Ausgewaͤhlte Novellen
von
Louife von Frangois
Erfter Band
Am Inſel-Verlag zu Leipzig
038
F825
518
wat
7-29-SEMF?
G.k.
Dunn
N.Furk |
7, 12.55 Erfter Band
123327,
Judith, die Kluswirtin — Der Poſten der
Frau - Fräulein Muthchen und ihr
Hausmeier — Die goldene
Hochzeit MHhosphorus
Hollunder
Judith, die Klusmwirtin
Rückblick
Men ift es gewöhnt, preiſend oder ſpottend, die alts
faffifche Landſchaft zwifchen Wefer und Rhein, die
wir unter dem Namen Weftfalen zufammenfaffen, als eine
Provinz ftrenger, fteifer Erhaltung darzuftellen. Und in
der Tat, fo wechfelnd die Phyfiognomie ihres Bodens von
den Marfchen des Meeres, vorzeiten „Das deutfche” ge⸗
heißen, durd, Dünen und Heiden, Moorftich und Sumpf,
durch ummallte Korns und Wiefenbreiten aufwärts zu
rauhen Felfengipfeln und wieder abwärts in die Täler
des romantifchen Waldgebirges, in welchem am früheften
‚der Deutfche Name zu Ehren gebradyt worden ift, und fo
mannigfaltig mit dieſem Wechfel des Bodens der Chas
rafter feiner Bewohner und entgegentritt, vom träumeris
[hen Norden bis zum tatfräftigen Süden: die urſpruͤnglich
germanifche Art und Bildung hat ſich unter der ländlichen
Bevölkerung diefer Gegenden unverwifcht und unvermifcht
erhalten wie in feinem andern umfänglichen Gebiete
unfered Baterlandes. Sa, ſchon ehe wir gen Morgen die
breite Wafferfcheide überfchreiten und durch das Felfentor
der legten Berge die eigentliche Rote Erde betreten, da wo
das baumreiche Schaumburger Landchen in die weftfälifche
Borebene übergeht, bewundern wir an Männern wie
Frauen die deutfche Kraft und Schönheit der Geftalten
und ftoßen nicht felten auf einen Kunftjünger öftlicher wie
weftlicher Afademien, der unter dieſen urmüchfigen Bäumen
und Menfchen nach einem Vorwurf fudht.
Mer jene Bauern hinter ihren ftattlichen Gefpannen
aus den Waldgehegen treten fieht, unter deren Eichen und
4 Judith, die Kluswirtin
Buchen die noch immer mit Vorliebe gezüchteten Sauen⸗
herden weiden, wer ſie ſieht mit ſchwerfälligem Gerät,
langſam, harttrittig die Furche durch ihre Korn⸗ und
Flachsfelder ziehen, oder die Weiber, den Wocken im Rock⸗
gurt, felber im Gehen unermüdlich, aber gelaſſen die
Spindel drehen, wer im ummwallten Kamp ihre Höfe fieht,
vereinzelt, dunfel aus Eichenholz nach unvorbenklicher
Weiſe aufgerichtet, Mundart, Hausbrauch, Hausrecht, Erbs
recht, Tracht und Koft, Sitte und Unfitte unerfchütterlich
nad) Vätertreiben; wer fie beobachtet in ihrer ſchweig⸗
famen Stetigfeit, felten, aber unzähmbar von auflodernder
Sachheit durchbrochen, der vermag ohne Anftrengung fich
in die Anfänge unferer nationalen Kultur zurüczuvers
feßen, er glaubt die nämlichen alten Saffen zu finden, die
vor einem Sahrtaufend dem Chriftentum gegen einen Caro⸗
lus Magnus widerftanden, deren troßige Treue aber das
widermwillig angenommene Evangelium am zäheften viels
leicht unter den deutfchen Stämmen gegen ein modernes
Heidentum verteidigen würde.
Er konnte fie finden mindeftens vor einem Menfchens
alter noch. Seitdem hat die Neuzeit ihr wechfelndes Ges
präge auch diefer Landſchaft aufgedrückt, Boden wie Köpfe
nach lange brachliegenden Schägen durchwühlend, fürs
dernd, ſchmelzend, bildend und zerftörend; den Hauch der
heimifchen Heimlichkeit verwehend. — Ein Merkmal dieſes
umwandelnden Geiftes durfte fchon vor länger denn dreißig
Sahren der Wanderer auf dem nördlichen Heerwege an
einem ländlichen Haufe wahrnehmen, das in neufächfticher
Geftalt, von Bruchſteinen aufgerichtet, hellfarbig getüncht,
mit Ziegeln gedeckt und die räumlichen Fenſter durch grüne
Läden gejchüßt, feine breite, glatte Flucht der Straßens
Judith, die Kluswirtin 5
feite zufehrte. Eine Schenfe, ein Krug, mitten zwifchen der
öftlichen Grenze und der erften namhaften preußifchen Stadt,
eine Biertelftunde abfeit von den Nacdhbarhöften, bildete
es den Schluß eines fi, lang am waldigen Bergfamm
hinziehenden Dorfes und hieß, wie manche andere des
Landes, „die Klus“.
Die Inſaſſen jenes Dorfes hatten feit Menfchengedenfen
nad) abendlicher Raft auf der Klus ihren Krug geleert,
oder rücfehrend vom ftädtifchen Markte, felten mit Maß,
fih am heimifchen Wacholdergeifte erlabt, die Burfchen
und Dirnen der Umgegend fich fefttägig im „Papen van
Iſtrum“ gefchwentt, unbehelligt von dem Qualme des
mächtigen Schlotfanges in der Giebeltenne, die zugleich
Küche, Räucherfammer und Wohngelaß war und in welche
aus den nachbarlichen Koben Pferde, Rinder und Sauen
neugierig, oder verdrießlich, oder gleichgültig wie die
menfchlihen Zufchauer ihre Köpfe ftredten. Denn die
Klus war ein Bauerngehöft wie alle anderen des Landes,
und wie in allen anderen wurden Viehzucht und Feld⸗
beftellung als Hauptzweck, das Schenkweſen aber nur als
ein von den Altvordern überfommenes Mebenrecht bei⸗
laͤufig und läfftg betrieben.
Eined Taged brannte die alte Eichenflus ab — wie die
Sage geht, durd, das Zünden des erften Schwefelholzes,
das ein fegerifcher Wandergeſell gleich einem Koboldſpuk
in die Gegend getragen; der kinderlos verwitwete Klus⸗
wirt ftarb infolge feiner Brandmwunden, und dad wohls
geordnete Anweſen fiel feinem Bruder zu, der, obgleich
fein Batererbe freied Eigentum war, fich ald jüngerer
Sohn willig mit einer ſchmalen Abfindung begnügt hatte.
Ein noch bartloſes Bürfchchen, war der Frobeljobſt der
6 Judith, die Kiuswirtin
neuentfalteten, in anderthalb Sahrhunderten allmählich
feiner Gegend eingemwöhnten preußifchen Fahne gefolgt,
juft da der Haß gegen das beutfchnapoleonifche und die
Erhebung gegen das welfchnapoleonifche Regiment hoch
im Schwange gingen; er hatte in Deutfchland und Frans
reich wader mitgefämpft, nad) dem Frieden den ſchmucken
Soldatenrod dem feiner harrenden Knechtskittel vorges
zogen, bis er, ald Sergeant einem fächfifchen Regiment
zugeteilt, Herz und Hand eined munteren thüringifchen
Wirtstöchterchend erobert und teil an ihrem väterlichen
Schenfengefchäfte genommen.
Wohlgemut, den Himmel voller Geigen, wie er ihn in
fremden Landen fchauen gelernt, kehrte er jeßt, da das
zerftörende Element ihn fo unerwartet zum Erben beför-
dert, in die alte, neugewordene Heimat zurüd und baute
die Branbdftätte wieder auf in dem mitteldeutfchen Ges
ſchmack, der ihm bequem geworden, fo wie wir fie im
Borübergehen angefchaut. Scheuern und Ställe umfaßten
zu beiden Seiten den durch das flattliche Vorderhaus ab»
gefchloffenen Hof, hinter welchem, bis zu der Berglehne
des Gemeindewaldeg, die dunklen Eichen und Rüftern des
Kampes einem Obft- und Gemüfegarten Plab machten.
Zur Rechten wie Linken feßte der Kamp, das heißt die
eingehegte, dem Hofe eignende Flurmark ſich fort. Dies⸗
feitd bis zum nächften Anwefen die breite Flucht der Felder;
jenfeits eine Forftparzelle, die, mit der Zeit gerodet, fich
in einen Triftanger verwandelte. Den Raum zwifchen
Straße und Borderhaus befchattete eine reinliche Laube
von Ligufterheden, und über der Tür flatterte dad Schens
Fenzeichen des fächfifchen Rautenkranzes.
Alfo fein Heimweſen ausftafftert, taufte der Frobeljobft
Judith, die Kluswirtin 7
den Jahrhunderte alten Krug zu einem Wirtshauſe um,
ſtolz auf die neumodiſche Art, die er in ſich aufgenommen,
leider freilich ohne die altväteriſche Unart in ſich auszu⸗
merzen. Denn bei Weſen wie in Zeiten, die ſich umbilden,
gewahren wir häufig dad angeborene Schlimme länger
haften ala das Schäßendwerte, ja wohl auch das fremde
Berwerfliche leichter eindringen ald das Treffliche; daher
denn alle Übergangszeiten wie Mifchraffen eine unbehags
liche Periode haben, bis der Neuerungsprozeß vollzogen
ift. Der Frobeljobft hatte jenfeitd des Nheind und der
Elbe fingen und fpringen, diskutieren und Disputieren,
feine Säfte unterhalten und manierlich bedienen lernen, .
er hatte aber nicht verlernt, dem heimatlichen Unholde des
MWacholdergeiftes huldigend zuzufprechen, der denn über
‚feine flotte Schenfenlaune eine weit entzündlichere Herr⸗
fchaft übte, als über die der bedachtſam, fohrittmäßig
fchaffenden und raftenden Nachbarkunden.
Und diefe Nachbarfunden, unter denen feit unvordenk⸗
lichen Zeiten die Klud-Frobel zu den erften und beften ges
zählt, weit davon entfernt, ſich von der neuen Herrlichkeit
blenden zu laffen, fahen auf das laute, fremde Wefen
mit höhnendem Mißmwollen herab. Bon vornherein kehrten
fie ihm den Rüden. Die Alten tranfen, die Sungen tanz»
ten in einem abgelegeneren Krug, bid dann allmählich
der Plaß, auf welchem fchon die Altvorderen ſich gelabt
und geſchwenkt, feine Macht behauptete und die wider
borftigen Säfte einen um den andern an ſich Iodte. Sie
fehrten zurüd. Der „Steinhäger”! mundete, ob auch die
Würze des Scinfenbrodemd im Schornftein, wie das
1 Ein vorzüglicher Wacholderbranntwein des Landes.
8 Judith, die Kluswirtin
Publikum der braven Vierfüßler vermißt wurde; die Bur⸗
ſchen drehten, die Dirnen ließen ſich drehen, ohne ſich
durch blankgeſcheuerte Dielen und buntbekleiſterte Wände
die Luft vergällen zu laſſen. — Wenn man aber der alten
Gemöhnung zuliebe ſich die neue Einrichtung gefallen
ließ, die neuen Menfchen, die fie aufgedrängt, ließ man
fih nicht gefallen. Der „Sacfenwirt” war feiner der
Ihrigen mehr, und dag ſchwarzäugige Sadyfenröschen würde
ed niemald geworden fein, auch wenn es nicht eine lu⸗
therfche Keßerin gewefen wäre. Sie rateten und tateten
in der Gemeine ohne den Frobeljobft, feiner warnte ihn,
feiner half ihm, feiner Iud ihn zu Hochzeitsſchmaus und
Kindelbier, hinter feinem Leichenzuge fah man den Sadıfen
oder feine Sippe.
Und fo überluftig der Frobeljobft fich anftellen mochte,
von dem leeren Plage unter feineögleichen kroch ed ihm
zu Herzen wie nagendes Gewürm, fooft er die heimliche
Galle mit brennenden Tropfen hinunterfpülte, immer von
neuem wirbelte fie ihm ätzend zu Kopf. Am liebften hätte
er der Acht einen Bann entgegengefekt und alles, was
Bauer und Nachbar hieß, von feiner Schwelle gejagt.
Wollten fie ihn nicht neben fich, fo wollte er über fie hin-
aus. Er baute einen Stod auf feine neue Klus und ließ
das Wirtshaus zu einem Gafthof in die Höhe fteigen.
Kärrner und Vorſpänner Fehrten bei ihm ein; Lohnkutſchen,
Ertrapoften felbft herbergten zur Nacht in der reinlichen,
wohlgelegenen Wirtfchaft, Spaziergänger aus der Stadt
priefen Kaffee und Kuchenwerk, das fein Zucderbäder fo
meifterlich wie dad Sachſenröschen zu bereiten verftand.
Der Sadjfenwirt triumphiert. Er hielt fich zu den
Fremden, je vornehmer defto lieber; er bediente fie halb
Fudith, die Kiuswirtin 9
umfonft, tifchte auf nach Noten, traftierte ertra, ſchenkte
auf Rechnung, die niemald oder nur gegen teure Advo⸗
fatenfporteln bezahlt wurde; er kleidete ſich herrfchaftlich,
er fannegießerte, fpäßelte, fchwänzelte hin und her, führte
neumodifche Tanzweifen auf, frähte wie ein Hahn und
ftelzte wie ein Stord; feinen Gäften zum Pläfter; er tranf
Punſch und Grog auf ihr Wohlergehn; war er aber allein.
und von den Weiterziehenden verlaffen, dann ftürzte er
Rum und Steinhäger ohne wäflerigen Zufaß die Gurgel
hinab, um feinen Grimm und Groll zu verfengen.
Als Schlimmfted ded Schlimmen aber ftellte es ſich
heraus, daß der behende, Iuftige Schenfwirt ein gar
fchwerfälliger, unluftiger Randwirt geworden war und
daß die fächfifche Küchenmeifterin glücklicher in der Speife-
fammer ald in Rauch⸗ und Wilchfammer zu hantieren
verfiand. Die fremden Gefpanne wurden mit Kraft und
Saft, die eignen Stallinfaffen mit Trebern gefüttert, die
Felder unregelmäßig beftellt, Korn» und Heuböden felten
fontrolliert. Das gefällige Wirtspaar ſchenkte und zechte,
backte und brodelte bis in die Nacht und träumte bis in
den Tag hinein; die Tagelöhner, Knechte und Mägde,
denen feiner auf die Finger fah, hielten Maulaffen feil
oder fchafften für den eignen Sad — die Klusſchenke
fiorierte, während der Klushof verfam.-
Aber was fcherte die Bauernwirtfchaft den Herren
wirt? Er fchenfte — fich felber am erften und vollften!
-, verfchlief feinen Raufch, wachte gähnend auf und warf
die Kontobücher in die Ecke, wenn Kredit und Debet nicht
ftimmen wollten. Satten andere fein Geld, fo hatte er’s,
und hatte er felber fein Geld, fo hatte er Pfand — über:
flüffiges Geſchirr, faules Vieh in Schuppen und Stall,
10 Judith, die Kluswirtin
nutzloſe Baumrieſen und halbreife Ernten in ſeinem Kamp.
Der brachliegende Acker trug feine Laſt. Allmaͤhlich loͤſte
ſich Scholle um Scholle hinüber in fremde Hand, und ihre
kernſchweren Ähren nickten höhnend auf die dürren, nach⸗
barlichen Klushalme herab. Der Sachſenwirt ſaß zwi⸗
ſchen den Liguſterhecken, zechte und lachte mit den Frem⸗
den. Und das Sachſenröschen lachte nicht weniger, ſeufzte
wohl auch ein „daß Gott erbarm!” und weinte ein Zährs
chen, wenn wieder eine Milchkuh vom Hofe getrieben
ward oder mit den Jahren ihr Eheliebfter auch gar zu
toll und töricht ind Poltern geriet; bald aber rührte fie
ihren Fladen ein, tunfte ein Schälchen, trällerte ein
Stückchen, band eine weiße Schürze vor, rückte die bunte
Bänderhaube zurecht, neckte fich, ſchwatzte und lachte mit
den Fremden. |
Der Hoferbe aber, Mosjö Guft oder „der junge Herr”,
wie er fich titulieren ließ, des Sachſenpaares einziger
Sohn, ei, der lachte und jubelte erft recht. Heute aus
Herzendluft mit offner Sand, morgen im Ärger mit ges
ballter Fauft, am häuftgften aus Schabernad mit einem
Schnippchen und fingerndem Nafendrehn. Er lachte über
die Säufer von Bauern, die feinen Saufaus von Vater
über die Achfel „bekiekten“ß er lachte über den Saufaus
von Vater, der ein Bauer war und den Herren zuliebe
fein Bauernerbe durch die Gurgel rennen ließ; und er
lachte über dad Bauernerbe und den Fremdenfchanf, über
Hausgenofien und Säfte, über Gott und die Welt.
Frobel, der Süngere, wäre er unter Zucht und Beifpiel
wie die heimifchen in jenem füdlicheren, bemeglicheren
Landesteile aufgefchoffen, den man das Irland der Roten
Erde nennen dürfte, fo würde ſich für feine Spielart nicht
Judith, die Kinswirtin 41
unfchwer eine Klaſſe haben finden laſſen. In dem ſchwe⸗
ren,. langfamen Boden ded Nordend war er feinerzeit
eine Pflanze ohnegleichen. Ein Hälmchen, von jedem Luft⸗
hauche hin und her geweht, feicht auf Sande wurzelnd,
diefen Augenbli zu Boden knickend und im nächften wie
ein Stehauf emporgefchnellt; buntjchedig und früh ers
fchloffen feine Blüte, von beraufchendem Hauch; wen ihr
Samenftaub berührte, dem judte die Haut. Windhafer
und Taumellolch nannte ſchon der Schulmeifter den fahs
rigen Schüler, und die Nachbarn warnten ihre Buben
vor dem Tollfraut und Teufeldgarn auf der Sachſenklus.
Das Sacjfenröschen aber hätfchelte und tätfchelte ihr
Wunderhold, und dem Sachſenwirte wirbelte e8 zu Kopfe
wie ein Kitel der Niedwurz bei feines Sproflen abjon-
derlichem Gebaren. Lernen-Kinderſpiel, arbeiten -Unfinn,
aber faulenzen, ei beileibe! Er beflecfte Papier und Wände,
fragte die Geige und Frächzte zur Gitarre, er radebrechte
alle Mundarten und fpielte alle Rollen, die er im Kluge
von feinen Gäften aufgefchnappt, er ftudierte die „Weiss
tümer“ feines Landes nicht in langmweiliger Chronifa,
fondern in Ritter» und Räuberromanen, welche einer be⸗
reits abgelebten Generation die anmutigen Schauer einer
Gänfehaut erregt; er war ein Reimefchmied aus dem
Stegreife, immer im Rauſch und niemals betrunfen. Das
gab ein Suchhei auf der Sachſenklus, ald der Hoferbe in
die Sahre fam, wo die Nachbarſöhne Wirte und Männer
wurden! Schaufpieler, Bereiter, Seiltänzer, Bänfelfänger
und ihre Wahlverwandten, das waren die Einfehrer, feit-
dem das junge Genie unter dem Rautenfranze aufgeblüht.
Mit ihnen wurde gezecht daheım oder in den Herbergen
der Stadt — nicht in grobem, gebranntem Geift wie bie
\
12 Judith, die. Kluswirtin
Alten - in reinem, goldnem Wein, in perlendem, ſchäumen⸗
dem Wein. Mit ihnen kreuz und quer gezogen und
wieder eingefprungen, war der Sädel leer; mit ihnen
gefartelt, gewürfelt, im Inland und Ausland ins Lotto
gefeßt; denn Geld war die Lofung, Geld ohne Müh und
Hoffnung auf Geld!
Einmal nach der ftädtifchen Subilatemefle blieb das
junge Herrchen aus; Monate vergingen, und er war fort
ohne Spur. Die Mutter weinte ihre Augen wund, der
Bater wurde felten mehr nüchtern aus Kummer und Angft.
Urplöglich wie er verfchwunden, fehrte er heim, ein dralles
MWeibsbildchen in die Elternarme führend, das während
der Meſſe im kurzen Röckchen, auf ſchwankem Seil als
Mademoifelle Sylvia gefeiert worden war und jeßt hinter
dem Schenktiſch ald Madame Frobel gefeiert ward. Ein
munterer Zeiftg Dame Sylvia, des Wandernd müde und
wohlgeneigt, im Käftg Zuderbrot zu nafchen! Kläglich,
daß fie, fchon ehe der Frühling wiederfam und faum daß
ein armes, nacktes Vögeldyen in das Neſt geſetzt worden
war, unter die dunfle Erde duden mußte. Der junge
Witmann zerfchlug fid) die Bruft und zerraufte feine Locken,
er reimte und deflamierte Trauerhymnen vol Schmerz
und Herz, fchweifte am Tage in Schlucht und Wald und
lag um Mitternacht auf feiner Schönen Grabe - eine
Woche lang! Dann tröftete er fich, fehäferte, Tartelte,
fnöchelte, zechte und lachte mit den Fremden querföpftger
- denn je zuvor. Der Sadjfenwirt lachte hinter feiner
Flafche, die Sachſenwirtin hinter ihrem Herd, der Sachſen⸗
erbe lachte hinter vem Würfelbrett, die Knechte lachten in
volle Töpfe und Sädel, die Fremden lachten fid) in den
Bart und die Nachbarn in die Fauft, alles lachte auf der
Judith, die Kluswirtin 43
Sachſenklus. Nur eine lachte nicht: Sudith, die Sachſen⸗
tochter, erft auf dem heimifchen Hofe dem Bruder nach⸗
geboren und in jenen Tagen des Übermuts faft nody ein
Kind. Schweigend und wenig beachtet, ftand fie abfeits,
blickte, eine Falte zwifchen den ernfthaften Augen, mah-
nend, ja richtend auf den Verfall ihres Vatererbes, und
als die Stunde feines Zufammenbruchd audgehoben, da
ftrecdte fie die Fräftige Hand, um ed zu ftüßen.
Mehr als ein Bierteljahrhundert mochte vergangen fein,
feitdem der Frobeljobft mit fremden Sitten in Die alte
Heimat zurüdgefehrt. Der Sacfenwirt war begraben
und vergeflen, dad Sachjenröschen lahm und grau vor
der Zeit, der tolle Erbe verfchollen überm Meer. Dampfende
Roſſe hatten den Verkehr auf der Landſtraße verfchlungen,
neue Verbindungswege, Schenten und Gafthäufer ſich ges
öffnet. Der NRautenfranz über der Klustür war vers
fhmwunden, die Sachſenwirtſchaft feine Herberge mehr,
nur noch ein einfames, ftilled Gehöft, das feinen Namen,
die Klus (Klauſe) mit Necht verdiente und allmählich wies
dergewann.
Die Neuerung im landfchaftlichen Verkehr war mit
dem argen Ende, das der Frobeljobft genommen, faft
gleichzeitig zufammengefallen; ftillfchweigend war das
Schenfenzeichen eingezogen worden, fand fid) der Biers
und Branntweinfeller in einen Milchteller, der Tanzboden
in einen Fruchtboden, die große Gaftftube zum ftillen
Wohn⸗ und Schlafgelaß umgewandelt. Man hantierte
nach Bauernart auf den Feldern, die dem Hofe gerettet
oder mit der Zeit wieder zugefügt worden waren. Man
wirtfchaftete knapp, emfig, ftumm und fireng nach Urväter
Brauch mit einem einzigen Knecht und einer einzigen
414 Judith, die Kluswirtin
Magd. Von dem fremden Weſen war nur die Sauber⸗
keit und hin und wieder ein fördernder Kunſtgriff beibe⸗
halten worden. Wechſellos, klanglos, feſtlos gingen die
Tage hin unter dem Regimente der jungen Wirtin, die
zu innerlich ihres Landes Kind geblieben, um nicht zu
fühlen, daß nur in dieſer ſchweigenden, nachhaltigen
Weiſe die Ehre ihres Standes und Hauſes wiederher⸗
geftellt, die eigne Ehre unberührt von dem Moder der
Vergangenheit bewahrt werden konnte.
Seine Eignerin aber verkehrte mit feinem und ſprach
mit feinem ein Wort ohne Not. Nur in der Kirche wurde
fie allfefttägig gefehen, wenngleidy die Gemeinde ohne
Ausnahme dem Fatholifchen Glauben angehörte, die Klus⸗
wirtin aber auf den mütterlichen proteftantifchen Glauben
getauft und ihm treu geblieben war, fic auch jedes Sahr
am Karfreitag famt der franfen Mutter in ihrem Zimmer
das heilige Nachtmahl von einem ftädtifchen, proteftantis
ſchen Geiftlichen reichen ließ. Ihren Brudersfohn, der
ihr als Pflegling zurücgeblieben, Tieß fie hingegen in dem
väterlichen Fatholifchen Glauben unterrichten, anfänglic)
bei dem Lehrer und Pfarrer der Gemeinde, fpäter, da des
Knaben ftillfinnendes Wefen in einen Lern- und Büchers
eifer umfchlug, der einen geiftigen Beruf befundete, ale
Koftgänger bei einem Gymnaſialprofeſſor in der Stadt.
An den Mitteln für gegenwärtigen wie fünftigen Studien>
aufwand gebrad, es bei dem Gedeihen der Wirtfchaft und
bei dem ledigen Stande der Pflegerin nicht.
Denn fein Werber oder Freiersmann hatte ſich der
Kluswirtin feit der Zeit ihrer Selbftherrfchaft zu nahen
gewagt, obfchon fie anfehnlich von Geftalt und noch lange.
in den Jahren war, wo eine bäuerliche Sungfrau oder
Judith, die Kiuswirtin 45
Witfrau begehrenswert gefunden wird; dazu wohlberufen,
unabhängig und eine Hofbefigerin, freilich eine Keßerin.
Aber wenn auch ihre eigenen Gemeindegenoflen der andern
Kirche eigneten, fo war die Bevölferung der nördlichen
Umgegend doch eine nach Kirchfpielen gemifchte, und felbft
für einen proteftantifchen Stadtbürger, ja Beamten würde
fie nach Bildung und Sitte eine anftändige Genoffin ge-
weſen fein.
Daß die fchöne Kluswirtin unnahbar, gleichfam eine
Mauer um fich aufgericdhtet, das deutete auf einen tiefen,
heimlichen Grund. Und ein tiefer Grund, ein Abgrund
ift e8 ja, über welchem das Gewäfler ſich am ftillften bes
wegt, bis jäh ein Wetterfturm die in der Tiefe verborgenen
Schäße oder Schreden zutage wirbelt.
Borboten
Jahr um Jahr war auch über dieſer neueſten Wand⸗
lung des Klushofes hingegangen, die Maienzeit wieders
gekehrt; die Natur hatte in lachenden Feſtgewändern
ihre Schaffensfreude ausgeſtrahlt. Die erften gelblichen
Sproflen fprengten die glänzend braunen Blatthülfen des
Eichenforftes, die Apfelbäume im Garten ftrogten in Bluͤ⸗
tenübermut, vor dem Haufe blähten ſich Tulpen und Kaiſer⸗
fronen über die befcheiden am Boden verduftenden Frühs
Iingsfinder; dad Auge ruhte mit Erquidung auf dem.
faftigen Grün der unüberfehbaren Feldgebreite. — Die
Nacht hatte die vorzeitige Sommerfchrwüle der vergangenen
Tage faum abgefühlt, und die Sonne, ohne Taufrifche
niederfengend, erft den weißen, dann den purpurnen Nebels
fchleier in die Höhe gezogen, in die fie fich gehüllt; Fein
Atemzug bewegte die Luft, felbit die Hausvögel ſchwiegen
416 Judith, die Kluswirtin
beflommen. Nur der Finfe in der Buchenhede zirpte fein
Megenlied, und die Maikäfer fchwirrten in fchläfrigem
Taumel von Baum zu Baum. „Sturm, Sturm!“ furrten
fie den Schmetterlingen zu. Die leidjtfalterigen Luftge⸗
fellen aber faugten fich an die Kelche und lifpelten: „Laſſet
und nippen und nafchen, denn morgen find wir tot!“
Es war Werfeltag, aber eine fabbatliche Stille rings
um das Klusgehöft. Kein Drefchflegel oder Seihrad in
der Scheuer, nicht Pflug noch Spaten in Garten und
Ader regten fi). Die Tiere des Hofes, nach Wirtfchaftes
brauch zeitweife ihrer Stallhaft entlaffen, weideten im
abgefchloffenen Gehege der Waldwiefe, die einſtmals Forſt
gewefen war und jeßt ausfchließlid, „der Kamp“ geheißen
ward. Oben am Tränfquell lagerte das ftattlicye Roß⸗
geipann. Aber auch unter dieſen Freigelaffenen fein
munterer Laut, fchlendernd und gläfernen Auges duckten
fie fich zu Boden und fauten mit Gier unter dem bleiernen
Drude der Luft. Und auch im Haufe Feine hörbare Bes
wegung. Durd) die blanfen Scheiben des Wohnzimmers
ſchimmerte die Frühfonne, Die weiße Sandfchicht am Boden
überfilbernd; nicht ein Fleckchen oder Stäubchen längs
der heilgetünchten Wände und bes glänzend gebohnten
Eichengeräts, das ihr fcharfer Strahl entdeckt; alles ftand
einfach, fireng geordnet an feiner Stelle, nichts Über⸗
flüffiged oder Städtifches, nichts, was an die ehemalige
Schenfenzeit erinnerte, aber freilich noch weit weniger an
die Tage der alten Eichenflus, der die Mehrzahl ver
übrigen Dorfgehöfte zur Stunde felbft auf ein Titelchen
ähnlich fieht.
Sn einem Lehnftuhle am Fenfter, die fteifen Glieder in
weiße Wollendeden gehüllt, die ſchwarze Witwenhaube
Judith, die Kluswirtin 17
auf dem zur Bruſt hinabgeſunkenen Kopfe, ruhte die alte,
kranke Sachſenwirtin, die nach ſchweren nächtlichen Ges
breſten erſt gegen Morgen in einen ſanften Schlaf ge⸗
ſunken war. Sei's, daß die Sonnenwärme dem abſterben⸗
den Leib oder daß ein Traum ber halberlofcjenen Seele
ein flüchtiged Behagen zurüdgab, fie Tächelte im Schlum⸗
mer wie ein glückgewohntes Kind, und in diefer Er⸗
quidung des Ausruhens, unter dem Hauche, welchen das
Frühlicht auf die noch immer rundlichen Wangen gemalt,
hätte einer wohl heute noch das Sachſenröschen wieder⸗
erfannt, das einft lachend in diefen Räumen gehauft: gut-
herzig, treuherzig, geſchickt und tätig für einen angemefs
fenen Betrieb. Aber in diefem leichten Gliederbau, der
engen, zurücitrebenden Flucht der Stirn, dem fchmalen,
fpigen Näschen und feidenweichen, weißgebleichten Haar
würde er auch die Anzeichen mangelnder Kraft gegen
Drang und Taft entdedt und ihren Anteil an dem böjen
Umſchlag der Zeiten entfchuldigt haben.
Der Knabe, ihr Enkel, der, etwa fünfzehnjährig, im
dunklen ftädtifchen Schüleranzuge am zweiten Fenſter ihr
gegenüberfigt und fo früh am Tage ſchon emfig über
feinen Heften brütet, zeigt fich von nicht minder zartem,
aber bleicherem und tieferem Gepräge; fein Bauern- oder
Landeskind, ein geborner Kopfarbeiter offenbar; dahin⸗
gegen und mit einem Blicke durch die nach der Küche
halb geöffnete Tür die Fraftvolle Natur der Tochter in
ihrem ländlichen Urfprunge und Zufammenhange, wenn
auch keineswegs im Alltagsausdrucke, vor Augen tritt und
gar das fonntägig außftaffterte Gefindepaar ald Mufters
ftücfe urwüchfiger Leibes⸗ und Arbeitöfraft aufgeftellt wers
den können.
%
418 Judith, die Kiuswirtin
Der Knecht, im weißen, rotwollengefütterten, blank
geknöpften Keinenfittel und fteifen Knieftiefeln, troß der
durch ein praflelndes KHerdfeuer juft nicht gemäßigten
Schwüle die fuchsverbrämte Pudelmüge auf dem flachs⸗
haarigen Kopfe; die Magd im buntgefäumten Scharlady-
rod, das ſchwarzweiße Nadentuc, über dem kurzen Mies
der, die dicke Bernfteinfette um den Hals gefchnürt und
das Haar bis zur Stirn herab in die fchwarze Kapfels
müße eingepreßt, fo fehen wir beide an dem Küchentifche
ſich gegenüberfigen und mit einer rafcheren Bewegung
ale wohl fonft die Dunkeln Brotpfloden in die Schüffel
fchneiden, über welche die Wirtin die fochende Milch zur
Morgenfuppe fchüttet, darauf aber, während jene taft-
mäßig Löffel um Löffel den mächtigen Napf bis auf den
legten Tropfen leeren, zwei pfundfchwere Sped- und
Pumpernidelfcheiben, reinlich in Papier gemwidelt, vor
eines jeden Plage niederlegt. Keines redet ein Wort;
Gefchäft wie Genuß wird gelaffen, aber ohne Aufenthalt
vollzogen.
Ein Stilleben friedlich einladend alfo von außen her über-
fchaut. Wer aber mit feineren Spürfäden in feinen Mittels
punft gedrungen wäre, der hätte gleichfam in der Luft —
nicht in der Schwüle der äußern Luft, welche die willenlofen
Geſchöpfe beflemmte, — eine Bangigfeit fpüren müffen, er
hätte einen Schemen ahnen müflen, der wolkengleich Licht
und Laut in diefen Räumen umfchleierte. Der mahnende
Geiſt entſchwundener Tage, von wem ſchwebte er aus?
Bon jener greifen, zufammengefunfenen Geftalt, die jet
im Traume nur frohen Erinnerungen nachzulächeln fcheint?
Bon der fchuldlofen Stirn diefes Knaben, der mit früh⸗
reifem Ernſt ſich auf die Pflichten der Zukunft vorber
Judith, die Kluswirtin 19
reitet? Oder gar aus den kindiſchen Blicken der Mietlinge,
die Arbeit, Ruhe und Genuß nicht über den Tag hinaus
in ihre Betrachtung ziehn? — Nein; die nachzehrende Ver⸗
gangenheit ſteht in den Zügen jenes Mädchens geſchrieben,
das jung noch an Jahren, wenn auch nicht jugendlich,
ſtreng, ſtetig und beſonnen, in redlichem Schaffen ſie zu
ſühnen trachtet; ſie ſpielt hervor aus den Schatten unter
dem großen Auge, aus der Bleiche der Haut, der Furche
inmitten der faſt trotzig gewölbten Stirn, aus den feſt
gefchloffenen Tippen, welche das Lächeln nicht gekannt zu
haben fcheinen, aus den Trauerfleidern felbft, die ftreng
und züchtig die marfige Geftalt umhüllen. |
Denn auch in der Tradıt, wie in der gefamten häus-
lichen Einrichtung, hatte Judith, die Kluswirtin, die
Landesfitte ihrem eigentümlichen Wefen angepaßt. Der
ſchwarze Wollenrod fiel in reichlihen Falten auf bie
Knöchel hinab; das Mieder, bis zur Nacdenbiegung erhöht
und durch die blendendweiße Hemdkrauſe geſchloſſen,
machte das einengende Brufttuch entbehrlich, und dag
mattblonde Haar legte fidy ohne Hülle, fauber gewunden
gleich einer Krone, um daß ftolz und ftarf gebaute Haupt.
Sie öffnet den Mund zu einer kurzen Anordnung, und
horch! fie redet nicht in der Iandesläufigen, niederdeutfchen
Mundart, auch nicht mit den gemütlich unflaren Lauten,
welche die Mutter aus der Heimat beibehalten, fie fpricht
das KHochdeutfch der Kanzel und Schule, das wir felber
in gebildeteren Gefelfchaftsfchichten felten fo lauter und
richtig vernehmen wie da, wo ed außerhalb des täglichen
Verkehrs, gleichſam ald Fremd» oder Feftfprache, ans
gewendet wird, und da fie nur das Erforderliche und mit
tiefem, Hangvollem Laut jederzeit bedachtfam fpricht, er-
20 Judith, die Kluswirtin
fcheint e8 in ihrem Munde fo rein, feft und voll, wie bie
Schriftzüge ihrer Hand auf jener Anweifung, die fie dem
Knechte zur Beforgung an ihren ftädtifchen Weber über,
gibt.
Denn ed iſt heute Markttag und zugleich ber Schluß
- der Subilatemeßwoche in der Stadt, und damit erflärt
ſich der Ferienbeſuch des Schülers wie die Feierftille auf
dem Hof und ber feftlicdye Schmud bed Gefindepaares,
das, mit der Mehrzahl von Knechten und Mägden der
Umgegend, der Luft eines freien Meßtages als einem zu⸗
ftändigen Rechte entgegenharrt. Zum erften Male, feit
fie der Kluswirtin dienen, follen fie die Wanderung ges
meinfchaftlich antreten, und die Borfreude einer darob
erhöhten Erwartung malt fich auf den breiten, glänzenden
Kindergeſichtern, während wir bie um eine Linie tiefer
gezogene Falte zwifchen den bunflen Brauen der Herrin
dahin deuten, daß fie nur widerwillig einer unaufſchieb⸗
lichen Arbeitsnötigung im Laufe der Woche nachgegeben
und in ein Abweichen von ber Regel des Einzelnbefuche
gewilligt hat. Schweigend fchnärt fie das Wintergefpinft
des Haushalts, das der Knecht bei diefer Gelegenheit an
den Weber befördern foll, zu einem Bündel, und indem
fie e8 ihm nebft jener fchriftlichen Anweifung einhändigt,
legt fie den üblichen Marftpfennig vor ihm auf den Tifch
mit den Worten: „Zehn Mariengrofdjen mehr ald aus⸗
bedungen, aber feinen Tropfen, Klaas, hörft du, feinen
Tropfen!”
Klaas ftrich die Münze ein mit einer Miene, in welcher
die Befriedigung über die gewohnt gewordene, von Meſſe
zu Meffe um einen Grofchen fidy fleigernde Zulage mit
: dem Berbruß über das ebenfo gewohnte, aber nie ohne
Judith, die Kluswirtin 24
Ärger empfundene Verbot eines räftigen Meßtrunfes
ſchwankte. „Subilatemarft, Wirtin!“ Inurrte er, den
Löffel zwifchen den Zähnen; „einmal im Jahre, Wirtin!“
- „Niemals, Klaas!“ verfeste fie ruhig. „Weder auf dem
Hofe noch auswärts. Du bift auf den Verſpruch gebingt:
Branntwein niemals!” — „Der Pfarr nimmt’s nicht fo
genau wie die Wirtin,“ murmelte der Knecht, indem er
fich beeiferte, mit dem Löffel nachzuholen, was er durch
den unnügen Widerfpruch in der Suppenfchüflel einges
büßt. — Die Wirtin wußte, daß ohne ausdrädlichen, an
jedem freien Tage vergeblich, angeftrebten Erlaß ihr Ver⸗
bot nicht übertreten werden würde, fie fparte daher jedes
fernere Wort und wendete fich zu dem blanfgereiften
Zuber, in welchem die Magd die Vorräte des Hofes zu
Markt tragen follte: Klusbutter, Klushonig, Klusfpargel
und Lattichfproffen, forgfältig zwifchen rein gefpülte Kohl⸗
blätter gefchichtet, obenauf ein dichted Straußbündel von
Srühlingsblumen werden eine gar willfommene Marfts
ware liefern.
Die Magd, die ihre Mahlzeit beendet, blickte ſchmun⸗
zelnd auf die ihres Hauptes harrende Zier, wifchte die
runden Kirfchlippen mit der flachen Hand, ftedte den
blauen Stridftrumpf zu gelegentlicher Verwendung für
den eignen Nuten in den Schürzenbund, fchwenfte den
Zuber auf den Kopf und ftredte die Finger nad) dem
Marktpfennig aus, den ihr die Wirtin noch nicht gereicht
hatte. Sie empfing die nämliche Gabe und Zulage wie
der Knecht und, wie diefer dad Verbot ded Branntweing,
mit gleich knappen Worten den Befehl: bei Sonnenunter:
gang auf dem Hofe zurüd zu fein.
Auch an dieſe Hausregel war man feit Jahren gewöhnt,
22 Judith, die Kluswirtin
ſchien aber nad) dem Zugeſtäändnis der gemeinſamen Wan⸗
derung heute auf eine weitergehende Freiheit gezählt zu
haben, denn die Dirne gloßte betreten zu dem Burfchen
hinüber, dem eine jähe Nöte bis unter die Pudelmüge den
apfelrunden Kopf überflog., Schon die Klinfe in der
Hand, fehrte er bei diefer Weifung zu einem Einwande
in die Küche zurüd, „Bor Abend heim? Jubilatemarkt,
Wirtin!“ fagte er rafcher und lauter denn gewohnt. —
„Bor Sonnenuntergang auf dem Hof," wiederholte Die
Geftrenge. — „Marfttag, Wirtin! Das Pläfter geht erft
108, wenn’d dunfel wird, Wirtin.” — „Du fannft bleiben
bis Mitternadht, Klaas, die Chriftine ift pünftlicy bei
Sonnenuntergang auf dem Hof.” — „Der Hof ift verforgt,
wenn die Wirtin daheim iſt.“ — „ES ift nicht um den Hof,
es ift um die Zucht. Eine Klusmagd darf nicht bei Nacht
gleich einer Landftreicherin gefehen werden.” — „Ich bin
bei ihr, Wirtin, ich!" — „Defto fchlimmer!“
Es lag ein Gewitter in der Luft, und-ungewohnte Rede,
Widerrede zumal, erhitzt; vergällte Hoffnung aber ift ein
gewaltiger Blafebalg; dieſes eifige „deſto fchlimmer ”
fchnellte den gelaffenen Burfchen in einen trogigen Zorn. —
„Und wenn eine eined Schaf iſt?“ ftieß er heraus, indem
er mit der geballten Kauft auf den Tifch ſchlug. — Die
Wirtin ſtutzte einen Augenblid, die puterrote Dirne mit
einem foharfen Blicke mufternd, fagte aber darauf fo ruhig
wie bisher: „Zu Peter Paul ift Ziehzeit. Vier Wochen
Kündigung. Ihr verlaßt den Hof.“
Die Magd, die offenen Mundes vor Wunder über
ihred Kameraden Kühnheit unter der Tür gelehnt, ließ
bei diefem harten Entfcheid einen kurzen, bellenden Schrei
vernehmen. Sie fügte mit einer Hand den fchwanfenden
Judith, die Kluswirtin 23
Zuber und führte mit der andern die Schürze vor die
Augen in Erwartung der Tränen, die ihr gottlob nicht
geläufig waren. Der Klaas hingegen fühlte es gleich
einer wilden Hummel durch ſeinen Hirnkaſten brauſen;
die Adern fingerdick auf der zornroten Stirn geſchwollen,
ſchleuderte er die Mütze in die Herdecke und ſtampfte den
Boden, daß Schüſſel und Löffel auf dem Tiſch aneinander
klappten. Er war jählings ein anderer, als er fein Leb⸗
tage gewefen und voraugfichtlich fein Lebtage wieder fein
wird. „Geſagt ift gefagt!” brüͤllte er mit einer Stimme,
die er feinem Bullen abgelaufcht zu haben fchien. „Ges
fagt ift gefagt! Wir ziehen! Sa, heule nicht, Ehriftine!
Wer auf dem Klushofe futtern und buttern gelernt hat,
braucht nicht Hungerpfoten zu faugen. Nein! Keule
nicht, fage ih. Du bift mein Schaß, und ich bin dein
Schatz. Sa! Denn warum? Ein Menfch ift ein Menfch,
und ein Menſch hat ein Herz fo gut wie das liebe Gotteds
vieh. Allein aber die Wirtin —“
„Schweig und geh!" unterbrad; Judith den Sinnlofen,
mit einer unwilligen Gebärde auf die Haustür deutend,
nachdem fie die, welche nach dem Wohnzimmer führte,
ſchon während des vorangegangenen Zwiegeſprächs vor;
fichtig gefchloflen hatte. Die Magd fchluchzte und heufte
nun wirklich; der Knecht aber fühlte blikartig die Wehr
des getretenen Inſekts in feiner Bruft. Sa, er hatte
Stachel und Gift, und e8 war ein tüdifcher Blick, den er
zu der unerbittlichen Herrin hinüberfchoß. — „Heule nicht,
Chriftine!” fchrie er, ohne ſich von der Stelle zu rühren.
„Heule nicht, fag ich! Du haft dein Erfpartes, und ich
habe mein Erfpartes. Und dienen ift gut, ja, aber eigen
Haus haben ift befler. Sa! Und Schwein und Ziege im
24 Judith, die Kluswirtin
Stall! Ja! Und zum Quatember kommt's zur Subhaſte,
das im Walde drüben. Denn warum? Es verfällt, und
“ fünf Jahre hat er noch zu ſitzen. Und feiner will's nicht,
nein! re ich will's, ich! Und ich kauf's des Quellen
fimon ...
Bei dem Namen des Quellenſi imon deutete die Magd
mit einer Gebärde des Entſetzens auf die Wirtin, die
plöglic, zufammenzudte, ald wäre ihr ein Meffer in das
Herz geftoßen worden. Die Einrede war erftidt; ftarr
und fteif ließ fie den nachftrömenden Schwall wie im
Traume an ſich vorüberraufchen.
Die Leidenſchaft hatte die Sinne bed blöden Klaas ges
ftachelt; mit trogiger Schadenfreude bemerkte er die Wucht
feines Streiches und hieb und ftieß darauflos, bie fein
Mütchen gefühlt. Er focht wie beim Drefchen oder
Mähen mit den Armen in der Luft, trat taftmäßig einen
Schritt vor und einen zurüd, um dad ungeübte Räders
wert im Gange zu erhalten, und begleitete jeden feiner
Säge mit einer der beiden gewichtigen Silben, auf welche
fi) feine Willensäußerung bis heute möglichft befchräntt.
Sm Fluffe der Rede dämpfte das Rachegeköch ſich ab, die
Zornedadern fentten ſich allmählicy, die Truthahnsröte
fchwand, und die blauen Augen gloßten harmlos wie alle-
zeit; aber dad Ventil war einmal geöffnet, und dad Gefäß
firömte über big auf den legten Tropfen, den das arme
Hirn ihm zuzuführen imftande war.
„Des Quellenfimon Haus!” wiederholte er. „Du denfft
dir was dabei, Ehriftine, ja, und die Wirtin denkt fid)
was dabei, ja, und die Leute denfen fich was dabei, ja!
Denn warum? Spuk ift Spuf, und wenn einer ift tots
geſchlagen worden, geht er um und fucht feinen Mörder!
Judith, die Kluswirtin 2%
Und der Papiermüller ift totgefchlagen worden, ja! Und
der QDuellenfimon ift wegen Totſchlag gefeßt worden, ja!
Und feiner darf reden von dem Papiermüller auf der Klug,
feiner nicht, nein, und von dem Duellenfimon darf einer
auch nicht reden, nein! Denn warum? Der Papiermüller
ift der Wirtin ihr Freierdmann gewefen, und die Wirtin
hat gegen den QDuellenfimon audgefagt, vor Amt und
Zeugen hat fie gegen ihn ausgefagt, und derhalben pürfen
wir nicht davon reden! Keule nicht, Ehriftine! Ich will
davon reden, denn fort muß ich Doch! Und du denfft dir
was bei dem Kaufe, Chriftine, ja! Aber ich kann mir
nichtd dabei denfen, nein! Denn warum? Zehn Jahre
ift’8 her, heuer zum Subilatemarfte zehn Sahr. Und im
Haufe oben iſt's nicht gefchehen, aber unten in der Stadt,
und wenn einer umgeht, geht er unten um, am Damm,
und nicht hier oben vor dem Wald. Und wenn’s ber
Simon getan hat, hat er's getan, ja. Aber er hat's auch
wieder nicht getan, nein. Denn warum? Der Simon
hatte einen Raufch! ‚sch hatte einen Raufch‘, hat der
Duellenfimon gefagt, und weiter fein Wort nicht, nein.
Bor Amt und Zeugen hat er's gefagt: ‚Sch hatte einen
Raufh!“ Und die Wirtin gefteht feinen Tropfen zu,
nein! Nicht einmal zur Kirchweih und zu Subilate, nein!
Denn warum? Die Wirtin ift wie ein Mann, ja. Aber
fie ift doch fein Mann nicht, nein! Und ein Mann vers
langt feinen Tropfen, und wenn ein Dann feinen Tropfen
bat, da hat er feine Courage, und er hat fein Pläfier.
Außerdem ein SEOPIER zuviel, und mit — lea
iſt's aus.
„Und der Quellenſimon war ein Menſch wie ein 7
Nicht eine Sau konnte er ſchlachten ſehn, da wurde er
26 Judith, die Kluswirtin
weiß. Und ich habe mit ihm gedient bei der Kompagnie,
da die Untat geſchah, und der Hauptmann, der anjetzo
der Oberſte im Zuchthauſe iſt, der hat auf den Simon
gehalten wie auf ſein Fleiſch und Blut und hat ſich ver⸗
ſchworen Stein und Bein, daß der Quellenſimon es nicht
getan. Denn der Quellenſimon war ein Menſch wie ein
Lamm. Und bloß von wegen feinem Rauſch. Und das
Mefler, das in dem Papiermüller feinem Leibe gefteckt,
ift nicht des QDuellenfimon fein Mefler gemwefen, denn
warum? Der Simon hatte fein eigen Meſſer zugeflappt
in der Kofentafche. Und der Hieb, der dem Papiermüller
den Hirnkaſten eingefchlagen, der ift auch nicht mit des
Quellenfimon Stode geführt gewefen, denn des Quellens
ſimon Stod hat fünfzig Schritte davon am Damme ges
legen und eine erbärmliche Haſelrute mit einer Krücke,
weiter nichts. Allein aber der Totfchlägerftod, das muß.
ein fremder Stod gewefen fein, oben darauf mit einem
bleiernen Knopf. Und in der nämlichen Nacht ift der
junge Sachſenwirt davongegangen auf der Eifenbahn
überd Meer, und feine Seele hat wieder ein Sterbenswort
von dem jungen Sachſenwirt gehört, und diefe Subilates
meſſe ſind's juft zehn Sahre.” —
Wie das Streiflicht eines Blißes über eine Leiche, fo
zudte ed bei dem legten Sate über die Geftalt der Wirtin;
nur ein einziger Augenblick, im nächſten ftand fie fo uns
belebt wie zuvor. Der Redner bemerkte ed nicht; der
Zorn war längft von feinem Siedepunfte gefunfen, der
Trotz des Ungehorfamd geftillt, auch die Eitelfeit ward
nicht geftachelt, denn die eine feiner Zuhörerinnen ftand
fchier wie taub, und die andere fragte den Kudud nad
dem Quellenfimon und feiner Miffetat, nur nach des
Judith, die Kluswirtin 27
Quellenſimon verrufenem Haus, deſſen Notdurft ſie gegen
den reichlichen Hofedienſt vertauſchen ſollte. Der Klaas
hielt bei dem verpönten Gegenſtande daher nur noch aus,
weil er einmal im Zuge war und zu ſeinem eignen Wunder
eine denkwürdige Erinnerung aus einem Winkel ſeiner
Seele in die Höhe tauchte. Der an Ordnung Gewöhnte
machte bloß reinen Tiſch, indem er die lebten Broden
aus feinem Gedächtniffe zufammenftridh.
