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Full text of "Louise von François. Gesammelte Werke Band 4 - Ausgewählte Novellen Band I: Judith, die Kluswirtin - Der Posten der Frau - Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier - Die goldene Hochzeit - Phosphorus Hollunder"

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Ausgewaͤhlte Novellen 


von 


Louife von Frangois 


Erfter Band 


Am Inſel-Verlag zu Leipzig 


038 
F825 
518 


wat 


7-29-SEMF? 


G.k. 
Dunn 
N.Furk | 
7, 12.55 Erfter Band 


123327, 


Judith, die Kluswirtin — Der Poſten der 
Frau - Fräulein Muthchen und ihr 
Hausmeier — Die goldene 
Hochzeit MHhosphorus 
Hollunder 


Judith, die Klusmwirtin 


Rückblick 

Men ift es gewöhnt, preiſend oder ſpottend, die alts 
faffifche Landſchaft zwifchen Wefer und Rhein, die 
wir unter dem Namen Weftfalen zufammenfaffen, als eine 
Provinz ftrenger, fteifer Erhaltung darzuftellen. Und in 
der Tat, fo wechfelnd die Phyfiognomie ihres Bodens von 
den Marfchen des Meeres, vorzeiten „Das deutfche” ge⸗ 
heißen, durd, Dünen und Heiden, Moorftich und Sumpf, 
durch ummallte Korns und Wiefenbreiten aufwärts zu 
rauhen Felfengipfeln und wieder abwärts in die Täler 
des romantifchen Waldgebirges, in welchem am früheften 
‚der Deutfche Name zu Ehren gebradyt worden ift, und fo 
mannigfaltig mit dieſem Wechfel des Bodens der Chas 
rafter feiner Bewohner und entgegentritt, vom träumeris 
[hen Norden bis zum tatfräftigen Süden: die urſpruͤnglich 
germanifche Art und Bildung hat ſich unter der ländlichen 
Bevölkerung diefer Gegenden unverwifcht und unvermifcht 
erhalten wie in feinem andern umfänglichen Gebiete 
unfered Baterlandes. Sa, ſchon ehe wir gen Morgen die 
breite Wafferfcheide überfchreiten und durch das Felfentor 
der legten Berge die eigentliche Rote Erde betreten, da wo 
das baumreiche Schaumburger Landchen in die weftfälifche 
Borebene übergeht, bewundern wir an Männern wie 
Frauen die deutfche Kraft und Schönheit der Geftalten 
und ftoßen nicht felten auf einen Kunftjünger öftlicher wie 
weftlicher Afademien, der unter dieſen urmüchfigen Bäumen 

und Menfchen nach einem Vorwurf fudht. 
Mer jene Bauern hinter ihren ftattlichen Gefpannen 
aus den Waldgehegen treten fieht, unter deren Eichen und 


4 Judith, die Kluswirtin 


Buchen die noch immer mit Vorliebe gezüchteten Sauen⸗ 
herden weiden, wer ſie ſieht mit ſchwerfälligem Gerät, 
langſam, harttrittig die Furche durch ihre Korn⸗ und 
Flachsfelder ziehen, oder die Weiber, den Wocken im Rock⸗ 
gurt, felber im Gehen unermüdlich, aber gelaſſen die 
Spindel drehen, wer im ummwallten Kamp ihre Höfe fieht, 
vereinzelt, dunfel aus Eichenholz nach unvorbenklicher 
Weiſe aufgerichtet, Mundart, Hausbrauch, Hausrecht, Erbs 
recht, Tracht und Koft, Sitte und Unfitte unerfchütterlich 
nad) Vätertreiben; wer fie beobachtet in ihrer ſchweig⸗ 
famen Stetigfeit, felten, aber unzähmbar von auflodernder 
Sachheit durchbrochen, der vermag ohne Anftrengung fich 
in die Anfänge unferer nationalen Kultur zurüczuvers 
feßen, er glaubt die nämlichen alten Saffen zu finden, die 
vor einem Sahrtaufend dem Chriftentum gegen einen Caro⸗ 
lus Magnus widerftanden, deren troßige Treue aber das 
widermwillig angenommene Evangelium am zäheften viels 
leicht unter den deutfchen Stämmen gegen ein modernes 
Heidentum verteidigen würde. 

Er konnte fie finden mindeftens vor einem Menfchens 
alter noch. Seitdem hat die Neuzeit ihr wechfelndes Ges 
präge auch diefer Landſchaft aufgedrückt, Boden wie Köpfe 
nach lange brachliegenden Schägen durchwühlend, fürs 
dernd, ſchmelzend, bildend und zerftörend; den Hauch der 
heimifchen Heimlichkeit verwehend. — Ein Merkmal dieſes 
umwandelnden Geiftes durfte fchon vor länger denn dreißig 
Sahren der Wanderer auf dem nördlichen Heerwege an 
einem ländlichen Haufe wahrnehmen, das in neufächfticher 
Geftalt, von Bruchſteinen aufgerichtet, hellfarbig getüncht, 
mit Ziegeln gedeckt und die räumlichen Fenſter durch grüne 
Läden gejchüßt, feine breite, glatte Flucht der Straßens 


Judith, die Kluswirtin 5 


feite zufehrte. Eine Schenfe, ein Krug, mitten zwifchen der 
öftlichen Grenze und der erften namhaften preußifchen Stadt, 
eine Biertelftunde abfeit von den Nacdhbarhöften, bildete 
es den Schluß eines fi, lang am waldigen Bergfamm 
hinziehenden Dorfes und hieß, wie manche andere des 
Landes, „die Klus“. 

Die Inſaſſen jenes Dorfes hatten feit Menfchengedenfen 
nad) abendlicher Raft auf der Klus ihren Krug geleert, 
oder rücfehrend vom ftädtifchen Markte, felten mit Maß, 
fih am heimifchen Wacholdergeifte erlabt, die Burfchen 
und Dirnen der Umgegend fich fefttägig im „Papen van 
Iſtrum“ gefchwentt, unbehelligt von dem Qualme des 
mächtigen Schlotfanges in der Giebeltenne, die zugleich 
Küche, Räucherfammer und Wohngelaß war und in welche 
aus den nachbarlichen Koben Pferde, Rinder und Sauen 
neugierig, oder verdrießlich, oder gleichgültig wie die 
menfchlihen Zufchauer ihre Köpfe ftredten. Denn die 
Klus war ein Bauerngehöft wie alle anderen des Landes, 
und wie in allen anderen wurden Viehzucht und Feld⸗ 
beftellung als Hauptzweck, das Schenkweſen aber nur als 
ein von den Altvordern überfommenes Mebenrecht bei⸗ 
laͤufig und läfftg betrieben. 

Eined Taged brannte die alte Eichenflus ab — wie die 
Sage geht, durd, das Zünden des erften Schwefelholzes, 
das ein fegerifcher Wandergeſell gleich einem Koboldſpuk 
in die Gegend getragen; der kinderlos verwitwete Klus⸗ 
wirt ftarb infolge feiner Brandmwunden, und dad wohls 
geordnete Anweſen fiel feinem Bruder zu, der, obgleich 
fein Batererbe freied Eigentum war, fich ald jüngerer 
Sohn willig mit einer ſchmalen Abfindung begnügt hatte. 
Ein noch bartloſes Bürfchchen, war der Frobeljobſt der 


6 Judith, die Kiuswirtin 


neuentfalteten, in anderthalb Sahrhunderten allmählich 
feiner Gegend eingemwöhnten preußifchen Fahne gefolgt, 
juft da der Haß gegen das beutfchnapoleonifche und die 
Erhebung gegen das welfchnapoleonifche Regiment hoch 
im Schwange gingen; er hatte in Deutfchland und Frans 
reich wader mitgefämpft, nad) dem Frieden den ſchmucken 
Soldatenrod dem feiner harrenden Knechtskittel vorges 
zogen, bis er, ald Sergeant einem fächfifchen Regiment 
zugeteilt, Herz und Hand eined munteren thüringifchen 
Wirtstöchterchend erobert und teil an ihrem väterlichen 
Schenfengefchäfte genommen. 

Wohlgemut, den Himmel voller Geigen, wie er ihn in 
fremden Landen fchauen gelernt, kehrte er jeßt, da das 
zerftörende Element ihn fo unerwartet zum Erben beför- 
dert, in die alte, neugewordene Heimat zurüd und baute 
die Branbdftätte wieder auf in dem mitteldeutfchen Ges 
ſchmack, der ihm bequem geworden, fo wie wir fie im 
Borübergehen angefchaut. Scheuern und Ställe umfaßten 
zu beiden Seiten den durch das flattliche Vorderhaus ab» 
gefchloffenen Hof, hinter welchem, bis zu der Berglehne 
des Gemeindewaldeg, die dunklen Eichen und Rüftern des 
Kampes einem Obft- und Gemüfegarten Plab machten. 
Zur Rechten wie Linken feßte der Kamp, das heißt die 
eingehegte, dem Hofe eignende Flurmark ſich fort. Dies⸗ 
feitd bis zum nächften Anwefen die breite Flucht der Felder; 
jenfeits eine Forftparzelle, die, mit der Zeit gerodet, fich 
in einen Triftanger verwandelte. Den Raum zwifchen 
Straße und Borderhaus befchattete eine reinliche Laube 
von Ligufterheden, und über der Tür flatterte dad Schens 
Fenzeichen des fächfifchen Rautenkranzes. 

Alfo fein Heimweſen ausftafftert, taufte der Frobeljobft 


Judith, die Kluswirtin 7 


den Jahrhunderte alten Krug zu einem Wirtshauſe um, 
ſtolz auf die neumodiſche Art, die er in ſich aufgenommen, 
leider freilich ohne die altväteriſche Unart in ſich auszu⸗ 
merzen. Denn bei Weſen wie in Zeiten, die ſich umbilden, 
gewahren wir häufig dad angeborene Schlimme länger 
haften ala das Schäßendwerte, ja wohl auch das fremde 
Berwerfliche leichter eindringen ald das Treffliche; daher 
denn alle Übergangszeiten wie Mifchraffen eine unbehags 
liche Periode haben, bis der Neuerungsprozeß vollzogen 
ift. Der Frobeljobft hatte jenfeitd des Nheind und der 
Elbe fingen und fpringen, diskutieren und Disputieren, 
feine Säfte unterhalten und manierlich bedienen lernen, . 
er hatte aber nicht verlernt, dem heimatlichen Unholde des 
MWacholdergeiftes huldigend zuzufprechen, der denn über 
‚feine flotte Schenfenlaune eine weit entzündlichere Herr⸗ 
fchaft übte, als über die der bedachtſam, fohrittmäßig 
fchaffenden und raftenden Nachbarkunden. 

Und diefe Nachbarfunden, unter denen feit unvordenk⸗ 
lichen Zeiten die Klud-Frobel zu den erften und beften ges 
zählt, weit davon entfernt, ſich von der neuen Herrlichkeit 
blenden zu laffen, fahen auf das laute, fremde Wefen 
mit höhnendem Mißmwollen herab. Bon vornherein kehrten 
fie ihm den Rüden. Die Alten tranfen, die Sungen tanz» 
ten in einem abgelegeneren Krug, bid dann allmählich 
der Plaß, auf welchem fchon die Altvorderen ſich gelabt 
und geſchwenkt, feine Macht behauptete und die wider 
borftigen Säfte einen um den andern an ſich Iodte. Sie 
fehrten zurüd. Der „Steinhäger”! mundete, ob auch die 
Würze des Scinfenbrodemd im Schornftein, wie das 


1 Ein vorzüglicher Wacholderbranntwein des Landes. 


8 Judith, die Kluswirtin 


Publikum der braven Vierfüßler vermißt wurde; die Bur⸗ 
ſchen drehten, die Dirnen ließen ſich drehen, ohne ſich 
durch blankgeſcheuerte Dielen und buntbekleiſterte Wände 
die Luft vergällen zu laſſen. — Wenn man aber der alten 
Gemöhnung zuliebe ſich die neue Einrichtung gefallen 
ließ, die neuen Menfchen, die fie aufgedrängt, ließ man 
fih nicht gefallen. Der „Sacfenwirt” war feiner der 
Ihrigen mehr, und dag ſchwarzäugige Sadyfenröschen würde 
ed niemald geworden fein, auch wenn es nicht eine lu⸗ 
therfche Keßerin gewefen wäre. Sie rateten und tateten 
in der Gemeine ohne den Frobeljobft, feiner warnte ihn, 
feiner half ihm, feiner Iud ihn zu Hochzeitsſchmaus und 
Kindelbier, hinter feinem Leichenzuge fah man den Sadıfen 
oder feine Sippe. 

Und fo überluftig der Frobeljobft fich anftellen mochte, 
von dem leeren Plage unter feineögleichen kroch ed ihm 
zu Herzen wie nagendes Gewürm, fooft er die heimliche 
Galle mit brennenden Tropfen hinunterfpülte, immer von 
neuem wirbelte fie ihm ätzend zu Kopf. Am liebften hätte 
er der Acht einen Bann entgegengefekt und alles, was 
Bauer und Nachbar hieß, von feiner Schwelle gejagt. 
Wollten fie ihn nicht neben fich, fo wollte er über fie hin- 
aus. Er baute einen Stod auf feine neue Klus und ließ 
das Wirtshaus zu einem Gafthof in die Höhe fteigen. 
Kärrner und Vorſpänner Fehrten bei ihm ein; Lohnkutſchen, 
Ertrapoften felbft herbergten zur Nacht in der reinlichen, 
wohlgelegenen Wirtfchaft, Spaziergänger aus der Stadt 
priefen Kaffee und Kuchenwerk, das fein Zucderbäder fo 
meifterlich wie dad Sachſenröschen zu bereiten verftand. 
Der Sadjfenwirt triumphiert. Er hielt fich zu den 
Fremden, je vornehmer defto lieber; er bediente fie halb 


Fudith, die Kiuswirtin 9 


umfonft, tifchte auf nach Noten, traftierte ertra, ſchenkte 
auf Rechnung, die niemald oder nur gegen teure Advo⸗ 
fatenfporteln bezahlt wurde; er kleidete ſich herrfchaftlich, 
er fannegießerte, fpäßelte, fchwänzelte hin und her, führte 
neumodifche Tanzweifen auf, frähte wie ein Hahn und 
ftelzte wie ein Stord; feinen Gäften zum Pläfter; er tranf 
Punſch und Grog auf ihr Wohlergehn; war er aber allein. 
und von den Weiterziehenden verlaffen, dann ftürzte er 
Rum und Steinhäger ohne wäflerigen Zufaß die Gurgel 
hinab, um feinen Grimm und Groll zu verfengen. 

Als Schlimmfted ded Schlimmen aber ftellte es ſich 
heraus, daß der behende, Iuftige Schenfwirt ein gar 
fchwerfälliger, unluftiger Randwirt geworden war und 
daß die fächfifche Küchenmeifterin glücklicher in der Speife- 
fammer ald in Rauch⸗ und Wilchfammer zu hantieren 
verfiand. Die fremden Gefpanne wurden mit Kraft und 
Saft, die eignen Stallinfaffen mit Trebern gefüttert, die 
Felder unregelmäßig beftellt, Korn» und Heuböden felten 
fontrolliert. Das gefällige Wirtspaar ſchenkte und zechte, 
backte und brodelte bis in die Nacht und träumte bis in 
den Tag hinein; die Tagelöhner, Knechte und Mägde, 
denen feiner auf die Finger fah, hielten Maulaffen feil 
oder fchafften für den eignen Sad — die Klusſchenke 
fiorierte, während der Klushof verfam.- 

Aber was fcherte die Bauernwirtfchaft den Herren 
wirt? Er fchenfte — fich felber am erften und vollften! 
-, verfchlief feinen Raufch, wachte gähnend auf und warf 
die Kontobücher in die Ecke, wenn Kredit und Debet nicht 
ftimmen wollten. Satten andere fein Geld, fo hatte er’s, 
und hatte er felber fein Geld, fo hatte er Pfand — über: 
flüffiges Geſchirr, faules Vieh in Schuppen und Stall, 


10 Judith, die Kluswirtin 


nutzloſe Baumrieſen und halbreife Ernten in ſeinem Kamp. 
Der brachliegende Acker trug feine Laſt. Allmaͤhlich loͤſte 
ſich Scholle um Scholle hinüber in fremde Hand, und ihre 
kernſchweren Ähren nickten höhnend auf die dürren, nach⸗ 
barlichen Klushalme herab. Der Sachſenwirt ſaß zwi⸗ 
ſchen den Liguſterhecken, zechte und lachte mit den Frem⸗ 
den. Und das Sachſenröschen lachte nicht weniger, ſeufzte 
wohl auch ein „daß Gott erbarm!” und weinte ein Zährs 
chen, wenn wieder eine Milchkuh vom Hofe getrieben 
ward oder mit den Jahren ihr Eheliebfter auch gar zu 
toll und töricht ind Poltern geriet; bald aber rührte fie 
ihren Fladen ein, tunfte ein Schälchen, trällerte ein 
Stückchen, band eine weiße Schürze vor, rückte die bunte 
Bänderhaube zurecht, neckte fich, ſchwatzte und lachte mit 
den Fremden. | 

Der Hoferbe aber, Mosjö Guft oder „der junge Herr”, 
wie er fich titulieren ließ, des Sachſenpaares einziger 
Sohn, ei, der lachte und jubelte erft recht. Heute aus 
Herzendluft mit offner Sand, morgen im Ärger mit ges 
ballter Fauft, am häuftgften aus Schabernad mit einem 
Schnippchen und fingerndem Nafendrehn. Er lachte über 
die Säufer von Bauern, die feinen Saufaus von Vater 
über die Achfel „bekiekten“ß er lachte über den Saufaus 
von Vater, der ein Bauer war und den Herren zuliebe 
fein Bauernerbe durch die Gurgel rennen ließ; und er 
lachte über dad Bauernerbe und den Fremdenfchanf, über 
Hausgenofien und Säfte, über Gott und die Welt. 

Frobel, der Süngere, wäre er unter Zucht und Beifpiel 
wie die heimifchen in jenem füdlicheren, bemeglicheren 
Landesteile aufgefchoffen, den man das Irland der Roten 
Erde nennen dürfte, fo würde ſich für feine Spielart nicht 


Judith, die Kinswirtin 41 


unfchwer eine Klaſſe haben finden laſſen. In dem ſchwe⸗ 
ren,. langfamen Boden ded Nordend war er feinerzeit 
eine Pflanze ohnegleichen. Ein Hälmchen, von jedem Luft⸗ 
hauche hin und her geweht, feicht auf Sande wurzelnd, 
diefen Augenbli zu Boden knickend und im nächften wie 
ein Stehauf emporgefchnellt; buntjchedig und früh ers 
fchloffen feine Blüte, von beraufchendem Hauch; wen ihr 
Samenftaub berührte, dem judte die Haut. Windhafer 
und Taumellolch nannte ſchon der Schulmeifter den fahs 
rigen Schüler, und die Nachbarn warnten ihre Buben 
vor dem Tollfraut und Teufeldgarn auf der Sachſenklus. 
Das Sacjfenröschen aber hätfchelte und tätfchelte ihr 
Wunderhold, und dem Sachſenwirte wirbelte e8 zu Kopfe 
wie ein Kitel der Niedwurz bei feines Sproflen abjon- 
derlichem Gebaren. Lernen-Kinderſpiel, arbeiten -Unfinn, 
aber faulenzen, ei beileibe! Er beflecfte Papier und Wände, 
fragte die Geige und Frächzte zur Gitarre, er radebrechte 
alle Mundarten und fpielte alle Rollen, die er im Kluge 
von feinen Gäften aufgefchnappt, er ftudierte die „Weiss 
tümer“ feines Landes nicht in langmweiliger Chronifa, 
fondern in Ritter» und Räuberromanen, welche einer be⸗ 
reits abgelebten Generation die anmutigen Schauer einer 
Gänfehaut erregt; er war ein Reimefchmied aus dem 
Stegreife, immer im Rauſch und niemals betrunfen. Das 
gab ein Suchhei auf der Sachſenklus, ald der Hoferbe in 
die Sahre fam, wo die Nachbarſöhne Wirte und Männer 


wurden! Schaufpieler, Bereiter, Seiltänzer, Bänfelfänger 


und ihre Wahlverwandten, das waren die Einfehrer, feit- 
dem das junge Genie unter dem Rautenfranze aufgeblüht. 
Mit ihnen wurde gezecht daheım oder in den Herbergen 
der Stadt — nicht in grobem, gebranntem Geift wie bie 


\ 


12 Judith, die. Kluswirtin 


Alten - in reinem, goldnem Wein, in perlendem, ſchäumen⸗ 
dem Wein. Mit ihnen kreuz und quer gezogen und 
wieder eingefprungen, war der Sädel leer; mit ihnen 
gefartelt, gewürfelt, im Inland und Ausland ins Lotto 
gefeßt; denn Geld war die Lofung, Geld ohne Müh und 
Hoffnung auf Geld! 

Einmal nach der ftädtifchen Subilatemefle blieb das 
junge Herrchen aus; Monate vergingen, und er war fort 
ohne Spur. Die Mutter weinte ihre Augen wund, der 
Bater wurde felten mehr nüchtern aus Kummer und Angft. 
Urplöglich wie er verfchwunden, fehrte er heim, ein dralles 
MWeibsbildchen in die Elternarme führend, das während 
der Meſſe im kurzen Röckchen, auf ſchwankem Seil als 
Mademoifelle Sylvia gefeiert worden war und jeßt hinter 
dem Schenktiſch ald Madame Frobel gefeiert ward. Ein 
munterer Zeiftg Dame Sylvia, des Wandernd müde und 
wohlgeneigt, im Käftg Zuderbrot zu nafchen! Kläglich, 
daß fie, fchon ehe der Frühling wiederfam und faum daß 
ein armes, nacktes Vögeldyen in das Neſt geſetzt worden 
war, unter die dunfle Erde duden mußte. Der junge 
Witmann zerfchlug fid) die Bruft und zerraufte feine Locken, 
er reimte und deflamierte Trauerhymnen vol Schmerz 
und Herz, fchweifte am Tage in Schlucht und Wald und 
lag um Mitternacht auf feiner Schönen Grabe - eine 
Woche lang! Dann tröftete er fich, fehäferte, Tartelte, 
fnöchelte, zechte und lachte mit den Fremden querföpftger 
- denn je zuvor. Der Sadjfenwirt lachte hinter feiner 
Flafche, die Sachſenwirtin hinter ihrem Herd, der Sachſen⸗ 
erbe lachte hinter vem Würfelbrett, die Knechte lachten in 
volle Töpfe und Sädel, die Fremden lachten fid) in den 
Bart und die Nachbarn in die Fauft, alles lachte auf der 


Judith, die Kluswirtin 43 


Sachſenklus. Nur eine lachte nicht: Sudith, die Sachſen⸗ 
tochter, erft auf dem heimifchen Hofe dem Bruder nach⸗ 
geboren und in jenen Tagen des Übermuts faft nody ein 
Kind. Schweigend und wenig beachtet, ftand fie abfeits, 
blickte, eine Falte zwifchen den ernfthaften Augen, mah- 
nend, ja richtend auf den Verfall ihres Vatererbes, und 
als die Stunde feines Zufammenbruchd audgehoben, da 
ftrecdte fie die Fräftige Hand, um ed zu ftüßen. 

Mehr als ein Bierteljahrhundert mochte vergangen fein, 
feitdem der Frobeljobft mit fremden Sitten in Die alte 
Heimat zurüdgefehrt. Der Sacfenwirt war begraben 
und vergeflen, dad Sachjenröschen lahm und grau vor 
der Zeit, der tolle Erbe verfchollen überm Meer. Dampfende 
Roſſe hatten den Verkehr auf der Landſtraße verfchlungen, 
neue Verbindungswege, Schenten und Gafthäufer ſich ges 
öffnet. Der NRautenfranz über der Klustür war vers 
fhmwunden, die Sachſenwirtſchaft feine Herberge mehr, 
nur noch ein einfames, ftilled Gehöft, das feinen Namen, 
die Klus (Klauſe) mit Necht verdiente und allmählich wies 
dergewann. 

Die Neuerung im landfchaftlichen Verkehr war mit 
dem argen Ende, das der Frobeljobft genommen, faft 
gleichzeitig zufammengefallen; ftillfchweigend war das 
Schenfenzeichen eingezogen worden, fand fid) der Biers 
und Branntweinfeller in einen Milchteller, der Tanzboden 
in einen Fruchtboden, die große Gaftftube zum ftillen 
Wohn⸗ und Schlafgelaß umgewandelt. Man hantierte 
nach Bauernart auf den Feldern, die dem Hofe gerettet 
oder mit der Zeit wieder zugefügt worden waren. Man 
wirtfchaftete knapp, emfig, ftumm und fireng nach Urväter 
Brauch mit einem einzigen Knecht und einer einzigen 


414 Judith, die Kluswirtin 


Magd. Von dem fremden Weſen war nur die Sauber⸗ 
keit und hin und wieder ein fördernder Kunſtgriff beibe⸗ 
halten worden. Wechſellos, klanglos, feſtlos gingen die 
Tage hin unter dem Regimente der jungen Wirtin, die 
zu innerlich ihres Landes Kind geblieben, um nicht zu 
fühlen, daß nur in dieſer ſchweigenden, nachhaltigen 
Weiſe die Ehre ihres Standes und Hauſes wiederher⸗ 
geftellt, die eigne Ehre unberührt von dem Moder der 
Vergangenheit bewahrt werden konnte. 

Seine Eignerin aber verkehrte mit feinem und ſprach 
mit feinem ein Wort ohne Not. Nur in der Kirche wurde 
fie allfefttägig gefehen, wenngleidy die Gemeinde ohne 
Ausnahme dem Fatholifchen Glauben angehörte, die Klus⸗ 
wirtin aber auf den mütterlichen proteftantifchen Glauben 
getauft und ihm treu geblieben war, fic auch jedes Sahr 
am Karfreitag famt der franfen Mutter in ihrem Zimmer 
das heilige Nachtmahl von einem ftädtifchen, proteftantis 
ſchen Geiftlichen reichen ließ. Ihren Brudersfohn, der 
ihr als Pflegling zurücgeblieben, Tieß fie hingegen in dem 
väterlichen Fatholifchen Glauben unterrichten, anfänglic) 
bei dem Lehrer und Pfarrer der Gemeinde, fpäter, da des 
Knaben ftillfinnendes Wefen in einen Lern- und Büchers 
eifer umfchlug, der einen geiftigen Beruf befundete, ale 
Koftgänger bei einem Gymnaſialprofeſſor in der Stadt. 
An den Mitteln für gegenwärtigen wie fünftigen Studien> 
aufwand gebrad, es bei dem Gedeihen der Wirtfchaft und 
bei dem ledigen Stande der Pflegerin nicht. 

Denn fein Werber oder Freiersmann hatte ſich der 
Kluswirtin feit der Zeit ihrer Selbftherrfchaft zu nahen 
gewagt, obfchon fie anfehnlich von Geftalt und noch lange. 
in den Jahren war, wo eine bäuerliche Sungfrau oder 


Judith, die Kiuswirtin 45 


Witfrau begehrenswert gefunden wird; dazu wohlberufen, 
unabhängig und eine Hofbefigerin, freilich eine Keßerin. 
Aber wenn auch ihre eigenen Gemeindegenoflen der andern 
Kirche eigneten, fo war die Bevölferung der nördlichen 
Umgegend doch eine nach Kirchfpielen gemifchte, und felbft 
für einen proteftantifchen Stadtbürger, ja Beamten würde 
fie nach Bildung und Sitte eine anftändige Genoffin ge- 
weſen fein. 

Daß die fchöne Kluswirtin unnahbar, gleichfam eine 
Mauer um fich aufgericdhtet, das deutete auf einen tiefen, 
heimlichen Grund. Und ein tiefer Grund, ein Abgrund 
ift e8 ja, über welchem das Gewäfler ſich am ftillften bes 
wegt, bis jäh ein Wetterfturm die in der Tiefe verborgenen 
Schäße oder Schreden zutage wirbelt. 


Borboten 


Jahr um Jahr war auch über dieſer neueſten Wand⸗ 
lung des Klushofes hingegangen, die Maienzeit wieders 
gekehrt; die Natur hatte in lachenden Feſtgewändern 
ihre Schaffensfreude ausgeſtrahlt. Die erften gelblichen 
Sproflen fprengten die glänzend braunen Blatthülfen des 
Eichenforftes, die Apfelbäume im Garten ftrogten in Bluͤ⸗ 
tenübermut, vor dem Haufe blähten ſich Tulpen und Kaiſer⸗ 
fronen über die befcheiden am Boden verduftenden Frühs 
Iingsfinder; dad Auge ruhte mit Erquidung auf dem. 
faftigen Grün der unüberfehbaren Feldgebreite. — Die 
Nacht hatte die vorzeitige Sommerfchrwüle der vergangenen 
Tage faum abgefühlt, und die Sonne, ohne Taufrifche 
niederfengend, erft den weißen, dann den purpurnen Nebels 
fchleier in die Höhe gezogen, in die fie fich gehüllt; Fein 
Atemzug bewegte die Luft, felbit die Hausvögel ſchwiegen 


416 Judith, die Kluswirtin 


beflommen. Nur der Finfe in der Buchenhede zirpte fein 
Megenlied, und die Maikäfer fchwirrten in fchläfrigem 
Taumel von Baum zu Baum. „Sturm, Sturm!“ furrten 
fie den Schmetterlingen zu. Die leidjtfalterigen Luftge⸗ 
fellen aber faugten fich an die Kelche und lifpelten: „Laſſet 
und nippen und nafchen, denn morgen find wir tot!“ 

Es war Werfeltag, aber eine fabbatliche Stille rings 
um das Klusgehöft. Kein Drefchflegel oder Seihrad in 
der Scheuer, nicht Pflug noch Spaten in Garten und 
Ader regten fi). Die Tiere des Hofes, nach Wirtfchaftes 
brauch zeitweife ihrer Stallhaft entlaffen, weideten im 
abgefchloffenen Gehege der Waldwiefe, die einſtmals Forſt 
gewefen war und jeßt ausfchließlid, „der Kamp“ geheißen 
ward. Oben am Tränfquell lagerte das ftattlicye Roß⸗ 
geipann. Aber auch unter dieſen Freigelaffenen fein 
munterer Laut, fchlendernd und gläfernen Auges duckten 
fie fich zu Boden und fauten mit Gier unter dem bleiernen 
Drude der Luft. Und auch im Haufe Feine hörbare Bes 
wegung. Durd) die blanfen Scheiben des Wohnzimmers 
ſchimmerte die Frühfonne, Die weiße Sandfchicht am Boden 
überfilbernd; nicht ein Fleckchen oder Stäubchen längs 
der heilgetünchten Wände und bes glänzend gebohnten 
Eichengeräts, das ihr fcharfer Strahl entdeckt; alles ftand 
einfach, fireng geordnet an feiner Stelle, nichts Über⸗ 
flüffiged oder Städtifches, nichts, was an die ehemalige 
Schenfenzeit erinnerte, aber freilich noch weit weniger an 
die Tage der alten Eichenflus, der die Mehrzahl ver 
übrigen Dorfgehöfte zur Stunde felbft auf ein Titelchen 
ähnlich fieht. 

Sn einem Lehnftuhle am Fenfter, die fteifen Glieder in 
weiße Wollendeden gehüllt, die ſchwarze Witwenhaube 


Judith, die Kluswirtin 17 


auf dem zur Bruſt hinabgeſunkenen Kopfe, ruhte die alte, 
kranke Sachſenwirtin, die nach ſchweren nächtlichen Ges 
breſten erſt gegen Morgen in einen ſanften Schlaf ge⸗ 
ſunken war. Sei's, daß die Sonnenwärme dem abſterben⸗ 
den Leib oder daß ein Traum ber halberlofcjenen Seele 
ein flüchtiged Behagen zurüdgab, fie Tächelte im Schlum⸗ 
mer wie ein glückgewohntes Kind, und in diefer Er⸗ 
quidung des Ausruhens, unter dem Hauche, welchen das 
Frühlicht auf die noch immer rundlichen Wangen gemalt, 
hätte einer wohl heute noch das Sachſenröschen wieder⸗ 
erfannt, das einft lachend in diefen Räumen gehauft: gut- 
herzig, treuherzig, geſchickt und tätig für einen angemefs 
fenen Betrieb. Aber in diefem leichten Gliederbau, der 
engen, zurücitrebenden Flucht der Stirn, dem fchmalen, 
fpigen Näschen und feidenweichen, weißgebleichten Haar 
würde er auch die Anzeichen mangelnder Kraft gegen 
Drang und Taft entdedt und ihren Anteil an dem böjen 
Umſchlag der Zeiten entfchuldigt haben. 

Der Knabe, ihr Enkel, der, etwa fünfzehnjährig, im 
dunklen ftädtifchen Schüleranzuge am zweiten Fenſter ihr 
gegenüberfigt und fo früh am Tage ſchon emfig über 
feinen Heften brütet, zeigt fich von nicht minder zartem, 
aber bleicherem und tieferem Gepräge; fein Bauern- oder 
Landeskind, ein geborner Kopfarbeiter offenbar; dahin⸗ 
gegen und mit einem Blicke durch die nach der Küche 
halb geöffnete Tür die Fraftvolle Natur der Tochter in 
ihrem ländlichen Urfprunge und Zufammenhange, wenn 
auch keineswegs im Alltagsausdrucke, vor Augen tritt und 
gar das fonntägig außftaffterte Gefindepaar ald Mufters 
ftücfe urwüchfiger Leibes⸗ und Arbeitöfraft aufgeftellt wers 


den können. 
% 


418 Judith, die Kiuswirtin 


Der Knecht, im weißen, rotwollengefütterten, blank 
geknöpften Keinenfittel und fteifen Knieftiefeln, troß der 
durch ein praflelndes KHerdfeuer juft nicht gemäßigten 
Schwüle die fuchsverbrämte Pudelmüge auf dem flachs⸗ 
haarigen Kopfe; die Magd im buntgefäumten Scharlady- 
rod, das ſchwarzweiße Nadentuc, über dem kurzen Mies 
der, die dicke Bernfteinfette um den Hals gefchnürt und 
das Haar bis zur Stirn herab in die fchwarze Kapfels 
müße eingepreßt, fo fehen wir beide an dem Küchentifche 
ſich gegenüberfigen und mit einer rafcheren Bewegung 
ale wohl fonft die Dunkeln Brotpfloden in die Schüffel 
fchneiden, über welche die Wirtin die fochende Milch zur 
Morgenfuppe fchüttet, darauf aber, während jene taft- 
mäßig Löffel um Löffel den mächtigen Napf bis auf den 
legten Tropfen leeren, zwei pfundfchwere Sped- und 
Pumpernidelfcheiben, reinlich in Papier gemwidelt, vor 
eines jeden Plage niederlegt. Keines redet ein Wort; 
Gefchäft wie Genuß wird gelaffen, aber ohne Aufenthalt 
vollzogen. 

Ein Stilleben friedlich einladend alfo von außen her über- 
fchaut. Wer aber mit feineren Spürfäden in feinen Mittels 
punft gedrungen wäre, der hätte gleichfam in der Luft — 
nicht in der Schwüle der äußern Luft, welche die willenlofen 
Geſchöpfe beflemmte, — eine Bangigfeit fpüren müffen, er 
hätte einen Schemen ahnen müflen, der wolkengleich Licht 
und Laut in diefen Räumen umfchleierte. Der mahnende 
Geiſt entſchwundener Tage, von wem ſchwebte er aus? 
Bon jener greifen, zufammengefunfenen Geftalt, die jet 
im Traume nur frohen Erinnerungen nachzulächeln fcheint? 
Bon der fchuldlofen Stirn diefes Knaben, der mit früh⸗ 
reifem Ernſt ſich auf die Pflichten der Zukunft vorber 


Judith, die Kluswirtin 19 


reitet? Oder gar aus den kindiſchen Blicken der Mietlinge, 
die Arbeit, Ruhe und Genuß nicht über den Tag hinaus 
in ihre Betrachtung ziehn? — Nein; die nachzehrende Ver⸗ 
gangenheit ſteht in den Zügen jenes Mädchens geſchrieben, 
das jung noch an Jahren, wenn auch nicht jugendlich, 
ſtreng, ſtetig und beſonnen, in redlichem Schaffen ſie zu 
ſühnen trachtet; ſie ſpielt hervor aus den Schatten unter 
dem großen Auge, aus der Bleiche der Haut, der Furche 
inmitten der faſt trotzig gewölbten Stirn, aus den feſt 
gefchloffenen Tippen, welche das Lächeln nicht gekannt zu 
haben fcheinen, aus den Trauerfleidern felbft, die ftreng 
und züchtig die marfige Geftalt umhüllen. | 
Denn auch in der Tradıt, wie in der gefamten häus- 
lichen Einrichtung, hatte Judith, die Kluswirtin, die 
Landesfitte ihrem eigentümlichen Wefen angepaßt. Der 
ſchwarze Wollenrod fiel in reichlihen Falten auf bie 
Knöchel hinab; das Mieder, bis zur Nacdenbiegung erhöht 
und durch die blendendweiße Hemdkrauſe geſchloſſen, 
machte das einengende Brufttuch entbehrlich, und dag 
mattblonde Haar legte fidy ohne Hülle, fauber gewunden 
gleich einer Krone, um daß ftolz und ftarf gebaute Haupt. 
Sie öffnet den Mund zu einer kurzen Anordnung, und 
horch! fie redet nicht in der Iandesläufigen, niederdeutfchen 
Mundart, auch nicht mit den gemütlich unflaren Lauten, 
welche die Mutter aus der Heimat beibehalten, fie fpricht 
das KHochdeutfch der Kanzel und Schule, das wir felber 
in gebildeteren Gefelfchaftsfchichten felten fo lauter und 
richtig vernehmen wie da, wo ed außerhalb des täglichen 
Verkehrs, gleichſam ald Fremd» oder Feftfprache, ans 
gewendet wird, und da fie nur das Erforderliche und mit 
tiefem, Hangvollem Laut jederzeit bedachtfam fpricht, er- 


20 Judith, die Kluswirtin 


fcheint e8 in ihrem Munde fo rein, feft und voll, wie bie 
Schriftzüge ihrer Hand auf jener Anweifung, die fie dem 
Knechte zur Beforgung an ihren ftädtifchen Weber über, 
gibt. 

Denn ed iſt heute Markttag und zugleich ber Schluß 
- der Subilatemeßwoche in der Stadt, und damit erflärt 
ſich der Ferienbeſuch des Schülers wie die Feierftille auf 
dem Hof und ber feftlicdye Schmud bed Gefindepaares, 
das, mit der Mehrzahl von Knechten und Mägden der 
Umgegend, der Luft eines freien Meßtages als einem zu⸗ 
ftändigen Rechte entgegenharrt. Zum erften Male, feit 
fie der Kluswirtin dienen, follen fie die Wanderung ges 
meinfchaftlich antreten, und die Borfreude einer darob 
erhöhten Erwartung malt fich auf den breiten, glänzenden 
Kindergeſichtern, während wir bie um eine Linie tiefer 
gezogene Falte zwifchen den bunflen Brauen der Herrin 
dahin deuten, daß fie nur widerwillig einer unaufſchieb⸗ 
lichen Arbeitsnötigung im Laufe der Woche nachgegeben 
und in ein Abweichen von ber Regel des Einzelnbefuche 
gewilligt hat. Schweigend fchnärt fie das Wintergefpinft 
des Haushalts, das der Knecht bei diefer Gelegenheit an 
den Weber befördern foll, zu einem Bündel, und indem 
fie e8 ihm nebft jener fchriftlichen Anweifung einhändigt, 
legt fie den üblichen Marftpfennig vor ihm auf den Tifch 
mit den Worten: „Zehn Mariengrofdjen mehr ald aus⸗ 
bedungen, aber feinen Tropfen, Klaas, hörft du, feinen 
Tropfen!” 

Klaas ftrich die Münze ein mit einer Miene, in welcher 
die Befriedigung über die gewohnt gewordene, von Meſſe 
zu Meffe um einen Grofchen fidy fleigernde Zulage mit 
: dem Berbruß über das ebenfo gewohnte, aber nie ohne 


Judith, die Kluswirtin 24 


Ärger empfundene Verbot eines räftigen Meßtrunfes 
ſchwankte. „Subilatemarft, Wirtin!“ Inurrte er, den 
Löffel zwifchen den Zähnen; „einmal im Jahre, Wirtin!“ 
- „Niemals, Klaas!“ verfeste fie ruhig. „Weder auf dem 
Hofe noch auswärts. Du bift auf den Verſpruch gebingt: 
Branntwein niemals!” — „Der Pfarr nimmt’s nicht fo 
genau wie die Wirtin,“ murmelte der Knecht, indem er 
fich beeiferte, mit dem Löffel nachzuholen, was er durch 
den unnügen Widerfpruch in der Suppenfchüflel einges 
büßt. — Die Wirtin wußte, daß ohne ausdrädlichen, an 
jedem freien Tage vergeblich, angeftrebten Erlaß ihr Ver⸗ 
bot nicht übertreten werden würde, fie fparte daher jedes 
fernere Wort und wendete fich zu dem blanfgereiften 
Zuber, in welchem die Magd die Vorräte des Hofes zu 
Markt tragen follte: Klusbutter, Klushonig, Klusfpargel 
und Lattichfproffen, forgfältig zwifchen rein gefpülte Kohl⸗ 
blätter gefchichtet, obenauf ein dichted Straußbündel von 
Srühlingsblumen werden eine gar willfommene Marfts 
ware liefern. 

Die Magd, die ihre Mahlzeit beendet, blickte ſchmun⸗ 
zelnd auf die ihres Hauptes harrende Zier, wifchte die 
runden Kirfchlippen mit der flachen Hand, ftedte den 
blauen Stridftrumpf zu gelegentlicher Verwendung für 
den eignen Nuten in den Schürzenbund, fchwenfte den 
Zuber auf den Kopf und ftredte die Finger nad) dem 
Marktpfennig aus, den ihr die Wirtin noch nicht gereicht 
hatte. Sie empfing die nämliche Gabe und Zulage wie 
der Knecht und, wie diefer dad Verbot ded Branntweing, 
mit gleich knappen Worten den Befehl: bei Sonnenunter: 
gang auf dem Hofe zurüd zu fein. 

Auch an dieſe Hausregel war man feit Jahren gewöhnt, 


22 Judith, die Kluswirtin 


ſchien aber nad) dem Zugeſtäändnis der gemeinſamen Wan⸗ 
derung heute auf eine weitergehende Freiheit gezählt zu 
haben, denn die Dirne gloßte betreten zu dem Burfchen 
hinüber, dem eine jähe Nöte bis unter die Pudelmüge den 
apfelrunden Kopf überflog., Schon die Klinfe in der 
Hand, fehrte er bei diefer Weifung zu einem Einwande 
in die Küche zurüd, „Bor Abend heim? Jubilatemarkt, 
Wirtin!“ fagte er rafcher und lauter denn gewohnt. — 
„Bor Sonnenuntergang auf dem Hof," wiederholte Die 
Geftrenge. — „Marfttag, Wirtin! Das Pläfter geht erft 
108, wenn’d dunfel wird, Wirtin.” — „Du fannft bleiben 
bis Mitternadht, Klaas, die Chriftine ift pünftlicy bei 
Sonnenuntergang auf dem Hof.” — „Der Hof ift verforgt, 
wenn die Wirtin daheim iſt.“ — „ES ift nicht um den Hof, 
es ift um die Zucht. Eine Klusmagd darf nicht bei Nacht 
gleich einer Landftreicherin gefehen werden.” — „Ich bin 
bei ihr, Wirtin, ich!" — „Defto fchlimmer!“ 

Es lag ein Gewitter in der Luft, und-ungewohnte Rede, 
Widerrede zumal, erhitzt; vergällte Hoffnung aber ift ein 
gewaltiger Blafebalg; dieſes eifige „deſto fchlimmer ” 
fchnellte den gelaffenen Burfchen in einen trogigen Zorn. — 
„Und wenn eine eined Schaf iſt?“ ftieß er heraus, indem 
er mit der geballten Kauft auf den Tifch ſchlug. — Die 
Wirtin ſtutzte einen Augenblid, die puterrote Dirne mit 
einem foharfen Blicke mufternd, fagte aber darauf fo ruhig 
wie bisher: „Zu Peter Paul ift Ziehzeit. Vier Wochen 
Kündigung. Ihr verlaßt den Hof.“ 

Die Magd, die offenen Mundes vor Wunder über 
ihred Kameraden Kühnheit unter der Tür gelehnt, ließ 
bei diefem harten Entfcheid einen kurzen, bellenden Schrei 
vernehmen. Sie fügte mit einer Hand den fchwanfenden 


Judith, die Kluswirtin 23 


Zuber und führte mit der andern die Schürze vor die 
Augen in Erwartung der Tränen, die ihr gottlob nicht 
geläufig waren. Der Klaas hingegen fühlte es gleich 
einer wilden Hummel durch ſeinen Hirnkaſten brauſen; 
die Adern fingerdick auf der zornroten Stirn geſchwollen, 
ſchleuderte er die Mütze in die Herdecke und ſtampfte den 
Boden, daß Schüſſel und Löffel auf dem Tiſch aneinander 
klappten. Er war jählings ein anderer, als er fein Leb⸗ 
tage gewefen und voraugfichtlich fein Lebtage wieder fein 
wird. „Geſagt ift gefagt!” brüͤllte er mit einer Stimme, 
die er feinem Bullen abgelaufcht zu haben fchien. „Ges 
fagt ift gefagt! Wir ziehen! Sa, heule nicht, Ehriftine! 
Wer auf dem Klushofe futtern und buttern gelernt hat, 
braucht nicht Hungerpfoten zu faugen. Nein! Keule 
nicht, fage ih. Du bift mein Schaß, und ich bin dein 
Schatz. Sa! Denn warum? Ein Menfch ift ein Menfch, 
und ein Menſch hat ein Herz fo gut wie das liebe Gotteds 
vieh. Allein aber die Wirtin —“ 

„Schweig und geh!" unterbrad; Judith den Sinnlofen, 
mit einer unwilligen Gebärde auf die Haustür deutend, 
nachdem fie die, welche nach dem Wohnzimmer führte, 
ſchon während des vorangegangenen Zwiegeſprächs vor; 
fichtig gefchloflen hatte. Die Magd fchluchzte und heufte 
nun wirklich; der Knecht aber fühlte blikartig die Wehr 
des getretenen Inſekts in feiner Bruft. Sa, er hatte 
Stachel und Gift, und e8 war ein tüdifcher Blick, den er 
zu der unerbittlichen Herrin hinüberfchoß. — „Heule nicht, 
Chriftine!” fchrie er, ohne ſich von der Stelle zu rühren. 
„Heule nicht, fag ich! Du haft dein Erfpartes, und ich 
habe mein Erfpartes. Und dienen ift gut, ja, aber eigen 
Haus haben ift befler. Sa! Und Schwein und Ziege im 


24 Judith, die Kluswirtin 


Stall! Ja! Und zum Quatember kommt's zur Subhaſte, 
das im Walde drüben. Denn warum? Es verfällt, und 
“ fünf Jahre hat er noch zu ſitzen. Und feiner will's nicht, 
nein! re ich will's, ich! Und ich kauf's des Quellen 
fimon ... 

Bei dem Namen des Quellenſi imon deutete die Magd 

mit einer Gebärde des Entſetzens auf die Wirtin, die 
plöglic, zufammenzudte, ald wäre ihr ein Meffer in das 
Herz geftoßen worden. Die Einrede war erftidt; ftarr 
und fteif ließ fie den nachftrömenden Schwall wie im 
Traume an ſich vorüberraufchen. 
Die Leidenſchaft hatte die Sinne bed blöden Klaas ges 
ftachelt; mit trogiger Schadenfreude bemerkte er die Wucht 
feines Streiches und hieb und ftieß darauflos, bie fein 
Mütchen gefühlt. Er focht wie beim Drefchen oder 
Mähen mit den Armen in der Luft, trat taftmäßig einen 
Schritt vor und einen zurüd, um dad ungeübte Räders 
wert im Gange zu erhalten, und begleitete jeden feiner 
Säge mit einer der beiden gewichtigen Silben, auf welche 
fi) feine Willensäußerung bis heute möglichft befchräntt. 
Sm Fluffe der Rede dämpfte das Rachegeköch ſich ab, die 
Zornedadern fentten ſich allmählicy, die Truthahnsröte 
fchwand, und die blauen Augen gloßten harmlos wie alle- 
zeit; aber dad Ventil war einmal geöffnet, und dad Gefäß 
firömte über big auf den legten Tropfen, den das arme 
Hirn ihm zuzuführen imftande war. 

„Des Quellenfimon Haus!” wiederholte er. „Du denfft 
dir was dabei, Ehriftine, ja, und die Wirtin denkt fid) 
was dabei, ja, und die Leute denfen fich was dabei, ja! 
Denn warum? Spuk ift Spuf, und wenn einer ift tots 
geſchlagen worden, geht er um und fucht feinen Mörder! 


Judith, die Kluswirtin 2% 


Und der Papiermüller ift totgefchlagen worden, ja! Und 
der QDuellenfimon ift wegen Totſchlag gefeßt worden, ja! 
Und feiner darf reden von dem Papiermüller auf der Klug, 
feiner nicht, nein, und von dem Duellenfimon darf einer 
auch nicht reden, nein! Denn warum? Der Papiermüller 
ift der Wirtin ihr Freierdmann gewefen, und die Wirtin 
hat gegen den QDuellenfimon audgefagt, vor Amt und 
Zeugen hat fie gegen ihn ausgefagt, und derhalben pürfen 
wir nicht davon reden! Keule nicht, Ehriftine! Ich will 
davon reden, denn fort muß ich Doch! Und du denfft dir 
was bei dem Kaufe, Chriftine, ja! Aber ich kann mir 
nichtd dabei denfen, nein! Denn warum? Zehn Jahre 
ift’8 her, heuer zum Subilatemarfte zehn Sahr. Und im 
Haufe oben iſt's nicht gefchehen, aber unten in der Stadt, 
und wenn einer umgeht, geht er unten um, am Damm, 
und nicht hier oben vor dem Wald. Und wenn’s ber 
Simon getan hat, hat er's getan, ja. Aber er hat's auch 
wieder nicht getan, nein. Denn warum? Der Simon 
hatte einen Raufch! ‚sch hatte einen Raufch‘, hat der 
Duellenfimon gefagt, und weiter fein Wort nicht, nein. 
Bor Amt und Zeugen hat er's gefagt: ‚Sch hatte einen 
Raufh!“ Und die Wirtin gefteht feinen Tropfen zu, 
nein! Nicht einmal zur Kirchweih und zu Subilate, nein! 
Denn warum? Die Wirtin ift wie ein Mann, ja. Aber 
fie ift doch fein Mann nicht, nein! Und ein Mann vers 
langt feinen Tropfen, und wenn ein Dann feinen Tropfen 
bat, da hat er feine Courage, und er hat fein Pläfier. 
Außerdem ein SEOPIER zuviel, und mit — lea 
iſt's aus. 

„Und der Quellenſimon war ein Menſch wie ein 7 
Nicht eine Sau konnte er ſchlachten ſehn, da wurde er 


26 Judith, die Kluswirtin 


weiß. Und ich habe mit ihm gedient bei der Kompagnie, 
da die Untat geſchah, und der Hauptmann, der anjetzo 
der Oberſte im Zuchthauſe iſt, der hat auf den Simon 
gehalten wie auf ſein Fleiſch und Blut und hat ſich ver⸗ 
ſchworen Stein und Bein, daß der Quellenſimon es nicht 
getan. Denn der Quellenſimon war ein Menſch wie ein 
Lamm. Und bloß von wegen feinem Rauſch. Und das 
Mefler, das in dem Papiermüller feinem Leibe gefteckt, 
ift nicht des QDuellenfimon fein Mefler gemwefen, denn 
warum? Der Simon hatte fein eigen Meſſer zugeflappt 
in der Kofentafche. Und der Hieb, der dem Papiermüller 
den Hirnkaſten eingefchlagen, der ift auch nicht mit des 
Quellenfimon Stode geführt gewefen, denn des Quellens 
ſimon Stod hat fünfzig Schritte davon am Damme ges 
legen und eine erbärmliche Haſelrute mit einer Krücke, 
weiter nichts. Allein aber der Totfchlägerftod, das muß. 
ein fremder Stod gewefen fein, oben darauf mit einem 
bleiernen Knopf. Und in der nämlichen Nacht ift der 
junge Sachſenwirt davongegangen auf der Eifenbahn 
überd Meer, und feine Seele hat wieder ein Sterbenswort 
von dem jungen Sachſenwirt gehört, und diefe Subilates 
meſſe ſind's juft zehn Sahre.” — 

Wie das Streiflicht eines Blißes über eine Leiche, fo 
zudte ed bei dem legten Sate über die Geftalt der Wirtin; 
nur ein einziger Augenblick, im nächſten ftand fie fo uns 
belebt wie zuvor. Der Redner bemerkte ed nicht; der 
Zorn war längft von feinem Siedepunfte gefunfen, der 
Trotz des Ungehorfamd geftillt, auch die Eitelfeit ward 
nicht geftachelt, denn die eine feiner Zuhörerinnen ftand 
fchier wie taub, und die andere fragte den Kudud nad 
dem Quellenfimon und feiner Miffetat, nur nach des 


Judith, die Kluswirtin 27 


Quellenſimon verrufenem Haus, deſſen Notdurft ſie gegen 
den reichlichen Hofedienſt vertauſchen ſollte. Der Klaas 
hielt bei dem verpönten Gegenſtande daher nur noch aus, 
weil er einmal im Zuge war und zu ſeinem eignen Wunder 
eine denkwürdige Erinnerung aus einem Winkel ſeiner 
Seele in die Höhe tauchte. Der an Ordnung Gewöhnte 
machte bloß reinen Tiſch, indem er die lebten Broden 
aus feinem Gedächtniffe zufammenftridh. 

„Und von wegen ded Meſſers,“ fo fuhr er nach einem 
fräftigen Atemzuge fort, „und von wegen des Stoded und 
von wegen etwelchem anderem, das nicht hotte noch hü 
paflen getan im Berhör, hätten fie dem Quellenfimon 
nichts anhaben können vor dem Amt, nur ganz allein, 
daß der Duellenfimon gefagt: ‚Sch hatte einen Rauſch, 
ich kann's getan haben, und ich will’8 getan haben‘, hat 
er gefagt. Allein aber an Leib und Seele find fie dem 
Duellenfimon nicht gegangen vor dem Amt, denn warum? 
Der Quellenfimon lebt, und id; habe ihn gefehen, und 
wenn er nicht lebte, hätte ich ihn nicht gefehen, und wenn 
fie ihm and Leben gegangen wären, da lebte er nicht, 
nein! Und er hatte nicht mehr ein Anfehen wie Milch 
und Blut, wie damals unter der Kompagnie, aber wie 
pure Mildy und hager wie ein Steden, und weiße Haare 
auf dem Kopf. Aber gefannt habe ich ihn auf den erften 
Blick, denn der Simon hatte eine Art, die feßt fich einem 
ind Herz, und der Simon, das war ein Menfch wie ein 
Lamm. Und die Züchtlinge Ffarrten Pflafterfteine im Hof, 
und graue Hoſen hatten fie an und Jacken von Zwilch, 
und der Simon hatte auch eine Hofe und Sade an von 
Zwilch, aber gefarrt hat er nicht. Mit den Buben vom 
Hauptmann hat er im Hofe gefpielt, der anjeto der 


38 | Judith, die Kluswirtin 


Oberſte im Zuchthauſe iſt, und Klötzchen von Holz hat er 
den Buben geſchnitzt, und der Hauptmann hat dabei ge⸗ 
ſtanden und dem Quellenſimon auf die Schulter geklopft. 
Und das Zuchthaustor ſtand auf, und ich habe am Tore 
gelehnt und es mit meinen leiblichen Augen geſehn. Und 
ed war, wie ich die Bleſſe zu dem Schlächter treiben tat, 
und — und — und —“ 

Der Schwäßer ftocte; er hatte noch Atem, aber ber 
Stoff war ihm ausgegangen. Er focht ein pyaarmal mit 
den Armen in der Luft, trat von dem rechten Beine aufs 
linke und von dem linken aufs rechte, aber einen frifchen 
Satz fand er nicht. — „Und damit gut, ja!" fagte er, 
fuchte die Pudelmüge hinter dem Herdwinkel vor, faßte 
mit der einen Hand das Garnbündel und mit der andern 
das eingewidelte Morgenbrot, das er vorhin mit einer 
Miene, als ob er Spedicheiben und Pumpernicel niemals 
wieder feiner Labung würdig halten werde, auf den Tifch 
gefchleudert, und verließ, gefolgt von feiner Schönen, die 
Küche. 

Keine Fiber hatte an dem Leibe der Kluswirtin gezudt; 
die Hände an den Tifchrand geflammert, den Kopf zur 
Bruft herab gefunfen, afchfarbig, ftieren Auges, fo ftand 
fie wie im Krampfe gebunden, und erft ald die Tür hinter 
dem fich entfernenden Paare in dad Schloß fiel, ſchreckte 
fie, wie erwachend, zufammen. 

Eine Minute - und fie richtet fich in die Höhe, Die Hände 
finfen fchlaff am Leibe herab, mit fcheuen Blicken durch⸗ 
fpäht fie den Raum. Hat fie ein Traum genarrt, ein 
böfer Traum, wie fo oft in der Nacht? Ein verhäßter 
Traum, über ben fie feine Herrfchaft hat wie mit offnem 
Auge im Tageslicht? Sie fieht durch das Fenfter die 


Judith, die Kluswirtin 29 


breiten Sonnenſtrahlen und das Hantieren der Leute auf 
dem Hofe. Nein, es iſt Wirklichkeit. Das Schauerbild 
ihrer Jugend iſt vor ihren Augen entrollt worden, mit 
groben Zügen, mit plumper Hand — aber doch das Bild! 
Die Satzung des Hauſes iſt gebrochen, der Name genannt, 
das Schickſal heraufbeſchworen worden, die in der Stille 
ihres Hauſes und Herzens wie in einem Grabe geruht. 
Sie ſchaudert. Es gemahnt ſie, als ob der Geiſt des 
Schickſals einen Vorboten entſendet habe. 

Aber Judith, die Kluswirtin, iſt keine Traͤumerin und 
Geiſterſeherin von Natur. Dreimal atmet ſie bis auf 
den Grund, fchlägt mit den geballten Händen dröhnend 
gegen die Bruft, ald ob fie den Dedel über einem Sarge 
verfchließe, und fie fühlt ſich wieder Mar, feft, zum Kampfe 
gerüftet, wie fie fi) vor wenigen Minuten gefühlt. Gie 
laufcht eine Weile an der Stubentür. Alles ftil! Die da 
drinnen haben nichtd von dem Ärgernis vernommen. Sie 
finnt einen Augenblid und fchreitet dann entfchloffen in 
den Hof hinaus. — Auch der Knecht ift wieder ber alte 
Klaas, von dem feltfamen Eifer nichtd zurückgeblieben 
als gezeitigter Appetit. Er fikt auf dem Garnbündel, das 
er über den Kornfad auf feinen Schiebfarren geladen, 
und verzehrt die Brot» und Spedfcheiben, die ohne bie 
vorherige Anftrengung nicht unter etlichen Stunden an 
die Neihe gekommen fein würden. Die einzige Unbe⸗ 
ruhigte von den dreien fcheint allenfalls die Magd, denn 
fie fteht vor ihrem Auserkorenen mit geballter Kauft und 
pufft auf den Kornfacd unter dem Proteft: „Und ich will 
nicht in das Mörderhaus, und ich gebe der Wirtin ein 
gut Wort, und ich will nicht in des Quellenfimon Haus!“ 
Ehren⸗Klaas hat. genugfam gefchwägt für lange Zeit, er 


30 Judith, die Kluswirtin 


läßt fidy auf Erwiderungen nicht ein. So wenig er fidh bei 
des Duellenfimon Haus hat denfen können, fo wenig hat er 
im Ernfte an das abgelegene, verrufene, verfallene Wald⸗ 
haus gedacht, ja in hausväterliche Abfichten überhaupt fich 
erft in der Galle über einen vereitelten Meßtanz hineinge- 
redet. Er weiß, daß Knechtöbrot ficherer zu verdienen ift 
ale Heierlingsbrot, und wie herzhaft ed mundet, das glaubt 
er noch niemals fo empfunden zu haben, wie über den faf- 
tigen Spedfcheiben, die er in langfamen Biffen fchnalzend 
zwifchen feiner Zunge zerdrüct. Freilich in feinem Dienfte 
fo herzhaft als in dem zur Vergütung ihrer ftrengen 
Enthaltfamfeitsverbote reichlich Iohnenden und föftigenden 
Kluswirtin. Indeſſen da der Zungenteufel ihn einmal 
aus dem gelobten Lande geritten, wird der Klaas fich 
auch an einem mageren Plage genügen laflen und noch 
am heutigen Tage unter den Marftgäften nad, einer 
ſchicklichen Gelegenheit Umfrage halten. 

Mit diefem Kern: und Schlußpuntte feiner flummen 
Erwägungen war der Knecht bei dem legten Biffen des 
Pumpernickels angelangt, als die Wirtin ihm unerwartet 
gegenüberftand. „Klaas, Ehriftine,” fagte fie fo ruhig, 
als ob das fürzliche Zwifchenfpiel nicht ftattgehabt, „ich 
dulde feine Liebesleute auf dem Hofe, ihr wißt's. Aber 
werdet Mann und Frau, fo mögt ihr bleiben. Dort oben 
das Gelaß im Gartengiebel richte ich euch her. Im übrigen - 
bleibtö beim alten. Künftigen Sonntag dad Aufgebot. 
Soll's fo fein?" — Der Klaas bat dem Gottfeibeiung fein 
fträfliches Mißtrauen ab; er hätte an eine Wiederholung 
des Pfingftwunders glauben mögen, des wunderlichiten 
Wunders, das er den Pfarrer von der Kanzel verfündigen 
hören; der trodene Biffen ftocdte in feiner Kehle; der 


Judith, die Kluswirtin 31 


Chriſtine aber flimmerte es vor den Augen, ſo als ob mitten 
in der Nacht ein Goldregen ſich auf die Erde niederge⸗ 
laſſen. „Es ſoll ſo ſein, Wirtin,“ ſagten ſie beide ein⸗ 
mündig, nachdem ſie ihrer Geiſter wieder Herr geworden. 

Damit zog der eine ſeinen Karren an, die andere ihren 
Strickſtrumpf aus dem Schürzenbund, und beide bewegten 
ſich dem Hoftore entgegen. Die Wirtin folgte ihnen. 
Bevor ſie den Ausgang überſchritten, trat ſie noch einmal 
zwiſchen ſie, legte eine Hand auf eines jeden Schulter 
und ſagte leiſer und weniger zuverſichtlich denn vorhin: 
„Über die Dinge von — damals feine Silbe wieder, Leute!” - 
„Keine Silbe wieder und feinen Tropfen, Wirtin!” - 
„Beim vor Nacht und feine Silbe, Wirtin!” beteuerten 
die Neugeworbenen, indem fie in die ausgeftredte Sand 
der Wirtin fchlugen. 

Ohne ein Wort miteinander zu wechfeln, festen fie ihre 
Straße fort. Die Braut firidte an ihrem Hochzeits⸗ 
firumpf, wil’s Gott; in dem Bräutigam dDämmerte eine 
Weisheit, welche der Welt vor ihm fchon mehr als einmal 
nach einem Sturme aufgegangen. Die Weisheit nämlich, 
daß ein unrechtes Wort zu rechter Zeit gelegentlich einen 
Treffer zieht. Möglich, aber ſchwerlich, daß Ehren- Klaas 
im Berlaufe feines Lebens auch zu der weiteren Erfennt- 
nis gelangt, nad) weldyer ein rechtes Wort zu unrechter 
Zeit allemal eine Niete iſt. 


Geſichte 
Judith ſchloß das Tor und ging nach dem Hofe zurück. 
Sie würde nicht die planvolle Hausregentin gewefen fein, 
die fie war, wenn fie den Widerfpruch mit ihren wirt- 
ſchaftlichen Grundfägen, in die fie durch die getroffene 


32 Judith, die Kluswirtin 


Entfcheidung geraten, ohne Mißmut hätte empfinden 
follen. Sie hatte die Ordnung ded Gebietens und Ges 
horcheng, welche ihr Werk bis heute getragen, durch⸗ 
brochen, fie hatte nachgegeben und wußte, daß fie aufs 
geben, neue Opfer bringen, neue Anftrengungen über fidy 
nehmen müſſe. 

Bu feiner Zeit hatte man verheiratete Dienftleute auf 
dem Klushofe gefannt. Mit einem Liebeshandel und feis 
nen Folgen war es indeflen erft unter dem gegenwärtigen 
fpröden NRegimente genau genommen worden. Wo alles 
noch fo eng mit dem Natürlichften zufammenhängt, in 
biefem nadı außen ungefelligen. Sn» und Miteinander 
menfchlicher und tierifcher Hausgenoſſen, der gemeinfamen, 
felber nächtlichen Arbeit, ift die gefchlechtliche Sitte bes 
Landes — den träumerifchen, nördlichen Bifchofsbezirf 
etwa ausgenommen — vor der Ehe eine leichte, und unter 
dem Schenfenzeichen des gutwilligen Sadjfenröschens war 
fie leichter noch als in der übrigen Gegend gehandhabt 
worden. Wer aber eben mühfam einen Moderfleden von 
feinem Spiegel getilgt, der hütet ihn ängftlich vor dem 
erften trübenden Hauch; und Judiths Spiegel war ihr 
Hof. Der Schande, dem üblen Leumund hatte fie durch 
ihre Entfchließung vorgebeugt, der Zucht eine neue, um fo 
feftere Schranfe gezogen, wenn auch vorausſichtlich mandje 
Ungehörigfeit, manchen ftörenden Zwifchenfall in den Kauf 
genommen. 

Indeſſen war fie durch die fittlichen Erwägungen body 
erft in zweiter Reihe getrieben worden. Weit obenan 
ftand das Bedürfnis der Grabesruhe über jenem Namen, 
jenem Schickſal, die fie in ihrem Bereiche zum Gefeß ers 
hoben und auf diefe Weife am leichteften gefichert glaubte, 


Judith, die Kiuswirtin 53 


Mochten diefer Name, diefes Schickſal zur Stunde in dem 
fchweigfeligen Lande verflungen fein, ein Unberecdyenbares 
tonnte fie gleich einer alten Sage wieder aufleben laflen; 
mochten ihre Abgefchloffenheit und der Bann ihres Wils 
lens fie vor Berührungen fchügen — fchon die Erneuerung 
diefed Bannes über fremde, wechfelnde Hausgenoſſen, die 
Möglichkeit einer Wiederholung des eben Erlebten erfüll- 
ten fie mit Grauen. Sie fam daher zu dem Abfchluß, 
daß fie für eine unvermeidliche Herzensunruhe das leichtere 
Teil äußerer Belaftung eingetaufcht, dem ihre Kräfte wie 
Mittel gewachſen waren, drängte die demütigenden Sins 
tergedanfen zurüd, und rafch, auch zu mwiderftrebenden 
Ausführungen, faumte fie nicht, dad dem künftigen Ehes 
paare überwiefene Wohngelaß prüfend in Augenfchein zu 
nehmen. 

Die Giebelftube im Seitenbau bildete den Schluß einer 
Reihe Feiner Zimmer, welche zu Gafthofgzeiten der Klug 
geringen Leuten ald Herberge gedient. Ihr Bruder hatte 
fi) den freundlichen, in das Grün des Gartens blickenden 
Raum feit feinen Ehetagen zur eignen Einfehr eingerichtet, 
und noch ftand alles unverrüdt, wie er ed in der legten 
Stunde verlaflen: das Bett ungemadht, dad Gerät vers 
fchoben und mit wertlofen Tändeleien beladen, vertragene 
Kleidungsftäde in der geöffneten Lade, im Winfel die 
zerbrochene Gitarre, zerlefene Schartefen wirr durchein⸗ 
ander auf dem Regal. Die Wand war mit bunten Kleck⸗ 
fereien bemalt und beflebt; dort hing Sylviad Schattens 
riß und daneben in Lebensgröße das eigne Konterfei des 
verfommenen. Erben, mit welchem ein Kunftbruder ders 
einft feine Zeche bezahlt. So gröblicd, die Leiftung, das 
bligende Augenpaar, die langflatterigen hellgelben Locken, 


s 


84 | Judith, die Kiuswirtin 


wie dad gewichite Stußbärtchen über den lachenden Lips 
ven und dem kurzabgefchloffenen Kinn, der ftußerhafte 
Schlafrocksſtaat hätten einem Freunde allenfalld das Ans 
denfen Mosjö Guſts zurüdrufen können. — Die Schwefter 
hatte an jenem Morgen das Zimmer abgefchloffen und feits 
dem nicht wieder geöffnet. Nun aber, da fie plötzlich auch 
biefen Bann überfchritten, wurde fie von allen Seiten in 
das Damals zurüdgedrängt, deſſen legte Spur fie in ihrer 
Klus zu Löfchen gedachte, indem fie den gemiedenen Raum 
einem nüglidyen Zwede übergab, „Und in dieſer Nacht 
ging der junge Sachfenwirt überd Meer, und feine Seele 
hat wieder ein Wort von dem jungen Sadjfenwirte ges 
hört!" Mit diefer Erinnerung aus ihres Knechtes Rede 
tehrte fie nach dem Wohnhaufe zurüd. 

Die alte Frau fchlummerte, der Knabe memorierte noch 
wie vorhin; die außerhäuslichen Gefchäfte ruhten während 
ded heutigen Meßtages, die häuslichen waren bi zur Bes 
reitung der Mittagskoſt gerüftet; die unermüdliche Wirtin 
durfte raften und ſinnen. Aber felber die Gegenwart der 
beiden achtlofen Zeugen im Wohnzimmer ftörte fie; fie trug 
das Rad in die Küche, ſchloß die Tür, fegte fich und ſpann. 

Der Sagenglaube des Landes fieht die Urmutter der 
Natur, ein Vorbild des Fleißes, fpinnend vor der Him⸗ 
melsdtür; wer aber dieſes Mädchen beobachtet hätte unter 
dem büfteren Rauchfang, in welchem der letzte Reſt bes 
Eichenflobens verfohlte, die kräftige trauerverhüllte Ges 
ftalt mit den reinen, feften Zügen, die wohl an ein Bors 
und Urbild gemahnen durften, wie fie fo unveränderlich, 
bie ernſten Augen gleichſam nach innen gelehrt, zurüds 
fann und dabei taftmäßig dad Rab bewegte und den 
Faden zog: nicht an die heiterzeugende Perchta, an eine 


Judith, die Kiuswirtin 95 


jener Schidfalgfpinnerinnen würbe er erinnert worden 
fein, welche die Gerechtigkeit einft dem Gotte des Himmels 
geboren, daß fie unmwandelbar, unerbittlich Kohn und 
Strafe in einem Lebendfaden zufammendrehen. Sa, eine 
Parze. Aber wehe dem fterblichen Kind, dem im engen 
Bezirk das Amt diefer Himmlifchen zuteil geworden, Liebe 
und Luft entweichen feiner Bahn. Denn mitten durch 
Herz bohrt die Achfe, deren Erdenpol Ehre heißt und ber 
gen Simmel deutet — dad Gewiſſen. - So faß fie ftill in 
fith verloren unter dem leifen Surren ded Rades und 
merfte eine lange Weile nicht, daß das Schweigen im 
Nebengelaß unterbrochen worden war. 

Die alte Frau erwachte, das Lächeln ded Traumes noch 
auf den Lippen und über den Wangen den jugendlichen 
Schlummerhauch. Sie dehnte ſich behaglich im wärmens 
den Sonnenfchein, fohaute in die faftgrüne Aue hinaus, 
grüßte nidlend durch die Scheiben, als fähe fie ftatt ber 
Tulpen im Beet die alten befannten Gefichter in ber 
Ligufterlaube. Die Lippen bewegten fich anfänglich laut⸗ 
(085 dann, mit fchlafgeftärfter Kinderftiimme hoben fie 
eine Zrällerweife an, erft leife und immer frifcher und 
frifcher: „Tanzt mit mir, tanzt mit mir, trallala, hopſaſa!“ 

Der Knabe, welcher die Großmutter nur flumpf und 
für die draͤngendſten Teiblichen Bedürfniffe empfänglich 
gekannt, fie vor ihrem Morgenfchlummer noch in ſchwerem 
Atmungsfampfe gefehen, ließ erfchroden das Buch aus 
den Händen fallen, und biefes Geräufc, lenkte das Auge 
der Alten zu ihm. hinüber. Sein Anblid fchien fie zu 
erfreuen, denn fie lachte heil auf und nickte noch herzlicher 
denn zuvor. — „Gott Wunder!” rief fie, mühfam die 
fteifen Sände aneinander Happend. „Schon aus den 


98 Judith, die Kluswirtin 


Federn, Guſt? Die Dithel wieder den Waſſerkrug über 
den Ratzen gegoſſen, gelt? Der Frühauf, die Dithel, ja, 
die Dithel! Und gleich über der Scharteke? Dummes 
Zeug, Guſt! 'naus, 'naus! Eine Wonne draußen, Guſt, 
purer Balſam die Luft und die Muſik, die Muſik! Horch, 
wie fie locken und ſtimmen! Verſteck deine Kratzfiedel, 
Stümperchen, die kleinen Pieplerchen droben hutzen dich 
aus. — Na, wird's bald, Mosjö? Klapp zu das Buch. 
Ein Wirtsſohn muß Beine haben! Der Alte zapft Bier. 
Trag ihm den Stummel 'nunter, Guſt. Das Morgen⸗ 
fhälchen mundet nicht außerdem. Nur nicht gleich nüch⸗ 
tern einen Schluck, Frobelchen! Nur erſt was Warmes 
gegen den Dunſt, alter Jobſt! Willſt nicht? Schon wieder 
rackerig bei fo tagfrüher Zeit! Herr meines Lebens, ber 
Wacholder, der Wacholder!” — Die Alte feufzte; faum 
eine Minute jedoch und der Schatten war verweht, Iuftig 
wie zuvor ficherte und blinferte fie zu dem Knaben hins 
über. „Sud, Guſtel, gud,” rief fie, „wie die Bienen 
fi) tummeln in der Kufdemath!, holterte, polterte in 
die Kelche hinein! Haben fich beizeiten einen Spitz ges 
zippt! So’n Bienchen, ſo'n Bienden! Ja, wenn's der 
Menfch ebenfo gut haben tät! Nur immer zippen und 
nippen, und dad Haus wird voll!" — 

Der Enkel, der allmählich begriffen hatte, daß ein wacher 
Traum die Ahne weit zurüd in feines Vaters Knabenzeit 
geführt, vermochte, feiner natürlichen Ernfthaftigfeit zum 
Trog, ein leifed Kichern nicht zu unterbrüden. Die Alte 
drohte, felber lachend, mit dem Finger. „Sachtchen, 
fachtchen, Goldſohn!“ flüfterte fie, „der Alte ift rabiat, 


Saͤchſiſcher Provinzialism für Flieder. 


JIndith, die Kluswirtin 37 


fuchswild, ſag ich dir. Zetert und poltert in der Kam⸗ 
mer drinnen. Naͤchtens der Punſch, ja der Punſch, daß 
Gott erbarm! — Aber pfui doch, Guſt,“ fuhr ſie nach einer 
Pauſe ernſthafter fort, „mußt nicht fo Täfterliche Reden 
führen wider dein eigen Fleifch und Blut. Du follft nicht 
aufdeden deines Baterd Scham! Denf an den Noah, 
Guft. Eine Seele von einem Mann, wie Bater Noah, 
mein Sobft, fein Neidhammel und Geizkragen nicht, Gott 
bewahre mich. Das Land ift fchuld, nur allein das Land! 
Ein garftig Land hiefig, mein Lämmchen. Kein Thüringen 
nicht, du Liebe Zeit! und fein Kanaan nicht, wo der Wein⸗ 
ſtock waͤchſt und Milch und Honig herniederfleußt. Nur 
der Wacholder im Sande, und der Wacholder madıt fo 
’nen fchweren Dunft! — Lachſt immer noch, Guft? Höre, 
du Nafenweiß, höre! Der Noah, der hatte drei Söhne, 
die hießen, die hießen — ei du weißt ja, wie fie heißen 
taten, Guft, haſt's gelernt in der Kinderlehre — ach, großer 
Gott, in deine Hände, nein! Bift ein Katholifcher, armer 
Sohn, darfit dich nicht ftärfen im Bibelbuch, armer Sohn, 
armer Sohn!“ 

Der Knabe fuhr bei diefer Wendung in die Höhe, ale 
hätte er eine Gottesläfterung vernommen; er war freide- 
blaß geworden und blidte ängftlich nach der Tür, wie 
um zu flüchten oder Hülfe anzurufen. Die Gedanfen der 
alten Frau hüpften indeffen noch eine Weile kraus durch⸗ 
: einander zwifchen Freud und Leid ihrer Vergangenheit, 
bis fie endlich erjchöpft in die Lehne zurückſank und die 
Augen wieder fchloß. Der Enkel ftand unfchlüffig; er 
hätte die Muhme fuchen mögen, die er außer dem Haufe 
befchäftigt glaubte, und fcheute ſich doch auch wieder, die 
Großmutter allein zu laflen. Jetzt, da er fah, daß fie 


88 Judith, Die Kluswirtin 


ſchlummerte, ſchlich er auf ſeinen Platz zurück, ſchmiegte 
ſich in die Ede und lauſchte ängftlich zu ihr hinüber. Eine 
Weile blieb alles ftumm. Die Augen der Greifin waren 
halb geöffnet, ruhige Atemzüge, ein Lächeln, ein fanftes 
Wiegen des Haupts. Allmählicd) regten fich die Lippen, 
lautlos von Anfang, dann lifpelnd, endlich frifc und 
deutlich wie vorhin. Sie bemerfte den Enkel nicht, und 
ed war ein anderes Traumbild als das ded Sohnes, das 
ihren Sinnen vorfchwebte. 

„Simonden, Simonchen!” rief fie begluͤckt und breitete 
ihre Arme aus, ald ob fie einen Daherftürmenden aufs 
fangen wollte. „Kind, Kind, welche Haft! Außer Atem 
wie ein Blafebalg, ei du gottlofed Weiheengelchen! Sek 
die Kappe auf, Simon! Und da, hurtig ein Tränchen 
gegen den Berfchlag! Ei, du Zipphan, du verftehft’s! 
Gelt, dad tut gut? Aber fo weiß und timide, Simon! 
Haft Hunger, bift noch nüchtern gar, armer Schelm? Keine 
Mutter im Haus, und nichts Warmes im Topf! Warte, 
warte, habe mas für dich! Spedfladen warm aus dem 
Dfen, mein Goldfühndyen, Kümmel drauf und Zwiebeln 
und ein Cierguß. Das mundet, gelt? Berftehen’s nicht, 
hierzuland, dummes Volk hierzuland! Der Sped faftig 
von der Eicdyelmäfte und würzhaft vom Holderrauch, 
aber die Kunft, Simon, die Kunft! Nur grober Pumpers 
nickel, ſchmaäͤhlich dummes Volk hierzulande! Bift fatt, 
Simon, dick und voll wie genudelt, he? Setz ein Gläs⸗ 
chen drauf zur Verdauung! Schuͤttelſt? Dummlack, wächſt 
doch! Mannſen wie Bäume hierzuland, und das Bull⸗ 
chen allwegs im Sack! — Zur Schule willſt du? Nur zu. 
Die Dithel lauert ſchon, Simon. Aber der Guſt? Ja 
wo ber ſteckt, der Sauſewind! Rate mal, Buͤrſchchen. 


Pr 


Judith, die Kiuswirtin 99 


Born auf dem Bod beim Poftillion, zur Meſſe in die Stadt, 
fohetteretäng, hui, haft du nicht gefehn! Ma, nicht fo Mein 
laut, Simon. Kann ja fchon fchreiben und Iefen, mein 
Guſt, ift ein Hofeſohn und der Kluswirt dermaleinft. Nur 
hübſch manierlich, Guftel, einen Kopfnider hier, einen 
Krapfuß da, und die Worte fein gefegt, ein Wirtsfohn 
muß zu leben wiffen. — Sat die Erempel nicht gerechnet, 
der Guft, ei was, ein andermal ift auch noch Zeit! Mad, 
zu, mad) zu, Simon, die Dithel lauert in ber Gartenhätte. 
Hat fchon die Waben gefchnitten, die Dithel. Das ift 
eine Befcherung, die bu ihr angerichtet mit dem Bienen 
haus mitten in der Kufdemath. Iſt auch fo’n Bienchen, 
die Dithel, luftig draußen im Klee und eifrig im Baus. 
Aber einen Stachel hat fie, die Dithel, daß dich, fomm 
ihr Feiner zu nah! Na, na, laß den Kopf nicht hängen, 
Simonchen, dich fticht fie nicht, Dich nicht. Haft fie fchon 
fi gemacht, da fie noch in der Boje lag, du Weihes 
engelcyen, und alleweile noch; vor dir ift fie ſtill, eitel 
Wachs und Konigfeim vor dir. Ich will dir was fagen, 
Simon, fachtchen, fachtchen, daß es Feiner nicht hört! Und 
wenn du groß wirft, fprich: ‚Die Sachſenwirtin hat's ges 
fagt.‘ Bift nur ein armer Kiekinsland, Simon, und 
die Dithel ift eine Kofetochter und hoffärtig wie eine, aber 
die Dithel nimmt einftens doc; feinen anderen als —“ 
„Haltet ein, Mutter!” unterbrach eine zitternde Stimme 
die gemütliche Plauderei, und Judith, wie an dem Faden 
diefer legten Erinnerungen herbeigezogen, faßte frampf- 
haft fchüttelnd der Alten Arm. Auch der Knabe fchlidh 
aus feinem Verſteck hervor, mit bänglicdhem Zweifel von 
feiner Pflegerin auf die Ahne und von bdiefer auf bie 
Pflegerin blidend. Der friedliche Traum war unter dem 


40 Judith, die Kluswirtin 


Griffe von der Tochter Hand, unter ihrem gellenden Gebot 
entflohn; die alte Frau ſtarrte zu ihr hinauf, wand die 
gefaltenen Hände und ſchauerte wie im Fieberfroſt. 
„Dithel!“ rief ſie ſcheu, „was willſt du, Dithel? Was 
haſt du, Dithel? Komm zu mir, Guſt, ganz nahe, Guſt, 
hierher, hierher, Guſt!“ — „Euer Geiſt wandert, Mutter,“ 
ſagte Judith ſchon wieder gefaßt. „Das iſt nicht Euer 
Sohn, es iſt Euer Enkel, der Sylv.“ — „Sylvian, Sylv?“ 
murmelte die Alte, mit leeren Blicken den Kopf ſchuͤttelnd. 
Sudith ftand ratlos. Woher diefed auflodernde Leben in 
dem lange abgefiumpften Hirn? Ihr ahnete das Letzte; 
fie hätte nach Arzt und Seelforger ſchicken mögen. 

„Sylv, Sylo!“ flüfterte die Mutter noch immer in fidh 
hinein. „Spylodhyen, ja Sylochen hieß fie, Sylvia —“ 
Und plöglich, wie ſich befinnend, fchrie fie auf: „Die im 
bunten Rod, da oben am Kirchenfnopf! Kerr Sefus, fie 
fhwanft, halt auf, halt auf! — Bringft fie, Guft, will- 
fommen, Guft! Gottlofes Kind, gutes Kind! Murre nicht, 
Dithel! Gib ihr die Hand, Dithel, - fie ift —“ — Judith 
gab dem Knaben ein gebieterifches Zeichen, ſich zu ent- 
fernen, die Alte aber rief beflommen, indem fie die zit- 
ternden Arme nach ihm ausſtreckte: „Bleibe bei mir, Guft! 
Laß dich nicht von mir treiben, Guft! Die See ift tief, 
tief, und fo weit, fo weit! Bleibe im Lande, Guft, ers 
fäufft Leib und Seele, Guft, bleibe bei mir, Guſt!“ - 
Sylvian Fniete erfchüttert neben ihrem Stuhle nieder und 
faßte ihre beiden Hände in die feinen. Die Angft Iöfte 
ſich nad) und nach unter diefer leifen, warmen Berührung, 
ber Kopf fanf zurüd, die Lider fielen zu, nur die Lippen 
flüfterten noch ein paarmal: „Sylochen, Sylv!“ - dann 
ruhten auch fie, 


> 


Judith, die Kiuswirtin 4 


Die Tochter, die rafch in der Küche den braunen Labe⸗ 
tranf der Mutter aufgebrüht, ftand fchon eine Weile fors 
genvoll laufchend unter der Tür, ehe jene Die Augen wieder 
aufichlug. Sie fehauderte wie vor einem Gefpenft, ale 
fie die Tochter, die Taſſe in der Hand, auf ſich zutreten 
fah; fie riß ihre Hände aus denen bes Enfeld und wehrte 
in Zodedangft die Gabe von fi ab. „Warum fürchtet 
fie fich vor dir?“ flüfterte Syloian, erftaunt zu der Muhme 
aufblidlend, die er findlid, verehrte und deren geduldige 
Pflege er oft mit Bewunderung beobachtet hatte. Sie ant- 
wortete nicht, aber der Schatten eines unfagbaren Wehsglitt 
über ihr Geficht. „Es ift Kaffee, Mutter,” ſprach fie ſanft, 
indem fie nod) einmal den Verſuch machte, ihr die Taffe zu 
reichen. — „Gift, Gift!“ reifchte Die Alte auf. „Haft wies 
der Gift gebraut, Dithel? Nur nüchtern nicht, Dithel, nur 
heute nicht, Dithel! Siehft nicht, wie er ſich wehrt? Siehft 
nicht, wie er ſchwach wird? Es ift dein Erzeuger, Kind, 
hab Erbarmen, hab Erbarmen, Dithel!” — Sylvian fprang 
in die Höhe und ftarrte entfeßt der einen und der anderen 
in das Geſicht. „Was tateft du, Muhme?“ fragte er zit- 
ternd. — „Ich tat, was recht war, Sylvian,“ — entgegnete 
Sudith mit erzwungener Ruhe und gab ihm die Taſſe, fie 
der Großmutter zu reichen. Mit einer heftigen Bewegung 
fchlug fie diefelbe aus feiner Hand. 

„Du auch, Guſt?“ fchrie fie auf, „du auch?” Dann, 
in eine flehende Weife übergehend, fuhr fie, die Hände 
windend, fort: „Höre nicht auf den Doktor, Guft, trau 
dem Pfaffen nicht, es ift ein Katholifcher. Was fragen 
fie nad; dem Fremden? Das Stümpfchen Lebendlicht, 
was fchiert eö die Fremden? Aber dein Vater, Dithel! 
Laß ihn leben, Dithel, nur leben! Siehſt nicht, wie es 


42 Judith, die Kiuswirtim 


ihn widert? Siehſt nicht, wie er ſchmachtet? Nur einen 
Löffel vol ohne Gift, nur einen Biffen ohne Gift! Möch⸗ 
teft den Geift wieder aufbringen, Dithel, ihm die Ehre 
wiedergeben? Ach, Dithel, Dithel, hin ift hin. Vergibſt 
den Leib, ladeſt Miffetat auf dein Herz, hin ift hin!“ 
Tränen rannen über die alten, je mehr und mehr ers 
bleichenden Wangen; auch Sylvian weinte, ergriffen von 
ihren Sammerlauten, und Sudith ftand vernichtet. 

Und jählinge durchzudte die Alte ein elektrifcher Schlag. 
„Herr Sefus, wie er weiß wird!” fchrie fie. „Laßt mid) 
nicht allein mit ihm! Einen Wermut, Mann! Es fchüts 
telt ihn, er nimmt ihn nicht. Erbarme dich, erbarme dich! 
Wie er fi bäumt! Da, da — er jappft nur noch — tot, 
tot!” Die Sreifin glidy dem Leichengefichte, das ihr vor 
Angen ftand, die zitternden Lippen und Nafenflügel wur- 
den weiß; falt und fchweißbededt klappten die Frampfhaft 
zudenden Glieder gegeneinander. Die Tochter flügte fie 
mit kräftigem Arm. Sie kannte die Todesboten, zählte 
nicht mehr auf Tröftung und Hülfe, aber fie wollte allein 
mit der Sterbenden fein, den legten Kampf ohne Zeugen 
mit ihr durchringen. „Sattle, Sylvian!“ raunte fie dem 
Knaben zu, „in die Stadt zum Arzt!” Doch Sylvian 
hörte nicht, er rührte fid) nicht; auch er fah dad Ende; er 
lag auf feinen Knieen und murmelte Kredo und Vaters 
nofter. 

Die alte Frau fchlug die Augen nicht wieder auf, aber 
ihr Kampf war noch nicht zu Ende. Ein harter Kampf 
und wohl ber erfte ernftliche im KXeben, unter welchem das 
friedfelige Sachfenröschen von hinnen fchied. Sie ächzte 
in Paufen, in denen fie bänglich um Atem rang, ein und 
dad andere Mal fchrie fie auf in wildem Schmerz und 


Fudith, die Kluswirtin 48 


lächelte dann wieder wie getröftet in ſich hinein. Gegen 
das Ende fteigerten ſich die Gefichte zu einer Keidenfchaft, 
die ihr im Leben fremd gewefen. 

„Sch komme, Dann, ich komme!“ rief fie freudig. „Halt 
deine Arme auf, Frobeljobft, ich komme; wollen wieder 
anfangen miteinander vor Gottes Thron. Haft feinem 
Menfchen ein Leid getan, da du brunten warf. Bift 
fein Neidhammel und Geizkragen gewefen, haft feine 
Mörbergrube aus deinem Herzen gemadht. Mur deinen 
eignen Leib haft du verbrannt, armer Mann, und ber 
Leib bleibt drunten für dad Gewürm, aber das Kerze 
fliegt hinauf, und unfer Herrgott heilt und labt. Gelt, 
fein Fegefeuer drüben, alter Sobft? Bringe dir Botfchaft, 
Bäterchen, Poft aus dem Klushofe, gute Poft! Alles ftill, 
ftil, auf der Klus. Kein Leumund mehr über den Saufs 
aus, den Sachfenwirt, der fein Batererbe hinuntergegurs 
gelt, Tropfen um Tropfen, und dann Tropfen um Tropfen 
an dem Gifte verfchmadjhten mußte. Die Dithel hat’e 
wiederhergeftellt; die Dithel hat's ftill gemacht auf der 
Sachſenklus. Die Dithel verfteht’s! - Wie es fchwarz 
wird! Nacht, Nacht! Sch komme, Frobeljobft, ich fomme!” 

Judith ſank zu Boden und umflammerte die Kniee der 
alten Frau. Sie wähnte fie gefchieden, denn das Haupt 
war fchlaff auf die Bruft hinabgefunfen. Noch aber flog 
der Atem, und das Herz klopfte gleich einem Kammer. 
Und plöglich fchnelt fie in die Höhe, in dem welken 
Marke ift ein Lebensfunken aufgewacht; fie fteht aufrecht, 
die Blicke rollen wie vor einem greulichen Geficht. „Wo 
dein Sohn if, Mann? Dithel, Dithel!“ Freifcht fie auf, 
indem fie die Tochter mit beiden Armen rüttelt. „Hoͤrſt 
du nicht, Dithel, wie er um feinen Erfigeborenen ächzt? 


44 Judith, die Kiuswirtin 


Munfelt. ihr, zwinfert ihr, ich hör's, ich fchau’s! — Da 
drüben am Wafler — der in feinem Blut — der, ber — der 
Simon, fagen fie, der jett der Quellenfimon heißt? Unfer 
Weiheengel? Erbarme dich, erbarme dich! Fort, fort, du 
Unglückskind, fort.überd Meer! - Nein, nein, hört nicht 
auf .ihn, den Klusengel — den Friedenbringer! O bu 
Lamm Gottes, dad der Welt Sünde trägt! Nicht er, nicht 
er! Fort, fort! Der ihn erfchlug, ift -" — „Hinaus, Syl⸗ 
vian!“ fchrie Sudith mit gefträubtem Haar. „Stopfe 
deine Ohren zu, Sylvian, fie raſt!“ - 

Die alte Sachjenwirtin nannte den mörberifchen Nas 
men nit. „Hilf Gott, hilf Gott!“ röchelte fie und 
ftürzte tot zu Boden in ber Tochter Arme. 


Erwedung 

So ſtill war es noch zu keiner Zeit in der ſtillen Klus 
geweſen als waͤhrend der Stunden, welche dieſem Schreckens⸗ 
ende folgten. Ja, Totenſtille! Kein Laut der Klage oder 
des Troſtes zwiſchen den beiden Lebendigen, kein Seufzer⸗ 
hauch; nicht ein Fußtritt hoͤrbar, die Handhabung leiſe 
wie von Geifterhänden! 

Wenige Minuten befinnungslofen Entfegens, und Die 
Tochter erhob ſich vom Boden neben der Hingeſchiedenen, 
richtete fie in Die Höhe und trug fie auf ihren Armen in 
die Nebenfammer. Sie drückte ihre Augen zu, negte und 
fleidete fie, bettete fie auf dem gewohnten, mit frifchen 
Linnen verhüllten Lager; alled fonder Zeugen oder Hülfe. 
Der Knabe faß regungslos im Zimmer, betete und brütete 
über das Unbegreifliche. Und da liegt fie nun, die Frau 
mit dem guten Herzen, in ihrem Nadhtmahleftaate, die 
Hände gefaltet über dem Bibelbud) auf ihrer Brujt, und 


Judith, die Kinswirtin 45 


die Tochter fit neben ihr auf dem Bettrande und ftarrt 
trodnen Auges mit einem Blick des Neids, jawohl des 
Neids, in den Frieden, das milde Entzüden der Züge, 
die manchen von und auf einem Totenantlig zwifchen den 
Stunden der Erlöfung und Erftarrung mit Himmelreichs⸗ 
ahnung getröftet haben. 

Ohne eine Musfel zu regen, ohne deutliches Fühlen 
und Denken, nur einen fengenden Punkt im Kerzen, faß 
fie Tange, fie wußte nicht wie lange, als die Tür leife ge⸗ 
öffnet ward und Sylvian in die Kammer gefchlichen fam. 
Bleich und bebend beugte er ſich über die tote Geftalt, 
Mund und Hände mit feinen Küffen und firömenden 
Tränen bededend. Erft diefer kindlichen Rührung gegen 
über erwachte die Tochter zu dem Gefühl ihrer Berwaifung. 
Wohl hatte fie Mutterwillen, Wutterlehre und Schuß 
wenig gefannt und mütterlicye Zufprache felber fchon lange 
Heingebüßt, Damals, als nach der Sterbeftunde ded Sachſen⸗ 
wirts, unter mächtig andrängenden häuslichen Wirrniflen 
ein jäher Schlag den Geift der Schwachen Frau gelähmt. 
Sie hatte nur den Leib noch gepflegt wie den eines Franken, 
hülflofen Kindes. Auch der Leib war jest dahin, Band 
und Pflicht für die Vergangenheit 'gelöft. Nein, nicht 
die Pflicht, folange die tote Geftalt noch über der Erde 
ruhte. Der legte Bang ift ein Ehrengang und Vieles, 
Schweres herzurichten, was ihr jet erft u vor die 
Augen tritt. 

Und fie entbehrte jeder helfenden Hand. Sie würde 
ihrer entbehrt haben, auch wenn Knecht oder Magd nicht 
zufällig von dem Hofe entfernt und ihr Brudersfohn älter 
und erfahrener gewefen wäre. Sie, das Kind dieſes 
Bodens, war eine Fremde unter feinen Bewohnern; fie 


48 Judith, die Kluswirtin 


hatte keinen Blutsfreund, keinen Glaubensgenoſſen in der 
Gemeinde, ſie mußte ſich ſelbſt zu dem ſchweren Wege 
rüſten, den ſie zehn Jahre lang gemieden und deſſen 
qualvolle Eindrücke ſie nach dem erſchütternden Erleb⸗ 
niſſe mit verdoppelter Schärfe im voraus fühlte. Aber 
fie ſchwankte und zoͤgerte nicht. Entſchloſſen ſtand fie 
auf und verließ die Totenkammer. Sylvian folgte ihr. 
Zaghaft faßte er ihre Hand und fragte mit niedergefchlas 
genen Augen und kaum hörbarer Stimme: „Was die 
Großmutter im Sterben ſah, Muhme Judith, was fie 
fagte, dad Schredlihe -" — Sie ließ ihn nicht zu Ende 
reden. „Ein Wahn des Todesfampfes,” fiel fie ein. „Aber 
frage nicht weiter, Sylvian, nicht heute und morgen, da 
fie noch über der Erde ruht. Später.” Sie gab ihm dar- 
auf einige häusliche Anweifungen für die Stunden ihrer 
Abwefenheit und machte fid) ohne Aufenthalt für den 
Gang bereit. 

Sie hatte nicht erft Trauerkleider anzulegen, nur ihren 
Anzug fäuberlich herzuftellen und Kopf und Naden gegen 
den Sonnenbrand durch ein weißes Linnentuch zu fchüßen, 
das ihr das Anfehen einer Nonne gab. Schon ruhte ihre 
Hand auf dem Drüder der Haustür, ald Sylvian noch 
einmal hinter ihr ftand. „Nur eines,” fo flehte er mit 
aufgehobenen Händen, „eines, Muhme Sudith, fage mir, 
- daß ich Ruhe finde. Iſt eine Miffetat in diefem Haufe 
gefchehen, — oder — von denen meines Bluts, — für die 
ih zum Seiland um feine Barmherzigkeit bitten muß?“ 
— hr Blick ruhte büfter am Boden, die Antwort Foftete 
ihr einen Kampf. Nach einer Paufe fagte fie mit uns 
gewohnt haftigem und fchneidendem Klang: „Bete, Syls 
vian, betel Irrtum und Schmach ſind reicjlich in biefem 


Indith, die Kluswirtin 47 


Hauſe abzuſühnen. Auch für einen Miſſetäter bete, — 
aber — nicht für einen — deines Bluts.“ Sie ſchlug die 
Tür in die Angel und ſtürzte über den Hof, getrieben 
von einem boͤſen, ihre Worte ſtrafenden Geſichte. Das 
Geſicht ihrer Mutter im Todeskampfe, das ihrer eignen 
Träume und tiefvergrabenen, als Frevel gebannten, nächt⸗ 
lichen Gedanken! Draußen im Freien atmete ſie auf. Sie 
ſtand eine Weile gewaltſam mit ſich ſelber ringend und 
nahm dann raſchen Schrittes die Richtung nicht nach der 
Stadt, ſondern innerhalb ihrer eignen Flur den dörflichen 
Feldweg entlang. 

Gewohnt, wie fie war, fich zu dem Nächftliegenden zus 
fammenzufaffen, fand ihr auch heute Die Reihenfolge ihrer 
Dbliegenheiten Far vor Augen. Zuvörderft die Aumel⸗ 
bung bei bem Gemeindepfarrer und die Unterhandlung 
binfichtlicd, der Begräbnidfeier. Solange fie zurückzuden⸗ 
fen vermochte, war fein Anderögläubiger in dem fathos 
lifchen Kicchfpiele zur Ruhe getragen worden; fie fannte 
Derfon und Sinnesweife des Pfarrers, ber feit etlichen 
Sahren das Gemeindeamt verfah, nur von der Kanzel und 
aus ben Lehren, welche Sylvian vom Schulunterrichte 
heimgetrogen. Predigt wie Lehre waren die mildeften; 
aber Sudith, die Kluswirtin, hätte aud) das Herz dazu 
gehabt, allenfalls gegen harten Widerftand die legte Pflicht 
gegen ihre Mutter — ehrended Grabgeläut, Segen und 
Trauerrede eines Geiftlichen ihrer eignen Kirche durchs 
zuſetzen. Denn fo harmlos treuherzig wir uns die alte 
Sachſenwirtin im nahen wie fernen Verkehr mit Anderes 
gläubigen vorftelen dürfen und fo zutätig fie in ihrer 
guten Zeit ben vormaligen Gemeindepfarrer mit dem 
Velten ihres Haushaltes bedient, fooft er ald Seelforger 





48 Judith, die Kluswirtin 


von Mann und Sohn auf dem Klushofe eingefprochen, 
nicht um die Welt würde fie dem Meßopfer in einer päpft- 
lichen Kirche beigewohnt, ihr Knie vor einem Tabernafel 
gebeugt haben, unter einer Gemeinde zumal, in welcher 
fie um ihres reinen Bibelglaubend willen mißachtet, wohl 
gar, heimlich und laut, ihr, der Keberin, der Verfall des 
Erbes und der Familie zur Laft gelegt worden war. &8 
gibt einen Punkt, auf welchem auch der Schwache unbeugs 
fam ift, und je ſchwaͤcher häufig, defto mehr. 

. Aber aud) die freier denfende, ftärfere Tochter war ents 
fchloffen, nicht von einem innerlichen Rechtes und Ehrens 
punkte abzulaffen, und fo fühlte fie fid, denn keineswegs 
im Unflaren überrafcht, als ihr, in die Dorfftraße eins 
biegend, der, welchen fie aufzufuchen im Begriffe ftand, 
fcheinbar Iuftwandelnd entgegentrat. Vielmehr fam es 
ihr erwünfcht,. die möglicherweife peinlicye Angelegenheit 
ohne zufällige Zeugen und, wo es ihr jederzeit am wohl⸗ 
ſten war, unter dem freien Simmel ihres eignen Reviers 
abzufprechen. Sie trat zur Seite und neigte fich ehr, 
erbietig, wie fie es jederzeit auf dem Kirchwege, den rechts 
mäßigen Pfarrfindern gleich, getan, redete ihn darauf in 
befcheidener Faflung an, indem fie das Abfcheiden ber 
Mutter meldete und um ein Begräbnis nach dem Brauche 
ihrer proteftantifchen Religionsgenofien auf dem Gemeindes 
firchhofe bat. 

Der geiftliche Herr, dem Alter näher ald der Jugend, 
aber nadı Farbe, Geftalt, Ausdruck und Habitus unver: 
fennbar ein Sohn jenes nördlichen Gebiets der Roten Erbe, 
beffen Lüfte den Traum der Kindheit auf dem Antlige 
feftzubannen fcheinen, war einer der Begnadigten feines 
Standes, deren geiftiges und leibliched Wohlgefühl uns 


Judith, die Kluswirtin 49 


geſucht ſich ſpröden oder zagenden Herzen mitzuteilen 
pflegt. Schon daß er bedaͤchtig, in Paufen, mit den ges 
trennten provinziellen Zifchlauten redete, heimelte die rein 
und fließend, gleich einer Hochgeborenen ſich Außernde 
Bäuerin vertraulich an, und der warm fidy in den ihren 
fenfende Blick des großen, ein wenig vorliegenden, hells 
blauen Kinderauges gab ihr die Beruhigung einer ernfts 
gemeinten Teilnahme, ohne das Mißbehagen läftiger Neus 
. gier zu erweden, das lebhaftere, nicht minder wohlwollende 
Naturen felten vermeiden, wenn fie und fragend und fors 
fchend gegenübertreten. 

„Das fächfifche Mutterchen heimgefchieden, o weh!” 
fagte er, der Bittftellerin herzlich die Hand drüdend. 
„Nun, Gott der Herr bereit’ ihr eine gefegnete Urftänd! 
— Euch aber, brave Tochter, fülle Er in Liebe die leere 
Stelle. Denn, wenn ihr unfterblich Teil aud) lange vor 
dem fterblichen in Schlummer gefallen ift, ed war dod) 
immer noch das Wutterleben, gelt? und ein gut's End 
eigen Leben, ich weiß, ich weiß! — reißt mit dem alten 
Faden ab. — Und mein Sylv, mein Sylo!” fo fuhr er 
nach einer Stille fort, in welcher Judith die erften Tränen 
um ihre Verwaifung getrodnet, — „der noch niemalen ein 
Auge brechen fehen, ja, ja, ein Gebet mit feinem alten 
Lehrer tut dem frommen Herzchen gut. Iſt's Euch ges 
nehm, Sungfer Wirtin, fo wandeln wir den Weg nad) 
Eurer Klus zurücd und ratichlagen mitfammen hier unter 
Gotted Himmel, was in Eurer Angelegenheit zu befchafs 
fen ift.” — So gingen fie denn zwifchen ben Hecken des 
Feldftiegd, der katholiſch Geweihte und die ketzeriſche Ges 
‚meindetochter hart an feiner Seite; denn als die lektere 
befcheidentlich einige Schritte zurüdbleiben wollte, winkte 


* 


50 Indith, die Kluswirtin 


er fie zudſich heran und rief: „Hüuͤbſch hier neben mich, 
fiebes Kind! Die Worte fließen noch, einmal fo leicht, 
wenn eined dem anderen dabei in das Antlitz fchaut.“ 
Es entfpann ſich darauf das folgende Zwiegefpräd. 
„Das felige Mutterchen war von Geburt - nun dad ver 
fteht fich ja — ein Sacdhfenfind! Ich meine: fie war von 
Herzendgrunde eine Lutherfche?" hob. der Pfarrherr an, 
indem er nach Art feiner Iandsmännifchen Glaubens 
brüder die erfte Silbe des Wortes Tutherifch betonte. — 
„Bon Geburt und Herzendgrunde, ja, Herr Pfarrer”, 
antwortete Judith. „Und hat die heilige Zehrung, fo wie 
die Euren fie darreichen, mit auf den Weg genommen?” 
— „Am SKarfreitage zum legtenmal, Kerr Pfarrer.” — 
„Und Shr mit ihr, Sungfer Wirtin?“ — „Sch allein mit 
ihr in meinem Zimmer, wie alle Jahre.“ — „Wie fol ich 
mir es aber auslegen, liebes Kind, daß id; Euch, feitdem 
ich dieſem Amte diene, andächtig und regelmäßig an Sonns 
und Fefttagen, — außer denen, die wir Katholifchen vor 
Euch voraus haben freilich, — in unferer Gemeinde wahrs 
genommen?“ — „Herr Pfarrer, ich bete in der Chriftens 
gemeinde, in die ich von Gott mit meinem Bätererbe eins 
geftellt worden bin, und habe allezeit durd) ded Herrn 
Pfarrers Lehren mich in meiner eignen Heilsordnung ges 
ftärkt gefunden.” — „Und ift niemalen eine Anwandlung, 
ich meine fo ein Spüren heimlicher Sehnfucht über Euch 
gefommen, Euch auch mit dem Belenntniffe in Eure 
Bätergemeinde einzuftellen?” fragte der Priefter ein wenig 
eifriger, und das Mädchen antwortete ein wenig troßiger 
denn bisher: „Kerr Pfarrer, ich bin dem Befenntniffe 
meiner Mutter nad) dem Landesgeſetze vor Taufftein und 
Altar zugeſchworen.“ — „Aber der Sylv, Euer Bruders⸗ 


Judith, die Kiuswirtin 51 


kind, bei dem Ihr Elternſtelle vertretet?“ forſchte jener 
mit einem bedenklichen Seitenblick. — „Der Sohn meines 
Bruders ſteht mit dem nämlichen Rechte auf des Vaters 
Seite und wird ohne Anfechtung in feiner Väter Glauben 
herangezogen“, verfeßte die Kluswirtin, ein faum merk 
liches Lächeln auf den Rippen. 

Nachdem der geiftliche Herr auf biefe Weiſe ſein Ge⸗ 
wiſſen beruhigt, gab er nach einigen weiteren ähnlichen 
Fragen feinen endgültigen Befcheid in den nachfolgenden, 
mildheiteren Worten: „Nun denn, liebe Tochter, fo ladet 
Euren Iutherifchen Beichtiger ein, dem alten Mutterchen 
die legte Erdenflus nad) feinem Glauben einzufegnen; 
und weil Euer Bruderskind feinen leiblichen Vater nicht 
zur Stelle hat, fo will ich, als fein geiftlicher Vater, dem 
Berwaiften an die Gruft feiner Ahne das Geleite geben.” 
— Judiths Augen hatten ſich gefüllt und die bleichen 
Wangen gefärbt. „sch danfe Ihnen, ich danke Ihnen“, 
fagte fie leife, indem fie fidy nieberbückte, um feine Hand 
zu küſſen. Sa, fie war einen Augenblick verfucht, das 
Knie vor ihm zu beugen, denn das verfchloffene Herz bes 
griff in diefem Augenblide, wie die Beichte vor einem 
wahrhaften Gottverfünder eine belaftete Menfchenfeele zu 
erlöfen vermöge. — „Laß gut fein, laß gut fein, Kind!” 
rief der Pfarrer, feine Hand zurüdziehend und fie freunds 
lich auf die Schulter klopfend. „An welcher Stätte follen 
Shriftenmenfchen ſich denn vertragen lernen, wenn's nicht 
einmal an einer Grabesftätte ift?” 

Er Tieß hiermit den leidvollen Gegenftand fallen und 
bemühte ſich, die Vorftelungen feiner Begleiterin in eine 
erheiternde Bahn zu Ienfen, indem er, als ein fachvers 
ftändiger Bauernfohn, wie er ſich nannte, den vor allen 





52 Judith, die Kiuswirtin 


andern wohlbeftellten Stand der Klusflur, zwifchen welcher 
fie wandelten, Iobyried. „Der Taufend, wie ift nur das 
Schenfentöchterchen zu diefer Bauernwiflenfchaft gekom⸗ 
men?” rief er aud. — „Es hat mir im Blut gelegen, Herr 
Pfarrer,” verfegte Sudith, „und unfer Herrgott gab das 
Gedeihen.“ — „Unfer Herrgott — nun freilich, freilich! 
Indeſſen zwifchen eines Menfchen Neigung und dem Ses 
gen von oben liegt noch ein Spatium, dad —.“ — „Ich 
hatte meinen Kopf darauf gefeßt, Herr Pfarrer.” — Der 
geiftliche Herr lachte. „Lutherfcher Dickkopp!“ fagte er, 
mit dem Finger drohend. „Aber nichts für ungut, Kind. 
Weiß gar wohl, daß Doktor Luther nicht der Töpfer ges 
weſen für diefen Ton. Note Erde heißt Eifenerde und 
gibt feft Gefäß. Nur nicht allzu feft, Süngferchen! Dem 
Topfe ein Dedelchen aufgefeßt, daß das Befte nicht übers 
läuft oder heimlich verdampft.” — „Sch verftehe den Herrn 
Pfarrer nicht.” — „Ei nun, ei nun, das Möütterchen hins 
über, Haus und Kerze leer, wie wär’d mit einem Herrn, 
einem Oberherrn?“ — „Seiraten, meinen der Herr Pfars 
rer?" - „Heiraten, nun freilich, heiraten, Sungfer Wirtin.“ 
— „Sch werde niemals heiraten, niemals!" — „Halt, halt! 
Nicht verreden, Kind. Verreden heißt: nicht wollen 
wollen. Annoch ift man in den Sahren, da das Herz 
feine Stimme führt. Und wenn nun Gott der Herr im 
Herzen fpricht: ich will?” — „Gott will ed nicht, Kerr 
Pfarrer”, entgegnete das Mädchen mit finfterer Stirn, 
aber fo überzeugendem Klang, daß der fromme Mann 
auch diefen Gegenftand fallen ließ. 

„Das fchöne Anweſen,“ meinte er weiterhin, „fo hübfch 
rund beieinander! Wir Bauern bei der Arbeit denfen an 
unfern Erben. Euer Bruder, wenn er eined Tages zus 


Judith, die Kluswirtin 59 


rüdfehrt —." — „Er wird ſchwerlich zurüdfehren, Herr 
Pfarrer.” — „Sat er fo gar nichts von fich hören laſſen, 
feitdem er von Euch geſchieden?“ — „Niemals ein Wort.“ 
— „Und der Sylv ift Euer einziger Blutöverwandter hiers 
zuland?” — „Mein einziger.” — „Der Taufend, Mogjd 
Sylov! Waͤchſt die Klus fo fort, wirft du ein Herrenleben 
führen deiner Zeit!” rief der Pfarrer, ſich vergnügt die 
Hände reibend; aber feine Begleiterin flimmte ihn herab, 
indem fie troden entgegnete: „Sylvian wird feinerzeit der 
Kluswirt werden, Herr Pfarrer.” — „Anjeßo bin ich's, 
ber Euch nicht verfteht, Sungfer Wirtin.” — „Er hat nicht 
Bauernfinn und Gefhid, und wenn er es hätte - ich will 
ed nicht. Er fol ftudieren.” — „Geiſtlich werden?” fragte 
der Pfarrer, merflidy belebt. - „Wenn er feine Reife hat 
und das Herz ihn dahin treibt, meinethalben. Vorder: 
hand foll er lernen und freie Wahl haben.” — „Lutherfcher 
Dickkopp!“ fchalt der Pfarrer von neuem mit gutmütigem 
Lachen. „Aber warum feid Shr fo mwiderhaarig gegen 
ein Bauernleben, Süngferchen, da Ihr doch felber von 
Herzen eine Bäuerin foheint? Mit dem Handwerk heißt 
das, mit dem Mundwerf ei bewahre! 

Judith zÖgerte eine Weile, ehe fie eine Antwort gab. 
Indeſſen fchien fie zu fühlen, daß der geiftliche Herr ein 
Anrecht zu der das Wohl feines Pfarrfindes betreffenden 
Frage gehabt, und fo erflärte fie fich, anfänglich ſtockend 
und mit niedergefchlagenen Augen, in eingänglicdherer 
Weiſe ald bisher über diefen peinlichen Punkt. „Um feines 
— Baters willen, Herr Pfarrer,” fagte fie, „und um feiner 
Mutter willen, die als eine — Gaufelfpielerin im Lande 
befannt gewefen. Schon fein Name mahnt an die Fremde, 
und daß er ein dunkles, ſchwächliches Anſehn trägt, und 


54 Judith, die Kluswirtin 


dann — wer kann willen -? Nein, nein, Herr Pfarrer, 
die Nachbarn würden ihn nicht als ihreögleichen fchägen 
lernen. Es braucht einer einen harten Kopf, um als ein 
Fremder unter Bauern fortzufommen. Ich habe es er; 
lebt an Bater und Mutter. Ein jeder Stand hat feine 
Ehre, Herr Pfarrer, und der Bauer hält auf reines Blut. 
Höher hinauf ſoll's anders fein in der Welt. Da fragen 
fie nicht woher, aber wohinaus? und wenn einer was 
hat und was kann, vergönnen fie ihm feinen Plag.“ 

Wie, wenn nur die erfte harte Eisfchicht durchbrochen, 
Welle für Welle dad Bachwaſſer feinen Lauf nimmt, fo 
mit dem lange verfchloffenen Quell der Gedanken, dem 
Scicfal oder Anteil den erften Tropfen entloct haben. 
Ein halbfchmerzlicyes Lächeln fpielte um die Lippen der 
fchweigfamen Wirtin, als fie nad) diefem Erguß die vers 
wunderten Blicke ihres Begleiterd bemerfte. „Woher ich 
das genommen habe, Herr Pfarrer?“ fagte fie; „die Klus 
war ein Wirtshaus ihrer Zeit, darin fid) manches lernt, 
Gutes und Schlimmes; jeßt ift fie wie eine Klaufe, und 
Klaudner fommen auf vielerlei Gedanken. Der Sylvian 
fol hinaus und mit etwas Neuem einen Anfang machen.“ 
— „Und Shr derweile, feltfames Mädchen?“ fragte der 
Pfarrer. — „Sch helfe ihm zum Anfang, Herr Pfarrer,“ 
antwortete fie, „und ich fchaffe, was eines Tages Eignen 
oder Fremden zugute fommen wird. Ein anrüdiges 
Haus bringt feinen Segen.” 

Beide fprachen fein Wort weiter, bi fie dad Hoftor 
erreichten; fohmweigend, mit geſenkten Blicken gingen fie 
nebeneinander her. In dem geiftlichen Herrn fämpfte 
ein weiterforfchendes Verlangen fichtlich mit rücdfichtss 
voller Schonung, und auch das Mädchen rang zwifchen 


Judith, die Kluswirtin 55 


Trieb und Scheu einer tiefer ſchneidenden Mitteilung; 
beider Gedanken ſteuerten, ohne daß ſie es ahneten, nach 
dem nämlichen Ziel. Unter dem Tore hielt ſie ploͤtzlich 
ftill, indem fie frampfhaft nach dem Kerzen faßte, brach 
aber ab, fchüttelte heftig den Kopf und ging voran. - 
Der freundliche Gaft Iehnte ed ab, als ihm die Wirtin 
das Geleit in die Räume ihres Haufes geben wollte; ein 
Gewitter ziehe fich zufammen, meinte er, und es fei gut, 
die Sache in der Stadt fo bald als möglich zum Abfchluß 
zu bringen. Als Sudith aber, feinem Nate folgend, ihre 
Schritte nad) dem Tore zurüdlentte, munterte er fie auf, 
den duftigen Waldweg im Schatten der Bergwand ber 
fonnenglühenden Landſtraße vorzuziehn. Sie zügerte und 
blickte mit einem Ausdruck zwifchen Verlangen und Grauen 
nach der Gegend des Forſtes. Ein Zufall entfchied. Wir⸗ 
beinde Staubwolfen und der Lärm truppweife zum Marfte 
ziehenden Volks drangen von der Straße herüber; raſch 
entfchloffen fchlug fie durd; Garten und Kamp die heims 
lich einfame Richtung ein. 

