. Der 
Heidefoͤrſter hatte heute fruͤh erneuertes Feuern aus der 
Gegend von Juͤterbogk gemeldet. 

An der Spitze der Kolonne, auf Herrmanns leichtem 
Korbwagen thronte zwiſchen Kruken und Kobern Madame 
Barbe, Zuͤgel und Peitſche in der Hand. Schon hatte 
ſie das Signal zum Aufbruch gegeben, als mit einem 
Heldenanlauf Freund Hecht an den Wagen trat und 
ſich zur Begleitung der Expedition gedrungen erklaͤrte. 

Der brave Direktor war, ſeit geſtern die erſten Schuͤſſe 
jenſeits der Heide gehoͤrt worden waren, aus dem ein⸗ 
ſamen Gerichtshauſe in das Schloß uͤberſiedelt. Denn 
da bis dato noch kein weltweiſer Mann geleugnet hat, 
daß der Menſch ein Geſellſchaftsweſen ſei, ſo hatte unſer 
weltweiſer Mann bei einem Maſſaker — was war Kinds⸗ 
braten liebenden Baſchkiren⸗ und Kirgiſenpulks nicht 
zuzutrauen!- doch die philoſophiſche Genugtuung, wenig⸗ 
ſtens in naturgemaͤßer Geſellſchaft maſſakriert zu werden. 
Beim Anblick der heroiſchen Amazone regte ſich nun aber 
der ritterliche Inſtinkt, den auch die reinſte Vernunft in 
gewiſſen Momenten nicht im Zaume zu halten vermag. 

„Koͤnnen der Herr Direktor auch Blut ſehen?“ fragte 
Madame Barbe in bereits voͤllig fließendem Deutſch, 
indem ſie ſtatt der Knie die Peitſche eine devote Nei⸗ 
gung vollbringen ließ. 


812 Frau Erdmuthens Iwillingsfähne 


Der Direktor erflärte, daß er zwar noch fein Blut ges 
fehen habe, mit Ausnahme etlidyer Tropfen, weldye ein 
ungefchidter Barbier feiner Oberlippe abgezapft, baß 
aber die Philofophie - - 

„Die Nerven fpotten aller Philofophie,“ unterbrach ihn 
Madame Barbe. „Der Herr Direktor werden, unmaß⸗ 
geblich, wohler tun, über dero gelehrten Aktenſtoͤßen zu 
verbleiben.” Zu mir gewendet fette fie in ihrer eignen 
Sprache hinzu: „Der Herr Direktor erfreut ſich eines 
bedeutenden Appetitd; die Frau Baronin aber wünfct, 
ihre Erfrifchungen den Verwundeten zugute fommen zu 
laſſen.“ 

Das ritterliche Intermezzo hatte einen kleinen Aufſchub 
bewirkt. Ploͤtzlich ſtutzte die Amazone. Sie horchte ge⸗ 
ſpannt nach der der Heide entgegengeſetzten freien Land⸗ 
ſeite hin. Auch vor meinen Ohren brummte es wie 
fernes Wagen⸗ und Donnerrollen. 

„Dorthin!“ kommandierte Barbe. Die Wagen lenken 
um; der der Dame ſetzte ſich wieder an die Spitze. Mich 
durchzuckte es. Wenn dort Buͤlow kaͤmpfte! Ohne Be⸗ 
ſinnen ſchwang ich mich an die Seite der tapferen Fuͤh⸗ 
rerin, wurde mit einem huldvollen Peitſchenneigen be⸗ 
gruͤßt, und dahin ging es, dem Schalle nach, auf dem 

Belziger Wege. | 
Ich hatte vorhin zum erften Dale feit jenem verhäng- 
nisvollen Abend Liska wiedergefehen; verlegen etwa? 
Fa, ich Alter vielleicht. Sie leuchtete im Stolze ihrer 
Liebe; fie brannte danach, mit dem einzigen Vertrauten 
von ihrem Gluͤck zu reden. Ich war ihr ausgewichen. 
Daß ihr Herzendfieg ein Frevel fei, daß er den Frieden, 
ja, den Beftand einer Familie bedrohe, hätte fie ja doc, 


Sechſter Ubfhnitt 813 


nicht verftanden. Menfchen der Leidenfchaft meſſen mit 
dem leichteften und mit dem ſchwerſten Maße zu gleicher 
Zeit. 

Und dennoch — oder eben darum? - vermochte ich nicht 
mit diefer Natur zu rechten. Sa, unter ihrem freimuͤti⸗ 
gen Bezeigen überfiel mich plöglich eine Sorge, welche 
Die Pein unferer Lage noch verfchärfte. Die fremde Waife 
hatte auf der Gotteswelt feine andere Zuflucht, als das 
Haus der Mutter, deren Sohn fie verraten. Durfte fie 
unter feinem Dache weilen, nach der Stunde, die den 
Verrat enthüllte? 

Zum erften Male im Leben wagte ich für die Hands 
Iungsweife meiner Freundin Erdmuthe nicht einzuftehen. 
Nun und nimmer aber, das wußte ich,-würbe fie einem 
erflärten Verhältnis zu dem Betrüger, eben weil er ihr 
Sohn war, ihren Schuß verliehen haben. Was wurde 
nun aus dem unheimifchen Kinde? Und follte ed ein 
gleiches Bedenken fein, welches Raul fo Aängftlich auf 
die Wahrung des Geheimniffes dringen ließ? 

Sch glaube es nicht. Es gab nur einen Menſchen, 
fuͤr welchen Raul eines ſorgenden Vorgefuͤhls faͤhig 
war, und dieſer eine war ſeine Mutter. Alle ſeine Be⸗ 
rechnungen gruͤndeten ſich zudem auf einen Erfolg der 
franzoͤſiſchen Waffen, der ſeinen Bruder fuͤr lange Zeit 
von der Heimat ferne hielt. Dieſe Berechnung aber war 
mit dem Ruͤckzuge von Großbeeren hinfaͤllig geworden. 
Die Sieger konnten, ja mußten jede Stunde in unſerer 
Naͤhe erwartet, die heilloſe Lage konnte, ja mußte jede 
Stunde der Mutter offenbar werden. Auch die Ents 
fheidung über Liskas Zufunft fah ich daher in Herr⸗ 
mannd Hand gelegt, und audy"diefe mit Vertrauen. 


844 Frau Erdmuthens Swillingsfähne 


In ſolcher Stimmung trat ich, gedruͤckt und geſpannt 
zugleich, meine Schlachtenfahrt an. Ich hegte keine Luſt, 
mich zu unterhalten, und ſtellte mich angegriffener, als 
ich in Wahrheit noch war. 

Indeſſen hatte ich bei dieſem Spiel den Spuͤrſinn 
meiner Nachbarin außer Rechnung gelaſſen. Kaum zehn 
Minuten, und ihre Zunge war in vollem Zuge, meine 
Ohren, und wenn ich ihrer ein Dutzend gehabt haͤtte, 
waren es aber auch. 

Madame, in ihrer allerhoͤflichſten Manier, bat zuvoͤr⸗ 
derſt ums Wort; darauf um Entſchuldigung, mich, gegen 
ihr eigenes Dafuͤrhalten, in einer bewußten Angelegen⸗ 
heit leider nicht voͤllig der Wirklichkeit entſprechend be⸗ 
raten zu haben; endlich um die Erlaubnis, mir ihre un⸗ 
maßgebliche Meinung uͤber den gegenwaͤrtigen Stand 
und die allein moͤgliche Loͤſung der bewußten Angelegen⸗ 
heit vortragen zu duͤrfen. 

Sie geſtand von vornherein zu, den kirchlichen Einfluß 
auf Mademoiſelles Seelenheil ein wenig zu hoch an⸗ 
geſchlagen zu haben; bei weitem zu niedrig aber den 
Reiz der Gelegenheit des ſtuͤndlichen Beieinanderſeins, 
und ſo weiter und ſo weiter. Indeſſen halte ſie auch 
heute noch die Sache fuͤr einen Zeitvertreib, fuͤr eine 
Belleite, gegen welche im Grunde ſelber ein ſtrupuloͤſer 
Eheherr wenig Erhebliches einzuwenden haben dürfte. 
Das einzige Gluͤck für Mademoifelle fei und bleibe ber 
Herr Baron. 

„Sie fchütteln unmwillig den Kopf, mein Herr," fagte 
fie. „Der Herr Obriftleutnant meinen Sie? Sie fchäts 
teln wieder. Gut; fo find wir einig. Das heißt: Mon; 
fteur und mein Sure. Mademoifelle heiratet feinen von 


nor Sechſter Abſchnitt 315 


beiden. Sagen wir, vor der Hand feinen von beiden. 
Mademoiſelle begleitet mich zuruͤck nach Frankreich.“ 

„Das wäre ganz gut,“ verfeßte ich, „aber Mademoiſelle 
hat keine Angehörigen in Franfreich, und in den Schuß 
welches Hauſes würden Sie fie zu ftellen haben, Mas 
dame Barbe?“ 

„Monfteur werden mir die Genugtuung gewähren, vors 
anuszufegen, nicht unter den Schuß meines eigenen Haus 
ſes,“ entgegnete Madame Barbe mit einer Peitfchen: 
fenfung. „Sch weiß, was fich ziemt. Ich habe etwas 
übrig für Mademoifelle, in jedem Sinne übrig, mein 
Herr. Audy würde eine ſolche Einladung nicht unſtandes⸗ 
gemäß für die Tochter eines Kapitänd unferer Armee 
zu nennen fein. Monfieur Barbe war Offizier, er würbe 
ed hoch gebracht haben; und mein Sohn ift Cure. Aber 
Mademoifelle ift die Pflegetochter, die ermählte Schwie- 
gertochter der Chätelaine von Arnheim, und ich war 
Bivandiere. Mademoifelle wird meine Schwelle nicht be⸗ 
treten; Mademoifelle geht ind Kloſter.“ 

„Ind Klofter!” rief ich, trog aller Verlegenheit ents 
feßt. Der große Martin Luther bäumte fich auf in dem 
Meinen fächfifchen Magiſter. Raſch aber befann ich mich 
und verfegte lachend: „Schon recht, Madame Barbe. 
Nur leider, daß Sie in Frankreich Feine Klöfter mehr 
haben.“ 

„Berzeihung, mein Herr, noch nicht wieder haben, 
fagt mein Eure,” entgegnete Madame Barbe. „Aber 
Monfieur find im Recht; ich hatte mich voreilig auds 
gedrückt. Ich bitte daher um die Gnade, mich etwas 
außführlicher vernehmen laſſen zu duͤrfen.“ 

Sie erzählte darauf, daß fie infolge bedenklicher Wahrs 


846 Fran Erdmuthens Smwiltingsfähne 


nehmungen DMademoifelled Reifebriefe ihrem Sohne ges 
ſchickt und diefer feinen Befcheid nicht verzögert habe. 
„Er ift mein Beichtvater, mein Kerr, er erteilt mir die 
geiftliche Direktion. Bis jegt nur noch brieflich; bald 
aber, er dringt darauf, aud) von Mund zu Mund.“ 

Sie zog bei diefen Worten einen Brief hervor, den fie 
zur Beglaubigung mir überreichte, während fie feinen 
Inhalt Wort für Wort mir vorbeflamierte. Sie ver⸗ 
fiherte, alle Briefe ihres Cur& fo lange zu fludieren, 
bis fie ihren Inhalt auswendig wüßte. 

(Beiläufig: ift das savoir par coeur nicht ein Ausdrud, 
um den wir unfere Nachbarn beneiden dürfen? Wenn 
der unfrige doc; wenigftend inwendig lernen oder ins 
wendig wiffen lautete.) 

„Sn Ermanglung und in Erwartung vom Staate an 
erfannter Klöfter” — fo fchrieb mein Fathofifcher Amts 
bruder, augenfcheinlich an eine andere Adreffe als die 
nominelle ſeines mütterlichen Beichtkindes gerichtet — 
„haben fich freiwillige Gemeinfchaften gebildet mit halb⸗ 
geiftlicher, halbweltlicher Obfervanz. Damen jedes Als 
ters ziehen ſich zeitweife oder auch lebenslang in ſolch 
ein Afyl zurüd: Witwen, Getrennte von Tifch und Bett, 
Unverheiratete, Berlaffene, die den geziemenden Platz in 
Familie und Welt verloren oder nicht zu finden gemußt 
haben. Keine Gefellfchaft wird für die höheren Stände, 
deren Zuchtmeifter nicht die Arbeit ift, Derartige Zufluchts⸗ 
ftätten entbehren können, auch der Proteftantismus fich 
ihrer Notwendigkeit — wie mancher anderen — wieder 
beugen lernen. Die Damen find durd, fein Gelübde ges 
bunden, das ja überdies der erfte befte Gensd'arme zu 
annullieren dad Recht hätte: fie haben zu jeder Zeit Die 


Sechſter Abſchnitt 347 


Freiheit auszuſcheiden, leben in einem Penſionat und 
zahlen Koſtgeld nach ihrem Vermoͤgen.“ 

Es folgte hierauf eine Schilderung derartiger Laiinnen⸗ 
gemeinſchaften in verſchiedenen, dem Herrn Curé be⸗ 
kannten, ſuͤdoͤſtlich franzoͤſiſchen Plaͤtzen, die an Genauig⸗ 
keit nichts zu wuͤnſchen uͤbrig ließ. Ein Beweis mehr, 
daß noch andere als die aufs Wort glaubende Mutter 
von den Vorzuͤgen dieſer Inſtitute uͤberzeugt werden 
ſollten. Ein beſonderes Augenmerk aber war auf eines 
derſelben gerichtet, das die verwitwete Graͤfin von Saint 
Maximin in ihrem nach der Revolution wieder angeeig⸗ 
neten Schloſſe unter Mitwirkung des Herrn Curé An⸗ 
ſelme gegruͤndet hatte. Lokal⸗ wie Perſonalverhaͤltniſſe 
in demſelben waren anſchaulich und einladend dargeſtellt, 
auch ein eigenhaͤndiges Schreiben der Graͤfin douairière 
an die Frau Baronin Roc von Feld beigefügt, in wels 
chem fie, wie der Herr Curé bemerfte, ihrer verwaiften 
Landemännin den Schutz jened Aſyls zur Verfügung 
ftellte, fall& diefelbe ein geiftiged oder leibliches Heim⸗ 
weh empfinden und ihre großmütige Pflegemutter geneigt 
fein follte, die fehnfüchtige Stimmung zu befriedigen. 

Sm Herzkaͤmmerlein des proteftantifchen Magifters hielt 
während diefes langen Vortrags der Ehegemahl Kathas 
rina von Boras einen gar bedenklichen Rüczug und bie 
Communaute von Saint Marimin Iodte verführerifch 
von bem weinumrantten Felfen der Dauphind. „Kommt 
Zeit, fommt Rat!“ fagte ich möglichft gleichgültig, ins 
dem ich bat, das Schreiben der frommen douairitre nicht 
ohne vorherige Ruͤckſprache mit mir an feine Adreffe ab» 
zugeben. Madame Barbe war damit einverflanden. 

Die kluge Dame, ich merfte ed wohl, interpretierte die 


348 Frau Erdmuthens Iwillingsfähne 


geiftliche Direktion ihres Seelforgerd nad; ihren eigenen 
weltlichen Wünfchen. Sie gedachte, in jenem wohl» 
anftändigen Afyle nur ein wenig Gras über die Velleite 
ihrer kleinen Landsmaͤnnin wachen zu Iaffen, um der- 
felben die deutfche Baronie und ihrer eigenen Perfon 
den anheimelnden Poften einer Schloßverwalterin für 
bie Zufunft offen zu halten. Ihr Sohn dahingegen, ob- 
ſchon er von unferen jüngften häuslichen Vorgängen 
noch nicht unterrichtet war, hatte die Miffion bei dem 
deutfchgewordenen Hugenotten ald ausſichtslos aufges 
geben, — falls diefe Miffton jemals außerhalb einer ge- 
wiſſen proteftantifchen Phantafie gehegt worden fein follte. 
Mochte in letter Inftanz die geiftliche Heimführung bes 
franzöfifch gefinnten Saint Roc dem eifrigen Herrn ale 
Stufenbau in den Himmel vorfchweben, in erfter In⸗ 
ftanz war ed doch nur die Erhaltung des jungen Maͤd⸗ 
chens in feiner angeftammten Kirche, die ihn zu den be⸗ 
fannten Heilsvorſchlaͤgen trieb. Und wer hätte ihm das 
Recht zu benfelben beftreiten mögen, vorausgefegt , daß 
die Glaubenögenoffin im Herzensgrunde mit ihnen eins 
verflanden war? ein proteftantifcher Amtsbruder ges 
wißlich nicht. 

Freilich mußte derfelbe fich fagen, daß der Heine Stoͤren⸗ 
fried unferes Hauſes in feiner gegenwärtigen Verfaffung 
weit eher unter bad Marketenderzelt der Witwe des 
Sousleutnants flüchten ald fich von deren Sohne über 
bie Schwelle eined Kloſters ber Zufunft führen Laffen 
werde. Es gab auf der Welt nur einen Menfchen, ver 
in einem aͤußerſten Kalle Lisfa zu diefer Ausflucht hätte 
bewegen können, und während ich fo gleichgültig: „Kommt 
Zeit, kommt Rat“ murmelte, überlegte ich bereits im 


Schfter Abſchnitt J 349 


ſtillen, wie ſich Rauls Einfluß zur Verwirklichung des 
katholiſchen Projektes gewinnen ließe. Das iſts, was 
man Konſequenz nennt, meine Freunde! 

Ein immer naͤheres, ſtaͤrkeres Gewehr⸗ und Geſchuͤtz⸗ 
feuer hatte dieſe kloͤſterlichen Erwaͤgungen begleitet. Nun 
ſtanden wir vor dem Terrain, auf welchem der Kampf 
am Nachmittage entbrannt war, und wie Spinnweben, 
wenn eine Windsbraut uͤber die Erde fegt, wurde alles 
perſoͤnliche Herzeleid von der entfeſſelten Furie fort⸗ 
geriſſen. 

Welche unheimlichen Gewalten hatte ich in meiner hei⸗ 
miſchen Heide doch ſchon wuͤten ſehen: Wolken⸗ und 
Windsbruch, Schneetreiben und Waldbrand; ich hatte 
die Bewohner aͤchzen hoͤren in Fieberſeuchen und Hungers⸗ 
not. Heute zum erſten Male ſah ich die Heide in Blut, 
und was ſind alle Naturgewalten neben der, welche 
Menſchen widereinander treibt ohne Wahl, mit Wut, mit 
Luſt; die den Haß zum Ruhm, den Mord zur Tugend 
macht! Iſt es in Wahrheit denn aber eine Elementar⸗ 
gewalt, die unuͤberwindliche Gewalt des eingebornen 
Bluts? Iſt es nicht vielmehr eine Ausgeburt, ein beſtiali⸗ 
ſcher Reſt aus dem Erſtlingsringen um die menſchliche 
Exiſtenz, welchen einſtige Geſchlechter nicht mehr ver⸗ 
ſtehen und doch beſtehen werden, wie wir Jetzigen manche 
Barbarei vergangener Geſchlechter nicht mehr verſtehen 
und erſt recht beſtehen? 

Das blutige Handgemenge von Hagelsberg iſt hiſtoriſch; 
mit der Geſchichte der Zwillingsbruͤder hat es nichts zu 
ſchaffen; weder Buͤlow noch die Sachſen kaͤmpften in 
dieſen Stunden. Wohl aber ſtanden Deutſche gegen 
Deutſche auch hier; Neulinge in den Waffen auf beiden 


850 Frau Erdmuthens Iwillingsfähne 


Seiten: märfifche Wehrmänner gegen rheinifcye Refruten. 
War ed Raul, der dem armen jungen Blut neulidy den 
Befehl zum Aufbruch gebradyt hatte? Zum Aufbruch in 
den Untergang, hart an ber Grenze feined mütterlichen 
Grundes? 