„Und von wegen ded Meſſers,“ fo fuhr er nach einem
fräftigen Atemzuge fort, „und von wegen des Stoded und
von wegen etwelchem anderem, das nicht hotte noch hü
paflen getan im Berhör, hätten fie dem Quellenfimon
nichts anhaben können vor dem Amt, nur ganz allein,
daß der Duellenfimon gefagt: ‚Sch hatte einen Rauſch,
ich kann's getan haben, und ich will’8 getan haben‘, hat
er gefagt. Allein aber an Leib und Seele find fie dem
Duellenfimon nicht gegangen vor dem Amt, denn warum?
Der Quellenfimon lebt, und id; habe ihn gefehen, und
wenn er nicht lebte, hätte ich ihn nicht gefehen, und wenn
fie ihm and Leben gegangen wären, da lebte er nicht,
nein! Und er hatte nicht mehr ein Anfehen wie Milch
und Blut, wie damals unter der Kompagnie, aber wie
pure Mildy und hager wie ein Steden, und weiße Haare
auf dem Kopf. Aber gefannt habe ich ihn auf den erften
Blick, denn der Simon hatte eine Art, die feßt fich einem
ind Herz, und der Simon, das war ein Menfch wie ein
Lamm. Und die Züchtlinge Ffarrten Pflafterfteine im Hof,
und graue Hoſen hatten fie an und Jacken von Zwilch,
und der Simon hatte auch eine Hofe und Sade an von
Zwilch, aber gefarrt hat er nicht. Mit den Buben vom
Hauptmann hat er im Hofe gefpielt, der anjeto der
38 | Judith, die Kluswirtin
Oberſte im Zuchthauſe iſt, und Klötzchen von Holz hat er
den Buben geſchnitzt, und der Hauptmann hat dabei ge⸗
ſtanden und dem Quellenſimon auf die Schulter geklopft.
Und das Zuchthaustor ſtand auf, und ich habe am Tore
gelehnt und es mit meinen leiblichen Augen geſehn. Und
ed war, wie ich die Bleſſe zu dem Schlächter treiben tat,
und — und — und —“
Der Schwäßer ftocte; er hatte noch Atem, aber ber
Stoff war ihm ausgegangen. Er focht ein pyaarmal mit
den Armen in der Luft, trat von dem rechten Beine aufs
linke und von dem linken aufs rechte, aber einen frifchen
Satz fand er nicht. — „Und damit gut, ja!" fagte er,
fuchte die Pudelmüge hinter dem Herdwinkel vor, faßte
mit der einen Hand das Garnbündel und mit der andern
das eingewidelte Morgenbrot, das er vorhin mit einer
Miene, als ob er Spedicheiben und Pumpernicel niemals
wieder feiner Labung würdig halten werde, auf den Tifch
gefchleudert, und verließ, gefolgt von feiner Schönen, die
Küche.
Keine Fiber hatte an dem Leibe der Kluswirtin gezudt;
die Hände an den Tifchrand geflammert, den Kopf zur
Bruft herab gefunfen, afchfarbig, ftieren Auges, fo ftand
fie wie im Krampfe gebunden, und erft ald die Tür hinter
dem fich entfernenden Paare in dad Schloß fiel, ſchreckte
fie, wie erwachend, zufammen.
Eine Minute - und fie richtet fich in die Höhe, Die Hände
finfen fchlaff am Leibe herab, mit fcheuen Blicken durch⸗
fpäht fie den Raum. Hat fie ein Traum genarrt, ein
böfer Traum, wie fo oft in der Nacht? Ein verhäßter
Traum, über ben fie feine Herrfchaft hat wie mit offnem
Auge im Tageslicht? Sie fieht durch das Fenfter die
Judith, die Kluswirtin 29
breiten Sonnenſtrahlen und das Hantieren der Leute auf
dem Hofe. Nein, es iſt Wirklichkeit. Das Schauerbild
ihrer Jugend iſt vor ihren Augen entrollt worden, mit
groben Zügen, mit plumper Hand — aber doch das Bild!
Die Satzung des Hauſes iſt gebrochen, der Name genannt,
das Schickſal heraufbeſchworen worden, die in der Stille
ihres Hauſes und Herzens wie in einem Grabe geruht.
Sie ſchaudert. Es gemahnt ſie, als ob der Geiſt des
Schickſals einen Vorboten entſendet habe.
Aber Judith, die Kluswirtin, iſt keine Traͤumerin und
Geiſterſeherin von Natur. Dreimal atmet ſie bis auf
den Grund, fchlägt mit den geballten Händen dröhnend
gegen die Bruft, ald ob fie den Dedel über einem Sarge
verfchließe, und fie fühlt ſich wieder Mar, feft, zum Kampfe
gerüftet, wie fie fi) vor wenigen Minuten gefühlt. Gie
laufcht eine Weile an der Stubentür. Alles ftil! Die da
drinnen haben nichtd von dem Ärgernis vernommen. Sie
finnt einen Augenblid und fchreitet dann entfchloffen in
den Hof hinaus. — Auch der Knecht ift wieder ber alte
Klaas, von dem feltfamen Eifer nichtd zurückgeblieben
als gezeitigter Appetit. Er fikt auf dem Garnbündel, das
er über den Kornfad auf feinen Schiebfarren geladen,
und verzehrt die Brot» und Spedfcheiben, die ohne bie
vorherige Anftrengung nicht unter etlichen Stunden an
die Neihe gekommen fein würden. Die einzige Unbe⸗
ruhigte von den dreien fcheint allenfalls die Magd, denn
fie fteht vor ihrem Auserkorenen mit geballter Kauft und
pufft auf den Kornfacd unter dem Proteft: „Und ich will
nicht in das Mörderhaus, und ich gebe der Wirtin ein
gut Wort, und ich will nicht in des Quellenfimon Haus!“
Ehren⸗Klaas hat. genugfam gefchwägt für lange Zeit, er
30 Judith, die Kluswirtin
läßt fidy auf Erwiderungen nicht ein. So wenig er fidh bei
des Duellenfimon Haus hat denfen können, fo wenig hat er
im Ernfte an das abgelegene, verrufene, verfallene Wald⸗
haus gedacht, ja in hausväterliche Abfichten überhaupt fich
erft in der Galle über einen vereitelten Meßtanz hineinge-
redet. Er weiß, daß Knechtöbrot ficherer zu verdienen ift
ale Heierlingsbrot, und wie herzhaft ed mundet, das glaubt
er noch niemals fo empfunden zu haben, wie über den faf-
tigen Spedfcheiben, die er in langfamen Biffen fchnalzend
zwifchen feiner Zunge zerdrüct. Freilich in feinem Dienfte
fo herzhaft als in dem zur Vergütung ihrer ftrengen
Enthaltfamfeitsverbote reichlich Iohnenden und föftigenden
Kluswirtin. Indeſſen da der Zungenteufel ihn einmal
aus dem gelobten Lande geritten, wird der Klaas fich
auch an einem mageren Plage genügen laflen und noch
am heutigen Tage unter den Marftgäften nad, einer
ſchicklichen Gelegenheit Umfrage halten.
Mit diefem Kern: und Schlußpuntte feiner flummen
Erwägungen war der Knecht bei dem legten Biffen des
Pumpernickels angelangt, als die Wirtin ihm unerwartet
gegenüberftand. „Klaas, Ehriftine,” fagte fie fo ruhig,
als ob das fürzliche Zwifchenfpiel nicht ftattgehabt, „ich
dulde feine Liebesleute auf dem Hofe, ihr wißt's. Aber
werdet Mann und Frau, fo mögt ihr bleiben. Dort oben
das Gelaß im Gartengiebel richte ich euch her. Im übrigen -
bleibtö beim alten. Künftigen Sonntag dad Aufgebot.
Soll's fo fein?" — Der Klaas bat dem Gottfeibeiung fein
fträfliches Mißtrauen ab; er hätte an eine Wiederholung
des Pfingftwunders glauben mögen, des wunderlichiten
Wunders, das er den Pfarrer von der Kanzel verfündigen
hören; der trodene Biffen ftocdte in feiner Kehle; der
Judith, die Kluswirtin 31
Chriſtine aber flimmerte es vor den Augen, ſo als ob mitten
in der Nacht ein Goldregen ſich auf die Erde niederge⸗
laſſen. „Es ſoll ſo ſein, Wirtin,“ ſagten ſie beide ein⸗
mündig, nachdem ſie ihrer Geiſter wieder Herr geworden.
Damit zog der eine ſeinen Karren an, die andere ihren
Strickſtrumpf aus dem Schürzenbund, und beide bewegten
ſich dem Hoftore entgegen. Die Wirtin folgte ihnen.
Bevor ſie den Ausgang überſchritten, trat ſie noch einmal
zwiſchen ſie, legte eine Hand auf eines jeden Schulter
und ſagte leiſer und weniger zuverſichtlich denn vorhin:
„Über die Dinge von — damals feine Silbe wieder, Leute!” -
„Keine Silbe wieder und feinen Tropfen, Wirtin!” -
„Beim vor Nacht und feine Silbe, Wirtin!” beteuerten
die Neugeworbenen, indem fie in die ausgeftredte Sand
der Wirtin fchlugen.
Ohne ein Wort miteinander zu wechfeln, festen fie ihre
Straße fort. Die Braut firidte an ihrem Hochzeits⸗
firumpf, wil’s Gott; in dem Bräutigam dDämmerte eine
Weisheit, welche der Welt vor ihm fchon mehr als einmal
nach einem Sturme aufgegangen. Die Weisheit nämlich,
daß ein unrechtes Wort zu rechter Zeit gelegentlich einen
Treffer zieht. Möglich, aber ſchwerlich, daß Ehren- Klaas
im Berlaufe feines Lebens auch zu der weiteren Erfennt-
nis gelangt, nad) weldyer ein rechtes Wort zu unrechter
Zeit allemal eine Niete iſt.
Geſichte
Judith ſchloß das Tor und ging nach dem Hofe zurück.
Sie würde nicht die planvolle Hausregentin gewefen fein,
die fie war, wenn fie den Widerfpruch mit ihren wirt-
ſchaftlichen Grundfägen, in die fie durch die getroffene
32 Judith, die Kluswirtin
Entfcheidung geraten, ohne Mißmut hätte empfinden
follen. Sie hatte die Ordnung ded Gebietens und Ges
horcheng, welche ihr Werk bis heute getragen, durch⸗
brochen, fie hatte nachgegeben und wußte, daß fie aufs
geben, neue Opfer bringen, neue Anftrengungen über fidy
nehmen müſſe.
Bu feiner Zeit hatte man verheiratete Dienftleute auf
dem Klushofe gefannt. Mit einem Liebeshandel und feis
nen Folgen war es indeflen erft unter dem gegenwärtigen
fpröden NRegimente genau genommen worden. Wo alles
noch fo eng mit dem Natürlichften zufammenhängt, in
biefem nadı außen ungefelligen. Sn» und Miteinander
menfchlicher und tierifcher Hausgenoſſen, der gemeinfamen,
felber nächtlichen Arbeit, ift die gefchlechtliche Sitte bes
Landes — den träumerifchen, nördlichen Bifchofsbezirf
etwa ausgenommen — vor der Ehe eine leichte, und unter
dem Schenfenzeichen des gutwilligen Sadjfenröschens war
fie leichter noch als in der übrigen Gegend gehandhabt
worden. Wer aber eben mühfam einen Moderfleden von
feinem Spiegel getilgt, der hütet ihn ängftlich vor dem
erften trübenden Hauch; und Judiths Spiegel war ihr
Hof. Der Schande, dem üblen Leumund hatte fie durch
ihre Entfchließung vorgebeugt, der Zucht eine neue, um fo
feftere Schranfe gezogen, wenn auch vorausſichtlich mandje
Ungehörigfeit, manchen ftörenden Zwifchenfall in den Kauf
genommen.
Indeſſen war fie durch die fittlichen Erwägungen body
erft in zweiter Reihe getrieben worden. Weit obenan
ftand das Bedürfnis der Grabesruhe über jenem Namen,
jenem Schickſal, die fie in ihrem Bereiche zum Gefeß ers
hoben und auf diefe Weife am leichteften gefichert glaubte,
Judith, die Kiuswirtin 53
Mochten diefer Name, diefes Schickſal zur Stunde in dem
fchweigfeligen Lande verflungen fein, ein Unberecdyenbares
tonnte fie gleich einer alten Sage wieder aufleben laflen;
mochten ihre Abgefchloffenheit und der Bann ihres Wils
lens fie vor Berührungen fchügen — fchon die Erneuerung
diefed Bannes über fremde, wechfelnde Hausgenoſſen, die
Möglichkeit einer Wiederholung des eben Erlebten erfüll-
ten fie mit Grauen. Sie fam daher zu dem Abfchluß,
daß fie für eine unvermeidliche Herzensunruhe das leichtere
Teil äußerer Belaftung eingetaufcht, dem ihre Kräfte wie
Mittel gewachſen waren, drängte die demütigenden Sins
tergedanfen zurüd, und rafch, auch zu mwiderftrebenden
Ausführungen, faumte fie nicht, dad dem künftigen Ehes
paare überwiefene Wohngelaß prüfend in Augenfchein zu
nehmen.
Die Giebelftube im Seitenbau bildete den Schluß einer
Reihe Feiner Zimmer, welche zu Gafthofgzeiten der Klug
geringen Leuten ald Herberge gedient. Ihr Bruder hatte
fi) den freundlichen, in das Grün des Gartens blickenden
Raum feit feinen Ehetagen zur eignen Einfehr eingerichtet,
und noch ftand alles unverrüdt, wie er ed in der legten
Stunde verlaflen: das Bett ungemadht, dad Gerät vers
fchoben und mit wertlofen Tändeleien beladen, vertragene
Kleidungsftäde in der geöffneten Lade, im Winfel die
zerbrochene Gitarre, zerlefene Schartefen wirr durchein⸗
ander auf dem Regal. Die Wand war mit bunten Kleck⸗
fereien bemalt und beflebt; dort hing Sylviad Schattens
riß und daneben in Lebensgröße das eigne Konterfei des
verfommenen. Erben, mit welchem ein Kunftbruder ders
einft feine Zeche bezahlt. So gröblicd, die Leiftung, das
bligende Augenpaar, die langflatterigen hellgelben Locken,
s
84 | Judith, die Kiuswirtin
wie dad gewichite Stußbärtchen über den lachenden Lips
ven und dem kurzabgefchloffenen Kinn, der ftußerhafte
Schlafrocksſtaat hätten einem Freunde allenfalld das Ans
denfen Mosjö Guſts zurüdrufen können. — Die Schwefter
hatte an jenem Morgen das Zimmer abgefchloffen und feits
dem nicht wieder geöffnet. Nun aber, da fie plötzlich auch
biefen Bann überfchritten, wurde fie von allen Seiten in
das Damals zurüdgedrängt, deſſen legte Spur fie in ihrer
Klus zu Löfchen gedachte, indem fie den gemiedenen Raum
einem nüglidyen Zwede übergab, „Und in dieſer Nacht
ging der junge Sachfenwirt überd Meer, und feine Seele
hat wieder ein Wort von dem jungen Sadjfenwirte ges
hört!" Mit diefer Erinnerung aus ihres Knechtes Rede
tehrte fie nach dem Wohnhaufe zurüd.
Die alte Frau fchlummerte, der Knabe memorierte noch
wie vorhin; die außerhäuslichen Gefchäfte ruhten während
ded heutigen Meßtages, die häuslichen waren bi zur Bes
reitung der Mittagskoſt gerüftet; die unermüdliche Wirtin
durfte raften und ſinnen. Aber felber die Gegenwart der
beiden achtlofen Zeugen im Wohnzimmer ftörte fie; fie trug
das Rad in die Küche, ſchloß die Tür, fegte fich und ſpann.
Der Sagenglaube des Landes fieht die Urmutter der
Natur, ein Vorbild des Fleißes, fpinnend vor der Him⸗
melsdtür; wer aber dieſes Mädchen beobachtet hätte unter
dem büfteren Rauchfang, in welchem der letzte Reſt bes
Eichenflobens verfohlte, die kräftige trauerverhüllte Ges
ftalt mit den reinen, feften Zügen, die wohl an ein Bors
und Urbild gemahnen durften, wie fie fo unveränderlich,
bie ernſten Augen gleichſam nach innen gelehrt, zurüds
fann und dabei taftmäßig dad Rab bewegte und den
Faden zog: nicht an die heiterzeugende Perchta, an eine
Judith, die Kiuswirtin 95
jener Schidfalgfpinnerinnen würbe er erinnert worden
fein, welche die Gerechtigkeit einft dem Gotte des Himmels
geboren, daß fie unmwandelbar, unerbittlich Kohn und
Strafe in einem Lebendfaden zufammendrehen. Sa, eine
Parze. Aber wehe dem fterblichen Kind, dem im engen
Bezirk das Amt diefer Himmlifchen zuteil geworden, Liebe
und Luft entweichen feiner Bahn. Denn mitten durch
Herz bohrt die Achfe, deren Erdenpol Ehre heißt und ber
gen Simmel deutet — dad Gewiſſen. - So faß fie ftill in
fith verloren unter dem leifen Surren ded Rades und
merfte eine lange Weile nicht, daß das Schweigen im
Nebengelaß unterbrochen worden war.
Die alte Frau erwachte, das Lächeln ded Traumes noch
auf den Lippen und über den Wangen den jugendlichen
Schlummerhauch. Sie dehnte ſich behaglich im wärmens
den Sonnenfchein, fohaute in die faftgrüne Aue hinaus,
grüßte nidlend durch die Scheiben, als fähe fie ftatt ber
Tulpen im Beet die alten befannten Gefichter in ber
Ligufterlaube. Die Lippen bewegten fich anfänglich laut⸗
(085 dann, mit fchlafgeftärfter Kinderftiimme hoben fie
eine Zrällerweife an, erft leife und immer frifcher und
frifcher: „Tanzt mit mir, tanzt mit mir, trallala, hopſaſa!“
Der Knabe, welcher die Großmutter nur flumpf und
für die draͤngendſten Teiblichen Bedürfniffe empfänglich
gekannt, fie vor ihrem Morgenfchlummer noch in ſchwerem
Atmungsfampfe gefehen, ließ erfchroden das Buch aus
den Händen fallen, und biefes Geräufc, lenkte das Auge
der Alten zu ihm. hinüber. Sein Anblid fchien fie zu
erfreuen, denn fie lachte heil auf und nickte noch herzlicher
denn zuvor. — „Gott Wunder!” rief fie, mühfam die
fteifen Sände aneinander Happend. „Schon aus den
98 Judith, die Kluswirtin
Federn, Guſt? Die Dithel wieder den Waſſerkrug über
den Ratzen gegoſſen, gelt? Der Frühauf, die Dithel, ja,
die Dithel! Und gleich über der Scharteke? Dummes
Zeug, Guſt! 'naus, 'naus! Eine Wonne draußen, Guſt,
purer Balſam die Luft und die Muſik, die Muſik! Horch,
wie fie locken und ſtimmen! Verſteck deine Kratzfiedel,
Stümperchen, die kleinen Pieplerchen droben hutzen dich
aus. — Na, wird's bald, Mosjö? Klapp zu das Buch.
Ein Wirtsſohn muß Beine haben! Der Alte zapft Bier.
Trag ihm den Stummel 'nunter, Guſt. Das Morgen⸗
fhälchen mundet nicht außerdem. Nur nicht gleich nüch⸗
tern einen Schluck, Frobelchen! Nur erſt was Warmes
gegen den Dunſt, alter Jobſt! Willſt nicht? Schon wieder
rackerig bei fo tagfrüher Zeit! Herr meines Lebens, ber
Wacholder, der Wacholder!” — Die Alte feufzte; faum
eine Minute jedoch und der Schatten war verweht, Iuftig
wie zuvor ficherte und blinferte fie zu dem Knaben hins
über. „Sud, Guſtel, gud,” rief fie, „wie die Bienen
fi) tummeln in der Kufdemath!, holterte, polterte in
die Kelche hinein! Haben fich beizeiten einen Spitz ges
zippt! So’n Bienchen, ſo'n Bienden! Ja, wenn's der
Menfch ebenfo gut haben tät! Nur immer zippen und
nippen, und dad Haus wird voll!" —
Der Enkel, der allmählich begriffen hatte, daß ein wacher
Traum die Ahne weit zurüd in feines Vaters Knabenzeit
geführt, vermochte, feiner natürlichen Ernfthaftigfeit zum
Trog, ein leifed Kichern nicht zu unterbrüden. Die Alte
drohte, felber lachend, mit dem Finger. „Sachtchen,
fachtchen, Goldſohn!“ flüfterte fie, „der Alte ift rabiat,
Saͤchſiſcher Provinzialism für Flieder.
JIndith, die Kluswirtin 37
fuchswild, ſag ich dir. Zetert und poltert in der Kam⸗
mer drinnen. Naͤchtens der Punſch, ja der Punſch, daß
Gott erbarm! — Aber pfui doch, Guſt,“ fuhr ſie nach einer
Pauſe ernſthafter fort, „mußt nicht fo Täfterliche Reden
führen wider dein eigen Fleifch und Blut. Du follft nicht
aufdeden deines Baterd Scham! Denf an den Noah,
Guft. Eine Seele von einem Mann, wie Bater Noah,
mein Sobft, fein Neidhammel und Geizkragen nicht, Gott
bewahre mich. Das Land ift fchuld, nur allein das Land!
Ein garftig Land hiefig, mein Lämmchen. Kein Thüringen
nicht, du Liebe Zeit! und fein Kanaan nicht, wo der Wein⸗
ſtock waͤchſt und Milch und Honig herniederfleußt. Nur
der Wacholder im Sande, und der Wacholder madıt fo
’nen fchweren Dunft! — Lachſt immer noch, Guft? Höre,
du Nafenweiß, höre! Der Noah, der hatte drei Söhne,
die hießen, die hießen — ei du weißt ja, wie fie heißen
taten, Guft, haſt's gelernt in der Kinderlehre — ach, großer
Gott, in deine Hände, nein! Bift ein Katholifcher, armer
Sohn, darfit dich nicht ftärfen im Bibelbuch, armer Sohn,
armer Sohn!“
Der Knabe fuhr bei diefer Wendung in die Höhe, ale
hätte er eine Gottesläfterung vernommen; er war freide-
blaß geworden und blidte ängftlich nach der Tür, wie
um zu flüchten oder Hülfe anzurufen. Die Gedanfen der
alten Frau hüpften indeffen noch eine Weile kraus durch⸗
: einander zwifchen Freud und Leid ihrer Vergangenheit,
bis fie endlich erjchöpft in die Lehne zurückſank und die
Augen wieder fchloß. Der Enkel ftand unfchlüffig; er
hätte die Muhme fuchen mögen, die er außer dem Haufe
befchäftigt glaubte, und fcheute ſich doch auch wieder, die
Großmutter allein zu laflen. Jetzt, da er fah, daß fie
88 Judith, Die Kluswirtin
ſchlummerte, ſchlich er auf ſeinen Platz zurück, ſchmiegte
ſich in die Ede und lauſchte ängftlich zu ihr hinüber. Eine
Weile blieb alles ftumm. Die Augen der Greifin waren
halb geöffnet, ruhige Atemzüge, ein Lächeln, ein fanftes
Wiegen des Haupts. Allmählicd) regten fich die Lippen,
lautlos von Anfang, dann lifpelnd, endlich frifc und
deutlich wie vorhin. Sie bemerfte den Enkel nicht, und
ed war ein anderes Traumbild als das ded Sohnes, das
ihren Sinnen vorfchwebte.
„Simonden, Simonchen!” rief fie begluͤckt und breitete
ihre Arme aus, ald ob fie einen Daherftürmenden aufs
fangen wollte. „Kind, Kind, welche Haft! Außer Atem
wie ein Blafebalg, ei du gottlofed Weiheengelchen! Sek
die Kappe auf, Simon! Und da, hurtig ein Tränchen
gegen den Berfchlag! Ei, du Zipphan, du verftehft’s!
Gelt, dad tut gut? Aber fo weiß und timide, Simon!
Haft Hunger, bift noch nüchtern gar, armer Schelm? Keine
Mutter im Haus, und nichts Warmes im Topf! Warte,
warte, habe mas für dich! Spedfladen warm aus dem
Dfen, mein Goldfühndyen, Kümmel drauf und Zwiebeln
und ein Cierguß. Das mundet, gelt? Berftehen’s nicht,
hierzuland, dummes Volk hierzuland! Der Sped faftig
von der Eicdyelmäfte und würzhaft vom Holderrauch,
aber die Kunft, Simon, die Kunft! Nur grober Pumpers
nickel, ſchmaäͤhlich dummes Volk hierzulande! Bift fatt,
Simon, dick und voll wie genudelt, he? Setz ein Gläs⸗
chen drauf zur Verdauung! Schuͤttelſt? Dummlack, wächſt
doch! Mannſen wie Bäume hierzuland, und das Bull⸗
chen allwegs im Sack! — Zur Schule willſt du? Nur zu.
Die Dithel lauert ſchon, Simon. Aber der Guſt? Ja
wo ber ſteckt, der Sauſewind! Rate mal, Buͤrſchchen.
Pr
Judith, die Kiuswirtin 99
Born auf dem Bod beim Poftillion, zur Meſſe in die Stadt,
fohetteretäng, hui, haft du nicht gefehn! Ma, nicht fo Mein
laut, Simon. Kann ja fchon fchreiben und Iefen, mein
Guſt, ift ein Hofeſohn und der Kluswirt dermaleinft. Nur
hübſch manierlich, Guftel, einen Kopfnider hier, einen
Krapfuß da, und die Worte fein gefegt, ein Wirtsfohn
muß zu leben wiffen. — Sat die Erempel nicht gerechnet,
der Guft, ei was, ein andermal ift auch noch Zeit! Mad,
zu, mad) zu, Simon, die Dithel lauert in ber Gartenhätte.
Hat fchon die Waben gefchnitten, die Dithel. Das ift
eine Befcherung, die bu ihr angerichtet mit dem Bienen
haus mitten in der Kufdemath. Iſt auch fo’n Bienchen,
die Dithel, luftig draußen im Klee und eifrig im Baus.
Aber einen Stachel hat fie, die Dithel, daß dich, fomm
ihr Feiner zu nah! Na, na, laß den Kopf nicht hängen,
Simonchen, dich fticht fie nicht, Dich nicht. Haft fie fchon
fi gemacht, da fie noch in der Boje lag, du Weihes
engelcyen, und alleweile noch; vor dir ift fie ſtill, eitel
Wachs und Konigfeim vor dir. Ich will dir was fagen,
Simon, fachtchen, fachtchen, daß es Feiner nicht hört! Und
wenn du groß wirft, fprich: ‚Die Sachſenwirtin hat's ges
fagt.‘ Bift nur ein armer Kiekinsland, Simon, und
die Dithel ift eine Kofetochter und hoffärtig wie eine, aber
die Dithel nimmt einftens doc; feinen anderen als —“
„Haltet ein, Mutter!” unterbrach eine zitternde Stimme
die gemütliche Plauderei, und Judith, wie an dem Faden
diefer legten Erinnerungen herbeigezogen, faßte frampf-
haft fchüttelnd der Alten Arm. Auch der Knabe fchlidh
aus feinem Verſteck hervor, mit bänglicdhem Zweifel von
feiner Pflegerin auf die Ahne und von bdiefer auf bie
Pflegerin blidend. Der friedliche Traum war unter dem
40 Judith, die Kluswirtin
Griffe von der Tochter Hand, unter ihrem gellenden Gebot
entflohn; die alte Frau ſtarrte zu ihr hinauf, wand die
gefaltenen Hände und ſchauerte wie im Fieberfroſt.
„Dithel!“ rief ſie ſcheu, „was willſt du, Dithel? Was
haſt du, Dithel? Komm zu mir, Guſt, ganz nahe, Guſt,
hierher, hierher, Guſt!“ — „Euer Geiſt wandert, Mutter,“
ſagte Judith ſchon wieder gefaßt. „Das iſt nicht Euer
Sohn, es iſt Euer Enkel, der Sylv.“ — „Sylvian, Sylv?“
murmelte die Alte, mit leeren Blicken den Kopf ſchuͤttelnd.
Sudith ftand ratlos. Woher diefed auflodernde Leben in
dem lange abgefiumpften Hirn? Ihr ahnete das Letzte;
fie hätte nach Arzt und Seelforger ſchicken mögen.
„Sylv, Sylo!“ flüfterte die Mutter noch immer in fidh
hinein. „Spylodhyen, ja Sylochen hieß fie, Sylvia —“
Und plöglich, wie ſich befinnend, fchrie fie auf: „Die im
bunten Rod, da oben am Kirchenfnopf! Kerr Sefus, fie
fhwanft, halt auf, halt auf! — Bringft fie, Guft, will-
fommen, Guft! Gottlofes Kind, gutes Kind! Murre nicht,
Dithel! Gib ihr die Hand, Dithel, - fie ift —“ — Judith
gab dem Knaben ein gebieterifches Zeichen, ſich zu ent-
fernen, die Alte aber rief beflommen, indem fie die zit-
ternden Arme nach ihm ausſtreckte: „Bleibe bei mir, Guft!
Laß dich nicht von mir treiben, Guft! Die See ift tief,
tief, und fo weit, fo weit! Bleibe im Lande, Guft, ers
fäufft Leib und Seele, Guft, bleibe bei mir, Guſt!“ -
Sylvian Fniete erfchüttert neben ihrem Stuhle nieder und
faßte ihre beiden Hände in die feinen. Die Angft Iöfte
ſich nad) und nach unter diefer leifen, warmen Berührung,
ber Kopf fanf zurüd, die Lider fielen zu, nur die Lippen
flüfterten noch ein paarmal: „Sylochen, Sylv!“ - dann
ruhten auch fie,
>
Judith, die Kiuswirtin 4
Die Tochter, die rafch in der Küche den braunen Labe⸗
tranf der Mutter aufgebrüht, ftand fchon eine Weile fors
genvoll laufchend unter der Tür, ehe jene Die Augen wieder
aufichlug. Sie fehauderte wie vor einem Gefpenft, ale
fie die Tochter, die Taſſe in der Hand, auf ſich zutreten
fah; fie riß ihre Hände aus denen bes Enfeld und wehrte
in Zodedangft die Gabe von fi ab. „Warum fürchtet
fie fich vor dir?“ flüfterte Syloian, erftaunt zu der Muhme
aufblidlend, die er findlid, verehrte und deren geduldige
Pflege er oft mit Bewunderung beobachtet hatte. Sie ant-
wortete nicht, aber der Schatten eines unfagbaren Wehsglitt
über ihr Geficht. „Es ift Kaffee, Mutter,” ſprach fie ſanft,
indem fie nod) einmal den Verſuch machte, ihr die Taffe zu
reichen. — „Gift, Gift!“ reifchte Die Alte auf. „Haft wies
der Gift gebraut, Dithel? Nur nüchtern nicht, Dithel, nur
heute nicht, Dithel! Siehft nicht, wie er ſich wehrt? Siehft
nicht, wie er ſchwach wird? Es ift dein Erzeuger, Kind,
hab Erbarmen, hab Erbarmen, Dithel!” — Sylvian fprang
in die Höhe und ftarrte entfeßt der einen und der anderen
in das Geſicht. „Was tateft du, Muhme?“ fragte er zit-
ternd. — „Ich tat, was recht war, Sylvian,“ — entgegnete
Sudith mit erzwungener Ruhe und gab ihm die Taſſe, fie
der Großmutter zu reichen. Mit einer heftigen Bewegung
fchlug fie diefelbe aus feiner Hand.
„Du auch, Guſt?“ fchrie fie auf, „du auch?” Dann,
in eine flehende Weife übergehend, fuhr fie, die Hände
windend, fort: „Höre nicht auf den Doktor, Guft, trau
dem Pfaffen nicht, es ift ein Katholifcher. Was fragen
fie nad; dem Fremden? Das Stümpfchen Lebendlicht,
was fchiert eö die Fremden? Aber dein Vater, Dithel!
Laß ihn leben, Dithel, nur leben! Siehſt nicht, wie es
42 Judith, die Kiuswirtim
ihn widert? Siehſt nicht, wie er ſchmachtet? Nur einen
Löffel vol ohne Gift, nur einen Biffen ohne Gift! Möch⸗
teft den Geift wieder aufbringen, Dithel, ihm die Ehre
wiedergeben? Ach, Dithel, Dithel, hin ift hin. Vergibſt
den Leib, ladeſt Miffetat auf dein Herz, hin ift hin!“
Tränen rannen über die alten, je mehr und mehr ers
bleichenden Wangen; auch Sylvian weinte, ergriffen von
ihren Sammerlauten, und Sudith ftand vernichtet.
Und jählinge durchzudte die Alte ein elektrifcher Schlag.
„Herr Sefus, wie er weiß wird!” fchrie fie. „Laßt mid)
nicht allein mit ihm! Einen Wermut, Mann! Es fchüts
telt ihn, er nimmt ihn nicht. Erbarme dich, erbarme dich!
Wie er fi bäumt! Da, da — er jappft nur noch — tot,
tot!” Die Sreifin glidy dem Leichengefichte, das ihr vor
Angen ftand, die zitternden Lippen und Nafenflügel wur-
den weiß; falt und fchweißbededt klappten die Frampfhaft
zudenden Glieder gegeneinander. Die Tochter flügte fie
mit kräftigem Arm. Sie kannte die Todesboten, zählte
nicht mehr auf Tröftung und Hülfe, aber fie wollte allein
mit der Sterbenden fein, den legten Kampf ohne Zeugen
mit ihr durchringen. „Sattle, Sylvian!“ raunte fie dem
Knaben zu, „in die Stadt zum Arzt!” Doch Sylvian
hörte nicht, er rührte fid) nicht; auch er fah dad Ende; er
lag auf feinen Knieen und murmelte Kredo und Vaters
nofter.
Die alte Frau fchlug die Augen nicht wieder auf, aber
ihr Kampf war noch nicht zu Ende. Ein harter Kampf
und wohl ber erfte ernftliche im KXeben, unter welchem das
friedfelige Sachfenröschen von hinnen fchied. Sie ächzte
in Paufen, in denen fie bänglich um Atem rang, ein und
dad andere Mal fchrie fie auf in wildem Schmerz und
Fudith, die Kluswirtin 48
lächelte dann wieder wie getröftet in ſich hinein. Gegen
das Ende fteigerten ſich die Gefichte zu einer Keidenfchaft,
die ihr im Leben fremd gewefen.
„Sch komme, Dann, ich komme!“ rief fie freudig. „Halt
deine Arme auf, Frobeljobft, ich komme; wollen wieder
anfangen miteinander vor Gottes Thron. Haft feinem
Menfchen ein Leid getan, da du brunten warf. Bift
fein Neidhammel und Geizkragen gewefen, haft feine
Mörbergrube aus deinem Herzen gemadht. Mur deinen
eignen Leib haft du verbrannt, armer Mann, und ber
Leib bleibt drunten für dad Gewürm, aber das Kerze
fliegt hinauf, und unfer Herrgott heilt und labt. Gelt,
fein Fegefeuer drüben, alter Sobft? Bringe dir Botfchaft,
Bäterchen, Poft aus dem Klushofe, gute Poft! Alles ftill,
ftil, auf der Klus. Kein Leumund mehr über den Saufs
aus, den Sachfenwirt, der fein Batererbe hinuntergegurs
gelt, Tropfen um Tropfen, und dann Tropfen um Tropfen
an dem Gifte verfchmadjhten mußte. Die Dithel hat’e
wiederhergeftellt; die Dithel hat's ftill gemacht auf der
Sachſenklus. Die Dithel verfteht’s! - Wie es fchwarz
wird! Nacht, Nacht! Sch komme, Frobeljobft, ich fomme!”
Judith ſank zu Boden und umflammerte die Kniee der
alten Frau. Sie wähnte fie gefchieden, denn das Haupt
war fchlaff auf die Bruft hinabgefunfen. Noch aber flog
der Atem, und das Herz klopfte gleich einem Kammer.
Und plöglich fchnelt fie in die Höhe, in dem welken
Marke ift ein Lebensfunken aufgewacht; fie fteht aufrecht,
die Blicke rollen wie vor einem greulichen Geficht. „Wo
dein Sohn if, Mann? Dithel, Dithel!“ Freifcht fie auf,
indem fie die Tochter mit beiden Armen rüttelt. „Hoͤrſt
du nicht, Dithel, wie er um feinen Erfigeborenen ächzt?
44 Judith, die Kiuswirtin
Munfelt. ihr, zwinfert ihr, ich hör's, ich fchau’s! — Da
drüben am Wafler — der in feinem Blut — der, ber — der
Simon, fagen fie, der jett der Quellenfimon heißt? Unfer
Weiheengel? Erbarme dich, erbarme dich! Fort, fort, du
Unglückskind, fort.überd Meer! - Nein, nein, hört nicht
auf .ihn, den Klusengel — den Friedenbringer! O bu
Lamm Gottes, dad der Welt Sünde trägt! Nicht er, nicht
er! Fort, fort! Der ihn erfchlug, ift -" — „Hinaus, Syl⸗
vian!“ fchrie Sudith mit gefträubtem Haar. „Stopfe
deine Ohren zu, Sylvian, fie raſt!“ -
Die alte Sachjenwirtin nannte den mörberifchen Nas
men nit. „Hilf Gott, hilf Gott!“ röchelte fie und
ftürzte tot zu Boden in ber Tochter Arme.
Erwedung
So ſtill war es noch zu keiner Zeit in der ſtillen Klus
geweſen als waͤhrend der Stunden, welche dieſem Schreckens⸗
ende folgten. Ja, Totenſtille! Kein Laut der Klage oder
des Troſtes zwiſchen den beiden Lebendigen, kein Seufzer⸗
hauch; nicht ein Fußtritt hoͤrbar, die Handhabung leiſe
wie von Geifterhänden!
Wenige Minuten befinnungslofen Entfegens, und Die
Tochter erhob ſich vom Boden neben der Hingeſchiedenen,
richtete fie in Die Höhe und trug fie auf ihren Armen in
die Nebenfammer. Sie drückte ihre Augen zu, negte und
fleidete fie, bettete fie auf dem gewohnten, mit frifchen
Linnen verhüllten Lager; alled fonder Zeugen oder Hülfe.
Der Knabe faß regungslos im Zimmer, betete und brütete
über das Unbegreifliche. Und da liegt fie nun, die Frau
mit dem guten Herzen, in ihrem Nadhtmahleftaate, die
Hände gefaltet über dem Bibelbud) auf ihrer Brujt, und
Judith, die Kinswirtin 45
die Tochter fit neben ihr auf dem Bettrande und ftarrt
trodnen Auges mit einem Blick des Neids, jawohl des
Neids, in den Frieden, das milde Entzüden der Züge,
die manchen von und auf einem Totenantlig zwifchen den
Stunden der Erlöfung und Erftarrung mit Himmelreichs⸗
ahnung getröftet haben.
Ohne eine Musfel zu regen, ohne deutliches Fühlen
und Denken, nur einen fengenden Punkt im Kerzen, faß
fie Tange, fie wußte nicht wie lange, als die Tür leife ge⸗
öffnet ward und Sylvian in die Kammer gefchlichen fam.
Bleich und bebend beugte er ſich über die tote Geftalt,
Mund und Hände mit feinen Küffen und firömenden
Tränen bededend. Erft diefer kindlichen Rührung gegen
über erwachte die Tochter zu dem Gefühl ihrer Berwaifung.
Wohl hatte fie Mutterwillen, Wutterlehre und Schuß
wenig gefannt und mütterlicye Zufprache felber fchon lange
Heingebüßt, Damals, als nach der Sterbeftunde ded Sachſen⸗
wirts, unter mächtig andrängenden häuslichen Wirrniflen
ein jäher Schlag den Geift der Schwachen Frau gelähmt.
Sie hatte nur den Leib noch gepflegt wie den eines Franken,
hülflofen Kindes. Auch der Leib war jest dahin, Band
und Pflicht für die Vergangenheit 'gelöft. Nein, nicht
die Pflicht, folange die tote Geftalt noch über der Erde
ruhte. Der legte Bang ift ein Ehrengang und Vieles,
Schweres herzurichten, was ihr jet erft u vor die
Augen tritt.
Und fie entbehrte jeder helfenden Hand. Sie würde
ihrer entbehrt haben, auch wenn Knecht oder Magd nicht
zufällig von dem Hofe entfernt und ihr Brudersfohn älter
und erfahrener gewefen wäre. Sie, das Kind dieſes
Bodens, war eine Fremde unter feinen Bewohnern; fie
48 Judith, die Kluswirtin
hatte keinen Blutsfreund, keinen Glaubensgenoſſen in der
Gemeinde, ſie mußte ſich ſelbſt zu dem ſchweren Wege
rüſten, den ſie zehn Jahre lang gemieden und deſſen
qualvolle Eindrücke ſie nach dem erſchütternden Erleb⸗
niſſe mit verdoppelter Schärfe im voraus fühlte. Aber
fie ſchwankte und zoͤgerte nicht. Entſchloſſen ſtand fie
auf und verließ die Totenkammer. Sylvian folgte ihr.
Zaghaft faßte er ihre Hand und fragte mit niedergefchlas
genen Augen und kaum hörbarer Stimme: „Was die
Großmutter im Sterben ſah, Muhme Judith, was fie
fagte, dad Schredlihe -" — Sie ließ ihn nicht zu Ende
reden. „Ein Wahn des Todesfampfes,” fiel fie ein. „Aber
frage nicht weiter, Sylvian, nicht heute und morgen, da
fie noch über der Erde ruht. Später.” Sie gab ihm dar-
auf einige häusliche Anweifungen für die Stunden ihrer
Abwefenheit und machte fid) ohne Aufenthalt für den
Gang bereit.
Sie hatte nicht erft Trauerkleider anzulegen, nur ihren
Anzug fäuberlich herzuftellen und Kopf und Naden gegen
den Sonnenbrand durch ein weißes Linnentuch zu fchüßen,
das ihr das Anfehen einer Nonne gab. Schon ruhte ihre
Hand auf dem Drüder der Haustür, ald Sylvian noch
einmal hinter ihr ftand. „Nur eines,” fo flehte er mit
aufgehobenen Händen, „eines, Muhme Sudith, fage mir,
- daß ich Ruhe finde. Iſt eine Miffetat in diefem Haufe
gefchehen, — oder — von denen meines Bluts, — für die
ih zum Seiland um feine Barmherzigkeit bitten muß?“
— hr Blick ruhte büfter am Boden, die Antwort Foftete
ihr einen Kampf. Nach einer Paufe fagte fie mit uns
gewohnt haftigem und fchneidendem Klang: „Bete, Syls
vian, betel Irrtum und Schmach ſind reicjlich in biefem
Indith, die Kluswirtin 47
Hauſe abzuſühnen. Auch für einen Miſſetäter bete, —
aber — nicht für einen — deines Bluts.“ Sie ſchlug die
Tür in die Angel und ſtürzte über den Hof, getrieben
von einem boͤſen, ihre Worte ſtrafenden Geſichte. Das
Geſicht ihrer Mutter im Todeskampfe, das ihrer eignen
Träume und tiefvergrabenen, als Frevel gebannten, nächt⸗
lichen Gedanken! Draußen im Freien atmete ſie auf. Sie
ſtand eine Weile gewaltſam mit ſich ſelber ringend und
nahm dann raſchen Schrittes die Richtung nicht nach der
Stadt, ſondern innerhalb ihrer eignen Flur den dörflichen
Feldweg entlang.
Gewohnt, wie fie war, fich zu dem Nächftliegenden zus
fammenzufaffen, fand ihr auch heute Die Reihenfolge ihrer
Dbliegenheiten Far vor Augen. Zuvörderft die Aumel⸗
bung bei bem Gemeindepfarrer und die Unterhandlung
binfichtlicd, der Begräbnidfeier. Solange fie zurückzuden⸗
fen vermochte, war fein Anderögläubiger in dem fathos
lifchen Kicchfpiele zur Ruhe getragen worden; fie fannte
Derfon und Sinnesweife des Pfarrers, ber feit etlichen
Sahren das Gemeindeamt verfah, nur von der Kanzel und
aus ben Lehren, welche Sylvian vom Schulunterrichte
heimgetrogen. Predigt wie Lehre waren die mildeften;
aber Sudith, die Kluswirtin, hätte aud) das Herz dazu
gehabt, allenfalls gegen harten Widerftand die legte Pflicht
gegen ihre Mutter — ehrended Grabgeläut, Segen und
Trauerrede eines Geiftlichen ihrer eignen Kirche durchs
zuſetzen. Denn fo harmlos treuherzig wir uns die alte
Sachſenwirtin im nahen wie fernen Verkehr mit Anderes
gläubigen vorftelen dürfen und fo zutätig fie in ihrer
guten Zeit ben vormaligen Gemeindepfarrer mit dem
Velten ihres Haushaltes bedient, fooft er ald Seelforger
48 Judith, die Kluswirtin
von Mann und Sohn auf dem Klushofe eingefprochen,
nicht um die Welt würde fie dem Meßopfer in einer päpft-
lichen Kirche beigewohnt, ihr Knie vor einem Tabernafel
gebeugt haben, unter einer Gemeinde zumal, in welcher
fie um ihres reinen Bibelglaubend willen mißachtet, wohl
gar, heimlich und laut, ihr, der Keberin, der Verfall des
Erbes und der Familie zur Laft gelegt worden war. &8
gibt einen Punkt, auf welchem auch der Schwache unbeugs
fam ift, und je ſchwaͤcher häufig, defto mehr.
. Aber aud) die freier denfende, ftärfere Tochter war ents
fchloffen, nicht von einem innerlichen Rechtes und Ehrens
punkte abzulaffen, und fo fühlte fie fid, denn keineswegs
im Unflaren überrafcht, als ihr, in die Dorfftraße eins
biegend, der, welchen fie aufzufuchen im Begriffe ftand,
fcheinbar Iuftwandelnd entgegentrat. Vielmehr fam es
ihr erwünfcht,. die möglicherweife peinlicye Angelegenheit
ohne zufällige Zeugen und, wo es ihr jederzeit am wohl⸗
ſten war, unter dem freien Simmel ihres eignen Reviers
abzufprechen. Sie trat zur Seite und neigte fich ehr,
erbietig, wie fie es jederzeit auf dem Kirchwege, den rechts
mäßigen Pfarrfindern gleich, getan, redete ihn darauf in
befcheidener Faflung an, indem fie das Abfcheiden ber
Mutter meldete und um ein Begräbnis nach dem Brauche
ihrer proteftantifchen Religionsgenofien auf dem Gemeindes
firchhofe bat.
Der geiftliche Herr, dem Alter näher ald der Jugend,
aber nadı Farbe, Geftalt, Ausdruck und Habitus unver:
fennbar ein Sohn jenes nördlichen Gebiets der Roten Erbe,
beffen Lüfte den Traum der Kindheit auf dem Antlige
feftzubannen fcheinen, war einer der Begnadigten feines
Standes, deren geiftiges und leibliched Wohlgefühl uns
Judith, die Kluswirtin 49
geſucht ſich ſpröden oder zagenden Herzen mitzuteilen
pflegt. Schon daß er bedaͤchtig, in Paufen, mit den ges
trennten provinziellen Zifchlauten redete, heimelte die rein
und fließend, gleich einer Hochgeborenen ſich Außernde
Bäuerin vertraulich an, und der warm fidy in den ihren
fenfende Blick des großen, ein wenig vorliegenden, hells
blauen Kinderauges gab ihr die Beruhigung einer ernfts
gemeinten Teilnahme, ohne das Mißbehagen läftiger Neus
. gier zu erweden, das lebhaftere, nicht minder wohlwollende
Naturen felten vermeiden, wenn fie und fragend und fors
fchend gegenübertreten.
„Das fächfifche Mutterchen heimgefchieden, o weh!”
fagte er, der Bittftellerin herzlich die Hand drüdend.
„Nun, Gott der Herr bereit’ ihr eine gefegnete Urftänd!
— Euch aber, brave Tochter, fülle Er in Liebe die leere
Stelle. Denn, wenn ihr unfterblich Teil aud) lange vor
dem fterblichen in Schlummer gefallen ift, ed war dod)
immer noch das Wutterleben, gelt? und ein gut's End
eigen Leben, ich weiß, ich weiß! — reißt mit dem alten
Faden ab. — Und mein Sylv, mein Sylo!” fo fuhr er
nach einer Stille fort, in welcher Judith die erften Tränen
um ihre Verwaifung getrodnet, — „der noch niemalen ein
Auge brechen fehen, ja, ja, ein Gebet mit feinem alten
Lehrer tut dem frommen Herzchen gut. Iſt's Euch ges
nehm, Sungfer Wirtin, fo wandeln wir den Weg nad)
Eurer Klus zurücd und ratichlagen mitfammen hier unter
Gotted Himmel, was in Eurer Angelegenheit zu befchafs
fen ift.” — So gingen fie denn zwifchen ben Hecken des
Feldftiegd, der katholiſch Geweihte und die ketzeriſche Ges
‚meindetochter hart an feiner Seite; denn als die lektere
befcheidentlich einige Schritte zurüdbleiben wollte, winkte
*
50 Indith, die Kluswirtin
er fie zudſich heran und rief: „Hüuͤbſch hier neben mich,
fiebes Kind! Die Worte fließen noch, einmal fo leicht,
wenn eined dem anderen dabei in das Antlitz fchaut.“
Es entfpann ſich darauf das folgende Zwiegefpräd.
„Das felige Mutterchen war von Geburt - nun dad ver
fteht fich ja — ein Sacdhfenfind! Ich meine: fie war von
Herzendgrunde eine Lutherfche?" hob. der Pfarrherr an,
indem er nach Art feiner Iandsmännifchen Glaubens
brüder die erfte Silbe des Wortes Tutherifch betonte. —
„Bon Geburt und Herzendgrunde, ja, Herr Pfarrer”,
antwortete Judith. „Und hat die heilige Zehrung, fo wie
die Euren fie darreichen, mit auf den Weg genommen?”
— „Am SKarfreitage zum legtenmal, Kerr Pfarrer.” —
„Und Shr mit ihr, Sungfer Wirtin?“ — „Sch allein mit
ihr in meinem Zimmer, wie alle Jahre.“ — „Wie fol ich
mir es aber auslegen, liebes Kind, daß id; Euch, feitdem
ich dieſem Amte diene, andächtig und regelmäßig an Sonns
und Fefttagen, — außer denen, die wir Katholifchen vor
Euch voraus haben freilich, — in unferer Gemeinde wahrs
genommen?“ — „Herr Pfarrer, ich bete in der Chriftens
gemeinde, in die ich von Gott mit meinem Bätererbe eins
geftellt worden bin, und habe allezeit durd) ded Herrn
Pfarrers Lehren mich in meiner eignen Heilsordnung ges
ftärkt gefunden.” — „Und ift niemalen eine Anwandlung,
ich meine fo ein Spüren heimlicher Sehnfucht über Euch
gefommen, Euch auch mit dem Belenntniffe in Eure
Bätergemeinde einzuftellen?” fragte der Priefter ein wenig
eifriger, und das Mädchen antwortete ein wenig troßiger
denn bisher: „Kerr Pfarrer, ich bin dem Befenntniffe
meiner Mutter nad) dem Landesgeſetze vor Taufftein und
Altar zugeſchworen.“ — „Aber der Sylv, Euer Bruders⸗
Judith, die Kiuswirtin 51
kind, bei dem Ihr Elternſtelle vertretet?“ forſchte jener
mit einem bedenklichen Seitenblick. — „Der Sohn meines
Bruders ſteht mit dem nämlichen Rechte auf des Vaters
Seite und wird ohne Anfechtung in feiner Väter Glauben
herangezogen“, verfeßte die Kluswirtin, ein faum merk
liches Lächeln auf den Rippen.