Seltfame Widerſprüche freuzten ſich in ihrer Bruſt. 
Der lang gemiedene Pfad ſchreckte und lockte ſie zu gleicher 
Zeit; ſie fühlte ihr Herz im Schmelzen und hätte es um⸗ 
panzern mögen vor den Eindrücken, die ihrer harrten; ſie 
wollte feine Zeugen und ſpürte doch wieder nahezu ein 
Bangen nadı dem tröftenden Menfchen, der fie foeben 
verlaffen. In diefer Unruhe hörte fie einen nachfolgens 
den Schritt, und als ob das Schickſal ihr die ausgleichende 
Bahn bezeichnen wolle, fah fie, faum daß fie den Kamp 
betreten, den erfehnten Tröfter wieder an ihrer Seite 
ftehn. Auch er vermochte einen Anflug von Verlegenheit 
nicht zu verbergen, da er fidy noch einmal unerwartet in 


56 Judith, die Kluswirtin 


biefem zweiten Gehege der Kluswirtichaft einführte; er 
habe, fo fagte er, von der Straße aus oft mit Herzens⸗ 
luft den kräftigen Wiefenhang angefchaut und nehme nun 
bie Gelegenheit wahr, fid) die Fünftliche Beriefelung, durch 
welche eine wüftliegende Rodung fo nußbringend vers 
wertet worden, ein wenig in der Nähe zu betrachten. 
Und in der Tat, einem Liebhaber ländlichen Weſens 
mochte die Waldwiefe, die fie jeßt nebeneinander durch⸗ 
wanbelten, eine anmutende Augenfchau gewähren von 
der Berglehne im Rüden weit hinab über die Aue bie 
zum Fluflesufer. Schmale Gerinne, aus einem Quelle am 
Forſtſaume fidernd, befeuchteten den Grund für einen 
Gras» und Kleewuchs, der eben im frifcheften Maienfafte 
ftand; die Kinnengewebe des vergangenen Jahres lagen, 
bei der fpricywörtlichen Treue der Gegend, Tag wie Nadıt 
ohne Wächter zum Bleichen ausgebreitet; in befonderer 
Umhegung, von welcher ein fich abfenfender Pfad nad 
der Tränfquelle leitete, Tagerten die heute freigelaflenen 
Tiere des Hofed, Mufterftücde ihrer Art vom ofifriefifchen 
Rind bis zum landestümlichen Borftenvieh; ein Weidens 
gebüfch am Rande der Waffergrube, mit ven niederhangen- 
den, frühbelaubten hellen Zweigen ſich gar angenehm 
gegen ben bräunlichen Waldeshintergrund abhebend, hielt 
die Sonnenftrahlen fern und die Quellenfühle feft; eine 
alfo umfchattete Rafenbanf hätte nicht an einem einladen: 
deren Plate der Gegend angebradjt werden fünnen. 
Keine diefer Wahrnehmungen entging dem geiftlichen 
Herrn, und für feine mangelte ihm ein anerfennendes 
Wort. Er Mlopfte über den Planfenzaun hinweg die 
glänzenden Weichen der Rinder, verhieß Tächelnd, den Sylv 
zum Benegen des Linnens anzuhalten, wenn nicht in 


Judith, die Kluswirtin | 57 


Bälde der Himmel felber diefen Dienft übernehmen werde; 
vor allem aber pries er die gefchicte Anlage des Borns 
an einer Senkung, wo die abſickernden Bergmwäffer, ftatt 
eingefchloffen zu verfumpfen, den mäßigen Duell vers 
ftärften, und endlidy, einer hinter diefem heitern Bezeigen 
Iauernden Abficht nachgebend, fragte er mit einem rafchen 
Blick auf feine Begleiterin: „Die Anlage rührt von dem 
Duellenfimon, gelt?“ 

Das war nun zum brittenmal an diefem Tage, daß der 
Name des Quellenfimon unerwartet wie ein Blig in des 
Mädchens Seele fchlug; aber wie weit weniger heftig 
war die Erfchütterung, feitbem das Herz ſich einem mils 
den Bertrauensbedürfnis geöffnet hatte. Nur einen Mes 
ment ftand fie regungslos; dann neigte fie bejahend den 
Kopf, und auf die weitere Frage, ob fie den Simon ge⸗ 
fannt, antwortete fie ſchon gefaßt und mit bebeutungs- 
vollem Ausdrud: „Sa, ich Fannte ihn.“ 

„Schau, ſchau, wie weißfchäaumend diefe Bläschen in 
die Höhe perlen“, hob nach einer Paufe der geiftliche 
Kerr wieder an, indem er ſich auf die Rafenbanf nieder- 
ließ und in den Brunnen zu feinen Füßen blidte. „Der 
Duell muß tief liegen, aber trefflich, trefflich, diefe Lei⸗ 
tung! Sch habe ähnliche in der Gegend gefehen, famtlich 
nach des Simon Angabe. Das Bolf nennt ihn einen 
- Quellenfinder, fchreibt ihm einen leiblichen Blick in Die 
Tiefe zu, Zauberfünfte wohl gar, eine Haſelrute und 
dergleichen. Das Volk hierzulande hat noch mehr, als 
. man benfen follte, von feinem alten Heidenglauben feft- 
gehalten. Was achtet Shr, die Shr ihn gekannt, wie Shr 
fagt, von diefer feltfamen Gabe, Liebe Tochter?“ — Der 
Frager hatte feinen Zwed erreicht, die Befragte ſich wäh 


58 Judith, die Kluswirtin 


rend ſeiner Auslaſſung zu erwuͤnſchter Ruhe geſammelt. 
Aufrecht ihm gegenüberſtehend ging ſie mit Beſonnenheit, 
ja mit einem Zuge von Befriedigung auf die Erflärung 
ein, von welcher er Schritt für Schritt feinem Ziele näher 
zu fommen hoffte. 

„Der Simon Lauter”, fo fagte Judith, „lachte fchon 
damals über den Aberglauben der Leute, fchalt wohl auch 
über das, was er eine Läfterung nannte. Sie verfuchen’s 
nur nicht, meinte er. Weil von alters her fein Born an 
der Stelle gefloffen, wo er not tut, fol und kann fein 
Waffer in der Tiefe fein. Zehnmal mißlingt der Verſuch, 
glüct er aber das elfte Mal, da fchreien fie über Zauber 
fünfte. Bom Arzte gilt das nämliche. Sterben die Krans 
fen, ift’8 ihnen von oben befchert geweſen, fommt einer 
durch, heißt der Doktor ein Wundermann. Als ob das 
Gute, durch Menfchenfleiß und Kraft hervorgebradht, nicht 
erft recht eine Befcherung von oben wäre! — Schon fein 
Vater, der von Bergleuten aus der Fremde abgeftammt, 
hatte dem Simon mandje natürliche Kenntnis beigebradjt. 
Im übrigen, fagte er, fei der Wald fein Tehrmeifter ges 
wefen. Dad Erdreich unter den tiefliegenden Wurzeln 
der Eichen, die er fchon ale Knabe roden half, der Stand 
der Kräuter und Moofe, das Verhalten der Tiere felber 
leitete ihn auf richtige Spuren. Ihm zuerft ift es aufges 
fallen, ald er in feinen Soldatenjahren längere Zeit jen- 
feit auf einem Hofe in Quartier lag, daß die Sauen, 
die ſich täglich mehrmals mit Gter in einer Lache wälzten, 
ein vorzugsweife Fräftiges Anfehn trugen. Der Schlamm 
wurde unterfucht, und heute fol ein mächtige Salzwerf 
über dem Sauenpfuhle Ahfgerichtet ſtehen. Und ſchon 
vor jener Zeit fiel ihm in ähnlicher Weife die Entdeckung 

® 


Judith, die Kluswirtin 59 


der warmen Quelle zu, in welcher jegt fo viele unferer 
Bauern ſich nad) der Ernte von Fluß und Gliederreißen 
heil baden. Der Simon behauptete, ein Walnußbaum, 
der vereinzelt auf dem Wiefengrunde gewachfen und weit 
üppigered Laub und größere Früchte getragen, ale bie 
fonft fpärlicy in unferen Gärten gedeihen, ein Trupp 
blauer Glockenblumen darunter, die er fonft nirgendwo 
wild auffchießen fehen, haben ihn auf den Gedanken bes 
heißen Untergrundes geführt. Das mag wahr fein, Kerr 
Pfarrer. Aber warum hatte feiner vor ihm fidy über die 
fräftigen Früchte oder die feltene Blume verwundert? 
Einen befonderen Blick hatte er doch.“ 

„Sa, ber Bli, der Blick!” rief der Pfarrer mit ber 
begeifterten Freude eines Menſchen, dem fein liebfter Ges 
danfe von einem andern beftätigt wird, — „der heimliche 
Sinn in die Tiefe, der die Beobachtung bannt und jeds 
weder Kenntnis die Bahn bricht! Und nicht im fichtbaren 
Naturreiche allein. In der Wiffenfchaft von Gott heißt 
diefer Blick der Glaube, fällt er aber in ein Menfchens 
herz, fo nennen wir ihn Liebe. Was alle nicht fehen, 
fieht der Liebende, und nur der Liebende fieht recht. — 
Und auch Ihr, meine Tochter,“ fuhr er nach einer Paufe 
zu feinem Zwecke zurüdlenfend fort, „auch Ihr fcheint 
mit einem Blick in die Tiefe gefegnet, da Ihr in fo lieb⸗ 
reicher Weife die Gaben eined Unglüdlichen ausdeutet, 
der ſchweres Herzeleid über Euch verhängt. Seine Miffes 
tat an Eurem Bräutigam —.“ — „An meinem Bräutis 
gam?“ fuhr Judith aufz „mein Bräutigam, wer fagt 
dag?" — „Euer Liebiter denn oder Freierdmann, der mit 
der Zeit —.” — „Nimmer, nimmer! ch verabfcheute den 
Mann, ich haßte ihn!“ — „Ihr haßtet ihn?“ rief der 


60 Judith, die Kluswirtin 


Pfarrer mit unverhehltem Staunen, „ihn, den Gemorde⸗ 
ten, bei deſſen Leiche Ihr als Zeugin —““ — „Ich zeugte 
die Wahrheit,“ unterbrach ihn Judith ſtammelnd, „die 
Wahrheit, — wie meine leiblichen Augen fie geſchaut, — 
mein Herz war — für nichts in der Sache.“ Sie hatte 
ſich geifterbleich verfärbt, die Züge waren entftellt, der 
innerlichfte Wehepunft aufgerüttelt; ihre Füße fchwanften, 
fie Elammerte fidy an einen Weidenftamm. 

Der geiftliche Herr, mitergriffen von dem Ausdruck 
einer Qual, deren Urfprung ihn je mehr und mehr ver- 
wirrte, erhob fich von feinem Sitze und faßte des Mäpd- 
chend Hand. — „Ich habe diefe graufamen Erinnerungen 
nicht aus müßiger Neugier in Euch wachgerufen, meine 
Tochter,” fagte er; „ich befenne Euch im Gegenteil, daß 
ich lediglich um diefer Erinnerungen willen heute morgen 
den Weg nach Eurem Haufe eingefchlagen. Indeſſen, da 
ich Eure Trauerbotfchaft vernommen, war ed meine Ab⸗ 
ficht, mein Anliegen auf eine gelegenere Stunde zu ver: 
fchieben und zurzeit nur Euren Sinn für eine zutrauliche 
Ausfprache vorzubereiten. Habe ich Euch wehe getan, 
fo glaubt, ed war eine chriftliche Abficht, Die ich im Her⸗ 
zen trug.” — Er wendete fidy zu gehen. Als er aber Ju⸗ 
dith, wie um ihn zu halten, beide Arme nad) ihm aus⸗ 
ſtrecken fah, kehrte er zurüd, nahm ihre Hände noch einmal 
in die feinen und ſchaute in ihre düftern Augen wie in 
ein Rätfel. „Sch kann es hören,” flüfterte fie, ſich all- 
maͤhlich belebend, „alles hören, — waß verlangen Sie von 
mir?" — Noch ftand er eine Weile in zmeifelndem Sinnen 
unter ihrem drängenden Blid, und da er ſich endlich zur 
Rede entfchloß, war es nicht in dem gemütlichen Tonfall 
des Alltagumgangs, fondern mit dem reinen Laut und 


Judith, die Kiuswirtin 61 


der eindringlichen Weihe des Priefters, der fein Amt ers 
füllt. 

„Shr wollt ed,” fo hob er an, „nun denn: id, fordere 
Euch auf zu einer wahrheitögetreuen Darftellung beflen, 
was Euch von des Simon Lauter Gemütdart und Lebens⸗ 
weife vor feinem Unglüd befannt geworden. Die fchwerfte 
Miffetat kann fchon hienieden eine Sühnung finden, und 
Gnade für den Reuigen ift nicht Gotted Amt allein. Der 
Borfteher der Strafanftalt, welcher ſchon vor Sahren den 
Simon Lauter ald militärifchen Untergebenen fcdhägen 
lernte, und der dem eignen Eingeftändniffe zum Troß 
noch heute an feine Unſchuld glaubt, findet Fein Ziel, des 
Gefangenen gefitteted Verhalten, feinen fänftigenden, ja 
veredelnden Einfluß auf die rohen Mitfträflinge anzus 
preifen; des Fleißes, der Kunftfertigfeit nicht einmal zu 
gedenken, durch welche er, neben dem Aufwande für feinen 
eignen Unterhalt, manchem hülflos entlaflenen Bruder 
eine Wohltat erweiſt. Kaum daß feine Anftrengung der 
Fülle der Beftellungen von nah und fern genugzutun 
vermag. Man Iohnt ihn reichlich, und da er von Kaufe 
aus nicht ohne Vermögen iff, hat man ihm vergönnt, die 
erworbene Sparfumme in jenem gütigen Sinne anzumwens 
den. Schaut hier diefes Heilandehaupt, das ich mir 
neulich bei einem Befuche ded Gefängniffes unter feinen 
Schnigereien ausgewählt und deffen Anblic mich jede 
Stunde an den unglüdlicdhen Büßer mahnt. Betrachtet 
diefen Frieden, diefes himmlifche Entzüden in dem Ants 
liße deflen, der um der Gerechtigkeit willen fein Leben 
dahingegeben. Und das in rohem Holz! Meine Tochter, 
die Hand, die diefed Bildnis meißelte, mag einen Mens 
fhen getötet haben im Wahn, im Raufch — vielleicht; 


62 Judith, die Kluswirtin 


aber einer, der im Geiſte den Tod in ſolcher Herrlichkeit 
geſchaut, glaubt es mir: nun und nimmer iſt er ein Moͤr⸗ 
der von Herzensgrund.“ | 

Judith, felber einem gemeißelten Bilde ähnlich, blickte 
mit flarrem Auge auf das kaum handgroße, in weißem 
Holz gefchnigte Medaillon, dad der Pfarrer aus feiner 
Brufttafche gezogen und in ihre Hände gelegt hatte. Auch 
ein minder empfängliches Gemüt ald das des frommen 
Mannes würde von der warmen, tiefen Empfindung, von 
dem feinen Kunftfinn der befcheidenen Gefangenenarbeit 
gerührt worden fein; — ob Sudith etwas anderes fah als 
die im ˖ Innerften aufgeregten Gefichte, der geiftliche 
Mahner erriet es nicht. 

„Der Vorfteher der Anftalt”, fuhr er fort, „bereitet 
mit preiswürdigem Eifer ein Gnadengefuch für feinen 
Schüsling vor, deflen Erfolg dem Unglüdlichen fünf 
fchwere Sahre feiner Haft erlaffen würde; fünf Sahre 
nach zehn, meine Tochter! Meine Befürwortung feines 
früheren Wandels dürfte nicht ohne Wirffamfeit fein, zu⸗ 
mal ich, da der Gefangene dem Iutherifchen Bekenntniſſe 
angehört, meine Stimme alg Parteilofer für ihn erheben 
würde. Nun bin id) aber erft Sahre nach jener unfeligen 
Tat in mein hiefiges Amt eingetreten, und mir fehlt die 
Berechtigung, mich eingänglich über ded Gefangenen 
Seelenftimmung zu unterrichten. Zwar fah und fpradı 
ih ihn während jened Beſuches der Anftalt; aber bei 
feinem Anblicke fan? mir dad Herz für eine tiefer fchnei- 
bende Berührung des Vergangenen. Der fo wenig mit 
Mörderfinn gearbeitet hat, er blickte und redete noch wes 
niger mit dem Sinn eined Mörderd. Die Stimme tönt 
und das Auge ftrahlt im Frieden der Heiligung. ‚Sch 


Judith, die Kiuswirtin 63 


bin nicht unglücklich“‘, fagte er lächelnd. Meine Tochter, 
fo fpricht fein Schuldbewußter oder ein Heuchler, wie es 
nie einen gegeben. Und doch befennt er fich zu der Tat 
heute wie damals mit den nämlicdhen Worten. Hier ift 
ein Dunkel, eine Heimlichkeit, und es verfolgt mich Tag 
und Nacht, diefelbe zu lichten. Die Korfchungen in der 
Gegend führten auf feine deutliche Spur. Die Älteren 
haben nur den Quellenfinder in ihm gefchäßt oder ges 
ſchmaͤht, die Süngeren nicht auf ihn geachtet oder ihn vers 
geffen. Er war ein Fremder, ohne Angehörige in der 
Gegend, dazu ein Anderdgläubiger. Die einzigen vers 
folgbaren Fäden ziehen ſich nach der Klug.” 

Der Geiftliche machte eine Paufe, griff noch einmal 
nad) des Mädchens Hand und fchloß dann feine Rede 
mit einer warmen Ermahnung: „Ich habe Euch nur diefe 
einzige Stunde gefehen und fprechen hören, liebe Tochter, 
aber ich weiß es, daß Ihr auch im Eifer, nicht Euch felber 
zuliebe und feinem Feinde zuleide, ein anderes ale bie 
Wahrheit fagen werdet; desfelbigengleichen als Ihr vors 
hin geftandet: „Ihr habet ihn gekannt‘ — da fpürte ich's 
an Eurem Blid und Ton, daß es ein Kennen von Grund 
aus war, nicht nadı Anfehn und Hörenfagen wie bie 
anderen, auch nicht mit deren Wahn und Aberglauben. 
Ihr kanntet ihn, das heißt: Ihr fohautet in fein Tiefftes. 
Darum prüfet Euch mit dem Blick auf diefed Bild der 
Barmherzigkeit, das Ihr zum Angedenken diefer Stunde 
bewahren follt. Sinnet zurüd, fammelt, was bie Zeit 
zerftreut, lärt, was durch erlittened Weh getrübt; und an 
dem Morgen, wo wir von dem Grabgange Eurer feligen 
Mutter heimfehren werden, da öffnet mir Euer Herz um 
Gottes willen, zum Frommen einer chriftlichen und menſch⸗ 


64. Judith, die Kluswirtin 


lichen Liebespflicht." — Er trat nach diefen Worten rafch 
und ohne umzubliden den Rücdweg an, hatte aber den 
Ausgang nadı dem Garten kaum erreicht, ald er einen 
haftigen Schritt ſich folgen hörte und ein feſter Griff 
feinen Arm von der Heckenpforte zurückzog. Judith ſtand 
hinter ihm mit fieberifchem Auge und glühendem Geficht, 
von einer Leidenſchaft durchrüttelt, die ihm das Rätfel in 
ein neues Raͤtſel verwandelte. 

„Nicht morgen oder fpäter”, fagte fie faum hörbar und 
mit fliegender Bruft. „Zur Stunde, gleich jet hören Sie 
mich an, gleidy jetzt. Sch weiß nicht, ob das, was ich zu 
befennen habe, ein Licht über jene Tat ergießen wird. 
Sch glaube ed nicht. Aber mir, mir wird ed dad Herz 
erlöfen von einer Laſt, die es zehn Jahre lang gepreßt. 
Es fol fo fein, ja, jal Dreimal ift die Mahnung an mid; 
ergangen, heute, wo ed zehn Sahre ift, daß diefe Tat ges 
fhah. Dem blöden Knechte Löfte fich die Zunge bei der 
Erinnerung an diefe Tat, die er zehn Sahre lang vergeffen. 
Das Sterbegeficht der alten Frau war diefe Tat, von der 
fie nichtd vernommen, noch verftanden. Und zum dritten, 
da kommt ein Fremder, ein Gotteöbote, mit der Mahnung 
an diefe Tat. Und feit er das erfte gute Wort gefprochen, 
da treibt ed mich: rede, rede zu ihm von diefer Tat! Und 
biefe Quellen, die jener aus dem Erdengrunde gelodt, fie 
raunen mir zu: rede, rede über diefe Tat! Sa, ich fannte 
ihn; feiner kannte ihn wie ich — und doch, doch -! Ich 
habe ihn — ich war — drei Jahre lang war ich - fpäter 
— fpäter! — Sch habe nicht zurüdzufinnen. Hier,” fie 
ſchlug mit der Hand an ihre Bruft, „hier innen, da ſteht's 
wie mit Lettern, ewig, ewig! Ich habe aud, feine Miffes 
tat.zu befennen, ich bin mir feiner Schuld bewußt, und 


$udith, die Kluswirtin 65 


doch, — und doch —! — Setzen Sie fich, Herr Pfarrer, hier 
im Schatten auf die Rafenbanf. Da unten der Quell. 
Das Wafler ift ein Heiligtum im Evangelium. Sitzen 
Sie, ald wär's in der Beichte. Knien darf ich nicht, aber 
ftehen will ich vor ihnen und mein Herz ausgießen, aus⸗ 
gießen, ald wär’d vor Gott!” — Sie beugte fich nad) diefen 
Worten zu dem Born herab und netzte ihre Schläfe und 
Pulfe in feiner Kühle; als fie fich wieder erhob, blickte fie 
ruhiger, und als der Pfarrer mit väterlicher Milde über 
ihre Wangen ftrich, löſte fih die Bruft in einem Tränens 
ftrom. 

„So fei ed denn, mein Kind,“ fagte jener; „zur Stunde 
fei e8, da dad Herz Euch treibt. Aber feinen Aufenthalt 
an diefer Stelle. Schaut, wie der Himmel ſich umzieht, 
faum, daß Ihr die Stadt vor dem linwetter erreichen 
werdet. Der Waldpfad ift menfchenleer. Ich begleite 
Euch. Redet ohne Scheu, als ob Ihr neben Eurem Vater 
ginget.” — Sie gehorchte ohne Widerfpruch, fchritt voran 
und 309 den Pflod von der Hedentür, die nad) dem Forfte 
führte. Ihr Begleiter blieb mit Abficht etliche Schritte 
zurüd, indem er ſich büdte, die am Wege ftehenden 
Maiengloden zu pflüden. Nach einigen tummen Minuten 
bob die Kluswirtin gefammelt und mit ficherer Stimme 
ihre Mitteilung an. 


Enthüllung 


„Schon ehe ich auf der Welt war, ift Simon Lauter 
auf dem Klushofe heimifch geweſen wie ein eignes Kind. 
Sein Bater, der von Bergleuten aus dem Schwabenlande 
abftammte und feined Zeichens ein Uhrmacher war, hatte 
über dem Meere fein Glück zu fuchen gedacht, als, des 


66 Judith, die Kluswirtin 


Weges ziehend, ſeine Frau hier vor dem Kamp von einem 
Fieber gefchüttelt zufammenbrad. Der Mann trug fie 
in das Haus, fein faum dreijähriger Bube lief ihm wei⸗ 
nend voran. Es war juft der Tag, an welchem der neue 
Bau eingeweiht werden follte, und der Feine Simon, der 
ein holdfeliged Kind gewefen fein fol, wurde das ‚Weihe: 
engelcdyen‘ genannt, weil er als erfter Einfehrer in bie 
Wirtfchaft getreten if. Daß es unter Tränen und mit 
einem Hülferuf gefchah, darin hat in dem hoffnungsvollen 
Subel jener Zeit feiner eine VBorbedeutung gefunden. Der 
Name blieb ihm, und meine Mutter hat noch in ihrem 
legten Augenblid den, der ihr Liebling war, bei ihm ge» 
nannt. 

„Keine guttätigere Hand, ald die meiner Mutter, Herr 
Pfarrer. Sie verpflegte die fremde Frau, bis ihr letztes 
Stünbdlein gefchlagen, und forgte für Mann und Kind, 
bis ihre Einrichtung getroffen. Der Winter war herein 
gebrochen, die Fahrt übere Meer mußte bid zum Frübs 
jahr verfchoben werben. Vater Lauter fand während der 
Zeit für feinen Uhrenkram, mit dem er jenfeits zu begins 
nen gedacht, hier in der Gegend Iohnenden Abfag, und da 
er nicht wußte, wie er fich ohne Frau mit feinem Kleinen 
in der Neuen Welt behelfen folle, gab er den Plan in die 
Weite auf, faufte für fein Reifegeld das Häuschen. des 
Waldhegers, der vor kurzem geftorben war, und über- 
nahm neben feinem Uhrengefchäft die Hütung des Ge- 
meindeforfted, für welche ein Auffeher fehlte. Der Heine 
‚Simon aber, ohne Mutter im Haus, der Vater Tag für 
Tag im Wald oder haufierend und ausbeflernd über Land, 
hielt fidy mit Leib und Seele an die Klus, in welcher alle 
das Weiheengelchen gern fahen, Eltern, Bruder, Gefinde 


Sudith, die Kluswirtin 67 


und Gäfte, vor allen aber ich, die ich in dem nämlichen 
Jahre geboren wurde. 

„Sa, Kerr Pfarrer, folange ich von meinem Leben weiß, 
habe ich den Simon liebgehabt, Tieber ald die meines 
eignen Bluts. Das laute Schenfenwefen widerftand mir 
von Natur, und ebenfo natürlich zog es mid; hinaus in 
Garten und Ader; der Fleine Simon aber, ald ich noch 
nicht laufen konnte, trug und führte mich ind Freie, fuchte 
Kräuter und Blumen mit mir, lehrte mich fpielend ihre 
Namen, die er alle ſchon kannte, ich weiß nicht woher, fie 
auch wohl fpielend aus dem Stegreife nad) Geftalt und 
Farbe erfand, wie er denn auch die erfte Kenntnid des 
Bodens und feiner Bebauung in mir ermwedte in jener 
fpäteren Zeit, wo wir beide allein, von Feiner Seele ver» 
mißt oder bemerkt, wie flinfe Vögel bis zur finfenden Nacht 
die Gegend durchſchwärmten. Denn der Simon war von 
Kind an wie ein Bertrauter der heimlichen Säfte, die aus 
dem Erdengrunde treiben, und mit der Kenntnis, die er 
mir eingeflößt, wuchs die Liebe, wuchſen mir aud, Kraft 
und Gefchid für die Behandlung der Scholle, fo daß id) 
fagen muß, der Simon hat ed bewirkt, wenn ich im Heran⸗ 
reifen den Verfall des Erbes früher und deutlicher fpürte 
als die, welche mit Luft und Hoffnung darin hauften, und 
in der Zuverficht, daß mein verunreintes Heimweſen nur 
durch den ftillen Segen der Scholle wieder zu Ehren ges 
bracht werden fünne, fpäterhin handelte, wie e8 mich trieb. 

„Als nun die Schulzeit diefem Findifchen Schwärmen 
ein Ziel feste, da wurde der Simon erft recht ein Klus⸗ 
gefelle, denn er holte allmorgendlich meinen Bruder zum 
Schulgange ab, Fehrte mit ihm zurück, arbeitete mit und 
nad) feiner gutmütigen Art wohl aud) für den Flatter⸗ 


68 $udith, die Kluswirtin 


ling, der ohne fein Zureden nimmer in eine Regel zu 
zwingen gewefen wäre und über welchen zu feiner Zeit 
ein Menfch eine ftetige Herrfchaft ausgeübt, als der Tieb- 
reiche Simon ganz allein, nur, Gott fei’d geflagt, da 
jenem die Flügel wuchſen, nicht Herrfchaft genug gegen 
den Schwarm. 

„Wieder etliche Jahre weiter, und ich ging mit den 
beiden des nämlichen Wegs und firengte mid; an, alles 
das nachzulernen, was der emfige Simon mir vorans- 
gelernt; und wenn mir eine rafche Rechnung und deut- 
liche Handfchrift in meinem Hausweſen zugute fommen, 
ich auch die Schriften verſtehe und liebe, die von dem 
Naturreiche handeln, — das heißt liebte, Herr Pfarrer, 
jest habe ich Tange fchon feine Stille in mir für ein 
Buch, — fo muß ich alfo wiederum fagen: das hat der 
Simon an mir getan und feiner fonft. — Nach etlichen 
Sahren aber ging ich mit ihm allein zur Katechismuslehre 
in die Stadt, und daß wir beide die einzigen Kinder in 
der Gemeinde waren, die fid) zu dem fremden Bekennt⸗ 
niffe hielten, das ftiftete abermals eine Verwandtſchaft 
zwifchen und. Alles in allem: wir zwei waren wie eines, 
verfehrten mit feinem Gefpielen und gewöhnten ung darum 
auch nicht an die Mundart des Landes; alled bezog ich 
auf den Simon, und id) vermag es wicht mit Worten aus⸗ 
zudrücen, wie mir zumute war, als die legten Gedanken 
der alten Frau mid; heute morgen an jene findifchen 
Zeiten gemahnten, damals, da, ohne zu ahnen was heiraten 
fei, wir und lachend oder in Tränen die Treue verlobten 
und zueinander fagten: , Noch ein zehn, zwölf Jahre, dann 
heiraten wir und, und dann find wir Mann und Frau, 
und alles ift gut.‘ 


Judith, die Kluswirtin 69 


„Ss war e8 denn ich vor allen andern, die den Knaben 
in unfere Klug und, Gott ſei's geklagt, — in fein Vers 
derben lockte. Denn foldy eine Schenfenwirtfchaft ift eine 
mächtige Verführung, für einen zumal, dem ein wohls 
beſtelltes Heimweſen gebricht, wie dem Simon, Nicht um 
der Iofen Gefellichaft willen, die er traf, nein, fein Auge 
und Ohr blieben ein Kinderauge und Ohr auch in den 
Zeiten, da er reif geworden. Der blöde Knecht heute 
morgen, er fagte: ‚Der Simon war fromm wie ein Lamm', 
und die Mutter mit ihrem letzten Wort pries ihn ale 
einen himmlifchen Friedensboten. Sa, ja, Herr Pfarrer, 
das einfältige Auge und der brechende Blick, fie fahen 
recht: der Simon war ein Menfch nad) Gottes Ebenbilde, 
und nur ein einziger Fleden hat an ihm gehaftet, der ihm 
auf der Klus ind Blut geimpft worden ift gleich einem 
Gift. Wenn der arme Sunge im Winter, nichts Warmes 
auf dem Leibe und nichts darin, fteif gefroren aus dem 
Walde zurüdkehrte, da hieß es: ‚Hurtig einen Tropfen 
für die erftarrten Glieder!‘ und wenn er in der Sommers 
hite verlechzt und fchmeißtriefend gerannt fam, da hieß es 
wieder: ‚Einen Tropfen gegen den Berfchlag!" Aber ein 
Tropfen zieht den andern an, aus der Gewöhnung wird 
ein Bedürfen und aus dem Bedürfen ein Laſter; in diefem 
Lande vornehmlich und in einer Schenke, in welcher Die 
higigen Getränfe ohne Obhut ftehen und einer dem andern 
ein Profit zutrinkt und an dem Ärgernis fein Gefallen 
findet. Sch aber, daß ich's von vornherein offenbare, was 
erft weiter hinaus in mein Bekenntnis gehört, ich fühlte 
vor feinem Kafter folch ein Grauen wie vor dem des Trunfe. 
In einer Wirtfchaft gleich der unfrigen fehrt nicht nur 
die Tugend ein. Mein Bruder wurde ein Spieler unter 


70 Judith, die Kluswirtin 


den wüſten Geſellen, und die er ſeine Frau nannte, die 
war — fie iſt tot, Herr Pfarrer, und Sylvians Mutter, 
darum ſtill über fie, ftil! — Das find fohlimme Sitten, 
fchlimmere vielleicht ald der Trunk -!” | 

„Dem eignen Kerzen wie dem des Nächten verberbs 
lichere, ja gewiß, gewiß!” fchaltete der Pfarrer ein. - 
„Aber keine, die Gottes Ebenbild mehr entftellen, wie das 
Trinken, Herr Pfarrer”, verfegte Sudith raſch. „Und daß 
jene fchlimmen Sitten frech in unferm Haufe ſchalten 
durften, weſſen war die Schuld als des Übermaßes, das 
meinem Bater die Herrfchaft über fich felbft, wie über Hof 
und Kind geraubt? Darum haßte ich den Trunk, Herr 
Pfarrer, und darum, darum wieder habe ich fpäterhin ges 
handelt, wie ed mich trieb.” — Die Erzählerin machte eine 
Paufe, welche der Zuhörer nicht unterbradh. Nachdem fie 
die Wallung niedergefämpft, Die während ber letzten Bes 
merfungen in ihr aufgeftiegen, und ihre Gedanfen zu einer 
Folge geordnet, fuhr fie fort. 

„Die Liebe zu den Gebildniffen des Grund und Bodens, 
wie die Erinnerung an feine Vorfahren hatte von Kindes 
beinen ab in dem Simon einen Trieb zum Bergwefen ans 
gezündet, und wenn id} von Fein auf fagte: ‚sch will eine 
Bauerfrau werden, wie meine Großmutter felig gewefen 
ift, und weiter nichts‘, fo fagte der Simon: ‚Sch will ein 
Bergmann werden, wie mein Großvater felig geweſen ift, 
und weiter nichte.‘ — Da nun aber die Schulzeit zu Ende 
ging, fo wollte Vater Lauter, der ein harter und farger 
Mann war, wenn er auc) mancherlei Kenntnis und Ges 
fchicklichkeit aufzumweifen vermochte, von feines Sohnes Luft 
am Bergmwefen nichtö vernehmen. Er hatte ein paar hübfche 
Flecken Rodung rund um das Waldhaus für ein billiges 


Judith, die Kiuswirtin 71 


an ſich gebracht und ſie durch Rajolen und rieſelnde 
Waſſerfäden in treffliches Ackerland umgewandelt, er 
ſimulierte auf mehr und immer mehr. Der Uhren ver⸗ 
mochte er in feiner freien Zeit kaum hinlänglich für den 
Anſpruch im Lande herzuftellen, zumal feitdem fein Sohn 
die Funftfertigen Rahmen und Gehäufe darum fchnigelte, 
die fie von allen ihreögleichen auf unfern Höfen unters 
fcheiden. Denn die feine, bildnerifche Hand, die war auch 
eine der Gaben, welche dem Simon, wie man zu fagen 
pflegt, in der Wiege eingebunden worden find. Damals 
freilich, ald das junge Herz fich fo mächtig von dem toten 
Holze ind grüne fehnte, da ahnete er nicht, daß des Vaters 
Härte den Grund zu eigner und fremder Wohltat für lange, 


naͤchtige Sahre legen follte. 


„Widerſtand war nicht des Simons Sache, am wentigften 
feinem Bater gegenüber. Er drückte Die heimlichen Lockungen 
herzhaft hinunter, wurde des Alten Gehülfe in feinen 
mancherlei Hantierungen, blieb aber auch in diefen Fahren 
dem Klushofe ein Angehöriger wie zuvor. War der Bater 
über Land, fo trug der Simon fein Werkzeug zu une 
hinunter, und einmal hielt .er fidy wochenlang unabläffig 
dort befchäftigt, ald er die Wafferfpeifung in dem ges 


rodeten Rampe ausgetüftelt und lediglich mit feinem Ers .. 


fparten vollführt, zum Danf und Denkmal genoffener 
Wohltat, wie er fich äußerte. Es war das erfte Unters 
nehmen in diefer Art, dad ihm geglüdt; von allen Seiten 
wurde er um Ähnliches angefprochen, reichlich gelohnt 
und fo jung noch an Sahren fchier als ein YWundertäter 
angefehn. Als er einige Zeit fpäter das heiße Schwefel: 
waffer unter der Wiefe aufgefpürt, nannte man das Bad⸗ 
häuschen, das darüber aufgerichtet wurde, ‚Die Simons» 


72 Judith, die Kiuswirtin 


quelle‘, und der Simon hieß feit der Zeit im Lande nicht 
anders als ‚der Quellenfimon‘ oder ‚Simon der Quellen 
finder‘. 

„Und aud) in jenen halbwüdfigen Sahren gingen er 
und ic; miteinander um wie zueinander gehörig oder fürs 
einander beftimmt, wenn wir auch nicht mehr wie als 
Kinder von Heirat zufammen redeten. Sch war in dem 
Alter, wo ein Mädchen fich vor folchem Gedanken fchämt, 
aber den Trieb, ihn wahr zu machen, noch nicht fennt, 
und einiglich, fonder Begehr hielt auch der Simon Schritt 
mit meinem Sinn, fo daß ich die drei Sahre Unterfchied 
zwifchen ung nicht gewahr worden bin. Aber eine weit 
mäcdhtigere Menfchenfreundlichfeit wohnte in dem Simon 
als in mir. Es war juft die Zeit, wo die Sylvia auf der 
Klus ihr Wefen trieb und meines Baters tobfüchtige Krank: 
heit ihren Anfang nahm. Sanftmütigfeit war nie mein 
Ding, — nein, nein, Kerr Pfarrer, fie war nie mein Ding!“ 
wiederholte fie mit Heftigfeit, einem Einwande ihres Be⸗ 
gleitere vorbeugend, „nicht meine Gabe und aud) nicht 
mein Los. Sch hatte Geduld bei der Arbeit, aber feine 
Duldung für die Menfchen; das rohe Wefen ermeckte mir 
Efel, vor der Sünde ſchwoll mir die Galle, und mit der 
Schande habe ich noch heute Fein Erbarmen. Zu jener 
Zeit würde ich von Hof und Haus und ald Magd in die 
weite Welt gelaufen, wenn nicht gar einer Mifletat an 
mir felber fchuldig geworden fein, hätte nicht der Simon 
mit dem Trofte des Friedfertigen neben mir geftanden, bie 
meine Vernunft zur Reife und der Entfchluß, die Unehre 
meines Erbes abzumafchen, zur Oberherrfchaft in mir ges 
fommen wäre. 

„Als der Simon neunzgehn Jahre geworden,” nahm die 


Judith, die Kiuswirtin 3 


Kluswirtin nad; einer Weile gelaffen wie zuvor den Faden 
der Gefchichte wieder auf, „ftarb fein Vater jählinge auf 
einem Gange durch8 Land, und der Sohn, nachdem die 
erften heißen Waifentränen getrodnet, konnte es nicht 
anders empfinden, ald ob ihn ein Zwingherr freigelaffen. 
Die heimliche Liebe zum Bergweſen feiner Altvordern 
wachte wieder auf, und er zauderte nicht, fie zur Tat zu 
machen. Im Grunde dadıte er fich bei der Sache wohl 
etwas anderes, ald den Stollen zu befahren und im 
Schadhte Kohlen und Erze Ioszufchlagen; er meinte, dag 
Geheime unter der Erde fennen zu lernen, wie er fich 
denn auch nicht minder freudig mit dem über der Erde 
befaßt haben und ein Kräuterfammler geworden fein würde 
oder dergleichen mehr. Mit einem Worte, es trieb ihn, 
das Naturreicd; mit dem Kopf zu ergründen, nur etwa 
das Tierreich ausgenommen, für dad er feine Neigung 
verfpürte, — ich glaube, weil man ed nicht ohne Tötung 
in feinem Innerſten zu erforfchen vermag. Da er aber 
über das Wie und Wo feine Kenntnis befaß, hielt er da⸗ 
für, es zuvörderft mit den Händen anzugreifen. Ein 
weiteres Feld würde fich auftun, vertraute er. Und es 
würde fich aufgetan haben, Herr Pfarrer. Schon daß ihm 
fein Bater an zeitlichem Segen weit mehr, als einer er> 
warten durfte, hinterlaflen, daß Auffeher und Beamte 
fchnell ein Herz zu ihm faßten, daß der Fund des heißen 
Duelld feinen Namen in der Gegend verbreitet, alles 
öffnete ihm Weg und Steg. Ach, Herr Pfarrer, fo froh⸗ 
felig habe id; einen Menfchen mein Lebtage nicht gefehen 
wie den Simon in den paar Wochen, die er drüben im 
Kohlenſchachte arbeiten half; aber leider war die Freude 
kurz. 


74 Judith, die Kluswirtin 


„Sein Vater hatte in dem verwichenen Jahre, mit 
welchen Mitteln weiß Gott, denn der Simon war ein Rieſe 
und heil und gefund wie ein Fifch, bei der Aushebungs⸗ 
behörde feine Zurüdftellung durdhgefegt und der Simon 
nach feiner vertrauenden Gemütdart nicht anders gedacht, 
als für alle Zeit feiner Soldatenpflicht ledig zu fein. Da 
traf ihn denn die plößliche Berufung für einen Vorder⸗ 
mann, der überd Meer entlommen war, gleich einem 
WWetterfchlag. Kein Menſch ann vorausfagen, Herr Pfarrer, 
welchen Sinn der Eifer in einem hervorlodt, daher mag 
ed wohl fein, daß in einer Zeit der Drangfal, aus Liebe 
zum Land und feinem Herrn auch der Simon feinen Ab- 
fheu vor Blut überwunden und freiwillig zu Wehr und 
Waffen gegriffen haben würde. Bei ruhigem Sinnen aber 
vermochte er nicht auf ein Kaninchen logzudrüden, und 
mit dem Dohnenftrich, der ihm ald Waldheger zuftand, 
hat er fich niemals befaßt, fo übermächtig war fein Grauen, 
ein Lebendiges zu Tode zu bringen.” - „DO Schidfal, Schick⸗ 
fat!“ rief der Pfarrherr feufzend, „und figt nun zehn Sahre 
hinter Mauern und Riegel um einen Mord!” — Auch Judith 
ließ den Kopf zur Bruft herabfinfen und fchloß die Augen, 
wie um diefen unheimlichen Widerſpruch auszudenfen. 
Es dauerte eine Weile, ehe fie ihre Mitteilung wieder auf: 
zugreifen vermochte. | 

„Aber in Zeiten der Ruhe,” fo fuhr fie fort, „drei Sahre 
lang im preffenden Rod, mit Hunderten fremder Gefellen 
in der Kaferne eingepfercht, die Waffen rühren lernen, die 
ihm fo herzlich widerftanden, er, der ſich gewöhnt, einfam 
mit feinen Gedanten in Wald und Werfftatt zu haufen 
und nur der ftillen Gebildniffe auf Gottes Erdboden zu 
achten, der eben erft in Wonne und Hoffnung, frei wie 


Judith, die Kiusmwirtin 75 


ein flügger Vogel, aus dem Nefte gelugt, er war wie zer- 
fhlagen, und zum erftenmal ward id) inne, daß ich aus 
einem andern Blute entfproffen fei als der, welchen ich 
bisher wie einen Teil des eignen Lebens empfunden; ja, 
wäre ed angegangen, ich würde mit Freuden für ihn in 
feine Pflicht eingetreten fein.” — „Glaub's, glaub's!“ fagte 
der geiftliche Herr mit gutmütigem Spott, indem er das 
Mädchen auf die Schulter Elopfte; „die Sungfer Klus⸗ 
wirtin wär fchon fo eine, die’d mit dem Mannsvolfe 
aufnahm auch im Waffenfpiel.” — „Warum nicht, Herr 
Pfarrer?” verfegte Judith ernſthaft. „Wenn Drang und 
Schande vom Boden abzumwälzen wäre? In alten Landes⸗ 
büchern ift’8 zu lefen, daß die Weiber mit den Männern 
wider den Feind gezogen find, und mein Vater hat eine 
gekannt, die gegen den Napoleon im Kampfe gefallen ift, 
und das war nur eine Magd, Herr Pfarrer, nicht von 
Haus und Hof, über welche ihre Altvordern ald Herren 
geboten haben.“ 

Die ftolze, troßige Kraft des Mädchens ftand bei.diefen 
Worten fo deutlich in dem feften, ruhigen Blicke ihres 
Auges gefchrieben, daß der Pfarrherr halblaut zu ſich 
felber fagte: „Gott halte in Gnaden die Tage fern, wo 
ſolche Weibertugend dem Baterlande ein Wall werden 
muß!” — Doch mahnte ihn ein Blick zum Himmel, feiner 
befchaulichen Neigung Einhalt zu tun. Die Sonne war 
hinter einen Wolfendamm zurüdgetreten, die Atmofphäre 
drückte immer tiefer mit der bleiernen Ruhe, welche dem 
Kampfe voraudgeht. Er forderte daher feine Begleiterin 
zur unverzüglichen Fortfegung ihrer dem Ziele noch fern 
fcheinenden Mitteilung auf, indem er fagte: „Alfo der 
Simon fcheute ſich vor dem Kriegshandwerf nach feiner 


76 Judith, die Kluswirtin 


friedfertigen Naturanlage und vor der Vorbereitung zu 
derſelben, weil fie einen mehrjährigen Aufſchub in dem 
erwählten Berufe mit fid) brachte?” — Judith neigte zu⸗ 
ftiimmend den Kopf und befchleunigte nach einem ſchweren 
Atemzuge ihre Rede, indem fie die Einleitung abjchloß 
und mit der nachfolgenden Szene in die eigentliche Hands 
lung ihrer Geſchichte überging. 

„Am Abend vor feiner Einfleidung fam der Simon 
nach der Klug gleidy einem halbtoten Mann. Mich vers 
droß dieſes verzagte Weſen, und ed war das erftemal, 
daß mich etwas an diefem Menfchen verdroß. Im Kaufe 
war juft Widerwärtiged zu fchlichten, ich gönnte dem 
Simon fnapp das Wort, und er ging in die Schentitube, 
wo mein Bruder in wüfter Gefellfchaft um den Punfch- 
napf faß. Sie qualmten, lachten, tobten, zeterten, fangen 
Schelmenlieder kraus durcheinander. Der Simon feßte 
fidy unter fie, ohne den Mund zu rühren; aber fooft id) 
von ungefähr in das Zimmer trat, fah ich ihn ein Glas 
von dem hißigen Gebrau auf einen Zug hinunterftürzen. 
ch hatte niemals ein Übermaß und felber nicht ein Wohl: 
behagen am Trunk bei ihm wahrgenommen; jeßt, da ſich 
fein Geficht immer fahler und fahler dehnte, ftieg eine 
furdhytbare Mutmaßung mir zu Kopf. Sch fam eben von 
meinem Bater, den ich in tobfüchtigem Taumel in feine 
Kammer eingefchloffen, ich bebte noch vor verhaltenem 
Grimm, und bei jedem Becher, den der Simon zu Munde 
führte, zudte mir ein Mefferftich dDurd) das Herz. Da faß 
er kreideweiß, ftierte in einen Winfel und merfte e8 nicht 
einmal, daß ich die Stube nicht mehr verließ und meine 
Augen faum von ihm verwendete. Als ich ihn nach dem 
Punſch gar noch ein Glas reinen Branntweind an die 


Judith, die Kluswirtin 7 


Lippen führen fah, hielt ich mid) nicht länger, flog an ihn 
heran, riß ihm das Glas aus der Hand und fagte heftig: 
‚Keinen Tropfen mehr!‘ Die Kumpane lachten überlaut, 
der Simon aber fprang einer Leiche ähnlich in die Höh 
und ftürzte ſtumm, mit wirren Bliden aus der Tür. 
„Sch folgte ihm, fobald ich mich von den höhnenden 
Geſellen losgemacht. Es war im vollen Mond, die Luft 
Har wie bei Tageslicht. Hier oben am Kampborn ers 
reichte ich ihn; er lag ftöhnend am Boden, dad Geficht 
auf die Raſenbank gepreßt. ‚Simon!‘ rief ich ihn an. — 
Er richtete fidy anf, fein Auge war ruhig wie fonft. ‚Sei 
gut, Subith‘, bat er mit ber fanften Stimme aller Tage 
und bot mir ferne Hand. — Ich zog die meine zurüd., 
‚Simon,‘ fragte ich jest, ‚haft du's fchen öfters getrieben 
wie diefen Abend?‘ — ‚Sch habe noch nie einen Raufch 
gehabt,‘ antwortete er, ‚und ich habe auch heute feinen.‘ 
Und in Wahrheit, einen Raufd) hatte er nicht; aber juft, 
daß er feinen hatte nach dem, was er zu ſich genommen, 
machte mir fo ſchwere Gedanfen. Er mußte an ein reich⸗ 
liches Maß gewöhnt fein. ‚Aber bu trinkt, Simon, bu 
trinkſt!‘ fagte ich. ‚ Dann und wann auf der Klug, du 
haft es alle Tage geſehen. — ‚Sch habe es niemals ges 
fehen, und du folk, du darfft nicht trinfen, Simon.‘ 
„Er feste fidy auf Die Bank und blickte ohne Erwiderung 
in den Born. ‚Böre, Simon,‘ hob ich nach einer Stille 
wieder an, ‚bu trittft in das Soldatenwefen und in eine 
arge Berführung, wenn einer nicht von Grund aus einen 
Damm dagegen zieht. Gelobe es mir, Simon, gelobe es 
dir felber hier vor dem reinen Duell, den dein Blick aus 
dem Berborgenen gelodt, daß du deinen Leib in Ehren | 
halten wirft. Nie einen Tropfen, Simon, niemals, nies 


78 Judith, die Kiuswirtin 


mals!‘ - ‚Nie einen Tropfen?‘ wiederholte der Simon 
traurig, nachdem er eine Weile gefonnen. ‚Sc darf nicht 
geloben, was ich leichtlich nicht halten könnte unter den 
vielen, die ed anders treiben, ober wenn der Leib ernüchtert 
zufammenbricht und das Herz gar — ach, Sudith, Judith!“ 
ftöhnte er. Da ich mich aber unmwillig von ihm wendete, 
faßte er fich, indem er mit Gewalt meine Hand ergriff, 
und fprach in heiligem Ernft: ‚Was ich dir aber gelobe, 
Sudith, ift, daß ich nie bei einem wüften Gelag wie biefe 
Nacht und nimmer einen Tropfen zuviel trinfen will. 
Bei diefem reinen Wafler, Subith, nimmer! Und wenn 
ich's nicht halte, follft du mich nicht deiner wert achten 
und mich nicht mehr Tiebhaben wie bisher. Alfo ſei's, 
Judith. Ich fage nicht: keinen Tropfen, aber nen 
Tropfen zuviel, um deiner Liebe willen.‘ 

„Ich legte nun freiwillig meine Sand in bie feine und 
feßte mich in Ruhe an feine Seite. Denn ich traute 
feinen Worten, ald wären es Gottes Worte, und ahnete 
nicht, daß das Boͤſe Macht habe über einen guten Men: 
fhen gegen feinen Willen und gegen feinen Schwur. Wir 
faßen lange Hand in Hand und redeten fein Wort. Es 
lag eine warme Feuchte in der Luft; ringsum fein Laut, 
kein Hauch, nur der Born tröpfelte facht wie ein Sang 
aus dem untern Bereich. Und wie wir fo faßen und die 
Tränen aus Simond Augen auf meine Hände niederträus 
felten, da war ed, ald ob ein neues Leben aus feinem 
Herzen in meines zöge; mid) überlief es heiß und wieder 
kalt; ed drängte mid) zu ihm, und ich rückte Doch von ihm 
fort. Aber jählings fchlingt er feinen Arm um meinen 
Leib und brücdt mid an ſich. ‚Daß ich dich laſſen ſoll, 
Judith, murmelt er wie erftict, ‚daß ich von dir fol, das 


Judith, die Kiuswirtin 9 


iſt's, das iſt's! — Ich zitterte wie ein Rohr im Sturm, 
aber ich riß mich von ihm los, preßte meinen Aufruhr 
hinunter und redete ihm zu. ‚Du gehft nicht aus dem 
Lande, Simon.‘ — ‚Aber von dir, von bir!“ - ‚Wir werden 
zueinander halten wie bisher.‘ — ‚Aber nicht mehr beiein- 
ander fein, in Ruhe, alle Tage, Aug in Auge, Sand in 
Hand. Nur felten, felten im Fluge. Dich nicht mehr 
fehen, Sudith, dich nicht mehr haben, alled andere — aber 
das! Ach Sudith, wie hatte ich ed mir ausgemalt! Sekt 
lernſt du was, hatte ich gedacht, und wirft etwas, daß 
der fremde Mietling mit Ehren um die KHoftochter wer- 
ben kann. Und wenn du was fannft und was bift - 
Sudith, als wir Kinder waren und manchmal traurig, da 
tröfteten wir und, daß wir groß werden und und heiraten, 
und alles war gut. Und fo dachte ich wieder, daß es 
gefchehen fol, feit mein Vater tot ift; jeglicdye Stunde hab 
ich's gedacht, im Wachen und im Traum.‘ 

„‚Und warum heute nicht mehr, Simon?‘ fragte ich, 
denn ich war plöglich feft und Flar geworden in mir felbft 
und wußte, daß wir ung liebhätten wie Mann und Weib. 
‚Drei Jahre Frift, was tut’d, wenn einer dem andern 
traut?‘ — ‚Wahr, Judith, wahr!‘ rief er mit frifchem 
Leben und zog mid) noch einmal an fich, und diesmal 
ließ ich e& gefchehen ohne Scheu. ‚Du willft harren und 
mein fein, Judith, wahr, wahr?“ — ‚Sch will harren, daß 
ich dein fei, Simon, und wäre es zehnmal drei Jahre.‘ - 
Er Ioderte wie in Flammen, er ſprach Worte, Worte, 
hier drinnen ftehen fie mit Xettern, er - er -—.” — Das 
Mädchen flüfterte nur noch; der Schauer einer feligen 
Erinnerung durchbebte fie. 

Sp fchritt fie eine lange Weile. in ſich verfunfen; fie 


80 Judith, die Kluswirtin 





ſchien ihren Begleiter vergeſſen zu haben, der ihr mit ge⸗ 
ſenkten Blicken folgte und fie endlich durch ein Räufpern 
an ihre Aufgabe erinnerte. Sie errötete, befann ſich und 
fuhr fort: „Seine Zweifel wachten wieder auf. ‚Drei 
Jahre, tagte er, ‚und du bift fiebenzehn, Sudith; Die 
Männer fehen dich an mit Blicken — du merfft es nicht, 
aber ich, ich — diefe Nacht der Papiermüller —!“ - ‚Was 
verfchlägt’S?“ fagte ich, verdroffen über derlei Anwand- 
lungen. - ‚Er ift ein Reicher, ein Stadtbürger, und du 
bift eine Hoftochter, Sudith!" —, Was verfchlägt’8?‘ fragte 
idy noch einmal. — ‚Die Wirtfchaft liegt im argen; einer, 
der Geld hat, ift ein Fund. Sie werden did, zwingen, 
dein Bruder mit Spott, Die Mutter mit Tränen, der Vater 
mit Zorn.‘ — ‚Sch laſſe mich nicht zwingen‘, fagte ich. 

„Und das ift wahr; Herr Pfarrer, ich hätte mich nicht 
zwingen laffen, weder mit Spott und Zorn, noch audı 
mit Tränen, nicht von dem einen weg und noch weniger 
dem andern zu. Sch hätte mich nicht zwingen laffen, auch 
wenn der Simon wirklich nur ein armer Mietling und 
ich ſelber noch eine Hoftochter gewefen wäre, wie fie zu 
Väterzeiten auf der Klus geworben worden find.” — 
„Glaub's, glaub's“, murmelte der geiftliche Kerr. - Das 
Mädchen aber fuhr, ohne der Unterbrechung zu adıten, 
fort: „„Ich Taffe mich nicht zwingen‘, erklärte ich, und 
der Simon beruhigte fich, und wir faßen noch lange beis 
einander oben am Born wie Bräutigam und Braut. 
Dann ging der Simon fort, die legte Nacht in feinem 
Haufe zu fchlafen — und das find fommenden September 
dreizehn Jahre.“ 

Wieder ging Sudith eine Weile fchweigend voran, und 
ber Pfarrer folgte ihr in faum geringerer Bewegung ale 


Judith, die Kluswirtin 81 


fie ſelbſt. Die Zeichnung des Simon ftimmte zu feinen 
Borausfegungen; aber wie verändert, wie verwirrend die 
Lage! Wo er tödliche Kränfung, Haß, Nachegefühl wohl 
gar vermutet, fand er Liebe, Liebe fo tief haftend, wie er 
fie in feinem Stilleben nimmer in einem Weiberherzen 
geichaut. Das Mädchen war des Mörderd Braut, nicht 
bed Gemordeten. Der fromme Mann begriff, wie der 
Verdacht gegen feinen Schügling unter dieſem neuen Lichte 
wuchd, wenn die Triebfeder der Eiferfucht weiteren Raum 
gewinnen follte, und fo hörte er mit einer faft kindlichen 
Spannung dem Lauf der Entwidlung zu. 

„Mit dem Tage, an weldhem der Simon die Nachbar⸗ 
fchaft verlaſſen,“ erzählte Sudith, „da fchien es, als ob 
ein guter Geift vom Klushofe gewichen fei, der die legten 
Spuren von Drönung und Frieden darin gebannt. Mein 
Bruder, der feinen einzigen redlichen Anhalt verloren, 
wirrte ſich immer dichter in Zeufeld Garn, beim Vater 
fam die Krankheit zum Ausbruch, Die man mit Grund 
einen Wahnfinn nennt; mich aber, Herr Pfarrer, mid 
wurmte die überfchwellende Schande um fo tiefer, feitdem 
ich einen braven Menfchen mein eigen nannte, auf den fie 
durch die meines Blutes überging. Mein Herz verhärtete 
ſich gegen Vater und Bruder, feitvem fein Sänftiger fort- 
gezogen war; nur gegen die Mutter, die unſchuldsvoll 
vertrauend, lachend diefe Minute und die nächfte weinend, 
inmitten des wüften Getriebes fand, gegen fie fteifte es 
fid) wohl nicht; aber das Leidwefen, mit welchem ich auf 
die gute Frau herniederfchaute, wie auf ein Kind, das 
feiner in feinen Nöten um Huͤlfe anfpricht, das lag von 
der Härtigfeit nicht weit entfernt.” 

„Eine Frage, mein Kind“, fchaltete an diefer Stelle 


82 Judith, die Kluswirtin 


der Pfarrherr ein. „Wußten die Eurigen um das Ver⸗ 
löbnis mit dem Simon?” — „Nein, Herr Pfarrer”, ant⸗ 
wortete Sudith. „Sch würde ed nicht verhehlt haben, 
hätte einer darauf gemerkt und danadı gefragt; aber frei- 
willig befannt habe ich es auch nicht bei der Verfaflung 
im Haus und viele Sahre vor der Zeit, da ed galt. Sch 
ging meinen Weg für mich, und der Weg war rauh. - 
Der Arzt meines Vaters, von Shrem Vorgänger im Amt, 
Herr Pfarrer, unterftüßt, brachte eine Behandlung in 
Borfchlag, die einzige, wie man fagt, die einen audgeartes 
ten Trinfer auf Maß und Vernunft zurüdzuführen ver: 
mag.” — „Speife und Trank mit Branntwein zu verfegen, 
gelt?“ fragte der Begleiter. 

„Sa, Kerr Pfarrer, nicht ein Tropfen und Biffen uns 
vermifcht. Eine graufame Verordnung und gefahrvoll, 
. wenn ber Leib erft verbrannt, dann verefelt, nicht all- 
maͤhlich eine nüchterne Koft ertragen lernt. Auch ſtemmte 
die Mutter ſich mit ihren letzten Kräften gegen das Unter; 
nehmen, das fie eine Vergebung nannte; mein Bruder, 
gleichgültig oder fchwanfend, ließ mir freie Hand, und 
der Simon mißbilligte ed zwar nicht, aber ich fpürte gar 
wohl, daß ihm das Herz gefehlt haben würde, es gegen 
den Widerwillen und die wachſende Schwäche des Kranfen, 
wie gegen Vorwürfe und Tränen der Mutter durchzufeßen. 
Sch hatte dieſes Herz, Herr Pfarrer. Sch allein bereitete 
und reichte dem fich Sträubenden die efle Nahrung, ich 
überwadhte und wehrte ed, wenn die Mutter einen unvers 
mifchten Tropfen oder Biffen unterzufchieben verfuchte; 
ich dachte eine Seele zu retten auf Koften und Gefahr 
eines halbzerftörten Leibes — und ich habe mich Feiner 
Sünde angellagt, als die Probe mißlang. Nein, nein!” 


Judith, die Kluswirtin 83 


Das Mädchen blickte düfter, und ihre Stimme Fang herb 
bei diefer Rechtfertigung. Ihr Begleiter fuchte vergebens 
nach einem tröftenden Zufpruch, aber fein Auge feuchtete 
fich in jenem tiefften Erbarmen, das uns erfüllt, wenn 
wir den Frieden des Herzend einem gerechten Willen zum 
Opfer fallen fehen. 

„Kaum daß die Augen meines Vaters fich gefchloffen,“ 
fuhr fie fort, „ald auch die zeitweiligen Notftüßen bes 
Hauſes jac und fehnöde zufammenbrachen. Die Feind- 
- feligfeiten der alten Nachbarn gegen das fremde Weſen 
traten mit Schadenfreude zutage, — nein, Herr Pfarrer, 
nimmer dürfte der Sylvian in diefer Gemeinde ald Bauer 
hantieren! — Die neuen Freunde zeigten nur Mißtrauen 
gegen den verrufenen Erben, den fie felber erft in Verruf 
gebracht. Bon Feiner Seite eine helfende Hand. Drohung 
jagte die Drohung, Klage die Klage, Pfand das Pfand - 
und der Leichnam ruhte noch über der Erde. Leib und 
Seele der Mutter, ſchon durch das Kranfenbett im Grunde 
erfchüttert, brachen zufammen in diefem Sturm, den 
Bruder wirbelte er hierhin und dorthin wie ein mürbes 
Blatt, - am Ende übers Meer; ich, ich fteifte mich, ich 
trogte ihm, Herr Pfarrer, und ich habe ihm ftandgehalten. 

„sc hätte jeßt gehen, die alte Frau und den Knaben 
zu mir nehmen und ftill mit ihnen leben fönnen bis zur 
Bereinigung mit dem Simon, die mir als Ziel Tag und 
Nacht vor Augen ftand. Ich arbeitete gern und befaß ein 
mäßiges Erbteil, das eine fächfifche Muhme um meines 
proteftantifchen Glaubens und des durch ihre Patenfchaft 
mir zugefallenen Namens willen für mich hinterlaffen; ich 
war auf die Verwendung eines treumeinenden Anwalts 
in ber Stadt, der die Verhältniffe durchfchaute und mir 


84 Judith, die Kluswirtin 


auch ſpäterhin redlich geraten hat, vor der Zeit von den 
Gerichten mündig geſprochen worden; kurzum, ich konnute 
gehen. Aber mein Sinn ſtand anders. Ic hatte ein 
Recht, auf dem Hofe zu bleiben, und ich blieb. Freilid, 
ohne Unterlaß in Kämpfen mit meinem Bruder, in häß- 
lichen Kämpfen, Herr Pfarrer, denn ed galt dad Mein 
und Dein zwifchen Erben eined Bluts. Zuvörderft um 
den Nachlaß der Muhme, mit dem er fid, zu retten ges 
dachte und welchen der Plänefchmied, der nie einen fichern 
Untergrund gefühlt, früher nody als fein Batererbe in 
eiteln Luftfchlöffern verfchwindelt haben würde. Dann 
aber um die Werbung des reichen Müllers, des einzigen 
der windigen Kumpane, die bei ihm ftandgehalten, weil 
er fein Auge auf mid) geworfen und auf unfere Not feine 
Hoffnung baute. Aber ich wehrte mich, Herr Pfarrer. 
Sch wehrte mich für mich felbft, für eine alte Mutter, für 
ein fchuglofes Kind, für den Hof meiner Väter, vor allem 
jedoch für den Mann, dem ich meine Treue verlobt, und 
darum würde ich auch gegen einen herzhafteren Angriff 
die Oberherrfchaft behalten haben. 

„Es währte nur kurze Zeit, bis er einfah, daß er den 
Hof nicht behaupten könne. In der wüften Schenfe hers 
bergte nur noch wuͤſtes Geſindel; die Landwirtfchaft ftand 
ftill. Es hätte flein und von Grund aus wieder angefangen 
werden müffen, aber Bauernarbeit efelte ihn an, und Rat 
wie Tat verfingen um fo weniger, weil id) ed war, die fie 
bot. Denn, Herr Pfarrer, wir ftammten aus einem Blut, 
aber unfer Wefen widerftand ſich wie Waffer und Öl; es 
fam zu feiner Einigung. Auch fiel ihm der Entfchluß, fein 
Batererbe Ioszufchlagen, nicht fchwer. Defto ſchwerer Die 
Ausführung. Er hatte auf reichliche Überfchüffe gerechnet, 


Judith, die Kluswirtin 85 


hundert ſchwindelnde Pläne auf dieſe Überfchüffe entwor⸗ 
fen, heute diefen, morgen einen andern, — und er erhielt 
nicht ein Angebot, das feine Schulden gededt. Die Aus⸗ 
wanderungsfucht war dazumal gleidy einer Krankheit felbft 
unter den Vermöglichen im Lande eingeriflen, Grund und 
Boden im Wert gefunten; die begonnene Eifenbahn mußte 
den Berfehr auf der Landftraße. verfchlingen, faum noch 
ein Sahr, und der Klusgafthof ftand ohne Einkehr, die 
weitläufigen Baulichfeiten hatten feinen Zwed; ganz nas 
türlich, daß Feiner kaufen oder nur um ein Spottgeld 
faufen wollte. 

„Meine Stunde hatte gefchlagen, jet trat ich auf. Ich 
tat ein Gebot, das juft die Pfandgläubiger befriedigte, und 
mein war dad Anmefen, wie ed ftand und lag. Mit den 
Wucherern und Spielgefellen, dem Papiermüller an der 
Spige, unterhandelte ich kurz und fcharf auf Frift; meinen 
Bruder felbft, der jegt in meine Hand gegeben, hoffte ich 
durch Not zur Ordnung umzuwandeln. Das Schenfen- 
wefen wurde nur noch obenhin unterhalten, übles Gefindel 
unerbittlich von der Tür gewiefen, die Landwirtſchaft da⸗ 
gegen fräftig in Angriff genommen, manches verbröcdelte 
Aderftüc mit der Zeit wieder eingelöft. Und Wiefe und 
Feld, Herr Pfarrer, fproßten nach der langen Brache em⸗ 
por, aber die Saat in dem Menfchenherzen blieb ohne 
Keim. Er war in meiner Gewalt, und id; weiß feine 
Zucht, die mir zu ſchwer gewefen. Gute wie böfe Worte 
vermwehte der Wind; gegen den Zwang feßte er die Flucht. 
Freilich um wiederzufehren, denn Nachhaltigkeit war nicht 
feine Natur, auch nicht in der Bitternid. Sch gab den 
Bruder, den Altern Bruder, auf und handelte wie gegen 
einen Knecht, endlich wie gegen ein Kind. Sch feste ihn 


86 Judith, die Kiuswirtin 


auf Lohn, auf Tagelohn gar, nad, dem Maß feiner Arbeit; 
ich ließ ihn darben, fperrte ihn aus und fperrte ihn ein; 
ja, ich fperrte ihn ein, hielt ihn gleich einem Gefangenen 
im eigenen Haug, wenn er durd, Spiel oder Augfchweis 
fung eine Strafe verwirft, die idy mid, bis zum legten 
fcheute vor den Gerichten öffentlich zu machen. Als aber 
alles nicht verfchlug, wı.ßte ich am Ende feinen Rat ale 
den der härteften Not, einzig auf eigene Kraft im fernen, 
noch unwirtbaren Land. 

„Der Plan der Ausführung widerftand ihm keineswegs, 
im Gegenteil, das fremde Leben lockte ihn. Aber vor der 
Ausführung zuckte er zurück. Nicht einmal, zehnmal, Herr 
Pfarrer, war er fort und wieder da. Nur noch Diefen Glücks⸗ 
verfuch in der Heimat, oder jenen, der ihm auf dem Wege 
eingefallen, nur die alte Mutter noch einmal fehen, oder 
fein Kind und Sylviad Grab! Und dann umflammerte 
er meine Kniee, weinte, raufte fic dad Haar — eine Stunde 
fpäter aber fang er Schelmenlieder oder knöchelte mit 
irgendeinem wüften Gefellen. Gegen Sturm und Troß 
hätte ich’8 aufgenommen, aber ich hatte weder Macht noch 
Duldung gegen ein windwendifches Wefen wie diefes. 
Seine Gegenwart brannte mid; wie zehrendes Feuer, zu⸗ 
mal feit ich gewahr ward, daß das Kind, der Sylvian, 
feine ernfthaften Augen dafür aufzufchlagen begann. Er 
mußte fort ohne Erbarmen, und fo wurde denn endlich 
die drohende Haft des Turms, einer Wechfelfchuld halber, 
die er von neuem im Spiel eingegangen, die Rute, Die 
ihn trieb. F 

„Ich hatte dieſe Schuld eingeloͤſt, aber ohne ſein Vor⸗ 
wiſſen, Herr Pfarrer; denn mit freier Wahl würde er 
nimmer gegangen ſein, dagegen die Heimlichkeit einer 


Judith, die Kiuswirtin 87 


Flucht feine Einbildung kitzelte, taufenderlei Anfchläge 
gegen abenteuernde Gefahren ihm ald Kurzweil aufftiegen. 
So fchied er. Fort aus feinem Land, fort von Mutter 
und Kind. ‚Wenn du ihm Bater fein kannſt, kehre heim‘, 
hatte ich gefagt. Er ift nicht heimgefehrt, und ich, ich 
habe ihn fortgetrieben, vielleicht in fein Verderben, viels 
leicht in fein Grab - erft den Bater, dann den Sohn!” — 

„Ihr tatet, was recht war und darüber, arme Tochter”, 
fagte der Pfarrer, ihre Sand drüdend, und Sudith vers 
feßte mit fchneidendem Ernft: „Es war recht, und ed war 
not, Herr Pfarrer. Aber wer alfo recht tun müffen, der 
wird nimmer wieder froh. 

„Sc habe, Herr Pfarrer,” fo nahm fie nach einer 
gegenfeitigen Stille ihre Mitteilung wieder auf, „ich habe 
eine lange Weile nur von mir verhandelt, und es ift doch 
eines andern Schickſal, dad Sie zu wiflen begehren. Die 
Wahrheit ift, daß ich den Simon während feiner Sol- 
datenzeit nur felten und im Fluge gefehen, da bald nadı 
feinem Eintritte dad Regiment in einer entlegeneren Ges 
gend Quartier bezog, und daß ed mir lieb war, meine 
Anfechtungen ohne feine Zeugenfchaft Durchzuftreiten. Alles 
zeit aber hat er im Hintergrunde meiner Gedanken ges 
ftanden. Ich fagte wieder wie ald Kind: ‚Noch found 
fo viel Monden und du bift ded Simond, und alles ift 
gut!“ Sc fputete mic, darum Nacht wie Tag, um alles 
rein und ehrbar hergeftellt zu fehn, wenn er ald Herr eins 
ziehen werde in meiner Väter Hof, hatte auch niemals ein 
Arg, daß er feinen Leib anderd ald rein und ehrbar ers 
halten haben werde nad) feinem Schwur. Es war eine 
Zeit der Probe für ihn wie für mich; vielleicht aber, daß 
fie nicht ein fo graufames Ende genommen, wenn id} ſchon 


88 Judith, die Kluswirtin 


damals wie fpäter eingeſehen, daß feine Aufgabe die 
ſchwerere war. Sch ftritt wider die Unart der andern 
und fchaffte für mich felbft nad, eigner Art. Er hatte 
andern ftillzuhalten gegen feine Art und zu ftreiten wider 
eigene Unart. Sch konnte mich behaupten, denn ich war 
richtig geftellt, aber mein harter Sinn am wenigften würde 
eine Probe wie die feine beftanden haben. — Und weil ich 
denn nicht aus Erfahrung ein Urteil über feine Verfaffung 
in jenen Sahren abgeben, nicht beweifen kann, ob das 
Lafter des Trunks zu einer ftändigen Gewöhnung in ihm 
ausgeartet oder nur in gelegentlichem Ausbruche mir vor 
Augen getreten ift, — wiewohl ich das leßtere glaube, 
Kerr Pfarrer, — fo will ich mich num nicht länger fträuben, 
Ihnen die Begegnung vorzuführen, die mich und ihn aus⸗ 
einandergebracht und "von welcher ich nimmer geglaubt, 
daß meine Lippen fie gegen eined Menfchen Ohr berühren 
würden. | 

„Des Simon Truppe follte in der Kürze nach der Stadt 
verlegt werden; zum Herbſt würde er des Dienftes ledig 
gewefen fein; jett fohrieben wir April, und ed war an 
dem Tage, an welcdyem ich auf die drohende Wechfelhaft 
den Plan von meines Bruders Entfernung gebaut. Raſch 
entfchloffen, machte ich mich auf den Weg nad) der Stadt, 
um mit dem Anwalt Rüdfpradye zu nehmen. Denn in 
der Sache war ich mit mir einig, nur über die gefeßliche 
Art und Weife mußte ich mir Auskunft verfchaffen, zumal 
den Durchftedlereien des Müllers gegenüber, deflen hinter- 
hältige Lauer ich fannte. Ich hatte meinen Bruder allein 
in der Schenfftube verlaffen, die nod, mäßig im Gange 
war und bis zur Vollendung der Eifenbahn bleiben follte. 
Denn mit dem Geld ging ed mir fnapp zu der Zeit, fo 


Judith, die Kluswirtin 89 


daß ich mich eines Vorteils nicht leichtlich entſchlagen 
durfte. Nebenbei ſcheute ich mich vor einer Veraͤnderung 
Knall und Fall, da die Sache in Bälde ohne Aufſehn 
einfchlummern mußte; vor allen Stüden aber hatte ich 
mich darauf gefeßt, daß das urväterliche Recht nicht in 
dem Verruf von meines Bruders Betrieb, fondern in An- 
ftand und Ehren feine Endfchaft erreichte. - Mit ſchwerem 
Herzen fchritt ich auf dem Wege, den ich heute zum erften 
Male feit jenem Tage wieder betrete, und glaubte einen 
Boten von oben gewahr. zu werden, ald ich plößlich den 
Simon aus feinem Waldhaufe treten fah. 

„Er trug wieder den fohwarzen Bergmanndfittel, an 
dem er in aller Eile noch Enöpfte und fchnallte, die bunte 
Soldatenmütze auf feinem Kopf aber fchleuderte er hoch 
in die Luft und jubilierte wie eine Xerche, da er mich ers 
fannte. Er fand faum Worte vor Saft und Luft - er war 
frei und entlaffen ein halbes Sahr vor der Zeit, der glück⸗ 
feligfte Menfch auf Gottes weiter Welt! — Die gute Bot- 
fchaft tröpfelte Balfam auf meine äßenden Schrammen. 
Nun hatte ich ihn, durfte ihn halten und hegen, und alles 
Schwere fchien mir federleicht. Dennoch ald er Miene 
machte, mich nach der Stadt zu begleiten, wehrte ich ihn 
ab. ‚Spare dad Gerede,‘ fagte ich, ‚bis alles in Ruhe 
und Ordnung ift. Geh voran zur Klus. Am Abend 
fprechen wir und allein vor dem Born oder oben bei 
Mutter“ Er ftuste wohl bei diefer Zimperlichfeit, war 
aber zu froh zum Verdruß und flog mehr ald daß er ging 
auf dem Klusmwege zurüd. 

„Mein Gefchäft z0g fich unerwartet in die Länge, die 
Sonne war fohon gefunfen, bevor ich den Heimweg ans 
trat. Aber e$ war abgetan, der Simon heim und mein 


90 Judith, die Kiuswirtin 


Herz froh wie noch nie. Ich hätte fingen mögen, nur daß 
id, von Natur feinen Sang in Ohr und Bruft gefühlt. 
Sch ging wieder durch den Wald. Wäre er doch mit mir 
gewefen! Wie reute mich jegt meine ſchwachmuͤtige Ans 
wandlung. Hinter jedem Baum glaubte ich ihn hervors 
fpringen zu fehn. Am Waldhaufe lauert er doch, hoffte 
ich, und ald er auch am Born nicht Iauerte, war ich vers 
droffen gegen ihn, aber weit, weit mehr gegen mid) felbft. 
Sch flog nur noch vor Ungeduld und trat vom Hofe her 
in das Haus, 

„Aber ſchon im Flur höre ich ein Suchhet, daß das 
Herz im Leibe ſich mir wendete; ich öffne und ftehe auf 
der Schwelle wie gemurzelt. Da fiten der Müller, mein 
Bruder und — der Simon um den Dampfenden Napf, und 
feiner, auch der Simon nicht, bemerft mich unter dem 
Dualm und Lärm. Sch kann nicht fagen, daß Völlerei 
von Grund aus meined Bruders Lafter gewefen; nur 
wenn Gefelfchaft oder Spiel ihn erhißt, geriet er in ein 
Übermaß; heute aber war er trunfen von außen und innen. 
Die Augen zudten Blige, Hände und Füße flogen wie 
die eines Gliedermanneg, fraufe Reden und Reime fchwirr- 
ten gleich Irrwiſchen zwifchen feinen Tippen hervor. Er 
hatte den Freunden das, was er als eine Heimlichkeit aus⸗ 
zuführen gedachte, enthüllt und fchilderte im voraus Herze⸗ 
leid und Gefahr feiner Trennung und Flucht. Mein Name 
wurde genannt ald der einer graufamen Drängerin, der 
Müller wie ein Bruder und Helfer gepriefen. Dazwifchen 
glogte und brüllte diefer rohe Kumpan gleich einem Stier. 
Nur der Simon gab feinen Laut, Flingte aber an bei 
jedem neuen Spruch und leerte dad Glad auf einen Zug 
öfter ald beide zufammen. Er fah weiß aus wie ein Geift. 


Fudith, die Ktuswirtin 9 


Die aber weiß und flumm werden im Trunf, denen ftaut 
fi) das Geblüt und wirbelt die wilden Triebe in die 
Bruft, die fonft gebannt in heimlicher Kammer ruhen. 
„Die Empörung brach aus, ich ſchlug heftig die Türe 
zu. Mein Bruder ftürzte auf mid) zu, riß mid; mit Ges 
waltan den Tifch und preßte fein Glas an meine Lippen. - 
‚Mein Kenkertrunf!‘ fchrie er, ‚du der Henker, Dithel, 
trinke, trinke! — Sch nahm ihm ruhig das Glas aus der 
Hand und feßte ed auf den Tifch, Meine Kehle war zus 
gefchnürt, aber es mag wohl ein giftiger Blick gemefen 
fein, der ftatt ded Wortes zu dem Sinnlofen hinüber fchoß, 
denn er ließ mid) log, ftarrte mid; an und fagte gewichtig, 
als wären feine Worte Gold: ‚Sa, du Madıt, Weib, 
denn du haft Willen, ja, du haft Willen, denn du haft 
fein Herz. Weib ohne Herz, du umgarnft einen mit 
deinem Willen, wie die Spinne die Fliege mit ihrem Ne. 
Den eignen Mann fpönneft du ein, faugteft ihn aus und 
fpänneft fort. Spinne du, Dithel, Spinneweib, Spinne!‘ 
„Und fo ftrömte er weiter in nichtönugigen Anflagen 
und Klagen, wie ich fie fchon oftmals vernommen und 
überhört. Kein Menſch konnte wiflen, Herr Pfarrer, was 
Wahrheit oder Schaufpiel in dem Menfchen war. Und 
jählings wirft er ſich an die Erde, umſtrickt meine Kniee, 
. daß ich mid; niederfegen muß, um nicht zu fallen, fchluchzt, 
daß ihm die Tränen wie Bäche über die Backen rinnen, 
und beginnt feine alte Litanei: ‚Nette mich, Dithel!‘ 
ftöhnte er, ‚ftoße dein Blut nicht von dir, Schwefter! 
Das Meer ift tief, tief und fo fern, fo fern! Laß mid 
nicht unterfinfen; deine Sand, Dithel, deine Hand! Da 
fißt er, der reiche Mann!‘ — Er wies auf den Müller, der 
Iallend mit dem Kopfe nidte und feine Arme nad) mir 


92 Judith, die Kiuswirtin 


ſtreckte. —, Kröſus heißt er, der reiche Mann, und Mam⸗ 
mon hat er, nach dem du anferft und mit dem du geizeft, 
Dithel! Nimm ihn, nimm ihn, den reichen Dann. Du 
haft es ihm angetan, Dithel! Da, da, feine Sand! Sage 
ja, zerreiße den Schein, rette mich, rette mich, Dithel!‘ 

„Sch hörte nur noch wie im Traum, blickte nur fcheu 
nach dem Simon hinüber, der zufammengefunfen, ftumm 
und weiß wie ein Götze fein Auge in meines bohrte, — 
nicht mehr ein Menfchenauge. Sc; fürdhtete mich vor ihm. 
Ich ertrug ed nicht länger, ftieß mit der Hand den Müller, 
mit dem Fuß den Bruder von mir, daß der Tifh mit 
Glaͤſern und Lichtern zu Boden ftel, und fo im Dunfeln 
ftürzte ich aus der Tür und in meine Kammer hinauf. — 
Sch warf mich zu Boden, meine Sinne vergingen.“ Judith 
ftockte, ald werde ihr die Kehle zugefchnürt. „Eine Beichte, 
eine Beichte!” murmelte fie; „gut, gut, auch das! — Ein 
fengender Atem an meinem Geficht - eine eifigkalte Hand 
um meinen Leib — Töne, Töne — wir rangen — ein Augens 
blid — Wut gegen Wut —!“ 

Sie machte eine Bewegung, als fcheuche fie ein Ge⸗ 
fpenft. „Denken Sie's — oder nein, denken Sie es nicht. 
Es ift gejagt, gut, gut!” preßte fie hervor, und nad) einer 
Paufe fuhr fie fort in fliegender Haft: „Hilf Gott, hilf 
Gott!“ ächzt die Mutter nebenan. Seit ihrem Elend ihr 
ftündlicher Sammerlaut. Der Wahnwitzige ftußt, ich reiße 
mich los, raffe mich auf, jage aus der Kammer und fchließe 
die Tür. Ich laufche. Alles feelenftil. Nun hinunter. 
Sch hätte fchreien mögen vor Wut und Dual und dod) 
jedes Auge und Ohr verjtopfen vor der Schmach, die 
gleich einer Wetterwolfe über dem Haufe gehangen. Allee 
war aus zwifchen mir und ihm, welchen ich im Herzen 


Judith, die Kıuswirtin 93 


zu feinem Herrn gefest, aber vor den andern mußte er 
rein bleiben! | 

„sch fpürte umher, die Wirtsſtube war leer, der Bruder 
mit feinem Kumpan auf und davon, das Gefinde zur Ruh. 
Sie fchliefen im Seitenbau, leiner wußte von dem Ges 
fangenen oben in der Kammer. Sch zündete Licht an, daß 
ed hell leuchte über Straße und Hof; ich durfte nicht 
raften, ich mußte Ordnung unten fchaffen, um bei einem 
anflägerifchen Zufall darauf hindeuten zu fünnen, daß ich 
die Nacht nicht müßig in meiner Kammer verbradht. Eine 
Nacht, eine Nacht ohne Ende! Mehr ald einmal brach 
ich zufammen, hoffte, daß ich's nicht überftehen werde. 
Aber dann fteifte ich, mich wieder und wollte es überftehen. 
Sc hatte im Leben nur einen Menfchen zum Glück ges 
braucht — ich wollte feinen Menfchen brauchen, fertig 
werden ganz allein. ‚Beftien ſind's alle, alle!‘ fchrie ich 
auf, und faum daß ich's ausgedacht, brach der Sammer 
wieder hervor, und ich preßte mein Tuch in den Mund, 
das Gefchrei in die Bruft zurüdzubannen. Treppauf, 
treppab die ganze Nacht. Laufchen hier, Tugen dort. 
Zehnmal ‚wollte ich hinein, dad Ungetüm zu erweden, zu 
verjagen. Zehnmal prallte ic; zurüd. ‚Das Weiheengels 
chen, den Friedendbringer!‘ ftöhnte ih. ‚Ein Augenblid 
der Raferei gegen zwanzig Liebesjahre!“ 

„Der erfte graue Dämmer gen Morgen. Gebt mußte 
es fein. Ich fürdhtete mid) nicht, aber ich zitterte; faum 
daß ich den Schlüffel zu drehen vermochte. Die Kammer 
war leer, das Fenfter offen. Sch beugte mich hinaus, 
taufend Mefler in der Bruft, — da unten muß er liegen 
zerfchmettert in feinem Blut. Nein, nein, da unten liegt 
er nicht. Nicht im Rauſch hat er ſich hinabgeftürzt, mit 


94 Judith, die Kluswirtin 


ernüchterten Sinnen ſich über die Hecken auf die Straße 
geflüchtet. ‚Fort, fort auf ewig!“ ſchreie ich in hellem 
Wahnſinn und jage ihm nach über den Hof. 

„Dben am Born, da liegt er auf feinen Knien, taucht 
den Kopf in den Quell, nett Hals und Bruft und fühlt 
ſich Har. Ein aus dem Grabe Erftandener! Mid; ſchau⸗ 
dert's über den Leib, fo fühle ich feinen Froft, und doch 
in mir ein Sud und vor meinen Augen Sternenzuden. 
Zurüd kann ich nicht; vorwärts, reden auch nicht. Sekt 
richtet er fidy auf, bringt feine Kleider in Ordnung und 
wird mein gewahr. Sc fahre zufammen, er nicht. Aber 
traurig blidt er, todestraurig; in meiner legten Stunde 
fehe ich ihn noch, diefen traurigen Blick. ‚Lebe wohl, 
Judith', fagte er leife, daß ich's kaum verftand. Ich ftarrte 
zu Boden und hatte feinen Laut. 

„Dein Zreufpruch ift gelöft‘, hob er nach einer Weile 
wieder an. — ‚Er gilt!“ hätte ich fchreien mögen — und 
fagte fein Wort. Er aber redete weiter, gänzlich ruhig, 
gänzlich gefaßt, wie einer, der auf feinem Sterbebette ab⸗ 
gefchloffen. ‚Ich Fenne mid) nicht mehr‘, fagte er. „Ich 
bin nicht mehr ich; aber ich Fenne dich, Sudith, du bift 
du, und fo wie du bift, habe ich dich Tiebgehabt bis heute, 
und fo werde ich dich Tiebhaben bis and Ende. Hier am 
Quell habe ich gelegen die Nacht hindurch, habe geraft 
gegen mich felbft, und jetzt fehe ich's klar, weiß es, Ju⸗ 
bith, weiß ed. Wieviel Tropfen müßten aus diefem Born 
rinnen, ehe du's vergißt, Sudith, vergißt, Daß ohne Gottes 
Hülfe du eine warft, eine, die feinem Mann am Altar 
ihre Treue verpfänden konnte, — auch dem Befchimpfer 
nicht! Du nicht, Judith, du wahrlicdy nicht! Ich darf 
nichts geloben, denn du glaubteft mir nicht, und ich felber 


Fudith, die Kluswirtin 95 


würde mir nicht trauen, feit ich der Unehre Raum gegönnt 
und meinen Schwur gebrochen. Unfer Verfpruch ift gelöft. 
Ich gehe. Aber wenn ich eined Taged dir wieder vor 
Augen trete, dann wifle: es ift der Simon wieber, ben bu 
liebgehabt, dann vergiß die böfe Stunde, Judith, und 
bis dahin lebe wohl — oder für allezeit!“ — Er wendete ſich 
und ging, ohne mir die Band zu reichen. Ich hätte ihm 
meine Arme nadhftrecdlen mögen, ihn zurüdreißen, ihn an 
mich reißen — und ich rührte mid, nicht und ließ ihn gehen. 
Mit haftigen Schritten bog er in den Wald, nicht ein eins 
zigesmal blickte er zurüd. Sch laufchte, den Atem ein, 
gepreßt, und da id, den letzten Tritt verhallen hörte, ftürzte 
ich ohne Befinnung auf den Grund.” — - 

Ein ftöhnender Atemzug und eine lange Stille folgten 
diefem martervollen Bekenntnis. Dem alten Priefter 
zitterte das Herz. So tief war er noch niemals in ben 
Grund einer Menfchenfeele gedrungen; Bilder, Triebe, 
Geifter, die er faum geahnt, drängten fich fichtbar und 
greifbar faft zwifchen die Klüfte der Rede; ihn ſchwindelte 
vor diefen Wirbeln unter der glatten Dede des Alltags- 
lebend. Und wie fie ſich brachen, diefe Wirbel, an der 
Kraft eines unantaftbaren Gemüts, wie an feinem Widers 
ftande der verunreinte Strom eined gutgefchaffenen Her⸗ 
zeng fich Mären müfle, das, fo hoffte der fromme Mann 
zum Preife Gottes und feiner Kreatur, Das werde die end» 
liche Löfung des Raͤtſels fein, die er gefucht. 

„Als ich,“ fo griff Sudith ihre Darftellung wieder auf, 
„als ich meine Sinne zurüdfehren fpürte, war es Tag, 
aber über dem Sonnenlidhte hing ein Schleier, und mid) 
dünkt, ald ob Gott der Herr ihn feit jener Stunde 
nimmer in die Höhe gezogen. An jenem Morgen nahm 


96 Judith, die Kluswirtin 


ich das Schenkenzeichen von meiner Tuͤr, ließ die Liguſter⸗ 
laube faͤllen, und in der Kammer oben habe ich nimmer 
wieder gefchlafen. — Bon dem Simon hörte und ſah ich 
nichts. Mein Bruder wollte erfahren haben, daß er krank 
barniederliege; ald er aber ging, ihn heimzufuchen, fand 
er das Waldhaus leer und verfchloffen. Kein Menſch 
vermißte ihn auf der Klug; das Gefinde hatte fich feiner 
entwöhnt, Einfehrer wurden von der Tür gewiefen, und 
meinen Bruder befchäftigten auch die nächften Menfchen 
nur, folange er fie mit Augen fah oder allenfalls von 
ihnen reden hörte. Zudem waren ed nur noch wenige 
Wochen, in denen ed mit feiner Entfernung Ernſt wurde. 
Anfangs fträubte er fich wohl noch, und Auftritte wie der 
jenes Abends fehrten tagtäglich wieder; da er mich aber 
unerbittlich fand, der drohenden Wechfelhaft vorzubeugen, 
drängte er felber in die Weite, tüftelte Vorbereitungen 
und Heimlichfeiten aus und fah fidy in der Einbildung 
riefengroß wachen an Reichtum und Macht unter den 
wunderlichften Abenteuern in einer neuen Welt. 

„Sc ließ ihn gewähren und traf meine Anorbnungen 
nadı dem Rate des Anwalts, der mir wie ein Freund 
zur Seite ftand. Herr Pfarrer, möglich, daß alled andere 
gekommen wäre, ald es fam, wenn der Mann, der unfere 
Lage von Grund aus kannte, nicht an dem nämlichen 
Tage, da mein Elend reif ward, an einem higigen Fieber 
erkrankt und bald verfchieden wäre. Er hatte eine Schiffe» 
gelegenheit unter einem firengen, aber zuverläffigen Kapi- 
tän ausgemittelt; mein Bruder follte nach Auftralien zu 
rauher Arbeit aufnoc, unbebautem, menfchenarmem Grund; 
unwiſſentlich follte er ed, denn ihm felber lagen nur bie 
Verlockungen großer Städte und die Leichtigkeit einer 


Fudith, die Kluswirtin 97 


Rückkehr von Amerika in dem Sinn. Ich gedachte ihn 
bis an den Einſchiffungshafen zu begleiten, auf daß nicht 
eine fremde Hand die ſeine zum letzten Male auf Heimats⸗ 
boden drücken, freilich aber auch, Herr Pfarrer, auf daß 
das Reiſegeld in eigner Taſche ihn wirklich zum Ziele und 
nicht von neuem auf einen Abweg führen möge. Denn ich 
hätte es leichtlich nicht zum zweiten Male ſchaffen können, 
ich konnte es ſchon das erſtemal nicht aus eignem Ver⸗ 
mögen. — Es wird Sie bedünken, Herr Pfarrer, als ob 
dieſe Weitläufigkeit in meines Vruders Sache nichts mit 
der Schickung zu ſchaffen habe, nach deren Kenntnis Sie 
verlangen. Sie hat nichts mit ihr zu ſchaffen gehabt, das 
iſt wahr, die Welt hat nichts von ihr erfahren, Der Name 
meines Bruders ift ia dem- unfeligen Handel nicht ges 
nannt worben, ich kann nichts beweifen — ich darf's nicht 
fagen — nicht denfen, einmal was — aber — aber — furzum 
Sie follen auch diefen Zufammenhang fennen lernen. 
„sch hatte dem Anwalt Bollmadıt ausgeftellt, an dem 
Morgen unferer Abreife die Wechſelſchulden meines Bru⸗ 
berg einzulöfen. Es ift gefchehen. Kein Wucherer oder 
Lüdrian Darf den, welcher den Namen ehrbarer Voreltern 
getragen hat, der Untreue um eined Hellerd Wert bezich- 
tigen. Am legten Nachmittage machte ich vor Gericht an 
deu Papiermüller eine Berfchreibung auf mein Grundſtück 
fo hoch etwa, ald ſich Die Summe des Fahrgelds und eines 
mäßigen Notpfennigs zum Anfang in der Fremde belief. 
Daß ic, juft dieſem Menſchen in die Hände fallen mußte, 
war das Widerwärtigfte bei dem Handel. Aber das Geld 
war Hamm is ber Zeit, der Eifenbahn halber, gu beren 
Bau der legte Taler gegen einen Schein verzeichnet ward; 
Freunde bejaß ich nicht, und was Sie Hauptſache war, 


* 


98 Judith, die Kiuswirtin 


die Angelegenheit blieb unter denen, die einmal darum 
wußten, ohne ruchbar in der Gegend zu werden, die Tange 
fchon fattfam Argernis aus dem Klushofe gezogen hatte. — 
Aber fein läftigered Ding, ald eined Menfchen Schuldner 
zu werden, den man mißacdhtet im Herzendgrunde und dem 
man den erlauerten Lohn nun und nimmer gewähren will. 
Der Müller hatte meinen Bruder in fein Berderben und 
mich in Berlegenheiten fpielen helfen, jetzt drängte er fich 
mit feinen Gefälligkeiten an mid; heran. Da ich fie ein- 
mal angenommen, — ich habe fchwer dafür gebüßt, Herr 
Pfarrer, die Ängſte meiner Nächte diefe zehn Sahre Tang 
find des Zeugen! — ba ich fie angenommen, konnte ein 
Habdank nicht verweigert werden, und ald ich mit ihm 
in der Dämmerftunde von den Gerichten fam, wo unfer 
Handel abgefshloflen worden, wußte ich feinen Nat, mich 
feiner Begleitung zu erwehren. 

„Sch ging nicht den Waldweg wie damals, fondern 
die große Straße, auf der die Menfchheit wogte, indem, 
wie heute, die Jubilatemeſſe in der Stadt zu Ende lief. 
Sch konnte die Ratgebungen ded Wenfchen wohl ges 
brauchen, denn er war mandjherwärts in der Welt umhers 
gefommen; die Reife aber, die ich morgen in der Tages⸗ 
frühe antreten follte, war für mid; ein neues und ſchwie⸗ 
riges Unternehmen. Freilich verdroß es ihn, daß ich fein 
Anerbieten, mir auf dem Hin⸗ und Herwege zur Seite zu 
ftehen, rundweg von mir wies, und mein Grauen bei 
feinem Vorſchlag, jegt bei Abend und mit ihm allein einen 
Abftecher nad, feiner Mühle zu machen, um das vers 
fchriebene Geld in Empfang zu nehmen, gewährte ihm eine 
tucdifche Rache. Sch war ärgerlicdy gegen mich felbft, daß 
ich den Fall nicht vorausbedacht und auf die Auszahlung 


Judith, die Kluswirtin 99 


an Gerichtöftelle gedrungen. Ich mußte dad Geld vor 
Tag haben, und fo fauer ed mir anfam, ich wußte feine 
Ausflucht, ald den widerwärtigen Überbringer nad} meinem 
Haufe zu beftellen. Es fonnte Nacht darüber werden, und: 
‚zur Nacht alfo auf der Klug!‘ rief jener auch mit einer 
hämifchen Vertraulichkeit, indem er mir zum Abfchieb die 
Hand drücdte, juft in dem Augenblid, ald ich, halb ſinnlos 
vor Schreden, gegen einen Begegner taumelte, den id} im 
Halbdunfel und unter dem Volksgewirr auf der Straße 
nicht hatte heranfommen fehen. Es war der Simon, ber 
Mann, mit dem ich die Treue gewechfelt, den ich von mir 
gewiefen, als ich nach einer Trennung von Sahr und Tag 
unerwartet mit ihm zufammentraf, und der mid; jest 
allein, im Dunkel, auf offener Straße, in verfänglicher 
Beftellung mit einem als meinen Freier in der Gegend 
Berufenen gewahr wurde! 

„Einen Augenbli fanden wir und gegenüber ftarr 
und ſtumm. Sch fah, wie das Blut ihm zu Kopf fchoß 
und er mit der geballten Fauft nadı dem Kerzen faßte, 
dann aber mit niedergefchlagenen Augen raſch zur Seite 
wich. ‚Ich ſchicke meinen Bruder nadı dem Geld!“ ftieß 
ih hervor und rannte wie von einem böfen Geifte. ge- 
peitfcht die Straße entlang. Sch hörte des Menfchen 
heimtückiſches Lachen, blidte um und fah, wie er, feinen 
Arm in den des Simon gelegt, den Seitenpfab nach der 
Mühle einfchlug und bald darauf im Abenddunfel vers 
fhwamm. Aud) andere haben diefen gemeinfchaftlichen 
Meg der beiden gefehen und bezeugt, ich felbft bezeugte 
ihn, Kerr Pfarrer, ja, auch ich — und er ift zu einem 
fchweren Verdachtsgrunde gegen den unglüdlichen Simon 
geworden. 


100 Judith, die Kluswirtin 


„Der Knecht, denn ich hielt ſchon damals nur einen, 
welchem ich die Bejorgung des Gepäds nach dem Bahn 
hof aufgetragen, war noch nicht gurüdgefehrt, und fo 
fhicte idy denn wirflid; meinen Bruder zur Empfang- 
nahme dee Geldes in die Mühle. Bei richtiger Beſinnung 
würde ic; den Knecht erwartet Haben, aber: ‚Daß ber 
Menſch nicht fommt!‘ dad war mein einziger Gedanke. 
Mit Todesangft harrte ic meined Bruders Rückkehr. 
Stunde auf Stunde harrte ich vergebens, ſchwach und 
immer fchwächer durch die Hoffnung getröftet, daß der 
Simon in feiner Rähe fei. ‚Er hat durch den Müller von 
feiner Abreife Kunde erhalten,‘ dachte ich, ‚er läßt den 
Freund nicht ziehen ohne Lebewohl, Er wartet in ber 
Mühle auf ihn, wenn er ihn gar nad der Klus zunädk- 
geleitete, — oder zum legten morgen früh an der Bahn, — 
ein Augenblid muß ſich dann finden, mo ich unbemerkt 
- an ihn herantreten und mein Herz gegen ihn erlöfen kann. 
Simon, will ich dann jagen, dein, wie ich gelobt, kann ich 
nicht mehr fein, aber auch feines .anbern, feines andern, 
Simon, nun und nimmer!‘ 

„Die Nacht verging, und feiner fam. Der erſte Dämmer 
graute gen Morgen, die Glocke ſchlug drei. Sch Burfte 
nicht länger zaudern, um vier follte der Dampfzug ab⸗ 
fahren. Sch ging allein, nein, ich flog, immer noch in 
ber Hoffnung, einem oder dem andern auf dem Wege zu 
begegnen. Es war Sonstag, die Straße wie gefegt. 
Dort aber auf dem Querwege van der Mühle her nach 
ber Bahn, da fchritten zwei, zwei dunkle Punkte im 
Morgennebel — aber zwei, nicht drei.“ 

Des Pfarrers Blicke hingen in Iebhaftefler Spannung 
an Judiths Lippen. Sie ftodte, aber nur eine Sekunde 


Fudith, die Kinswirtin 14 


lang. „Run zum lebten”, fagte fie mit zitternder Haft. 
„Und dann far immer ftill, fill zwifchen uns, Herr Pfarrer, 
auc, über das. Hier drinnen wühlt's, — aber draußen 
Ruhe! - Da, wo der Weg von der Mühle mit dem von 
der Stadtbrüde zufammentrifft, da war’d. Zur Rechten 
ber Balmdamm, links das Weidengeftrüpp im ausge⸗ 
ſeochenen Sumpf. Dad erfte Glockenläuten drängt von 
dem Bahnhof draben; wie eine Rafende fchnelle, feuche 
id durch die dunkle Torfahrt unter dem Wal, und jen- 
ſeits am Rundgang ftarre ich, als hätte fich die Hölle vor 
mtr aufgetan. Kaum zwanzig Schritte von mir, grell bes 
ſchienen von der auffteigenden Sonne, da liegt der Müller 
in feinem Blut, verrenft im Krampf, Schaum vor den 
Lippen, die Fünfte geballt, bläulichweiß — eine Xeiche! 
Einen Augenblick fehe ich mur ihn, im nächften regt's fich 
in den Weiden, eine Geftalt fchwanft herauf, fahl wie der 
Tote feldft, an den fein Fuß fich ſtößt; feuchte Nebel» 
tropfen, dürre Halme in dem ftruppigen Baar, Schram⸗ 
men and Beulen, geronnened Blut an Geficht und Hand, 
die Kleider zerfeßt, die Glieder fchlotternd, Das Auge ftarr, 
ald wäre ed von Glas. Er ftolpert, taumelt zu dem 
Toten nteder, ftarrt mit blödfinnigen Blicken in fein Ge⸗ 
ficht, zieht das Meffer aus feiner Bruft und hält es dicht 
vor die eignen Augen wie im Wahn. Und da ftehe ich, 
vermag nicht rückwärts und nicht vorwärts, ich höre die 
Schritte der Patrouille, die vom Tore her —.“ 

„Nicht weiter, nicht weiter, unglücliches Kind!” rief 
der Pfarrer, helle Angſttropfen im Auge und auf der 
Stirn. „Ich habe die Akten gelefen, ich fenne den Reſt!“ 
- „Sa, eines, noch eines,” verfegte Judith mit fchrillem 
Ton, „das Lebte — mein Zeugnis vor der Wache und 


4102 Judith, die Kluswirtin 


fpäter vor Gericht!” — „Sch kenne auch dieſes, meine 
Tochter. Ein einfaches ‚Sa auf die an Euch gerichteten 
Fragen, feine Silbe darüber, ‚der Wahrheit gemäß, wie 
Eure leiblichen Augen fie gefchaut‘, fo fagtet Ihr felbft 
vor einer Stunde faum.” — „Haͤtte id) lügen dürfen, Herr 
Pfarrer?” flüfterte Sudith mit angftvol gefpanntem Blick, 
als Taufche fie ihrer Abfolution. „Eine Wendung erfinden, 
die den Verdacht von dem Unglüdlichen abgelenkt?“ - 
„Nein“, antwortete der Pfarrer entfchieden. - „Oder leugs 
nen, daß ich fah, was ic, gefehn?” — „Leugnen bedeutet 
faum Geringeres denn lügen, liebe Tochter.” — „Aber 
fchweigen! Mein Verhältnis zu dem Simon befennen und 
mein Zeugnis verweigern?” 

Der Pfarrer blieb eine beflimmte Antwort auf diefe 
Frage fchuldig. — „Die Patrouille,” fagte er nach einigem 
Sinnen beruhigend, „die Patrouille hatte Euch kaum hun⸗ 
dert Schritte durch die Torfahrt vor fich her eilen fehen. 
Ihr offenbartet nicht mehr, als fie felber wenige Sekunden 
fpäter entdedte, entdect haben würde auch ohne Eure Da⸗ 
zwifchenfunft. Euer Zeugnis war ohne Wert für die Ans 
klage.“ — „Nicht um der Anflage willen, Herr Pfarrer, 
um feinetwillen, defien Herz mein Zeugnis gleich einem 
Todesſtreich treffen mußte." — Des Pfarrers Augen fenkten 
fi). Nach einer Paufe feßte er der Frage eine Gegenfrage 
gegenüber. — „Slaubtet Ihr an feine Miffetat in jenem 
Augenblid?" - „Ja“, fagte das Mädchen gepreßt. - „Und 
feitdem, und heute?” 

Ihr Kopf ſank tief auf die Bruft herab; der geiftliche 
Freund fühlte im eignen Herzen den Doppelföpfigen Wurm, 
der den Frieden des ihrigen zernagte. - „Glauben, das 
heißt: einer unerweislichen Sache in feinem Herzensgrunde 





Judith, die Kinswirtin 103 


gewiß fein”, fagte er, indem er ihre Hand ergriff. „Meine 
Tochter, bift du noch heute feiner Miffetat gewiß?" - 
„Nein, antwortete Sudith tonlos, wiederholte darauf 
aber laut und heftig: „Nein, nein, nein!” - Und: „Nein, 
nein, nein, aus dem auch meined Herzens!” rief ber 
Pfarrer; „nein, nein, nein! Aller Vernunft, dem Augens 
fchein, ja feinem eignen Zugeftändnis zum Trog! Kein 
ftärferes Licht ald das einen guten Glauben, meine 
Tochter! Flehen wir miteinander zu dem Richter aller 
Seelen, daß diefed Licht eine Leuchte werde, die eine bunfle 
Kerkernacht erhellt. Zaudern wir nicht, raften wir nicht, 
forfchen wir, werben wir, fampfen wir für unfern Glauben 
an ein Menfchenherz; ift er die Wahrheit, wird Gottes 
Fingerzeig und zum Siege verhelfen. Und nun vorwärts, 
liebe Tochter, es ift fpät geworden, und ein böfes Wetter 
droht. Ich gehe in Euer Haus, meinen Sylv zu tröften 
und der erlöften alten Frau den letzten Erdenſchmuck in 
die Hand zu legen.” 

Er deutete bei diefen Worten auf den Strauß, ben er 
im Gehen gepflücdt, und jchloß ihr Gefprädh, ein Findlich 
feliges Lächeln auf den Lippen. — „Atmet diefen Duft, 
meine Tochter! Süß und Fräftig wie feiner, diefer Hauch 
der Heinen weißen Glocken. Mir klingt's wie Auferweckung, 
faug ich ihn ein. Auferwedung der toten Herzen, Aufs 
erwecfung auch der lebenden! Voran, voran, und Gott 
mit dir, mein Kind!” 


Ein Blid 
Der Pfarrherr hatte fich von feiner Begleiterin nahe 
einer Lichtung getrennt, aus welcher fie in früheren Sahren 
das Waldhaus oftmals mit freudigem Herzen hatte her 


404 Fudich, die Kiuswirtin 


vorlugen fehen. Heute entdedte fie ed nicht früher, bis 
fie dicht vor feinem Eingange ftand. Dunkle Edeltannen 
und frifchgrünes Strauchgefchlinge bildeten eine Laube, 
unter welcher die Hütte ihren Verfall verbarg; die Wall⸗ 
hecken waren mannshoch in die Höhe gefchoflen, Die Stege 
überwuchert, Hof und Gärtchen zur Wildnis ausgeartet, 
zwifchen deren ranfendem Geftrüpp eine einzelne Blüte, 
eine Genziana oder Iris, an die Zeiten erinnerte, wo der 
Simon fie für die Liebſte feines Herzens gepflegt. Die 
Bienen waren längft ihren Stöden entflogen, ihr Haus 
lag in Trümmern, nur der Brunnen rann noch unver: 
fümmert wie damals, und feine abfpringenden Tropfen 
fabten die faftigen Krefien, die fidy an feinem Rande ein- 
gebürgert, feitden fein Menſchenweſen mehr feiner Ers 
quickung bedurfte. 

Sudith blickte eine ange Weile durch das morfche Pfahl- 
werf der Heckenpforte. Seit fie ihr Herz vor einem andern 
entlaftet, feit fie jenes laute „Nein“ gefprochen und ver- 
nommen, empfand fie eine Leichtigfeit, ein friedliches Raſt⸗ 
verlangen, das fie feit langen, langen Jahren entbehrt. 
Ihr grante nicht mehr vor dem gemiedenen Haufe; Er- 
innerung und Hoffnung lodten fie hinein. Sie zog ben 
Riegel von dem Gitter und fegte den Fuß in das Fleine 
üppige Gehege. Seit fie ein Kind war, hatte fie e& nicht 
mehr betreten, und fie dünkte fich wieder ein Kind, fo 
neugierig verlangend fpähte fie umher. Das Haus war 
verfchloffen, das Fenfter undurchſichtig verftaubt, aber fie 
vermochte fich nicht alfobald loszureißen; dorthin trieb es 
fie unter die Weimutöfiefer am Wegzaun, Simons ftolzen 
Lieblingsbaum ald Knabe fchon. An diefer Stelle hatte 
fie ihn getroffen an dem Tage, ald der Bater zum erften- 


Judith, die Kluswirtin 405 


mal im Rauſch die Hand gegen die Mutter erhoben und 
das Mädchen mit feinem Schred und Schmerz zu dem 
jungen Freunde geflüchtet war. Er tränfte die Nabdels 
ftämmchen, welche der alte Waldheger auf den Wallrand 
gefät, und fagte — fie hörte ed noch, denn ed war wohl 
das letztemal, daß er den Findlichen Troftgedanfen aus⸗ 
gefprochen: „Wenn fie Bäume find, heiraten wir ung, und 
alles ift gut.” Und fie hatte ihre Tränen getrocnet, ihm 
das Wafler zum Begießen zugetragen, fi) endlich von 
ihm nad) dem Haufe zurüudführen laflen, dag fie in troßiger 
Empörung je wieder zu betreten verfchmoren. Jetzt ftans 
den die Stämme breit und dicht gleich einer Wand, und 
der, welcher fie gepflegt -? 

Noch regnete es nicht, ein glühender Gürtel fchien den 
Niederfchlag zu Dämmen; aber die fchieferfchwarzen Wolfen 
ſenkten fich tief zur Erde, über eine Weile mußten fie den 
Gürtel durchbrechen. Die wetterfundige Wirtin überließ 
ſich achtlo8 der Ruhe eines laftfreien Augenblicks. Sie 
feste fidy auf den Walrand unter die niederhängenden 
Zweige der Kiefer; Geißblatt und Flieder dufteten be- 
täubend in der atemlofen Schwüle; halb im Sinnen, halb 
in Ermattung fchloffen fi) die Augen. Sie fühlte jenes 
eleftrifche Zucen der Nerven, das nad) der Erregung die 
Schlummerruhe verfündet. „Nein, nein, nein!” flüfterte 
fie halb fchon im Traum. 

Aber nody den Laut auf den Tippen ſchreckt fie zufammen; 
fie hört einen fchleichenden Schritt auf dem Stege jenfeit 
des Zaunes, hört ein Streifen und Raufchen im Gefträuch, 
und das Auge nach der Richtung gewendet, fühlt fie fich 
wie gebannt durdy einen ftarren, gläfernen Blick, der durch 
die Öffnung zweier Afte in das Gehege dringt. Shre 


106 Judith, die Kluswirtin 


haſtige Bewegung ſcheuchte den Späher. Sie ſprang auf, 
eilte nad) der Gittertür und fchaute umher. Nein, ed war 
nicht eine Täufchung ded Traums, dort floh er,.ald werde 
er verfolgt auf dem Wege, der vom Waldhaufe nach ber 
Landftraße hinüberführte. Sie hatte fein Geficht nicht ges 
fehen, den glafigen Strahl gleich einem Schlangenblid 
mehr empfunden als gefchaut, fie fah auch jeßt nur den 
Rüden ded Mannes, wie er dem Karren entgegenrannte, 
der, etwa fünfzig Schritte entfernt, an einem Baum ans 
gebunden hielt, wie er fich hinauffchwang, mit Ungeftüm 
den armfeligen Klepper antrieb und, ohne ſich umzubliden, 
mit dem Gefährt zwifchen den Hecken verſchwand. Eine 
verfommene, höderige Geftalt, dad Bein fchleppend und 
fremdartig augftafftert; im breitfrempigen federgefchmüds 
ten Hut, langen, fteifen, rotgefütterten Mantel, die Zipfel 
des Haldtuched unter dem breiten weißen Halskragen in 
der rafchen Bewegung flügelartig flatternd. Ein Gaufler 
ohne Zweifel, der im planenverdeckten Wägelchen feinen 
Kram zu Marft fuhr. Aber was bedeutete Diefer ftiere, 
lugende Blid in das von feinem Wege abliegende fremde 
Gehege, was diefe angftoolle Flucht? Diefer Blick, diefer 
Blick! — Das Mädchen fühlte einen Schaubder bis in das 
Marf, der flüchtige Friedenstraum war verfcheucht. 

In mächtiger Aufregung fchritt fie den Waldpfad ent- 
lang. Das Sterbegeficht ihrer Mutter, das ihrer eignen 
fchlaflofen Nächte und — die Geftalt mit dem verglaften 
Blick, fie ſchwammen ineinander zu einem verfolgenden 
Gefpenft. Hatte fie ed mit jenem „Nein“ heraufbefchworen? 
Lauerte ein Frevel hinter jenem Nein? Ein Frevel gegen 
die Natur? — Die Luft war erftidend, aber eisfalte Tropfen 
perlten auf ihrer Stirn. 


Judith, die Kiuswirtin 407 


Und jegt fteht fie an der Stelle, die fie kaum vor einer 
Stunde einem Fremden mit Worten vorgemalt: das dunfle 
Tor, der Damm, der Weidenfumpf und das Schrednis 
lebt auf vor ihren Augen, grell, wie feine Worte es vors 
malen tonnten. Sie fieht den Sinnlofen, Taumelnden: 
und fie wedt ihn nicht; fie hört die nahenden Tritte, und 
fie warnt ihn nicht, fcheucht ihn nicht. Hinter ihr die 
Mannfchaft; und fie ftürzt ihr nicht entgegen, fchreit nicht: 
„Baltet ein! Diefer Mann ift meiner Treue verlobt, und 
feine Hand ift rein!" Starr vor Entfegen gleich ihr felber 
ftehen die Bewaffneten, feine eignen Kameraden, die der 
Zufall ald Blutzeugen herbeigeführt, an ihrer Spiße der 
Hauptmann, dem er bis vor Furzem gehorcht, — der Uns 
glückliche achtet ihrer nicht. Der erfte, einzige Blick des 
Erkennens ift auf Sudith, auf fie allein. Er fohleudert 
das Meffer von fich, fchwanft einen Schritt ihr entgegen, — 
ift umringt, gefangen. Keine Regung der Abwehr, keine 
Antwort auf die Fragen des Führers: er flarrt nur auf 
fie in traumhaften Nebel. Und nun das Berhör der 
Zeugin und das „Sa“, das ſich unmiderftehlich zwifchen 
ihren Lippen hervordrängt. Hundertfach deucht ihr der 
Widerhall diefes Ja in dem dunkeln Gewölbe. Daß es 
nicht zufammenftürzt unter dem Schall diefes mörderifchen 
Ga! Sa und Sa, und wieder Sa! Ja, fie fannte diefen 
Mann. Sa, fie hatte ihn fpat am Abend allein mit dem 
Erfchlagenen nad, deſſen Haufe gehen fehen; ja, fie hat 
ihn vor wenigen Minuten unter allen Anzeichen der 
Schuld in der Nähe ded Opfers angetroffen! Diefes Sa 
rüttelt den Regungslofen aus feiner Erftarrung; er preßt 
die Hände vor das Geficht und fteht verfunfen, finnt, läßt 
die Arme finfen und blickt wie erwacht. „Trunken, trunken!“ 


108 Judith, die Kluswirtin 


murmelt er, tritt auf fie zu und fluͤſtert: „Trunken!“ — 
Sie weicht zurüd vor dem Mörderatem. „Judith, Judith!“ 
ruft er fchaudernd, verzweifelnd, und kann ſich nicht faffen. 
Noch einmal forfcht der Hauptmann in mildem Zweifel. 
Er fchweigt; der andere drängt, und er antwortet: „sch 
war im Raufh! Sch war im Rauſch!“ - Kein Wert 
darüber. 

Sp gehen fie nad) der Stadt; er der Berbredyer, fie Die 
Zeugin, vor ihnen, hinter ihnen die Wade. Bor dem 
Richter die nämlichen Fragen und das nämlidye „Sa“, 
das nämliche „Ich war im Raufch”. Keine Rechtfertigung, 
feine Erörterung, Feine Verdaͤchtigung eines andern, nicht 
ein Name wirb herbeigezogen. Ohne Troß, zerfchlagen, 
haltungslos bleibt er bei dem einen: „Ich war im Rauſch!“ 
— Und noch einmal fieht fie ihn wieder, dad letztemal. 
Die Halle gedrängt, Kopf bei Kopf: hier der Antläger, 
hier der Verteidiger, die Gefchworenen, die Richter und 
die Zeugen, obenan Sudith, die Kluswirtin, die erfte, Die 
wichtigfte. Ihr gegenüber der Angeflagte totenbleich, aber 
nicht mehr zerfchlagen, haltungslos, nein, hoch aufgerichtet 
und gefaßt zu einem männlichen Entichluß. Die näm⸗ 
lichen Fragen, die nämliche Antwort; die Nede des Vers 
teidigerd warm aus dem Kerzen, warm zu dem Kerzen; 
hat der Angeflagte ein eigned Wort hinzuzufügen? „Nein!“ 
fpricht er aufrecht mit fefter, klangvoller Stimme. „Rein, 
nichts weiteres. Sch war im Raufch, ich war von Sinnen. 
Ich Fann die Tat getan haben and will fie getan haben, 
ja, ich will!“ 

So nadt und Mar hatte Sudith dDiefe Szenen nicht wieder 
nachgelebt, weder im Wachen noch im Traum, wie jeßt 
im Fluge ded Gedankens, ald fie, ale Sinne aufgerüttelt, 


Judith, die Kluswirtin 109 


mit ungezügelten Schritten dem Schauplaße von damals 
verüberkreifte. Hin durch das dunfle Tor, vorbei dem 
Gericht und dem hohen, fdyweigenden Gefangenenhaufe, 
hinter deffen Mauern der Unglüdliche zehn Sahre lang 
gebüßt. Grabesftill ift es hier, fein Laut dringt hinüber 
son dem wimmelnden Markt. Sie hört nichts ale das 
hämmernde „Nein“, das in ihr aufgewacht in jener Mi⸗ 
nute, alö fie Simon Lauters letztes, unwiderrufliched Wert 
versommen, — um feit jener Minute nimmer in ihrem 
GBexzen zu raften. 

Nur eine Straße weiter, und fie ftaud im Getriebe des 
Tages, und von den beiden in ihr mächtigen Weſen res 
gierte wieder jened, dem fie vor jedem fremden Auge Die 
Dherherrfchaft eingeräumt. Sie faßte fich, zügelte ihre 
Schritte und ewfüllse in befonnener Folge den Zwed ihres 
Kädsifchen Wege. Der Sarg für die Tote wurde beftellt, 
Trauerzeug eingehandelt, bei dem Lehrer Sylvians vers 
zögerte Rückkehr bis nadı dem Begräbniffe entichuldigt. 
Sie hatte fi bis jet in flilleren Nebenftraßen halten 
duͤrfen, nun war das Gedränge nicht Länger zu vermeiden, 
dem bad Haus des Predigerd lag am Domhof, dem 
Sammelplatze ded Marktvergnügens. 

AB fie ſich durch dad Budengewühl längs der noch 
anbelaubten Lindenreihen wand, ſah fie ein fahlgelbes 
Feuer hinter der Wolkenſchicht zucken, die fchieferfeft, einer 
Säule ähulich, tief, wie mit Händen gu greifen, über dem 
Platze hiug; trotz des Menſchenſchwirrens hörte fie ein 
grollendes Rollen, ſpürte einen Schwefelbrodem in der 
atemloſen Luft. Ein Ausbruch drohte mit lange vers 
haltener Bucht. Doch hoffte fie vor demſelben noch das 
Beichäft bei dem Prediger zu erledigen und in dem Kaben 


110 Judith, die Kluswirtin 


ihrer Händlerin einen oder den andern ihrer Dienſtleute 
anzutreffen, um, nachdem das Wetter ſich gelegt, den 
Heimweg in ihrer Begleitung anzutreten. Denn die 
Dämmerung war im Hereinbrechen, und fie mußte darauf 
gefaßt fein, ihren Hof nicht vor der Nacht zu erreichen. 