Solange meine Augen offen ſtehen, wird es vor mir 
leben als ein Gleichnis der Hoͤlle, wie Menſchen von 
Menſchenhand, Chriſten von Chriſtenhand, Volkesbruͤder 
von Bruderhand gemetzelt wurden mit raſender Gier, 
zwiſchen Mauern zerquetſcht, mit den Kolben nieder⸗ 
geſchlagen; wie die Wut zehnfaͤltig wieder einbrachte, 
was das Ungeſchick an Wunden ſparte. 

O, du Unendlicher! Die hier unten erſtarrt liegen, die 
Waffe feſt in der gekrampften Fauſt, Zorn und Haß in 
den Furchen der Stirn, iſt der Grimm mit ihrem Lebens⸗ 
ſafte verſtroͤmt? Werden ſie droben weiterleben als 
Bruͤder Hand in Hand? Werden ihre Enkel hienieden 
Maͤnnertugend ohne Blutesprobe erlernen? 

Die Hilfe, die wir brachten, glich einem Tropfen auf 
gluͤhendem Stein. An keiner Einrichtung deutlicher als 
an denen der Verwundetenpflege ließ ſich erkennen, daß 
nie ein aͤrmeres Volk als das preußiſche von 1843 ſich 
fuͤr ſeine Freiheit erhoben hat. Rechnet dazu die duͤrf⸗ 
tige Landſchaft, die Ferne einer groͤßeren Stadt, und 
daß es zwei vereinzelte Truppenteile waren, die abge⸗ 
trennt vom Hauptquartier aus Zufall aufeinanderſtießen. 
Es fehlte an allem und jedem; im Umſehen waren unſere 
Wagen mit jammervollen Menſchentruͤmmern uͤberfuͤllt. 

Unvergeſſen aber ſoll es ſein und laut geprieſen, wie 
beherzt und geſchickt in dieſem Wirrſal von Elend die 
alte Vivandiere ihre Haͤnde geregt hat ohne Wahl von 


J 


Sechſter Abſchnitt 851 


Freund oder Feind; wie fie hohen Hauptes einherfchritt 
zwifchen Krüppeln und Keichen, zwifchen fliegenden Kus 
geln und Kofafenpferden, zufammenftärzenden Mauern 
und brennenden Balken, würdig ded Marfchalld, der in 
dem Soudleutnant Barbe bei Marengo in die Grube 
geſenkt worden war. Haͤtte der fromme Kerr Eure bie 
Mutter im Belziger Bufche gefehen, er würde ihr als 
Vorftufe zum Himmelreich das Schlachtfeld auch ferners 
hin geftattet haben. 

Es gab nun Arbeit volauf. Am anderen Tage wurde 
eine zweite Ladung herbeigeführt, jammervoller noch ala 
die erfte; denn vierundzwanzig Stunden hatten in den 
offenen Wunden gewählt. Mancher halb Verſchmach⸗ 
tende ſchleppte fich blutend in unfer Afyl. Der brave 
Direktor ließ mit philofophifcher Ergebung auch das 
Gerichtshaus in ein Lazarett umwandeln und ſich, famt 
Aktenbündeln und der Kritif der reinen Vernunft, auf 
ein Bodenkaͤmmerchen dicht neben dem feiner Keroine 
befchränfen. Der Doftor fehlte allerorten. Madame 
Barbe hätte jegt nicht an die Beichtreife denken dürfen; 
aber fie dachte auch nicht daran. Noch nie hatte ich den 
teueren Vaterrod fo oft angetan, als in diefen Tagen 
der Tröftung und Beftattung, und noch nie hatte das 
Herz mir fo frampfhaft darunter gezittert. Der alte 
Gottesacker ward gefüllt bis auf wenige Pläße, bald 
würde ein Afternbeet des Klofterhofd in ein erftes Grab 
verwandelt werben müffen. 

Segen unfer Erwarten blieb alle Spur und Kunde vom 
Nachrüden der Sieger von Großbeeren noch tagelang 
aus; nur die von Hagelsberg hielten den behaupteten 
Poſten feft, und Kofafenhaufen fchwärmten bis in bie 


852 Frau Erdmuthens Iwillingsfähne 


Juͤterbogker Gegend. Ohne ed zu begreifen, - wir waren 
feine Strategen! — vermuteten wir allen Ernfted ben 
Kronprinzen in bie fo widerwillig aufgegebene Stellung 
vor Berlin zurücigefehrt. Gerüchte von einem erneuten 
Anſchlag des Kaiferd auf die preußifche Hauptſtadt ließen 
und diefe Ruͤckwaͤrtsbewegung zwar nicht fiegerifch, aber 
doch erflärlich erfcheinen. 

Auf diefe Gerüchte hin machte ich mich, bevor der Weg 
mir gänzlich verfperrt fein würde, an einem der nädhften 
Tage auf den Weg nach Wittenberg. Es mangelten ung 
manche Lazarettbebürfniffe, die ich dort einhandeln zu 
tönnen hoffte; der dringendfte Anlaß war mir aber eine 
Ruͤckſprache mit Raul, der fo wenig wie fein Bruder 
von ſich hatte hören laſſen. 

Mein Neifebegleiter war der alte Schäfer Kietz aus 
Kieß, dem die Hirfchfeldfchen von feiner anvertrauten 
Herde feinen Schwanz, von feinem Privateigentum aber 
doch eine Wurft übrig gelaflen hatten. Die Wurft gönnte 
er ben Preußen nicht; Zeit hatte er auch; fo überfiedelte 
er denn, feinen Befigftand in der Tafche, zu und, wo 
Frau Erdmuthe, feitdem fie den Opfertod feines Sohnes 
für den ihren erfahren, ihm einen Ruheplatz eingerichtet 
hatte. Kann aber einer ruhig fißen bleiben, der fechzig 
Jahre lang von Sonnenaufgang bis ⸗untergang hinter 
einer Herde im Sande „gelatſcht“ iſt? Der Kietz aus 
Rietz latſchte ohne Herde weiter, aus purem Plaͤſier. 

Heute zum erſten Male im Leben fuhr er aber ſtolz in 
einer Kutſche. Da er ſelber keine Nahrungsſorgen mehr 
hatte, gedachte er ſein Eigentum als Schenkung unter 
Lebenden ſeinem einzigen Leibeserben, der mit den Ep⸗ 
ſchelwitzſchen im Lager vor Wittenberg ſtehen ſollte, aus⸗ 


Sechſter Abſchnitt 353 


zuhaͤndigen; gelegentlich auch dem „Wohltaͤter“ einen 
Dankbarkeitsbiſſen zu koſten zu geben. Der „Wohltaͤter“, 
das war der Sohn der Wohltaͤterin, die es dem Kietz 
aus Rietz fuͤr ſeine alten Tage ſo bequem gemacht hatte, 
daß er nur noch zum Plaͤſier im Sande zu latſchen 
brauchte, und wird der Kietz aus Rietz wohl der einzige 
Menſch geweſen ſein, der unſeren Raul, trotz ſeiner 
ſplendiden Soldatenlaune, „Wohltaͤter“ benamſet hat. 

Hinter Kroppſtaͤdt, wo unſer Weg in die Wittenberger 
Chauſſee einbog, ſtieg der alte Schaͤfer aus. Die Kal⸗ 
daunen wendeten ſich ihm um, meinte er. Ob vom 
fixen Fahren, wie er ſelber dafuͤrhielt, oder von auf⸗ 
geregter Galle gegen den Schinderhannes, den er ſo bei 
Wege nach Herzensluſt wohl ein dutzendmal unter das 
Hackebeil geliefert hatte, waͤre der Diagnoſe unſeres 
Phyſikus zu uͤberlaſſen geweſen. Freund Kietz kam, auf 
Feldwegen latſchend, wohl auch noch zeitig genug an 
ſein Ziel, und wenn nicht, war morgen ja auch noch 
ein Tag und ein Stoppelacker, mit einer Rauchwurſt als 
Pfuͤhl, beileibe kein veraͤchtliches Schaͤferbett. 

Ich hatte meine liebe, alte Lutherſtaͤtte ſeit dem Zers 
ftörungsbrande der Franzofen während der preußifchen 
Belagerung im April nicht wiedergefehen. Heute, ach, 
welch ein Elendebild! Die Univerfität war nach Schmiedes 
berg geflüchtet, dba der große Kaiſer ja defretiert hatte, 
daß die fächfifche Kurftadt ftatt eine Kochfchule der 
Wiffenfchaft eine der Kriegswaffen werden müffe, - Gott 
ſeis geflagt, daß ed nach dem Frieden, unter unferem 
neuen proteftantifchen Herrn, bei dem Dekret geblieben 
ift! — die ehrwürbige Kirche war ein Vorratöfchuppen 
geworben, die Borftädte Tagen in Trümmern, Haus bei 
xx. 23 


554 Frau Erdmuthens Iwillingsfähne 


Haus herrfchten Hunger, Seuchen, Verzweiflung in jegs 
licher Geftalt. Lazarettgegenftände wurden gebraudht, 
aber nicht verhandelt. 

Die Armee ftand feit dem Rüdzuge zufammengebrängt 
diegfeitö der Stadt in einem Lager, das ich paſſieren 
mußte. So ftieß ich auf verfchiedene fächfifche Offiziere, 
die mir ald Quartiergäfte von Arnheim befannt waren, 
und erfuhr von ihnen, daß Raul zum Obriften und Koms 
mandeur eines Küraffierregimentsernanntworbenfei. Sch 
fpürte mandherlei Verftiimmung gegen ihn. Vielleicht nur 
aus Eiferfucht über feine unerhörte Bevorzugung, mögs 
lich aber auch wegen feiner rüdfichtslofen Befchuldigungen 
nach dem Unftern von Großbeeren. 

Überhaupt fam mir vor, ald ob eine antifranzöfifche 
Gaͤrung zu brüten begänne; in der Stadt, die ich uns 
gehindert betreten durfte, war fie allgemein. Man mun⸗ 
felte von einem baldigen Wiedervormarfch, der fchon 
durch Mangel und Krankheiten geboten erfchien. Doms 
browskis Polen hatten die geriffene Luͤcke ergänzt, ber 
Herzog von Reggio war zum Korpsfommandeur eins 
gefchrumpftz der tapfere Ney, ja der Kaifer felber wurde 
als Oberanführer erwartet. Ob aber von neuem Berlin 
oder ob Dresden das Ziel fein werde, Bernadotte oder 
Schwarzenberg ber Gegner, dem man zu Leibe rüde, 
darüber herrfchten Zweifel. 

Raul traf ich nach dem Mittagstifch noch im Wirtes 
haufe in der Stadt. Ich hatte wohlweislich den Paten 
Magifter zu Kaufe gelaffen und mir eine rein gefchäfts 
fihe Abmachung einftudiert; auch Raul fand diefen Ton 
bequem. Dennoch habe ich niemals wie in diefer Stunde 
erfahren, wie ſchwer es ift, felber für bewegliche Naturen, 


Sechſter Abſchnitt 855 
über eine Schicht hinwegzufeßen, die fich zwifchen zwei 
zur Vertraulichkeit berufenen Menfchen aufgetürmt hat. 

Ich begann meinen Vortrag mit der Erwägung, daß 
die veränderte friegerifche Lage Herrmann jede Stunde 
auf dem Durchmarſch in feine Heimat führen könne. 
Raul bezweifelte ed. Der Kaifer werde früher an ber 
Spree ald der Gascogner an der Elbe ftehen, meinte er. 
Zu meiner Auffaffung, daß nach der Enthüllung, gleich⸗ 
viel von welcher Seite fie kommen möge, Fräulein Liska 
ihren Plag im Haufe der Mutter nicht länger werde bes 
haupten koͤnnen, zudte er fchweigend die Achſeln. Feuer 
und Flamme aber wurde er bei dem Plane von Mades 
moifelled Ruͤckkehr nad Frankreich und, in Ermangelung 
eines fchicklichen weltlichen Unterfommeng, des ihres Eins 
tritts in die Flöfterliche Communaute von Saint Marimin. 
Er kannte dem Namen nad die alte Familie der Gräfin, 
wußte im Lager einen Almofenier, der, aus jener Öegend 
ftammenbd, ihm zuverläffige Ausfunft über dag beſprochene 
Aſyl gewähren fünne, verfprach, was ja mein Haupt⸗ 
anliegen war, unverzüglich an hervorragender Stelle 
einen saufconduit für die reifenden Damen zu erwirfen 
und ihn ficher in meine Hand zu befördern. Er war 
wie eleftrifiert; am liebften hätte er die Geliebte heute 
noch in einen Luftballon gefegt und über Sura und Alpen 
in dad Klofter der Zukunft fliegen laſſen. Nur fort aus 
feiner Mutter Haufe, fo raſch als möglich fort! Liska 
zur Abreife zu bewegen, hielt er für finderleicht; auf 
eine Feine religiöfe Komoͤdie der Mutter gegenüber fam 
ed ihm nicht an. 

Ic fragte, wie er es zu bewerfftelligen gebente, feinen 
Einflup für Liskas baldige Abreife geltend zu machen, 


6 


356 Frau Erdmuthens Zwillingsfdhne 


worauf er lachend entgegnete, daß troß der plänfelnden 
Kofaken ein Ritt von Wittenberg nad Arnheim ihm 
fein Heldenſtuͤck erfcheine. 

Diefem durchaus nicht wünfchenswerten Intermezzo vor⸗ 
zubeugen, brachte id; eine briefliche Verftändigung und 
den Tag für Tag in diefer Gegend umbherftreifenden, 
unverfänglichen Schäfer Kieß aus Niet als Postillon 
d’amour in Vorfchlag. Derfelbe würde Brief und Ges 
leitfchein im Förfterhaufe niederlegen, von wo fie durch 
meine Vermittelung an ihre Adreffe gelangen follten. 

„Tant mieux!* fagte Raul. Er zweifelte nicht, fchrift- 
lich ebenfo ficher zum Ziele zu fommen, und fchien nadı 
einem Wiederfehen der Geliebten nicht das leifelte Vers 
langen zu fpüren. Wie die Sprache, die er die feine 
nannte, ein Wort für Sehnfucht nicht befißt, fo war 
Raul eine von den Naturen, die den Begriff derfelben 
in ihrem Innern nie erfahren haben. Sie lieben, folange 
fie fehen, und lieben wohl auch wieder, fobald fie wieder 
fehen. In der Zwifchenzeit behelfen fie fich ohne Liebe, 
oder mit einer anderen Liebe, welche Ießtere durchaus 
nicht fchlechthin eine Untreue genannt werben fol; weit 
eher eine Liebhaberei. Auc, Rauld Entfremden von 
feinem Bruder war eine Folge der äußeren Trennung. 
Herrmanns Abfonderung dahingegen würde auch im 
Zufammenleben, ja da erft recht, unvermeidlich gewefen 
fein. 

Mit diefem Abkommen fchieden wir. Wenn wir um 
einen Roßfauf miteinander zu verhandeln gehabt hätten, 
würden wir ung nicht nüchterner gegenüber gefeffen haben. 

In der Nacht zuruͤckkehrend, fand ich unfern Ort plög- 
lich von Preußen überfchwemmt. Buͤlowſche Vortruppen, 








Sechſter Abſchnitt | 837 


die im Laufe ded Tages auf der Straße nad Witten 
berg weiterzogen. Oppenſche Schwadronen loͤſten fie 
ab. Bülow nahm für die Nacht Quartier im Schloß. 
Herrmann war nicht mit ihm. 

Er habe bei Großbeeren mit Bravour gefochten, fein eifer> 
ned Kreuz verdient, meinte der General und bebauerte, 
daß er ihn juft in diefen Tagen habe abfommandieren und 
die verehrte Mutter eines kurzen, ſtolzen Wiederfeheng 
berauben müffen. 

Durch meinen Bruder erfuhr ich fpäter, daß Herrmann, 
als Führer einer fliegenden Kolonne, den Auftrag hatte, 
mit dem von Often herbeiziehenden Tauengienfchen Korps 
Fühlung zu erhalten. Mich korrekt ftrategifdy auszu⸗ 
drücken, habe ich von dem Älteften in weiland Safran> 
drell gelernt) Als man dann fpäter den Aufbruch der 
Neyfchen Armee aus dem Lager vor Wittenberg erfuhr, 
da lag ed dem Landedfundigen ob, die eingefcdjlagene 
Richtung auszuforfchen. 

Bei aller, ein wenig althöftfchen Galanterie gegen die 
Dame ded Haufes bemerften wir an unferes Herrmann 
hohem Gönner und Freund die unverhohlen allerübelfte 
Generaldlaune. In beißenden Anekdoͤtchen und Aperçus 
fprudelte er bei Tafel einen Hohn und Grimm gegen „den 
ſchwediſch gegerbten gascognifchen Bocksbeutel“ aus, wie 
ein franzöfifcher Kamerad fie faum in ftärferem Maße 
gegen den abtrünnigen Marfchall hätte aufbieten koͤnnen. 
Er bewirkte mit diefen Sarfasmen, daß uns früher als 
manchen anderen, die wie wir in Kriegs⸗ und Staats⸗ 
funft Stümper waren, ein Heldenglaube getrübt ward, 
Dem wir um bed Vaterlandes und um unferes Freundes 
willen doppelt hätten Raum geben mögen. 


B58 Frau Erdmuthens Swiltingsfähne 


Bei alledem tat ed indeffen doch gar wohl, bad Lob bes 
Freundes am anderen Tage auch noch aud dem Munde 
unferes geftärzten Helden zu vernehmen. Weldye Mutter 
wuͤrde ed nicht erquict haben, unter den Ahnenbildern 
ihres Hauſes ihren Erben von dem Erben eined Thrones 
„einen Typus germanifcher Straft und Schönhelt an Leib 
und Seele” nennen zu hören? Daß im Verlauf der 
Zafel der beredfame Hoͤchſtkommandierende nicht wie fein 
deutfcher General die Gutöherrin mit ftrategifch politi⸗ 
[chen Aphorismen unterhielt, fondern eine Parallele lands 
wirtfchaftlicher Betriebfamfeit zwifchen Schweden und 
Deutfchland zum beften gab, fanden wir in der Ordnung. 

Tags darauf wurde aud) bad Hauptquartier weiter nach 
Süden hin verlegt; und verblieb nur ein Teil der ſchwe⸗ 
difchen Nachhut. Da General Hirfchfeld aber feine Stel⸗ 
lung im Norden beibehielt, von Oſten her Tauengien 
ſich näherte, faßen wir rings von einem feindlichen Wafs 
fenwall umfchloffen und erwarteten mit Herzklopfen, ob, 
wann und wo bie, zu welchen unfere Randesbrüder ges 
hörten, fich eine Straße brechen würden. 

Die fonft im Gefelligen nicht ffrupulds wählende Liska 
verweilte während der Anmefenheit beider Feldherren 
ftill in ihrem Zimmer, und hielt Frau Erdmuthe der Frans 
zöfin zugute, was der Tochter des Hauſes verübelt wers 
den konnte. 