Nachdem der geiftliche Herr auf biefe Weiſe ſein Ge⸗
wiſſen beruhigt, gab er nach einigen weiteren ähnlichen
Fragen feinen endgültigen Befcheid in den nachfolgenden,
mildheiteren Worten: „Nun denn, liebe Tochter, fo ladet
Euren Iutherifchen Beichtiger ein, dem alten Mutterchen
die legte Erdenflus nad) feinem Glauben einzufegnen;
und weil Euer Bruderskind feinen leiblichen Vater nicht
zur Stelle hat, fo will ich, als fein geiftlicher Vater, dem
Berwaiften an die Gruft feiner Ahne das Geleite geben.”
— Judiths Augen hatten ſich gefüllt und die bleichen
Wangen gefärbt. „sch danfe Ihnen, ich danke Ihnen“,
fagte fie leife, indem fie fidy nieberbückte, um feine Hand
zu küſſen. Sa, fie war einen Augenblick verfucht, das
Knie vor ihm zu beugen, denn das verfchloffene Herz bes
griff in diefem Augenblide, wie die Beichte vor einem
wahrhaften Gottverfünder eine belaftete Menfchenfeele zu
erlöfen vermöge. — „Laß gut fein, laß gut fein, Kind!”
rief der Pfarrer, feine Hand zurüdziehend und fie freunds
lich auf die Schulter klopfend. „An welcher Stätte follen
Shriftenmenfchen ſich denn vertragen lernen, wenn's nicht
einmal an einer Grabesftätte ift?”
Er Tieß hiermit den leidvollen Gegenftand fallen und
bemühte ſich, die Vorftelungen feiner Begleiterin in eine
erheiternde Bahn zu Ienfen, indem er, als ein fachvers
ftändiger Bauernfohn, wie er ſich nannte, den vor allen
52 Judith, die Kiuswirtin
andern wohlbeftellten Stand der Klusflur, zwifchen welcher
fie wandelten, Iobyried. „Der Taufend, wie ift nur das
Schenfentöchterchen zu diefer Bauernwiflenfchaft gekom⸗
men?” rief er aud. — „Es hat mir im Blut gelegen, Herr
Pfarrer,” verfegte Sudith, „und unfer Herrgott gab das
Gedeihen.“ — „Unfer Herrgott — nun freilich, freilich!
Indeſſen zwifchen eines Menfchen Neigung und dem Ses
gen von oben liegt noch ein Spatium, dad —.“ — „Ich
hatte meinen Kopf darauf gefeßt, Herr Pfarrer.” — Der
geiftliche Herr lachte. „Lutherfcher Dickkopp!“ fagte er,
mit dem Finger drohend. „Aber nichts für ungut, Kind.
Weiß gar wohl, daß Doktor Luther nicht der Töpfer ges
weſen für diefen Ton. Note Erde heißt Eifenerde und
gibt feft Gefäß. Nur nicht allzu feft, Süngferchen! Dem
Topfe ein Dedelchen aufgefeßt, daß das Befte nicht übers
läuft oder heimlich verdampft.” — „Sch verftehe den Herrn
Pfarrer nicht.” — „Ei nun, ei nun, das Möütterchen hins
über, Haus und Kerze leer, wie wär’d mit einem Herrn,
einem Oberherrn?“ — „Seiraten, meinen der Herr Pfars
rer?" - „Heiraten, nun freilich, heiraten, Sungfer Wirtin.“
— „Sch werde niemals heiraten, niemals!" — „Halt, halt!
Nicht verreden, Kind. Verreden heißt: nicht wollen
wollen. Annoch ift man in den Sahren, da das Herz
feine Stimme führt. Und wenn nun Gott der Herr im
Herzen fpricht: ich will?” — „Gott will ed nicht, Kerr
Pfarrer”, entgegnete das Mädchen mit finfterer Stirn,
aber fo überzeugendem Klang, daß der fromme Mann
auch diefen Gegenftand fallen ließ.
„Das fchöne Anweſen,“ meinte er weiterhin, „fo hübfch
rund beieinander! Wir Bauern bei der Arbeit denfen an
unfern Erben. Euer Bruder, wenn er eined Tages zus
Judith, die Kluswirtin 59
rüdfehrt —." — „Er wird ſchwerlich zurüdfehren, Herr
Pfarrer.” — „Sat er fo gar nichts von fich hören laſſen,
feitdem er von Euch geſchieden?“ — „Niemals ein Wort.“
— „Und der Sylv ift Euer einziger Blutöverwandter hiers
zuland?” — „Mein einziger.” — „Der Taufend, Mogjd
Sylov! Waͤchſt die Klus fo fort, wirft du ein Herrenleben
führen deiner Zeit!” rief der Pfarrer, ſich vergnügt die
Hände reibend; aber feine Begleiterin flimmte ihn herab,
indem fie troden entgegnete: „Sylvian wird feinerzeit der
Kluswirt werden, Herr Pfarrer.” — „Anjeßo bin ich's,
ber Euch nicht verfteht, Sungfer Wirtin.” — „Er hat nicht
Bauernfinn und Gefhid, und wenn er es hätte - ich will
ed nicht. Er fol ftudieren.” — „Geiſtlich werden?” fragte
der Pfarrer, merflidy belebt. - „Wenn er feine Reife hat
und das Herz ihn dahin treibt, meinethalben. Vorder:
hand foll er lernen und freie Wahl haben.” — „Lutherfcher
Dickkopp!“ fchalt der Pfarrer von neuem mit gutmütigem
Lachen. „Aber warum feid Shr fo mwiderhaarig gegen
ein Bauernleben, Süngferchen, da Ihr doch felber von
Herzen eine Bäuerin foheint? Mit dem Handwerk heißt
das, mit dem Mundwerf ei bewahre!
Judith zÖgerte eine Weile, ehe fie eine Antwort gab.
Indeſſen fchien fie zu fühlen, daß der geiftliche Herr ein
Anrecht zu der das Wohl feines Pfarrfindes betreffenden
Frage gehabt, und fo erflärte fie fich, anfänglich ſtockend
und mit niedergefchlagenen Augen, in eingänglicdherer
Weiſe ald bisher über diefen peinlichen Punkt. „Um feines
— Baters willen, Herr Pfarrer,” fagte fie, „und um feiner
Mutter willen, die als eine — Gaufelfpielerin im Lande
befannt gewefen. Schon fein Name mahnt an die Fremde,
und daß er ein dunkles, ſchwächliches Anſehn trägt, und
54 Judith, die Kluswirtin
dann — wer kann willen -? Nein, nein, Herr Pfarrer,
die Nachbarn würden ihn nicht als ihreögleichen fchägen
lernen. Es braucht einer einen harten Kopf, um als ein
Fremder unter Bauern fortzufommen. Ich habe es er;
lebt an Bater und Mutter. Ein jeder Stand hat feine
Ehre, Herr Pfarrer, und der Bauer hält auf reines Blut.
Höher hinauf ſoll's anders fein in der Welt. Da fragen
fie nicht woher, aber wohinaus? und wenn einer was
hat und was kann, vergönnen fie ihm feinen Plag.“
Wie, wenn nur die erfte harte Eisfchicht durchbrochen,
Welle für Welle dad Bachwaſſer feinen Lauf nimmt, fo
mit dem lange verfchloffenen Quell der Gedanken, dem
Scicfal oder Anteil den erften Tropfen entloct haben.
Ein halbfchmerzlicyes Lächeln fpielte um die Lippen der
fchweigfamen Wirtin, als fie nad) diefem Erguß die vers
wunderten Blicke ihres Begleiterd bemerfte. „Woher ich
das genommen habe, Herr Pfarrer?“ fagte fie; „die Klus
war ein Wirtshaus ihrer Zeit, darin fid) manches lernt,
Gutes und Schlimmes; jeßt ift fie wie eine Klaufe, und
Klaudner fommen auf vielerlei Gedanken. Der Sylvian
fol hinaus und mit etwas Neuem einen Anfang machen.“
— „Und Shr derweile, feltfames Mädchen?“ fragte der
Pfarrer. — „Sch helfe ihm zum Anfang, Herr Pfarrer,“
antwortete fie, „und ich fchaffe, was eines Tages Eignen
oder Fremden zugute fommen wird. Ein anrüdiges
Haus bringt feinen Segen.”
Beide fprachen fein Wort weiter, bi fie dad Hoftor
erreichten; fohmweigend, mit geſenkten Blicken gingen fie
nebeneinander her. In dem geiftlichen Herrn fämpfte
ein weiterforfchendes Verlangen fichtlich mit rücdfichtss
voller Schonung, und auch das Mädchen rang zwifchen
Judith, die Kluswirtin 55
Trieb und Scheu einer tiefer ſchneidenden Mitteilung;
beider Gedanken ſteuerten, ohne daß ſie es ahneten, nach
dem nämlichen Ziel. Unter dem Tore hielt ſie ploͤtzlich
ftill, indem fie frampfhaft nach dem Kerzen faßte, brach
aber ab, fchüttelte heftig den Kopf und ging voran. -
Der freundliche Gaft Iehnte ed ab, als ihm die Wirtin
das Geleit in die Räume ihres Haufes geben wollte; ein
Gewitter ziehe fich zufammen, meinte er, und es fei gut,
die Sache in der Stadt fo bald als möglich zum Abfchluß
zu bringen. Als Sudith aber, feinem Nate folgend, ihre
Schritte nad) dem Tore zurüdlentte, munterte er fie auf,
den duftigen Waldweg im Schatten der Bergwand ber
fonnenglühenden Landſtraße vorzuziehn. Sie zügerte und
blickte mit einem Ausdruck zwifchen Verlangen und Grauen
nach der Gegend des Forſtes. Ein Zufall entfchied. Wir⸗
beinde Staubwolfen und der Lärm truppweife zum Marfte
ziehenden Volks drangen von der Straße herüber; raſch
entfchloffen fchlug fie durd; Garten und Kamp die heims
lich einfame Richtung ein.
Seltfame Widerſprüche freuzten ſich in ihrer Bruſt.
Der lang gemiedene Pfad ſchreckte und lockte ſie zu gleicher
Zeit; ſie fühlte ihr Herz im Schmelzen und hätte es um⸗
panzern mögen vor den Eindrücken, die ihrer harrten; ſie
wollte feine Zeugen und ſpürte doch wieder nahezu ein
Bangen nadı dem tröftenden Menfchen, der fie foeben
verlaffen. In diefer Unruhe hörte fie einen nachfolgens
den Schritt, und als ob das Schickſal ihr die ausgleichende
Bahn bezeichnen wolle, fah fie, faum daß fie den Kamp
betreten, den erfehnten Tröfter wieder an ihrer Seite
ftehn. Auch er vermochte einen Anflug von Verlegenheit
nicht zu verbergen, da er fidy noch einmal unerwartet in
56 Judith, die Kluswirtin
biefem zweiten Gehege der Kluswirtichaft einführte; er
habe, fo fagte er, von der Straße aus oft mit Herzens⸗
luft den kräftigen Wiefenhang angefchaut und nehme nun
bie Gelegenheit wahr, fid) die Fünftliche Beriefelung, durch
welche eine wüftliegende Rodung fo nußbringend vers
wertet worden, ein wenig in der Nähe zu betrachten.
Und in der Tat, einem Liebhaber ländlichen Weſens
mochte die Waldwiefe, die fie jeßt nebeneinander durch⸗
wanbelten, eine anmutende Augenfchau gewähren von
der Berglehne im Rüden weit hinab über die Aue bie
zum Fluflesufer. Schmale Gerinne, aus einem Quelle am
Forſtſaume fidernd, befeuchteten den Grund für einen
Gras» und Kleewuchs, der eben im frifcheften Maienfafte
ftand; die Kinnengewebe des vergangenen Jahres lagen,
bei der fpricywörtlichen Treue der Gegend, Tag wie Nadıt
ohne Wächter zum Bleichen ausgebreitet; in befonderer
Umhegung, von welcher ein fich abfenfender Pfad nad
der Tränfquelle leitete, Tagerten die heute freigelaflenen
Tiere des Hofed, Mufterftücde ihrer Art vom ofifriefifchen
Rind bis zum landestümlichen Borftenvieh; ein Weidens
gebüfch am Rande der Waffergrube, mit ven niederhangen-
den, frühbelaubten hellen Zweigen ſich gar angenehm
gegen ben bräunlichen Waldeshintergrund abhebend, hielt
die Sonnenftrahlen fern und die Quellenfühle feft; eine
alfo umfchattete Rafenbanf hätte nicht an einem einladen:
deren Plate der Gegend angebradjt werden fünnen.
Keine diefer Wahrnehmungen entging dem geiftlichen
Herrn, und für feine mangelte ihm ein anerfennendes
Wort. Er Mlopfte über den Planfenzaun hinweg die
glänzenden Weichen der Rinder, verhieß Tächelnd, den Sylv
zum Benegen des Linnens anzuhalten, wenn nicht in
Judith, die Kluswirtin | 57
Bälde der Himmel felber diefen Dienft übernehmen werde;
vor allem aber pries er die gefchicte Anlage des Borns
an einer Senkung, wo die abſickernden Bergmwäffer, ftatt
eingefchloffen zu verfumpfen, den mäßigen Duell vers
ftärften, und endlidy, einer hinter diefem heitern Bezeigen
Iauernden Abficht nachgebend, fragte er mit einem rafchen
Blick auf feine Begleiterin: „Die Anlage rührt von dem
Duellenfimon, gelt?“
Das war nun zum brittenmal an diefem Tage, daß der
Name des Quellenfimon unerwartet wie ein Blig in des
Mädchens Seele fchlug; aber wie weit weniger heftig
war die Erfchütterung, feitbem das Herz ſich einem mils
den Bertrauensbedürfnis geöffnet hatte. Nur einen Mes
ment ftand fie regungslos; dann neigte fie bejahend den
Kopf, und auf die weitere Frage, ob fie den Simon ge⸗
fannt, antwortete fie ſchon gefaßt und mit bebeutungs-
vollem Ausdrud: „Sa, ich Fannte ihn.“
„Schau, ſchau, wie weißfchäaumend diefe Bläschen in
die Höhe perlen“, hob nach einer Paufe der geiftliche
Kerr wieder an, indem er ſich auf die Rafenbanf nieder-
ließ und in den Brunnen zu feinen Füßen blidte. „Der
Duell muß tief liegen, aber trefflich, trefflich, diefe Lei⸗
tung! Sch habe ähnliche in der Gegend gefehen, famtlich
nach des Simon Angabe. Das Bolf nennt ihn einen
- Quellenfinder, fchreibt ihm einen leiblichen Blick in Die
Tiefe zu, Zauberfünfte wohl gar, eine Haſelrute und
dergleichen. Das Volk hierzulande hat noch mehr, als
. man benfen follte, von feinem alten Heidenglauben feft-
gehalten. Was achtet Shr, die Shr ihn gekannt, wie Shr
fagt, von diefer feltfamen Gabe, Liebe Tochter?“ — Der
Frager hatte feinen Zwed erreicht, die Befragte ſich wäh
58 Judith, die Kluswirtin
rend ſeiner Auslaſſung zu erwuͤnſchter Ruhe geſammelt.
Aufrecht ihm gegenüberſtehend ging ſie mit Beſonnenheit,
ja mit einem Zuge von Befriedigung auf die Erflärung
ein, von welcher er Schritt für Schritt feinem Ziele näher
zu fommen hoffte.
„Der Simon Lauter”, fo fagte Judith, „lachte fchon
damals über den Aberglauben der Leute, fchalt wohl auch
über das, was er eine Läfterung nannte. Sie verfuchen’s
nur nicht, meinte er. Weil von alters her fein Born an
der Stelle gefloffen, wo er not tut, fol und kann fein
Waffer in der Tiefe fein. Zehnmal mißlingt der Verſuch,
glüct er aber das elfte Mal, da fchreien fie über Zauber
fünfte. Bom Arzte gilt das nämliche. Sterben die Krans
fen, ift’8 ihnen von oben befchert geweſen, fommt einer
durch, heißt der Doktor ein Wundermann. Als ob das
Gute, durch Menfchenfleiß und Kraft hervorgebradht, nicht
erft recht eine Befcherung von oben wäre! — Schon fein
Vater, der von Bergleuten aus der Fremde abgeftammt,
hatte dem Simon mandje natürliche Kenntnis beigebradjt.
Im übrigen, fagte er, fei der Wald fein Tehrmeifter ges
wefen. Dad Erdreich unter den tiefliegenden Wurzeln
der Eichen, die er fchon ale Knabe roden half, der Stand
der Kräuter und Moofe, das Verhalten der Tiere felber
leitete ihn auf richtige Spuren. Ihm zuerft ift es aufges
fallen, ald er in feinen Soldatenjahren längere Zeit jen-
feit auf einem Hofe in Quartier lag, daß die Sauen,
die ſich täglich mehrmals mit Gter in einer Lache wälzten,
ein vorzugsweife Fräftiges Anfehn trugen. Der Schlamm
wurde unterfucht, und heute fol ein mächtige Salzwerf
über dem Sauenpfuhle Ahfgerichtet ſtehen. Und ſchon
vor jener Zeit fiel ihm in ähnlicher Weife die Entdeckung
®
Judith, die Kluswirtin 59
der warmen Quelle zu, in welcher jegt fo viele unferer
Bauern ſich nad) der Ernte von Fluß und Gliederreißen
heil baden. Der Simon behauptete, ein Walnußbaum,
der vereinzelt auf dem Wiefengrunde gewachfen und weit
üppigered Laub und größere Früchte getragen, ale bie
fonft fpärlicy in unferen Gärten gedeihen, ein Trupp
blauer Glockenblumen darunter, die er fonft nirgendwo
wild auffchießen fehen, haben ihn auf den Gedanken bes
heißen Untergrundes geführt. Das mag wahr fein, Kerr
Pfarrer. Aber warum hatte feiner vor ihm fidy über die
fräftigen Früchte oder die feltene Blume verwundert?
Einen befonderen Blick hatte er doch.“
„Sa, ber Bli, der Blick!” rief der Pfarrer mit ber
begeifterten Freude eines Menſchen, dem fein liebfter Ges
danfe von einem andern beftätigt wird, — „der heimliche
Sinn in die Tiefe, der die Beobachtung bannt und jeds
weder Kenntnis die Bahn bricht! Und nicht im fichtbaren
Naturreiche allein. In der Wiffenfchaft von Gott heißt
diefer Blick der Glaube, fällt er aber in ein Menfchens
herz, fo nennen wir ihn Liebe. Was alle nicht fehen,
fieht der Liebende, und nur der Liebende fieht recht. —
Und auch Ihr, meine Tochter,“ fuhr er nach einer Paufe
zu feinem Zwecke zurüdlenfend fort, „auch Ihr fcheint
mit einem Blick in die Tiefe gefegnet, da Ihr in fo lieb⸗
reicher Weife die Gaben eined Unglüdlichen ausdeutet,
der ſchweres Herzeleid über Euch verhängt. Seine Miffes
tat an Eurem Bräutigam —.“ — „An meinem Bräutis
gam?“ fuhr Judith aufz „mein Bräutigam, wer fagt
dag?" — „Euer Liebiter denn oder Freierdmann, der mit
der Zeit —.” — „Nimmer, nimmer! ch verabfcheute den
Mann, ich haßte ihn!“ — „Ihr haßtet ihn?“ rief der
60 Judith, die Kluswirtin
Pfarrer mit unverhehltem Staunen, „ihn, den Gemorde⸗
ten, bei deſſen Leiche Ihr als Zeugin —““ — „Ich zeugte
die Wahrheit,“ unterbrach ihn Judith ſtammelnd, „die
Wahrheit, — wie meine leiblichen Augen fie geſchaut, —
mein Herz war — für nichts in der Sache.“ Sie hatte
ſich geifterbleich verfärbt, die Züge waren entftellt, der
innerlichfte Wehepunft aufgerüttelt; ihre Füße fchwanften,
fie Elammerte fidy an einen Weidenftamm.
Der geiftliche Herr, mitergriffen von dem Ausdruck
einer Qual, deren Urfprung ihn je mehr und mehr ver-
wirrte, erhob fich von feinem Sitze und faßte des Mäpd-
chend Hand. — „Ich habe diefe graufamen Erinnerungen
nicht aus müßiger Neugier in Euch wachgerufen, meine
Tochter,” fagte er; „ich befenne Euch im Gegenteil, daß
ich lediglich um diefer Erinnerungen willen heute morgen
den Weg nach Eurem Haufe eingefchlagen. Indeſſen, da
ich Eure Trauerbotfchaft vernommen, war ed meine Ab⸗
ficht, mein Anliegen auf eine gelegenere Stunde zu ver:
fchieben und zurzeit nur Euren Sinn für eine zutrauliche
Ausfprache vorzubereiten. Habe ich Euch wehe getan,
fo glaubt, ed war eine chriftliche Abficht, Die ich im Her⸗
zen trug.” — Er wendete fidy zu gehen. Als er aber Ju⸗
dith, wie um ihn zu halten, beide Arme nad) ihm aus⸗
ſtrecken fah, kehrte er zurüd, nahm ihre Hände noch einmal
in die feinen und ſchaute in ihre düftern Augen wie in
ein Rätfel. „Sch kann es hören,” flüfterte fie, ſich all-
maͤhlich belebend, „alles hören, — waß verlangen Sie von
mir?" — Noch ftand er eine Weile in zmeifelndem Sinnen
unter ihrem drängenden Blid, und da er ſich endlich zur
Rede entfchloß, war es nicht in dem gemütlichen Tonfall
des Alltagumgangs, fondern mit dem reinen Laut und
Judith, die Kiuswirtin 61
der eindringlichen Weihe des Priefters, der fein Amt ers
füllt.
„Shr wollt ed,” fo hob er an, „nun denn: id, fordere
Euch auf zu einer wahrheitögetreuen Darftellung beflen,
was Euch von des Simon Lauter Gemütdart und Lebens⸗
weife vor feinem Unglüd befannt geworden. Die fchwerfte
Miffetat kann fchon hienieden eine Sühnung finden, und
Gnade für den Reuigen ift nicht Gotted Amt allein. Der
Borfteher der Strafanftalt, welcher ſchon vor Sahren den
Simon Lauter ald militärifchen Untergebenen fcdhägen
lernte, und der dem eignen Eingeftändniffe zum Troß
noch heute an feine Unſchuld glaubt, findet Fein Ziel, des
Gefangenen gefitteted Verhalten, feinen fänftigenden, ja
veredelnden Einfluß auf die rohen Mitfträflinge anzus
preifen; des Fleißes, der Kunftfertigfeit nicht einmal zu
gedenken, durch welche er, neben dem Aufwande für feinen
eignen Unterhalt, manchem hülflos entlaflenen Bruder
eine Wohltat erweiſt. Kaum daß feine Anftrengung der
Fülle der Beftellungen von nah und fern genugzutun
vermag. Man Iohnt ihn reichlich, und da er von Kaufe
aus nicht ohne Vermögen iff, hat man ihm vergönnt, die
erworbene Sparfumme in jenem gütigen Sinne anzumwens
den. Schaut hier diefes Heilandehaupt, das ich mir
neulich bei einem Befuche ded Gefängniffes unter feinen
Schnigereien ausgewählt und deffen Anblic mich jede
Stunde an den unglüdlicdhen Büßer mahnt. Betrachtet
diefen Frieden, diefes himmlifche Entzüden in dem Ants
liße deflen, der um der Gerechtigkeit willen fein Leben
dahingegeben. Und das in rohem Holz! Meine Tochter,
die Hand, die diefed Bildnis meißelte, mag einen Mens
fhen getötet haben im Wahn, im Raufch — vielleicht;
62 Judith, die Kluswirtin
aber einer, der im Geiſte den Tod in ſolcher Herrlichkeit
geſchaut, glaubt es mir: nun und nimmer iſt er ein Moͤr⸗
der von Herzensgrund.“ |
Judith, felber einem gemeißelten Bilde ähnlich, blickte
mit flarrem Auge auf das kaum handgroße, in weißem
Holz gefchnigte Medaillon, dad der Pfarrer aus feiner
Brufttafche gezogen und in ihre Hände gelegt hatte. Auch
ein minder empfängliches Gemüt ald das des frommen
Mannes würde von der warmen, tiefen Empfindung, von
dem feinen Kunftfinn der befcheidenen Gefangenenarbeit
gerührt worden fein; — ob Sudith etwas anderes fah als
die im ˖ Innerften aufgeregten Gefichte, der geiftliche
Mahner erriet es nicht.
„Der Vorfteher der Anftalt”, fuhr er fort, „bereitet
mit preiswürdigem Eifer ein Gnadengefuch für feinen
Schüsling vor, deflen Erfolg dem Unglüdlichen fünf
fchwere Sahre feiner Haft erlaffen würde; fünf Sahre
nach zehn, meine Tochter! Meine Befürwortung feines
früheren Wandels dürfte nicht ohne Wirffamfeit fein, zu⸗
mal ich, da der Gefangene dem Iutherifchen Bekenntniſſe
angehört, meine Stimme alg Parteilofer für ihn erheben
würde. Nun bin id) aber erft Sahre nach jener unfeligen
Tat in mein hiefiges Amt eingetreten, und mir fehlt die
Berechtigung, mich eingänglich über ded Gefangenen
Seelenftimmung zu unterrichten. Zwar fah und fpradı
ih ihn während jened Beſuches der Anftalt; aber bei
feinem Anblicke fan? mir dad Herz für eine tiefer fchnei-
bende Berührung des Vergangenen. Der fo wenig mit
Mörderfinn gearbeitet hat, er blickte und redete noch wes
niger mit dem Sinn eined Mörderd. Die Stimme tönt
und das Auge ftrahlt im Frieden der Heiligung. ‚Sch
Judith, die Kiuswirtin 63
bin nicht unglücklich“‘, fagte er lächelnd. Meine Tochter,
fo fpricht fein Schuldbewußter oder ein Heuchler, wie es
nie einen gegeben. Und doch befennt er fich zu der Tat
heute wie damals mit den nämlicdhen Worten. Hier ift
ein Dunkel, eine Heimlichkeit, und es verfolgt mich Tag
und Nacht, diefelbe zu lichten. Die Korfchungen in der
Gegend führten auf feine deutliche Spur. Die Älteren
haben nur den Quellenfinder in ihm gefchäßt oder ges
ſchmaͤht, die Süngeren nicht auf ihn geachtet oder ihn vers
geffen. Er war ein Fremder, ohne Angehörige in der
Gegend, dazu ein Anderdgläubiger. Die einzigen vers
folgbaren Fäden ziehen ſich nach der Klug.”
Der Geiftliche machte eine Paufe, griff noch einmal
nad) des Mädchens Hand und fchloß dann feine Rede
mit einer warmen Ermahnung: „Ich habe Euch nur diefe
einzige Stunde gefehen und fprechen hören, liebe Tochter,
aber ich weiß es, daß Ihr auch im Eifer, nicht Euch felber
zuliebe und feinem Feinde zuleide, ein anderes ale bie
Wahrheit fagen werdet; desfelbigengleichen als Ihr vors
hin geftandet: „Ihr habet ihn gekannt‘ — da fpürte ich's
an Eurem Blid und Ton, daß es ein Kennen von Grund
aus war, nicht nadı Anfehn und Hörenfagen wie bie
anderen, auch nicht mit deren Wahn und Aberglauben.
Ihr kanntet ihn, das heißt: Ihr fohautet in fein Tiefftes.
Darum prüfet Euch mit dem Blick auf diefed Bild der
Barmherzigkeit, das Ihr zum Angedenken diefer Stunde
bewahren follt. Sinnet zurüd, fammelt, was bie Zeit
zerftreut, lärt, was durch erlittened Weh getrübt; und an
dem Morgen, wo wir von dem Grabgange Eurer feligen
Mutter heimfehren werden, da öffnet mir Euer Herz um
Gottes willen, zum Frommen einer chriftlichen und menſch⸗
64. Judith, die Kluswirtin
lichen Liebespflicht." — Er trat nach diefen Worten rafch
und ohne umzubliden den Rücdweg an, hatte aber den
Ausgang nadı dem Garten kaum erreicht, ald er einen
haftigen Schritt ſich folgen hörte und ein feſter Griff
feinen Arm von der Heckenpforte zurückzog. Judith ſtand
hinter ihm mit fieberifchem Auge und glühendem Geficht,
von einer Leidenſchaft durchrüttelt, die ihm das Rätfel in
ein neues Raͤtſel verwandelte.
„Nicht morgen oder fpäter”, fagte fie faum hörbar und
mit fliegender Bruft. „Zur Stunde, gleich jet hören Sie
mich an, gleidy jetzt. Sch weiß nicht, ob das, was ich zu
befennen habe, ein Licht über jene Tat ergießen wird.
Sch glaube ed nicht. Aber mir, mir wird ed dad Herz
erlöfen von einer Laſt, die es zehn Jahre lang gepreßt.
Es fol fo fein, ja, jal Dreimal ift die Mahnung an mid;
ergangen, heute, wo ed zehn Sahre ift, daß diefe Tat ges
fhah. Dem blöden Knechte Löfte fich die Zunge bei der
Erinnerung an diefe Tat, die er zehn Sahre lang vergeffen.
Das Sterbegeficht der alten Frau war diefe Tat, von der
fie nichtd vernommen, noch verftanden. Und zum dritten,
da kommt ein Fremder, ein Gotteöbote, mit der Mahnung
an diefe Tat. Und feit er das erfte gute Wort gefprochen,
da treibt ed mich: rede, rede zu ihm von diefer Tat! Und
biefe Quellen, die jener aus dem Erdengrunde gelodt, fie
raunen mir zu: rede, rede über diefe Tat! Sa, ich fannte
ihn; feiner kannte ihn wie ich — und doch, doch -! Ich
habe ihn — ich war — drei Jahre lang war ich - fpäter
— fpäter! — Sch habe nicht zurüdzufinnen. Hier,” fie
ſchlug mit der Hand an ihre Bruft, „hier innen, da ſteht's
wie mit Lettern, ewig, ewig! Ich habe aud, feine Miffes
tat.zu befennen, ich bin mir feiner Schuld bewußt, und
$udith, die Kluswirtin 65
doch, — und doch —! — Setzen Sie fich, Herr Pfarrer, hier
im Schatten auf die Rafenbanf. Da unten der Quell.
Das Wafler ift ein Heiligtum im Evangelium. Sitzen
Sie, ald wär's in der Beichte. Knien darf ich nicht, aber
ftehen will ich vor ihnen und mein Herz ausgießen, aus⸗
gießen, ald wär’d vor Gott!” — Sie beugte fich nad) diefen
Worten zu dem Born herab und netzte ihre Schläfe und
Pulfe in feiner Kühle; als fie fich wieder erhob, blickte fie
ruhiger, und als der Pfarrer mit väterlicher Milde über
ihre Wangen ftrich, löſte fih die Bruft in einem Tränens
ftrom.
„So fei ed denn, mein Kind,“ fagte jener; „zur Stunde
fei e8, da dad Herz Euch treibt. Aber feinen Aufenthalt
an diefer Stelle. Schaut, wie der Himmel ſich umzieht,
faum, daß Ihr die Stadt vor dem linwetter erreichen
werdet. Der Waldpfad ift menfchenleer. Ich begleite
Euch. Redet ohne Scheu, als ob Ihr neben Eurem Vater
ginget.” — Sie gehorchte ohne Widerfpruch, fchritt voran
und 309 den Pflod von der Hedentür, die nad) dem Forfte
führte. Ihr Begleiter blieb mit Abficht etliche Schritte
zurüd, indem er ſich büdte, die am Wege ftehenden
Maiengloden zu pflüden. Nach einigen tummen Minuten
bob die Kluswirtin gefammelt und mit ficherer Stimme
ihre Mitteilung an.
Enthüllung
„Schon ehe ich auf der Welt war, ift Simon Lauter
auf dem Klushofe heimifch geweſen wie ein eignes Kind.
Sein Bater, der von Bergleuten aus dem Schwabenlande
abftammte und feined Zeichens ein Uhrmacher war, hatte
über dem Meere fein Glück zu fuchen gedacht, als, des
66 Judith, die Kluswirtin
Weges ziehend, ſeine Frau hier vor dem Kamp von einem
Fieber gefchüttelt zufammenbrad. Der Mann trug fie
in das Haus, fein faum dreijähriger Bube lief ihm wei⸗
nend voran. Es war juft der Tag, an welchem der neue
Bau eingeweiht werden follte, und der Feine Simon, der
ein holdfeliged Kind gewefen fein fol, wurde das ‚Weihe:
engelcdyen‘ genannt, weil er als erfter Einfehrer in bie
Wirtfchaft getreten if. Daß es unter Tränen und mit
einem Hülferuf gefchah, darin hat in dem hoffnungsvollen
Subel jener Zeit feiner eine VBorbedeutung gefunden. Der
Name blieb ihm, und meine Mutter hat noch in ihrem
legten Augenblid den, der ihr Liebling war, bei ihm ge»
nannt.
„Keine guttätigere Hand, ald die meiner Mutter, Herr
Pfarrer. Sie verpflegte die fremde Frau, bis ihr letztes
Stünbdlein gefchlagen, und forgte für Mann und Kind,
bis ihre Einrichtung getroffen. Der Winter war herein
gebrochen, die Fahrt übere Meer mußte bid zum Frübs
jahr verfchoben werben. Vater Lauter fand während der
Zeit für feinen Uhrenkram, mit dem er jenfeits zu begins
nen gedacht, hier in der Gegend Iohnenden Abfag, und da
er nicht wußte, wie er fich ohne Frau mit feinem Kleinen
in der Neuen Welt behelfen folle, gab er den Plan in die
Weite auf, faufte für fein Reifegeld das Häuschen. des
Waldhegers, der vor kurzem geftorben war, und über-
nahm neben feinem Uhrengefchäft die Hütung des Ge-
meindeforfted, für welche ein Auffeher fehlte. Der Heine
‚Simon aber, ohne Mutter im Haus, der Vater Tag für
Tag im Wald oder haufierend und ausbeflernd über Land,
hielt fidy mit Leib und Seele an die Klus, in welcher alle
das Weiheengelchen gern fahen, Eltern, Bruder, Gefinde
Sudith, die Kluswirtin 67
und Gäfte, vor allen aber ich, die ich in dem nämlichen
Jahre geboren wurde.
„Sa, Kerr Pfarrer, folange ich von meinem Leben weiß,
habe ich den Simon liebgehabt, Tieber ald die meines
eignen Bluts. Das laute Schenfenwefen widerftand mir
von Natur, und ebenfo natürlich zog es mid; hinaus in
Garten und Ader; der Fleine Simon aber, ald ich noch
nicht laufen konnte, trug und führte mich ind Freie, fuchte
Kräuter und Blumen mit mir, lehrte mich fpielend ihre
Namen, die er alle ſchon kannte, ich weiß nicht woher, fie
auch wohl fpielend aus dem Stegreife nad) Geftalt und
Farbe erfand, wie er denn auch die erfte Kenntnid des
Bodens und feiner Bebauung in mir ermwedte in jener
fpäteren Zeit, wo wir beide allein, von Feiner Seele ver»
mißt oder bemerkt, wie flinfe Vögel bis zur finfenden Nacht
die Gegend durchſchwärmten. Denn der Simon war von
Kind an wie ein Bertrauter der heimlichen Säfte, die aus
dem Erdengrunde treiben, und mit der Kenntnis, die er
mir eingeflößt, wuchs die Liebe, wuchſen mir aud, Kraft
und Gefchid für die Behandlung der Scholle, fo daß id)
fagen muß, der Simon hat ed bewirkt, wenn ich im Heran⸗
reifen den Verfall des Erbes früher und deutlicher fpürte
als die, welche mit Luft und Hoffnung darin hauften, und
in der Zuverficht, daß mein verunreintes Heimweſen nur
durch den ftillen Segen der Scholle wieder zu Ehren ges
bracht werden fünne, fpäterhin handelte, wie e8 mich trieb.
„Als nun die Schulzeit diefem Findifchen Schwärmen
ein Ziel feste, da wurde der Simon erft recht ein Klus⸗
gefelle, denn er holte allmorgendlich meinen Bruder zum
Schulgange ab, Fehrte mit ihm zurück, arbeitete mit und
nad) feiner gutmütigen Art wohl aud) für den Flatter⸗
68 $udith, die Kluswirtin
ling, der ohne fein Zureden nimmer in eine Regel zu
zwingen gewefen wäre und über welchen zu feiner Zeit
ein Menfch eine ftetige Herrfchaft ausgeübt, als der Tieb-
reiche Simon ganz allein, nur, Gott fei’d geflagt, da
jenem die Flügel wuchſen, nicht Herrfchaft genug gegen
den Schwarm.
„Wieder etliche Jahre weiter, und ich ging mit den
beiden des nämlichen Wegs und firengte mid; an, alles
das nachzulernen, was der emfige Simon mir vorans-
gelernt; und wenn mir eine rafche Rechnung und deut-
liche Handfchrift in meinem Hausweſen zugute fommen,
ich auch die Schriften verſtehe und liebe, die von dem
Naturreiche handeln, — das heißt liebte, Herr Pfarrer,
jest habe ich Tange fchon feine Stille in mir für ein
Buch, — fo muß ich alfo wiederum fagen: das hat der
Simon an mir getan und feiner fonft. — Nach etlichen
Sahren aber ging ich mit ihm allein zur Katechismuslehre
in die Stadt, und daß wir beide die einzigen Kinder in
der Gemeinde waren, die fid) zu dem fremden Bekennt⸗
niffe hielten, das ftiftete abermals eine Verwandtſchaft
zwifchen und. Alles in allem: wir zwei waren wie eines,
verfehrten mit feinem Gefpielen und gewöhnten ung darum
auch nicht an die Mundart des Landes; alled bezog ich
auf den Simon, und id) vermag es wicht mit Worten aus⸗
zudrücen, wie mir zumute war, als die legten Gedanken
der alten Frau mid; heute morgen an jene findifchen
Zeiten gemahnten, damals, da, ohne zu ahnen was heiraten
fei, wir und lachend oder in Tränen die Treue verlobten
und zueinander fagten: , Noch ein zehn, zwölf Jahre, dann
heiraten wir und, und dann find wir Mann und Frau,
und alles ift gut.‘
Judith, die Kluswirtin 69
„Ss war e8 denn ich vor allen andern, die den Knaben
in unfere Klug und, Gott ſei's geklagt, — in fein Vers
derben lockte. Denn foldy eine Schenfenwirtfchaft ift eine
mächtige Verführung, für einen zumal, dem ein wohls
beſtelltes Heimweſen gebricht, wie dem Simon, Nicht um
der Iofen Gefellichaft willen, die er traf, nein, fein Auge
und Ohr blieben ein Kinderauge und Ohr auch in den
Zeiten, da er reif geworden. Der blöde Knecht heute
morgen, er fagte: ‚Der Simon war fromm wie ein Lamm',
und die Mutter mit ihrem letzten Wort pries ihn ale
einen himmlifchen Friedensboten. Sa, ja, Herr Pfarrer,
das einfältige Auge und der brechende Blick, fie fahen
recht: der Simon war ein Menfch nad) Gottes Ebenbilde,
und nur ein einziger Fleden hat an ihm gehaftet, der ihm
auf der Klus ind Blut geimpft worden ift gleich einem
Gift. Wenn der arme Sunge im Winter, nichts Warmes
auf dem Leibe und nichts darin, fteif gefroren aus dem
Walde zurüdkehrte, da hieß es: ‚Hurtig einen Tropfen
für die erftarrten Glieder!‘ und wenn er in der Sommers
hite verlechzt und fchmeißtriefend gerannt fam, da hieß es
wieder: ‚Einen Tropfen gegen den Berfchlag!" Aber ein
Tropfen zieht den andern an, aus der Gewöhnung wird
ein Bedürfen und aus dem Bedürfen ein Laſter; in diefem
Lande vornehmlich und in einer Schenke, in welcher Die
higigen Getränfe ohne Obhut ftehen und einer dem andern
ein Profit zutrinkt und an dem Ärgernis fein Gefallen
findet. Sch aber, daß ich's von vornherein offenbare, was
erft weiter hinaus in mein Bekenntnis gehört, ich fühlte
vor feinem Kafter folch ein Grauen wie vor dem des Trunfe.
In einer Wirtfchaft gleich der unfrigen fehrt nicht nur
die Tugend ein. Mein Bruder wurde ein Spieler unter
70 Judith, die Kluswirtin
den wüſten Geſellen, und die er ſeine Frau nannte, die
war — fie iſt tot, Herr Pfarrer, und Sylvians Mutter,
darum ſtill über fie, ftil! — Das find fohlimme Sitten,
fchlimmere vielleicht ald der Trunk -!” |
„Dem eignen Kerzen wie dem des Nächten verberbs
lichere, ja gewiß, gewiß!” fchaltete der Pfarrer ein. -
„Aber keine, die Gottes Ebenbild mehr entftellen, wie das
Trinken, Herr Pfarrer”, verfegte Sudith raſch. „Und daß
jene fchlimmen Sitten frech in unferm Haufe ſchalten
durften, weſſen war die Schuld als des Übermaßes, das
meinem Bater die Herrfchaft über fich felbft, wie über Hof
und Kind geraubt? Darum haßte ich den Trunk, Herr
Pfarrer, und darum, darum wieder habe ich fpäterhin ges
handelt, wie ed mich trieb.” — Die Erzählerin machte eine
Paufe, welche der Zuhörer nicht unterbradh. Nachdem fie
die Wallung niedergefämpft, Die während ber letzten Bes
merfungen in ihr aufgeftiegen, und ihre Gedanfen zu einer
Folge geordnet, fuhr fie fort.
„Die Liebe zu den Gebildniffen des Grund und Bodens,
wie die Erinnerung an feine Vorfahren hatte von Kindes
beinen ab in dem Simon einen Trieb zum Bergwefen ans
gezündet, und wenn id} von Fein auf fagte: ‚sch will eine
Bauerfrau werden, wie meine Großmutter felig gewefen
ift, und weiter nichts‘, fo fagte der Simon: ‚Sch will ein
Bergmann werden, wie mein Großvater felig geweſen ift,
und weiter nichte.‘ — Da nun aber die Schulzeit zu Ende
ging, fo wollte Vater Lauter, der ein harter und farger
Mann war, wenn er auc) mancherlei Kenntnis und Ges
fchicklichkeit aufzumweifen vermochte, von feines Sohnes Luft
am Bergmwefen nichtö vernehmen. Er hatte ein paar hübfche
Flecken Rodung rund um das Waldhaus für ein billiges
Judith, die Kiuswirtin 71
an ſich gebracht und ſie durch Rajolen und rieſelnde
Waſſerfäden in treffliches Ackerland umgewandelt, er
ſimulierte auf mehr und immer mehr. Der Uhren ver⸗
mochte er in feiner freien Zeit kaum hinlänglich für den
Anſpruch im Lande herzuftellen, zumal feitdem fein Sohn
die Funftfertigen Rahmen und Gehäufe darum fchnigelte,
die fie von allen ihreögleichen auf unfern Höfen unters
fcheiden. Denn die feine, bildnerifche Hand, die war auch
eine der Gaben, welche dem Simon, wie man zu fagen
pflegt, in der Wiege eingebunden worden find. Damals
freilich, ald das junge Herz fich fo mächtig von dem toten
Holze ind grüne fehnte, da ahnete er nicht, daß des Vaters
Härte den Grund zu eigner und fremder Wohltat für lange,
naͤchtige Sahre legen follte.
„Widerſtand war nicht des Simons Sache, am wentigften
feinem Bater gegenüber. Er drückte Die heimlichen Lockungen
herzhaft hinunter, wurde des Alten Gehülfe in feinen
mancherlei Hantierungen, blieb aber auch in diefen Fahren
dem Klushofe ein Angehöriger wie zuvor. War der Bater
über Land, fo trug der Simon fein Werkzeug zu une
hinunter, und einmal hielt .er fidy wochenlang unabläffig
dort befchäftigt, ald er die Wafferfpeifung in dem ges
rodeten Rampe ausgetüftelt und lediglich mit feinem Ers ..
fparten vollführt, zum Danf und Denkmal genoffener
Wohltat, wie er fich äußerte. Es war das erfte Unters
nehmen in diefer Art, dad ihm geglüdt; von allen Seiten
wurde er um Ähnliches angefprochen, reichlich gelohnt
und fo jung noch an Sahren fchier als ein YWundertäter
angefehn. Als er einige Zeit fpäter das heiße Schwefel:
waffer unter der Wiefe aufgefpürt, nannte man das Bad⸗
häuschen, das darüber aufgerichtet wurde, ‚Die Simons»
72 Judith, die Kiuswirtin
quelle‘, und der Simon hieß feit der Zeit im Lande nicht
anders als ‚der Quellenfimon‘ oder ‚Simon der Quellen
finder‘.
„Und aud) in jenen halbwüdfigen Sahren gingen er
und ic; miteinander um wie zueinander gehörig oder fürs
einander beftimmt, wenn wir auch nicht mehr wie als
Kinder von Heirat zufammen redeten. Sch war in dem
Alter, wo ein Mädchen fich vor folchem Gedanken fchämt,
aber den Trieb, ihn wahr zu machen, noch nicht fennt,
und einiglich, fonder Begehr hielt auch der Simon Schritt
mit meinem Sinn, fo daß ich die drei Sahre Unterfchied
zwifchen ung nicht gewahr worden bin. Aber eine weit
mäcdhtigere Menfchenfreundlichfeit wohnte in dem Simon
als in mir. Es war juft die Zeit, wo die Sylvia auf der
Klus ihr Wefen trieb und meines Baters tobfüchtige Krank:
heit ihren Anfang nahm. Sanftmütigfeit war nie mein
Ding, — nein, nein, Kerr Pfarrer, fie war nie mein Ding!“
wiederholte fie mit Heftigfeit, einem Einwande ihres Be⸗
gleitere vorbeugend, „nicht meine Gabe und aud) nicht
mein Los. Sch hatte Geduld bei der Arbeit, aber feine
Duldung für die Menfchen; das rohe Wefen ermeckte mir
Efel, vor der Sünde ſchwoll mir die Galle, und mit der
Schande habe ich noch heute Fein Erbarmen. Zu jener
Zeit würde ich von Hof und Haus und ald Magd in die
weite Welt gelaufen, wenn nicht gar einer Mifletat an
mir felber fchuldig geworden fein, hätte nicht der Simon
mit dem Trofte des Friedfertigen neben mir geftanden, bie
meine Vernunft zur Reife und der Entfchluß, die Unehre
meines Erbes abzumafchen, zur Oberherrfchaft in mir ges
fommen wäre.
„Als der Simon neunzgehn Jahre geworden,” nahm die
Judith, die Kiuswirtin 3
Kluswirtin nad; einer Weile gelaffen wie zuvor den Faden
der Gefchichte wieder auf, „ftarb fein Vater jählinge auf
einem Gange durch8 Land, und der Sohn, nachdem die
erften heißen Waifentränen getrodnet, konnte es nicht
anders empfinden, ald ob ihn ein Zwingherr freigelaffen.
Die heimliche Liebe zum Bergweſen feiner Altvordern
wachte wieder auf, und er zauderte nicht, fie zur Tat zu
machen. Im Grunde dadıte er fich bei der Sache wohl
etwas anderes, ald den Stollen zu befahren und im
Schadhte Kohlen und Erze Ioszufchlagen; er meinte, dag
Geheime unter der Erde fennen zu lernen, wie er fich
denn auch nicht minder freudig mit dem über der Erde
befaßt haben und ein Kräuterfammler geworden fein würde
oder dergleichen mehr. Mit einem Worte, es trieb ihn,
das Naturreicd; mit dem Kopf zu ergründen, nur etwa
das Tierreich ausgenommen, für dad er feine Neigung
verfpürte, — ich glaube, weil man ed nicht ohne Tötung
in feinem Innerſten zu erforfchen vermag. Da er aber
über das Wie und Wo feine Kenntnis befaß, hielt er da⸗
für, es zuvörderft mit den Händen anzugreifen. Ein
weiteres Feld würde fich auftun, vertraute er. Und es
würde fich aufgetan haben, Herr Pfarrer. Schon daß ihm
fein Bater an zeitlichem Segen weit mehr, als einer er>
warten durfte, hinterlaflen, daß Auffeher und Beamte
fchnell ein Herz zu ihm faßten, daß der Fund des heißen
Duelld feinen Namen in der Gegend verbreitet, alles
öffnete ihm Weg und Steg. Ach, Herr Pfarrer, fo froh⸗
felig habe id; einen Menfchen mein Lebtage nicht gefehen
wie den Simon in den paar Wochen, die er drüben im
Kohlenſchachte arbeiten half; aber leider war die Freude
kurz.
74 Judith, die Kluswirtin
„Sein Vater hatte in dem verwichenen Jahre, mit
welchen Mitteln weiß Gott, denn der Simon war ein Rieſe
und heil und gefund wie ein Fifch, bei der Aushebungs⸗
behörde feine Zurüdftellung durdhgefegt und der Simon
nach feiner vertrauenden Gemütdart nicht anders gedacht,
als für alle Zeit feiner Soldatenpflicht ledig zu fein. Da
traf ihn denn die plößliche Berufung für einen Vorder⸗
mann, der überd Meer entlommen war, gleich einem
WWetterfchlag. Kein Menſch ann vorausfagen, Herr Pfarrer,
welchen Sinn der Eifer in einem hervorlodt, daher mag
ed wohl fein, daß in einer Zeit der Drangfal, aus Liebe
zum Land und feinem Herrn auch der Simon feinen Ab-
fheu vor Blut überwunden und freiwillig zu Wehr und
Waffen gegriffen haben würde. Bei ruhigem Sinnen aber
vermochte er nicht auf ein Kaninchen logzudrüden, und
mit dem Dohnenftrich, der ihm ald Waldheger zuftand,
hat er fich niemals befaßt, fo übermächtig war fein Grauen,
ein Lebendiges zu Tode zu bringen.” - „DO Schidfal, Schick⸗
fat!“ rief der Pfarrherr feufzend, „und figt nun zehn Sahre
hinter Mauern und Riegel um einen Mord!” — Auch Judith
ließ den Kopf zur Bruft herabfinfen und fchloß die Augen,
wie um diefen unheimlichen Widerſpruch auszudenfen.