Keiner der lärmenden Marktgäfte fchien indeflen ihre 
Borausficht zu teilen; nur die fürforglichen Krämer legten 
ihre Waren ein und fchloffen die Buden. Gekauft wurde 
ohnehin wenig mehr, feitdem Hofwirte und Wirtinnen 
den morgendlichen Wochenmarkt verlaffen. Der Nach⸗ 
mittag gehörte der Tugend, galt dem Spiel, dem Trunf 
und Tanz, dem legten Suchhei. Das fchiebt und ftoßt fich 
an den Lebtuchenbänten, den füßen Taufchplägen länd⸗ 
licher Galanterie! Der Burfche feilfcht für feine Dirne 
um einen braunen Schag, die Dirne für den Burfchen 
um ein weißes Herz; und nun ein Buchftabieren und Ers 
läutern der aufgeflebten Reime, unverblümte Nedereien, 
lautſchallendes Gelächter, und Arm in Arm gaflenbreit 
voran unter Luft und Schabernad, bis die Sonne finft 
und der Tanz in den Schenfen im Schmange geht. Im⸗ 
mer Dichter wird der Knäuel. „Stüd für Stüd einen 
Silbergroſchen!“ fchnarrt der billige Mann. „Stüd für 
Stück einen Mariengrofchen!” überbietet ihn fein Nach⸗ 
bar, und fo weiter die Reihe entlang. In den Spiels 
buden um noch Fleinere Münzen der locdendfte Gewinn. 
Wie gierig die Blicke und glühend die Baden unter Pudel⸗ 
und Kapfelmüge! Die Würfel rollen und — wie tobend 
Enttäufchung und Subel! Ein Pfeifentopf, ein rofendurdh- 
wirfter Hofenträger der Magd; ein fpruchgefchmücktes 
Strumpfband dem Knecht; Schachern, Taufchen, Höhnen, 
Schmunzeln und vorwärts zu neuem Glüddverfuch! Die 


Judith, die Kluswirtin 111 


Maſſe lockert ſich. Würzige Düfte, kreiſchende Anlockungen 
verfünden ein weibliches Bereich. Hinter mächtigen 
Tonnen wird der unvermeidliche Hering für den Heim⸗ 
weg in Stroh gewickelt; faftige Würftchen brodeln über 
dem Kohlenbeden, Solet und Büdling find Lederbiflen 
auch bei achtundzwanzig Grad über Null und in Er- 
wartung einer minniglichen Ballnadıtz; zartere Gaumen 
Ioden Magdeburger Schmalzbroden und holländifche Wafs 
feln heiß aus der Pfanne. 

Ein Schritt weiter, und das fchnurrende Rab des 
Scherenfchleifers bildet den Übergang zu ben öffentlichen 
Schnellkünſtlern des Gemeinnugend: der Kittenjakob hier, 
der den zerbrochenen Krug im Handumdrehn heil lötet, 
der Schmierjofel dort, der den fettigften Rockkragen wieder 
blank und neu bürftet. — Der Menfchenftrom ſtockt: die 
Wunderſchau der Raritäten beginnt. Abgerichtete weiße 
Mäufe und fabelhafte Siebenfchläfer; plaudernde Vögel, 
Bögel in allen Farben ded Regenbogend und an Figur 
doch nicht unterfchieden von heimischen Elftern und Spagen. 
ehe ihrer Zierde, wenn der ſchwarze Kegel da oben ſich 
entladet! Auch Freund Peg zeigt fein Geſchick, Kamel 
und Affe fehlen nicht; an tanzende Hunde fchließen fich 
menfchliche Zauberfünftler, Bauchredner und Tafchen- 
fpieler, die im Lampenqualm der Schenfe am Abend ihre 
Stücke mit eindringlicherer Wirkung wiederholen werben. 

Sie fämtlid; finden indes nur ein wandelndes Publikum, 
das im Vorüberftreifen einen Augenblid haltmacht und, 
wenn der Tribut der Berwunderung gefammelt wird, mit 
lachender Eile vorwärts drängt.: Um fo brennender die 
Anziehung des nädıftfolgenden Raums; in Tierbuden und 
Panoramen löfen die Schulflaflen fi) ab, drängen hinaus 


412 Judith, bie Kluswirtin 


und folgen jubelnd den Lockungen der Trompeten und 
Pauken zu einer Rundfahrt auf dem Karuſſell. Todes⸗ 
mutig, Rippenſtoß um Rippenſtoß ſtrebt und ringt die 
kleine Welt mit der bewaffneten Landesmacht, mit den 
Fäuften, die Zugſtier und Dreſchflegel regieren. Hoc) zu 
Roß, Die Beine ausgefpreizt, triumphiert die Amazone in 
der Kapfelmüte; ben Glimmftengel gwifchen den Lippen, 
wiegt fich der Mudfetier im bequemen Phaeton, an feiner 
Seite die ehrwürdige Kindermuhme, ben flachslockigen 
Pflegling, das Püppchen im Arm, auf ihrem Schoß; fein 
leuchtenderes Augenpaar auf dem Marft ald das des bar⸗ 
füßigen Buben, der, an den Schweif ded Schimmeld ge- 
klammert, fonder Schoß und Gebühr fid, auf die Rund» 
bahn geſchwungen. Schmetternder Tufch! Die Reife be⸗ 
ginnt! 

Hart an feiner Seite, längs der Norbfeite bes alten 
Domes, karren ernftere Marktgenüffe. Feierlich, grauen 
haft, Mark und Bein erfchütternd ragen die Schauerbilder 
der blutigen Mordtaten alter und neuer Zeit. Das Ge: 
dränge wird lebensgefährlich, Kopf bei Kopf laufcht die 
Menfchenmauer, ftarr und ſtumm folgen ihre unvers 
wendeten Blicke dem Stabe des Erflärerd. Kaifer und 
Könige, Priefter und Weltbürger, ftolze Ritter und zarte 
Frauen, aber auch arme Teufel, geringes Volk wie Die 
Hörer und Schauer, bluten da oben aus mundenzerfleifchtem 
Leib; Gift und Doldy werben nidyt gejpart; im Hinter⸗ 
grunde lauern Schafott und Galgen, Folter, Henker und 
Rad, — lauert vor allem auch tie alte heimifdye „Ryd“ 
bes entlaruten Mifletätere. Mit kläglichem Tonfall, ges 
reimt und ungereimt wird der alte und neue Pitaval, 
werden die Schauerlügen der Feme in die Herzen ges 


Judith, die Ktuswirtin 113 


träufelt; zwifchen Bild und Bild, unter obligater Orgel, 
begleitung, krächzt eine weibliche Stimme die abfchließende 
Moral, Seufzer Hagen, Tränen fließen, ein Schrei ent- 
ringt ſich der geängfteten Bruft, dad Haar fträubt ſich 
unter Kapfels und Pudelmüge; aber ohne Mordtaten fein 
Marftvergnügen, nach dem Schauerfigel der Mordtaten 
erit der rechte Subel beim Schenfentanz! 

An al diefer Augens und Ohrenfchau ging die ernfts 
hafte Kluswirtin achtlod vorüber, auch ein Schauerbild 
im Herzen, aber eines, dad noch feinen Erflärer gefunden. 
So haftig das Getümmel es geftattete, fteuerte fie dem 
Predigerhaufe zu, das an der Schmalfeite ded Platzes, 
dem hohen Kirchenchore gegenüber, gelegen war, eine der 
fäfularifierten Stiftöfurien, im Angefichte des Fatholifchen 
Gotteshauſes dem proteftantifchen Prediger ald Dienfts 
wohnung eingeräumt und mit ihren gemeißelten Wappens 
fchildern inmitten der Steinbrüftung der Auffahrt an 
glänzendere Tage erinnernd, als fie die Nachfahren Doftor 
Luthers zu genießen pflegen. 

Die Reihe der Schaubilder hatte mit den Rüdlehnen 
der Kirchenpfeiler aufgehört; die ſchmale, ftille Gaſſe, die 
bis zum abfchliegenden Kreuzgang den Dom zur Hälfte 
umfreift, mußte freigehalten werben. Hier aber, dem 
Iutherfchen Kaufe gegenüber, fchien ſich ein Nachzügler 
eingerichtet zu haben, defien fchmetternde Einladung einen 
immer dichteren und dichteren Menfchenfnäuel an ſich 309. 
Noch hatte die Darftellung nicht begonnen, der vorläufigen 
Anfündigung folgte das Ausbieten der gedrudten Text⸗ 
eremplare, anlodend durch die Hälfte des üblichen Preifes. 
Dennoch, aber war dad Publitum nicht geneigt, die Katze 
im Sad zu erftehen; feine Hand regte fid) nad) den vor» 
® 


114 Judith, die Kluswirtin 


gehaltenen Bogen, bis man ſich durch den muͤndlichen 
Vortrag von ſeinem Grauen⸗ oder Traͤnenwerte überzeugt, 
während dahingegen aller Augen mit einem Ausdruck ber 
Überrafchung oder Borahnung nach dem Bilde gerichtet 
waren, das auf breifüßigem Geftell vor ihnen aufgerichtet 
ftand. Man ftaunte, deutete, munfelte, winfte einander 
herbei, fchüttelte bie Köpfe und drängte immer näher und 
näher. 

Sudith merkte nichts von diefem auffälligen Gebaren; 
das Bild wie feinen Erflärer decfte die lebendige Mauer, 
durch die fie fi) wand, und das, was lichtfcheu und Licht: 
verlangend zugleidy in ihrem Innern wühlte, ftumpfte fie 
ab für jede Erregung der Phantafie. Bon einer Menfchen- 
woge erfaßt, wurde fie Schritt für Schritt die Rampe 
hinangetrieben, deren Erhöhung den günftigften Ausſichts⸗ 
punkt gewährte, und hatte fchon die Hausklingel gezogen, 
als die Stimme ded Ausrufers ihr Ohr erreichte: „Freund 
für Freund! Eine ſtumme Heldentat, fo auf Roter Erde 
fich zugetragen. Wer Ohren hat zu hören, der fperre fie 
auf, wer ein Herz bat zu fühlen, ber öffne fein Herz! 
Hort, horcht, Schaut, kauft! Freund für Freund auf 
Roter Erde!” 

Die Stimme war die eined Schwachen, der ſich ans 
firengt ſtark zu fein, der Afzent ein fremdländifcher, beide, 
Klang wie Laut, der laufchenden Kluswirtin unbefannt. 
Dennoch ftockte ihr Atem. Der Titel, die hochgeſchraubte 
Anlodung, ein fiftulierendes Heben des Tons — fie fühlte 
unwillkürlich wieder den gläfernen Strahl in der Tannen⸗ 
wand und fämpfte mit vollen Kräften um einen freien 
Blick auf das Bild und feinen Erflärer. Aber fie fämpfte 
vergeblich; die Tür wurde durch einen Drud von oben 


Judith, die Kluswirtin 115 


geöffnet, und ſie betrat die Predigerwohnung in ſo un⸗ 
ruhiger Beklommenheit, daß ſie ſich eine lange Weile auf 
den Zweck ihrer Vorſprache beſinnen mußte. — Sie fand 
ihren Seelſorger im Familienkreiſe geiſtlicher Amtsbrüder, 
welche den zerſtreuten proteſtantiſchen Gemeinden im noͤrd⸗ 
lichen Umkreiſe vorſtanden und ſamt Frauen und Kindern 
ſtundenweit zu Marktkauf und Marktſchau gekommen 
waren. Er hatte daher wenig Muße zu Teilnahmsbezeu⸗ 
gungen, und die Angelegenheit war mit kurzen Worten 
beendigt. Der heißen Witterung halber ſchon am über⸗ 
nächften Morgen ſollte die Beerdigung ſtattfinden, ſelbſt⸗ 
verftändlich ohne ein Sota von den Ehren und Rechten 
eines im gereinigten Glauben verfchiedenen Gemeinde- 
gliedes aufzugeben oder die Bereitwilligung des Fatholi- 
fchen Pfarrers höher ale eine zuftändige Gebühr anzu⸗ 
fchlagen. 

Zu einer andern Stunde würde die finnvolle Kluswirtin 
das Haus nicht verlaffen haben ohne betrachtenden Ver⸗ 
gleich diefer gefchäftlichen, nur im Protefte eifrigen Abs 
fertigung eined Zugehörigen mit der milden Eingänglich— 
feit des Fremden, dem fich in der erften Stunde ihre Seele 
erfchloffen; möglidy auch, daß der Einfluß oder der Mangel 
an Einfluß jener fi auf das Amtliche beichränfenden 
Kürze auf ihr eigned Gemütsleben ihr nicht entgangen 
wäre. Seute dachte fie nichts als: „Hinunter, hinaus, 
Aug in Auge dem Bildermann des ‚Freund für Freund‘.” 
Während ihres Verhandelns hatte fie, heimlich nach der 
Straße hinunterlaufchend, einen einleitenden Sang ver- 
nommen, dem Wortlaute nach ihr unverftändlich, heifer 
frächzend, und ftatt der üblichen Orgel von einer Violine 
begleitet. Sie ftürmte die Treppe hinab und öffnete die 


116 Judith, die Kluswirtin 


Tür mit zitternder Hand; der Sang war verſtummt, und 
die Geigenbegleitung fchloß in dem Augenblick mit einer 
eigentümlich fchrillen Figur, die das Blut in ihren Adern 
ſtocken ließ. Sie hatte diefe mißtönige Melodie ſchon ge⸗ 
hört, oftmals, vor langer Zeit, dann nicht wieder; wie 
die Zauberformel einer fremden Sprache wachte fie auf 
in dem unmuftfalifchen Ohr und fpornte die Kräfte zu 
unwiderftehlicher Anftrengung. 

Ein Plag nahe der Brüftung war errungen, der Geigen⸗ 
fpieler aber von dem Gewühl unter der Rampe gededt. 
Ihr Blick ftreifte das Bild, das auf gleicher Höhe mit 
ihrem Stand, faum zehn Schritt von demfelben entfernt, 
troß de Wolkendunkels noch deutlich erfannt werden 
fonnte. Nicht auf Wachsleinwand, fondern in ftarfen 
Umriffen auf Pappe gemalt, nahm es einen umfäng- 
licheren Raum ein ald die Nachbarftüde, wie ed denn 
auch durch die grell aufgetragenen Farben fchon von weis 
tem in die Augen fprang. Nicht minder unterfchied ſich 
die Anordnung von der gewohnten, indem die Fläche, ftatt 
in viele kleine Felder mit Liliputifchen Figürchen zu zers 
fallen, der Breite nad) eine doppelte ineinandergreifende 
Handlung darftellte, in welcher die nämlichen drei Ges 
ftalten in halber Lebensgröße, und daher von fich eins 
prägender Wirkung, vorgeführt wurden. Über und unter 
diefem Hauptfelde boten in verjüngtem Maßftabe zwei 
fehr verfchiedenartige Landſchaftsbilder gleichfam Eingang 
und Abſchluß. Oben: ein flattliched Ziegelhaus in ficht- 
lihem Verfall, grüne Lauben und ein Schenfenzeichen vor 
der Tür, durch welche ein junger Stuger, Stod und 
Wanderfad in der Hand, das bunte Tafchentud, vor die 
Augen gepreßt, mit den Gebärden der Verzweiflung feinen 


Indith, die Kiuswirtin 417 


Ausgang nimmt. Unten: ein wildbraufendes Meer, ein 
frandendes Schiff, ald Staffage aber an unmirtlicher 
Felfenklippe der nämliche Stuger halbnadt, ein Skelett, 
und mit dem Unterteile bereit im Rachen einer grauen 
haften Beftie, die, halb Schlange, halb Tiger, aus den 
Wellen lugt und den händeringenden Burfchen im nädh- 
ften Augenblicke verfchludt haben wird. 

Der Haupteindruck indeffen, wie gefagt, wird durd) das 
große Mittelftüd hervorgebracht, auf welchem der ftußer- 
hafte Held in Gefellfchaft zweier andern in Handlung 
tritt. Der eine im gegürteten Faltenfittel und fchwarzen 
Bergmanndfchurz, groß, fchlanf, fchön, die buchſtaͤblich 
goldenen Locken gleich einer Cherubsglorie auf dem Haupte 
in die Höhe ftrebend; ber andere furz, did, rot wie ein 
Krebs, mit violetter Kartoffelnafe und hellgrauem Rock 
und Hut; alle drei fichtbarlich erhigt, und zwei von ihnen, 
der Held und der Graurod, in einem Ringfampfe finn- 
Iofer Wut. Die Szene ift wieder im Freien. Blutiges 
Morgenrot, eine fahle, glatte, gradlinige Erhöhung, auf 
welcher zwei fchwarze Streifen eine Bahnfchiene bezeichnen 
mögen. Zu ihren Füßen fpinatgrüned Geftrüpp. Der 
Gegenftand des Haders fcheint ein weiblicher Schatten> 
riß, welchen der Graue dem Helden zu entreißen fucht, 
während dieſer ihn dem mit dem Schurzleder entgegen 
firedt. Ein handfefter Stoß des Grauen bringt den armen, 
auf feinen Füßen nicht ficheren Cherub in Taumel. 
Gnade ihm Gott! Nollt er die Anhöhe hinab, bricht er 
den Hals; der Held aber wird ihn rächen; fchon ift fein 
Reiſedolch gezüdt nad) ded wütenden Graurocks Bruft. 

Auf der zweiten Hälfte des Bildes die nämliche Szene. 
Die Sonne fteht hell am Himmel; unten im Geftrüpp 


41418 Judith, die Kluswirtin 


liegt der Graue, mit Blut beſchmiert, den Dolch in der 
Bruſt, eine Leiche; neben ihm kniet der Cherub, die Hände 
gefaltet, von einer Söldlingsſchar umringt, die den lamm⸗ 
ſtillen Dulder in Ketten fchlägt. Am äußerſten Ende der 
Erhöhung ein Dampfzug, voran die glühende Mafchine, 
und der Held, gefträubten Haares, mit weitausgefpreizten 
Schritten und den Gebärden ded Ewigen Juden ihm ents 
gegenftürzend. 

Alles das, was viele Worte doch nur halb befchrieben, 
das Abfichtliche, Übertriebene, nur für die eine Beſchauerin 
Sharafteriftifche der Schilderei, das war in einem einzigen 
Blid, einem Augenauffchlag wie mit glühender Platte 
ihrer Faflung eingegraben. Im nächſten Moment lag 
das Geſtell umgeftürzt am Boden. Ein Wirbelmind hatte 
jach die regungslofe Kuftfchicht durchbrochen, ein krachen⸗ 
der Stoß die leichte Budenwelt gefchüttelt. Der Geigen⸗ 
fpieler, fein ISnftrument unter dem Arm, flürzte hervor, 
das Kunftwerf zu retten. Cine verfommene, höcferige 
Geftalt, hinfend, in flatterndem, rotgefüttertem Mantel, 
den Kragen von fteifem Papier breit darüber geflappt. 
Ein Windftoß führt den Federhut hoch in die Luft, der 
Kopf ift Fahl wie eine Hand, das Geficht Tederartig gelb, 
mit bläulicher, dünner Nafenfpite und einem ſchwarzen 
Ziegenbart bis auf die Bruft hinab; er hat nur ein leben⸗ 
diges Auge und das nicht weniger vorftehend als das 
zweite, das Fünftlich von Glas in die leere Höhle ges 
drängt ift. 

Wieder nur ein einziger Augenblic! — Ein gellender 
Schrei aus einem Weibermunde erftictte in einem donner⸗ 
frachenden Aufruhr der Natur, in taufendftimmigem Ge- 
kreiſch. Es ift ploͤtzlich Nacht geworden; der Wolkenkegel 


Judith, die Kluswirtin 119 


ſchießt zu Boden; die Domglocken rühren ſich wie von 
Dämonenhand geläutet, der Platz zu Füßen ſteht ver- 
wandelt in einen See, aus welchem das Wrad bes 
Bretterbaues emportaudht, feine Reinendächer gleich Segeln 
vom Sturme zerfeßt in die Lüfte wirbeln. - Im Nu war 
die Tür des Iutherifchen Haufes in Stüde getreten; Judith 
fah fidy inmitten eined dDrängenden, ringenden, ächzenden, 
fchreienden Getümmels. 


Licht 

Nach Art fo gewaltſamer Phänomene währte der jähe 
Sturz faum Minuten lang. Die Windsbraut fegte die 
Wolfen auseinander, und Blige zudten, Donnerfchläge 
grollten noch geraume Zeit gen Often, ale fchon der 
Sceibeftrahl der befreiten Sonne dad Kreuz ded Doms 
turmed wieder übergoldete. Aber welcher Sammer der 
Zerftörung unter der vor furzem noch fo vergnüglichen 
Melt! DO, unglüdfeliger Jubilatemarkt! Zuckerherzen und 
Wundergefchöpfe, Morbbilder, Würftchen und Waffeln, 
dahin treiben fie zwifchen den Roſſen und Kalefchen des 
Karuflells, zwifchen Brettern, Kiften und Ballen, um unter 
Ad, und Kradı in Schlamm und Sand fid) aufzulöfen. 
Petz und Konforten ſchwimmen brüllend mit fiummen 
Heringen und Büdlingen um die Wette. 

Und nicht nur diefe leichtgerüftete Eintagdwelt, - Fenfter, 
Dächer, Scyornfteine, ganze Gebäude felber knicken ins 
einander in Sturm und Strom; hügelhoch fperrten Schutt 
und Trümmer den abfallenden Gießbächen den Lauf; 
ftauend reißt die Flut ſich Bahn felber in die höher gelegenen 
Höfe und Käufer, preßt von den Kellern herauf, bebroht 
unterwühlend die oberen Gefchofle. Dom Stall bis zum 


120 Indith, die Kluswirtin 


Giebel angftvoller Hülferuf; erfäuft, erfchlagen fchwimmen 
die Haustiere zwifchen Balken und Geröll; offene Särge, 
Kinder in Wiegen treiben einher, fchreiende Mütter, 
Männer, bis unter die Arme im Wafler, arbeiten gegen 
die Wogen. Hier gilt ed die Hülfe Taufender für Tau⸗ 
fende. Auch denkt im erften Entjegen feiner der länd⸗ 
lichen Säfte daran, die Stätte der Verwüſtung zu ver⸗ 
laſſen und dem leichtlich nicht minder gefährdeten Heim⸗ 
wefen zuzueilen. 

Nur Sudith achtete nicht auf die allgemeine Not. Sn 
ihrer Seele rafte ein Wetterfturm, mächtiger als der der 
äußern Natur; gleichgültig hätte fie wohl einer Sünd⸗ 
flut und dem Weltenuntergange zugefchaut. Als aber die 
Menfchenfchicht, zwifchen welcher fie eingefeilt geftanden, 
fich Ioderte, da war fie die erfte draußen auf der Rampe 
und fpähte zwifchen den Ieblofen Trümmern nad) einer 
einzigen armen menfchlichen Figur. Das Geftell hatte ſich 
zwifchen den Fugen der Brüftung feftgeneftelt, das Schau⸗ 
bild war verweht, zerweicdht, zerriffen, Gott weiß, — der 
Geigenfpieler verfchwunden. Shn muß fie fuchen, finden. 
Auf feiner Zungenfpige ruhen Ehre und Freiheit eines 
Menfchen, ruht der Frieden ihres eignen kommenden 
Lebens, 

Entfchloffen fchritt fie vorwärts, als noch kaum einer 
fidy unter den ftrömenden Himmel gewagt; oftmals bis 
an die Knie im Waſſer, fprang fie von Stein zu Stein, 
wand ſich horchend und lugend durch Gaſſen und Winkel 
der Niederftadt, in weldyer die Schenfen des Volkes ge- 
legen find. Bald indefjen durfte fie diefe Richtung auf- 
‚geben; ein Bächelchen, zum Strome angejchwellt, hat 
Brüden und Stege fortgerifien, fein Marktflüchtling dag 


Fudith, die Kluswirtin 121 


“jenfeitige Ufer erreichen können. Sie ftieg die Oberftadt 
hinan, deren fteil abfallende Straßen der Guß abgefpült 
wie ein fauberes Gefchirr und an deren fefteren Gebäuden 
das Unwetter wenig Schaden getan. Fragend, forfchend, 
fiöbernd eilte fie auch hier von Haus zu Haus. Stunden 
vergingen, die Nacht war tief hereingebrochen, die halbe 
Mondfcheibe, von dunfeln Wolfen überflogen, gab nur 
ein ſchwaches Däammerlicht. Aber Sudith raftete nicht, 
fie verzagte nicht, fie fühlte nicht Naͤſſe noch Ermüdung. 
Sie mußte ihn finden; ihr innerfted Leben pulfierte in der 
einzigen Leidenfchaft: „Ihn finden!“ 

Straßauf, ftraßab gelangte fie endlich an bie Stelle 
zurüd, von weldyer fie ausgegangen, und lenkte, einer 
unwillfürlichen Eingebung folgend, in die Gafle, welche 
die Oft» und Süpfeite des Domes umfpannt und durch 
eine den Kreuzgang mit dem SKirchenfchiffe verbin> 
bende, halb verfallene Kapelle abgefchloffen wird. Nur 
Gärten und Hinterhöfe münden in diefen ftillen Winfel; 
auch bemerkte fie rings nicht ein Iebendes Wefen und war 
im Begriffe umzufehren, ald das Wiehern eines Pferdes 
fie ftugen madıte. Sie ging dem Schalle nad) und ftieß 
in der Tat auf ein Gefährt, dem ähnlich, das fie auf der 
Straße am Waldhaufe wahrgenommen. E8 mochte fchon 
vor dem Unwetter unter einem offnen, Keuertonnen und 
Leitern ald Obdach dienenden Vorbau der Kapelle angebuns 
den fein, denn ed hatte Feinerlei Befchädigung erlitten, 
und die Mähre fraß gelaflen aus dem vorgehängten Eimer. 

Der Mond drang in diefem Augenblide mit fcharfem 
Lichte durch die Wollen. Kein Zweifel, e8 war der Karren 
von diefem Nachmittag. Wo aber war der Fuhrmann, 
ber Geigenfpieler mit dem glafigen Blick? Mit zitternder 


1232 Judith, die Kluswirtin 


Sand hob fie die Seitenwand des Verdecks, und - fo mag 
ed dem Giftgräber zumut fein, wenn er auf bie vers 
borgene Ader ftößt, die anderen Arznei werben fol und 
ihm felber den Tod bringen kann, wie dem Mädchen, als 
es den Heinen, Fahlhäuptigen Dann am Boden liegend 
entdedte. Seine Augen waren gebrochen, die Zähne über; 
einander gepreßt, die Lippen weiß befchaumt, die Glieder 
verrenft. In der Rechten hielt er ein Fläfchchen, deſſen 
dunkler Snhalt noch am Barte herunterträufelte. War 
es Gift? War er tot? — Sie flieg in den Karren, und 
feine Mutter taftet mit angftvoller gefpannter Seele nadı 
Puld- und Herzſchlag ihres Lieblings, ald fie nach denen 
diefed elenden Krüppeld. „Gott ift gerecht! Er lebt!" 
flüfterte fie. Sie löfte den durchnäßten Anzug und hüllte 
den erftarrten Körper in trodene Kleider und Deden, die 
in einem Bündel im Winkel lagen. Es überrafchte fie 
nicht, daß während diefer Bemühung der Köder, eine: 
fünftfihe Wulft, der ſchwarze Ziegenbart, eine Maske, 
zu Boden rollten. Aber weldyes armfelige Geripp, nach⸗ 
dem die entftellende Hülle gefallen! Sie gab dem Kopf 
eine erhöhte Richtung, und nachdem fie noch eine Weile 
forgfam laufchend das matte, aber gleichmäßige Atmen 
eines Schlafenden vernommen, fchwang fie fich auf Die 
vordere Bank, ergriff die Zügel und Ienfte dem nach ihrem 
Dorfe führenden Tore zu. 

Unbeachtet wand ſich das Meine Gefährt radtief in 
Schlamm, Schutt und MWafferlachen, durch drangendes 
Bolkögewirr bid zum jenfeitigen Ufer. Der im Schwellen 
heftig raufchende Fluß hatte eine Wetterfcheide gebildet; 
drüben nirgends eine Spur gewaltfamer Zerftörung. 
Während bort jedoch der Bruch der Wolken fo raſch ges 


Judith, die Kluswirtin 123 


endet als er eingetreten, war er hier bereits in einen 
ſickernden Landregen übergegangen. Der Schlummernde 
lag geſchützt unter dem Verdeck, die Führerin aber emp⸗ 
fand ohne Schauer das Falte Geriefel über den von einem 
innerlichen Brande durdhglühten Leib. 

Die Straße war menfchenleer. Die Kluswirtin mochte 
die erfte fein, welche die Stadt verlaffen, und die Kunde 
von deren Heimſuchung hatte fich noch nicht verbreitet, 
um Meugierige oder Külfeleiftende herbeizuziehen. ‘Der 
Notruf der Sturmgloden aus ben jenfeitigen Dörfern 
verhallte im Raufchen von Regen und Wind, der Mond 
drang nur mit mattem Schimmer durch die dichten Wolfen» 
lagen. Auch in Judiths Seele war es fturmdurdhbraufte 
Nacht. Das Unbegreifliche, was diefe Stunden ihr vors 
geführt, ed bot feinen Halt, feinen Zufammenhang, Feine 
Löſung. Ein Klang, ein Blick, ſchwerlich ohne vorbereitetes 
Mahnen das Bild der Erinnerung erwedend und diefem 
Bilde in feinem Zuge ähnlich; eine abenteuerliche Schaus 
fzene, nur durd; den Einflang mit ihren eignen Grübeleien, 
durch ihr allein verftändliche Befonderheiten bedeutungs⸗ 
vol! Rätſel und Zweifel, nad) welcher Seite fie fann; 
Schmach und Qual, wenn ihre Ahnung Wahrheit wurde. 
Aber zwifchen dieſem verwirrenden Dunkel ein hellftrahlen- 
der Stern: der Stern ber Gerechtigkeit, der eine ewige 
Leitung befundet. 

Je mehr fie ſich ihrem Gehöfte näherte, zwang fie fich, 
ihre Gedanken auf das zunächft Erforderliche zu richten. 
Sie fonnte darauf rechnen, ihre Leute noch nicht heim> 
gekehrt zu finden, auch bedurfte fie der Einfamfeit — der 
fremde Saft mußte verborgen gehalten werden. Bor der 
Torfahrt ftieg fie ab und laufchte nach allen Seiten; im 


4124 Judith, die Kluswirtin 


Hofe wie auf der Straße alles ftill: der Fremde fchlief 
ohne Regung. Sie fpannte das Pferd aus und trieb es 
durch die Heckentür in den Kamp. Nody einen Blid 
unter die Leinenplane — feine Bewegung. Beruhigt ging 
fie voran. Hof und Haus ftanden unverriegelt, der 
fromme Sylv, — nein, nimmer hätte er einen Wirt ge- 
geben! Da lag er auf feinen Knieen, ben Rofenfranz in 
der Hand, eingefchlummert zu Füßen der toten alten Frau. 
„Wohl der Mutter, wehe dem Kinde!“ murmelte Sudith 
mit frampfhaft über der Bruft gefaltenen Händen, al? fie, 
leiſe herbeifchleichend, das friedliche Bild durch die offne 
Kammertür überfchaute. Sie wechſelte im Fluge die 
Kleider, zündete die Laterne an, nahm den Schlüffel zu 
der Giebelftube, die fie heut morgen zum erftenmal feit 
sehn Sahren geöffnet, und ging nad) dem Karren zurüd. 
Der Fremde war erwacht. Bon dem ZTorflügel gededt, 
beobachtete fie ihn eine Weile, wie er, aufgerichtet auf 
der vorderen Bank ftehend, mit dem Blicke eined Schlaf: 
wandlers um fich fchaute. „Die Klus!” fagte er mit 
verwundertem Ton; „die Klug!“ 

Judith trat vor, reichte ihm ſchweigend zum Herab⸗ 
fteigen die Hand und leuchtete ihm ebenfo ſchweigend über 
den Hof voran. Er folgte wie im Traum. Auf der 
Treppe ſtockte er mehr ald einmal, ftrich mit der Hand 
über die Stirn, fchien zu erwachen, fidy zu befinnen. Bor 
dem Eintritt in das Zimmer fchredte er zurüd, und nach⸗ 
dem er die Schwelle überfchritten, fchielte er fcheu in alle 
Winkel des Raums, über dad ungeordnete Gerät, zwifchen 
jedem Blicke aber zu der Wirtin hinüber, Die, noch immer 
ftumm, die Laterne auf den Tiſch fegte und feine feiner 
Bewegungen unbeachtet ließ. 


Fudith, die Kiuswirtin 125 


Sie framte einen vollftändigen Anzug aus der Lade im 
Hintergrunde und fah ein findifches Lächeln des Fremden 
Geſicht überfliegen, ald fie die bunte Troddelmüge und 
den türfifchen Schlafrod, in weldyem der eitle Gefell, ihr 
Bruder, vor Sahren zum Ärgernis der Nachbargäfte ein» 
herftolziert, mit dem ftummen Bedeuten, die durchnäßten 
Kleider dagegen zu vertaufchen, vor ihm ausbreitete. 
Darauf ſich entfernend und nad) kurzer Weile mit einem 
erwärmenden Aufguß zurüdfehrend, fand fie ihn um⸗ 
gekleidet und, einen Kleinen Spiegel in der einen, die 
Laterne in der andern Hand, fich felber mufternd und ver- 
gleihend vor dem Konterfei des einftigen Bewohners. 
Eine Minute lang hielt fie ſich unbemerkt unter der leife 
geöffneten Zür. Auch ihr Auge flog prüfend von dem 
Bilde auf den Befchauer und von dem Befchauer auf das 
Bild. Jener vollodige, blitende, übermütige Jugendkopf 
und diefer kahle, glafige, hohlwangige Totenfchädel, konn⸗ 
ten fie eines Menfchen fein, eines Menfchen Sonft und 
Sept, und dazwischen nur eine Spanne von zehn Sahren des 
erften Mannedalter8? — Dennoch! — „Auguft!” rief fie, ents 
fchloffen in das Zimmer treteud. — Der Fremde fchraf zus 
fammen und ftelte haftig Laterne wie Spiegel beifeite. 
Den Ruf fchien er überhört zu haben. Er ftürzte gierig 
mehrere Taffen hinunter, welche die Wirtin ihm einfchentte 
und weldye ihn fichtbar belebten. 

„Auguſt!“ fagte fie jeßt nody einmal mit eifernem Ernft 
und durchdringendem Blick, und „Auguft!” nad) einer 
Stille zum dritten Male. - Gleich, einem eleftrifchen Schlage 
zudte ed durd; den Körper des feltfamen Mannes. Seine 
Wangen färbten ſich, das eine lebendige Auge blickte mit 
Harem Bewußtfein, er richtete die zufammengefunfene Ges 


126 Judith, die Kluswirtin 


ſtalt ſtraff in die Höhe, von Kopf zu Fuß ein anderer, als der 
er bis vor wenigen Sekunden geweſen. „Ich heiße Brown, 
Madame”, fagte er mit tiefer, gemeſſener Stimme und 
ausländischen Akzent. „Sames Brown, Bürger der Ber: 
einigten Staaten von Nordamerika, wie der Paß in mei- 
nem Tafchenbuche Ihnen beweifen kann.” — Als Judith 
aber nicht alfobald ein Wort der Entgegnung zu finden 
wußte, fuhr er geläufiger fort: „Sch bin in einem Gaft- 
hauſe, fo ſcheint's. Wie ich dahin gefommen, weiß idy 
nicht. Ein heftiged Wetter überrafchte mich auf dem 
Markt. Ich leide an Krämpfen, Madame, ‚böfes Wefen‘, 
irre ich nicht, nennt man e8 hierzuland. Böfes Wefen, 
richtig, vollfommen richtig ausgedrückt. Sehr böfes Wefen 
in der Tat. Sch fühlte ed nahen, ich nahm meine Tropfen. 
Laudanım, Laudanum, Madame! Daher die Betäubung. 
Weiß nichts feit Diefer Zeit, rein nichts. Wie lange mag 
ed fein? Es ift Nacht. Mic, dünft, ich fei gefahren. 
Aber ich kann es geträumt haben. Wo ift mein Wagen, 
mein Pferd? wo bin id, Madame?” — Schaufpielerte der 
Menſch? war er wahnfinnig? Judiths Herz fämpfte zwi- 
ſchen Entrüftung und Zweifel. „Du nannteft die Klug; 
du Fannteft fie wieder, Auguſt“, fagte fie nad, einer Paufe. 

„Sch heiße Brown, Madame,” fiel er ein; „Sames 
Brown, Bürger von Maflachufettd, United States. Bitte 
meine Papiere einzufehn. Bor wenig Tagen vifiert vom 
töniglichen Konful in Bremen, alles in Ordnung, Madame. 
James Bromn, fo iſt's. Und die Klus, die Klus! Wie 
tft mir denn? Sa, ja, ganz redht: die Klus, fo hieß dag 
Gafthaus an der Landftraße, aus welchem mein Schiffs⸗ 
kamerad geftammt. Die Klus! Unglüdlicher Mann, graus 
fam unglüdlicher Dann, Madame, mein Kamerad! Es 


Judith, die Kluswirtin 127 


iſt eine Weile her, zehn Jahre mögen es ſein. Wir litten 
Havarie. Er und ich ganz allein von der Mannſchaft ge⸗ 
ſpült an eine Klippe. Drei Tage lang zwiſchen Himmel 
und Ozean, ohne einen Tropfen und Biſſen, ſchrecklich, 
ſchrecklich Madame! Seine Lebensgeſchichte gehört. Eine 
Beichte, ſozuſagen. Er war Katholik. Ich bin Proteſtant, 
Proteſtant, ſo iſt's! Durfte ihn abſolvieren, denn ſeine 
Reue war aufrichtig, bei Gott aufrichtig, Madame, und 
die Strafe grauſam. Am dritten Tage verſchmachtet. Ich 
hielt es laͤnger aus. Wurde gerettet. Ein vorbeiſegelndes 
Schiff, ein Wunder beinahe, ein Wunder, gehört aber nicht 
hierher. Die Geſchichte hat ſich mir eingepraͤgt, — ſehr 
natürlich unter dieſen Umftänden! — als hätte ich fie er⸗ 
lebt. Brachte fie zu Papier, zu Bild. Sch bin Künftler, 
Madame, Maler, Rhetor, ISmprovifator, Schaufpieler, 
alles bei Gelegenheit, wir lieben das drüben, Madame. 
Nicht fteif und einfeitig, Uncle Sam wie Vetter Michel 
im alten Land, Habe Glück mit der Geſchichte gemacht. 
‚Leichtfinn und Edelmut‘ war fie benamft. Eine Kuriofität 
der leßtere, der Edelmut, heißt das, für Uncle Sam. 
Mehr in Deutfchland zu Haufe, aber wohl auch faum im 
Überfluß; nicht fo, nicht fo, Madame? Wollte das 
Träumervolf kennen lernen, ftudieren. Bin Tourift, 
Forfcher von Natur. Habe viel unter Deutfchen gelebt. 
Aber Quelle ift Quelle! Spredye Ihre Sprache paflabel, 
finden Sie nicht? — Aber zurüd zu meiner Gefchichte. 
Ein Deutſcher überfegte fie für einen Dollar. Armer, 
dummer Teufel, wie alle Deutfche drüben, damned Dutch! 
für einen Dollar, bah! einen Drudbogen Berfe und ger 
reimt fehr gut, fehr gut, Madame. Bor vier Tagen ge- 
landet, heute aus Zufall in der Stadt zum Markt; aus 


428 Judith, die Kiuswirtin 


Zufall, fo iſt's. Sie waren in der Stadt, Madame, nicht 
fo? Sie fahen das Bild, ja, ja, das Bild! — Windhofe, 
Waflerhofe, - Kinderfpiel hierzuland, foldy ein Sturm! - 
Krampf, Laudanum, Taumel; fo iſt's, Madame, fo iſt's!“— 

Die unglüdliche Sudith ftand wie verfchüttet unter dies 
fem Schwall. Hätte fie noch gezweifelt, der letzte Zweifel 
würde entflohen fein. Sa, das war ihr Bruder, dag war 
der Guft! Zeit, Elend, eine fremde Welt, Lafter, Krank 
heit und ein heimliches Verbrechen hatten die Geftalt vers 
wandelt; der windige Geift, der Unraft, der Poffenreißer 
war geblieben. Das Erbarmen mit einer verurteilten 
Seele, dad Grauen vor blutigen Enthüllungen, vor Schmad) 
und Strafe fchwiegen ftill in ihrer Bruft, fie fühlte nur 
die Verachtung von ehedem, fühlte einen Haß, eine Ers 
bitterung, die ihr die Kehle rampfhaft zufammenfchnürten, 
fah nur den ungeheuren Kampf, der ihrer wartete. 

„Sie find mir die Antwort fchuldig geblieben, Madame”, 
fuhr der Fremde nach einer Paufe fort, in welcher er die 
Gegenftände im Zimmer neugierig gemuftert und betaftet 
hatte. „Auf der Klus, fagten Sie. Aber wie bin ich auf 
die Klug gefommen? Die Klus, in der Tat, die Be- 
fchreibung trifft. Mein Kamerad war weitläufig über die 
Klus, ſchrecklich weitläufig, Madame. Heimweh nennen 
fie das Ding hierzuland. Kein Wort dafür drüben, 
nicht befannt das Ding, Unfinn, Unfinn! Heut im Nord, 
morgen im Süd. Geldmachen die Lofung, Gefchäfte machen, 
fein Glü machen, wachfen, Madame, wachfen, den Baum 
verpflanzen, bis er fein Erdreich gefunden; nicht Wurzel 
fchlagen, kleben an der Scholle, auf welche der Wind das 
Samentorn geweht. Xangweilig das, dutch, Unfinn, Uns 
finn! — Die Klus alfo, die Klus! Iſt die Klus wieder 


x 


$udith, die Kluswirtin 4139 


ein Gafthaus, Madame? Was mag aus der jungen Wirtin 
geworben fein, meines Kameraden Schwefter? Eine hübfche 
Dirne ihrerzeit, wird einen Dann genommen haben, ge⸗ 
wiß, gewiß! Aber —“ feine Stimme flockte einen Moment, 
und er blickte mit einem Anflug von Angft zu dem Mädchen 
hinüber, — „aber eine alte Mutter, irre ich nicht, eine alte 
Mutter — und ein Kind!“ — 

Eine blitzartige Eingebung fuhr bei den legten Worten 
durch Judiths Hirn. Waͤhrend fie indeflen, roch immer 
regungelog, über ihre Ausführung fann, hob der Fremde 
mit feiner früheren Ihrbefangenhett wieder an: „Ihr Kaffee 
war gut, Madame, heiß und: ftark, ich liebe dad. Arznei 
gegen den Krampf, aber fatt macht er nicht. Mich hungert. 
Nüchtern feit morgens. Einen Imbiß, ich bitte Ein 
Stüd Brot und Fleifch und ein Glas Wein, wenn ed fein 
fann. Bier und: Schnaps — bah! KRommunes: Getränf, 
der Schnaps. Ein Künftfer will Wein. Seine Kunft 
drüben: ber uns —“ — Sudith unterbrach ihn, indem fie 
die Laterne vom Tiſche nahm und, ohne ein Wort zu fagen, 
ihm ein Zeichen gab, ihr zu folgen. Er zögerte einige 
Sekunden, warf einen mißtrauifchen Seitenblid auf die 
ſtumme Führerin, ging aber body hinter ihr drein, die 
Treppe hinunter, über den Hof, durch Küche und Wohns 
gelaß. Unter der offnen Kammertär hielt fie ftil und 
beutete fchweigend auf das vom ſchwachen Lampenſchimmer 
beleuchtete Friedendbild dee entfeelten Greifin und des 
fchlummernden Knaben. 

Einen Augenblid fteht der Fremde wie erftarrt, im 
nächften ftürzt er mit jähem Auffchrei über das Totenbett. 
- „Mutter, Mutter!” ruft er, und — „Sylv, mein Kind!” 


- indem er zu dem Schlafenden niedertaumelt. 
# 


130 Judith, die Kiuswirtin 


Sylvian fuhr in die Höhe. Erfchroden blickte er auf 

ben fremden Mann, beffen Arme ihn umftrickten, dann auf 
die Leiche, auf feine Pflegerin und wieder hinab zu dem 
Fremden. Er entfärbte ſich, er zitterte. Der Mann ſchluchzte 
wie ein Kind, wollte reden und vermochte ed nicht, wollte 
ſich aufrichten und ſtrauchelte. Judith umfaßte ihn, und 
indem fie dem Knaben gebieterifch zuraunte: „Bleib, 
er ift krank!” trug fie den Bemwußtlofen in die Küche, 
deren Türe fie verfchloß. Sylvians Angſtblick Taftete 
auf ihrem Herzen; fie hatte eine Probe gewagt, und Die 
Probe war gelungen; den aber, an dem fie gemacht wor⸗ 
den, hatte fie außer acht gelaffen, und er konnte ihr Opfer 
werden. Er durfte den Mann nicht wiederfehen, heute 
nicht, nimmer! — Der Fremde mußte ihm ein Fremder 
bleiben. 
‚ Kaum daß fie einen Imbiß zurechtgefchnitten und ein 
Glas von dem Wein, der zur Stärkung für die Mutter in 
das Haus geichafft worden war, zwifchen des Erfchöpften 
Lippen geflößt, fo nahm fie ihn, ohne feine völlige Bes 
lebung abzuwarten, von neuem in ihren Arm und 308 
ihn nach der Giebelftube zurüd. Seine Befinnung war 
wiebergefehrt; er fchluchzte bitterlich. — „Bruder!“ fagte 
Sudith, ihm mitleidig die Hand reichend. — „Sa, dein 
Bruder!“ rief er unter Tränenftrömen; „bein Bruder, der 
Heimatloſe, dein Bruder, der Elende, ber - der, o, bu weißt 
es ja, Judith! ich fehe es an deinem Schauder, — bein 
Bruder, der Mörder!" — 


Irrlicht 
So war es denn Tag geworden über der dunklen Tat, 
Tag für die Unſchuld, und Mitleid mit Abſcheu, Blutes⸗ 


FJudith, die Kiuswirtin 191 


liebe mit Weibesliebe, Sieg mit Vernichtung rangen in 
des erfchütterten Mädchens Bruft. 

„Lebt er noch, Judith?ꝰ“ fragte jener ſcheu und Ieife. - 
Sie neigte ſchweigend den Kopf. — „Bott fei gelobt!” rief 
er, fich in die Höhe richtend und fchon wieder gefaßt, ja 
hoffnungsvoll um ſich blidend. - „Im Kerker, Auguſt!“ 
mahnte die Schwefter. „Zehn Sahre im Kerker. Auf dein 
Gewiflen, zehn Jahre von einem Menfchenleben, zu jenem 
andern Leben, dad —.“ — „Er wird noch gute Tage fehen“, 
unterbrady er fie, indem er mit haftigen Schritten im 
Zimmer auf und nieder ging. „Er wird frei werben, er 
ift unfchuldig. Ich, ich bin der Elende, mein Leben ift 
vergiftet. Weißt du, was Blut ift, Judith? Gift ift es, 
Gift! Das Mebt, das ägt, das fengt, das löſcht Fein 
Tropfen. Laudanum, fagen fie, Laudanum fcheucht das 
Geſpenſt. Glaub's nicht, Schwefter, glaube ed nicht. Sa, 
ed ruht, aber ed wacht auf, es fchleicht, es fpringt, hui! 
Es ift da!” — „Unglüdlicher!” murmelte Judith bewegt. 
„Ich wußte es nicht, Schwerter,” fagte er, je mehr 
und mehr geläufig, „das von dem Simon meine ich. Erft 
v0» drei Monaten erfuhr ich's durch ben Loöbbeke aus 
Nammen. E83 geht dem Löbbeke fchlecht, Dithel, herzlich 
ſchlecht. Warum blieb er nicht hüben, der dumme Narr. 
Allzu gerieben wir drüben für ſolchen Schlag; Pfeffer und 
Salz im Schädel und von Gemüt nicht die Spur. Mir 
iſt's geglüdt, Dithel. Nicht in der Südfee, — tolle Zus 
mutung, Dithel, dein Botany-Bay. Gottlob, daß ich 
ihm echappiert! — aber drüben herum in Oft und Weft. 
Mufit gemacht, Gold gegraben, Stuben gemalt, den 
Doktor gefpielt, VBorlefungen, Erbauungsftunden, Tifch- 
rücken, Geiſterklopfen, ein flottes Leben, Dithel,nur-nur-."- 


133 Judith, die Kluswirtin 


„Nur der Wurm im Herzen!” fiel Judith ein mit bitterem 
Klang. — „Sch tat ed nidyt mit Abficht. Gewiß, gewiß 
nicht mit Abficht; aus Zufall, Schweiter, aus Verſehn —!“ 
- „Ein Mefler in der Sand, ein Zufall? Unter freiem 
Himmel ein Meffer in eines Kreundes Bruſt, ein Vers 
ſehn?“ - „Das Mefler, ja, ja, das Mefler, - ich hatte, — 
ich wollte, — die Bitte, ber Ärger -! — Aber die Mutter, 
die arme, alte Mutter, wann tft fie gefiorben, Dithel?“ — 
„Diefen Morgen, in fchweren Gebreften. Ihr letztes 
Geficht war ihr Sohn, — der Moͤrder; ihr letzter Segen 
für den unfchuldigen Büßer.“ — „Ic ahmete es nicht, 
Schwefter; firaf mich Gott, ich ahnete es nicht. Erf Burch 
den Löbbeke and Nammen. Auf der Flucht, während der 
Fahrt — wenn der Verdacht auf ihn fiele? Dachte ich wohl. 
Aber Unfinn, Unfinn! Ein Wort, und er ift rein. Weſſen 
war das Mefler, weflen der Stud?" — „Ein Mefler und 
ein Stod wie taufend andere. Sie mochten Bed Müllers 
fein, ich felber habe fie für des Müllend genommen.“ — 
„Und wenn auch Mefler amd Stock, aber die Taſche —.“ 
— „Die Tafche, weiche Taſche?“ ſchrie Judith auf, von 
einem neuen, grellen Lichte geblendet. — „Nein, nein, 
nicht von einer Zafche! Ich meine — der Trunk, der 
Streit, der —.“ 

Er fprang auf einen andern Begenfiand über, auf 
feinen Sohn. Er pries fein Anfehn, das ihn an feine 
felige Schöne gemahnte. Tränen fliegen ihm in die Augen; 
er dankte der Schweiter mit bewegten Worten für :alles, 
was fie für die Waife getan; er baute Luftſchlöſſer für 
ihre Zukunft. Seine boͤſen Erinnerungen waren einge⸗ 
fchlummert, und Judith mußte fich Aberwinhen, fie mit 
Hartnäckigkeit wieder aufzurütteln, den erfchütteenden Auf: 


4 


Judith, die Kluswirtin 133 


tritt von Simons Verhaftung und Selbſtbeſchuldigung 
ihm vor Augen zu führen. Sein erregbarer Sinn blieb 
nicht unempfänglich jelber für der Darftellerin knappe, 
gepreßte Art, die der feinigen fo ungleidy war. Unter 
den lebhafteften Ausbrüchen der Verzweiflung rafte er im 
Zimmer umher, erging ſich in begeifterten Ergüffen über 
Das, was er nicht anders als ein Freundfchaftsopfer ers 
faßte. „Herz ohnegleichen!” rief er aus, „Simon, herrs 
liche Edeltanne! Du ſollſt nicht gefällt werden, nicht im 
Schatten ded Diefichts verfümmern! Frei und hoch wird 
beine Krone ragen über alle, alle! Ein armer Sünder, 
für den du eingetreten,” er ſchlug mit der geballten Fauft 
gegen feine Bruft, „aber, den Kopf ftolz in den Naden 
werfend, „aber ein Mann, ein Mann wie du! Kaum hört 
er von deinem Opfer, zehn Sahre zu fpät, weh’ ihm. 
Hinüber! ruft er, hinüber! Heute noch, diefe Stunde! 
D, ihr blöden Richter, fchwachherzige Pedanten, fo han⸗ 
- delt ein Freund, fo handeln Freunde! Kein Neugebornes 
war fehufdlofer ats diefer Mann, — ich, ich bin der 
Mörder!“ 

„Dad wollteft du, Bruder? Dich freimillig ftellen, 
Auguſt?“ rief Judith zweifelnd und Doch mit glänzenden 
Augen. — „Ich wollte ed, bei Gott! Noch am felbigen 
Abend wollte ich hinüber!” — „Und — du willft ed noch?” 
— Die Antwort serzögerte fidy etliche Sekunden; die ges 
bämpfte Stimmung, in der fie gegeben warb, fteigerte ſich 
indeſſen im Berlauf wenn nicht zu dem früheren Schwunge, 
fo doch zu einer gleichen Kebhaftigfeit. — „Ed war Feine 
Schiffögelegenheit an dem Tage, Dithel, auch am nächften 
und übernächften nicht. Sch hatte Zeit zur Überlegung. 
Eine Idee ſchoß mir durch den Kopf, neu, einzig, noch 


134 Judith, die Kiuswirtin 


nicht dageweſen. Ich malte das Schaubild, entwarf die 
Gefchichte, brachte fie in Verſe, feßte fie in Muſik, bes 
rechnet, zugeftußgt für das Volk, verfieht ſich, aber ges 
lungen, Dithel, ich ſage dir, gelungen. Das Gewitter 
fam dazwifchen. Bild und Terte find zerftört. Wir muͤſſen 
auf ein neues fpefulieren. Es follte nicht fein. Sch bin 
Fatalift, Sudith, das heißt, ich beftehe nicht auf meinem 
Kopf, wenn das Schickſal mir in die Quere tritt. Hätte 
ich die Erzählung vollenden, nur beginnen können, — es 
blieb beim Zitel leider, aber fchon der Titel wie das Bild 
lockten gewaltig, — der Bezug wäre mit Händen gegriffen 
worden. ‚Der Simon!‘ hätte man gefchrieen, ‚Simon 
der Quellenfinder unfchuldig, freiwillig büßend für eines 
andern Miffetat!‘ Ort und Stunde dazu: Subilatemarkt, 
ber zehnte Sahrestag, — alles wohlberechnet, fein ausge⸗ 
tüftelt, Dithel! — Der Rumor wäre unmiderftehlid) ges 
worden. Der Täter galt für tot, — eine Seefchlange hatte 
ihn verfchlungen laut Bild und Text. Der Erzähler war 
längft wieder fort zu Schiff. Die Behörden hätten eine 
neue Unterfuchung angeftelt, Simon die Wahrheit zuges 
ftanden —.“ 

„Hätte Simon die Wahrheit geftehen wollen, er 
brauchte nicht auf deine Narreteidinge zu warten“, unter- 
brach ihn die entrüftete Schwefter. — Die Wirkung dieſes 
Einwandes war die unerwartetite, fie hatte den erfinderis 
fchen Retter urplöglidy abgekühlt. „Warum tat er es 
nicht?" verfeßte er, den Kopf übermütig in den Naden 
werfend. „Warum geftand er die Wahrheit nicht? Der 
Täter war verfchollen, verfommen, Gott weiß! Sedenfalls 
in Sicherheit. Ihm fchadete er nicht, wenn er fagte: 
‚Sener tat's!‘ Ihm nüßte es nicht, daß er fprach: ‚Sch 


Judith, die Kluswirtin 135 


tat's im Rauſch!“ oder fo ungefähr. Unſinn, Narrheit, 
Schwärmerei, deutſch, damned dutch, ein Schwabenſtreich, 
Romanenheldentum! Warum tat er es?“ — Judith ſchwieg, 
empört bis ins Mark. Und dennoch auch ſie, und ſie am 
allerwenigſten konnte dieſe Frage von ſich weiſen. Warum 
tat er es? Verdiente dieſer Menſch dieſes Opfer? Und 
was nützte es ihm, daß er es brachte, oder was ſchadete 
es ihm, hätte er es nicht gebracht? Er war fein Schwärs 
mer, fein Romanenheld, er war eine innige, fanfte, be» 
fonnene Natur. Schwady vielleicht, aber dann ja um fo 
weniger -! - Warum tat er e8? — Sie feßte ſich an das 
Fenfter, vergrub den Kopf in die Hände und merfte nur 
noch mit halbem Ohr auf des Bruders irrlichternde 
Sprünge. 

„Barum tat er es?“ wiederholte derfelbe, „und warum 
glaubte man ihm? &8 lag fein Grund zutage für feine 
Fat, nicht Rache, Neid, — oder — oder fonft eine wilde 
Begier. Er mied den Streit und fcheute vor Blut. Er 
war feines Menfchen Feind. Den - den Müller fannte 
er kaum, hatte zum erften Male in jener Nacht feine 
Schwelle betreten, und diefer Beſuch felber, nicht eine 
Seele wußte darum. Hinten in der Kammer am Waffer 
hatten fie gefeflen alle drei, Fein menſchliches Auge fie 
gefehen. Sie hatten getrunfen, es ift wahr, und er war 
beraufcht. Warum nicht? Es war nicht der erfte Raufch, 
in dem man ihn gefehen, und er hatte feinen zornigen 
Rauſch, wie der Müller, der, notabene, feinen hatte an 
diefem Tag. Er wurde weiß, ftill, traurig, wenn er tranf. 
Seder wußte ed. Er ift neben der Leiche gefunden worden, 
bleich, firuppig, ſtarr und fteif, mit allen Anzeichen ber 
Seelenangft; aber er brauchte nur zu jagen: ‚Der Müller 


4136 Judith, Die Kluswirtin 


hat mid) den Damm hinabgeftoßen, ald ich die Ringenden 
auseinander reißen wollte. Ich lag betaubt, erwachte erft 
diefen Augenblid; was Wunder, ſieht man mid; verftört 
vor dem Entfeglichen, das ich nicht geahnt? Das Meſſer, 
das ich aus feiner Bruft gezogen, ift ed mein Mefler 
etwa? Nein, des andern, ich kenne es; brauchte ich einen 
Reiſeſtock mit bleiernem Knopf, brauchte ihn der Müller? 
— Nein, der andere; feht, meine Tafchen find leer, dag 
Geld —!“ - Der Menſch hatte fich wie ein Advokat in 
einen fremden Kriminalfall hineingeredet, der zu ihm 
felber nicht in der entfernteften Beziehung ſtand. Bor 
bem legten Argumente ftocte er; eine Blutwoge ftreifte 
über fein Geficht, er atmete jach auf, riß mit der Fauft 
an ben Bruftflappen feines Rockes und ſtand ein paar 
Minuten wie gebannt. Dann hob er feine Wanderung 
durch das Zimmer wieder an und begann endlich von 
neuem in verändertem Tone, mit glühendem, perfönlichem 
Eifer, fo als ob er eine Keldentat im Schilde führe: 
„Sch komme, Freund, ich bin da! Ehe diefe Woche zu 
Ende läuft, bift du frei. Wärft du der erfte Gefangene, 
ber hinter Mauern und Riegeln entlommen? Kinderfpiel 
Das! Sch kenne Schliche und Kniffe, taufend derlei Ges 
ſchichten habe ich gelefen, gehört. Noch geftern auf dem 
Markt das Bild neben meinem Stand, haarfträubend, 
aber wahr, wahr! Bierzehn Eideöhelfer gegen den Nonnen- 
fchänder, die höchfte Wette harrt, die Wyd, die Frei- 
fchöffen fpeien aus vor ihm — und doch entkommt er noch. 
Freilich, er wird wieder eingefangen, aber gab ed Dampf: 
fchiffe und Eifenbahnen zu Femezeiten? Sch befreie Dich, 
Simon, wir fliehen. Fort für immer aus diefem dummen, 
faulen Land. Du kommſt und nach, Dithel, und mein 


Zudith, die Kiuswirtin 137 


Sylo, mein Sylo! Die Mutter ift tot, bu verfaufft die 
Klus; aud) der Simon ift arm: fein Quellenblid ein un- 
ſchätzbares Kapital. Eine Waldnatur, — ald Knabe fchon, 
hinüber, Simon, hinüber! Nennt ihr das Wälder hiers 
zuland? Kiliputen, verfümmerte Zwerge, erbärmliche 
Halme eure Eichen; jenfeitd, ſchau, ſchau, das ift Wald! 
Und die Schachte drüben! Kohlen für Millionen Sahre, 
Eifen und Gold, ja Gold! In das Goldland, Dithel! 
Ein Kröfus wird er, ein Nabob! Und. du, Dithel, er hat 
did, liebgehabt vom Buben ab: ‚Sch werde fie ewig 
lieben!“ fagte er noch in der letzten Nacht und meinte 
dazu, und, und —” — „Genug des Irrſinns!“ unterbrach 
ihn Sudith mit fo foharfem Gebot, daß in der Tat der 
unerfchöpfliche Fluß ind Stoden geriet. 

Er langte ein Bud) von dem Regal, feste ſich auf den 
Rand feines Betted und blätterte. Keines fprach ein 
Wort eine lange Paufe hindurch. Plöglich fchredte er 
in die Höhe, dad Bud, entfiel ihm, denn eine eißfalte 
Hand hatte in die feinige gegriffen, und die Schwefter 
ftand vor ihm leichenblaß, mit’unerfchätterlichem Blicke 
fi in den feinen bohrend. „Wirft du deine Miffetat be- 
fennen, Auguft?” fragte fie, „einfach, öffentlich, vor Ges 
richt und Zeugen?” — Er lad einen drohenden Entichluß 
in ihren Zügen und fanf zitternd auf dad Bett zurüd, 
Dennoch faßte er ſich noch einmal und fagte entfchieden, 
indem er nach feiner Weife den Kopf übermütig in den 
Naden warf: „Die Tat befennen, mid) felber ang Meffer 
liefern? Nimmermehr!“ — „So tue ich es“, verfeßte fie 
mit eifiger Ruhe. „Du bift ein Gefangener in diefem 
Zimmer, bis die Gerichte dich abholen werden.“ 

Er kannte feine Schweiter, er wußte, daß fie nie ein 


138 Judith, die Kluswirtin 


Wort geſprochen als in wohlbedachtem Ernſt. Todes⸗ 
ſchauer überrieſelten ihn, er ſtürzte zu ihren Füßen und 
umklammerte ihre Kniee. „Deinen Bruder angeben!“ 
ſchrie er, „aufs Schafott bringen deiner Mutter Sohn!“ 
-Auch Judith ſchauderte. Doch ſagte fie gefaßt und mit 
milderem Klang, als er an ihr gewohnt: „Strafe ſühnt, 
Auguſt; was du hienieden büßeſt, wird dir jenſeits ange⸗ 
rechnet werden. Und nicht mit dem Leben wirſt du die 
Untat zu büßen haben. Jahre ſind über ſie hingegangen, 
ſie wurde im Eifer verübt, ohne Vorbedacht. Du biſt 
freiwillig zur Rechtfertigung eines Freundes zurückgekehrt. 
Der Schuldige wird die Zelle betreten, die der Schuldloſe 


verläßt.“ — Der unglückliche Menſch wand ſich am Boden 


wie ein Wurm; einzeln, wimmernd rangen ſich die Worte 
aus ſeiner Bruſt, zum erſtenmal zeigte ſeine Stimmung 
den Ausdruck wahrhaftiger Seelenqual. „Und die Schmach, 
die Schande,“ ächzte er; „der Rauſch entſchuldigt — ein 
Mord ſchändet nicht — aber ein Raub - ein Dieb —.“ - 
„Ein Dieb?" fuhr Judith auf. „Wer fagt ein Dieb? 
Wer ift ein Dieb?“ 

„Sch, Dithel, ich”, föhnte er in aufrichtiger Armen; 
fünderangft und doch mit einem faft kindifchen Ausdruck 
der Hoffnung, ald ob das Schandgefländnig ihn retten 
müffe. „Sch, id) raubte ihm das Geld, mein Geld, dein 
Geld, Schwefter, dad er mir im Spiele wieder abgemons 
nen. Nun weißt du ed, Dithel, nun höre, wie es fam. 
Der Simon wartete auf mid) in der Mühle zum Abfchied. 
Wir faßen in der Kammer hinten am Wafler alle drei. 
Der Müller braute einen Grog. Er vertrug ihn ftarf wie 
feiner; heißer, purer Kognak, Dithel. . Bon dir fpradı er, 
als hätte er dich im Sad, Bon Hochzeit und Wirtfchaft 


Judith, die Kluswirtin 139 


ſprach er. Der Simon ſaß ſtumm wie ein Geiſt, wollte 
erſt nicht trinken, dann trank er doch. Auf dein Wohl 
ein Glas, Dithel, auf meines und dann weiter in der 


Verzweiflung mehr ald wir beide zuſammen. Ich wußte, 


wie ihm zumute war, er dauerte mich. Aber du hätteft 
ihn doch nicht genommen, Dithel, einen Fremden, der 
Gnadenbrot auf der Klus genofien, und gegen deine andes 
ren Freier einen armen Teufel mit feiner Waldhütte und 
den paar Stüden elende Rodung. Sch hielt’ mit dem 
andern, Dithel, mit dem Reichen, du weißt es ja; du 
wärſt mit ihm fertig geworden, und ich hatte einen Ans 
halt, wenn ic; wiederkam. Denn and Wiederfommen 
dachte ich Tange, ehe ich ging. Ich fimmte ihm zu, ich 
munterte ihn auf; wir fließen auf Schwägerfchaft an, und 
der Simon goß ein Glas nach dem andern in den Leib, 
als ob er feine Ohren totzufaufen gedächte. Der Müller 
brachte die Würfel, ohne die es in der Mühle nicht ab⸗ 
ding. Der Simon wollte mich abhalten, feine Hand zits 
terte, feine Stimme Tallte nur noch. ‚Um den Ring!‘ 
fagte der Müller. Er meinte ven Trauring der fächfifchen 
Muhme, den du mir zum Andenken in der Fremde ans 
gefteckt, Dithel. Seinen Berlobungsring nannte er ihn. 
Er hielt ein Goldftük dagegen. Der Simon ftöberte 
nad) einem Sag; feine Tafche war Ieer. 

„Hin war der Ring. Sch hatte Blut gelect; weiter, 
weiter, Stüd für Stüd von dem, was ich eben in Empfang 
genommen! Zulegt noch, die Taſche. Alles hin! Zum 
erften Male blickte ich auf. Sch war allein mit dem 
Müller, der Simon fort, ohne daß ich's gemerkt. Sept 
meine Angft. Ich flehte ven Müller um Hülfe, er lachte 
mich aus. Ich wollte eine Verjchreibung ausftellen, er 


440 | Judith, die Kluswirtin 


höhnte noch lauter. Die Uhr ſchlaͤgt drei. „Es iſt Zeit,‘ 
fagt er, ‚komm!' ftreicht das Geld in meine Katze, ſteckt 
noch von dem feinigen dazu und fchnallt fie um. Was er 
im Schilde führte, Gott weiß. Die Reife mit dir machen, 
Dithel, im legten Augenblice dein Jawort erfaufen. Einen 
Man hatte er gewiß. Er ging voran, ich folgte ihm wie 
ein totgefchoffener Mann. Ich wollte fort, ich mußte fort; 
ich fürchtete mich vor dem Turm und vor dir, Dithel, vor 
dir, nad) dem, was ich zu guter Keßt noch eingebrodt; ich 
wußte meinem Leibe feinen Rat. Ich flehte, ich verfprach; 
ich bedrohte ihn um betrügerifches Spiel und böswilligen 
Vorbedacht. Sein eiskalter Spott machte mich toll. Wir 
ftanden auf dem Querwege über dem Damm; von dem 
Bahnhofe herüber regte ſich's. Sch ftärzte ihm zu Füßen, 
ich betete ihn fchier an; ih war außer mie Kein Er⸗ 
barmen. Der Teufel fam über mich. &8 gibt einen Teufel, 
einen Teufel leibhaftig, glaub’8, Dithel, glaub’s. Er ftand 
hinter mir, er blies mir ein, zerrte mich in die Höh, ftieß 
mid; vorwärts, gab mir Kraft, mir, dem Rohr gegen den 
hagebüchenen Klotz. Wie ein Strauchräuber ftürzte ich 
über ihn und forderte das Geld mit Gewalt. Schon halte 
ich die Katze aufgehentelt in meiner Hand, nur der Ries 
men hat ſich in einem Rockknopf feftgeneftelt, ich greife 
nad) meinem Meffer, den Riemen lodzufchneiden. In dem 
Augenblick fpringt der Simon aus den Weiden zu uns 
herauf. Wie er dahin gelommen, weiß Gott. Er wirft 
fich zwifchen und. Aber der Rauſch, der Rauſch, der noch 
nicht verflogen! Er taumelt, ein Stoß, und er prallt den 
Abhang hinunter, reißt den Müller, den er gepadt, im 
Sturze zu Boden. Ich habe Kuft, ein Schnitt, die Tafche 
ift in meiner Hand. Er in die Höh, und über mich her 


Judith, die Kluswirtin 141 


wie ein. Rafender. Ein Fauſtſchlag mir ind Auge, hin 
i?’8, hin! — Der Schmerz, die Wut — das Mefler ftedt 
in feiner Bruſt. Moch einmal wirft er fich über mid, ein 
Hieb über feinen Kopf — und fort, fort! 

„Darf ich das befennen, Schweiter?” fragte der Uns 
glärkliche nach einem fchweren Atemzug. „Deines Baters 
Sohn ein Straßenrämber, Deines Pfleglings Vater ein 
Mörder und Dieb? Bekennen vor Amt und Zeugen? Das 
Märhen nom Schattenriß, ben der feheidende Bruder 
dem reichen Bewerber verweigert und dem armen mit 
feinem Gegen zum Andenken verehrt, der Sang von Liebe 
ud Eiferſucht, den ich zurechigeflußt, berzbeweglich für 
gemeines Volk, aber vor Gericht und Zeugen — Unſinn! 
Die Kreuz⸗ und Duerfragen, Ditbel; dad Gurtende am 
Knopfloch, über das man fich jo ſchwer zur Ruhe gegeben! 
Den Simon traf fein Verdacht der Beraubung; er hatte 
den Pag nicht werlaflen und Feines Pfennig in der Tafıhe. 
Aber ich, werfchrieen als Spieler, die Nacht außer dem 
Hauſe, im Augenblicke der Flucht — ber gefländige Maͤr⸗ 
der iſt entlawnt, ein Dieb.” 

Das Öekändais war zu Ende; wahr, Mar, anſchaulich, 
unter dem Zeugnis der Seelenangit des Belennen, ber 
fidh nicht son feinen Knieen erhoben und fchwerlic im 
Leben in fo einfältiglicher Weiſe geredet hatte. Aber 
Judith, bie Ehrenſtolze, Ehrenveine, faß noch lange wie 
von einem Keulenichlage betäubt. Den Argwohn bes 
Mordes hatte fie. im Laufe der Jahre erkragen lernen, er 
war bon dem geliebten Manne anf ben naͤchſten im Blut 
zu rückgewichen, ja zurück. Aber ein Dieb! Wahrheit 
die heimliche Ahnumg, die fie nimmer auszudenken gewagt! 
Zu dem Verbrechen die Schande über ihrer Väter Haus! 


4142 Judith, die Kiuswirtin 


Bu viel, zu viel! - Und dennoch! - „Es muß fein“, fagte 
fie, fich erhebend, mit Todeskaͤlte. 

- Die leßte Hoffnung war dem Elenden gefchwunden. 
„Du willſt, du willſt?“ fchrie er auf und klammerte fid) 
an ihre Kleider, ald ob er fie gleich jet von dem vers 
räterifchen Schritte zurüchalten müffe. „Sch bin bein 
Bruder, Judith, dein einziger Bruder. Du fannft einen 
Liebften haben, kannſt Mann und Kinder haben, aber 
einen Bruder nimmer! Willft du deinen Bruder ans 
Hagen, Rabenherz?“ — „Es muß fein“, fagte Sudith wie 
vorhin. — Er ließ das Geficht auf den Boden finfen und 
lag eine Weile ohne Zeichen des Lebend. Jaͤhlings aber 
zuckt es wie eleftrifche Schläge durch den Leib des Zitters 
aals. Die Schwefter fürchtet einen Rückfall feiner Krämpfe. 
Mein, er fpringt in die Höhe, Fagengefchwind ift er an 
der Türe, er will entfliehn. Judith reißt ihn zurüd, 
fchleudert ihn zu Boden, fchließt und zieht den Schlüffel 
ab, fteht vor der Tür, ein unerbittlicher Poften. - Wieder 
eine Paufe ohne Maß, für fie wie für ihn. Er liegt, fie 
ſteht, regungslos. Und fiehe da, noch einmal richtet er 
fid, in die Höhe, ftrecft fich fo lang er vermag, wirft den 
Kopf in den Naden, ein umgewandelter Mann; fein Zug 
der vorigen Zerfnirfchung, er ladıt, ja er lacht! 

„Wohl befomm’s Shnen, Madame“, fagt er höhnend. 
„Sch gönne Ihnen diefes Heldentum. Ich heiße Sames 
Brown. Was fchiert mid; der Frobelguft vom Klushof? 
Er ift umgelommen im Schiffbruch, ich war dabei, ich be⸗ 
ſchwör's, ich, Sames Brown aus Maffachufetts, United 
‚States. Was fchiert mid; der Klushof und feine Ehre. 
_ Sperren Sie mid, ein, Madame. Laſſen Sie mid, arre⸗ 
tieren, refognofzieren, wie e8 Ihnen beliebt. Findet jemand 


Judith, die Kiuswirtin 4143 


eine Ähnlichkeit zwifchen Mifter Brown aus Maffachufetts 
und dem Auguft Frobel, der vor zehn Jahren von dem 
Klushofe verfchwand? Hatte der Frobel ein Hinfebein, 
hatte er einen Kahlkopf, nur ein Auge etwa? Der, den 
ich, James Brown, ald Auguft Frobel auf dem Schiffe ge⸗ 
fannt, ich, Sames Brown, der war ein ſchmucker Locken⸗ 
kopf, heil vom Wirbel bis zur Zehe und zwei Augen, klar 
wie die einer Forelle. Zeugnis gegen Zeugnid, meine 
Herren Richter. Ein Frauenzimmer, dad feinen alten 
Liebſten in Freiheit haben will, gegen den Bürger eines 
freien Staats und feinen rechtögültigen Paß, vifiert von 
Gefandten und Konfuln Ihres eignen Königreiche. Ver⸗ 
urteilen Sie den Auguft Frobel in contumaciam zu Kerker 
und Schwert, ald Mörder, ale Dieb, nadı Ihrem Ermeffen, 
meine Herren. Mifter Samed Brown empftehlt fich, er 
reift auf dem Kontinent, auf den Infeln in feinem Baters 
lande drüben, wo es ihm beliebt. Salve!” - Er hob nad) 
diefer Rede das Buch vom Boden auf, feßte ſich ruhig 
auf den Tifch und begann zu lefen. Judith fand wie eine 
Säule mit vor Wut zufammengefchnürter Bruft, die Lippen 
biutend unter dem fcharfen Kniff ihrer Zähne, minutens, 
ftundenlang, fie wußte es nicht. 

„Sntereffante Lektüre, wie es ſcheint“, erweckte fie endlich 
des Fremden Stimme. „Ritter Kunz von Dortmund oder: 
der Femmwrogige, ein Roman; fennen Sie ihn, Madame?” 
— Dad Maß war voll. „Femmwrogiger Schandbube!” 
fohrie fie mit einem Haß, wie fie ihn im Leben noch nicht: 
empfunden, indem fie dad Buch aus feinen Händen ſchlug. 
„Nicht Daß du's tateft, giehtmundiger Gefell, aber befennen: 
und leugnen in einem Atemzug, Poflen reißen, Lotter⸗ 
fhriften Iefen, während ein anderer —.“ — Sie konnte 


444 Judith, die Kluswirtin 


nicht weiter, die Bruſt drohte ihr zu ſpringen; ſie ſtuͤrzte 
zum Fenſter und riß es auf, ringend um Atem und Luft. 
In dieſem Augenblicke wurde das Hoftor geöffnet, ihre 
Leute ohne Zweifel, die zurückfehrten. Sie verließ das 
Zimmer, deffen Tür fie hinter fich verfchloß. 


Nacht 

Das am Morgen fo ftattlich ausftaffierte Liebespaar 
war es in der Tat, das jeßt, bis auf Kapſel⸗ und Pudel⸗ 
mütze durchweicht und zerzauft, von feinem Meßgange 
heimfehrte. „Das Wetter, Wirtin!" fagten beide aus 
einem Munde, ihre Berfpätung entichuldigend, und als 
ihnen Sudith das Abfcheiden der Mutter verfündete, 
äußerten fie ebenfo einmütiglich: „Blix noch, einmal, die 
alte Wirtin!” ftellten fich jedes in eine Ecke, mit dem Ge⸗ 
ficht gegen die Wand gefehrt, falteten. die Hände und 
beteten ein Baterunfer, um eine Minute darauf die vers 
fpätete Nachtmahlzeit nach den unerlebten Strapazen einer 
Waſſerhoſe mit doppelter Gemächlichfeit einzunehmen. 
Die Wirtin gab währenddeflen die unerläßlidyen Auf⸗ 
Härungen und Anordnungen. Sie befchied die Magd, für 
den Reſt der Nacht ihren Neffen in der Leichenwacht abs 
zulöfen, da fie felber durch die Pflege eines kranken Marft- 
fremden, auf deflen Karren fie den Heimweg aus der Stadt 
zurüc'gelegt, an diefer Pflicht gehindert fei. Einige Stuns 
den verlängerten Morgenſchlafs wurden ald Schadlos⸗ 
haltung in Augficht geftellt. 
Der Biſſen im Munde fiodte der Chriftine, und eine 
Bänfehaut Lief über die firfchroten Baden; der zartfühlende 
Bräutigam, der ſich feit diefem Morgen als einen Helden 
und Meifter der Nedefunft bewährt, übernahm es, ihre 


Judith, die Kluswirtin 145 


heimlichen Schauer auszuſprechen. Wenn es der Wirtin 
nichts verfchlüge, meinte er, wolle er ſtatt ber Chriſtine 
Wache bei der alten Wirtin halten, und wenn die Wirtin 
eine Stärkung extra bewillige, es folle nichts Hitziges fein, 
wie ſich's eigentlich bei Leichenwachen gezieme, nur ein 
Maß Bier und ein Schmalzwed etwa, fo brauche er feinen 
Schaf in den Tag hinein, die Arbeit flutfche fo und fo. 
„Sch denfe mir nichts dabei, Wirtin”, erflärte er mit 
männlichem Selbftgefühl, das er aber gleich darauf durch 
eine galante Wendung überzuderte. „Ich denke mir nichts 
dabei. Aber Weibfen ift Weibfen, Wirtin, und wenn es 
Knochen hätte wie ein Stier.“ 

Judith, mit der Änderung einverftanden, zündete eine 
Laterne an und ging nad) dem Karren vor dem Tor, den 
fie forgfältig durchfuchte. Das Laudanumfläfchchen, wie 
Die Brieftafche, die in der Tat einen rechtögültigen Paß 
auf James Brown und einige Feine Geldfcheine enthielt, 
ftedte fie zu fich; ein Bündel Texthefte verbarg fie unter 
ihrer Schürze, um fie fpäter ungelefen am Herdfeuer zu 
verbrennen. Sie ging darauf in die Küche zurück, befahl 
dem Knecht, den Karren des Fremden im Schuppen unters 
zuftellen, und öffnete das Wohnzimmer, in welchem der 
geängftete Sylvian fchon fo lange ihrer wartete, „Wo ift 
er? Wo ift er?” rief er ihr fiebernd entgegen. 

„Der Fremde?“ verfeßte die Pflegerin mit erzwungener 
Ruhe und weichem, erbarmendem Ton, denn ded Knaben 
Schidfal ging ihr durchs Herz — mehr ald bad eigene; 
„der Fremde? Sch habe ihn in der Gartenftube unters 
gebradyt. Er ift krank, lieber Sylvian. Ein hartes Uns 
wetter in der Stadt hat ihn mitgenommen. Wir machten 
den Rücweg zufammen. Beruhige dich, mein gutes Kind.“ 
® : 


4146 Judith, die Kiuswirtin 


— „Nenne mid; nicht Kind, Muhme!” rief Sylvian auf- 
geregt. „Schone mich nicht wie ein Kind. Ich bin Fein 
Knabe mehr feit dDiefem Morgen. Sahrelang habe ich ge⸗ 
grübelt über mandjes, was ich hörte und nicht verfland. 
Nun ift mir's Mar. Sch weiß alles, kann alles ertragen. 
Ic Fannte ihn, Muhme. Schon der Rod, in dem er mid) 
herzte beim Abfchied drüben im Giebel. Sein Geficht fah 
anders aus, nicht krank und verfallen; ich habe es alle 
Tage im Geifte gefehen, fo rot und fchön. Aber wie er 
mich umhalfte, wie ich feinen Atem fpürte, feine Tränen 
auf meinem Geficht, wie er rief: ‚Mein Sylv, mein Kind!‘ 
— 9, laß mid) zu ihm, laß mich zu ihm, Muhme!“ - „Nicht 
biefe Nacht, Syloian”, entgegnete Sudith, der das Herz 
verfagte, die Täuſchung fortzuführen. „Er muß Ruhe 
haben und du auch. Geh in deine Kammer, fchlafe ein 
paar Stunden, armes Kind.” — „Schlafen, fchlafen?” rief 
der Knabe vorwurfsvoll, - „Ruhe mindeftens. Und höre, 
Sylvian, fobald ed Tag geworden, geh ind Dorf und 
bitte den Herrn Pfarrer um feinen Zufpruch, für dich, für 
mich und vielleicht auch für - ihn.” — „Darf ich ihm alles 
fagen, Muhme?” fragte Sylvian fchüchtern. - „Alles, was 
dein Herz bedrückt!“ — „Alles, Muhme, alles? Auch was 
nicht mich angeht?” — „Shm, deinem Lehrer und Beichts 
Yater alles, mein Kind.“ 

Sichtlich erleichtert ſchlich Sylvian ohne andere Leuchte 
als die des Mondes in feine Kammer. Der Knecht fehrte 
zurüd. Judith fchürte die Lampe am Totenbett: „Fromm 
und ſaͤuberlich, Klaas”, mahnte fie, auf die Leiche deutend, 
und verließ das Zimmer. Ehren⸗Klaas ftand wohl eine 
Viertelftunde lang zwifchen Stube und Kammer, unbe- 
weglich an den Türpfoften gelehnt; dann zog er aus feiner 


Judith, die Kiuswirtin 447 


Zafche die kurze Tabaföpfeife, drehte fie eine Weile ſchmun⸗ 
zelnd zwifchen feinen Fingern, mußte aber wahrſcheinlich 
zu der Erkenntnis gelangen, daß eine „Piep“ bei ber 
Leichenwacht fich nicht fäuberlic, ſchicken möge, denn er 
fteckte fie wieder ein und langte ftatt ihrer den Rofenfranz 
hervor, um fromm nach Gebot die Nacht hindurd; auf 
feinem Poften auszuharren und am Morgen durdy eine 
ftattliche Trauermefle für feine Treue belohnt zu werden. 

Seiner Herrin wartete ein fchwerer Hüterdienft. Ihre 
vorige Aufregung wurmte fie. Das letzte Wort war mit 
dem härteften gefagt, ein Einlenken ihrerjeitd unmöglich 
‚geworden. Aber der Kranfe, der Gefangene bedurfte der 
Aufficht, fie mußte voran. „Gichtmund, Gichtmund!” 
hörte fie von außen feine fchreiende Stimme. „Wer hat 
mich femmwrogig genannt? Beweis, Beweis!” Sein 
Bli war ſcheu und Angftlich, während die Türe geöffnet 
ward; ald er aber die Schweiter erfannte, rückte er Fed 
in die Pofitur des Amerifanerd und ſprach zu ihr in der 
herrifchen Weife des Einfehrerd, der fich die Zudringlich⸗ 
feiten feines Wirts verbittet. ® 

Er hatte die vorhin gebrachte Mahlzeit bis auf den 
legten Biffen aufgezehrt und fiel jett mit der Gier eines 
Heißhungrigen über das warme Gericht, das fie vor ihn 
auf den Tifch niederſetzte; dann griff er wieder zu dem 
Buch, deſſen Inhalt ihn Tebhaft zu befchäftigen ſchien; 
als fie aber, nachdem Bett und Zimmer geordnet, fich an⸗ 
fchickte, den Pla am Fenfter einzunehmen, nahte er fich 
ihr mit der höhnenden Frage: „Iſt die nächtliche Gefell- 
fchaft der Hausfrau eine Zugabe zur Zeche in diefem gaft- 
lichen Lande, Madame?" — Ein Wort entrüfteter Abwehr 
erftichte in ihrem Munde vor einem unheimlichen Etwas, 


148 Judith, die Kluswirtin 


das hinter der kuͤnſtlichen Dreiſtigkeit feines Blicks lauerte. 
Eine Verſtändigung in dieſer Stimmung war undenkbar, 
er mußte Ruhe haben. So verließ ſie ſchweigend das 
Zimmer. 

Neben demſelben lag eine Kammer, deren verkleidete 
Verbindungstür von der Stubenfeite durch Gerät verſetzt 
war. Hier wählte fie ihren Poften für den Reſt der Nacht. 
Keine Bewegung konnte ihr durch den Dünnen Brettverfchlag 
entgehen; eine Spalte geftattete einen Lugeblick in den ers 
hellten Nebenraum. Ihr Gefangener entkleidete fich nicht, 
legte ſich nicht, er fchloß Fein Auge die Nacht hindurd,. 
Er verriegelte die Tür von innen, fpähte unruhig aus 
dem Fenfter, fette fi dann und griff wieder nach dem 
Bud, deffen Schauerinhalt er mit wachfender Bewegung 
verjchlang. Bon Zeit zu Zeit fprang er auf, rannte durch 
das Zimmer und führte, wie ed fchon als Kind feine Art 
gewefen, laute Gefpräche mit fidy felbft oder mit anderen, 
welche die Einbildung ihm vorführte. „Gichtiger Mund, 
gichtiger Mund! Wer fagt, daß ich mid femmwrogig 
befannt? Ein Weib ift fein Zeuge. Wo find die Eides- 
heifer? Sch ſchwöre mich los! Sch appelliere an Kaifer 
und Reich! Ich habe nichts befannt, ich habe nichts zu 
befennen. Sch bin nicht ich. Ich bin James Brown, 
ich, ich!” 

Gegen Morgen beruhigte er fich etwas, er fand feine 
Faflung wieder und warf fich angefleidet auf das Bett; 
die heimliche Wächterin jedoch ahnte mit Zittern, Daß das 
unftete Hirn diefem Aufruhr und Zwiefpalt nicht auf Die 
Dauer zu widerftehen vermöge, daß das Unvermeidliche 
zur Entlaftung eines Unfchuldigen in fürzefter Weile ges 
fchehen müfle. Aber wie den Raftlofen faffen, wie ihn 


Judith, die Kiuswirtin 449 


halten? Sollte fie die Drohung ausführen, ihn derSchande, 
dem Tode vielleicht überantworten in der Stunde, da der 
Schoß, der fie wie ihn getragen, noch der lebten Erdens 
hülle wartete? Sie fchauderte vor fich felbft, vor ihm, 
vor einem unerbittlichen Verhängnis, fie fühlte fich ratlos, 
wie im Leben noch nie. 

So trat fie an das Fenfter und blickte über den Garten, 
deffen Kräuter, gefättigt und friſch belebt im Strahle der 
Morgenfonne, wie unter einem Kriftallfchleier zitterten. 
Und fiehe, da ünten fland auch ſchon der gute Sylvian, 
das Auge in banger Spannung nach dem Giebelzimmer 
gerichtet. „Sylv, mein Sylo!” hörte fie ihren Nachbar 
mit freudiger Stimme hinunterrufen, doc, fchien er fich 
eilig von dem geöffneten Fenfter abzuwenden, als bie 
Tritte der Magd ſich vom Hofe her näherten. Der Knabe 
laufchte noch etliche Minuten und entfernte fich endlich 
auf einen Winf der Pflegerin, um feinen Pfarrgang ans 
zutreten. 

Die wirtfchaftlichen Obliegenheiten Ließen Sudith nicht 
länger müßig finnen; fie wurden auch für heute nur auf 
das Unerläßliche befchränft, die Lohnarbeiter entlaffen 
und der Knecht zur Dienftleiftung in die der helfenden 
Hände fo dringend benötigte Stadt gefendet, da bis zu 
einem lettgültigen Entfchluffe ein Beobachten und zu⸗ 
falliges Erfennen ihres heimlichen Gaftes vermieden werden 
. folte. Die Magd, deren geiftige Verfaffung noch weniger 
als die ded Kameraden zu argmwöhnifchen Folgerungen 
geneigt war, betraute fie mit dem Dienft in der Gie⸗ 
belftube, wie auch mit dem Lugepoften an der Tür⸗ 
fpalte, fooft fie perfönlich von demfelben ferngehalten 
war. 


150 Judith, die Kluswirtin 


Zwiſchen Frühmeſſe und Hauptgottesdienſt kehrte Syl⸗ 
vian, begleitet von feinem geiſtlichen Freunde, zurüd. 
Eine tiefe Erfchütterung fand in den Haren, kindlichen 
Zügen des frommen Mannes gefchrieben; fein langer, 
ftummer Blick, fein Händedruck fagten Sudith, daß fie 
fi) eine qualvolle Aufklärung erfparen dürfe. Er bes 
rührte den Zufammenhang nicht, den er fidy aus feinen 
eignen ahnungsvollen Borgedanfen und des Knaben Bes 
fenntniffen zufammengeftellt; er ift auch fpäterhin niemalg 
zwifchen ihnen mit deutlichen Worten bezeichnet worden: 
unverabredet behandelten fih alle drei als Eingeweihte 
und handelten in Übereinftimmung, aber in fhonendem 
Schweigen. „Er muß beichten, Muhme!” rief Sylvian 
fieberifch aufgeregt; „er ift krank, kann fterben. Alles wird 
gut werden, wenn er fich mit feinem Heiland ausgeföhnt.“ 

„Beichten, beichten?” fragte ſich Sudith im ftillen; 
„glaubt diefer flatternde Geift an die Macht eines Priefterg, 
zu löfen und zu binden? Hat er jemals daran geglaubt?“ 
Ein zweites drängendes Bedenken aber Außerte fie in der 
Frage: ob die Beichte unter allen Umftänden dem Beich⸗ 
tiger ein unverbrüchliches Schweigen auferlege? Und als 
der Pfarrer diefe Frage bejahte, ſchien das angeregte 
Geelenheilmittel feinen Wert in ihren Augen verloren zu 
haben. Sylvian dahingegen drängte mit fo ängftlicher 
Haft nach einer geiftlichen Hülfe, daß der Pfarrer ſich 
gern bereit erflärte, noch vor dem Frühamt feine Zur 
fprache an dem Kranken zu verfuchen, wenngleich, wie er 
mit Abficht gegen feinen Schüler betonte, das gnaden- 
reiche Saframent nicht gefpendet werden dürfe, folange 
eine Handlung der Gerechtigkeit von dem Beichtenden zu 
fordern fei. - „Eine Handlung der Gerechtigfeit?" flüfterte 


Judith, die Kluswirtin 151 


Sylvian in ſich gekehrt, fi dem Garten zumendend, der 
einen Bli nach dem Giebelfenfter geftattete. 

Auch Sudith blieb in Iebhafter, aber nicht hoffnungss 
voller Spannung vor der Schwelle zurüd, zu welcher fie 
den ehrwürdigen Tröfter geleitet. Sie hatte nicht umfonft 
gefürchtet; „Samed Brown” lehnte mit der Erflärung, 
daß er Proteftant fei, jede priefterliche Einmifchung ab, 
erging fich, ald der fromme Mann dennoch eine milde 
Mahnrede wagte, in Schmähungen über die Bekehrungs⸗ 
fucht diefer pfäffifchen Gegend und wies dem Beſucher 
endlid; mit drohender Gebärde die Tür. „Er hat aud 
gegen mid; das Spiel ded Ausländerd angenommen“, 
fagte Sudith empört, nachdem fie auf der Flur wieder 
mit dem Pfarrherrn zufammengetroffen war und die Tür 
hinter dem Gefangenen abgefchloffen hatte. 

„Und wißt Shr gewiß, daß es ein Spiel iſt?“ wendete 
jener zweifelnd ein. „Diefer ftarrföpfige Fremde gleicht 
fo wenig dem Bilde, das man mir von jenem Wankel⸗ 
herzigen entworfen, — könnt Ihr, liebe Tochter, fo wie 
mein durch dad Sterbegeficht der Ahne aufgeregter Sylv 
nicht in einer Boraugfegung befangen fein?” — Als Judith 
aber mit unmwiderleglichen Beweifen feine Zweifel bes 
feitigte, betätigte er ihre eignen Sorgen mit der Außerung: 
„Ss ift er gefährdeter, als ich gefürchtet. Die Steigerung 
zu einer feinem Wefen fo fremdartigen Beharrlichkeit 
fann fchwerlic; lange Zeit ohne Wirrnis durchgeführt 
werden.” — Er erflärte darauf feine Abficht, nach bes 
endetem Meßdienft bei dem Direftor der Strafanftalt um 
eine Unterredung mit Simon Lauter nadyzufuchen, in der 
Hoffnung, von diefer Seite Raum zu weiterfördernden 
Schritten zu gewinnen oder mindeftend durch die leife 


4152 Judith, die Kluswirtin 


angedeutete Wendung der Sachlage die Seele des Ges 
fangenen zu beleben. — „Selbftverftändlich,” fügte er mit 
Bedeutung hinzu, „felbftverftändlich ohne mich auf Zeugen 
zu berufen, welchen die Natur für ewige Zeiten die Lippen 
verfiegelt hat.” — „Und diefem Banne der Natur fol ein 
Unfchuldiger zum Opfer fallen?” wendete das Mädchen 
heftig ein. 

Ehe der Pfarrer einen Ausweg in diefer verzweifelten 
Lage gefunden, trat ihnen Sylvian entgegen. — „Nun 
haltet mich nicht länger”, rief er leidenfchaftlich, fobald 
er an dem ſtummen Achfelzuden der Pflegerin und dem 
befümmerten Blicke des Seelſorgers das Scheitern feiner 
Hoffnungen wahrgenommen. „Nun laßt mich zu ihm! 
Was aus ihm werde, ich weiche nicht von ihm, und meine 
Liebe, ich weiß es, wird feinen Widerftand bezwingen!” — 
Der Pfarrer entfernte ſich mit dem Bedeuten, daß dem 
Bertrauenden gewillfahrt werden möge, und Sudith, fo 
ſchwer es fie anfam, führte ihren Pflegefohn nad) dem 
Zimmer, das er feit dem Abfchied von feinem Vater nicht 
wieder betreten hatte. „Dein Sohn verlangt nach dir, 
Auguft; darf ich ihn vor dich laſſen?“ fragte fie, um eine 
allzu jähe Überrafcyung zu vermeiden. 

Ein kurzes heftiges Ringen zwifchen Natur und Masfe 
offenbarte fich im Mienenfpiele des Mannes; als aber Syl⸗ 
vian, ohne eine Antwort abzuwarten, in das Zimmer und 
in feine Arme ftürzte, da war es die Natur, die zum 
zweiten Male mit heißen Tränen und einer leidenfchafts 
lichen Umftridung den angenommenen Schein dDurchbradh. 
Judith überließ Vater und Sohn einem unbelaufchten Beis 
einander, auf dieſes einzige unbeirrte Gefühl ihre legte 
Hoffnung bauend, — Welche Eindrüde und Enthüllungen 


Ey 


Judith, die Kiuswirtin 4153 


die Stunden dieſer Wiedervereinigung füllten, darüber 
hat Sylvian, es fei denn in der Beichte, niemald das 
Leifefte angedeutet; aber ein wunderbares Leben, eine 
ftille Mifftonds und Märtyrerglut war feit jenen Stunden 
in des Knaben Wefen angefacht, ja er fchien dem vers 
wunderten Pfarrer gewachſen, ald er ihn, am Nachmittage 
auf dem Hofe vorfprechend, wiederfah. 

Der geiftliche Herr bradıte tieferfchütternde Eindrücke 
verfchiedenfter Art von feinem Stadtbefuche zurüd. Weit 
über feine Mutmaßungen hatte jener faum Minuten wähs 
rende Wirbel der Elemente Zerftörungen angerichtet, 
welche SSahre der Menfchenmühe nicht bewältigen würden. 
Die Au ftand’unter Wafler, verfandet, verfchlemmt, die 
Ernte verwüftet; der diesfeitige Bahnverfehr lag unters 
brochen, da der Anprall der in dem Weidenaugftich ſich 
ftauenden Flut den Damm nahe jener mehrfach erwähns 
ten Durdhfahrt zerriffen hatte. Die Befchädigung an baus 
lichem und beweglichem Eigentum in Stadt wie Land war 
unberechenbar, Menfchenopfer felber mußten beflagt wer⸗ 
den. Dahingegen hatten Not und Gefahr audy einen Eifer 
edelmütigen Selbftvergeflens in Helfen und Spenden hers 
vorgerufen, und wer mochte fagen, ob nicht der aus ihm 
fließende Segen des Gemüts den zeitlichen Unfegen dauernd 
überwand? Auch in dem Zuchthaufe war die Alltaggftille 
einer rüftigen Bewegung gewichen, der wadere Direktor 
an der Spite aller Sträflinge, deren Zuverläßlichkeit er 
zu vertrauen wagte, die ganze Nacht in Tätigkeit gewefen. 
Die erhöhten tüchtigen Baulichfeiten der Anftalt zwar ſtan⸗ 
den unberührt, um fo ausgefeßter aber fand fich der feicht und 
leicht angelegte Stadtteil, der Stadtteil der Armut, der fie 
umgab, und hier war ed, wo Simon Lauter fich in helden⸗ 


154 Judith, die Kiuswirtin 


mütiger Aufopferung nicht nur vor fämtlichen Mitgefanges 
nen, fondern felber vor den gefährdeten Bewohnern her- 
vorgetan. Bis an den Hals im Waſſer, watend, ſchwimmend, 
das Boot lenkend, das Rettungsfeil werfend, auf ſchwanker 
Leiter die vom Einfturz bedrohten Giebel erflimmend, vor 
allem aber durch feinen brüderlichen Einfluß die roheren 
Mitfträflinge in Zucht haltend, war er recht eigentlich der 
rettende Engel diefer Gegend geworden, und in einer 
Stunde und Tage, wo jede einzelne Stimme in einem all- 
gemeinen Notjchrei erflicdte, wurde der halbverflungene 
Name des Quellenfimon wieder ald ber eines Wunder: 
täters in einem vertrauten Elemente laut gepriefen. 
Hinſichtlich feines eigentlichen Zwecks indeffen war der 
menfchenfreundliche Priefter ohne Ausbeute heimgefehrt, 
obfchon er den Simon Lauter gefehen und gefprochen, als 
er eben im Gefangenenhofe fidy wie feine Haftgenoffen der 
Mufterung und den ferneren Befehlen des Direftors ge- 
ftellt, um nach furzer Raſt fein Rettungswerk von neuem 
anzutreten. Er hatte fraft- und lebensvoller dreingefchaut 
denn bei jenem früheren Befuche, und als der geiftliche 
Herr die Hoffnung eines baldigen Gnadenerlaffes, geftüßt 
auf fein heutiges Wirken, hatte fallen laffen, da war fein 
Auge in freudigem Glanze aufgelodert und eine Purpur- 
welle bis unter das gebleichte Haar über fein Angeficht 
geflogen. Welch jäher Umfchlag dahingegen bei der lei— 
feften Andeutung, daß auch von feiten der Gerechtigkeit 
eine Wendung in feinem Schickſale nicht ohne Ausficht 
fei, daß eine erneuerte Unterfuchung zu einem freifprechen- 
den Urteil führen dürfe, falls die auftauchenden Spuren 
einer Perfon, die bei jener in vieler Hinficht rätfelhaften An⸗ 
gelegenheit einen unfeligen Anteil gehabt zu haben fcheine, 


® 


Jubith, die Kluswirtin 4155 


deutlicher hervortreten follten. Bei dieſer Anfpielung, wie 
gefagt, hatte der Gefangene mit weit aufgeriffenen Augen 
geftugt, er war plöglich totenfahl geworden, ringend um 
Atem, eine lange Weile heftig auf und nieder gefchritten, 
endlich aber dem Befucher ruhig und hochaufgerichtet 
gegenübergetreten. 

„Herr Pfarrer,” hatte er mit fefter Stimme und der 
Ausdrucksweiſe eined Mannes gefagt, der, wie der Pfarrer 
es bezeichnete, durch die glüdlichften Gaben von der Natur 
gefegnet, in langer Einfamfeit fich felbft gebildet, „Kerr 
Pfarrer, ich babe diefe Nacht unter Gotted Himmel, wenn 
auch in Zerftörung und Aufruhr, das Gut der Freiheit, 
deflen ich mich nahezu entwöhnt, von neuem fo fehnfüchtig 
fhägen lernen, daß ich den edlen Menfchen, die mir die 
Gnade meines Königs erwirken wollen, auf meinen Knieen 
danfen möchte. Sollte es ſich aber darum handeln, den 
Rechtsweg noch einmal zu betreten, fo laſſen Sie mid; 
Shnen im voraus erflären, daß ich feine meiner Ausfagen 
widerrufen, diefen Ausfagen feinen Buchftaben hinzufeßen 
fann und werde. Ich bin mir einer fchweren Berfchuldung 
bewußt, ich war meiner Sinne unmädhtig: nicht mehr, 
nicht weniger habe id; befannt, noch dürfte ich befennen; 
jedes abweichende Zeugnis, und wenn ed meine Recht: 
fertigung enthielte, müßte ich verleugnen. Kindern Sie 
alfo eine neue Unterfuchung, von welcher Seite fie an⸗ 
geregt werden möge, forfchen Sie,” — hier ftodte feine 
Stimme, — „forfchen Sie nicht nad) einer Spur, welche 
die Lücken meines Bekenntniſſes ausfüllt; hätte der Zufall 
eine derartige Spur an das Licht geweht, fo eilen Sie, 
diefelbe zu tilgen, ehe fie Dual und Verwirrung über uns 
fchuldige Herzen verhängt. Sch wiederhole, ich büße, was 


156 Judith, die Kluswirtin 


ich verbrochen. Achten die, welchen Gnade auf Erden zu⸗ 
ſteht, meine Buße erfüllt, fo ſoll ed mein lebenslaͤngliches 
Beftreben fein, diefem Vertrauen gerecht zu werben; ers 
heifcht meine Befreiung einen Widerruf, fo möge die 
Strafzeit zu Ende laufen.“ | 

„Sc hätte”, bemerkte der Pfarrer nad) diefer Ans 
führung, „einer fo entfchiedenen Willensäußerung feinen 
deutlicheren Winf entgegenzufegen vermocht, felbft wenn 
ich zu einem folchen eine Berechtigung empfunden; auch 
verabfchiedete fic der Gefangene nach diefer Ausfprache 
fchleunigft, um von neuem an fein hülfreiched Tagewerf 
zu gehn. Eined aber ift mir aus dem Gebaren dieſes 
Sträflings ohnegleichen Kar geworden —.“ — Der Pfarrer 
wurde unterbrochen. Er hatte der gefpannt laufchenden 
Judith Diefe Mitteilungen in der Gartenlaube gemacht und 
fo wenig wie fie bemerft, daß Sylvian, der ihn vom 
Fenfter aus hatte kommen fehen, dem fpäteren Zeile ders 
felben am Eingang der Laube gelaufcht. Set ftürzte er 
hervor, faßte mit den Worten: „Kommt, fommt, er ift 
bereit!” beider Hand und z0g die Berwunderten die Treppe 
zu der Giebelftube hinan. 

Auguft Frobel, wie wir den Fremden ohne Einwurf 
nennen dürfen, empfing fie mit fcheuen, grollenden Mies 
nen; als aber Sylvian feine Hände flehend zu ihm erhob, 
raffte er fich zufammen und erflärte in einer zwifchen dem 
Natürlichen und Angenommenen fchwanfenden Manier, 
ohne über die eigne Perfon einen Aufſchluß zu geben, daß 
er, da feine Rüdfehr nadı Amerika bevorftehe, noch am 
heutigen Tage ein Dokument von Wichtigkeit abzufaffen 
und in die Hände des Pfarrers niederzulegen gedenfe, zu 
beliebiger Veröffentlichung, fobald die Nachricht feiner 


Judith, die Kluswirtin 157 


Einſchiffung eingetroffen. — Alle ſtanden betreten; am 
tiefſten der Sohn, der ein weitergreifendes Bekenntnis 
erwartet zu haben ſchien. Sein Auge hing an dem des 
ſeelſorgenden Freundes mit dem ſtummen Zweifel, ob 
dieſer Weg der leiblichen Rettung ſich mit dem des ewigen 
Heils vereinigen laſſen werde. 

Judith war die erſte, welche zwiſchen hoffnungsvollen 
und mißtrauiſchen Erwägungen zu einem Abſchluſſe kam, 
-indem fie mit der ihr eignen Zähigfeit eine rechtfertigende 
Erklärung mündlich vor den Gerichten forderte, auf Die 
Gefahr hin, in eine Selbftanflage verwickelt zu werden. 
Er bäumte fich in Fünftliher Wut und aufrichtiger Furcht, 
ed gab einen heftigen Auftritt, den der Pfarrer durch einen 
vermittelnden Borfchlag zu beendigen fuchte. „Legen 
Sie”, fagte er, „ein fchriftliches Bekenntnis in die Hände 
dreier zuverläffiger Zeugen, Anwälten der Gerechtigfeit, 
MWeltlichen mindeftend; nicht eined Diener der Gnade, 
der,” er vermied eine näherliegende Andeutung, wie den 
Namen „Sohn“, — „der der Beichtiger dieſes Knaben ift.” 

„Der auch beine Beichte empfangen und ald Geheimnis 
bewahren fol,” ergänzte Sylvian, durch den Wortwechſel 
der Gefchwifter aufs tieffte erfchüttert; „o folge ihm, 
Vater, tu, was er fagt, er fann nur dad Rechte raten; 
fchreibe, übergib —!“ — „Und wer bürgt für die Wahrs 
heit des Gefchriebenen?” fragte Judith herbe. — „Ich, 
Muhme, ich!” rief der Knabe, je mehr und mehr erregt. 
„Sch, fein Sohn. Sa, fage es laut, daß ich dein Sohn 
bin, Vater, daß ich bei dir fein darf in der Stunde der 
Wahrheit, daß ich deine Worte lefen, deine Feder regieren 
darf, wenn deine Hand erlahmt. Heute noch, Vater, in 
diefer Stunde, und morgen —.“ — „Morgen bin ich im 


158 Judith, die Kluswirtin 


Hafen, einen Tag ſpaͤter auf offner See“, fiel Frobel ein, 
nur von dem einzigen Gedanken der Flucht beherrſcht. — 
„Und ich mit dir, mein Vater, ich verlaſſe dich nicht!“ 
rief Sylvian begeiſtert; „zu dir gehöre ich, bei dir bleibe 
ich!” — Überwältigt riß ihn der Bater an fi. „Mein 
Sohn, mein Sylo, o du heilige Kind!” fchrie er auf; 
„o, ich elender, erbärmlicher Sünder! Sa, ja, bleibe bei 
mir, mein Erretter, mein Engel! Sage mir, was ich bes 
fennen fol, fage mir, was ich fchreiben fol! Was du 
willft, ich tu's. Morgen, heute, gleich jest, und dann 
fort, fort aus diefem Haus, fort aus diefem Land, du und 
ich, wir beide allein -!“ 

„Kalte ein, Auguft!” unterbrady ihn Judith, indem fte 
die Hand auf ihres Pfleglingd Kopf legte und die Auf: 
geregten zu trennen fuchte. Der Knabe aber riß fich von 
ihr 108, fchlang fich von neuem um den Bater und fpradı 
mit einer Haft, in welcher das Fieber zitterte: „Nede mir 
nicht darein, Muhme; wolle mich nicht zwingen, Muhme! 
Hältft du mid) mit Gewalt, fo entweiche ich heimlich. Ich 
bin fein Kind mehr, ich bin fein Kind. Ich weiß, was 
ich will, ich weiß, was ich fol! Du bift meine Wohltäterin 
gewefen, er ift mein Vater! Du brauchft mid) nicht; du 
bift ſtark und frei und rein, er ift frank und bedroht, er 
hat feinen Frieden verloren! Mein Vater, ja mein Vater! 
Die Handlung der Gerechtigkeit, dad Saframent der Gnade, 
und dann fort, fort über Land und Meer, wohin Gott 
uns führt!“ 

Sn den Augen der Pflegerin ftand der Entichluß zu 
Iefen, daß fie diefes Opfer zu hindern wiffen werde; eine 
andere Macht aber erfparte ihr die Einrebe: die Macht 

der ſich rächenden überreizsten Natur. Eine plögliche, 


Judith, die Kiuswirtin 459 


krankhafte Wandlung breitete fich über Sylvians Züge. 
„Mein Kopf, mein Kopf!" Tallte er, indem er, fich ver: 
färbend, in ihre Arme ſank. Sie entriß ihn dem Vater, 
der ſich mit einem Schrei der Verzweiflung über den Ohn- 
mächtigen ftürzte, und trug ihn auf ihren Armen über den 
Hof in feine eigne Kammer. Das Leben kehrte bald zu⸗ 
rüd, aber die Pulfe flogen, und der Kopf ftand in Flammen. 
Die Magd wurde fchleunigft nach dem ftädtifchen Arzte 
ausgefendet. 

Sudith und der Pfarrer, allein auf dem verlaflenen 
Hofe, teilten fich in die Aufficht von Vater und Sohn. 
Sylvian lag fiebernd und ftumm, doc, fchienen fühlende 
Netzungen und Getränfe ihm wohlzutun, und der Pfarrer 
eilte. mit beruhigenden Nachrichten in dad Seitenhaug, 
deflen Bewohner er je mehr und mehr in einer verwirrten 
und verwirrenden Stimmung fand. Er forderte Schreib: 
zeug, warf einige Worte auf einen Bogen, fprang auf, 
rannte im Zimmer umher, fprady mit fich felber ohne ver: 
ftändlichen Zufammenhang, griff nadı dem wüften Roman, 
nad) einem neuen Bogen, zerriß das Gefchriebene, vers 
barg die Schnigel in Tafchen und Winkel, alles mit deut: 
lichen Zeichen der Angft und Scheu. Der Pfarrer bes - 
obachtete dieſes Treiben ftundenlang, in der Nebenfammer 
verborgen, da er inne warb, wie der Zwang feiner Nähe 
die Unruhe des Gefolterten fteigerte. Der gütige Mann 
dachte nicht daran, die fchwergeprüfte Kamilie zu verlaffen, 
auch als Knecht und Magd fich auf dem Hofe wieder eins 
ftellten. 

Erft nach Mitternacht fam der Arzt. „Strohfeuer, zum 
guten Zeil niebergebrannt!” erflärte er, nachdem er ben 
Knaben beobadjtet. „Die Augen fallen ihm zu, Die Natur 


460 Judith, die Kluswirtin 


hilft ſich ſelbſt. Laßt ihn ſchlafen, und wenn er erwacht, 
gebt ihm tüchtig zu eſſen; der Junge wird heil ſein wie 
ein Fiſch.“ — Erſt jetzt dachte die Wirtin daran, daß ihr 
armer Pflegling in den ſich überſtürzenden Erregungen 
ſeit dem Tode der Großmutter, wie die Nacht ohne Schlaf, 
ſo den Tag, vielleicht den zweiten ſchon, ohne Nahrung 
hingebracht; ſie beruhigte ſich vollſtändig, als des Arztes 
Vorausſicht in Erfüllung ging und Sylvian in einen 
ruhigen Schlummer verfanf, aus dem er erft ſpät am 
andern Tag erwadhte. 

Bedenklicher jchienen die Eindrücde, welche der Arzt in 
der Giebelftube empfing. Man hatte ihn, ohne das Fa⸗ 
miliengeheimnid mit feinen Erfchütterungen zu berühren, 
von des Fremden Zuftand und Schickſal nach dem ftädtis 
fchen Unwetter unterrichtet, ihn bei demfelben als einen 
zu Sylvians Hülfe herbeigerufenen Arzt eingeführt und 
beide miteinander allein gelaflen. Er wurde mit wilden, 
argwöhnifchen Blicken aufgenommen. „Ic bin nicht 
frank”, herrichte Frobel ihn an. „Wer hat gefagt, daß 
idy mich femwrogig befannt? Das Weib lügt! Sch will 
feinen Zeugen. Laudanum, Laudanum! Ich bin gefund!” 
— Gleich verworren waren alle Antworten auf des Arztes 
Fragen, der ihn endlich Fopfichüttelnd verließ. „Wenn 
er Fieber hätte, aber fein Puls geht im Schritt!” murs 
melte er, empfahl Ruhe und unauögefegte Beobachtung 
bis zu deutlicheren Symptomen. Bücher wie Schreibzeug 
folten ihm entzogen werden; da der Kranfe aber ſich ihrer 
Entfernung mit Seftigfeit widerfeßte und mit gleicher 
Unruhe auf der Einhändigung feiner Brieftafche beftand, 
ftimmte er felber dafür, ihm zu willfahren; nur das ges 
forderte Opiumglas wurde vorenthalten. 


Judith, die Kiuswirtin 464 


War ed Abfichtlichfeit, war ed, daß die Erinnerung ihm 
wirklich entfchwunden, aber Frobel hatte des Todes feiner 
Mutter nicht mit der leifeften Andeutung wieder erwähnt 
und feiner der Seinigen, nach gemeinfchaftlicher Übereins 
funft, jenes Gedächtnis in ihm aufgewedt. Auch die Bes 
gräabnigfeier follte unbemerft an ihm vorübergehen, ber 
Zug fich in der Morgenfrühe durch die vordere Haustür 
auf der Straße bewegen, nach welcher das Seitenfeniter 
feine Ausficht bot. Die Sorge um einen Wächter in der 
Stunde, wo Judith nebft dem Pfarrer und Sylvian, falls 
biefer genefen, dem Sarge folgen mußten, wurde erledigt, 
indem der Medikus fich erbot, in der Nähe des Kranken 
zu bleiben, bis die Leidtragenden zurüdgefehrt. 

Ein Unvorhergefehened, dad wir Zufall nennen und 
das in fchweren Lagen wie die der Klusbewohner in jener 
Nacht als eine Kleinigkeit kaum beachtet wird, ftörte diefe 
wohlgetroffenen Einrichtungen und gab mittelbar den Ans 
laß zu einer unheilvollen Entfcheidung. Da der Sarg, in 
welchem die alte Frau zur Ruhe getragen werden follte, 
von Stunde zu Stunde vergeblich erwartet wurde, mußte 
man fich entfchließen, mitten in der Nadıt den Knecht 
nach der Stadt zu ſchicken, denfelben herbeizufchaffen, oder 
für den vorauszufegenden Fall, daß feine Fertigung fich 
in der allgemeinen Wirrnid verzögert, den Prediger zu 
einer fpäteren Feier einzuladen. Erft in der zum Begräbnis 
anberaumten Stunde ftellte der Klaas fich wieder ein ohne 
das dunfle Gehäufe, das erft am Nadjmittag erwartet 
werden durfte. Das bereitd harrende Trauergefolge mußte 
heimgeſchickt und für die Dämmerftunde wiederbeftellt wers 
den. Auch der Arzt durfte nicht länger weilen, verſprach 


aber, wenn irgend tunlich, gegen Abend wiederzufehren. _ 
« —— 


162 Juudith, Die Kluswirtin 


Judith war geneigt, Sylvians andauernden Schlafzu⸗ 
ſtand auch um des Vaters willen für eine wohltätige 
Fügung zu halten, wenngleich eine unruhigere Spannung 
nicht an ihm zu verkennen war, ſeitdem er den ſaͤnftigen⸗ 
den Einfluß des Knaben entbehrte Sm Grunde aber 
fohien er zu ausſchließlich mit fich felber befchäftigt, um 
ihn zu vermiffen oder fich von feinem Unmohlfein be⸗ 
ängftigen zu laffen. Nur einmal fragte er die Magd, Die 
einzige Perfon, der er nicht mißtraute, bei deren Eintreten 
er aber immer ängftlich nach der Tür laufchte, ob nicht 
eine andere ihren Schritten folge, — er fragte fie geheim— 
nievoll: „ob der junge Herr drüben fchon feinen Koffer 
gepackt?“ und ald die Chriftine wahrheit: und vorfchrifts 
gemäß antwortete: „Der Sylvo fchläft, er fchläft fich ges 
fund”, -fagte er: „Raudanum, Laudanum!“ befchrieb fein 
eigned Arzneifläfchchen und meinte, man habe dem Sylv 
wohl Tropfen daraus eingegeben. — „Kann fein“, verfeßte 
die Ehriftine, die weder widerfpruchsfüchtig war, noch fein 
folte. Damit wollte fie gehen; der Mann aber hielt fie 
zurüd, drüdte ein Feines Geldftüd in ihre Hand und bes 
drängte fie mit neugieriger Angft nach fremden Herren 
aus der Stadt etwa oder Nachbarn aus dem Dorfe, 
Männern mit fohwarzen Kleidern und ernithaften Gefichs 
tern, die fi) mit der Wirtin unterredeten. Die Dirne, in 
dem Glauben, daß er das morgendliche Leichengefolge meine, 
das ihrer Weifung zufolge nicht erwähnt werden durfte, 
fagte, daß fie feine gefehen, und ging. 

Am Nachmittag wurde der Sarg gebradht, und faft 
gleichzeitig erwachte Sylvian heil und geftärft, wie der 
Arzt vorausgefagt. Nachdem ihn der Pfarrer über feinen 
Vater beruhigt, aß er mit dem Appetit eines breitägig 


Judith, die Kluswirtin 163 


Ausgehungerten und hatte kaum noch Zeit, ſich zu der 
Feier zu rüſten, da der ſtädtiſche Prediger wie das Ge⸗ 
folge bereits warteten. Der Medikus hingegen, auf den 
man gerechnet, war ausgeblieben, und es entſtand nun die 
Frage, wen man zur Beaufſichtigung des Gefangenen zu⸗ 
rücklaſſen ſolle. 