„Es ift feine heuchlerifche Aber in dem Fleinen Herzen,“ 
fagte die Mutter lächelnd. „Würde es ihr fchon ſchwer 
angefommen fein, den fürzlichen Sieger über ein kaiſer⸗ 
liches Heer zu begrüßen, fo hätte Die Begegnung mit einem 
Abtrünnigen ihres Baterlandes fie geradezu empört. Takt 
genug, daß fie fich ſchweigend zuruͤckzog. Ich preife aber 


Sechſter Abfchnitt 359 


body meines Sohnes richtiges Gefühl, ald er gegen meis 
nen Wunfch das Kind nicht früher zu der Seinen machen 
wollte, bi8 e& annähernd die Unfere geworden ſei.“ 

„Liska wird in Herrmanns Sinne nun und nimmer 
die UInfere werden“, entgegnete id). 

„Nicht früher wenigftend werden, bis wir in friedliche 
Zeiten dauernd eingelen?t find”, fagte die Mutter mit 
einem Seufzer. 

Ich Tieß den Gegenftand fallen, wenngleich ich fpürte, 
daß Liska ſich mit feinem Atemzuge um befiegte oder 
abtrünnige Marfchälle kümmerte. Sie hatte nur noch 
einen Helden, und der hieß Raul; nur nody ein Vaters 
land, in welcher Zone ed liegen mochte, das ihres Raul; 
fie blickte nur nad) einem Sterne, dem Sterne Rauls. Ya, 
wenn fie überhaupt einen Schußgeift angerufen hat in 
biefer Zeit, fo trug ber Heilige den Namen Raul. Die 
Strahlen ihres Herzend zogen fidy in dem einen Bilde 
zufammen wie die Pupille vor dem Sonnenlicht. Leife 
und langſam ging fie in der Dämmerung nad) der Ka⸗ 
pelle, wo fie zulegt ihres Glüdes froh geworden war, 
faß fill für fi in der Gartenlaube oder in der Fenfters 
nifche. Bei Abend lag fie fchweigend in der Sofaede, 
bie Augen gefchloflen, die ſchwellenden Lippen halb ges 
öffnet; wadhend und fohlummernd träumte fie von Raul. 


% * 
» 


Es war am 4. September, ald die Mutter mir vors 
ftehende Bemerkung machte. Übermorgen würde nad) 
alter Regel dad Dank» und Freudenfeft auf Arnheim ges 
feiert worden fein. Heuer aber, wo unfere Ader von 
Hufen zertreten, Scheuern und Ställe auögeleert waren, 


360 Frau Erdmuthens Zwillingsfähne 


wo nur der Tod eine reiche Ernte auf unferer Flur ges 
halten hatte und die Söhne des Hauſes ſich mit den 
Maffen in der Hand harſch gegenüberftanden, heuer 
dachten wir nicht an Feltefeiern. Nach dem Sonntagss 
gottesdienft ein Gebet für die Erhaltung der Zwillinge 
brüder und die Eintracht ihrer Herzen inmitten des Schick⸗ 
faldfampfes, fo hatte ed die Mutter verordnet, ehe ich 
mid; am Abend von ihr trennte. Arme Mutter! Noch 
ahnteft du den Zwiefpalt nicht, den nur ein Gotteswuns 
der in Wiedereintradhyt verwandeln fonnte. Mich fraß 
es wie eine Lüge, Unmögliches an heiliger Stätte erflehen 
zu follen. 

Schweren Herzens ging id) durd; die Ulmen heim. Den 
Auguftfirömen war eine frühe Sturmzeit gefolgt; es 
braufte von der Heide herüber; am Simmel fcheuchten 
Wolken über die aufglimmenden Sterne. cd, grübelte, 
wie ich Herrmann erreichen könne, ehe fein Truppenteil 
diefe Gegend verlaffen habe. 

Da, nahe meinem Haufe, fühlte idy mich jählings von 
ein paar gewaltigen Soldatenarmen eingepreßt, die Backen 
von einem urmwäldlichen Soldatenbarte zerkratzt. 

„Hurra!“ fchrie Held Gottlieb mit jauchzendem Baß. 
„Hurra, Öruderherz! Vater Bluͤcher hat die Franzofen 
aus Schlefien hinausgeworfen!“ 

„Und wo fteht dein Herr?" fragte ich. 

„Unverbefferlicher Magifter!” fchalt Tachend Ehrenlieb. 
„Sin Hurra auch unferem Herrn! Wo er zur Stunde 
aber fteht, fann bir und mir ja wohl gleichgültig fein. 
Auf dem Anftand gegen den Feind, des fei gewiß. Für 
morgen nachmittag bin ich zu ihm ind Quartier des 
Generals befohlen.“ 


Sechſter Abſchnitt 361 


Morgen endlich, morgen wußte ich ihn zu erreichen und 
war entſchloſſen, nicht zuruͤckzukehren, bis ich die Laſt 
meines Herzens auf das ſeine gewaͤlzt. Morgen! 

Der wohlbekannte Verwalter kam in die alte Heimat, 
wie er ſagte, als Bettelmoͤnch fuͤr ſeine Schwadron. 
Denn die Brotbeutel waͤren leer und eine wuchtige Fauſt 
taͤte in dieſen Tagen wieder not. 

Ach, viel in den Bettelſack zu ſtecken hatte der nordiſche 
Heuſchreckenſchwarm bei uns freilich nicht uͤbriggelaſſen! 
Bei gutem Willen geht es ja aber heute noch wie mit 
den Broten und Fiſchen im Evangelium. Hatten wir 
keine Ochſen mehr und von Pferden nur noch einen knick⸗ 
ſchaͤligen Reſt, eine Kuh und ein paar Hammel konnten 
auf dem Schloſſe immer noch abgegeben werden, und auch 
in der Stadt ließ ſich manches Maß heimlich vergrabe⸗ 
ner Kartoffeln oder Ruͤben fuͤr den bittenden Heimats⸗ 
freund dem eigenen Munde entziehen. Wer aber Zeuge 
der maͤrkiſchen Schlachten geweſen iſt, der weiß, fuͤr wel⸗ 
chen Leckerbiſſen eine Handvoll in Aſche des Wachtfeuers 
geroͤſteter Kartoffeln galt, oder eine Mohrruͤbe, die im 
Sande ber zertretenen Äcker geſtoppelt wurde. 

Bei Tagesgrauen machte unter Fuͤhrung unſeres In⸗ 
ſpektors eine kleine Proviantkolonne, mit den letzten Guts⸗ 
pferden beſpannt, ſich auf den Weg. Nach der Kirch⸗ 
ſtunde wollte mein Wachtmeiſter mit der Nachleſe und 
den indeſſen gebackenen Broten folgen, ich ihn begleiten. 

Gottlieb hatte einen Brief ſeines Herrn an die Mutter 
mitgebracht, bei der er ſich in ſo ſpaͤter Stunde nicht 
perſoͤnlich einzufuͤhren wagte. So ging ich an ſeiner 
Statt nach dem Schloſſe zuruͤck. 

Frau Erdmuthe ſaß mit gefalteten Haͤnden und las bei 


862 Fran Erdmuthens Swillingsfähne 


gebämpftem Lampenlicht in ber Felsfchen Erbbibel das 
Mocenevangelium im zehnten Lufasfapitel. „Wo ihr 
in ein Haus fommt, fo fprechet zuerft: Friede fei in 
diefem Haus.” Es war ihr eigenfter Kerzendtert, der 
mit diefen Worten feit fiebenundzwanzig Jahren am Fefte 
der Brüder verfündet wurbe. 

Liska, Lächelnd mit müben Lidern, lag im Lehnſtuhl, der 
Mutter gegenüber. Läffig nahm fie die Einlage, weldye 
jene ihr reichte, und richtete fich zögernd auf, um fie zu 
erbredhen. 

Während des Lefend bebte das Blatt in der Mutter 
Band; fchweigend legte fie ed in die meine. Ich warf 
einen Ölid darauf; ed wurde mir ſchwarz vor ben Augen; 
mir fchwindelte. Ich brady zufammen wie ein armer 
Sünder. 

Ein gellender Aufichrei brachte mich wieder zu mir felbft. 
„Niemals! Niemals!" Freifchte Liska, indem fie aus dem 
Zimmer ftürzte. 

Der Brief an Liska ift der einzige von Herrmanns Hand, 
der nicht im goldenen Buche aufbewahrt ift. Die Zeilen 
an die Mutter enthielten die Bitte um eine ftille Traus 
ung mit feiner Braut am morgenden Tage; ohne Forms 
licjfeiten, wie die kriegeriſche Zeit es geftatte. 

„In patriotifchem Sinne”, fo lautete der Schluß, „wird 
Liska zu feiner Zeit mit und übereinftimmen lernen, und 
dürften wir mit ihr darum rechten, meine Mutter? Mit 
Entzuͤcken habe ich dagegen ſchon im Frühjahr den Eins 
fluß des deutfchen Haufes auf fie wahrgenommen; habe 
gefehen, wie lieblich fie fich unter Deinem Dache einges 
lebt hat. Ein Teil der vorgefegten Prüfung wäre damit 
erfüllt. Und auch ein guter Sieg ift ja erfämpftz längft 


Schfter Abſchnitt | 563 


noch nicht der, deffen wir bedürfen; aber binnen einer 
Woche zwei deutfche Provinzen vom Feinde befreit, das 
gibt frohen Mut zur Vollendung. Es wird, fo Gott 
will, nicht lange mehr in dieſer Gegend gezaudert wer; 
den, die Gunft eines flüchtigen Wiederfehens fo bald 
nicht wieberfehren. Ic aber würde fefteren Herzens den 
Wechſelfaͤllen der Zukunft entgegengehen, wenn id; bie 
Geliebte unauflöslich mir verbunden, wenn id) fie auch 
vor dem Geſetze, auch vor der Welt ald Tochter in dem 
teueren Mutterhaufe geborgen wüßte.” 

Auf einem fpäter eingefügten Blättchen ftand: „Ich 
fann nicht vor Abend und hödhfteng für eine Stunde bei 
Euch fein. Vielleicht auch erft in der Frühe des fechften. 
Welch köftliche Geburtstagsfeier wäre das!“ 

„Sie müffen diefes Vorhaben hindern um jeden Preis!“ 
fagte ich, nachdem ich mich mühfam gefaßt hatte. „Schreis 
ben Sie Herrmann durch meinen Bruder. €8 ift eine 
Übereilung, ein Irrtum. Es würde ein Unglüd fein. 
Er darf nicht fommen. Er darf Liska jetzt nicht wieder, 
ſehen.“ 

Die Mutter blickte mich wie einen Unzurechnungsfaͤhi⸗ 
gen an. 

„Sie haben ihren Widerſpruch gehoͤrt“, fuhr ich fort. 

„Das uͤberraſchende erſchreckte fie”, wendete Frau Erd» 
muthe ein. 

„Es war mehr ald Schred, ed war ein Proteft!“ fagte 
ih. „Wie fremd fie und geblieben ift, haben Sie felber 
heute abend ausgefprochen und Ihres Sohnes ridıtiged 
Gefühl gepriefen, als er ein unauflöslicyes Binden vers 
ſchob.“ 

„Wollen wir ſeinem richtigen Gefuͤhl nicht auch ver⸗ 


364 Frau Erdmuthens Swillingsföhne 


trauen, wo er den Augenblid dazu gefommen glaubt?“ 
entgegnete die Mutter merklich verftimmt. 

„Nein, nein,” rief id; verzweiflungsvoll. „Er war fern, 
er ift ihr fremd geworben. Es wäre zu fpät — oder zu 
früh. Sie liebt ihn nicht - nicht mehr — noch nicht wie⸗ 
der — -” 

„Er hat darüber zu entfcheiden, nicht wir“, unterbrad; 
mich die Mutter, indem fie dad Zimmer verließ. Sie 
hatte vieles zu ordnen in fich wie außer ſich und wird 
die Nadıt wenig Ruhe gefunden haben. 

Ich ging zu Liska. „Niemals! Niemals!“ fchrie fie mir 
entgegen. 

„Werden Sie dies harfche Wort aud) dem Manne ent- 
gegenfchreien, den Sie Ihren Schugengel nannten?“ 
fragte ich. 

„Niemals! Niemals!” wiederholte fie. 

„Wiffend und wollend, Liska, daß mit dieſem Wort ber 
Brand ded Bruberhaffes in das Haus Ihrer Wohltäter 
gefchleudert wird?“ 

Sie brach in Tränen aus. „Ich kann nicht anders - 
niemals!” ſchluchzte fie. 

„Wiffend und wollend, daß diefed Wort das Herz ber 
beften Mutter, auch Ihrer Mutter, Liska, brechen wird?" 

„st Raul nicht auch ihr Sohn?” entgegnete fie faft 
troßig. „Bleibe ich nicht ihre Tochter, werde ich nicht 
erft wahrhaft ihre Tochter, wenn ich den anderen liebe 
ftatt des einen, den id; nimmermehr lieben kann?“ 

„Niemals, Liska, niemald!" fagte nun auch ich. „Das 
Haus diefer Mutter ift gegründet auf Ehre und Treue 
von feinem Anbeginn. Niemals wirb die, welche e8 
hütet mit reinen Händen ald ein anvertrauted Gut, nie: 


Sechſter Abſchnitt 865 


mald wird fie Verrat und Unehre unter feinem Dache 
dulden; am wenigften bulden, wenn der Verräter der 
Bruder bed Verratenen ift. In der Stunde, in welcher 
der Frevel fich offenbart, werden Sie dieſes Haus ver- 
laffen und niemals, niemals, Liska, wiederfehen.“ 

Sie ſchwieg; ich weiß nicht, ob fie betreten oder nur 
überrafcht durch meine Rede war. Nach einer Paufe 
fragte ich: „Wohin werden Sie ſich wenden, bevor oder 
nachdem morgen abend Ihre Weigerung unwiderruflich 
geworden ift? Sie find entfchloffen, Shre Freundin nad) 
Frankreich zuruͤckzubegleiten?“ 

„Ins Kloſter!“ rief ſie mit einem Schauder, der aber 
raſch durch helles Auflachen verdraͤngt wurde. „Ich danke 
ſchoͤn, Herr Pfarrer, ich danke ſchoͤn!“ 

Die Barbe hatte demnach ihren Plan zum Vortrag ge⸗ 
bracht und war, wie ich vorausgeſehen, geſcheitert. Uns 
fere Lage wurbe wenig dadurch geändert. Brief und 
Geleitfchein von Raul waren nicht abgegeben worden; 
die Kataftrophe war zu nahe gerüdt, um Liskas Abreife, 
freiwillig oder erzmwungen, durch irgend einen Vorwand 
noch zu ermöglichen. Ein Bekenntnis der Wahrheit war 
nicht Tänger zu verfchieben. Sch fchwieg. Liska fuhr fort, . 
dreiften Muts: 

„Habe ich denn nicht den Sohn, wenn mid) die Mutter 
verftößt? Bin ich nicht Rauls? Ich gehe zu Raul!“ 

„zu Raul, wohin, Törin?“ fragte ich. „Raul fteht im 
Feldlager, geräftet zur Schladht. Er hat Ihnen Feine 
Heimftätte zu bieten. Sie find eine Waife, ohne Afyl 
als diefed Haus - -“ 

„Nun wohlan,“ rief fie, indem fie händeringend im 
Zimmer auf und niederrannte; „nun wohlan: fliehen bis 


866 Fran Erdmuthens Swiltingsföhne 


ans Ende der Welt, betteln, fterben; aber einem anderen 
angehören, ald meinem Raul, niemals, niemals!" 

Nach einer langen Paufe fagte ich: „Noch eined, das 
legte, Liöfa. Schreiben Sie an Herrmann; befennen 
Sie die Wahrheit und legen die Entfcheidung in bes 
edelften Mannes Herz.” 

„Sch darf nicht“, antwortete fie. 

„Sie haben nur gegen die Mutter Schweigen gelobt, 
und es ift die Außerfte Stunde.” 

„Sch kann nicht, VBäterchen.” 

„Sie können und müffen, Liska. Bringen Sie mir ben 
Brief bis morgen früh; ich werde ihn in Herrmanns 
Hand beforgen.“ 

Sie ſchwieg; aber ich wußte, daß ed nicht gefchah. Ich 
entfernte mich. Unter der Tuͤr hörte ich, daß fie fich zu 
Boden warf undrief: „Nette mich, Raul! Komm, komm!“ 

Im Korridor begegnete mir der Gaͤrtner, der mir ge- 
heimnisvoll zuflüfterte, daß Shro Gnaden zu morgen einen 
Myrtenfranz und eine Blumengruppe in den Ahnenfaal 
beftellt habe. Zitternd flieg ich die Treppe hinan; ich 
war entfchloffen, das Außerfte zu tun, die ganze Wahr- 
heit zu enthüllen, nachdem die halbe Wahrheit bezweifelt 
worden war, zu fagen: „Sie liebt ihren Verlobten nicht, 
weil fie feinen Bruder liebt.“ 

Die Tür nad) dem Ahnenfaal war offen. Frau Erb- 
muthe mit gefalteten Händen ftand in der Nifche und 
blickte zu ben Bildern ihrer Eltern in die Höhe. Ihr 
Gemahl war gefchieden, ehe er die neue Reihe eröffnet 
hatte, Sollte fie für allezeit uneröffnet bleiben? Kein 
Sohn in diefem Raume zu einem Vater in bie Höhe 
blicken? 


Sechſter Abſchnitt 367 


Ich ſchlich mich unbemerkt wieder zuruͤck. Vierundzwanzig 
Stunden noch, und die Enthuͤllung war unausweichlich, 
gleichguͤltig, aus welchem Munde ſie kam. Aber jede 
Stunde des Friedens, die Ruhe einer Nacht duͤnkte mich 
ein Gewinn. Ich wußte Herrmann zu finden. Er mußte 
der Lage Herr werden; er allein konnte, wenn nicht zur 
Verſoͤhnung, ſo doch mit Wuͤrde den Knoten loͤſen. Als 
ich an Liskas Zimmer voruͤberkam, trat eben die Kammer⸗ 
frau heraus und ſagte mir, daß Mademoiſelle mit Schrei⸗ 
ben beſchaͤftigt ſei und ſie vor dem Auskleiden entlaſſen 
habe. 

Was aber Folterqual heißt, das habe ich erfahren in 
dieſer Nacht. Ich haͤtte mir Fluͤgel anheften moͤgen, 
mich von dem Sturmwind treiben laſſen, der draußen 
durch die Wipfel raſte, und ich mußte ausharren, ſtill⸗ 
ſitzen bis zur Mittagszeit. Nein, nicht ſtillſitzen. Mir lag 
ob fruͤh am Morgen die Beſtattung eines ſeinen Wun⸗ 
den Erlegenen, dann der Gottesdienſt mit dem Friedens⸗ 
gebet fuͤr die Bruderherzen. O Hohn! Gab es denn hie⸗ 
nieden wieder Frieden nach ſo ſchnoͤdem Raub? Konnte 
die Mutterliebe ihn bringen? Reue hier, Entſagung 
. dort? Kommender Tage Ungluͤck oder Gluͤck? Sa, die 
Gottesfurcht felber, die vergeben heifcht, fchaffte fie die 
Berfühnung, aus welcher Herzensfrieden fließt? 

Daß. legte Grab auf dem alten Kirchhof war gefüllt; 
die Ehrenfalve der fchwedifchen Kompagnie Aber dem 
Hügel des fchwäbifchen Rekruten verhallt, eine Feind» 
fchaft, von welcher die Herzen nichtd gewußt hatten, vers 
fhüttet. Die Menge drängte vom Gottedader nad) dem 
Gotteöhaufe. Sch hatte, vor dem Grabe ftehend, eine 
weiße Geftalt ſich in der Richtung nad) der Ruine bes 


868 Frau Erdmuthens Swiltingsfähne 


wegen fehen. Liska fo früh am Tage und in der Nähe 
eined Schaufpiel®, das fie bisher fo widermillig gemies 
den hattel Sollte fie dennod; den Brief an Herrmann 
in meinem Kaufe niedergelegt haben? Sudhte fie eine 
Ruͤckſprache mit mir? Oder war fie nur ber Mutter aus⸗ 
gewichen, die ihre Begleitung beim Kirchgang gewuͤnſcht 
haben würde? 