Es dauerte eine Weile, ehe fie ihre Mitteilung wieder auf:
zugreifen vermochte. |
„Aber in Zeiten der Ruhe,” fo fuhr fie fort, „drei Sahre
lang im preffenden Rod, mit Hunderten fremder Gefellen
in der Kaferne eingepfercht, die Waffen rühren lernen, die
ihm fo herzlich widerftanden, er, der ſich gewöhnt, einfam
mit feinen Gedanten in Wald und Werfftatt zu haufen
und nur der ftillen Gebildniffe auf Gottes Erdboden zu
achten, der eben erft in Wonne und Hoffnung, frei wie
Judith, die Kiusmwirtin 75
ein flügger Vogel, aus dem Nefte gelugt, er war wie zer-
fhlagen, und zum erftenmal ward id) inne, daß ich aus
einem andern Blute entfproffen fei als der, welchen ich
bisher wie einen Teil des eignen Lebens empfunden; ja,
wäre ed angegangen, ich würde mit Freuden für ihn in
feine Pflicht eingetreten fein.” — „Glaub's, glaub's!“ fagte
der geiftliche Herr mit gutmütigem Spott, indem er das
Mädchen auf die Schulter Elopfte; „die Sungfer Klus⸗
wirtin wär fchon fo eine, die’d mit dem Mannsvolfe
aufnahm auch im Waffenfpiel.” — „Warum nicht, Herr
Pfarrer?” verfegte Judith ernſthaft. „Wenn Drang und
Schande vom Boden abzumwälzen wäre? In alten Landes⸗
büchern ift’8 zu lefen, daß die Weiber mit den Männern
wider den Feind gezogen find, und mein Vater hat eine
gekannt, die gegen den Napoleon im Kampfe gefallen ift,
und das war nur eine Magd, Herr Pfarrer, nicht von
Haus und Hof, über welche ihre Altvordern ald Herren
geboten haben.“
Die ftolze, troßige Kraft des Mädchens ftand bei.diefen
Worten fo deutlich in dem feften, ruhigen Blicke ihres
Auges gefchrieben, daß der Pfarrherr halblaut zu ſich
felber fagte: „Gott halte in Gnaden die Tage fern, wo
ſolche Weibertugend dem Baterlande ein Wall werden
muß!” — Doch mahnte ihn ein Blick zum Himmel, feiner
befchaulichen Neigung Einhalt zu tun. Die Sonne war
hinter einen Wolfendamm zurüdgetreten, die Atmofphäre
drückte immer tiefer mit der bleiernen Ruhe, welche dem
Kampfe voraudgeht. Er forderte daher feine Begleiterin
zur unverzüglichen Fortfegung ihrer dem Ziele noch fern
fcheinenden Mitteilung auf, indem er fagte: „Alfo der
Simon fcheute ſich vor dem Kriegshandwerf nach feiner
76 Judith, die Kluswirtin
friedfertigen Naturanlage und vor der Vorbereitung zu
derſelben, weil fie einen mehrjährigen Aufſchub in dem
erwählten Berufe mit fid) brachte?” — Judith neigte zu⸗
ftiimmend den Kopf und befchleunigte nach einem ſchweren
Atemzuge ihre Rede, indem fie die Einleitung abjchloß
und mit der nachfolgenden Szene in die eigentliche Hands
lung ihrer Geſchichte überging.
„Am Abend vor feiner Einfleidung fam der Simon
nach der Klug gleidy einem halbtoten Mann. Mich vers
droß dieſes verzagte Weſen, und ed war das erftemal,
daß mich etwas an diefem Menfchen verdroß. Im Kaufe
war juft Widerwärtiged zu fchlichten, ich gönnte dem
Simon fnapp das Wort, und er ging in die Schentitube,
wo mein Bruder in wüfter Gefellfchaft um den Punfch-
napf faß. Sie qualmten, lachten, tobten, zeterten, fangen
Schelmenlieder kraus durcheinander. Der Simon feßte
fidy unter fie, ohne den Mund zu rühren; aber fooft id)
von ungefähr in das Zimmer trat, fah ich ihn ein Glas
von dem hißigen Gebrau auf einen Zug hinunterftürzen.
ch hatte niemals ein Übermaß und felber nicht ein Wohl:
behagen am Trunk bei ihm wahrgenommen; jeßt, da ſich
fein Geficht immer fahler und fahler dehnte, ftieg eine
furdhytbare Mutmaßung mir zu Kopf. Sch fam eben von
meinem Bater, den ich in tobfüchtigem Taumel in feine
Kammer eingefchloffen, ich bebte noch vor verhaltenem
Grimm, und bei jedem Becher, den der Simon zu Munde
führte, zudte mir ein Mefferftich dDurd) das Herz. Da faß
er kreideweiß, ftierte in einen Winfel und merfte e8 nicht
einmal, daß ich die Stube nicht mehr verließ und meine
Augen faum von ihm verwendete. Als ich ihn nach dem
Punſch gar noch ein Glas reinen Branntweind an die
Judith, die Kluswirtin 7
Lippen führen fah, hielt ich mid) nicht länger, flog an ihn
heran, riß ihm das Glas aus der Hand und fagte heftig:
‚Keinen Tropfen mehr!‘ Die Kumpane lachten überlaut,
der Simon aber fprang einer Leiche ähnlich in die Höh
und ftürzte ſtumm, mit wirren Bliden aus der Tür.
„Sch folgte ihm, fobald ich mich von den höhnenden
Geſellen losgemacht. Es war im vollen Mond, die Luft
Har wie bei Tageslicht. Hier oben am Kampborn ers
reichte ich ihn; er lag ftöhnend am Boden, dad Geficht
auf die Raſenbank gepreßt. ‚Simon!‘ rief ich ihn an. —
Er richtete fidy anf, fein Auge war ruhig wie fonft. ‚Sei
gut, Subith‘, bat er mit ber fanften Stimme aller Tage
und bot mir ferne Hand. — Ich zog die meine zurüd.,
‚Simon,‘ fragte ich jest, ‚haft du's fchen öfters getrieben
wie diefen Abend?‘ — ‚Sch habe noch nie einen Raufch
gehabt,‘ antwortete er, ‚und ich habe auch heute feinen.‘
Und in Wahrheit, einen Raufd) hatte er nicht; aber juft,
daß er feinen hatte nach dem, was er zu ſich genommen,
machte mir fo ſchwere Gedanfen. Er mußte an ein reich⸗
liches Maß gewöhnt fein. ‚Aber bu trinkt, Simon, bu
trinkſt!‘ fagte ich. ‚ Dann und wann auf der Klug, du
haft es alle Tage geſehen. — ‚Sch habe es niemals ges
fehen, und du folk, du darfft nicht trinfen, Simon.‘
„Er feste fidy auf Die Bank und blickte ohne Erwiderung
in den Born. ‚Böre, Simon,‘ hob ich nach einer Stille
wieder an, ‚bu trittft in das Soldatenwefen und in eine
arge Berführung, wenn einer nicht von Grund aus einen
Damm dagegen zieht. Gelobe es mir, Simon, gelobe es
dir felber hier vor dem reinen Duell, den dein Blick aus
dem Berborgenen gelodt, daß du deinen Leib in Ehren |
halten wirft. Nie einen Tropfen, Simon, niemals, nies
78 Judith, die Kiuswirtin
mals!‘ - ‚Nie einen Tropfen?‘ wiederholte der Simon
traurig, nachdem er eine Weile gefonnen. ‚Sc darf nicht
geloben, was ich leichtlich nicht halten könnte unter den
vielen, die ed anders treiben, ober wenn der Leib ernüchtert
zufammenbricht und das Herz gar — ach, Sudith, Judith!“
ftöhnte er. Da ich mich aber unmwillig von ihm wendete,
faßte er fich, indem er mit Gewalt meine Hand ergriff,
und fprach in heiligem Ernft: ‚Was ich dir aber gelobe,
Sudith, ift, daß ich nie bei einem wüften Gelag wie biefe
Nacht und nimmer einen Tropfen zuviel trinfen will.
Bei diefem reinen Wafler, Subith, nimmer! Und wenn
ich's nicht halte, follft du mich nicht deiner wert achten
und mich nicht mehr Tiebhaben wie bisher. Alfo ſei's,
Judith. Ich fage nicht: keinen Tropfen, aber nen
Tropfen zuviel, um deiner Liebe willen.‘
„Ich legte nun freiwillig meine Sand in bie feine und
feßte mich in Ruhe an feine Seite. Denn ich traute
feinen Worten, ald wären es Gottes Worte, und ahnete
nicht, daß das Boͤſe Macht habe über einen guten Men:
fhen gegen feinen Willen und gegen feinen Schwur. Wir
faßen lange Hand in Hand und redeten fein Wort. Es
lag eine warme Feuchte in der Luft; ringsum fein Laut,
kein Hauch, nur der Born tröpfelte facht wie ein Sang
aus dem untern Bereich. Und wie wir fo faßen und die
Tränen aus Simond Augen auf meine Hände niederträus
felten, da war ed, ald ob ein neues Leben aus feinem
Herzen in meines zöge; mid) überlief es heiß und wieder
kalt; ed drängte mid) zu ihm, und ich rückte Doch von ihm
fort. Aber jählings fchlingt er feinen Arm um meinen
Leib und brücdt mid an ſich. ‚Daß ich dich laſſen ſoll,
Judith, murmelt er wie erftict, ‚daß ich von dir fol, das
Judith, die Kiuswirtin 9
iſt's, das iſt's! — Ich zitterte wie ein Rohr im Sturm,
aber ich riß mich von ihm los, preßte meinen Aufruhr
hinunter und redete ihm zu. ‚Du gehft nicht aus dem
Lande, Simon.‘ — ‚Aber von dir, von bir!“ - ‚Wir werden
zueinander halten wie bisher.‘ — ‚Aber nicht mehr beiein-
ander fein, in Ruhe, alle Tage, Aug in Auge, Sand in
Hand. Nur felten, felten im Fluge. Dich nicht mehr
fehen, Sudith, dich nicht mehr haben, alled andere — aber
das! Ach Sudith, wie hatte ich ed mir ausgemalt! Sekt
lernſt du was, hatte ich gedacht, und wirft etwas, daß
der fremde Mietling mit Ehren um die KHoftochter wer-
ben kann. Und wenn du was fannft und was bift -
Sudith, als wir Kinder waren und manchmal traurig, da
tröfteten wir und, daß wir groß werden und und heiraten,
und alles war gut. Und fo dachte ich wieder, daß es
gefchehen fol, feit mein Vater tot ift; jeglicdye Stunde hab
ich's gedacht, im Wachen und im Traum.‘
„‚Und warum heute nicht mehr, Simon?‘ fragte ich,
denn ich war plöglich feft und Flar geworden in mir felbft
und wußte, daß wir ung liebhätten wie Mann und Weib.
‚Drei Jahre Frift, was tut’d, wenn einer dem andern
traut?‘ — ‚Wahr, Judith, wahr!‘ rief er mit frifchem
Leben und zog mid) noch einmal an fich, und diesmal
ließ ich e& gefchehen ohne Scheu. ‚Du willft harren und
mein fein, Judith, wahr, wahr?“ — ‚Sch will harren, daß
ich dein fei, Simon, und wäre es zehnmal drei Jahre.‘ -
Er Ioderte wie in Flammen, er ſprach Worte, Worte,
hier drinnen ftehen fie mit Xettern, er - er -—.” — Das
Mädchen flüfterte nur noch; der Schauer einer feligen
Erinnerung durchbebte fie.
Sp fchritt fie eine lange Weile. in ſich verfunfen; fie
80 Judith, die Kluswirtin
ſchien ihren Begleiter vergeſſen zu haben, der ihr mit ge⸗
ſenkten Blicken folgte und fie endlich durch ein Räufpern
an ihre Aufgabe erinnerte. Sie errötete, befann ſich und
fuhr fort: „Seine Zweifel wachten wieder auf. ‚Drei
Jahre, tagte er, ‚und du bift fiebenzehn, Sudith; Die
Männer fehen dich an mit Blicken — du merfft es nicht,
aber ich, ich — diefe Nacht der Papiermüller —!“ - ‚Was
verfchlägt’S?“ fagte ich, verdroffen über derlei Anwand-
lungen. - ‚Er ift ein Reicher, ein Stadtbürger, und du
bift eine Hoftochter, Sudith!" —, Was verfchlägt’8?‘ fragte
idy noch einmal. — ‚Die Wirtfchaft liegt im argen; einer,
der Geld hat, ift ein Fund. Sie werden did, zwingen,
dein Bruder mit Spott, Die Mutter mit Tränen, der Vater
mit Zorn.‘ — ‚Sch laſſe mich nicht zwingen‘, fagte ich.
„Und das ift wahr; Herr Pfarrer, ich hätte mich nicht
zwingen laffen, weder mit Spott und Zorn, noch audı
mit Tränen, nicht von dem einen weg und noch weniger
dem andern zu. Sch hätte mich nicht zwingen laffen, auch
wenn der Simon wirklich nur ein armer Mietling und
ich ſelber noch eine Hoftochter gewefen wäre, wie fie zu
Väterzeiten auf der Klus geworben worden find.” —
„Glaub's, glaub's“, murmelte der geiftliche Kerr. - Das
Mädchen aber fuhr, ohne der Unterbrechung zu adıten,
fort: „„Ich Taffe mich nicht zwingen‘, erklärte ich, und
der Simon beruhigte fich, und wir faßen noch lange beis
einander oben am Born wie Bräutigam und Braut.
Dann ging der Simon fort, die legte Nacht in feinem
Haufe zu fchlafen — und das find fommenden September
dreizehn Jahre.“
Wieder ging Sudith eine Weile fchweigend voran, und
ber Pfarrer folgte ihr in faum geringerer Bewegung ale
Judith, die Kluswirtin 81
fie ſelbſt. Die Zeichnung des Simon ftimmte zu feinen
Borausfegungen; aber wie verändert, wie verwirrend die
Lage! Wo er tödliche Kränfung, Haß, Nachegefühl wohl
gar vermutet, fand er Liebe, Liebe fo tief haftend, wie er
fie in feinem Stilleben nimmer in einem Weiberherzen
geichaut. Das Mädchen war des Mörderd Braut, nicht
bed Gemordeten. Der fromme Mann begriff, wie der
Verdacht gegen feinen Schügling unter dieſem neuen Lichte
wuchd, wenn die Triebfeder der Eiferfucht weiteren Raum
gewinnen follte, und fo hörte er mit einer faft kindlichen
Spannung dem Lauf der Entwidlung zu.
„Mit dem Tage, an weldhem der Simon die Nachbar⸗
fchaft verlaſſen,“ erzählte Sudith, „da fchien es, als ob
ein guter Geift vom Klushofe gewichen fei, der die legten
Spuren von Drönung und Frieden darin gebannt. Mein
Bruder, der feinen einzigen redlichen Anhalt verloren,
wirrte ſich immer dichter in Zeufeld Garn, beim Vater
fam die Krankheit zum Ausbruch, Die man mit Grund
einen Wahnfinn nennt; mich aber, Herr Pfarrer, mid
wurmte die überfchwellende Schande um fo tiefer, feitdem
ich einen braven Menfchen mein eigen nannte, auf den fie
durch die meines Blutes überging. Mein Herz verhärtete
ſich gegen Vater und Bruder, feitvem fein Sänftiger fort-
gezogen war; nur gegen die Mutter, die unſchuldsvoll
vertrauend, lachend diefe Minute und die nächfte weinend,
inmitten des wüften Getriebes fand, gegen fie fteifte es
fid) wohl nicht; aber das Leidwefen, mit welchem ich auf
die gute Frau herniederfchaute, wie auf ein Kind, das
feiner in feinen Nöten um Huͤlfe anfpricht, das lag von
der Härtigfeit nicht weit entfernt.”
„Eine Frage, mein Kind“, fchaltete an diefer Stelle
82 Judith, die Kluswirtin
der Pfarrherr ein. „Wußten die Eurigen um das Ver⸗
löbnis mit dem Simon?” — „Nein, Herr Pfarrer”, ant⸗
wortete Sudith. „Sch würde ed nicht verhehlt haben,
hätte einer darauf gemerkt und danadı gefragt; aber frei-
willig befannt habe ich es auch nicht bei der Verfaflung
im Haus und viele Sahre vor der Zeit, da ed galt. Sch
ging meinen Weg für mich, und der Weg war rauh. -
Der Arzt meines Vaters, von Shrem Vorgänger im Amt,
Herr Pfarrer, unterftüßt, brachte eine Behandlung in
Borfchlag, die einzige, wie man fagt, die einen audgeartes
ten Trinfer auf Maß und Vernunft zurüdzuführen ver:
mag.” — „Speife und Trank mit Branntwein zu verfegen,
gelt?“ fragte der Begleiter.
„Sa, Kerr Pfarrer, nicht ein Tropfen und Biffen uns
vermifcht. Eine graufame Verordnung und gefahrvoll,
. wenn ber Leib erft verbrannt, dann verefelt, nicht all-
maͤhlich eine nüchterne Koft ertragen lernt. Auch ſtemmte
die Mutter ſich mit ihren letzten Kräften gegen das Unter;
nehmen, das fie eine Vergebung nannte; mein Bruder,
gleichgültig oder fchwanfend, ließ mir freie Hand, und
der Simon mißbilligte ed zwar nicht, aber ich fpürte gar
wohl, daß ihm das Herz gefehlt haben würde, es gegen
den Widerwillen und die wachſende Schwäche des Kranfen,
wie gegen Vorwürfe und Tränen der Mutter durchzufeßen.
Sch hatte dieſes Herz, Herr Pfarrer. Sch allein bereitete
und reichte dem fich Sträubenden die efle Nahrung, ich
überwadhte und wehrte ed, wenn die Mutter einen unvers
mifchten Tropfen oder Biffen unterzufchieben verfuchte;
ich dachte eine Seele zu retten auf Koften und Gefahr
eines halbzerftörten Leibes — und ich habe mich Feiner
Sünde angellagt, als die Probe mißlang. Nein, nein!”
Judith, die Kluswirtin 83
Das Mädchen blickte düfter, und ihre Stimme Fang herb
bei diefer Rechtfertigung. Ihr Begleiter fuchte vergebens
nach einem tröftenden Zufpruch, aber fein Auge feuchtete
fich in jenem tiefften Erbarmen, das uns erfüllt, wenn
wir den Frieden des Herzend einem gerechten Willen zum
Opfer fallen fehen.
„Kaum daß die Augen meines Vaters fich gefchloffen,“
fuhr fie fort, „ald auch die zeitweiligen Notftüßen bes
Hauſes jac und fehnöde zufammenbrachen. Die Feind-
- feligfeiten der alten Nachbarn gegen das fremde Weſen
traten mit Schadenfreude zutage, — nein, Herr Pfarrer,
nimmer dürfte der Sylvian in diefer Gemeinde ald Bauer
hantieren! — Die neuen Freunde zeigten nur Mißtrauen
gegen den verrufenen Erben, den fie felber erft in Verruf
gebracht. Bon Feiner Seite eine helfende Hand. Drohung
jagte die Drohung, Klage die Klage, Pfand das Pfand -
und der Leichnam ruhte noch über der Erde. Leib und
Seele der Mutter, ſchon durch das Kranfenbett im Grunde
erfchüttert, brachen zufammen in diefem Sturm, den
Bruder wirbelte er hierhin und dorthin wie ein mürbes
Blatt, - am Ende übers Meer; ich, ich fteifte mich, ich
trogte ihm, Herr Pfarrer, und ich habe ihm ftandgehalten.
„sc hätte jeßt gehen, die alte Frau und den Knaben
zu mir nehmen und ftill mit ihnen leben fönnen bis zur
Bereinigung mit dem Simon, die mir als Ziel Tag und
Nacht vor Augen ftand. Ich arbeitete gern und befaß ein
mäßiges Erbteil, das eine fächfifche Muhme um meines
proteftantifchen Glaubens und des durch ihre Patenfchaft
mir zugefallenen Namens willen für mich hinterlaffen; ich
war auf die Verwendung eines treumeinenden Anwalts
in ber Stadt, der die Verhältniffe durchfchaute und mir
84 Judith, die Kluswirtin
auch ſpäterhin redlich geraten hat, vor der Zeit von den
Gerichten mündig geſprochen worden; kurzum, ich konnute
gehen. Aber mein Sinn ſtand anders. Ic hatte ein
Recht, auf dem Hofe zu bleiben, und ich blieb. Freilid,
ohne Unterlaß in Kämpfen mit meinem Bruder, in häß-
lichen Kämpfen, Herr Pfarrer, denn ed galt dad Mein
und Dein zwifchen Erben eined Bluts. Zuvörderft um
den Nachlaß der Muhme, mit dem er fid, zu retten ges
dachte und welchen der Plänefchmied, der nie einen fichern
Untergrund gefühlt, früher nody als fein Batererbe in
eiteln Luftfchlöffern verfchwindelt haben würde. Dann
aber um die Werbung des reichen Müllers, des einzigen
der windigen Kumpane, die bei ihm ftandgehalten, weil
er fein Auge auf mid) geworfen und auf unfere Not feine
Hoffnung baute. Aber ich wehrte mich, Herr Pfarrer.
Sch wehrte mich für mich felbft, für eine alte Mutter, für
ein fchuglofes Kind, für den Hof meiner Väter, vor allem
jedoch für den Mann, dem ich meine Treue verlobt, und
darum würde ich auch gegen einen herzhafteren Angriff
die Oberherrfchaft behalten haben.
„Es währte nur kurze Zeit, bis er einfah, daß er den
Hof nicht behaupten könne. In der wüften Schenfe hers
bergte nur noch wuͤſtes Geſindel; die Landwirtfchaft ftand
ftill. Es hätte flein und von Grund aus wieder angefangen
werden müffen, aber Bauernarbeit efelte ihn an, und Rat
wie Tat verfingen um fo weniger, weil id) ed war, die fie
bot. Denn, Herr Pfarrer, wir ftammten aus einem Blut,
aber unfer Wefen widerftand ſich wie Waffer und Öl; es
fam zu feiner Einigung. Auch fiel ihm der Entfchluß, fein
Batererbe Ioszufchlagen, nicht fchwer. Defto ſchwerer Die
Ausführung. Er hatte auf reichliche Überfchüffe gerechnet,
Judith, die Kluswirtin 85
hundert ſchwindelnde Pläne auf dieſe Überfchüffe entwor⸗
fen, heute diefen, morgen einen andern, — und er erhielt
nicht ein Angebot, das feine Schulden gededt. Die Aus⸗
wanderungsfucht war dazumal gleidy einer Krankheit felbft
unter den Vermöglichen im Lande eingeriflen, Grund und
Boden im Wert gefunten; die begonnene Eifenbahn mußte
den Berfehr auf der Landftraße. verfchlingen, faum noch
ein Sahr, und der Klusgafthof ftand ohne Einkehr, die
weitläufigen Baulichfeiten hatten feinen Zwed; ganz nas
türlich, daß Feiner kaufen oder nur um ein Spottgeld
faufen wollte.
„Meine Stunde hatte gefchlagen, jet trat ich auf. Ich
tat ein Gebot, das juft die Pfandgläubiger befriedigte, und
mein war dad Anmefen, wie ed ftand und lag. Mit den
Wucherern und Spielgefellen, dem Papiermüller an der
Spige, unterhandelte ich kurz und fcharf auf Frift; meinen
Bruder felbft, der jegt in meine Hand gegeben, hoffte ich
durch Not zur Ordnung umzuwandeln. Das Schenfen-
wefen wurde nur noch obenhin unterhalten, übles Gefindel
unerbittlich von der Tür gewiefen, die Landwirtſchaft da⸗
gegen fräftig in Angriff genommen, manches verbröcdelte
Aderftüc mit der Zeit wieder eingelöft. Und Wiefe und
Feld, Herr Pfarrer, fproßten nach der langen Brache em⸗
por, aber die Saat in dem Menfchenherzen blieb ohne
Keim. Er war in meiner Gewalt, und id; weiß feine
Zucht, die mir zu ſchwer gewefen. Gute wie böfe Worte
vermwehte der Wind; gegen den Zwang feßte er die Flucht.
Freilich um wiederzufehren, denn Nachhaltigkeit war nicht
feine Natur, auch nicht in der Bitternid. Sch gab den
Bruder, den Altern Bruder, auf und handelte wie gegen
einen Knecht, endlich wie gegen ein Kind. Sch feste ihn
86 Judith, die Kiuswirtin
auf Lohn, auf Tagelohn gar, nad, dem Maß feiner Arbeit;
ich ließ ihn darben, fperrte ihn aus und fperrte ihn ein;
ja, ich fperrte ihn ein, hielt ihn gleich einem Gefangenen
im eigenen Haug, wenn er durd, Spiel oder Augfchweis
fung eine Strafe verwirft, die idy mid, bis zum legten
fcheute vor den Gerichten öffentlich zu machen. Als aber
alles nicht verfchlug, wı.ßte ich am Ende feinen Rat ale
den der härteften Not, einzig auf eigene Kraft im fernen,
noch unwirtbaren Land.
„Der Plan der Ausführung widerftand ihm keineswegs,
im Gegenteil, das fremde Leben lockte ihn. Aber vor der
Ausführung zuckte er zurück. Nicht einmal, zehnmal, Herr
Pfarrer, war er fort und wieder da. Nur noch Diefen Glücks⸗
verfuch in der Heimat, oder jenen, der ihm auf dem Wege
eingefallen, nur die alte Mutter noch einmal fehen, oder
fein Kind und Sylviad Grab! Und dann umflammerte
er meine Kniee, weinte, raufte fic dad Haar — eine Stunde
fpäter aber fang er Schelmenlieder oder knöchelte mit
irgendeinem wüften Gefellen. Gegen Sturm und Troß
hätte ich’8 aufgenommen, aber ich hatte weder Macht noch
Duldung gegen ein windwendifches Wefen wie diefes.
Seine Gegenwart brannte mid; wie zehrendes Feuer, zu⸗
mal feit ich gewahr ward, daß das Kind, der Sylvian,
feine ernfthaften Augen dafür aufzufchlagen begann. Er
mußte fort ohne Erbarmen, und fo wurde denn endlich
die drohende Haft des Turms, einer Wechfelfchuld halber,
die er von neuem im Spiel eingegangen, die Rute, Die
ihn trieb. F
„Ich hatte dieſe Schuld eingeloͤſt, aber ohne ſein Vor⸗
wiſſen, Herr Pfarrer; denn mit freier Wahl würde er
nimmer gegangen ſein, dagegen die Heimlichkeit einer
Judith, die Kiuswirtin 87
Flucht feine Einbildung kitzelte, taufenderlei Anfchläge
gegen abenteuernde Gefahren ihm ald Kurzweil aufftiegen.
So fchied er. Fort aus feinem Land, fort von Mutter
und Kind. ‚Wenn du ihm Bater fein kannſt, kehre heim‘,
hatte ich gefagt. Er ift nicht heimgefehrt, und ich, ich
habe ihn fortgetrieben, vielleicht in fein Verderben, viels
leicht in fein Grab - erft den Bater, dann den Sohn!” —
„Ihr tatet, was recht war und darüber, arme Tochter”,
fagte der Pfarrer, ihre Sand drüdend, und Sudith vers
feßte mit fchneidendem Ernft: „Es war recht, und ed war
not, Herr Pfarrer. Aber wer alfo recht tun müffen, der
wird nimmer wieder froh.
„Sc habe, Herr Pfarrer,” fo nahm fie nach einer
gegenfeitigen Stille ihre Mitteilung wieder auf, „ich habe
eine lange Weile nur von mir verhandelt, und es ift doch
eines andern Schickſal, dad Sie zu wiflen begehren. Die
Wahrheit ift, daß ich den Simon während feiner Sol-
datenzeit nur felten und im Fluge gefehen, da bald nadı
feinem Eintritte dad Regiment in einer entlegeneren Ges
gend Quartier bezog, und daß ed mir lieb war, meine
Anfechtungen ohne feine Zeugenfchaft Durchzuftreiten. Alles
zeit aber hat er im Hintergrunde meiner Gedanken ges
ftanden. Ich fagte wieder wie ald Kind: ‚Noch found
fo viel Monden und du bift ded Simond, und alles ift
gut!“ Sc fputete mic, darum Nacht wie Tag, um alles
rein und ehrbar hergeftellt zu fehn, wenn er ald Herr eins
ziehen werde in meiner Väter Hof, hatte auch niemals ein
Arg, daß er feinen Leib anderd ald rein und ehrbar ers
halten haben werde nad) feinem Schwur. Es war eine
Zeit der Probe für ihn wie für mich; vielleicht aber, daß
fie nicht ein fo graufames Ende genommen, wenn id} ſchon
88 Judith, die Kluswirtin
damals wie fpäter eingeſehen, daß feine Aufgabe die
ſchwerere war. Sch ftritt wider die Unart der andern
und fchaffte für mich felbft nad, eigner Art. Er hatte
andern ftillzuhalten gegen feine Art und zu ftreiten wider
eigene Unart. Sch konnte mich behaupten, denn ich war
richtig geftellt, aber mein harter Sinn am wenigften würde
eine Probe wie die feine beftanden haben. — Und weil ich
denn nicht aus Erfahrung ein Urteil über feine Verfaffung
in jenen Sahren abgeben, nicht beweifen kann, ob das
Lafter des Trunks zu einer ftändigen Gewöhnung in ihm
ausgeartet oder nur in gelegentlichem Ausbruche mir vor
Augen getreten ift, — wiewohl ich das leßtere glaube,
Kerr Pfarrer, — fo will ich mich num nicht länger fträuben,
Ihnen die Begegnung vorzuführen, die mich und ihn aus⸗
einandergebracht und "von welcher ich nimmer geglaubt,
daß meine Lippen fie gegen eined Menfchen Ohr berühren
würden. |
„Des Simon Truppe follte in der Kürze nach der Stadt
verlegt werden; zum Herbſt würde er des Dienftes ledig
gewefen fein; jett fohrieben wir April, und ed war an
dem Tage, an welcdyem ich auf die drohende Wechfelhaft
den Plan von meines Bruders Entfernung gebaut. Raſch
entfchloffen, machte ich mich auf den Weg nad) der Stadt,
um mit dem Anwalt Rüdfpradye zu nehmen. Denn in
der Sache war ich mit mir einig, nur über die gefeßliche
Art und Weife mußte ich mir Auskunft verfchaffen, zumal
den Durchftedlereien des Müllers gegenüber, deflen hinter-
hältige Lauer ich fannte. Ich hatte meinen Bruder allein
in der Schenfftube verlaffen, die nod, mäßig im Gange
war und bis zur Vollendung der Eifenbahn bleiben follte.
Denn mit dem Geld ging ed mir fnapp zu der Zeit, fo
Judith, die Kluswirtin 89
daß ich mich eines Vorteils nicht leichtlich entſchlagen
durfte. Nebenbei ſcheute ich mich vor einer Veraͤnderung
Knall und Fall, da die Sache in Bälde ohne Aufſehn
einfchlummern mußte; vor allen Stüden aber hatte ich
mich darauf gefeßt, daß das urväterliche Recht nicht in
dem Verruf von meines Bruders Betrieb, fondern in An-
ftand und Ehren feine Endfchaft erreichte. - Mit ſchwerem
Herzen fchritt ich auf dem Wege, den ich heute zum erften
Male feit jenem Tage wieder betrete, und glaubte einen
Boten von oben gewahr. zu werden, ald ich plößlich den
Simon aus feinem Waldhaufe treten fah.
„Er trug wieder den fohwarzen Bergmanndfittel, an
dem er in aller Eile noch Enöpfte und fchnallte, die bunte
Soldatenmütze auf feinem Kopf aber fchleuderte er hoch
in die Luft und jubilierte wie eine Xerche, da er mich ers
fannte. Er fand faum Worte vor Saft und Luft - er war
frei und entlaffen ein halbes Sahr vor der Zeit, der glück⸗
feligfte Menfch auf Gottes weiter Welt! — Die gute Bot-
fchaft tröpfelte Balfam auf meine äßenden Schrammen.
Nun hatte ich ihn, durfte ihn halten und hegen, und alles
Schwere fchien mir federleicht. Dennoch ald er Miene
machte, mich nach der Stadt zu begleiten, wehrte ich ihn
ab. ‚Spare dad Gerede,‘ fagte ich, ‚bis alles in Ruhe
und Ordnung ift. Geh voran zur Klus. Am Abend
fprechen wir und allein vor dem Born oder oben bei
Mutter“ Er ftuste wohl bei diefer Zimperlichfeit, war
aber zu froh zum Verdruß und flog mehr ald daß er ging
auf dem Klusmwege zurüd.
„Mein Gefchäft z0g fich unerwartet in die Länge, die
Sonne war fohon gefunfen, bevor ich den Heimweg ans
trat. Aber e$ war abgetan, der Simon heim und mein
90 Judith, die Kiuswirtin
Herz froh wie noch nie. Ich hätte fingen mögen, nur daß
id, von Natur feinen Sang in Ohr und Bruft gefühlt.
Sch ging wieder durch den Wald. Wäre er doch mit mir
gewefen! Wie reute mich jegt meine ſchwachmuͤtige Ans
wandlung. Hinter jedem Baum glaubte ich ihn hervors
fpringen zu fehn. Am Waldhaufe lauert er doch, hoffte
ich, und ald er auch am Born nicht Iauerte, war ich vers
droffen gegen ihn, aber weit, weit mehr gegen mid) felbft.
Sch flog nur noch vor Ungeduld und trat vom Hofe her
in das Haus,
„Aber ſchon im Flur höre ich ein Suchhet, daß das
Herz im Leibe ſich mir wendete; ich öffne und ftehe auf
der Schwelle wie gemurzelt. Da fiten der Müller, mein
Bruder und — der Simon um den Dampfenden Napf, und
feiner, auch der Simon nicht, bemerft mich unter dem
Dualm und Lärm. Sch kann nicht fagen, daß Völlerei
von Grund aus meined Bruders Lafter gewefen; nur
wenn Gefelfchaft oder Spiel ihn erhißt, geriet er in ein
Übermaß; heute aber war er trunfen von außen und innen.
Die Augen zudten Blige, Hände und Füße flogen wie
die eines Gliedermanneg, fraufe Reden und Reime fchwirr-
ten gleich Irrwiſchen zwifchen feinen Tippen hervor. Er
hatte den Freunden das, was er als eine Heimlichkeit aus⸗
zuführen gedachte, enthüllt und fchilderte im voraus Herze⸗
leid und Gefahr feiner Trennung und Flucht. Mein Name
wurde genannt ald der einer graufamen Drängerin, der
Müller wie ein Bruder und Helfer gepriefen. Dazwifchen
glogte und brüllte diefer rohe Kumpan gleich einem Stier.
Nur der Simon gab feinen Laut, Flingte aber an bei
jedem neuen Spruch und leerte dad Glad auf einen Zug
öfter ald beide zufammen. Er fah weiß aus wie ein Geift.
Fudith, die Ktuswirtin 9
Die aber weiß und flumm werden im Trunf, denen ftaut
fi) das Geblüt und wirbelt die wilden Triebe in die
Bruft, die fonft gebannt in heimlicher Kammer ruhen.
„Die Empörung brach aus, ich ſchlug heftig die Türe
zu. Mein Bruder ftürzte auf mid) zu, riß mid; mit Ges
waltan den Tifch und preßte fein Glas an meine Lippen. -
‚Mein Kenkertrunf!‘ fchrie er, ‚du der Henker, Dithel,
trinke, trinke! — Sch nahm ihm ruhig das Glas aus der
Hand und feßte ed auf den Tifch, Meine Kehle war zus
gefchnürt, aber es mag wohl ein giftiger Blick gemefen
fein, der ftatt ded Wortes zu dem Sinnlofen hinüber fchoß,
denn er ließ mid) log, ftarrte mid; an und fagte gewichtig,
als wären feine Worte Gold: ‚Sa, du Madıt, Weib,
denn du haft Willen, ja, du haft Willen, denn du haft
fein Herz. Weib ohne Herz, du umgarnft einen mit
deinem Willen, wie die Spinne die Fliege mit ihrem Ne.
Den eignen Mann fpönneft du ein, faugteft ihn aus und
fpänneft fort. Spinne du, Dithel, Spinneweib, Spinne!‘
„Und fo ftrömte er weiter in nichtönugigen Anflagen
und Klagen, wie ich fie fchon oftmals vernommen und
überhört. Kein Menſch konnte wiflen, Herr Pfarrer, was
Wahrheit oder Schaufpiel in dem Menfchen war. Und
jählings wirft er ſich an die Erde, umſtrickt meine Kniee,
. daß ich mid; niederfegen muß, um nicht zu fallen, fchluchzt,
daß ihm die Tränen wie Bäche über die Backen rinnen,
und beginnt feine alte Litanei: ‚Nette mich, Dithel!‘
ftöhnte er, ‚ftoße dein Blut nicht von dir, Schwefter!
Das Meer ift tief, tief und fo fern, fo fern! Laß mid
nicht unterfinfen; deine Sand, Dithel, deine Hand! Da
fißt er, der reiche Mann!‘ — Er wies auf den Müller, der
Iallend mit dem Kopfe nidte und feine Arme nad) mir
92 Judith, die Kiuswirtin
ſtreckte. —, Kröſus heißt er, der reiche Mann, und Mam⸗
mon hat er, nach dem du anferft und mit dem du geizeft,
Dithel! Nimm ihn, nimm ihn, den reichen Dann. Du
haft es ihm angetan, Dithel! Da, da, feine Sand! Sage
ja, zerreiße den Schein, rette mich, rette mich, Dithel!‘
„Sch hörte nur noch wie im Traum, blickte nur fcheu
nach dem Simon hinüber, der zufammengefunfen, ftumm
und weiß wie ein Götze fein Auge in meines bohrte, —
nicht mehr ein Menfchenauge. Sc; fürdhtete mich vor ihm.
Ich ertrug ed nicht länger, ftieß mit der Hand den Müller,
mit dem Fuß den Bruder von mir, daß der Tifh mit
Glaͤſern und Lichtern zu Boden ftel, und fo im Dunfeln
ftürzte ich aus der Tür und in meine Kammer hinauf. —
Sch warf mich zu Boden, meine Sinne vergingen.“ Judith
ftockte, ald werde ihr die Kehle zugefchnürt. „Eine Beichte,
eine Beichte!” murmelte fie; „gut, gut, auch das! — Ein
fengender Atem an meinem Geficht - eine eifigkalte Hand
um meinen Leib — Töne, Töne — wir rangen — ein Augens
blid — Wut gegen Wut —!“
Sie machte eine Bewegung, als fcheuche fie ein Ge⸗
fpenft. „Denken Sie's — oder nein, denken Sie es nicht.
Es ift gejagt, gut, gut!” preßte fie hervor, und nad) einer
Paufe fuhr fie fort in fliegender Haft: „Hilf Gott, hilf
Gott!“ ächzt die Mutter nebenan. Seit ihrem Elend ihr
ftündlicher Sammerlaut. Der Wahnwitzige ftußt, ich reiße
mich los, raffe mich auf, jage aus der Kammer und fchließe
die Tür. Ich laufche. Alles feelenftil. Nun hinunter.
Sch hätte fchreien mögen vor Wut und Dual und dod)
jedes Auge und Ohr verjtopfen vor der Schmach, die
gleich einer Wetterwolfe über dem Haufe gehangen. Allee
war aus zwifchen mir und ihm, welchen ich im Herzen
Judith, die Kıuswirtin 93
zu feinem Herrn gefest, aber vor den andern mußte er
rein bleiben! |
„sch fpürte umher, die Wirtsſtube war leer, der Bruder
mit feinem Kumpan auf und davon, das Gefinde zur Ruh.
Sie fchliefen im Seitenbau, leiner wußte von dem Ges
fangenen oben in der Kammer. Sch zündete Licht an, daß
ed hell leuchte über Straße und Hof; ich durfte nicht
raften, ich mußte Ordnung unten fchaffen, um bei einem
anflägerifchen Zufall darauf hindeuten zu fünnen, daß ich
die Nacht nicht müßig in meiner Kammer verbradht. Eine
Nacht, eine Nacht ohne Ende! Mehr ald einmal brach
ich zufammen, hoffte, daß ich's nicht überftehen werde.
Aber dann fteifte ich, mich wieder und wollte es überftehen.
Sc hatte im Leben nur einen Menfchen zum Glück ges
braucht — ich wollte feinen Menfchen brauchen, fertig
werden ganz allein. ‚Beftien ſind's alle, alle!‘ fchrie ich
auf, und faum daß ich's ausgedacht, brach der Sammer
wieder hervor, und ich preßte mein Tuch in den Mund,
das Gefchrei in die Bruft zurüdzubannen. Treppauf,
treppab die ganze Nacht. Laufchen hier, Tugen dort.
Zehnmal ‚wollte ich hinein, dad Ungetüm zu erweden, zu
verjagen. Zehnmal prallte ic; zurüd. ‚Das Weiheengels
chen, den Friedendbringer!‘ ftöhnte ih. ‚Ein Augenblid
der Raferei gegen zwanzig Liebesjahre!“
„Der erfte graue Dämmer gen Morgen. Gebt mußte
es fein. Ich fürdhtete mid) nicht, aber ich zitterte; faum
daß ich den Schlüffel zu drehen vermochte. Die Kammer
war leer, das Fenfter offen. Sch beugte mich hinaus,
taufend Mefler in der Bruft, — da unten muß er liegen
zerfchmettert in feinem Blut. Nein, nein, da unten liegt
er nicht. Nicht im Rauſch hat er ſich hinabgeftürzt, mit
94 Judith, die Kluswirtin
ernüchterten Sinnen ſich über die Hecken auf die Straße
geflüchtet. ‚Fort, fort auf ewig!“ ſchreie ich in hellem
Wahnſinn und jage ihm nach über den Hof.
„Dben am Born, da liegt er auf feinen Knien, taucht
den Kopf in den Quell, nett Hals und Bruft und fühlt
ſich Har. Ein aus dem Grabe Erftandener! Mid; ſchau⸗
dert's über den Leib, fo fühle ich feinen Froft, und doch
in mir ein Sud und vor meinen Augen Sternenzuden.
Zurüd kann ich nicht; vorwärts, reden auch nicht. Sekt
richtet er fidy auf, bringt feine Kleider in Ordnung und
wird mein gewahr. Sc fahre zufammen, er nicht. Aber
traurig blidt er, todestraurig; in meiner legten Stunde
fehe ich ihn noch, diefen traurigen Blick. ‚Lebe wohl,
Judith', fagte er leife, daß ich's kaum verftand. Ich ftarrte
zu Boden und hatte feinen Laut.
„Dein Zreufpruch ift gelöft‘, hob er nach einer Weile
wieder an. — ‚Er gilt!“ hätte ich fchreien mögen — und
fagte fein Wort. Er aber redete weiter, gänzlich ruhig,
gänzlich gefaßt, wie einer, der auf feinem Sterbebette ab⸗
gefchloffen. ‚Ich Fenne mid) nicht mehr‘, fagte er. „Ich
bin nicht mehr ich; aber ich Fenne dich, Sudith, du bift
du, und fo wie du bift, habe ich dich Tiebgehabt bis heute,
und fo werde ich dich Tiebhaben bis and Ende. Hier am
Quell habe ich gelegen die Nacht hindurch, habe geraft
gegen mich felbft, und jetzt fehe ich's klar, weiß es, Ju⸗
bith, weiß ed. Wieviel Tropfen müßten aus diefem Born
rinnen, ehe du's vergißt, Sudith, vergißt, Daß ohne Gottes
Hülfe du eine warft, eine, die feinem Mann am Altar
ihre Treue verpfänden konnte, — auch dem Befchimpfer
nicht! Du nicht, Judith, du wahrlicdy nicht! Ich darf
nichts geloben, denn du glaubteft mir nicht, und ich felber
Fudith, die Kluswirtin 95
würde mir nicht trauen, feit ich der Unehre Raum gegönnt
und meinen Schwur gebrochen. Unfer Verfpruch ift gelöft.
Ich gehe. Aber wenn ich eined Taged dir wieder vor
Augen trete, dann wifle: es ift der Simon wieber, ben bu
liebgehabt, dann vergiß die böfe Stunde, Judith, und
bis dahin lebe wohl — oder für allezeit!“ — Er wendete ſich
und ging, ohne mir die Band zu reichen. Ich hätte ihm
meine Arme nadhftrecdlen mögen, ihn zurüdreißen, ihn an
mich reißen — und ich rührte mid, nicht und ließ ihn gehen.
Mit haftigen Schritten bog er in den Wald, nicht ein eins
zigesmal blickte er zurüd. Sch laufchte, den Atem ein,
gepreßt, und da id, den letzten Tritt verhallen hörte, ftürzte
ich ohne Befinnung auf den Grund.” — -
Ein ftöhnender Atemzug und eine lange Stille folgten
diefem martervollen Bekenntnis. Dem alten Priefter
zitterte das Herz. So tief war er noch niemals in ben
Grund einer Menfchenfeele gedrungen; Bilder, Triebe,
Geifter, die er faum geahnt, drängten fich fichtbar und
greifbar faft zwifchen die Klüfte der Rede; ihn ſchwindelte
vor diefen Wirbeln unter der glatten Dede des Alltags-
lebend. Und wie fie ſich brachen, diefe Wirbel, an der
Kraft eines unantaftbaren Gemüts, wie an feinem Widers
ftande der verunreinte Strom eined gutgefchaffenen Her⸗
zeng fich Mären müfle, das, fo hoffte der fromme Mann
zum Preife Gottes und feiner Kreatur, Das werde die end»
liche Löfung des Raͤtſels fein, die er gefucht.
„Als ich,“ fo griff Sudith ihre Darftellung wieder auf,
„als ich meine Sinne zurüdfehren fpürte, war es Tag,
aber über dem Sonnenlidhte hing ein Schleier, und mid)
dünkt, ald ob Gott der Herr ihn feit jener Stunde
nimmer in die Höhe gezogen. An jenem Morgen nahm
96 Judith, die Kluswirtin
ich das Schenkenzeichen von meiner Tuͤr, ließ die Liguſter⸗
laube faͤllen, und in der Kammer oben habe ich nimmer
wieder gefchlafen. — Bon dem Simon hörte und ſah ich
nichts. Mein Bruder wollte erfahren haben, daß er krank
barniederliege; ald er aber ging, ihn heimzufuchen, fand
er das Waldhaus leer und verfchloffen. Kein Menſch
vermißte ihn auf der Klug; das Gefinde hatte fich feiner
entwöhnt, Einfehrer wurden von der Tür gewiefen, und
meinen Bruder befchäftigten auch die nächften Menfchen
nur, folange er fie mit Augen fah oder allenfalls von
ihnen reden hörte. Zudem waren ed nur noch wenige
Wochen, in denen ed mit feiner Entfernung Ernſt wurde.
Anfangs fträubte er fich wohl noch, und Auftritte wie der
jenes Abends fehrten tagtäglich wieder; da er mich aber
unerbittlich fand, der drohenden Wechfelhaft vorzubeugen,
drängte er felber in die Weite, tüftelte Vorbereitungen
und Heimlichfeiten aus und fah fidy in der Einbildung
riefengroß wachen an Reichtum und Macht unter den
wunderlichften Abenteuern in einer neuen Welt.
„Sc ließ ihn gewähren und traf meine Anorbnungen
nadı dem Rate des Anwalts, der mir wie ein Freund
zur Seite ftand. Herr Pfarrer, möglich, daß alled andere
gekommen wäre, ald es fam, wenn der Mann, der unfere
Lage von Grund aus kannte, nicht an dem nämlichen
Tage, da mein Elend reif ward, an einem higigen Fieber
erkrankt und bald verfchieden wäre. Er hatte eine Schiffe»
gelegenheit unter einem firengen, aber zuverläffigen Kapi-
tän ausgemittelt; mein Bruder follte nach Auftralien zu
rauher Arbeit aufnoc, unbebautem, menfchenarmem Grund;
unwiſſentlich follte er ed, denn ihm felber lagen nur bie
Verlockungen großer Städte und die Leichtigkeit einer
Fudith, die Kluswirtin 97
Rückkehr von Amerika in dem Sinn. Ich gedachte ihn
bis an den Einſchiffungshafen zu begleiten, auf daß nicht
eine fremde Hand die ſeine zum letzten Male auf Heimats⸗
boden drücken, freilich aber auch, Herr Pfarrer, auf daß
das Reiſegeld in eigner Taſche ihn wirklich zum Ziele und
nicht von neuem auf einen Abweg führen möge. Denn ich
hätte es leichtlich nicht zum zweiten Male ſchaffen können,
ich konnte es ſchon das erſtemal nicht aus eignem Ver⸗
mögen. — Es wird Sie bedünken, Herr Pfarrer, als ob
dieſe Weitläufigkeit in meines Vruders Sache nichts mit
der Schickung zu ſchaffen habe, nach deren Kenntnis Sie
verlangen. Sie hat nichts mit ihr zu ſchaffen gehabt, das
iſt wahr, die Welt hat nichts von ihr erfahren, Der Name
meines Bruders ift ia dem- unfeligen Handel nicht ges
nannt worben, ich kann nichts beweifen — ich darf's nicht
fagen — nicht denfen, einmal was — aber — aber — furzum
Sie follen auch diefen Zufammenhang fennen lernen.
„sch hatte dem Anwalt Bollmadıt ausgeftellt, an dem
Morgen unferer Abreife die Wechſelſchulden meines Bru⸗
berg einzulöfen. Es ift gefchehen. Kein Wucherer oder
Lüdrian Darf den, welcher den Namen ehrbarer Voreltern
getragen hat, der Untreue um eined Hellerd Wert bezich-
tigen. Am legten Nachmittage machte ich vor Gericht an
deu Papiermüller eine Berfchreibung auf mein Grundſtück
fo hoch etwa, ald ſich Die Summe des Fahrgelds und eines
mäßigen Notpfennigs zum Anfang in der Fremde belief.
Daß ic, juft dieſem Menſchen in die Hände fallen mußte,
war das Widerwärtigfte bei dem Handel. Aber das Geld
war Hamm is ber Zeit, der Eifenbahn halber, gu beren
Bau der legte Taler gegen einen Schein verzeichnet ward;
Freunde bejaß ich nicht, und was Sie Hauptſache war,
*
98 Judith, die Kiuswirtin
die Angelegenheit blieb unter denen, die einmal darum
wußten, ohne ruchbar in der Gegend zu werden, die Tange
fchon fattfam Argernis aus dem Klushofe gezogen hatte. —
Aber fein läftigered Ding, ald eined Menfchen Schuldner
zu werden, den man mißacdhtet im Herzendgrunde und dem
man den erlauerten Lohn nun und nimmer gewähren will.
Der Müller hatte meinen Bruder in fein Berderben und
mich in Berlegenheiten fpielen helfen, jetzt drängte er fich
mit feinen Gefälligkeiten an mid; heran. Da ich fie ein-
mal angenommen, — ich habe fchwer dafür gebüßt, Herr
Pfarrer, die Ängſte meiner Nächte diefe zehn Sahre Tang
find des Zeugen! — ba ich fie angenommen, konnte ein
Habdank nicht verweigert werden, und ald ich mit ihm
in der Dämmerftunde von den Gerichten fam, wo unfer
Handel abgefshloflen worden, wußte ich feinen Nat, mich
feiner Begleitung zu erwehren.
„Sch ging nicht den Waldweg wie damals, fondern
die große Straße, auf der die Menfchheit wogte, indem,
wie heute, die Jubilatemeſſe in der Stadt zu Ende lief.
Sch konnte die Ratgebungen ded Wenfchen wohl ges
brauchen, denn er war mandjherwärts in der Welt umhers
gefommen; die Reife aber, die ich morgen in der Tages⸗
frühe antreten follte, war für mid; ein neues und ſchwie⸗
riges Unternehmen. Freilich verdroß es ihn, daß ich fein
Anerbieten, mir auf dem Hin⸗ und Herwege zur Seite zu
ftehen, rundweg von mir wies, und mein Grauen bei
feinem Vorſchlag, jegt bei Abend und mit ihm allein einen
Abftecher nad, feiner Mühle zu machen, um das vers
fchriebene Geld in Empfang zu nehmen, gewährte ihm eine
tucdifche Rache. Sch war ärgerlicdy gegen mich felbft, daß
ich den Fall nicht vorausbedacht und auf die Auszahlung
Judith, die Kluswirtin 99
an Gerichtöftelle gedrungen. Ich mußte dad Geld vor
Tag haben, und fo fauer ed mir anfam, ich wußte feine
Ausflucht, ald den widerwärtigen Überbringer nad} meinem
Haufe zu beftellen. Es fonnte Nacht darüber werden, und:
‚zur Nacht alfo auf der Klug!‘ rief jener auch mit einer
hämifchen Vertraulichkeit, indem er mir zum Abfchieb die
Hand drücdte, juft in dem Augenblid, ald ich, halb ſinnlos
vor Schreden, gegen einen Begegner taumelte, den id} im
Halbdunfel und unter dem Volksgewirr auf der Straße
nicht hatte heranfommen fehen. Es war der Simon, ber
Mann, mit dem ich die Treue gewechfelt, den ich von mir
gewiefen, als ich nach einer Trennung von Sahr und Tag
unerwartet mit ihm zufammentraf, und der mid; jest
allein, im Dunkel, auf offener Straße, in verfänglicher
Beftellung mit einem als meinen Freier in der Gegend
Berufenen gewahr wurde!