Man muß die Wichtigkeit in Betracht ziehen, mit welcher 
Landleute auch von einer mehr ald gewöhnlichen Bildung 
den legten Akt eined Menfchenlebend, die Keimfenfung 
für eine jenfeitige Ernte, behandeln, um weder die befon- 
nene Kluswirtin, noch den zartfühlenden Sylvian, noch 
felber den gemütlichen Pfarrherrn darob anzuflagen, daß 
feinem von ihnen auch nur der Gedanfe gefommen ift, die 
Ehrenpflicht gegen die tote Ahne mit dem Dienfte bei dem 
Kranfen zu vertaufchen, und daß man ſich zu der Aus⸗ 
funft entfchloß, die handfefte, gehorfame Magd an der 
Lugefpalte in der Kammer zurüczulaffen. Schweren Her⸗ 
zens, im neuen Trauerrod an der Seite ihres Bräutigame 
bei einer fo wichtigen Feierlichfeit zu fehlen, aber ohne 
Widerſpruch hatte fich die Ehriftine auf ihrem Wächters 
poften eingerichtet. Die Zimmertür war von außen ver⸗ 
fchloffen; in einer Stunde faum glaubte man auf den 
Hof zurücgefehrt zu fein; der Arzt durfte jeden Augen: 
blie® erwartet werden; dad Weſen ded Gefangenen zeigie 
feine beforgniserregende Veränderung: man fchied ohne 
Arg, um am Abend dad Nächftgebotene miteinander zu 
beraten. 

Die Dämmerung war im Hereinbrechen, ald in ber 
Ferne die Trauerglode anhob und der Zug ſich in Bes 
‚wegung feßte. Den beiden von ihren Seelforgern begleis 
teten Leidtragenden folgte die Mehrzahl der männlichen 


“ 


164 Judith, die Kiuswirtin 


Oemeindegenoflen, ein Merkmal des milden priefterlichen 
Einfluffes fowohl, als des durch die junge Wirtin wieders 
hergeftellten Ehrenanfehnd der alten Klus. Die Sonne 
bes geftrigen Tages hatte die feuchten Luftdünfte von neuem 
zufammengezogen, ein grauer, ſickernder Nebel lag über 
ber Gegend, fein heiteres Abendgold leuchtete in des Sachſen⸗ 
röschens offenes Grab. 

Die Trauerrede war furz und bündig; erbaulich hätte 
fie ohnehin nur für eine fein können, deren Herz in dieſer 
Stunde in zu fchweren Lebenskämpfen rang, um fich aus 
den Schauern ded Todes in eine unfterbliche Glaubens» 
welt tragen zu laflen. Als das legte Amen verhallt, 
trennte man fich fühl und nüchtern, ohne Einladung zum 
üblichen Leichenfchmaus, vor der noch ungefüllten Gruft. 
Es war völlig Abend geworden; der Mond lag hinter 
fahlen Dunftwolfen verfchleiert, der Prediger trat unvers 
züglich den befchwerlichen Heimweg durch die übers 
ſchwemmte Aue an, und die beiden Verwandten wendeten 
ſich in Begleitung ihres geiftlichen Freundes nach dem 
Klushofe zurüd. Aber fchon innerhalb des Friedhofgeheges 
befchleunigte Sylvian feine Schritte, von Sehnfucht und 
Sorge um den verlaflenen Vater getrieben; die beiden 
andern gingen allein des Weges, auf welchem fich vor zwei 
Tagen ihre Bekanntſchaft geknüpft. 

Judith zögerte nicht, ihren Widerwillen gegen Sylvians 
geftern in der Leidenfchaft gefaßten, aber vor einer Stunde 
am offnen Sarge der Ahne in befonnener Ruhe wieders 
holten Plan mit großer Entfchiedenheit Ausdrud zu geben. 
Nun und nimmer, erklärte fie, werde fie dad Kind, dag fie 
bis heute allen Sorgen und Nöten der Wirklichfeit übers 
hoben, der Führung eined unzurechnungsfähigen Vaters 


Judith, die Kiuswirtin 4165 


überlaffen, felbft wenn deffen gegenwärtige Wirrnis fich 
nur als vorübergehende Folge der Aufregung oder gar 
als eine Maske heraugftellen follte; nun und nimmer ihn 
feinem Schülerberufe entreißen, alle Pläne für feine Zu⸗ 
funft über den Saufen ftoßen. Sie fah den Schuglofen 
in einer fremden Welt verfinfen, einem Wahne, wenn auch 
dem edelften, ein neues Opfer verfallen. Ihr fonft fo 
weichmütiger Begleiter hatte ein Fräftigeres Zutrauen. 
„Er ift im fechzehnten Jahre,” fagte er, „ein Alter, in 
welchem die Mehrzahl der Knaben ſich felbftändig Bahn 
brechen muß. Ihr werdet auch in der Ferne die Hand 
nicht von ihm abziehn, brieflich feine Ratgeberin bleiben, 
und wenn, wie voraudzufehn, in nicht allzu ferner Frift 
der Herr über Leben und Tod das nädıfte Band gelöft, 
ihm eine Heimat offen halten. Schüler hin, Schüler her, 
liebe Tochter, das Leben ift das Iehrreichite Buch; Die 
Pflicht fragt nicht nach der Flüfterftimme des Berufs, und 
der Segen ded Gemütd entfchädigt für die Opfer, die der 
Geiſt gebracht. Aber welche Pflicht, welcher Segen fünnte 
mächtiger wirfen, ald die, einen Berfinfenden zum Licht 
emporzuheben? Und wenn der Berfinfende gar ein Bater 
it? Wohl mag es leichter fein, einen Verftocten zur Buße 
als einen Flatterling zu ftetigem Willen zu zwingen; Die 
Gerechtigfeit bricht fich an folchem Rohr oder das Rohr 
fich an ihr; aber die biegfamere Liebe wird ihm Stüße und 
Stab. Denn die Gerechtigkeit ift wohl die Wurzel am 
Baume der Tugend, aber die Liebe ift feine Krone, die 
dem ermatteten Wanderer ihren Schatten fpendet und in 
welcher ded Himmels Vögel ihre Nefter bauen.” Der 
Pfarrer hatte diefe legten Worte, mit denen er vielleicht 
an feines Iutherifchen Amtsbruders Stelle die Grabrede 


166 Judith, die Kluswirtin 


der alten Sachſenwirtin geſchloſſen haben würde, kaum 
vollendet, als ihnen Sylvian bleich, verſtoͤrt, atemlos aus 
dem Hoftore entgegenftürzte. „Er iſt fort, verſchwunden!“ 
Mehr vermochte er nicht zu ſtammeln, und mehr hätten Die 
Entfegten nicht zu hören vermocht, fo haftig ftürmten beide 
nach dem Giebelhaufe voran. 

Der Eingang des Zimmers war von außen verfchloffen 
und von innen verriegelt, das Fenfter geöffnet, Hof wie 
Garten ohne Spur. Die Magd ftand erftarrt unter der 
Kammertür, durch welche Sylvian, als auf fein wieder: 
holtes Klopfen und Rufen feine Antwort erfolgte, vor 
einer Weile mit Gewalt feinen Eingang genommen. Er 
war fort, verfchwunden! — Dad Scidfal des Unglück⸗ 
lichen in diefer letten Stunde, da man feine Mutter zu 
Grabe trug, kann nur mit Vermutungen erflärt werden, 
die wir nad) den fpärlichen Ausfagen der Magd wie nadı 
dem Inhalte eines für feinen Sohn hinterlaffenen Briefes 
und einzelner zerftreuten Papierfchnigel, auf welchen Die 
geforderte Erflärung in abweichender Faſſung, aber nie- 
mals der Wahrheit getreu verfucht und immer wieder 
vernichtet worden zu fein fcheint, hier in der Kürze zus 
fammenfaffen. 

Nach dem Zugeftändniffe einer fchriftlichen Erflärung 
und des Sohned Entfernung ift dem unruhigen, durch 
einen felbftauferlegten fcharfen Zügel zerriebenen Hirn 
ber leßte fümmerliche Halt entwichen. Die Borftelungen 
eines heimlichen und eines öffentlichen Gerichtes, dem eine 
graufame Drängerin ihn überantwortet, wechfeln und 
mifchen fidy ineinander. Der Arzt ift fein Arzt, aber ein 
lauernder Zeuge oder Eideshelfer, von der Anflägerin 
beftellt. Er felber trägt eine Masfe; fo fieht auch er nur 


Judith, die Kiuswirtin 467 


Masten, fieht ſich von Spionen umftellt, feftgehalten, von 
allen Seiten bedroht. 

In diefer Stimmung hört er von feines Sohnes ans 
dauerndem Schlaf — wenn es nicht Füge ift, ift es Tünfts 
liche Betäubung, um den einzigen Retter und Belfer von 
ihm fernzuhalten. Am Fenfter fpähend, fieht er zweimal, 
morgens und nachmittags, im dämmernden Mebel die 
dunklen Geftalten der Sargträger und des Leichengefolges, 
einzeln, langfam vom Kamp her dem Trauerhaufe zus 
fchreiten. Wieder find ed bald Zeugen und Häfcher, bie 
auf ihn fahnden, bald Freifchöffen und Eideshelfer, die 
fidy verfammeln im „offnen Ding“, die „Wette” an dem 
geftändigen Mörder zu vollziehn. Er zählt: drei, feche, 
vierzehn! Und ihn zu entlaften nicht einer. Er ift ver⸗ 
loren; er fühlt fchon die „Wyd“ über feinem Haupt, wie 
er fie die Nacht hindurdy über dem des „femwrogigen 
Sunferd von Dortmund” gefühlt. Er will appellieren an 
Kaifer und Reich, aber wo find Kaifer und Reid? Keine 
Wahl, er muß fliehn. Mögen fie ihn verurteilen zu Kerker 
und Beil, ihn — bis zum legten verwirren ſich Die 
Borftelungen von Sonft und Gebt, — ihn verfemen: 
echtlo8, rechtlog, ſicherlos, friedlos, — was fchiert es den 
Geflüchteten, er iſt fort, auf weitem Meer, in einem freien 
Land! 

Aber ſein Sylv! Er ſtockt. Das Kind kann ja nicht 
ewig ſchlafen. Er faßt ſich, ſchreibt im Fluge das Blatt. 
Sylvian ſoll ihm folgen, heimlich, mit Gewalt, ſobald er 
erwacht; im Hafen will er auf ihn warten, ihre Ein⸗ 
ſchiffung vorbereiten. Er verabredet Ausflüchte, Ver⸗ 
kleidungen; Sylvian ſoll ſich Geld und Geldeswert ver⸗ 
ſchaffen, ſeine Uhr nicht vergeſſen. Er denkt an alles. — 


168 Indith, die Kluswirtin 


Er fchließt den Brief durch gefautes Brot und gibt ihn 
mit unbefangener Miene der den Befperimbiß bringenden 
Magd zur Beforgung an den jungen Herren augenblidlid,, 
fobald er erwacht, nur — er drüdt noch einmal eine Münze 
in. ihre Hand -, nur daß die Wirtin es nicht gewahr 
werde. Darauf genießt er von der gereichten Speife, ers 
Härt müde zu fein, ein paar Stunden ruhen zu wollen, 
verbittet ſich Störung wie Licht und wirft fich in Gegens 
wart der Magd auf das Bett. 

Indem die Ehriftine das Zimmer verläßt, hört fie das 
anhebende ZTrauergeläut und kann der Berlodung nicht 
widerftehen, aus einer dem Garten entgegengefegten Dach⸗ 
luke einen Blick auf den Leichenzug zu werfen. Kaum 
fünf Minuten von ihrem angewiefenen Plage fern, hat fie 
bis zu Sylvians Ankunft denfelben nicht wieder verlaffen, 
und da fie nicht die leifefte Regung in der Stube ver- 
nahm, den Fremden auf feinem Bett im dunklen Hinter⸗ 
grunde ſchlafend vermutet. In jenen wenigen unbeob- 
achteten Minuten muß er daher, nachdem er die Tür ver- 
riegelt und feine geftrigen Kleider übergeworfen, durch 
das Fenfter, fich an einem Spalier hinabwindend, ent- 
fommen fein, feheint aber den Bogen ded Waldweges 
vermieden und fich unmittelbar auf die Kandftraße ge- 
wendet zu haben. Kein Menfcdy erinnert fid) feiner Bes 
gegnung. 

Er fieht die Niederung unter Waffer und erflimmt den 
Damm, ohne zu ahnen, daß er nahe dem Bahnhofe Durchs 
riffen if. Der Zug nad) der nördlichen, nicht unters 
brochenen Richtung, Die Richtung, nach der er felber ftrebt, 
wird gerüftet, er hört das Läuten, das Zifchen der Loko⸗ 
motive und flürmt voran, Der Nebel hat das Abend» 


Judith, die Kluswirtin 169 


dunfel verfrüht, er fieht nicht unter fich, nur auf die aug 
der Kerne glühenden Mafchinenaugen. Jählings entweicht 
ihm der Boden, er gleitet aus, rollt hinab auf den vom 
Waſſer überfpülten Weg, fucht fich zu halten, Elammert 
fih an das Geftrüpp, verfinft immer tiefer zwifchen Wur⸗ 
zeln und Schlamm; die Gerten umftriden ihn, er fann 
nicht vorwärts, kann nicht zurüd, die „Wyd“, vor der er 
im Wahn geflüchtet, wird ihm in Wirklichkeit zur Schlinge, 
dad Schickſal erfüllt fih an der Stelle einer jahrelang 
verborgenen blutigen Tat. — An diefer Stelle fanden ihn 
die Seinigen; voran, von unheimlicher Ahnung getrieben, 
die Schwefter. Er war tot. 

„Der Amerifaner, James Brown, verunglüdt durch 
Sturz und rafch eingetretene Apoplexie“, lautete der 
Spruch der gerichtlichen Totenfchau. — So ging er unter, 
feiner Heimat ein Fremder, die Handlung der Gerechtig- 
feit unvollbracht, durdy das Saframent der Gnade nicht 
entfühnt. 

Zwei Tage fpäter, bei grauendem Morgen, legte man 
ihn zur Ruhe zwifchen den Fremdlingsgräbern der alten 
Sachſenmutter und ihrer Scywiegertochter Sylvia. Die 
Kluswirtin und ihr Pflegefohn, geleitet von dem Ges 
meindepfarrer, waren bie einzigen, die feiner Leiche folgten. 
Sylvian, der bid zulegt auf feinen Knieen betend neben 
dem Toten gelegen, erflärte auf dem Heimwege mit großer 
Faſſung, daß er Priefter werden wolle. 


Klärung 


In der Mittagsſtunde, welche jenem ſtillen Begräbnis⸗ 
morgen folgte, betrat ein trauerndes Weib die Zelle des 
Gefangenen Simon Lauter. Er ſaß, mit dem Ruͤcken der 


170 Judith, die Kluswirtin 


Türe zugewendet, in ſeine kunſtvolle Arbeit vertieft und 
blickte nicht fruͤher auf, bis er ſeine Kniee krampfhaft um⸗ 
klammert und glühende Tränen auf feine Hände nieder⸗ 
riefeln fühlte. Es war Judith, die ftolge Kluswirtin, die 
fi zu Füßen des Züchtlings wand und zitternd feine 
Vergebung erflehte. Aber auch, als fie nach langer Stille 
beruhigter, ihre Hand in der feinen, ihm gegenüberftand, 
war ihr erftes einziges Wort: „Vergib!“ Spät und müh- 
fam rang das zweite fich hervor: „Sch habe heute morgen 
meinen Bruder begraben.“ 

Der Hauch ded Glücks, der kaum die bleichen Wangen 
des Gefangenen überflogen, wid) einem eisfalten Schatten. 
— „Heimgekehrt, tot?“ rief er entfeßt. — „Heimgekehrt, tot!“ 
fagte Sudith; „das Erbteil feiner Schweſter: einen Schuld- 
ofen zu entlaften.” — Simon fchlug die Hände vor das 
Geſicht und ftand in heftiger Erfchütterung. — „Ihr 
Erbteil — fein Sohn!” murmelte er ihr nach. Die lebte 
Verſuchung mußte überwunden werden. 

Des Mädchene Seele ergoß fid) vor ihm, knapp, ge⸗ 
preßt, Silbe um Silbe; dann immer voller und voller. 
Nicht den Toten verflagte fie, nur fich felbft. Sie war 
die Schuldige, deren Kleinglaube fein Opfer bezweifelt, 
deren Kleinmut feine Rechtfertigung verfaumt. „Simon,“ 
fagte fie zum Schluß, „iedes graue Haar auf Deinem 
Haupt Fagt mich an um eine Stunde der Qual, aber - 
diefer Friedensblicd deines Auges, — vergib mir, Simon, 
denn ich habe mehr gelitten als du!" — Sa, er blickte in 
Frieden; die Verfuchung war überwunden, die Stunde 
gefommen, in der er wieder an fidy felber glauben, in der 
er vor fie treten und fagen durfte: „Es ift der Simon, 
den du Tiebgehabt!" die Stunde auch, in welcher bag 


Judith, die Kiuswirtin 171 


Gelübde ded Schweigens vor ihrem Ohr, und vor ihrem 
allein, fich Löfen durfte. „Um diefer Stunde willen“, fagte 
er, „habe ich gebüßt zehn Sahre lang; nicht das Ver⸗ 
brechen, defien man mid, angeflagt, aber - vom Laſter 
zum Verbrechen ift faum ein Schritt — aber das Lafter, 
Judith, das und entzweit.“ Er zog fie neben fich auf die 
Bank, und ihre Hände in den feinen, wie einft, hob er 
den leßten Schleier von einer dunklen Tat. 

„Al ich mit dir und jenem Ungluͤcklichen zuſammen⸗ 
ſtieß,“ ſo lautete ſein Bekenntnis, „als ich ihm nach ſei⸗ 
nem Hauſe folgte, um deinem Bruder Lebewohl zu ſagen, 
da zweifelte ich nicht, daß du ſeiner Werbung nachgegeben; 
ich war zum Tode betrübt; aber ich grollte weder dir noch 
ihm, denn Geiſt und Leib waren rein. Und in derſelben 
Nacht haßte ich dieſen Mann, von dem ich nichts Boͤſes 
wußte, den Mann, der did, liebte, als einen tödlichen 
Feind; ich hätte ihn würgen mögen, und wenn meine 
Hand frei vom Blut geblieben, nicht der Wille hat fie 
gebannt, nur die förperliche Scheu, welche die Natur mir 
eingebunden. Sc war ein Mörder vom Herzensgrunde, 
denn ich war im Raufch. Ich fah jenen anderen, der mir 
von Jugend ab ein Bruder gewefen, von einer böfen Leis 
denfchaft gepackt, fuchte ihn zu warnen, zurüdzuhalten, — 
und mein Lallen verhallte. Ich fah ihn in eine unfelige 
Verwirrung rennen, verließ ihn, um für ihn einzutreten, 
und ftatt dad Geld in meinem Haufe zu holen, taumelte 
ich in der Richtung, von welcher du fommen follteft, 
Judith. Da unten an der Torfahrt lauerte ich, um Did) 
dem Keinde zu enitreißen; des Freundes hatte ich vergeflen 
— denn ich war im Rauſch. — 

„Sc hörte und fah die Ningenden, firebte, fie voneins 


172 Judith, die Kiuswirtin 


ander zu reißen, und brach zufammen gleich einem Rohr, 
ich, den die Natur mit Kräften ausgerüftet, ftärfer als 
jene beiden vereint. Sch, der Ruhige, trug die Schuld 
eines Sinnlofen, die Schuld, die ich zu hindern vermochte 
und nicht verhindert habe — denn ich war im Rauſch. - 
Und dies alles ftand plöglich Mar vor meiner Seele, da 
ich Dich neben dem blutigen Opfer erfannte, dich, Judith, 
ber ich mein Wort verpfändet und gebrochen, die ich mehr 
zu lieben glaubte ald mein Leben, und doc, weniger liebte 
als den Dämon, dem ich Gewalt über Leib und Seele 
eingeräumt, da ich dein wahrheitzeugendes Ja wie die 
Pofaune des richtenden Engeld in meinem Herzen widers 
hallen hörte. 

„Und nun jene ftilen Tage der Haft, jene Tage der 
Einfehr und Prüfung! Bor kurzem, ald ich im Schadhte 
arbeitete, hatte ich einen Beamten die Gefchichte eines 
Freundes erzählen hören, eines gebildeten Mannes, der 
fid) freiwillig das Xeben genommen, weil er durch dad 
Lafter des Trunks den Widerwillen des geliebten Weibes 
erregt und doch von dem Lafter nicht zu laffen vermochte, 
Das war im Freien, zwifchen Himmel und Wald, und 
ich hoffte noch, glaubte noch an mich felber zu jener Zeit. 
Aber, daß ich ed mit Worten ausfagen könnte, wie mich 
die Erinnerung an diefes Schidfal in der einfamen Zelle 
durchfchüttelte. Auch ich hatte die reine und ftarfe Liebe 
eined Weibes verwirft durch jenes Lafter, auch ich Fonnte 
von dem Lafter nicht mehr laffen ohne Gewalttat an mir 
felbft. Der Selbftmord fol eine Todfünde fein, eine Feig⸗ 
heit, eine Roheit der Seele. Vielleicht. Ich für mein 
Teil hatte einfach nicht das Blut für eine rafche Tat. 
Sc war ein Feigling, wenn id) jener langfamen Bergifs 


Judith, die Kluswirtin 173 


tung des Laſters, die wohl mit größerem Rechte eine Tods 
fünde und eine Roheit genannt werden darf, — denn fie 
entquillt einem Unmaße der Luft und jene einem lÜber- 
maße des Leidens, — wenn ich diefer Iangfamen Bergifs 
tung nidyt einen Damm entgegenfegte. Einen Damm, 
wie du es einft genannt, Judith; aber einen Damm von 
außen, denn mein Wille, ich wußte ed, war feiner. 
„In diefem Wirbel der Gedanken, wenige Stunden 
vor der Kataftrophe, welche über Tag und Nacht für mich 
entfcheiden follte, fam es über mid; gleich einer Erleuch⸗ 
tung von oben. Eine Mauer um mid; ziehen gegen das 
Lafter, das ich freiwillig nidyt mehr zu bannen vermochte, 
eine Gewifjensfünde fühnen, deren Unterlaffung nicht 
mein Berdienft, von meinem Freunde und Bruder, — 
merfe es wohl, Sudith, dies legte war nur die Folge, 
nicht der Ausgang meiner Erkenntnis, - von dem Sohne 
meiner Wohltäter eine Anklage lenken, die fich unzweifels 
haft gegen ihn erheben mußte, wenn ich die ftüchweifen 
Erinnerungen jener Nacht enthüllte -— Reinigung, Buße 
und Wohltat mit einem Worte, das ich ſprach, und mit 
einem, das ich auch ferner zurückhielt, wie ich es bisher 
im traumhaften Schwanfen zurüdgehalten. Sch fage bie 
Wahrheit, Judith, ich hatte die Tat nicht verüben fehen, 
denn ich war im Rauſch. 

„Mein Leben, idy wußte es, fchüßten Zweifel und Bes 
denken, die ſich nicht überfpringen ließen. Seiner harrte 
das Schafott. Mochte er ſich durch die Flucht diefem 
Außerften entzogen haben, feine Mutter lebte, fein Kind, 
du Iebteft, Sudith, um Stunde für Stunde das ſchwebende 
Beil über feinem Haupte zu empfinden. Ich ftand allein, 
die einzige Xiebe hatte id) verwirkt. Rauſch entfchuldigt, 


> 


174 Judith, die Kluswirtin 


ein Mord fchändet nicht, wohl aber ein Raub, und Schande 
wird höher ald Sünde angefchlagen in den Augen ber 
Welt. Man mochte mich für einen Mörder halten, nim⸗ 
mer für einen Dieb. Seine Ehre war gebrandmarft, 
der Name, den ein fchuldlofes Kind zu tragen hatte, den 
eine Schwefter im Schweiße ihres Angefichtd rein ges 
wafchen. So ſah ich's, Judith, und fo fehe ich's noch 
heute. Es war Notwehr gegen mid, felbft, ed war Buße, 
und das, was du ein Opfer nennft, nur ein erquidender 
Segen, der aus jenen beiden erwuchs. 

„Und nun, Sudith, bringe mich nicht um diefen heim⸗ 
lichen Lohn. Wühle nicht in ein Grab, wühle nicht in 
bein eignes Fleifch und Blut. Er ift dir nicht vergebene 
zum Bruder gefeßt gewefen; ehre den ewigen Willen, der 
feine Schuld mit Nacht gededt. Ja, täteft du's dennoch, 
Judith, weil ftarfen Seelen wie der deinen das Schwerfte 
immer das Nädıfte und das Übernatürliche häufig natür- 
lich fcheint, Tießeft du die Stimme vernehmen, die dir als 
Gerechtigkeit gilt, ich würde diefe Stimme verleugnen, 
Sudith, und der Schatten eines zwecklos Gezeichneten, 
eines, den bereits fein höchfter Richter gefordert, hätte 
fich für ewige Zeiten zwifchen dich und mid) gedrängt.“ 

Judiths Augen hatten unberkeglich an dem Redenden 
gehangen wie an einer himmliſchen Lichtgeftalt. „Und 
du, Simon!“ rief fie jet, da er geendet, erfchauernd über 
den ganzen Leib und noch einmal zu feinen Füßen nieber- 
finfend, „Simon, und du?" — Er richtete fie auf, zog fe 
an fein Herz und blidte fie an mit heiterer Ruhe, ja ein 
Lächeln auf den bleichen Rippen. „Ach, Judith,“ fagte er, 
„ich werde der Gnade harren oder der Endzeit meiner 
Strafe. Ich fühle mic, nicht unglüdlich hier, ja, ich bin 


Audith, die Kluswirtin 175 


das Hätſchelkind dieſes Haufes, das dir ale ein Grab ers 
fcheinen mag. Unter meinen elenden Mitbrüdern find 
mandhe, die mich lieben; der Direktor verfehrt mit mir 
nahezu als einem Freund. Schau did; um, Judith, ich 
habe lohnende Befchäftigung, habe Schreibzeug und Bücher, 
glaube mir, ich wäre in der Freiheit nicht fo weit ge⸗ 
kommen. Ic war ein Schwäcdhling, ich bedurfte der Zucht. 
Darum, wenn Liebe fid, erflären läßt, darum liebte ich 
dich ja, Judith, dich vor allen andern, weil du Kraft 
hatteft für mich mit. Die ftärfende Liebe ift die ftärffte, 
nun wohl bin ich ein Mann geworden; die Erinnerung, 
der Glaube an deine Liebe hat mid zum Mann gemacht. 
— Soll ich aber Gnade finden, dann um fo größer freilich 
mein Glüd. Die Gerechtigkeit kann ich miffen. Wer ſich 
unfchuldig fühlt oder Durch Buße entfühnt, fieht fich nimmer 
im Schatten. Sei's, daß ich mir unter Fremden eine 
Heimat fuche,” er fah Judith erbleichen und fegte rafch 
hinzu, einen hellen Freudenglanz über den Augen, „oder 
auch hier in der alten Heimat. Mir bleiben Befchäftigung 
und Bücher, wie ich fie im Kerfer lieben lernen, ich finde 
meinen Wald wieder, Gottes Himmel, — und unfre alte 
Freundſchaft, Sudith, über allem.” — So fchieden fie von⸗ 
einander. 

Aber erft nach einer langen Unterredung mit dem 
Direktor und ihrem geiftlichen Freunde fehrte die Wirtin 
in ihre Klus zuräd. Mit einer Haft, die feiner an ihr 
gefannt, mit fliegenden Schritten und leuchtenden Blicken 
rüftete fie ihren Hof für einen mehrtägigen herrenlofen 
Selbftbetrieb und verließ ihn, in ihre Trauerfleider gehüllt, 
mitten in der Nacht, um eine heimliche Reife anzutreten. 

Am übernäcften Abend brachte ‚eine Nachricht bed 


4176 Judith, die Kiuswirtin 


Telegraphen direft aus dem Königlichen Kabinette der 
Reſidenz eine unerhörte Bewegung in das Getriebe der 
Strafanftalt, und einen Morgen fpäter, während Simon 
Lauter, der Begnadigte, heiße Tränen im Auge und von 
manchem aufrichtigen Händedrud begleitet, ausden Mauern 
fchied, die er fidy in Wahrheit zu einem Zuchthaufe werden 
laflen, während er zum erftenmal feit zehn Sahren den 
Atem feines geliebten Waldes in tiefen Zügen in fich fog, 
verbreitete fidy diefe Bewegung über Stadt und Land, 
eine freudige Begeifterung entzündend, wie fie leider nur 
allzu felten den trägen Tageslauf der Herzen durchrüttelt. 

„Der Simon Lauter, im Bolfe ‚der Quellenfimon‘ 
genannt, vor zehn Sahren des Mordes angeklagt und feit 
der Zeit die über ihn verhängte Strafe mit mufterhaftem 
Betragen verbüßend, hat ohne ein Wort der Einrede jene 
Strafe für einen andern erduldet, den ber Tod bereits 
vor einen höheren Nichter geführt und bdeflen Namen, 
nad) ded Simon Lauter Wunſch und Willen, ein ewiges 
Vergeſſen deden fol. Seine Majeftät der König, Durch 
unmwiderlegliche Beweife von der Wahrheit diefer feltnen 
. Kandlungsweife überzeugt, haben dem Erlaffe Allerhöchft 
ihrer Gnade dieſe rechtfertigende Erflärung hinzuzufügen 
befohlen. Sie beauftragen die betreffenden Kreisbehörden, 
dem Simon Lauter mit Rat und Tat zu feinem Forts 
kommen behülflich zu fein und über feine etwaigen Bes 
dürfniſſe oder Wünfche Allerhöchften Orts zu berichten, 
wie Sie denn auch dem Simon Lauter für feine uners 
fchrocdene KHülfleiftung und aufopfernde Rettung mehr 
ald eines Wenfchenlebend bei der fürzlichen, von Sr. 
Majeftät tiefbeflagten Heimfuchung Shrer getreuen Stabt 
*** das Kreuz ꝛc. 20. zu verleihen geruhen.“ — 


Judith, die Kiuswirtin 177 


Alfo war ed mit gefperrter Schrift an der Spibe des 
amtlichen Zeiled der ftäbdtifchen Zeitung verfündet und 
Simon Lauter über Nacht der Held feiner heimatlichen 
Gegend geworden. Sa, dad war erft der rechte Born, der 
Born ber Liebe, der fich dem Quellenfinder aufgefchloffen! 
Dan wallfahrtete nadı dem verrufenen Waldhaufe, fchüts 
telte ihm die Hand, bot ihm Hülfe von fern. Keiner hatte 
von Anbeginn an feine Schuld geglaubt, jedweder im 
ftillen auf Gottes rechtfertigenden Finger gerechnet. Man 
pried ihn in taufend Zungen - feine ftille Geduld, fein 
Kunftgefchick, feinen Heldenmut, die Himmels⸗, nicht Teus 
felögabe feines Quellenblidd und — felber das gelaffene 
Schweigen bei allen groben wie feinen Spürverfucjen nady 
feiner Heimlichkeit. 

Simon Lauter ließ Tächelnd wie ein Weifer diefe volks⸗ 
tümlichen Huldigungen über fich ergehen; er danfte mit 
Hand und Mund für alle Anerbietungen von höchfter Stelle 
bis zur niedrigften, ohne von einer einzigen Gebraud, zu 
machen, Iebte ftil in feinem Waldhaufe, den Fünftlichen 
Arbeiten hingegeben, die er in böfen Tagen als feinen eigents 
lichen Beruf erfennen und lieben lernen, oder draußen im 
Wald, deffen Hütung er einzig von allen angetragenen Ams 
tern wieder verfah, gab auch wohl hin und wieder einen 
Rat bei den Bewäflerungsanlagen der Gegend, für einen 
ernftlichen Wiederangriff des Bergweſens aber erfannte er 
den Ablauf der Sugendfraft. Alles in allem, er blieb auf 
feinem mäßigen Grunde, ohne ſich von der Woge plöglicher 
Gunſt in Iuftige Regionen wirbeln zu laflen. 

In der Nacht, die feiner Freigebung folgte, hatte er 
die von ihrer rätfelhaften Reife heimfehrende Kluswirtin 
auf dem ftädtifchen Bahnhofe empfangen, und fie, heute 
® 


4178 Judith, die Kluswirtin 


ohne zimperliched Zagen, ihren Arm in den feinen gelegt, 
um fit} von ihm nach ihrem Hofe zurücgeleiten zu 
laffen. Schweigend gingen fie bis jenfeitd der Stätte 
ihrer dunklen Erinnerungen, dann aber fagte er mit 
einem herzlicdyen Händedruck: „Sudith, Judith, und das 
haft du für mich getan?” — Sie aber verjegte lächelnd, 
fo warm und glücklich wie im Leben noch nie: „Hätte ich 
weniger tun dürfen für einen, der die Gerechtigkeit miflen 
kann?” 

Bon der Nefidenz ausgehend, hat fic manches fabelhafte 
Gerücht über Die Aufnahme verbreitet, welcher fich die ſchöne, 
beherzte, weftfälifche Bäuerin bei dem hohen Königspaare 
erfreut, und der Name Judiths, der Kluswirtin, ift ruhmend 
über ihren engen Bezirk hinaudgetragen worden. Sie felber 
jedody hat jener Reife und ihres Zweckes nie gegen einen 
andern berührt al den Pfarrherrn und den Vorfteher der 
Anftalt, welche das von ihr überreichte Gnadengeſuch bes 
glaubigt hatten und welche beide ihre treuen Freunde geblie- 
ben find. Sm Herzen aber und gegen den, deffen Rechtferti- 
gung ihr Fluges, vertrauended Wort erwirft, gedenft fie 
einer erhabenen Stunde mit alter wejtfälifcher Bauern: 
treue. Wenn aber aud) dem, welchem das zeitliche Amt 
der Gnade zufteht, der Blick der Gerechtigkeit ald einem 
Beichtiger geöffnet werden durfte, fo ift doch vor allen an- 
deren Augen das dunkle Geheimnis des Klushofes Geheim⸗ 
nis geblieben. Manches mag gemunfelt worden, manche 
Mutmaßung der Wahrheit nahe gefommen fein; laut und 
öffentlich wird der Name Auguft Frobel nicht als ein Räu⸗ 
bers und Mördername genannt, und feine Seele ahnet, 
daß der verunglüctte Amerikaner der einftige Sachfenwirt 
gewefen, der zwiſchen den Gräbern der eignen Mutter 


Judith, die Kluswirtin 179 


und der ſeines Sohnes den erſten ſichern Erdengrund ge⸗ 
funden hat. 

Noch vor Ablauf der anberaumten Pruͤfungsfriſt hat 
Sylvians draͤngender Sehnſucht nachgegeben werben muͤſ⸗ 
ſen. Vor wenigen Tagen iſt er in das Seminar getreten, 
um durch ein prieſterliches Leben das Werk der Heiligung, 
das feiner Liebe hienieden entrückt worden war, jenſeitig 
im Glauben zu fördern. In einer andern Weife ift Die 
rebliche Strenge der Kluswirtin bemüht gewefen, jene un- 
felige Berirrung ihres Blutöverwandten durch ein Wert 
der Barmherzigkeit auszugleichen. Da die Hinterlaffen- 
fchaft des Papiermüllers Berg noch heute ohne nachweis⸗ 
Tiche Erben in gerichtlichem Verwahrſam ruht, hat Sudith 
jene entwendete Summe, Zind auf Zind und aus ihren 
Erfparniffen erheblic, vermehrt, zu einer Stiftung angelegt, 
mit welcher gleichzeitig die legte unheilvolle Erinnerung 
von dem Klushofe getilgt werden fol. Das Seitenhaug 
mit dem Gartengiebel ift zu einer Herberge umgebaut, in 
welcher ſechs verwaifte, der Zucht bedürftige Knaben Pflege, 
Unterricht und die Heranbildung zu einem ländlichen Bes 
rufe genießen. Judith fchafft mit Muttertreue für dieſe 
Kinder, und der Freund ihrer Tugend, der wieder wie einft 
der Weiheengel des Kluslebend geworden ift, fteht ihr mit 
feinen Erfahrungen dem Bereiche verwahrlofter Herzen ald 
Helfer und Rater zur Seite. 

Rater und Helfer gegenfeitig, Nachbarn und Freunde, 
Bruder und Schweſter am Schluffe der Gefchichte, — und 
nicht mehr? Die er von der Wiege ab geliebt, dem fie die 
Treue verlobt und wäre es über zehnmal drei Sahre, — 
und einander nicht mehr? Nein, nicht mehr. Zwölf Trauer- 
monde find noch nicht abgelaufen; und wie vieles mußte 


N 


180 Judith, die Kluswirtin 


vergeffen, wie vieles überwunden werden, was dad Schid- 
fal den Seelen eingewirft, wie vieles aud, gelernt nach 
zehn Sahren einfamer Gewöhnung! Auf den lange bleichen 
Wangen erblüht ein jugendlicher Hauch, ihre Worte find 
rascher, ihre Blicke feuriger geworden; fie arbeiten lächelnd, 
aber — noch ift e8 nicht wieder Mai. Ale Freunde verlaflen 
wir fie, und fo dem Erzähler feine Aufgabe gelungen, ale 
Freunde fcheiden wir von Judith, der Kluswirtin, und 
Simon, dem Quellenfinder. 


Der Poften der Frau 


8 war am Spätnachmittag des dreißigften Dftober 

Anno 1757, als ein fchon bejahrtes, dünnleibiges, 
geiftlichesd Herrlein in Schuhen und Strümpfen, das fchmale 
Chormäntelchen von ſchwarzer Serge über dem fpiten Leib⸗ 
ro vom Rüden niederhängend, in weißgepuderter Locken⸗ 
perüde und troß ded anhaltenden Regens den Fleinen, 
flachen Hut unter dem Arm, vor der Tür des „Polnifchen 
Hauſes“ ftillehielt, das Wetterdady feines grauleinenen 
Regenſchirmes zuflappte, die beiden franzöfifchen Ehren- 
poften höflich grüßte und durch das offene Portal feinen 
Eingang nahm. 

Das „Polnifche Haus“ war ein von Gärten umgebenes 
ftattliches Gebäude der Fleinen Stadt Weißenfels im Leip⸗ 
ziger Kreife, weldye Stadt, feit vor mehr ald einem Sahr- 
zehnt ihr eigner Herzogszweig erlofchen und fie dem kur⸗ 
fürftlichen Mutterſtamme heimgefallen war, ein gar 
verödetes Anfehen trug. Das große Schloß, das auf der 
Höhe das Städtchen überfchwmebt wie eine Henne einen 
Haufen winziger Küchlein, ftand unbewohnt, die einzeln 
hervorragenden herrichaftlichen Käufer, die fich zu feinen 
Füßen aufgerichtet, um die Hofumgebung zu beherbergen, 
hatten ihre adligen Inſaſſen meiftenteild an die neue, an 
mutigere Reftdenzftadt abgetreten, und nur in den Zeiten 
der Leipziger Meßpaflage verbreitete fich noch ein lebhafter 
Berfehr, der Gaftwirten, Fuhrleuten, Vorfpännern und 
dahin einfchlagenden Gewerben zeitweifen Ertrag gewährte. 

Seit länger als einem Jahre freilich hat ein ununter- 
brochenes Treiben die friedlichen Bürger wenig zu Atem 
kommen laffen; — wahrlich fein fegenbringendes für Stadt 


182 Der Doften der Fran 


wie Land, deflen Oberhaupt vor den Siegen bed großen 
Tageshelden geflüchtet ift. Das Städtchen teilt das Schidfal 
einer eroberten und doch herrenlofen Provinz, in weldyer 
feiner mehr weiß, wer Koch oder Kellner fei. Der hoch⸗ 
weife Rat macht feine Büclinge bald nad) rechts, bald 
nach links; die geängfteten Bürger leeren ihre Speicher 
und Keller heute für den Zieten und Katte, morgen für 
den Turpien und Eothringer. Glaubt man fich einen Augen⸗ 
blik in Ruhe: wie ein Wetter ftehen die Preußen wieder 
vor den Toren, der Deffauer Morig, der große König felber 
ziehen zwifchen Erfurt und Torgau hin und wider, big 
denn endlich vor ein paar Tagen ein franzoͤſiſches Korps 
feinen Einzug hält und der Chef der erequierenden Reichs⸗ 
armee, Herzog von Hildburghaufen, auf dem Schloffe feiner 
weiland Herren Bettern die zeitweife Nefidenz aufichlägt. 

Das Städtchen, vor hundert Sahren noch dicht mit 
Laubbäumen ummaldet, ift freundlich, von Oft nach Weſt 
lang geftredt, am rechten Ufer der Saale gelegen, mit deren 
erhöhten Rändern und anmutigem Taleinfchnitte der Thu- 
ringer Kreis, die Kornfammer des Landes, feinen Anfang 
nahm. Aber diefe Kammer, wie klaͤglich audgeleert! Die 
armen Bewohner wiflen kaum mehr die Requifitionen von 
Feind und Freund zu befriedigen, und Doch fteht man erft 
am Anfang der ausfichtslofen, Eriegerifchen Verwirrung. 
Die Pferde genommen, Rinder und Schweine gefchlachtet, 
die Preife zu beifpiellofer Höhe emporgetrieben, die Kaflen 
entführt, die Felder unbeftellt! Das ſpät und ſchwer über: 
wundene Drangfal des Dreißigjährigen Krieges, Blut: und 
Hungerzeiten gleich jenen, da die Keiche des großen Schwe- 
denkönigs im Amthaufe des Städtchend geruht hatte, da 
ein andrer Schmwedenfönig in der Nachbarfchaft einen dem 


Der Poſten der Fran 483 


vaterländifchen Namen wenig ruhmreichen Frieden diks 
tierte, fie leben wieder auf; man weiß feinem Leibe feinen 
Rat und blickt mit Zittern in die Zukunft. 

Solchergeſtalt waren nun auch die Gedanken des geift- 
lichen Herrn während des Wegſtündchens von feinem jens 
feitigen Pfarrdorfe gewefen, und mancher ſchwere Seufzer 
hatte ſich feiner Bruft entrungen, als er mit aufgefpanntem 
Parapfuie, die Zipfel feines Chormäntelchend mehrfach um 
den den Hut Frampfhaft einflemmenden Arm gefchlungen, 
‘in leichtem Schuhwerf hüpfend von Stein zu Stein, ſich 
mühjfelig einen Pfad durch den fußhohen Moraft der unges 
pflafterten Straße fuchte. Jetzt aber, feit faft einer Biertels 
ftunde fehen wir alle feine Aufmerkſamkeit darauf gerichtet, 
auf Scharren, Deden und Bürften feine Fußbefleidung zu 
faubern und in feiner Erfcheinung der Ordnung und Nettig⸗ 
feit des Polnifchen Hauſes zu entjprechen, das feinen in 
diefem Punkte etwas zweideutigen Namen aus früheren 
Zeiten beibehalten hatte, ehe e8 aus den Händen eines her- 
zoglichen Kammerherrn und polnifchen Grafen in die feine 
gegenwärtigen Beſitzers, eines Föniglicd, polnifchen Kam⸗ 
merheren und fächfifchen Grafen, überging, der, ein junger, 
flottlebiger Kavalier, für den reichften Edelherrn des Kreifes 
galt und auf feinem nahegelegenen Stammſchloſſe der geifts 
liche Patron feines gegenwärtigen Befuchers war. 

Eben hatte diefer fein Reinigungsgefchäft einigermaßen 
zur Zufriedenheit zu Ende gebracht, ald er fchon wieder 
in die Lage fam, das ehrwürdige, dünne Haupt freundlich 
zu neigen, und zwar gegen ein Individuum, das mit fauenden 
Badenfnochen aus der räumlichen Küche im unteren Ges 
fchofle ihm entgegentrat. Eine martialifche Figur, ſechs 
Fuß drei Zoll, breitfchulterig, ftraff in die Höhe gerichtet, 


181 Der Poſten der Fran 


mit furzgerundetem, fchnurrbärtigem Angeficht. Der fteif 
im Naden hängende fauftdide Zopf fchien fo wenig als 
die Schmarre über der Stirn und der ausgeftopfte Linke 
Arm zu dem filberbetreßten Livreeanzuge zu paflen, in 
welchen der ftramme Körper eingepreßt war. Der Mann 
war ja aber auch vom invaliden preußifchen Wachtmeifter 
zum fchmuden fächfifchen Rammerdiener avanciert. 

„Wünſche wohl gefpeift zu haben, Lehmännchen!“ fagte 
der geiftliche Herr mit nochmaligem höflichen Gruß. 

„Profit, Herr Magifter!” Tautete der Gegengruß. 

„Kann Er mir wohl fagen, Xehmänndhen, ob ich alles 
weile unfrer Önädigen mit meiner Aufwartung zupaffe 
komme?“ 

„Die gnädige Gräfin find juft beim Putz. Verziehen 
der Herr Magifter ein paar Minuten, fo werde id) rap- 
portieren.” 

„Keine Störung, lieber Lehmann; ich kann mich ges 
buldigen. Komme auch lediglich von wegen des Berichtes 
über unfer Sunferchen. Gänzlicy zur Zufriedenheit, alter 
Freund. Sozufagen, quafi munter wie ein Fifch. Alfo 
beim Pug; will heißen bei der Toilette. 5m! hm! fo fpät 
nody am Tage! Scien mir ja fonften feineswegs der 
Kafus bei unfrer Gnädigen. Beim Pug, beim Pu, will 
mir gar nicht in den Sinn!“ 

„Sonften, ja fonften, Herr Magifter,“ verfeßte unwirſch 
der Veteran; „aber dieſe heilloſen franzöſiſchen Windbeutel 
ſtellen ja die Welt auf den Kopf! Heute abend iſt Ball 
im ‚Scheffel‘. Wie die Preußen da waren, hat jich feine 
Fiedel gerührt; aber diefe vermaledeiten Zierbengel — hole 
fie alle der Teufel —“ 

„Sachtchen, fachtchen, Lehmaͤnnchen,“ unterbrach den 


Der Poſten der Fran 185 


Zornigen warnend ber fromme Befucher, „gebenfe Er an 
das zweite Gebot. Will mir freilich auch nicht recht in den 
Kopf, refpektive in das alte Herz, dieſe Feftivität; finte- 
mal ringe um und herum ein verwüfteted Land, alles kahl 
wie eine flache Hand, fort furagiert, fort requiriert, fort 
ravagiert in Scheune und Stall. Zu Tillys Zeiten kann 
es nicht grauſamer ausgeſehen haben. Der heilloſe Preuße, 
daß Gott erbarm!“ 

„Soldaten wollen leben, Herr Magiſter. Und wer iſt 
dran ſchuld, als die Franzoſenbrut und das pfaͤffiſche Reich, 
die unſern Herrn und König nicht in Frieden laſſen?“ ent⸗ 
gegnete der Friegerifche Preuße, indem er mit diefer Ans 
lage den fächfifchen Friedensmann nicht zum erftenmal zu 
einer gereizten Kontroverſe herausforderte, 

„Unfern Herrn, unfern König, Lehmann?” rief er 
aus. „Man befinne fih. Wer ift Seiner Kurfürftlichen 
Gnaden unverfehend ind Gebiet gefallen? Wer hat Seine 
geheiligte Perfon in die Flucht gefcheucht, den Kandfrieden 
gebrochen und die Brandfadel zuerft angezündet?“ 

„Wer hat dem König feine Provinzen rauben, fein 
Reich Hein machen wollen, Herr Magifter? Preußen Klein 
machen, Preußen teilen, Herr Magifter! Kreuzmohrens 
fchocfelement, da müßte ja gleich —“ 

„Nicht zetern und fluchen, Lehmann! Wie oft muß ich 
wiederholen: Beherzige Er das zweite Gebot, eventualiter 
auch das fünfte, Alles unfchuldig vergoflene Blut fommt 
über den König!” 

„Über ven König! Heiligeskreuzdonnerwetter - ich fluche 
ja nicht, Herr Magifter — Schodfchwerenot! über den 
König, unfern Herrn!” 

„Unfer Herr, Lehmann, unfer Landesherr feufzen und 


186 ' Der Poften der Frau 


.. beten im fernen Polenreiche, auf daß Recht und Geredhtigs 
feit wieberfehren.“ 

„Shr König vielleicht, der feufzt, Herr Magifter, Ihr 
Herr, der betet, meiner nicht. Sch bin meiner gnädigen 
Komteffe gefolgt in ihren Eheftand, wie ihr Kerr Vater, 
mein braver Oberft, Gott erhalt’ ihn! mir anbefohlen. 
Sm übrigen aber und im Herzen bin und bleibe ich des 
großen Fridericus allzeit getreuer Soldat und Untertan, 
und geht die Heidenwirtfchaft hier im Lande fo fort - hole 
mid) diefer und jener — alle Tage andre Gäfte und für 
jedweden untertäniger Wirt und Knecht. Ziehen die Preußen 
aus dem Tore, haben wir die Welfchen auf dem Kalle; 
hui! wie ein Wetter find meine Preußen wieder da und 
wieder fort, und nun fommen Panduren, Schwaben, Kro> 
aten, und fehlen zu guter Legt nur noch die Koſaken, fo ift 
die Bulle zum Plagen voll. Was haben wir nicht alles 
hinunterfreflen müffen, nur allein in den paar Wochen, 
die wir vom Lande wieder in die Stadt gezogen find. 
Kommt der Turpien mit feinem Korps. Zieht mein hoch⸗ 
weifer Rat in corpore ihm vord Quartier und ſchwaͤnzelt 
und bettelt um Verhaltungsbefehle vor dem bocksbeuteligen 
Franzöfifchen! Herr Magifter, und unfer Graf — —“ 

Der geiftliche Herr ließ den Zornigen nicht zu Ende 
reden. 

„Nun'höre Er auf, Lehmann,“ unterbrad; er ihn mit 
Würde; „ic habe Seine Läftereien gelaffen mit angehört, 
fintemal Er fozufagen nad) Gelegenheit ein alter Preuße 
ift und ein jeglicher getreulich zu der Fahne halten foll, 
der er gefchworen hat. Aber feinen Brotherrn verun- 
glimpfen, dieweil er gleichermaßen feine Treue bewahrt —“ 

„8 kommt nur drauf an, wie er fie bewahrt, Herr 


Der Poſten ber Fran 187 


Magifter,” fiel ihm der unerfchütterliche Wachtmeifter ine 
Wort. „Aufrecht und ehrlich Freund wie Feind ind Ans 
geficht, und wenn fie dem Leibhaftigen in Perfon ges 
ſchworen wäre, unfer Herrgott wird's zu äftimieren wiflen. 

“Aber Eourage gehört zu der Treue, Kerr Magiiter, 
Gourage!” 

„Wolle Er in Erwägung ziehen, Lehmann,” entgegnete 
ein wenig verlegen der geiftliche Anwalt, „daß unfer junger 
Herr Graf nicht vom Kriegöhandwerfe find. Au con- 
traire, im Gegenteil: Kammerherr Seiner Kurfürftlichen 
Snaden von Sachſen.“ | 

Der alte Preuße lachte, zwifchen Gift und Luft geteilt. 

„Das fol wohl fo viel heißen, Herr Magifter,“ fiel 
er ein, „daß einem Kammerherrn Seiner Rurfürftlichen 
Gnaden von Sachſen das Herz auf einem andern Flecde 
gewachfen ift, ald andern Chriftenmenfchen, und daß er 
anftatt der Courage einen Kagenbudel zeigen darf?! Na, 
wenn’s auf die Weife verftanden ift, Herr Magifter, 
meinethalben. — Aber einen hübfchen Sur hat's doch noch 
gegeben mit diefen Franzöftfchen, Herr Magifter. Schickt 
mein Turpien, da wir ihn endlich vom Halfe haben, ein 
Kommando von Merfeburg und ordonniert, daß fämtliche 
Armatur und Effekten, fo von der Kattfchen Winter: 
erpedition noch hiefigen Orts reftieren, stante pede an 
felbiges auggeliefert werden. Inſonderheit drei ſchwere 
Soffres mit Gefchmeide und foftbarem Silbergerät, fo der 
Leutnant von Itzenplitz von den Leibfürafftieren im gräflich 
von Finkſchen fobenamften Polnifchen Haufe zurücgelaffen 
habe. Bei Konftsfation von des Hehlers Bermögen. 
Ein preußifcher Leutnant und drei Coffres voll Preziofa! 
Ein Maul hätt ich dem Spaßvogel geben mögen, der 


488 Der Doften der Fran 


den Schabernaf ausgehedt hat. Allein meinem Hochs 

weifen ift fein Spaß allzu dumm. Eine Deputation, den 

Herrn Bürgermeifter in persona an der Spitze, gefolgt 

von dem ganzen Kommando, macht fic, ernfthaftiglich auf 

die Soden hinter den Rohrdamm ind Polnifche Haus. " 
Die Frau Gräfin fchreien Zeter. 's war ein anvertrautes 

Pfand, und fie ift eine Preußin, Herr Magiiter. 

„Mein Herr Graf, liebes Kind wie allzeit, fchleppt mit 
eignen Händen den Koffer — denn 's war nur einer, 
Herr Magifter, und ein ganz Fleiner obendrein — hier in 
den Saal. Gch rühre mich nicht und lache mir in bie 
Kauft. Ein ellenlanged Protofol wird aufgefekt, das 
große Amtöfiegel druntergedrudt, das Köfferchen feierlichft 
aufgefchloffen, und was für Preziofa ziehen die Hoch⸗ 
weifen an das Licht? Einen abgefchabten, alten Pelz, 
eine weiße Lederhofe, ein Paar zerriffene Reiterftiefeln, 
und forgfältig eingewidelt, hahaha! ja nun fommt’g, 
Herr Magifter, forgfältig eingewidelt — dad Konterfei 
einer alten Frau. Hahaha, einer alten Frau!“ 

Der grimmige Franzofenfeind rieb ſich vor Vergnügen 
in der Erinnerung den Bauch mit feiner einen Band. 
Der geiftliche Herr aber wiederholte gerührten Blickes: 
„Das Konterfei einer alten Frau! Bielleicht der Frau 
Großmutter des jungen Herrn Offiziere! Ich hoffe, daß 
ed gebührentlich in Ehren gehalten worden ift, Lehmänn⸗ 
chen, maßen ed mir eine abfonderliche Hochachtung zu 
bofumentieren fcheint, wenn ein friegerifches Blut eine 
alte Dame in effigie mit fich in die Kampagne führt.“ 

„3a, eine junge in natura ift ihm gemeiniglich lieber,” 
verfeßte der Invalid. „Inſonderheit diefen Franzöfifchen. 
Da ließe fid) was von Gotted Wort berichten, Herr 


Der Poften der Fran 189 


Magifter. Das greift um ſich wie die Pet, Freund oder 
Feind. Haben wir da im Kaufe einen franzöfifchen 
Herzog. Ein Dann wie ein Bild, dad muß man ihm 
laflen. Und auch anderweitig ein Kavalier, er könnte 
ein Preuße fein, Herr Magifter. Warum er aber nicht 
lieber oben auf dem Schloffe bei dem Hildburghaufen 
logiert —” | 

„Halte Er ein, Lehmann,” unterbrach ihn, ſich in die 
Höhe richtend, der geiftliche Kerr mit großem Ernft. 
„Halte Er ein und hüte Er Seine fträflichen Gedanken. 
Derlei Erörterungen gehen Ihn wie mid nichts an. — 
Wolle Er alleweile fo gut fein, mich bei der Gnädigen 
anzumelden.“ 

Aber der alte Preuße machte feine Miene, die gute 
Gelegenheit, feine Galle einmal auszufchütten, leichten 
Kaufes fahren zu laflen. 

„Gleich, gleich, Herr Magifter!” verfeßte er. „Aber 
einen hundeföttifchen Zug muß ich Ihnen doch noch zu 
wiſſen tun. Bon wegen der Federbetten und den Hild⸗ 
burghaufenfchen; ich meine von denen draußen aus dem 
Reich, da wir fie ind Quartier friegen taten. Mit denen 
felbigen find freilich weniger Sperenzien gemacht worden, 
al® mit den feinen franzöfifchen Mosjös. Federbetten! 
Federbetten! Für die Mosjös, A la bonheur! Keine 
Daune wäre unferm Grafen für die weich genug gewefen! 
Aber das Gezeter hätten Sie hören follen, Herr Magifter, 
vom Herrn Hausinſpektor an bis zum Stubenmädchen 
hinab, das Gezeter, da nun auch die Deutfchen aus dem 
Reich partoutmente Federbetten verabfolgt haben wollten. 
Federbetten! Federbetten! Das fremde Gefindel! - Na, 
natürlich blieben fie auf der Streu; denn mit gewiffen 


190 Der VDoften der Frau 


kleinen lingelegenheiten, die fie mit fich führen — Sie 
verftehen mich fchon, Herr Magifter -, da hat es feine 
Nichtigkeit. — Die Galle ift mir aber doch bei der Ge⸗ 
fchichte gefchwmollen, Herr Magifter. Denn warum? Die 
armen Zeufel auf der Streu, die reden doch deutſch wie 
unfereiner, aber aus dem Mundwerf von benen, die fidh 
in unfern Federbetten wälzen, da ift noch Feine Ehriften- 
feele Flug geworden. Na, fehen Sie, Herr Magifter, fo 
gibt es alle Tage was Neues und niemalen was Gutes. 
Aber wartet nur, wartet! Das Blatt wird fich wenden 
und eure Herrlichkeit eheftens im Plagen fein. Er fommt! 
Er fommt. 

Und wenn mein König Friedrich fommt 

Und Elopft nur auf die Hofen, 

Da läuft die ganze Neichdarmee, 

Panduren und Franzofen!“ 

Der geiftliche Herr drohte lächelnd mit feinem dünnen 
Zeigefinger. „Lehmänndhen, Lehmännchen,“ fagte er, 
„Er ift ein arger Berfifer, aber Er fünnte gar leicht ein 
fchlechter Prophete fein. Sein König fol nur ein arm⸗ 
felig abgehestes Häuflein bei Leipzig zufammengetrieben 
haben nach feiner graufamen Niederlage bei Kollin. Die 
alliierten Armeen ftehen ihm vierfältig gerüftet gegenüber; 
faft ganz Europa ift wider ihn, was dann, Lehmann, 
was dann?“ 

„Bas dann, Herr Magifter?” antwortete der Preuße 
auf einmal ganz ernfthaft, „was dann? Der im Himmel 
weiß ed. Aber Preußen und fein König bleiben doch 
oben, das weiß ich. — Horch! da fommen der Herr Herzog 
in den Hof gefprengt. Ich will anjeßo gehen und Sie 
der Frau Gräfin melden, Herr Magifter.” - 


Der Poften der Fran 191 


Wir haben zu berichten verfäumt, daß dieſes politifche 
Wortgefecht keineswegs im unteren Flur bes Polnifchen 
Haufes zu Ende geführt worden war, fondern ſich Schritt 
für Schritt Die Treppe hinauf bis in den großen Empfangs⸗ 
faal gezogen hatte. Der martialifche Kammerdiener klopfte 
jegt an die Tür eines Kabinetts, in welchem feine Ge- 
bieterin juft mit dem Puderbeutel ihre Toilette vollenden 
ließ. Sie fprang haftig in die Höhe, und den Peignoir 
beifeite, einen Bli in den Spiegel werfend, fragte fie 
das die Tür öffnende Kammerfäschen: „Der Herr Herzog, 
Liſette?“ 

Der Herr Magiſter ſtutzte bei dem geſpannten Tone 
dieſer Frage, die Zofe aber antwortete mit einem fpöttifchen 
Lächeln: „Nein, der Herr Magifter, gnädige Gräfin.” 

Gräfin Eleonore war eine anmutige, ftattliche Dame 
von höchitens vierundzwanzig Sahren, deren fchlanfen 
Wuchs und vornehme Haltung der modifch reiche Anzug 
von weißem Silberbrofat, wie die Rofengarnierung im 
hochgetürmten Toupe gar vorteilhaft hoben. Sie hatte 
mit Necht für die fchönfte Frau an dem in Deutfchland 
noch immer fchönheitstundigften Hofe von Sachſen ges 
golten, daher man ihrem Liebreiz fogar die offen an den 
Tag gelegte, aus der Heimat herübergebrachte Anhänglichs 
feit, fowie die gegen die fächfifche Biegfamfeit verftoßende, 
furz angebundene preußifche Art und altwäterifche Sittens 
firenge zugute hielt. 

Sie betrat den Saal. Der geiftliche Herr machte feine 
untertänige Reverenz, während feinem fleinen, grauen 
Auge fein Zeichen einer ungewohnten Zerftreuung und 
laufchenden Unruhe der fchönen Hauswirtin entging. 

„Sie bemühen fidy felbft, Herr Prediger;“ mit diefen 


4192 Der Poſten der Fran 


Worten begrüßte fie ihn, „wie gütig von Ihnen bei dem 
üblen Weg und Wetter.“ 

„Ganz laulicht die Luft,“ deprezierte der Angerebete, 
mit vorgehaltenen Händen und wiederholten Verbeu⸗ 
gungen, „und ed trippelt ja nur ein Fleines winzchen, 
Gnädigfte.” 

Die Dame lächelte. „Sie freundlicher Sadıfe,” fagte 
fie, „felbft das Wetter möchten Sie entfchuldigen!” Sie 
warf einen Blid nad) dem Fenfter, einen zweiten nad) 
der Tür zurüd und fügte darauf hinzu: „Aber Sie 
bringen mir Nachricht von meinem Knaben. Er war 
fröhlich, ald Sie ihn verließen, Herr Prediger?” 

„Munter und luftig, wie ein Schmerlchen im Bädhels. 
chen; Gott behüt ihn, gnädige Gräfin!” berichtete der 
geiftliche Herr. 

„But, daß das Kind auf dem Lande geborgen iſt,“ vers 
fegte die fohöne Frau, „folange ich durch die Anwefen- 
heit unfrer fremden Gäfte —“ 

Sie ftocte, denn der Herr Magifter räufperte fich und 
fentte fein Auge zu Boden; nach einer furzen Paufe fuhr 
fie fort: „Und durch den Wunfch des Grafen an unfer 
unruhiged Treiben gebunden bin.” 

Gräfin Eleonore, deren jugendfrifche Wangen das mo⸗ 
difche Schönheitsmittel der Schminfe nicht bedurften und 
die eine leife Berlegenheit, oder Scham, oder was fonft 
das Blut in ein Angeficht treiben mag, niemals verleugnen 
fonnte, errötete bei diefen Worten unter einem Blicke, 
den ihr geiftlicher Sorger einen Moment rafch zu ihr in 
die Höhe fchlug und, felber errötend, ebenfo rafch wieder 
fallen ließ. Ihre großen, blauen Augen ruhten eine Weile 
prüfend auf dem fleinen, faltigen Geficht ihr gegenüber; 


Der Doften der Frau 4193 


beide ſchwiegen; dann ſtrich fie mit der Hand über die 
Stirn, feßte fi und gab ihrem Befucher ein Zeichen, das 
gleiche zu tun, indem fie, mit ihren Gedanken offenbar 
weit anderwärtd, eine Frage nach feinem Wohlbefinden 
an ihn richtete. 

Magifter Gutfreund ließ fi an, die Mutmaßung eines 
möglichen Wohlbefindens feiners oder irgendwelcherfeite 
unter dem Kreuze, das Gottes graufame Geißel über diefe 
Gegend verhängt habe, des weitläufigften von ſich abzus 
wehren, fah ſich aber gezwungen, den Ausfluß feiner Ent- 
rüftung wie feined Erbarmend vor der Zeit zu hem⸗ 
men, denn die Dame, nad) einigen ungeduldigen Blicken 
auf die Pendüle, erhob ſich und fiel ihm mit einer leb⸗ 
haften Erklärung in die Rebe, die feinen politifchen 
Antagonigmus, wie vorhin in dem Gefpräche mit dem 
MWachtmeiftersfammerbdiener, in die zeitläufige Bahn 
führte. 

„Sie find im Begriffe,” fagte fie, „unfern alten Diss 
put zu erneuern, Herr Prediger, wenn fich mit einem fo 
frommen Herrn wie Sie überhaupt disputieren läßt. Sie 
find ein alter Sachſe. Ich bin eine Preußin. Auf Ihren 
Boden verpflanzt, fann ich von meiner heimifchen Liebe, 
von dem Glauben an meinen Helden und König fo wenig 
laflen, ald Sie von Ihrer angeftammten Treue. Sie 
trauern um einen fchuglofen Herrn, ich halte mid, an 
den Anfer eines emporftrebenden Baterlandes, Sie in 
Ihrem befchränften Kreife feufzen über die eingeäfcherten 
Hütten, ich, die ich an dem Hofe Ihres Brühl, und leider 
nicht an biefem allein, eine ungeahnte Faͤulnis wahrs 
genommen habe, id) preife den Sturmmwind, welcher das 


reinigende Element über verrottete Stätten trägt, und 
® 


4194 Der Poften der Fran 


ich danfe dem Simmel, ber diefes Feuer von einem Helden 
ausftrömen läßt —“ 

„Bon einem Tyrannen, Frau Gräfin!” unterbrach fie 
der Magifter, an der Stelle berührt, an welcher auch er 
widerborftig wurde. 

„Wer damit anhebt, fich felber zu beherrfchen, Kerr 
Prediger,” verfegte die Dame mit Würde, „der ift fein 
Tyrann und hat das Recht, firenge Maßregeln zum Heile 
einer großen dee zu verhängen.” 

„Ein Ufurpator, ein Rebell auf dem Thron!“ rief 
eifernd der Sachſe, — „ein Zerftörer geheiligter — 

„Seheiligter Mißordnung, — fei ed darum!” entgegnete 
Gräfin Eleonore. „Auch die Sonne rebelliert gegen nächt⸗ 
lichen Dunft. Aber wie gefagt: meiden wir einen Gegen⸗ 
ftand, über welchen wir ung niemals einigen werden. 
Wir wollen fchweigend refpeftieren, was und aneinander 
unbegreiflich fcheint. Iſt das Edelfte im Menfchen doch 
die Treue gegen das, was er liebt und was er feiner Vers 
ehrung würdig hält.“ 

Sie war während ber letzten Worte mit einer er- 
wartungsvollen Miene an das Fenfter getreten; die Blicke 
des geiftlichen Freundes folgten ihren unruhigen Be⸗ 
wegungen; er fohüttelte den Kopf, ein forgenvolled „Bm, 
hm!“ entglitt feinen Lippen, feine Gedanken hatten offen- 
bar eine andre Richtung genommen. 

„Sie fagten etwas, mein Herr?" fragte die Gräfin, 
anf ihren früheren Plag zurückkehrend. 

„Um Bergebung, ich wollte etwas fagen, Frau Gräftn,“ 
verfeßte der Prediger, das Auge feſt auf fie geheftet, „ich 
wollte fagen, die Treue nicht gegen dad, was er vers 
ehrt und was er feiner Liebe für würdig hält - —” 


Der VPoften der Frau 195 


„Nun doch wohl nicht gegen das, was er ihrer un 
würdig halt?” wandte lächelnd die Dame ein. 

„Das wollte ich juft nicht fagen, gnädige Frau.” 

„Und was fonft, Herr Prediger?” 

„Sch wollte fagen,” erklärte der Magifter mit Ents 
fchiedenheit, „die Treue Tchlechterdings, die Treue in 
unfrem von Gott verliehenen Amt.” 

„Und wäre es nicht unfres Amtes, unfres innerlichften, 
gottvertrauten Amtes, beharrlich bei dem Guten und 
Kräftigen zu ftehen und das Schwache und Böfe ent- 
fchloffen von ung abzuwehren?“ 

„Unter Umftänden nein, gnädige Frau. Denn wäre 
fonft die Treue eine Tugend und die Liebe ein Opfer? 
Unfer Herr und Heiland hat fein teures Blut nicht vers 
goſſen für die Engel und reinen Geifter des Himmels, ſon⸗ 
dern für und arme Schwache und Sünder, denen fein gött- 
licher Vater ihn ald Anwalt auf die Erde entjendet hatte.“ 

Gräfin Eleonore maß ihren Befucher mit einem langen 
verwunderten Blick. Was heißt das? — mochte fie denken. 
Er hat auf einmal den Tyrannen Friedrich famt allem 
fächfifchen Kram feiner Umftandswörter vergeffen und 
fteuert direkt auf einen Zweck — aber auf welchen? 

Der würdige Mann ließ ſich indeflen durd, der Dame 
erftaunte Miene nicht irremachen, fondern fuhr eifrig 
und unerfchroden in feiner Rede fort: „Und desſelbigen⸗ 
gleichen follen wir armen Schwachen und Sünder treu 
lich erfunden werden nicht nur gegen die Guten und 
Starfen, nicht nur nad, Freiheit und Neigung, fondern 
auf jeglichem Poften, auf welchen der Herr und geftellt, 
in erfter Ordnung aber da, wo wir einen Schmwächeren 
zu vertreten haben. Inſonderheit, — nadı Gelegenheit —“ 


196 Der Poften der Fran 


Er ftocte vor der Nutzanwendung, die nun folgen 
mußte. 

„Weiter, weiter, mein Herr!” rief die Gräfin. 

„Snfonderheit,” nahm er zögernd wieder das Wort, 
„infonderheit die Frau Gräfin, — nämlidy — eine Mutter, 
will fagen — das weibliche Gefchlecht — —” 

Die fchöne Frau erhob ſich raſch und zog die Klingel. 
„Sc bedaure, Sie unterbrechen zu müffen, mein Kerr,” 
fagte fie mit einem Ton, den ihre fächfifchen Freunde 
„preußifch” nannten. — „EI gilt ein Ballfeſt, das der 
Graf arrangiert hat. Schnell anfpannen und den Herrn 
Prediger nadı Haufe fahren laſſen!“ feßte fie, gegen den 
eintretenden Lehmann gewendet, hinzu. 

Der gute Magifter. hatte, mit einer Reihe untertänig- 
fter Büclinge den Rückzug nehmend, feine aufdringlidhe 
Kühnheit zu entfchuldigen gefucht. Sekt, ſchon unter der 
Türe, galt ed, noch eifrig gegen die beabfichtigte Heim⸗ 
führung zu proteftieren. 

„Beileibe nicht diefe Umftände, Gnäbdigfte,” fagte er, 
„das winzige Endchen legt ſich ja weit fommoder zu 
Fuße zurüd.“ Und als feine Gönnerin bei ihrem Aner- 
bieten beharrte, die einbrechende Nacht und den ſtroͤmen⸗ 
den Regen in Erwägung ziehend, feßte er mit faft ängft- 
licher Entfchuldigung hinzu: „Meine Gewohnheit, in der 
Dämmerung Iuftzumandeln, Gnäbdigfte, und draußen lehnt 
mein Parapluie. — Lafle Er das Fuhrwerk in Frieden, 
Lehmännchen. In Wahrheit, ich müßte mich ja fchämen, 
fo vielerlei Gliedmaßen an Menfchheit und Vieh zu mo- 
leftieren, lediglich um meinem alten Leichnam eine Güte 
zu tun. Inſonderheit alleweile, wo der Beladenfte fich 
nicht fchonen darf und der gottlofe Preuße felber die Ges 


Der Poften der Fran. 197 


fpanne geraubt hat, um notdürftig den Ader für die 
Winterfaat zu beftellen.” 

Mit diefem letzten Worte gegen den graufamen Reichs⸗ 
feind und mit nocymaliger Reverenz war er, gefolgt von 
dem Kammerdiener, aus dem Saale verfchwunden. " Die 
Gräfin blickte ihm mit einem Ausdrucke faft von Rührung 
nad. „Er ift mitunter ein wenig langweilig, der gute 
Magifter,” fagte fie zu fich felbft, „unbefcheiden aus über- 
flüffiger Befcheidenheit, aber doch — wie wenige gibt ed 
feineögleichen!” 

Sie ging einige Male mit haftigen Schritten im Zimmer 
auf und nieder, zog dann noch einmal die zuus und 
fragte, ob der Graf zurück fei. 

„No nicht retour, Frau Gräfin,” antwortete der 
Kammerbdiener. 

„Und der — Herr Herzog?” 

„Sind retour, Frau Gräfin.” 

Der Diener entfernte fich, fie blieb allein. Die Bered⸗ 
famfeit ihres alten geiftlichen Freundes fam ihr wieder 
in den Sinn. Daß ein Menfch fo richtig handeln und fo 
viel unnüge Worte machen kann! fo hatte fie fonft gefagt, 
wenn ihr, der Kanzel oder feinem Privatgefpräche gegen 
über, wiederholentlich die Geduld geriffen war. Er ift 
zum Redner verdorben, der gute Magifter, er follte auf 
einem andern Plage ftehen. Heute zum erftienmal wurde 
fie mit Herzklopfen inne, daß der Mann doch wohl auf 
geeignetem Plage ftehen und daß er, ein foharf und fein 
blickender Seelforger, im rechten Momente auch die rechs 

- ten Worte finden möge. „OD, er fpürte die Lüge,” flüfterte 
fie; „er ſah mein Erröten. Mein Mann, fagte ich, 
wünfchte meine Nähe, mein Mann hielte mich fern von 


198 Der Poften der Fran 


meinem Kinde und von meiner Pflicht? Und wenn er e8 
täte, wenn er einen Willen zeigte, einmal einen Willen, 
und wäre es einen fträflichen Willen —“ 

Sie vollendete die Frage nicht und blieb fich die Ants 
wort darauf fchuldig, indem fie mit Gewalt eine peinliche 
Erörterung zu bannen fuchte. Sie ging noch einige Zeit 
unruhig im Saal auf und nieder, feßte fi dann und 
verfanf, den Kopf in die Hand und den Fuß auf das 
glänzende Gitter vor dem Kaminfeuer geftüßt, in rück⸗ 
fchauendes Sinnen. 

Die Bilder ihrer frühen Sugend zogen an ihrem Auge 
vorüber. Sie fah fich wieder fern am Öftfeeftrande, ein 
einziges, einfames, mutterlofes Kind, unter den Augen des 
ernften, firengfordernden Vaters, des Kameraden Leopolds 
von Deffau; unter dem erften Schimmer der über ihrem 
Lande auffteigenden SHeldenfonne Ale Erinnerungen 
ihre8 Stammes, alle Sagen ihres heimifchen geiftlich- 
ritterlichen Bodend, alle monumentalen Reſte der Größe, 
alle Träume und Wünfche des jungen Herzens fnüpften 
ſich an fühne Fahrten und Taten; die rege Phantafte vers 
färte den preußifchen Zopf zu einer ritterlichen Locken⸗ 
mähne, das Blut pridelte ungeduldig in den Pulfen über 
Zinzendorfd Schriften und der lateinifchen Grammatif dee 
fteifen SInformators; mit Gier wurden die fpärlichen 
Märchen und Minnelieder verfchlungen, welche die uns 
günftige Zeit zutage förderte, Die Welt der Träume wimmelte 
von kühnen Reden und Reifigen, und den fühnften von 
allen, den tapferftien Ritter erfor fich die verlangende 
Phantafte zum Herrn. Nur einem Helden wollte die 
Heldentochter angehören. Und doc, wurde fie die Gattin 
biefed Mannes, wurde ed aus freiwilliger Neigung, ja 


Der Poften der Frau 4199 


faft der väterlichen Mahnung zum Trotz. Hatte fie ihn 
geliebt? Glich er ihrem ritterlichen Ideale? Er ftand vor 
ihr jung, fchon, galant, ein froher Gefelle, wie er ihrer 
Jugend gefehlt hatte, ein fchmuder Kavalier, der ihrem 
Auge wohl gefallen durfte; ein Edelmann aus altem 
Stamm, das hieß ein Mann von Ehre und Adel nadı 
ihrer Väter Glauben. Sie war zum erftenmal in der 
Hauptftadt, als er ihr huldigend gegenübertrat, hatte den 
erften Blick getan in die wirkliche Welt und zu ahnen bes 
gonnen, daß fie bis heute geträumt. Sie wähnte fidy im 
Erwachen. Und dieſes Erwachen zog fich durch Sahre 
ungeahnten Genuffes und neuer Kerrlichfeiten, an dem 
glänzendften Hofe von Deutfchland, in einer reizvollen 
Gegend, unter Gebilden der Kunft, unter Feften und 
Huldigungen, tändelnden Männern und üppigen Frauen, 
unter dem verlocdenden Heroldsrufen eines Voltaire und 
Rouſſeau; ein goldener Morgen! wie hätte er ihre Sinne 
nicht blenden, nicht ihre Heldenbilder verbunfeln follen 
in feinem grellen Kontrafte gegen den Fahlen heimifchen 
Strand? — Doch jählings, der Griff eines Helden in diefe 
gleißende Welt, und welche Kehrfeite des anmutigen Bildes! 
Das, was fo Schön fchien, wie verblichen, und die ver- 
blichenen Träume, ach, wie fo ſchön! Und der, welcher 
ihr Hort und Führer fein follte in diefer ftreitenden Welt, 
der, deffen Lächeln fie gewect hatte aus ihren Kinder⸗ 
träumen, der froh lächelnde Mann auch heute noch, ihr 
Mann, der ihre — - 

Sie fuhr in die Höhe und machte in heftiger Bewegung 
einen Gang durch dad Zimmer. „OD, daß er ein Mann 
wäre!” rief fie aus, „daß er aufbraufte in dieſem Wetter⸗ 
fturme, daß er ein Schwert ergriffe, und wäre ed gegen 


900 Der Poſten der Fran 


mein eigen Blut! Armfeliger Mann, er fpottet meines 
Preußen, denn er liebt, nein, er kennt fein Vaterland! 
Gottlob, daß du mir Teuchteft, glorreicher Stern über 
meinem Bolf! Sa, ja, es gibt noch Helden, und nur Die 
Ritter meiner Träume, bed Herzens Ritter, ihre Zeit lief 
ab! Alle, alle?” flüfterte fie, indem fie ſich auf ihren 
früheren Platz zurücfegte und eine neue Erfcheinung fid) 
dem inneren Blicke entgegendrängte. Der fremde Gaft 
ihres Hauſes, der Gegner ihred Könige, ihres Gatten 
Freund, — er, deflen Ahn der Schild der Ehre hieß -? 

„Seine Durdylaudht, der Herr Herzog von Crillon!“ — 
rief, die Flügeltüren auseinanderfchlagend, der Wacht⸗ 
meifter-ffammerdiener. 

Der Gemeldete, der noch junge, fchöne Maréchal de 
camp, Herzog von Grillon, der Meldung auf dem Fuße 
folgend, trat mit rafchen Schritten auf Die Dame zu, deren 
Hand er an feine Lippen zog und die er mit fchmeichelnder 
Entfchuldigung begrüßte: 

„Sch bin ein Egoift, Madame,” fagte er, „der mit ben 
Augenbliden geizt, in weldyen ihm die holdefte Nähe ge- 
gönnt ift. Aber ich flöre. Sie waren in Gedanken, Frau 
Gräfin?“ 

„Sc träumte nur ein wenig, Herr Herzog,” entgegnete 
Eleonore lächelnd, indem fie auf einen Seffel an ihrer 
Seite deutete, „weil ich allein, zwifchen Puß und Tanz, 
juft nichts Beſſeres zu tun wußte.” 

„Und von was, von wem träumten Sie, fchöne Frau?“ 
fragte Herr von Erillon, Platz nehmend. 

„Sch träumte von einem Helden, Kerr Herzog,” ant- 
wortete die Dame mit einem Anflug fchelmifcher Kofetterie, 
der zu dem Stil ihres Wefend im Grunde wenig paßte. 


Der Poſten der Frau 201 


„Bon Shrem Helden, Madame? Ihrem inzigen! 
Immer nur ihm!“ rief der galante Franzofe. „Glück, 
feliger Preußenfönig, beneidendwert, dem Haſſe einer Welt 
zum Trotz.“ 

„Sie irren, mein, Herr,“ verfegte Eleonore. „Ein 
Traum hat nicht eine fo präzife Geftalt, und König Frieds 
rich fchickt fi) gar wenig zu einer Erfcheinung, welche 
einer Frau in der Dämmerftunde auffteigtz er ift der Held 
des Tages, der Held des Lichtes und des Gedankens. 
Mein Träumen war mehr eine Grübelei. Was macht den 
Helden, Herr Herzog?” 

„Der Mut und die Treue, Madame,” fagte Kerr 
von Grillon. 

„Die Treue?” wendete bie Gräfin ein wenig verwundert 
ein, „die Treue gegen wen?“ 

„Wenn er ein König ift, die Treue gegen fich felbft, 
wenn er ein Edelmann ift, die Treue gegen den König.“ 

„Und wenn er von beiden feines fein follte, mein Herr?” 

„Dann weiß ich von feinem Helden, Madame.“ 

„Begnügen wir und dann mit denen, von welchen Sie 
wiffen, Herr Herzog,” verfeßte Eleonore mit einem Ans 
flug von Spott, „und feßen wir den Fall, daß der König 
eined Edelmanns ein Schwächling wäre, wie dann, mein 
Herr?" 

„Dann bindet die Ehre Die Treue auch an den Schwachen 
und macht ihn ſtark,“ verfeßte Herr von Erillon mit Würde. 
Darauf aber zu feinem leichteren, verbindlichen Ton zu⸗ 
rücdfehrend, fügte er hinzu: „Madame, Shr König, ſchwach 
zur Stunde, ein Schwächling ift er nicht, dafür fei Gott; 
Sie aber find eine Heldin, fchöne Frau, um der Treue 
willen, mit weldyer Sie zu ihm fliehen, im eignen Haus, 


20% Der Poften der Fran 


im eignen Land, wider eine feindliche Welt, und id) be= 
flage es, ja, ich beflage es, in einem wenig ruhmvollen 
Kampfe auch Ihr Antagonift geworden zu fein.“ 

„Ei, ei, Kerr Herzog, wie fol ich diefe plögliche Ents 
mutigung deuten?” fragte Die Gräfin mit nedendem Augen- 
ſtrahl. 

„Entmutigung? Sie lächeln ſelber, Frau Gräfin,” ent⸗ 
gegnete der Herzog. „Mut ohne Widerftand hieße fein 
Gegenteil. Ihrem ftarfen, fiegreichen König Halt zu ge⸗ 
bieten, wäre ung eine Ehre gewejen. Den Gefchlagenen, 
Bedrängten, Verzweifelnden übermächtig noch einmal an: 
zugreifen, dünft mid, nahezu eine Schmach für den fran- 
zöfifchen Namen.“ 

„Hoffen Sie denn mit mir, daß Sie die Angegriffenen 
fein werden, Herr Herzog,” verfeßte die Gräfin mit dem 
Tone eines ernftgemeinten Scherzed, Daher ihr Gegenüber 
ed denn auch an einer eifrigen Zurecktweifung nicht fehlen 
ließ. | 

„Es wäre Tollmut, — Defperation, fchlimmer: es wäre 
Torheit, Madame. Diefe ärmlichen, müdegehegten Trüm> 
mer von Kollin gegenüber einer franzöfifchen Armee! Wir 
zögern, wir fchonen ihn, — feinen deutfchen Feinden zum 
Troß, er fieht es; wir gönnen ihm Zeit zu unterhandeln, 
und id) ehre Shren König, den Zögling franzöfifcher Weis⸗ 
heit, zu hoch, um zu wähnen, daß feine Bravour der ein- 
fachften Logik hohnſprechen und felbftmörderifch feinen 
tapfer begründeten Ruhm dem Gelächter Europas preis⸗ 
geben ſollte.“ 

„Dder auch ihn unfterblidy machen!” entgegnete die 
Preußin ftolz, fegte aber nach einer Heinen Paufe lächelnd 
hinzu: „Ein Disput ded Blinden um die Farbe, nicht fo, 


Der Doften der Fran 203 


Herr Herzog? Was verfteht eine Frau von Helden und 
Heldentum?“ 

„Sie verfteht fie zu ehren, fie verfteht es zu Iohnen, 
Madame,“ erwiderte der ritterliche Franzofe. „Was helfen 
Ihrem König feine Siege, wenn, wie man fagt, nicht die 
Hand einer fchönen Frau den Kranz auf feine Stirn drückt?“ 

Er zog während diefer Rede die Hand der Dame an 
feine Lippen, juft als der rechtmäßige Befiger diefer Hand 
in das Zimmer trat. Die Huldigung feined Gaftes in 
Wort und Bewegung fonnte ihm fo wenig ale das Ers 
röten der anmutigen Wirtin entgangen fein, auch preßte 
er einen Moment die fchmalen, purpurroten Lippen ärgers 
lich übereinander. Schnell jedoch hatte er ſich befonnen, 
daß fächfifche Lebensart franzöfifcher Feinheit und Freis 
heit nichtd nachgeben dürfe, und mit einer arglofen 
Courtoiſie, die man andrerzeit und andernorts vielleicht 
Frivolität genannt haben würde, verbeugte er fich nach 
beiden Seiten und rief: „Glücklich retourniert, mon duc? 
Und Sie, teure Eleonore, Ihre Migräne zu rechter Zeit 
überwunden? Scharmant, ganz fcharmant!” 

„Migräne, Moritz?“ fragte feine Gemahlin äußerft ver- 
wundert. 

„D, diefe böfe, plögliche Plage, Migräne!” entgegnete 
der gewandte Herr, die Achfeln zudend. „Hatte ich doch 
faum noch gehofft, Sie auf dem Balle zu begrüßen, 
Tenerfte. — Sie werden fehr nacdhfichtig fein müffen, Herr 
Herzog. Ein Impromptu, ein ärmlicyes Landftädtchen! 
Wahrhaftig, wir müßten und ſchämen, wenn wir nicht 
hoffen dürften, bald an würdigerer Stätte Shnen die 
Honneurs unferd Landes zu machen und zu zeigen, daß 
wir aufmerffame Zöglinge des Ihrigen gewefen find.“ 


204 Der Poften der Frau 


„Die Schönheit adelt die befcheidenfte Stätte,” ents 
gegnete Herr von Erillon mit ehrfurchtsvoller Neverenz 
gegen die Dame. 

Sie madıte Tächelnd eine leichte, ihr Eheherr, gleichfalle 
lächelnd, eine tiefe Berbeugung gegen den Galanthomme, 
ale der Kammerdiener eintrat und die bereithaltende Sänfte 
ber Frau Gräfin anfündigte. Herr von Crillon verließ 
rafch das Zimmer, einen augenblidlichen Auffchub ers 
bittend; : der Graf aber, nadı einem fcheuen Rundblid, 
fagte, haftig auf feine Gemahlin zutretend, mit flüfternder 
Stimme: „Du wirft nicht auf den Ball gehen, Eleonore.“ 

„Nicht auf den Ball gehen, Morig?” verfeßte fie vers 
wundert, indem fie den goldenen Fächer von dem Fleinen, 
funftvol aus Schildfrot geſchnitzten, Treſorchen“ herunters 
langte. | 

„Du wirft nicht gehen, fage ich.” 

„sch verftehe Sie nicht, Graf.“ 

„Nichts Berftändlicheres, follte ich meinen, Gräfin, als 
‚bie Öalanterien, den Affront dieſes Franzofen fich nicht 
unter den Augen aller Welt gefallen laffen zu wollen.“ 

„Nichts Verftändlicheres follte ich meinen, Graf, als 
einen galanten Affront — gefeßt, daß es ſich um einen fols 
chen handelt, fid am wenigften unter feinem eignen Dache 
gefallen zu laſſen, und den, weldyer ihn uns zufügt, mit 
allen Zeichen. der Ergebenheit zu überhäufen.” 

„Er ift ein Franzoſe, ein Freund, ein Gaft.“ 

„Und Sie find fächfifch-polnifcher Rammerherr, allers 
dinge. Indeſſen, Sie haben mid) nun einmal in Gegens 
wart diefes Ihres Gaftfreundes zu diefem Fefte ihm zu 
Ehren eingeladen —“ 

„Fagon de parler, Scherz - -“ 


Der Doften der Frau 205 


„Schade, daß id; Ihren Ernft fo wenig habe kennen 
lernen, um diefen Scherz nicht für Ernft zu nehmen, und 
Daß ich num feinen Grund fehe, der eine fo fpäte Korrektur 
der Auffaffung rechtfertigen würde.” j 

„Eine Frau braucht feine Gründe für einen veränders 
ten Entfchluß. Einfälle, Zufälle, Launen, Bapeurs, - eine 
Migräne find ihre Räfon.“ 

„Nicht die meine, Graf; und bei der meinen werde ich 
beharren, bi8 Sie mir in Ihres Freundes Gegenwart 
Durch Ihren ausgefprochenen Willen eine triftigere aufs 
nötigen.” 

„Und mid ridicule mache, als deutfcher Luftipiels 
hobereau! Ich danke Ihnen, Frau Gräfin, ich danfe viel, 
taufendmal!” 

„Nun, auch ich habe Feine Luſt, mic lächerlich zu 
machen, und darum auf Wiederfehen in der Menuett, 
Herr Graf.“ 

Mit diefer Schlußerflärung und einer fpöttifchen Vers 
beugung wendete die ftolzge Dame ſich nad) der Tür; der 
gereizte Eheherr aber ſchien nicht geneigt, ald uͤberwun⸗ 
dener auf dem Kampfplate ſich mit dem Nachfehen zu 
begnügen. „Lore, du bleibt!" rief er aufgebracht, fie bei 
der Hand zurüdhaltend. Da aber juft der Urheber feines 
Unwillens in den Saal zurüdfehrte, führte er diefe Hand 
mit bewundernöwerter Faflung in tändelnder, ehemännis 
fcher Laune an feine Lippen. Seine Gemahlin entzog fie 
ihm rafch mit verächtlicher Miene; unwillfürlich ſtrich fie 
mit den Kanten ihred Tafchentuches dbarüberhin, als ob 
fie die Spuren heuchlerifcher Feigheit von ihrem Körper 
loͤſchen wollte. 

Herr von Grillen war unterdeflen näher getreten, der 


206 Der Poften der Fran 


fchönen Frau mit einer fchmeichelhaften Apoftrophe, würdig 
eines Voltaire, leider aber unfrer Kenntnis verbaliter nicht 
aufbewahrt, ein Bufett feinfter, den natürlichen gleich 
duftender Parifer Blumen darbietend. Stumm, geteilt 
zwifchen Verlangen und Verlegenheit, zögerte fie, es ent- 
gegenzunehmen, bid der Gemahl lächelnd, mit der glück⸗ 
lichten Unbefangenheit die Mittlerrolle ergriff und, nicht 
ohne obligate VBerbeugung gegen den Geber, ed aus feiner 
Hand in die ihre legte. „Mit dem Schwert in der Hand, 
oder mit dem Minnezeichen,” rief er aus, „preux chevalier 
und feines Sieges gewiß.” 

Noch war der allfeitige Danf und Gegendanf für diefeg 
favaliere Smpromptu in tiefen Neverenzen nicht erledigt, 
ald der Kammerdiener von neuem auftrat, die harrende 
Equipage ded Herrn Grafen anzumelden. Der Herzog 
faßte die Fingerfpisen der Dame, fie ihrem Vehikel zuzu⸗ 
führen, der Eheherr blieb einen Moment im Saale zurüd, 
den fich Entfernenden einen Blick nachfchleudernd, fo 
grimmig, ald ed feinem im Grunde ziemlich harmlofen 
Augenpaare moͤglich fchien. 

„Sie trotzt mir,“ murmelte er. „Nun denn Trotz gegen 
Trotz, Madame. Noch iſt es Zeit! Glücklicher Zufall, 
daß ich die Kundſchaft oben bei dem Hildburghauſen at⸗ 
trappiert habe. — Die Garniſon rückt in der Frühe über 
den Fluß. Zurück, immer wieder zurück, dieſer Soubiſe. 
Aber diesmal mir erwünſcht. — Am Nachmittag brechen 
wir auf nach Dresden, nach Warſchau, wenn es ſein muß, 
ſie darf, ſie ſoll dieſen Franzoſen nicht wiederſehen.“ 

Befriedigt laͤchelnd folgte er den Vorangegangenen und 
langte im Hausflur an, als eben die vergoldete Porte⸗ 
chaiſe ſeiner Gemahlin aus derſelben getragen ward. Gaſt 


Der Poſten der Frau 207 


und Wirt beftiegen alfobald die bereitftehende Karofle und 
fuhren einmütig felbander zu dem Feſte, das zu Ehren der 
fremden Freunde und Erretter gefeiert werden follte. In 
faum einer Minute ftanden fie, des überholten Tragfeflels 
harrend, in der Torfahrt zum „Goldenen Scheffel”. 

Die Kultur in unferm Städtchen war vor mehr ale 
hundert Sahren keineswegs fo weit gediehen, um audy die 
Propyläen einer Ergöglichkeit einer Dekoration bedürftig 
zu erachten. Der unverdecdte Rinnftein floß inmitten eines 
halsbrechenden Pflafterd, der Blick in einen moraftigen, 
mit Schuppen und Karren gefüllten Hof lag frei geöffnet, 
die Düfte nachbarlicher Ställe mifchten fich mit denen des 
Wildbratens und polnifchen Karpfens, mit dem Bier und 
Tabaksqualm, die aus Küche wie Schentftube drangen. 
Der furfürftliche Kammerherr bemerfte und ermwiderte 
achſelzuckend das epigrammatifche Lächeln feines hohen 
Gafted von der Seine, dabei aber verneigte er fid) höflich 
grüßend nad) allen Seiten, reichte den eintretenden Hul⸗ 
dinnen ded Kreifes feinen Arm zum Geleit bid an bie 
Treppe, welche nach dem Tanzfaal im oberen Stodwertfe 
führte, erinnerte die ftattliche Gemahlin des Herrn Amts⸗ 
hauptmannd an ihre Zufäge der erften Menuett, küßte 
mehr als einer Schönen zum Willkomm die zarte Hand, 
er lächelte, er lifpelte, er wißelte, er fchmwebte auf und 
nieder, mit einem Worte: er war ein würdiger Epigone 
der großen Epoche des galanten Sachfens, der Furfürft- 
liche Kammerherr Moritz Graf von Fink; nicht das feelen 
tundigfte Auge hätte auf diefer wolfenlofen Stirn ges 
Iefen, daß ein gewaltiger Entfchluß in ihrem Innern reif 
geworden war. 

Wir wollen mit diefer Andeutung keineswegs eine bängs 


208 Der Doften der Fran 


liche Apprehenfion in dem Gemüte einer holden Leferin 


erwecken und beileibe nicht behaupten, daß das Blut eines 
Dthello in den Adern unfres kurfächfifchen Kavaliers ges 
focht habe; ja, wir tragen billige Bedenfen, daß die 
Miffetat des ſchwarzen Afritaners, wäre fie jenerzeit ſchon 
über den Kanal in die Mufentempel der Elbe und Pleiße 
vorgedrungen, den zürnenden Eheherrn zur Bewun⸗ 
derung oder gar zu verbrecherifcher Nachahmung hins 
geriffen haben würde. 

Smmerhin jedoch entbehrte er der Dofis Eitelkeit nicht, 
welche zu dem Mirtum der Eiferfucht auch in einem weißen 
Männerherzen erforderlich ift und welche unter Umftänden, 
nicht minder als die Leidenfchaft, eine unberechnete Kata⸗ 
firophe zum Ausbruch bringen kann. 

Die Sänfte der Dame, geleitet von zwei Windfadeln 
tragenden Heiducken, ließ nicht lange Zeit auf ſich warten, 
und der artige Franzofe eilte herbei, ftatt des nebenher, 
fchreitenden Kammerdieners ihren Schlag zu Öffnen und 
feiner fchönen Wirtin den Arm zum Geleit in das Fefts 
lokal zu bieten. 

„Einen Augenblid, mon duc,” rief indeſſen der herbei⸗ 
ſpringende Eheherr lächelnd, „die Damen lieben es, einen 
prüfenden Blick in den Spiegel zu werfen, bevor ſie den 
Ballſaal betreten. — Ein Zimmer für die Gräfin, Herr 
Wirt!“ 

Unter den devoteften Büdlingen und Entfchuldigungen, 
 baß nur ein einziges, wenig ftandesgemäßes Kämmerlein 
noch disponibel fei, öffnete der eilfertige Scheffelwirt, 
dem bei feinen heutigen, unerhörten Obliegenheiten der 
Kopf unter der weißen Zipfelmüge im buchftäblichen Sinne 
wirbelte und wadelte, die Tür eined langen, fchmalen 


Der Poſten der Frau 209 


Korridors, auf eine zweite am entgegengefebten Ende des⸗ 
felben deutend, und fprang darauf in die Torfahrt zurüd, 
wo feine Gegenwart von den verfchiedenften Stimmen 
aus Küche und. Keller gefordert ward. 

Gräfin Eleonore hatte ihren Gemahl bei feiner unvers 
muteten, ihr völlig überflüffig dünkenden, fürforglichen 
Forderung erftaunt angeblickt; um fidy jedoch in feine aufs 
fällige Erörterung einzulaffen, nahm fie raſch dem Wirt 
den Leuchter aus der Hand, fchritt unmutig, beide Wände 
des Ganges mit der fteifen, glänzenden Robe ftreifend, 
ihrem Gemahl voran und öffnete, feine nochmalige drins 
gende Frage: ob fie darauf beftehe, den Ball zu befuchen, 
feiner Antwort würdigend, die Tür bed angewiefenen 
Zimmers. 

Der Herr Herzog von Erillon hielt es für angemeffen, 
nicht länger im Tormweg bed „Goldnen Scheffels“ des rüds 
fehrenden Ehepaares zu warten und ftatt deffen oben am 
Eingange des Tanzfaaled den Poften ald harrender Nitter 
einzunehmen. Zehn lange Minuten mochten auf diefe 
Weiſe vergangen fein, als fein gräflicher Wirt erfchien — 
ohne feine Frau Gemahlin. 

„Die Damen find incalculable, incommensurable, mon 
duc,“ fagte er, gewohnter Weife lächelnd, „eine verfchobene 
Schleife, eine in der Nachtluft aufgelöfte Locke — machen 
ihnen Migräne. Die Gräfin — —“ 

Die Klänge der eröffnenden Polonäfe unterbrachen bie 
Erklärung; der Graf reichte der Gemahlin des Landes 
ftallmeifters, Freiheren von Tettenborn, die Fingerfpigen 
und verfchwand mit ihr im Gedränge des Saales. Über 
des Herzogs Mienen aber lagerte fidy eine verdrießliche 
Wolfe. Was follte er auf diefem deutfchen Kirmesfeft 


210 Der Poften der Fran 


ohne fie? Er nahm im Nebenzimmer Plag unter einer 
Gruppe franzöfifcher. Herren, welche fo wenig wie er Luft 
bezeigten, die des Parifer Parfettes gewohnten choreos 
graphifchen Künſte auf. den rauhen Dielen, unter den. 
Staubwolten des „Goldnen Scheffeld” zu risfieren. Der 
Champagner floß, ed wurde hoch pointiert; voran ber 
Herzog, der feine Kühnheit, wie feinen Reichtum in den 
gewagteften Sägen dofumentierte, Er fiegte und ließ fidh 
befiegen mit gleichmütiger Nobleffe. Unfer Graf dahin⸗ 
gegen, ald der vornehmfte der maitres de plaisir, wetts 
eiferte in Funftfertigen Pas mit den jüngften franzöfifchen 
Helden. Die unerwartete Nachricht, daß die Befagung 
in der Frühe des nächften Morgens die Stadt zu verlaflen 
und fich über den Fluß zu ziehen habe, fchien ihn wenig 
zu überrafchen, Er hatte ja früher als felbft fein Frieges 
rifcher Gaft diefe Nachricht attrappiert, ald er dem Com- 
mandeur en chef, Herzog von Hildburghaufen, feine Aufs 
wartung machte, wenige Minuten bevor im Polnifchen 
Kaufe feine ehemännifche Galle fo bedenklich aufgeregt 
werden follte. FR a 


Und wo war Gräfin Eleonore während der Zeit, daß 
Gemahl und Kavalier fich dergeftalt mit ritterlichen Spielen 
unterhielten? Ach, es wird ſchwer fallen, dieſes unglüd- 
liche Opfer der Eiferfucht in einer Situation darzuftellen, 
die ihre Heldenrolle gefährlich zu beeinträchtigen vermöchte. 

Wir fahen die Dame zulegt mit haftigem Unmut, den 
Leuchter in der Hand und ein gütliched Nachgeben ftolz 
verfchmähend, die Schwelle des impropifierten Toiletten, 
zimmersd überfchreiten. Der Gemahl hielt ſich befcheident- 
lich vor der offen gebliebenen Türe, während fie rings an 


Der Poften der Fran > 


den Wänden umherleuchtete und endlich den Spiegel in 
Form und Größe einer Schiefertafel entdeckte. Ein rafcher 
Blick widerlegte ihre unpeftimmte Erwartung einer ber 
Redreſſur bebürfenden Unordnung; fie fah, daß alles gut 
und daß fie fchön genug fei, um auch die fchönfte Neben 
buhlerin nicht zu fürdyten. So eilig, als fie gefommen, 
wendete fie fich daher dem Ausgange wieder zu und war 
eben im Begriff, durch die Tür zu treten, als diefelbe, — 
der unfeine Ausdrud läßt fich nicht vermeiden, — ale Dies 
felbe ihr recht eigentlich vor der Naſe zugefchlagen, der 
Sclüffel von außen umgedreht und hörbar abgezogen 
wurde. Ä | 

Die ſchoͤne Frau prallt einige Schritte zurüd und fteht 
einen Angenblic! wie in den Boden gewurzelt. Im nächften 
aber ift fie mit einem Sprunge ſchon wieder an der Türe. 
Ste rüttelt am Drüder — das Schloß gibt nicht nach; 
fie ruft laut und immer lauter den Namen ihres Gemahle, 
ihres Dienerd, des Wirtes felber — feine Antwort; fie 
Iugt durdy das Schlüffellody — alles finfter; jest flürzt fie 
nach dem Fenfter und reißt e& auf — aber auch hier 
fchweigende, unenthüllbare Nacht. Keine menfchliche Spur 
zu erfennen, feine menfchliche Hülfe zu errufen — Die fchöne 
Frau ift eine Gefangene! 

Bei diefer Entdeckung fiel unfre Heldin in einen Zu: 
ftand, ja, er läßt fich nicht glimpflicher bezeichnen, in einen 
Zuftand von Wut. Zornesröte wechfelte mit einer tödlichen 
Bläffe auf ihrem Geficht, ihre Glieder zitterten, die Bruft 
rang nad) Atem und Luft. Bon oben herab vernahm fie 
die einladende Weife der Polonäfe: Sie fohleuderte das 
Parifer Bufett an den Boden, riß die Rofen aus ihrem 
Haar und trat fie mit Füßen, fie rannte im Zimmer auf 


212 Der Poſten der Fran 


und nieder, die Hände frampfhaft gegen ihre Stirn ges 
ballt. 

„O dieſe Feigheit, dieſe Gemeinheit!“ ſtoͤhnte ſie mit 
einem konvulſiviſchen Lachen, das zu ihrer Erleichterung 
nach und nach in einen Traͤnenſtrom überging. 

Sie warf ſich auf den niedrigen Tritt am Fenſter, ver⸗ 
grub ihr Geſicht in die Hände, und während die heißen 
Tropfen auf das ſilberglaͤnzende Stoffkleid niederrieſelten, 
wechſelte in ihrem Herzen ein Kreislauf qualvoller Emp⸗ 
findungen vom bitterſten Hohn und Haß bis zu dem ihrer 
ſtolzen, mutigen Seele ſo ungewohnten Mitleiden mit ſich 
ſelbſt. Die Tränen verfiegten allmählich, fie verſank in 
dumpfes Brüten, faß mit gefchloffenen Augen gleich einer 
Schlafenden, während holde Erinnerungen, Träume der 
Vergangenheit, wechfelnd mit bedrohlichen Zufunftöbildern 
vor ihrem Geiſte famen und fchwanden. Bom Saale 
herunter drang die Muſik der verfchiedenen Tänze, von 
der Straße herauf wirbelte der Zapfenftreich, fie hörte es 
nicht, fie faß wie erftarrt. 

Endlich aber fprang fie auf mit einem jähen Entſchluß. 
„Niemals, niemals,” rief fie laut und Teidenfchaftlich, 
„nein, niemals werde ich in diefed Haus zurücdkehren, 
niemals diefem Elenden wieder angehören. Pflicht um 
Pflicht, Treue bis in den Tod! Aber ausharren, wo man 
verachten muß, macht und verachtenswert!”" Unwillfürlidh 
fielen ihr bei diefen Worten die Forderungen ihrer beiden 
abendlichen Befucher wieder ein: „Treue fchlechterdings“, 
und „auch an die Schwachheit bindet die Treue”, hatten 
fie gefagt, ein jeder in feinem Sinn. Seltfam, daß fie es 
juft heute fagen, daß ihre Gedanken heute juft diefe Rich⸗ 
tung nehmen mußten. Aber nein, nein. Die alfo fprachen, 


Der Doften der Fran 213° 


ed waren ein Priefter und ein Soldat. Was mußte der 
eine von den Kämpfen eines weiblichen Herzens in ben 
überfeinerten Zuftänden der großen Welt? Was wußte 
der andre von den Leiden des Menfchenherzeng überhaupt? 
Gelte, was fie behaupten, für die Maffe des ftumpf in 
Arbeit und Notdurft ringenden Volks; fei es ein Gefeg 
für Männer unter irgendwelchem Panier, — eine Frau 
verliert ihren Adel, wenn fie ſich an einen Unmwürdigen 
heftet, die Gemeinheit überwältigt fie, wenn fie ſich feiner 
Gemeinfchaft nicht entringt. 

Der Herzog, der Herzog? was war ihr diefer Mann? 
fonnte fie fidy) einer Schuld bewußt werden? fühlte fie den 
Borwurf auch nur eines fträflichen Gedanfend, auch nur 
eines fträflichen Empfindens? Hatte ihr Gemahl aud) nur 
einen Schatten von Recht, Schmach und Erniedrigung 
über fie zu verhängen? 

Sie preßte die Hand gegen das Herz, fie fuchte gleich» 
fam feine Schläge zu zählen. Aber „Nein, nein!” - rief 
fie audy jest, „icy taftete nach einem deal, um meinen 
wanfenden Glauben zu fügen, id; tändelte mit einem 
Traum, um meine leer gewordenen Stunden zu füllen, 
aber felber meine Träume waren nicht meiner Treue feind. 
O, wohl der Frau,” fuhr fie nach einer Paufe fort, „wohl 
der Frau, welche einem ungeliebten Manne ihre Treue 
verpfänbet hat, aber einem Manne, der fie ehrt und dem 
fie vertraut. Doch einem in Neigung fich zugefellen und 
von Stunde zu Stunde, Schritt für Schritt feine Hohls 
heit innezuwerden, zu fehen, wie er jede Größe lächelnd 
bezweifelt und dad Gemeine fid, lächelnd gefallen laͤßt, 
wie er feige vor dem Mächtigen riecht und ehrlos den 
Schwachen, ein Weib gar, mit Füßen tritt, das heißt 


214 Der Poften der Fran 


elend, das heißt elend fein wie ih. Zur Stunde erft ift 
diefed Elend mir Mar geworden in feiner vollen, vers 
nichtenden Bedeutung, und zur Stunde noch werde ich ihm 
entfl-, nein, nicht heimlich entfliehen, offen ihm ing Ans 
geficht zerbreche ich die fchmähliche Feſſel.“ 

Wieder faß fie eine Weile unbeweglich. Aber fie te blieb 
nicht lange allein; eine zarte, Liebliche Geftalt fchmiegte 
ſich an ihre Bruft, und eine Kinderftimme flammelte: 
„Mutter, Mutter, was wird aus mir, wenn du mid) vers 
Läffeft?" — „Mein Leo!” - rief fie — „mein Knabe, dich 
fol ich Taffen, ihm laflen, dich, mein einziges Kind?” - 
Shre Tränen firömten von neuem, fie rang verzweifelnd 
die Hände. Aber audı) jet faßte fie fich bald. „Nimmers 
mehr!” — rief fie entfchloffen, „mir gehörft du, mir zuerft, 
mir allein; auch dich muß id) ja retten, retten von dem 
Fluche, eined Tages deinen Vater verachten zu müflen. 
Dich mir zu fichern, fliehe ich, entführe dich zu meinem 
Bater, zu meinem alten, herrlichen Vater. Er wird Dich 
fchügen, vor ihm wollen wir und beugen. Unter feinen 
Augen folft du ein Mann werben, ein Edelmann wie er 
felber, würdig ded Helden, der feinen Zepter über Dich 
halten wird. Ein Kind, ein Weib, jeder Menſch vermag 
zu beftehen ohne das Glück, ja ohne die Liebe felbft. Aber 
Ehre und Ehrfurcht find wie der Atem in unfrer Bruft, 
entflieht er ung, fteht das Leben ſtill.“ 

Schnell entfchloffen überdenkft fie den Weg und die 
Mittel zur Flucht; in heftiger Bewegung fchreitet fie das 
Zimmer auf und nieder. Ein Duft von Blumen ftrömt 
ihr entgegen, ihr Fuß hat den Strauß berührt, den fie vor 
Stunden im Zorn von fidy geworfen. Sie hebt ihn auf 
und blidt eine Weile finnend in die fünftlichen Kelche. 


Der Poften der Frau 215 


„Er,“ flüftert fie, „auch er würde uns fügen, würde 
mich freimachen und rächen. Aber fchügen gegen wen? 
rädhen an wem? Gegen deinen Bater, an beinem Vater, 
mein Kind, nein, nein! Auch er darf meine Flucht nicht 
ahnen. - Kein buhlerifcher Schein auf ein bis heute mafel- 
loſes Leben — auf das Andenken deiner Mutter, mein Sohn, 
deiner Tochter, mein Bater, auf das Andenken einer 
Preußin in fremdem, verderbtem Land.” 

Es mußte fchon tief in der Nacht fein, als ihr Plan fir 
und fertig war. Bon der Straße, vom Hofe herauf fein 
Laut. Nur über ihr faft ohne Unterbrechung die Muſik 
der wechſelnden Taͤnze. 

Sie öffnete leiſe das Fenſter und fpähte hinaus in den 
düfteren Raum. Ein Kichtftrahl, von einem Seitengebäude 
ftreifend, Tieß fie allmählich einen engen, kleinen Seitenhof, 
nad} der Landesfprache einen „Schlüfter”, unterfcheiden, 
auf welchen das Fenfter mündete. Ein Haufen von Schutt 
und Scherben unter demfelben mußte dad Entfommen ers 
leichtern. | 

Sie neftelte nun haftig die Zitternadeln aus ihrem Haar, 
die Diamantgehänge von Bruft und Ohr, nahm Kollier 
und Armfpangen ab und verbarg fie in ihrer Poche. Wenn 
der Brofat des Gewandes nur ebenfo leicht zu verhüllen 
gewefen wäre! Aber Lehmann mußte ja die Dunfle, warme 
Saloppe bei ſich haben und ihrer längft in Begleitung der 
Sänfte im Hauſe harren. Auf diefen treuen Mann fonnte 
fie bauen. Er war ihr aus der Heimat mitgegeben ald 
zuverläffiger Diener, ja faft ald Freund. Hatte fie ihn 
aufgefunden, war fie geborgen. Nun herzhaft auf die 
Brüftung des Fenſters und mit einem mutigen Sprunge 
in die Freiheit! 


216 | Der Poften der Frau 


Der Kopf, die fchlanfen Schultern waren glüdlich durch 
bie fchmalen Fenfterflügel gefchlüpft, aber, o weh! jetzt ift 
fie gebannt, der ftandfefte Reifroct hindert das Entkommen. 
Sie muß noch einmal zurüc, ſich der modifchen Feffel zu 
entledigen. Da fteht das eherne Gerüfte gleich einem 
Haus, dad erfte Hindernis auf neuer Bahn, ein Symbol 
des Herkommens, mit dem fie bricht. Nun mit frifchem 
Mute noch einmal auf die Brüftung - ein rafcher Sprung, 
und die Gefangene ift frei! | 

Taftend gleitet fie längs der Mauer dahin und hat bald 
den Ausgang nach dem großen Hofe erreicht, den ein Schims 
mer der einzigen, dunkel glimmenden Lampe der Torfahrt 
notdürftig erhellt. Hinter einem Karren geborgen refognos 
fziert fie dad Terrain. Der Flur fteht gefüllt von Sänften, 
der rücfehrenden Tänzerinnen harrend, aber die Träger 
und Diener haben fie verlaflen. Man hört ihre Elappen- 
den Krüge und lärmenden Stimmen aus der Wirtöftube 
dringen. Nur eine einfame Geftalt hat Pla auf einer 
Banf didyt an der Hoftür genommen. Der Flüchtigen 
Herz fchlägt freudig auf; der glüclichfte Zufall erleichtert 
ihren Entfchluß: es ift Lehmann, der Getreue! 

Sie fchleicht auf ihn zu, faßt feinen Arm und flüftert: 
„Folge mir, Lehmann!“ 

„Ale Teufel, Frau Gräfin!” ruft der Diener erfchrect, 
als fähe er eine Spufgeftalt. 

„Stil, til, verrate mich nicht, folge mir.“ 

Er ging ihr nad. Sie traten in eine Scheune, die 
heute abend als Remife aushelfen mußte. 

„Sind wir hier ficher, Lehmann; fann und niemand 
hören?” 

„Höchſtens eine Maus, gnädige Gräfin. Sie fißen alle 


Der Poften der Fran 217 


in der Kneipe und fauderwelfchen fächfifch mit den Frans 
zöftfchen. Mir wurde der Spuf zu toll, ih —“ 

„Still, ftil, Lehmann, wir haben Eile, höre mid. Du 
bift meiner Familie von jeher ein treuer Diener, ja ein 
Freund geweſen. Du folgft mir gern, nicht wahr?“ 

„Gnädige Gräfin, bid in den Tod.” 

„sch danke dir, Alter; und nun merfe auf. Mein Ges 
mahl hat mich gröblich beleidigt. Ich werde nicht mehr 
in fein Haus zurückkehren.“ 

„Die gnädige Gräfin haben fächfifche Lunte gerochen, 
juchhe!” 

„Stil, Lehmann, ftill, ich fliehe!“ 

„Wir fliehen!” rief der Alte, vor Freude in die Höhe 
fpringend. Plöglich aber fchien ihm ein Bedenken aufzus 
ftoßen. Er fragte fid) am Kopfe und murmelte einige uns 
verftändliche Laute. 

„Was haft du, rede!” rief die Dame beunruhigt. 

„sc meine nur, Frau Gräfin, — nicht wahr —“ 

„Was meinft du? rafch, raſch!“ 

„Na, ich meine — — Wir fliehen, wir zwei beide, gut! 
Aber - na - na, was Franzöftfches ift Doch nicht zu dritt?“ 

„Schäme dich, Lehmann!” fagte Eleonore, dunfel ers 
rötend. Diefer Argwohn felber in dem ergebenften Herzen 
war der erfte Stein bes Anftoßes auf ihrer Bahn. „Schäme 
dich! wir gehen nach Preußen zu meinem Vater.” 

„Nach Preußen, burra! nad Preußen!” jubelte der 
Veteran. „Sol ich die Sänfte beftellen, Komteſſe?“ 

„Behüte, Lehmann. Sch fage dir ja, daß ich nicht in 
bes Grafen Haus zurückkehren werde.“ 

„Dder unfern Wagen?“ 

„Der würde mid) verraten. Sc muß unbemerkt auf 


218 | Der Poſten der Fran 


preußifches Gebiet zu gelangen fuchen. Wir gehen zu 
Fuß aus der Stadt.” 

„Zu Fuß in diefen Flitterfchuhen? Aber nur zu! Ich 
weiß fchon Nat. Unter der Treppe hat die san 
ihre Holzpantoffeln ftehen laſſen.“ 

„Das wird fich finden, Lehmann. Aber gib mir meine 
Sachen, mich friert.“ 

Sie hüllte fi in Saloppe und Abendfchleier, welche 
der Kammerdiener bisher forgfältig auf feinem Arm ge⸗ 
halten, und fuhr dann fort: „Wir müflen nun fo raſch 
ald möglidy hinüber, meinen Leo zu holen.“ 

„Berfteht fich, unfer Leochen! Das Leochen muß mit 
nach Preußen!” 

„Aber der Weg über die Brücde wäre zu weit und un 
ficher; wir würden entdecft und verfolgt werden.” 

„Snädige Komteſſe, wir fohlagen uns durch.“ 

„Wir find nicht im Feldlager, Lehmann, wir find auf 
einer Reife und auf einer heimlichen Reife. Wir müffen 
einen nähern Weg nehmen. Der Fährmann Adam ift 
dein Freund, du kannſt dich auf ihn verlaffen?“ 

„ie auf mich felber, Komteſſe, eine ehrliche Haut bie 
auf die Knochen und zum Ausplaudern viel zu faul.“ 

„Nun gut, Lehmann. Wir gehen nad) dem Fährhaufe; 
der Weg tft nicht weit und wenig belebt. Wir feßen über; 
ich warte im Dorfe bei der blinden Mutter Beit, bis du 
vom Gute den erften beiten Wagen beforgt und Leo mit 
feiner Bonne zu mir gebracht haben wirft. Du fagft, daß 
wir in der Frühe nad, Dresden aufzubrechen gebenfen, 
erregft fo wenig als möglich Auffehen. Du fährft natürs 
lich felbft. Bor Tagesanbruch müffen wir aber fchon über 
bie Grenze fein. Haft du mid) verftanden, Lehmann?“ 


Der Poſten der Frau 219 


„Bin nicht von Stroh, Komteſſe.“ 

„So fieh dich in der Torfahrt um, ob ich unbemerkt 
hindurch kann.“ 

Der Alte ging und kehrte nach wenigen Minuten zurück, 
ein Paar ſchwere Klappantoffeln triumphierend in die 
Hoͤhe haltend. 

„Glücklich erwiſcht!“ rief er, „und keine Katze zu ſpuͤren. 
Nur dreiſt zu, Komteſſe!“ 

„Warum Komteſſe?“ fragte die Graͤſin, wehmütig die 
Pantoffeln betrachtend, die fie, das Geraͤuſch zu vermeiden, 
noch nicht überzuziehen wagte. 

„Na, nad Preußen, Komteſſe,“ antwortete der Alte 
vergnügt; „und unfern Grafen, den wären wir ja los.“ 

„Noch nicht fo ganz, Freund,” entgegnete die Dame 
„Bei der Gräfin Fink mag es fein Bewenden haben. Für 
diefe Schuhe fol dein Fährmann die Magd entfchädigen.” 

Der Beteran ging voran, die Dame fchlich hinter ihm 
drein über den Hof. Am Eingang zur Torfahrt blieb 
fie ftehen und fragte leife: „Iſt der Graf noch oben, 
Lehmann?” 

„zu Befehl, gnädige Gräfin.“ 

. „Und der - Herr Herzog?“ 

„Auch noch, gnädige Gräfin.“ 

„Defto beſſer,“ murmelte fie mit bitterem Lächeln. „Sie 
tanzen, und ich — ich werde fie niemald wiederjehen.“ 

Sie traten in das Tor und wanden fich durch dag 
Gewirre der Sänften. Noch aber hatten fie den Auss 
gang nicht erreicht, ald eine Stimme von der Treppe die 
Gräfin erbeben machte. Es war ihr Gemahl, der nadı den 
Sänftenträgern der Frau Amtshauptmännin rief. 