Ich hätte ihr folgen mögen; aber fie war zwifchen Heide 
und Trümmern verfchwunden, und fchon mahnte der erfte 
Glockenruf. Zum Üherfluß wurde ich am Pförtchen noch 
von Freund Hecht aufgehalten, der doch fonft — obgleid) 
oder weil ein Sünger der reinen Bernunft? — diefer 
Stätte der Bergänglichkeit fo gefliffentlich wie das vers 
nunftfeindliche Naturfind aus dem Wege ging. 

Er war in gewaltiger Aufregung und fam ale Abges 
fandter unferer lieben Frau, die ihn im füßeften Morgens 
fchlummer hatte wecken laffen. Sie wuͤnſchte feine Rechts⸗ 

anſicht über die Zuläffigkeit eines ein für allemaligen 
heutigen Aufgebotd der Verlobten, da ohne diefen öffent: 
lichen Akt die Bermählung des Erbherrn, zumal mit einer 
anderdgläubigen Ausländerin, von der Gemeinde ſchwer⸗ 
lich für vollftändig erachtet werden dürfte. 

Nach dem Dafürhalten des weltweifen Nichterd würde 
die Gemeinde nun feine Hochzeit für vollftändig erachten, 
die nicht mit einem Schmaufe gefeiert worbem ſei. Im 
übrigen gehöre der Kafus vor das geiftliche Konfiftorium, 
fei in der Arnheimer Prarid noch nicht vorgefommen und 
fehle zur Forſchung in einfchlägigen Kompendien bie Zeit. 
Vom rechtsphilofophifchen Gefichtöpunfte aus betrachtet, 
muͤſſe jedoch das Urteil abgegeben werden, daß, wenn 
der Ausnahmezuftand des Krieges die Konfequenz der 


Bu Sechſter Abſchnitt 865 
Prämiffe, will fagen die Trauung, fonder Präliminarien 
ftatthaft werden Iaffe, die Prämiffe der Konfequenz, will 
fagen das ein für allemalige Aufgebot vor der Trauung, 
fonder Präliminarien, ald da find: Taufzeugnis, Toten» 
fchein der abgefchiedenen Eltern, Sonfenfus der noch 
lebenden, Conſenſus des geiftlichen Conſiſtorii et caetera 
et caetera, auch feine ftraffällige Übertretung involviere. 
Habe daher der vollziehende Paftor bereits die Trauung 
ohne Aufgebot famt Präliminarien auf feine Kappe ger 
nommen, fo dürfe er, der Paftor, — infonderheit aus ges 
ziemender Willfährigfeit gegen eine gnädige Patronatds 
herrfchaft, — hinterdrein audy noch das Aufgebot fonder 
Präliminarien auf feine Kappe nehmen und für den Fall 
einer Verantwortung feines, ded Antragitellere, richter⸗ 
lichen Beiſtandes gewärtig fein. 

Ich fagte,. daß ich Die Sache mir Überlegen wolle. Wenn 
ich aber gehofft hatte, den gelehrten Argumentator das 
mit loszuwerden, hatte ich nur den halben Dann gezählt; 
der Rechtsphiloſoph zog fich zurüd, der Kavalier war 
erft im Anzuge: Madame Barbe wollte fort, partout, 
mutterfeelenallein, heute noch, wo alles Fuhrwerk mit 
dem Proviante abgerüdt war. Unfere gnädige Frau hatte 
das Heidekutſchchen bewilligt, aber auf dem Schloffe 
wie in der Stadt war fein Huf aufzutreiben. Madame 
hatte fich gleich felber auf die Suche nad, einem Roß 
gemacht und er, der Kavalier, fei auf dem Wege nad 
Dahnsdorf, den Paftor um feinen Schimmel anzugehen, 
der, weil mit Bfindheit gefchlagen, den räuberifchen Res 
quifitionen möglichermweife entronnen fein könne. In 
Brandenburg, fpäteftend Magdeburg wurde auf ie 
pferde gerechnet. 

xx.M 


870 Frau Erdmuthens Zwillingsfähne 


„Wir treiben nichts Vierfüßiges auf,“ fchloß der Freund 
in höchftem Alarm. „Aber Ihr werdets erleben, Was 
gifter, Ihr erlebts, dieſes außerordentliche Frauenzim⸗ 
mer ſetzt das Fortkommen durch, und wenn es fich in eige- 
ner Perfon vor das Wägelchen fpannen ſollte. Wale 
ich mir aber das Riſiko aus, ftehen mir die Haare zu 
Berge, Magifter. Vorwärts und rüdwärtd ber Preuße, 
von allen Seiten Kofaten! Und wenn fie zehnmal eine 
Leutnantswitwe ift, fie bleibt doch immer ein Mitglied 
des zarten Geſchlechts, und man bleibt ein Mann. Ich 
werde fie beſchuͤtzen müffen, Magifter!“ 

Wie war mir doch eben noch das Herz fo beflommen, 
als ich die Bilder der leidvollften Tage aus meiner Er- 
innerungsmappe zog, und wie herzlich habe ich geladıt, 
da der ritterliche Kantianer auf einmal mitten in die 
Gruppe tritt. O, großer Brite! Du haft das Menfchen- 
bebürfnis erfannt, wenn bu ein Haͤuflein närrifcher Käuze 
fich zwifchen deinen graufen Keldenfzenen tummeln Läffeft. 

Zu jener Stunde freilich, wo ich von dem Grabe des Res 
fruten in meine traute, alte Kirche ging, da fpürte ich 
fein Flimmerchen von dem Silberblid des Humors, und 
felber das goldene Sonnenlicht der Religion lag hinter 
grauen Nebelfchichten verhüllt. Der Fluchtplan ber alten 
Franzoͤſin änderte an unferem Schickſale nichts. Was 
half ed, den Zankapfel zu entfernen, wenn juft durch 
diefe Entfernung das unheilbare Zerwuͤrfnis zutage kam? 

Ja, Glaube und Hoffnung lagen wuͤſtenduͤrr in meiner 
Bruft, als ich die Kanzel betrat. Sch hatte mich nicht 
vorbereitet und wußte nicht, was ich predigen werde. Es 
muß aber doch ein Strahl aus dem ewigen Born ges 
weien fein, der mit dem alten Tageöfpruch in die Höhe 


Schfter Abfchnitt 871 


quoll. „Zretet ihr in ein Haus, fo faget zuerft: Friede 
fei in diefem Haus!” Meine alten Kirchenmütterdhen 
erwachten unter bem Schludyzen und Schnäuzen der Ju⸗ 
gend aus der wohlverdienten Sonntagsruhe und fchluchz- 
ten und fchnäuzten wie fie; die Augen der Männer ſtan⸗ 
den voll Tränen, als fie hinauf in die Kapelle blidten, 
wo die weiße, ftille Mutter, dad Haupt in ihre Hände ' 
vergraben, unbeweglicd; mir gegenüber faß. 

Deflen aber erinnere ich mich deutlich, ald wäre es 
geftern erlebt, daß meine eigenen Augen überftrömten, 
als ich mid, beim Schluß zum erften Male in meinem 
Amte auf die Knie warf und betete um das Gotteswun⸗ 
ber ber Verſoͤhnung in den Bruderherzen. „Wenn fie mit 
den Schwerte in der Band fich gegenübertreten, wenn 
die Wogen der Leidenschaft über ihren Lebensfchiffen zus 
ſammenſchlagen, daß dann der Strom ded Bruderbluted 
fie in die Heimat der ewigen Liebe zurüdtreibe; daß fie 
ſich Hammern an den Anker ded Mutterherzend und auf: 
richten an dem Kreuze, an welchem ber göttliche Vers 
föhner für feine irrenden Brüder geftorben ift, daß fie 
leben lernen.“ 

Nun noch einen Blick auf die Empore, in welcher die 
Mutter, auch auf den Knien, das Aufgebot erwartete, 
bad — heute vom Küfter am Betpult — nicht wie fie 
hoffte, aus dem Kirchenregifter verlefen ward. Raſch ſtieg 
ich dann die Kanzel hinab und fehlüpfte durch die Sa- 
Friftei in meinen Garten, vor welchem mein Bruder mit 
dem bepackten Reiterwagen bereits wartete. 


® 3 
% 


872 Fran Erdmuthens Swiltingsföhne 


Ich nahm mir nicht die Zeit, das Orna, und den teue⸗ 
ren Erbrod darunter abzulegen. (Ein Fuͤnkchen von bem, 
was man Aberglauben nennt, mag in diefem Anbehalten 
ber $riedendfleider mitgefpielt haben.) Zwifchen Brote 
laiben und Spedfeiten nahm ich Plag auf einem Kar⸗ 
toffelfac; Bruder Wehrmann hieb auf den knickſchaͤligen 
Baul, neben den er fein Dienftpferd eingefpannt hatte. 
Bevor dad Schlußlied in ber Kirche ausgeklungen war, 
bogen wir um die Ruine in die Heide hinein, und wies 
der war mirs, als fähe ich Liskas weißes Kleid zwifchen 
dem Gemäuer flattern. Sie hatte fein Wort für Herr⸗ 
mann bei mir niedergelegt. Sie verftedte ſich; vor mem? 
Bor der Mutter, der Barbe, vor Herrmann, vor mir? 

Der Wind wirbelte Wolken von Sand und dürren Nas 
bein in die Höhe; die Fahrt ging bei der ſchweren La, 
bung langfam vorwärtd. Da die Orber des Eintreffene 
aber erft auf die zweite Nachmittagsſtunde lautete, Tief 
ber Kuhrmann ſich Zeit zum Plaudern. Er hatte vieles 
zu berichten, für das er meinen Anteil voraugfepte. Von 
meiner innerlichen Verfaffung ahnte er nichts; er wußte, 
baß id} feinen Herrn in einer wichtigen Privatangelegen» 
heit zu ſprechen verlange, dad genügte ihm. 

Ald wir über die Förfterei hinaus ind offene Feld ges 
langten, hörten wir wieder, wie am Tage von Kagelds 
berg, ein ferned Rollen und Grollen. Auch ich wußte 
jest, Daß ed Kampf bedeute; mein Geleitömann aber fah 
plöglic, feine Dispofition verändert. Er vermutete, nad 
der Richtung des Schalld, Tauengiend Vortruppen im 
Gefecht; indeflen konnte feit vierundzwanzig Stunden 
auch von den Bülowfchen eine Bewegung und ein Zus 
fammenftoß mit den Feinden flattgefunden haben. Ohne 


Sechſter Ubfhnitt 873 


weiteres fchirrte er fein ‘Pferd aus und fprengte in der 
Richtung auf Marzahne voran. Indem er mir einfchärfte, 
die von Ruſſen und Schweden befegten Dorfidyaften zu 
vermeiden und die foftbare Ladung dem Freundedappes 
tite zu bewahren, überließ er ed mir, das ſchwere Gefährt 
querfeldein zu fchleifen. Er wollte Erktundigungen eins 
ziehen auch über den Verbleib feines Herrn, verfprad) 
nach Möglichkeit Beſcheid zu bringen oder zu fenden. 

Und da vergingen denn Stunden, in welchen der alte 
Magifter, in Talar und Barett neben dem Karren her, 
trollend und den nichts weniger ald feurigen Saul vors 
wärtöpeitfchend, mehrmals zwifchen Stoppelädern irres 
gehend, ſich nur Iangfam feinem Ziele näherte, Noch 
hatte der Kampf ſich nicht bis in diefe Gegend erftredt, 
aber ber rechte Flügel der bei Großbeeren Gefchlagenen 
hatte fie geitreift, und die Hauptmaſſe ded Nordheeres 
feit einer Woche fid) darin ausgebreitet. Die Ernte war 
in dem Regenfommer verzögert worden, Erd» und Som⸗ 
merfrucht nody nicht eingeheimftz nun lagen bie bürfs 
tigen Felder von den Hufen zerftampft; die Fleinen zer» 
ftreuten Fichtenfchonungen, der legte Fruchtbaum, mühs 
fam im fargen Boden aufgezogen, die einzige Linde auf 
bem Dorfanger waren am Wachtfeuer verbrannt. Auch 
in einem Paradiefeögarten mag Krieg ein Orauen fein; 
wo aber bie Natur fo unguͤtig waltet, wie in unferem 
Heideland, da wirken ſchon die Vorboten ded Krieges 
ein Bild Ahnlidy dem, vor welchem das Weib bes Loth 
eritarrte. 

Die Sonne fand tief, ald mein Bruder wieder zu mir 
ftieß, begleitet von ein paar Kameraden, bie ohne Um⸗ 
ftände fidy eine Spedfeite zu Gemüte führten und mit 


374 Frau Erdmuthens 3willingsſöhne 


der uͤbrigen Ladung ſamt Karren und Gaul in das Lager 
zuruͤcklenkten. In meiner Privatangelegenheit erhielt ich 
den zweifelvollſten Beſcheid. Herrmann war gegen Mit⸗ 
tag eingetroffen mit einer Erkundung, die wohl von Wich⸗ 
tigkeit fein mochte, da ſich unverzüglich etliche Buͤlowſche 
Bataillone in ber Richtung auf Seyda in Bewegung 
festen. Man glaubte Tauengien dort angegriffen. Da 
dad Feuern inbeffen aufgehört hatte, war eine rechts 
zeitige Unterftägung fraglich geworden. Auch ber Gene» 
ral war aufgebrochen, wie ed hieß, zu einem Kriegsrat, 
der beim Kronpringen gehalten wurde, Bruder Stratege 
erwartete eine Aktion für den nächiten Tag, weil ber 
Bormarfch der Feinde nadı Norden hin unzweifelhaft 
geworben war. Ob Herrmann feinen Chef begleitet, ob 
er einen anderen Auftrag erhalten habe, konnte nicht ans 
gegeben werden. Im Lager anwefend war er zur Stunde 
nicht. Wit der Lektion: „Herr Bruder, ein Soldat im 
Felde hat feine Privatangelegenheiten“, fprengte mein 
MWachtmeifter wohlgemut feinem Proviantlarren nad). 

Mir aber, was blieb mir übrig, ald nad) der Witten⸗ 
berger Straße abzubiegen und auf derfelben den Heim⸗ 
weg einzufcjlagen. Trat Herrmann vom Hauptquartiere 
aus den unfeligen Kodjzeitöritt an, mußte er mich auf 
derfelben überholen. Gefchah es nicht, durfte ich an- 
nehmen, daß die bevorftehende Aktion feinen Plan vers 
eitelt habe. ch betete zu Gott, daß dem fo fei. 

Nun Fam ich durch die Dörfer. Ich Fannte fie alle 
meilenweit in der Runde. Wer fo wie ich auf einem 
Erbpoften altert, verwächft auch mit einer breiten Nach⸗ 
barichaft. Wie oft hatte ich einen Amtöbruder vertreten, 
wenn er franf banicderlag; wie oft feiner Gemeinde bag 


Sechſter Abfchnitt 875 


Abendmahl gefpendet, wenn er felber an dem Genuffe 
teilnahm. Wie manchem hatte ich die Einführungsrede, 
wie mandhem anderen die Grabrede gehalten; da war 
fein Gehöft, in welchem der Pfarrer von Arnheim nicht 
als Freund begrüßt worden wäre. 

Nun ftanden die armen Lehmhuͤtten ohne Dadı; Ges 
baͤlk und Schindeln waren zu ben Wachtfeuern getragen, 
das Stroh den Pferden unterbreitet worden; in feiner 
Scheuer ein Halm, fein Biffen im Schranf. Die Dung- 
haufen ftroßten nach wie vor, aber feine Kenne gaderte 
darauf, und ftatt der flachshaarigen vierbeinigen Ferkel 
waren ed flachshaarige nadte Zweibeine, die ſchmutz⸗ 
ftarrend in den Kartoffelfchalen nach einem Hunger⸗ 
biffen wählten. Die Männer waren fhon am Morgen 
dem Kanonenfchalle nachgezogen. Was follten fie auch 
Nugbringenderes tun? Dort immer noch eher ald das 
heim fiel ein Brocken für ben fnurrenden Magen ab; 
und wenn nicht, gab ed was Erfchredliched zu hören 
oder zu fehen, über dem der Menſch ein Weildyen feinen 
Hunger vergaß. Vor den tärenlofen Käufern hodten 
Weiber und Iendenlahme Greife, die fidy um die Wette 
in Heulen und Schreien überboten. Die Not war groß, 
aber ihr Regifter kurz; die Litanei des einen war für den 
anderen fchier ſchon abftändig geworden. Da fam der 
fremde Paftor denn gleichfam ald Saugeſchwamm für die 
Zrübfal juft zurecht. An jedem Rodzipfel hing ihm ein 
Klageweib. „Ad, Kerr Paftor, meine Kuh! Weine 
Ziegen! Kerr Paftor, mein Schwein!” wehflagte und 
zeterte es im Chor. 

„Herr Paftor, mein armer Junge!” wehllagte auch der 
alte Kieß aus Rietz, den ich fchon im Morgennebel vor 


376 Fran Erdmuthens 3willingsſöhne 


meiner Pfarre hatte vorüberlatfchen fehen und den ich 
nun im Abenddunfel jenfeitd des letzten Dorfes, noch 
immer mit der Burft in feiner Tafche, auf der Retour 
überholte. Er hatte die Schenfung unter Lebenden auch 
heute nicht regulieren können. Keinen fehnlicheren Wunſch 
aber hegte er, ſeitdem die Schießerei nun losgegangen, 
als daß feinem legten Jungen redyt bald eine Kleinigs 
feit abgefchoffen werden möge, fo ein paar Zinten am 
linken Bein oder Finger an der linken Hand, die einer 
für das Haus nicht braudıt, die aber zu Napoleonifchen 
Gefchäften am Ende body unentbehrlich, find. „Denn los 
frieg id meinen Jungen fonften nicht, wenns auch zehn» 
mal mein einziger iftz Eleine friegen fie den Napoleon 
auch nicht, Ruhe hält er nicht, und ein ärgerer Schinder- 
hannes ift noch nicht an der Tablatur gewejen.” 

Weiß denn nun aber die Welt, durdy wen, aller Mut⸗ 
maßung nach, die erfte zuverläffige Kenntnie nicht nur 
von dem Ausmarſch, fondern auch von der Marſchrich⸗ 
tung ded Meyfchen Heeres dem preußifchen Bülow zu 
Ohren gelommen ift? Durd, feinen geringeren, als den 
Exſchaͤfer Kietz aus Rietz, der zum Plaͤſier Iatfchend, fie 
fhon feit zwei Tagen beobachtet und durch gleichfalls 
latichende Kollegen feine Beobadjtungen vervollſtaͤndigt 
hatte. Er verlautbarte diefelben gegen den Bruder bes 
Mohltäterd, mit dem er heute morgen fo bei Wege zu« 
fammengeftoßen war. Auch daß es nicht bloß „ein paar“ 
waren, bie die Straße nadı Juͤterbogk eingefchlagen, ſon⸗ 
bern „die ganze Klerifei”; die Landesfinder mit ben 
Epfchelmigfchen juft in der Witte. Der Kietz aus Niet 
machte diefe Berlautbarung, ohne fich etwas dabei zu 
benfen. Hätte er ſich etwas babei gebadht, würde er fie 


Schfter Abſchnitt | 877 


nicht gemacht haben, und die Schlacht von Dennewig 
vielleicht nicht gefchlagen worden fein. Wenn aber nur 
bad, was gedadht worden ift, Geſchichte werben follte, 
würde gar manche ihrer Tafeln unausgefüllt geblieben 
fein. Buͤlows Wegmweifer, der Exſchaͤfer Kietz aus Rieg, 
gehört in die Weltgefchichte. 