„Einen Augenbli fanden wir und gegenüber ftarr
und ſtumm. Sch fah, wie das Blut ihm zu Kopf fchoß
und er mit der geballten Fauft nadı dem Kerzen faßte,
dann aber mit niedergefchlagenen Augen raſch zur Seite
wich. ‚Ich ſchicke meinen Bruder nadı dem Geld!“ ftieß
ih hervor und rannte wie von einem böfen Geifte. ge-
peitfcht die Straße entlang. Sch hörte des Menfchen
heimtückiſches Lachen, blidte um und fah, wie er, feinen
Arm in den des Simon gelegt, den Seitenpfab nach der
Mühle einfchlug und bald darauf im Abenddunfel vers
fhwamm. Aud) andere haben diefen gemeinfchaftlichen
Meg der beiden gefehen und bezeugt, ich felbft bezeugte
ihn, Kerr Pfarrer, ja, auch ich — und er ift zu einem
fchweren Verdachtsgrunde gegen den unglüdlichen Simon
geworden.
100 Judith, die Kluswirtin
„Der Knecht, denn ich hielt ſchon damals nur einen,
welchem ich die Bejorgung des Gepäds nach dem Bahn
hof aufgetragen, war noch nicht gurüdgefehrt, und fo
fhicte idy denn wirflid; meinen Bruder zur Empfang-
nahme dee Geldes in die Mühle. Bei richtiger Beſinnung
würde ic; den Knecht erwartet Haben, aber: ‚Daß ber
Menſch nicht fommt!‘ dad war mein einziger Gedanke.
Mit Todesangft harrte ic meined Bruders Rückkehr.
Stunde auf Stunde harrte ich vergebens, ſchwach und
immer fchwächer durch die Hoffnung getröftet, daß der
Simon in feiner Rähe fei. ‚Er hat durch den Müller von
feiner Abreife Kunde erhalten,‘ dachte ich, ‚er läßt den
Freund nicht ziehen ohne Lebewohl, Er wartet in ber
Mühle auf ihn, wenn er ihn gar nad der Klus zunädk-
geleitete, — oder zum legten morgen früh an der Bahn, —
ein Augenblid muß ſich dann finden, mo ich unbemerkt
- an ihn herantreten und mein Herz gegen ihn erlöfen kann.
Simon, will ich dann jagen, dein, wie ich gelobt, kann ich
nicht mehr fein, aber auch feines .anbern, feines andern,
Simon, nun und nimmer!‘
„Die Nacht verging, und feiner fam. Der erſte Dämmer
graute gen Morgen, die Glocke ſchlug drei. Sch Burfte
nicht länger zaudern, um vier follte der Dampfzug ab⸗
fahren. Sch ging allein, nein, ich flog, immer noch in
ber Hoffnung, einem oder dem andern auf dem Wege zu
begegnen. Es war Sonstag, die Straße wie gefegt.
Dort aber auf dem Querwege van der Mühle her nach
ber Bahn, da fchritten zwei, zwei dunkle Punkte im
Morgennebel — aber zwei, nicht drei.“
Des Pfarrers Blicke hingen in Iebhaftefler Spannung
an Judiths Lippen. Sie ftodte, aber nur eine Sekunde
Fudith, die Kinswirtin 14
lang. „Run zum lebten”, fagte fie mit zitternder Haft.
„Und dann far immer ftill, fill zwifchen uns, Herr Pfarrer,
auc, über das. Hier drinnen wühlt's, — aber draußen
Ruhe! - Da, wo der Weg von der Mühle mit dem von
der Stadtbrüde zufammentrifft, da war’d. Zur Rechten
ber Balmdamm, links das Weidengeftrüpp im ausge⸗
ſeochenen Sumpf. Dad erfte Glockenläuten drängt von
dem Bahnhof draben; wie eine Rafende fchnelle, feuche
id durch die dunkle Torfahrt unter dem Wal, und jen-
ſeits am Rundgang ftarre ich, als hätte fich die Hölle vor
mtr aufgetan. Kaum zwanzig Schritte von mir, grell bes
ſchienen von der auffteigenden Sonne, da liegt der Müller
in feinem Blut, verrenft im Krampf, Schaum vor den
Lippen, die Fünfte geballt, bläulichweiß — eine Xeiche!
Einen Augenblick fehe ich mur ihn, im nächften regt's fich
in den Weiden, eine Geftalt fchwanft herauf, fahl wie der
Tote feldft, an den fein Fuß fich ſtößt; feuchte Nebel»
tropfen, dürre Halme in dem ftruppigen Baar, Schram⸗
men and Beulen, geronnened Blut an Geficht und Hand,
die Kleider zerfeßt, die Glieder fchlotternd, Das Auge ftarr,
ald wäre ed von Glas. Er ftolpert, taumelt zu dem
Toten nteder, ftarrt mit blödfinnigen Blicken in fein Ge⸗
ficht, zieht das Meffer aus feiner Bruft und hält es dicht
vor die eignen Augen wie im Wahn. Und da ftehe ich,
vermag nicht rückwärts und nicht vorwärts, ich höre die
Schritte der Patrouille, die vom Tore her —.“
„Nicht weiter, nicht weiter, unglücliches Kind!” rief
der Pfarrer, helle Angſttropfen im Auge und auf der
Stirn. „Ich habe die Akten gelefen, ich fenne den Reſt!“
- „Sa, eines, noch eines,” verfegte Judith mit fchrillem
Ton, „das Lebte — mein Zeugnis vor der Wache und
4102 Judith, die Kluswirtin
fpäter vor Gericht!” — „Sch kenne auch dieſes, meine
Tochter. Ein einfaches ‚Sa auf die an Euch gerichteten
Fragen, feine Silbe darüber, ‚der Wahrheit gemäß, wie
Eure leiblichen Augen fie gefchaut‘, fo fagtet Ihr felbft
vor einer Stunde faum.” — „Haͤtte id) lügen dürfen, Herr
Pfarrer?” flüfterte Sudith mit angftvol gefpanntem Blick,
als Taufche fie ihrer Abfolution. „Eine Wendung erfinden,
die den Verdacht von dem Unglüdlichen abgelenkt?“ -
„Nein“, antwortete der Pfarrer entfchieden. - „Oder leugs
nen, daß ich fah, was ic, gefehn?” — „Leugnen bedeutet
faum Geringeres denn lügen, liebe Tochter.” — „Aber
fchweigen! Mein Verhältnis zu dem Simon befennen und
mein Zeugnis verweigern?”
Der Pfarrer blieb eine beflimmte Antwort auf diefe
Frage fchuldig. — „Die Patrouille,” fagte er nach einigem
Sinnen beruhigend, „die Patrouille hatte Euch kaum hun⸗
dert Schritte durch die Torfahrt vor fich her eilen fehen.
Ihr offenbartet nicht mehr, als fie felber wenige Sekunden
fpäter entdedte, entdect haben würde auch ohne Eure Da⸗
zwifchenfunft. Euer Zeugnis war ohne Wert für die Ans
klage.“ — „Nicht um der Anflage willen, Herr Pfarrer,
um feinetwillen, defien Herz mein Zeugnis gleich einem
Todesſtreich treffen mußte." — Des Pfarrers Augen fenkten
fi). Nach einer Paufe feßte er der Frage eine Gegenfrage
gegenüber. — „Slaubtet Ihr an feine Miffetat in jenem
Augenblid?" - „Ja“, fagte das Mädchen gepreßt. - „Und
feitdem, und heute?”
Ihr Kopf ſank tief auf die Bruft herab; der geiftliche
Freund fühlte im eignen Herzen den Doppelföpfigen Wurm,
der den Frieden des ihrigen zernagte. - „Glauben, das
heißt: einer unerweislichen Sache in feinem Herzensgrunde
Judith, die Kinswirtin 103
gewiß fein”, fagte er, indem er ihre Hand ergriff. „Meine
Tochter, bift du noch heute feiner Miffetat gewiß?" -
„Nein, antwortete Sudith tonlos, wiederholte darauf
aber laut und heftig: „Nein, nein, nein!” - Und: „Nein,
nein, nein, aus dem auch meined Herzens!” rief ber
Pfarrer; „nein, nein, nein! Aller Vernunft, dem Augens
fchein, ja feinem eignen Zugeftändnis zum Trog! Kein
ftärferes Licht ald das einen guten Glauben, meine
Tochter! Flehen wir miteinander zu dem Richter aller
Seelen, daß diefed Licht eine Leuchte werde, die eine bunfle
Kerkernacht erhellt. Zaudern wir nicht, raften wir nicht,
forfchen wir, werben wir, fampfen wir für unfern Glauben
an ein Menfchenherz; ift er die Wahrheit, wird Gottes
Fingerzeig und zum Siege verhelfen. Und nun vorwärts,
liebe Tochter, es ift fpät geworden, und ein böfes Wetter
droht. Ich gehe in Euer Haus, meinen Sylv zu tröften
und der erlöften alten Frau den letzten Erdenſchmuck in
die Hand zu legen.”
Er deutete bei diefen Worten auf den Strauß, ben er
im Gehen gepflücdt, und jchloß ihr Gefprädh, ein Findlich
feliges Lächeln auf den Lippen. — „Atmet diefen Duft,
meine Tochter! Süß und Fräftig wie feiner, diefer Hauch
der Heinen weißen Glocken. Mir klingt's wie Auferweckung,
faug ich ihn ein. Auferwedung der toten Herzen, Aufs
erwecfung auch der lebenden! Voran, voran, und Gott
mit dir, mein Kind!”
Ein Blid
Der Pfarrherr hatte fich von feiner Begleiterin nahe
einer Lichtung getrennt, aus welcher fie in früheren Sahren
das Waldhaus oftmals mit freudigem Herzen hatte her
404 Fudich, die Kiuswirtin
vorlugen fehen. Heute entdedte fie ed nicht früher, bis
fie dicht vor feinem Eingange ftand. Dunkle Edeltannen
und frifchgrünes Strauchgefchlinge bildeten eine Laube,
unter welcher die Hütte ihren Verfall verbarg; die Wall⸗
hecken waren mannshoch in die Höhe gefchoflen, Die Stege
überwuchert, Hof und Gärtchen zur Wildnis ausgeartet,
zwifchen deren ranfendem Geftrüpp eine einzelne Blüte,
eine Genziana oder Iris, an die Zeiten erinnerte, wo der
Simon fie für die Liebſte feines Herzens gepflegt. Die
Bienen waren längft ihren Stöden entflogen, ihr Haus
lag in Trümmern, nur der Brunnen rann noch unver:
fümmert wie damals, und feine abfpringenden Tropfen
fabten die faftigen Krefien, die fidy an feinem Rande ein-
gebürgert, feitden fein Menſchenweſen mehr feiner Ers
quickung bedurfte.
Sudith blickte eine ange Weile durch das morfche Pfahl-
werf der Heckenpforte. Seit fie ihr Herz vor einem andern
entlaftet, feit fie jenes laute „Nein“ gefprochen und ver-
nommen, empfand fie eine Leichtigfeit, ein friedliches Raſt⸗
verlangen, das fie feit langen, langen Jahren entbehrt.
Ihr grante nicht mehr vor dem gemiedenen Haufe; Er-
innerung und Hoffnung lodten fie hinein. Sie zog ben
Riegel von dem Gitter und fegte den Fuß in das Fleine
üppige Gehege. Seit fie ein Kind war, hatte fie e& nicht
mehr betreten, und fie dünkte fich wieder ein Kind, fo
neugierig verlangend fpähte fie umher. Das Haus war
verfchloffen, das Fenfter undurchſichtig verftaubt, aber fie
vermochte fich nicht alfobald loszureißen; dorthin trieb es
fie unter die Weimutöfiefer am Wegzaun, Simons ftolzen
Lieblingsbaum ald Knabe fchon. An diefer Stelle hatte
fie ihn getroffen an dem Tage, ald der Bater zum erften-
Judith, die Kluswirtin 405
mal im Rauſch die Hand gegen die Mutter erhoben und
das Mädchen mit feinem Schred und Schmerz zu dem
jungen Freunde geflüchtet war. Er tränfte die Nabdels
ftämmchen, welche der alte Waldheger auf den Wallrand
gefät, und fagte — fie hörte ed noch, denn ed war wohl
das letztemal, daß er den Findlichen Troftgedanfen aus⸗
gefprochen: „Wenn fie Bäume find, heiraten wir ung, und
alles ift gut.” Und fie hatte ihre Tränen getrocnet, ihm
das Wafler zum Begießen zugetragen, fi) endlich von
ihm nad) dem Haufe zurüudführen laflen, dag fie in troßiger
Empörung je wieder zu betreten verfchmoren. Jetzt ftans
den die Stämme breit und dicht gleich einer Wand, und
der, welcher fie gepflegt -?
Noch regnete es nicht, ein glühender Gürtel fchien den
Niederfchlag zu Dämmen; aber die fchieferfchwarzen Wolfen
ſenkten fich tief zur Erde, über eine Weile mußten fie den
Gürtel durchbrechen. Die wetterfundige Wirtin überließ
ſich achtlo8 der Ruhe eines laftfreien Augenblicks. Sie
feste fidy auf den Walrand unter die niederhängenden
Zweige der Kiefer; Geißblatt und Flieder dufteten be-
täubend in der atemlofen Schwüle; halb im Sinnen, halb
in Ermattung fchloffen fi) die Augen. Sie fühlte jenes
eleftrifche Zucen der Nerven, das nad) der Erregung die
Schlummerruhe verfündet. „Nein, nein, nein!” flüfterte
fie halb fchon im Traum.
Aber nody den Laut auf den Tippen ſchreckt fie zufammen;
fie hört einen fchleichenden Schritt auf dem Stege jenfeit
des Zaunes, hört ein Streifen und Raufchen im Gefträuch,
und das Auge nach der Richtung gewendet, fühlt fie fich
wie gebannt durdy einen ftarren, gläfernen Blick, der durch
die Öffnung zweier Afte in das Gehege dringt. Shre
106 Judith, die Kluswirtin
haſtige Bewegung ſcheuchte den Späher. Sie ſprang auf,
eilte nad) der Gittertür und fchaute umher. Nein, ed war
nicht eine Täufchung ded Traums, dort floh er,.ald werde
er verfolgt auf dem Wege, der vom Waldhaufe nach ber
Landftraße hinüberführte. Sie hatte fein Geficht nicht ges
fehen, den glafigen Strahl gleich einem Schlangenblid
mehr empfunden als gefchaut, fie fah auch jeßt nur den
Rüden ded Mannes, wie er dem Karren entgegenrannte,
der, etwa fünfzig Schritte entfernt, an einem Baum ans
gebunden hielt, wie er fich hinauffchwang, mit Ungeftüm
den armfeligen Klepper antrieb und, ohne ſich umzubliden,
mit dem Gefährt zwifchen den Hecken verſchwand. Eine
verfommene, höderige Geftalt, dad Bein fchleppend und
fremdartig augftafftert; im breitfrempigen federgefchmüds
ten Hut, langen, fteifen, rotgefütterten Mantel, die Zipfel
des Haldtuched unter dem breiten weißen Halskragen in
der rafchen Bewegung flügelartig flatternd. Ein Gaufler
ohne Zweifel, der im planenverdeckten Wägelchen feinen
Kram zu Marft fuhr. Aber was bedeutete Diefer ftiere,
lugende Blid in das von feinem Wege abliegende fremde
Gehege, was diefe angftoolle Flucht? Diefer Blick, diefer
Blick! — Das Mädchen fühlte einen Schaubder bis in das
Marf, der flüchtige Friedenstraum war verfcheucht.
In mächtiger Aufregung fchritt fie den Waldpfad ent-
lang. Das Sterbegeficht ihrer Mutter, das ihrer eignen
fchlaflofen Nächte und — die Geftalt mit dem verglaften
Blick, fie ſchwammen ineinander zu einem verfolgenden
Gefpenft. Hatte fie ed mit jenem „Nein“ heraufbefchworen?
Lauerte ein Frevel hinter jenem Nein? Ein Frevel gegen
die Natur? — Die Luft war erftidend, aber eisfalte Tropfen
perlten auf ihrer Stirn.
Judith, die Kiuswirtin 407
Und jegt fteht fie an der Stelle, die fie kaum vor einer
Stunde einem Fremden mit Worten vorgemalt: das dunfle
Tor, der Damm, der Weidenfumpf und das Schrednis
lebt auf vor ihren Augen, grell, wie feine Worte es vors
malen tonnten. Sie fieht den Sinnlofen, Taumelnden:
und fie wedt ihn nicht; fie hört die nahenden Tritte, und
fie warnt ihn nicht, fcheucht ihn nicht. Hinter ihr die
Mannfchaft; und fie ftürzt ihr nicht entgegen, fchreit nicht:
„Baltet ein! Diefer Mann ift meiner Treue verlobt, und
feine Hand ift rein!" Starr vor Entfegen gleich ihr felber
ftehen die Bewaffneten, feine eignen Kameraden, die der
Zufall ald Blutzeugen herbeigeführt, an ihrer Spiße der
Hauptmann, dem er bis vor Furzem gehorcht, — der Uns
glückliche achtet ihrer nicht. Der erfte, einzige Blick des
Erkennens ift auf Sudith, auf fie allein. Er fohleudert
das Meffer von fich, fchwanft einen Schritt ihr entgegen, —
ift umringt, gefangen. Keine Regung der Abwehr, keine
Antwort auf die Fragen des Führers: er flarrt nur auf
fie in traumhaften Nebel. Und nun das Berhör der
Zeugin und das „Sa“, das ſich unmiderftehlich zwifchen
ihren Lippen hervordrängt. Hundertfach deucht ihr der
Widerhall diefes Ja in dem dunkeln Gewölbe. Daß es
nicht zufammenftürzt unter dem Schall diefes mörderifchen
Ga! Sa und Sa, und wieder Sa! Ja, fie fannte diefen
Mann. Sa, fie hatte ihn fpat am Abend allein mit dem
Erfchlagenen nad, deſſen Haufe gehen fehen; ja, fie hat
ihn vor wenigen Minuten unter allen Anzeichen der
Schuld in der Nähe ded Opfers angetroffen! Diefes Sa
rüttelt den Regungslofen aus feiner Erftarrung; er preßt
die Hände vor das Geficht und fteht verfunfen, finnt, läßt
die Arme finfen und blickt wie erwacht. „Trunken, trunken!“
108 Judith, die Kluswirtin
murmelt er, tritt auf fie zu und fluͤſtert: „Trunken!“ —
Sie weicht zurüd vor dem Mörderatem. „Judith, Judith!“
ruft er fchaudernd, verzweifelnd, und kann ſich nicht faffen.
Noch einmal forfcht der Hauptmann in mildem Zweifel.
Er fchweigt; der andere drängt, und er antwortet: „sch
war im Raufh! Sch war im Rauſch!“ - Kein Wert
darüber.
Sp gehen fie nad) der Stadt; er der Berbredyer, fie Die
Zeugin, vor ihnen, hinter ihnen die Wade. Bor dem
Richter die nämlichen Fragen und das nämlidye „Sa“,
das nämliche „Ich war im Raufch”. Keine Rechtfertigung,
feine Erörterung, Feine Verdaͤchtigung eines andern, nicht
ein Name wirb herbeigezogen. Ohne Troß, zerfchlagen,
haltungslos bleibt er bei dem einen: „Ich war im Rauſch!“
— Und noch einmal fieht fie ihn wieder, dad letztemal.
Die Halle gedrängt, Kopf bei Kopf: hier der Antläger,
hier der Verteidiger, die Gefchworenen, die Richter und
die Zeugen, obenan Sudith, die Kluswirtin, die erfte, Die
wichtigfte. Ihr gegenüber der Angeflagte totenbleich, aber
nicht mehr zerfchlagen, haltungslos, nein, hoch aufgerichtet
und gefaßt zu einem männlichen Entichluß. Die näm⸗
lichen Fragen, die nämliche Antwort; die Nede des Vers
teidigerd warm aus dem Kerzen, warm zu dem Kerzen;
hat der Angeflagte ein eigned Wort hinzuzufügen? „Nein!“
fpricht er aufrecht mit fefter, klangvoller Stimme. „Rein,
nichts weiteres. Sch war im Raufch, ich war von Sinnen.
Ich Fann die Tat getan haben and will fie getan haben,
ja, ich will!“
So nadt und Mar hatte Sudith dDiefe Szenen nicht wieder
nachgelebt, weder im Wachen noch im Traum, wie jeßt
im Fluge ded Gedankens, ald fie, ale Sinne aufgerüttelt,
Judith, die Kluswirtin 109
mit ungezügelten Schritten dem Schauplaße von damals
verüberkreifte. Hin durch das dunfle Tor, vorbei dem
Gericht und dem hohen, fdyweigenden Gefangenenhaufe,
hinter deffen Mauern der Unglüdliche zehn Sahre lang
gebüßt. Grabesftill ift es hier, fein Laut dringt hinüber
son dem wimmelnden Markt. Sie hört nichts ale das
hämmernde „Nein“, das in ihr aufgewacht in jener Mi⸗
nute, alö fie Simon Lauters letztes, unwiderrufliched Wert
versommen, — um feit jener Minute nimmer in ihrem
GBexzen zu raften.
Nur eine Straße weiter, und fie ftaud im Getriebe des
Tages, und von den beiden in ihr mächtigen Weſen res
gierte wieder jened, dem fie vor jedem fremden Auge Die
Dherherrfchaft eingeräumt. Sie faßte fich, zügelte ihre
Schritte und ewfüllse in befonnener Folge den Zwed ihres
Kädsifchen Wege. Der Sarg für die Tote wurde beftellt,
Trauerzeug eingehandelt, bei dem Lehrer Sylvians vers
zögerte Rückkehr bis nadı dem Begräbniffe entichuldigt.
Sie hatte fi bis jet in flilleren Nebenftraßen halten
duͤrfen, nun war das Gedränge nicht Länger zu vermeiden,
dem bad Haus des Predigerd lag am Domhof, dem
Sammelplatze ded Marktvergnügens.
AB fie ſich durch dad Budengewühl längs der noch
anbelaubten Lindenreihen wand, ſah fie ein fahlgelbes
Feuer hinter der Wolkenſchicht zucken, die fchieferfeft, einer
Säule ähulich, tief, wie mit Händen gu greifen, über dem
Platze hiug; trotz des Menſchenſchwirrens hörte fie ein
grollendes Rollen, ſpürte einen Schwefelbrodem in der
atemloſen Luft. Ein Ausbruch drohte mit lange vers
haltener Bucht. Doch hoffte fie vor demſelben noch das
Beichäft bei dem Prediger zu erledigen und in dem Kaben
110 Judith, die Kluswirtin
ihrer Händlerin einen oder den andern ihrer Dienſtleute
anzutreffen, um, nachdem das Wetter ſich gelegt, den
Heimweg in ihrer Begleitung anzutreten. Denn die
Dämmerung war im Hereinbrechen, und fie mußte darauf
gefaßt fein, ihren Hof nicht vor der Nacht zu erreichen.
Keiner der lärmenden Marktgäfte fchien indeflen ihre
Borausficht zu teilen; nur die fürforglichen Krämer legten
ihre Waren ein und fchloffen die Buden. Gekauft wurde
ohnehin wenig mehr, feitdem Hofwirte und Wirtinnen
den morgendlichen Wochenmarkt verlaffen. Der Nach⸗
mittag gehörte der Tugend, galt dem Spiel, dem Trunf
und Tanz, dem legten Suchhei. Das fchiebt und ftoßt fich
an den Lebtuchenbänten, den füßen Taufchplägen länd⸗
licher Galanterie! Der Burfche feilfcht für feine Dirne
um einen braunen Schag, die Dirne für den Burfchen
um ein weißes Herz; und nun ein Buchftabieren und Ers
läutern der aufgeflebten Reime, unverblümte Nedereien,
lautſchallendes Gelächter, und Arm in Arm gaflenbreit
voran unter Luft und Schabernad, bis die Sonne finft
und der Tanz in den Schenfen im Schmange geht. Im⸗
mer Dichter wird der Knäuel. „Stüd für Stüd einen
Silbergroſchen!“ fchnarrt der billige Mann. „Stüd für
Stück einen Mariengrofchen!” überbietet ihn fein Nach⸗
bar, und fo weiter die Reihe entlang. In den Spiels
buden um noch Fleinere Münzen der locdendfte Gewinn.
Wie gierig die Blicke und glühend die Baden unter Pudel⸗
und Kapfelmüge! Die Würfel rollen und — wie tobend
Enttäufchung und Subel! Ein Pfeifentopf, ein rofendurdh-
wirfter Hofenträger der Magd; ein fpruchgefchmücktes
Strumpfband dem Knecht; Schachern, Taufchen, Höhnen,
Schmunzeln und vorwärts zu neuem Glüddverfuch! Die
Judith, die Kluswirtin 111
Maſſe lockert ſich. Würzige Düfte, kreiſchende Anlockungen
verfünden ein weibliches Bereich. Hinter mächtigen
Tonnen wird der unvermeidliche Hering für den Heim⸗
weg in Stroh gewickelt; faftige Würftchen brodeln über
dem Kohlenbeden, Solet und Büdling find Lederbiflen
auch bei achtundzwanzig Grad über Null und in Er-
wartung einer minniglichen Ballnadıtz; zartere Gaumen
Ioden Magdeburger Schmalzbroden und holländifche Wafs
feln heiß aus der Pfanne.
Ein Schritt weiter, und das fchnurrende Rab des
Scherenfchleifers bildet den Übergang zu ben öffentlichen
Schnellkünſtlern des Gemeinnugend: der Kittenjakob hier,
der den zerbrochenen Krug im Handumdrehn heil lötet,
der Schmierjofel dort, der den fettigften Rockkragen wieder
blank und neu bürftet. — Der Menfchenftrom ſtockt: die
Wunderſchau der Raritäten beginnt. Abgerichtete weiße
Mäufe und fabelhafte Siebenfchläfer; plaudernde Vögel,
Bögel in allen Farben ded Regenbogend und an Figur
doch nicht unterfchieden von heimischen Elftern und Spagen.
ehe ihrer Zierde, wenn der ſchwarze Kegel da oben ſich
entladet! Auch Freund Peg zeigt fein Geſchick, Kamel
und Affe fehlen nicht; an tanzende Hunde fchließen fich
menfchliche Zauberfünftler, Bauchredner und Tafchen-
fpieler, die im Lampenqualm der Schenfe am Abend ihre
Stücke mit eindringlicherer Wirkung wiederholen werben.
Sie fämtlid; finden indes nur ein wandelndes Publikum,
das im Vorüberftreifen einen Augenblid haltmacht und,
wenn der Tribut der Berwunderung gefammelt wird, mit
lachender Eile vorwärts drängt.: Um fo brennender die
Anziehung des nädıftfolgenden Raums; in Tierbuden und
Panoramen löfen die Schulflaflen fi) ab, drängen hinaus
412 Judith, bie Kluswirtin
und folgen jubelnd den Lockungen der Trompeten und
Pauken zu einer Rundfahrt auf dem Karuſſell. Todes⸗
mutig, Rippenſtoß um Rippenſtoß ſtrebt und ringt die
kleine Welt mit der bewaffneten Landesmacht, mit den
Fäuften, die Zugſtier und Dreſchflegel regieren. Hoc) zu
Roß, Die Beine ausgefpreizt, triumphiert die Amazone in
der Kapfelmüte; ben Glimmftengel gwifchen den Lippen,
wiegt fich der Mudfetier im bequemen Phaeton, an feiner
Seite die ehrwürdige Kindermuhme, ben flachslockigen
Pflegling, das Püppchen im Arm, auf ihrem Schoß; fein
leuchtenderes Augenpaar auf dem Marft ald das des bar⸗
füßigen Buben, der, an den Schweif ded Schimmeld ge-
klammert, fonder Schoß und Gebühr fid, auf die Rund»
bahn geſchwungen. Schmetternder Tufch! Die Reife be⸗
ginnt!
Hart an feiner Seite, längs der Norbfeite bes alten
Domes, karren ernftere Marktgenüffe. Feierlich, grauen
haft, Mark und Bein erfchütternd ragen die Schauerbilder
der blutigen Mordtaten alter und neuer Zeit. Das Ge:
dränge wird lebensgefährlich, Kopf bei Kopf laufcht die
Menfchenmauer, ftarr und ſtumm folgen ihre unvers
wendeten Blicke dem Stabe des Erflärerd. Kaifer und
Könige, Priefter und Weltbürger, ftolze Ritter und zarte
Frauen, aber auch arme Teufel, geringes Volk wie Die
Hörer und Schauer, bluten da oben aus mundenzerfleifchtem
Leib; Gift und Doldy werben nidyt gejpart; im Hinter⸗
grunde lauern Schafott und Galgen, Folter, Henker und
Rad, — lauert vor allem auch tie alte heimifdye „Ryd“
bes entlaruten Mifletätere. Mit kläglichem Tonfall, ges
reimt und ungereimt wird der alte und neue Pitaval,
werden die Schauerlügen der Feme in die Herzen ges
Judith, die Ktuswirtin 113
träufelt; zwifchen Bild und Bild, unter obligater Orgel,
begleitung, krächzt eine weibliche Stimme die abfchließende
Moral, Seufzer Hagen, Tränen fließen, ein Schrei ent-
ringt ſich der geängfteten Bruft, dad Haar fträubt ſich
unter Kapfels und Pudelmüge; aber ohne Mordtaten fein
Marftvergnügen, nach dem Schauerfigel der Mordtaten
erit der rechte Subel beim Schenfentanz!
An al diefer Augens und Ohrenfchau ging die ernfts
hafte Kluswirtin achtlod vorüber, auch ein Schauerbild
im Herzen, aber eines, dad noch feinen Erflärer gefunden.
So haftig das Getümmel es geftattete, fteuerte fie dem
Predigerhaufe zu, das an der Schmalfeite ded Platzes,
dem hohen Kirchenchore gegenüber, gelegen war, eine der
fäfularifierten Stiftöfurien, im Angefichte des Fatholifchen
Gotteshauſes dem proteftantifchen Prediger ald Dienfts
wohnung eingeräumt und mit ihren gemeißelten Wappens
fchildern inmitten der Steinbrüftung der Auffahrt an
glänzendere Tage erinnernd, als fie die Nachfahren Doftor
Luthers zu genießen pflegen.
Die Reihe der Schaubilder hatte mit den Rüdlehnen
der Kirchenpfeiler aufgehört; die ſchmale, ftille Gaſſe, die
bis zum abfchliegenden Kreuzgang den Dom zur Hälfte
umfreift, mußte freigehalten werben. Hier aber, dem
Iutherfchen Kaufe gegenüber, fchien ſich ein Nachzügler
eingerichtet zu haben, defien fchmetternde Einladung einen
immer dichteren und dichteren Menfchenfnäuel an ſich 309.
Noch hatte die Darftellung nicht begonnen, der vorläufigen
Anfündigung folgte das Ausbieten der gedrudten Text⸗
eremplare, anlodend durch die Hälfte des üblichen Preifes.
Dennoch, aber war dad Publitum nicht geneigt, die Katze
im Sad zu erftehen; feine Hand regte fid) nad) den vor»
®
114 Judith, die Kluswirtin
gehaltenen Bogen, bis man ſich durch den muͤndlichen
Vortrag von ſeinem Grauen⸗ oder Traͤnenwerte überzeugt,
während dahingegen aller Augen mit einem Ausdruck ber
Überrafchung oder Borahnung nach dem Bilde gerichtet
waren, das auf breifüßigem Geftell vor ihnen aufgerichtet
ftand. Man ftaunte, deutete, munfelte, winfte einander
herbei, fchüttelte bie Köpfe und drängte immer näher und
näher.
Sudith merkte nichts von diefem auffälligen Gebaren;
das Bild wie feinen Erflärer decfte die lebendige Mauer,
durch die fie fi) wand, und das, was lichtfcheu und Licht:
verlangend zugleidy in ihrem Innern wühlte, ftumpfte fie
ab für jede Erregung der Phantafie. Bon einer Menfchen-
woge erfaßt, wurde fie Schritt für Schritt die Rampe
hinangetrieben, deren Erhöhung den günftigften Ausſichts⸗
punkt gewährte, und hatte fchon die Hausklingel gezogen,
als die Stimme ded Ausrufers ihr Ohr erreichte: „Freund
für Freund! Eine ſtumme Heldentat, fo auf Roter Erde
fich zugetragen. Wer Ohren hat zu hören, der fperre fie
auf, wer ein Herz bat zu fühlen, ber öffne fein Herz!
Hort, horcht, Schaut, kauft! Freund für Freund auf
Roter Erde!”
Die Stimme war die eined Schwachen, der ſich ans
firengt ſtark zu fein, der Afzent ein fremdländifcher, beide,
Klang wie Laut, der laufchenden Kluswirtin unbefannt.
Dennoch ftockte ihr Atem. Der Titel, die hochgeſchraubte
Anlodung, ein fiftulierendes Heben des Tons — fie fühlte
unwillkürlich wieder den gläfernen Strahl in der Tannen⸗
wand und fämpfte mit vollen Kräften um einen freien
Blick auf das Bild und feinen Erflärer. Aber fie fämpfte
vergeblich; die Tür wurde durch einen Drud von oben
Judith, die Kluswirtin 115
geöffnet, und ſie betrat die Predigerwohnung in ſo un⸗
ruhiger Beklommenheit, daß ſie ſich eine lange Weile auf
den Zweck ihrer Vorſprache beſinnen mußte. — Sie fand
ihren Seelſorger im Familienkreiſe geiſtlicher Amtsbrüder,
welche den zerſtreuten proteſtantiſchen Gemeinden im noͤrd⸗
lichen Umkreiſe vorſtanden und ſamt Frauen und Kindern
ſtundenweit zu Marktkauf und Marktſchau gekommen
waren. Er hatte daher wenig Muße zu Teilnahmsbezeu⸗
gungen, und die Angelegenheit war mit kurzen Worten
beendigt. Der heißen Witterung halber ſchon am über⸗
nächften Morgen ſollte die Beerdigung ſtattfinden, ſelbſt⸗
verftändlich ohne ein Sota von den Ehren und Rechten
eines im gereinigten Glauben verfchiedenen Gemeinde-
gliedes aufzugeben oder die Bereitwilligung des Fatholi-
fchen Pfarrers höher ale eine zuftändige Gebühr anzu⸗
fchlagen.
Zu einer andern Stunde würde die finnvolle Kluswirtin
das Haus nicht verlaffen haben ohne betrachtenden Ver⸗
gleich diefer gefchäftlichen, nur im Protefte eifrigen Abs
fertigung eined Zugehörigen mit der milden Eingänglich—
feit des Fremden, dem fich in der erften Stunde ihre Seele
erfchloffen; möglidy auch, daß der Einfluß oder der Mangel
an Einfluß jener fi auf das Amtliche beichränfenden
Kürze auf ihr eigned Gemütsleben ihr nicht entgangen
wäre. Seute dachte fie nichts als: „Hinunter, hinaus,
Aug in Auge dem Bildermann des ‚Freund für Freund‘.”
Während ihres Verhandelns hatte fie, heimlich nach der
Straße hinunterlaufchend, einen einleitenden Sang ver-
nommen, dem Wortlaute nach ihr unverftändlich, heifer
frächzend, und ftatt der üblichen Orgel von einer Violine
begleitet. Sie ftürmte die Treppe hinab und öffnete die
116 Judith, die Kluswirtin
Tür mit zitternder Hand; der Sang war verſtummt, und
die Geigenbegleitung fchloß in dem Augenblick mit einer
eigentümlich fchrillen Figur, die das Blut in ihren Adern
ſtocken ließ. Sie hatte diefe mißtönige Melodie ſchon ge⸗
hört, oftmals, vor langer Zeit, dann nicht wieder; wie
die Zauberformel einer fremden Sprache wachte fie auf
in dem unmuftfalifchen Ohr und fpornte die Kräfte zu
unwiderftehlicher Anftrengung.
Ein Plag nahe der Brüftung war errungen, der Geigen⸗
fpieler aber von dem Gewühl unter der Rampe gededt.
Ihr Blick ftreifte das Bild, das auf gleicher Höhe mit
ihrem Stand, faum zehn Schritt von demfelben entfernt,
troß de Wolkendunkels noch deutlich erfannt werden
fonnte. Nicht auf Wachsleinwand, fondern in ftarfen
Umriffen auf Pappe gemalt, nahm es einen umfäng-
licheren Raum ein ald die Nachbarftüde, wie ed denn
auch durch die grell aufgetragenen Farben fchon von weis
tem in die Augen fprang. Nicht minder unterfchied ſich
die Anordnung von der gewohnten, indem die Fläche, ftatt
in viele kleine Felder mit Liliputifchen Figürchen zu zers
fallen, der Breite nad) eine doppelte ineinandergreifende
Handlung darftellte, in welcher die nämlichen drei Ges
ftalten in halber Lebensgröße, und daher von fich eins
prägender Wirkung, vorgeführt wurden. Über und unter
diefem Hauptfelde boten in verjüngtem Maßftabe zwei
fehr verfchiedenartige Landſchaftsbilder gleichfam Eingang
und Abſchluß. Oben: ein flattliched Ziegelhaus in ficht-
lihem Verfall, grüne Lauben und ein Schenfenzeichen vor
der Tür, durch welche ein junger Stuger, Stod und
Wanderfad in der Hand, das bunte Tafchentud, vor die
Augen gepreßt, mit den Gebärden der Verzweiflung feinen
Indith, die Kiuswirtin 417
Ausgang nimmt. Unten: ein wildbraufendes Meer, ein
frandendes Schiff, ald Staffage aber an unmirtlicher
Felfenklippe der nämliche Stuger halbnadt, ein Skelett,
und mit dem Unterteile bereit im Rachen einer grauen
haften Beftie, die, halb Schlange, halb Tiger, aus den
Wellen lugt und den händeringenden Burfchen im nädh-
ften Augenblicke verfchludt haben wird.
Der Haupteindruck indeffen, wie gefagt, wird durd) das
große Mittelftüd hervorgebracht, auf welchem der ftußer-
hafte Held in Gefellfchaft zweier andern in Handlung
tritt. Der eine im gegürteten Faltenfittel und fchwarzen
Bergmanndfchurz, groß, fchlanf, fchön, die buchſtaͤblich
goldenen Locken gleich einer Cherubsglorie auf dem Haupte
in die Höhe ftrebend; ber andere furz, did, rot wie ein
Krebs, mit violetter Kartoffelnafe und hellgrauem Rock
und Hut; alle drei fichtbarlich erhigt, und zwei von ihnen,
der Held und der Graurod, in einem Ringfampfe finn-
Iofer Wut. Die Szene ift wieder im Freien. Blutiges
Morgenrot, eine fahle, glatte, gradlinige Erhöhung, auf
welcher zwei fchwarze Streifen eine Bahnfchiene bezeichnen
mögen. Zu ihren Füßen fpinatgrüned Geftrüpp. Der
Gegenftand des Haders fcheint ein weiblicher Schatten>
riß, welchen der Graue dem Helden zu entreißen fucht,
während dieſer ihn dem mit dem Schurzleder entgegen
firedt. Ein handfefter Stoß des Grauen bringt den armen,
auf feinen Füßen nicht ficheren Cherub in Taumel.
Gnade ihm Gott! Nollt er die Anhöhe hinab, bricht er
den Hals; der Held aber wird ihn rächen; fchon ift fein
Reiſedolch gezüdt nad) ded wütenden Graurocks Bruft.
Auf der zweiten Hälfte des Bildes die nämliche Szene.
Die Sonne fteht hell am Himmel; unten im Geftrüpp
41418 Judith, die Kluswirtin
liegt der Graue, mit Blut beſchmiert, den Dolch in der
Bruſt, eine Leiche; neben ihm kniet der Cherub, die Hände
gefaltet, von einer Söldlingsſchar umringt, die den lamm⸗
ſtillen Dulder in Ketten fchlägt. Am äußerſten Ende der
Erhöhung ein Dampfzug, voran die glühende Mafchine,
und der Held, gefträubten Haares, mit weitausgefpreizten
Schritten und den Gebärden ded Ewigen Juden ihm ents
gegenftürzend.
Alles das, was viele Worte doch nur halb befchrieben,
das Abfichtliche, Übertriebene, nur für die eine Beſchauerin
Sharafteriftifche der Schilderei, das war in einem einzigen
Blid, einem Augenauffchlag wie mit glühender Platte
ihrer Faflung eingegraben. Im nächſten Moment lag
das Geſtell umgeftürzt am Boden. Ein Wirbelmind hatte
jach die regungslofe Kuftfchicht durchbrochen, ein krachen⸗
der Stoß die leichte Budenwelt gefchüttelt. Der Geigen⸗
fpieler, fein ISnftrument unter dem Arm, flürzte hervor,
das Kunftwerf zu retten. Cine verfommene, höcferige
Geftalt, hinfend, in flatterndem, rotgefüttertem Mantel,
den Kragen von fteifem Papier breit darüber geflappt.
Ein Windftoß führt den Federhut hoch in die Luft, der
Kopf ift Fahl wie eine Hand, das Geficht Tederartig gelb,
mit bläulicher, dünner Nafenfpite und einem ſchwarzen
Ziegenbart bis auf die Bruft hinab; er hat nur ein leben⸗
diges Auge und das nicht weniger vorftehend als das
zweite, das Fünftlich von Glas in die leere Höhle ges
drängt ift.
Wieder nur ein einziger Augenblic! — Ein gellender
Schrei aus einem Weibermunde erftictte in einem donner⸗
frachenden Aufruhr der Natur, in taufendftimmigem Ge-
kreiſch. Es ift ploͤtzlich Nacht geworden; der Wolkenkegel
Judith, die Kluswirtin 119
ſchießt zu Boden; die Domglocken rühren ſich wie von
Dämonenhand geläutet, der Platz zu Füßen ſteht ver-
wandelt in einen See, aus welchem das Wrad bes
Bretterbaues emportaudht, feine Reinendächer gleich Segeln
vom Sturme zerfeßt in die Lüfte wirbeln. - Im Nu war
die Tür des Iutherifchen Haufes in Stüde getreten; Judith
fah fidy inmitten eined dDrängenden, ringenden, ächzenden,
fchreienden Getümmels.
Licht
Nach Art fo gewaltſamer Phänomene währte der jähe
Sturz faum Minuten lang. Die Windsbraut fegte die
Wolfen auseinander, und Blige zudten, Donnerfchläge
grollten noch geraume Zeit gen Often, ale fchon der
Sceibeftrahl der befreiten Sonne dad Kreuz ded Doms
turmed wieder übergoldete. Aber welcher Sammer der
Zerftörung unter der vor furzem noch fo vergnüglichen
Melt! DO, unglüdfeliger Jubilatemarkt! Zuckerherzen und
Wundergefchöpfe, Morbbilder, Würftchen und Waffeln,
dahin treiben fie zwifchen den Roſſen und Kalefchen des
Karuflells, zwifchen Brettern, Kiften und Ballen, um unter
Ad, und Kradı in Schlamm und Sand fid) aufzulöfen.
Petz und Konforten ſchwimmen brüllend mit fiummen
Heringen und Büdlingen um die Wette.
Und nicht nur diefe leichtgerüftete Eintagdwelt, - Fenfter,
Dächer, Scyornfteine, ganze Gebäude felber knicken ins
einander in Sturm und Strom; hügelhoch fperrten Schutt
und Trümmer den abfallenden Gießbächen den Lauf;
ftauend reißt die Flut ſich Bahn felber in die höher gelegenen
Höfe und Käufer, preßt von den Kellern herauf, bebroht
unterwühlend die oberen Gefchofle. Dom Stall bis zum
120 Indith, die Kluswirtin
Giebel angftvoller Hülferuf; erfäuft, erfchlagen fchwimmen
die Haustiere zwifchen Balken und Geröll; offene Särge,
Kinder in Wiegen treiben einher, fchreiende Mütter,
Männer, bis unter die Arme im Wafler, arbeiten gegen
die Wogen. Hier gilt ed die Hülfe Taufender für Tau⸗
fende. Auch denkt im erften Entjegen feiner der länd⸗
lichen Säfte daran, die Stätte der Verwüſtung zu ver⸗
laſſen und dem leichtlich nicht minder gefährdeten Heim⸗
wefen zuzueilen.
Nur Sudith achtete nicht auf die allgemeine Not. Sn
ihrer Seele rafte ein Wetterfturm, mächtiger als der der
äußern Natur; gleichgültig hätte fie wohl einer Sünd⸗
flut und dem Weltenuntergange zugefchaut. Als aber die
Menfchenfchicht, zwifchen welcher fie eingefeilt geftanden,
fich Ioderte, da war fie die erfte draußen auf der Rampe
und fpähte zwifchen den Ieblofen Trümmern nad) einer
einzigen armen menfchlichen Figur. Das Geftell hatte ſich
zwifchen den Fugen der Brüftung feftgeneftelt, das Schau⸗
bild war verweht, zerweicdht, zerriffen, Gott weiß, — der
Geigenfpieler verfchwunden. Shn muß fie fuchen, finden.
Auf feiner Zungenfpige ruhen Ehre und Freiheit eines
Menfchen, ruht der Frieden ihres eignen kommenden
Lebens,
Entfchloffen fchritt fie vorwärts, als noch kaum einer
fidy unter den ftrömenden Himmel gewagt; oftmals bis
an die Knie im Waſſer, fprang fie von Stein zu Stein,
wand ſich horchend und lugend durch Gaſſen und Winkel
der Niederftadt, in weldyer die Schenfen des Volkes ge-
legen find. Bald indefjen durfte fie diefe Richtung auf-
‚geben; ein Bächelchen, zum Strome angejchwellt, hat
Brüden und Stege fortgerifien, fein Marktflüchtling dag
Fudith, die Kluswirtin 121
“jenfeitige Ufer erreichen können. Sie ftieg die Oberftadt
hinan, deren fteil abfallende Straßen der Guß abgefpült
wie ein fauberes Gefchirr und an deren fefteren Gebäuden
das Unwetter wenig Schaden getan. Fragend, forfchend,
fiöbernd eilte fie auch hier von Haus zu Haus. Stunden
vergingen, die Nacht war tief hereingebrochen, die halbe
Mondfcheibe, von dunfeln Wolfen überflogen, gab nur
ein ſchwaches Däammerlicht. Aber Sudith raftete nicht,
fie verzagte nicht, fie fühlte nicht Naͤſſe noch Ermüdung.
Sie mußte ihn finden; ihr innerfted Leben pulfierte in der
einzigen Leidenfchaft: „Ihn finden!“
Straßauf, ftraßab gelangte fie endlich an bie Stelle
zurüd, von weldyer fie ausgegangen, und lenkte, einer
unwillfürlichen Eingebung folgend, in die Gafle, welche
die Oft» und Süpfeite des Domes umfpannt und durch
eine den Kreuzgang mit dem SKirchenfchiffe verbin>
bende, halb verfallene Kapelle abgefchloffen wird. Nur
Gärten und Hinterhöfe münden in diefen ftillen Winfel;
auch bemerkte fie rings nicht ein Iebendes Wefen und war
im Begriffe umzufehren, ald das Wiehern eines Pferdes
fie ftugen madıte. Sie ging dem Schalle nad) und ftieß
in der Tat auf ein Gefährt, dem ähnlich, das fie auf der
Straße am Waldhaufe wahrgenommen. E8 mochte fchon
vor dem Unwetter unter einem offnen, Keuertonnen und
Leitern ald Obdach dienenden Vorbau der Kapelle angebuns
den fein, denn ed hatte Feinerlei Befchädigung erlitten,
und die Mähre fraß gelaflen aus dem vorgehängten Eimer.
Der Mond drang in diefem Augenblide mit fcharfem
Lichte durch die Wollen. Kein Zweifel, e8 war der Karren
von diefem Nachmittag. Wo aber war der Fuhrmann,
ber Geigenfpieler mit dem glafigen Blick? Mit zitternder
1232 Judith, die Kluswirtin
Sand hob fie die Seitenwand des Verdecks, und - fo mag
ed dem Giftgräber zumut fein, wenn er auf bie vers
borgene Ader ftößt, die anderen Arznei werben fol und
ihm felber den Tod bringen kann, wie dem Mädchen, als
es den Heinen, Fahlhäuptigen Dann am Boden liegend
entdedte. Seine Augen waren gebrochen, die Zähne über;
einander gepreßt, die Lippen weiß befchaumt, die Glieder
verrenft. In der Rechten hielt er ein Fläfchchen, deſſen
dunkler Snhalt noch am Barte herunterträufelte. War
es Gift? War er tot? — Sie flieg in den Karren, und
feine Mutter taftet mit angftvoller gefpannter Seele nadı
Puld- und Herzſchlag ihres Lieblings, ald fie nach denen
diefed elenden Krüppeld. „Gott ift gerecht! Er lebt!"
flüfterte fie. Sie löfte den durchnäßten Anzug und hüllte
den erftarrten Körper in trodene Kleider und Deden, die
in einem Bündel im Winkel lagen. Es überrafchte fie
nicht, daß während diefer Bemühung der Köder, eine:
fünftfihe Wulft, der ſchwarze Ziegenbart, eine Maske,
zu Boden rollten. Aber weldyes armfelige Geripp, nach⸗
dem die entftellende Hülle gefallen! Sie gab dem Kopf
eine erhöhte Richtung, und nachdem fie noch eine Weile
forgfam laufchend das matte, aber gleichmäßige Atmen
eines Schlafenden vernommen, fchwang fie fich auf Die
vordere Bank, ergriff die Zügel und Ienfte dem nach ihrem
Dorfe führenden Tore zu.
Unbeachtet wand ſich das Meine Gefährt radtief in
Schlamm, Schutt und MWafferlachen, durch drangendes
Bolkögewirr bid zum jenfeitigen Ufer. Der im Schwellen
heftig raufchende Fluß hatte eine Wetterfcheide gebildet;
drüben nirgends eine Spur gewaltfamer Zerftörung.
Während bort jedoch der Bruch der Wolken fo raſch ges
Judith, die Kluswirtin 123
endet als er eingetreten, war er hier bereits in einen
ſickernden Landregen übergegangen. Der Schlummernde
lag geſchützt unter dem Verdeck, die Führerin aber emp⸗
fand ohne Schauer das Falte Geriefel über den von einem
innerlichen Brande durdhglühten Leib.
Die Straße war menfchenleer. Die Kluswirtin mochte
die erfte fein, welche die Stadt verlaffen, und die Kunde
von deren Heimſuchung hatte fich noch nicht verbreitet,
um Meugierige oder Külfeleiftende herbeizuziehen. ‘Der
Notruf der Sturmgloden aus ben jenfeitigen Dörfern
verhallte im Raufchen von Regen und Wind, der Mond
drang nur mit mattem Schimmer durch die dichten Wolfen»
lagen. Auch in Judiths Seele war es fturmdurdhbraufte
Nacht. Das Unbegreifliche, was diefe Stunden ihr vors
geführt, ed bot feinen Halt, feinen Zufammenhang, Feine
Löſung. Ein Klang, ein Blick, ſchwerlich ohne vorbereitetes
Mahnen das Bild der Erinnerung erwedend und diefem
Bilde in feinem Zuge ähnlich; eine abenteuerliche Schaus
fzene, nur durd; den Einflang mit ihren eignen Grübeleien,
durch ihr allein verftändliche Befonderheiten bedeutungs⸗
vol! Rätſel und Zweifel, nad) welcher Seite fie fann;
Schmach und Qual, wenn ihre Ahnung Wahrheit wurde.
Aber zwifchen dieſem verwirrenden Dunkel ein hellftrahlen-
der Stern: der Stern ber Gerechtigkeit, der eine ewige
Leitung befundet.