- Die Gräfin fürzte nach der Für. Der Riegel war vors 


220 Der Poften der Frau 


gefchoben, und ehe fie zu öffnen vermochte, war ber Graf, 
feine Dame am Arm, am Fuße der Treppe angelangt. 

„Steh ftil, Lehmann,” flüfterte die Gräfin zitternd und 
hinter eine Sänfte fchlüpfend, „hier, dicht vor mich. Rühre 
dich nicht, weiche nicht von der Stelle.” 

Die Träger der Frau Amtshauptmännin erfchienen auf 
den nochmaligen Ruf des Grafen. Er hob die ftattliche 
Schöne in ihr Behikel, ihren vollen Arm küſſend und 
einige galante Redendarten flüfternd. Eleonorend Herz 
lopfte zum Zerfpringen — vor Unwillen in diefem Augens 
blife mehr als vor Furcht. Das Tor wurde geöffnet. 
Die Sänfte verfhwand. Der Graf fah fid ziemlich fcheu 
im Flure um. „Die arme Eleonore,” murmelte er, „bie 
Zeit wird ihr lang geworben fein.“ 

Er bemerkte den Diener und befahl ein wenig Fleins 
laut: „Gehe Er hinein, Lehmann, und hole Er die Träger 
der Frau Gräftn.“ 

„Rühre did, nicht, Lehmann,” flüfterte die Gräfin. 

Lehmann rührte ſich nicht. Sein Gebieter wandte fich 
gegen den Korridor, der zu dem verhängnisvollen Toilettens 
zimmer führte. Ein rafcher Schritt auf der Treppe ließ 
ihn aber ftoden. Hinter der Tür verborgen, fah er feinen 
herzoglichen Saft herunterfommen und den Tormweg durchs 
fchreiten, hörte ihn, ald er ftugend den Kammerdiener der 
Gräfin gewahr wurde, nad) feiner Dame Befinden ſich 
erfundigen. Ehe Ehrenstehmann die fchwierige Antwort 
gefunden hatte, ftürzte der verlegene Eheherr aus feinem 
Verſteck. Gewiß, er fah bleicher aus, ald das Opfer 
feiner Rache; zitternd, mit einer Armenfündermiene, machte 
er einen ſchwachen Verſuch zu lächeln, indem er den 
Herzog bat, feine Equipage zu benügen und allein vors 


Der Poſten der Fran 221 


auszufahren, ba er felber noch für eine BViertelftunde ges 
feffelt fei. 

Der Herzog ging aus dem Tor, der Wagen rollte von 
Dannen. 

Der Graf wifchte fidy den Angftfchweiß von der Stirn. 

„Rafch, die Träger!” ftammelte er, an Lehmann vorüber 
und in den Korridor fchlüpfend. 

„Raſch, rafch, Lehmann, hinaus!” rief die Gräfin, 
ftürzte hinter der Sänfte hervor und aus dem Tore. 
Lehmann folgte ihr. Das Haus bildete eine Ede. Als 
die Flüchtigen faum in die ſchmale Seitengafle eingebogen 
waren, hörten fie den wiederholten, angftvollen Ruf nadı 
dem Diener aus des Grafen Munde. So war denn ihre 
Flucht ruchbar fhon in dem Momente der Ausführung; 
eine Entdedung, Ergreifung nur allzu möglidy, jede Minute 
koſtbar! | 

Eleonore flog durch die nädhtlich einfamen Straßen 
gleich einem gefcheuchten Reh. Der alte Diener vermochte 
faum ihr zu folgen. Sie nahm ſich nicht die Zeit, die 
unbehilflichen Überfchuhe anzuziehen, ohne Umfehen durch 
die und dünn, nur voran, nur fort, hinaus, hinüber, nur 
frei! 

Bor dem Tore hielt ein franzöftfcher Poften die Wache. 

„Diener und Kammerjungfer der Gräfin Fink,“ res 
yetierte vernehmlich der alte Preuße. 

Der Poften ließ das verbächtige Paar paffieren. Eleonore 
mußte einen Augenblid innehalten, dann ging fie in etwas 
gemäßigterem Schritt durch die Vorftadt, die ſich lang 
und fchmal zwifchen dem Fluffe und feinem erhöhten Ufer, 
rande hinzieht. Die große Straße nach Leipzig führt 
burch dieſe Vorftadt, von deren legten Käufern etwa 


222 Der Poſten der Frau 


tauſend Schritte entfernt das Fährhaus am Eingange 
einer auf die Höhen führenden Schlucht gelegen ift. Etwas 
weiter talab fieht man auf dem entgegengefeßten Ufer das 
gräflich Finkfche Dorf und Stammfchloß, anmutig zwifchen 
Wiefen, — und Gaͤrten gruppiert, die Aue über⸗ 
ragen. 


Gräfin Eleonore war bis jetzt in fo leidenſchaftlicher 
Aufregung gewefen, daß fie das Abentenerliche ihres Unters 
nehmend nur wenig in Betracht gezogen hatte; es fchien 
thr leicht, weil das Verlangen danadı fie beherrfchte. 
Sept, da für den Moment die dringendfte Gefahr der 
Entdedung befeitigt fchien, in der feuchten, finfteren Nacht, 
laͤngs des ftillraufchenden Fluffes an der Seite ihres 
ftummen Begleiters dahinfchreitend, tauchten nad) und 
nad) die Bedenfen und Fährniffe deutlich vor ihrem ins 
neren Auge auf. Eine junge Frau, ein zartes Kind in 
herbftlicher Sahreszeit, in riegerifcher Aufregung, ohne 
Geld und Gepäd, ohne jegliche Vorkehrung auf der Flucht 
weit über hundert Meilen nach einem unwirtlichen Lande! 
Denn eine Reife aus dem Leipziger Kreife nach der Oft- 
fee war vor hundert Jahren beileibe fein Kagenfprung, 
wie heute, und würde auch in friedlichen Zeiten von 
einem befonnenen Manne nicht ohne rechtögältiges Teſta⸗ 
ment, auf dem heimifchen Amte niedergelegt, unternommen 
worden fein. 

Aber die Tochter des alten preußifchen Soldaten war 
fo leicht feineswegs von einem gefaßten Entfchluffe abs 
zufchreden. Sie befaß einen ftolzen, energifchen Willen, 
defien Feuer fieben Sahre verweichlichenden Genuffes nicht 
abgedämpft hatten und, was felten der Fall bei rafchen, 


Der Poften der Fran 228 


phantafiereichen Naturen, fie befaß dabei eine Muge, um⸗ 
fihtige Art, die, ging Not an den Mann, die Mittel zu 
ihren Zwecken zu finden wußte. Mit einem Worte: unfre 
Heldin hatte Charakter. Sie konnte Böſes und Gutes 
tun,. was juft nicht vielen, aud; Männern nicht, gegeben 
ift, und in diefen Stunden, fo fchien es, ftand fie auf dem 
Scheidewege zwifchen beiden. 

„Komme es, wie e8 wolle,” fagte fie endlich abſchließend 
zu ſich ſelbſt, „jurück kann und will ich nicht mehr. Nur 
mein Kind — und über die Grenze! Das übrige wird ſich 
finden. Und wenn ich mich an den Koͤnig ſelber wenden 
ſollte. - Saft du Geld bei bir, Lehmann?” fragte ſi e nach 
. einer Weile, zu dem Diener gewendet. 

„Dreißig Spezies! einen Gulden und zwei Zwanziger, 
Frau Gräfin,” antwortete Lehmann. 

„Welcher Mammon, alter Freund!” 

„Meine gefamte Barfchaft, gnäadige Gräfin. Seitdem 
die fremden Raben im Lande haufen, hat einer ja nur 
noch, was er auf feinem Leibe bei fich trägt.“ 

„So wirft du mir vorfchießen müffen, bi8 wir etwa in 
Halle meine Juwelen verfaufen und in Berlin den Kredit 
meined Vaters geltend machen können.“ 

Sie verfanf wieder in nachdenfliches Schweigen, bis fie 
nad) etlichen Minuten vor dem Fleinen, einfamen Fähr- 
haufe ftanden. Es dauerte eine Weile, ehe Lehmann durch 
Klopfen und Rufen ein menfchliches Wefen ermunterte. 
Das Fenfterchen wurde endlich geöffnet, und eine weib⸗ 
lihe Stimme brummte verdrießlich: „Der Fahrmann ift 
nicht heim, 's kann nicht übergefeßt werden.“ 

„So lafle Sie und ein, wir wollen auf ihn warten,“ 
fagte der Alte. 


299 Der Poſten ber Frau 


„zum Kudud, warten!” verfegte die Frau Kährmännin 
und wollte das Schößchen zufchlagen. | 

Aber Freund Lehmann ftredte feinen einen langen Arm 
nach dem Fenfter und packte ihre Sand. 

„Sie ift noch im Traume, Hanne,” fagte er, „fo fperr 
Sie doch Ihre alten dummen Gucklöcher auf. Wir find 
ja die gnädige Herrichaft von drüben.” 

„Schöne Herrichaft, in ſtockpechrabenſchwarzer Nacht 
auf den Beinen und fo’n Gebrül wien preußifcher Ka⸗ 
nonier!” 

„Kennt Sie denn den Lehmann nicht, Hanne? Steck 
Sie die Lampe an und riegle Sie auf, fonft trete ich Ihr 
die Tür in Stüde.” 

Schon madıte er Anftalt, feine Drohung auszuführen, 
ald Mutter Hanne in der Tür erfchien und, bad Laͤmp⸗ 
chen vorhaltend, mit weit aufgeriffenen Augen bie felts 
famen Gäfte anftarrte. 

„Weiß der Kerr, die Gnädige,” fagte fie verblüfft. 

„Sch muß auf der Stelle hinüber,” nahm jetzt die Gräfin 
das Wort. „Ruft den Adam, Mutter, rafch, raſch!“ 

„Nun eben, Gnädige, den Adam,” verſetzte Mutter 
Hanne gelaflen, „aber der Adam ift ja eben nicht da.” 

„Bo ift er?" 

„zum Fifchen ift er.” 

„Und wann fommt er zurüd?” | 

„Benn er was gefangen hat, fommt er möglich zurüd.” 

„So mag mid, Lehmann hinüberrudern. Leuchtet zum 
Kahn, Mutter.” 

„Nu eben, zum Kahn! Aber der Kahn ift ja eben 
nicht da,“ 

„Bo ift der Kahn?“ 


Der Poften der Fran 225 


„Der Adam figt drinnen und fiſcht.“ 

Ein Donnerfchlag für die vor Ungeduld zitternde Dame. 
Sollte fie die unfchägbare Zeit mit Warten verbringen? 
Ein andrer Fifcher hätte fie hinüberrudern können. Die 
lange Borftadt, welche fie eben durchwandert hatte, war 
Haus bei Haus von Holzhändlern und Fifchern bewohnt, 
deren Innung ſich feit Sahrhunderten den Fluß entlang 
anfehnlicher Privilegien von feiten weiland Landgraf Lud⸗ 
wigs von Thüringen erfreute, zum Dank dafür, daß ein 
Bootsmann des Städtchens ihn nach feinem fühnen Sprunge 
aus dem Turme von Giebichenftein in den rettenden Kahn 
aufgenommen hatte. Sollte fie ſich die Straße zurüd nad) 
der Borftadt wagen, den großen Umweg nad) ihrem Gute 
machen? Das nächtliche Wachklopfen mußte Auffehen er- 
regen, ein Erfennen war unvermeidlich, ein Entdeden von 
feiten ihres Gemahls nur allzu wahrfcheinlich. Der Fährs 
mann fonnte jeden Augenblick zurüdtommen. So ſchwer 
ed war, ftillhaltend zu warten, ed fchien rätlicher, als jenes 
Wagnis. 

Sie folgte daher Mutter Hannen in deren Unterſtübchen 
und bat fie, ſich in ihrer nächtlichen Ruhe nicht weiter 
ftören zu laffen. 

Die brave Alte deprezierte: „Zu Bette gehen, dermweile 
die Serrfchaft im Haufe auf der Lauer ift! Na, wenn 
der Adam heimfäme, da friegt ich was Hübſches auf die 
Müpe!” 

EhrensLehmann, als Hausfreund, gab lachend eine 
erläuternde Pantomime zu dieſem Satze, die Dame 
aber fragte unwillig: „Er mißhandelt Euch, arme Muts 
ter?" Mutter Hanne fchüttelte ihr — — 


326 Der Poften der Fran 


„Was zur Sache gehört, bewahre, Gnädige, fonften 
nicht,” antwortete fie. 

„Was zur Sache gehört? Wie verfteht Shr das, Frau?” 

„Herr Sechend, Gnädige, wenn eine einem zugefchworen 
iſt, vor Gottes Altar!” 

„Barbarifche Eheftandslogit! — und Bolfes Stimme 
Gottes Stimme, heißt es,” murmelte die Gräfin. 

Sie befchwichtigte indeflen die Bedenflichfeiten ihrer 
Wirtin, indem fie verfpracdh, Die Verantwortung vor dem 
rücfehrenden Hausherren zu übernehmen, und fo 309 fid} 
denn Mutter Hanne zurüd mit den Worten: „Nu eben, 
Gnädige, man wird eben alt, und fein bißchen Nachtruhe 
ift einem zu gönnen, Um fein Stündchen Kirchenruhe ift 
man fo fchon gekommen, feitdem ber Frite fo graufam 
auf dem Tapete ift.“ 

Die Gräfin feste ſich an das Fenfter, die gefchloffene 
Zimmerluft, Ofenraud und Lampenqualm beflemmten 
ihren Atem. 

„Wie diefe Armen leben,” fagte fie zu ſich felbft. 
„Schätzt man ed auch, was man vor ihnen voraus hat? 
Ich hätte weit mehr Gutes tun können. Der Graf ließ 
mir freie Hand. Mein Leben würde reicher geweſen fein, 
hätte ich; mehr auf andrer Mangel geachtet.” - 

Doch weilten ihre Gedanfen nicht lange in diefer 
philanthropifchen Richtung; fie öffnete das Fenfter, 309 
die Zobelfaloppe dichter um ihre Schultern und ftarrte 
durch die nur von einzelnen den Mebel durchbrechenden 
Sternen erhellte Nadıt hinüber nad) ihrem nahen. und 
doch. fo unerreichbaren Schloffe. Der alte Diener hatte 
als Schildwache auf der. Banf vor der Hütte Pofto gefaßt. 
Mutter Hannes fchnarchende Atemzüge in der Kammer, 


& 


‘ Der Poften der Frau 227 


das. Unifono der plätfchernden Wellen waren die einzigen 
Töne, welche die Stille unterbrachen und allmählic auch 
die aufgeregte Frau am Fenfter in einen halben Schlummer 
lullten. F 

Wirre Bilder von Helden und Ungetümen, von Tänzern 
und Kämpfern, von Flucht und Verfolgung fcheuchten ſich 
 beängftigend vor ihrem Sinn. Bon Zeit zu Zeit fprang 
fie in die Höhe, machte einen Gang durch dad Zimmer, 
ftörte das fchmachglühende Tampenlicht auf und fah an 
der alten Schwarzwälder Uhr das erfchredfende Vorſchreiten 
der Stunden. Dann febte fie fidy wieder, um ſich von 
neuen Halluzinationen beflemmen zu laffen. 

Schwanfend treibt fie auf heimifchem Meere, ihren Leo 
feft an die Bruft gedrückt; der Nordwind brauft, hodhs 
fchlagende Wogen drohen das Boot zu verfchlingen. Vor 
ihr die rettende Düne, dort drüben das Vaterhaus. O, 
nur noch einen einzigen fräftigen Ruderfchlag, alter Adam, 
und fie ift heim, fie ift frei! Da, da plöglich am Strande 
lauernd ein Punkt, eine Geftalt, ein elender Zwerg, aber 
immer wachſend und wachfend, von fchattenhaften Ges 
bilden gehoben, von dDämonifchen Sflavenhänden getragen, 
jeßt ift ed ein Riefe mit weit ausgreifenden Armen, Heiland 
der Welt, es ift ihr Gemahl — eine Spanne — und er 
faßt ihr Kind! — hinter ihm dad Haug, es ift nicht ihres 
Baterd Haus, es ift fein eignes, lichterftrahlendes Schloß, 
feines, des: Verfolgers! Entſetzt fährt fie in die. Höhe, Falte 
Tropfen ftehen auf ihrer Stirne, die Uhr fchlägt vier. 
Wie fern. hatte fie gehofft um diefe Stunde zu fein, und 
nun noch immer harrend am Ufer! Aber was ift das? 
Das Schloß da drüben, vorhin in tiefem Dunkel, jest ift 
ed erhellt, fo wie fie ed im Traume gefehen; fladernde 


228 Der Poſten ber Fran 


Lichter blinfen durch die Scheiben, ale ob haftige Schritte 
von Zimmer zu Zimmer ftürmten. 

Tödlich erfchredt eilt fie hinaus vor bie Tür. 

„Sinüber, Kehmann, hinüber!” ruft fie, „fiehft du bie 
Unruhe da drüben, mein Leo ift krank.“ 

„Behüte, Frau Gräfin, behüte,” beruhigte der Diener, 
„der Kerr Graf werden gekommen fein, und zu ſuchen. 
Ein Glück, daß fie alled in Ruhe finden; hier hüben werden 
fie und nicht vermuten.“ 

„Du Fannft recht haben, Freund,” verfeste bie Bräfin 
einigermaßen beſchwichtigt, „indeflen wir müſſen jegt eilen, 
ihn zu kreuzen. Der Graf wird ſich druüͤben nicht aufhalten 
und mid, weiter verfolgen. Komme ed, wie es wolle, geh, 
fchaffe einen Kahn. Im äußerften Falle fuchen und finden 
wir Schuß bei dem König.” 

Sm Begriff, diefem Befehle zu folgen, hieft der alte 
Diener aufhorchend ſtill. 

„Was ift das, Lehmann?” fragte die Gräfin gleichfalls 
ſtutzend. | 

Man hörte Pferbegetrappel und flüfternde Laute auf 
ber Straße hinter dem Hauſe. 

„Hurtig hinein!“ rief Lehmann, die Gräfin in dad. Haus 
drängend. Kaum hatte fie dad Zimmer erreicht, als Dicht 
vor dem Fenfter Tritte und Stimmen vernehmbar wurben. 
Sie verbarg die Lampe im Ofenlocdh und ſich feiber hinter 
dem geöffneten Fenfterflügel. Im flüchtigen Sternenticht 
erfannte fie einen Trupp berittener Geftakten. 

„Holla!“ rief eine Stimme, „das ift das Haus, wo mir 
das Licht ſchimmern fahen, holla!“ 

„Das find preußifche Leute,” fagte die Grafen zu fich 
felbft. Ä I, 


Der Poften der Fran 229 


„Preußen! Preußen!” rief Lehmann zu dem Fenfter 
hinein. 

„Wer fpricht hier?“ fragte der Führer der Truppe vom 
Pferde herab. 

„Ein Preuße!” antwortete der alte Soldat, militärifch 
ſalutierend. 

„Iſt dies das Faͤhrhaus vor dem seruger Tor?“ 

„Das Fahrhaus, zu Befehl.“ 

„Iſt Er der Faͤhrmann?“ 

„Kalten zu Gnaden, der bin ich nicht.“ 

„Ber ift Er?“ 

„Bachtmeifter Lehmann, vormalsvon Belling-Aufaren.” 

„Der bei Molwig den Arm verlor?“ 

„Der nämliche, zu Befehl.“ 

„Ein braver Soldat. Wie fommt Er hierher?“ 

„Sn Dienften meiner Berrfchaft, der gnädigen Komteſſe 
von Looß, verehelichten Gräfin von Fink.“ 

„Der Frau des Kammerherrn drüben?” 

„Seine geweiene, zu Befehl.“ 

„Sind nsch Frangofen in der Stadt?“ 

„Marſchall Seubife mit feinem Korps rückten vorgeftern 
ab, eine Beſatzung ift zurüdigeblieben.” 

„Wie ftarft“ 

„zirka dreitaufend Dann influfive derer vom Reich.“ 

„Der Herzog von Hildburghauſen?“ 

„Logieren oben auf dem Schlofle.” 

„Die Garnifon zieht fich diefen Morgen zurück?“ 

„Dielen Morgen über den Fluß, zu Befehl.” 

„Weiß Er in hiefiger Gegend Beſcheid?“ 

„Zwei Meilen in der Runde jedweben Weg und 
Steg.“ 


230 Der VPoften der Fran 


„So folge Er dem Pifett und weife Er und den Weg 
auf die Höhen.” | 

„zu Befehl, alfobald ich meine gnädige Komteſſe ficher 
an Ort und Stelle erpediert.” 

„An Ort und Stelle, wohin?” 

„Nach Ganditten zu ihres Herrn Vaters Erzellenz.” 

„Da würden unfre Kanonen ein Beilchen warten müflen, 
Freund. Sch denke, die Frau Gräfin wird ihre Reife ver- 
fchieben können, bis Er und den Weg gezeigt.” 

„Halten zu Gnaben, fie fann fie nicht verfchieben. Wir 
lauern nur auf den Kahn, um unfern Sunfer brüben: zu 
holen, danadı geht's fort.“ 

„Bo tft die Gräfin?“ 

„Drinnen in der Hütte.” 

„So laß Er fie drinnen, bis Er wiederfommt. Vor Tag 
ift Er wieder da. Allons! Marſch!“ 

Der alte Preuße ftand einen Augenblid verlegen, was 
zu laffen oder was zu tun. Seine Gebieterin fam ihm 
zu Hülfe. Sie hatte das Zwiegeſpräch am Fenfter mit 
angehört. Die Ankunft der Preußen war ein Zwifchenfall, 
von dem fie nicht wußte, ob fie ihn für unheilvoll oder 
ermutigend halten follte. Doc, war fie zu einer glüdlichen 
Auffaffung geftimmt und fah ein, daß Widerſtand un- 
möglich fei. Schnell entfchloffen nahm fie daher die Lampe 
aus dem Ofen und trat unter die Tür. 

„Tue, was der Herr dir beftehlt, Lehmann. Wir fönnen 
nicht widerftreben,” fagte fie; und fich würdevoll gegen 
den Führer wendend, feßte fie hinzu: „Sch ftelle mich unter 
den Schuß der Ehre eines preußifchen Offiziere.“ 

„Serviteur, Madame,” verfeßtetrocdenen Tons der Preuße. 

Die junge, ſchone Frau im filberglängenden Gewande, 


Der Poften der Fran 251 


bei nächtlicher Weile, in der einfamen Fifcherhütte. war 
wohl eine wundernehmende Erfcheinung felber für die juft 
nicht zur Romantif geneigten preußifchen Helden. Auch 
lief ein überrafchtes Geflüfter durch die Truppe, deren 
Führer einen Augenblick ſchweigend verharrte, ſich dann 
zu einigen Zurüdftehenden wendete und leife Worte mit 
ihnen wechfelte. Nach einer Weile fehrte er, ohne der 
Dame zu achten, zu dem vormaligen Wachtmeifter zurüd. 
„Liegt die Sarnifon auf dem Schloffe?” fragte er. 

„Auf dem Schloffe und bei den Bürgern in der 
Stadt.” 

„Und hier in der Borftadt?" 

„Keine.“ | 

„Wo fteht die übrige Armee?“ 

„Kantoniert in den jenfeitigen Dörfern firomauf und 
ab.” | 

„Wie weit ift ed von der Rippach bis zu den Höhen 
über der Stadt?" 

„Kaum eine Stunde, zu Befehl.“ 

„Weiß Er einen ficheren Übergang für fchweres Ges 
ſchůtz? 

„Zu Befehl.“ 

„So folge Er dem Pikett, wir werden bei ſeiner Dame 
Wache halten, bis Er wiederkommt.“ 

Ehren⸗Lehmann machte kehrt mit einem ermutigenden 
Blicke auf die Graͤfin, die er ja ſicher in preußiſchem 
Schutze zurückließ. In wenigen Minuten waren die Tritte 
des Detachements in der Schlucht verhallt. Der Reſt der 
Preußen, ihre Zahl ließ ſich nicht im entfernteſten bes 
fiimmen, fchien fid) ringe um das Haus zwifchen Berg 
und Fluß zu poftieren. Alles ſchwieg; man hörte nur dag 


932 Der Doften der Fran 


Wiehern und Stampfen der Pferde, das zufällige Raffeln 
einer Waffe. 

Der Reiter, der biöher das Wort geführt hatte, war 
abgeftiegen und allein auf das Haus zugefchritten, unter 
defien Tür Gräfin Eleonore nod, immer in zweifelhafter 
Erwartung ftand. In dem Augenblide, ald fie, ihrem 
unbefannten Schugherrn voran, zurüd in das Zimmer 
treten wollte, erfchallte von dem jenfeitigen Ufer der Ruf: 
„Bol über!” 

Der Preuße ftuste. Die Gräfin rief. erfchredt: 

„Der Graf, der Graf!“ 

„Welcher Graf?” fragte der Preuße. 

„Mein Gemahl, mein Verfolger!“ 

„Er wird ſeine Ungeduld zähmen oder durch den Fluß 
ſchwimmen müſſen. Kahn und Fährmann, wie ich höre, 
ſind nicht da,“ ſagte der Unbekannte, indem er gelaſſen 
die Tür ſchloß. 

Eleonore atmete erleichtert auf und trat in das Zim⸗ 
mer. Mutter Hanne, durch den preußifchen Überfall nicht 
im mindeften in ihrem Morgenfchlummer geftört, fchnarchte 
gleichtönig in der Kammer fort. Die Gräfin nahm ihren 
früheren Plag am Fenfter wieder ein und laufchte auf 
den vom jenfeitigen Ufer noch öfter wiederholten Ruf 
nach dem Fährmann, bis endlich der Rufer, feine Er⸗ 
widerung findend, fich zu entfernen fchien. 

Der Preuße hatte ſich währendpdeflen auf der Banf im 
Dfenwinfel niedergelaflen, und die Dame fchielte forfchend 
nach ihm hinüber, in der Hoffnung, ein früher befanntes 
Geficht zu entdeden. Aber er faß dicht in feinen dunflen 
Mantel gehüllt, den Hut tief in die Stirn gebrüdt, den 
Kopf vorwärts gebeugt und dad Kinn auf den Säbelgriff 


Der Poſten der Frau 233 





geftügt, den er mit beiden Händen umflammerte. Diefe 
Stellung und das Dämmerlicht des ſchwachen Olflämm⸗ 
chend geitatteten feine weitere Unterfuchung. 

ung und gefährlich fchien der preußifche Held indeflen 
nicht zu fein, denn er machte feine Miene, fein Tetesastete 
mit der fchönen Frau auch nur zu einem Gefpräd, zu bes 
nugen. Dahingegen ließ fich, nadı der Haltung der Truppe 
ihm gegenüber, feine höhere Stellung in der Armee faum 
bezweifeln, und fo faßte ſich denn die Gräfin das Herz, 
ihn noch einmal um feinen Schuß anzufprechen und ſich 
einen wichtigen Rat von ihm zu erholen. 

„Eine glüdliche Fügung”, begann fie nach einigem Bes 
finnen, „fcheint mir die Hülfe entgegengeführt zu haben, 
welche ich aufzufuchen im Begriff ftand. Sie würden 
mich verbinden, mein Herr, wollten Sie mir die erforder 
lichen Schritte bezeichnen, um von Sr. Majeftät dem 
König einen Geleitöbrief durch preußifches Gebiet zu er- 
langen.“ | 

„Die Straßen in Preußen find ficher, Madame,” ents 
gegnete der Unbekannte, „ein gehöriger Paß ift hinreichend 
Schuß und Geleit.” 

„sch weiß es, mein Herr. Aber eben diefen mir mangeln- 
den Paß zu erfegen, rechne ich auf ein fünigliches Wort, 
um es diesfeitigen Reklamationen gegenüberzuftellen.“ 

„Beflen Reklamationen, Madame?“ 

„Mit einem Worte, mein Herr, den Anfprüchen des 
Grafen Fin! an mid, oder meinen Sohn — —“ 

„Seinen Sohn, Madame?” 

„Allerdings.“ 

Der Preuße fchmwieg. 

„Nun, mein Herr?” fragte die Dame nach einer Paufe. 


234 Der Poften der Frau 


„Sparen Sie fid, die Mühe, Frau Gräfin,” antwortete 
das unerfchütterliche Gegenüber, „bie preußifchen Gefeße 
fhügen feine Frau, die ihrem Manne davonläuft.“ 

„Mein Herr!" fuhr die Gräfin beleidigt auf. 

„Iſt ed nicht fo, Madame?“ verfeßte der Preuße gleichs 
mütig, „deſto befler, wenn ich falfch verſtanden — 

„sch bin eine Preußin, mein Herr — 

„Geweſen, Gräfin Fink, gegenwärtig find Sie eine Sach⸗ 
fin. Sie müßten und denn die Ehre erweifen, das Kurs 
fürftentum als eine eroberte Provinz zu betrachten. Aber 
Preußin oder Sachſin, in diefem Falle gleichviel.” 

„Sch bitte um Schuß auf dem Wege zum Haufe meines 
Baters, eines preußifchen Edelmanns, und um Sicherheit 
unter feinem Dache für mich und meinen Sohn, einerlei 
aus welchen Gründen.” 

„Nicht einerlei, Madame Ein Kind gehört feinem 
Vater und eine Frau unter das Dad) ihres Ehemanne.” 

„Und wenn ihr die Ehre verbietet, unter diefem Dache 
zu weilen?“ 

„Die Ehre? Eine Frau hat feine Ehre, die ihr etwas 
verbietet, Madame.” 

„Unverfhämt!” rief die Gräfin in höchfter Entrüftung. 

Der Preuße verfeßte defto gelaffener: 

„Beruhigen Sie ſich, Frau Gräfin; was Ehre ift, wiſſen 
nur Männer, denn fie allein wiflen für fie einzuftehen. 
Bei den Weibern heißt das Ding anders.“ 

„Und wie heißt ed, wenn ich fragen darf?“ 

„Es heißt Keufchheit und Treue, Madame.” 

„Und welche Genugtuung fol aus diefem Quiproquo 
für eine beleidigte Frau deduziert werden?“ 

„Die Öenugtuung einer übereinftimmenden Pflicht. Denn 


Der Poften der Frau 235 


gleichwie der Mann von Ehre feinen Poften nicht verlaflen 
darf, — wie, zum Erempel, ich den meinigen nicht verlaffen 
dürfte, bie der Wachtmeifter Lehmann mich ablLöft, — gleichers 
weife verpflichtet die Treue auch die Frau, auf dem ihrigen 
ftandzuhalten.” 

„Und was nennen Sie den Poften der Frau, mein 
Herr?" 

„Alemal das Haus, in welchem ihre Kinder erzogen 
werden müſſen.“ 

„Und wenn fie auf dieſem Poften beleidigt worden iſt?“ 

„Mag fie Hand über Herz legen und fein Gefchrei er⸗ 
heben. Ein jeder Wachedienft hat feine Laſt.“ 

„Eine bequeme Moral für die hohen Herren, die ihre 
Beleidigungen rächen dürfen.“ 

„Au contraire, Madame, eine bequeme Moral für die 
Schönen Damen, die. fie nicht rächen, eventualiter ſich auf 
einen Berteidiger berufen dürfen.“ 

„Ganz gut, mein Herr, infofern ber berufene Berteis 
diger nicht zugleich der Beleidiger iſt.“ 

„Madame, ein Mann, der feine Frau beleidigt, tft ein 
Poltron und hat alle Chancen, ein Pantoffelheld zu wer⸗ 
den. Zu feinem Nutz und Frommen, verfteht fidy, und 
durch eine räfonable Frau. Möge fie denn in Gottes 
Namen die Hofen anziehen an feiner Statt, und weder 
er noch fie und ihre Schußbefohlenen werben fich zu bes 
Magen haben.“ 

Die Gräfin drüdte ihr errötendes Geſicht gegen die 
Sceiben; ihr Herz hämmerte vor Unmwillen. Wer war 
diefer Mann, der eine folche Sprache gegen fie zu führen 
wagte und der fo unbeweglidy in ſich gefrümmt in jenem 
Winkel faß? Sie hätte dem höhnenden Grobian die Zür 


Js 


236 Der Poften der Frau 


weifen mögen und fühlte fich doch in eigentümlicher Weiſe 
durch ihn imponiert. 

„sch fehe,” nahm fie nach einer Paufe noch einmal das 
Wort, „daß ich die gewünfchte Auskunft von Ihnen nicht 
zu gewärtigen habe.” 

„Wenn Sie eine andre gewärtigen als die ich gegeben: 
nein, Madame.” 

„So werde ich mich ohne diefelde an einen Höheren 
wenden.” 

„Berfuchen Sie Ihr Keil, Madame.” 

Die bitterlich enttäufchte Frau verſank in die beängftis 
gendften Grübeleien. Sonnenaufgang war nahe. Was 
follte fie beginnen, wenn der ungefchliffene Soldat im 
Ofenwinkel recht hatte, der König fie nicht ſchützte, ben 
Grund einer Scheidung, einer Trennung mindeftens, nicht 
anerfannte, den Sohn dem Vater zufprach, bie Gattin den 
Reklamationen des Gatten überlieferte? 

Unter fo qualvollen Erörterungen mochten Stunden 
vergangen fein; der feltfame Wächter hatte feine Mustel 
geregt, in unverändert gebeugter Haltung ſchien er in 
Schlummer gefunfen. Kaum aber dämmerte ver erfte 
Morgenfchimmer, fo erwachte er oder.belebte ſich. Er ließ 
feine Uhr repetieren. Sechs Schläge. Ohne Gruß und Blid 
ging er aus dem Zimmer. Die Gräfin fah ihn der Mann: 
fchaft entgegenfchreiten, die gleich einer Mauer zum Schuß 
um die arme Hütte gereiht ftand und vor ihm in ſchwei⸗ 

gender Ehrfurcht falutierte. 
„Wer ift diefer Mann?” fragte fi) Eleonore von neuem. 
Ein jäher Blig durchzudte ihr Hirn. „Herr der Welt!“ 
rief fie aufipringend, „follte e8 - -P? Aber nein - uns 
möglich!" — Seine Züge konnte fie auch jegt nicht unter- 


Der Poften der Fran 237 


fcheiden in dem grauen Oftobernebel, unter Dem eingedrück⸗ 
ten Hut, dem in die Höhe gezogenen Kragen des Mantels, 
Aber diefe Feine, faft dürftige Geftalt, dieſe nachläflige 
Kleidung und Haltung, diefer unelaftifche Gang, der kurze, 
ungewählte Ton, — nein, nein, fo täufcht fein Ideal: ſo 
ſah, fo fchritt, fo ſprach nicht der Held, der Dichter, der 
geiftreichfie Dann des Jahrhunderte. 

Sie öffnete dad Feniter, bog ſich hinaus und folgte mit 
immer lauter Flopfendem Herzen feinen Bewegungen, als 
er den Berg bis zur halben Höhe hinanftieg und durch 
ein Kernrohr die Gegend nach allen Seiten überblicte. 
Der Nebel fentte ſich nad) und nad, ein Pikett fprengte 
die Schlucht hinab an ihn heran. Kine kurze Meldung 
bes führenden Offizierd, und der Unbefannte wendete fich 
raſch beweglich, ein veränderter Mann, nach dem Haufe 
zurück. Iſt er gewachſen in den wenigen Minuten? Welches 
Federwerk hat Nero und Muskel gefpannt? — Wer ift 
biefer Mann? — fragte Eleonore fchier entjegt und ſah 
ihn ploͤtzlich Auge in Auge ſich gegenüber. 

„Die Ablöfung naht, Madame,” redete er fie an. „Sie 
werben mir das Zeugnis geben, daß ich meinen Poiten 
treulich gehütet habe. Tun Sie desgleichen, Gräfin Fink. 
Sie follen in der Kürze auf demfelben vifitiert werden.“ 

Er reichte ihr nach Diefen Worten mit einem gewinnenden 
Lächeln unb mit einer Bewegung von fo unnachahmlic 
einfacher Hoheit die Hand, bag unfre Heldin unwillkürlich 
erzitterte und ſich bis zur Erde verneigte. 

„Darf ich nicht wiften, mein Herr," ftammelte fie ſchüch⸗ 
tern, „wem ich die Ehre diefer Ausficht, wem ich fo ritters 
lichen Rat und Schuß zu danfen habe?“ 

„Einem Preußen, Madame, und einem Freunde Ihres 


238 Der Poften der Frau 


braven Vaters,” antwortete der Offizier. „Es war ein 
räftiged Mark in dem alten Stamme der Looß. Sorgen 
Sie dafür, daß das leßte Reis, auf fremden Stamm ges 
pfropft, unentartet Wurzel fchlage. Auch die Treue hat 
ihr Heldentum wie die Ehre, junge Frau, und vielleicht 
find es nicht die fchmwerften Kämpfe, die mit dem Schwert 
in der Hand zum Austrag fommen. ‚Zum Eheftand ges 
hört mehr Herz, ald in die Schlacht zu ziehen‘, hat eine 
Königin gefagt, die freilich nur bewiefen, daß fi ie feine 
befaß.“ 

Er wendete ſich nach diefer Rede der Türe zu, Eleonore 
folgte ihm in unausſprechlicher Bewegung. 

„D Gott, Sie gehen!” rief fie unter hervorbrechenden 
Tränen, „alles verläßt mich, was foll id tun?” | 

„Standhalten, haushalten, Shr Haus halten, Gräfin 
Fink,” verfegte zurücehrend der Preuße. „Einft lautete 
der Ehrenſpruch einer Frau: ‚Casta vixit, lanem fecit, 
domum servavit‘, das heißt auf deutfch — -“ 

„Sch weiß, was es heißt,” fiel die Dame unter Tränen 
lächelnd ein, „aber wir find feine Nömerinnen.“ 

„Schlimm genug, Madame, denn wir brauchen wieder 
Römer,” fagte der Preuße, indem er die Hütte verließ. 

Er beftieg das bereitgehaltene Pferd und ritt die Ans 
höhe hinauf, gefolgt von der wachthabenden Truppe. Die 
auffteigende Sonne vergoldete die Flirrenden Waffen; der 
Berg, die Schlucht, die ganze Gegend fchienen ‚wie mit 
Zauberfchlag lebendig geworden. Eleonore fah mit Staus 
nen, daß fie Die Nacht an der Spige einer Armee sugebradht 
hatte.- 

In demfelben Augenblide bog der alte Diener, von der 
TWaflerfeite kommend, um die Ede des Hauſes. | 


Der Poften der Fran 239 


„Kennft du diefen Preußen, Lehmann?“ rief ihm die 
Gräfin in atemlofer Spannung entgegen. 

„Welchen Preußen, Frau Gräfin? Sie find alle da, 
alle!” entgegnete der Veteran trunfen, ja taumelnd in einem 
Freudenraufch. 

„Den, der da oben reitet, Lehmann.“ 

„Die Sonne blendet mich, Frau Gräfin, aber fie find 
alle da, alle!“ 

„Alle? — — auch der König?” 

„Seine Majeftät fommandieren die VBorhut, wie man 
fagt.“ 

„Lehmann, — fahft du ihn?“ 

„Und ob? Im Feuer von Molwig zum leßtenmal.” 

„Sc meine heute.“ 

„Sc mußte ja die Batterien da oben auf die Berge 
führen. Links über ung, da ftehen fie. Hurra, hurra! 
Nun pfeift der Wind aus preußifchem Loche!“ 

„Aber diefer Mann, Lehmann — “ 

„Welcher Mann, Frau Gräfin?” 

„Der diefe Nacht hier vor der Hütte mit dir ſprach.“ 

„Die Nacht war ſchwarz wie ein Bürenfell, nicht bie 
Hand vor den Augen —“ 

„Lehmann — Lehmann, — ich glaube — diefer Dann 
war —“ Ehe fie den großen Namen genannt, machte eine 
Salve von der Höhe Haus und Tal erbeben. 

Die Gräfin ftand flarr vor Schred, ber Beteran aber 

ubilierte: 
„Das find Die Preußen, das ift der König! Nun fahre 
hin, Hilbburghaufen und Franzoſenbrut: König Friedrich 
bi da, Fridericus. Rer, hurra!” Ä 

„@inen Kahn, Lehmann, fchaffe einen Kahn!“ unters 


240 Der Poften der Frau 


brach ihn feine Herrin, in unfäglicher Angft, „hinüber, 
auf der Stelle hinüber!” 

„Na, was follen wir denn drüben, wenn die Preußen 
hüben find?” fragte Lehmann verwundert. 

„Und drüben mein Kind, mein Kind!” 

„Aber wie follen wir denn hinüberfommen, wenn die 
Kugeln fo mir nichts, dir nichts über das Waffer pfeifen?” 

„Sch muß hinüber, ih muß! Mein Leo in Gefahr, 
mein Leo ohne Schug! Komm, Lehmann, wir gehen durch 
die Stadt.“ 

„Unferm Grafen rectamente ind Garn? Na, warum 
find wir denn da erft echappiert? Die Preußen haben 
ſich zwifchen ung gefchoben, von einer Verfolgung — —“ 

„Was frage ich nach dem Grafen, was frage ich nad) 
Verfolgung und Ehre; mein Kind, mein Kind!“ 

„Und hören Sie denn nicht diefe Flintenfalven, gnäbdige 
Gräfin? Wir nehmen die Stadt mit flürmender Sand. 
Nur erft die Windbeutel proper hinausgefegt, dann 'nüber 
und fort nad Ganditten! Sehn Sie doch, wie die Ku⸗ 
geln alle links nach der Brüdenfeite fliegen! Unfer Leochen 
figt drüben wie in Abrahams Schoß, und wir Deögleichen 
unter dem vorfpringenden Berge.” 

Die Dame mußte fich überzeugen, daß ihr alter Diener 
im Rechte, und daß Geduld haben und warten der einzige 
Kat fei, den fie ſich felber zu geben vermöge. Aber was 
waren das für Stunden der Spannung und der Todeös 
qual, die fie zu durchleben hatte! KHänderingend ging fie 
aus der Hütte ind Freie und aus dem Freien in die 
Hütte. Das Gefchüßfeuer von oben, Flintenfalnen vom 
Tore her drängten fidy von Sekunde zu Sekunde. 

Das Getös erwecte auch endlich Mutter Hannen aus 


Der Poften der Fran 341 


threm Morgenfchlummer; doch nahm fie es Faltblütiger 
als ihre unfreimilligen Gäfte, fo gewohnt war fie bereits 
der „preußifchen Sachtereien” geworden. Sie fchäffterte 
unbefümmert im Hauſe hin und her. „Wo nur der Adam 
ſteckt?“ war der einzige Ausdrud ihrer Gemuͤtsbewegung. 

Die Gräfin hatte ihren alten Platz am Fenfter wieder 
eingenommen mit jener Ruhe, welche das eiferne Wört- 
hen „Not“ auch dem Bedrängteften fchließlich einzuflößen 
verfteht. Aber dad Abenteuer, deflen fie fich fo Fühn unters 
fangen, das fie fo leicht ausführbar gewähnt hatte, in 
welchem zweifelhaften Lichte erfchien es ihr jett! Die 
Mahnung vor der Gefahr hatte fie überhört, jetzt in ber 
Gefahr mußte fie fühlen, was es heißt, feinen Poften zu 
verlaffen. Stolz und Vorwurf rangen in ihrer Bruft, 
Ratlofigkeit Iehrte fie Unterwerfung. Was konnte, was 
durfte fie tun? Der ewige Zuchtmeifter da oben, was war 
fein Wille, fein Gebot? Sie faltete ihre Hände und flehte 
inbrünftig: „Anwalt der Schwachen, Iehre mich wollen, 
was ſtark macht; Herr und Bater, fchüge, behüte mein 
Kind.” | 

Stimmen vor dem Haufe unterbrachen ihre fromme Er⸗ 
hebung. Ehren-Adam war von der Stadtfeite her zuruͤck⸗ 
gefehrt, und der alte Wachtmeifter, welchem unter dem 
Donner der Kanonen von der Höhe, dem Trommelwirbel 
und Gewehrfeuer von dem Tore her dad Herz im Leibe 
vor Ungeduld faum weniger zitterte als feiner fchwer bes 
ängftigten Gebieterin, quäftionierte ihn in fo polternder 
Haft, daß der gleichmütige Fifcher, das glüdliche Vor⸗ 
und Ebenbild feiner Ehehälfte, faum zu Worte gelangen 
fonnte, auf die ſich überftürgende Neugier Befcheid zu geben. 

Sept aber fchnitt die Gräfin alle Fragen und Erfundis 


242 Der Poften der Fran 


gungen mit einem Zuge ab, indem fie haftig auf bie Gruppe 
zutrat und unter allen Umftänden an das jenfeitige Ufer 
gerudert zu werden verlangte. Sie ftellte die großmütigfte 
Belohnung in Augficht. Der Alte antwortete indes nur 
mit einem gelaffenen Kopffchütteln. 

„Es ift ja feine Gefahr, lieber Adam,” bat die Dame, 
„Ihr feht, Die Gefchüße find nad) der Brückenſeite gerichtet.“ 

„Geht nicht, Snädige,” antwortete der Alte, „geht nicht! 
der Kahn — —” 

„Herrjemine, Adam, wo haft denn deinen Kahn?“ fiel 
ihm Mutter Hanne in die Rebe. 

„Am Brüdentore angebunden, Hanne.” 

„Aber warum denn, Adam?“ 

„Weil die Kugeln wie Kagel ind Waffer fchmeißen, 
Hanne!” 

„Aber wie haft denn runter fommen Be ohne Kahn, 
Adam?" 

„Füßlings am Berge, zwifchen den Käufern hingeduckt, 
Hanne.” 

„So fchafft einen andern Kahn,” flehte die Gräfin, 
„babt Erbarmen, lieber Adam, — drüben mein Kind, mein 
liebes Kind.“ 

„Geht nicht, Gnädige, wahr und wahrhaftig, geht nicht, 
folange das Feuern über der Borftadt anhält.“ 

Noc einmal mußte fich die unglücliche Gräfin in Ge⸗ 
duld faffen, an das Fenfterchen fegen und den Blick nadı 
ihrem Schloffe richten, oder dem Laufe der Kugeln folgen, 
die über die Käufer der Vorſtadt hinwegfauften. Auch 
ihr Haus war dort bedroht, ihre Dienerfchaft, ihr Ge- 
mahl waren ed, und die junge Frau fpürte an dem ängft- 
lichen Klopfen ihres Herzens, daß ein fiebenjähriges Band 


Der Poſten der Fran 243 


doch nicht fo gleichgültig gelöft werde, wie fie noch vor 
wenigen Stunden gewähnt hatte. In diefer vielfeitigen 
Aufregung hörte fie nur mit halbem Ohr auf des alten 
Fiſchers knappe Mitteilungen über den Zuftand in ber 
Stadt. „Die Garnifon ift fchon zum: Ausrücken auf dem 
Marktplatze verfammelt, als die feindlichen Kanonen fo 
unerwartet über ihren Häuptern erdröhnen. Die Preus 
Ben fuchen durch das öftliche und füdliche Tor in die Stadt 
zu dringen, die Befatung will den Eintritt wehren, bie 
fie felber fich über die Brüce zurücigezogen und mit der 
jenfeitigen Armee vereinigt hat. Aber fchon find die Tore 
genommen, eine Schar Ofterreicher ift zu Gefangenen ges 
macht, nur an der Brüde halten franzöftfche Grenabiere 
noch tapfere Gegenwehr.“ 

„Wer tommandiert die Franzofen am Brückentor?“ 
fragt die Gräfin, in banger Ahnung von ihrem Sige auf- 
fahren. 

„Mög’ der Herzog aus dem Polfchen Haufe, Gnaͤdige,“ 
antwortete der Fifcher. 

Leichenbläffe auf dem Gefichte, ſank Eleonore auf ihren 
Stuhl zurüd. Auch er, ihr Ritter, auch er in Todesgefahr! 
Und fie allein, losgeriſſen von Freund und Feind, von 
Haus und Kind! | 

„Die Brüde brennt!” riefen jeßt die drei Stimmen 
draußen wie aus einem Wunde, und in demfelben Mo⸗ 
ment erdröhnte Kanonendonner von den jenfeitigen Höhen. 
Die Befagung mußte demnach glücklich hinübergefommen 
fein, die Brücke angezündet haben und durch das Feuern 
die Preußen von der Verfolgung des Feindes und dem 
Löſchen des Brandes abzuhalten fuchen. 

Eleonore ftieg die Leiter hinan, welche auf den Boden 


944 Der Doften der Frau 


des Hauſes führte, und beobachtete aus einer Dachluke 
das jähe Umfichgreifen der Flammen. Das Feuern ließ 
nad, die Feinde hatten fich gefammelt und zogen weiter. 
Sie konnten ſich firomab nad) der Seite des Gutes wen⸗ 
den, vielleicht waren fie fchon drüben; drüben bei ihrem 
vielbedrohten, verlaflenen Kinde. Berlaflen, verlaffen von 
feiner Mutter. Jetzt mußte fie hinüber um jeden Preis. 
Sie flehte von neuem händeringend, unter heftigem 
Schluchzen. 

„O, nur einen Kahn!“ rief ſie. „Adam, nur einen 
Kahn. Lehmann rudert mich hinüber. Es bringt Euch 
keine Gefahr, Adam, nur einen Kahn!“ 

Der Alte kratzte ſich eine Weile nachgrübelnd am Kopfe. 
Die troſtloſe Dame dauerte ihn. Endlich hatte er einen 
Ausweg gefunden. Sein Kahn lag zu nahe dem Brücken⸗ 
tore, den konnte er nicht ſchaffen. Aber beim letzten 
Hauſe der Vorſtadt hatte ein andrer Meiſter ſein Fahr⸗ 
zeug angebunden. Wenn die Grafin ſich traute, Die Strecke 
dahin zurüdzugehen, wollte er fie wohl hinüberfeßen. Die 
Straße, man fonnte fie aus der Dachlufe überblidlen, war 
menfchenleer, ber Fluß an jener Stelle fchmal, da eine 
Feine Inſel — bei dem niedrigen Waflerftande jedoch mit 
dem jenfeitigen Ufer durd; eine Sanddüne verbunden — 
das Bett verengte. Freilich, der Weg von der Infel nach 
dem Schloſſe fchlug einen gewaltigen Bogen, die Fährs 
niffe auf demfelben ließen fich nicht im voraus berechnen. 

„Sch wage den Weg!” rief die Gräfin entfchloffen, und 
in wenigen Augenblicken waren alle drei auf der Straße 
nach der Vorſtadt; die Gräfin voran mit beflügelten Schrit= 
ten, die beiden Alten vermochten nur feuchend zu folgen. 

Unbehindert erreichten fie das letzte Haus gegenüber 


Der Poſten der Fran 245 


der Meinen Inſel, deren dichte Baumgruppen noch nicht 
völlig ihres herbftlichen Blätterfchmuces beraubt waren. 
Die Vorftadt ließ nichts von dem Tumulte ahnen, der die 
innere Stadt erfüllte. Die Bewohner hielten ſich ängftlich 
in ihren Häufern verborgen, froh genug, daß die Kugeln 
vom Berge, ohne zu zünden, über denfelben hinweggeflogen 
waren und daß die Preußen fämtlich nad) der Brüden> 
feite drängten. 

Der Kahn wurde ohne Umftände Iodgebunden; Meifter 
Adam faß am Ruder, die Dame und ihr Diener fliegen 
ein. Im Augenblide des Abftoßend bemerkte Eleonore 
auf einem Felfenvorfprunge, halb von der den Berg hinans 
kletternden Häuferreihe verdeckt, unmittelbar ſich gegenüber 
und deutlich erfennbar, ein preußifches Detachement in 
gemeflener Entfernung von einem Führer, der durch ein 
Fernglas den Brand der Brücde beobachtete. 

Diefer Führer, fie täufchte fich nicht — ed war der Fleine 
Mann im blauen NReitermantel und dreifrempigen Hut, 
ihr geheimnisvoller Rater und Wächter von diefer Nacht! 
Jetzt, im vollen Tageslichte, den Kopf zum Gebrauche des 
Glaſes ein wenig gehoben, fonnte fie feine Züge unters 
fcheiden; fie unterdrüdte einen Schrei, um den der Gruppe 
den Rüden zufehrenden Schiffer nicht fugig zu machen; 
die Hände über der Bruft gefaltet, neigte fie mit einer 
demütigen Gebärde nur Ieife den Kopf und bebte freudig 
zufammen, als fie zum Gegengruß eine freundliche Hand⸗ 
bewegung gewahrte, ähnlich der,. welche fie heute morgen 
mit einer eleftrifchen Ahnung durchzuckt hatte. 

Sn einiger Entfernung loderte die Brüde und fprühte 
Funfen über das ruhig dahingleitende Waſſer. Hin und 
wieder tönte noch ein Kanonenjchlag, ohne Fährnie aber 


246 Der Poften der Fran 


landete man an der Fleinen, bufchigen Sinfel. Der Kahn 
lenkte zurüd. Eleonore bahnte fid) mit der Haft des ges 
fheuchten Wildes einen Weg durch das dichte Weidens 
geftrüpp, gefolgt von dem Diener gleich ihrem Schatten. 

Plöglich, etwa in der Mitte der Sinfel, bleibt fie ftehen, 
regungslos, wie in den Boden gewurzelt. Welche Be- 
gegnung! Kaum zehn Schritte entfernt lagert unter einem 
Erlenbufche, gleichfalls den Brand der Brüde beobachten, 
ein franzöfifches Pifett, und fein Führer ift — der Herzog 
von Erillon! 

Das Ufergebüfch hat vor den fpähenden Blicken die 
Überfahrt, das Getöfe aus der Stadt den leifen Ruder: 
fchlag gedeckt, und fo fieht die Eilende ihren Helden und 
ihren Ritter einander auf Schufledweite ald Feinde gegens 
überftehend, und fich felbft wie durch ein Wunder zwifchen 
beide gedrängt, um, ftarr vor Entfeßen, Zeugin einer Ge⸗ 
fahr zu werden, die o wie viel Höheres! als ihr eignes 
Leben bedroht. 

„Sch komme, den Herrn Marfchall zu fragen,“ dieſe 
Worte hört fie einen jungen franzöfifchen Scharfichügen 
an den Herzog richten, „ob ich den preußifchen General 
niederfchießen darf, der hinter den gegenüberliegenden Häu⸗ 
fern den Brand der Brüde refognofziert. Er ift in unfrer 
Gewalt und nach feiner Erfcheinung, wie nad) der Ehr- 
erbietung, welche feine Umgebungen ihm erweifen, fein 
Geringerer, ald —“ 

„Der König!” ruft Eleonore in tödlicher Angft aus dem 
Gebüfche hervor, und zu des Herzogs Füßen niederftürzend, 
„Ionen Sie, retten Sie den König!” 

Herr von Crillon war vom Boden aufgefprungen und 
hatte einen rafchen Blick nadı dem jenfeitigen Ufer hinüber: 


Der Poften der Fran 247 


geworfen. „Beruhigen Sie fi), Madame,” fagte er jegt, 
indem er fie vom Boden in die Höhe z0g, „Ihr König iſt 
nicht in Gefahr.” 

Und fidy mit firengem Anfehen gegen den meldenden 
Offizier zurückwendend, feste er hinzu: 

„Leutnant Brünet, Sie find auf diefen Poften geftellt, 
um die Bewegungen des Feindes gegen den Brüdenüber> 
gang zu beobachten, nicht aber, um einen refognofzierenden 
General meuchelmörderifch zu erfchießen. Am wenigften, 
wenn Sie in demfelben die geheiligte Perfon eines Mon- 
archen vermuten follten, der felber ald Feind noch Ans 
fprudy auf unfre Ehrfurcht hat. Tun Sie Ihre Schuldig> 
feit, Leutnant Brünet.” 

Er nahm nad diefen Worten den Arm ber tief er⸗ 
fchütterten Frau, weldye mit fchlagendem Herzen und bes 
geiftertem Blicke diefer ritterlichen Entfcheidung gelaufcht 
hatte. „Eleonore,“ fagte er, nachdem er einige Schritte 
fchweigend an ihrer Seite gegangen und vor den Blicken 
feiner Begleiter durch das Gebüfch gedeckt war, „Eleonore, 
ich ahne, was Sie in diefer Nacht gelitten, und ich weiß, 
warum Sie e8 gelitten. Aber Ishr Leid wird gefühnt, die 
Beleidigung gerächt werden.” 

„D, nicht diefe Erinnerungen, Kerr Herzog,” rief die 
Gräfin rafch und bewegt. — „Ein großer Moment hat Leid 
und Beleidigung getilgt. KHochherziger Mann, was Sie 
in diefem Augenblicke getan, wiegt ſchwerer, als zehn ges 
wonnene Schlachten.“ 

„Madame,“ begnügte der Herzog fich zu entgegnen, 
„mein Ahnherr hieß Louis Berton von Srillon!” 

„Der Schild der Ehre, — im Enkel ungebrochen!” fagte 
die Gräfin. „Er fchirmt ein Keldenleben, und in dem 


248 Der Poſten der Frau 


Herzen eines irrenden Weibed hat er den Mut der Tugend, 
den Glauben an Menfchenhoheit wieder wach gezündet. 
Das Kleine ſchwindet im Schatten großer Seelen.” 

Sie zog ihren Arm aus dem feinen und wollte vorwärts 
eilen. Er hielt ihre Hand zurück. „Sie fliehen, Eleonore?” 
fragte er, „wohin gehen Sie?" 

„In mein Haus,“ antwortete fie, „zu meinem m Sohne, 
ihn nach dem Vorbild edler Männer zu erziehen.” 

„Schönes, angebetetes Weib!“ rief Herr von Crillon 
mit ftrahlendem Blick, indem er ihre Hände an fein Herz 
drüdte. „Der Dienft des Soldaten bindet mid, in diefer 
Stunde Ga, fehren Sie zurüd in Ihr Haus, aber ers 
innern Sie ſich — und ich bürge ihnen dafür, daß Sie ed 
unbehelligt von verwirften Anfprüchen werden tun dürfen 
- erinnern Sie fid) an einen Freund, deflen teuerfted Glück 
es fein wird, Sie zu verehren und zu ſchützen. Wir werben 
uns wiederfehen, Eleonore.” 

„Niemals, niemald, Herr Herzog!” entgegnete die 
Gräfin. „Die Erinnerung an diefes Begegnen wird meine 
Sterbeftunde freudig machen, — aber laflen Sie ung nies 
mals, niemals wiederfehen.” 

Sie riß ſich los und floh mit bebenden Schritten über 
die Düne. Am jenfeitigen Ufer hielt fie an und blidte 
noch einmal zurüc nad) der Stätte einer geheiligten Er⸗ 
fahrung. Der Felfenvorfprung ihr gegenüber war von 
den Preußen verlaffen, der Herzog ftand noch unbeweglich 
an der Stelle, wo fie von ihm gefchieden war. 

Bogelleicht, mit hochgeröteten Wangen und ftrahlenden 
Auges fchwebte fie nun über die Wiefen, den nachfeuchens 
den Diener weit hinter ſich zurüdlaflend. Kein Menfchens 
tritt ftörte fie, fo nahe dem wildeften Getümmel; ein 


Der Poften der Fran >49 


Strom freudiger Begeifterung wogte durch ihre Bruftz fie 
hätte es in die Lüfte hinausjubeln mögen: „Die Ahnungen 
meiner Tugend find wahr geworden, ich habe einem Helden 
und einem Ritter Auge in Auge geblickt!“ 

Sn der Nähe des Dorfes bog fie von der Fahrftraße ab 
und gelangte durch wüftliegende Gärten zu den Terraffen, 
die vom Fluffe nach ihrem Schloffe hinaufführen. Ohne 
Atem zu fchöpfen, eilte fie die Treppen hinan, drängte 
fonder Gruß noch Laut durch die in banger Unruhe ver- 
fammelten Leute ihres Hofes und Hauſes bis zu dem 
Zimmer, aus welchem ihr Knabe ihr fröhlich entgegen 
fprang. Sie flürzte vor ihm nieder, preßte ihn in ihre 
Arme und hielt ihn lange unter ftrömenden Tränen an 
ihrem Herzen. 

„Mein Kind, mein Leo!” rief fie endlich, „vor dir will 
ich Wache halten und meinen Poften nicht verlaflen, fo 
wahr mir Gott helfe!“ 


Sollen wir hier fchließen, die Berfuchung von ung weifen, 
als Nachtrag zu erzählen, ob, wann und von wem unfre 
Heldin auf ihrem Poften vifitiert worden iſt? Wir bitten 
noch um eine Fleine Geduld, auf den Vorwurf hin, gegen 
eine gute Regel zu verftoßen und in den Fehler unfres 
würdigen Pfarrherrn zu verfallen, der ſich gleichermeife 
fchwer entfchließen fonnte, dad Buch im rechten Augen: 
blide zuzuflappen. 

Diefer vortreffliche Mann war es, deffen Räufpern die 
junge Frau aus ihrer Ekſtaſe erweckte. Er war der Dame 
in ihr Zimmer gefolgt, fein Herz brannte nady der Löfung 
des Nätfeld, das ihn feit diefer Nacht, wo der Graf feine 
Gemahlin vergeblid) auf dem Scyloffe und felbft im Pfarr 


250 Der Poſten der Frau 


haufe gefucht hatte, fo unausfprechlich, ja mehr noch al 
die preußifchen Kanonen beängftigte. Er hatte fohon lange ° 
unbemerft hinter der Dame geftanden, als dieſe ſich endlich 
von ihren Knieen erhob und, ihm beide Hände entgegen 
reichend, zwifchen ihren Tränen lächelnd fagte: 

„Es ift Reformationstag heute, mein Freund, und id) 
gelobe Ihnen, eine treue Mutter zu werden.” 

Sie hatte darauf eine Unterredung mit ihm, oder eigent- 
lich eine Beichte vor ihm, in welcher feine Falte ihres 
Herzens verborgen blieb. Er hörte fie an ohne Erwide⸗ 
rung, aber mit beredtfamen Tränen, und fam zum Schluffe 
mit ihr überein, noch heute der Friedendunterhändler 
zwifchen ihr und ihrem Gemahl zu werben. 

„D, wenn Sie diefe Nacht feine Angft gefehen hätten, 
Gnädigfte,” fagte er, nady feiner Weife zur Sühne redend, 
„teine Neue und Qual, einen Stein in der Erbe hätte es 
erbarmen mögen.” 

Die junge Frau zuckte die Achfeln. Sie zweifelte ja 
nicht daran, daß er ihretwegen in Sorge gewefen, fie wußte 
ja wohl, er hatte fein Kiefelherz, ihr heiterer, flottlebiger 
Gemahl. D, wenn er doc, etwas von einem Kiefel in 
fich getragen, wenn er doch Funfen hätte fprühen fönnen, 
fobald ein Stahl ihn berührt! 

Am felbigen Nachmittage fehen wir den guten Herrn 
Magifter in dem nämlichen Aufzuge, in dem wir geftern 
feine Befanntfchaft gemacht haben, in Schuhen und Serges 
mäntelchen, Hut und Parapluie unter dem Arm, in Ehrens 
Adams glüdlicd, wieder an feinem gewohnten Anferplaße 
ruhenden Kahne nad) der Stadt hinüberrudern, in welcher 
die Preußen feit morgens unbehelligt hauften. Seinen 
Herrn Patron fand er im Polnifchen Kaufe inzwifchen 


Der Poſten der Fran 251 


nicht, er war im Gefolge der Franzofen von dannen ges 
zogen. 

Am andern Morgen ftand der alte Herr ſchon wieder 
zu einer Fußtour gerüftet. Direkt im Lager ber verbündeten 
Armeen, das kaum zwei Wegftündchen fern vom Gute auf: 
gefchlagen war, gedachte er Erfundigungen über den Ver⸗ 
bleib feined gnädigen Patrond einzuziehen und nebenbei 
eine delifate, feelforgerifche Miffton auf eigne Berants 
wortung bei dem ritterlichen franzöfifchen Herzog zu ers 
füllen. Sndeflen noch ehe er das Dorf überfchritten hatte, 
ftellte zum Schuße ded Schloſſes auf höheren Befehl eine 
franzöfifche Sauvegarde fich ein, und er wurde durch ein 
Billett feines Herren Patrond unterrichtet, daß felbiger, 
von der glüdlichen Heimkehr feiner Frau Gemahlin avers 
tiert, eine Gefchäftöreife nach feinen thüringifchen Gütern 
unternommen habe. Schweigenb wechſelte der geiftliche 
Herr einen Blick des Einverftändniffes mit der errötenden 
Gräfin und legte die Anfprache zu den Akten, die er in 
der Stille der Nacht in franzöfiichen Lettern aufgebaut 
und memoriert hatte. Ach, er ahnte nicht, der brave 
Sachſe, daß der fremde Herr ihn allenfalls noch leichter 
in feinem heimifchen Deutfch verftanden haben würde. 

Die Sauvegarde tat not; denn die nädhftfolgenden Tage 
waren ſturm⸗ und drangvoll für die unglüdliche Gegend. 
Franzoſen und Reichsvölker hauften und plünderten in ihr 
um die Wette, Die Berlegenheit der entblößten Bauern war 
unausfprechlidh. 

Gräfin Eleonore hatte Feine Ruhe, ſich mit ihrem eignen 
Schickſal zu befchäftigen. Ihrer felbftauferlegten Order 
getreu, ftand fie Tag und Nacht auf ihrem Poften: ans 
ordnend, aushelfend, Rat und Beiftand fpendend, bie 


252 Der Poften der Fran 


Hungernden fpeifend, die Nadten Heidend, die Obdach⸗ 
Iofen beherbergend, den Übermut bändigend, entfchloffen 
wie ein Mann. Mehr ald einmal hörte man ftundenlangen 
Kanonendonner gegen die noch immer von den Preußen 
befegte Stadt, man fühlte fidy mitten im Kriegsgetümmel 
und ahnte einen nahen, entfcheidenden Zufammenftoß. 
Nach einigen Tagen fahen fich die ausgeplünderten Dörfer 
eine kurze Weile befreit, indem die verbündeten Lager einige 
Stunden weiter nach Welten vorgefchoben wurden. Die 
Preußen dahingegen fchlugen eine Brüce über den Fluß 
und fammelten ſich auf dem jenfeitigen Ufer. Eleonore 
beobachtete von dem Turme ihres Schloffed den Übergang 
des Königs unfern dem Plage, an welchen fich eine fo 
denfiwürdige Erinnerung für fie fnüpfte; fie erwartete mit 
Spannung die Ankunft heimifcher Säfte. Aber der König 
wendete fich, die Uferhöhe zwifchen den Weinbergen durchs 
fchneidend, — ein Punft, der lange Zeit den Namen des 
Preußengäßchens geführt hat, — der Richtung des Guts 
entgegengefegt, weſtlich den feindlichen Lagern zu, und fo 
folgten denn nach der außerordentlichen Aufregung zwei 
Tage verhältnismäßiger Stille, welche der Gräfin einen 
prüfenden Blid in ihre innere wie äußere Lage geftatteten. 

Sie hatte die erfte Probe ihrer Tüchtigfeit abgelegt und 
fühlte ihre Kräfte einer Aufgabe gewachſen, die ihr nicht 
nur not, fondern auch wohl tat; ein freudiger Mut durch⸗ 
leuchtete ihr ganzes Wefen. 

Sechs Tage waren feit ihrer Heimkehr verfloflen, als 
man in der Mittagsftunde des fünften November ans 
haltendes Feuern in abendlicdher Richtung vernahm und 
fich die Kunde eines Entfcheidungsfampfes verbreitete, wie 
feltfamerweife häufig in verhängnisvollen Krijen, noch 


Der Poften der Fran 253 


ehe ein folcher zum Austrag fam. Der alte preußifche 
PWachtmeifter, der in den Tagen zögernder Ungewißheit 
ftumm und kopfhängerifch einhergefchlichen war, vermochte 
nicht länger feiner Unruhe zu wibderftehen; die Knechte 
des Hofes folgten ihm zu Pferde in der Richtung des 

Schalles, die Bauern ftrömten zu Fuß über die wüftliegens 
den Felder. 

Gräfin Eleonore harrte ihrer Heimkehr in einem Fieber 
innerlichfter Widerfprüche. Ihr König und Held, ihr Rit⸗ 
ter und Freund ftanden ſich gegenüber zwifchen Sieg und 
Gefahr. Daneben ihr Kind, Haus und Hof, ihr Gatte — 
wohin follte fie fid) wenden mit ihrem Hoffen und Sorgen? 
Pohl und, daß das arme gebrechliche Menfchenhirn kri⸗ 
tifhe Momente felten nad) eigner Wahl zu entfcheiden 
hat, daß eine unberechenbare Macht den Ausſchlag gibt 
und wir und fchließlich, bei gutem Willen auch meift mit 
gutem Glück, in dad Unvorhergefehene, ja in das Wider 
ftrebendfte fügen lernen. 

Der Nacmittag war fchon vorgerückt, ald plößlich der 
verfchwundene Gemahl mit triumphierender Miene in den 
Hof fprengte. „In diefem Augenblid ift alles entfchieden!“ 
rief er im Eintreten, der Gräfin die Hand Füffend, fo uns 
befangen, als ob zwifchen ihnen beiden eine Störung nicht 
zu erwähnen wäre. Eleonoren verfagte die Stimme, fie 
klammerte ſich bebend an die Lehne ihres Seſſels, und ihr 
unzertrennlicher Begleiter, der gute Magifter, mußte die 
Frage von ihren Lippen nehmen, zu welcher ihre Bruft 
nach Atem rang. 

„Eine Bataille, gnädiger Kerr?" forfchte er, felber in 
zitternder Spannung, „und welche Partei hat obtiniert?” 

„Welcher Zweifel, mein Beſter?“ antwortete achſel⸗ 


254 Der Poſten der Fran 


zudend der ſaͤchſiſche Kavalier. „Diefe elende Handvoll 
Preußen! in meinem Angefichte brachen fie ihr Lager ab; 
wie eine TIheaterdeforation, parole d’honneur! Das vers 
fteht fie, die Potsdamer Wachtparade! Für diefen Winter, 
für immer, will's Gott, wird er und in Ruhe laflen, der 
großhänfige Störenfried!” 

Die Preußin ftand wie vernichtet, kaum hatte fie Kraft, 
des fiegedtrunfenen Eheherrn zärtlidy fohmeichelnde An⸗ 
näherung abzuwehren. Der geiftliche Freund fam ihrer 
Pein erbarmend mit einer bedenflichen Einfchaltung zu 
Hülfe. „Der Kerr Graf,” fragte er, fich zwifchen beide 
fchiebend, „der Herr Graf, trügte mein Ohr mich nicht, 
waren Augenzeuge der Schlacht?“ 

„Augenzeuge? nicht fo eigentlich, Verehrtefter,” verſetzte 
der Graf. „Und eine Schladt? Nun? wenn Sie es fo 
nennen wollen, ich nenne ed Schach und Matt. Über 
Freyburg von unfern thüringifchen Gütern fommend, — 
eine Gefchäftsreife unauffchieblich, liebes Lorchen. Indeſſen 
freue ich mich des Zufall, der mir diefe artige Kleinigkeit 
in die Hände fpielte.” 

Eleonore fette dad Schmudfäftchen, das er ihr mit diefen 
Worten überreichte, uneröffnet beifeite und erwiderte burch 
einen Dankesblick die gefällige Neugier ihres Freundes, 
mit welcher er noch einmal ihr eine Frift zur Samm⸗ 
Iung bereitete. 

„Bon Ihren thüringifchen Gütern fommend, Gnä- 
digfter — —?" 

„Sah ich des Hildburghaufen Dispofition gen Nord 
und Süd. Endlich zur Tat entfchloffen, dieſer Soubife! 
In drei Kolonnen, auf vier Meilen Diftanz den Feind 
ben Fluß paſſieren laflen, wahrhaftig, ed Hänge unerhört, 


Der Doften der Frau 255 


fäße er jet nicht dafür wie die Maus in der Falle. 

Revanche für Pirna, hahaha!“ 

„Indeſſen, mein Herr Graf, dieſes anhaltende Feilen _. 

„Das Feuern begann erft, nachdem mir beide Lager 
außer Sicht waren. Der Garaus, den man ihnen madıt; 
tant pis, wenn fie fidy zur Wehr gefegt. Aber, liebte 
Eleonore —“ 

„Eine Mutmaßung demnach, lediglich, hochzuverehrender 
Herr Graf, ein Schluß a priori, fozufagen, von wegen 
des Schad; und Matt!” 

„Eine Notwendigkeit, mein Befter, eine Naturnotwen⸗ 
digfeit geradezu. Eine franzöfifche Armee, eine vierfältige 
Übermacht, und diefe miferablen Trümmer! Hätten Sie 
ihre Klemme gefehen zwifchen Geifel und Janusrücken! 
— — Aber Sie haben böfe Tage zu überftehen gehabt, 
Teuerſte, — gottlob! daß fie hinter uns liegen; nach der 
heutigen Affäre wird unfer vielgeliebter Herr nicht zögern, 
aus Warfchau zurüchzufehren, und morgen fchon, denke ich, 
daß auch wir zu einem fröhlichen Winter nach Dresden 
aufbrechen fönnen.” 

Gräftn Eleonore hatte allmählich Spannung und leidige 
Erinnerungen zu bannen und fidy zu einem Entfchluß zu 
faffen gewußt. „Nach Dresden aufbrechen?” wendete fie 
mit äußerer Ruhe mindeftend ein; „nicht ich, Graf, ich 
bleibe hier,“ 

„In diefer Sahreszeit, diefer Wüftenet, beileibe nicht, 
liebes Herz,“ gegenredete fchmeichelnd der Kerr Ges 
mahl. 

„zu jeder Zeit und in jeder Lage, Graf. Unter dem 
Drude fchwerer, gegenwärtiger Pflichten zumeift. Ich bitte, 
hören Sie mich an. Noch ift diefe Stunde unfer, Gott 


256 Der Poften der Fran 


weiß, was die nächftfolgende bringen kann. Darum gleich 
jett möge es Far werden zwifchen Sshnen und mir.“ 

„Wozu diefe Erörterungen, Liebchen! Vergeſſen wir 
beide, was hinter und liegt, und fuchen uns in Zufunft 
weniger verbrießlich einzurichten.“ 

„Eben weil ich fuchen will, das Vergangene zu vergeflen 
und unfre Zufunft leidlicher einzurichten, muß ich auf diefe 
Erörterungen dringen, Graf,” erflärte die Dame uner⸗ 
ſchütterlich — und gegen den Prediger gewendet, der uns 
bemerft zu entfchlüpfen beabfichtigte, feßte fie hinzu: 

„Bleiben Sie, mein Freund, ich wünfche, daß biefe 
Unterredung einen Zeugen habe.“ 

„Simmel, welcher feierliche Eingang!” rief der junge 
Herr im voraus ungeduldig; feine Gattin aber, indem fte 
Pag nahm und den verlegen zu Boden blickenden froms 
men Freund an ihre Seite winfte, verfeßte mit einem 
bittern Anklang: „Sch verfpreche, Ihre Geduld zu fchonen 
und das, was ich vergeflen will, fo wenig als möglich zu 
berühren.“ 

Der Graf warf fi auf einen Seffel ihr gegenüber. 
„Der Sache ein Ende zu machen, was wünſchen Sie?" 
fragte er feufzend. 

„Einfach: Shre Vollmacht für meine Pflicht,” antwors 
tete die junge Frau. „Ich bin zu der Überzeugung ges 
langt, daß ein unfteted, zerftreuended Leben, wie ich es 
bis heute geführt habe, mir felbft, unfrem Sohne, Ihrem 
Befisftande, unfrem gegenfeitigen Berhältniffe, Graf, un- 
zuträglich ift, und nur mit dem unmwandelbaren Borfage, 
hinfort Tediglicy dem Dienfte meines Hauſes zu leben, 
habe ich nach einer ſchweren Erfahrung den Fuß über 
feine Schwelle zurückgeſetzt.“ 





Der Voften der Fran 57 


—————————— — 


„O, der ernſthaften Kindereien, liebes Herz!“ unter⸗ 
brach ſie der Gemahl. „Nennen Sie das die Vergangen⸗ 
heit nicht berühren?“ 

„Nicht mehr als unerläßlich iſt. Hören Sie mich zu 
Ende, Graf. Ihre Neigungen, Ihre Verhältniſſe viel⸗ 
leicht, fefleln Sie zurzeit an den Wechfel eines weit- 
läufigen Verkehrs. Sch dürfte Sie daran erinnern, daß, 
wie die Erziehung unſres Sohnes einen ftetigen Plaß, fo 
die Verwaltung Ihrer Güter in hartbedrängter Zeit, der 
Notftand unfrer Eingefeflenen die ununterbrochene tätige 
Gegenwart eines Herrn erheifchen. Indeſſen, folange Sie 
nicht felbft geneigt fein werden, ein fo ernfte Amt zu 
übernehmen, befchränfe ich mid; auf die Forderung, dass 
felbe mit unbedingter Bollmacht in meine Hand gelegt zu 
fehen. Ich werde treu und wachſam an der Pforte Shreg 
Hauſes ftehen, unfern Leo forgfältig und fräftig bilden, 
feine Mühe des Erlernens und Ausübens fcheuen, mit 
einem Worte, gewiflenhaft ald Ihre Statthalterin fchalten 
und da, wo dad Vertrauen des Herzend wanfend gewor⸗ 
den ift, die Treue der Pflicht unerfchütterlich wahren. 
Verlangen Sie dahingegen niemald wieder, daß ich in 
einen Kreid zurüdfehre, vor welchem Sie mir wie ſich 
felber erft ein Brandmal aufbrüden mußten, ehe ich zu 
der Erfenntnis gelangte, daß ich in demfelben ein ver- 
lorner Poften ſei.“ 

„Gut, ſehr gut, ganz vortrefflich!“ murmelte der 
geiſtliche Herr, indem er ſich vor Bewunderung die 
Hände rieb. Der aber, dem dieſe lange Rede gegolten 
hatte, erwiderte ſie zunächſt mit einem unterdrückten 
Gähnen, dann aber ſagte er halb lächelnd, halb vers 
ftimmt: 

[| 


258 Der Poften der Fran 


„Wie ‚hartnädig Sie find, Eleonore! Wer weiß um 
jene flüchtige Übereilung, wer denft noch daran?“ 

„Sc weiß darum, Graf, - ich denke daran, denn vers 
geben wollen heißt nicht vergeffen können. Sch fordere 
daher in Gegenwart unfred Freundes Ihr Wort, und id) 
werde es ftandhaft zu —“ 

„Quel bruit pour une omelette!“ rief Graf Morig 
auffipringend. „In der Tat, Gräfin, Sie treiben ed zu 
arg mit diefer falbungsreichen Erhortation. Sie haben 
meine Frau angeftedt, Herr Magifter. Wollten wir Rech⸗ 
nung miteinander halten, liebes Kind, fo würde ich wohl 
nicht minder mit einem Fleinen Sündenregifter aufwarten 
dürfen. Aber ich meine, wir fchließen ab. Im übrigen 
fönnte ich mir Ihr Paktum wohl gefallen laſſen, ficher 
genug, daß Sie bald gelangweilt von der Tugend des 
Butters und Käſemachens fommen würden, den Haus⸗ 
fchlüffel in meine Hand zurüczulegen und den Ballfächer 
dagegen einzutaufchen. O, ich fenne meine Weiberchen!“ 

Wirre Stimmen vom Hofe herauf unterbrachen den 
ehemännifchen, lächelnden Berdruß. „Was ift das? Schon 
die Sieger?” rief er, nach dem Fenfter und dann fchnell 
auf die Rampe eilend, die aus dem Parterrefaal in den 
Hof herunterführte. 

„Lehmann, — das halbe Dorf! Sie fchreien Sieg!“ 

Der Prediger drüdte der fchmerzlich bewegten Freundin 
tröftend die Sand. „Der Übermut der Jugend und des 
Glücks,“ fagte er. „Aber nur ftanphaft, ftandhaft, edle 
Frau. Ihrer harren zwei unwibderftehliche Verbündete: 
Not und Zeit, der Sieg bleibt Ihnen!“ 

„Sieg, Sieg!" jubelte vom Hofe herauf Die Stimme 
des preußifchen Veteranen. 





Der Poſten der Frau 259 


Auch die Gräfin fprang auf und eilte in den Hof, der 
fi im Umfehen mit einem Troß um die rüdfehrenden 
Späher gefüllt hatte. 

„Sieg, Sieg!” wiederholte, aller Devotion vor feiner 
fächfifchen Herrfchaft vergeflend, der alte Preuße in einem 
Freudenraufh. — „Gloria, Viktoria! Eine Hafenhap! 
König Friedrich, hurra!“ 

Der Graf war im Begriff, dem unverfchämten Prahler 
mit feiner Reitgerte eine Lektion zu geben. 

Eleonore fiel ihm in den Arm, Mienen und Reden der 
gleichzeitig Heimgekehrten beftätigten das Unerhörte. Ein 
in den Hof fprengendes preußifches Pikett ließ den legten 
Zweifel fohwinden. Was für ein Märchen unglaublich, 
für ein Luftfpiel übertrieben gefchienen haben würde, es 
wurde wahr. Ein Triumph der Schwachen, wie nie ein 
zweiter mit geringeren Opfern erfauft: Geiſt und Ge⸗ 
wandtheit feierten ihn; eine Niederlage der Starfen, wie 
nie eine zweite mit geringeren Wunden gefühnt: nur Die 
Ehre der Feinde blieb als Leiche auf der Walftatt. 
Kunde auf Kunde drängte fi, Maffe auf Maſſe. Ein 
verwundeter Held wird preußifcherfeits im Schloffe an- 
gemeldet, für den königlichen Sieger felber zur Nadıt 
Quartier beftellt; die allgemeine Verwirrung, des Grafen 
Beftürzung find unbefchreiblich. 

„Schnell gefattelt!” rief er, aus feiner Erftarrung aufs 
fahrend, feinem Reitfnechte zu, und die Gräftn haftig in den 
Saal zurüdführenpd, flüfterte er mit fcheuem Blick: „Sch muß 
fort auf der Stelle. Der König hält mich für feinen Feind.“ 

„Sch bezweifle ee, Graf,” verfeßte Eleonore mit vers 
ächtlichem Achfelzuden, „der König von Preußen wird 
sicht auf Sie achten.” 


260 Der Poften der Fran 


„Doc, doch, ich bin verdächtigt, unfchuldig, Gott weiß 
ed, aber ich bis! Und wenn feldft - - mein König, 
mein armer Herr — gefchlagen — —“ 

„Kern genug vom Schlag!“ 

„Ohne Land — —” 

„zur Vorficht außer Lands!“ 

„zu ihm nah Warfhau! Was bleibt ihm, als die 
Treue feiner Diener?” 

„Wo der Herr, da fein — — — - Sie haben recht.” 

Graf Mori wifchte fich die Augen. „Werden Sie mir 
folgen, Eleonore?” fchluchzte er. 

„Nein, — ich bleibe.“ 

„Sch darf Shnen nicht zureden, armed Weib. Eine 
Reiſe, eine Flucht — unter diefen Berhältniffen, — in 
diefer Sahreszeit — unfer Kleiner — Sie find eine Preußin, 
man fennt Ihre Sympathien — man wird Rüdficht auf 
Sie nehmen, Ihnen eine Sauvegarde bewilligen — —” 

„Dhne Sorge, Graf, ich fürchte mich nicht,” unters 
brach ihn Eleonore mit ſchnödem Ton und fohnöderer 
Miene. | 

Ein langfam in den Hof rollender Wagen unterbrad) 
das peinlicye Zwiegefpräd. Der Graf fchlüpfte hinter die 
Tür, vor deren Aufgang die Gräfin ruhig ftehen blieb. 
Ein preußifches Pikett eöfortierte das Gefährt, in deſſen 
Snnern der Leibarzt des Könige und ein Diener in preußis 
fcher Livree den angemeldeten „verwundeten Helden“ unters 
füsten. Der Schlag wird geöffnet, der Leidende forg- 
fältig herausgehoben. Totenbleich und ſchwankend klam⸗ 
mert ſich die Gräfin an die Brüftung der Rampe, der 
Graf ftürzt, ſich felber vergeflend, aus feinem Lauſch⸗ 
winufel hervor: — der befinnungslofe, blutende Gaft feines 








Der Poften der Frau 261 


Baufes, der Gefangene Preußens — es ift der Herzog von 
Erillon! 

„Tot?“ fragte Graf Moritz in aufrichtiger Angft. 

„Nur fchwer bleffiert, mein Herr,” antwortete der Arzt, 
mit bedenflicher Miene fchnell einen Ruheplag für den 
feiner Sorgfalt Anvertrauten fordernd. 

Graf Mori drüdte die fchlaffhängende Hand des Ver⸗ 
wundeten an fein Herz und entfernte fich haftig unter 
hervorbrechenden Tränen. Kleonore, mit gewaltfamer 
Anftrengung ſich zufammenraffend, geleitete den traurigen 
Zug durch den Saal des Erdgefchoffes in ein anftoßendes 
Zimmer, auf ihr eigned Ruhebett. Während man bie 
Anftalten zu dem erforderlichen Verbande vorbereitete, 
blieb fie einige Minuten mit dem Ohnmäcdhtigen allein, 
‚zu feinen Füßen Fnieend, fein blutendes Haupt an ihrem 
Herzen. Er fchlägt die Augen auf, fein Blic trifft den 
ihren mit dem Ausdruck verzweifelnden Erfennend. „Daß 
wir und niemals, niemalg wiedergefehen hätten, Eleonore!“ 
flüfterte er mit fchmerzbeflommener Stimme. 

Der Arzt, gefolgt von Lehmann, dem preußifchen Diener 
und dem hilfreichen Magifter, trat wieder ein. Die Gräfin 
mußte ſich entfernen. Nod) laufchte fie an der Tür des 
Kabinetts, als ihr Gemahl in der Livree feines Reitknechts, 
den Fleinen Leo auf dem Arm, in den Saal gefchlichen 
fam. Jede Spur einer eiferfüchtigen Anwandlung fchien 
in feinem Herzen erlofchen, er umarmte feine Frau, herzte 
das Kind und ftammelte unter Tränen: „Gott weiß, es 
bricht mir das Herz, mein liebes Xorchen, dich zu verlaffen 
in diefer Qual und Not.” 

Eleonore faßte feine Hand, der Schmerz hatte ihre 
höhnende Bitterfeit gebrochen. Auch fie hatte eine Schuld 


262 Der Poften der Fran 


zu bereuen und zu büßen. „Bleibe, Morig,” fagte fie. 
„Laß und gegenfeitig vergeben und uns einander das 
Schickſal fommender Tage tragen helfen. Bleibe in der 
Heimat, bei deinem Sohn — —“ 

Der junge Mann ſchwankte, fein Knabe fchmiegte fich 
an ihn; feit Jahren hatte fein Weib nicht ein fo herzliches 
Wort zu ihm gefprochen. „Lorchen, mein Lorchen,“ fchluchzte 
er. „Was fol ich tun? Sch haffe ja feinen, ich fürchte 
auch feinen, aber ich liebe meinen Herrn, meinen armen, 
guten Herrn. Was, adı, was fol ich tun?“ 

„Deine Pflicht, Moritz!“ fagte die Gräfin. 

„Meine Pflicht!” wiederholte er mechanifch, während 
fein Ohr nadı dem Fenfter fpannte. | 
Rafcher Huffchlag, ein einftimmiger Ruf: „Der König!” 

fhallte vom Hofe herauf. Dann alles totenftill. 

„Der König!" rief Graf Morig zufammenfahrend. 
„Mein König, mein armer Herr, zu ihm, fort, fort!“ 

Der Wagifter, der Inſpektor, der Kaushofmeifter 
drängten in den Saal und Rat forderind an ihn heran. 

„Dort mein alter ego!“ rief er zurüd, und mit einem 
Satze war er aus ihren Augen verfchwunden. 

„Den Grafen ruft die Pflicht zu feinem Landesherrn,“ 
fagte die Gräfin, den fliehenden Gebieter vor feinen Bes 
dienfteten rechtfertigend. Dann aber audy ihn vor fich 
felber rechtfertigend, fügte fie hinzu, ihren Knaben an die 
Bruft drüdend: „Er liebt einen Herrn. Du aber, mein 
Sohn, daß du ein Mann werdeſt, Tenne, liebe ein Bater- 
land.” 

Darauf nahm fie den Knaben an die Sand und eilte 
nach der Tür, ihren hohen Gaft zu begrüßen. 

Der König war vom Pferde geftiegen, während fein 


Der Poften der Fran 263 


Gefolge im Hofe zurüdblieb; mit rafcher Bewegung fchritt 
er die Stufen der Freitreppe hinan in den Saal, der Meine 
Mann im blauen Mantel, den Hut tief in die Stirn ges 
drüct, ihr Wächter und Rater in jener Vornacht vers 
hängnisvollen Kampfes und Sieged. Sein Anblid gab 
ihr die volle Faſſung zurüd, fie neigte fich bi8 zur Erde 
mit jenem vornehmen Anftand, der ihrer höftfchen Zeit 
und Zone eigen war. Ohne fie zu bemerken oder zu be- 
achten, ging er an ihr vorüber und rafch dem aus bes 
Verwundeten Zimmer tretenden Diener entgegen. 

„Der Herzog, Deefen?“ 

„Sind einpafftert, Majeftät.” 

„Rufe Er den Doktor.” 

Der Arzt erfchien in der nächften Minute. 

„Wie fteht e8 um den Herzog, Doktor?" 

„Bir haben ihm den Verband erneuert, Majeftät.” 

„Sind die Wunden gefährlich?” 

„sch hoffe es nicht, Majeftät.” 

„Werden wir die Reife wagen können?“ 

„Mit VBorficht, ja, Majeftät.” 

„Darf ich ihn fehen, Doktor?” 

„sch werde Seine Durchlaucht auf diefe Gnade vor: 
bereiten, Majeftät.” 

Der Arzt "ging in dad Kabinett zurüd, der König 
ftand unbeweglich in der Mitte ded Saales, die Gräfin 
laufchte unter der Eingangstür in zitternder Erwars 
tung. 

„Bas finnt er? was hat er vor?” flüfterte der Mas 
gifter, der ſich lugend hinter der Portiere verborgen hielt: 
— „ahnt er, weiß er?” 

„Sa, er weiß es," antwortete die Gräftn zuverſichtlich. 


264 Der Poften der Frau 


„Er hat das Ahnen großer Seelen und den Scharfblid, 
ber dem Helden ziemt.“ 

„Der Herr Herzog bitten um die Gnade, vor Seiner 
Majeftät erfcheinen zu dürfen,“ meldete der rückkehrende 
Arzt. 

„Daß er fich nicht rühre, Doktor! ich fomme zu ihm,” 
befahl der Monarch, rafch und leife in des Verwundeten 
Zimmer tretend. Die Gräfin folgte ihm bis an die offen> 
bleibende Tür, der Herr Magifter fchlüpfte hinter ihr 
drein und noch einmal zwifchen die Falten der Portiere. 

Der Gefangene ftand vor feinem Ruhebett mit vers 
bundenem Haupt, den Arm in der Binde, totenbleich, den 
Blick zu Boden gefchlagen; der preußifche Diener und der 
preußifche Exwachtmeiſter ftüßten ihn zu beiden Seiten, 
ber legtere, indem er durch feine martialifchfte Miene fich 
dafür entfchädigte, an dem gebührlichen Salut vor feinem 
König verhindert zu fein. 

Herr von Erillon verfuchte ed, feinem hohen Befucher 
einige Schritte entgegenzugehen, der König kam ihm durd) 
eine gebietend abmwehrende Bewegung zuvor. Raſch 
und dicht an ihn herantretend, zog er den Hut und be- 
grüßte ihn mit jener eigentümlichen, fchlichten Hoheit, die 
ihm die widerftrebendften Gemüter zu unterwerfen pflegte. 
„Kerr Herzog," fagte er, „ich beflage dad Mißgeſchick 
eines Helden, deffen Bravour ich bewundert habe.“ 

„Sire,“ ftammelte der Gefangene, ſich tief verbeugend, 
und eine dunkle Nöte überflammte fein Geficht, „Sire, - 
fo viel Gnade, — nach fo viel — Schma-“ 

„Keine Aufregung, mein Herr!” fiel ihm der König 
lächelnd ins Wort. „Sch habe Ihre Landsleute niemals 
für meine ernfthaften Feinde halten mögen; meine ges 





Der Poften der Fran 265 


Iungene Überrafchung hat mir heute bewiefen, daß dies 
Vertrauen gegenfeitig war. — Aber wie fühlen Sie fidy, 
lieber Herzog?” fuhr er mit herzlichem Tone fort, indem . 
er dem Berwundeten die Hand reichte. „Sch bin gefommen, 
Sie ald werten Gaft in meine Hauptftadt einzuladen, um 
Sie heil und neu gefräftigt Ihrem Baterlande zurückzu⸗ 
geben.“ 

Der Franzofe beugte fid) auf die Hand des Königs 
nieder und führte fie an feine Lippen, während fichtbarlich 
ein Schauer feinen Körper überriefelte. „Sire,“ fagte 
er zitternd, „Sie find größer — ald Turenne, — denn er 
verhöhnte — feine Feinde, und — Ihro Majeftät — gießen 
Ol in ihre Wunden.“ 

Er ſchwankte; der König gab haftig ein Zeichen, ihm 
Ruhe zu gewähren, und verließ das Kranfenzimmer. 

„Zu Er fein Beſtes, Doftor,” damit verabfchiedete er 
den ihn in den Saal begleitenden Arzt, „das mögliche, 
hört Er, mir den Herzog bei Kräften nach Berlin zu 
bringen. Monsieur de Voltaire fol fich nicht rühmen 
dürfen, daß Roßbach Frankreich einen Mann gefoftet 
habe, ver feine Schuldigfeit getan.” 

Der Arzt zog fidy unter ehrerbietiger Verbeugung in 
das Kabinett zurüd, Gräfin Eleonore trodnete ihre Tränen, 
ein Blick hinter den Vorhang offenbarte ihr, daß der Sieger 
des Tages einen Gegner mehr überwunden habe. 

Mit einer rafchen Bewegung wendete fich der König zu 
ihr, die er erft jet zu bemerken fchien. 

„Sraf Fink, Madame?” fragte er. 

Die Gräfin bemwältigte ihre Rührung und verfeßte mit 
ruhiger Würde: „Majeftät, mein Gemahl ift auf dem 
Wege nad) Warfchau, an der Seite feines Königs Die 


266 Der Doften der Fran 


Folgen dieſes großen Tages zu erwarten.” — Der König 
blicfte der Dame mit gutmütigem Spotte ind Geficht. 

„Und die Frau Gräfin fcheuten ein improvifiertes Stine 
- raire fonder Schug und Geleite?“ 

„Allerdings, Majeftät. Denn man hatte fie belehrt: 
der Poften einer Frau fei das Haus, in welchem fie ihrem 
Sohne,” fie deutete auf den Knaben an ihrer Hand, „ben 
Bater zu vertreten habe.” 

„Eine heilfame Lehre, Madame, und am rechten Orte 
appliziert.” 

„Sie dankt fie audy einem großen Zuchtmeifter, Mas 
jeftät, und der Gnade, auf ihrem befcheidenen Poften von 
dem ruhmreichften Helden vifitiert zu werden.“ 

Der ruhmreiche Held nahm eine Prife. Dann mit freund» 
fihem Lächeln feine Wirtin auf die Schulter klopfend, 
fagte er leife: „Rompliment für Kompliment: die Hoſen 
paflen Ihnen gut, Madame.” 

Unfre Heldin lachte unverhohlen. Ihr König und Herr 
reichte ihr eine Sand, indem er die andre auf des Knaben 
Haupt legte: 

„Nun, halten Sie mutig ftand auf Ihrem Poften, brave 
Frau,” fo fchloß er feine huldvolle Vifitation; „dag ver- 
heißt dem Stamme meines alten Looß noch einen Fräftigen 
Zweig, und der Herr Graf von Fink wird feiner fchönen 
Hausehre die Ehre feines Hauſes danken lernen.“ 








N 


Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier 


Der Regen ſtrömte am dreißigſten April des blut⸗ und 
wafferftrömenden Jahres 1813, als zwei Meßbeſucher 
haſtig das Ranftädter Tor in Leipzig paſſierten und im vor⸗ 
ftädtifchen Gafthof „Zur Laute“ das Anfpannen ihres Fuhr⸗ 
werfs beftellten. Die Kunde hatte fich verbreitet von einem 
geftern erfolgten Zufammenftoß der ruffifchen und französ 
fifchen Vorhut in der Nähe ihres Wohnortes, faum vier 
Meilen von Leipzig entfernt. Es drängte fie, ihr bedrohtes 
Heimmwefen zu erreichen. 

Sm Begriff, ihr Vehikel zu befteigen, wurden fie von einem 
Studenten aufgehalten und gebeten, ihre Fahrt teilen zu 
dürfen, da die Poft überfüllt, eine andere Gelegenheit aber 
auch in diefem vorzugsweife den Hauderern der weftlichen 
Straße ald Ausfpannung dienenden Wirtöhaufe nicht aufs 
zutreiben fei. 


Der Student war ein frifches, junges Blut, in fchnurens 


befegter Pekefche, das fchwarzsrot-gold geränderte Käppchen 
der Thüringer Landsmannfchaft auf dem braunen Locken⸗ 
fopfe und gegen die Gewohnheit der handelöbefliffenen 
Univerfitätöftadt den klirrenden Schleppfäbel an der Seite; 
Gefundheit glänzte auf feinen Wangen, ein feuriger Strahl 
aus den offenen blauen Augen. Er nannte fid) Hermann 
Wille und bezeichnete als Ziel feiner Reife das Haus feines 
Bormunds, eined Predigers, in der Nähe der Stadt, nad) 
welcher die Herren auf dem Wege waren. 

Das Geſuch wurde fo zutraulidy gemährt als geftellt; 
der Student ſchwang fich auf den Rückſitz den beiden älteren 
Herren gegenüber; bald bewegte fich dad Gefährt auf der 
ebenen, pappelgefäumten Chauffee. 


268 Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier 


Nach den Schneemaffen des lange dauernden Winters 
und den anhaltenden Frühlingsgüflen war der Weg heil- 
108, das Fortfommen jedoch troß der plänfelnden Koſaken⸗ 
yatrouillen, oder vielleicht wegen derfelben ſicher wie in 
Friedengzeiten. Die gefprächige Laune des Heinen, unter⸗ 
feßten Herrn Hofrats und des langen hageren Herrn Syn⸗ 
difus geriet nicht einen Augenblid ind Stoden. 

Selbftverftändlicy drehte fich die Unterhaltung um die 
große Tagesfrage: die Schlacht, welche die verbündeten 
Monarchen Napoleon zu bieten gedachten, der, am Sieben⸗ 
zehnten in Mainz eingetroffen, fidy in Eilmärfchen diefer 
Gegend näherte. Der Boden, auf welchem diefe Schlacht 
vorausſichtlich gefchlagen werden würde, hieß ein neutraler, 
denn die Entfcheidung ded engeren Vaterlandes, Sachſen, 
zwifchen den beiden drängenden Parteien hing noch in der 
Schwebe. Der Syndifus lobte den weifen Entjchluß feines 
landesflüchtigen königlichen Herrn, daß er, feine Nefidenz 
von Regensburg nad) Prag verlegend, fich den öfterreichis 
ſchen Pazifitationsmaßregeln angefchloffen habe. 

Der Hofrat war entfchieden franzöfifch, das heißt: napo⸗ 
leonifdh. 

Dem gegenüber ließ e8 der Student nun aber auch nicht 
an freiheitöbegeifterter Gegenrede fehlen. Er berief fich auf 
die überwiegende Stimmung ded Landes, auf die Spaltung 
fogar im fächfifchen Heere, den Austritt mehrerer höherer 
Offiziere, die zweifelhafte Haltung ded Kommandanten von 
Torgau, auf den Enthufiagmug, welchen die Proflamationen 
MWittgenfteins und Blüchers in der Jugend erweckt hatten. 
„Eure Wahl,“ zitierte er mit flammendem Blid, „eure 
Wahl fann eure Krone in Gefahr bringen, fann dereinft 
eure Kinder bei dem Gedanken an ihre Väter erröten machen; 


Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier 269 


aber aufhalten fann fie Deutfchlande große Bewegung 
nicht.” 

„Deklamiert nur immer,” verfeßte darauf der Hofrat. 
„Klappert und raffelt, ftemmt und fperrt euch, foviel euch 
beliebt: der Mann ift euch zu groß, ihr ftürzt ihn doc 
nicht. Nie wax er größer ald heute, da er ſich wie mit 
Zauberfchnelle von der Niederlage erhoben hat, welche 
nicht Menfchenwig und Kraft, nur die blinde Natur über 
ihn verhängte! Aufgerichtet fteht er euch gegenüber, ein 
Mann, der will und weiß, was er will, ein ganzer Menſch!“ 

„Auch wir wollen und wiflen, was wir wollen,” rief 
der Süngling begeiftert. 

„Und was wollt ihr, was wißt ihr, törichte Kinder?“ 

„Bir wollen frei werden und ein Bott!“ 

„rei von was, junger Mann?“ 

„Frei von dem Tyrannen!“ 

„Bon einem Tyrannen, um fünfzig Dagegen einzu- 
taufchen,” entgegnete der Hofrat. „Und ein Bolt? Nun 
ja, vielleicht unter ihm und durch ihn, den Titanen, der 
die Gefchichte dieſes Jahrhunderts auf feinen Schultern 
trägt. Denn was ift Gefchichte anderes ald Tat und Hans 
deln überragender Menfchen, wie fie dem formlofen Brei 
der Völfermaffen Geftalt und Richtung geben?” 

„Die Zeit heroifcher Tyrannen ift abgelaufen,” ftel Her⸗ 
mann ein. „Er war der lebte. Bon heute ab wird allein 
das Volk feine Gefchichte machen, deren Sahrbücher werden 
ſich füllen mit wohltätigem Wirken und freie Fürften über 
freie Völker regieren.“ 

„D des Widerſinns,“ rief der andere, „freie Fürften 
und freie Voͤlker! des Widerfpruchs! Klingt's doch wie 
freie Lämmer und freie Wölfe. Blickt auf euere Väter 


270 Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier 


und Brüder, gutmütige deutfche Schwärmer! Geftern mit 
Preußen gegen Franfreich; tags darauf mit Frankreich 
gegen Preußen und Öfterreich. Dann wieder mit Preußen 
und Ofterreich unter Frankreich gegen Rußland, und mor- 
gen vielleicht mit Preußen und Öfterreich für Rußland 
gegen Napoleon. Und das diefelben Männer binnen noch 
nicht fieben Fahren. Und das nennt ihr wollen und wiffen, 
was ihr wollt?” 

„Wehe und, daß ed fo war!” verfeßte Hermann ers 
rötend. „Aber ed wird anders werden; es ift ſchon anders 
geworden.“ 

„Was ift anders geworden, junger Mann? Daß das 
ausgemergelte Preußen, von ruffifchem Ehrgeiz gefirrt, 
den Spieß fehrte, nachdem ein vormwißiger General die 
Dreiftigfeit gehabt, feinen Verräterfopf aufs Spiel zu feßen, 
in mißlicher Lage auf unmwirtlichen Wegen ftillzuftehen und 
auf dieſe Weife den Karren einmal in den Sumpf gefahren 
hatte? Iſt Preußen Deutfchland? Wo bleibt der Rhein- 
bund, wo Öfterreich, wo —“ 

„Nein,“ unterbrach ihn der Student, „nicht darum; nicht 
um Preußens ruhmmwürdiger Erhebung willen allein. Aber 
weil ein einziger glühender Strom auch durch unfere Herzen 
zieht, weil unfere Schande und brennt, weil wir dürften, 
fie mit unferm Blute zu löfchen; weil wir während eines 
ehriofen Lebens zu fterben gelernt haben, und ein Menſch, 
ein Volk, das den Tod nicht fcheut, Fein Sklave werben 
oder bleiben fann.” 

„Schöne Worte, hohl wie Nüffe, Herr Studioſus,“ 
fpottete der Hofrat. „Und wenn ed euch gelänge, den 
zu vernichten, der größer ift ald Alerander und Cäfar, 
größer als Carolus Magnus, vielleicht den legten großen 


Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier 271 


Menfchen zu vernichten, wenn e8 euch gelänge, Pygmäen: 
- das Fatum ift blind wie die Natur, und wir haben ſchon 
manchen Helden ftürzen fehen über einen Peitjchenftiel, 
ben eine Kinderhand auf feinen Weg geworfen hatte, wenn 
die Iaunifche Fortuna ihrem Liebling untreu wurde: was 
hättet ihr gewonnen, die ihr euch Deutfche nennt? Nur 
die einzige Gelegenheit verfcherzt, eins zu werden und 
vielleicht eines Tages auch frei, fobald eine weniger ftarfe 
Hand als die feine die Zügel der Weltherrfchaft nicht mehr 
feftzuhalten vermöchte. Dann, ja dann! Aber unter euren 
hundertföpfigen Duodezherren, verblendete Toren, die ihr 
feid! fie werden fich beneiden und haflen, morgen wie geftern; 
gegeneinander fpionieren und intrigieren, werden ſich 
zupfen und zerren um ein Krümchen Macht und ein Fünts 
hen Glanz, und Deutjchland bleibt ein Frikaffee, und ihr, 
gemütliche Sungen, wenn ihr die Kaftanien aus dem Feuer 
geholt habt, werdet gehänfelte Knechte bleiben wie biöher.“ 

Unter derlei Kontroverjen, weldye die Gegend, durch die 
fie fuhren, von Hunnen⸗ und Schwedens, Preußen und 
Franzofenzeiten her in mannigfachem Wechſel anregte, 
war die größte Strede des Weges zurüdgelegt worden und 
hatten die drei uneinigen deutfchen Männer ed nicht vers 
ſchmäht, in behaglichem Einmut das ZTofaierfläfchchen 
wie die Proviantkapſel rein auszuleeren, welche der Hof⸗ 
rat, ein Huldiger ded Sinnes, den Idealiſten den gröbften 
nennen, fürforglicd, mitgenommen hatte. Der filberne Bes 
her ging die Reihe rund; der Friedensfyndifus leert ihn 
auf das Wohl feines gerechten Königs, der Ruhmeshofrat 
auf das feines glorreichen Helden, der Student tranf auf 
das Heil des freien deutfchen Reiche, und juft war der 
Öaftgeber im Begriff, Die Neige mit einem erhebenden Toaft 


272 Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier 


hinunterzufchlürfen, ald beim Einbiegen in die ungepflafterte 
Straße eined wackern bdeutfchen Dorfes die ſchwerfällige 
Kutſche zuſammenknackte und die beiden Freunde im dicken 
Moraft — bucdyftäblicdy ausgedrüdt — auf der Nafe lagen. 
Nur der Student, der kecklich herausgeſprungen, war fauber 
dDavongefommen. Er lachte nad) Studentenart, fobald er 
den anderen auf die Beine geholfen und fidy überzeugt 
hatte, daß fie mit Ausnahme ihrer fchmwarzflebenden Ge⸗ 
ſichter und Kleider, heil Davongelommen waren. 

Nachdem man fich in der Schenfe notbürftig abgewaſchen 
und vom Schrecken erholt hatte, kam man überein, den 
Heimweg zu Fuße anzutreten, bis die zerbrochene Achſe 
wieder feftgefchmiedet fei und der Wagen fie überholt 
haben werde. Der Regen hatte nachgelaffen, die Wolken 
zerteilten fich, die Luft wehte frühlingsmild, die Bewegung 
nach der dDurchrüttelnden Fahrt tat wohl. Man hatte tun- 
lichft Erfundigungen über das geftrige Renfontre einge: 
zogen und erfahren, daß Ruſſen und Preußen vor dem 
jählings einbrechenden Neyfchen Korps die befeßt gehals 
tene Stadt geräumt und nadı mehrftündigem Scharmügßel, 
jenfeit deren öftlichen Tores, ſich nach Süden gezogen 
hätten, während die Franzofen die Stadt, fowie die zus 
nächft liegenden Dörfer nunmehro innehielten. 

Das heillofe Wetter mochte die Operationen am heuti- 
gen Tage unterbrochen haben, und fo zogen unfere Wan⸗ 
derer die Straße entlang, zwifchen den Franzofen in Nord 
und Wert und den Verbündeten in Oft und Süd gleidy- 
fam auf einer neutralen Demarfationslinie. An dispu⸗ 
tierlichem Stoff war ein Vorrat gefammelt worden, der 
in dem Wegftündchen bis zu ihrem Ort gar nicht zu er- 
fchöpfen fchien. 


Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier 273 


Der Hofrat war, wie ber Syndikus, feines Zeichend 
Surift, und ein gefchickter Surift; bemühte fich jedoch feit 
einiger Zeit, ald Dichter ein Lorbeerreis zu ernten, wie es 
des fcharffinnigften Advofaten Stirn nur felten zu frönen 
pflegt. Einem folhen Manne und feinen volltönenden 
Schlagworten gegenüber konnte der junge Student des 
Jus nicht umhin, ed mit gleicher Münze wettzumachen, 
und da er felber fein Dichter war oder zu fein fich bemühte, 
ftimmte er eine der ftolgen Freiheitöhymnen an, mit welchen 
ein Landsmann und Mitftudent, der wirklich ein Dichter 
war, fein Herz geichwellt hatte, 

„Friſch auf, mein Volk, die Flammenzeichen rauchen!” 
fchimetterte er, unter dem Chorus der aufwirbelnden Kerchen, 
zu dem ſich Flärenden Himmel empor. 

Der Hofrat deutete mit der Hand nadı einem flattlichen 
Gebäude, das unfern der ſich von da ab zum Tal nieders 
fenfenden Straße, eine feſte Ringmauer überragend, weit 
in die Gegend hinausfchaute., „Schade!” fagte er, „daß 
Sie feine Leier bei ſich führen, fchöner Nitter, um dad 
Affompagnement Ihres raflelnden Schwerted zu unters 
ftügen, Wir hätten Fräulein Muthchen auf ihrem Siedels 
hofe ein Ständchen bringen und und der gaftlichften Auf⸗ 
nahme von feiten ihres Hausmeiers gewärtigen dürfen.” 

Der Student pried mit befcheidenem Spott des Dichters 
reiche Phantafie, die ſich aus dem Hader der Zeit in die 
romantifche Vergangenheit geflüchtet habe; der Dichter aber 
erwibderte: 

„Sie erweifen meiner Phantafte zu viel Ehre, junger 
Mann. Wir bewegen und auf realem Boden. Dort ragt 
ber Siedelhof. Denken Sie fid) nun hinter feinen grauen 
Mauern das fchönfte Mädchen und den gründlichiten 
® 


274 Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier 


Narren im Leipziger Kreife, was beides etwas heißen 
will — -“ 

„Und die reichfte Erbin die eine, die ehrlichite Haut den 
anderen, was aud) nicht zu verachten iſt,“ fiel der Syn⸗ 
dikus ein. „Aber fchauen Sie auf, meine Herren. Lupus 
in fabula! Dort drüben fprengt Fräulein Muthehen mit 
ihrem Hausmeier.“ 

Hermann, der angedeuteten Richtung folgend, gewahrte 
ein berittened, wunderliches Paar, das von Süden her 
quer über die Straße jagte, fo flugesartig, daß die Wan- 
derer, faum zwanzig Schritte entfernt, nicht von demfelben 
bemerftwurden, vielleicht auch nicht bemerft werben wollten. 
Dahingegen feine Einzelnheit der blißfchnell vorüberrau- 
fchenden Erfcheinung des jungen Mannes fcharfen, ver- 
fchlingenden Blicken entging. 

So fah er denn eine fchlanfe, aber fräftige Amazone 
auf feurigem Roß, das grüne Neitffeid, dicht am Halſe 
fchließend, der Zeitmode zumider, mit langer, natürlicher 
Taille, aber kaum bis zu den Knöcheln reichendem Rod, 
unter welchem ein Beinfleid von gleichem Stoff und Stie- 
fein von derbem Leber bemerkbar wurden. Über dem 
blühenden Geſicht faß auf dem ftarfgebauten, von unge 
fünftelten, blonden Locken umwallten Kopf ein graues Hüt⸗ 
chen, fonder Feder und Schleier; jede ihrer Bewegungen 
war gewandt und bdreift. 

Der Dame folgte in kurzem Trab ein baumlanger, hagerer 
Fünfziger, fteilrecht und feierlich aufgerichtet, Nafe und 
Kinn ein fpiter Winkel, Knies und Armbiegung eine 
fharfe Ede, über dem altdeutfchen ſchwarzen Nod der 
breite Hemdkragen zurücgeflappt, Hals und Bruft ents 
bIößt, Haars und Bartwuchs, graugelblich gemifcht, einer 


Fräulein Muthchen und ihre Hausmeier 275 


Mähne gleich über die ſchmalen Schultern hinunterfallend, 
barhäuptig und wenn auch nicht fchlechthin barfüßig, fo 
body ohne Stiefeln oder Schuh und zwifchen den weißen, 
kurzen Soden und dem fchlotternden ſchwarzen Beinkleid, 
das fich beim Reiten in die Höhe gezogen hatte, eine Hand 
breit nackt hervorlugend der jehnige Teil des Beine, der 
bei anderen Perfonen eine Wade genannt zu werben pflegt. 
Diefer Darftelung getreu präfentierten ſich dem jungen 
Studenten Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier. 

Die beiden älteren Herren lachten überlaut: 

„Er fcheint die Entdedung gemacht zu haben, daß die 
Zeutfchen ohne Fußbefleidung den Varus in die Flucht 
gefchlagen,“ rief der Hofrat. „Ein Glüd, daß fie aber 
den Oberfchentel in ein Büffelfell geſteckt haben follen, 
fonft würden wir ihn wahrlich auch als teutfchen Sans» 
eulotten im Lande umhertraben fehen. Mid; wundert nur, 
daß er fich immer noch fo gewiflenhaft wäfcht und kaͤmmt, 
da Reinlichfeit feine der Tugenden ift, die Tacitus de 
Germanis rühmen durfte.” 

„Aber das Fräulein, das tollfühne Kind!” fiel der Syns 
dikus bedenflid, ein. „sch wette, daß ed eine Rekognoſ⸗ 
‚zierung des geftrigen RenfontresTerraind vorgenommen 
hat.“ | 
„Eine Erkennung ded Begegnungsbodens,“ berichtigte 
der Hofrat, und beide lachten von neuem. 

Hermann dahingegen blieb ernfthaft und war plößlich 
fchweigfam geworden. Unverwendet folgten feine Blicke 
dem feltfamen Paar. Die fchöne Dame war vor einem 
Pförtchen der Ringmauer vom Pferde gefprungen, das ihr 
Begleiter neben dem feinen an der Leine durch das Hof⸗ 
tor führte, während jene mit rafchen Schritten einen uns 


976 Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier 


fernen Hügel erftieg, welcher den Gipfel des Flußufers 
bildet. 

Das im Tal liegende, zum Gute gehörige Dorf konnte 
von der Straße aus nicht gefehen werden. Nur bie 
Zurmfpige der auf halber Höhe ftehenden Kirche ragte 
bis zur Höhe des Hügels, defien obere Abplattung, von 
einem Cifengitter umgeben und von einem gegenwärtig 
noch unbelaubten, alten Eichenbaum überbreitet, den fich 
bergan ziehenden, ländlichen Friedhof abfchloß. Die Dame 
öffnete die Tür des Gitterd, das fie mit halbem Leibe 
überragte, und fchaute wie von einer Warte nad, allen 
Seiten in die Gegend. 

„Diefe Geftalt,” rief jetzt Hermann, lebhaft erregt, 
„diefe Geftalt habe ich auf der nämlichen Stelle fchon eins 
mal gefehen!“ 

„Nichts Außerordentliches, junger Freund,“ verfeßte 
der Hofrat. „Welches Kind meilenweit in der Runde fennte 
nicht das Fräulein von Kettenloß, und welcher Reifende, 
der dieſe vielbetretene Straße zieht, hätte fie nicht einmal 
auf den Gräbern ihres Freienhügels gefehen?" 

„Nicht daß ich die Dame kennte,“ entgegnete der Stus 
dent; „ich höre ihren Namen heute zum erften Male, und 
es ift länger als ſechs Sahre, daß ich diefe Straße nicht 
wieder gezogen bin. Es wirb mir nur eine Begegnung 
aufgefrifcht, welche jenerzeit die Phantafie des ſechzehn⸗ 
jährigen Alumnen lebhaft befchäftigt hat.“ 

„Beben Sie diefelbe zum beften, junger Freund,” fagte 
der Syndikus. „Ein Abenteuer mit Fräulein Muthchen 
wird jedenfalls fchmachafter fein, als Ihr politifcher Kohl 
immer von neuem aufgewärmt.“ 

„Sie fpannen Ihre Erwartung zu hoch,“ entgegnete Her⸗ 


Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier 277 


mann. „Sc fprach nicht von einem Abenteuer, faum 
von einem Begegnen, nur von einem Blick aus der Ferne 
auf diefen damals noch nicht eingehegten Plag. Indeſſen 
es ſei: 

„Es mochte etwa drei Wochen nach der unglüdlichen 
Schlacht von Sena fein, als ich mit meinem ein paar Sahre 
älteren Bruder zu Fuße dieſes Weges fam, um von dem 
Sterbebette eines geliebten Vaters unter den Schuß unferer 
alma mater zurücdzufehren. Weg und Wetter waren noch 
heillofer als heute; wir hatten übermüdet in dem näm- 
lichen Dorfe Nachtquartier halten müffen, in weldyem —“ 

Raſcher Hufſchlag und ein ftaunendes „Ah!“ feiner Be⸗ 
gleiter unterbrachen den Erzähler; der Anblid einer glän- 
zenden Kavalfade, von der Stadtfeite her die Straße 
hinauffprengend, ließ nicht nur das Wort im Munde, aber 
das Herz in feinem Leibe ftoden. „Wer ift das?" ſtam⸗ 
melte er beftürzt. | 

„Das ift — Er!“ rief der Hofrat begeiftert, und feine 
fleinen grauen Augen blitten, ald er mit tiefer Reverenz 
den Hut von der blonden Perüde 309. 