Daß er aber auch in die Gefchichte der Zwillingöbrüber 
gehört, follte ich zu meinem Entfegen noch in diefer naͤm⸗ 
lichen Stunde erfahren, nachdem der Alte ſich die Bruft 
von feinem täglichen Texte erleichtert hatte. 

„Gluͤcklich angetroffen!” raunte er mir ind Ohr, indem 
er neben der Wurft aus feiner Zafche einen Brief her, 
vorzog und mir übergab. 

„Wen angetroffen?” fragte ich, indem ich die Antwort 
voraudwußte, denn nur die Adreffe lautete an mich; ber 
Brief war an Liska, und der verfprochene sauf-conduit, 
von Marfchall Ney perſoͤnlich ausgeftellt, ihm beigefügt. 

„Den Wohltäter angetroffen”, antwortete der Schäfer, 
„und alles richtig an ihn beftellt,“ fegte er mit einem 
felbftbewußten Lächeln hinzu. 

„Was .beftellt, Kietz?“ 

„Den Brief von der fremden Mamſell, Kerr Paſtor.“ 

Ein Brief von Liska an Raul! An ihn flatt an Herr, 
mann hatte fie gefchrieben; ihn von ihrer heillofen Lage 
unterrichtet, ihn ohne Zweifel zur Hilfe herbeigerufen! 

Mort um Wort erfuhr ich nun, daß die fremde Mam⸗ 
fell mitten in der Nacht fid, über den Hof in des Alten 
Kammer gefchlichen, ihn mit dem Mamen- bed Wohls 
täter& geweckt, den Brief der Frau „Mama“ nebft einem 
harten Taler in feine Hand gelegt und fo lange Zeichen 
gemacht habe, bie der Kietz begriff, was fein ſchlauer 


878 Frau Erdmuthens 3willingsſoͤhne 


Kopf, wie er meinte, auch ohne Zeichen begriffen haben 
wuͤrde: daß er den Brief heimlich, von wegen des 
Schweden, und ſo raſch als moͤglich an den Wohltaͤter 
befoͤrdern ſollte. 

Der Taler war leichter verdient, als der Alte gefuͤrchtet 
hatte. Daß er nicht bis ins Wittenberger Lager zu lat⸗ 
ſchen brauche, wußte er freilich ſchon ſeit geſtern, daß 
er aber ſchon diesſeits Seyda auf den Wohltaͤter ſtoßen 
ſollte, war einer von den gluͤcklichen oder unglüdlichen 
Zufällen, bei welchen der Kieß aus Rietz ſich ein für 
allemal nichts zu denken pflegte. 

Raul war ganz allein, feinem Korps weit voran, in 
einen dunklen Mantel über der weißen Uniform gewidelt, 
querfeldein daher gefprengt. Als er den Schäfer bes 
merfte, übergab er ihm zur Beftellung an mid, das Schrift⸗ 
ftäd, deffen ich erwähnte, und empfing dagegen dag, was 
jener fo geheimnisvoll an ihn abzugeben hatte. 

Beim erften Blid in dadfelbe war er, wie ber Alte 
meinte, weiß geworben wie eine Wand. Gefagt hatte 
er fein Wort; nicht einmal Hab Dank. Schon im Begriff, 
weiter vorwärts zu jagen, hörte er das beginnende Feuer 
in feinem Rüden. Er riß aus feiner Brieftafche ein 
Blatt, fchrieb zwei Worte mit Bleiftift darauf, die er 
dem Boten zur Beftellung an die fremde Mamfell, und 
einen goldenen Dukaten obendrein, in die Hand warf, 
und fprengte auf dem Wege, den er gekommen, zurüd, 
ohne von der Wurft Notiz zu nehmen, weldye der Kiek 
aus Rietz ihm zu gütiger Beftelung an feinen Jungen 
bei den Epſchelwitzſchen oder auch zu eigener Appetitös 
befriedigung darreichte. 

Ehren⸗Kietz fpürte eine Anwandlung von Bequemlich⸗ 


Sechſter Abſchnitt 379 


keit, ſeitdem er uͤber Nacht ein Kapitaliſt geworden war. 
Er hatte ſich muͤde gelatſcht, verlangte im Dorfe zu naͤch⸗ 
tigen und uͤbergab das Blatt, deſſen Beſtellung er uͤber⸗ 
nommen, dem zufaͤlligen Begegner, durch welchen es ja 
ebenſo ſicher und jedenfalls fruͤher als durch ihn, in die 
rechte Hand befoͤrdert werden wuͤrde. Ehren⸗Kietz ahnte 
nicht, daß ein Natternſtich ſeinen Boten nicht boͤsartiger 
haͤtte treffen koͤnnen als die beiden Worte: Je vien- 
drai!* 

Er kommt! Mit diefem haarfträubenden Gedanken 
feßte ich meine einfame Wanderung fort. Als ich von 
der Landftraße in den Arnheimer Weg einbog, war es 
völlig dunfel geworden. Auch meine einzigen Begleiter, 
die Krähen, hatten ihr Nachtlied ausgefrächzt und waren 
zur Raft voran unter die Heidewipfel gefchwärmt. Alles 
feelenftil. Nur immer näher und näher das Braufen 
des Windes vom Forfte herüber; immer lauter in mir 
das Geftöhn: Er kommt! Immer fchwächer die Hoff⸗ 
nung, daß das friegerifche Spiel die heillofefte Begeg⸗ 
nung gehindert habe. 

Da jählings fpritte ein Sandwirbel um mid) herum. 
Ein Reiter in geftredtem Karriere faufte an mir vorüber. 
Der leichte Boden hatte den Hufſchlag gebedt, Nacht 
und Staub hinderten das Erkennen. „Berrmann, Herr 
mann!“ fchrie ich und rannte fchreiend ihm nad), bis 
der Atem mir ftodte. Kein Gehör. Der Reiter war im 
Walde verſchwunden. 

Jetzt blickte ein Lichtftrahl aus der Förfterei. Sch hörte 
Gewieher. „Herrmann, Herrmann!“ Ein Reiter jagte 
vor mir her. War ed der nämliche von vorhin, mußte 
er im Förfterhaufe Halt gemacht haben. Endlich ftand 


880 Frau Erdmuthens Imwillingsfähne 


ich vor der offenen Tuͤr. Die Foͤrſterin zuͤndete im Flur 
die Laterne an. „Der Baron?“ keuchte ich. 

„Der Bruder!” fluͤſterte ſie. Die Antwort, die ich ers 
wartet hatte. Die Frau vor der Tür gewahrend, von 
ihr gewahr werbend, hatte er gefragt, ob das Schloß 
von Feinden befegt fei, und als fie ed bejahte, war er 
weiter geritten; ob vorwärts oder rüädwärts, wußte fie 
nicht, da ein Windftoß ibr die Lampe ausgeblafen hatte. 
Sch wußte, daß es vorwärts war. 

Auf die Frage, ob audy Herrmann bed Weges gekom⸗ 
men fei, erhielt ich ein entfchiedened Mein. Die Foͤr⸗ 
fterin hatte bi8 zum Dunkelwerden mit ihrer Arbeit vor 
der Haustür gefeffen und auch feit der Lichtftunde im 
offenen Flur geweilt und nad) ihren Kindern audges 
fhaut, bie fi auf einem Gange nach der Stadt vers 
fpätet hatten. Auch ihr Wann war abwefend im Forft. 

Meine legte Hoffnung beruhte auf diefem Mein. 
Diesfeitd des Förfterhaufes mündete nur ein einziger 
Weg in den Wald. Herrmann konnte nicht unbemerkt 
vorüber gefommen fein. Jenſeits des Hauſes freilich 
freuzten ſich mit der Fahrftraße mancherlei Pfade, bie 
auch ein Reiter einſchlagen konnte. Hier von Herrmann 
überholt zu werden, war zweifelhaft. Am Förfterhaufe 
auf ihn warten burfte ich nicht. So rafch als möglich 
dem Uinglädfeligen, ber einen fo weiten Borfprung vor 
mir hatte, zu folgen, fchlug ich den abkuͤrzendſten Seitens 
pfad nach dem Schloffe ein. 

Die Zörfterin hatte mir ihre Laterne mitgegeben. Ich 
fteuerte dem Winde entgegen, ber immer heftiger zu 
rafen begann. Er trieb mir ben Sand in bie Augen; 
er entführte mir bad Barett, er verfing fich in dem fals 


Sechſter Abſchnitt 881 


tigen Gewande. Da neſtelte ſichs feſt an einen geknick⸗ 
ten Aſt, dort an eine flatternde Ranke. Schritt fuͤr 
Schritt ſtolperte ich uͤber Staͤmme, die der Sturm ge⸗ 
faͤllt, über Knorren, die er entbloͤßt hatte. Es krachte 
und kraͤchzte zwiſchen den Wipfeln. Und ſtel da nicht 
ein Schuß? Drang nicht Pferdegewieher, Stimmenlärm, 

“ein Alarmfignal durd dad Didicht? Oder war alles 
sur Täufchung bed wogenden Blutd, der feuchenden 
Bruft, der Fibern, die ich in jeder Fingerſpitze klopfen 
fühlte? j 

Sch grübelte mir aus und wählte in mich hinein, wie 
‚daheim alles gefommen fein Eonnte, gefommen fein mußte, 
und wie ed in Wirklichkeit denn auch faft buchftäblich 
gefommen iſt. Die Angft, die Blinde macht, fann auch 
Hellſichtige machen. 

Liska würde in ihrem Pindifchen Verſteck bald genug 
entdeckt worden fein, wenn fie vermißt worden wäre. 
Aber die Barbe war feit dem frühen Morgen fern, und 
Frau Erdmuthe, welche die Tochter felten am Vormittag 
fah, ohne Arg, felbft als jene bei Tifche fehlte. Sie hatte 
fidy neuerdings wieder häufig von demfelben fern ger 
halten, mochte auch mit der alten Barbe, die fie num fo 
bald verlieren follte, über Land gegangen fein. Die 
Mutter vermutete fie durch die Üübereilte Zeremonie bes 
unruhigt, verftimmt, vielleicht fchmollend; fie hatte ja 
ihre Kinderlaunen immer entfchuldigt; es fogar entſchul⸗ 
bigt, ald geftern am fpäten Abend fie noch einmal zu 
einer Ruͤckſprache bei ihr eingetreten war und auf ihr 
Zureden nichts ald Tränen und ſtumme Senfzer erwidert 
befam. 

Diefe Hartnädigfeit, neben manchem anderen, nicht 


983 Fran Erdmuthens Iwillingsföhne 


bloß Außerlichem, nahm die Gedanfen der Mutter in Ans 
fpruch. Schon geftern mein leidenſchaftlicher Widerfpruch, 
heute die von tiefer Erfchütterung zeugende Predigt neben 
dem Berweigern des Aufgebotd und endlich meine un⸗ 
erflärte Entfernung, da doc, fo Bedeutendes zwifchen 
und abzufpredhen war, alles das ftel ihr ſchwer aufs 
Herz. Sie befchloß eine ernfte, mahnende Vorſtellung 
an den Sohn, bevor fie den unwiderruflichen Aft ges 
fhehen ließ. Da nun am Nachmittage die Gerüchte 
eines unfernen Kampfes fie beftürmten, wurde fie von 
dem unartigen Kinde vollends abgezogen. 

Erft als bei eintretender Dämmerung bie alte Franzsfin 
zuruͤckkehrte, wirklich mit etwas Vierfüßigem, das fie ein- 
gehandelt hatte, aber ohne Liska und ohne von ihr zu 
wiffen, als fie vergebend in Haus und Garten, in ber 
Pfarre, der Stadt gefucht ward, ald ohne Antwort ihr 
Name zwifchen die Trümmer der Ruine gerufen warb, 
- fein Menfch fie feit nachts, wo ein Knecht fie über den 
Hof ſchleichend bemerkt haben wollte, gefehen hatte, erft 
dann wurde die Sorge überwältigend und konnte die 
Enthuͤllung nicht länger verzögert werden. 

Die Barbe hatte die Tage rafch überfchautz fie faßte fie 
fhärfer auf, als fie in Liskas Charakter begründet lag. 
Die Unglüdfelige war entflohen, heimlich, ſchon in der 
Nacht entflohen zu Raul, den fie noch in Wittenberg vers 
mutete. Sch hatte die Flucht entdeckt und verfolgte fie; 
ohne Zweifel würde ich fie auffinden und bald zurüd- 
führen; weit konnten ihre Füße fie ja nicht getragen 
haben, Helfershelfer hatte fie nicht, Raul war ununters 
richtet und voraugfichtlich in den ausgebrochenen Kampf 
verwidelt. 


Sechſter Abſchnitt 883 


So loͤſte fidy das Geheimnis nadter, fchroffer, graufamer, 
ald alle Furcht vorausgefehen hatte. Die Wirkung war 
erfchätternd, felber für das Herz des hartgeftählten Weis 
bes, das den Schleier lüftete. Zum erften Male im Leben 
fhwanden Frau Erdmuthen die Sinne, und ed mwährte 
lange, bis die entfegliche Wahrheit ihr klar vor Augen 
ftand. Dann aber handelte fie feft entfchloffen, ohne 
Wanfen. Sie traf alle Vorkehrungen zur fchleunigen 
Entfernung der beiden Frauen, fobald die Flüchtige auf- 
gefunden fein werde; Madame Barbe felber im fürzlic, 
eingehandelten Vehikel machte ſich auf den Weg, Liskas 
Spur in der Heide aufzuſuchen; der brave Gerichtöbirefs 
tor eilte bei Nacht und Mebel zu Fuß nad, Belzig, um 
von General Hirfchfeld einen Oeleitfchein zu erwirfen, 
der bie reifenden Frauen ungehindert die preußifche Linie 
paffieren ließ; er felbft, wenn nicht ich, follte fie begleiten, 
bis fie innerhalb der franzöfifchen Zone in Sicherheit fein 
würden. Alle Einleitungen wurden wie für eine fcheidende 
Tochter getroffen, aber wiederfehen wollte die Mutter fie 
nicht. - An Herrmann fchrieb fie einige Worte, in denen 
fie ihn befhwor, auf dem Wege nach Arnheim umzus 
fehren. Der zuverläffige Inſpektor, zur Hälfte in die 
Lage eingeweiht, zur Hälfte fie ahnend, wurde dem Ers 
warteten entgegengefendet; möglich, daß er noch das 
Förfterhausd erreichte, vor welchem ein Begegnen mit 
Sicherheit anzunehmen war. 

Kaum aber hatte der Abgefandte ſich entfernt, ald von 
der Stadtfeite ein Alarmfignal gehört wurde. Auf dem. 
Hofe verbreitete ſich die Kunde, daß ein fächfifcher Spion 
in der Nähe der Ruinen entdeckt worden fei. Mit der 
Ahnung des Entfeglichften verließ die Mutter das Haus, 


584 Fran Erdmuthens Swillingsföhne 


Rauls vermegener Ritt bis an die Außerfte Grenze des 
feindlichen Rayons kann nur erflärt werden durch feine 
perfönliche kecke Sorglofigkeit und durch die allgemeine 
Untenntnis der verbindeten Stellungen. Hatte Raul am 
Morgen den alten Schäfer ja nicht einmal befragt, ob 
die Gegend feindlich befegt fet. Die nachmittägigen Bors 
poftengefechte erfolgten gegen dad Tauengienfche Korpg, 
das mit leichter Mühe noch weiter nad) Often zurüdges 
ftoßen werben würde. Die Hauptarmee vermutete man 
in weltlichen Stellungen, einen Elbübergang fuchend. 
Die Kunde von dem vernicdhtenden Faiferlichen Siege bei 
Dresden hatte überdied wie ein Raufch die legte Vorſicht 
eingeſchlaͤfert. 

Die Feldwege, welche Raul beim zweiten Ausritt aus 
Seyda, ſchon in der Daͤmmerung, paſſierte, waren men⸗ 
ſchenleer. Es war eine faſt muͤßige Frage, welche er an 
die ihn bemerkende Foͤrſtersfrau ſtellte, wahrſcheinlich nur, 
um den eigentlichen Zweck ſeiner Gegenwart zu bemaͤn⸗ 
teln. Er haͤtte nicht Raul ſein muͤſſen, wenn er auf den 
unerwarteten Beſcheid hin, ſo nahe dem Ziele, umgekehrt 
wäre. uͤberdies, je tiefer in der Nacht er den Rückweg 
antrat, um fo ungefährdeter durfte er ihn vorausſetzen. 
Wuͤrde er aber das Schifal ded morgenden Tages von 
feinen Freunden abgewendet haben, wenn er fein perfün- 
liches Wagnis aufgebend, die Erfundigung vervollftändigt 
und jene rechtzeitig davon unterrichtet hätte? 

Welches war denn nun aber fein Vorhaben, ald er auf 
Liskas Hilferuf bin fein Kommen verfprady und breift 
genug vollbradhte? Die Geliebte aufs Pferd nehmen und 
ind Blaue hinein entführen? Ja, in Polen oder in 
Spanien einft wärbe fold, ein Don Juanſtreich ihm zus 


Sechſter Abfchnitt 885 


zutrauen gewefen fein. In dem Haufe feiner Mutter - 
nimmer. Oder: der Mutter und dem beleidigten Bruder 
in der verhängnisvollen Stunde mit einem offenen Bes 
fenntnid gegenübertreten? Er würde nicht dad Herz 
dazu gehabt haben, auch wenn dad Schloß von Feinden 
unbefegt geweſen wäre. Er hattenur mit Einer zu unter⸗ 
handeln, und die Eine wußte er unentdedt zu finden. 
Konnte fie ſich verborgen halten, bis am Morgen durd; 
das gegenfeitige Vorrüden der Armeen eine entfcheidende 
Szene verhindert war, gut. Konnte fie ed nicht, nun fo 
mußte fie die halbe Wahrheit, das heißt ihren Wider⸗ 
willen gegen eine Verbindung mit Herrmann - ohne den 
Grund desfelben — eingeftehen; unter allen Umftänden, 
womoͤglich ſchon am anderen Tage, mußte die Reife nadı 
Tranfreich auf Nimmerwiederfehr angetreten werben. 

So die heimifchen Zuftände, wie fie ſich feit meiner 
fruchtlofen Entfernung geftaltet hatten. Würde meine Ans 
wefenheit die Kataftrophe gemildert, Neden und Schwei⸗ 
gen zu rechter Zeit fie gehindert haben?  Entfcheidets. 
Es wäre nicht das erftemal, daß ein Knoten, der durch⸗ 
hauen werden mußte, in der Hand eined Schwaͤchlings 
zur Schlinge wurde, oder daß es fich rächt, wenn ein Tor 
fi, vermißt, in ein reif gewordenes Schickſal hemmend 
einzugreifen. Was treibt, das muß gedeihen! 

Endlich, endlicd, lag die Heide hinter mir, die Heide im 
Sturm. Mein Weg mündete abfeiten der Ruine nahe 
der Pfarre. Zur Rechten blickten die Lichter der Stadt. 
Ich merfte eine lebhafte Bewegung, Hörnerruf ertönte; 
ein paar von der Befagung eilteri an mir vorüber. 