Je mehr fie ſich ihrem Gehöfte näherte, zwang fie fich,
ihre Gedanken auf das zunächft Erforderliche zu richten.
Sie fonnte darauf rechnen, ihre Leute noch nicht heim>
gekehrt zu finden, auch bedurfte fie der Einfamfeit — der
fremde Saft mußte verborgen gehalten werden. Bor der
Torfahrt ftieg fie ab und laufchte nach allen Seiten; im
4124 Judith, die Kluswirtin
Hofe wie auf der Straße alles ftill: der Fremde fchlief
ohne Regung. Sie fpannte das Pferd aus und trieb es
durch die Heckentür in den Kamp. Nody einen Blid
unter die Leinenplane — feine Bewegung. Beruhigt ging
fie voran. Hof und Haus ftanden unverriegelt, der
fromme Sylv, — nein, nimmer hätte er einen Wirt ge-
geben! Da lag er auf feinen Knieen, ben Rofenfranz in
der Hand, eingefchlummert zu Füßen der toten alten Frau.
„Wohl der Mutter, wehe dem Kinde!“ murmelte Sudith
mit frampfhaft über der Bruft gefaltenen Händen, al? fie,
leiſe herbeifchleichend, das friedliche Bild durch die offne
Kammertür überfchaute. Sie wechſelte im Fluge die
Kleider, zündete die Laterne an, nahm den Schlüffel zu
der Giebelftube, die fie heut morgen zum erftenmal feit
sehn Sahren geöffnet, und ging nad) dem Karren zurüd.
Der Fremde war erwacht. Bon dem ZTorflügel gededt,
beobachtete fie ihn eine Weile, wie er, aufgerichtet auf
der vorderen Bank ftehend, mit dem Blicke eined Schlaf:
wandlers um fich fchaute. „Die Klus!” fagte er mit
verwundertem Ton; „die Klug!“
Judith trat vor, reichte ihm ſchweigend zum Herab⸗
fteigen die Hand und leuchtete ihm ebenfo ſchweigend über
den Hof voran. Er folgte wie im Traum. Auf der
Treppe ſtockte er mehr ald einmal, ftrich mit der Hand
über die Stirn, fchien zu erwachen, fidy zu befinnen. Bor
dem Eintritt in das Zimmer fchredte er zurüd, und nach⸗
dem er die Schwelle überfchritten, fchielte er fcheu in alle
Winkel des Raums, über dad ungeordnete Gerät, zwifchen
jedem Blicke aber zu der Wirtin hinüber, Die, noch immer
ftumm, die Laterne auf den Tiſch fegte und feine feiner
Bewegungen unbeachtet ließ.
Fudith, die Kiuswirtin 125
Sie framte einen vollftändigen Anzug aus der Lade im
Hintergrunde und fah ein findifches Lächeln des Fremden
Geſicht überfliegen, ald fie die bunte Troddelmüge und
den türfifchen Schlafrod, in weldyem der eitle Gefell, ihr
Bruder, vor Sahren zum Ärgernis der Nachbargäfte ein»
herftolziert, mit dem ftummen Bedeuten, die durchnäßten
Kleider dagegen zu vertaufchen, vor ihm ausbreitete.
Darauf ſich entfernend und nad) kurzer Weile mit einem
erwärmenden Aufguß zurüdfehrend, fand fie ihn um⸗
gekleidet und, einen Kleinen Spiegel in der einen, die
Laterne in der andern Hand, fich felber mufternd und ver-
gleihend vor dem Konterfei des einftigen Bewohners.
Eine Minute lang hielt fie ſich unbemerkt unter der leife
geöffneten Zür. Auch ihr Auge flog prüfend von dem
Bilde auf den Befchauer und von dem Befchauer auf das
Bild. Jener vollodige, blitende, übermütige Jugendkopf
und diefer kahle, glafige, hohlwangige Totenfchädel, konn⸗
ten fie eines Menfchen fein, eines Menfchen Sonft und
Sept, und dazwischen nur eine Spanne von zehn Sahren des
erften Mannedalter8? — Dennoch! — „Auguft!” rief fie, ents
fchloffen in das Zimmer treteud. — Der Fremde fchraf zus
fammen und ftelte haftig Laterne wie Spiegel beifeite.
Den Ruf fchien er überhört zu haben. Er ftürzte gierig
mehrere Taffen hinunter, welche die Wirtin ihm einfchentte
und weldye ihn fichtbar belebten.
„Auguſt!“ fagte fie jeßt nody einmal mit eifernem Ernft
und durchdringendem Blick, und „Auguft!” nad) einer
Stille zum dritten Male. - Gleich, einem eleftrifchen Schlage
zudte ed durd; den Körper des feltfamen Mannes. Seine
Wangen färbten ſich, das eine lebendige Auge blickte mit
Harem Bewußtfein, er richtete die zufammengefunfene Ges
126 Judith, die Kluswirtin
ſtalt ſtraff in die Höhe, von Kopf zu Fuß ein anderer, als der
er bis vor wenigen Sekunden geweſen. „Ich heiße Brown,
Madame”, fagte er mit tiefer, gemeſſener Stimme und
ausländischen Akzent. „Sames Brown, Bürger der Ber:
einigten Staaten von Nordamerika, wie der Paß in mei-
nem Tafchenbuche Ihnen beweifen kann.” — Als Judith
aber nicht alfobald ein Wort der Entgegnung zu finden
wußte, fuhr er geläufiger fort: „Sch bin in einem Gaft-
hauſe, fo ſcheint's. Wie ich dahin gefommen, weiß idy
nicht. Ein heftiged Wetter überrafchte mich auf dem
Markt. Ich leide an Krämpfen, Madame, ‚böfes Wefen‘,
irre ich nicht, nennt man e8 hierzuland. Böfes Wefen,
richtig, vollfommen richtig ausgedrückt. Sehr böfes Wefen
in der Tat. Sch fühlte ed nahen, ich nahm meine Tropfen.
Laudanım, Laudanum, Madame! Daher die Betäubung.
Weiß nichts feit Diefer Zeit, rein nichts. Wie lange mag
ed fein? Es ift Nacht. Mic, dünft, ich fei gefahren.
Aber ich kann es geträumt haben. Wo ift mein Wagen,
mein Pferd? wo bin id, Madame?” — Schaufpielerte der
Menſch? war er wahnfinnig? Judiths Herz fämpfte zwi-
ſchen Entrüftung und Zweifel. „Du nannteft die Klug;
du Fannteft fie wieder, Auguſt“, fagte fie nad, einer Paufe.
„Sch heiße Brown, Madame,” fiel er ein; „Sames
Brown, Bürger von Maflachufettd, United States. Bitte
meine Papiere einzufehn. Bor wenig Tagen vifiert vom
töniglichen Konful in Bremen, alles in Ordnung, Madame.
James Bromn, fo iſt's. Und die Klus, die Klus! Wie
tft mir denn? Sa, ja, ganz redht: die Klus, fo hieß dag
Gafthaus an der Landftraße, aus welchem mein Schiffs⸗
kamerad geftammt. Die Klus! Unglüdlicher Mann, graus
fam unglüdlicher Dann, Madame, mein Kamerad! Es
Judith, die Kluswirtin 127
iſt eine Weile her, zehn Jahre mögen es ſein. Wir litten
Havarie. Er und ich ganz allein von der Mannſchaft ge⸗
ſpült an eine Klippe. Drei Tage lang zwiſchen Himmel
und Ozean, ohne einen Tropfen und Biſſen, ſchrecklich,
ſchrecklich Madame! Seine Lebensgeſchichte gehört. Eine
Beichte, ſozuſagen. Er war Katholik. Ich bin Proteſtant,
Proteſtant, ſo iſt's! Durfte ihn abſolvieren, denn ſeine
Reue war aufrichtig, bei Gott aufrichtig, Madame, und
die Strafe grauſam. Am dritten Tage verſchmachtet. Ich
hielt es laͤnger aus. Wurde gerettet. Ein vorbeiſegelndes
Schiff, ein Wunder beinahe, ein Wunder, gehört aber nicht
hierher. Die Geſchichte hat ſich mir eingepraͤgt, — ſehr
natürlich unter dieſen Umftänden! — als hätte ich fie er⸗
lebt. Brachte fie zu Papier, zu Bild. Sch bin Künftler,
Madame, Maler, Rhetor, ISmprovifator, Schaufpieler,
alles bei Gelegenheit, wir lieben das drüben, Madame.
Nicht fteif und einfeitig, Uncle Sam wie Vetter Michel
im alten Land, Habe Glück mit der Geſchichte gemacht.
‚Leichtfinn und Edelmut‘ war fie benamft. Eine Kuriofität
der leßtere, der Edelmut, heißt das, für Uncle Sam.
Mehr in Deutfchland zu Haufe, aber wohl auch faum im
Überfluß; nicht fo, nicht fo, Madame? Wollte das
Träumervolf kennen lernen, ftudieren. Bin Tourift,
Forfcher von Natur. Habe viel unter Deutfchen gelebt.
Aber Quelle ift Quelle! Spredye Ihre Sprache paflabel,
finden Sie nicht? — Aber zurüd zu meiner Gefchichte.
Ein Deutſcher überfegte fie für einen Dollar. Armer,
dummer Teufel, wie alle Deutfche drüben, damned Dutch!
für einen Dollar, bah! einen Drudbogen Berfe und ger
reimt fehr gut, fehr gut, Madame. Bor vier Tagen ge-
landet, heute aus Zufall in der Stadt zum Markt; aus
428 Judith, die Kiuswirtin
Zufall, fo iſt's. Sie waren in der Stadt, Madame, nicht
fo? Sie fahen das Bild, ja, ja, das Bild! — Windhofe,
Waflerhofe, - Kinderfpiel hierzuland, foldy ein Sturm! -
Krampf, Laudanum, Taumel; fo iſt's, Madame, fo iſt's!“—
Die unglüdliche Sudith ftand wie verfchüttet unter dies
fem Schwall. Hätte fie noch gezweifelt, der letzte Zweifel
würde entflohen fein. Sa, das war ihr Bruder, dag war
der Guft! Zeit, Elend, eine fremde Welt, Lafter, Krank
heit und ein heimliches Verbrechen hatten die Geftalt vers
wandelt; der windige Geift, der Unraft, der Poffenreißer
war geblieben. Das Erbarmen mit einer verurteilten
Seele, dad Grauen vor blutigen Enthüllungen, vor Schmad)
und Strafe fchwiegen ftill in ihrer Bruft, fie fühlte nur
die Verachtung von ehedem, fühlte einen Haß, eine Ers
bitterung, die ihr die Kehle rampfhaft zufammenfchnürten,
fah nur den ungeheuren Kampf, der ihrer wartete.
„Sie find mir die Antwort fchuldig geblieben, Madame”,
fuhr der Fremde nach einer Paufe fort, in welcher er die
Gegenftände im Zimmer neugierig gemuftert und betaftet
hatte. „Auf der Klus, fagten Sie. Aber wie bin ich auf
die Klug gefommen? Die Klus, in der Tat, die Be-
fchreibung trifft. Mein Kamerad war weitläufig über die
Klus, ſchrecklich weitläufig, Madame. Heimweh nennen
fie das Ding hierzuland. Kein Wort dafür drüben,
nicht befannt das Ding, Unfinn, Unfinn! Heut im Nord,
morgen im Süd. Geldmachen die Lofung, Gefchäfte machen,
fein Glü machen, wachfen, Madame, wachfen, den Baum
verpflanzen, bis er fein Erdreich gefunden; nicht Wurzel
fchlagen, kleben an der Scholle, auf welche der Wind das
Samentorn geweht. Xangweilig das, dutch, Unfinn, Uns
finn! — Die Klus alfo, die Klus! Iſt die Klus wieder
x
$udith, die Kluswirtin 4139
ein Gafthaus, Madame? Was mag aus der jungen Wirtin
geworben fein, meines Kameraden Schwefter? Eine hübfche
Dirne ihrerzeit, wird einen Dann genommen haben, ge⸗
wiß, gewiß! Aber —“ feine Stimme flockte einen Moment,
und er blickte mit einem Anflug von Angft zu dem Mädchen
hinüber, — „aber eine alte Mutter, irre ich nicht, eine alte
Mutter — und ein Kind!“ —
Eine blitzartige Eingebung fuhr bei den legten Worten
durch Judiths Hirn. Waͤhrend fie indeflen, roch immer
regungelog, über ihre Ausführung fann, hob der Fremde
mit feiner früheren Ihrbefangenhett wieder an: „Ihr Kaffee
war gut, Madame, heiß und: ftark, ich liebe dad. Arznei
gegen den Krampf, aber fatt macht er nicht. Mich hungert.
Nüchtern feit morgens. Einen Imbiß, ich bitte Ein
Stüd Brot und Fleifch und ein Glas Wein, wenn ed fein
fann. Bier und: Schnaps — bah! KRommunes: Getränf,
der Schnaps. Ein Künftfer will Wein. Seine Kunft
drüben: ber uns —“ — Sudith unterbrach ihn, indem fie
die Laterne vom Tiſche nahm und, ohne ein Wort zu fagen,
ihm ein Zeichen gab, ihr zu folgen. Er zögerte einige
Sekunden, warf einen mißtrauifchen Seitenblid auf die
ſtumme Führerin, ging aber body hinter ihr drein, die
Treppe hinunter, über den Hof, durch Küche und Wohns
gelaß. Unter der offnen Kammertär hielt fie ftil und
beutete fchweigend auf das vom ſchwachen Lampenſchimmer
beleuchtete Friedendbild dee entfeelten Greifin und des
fchlummernden Knaben.
Einen Augenblid fteht der Fremde wie erftarrt, im
nächften ftürzt er mit jähem Auffchrei über das Totenbett.
- „Mutter, Mutter!” ruft er, und — „Sylv, mein Kind!”
- indem er zu dem Schlafenden niedertaumelt.
#
130 Judith, die Kiuswirtin
Sylvian fuhr in die Höhe. Erfchroden blickte er auf
ben fremden Mann, beffen Arme ihn umftrickten, dann auf
die Leiche, auf feine Pflegerin und wieder hinab zu dem
Fremden. Er entfärbte ſich, er zitterte. Der Mann ſchluchzte
wie ein Kind, wollte reden und vermochte ed nicht, wollte
ſich aufrichten und ſtrauchelte. Judith umfaßte ihn, und
indem fie dem Knaben gebieterifch zuraunte: „Bleib,
er ift krank!” trug fie den Bemwußtlofen in die Küche,
deren Türe fie verfchloß. Sylvians Angſtblick Taftete
auf ihrem Herzen; fie hatte eine Probe gewagt, und Die
Probe war gelungen; den aber, an dem fie gemacht wor⸗
den, hatte fie außer acht gelaffen, und er konnte ihr Opfer
werden. Er durfte den Mann nicht wiederfehen, heute
nicht, nimmer! — Der Fremde mußte ihm ein Fremder
bleiben.
‚ Kaum daß fie einen Imbiß zurechtgefchnitten und ein
Glas von dem Wein, der zur Stärkung für die Mutter in
das Haus geichafft worden war, zwifchen des Erfchöpften
Lippen geflößt, fo nahm fie ihn, ohne feine völlige Bes
lebung abzuwarten, von neuem in ihren Arm und 308
ihn nach der Giebelftube zurüd. Seine Befinnung war
wiebergefehrt; er fchluchzte bitterlich. — „Bruder!“ fagte
Sudith, ihm mitleidig die Hand reichend. — „Sa, dein
Bruder!“ rief er unter Tränenftrömen; „bein Bruder, der
Heimatloſe, dein Bruder, der Elende, ber - der, o, bu weißt
es ja, Judith! ich fehe es an deinem Schauder, — bein
Bruder, der Mörder!" —
Irrlicht
So war es denn Tag geworden über der dunklen Tat,
Tag für die Unſchuld, und Mitleid mit Abſcheu, Blutes⸗
FJudith, die Kiuswirtin 191
liebe mit Weibesliebe, Sieg mit Vernichtung rangen in
des erfchütterten Mädchens Bruft.
„Lebt er noch, Judith?ꝰ“ fragte jener ſcheu und Ieife. -
Sie neigte ſchweigend den Kopf. — „Bott fei gelobt!” rief
er, fich in die Höhe richtend und fchon wieder gefaßt, ja
hoffnungsvoll um ſich blidend. - „Im Kerker, Auguſt!“
mahnte die Schwefter. „Zehn Sahre im Kerker. Auf dein
Gewiflen, zehn Jahre von einem Menfchenleben, zu jenem
andern Leben, dad —.“ — „Er wird noch gute Tage fehen“,
unterbrady er fie, indem er mit haftigen Schritten im
Zimmer auf und nieder ging. „Er wird frei werben, er
ift unfchuldig. Ich, ich bin der Elende, mein Leben ift
vergiftet. Weißt du, was Blut ift, Judith? Gift ift es,
Gift! Das Mebt, das ägt, das fengt, das löſcht Fein
Tropfen. Laudanum, fagen fie, Laudanum fcheucht das
Geſpenſt. Glaub's nicht, Schwefter, glaube ed nicht. Sa,
ed ruht, aber ed wacht auf, es fchleicht, es fpringt, hui!
Es ift da!” — „Unglüdlicher!” murmelte Judith bewegt.
„Ich wußte es nicht, Schwerter,” fagte er, je mehr
und mehr geläufig, „das von dem Simon meine ich. Erft
v0» drei Monaten erfuhr ich's durch ben Loöbbeke aus
Nammen. E83 geht dem Löbbeke fchlecht, Dithel, herzlich
ſchlecht. Warum blieb er nicht hüben, der dumme Narr.
Allzu gerieben wir drüben für ſolchen Schlag; Pfeffer und
Salz im Schädel und von Gemüt nicht die Spur. Mir
iſt's geglüdt, Dithel. Nicht in der Südfee, — tolle Zus
mutung, Dithel, dein Botany-Bay. Gottlob, daß ich
ihm echappiert! — aber drüben herum in Oft und Weft.
Mufit gemacht, Gold gegraben, Stuben gemalt, den
Doktor gefpielt, VBorlefungen, Erbauungsftunden, Tifch-
rücken, Geiſterklopfen, ein flottes Leben, Dithel,nur-nur-."-
133 Judith, die Kluswirtin
„Nur der Wurm im Herzen!” fiel Judith ein mit bitterem
Klang. — „Sch tat ed nidyt mit Abficht. Gewiß, gewiß
nicht mit Abficht; aus Zufall, Schweiter, aus Verſehn —!“
- „Ein Mefler in der Sand, ein Zufall? Unter freiem
Himmel ein Meffer in eines Kreundes Bruſt, ein Vers
ſehn?“ - „Das Mefler, ja, ja, das Mefler, - ich hatte, —
ich wollte, — die Bitte, ber Ärger -! — Aber die Mutter,
die arme, alte Mutter, wann tft fie gefiorben, Dithel?“ —
„Diefen Morgen, in fchweren Gebreften. Ihr letztes
Geficht war ihr Sohn, — der Moͤrder; ihr letzter Segen
für den unfchuldigen Büßer.“ — „Ic ahmete es nicht,
Schwefter; firaf mich Gott, ich ahnete es nicht. Erf Burch
den Löbbeke and Nammen. Auf der Flucht, während der
Fahrt — wenn der Verdacht auf ihn fiele? Dachte ich wohl.
Aber Unfinn, Unfinn! Ein Wort, und er ift rein. Weſſen
war das Mefler, weflen der Stud?" — „Ein Mefler und
ein Stod wie taufend andere. Sie mochten Bed Müllers
fein, ich felber habe fie für des Müllend genommen.“ —
„Und wenn auch Mefler amd Stock, aber die Taſche —.“
— „Die Tafche, weiche Taſche?“ ſchrie Judith auf, von
einem neuen, grellen Lichte geblendet. — „Nein, nein,
nicht von einer Zafche! Ich meine — der Trunk, der
Streit, der —.“
Er fprang auf einen andern Begenfiand über, auf
feinen Sohn. Er pries fein Anfehn, das ihn an feine
felige Schöne gemahnte. Tränen fliegen ihm in die Augen;
er dankte der Schweiter mit bewegten Worten für :alles,
was fie für die Waife getan; er baute Luftſchlöſſer für
ihre Zukunft. Seine boͤſen Erinnerungen waren einge⸗
fchlummert, und Judith mußte fich Aberwinhen, fie mit
Hartnäckigkeit wieder aufzurütteln, den erfchütteenden Auf:
4
Judith, die Kluswirtin 133
tritt von Simons Verhaftung und Selbſtbeſchuldigung
ihm vor Augen zu führen. Sein erregbarer Sinn blieb
nicht unempfänglich jelber für der Darftellerin knappe,
gepreßte Art, die der feinigen fo ungleidy war. Unter
den lebhafteften Ausbrüchen der Verzweiflung rafte er im
Zimmer umher, erging ſich in begeifterten Ergüffen über
Das, was er nicht anders als ein Freundfchaftsopfer ers
faßte. „Herz ohnegleichen!” rief er aus, „Simon, herrs
liche Edeltanne! Du ſollſt nicht gefällt werden, nicht im
Schatten ded Diefichts verfümmern! Frei und hoch wird
beine Krone ragen über alle, alle! Ein armer Sünder,
für den du eingetreten,” er ſchlug mit der geballten Fauft
gegen feine Bruft, „aber, den Kopf ftolz in den Naden
werfend, „aber ein Mann, ein Mann wie du! Kaum hört
er von deinem Opfer, zehn Sahre zu fpät, weh’ ihm.
Hinüber! ruft er, hinüber! Heute noch, diefe Stunde!
D, ihr blöden Richter, fchwachherzige Pedanten, fo han⸗
- delt ein Freund, fo handeln Freunde! Kein Neugebornes
war fehufdlofer ats diefer Mann, — ich, ich bin der
Mörder!“
„Dad wollteft du, Bruder? Dich freimillig ftellen,
Auguſt?“ rief Judith zweifelnd und Doch mit glänzenden
Augen. — „Ich wollte ed, bei Gott! Noch am felbigen
Abend wollte ich hinüber!” — „Und — du willft ed noch?”
— Die Antwort serzögerte fidy etliche Sekunden; die ges
bämpfte Stimmung, in der fie gegeben warb, fteigerte ſich
indeſſen im Berlauf wenn nicht zu dem früheren Schwunge,
fo doch zu einer gleichen Kebhaftigfeit. — „Ed war Feine
Schiffögelegenheit an dem Tage, Dithel, auch am nächften
und übernächften nicht. Sch hatte Zeit zur Überlegung.
Eine Idee ſchoß mir durch den Kopf, neu, einzig, noch
134 Judith, die Kiuswirtin
nicht dageweſen. Ich malte das Schaubild, entwarf die
Gefchichte, brachte fie in Verſe, feßte fie in Muſik, bes
rechnet, zugeftußgt für das Volk, verfieht ſich, aber ges
lungen, Dithel, ich ſage dir, gelungen. Das Gewitter
fam dazwifchen. Bild und Terte find zerftört. Wir muͤſſen
auf ein neues fpefulieren. Es follte nicht fein. Sch bin
Fatalift, Sudith, das heißt, ich beftehe nicht auf meinem
Kopf, wenn das Schickſal mir in die Quere tritt. Hätte
ich die Erzählung vollenden, nur beginnen können, — es
blieb beim Zitel leider, aber fchon der Titel wie das Bild
lockten gewaltig, — der Bezug wäre mit Händen gegriffen
worden. ‚Der Simon!‘ hätte man gefchrieen, ‚Simon
der Quellenfinder unfchuldig, freiwillig büßend für eines
andern Miffetat!‘ Ort und Stunde dazu: Subilatemarkt,
ber zehnte Sahrestag, — alles wohlberechnet, fein ausge⸗
tüftelt, Dithel! — Der Rumor wäre unmiderftehlid) ges
worden. Der Täter galt für tot, — eine Seefchlange hatte
ihn verfchlungen laut Bild und Text. Der Erzähler war
längft wieder fort zu Schiff. Die Behörden hätten eine
neue Unterfuchung angeftelt, Simon die Wahrheit zuges
ftanden —.“
„Hätte Simon die Wahrheit geftehen wollen, er
brauchte nicht auf deine Narreteidinge zu warten“, unter-
brach ihn die entrüftete Schwefter. — Die Wirkung dieſes
Einwandes war die unerwartetite, fie hatte den erfinderis
fchen Retter urplöglidy abgekühlt. „Warum tat er es
nicht?" verfeßte er, den Kopf übermütig in den Naden
werfend. „Warum geftand er die Wahrheit nicht? Der
Täter war verfchollen, verfommen, Gott weiß! Sedenfalls
in Sicherheit. Ihm fchadete er nicht, wenn er fagte:
‚Sener tat's!‘ Ihm nüßte es nicht, daß er fprach: ‚Sch
Judith, die Kluswirtin 135
tat's im Rauſch!“ oder fo ungefähr. Unſinn, Narrheit,
Schwärmerei, deutſch, damned dutch, ein Schwabenſtreich,
Romanenheldentum! Warum tat er es?“ — Judith ſchwieg,
empört bis ins Mark. Und dennoch auch ſie, und ſie am
allerwenigſten konnte dieſe Frage von ſich weiſen. Warum
tat er es? Verdiente dieſer Menſch dieſes Opfer? Und
was nützte es ihm, daß er es brachte, oder was ſchadete
es ihm, hätte er es nicht gebracht? Er war fein Schwärs
mer, fein Romanenheld, er war eine innige, fanfte, be»
fonnene Natur. Schwady vielleicht, aber dann ja um fo
weniger -! - Warum tat er e8? — Sie feßte ſich an das
Fenfter, vergrub den Kopf in die Hände und merfte nur
noch mit halbem Ohr auf des Bruders irrlichternde
Sprünge.
„Barum tat er es?“ wiederholte derfelbe, „und warum
glaubte man ihm? &8 lag fein Grund zutage für feine
Fat, nicht Rache, Neid, — oder — oder fonft eine wilde
Begier. Er mied den Streit und fcheute vor Blut. Er
war feines Menfchen Feind. Den - den Müller fannte
er kaum, hatte zum erften Male in jener Nacht feine
Schwelle betreten, und diefer Beſuch felber, nicht eine
Seele wußte darum. Hinten in der Kammer am Waffer
hatten fie gefeflen alle drei, Fein menſchliches Auge fie
gefehen. Sie hatten getrunfen, es ift wahr, und er war
beraufcht. Warum nicht? Es war nicht der erfte Raufch,
in dem man ihn gefehen, und er hatte feinen zornigen
Rauſch, wie der Müller, der, notabene, feinen hatte an
diefem Tag. Er wurde weiß, ftill, traurig, wenn er tranf.
Seder wußte ed. Er ift neben der Leiche gefunden worden,
bleich, firuppig, ſtarr und fteif, mit allen Anzeichen ber
Seelenangft; aber er brauchte nur zu jagen: ‚Der Müller
4136 Judith, Die Kluswirtin
hat mid) den Damm hinabgeftoßen, ald ich die Ringenden
auseinander reißen wollte. Ich lag betaubt, erwachte erft
diefen Augenblid; was Wunder, ſieht man mid; verftört
vor dem Entfeglichen, das ich nicht geahnt? Das Meſſer,
das ich aus feiner Bruft gezogen, ift ed mein Mefler
etwa? Nein, des andern, ich kenne es; brauchte ich einen
Reiſeſtock mit bleiernem Knopf, brauchte ihn der Müller?
— Nein, der andere; feht, meine Tafchen find leer, dag
Geld —!“ - Der Menſch hatte fich wie ein Advokat in
einen fremden Kriminalfall hineingeredet, der zu ihm
felber nicht in der entfernteften Beziehung ſtand. Bor
bem legten Argumente ftocte er; eine Blutwoge ftreifte
über fein Geficht, er atmete jach auf, riß mit der Fauft
an ben Bruftflappen feines Rockes und ſtand ein paar
Minuten wie gebannt. Dann hob er feine Wanderung
durch das Zimmer wieder an und begann endlich von
neuem in verändertem Tone, mit glühendem, perfönlichem
Eifer, fo als ob er eine Keldentat im Schilde führe:
„Sch komme, Freund, ich bin da! Ehe diefe Woche zu
Ende läuft, bift du frei. Wärft du der erfte Gefangene,
ber hinter Mauern und Riegeln entlommen? Kinderfpiel
Das! Sch kenne Schliche und Kniffe, taufend derlei Ges
ſchichten habe ich gelefen, gehört. Noch geftern auf dem
Markt das Bild neben meinem Stand, haarfträubend,
aber wahr, wahr! Bierzehn Eideöhelfer gegen den Nonnen-
fchänder, die höchfte Wette harrt, die Wyd, die Frei-
fchöffen fpeien aus vor ihm — und doch entkommt er noch.
Freilich, er wird wieder eingefangen, aber gab ed Dampf:
fchiffe und Eifenbahnen zu Femezeiten? Sch befreie Dich,
Simon, wir fliehen. Fort für immer aus diefem dummen,
faulen Land. Du kommſt und nach, Dithel, und mein
Zudith, die Kiuswirtin 137
Sylo, mein Sylo! Die Mutter ift tot, bu verfaufft die
Klus; aud) der Simon ift arm: fein Quellenblid ein un-
ſchätzbares Kapital. Eine Waldnatur, — ald Knabe fchon,
hinüber, Simon, hinüber! Nennt ihr das Wälder hiers
zuland? Kiliputen, verfümmerte Zwerge, erbärmliche
Halme eure Eichen; jenfeitd, ſchau, ſchau, das ift Wald!
Und die Schachte drüben! Kohlen für Millionen Sahre,
Eifen und Gold, ja Gold! In das Goldland, Dithel!
Ein Kröfus wird er, ein Nabob! Und. du, Dithel, er hat
did, liebgehabt vom Buben ab: ‚Sch werde fie ewig
lieben!“ fagte er noch in der letzten Nacht und meinte
dazu, und, und —” — „Genug des Irrſinns!“ unterbrach
ihn Sudith mit fo foharfem Gebot, daß in der Tat der
unerfchöpfliche Fluß ind Stoden geriet.
Er langte ein Bud) von dem Regal, feste ſich auf den
Rand feines Betted und blätterte. Keines fprach ein
Wort eine lange Paufe hindurch. Plöglich fchredte er
in die Höhe, dad Bud, entfiel ihm, denn eine eißfalte
Hand hatte in die feinige gegriffen, und die Schwefter
ftand vor ihm leichenblaß, mit’unerfchätterlichem Blicke
fi in den feinen bohrend. „Wirft du deine Miffetat be-
fennen, Auguft?” fragte fie, „einfach, öffentlich, vor Ges
richt und Zeugen?” — Er lad einen drohenden Entichluß
in ihren Zügen und fanf zitternd auf dad Bett zurüd,
Dennoch faßte er ſich noch einmal und fagte entfchieden,
indem er nach feiner Weife den Kopf übermütig in den
Naden warf: „Die Tat befennen, mid) felber ang Meffer
liefern? Nimmermehr!“ — „So tue ich es“, verfeßte fie
mit eifiger Ruhe. „Du bift ein Gefangener in diefem
Zimmer, bis die Gerichte dich abholen werden.“
Er kannte feine Schweiter, er wußte, daß fie nie ein
138 Judith, die Kluswirtin
Wort geſprochen als in wohlbedachtem Ernſt. Todes⸗
ſchauer überrieſelten ihn, er ſtürzte zu ihren Füßen und
umklammerte ihre Kniee. „Deinen Bruder angeben!“
ſchrie er, „aufs Schafott bringen deiner Mutter Sohn!“
-Auch Judith ſchauderte. Doch ſagte fie gefaßt und mit
milderem Klang, als er an ihr gewohnt: „Strafe ſühnt,
Auguſt; was du hienieden büßeſt, wird dir jenſeits ange⸗
rechnet werden. Und nicht mit dem Leben wirſt du die
Untat zu büßen haben. Jahre ſind über ſie hingegangen,
ſie wurde im Eifer verübt, ohne Vorbedacht. Du biſt
freiwillig zur Rechtfertigung eines Freundes zurückgekehrt.
Der Schuldige wird die Zelle betreten, die der Schuldloſe
verläßt.“ — Der unglückliche Menſch wand ſich am Boden
wie ein Wurm; einzeln, wimmernd rangen ſich die Worte
aus ſeiner Bruſt, zum erſtenmal zeigte ſeine Stimmung
den Ausdruck wahrhaftiger Seelenqual. „Und die Schmach,
die Schande,“ ächzte er; „der Rauſch entſchuldigt — ein
Mord ſchändet nicht — aber ein Raub - ein Dieb —.“ -
„Ein Dieb?" fuhr Judith auf. „Wer fagt ein Dieb?
Wer ift ein Dieb?“
„Sch, Dithel, ich”, föhnte er in aufrichtiger Armen;
fünderangft und doch mit einem faft kindifchen Ausdruck
der Hoffnung, ald ob das Schandgefländnig ihn retten
müffe. „Sch, id) raubte ihm das Geld, mein Geld, dein
Geld, Schwefter, dad er mir im Spiele wieder abgemons
nen. Nun weißt du ed, Dithel, nun höre, wie es fam.
Der Simon wartete auf mid) in der Mühle zum Abfchied.
Wir faßen in der Kammer hinten am Wafler alle drei.
Der Müller braute einen Grog. Er vertrug ihn ftarf wie
feiner; heißer, purer Kognak, Dithel. . Bon dir fpradı er,
als hätte er dich im Sad, Bon Hochzeit und Wirtfchaft
Judith, die Kluswirtin 139
ſprach er. Der Simon ſaß ſtumm wie ein Geiſt, wollte
erſt nicht trinken, dann trank er doch. Auf dein Wohl
ein Glas, Dithel, auf meines und dann weiter in der
Verzweiflung mehr ald wir beide zuſammen. Ich wußte,
wie ihm zumute war, er dauerte mich. Aber du hätteft
ihn doch nicht genommen, Dithel, einen Fremden, der
Gnadenbrot auf der Klus genofien, und gegen deine andes
ren Freier einen armen Teufel mit feiner Waldhütte und
den paar Stüden elende Rodung. Sch hielt’ mit dem
andern, Dithel, mit dem Reichen, du weißt es ja; du
wärſt mit ihm fertig geworden, und ich hatte einen Ans
halt, wenn ic; wiederkam. Denn and Wiederfommen
dachte ich Tange, ehe ich ging. Ich fimmte ihm zu, ich
munterte ihn auf; wir fließen auf Schwägerfchaft an, und
der Simon goß ein Glas nach dem andern in den Leib,
als ob er feine Ohren totzufaufen gedächte. Der Müller
brachte die Würfel, ohne die es in der Mühle nicht ab⸗
ding. Der Simon wollte mich abhalten, feine Hand zits
terte, feine Stimme Tallte nur noch. ‚Um den Ring!‘
fagte der Müller. Er meinte ven Trauring der fächfifchen
Muhme, den du mir zum Andenken in der Fremde ans
gefteckt, Dithel. Seinen Berlobungsring nannte er ihn.
Er hielt ein Goldftük dagegen. Der Simon ftöberte
nad) einem Sag; feine Tafche war Ieer.
„Hin war der Ring. Sch hatte Blut gelect; weiter,
weiter, Stüd für Stüd von dem, was ich eben in Empfang
genommen! Zulegt noch, die Taſche. Alles hin! Zum
erften Male blickte ich auf. Sch war allein mit dem
Müller, der Simon fort, ohne daß ich's gemerkt. Sept
meine Angft. Ich flehte ven Müller um Hülfe, er lachte
mich aus. Ich wollte eine Verjchreibung ausftellen, er
440 | Judith, die Kluswirtin
höhnte noch lauter. Die Uhr ſchlaͤgt drei. „Es iſt Zeit,‘
fagt er, ‚komm!' ftreicht das Geld in meine Katze, ſteckt
noch von dem feinigen dazu und fchnallt fie um. Was er
im Schilde führte, Gott weiß. Die Reife mit dir machen,
Dithel, im legten Augenblice dein Jawort erfaufen. Einen
Man hatte er gewiß. Er ging voran, ich folgte ihm wie
ein totgefchoffener Mann. Ich wollte fort, ich mußte fort;
ich fürchtete mich vor dem Turm und vor dir, Dithel, vor
dir, nad) dem, was ich zu guter Keßt noch eingebrodt; ich
wußte meinem Leibe feinen Rat. Ich flehte, ich verfprach;
ich bedrohte ihn um betrügerifches Spiel und böswilligen
Vorbedacht. Sein eiskalter Spott machte mich toll. Wir
ftanden auf dem Querwege über dem Damm; von dem
Bahnhofe herüber regte ſich's. Sch ftärzte ihm zu Füßen,
ich betete ihn fchier an; ih war außer mie Kein Er⸗
barmen. Der Teufel fam über mich. &8 gibt einen Teufel,
einen Teufel leibhaftig, glaub’8, Dithel, glaub’s. Er ftand
hinter mir, er blies mir ein, zerrte mich in die Höh, ftieß
mid; vorwärts, gab mir Kraft, mir, dem Rohr gegen den
hagebüchenen Klotz. Wie ein Strauchräuber ftürzte ich
über ihn und forderte das Geld mit Gewalt. Schon halte
ich die Katze aufgehentelt in meiner Hand, nur der Ries
men hat ſich in einem Rockknopf feftgeneftelt, ich greife
nad) meinem Meffer, den Riemen lodzufchneiden. In dem
Augenblick fpringt der Simon aus den Weiden zu uns
herauf. Wie er dahin gelommen, weiß Gott. Er wirft
fich zwifchen und. Aber der Rauſch, der Rauſch, der noch
nicht verflogen! Er taumelt, ein Stoß, und er prallt den
Abhang hinunter, reißt den Müller, den er gepadt, im
Sturze zu Boden. Ich habe Kuft, ein Schnitt, die Tafche
ift in meiner Hand. Er in die Höh, und über mich her
Judith, die Kluswirtin 141
wie ein. Rafender. Ein Fauſtſchlag mir ind Auge, hin
i?’8, hin! — Der Schmerz, die Wut — das Mefler ftedt
in feiner Bruſt. Moch einmal wirft er fich über mid, ein
Hieb über feinen Kopf — und fort, fort!
„Darf ich das befennen, Schweiter?” fragte der Uns
glärkliche nach einem fchweren Atemzug. „Deines Baters
Sohn ein Straßenrämber, Deines Pfleglings Vater ein
Mörder und Dieb? Bekennen vor Amt und Zeugen? Das
Märhen nom Schattenriß, ben der feheidende Bruder
dem reichen Bewerber verweigert und dem armen mit
feinem Gegen zum Andenken verehrt, der Sang von Liebe
ud Eiferſucht, den ich zurechigeflußt, berzbeweglich für
gemeines Volk, aber vor Gericht und Zeugen — Unſinn!
Die Kreuz⸗ und Duerfragen, Ditbel; dad Gurtende am
Knopfloch, über das man fich jo ſchwer zur Ruhe gegeben!
Den Simon traf fein Verdacht der Beraubung; er hatte
den Pag nicht werlaflen und Feines Pfennig in der Tafıhe.
Aber ich, werfchrieen als Spieler, die Nacht außer dem
Hauſe, im Augenblicke der Flucht — ber gefländige Maͤr⸗
der iſt entlawnt, ein Dieb.”
Das Öekändais war zu Ende; wahr, Mar, anſchaulich,
unter dem Zeugnis der Seelenangit des Belennen, ber
fidh nicht son feinen Knieen erhoben und fchwerlic im
Leben in fo einfältiglicher Weiſe geredet hatte. Aber
Judith, bie Ehrenſtolze, Ehrenveine, faß noch lange wie
von einem Keulenichlage betäubt. Den Argwohn bes
Mordes hatte fie. im Laufe der Jahre erkragen lernen, er
war bon dem geliebten Manne anf ben naͤchſten im Blut
zu rückgewichen, ja zurück. Aber ein Dieb! Wahrheit
die heimliche Ahnumg, die fie nimmer auszudenken gewagt!
Zu dem Verbrechen die Schande über ihrer Väter Haus!
4142 Judith, die Kiuswirtin
Bu viel, zu viel! - Und dennoch! - „Es muß fein“, fagte
fie, fich erhebend, mit Todeskaͤlte.
- Die leßte Hoffnung war dem Elenden gefchwunden.
„Du willſt, du willſt?“ fchrie er auf und klammerte fid)
an ihre Kleider, ald ob er fie gleich jet von dem vers
räterifchen Schritte zurüchalten müffe. „Sch bin bein
Bruder, Judith, dein einziger Bruder. Du fannft einen
Liebften haben, kannſt Mann und Kinder haben, aber
einen Bruder nimmer! Willft du deinen Bruder ans
Hagen, Rabenherz?“ — „Es muß fein“, fagte Sudith wie
vorhin. — Er ließ das Geficht auf den Boden finfen und
lag eine Weile ohne Zeichen des Lebend. Jaͤhlings aber
zuckt es wie eleftrifche Schläge durch den Leib des Zitters
aals. Die Schwefter fürchtet einen Rückfall feiner Krämpfe.
Mein, er fpringt in die Höhe, Fagengefchwind ift er an
der Türe, er will entfliehn. Judith reißt ihn zurüd,
fchleudert ihn zu Boden, fchließt und zieht den Schlüffel
ab, fteht vor der Tür, ein unerbittlicher Poften. - Wieder
eine Paufe ohne Maß, für fie wie für ihn. Er liegt, fie
ſteht, regungslos. Und fiehe da, noch einmal richtet er
fid, in die Höhe, ftrecft fich fo lang er vermag, wirft den
Kopf in den Naden, ein umgewandelter Mann; fein Zug
der vorigen Zerfnirfchung, er ladıt, ja er lacht!
„Wohl befomm’s Shnen, Madame“, fagt er höhnend.
„Sch gönne Ihnen diefes Heldentum. Ich heiße Sames
Brown. Was fchiert mid; der Frobelguft vom Klushof?
Er ift umgelommen im Schiffbruch, ich war dabei, ich be⸗
ſchwör's, ich, Sames Brown aus Maffachufetts, United
‚States. Was fchiert mid; der Klushof und feine Ehre.
_ Sperren Sie mid, ein, Madame. Laſſen Sie mid, arre⸗
tieren, refognofzieren, wie e8 Ihnen beliebt. Findet jemand
Judith, die Kiuswirtin 4143
eine Ähnlichkeit zwifchen Mifter Brown aus Maffachufetts
und dem Auguft Frobel, der vor zehn Jahren von dem
Klushofe verfchwand? Hatte der Frobel ein Hinfebein,
hatte er einen Kahlkopf, nur ein Auge etwa? Der, den
ich, James Brown, ald Auguft Frobel auf dem Schiffe ge⸗
fannt, ich, Sames Brown, der war ein ſchmucker Locken⸗
kopf, heil vom Wirbel bis zur Zehe und zwei Augen, klar
wie die einer Forelle. Zeugnis gegen Zeugnid, meine
Herren Richter. Ein Frauenzimmer, dad feinen alten
Liebſten in Freiheit haben will, gegen den Bürger eines
freien Staats und feinen rechtögültigen Paß, vifiert von
Gefandten und Konfuln Ihres eignen Königreiche. Ver⸗
urteilen Sie den Auguft Frobel in contumaciam zu Kerker
und Schwert, ald Mörder, ale Dieb, nadı Ihrem Ermeffen,
meine Herren. Mifter Samed Brown empftehlt fich, er
reift auf dem Kontinent, auf den Infeln in feinem Baters
lande drüben, wo es ihm beliebt. Salve!” - Er hob nad)
diefer Rede das Buch vom Boden auf, feßte ſich ruhig
auf den Tifch und begann zu lefen. Judith fand wie eine
Säule mit vor Wut zufammengefchnürter Bruft, die Lippen
biutend unter dem fcharfen Kniff ihrer Zähne, minutens,
ftundenlang, fie wußte es nicht.
„Sntereffante Lektüre, wie es ſcheint“, erweckte fie endlich
des Fremden Stimme. „Ritter Kunz von Dortmund oder:
der Femmwrogige, ein Roman; fennen Sie ihn, Madame?”
— Dad Maß war voll. „Femmwrogiger Schandbube!”
fohrie fie mit einem Haß, wie fie ihn im Leben noch nicht:
empfunden, indem fie dad Buch aus feinen Händen ſchlug.
„Nicht Daß du's tateft, giehtmundiger Gefell, aber befennen:
und leugnen in einem Atemzug, Poflen reißen, Lotter⸗
fhriften Iefen, während ein anderer —.“ — Sie konnte
444 Judith, die Kluswirtin
nicht weiter, die Bruſt drohte ihr zu ſpringen; ſie ſtuͤrzte
zum Fenſter und riß es auf, ringend um Atem und Luft.
In dieſem Augenblicke wurde das Hoftor geöffnet, ihre
Leute ohne Zweifel, die zurückfehrten. Sie verließ das
Zimmer, deffen Tür fie hinter fich verfchloß.
Nacht
Das am Morgen fo ftattlich ausftaffierte Liebespaar
war es in der Tat, das jeßt, bis auf Kapſel⸗ und Pudel⸗
mütze durchweicht und zerzauft, von feinem Meßgange
heimfehrte. „Das Wetter, Wirtin!" fagten beide aus
einem Munde, ihre Berfpätung entichuldigend, und als
ihnen Sudith das Abfcheiden der Mutter verfündete,
äußerten fie ebenfo einmütiglich: „Blix noch, einmal, die
alte Wirtin!” ftellten fich jedes in eine Ecke, mit dem Ge⸗
ficht gegen die Wand gefehrt, falteten. die Hände und
beteten ein Baterunfer, um eine Minute darauf die vers
fpätete Nachtmahlzeit nach den unerlebten Strapazen einer
Waſſerhoſe mit doppelter Gemächlichfeit einzunehmen.
Die Wirtin gab währenddeflen die unerläßlidyen Auf⸗
Härungen und Anordnungen. Sie befchied die Magd, für
den Reſt der Nacht ihren Neffen in der Leichenwacht abs
zulöfen, da fie felber durch die Pflege eines kranken Marft-
fremden, auf deflen Karren fie den Heimweg aus der Stadt
zurüc'gelegt, an diefer Pflicht gehindert fei. Einige Stuns
den verlängerten Morgenſchlafs wurden ald Schadlos⸗
haltung in Augficht geftellt.
Der Biſſen im Munde fiodte der Chriftine, und eine
Bänfehaut Lief über die firfchroten Baden; der zartfühlende
Bräutigam, der ſich feit diefem Morgen als einen Helden
und Meifter der Nedefunft bewährt, übernahm es, ihre
Judith, die Kluswirtin 145
heimlichen Schauer auszuſprechen. Wenn es der Wirtin
nichts verfchlüge, meinte er, wolle er ſtatt ber Chriſtine
Wache bei der alten Wirtin halten, und wenn die Wirtin
eine Stärkung extra bewillige, es folle nichts Hitziges fein,
wie ſich's eigentlich bei Leichenwachen gezieme, nur ein
Maß Bier und ein Schmalzwed etwa, fo brauche er feinen
Schaf in den Tag hinein, die Arbeit flutfche fo und fo.
„Sch denfe mir nichts dabei, Wirtin”, erflärte er mit
männlichem Selbftgefühl, das er aber gleich darauf durch
eine galante Wendung überzuderte. „Ich denke mir nichts
dabei. Aber Weibfen ift Weibfen, Wirtin, und wenn es
Knochen hätte wie ein Stier.“
Judith, mit der Änderung einverftanden, zündete eine
Laterne an und ging nad) dem Karren vor dem Tor, den
fie forgfältig durchfuchte. Das Laudanumfläfchchen, wie
Die Brieftafche, die in der Tat einen rechtögültigen Paß
auf James Brown und einige Feine Geldfcheine enthielt,
ftedte fie zu fich; ein Bündel Texthefte verbarg fie unter
ihrer Schürze, um fie fpäter ungelefen am Herdfeuer zu
verbrennen. Sie ging darauf in die Küche zurück, befahl
dem Knecht, den Karren des Fremden im Schuppen unters
zuftellen, und öffnete das Wohnzimmer, in welchem der
geängftete Sylvian fchon fo lange ihrer wartete, „Wo ift
er? Wo ift er?” rief er ihr fiebernd entgegen.
„Der Fremde?“ verfeßte die Pflegerin mit erzwungener
Ruhe und weichem, erbarmendem Ton, denn ded Knaben
Schidfal ging ihr durchs Herz — mehr ald bad eigene;
„der Fremde? Sch habe ihn in der Gartenftube unters
gebradyt. Er ift krank, lieber Sylvian. Ein hartes Uns
wetter in der Stadt hat ihn mitgenommen. Wir machten
den Rücweg zufammen. Beruhige dich, mein gutes Kind.“
® :
4146 Judith, die Kiuswirtin
— „Nenne mid; nicht Kind, Muhme!” rief Sylvian auf-
geregt. „Schone mich nicht wie ein Kind. Ich bin Fein
Knabe mehr feit dDiefem Morgen. Sahrelang habe ich ge⸗
grübelt über mandjes, was ich hörte und nicht verfland.
Nun ift mir's Mar. Sch weiß alles, kann alles ertragen.
Ic Fannte ihn, Muhme. Schon der Rod, in dem er mid)
herzte beim Abfchied drüben im Giebel. Sein Geficht fah
anders aus, nicht krank und verfallen; ich habe es alle
Tage im Geifte gefehen, fo rot und fchön. Aber wie er
mich umhalfte, wie ich feinen Atem fpürte, feine Tränen
auf meinem Geficht, wie er rief: ‚Mein Sylv, mein Kind!‘
— 9, laß mid) zu ihm, laß mich zu ihm, Muhme!“ - „Nicht
biefe Nacht, Syloian”, entgegnete Sudith, der das Herz
verfagte, die Täuſchung fortzuführen. „Er muß Ruhe
haben und du auch. Geh in deine Kammer, fchlafe ein
paar Stunden, armes Kind.” — „Schlafen, fchlafen?” rief
der Knabe vorwurfsvoll, - „Ruhe mindeftens. Und höre,
Sylvian, fobald ed Tag geworden, geh ind Dorf und
bitte den Herrn Pfarrer um feinen Zufpruch, für dich, für
mich und vielleicht auch für - ihn.” — „Darf ich ihm alles
fagen, Muhme?” fragte Sylvian fchüchtern. - „Alles, was
dein Herz bedrückt!“ — „Alles, Muhme, alles? Auch was
nicht mich angeht?” — „Shm, deinem Lehrer und Beichts
Yater alles, mein Kind.“
Sichtlich erleichtert ſchlich Sylvian ohne andere Leuchte
als die des Mondes in feine Kammer. Der Knecht fehrte
zurüd. Judith fchürte die Lampe am Totenbett: „Fromm
und ſaͤuberlich, Klaas”, mahnte fie, auf die Leiche deutend,
und verließ das Zimmer. Ehren⸗Klaas ftand wohl eine
Viertelftunde lang zwifchen Stube und Kammer, unbe-
weglich an den Türpfoften gelehnt; dann zog er aus feiner
Judith, die Kiuswirtin 447
Zafche die kurze Tabaföpfeife, drehte fie eine Weile ſchmun⸗
zelnd zwifchen feinen Fingern, mußte aber wahrſcheinlich
zu der Erkenntnis gelangen, daß eine „Piep“ bei ber
Leichenwacht fich nicht fäuberlic, ſchicken möge, denn er
fteckte fie wieder ein und langte ftatt ihrer den Rofenfranz
hervor, um fromm nach Gebot die Nacht hindurd; auf
feinem Poften auszuharren und am Morgen durdy eine
ftattliche Trauermefle für feine Treue belohnt zu werden.