Auch der deutfche Held in spe hatte unwillkuͤrlich das 
dreifarbig geränderte, landsmannſchaftliche Käppchen ab⸗ 
genommen, und die lange Nafe des Herrn Syndifus bes 
rührte um ein Saar den nachbarlichen Steinhaufen der 
Shauffee. Alle Zeichen der Untertänigfeit waren indeſſen 
verfchwendet. Weder „Er“ noch, einer feiner reichbes 
treßten, beftederten, ordenprangenden Suite bemerfte Die 
befcheidenen Wanderer. In furzer Biegung von der Straße 
abfchwenfend, fprengte die Kavalfade denſelben Weg, die 
Ringmauer entlang, weldyen die Dame vor wenigen Mis 
nuten gewandelt war, und dem Hügel zu, auf welchem fie 


278 Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier 


- noch immer überrafcht, geblendet, gebannt von der außer⸗ 
ordentlichen Begegnung regungslos ftand. Nur der Bors 
dere, nur „Er“ hatte Raum auf der fohmalen Plattform 
vor dem Gitter, von welcher er durch ein Fernrohr die 
Gegend nach allen Seiten überfchaute, während fein Ge- 
folge am Fuße des Hügels, fo gut wie die drei Wanderer 
am Straßenrand den Blick magnetiſch auf ihn gerichtet 
hielt. Und ein feltfam anziehendes Bild war es ja aud, 
das die Befchauer zwei, drei Minuten lang in atemlofer 
Spannung feflelte: auf dem weißen Hengſt die Fleine, ger 
drungene Geftalt im feftgefchloffenen, unfcheinbaren Rod, 
die Krempe des Hutes, vom Regen ermweicht, tief in den 
Nacken niederhangend, unter der ehernen Imperatorens 
ftirne mit Falfenbliden den Schauplag fommender Taten 
erfpähend, der marmorbleiche Italiener Auge in Auge dem 
blühenden, deutichen Mädchen, das, — „wie die Göttin 
der Freiheit,” fo murmelte unfer Student — nur durd 
ein Grabgitter getrennt, ihm fo nahe ftand, daß die Hände 
ſich hätten erreichen fünnen. 

Die Dame hatte, vielleicht in jähem Erfchreden, mit 
dem linken Arme fidy an den Stamm des Eichbaumes ge- 
klammert, der als der einzige feiner Art fidy erhalten hatte, 
aus jener fernen Zeit, da die Uferabhänge des Fluſſes 
noch dichter Laubwald waren, und der, weithin fichtbar, 
als ein Wahrzeichen ver Gegend galt. Den rechten Arm 
hielt fie in nördlicher Richtung ausgeftredt, wo jenfeit 
des Fluffes in ftundenweiter Ferne eine Bodenmwelle von 
gleicher Höhe wie die, auf der fie fand, Die Gegend über- 
ragte. 

Auch ihr Gegenüber ſchaute einen Moment und deutete, 
gegen einen rückwärts haltenden Begleiter gewendet, auf 


Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier 279 


diefen Punkt. „Der Sanushügel von Roßbach?” fragte 
Hermann, deflen fcharfen Blicken feine Bewegung entging, 
flüfternd den Hofrat. Kaum aber hatte er die Frage aus 
gefprochen, fo Ienfte der Gewaltige fein Roß und fprengte 
den Weg zurüd, den er gefommen war. 

Die Wanderer ftanden entblößten Hauptes wie eins 
gewurzelt auf der alten Stelle; ihre abermalige Ver⸗ 
beugung wurde fo wenig als vorhin erwidert, und ihre 
Perfonen würden nicht bemerft worden fein, wenn nicht 
eine gemütliche Schafherde ſich fonder Reſpekt vor Menfchen- 
macht und Hoheit über die Landftraße audgebreitet und 
die Bahn des Helden für einen Augenblic gehemmt hätte. 
Er wendete dad Haupt nod) einmal zurüd nad) dem Hügel, 
auf welchem das Fräulein unbewegt in der früheren Stel- 
lung ftand. 

„Shriemhild!” hörte man ihn zu dem ihm zur Seite 
haltenden Führer feiner Garden fagen, während ein ans 
mutiged Lächeln die feinen Lippen umfpielte, denen das 
Lächeln eine feltene Gunft geworden fchien. 

Der den Mufen huldigende Herr Hofrat wurde durch 
den Namen Chriemhild in faum zu bändigende Efftafe 
verfeßt. Welch Univerfalgenie, diefer Mann! Ein Dichter 
vielleicht größer als er felbft! Wie geiftreidy hatte Er den 
Werther deſſen Autor gegenüber fommentiert! Den deut- 
[chen Poeten durdhzudte der Gedanke, dad Heldenweib der 
Nibelungen, die er bis jet nur dem Namen nad) fannte, 
zum Borwurf einer Tragödie zu machen. 

„Wer - ift?” fragte, nadı der Höhe deutend, irgend- 
ein befternter Herr der Suite den alten Schäfer, welcher 
ungerührt von der außerordentlichen Begegnung auf einem 
Steinhaufen der Straße faß und fein Veſperbrot in lang⸗ 


280 Sräulein Muthchen und ihr Hausmeier 


famen Biffen verzehrte; und als der ehrliche Deutfche die 
Frage nicht alfobald beantwortete, wiederholte er diefelbe 
mit einem Zufag, den wir zu beutfcher Ehre nicht wieber- 
geben wollen. 

Der Schäfer richtete feine Augen gelaffen nad der bes 
zeichneten Stelle und fagte mit einem fhmunzelnden Zug 
über dem breiten Geficht: „Na, kennt Er denn Fräulein 
Muthchen nicht, Herr Franzofe?“ 

„Fräulein — Muthken!“ wiederholte der General feinem 
Gebieter. 

„Quel nom barbare pour une si belle personne!“ hörte 
ber Hofrat, der fich in feiner Begeifterung einige Schritte 
vor, dicht an die Gruppe gedrängt hatte, feinen Heros 
fagen. 

„Mademoiselle Courage!“ magte er, mit einem tiefen 
Büdling, zur Erläuterung auszufprechen. 

Der Heros blickte ihn an und nidte mit dem Haupt, 
als ob er in Diefer Übertragung den Namen paßlich finde; 
bann feßte er über den Graben hinweg, daß Schafe und 
Lämmer geängftigt auseinanderftoben. Die Suite der 
Generale folgte ihm, die Straße zur Stadt hinab. Sm 
Nu war bie blendende Erfcheinung wie eine Fata Morgana 
verfchwunden. Auch Mademoiselle Courage hatte den 
Sreienhügel verlaffen und war durch die Gartenpforte 
nach ihrem Siedelhofe zurüdgefehrt. 


ALS die Reiſenden ſich wieder allein mit dem Schäfer 
und feiner Herde auf der Landſtraße fahen, löften ſich 
die Berzen. Der Hofrat war fchlechthin in einem Raufch. 
„Welch ein Zauber“, fo rief er, „um einen großen Mann. 
Diefe antiten Heldenzüge! ich hatte fie niemals in folcher 


Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier 281 


Nähe gefehen. Laflen Sie und dem Pfade folgen, den 
feine Spur geweiht, laſſen Sie und hinauf zu dem alten 
Hünengrabe fteigen und die Landſchaft überfchauen, Die 
Er zur Szene neuer glorreicher Taten erforen hat. Wer 
blickt in diefed Auge und begreift nicht, daß es anders 
auffaßt ald gemeine Sterbliche? daß Menfchen und Dinge, 
über die es ftreift, wie in eherne Tafeln feinem Gedächtnis 
eingegraben find?” 

„Glückſeliger Poet!” entgegnete der Syndifus, der fonft 
nicht eben ein Spötter war, „glücdfeliger Poet, deſſen 
Figur er geftreift hat und der fid, rühmen darf, unfterbs 
lich im Gedächtnis des ‚legten großen Menfchen‘ fortzus 
leben! Aber ich pflichte Shnen bei; laflen Sie une von 
dort oben nach unferem Wagen ausfpäahen, da es nicht 
geraten fein möchte, unfere Bagage dem Zufall der Land⸗ 
ftraße preigzugeben, wir auch zu Fuße mit unferen fotigen 
Habitern einen Fläglichen Einzug halten würden in der 
Stadt, welche der Titan durch feine Gegenwart verewigt.“ 

Sie gingen voran; Hermann folgte ihnen in, fchwei- 
gender Bewegung. Bald ftanden fie auf der Höhe und 
blicften über das jest verfchloffene Gitter auf zwei Gräber 
unter dem alten Baum, deſſen Schaft das Fräulein vorhin, 
fei e8 im Schred‘, fei e8 mit Bedeutung, umflammert hatte. 
Der eine der Hügel war fauber gepflegt und mit Frühlinge- 
blumen gefchmüdt, der andere einfach mit Rafen belegt. 
Kein Name war auf einem Stein oder Kreuz bezeichnet. 

Die Abendfonne, die Woltenfchicht Durchdringend, be> 
leuchtete die Gegend in ihrem blühenden Lenzesſchmuck; 
der Blick fchweifte über den Friedhof mit feiner Kirche, 
dann über das Dorf hinweg ftromauf firomab den Fluß, 
der wie ein filberned Band das Tal durchfchlängelt, im 


282 Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier 


Werften begrenzt durch die Stadt, mit ihrem beherrfchenden 
Schloſſe, zahlreiche Kirchfpiele, Wald, Wiefe, Nebhügel 
und frifchgrüne Saatfelder boten einen erfreulichen Wechfel. 

Nach fchwindelndem Aufſchwung, wie nadı fchlaffem 
Ermatten ift ed ja allezeit die Natur, weldye dad Gemüt 
wieder in ein Gleichmaß feßt, und fo konnten auch unfere 
Wanderer dem nicht blendend, aber wohltuend vor ihren 
Augen ſich entfaltenden Reize nicht lange widerftehen, ohne 
von dem Außerordentlichen zum Tagedgewohnten zurüds 
zufehren: zunächft zu Fräulein Muthchen und ihrem Haus⸗ 
meier, deren Walten und Wirken fie in den wohlbeftellten 
Feldern und Gärten, der firengen Ordnung in Haus und 
Hof verftändlich vor fid) ausgebreitet fahen. 

Alles war fchlicht und dauerhaft, wie um der unruhigen 
Epoche zu trogen, nichts prunfvoll angelegt; Fein Ziers 
ftrauch, Feine Blume in den weitläufigen Gärten; aber 
jedes Fleinfte Fleckchen zu nutzbringendem Ertrage beftellt. 
Man bemerfte den Hausmeier, — jest in ftarfen Schuhen 
und grobem Leinenfittel, — wie er im Hofe mit würde: 
voller Gelaffenheit hin und wider fchritt, Mauern, Türen 
und Läden gewiflenhaft unterfuchte, dann wieder den Kopf 
aus einer Dachlufe ftredte und dem Hofgefinde Weifung 
gab, den durch das geftrige Plänflerfeuer angerichteten 
Schaden wiederherzuftellen. 

Aud das Fräulein erfchien von Zeit zu Zeit im Hofe 
in dem nämlichen grünen, feine ihrer rafchen Bewegungen 
hindernden Anzug, den fie vorhin zu Pferde getragen hatte. 
Der Syndikus bemerfte, daß fie erft feit einem Monate 
dDiefed grüne Kleid gegen ein ſchwarzes vom nämlichen 
Schnitt, welches fie feit dem Tode ihrer Mutter nicht ab⸗ 
gelegt, vertaufcht habe; und der Hofrat meinte lachend, 


Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier 283 


daß Preußens Kriegserflärung ihr die Farbe der Hoffnung 
wieder wert gemacht. Man fah die Dame die im Hofe 
mit Aufräumen und Zutragen befcjäftigten Arbeiter an⸗ 
ftellen und antreiben, jeden Mangel, jeden Schaden augen- 
blicklich entdeden, prüfen, abhelfen, rafch und entſchieden 
felber Hand and Werk legen; man mußte ſich fagen, daß 
nur auf diefe refolute, pünftliche Weiſe, bei firengem Zus 
fammenhalten bedeutender Mittel, die mufterhafte Ord⸗ 
nung eined Befigtumsd aufrechterhalten werben konnte, 
das in der bedrohlichiten Lage, feit faft fieben Sahren, den 
Requifitionen, ja Plünderungen von Freund wie Feind 
ausgefeßt geweſen war, erft fürzlich den aus Rußland 
geflüchteten Scharen entblößter, fiebernder Franzofen ale 
Spital und bis vor wenig Tagen dem Stabe ded am 
weiteften vorgebrungenen ruffifchen Korps ald Quartier 
gedient hatte, eined Beſitztums, auf deflen. Grund und 
Boden geftern einige der erften Opfer deutfcher Befreiung 
gefallen, in deflen Mauern die erften Kugeln des neuen 
Feldzugs gedrungen waren und in deflen nächfter Nähe 
ſich die erfte hochwichtige Entſcheidungsſchlacht vorbereitete. 

Der Syndifus, welcher der Gutöherrin Suftitiarius war, 
erzählte, wie hausmütterlich heiter er die Dame neulich 
mit den Koſaken haufend angetroffen habe und in weld) 
wehmütiger Stimmung ſich diefe Naturföhne von ihren 
Biertonnen und Krautfübeln getrennt; wie fie beim Ab» 
fchied immer wieder umgefehrt feien, ihr vom Pferde 
herunter die Hand gereicht und gerufen haben: „Mutter 
Muthchen, gut Mutter Muthchen!“ um darauf unter den 
traurigften Molltönen ihres VBorfängerd und dem einfachen 
Akkompagnement ihrer Rohrflöten weniger gaftlichen Her⸗ 
bergen entgegenzuziehen. „Sa, ein Kernmädchen, dieſes 


284 Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier 


Muthehen, das dem Teufel und feinen Scharen ſtand⸗ 
halten würde, ohne mit der Wimper zu zuden!” fo fchloß 
der Syndikus diefe wie einige ähnliche Mitteilungen. Der 
Hofrat rief aus: 

„Sa, bei Gott! Schade um die fchöne Perfon und um 
ihr Schönes Geld!” 

„Schade inwiefern?” fragte Sermann, welcher ben 
Schilderungen mit dem lebhafteften Anteil gefolgt war. 

„Beil fie beide nur einem freien deutfchen Danne 
zugute fommen laflen will,” antwortete jener lachend, 
„und über diefem Vorſatz, allem Anfchein nach, zur alten 
Jungfer werden wird, infofern Held Kupido fid am Ende 
nicht Doch noch unmwiderftehlicher als Held Bonaparte, ja 
als der unwiderftehlichfte Damenheld erweifen follte. Unter 
allen Umftänden — wenn die Gefchichte wahr ift, die man 
ſich ihrerzeit. einftimmig erzählt hat —, unter allen Um⸗ 
ftänden war ed die graufamfte alberne Schrulle ihres 
phantaftifchen Vaters, dem armen, blutjungen Dinge, im 
Moment der tiefften Zerfnirfchung, hier am offenen Grabe 
ber Mutter quafi ein Kloftergelübde aufzuerlegen, anftatt 
fie im Gegenteil darauf hinzumeifen, daß, wenn in der 
allgemeinen Zerrüttung Spiel und Tanz der Jugend vers 
leidet werben, die Freuden der Liebe fie für vieles und 
eine Frau für alles zu entichädigen imftande find.“ 

„Diefe Auffaffung ift freilich der des feligen Major 
eine ſchnurſtracks entgegengefegte; recht aber haben Sie 
in der Hauptſache,“ wendete der Syndikus ein. „Und 
wenn ich Shnen ebenfo zugeben muß, daß die Niederlage 
von Sena, verbunden mit dem faft gleichzeitigen Tode feiner 
Gattin, den Mann einigermaßen wirbelig gemacht hatte, 
fo muß ed um fo mehr wundernehmen, wie feine Tochter, 


⸗ 


Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier 285 


ihrer kuriofen Erziehung und am Ende gar der abenteuers 
lichen Beftattungsizene zum Troß, dad, was fie geworden 
ift, unfer Fräulein Muthchen, werden konnte.“ 

„Sie erwähnen einer Beftattungsfzene, mein Herr,“ 
nahm jet Hermann dad Wort, „und führen mich damit 
auf die Begegnung zurüd, die id; Ihnen mitzuteilen im 
Begriffe war, ald — -” 

„Fahren Sie jet fort, junger Freund,” unterbrady ihn 
der Hofrat. „Seben wir und, da der Wagen noch immer 
auf fich warten läßt, auf den Steinblod vor diefem vers 
meintlichen Hünengrabe, das der tolle Major zum Freiens 
hügel umgetauft hat. Die Sonne foheint warm, und Die 
Luft weht erquicklich. Ihre Erzählung fol uns die Täftige 
Wartezeit verkürzen.“ 

Die beiden älteren Herren breiteten bei den Worten ihre 
Neifeüberröde von Kalmud fürforglicy über den Stein 
und nahmen Plas, während der Student, ihnen gegenüber: 
ftehend und von Zeit zu Zeit einen Bli in den Gutshof 
werfend, alfo begann: 

„Wir hatten, wie ich fagte, in jenem Dorfe übernachtet, 
waren aber vor Tagedgrauen fchon wieder auf den Füßen. 
Kaum lagen die legten Käufer hinter ung, als, von einem 
Seitenwege einbiegend, ein Fuhrmwerf auf die große Straße 
lenkte und fo langfam vor uns herfuhr, daß wir eine 
Strecke dicht hinter ihm Schritt zu halten, auch bei dem 
bämmernden Morgen ed genau in Augenfchein zu nehmen 
vermochten. Es war ein einfacher Korbwagen, mit einem 
Paar Rappen befpannt und gelenkt von einem Mann, der 
in einen ſchwarzen Mantel gehüllt und mit einem totens 
fahlen Geficht und Knaben den Eindrud eines Märchens 
fürften oder wenigftend ben eines unheimlich großen 


286 Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier 


Erdenherrn machte. An feiner Seite faß unbeweglich ein 
blondes Mädchen etwa meines Alters in tiefem Trauer⸗ 
leid. Die Nüdfige des großen Holfteiner Wagens waren 
fortgenommen und durdy einen fchwarzverhüllten Gegen- 
ftand erfeßt, der fich als ein Sarg nicht verfennen ließ. 
Unbemerft folgten wir dem feltfamen Konduft, wie er in 
der Nähe des Edelhofes abbog, längs der Gartenmauer 
fih bewegte und auf diefem Hügel ftillehielt. Etliche 
Männer hielten bereits vor einem frifch gefchaufelten ®rabe, 
anfcheinend Dienftleute des Hofes, Doch meine ich unter 
ihnen mid) auch der Geftalt zu erinnern, welche die Herren 
Fräulein Muthchens Hausmeier tituliert haben, nur daß 
er dazumal in fnapper, fchulmeifterlicher Tracht und fogar 
mit einem flattlichen Zopf angetan war.“ 

„Ganz recht,” fiel der Hofrat ein; „er hat fich erft an 
dem Tage, von welchem Sie erzählen, junger Freund, den 
Zopf nicht etwa abgefchnitten, denn der Zopf ſteckt ihm 
heute wie damals im Geblüte, aber losgebunden und frei 
ald Lömenmähne um feine Schultern wallen laſſen; wie 
denn überhaupt der cherusfifche Geſchmack in ihm auf: 
gewacht ift, nachdem die fräntifchen Sieger ihm recht gründs 
lid) im Magen lagen.“ 

„Die Sonne”, fo fuhr Hermann fort, „ging in diefem 
Augenblid auf, hell und Mar, wie fie feit Wochen nicht 
gefchienen hatte. Das trauernde Paar flieg vom Wagen, 
ber Sarg ward heruntergehoben und ſchweigend verfentt. 
Das Gefinde entfernte fi) auf einen Wink des fchuls 
meifterlichen Anordners; das junge Mädchen fanf auf bie 
Knie, während der bleiche Herr im Trauermantel nebft 
dem im Zopf Schaufel um Schaufel die Grube füllte. 
Als das Werk vollbracht war, ftredite der, welchen ich den 


Sräulein Muthchen und ihr Hausmeier 287 


Bater nennen will, den rechten Arm in die Höhe wie zu 
einem Schwur. Seine Lippen bewegten fidy, was er aber 
ſprach, war fo leife, daß wir es nicht verftehen fonnten. 
Das junge Mädchen erhob fich, legte mit ruhiger Gebärde 
ihre Rechte in die feine und rief vernehmlich: ‚Sch ſchwoͤre 
es!“ Dann wendeten alle drei fich langfam dem Haufe 
zu; fie gingen dicht an und vorüber; der Kerr blidte finfter 
auf die fnabenhaften Zeugen. Die Dame fchaute und voll 
ins Geficht; ihre Züge waren jünger und zarter als heute, 
aber die nämlichen, Die ich vor einer Stunde auf den erften 
Blick wiedererfannte. Die Züge Fräulein Muthchens.“ 
„Shre Schilderung“, fagte der Hofrat, nachdem Her⸗ 
mann gefchloffen hatte, „fimmt genau mit denen überein, 
welche felbft in jener Zeit allgemeinfter Aufregung die 
Gemüter lebhaft befchäftigt haben. Wie die heimliche 
Szene eigentlic, fund geworden ift, weiß Gott. So etwas 
fliegt in der Luft. Die einen lächelten darob, die anderen 
fühlten fich zu Tränen gerührt. Der Major Kettenloß 
war einer von den wenigen Sachſen, der in dem Feldzug 
von 1806 den Sturz des gehaßten Imperators erwartet 
hatte. Wie er nun heimfehrt von der Doppelniederlage 
ded vierzehnten Oktober, die Seele zerwühlt durch die 
Eindrüde der allgemeinen, wüften Entmutigung, wie durch 
die Gewißheit des Übertritts feines Kriegäheren zu dem 
gehaßten Fremdling, findet er feine allezeit kränkelnde 
Gattin der Angft und Qual um ihr Eigenfted, wie um 
dad Allgemeine unterliegend. Alle teueren Bande find 
ihm mit einem Schlage zerriffen. Um ſich felbft und feinem 
einzigen Kinde die peinigende Erinnerung unauslöfchlich 
einzuprägen, fährt er bei Nacht und Nebel allein mit feiner 
Tochter die Gattin von Leipzig, wo fie geftorben war, nicht 


288 Fräulein Muthchen und ihr Haugmeier 


etwa in die Familiengruft, die fich auf einem anderen 
Gute befindet, fondern hier auf diefen Hügel, den der 
Bolfdglaube zu einem Hünengrabe ftempelt, das heißt zu 
einer Maffengruft jener foharmanten, fchiefäugigen Bars 
baren, welchen der Finkler in diefer Gegend den Garaus 
machte und das Ofterland für alle Zeit aus den Händen 
riß. Er, der Major nämlich, beftattet die Leiche in der von 
Ihnen beobachteten Weife und nimmt bei der Gelegenheit 
feiner Tochter das Gelübde ab, nicht früher einem Manne 
anzugehören, ald bis die Scharte des Vaterlandes aus- 
gewegt fein werde, und, notabene, auch dann nur einem 
folhen Manne, der fid an diefem bedenflichen Mords 
gefchäfte heidenmäßig beteiligt haben wird. Der Major 
war überhaupt, ich weiß nicht ob ein Don Quixote, oder 
im Ernft fo eine Art von Sato, ald welcher er fich darzu⸗ 
ftellen beliebte; jedenfalld ein exrzeffiv ungemütlicher Ge⸗ 
fel. Er zeigte fchon vor jener Kataftrophe die hale- 
ftarrigfte Verachtung des Sahrhunderts, deſſen aufflärenden 
Beruf wir anderen preifen. Seiner feiner Koryphäen fand 
Gnade vor feinen Augen, der einzige Alte Frik etwa aus⸗ 
genommen, und auch diefer nur ald Soldat und mit einem 
fauerfüßen Geficht, denn wie er auch den Germanen 
herausbeißen mochte, der Major blieb ein Sachſe und der 
Kris ein Preuße, das heißt Hund und Kate von Natur, 
junger Herr. Überall witterte er VBerweichlichung, Ent: 
artung und Verfall, felber — obgleich er ein Kenner war 
- in dem Aufblühen unferer Literatur und Kunft, mins 
deftens in deren Einfluß auf das deutfche Voll. Die Eins 
drücde der Franzöfifchen Revolution und der Rheinfeldzüge, 
an denen er teilnahm, konnten feine peffimiftifche Anlage 
nur verfchlimmern, Seit den Tagen von Raftatt fah er 


Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier 289 


Deutfchlande Untergang voraus, und feine Hoffnung auf 
Erfolge von 1806 muß eine Intonfequenz genannt werden, 
in welche auch folche ftarrföpfige Naturen, ja diefe erft 
recht, zu verfallen pflegen. 

„Diefem eigenfinnigen Eifenfrefler war ed nun aber bes 
fhieden, alles was Zärtlichkeit an ihm hieß, an eine Frau 
zu heften, fo weich und durdhfichtig, daß ein Lufthauch fie 
umblaſen fonnte und ſechs Söhne, die fie ihm ſchenkte, bald 
nach der Geburt wieder fterben zu fehen. Nur ihr leßtes 
Kind, ein Mädchen, fam fo lebensfähig zur Welt, daß an 
ihm eine heidenmäßige, fpartanifche Erziehung ing Wert 
gefeßt werden durfte. Der Anfang derfelben wurde mit 
dem Namen Erdmuthe gemacht. Die Mutter mochte den 
Aberglauben des Volkes teilen, nadı weldyem ein Kind, 
aus deffen Namen ſich das Wort ‚Erde‘ zufammenfegen 
läßt, gegen den Tod gefeit iſt. Den Vater beftimmte Die 
Zufammenfegung mit ‚Mut‘, die Eigenfchaft, welche er 
zuerft, ja einzig, am Menfchen fchäste. Man kann ſich 
der Berfuchung faum entfchlagen, den wütigen Heißſporn 
im Grunde feined Herzens für eine Memme zu halten. 
Denn wer führt das, was wirklich fein Lebensprinzip ift, 
bei jeder Gelegenheit auf der‘ Zungenfpige? oder wer 
fchäßt an anderen nicht zumeift dad, was er in ſich felber 
vermißt?” 

„Sie tun dem Manne unrecht,” fiel hier der Syndifus 
ein, „ich bin in den mannigfaltigften Beziehungen zu dem 
Major von Kettenloß gewefen, habe ihn aber niemals vor 
einer Gefahr zurückweichen, nie ein Unrecht begehen oder 
auch nur dulden fehen, fobald er ed zu hindern imftande 
war, habe ihn niemals eine Unwahrheit fagen, niemals 
fchmeicheln oder heucheln hören. Und das find doch wohl‘ 
® 


290 Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier 


die Kriterien eined angeborenen, nicht eines fich felber 
aufgedrungenen Muted. Was dahingegen die Erziehung 
feiner Tochter betrifft, lieber Freund, fo haben Sie redht: 
er fuchte die Eigenfchaften in ihr auszubilden, an deren 
Mangel er feine Generation krank wähnte Alle Welt 
theoretifierte ja dazumal über Erziehung. Die einen ver: 
langten Freiheit, ja Willfür, die anderen Ehrerbietung 
und Unterordnung; diefe Bildung zum Schönheitsideal, 
jene Natürlichkeit bis zur Unbildung. Unfer Major forderte 
Mut, pofitiven Mut, das heißt zunächft Kraft, auch bei 
den Frauen, den Müttern des Fünftigen Gefchlechts. 
„Das Feine Muthchen wurde daher von der Wiege ab 
nach der Möglichkeit abgehärtet, Fräftig genährt, kalt ges 
badetz; fie lernte früher fehwimmen und reiten als Iefen 
und fchreiben. Die leifefte Anwandlung von Zaghaftig- 
feit und Furcht, Efel oder Aberglauben wurde im Keime 
oft mit den härteften Gegenmitteln erftidt. Die Gegen- 
ftände ded Unterricht und feine Methode entfprachen 
fpäterhin diefem Fräftigen Syftem. In welchem Maße die 
weiche, zärtliche Wutter bei diefer Behandlung litt, ift 
nicht mit Worten auszuſprechen. ‚Was foll aus dem 
MWildfang werden?‘ hörte ich fie mehr als einmal lagen. 
‚Die erften Reize des Weibes, Sanftmut, Demut und 
Anmut, werden in ihr audgetilgt; fie wird niemals ges 
liebt werden, niemals einen Mann glüclich machen.‘ 
„„Wenn Männer Sklaven werben, müflen die Frauen 
fid) felbft regieren Ternen, pflegte ihr Gemahl mit 
finfterer Miene darauf zu antworten. Oder, wenn er 
einmal in freundlidy mitteilfamer Stimmung war, dann 
fagte er auch wohl: ‚Deine eignen Worte, Liebes Weib, 
firafen dich Lügen. Hat doch die Offenbarung unferer 


Fräulein Muthchen und ihr Haugmeier 291 


Sprache jene eure ureigenften Reize aus dem Mut ab» 
geleitet; ja felber der Schmerz in feiner edelften Er- 
fcheinung wird ald Wehmut weiblichen Geſchlechts. Euer 
Reich ift das Gemüt und fol es fein und bleiben. Aber 
auch das Gemüt fließt aus dem Mut, ja Herz und Mut 
haben, beherzt und mutig fein ift bei den Deutfchen, 
mindeftend im Hort der Sprache, die der Himmel behüten 
möge, noch ein und das nämliche. Gönne daher unferem 
Muthehen, dad und Tochter und Sohn zugleidy fein fol, 
ihren mutigen und fogar mutwilligen Sinn. Ihr Leben, 
heute noch ein Spiel, morgen wird's Ernft, und je herz- 
hafter fie es zu faflen weiß, um fo herzlicher wird fie eines 
Tages einem braven Manne angehören.‘ ” 

„Sn der Tat eine artige Galanterie unferer erften ges 
heimnisvollen Sprachfünftler,” fo unterbrady an dieſer 
Stelle der Hofrat den Erzähler, „eine artige Galanterie, 
daß fie dem gemeinfamen Stammvater Mut einen Kreis 
von lauter Lieblichen und Löblichen Töchtern und da⸗ 
gegen ald Söhne eine Schar häßlicher Unholde angeeignet 
haben.” 

„sch dächte, Armut und Schwermut wären juft auch 
feine Huldinnen,“ wendete der Syndikus lachend ein, 

„Aber doch rührende Genien.“ 

„Für den gutgelaunten Poeten, bei wohlbefegter Tafel! 
in der Wirklichkeit jedoch — —” 

„Keinenfalld von der feindlichen Sorte, die und Menfchens 
finder ald Mißmut, Unmut, Kleinmut, Wankelmut, Übers 
mut, Hochmut fchifaniert und turbiert.“ 

„Zugeftanden; und müflen wir für dieſe unhöfliche 
Laune unferer Grammatif und mit einer anderen widers 
wärtigen Stammesgenoſſenſchaft tröften, Die von der Selbft- 


292 Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier 


fucht bis zur Schwindfucht mit faum größerem Rechte 
ausſchließlich dem fchönen Geſchlecht vindiziert worben ift. 
Um aber zu unferem Major zurüczufehren, fo hielt er ſich 
ftatt an jene unartigen Sprößlinge in der Erziehung 
wenigftend an die wohlgearteten. „Es ift ein Zeichen der 
Schwäche an den Männern,‘ prägte er feinem Muthchen 
ein, ‚wenn fie die Schwächen der Frauen reizend finden. 
Die Frau in ihrem Gebiet braucht diefelben Kräfte und 
Tugenden wie der Mann, ja fie braucht fie Doppelt, denn 
fie hat mehr zu leiden und dad nämliche zu tun. 

„Das Schlachtfeld der Frau ift dad Kranfenbett, mag 
fie darauf liegen oder daran Wache halten, und wenn 
fie vor einem Blutstropfen in Ohnmacht oder vor einer 
Spinne in Krämpfe fällt, ift fie fo wenig dad, was fie 
fein fol, wie der Mann, welcher dem Feinde gegenüber 
die Flinte ind Korn wirft. Sie hat unparteilich unter 
denen, die ihr dienen, Recht zu fprechen, Ehre und Ord⸗ 
nung im Hauſe aufrechtzuhalten, und dazu gehört Mut. 
Sie fol ihre Kinder nicht nur ftillen und hätfcheln, fondern 
fie ziehen und züchtigen, und dazu gehört wieder Mut; fie 
fol ihnen im Notfall den Vater erfegen können, und dazu 
gehört Mut, großer Mut. Sie fol dem Freunde freimütig 
raten, dem Feinde großmütig vergeben, fo gut wie der 
Mann, und wie langmütig muß fie ald Gattin Launen 
und Schwächen bes Gatten tragen, wie heldenmätig der 
Roheit entgegenzutreten wiflen, wenn fie in ihrem Amte 
treu erfunden werden fol?‘ “ 

„Und welches ift ſchließlich das Schickſal dieſes außer⸗ 
orbentlicen Mannes geweſen?“ fragte Hermann, ber 
mit ben lebhafteſten Zeichen des Intereſſes diefen Mit- 
teilungen gefolgt war. 


Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier 293 


„Sie ftehben vor feinem Grabe,” antwortete der Syn⸗ 
dikus. „Seit jenen unglüdlichen Oftobertagen trug er 
den Todeskeim in fich; unter dem Eindrud des letzten 
mißglücten Widerftandes brady er zufammen. Er hatte 
felbftverftändlich unmittelbar nach Sachſens Beitritt zum 
Rheinbund den Militärdienft verlaffen und lebte feitdem 
auf diefem Gute, obgleich er reicher eingerichtete in ſchö⸗ 
nerer Lage befaß. Er redete fich ein, daß, wie ſchon mehr 
als einmal eine große Enticheidung zwifchen diefen Korn 
flächen im Herzen von Deutfchland erfolgt fei, aud) dies⸗ 
mal die Erlöfung fich in ihrem Umkreis vollbringen werde. 
Als fein zehrender Zuftand fchon bedenklich um fich ge- 
griffen hatte, wankte er noch immer jeden Mittag hinaus 
auf den Freienhügel, legte ſich, um ſich gleichfam auf die 
Grabesruhe vorzubereiten, ftundenlang nieder auf feinen 
erwählten legten Erbenplag unter der alten Eiche neben 
der Gruft der geliebten Frau. 

„Bei der Kunde von dem gefcheiterten Schillfchen Unter 
nehmen fteigerte fich fein Fieber zur qualvoliften Unruhe. 
Am Tage der Schlacht von Wagram fand man ihn tot 
auf diefer Stelle. Damit aber auch ber leßte Aft nicht 
ohne eine gewifle Abfonderlichkeit vor fich gehe, mußte 
feiner Anordnung zufolge fein Leichnam, gehüllt in den 
Trauermantel, den er feit dem Tode der Gattin getragen, 
ohne Sarg verfenft werden. Der Auflöfungsprozeß follte 
fich fo rafch als möglich vollziehen, und feine Atome follten 
dem alten Freiheitöbaume feines Volkes frifche Nahrung 
geben. Jeden Schmud feined Hügels, wie die Bezeich- 
nung mit feinem Namen Kettenloß hatte er unterfagt, fo- 
lange das Baterland in Ketten liege. 

„Kurz vor feinem Tode ließ er feine erft achtzehnjährige 


294 Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier 


Tochter mündig fprechen und jedem beauffichtigenden 
Kuratorium entziehen. Meine Einwände gegen dieſes 
gewagte Vertrauen bei des Fräuleind Tugend und einem 
fo vielfeitigen Befiß wies er mit den Worten zurüd: 
‚Sie foll eine ftarfe Aufgabe haben, um der VBerwaifung 
an Eltern und Vaterland nicht zu unterliegen.“ Und er 
hat das Kind nicht überfchägt. Fräulein Muthchen hat 
fi) ihrer Aufgabe gewachſen erwiefen wie der tüchtigfte 
Mann, freilich aber auch an ihrem Faftotum, dem Haus: 
meier, eine Stüße gehabt, wie feine zuverläffigere gefunden 
werden konnte.“ 

„Wer ift denn nun aber eigentlicd; dieſes wunderliche 
Faftotum von einem Hausmeier?“ fragte Hermann zum 
Schluß. 

„Der frühere Erzieher des Fräuleing, feines Zeichens 
und Namens Magifter Polyfarpus Storch, oder in feine 
gegenwärtige Mundart überfegt: Meifter Vielfraß Storch. 
Als Sohn eines Predigerd auf einem Kettenloßfchen Gute 
war er ded Majord Tugendgefpiele und wurde durch 
die Sympathie der Franzofenfreflerei fein Freund. Im 
übrigen, troß feiner Monomanie oder wenn Sie wollen 
Narretei, ein Mann, der Kopf und Herz auf dem redhten 
Flecke trägt, der für feine Zöglingin durchs Feuer ginge 
und ihr die erfprießlichiten Dienfte leiftet als Rentmeifter, 
Baumeifter, Wirtfchaftsinfpeftor oder, wie er felber es 
benamfet, ald Hausmeier und Vogt der Edel» und Siedels 
höfe feiner Gebieterin, des Freifräuleing Erdmuthe von 
Kettenloß.” 7 

„Das wäre ein Paar, deflen Bekanntſchaft ich machen 
möchte!” rief der Student. - 

„So laffen Sie uns einen Beſuch auf dem Siedelhofe 


Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier 293 


abſtatten,“ verſetzte der Hofrat; „die geſtrige Kriegsſzene 
vor feiner Tür und unſer zerbrochener Wagen find ein 
hinlänglicher Vorwand, und Ihr raffelnder Säbel wird 
eine treffliche Empfehlung fein. Kommen Sie, junger 
Freund. Ich führe Sie bei Fräulein Muthchen und ihrem 
Hausmeier ein.” 

„Sc werde indeflen nach unferem verunglüdten Fuhr⸗ 
werf ſehen, deffen Herftellung ſich über Gebühr verzögert. 
Sobald es heil ift, hole ich die Herren bei Fräulein Muths 
chen ab,” fagte der Syndikus, fid) empfehlend. 

Die beiden anderen fchlugen den Weg nad) dem Hoftor 
ein. Der Hofrat meinte lachend: „Hüten Sie fich nur, 
daß Sie von der Schönen und ihrem Leibnarren nicht 
eingefangen und fo en passant für den Dienft der Freiheit 
gepreßt werden, Sie deutfcher Schwärmer!” 

„Das Befte, was ich mir wünfchen fönnte!” entgegnete 
Hermann, gleichfalls lachend. 


Der Hausmeier und Vogt des Freifräuleind Erdmuthe 
von Kettenloß, den man im Hofe über der Probe einer 
Feuerfprige antraf, fchien dem dichtenden Serrn Hofrat 
nicht fonderlich grün zu fein, denn er würdigte ihn faum 
eined Gegengrußed, während er den frifehblühenden Stus 
denten mit fichtbarlichem Wohlgefallen betrachtete. Als 
der ältere Herr, unbekeidigt durch die teutonifche Grobheit, 
den Studiofug juris Hermann Wille vorftellte, fragte er: 

„Hermann Wille! Ein Sohn des weiland biderben 
Pfarrherrn David Wille zu Studnig im Leipziger Kreiſe?“ 
Hermann bejahte die Frage, und der Alte fuhr fort: 

„Dahero ein Bruder des Plagmeiftere Wille, welcher 
ald Beigeordneter des fächfifchen Befehlshabers den tapfer 


296 Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier 


ren Welfenherzog in diefen Gauen fchmählid, behelligt 
hat.“ | 

„Sa, mein Herr,” antwortete Hermann, ein Lächeln 
unterdrüdend. „Leutnant Wille, der damalige Adjutant 
unfereds Kommandanten von Torgau, General Thieles 
mann, ift mein Bruder.” 

„Keine derartige Babelverwirrung in Eurem Munde, 
junger Mann,” verwies der Hausmeier. „Säubert das 
Heiligtum Eurer Sprache. Teutfhe MWürdige an die 
Stelle fränfifcher Maulhelden! Fort mit dem welfchen 
Mummenfchanz! Keinen Leutnant, feinen General! Ein 
teutfcher Plaßmeifter, ein teutfcher Feldmeifter über dem 
teutfchen Wachtmeifter, neben dem teutfchen Hauptmann 
und OÖberften, um fräntifche Unzucht über die teutfche 
Scheide hinaus zu jagen! Anjeto die zweite Frage: 
Warum dient der Sohn eines teutfchen Mannes unter 
den Söldlingen des Unterdrückers?“ 

„Weil er feinem Kriegsheren Treue gefchworen hat, 
Herr Magifter,” verjeßte Hermann. 

„Barum fchwur er ihm Treue, da er frei und jener 
von der Bergögung geblendet war? Warum entfleucht er 
nicht heute unter das Banner feiner teutfchen Brüder?“ 

„Sie predigen Emeute, teutfcher Mann!” rief der Hof: 
rat, während Hermann fchwieg. 

Der lange, hagere Magifter Story warf einen grim⸗ 
migen Blid auf den furzen, rundlichen Franzofenfreund, 
fuhr jedoch, ohne fidy ftören zu laffen, gegen den Stu- 
denten gewendet fort: „Und Shr, junges Blut, tragt 
Shr ein teutfched Schwert zu eitlem Prahl? Wie lange 
wollen teutfche Sünglinge ihren Müttern noch müßig in 
den Kloßtopf guden? Iſt ed an der Zeit, über den Geſetz⸗ 


u 


Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier 297 


büchern des ausländifchen Altertums zu Fauben, derweil 
dad Recht Eured Vaterlandes mit Füßen getreten wird! 
Fort mit den Grübelfängen! Feuerfchlünde find die Löfung! 
Auf, Hermann! fein teutfcherer Name! Auf, Wille! fein 
teutfcherer Seelenfinn! Auf, Hermann Wille; Teutfchlande 
große Stunde hat ausgehoben!“ 

Nach diefem Aufruf, der von der Feuerfprige, wie von 
einem Katheder herab, umringt von gaffenden Knechten 
und Mädchen, unter dem begleitenden Geblöf der heim⸗ 
fehrenden Schafherde gedonnert worden war, gab Magifter 
Polykarpus Stordy noch einen mächtigen Waflerftrahl zum 
beften, vor welchem die beiden Befucher Iachend nach dem 
Haufe flüchteten. Ein Diener in einfachem, bürgerlichem 
Anzug wies fie in ein Gemach, das geräumig, gewolbt, mit 
gebräuntem Eichenholze ausgelegt und ausgeftattet war, 
aber wie die Gärten jeglicher Zierat und felber der Bes 
quemlichkeit von Teppichen und Polftern entbehrte. Das 
Fräulein, das augenblicklich befchäftigt fei, follte hier ers 
wartet werden. 

Sie fanden ben alten Prediger des Dorfes vor, einen 
Bekannten ded Hofrats, und erfuhren von ihm die geftrige 
friegerifche Einleitung in aufflärendem Zufammenhang. 
Während diefer Mitteilungen trat Fräulein Erdmuthe ein 
mit heiterem Anftand und von der Bewegung geröteten 
Wangen. | 

Der Hofrat eilte ihr entgegen, unter zierlicher Verbeus 
gung ihre Hand an feine Lippen führend und fichtlich felbft 
befriedigt von einem Smpromptu, in weldyem Mademoifelle 
Courage als deutfche Chriemhild gefeiert ward. Die denf- 
würdige Begegnung auf dem Freienhügel war damit aufs 
Tapet gebradit. 


298 Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier 


„Sch fah Shren Helden nicht zum erftenmal,” verfegte 
das Fräulein ruhig, „War ich doch zufällig in Shrer 
Stadt, Herr Hofrat, ald er fie im Fluge berührte nach 
dem fohmachvollften Frieden, der jemals in Deutfchland 
gefchloffen worden ift, und heute noch fühle ich eine bren- 
nende Scham in der Erinnerung an jene weißgefleide- 
ten Sungfrauen, arglofe Kinder, die von ihren Vätern und 
Müttern dazu hergegeben worden waren, den Triumphator 
mit Blumenfetten feftzuhalten und ihn huldigend zu bes 
grüßen mit Gemeinplägen in ftocdender Sprache, welche 
die Kinder felbft nicht verftanden, und der, welchen fie 
ehren follte, nody viel weniger verftanden haben würde.” 

Der Herr Hofrat ſchlug einigermaßen verlegen die 
Augen nieder. Er war von feinen Mitbürgern ald Dichter 
jener ſchwungvollen franzöftfchen Huldigungsverſe, Die 
Fräulein Muthchen Gemeinpläge nannte, bezeichnet, fagen 
wir gepriefen worden, obgleich er die Autorfchaft päterhin 
verleugnet hat, die Verſe auch nicht in feinen gefammelten 
Werfen aufgeführt find. 

„Es gefief mir an Ihrem Helden,” fo fuhr Fräulein 
Muthchen während diefer unferer Parenthefe fort, „daß er 
den Fnechtifchen Empfang nicht annahm, die huldigende 
Abficht durch feinen freundlichen Blick lohnte und, während 
fein Mamelud vom Bode herab das Publifum mit Knuten⸗ 
hieben auseinandertrieb, fonder Gruß mit der Sturmes- 
eile feiner acıt Roffe von dannen ftob, verfolgt von dem 
Blumenregen der jubelnden weißen Kinder, 

„Und dann fah ich ihn wieder, es find jeßt vier Monate, 
im Morgengrauen einer bitterfalten Dezembernadt. Ein 
Pferd vor feinem Schlitten war nahe meinem Tor auf der 
glatten Schneebahn geftürzt und ber Poftillion gekommen, 


ww 


Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier 299 


es big zur Stadt durch eines der meinen zu erfeßen. Er ahnte 


nicht, für wen er die Aushülfe in Anfpruch nahm, und 
ebenfo ahnungslos begleitete ic, ihn, in der Abficht, einem 
bei der nächtlichen Fahrt Durchfälteten während des Auf: 
enthalts einen erwärmenden Trunk anzubieten. Und ich 
erfannte den bleichen, in fidy verfunfenen Mann auf den 
erften Blid, ein Marmorbild heute wie damals und faum 


ein Wechfel zwifchen den Mienen des Siegerd und denen 


des DVernichteten. Aber mid) erbarmte des Mannes, der 
den graufigen Untergang einer Million von Menſchen⸗ 
leben auf feinem Gewiſſen hatte, und ich flehte zu Gott, 
daß er feiner Seele gnädig fein möge. 

„Heute aber, wo er mir aufgerichtet zu neuen Frevel: 
taten gegenüberftand, Auge in Auge, in folcher Nähe und 
Ruhe, heute zitterte ich, und ich — —” 

„Geftehen Sie es nur, mutige Chriemhild,“ fiel der Hof⸗ 
rat lächelnd ein, „geitehen Sie ed nur: hätten Sie einen 
Dolch in Shrem Gürtel getragen, ein Schwert unter dem 
faltigen Gewand, fo würde Deutfchland eine Sudith oder 
Corday zu verherrlichen haben.” 

„Heiland der Welt, welch ein verbrecherifcher Scherz!” 
rief erbleichend der alte Pfarrer, das Fräulein aber ent- 
gegnete ruhig, indem fie den Spötter mit einem Blicke 
tiefer Verachtung maß: 

„Und was bliebe denn euch Männern, wenn die Weiber 
eure Tyrannen meuchlings ermorden wollten?” 

Der Hofrat brach den mißlichen Gegenftand ab, indem 
er feinen Reifeunfall erzählte und der Dame feinen jungen 
Begleiter vorftellte. Sie begnügte ſich mit einem flüchtigen, 
ftummen Gruße gegen ihn und wendete ſich dann raſch 
zu dem Prediger, dem fie mit den Worten die Hand reichte: 


800 Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier 


„Daß ich über dem böfen Feinde den werten Freund 
verfäumen mußte! Sch habe Sie warten laſſen, Herr 
Pfarrer - -“ 

„Sc wartete gar gern, Fräulein Erdmuthe, von biefem 
Fenfter aus Zeuge Ihres gefchäftigen Waltens,“ verfeßte 
der alte Herr. „Die Sorge um Sie, nad) der geftrigen 
Schredensizene, hat mid, heraufgetrieben.” 

„Nun, wir find ziemlich heil dDavongefommen, wie Sie 
fehen, und dad Dorf im Tal ift ja, gottlob! völlig uns 
berührt geblieben. Wenn Sie mich aber etwa von hier 
fortnötigen wollen, alter Freund, fo fparen Sie fid, die 
Worte; fie würden vergeblich fein.“ 

„Sc weiß e8, denn ich fenne Sie,” verfegte der Pfarrer. 
„Ein Wunſch jedoch liegt mir noch auf dem Herzen — -“ 

„Friſch heraus!“ rief das Fräulein munter. „Warum 
ftoden Sie? Was foll ich, was kann id — —“ 

„Helfen wie immer, edle Erbmuthe; die Brüdergemeinde 
in Herrenhut, der Ihre felige Frau Mutter fo von Herzen 
zugetan war, hat den edlen Salinendireftor von Harden⸗ 
berg und mich durch ihn mit einer Sammlung beauftragt, 
zum Zweck der Ausrüftung etlicher opferwilliger Send- 
boten, die das Licht des Evangeliums an den eifigen Pol, 
in Grönland Steppen, unter verwahrlofte Menfchentinder 
zu tragen bereit find. Ein Scherflein für die heiligite 
Sache, fromme Erdmuthe.” 

Sie ftand eine Weile fchweigend, mit niedergefchlagenen 
Augen, dann entgegnete fie ernft: „Das Nein wird mir 
fchwer, um des Andenfend meiner Mutter willen, um 
Hardenbergs und aud um Shretwillen, verehrter Freund, 
aber ich habe fein Geld.“ 

„Erbmuthe!” rief der Paftor vorwurfsvoll. 


Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier 301 


„Nein, ich habe Fein Geld,” wiederholte fie entfchieden. 
„Keines für diefen Zweck. Jetzt nicht; vielleicht fpäter. 
Sch weiß, was Sie fagen wollen. Sch bin reich, aber zu 
arm für unfere Not. Das Nächte voran bei allem Tun, 
auch beim Wohltun. Heißen Sie Ihren opfermutigen 
Sendlingen ihrem Baterlande zum Frieden helfen durch 
das Schwert, und kommen Sie zu diefer Augrüftung in 
mein Haus, alles was ed enthält, wird Ihnen zu Gebote 
ftehen. Erft den armen Lazarus vor der eigenen Tür, 
dann den Bedürftigen vor der fremden. Der arme Las 
zarus aber vor unferer Tür, das ift das bdeutfche Volk, 
dag mit Schmad; und Wunden bebedte, an feinen Sünden 
franfe, mißhandelte deutfche Voll. Bis es heil und frei 
geworden, feine Ruhe Tag und Nacht; unfer Dichten und 
Trachten, unfer Darben und Sparen, Gebet und Arbeit 
für dieſes Volk, den legten Heller, den lebten Biffen für 
unfer Bolt.“ 

Alle ftanden bewegt dem eifrigen Mädchen gegenüber, 
deſſen reine Züge ein ſchräg in das dunfle Zimmer fallens 
der Strahl der untergehenden Sonne verflärte. Aus dee 
Predigerd Blicken ſchwand die Empfindlichkeit, der Sars 
fadmus von den Kippen des Dichterd. Hermanns Augen 
füllten fid) mit Tränen. „Den letzten Blutstropfen für 
unfer Volk!“ rief er, als fie geendet hatte, indem er übers 
wältigt zu ihren Füßen ftürzte. 

Das Fräulein blickte mit warmer Freude zu ihm nieder, 
reichte ihm dann die Hand, um ſich zu erheben, und fagte 
nad kurzem Sinnen: „Wir fehen und, wenn mir recht 
ift, nicht zum erften Male.” Und ale Hermann fich zu⸗ 
ftimmend verneigte, fuhr fie fort: „Sa, ja, nun weiß ich 
Beſcheid. Sie fanden, nody ein Knabe, am Grabe meiner 


902 Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier 


Mutter, Sie hatten Tränen im Auge und trugen Trauers 
leider wie ich.“ 

„Sch hatte meinen Vater verloren,” verfeßte Hermann 
und erzählte darauf, von ihrem freundlichen Anteil er- 
mutigt, daß er heute zum erften Male wieder diefes Weges 
gefommen fei, um die Zuftimmung feines Vormundes zu 
dem Entfchlufle, der deutfchen Sache unter Lützows Banner 
zu dienen, und ein Fleined väterliches Erbteil zum Zwecke 
feiner Ausrüſtung einzuholen. 

Der Pfarrherr nahm nad) diefer Mitteilung warnend 
das Wort. = 

„Ihr Entfchluß kommt zu früh,” fagte er. 

„Er fommt zur rechten Stunde,” wendete das Fräulein 
ein. 

„zu rechter Stunde!” befräftigte der Student. 

„Nicht alfo, junger Mann,” entgegnete der reis. 
„Ihr Bormund, mein lieber Amtöbruder, ift mein Freund. 
Sch darf in feinem Namen reden. Noch ift Shr König 
Franfreich8 Bundesgenofle — —“ 

„Und Ihres Baterlandes Widerpart,” rief Erbmuthe. 

„Sie find ein Sachſe, Hermann Wille,” gegenredete der 
Prediger. 

„Sch bin ein Deutfcher!” fagte der Student. 

„Shr Bruder ift fächfifcher Offizier; wollen Sie ein 
Brudermörder werden?” 

„Sol er müßig und feige fein Baterland morden 
fehen?” fragte das Fräulein. 

„Er fol warten, bis Gott entfchieden hat,” verfeßte 
der Pfarrer. | 

„Bis es zu fpät ift,“ rief Erbmuthe, „bis die große 
Sache an Heinlichen Bedenken gefcheitert it. Wehe über 


Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier 308 


und, daß feiner, ja feiner mit reiner Band und freiem 
Herzen diefer Sache dienen darf! Schlingen hier und 
MWiderhafen dort! E8 gilt einen Entfchluß, eine rafche 
Tat! Keiner darf zögern, feiner fich entziehen. Nicht der 
Köchfte, nicht der Geringfte; nur alle vermögen’s. Alle 
müffen fühnen, was alle gefündigt. Stehen alle zu- 
fammen - —“ 

„Und fteht Gott wider euch, was hilft euer Rennen 
und Sagen?” wendete der Prediger ein. „Hören Sie ein 
Beifpiel, das in einer Chronif diefer Gegend aufgezeichnet 
iſt.“ 

„Paßt es auf unſeren Fall?" fragte Fräulein Muthchen 
einigermaßen bedenklich. 

„Es iſt wie für ihn geſchaffen,“ verſetzte der geiſtliche 
Herr. 

„So teilen Sie es mit.“ 

„Vor vielen, vielen Jahren ereignete ſich mitten im 
Maimonat, als die Fluren ſchon grün und die Bäume 
voller Blüten waren, ein gewaltiger Schneefall, ſchier wie 
ein Wunder. Etwelche gottlofe Leute zeterten und fluchten 
ob ihrer vereitelten Hoffnungen. Sie fchüttelten Den Schnee 
von ihren Bäumen, fegten ihn von ihren Feldern und 
glaubten ſich geholfen zu haben, weil fie das Übel ver- 
ſchwunden fahen. Allein, fiehe da! nach wenigen Tagen 
ftanden ihre Saaten erfroren und ihre Reifer fahl, während 
die ihrer gelaffeneren Nachbarn, unter der rauhen Dede 
gefchügt, in Üppigfeit fproßten und weiterblühten.“ 

„Der Schnee fchmilzt, aber Ketten müflen gebrochen 
werden,” unterbrad; ihn das Fräulein ungeduldig. „Der 
Natur follen wir und unterwerfen. Gegen Menfchen 
haben wir einen Willen.” 


304 Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier 


Raſcher Hufſchlag vom Hofe herauf machte ihre Rede 
ſtocken. Alles ſtürzte an die Fenſter. „Der General!“ 
rief das Fraͤulein mit einem jachen Erroͤten. Sie eilte nach 
der Tür, durch welche in der nächſten Minute, von Ma⸗ 
gifter Story eingeführt, ein Militär in großer ruffifcher 
Uniform, die Bruft mit Orden und Ehrenzeichen bededt, 
in das Zimmer trat. Der nämliche, der längere Zeit der 
Quartiergaft diefed Hauſes gewefen war. 

„Sch komme, Sie zu warnen, Gnäbdigfte,” fagte er, ins 
dem er ded Fräulein Sand an feine Fippen 309. „Sat 
ed geftern vorgefpuft, bald, vielleicht morgen fchon fommt 
es ernfthaft zum Klappen. Ihr Gut, Shr Leben vielleicht 
find bedroht.” 

„Dank, Erzellenz," verfegte Erbmuthe herzlich, aber 
ruhig. „Gott mag ed gnädig fügen.” 

„Aber Sie, Erzellenz, Sie find in Gefahr,“ flüfterte 
heranfchleichend der alte Pfarrer. „Er, der Kaifer, ift in 
der Nähe, faum eine Stunde, daß er in diefer Gegend 
refognofzierte.“ 

„Sch weiß es, würbdiger Kerr,“ antwortete laut ber 
Öeneral. „Indeſſen auch wir refognofzieren, und Koſaken⸗ 
pferde traben raſch.“ Gegen die Dame gewendet, fegte 
er darauf hinzu: „Wer mag fagen, nadı welcher Richtung 
die nächfte Stunde ung treibt? Doch mochte ich nicht ohne 
Lebewohl aus der Nähe eines Hauſes fcheiden, deſſen edle 
Gaftfreundfchaft mich nahezu mit meinem einftigen Vaters 
lande ausgeſöhnt hat.” 

„Erzellenz find, wie Ihr Name allerdings anbeutet, ein 
geborener Deutfcher?” fragte der Hofrat, der den General 
flüchtig hatte fennen lernen und den Verkehr mit berühms 
ten Leuten, wenn fie auch Feinde hießen, hochhielt. 


Sräntein Muthchen und ihr Hausmeier 08 


„Sch war ein Deutfcher, bevor ich mich fchämen mußte, 
ed einzugeftehen,” erwiderte der General mit einem fcharfen 
Bli auf den Dichter. 

„Und an dem Tage, wo Sie fi nicht mehr fchämen 
werden, es einzugeftehen, werden Sie dann wieder ein 
Deutfcher fein, Exzellenz?“ fragte dad Fräulein. 

„Mein,“ antwortete der Herr; „ich habe ein mächtiges 
und einiges Reich ald Vaterland fchäten lernen, und mächtig 
und einig wird Deutfchland niemals werden, auch wenn 
eö fich mit unferer Hülfe von feinen gegenwärtigen Ketten 
befreit.” 

Es entftand eine Paufe, in welcher feiner eine gewiſſe 
Bewegung zu bergen vermochte; am wenigften Erdmuthe, 
welche die Augen zu Boden gefchlagen hatte und nicht rot, 
fondern bleicdh geworden war. Doch war fie bie Erfte, die 
fid; zu einer Wendung des Gefpräches fammelte und fogar 
mit einem Anflug von Schelmerei auf ihren Hausmeier 
beutend fagte: „Sc merfe ed meinem alten Freunde an, 
daß eine Anklage auf feinem Herzen brennt. Eine Ans 
Fage wider Ihre neuen Landsleute, Erzellenz. Bringen 
Sie Ihre Sache an, Vater Storch. Ich werde zeugen.“ 

„Und ich hören und richten,” - verfegte Tächelnd ber 
Beneral. | 

Magifter Polykarpus Stord, trat dem ruffifchen Herrn 
mit gemeflenen Schritten gegenüber und hob mit feiers 
fichftem Ernfte an: 

„Hoher Feldmeifter! Sch hielt heute morgen im Geleit 
meiner edlen Gebieterin einen Umritt über das Kampffeld 
des geftrigen Tages, in der Abficht, nach Verwundeten 
auszufpähen, welche etwa am Wege oder in den Dörfern 
ohne Pflege liegen geblieben feien. Da, jach wie ein 
® 


306 Fräulein Muthchen und ihr Haugmeier 


Wetter, fielen zwei Mitglieder Eurer unregelmäßigen 
Söldnerfchar, hoher Feldmeifter, gleichwie eine Räubers 
bande über mich her. Sie zerrten dad Schuhwerk von 
meinen Füßen und trafen Anftalten, mic) noch anderweitig 
zu entblößen, dafern nicht diefed edle Fräulein voller 
Mutes herangeiprengt wäre, das Schwert an meiner 
Linken aus der Scheide gezogen und die Süffbuben in die 
Flucht gefcheucht hätte.“ 

„Zapfere Amazone!” rief der General herzlich Tachend. 

„Es Fam nicht zum Blutvergießen, Exzellenz!“ verſetzte 
das Fräulein gleichfalls Tachend. „Ihre beiden Helden 
fegten davon gleich Sn beim bloßen Anblicf meiner 
graulichen Figur.” 

„Sie werden Sie für einen rächenden Engel gehalten 
haben,” fagte der General galant, und Magifter Stordy, 
welcher die Schlußfolgerung feiner Anklage noch nicht 
gezogen hatte, fuhr fort: 

„Es ift nicht um den Verluft meiner Schuhe, hoher 
Feldmeifter. Wir haben deren zu Hunderten in unferen 
Truhen bereitliegen, und nicht bloß Schuhe; hohe Stiefel 
von ftarfem Rindsleder, mit Zwecken befchlagen, desgleichen 
Hemden und Fußlappen, fo in den Sahren des Harrens 
für unfere Befreier gefertigt worden find. Befehlen der 
hohe Kerr, fo wird ein etwaiger Bedarf für den eigenen 
Leib ihm ohne Säumen ausgeliefert werden. Desfelbigen- 
gleichen würde es mir, fäme es darauf an, ein leichtes 
fein, nicht nur barfüßig, fondern in noch weiter mangeln- 
ber Bekleidung ald Verfolger hinter dem welfchen Feinde 
bis in fein gottlofes Babel drein zu traben. Ich bin fein 
MWeichling, edler Feldmeifter. Es ift Iediglich um das 
Recht und um die Zucht. Der Dienft der heiligen Preis 


Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier 307 


heit in teutfchen Bauen foll nicht mit Straßenraub feinen 
Anfang nehmen.” 

Magiiter Storch hatte geredet; die Zuhörer lachten, und 
das Krimen des Straßenraubd fchien ald Späßchen im 
Sande zu verlaufen. Fräulein Muthchen fühlte fich jedoch 
bewogen, die Anflage ihres Hausmeiers wieder aufzus 
nehmen. 

„Er hat recht, Exzellenz,“ fagte fi. „Es ift ein Beis 
fpiel von vielen. Wir geben willig unfere Stiefeln, aber 
wir wollen unfere Schuhe und nicht nehmen laſſen.“ 

„Der Herr Magifter wird feine Schuhe wieder erhalten 
und der Koſak die Knute,“ entichied der General. 

„Die Knute?“ rief das Fräulein purpurrot. 

„Die Knute!” wiederholte der andere, 

„Wir begnügen und mit den Schuhen, Erzellenz.“ 

„Schuhe und Knute find nicht zu trennen, Fräulein.” 

„So verzichten wir auf Dir Schuhe und Erzellenz auf 
die Knute.“ 

„Herr Storch erhält: feine Schuhe und der Kofaf bie 
Knute.“ 

Das Fräulein war an das Fenſter getreten. Eine zweite 
Paufe entftand. Der ruffifche Herr unterbrach fie mit den 
Worten: 

„Es tft Zeit zum Aufbruh. Für Sie zunächſt, Gnäs 
bigfte. Suchen Sie heute noch Leipzig zu erreichen.“ 

„Sof und Herd verlaffen, Gott bemwahre mich!" ver: 
fette das mutige Fräulein. 

„Eine Dame allein in diefem einzelnftehenden Haus! 

— ich wiederhole Ihnen, Sie find bedroht.” 

„Nicht mehr bedroht, Exzellenz, ald meine Shafiehnnen 
und Mägde oder die Weiber meined Dorfs. Sch bleibe.” 


808 Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier 


„Sochherziges Kind!” rief der General, indem er der 
Dame zum Abfchied die Hand drüdte. „Sie hätten eines 
Soldaten Frau werden follen.“ 

„Sp Gott will, werde ich audy noch eines Soldaten 
Frau, Erzellenz,” fagte das Fräulein. 

„Ihr Ernft, Freiin von Kettenloß?“ 

„Mein ernftlicher Wunſch, Herr General.” 

„Sch nehme Sie beim Wort, fchöne Erbmuthe. An 
dem Tage, wo ich Ihnen freier ald heute gegenübertreten 
d arf __a 

„Das heißt: an dem Tage, mo ein deutfcher Mann fidy 
nicht mehr ſeines Vaterlandes zu fohämen braucht und 
ein deutfched Mädchen ohne Erröten einem beutfchen 
Manne ins Auge bliden darf — -“ 

„An dem Tage wollen Sie einem braven Soldaten bie 
Werbung geftatten?” 

„An dem Tage werde ich einem braven deutfchen 
Soldaten meine Hand reichen.” 

„Topp! Scylagen Sie ein. Ich halte Sie beim Wort, 
Erdmuthe.” 

„Sc fchlage ein und halte mein Wort, General.” 

Hermann hatte während dieſes Zwiegefpräds in leb⸗ 
haftem Kampfe geftanden. Als jetzt der Ruſſe nach der 
Tür fchritt, trat er ihm entfchloffen in den Weg und ſprach: 

„Ich war im Begriff, Exzellenz, unter Major Luͤtzow 
preußifche Dienfte zu nehmen — —“ 

„Kalten Sie ein, junger Mann,” unterbrady ihn der 
Pfarrer, indem er feine Hand ergriff. „Noch find Sie 
nicht Shr eigner Herr. Ihr Bormund — —“ 

„Shr Herz ift Ihr VBormund, Hermann Wille!“ rief 
das Fräulein. „Laſſen Sie ſich nicht beirren. Die Stunde 


Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier 309 


drängt. Nehmen Sie mein Pferd. Folgen Sie dem 
General.“ 

„Holgen Sie mir, mein Herr,” fagte der General. 
„Rußland und Preußen fämpfen unter einem Banner. 
Sch nehme Sie mit doppelter Freude in unferen Dienft 
als einen Rekruten, den Fräulein Erdmuthe für die Sache 
der Freiheit geworben hat.” 

„sch folge Ihnen, mein General,” fagte der Student. 

„Gott befohlen!” rief das Fräulein, feine Sand druͤckend. 

In wenigen Minuten fprengten General und Rekrut _ 
aus dem Tore. Die drei Zeugen des Paktes waren ihnen 
gefolgt und blickten ihnen nach, bis fie gen Süden hin 
ihren Augen entfchwunden waren. Da juft der zerbrochene 
Wagen auf der Straße fidy näherte, empfahl ſich auch der 
Hofrat, um die Heimreife fortzufegen. 


Am anderen Morgen, dem erften ded Wonnemondeg, 
war der Hausmeier aus dem Siedelhofe verfchwunden. 
Die Dame wußte, wohin es ihn gezogen hatte. Es war 
ein Tag der Spannung, wie fie noch feinen erlebt; ein 
Tag der Probe. Draußen Gewühl und Bewegung; inner 
halb der alten Mauern aber alles ftill und in gewohnten 
Öang. 

Sn unabfehbaren Reihen zog die franzöfifche Armee 
den Ebenen von Leipzig zu, in denen die Entfcheidungs- 
fchlacht erwartet wurde. Bon ihrer Warte aus fah Fräu- 
lein Erdmuthe den Kaifer, an der Spike des Korps von 
Mey, die Straße vom Tale aufwärts reiten. Kaum daß 
er ihren Augen entfchwunden war, drang ein lebhaftes 
Feuer aus der jenfeitigen Wiederabfenfung herauf. Ein 
Zufammenftoß hatte ftattgefunden. War es mit dem vors 


310 Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier 


gefchobenen ruffifchen Korps, an deſſen Spitze der erfte 
Mann ftand, welcher Erbmuthe den Eindrud eines Helden 
gemacht? mit dem Korps, dem fie einen deutichen Re⸗ 
fruten geworben hatte? Das Getümmel wogte aufwärts 
bis auf ihren eigenen Grund; fie hätte die Kämpfenden 
unterfcheiden können; aber die Kugeln fauften um fie her, 
fie mußte ſich in dad Haus zurüdziehen. 

Sn ſolchem Spannen werden Minuten zu Stunden; 
noch aber war feine wirffiche Stunde abgelaufen, als eine 
Bahre in den Hof getragen und ein Schwerverwundeter 
zu ärztlicher Unterfuchung in die Wohnhalle niedergelaffen 
wurde. Mein, nicht ein Verwundeter, ein Toter. Er: 
fchüttert blidte Erdmuthe in die ftarren Züge des Mannes, 
der geftern, dem Kaifer zunächft, ihr in aller Lebenskraft 
gegenübergeftanden hatte. 

Wieder eine Stunde fpäter, und mit einem Leintuche 
aus Erdmuthend Truhen verhült, in ihrem eigenen ges 
fchloffenen Wagen wurde die Leiche des Herzogs von 
Sftrien aus dem Hofe gefahren; das erfte große feindliche 
Opfer in dem Ringfampfe um Deutſchlands Befreiung, 
und eines der edelften! Daß fein Begegnen die heran⸗ 
ziehenden jungen Truppen nicht als fchlimmes Vorzeichen. 
wanfend mache, wurde langfamen, mühfamen Schrittes: 
ein Seitenweg nach der Stadt eingefchlagen. Der erfte 
Feind im Siedelhofe war ein Toter. 

Aber nicht der legte. Kaum daß das fich in die Ferne 
ziehende Gefechtöfeuer verhallt war, lange bevor der Tag 
fich neigte, lag dad Gut, dad Dorf, lagen alle Anfied- 
lungen im weiten Umfreis mit feindlichen Truppen über: 
füllt. Szene auf Szene drängte fi. Erdmuthe hatte 
nicht mehr Zeit, zu finnen und zu raften. 


Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier 311 


Mit grauendem Morgen zogen die Franzoſen ab; andere 
folgten vom Tale herauf, am Gute vorüber, weiter gen 
Often. Gegen Mittag aber wurde die Straße ftill, nur 
in des einfamen Mädchend Bruft Flopfte das Herz zum 
Zerfpringen. | 

Es war ihres Vaterd Geburtstag, der zweite Mai; 
wann würde fie einen Kranz auf feinen Hügel legen, ein 
Kreuz mit dem Namen Kettenloß darauf errichten Dürfen? 

Sie flieg zum Freienhügel hinauf und blickte über die 
maienblühende Gegend, die noch vor einer Stunde eine 
wimmelnde Menfchenwoge gewefen war und jeßt aus⸗ 
geftorben fchien. Die Arbeiter waren von den Feldern 
entflohen, felbft der Schäfer hatte feine Herde nicht aus⸗ 
getrieben. Aber dad Gewitter war an ihrem Haufe vor- 
übergezogen; follte der Tag vergehen, ehe es fich entlud? 

Zum erften Male im Leben empfand die tätig Gemwöhnte 
eine unruhige Langeweile, eine bängliche Leere, eine ftumme 
Angft. Sie ging nach dem Hofe zurüd. Kein Gefchäft 
wollte ihr gelingen; fie fehnte fich nach einer Menſchen⸗ 
nähe, einer Kunde. Sie dünfte fich felber nicht mehr die 
alte Erdmuthe, fondern ein nervenfchwaches, aufgeregtes 
Kind. Halb gedanfenlos ging fie endlicd; nad) dem Hügel 
zurück und fanf abgefpannt auf dem Steinblod vor dem⸗ 
felben nieder. 

Plöglich wurde unter ihren Füßen der Boden wie durch 
ein Erdbeben erfchüttert; grollender Donner zitterte durch 
die Luft. Ein eleftrifcher Schlag führte das ſtockende 
Leben in Erdmuthens Pulfe zurüd; fie fprang auf den 
Stein und fpähete über die baumlofe Ebene. Dort im 
Südoften Dampften und dröhnten die Feuerfchlünde. Das 
war fein Scharmüßel wie in den verwichenen Tagen; dag 


812 Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier 


war die Schlacht, die heißerfehnte Entfcheidungsfchlacht, 
in deren Erwartung der teuere Mann, der da unten fchlief, 
feine Augen gefchloffen hatte. Sie fanf auf ihre Knie 
und betete laut. 

Dann ging fie, die Hand gegen die Bruft gepreßt, nad) 
ihrem Haufe zurüd. Nun galt e8 zu handeln; mit ficherem 
Bli und ficherer Hand führte fie ihr Gefchäft. Jeder 
Nerv war gefpannt, fie hätte zu Pferde fteigen und ſich 
unter die Kämpfenden ftürzen mögen. 

Der Nadmittag verging unter raftlofem Hin und 
Wider zwifchen Haus und Höh! Auf der Straße wurde 
ed lebendig wie am Morgen. Adjutanten fprengten talab; 
bie noch zurücftehenden Zruppenteile zogen im Eilfchritt 
bergauf. Mächtige Feuerftätten Ioderten am öftlichen 
Horizonte auf; unaufhörlicd, droͤhnten die Kanonen, knat⸗ 
terten die Gewehre; eine neue Kampfesftätte fchien fich 
gegen Norden hin aufgetan zu haben; der Abend däm⸗ 
merte, und noch immer feine Raſt. 

Da auf einmal im Halbdunkel fam ein düfterer, ſchlei⸗ 
chender Zug die Heerftraße entlang, und immer näher und 
näher drang ächzender Wehefchrei. Die verftümmelten 
Opfer der Schlacht! Die Bauern des Dorfes, die in ängft- 
licher Neugier fidy auf der Höhe gefammelt hatten, eilten 
mit dem Hausgefinde entfegt in den Hof zurüd und vers 
riegelten das Tor. Das Fräulein ftand allein, oben auf 
ihrer Warte. Und immer näher fam die Wagenreihe, wie 
eine ſchwarze Schlange fid, den Talweg zur Stadt hinabs 
wälzend, und immer lauter wurde dad Gewimmer, und aus 
der Ferne drang noch immer das Grollen der Gefchüße 
und der verwüftende Flammenfchein. Die Bauern flohen 
nad) dem Dorfe zurüd, die Mägde flüchteten in die Keller, 


Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier 313 


und felber die Knechte verftopften ihre Ohren vor dem 
unerträglichen Gewinfel. Auch Erdmuthe ftand mit vers 
hülltem Geſicht. Das war die Schladht, die erfte Tat nach 
der Ermannung ihres Volks, in deren Erfehnen man fie 
zu leben gelehrt hatte! und dad war der Preis, den der 
"Feind gezahlt! Sie fah nur franzöfifche Eöforten. Wo 
waren der Freunde Opfer? Wo war ihr alter Lehrer, wo 
ihr Held, der General? wo der Jüngling, den fie vielleicht 
zum Tode geworben hatte? Und auf welcher Seite war 
der Sieg? 

Sie hatte Feine Zeit, diefe Fragen auszudenken, ein 
brüllender Schrei übertönte das Gewinfel. Fluchende, 
freifchende, befehlerifche Stimmen drangen über die Mauer 
in den Hof, nadı welchem Erbmuthe zurüdgeeilt war. 
Sie ließ das Tor öffnen und trat, von den Knechten ges 
folgt, hinaus. Ein Wagen war auf der holprigen Straße 
umgeftürzt; die Berwundeten lagen am Boden, gequeticht, 
von nachfolgendem Fuhrwerk gedrängt; ein zweiter Wagen 
ftolperte über den eriten; es währte eine Weile, bevor ein 
anderes Gleis eingefchlagen ward. Dann zug man ihrer, 
foviele noch lebten, unter den Trümmern hervor. Kriechend 
auf Händen und Füßen, einer den andern führend, ges 
fchleift, getragen, füllten fie den Hof; mit der Wut der 
Berzweiflung entwanden hinter ihnen fich noch manche den 
überbürbdeten, rüttelnden Karren und drängten den vorde⸗ 
ren nach. Erbmuthe mußte mit Gewalt das Tor fchließen 
laffen, denn ihr Haus war bie zum Giebel hinauf gefüllt. 

Nun auf einmal waren Hand und Fuß in Bewegung, 
nun galt es Hülfe und Pflege, Mut und Standhaftigfeit 
diefen jammerpollen Menfchentrümmern gegenüber, nun 
warb es wahr, was ber Vater eined Tages gefagt: das 


314 Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier 


Krankenbett ift das Schlachtfeld der Frau. Ein junger 
Arzt der Eskorte leiftete unerläßlichen Beiftand; auch der 
alte Pfarrer und fein Sohn, der fein Subftitut geworden 
war, famen zur Aushülfe herbei; die Seele aller Be⸗ 
wegung aber war Erbmuthe; von unten nad, oben, von 
Lager zu Lager, von Wunden zu Wunden, von Leichen 
zu Lebenden die ganze Nacht hindurch. Auf dem Kampf- 
felde war es ftill geworden, auch der Brand der Dörfer 
war erlofchen; nur eine Xeuchtfugel, die dann und wann 
in die Höhe flieg, oder ein Wachtfeuer bezeichnete die 
Stätte, wo Hunderttaufend auf Tod und Leben gerungen 
hatten, und der erſte Tagesblick ftel nieder auf den Zug 
der Geopferten, die mit gellendem Weheruf noch immer 
rangen zwifchen Leben und Tod. Tauſend um Taufende, 
eine endlofe Qual. 

Der Morgen fchritt vorwärte, ohne daß der Kampf fich 
erneuerte. Die bänglichfte Ahnung beſchlich Erbmuthen. 
Der junge franzöftfche Arzt, welcher Die erften Einrichtungen 
in ihrem Haufe geleitet hatte und dann in die Stadt geeilt 
war, wo nicht Hände genug zur Hülfe bereit fein fonnten, 
hatte ihr einen ohngefähren Überblid über den franzöfifcher- 
feit8 unerwartet entbrannten Kampfesakt gegeben. Als 
jener aber den Platz verlaffen hatte, um aus einem ber 
eroberten, in Brand geratenen Dörfer die Berwundeten 
zu entfernen, bevor die Preußen das Dorf vielleicht wieder: 
eroberten, war das Gefecht noch unentfchieden. Da in- 
defien der Kaifer, welcher Leipzig nahezu erreicht haben 
follte, zurüctgefehrt war und den Befehl perfönlidh leitete, 
auch der Bizefönig mit frifchen Kräften von Norden her 
erwartet wurde, zweifelte der Chirurg nicht Daran, daß der 
Sieg von feinen Freunden errungen werden müſſe. 


Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier 315 


Und auch das Fräulein zweifelte nicht länger daran, 
als Stunde auf Stunde der Tag in dumpfer Stille zur 
Hüfte ging; hätten ihre Freunde ſich behauptet, würden 
die Feinde auf der Straße, die fie gelemmen waren, ſich 
zurückgezogen haben. 

Sie hatte einen ihrer Verwalter um Kunde nach dem 

Schlachtfelde abgeſendet, und als er am Nachmittag 
zurückkehrte, vernahm fie, Daß die Verbündeten das ſüd⸗ 
lichfte der vier von den Franzofen bejeßten Dörfer, 
um welche der Kampf entbrannt war, zwar feftgehalten, 
aber in der. Stille der Nacht geräumt hätten und daß 
die Franzofen ihnen am Morgen gefolgt feien. In 
welcher Richtung, mit welchem Erfolg? wer fragte da⸗ 
nad) in dem ungeheueren Elend der verwüfteten Heim⸗ 
ſtätten? Die Freunde waren gewichen! Erdmuthe wußte 
genug. 
Spät am Abend trat fie in ihr Zimmer, im oberen 
Stod, das den Blid auf den Freienhügel hatte und das 
einzige .unbefeßte im Haufe war. Sie legte ſich nieder, 
aber der Schlaf floh ihr Lager. Sie fprang wieder auf 
und machte noch einmal einen Rundgang durch das Haus. 
Die Mehrzahl der Wärter, Diener und Mägde des Haufes 
oder Bauern aus dem Dorf waren auf ihren Sigen ein 
gefchlummert; auch dem jungen Subftituten, der fie zu 
überwachen hatte, ftelen die Augen zu. Die Kranken, 
mehrenteild unbärtige Knaben, fuchten wenigftend oder 
fehnten fidy nach Ruhe; Ordnung und Sauberkeit herrfchs 
ten überall; nirgend ein Mangel. 

Erdmuthe ging in ihr Zimmer zurüd; fie öffnete das 
Senfter. Eine weiche Maienluft, würzige Blütendüfte 
drangen herein; Die Natur wußte nicht8 von dem Sammer 


516 Fränlein Mutbchen und ihr Hausmeier 


ber Menfchen, und der Sammer der Menfchen wußte nicht® 
von dem Frieden der Natur. Die halbe Scheibe des abs 
nehmenden Mondes zog ftilleuchtend gen — hin. 
Die Dorfuhr ſchlug zwei. 

Da auf einmal ſah Erdmuthe eine dunkle Gruppe, von 
einem Feldwege einbiegend, die Landſtraße überſchreiten 
und dem Hauſe ſich zubewegen. Das Hoftor wurde bei⸗ 
ſeitegelaſſen, längs der Ringmauer langſam hingegangen 
und vor dem Pförtchen ſtillgehalten, das vom Hügel in 
den Garten führte. Vier Männer ließen einen dunklen 
Gegenftand zur Erde nieder und entfernten ſich in der 
Richtung, von welcher fie gefommen waren. Ein fünfter 
war zurüdgeblieben, aber er ftand im Schatten der Mauer; 
Erdmuthe, fo weit fie ſich aus dem Fenfter biegen mochte 
und wie fehr fie die fcharfen Augen anftrengte, vermochte 
nicht die Geftalt zu unterfcheiden. 

Jetzt aber hörte fie ein leifes Klopfen an der Pforte, 
und alfobald trat die Geftalt hinter dem Dunfel der 
Dauer hervor auf den mondbeichienenen Pfad zum Hü⸗ 
gel, ein bligender Gegenftand wurde kreuzweis in der Luft 
gefchwenft. Das Fräulein eilte in den Garten, entriegelte 
das. Pförtchen und ftand dem Alten gegenüber, der noch 
immer auf halber Höhe mit dem Säbel winfte, an beffen 
Griffe ein Paar große Schuhe feftgefoppelt waren, die bei 
der Bewegung gegeneinander Flapperten. 

Während der Hausmeier Iangfam den Hügel hinabftieg, 
warf das Fräulein einen Blick auf die Laft, welche die 
Männer geheimnisvoll an der Pforte niedergelaffen hatten. 
Es war eine Bahre, dunfelverhüllt gleich der, welche vor 
drei Tagen zuerft in das Tor dieſes Haufes getragen wor; 
den war. 


Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier 917 


„Still!“ raunte der Magifter ihr zu. „Es ift ein Freund! 
Darf nidyt gefangen werben, nicht erfpäht.” 

Leicht wie ein Kind nahm er den Freund, der eine Leiche 
fchien wie jener erfte Feind, in feine Arme, trug ihn Ieife 
die Treppe hinan in des Fräuleind Zimmer, auf ihr eignes 
Bett. Nicht ein Laut regte ſich im Haufe, die nächtliche 
Szene hatte feinen Zeugen gehabt. 

„Den Riegel vor!“ befahl der Alte. 

Er Iöfte den groben Bauernmantel über der unbeweg⸗ 
lichen Geftalt, ven Verband von ihrer Stirn; in atemlofer 
Spannung folgte Erdmuthe feinen Bewegungen; mit ges 
ſchloſſenen Augen, von klebendem Blut bedeckt, ſchattengrau 
lag vor ihr ausgeſtreckt der Freiwillige, den fie vor wenig 
Tagen in Sünglingeblüte für den Dienft des Vaterlandes 
geworben hatte. 

„Tot!“ rief Erdmuthe, felber totenbleich, indem fie vor 
dem Lager auf die Knie fant. 

„Nur ein Glied,” verfeßte der Hausmeier gelaflen. 

„Waſſer her!” rief er darauf; entblößte fonder Bedenken 
des Sünglings Oberkörper, wufc ihn ab und fchidte ſich 
an, aus einem Laken bes Betted, das er ohne Umftände 
zerriß, einen frifchen Verband um ben blutenden Stumpf 
ded rechten Armes zu legen. _ 

„Ein Krüppel!” murmelte Erbmuthe fchaudernd. 

„Nur die Rechte!” entgegnete der Alte mit unftörbarer 
Ruhe. „Wird mit der Linken fechten lernen. Rühmlich 
geopfert, feinem Feldmeifter eine Schugwehr nicht gegen 
einen fräntifchen, nein, gegen einen teutichen Wüterich. 
Stand dabei; fah ihn fallen; Rofle und Reiter über ihn 
hinweg, hui! Der hohe Feldmeifter entfam; deckte den 
Rückzug.“ 


9418 Sräntein Muthchen und ihr Hausmeier 


„Den Rückzug!“ flüfterte das Fräulein fchmerzlich. 

„Kein Baum fällt auf den erften Dieb,” fagte der Haus⸗ 
meier gleichmütig. „Gingen zurüd, nidyt Sieger, nicht 
beſiegt, ehrenvoll, tapfer, teutfche Mannen. Keine Ge- 
fangenen, nur der Toten viel. Hohe Helden bluten. Aber 
auch fie werben leben wie diefer und wieder faämpfen und 
immer wieder bis zum Sieg. Wenn er aber bereinft er- 
rungen fein wird, der Sieg, im legten Kampfe, helden- 
mäßiger als in diefem erften wird nicht geblutet worden 
fein. Den hier pflegt heil, heimlich, daß feiner ed merft. Die 
Gegend ift Feindes Land zur Stunde noch. Ich zog ihn vor 
unter Eurem toten Roß; fchleppte ihn nach Görfchen, das die 
Unferen behaupteten. Aber es wurde geräumt. Alles fahl, 
alles wuͤſt. Ein paar aus dem Dorfe halfen gegen Geld und 
gutes Wort. Trugen ihn weiter in der Nacht, feithalben in 
den Siedelhof von Poferna. Sch löfte das Glied; aber die 
Frau fehlt im Haus; wer follte ihn pflegen und bergen? 
Schafften ihn hierher. Die Reihe ift an Euch.“ 

Waͤhrend diefer Erzählung, die in abgebrochenen Sätzen 
gemacht wurde, waren die Wunden gewafchen und ver: 
bunden, belebende Mittel angewendet worden. Die Heil: 
kunſt war nicht die geringfte der Fertigkeiten, auf welche 
Magifter Polyfarpus Stord, in den Sahren ded Harrens 
ſich vorbereitet. Er hatte bei feiner Seftion in den Nachbar⸗ 
orten gefehlt und ſchon 1806 in dem großen Spital, zu 
dem das ftädtifche Schloß eingerichtet worden war, gute 
Dienfte geleiftet. Aber alle Hülfe fchien hier umfonit; 
Hermann Wille lag bewußtlos, Falt, ein Bild des Todes. 

„Dein Opfer!” klagte Erdmuthens Herz fie an. 

Um fo wohlgemuter blieb ihr Hausmeier. Daß ein 
befreundeter Geld durch einen teutfchen Wann gerettet 


Fraͤulein Muthchen und ihr Hausmeier 319 


worden, den feine Herrin auf ihrem Siedelhofe geworben, 
nahm er faft als einen perfönlichen Triumph. Daß diefer 
teutfche Mann auf dem Siedelhofe genefen werde, ftand 
ihm ebenfo außer Zweifel, wie daß das geftrige Scheitern 
nur eine erfte Probe geweſen fei, und eine ftarfe, gute 
Probe. Der Sieg fand fid) mit der Zeit, und die Opfer 
zählten nicht für Polyfarpus Storch. Das, was Politik 
genannt wird oder firategifche Kombination, wurde auf 
dem Siedelhofe überhaupt und von feinem Hausmeier ins⸗ 
befondere nicht betrieben. Man hatte fich eine gute 
Sade in den Kopf und in das Herz gefest, und wenn 
nur redjt viele Leute fie fidy wie auf dem Siedelhofe in 
Kopf und Herz feßten, wenn fie dem Ziele zufteuerten, 
ohne rechts oder links zu blicken, wie hätte da diefes Ziel 
nicht erreicht werden follen? „Fort mit den Grübels 
fangen!” blieb die Lofung. | 

Haft ebenfofehr wie die Rettung des Freimilligen 
freute Magifter Storch die Habhaftwerdung feiner Schuhe, 
deren Räuber der hohe Feldmeifter am Tage vor der 
Schlacht entdeckt und gebührentlich gefnutet hatte. „Ein 
Mal unferes Rechts!” fagte Meifter Polyfarpus, indem 
er die beiden, Schifferfähnen gleichenden, fchwarzbraunen 
Gehäufe gleich einer Trophäe an einem Hirfchgeweih über 
der Tür der unteren Halle befeftigte. „Ein Wahrzeichen 
teutichen Nechtd gegen Freund wie Feind. Keinen Schuh, 
feinen Schuhbreit teutfcher Erde dem Fremdling in Oft 
wie Weft! Recht, rein, frei Zeutfchland den Teutfchen!“ 

Nach diefer monumentalen Beforgung verzehrte Meifter 
Polyfarpus in Gemütsruhe einen halben Schinfen, leerte 
einen Krug Dünnbiers dazu, tat dann ein paar Stunden 
lang, auf dem Fußboden der Kalle ausgeſtreckt, einen 


890 Fräulein Muthchen und ifr Hausmeier 


Schlaf, aus welchem fein Schlachtendonner ihn erwedt 
haben würde, und war gegen Mittag wieder aus bem 
Siedelhofe verfchwunden. 


Und nun pflegte Fräulein Erbmuthe ihren Refruten in 
der Stille ihrer Mädchenfammer heil, und nur die Ges 
treueften ihres Hauſes teilten ihre Sorge. Sie hatte für 
ſich ſelbſt ein Kager in der Giebelkammer auffchlagen laſſen, 
die ihr Hausmeier fein Lugindland nannte. Aber fie 
weilte felten genug barin; jede freie Stunde am Tag und 
die Hälfte jeder Nacht faß fie allein an des armen Lazarus 
Bett, Iaufchte den krauſen Träumen feines fieberglühenden 
Hirns, verband feine Wunden, Fleidete ihn und fütterte 
ihn wie die Mutter ihr Kind. Das, was man jungfräus 
liche Schämigfeit nennt, regte fich nicht in einer, die für 
das Schlachtfeld des Weibes erzogen und deren Phantafie 
nicht auf Liebesabenteuer, fondern auf Heldentaten ges 
richtet worden war, und dad, was böfe Nachrede heißt, 
wurde ihr nicht hinterbradht oder von ihr nicht beachtet. 
Allmaͤhlich ward es ftill und leer auf dem Siedelhofe; 
Tag für Tag gab es ein Scheiden. Die einen zogen in 
Krieden abwärts auf den Ruheplat unter dem Freien 
hügel, die anderen mit frifchem Mut gen Often hin, von 
woher die Kunde neuer Siege gedrungen war. Die Freis 
heit des Vaterlandes fchien bebrängter ald zu ber Zeit, 
da fie ihr Banner erhoben hatte, und noch immer lag 
Hermann Wille regungslos und anteilelos in des fchönen 
Fräuleind Kemnate. 

Erdmuthend Haltung war ungebeugt, ihr Blick nicht 
minder ficher, ihre Hand nicht minder rege ald am erften 
Tage ihrer neuen Pflicht; nur ihre Wange war bleicher, 


Sräulein Muthchen und ihr Hausmeier 321 


ihr Auge weiter, die Stimme leifer geworden; fie fpürte 
es an ſich felbft und verfpürte auch den Grund. Schwäche 
oder Verzagen hieß er nicht; denn obfchon faft jeder Tag 
eine Kunde brachte, welcher die Hoffnung der Guten 
niederfchlug, fo Fammerte fie ſich mit den Beften an 
ihren Glauben und an den Dienft der Treue im Kleis 
nen, aus welchem früher oder fpäter dad Große reifen 
muß. | 

Allmählich kehrten denn auch ihres Pfleglings Kräfte 
und Sinne zurück; zuerft die förperlichen famt Schlummer 
und Appetit; dann die der Seele vom Erinnern bie zum 
Denten und Wollen. Sobald das Fieber geftillt war, 
heilten die Kopfmunden raſch, und auch der Stumpf bes 
Armed verharichte; denn ed war gefundes Sugendblut, 
das in Hermann Wille Adern floß. Als Anfang Suni 
Magifter Stordy in den Siedelhof zurüdkehrte, fand er 
feinen Geretteten kräftig genug, um auß des Alten Munde 
die Kunde des Waffenftillftandes zu vernehmen und fie 
ohne Nachteil aufzunehmen, wenn er fie auch fchmerzlicher 
empfand als das Unheil von Lügen und Bauen, das ihm 
feine Wärterin fchonend verborgen hatte. 

Der Alte dahingegen erwies ſich auch jegt nicht ale 
Grübelfang. Sobald das Korn auf dem Siedelhofe ges 
fchnitten fein würde, ging es ja wieder los und voran. 
Er fand den Rekruten hinlänglich heil, um fich in Leipzig 
eine Lederrechte anfegen zu laflen und mit der Linken von 
Fleiſch und Bein ſich im Fechten und Schießen einzuüben. 
Die Luft auf dem Siedelhofe war wieder rein, ber lebte 
Welſche abgezogen. An einem warmen Suniusmorgen 
führte er den teutfchen Süngling hinunter in den Garten, 


in. weldyem außer wilden Hedenrofen nur Bohnen und 
® 


329 Fräulein Muthchen und ihr Haugmeier 


Erbfen blühten, und ließ ihn auf dem Steinblocd des 
Freienhügel allein mit feinen ftillen Gedanfen. 

Hermann hatte während feiner langen Zimmerhaft im 
Halbzuftand der Krankheit unter der Tieblichiten Pflege 
feine Schmerzen mit einer Art Wolluft empfunden und 
fich der wonnevollen Täufchung hingegeben, als fünne 
alles fo bleiben für unausdenfbare Zeit. Heute im Freien, 
erweckt durch den Alten zu dem Bewußtfein der Genefung, 
überfchaute er feine Tage, wie fie, ohne Täufchung, ge- 
fchaut werden mußte. 

Er war gefund, aber verftümmelt; er war ein Krüppel, 
aber fähig, feiner Pflicht treu zu bleiben. Er war ein 
armer Student, und fie, die ihn für den Dienft des Vater: 
landes geworben hatte, war die Freiin von Kettenloß, Die 
mit nicht mißzuverftehenden Worten einem erlauchten 
Führer ihr Wort gegeben hatte. Die ſchwere Kette von 
Entfagungen und Entichließungen, welche diefe Erfenntnig 
nach ſich 309, ringelte fic um fein Herz. Das erfte Glied 
diefer Kette hieß fliehen; er wünfchte, daß ihr letztes Glied 
fterben heiße. Seiter, die Wangen von Dafeinsfreude 
gerötet, hatte er vor einer Stunde feine Gaftfreundin 
verlaflen, um zum erften Male im Freien wieder Atem 
zu. fchöpfen; bleich, mit umflorten Blicken trat er ihr 
entgegen, als fie ihn jest auf feinem Ruheplatze auf- 
fuchte. 

"Aber ed war wie ein fräftigendes Fluidum, das dieſes 
Mädchen ausftrömte und einftrömte in alle, die ihm nahe 
famen; ald es jeßt den Refonvalefzenten mit einiger Be- 
forgnis fragte, ob der erfte Ausweg ihn angegriffen habe, 
da fchämte er fich feines Kleinmutes, erflärte, daß er ſich 
fo wohl und ftarf fühle wie vor feiner Niederlage, und 


Fräulein Muthchen und ihr Haugmeier 323 


feßte dann mit weichem Klang hinzu, indem er der Dame 
Hand ergriff und an fein Herz drüdte: „Danfen, edles 
Fräulein, mit Worten Shnen danfen, vermag ich nicht; 
aber, wild Gott! Ihnen bemeifen, daß Sie dem Vater⸗ 
lande fein unwürdiges Leben erhalten haben. Während 
die Waffen ruhen, will ich fie üben lernen mit der einen 
Hand, die ihrem Dienfte geblieben ift. Heute, in diefer 
Stunde noch breche ich nach Leipzig auf. Diefe Fuß- 
wanderung foll meine erfte Übung fein. Mein Fleines 
Erbteil ift mir durch Ihre gütige Vermittlung überwiefen 
worden. Ich rüfte mid) aus; habe vielleicht noch Zeit, 
mir in Leipzig ein fünftliches Glied anfegen zu laflen, — 
wenn nicht, geht es auch ohne das, — und fuche dann, 
meinem erften Plane und dem Worte, das ich meinem 
herrlichen Körner gegeben habe, getreu, die Lützower zu 
erreichen, die, wie Magifter Storch mir verfichert hat, von 
Süden her der preußifchen Grenze zugezogen find und 
diefelbe hoffentlich fchon überfchritten haben.“ 

Fräulein Erdmuthe hatte während diefer Nede mit ihren 
großen, Haren Augen unverwendet in die ihres Freis 
willigen geblidt, und was fie hinter ihrem feuchten Schims 
mer erfpürt — das wird auf dem legten Blatte diefer 
Gefchichte zu lefen fein. Jetzt drüdte fie dem jungen 
Manne bloß herzlich die Hand und widerfpradh ihm nur 
infofern, als fie in ihn drang, für den Weg nadı Leipzig 
und für feine fernerweitigen Fahrten zum zweiten Male 
ihr eigenes Pferd anzunehmen. 

Eine Stunde. fpäter ftand Hermann Wille wie bei 
feinem Einzug im fnappen, ſchwarzen Studentenrod, Doc) 
ohne auffällige Schwertgeraffel, zum Augritt bereit am 
Zor des Siedelhofed. Magifter Polyfarpus Storch fchnallte 


924 Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier 


fürforglich die Riemen an feiner Gebieterin Leibpferd feft 
und richtete an dasfelbe, wie an eine vernunftbegabte 
Kreatur, eine Standrede, in weldyer er ed ihm zur Ge- 
wiſſensſache machte, einen waderen, teutfchen Süngling 
ohne Boden und Bäumen durch das Schlachtgetümmel 
zu tragen. Ein junger Knecht des Hofes, auch ein Ge⸗ 
worbener Fräulein Erdmuthens, fattelte an feiner Seite 
ein Padpferd und fchnallte die Ausruͤſtung, foweit fie 
aus den Vorräten des GSiedelhofes zu befchaffen war, 
daran feft. Das Fräulein drüdte beiden Scheidenden zum 
Lebewohl ftumm die Hand. 

Hermanns Blick ſchweifte noch einmal hinauf zu dem 
Freienhügel, deffen Eichenbaum jegt weithin feinen Schat⸗ 
ten breitete. Sieben Wochen, faft auf Die Stunde, waren 
ed, daß er Zeuge geweſen war auf diefer Höhe der Bes 
gegnung zwifchen dem deutfchen Mädchen und dem ges 
waltigen Italiener, der das einft grimmig gehaßte Franken⸗ 
reich zum Fußfchemel feines ehrgierigen Dranges gemadıt 
hatte, um nun von dort aus, foweit feine Arme greifen 
fonnten, alles, was Baterlandsliebe heißt, im Herzen der 
Völker zu erftiden, wie er diefe Liebe in feinem eigenen 
Herzen erftict hatte, auf daß er der werde, der er ge- 
worden war. Gieben Wochen waren es auch, faft auf 
die Stunde, daß ein Freund und Führer im Kampfe gegen 
den Iyrannen, ein Geld, dem deutſchen Mädchen, das er 
verehrte, ind Geficht gefagt hatte ohne Scheu, wie er ein 
Baterland, deflen er fid, geſchänt, vertaufcht habe gegen 
eined, das er ehren durfte und dem er treu bleiben werde, 
fei ed auch dereinſt ald Widerpart deffen, welches ihn 
geboren. j | 

Und er, Hermann Wille, er felber, der Sohn des 


Fräulein Muthchen und ihre Hausmeier 325 


fächfifchen Pfarrers, hatte er nicht deutfchen Brüdern im 
Kampfe gegenübergeftanden? War er nicht durch eines 
Deutfhen Hand zum Krüppel geworden? War er nicht 
im Begriff, gegen feine nächſten Landesbrüder, ja gegen 
feinen leiblichen Bruder die Waffe regieren zu lernen? 

Die Folge diefer Gedanfen, die blikartig kreuz und 
quer fein Hirn durchzuckten, war noch nicht ausgedacht, 
als jach aus der Richtung, von welcher der erfte Schlachten 
Donner gedrungen war, wiederum ein rollender dumpfer 
Hall fidy am Freienhügel brach. Gefchüsfalven, Pulver- 
qualm inmitten der Waffenftile! Eine Minute lang 
ftanden die Freunde regungslos, von einer furchtbaren 
Ahnung erftarrt. Dann, ohne ein Wort zu fagen, ſchwang 
ſich Hermann auf das Pferd und fprengte in der Richtung 
des Schalled über die Felder. Der Magifter trabte auf 
dem Packpferde des Knechtes hinter ihm drein. Erbmuthe 
blickte ihnen nach, bebend, ja, zum erften Male bebend wie 
ein fchwaches Weib. 

Als wir das Sfizzenblatt von Fräulein Muthchen und 
ihrem Hausmeier begannen, geichah ed in der Abficht, 
aus dem Heldendrama jener Zeit eine heitere Szene vor- 
zuführen, und fonnte Schauer und Graud audy nicht völlig 
befeitigt oder mit munteren Farben übertündyt werden, fo 
fei doch jest ein Schleier gebreitet über das unheimliche 
Zwifchenfpiel, dad jene Szene in ſich fchloß. Es war 
ausgefpielt, lange bevor der Alte und der unge vom 
Siedelhof die Stätte erreicht hatten, auf welcher bie 
fchmählichfte Tat vollbracht worden war, zu welcher 
deutfche Soldaten durch fremde Gewalt gemißbraudjt 
werden durften: die Stätte der Wehetat an den Lützowern 
auf der Grenze des Schlachtfeldes von Lügen. 


326 Fräulein Muthhen und ihr Hausmeier 


Für Erdmuthen fchlidy der Tag zur Rüfte, bangevoller 
als felber der jener erften gefcheiterten Schlacht. Die 
Nacht brach herein ohne Enthüllung ded Rätſels. Erd⸗ 
muthe ging mit großen Schritten längs der Platte ihres 
Freienhügeld auf und ab; dann wieder hinunter in den 
Hof und immer wieder hinauf zu der Warte, von welcher 
ſich die Gegend am weiteften überfchauen ließ. 

Als aber der erfte Schimmer des Mitfommertages däm⸗ 
merte, da öffnete eine vertraute Schließerhand das Pfört- 
chen im Garten, und wie in jener Maiennacht ftand fie dem 
alten Freunde gegenüber, der einen Süngling auf feinen 
Schultern trug, aber einen, der nicht wieder zum Leben er⸗ 
wachen follte; einen deutfchen Süngling, aber einen Feind! 

„Mein Bruder!” hauchte Hermann, der fchwanfend an 
des Alten Seite fchritt. „Noch eine Gunft, edles Fräulein, 
eine höchfte! Ein Grab in reiner Erde für den Ketten 
meined Blut.“ 

Und als fie ihn auf dem Rande des Friedhofd, den noch 
der Eichenbaum des Freienhügels befchattete, eingefenkt 
hatten, da faltete der brave Magifter vom Siedelhof feine 
Hände, und nachdem er den Segen gefprochen, fagte er: 
„Wäre ed der lekte Feind, den ein teutjcher Super zu 
Grabe trug!“ 

Hermann aber erhob fich von feinen Knieen und rief: 
„Nun erft bin ich genefen und gefeit gegen Wehr und 
Trug; nun da nichts mehr mein heißt ale diefer eine Arm 
und das Vaterland.“ 

„Und ein Freundesherz, das treu Shrer harren wird 
bis zu einem befferen Tage!“ fagte Erdmuthe, indem fie, 
warme Tränen in den Augen, feine Sand drüdte. 


Fräulein Muthchen und ihr Haugmeier 3237 


Und diefer beffere Tag, diefer befte deutfche Tag feit Jahr⸗ 
hunderten brach an, noch ehe das Raub der alten Eiche 
auf dem Freienhügel fich gelb gefärbt hatte. Faft eine 
Woche hindurch — wer mochte die Tage zählen, die wie 
Sahre dauerten und Jahre bedeuteten? — hatte gen Often 
hin das Wetter gegrollt, und die Paufen, in denen es fich 
zu neuem Ausbruch fammelte, hatten laftender gedrückt, 
als die endlofen Stunden, in denen es fich entlud. Drei⸗ 
mal war in der von Pulverdampf gefchwängerten Luft 
. die Sonne untergegangen wie ein glühender Riefenmond. 
Dann zwei Nächte lang und einen Tag war in tödlicher 
Haft eine unabfehbare Menfchenmoge den Talabhang hers 
niedergedrängt, und zwifchen diefer Woge hindurch, zwifchen 
den Menfchentrümmern, die, verfcehmachtet, verftümmelt, 
zertreten, zerqueticht, ächzend, oder ftill für immer, die 
Straße bededten, zwifchen diefen Opfern feines Hochmuts, 
der die gegönnte Rettungsſtunde verfchmähte, war auch 
„Er“ diefe Straße zurüdgejagt zum legten Male, an dem 
nämlichen Tage, wo er vor fieben Jahren zum erften Male 
fie ald Sieger betreten hatte. Dort drüben auf den jen- 
feitigen Höhen, wo die Wachtfeuer Ioderten, da hielt Er 
feit vierundzwanzig Stunden Raft und Rat allein mit fich 
felbft; denn Menfchenrat hatte diefer Mann niemals ges 
hört, und hatte er jemald den Gottesrat gehört, der aus 
der Tiefe eines Gewiſſens fpricht? 

Im Siedelhof lag wieder jeded Kämmerlein, lagen 
Sceuer und Stall gefüllt mit Lechzenden und Blutenden 
aus der Feinde Reihen; aber aller Haß fieben langer Sahre 
war ausgetilgt; feiner dachte an Ruhe; Fräulein Erbmuthe 
ging wie auf Federn in der langen, leuchtenden Oftobers 
nacht zwijchen dem legten Feind und dem erften Freund, 


328 Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier 


Und diefer erfte Freund war ber ältefte und treuefte. 
„Freiheit!“ brüllte Magifter Polyfarpus Stord, mit teus 
tonifcher Bärenftimme in das geöffnete Tor des Siedels 
hofes. „Freiheit!” und nod einmal „Freiheit!” dann 
trabte er weiter an der Spiße der erften Verfolger, denen 
er den Weg auf die diegfeitigen Höhen zeigte. Kaum 
eine Stunde fpäter - und die Kanonenſchläge des Marfchall 
Vorwärts hesten die gegenüberlagernden Feinde aus ihrer 
furzen Raſt. Wenige Minuten fpäter loderte die Fluß⸗ 
brücke in die Höhe; ein Halt, das der Kaifer feinem grimmig- 
ften Verfolger gebot; das leßte auf dem Grund des deutfchen 
Fürften, der des fremden Kaiferg treuefter Freund geweſen 
und in diefer Stunde der Gefangene eines anderen deut⸗ 
ſchen Fürften war. 

Während diefer Verfolgungspaufe, im Schimmer bee 
weitleuchtenden Brüctenbrandes fprengten zwei Reiter in 
das Tor des Siedelhofes: der hohe Feldmeifter und fein 
Beigeordneter, Fräulein Erdmuthens Gemworbener und 
Geretteter, der nad der Waffenruhe nicht in Luͤtzows 
zerftreuter Schar, fondern in den Reihen des Schlefifchen 
Heeres feinen Pla gefunden hatte. Braun, vermwettert 
waren die Züge, die blaue Litewka war von Pulver ge- 
ſchwärzt, der rechte Ärmel hing fchlaff an der Seite herab, 
aber das ſchwarzweiße Ehrenfreuz fchmüdte die hoch⸗ 
‚ Hopfende Bruft. Im Nu ging’d von den Roſſen hinab 
und hinein in die Kalle, unter der Dame freudig ftrö- 
mende Augen. 

„Wort gehalten, Sieg!” rief der General, ihre beiden 
Hände fchüttelnd. 

„Freiheit!“ jubelte fie, unter halbem Schluchzen und ' 
bunfel errötend, 


Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier 329 


„Und nun ade, Freiin von Kettenloß, und unter die 
Haube, Frau Demut.” 

„Noch nicht, Exzellenz; erft die Friedendgloden.” 

„Unfer Pakt, fchöne Dame?“ 

„Gilt, tapferer Herr, und foll erneuert werden.“ 

Sie Lüfte ihre Hände aus denen des Generals und ging 
fiheren Schritted auf den Adjutanten zu, der mit nieder 
gefchlagenen Augen und blaß, als hätte er die Befreiungs⸗ 
fchlacht verloren, unter ber Tür ftehen geblieben war. 
„Lieben Sie mich noch, Hermann?” fragte fie, groß und 
Har zu ihm aufblickend. 

„Erdmuthe!“ ftammelte er, indem er halb befinnungss 
[08 zu ihren Füßen niederftürzte. 

„Das ift Verrat!” rief der General. 

„Daß ift Treue!” verfeßte dad Fräulein. „Eines deuts 
fchen Soldaten Frau follte ich werden, am Tage, wo 
Deutfchland wieder zu Ehren gefommen fei. Sp unfer 
Bertrag. Und dies die Ratififation: mein Herz und meine 
Hand dem deutfchen Manne, der die feine geopfert hat, um 
das Leben eines befreundeten, fremden Helden zu retten. 
Hätte ic) treulicher wählen fünnen, mein General?” 

„Zeufeldmuthchen!” rief der General, drüdte herzhaft 
einen Kuß auf ihre Stirn und verließ rafch die Halle. 
Sein Adjutant folgte ihm nad) wenigen Minuten, deren 
Inhalt geahnt werden möge. 

Als aber die Glocken des Friedendfeftes läuteten, da 
führte der General ein glüdliches Paar vorüber am Freien 
hügel zum Altar in dem Kirchlein am Fluffe. Der Haus⸗ 
meier, Herr Magifter Polyfarpus Storch, welcher den 
Säbel abgelegt hatte, aber den rüderftatteten Raub des 
Koſaken ald Trophäe an feinen Füßen trug, machte voran 


330 Fräulein Muthchen und ihr Haugmeier 


fehreitend mit ausgebreiteten Armen Pla durdy die 
dräangende, jubelnde Menge aus Stadt und Land. Der 
fromme Paftor hielt die Trauungsrede; der Ruhmespichter 
lieferte das Hochzeitskarmen. Der Friedensſyndikus brachte 
den ZTrinffprudy aus auf dad junge Paar. Auf dem 
Grabe ded Majord lag der erfte Blütenfranz; von allen 
Gefichtern Teuchtete die Freude; die Tafeln im Hofe 
brachen fchier von Schüfleln und Kannen, in denen fein 
Biffen oder Tropfen zurücgeblieben ift, und viele Sahre 
lang erzählten fich die Leute von dem Friedendfefte unter 
dem Freienhügel. 

Hauptmann Wille hat das Schwert nicht wieder mit 
der Feder, fondern mit dem Pfluge vertaufcht und nur im 
nächften Jahre für etliche Sommermonde wieder aus der 
Scheide gezogen. Die geopferte Rechte hat er nie vers 
mißt, um der anderen Rechten willen, die er fidh durch 
dDiefes Opfer eroberte. Der Hausmeier wurde nod) eins 
mal zum Herrn Magifter und hat ſechs flämmige Buben 
auf dem Siedelhofe großgezogen. 

Frau Erdmuthe hätte zu dem Willmut und Helmut 
und Freimut und Konforten gar gern eine feine Des 
muta gehabt. Aber alles Glück ift nun einmal nicht beis 
einander, und erft ihr erftes Enfelfind hat das ihrige volls 
gemacht. 

Dem General, dem ed, gottlob! erfpart worden ift, Die 
Waffen feines zweiten Baterlandes jemals gegen daß erfte 
zu tragen, ift ein treuer Freund der Leute auf dem Siedel⸗ 
hofe geblieben und manchesmal als wertefter Gaft in 
feinen Mauern eingefehrt; eine Frau genommen hat er 
nicht. Seine Taten aud) in fpäterer Zeit find zu laut ges 
worden, als daß er fie felber im Munde führen follte, 


Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier 331 


Penn er aber einmal recht guter Laune war, nad} einem 
neuen Triumph oder einem frohen Ehrenmahl, dann er- 
zählte der alte Herr im Kreife der Freunde und unters 
haltender, ale wir es ihm nachgetan, den Streidy, den ihm 
Fräulein Muthchen mit ihrem Rekruten gefpielt hat. 


Die goldene Hochzeit 


Erftes Kapitel 

Selanse unfer ehrmürdiger Dom geftanden — und das 

ift Sahrhunderte länger ald irgendein heutigentages 
noch folides Gotteds oder Menfchenhaug im Lande weit und 
breit —, hatte er Feine Feierlichfeit erlebt gleich der, welche 
in der Mittagsftunde des erften Sunius (an deffen Abend 
ich diefe Darftellung zu Papier bringe) in feinen Mauern 
begangen werden follte. 

Goldene Hochzeiten freilich find nicht felten in der Ge⸗ 
meinde gefeiert worden; denn die Luft ftreift heilfam vom 
Gebirge herüber, die Landfchaft ift fruchtbar, der Volfe- 
ftamm wohlhabend und fräftig, war letzteres zumal in 
der guten alten Zeit, wo man mit feinen Genüffen noch 
mehr auf den Magen ald auf den Kragen Rüdficht nahm, — 
daher ed denn nicht als etwas Außerordentliches erfcheinen 
fann, einen oder den andern das Alter des Pfalmiften er- 
reichen, wohl gar um ein Sahrzehnt überfchreiten zu fehn. 

Vielleicht mag ed auch fchon vorgekommen fein, daß ein 
derartiger Subelbund vor dem Altare unferes Gotteshaufes 
für die Ewigfeit erneuert worden ift; wenngleich Seine 
Hochwürden der Herr Oberdomprediger und Propft, Doktor 
Renatus Henrici, troß gründlichfter Forſchung in fchrifts 
licher wie mündlicher Überlieferung, feine folche Begeben- 
heit in feiner Domdyronif hat verzeichnen fünnen. Der 
Fall aber ift erweislicy hier nicht Dagewefen und wird 
mutmaßlich aud) andernorts fo leicht nicht dageweſen fein, 
der Fall fage ich: zum erften: daß die goldene Hochzeit, 
wie die grüne, von dem nämlichen Diener Gottes und an 
dem nämlichen Altare, will fagen an dem unferes Domes, 


Die goldene Hochzeit 333 


eingefegnet worden if. Zum zweiten: baß beide, der 
Subelbräutigam und fein Seelenhirt, heute wie Damals in 
dem nämlichen Amte fungieren, will fagen, jener als 
zweiter, Diefer als erfter Pfarrherr am Dom. Zum 
dritten: daß auch die Brautjungfer noch am Leben ift 
und in feiner anderweitigen Stellung ale vor fünfzig 
Sahren, will fagen: als Jungfrau und Wirtfchaftsführerin 
ihres unbeweibten Herrn Bruders, ded Herrn Oberdom⸗ 
predigerd, Doftor Renatus Henrici. Und endlich zum 
vierten: daß fogar Schreiber dieſes, nämlic; meine Wenigs 
feit, Zebedäus Gutedel, ald Küfter und Kirdyner am Dom, 
die hohen Altarferzen anzuzünden und das erfte wie das 
legte Trauunggzeugnis feined Vorgeſetzten in das Kirchen 
regifter einzutragen berufen ift. 

Rechnet man zu diefen vier Punkten noch das Anfehn, 
in welchem die beiden Domfamilien Henrici und Borsdorf 
über die Gemeinde hinaus, im ganzen Lande, ja bid zum 
Thron in die Höhe geftanden find; rechnet man dazu, daß 
das Amt am Dom in diefen beiden Familien gleichjam 
erblidy gewefen ift, indem fchon der Großvater und Vater 
unferes Herrn Propſtes — — - 

. Notabene: Ich werde, wohllautenden Wechfeld halber, 
den Herrn Oberdomprediger Henrici einmal Herr Propft 
und ein andered Mal Herr Doktor titulieren, indem fels 
biger die legtere Würde, beiläufig fchon feit vierzig Sahs 
ren, auf Grund eines Ehrendiploms ber hohen Univerfität 
Wittenberg befleidet. Ich meine aber die eines Doctor 
theologiae, wie weiland der große Martinug Luther; beis 
Leibe nicht philosophiae, die ja jeder bedeutungslofe Skris 
bent um ein Dubeldei von Gelehrfamkeit und fogar gegen 
Geldſpeſen zu erlangen vermag. Des Kern Doftors 


334 Die goldene Hochzeit 


Amtsbruder, der Subelbräutigam, paffiert umfchichtig als 
Domprediger oder Herr Magifter. 

Sch wollte alfo fagen, daß bereits der Großvater und 
Bater unferes Herrn Propftes desfelbigen Stellung am 
Dome innegehabt haben, wie auch daß bereits der Vater 
der Subelbraut, Magifter David Adami, in dem zeitweis 
ligen Amte ihres Ehegatten fungierte; daß aber befagter 
Ehegatte hinwiederum dem alten Oberdomprediger und 
Propſt Henrici, Vater des jezeitigen, als Subftitut zur Seite 
geftanden, bis nad des erfteren VBerfcheiden, der leßtere — — 

Aber mich bedünft, ald ob ich mich bei Aufzeichnung 
diefer geiftlichen Erbfolge einigermaßen ind Unklare zu 
verwideln im Begriffe fei, und ziehe zu richtigem Ver⸗ 
ftändnis daher vor, einfad und fachgemäß die Stamm: 
tafel unferes ehrwürdigen Domchroniften zu Fopieren, 
infoweit naͤmlich folche Stammtafel die beabfichtigte Dars 
ftellung berührt oder, Forrefter ausgedrüct, von felbiger 
Darftellung berühret wird. Demzufolge: 

A. Oberdomprediger und Pröpfte am Dome zu f: 

a) Dr. Renatus Henrici von 1760 bis 1805. 
b) Dr. Renatus Henrici, des Obigen Sohn, von 1805 
bis dato, 

B. Domprediger, das heißt zweite Prediger, am Dome 
von T: | 

2) Magifter David Adami, von 1770 bis 1800. 

b) Magifter Renatus Henrici, nachheriger Oberdom⸗ 
prediger und Propſt, von 1800 bis 1805. 

c) Magifter Ehriftian Borsdorf von 1805 bis dato. 

Alle diefe Umftände in Betracht gezogen, wird nun Die 
Behauptung keineswegs ungereimt erfcheinen, daß dag 
Greifengefchlecht in der alten Propftei am Dom - - - 


Die goldene Hochzeit 335 


Notabene: Erft unter dem gegenwärtigen Regiment ift 
die Propftei in zwei getrennte Behaufungen abgeteilt, der 
innere Zufammenhang vermauert, eine befondere Eins 
gangstür von der Straßenfeite für eine jede von ihnen 
angelegt, auch der urfprünglich gemeinfame Hof und ſüd⸗ 
lich nach der Niederftadt ſich abfenfende Garten durch eine 
manndhohe Mauer fepariert worden. 

Aber, beiläufig: ich werde mich diefer erläuternden Rand» 
bemerfungen, Parenthefen und Notabened in Zukunft zu 
entraten fuchen, da fie den zierlichen Fluß der Nede doc 
bemerfbarlich ftören. Bin ich nur erft über die unerläß- 
liche Einleitung hinweg, fo fpüre ich zum voraus, welch 
unhemmbarer Zug aus dem bewegten Gemüt in meine 
Feder frömen wird. 