Dicht vor meinem Haufe überholte mid) der ſchwediſche 
Leutnant, ber mein Quartiergaft war und ald Pommer 
IX 2% 


386 Frau Erdmuthens Zwillingsfähne 


beutfch fprach. „Blinder Lärm!“ rief er mir lachend ent» 
gegen. „Unfere Leute wollten auf die Spur einer ſaͤchſi⸗ 
fhen Uniform gefommen fein, die in unferem Revier 
refognofzierte. Sie dadıten an eine Umgehung, eine 
Überrumpelung. Welche geographifche Unmöglichkeit 
fcheint denen nicht möglich, die nie einen Bli auf eine 
Landkarte getan haben! Der fächfifche Spion entpuppte 
ſich als ein preußifcher Adjutant, der ben Befehl zum ſo⸗ 
fortigen Aufbruch aus dem Hauptquartier brachte. Das 
omindfe Pferd, das innerhalb der Ruine angebunden war, 
hat der Gutsinfpeftor, der den preußifchen Offizier zu 
fennen fchien, für das feinige erfannt. Wie werden die 
Preußen uns auslachen, daß wir den tapferen Ney für 
einen Herenmeifter gehalten, der nahe daran war, feinem 
ci-devant Kollegen das Netz über dem Haupte zufammens 
zugiehen.“ 

„Und wann enthüllte ſich das Quiproquo?“ ftammelteidh. 

„Bor zwei, drei Minuten, fo lange ald man braucht, um 
vom Klofter nad) Ihrem Haufe, Herr Prediger, zu eilen.“ 

„Und wiffen Sie, wohin der Adjutant fich gewendet 
hat, Herr von Mühlenfels?“ 

„Möglich, daß er unferen Hauptmann nad) dem Schloffe 
begleitet hat; wahrfcheinlicher, daß er unmittelbar in 
das Hauptquartier zurücgeritten if. Wir rechnen für 
morgen auf eine Aktion. Hören Sie, ed wird zum Sam- 
meln geblafen. Sch fehe Sie wohl noch vor dem Aus- 
marſch, Herr Pfarrer.“ 

Er eilte nach der Stadtſeite; ich hatte aufs Schloß ge⸗ 
wollt; aber ich ſah von dorther etwas Weißes ſich die 
Ulmen entlang bewegen; ich rannte dem Schimmer nach. 
„Liska, Liska!“ rief ich. Kein Einhalt, keine Antwort. 


Sechſter Abſchnitt 387 


Am Kloſterhof hatte ich die Geſtalt bis auf wenige 
Schritte erreicht. Es war nicht Liska, — es war die Mutter. 
„Bleiben Sie zurüd“, flehte ich; aber fie hörte nicht; fie 
ftürzte voran, ich hinter ihr drein. 

est ftand fie unter der Kapellenpforte, bleich wie ein 
Grabesbild. Sie wußte alles; und was ihr Auge jekt 
erfaßte, mit einem einzigen Blick, was ihr Ohr mit einem 
einzigen Laut, das war nur die Beftegelung. 

Shr gegenüber unter dem erhellten Lampenfchrein ftan- 
den aneinandergeflammert Liska und Raul. Der Alarm 
vor der Ruine hatte fie in den äußerften Winkel gefcheucht. 
Er hielt den Degen gezogen und horchte gefpannt rüd- 
wärts nach dem Gemäuer; ald aber der Schein meiner 
Laterne von der entgegengefeßten Seite in dad Halb⸗ 
dunfel drang, rieß er fich aus den umſtrickenden Armen 
und flürzte und entgegen. 

Es war bie Regung eined Augenblicks, nicht länger als 
die zwei Silben brauchten, die gleichzeitig, wie ein Don- 
nerfchlag, die Mauern durchhallten: „Schurfe!” Das 
erfte Wort, das nad) acht Sahren der Bruder in das Ohr 
des Bruders fchrie. Fahl wie ein Gefpenft ftand Kerr: 
mann zwifchen dem gottverlaffenen Paar. 

Der Stahl eines Nafenden züdte auf feine Bruftz er 
würde fie durchbohrt haben, hätte der Arm der Mutter 
den Streich nicht aufgehalten. Sie lag am Halſe des 
Sohnes, Blutötropfen riefelten über ihr weißes Gewand. 
Den Tod, aber nicht die Todfünde hatte fie abgewehrt. 

„Muttermörder!“ fchrie der Unglüdliche, der fie ge: 
troffen. Wie ein Spielwerf hatte Herrmann ihm den 
Degen aus der erfchlafften Band genommen, Im naͤch⸗ 
ften Moment ftärzte Raul ſich aufihn; hätte er die Waffe 


388 Fran Erdmuthens ISwillingsfähne 


ihm entwinden können, nicht gegen ded Bruders Bruft, 
gegen bie eigene würde er fie gefehrt haben. Nun wand 
er fi am Boden wie ein Wurm. Auch Liska war auf 
die Knie gefunfen. 

Mer zählte die erftarrenden Minuten, die dem jachen 
Augenblic folgten? Wer fchilderte fie? Herrmann war 
der erfte, fich zu faffen. Er Iöfte fi) aud den Armen ber 
Mutter, die ihn noch immer umfchlungen hielt, trug fie 
ruͤckwaͤrts und ließ fie nieder auf die Stufe unter dem 
Lampenfchrein. Ich wand ein Tuch um den blutenden 
"Arm. „Es ift nichts, mein Sohn, nichts!" hauchte fie. 

Raul rutjchte auf den Knien nad) ihrem Site hin. Er 
wagte es nicht, ihr Kleid, ihre Füße zu berühren, aber er 
faugte die Spuren ihred Blutes vom Boden auf. Herr⸗ 
mann ftand ihr zur Seite, feine Hände ftägten ihr Haupt, 
bas ſich an feine Knie lehnte. 

Wieder war ed minutenlang ftill; nur des Unglüdlichen 
Bruft ftöhnte in Todesqual. Die Mutter erhob fi: 
„Komm, mein Sohn.”, fagte fie mit bemühter Kraft. 
Sie wollte fidy entfernen; fie ſchwankte und zitterte nicht. 
Herrmann faßteihre Band. „Biſt du ftarf genug, meine 
Mutter, für die Entfcheidung, welche dieſe Außerfte 
Minute heifcht?“ fragte er. 

Sie hielt den Schritt an und neigte befahend das Haupt. 
Sie und ich erwarteten einen Richterſpruch. Er ſchwieg 
einige Augenblide, dann fagte er fehr Ieife und langſam, 
jeded Wort gewogen, der Leidenfchaft abgerungen: 

„Iſt ed noch dein Wille, Mutter, daß diefe — Dame 
ald Tochter in deinem Haufe weile?“ 

Die Mutter fah ihm groß in die Augen; fie hatte ihn 
nicht verftanden. 


Sechſter Abfchnitt 889 


„Senehmigit du,” fuhr er noch leifer fort, auf bie 
beiden deutend, die vor ihr am Boden lagen, - „ges 
nehmigit du die Ehe — zwifchen diefem Mann - und 
diefem Weib?“ 

„Mein Sohn!“ rief die Mutter mit einem Klang, idy 
weiß nicht, ob der Bewunderung oder des Entſetzens. 
Doch neigte fie nad) einer Paufe zuftimmend ihr Haupt 
und legte ed dann von neuem an das Herz ded Sohnes. 

Liska fchien Herrmannd Worte und von dem Trauers 
fpiel vor ihren Augen, in voller Bedeutung, nur diefe 
Wendung zum Glüd verftanden zu haben. Sie fprang 
mit einem Freudenfchrei in die Höhe, preßte ihre Lippen 
auf den verwundeten Arm der Wutter und tat Herr⸗ 
mann entgegen einen Schritt mit dargebotener Band. 
Er zog die feine zurüd und führte die Wutter auf ihren 
vorigen Platz. Dann fagte er zu mir, indem ein felts 
famer Blick mein verwilderted Priefterfleid ftreifte: 

„Bollziehen Sie Ihr Amt, wiedie brängende Lage es ges 
ftattet.” 

Sch fühlte, daß der geforderte Weiheakt nicht eine Vers 
föhnung, aber Feindſchaft fürs Leben befiegeln werde. 
Nie konnte der eine dieſe geringfchägige Großmut vers 
geben, nie der andere die Unehre, die ihn zu diefer Tat 
ber Ehre trieb. Dennody ſchwankte ich nicht, und auch 
die Mutter neigte zum dritten Male dad Haupt tief herab 
auf ihre Bruft, ald beuge fie fid) dem ficherften Willen. 

Ich näherte mid Raul, ihn vom Boden zu erheben. 
Er ſtieß mid, zuruͤck. „Ich will nicht!” knirſchte er. 

„Mein Raul!” fagte Liska Fofend, indem fie mit beiden 
Armen feinen Kopf umfdhlang. 

„Sch will nicht!” wiederholte er. Seine Züge waren 


390 Fran Erdmuthens Zwillingsfähne 


verzerrt, die Hände geballt; Schaum ftand vor feinem 
Munde. Er glich einem Wahnfinnigen oder vom Krampf 
Defallenen. 

„Raul, mein Raul!” jammerte die Geliebte. Er achtete 
nicht darauf. 

Da fagte auch die Mutter: „Raul!“ Sie fagte ed mit 
gebietendem Ton, wie er ihn niemals von ihr vernommen 
hatte. Aber ſchon fein Name aus ihrem Munde elek⸗ 
trifierte ihn. Er ſchleppte fich Auf den Knien an fie her 
an, brücdte die Lippen auf ihre Wunde, erhob fidy und 
folgte meinem Wink an den feit kurzem wieder aufge- 
richteten Altar. Herrmann trat an ihn heran, ihm den 
Degen zurüdgebend, dann nahm er wieder feinen Plag 
hinter der Mutter. Liska ſchwebte an die Seite ded Ges 
liebten; das, was fie von der Qual des rafchen Vorgangs 
mitempfunden, zerfchmolz unter der Seligfeit des Beſitzes 
und einer unbefangenen Dankbarkeit gegen den, welchen 
fte fchon einmal ihren Schugengel genannt hatte, 

Und fo gab ich denn unter den Trümmern und nach der 
ftrengen Regel von drei Sahrhunderten Liska und Raul von 
Saint Roc für Zeit und Ewigkeit zufammen ald ein ehes 
liches Paar. Laut und Form der Handlung war der einen 
fremd, dem anderen war fie eine zwingende Folter. Sie 
wechfelten die Erbringe ihres Gefchlechts, die fich auf fo 
feltfame Weife zueinander gefunden hatten; aus ber 
zudenden Hand Flirrte der feine zu Boden, und ald auch 
das bindende Wort gefordert wurde, vernahm ich von 
feinen Lippen nur einen Fnirfchenden Ton, während Liskas 
Fa freudig den Raum durdhfchallte. Sch ſprach das Ge- 
bet und blickte auf. Der Plag hinter der Mutter war leer. 
Herrmannd Schritte verhallten zwifchen dem Gemaͤuer. 


Schfter Abſchnitt 394 


Raul wehrte Liskas Umarmung ab; er flarrte auf die 
Mutter, der er nicht zu nahen wagte. Sie trat auf ihn 
zu ohne Segenöwunfch für den fträflichen Bund; aber 
mit reiner Wutterliebe reichte fie ihm die Hand, an der 
die Blutfpuren hafteten. Schaudernd brach er in einen 
ZTränenftrom aus. „Dein Blut, bein Herzblut, Mutter!“ 
fchluchzte er. Sie flüfterte: „Daß ich den legten Tropfen 
zu deiner Sühne vergießen dürfte.“ 

„Mutter, Mutter, fei wieder gut!“ bat Liska, ihre 
Hände küffend. „Was können wir dafür, daß wir und 
fo lieb gehabt?“ 

Bon der Stadt her tönte von neuem Hoͤrnerruf. „Eilen 
Sie, Raul," fagte ich. „Es ift feiner mehr hier, der Sie 
beſchuͤtzt.“ 

„Ach nein, ſie gehen ja fort. Bleibe, bleibe bis zum 
Morgen”, ſchmeichelte Liska, ihn umfaſſend. 

„Geh, Raul!“ gebot die Mutter. 

Er ſank noch einmal zu ihren Füßen, preßte noch eins 
mal die Lippen auf ihre Wunde, raffte fi) dann auf und 
ftürzte, ohne der Geliebten zu achten, von bannen. Wenige 
Augenblice, und wir hörten den Tritt feines Pferdes in 
der Beide verfchwinden. 

Sch führte die Mutter über den Klofterhof nach dem 
Schloſſe zuräd, Kein Wort wurde gefprochen. Vor dem 
Portal überholte und Liska, die Dem Geliebten durch die 
Ruine nachgeflogen war, ohne ihn zu erreichen. Gie 
ftrahlte von Gluͤck und wirb niemals füßer geträumt 
haben, als in diefer Hochzeitsnacht. Als ich nad) der 
Pfarre zuruͤckging, verließen die Schweden die Stadt. 
Der feindliche Spion, den fie verfolgt hatten, entfam in 
der Aäußerften Minute. 


892 Frau Erdmuthens Zwillingsföhne 


Dad Schwert über dem teuerften Haupte war gefallen, 
fchärfer, zerfchneidender, als die Ängfte ed geahnt. Aber 
ed war gefallen. Es gab fein Wenden und Winden 
mehr. In der vergangenen Nacht zitterte ich, in dieſer 
habe ich gefchlafen! 





® z ® 

Es Tiegt in der Frauenfeele ein Hort, der unter den 
Schlägen des Schickſals nicht zertrümmert, fondern nur 
immer ftärfer feine Süllen fprengt; wo Wunden zu heilen 
und Tränen zu trocknen find, wo es eine Bürde zu teilen 
gibt, da fteht aufrecht Die Liebe, welche ihre Freuden bes 
graben hat. 

Und fo fand auch die Mutter, deren Herz in bdiefer 
Nacht ein fengender Strahl getroffen hatte, an demalten 
Freudenmorgen ihres Hauſes bleich und ftill, aber feit 
gerichtet auf ihrem Grund, waltend der Tiebe, die je mehr 
und mehr ihr Tagewerk werden follte; der Liebe, von der 
es heißt, fie wird dich tröften, wie eine Mutter tröftet. 
Die alte Franzöfin nahm an dem Herzeleid der Frau, 
die fie mit Überzeugung eine Heilige nannte, doppelten 
Zeil, weil ihr Mutterfinn ed nur zur Hälfte verftand; 
fie hatte feinen Sohn, der einen Bruder berauben Eonnte. 
Nachdem die nächtliche Kataftrophe ihr kecklich behaups 
tetes Entweder⸗Oder fo unerwartet vereitelt hatte, würbe 
fie am Morgen in mißmütigfter Stimmung ihre Beidht- 
und Heimfahrt ohne Begleitung angetreten haben. 

Da aber ihr für die Schallwellen, welche der Pulvers 
dampf erzeugt, fein zugefpigtes Ohr fchon in der Frühe 
eine ftarfe Aktion gegen Oſten hin auefpürte, wurde eö 
{hr vergönnt, mit einem trefflichen Abfchluß aus dem 


Sechſter Abſchnitt 38 


liebgewordenen deutſchen Haufe zu ſcheiden. Ohne Bes 
finnen verfchob fie die Abreife, rüftete und ordnete mit 
erprobtem Geſchick und zog an der Spige der Fuhrwerke, 
die erft in der Nacht aus dem Bülowfchen Lager heim 
gelehrt waren, im eigenen, glüdlic, erhanbelten Vehikel 
dem Schalle nach durch die Heide. 

Mid, hatten Amtögefchäfte zurücgehalten; um Mittag 
aber hielt der Infpektor zu unferer Abfahrt bereit in 
Herrmannd Wagen, den die Mutter mit ganz befonderer 
Sorgfalt ausgerüftet hatte. „Für das Opfer!” fagte fie 
leife zu mir, bad einzige Wort, das fie an diefem Tage 
fprady. Sie hatte die Schuld nicht geahnt, der harrenden 
Sühne war fie fich bewußt. 

Liska kam in den Hof, in rofenfarbenem Kleid mit 
Blumen gefhmädt. Sie hatte ſchon die Barbe begleiten 
wollen; nun bat fie audy mich: „Nehmen Sie midy mit”, 
und als ich wie jene ed kurz verweigerte, fchalt fie mich 
„Barbar!" An Gamariterdienfte dachte fie natürlich 
nicht; fie dachte nicht einmal ernftlich an Gefahr für den 
Einzigen, beffen Wohlfein ihr werter ald das eigene 
Wohlfein galt. Er hatte ihr von dem ZTriumphe des 
Kaiferd gefprochen; fie nahm die geftrigen Vorftöße 
für gewonnene Schlachten, das heutige Feuer mochte ein 
kleines Nachfpiel bedeuten; für den tapferften der Mars 
fchälle gab es feinen Halt; die Straße nach der preußis 
ſchen Hauptſtadt lag offen ohne Widerftand, den Siegen 
folgte der Friede, dem Frieden die Seligfeit im Beſitze 
des geliebten Mannes. Gie wollte nur ihm näher fein, 
ihn, und wäre ed aus der Ferne nur, fehen, von ihm 
hören, vielleicht auf eine Stunde ihn mit fidy führen, 
ebe er an der heimatlichen Heide vorüberzog. Wie es 


394 Frau Erdmuthens Iwillingsföhne 


Magnete gibt für das Sonnenlidht, fo war das Herz 
dieſes Weibes ein Magnet für das Freudenlicht. Sn 
der Glut der Leidenfchaft hatte fie ed aufgefogen, nun 
ftrahlte fie ed aus inmitten der Todesfchatten, die fie um⸗ 
fchmwebten. 

Wir fuhren auf dem geftrigen Wege durch die Heide; 
wieder faufte und ftöhnte ed unter den Wipfeln, wieder 
wirbelten Staub und bürre Nadeln uns ind Geficht, 
wieder famen wir an zerftampften Feldern, an zerftörten 
Dörfern vorüber, und die hungernden Bewohner waren 
nicht müde geworben, zu aͤchzen und zu ſchreien. Auch 
das Knattern und Rollen der Salven drang aus der 
geftrigen Richtung zu und herüber, nur viel näher, ftärfer, 
dauernder. Weiter am Nachmittag zog es ſich vernehms 
lich nadı Welten hin; das war fein Treffen mehr, das 
war eine Schlacht! 

Sn den von den Schweden befegten Ortfchaften wurde 
zum Aufbruch gefammelt, auch an ruffifchen Kolonnen 
famen wir vorüber; oftmald ward unferem Wägelchen 
ein Riegel vorgefchoben, wir mußten ausbiegen nach links 
und rechts. 

Während foldy eines Aufenthalts führte ein Zufall 
unfere am Morgen audgerücdte Hilfskolonne an und vor; 
über, die, dem Schalle folgend, auf den Weg nad) Süter- 
bogf geraten war. Die fundige Führerin hatte Labſal 
ausgeteilt, Wunden verbunden und Blut geftillt nad) 
Kräften, nun leitete fie, fo viele ald die Fahrzeuge faßten, 
in die gute Herberge hinter dem Heideſchirm. Es waren 
Franzoſen und Italiener, alte Kameraden ber tapferen 
Barbe, Oftpreußen und Schlefier, auch ein rufftfcher 
Artillerift; aber von denen, die und zunächft am Kerzen 





Sechſter Abſchnitt 395 


lagen, von Oppens und Gablenzens Reitern, war keiner 
darunter. 