Seiner Herrin wartete ein fchwerer Hüterdienft. Ihre
vorige Aufregung wurmte fie. Das letzte Wort war mit
dem härteften gefagt, ein Einlenken ihrerjeitd unmöglich
‚geworden. Aber der Kranfe, der Gefangene bedurfte der
Aufficht, fie mußte voran. „Gichtmund, Gichtmund!”
hörte fie von außen feine fchreiende Stimme. „Wer hat
mich femmwrogig genannt? Beweis, Beweis!” Sein
Bli war ſcheu und Angftlich, während die Türe geöffnet
ward; ald er aber die Schweiter erfannte, rückte er Fed
in die Pofitur des Amerifanerd und ſprach zu ihr in der
herrifchen Weife des Einfehrerd, der fich die Zudringlich⸗
feiten feines Wirts verbittet. ®
Er hatte die vorhin gebrachte Mahlzeit bis auf den
legten Biffen aufgezehrt und fiel jett mit der Gier eines
Heißhungrigen über das warme Gericht, das fie vor ihn
auf den Tifch niederſetzte; dann griff er wieder zu dem
Buch, deſſen Inhalt ihn Tebhaft zu befchäftigen ſchien;
als fie aber, nachdem Bett und Zimmer geordnet, fich an⸗
fchickte, den Pla am Fenfter einzunehmen, nahte er fich
ihr mit der höhnenden Frage: „Iſt die nächtliche Gefell-
fchaft der Hausfrau eine Zugabe zur Zeche in diefem gaft-
lichen Lande, Madame?" — Ein Wort entrüfteter Abwehr
erftichte in ihrem Munde vor einem unheimlichen Etwas,
148 Judith, die Kluswirtin
das hinter der kuͤnſtlichen Dreiſtigkeit feines Blicks lauerte.
Eine Verſtändigung in dieſer Stimmung war undenkbar,
er mußte Ruhe haben. So verließ ſie ſchweigend das
Zimmer.
Neben demſelben lag eine Kammer, deren verkleidete
Verbindungstür von der Stubenfeite durch Gerät verſetzt
war. Hier wählte fie ihren Poften für den Reſt der Nacht.
Keine Bewegung konnte ihr durch den Dünnen Brettverfchlag
entgehen; eine Spalte geftattete einen Lugeblick in den ers
hellten Nebenraum. Ihr Gefangener entkleidete fich nicht,
legte ſich nicht, er fchloß Fein Auge die Nacht hindurd,.
Er verriegelte die Tür von innen, fpähte unruhig aus
dem Fenfter, fette fi dann und griff wieder nach dem
Bud, deffen Schauerinhalt er mit wachfender Bewegung
verjchlang. Bon Zeit zu Zeit fprang er auf, rannte durch
das Zimmer und führte, wie ed fchon als Kind feine Art
gewefen, laute Gefpräche mit fidy felbft oder mit anderen,
welche die Einbildung ihm vorführte. „Gichtiger Mund,
gichtiger Mund! Wer fagt, daß ich mid femmwrogig
befannt? Ein Weib ift fein Zeuge. Wo find die Eides-
heifer? Sch ſchwöre mich los! Sch appelliere an Kaifer
und Reich! Ich habe nichts befannt, ich habe nichts zu
befennen. Sch bin nicht ich. Ich bin James Brown,
ich, ich!”
Gegen Morgen beruhigte er fich etwas, er fand feine
Faflung wieder und warf fich angefleidet auf das Bett;
die heimliche Wächterin jedoch ahnte mit Zittern, Daß das
unftete Hirn diefem Aufruhr und Zwiefpalt nicht auf Die
Dauer zu widerftehen vermöge, daß das Unvermeidliche
zur Entlaftung eines Unfchuldigen in fürzefter Weile ges
fchehen müfle. Aber wie den Raftlofen faffen, wie ihn
Judith, die Kiuswirtin 449
halten? Sollte fie die Drohung ausführen, ihn derSchande,
dem Tode vielleicht überantworten in der Stunde, da der
Schoß, der fie wie ihn getragen, noch der lebten Erdens
hülle wartete? Sie fchauderte vor fich felbft, vor ihm,
vor einem unerbittlichen Verhängnis, fie fühlte fich ratlos,
wie im Leben noch nie.
So trat fie an das Fenfter und blickte über den Garten,
deffen Kräuter, gefättigt und friſch belebt im Strahle der
Morgenfonne, wie unter einem Kriftallfchleier zitterten.
Und fiehe, da ünten fland auch ſchon der gute Sylvian,
das Auge in banger Spannung nach dem Giebelzimmer
gerichtet. „Sylv, mein Sylo!” hörte fie ihren Nachbar
mit freudiger Stimme hinunterrufen, doc, fchien er fich
eilig von dem geöffneten Fenfter abzuwenden, als bie
Tritte der Magd ſich vom Hofe her näherten. Der Knabe
laufchte noch etliche Minuten und entfernte fich endlich
auf einen Winf der Pflegerin, um feinen Pfarrgang ans
zutreten.
Die wirtfchaftlichen Obliegenheiten Ließen Sudith nicht
länger müßig finnen; fie wurden auch für heute nur auf
das Unerläßliche befchränft, die Lohnarbeiter entlaffen
und der Knecht zur Dienftleiftung in die der helfenden
Hände fo dringend benötigte Stadt gefendet, da bis zu
einem lettgültigen Entfchluffe ein Beobachten und zu⸗
falliges Erfennen ihres heimlichen Gaftes vermieden werden
. folte. Die Magd, deren geiftige Verfaffung noch weniger
als die ded Kameraden zu argmwöhnifchen Folgerungen
geneigt war, betraute fie mit dem Dienft in der Gie⸗
belftube, wie auch mit dem Lugepoften an der Tür⸗
fpalte, fooft fie perfönlich von demfelben ferngehalten
war.
150 Judith, die Kluswirtin
Zwiſchen Frühmeſſe und Hauptgottesdienſt kehrte Syl⸗
vian, begleitet von feinem geiſtlichen Freunde, zurüd.
Eine tiefe Erfchütterung fand in den Haren, kindlichen
Zügen des frommen Mannes gefchrieben; fein langer,
ftummer Blick, fein Händedruck fagten Sudith, daß fie
fi) eine qualvolle Aufklärung erfparen dürfe. Er bes
rührte den Zufammenhang nicht, den er fidy aus feinen
eignen ahnungsvollen Borgedanfen und des Knaben Bes
fenntniffen zufammengeftellt; er ift auch fpäterhin niemalg
zwifchen ihnen mit deutlichen Worten bezeichnet worden:
unverabredet behandelten fih alle drei als Eingeweihte
und handelten in Übereinftimmung, aber in fhonendem
Schweigen. „Er muß beichten, Muhme!” rief Sylvian
fieberifch aufgeregt; „er ift krank, kann fterben. Alles wird
gut werden, wenn er fich mit feinem Heiland ausgeföhnt.“
„Beichten, beichten?” fragte ſich Sudith im ftillen;
„glaubt diefer flatternde Geift an die Macht eines Priefterg,
zu löfen und zu binden? Hat er jemals daran geglaubt?“
Ein zweites drängendes Bedenken aber Außerte fie in der
Frage: ob die Beichte unter allen Umftänden dem Beich⸗
tiger ein unverbrüchliches Schweigen auferlege? Und als
der Pfarrer diefe Frage bejahte, ſchien das angeregte
Geelenheilmittel feinen Wert in ihren Augen verloren zu
haben. Sylvian dahingegen drängte mit fo ängftlicher
Haft nach einer geiftlichen Hülfe, daß der Pfarrer ſich
gern bereit erflärte, noch vor dem Frühamt feine Zur
fprache an dem Kranken zu verfuchen, wenngleich, wie er
mit Abficht gegen feinen Schüler betonte, das gnaden-
reiche Saframent nicht gefpendet werden dürfe, folange
eine Handlung der Gerechtigkeit von dem Beichtenden zu
fordern fei. - „Eine Handlung der Gerechtigfeit?" flüfterte
Judith, die Kluswirtin 151
Sylvian in ſich gekehrt, fi dem Garten zumendend, der
einen Bli nach dem Giebelfenfter geftattete.
Auch Sudith blieb in Iebhafter, aber nicht hoffnungss
voller Spannung vor der Schwelle zurüd, zu welcher fie
den ehrwürdigen Tröfter geleitet. Sie hatte nicht umfonft
gefürchtet; „Samed Brown” lehnte mit der Erflärung,
daß er Proteftant fei, jede priefterliche Einmifchung ab,
erging fich, ald der fromme Mann dennoch eine milde
Mahnrede wagte, in Schmähungen über die Bekehrungs⸗
fucht diefer pfäffifchen Gegend und wies dem Beſucher
endlid; mit drohender Gebärde die Tür. „Er hat aud
gegen mid; das Spiel ded Ausländerd angenommen“,
fagte Sudith empört, nachdem fie auf der Flur wieder
mit dem Pfarrherrn zufammengetroffen war und die Tür
hinter dem Gefangenen abgefchloffen hatte.
„Und wißt Shr gewiß, daß es ein Spiel iſt?“ wendete
jener zweifelnd ein. „Diefer ftarrföpfige Fremde gleicht
fo wenig dem Bilde, das man mir von jenem Wankel⸗
herzigen entworfen, — könnt Ihr, liebe Tochter, fo wie
mein durch dad Sterbegeficht der Ahne aufgeregter Sylv
nicht in einer Boraugfegung befangen fein?” — Als Judith
aber mit unmwiderleglichen Beweifen feine Zweifel bes
feitigte, betätigte er ihre eignen Sorgen mit der Außerung:
„Ss ift er gefährdeter, als ich gefürchtet. Die Steigerung
zu einer feinem Wefen fo fremdartigen Beharrlichkeit
fann fchwerlic; lange Zeit ohne Wirrnis durchgeführt
werden.” — Er erflärte darauf feine Abficht, nach bes
endetem Meßdienft bei dem Direftor der Strafanftalt um
eine Unterredung mit Simon Lauter nadyzufuchen, in der
Hoffnung, von diefer Seite Raum zu weiterfördernden
Schritten zu gewinnen oder mindeftend durch die leife
4152 Judith, die Kluswirtin
angedeutete Wendung der Sachlage die Seele des Ges
fangenen zu beleben. — „Selbftverftändlich,” fügte er mit
Bedeutung hinzu, „felbftverftändlich ohne mich auf Zeugen
zu berufen, welchen die Natur für ewige Zeiten die Lippen
verfiegelt hat.” — „Und diefem Banne der Natur fol ein
Unfchuldiger zum Opfer fallen?” wendete das Mädchen
heftig ein.
Ehe der Pfarrer einen Ausweg in diefer verzweifelten
Lage gefunden, trat ihnen Sylvian entgegen. — „Nun
haltet mich nicht länger”, rief er leidenfchaftlich, fobald
er an dem ſtummen Achfelzuden der Pflegerin und dem
befümmerten Blicke des Seelſorgers das Scheitern feiner
Hoffnungen wahrgenommen. „Nun laßt mich zu ihm!
Was aus ihm werde, ich weiche nicht von ihm, und meine
Liebe, ich weiß es, wird feinen Widerftand bezwingen!” —
Der Pfarrer entfernte ſich mit dem Bedeuten, daß dem
Bertrauenden gewillfahrt werden möge, und Sudith, fo
ſchwer es fie anfam, führte ihren Pflegefohn nad) dem
Zimmer, das er feit dem Abfchied von feinem Vater nicht
wieder betreten hatte. „Dein Sohn verlangt nach dir,
Auguft; darf ich ihn vor dich laſſen?“ fragte fie, um eine
allzu jähe Überrafcyung zu vermeiden.
Ein kurzes heftiges Ringen zwifchen Natur und Masfe
offenbarte fich im Mienenfpiele des Mannes; als aber Syl⸗
vian, ohne eine Antwort abzuwarten, in das Zimmer und
in feine Arme ftürzte, da war es die Natur, die zum
zweiten Male mit heißen Tränen und einer leidenfchafts
lichen Umftridung den angenommenen Schein dDurchbradh.
Judith überließ Vater und Sohn einem unbelaufchten Beis
einander, auf dieſes einzige unbeirrte Gefühl ihre legte
Hoffnung bauend, — Welche Eindrüde und Enthüllungen
Ey
Judith, die Kiuswirtin 4153
die Stunden dieſer Wiedervereinigung füllten, darüber
hat Sylvian, es fei denn in der Beichte, niemald das
Leifefte angedeutet; aber ein wunderbares Leben, eine
ftille Mifftonds und Märtyrerglut war feit jenen Stunden
in des Knaben Wefen angefacht, ja er fchien dem vers
wunderten Pfarrer gewachſen, ald er ihn, am Nachmittage
auf dem Hofe vorfprechend, wiederfah.
Der geiftliche Herr bradıte tieferfchütternde Eindrücke
verfchiedenfter Art von feinem Stadtbefuche zurüd. Weit
über feine Mutmaßungen hatte jener faum Minuten wähs
rende Wirbel der Elemente Zerftörungen angerichtet,
welche SSahre der Menfchenmühe nicht bewältigen würden.
Die Au ftand’unter Wafler, verfandet, verfchlemmt, die
Ernte verwüftet; der diesfeitige Bahnverfehr lag unters
brochen, da der Anprall der in dem Weidenaugftich ſich
ftauenden Flut den Damm nahe jener mehrfach erwähns
ten Durdhfahrt zerriffen hatte. Die Befchädigung an baus
lichem und beweglichem Eigentum in Stadt wie Land war
unberechenbar, Menfchenopfer felber mußten beflagt wer⸗
den. Dahingegen hatten Not und Gefahr audy einen Eifer
edelmütigen Selbftvergeflens in Helfen und Spenden hers
vorgerufen, und wer mochte fagen, ob nicht der aus ihm
fließende Segen des Gemüts den zeitlichen Unfegen dauernd
überwand? Auch in dem Zuchthaufe war die Alltaggftille
einer rüftigen Bewegung gewichen, der wadere Direktor
an der Spite aller Sträflinge, deren Zuverläßlichkeit er
zu vertrauen wagte, die ganze Nacht in Tätigkeit gewefen.
Die erhöhten tüchtigen Baulichfeiten der Anftalt zwar ſtan⸗
den unberührt, um fo ausgefeßter aber fand fich der feicht und
leicht angelegte Stadtteil, der Stadtteil der Armut, der fie
umgab, und hier war ed, wo Simon Lauter fich in helden⸗
154 Judith, die Kiuswirtin
mütiger Aufopferung nicht nur vor fämtlichen Mitgefanges
nen, fondern felber vor den gefährdeten Bewohnern her-
vorgetan. Bis an den Hals im Waſſer, watend, ſchwimmend,
das Boot lenkend, das Rettungsfeil werfend, auf ſchwanker
Leiter die vom Einfturz bedrohten Giebel erflimmend, vor
allem aber durch feinen brüderlichen Einfluß die roheren
Mitfträflinge in Zucht haltend, war er recht eigentlich der
rettende Engel diefer Gegend geworden, und in einer
Stunde und Tage, wo jede einzelne Stimme in einem all-
gemeinen Notjchrei erflicdte, wurde der halbverflungene
Name des Quellenfimon wieder ald ber eines Wunder:
täters in einem vertrauten Elemente laut gepriefen.
Hinſichtlich feines eigentlichen Zwecks indeffen war der
menfchenfreundliche Priefter ohne Ausbeute heimgefehrt,
obfchon er den Simon Lauter gefehen und gefprochen, als
er eben im Gefangenenhofe fidy wie feine Haftgenoffen der
Mufterung und den ferneren Befehlen des Direftors ge-
ftellt, um nach furzer Raſt fein Rettungswerk von neuem
anzutreten. Er hatte fraft- und lebensvoller dreingefchaut
denn bei jenem früheren Befuche, und als der geiftliche
Herr die Hoffnung eines baldigen Gnadenerlaffes, geftüßt
auf fein heutiges Wirken, hatte fallen laffen, da war fein
Auge in freudigem Glanze aufgelodert und eine Purpur-
welle bis unter das gebleichte Haar über fein Angeficht
geflogen. Welch jäher Umfchlag dahingegen bei der lei—
feften Andeutung, daß auch von feiten der Gerechtigkeit
eine Wendung in feinem Schickſale nicht ohne Ausficht
fei, daß eine erneuerte Unterfuchung zu einem freifprechen-
den Urteil führen dürfe, falls die auftauchenden Spuren
einer Perfon, die bei jener in vieler Hinficht rätfelhaften An⸗
gelegenheit einen unfeligen Anteil gehabt zu haben fcheine,
®
Jubith, die Kluswirtin 4155
deutlicher hervortreten follten. Bei dieſer Anfpielung, wie
gefagt, hatte der Gefangene mit weit aufgeriffenen Augen
geftugt, er war plöglich totenfahl geworden, ringend um
Atem, eine lange Weile heftig auf und nieder gefchritten,
endlich aber dem Befucher ruhig und hochaufgerichtet
gegenübergetreten.
„Herr Pfarrer,” hatte er mit fefter Stimme und der
Ausdrucksweiſe eined Mannes gefagt, der, wie der Pfarrer
es bezeichnete, durch die glüdlichften Gaben von der Natur
gefegnet, in langer Einfamfeit fich felbft gebildet, „Kerr
Pfarrer, ich babe diefe Nacht unter Gotted Himmel, wenn
auch in Zerftörung und Aufruhr, das Gut der Freiheit,
deflen ich mich nahezu entwöhnt, von neuem fo fehnfüchtig
fhägen lernen, daß ich den edlen Menfchen, die mir die
Gnade meines Königs erwirken wollen, auf meinen Knieen
danfen möchte. Sollte es ſich aber darum handeln, den
Rechtsweg noch einmal zu betreten, fo laſſen Sie mid;
Shnen im voraus erflären, daß ich feine meiner Ausfagen
widerrufen, diefen Ausfagen feinen Buchftaben hinzufeßen
fann und werde. Ich bin mir einer fchweren Berfchuldung
bewußt, ich war meiner Sinne unmädhtig: nicht mehr,
nicht weniger habe id; befannt, noch dürfte ich befennen;
jedes abweichende Zeugnis, und wenn ed meine Recht:
fertigung enthielte, müßte ich verleugnen. Kindern Sie
alfo eine neue Unterfuchung, von welcher Seite fie an⸗
geregt werden möge, forfchen Sie,” — hier ftodte feine
Stimme, — „forfchen Sie nicht nad) einer Spur, welche
die Lücken meines Bekenntniſſes ausfüllt; hätte der Zufall
eine derartige Spur an das Licht geweht, fo eilen Sie,
diefelbe zu tilgen, ehe fie Dual und Verwirrung über uns
fchuldige Herzen verhängt. Sch wiederhole, ich büße, was
156 Judith, die Kluswirtin
ich verbrochen. Achten die, welchen Gnade auf Erden zu⸗
ſteht, meine Buße erfüllt, fo ſoll ed mein lebenslaͤngliches
Beftreben fein, diefem Vertrauen gerecht zu werben; ers
heifcht meine Befreiung einen Widerruf, fo möge die
Strafzeit zu Ende laufen.“ |
„Sc hätte”, bemerkte der Pfarrer nad) diefer Ans
führung, „einer fo entfchiedenen Willensäußerung feinen
deutlicheren Winf entgegenzufegen vermocht, felbft wenn
ich zu einem folchen eine Berechtigung empfunden; auch
verabfchiedete fic der Gefangene nach diefer Ausfprache
fchleunigft, um von neuem an fein hülfreiched Tagewerf
zu gehn. Eined aber ift mir aus dem Gebaren dieſes
Sträflings ohnegleichen Kar geworden —.“ — Der Pfarrer
wurde unterbrochen. Er hatte der gefpannt laufchenden
Judith Diefe Mitteilungen in der Gartenlaube gemacht und
fo wenig wie fie bemerft, daß Sylvian, der ihn vom
Fenfter aus hatte kommen fehen, dem fpäteren Zeile ders
felben am Eingang der Laube gelaufcht. Set ftürzte er
hervor, faßte mit den Worten: „Kommt, fommt, er ift
bereit!” beider Hand und z0g die Berwunderten die Treppe
zu der Giebelftube hinan.
Auguft Frobel, wie wir den Fremden ohne Einwurf
nennen dürfen, empfing fie mit fcheuen, grollenden Mies
nen; als aber Sylvian feine Hände flehend zu ihm erhob,
raffte er fich zufammen und erflärte in einer zwifchen dem
Natürlichen und Angenommenen fchwanfenden Manier,
ohne über die eigne Perfon einen Aufſchluß zu geben, daß
er, da feine Rüdfehr nadı Amerika bevorftehe, noch am
heutigen Tage ein Dokument von Wichtigkeit abzufaffen
und in die Hände des Pfarrers niederzulegen gedenfe, zu
beliebiger Veröffentlichung, fobald die Nachricht feiner
Judith, die Kluswirtin 157
Einſchiffung eingetroffen. — Alle ſtanden betreten; am
tiefſten der Sohn, der ein weitergreifendes Bekenntnis
erwartet zu haben ſchien. Sein Auge hing an dem des
ſeelſorgenden Freundes mit dem ſtummen Zweifel, ob
dieſer Weg der leiblichen Rettung ſich mit dem des ewigen
Heils vereinigen laſſen werde.
Judith war die erſte, welche zwiſchen hoffnungsvollen
und mißtrauiſchen Erwägungen zu einem Abſchluſſe kam,
-indem fie mit der ihr eignen Zähigfeit eine rechtfertigende
Erklärung mündlich vor den Gerichten forderte, auf Die
Gefahr hin, in eine Selbftanflage verwickelt zu werden.
Er bäumte fich in Fünftliher Wut und aufrichtiger Furcht,
ed gab einen heftigen Auftritt, den der Pfarrer durch einen
vermittelnden Borfchlag zu beendigen fuchte. „Legen
Sie”, fagte er, „ein fchriftliches Bekenntnis in die Hände
dreier zuverläffiger Zeugen, Anwälten der Gerechtigfeit,
MWeltlichen mindeftend; nicht eined Diener der Gnade,
der,” er vermied eine näherliegende Andeutung, wie den
Namen „Sohn“, — „der der Beichtiger dieſes Knaben ift.”
„Der auch beine Beichte empfangen und ald Geheimnis
bewahren fol,” ergänzte Sylvian, durch den Wortwechſel
der Gefchwifter aufs tieffte erfchüttert; „o folge ihm,
Vater, tu, was er fagt, er fann nur dad Rechte raten;
fchreibe, übergib —!“ — „Und wer bürgt für die Wahrs
heit des Gefchriebenen?” fragte Judith herbe. — „Ich,
Muhme, ich!” rief der Knabe, je mehr und mehr erregt.
„Sch, fein Sohn. Sa, fage es laut, daß ich dein Sohn
bin, Vater, daß ich bei dir fein darf in der Stunde der
Wahrheit, daß ich deine Worte lefen, deine Feder regieren
darf, wenn deine Hand erlahmt. Heute noch, Vater, in
diefer Stunde, und morgen —.“ — „Morgen bin ich im
158 Judith, die Kluswirtin
Hafen, einen Tag ſpaͤter auf offner See“, fiel Frobel ein,
nur von dem einzigen Gedanken der Flucht beherrſcht. —
„Und ich mit dir, mein Vater, ich verlaſſe dich nicht!“
rief Sylvian begeiſtert; „zu dir gehöre ich, bei dir bleibe
ich!” — Überwältigt riß ihn der Bater an fi. „Mein
Sohn, mein Sylo, o du heilige Kind!” fchrie er auf;
„o, ich elender, erbärmlicher Sünder! Sa, ja, bleibe bei
mir, mein Erretter, mein Engel! Sage mir, was ich bes
fennen fol, fage mir, was ich fchreiben fol! Was du
willft, ich tu's. Morgen, heute, gleich jest, und dann
fort, fort aus diefem Haus, fort aus diefem Land, du und
ich, wir beide allein -!“
„Kalte ein, Auguft!” unterbrady ihn Judith, indem fte
die Hand auf ihres Pfleglingd Kopf legte und die Auf:
geregten zu trennen fuchte. Der Knabe aber riß fich von
ihr 108, fchlang fich von neuem um den Bater und fpradı
mit einer Haft, in welcher das Fieber zitterte: „Nede mir
nicht darein, Muhme; wolle mich nicht zwingen, Muhme!
Hältft du mid) mit Gewalt, fo entweiche ich heimlich. Ich
bin fein Kind mehr, ich bin fein Kind. Ich weiß, was
ich will, ich weiß, was ich fol! Du bift meine Wohltäterin
gewefen, er ift mein Vater! Du brauchft mid) nicht; du
bift ſtark und frei und rein, er ift frank und bedroht, er
hat feinen Frieden verloren! Mein Vater, ja mein Vater!
Die Handlung der Gerechtigkeit, dad Saframent der Gnade,
und dann fort, fort über Land und Meer, wohin Gott
uns führt!“
Sn den Augen der Pflegerin ftand der Entichluß zu
Iefen, daß fie diefes Opfer zu hindern wiffen werde; eine
andere Macht aber erfparte ihr die Einrebe: die Macht
der ſich rächenden überreizsten Natur. Eine plögliche,
Judith, die Kiuswirtin 459
krankhafte Wandlung breitete fich über Sylvians Züge.
„Mein Kopf, mein Kopf!" Tallte er, indem er, fich ver:
färbend, in ihre Arme ſank. Sie entriß ihn dem Vater,
der ſich mit einem Schrei der Verzweiflung über den Ohn-
mächtigen ftürzte, und trug ihn auf ihren Armen über den
Hof in feine eigne Kammer. Das Leben kehrte bald zu⸗
rüd, aber die Pulfe flogen, und der Kopf ftand in Flammen.
Die Magd wurde fchleunigft nach dem ftädtifchen Arzte
ausgefendet.
Sudith und der Pfarrer, allein auf dem verlaflenen
Hofe, teilten fich in die Aufficht von Vater und Sohn.
Sylvian lag fiebernd und ftumm, doc, fchienen fühlende
Netzungen und Getränfe ihm wohlzutun, und der Pfarrer
eilte. mit beruhigenden Nachrichten in dad Seitenhaug,
deflen Bewohner er je mehr und mehr in einer verwirrten
und verwirrenden Stimmung fand. Er forderte Schreib:
zeug, warf einige Worte auf einen Bogen, fprang auf,
rannte im Zimmer umher, fprady mit fich felber ohne ver:
ftändlichen Zufammenhang, griff nadı dem wüften Roman,
nad) einem neuen Bogen, zerriß das Gefchriebene, vers
barg die Schnigel in Tafchen und Winkel, alles mit deut:
lichen Zeichen der Angft und Scheu. Der Pfarrer bes -
obachtete dieſes Treiben ftundenlang, in der Nebenfammer
verborgen, da er inne warb, wie der Zwang feiner Nähe
die Unruhe des Gefolterten fteigerte. Der gütige Mann
dachte nicht daran, die fchwergeprüfte Kamilie zu verlaffen,
auch als Knecht und Magd fich auf dem Hofe wieder eins
ftellten.
Erft nach Mitternacht fam der Arzt. „Strohfeuer, zum
guten Zeil niebergebrannt!” erflärte er, nachdem er ben
Knaben beobadjtet. „Die Augen fallen ihm zu, Die Natur
460 Judith, die Kluswirtin
hilft ſich ſelbſt. Laßt ihn ſchlafen, und wenn er erwacht,
gebt ihm tüchtig zu eſſen; der Junge wird heil ſein wie
ein Fiſch.“ — Erſt jetzt dachte die Wirtin daran, daß ihr
armer Pflegling in den ſich überſtürzenden Erregungen
ſeit dem Tode der Großmutter, wie die Nacht ohne Schlaf,
ſo den Tag, vielleicht den zweiten ſchon, ohne Nahrung
hingebracht; ſie beruhigte ſich vollſtändig, als des Arztes
Vorausſicht in Erfüllung ging und Sylvian in einen
ruhigen Schlummer verfanf, aus dem er erft ſpät am
andern Tag erwadhte.
Bedenklicher jchienen die Eindrücde, welche der Arzt in
der Giebelftube empfing. Man hatte ihn, ohne das Fa⸗
miliengeheimnid mit feinen Erfchütterungen zu berühren,
von des Fremden Zuftand und Schickſal nach dem ftädtis
fchen Unwetter unterrichtet, ihn bei demfelben als einen
zu Sylvians Hülfe herbeigerufenen Arzt eingeführt und
beide miteinander allein gelaflen. Er wurde mit wilden,
argwöhnifchen Blicken aufgenommen. „Ic bin nicht
frank”, herrichte Frobel ihn an. „Wer hat gefagt, daß
idy mich femwrogig befannt? Das Weib lügt! Sch will
feinen Zeugen. Laudanum, Laudanum! Ich bin gefund!”
— Gleich verworren waren alle Antworten auf des Arztes
Fragen, der ihn endlich Fopfichüttelnd verließ. „Wenn
er Fieber hätte, aber fein Puls geht im Schritt!” murs
melte er, empfahl Ruhe und unauögefegte Beobachtung
bis zu deutlicheren Symptomen. Bücher wie Schreibzeug
folten ihm entzogen werden; da der Kranfe aber ſich ihrer
Entfernung mit Seftigfeit widerfeßte und mit gleicher
Unruhe auf der Einhändigung feiner Brieftafche beftand,
ftimmte er felber dafür, ihm zu willfahren; nur das ges
forderte Opiumglas wurde vorenthalten.
Judith, die Kiuswirtin 464
War ed Abfichtlichfeit, war ed, daß die Erinnerung ihm
wirklich entfchwunden, aber Frobel hatte des Todes feiner
Mutter nicht mit der leifeften Andeutung wieder erwähnt
und feiner der Seinigen, nach gemeinfchaftlicher Übereins
funft, jenes Gedächtnis in ihm aufgewedt. Auch die Bes
gräabnigfeier follte unbemerft an ihm vorübergehen, ber
Zug fich in der Morgenfrühe durch die vordere Haustür
auf der Straße bewegen, nach welcher das Seitenfeniter
feine Ausficht bot. Die Sorge um einen Wächter in der
Stunde, wo Judith nebft dem Pfarrer und Sylvian, falls
biefer genefen, dem Sarge folgen mußten, wurde erledigt,
indem der Medikus fich erbot, in der Nähe des Kranken
zu bleiben, bis die Leidtragenden zurüdgefehrt.
Ein Unvorhergefehened, dad wir Zufall nennen und
das in fchweren Lagen wie die der Klusbewohner in jener
Nacht als eine Kleinigkeit kaum beachtet wird, ftörte diefe
wohlgetroffenen Einrichtungen und gab mittelbar den Ans
laß zu einer unheilvollen Entfcheidung. Da der Sarg, in
welchem die alte Frau zur Ruhe getragen werden follte,
von Stunde zu Stunde vergeblich erwartet wurde, mußte
man fich entfchließen, mitten in der Nadıt den Knecht
nach der Stadt zu ſchicken, denfelben herbeizufchaffen, oder
für den vorauszufegenden Fall, daß feine Fertigung fich
in der allgemeinen Wirrnid verzögert, den Prediger zu
einer fpäteren Feier einzuladen. Erft in der zum Begräbnis
anberaumten Stunde ftellte der Klaas fich wieder ein ohne
das dunfle Gehäufe, das erft am Nadjmittag erwartet
werden durfte. Das bereitd harrende Trauergefolge mußte
heimgeſchickt und für die Dämmerftunde wiederbeftellt wers
den. Auch der Arzt durfte nicht länger weilen, verſprach
aber, wenn irgend tunlich, gegen Abend wiederzufehren. _
« ——
162 Juudith, Die Kluswirtin
Judith war geneigt, Sylvians andauernden Schlafzu⸗
ſtand auch um des Vaters willen für eine wohltätige
Fügung zu halten, wenngleich eine unruhigere Spannung
nicht an ihm zu verkennen war, ſeitdem er den ſaͤnftigen⸗
den Einfluß des Knaben entbehrte Sm Grunde aber
fohien er zu ausſchließlich mit fich felber befchäftigt, um
ihn zu vermiffen oder fich von feinem Unmohlfein be⸗
ängftigen zu laffen. Nur einmal fragte er die Magd, Die
einzige Perfon, der er nicht mißtraute, bei deren Eintreten
er aber immer ängftlich nach der Tür laufchte, ob nicht
eine andere ihren Schritten folge, — er fragte fie geheim—
nievoll: „ob der junge Herr drüben fchon feinen Koffer
gepackt?“ und ald die Chriftine wahrheit: und vorfchrifts
gemäß antwortete: „Der Sylvo fchläft, er fchläft fich ges
fund”, -fagte er: „Raudanum, Laudanum!“ befchrieb fein
eigned Arzneifläfchchen und meinte, man habe dem Sylv
wohl Tropfen daraus eingegeben. — „Kann fein“, verfeßte
die Ehriftine, die weder widerfpruchsfüchtig war, noch fein
folte. Damit wollte fie gehen; der Mann aber hielt fie
zurüd, drüdte ein Feines Geldftüd in ihre Hand und bes
drängte fie mit neugieriger Angft nach fremden Herren
aus der Stadt etwa oder Nachbarn aus dem Dorfe,
Männern mit fohwarzen Kleidern und ernithaften Gefichs
tern, die fi) mit der Wirtin unterredeten. Die Dirne, in
dem Glauben, daß er das morgendliche Leichengefolge meine,
das ihrer Weifung zufolge nicht erwähnt werden durfte,
fagte, daß fie feine gefehen, und ging.
Am Nachmittag wurde der Sarg gebradht, und faft
gleichzeitig erwachte Sylvian heil und geftärft, wie der
Arzt vorausgefagt. Nachdem ihn der Pfarrer über feinen
Vater beruhigt, aß er mit dem Appetit eines breitägig
Judith, die Kluswirtin 163
Ausgehungerten und hatte kaum noch Zeit, ſich zu der
Feier zu rüſten, da der ſtädtiſche Prediger wie das Ge⸗
folge bereits warteten. Der Medikus hingegen, auf den
man gerechnet, war ausgeblieben, und es entſtand nun die
Frage, wen man zur Beaufſichtigung des Gefangenen zu⸗
rücklaſſen ſolle.
Man muß die Wichtigkeit in Betracht ziehen, mit welcher
Landleute auch von einer mehr ald gewöhnlichen Bildung
den legten Akt eined Menfchenlebend, die Keimfenfung
für eine jenfeitige Ernte, behandeln, um weder die befon-
nene Kluswirtin, noch den zartfühlenden Sylvian, noch
felber den gemütlichen Pfarrherrn darob anzuflagen, daß
feinem von ihnen auch nur der Gedanfe gefommen ift, die
Ehrenpflicht gegen die tote Ahne mit dem Dienfte bei dem
Kranfen zu vertaufchen, und daß man ſich zu der Aus⸗
funft entfchloß, die handfefte, gehorfame Magd an der
Lugefpalte in der Kammer zurüczulaffen. Schweren Her⸗
zens, im neuen Trauerrod an der Seite ihres Bräutigame
bei einer fo wichtigen Feierlichfeit zu fehlen, aber ohne
Widerſpruch hatte fich die Ehriftine auf ihrem Wächters
poften eingerichtet. Die Zimmertür war von außen ver⸗
fchloffen; in einer Stunde faum glaubte man auf den
Hof zurücgefehrt zu fein; der Arzt durfte jeden Augen:
blie® erwartet werden; dad Weſen ded Gefangenen zeigie
feine beforgniserregende Veränderung: man fchied ohne
Arg, um am Abend dad Nächftgebotene miteinander zu
beraten.
Die Dämmerung war im Hereinbrechen, ald in ber
Ferne die Trauerglode anhob und der Zug ſich in Bes
‚wegung feßte. Den beiden von ihren Seelforgern begleis
teten Leidtragenden folgte die Mehrzahl der männlichen
“
164 Judith, die Kiuswirtin
Oemeindegenoflen, ein Merkmal des milden priefterlichen
Einfluffes fowohl, als des durch die junge Wirtin wieders
hergeftellten Ehrenanfehnd der alten Klus. Die Sonne
bes geftrigen Tages hatte die feuchten Luftdünfte von neuem
zufammengezogen, ein grauer, ſickernder Nebel lag über
ber Gegend, fein heiteres Abendgold leuchtete in des Sachſen⸗
röschens offenes Grab.
Die Trauerrede war furz und bündig; erbaulich hätte
fie ohnehin nur für eine fein können, deren Herz in dieſer
Stunde in zu fchweren Lebenskämpfen rang, um fich aus
den Schauern ded Todes in eine unfterbliche Glaubens»
welt tragen zu laflen. Als das legte Amen verhallt,
trennte man fich fühl und nüchtern, ohne Einladung zum
üblichen Leichenfchmaus, vor der noch ungefüllten Gruft.
Es war völlig Abend geworden; der Mond lag hinter
fahlen Dunftwolfen verfchleiert, der Prediger trat unvers
züglich den befchwerlichen Heimweg durch die übers
ſchwemmte Aue an, und die beiden Verwandten wendeten
ſich in Begleitung ihres geiftlichen Freundes nach dem
Klushofe zurüd. Aber fchon innerhalb des Friedhofgeheges
befchleunigte Sylvian feine Schritte, von Sehnfucht und
Sorge um den verlaflenen Vater getrieben; die beiden
andern gingen allein des Weges, auf welchem fich vor zwei
Tagen ihre Bekanntſchaft geknüpft.
Judith zögerte nicht, ihren Widerwillen gegen Sylvians
geftern in der Leidenfchaft gefaßten, aber vor einer Stunde
am offnen Sarge der Ahne in befonnener Ruhe wieders
holten Plan mit großer Entfchiedenheit Ausdrud zu geben.
Nun und nimmer, erklärte fie, werde fie dad Kind, dag fie
bis heute allen Sorgen und Nöten der Wirklichfeit übers
hoben, der Führung eined unzurechnungsfähigen Vaters
Judith, die Kiuswirtin 4165
überlaffen, felbft wenn deffen gegenwärtige Wirrnis fich
nur als vorübergehende Folge der Aufregung oder gar
als eine Maske heraugftellen follte; nun und nimmer ihn
feinem Schülerberufe entreißen, alle Pläne für feine Zu⸗
funft über den Saufen ftoßen. Sie fah den Schuglofen
in einer fremden Welt verfinfen, einem Wahne, wenn auch
dem edelften, ein neues Opfer verfallen. Ihr fonft fo
weichmütiger Begleiter hatte ein Fräftigeres Zutrauen.
„Er ift im fechzehnten Jahre,” fagte er, „ein Alter, in
welchem die Mehrzahl der Knaben ſich felbftändig Bahn
brechen muß. Ihr werdet auch in der Ferne die Hand
nicht von ihm abziehn, brieflich feine Ratgeberin bleiben,
und wenn, wie voraudzufehn, in nicht allzu ferner Frift
der Herr über Leben und Tod das nädıfte Band gelöft,
ihm eine Heimat offen halten. Schüler hin, Schüler her,
liebe Tochter, das Leben ift das Iehrreichite Buch; Die
Pflicht fragt nicht nach der Flüfterftimme des Berufs, und
der Segen ded Gemütd entfchädigt für die Opfer, die der
Geiſt gebracht. Aber welche Pflicht, welcher Segen fünnte
mächtiger wirfen, ald die, einen Berfinfenden zum Licht
emporzuheben? Und wenn der Berfinfende gar ein Bater
it? Wohl mag es leichter fein, einen Verftocten zur Buße
als einen Flatterling zu ftetigem Willen zu zwingen; Die
Gerechtigfeit bricht fich an folchem Rohr oder das Rohr
fich an ihr; aber die biegfamere Liebe wird ihm Stüße und
Stab. Denn die Gerechtigkeit ift wohl die Wurzel am
Baume der Tugend, aber die Liebe ift feine Krone, die
dem ermatteten Wanderer ihren Schatten fpendet und in
welcher ded Himmels Vögel ihre Nefter bauen.” Der
Pfarrer hatte diefe legten Worte, mit denen er vielleicht
an feines Iutherifchen Amtsbruders Stelle die Grabrede
166 Judith, die Kluswirtin
der alten Sachſenwirtin geſchloſſen haben würde, kaum
vollendet, als ihnen Sylvian bleich, verſtoͤrt, atemlos aus
dem Hoftore entgegenftürzte. „Er iſt fort, verſchwunden!“
Mehr vermochte er nicht zu ſtammeln, und mehr hätten Die
Entfegten nicht zu hören vermocht, fo haftig ftürmten beide
nach dem Giebelhaufe voran.
Der Eingang des Zimmers war von außen verfchloffen
und von innen verriegelt, das Fenfter geöffnet, Hof wie
Garten ohne Spur. Die Magd ftand erftarrt unter der
Kammertür, durch welche Sylvian, als auf fein wieder:
holtes Klopfen und Rufen feine Antwort erfolgte, vor
einer Weile mit Gewalt feinen Eingang genommen. Er
war fort, verfchwunden! — Dad Scidfal des Unglück⸗
lichen in diefer letten Stunde, da man feine Mutter zu
Grabe trug, kann nur mit Vermutungen erflärt werden,
die wir nad) den fpärlichen Ausfagen der Magd wie nadı
dem Inhalte eines für feinen Sohn hinterlaffenen Briefes
und einzelner zerftreuten Papierfchnigel, auf welchen Die
geforderte Erflärung in abweichender Faſſung, aber nie-
mals der Wahrheit getreu verfucht und immer wieder
vernichtet worden zu fein fcheint, hier in der Kürze zus
fammenfaffen.
Nach dem Zugeftändniffe einer fchriftlichen Erflärung
und des Sohned Entfernung ift dem unruhigen, durch
einen felbftauferlegten fcharfen Zügel zerriebenen Hirn
ber leßte fümmerliche Halt entwichen. Die Borftelungen
eines heimlichen und eines öffentlichen Gerichtes, dem eine
graufame Drängerin ihn überantwortet, wechfeln und
mifchen fidy ineinander. Der Arzt ift fein Arzt, aber ein
lauernder Zeuge oder Eideshelfer, von der Anflägerin
beftellt. Er felber trägt eine Masfe; fo fieht auch er nur
Judith, die Kiuswirtin 467
Masten, fieht ſich von Spionen umftellt, feftgehalten, von
allen Seiten bedroht.
In diefer Stimmung hört er von feines Sohnes ans
dauerndem Schlaf — wenn es nicht Füge ift, ift es Tünfts
liche Betäubung, um den einzigen Retter und Belfer von
ihm fernzuhalten. Am Fenfter fpähend, fieht er zweimal,
morgens und nachmittags, im dämmernden Mebel die
dunklen Geftalten der Sargträger und des Leichengefolges,
einzeln, langfam vom Kamp her dem Trauerhaufe zus
fchreiten. Wieder find ed bald Zeugen und Häfcher, bie
auf ihn fahnden, bald Freifchöffen und Eideshelfer, die
fidy verfammeln im „offnen Ding“, die „Wette” an dem
geftändigen Mörder zu vollziehn. Er zählt: drei, feche,
vierzehn! Und ihn zu entlaften nicht einer. Er ift ver⸗
loren; er fühlt fchon die „Wyd“ über feinem Haupt, wie
er fie die Nacht hindurdy über dem des „femwrogigen
Sunferd von Dortmund” gefühlt. Er will appellieren an
Kaifer und Reich, aber wo find Kaifer und Reid? Keine
Wahl, er muß fliehn. Mögen fie ihn verurteilen zu Kerker
und Beil, ihn — bis zum legten verwirren ſich Die
Borftelungen von Sonft und Gebt, — ihn verfemen:
echtlo8, rechtlog, ſicherlos, friedlos, — was fchiert es den
Geflüchteten, er iſt fort, auf weitem Meer, in einem freien
Land!
Aber ſein Sylv! Er ſtockt. Das Kind kann ja nicht
ewig ſchlafen. Er faßt ſich, ſchreibt im Fluge das Blatt.
Sylvian ſoll ihm folgen, heimlich, mit Gewalt, ſobald er
erwacht; im Hafen will er auf ihn warten, ihre Ein⸗
ſchiffung vorbereiten. Er verabredet Ausflüchte, Ver⸗
kleidungen; Sylvian ſoll ſich Geld und Geldeswert ver⸗
ſchaffen, ſeine Uhr nicht vergeſſen. Er denkt an alles. —
168 Indith, die Kluswirtin
Er fchließt den Brief durch gefautes Brot und gibt ihn
mit unbefangener Miene der den Befperimbiß bringenden
Magd zur Beforgung an den jungen Herren augenblidlid,,
fobald er erwacht, nur — er drüdt noch einmal eine Münze
in. ihre Hand -, nur daß die Wirtin es nicht gewahr
werde. Darauf genießt er von der gereichten Speife, ers
Härt müde zu fein, ein paar Stunden ruhen zu wollen,
verbittet ſich Störung wie Licht und wirft fich in Gegens
wart der Magd auf das Bett.
Indem die Ehriftine das Zimmer verläßt, hört fie das
anhebende ZTrauergeläut und kann der Berlodung nicht
widerftehen, aus einer dem Garten entgegengefegten Dach⸗
luke einen Blick auf den Leichenzug zu werfen. Kaum
fünf Minuten von ihrem angewiefenen Plage fern, hat fie
bis zu Sylvians Ankunft denfelben nicht wieder verlaffen,
und da fie nicht die leifefte Regung in der Stube ver-
nahm, den Fremden auf feinem Bett im dunklen Hinter⸗
grunde ſchlafend vermutet. In jenen wenigen unbeob-
achteten Minuten muß er daher, nachdem er die Tür ver-
riegelt und feine geftrigen Kleider übergeworfen, durch
das Fenfter, fich an einem Spalier hinabwindend, ent-
fommen fein, feheint aber den Bogen ded Waldweges
vermieden und fich unmittelbar auf die Kandftraße ge-
wendet zu haben. Kein Menfcdy erinnert fid) feiner Bes
gegnung.
Er fieht die Niederung unter Waffer und erflimmt den
Damm, ohne zu ahnen, daß er nahe dem Bahnhofe Durchs
riffen if. Der Zug nad) der nördlichen, nicht unters
brochenen Richtung, Die Richtung, nach der er felber ftrebt,
wird gerüftet, er hört das Läuten, das Zifchen der Loko⸗
motive und flürmt voran, Der Nebel hat das Abend»
Judith, die Kluswirtin 169
dunfel verfrüht, er fieht nicht unter fich, nur auf die aug
der Kerne glühenden Mafchinenaugen. Jählings entweicht
ihm der Boden, er gleitet aus, rollt hinab auf den vom
Waſſer überfpülten Weg, fucht fich zu halten, Elammert
fih an das Geftrüpp, verfinft immer tiefer zwifchen Wur⸗
zeln und Schlamm; die Gerten umftriden ihn, er fann
nicht vorwärts, kann nicht zurüd, die „Wyd“, vor der er
im Wahn geflüchtet, wird ihm in Wirklichkeit zur Schlinge,
dad Schickſal erfüllt fih an der Stelle einer jahrelang
verborgenen blutigen Tat. — An diefer Stelle fanden ihn
die Seinigen; voran, von unheimlicher Ahnung getrieben,
die Schwefter. Er war tot.
„Der Amerifaner, James Brown, verunglüdt durch
Sturz und rafch eingetretene Apoplexie“, lautete der
Spruch der gerichtlichen Totenfchau. — So ging er unter,
feiner Heimat ein Fremder, die Handlung der Gerechtig-
feit unvollbracht, durdy das Saframent der Gnade nicht
entfühnt.
Zwei Tage fpäter, bei grauendem Morgen, legte man
ihn zur Ruhe zwifchen den Fremdlingsgräbern der alten
Sachſenmutter und ihrer Scywiegertochter Sylvia. Die
Kluswirtin und ihr Pflegefohn, geleitet von dem Ges
meindepfarrer, waren bie einzigen, die feiner Leiche folgten.
Sylvian, der bid zulegt auf feinen Knieen betend neben
dem Toten gelegen, erflärte auf dem Heimwege mit großer
Faſſung, daß er Priefter werden wolle.
Klärung
In der Mittagsſtunde, welche jenem ſtillen Begräbnis⸗
morgen folgte, betrat ein trauerndes Weib die Zelle des
Gefangenen Simon Lauter. Er ſaß, mit dem Ruͤcken der
170 Judith, die Kluswirtin
Türe zugewendet, in ſeine kunſtvolle Arbeit vertieft und
blickte nicht fruͤher auf, bis er ſeine Kniee krampfhaft um⸗
klammert und glühende Tränen auf feine Hände nieder⸗
riefeln fühlte. Es war Judith, die ftolge Kluswirtin, die
fi zu Füßen des Züchtlings wand und zitternd feine
Vergebung erflehte. Aber auch, als fie nach langer Stille
beruhigter, ihre Hand in der feinen, ihm gegenüberftand,
war ihr erftes einziges Wort: „Vergib!“ Spät und müh-
fam rang das zweite fich hervor: „Sch habe heute morgen
meinen Bruder begraben.“
Der Hauch ded Glücks, der kaum die bleichen Wangen
des Gefangenen überflogen, wid) einem eisfalten Schatten.
— „Heimgekehrt, tot?“ rief er entfeßt. — „Heimgekehrt, tot!“
fagte Sudith; „das Erbteil feiner Schweſter: einen Schuld-
ofen zu entlaften.” — Simon fchlug die Hände vor das
Geſicht und ftand in heftiger Erfchütterung. — „Ihr
Erbteil — fein Sohn!” murmelte er ihr nach. Die lebte
Verſuchung mußte überwunden werden.
Des Mädchene Seele ergoß fid) vor ihm, knapp, ge⸗
preßt, Silbe um Silbe; dann immer voller und voller.
Nicht den Toten verflagte fie, nur fich felbft. Sie war
die Schuldige, deren Kleinglaube fein Opfer bezweifelt,
deren Kleinmut feine Rechtfertigung verfaumt. „Simon,“
fagte fie zum Schluß, „iedes graue Haar auf Deinem
Haupt Fagt mich an um eine Stunde der Qual, aber -
diefer Friedensblicd deines Auges, — vergib mir, Simon,
denn ich habe mehr gelitten als du!" — Sa, er blickte in
Frieden; die Verfuchung war überwunden, die Stunde
gefommen, in der er wieder an fidy felber glauben, in der
er vor fie treten und fagen durfte: „Es ift der Simon,
den du Tiebgehabt!" die Stunde auch, in welcher bag
Judith, die Kiuswirtin 171
Gelübde ded Schweigens vor ihrem Ohr, und vor ihrem
allein, fich Löfen durfte. „Um diefer Stunde willen“, fagte
er, „habe ich gebüßt zehn Sahre lang; nicht das Ver⸗
brechen, defien man mid, angeflagt, aber - vom Laſter
zum Verbrechen ift faum ein Schritt — aber das Lafter,
Judith, das und entzweit.“ Er zog fie neben fich auf die
Bank, und ihre Hände in den feinen, wie einft, hob er
den leßten Schleier von einer dunklen Tat.