Was ich alfo fagen wollte, war, daß männiglidy dag 
Patriarchengefchlecht in der grauen Propftei am Dom, in 
Hufive des befcheidenen Anhängfels in der Küfterei, als 
leibhaftig mit dem hehren Tempel verwachfen betrachtet 
ward; vergleichbar dem Efeu, der im Laufe der Jahr⸗ 
hunderte zum Baume erftarft und, unlöslich in feine 
Fugen eingeranft, feinen Lebensſaft aus dem feuchten Ge- 
mäuer faugt. Was ich fernerhin fagen wollte, war: daß 
das heutige Subelfeft nicht nur als eine feltene, erfreuliche 
Familienfeier, fondern wie eine wunderbar erbauliche Be⸗ 
gebenheit zur Gloria unfered weitberühmten Domes von 
Stadt und Landfchaft verhandelt und mitgefeiert ward. 
Sn fämtlichen Korporationen hatten fich glüdwünfchende 
Sendungen, in allen Familien der Gemeinde Spenden der 
Liebe und Hochſchätzung vorbereitet. Die Kränze und 
Kronen, zum Schmude des Altarplages gewunden, hatten 
zwar eiligft befeitigt werden müffen, da der gottfelige Eifer 


836 Die goldene Hochzeit 


des Herrn Propftes diefelbigen als eine weltliche, ja heids 
nifche Zierat, welche bereits die erfte Chriftenheit aus ihren 
Srbauungsftätten verbannt hat, bezeichnete: fie waren je- 
Doch, die Kränze und Kronen nämlich, bei ftiller Nacht in 
finniger Anordnung vor der Propftei befeftigt worden. 
Der Herr Domreftor hatte eine Kantate gedichtet und der 
Herr Domfantor fie funftvoll in Mufif gefeßt, die Damen 
und Herren der Stadt, bis zum hohen Adel hinauf, be- 
teiligten fi) an ihrer Aufführung. Eine Deputation des 
geiftlichen Konfiftoriumsd war aus der Provinzialhaupts- 
ftadt eingetroffen; durch alle Tore zogen die Herren Amts⸗ 
brüder der Ephorie, in feierlichem Ornate, dem gemeins 
ſchaftlichen Sammelplage in der Domaula zu; alle Leute 
trugen Sonntagsfleider; aus allen Türen firömte ein 
MWürzeduft feftlicher Kuchen und Braten, denn dba war 
wohl faum ein Haus, das nicht einen Gaft aus der Um⸗ 
gegend beherbergte. Vom früheften Morgen ab wogte 
auf dem Domplage ein froherwartungsvolled Treiben, und 
netto zwei Stunden, bevor der Domvogt dad große Portal 
auf der Weſtſeite öffnete, Iauerte vor demfelben bie liebe 
Menfchheit Kopf bei Kopf gleich einer Mauer, um im ers 
fehnten Augenblicte auf die gelegenften Schau- und Hör⸗ 
pläße vorzudringen. 

Über diefes Portal, das von Kennern als ein Mufters 
werf fälfchlich „altdeutſch“ benamfeten Bauftiles gepriefen 
wird, wie aud) von dem Dom in feiner Gefamtheit muß 
befürwortet werden, daß lange vor dem heutigen Subel- 
tage der Zahn der Zeit bedenklich an ihnen zu nagen bes 
gonnen hatte. Seit Sahren war von einer gründlidyen 
Renovation die Nede geweſen. An Mitteln fehlte ed bei 
dem beträchtlichen Kirchenvermögen nicht. 


Die goldene Hochzeit 337 


Die ftädtifchen Behörden wie das geiftliche Konfiftorium 
der Provinz hatten das Unternehmen wiederholentlich in 
Anregung gebracht; ein hoher Landtag ſich damit befchäfs 
tigt. Seine Majeftät der König, auch im Kunftgebiet, 
wie männiglich befannt, der Erfte feined Reichs, hatte 
diefe Reftauration „eine Herzensſache“ für Allerhöchftdies 
felben genannt. Weltberühmte Künftler vom Baufach 
waren entjendet, Gutachten, Pläne, Anfchläge eingereicht 
worden, — dennoch aber die dringliche Angelegenheit ſeit 
einem vollen Sahrzehent ſchlechthin gefcheitert, gefcheitert 
an dem Widerfpruche und Widerftande des gewaltigen 
Henrici, der, ich weiß mich nicht faßlicher auszudrücken, 
in feinem Regimente ein Autofrat war und den Dom 
gleichfam als ein feiner Treue anvertrauted Dominium 
betrachtete. 

Herftellung der Baufälligfeiten genehmigte, ja heifchte, 
jedwede Neuerung verweigerte er. Jedweder neue Stein 
follte genau in die alte Fuge paſſen, jedweder Schnörfel, 
jedwedes Ornament genau nad, dem alten Mufter ges 
meißelt, fein Chorftuhl verrüdt, fein Nebenaltar befeitigt 
werden. Nicht eine der Privatfapellen auf und unter den 
Emporen durfte fallen, noch viel weniger diefe Emporen 
felber. Die Heinen Betfäfige und Andachtölauben, die fich 
trennend zwifchen der vorderen Tauf- und mittleren 
Predigtkirche eingeniftet hatten, galten, ald Denkmale pros 
teftantifcher Verſenkung, ihm hoͤchſt erhaltenswert; eher 
aber würde der außerordentliche Mann fein Regiment, ja 
fein Leben geopfert haben, als die durchbrochene Steins 
wand, — obſchon mahnend an die Fatholifche Vorzeit —, 
die gleich einem funftvoll gewebten Vorhang das Heilige 
von dem Allerheiligften fcheidet. Alles follte erhalten oder 
® 


338 Die goldene Hochzeit 


wieberhergeftellt werben, wie ed gewefen oder geworben 
war. „Zutaten, nicht Zerftörungen!” herrfchte der Propft. 
Man munfelte von gar eifermütigen Auftritten zwifchen 
Kunftjüngern und Behörden einerfeitd und dem Dom- 
repräfentanten andrerfeit3; man wußte von hemmenden 
Gewalteingriffen, die zuverläffig feinem anderen als dies 
ſem allerhöchftbegünftigten Greife zugute gehalten worden 
wären, bis dann fchließlich ein Föniglicher Kabinettsbefehl 
die heifle Angelegenheit vorderhand in den Ruheftand 
verfeßte. 

Lieber Himmel! Wir Fleinen Leute fehen und hören 
gewiflfe Dinge in einem weit fchärferen Lichte als die 
Hauptperſonen, vor weldyen bemäntelnd hinter dem Berge 
gehalten wird. Mir, dem Küfter, ift die Allerhöchfte Ab⸗ 
fiht fo wenig wie die allgemeine Anficht von der Sadıe 
entgangen: der Auffchub erfolgte nicht ald Bewilligung, 
fondern aus Schonung für unferen alten Herrn. 

Wie Iange konnte er ed denn noch treiben in feinem 
Regiment? Der Bau erforderte Jahre. Sollte man den 
Greis per fas et nefas aus feinem urväterlichen ‚Beilig- 
tum in ein befcheidenes Snterimsfirchlein der Vorftadt 
verweifen? Ihn wohl gar aus der Propftei vertreiben, 
in welcher feine und feiner Ahnen Wiege geftanden hatte 
und welche nadı dem in der Stille von obenher ange- 
nommenen Plane famt der anflebenden Umgebung — auch 
der Küfterei! — der Erde gleichgemacht werden mußte, 
um dem Gotteshauſe eine freie Anfchau und Umfchau zu 
gewähren? Nein. Wir Alten follten von der Bühne erft 
abtreten, bevor das Neue ind Leben gerufen warb. 

Aber wir Alten treten ab weit, weit fpäter, ald man 
vorausgefehen. In dem feuchtlalten, felten durch einen 


Die goldene Hochzeit 839 


Sonnenftrahl erquickten Dunftkreife unferes Gottesfchreines 
umfängt und eine wunberbarliche Lebensluft, die und ein 
Geichlecht nach dem anderen überbauern läßt. Die heim- 
liche Erwartung, daß der Propft, nachdem er fchon vor 
Sahren fein fünfzigiähriges Amtsjubiläum gefeiert, fich 
freiwillig in den Ruheftand begeben werde, ward zufchans 
den: der eiferne Greis Dachte nicht daran, feinen Poften 
zu verlaflen, ehe Gott ihn rief. Unermüdet forfcht er vom 
Morgen bis zur Nacht in feiner Zelle; ungebeugt fteht er 
jeden Fefttag auf der Kanzel. Nicht auf eine Stunde 
überläßt er, felber zu Händen feines Amtsbruders, des 
Herrn Magifters, die Schlüffel der Kleinodienfammer in 
feinem Seiligtum, und mancher Frembling hat in den leßten 
Sahren, da die Eifenbahn einen lebhaften Verkehr für uns 
fere Stadt hervorgerufen, der alte Herr aber haushältes 
rifcher mit feiner Zeit und Kraft geworden ift und feine 
Führerfchaft nur noch, als einen Akt gnädiger Herab⸗ 
laſſung, abfonderlich hohen und gelehrten Häuptern zugute 
fommen läßt, mancher Fremdling, fage ich, hat vor ber 
gefchloffenen Reliquienfapelle unfere® Domes abziehen 
müffen, ohne die foftbaren Meßgewänder, die tunftvollen 
Altargefäße und andere Raritäten aus alter, allein firdh- 
licher Zeit in Augenfchein genommen zu haben. Inſonder⸗ 
heit aber ift mancher vergebliche Seufzer gefallen um den 
Anblic der feltfamen Rofe von Sericho, die ein Kreuzritter 
aus dem Heiligen Lande zu und gebracht haben fol und 
die in geographifchen Handbüchern als die höchite Merk: 
würdigfeit, ja geradezu ald das Wahrzeichen unferer 
Domftadt aufgeführt wird, wiewohl fie dem Auge doch 
nur als ein vertrodnetes Möslein erfcheint, an dem noch 
nicht einmal ein Menſch die Probe gemacht, ob es, mit 


840 Die goldene Hochzeit 


Wafler befprengt, in Wahrheit zu einem frifchen Ge⸗ 
wächſe in die Höhe quillt oder gar zu einer farbigen 
Blume erblüht. 

Es würde für den dereinftigen Leſer diefer Hiſtorie viels 
leicht nicht ohne Intereffe fein, an diefer Stelle eine Schils 
derung der Seltfam- und Koftbarfeiten aus dem Kronfchage 
unferes Oberhirten eingefchaltet zu finden. Aber ein uns 
redliches Gefchäft für den Schreiber würde ſolche Ein⸗ 
fchaltung fein, da jener gelehrte und gründliche Forſcher 
längft ſchon aud, das geringfügigfte Stüdlein in feiner 
Domdhronif niedergelegt hat und aus dem Grabe heraus 
feinen demütigen Handlanger und Diener eines geiftlichen 
Diebſtahls bezichtigen konnte. Das fei ferne von mir! 
Hat gegenwärtiged Sfriptum doch wefentlich auch nichts 
mit dem Dome als foldhem zu fchaffen, nur mit feinen 
In⸗ und Beifaffen am Tage der heutigen Subelfeier. Sa, 
fammle ich im Grunde doch nur das Material zu einem 
erbaulichen Xebenebilde für eine würdigere Hand, wenn 
eines Tages die meine in Staub zerfallen wird, und vers 
zeichne ich doc; nur fonder Kunft und Studium die Um⸗ 
ftände, welche diefer Subelfeier erft ihre wahre Bedeutung 
gegeben haben; Umftände, die in meiner vertraulichen 
Stellung mir ganz allein zu Auge und Ohr gefommen find 
und die in der Henricifchen Chronik dereinft nicht nach⸗ 
zulefen fein werden. 


Nach mufterwürdiger Hiftorienfchreiber-Sitte beginne 
ich demzufolge mit dem Allgemeinften: will fagen mit 
Himmel und Wetter, die ſich der jubilierenden Menfchheit _ 
zu einer Feitgenoflenfchaft verbündet hatten. 

Denn nadıdem ein Fühler, regnerifcher Maimonat in ber 


Die goldene Hochzeit 344 


Tat weniger Wonne verbreitet hatte, ald gemäß der alten 
guten Bauernregel Segen für Scheuer und Faß in Auss 
ſicht ftellte, Tagerte fich heute, am erften Junius, ein wol⸗ 
tenlofe8 Blau über die erquickte Erde, blinfte die Tiebe 
Sonne warm und goldig hernieder und hatte das Gebirge 
über Nacht all die grauen, dicken Nebelfappen abgemworfen, 
in die es fich feit Wochen gehüllt. Deutlich, wie mit Dem 
Griffel gezeichnet, begrenzten feine Felsfpigen und Wald» 
rüden den weftlichen Horizont. 

„Wie diefe Heiterkeit gleich beim Erwachen das teuere 
Hochzeitspaar ergötzen wird!” fagte ich zu mir felber, 
nachdem ich gerührten Herzend im erften Dämmerungd- 
fchimmer mein Morgendanflied gefungen hatte. 

Denn der Magifter Borsdorf war ein Freund und 
fozufagen Liebhaber der fichtbarlichen Natur. Sein erfter 
Blick galt den Morgen: und fein leßter den Abendfternen; 
Wind und Wolken wußte er zu berechnen wie ein Schäfer 
oder Jägersmann; folange feine anjeßo leider ſchwach 
werdenden Füße ihn trugen, fchweifte er mit Botanifter- 
trommel und Schmetterlingsfchere. in Wald und Flur 
umher. Daheim aber wartete er in Schachteln und Gläfern 
des gefammelten Gewürms, wartete des Bienenhaufes in 
feinem Garten mit der Sorgfalt eined Familienvaters. 
Seine Sinfeftenfammlung wurde von Kennern ald eine 
Sehenswürdigkeit gepriefen, in ihrer Art faum geringer 
als felber die Kleinodienfammer unſeres Doms; feines 
Aurifelflors im Lenz, der Pracht feiner wiederholt bis in 
den Herbft hinein blühenden Rofen würden fich herrfchaft- 
liche Anlagen nicht zu fehämen haben. Mit offenem Auge 
fucht, findet und unterfcheidet er Das unfcheinbarfte Gebilde, 
mit gedeihlicher Hand pflanzt, pflegt, fördert, veredelt er 


342 Die goldene Hochzeit 


den fchwächften Keim, und wer, wie ich in jüngeren Sahren, 
ihn auf einer fommerlichen Wanderung durdy dad Gebirge 
begleitet hat, der darf fagen, daß er gleidyzeitig Luft und 
Belehrung eines Reifenden gefoftet. 

Wie aber der himmlifche Vater Sinn und Trieb der 
Menfchen verfchiedentlicd, gefchärft, wie er fie gerichtet hat, 
daß, Rüden an Rüden gelehnt, dem einen die fichtbare, 
dem anderen die unfichtbare Natur zur Offenbarung wird, 
davon hatte man, wie an feinem zweiten, an ded Magifters 
Amtsbruder und Nachbar ein lehrreiches Exempel. 

Seitdem Renatus Henrici den Oberpoften am Dome 
angetreten, hatte er dad Weichbild unferer Stadt feinen 
Fußbreit überfchritten; der Gottesader der Gemeinde, der 
in fein Amtsbereich gehört, war feine Außerfte Grenze. 
Sa, in der langen Zeit, wo faum einer feiner Schritte mir 
verborgen geblieben ift, habe ich ihn nur ein einziges Mal 
fi, was man fo Iuftwandeln nennt, außerhalb feines 
Gartens bewegen fehen. Das gefchah aber in jenem Früh- 
ling, fünfzig Sahre vor dem heurigen, da er juft in bie 
Oberdomwürde aufgerüct war und die liebliche Magdalene 
Adami, die Mündel und Pflegetochter feines weiland Herrn 
Vaters, ald arme Domwaiſe, neben feiner Schwefter Des 
bora, unter feinem Dache und Schuße verweilte. 

Ad), damald lag freilich die Zukunft weit reicher, als 
fie fi) nach Gottes unerforſchlichem Natfchluffe geftaltet 
hat, vor meinen hoffnungstrunfenen Blicken. Die vier 
Domfinder, Ehriftian Borsdorf (fein Bater war Rektor der 
Domfchule) und Debora Henrici, Renatus Henrici und 
Magdalene Adami, verfprachen, zwei Paare am Dome zu 
werden; die geiftliche Erbfolge ſchien in doppelter Weiſe 
und in den Ffräftigften Gefchlechtern geſichert. So vor 


Die goldene Hochzeit 943 


fünfzig Sahren. Und heute? Renatus und Debora Hen⸗ 
rict find ledigen Standes und folchergeftalt ohne Leibes⸗ 
erben verblieben; dem Chriftian Borsdorf und feiner 
Ehegattin Magdalene Adami find von einer zahlreichen 
Nachkommenſchaft nur zwei Großfinder erhalten worden: 
von einem Sohne eine Tochter, Debora Borsdorf, und von 
einer Tochter ein Sohn, Renatus Friedheim; beide als 
Augens und Herzenstroft ihrer alten Tage, in ihrem Haufe 
lebend; die Enkelin, eine holdfelige Sungfrau, juft fo alt 
wie ihre Großmutter heute vor fünfzig Sahren, nämlich 
achtzehn; der Enkel, ald Subftitut feined Großvaters, wie 
diefer damals bei dem weiland Oberdomprediger Henrici. 
So heute! Und gefegt den denkbar glüdlichften Fall, daß 
der fönigliche Patron unfered Doms feinen anderen als 
ben Friedheim zum Nachfolger feined Großvaterd, even- 
tualiter auch noch auf einen höheren Poften, berufen follte, 
ein Fall, der - man berechne die Scharen älterer Bewerber 
bei folcher Ausſicht! — der alfo gar nicht in Betracht kom⸗ 
men dürfte, ohne die Verwendung des einflußreichen Hen⸗ 
rici zugunften des Erbherfommend und ohne die Löblichen 
Eigenfchaften des jungen Kandidaten, — gefeßt alfo dieſen 
glücklichen, aber, ach! nur allzu unwahrfcheinlichen Fall, 
fo hieß er Friedheim, nicht Henrici, nicht einmal Borsdorf; 
die alten Namen, die alten Erinnerungen löfchen aus; 
alles wird anders; auch gut, will's Gott! beffer in manchen - 
Stüden vielleicht; aber anders, unergründlid, anders, und 
dieſes Anders tut einem adıtzigjährigen Herzen weh. 
Endlich aber ich felber, Zebedäus Gutedel, der ich in 
ber Sugend meine Freiheit aufgegeben und die Leibeigens 
fchaft des Eheftanded auf mid) geladen hatte, nicht ohne 
zärtliche Neigung, es ift wahr, aber zum erften doch in der 


344 Die goldene Hochzeit 


Hoffnung, dem Dome einen Erbfüfter zu erzielen, auch ich 
fahre in die Grube. — Aber wohin fchweift mein Geift! 
Ad), die Folgerichtigfeit ift eine fchwere Kunft, wenn eine 
Idee, fozufagen eine Hauptidee, unabläfftg in unferem 
Hirn und Herzen wühlt! Da bin id; ſchon wieder bei 
dem A und D meiner fohlaflofen Nächte und follte Doch 
eigentlich bei jenem hoffnungsvollen Frühlingstage fein, 
an welchem ich Renatus Henrici mit einem Strauße gelber 
Butterblumen aus dem Poetengange hinter unferer Kuh⸗ 
wiefe zuruͤckkehren fah. 

Aber diefe Maienanwandlung war entſchwunden, flüch⸗ 
tig wie fie aufgeftiegen; Renatus Henrici war damals fchon 
ein allzu tieffinniger Gelehrter, ein viel zu weit fchallender 
Redner und Schriftfteller, gleichfam ein proteftantifcher 
Kirchenvater geworden, um ſich auf Die Dauer eine weich⸗ 
herzige Stimmung für die vergängliche Natur zu geftatten. 

Hatte er nicht Bücher und Handfchriften? hatte er nicht 
Amt und Regiment, hatte er nicht feinen Dom? Alles 
das für den forfchenden Geift! für das Leibliche aber, zur 
wohltätigen Erfchütterung von Lunge und Zwerchfell — 
wennfchon er bei feinem gefegneten Appetit und bis zur 
Stunde ungeftörten Kreislauf fämtlicher Körperfunftionen 
diefer Nachülfe kaum zu bedürfen fchien — hatte er da 
nicht feinen Garten? Konnte er nicht — und tat er e8 
nicht regelmäßig bei Wind und Wetter, in Regen und 
Schnee — konnte er nicht jeden Nachmittag in der Zeit, 
wo das Sonnenlicht ſchwach und Bas Rampenlicht blendend 
wird, fünfunddreißig Minuten nad, der Uhr in dem alten 
Ulmengange auf und nieder fpazieren und feinen Gedanken 
dabei Audienz geben, ohne von einem fremden Menfchens 
geficht oder gar einem ſchwatzhaften Mundwerk geftört zu 


| 
Die goldene Hochzeit . 345 


werden? Schüßte ihn nicht die mannshohe Mauer vor 
der Begegnung der Nachbarfamilie und das dichte Ges 
ſtrüpp felber vor deren befäftigenden Blicken? Hätte ein 
anderer Menſch außer feiner Schwefter Debora die pflichts 
fchuldige Nückficht gezeigt, gleichfam als ein Schatten oder 
Schugengel, in tiefem Schweigen, zehn Schritt hinter ihm 
drein zu wandeln? 

Was aber den Horizont betrifft, Wolken, Sonne, Mond 
und Sterne, welche die hohen Bäume des Gartens vers 
decften: kannte dieſer Forfcher in Gott nicht einen weiteren 
Himmel und eine höhere Unendlichkeit ald die, welche 
fchwache, wenn auch mitunter recht fromme Menfchenfinder 
hinter derlei Luftgebilden und leuchtenden Himmelskörpern 
erträumen? 

„Alles Bergängliche ift nur Schein und Widerfchein”, 
fagte Renatus Henrici, und Renatus Henrici, der fein 
ganzes Wefen in dad Sein verfenfte, hätte der nach einem 
Widerfchein fragen follen? 


Zweites Kapitel 

Nein, der Mann war zu groß, um nach dem Maße ges 
wöhnlicher Menſchen gemeflen zu werden. Er wußte das 
auch, und darum wollte ed mich fchier bänglich wie ein 
Zeichen heranfchleichender Alterdfchwäche bedünken, daß 
ich ihn heute morgen, ald er aus der engen dunflen Schlaf- 
zelle zwifchen den beiden von ihm bewohnten Zimmern 
trat, nicht wie alle Tage in die nadı dem Dome belegene 
Studierftube und alfobald auf das mächtige, mit Büchern 
und Sfripturen beladene Pult, fondern auf das nad) dem 
Garten führende Fenfter des Frühſtücksgemachs zufchreiten 
und in die auffteigende Sonne bliden fah. 


& 
346 Die goldene Hochzeit 


Sch fah ihn, fage ich; denn ich faß fchon eine gute 
Weile in dem fogenannten Küfterzimmer, nach welchem 
beide Türen der pröpftlicen Gemächer Tag und Nacht 
geöffnet ftehen, und harrte der Anweiſungen, die er mir in 
der Frühe entgegenzunehmen geboten hatte. Keine feiner 
ungewohnten Bewegungen entging mir daher. Er öffnete 
ein Schößchen, fog mit einem tiefen Atemzuge — wenns 
nicht etwa ein Seufzer gewefen ift — bie würzigen Düfte 
ein, die aus dem WMagiftergarten herüberdrangen, und 
ftand darauf wohl zehn Minuten lang regungslos in den 
goldenen Morgenhimmel verfunfen, fo ald ob er ein ſel⸗ 
tenes, zwiefältig zu enträtfelndes Palimpfeftos vor Augen 
habe, dergleichen Pergamente er höher ald alle andere 
Handichriften in Ehren hält. 

Solchergeftalt in Betrachtungen vertieft, ftand er noch 
am Fenfter, als feine Schweiter, „bad Domfräulein“, wie 
fie von aller Welt genannt wird, nachdem fie dreimal Ieife 
an bie Tür geflopft hatte, in das Zimmer trat. 

Sie neigte tief, aber fchweigend zum Gruße das Haupt, 
ließ einen verwunderten Blick auf den Bruder am Fenfter 
ftreifen, feßte das Kaffeegeichirr, das fie im Arme trug, 
auf den Tiſch, ſchenkte eine Zafle ein und ftellte den 
Heft, welcher, in langfamen Zügen gefchlürft, den ganzen 
Bormittag vorzuhalten pflegte, auf der Kohlenpfanne 
warm. Sie war im Begriff, fich leife, wie fie gekom⸗ 
men, wieder zu entfernen, ald der Propft, ohne feinen 
Platz zu verlaffen, fi) mit der bedeutfamen Frage an fie 
wendete: 

„Zräumft du zuzeiten, Debora?“ 

„Zuzeiten, Renatus,“ antwortete das Fräulein mit gros 
pen befremdeten Augen. 


Die goldene Hochzeit 347 


„Sch niemals, — aber diefe Nacht,“ fagte er und blickte 
wieder hinaus in die Sonne. 

Sie wollte fich zum zweiten Male entfernen; zum zweiten 
Male hielt ein Laut aus feinem Munde fie feft. 

„Fünfzig Jahre, Debora!l” murmelte er, in Erinnes 
rungen verloren. 

„Fünfzig Sahre, Renatus!“ wiederholte das Fräulein, 
indem fie mit langfamen Schritten fich feinem Plage näherte. 

„Mir ift, ald wäre es geftern gewefen, Debora.“ 

„Mir ift e8 alle Tage feitdem wie geftern gewefen, 
Renatus.“ 

„Die Sonne ſcheint klar wie damals, der Himmel iſt 
blau und die Koppe unverhüllt.“ 

„Der Flieder blüht ſpät wie damals, da die . 
bereits im Aufbrechen find.“ 

„Ein halbes Jahrhundert, Debora!” 

„Ein halbes Jahrhundert, Renatus!“ 

Es folgte eine Paufe. Die beiden hohen Geftalten ftan- 
den nebeneinander, regungslos, ald wären fie von Stein. 

„Debora!”" hob endlich der Bruder wieder an, „Des 
bora, die Zeit ift unmerflicdh gefommen, und Ordnung 
nüße auch in geringfügigen Dingen. Debora, morgen 
mache ich mein Teſtament.“ 

„Sch mache es mit dir, Renatus.“ 

„Genau weiß id) ed nicht, aber — fünfzig Sahre! — e8 
fummt fidy zufammen; dreißigtaufend müflen e8 fein.“ 

„Bei mir ift ed mehr. Und außerdem: fünfzig Sahre! 
es fpinnt und webt fi) zufammen: jeden Sahrgang ein 
Gedeck und ebenfoviel Stüc Leinwand find es, Renatus.“ 

„Wir haben keine Kinder, Debora.” 

Das Fräulein fenfte die Augen zu Boden, 


548 Die goldene Hochzeit 


„Keine Blutöverwandten, feine Freunde, Debora.” 

Das Fräulein feufzte. 

„Sterbe ich vor dir, Debora — —“ 

„Gott verhüt e8, Renatus.“ 

„Sp genießeft du bis an dein Ende, wad id) verlaffe. 
Aber unfer Erbe — —“ 

„Unfer Erbe —“ 

„Sit der Dom.” 

„Der Dom!“ 

Du lieber Himmel, dachte ich in meinen Gedanken, 
was foll der Dom mit dem ſchönen Leinen und Drell? 
Und felber, was fol der Dom mit den Henricifchen Erb- 
talern, er, der fchon fo viele ungenugt in feinem Gottes⸗ 
faften liegen hat? Mit diefen Gedanken aber jagte der 
alte, immer neue Aufruhr mir durch Kopf und Herz. 

In den ungezählten Lebengftunden, die ich harrend auf 
dem Küfterftuhle in ftiller Betrachtung des gottfeligen 
Fleißes diefed Mannes hingebracht und mich in die Zellen 
der gelehrten Benediftiner, die einftmals in diefen Räumen 
geheimft, zurückverſetzt, da hatte fich in meinem inwendigen 
Menfchen die Überzeugung ausgebildet, wenngleich ich 
ſchwarz auf weiß fie leider nicht darzutun vermag, Die 
Überzeugung, daß das Domgefchlecht der Henrici von 
einem jener Mönche feinen Urfprung leite, einem Pater 
Henricus etwa, dem der große Doktor Luther mit dem 
Erempel der Ehelichfeit das Flöfterliche Gelübde fprengen 
ließ. Und nun nagte ed an meiner Seele wie ein Wurm, 
dieſes gefegnete Exempel an einem Henrici zufchanden 
werden und ben Lebten feined Namend der Grube ent: 
gegenfahren zu fehen, gleichſam wieder ald einen Mönd). 

Ehe ich nun aber zu befchreiben verfuche, was mid; bei 


Die goldene Hochzeit 849 


feinen Worten heute morgen ftärfer ald jemals erfchätterte, 
möge ed mir, ohne Unbefcheidenheit, vergönnt fein, in die 
Schilderung meiner hohen Vorgefegten ein Wörtchen über 
meine eigene Wenigfeit einzumeben, infofern felbige näms 
lich das Verhältnis zu jenen hochverehrten Perfonen bes 
rührt. | 

Keine fchreiendere Ungerechtigkeit und feine empörendere 
Zügellofigfeit der Prefle als die Schablone, nach welcher 
in fpaßhaften Hiftorien, in fchnurrigen Märlein und felber 
in gereimten Berfen — die ich aber als ungereimte traf 
tiere - dad Amt meiner Kollegen, der Kirchner und Küfter, 
gleich einem Schmarogerdienft, die Zunft in ihrer Ges 
famtheit — Ausnahmen laſſe ich gelten — ald eine von 
Scylemmern und Handnarren verfpottet wird; in ihrer 
geiftlichen Art etwa den Barbieren und Schneidern an 
die Seite zu ftellen, die unter den bürgerlichen Hans 
tierungen famt und fonderd wie Kafenfüße und winds 
beutelige Poffenreißer abfonterfeit werden, da id) doch 
manchen beherzten und gefegten Mann unter denen ihres 
Zeichens fennen gelernt habe. Wahrlich, es ift kein Kunfts 
ſtück von diefen Herren Hiftorienfchreibern, derlei abges 
drofchene Allotria immer von neuem wieder aufzumärmen, 
und gedenfe ich vor meinem Abfcheiden zur Redjtfertigung 
meiner Standedwürde mit einem Schriftftüf vor das 
Publikum zu treten, auf welches ich mir zum voraus er⸗ 
(aube, die Blicke aller Wahrheitöfreunde hinzulenfen; ein 
Schriftſtück, dem ich Die Fraftvollften Stunden meines Lebens 
zugewendet und das, ich hoffe es, das Gedächtnis der alten 
Domkuůͤſterei, nachdem dieſe längft dem Erdboden gleich 
fein wird, friſch und lebendig erhalten, den erlofchenen 
Namen „Gutedel”, wenn auch in befcheidener Entfernung 


350 Die goldene Hochzeit 


von dem der Henrici, — aber nicht ohne Ehre für unfern 
Dom deffen Schriftftellern beigefellen wird. 

An diefer Stelle nur eine Frage im allgemeinen: 

„Man gönnt einem Kürften viele Kammerherren, 
einem Feldherren viele Adjutanten, und einem Kirchen 
oberhaupte will man einen einzigen Küfter verfünmern y 

Und eine zweite im befonderen: 

„Ein Parafit und Faulenzer, ein Hansnarr nach der 
ffribentifchen Schablone, würde ein folcher fich eines Ver⸗ 
hältniffes rühmen dürfen, wie Zebedäus Gutedel ſich des 
feinen zu einem Borsdorf und Henrici?” 

Denn das zu dem heutigen Jubilar und feiner werten 
Familie kann ich, ohne Schmeichelei, fchlechthin ein ges 
mütliches nennen. Gehöre ich nicht zu ihnen wie der Ießte 
Ring einer Kette? Bin ich um ein Haarbreit weniger 
als Hausfreund? Werde ich nicht in Freud und Leid zu 
Rate gezogen? Erhalte ich nicht mein Teil von allen 
MWünfchen und Sorgen, wie von allen Lederbiflen, die der 
Haushalt mit ſich bringt: im November von der Schlacht» 
fchüffel, zum heiligen Chrift meinen Weden, am grünen 
Donnerstag eine KHonigfcheibe aus dem Bienenhaufe? 
Wann Mingen im Magifteranteil der alten Propftei die 
Stäfer zu einem Profit oder Memento aneinander, daß 
Zebedäus Gutedels Freudens und Tranenkelch fich nicht 
mit dem ihren mifcht? | 

Weit verfchieden Dahingegen der Standpunkt des Hen⸗ 
riciſchen Gefchwifterpaares gegenüber meiner befcheidenen 
Perfon. Ich kann ihn nicht anders als einen erhabenen 
bezeichnen, und nicht ein einziges Mal in foundfo viel 
Sahren bin ich vor das Angeficht meines höchften Ober: 
hauptes mit einer anderen Empfindung getreten ald ber, 


Die goldene Hochzeit 351 


ee u rl una 
die mir in den hohen, grauen Ballen unfered Domes wie 
ein Schauer der Feierlichfeit vom Wirbel zur Zehe riefelt. 

Gleichwohl habe ich mid; juft von diefem außerordent- 
lichen Herren der ehrendften Beweife der Gemwogenheit zu 
rühmen gehabt. Erft durch feine Verwendung ift die 
Domtfüfterei zu den Erträgen gelangt, welche fie heute zu 
einem beneidenswerten Poften macht. Aus feinem eignen 
Sädel hat er dereinft meine Mutter, ald Küfterwitwe, 
meinen blindgeborenen Bruder und mandhen aus meiner 
Frauen Sippfchaft reichlich unterftügt; und das ohne 
vorausgegangene Bitte, ohne Frage nadı der Verwen⸗ 
dung, mit fichtbarlicher Scheu vor dem Habdank. Renatus 
Henrici ift großartig im Geldpunfte, wie in jeglichem 
anderen; wie hätte ohne das fein Vermögen auch nicht 
weit die dreißigtaufend überfteigen follen, deren er vorhin 
erwähnte? Denn, mit Ausnahme feiner Bibliothef, bes 
darf er für die eigne Perfon fo wenig ald ein Klofters 
bruder; er war ein Erbfohn von Wutterfeite, und die 
Oberdomftelle trägt, fchlecht gerechnet, an die dreitaufend 
im Sahre; die fogenannten Stolagebühren noch gar nicht 
einbegriffen, die er jederzeit in die Domkaſſe fließen läßt. 

Desfelbigengleichen hat der Propft Henrici mit eigner 
Hand meinen Ehebund eingefegnet, meine Kindlein ges 
tauft und fie zu Grabe geleitet, ald Gott der Herr fie mir 
wieder nahm. Der Fall ift nicht vorgefommen, daß ich 
mich erinnere, aber hätte ich Rat gefucht für meinen Geift, 
ich würde mich an den Doktor gewendet haben; fuchte ich 
Troft für mein Gemüt, und ed gefchah des öfteren, ging 
ich hinüber in das Magifterhaus. Über alle und jede 
Wonhltat jedoch muß ich mid) rühmen der ftillfchweigenden 
Zeugenfchaft an allen Arbeiten und Handlungen des ehr- 


352 Die goldene Hochzeit 


würdigen Mannes, des ftolgen Bewußtfeing, niemald durch 
ein Zeichen der Verheimlichung oder des Mißtrauens von 
ihm gefränft worden zu fein. Und wäre ed mitten in der 
Nacht gewefen, ich Durfte unangemeldet bei ihm eintreten; 
ic trug feinen Hausſchlüſſel in meiner Tafche und wars 
tete im bequemen Küfterftuhle des allezeit für mid; offnen 
Vorgemachs den Augenblid feiner Muße für mein Ans 
liegen ab. Sch gehörte eben zum Dom; ich war ein Erbe 
von Bäterfeite an felbigem fo gut ald er felbft; wer den 
Diener beleidigte, hätte den Herrn beleidigt; gleichwie 
einer, der etwa die Safriftei verunreinigt oder den Klingels 
beutel beftohlen, das Heiligtum der Kirche felber gefchändet 
hat. Und fo kann ich denn dreift behaupten, daß ich nie 
mit einem Menfchen wie mit diefem mich gleicherweife in 
Fleifch und Bein verwachfen, fozufagen eines Leibes und 
eines Geiftes empfunden habe, wenn ich mich auch unter 
feinen Umftänden unterfangen haben würde, meine Stimme 
zu einem Einfpruche zu erheben, Rat oder Widerrat aufs 
fommen zu laflen, felbft wenn ich dann und wann nicht 
gleichen Sinnes mit dem geftrengen Herrn des Domes su 
fein vermochte. 

Wie ich ihn aber anjeßo vor dem Fenfter ftehen und 
ungeblendet, gleich dem Aar, in die glänzende Morgens 
fonne fchauen fah, wie ich ihn feines legten Willend und 
des fühllofen Erben von Stein erwähnen hörte, da trat 
von neuem und Aßender denn je die Zufunft vor meine 
jammervolle Seele, wo diefer uralte, Fräftige Stamm, im 
Schatten ded Domes aufgewachſen, verdorren und fpurlos 
verfchwinden, wo diefe Wohnftätten, Zeugen fo langbes 
währter geiftlicher Tugend, der Erde gleich fein follten. 
Und nicht ein Name übrig, der aus dem neuen Regiment 


Die goldene Hochzeit 353 


in das alte zurücdeutete; Fein Faden, fein Klang, der das 
Merdende mit dem Abgefchiedenen verband! Sei ed um 
die Gutedel und um die Küfterei; ed kann Kletterpflanzen 
verfchiedentlichen Namens geben. Sei es um die Borsdorf: 
fie waren ein neued Neid, nur durch Chelichfeit der alten 
Eiche aufgepfropft; aber die Henrici, die Pröpfte! die Wur- 
zel und die Krone diefer Eiche zu gleicher Zeit, audy fie, 
auch fie! Unwillfürlich faltete ic; meine Hände und flehte, 
— flehte um ein Wunder! 

Die heißen Tropfen ſchwammen in meinen Augen, und 
als ich fie hinunterpreffen wollte, um nicht mit den Spuren 
unliebfamer Weichlichkeit vor meinem Herrn zu erfcheinen, 
da ſchnürte fich mir Die Gurgel zufammen, ein Schluden 
ergriff mich, ein Küfteln, und diefes Geräuſch weckte ben 
Doftor aus feiner Kontemplation. 

„Der Küfter!” fagte er, ſich befinnend. 

Das Wort war mir ein Befehl; ich trat in das Frühs 
ſtückszimmer und unter die Augen des gewaltigen Mannes. 

Hätte ich feit den mehr als fiebenzig Sahren, daß ich in 
unferer Domfchule neben Renatus Henrici mensa des 
flinieren gelernt oder auf dem Domhofe Ball und Kreifel 
mit ihm gefpielt, — wiewohl letzteres häufiger mit Chriftian 
Borsdorf, dem Dritten im Bunde der Domfnaben, denn 
jener war allezeit mehr ein Schul- ald Spielfamerad — 
hätte feit diefen mehr als fiebenzig Sahren ich Nenatus 
Henrici heute zum erften Male wiedergefehen, wahrlich! 
auf den erften Bli würde id) in dem Greife den Knaben 
wiedererfannt haben, fo wenig, oder fo naturmäßig hatte 
er ſich verändert, und fo unauslöfchlich prägte feine Ers 
fcheinung ſich dem menfchlichen Gedächtniffe ein. 

Er war fchon damals um Kopfeshöhe größer als wir 


554 Die goldene Hochzeit 


anderen feines Alters; Fleifch befaß er fo wenig als heute 
an feinem Körper, aber wie heute noch eine eherne Mus⸗ 
fulatur und eine fteilrechte Haltung, welche die Laſt der 
Jahre nicht um eine Linie gefrümmt hat. Seine mächtig 
gefchwungene Nafe gleicht der des Königs der Lüfte, und 
ber Herrfcherglanz in dem weitgeöffneten, dunfeln Auge, 
die hochgewölbte, über der Nafenwurzel dicht verwachſene 
Braue, die gemahnen mid) jedesmal an das Bildnis von 
Gott dem Herrn im Süngften Gericht über dem Hauptaltar 
in unferem Dom. (Wer möchte denn auch beweifen, daß 
nicht ein Henrici dem alten Maler ald Modell zu dieſem 
Meifterftüc gefeffen hat?D Sein rabenfchwarzes Haar, 
nur mit wenigen hellen Fäden untermifcht, ftrebt über der 
breiten, gewaltigen Stirn in die Höhe, gleich einem Wald, 
und fest feinem Längenmaße nod) ein beträchtliches zu. 
Selten rötete auch im Knabenalter ein Blutstropfen Die 
gelbbleichen Wangen, und das blendende Gebiß zeigt fich 
diefed Tages noch unerfchüttert zwifchen dem fchmalen, 
fchwachgefärbten Lippenfaum. Eine Fürftens und Heldens 
geftalt, diefer Mann! 

Und wahrlich! wie ein Fürft und Held nimmt er ſich 
auch aus drüben in der Bilderreihe der Pröpfte zwifchen 
ben Spitbogen ded hohen Chors. Alle überragt er. Der 
fchwarze Talar und die Bäffchen dünken einem nur zur 
Berhüllung über eine Nitterrüftung geworfen: die leifefte 
Bewegung, und Schwert wie Harnifch leuchten hervor. 

Und ein Held, ein Fürft, das fcheint er nicht nur, nein, 
das ift diefer Mann. Ein Fürft und Held im Geift! Denn 
einer, ber feit Menfchengedenfen fein Zeichen von Schwach⸗ 
heit, von Sehnſucht oder Verlangen kundgetan; einer, der 

niemals fichtbarlid; Freude oder Leid von einem andern 


Die goldene Hochzeit 355 


Menfchen empfangen; der niemals zeitliche Not und Sorge 
getragen; der niemald zagend an einem Kranfens oder 
Sterbebette gefeflen, ja, nicht einen einzigen Tag felber 
auf dem Kranfenbette gelegen; einer, der feines Menfchen 
Hand gedrüdt und geflehet hat: „fei mein Freund!”; der 
niemald vor einem Menfchenauge gezittert, gefeufzt, ge⸗ 
flagt oder eine Träne geweint; der von jeglichem Gottes» 
und Menfchenwert nur einen Andachtötempel und die 
Geiftesfrüchte der Vor- und Mitwelt in fein Leben aufges 
nommen, — ift der nicht ein anderer als die unruhigen 
Zaufende rings um ihn her? Ssft er nicht geboren, über 
fie zu herrfchen? Iſt er nicht ein Held und Überwinder? 
Er hätte auf einem Throne ftehen follen! Und wahrlich! 
wie auf einem Throne fteht er auch: einfam, unerreichbar 
über der niederen Welt; fei es vor dem Pult in feiner 
ftilen Klaufe; fei ed auf der Kanzel mit dem martferfchüts 
ternden Wort, oder am Altar mit dem erhobenen Kelch 
des Saframents; fei ed am Rande des Grabes, wenn er 
das Vergängliche verfchütten fieht und den Segen über 
das Unvergängliche fpendet. 

„Küfter, du ſchwärmſt!“ höre ich Fopfichüttelnd den 
Nachgeborenen fagen, dem dieſe Blätter in die Hände 
fallen werden. „Dein Held und Kerr ift eine Audgeburt 
deiner müßigen Stunden drüben im Küfterftuhle der grauen 
Propftei. Hat Renatus Henrici denn nicht Vater und 
Mutter gehabt wie andere Erdenfühne? Hat er nicht dieſes 
Tages nody eine Schweiter? Hat er nicht einen Amts⸗ 
bruder, der fein Sugendfreund gemwefen und deffen Ehefrau 
unter feinem Dache herangewachfen ift?“ 

Auf diefe Fragen antworte ich wie folgt: „Sa, natürs 
lich hat er eine Mutter gehabt, aber fie verloren, ehe ein 


856 | Die goldene Hodyzeit 


Kind diefen Verluſt ermißt; er hat einen Vater gehabt, 
aber ihn hinfcheiden fehen als müden reis. Sa, er hat 
noch heute eine Schweiter, die fein Ebenbild ift und gleidhs 
fam fein Widerhall: Tang, hager, kühn von Nafe, fchwarz 
von Haar, gelb von Farbe, gefund und ungebeugt wie er; 
einfam und farg von Worten wie er; ftridend und fpins 
nend, wenn er lieft und fchreibt; lebend für feine Ehre, 
wie er für des Domes Ehre; Geift von feinem Geift und 
Bein von feinem Bein. Er hat auch einen Jugendfreund 
und eine Gugendfreundin gehabt, — aber dennoch, oder eben 
darum ift Renatus Henrici Das geworden, was er ift und 
was ich von ihm behauptet. 


„Zebedäus!“ rief der Propft, als ich in Die Stupdierftube 
trat; und weil er nicht wie gewöhnlid, vor feinem Pulte 
faß, fondern, ſich vom Fenfter abwendend, die Hände auf 
dem Rüden, im Zimmer hin und wider fchritt, traf midy 
ein Strahl aus feinem Feuerauge. 

„Was ift Ihm, Zebedäus?“ fragte er. „Hat Er ges 
weint?” | 

„Zu Befehl, Hochwürden, ich habe geweint,” ftammelte 
ich verwirrt ob einer Aufmerffamfeit, die weder mir noch 
wohl einem anderen je im Leben von ihm zuteil geworden 
war. 

„Warum hat Er geweint, Zebedäus?“ 

„Hochwürden, — diefer Tag, — und was id) eben vers 
nommen — —” 

„Daß ich von meinem Tode geſprochen habe? Kat Er 
mich für unfterblicy gehalten, alter Mann?” 

„Beileibe nicht darum. Wer wäre reifer als Hoch⸗ 
würden für das ewige Freudenreich!” 


Die goldene Hochzeit 357 


„So ift e8 wohl gar mein Teftament, das Ihn Fleins 
mütig macht?“ 

„Auch das nicht, Hochwürden. Selber ein Süngling 
tut wohl, fein Haus zu beftellen.“ 

„Nun, warum weint Er denn, Zebedäus?“ 

„Sch weine von wegen des Erben, Hochwürden.“ 

„Wüßte Er einen würdigeren Erben als unferen Dom?“ 

Eine nie gefannte Mutigfeit kam über mich. Ganz ges 
wiß die Wirkung meines inbrünftigen Gebeted von vorhin. 
„Aber der Dom ift von Stein,” fo wagte ich mid, heraus. 
„Er fühlt die Wohltat nicht, und er bedarf fie nicht, Hoch: 
würden. Der Danf ihrer Erben erquidt die Wohltäter 
im Senfeite.” 

Er runzelte die Stirn und befchleunigte feine Schritte. 
Eine lange Weile ſprach er fein Wort. Endlich aber be⸗ 
gann er von neuem und, wie mir fchien, mit einem weich⸗ 
mütigen Klang. „Er hat auch feine Kinder, Zebedäus.“ 

„Sc bin nur ein geringer Mann, Hochwürden,“ vers 
feßte ich. „sch heiße Gutedel, nicht Henrici. Sie ftarben 
bald nach der Geburt. Es waren ihrer acht; aber. ein 
Wiegenkind gleicht dem andern; ihr Bild ift mir ent- 
fhwunden. Befchleicht mich zuzeiten die Wehmut, tröfte 
ich mich mit denen, die niemals einen Leibesfegen emp⸗ 
funden haben.” 

„Nun, fieht Er, Zebedäus,“ entgegnete milde der Propft, 
„ich tröfte mich mit denen, die ihn wieder verloren. Alles 
Fleifch ift wie Gras und verweht wie die Blumen des 
Feldes. Aber ein Bau wie diefer predigt vielen Gefchlech- 
tern. Noch in Trümmern wird er dereinft, wie felber Die 
Tempel der Heidenwelt es tun, an die Ewigkeit mahnen. 
Unfer Erbe, Alter, fei der Dom!“ 


358 Die goldene Hochzeit 


Sch meinte, einen ſchwachen Seufzer zu vernehmen, 
einen Seufzer aus diefer Bruft! Ein Geift alter Stuns 
den fchien aus einem Winkel hervorzufchleichen und an 
feine Seele zu klopfen. Mein Mut wuchs. 

„Das fei ferne!” fo fuhr ich kühnlich heraus, „Sehova 
hat dem frommen Patriarchen einen Samen erwedt, da 
er höher betagt war ald Hochwürden.“ 

Renatus Henrici lächelte; ja, er lachte beinahe laut. 

„Er fafelt!” fagte er, gegen das Domfräulein gewens 
det, das beiftimmend mit dem Kopfe nidte. „Er fafelt, 
Debora!” | 

Aber über mid; war eine Verwegenheit gefommen, die 
mich pflichtfchuldigen Refpeft und lange Gewohnheit vers 
geffen hieß. „Hochwürden!“ rief ich aus, „Hochwürden, 
Gott der Herr zeugt in dem Menfchen nicht nur durch das 
Blut! Er zeugt auch durch das Herz!“ | 

„Bas will Er damit fagen?” fragte der große Mann, 
der alles wußte, Die Augen verwundert auf mich Unwiffens 
den gerichtet. 

„Ich will damit ſagen,“ antwortete ich unerfchroden, 
„ich will damit fagen, Hochwürden, daß ed auch Kinder 
gibt durdy Wahl; Namen, die man überträgt; Erben, 
nicht nad) weltlihem Gefeß, aber nad) freier Neigung 
des Gemüted. Und wenn ein Fremder gefunden würde, 
wert, der Sohn eines Henrici zu fein, an feinem Beifpiele 
ſich emporzuranfen, feines Geiftes in feinem SKeiligtume 
weiterzumwirfen, und der leiblich finderlofe Greid wollte zu 
ihm fagen: ‚Trage du meinen Namen, fei du mein Sohn 
und Erbe!“ fo wäre ed fchier fo gut, ald wenn er feinem 
eigenen Stamme entiproffen, und dem Dome wäre ein 
Henrici neugeboren, wie dem Abraham ein Ssfrael!“ 





Die goldene Hochzeit 859 


Der Doktor war während meiner Rede noch bleicher 
geworben, feine Augen bohrten gleich einem Stahl in die 
meinigen. „Sprit Er von einer Perfon oder fegt Er nur 
einen Fall?“ fragte er fcharf, aber ruhig. 

Sch muß es Tollfühnheit nennen; aber: „Ich ſprach von 
einer Perſon,“ fagte ich zuverfichtlich und nannte darauf 
einen Namen, — einen Namen — — 

Sch kann einen heiligen Eid darauf ablegen, daß ich nies 
mald vor gegenwärtiger Stunde diefen Anfchlag gehegt; 
daß ich Iediglich wie durdy höhere Eingebung diefe Rede 
gehalten, dieſen Namen aufgerufen habe. Und faum war 
er meinen Lippen entfchlüpft, fo überfiel mid, auch ein 
Zittern und Zagen, ald ob ich auf die Knie finfen und um 
Vergebung für meinen Frevel hätte flehen müffen. Denn, 
wiewohl id; aus mancher Erfahrung das Eiferartige in 
meines Herrn Gemüte hatte fennen lernen: diefe Wirkung 
hatte ich nicht erwartet. 

„Schweige Er!" herrfchte er mit einer Donnerftimme, 
und der Bliß feiner Augen traf mich wie ein Strahl ber 
Bernichtung. 

Seine Wangen waren afchfarben geworden, die Bruft 
feuchte nach Atem; ich fah einen Schlagfluß heranziehen 
mit der Empfindung eined Batermörderd. Debora ftand wie 
eine Säule ſtarr und fteif. Die furchtbarfte Paufe meines 
Lebens! 

Aber nur wenige Minuten, und er hatte ſich gefaßt. Er 
fchritt in die Studierftube; wir hinter ihm drein. Er feßte 
ſich auf den alten Xederftuhl vor dem Pult, blätterte in 
den aufgefchlagenen Skripturen und ſagte darauf gelaſſen 
wie alle Tage: 

„Er kommt wegen der Lieder, Zebedaͤus.“ 


360 Die goldene Hochzeit 


Sch neigte bejahend das Haupt, denn meine Zunge war 
noch ftarr. 

„Hat Er ſich befonnen?” 

Ich ſchüttelte. 

Er wendete ſich an das Fräulein. „Erinnerſt du dich 
der Lieder, Debora, die wir heute vor fünfzig Jahren 
während der Trauung geſungen haben?“ 

Das Fräulein blickte beſchämt ob ihrer Vergeßlichkeit zu 
Boden. „Der Lieder? der Lieder, Renatus?“ ſtammelte ſie, 
„des Textes wohl, ed war —“ 

„Ich weiß ihn,“ unterbrach er ſie. „Auch gibt es nur 
einen für einen Diener am Amt. Er muß es heute wies 
der fein.” 

„Kuriofer Text für die goldene Trauung!” rumorte 
es heimlich in mir, meiner Beftürzung zum Trog. „Wer 
heiratet, tut gut; wer nicht heiratet, beffer.” Bei der grü⸗ 
nen Hochzeit hatte id) das naͤmliche gedacht. 

„Die Kieder, Debora?“ fragte der Propft von neuem. 

Sie fchüttelte händeringend den Kopf. 

„Es ift gut, ich weiß fie zu finden. Sie werden bei ber 
Rede verzeichnet ftehen.” 

Damit öffnete er ein verborgened Fady in feinem Pult 
und zog ein verfiegelted Kuvert hervor, dad er einen Augens 
blick zögernd zwifchen feinen Fingern hielt. Mir war, ale 
fähe ich e& wie einen Schatten über feine Züge laufen, 
ehe er haftig und heftig das Siegel erbradh, einen Heinen, 
roftigen Schlüffel hervorzog und ihn in einen zweiten heim- 
lichen Kaften ftedite. Eine herrifche Handbewegung hieß 
und das Zimmer verlaflen. Wir flohen. 

„Die Türe zu!” fchrie er mir nad). 

Ich ſchloß fie leiſe und tief befchämt. Seit fechzig Sahren 


— — — —— — — en — — ee 


Die goldene Hochzeit 361 


die erfte Kränfung des Mißtrauend! Das Fräulein fchleus 
berte einen Durchbohrenden Blid auf mid) herab, indem fie 
mit großen Schritten den Raum bis zu ihrem eigenen Zimmer 
zurüdlegte. Die Ähnlichkeit mit ihrem brüderlichen Borbilde 
war mir noch feinerzeit fo aufgefallen. 

Sch ftand atemlos vor der gefchloffenen Tür; ratlos, was 
mit mir felber zu beginnen. Ich fam mir vor wie Adam, 
den der Engel aus dem Paradiefe vertrieben hat. Drinnen 
hörte ich das Klappern und Raffeln des Schlüſſels im Pult⸗ 
fach, dann bes Herrn heftige Schritte im Zimmer auf und 
ab. Bon neuem Drehen und Rütteln. Endlich, endlich — 
den Ruf: „Zebedäug!” 

Eilenden, bebenden Fußes trat ich ein. Der Propft 
ftand in vergeblicher Bemühung vor dem Kaften, der, in 
fünfzig Sahren ungeöffnet, verquollen und deſſen Schloß 
eingeroftet war. „Vermag Er's?“ fragte er ungeduldig. 

„Berfuchen — Hochwürden,“ ftotterte ich; flog in des 
Fräuleind Gemach; erbat mir ein wenig Öl und Seife 
und hufchte, mit beiden verfehen, in dad Studierzimmer zus 
rüd, gefolgt von der Dame, die gewohnt war, ihrem Bruder 
jede häusliche Dienftleiftung eigenhändig zu gewähren. 

Meine Berfuche währten eine Weile. Ich fürchtete, den 
Bart abzubrechen und den gereizten Herrn noch mehr auf> 
zubringen. Seine Unruhe verwirrte mid), Die Hände zitter> 
ten immer heftiger. 

„Laß Er's!“ rief der Propft zu wiederholten Malen; aber 
fooft ich innehielt, ermachte die Begierde von neuem, und 
er befahl: „Fahr Er fort!” Endlid) bewegte fich der Schlüfs 
ſel. Ein Ruck aus Leibeskräften — der Kaften fuhr heraus 
und polterte auf die Platte des Pultes. Sch felber war auf 
den Herrenſtuhl zurücdgetaumelt. Indem ich mid) haftig 


362 Die goldene Hochzeit 


erhob, offenbarte ein einziger Blick mir den ausgeftreuten 
Snhalt: vergilbte Papiere, einen goldnen Fingerreif, eine 
rote verblaßte Bufenfchleife und ein Feines weibliches 
Porträt, — adj, ich erinnerte mich feiner nur allzumohl! 

In diefem Augenblice drangen aus dem Nachbargarten 
die Töne einer feierlichen Morgenmuſik. Pofaunen und 
Menfchenftimmen fehallten zu ung herauf: „Herr Gott, dich 
loben wir!“ 

Der Doktor winfte wie vorhin, aber fanfter, mit der 
Hand. Das Fräulein und ich verließen das Zimmer. Dies⸗ 
mal fchloß ich ohne Geheiß die Tür. 

Sch trat an das Fenfter des Vorgemachs, öffnete ein 
Schößchen und fchaute über die gemauerte Scheidewand 
hinweg auf die Erholungsftätten ber beiden Domfamilien. 
Ein gewaltiger Unterfchied auch hier! 

Zu meinen Füßen ein Streifen Land, fo etwa, wie ich 
mir einen Urwald vorgeftellt habe. Nächtiger Schatten, 
wildwucdhernde Pflanzung zu beiden Seiten des einzigen 
geebneten Pfads zwifchen den riefigen Ulmen, die ſich am 
Ende zu einer Laube erweitern. Nie hat feit einem halben 
Sahrhundert ein Menſch in diefer Laube geruht; die fteiners 
nen Tifche und Bänke find dunkel bemooft; ſchmarotzender 
Teufelszwirn, dad verrottete Pfahlwerf überwuchernd, hat 
faft den Eingang verfperrt. Der Raſen neben dem Ulmen: 
gange ift niemald von einer Sichel berührt worden; manns⸗ 
hoch fchießt er empor, verwelft in Winterdzeit und fchießt 
von neuem mit frifchem Trieb. Hin und wieder hat ſich 
eine Malve oder Königsferze aus alter Zeit zwifchen den 
unbefchnittenen, ftruppigen Heden von Buchs und Taxus 
neu beftocdt; dunfler Efeu umrankt das Gemäuer; Spagen, 
Dohlen, Fledermäufe, Käuzlein fogar, niften in feinen 


Die goldene Hochzeit 363 


Ritzen und fcheuchen die fröhlichen Singvögel hinüber in 
den blühenden Magiftergarten, wo liebreicdye Hände ihnen 
Körner und Brofamen ftreuen. 

Diefer Nacbargarten, im Gegenfaß, wie emfig und 
fauber gepflegt! Zu beiden Seiten des Fruchtbaumganges 
die Gemüfebeete mit Blumenftreifen eingeſäumt; Narziffen 
und Goldlad ihre Düfte ftreuend, fünftighin von dem 
Flore des Sommers und Herbſtes abgelöft; die mittägige 
Flucht des Haufes mit Nebgeländen, die fchattigen Seiten 
mauern mit Beerfträuchen bezogen, und die Taube am 
Schluß, von blühendem Flieder und Geißblatt überranft, 
nach der Gartenfeite luftig geöffnet, mit reinlichen Sig- 
plägen gefüllt; die Bienen fchwärmend aus ihrem Stod, 
die Tauben flatternd aus ihrem Schlag; Meife und Gold: 
ammer zwitfchernd in Baum und Zaun. 

Die Muſikanten hatten auf der Straße hinter der Laube 
Pofto gefaßt; vor derfelben, vom Kaufe her, regte fich 
frohe Gefchäftigfeit. Die Magd, im Sonntagspuß, fam 
flappernd mit dem Kaffeegefchirrz; die Enkelin und felber 
der junge, geiftliche Enkel brachten blumengefchmücte 
Kuchenförbe. Und ale ich die Fleine Debora — fo will 
ich fie zur Unterfcheidung von dem großen Domfräulein 
heißen - fo flinf und zierlich daherfchweben fah, im weißen 
Kleid und grünen Taftfchürzchen, einen frifchen Mai⸗ 
blumenftrauß vor der Bruft, fo ſchlank und doch rundlic,, 
fo freudenhell, da ftand mir jene andere leibhaftig wieder 
vorgezaubert, deren Bildnis vorhin im alten Pult — — aber 
halt! 

Das waren die nämlichen hellgelben Haarzöpfe, das ei⸗ 
runde, blütenreine Angeficht umrahmend, das nämliche 
Erdbeermündchen, diefelben fanften und Doch klugen, golds 


564 Die goldene Hochzeit 


braunen Aurifelaugen. Hurtig breitete fie das weiße Tuch 
über den Gartentifch, ordnete Taflen und Kannen, ſchmückte 
die Pläge des Subelpaared mit feftlichen Gewinden, und 
nachdem alles bereit, legte fie mit einem herzinnigen Auf⸗ 
blick ihre Hand in die ihres Vetters Renatus, deflen Züge 
und Habitus mich gleicherweife, wie niemals zuvor, an 
die ded Großvaterd in feiner Sugendzeit gemahnten. 

So, Hand in Hand, flogen fie nun dem Ssubelpaare 
entgegen, dad vom Kaufe her Iangfam auf die Laube zus 
gefchritten fam. Der Choral verftummte; die Pofaunen 
fchwiegen; wohltönende Männerftimmen hoben, ohne Bes 
gleitung, eine weltliche, aber nicht minder bewegliche Weife 
an. Sn diefem Augenblice ftanden die Sungen den Alten 
gegenüber, beugten fich über ihre Hände und zogen fie an 
ihre Lippen; die Alten aber drückten die Kinder wechfelfeitig 
an ihre Herzen unter ftrömenden Tränen. Die Kluft eined 
halben Sahrhunderts fchien ausgefüllt, ihre eigne Jugend 
wieder aufgewacht in dem lieblichen Paare. 

Ich zog mein Sadtud) hervor, um meine überlaufenden 
Augen zu trodnen, und erft bei diefer Bewegung wurde 
id; gewahr, daß dad Domfräulein hinter mir geftanden 
und, fo gut wie ich felbft, Zeuge des rührenden Auftritts 
gewefen war. Sie fah weiß aus wie eine Wand. Sc 
entfernte mich eilfertig, unter tiefer Berbeugung; in meinem 
Herzen brannte die Frage, ob am Nebenfenfter wohl auch 
der Bruder, und mit welchen Gefühlen, das Bild im Mas 
giftergarten überfchaut habe? 

Sch hatte in meinem Haufe ein feftliched Karmen, ges 
bunden in Goldpapier, zur Feier diefed Tages bereitliegen; 
mit wenigen Striden war die Obe, in ber ic) vor fünfzig 
Sahren, wo ich ein geläufigerer Dichterling als heute war, 


Die goldene Hochzeit 365 


die grüne Liebeshochzeit befungen, fchicklic, für Die goldne 
Subelhochzeit umgewandelt worden. Desgleichen harrte 
ein Paar Mundtaffen der Überreichung, von ähnlicher 
Form wie die meines erften Hochzeitsangebindes; nur daß 
an Stelle der blühenden Roſen und Bergißmeinnicht ein 
goldnes Gewinde das feine Meißener Porzellan überranfte. 

Aber felber der Katzenſprung nadı der Küfterei währte 
mir zu lange für mein bewegted Gemüt. Sonder Karmen 
noch Taſſen ftürzte ich hinüber zu den Glüdlichen in dem 
Magiftergarten. | 

Die Mufifanten hatten fich zurüdigezogen; die Familie 
faß um den Frühftüdstifch in der blühenden Laube, Der 
Morgentau gliterte gleich Freudentränen auf Blume und 
Blatt; ed duftete wie Weihrauch in dem Fleinen Ge- 
hege. Meine Zähren rannen unaufhaltfam, meine Füße 
ſchwankten. 

Und jetzt werden die gütigen Menſchen meiner gewahr; 
das Jubelpaar ſchreitet mir entgegen. „Alter, treuer 
Freund!“ ſagt die Matrone und faßt meine beiden Hände. 
Der Greis ſinkt an mein Herz: „Alter, braver Gutedel!“ 
ruft er aus. 

Ach, wie ſoll ich es denn nur beſchreiben, was noch in 
der Erinnerung meine Bruſt zu zerſpringen ſchwellt? 

Ja, wohl iſt es groß, an ſeinem Oberherrn in ſchwei⸗ 
gender Ehrfurcht in die Höhe zu blicken; aber weinend 
ſeinen Vorgeſetzten am Buſen zu halten als einen Freund, 
— dieſe, dieſe Wonne! — — Und ich, der ich fünfzig Jahre 
lang, in erquickendem Wechſel, beide dieſer Seligkeiten 
gekoſtet habe, — - wahrlich, wahrlich, es hat niemals einen 
Glücklicheren meines Amtes gegeben! 

Und wie nun aud das jugendliche Enkelpaar mir ents 


566 ‚Die goldene Hochzeit 


gegenflatterte, nicht nur gefchwifterliche, nein, — ich ahnete 
ed ja längft! — nein, bräutliche Liebe in Wort und Blick; 
wie fie mich Zitternden unter die Arme faßten, mid) zum 
Kaffeetifche führten und mich bedienten, ald wäre id) einer 
der Ihrer; wie die holdfelige Debora mir die Wangen 
ftreichelte, mich ihr Gutedelchen nannte und mir die brau⸗ 
nen, Inufperigen Randſtückchen des felbftgebadenen Ro⸗ 
finentuchend zufchob, die ich fo vorzugsmeife liebe; wie 
fie dazwifchen immer ihrem Renatus fo feelenvergnügt in 
die treuen, blauen Augen blickte, dann wieder den Groß⸗ 
eltern Hand und Lippen füßte und ed aus jedem an ſich 
unbedeutenden Worte herausflang: „Sind wir nicht die 
allerglüdlichften Kinder? und hättet ihr Alten an eurem 
Ehren» und Subeltage wohl größere Freude erleben fönnen 
ale durch ung?” da, da ſchwoll mir das Herz immer höher 
und weiter, und ich fühlte, daß ich meine leiblichen Kind» 
fein, wenn Gott der Herr fie mir gnädig erhalten, nicht 
zärtlidher darin hätte bergen fünnen als diefed gefegnete 
Liebespaar. 

Nachdem wir und hinlänglich an Speife und Tranf ges 
labt hatten, wurde die Stimmung gelaffener und nuns 
mehr die Verlobung der Enkel, wie deren Ausficht für die 
Zukunft, gründlich hin und wieder befprochen. Ich erfuhr 
auf dieſe Weife, daß der junge Hülfsprediger am geftrigen 
Tage von einem adligen Kirchenpatron, der fein Unis 
verfitätöfreund gewefen war, den Antrag einer Pfarrftelle 
in einer abgelegenen Provinz erhalten habe und daß die 
Sicherheit eined heimatlichen Neftes, verbunden mit der 
Subelftimmung der Borfeier, die Tanggehegten Herzens⸗ 
wünfche zur Ausfprache gebracht. 

Die Stelle war befcheiden, würde jedody unter anderen 


Die goldene Hochzeit 567 


Berhältniffen für einen jungen Anfänger immerhin ein 
Treffer zu nennen gewefen fein. Hatte der Großvater 
denn aber nicht den Plan, ſich emeritieren zu laffen, und 
die Ianggehegte heimliche Hoffnung, den Entel in feine 
Stelle rüden zu fehen? Hieß ed nicht den lebten ers 
wärmenden Sonnenftrahl aus dem Leben des alten Paares 
verweifen, wenn fie fich in weite Ferne und berechenbar 
auf Nimmerwiederfehen von den geliebten Kindern trennen 
mußten? Annehmen und fcheiden, oder ablehnen und aufs 
Ungewifle hoffen, die Frage war ein bitterer Tropfen in 
unferem Freudenfelche. 

„Ach!“ fo dachte ich wehmütig in meinen Gedanken, 
„ach, wenn ich doch nur auf eine einzige Stunde der Propft, 
Doftor Renatus Henrici wäre! Denn was foftete ed mich 
dann mehr ald ein Schreiben an meinen allergnädigften 
Landesherrn, der fidy mir, — nämlich dem Propft, — von 
Sugend ab huldreich, ja ſchier unterwürftg erzeigt ‚hat, 
gleichwie ein Sohn und Lehrling im Geift; was, fage ich, 
foftete e8 mich weiter als eine bittende Darftelung, und 
das Amt am Dom hätte feinen anderen Erben als ben 
würdigen Großfohn meines alten Freundes und Kons 
fraterd Borsdorf. 

Meine Gedanfen hatten fich in der Stille mit denen des 
guten Magifterd begegnet. 

— „Sa, wenn — Er - zu einer Fürfprache zu bewegen 
wäre!” — fagte er, mit der Hand auf dad Nacdıbarhaus 
deutend, nach einem tiefen Seufzer. 

Sch antwortete mit einem noch tieferen. Der Auftritt, 
beffen Zeuge ich vor faum einer Stunde gewefen war, 
benahm mir jegliche Hoffnung. 

„Bir haben fein Recht, mein Ehriftian, eine Bitte 


368 Die goldene Hochzeit 


zu wagen,” fagte die Watrone leife, mit gefenftem 
Blid. 

„Nein, wir haben kein Recht!” feufzte der Greid. Und 
auch ich fchüttelte den Kopf. 

Der junge Herr Renatus aber erhob ſich und fpradı 
aus warmer Seele: „Und warum hätten wir fein Recht, 
liebe Großeltern, eine Bitte, eine Frage mindeſtens an 
den ftrengen alten Mann zu wagen? Was fünnte mid, 
abhalten, noch in diefer Stunde vor ihn zu treten und 
zu fagen: Sie waren der Sugendfreund meined Groß- 
vaterg, der Bruder und MWohltäter feiner Gattin — —“ 

„Um des Heilands willen, nicht die ſe Erinnerung, 
mein Sohn!” riefen beide Alte aus einem Munde. 

„Nicht diefe Erinnerung!” wiederholte ich. 

Doch der feurige Jüngling ließ fidy nicht irremadhen. 
„Sie kennen mich,” fuhr er lebhaft fort; „Sie haben 
meine felige Mutter und mich felbft mit beiden gnaden- 
reichen Saframenten in den Bund der Chriftenheit ein 
geführt; Ihnen zu Ehren trage ich den Namen Renatus. 
Sch bin unter Ihren Augen aufgewachſen; Sie haben 
meine Zeugniffe geprüft, meinen Wandel beobachtet. Sie 
wiffen, in welchem Sinne id) feit Sahresfrift meinem 
Großvater ein Gehülfe gewefen bin, Gotted Wort von 
der Kanzel verfündet, die Pflichten chriftlicher Seelforge 
in der Gemeinde geübt habe. Achten Sie mid) fähig und 
würdig, an meines Oroßvaterd Statt, unter Ihnen, 
neben Shnen das Amt an diefem hehren Gotteshaufe 
dauernd zu verwalten? mid) an Ihrem Beifpiele weiters 
zubilden und mit meinen Gaben vor Gott wie Menfchen 
zu beftehen? Wenn Sie aber diefer Aufgabe mid; fähig 
und würdig achten, wollen Sie dieſes Anerfenntnis laut 





Die goldene Hochzeit 569 


werden laflen, daß ich mein innered wie mein äußeres 
Lebenslos auf Ihr Zeugnis zu gründen imftande ſei?“ 


Drittes Kapitel 

Wir drei Alten faßen fchweigend, die Augen zu Boden 
geſenkt. Es ift ja fo fchwer, einem vertrauenden Menfchen 
Mut und Glauben durdy unfere Zweifel abzufühlen. Die 
jugendliche Braut dahingegen fchaute mit fiegeöfreudigem 
Blick und hochroten Wangen zu ihrem Verlobten in die 
Hoͤh; die Vergangenheit nicht ahnend, deren Mahnen ung 
Greiſe fo bänglidy bewegte. 

„Und ich, ich gehe mit bir, Nenatus!” rief fie, indem 
fie ihre Sand in die feine legte. — „Zritt du vor den 
alten Herrn; ich trete vor die alte Dame. 

„Fräulein Debora! will ich fagen und recht bemütig 
ihre Hand Füffen; Fräulein Debora, Sie haben mich nies 
mals freundlich angefehen, fooft ich Shnen im Kirchftuhle 
gegenüberfaß; Sie haben mir niemals ein Wort gegönnt, 
faum meinen Gruß erwidert. Und dod) find Sie meine 
Patin; doch trage ich Ihren Namen, der jeden Morgen 
und jeden Abend in unferen Gebeten widerflingt. Und 
doch hat man von Kind auf mid, Sie lieben gelehrt wie 
meine Mutter im Simmel, und idy fehne mid) nad, Ihrem 
Segen zu dem Bunde, den id, mit meinem Renatud ge⸗ 
fchloffen habe. Denn ich liebe meinen Renatus; und feit 
ich die Seine geworden, dünfen mic; alle Menfchen näher, 
ja fo nahe gerüdt, daß id) fie an mein Herz ziehen und 
fie fo froh und glüdlicy fehen möchte, wie ich felber es 
bin. Aber meine Großmutter blickt traurig an dem Tage, 
mit welchem der liebe Gott fo wenige begnadigt. Ihr 
Auge fucht eines, das ihrer Jugend fchwefterlich zuges 
® 


370 Die goldene Hochzeit 


lächelt hat und jest fein Begegnen vermeidet; - warum? 
ich weiß es nicht. Ihre Hand ftredt fie nad) einer, die 
fie mit Wohltaten beladen und jest ihren Drud ver- 
weigert; — warum? id; weiß es nicht. Fräulein Debora, 
löſen Sie den Stachel aus dem Herzen der alten Frau; 
blicken Sie freundlicdy zu ihr hinüber; führen Sie heute 
die Elternmutter, wie Sie vor fünfzig Sahren die bräut- 
liche Sungfrau zum Altare geführt; kehren Sie ein in 
unfer Haus, ein teurer, langerfehnter, ein vielgefegneter 
Saft!" - 

„Seh, meine Tochter, geht, meine Kinder!” rief die 
Matrone haftig und mit bebenden Lippen. 

„Seht gleich jeßt; euer Herz ift warm, euer Vorſatz 
von Gott. Er geleit euch!“ 

„Sa, geht, lieben Kinder,” fagte gelaflener der Greis, 
der nicht die Rührigfeit feiner Gattin in das Alter hinüber⸗ 
gerettet hatte, 

„Sa, gehen Sie, Herr Nenatus, Fräulein Debora,” 
fagte auch ich. „Gottes Wege find wunderbar; aud die 
zu den Herzen der Menjchen.” 

Frohen Mutes, Arm in Arm, ſchwebte das Paar den 
Gartenweg entlang. Wir blidten ihm nad), ftumm, mit 
gefalteten Händen. 

„Und wir, Chriftian?” hob nad; einer langen Paufe 
die Matrone an; „tollen wir fie allein gehen laſſen? 
Nicht ihnen folgen, an diefem Tage, vielleicht in der legten 
Stunde? Nicht danfen, wenn ihnen gelang, was ung 
nimmer gelingen follte? Bitten, wenn fie vergeblich ges 
beten haben; noch einmal bitten um den Frieden dieſes 
Erinnerungstaged, um die Ruhe unferes Sterbebetteg?" 

„Lenchen, Herzenslenchen!“ wendete der alte Mann bes 


— — — — 


\ 


Die goldene Hochzeit 371 


denflich ein. Aber fie fchlang, fanft errötend gleich einer 
Braut, die Arme um fein weißes Haupt; ihre heißen 
Tränen perlten darauf nieder, — und fie gingen. 

Sch hinter ihnen drein, Schritt für Schritt, wie ihr 
Schatten. Wir redeten fein Wort. In wenigen Minuten 
ftanden wir auf der Schwelle des Nachbarhaufes. „Zum 
erften Male feit fünfzig Sahren!” flüfterte die Matrone. 

Sm Vorgemady hörten wir die bewegte Stimme des 
Enfeld aus dem Studierzimmer; die der Enkelin aud dem 
Fräuleinzimmer dringen, Die Großmutter hielt plötzlich 
inne. 

„Nicht vor dem Ohre des Kindes,” ſprach fie errötend. 
„Du, Shriftian, erwarte Nenatus hier oben, ich gehe in 
den Garten, bis Debora entlaffen ift. Sie, lieber Freund, 
geben mir einen Wink zu rechter Zeit.“ 

Damit ging fie leife die Treppe wieder hinunter und in 
den Garten; id; fah vom Fenfter fie in der großen näch⸗ 
tigen Laube des Hintergrundes verfchwinden. Ihr Eheherr 
fchlich mit eingepreßtem Atem im Zimmer auf und ab; um 
mir Mut einzuflößen, nahm ich die große Poftille zur Hand, 
die auf dem Tifche vor dem Küfterftuhle ihren Pla und 
mir manche Stunde des Harrens erbaulich verkürzt hat. 
Ich las das dreizehnte Kapitel des erften Korintherbriefs; 
das heiligfte Kapitel, das, nad, meinem Dafürhalten, die 
Hand eines Menfchen aufgezeichnet hat. Sch mußte es 
auswendig, Wort fürWort, feit Fänger als fiebenzig Sahren. 
Sedesmal aber, daß ich ed von neuem las, lang ed mir 
wie eine neue Botfchaft; und mit dem Schlußfaß: „Die 
Liebe ift die größte unter ihnen!” — den Gaben des Geiftes 
nämlich, — da fühlte ich heute eine Föftliche Gewißheit in 
mein Herz einziehen; die Gewißheit: daß auch der ftarke, 


372 Die goldene Hochzeit 


eifrige Mann diefed Hauſes, der in feinem Glauben und 
Hoffen nicht erft aus einem Saulus ein Paulus zu werden 
brauchte, für die höchfte unter den Gaben doch noch eine 
Stunde von Damaskus erleben werde; dad Wunder, um 
welches ich am Morgen fchon einmal an diefer Stelle ges 
fleht hatte. 

Kaum aber, daß diefe Freudigkeit in mir warm gewors 
ben war, wurde ich übergoflen wie von einer eifigen Traufe. 
Die Rede ded Supplifanten in der Studierftube war vers 
ftummt: Renatus Henrici gab feinen Befcheid. Den Worts 
laut unterfchied ich nicht, aber der Ton der Stimme lang 
wie kurzes, fcharfes „Nein!” Und einen Augenblid fpäter 
ſtürzte auch Renatus, der Enkel, aus der Tür, und der 
Riegel wurde haftig von innen vorgefchoben. 

„Alles vergebens!” rief der junge Mann mit verftörten 
Mienen und einer abwehrenden Handbewegung, indem er 
ſich eilig entfernte. 

„Sch wußte es!" flüfterte Fleinlaut fein Großvater und 
wollte dem Enfel folgen. Ich aber hielt ihn zurüd. 

„Das Fräulein!“ batich, auf der Dame Zimmer deutend. 

Er fchüttelte den Kopf; allein ich drängte ihn nach der 
Tür. Er legte die Hand auf die Klinke, kehrte aber wieder 
um und blickte mir ängftlidy in das Geficht. Ich öffnete 
beherzt und fchob ihn über die Schwelle in dem Augen- 
blicke, ald die Feine Debora wie ein verfcheuchtes Vögels 
chen über fie heraus flüchtete. Hinter ihr ftand das Doms 
fräulein, fteif wie eine Statue vor der neuen behelligenden 
Erfcheinung. 

Die Tür fiel in das Schloß. Die Kleine floh ohne Aufs 
enthalt der Treppe zu; Tränenfpuren feuchteten ihre Augen, 
fie fchüttelte den Kopf über diefes ftarre, unverftändliche 





Die goldene Hochzeit 373 


Menfchenrätfel. Ich folgte ihr, um der in der Laube hars 
renden Matrone das Scheitern des Findlichen Angriffds 
plans mitzuteilen. | 

Sählings ftockte mein Fuß. Ich hörte des Propftes Tür 
ſich fchließen und feinen heftigen Tritt der Treppe nahen. 
In diefem Augenblide fürchtete ich mich fchier vor ihm. 
Ich fchlüpfte behende hinter die Tür, die aus dem Haus⸗ 
flur in den Garten führt, und Iugte durch die Luͤcke der 
Angel, wohin er ſich wenden werde. 

Die Fleine Debora war überrafcht am Fuße der Treppe 
ftehen geblieben, des Mannes Aufregung aber fo gewaltig, 
daß er fie erft bemerkte, ald er Auge in Auge ihr gegen 
über innehielt. Sie, die er jeden Tag in ihrem Garten 
hätte beobachten können, der er jeden Sonntag auf dem 
Kirchwege begegnet war, — er fah fie heute zum erften 
Male. Er fah fie; - aber es war, ald ob eine Sinnen 
täufchung ihn überflöge, vielleicht durch den Anblick des 
alten Heinen Bildniffes hervorgerufen. Fünfzig Sahre 
waren plößlich verfchwunden; nicht Debora, Magdalena 
Adami in ihrer Sugendfchöne ftand vor Renatus Henrici 
hingezaubert, und Renatus Henrici, der reis, erzitterte 
unter einem Sünglingefchauer. 

Sie beugte fich bis zur Erde vor der hohen Geftalt, griff 
mit Lebhaftigfeit nach feiner Hand und führte fie an ihre 
Lippen. Bei diefer Bewegung löfte ſich der Fleine Mai- 
biumenftrauß von ihrem Bufen; er fiel in feine Hand. 
Er riß fich haftig von. ihr los, indem er ſich nach der 
Öartenfeite wendete. Die Meine Debora floh wie ein Reh 
der Straßentür zu. 

In den Garten ging er, zu biefer Stunde! Ich 
wußte nicht, was ich denfen follte. Bon ihm unbemerkt 


374 Die goldene Hochzeit 


fdylüpfte ich aus meinem Berfte und hinter den dichten 
Taxushecken der Laube zu. Dabei laufchte und lugte ich 
durch die Lücken nad) dem alten Herrn. 

Er ging auf dem gewohnten Wege zwifchen den uralten 
Küfterriefen; aber nicht in dem gleichmäßigen Tempo feines 
Dämmerungsganges, nicht Tritt für Tritt, die Hände auf 
dem Rüden und die Augen am Boden. Er machte etliche 
Schritte, hielt dann inne; feßte fid) von neuem in Be⸗ 
wegung, fuhr mit der Hand über die Stirn. Ein Zug 
von Kampf oder Krampf bewegte die fchmalen, farblofen 
Lippen; die tiefe Furche zwifchen den Brauen glättete fich 
und grub fich ftärfer wieder ein in jähem Wechfel. Ein 
Etwas arbeitete heimlich, aber mächtig in feiner Bruft. 
Noch einmal hielt er ftill. Mechaniſch führte er den Fleinen 
Strauß an fein Geſicht; fchaute lange in die weißen 
Glockenkelche und fog, wie befremdet, ihren Balfam in ſich 
hinein. Ein tiefer Seufzer, ein Atemzug der Erquidung 
rang fich empor. Hatte er zum erften Male einen Blumen⸗ 
Duft gefpürt? 

Bei unferm leßten Spaziergange hatte mir Chriftian 
Borsdorf die gar finnige Legende erzählt, wie ein frommer 
Shriftenapoftel mit der eindringlichften Rede vergeblid) ver: 
fucht hatte, das im freien Feld um ihn gefcharte Heiden 
volf von dem Wunder der dreieinigen Gottheit zu über: 
zeugen. Verzweifelnd blickt er zu Boden, gewahrt ein be- 
fcheidenes Kleeblatt, pflüdt es, hält es in die Höhe und 
ruft: „Die ihr nicht glauben wollt, fchaut! wie dieſes Fleine 
Blatt, fo der große Gott: Drei und doch eins!“ Das Hei⸗ 
denvolf aber fchaut, glaubt und ehrt noch heute das Klee⸗ 
blatt als fein heiligfted Symbol. 

Seltſam! diefe Erzählung fiel mir. wieder ein, als ich 


Die goldene Hochzeit | 375 


Renatus Henrici die erquidende Maienwürze einatmen 
fah. „Alles Natürliche ift Sinnbild des Übernatürlichen!“ 
hatte mein Freund gefagt, und ich dachte bei mir felbft: 
„Der Duft, der geheimnisvoll labend in den Bufen dringt, 
follte der nicht das wahrhaftige Sinnbild der Liebe fein? 
follte nicht Gott der Herr, wie durch die Geftalt eines 
Blatts, fo durch den Weihrauch einer Blüte feine ewigen 
Wunder einem Menfchenherzen offenbaren können?” 

Renatus Henrici hatte die Laube erreicht; ich ftand ver⸗ 
borgen faum fünf Schritte von ihm entfernt. „Sobald er 
fid) wendet,” dachte ich, „gebe ich der armen Frau einen 
Wink.” 

Aber er wendet fich nicht. Er fteht unfchlüffig; was 
hält ihn? Hebt dann haftig den Arm; er zittert; — was 
treibt ihn? Er fchlägt das wuchernde Geftrüpp zurüd und 
tritt in das düftere Laubgemach. Ein jäher Auffchrei! - 
Sic, gegenüber fieht er dad Weib, das er fünfzig Sahre 
lang in der Stille, fei es der Tugend, fei ed des Haſſes 
oder — der Kiebe? gemieden hat, gleich einer Verbrecherin. 

Sie war von ihrem Sitze aufgefprungen bei feinem 
Nahen. 

„Renatus!” ftammelte fie freudenvoll durchzuckt. 

Aber fchon hatte er fich gefammelt und wollte entfliehen. 
Gie griff nach feiner widerftrebenden Hand. „Du fommft 
zu mir,” fagte fie; „Renatus, du fuchft mich hier, hier 
an diefer, diefer Erinnerungsftätte?“ 

„Sc fuchte niemand. Ich kam aus Zufall dieſes Wege,“ 
verjeßte er herbe, indem er fich zur Ruͤckkehr wendete. 
Sie aber ftellte fidy ihm am Ausgang entgegen, faßte von 
neuem nad; feiner Sand und ſprach: 

„Nicht aus Zufall, Renatus! Das Begegnen an diefer 


876 Die goldene Hochzeit 


Stätte, Wand an Wand neben Ihnen, Tür an Tür, fünfzig 
Jahre lang vergeblich erfehnt, erfleht, erftrebt, nennen Sie 
ed Führung, Renatus, und gehen Sie heute nicht von 
mir ohne Wort, wie an jenem Tage, und fo oft ſeitdem; 
heute nicht, wo dad Grab mir näher ift ald damals der 
Altar; heute hören Sie mid und entfühnen mid.“ 

„Entfühnen?” fragte er kalt. „Sind Sie verflagt wor⸗ 
den, Frau?” 

Sie neigte ſchweigend dag Haupt bie auf die Bruft. 

„Niemals, niemals!“ rief er heftig. 

Sie aber entgegnete mit dem beweglichen Stimmenflang, 
den ihr das Alter nicht geraubt hatte: „Sa, ich bin ver- 
flagt worden; ich bin ed worden, Renatus. Nicht laut, 
nicht öffentlich, nicht mit Worten und Zeichen; aber im 
Herzen und Gedanken; aber im Schweigen und Meiden; 
aber durdy Ihr einfames Leben; aber durch Ihre Groß⸗ 
mut, unerforſchlicher Mann.“ 

Sie machte eine Pauſe; vielleicht in der Hoffnung eines 
Wortes von ihm. Er ſprach es nicht; aber er blieb. 
„Renatus,“ hob ſie endlich wieder an; noch leiſer, noch 
bebender als zuvor, „einſt liebten Sie ein Kind, eine 
Waiſe — —“ 

„Laſſen wir, was ſo lange vergangen iſt,“ unterbrach 
er fie. „Sie und ich, wir würden es nicht mehr vers 
ftehen.“ | 

„Sa, wir verftehen ed noch,” entgegnete fie. „Auch Sie, 
Renatus, verftehen ed. Und ih? O, wohl verftehe ich eg, 
was fünfzig Sahre an meiner Seele gezehrt wie ein Wurm 
und auf meinem Haupte gebrannt wie eine glühende Kohle. 
Hören Sie mid, daß ic; Ihnen fage, in diefer äußerſten 
Stunde, wie ich es verftand.” 


Die goldene Hochzeit 377 


Wieder madıte fie eine Pauſe. Er regte ſich nicht. Nach⸗ 
dem fie ſich gefammelt hatte, fuhr fie fort: | 

„Sie Tiebten ein Kind, eine Waife, deren Bruder Sie 
gewesen, deren Schüger und Wohltäter Sie geworden 
waren; liebten fie und gedachten fie zu Ihrem Eigentum 
‚zu machen für das Leben. Widerſtandslos hatte fie ihr 
Wort verpfändet, ohne zu ahnen, was e8 bedeute. Und 
die Sie liebten — verriet Sie. Hier unter diefen Bäumen, 
die den Treuſpruch vernommen, wurden Sie Zeuge eines 
zwiefältigen Treubruchs, — nein, eines zehnfältigen. Denn 
der andere, dem fich das Herz der Geliebten zugewendet, 
war ein Diener Gottes, wie Sie, war der Freund ihrer 
Jugend, Renatus, und hatte feine Treue Ihrer Schweſter 
verlobt, der Schwefter und Wohltäterin auch des treulofen 
Kindes. 

„Wie es gefchehen konnte, daß zwei von einander ftrebs 
ten, die fo Heiliges verbindet, zwei zu einander, die das 
Heiligſte fcheiden follte? Renatus, klagen Sie den Trieb 
an, der fo ſchwach macht und zugleich fo ftarf macht, fo 
ftark, daß er heute, nach fünfzig Sahren, noch ungebrochen 
des Weibes und ded Mannes Herz regiert. Nicht, daß fie fich 
liebten, war ihre Schuld; daß fie diefer Liebe feinen Damm 
zu feßen wußten — auch das nicht einmal. Aber daß fie 
fleinmütig zagten, zögerten, täufchten, die zufällige Über: 
rafchung fprechen ließen, ftatt eines redlichen Vertrauens; 
daß fie Betrüger, Verräter zu werden verdienten. 

„Aber die Betrogenen, Berratenen, fie fchalten nicht; — 
fie fchwiegen; — fie fchmähten nicht: fie deckten zu; fie hal- 
fen, förderten, fpendeten mit reichlichen Händen, geleiteten 
die Treulofen zum Altar, und an der Schwelle ihres Haus 
ſes fchieden fie von ihnen, — für immer. 


378 Die goldene Hochzeit 


„Seit diefer Stunde wandeln fie ihren Pfad, einfam zu 
zweien; meiden fie ein Gefchlecht, deflen Nächſte ihrem 
Glauben Kohn geiprochen. Sie forfchen, fie fchaffen, fie 
fpenden und üben firenge Tugend. Ihr Haus ift ein Tem⸗ 
pel, und ein Tempel ift ihr Baus; aber fie wehren dem 
Danfe und der Bewunderung, und niemals hat Gottes 
Liebe wieder zu ihnen geredet durch eines geliebten Men- 
fhen Mund. 

„Jene anderen aber, jene treulofen Liebenden; ach, auch 
fie waren nicht glücklich. Glauben Sie mir, Renatug, fie 
waren e8 nicht; troß ihrer Liebe, troß äußeren Gedeihend, 
bei allem Segen der Familie und eines heimatlichen Herds; 
Die Ode der Verratenen breitete fic über den Frieden und 
die Fülle ihrer Herzen, Nenatus, wenn ich Sie und die 
Schweſter, die Shnen treu geblieben ift, im Schatten diefer 
Bäume auf und nieder wandeln fah, fo ſchweigend, fo 
wechfellos, fo ohne Regung einen Tag und alle, viefe 
fünfzig Sahre, da hätte ich mich aus meinem Fenfter und 
zu Ihren Füßen flürzgen mögen mit dem Flehen: vergib mir 
und lebe auf! Wenn Sie die priefterliche Hand auf meine 
Kinder und Enfel legten im erften Saframent, wenn Sie 
mir das heilige VBerfühnungsmahl fpendeten, da zitterte 
meine Hand, die Ihre zu faflen, und meine Seele fchrie: 
Sprich dich felber los als Menfch, nachdem du mich ale 
Priefter Iosgefprochen. Und endlich in jenen ſchmerzens⸗ 
reichften Stunden, ald Sie den legten Segen über die Gruft 
der Kinder fpendeten, da flehte dad Herz der Mutter: 
‚Nimm fie, mein Gott, und den Reichtum, den du und 
geraubt, lege ihn denen zu, die wir arm gemacht haben.‘ 
Heute aber, Renatus, heute, wo dein priefterliches Wort 
unferen Bund, wie einft für das Leben, fo für die Ewig⸗ 


Die goldene Hochzeit 379 


feit weihen, deine Hand zum legten Male auf meinem 
Haupte ruhen fol, — denn bald, morgen vielleicht, in 
meinem Sarge, da fühl ichs ja nicht mehr; lege fie heute 
auf mich, daß ichs fühle mit einem erneuerten Herzen. 
Der uns erhalten, wie durch ein Wunder, fo nahe ein 
ander, fo ferne einander; hat er und erhalten zu ewigen 
Entfremden? O, reiße die Mauer nieder, die du um did) 
und zwifchen und gezogen; fei noch einmal mein Wohltäter, 
mein Bruder, liebe meine Kinder, Renatus, mache meine 
Sterbeftunde froh!“ 

Sie konnte nicht weiter. Sie fchluchzte wie in Krämpfen, 
ſank zu feinen Füßen, umflammerte feine Knie. Und er? 

Ich hatte alle Scheu vergeſſen; ich war hervorgetreten, 
ftand dicht an feiner Seite und weinte laut. Aber er ſah 
und hörte mich nicht. 

„Magdalene!” rief er und ftürzte neben fie zu Boden 
und fchlug mit der geballten Kauft an feine Bruft; „Mag- 
dalene, Schwefter, Geliebte! — Sch habe meines Herrn Bot- 
fchaft bis heute verfündet, ein unnüßer Knecht!“ 

Dann aber richtete er fich auf, zog fie in die Höhe, brei- 
tete die Arme aus und hielt fie an feinem Herzen, lange 
fchweigend, bis alles Zittern fich gelegt. Sch ſchlich mich 
ungefehen von dannen. Ehe id die Gartentür erreicht 
hatte, fah ich das alte Fräulein hereintreten, Sand in Hand 
mit dem Sugendfreunde. Auch ihre Augen waren gerötet. 
So fchritten fie nach der Laube der Schuld und der Vers 
föhnung; ich aber floh in mein Kämmerlein und lob⸗ 
preifete Gott, . 


380 Die goldene Hochzeit 


Vierted Kapitel 


Pier Stunden waren verfloffen feit diefer. Der Doktor 
hatte mich nicht einmal angeredet, fooft er an dem Küfter« 
ftuhle vorübergegangen war. Er pflog lange Unterredungen 
mit der Schwefter. „Heute, gleich heute; wir haben Eile, 
Debora!” hatte ich ihn fagen hören. Er fchrieb, fiegelte! 
nahm ein frifches Blatt. Die Tür hatte er nicht wieder 
abgefchloffen; ich durfte ihn beobachten wie fonft. Er fchien 
um fünfzig Sahre verjüngt, ging wie auf Federn mit 
leichten, elaftifchen Schritten. Auf feinen Wangen brannte 
ein Purpurfleden, der fremden Blüte gleich, die erft in 
hundert Sahren jählinge zum Aufbruch fommt. DO, du 
Kleinod unfered Domes, du Wundermoog aus dem Ges 
lobten Land! — alles Sinnliche ift nur Gleichnis des Über: 
finnlichen, - ein Morgentau hat das dürre Moos zur Roſe 
angefchwelt! 

Aber aud) das Fräulein war in Eifer geraten. Gie 
flog treppauf, treppab, Happerte mit dem Schlüffelbund, 
öffnete Kiften und Truhen und fchleppte, mit der Magd 
um die Wette, die fchweren Linnenbündel, die fie famt 
ihren Domarmen in einem halben Sahrhundert zufammen- 
gefponnen hatte, vom Boden in dad erfte Stod. Das gab 
eine Befcherung, daß man ein halbes Dugend Bräute hätte 
ausftatten können, oben in dem großen Zönafel, der, je 
nachdem, die beiden Dommohnungen fchieb oder verband 
und deſſen Hallen nicht wieder zu einer Feftlichfeit geöffnet 
worden waren, feitdem Propft Henrici, der Vater, Die 
Verlobung der beiden Dompaare in ihnen gefeiert hatte. 
Das war ein Leben in der alten, ftillen Propftei, als ob 
ein Sturmwind fich jählings erhoben habe, aber einer, der 


Die goldene Hochzeit 881 


die fchweren Wolken verjggt, die Füfte rein und die liebe 
Sonne heiter madıt. 

Erft eine Stunde vor der Trauung fam die alte Dame 
zur Ruhe, und bald darauf trat fie aus ihrem Zimmer in 
dem foftbaren Anzuge, den fie fich vor etlichen Jahren 
hatte anfertigen Iaffen, als Ihre Majeftät die Königin 
unferer Stadt und Kathedrale Hochdero Beſuch in Aus- 
ficht geftellt hatten. Ihro Majeftät haben bis dato dieſe 
Berheißung nicht zu erfüllen geruht, aber wie gut war es 
doch, daß der feftliche Anzug fir und fertig lag! 

Der fchwere ſchwarze Seidenmoire floß in eine Schleppe 
an der ftattlichen Geftalt hinab; über dem dunfeln Haare 
breitete fich das feinfte Spißengewebe; am Halſe, und faft 
bis zum Gürtel niederhangend, prangte dad unfchäßbare 
Erbteil der reichen, feligen Frau Mutter, eine morgens 
ländifche, mattweiße Perlenfchnur; über dem Herzen aber 
ruhte dad Ordenskreuz, das der Dame für bewiefene vater- 
Iändifche Tugenden während der Kriegedrangfale vers 
liehen worden war. Wie fie in diefem Staate, mit majes 
ftätifchen Schritten an mir vorüberraufchte, erfchien fie 
mir erft recht ald das „Domfräulein”, idy erhob und vers 
beugte mid, in ehrfurdytövoller Bewunderung. Sie aber 
nickte mir lächelnd zu, als ob fie an ſich felber ein Ge- 
fallen trüge. In meinem Leben hatte ich die große Des 
bora nicht fo guter Laune gefehen. | 

„Es ift Zeit, Renatus!“ fagte fie, bei ihrem Bruder 
eintretend. 

„Sch bin bereit, Debora!” antwortete er, indem er fich 
ohne Säumen von feinem Pulte erhob. 

Sie half ihm den langen, feidenen Talar anlegen, den 
er nur ein einziges Mal getragen hatte, ald er vor feinem 


382 Die goldene Hochzeit 


föniglichen Herrn jene denfwürdige Rede hielt, von welcher 
Höchftderfelbe öffentlich befannte: fie habe ihn erweckt wie 
eine Prophetenftimme; fie heftete die feinen Beffchen an 
feinen Hals und an feine Bruft den Ordenöftern, der auch 
nur an jenem Ehrentage an das Licht gezogen worden 
war. Sie hatte ihm diefe Hilfgleiftungen beim Anfleiden 
gelaffen und pünftlicd, jedweden Sonn und Felttag in 
fünfzig Sahren erwiefen; heute aber flogen ihre Blicke 
und Hände, und wie er fie fo ſchmuck und ftrahlend fidh 
gegenüberftehen fah, da fagte er lächelnd: „Du fiehft ja 
aus wie eine Prinzeffin, Tiebe Schweſter!“ 

„Ich bin auch ftolz und froh wie eine Prinzeffin, lieber 
Bruder,” verſetzte fie. 

Er ermwiderte nichts; aber er nickte ihr zu, und — ja, idh 
fann befchwören, daß ich es gefehen mit diefen meinen 
leiblichen Augen, Renatus Henrici Füßte feine Schweſter 
Debora auf die Stirn! 

Eilig, ale hätte fie es verfäumt, raufchte fie nun die 
Treppe hinab und hinüber in das Magifterhaus, in dad 
fie feit fünfzig Sahren feinen Fuß gefest hatte. 

Der Propft trat in das Küſtergemach. Er fagte auch 
jest noch fein Wort zu mir; aber im Vorüberftreifen fielen 
feine Augen auf das noch aufgefchlagene dreizehnte Kapitel 
des erften Korintherbriefd und dann hinüber auf mich mit 
einem Blick — einem Blick, der mich in meinem letzten 
Stündlein befeligen wird. 

Er fchritt voran; ich in gebührender Entfernung hinter 
ihm drein. Die dichtdrängende Menge machte mit ehr- 
erbietigem Neigen vor und Platz, wie vor einem König 
und feinem Hof. In der Safriftei fenfte er feine Knie 
auf den Betjchemel nieder, wie jedesmal vor der Predigt 


⁊ 


Die goldene Hochzeit 383 


oder einem feierlichen Akt. Aber er betete länger als ein 
Vaterunſer, und er betete auch anders als ſonſt: mit er⸗ 
hobenem Blick, über der Bruſt gefaltenen Händen und 
bebenden Lippen. | 

Die große Domglocke, Maria gloriosa, hob aus; er richs 
tete fich auf und fchritt, von mir gefolgt, zum Altare des 
hohen Shore. 

Die drei Pforten des Lettnerd ftanden geöffnet; im 
Mittelfchiffe und auf den Emporen drängte fic Kopf bei 
Kopf. Weißgefleidete Sungfrauen, Rofenfronen im Haar 
und in der Hand, bildeten eine Kette, den Hauptgang ent- 
lang. Rings um den Altarplag hatten die Würdenträger 
der Stadt und Umgegend Pofto gefaßt; die Behörden, das 
Offizierforps in feiner Paradeuniform; felber, — und das 
fchreibe ich nieder als ein Dofument gar beherzigendwerter 
Eintracht und Ehrerbietung vor unferem Gotteshaufe und 
feinem Oberherrn, - felber die Geiftlichkeit der Fathofifchen 
Konfeffion und der Rabbiner der Sudengemeinde. Aber 
Renatus Henrici fohien von all diefer Feft- und Herrlich- 
feit nichte gewahr zu werden. Seine Augen blidten un- 
verwendet nadı oben, ale ob er eine himmlifche Eingebung 
empfange. 

Nun aber öffnete fich das große Portal; die Glocken 
fchwiegen; die erften Klänge der Kantate hoben an. Feier- 
lich langſam, von blumenftreuenden Kindern eingeleitet, 
bewegte ſich der Hochzeitszug das Schiff entlang. Voran 
und alle überragend das Fräulein Debora Henrici, dem 
großen Mittelturme auf unferem Dome vergleichbar, in 
feiner majeftätifchen Erhabenheit. Zu ihrer Rechten die 
bleiche, fchmächtige, noch im Alter fchöne Subelbraut, im 
filberfarbigen Gewande, den goldenen Kranz über der 


384 Die goldene Hochzeit 


fchneeweißen Haube und dem nicht minder weißen, wellis 


gen Haar. Auf den linken Arm des Fräuleing geftüßt, 
der Subelbräutigam; mehr gebeugt vom Alter ald wir 
anderen, feine Zeitgenoffen, aber noch immer einen Schims 
mer der Jugend auf den rofigen Wangen und einen freund» 
lichen Strahl in dem blauen, fchwimmenden Auge Ein 
goldener Hochzeitöftrauß glänzte an dem fchwarzen Talar. 
Den drei Greifen folgte das bräutliche Enfelpaar, und 
diefem, je zwei und zwei, die lange Reihe der Amtsbrüder 
der Ephorie, 

Der Zug hatte fid) um den Altarplag geordnet, bis der 
Geſang verftummte. Nun trat dad Jubelpaar vor den 
priefterlichen Freund; das Fräulein Dicht hinter den beiden, 
den Blick durchdringend auf den Bruder gegenüber ges 
heftet. Renatus Henrici aber, der Achtzigiährige, hob 
mit mächtiger Sünglingsflimme jene wunderbare Rede an, 
die man eines Tages nicht in feinen Sammlungen Iefen 
wird, weil fie, ohne Ausarbeitung, frei aus feiner Seele 
ftrömte, mit deren vollftändigem Tert id; aber meine 
Schilderung frönen würde, wenn id; mich des Gedädhts 
niffes meiner jungen Sahre noch rühmen dürfte, und wenn 
der Aufruhr in meinem Gemüt nicht noch den Reſt des⸗ 
felben gefangengenommen hätte. 

„Gib mir die Liebe, mein Gott,” fo betete er zum Eins 
gang, — und ich wußte num fchon, welches Negifter er 
aufgezogen; — „gib mir die Liebe und lege deinen heiligen 
Geift auf meine Lippen. Denn wenn idy mit Menfchens 
und mit Engelzungen redete und hätte der Liebe nicht, 
fo wäre ich ein tönendes Erz und eine klingende Schelle.” 

Darauf der Bibeltert. Nichts von Heiraten und Nichts 
heiraten; nichts von Gut⸗ oder Beflertun. Kein Wort 


* 


Die goldene Hochzeit 385 


von damals; ein neuer Tert, ein frifcher Sprud, ein 
heutiger Morgenfegen! „Bis hierher und nicht weiter; 
hier follen ſich brechen beine ftolzen Wellen!“ 

Und diefen Wal und Damm, den der Herr gegen die 
Wogen ded Menfchenlebens gefegt hat, den nannte er das 
Herz. 

„Reißt diefen Feld aus feinem Grunde,“ fo rief er, 
„und ihr habt die Flut, die alles Göttliche zerftört, und 
euch bleibt die Wüfte, in welcher alle Pflanzung erftirbt.. 
Dann werdet ihr fehen, wie dad Verwandte auseinander: 
ftrebt, dad, was in einander wirfen follte, die Gemeins 
fchaft flieht; fehen, wie die natürliche Ordnung fich Löft, 
der Diener zum Herrfcher, der Herricher zum Dränger 
wird, Maß und Einklang im Toben der Willfür unters 
gehn. Denkt euch die Menfchheit ohne Liebe, — aber wer 
denfet dad Chaos? Und wer fchaudert nicht bei der Vor⸗ 
ftellung, oder vor der Erinnerung, wie ein größeres der 
menfchlichen Gebilde fich für einen Zeitmoment aus der 
ewigen Ordnung löft und erft nach blutigen Kämpfen 
durch eine eiferne Fauſt in ein Gefeg zurüdgebannet 
wird? 

„Sehet aber, und fehet mit Schaudern auch den eins 
zelnen Menfchen, wenn er fich lieblo8 aus dem Zufammen- 
hange feiner Brüder löfl. Denn der vereinzelte Selbft- 
ling, der fich ftarf dünfet, und fo fchwach, frei und in 
Wahrheit ein Sklave ift, der Tieblofe Selbftling, und hätte 
er niemals erweislich eine Sünde begangen, er ift ärger 
als der erwiefene Sünder, ber mit Inbrunft ein einziges 
Menfchenherz an dem feinen gehegt; und der Selbftling 
frevelt, wenn er fagt, er fei ein Chriſt. ‚Wer feinen 
Bruder nicht liebt, den er fieht, wie. will er Gott lieben, 
® 


386 Die goldene Hochzeit 


den er nicht fieht?“ fpricht der Herr; und Er entfühnt 
das fündige Weib mit den Worten: ‚Du haft viel geliebt, 
Dir wird viel vergeben werden‘ Gott gab ſich einen 
Sohn, und er gab ihn ung: die Liebe, die höchfte unter 
den dreieinigen Gottesfräften, — das ift die Summa dee 
Shriftentumse. | 

„Der Menfc aber, der fidy lieblos vereinzelt, er liebt 
nicht Gott, fondern. einen Goͤtzen. Und er ftellt den 
Götzen hoch auf einen Altar; und der Gößge ift er felbft. 
Der Quell feiner Offenbarung ift afterweifer Stolz, und 
das Feld feiner Arbeit hat eine felfige Rinde und eine 
Dede von Aſche, in mweldyer die zarten Keime bed Ge⸗ 
mütes erfterben. 

„Meine Brüder, die ihr hierhergefommen feid, um mit 
und, den Greifen, den Ratſchluß Iangmütig erhaltender 
Barmherzigkeit zu einem heiligenden Zwecke zu verehren;z 
meine Brüder, wäre einer unter und, welchen dieſe meine 
Rede trifft, der feinen Mitmenſchen den Rüden fehrt oder 
ſich hoffärtig über feineögleichen erhebt; der nad, feinem 
Freunde begehrt und dem Feinde die Sand der Ber: 
föhnung verweigert, - wäre ein folcher unter ung, der fühle 
in diefer Stunde feine Zwietracht mit Gott; er fchlage 
an feine Bruft und fage: ‚Herr, fei mir Sünder gnädig!‘ 
dann aber, und wäre es in der legten Stunde, dann öffne 
er feine Arme und wende das Antliß nach den Hütten 
feiner Brüder.“ 

Der Redner machte eine Paufe. Er hatte getan nach 
feinen Worten: an feine Bruft gefchlagen wie der Zöllner, 
und dann die Arme ausgebreitet, ald ob er ein lange 
verfäumtes Gefchlecht an fein Herz zu drücken begehre. 
Durch die Gemeine ging fein Atemzug. Renatus Henrici 


Die goldene Hodyzeit 387 


aber fuhr fort, den Bli vol ftrahlender Heiterkeit auf 
das Subelpaar gerichtet. 

„Sehet dahingegen jenen anderen, der liebend in der 
ewigen Ordnung verharrt. Unmerklich Iöfen fich alle 
natürliche und göttliche Rätfel vor feinem Gemüt. Der 
tötende Winterfroft entweicht, ein milder Dunſtkreis breitet 
ſich über die fchaffende Erde; gierig faugt der Boden des 
Himmels Erquickungen in ſich; Pflanzungen erblühen, 
füße Düfte fteigen in die Höhe; feine Werkftatt wird ein 
Öarten, fein Haus eine Heimat; Hand an Hand reiht 
fich zur Kette, die aus der vergangenen in die zufünftige 
Ewigkeit leitet. | 

„Und fo habt ihr euch geliebt, meine Freunde; fo Tiebet 
euch weiter von Kind auf Kindeskind. Duldet eudy, 
traget euch, helfet euch untereinander; bauet weiter an 
dem Walle, vor welchem die ftolgen Gewäſſer ſich brechen, 
bis er hinauf in den Himmel ragt. Mifcht ein Staub- 
forn der Erde fich in den reinen Mörtel, fcheidet es nicht 
aus, daß es einzeln, die Lüfte trübend verfliege; es bindet 
fid) dennoch zum Kitt, bildet fich zur Schicht, auf welcher 
die Saaten der Zufunft treiben. Denn nur die Liebe 
bringt Frucht und Fülle und Frieden und ewige Seligfeit. 

„Diefe Liebe aber, die trägt und duldet, die das Un⸗ 
gleiche ebnet und das Gleiche verbindet; die Liebe, die 
nicht eifert und ſich nicht bläht, an der die Wogen bes 
Menfchenftolzes fich brechen, die Liebe, die ftärfer als der 
Tod und des Geſetzes Erfüllung ift, diefe Liebe bewähre 
fich für und für auch an diefem hehren Gotteshaufe. Sein 
verfallendes Gewand wird neu werden. Sei es ein- 
-trächtig gewirkt in dem Geifte, den eine neue Zeit aus 
fid) herausgeboren hat. Auch die Zeit fließt aud Gott. 


388 Die goldene Hochzeit 


jüngere Diener, Männer diefer Zeit, werben nach ung, 
den Greifen, dad ewige Evangelium in feinen Hallen pres 
digen, die heiligenden Gnadenmittel fpenden, bald, viels 
leicht morgen fchon. Lenke dann die Liebe ihre Zungen, öffne 
ihre Arme, regiere ihre Geifter zu deflen Serrlichkeit, der Die 
Liebe fchuf; das heißt, der fie ausftrömte aus fidh, einftrömte 
in ung, daß wir feine Kinder heißen follten. Amen.“ 

Er ſchwieg. Durch die Taufende, die feine Rede gehört 
hatten, ging ed wie Waldesbeben im Abendhauch. Da 
war wohl feiner, der nidyt ahnete, was ihre Bedeutung 
war. Drei aber unter ihnen: die Schweiter, die Ssubels 
braut und ich, der Diener, wir wußten, daß wir nicht 
nur einen erweckenden Aufruf vernommen, nicht nur das 
Zeugnis einer fpäten, leßten Erfahrung der Seele, fon- 
dern eine öffentliche Beichte und Buße zur Sühne eines 
achtzigjährigen, verfehlten Lebens. 

Aber noch einmal öffnete er feinen Mund und ſprach: 

„Und wie ich diefen Ehebund eingefegnet habe vor 
einem halben Sahrhundert für das zeitliche Leben und 
heute zum zweiten Male fegne für die Ewigfeit, nach der 
furzen Brautnacht des Todes; und weil ich nicht weiß, 
ob die Hand ded Greifed priefterlich dad Band wird 
fnüpfen dürfen, das die Enkel verbinden foll, wie ed die 
Ahnen verbunden hat, fo tritt vor mich in diefer Stunde, 
du junges Paar, daß ich den Segen über dein Berlöbnie 
fpreche, ald ein Vater und Freund.” 

Tiefbewegt traten Renatus und Debora, die Enkel, 
vor den Altarplag und beugten ihre Knie; die Subeleltern 
hinter ihnen. Renatus Henrici aber legte feine Hände 
auf beider Paare Haupt und fagte nichts weiter ale; 
„Liebet euch, meine Kinder, fo wird Gott euch Lieben.” 


Die goldene Hochzeit 389 


Er ſchritt und voran in die Safriftei. Ciner um dag 
andere, die alte wie die junge Braut, der alte wie ber 
junge Bräutigam, lagen fie dort an dem Herzen des greifen 
Gefchwifterpaared. Wie er aber feinen Paten Renatus 
in den Armen hielt, da fragte er feierlich: „Renatus, 
willft du fortan meinen ganzen Namen tragen? Willft 
du auch mein Gehülfe im Amt, willft du mein Sohn und 
dereinft mein Erbe fein?“ 

Erfchüttert fan der Süngling zu feinen Füßen; er aber 
hob ihn auf, legte feine Hand in die der weinenden Braut 
und wanfte leife nach der Tür. 

„Hab ich es recht gemacht, Freund Zebedäus?“ flüfterte 
er mir zu mit einem Händedruck und dem freundlichiten 
Lächeln, das ich jemals auf feinen Lippen wahrgenommen 
habe. 

Sch aber faltete die Hände und betete: „Kerr, nun 
läffeft du deinen Diener in Frieden fahren, denn meine: 
Augen haben deinen Sohn in feinem ewigen Erbe ges 
fehen.“ 


Phosphorus Dollunder 


De Hollunder faß am Schreibtifch feines mit 
Komfort und Zierlichkeit ausgeftatteten „Muſeums“ 
- wie er ed nannte — in der Apotheke zum Holunderbaum, 
die er neuerdingd vom Keller zum Giebel modern hatte 
herftellen laflen. Er memorierte die Rede, mit welcher er 
heute, am Sylvefterabend, die Schweſternloge zu erbauen 
gedachte. Denn Phosphorus Hollunder war Maurer; — 
welcher Apothefer wäre in Herrn Hollunders jugendlicher 
Heldenzeit es nicht gewefen? — Er galt für den begeifterts 
ften Sprecher in der Loge zur Feurigen Kugel, zumal an 
den Schwefternabenden, wo fein Bortrag fein fchönes 
Auge troden gelaffen haben fol, 

Er hatte laut gelernt und ein helloderndes Feuer in 
feinem Gemüt entzündet. Mit großen Schritten ging er 
nunmehr im Zimmer auf und ab. Der Strom der Phan⸗ 
tafie war ficher in das Gedächtnis geleitet; ein Anftoß nicht 
zu befürchten; wenn aber ja, fo ift Phosphorus Hollunder 
der Mann, der ſich auf feine Infpiration verlaflen darf. 

Angeregt durch Tiebliche Bilder von Frauenhuld und 
Frauenwürde, welche naturgemäß den Stoff feiner heutigen 
Rede bilden, drängt ihn aus allgemeinen Regionen eine 
unmwiderftehlihe Macht in die Heimlichfeit feines Herz⸗ 
fammerleind zurück und zaubert den Gegenftand feiner 
lange verfchwiegenen Minne leibend und lebend vor den 
entzücten Blid. Da fteht fie, die Hehre, die Cäcilia aller 
feiner zarten — leider nie veröffentlichten Lieder. (Den 
Zeitgenoffen Hollunders brauchen wir faum zu fagen, daß 
‚Urania‘ und ‚Die bezauberte Rofe‘ feine Vorbilder und 
Lieblingsdichtungen waren; das jüngere Gefchlecdht wird 
fich derfelben aus der Fiteraturgefchichte erinnern.) 


Phosphorus Hollunder 991 


Das Herz geht dem Redner über. Während er in ftarfer 
Bewegung auf und nieder fchreitet, ruft er aus: 

„Berfchmähft du mich, Blanfa? Weiſeſt mich von dir? 
D Mädchen, halte ein! Befinne dich, bedenke, ich bin ein 
gebildeter Mann, ein wohlangefehener Mann, — nicht aud) 
ein wohlanzufehender Mann?“ 

Sein Blid fiel bei der legten, nur gelifpelten Frage in 
den goldumrahmten Trumeau zwifchen den Fenfternifchen; 
errötend fenfte er die Augen jedoch haftig zu Boden und 
fuhr mit weichen Tönen in feiner Selbftempfehlung fort: 
„Bedenke, ich bin ein guter Mann; oder wenigfteng, ich‘ 
fönnte ed werden, denn ich liebe dich, Blanfa, und die 
Liebe macht gut.” 

Die alabafterne Stuguhr fchlug in diefem Augenblid 
fech8 und fpielte die Melodie von „Wie der Tag mir 
fehleichet, ohne dich verbracht." Eine Mahnung an die 
Toilette; denn um fieben follte die VBerfammlung ihren 
Anfang nehmen, und Herr Hollunder war an bedeutenden 
Tagen gern der Erfte. Er zog daher den palmendurdhs 
wirkten Kaftan aus, der in Verbindung mit dem purpurs 
farbigen Fe; ihm ein ausnehmend mufelmännifches Ans 
fehen gab, wennfchon er in allem übrigen durch morgens 
ländifche Kennzeichen oder Neigungen je nachdem weder 
intereffieren nody abfitoßen konnte. Rauchte er doch nicht 
einmal und tranf ftatt des Kaffees Schofolade. Auch war 
fein Saar von der Helle des Flachfes, und fein Nafenbein 
ſchlug auch nicht entfernt einen orientalifchen Adlerhaken. 

Ohne ſich in feinen peripatetifchen Ergüflen ftören zu 
laffen, begann er darauf ſich in den Gefellfchaftsanzug zu 
hüllen, der fürforglid, auf dem Sofa ausgebreitet lag. Ins 
dem er die Weſte von himmelblauem Moire überftreifte, 


392 Dhosphorus Hollunder 


durchzuckte es ihn aber plögßlich wie bei dem Stich eines 
giftigen Inſekts, und es dauerte eine Weile, bis die grelle 
Diffonanz in elegifche Molltöne überging. 