Es iſt etwas Herzbeklemmendes, ſo im Nebel in ein 
gewaltiges Verhaͤngnis loszuſteuern. Heute weiß es jedes 
Kind, wie aus dem ſorgloſen Angriff auf Juͤterbogk, mit 
welchem ber glänzendfte Marfchall des Kaiferreichs auf 
feinem Zuge nach Berlin eine feindliche Abteilung beifeite 
ftoßen wollte, durdy das Standhalten und den entfchloffe> 
nen Eingriff zweier bis dahin unberühmter preußifcher 
Generale die Schlacht von Dennewitz gefchlagen worden 
ift, nad) Zweck, Entwurf und Ausführung die preußifchte 
Tat in dem Befreiungsherbftl. In jener Stunde aber, 
wo Sinn und Vorftellung fi in einem Chaos von 
Dualm und Schall verirrten, gab eine furze Schilderung 
der alten Vivandiere mir den erften Anhaltspunft. 

Nun fah ich die Kämpfer und den Kampfplatz, auf 
welchem die Unſeren die blutige Leſe gehalten hatten. 
Dort zwifchen dem Badı und dem Fichtenbufch hielt 
Durutte, von Reynierd Korps, den Weg verfperrt, als 
Bülow mit der Hälfte feiner Brigaden dem vor der Stabt 
hart bedrängten Tauengien die Hand zu reichen Fam. 
Sch fah auch Herrmann an der Seite feines Generals, 
und als der Erfolg an diefer Stelle gefichert fchien, da 
fah ich beide ſuͤdwaͤrts ſprengen, wo jenfeitd des Baches, 
auf einem dritten Felde, der Reft ihres Korps mit dem 
Nefte Reynierd um den Preis ded Taged rang. Der 
Heft von Neynier aber, das waren die Sadıfen. Bruder 
gegen Bruder, Feind gegen Feind ftand in diefen Stunden 
auf engbegrenztem Raum! 

„Aber woher wiflen Sie das alles?" hatte ich die alte 
Franzoͤſin gefragt, und fie mit höflichem Stolz geantwortet: 


396 Frau Erdmuthens Iwillingsföhne 


„Sch bin die Witwe eines frangöfifchen Offiziere, 
ber ein geborener Stratege war. Und ich bin Wutter, 
mein Herr. Die Intereffen der Frau Baronin find meine 
eigenen Intereſſen, da ic, die Ehre habe, ald Dero Abge⸗ 
fandte auf diefer Stelle zu ftehen. Ich werde der Frau 
Baronin melden, daß idy wenigftend den einen ihrer 
Herren Söhne unverfehrt gefehen habe.“ 

„Sie fahen ihn, Madame Barbe!“ 

„Ich fah und fprady den Herrn Baron, mein Herr. 
Der Herr Baron jagten ventre & terre an mir vors 
über - -" 

„Wann, wo, Madame Barbe?“ 

„Bor einer Stunde, und in ber Richtung der Witten 
berger Straße, von weldyer, wie man fagt, ein preußis 
fcher General zur Aushilfe erwartetwird. ‚Schaffen Sie 
Berbandzeug nach Goͤlsdorf, Sie finden dort Doktor Bär!‘ 
riefen der Herr Baron mir zu. ‚Sch werde dem Befehl 
des Herrn Baron gehorchen, fobald ich diefe Ungluͤcklichen 
unter Obhut Dero gnädiger Frau Mutter geftellt habe‘, 
antwortete ich. Der Kerr Baron hörten jedod; meinen 
untertänigen Einwand nicht zu Ende. Der Herr Baron 
fahen fehr blaß aus, mein Kerr. Eine finftere Falte lag 
auf der früher fo heiteren Stirn. Ob der Stand der 
Schlacht, ob perfönliche Erinnerungen fie eingegraben 
hatte, unterftehe ich mid) nicht zu deuten.“ 

Indem wir nun die von der Barbe bezeichnete Richtung 
nach Goͤlsdorf einſchlugen, gerieten wir in den Zuzug 
der Borftellfchen Bataillone. Wir vermuteten, daß Herr⸗ 
mann ausgefendet worden war, die Befchleunigung ihres 
Bormarfches zu betreiben. Er mochte längit zuräd fein. 
Trab, trab ginge, Inscheltief im Sande, Staubwirbel 


Sechſter Abſchnitt 397 


ins Geſicht. Menſchenhaufen wogten geſcheucht zuruͤck 
und neugierig wieder vorwaͤrts. Immer naͤher drang das 
Knattern und Droͤhnen, immer dichter der Qualm, lauter 
das Hurra der Stuͤrmenden, das Zetergeſchrei der ge⸗ 
fluͤchteten Bauern, das Gewimmer und Gewieher der ver⸗ 
ſtuͤmmelten Kreatur. Das Dorf ſtand in Flammen; bis 
in die Kirche zog ſich das Gemetzel; Borſtell hatte ſeine 

erſten Bataillone vorgefuͤhrt. 

Es gibt in der Gegend ein paar Sandwellen, die wir 
Heideleute Berge nennen; die Windmuͤhlen auf dieſen 
Bergen ſind auf dem waſſerarmen Flaͤming ein wichtiges 
Inſtitut. Auch um die ſaͤchſiſchen Batterien dort oben 
hatte der Kampf ſtundenlang gewuͤtet. Unten im Dorfe, 
oben auf den Hoͤhen, Sturm, Abſchlag und Wiederſturm. 

Ruͤckwaͤrts der Hoͤhen, hart am Waldesſaum, ſtand eine 
weiße Flagge aufgepflanzt; unſeres Doktors Banner! 
Wir ſteuerten darauf zu. Bald ſahen wir die huͤnenhafte 
Geſtalt mit Imperatorenſchritten ſich hin und her bewegen; 
ſein langes, graues Haar flatterte im Winde. 

Welches auch immer die Szene, es iſt immer ein froher 
Anblick, einem Menſchen auf feinem Gipfelpunkt zu be 
gegnen. Nicht im Eifer der Wiffenfchaft, in Hörs und 
Buͤcherſaͤlen; nicht über Land und Meer, wo er die Freis 
heit gefucht, nicht auf dem Siegesfchiffe, wo er den 
fremden Helden fterben fah, auch nicht im Dienfte der 
Menfchheit, an den Kranfenbetten der Armen, ald Frau 
Erdmuthend Knecht: hier in der Befreiungsfchladht auf 
heimifchem Grund ftand Albredit Bär, faft ein Greis, auf 
feiner Gipfelhöhe; hier waltete er fo frei und ficher in 
feinem Element, daß mir war, ald ob alle Wunden, die 
er berührte, heilen müßten. 


398 Fran Erdmuthens 3willingsſoͤhne 


Er hatte ſchon daheim aus eigenen Mitteln eine Hilfs⸗ 
fompagnie angeworben und nadı eigenem VBerftande ge⸗ 
fchult; meiftenteild Studenten, die zu ſchwach waren, die 
Musfete zu tragen. Ed war aber eine Luft zu fehen, wie 
er auch unfer gaffendes, dickfelliges Heidevolk anftellig 
zu machen wußte. Nur Heimatöbrüder üben foldye Macht. 
Hohen Haupts, ein Scherzwort auf den Lippen, umging 
er unter einem Sugelregen den Huͤgel, tapfer die Ge⸗ 
hilfen, zaghaft die Bahrenträger hinter ihm. Bis in die 
lodernden Häufer hinein wurde gefucht und gefammelt, 
dann wieder ruͤckwaͤrts aufden Waldplag hinter der weißen 
Flagge, in das Bereich der Meffer und Zangen, und 
immer von neuem rüftig voran. Mein Begleiter und ich 
hatten und ihm angefchloffen. 

Sein Aumor war in einem wilden Überlauf von Angft 
zu Luft; der wortfarge Spötter hatte fich in einen Schwäger 
verfehrt. Nicht einen Augenblid hielt er den Mund. 
„'s hing an einem Haar, Magifter,“ fagte er, „an einem 
Haar, daß die himmlifchfte Dispofition zum Teufel ging. 
Als der Dudinot anrüdte, ftanden hier unten ihrer fünf 
gegen eind. Schwereangft! Meine Hände habe ich aufs 
gehoben, gebetet wie Altvater Mofes wider den Amalef; 
gefchrien habe ich: Borftell, fomm, Borftel, fomm! Noch 
auf dem Marfche hat diefer gottverdammte Schwede ihn 
anf den zweiten Rang feiner Zufchauerbühne komman⸗ 
dieren wollen. Ein ewiges Gluͤck, daß diefe Preußen vom 
alten Sfegrimm gelernt haben, gelegentlich eine Inſub⸗ 
ordination zu veruͤben. Magifter, fo ein widerborftiger, 
preußifcher General, das ift Euch ein kuͤſſenswerter Gegen» 
ftand! Seht die ffandinavifchen Orgelpfeifen dort oben, 
bie haben auch contre ordre aufgeipielt. Die Hauptſache 


Schfter Abſchnitt 399 


ift nun fertig. ZTauengien und Thuͤmen haben drüben 
reinen Tifch gemacht. Soldy eine Bande preußifchen Ges 
findels, den Bravften der Braven in den Sumpf zu 
fchmeißen - pfui Teufel! Hier unten ift freilich die Nuß 
nod hart, und fein renitenter Preuße mehr vorhanden, 
der fie knacken könnte. Aber was ift dag? O beätise, 
o göttliche betise der geiftreichften Nation! Magifter, 
feht, Snfpeftor, feht! — Schaut doch nur, fchaut!“ Der 
alte Bär fprang wie ein junger Bod: „Monfteur Oudinot 
zieht ab, er zieht zu feinen glorreichen Brüdern in den 
Sumpf. Nun Gnade Gott unferen armen Sachſen!“ 

Wir fanden während der legten Worte neben dem 
MWindmühlenftumpf, vor welchem eine ſchwediſche Batterie 
ſich eigenmächtig einlogiert hatte. Das dreiteilige Schladhts 
feld im Aagrunde follte ſich von hier aus überfchauen 
laffen. Der Doktor fagte ed, indem er mir feinen Tubus 
vor die Augen hielt. Ich freilich fah nichts als die Feuer- 
faulen im Dorfe, das die Preußen zum legten Male ers 
ftürmt hatten. Qualm und Staub fraßen mir in ben 
Augen und herbe, herbe Tropfen! Sch mochte auch nichte 
weiter fehen, ich hatte an dem Graufen, zwifchen dem ich 
ftand, genug und an dem „Gnade Gott unferen armen, 
verlaffenen Sachſen!“ 

Da lagen fie zu Saufen über und unter den Preußen, 
verfchmachtend, zerfeßt, verbrannt, erfchlagen, durchbohrt. 
Zaufend Hände wären nur für die erfte Hilfe nicht zu 
viel gewefen. Der Doktor arbeitete wie ein Bär, und 
ftatt zu brummen, funsnte er dad Gaudeamus. Manches 
befannte Geſicht war unter denen, von denen ed hieß: 
„Borbei! In die Grube!“ Unfer armer Infpeftor erfuhr, 
daß fein Bruder vom Regiment Low fchon vor zwei 


400 Fran Erdmuthens Swillingsföhne 


Wochen hineingebettet worden war. Aber der Kieß von 
Nie erhielt das gewünfchte Teil. Seinem Jungen von 
den Epfchelmigfchen war ein Auge ausgefchoflen, und 
obendrein nur das linfel Der Alte ſchwenkte vor Vers 
gnügen die Pudelmüge in die Luft, zog feine Wurft aus 
ber Tafche, befah fie hin und her, fchob fie ſachte dem 
Doktor zu und ſteckte fie fchmunzelnd wieder ein, ald der 
Doftor feine Miene machte, fidy für die frohe Botfchaft 
belohnen zu laffen. Nach dem Verband Iud er feinen 
ungen auf einen Schiebfarren, um ihn zur Önädigen 
in das Schloß zu fahren. Seelenvergnügt, denn mit 
einem Auge würde der Schinderhanned den Jungen 
doch nicht wiederhaben wollen, wenns auch das rechte 
Auge war. 

Es dunfelte bereits. Das Dorf war zum legten Dale 
von den Preußen erftürmt. Was von unten herantobte, 
war fchon die Flucht, die wilde, kopflofe Flucht. Bon 
den Brüdern nicht eine Spur, nicht eine Kunde. Kein 
einziger preußifcher oder fächfifcher Reiter lag auf dem 
Felde, wo wir „geftoppelt” hatten. Der Doktor, wie 
nad, ihm die alte Franzöfin, hatte Herrmann gefehen, 
als er, mit feinem General von dem Kampfe bei Nieder- 
görsdorf eingetroffen, in der Richtung voranjagte, von 
welcher Borftell fo fehnfüchtig erwartet wurde. Es war 
in dem Ffritifchen Moment, wo das Dorf zum zweiten 
Male verloren, die Mannfchaft erfchöpft, Fein Erſatz 
mehr vorzuführen war und Oudinots Heranzug fich immer 
ftärfer entwickelte. 

„Ihr hättet unferen Dann nicht wiedererfannt, Mas 
gifter,” fagte der Doftor. „Die Scylachtenfurie über» 
pinfelt aus einem preußifchen Topf. Geſtern nachmittag 


Sechſter Abſchnitt 401 


— — — — 





roſenrot wie ein Braͤutigam, heute morgen ſchwarz auf 
weiß, wie einer von den fahlen Reitern der Apokalypſe. 
Das Gift gegen den Schweden prickelte ihm aus allen 
Poren.“ 

Wenn es doch nur Gift gegen den Schweden geweſen 
waͤre, das in ihm prickelte! ſeufzte mein Herz. 

Er mußte ſeit Stunden von jenem Ritte zuruͤck ſein, 
konnte ſeit Stunden ſeinem Bruder, ſeinem bitterſten 
Feinde, gegenuͤber geſtanden haben. Der ſchwediſche Ar⸗ 
tilleriehauptmann hatte einer glaͤnzenden Attacke erwaͤhnt, 
welche die Oppenſche Kavallerie gegen die von Reynier 
ausgefuͤhrt. Das Terrain war nicht ſo ausgedehnt, die 
Zahl der Kaͤmpfer nicht ſo groß, daß zwei einander un⸗ 
bemerkt hätten bleiben können, die eifrig einander ſuch⸗ 
ten, wenn auch nur, um fich auszumweichen. Ich war 
entfchloffen, an diefer Stelle auszuharren, und wäre es 
die Nacht hindurch, um der Mutter fagen zu koͤnnen, 
wie die Entfcheidung gefallen, vor der fie fieben Jahre 
lang gezittert hatte. 

Und id) follte nicht lange mehr auf diefe Entfcheidung 
warten. 

Ein wildes Getümmel wogte aus dem Grunde herauf; 
von allen Seiten drängte der Schwarm ber Verfolgten 
und Verfolger. Rüdwärts fperrten die Ruffen die Wits 
tenberger Straße, vorwärts auf der nadı Torgau ftaute 
ſich vor Dennewig der Troß der bei Süterbogf und Nies 
bergölsdorf Gefchlagenen. Wirr und zügellos wälzten 
fidy die Knaͤuel nach dem Waldesdunkel. Vergebeng, 
daß wir unfere Verwundeten hinter den Bäumen ges 
borgen und und unter dem weißen Banner in des Dofs 


tors Hand wie eine Hede vor ihnen aufgeftellt hatten. 
xX. 26 


4028 Frau Erdmuthens Zwillingsfähne 


Mancher arme, verſtuͤmmelte Leib wurde von Menſchen⸗ 
und Huftritten zermalmt. 

Jetzt ſchwaͤrmt wieder eine Wolke daher: rote ſaͤchſiſche 
Dragoner; hinter ihnen dunkle, preußiſche Ulanen. Auf 
einen Wink des Fuͤhrers zieht ſich ein Wall von Lanzen 
ſchuͤtzend um den Friedensplatz. „Herrmann!“ ſchrie ich 
auf. „Viktoria!“ jauchzte der Doktor. „Aber ſteigen 
Sie ab, Sie bluten, Mann!“ 

„Es iſt nichts!“ ſagte Herrmann und wollte weiter. 

„Nicht viel, ſo Gott will. Aber ſchade um jeden un⸗ 
nuͤtzen Tropfen Heldenbluts. Fuͤr die armen Teufel 
dort hinten ſorgen ſchon die Koſaken.“ 

Herrmann ſtieg ab; er trug das eiſerne Kreuz auf der 
Bruſt und hatte einen Saͤbelhieb uͤber der Hand. Sein 
Geſicht war mit einer Schicht von Qualm und Staub 
überzogen, aber die finſtere Stirnfalte hatte ſich ge⸗ 
glaͤttet, und ſeine Augen leuchteten. 

Der Doktor preßte ihn an ſeine Bruſt wie einen Sohn. 
Es iſt das einzige Mal, daß ich Albrecht Baͤr einen 
Menſchen habe umarmen ſehen. Waͤhrend er die Wunde 
auswuſch, ſagte er: „Schaut ihn an, Magiſter. In ſol⸗ 
chem Glanze werdet Ihr dieſen Mann nicht wiederſehen, 
auch wenn Ihr ihm eines Tages die Hochzeitsrede haltet.“ 

Es durchzuckte Herrmann; aber nur einen Moment; ſein 
Auge und Ohr, ſein ganzes Weſen ſpannte nach einem 
dunklen Knaͤuel, der aus der Ferne herandraͤngte. Ohne 
ein Wort zu ſagen, riß er ſich los, ſchwang ſich aufs 
Pferd und ſprengte von dannen. Das Verhängnis er⸗ 
fuͤllte ſich. 


* * 


Sechſter Abfchnitt 403 

Daß ichs furz fage, was zu fagen bleibt. Nachzuſagen; 
denn miterlebt habe ich ja nur das Ende. 

„Ihr Deutfhen müßt alle maſſakriert werden, ehe ihr 
gegen ung fechtet.” Ob diefes graufame Wort zwifchen 
den Schlachten von Großbeeren und Dennewig wirklich 
von einem franzöfifchen General fo nadt hin, wie die 
Rede lief, ausgefprochen worden ift? Ich glaube es 
nicht; aber das weiß ich, daß es eine von den Schmäs 
hungen war, die und dad Herz ummenden, welches den 
begeiftertften deutfchen Anhänger des Kaifers, den Mann 
mit dem wieder aufgelebten franzöfifchen Namen, mit 
dem franzöfifch wallenden Blut wie ein Todesſtreich ges 
troffen hat. 

Eine Fügung, die wir fo leichthin Zufall nennen, hatte 
die Brüder auch in dem engeren Ringen biefed Tages 
auseinander gehalten. Während der eine mit den Sad)» 
fen um Gölsdorf fämpfte, ftand der andere neben Bülow 
gegen Durutte. Dann kam die Sendung zu Borftell, 
und ald Herrmann mit der fieghaften Botfchaft: „Er 
kommt!“ zuruͤckkehrte, um an dem Oppenfchen Reiters 
angriff teilzunehmen, da war Raul abwärts in Neys 
Hauptquartier. Reynier hatte ihn dorthin entfendet in 
dem fritifchen Augenblick, ald der Befehl des Aufbruchs 
nach Dennewig an das zwölfte Korps erlaffen worden 
war, während bei den Gegnern nicht nur Borftell eins 
traf, fondern audy die fchwedifchen und ruffifchen Spigen 
ſich näherten. 

Maul fieht die Niederlage Bertrands und Duruttes, 
fhon drängen Tauengien und Thuͤmen über Dennewiß 
hinaus; hier ift nichts mehr zu halten. Nur auf dem 
linken Flügel kann die Schlacht noch zum Stehen ges 





404 Frau Erdmuthens Iwillingsföhne 


bracht, morgen fiegreid) erneuert werden, falld Oudinot 
bleibt. Ehre oder Schmach des Tages hängt an dem 
zurüdgenommenen Befehl. 