„Was fann dir diefer Leutnant fein, Blanka?“ fragte 
er. „OD, fliehe ihn, fliehe ihn! Er wird dich verderben. 
Es ift nicht Sitte und Treue in ihm, und Sitte und Treue. 
find die Pfeiler, auf welche das Weib fein Glüd zu bauen 
hat. Und doc) lächelft du ihm, Geliebte! O, wohl fehe 
ich es, wie holdfelig du lächelft, wenn er unter deinem 
Fenfter vorübergaloppiert. Ich fehe es, und es fchneidet 
mir durdy das Herz. Was reizt did; an dem Leutnant, 
Blanka? Kann keiten glüdlich machen? Oper eine blißende 
Uniform? Heißt das Bildung: über Hinderniffe feßen, ein 
feuchendes Pferd zu Tode jagen? Das As in der Karte, 
den armen Vogel im Fluge treffen ohne Fehl? Er wird 
bein Herz treffen, Mädchen. Er ift ein roher Gefel. Ich 
habe ihn beobachtet am Pharotifch und bei der Bowle. Da 
offenbart fi des Mannes Natur. Sch fpiele niemals, 
und beim Glaſe werde ich traulich und mache Berfe, wie 
die Freunde fagen. Aber diefer Leutnant, o, 0! Was 
eleftrifiert euch Frauen, fobald er ſich zeigt? Hat er Bil: 
dung? Hat er Geift? Hat er nur ein Herz? — Er trägt 
einen Orden, weil er, e8 ift wahr, einmal eine fühne, eine 
edle Tat getan. Aber es geichah in jachem Affekt, nicht 
aus befonnener Wahl. Das ift fein Wert, der dauernd 
ein zärtliches Weib beglüdt. Er befitt auch eine fchöne 
Geſtalt und — — -” 

Wieder fiel Phosphorus Hollunders Blick in den Spiegel, 
und er lächelte nicht ohne Befriedigung, während er die 
Schleife des weißen Atladtuches breit zog. „Und — Schön⸗ 
heit iſt allerdings ein Schlüſſel, der uns die Pforten der 


Dhosphorus Hollunder 393 


Menfchenherzen erfchließt. Das beweift dein Anblid, 
Blanka, dein allesbewältigender Anblid! Aber Schönheit 
des Leibes allein? Nein, Geliebte, wäre nicht auch deine 
Seele edel und hold, ich würde dich fliehen, wie eine 
Schlange. 

„Du bift arm, mein Kind,” fuhr er nach einer Paufe 
fort, indem er die blißende Diamantnadel in dem ſpitzen⸗ 
geränderten Sabot befeftigte. „Du bift arm, mein Kind, 
und das beglücdt mich; fo werde ich dir mandje Freude 
bereiten dürfen, die du jegt nicht fennen lernft. Denn 
ich gebe fo gern; und wem gäbe ic; lieber ale dir? Dein 
wäre alles, was mein ift, und ich nur dein Sflave. 

„Aber du bift ein Edelfräulein; bift du auch ftolz, 
Mädchen? Blanfa von Horned, ein ehrwürdiger Name! 
Indeſſen auch der Hollunder Erinnerung reicht Jahr⸗ 
hunderte zurück. Betrachte über der Apotheke den Baum 
in grauen Stein gemeißelt, das Wahrzeichen unſeres Ge⸗ 
ſchlechts, und darunter die Jahreszahl 1530. Wir haben 
uns die fchöne Sitte ded Adeld angeeignet in Bild und 
Schrift, dad Andenken unferer Ahnen ehrfürchtig zu wahren. 
Drei Sahrhunderte blicken wir zurück auf Väter, Die unferer 
Stadt zum Mufter bürgerlicher Tugend und Treue ge- 
reichten, auf häusliche, züchtige Mütter, Vorbilder ihres 
Geſchlechts. Drei Jahrhunderte lang vererbte die Apo⸗ 
thefe auf einen Erftlingsfohn, einen Phosphorus, das heißt 
Lichtbringer, Lichtmagnet, Morgenftern! Ein bedeutungss 
voller Name! Ich habe ihn wieder angenommen ftatt des 
nüchternen ‚Ernft‘, den meine Eltern ihm beigefügt hatten. 
Ernft Hollunder — wie unmelodifch, wie nichtöfagend! — 
Die jüngeren Söhne unſeres Sefchlechtd widmeten ſich Dem 
geiftlichen oder gelehrten Stande, Es gibt mandyen nam⸗ 


594 Dhosphorus Hollunder 


haften Hollunder in den Annalen der Wiſſenſchaft. Gern 
wäre ich ein jüngerer Sohn geweſen; aber id; bin der 
einzige. Sch befaffe mich wenig mit meinem Gefchäft; ich 
habe höhere Intereſſen; doch der Pflicht, welche folche 
Vergangenheit auferlegt, durfte ich mich nicht entziehen; 
ich mußte die Apothefe übernehmen. — Ich bin eine Waife, 
ohne Gefchwifter, ohne nahe Verwandte,” rief jeßt der 
gute Hollunder mit übergehenden Augen, „ach, liebe mich, 
Blanfa, werde du mein alles!“ 

Mühfam bewältigte er die weichmütige Anwandlung 
und trat nun, mit dem fcehwarzen Leibrod die feftliche 
Toilette beendend, noch einmal mufternd vor den Spiegel. 
Ein Blic genügte, ihm fein Selbftgefühl wiederzugeben. 
„Und dann, Blanfa von Horned!” rief er plöglich, den 
Kopf ftolz in den Naden werfend, „Blanfa von Horned, 
was ift Adel heutigentages? Adel ift Bildung. Stelle 
mich dem Leutnant gegenüber in einem Turnier des Geifteg, 
und er wird feinen Mann gefunden haben,“ fette er nach 
einer Paufe, fie und ſich felbft entfchuldigend hinzu. — 
„Aber, nein doc, nein. Sin dir ift feine Schwäche, fein 
Vorurteil. Du bift rein wie eine Frühlingsblüte. Dein 
großes, demütig geſenktes Auge, die edle Humanität deiner 
Mutter find mir Bürgenz; du bift, deinem ritterlichen 
Namen zum Troß, ein Kind deiner Zeit; du verfchmähft 
nicht das bürgerliche Gewerbe eined Gatten unter dem 
Ehrenmantel der Bildung. Indeſſen - follteft du — fändeft 
du — hätteft du — o, nur ein Wort — Geliebte — nur einen 
Wink — und idy opfere dir meinen Stammbaum, ich vers 
pachte die Apotheke, ich Faufe mir ein Rittergut; Blanka, 
ich mache dich zur Edelfrau.” 

$ 


Dhosphorus Hollunder 395 


Die Uhr fchlug halb fieben; Herr Hollunder mußte fein 
Selbftgefpräd; beenden, foviel er nody auf dem Kerzen 
hatte; doch fühlte er auch jegt fchon fich erleichtert und 
frei; feine Werbung war fo gut wie angebradht, feitbem 
er ihre Berechtigung fich felbft klargemacht hatte. Blanka 
von Horneck, die er feit feinen Schuljahren im ftillen ver: 
ehrt, mußte ihn jeßt verftehen ohne Worte; er hatte eine 
fiyere Stellung ihr gegenüber eingenommen. Nun nur 
noch ein Bürftenftrich durch die hochgelockte Tolle über 
feiner Stirn, ein Flafon Eau de lavande über das feidene 
Taſchentuch gefprengt, die weißen Handfchuhe angepreßt, 
den Karbonari übergeworfen und freudig bebenden Schrit- 
tes hinüber in die Loge zur Feurigen Kugel. 

Sm Borfaal fließ er auf die alte Suftine, die feine 
Kinderfrau gewefen war und nun das Hausregiment 
führte. „Was madıft du hier auf dem zugigen Korridor?“ 
fragte er gütig, „du wirft dich erfälten, liebe Muhme.“ 

„Sc ftehe Wache, Herr Hollunder,“ verjeßte die Alte, 
mit weniger Freundlichkeit als ihr Herr. 

„Du ſtehſt Wache? Wache gegen wen?“ 

„Gegen die gottlofen Buben, die Lehrlinge unten.” 

„Segen meine jungen Herren?“ 

„Sa, gegen die ausverfchämten jungen Herren, juft 
gegen die.” 

„Aber erkläre mir, Muhme — —“ 

„Nun, was ift da viel zu erflären? Der Serr Hols 
Iunder waren wieder einmal im Zuge mit einer Pres 
digt; da laure ich dann auf, um die Schlingel fort: 
zujagen, wenn fie auf dem Wege nad dem Kräuterboden 
hier am Schlüffelloche horchen und fichern, Die nichtönugige 
Brut!” 


396 Phosphorus Hollunder 


„Spreche ich wirklich Taut, wenn ich allein und in Ges 
danken verfunfen bin, Suftine?” 

„Laut und vernehmlich wie von der Kanzel herab, mein 
Herr Hollunder. Aber nur nicht geniert; ich paſſe auf. 
Und was mid; anbelangt, meine Ohren müflen in der 
legten Zeit gewaltig ſchwach geworden fein; ich habe Dicht 
am Schlüffellocdy den Zufammenhang heute nicht unter: 
fcheiden können.” 

Herr Hollunder lächelte. Das fommt vom Alleinfein, 
dachte er bei fich felbft. Man wird fein eigener Unter- 
halter, man wird am Ende nody ein Egoift. Übrigens 
glaube ich wirklich, daß ich zum Nedner geboren bin! 
„Ärgere dich nicht, alte Seele,“ tröftete er darauf mit 
freundlicher Würde feine alte Duenna, „ärgere dich nicht, 
wenn die jungen Herren mich einmal wieder belaufchen 
follten. Sie werden nichts Ungeziemendes aus meinem 
Munde vernehmen. Ein alter Römer hat einmal gefagt,” 
- fo fegte er im Fortgehen mehr an fich felbft gerichtet 
hinzu, — „er möchte von Glas fein, daß feine Mitbürger 
jederzeit den Grund feiner Seele überbliden könnten. 
Es gibt auch deutfche Männer, die wie diefer Römer 
denfen!“ 

Herr Hollunder ftand ſchon unter der Tür, als er ſich 
noch einmal zurüdwendete, um feiner Wirtfchafterin zu⸗ 
zurufen: | 

„Laß es heute, am Sylveſter, den jungen Herren ja an 
nichts fehlen, liebe Muhme. Spare feine feine Zutat beim 
Heringsſalat, weil ich ihn nicht mit verzehre. Der Fleine 
Keller ißt fo gern Kuchen. Sei mir beileibe nicht fnauferig 
mit Stollen und Pfefferfcheiben, hörft du, Alte Du 
aber, treue Seele, bleibe mir ja nicht etwa auf, bis ich 


Phosphorus Hollunder 397 


zuruͤckkehre. Scjlafe gemädhlicd, hinein in das neue Sahr, 
in welchem der liebe Gott did; erhalten möge frifch und 
fräftig wie bisher.” 

Herr Hollunder ging; die alte Suftine wifchte fich eine 
lange Weile die Augen. 

„Welch ein Herr!” ſchluchzte fie. „Der richtige Engel, 
mein Phosphorus! Und wenn id} dermaleinft vor Gottes 
Thron erfcheine, werde ich fagen: Sch habe ihn aufgezogen! 
und voller Gnaden empfangen werden. Großmütig wie 
ein Löwe. Die ausverfchämten Bengel foll ich noch ertra 
traftieren !” 

Waͤhrenddeſſen nahm Kerr Hollunder den Weg durch 
feine Apothefe. „Ich kann diefen feftlichen Abend nicht 
in Ihrem Kreife feiern, meine Herren,” fagte er, indem er 
feinem Provifor die Hand drückte. „Sch verlafle mid, 
wie in allen Stüden, auf Sie, mein lieber Speck. Machen 
Sie freundlid) den Wirt an meiner Statt. Er verfteht ſich 
auf einen fraftigen Punfch fo gut wie auf jedes andere 
heilfame Gebräu. Sie fünnen ihm vertrauen, meine jungen 
Herren. Sch wünfche Shnen allen einen fröhlichen Eintritt 
in das neue Sahr!“ 

Die jungen Herren wünfchten deögleichen und aufrich- 
tigen Herzend; denn niemals hatten Lehrlinge einen güti- 
geren Lehrherrn gehabt ale die des kaum vierundgmanzig- 
jährigen Herrn Hollunder. Einer wie der andere würde 
daher durchs Feuer für ihn gegangen fein, wenn er es ſich 
aud nicht zur Sünde anrechnete, auf dem Wege nach dem 
Kräuterboden an feiner Tür zu horchen und feine Gemüts⸗ 
ergüffe zu befichern. 


Über unfered Freundes Erlebniffe während der nächft- 


398 Phosphorus Hollunder 


folgenden Weiheftunden müflen wir ſchweigen, da das 
Mpyfterium des Föniglichen Baues diefelben dedt. So viel 
darf ohne Treubruch indeflen ausgeplaudert werden, daß 
Blanka von Horned, die nebft ihrer Mutter, der Witwe 
eined ehemaligen Bruders, eine Ehreneinladung erhalten 
hatte, ihm niemals fo holdfelig erfchienen war wie heute in 
ihrem weißen Gewande mit den lichtblauen Schleifen. „Blau, 
die Farbe des Himmeld und Ihrer Augen, die Farbe der 
auserwählten Seelen,” wie er ihr während feiner Tifch- 
nachbarfchaft zuflüfterte, indem er einen verfchämten Blick 
auf fein blaues Gilet fallen ließ. Er fühlte fich in einer 
unbefangeneren Stimmung als fonft ihr gegenüber, trat 
mit feinen Anfprüchen fühner hervor, und ald nach dem 
feierlichen Neujahrsgruße die Gefellfchaft fich trennte, bot 
er, zu ritterlichem Geleit, beiden Damen von Korned 
feinen Arm. Nur die Mutter nahm denfelben jedoch an; 
das Fräulein hüpfte unter dem Vorgeben, daß die Schnee 
bahn für drei Perfonen zu fchmal fei, hinter der voran⸗ 
leuchtenden Laterne der Dienerin. 

„Sie haben eine warme Schilderung von dem Werte 
und der Beflimmung des Weibes entworfen, Herr Hol⸗ 
under,” fagte nad) einiger Zeit die Majorin von Horned, 
da fie es für angemeflen hielt, ihren Befchüger durch ein 
anerfennendes Wort über feinen Bortrag zu belohnen. 
„Möchten Sie dad Traumbild Ihrer Seele im Leben ver- 
wirfficht finden!” „Sch babe es gefunden!” fiel Herr 
Hollunder raſch und feurig ein, ſtockte aber jählinge, er- 
rötete dem nächtlichen Dunkel zum Trotz und feßte nach 
einer Paufe mit innigem Klang hinzu: „Auch Sie, gnä- 
digfte Frau Majorin, find mir ſolch ein erfüllte Traum: 
bild der Seele. Ich habe meine felige Mutter nie gefannt; 


Phosphorus Holiunder 399 


fooft ich- mir aber ein Bild von ihr zu machen fuche, 
erfcheint es mir unter Shrer edlen, hochverehrten Geftalt.“ 

Was hätte ein junger Mann der Matrone Schmeichels 
hafteres fagen fönnen. Frau von Horneck drückte ſchweigend 
feine Hand; er zog fie an die Lippen, und da fie juft vor 
dem Haufe ftanden, fuchte er, fich empfehlend, Die der Tochter 
zu gleicher Huldigung zu fallen. Blanfa entzog fie ihm 
haftig und fchlüpfte in die Tür. Dennoch ging unfer Freund 
in einem Raufche von Seligfeit nadı Haufe. Der warme 
Handdrud der alten Dame deckte das froftige Ablehnen 
der jungen. Er träumte in der heiligen erften Sahresnacht 
von feiner Mutter im Himmel und von den blauen Augen 
ihrer Nachfolgerin unter dem Wahrzeichen des Holunder⸗ 
baums. 

* 

Frau und Fräulein von Horneck blieben dagegen in ihrem 
gemeinfamen Schlafzimmer noch ftundenlang wadı. Das 
ſchöne Kind hatte ſich, abgefpannt von der langen Abends 
tafel mit ihren Reden und Liedern, alfobald niedergelegt; 
die Mutter feste fidy an der Tochter Bett und fprad}: 

„Der Rückblick aus diefer Nacht in ein abgelaufenes 
Sahr, in ein ablaufendes Leben, ein unwillfürlich banges 
Ahnen der Zukunft, hat je öfter je mehr etwas Herzbewe⸗ 
gended. Mir ift es nicht wie ruhen zumute, Sch möchte 
noch.ein Weilchen mit dir plaudern, Blanfa; vorausgefeßt, 
daß du nicht allzu ermüdet biſt.“ 

„D, wenn du zu mir redeft, du gute, kluge Mama, da 
werde ich wieder munter und wenn ich nod) fo müde bin,“ 
verſetzte die Tochter, fich zärtlich an die Mutter ſchmiegend. 
„Dir hörte ich zu die ganze Nacht; und wenn du mir er> 
laubſt, liegen zu bleiben, verftehe ich dich noch einmal fo 


400 Dhosphorus Hollunder 


leicht und antworte dir viel klüger als beim Sitzen oder 
Gehen.“ 

„So laß dein Köpfchen ruhen, Heine Schmeichelfage,” 
entgegnete die Mutter. „Denn du fönnteft dich nicht Har 
und ernft genug fühlen angeſichts einer Entfcheidung, die 
fid, kaum über diefe Nacht hinaus verzögern laſſen wird.” 

„Sch, ich mich entfcheiden?” fragte Blanka erftaunt. 
„Über was denn, Mama?“ 

„Seren Hollunders Abfichten in bezug auf dich fcheinen 
mir unzweifelhaft, Blanfa. Es wäre ein großes Unrecht, 
dem redlichen Manne gegenüber eine Zmweideutigfeit oder 
auch nur ein Hinhalten walten zu laffen. Du mußt dich 
zu einer Wahl entfcheiden, liebe Tochter.“ 

„zu einer Wahl? Gibt es denn hier eine Wahl, Mama?” 

„Nach meiner Meinung: nein. Aber doc; vielleicht nach 
der deinen. Oder wäreft bu bereits entfchloffen, feine 
Hand anzunehmen?” 

„Hollunders Hand, diefed Narren Hollunder, Mütter- 
chen?” 

„Hüte deine Zunge, Blanka. Sch kenne wenig beffere 
Menichen ald Hollunder, feinen, ber dir beglüdendere 
Ausfichten zu bieten hätte.” 

„Als Hollunder? Du fcherzeft wohl, liebe Mutter?” 

„Nein, mein Kind. Ic, fpredje im heiligften Ernft, 
nach ftrengen Erfahrungen des Lebend. Oder fchägeft du 
diefe nimmermüde Güte, dieſe gleichmäßige Heiterfeit, fchät- 
zeft du ein unfchuldiges, warmes Herz fo gering, um da- 
gegen etliche Tächerliche Feine Anhängfel in Betracht zu 
bringen, welche der erfte befte Schidfalgfturm abftreifen 
wird? Hollunders Gefchmadlofigfeiten find Auswüchſe 
einer mühelofen Jugend, einer allzu bequemen Lage in 


Dhosphorus Hollunder 401 


fleinftädtifch bürgerlichen Verhältniſſen, eines Berufes, der 
zwifchen Gewerbe und Studium die Mitte hält und dem 
er fich leider bis jegt nicht mit ausfüllendem Ernte widmet. 
So verfällt er in Spielereien, in einen mitunter, id} gebe 
es zu, etwas läppifchen Dilettantismus, während junge 
Edelleute, zumal im Militärftande, während einer langen 
Friedenszeit wie die unfere - — —” 

„Aber, Mama, welch ein Vergleich! Unfere Offi⸗ 
jiere — —“ 

„Die Gegenüberſtellung würde überflüſſig geweſen ſein, 
wenn ich nicht wüßte, Blanka, wie ausſchließlich du dich, 
als Soldatenfind, in diefe gefellfchaftlichen Kreife geftellt 
fühlft. Sch wiederhole daher: während junge Militärs, 
in der ähnlichen Lage, ihre Kräfte nicht hinlänglich zu 
verwerten, nur alzuoft in das entgegengefegte Extrem 
verfallen und einem maßlofen Sinnesgenufle frönen. 
Einen mir vorfchwebenden Namen aus diefer Kategorie 
will ich unterdrüden. Du errätft ihn, liebe Tochter. 
Dünft ed dir nun aber verzeihlicher, zu fpielen, zu trinfen, 
aus bloßem Zeitvertreib Sitte und Tugend Hohn zu fprechen, 
ale, im unbeftimmten Drange nad) etwas Höherem, in Ge⸗ 
bieten umherzufchweifen, für welche die berechtigende Kraft 
des Talents gebricht? Keine häufigere und leichtfertigere 
Neigung bei unferer Abfchägung der Menfchen, liebe 
Blanka, ald eine Srrung bed Geſchmacks höher anzus 
fchlagen, das heißt verwerflicher zu finden, ald einen 
Fehler des Gemüts, das Lächerliche mehr ald das Lafter, 
den Überfchtwang der Idealität mehr als deren gänzliches 
Berneinen. Menfchen wie Hollunder werden bald genug 
im rechtmäßigen Takte fchreiten lernen, wenn eine ernfte 
Erfahrung, eine bedeutende Pflicht, ein wahrer Schmerz 
® 


402 Phosphorns Hollunder 


gleich einer Taufe ded Geifted fie überfommt. So wie 
an einem Bildwerfe von Holz oder Stein die edle fünft- 
ferifche Geftalt erft zutage tritt, wenn ein Regenguß die 
Farbe abjpült, mit welcher kindiſcher Ungefchmad ihr ein 
lebhafteres Anfehen zu geben verfuchte. Auch die Ehe ift 
foldy ein klärendes Bad; eine geliebte, gebildete Frau leitet 
einen Mann unmerflich auf die geziemende Bahn und 
macht ihn zu dem, wofür die Natur ihn beftimmte. Der 
Übergang mag peinlich fein, mein gutes Kind; aber der 
Erfolg ift gewiß und der Lohn unermeßlich.“ 

„Sc bin nicht erfahren genug, liebe Mutter,” ents 
gegnete Blanfa, „um mit deinen Anfichten zu rechten. 
Sch weiß nur, daß mein innerfted Wefen fich gegen fie 
fträubt. Iſt ed mir doch niemals in den Sinn gefommen, 
daß du ein derartiges Los für mich im Sinne haben 
fönnteft. Phosphorus Hollunder! - fchon diefer Tächer- 
liche Name!” 

„St die Schule unferes Lebens danadı geweſen, um 
Borurteile in ihr großzuziehen?” fragte die Mutter. „Was 
rum ift der Name Hollunder dir lächerlich, Blanka?“ 

„Wer denkt nicht dabei an ein Tranfpirationsmittel, 
Mama?“ verfegte Blanka Fichernd. „Zumal bei einem 
Apotheker.” 

„Keine Poflen, Kind! Setze ein Adeldzeichen vor den 
Namen, und du wirft ihn wohllautend und ehrwürdig 
finden, fo gut wie Ochs, Kalb, Gang, Riedefel und hundert 
andere, mit denen fich weit lächerlichere Vorftellungen ver- 
binden laſſen. Hat dir mein eigener Familienname ‚von 
Schweinen‘ jemald Anftoß erregt? Drei Feine Buch⸗ 
ftaben vermögen did) mit einer juft nicht galanten oder 
fauberen Namendvetterfchaft zu verfühnen, und Phos⸗ 


Dhosphorus Hollunder 403 


phorus von Kollunder würde dein Öhrchen, Heine Törin, 
durchaus nicht mißfällig berühren, gelt?“ 

Blanka fchüttelte den Kopf in einer Stimmung, bie 
zwifchen Weinen und Lachen die Mitte hielt. „Kinen 
Mann Phosphorus zu nennen!” fagte fie. 

„Ss taufe ihn um,” entgegnete Frau von KHorned 
Tächelnd, „nenne ihn Ernſt; feine Mutter hat ihm diefen 
zweiten Namen beigefügt, vielleicht weil fie deine Be⸗ 
denfen vorgefühlt. Ich weiß indes recht wohl, daß dein 
Einwand nur ein Vorwand ift und daß der Name dir 
nur darum widerfteht, weil er dich an das bürgerliche 
Gewerbe erinnert. Dad Gewerbe fränft deinen Stolz. 
Aber worauf bift du ftolz, Blanfa? Weißt du etwas mehr 
von deinen Vorfahren, ald Herr Hollunder von den feinen? 
Daß fie brave, ehrenhafte Leute gewesen find, hier in einer 
befcheiden bürgerlichen, dort in einer befcheiden militäri- 
fchen oder Beamtenftellung; mag der Ausgangspunkt der 
legteren ein wenig glänzender, der der erfteren ein wenig 
dunfler gewefen fein: ihr beiderfeitiger Bildungsgrad wird 
feit Generationen fidy nicht weſentlich unterfchieden haben. 
Was aber den Apotheker anbelangt, — liebe Blanka, 
würdeft du gegen einen Landwirt etwad einzuwenden 
haben? Warum fcheint ed dir nun geringer, mit Gewiſſen⸗ 
haftigfeit und Kenntnis die Kräfte der Natur zu vers 
wenden, um der ſchwerſten Menfchenplage, der Krankheit, 
entgegenzumwirfen, warum fcheint ed Dir geringer, ale 
feinen Ader zu bebauen, Vieh zu mäften, Korn und Wolle 
zu verhandeln und auf diefe Weife, gleichfalld im Dienfte 
der Natur, die erften Lebendbedürfniffe zu befriedigen? 
Geftehe es, Kind, nur darum, weil du auch folche, die du 
für deinedgleichen hältft, derlei ländliche Hantierungen 


404 Phosphorus Hollunder 


treiben fiehft und dir noch fein adliger Apotheker befannt 
geworden if. Alfo aus Vorurteil. Wollte ich dir nun 
aber auch, wenngleich nicht die Berechtigung, fo doch eine 
verbreitete Wirkſamkeit gewifler geiftiger Gewöhnungen, 
die wir Vorurteile nennen, zugeftehen, fo müßte ich dir 
in diefem Falle doch eine weit verbreitetere Wirkfamfeit 
entgegenfegen, denn Herr Hollunder ift ein fo wohlhaben; 
der Mann, daß alle gang und gäben Vorurteile vor feinem 
Reichtum verfchwinden müſſen.“ 

„Ich verſtehe dich nicht mehr, beſte Mutter,“ wendete 
Blanka ein. „Heute empfiehlſt du den Reichtum eines 
Mannes, und wie oft haſt du mir das Veraͤchtliche einer 
Spekulationsheirat vorgehalten?“ 

„Ich tue es noch, mein Kind, inſofern eine Heirat nur 
Spekulation, inſofern es nur der äußere Glanz iſt, welchen 
ein Mädchen in der innerſten menſchlichen Verbindung 
ſucht. Bei einem Manne von Hollunders Charakter wird 
der Reichtum zu einem erfüllenden Segen. Ich weiß, 
daß es einer ernſtgebildeten Frau, — daß es vielleicht 
auch dir, liebe Blanka, die Zufriedenheit nicht verfümmern 
wird, wenn fie ein baummollenes Kleid ftatt eines feidenen 
trägt, ein einfaches Mahl von Fayence genießt, ftatt Leders 
biffen von koſtbarem Gerät. Bielleicht, fage ich, da ja 
in dem ſich fo mächtig verbreitenden Luxus unferer Zeit 
eine bedenfliche Verfuchung felbft für die Befcheidene liegt. 
Unter allen Umftänden jedoch ift e& auch für die Bes 
fcheidenfte fchwer, den Biffen zu berechnen, mit dem fie 
den Gaftfreund bewirten, den Grofchen, mit welchem fie 
den Dürftigen unterftüßen möchte, ihre wärmften Impulſe 
allezeit unter Kontrolle zu halten. Bei deiner erregbaren 
Natur, liebe Blanfa, ift ed doppelt ſchwer. Ich fürdıte, 


Phosphorus Hollunder 405 


ich fürchte” — Frau von Horneck feufzte bei diefer Wen⸗ 
dung -, „daß fich viel von deines Vaters Wefen in dem 
deinen fortgeerbt hat, mein armes Kind.” | 

„Du fürchteft das?” fragte Blanka betroffen, da fie 
gewohnt war, den frühverftorbenen Vater mit uneinges 
fchränfter Hingebung zu verehren. „Du fürdhteft e8? 
War mein Bater nicht edel und gütig? Liebteſt du ihn 
nicht, meine Mutter?” 

„Er war ein edler, gütiger Mann, und ich liebte ihn, 
Blanka,“ antwortete Frau von Horneck und feufzte 
wiederum bei den Worten. „Dennoch habe ich viel mit 
ihm und durch ihn gelitten. Denn fein Temperament 
und Geſchick Tagen in dauerndem Zwiefpalt, ohne daß 
eines mächtig genug gewefen wäre, dad andere von Grund 
aus zu bewältigen. Ich werde dir diefe Erfahrungen 
eheftens näher bezeichnen, da ich Dich vor einer Krife ftehen 
fehe, in der fie dir zur Lehre werden können. Heute 
möchte ich dir nur noch fagen, wie tief es mid, beglüden 
würde, wenn ic) dic, ähnlichen Konfliften entzogen wüßte, 
wurzelnd in einem Boden, in welchem herzendfreundliche 
Triebe ſich entfalten dürften, ohne ſich — häufig mehr als 
unfere Irrtümer — in Klippen umzuwandeln, an welchen 
ein Lebengfchiff nur allzuoft fcheitert.“ 

Blanka ergriff der Mutter Hand; fie fühlte fich je länger je 
tiefer von deren Ernft bewegt. Frau von Horned fuhr fort: 

„Du haft in der befcheidenen, aber geficherten Einrich- 
tung, welche mein Sahrgeld mir geftattete, wohl Bes 
fhränfung, aber feine Not, feine Sorgen fennen lernen. 
Schließe ich die Augen, bleibft du mittellos zurück, ohne 
eine Familie, in deren Verband du did) natürlich und ſchick⸗ 
lich einrichten dürfte — —“ 


406 Dhosphorus Hollunder 


„S, ſprich nicht von diefer unausdenfbaren Möglichkeit, 
Mutter!” rief das junge Mädchen mit überftrömenden 
Augen. „Du Fannft, du darfft nicht vor mir fterben. Wie 
follte ich Ieben ohne dich?“ 

„Doch, mein Herz, fprechen wir einmal von diefer Mög- 
lichkeit; fie dürften dir weniger fern liegen, ald du ahneſt,“ 
entgegnete Frau von Horneck fanft. „Mein kräftiges Aus» 
fehen täufche dich nicht. Ein plößliches Sterben ift faft 
erblich in meiner Familie; auch mein Leben kann rafch 
abgeschnitten werden. Was dann mit dir, mein armes 
Kind? Eine günftige Heirat für eine unvermögende Tochs 
ter der gebildeten Stände wird heutzutage je mehr und 
mehr zu einer Chance wie das große Los, und auf biöher 
noch wenig gebrochener Bahn felbftändig durch die Welt 
zu dringen, bedingt für und Frauen einen harten Kampf. 
Glaubſt du dic, folchen Kampfes fähig, Blanfa? Sieh 
unfere arme Couſine Biftoria an, wie fauer ed ihr wird, 
ſich durch Mufif- und Spracdhftunden notdürftig zu erhalten. 
Denke did in ähnliche Lagen ald Lehrerin, Erzieherin, Ges 
fellfchafterin, allemal als eine Abhängige. Stelle dagegen 
ein Los an ber Seite eined geehrten, eines Tiebenden 
Mannes, in gefichertem, bürgerlichem Befig; ein Walten 
in angemeffener weiblicher Sphäre, in unverfümmerter 
Freiheit, gütige Neigungen und anmutige Fähigkeiten zu 
Tugenden und Wohltaten auszubilden.“ 

„Aber ich Liebe diefen Hollunder nicht!” rief Blanka 
aufgeregt. „Er ift mir gleichgültig; nein, nein, er ift mir 
widerwärtig!” 

„Sc will diefen ftarfen Ausdruck deiner Überrafchung 
zugute halten, Blanka,“ verfegte die Mutter. „Schon die 
Gleichgültigfeit würde ald Einwand genügen. Denke dars 


Dhosphorus Hollunder 407 


über nadı, ob fie der Achtung und Dankbarkeit, die du 
nicht verfagen fannft, dauernd widerftehen fann, ob leßtere 
fi) nicht in Freundfchaft und endlich in Neigung ums 
wandeln fünnten, ob du dich unfähig fühlft, im Rechts 
und Gutestun den Ballaft für dein Lebensfchiff zu finden. 
Bringe aud) die Gewöhnung in Anfchlag, die felbft üble 
Zuftände erträglich macht, wie viel mehr aber den Treff: 
lichen zu gebührender Schäßung verhilft. Die ausgleichende 
Macht der Ehe und des Familienlebeng ift eine unbeftreit- 
bare Erfahrung. Ferne fei ed von mir, dich zu überreden, 
wo ich dich nicht überzeugen fann. Aber ed war meine 
Pflicht, die Vorurteile zu zerftreuen, die fchattenartig das 
Bild eined guten Menfchen umfloren; den Blendungen 
der Jugend gegenüber deine innere wie äußere Lage in das 
gehörige Licht zu ſetzen. Jetzt fchlafe, mein Kind, und Gott 
wache über dich in einem neuen Sahr.” 

Frau von Horneck beugte fich tränenden Auges über Die 
geliebte Tochter, die, ihre Arme um der Mutter Hald ges 
fchlungen, lange Zeit fohluchzend an ihrem Kerzen lag. 
Dann drüdte fie einen Kuß auf Blanfad Stirn und legte 
ſich zur Ruhe. | 

Blanka war erfchüttert: Die Vorftellung, ihre Mutter 
verlieren zu fünnen, durdyzitterte fie zum erften Male, bes 
ftürmte fie mit Angft und Entfegen. Aber eine frohe 
Sugendlichfeit vermag ſo düftere, wefenlofe Bilder nicht 
feſtzuhalten. Andere und wieder andere drängen ſich vor. 
Phosphorus Hollunder ald Bräutigam! Weiter trägt der 
jungfräuliche Bli noch nicht. Er prallt Schon ab an diefer 
erften Klippe. Und wie durch Zauber taucht am Rande 
derfelben eine andere Geftalt empor; undeutlich, unbe⸗ 
fimmt, es ift wahr, aber mit allen Reizen der Schönheit, 


408 Dhosphorus Hollunder 


der NRitterlichkeit, Fühn erfaflenden Verlangens. Affur von 
Hohenwart, der junge Huſar, der, feit kurzem in die Stadt 
verfeßt, alle Zungen von ſich reden, alle Mäbchenherzen 
fchlagen madıt. Die Mutter hatte, ohne ihn zu nennen, 
warnend auf ihn hingedeutet; aber Mütter müffen wohl 
eine andere Sehlinie haben als ihre Töchter. 

Die Tochter fieht ihn, das verunglüdte Kind zu retten, 
dem Ziehbrunnen zuftürzen, ſich am Seile in die graufige 
Tiefe winden, fieht nach einer Paufe lautlofen Erftarreng 
den Edlen mit zerfetten Händen, blutend, befinnungslos 
in die Höhe ziehen, das gerettete Kind im Arm. Das 
Zeichen diefer heldenmütigen Tat glänzt wie ein Stern 
auf der jugendlichen Bruſt. Dann, wenige Wochen erft 
find es her, dann fieht fie ſich felbft, Taufchend hinter der 
Gardine hervor, ald der Vielbefprochene zum erften Male 
unter ihrem Fenfter vorüberfprengt. Plößlich hemmt er 
das feurige Roß, und mit fühnem Blick die Laufcherin er- 
fpähend, ſenkt er huldigend die Spige feines Degens vor 
der Errötenden. 

Und diefer ritterlichen Erfcheinung gegenüber fteht 
lächelnd Phosphorus Hollunder, wie er im Teekränzchen 
allbefannte Balladen deflamiert, mit fchwacher Stimme 
Liebeslieder zur Gitarre fingt, wenn nicht gar über dem 
Herdfeuer wiberliche Mirturen braut. Sie wagt es, ſich 
ald Braut an Affur von Hohenwarts Arme durch die 
Hauptftraßen wandelnd vorzuftellen, mit ftolgem Glüd die 
nachſchauenden Blicke der Bewunderer und der Neider ge- 
nießend. Dann wieder, an Phosphorus Hollunders Arme, 
dem fpöttifchen Lächeln der Bekannten ausmweichend, mit 
niedergefchlagenen Augen ihren Gruß vermeidend, ſich 
durch Hintergäßchen drüdend. Kundert ähnliche Bilder 





Dhosphorus Hollunder 409 


Drängen, fcheuchen, jagen einander, bis endlich der Schlaf 
gefchlihen fommt, der gute, bilderlöfchende und bilders 
zaubernde Schlaf. „Aflur von Hohenwart — Phosphorus 
Hollunder“ - flüftert die Lippe noch, halb fchon im Traum. 
„Aſſur! Aſſur!“ — und fie Gi ein. 


Am Neujahrsabend war — ourcenball. Herr Hollunder, 
als Vorſteher, der erſte auf dem Platze. In ſeidenen 
Strümpfen, Schnallenſchuhen, chapeau claque, Weſte und 
Binde von weißem Atlas, muſtert er noch einmal die 
Orden, Schleifen, Sträußchen, Bonbons und Nippes, die 
er aus eigener Tafche angefchafft und mit denen er einen 
hohen Shriftbaum geſchmückt hat. Kerr Hollunder weiß, 
wem er beim Kotillon mit den finnigften Darbietungen 
feine Gunft bezeigen wird. 

Sm Hintergrunde des Saale erhebt ſich auf einem haut 
pas zwifchen Blumengruppen eine Art von Thron, über 
welchem, goldflimmernd, ein riefiger Pantoffel fchwebt. 
Einem Teil des fchönen Gefchlechts, und juft dem, wichtig- 
ften Teil für den Ordner, ift durch die geftrige Schweſtern⸗ 
loge das unbeftreitbare Herrſcherrecht der Sylvefterftunde 
verfümmert worden. Herr Hollunder wird den Beein- 
trächtigten heute glänzend Genugtuung geben. Er neigt 
fih a priori vor der Würdenträgerin, welcher er das 
Zepter zu einem mütterlichen Regimente unter dem ſchwe⸗ 
benden Pantoffel überreichen wird; ach, nicht bloß für Diefe 
eine Sahresftunde überreichen möchte. Alles, was er finnt 
und fchafft, ift Symbol, ift zarter Wink. Troß diefer Be- 
fliffenheit ift Herr Hollunder indeffen nicht unbefangen, 
wie fonft bei feiner gefellfchaftlichen Pflicht. Während er 
mit Anmut und Würde die erften eintretenden Damen be⸗ 


40. Dhosphorus Hollunder 


willfommnet, fchlägt fein Herz wie ein Hammer unter dem 
glänzenden Gilet, und frampfhaft heftet fich zwiſchen Bück⸗ 
ling und Büdling das Auge nach der Tür, durch welche 
die Griehnte eintreten wird. Traͤgt fie den Strauß, den 
er am Morgen in feinem Treibhaufe gepflückt, ihrer würdig, 
* einer Königstochter, finnvol gleich einem Selam, eigen- 
händig gebunden und nebft einer zierlichen Karte für die 
hochverehrte Frau Mutter ald Neujahrögruß überfendet 
hat? Zrägt fie ihn, fo wird er Diefes Zeichen der Huld 
für einen Schiedsſpruch des Schickſals halten. 

Der Saal ift überfüllt. Herr von Hohenwart Iehnt mit 
gefreuzten Armen unter der Tür des Speifegimmerd; Herr 
Hollunder ſchwebt angftvoll gefpannt und doch gefällig die 
Neihen auf und nieder. Endlich, endlich — da tritt fie 
ein an der Seite der flattlichen Mutter! Phosphorus 
Hollunder zwingt einen jauchzenden Auffchrei in feine 
Bruft zurüd, denn zu einem duftigen Gewande trägt Die 
Holde im Haar den weißen Kamelienzweig, den er ale 
Krone in feinen Strauß gewunden. Ihr einziger Schmud! 
Blanka fah bläffer aus ald gewöhnlich, ihr großes Auge 
war umflort und ruhte häufig am Boden, aber nicht nur 
unferem Freunde erfchien fie von zauberifchem Reiz; auch 
Herr von Hohenwart, biefer Kenner und gefürchtete Kri- 
tifer der Frauenfchöne, betrachtete das holde Gefchöpf mit 
Entzücken. Herr Hollunder ftürzte den Eintretenden ent- 
gegen, reichte Frau von Horneck die Hand zur eröffnenden 
Polonäfe, gab mit feinem meißfeidenen Zafchentuche dem 
Orcheiter das Signal zur eröffnenden Polonäfe, und voran 
ſchritt er der vielgliedrigen wandelnden Schlange mit der 
Miene eines Triumphatord. Als gewiflenhafter Vorfteher 
hatte er die Muſik zu den Tanzen felbft ausgewählt, und 


Dhosphorus Hollunder 4411 


war die Polonäfe auf die Arie „Kennft du der Liebe 
Qualen?” aud, nicht ganz neu, fo entſprach ihr Tert Doch 
wie fein zweiter den Gefühlen des finnigen Ordners, der 
fidy nicht verfagen konnte, durch kunſtvolle Berfchlingungen 
und Berfchiebungen die Paare bunt zu mifchen. Juſt ald 
bei der Strophe „Und doc, o Mädchen, lieb ich dich” 
- er hatte diefed Lieblingslied wiederholt in Konzerten 
vorgetragen — dad Tempo fich fchwungvoller zu bewegen 
anhob, reichte er Blanfa zu einer zierlichen Tour die Hand. 
Seine Augen ftrahlten den Text zu der Melodie, er wagte 
einen fchüchternen Händedruck und fchlüpfte dunfeler- 
rötend der nächften Dame zu. Wer vermöchte Die Wonne 
des guten Menfchen zu fchildern? Und als die Geliebte 
dann beim Antritt zum erften Walzer mit verlegenem 
Lächeln, das ihm als holde Schämigfeit erfchien, für feinen 
föftlichen Blumengruß danfte, als er fie bebend in feinen 
Armen hielt, ihr Atemhauch ſich in den feinigen mifchte, 
da, da — o, du überfeliger Held Hollunder! 

Später am Abend führte auch Herr von Hohenwart, 
der biöher nicht getanzt hatte, Blanfa auf ihren Plaß 
zurüd, Ihr Bufen wogte, die Wangen glühten, Die Augen 
waren weit geöffnet und die Lippen halb, wie die eines 
lächelnden Kindes. So engelleicht war fie noch nie im 
Arme eined Tänzers durch den Saal geflogen, mit folcher 
Inbrunſt hatte noch niemals einer fie dicht an fich heran 
gepreßt. Sie hatte die Lider nicht vom Boden erhoben, 
aber fie wußte, daß alle Blicke auf dem unvergleichlichen 
Paare geruht hatten. Sie fühlte fidy gefeiert und beneidet 
wie noch nie. Kerr von Hohenwart fragte fie, ob fie den 
eben beginnenden Kotillon noch für ihn frei habe. Sie 
mußte ablehnen. . 


412 | Dhosphorus Hollunder 


„Die Tanzluft fommt Ihnen fpät, Herr von Hohen⸗ 
wart,” fagte fie fcherzend. 

„Sie gönnten mir den Borzug eined Tanzes nicht früher, 
Gnädigſte,“ entgegnete er, indem fein dunkles Auge Das 
ihre fuchte. „Meinen Sie, daß idy noch wie ein Fähnrich 
tanze, um zu tanzen?“ 

Sie fühlte eine Blutwoge über ihre Wangen gleiten. 
Hatte fie felbft heute zum erften Male doch getanzt nicht 
bloß, um zu tanzen. Mit gezmungenem Lächeln fragte fie: 

„Aber was gewährt Ihnen ein Ball, wenn nicht den 
Tanz?” 

„Bas?“ erwiderte er. „Nun, was das Leben übers 
haupt: einen Moment der Schönheit und außerdem — 
Langeweile.“ 

„Langeweile?“ rief Herr Hollunder, der herbeigetreten 
war, um Blankas Nachbarin zum Kotillon zu führen, da 
auch für ihn die Gefeierte vom lebten Balle her verfagt 
gewefen war. Wie gern würde er die Krone ber Tänze, 
hinter ihrem Stuhle harrend, überfchlagen haben, hätte 
feine Dirigentenpflicht nicht mächtig in ihm pulfiert und 
das gute Herz ihn gedrängt, ein ältliches Mauerblümchen 
eine frohe Stunde hindurd) wieder blühen zu machen. 

„Langeweile?” wiederholte er. „Ad, da beflage ich 
Sie, mein Herr Leutnant. Ich habe nod) niemals Ranges 
weile empfunden.“ 

„Pillendrehen ift auch eine unterhaltende Befchäftigung,” 
verfeßte Herr von Hohenwart, zu Blanfa gewendet, un: 
befümmert, daß Kollunder die Bemerfung hören Fonnte. 

„Jedenfalls nüßlicher ald Schnurrbartdrehen,” gab 
diefer zurüd, vom Zorne fchlagfertig infpiriert. Denn, 
wenngleich unfer Freund im allgemeinen von den Dämos 


Phosphorus Hollunder 413 


‚nen des Kleinlebend die Empfindlichkeit und üble Laune 
fo wenig fannte ald die Langeweile, durd den Hohn aus 
diefem Munde und in diefer Gegenwart fühlte er fich 
empört. 

Er führte feine Dame in die Reihe, und Herr von 
Hohenwart lachte fo unbefangen, ald ob von einer Bes 
leidigung aus diefem Munde nicht die Rede fein könne. 

„Sch gratuliere Shnen zu diefem Prachteremplar von 
einem Berehrer, Gnädigfte,” fagte er. „Ein närrifcher 
Kanz, wie alle Apotheker.” 

Blanka zitterte, ihre Pulfe flogen, Glut und Blaͤſſe 
wechfelten auf ihren Wangen; fie wußte nicht, ob vor 
Scham, vor Zorn, vor welchen überwältigenden Emps 
findungen. 

„Wie fhön Sie find!” rief Herr von Hohenwart ent⸗ 
züdt. 

Sie erhob ſich haftig und folgte ihrem herbeieilenden 
Tänzer in die Reihe. 

Der vortanzende Herr Hollunder überbot ſich in finns 
voN erfundenen Touren. Fräulein von Korned ward mit 
feinen Blumen und Gaben überfchüttet, feine erzentrifche 
Huldigung zum Geflüfter der Geſellſchaft. Wiederum fühlte 
fie alle Blicke auf ſich gerichtet, aber wie frampfte jegt 
das Herz fich ihr zufammen unter diefen Blicken. 

Nach dem Neuerfundenen fam nun aber aud) das Alts 
bewährte an die Reihe. Zunächſt die Lieblingstour, in 
welcher der Tänzer feine Dame auf einen Stuhl inmitten 
ded Kreifes Pla nehmen läßt und ihr nebft einer Roſe 
ein Körbchen überreicht, um mit diefen Symbolen von 
zwei Kavalieren den einen zu beglücen, den andern abzus 
weifen. Aflur von Hohenwart und Phosphorus Kollunder 


414 Dhosphorus Hollunder 


waren die Blanka präfentierten Herren. Sie fühlte einen 
Stich im Herzen, ald fie diefelben auf ſich zufchreiten fah. 
Durfte fie den überdreiften Ritter noch ermutigen? den 
erwartungsvoll bebenden Freier durd; ein nicht mißzu⸗ 
verftehendes Zeichen entfernen, oder — oder —? Ihre Augen 
trafen wie von felbft die ernft auf fie gerichteten der 
Mutter. Haftig fprang fie auf und reichte unferm Helden 
die Blüte, dem andern den Korb, Er feste ihn gelaflen 
auf den Stuhl und tanzte die Tour mit der flattlichen 
Gemahlin feines Rittmeifters, während Blanfa im Arm 
des Erforenen voranwalzte. Sie fühlte feinen dankbaren 
Händedrud, feinen ftrahlenden Blick; fie wußte, daß er 
fein Schickſal entfchieden glaubte. Ihr fchwindelte. Ein 
dunkler Flor breitete fich über ihre Augen; ohnmächtig 
ſank fie in die Arme der Mutter, die fich mit ihr ent- 
fernte, fobald fie fich von dem Anfall erholt hatte, 

Unter der Zür warf Blanfa noch einen Blid in den 
Saal zurüd. 
Das Pantoffelregiment hob eben an mit der legten 
Kotillontour, dem Kehraus. Der arme Hollunder lehnte 
geifterbleich in einer Ede; die Schönen waren barmherzig 
genug, feine Qual zu refpeftieren: feine holte ihn. Kerr 
von Hohenwart verließ lachend den Saal, um im Neben- 
zimmer an ber Champagnerbomle älterer Kameraden teils 
zunehmen. Er fol in diefer Nacht von fprudelnder Laune 
geweſen fein, eine Kleine Bank proponiert, mehr Geld, ald 
er bejaß, verloren und beim Nachhaufegehen mit einem 
jugendlichen Schwarm einen Straßenunfug getrieben haben, 
infolgedeffen es mit der Polizei zu Händeln kam. Er wurde 
darauf eine Woche lang nicht auf feinem wilden Rappen 
durch die Straßen jagend bemerkt. Wan munfelte von 


Phosphorus Hollunder 415 


Strafarreft, von gravierenden finanziellen Verlegenheiten. 
Der militärifchen Laufbahn des übermütigen Kavalierd 
wurde ein übled Prognoftifon geftellt. 


8 


Das Auffehen diefer außerordentlichen Ballereigniffe 
und die fi) daran fnüpfenden Mutmaßungen ihrer Folgen 
waren in unferer Stadt noch nicht ausgeflungen, als eines 
Mittage Frau und Fräulein von Horned im grünums 
ranften Fenfter ihres Wohnzimmers fid) gegenüberfaßen. 
Die Mutter ließ ihre Sandarbeit fallen, mit forglicyem 
Ernft ruhte ihr Blick auf der Tochter, die unter dem Vor⸗ 
wande von Kopfmeh das Geficht, in die Hände vergraben, ' 
auf das Fenfterbrett neigte. Sählings fchredte fie empor, 
das Ohr richtete ſich nach der Tür; fie hörte Tritte, er: 
bebte und war im Begriff, nach der entgegengefeßten 
Seite zu entfliehen, ald ein mahnender Blick der Mutter 
fie willenlos auf ihren Plaß zurüdzog. 

Ein leifes Klopfen, und Herr Hollunder ſchwebte in das 
Zimmer. Ga wahrlich, er ſchwebte, mit Bräutigams- 
fchwingen und eine Bräutigamsglorie über der umlocten 
Stirn. Herzhaft füßte er erft der Mutter, dann fchüchtern der 
Tochter die Hand und hob darauf an: „Wie froh macht 
ed mich, Freunde und Bekannte nunmehr an meinem Glücke 
teilnehmend zu wiffen und den hohen Gewinn meines Les 
bens nicht mehr in meinem Herzen verfchließen zu brauchen. 
Der Stidy der Verlobungsanzeigen, deren Anfchaffung 
Sie, verehrte Mutter, mir gütigft überließen, hat etwas 
aufgehalten. Spät geftern abend find fie indeffen von 
Leipzig eingetroffen; ic; habe die für den hiefigen Ort be- 
flimmten heute morgen in Ihrem Namen verteilen laſſen 


416 Dhosphorus Hollunder 


und erlaube mir, die in die Ferne zu verfendenden Ihnen 
zu überreichen.” 

Er legte bei diefen Worten mit einer Miene, welche die 
Befriedigung einer gelungenen Überraſchung ausdrückte, 
in Frau von Hornecks Hand ein Kuvert, das diefe freundlich 
danfend öffnete. Etliche der Blätter fielen auf den Tifch, 
Blanka warf einen Blid darauf, wurde leichenblaß und 
verließ, ohne ein Wort zu Außern, mit rafchen Schritten 
das Zimmer. Was mochte fo Entfeßenerregendes ihr aufs 
geitoßen fein? | 

Es waren rofa glacierte Karten von anfehnlichem Um⸗ 
fang; in der Mitte machte die Baronin Wilhelmine von 
Horneck, geborene Freiin von Schweinchen, die Anzeige 
der Verlobung ihrer einzigen Tochter Blanfa mit dem 
Herrn Ernft Phosphorus Hollunder; korrekt der Üblichkeit 
gemäß. Ungemäß war nur die Zutat einer Randzeichnung 
in Golddrud, von dem Funftfinnigen Bräutigam eigens 
händig entworfen. Ald Mittels und Edftüde prangten 
größere Embleme: eine aufgehende Sonne, ein Altar mit 
Iodernder Opferflamme, eine NRitterburg von einem Kos 
Iunderbaum befchattet, die verfchlungenen Wappen ber 
Horneck und Schweindyen mit ihren Geweih und Borften 
tragenden Scildhaltern; zwifchen ihnen hindurch aber 
wand ſich eine Arabeöfe, in welcher die herfömmlichften 
Sinnbilder zärtlichften Glücks, ald da find Rofen und Vers 
gißmeinnicht, Füllhörner, Herzen und verfchränfte Hände, 
geflügelte Amoretten und ſich fchnäbelnde Täubchen durd, 
blühende KHolunderranfen verbunden waren. 

Frau von Horneck fchaute eine Weile ſchweigend vor 
fich nieder, und der arme Hollunder begann zu ahnen, daß 
er den Gefchmad der edlen Dame nicht ſonderlich getroffen 


Dhosphorus Hollunder 417 


habe. Endlid, nahm fie das Wort: „Eine zierliche Arbeit, 
wohlgeeignet für ein Albumblatt; indeflen, verzeihen Sie, 
lieber Sohn, für den gegenwärtigen Zweck würde mir eine 
einfache Anzeige geeigneter erfchienen fein, Eine Annonce 
fchließt Demonftrationen der Freude aus, und Zieraten 
am unrechten Ort follten billigerweife vermieden werden. 
Überhaupt, mein guter Hollunder, geftatten Sie bei diefer 
Gelegenheit der, welcher Sie fo bereitwillig Mutterrechte 
eingeräumt haben, den Rat und die Bitte, in allen Stüden 
fo fchlicht als möglich in Sshrem Auftreten zu fein, wenn 
Sie den in befcheidenen Berhältniffen herangebildeten Sinn 
meiner Tochter nicht Durch allzu grellen Abftand beängftigen 
wollen.” 

„sc, glaube, Sie zu verftehen, meine verehrte Mutter,” 
erwiderte der gute Kollunder, helle Tränen in den Augen. 
„Sie find fehr nachfichtig, fehr fchonend! Ach, ermüden Sie 
nur nicht, durch Ihren Rat die Lüden in meiner Bildung 
auszufüllen, um mid, meiner lieben Blanfa würdig und 
fähig zu machen, fie zu beglüden.“ 

Nach einer Weile entfernte er fich, betrübt über das Nicht- 
wiedererfcheinen feiner Braut, betrübter über den Grund 
besfelben. Frau von Horneck blickte ihm mit inniger Rühs 
rung nach, feufzte tief auf und ging dann in die Nebens 
ftube, wo Blanfa unter frampfhaftem Schluchzen auf ihrem 
Bette lag. Sie fuchte die Aufgeregte zu befchwichtigen; diefe 
aber rief händeringend: „Diefe Kächerlichfeit richtet mich 
zugrunde! Mit Fingern wird man auf mid; weifen. Wie 
fol ich wagen, den Leuten wieder unter Die Augen zu treten?” 

„Unbefangen lächelnd, mein Kind,“ antwortete die Mut⸗ 
ter; „mit dem Bewußtfein richtiger Schägung einer Fleinen 
Geſchmacksverirrung.“ 


418 Phosphorus Hollunder 


„Klein, Mutter, flein? Und lächeln, wo man vor Scham 
in die Erde finfen möchte?“ 

„Du übertreibft, Blanfa. Welche Frau hätte nicht irgend= 
einmal gute Miene zum böfen Spiel, wie oft ſelbſt zu Un- 
bill und Frevel ihres Gatten machen müffen? Welche Frau 
wäre durch die Ehe gefchritten ohne lächelnde Larve, wenn 
auch das Herz ihr biutete? Und welcher Frau läge ed nicht 
ob, mit leifer Hand den Berirrten auf die rechte Bahn zu 
leiten, nicht bloß bei Lappalien, wie diefen!” 

Da aber das junge Mädchen fich durch fein Zureden bes 
ruhigen ließ, fagte die Mutter nach einer Paufe ernten 
Bedenkens: 

„Ich fürchte, unſere Entſchließung war übereilt. Wenn 
dein Widerſtreben ſo tief wurzelt, daß ſchon beim erſten, 
geringfügigſten Anlaß Mut und Selbſtüberwindung dir 
gebrechen, fo wäre es Sünde, das Glück eines guten Men: 
ſchen auf das Spiel zu fegen. Noch ift es Zeit zu einer 
Ablehnung. Man foll feine Aufgabe übernehmen, für 
welche man die erforderliche Kraft bezweifelt, zumal wenn 
man nicht fich allein für den Erfolg verantwortlich ift. Sch 
habe dich für ftärfer gehalten, ald du bift. Fafle Dich jest 
und laß uns miteinander das Richtige prüfen und ent- 
fcheiden.“ 

Das fchwerfte Verhängnis fchnitt diefe Prüfungen ab, 
bevor fie zum leßtgültigen Entfcheid geführt hatten, ja, be- 
vor felbft die treffliche Mutter ſich vollig klar darüber ge- 
worden war, daß, je zarter und zärtlicher ein junges weibs 
liches Herz, man um fo unfähiger ift, mit Alteröweisheit 
und Gründen der Billigfeit gegen fein natürliches Ver⸗ 
langen, Reiz der Sinne und der Phantafie, und weit mehr 
nody gegen feine Abneigungen, ja felbft gegen das blanfe 


Dhosphorus Hollunder 419 


Vorurteil durchzudringen. Die Zweige der Weide neigen 
und biegen fich bei der leifeften Berührung und fallen dod) 
allezeit in den ihnen gemäßen Hang zurüd. 

Frau von Horneck erfranfte noch am nämlichen Abend. 
Ein Nervenfchlag Tahmte Befinnung und Sprache und 
machte ihrem guten Leben jäh ein Ende. War es doch, 
als habe die bis dahin fo rüftige Frau diefen nahen Aus⸗ 
gang vorgefühlt und mütterliche Angft fie gedrängt, ihr 
fchyußlofes Kind in treuen Händen zu bergen. 

Blankas Zuftand glich einer Zerrüttung. Es war ein 
Schlag aus blauem Himmel; der erfte, der tieffte, ja, der 
einzige, der fie treffen fonnte. Bis zum lebten vernichten 
den Aft lag fie lautlos über der toten Geftalt; flumm und 
ftumpf ftarrte fie wochenlang in das Leere. Sie fchien für 
alle übrigen Berhältniffe die Erinnerung verloren zu haben; 
ihres Verlobten Treue, ftille Trauer, die anſpruchsloſe 
Würdigung ihres Schmerzes bemerkte fie nicht einmal. 

Fräulein von Schweinchen fiedelte in die Wohnung der 
Waiſe über. Doch hatte Blanka von Elein auf zu ausfchließ- 
lich in und mit ihrer Mutter gelebt, um ſich der einzigen 
Verwandten zuzumwenden, und die arme alte Dame war zu 
dringlidy durch ihre Erwerbeöpflichten in Anfpruch genom⸗ 
men, um fich dem troftlofen Kinde, foviel ald ihm not ges 
tan hätte, zu widmen. Der Verkehr mit früheren Bekannten, 
ja, bloß deren Anblid, war Blanfa zuwider. Aller Wert, 
alle Bedeutung des Lebens dünfte ihr mit dem Mutterleben 
audgelöfcht. Man hätte fie in ein Klofter führen, fie leben— 
dig einfargen fönnen, fie würde feinen Widerftand erhoben 
haben. In der Selbftfucht ihres Schmerzes dachte fie an 
nichtd, an niemand als die Tote, und dennoch, oder viels 
leicht gerade darum, dachte fie nicht daran, die legte müt- 


420 Dhosphorus Hollunder 


terfiche Warnung zu beachten, ihr neugefchloffenes Verhälts 
nid zu prüfen und, wenn erforderlich, zu löfen. Zucte im 
Berlauf aber dann und wann ein mahnendes Bewußtwerden 
ihrer Lage und deren Verpflichtungen in Gegenwart und 
Zufunft, einem grellen Funken gleich, durch ihr Gemüt, fo 
erdrüdte die Laft ihrer Hülflofigfeit doch raſch jeden 
rettenden Entſchluß. Was befaß fie? was verftand fie? 
was vermochte fie? an welche Reiftung war fie gemöhnt? 
welcher Anftrengung gewachjen? nicht einmal der der 
duldenden Ergebung. Schwerlich hat ein Kind jemals 
mehr der mütterlichen Führung bedurft; aber fehmerz- 
licher hat audy Feines deren Entbehren gefühlt und gebüßt. 
So lebte fie hin von Tag zu Tag, ohne in ihrer Not dag 
Notwendige feft in das Auge zu faffen und ſich ihm in einer 
oder der anderen Weife gerecht zu machen. Wochen, Monate 
fchlichen hin. Die Tante, über diefen Starrfinn in Vers 
zweiflung, gab ihr eines Tages zu Gehör, daß eine baldige 
eheliche Verbindung in ihrer inneren wie äußeren Tage das 
Gebotenfte fcheine. Hollunder trat während diefer Vor⸗ 
ftellung ein. Er drängte, er fchmeichelte nicht, gab nur leiſe 
feine Sehnfucht zu verftehen, indem er feine Wünfche den 
Heifchungen eines trauernden Gemütes unterordnete. Die 
treue Liebe des Kindes war ein Reiz mehr in feinen Augen, 
eine Bürgfchaft für die dereinftige treue Liebe des Weibes 
und feines höchften Güde. In diefem gütigen Kerzen 
war fein Moment der Ungeduld und beleidigter Eigen⸗ 
ſucht. Ob Blanka diefen Adel verftand? Ob fie denfelben 
nur ahnete? Vielleicht daß eine egoiftifche Leidenfchaft fie 
aufgerüttelt hätte, fie dem Manne näher gebracht oder 
von ihm losgeriſſen; dem Manne, welchem fie jest ohne 
Widerſpruch, ohne Furcht, wie ohne Hoffnung zufagte, 








Dhosphorus Hollunder 421 


binnen weniger Wochen fich ihm zu eigen zu geben für 
das Leben. 

Fräulein von Schweindhen, die für den Abend verpflichtet 
war, entfernte fich in Begleitung des dankbar freudigen 
Bräutigamd. Blanfa blieb allein. Für den Sohannidtag 
war ihre Hochzeit anberaumt; jest hatten wir Mai. Eine 
Monatsfrift, wie kurz und doch wie lang, um ein Menfchen- 
[08 zu wenden und zu enden. Ihre Mutter hatte nur weniger 
Stunden zum Aufhören hienieden bedurft. 

„Meine Mutter wird ſich erbarmen und mich zu fid) 
hinüberholen vor dem Johannistag,“ dachte Blanfa. 

Dennoch fchnürte die Bruft fi ihr zufammen. hr 
Atem ging ſchwer. Sie öffnete das Fenfter. Eine milde, 
balfamifche Maienluft 309 herein, Sehnfucht ermwedend, 
bie in das dumpfe Gemüt der Waife. E8 zog fie in das 
Freie, nadı dem Grabe der Mutter. Wohl dämmerte ed 
fchon; aber fie konnte nicht widerftehen. 

Sie faß auf dem grünen Hügel und verjammerte die 
Zeit. Statt Mut und Klarheit hatte fie an heiliger 
Stätte nur neues, verwirrendes Weh gefunden, Klagen 
und unftillbare Tränen. „Hilf mir, Mutter!” ftöhnte fie 
und rang fich die Hände wund. Sie hatte ſich zu einem 
liebelofen Leben verpflichtet und fonnte nicht leben, ohne 
zu lieben. 

Das abendliche Dunkel drängte zum Aufbruch. O, 
daß fie fich hier hätte betten dürfen für ewig; heute, diefe 
Stunde noch! Keine Stätte dünfte ihr unheimifcher als 
ihr mutterlofe® Haus; es fei denn jene, die ihrer harrte, 
wenn fie diefed Haus verließ. Sie riß ſich los. 

Als fie aus dem Friedhofepförtchen trat, fchauderte fie. 
Der Weg bid zum Stadttor war nur kurz, aber einfam; 


422 Phosphorus Hollunder 


in der umbufchten Schlucht ſchon nächtiges Dunkel, ringes 
um lautlofe Stille. Und doch war ihr, als fpüre fie eine 
Nähe, wehe ein Ddemzug fie an, höre fie ein Wegen. 
Und im nädjften Augenblick fchrie fie hell auf. Eine hohe 
Seftalt ftand an ihrer Seite; Affur von Hohenwart um⸗ 
faßte die Schwanfende mit beiden Armen. Sie hatte ihn 
feit jenem Abend, an dem fie die erften Worte mit ihm 
gewechfelt, nicht wiedergefehen. Ob aber auch feiner nicht 
gedacht? Hatte auch fein Bild der Todeshauch verweht? 

„sch bin Shnen gefolgt, Blanka,“ flüfterte er. „Sch 
mußte Sie noch einmal fehen, bevor ich Sie vielleicht für 
immer verliere. Seit Wochen trachte ich nach diefer 
Minute. Sch verlaffe den Dienft, diefe Gegend — viel- 
leicht noch mehr. Mir bleiben nur wenige Stunden. Hören 
Sie mich an. Sch kann nicht fo von Ihnen fcheiden.“ 

Shre Glieder zitterten. Schauer, halb der Furcht, halb 
ungeahnten Entzückens, riefelten über ihren Leib. Ihre 
Stimme war gelähmt. Willenlos ließ fie ihre Hände in 
denen des Verführers. Er hordhte auf. 

„Stimmen! Tritte!” fagte er, indem er fie in ein zur 
Seite liegended Gebüfch zu ziehen fuchte. „Sie wider- 
fireben? Sie mißtrauen mir? Fühlen Sie denn nicht, 
daß ich Sie liebe? wie ich Sie liebe, Blanfa? Blanfa, ich 
muß Sie ſprechen. Geftatten Sie mir heute abend den Ein- 
tritt in Shr Haud. Es ift eine Abfchiedgftunde, Blanka.“ 

Sie ftöhnte wie ein Kind und machte einen Berfud,, 
ſich ihm zu entwinden. 

„Sin Abfchied vielleicht auf ewig,” drängte er, indem 
er fie dicht an fich heranzog. „Sol ich dich auf die er- 
bärmlichfte Weife verlieren? Meine Perle durch feile 
Krämerhände befudeln fehen?“ 


Phosphorus Hollunder 423 


Diefer ſchnöde Unglimpf gab der Betörten die Faffung 
wieder. Dort ragte dad Kreuz über. dem Grabe ber 
Mutter. Shr Schatten umfchwebte fie, als fie den Mann 
verhöhnen hörte, weldyen die Verflärte mit leßter Liebes⸗ 
forge zu ihres Kindes Befchüger erwählt hatte. Sie riß 
ihre Hände aus den umftriefenden. „Fort!“ Freifchte fie 
auf, „fort!“ - 

„Blanka!“ rief Affur und preßte fie mit heißem Vers 
langen an feine Bruft; „Blanfa, liebft du diefen Mann?” 

Berzmeifelnd, fchwindelnd windet fie mit letzter Ans 
ftrengung fidy aus feinen Armen, flieht, ohne umzubliden, 
den Abhang nieder. Bor ihren Ohren fchwirrt fein nach⸗ 
eilender Schritt, gellt der Ruf: „Blanka!“ Tange, nachdem 
rings um fie her alles ftill geworden, hallt er noch nach, 
als fie, atemlos ihr Zimmer erreichend, die Tür hinter 
fi) abfchließt und halb in Wahnfinn, halb in Erfchöpfung 
zu Boden ftürzt. Ein Sturm jach in der Bruft entfeffelt, 
hat den Bleidrucd der Apathie verſcheucht. Furcht und 
Hoffnung, Widerwillen und Verlangen, eines immer frevel- 
hafter als das andere, felbft vor ihrem umflorten Gewiffen, 
wirbeln durch das fiebernde Blut. Wunfc und Vorwurf 
jagen und verdrängen fih. Aus dem verlaffenen Kinde 
ift plöglich ein Weib geworden. 

Sn diefem unbefchreiblichen Zuftande fand fie ihre Ver: 
wandte. Dad alte Fräulein wollte feinen Augen faum 
trauen ob des Mädchens verwandelter Erfcheinung und 
Stimmung, ob der glühenden Wangen, der leuchtenden 
Blicke, der rafchen Worte und Schritte. Hatte das Bes 
wußtfein ihres Glücks wirflich nur in der jungfräulichen 
Bruft gefchlummert? die Augficht der nahen Erfüllung die 
Kebenggeifter erwedt? Der Vernunft gemäß mußte die 


424 Dhosphorus Hollunder 


brave Lehrmeifterin e& bezweifeln; aber fie glaubte ed gern, 
und darum glaubte fie ed. Der Glaube ift ja allezeit die 
Planke beim Schiffbruch des Begreifend. Sie wähnte die . 
fieberifc Erregte der Ruhe bedürftig und war es felbft 
nach ihrem erfchöpfenden Tagewerf. Da Tante und Nichte 
nicht, wie Mutter und Tochter ed getan, in einem Zimmer 
fchliefen, fagten fie fich Gute Nacht nach kurzem Beieinander. 

Blanka legte fidy nicht. Sie fchritt im Zimmer auf und 
ab ohne Raſt. Das Fenfter ftand noch offen: lindkühle 
Nachtluft fächelte ihre glühende Stirn, Düfte von Nar- 
ziffen und Flieder ftrömten in die hodyatmende Bruft. Sm 
Waͤldchen drüben ſchluchzte die Nachtigall in den Naturs 
lauten der Liebe, „himmelhoch jauchzend, zum Tode bes 
trübt”. Süßes, unnennbares Sehnen, wonniges Ahnen 
fchmeichelten fich mit diefen Tönen und Düften in der 
Sungfrau Bufen. Sie fah Aſſurs hohe Geftalt, fpürte 
feinen brennenden Blick, fühlte bebend den Drud feiner 
Hand, feinen wogenden Atem, ald er fie eine Minute lang 
an feiner Bruft gehalten. Ihr war, ald hielte er fie noch; 
als müffe er fie dort halten für ewig. Sie hörte nod 
einmal feine von Leidenfchaft zitternden Worte. Halb uns 
bewußt beugte fie fich aus dem Fenfter, Taufchte nad) feinem 
Zritt, fpähte nach feiner Geftalt. Der abnehmende Mond 
war aufgegangen; die Straße hell und totenftill. Biertel- 
ftunde auf PViertelftunde verrann. 

Bom Sarren matt, wirft fie fidy endlich auf ihr Bett. 
Unter einem Schlummerfchleier winft und lacht die ers 
fehnte Geftalt; im Zraume fchweigt der Zweifel. Jäh⸗ 
lings fährt fie in die Höhe! Der Ruf ihres Namens hat 
fie erweckt. Gedämpft, aber deutlich: „Blanfa!” Und 
welche Stimme! Sie flürgt nad) dem Fenfter, das fie nicht 


Dhosphorus Hollunder 425 


geichloffen. Ein Blumenftrauß fällt zu ihren Füßen nieder. 
Sie beugt ſich hinaus, fieht noch den Schatten einer hohen 
Geſtalt, hört einen rafchen Schritt, in der Bahnhofftraße 
verhallend. Er! Er entfernte fih. Wohin? Warum? 
Seine Worte fielen ihr ein: „Ich verlaffe das Land - 
vielleicht noch mehr”; feine Bitte um ein letztes Lebewohl, 
das fie verweigert. Hatte fie redlich, hatte fie graufam 
gehandelt? Schon vermodhte fie Recht und Unrecht nicht 
mehr zu unterfcheiden. Iſt Liebe nicht das oberfte Gefeg? 
fragte fie fi. Und Blanfa hatte niemals einen Roman 
gelefen und nur Worte der Tugend aus dem Munde 
einer Mutter vernommen. 

Sie dadıte nicht daran, ſich niederzulegen, nicht an ihr 
Abendgebet, nicht an ihre felige Mutter. Ihr deuchte, 
daß fie niemals wieder ruhen werde. Sie ftand am Feniter, 
durch das ein frifcher Dämmerungswind blied. SmMofen 
Nachtkleide und doch fieberheiß preßte fie den blühenden 
Abfchiedegruß an die Bruft, an ihre brennenden Lider, 
fog feine Düfte ein, ald wären ed die Atemzüge, die fie 
vor wenig Stunden beraufcht hatten. Ihr ganzes Weſen 
war in Aufruhr. 

Der Morgen graute. Was ift das? Zwifchen den Rofen 
ein weißer Schimmer. Ein zerdrüdted Blatt. Wie ihre 
Finger zitterten, indem fie ed glätteten! Wie ihre Augen 
funfelten beim Anblic der haftigen und fo fühnen Züge. 

„Du denfft mir zu entfliehen? Törichtes Kind! Weißt 
Du denn nicht, daß Du mich Tiebft, wie ich Dich? Weißt Du 
denn nicht, was lieben heißt? Mein bift Du, mein! Lebe 
ich oder fterbe ich, mein! Keine Pflicht, fein Schwur, feine 
Erden» oder Himmelsmacht kann Dich mir entwinden.“ 

— 


426 | Phosphorus Hollunder 


Am Mittagstifch brachte Fräulein von Schweindhen, 
merflich befliffen, die Gerüchte zum Vortrag, die fie auf 
ihren Morgengängen eingeheimft hatte. Leutnant von 
Hohenwart hatte plöglicdh feinen Abfchied gefordert, bis zu 
deflen Eintreffen Urlaub erhalten und in der Nadıt die 
Stadt verlaffen. Man fpradı allgemein von einem bevor- 
ftehenden Duell mit einem Kameraden, infolge von Bes 
feidigungen am Spieltiſch; das foundfovielfte des über- 
mütigen Patrond. Bei Heller und Pfennig nannte man 
feine Schuldenlaft, refapitulierte die rückſichtsloſen Liebes— 
abenteuer, die Überfchreitungen jeglicher Art, welche den 
Tollfopf fchon von Regiment zu Regiment getrieben und 
fchließlich, feiner militärifchen Tüchtigfeit zum Troß, feine 
Stellung unhaltbar gemacht hatten. Die fid; einfichtiger 
Dünfenden, und das alte Fräulein gehörte zu ihnen, er- 
örterten, wie e8 in Zeiten langen Friedens, gleich der, in 
welche diefe Ereigniffe fielen, die Tagesordnung ift, die 
gefahrvollen Anomalien eine Berufes, der, auf der einen 
Seite ſklaviſch bindend, auf der anderen zügellog, Eitelfeit, 
Vorurteile, einen barbarifchen Ehrbegriff hegend und pfle- 
gend, Generationen hindurd; ein tatlos zumartendes Schein- 
leben führt. Man zählte die Opfer auf, welche diefe wider 
ſpruchsvolle Einrichtung ſchon gefordert hatte und nod) 
forderte. 

Derlei Zuträgereien, auch von anderer Seite - nur nidyt 
von der ihres Verlobten —, umfchwirrten Blanfas Ohr. 
Sie wandelte wie in einem wüften Traum. Dazwifchen 
das Bewußtfein ihres heimlichen Begegneng, des verfagten 
Lebewohls, die Todesqual um fein bedrohtes Leben. Sn 
jeder unbeobadhteten Minute überlag fie fein glühendes Ab- 
fchiedswort und barg ed dann wiederaufihrem Herzen, gleich 


Phosphorus Hollunder 427 


einem Talisman, der ihn zu feien und fie zu befreien vers 
möge. Manchmal erfchraf fie vor fich felbft, wenn fie Die eige- 
nen Rippen flüftern hörte: „Sm Leben und Sterben mein!“ 

Endlich, nach einer Woche ftummer Höllenpein, verbreitete 
fi} die Kunde über den Ausgang des Duelle. Beide Geg⸗ 
ner waren verwundet, feiner lebensgefährlich, wie es hieß. 
Herr von Hohenwart, der unfehlbare Schüße, follte feinen 
Beleidiger großmütig gefchont haben, indem er ihm das 
Piftol aus der Hand feuerte und die leßtere nur leicht 
dabei ftreifte. Sein eigener Arm war zerfchmettert. 

In einer Ortfchaft jenfeits der Grenze wartete er, nebft 
feiner Heilung, den Spruch des Kriegsgerichts ab. Diefer 
wurde als der mildefte vorausgeſetzt und auf vollftän- 
dige allerhöchfte Begnadigung gewärtigt, da der Ehrenrat 
zu dem Zweifampf feine Zuftimmung gegeben hatte, Herr 
von Hohenwart der Beleidigte und der Ausgang Fein 
tödlicher war. In plöglichem Umfchlag verwandelte der 
gefchmähte Teichtfertige Damenheld fich zum chevalier sans 
peur et sans reproche, — eine Woche lang oder zwei, um 
dann allgemein vergeflen zu werden. 

Blanfad Gemütszuftand in den Wochen, die zwifchen 
diefem Ereignis und dem feftgefetten Hochzeitdtage lagen, 
glich dem Wanfen und Schmanfen eines leden Schiffe. 
Wohl fah fie jest ihre Außere wie innere Lage in deut- 
lichem, ja häufig in grellftem Licht. Sie mußte, was eines 
Mannes Weib fein bedeute. Neigung, Ehre und Gewiffen 
drängten fie zu einem aufrichtigen Wort, zu einer befreien 
den Tat. Aber wie das eine außfprechen, Die andere durch⸗ 
führen? Arm, hülflos, freundlos, wie fie war, ohne ein 
Erinnerungszeichen von dem einzigen Menfchen, für den 
und mit dem fie ſtandhaft das Äußerfte zu tun und zu 


428 Dhosphorus Hollunder 


leiden fich fähig gefühlt haben würde. Wer hätte ihr hel⸗ 
fen können, ald er? Zu wem hätte fie flüchten können, ale 
zu ihm? Zu ihm? Liebte er fie denn noch? Hatte er nicht 
auch mit ihr bloß fein Spiel getrieben? Nein, nein, nein! 
Aber hatte fie ihn nicht von fich gewiefen, ihn herzlos ge⸗ 
kraͤnkt? Wohin hatten Irrung und Schickſal ihn gefcheucht? 
Nirgends ein Halt. Die Mutter im Grabe, der Geliebte 
verfchollen. Die Zeit rollte vorwärts. Die Unglüdliche 
fand feinen Abfchluß. 

Und der liebreiche Hollunder? D gewiß, er fpürte ihren 
Kampf, fpürte ihn an dem jähen Wechfel ihrer Stim- 
mungen, dem unwilligen Ablehnen jest, der reumütigen 
Danfbarfeit dann. Oftmalg flieg wohl die Ahnung in ihm 
auf, daß fie ihm nicht in gleichem Sinne angehöre, wie er 
ihr. Aber er war ein Neuling in den Erfahrungen dee 
Herzens, ein gläubiger Neuling; immer wieder fiegten 
Liebe, Vertrauen und vor allem ein mitleidsvolles Weh 
über feine Zweifel. Immer wieder fand er den Grund 
ihrer Schwanfungen in der ftolzen Scheu eines jungfraus 
lichen Gemüt, die er von feinen Dichtern auf Treu und 
Glauben annahm, in dem Bangen des Berwaiftfühlens 
und unüberwundenem, kindlichem Schmerz, den er im eigen: 
ften Herzensgrunde verftand, und fo endete er regelmäßig 
damit, die Anzeichen der Schwadhheit ald neue Reize der 
Geliebten zu verehren und fie ſich felbft zu einem Sporn 
der Umbildung, ihren Neigungen gemäß, werden zu laflen. 

„Seine Nachgiebigfeit verdirbt alles,” feufzte Fräulein 
von Schweinchen. „Keine Frau fchäßt einen Mann, der 
feldft mit ihren Unarten einverftanden ift.“ 

So nahte der Sohannistag. Der aufgeflärte Hollunder 
verachtete jeglichen Aberglauben; aber er fuchte und liebte 


Phosphorus Hollunder 429 


Bedeutungen. Wie hätte er das fegenfpendende Zäufers 
feft nicht zu dem ber befeligendften Weihe erwählen follen? 
Der Trauer halber durfte die Feier nur in äußerfter Stille 
begangen werden, deshalb hatte man fie, auf Blanfas Ber- 
langen bis zur Abendftunde verfchoben. Ein halber Tag 
Aufſchub dünfte ihr Gewinn. Hollunders Vorſchlag einer 
Hochzeitsreiſe war von ihr mit Heftigfeit abgelehnt worden. 
Sie fünne ſich nicht aus der Nähe des mütterlichen Grabes 
- entfernen, redete fie anderen und vielleicht ſich felbft ein. 
Sn Wahrheit graufte ihr vor dem Alleinfein mit dem frems 
ben Manne in einer fremden Umgebung. Dahingegen 
ſchien ihr zuzufagen, die Sommermonate nicht in dem gro⸗ 
pen, geräuſchvollen Stadthauſe, ſondern ländlich ſtill in 
Hollunders kleiner Gartenvilla vor dem Tore zu verbringen. 
Er hatte fie einladend traulich herrichten und ſchmücken 
laſſen. Die Zimmer blickten auf eine Blumenterraſſe, von 
welcher parkartige Anlagen ſich zum Fluſſe abſenkten. Da 
auf deſſen jenſeitigem Ufer neuerdings der Bahnhof er⸗ 
richtet war, mangelte ed inmitten bed Stillebend nicht an 
einem zerftreuenden Wechfel. 

In dieſes rofenblühende Heim gedachte Phosphorus 
Hollunder unmittelbar nach vollbradhter Zeremonie feine 
Gattin zu führen und hier fern von allem wirtfchaftlichen 
oder gejchäftlihen Treiben die feligfte Lebengzeit zu ges 
nießen. Die Beföftigung follte aus dem Stadthaufe be- 
zogen werden; nur ein junges Mädchen zu Blankas per⸗ 
fönlichem Dienft gegenwärtig fein. 

* 

Als mit dem ſiebenten Glockenſchlag des Johannis⸗ 
abends Phosphorus Hollunder das Horneckſche Wohn⸗ 
zimmer betrat, ſeine Verlobte zur Trauung abzuholen, war 


430 Dhosphorus Hollunder 


er peinlich betroffen, fie ftatt in dem bräutlich weißen Ges 
wande, das er unter Fräulein von Schweinchens Anleitung 
. für fie erwählt hatte, im Trauerfleide von fchwarzer Seide 
zu finden. Die Tante äußerte fich entrüftet wie noch nie 
über diefen Schein eigenfinniger Bevorzugung ded Todes 
vor dem neuen Leben. Sei man aud, aufgeklärt genug, 
um das in bürgerlichen Kreifen gang und gäbe Vorurteil 
gegen die Farbe der Trauer bei feftlichen Gelegenheiten 
unhaltbar zu finden, da Männer ja immer und Frauen 
der niederen Stände meiftenteils in ſchwarzem Anzug vor 
Altar und Taufftein träten, fo müßte in vorliegendem Falle 
diefe Wahl für eine unentfchuldbare Taftlofigfeit und Un⸗ 
danfbarfeit erklärt werden. 

„Mit wie viel Mühe und Not“, fo fchalt fie, „habe ich 
ed auch nur dahin gebracht, durch Kranz und Schleier, wie 
durch das Entblößen von Hals und Armen der Erfcheinung 
ein einigermaßen feftliches Anfehen zu geben!” 

„Laflen Sie unfere liebe Blanfa, ihrem Sinne gemäß, ges 
währen, befte Tante,” fiel Hollunder ihr in das Wort. „Ihr 
Gefühl, nicht das unfere ift e8, das gefchont werden muß.“ 

Blanfa empfand in dieſer Minute die zarte Liebe dieſes 
Mannes wie einen ftechenden Schmerz. Der Borwurf 
brannte fie, wie wenig fie folcher Hingebung würdig fei, 
wie fehr er ein wärmereg, bereitwilligered Gemüt verdiene. 
Sie hätte noch im Außerften Moment ihn vor einem 
fchweren Irrtum, fich felbft vor fchwerem Betruge wahren, 
hätte fagen mögen: „Sch liebe dich nicht.” Aber auch in 
diefem legten Moment war ihr Pflichtbewußtfein verworren, 
ihr Wille ſchwach. „Sch kann nicht andere. Komme, was 
mag!” dachte fie und ließ ſich ſumm wie ein Opferlamm 
zum Wagen führen, den fie mit ihrer Verwandten teilte, 


Dhosphorus Hollunder 431 


" Der Bräutigam fuhr voran und empfing fie am Ein- 
gang der Kirche. 

Der Plag vor diefer, das Schiff bis zum abgefperrten 
Altarraum waren Kopf bei Kopf gefüllt. Denn fo un 
fcheinbar die Zeremonie angeordnet war, wer hätte fich 
das Zufammengeben des reichften Bürgers der Stadt mit 
deren fchönftem Kinde entgehen laffen mögen? Das abend- 
liche Halbdunkel, der Düftere Anzug der Braut, ihre Leichen⸗ 
bläffe und fteinerne Gleichgültigfeit machten fchon beim 
Borfchritt das bänglichfte Auflehen. Blanka erhob den 
Bli nicht vom Boden. Sicherlich unterfchied fie feines 
der fie umdrängenden, altbefannten Gefichter, bemerfte fie 
wohl nicht einmal. Warum überriefelte fie denn plötzlich ein 
Schauder, als fie an dem im tiefften Schatten liegenden 
Kanzelpfeiler vorüberfchritt? Wer war die hohe, dunfle 
Geftalt, die, an den Pfeiler gelehnt, ihre Schulter ftreifte? 
Hatte ein Laut, ein Hauch ihr Ohr berührt? Oder welchen 
Spuf trieb ihre Phantafie? Ihre Füße fchwanften; halb 
-bewußtlo8 fant fie auf ihren Seflel im Angeficht des Altars 
und erholte fich nur notdürftig, während vom Chor das 
Hochzeitlied erfchallte: 

„Du bift der Stifter unferer Freuden, Herr, der du 
Mann und Weib erfchufft.” 

Phosphorus Hollunders bindendes Gelübde drang heil 
und freudig aus feinem Herzen in die der Hörer. Blankas 
Sa hat felbft ihr Verlobter nicht vernommen. Als der 
Priefter den Trauring an ihren Finger fteden wollte, zit: 
terte ihre Sand fo Efonvulfivifch, fanf dann fo fchlaff an 
ihrem Körper herab, daß der Reif zu Boden rollte. Kol: 
Iunder büdte fich nun, ihn aufzufuchen. Vergeblich. Rafch 
gefaßt, ftreifte er einen foftbaren Diamantring von feiner 


432 Phosphorus Hollunder 


Rechten, ihn gegen den verlorenen audzutaufchen. Aber 
ed war nicht dad vorbeftimmte Symbol der Treue. Durch 
die Menge lief ein ahndungsvolles Gemurmel. Nur der 
glücdfelige Bräutigam und die totenftarre Braut blieben 
von dem unheilvollen Omen unberührt. . 

Mit ftolzger Siegermiene führte Phosphorus Hollunder 
fein angetrautee Weib, fein Eigentum vor Gott und der 
Welt durch das nunmehr völlig im Dunkel liegende Kirchen 
ſchiff. Er führte? — nein, er zog, er trug fie nahezu, denn 
ihre Füße fchienen im Boden zu wurzeln. Als fie in die 
Nähe der Kanzel famen, ftaute Die zum Ausgang drängende 
Menge ſich derartig, daß das Paar einen Moment inne- 
halten mußte. Wiederum, frampfhafter noch ale vorhin, 
bebte und fhauderte die junge Frau. Kalter Schweiß 
perlte auf ihrer Stirn; die Zähne fchlugen im Fieberfroft 
aneinander. Wie in Todesängften hob fie einen Moment 
die Lider in die Höhe; in dem nächften zuckte fie, wie vom 
Blig getroffen, zufammen, ballte, ald ob fie einen Gegen- 
ftand berge, die herabhängende rechte Hand gegen die Bruft 
und ſank befinnungslos in ihres Gatten Arme. Er trug 
fie in den Wagen; die Tante folgte im zweiten. 

Im enggefchloffenen Raume allein mit dem Gegenftande 
feiner höchften Wonne, das fchöne Ieblofe Weib in feinen 
Armen, vergaß der geängftigte Glückliche alle bisherige 
Zurüdhaltung. Er umflammerte fie, preßte feine Lippen 
auf die ihren, erweckte mit den füßeften Schmeichelnamen 
fie zu einem fchaudernden Bewußtwerden bes Dafeins. 

Angefommen vor ihrem neuen Beim, das blumen- 
geſchmuͤckt im Kerzenlicht ftrahlte, floh fie, wie ein ges 
jagtes Reh, die Rampe hinan nadı ihrem Zimmer. Als 
nach ein paar Minuten die Tante dieſes betrat, fland 


Dhosphorus Hollunder 433 


fie vor der Lampe, einen verglimmenden Papierfegen in 
ber Hand, 

„Was tuft du, Kind?" fragte das Fräulein. 

Blanka gab Feine Antwort. Sie fiel wie vernichtet auf 
das Sofa, das Geficht in die Hände vergraben, und hörte 
wohl faum, wie die treue Freundin, zurebend, ermunternd, 
anpreifend fie auf die Anmut der Umgebung aufmerkſam 
machte. 

„In Wahrheit, eine Hütte der Liebe!“ rief das alte 
Fräulein mit einem Seufzer halb der Wehmut, halb bee 
Entzüdend. 

Die Glastüren nad der ZTerraffe fanden geöffnet; 
Roſen⸗ und Drangendüfte drangen fanft beraufchend in 
dad Zimmer. Es war ein ſchwüler Mittfommerabend; 
zur Nacht drohte ein Gewitter. Schattenartig zog Wolfe 
um Wolfe über die noch fchmale Sichel des Mondes, über 
bie einzeln am Horizonte blaͤßlich auffteigenden Sterne; 
in ber Ferne plätfcherte, rafdh bewegt, der Fluß. | 

„D, du gefegnete, heilige Täufernacht!“ flüfterte das 
alte Fräulein mit gefaltenen Händen. 

Die junge Frau hatte feinen Blick, feinen Laut des 
BVerftändnifles, fein Segen erflehendes Gebet. Regungss 
[08 Tieß fie fich Kranz und Schleier abnehmen, das übliche 
Frauenhäubchen auffegen. Ale die Tante dann aber 
fragte, ob fie ihr die Jungfer zum Umkleiden ſchicken 
folle, wehrte fie e8 ab mit einer Gebärde des Ents 
ſetzens. 

Das alte Fräulein ahnete die Schauer eines jungfräus 
lichen Gemüts, die zu erfahren das Schickſal ihr nicht 
gegönnt hatte, ahnete dad Bedürfnis des Sammelnd 
vor Gott im widhtigften Augenblicke eines Frauenlebens. 
oe 


434 Dhosphorus Hollunder 


„Ach, mein Kind," fagte fie, feuchten Auges, „verſenke 
dich nur recht innig in das Bemußtfein, mit deinem 
eigenften Wefen einen guten Menfchen durc und durch 
zu beglüden. Jedes andere 808 ift fümmerlicher Not» 
behelf für eine Frau. Glaube es deiner alten Verwandten, 
und Gott wird dich fegnen.“ | 

Ad, warum vermied fie aus Schonung hinzuzuſetzen: 
„und deine Mutter im Simmel”? Bielleicht, daß diefe 
Mahnung Herz und Scidfal einer Unglüdlichen zum 
Glück gewendet hätte — vielleicht! Sie füßte recht ins 
brünftig des jungen Weibes Stirn und ging dann hinüber 
in Sollunders Zimmer. 

„Sönnen Sie ihr eine Fleine Paufe der Sammlung, 
werter Freund,“ ftammelte fie, kraft ihrer heutigen Mutters 
rolle, aber errötend und mit niedergefchlagenen Augen. 

Phosphorus Hollunder errötete gleichfalls und fchlug 
gleichfalld die Augen nieder. Er küßte der verehrten Tante 
die Hand und reichte ihr den Arm, fie zum Wagen zu 
führen. 

Durch ein Mißverftändnis hatte der Wagen fich zus 
gleich mit der Hochzeitöfutfche entfernt; ein männlicher 
Dienftbote war nicht anwefend, die Sungfer voraugfichtlich 
mit ihrer Herrin befchäftigt und Phosphorus Hollunder 
zu fehr Gentleman, als daß er einer Dame geftattet hätte, 
von feiner Schwelle aus einen nächtlichen Heimgang 
fonder Geleit anzutreten. Das alte Fräulein aber, wenn» 
ſchon die verkörperte Befcheidenheit und, an einfame 
Abendwege mit Laternchen und Hausſchlüſſel gewöhnt, 
ſich durchaus Feines Schuges bedürftig fühlend, nahm 
nad einigem Sträuben diefen felten erlebten Ritters 
dient an, im Hinblick auf die BViertelftunde Freiheit, 


Phosphorus Hollunder 435 


welche der aufgeregten jungen Frau burd ihn gewährt 
werde. | 

So führte denn Herr Hollunder Fräulein von Schwein 
chen bedächtig nad) ihrer ziemlicd; abgelegenen Wohnung, 
um alsbald geflügelten Schrittes in die feine zurüdzu- 
ehren. Die Paufe der Sammlung hatte überlange für 
feine Ungeduld gewährt. 

Er klopft an der Geliebten Tür, anfänglich fchüchtern, 
dann hinlänglich vernehmbar., Kein Herein. Er wagt 
zu klinken. Die Tür ift von innen verriegelt. Befcheiden 
geht er in fein Zimmer zurüd, etliche Male auf und nieder, 
dann von neuem hinüber, feine Einlaßverfuche wieder- 
holend. Vergeblich. Er ruft leife ihren Namen. Keine 
Antwort. Läuter und immer lauter. Alles ftill. 

„Sie wird auf der Terraffe fein, der Abend ift fo 
zauberiſch,“ denkt er und eilt durch den Hof in den 
Garten. Die Slastür nad) Blanfas Zimmer fteht offen; da 
er die Erfehnte im Freien nicht erfpäht, tritt er ein. Die 
Lampe brennt. Blanka ift nicht da. Er Hopft an die Tür 
des Schlafzimmerg, öffnet leife - auch hier ift fie nicht. 

Ein banges Ahnen befchleicht ihn. Doch fein Glaube 
ift noch tapfer; er wehrt ed ab. „Sie wirb hinab in die 
Anlagen gegangen fein,“ beruhigt er fih und folgt ihr, 
nach allen Seitenpfaden fpähend und laufchend, die Mittel: 
allee entlang bid zum Ufer. Da liegt die Gonvel, in 
welcher er geträumt hatte, fich an wonnigen Sommer; 
abenden mit der Geliebten zu fchaufeln. Dort wiegen ſich 
ein paar Schwäne, bie er aus dem Ei hatte heranwachſen 
fehen und an deren Familientreue er fich oftmals, wie an 
einem Borbilde, erbaut. Bon feiner Gattin nirgend eine 
Spur. 


456 Phosphorus Hollunder 


Aber hört er nicht ein Flüftern, fpürt ein Bewegen, 
ein Sichregen, fühlt er nidyt Menfchennähe? ZTäufchung! 
Es ift das Röhricht, das im Windeshaudhe raufcht — ein 
Nachtvogel — ein fpringender Fiſch. Er ruft Blankas 
Namen nad, allen Richtungen. Kein Gegenlaut! 

Mit ftodendem Atem fliegt er in ihr Zimmer zurüd. 
Ob fie in die Manfarde geitiegen ift, die Dienerin zu 
rufen? Unmöglich! Die Tür ift ja von innen verriegelt. 
Tödliche Angft durchzittert ihn. Seine Augen irren ringe 
im Zimmer umher; nichts ift verändert. Auf dem Tifche 
liegen Kranz und Schleier, fo wie die Tante fie abges 
nommen, am Boden der Strauß von Orangeblüten, den 
fie während der Trauung getragen. 

Aber halt! Dort auf dem Schreibtifch — eine Unord⸗ 
nung, wie die Haft fie bewirkt, — ein blitender Gegens 
ftand — der Diamantring, den er, ftatt des verlorenen, 
an ihren Schwurfinger geftedt — daneben ein Blatt; ihre 
Züge, faum leferlic, hingeworfen — die Tinte in der Feder 

noch feucht. — Zwei Zeilen! 

Ich verlafle Sie, ehe ich Sie elend made. Denn idh 
liebe Sie nicht. Sch — ich kann Ihnen nicht angehören!“ 

„Sie ift tot!" fchreit er auf und ftürzt überwältigt zu 
Boden. Aber nur einen einzigen entjeglichen Augenblid. 
Sm naͤchſten ift er wieder Herr feiner felbft, erfennt er 
mit dem Lichtblid der Liebe und ber Verzweiflung die 
wirffiche Lage und was fie gebot. In diefem Moment 
ber Hellficht wurde der weichmütige Kollunder zum Mann. 

Sie Iebt, fie ift entflohen und nicht allein entflohen. Er 
weiß, er fennt den Verführer. Aber noch kann er ihn ers 
reichen, dem Räuber feine Beute entreißen. Nicht mehr, 
um fie zu befigen, nur fie zu retten vor Elend und Schmad). 


Dhosphorus Hollunder 437 


Die legten Bahnzüge nadı Nord und Süd kreuzen fich in 
diefer Stunde. Einer von ihnen ift der, mit welchem fie 
fliehen. Er muß ihnen nad. Auf dem Wege über die 
Brüce Fame er zu fpät. Der Kahn muß ihn an das ans 
dere Ufer tragen, auf dem der Bahnhof liegt. 

Kaum den Gedanken ausgedacht, fteht er am Ufer. Die 
Gondel ift verfchwunden. Ein ferner Ruderfchlag dringt 
an fein Ohr; der Mond, hinter einer Wolfe hervortretend, 
beleuchtet zwei jenfeits landende Geftalten; das leere Fahr⸗ 
zeug treibt ftromab. Auf dem Bahnhof lauten die Signale. 

Ohne Wahl ftürzt der Unglüdliche in den Fluß, um 
ſchwimmend das andere Ufer zu erreichen. In feften Klei- 
dern ift es ein harter Kampf; allein die Feidenfchaft ftählt 
jede Fiber. Er feßt den Fuß an dad Land in dem Augen: 
blick, als ein fchriller Pfiff den Abgang des lebten Zuges 
verfündet. Zriefend, feuchend ftürmt er mit leßter Kraft 
die Rampe hinan, erreicht er den Perron. Schon ift das 
Signal aud) für den entgegengefegten Zug gegeben; zwei, 
drei Wagen hat er in Todesfpannung durchſpäht. Eine 
lange Reihe fteht noch vor ihm, — da, wiederum der herz> 
fprengende Pfiff. „Halt! Halt!” fchreit er mit den Ge⸗ 
bärden eined Rafenden. Der unglüdlihe Mann bricht 
leblos zuſammen. | 

Man trägt ihn in den Wartefaal. Der wohlbefannte 
Bürger an feinem Hochzeitsabend, in feinem Hochzeits⸗ 
Fleid, waffertriefend, im Begriffe zu fliehen, von einer 
Ohnmacht befallen — wer vermag das Nätfel zu Iöfen, 
wenn diefed nicht der Wahnwitz iſt? Er wird umge> 
fleidet vorfichtig auf einer Bahre in das bräutlich ge⸗ 
fhmücte Sommerhausd getragen. Ein Bahnbeamter, der 
vorauseilt, Die junge Frau auf das Schrednis vorzubes 


438 Dhosphorus Hollunder 


reiten, verwundert fich, fie nirgend zu finden. Die 
Dienerin tft in der Manſarde eingefchlafen und weiß feine 
Auskunft zu geben. Unterdeffen bringt man den Kranfen 
und legt ihn in das hochzeitliche Bett. Er fchlägt die 
Augen auf, gibt aber fein Zeichen der Befinnung. Die 
Ärzte der Stadt fammeln fi) zu Nat und Hülfe um das 
Lager; die Bewohner des ftädtifchen Hauſes eilen herbei; 
die treue Suftine, Fräulein von Schweindhen blicken hände⸗ 
ringend auf das Entfegliche, ohne ed deuten zu koͤnnen. 
So ſpät fchon der Abend, verbreitet ſich gleich einem Lauf⸗ 
feuer von Haus zu Haus die Kunde: Phosphorus Hols 
Iunder ift faum eine Stunde nad; feiner Trauung irrfinnig 
geworden, — feine Frau verſchwunden. 

Mit dem grauenden Morgen dämmert aud) ein Schimmer 
der Wahrheit, um im Laufe des Tages, für die Nächfts 
ftehenden mindefteng, deutliche Geftalt anzunehmen. Mehr 
als einer will am geftrigen Spätnadjmittage Herrn von 
Hohenwart in dunfeln Zivilfleidern auf der Straße, ja 
felbft in der Kirche gefehen haben. Sogar am Bahnhofe 
fol bei einbrechender Nacht eine hohe Geftalt, die der feinis 
gen gleichen konnte, mit einer tiefverfchleierten Dame am 
Arm bemerkt worden fein. Die Richtung, welche das Paar 
genommen, war nicht zu erfunden. 

Mit den Mittagszügen eilten Fräulein von Schweinchen 
nordwärtg, ein Freund Hollunders gen Süden den Fliehens 
den nach. Ohne Spur und Kunde von ihnen Fehrten fie 
zurüd, fich traurig eingeftehend: Was hätte die gelungene 
Entdeckung dem unglüdlichen Freunde genugt, oder was 
feiner unglüdlicheren Frau? In der Stadt hatte man 
feitdem erfahren, daß die Unterfuchung gegen Herrn von 
Hohenwart niedergefchlagen, fein Abfchiedsgefuc, geneh- 


Dhosphorns Hollunder 439 


migt worden, auch durch den Tod eines Verwandten ihm 
ein befcheidened Erbe zugefallen fei. 

Phosphorus Hollunder lag mwährenddeflen im Raſe⸗ 
ftabium des Fiebers, an der Außerften Marfe des Lebens. 
Wochenlang träumte er von Blut, fchäumte von Rache, 
fchrie wütend nach dem Leben feines Beleidigerd, dem 
Mörder feines Glücks und feiner Ehre. 

R 


Als aber Phosphorus Hollunder mit ausgetobtem Blut 
fid) von dieſer ſchweren Niederlage erhob, da war er ein 
anderer als in feinen glüdlichen Sugendtagen; da war er 
der, zu welchem eine gütige Natur ihn beftimmt, die herbfte 
Erfahrung ihn gezeitigt hatte; ein Mann, ein Menſch fo 
lauter und feit, wie fie nur einzeln und felten und begegnen 
zu unferem Zrofte und zu unferem Heil. So wie jene 
treffliche Frau e8 vorausdgefagt, hatte ein reinigended Bad 
die findifchen Farben von einem edlen Gebilde gefpült und 
feine Schönheit offenbar gemacht. Der Täufer hatte ihn 
getauft mit feiner ftärfften Effenz - dem Schmerz. 

Als er an einem klaren Oftobertage zum erften Male 
gebeugt und bleich über die Terraffe fchlich, die er fo prans 
gend für die Geliebte gefchmüct hatte und deren Rofen 
jest verduftet waren, ald alle holden Hoffnungen dieſes 
Jahres, alle Bitternid, die Fieberwut der Rache nodh ein= 
mal an feiner Erinnerung vorüberzogen, noch einmal die 
Hand ſich frampfhaft ballte, da fagte er nach einem langen 
Blick in die Sonne, die wie ein Gottedauge groß und 
mild auf ihn niederfchaute: 

„Auch das Rohr des Schwachen trifft dann und wann 
fein Ziel. Soll ich ihn töten? Mid) von ihm töten laffen, 
weil das Leben feinen Reiz mehr für mid) hat? So oder 


440 Phosphorus Hollunder 


fo, fie noch elender machen, als fie vielleicht fchon ift, oder 
unfehlbar werden wird. Nein! Die rettende Tat fam zu 
fpät; die rächende ift nicht mein Zeil; denn ich habe fie 
geliebt, und war es ihre Schuld, daß fie mich nicht lieben 
fonnte?” 

An dem nämlichen Tage reichte er die Scheidungsflage 
ein, welche fein Weib von nicht einer Stunde berechtigte, 
dad eined anderen zu werden. 

Es gibt eine Gefährtin, treuer ald das Glück, hülfreicher 
als die Liebe felbft, das ift die Mühe. Unfer Freund, der 
bisher mit dem Leben gefpielt hatte wie ein Kind, nun 
fuchte er fie, die fich allezeit gern finden läßt, und fie machte 
ihn zum Mann. Er verließ auf Jahre unfere Stadt, nicht 
wie früherhin, um zwifchen Natur und halbverftandenen 
Kunftgenüflen umherzufchwärmen, nein, um zu lernen. 
Er arbeitete in den Laboratorien bewährter Meifter, an 
fänglich vielleicht nur, um ſich zu betäuben, allgemach indes 
angezogen und gebannt durch den Magnet, der in jeglicher 
Forſchung ruht. Scheidend und verbindend prüfte er Bes 
fannted und gewann Unbefanntes; heimgefehrt, verwertete 
er praftifch, was er theoretifch erworben. Er legte die 
erften chemifchen Fabriken in unferer Gegend an, beförderte 
deren Wohlftand und feinen eigenen. Die Entdedung und 
induftrielle Ausbeutung unferer Kohlenlager ift weſentlich 
fein Wert. 

Phosphorus Hollunder wurde nicht wieder Vortänzer 
der Gefellfchaft, fang in Konzerten feine Kiebeslieder mehr, 
dilettierte nicht mehr in Heldenrollen mit überflüffigen 
Gebärden vor einem lächelnden Publikum; er madıte feine 
Berfe mehr mit allbefannten Reimen und ſprach im Lite⸗ 
rarifchen Verein, den er begründet, nicht mehr Aufgelefenes, 


Phosphorus Hollunder _ 441 


das er nur halb verftand, fondern wenn er ſprach, war 
ed Erfanntesd über Gegenftände ſeines Fachs. Indem er 
das Notwendige fich vorfegte, fiel ihm dad Nützliche zu, 
und das Schöne entging ihm felten. Überhaupt aber ſprach 
er nur noch wenig. Auch in der Feurigen Kugel fchmweigt, 
fo fagt man, der einftmals beredfamfte Mund, Aber die 
Angelegenheit des „Töniglichen Baues“, Humanität und 
chriftliche Bruderpflicht, Die hat Phosphorus Hollunder auf 
das Panier feines Lebens gefchrieben, befennt fie öffentlich 
und übt fie ohne Ermüden. 

Kurz vor feiner Verheiratung hatten feine Mitbürger 
ihn zum Stadtrat erwählt. Sebt übernahm er freiwillig 
das Dezernat der Armenangelegenheiten und widmete fich 
demſelben mit einer Ausdauer, welche eine völlig neue Ord⸗ 
nung in dieſe fchwierigfte aller fommunalen Aufgaben 
brachte und unfere Einrichtungen zum Mufter werden ließ 
> für die gefamte Provinz. Phosphorus Hollunder zeigte, 
| was in einem mittleren Gemeinwejen ein einziger wohls 
R gefinnter und wohlgeftellter Bürger zu leiften vermag; wie 
er den Schlendrian verfcheuchen, anregend auf die Läffigen 
wirken, durch fein Beifpiel einen Wetteifer zum Beſſeren 
entzüunden und fidy mit allen Ständen verbinden fann, um 
das, was not tut, anzubahnen und durchzuführen. 

„Wir feuern der Berarmung und ihren entfittlichenden 
Folgen nicht eher, ald bis es den moralifch und materiell 
Bermögenden Gewiflensfache wird, Die moralifch und mates 
riel Unvermögenden in ihren eigenften Pflichtenfreis, gleichs 
fam in ihre Familienforge aufzunehmen. KRümmerte nur 
ein Menfch fich ernftlich und treu um ein paar fremde 
Menſchen, ja, nur um einen einzigen, ein Baus um ein 
anderes, ald gehöre es zu ihm, fie würden ſich nicht übers 


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442 Dhosphorus Hollunder 


bürdet fühlen; der Not und Verwahrlofung aber würde 
weit gründlicher abgeholfen werden, als durch die Mehrs 
zahl kraftzerfplitternder Vereine, denen der Blid in das 
Einzelleben, das Verhältnis von Perfon zu Perfon entgeht.” 

Nach diefem Grundjag wirkte unfer Freund. Er vers 
teilte den Mangel unter die Fülle, und fein Zeil war der 
reichlichfte. Die Liebe, die eine nicht beglüden, eine nicht 
erwidern fonnte, fie ift zum Segen geworden für einen 
weiten Kreis. Ihr Hebel in einem guten Menfchenherzen 
war das Leid. Würde die Freude gleiches gefördert, das Er⸗ 
barmen gezeitigt haben, auf weldyem im Ringen ums Das 
fein der Sieg ded Menfchlichen, die Blüte des Chriftentums 
beruht? „Um die Freude am Leben nicht erfterben zu laſſen, 
müſſen wir mit unferen Brüdern und für unfere Brüder 
leiden Iernen,“ fo fagt nicht, aber denkt Phosphorus Hols 
Iunder. 

Er ift jegt geehrt als Forfcher, angefehen als praftifcher 
Gefhäftsmann, ald Freund und Wohltäter geliebt. Er 
ift der würdige Vertreter unferer Stadt in der erften ges 
feggebenden Berfammlung des Staates; fein Name gehört 
zu den gejchäßteften über jene Grenzen hinaus. Die Heine 
Adelöpartifel vor demfelben wird ihm nicht entgehen, in⸗ 
fofern ihn danach gelüftet; einftweilen trägt er einen 
langen Titel und verfchiedentliche Orbengzeichen. Sein 
Wohlftand mehrt fi) von Sahr zu Sahr. Die jungen Fräus 
leind und ihre Mütter blicfen einladend auf den jungen 
Mann, der eine Gattin verlor, bevor er fie befeflen hatte. 

Sn diefem einzigen Punkte jedoch fcheint dem Tiebreichen 
Hollunder das Herz zu verfagen. Er fohägt die Häuslichen, 
die Befcheidenen, auch die Gebildeten und fogar die im alls 
gemeinen weniger Beliebten, die man charaftervoll oder. 


Phosphorus Hollunder 443 


bedeutend nennt. Schön aber tft ihm nur eine einzige 
erfchienen, und er hat fie niemals vergeflen. 

Niemals jedoc, und gegen niemand hat er ihren Namen 
wieder genannt; es wäre denn etwa gegen Fräulein von 
Schweinchen, mit welcher er in freundfchaftlicher Verbin 
dung geblieben ift und welche feit feiner Heimfehr fogar dag 
obere Stockwerk des Haufes zum Holunderbaum bewohnt. 
Die alte Dame gibt feine Sprach- und Mufifftunden mehr; 
ihre Umftände müffen fich erheblich gebeflert haben, infolge 
eines Bermächtniffes, wie Herr Hollunder zu verftehen gibt. 
Man zerbradh fich umfonft lange Zeit den Kopf, von wen und 
woher, und munfelte dann mandherlei, was indes weder 
Herrn Hollunder noch auch der alten Dame zur Unehre 
gereichte. Auch jede Anfpielung auf ihre Nichte beant- 
wortet fie nur mit einem Seufzer und Schütteln des er; 
grauten Hauptes, wennfchon man weiß, daß fie in Brief- 
wechfel mit ihr fteht und fogar Geldfendungen an fie 
abgehen läßt. Gott fei Dank, daß fie jetzt dazu imftande ift. 

Denn das Schiefal der fchönen Frau hat auf die Dauer 
ihrer Heimat nicht verborgen bleiben fünnen. Sie hat ihre 
ſchwere Irrung ſchwer gebüßt, den Mangel an Mut bie 
zu jener Stunde, die aus der Schwadhheit eine Sünde 
werden läßt. Kaum, daß der eheliche Segen zum zweiten 
Male über fie gefprochen, find einem romantifchen Traume 
an einem Alpenfee, find dem Rauſche erfter Leidenfchaft 
Kämpfe gefolgt, in welchen zwar nidyt die Xiebe, aber der 
Frieden ded Herzens erlag. Sie war nicht Die Natur, deren 
Energie den unfteten Sinn eines Affur unter peinvollen Ver⸗ 
hältniffen gebändigt hätte. Ohne Beruf, ohne die gewohnten 
Standesgenoffen, fein Fleines Erbe bald genug erfchöpft, 
wie hätte der bis dahin rüdfichtslog in das Leben Stürs 


444 Dhosphorus Hollunder 





mende lernen follen, an der Seite eines einfach zärtlichen 
Weibes fich häuslich zu befchränfen, zu erwerben, im eng⸗ 
ften Kreife heimifch zu werden? Nicht nur die Schwäche, 
auch die Scham mehrte gegen Ungebühr den Widerftand 
der Frau. Sie fühlte fic eine Laft werden und durfte nicht 
Magen. Sie erntete, was fie gefäet. 

Hierhin und dorthin fchweifend, vieles ergreifend, nichts 
fefthaltend, von unruhiger Langeweile gefoltert, von Gläu⸗ 
bigern gedrängt, haben abenteuernder Sinn, Not und 
foldatifche Neigung ihn endlich in überfeeifche Kriegs- 
bienfte getrieben, in weldyen fein Name bie heute vers 
fchollen ift. 

Seine Gattin folgte ihm nicht. Ein fiecher Körper, 
ein zarted Kind, gebrochenes Vertrauen, Scham und Gram 
hielten fie zurüd. Aber der ewig geheimnisvolle Zug des 
Herzens begleitete den Schuldigen mit unfäglicher Sehns 
fucht und mit unfäglichem Weh. 

Kraft und Schönheit welften rafch; durch mühfelige 
Handarbeit ihr und ihres Kindes Leben friftend, rang fie 
mit harten Entbehrungen, bis der Umfchlag in Fräulein 
von Schweindhend Berhältniffen auch ihr zugute fam. 
Ein brieflicher Verkehr bahnte ſich an zwifchen der Reuigen 
und der VBergebenden; eine hülfreiche Hand ward geboten 
und durfte nicht zurücdigewiefen werden. — 

Mehr ald ein Sahrzehnt war vergangen, ald mitten in 
ber Nacht der Geheime Kommerzienrat Hollunder mit 
feiner alten Freundin eine Reife nach den Alpen antrat, 
Sie fuhren ohne Unterbrechung Tag und Nacht; fchweis 
gend faßen fie einander gegenüber. Die Dame trodnete 
von Zeit zu Zeit ihre Tränen; ihr Begleiter blidte in 
tiefem Ernfte vor fich nieder. Am zweiten Nachmittag 


Dhosphorus Hollunber 445 


erreichten fie ihr Ziel. Die Dame ließ ſich unverweilt 
nad) einem ländlichen Haufe führen, das einfam am See 
gelegen war. Nach einer langen, langen Stunde folgte 
ihr der Freund. 

Als er die fchmale Treppe zu dem Giebelftübchen in die 
Höhe ftieg, bebten feine Kniee. Eine Tür ftand geöffnet, 
um über den hölzernen Söller die Strahlen der unters 
gehenden Sonne in dad Zimmer dringen zu laflen. Auf 
ber Schwelle war er wie gebannt. Diefes bleicdhe, von 
Harm und Not erfchöpfte Weib, dag todesmatt das Haupt 
an die Bruft der mütterlichen Freundin lehnte, dad war 
fein Weib, vor Gott und Menfchen ihm zu eigen gegeben; 
dies fchöne Kind, blauäugig und braunlodig wie die, an 
deren Kniee es ſich ſchmiegt, es ift ihr Kind, aber nicht 
das feine. Phosphorus Hollunder gedenkt der Zeit, da er 
die Mutter gekannt hat, nicht größer als jetzt ihre Tochter, 
und ſchon damals hat er fie geliebt und ſich erforen. 

Das Auge der Kranken begegnet dem feinen; er rafft 
ſich zufammen, tritt ihr ruhig und herzlich entgegen. Kein 
Blick zeigt einen Vorwurf; feine Miene feinen Sammer. 
Als aber jeßt die unglüdliche Frau ſich erhebt, ihm ents 
gegenwantt, zu feinen Füßen niebergleitet und lauts 
fhluchzend feine Kniee umflammert, ba hält er fich nicht 
länger, unter heißen Tränen zieht er fie vom Boden in 
die Hoͤhe, drüdt fie an feine Bruft und hält fie lange 
umfchlungen. 

Wochen hindurch faß er nun als treuefter Hüter an 
ihrem Sterbebette. Selbft ohne Hoffnung, fuchte er Mut 
und Lebenshoffnung in ihr aufzumeden, er rief die kuns 
digften Ärzte zu ihrer Gülfe herbei, ſprach ihr von dem 
beilfamen Klima des Südens, von ihrer Tochter Erziehung 


446 Phosphorus Hollunder 


und Zukunft. Die Stimme der Kranken war gelähmt, 
aber ihre Augen ruhten faft unverwandt auf dem gütigen 
Manne, mit einem Auddrud, der Phosphorus Hollunder 
noch in feiner Sterbeftunde beglüden wird, Mehr ale 
einmal führte fie feine in der ihren ruhende Sand an ihre 
Lippen und legte fie dann wie zum Gegen auf ihres 
Kindes Haupt. Phosphorus Hollunder aber zog das liebe, 
fohmiegfame Mädchen auf feine Kniee, in feine Arme, und 
fein ftummer Händedrud fagte der Mutter, daß ihre Waife 
des Vaters nicht entbehren werde. 

Als wieder der Morgen grauete, wurde die ftille Kranfe 
unruhig, ihr Atem fchwer; die Tante fchlief in der Neben⸗ 
fammer; Hollunder allein faß wachend neben der Sterbenden. 
Das Kind, eingefchlummert an ihrer Seite, fuhr ängftlich in 
die Höhe und barg den Kopf an der Mutter Bruft. 
Blankas Augen fchweiften unftät hin und wider, bie 
Hände tafteten bald nad diefem, bald nach jenem Gegen- 
ftand. Die erften Sonnenftrahlen fallen auf die Wand 
ihr gegenüber; ihr Blick haftet ftarr an dem Bilde, dad 
‚an derfelben hängt, die Arme greifen wie zum Umfangen 
danadı aus. Der Freund verfteht diefen Blick. Er zieht 
den Vorhang zurücd, der das Bild feit feiner Ankunft ver- 
fchleiert hat, und Affur von Hohenwarts Züge treten zum 
legten Male vor das brechende Auge feiner Frau, zaubern 
den legten Rofenfchimmer auf ihre fahlen Wangen. Sinn 
und Kraft find ihr zurücgefehrt; fie richtet fich jach in 
die Höhe, ſchlingt mit Leidenfchaft die Arme um ihres 
Kindes Haupt, preßt ed an ſich und legt ed dann an dad 
Herz des treneften Mannes. 

„Dein, dein!“ ruft fie mit lauter Stimme; ihr Kopf 
ſinkt zurüd, fie ift tot. 


Dhosphorus Hollunder 447 


Phosphorus allein fland an dem Grabe, in welches 
man Blanfa von Hohenwart verfenfte. Cine Stunde 
fpäter war er mit ihrer Tochter und der alten Freundin 
auf dem Wege zur Heimat. Die Feine Blanka wird unter 
feinem Baterfchuß erzogen. Phosphorus Hollunder ift 
glüdlich, er hat ein Wefen, für das er lebt und das an 
ihm hängt mit der Zärtlichfeit eines eignen Kindes und 
mit der fchwärmerifchen Dankbarkeit einer Waiſe. 





Drud von Bernhard 
Zauchnis in Leipzig