Alles das fchildert er, er befchwort, er fleht aus fran⸗ 
zöfifchem Herzen, in der Glut für den Ruhm dee Helden, 
den er wie einen Kalbgott verehrt. Nun fteht ihm Der 
Heros gegenüber in fchäumender, finnlofer Wut, inmitten 
feiner gefchlagenen franzöfifchen Korps, und der Sadıfe 
muß fich ind Geficht fchleudern laſſen, daß die Feigheit 
feiner Landsleute, fie allein! das Unglüd des Tages vers 
fhuldet habe. 

Zwei Wochen früher, nach Großbeeren, hatte Raul die 
gleiche Befchuldigung ohne Widerrede angehört und nach⸗ 
gefprochen. Nie hätte er einem beutfchen Führer das 
Genie eines franzöfifchen, nie einer deutfchen Truppe, 
und wäre es die eigene, Die Bravour einer franzöfifchen 
zuerfannt. Heute hatte er mit den Sachſen gekämpft, 
ihre Anftrengungen geteilt, ihre Opfer fallen fehen; heute 
war der Vorwurf eine Schmad; für ihn felbft, ein Flecken 
auf dem eigenen Ehrenfchild. Alles, was gerecht in ihm 
heißt, was Menfchliches die blinde Vorliebe nicht ver- 
fchlungen hat, empört fich; fein Blut wallt auf. Jach, 
wie in der Nacht auf die Bruderbruft, zudt die Hand 
nad) dem Schwert. Gott weiß, wie zu anderer Stunde 
diefer Auftritt geendet hätte. 

In der Wirrfal des Augenblicks achtet Feiner auf ihn. 
Er jagt zurüd, den Tod im Herzen. Nur eine äuferfte 
Tat, ein Überbieten der Kräfte fann ihn rein wafchen 
und retten. Ä 

Sein Weg geht mitten durch das franzöfifche Korps, 
dad gen Dennewig zieht. Er erneuert fein Drängen 





Schfter Abſchnitt 405 
vor Dudinot, der ihm fürzlicdy noch fo wohlgewollt hat; 
jeden einzelnen Führer befchwört er nur um ein paar 
Bataillone, eine frifche Batterie „Helft Euch, wie Ihr 
koͤnnt!“ ift der einzige Beſcheid, den er erhält. „Die 
Unferen brauchen und!“ heißt cd. „Gottlob, daß wir 
von Reyniers Pechvoͤgeln los find!” Dder: „Wir haben 
Euch ja die Bayern gelaffen!” wird ihm höhnend nach⸗ 
gerufen von dem und jenem, ber in früheren Tagen ben 
bevorzugten Sachſen beneidet haben mag. Zu fpät ers 
fennt der Unglüdliche, um welchen Lohn ein Hilfsvolk 
blutet. 

Als er vor Goͤlsdorf zuruͤckkommt, find Dorf und Höhen 
von den Preußen genommen, der legte Widerftand ges 
brochen, die Flucht unaufhaltfam. Er wird aller Faflung 
unmächtig; die Kameraden, an denen er vorüberfprengt, 
halten ihn für einen Tollen. Stieren Auges, Schaum 
vor den Tippen, fahl wie ein Gefpenft ftürzt er ſich mit 
gezüctem Säbel einem Trupp feiner eigenen Küraffiere 
entgegen, ber querfeldein von dannen fprengt, preußifche 
Ulanen hart auf den Haden. Keiner hört auf fein „Kalt!“ 
Die Säbel der Seinen ftreifen ihn. Auf dem Wege ftopft 
fihe. Sein Pferd ftürzt, er taumelt; feine eigenen Leute 
jagen über ihn hinweg. Er rafft fidy auf, ftcht allein, 
wehrt fidy mit gezuͤcktem Säbel einer gegen zehn, die ihm 
die Tanzen entgegenftreden. Der Säbel wird aus feiner 
Hand gefchlagen; frampfhaft hält die andere das Piftol 
gefpannt. Noch ein Blick in die Runde: feine Rettung, 
fein Entrinnen, er ift ein Oefangener! Er ftemmt das 
Piftol gegen dad Herz. 

In diefem Augenblid hört er eine Stimme „Halt!“ ges 
bieten. Der Lanzenwall ift durchbrochen, — ein Schauer 


406 Frau Erdmuthens Zwillingsföhne 


überläuft ihn; die Waffe wird feiner Hand entwunden; 
noch einmal bäumt er ſich auf, dann ftürzte er zu des 
Bruders Füßen - tot! 

Seinen Leib mit beiden Armen umfpannend, trug ihn 
Herrmann auf unferen Platz. Das Blut der Brüder 
riefelte gemifcht über das weiße Kollett des Leblofen. 
Seine Lippen waren nicht fahler, feine Züge nicht ftarrer, 
als die des Lebenden. 

„Sc bin nicht fein Mörder, aber er war mein Todfeind, 
als fein Auge brach.“ Herrmann ſprach diefe Worte 
nicht, aber fie waren feinem Blicke eingeprägt, eingeprägt 
ber tiefen Furche der Stirn, die fein Erdenglüd wieder 
glätten konnte. 

Er hielt den Bruder im Arm, während wir den ſchwar⸗ 
zen Küraß löften und dad weiße, rotgetränfte Kollett. 
Der Doktor ſchuͤttelte ſchweigend den Kopf und legte mit 
Gewalt die Binde um Herrmanns Hand, aus der das 
Blut ſchoß. Er fträubte fi, aber ed gefchah. Signale 
erfchallten; die Schweden rüdten auf das Kampffeld des 
Tages, Kofatenfhwärme fauften vorüber. Ein Ulan 
brachte Herrmanng Pferd. Herrmann blickte noch einmal 
fragend in des Doftord hoffnungslofes Auge. Nun ließ 
er den toten Bruder nieder auf meinen Schoß. „Zur 
Mutter!” preßte er hervor, ſchwang ſich auf und fprengte, 
ohne ruͤckwaͤrts zu blicken, in das Getuͤmmel. 

„Daß dem herrlichen Menfchen die Freude diefed Tages 
fo vergällt werden muß!” fagte Bär nad) feiner Weife 
bewegt. Der Körper wurde entfleidet und gründlid, 
unterfudht. Er war von Wunden zerfegt, aber feine fchien 
tief genug, um tödlich zu fein, und feine Kugel hatte ihn ges 
troffen. Ich blickte in die frampfverzerrten Züge; ich hoffte 


Sechſter Abſchnitt 407 


noch. Der Doktor taſtete, horchte, rieb, wuſch, verband, 
benetzte die uͤbereinandergepreßten Lippen mit aͤtzenden 
Tropfen — keine Regung. „Ein inneres Gefäß iſt zer 
fprengt; die Wut hat ihn umgebracht“, fagte Bär. 

„Und wenn er dennoch wieder erwachte?“ fragte ich. 

„So erwachte er, um zu fterben. Bringt ihn heim. Sch 
bleibe, wo ich helfen kann.“ 

So fuhren wir denn heim in der Nadıt; Schritt für 
Schritt durch Stoppeln und Sand. Der Infpeftor Ientte; 
ein doppelte Weh im Herzen. „Das Opfer“ Tag auds 
geftredt auf dem Lager, das die Mutter bereitet hatte, 
fein Haupt in meinen Armen. Alle Rüdwärtöftellungen 
waren von den Truppen geräumt, das Feuer verftummte. 
Nach dem Höllenlärm Zotenftille. Nur von der Beide 
herüber ächzte und ftöhnte ed aud) heute, und am Himmel 
jagten die Wollen über Mond und Sterne. 

Bor dem Forfthaufe warteten Diener mit Windlichtern, 
welche die Mutter und entgegengefchickt hatte. Adıt Mos 
nate waren es, daß Fadelträger einer jubelnden Braut 
durch die Heide vorangeleuchtet hatten; heute leuchteten 
fie einem Leichenzug, und ihr blutroter Schein Iodte in 
die Nadıt hinaus die Braut, die eined anderen Mannes 
Weib geworden war. 

Dort an der Klofterpforte ftand fie in ruhelofer Hoff» 
nung, mit Blumen gefhmäüdt. Ein Schrei fchrillte durch 
die Nacht, — o, ein Schrei! Iſt das fchlummernde Herz 
nicht erwacht von diefem Schrei? Fühlt ed nicht den 
warmen Leib, der ſich über den erftarrten ftürzt? Nicht 
die glühenden Lippen, die fich auf die frampfgefchloffenen 
prefien? Kann der Tod diefem heifchenden Leben widers 
ftehen? 


408 Fran Erdmuthens Swillingefähne 


Und weiterhin unter dem Portal fland die andere, die 
andere, die auch einen Heimkehrenden erwartet hatte, 
aber nicht mit frohem Vorgefühl, die Haͤnde über der 
Bruſt gefreuzt, dad Haupt tief hinabgefunfen, marmor⸗ 
weiß, „wie die Geduld auf einer Gruft”. Lautlos empfing 
fie ihn, wintte und fchritt voran. 

Er wurde in ihr Zimmer getragen und auf ihr Ruhe⸗ 
bett gelegt. Liska warf ſich zu feinen Füßen auf die 
Knie. Die Mutter füßte ihn auf die Stirn, faßte feine 
beiden Hände und hielt fie feft in den ihren. Der Tag, 
an welchem er ihr gefchenft worden war, nahte feinem 
Ablauf. 

Und wie fie feine Hände fo umflammert hielt und ihre 
Augen unverwenbdet auf fein Angeficht gerichtet waren, 
da Iöfte fi der Krampf in den erftarrten Zügen. Die 
Befinnung erwacte auf dem Punkte, wo fie fill ges 
ftanden. Seine Rechte zudte nach eined anderen Rechten; 
er fchlug die Augen auf zu denen, die er für eines ans 
deren Augen hielt. „Bruder !" hauchte er, „mein Bruder!“ 

„Er lebt!” fchrie Liska. Sie warf ſich über ihn, während 
nun die Mutter auf ihre Knie ſank. 

Ein Blutftrom quoll aus feinem Munde. Sept erft war er 
tot, und filled Entzuͤcken goß ſich über fein Antlig aus. 
Tod heißt das Gottedwunder, das die Herzen verföhnt. 


* * 
% 


Früh am Morgen fchrieb mir die Mutter: 

„Laſſen Sie mid) heute noch ftill bei meinem Sind, und 
handeln Sie für mi. Morgen, wenn die Sonne aufs 
geht, das Letzte. Neben meiner Bank, wir beide allein, 
der Dritte, der zu und gehörte, fehlt. Still, ganz ftill. 


Sechſter Abſchnitt 409 


Und dann Liska. Meine beiden Söhne haben fie geliebt, 
fie würde mir zweimal eine Tochter fein. Aber ic) weiß 
ed ja, daß fie nicht mehr die Unſere werden fann. Auch 
diefer Sonnenftrahl entweidht. Wein Raul, mein Raul! 
Sie haben ihn auch geliebt, ald ob Sie Rechenſchaft für 
ihn zu geben hätten. Wir bleiben Freunde in der 
Traurigkeit.” 

So hatte ic) denn ein reichliches Tagewerf und fah weder 
Mutter noch Tochter. Mit der alten Franzöfin verhan⸗ 
delte ich Aber die Zufunft der Witwe von Frau Erd» 
muthend Sohn. Sooft id) nad) Liska fragte, hieß es: 
„Madame betet. Madame hat nadyzuholen und wieder 
gutzumachen.“ Die Mutter faß ftil bei ihrem Kind. 
Erft fpät am Abend Iöfte ich fie ab, daß fie ein paar 
Stunden ruhe vor dem legten Geleit. 

Sie hatte den Toten nicht in den Ahnenfaal bringen 
laffen, in welchem der Letzte ihres Namens eingefegnet 
worden war und noch der Brautaltar fürihrennun einzigen 
Erben gefhmüdt ftand. Diefer Sohn war ein Fremp- 
ling geblieben unter dem Gefchlecht, dad von den Wänden 
auf die Feierafte der Enfel niederblickte. Bei der Mutter 
allein hatte er ſich heimifch gefühlt, und fo behielt fie 
ihn bei fidy bis zum legten. Die friegerifchen Ehren, die 
er für feinen Grabgang erfehnt haben würde, Fonnte fie 
ihm nicht gewähren. 

Das Zimmer lag im Dunfel; nur eine Ampel zu Häupten 
goß ein mildes Licht über dad marmorbleiche Geſicht. 
Der ftile Sterbenefrieden ließ ihm fchön, fehöner ale 
jemals Luft und Fülle des Lebend. Ich Fonnte meine 
Augen nicht abziehen von dem herrlichen Bilde in der 
weißen Reitertradht und dem Lorbeerkranz in dem Dunkel» 


410 ran Erdmuthens Swiltingsfähne 


gelodten Haar. Das umrankte Fenſter ftand geöffnet, 
Düfte des Herbftjelängerjelieberd ftrömten in das Zimmer. 
Der Sturm hatte fich gelegt; es waltete Frieden auch in 
der Matur. Stunden der Betrachtung verliefen, ald ob 
ed Minuten wären. 

Ich hörte den Wagen vorfahren; ben Hochzeitswagen 
der Wutter, der das fremde Kind in ihr Haus geführt 
hatte und ed nun wieder hinaudführen follte in feine 
eigene Heimat. Auf dem Korridor regten ſich leiſe Schritte; 
ich zog mich in die Fenfternifche zuruͤck. Liska trat ein 
im dunfeln Reifekleid. Sanft beugte fie fidy über den Ge⸗ 
liebten und füßte ihn zum legten Dale. Zu den Loden, 
die fie von ihrem Haupte kurz abgefchnitten hatte, fügte fie 
eine von den feinen, weldye bieher auf ihrem Kerzen 
geruht, und legte fie auf das ihres Raul. Auch ihren 
Trauring ftedte fie über den feinen; die letzten Klein- 
odien ihres Gefchlechtd waren wieder vereinigt an einer 
Hand, an einer Totenhand. Dann madıte fie bad 
Kreuzegzeichen über ihn, betete auf ihren Knien laut ein 
Ave und ließ fi) von der Begleiterin ohne Widerftand 
aus dem Zimmer führen. Die alte Franzöfin meinte; 
die junge nicht. Auf der Schwelle drücdte ich beiden 
fhweigend zum Lebewohl die Hand. In der meinen blieb 
das goldene Erinnerungsbud) zuräc, ummunden von einem 
fchwarzen Bande. 

Dad Bud; enthielt eine Spur von allem, was die fremde 
Waiſe unter diefem Dache erlebt hatte; aber von der Zeit 
an, wo fie darunter des Lebens froh geworden, da waren 
die Blätter weiß. Auf dem letzten fanden die Worte: 
„Eine große Leidenfchaft, und dann den Nonnenfchleier.“ 

Der Morgenftern flieg auf, und abendwärts verhallte 





Sechſter Abſchnitt 411 
eine Wagenſpur. Ich entfernte mich; der letzte Abſchied 
gebuͤhrte der Mutter allein. 

Von der Stadt her wurde es lebendig. Da ich jedes 
Gefolge verbeten hatte, reihten ſich die Bewohner zu beiden 
Seiten der Ulmen, ohne Geſchwaͤtz und Gedraͤnge; Kinder 
freuten Tannenzweige auf den Weg; unfer Jugendchor 
fammelte ſich in der Kapelle. 

Moc im Frühnebel kehrte ich zuräd; die Mutter ftand 
vor dem Portale neben dem Sarg. Sie hatte felbft den 
Dedel niedergelaffen und einen Rofenfranz darauf bes 
feftigt. Die Diener ded Hauſes trugen ihn an Sands 
haben voran, dahinter fdhritt nur die Wutter, auf meinen 
Arm geftügt. 

Ald wir durch die Pforte bed Klofterhofs traten, der 
heut zum Friedhof ward, drang die Sonne goldig Far 
durch den Nebel, und dad Morgengeläut hob an; als wir 
aber den Sarg neben der Bank der Mutter niederließen, 
ftand unter dem Kapellenbogen ein hoher Mann im dunfeln 
Reitermantel. Aus den übernädhtig fahlen Zügen fprad) 
nicht von Freude über das glorreiche Gelingen, in 
beffen Verlangen er fieben Jahre lang gelebt und geftrebt; 
der einft fo Flaren Stirn war tief die finftere Falte eins 
gebrücdt wie in der Stunde, ba er dee feindlidyen Bruders 
Auge brechen fah. Dennoch wehte ein Hauch ungeahnten 
Gluͤcks über das Angeficht der Mutter; fie ftellte ſich an 
feine Seite und nahm feine Hand in die ihre. 

Ich hatte nur den Segen und ein Gebet fprechen wollen; 
nun der Dritte gefommen war, der zu und gehörte, ent» 
firömte ed Wort um Wort dem übervollen Herzen. 

„Rein macht der Tod und Far,“ fo mag id, gefprochen 
haben, „Mar und rein hat er auch den gemadht, den wir 


418 Fran Erdmuthens Swillingsfähne 


jegt betten in den ewigen Lebensſchoß, hat Irrtum in 
Sühne verwandelt und Grol in Danf. Sein letztes 
Taften war nad) der Bruderhand, die einem verzweifelten 
Sterben wehrte; fein legted Wort war ‚Bruder!‘, mit dem 
legten Blick flchte er: ‚Bergib!‘, und das tote Antlig vers 
Härte der Frieden deffen, dem vergeben worden ift; Tod 
heißt das verföhnende Lebenswunder.“ 

Die Mutter lehnte ihr Haupt an ded Sohnes Schulter. 
Eine Blutwoge trieb über feine Wange und Etirn. 

„Und wie ed ded Menfchen würdig iſt,“ fuhr ich fort, 
„in allem Gefchehenden ein Sinnbild wahrzunehmen, in 
bem Einzelnen bad Ganze, in dem Ich das AU, fo fehen 
wir in diefem Sterben den Sinn der Zeit, in die wir 
geftellt worden find, auf daß wir Schritt um Schritt 
weiterringen, aus Haß zur Liebe, aud Tod zum Leben 
in das vollendende Einft. Sei ed das Iettemal, daß 
Brüder gegeneinander ftanden, daß einer begehret nad) 
des anderen Gluͤck; tilge das Blut, was dad Blut vers 
brach; aud dem Hader quelle die Verföhnung, aus ber 
Zwietracht fproffe die Einigkeit; e8 fomme der Tag, den 
wir ahnend erfchauen, der Tag, wo ed nur noch Brüder 
gibt: Blutesbruͤder, Volfesbrüder, Menfchens, Ehriftens 
brüder. Was treibt, dad muß gedeihen.” 

Herrmannd Knie zitterten, er fchlug die Hände vor dad 
Geſicht. Aus der Kapelle drang ein milder, flüfternder 
Sang, der ſich in mählicher Wiederholung zu fieghafter 
Sreudigfeit erhob. Dir fang cr wie ein Engelddjor. 

„Sin Slüd, für das wir glühen, 
Ein Tempel, wo wir fnieen, 
Ein Sand, wohin wir ziehen, 
Ein Himmel dir und mir.“ 


Sechſter Abſchnitt 418 


„Bruder! Mein Bruder!” ſchluchzte Herrmann. Er brad) 
in feine Knie zufammen, beugte ſich über den Sarg, bes 
negte ihn mit heißen Tränen. Die Mutter legte die 
Hand auf fein Haupt; ich ſprach den Segen über beide 
ihrer Söhne. 

Nun noch die erfte Hand voll Erbe in dad Brudergrab, 
und dann weiter voran auf der befreienden Bahn. 


Drud der Roßberg’fchen 
Buchdruckerei in Leipzig 


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