„Al ich mit dir und jenem Ungluͤcklichen zuſammen⸗
ſtieß,“ ſo lautete ſein Bekenntnis, „als ich ihm nach ſei⸗
nem Hauſe folgte, um deinem Bruder Lebewohl zu ſagen,
da zweifelte ich nicht, daß du ſeiner Werbung nachgegeben;
ich war zum Tode betrübt; aber ich grollte weder dir noch
ihm, denn Geiſt und Leib waren rein. Und in derſelben
Nacht haßte ich dieſen Mann, von dem ich nichts Boͤſes
wußte, den Mann, der did, liebte, als einen tödlichen
Feind; ich hätte ihn würgen mögen, und wenn meine
Hand frei vom Blut geblieben, nicht der Wille hat fie
gebannt, nur die förperliche Scheu, welche die Natur mir
eingebunden. Sc war ein Mörder vom Herzensgrunde,
denn ich war im Raufch. Ich fah jenen anderen, der mir
von Jugend ab ein Bruder gewefen, von einer böfen Leis
denfchaft gepackt, fuchte ihn zu warnen, zurüdzuhalten, —
und mein Lallen verhallte. Ich fah ihn in eine unfelige
Verwirrung rennen, verließ ihn, um für ihn einzutreten,
und ftatt dad Geld in meinem Haufe zu holen, taumelte
ich in der Richtung, von welcher du fommen follteft,
Judith. Da unten an der Torfahrt lauerte ich, um Did)
dem Keinde zu enitreißen; des Freundes hatte ich vergeflen
— denn ich war im Rauſch. —
„Sc hörte und fah die Ningenden, firebte, fie voneins
172 Judith, die Kiuswirtin
ander zu reißen, und brach zufammen gleich einem Rohr,
ich, den die Natur mit Kräften ausgerüftet, ftärfer als
jene beiden vereint. Sch, der Ruhige, trug die Schuld
eines Sinnlofen, die Schuld, die ich zu hindern vermochte
und nicht verhindert habe — denn ich war im Rauſch. -
Und dies alles ftand plöglich Mar vor meiner Seele, da
ich Dich neben dem blutigen Opfer erfannte, dich, Judith,
ber ich mein Wort verpfändet und gebrochen, die ich mehr
zu lieben glaubte ald mein Leben, und doc, weniger liebte
als den Dämon, dem ich Gewalt über Leib und Seele
eingeräumt, da ich dein wahrheitzeugendes Ja wie die
Pofaune des richtenden Engeld in meinem Herzen widers
hallen hörte.
„Und nun jene ftilen Tage der Haft, jene Tage der
Einfehr und Prüfung! Bor kurzem, ald ich im Schadhte
arbeitete, hatte ich einen Beamten die Gefchichte eines
Freundes erzählen hören, eines gebildeten Mannes, der
fid) freiwillig das Xeben genommen, weil er durch dad
Lafter des Trunks den Widerwillen des geliebten Weibes
erregt und doch von dem Lafter nicht zu laffen vermochte,
Das war im Freien, zwifchen Himmel und Wald, und
ich hoffte noch, glaubte noch an mich felber zu jener Zeit.
Aber, daß ich ed mit Worten ausfagen könnte, wie mich
die Erinnerung an diefes Schidfal in der einfamen Zelle
durchfchüttelte. Auch ich hatte die reine und ftarfe Liebe
eined Weibes verwirft durch jenes Lafter, auch ich Fonnte
von dem Lafter nicht mehr laffen ohne Gewalttat an mir
felbft. Der Selbftmord fol eine Todfünde fein, eine Feig⸗
heit, eine Roheit der Seele. Vielleicht. Ich für mein
Teil hatte einfach nicht das Blut für eine rafche Tat.
Sc war ein Feigling, wenn id) jener langfamen Bergifs
Judith, die Kluswirtin 173
tung des Laſters, die wohl mit größerem Rechte eine Tods
fünde und eine Roheit genannt werden darf, — denn fie
entquillt einem Unmaße der Luft und jene einem lÜber-
maße des Leidens, — wenn ich diefer Iangfamen Bergifs
tung nidyt einen Damm entgegenfegte. Einen Damm,
wie du es einft genannt, Judith; aber einen Damm von
außen, denn mein Wille, ich wußte ed, war feiner.
„In diefem Wirbel der Gedanken, wenige Stunden
vor der Kataftrophe, welche über Tag und Nacht für mich
entfcheiden follte, fam es über mid; gleich einer Erleuch⸗
tung von oben. Eine Mauer um mid; ziehen gegen das
Lafter, das ich freiwillig nidyt mehr zu bannen vermochte,
eine Gewifjensfünde fühnen, deren Unterlaffung nicht
mein Berdienft, von meinem Freunde und Bruder, —
merfe es wohl, Sudith, dies legte war nur die Folge,
nicht der Ausgang meiner Erkenntnis, - von dem Sohne
meiner Wohltäter eine Anklage lenken, die fich unzweifels
haft gegen ihn erheben mußte, wenn ich die ftüchweifen
Erinnerungen jener Nacht enthüllte -— Reinigung, Buße
und Wohltat mit einem Worte, das ich ſprach, und mit
einem, das ich auch ferner zurückhielt, wie ich es bisher
im traumhaften Schwanfen zurüdgehalten. Sch fage bie
Wahrheit, Judith, ich hatte die Tat nicht verüben fehen,
denn ich war im Rauſch.
„Mein Leben, idy wußte es, fchüßten Zweifel und Bes
denken, die ſich nicht überfpringen ließen. Seiner harrte
das Schafott. Mochte er ſich durch die Flucht diefem
Außerften entzogen haben, feine Mutter lebte, fein Kind,
du Iebteft, Sudith, um Stunde für Stunde das ſchwebende
Beil über feinem Haupte zu empfinden. Ich ftand allein,
die einzige Xiebe hatte id) verwirkt. Rauſch entfchuldigt,
>
174 Judith, die Kluswirtin
ein Mord fchändet nicht, wohl aber ein Raub, und Schande
wird höher ald Sünde angefchlagen in den Augen ber
Welt. Man mochte mich für einen Mörder halten, nim⸗
mer für einen Dieb. Seine Ehre war gebrandmarft,
der Name, den ein fchuldlofes Kind zu tragen hatte, den
eine Schwefter im Schweiße ihres Angefichtd rein ges
wafchen. So ſah ich's, Judith, und fo fehe ich's noch
heute. Es war Notwehr gegen mid, felbft, ed war Buße,
und das, was du ein Opfer nennft, nur ein erquidender
Segen, der aus jenen beiden erwuchs.
„Und nun, Sudith, bringe mich nicht um diefen heim⸗
lichen Lohn. Wühle nicht in ein Grab, wühle nicht in
bein eignes Fleifch und Blut. Er ift dir nicht vergebene
zum Bruder gefeßt gewefen; ehre den ewigen Willen, der
feine Schuld mit Nacht gededt. Ja, täteft du's dennoch,
Judith, weil ftarfen Seelen wie der deinen das Schwerfte
immer das Nädıfte und das Übernatürliche häufig natür-
lich fcheint, Tießeft du die Stimme vernehmen, die dir als
Gerechtigkeit gilt, ich würde diefe Stimme verleugnen,
Sudith, und der Schatten eines zwecklos Gezeichneten,
eines, den bereits fein höchfter Richter gefordert, hätte
fich für ewige Zeiten zwifchen dich und mid) gedrängt.“
Judiths Augen hatten unberkeglich an dem Redenden
gehangen wie an einer himmliſchen Lichtgeftalt. „Und
du, Simon!“ rief fie jet, da er geendet, erfchauernd über
den ganzen Leib und noch einmal zu feinen Füßen nieber-
finfend, „Simon, und du?" — Er richtete fie auf, zog fe
an fein Herz und blidte fie an mit heiterer Ruhe, ja ein
Lächeln auf den bleichen Rippen. „Ach, Judith,“ fagte er,
„ich werde der Gnade harren oder der Endzeit meiner
Strafe. Ich fühle mic, nicht unglüdlich hier, ja, ich bin
Audith, die Kluswirtin 175
das Hätſchelkind dieſes Haufes, das dir ale ein Grab ers
fcheinen mag. Unter meinen elenden Mitbrüdern find
mandhe, die mich lieben; der Direktor verfehrt mit mir
nahezu als einem Freund. Schau did; um, Judith, ich
habe lohnende Befchäftigung, habe Schreibzeug und Bücher,
glaube mir, ich wäre in der Freiheit nicht fo weit ge⸗
kommen. Ic war ein Schwäcdhling, ich bedurfte der Zucht.
Darum, wenn Liebe fid, erflären läßt, darum liebte ich
dich ja, Judith, dich vor allen andern, weil du Kraft
hatteft für mich mit. Die ftärfende Liebe ift die ftärffte,
nun wohl bin ich ein Mann geworden; die Erinnerung,
der Glaube an deine Liebe hat mid zum Mann gemacht.
— Soll ich aber Gnade finden, dann um fo größer freilich
mein Glüd. Die Gerechtigkeit kann ich miffen. Wer ſich
unfchuldig fühlt oder Durch Buße entfühnt, fieht fich nimmer
im Schatten. Sei's, daß ich mir unter Fremden eine
Heimat fuche,” er fah Judith erbleichen und fegte rafch
hinzu, einen hellen Freudenglanz über den Augen, „oder
auch hier in der alten Heimat. Mir bleiben Befchäftigung
und Bücher, wie ich fie im Kerfer lieben lernen, ich finde
meinen Wald wieder, Gottes Himmel, — und unfre alte
Freundſchaft, Sudith, über allem.” — So fchieden fie von⸗
einander.
Aber erft nach einer langen Unterredung mit dem
Direktor und ihrem geiftlichen Freunde fehrte die Wirtin
in ihre Klus zuräd. Mit einer Haft, die feiner an ihr
gefannt, mit fliegenden Schritten und leuchtenden Blicken
rüftete fie ihren Hof für einen mehrtägigen herrenlofen
Selbftbetrieb und verließ ihn, in ihre Trauerfleider gehüllt,
mitten in der Nacht, um eine heimliche Reife anzutreten.
Am übernäcften Abend brachte ‚eine Nachricht bed
4176 Judith, die Kiuswirtin
Telegraphen direft aus dem Königlichen Kabinette der
Reſidenz eine unerhörte Bewegung in das Getriebe der
Strafanftalt, und einen Morgen fpäter, während Simon
Lauter, der Begnadigte, heiße Tränen im Auge und von
manchem aufrichtigen Händedrud begleitet, ausden Mauern
fchied, die er fidy in Wahrheit zu einem Zuchthaufe werden
laflen, während er zum erftenmal feit zehn Sahren den
Atem feines geliebten Waldes in tiefen Zügen in fich fog,
verbreitete fidy diefe Bewegung über Stadt und Land,
eine freudige Begeifterung entzündend, wie fie leider nur
allzu felten den trägen Tageslauf der Herzen durchrüttelt.
„Der Simon Lauter, im Bolfe ‚der Quellenfimon‘
genannt, vor zehn Sahren des Mordes angeklagt und feit
der Zeit die über ihn verhängte Strafe mit mufterhaftem
Betragen verbüßend, hat ohne ein Wort der Einrede jene
Strafe für einen andern erduldet, den ber Tod bereits
vor einen höheren Nichter geführt und bdeflen Namen,
nad) ded Simon Lauter Wunſch und Willen, ein ewiges
Vergeſſen deden fol. Seine Majeftät der König, Durch
unmwiderlegliche Beweife von der Wahrheit diefer feltnen
. Kandlungsweife überzeugt, haben dem Erlaffe Allerhöchft
ihrer Gnade dieſe rechtfertigende Erflärung hinzuzufügen
befohlen. Sie beauftragen die betreffenden Kreisbehörden,
dem Simon Lauter mit Rat und Tat zu feinem Forts
kommen behülflich zu fein und über feine etwaigen Bes
dürfniſſe oder Wünfche Allerhöchften Orts zu berichten,
wie Sie denn auch dem Simon Lauter für feine uners
fchrocdene KHülfleiftung und aufopfernde Rettung mehr
ald eines Wenfchenlebend bei der fürzlichen, von Sr.
Majeftät tiefbeflagten Heimfuchung Shrer getreuen Stabt
*** das Kreuz ꝛc. 20. zu verleihen geruhen.“ —
Judith, die Kiuswirtin 177
Alfo war ed mit gefperrter Schrift an der Spibe des
amtlichen Zeiled der ftäbdtifchen Zeitung verfündet und
Simon Lauter über Nacht der Held feiner heimatlichen
Gegend geworden. Sa, dad war erft der rechte Born, der
Born ber Liebe, der fich dem Quellenfinder aufgefchloffen!
Dan wallfahrtete nadı dem verrufenen Waldhaufe, fchüts
telte ihm die Hand, bot ihm Hülfe von fern. Keiner hatte
von Anbeginn an feine Schuld geglaubt, jedweder im
ftillen auf Gottes rechtfertigenden Finger gerechnet. Man
pried ihn in taufend Zungen - feine ftille Geduld, fein
Kunftgefchick, feinen Heldenmut, die Himmels⸗, nicht Teus
felögabe feines Quellenblidd und — felber das gelaffene
Schweigen bei allen groben wie feinen Spürverfucjen nady
feiner Heimlichkeit.
Simon Lauter ließ Tächelnd wie ein Weifer diefe volks⸗
tümlichen Huldigungen über fich ergehen; er danfte mit
Hand und Mund für alle Anerbietungen von höchfter Stelle
bis zur niedrigften, ohne von einer einzigen Gebraud, zu
machen, Iebte ftil in feinem Waldhaufe, den Fünftlichen
Arbeiten hingegeben, die er in böfen Tagen als feinen eigents
lichen Beruf erfennen und lieben lernen, oder draußen im
Wald, deffen Hütung er einzig von allen angetragenen Ams
tern wieder verfah, gab auch wohl hin und wieder einen
Rat bei den Bewäflerungsanlagen der Gegend, für einen
ernftlichen Wiederangriff des Bergweſens aber erfannte er
den Ablauf der Sugendfraft. Alles in allem, er blieb auf
feinem mäßigen Grunde, ohne ſich von der Woge plöglicher
Gunſt in Iuftige Regionen wirbeln zu laflen.
In der Nacht, die feiner Freigebung folgte, hatte er
die von ihrer rätfelhaften Reife heimfehrende Kluswirtin
auf dem ftädtifchen Bahnhofe empfangen, und fie, heute
®
4178 Judith, die Kluswirtin
ohne zimperliched Zagen, ihren Arm in den feinen gelegt,
um fit} von ihm nach ihrem Hofe zurücgeleiten zu
laffen. Schweigend gingen fie bis jenfeitd der Stätte
ihrer dunklen Erinnerungen, dann aber fagte er mit
einem herzlicdyen Händedruck: „Sudith, Judith, und das
haft du für mich getan?” — Sie aber verjegte lächelnd,
fo warm und glücklich wie im Leben noch nie: „Hätte ich
weniger tun dürfen für einen, der die Gerechtigkeit miflen
kann?”
Bon der Nefidenz ausgehend, hat fic manches fabelhafte
Gerücht über Die Aufnahme verbreitet, welcher fich die ſchöne,
beherzte, weftfälifche Bäuerin bei dem hohen Königspaare
erfreut, und der Name Judiths, der Kluswirtin, ift ruhmend
über ihren engen Bezirk hinaudgetragen worden. Sie felber
jedody hat jener Reife und ihres Zweckes nie gegen einen
andern berührt al den Pfarrherrn und den Vorfteher der
Anftalt, welche das von ihr überreichte Gnadengeſuch bes
glaubigt hatten und welche beide ihre treuen Freunde geblie-
ben find. Sm Herzen aber und gegen den, deffen Rechtferti-
gung ihr Fluges, vertrauended Wort erwirft, gedenft fie
einer erhabenen Stunde mit alter wejtfälifcher Bauern:
treue. Wenn aber aud) dem, welchem das zeitliche Amt
der Gnade zufteht, der Blick der Gerechtigkeit ald einem
Beichtiger geöffnet werden durfte, fo ift doch vor allen an-
deren Augen das dunkle Geheimnis des Klushofes Geheim⸗
nis geblieben. Manches mag gemunfelt worden, manche
Mutmaßung der Wahrheit nahe gefommen fein; laut und
öffentlich wird der Name Auguft Frobel nicht als ein Räu⸗
bers und Mördername genannt, und feine Seele ahnet,
daß der verunglüctte Amerikaner der einftige Sachfenwirt
gewefen, der zwiſchen den Gräbern der eignen Mutter
Judith, die Kluswirtin 179
und der ſeines Sohnes den erſten ſichern Erdengrund ge⸗
funden hat.
Noch vor Ablauf der anberaumten Pruͤfungsfriſt hat
Sylvians draͤngender Sehnſucht nachgegeben werben muͤſ⸗
ſen. Vor wenigen Tagen iſt er in das Seminar getreten,
um durch ein prieſterliches Leben das Werk der Heiligung,
das feiner Liebe hienieden entrückt worden war, jenſeitig
im Glauben zu fördern. In einer andern Weife ift Die
rebliche Strenge der Kluswirtin bemüht gewefen, jene un-
felige Berirrung ihres Blutöverwandten durch ein Wert
der Barmherzigkeit auszugleichen. Da die Hinterlaffen-
fchaft des Papiermüllers Berg noch heute ohne nachweis⸗
Tiche Erben in gerichtlichem Verwahrſam ruht, hat Sudith
jene entwendete Summe, Zind auf Zind und aus ihren
Erfparniffen erheblic, vermehrt, zu einer Stiftung angelegt,
mit welcher gleichzeitig die legte unheilvolle Erinnerung
von dem Klushofe getilgt werden fol. Das Seitenhaug
mit dem Gartengiebel ift zu einer Herberge umgebaut, in
welcher ſechs verwaifte, der Zucht bedürftige Knaben Pflege,
Unterricht und die Heranbildung zu einem ländlichen Bes
rufe genießen. Judith fchafft mit Muttertreue für dieſe
Kinder, und der Freund ihrer Tugend, der wieder wie einft
der Weiheengel des Kluslebend geworden ift, fteht ihr mit
feinen Erfahrungen dem Bereiche verwahrlofter Herzen ald
Helfer und Rater zur Seite.
Rater und Helfer gegenfeitig, Nachbarn und Freunde,
Bruder und Schweſter am Schluffe der Gefchichte, — und
nicht mehr? Die er von der Wiege ab geliebt, dem fie die
Treue verlobt und wäre es über zehnmal drei Sahre, —
und einander nicht mehr? Nein, nicht mehr. Zwölf Trauer-
monde find noch nicht abgelaufen; und wie vieles mußte
N
180 Judith, die Kluswirtin
vergeffen, wie vieles überwunden werden, was dad Schid-
fal den Seelen eingewirft, wie vieles aud, gelernt nach
zehn Sahren einfamer Gewöhnung! Auf den lange bleichen
Wangen erblüht ein jugendlicher Hauch, ihre Worte find
rascher, ihre Blicke feuriger geworden; fie arbeiten lächelnd,
aber — noch ift e8 nicht wieder Mai. Ale Freunde verlaflen
wir fie, und fo dem Erzähler feine Aufgabe gelungen, ale
Freunde fcheiden wir von Judith, der Kluswirtin, und
Simon, dem Quellenfinder.
Der Poften der Frau
8 war am Spätnachmittag des dreißigften Dftober
Anno 1757, als ein fchon bejahrtes, dünnleibiges,
geiftlichesd Herrlein in Schuhen und Strümpfen, das fchmale
Chormäntelchen von ſchwarzer Serge über dem fpiten Leib⸗
ro vom Rüden niederhängend, in weißgepuderter Locken⸗
perüde und troß ded anhaltenden Regens den Fleinen,
flachen Hut unter dem Arm, vor der Tür des „Polnifchen
Hauſes“ ftillehielt, das Wetterdady feines grauleinenen
Regenſchirmes zuflappte, die beiden franzöfifchen Ehren-
poften höflich grüßte und durch das offene Portal feinen
Eingang nahm.
Das „Polnifche Haus“ war ein von Gärten umgebenes
ftattliches Gebäude der Fleinen Stadt Weißenfels im Leip⸗
ziger Kreife, weldye Stadt, feit vor mehr ald einem Sahr-
zehnt ihr eigner Herzogszweig erlofchen und fie dem kur⸗
fürftlichen Mutterſtamme heimgefallen war, ein gar
verödetes Anfehen trug. Das große Schloß, das auf der
Höhe das Städtchen überfchwmebt wie eine Henne einen
Haufen winziger Küchlein, ftand unbewohnt, die einzeln
hervorragenden herrichaftlichen Käufer, die fich zu feinen
Füßen aufgerichtet, um die Hofumgebung zu beherbergen,
hatten ihre adligen Inſaſſen meiftenteild an die neue, an
mutigere Reftdenzftadt abgetreten, und nur in den Zeiten
der Leipziger Meßpaflage verbreitete fich noch ein lebhafter
Berfehr, der Gaftwirten, Fuhrleuten, Vorfpännern und
dahin einfchlagenden Gewerben zeitweifen Ertrag gewährte.
Seit länger als einem Jahre freilich hat ein ununter-
brochenes Treiben die friedlichen Bürger wenig zu Atem
kommen laffen; — wahrlich fein fegenbringendes für Stadt
182 Der Doften der Fran
wie Land, deflen Oberhaupt vor den Siegen bed großen
Tageshelden geflüchtet ift. Das Städtchen teilt das Schidfal
einer eroberten und doch herrenlofen Provinz, in weldyer
feiner mehr weiß, wer Koch oder Kellner fei. Der hoch⸗
weife Rat macht feine Büclinge bald nad) rechts, bald
nach links; die geängfteten Bürger leeren ihre Speicher
und Keller heute für den Zieten und Katte, morgen für
den Turpien und Eothringer. Glaubt man fich einen Augen⸗
blik in Ruhe: wie ein Wetter ftehen die Preußen wieder
vor den Toren, der Deffauer Morig, der große König felber
ziehen zwifchen Erfurt und Torgau hin und wider, big
denn endlich vor ein paar Tagen ein franzoͤſiſches Korps
feinen Einzug hält und der Chef der erequierenden Reichs⸗
armee, Herzog von Hildburghaufen, auf dem Schloffe feiner
weiland Herren Bettern die zeitweife Nefidenz aufichlägt.
Das Städtchen, vor hundert Sahren noch dicht mit
Laubbäumen ummaldet, ift freundlich, von Oft nach Weſt
lang geftredt, am rechten Ufer der Saale gelegen, mit deren
erhöhten Rändern und anmutigem Taleinfchnitte der Thu-
ringer Kreis, die Kornfammer des Landes, feinen Anfang
nahm. Aber diefe Kammer, wie klaͤglich audgeleert! Die
armen Bewohner wiflen kaum mehr die Requifitionen von
Feind und Freund zu befriedigen, und Doch fteht man erft
am Anfang der ausfichtslofen, Eriegerifchen Verwirrung.
Die Pferde genommen, Rinder und Schweine gefchlachtet,
die Preife zu beifpiellofer Höhe emporgetrieben, die Kaflen
entführt, die Felder unbeftellt! Das ſpät und ſchwer über:
wundene Drangfal des Dreißigjährigen Krieges, Blut: und
Hungerzeiten gleich jenen, da die Keiche des großen Schwe-
denkönigs im Amthaufe des Städtchend geruht hatte, da
ein andrer Schmwedenfönig in der Nachbarfchaft einen dem
Der Poſten der Fran 483
vaterländifchen Namen wenig ruhmreichen Frieden diks
tierte, fie leben wieder auf; man weiß feinem Leibe feinen
Rat und blickt mit Zittern in die Zukunft.
Solchergeſtalt waren nun auch die Gedanken des geift-
lichen Herrn während des Wegſtündchens von feinem jens
feitigen Pfarrdorfe gewefen, und mancher ſchwere Seufzer
hatte ſich feiner Bruft entrungen, als er mit aufgefpanntem
Parapfuie, die Zipfel feines Chormäntelchend mehrfach um
den den Hut Frampfhaft einflemmenden Arm gefchlungen,
‘in leichtem Schuhwerf hüpfend von Stein zu Stein, ſich
mühjfelig einen Pfad durch den fußhohen Moraft der unges
pflafterten Straße fuchte. Jetzt aber, feit faft einer Biertels
ftunde fehen wir alle feine Aufmerkſamkeit darauf gerichtet,
auf Scharren, Deden und Bürften feine Fußbefleidung zu
faubern und in feiner Erfcheinung der Ordnung und Nettig⸗
feit des Polnifchen Hauſes zu entjprechen, das feinen in
diefem Punkte etwas zweideutigen Namen aus früheren
Zeiten beibehalten hatte, ehe e8 aus den Händen eines her-
zoglichen Kammerherrn und polnifchen Grafen in die feine
gegenwärtigen Beſitzers, eines Föniglicd, polnifchen Kam⸗
merheren und fächfifchen Grafen, überging, der, ein junger,
flottlebiger Kavalier, für den reichften Edelherrn des Kreifes
galt und auf feinem nahegelegenen Stammſchloſſe der geifts
liche Patron feines gegenwärtigen Befuchers war.
Eben hatte diefer fein Reinigungsgefchäft einigermaßen
zur Zufriedenheit zu Ende gebracht, ald er fchon wieder
in die Lage fam, das ehrwürdige, dünne Haupt freundlich
zu neigen, und zwar gegen ein Individuum, das mit fauenden
Badenfnochen aus der räumlichen Küche im unteren Ges
fchofle ihm entgegentrat. Eine martialifche Figur, ſechs
Fuß drei Zoll, breitfchulterig, ftraff in die Höhe gerichtet,
181 Der Poſten der Fran
mit furzgerundetem, fchnurrbärtigem Angeficht. Der fteif
im Naden hängende fauftdide Zopf fchien fo wenig als
die Schmarre über der Stirn und der ausgeftopfte Linke
Arm zu dem filberbetreßten Livreeanzuge zu paflen, in
welchen der ftramme Körper eingepreßt war. Der Mann
war ja aber auch vom invaliden preußifchen Wachtmeifter
zum fchmuden fächfifchen Rammerdiener avanciert.
„Wünſche wohl gefpeift zu haben, Lehmännchen!“ fagte
der geiftliche Herr mit nochmaligem höflichen Gruß.
„Profit, Herr Magifter!” Tautete der Gegengruß.
„Kann Er mir wohl fagen, Xehmänndhen, ob ich alles
weile unfrer Önädigen mit meiner Aufwartung zupaffe
komme?“
„Die gnädige Gräfin find juft beim Putz. Verziehen
der Herr Magifter ein paar Minuten, fo werde id) rap-
portieren.”
„Keine Störung, lieber Lehmann; ich kann mich ges
buldigen. Komme auch lediglich von wegen des Berichtes
über unfer Sunferchen. Gänzlicy zur Zufriedenheit, alter
Freund. Sozufagen, quafi munter wie ein Fifch. Alfo
beim Pug; will heißen bei der Toilette. 5m! hm! fo fpät
nody am Tage! Scien mir ja fonften feineswegs der
Kafus bei unfrer Gnädigen. Beim Pug, beim Pu, will
mir gar nicht in den Sinn!“
„Sonften, ja fonften, Herr Magifter,“ verfeßte unwirſch
der Veteran; „aber dieſe heilloſen franzöſiſchen Windbeutel
ſtellen ja die Welt auf den Kopf! Heute abend iſt Ball
im ‚Scheffel‘. Wie die Preußen da waren, hat jich feine
Fiedel gerührt; aber diefe vermaledeiten Zierbengel — hole
fie alle der Teufel —“
„Sachtchen, fachtchen, Lehmaͤnnchen,“ unterbrach den
Der Poſten der Fran 185
Zornigen warnend ber fromme Befucher, „gebenfe Er an
das zweite Gebot. Will mir freilich auch nicht recht in den
Kopf, refpektive in das alte Herz, dieſe Feftivität; finte-
mal ringe um und herum ein verwüfteted Land, alles kahl
wie eine flache Hand, fort furagiert, fort requiriert, fort
ravagiert in Scheune und Stall. Zu Tillys Zeiten kann
es nicht grauſamer ausgeſehen haben. Der heilloſe Preuße,
daß Gott erbarm!“
„Soldaten wollen leben, Herr Magiſter. Und wer iſt
dran ſchuld, als die Franzoſenbrut und das pfaͤffiſche Reich,
die unſern Herrn und König nicht in Frieden laſſen?“ ent⸗
gegnete der Friegerifche Preuße, indem er mit diefer Ans
lage den fächfifchen Friedensmann nicht zum erftenmal zu
einer gereizten Kontroverſe herausforderte,
„Unfern Herrn, unfern König, Lehmann?” rief er
aus. „Man befinne fih. Wer ift Seiner Kurfürftlichen
Gnaden unverfehend ind Gebiet gefallen? Wer hat Seine
geheiligte Perfon in die Flucht gefcheucht, den Kandfrieden
gebrochen und die Brandfadel zuerft angezündet?“
„Wer hat dem König feine Provinzen rauben, fein
Reich Hein machen wollen, Herr Magifter? Preußen Klein
machen, Preußen teilen, Herr Magifter! Kreuzmohrens
fchocfelement, da müßte ja gleich —“
„Nicht zetern und fluchen, Lehmann! Wie oft muß ich
wiederholen: Beherzige Er das zweite Gebot, eventualiter
auch das fünfte, Alles unfchuldig vergoflene Blut fommt
über den König!”
„Über ven König! Heiligeskreuzdonnerwetter - ich fluche
ja nicht, Herr Magifter — Schodfchwerenot! über den
König, unfern Herrn!”
„Unfer Herr, Lehmann, unfer Landesherr feufzen und
186 ' Der Poften der Frau
.. beten im fernen Polenreiche, auf daß Recht und Geredhtigs
feit wieberfehren.“
„Shr König vielleicht, der feufzt, Herr Magifter, Ihr
Herr, der betet, meiner nicht. Sch bin meiner gnädigen
Komteffe gefolgt in ihren Eheftand, wie ihr Kerr Vater,
mein braver Oberft, Gott erhalt’ ihn! mir anbefohlen.
Sm übrigen aber und im Herzen bin und bleibe ich des
großen Fridericus allzeit getreuer Soldat und Untertan,
und geht die Heidenwirtfchaft hier im Lande fo fort - hole
mid) diefer und jener — alle Tage andre Gäfte und für
jedweden untertäniger Wirt und Knecht. Ziehen die Preußen
aus dem Tore, haben wir die Welfchen auf dem Kalle;
hui! wie ein Wetter find meine Preußen wieder da und
wieder fort, und nun fommen Panduren, Schwaben, Kro>
aten, und fehlen zu guter Legt nur noch die Koſaken, fo ift
die Bulle zum Plagen voll. Was haben wir nicht alles
hinunterfreflen müffen, nur allein in den paar Wochen,
die wir vom Lande wieder in die Stadt gezogen find.
Kommt der Turpien mit feinem Korps. Zieht mein hoch⸗
weifer Rat in corpore ihm vord Quartier und ſchwaͤnzelt
und bettelt um Verhaltungsbefehle vor dem bocksbeuteligen
Franzöfifchen! Herr Magifter, und unfer Graf — —“
Der geiftliche Herr ließ den Zornigen nicht zu Ende
reden.
„Nun'höre Er auf, Lehmann,“ unterbrad; er ihn mit
Würde; „ic habe Seine Läftereien gelaffen mit angehört,
fintemal Er fozufagen nad) Gelegenheit ein alter Preuße
ift und ein jeglicher getreulich zu der Fahne halten foll,
der er gefchworen hat. Aber feinen Brotherrn verun-
glimpfen, dieweil er gleichermaßen feine Treue bewahrt —“
„8 kommt nur drauf an, wie er fie bewahrt, Herr
Der Poſten ber Fran 187
Magifter,” fiel ihm der unerfchütterliche Wachtmeifter ine
Wort. „Aufrecht und ehrlich Freund wie Feind ind Ans
geficht, und wenn fie dem Leibhaftigen in Perfon ges
ſchworen wäre, unfer Herrgott wird's zu äftimieren wiflen.
“Aber Eourage gehört zu der Treue, Kerr Magiiter,
Gourage!”
„Wolle Er in Erwägung ziehen, Lehmann,” entgegnete
ein wenig verlegen der geiftliche Anwalt, „daß unfer junger
Herr Graf nicht vom Kriegöhandwerfe find. Au con-
traire, im Gegenteil: Kammerherr Seiner Kurfürftlichen
Snaden von Sachſen.“ |
Der alte Preuße lachte, zwifchen Gift und Luft geteilt.
„Das fol wohl fo viel heißen, Herr Magifter,“ fiel
er ein, „daß einem Kammerherrn Seiner Rurfürftlichen
Gnaden von Sachſen das Herz auf einem andern Flecde
gewachfen ift, ald andern Chriftenmenfchen, und daß er
anftatt der Courage einen Kagenbudel zeigen darf?! Na,
wenn’s auf die Weife verftanden ift, Herr Magifter,
meinethalben. — Aber einen hübfchen Sur hat's doch noch
gegeben mit diefen Franzöftfchen, Herr Magifter. Schickt
mein Turpien, da wir ihn endlich vom Halfe haben, ein
Kommando von Merfeburg und ordonniert, daß fämtliche
Armatur und Effekten, fo von der Kattfchen Winter:
erpedition noch hiefigen Orts reftieren, stante pede an
felbiges auggeliefert werden. Inſonderheit drei ſchwere
Soffres mit Gefchmeide und foftbarem Silbergerät, fo der
Leutnant von Itzenplitz von den Leibfürafftieren im gräflich
von Finkſchen fobenamften Polnifchen Haufe zurücgelaffen
habe. Bei Konftsfation von des Hehlers Bermögen.
Ein preußifcher Leutnant und drei Coffres voll Preziofa!
Ein Maul hätt ich dem Spaßvogel geben mögen, der
488 Der Doften der Fran
den Schabernaf ausgehedt hat. Allein meinem Hochs
weifen ift fein Spaß allzu dumm. Eine Deputation, den
Herrn Bürgermeifter in persona an der Spitze, gefolgt
von dem ganzen Kommando, macht fic, ernfthaftiglich auf
die Soden hinter den Rohrdamm ind Polnifche Haus. "
Die Frau Gräfin fchreien Zeter. 's war ein anvertrautes
Pfand, und fie ift eine Preußin, Herr Magiiter.
„Mein Herr Graf, liebes Kind wie allzeit, fchleppt mit
eignen Händen den Koffer — denn 's war nur einer,
Herr Magifter, und ein ganz Fleiner obendrein — hier in
den Saal. Gch rühre mich nicht und lache mir in bie
Kauft. Ein ellenlanged Protofol wird aufgefekt, das
große Amtöfiegel druntergedrudt, das Köfferchen feierlichft
aufgefchloffen, und was für Preziofa ziehen die Hoch⸗
weifen an das Licht? Einen abgefchabten, alten Pelz,
eine weiße Lederhofe, ein Paar zerriffene Reiterftiefeln,
und forgfältig eingewidelt, hahaha! ja nun fommt’g,
Herr Magifter, forgfältig eingewidelt — dad Konterfei
einer alten Frau. Hahaha, einer alten Frau!“
Der grimmige Franzofenfeind rieb ſich vor Vergnügen
in der Erinnerung den Bauch mit feiner einen Band.
Der geiftliche Herr aber wiederholte gerührten Blickes:
„Das Konterfei einer alten Frau! Bielleicht der Frau
Großmutter des jungen Herrn Offiziere! Ich hoffe, daß
ed gebührentlich in Ehren gehalten worden ift, Lehmänn⸗
chen, maßen ed mir eine abfonderliche Hochachtung zu
bofumentieren fcheint, wenn ein friegerifches Blut eine
alte Dame in effigie mit fich in die Kampagne führt.“
„3a, eine junge in natura ift ihm gemeiniglich lieber,”
verfeßte der Invalid. „Inſonderheit diefen Franzöfifchen.
Da ließe fid) was von Gotted Wort berichten, Herr
Der Poften der Fran 189
Magifter. Das greift um ſich wie die Pet, Freund oder
Feind. Haben wir da im Kaufe einen franzöfifchen
Herzog. Ein Dann wie ein Bild, dad muß man ihm
laflen. Und auch anderweitig ein Kavalier, er könnte
ein Preuße fein, Herr Magifter. Warum er aber nicht
lieber oben auf dem Schloffe bei dem Hildburghaufen
logiert —” |
„Halte Er ein, Lehmann,” unterbrach ihn, ſich in die
Höhe richtend, der geiftliche Kerr mit großem Ernft.
„Halte Er ein und hüte Er Seine fträflichen Gedanken.
Derlei Erörterungen gehen Ihn wie mid nichts an. —
Wolle Er alleweile fo gut fein, mich bei der Gnädigen
anzumelden.“
Aber der alte Preuße machte feine Miene, die gute
Gelegenheit, feine Galle einmal auszufchütten, leichten
Kaufes fahren zu laflen.
„Gleich, gleich, Herr Magifter!” verfeßte er. „Aber
einen hundeföttifchen Zug muß ich Ihnen doch noch zu
wiſſen tun. Bon wegen der Federbetten und den Hild⸗
burghaufenfchen; ich meine von denen draußen aus dem
Reich, da wir fie ind Quartier friegen taten. Mit denen
felbigen find freilich weniger Sperenzien gemacht worden,
al® mit den feinen franzöfifchen Mosjös. Federbetten!
Federbetten! Für die Mosjös, A la bonheur! Keine
Daune wäre unferm Grafen für die weich genug gewefen!
Aber das Gezeter hätten Sie hören follen, Herr Magifter,
vom Herrn Hausinſpektor an bis zum Stubenmädchen
hinab, das Gezeter, da nun auch die Deutfchen aus dem
Reich partoutmente Federbetten verabfolgt haben wollten.
Federbetten! Federbetten! Das fremde Gefindel! - Na,
natürlich blieben fie auf der Streu; denn mit gewiffen
190 Der VDoften der Frau
kleinen lingelegenheiten, die fie mit fich führen — Sie
verftehen mich fchon, Herr Magifter -, da hat es feine
Nichtigkeit. — Die Galle ift mir aber doch bei der Ge⸗
fchichte gefchwmollen, Herr Magifter. Denn warum? Die
armen Zeufel auf der Streu, die reden doch deutſch wie
unfereiner, aber aus dem Mundwerf von benen, die fidh
in unfern Federbetten wälzen, da ift noch Feine Ehriften-
feele Flug geworden. Na, fehen Sie, Herr Magifter, fo
gibt es alle Tage was Neues und niemalen was Gutes.
Aber wartet nur, wartet! Das Blatt wird fich wenden
und eure Herrlichkeit eheftens im Plagen fein. Er fommt!
Er fommt.
Und wenn mein König Friedrich fommt
Und Elopft nur auf die Hofen,
Da läuft die ganze Neichdarmee,
Panduren und Franzofen!“
Der geiftliche Herr drohte lächelnd mit feinem dünnen
Zeigefinger. „Lehmänndhen, Lehmännchen,“ fagte er,
„Er ift ein arger Berfifer, aber Er fünnte gar leicht ein
fchlechter Prophete fein. Sein König fol nur ein arm⸗
felig abgehestes Häuflein bei Leipzig zufammengetrieben
haben nach feiner graufamen Niederlage bei Kollin. Die
alliierten Armeen ftehen ihm vierfältig gerüftet gegenüber;
faft ganz Europa ift wider ihn, was dann, Lehmann,
was dann?“
„Bas dann, Herr Magifter?” antwortete der Preuße
auf einmal ganz ernfthaft, „was dann? Der im Himmel
weiß ed. Aber Preußen und fein König bleiben doch
oben, das weiß ich. — Horch! da fommen der Herr Herzog
in den Hof gefprengt. Ich will anjeßo gehen und Sie
der Frau Gräfin melden, Herr Magifter.” -
Der Poften der Fran 191
Wir haben zu berichten verfäumt, daß dieſes politifche
Wortgefecht keineswegs im unteren Flur bes Polnifchen
Haufes zu Ende geführt worden war, fondern ſich Schritt
für Schritt Die Treppe hinauf bis in den großen Empfangs⸗
faal gezogen hatte. Der martialifche Kammerdiener klopfte
jegt an die Tür eines Kabinetts, in welchem feine Ge-
bieterin juft mit dem Puderbeutel ihre Toilette vollenden
ließ. Sie fprang haftig in die Höhe, und den Peignoir
beifeite, einen Bli in den Spiegel werfend, fragte fie
das die Tür öffnende Kammerfäschen: „Der Herr Herzog,
Liſette?“
Der Herr Magiſter ſtutzte bei dem geſpannten Tone
dieſer Frage, die Zofe aber antwortete mit einem fpöttifchen
Lächeln: „Nein, der Herr Magifter, gnädige Gräfin.”
Gräfin Eleonore war eine anmutige, ftattliche Dame
von höchitens vierundzwanzig Sahren, deren fchlanfen
Wuchs und vornehme Haltung der modifch reiche Anzug
von weißem Silberbrofat, wie die Rofengarnierung im
hochgetürmten Toupe gar vorteilhaft hoben. Sie hatte
mit Necht für die fchönfte Frau an dem in Deutfchland
noch immer fchönheitstundigften Hofe von Sachſen ges
golten, daher man ihrem Liebreiz fogar die offen an den
Tag gelegte, aus der Heimat herübergebrachte Anhänglichs
feit, fowie die gegen die fächfifche Biegfamfeit verftoßende,
furz angebundene preußifche Art und altwäterifche Sittens
firenge zugute hielt.
Sie betrat den Saal. Der geiftliche Herr machte feine
untertänige Reverenz, während feinem fleinen, grauen
Auge fein Zeichen einer ungewohnten Zerftreuung und
laufchenden Unruhe der fchönen Hauswirtin entging.
„Sie bemühen fidy felbft, Herr Prediger;“ mit diefen
4192 Der Poſten der Fran
Worten begrüßte fie ihn, „wie gütig von Ihnen bei dem
üblen Weg und Wetter.“
„Ganz laulicht die Luft,“ deprezierte der Angerebete,
mit vorgehaltenen Händen und wiederholten Verbeu⸗
gungen, „und ed trippelt ja nur ein Fleines winzchen,
Gnädigfte.”
Die Dame lächelte. „Sie freundlicher Sadıfe,” fagte
fie, „felbft das Wetter möchten Sie entfchuldigen!” Sie
warf einen Blid nad) dem Fenfter, einen zweiten nad)
der Tür zurüd und fügte darauf hinzu: „Aber Sie
bringen mir Nachricht von meinem Knaben. Er war
fröhlich, ald Sie ihn verließen, Herr Prediger?”
„Munter und luftig, wie ein Schmerlchen im Bädhels.
chen; Gott behüt ihn, gnädige Gräfin!” berichtete der
geiftliche Herr.
„But, daß das Kind auf dem Lande geborgen iſt,“ vers
fegte die fohöne Frau, „folange ich durch die Anwefen-
heit unfrer fremden Gäfte —“
Sie ftocte, denn der Herr Magifter räufperte fich und
fentte fein Auge zu Boden; nach einer furzen Paufe fuhr
fie fort: „Und durch den Wunfch des Grafen an unfer
unruhiged Treiben gebunden bin.”
Gräfin Eleonore, deren jugendfrifche Wangen das mo⸗
difche Schönheitsmittel der Schminfe nicht bedurften und
die eine leife Berlegenheit, oder Scham, oder was fonft
das Blut in ein Angeficht treiben mag, niemals verleugnen
fonnte, errötete bei diefen Worten unter einem Blicke,
den ihr geiftlicher Sorger einen Moment rafch zu ihr in
die Höhe fchlug und, felber errötend, ebenfo rafch wieder
fallen ließ. Ihre großen, blauen Augen ruhten eine Weile
prüfend auf dem fleinen, faltigen Geficht ihr gegenüber;
Der Doften der Frau 4193
beide ſchwiegen; dann ſtrich fie mit der Hand über die
Stirn, feßte fi und gab ihrem Befucher ein Zeichen, das
gleiche zu tun, indem fie, mit ihren Gedanken offenbar
weit anderwärtd, eine Frage nach feinem Wohlbefinden
an ihn richtete.
Magifter Gutfreund ließ fi an, die Mutmaßung eines
möglichen Wohlbefindens feiners oder irgendwelcherfeite
unter dem Kreuze, das Gottes graufame Geißel über diefe
Gegend verhängt habe, des weitläufigften von ſich abzus
wehren, fah ſich aber gezwungen, den Ausfluß feiner Ent-
rüftung wie feined Erbarmend vor der Zeit zu hem⸗
men, denn die Dame, nad) einigen ungeduldigen Blicken
auf die Pendüle, erhob ſich und fiel ihm mit einer leb⸗
haften Erklärung in die Rebe, die feinen politifchen
Antagonigmus, wie vorhin in dem Gefpräche mit dem
MWachtmeiftersfammerbdiener, in die zeitläufige Bahn
führte.
„Sie find im Begriffe,” fagte fie, „unfern alten Diss
put zu erneuern, Herr Prediger, wenn fich mit einem fo
frommen Herrn wie Sie überhaupt disputieren läßt. Sie
find ein alter Sachſe. Ich bin eine Preußin. Auf Ihren
Boden verpflanzt, fann ich von meiner heimifchen Liebe,
von dem Glauben an meinen Helden und König fo wenig
laflen, ald Sie von Ihrer angeftammten Treue. Sie
trauern um einen fchuglofen Herrn, ich halte mid, an
den Anfer eines emporftrebenden Baterlandes, Sie in
Ihrem befchränften Kreife feufzen über die eingeäfcherten
Hütten, ich, die ich an dem Hofe Ihres Brühl, und leider
nicht an biefem allein, eine ungeahnte Faͤulnis wahrs
genommen habe, id) preife den Sturmmwind, welcher das
reinigende Element über verrottete Stätten trägt, und
®
4194 Der Poften der Fran
ich danfe dem Simmel, ber diefes Feuer von einem Helden
ausftrömen läßt —“
„Bon einem Tyrannen, Frau Gräfin!” unterbrach fie
der Magifter, an der Stelle berührt, an welcher auch er
widerborftig wurde.
„Wer damit anhebt, fich felber zu beherrfchen, Kerr
Prediger,” verfegte die Dame mit Würde, „der ift fein
Tyrann und hat das Recht, firenge Maßregeln zum Heile
einer großen dee zu verhängen.”
„Ein Ufurpator, ein Rebell auf dem Thron!“ rief
eifernd der Sachſe, — „ein Zerftörer geheiligter —
„Seheiligter Mißordnung, — fei ed darum!” entgegnete
Gräfin Eleonore. „Auch die Sonne rebelliert gegen nächt⸗
lichen Dunft. Aber wie gefagt: meiden wir einen Gegen⸗
ftand, über welchen wir ung niemals einigen werden.
Wir wollen fchweigend refpeftieren, was und aneinander
unbegreiflich fcheint. Iſt das Edelfte im Menfchen doch
die Treue gegen das, was er liebt und was er feiner Vers
ehrung würdig hält.“
Sie war während ber letzten Worte mit einer er-
wartungsvollen Miene an das Fenfter getreten; die Blicke
des geiftlichen Freundes folgten ihren unruhigen Be⸗
wegungen; er fohüttelte den Kopf, ein forgenvolled „Bm,
hm!“ entglitt feinen Lippen, feine Gedanken hatten offen-
bar eine andre Richtung genommen.
„Sie fagten etwas, mein Herr?" fragte die Gräfin,
anf ihren früheren Plag zurückkehrend.
„Um Bergebung, ich wollte etwas fagen, Frau Gräftn,“
verfeßte der Prediger, das Auge feſt auf fie geheftet, „ich
wollte fagen, die Treue nicht gegen dad, was er vers
ehrt und was er feiner Liebe für würdig hält - —”
Der VPoften der Frau 195
„Nun doch wohl nicht gegen das, was er ihrer un
würdig halt?” wandte lächelnd die Dame ein.
„Das wollte ich juft nicht fagen, gnädige Frau.”
„Und was fonft, Herr Prediger?”
„Sch wollte fagen,” erklärte der Magifter mit Ents
fchiedenheit, „die Treue Tchlechterdings, die Treue in
unfrem von Gott verliehenen Amt.”
„Und wäre es nicht unfres Amtes, unfres innerlichften,
gottvertrauten Amtes, beharrlich bei dem Guten und
Kräftigen zu ftehen und das Schwache und Böfe ent-
fchloffen von ung abzuwehren?“
„Unter Umftänden nein, gnädige Frau. Denn wäre
fonft die Treue eine Tugend und die Liebe ein Opfer?
Unfer Herr und Heiland hat fein teures Blut nicht vers
goſſen für die Engel und reinen Geifter des Himmels, ſon⸗
dern für und arme Schwache und Sünder, denen fein gött-
licher Vater ihn ald Anwalt auf die Erde entjendet hatte.“
Gräfin Eleonore maß ihren Befucher mit einem langen
verwunderten Blick. Was heißt das? — mochte fie denken.
Er hat auf einmal den Tyrannen Friedrich famt allem
fächfifchen Kram feiner Umftandswörter vergeffen und
fteuert direkt auf einen Zweck — aber auf welchen?
Der würdige Mann ließ ſich indeflen durd, der Dame
erftaunte Miene nicht irremachen, fondern fuhr eifrig
und unerfchroden in feiner Rede fort: „Und desſelbigen⸗
gleichen follen wir armen Schwachen und Sünder treu
lich erfunden werden nicht nur gegen die Guten und
Starfen, nicht nur nad, Freiheit und Neigung, fondern
auf jeglichem Poften, auf welchen der Herr und geftellt,
in erfter Ordnung aber da, wo wir einen Schmwächeren
zu vertreten haben. Inſonderheit, — nadı Gelegenheit —“
196 Der Poften der Fran
Er ftocte vor der Nutzanwendung, die nun folgen
mußte.
„Weiter, weiter, mein Herr!” rief die Gräfin.
„Snfonderheit,” nahm er zögernd wieder das Wort,
„infonderheit die Frau Gräfin, — nämlidy — eine Mutter,
will fagen — das weibliche Gefchlecht — —”
Die fchöne Frau erhob ſich raſch und zog die Klingel.
„Sc bedaure, Sie unterbrechen zu müffen, mein Kerr,”
fagte fie mit einem Ton, den ihre fächfifchen Freunde
„preußifch” nannten. — „EI gilt ein Ballfeſt, das der
Graf arrangiert hat. Schnell anfpannen und den Herrn
Prediger nadı Haufe fahren laſſen!“ feßte fie, gegen den
eintretenden Lehmann gewendet, hinzu.
Der gute Magifter. hatte, mit einer Reihe untertänig-
fter Büclinge den Rückzug nehmend, feine aufdringlidhe
Kühnheit zu entfchuldigen gefucht. Sekt, ſchon unter der
Türe, galt ed, noch eifrig gegen die beabfichtigte Heim⸗
führung zu proteftieren.
„Beileibe nicht diefe Umftände, Gnäbdigfte,” fagte er,
„das winzige Endchen legt ſich ja weit fommoder zu
Fuße zurüd.“ Und als feine Gönnerin bei ihrem Aner-
bieten beharrte, die einbrechende Nacht und den ſtroͤmen⸗
den Regen in Erwägung ziehend, feßte er mit faft ängft-
licher Entfchuldigung hinzu: „Meine Gewohnheit, in der
Dämmerung Iuftzumandeln, Gnäbdigfte, und draußen lehnt
mein Parapluie. — Lafle Er das Fuhrwerk in Frieden,
Lehmännchen. In Wahrheit, ich müßte mich ja fchämen,
fo vielerlei Gliedmaßen an Menfchheit und Vieh zu mo-
leftieren, lediglich um meinem alten Leichnam eine Güte
zu tun. Inſonderheit alleweile, wo der Beladenfte fich
nicht fchonen darf und der gottlofe Preuße felber die Ges
Der Poften der Fran. 197
fpanne geraubt hat, um notdürftig den Ader für die
Winterfaat zu beftellen.”
Mit diefem letzten Worte gegen den graufamen Reichs⸗
feind und mit nocymaliger Reverenz war er, gefolgt von
dem Kammerdiener, aus dem Saale verfchwunden. " Die
Gräfin blickte ihm mit einem Ausdrucke faft von Rührung
nad. „Er ift mitunter ein wenig langweilig, der gute
Magifter,” fagte fie zu fich felbft, „unbefcheiden aus über-
flüffiger Befcheidenheit, aber doch — wie wenige gibt ed
feineögleichen!”
Sie ging einige Male mit haftigen Schritten im Zimmer
auf und nieder, zog dann noch einmal die zuus und
fragte, ob der Graf zurück fei.
„No nicht retour, Frau Gräfin,” antwortete der
Kammerbdiener.
„Und der — Herr Herzog?”
„Sind retour, Frau Gräfin.”
Der Diener entfernte fich, fie blieb allein. Die Bered⸗
famfeit ihres alten geiftlichen Freundes fam ihr wieder
in den Sinn. Daß ein Menfch fo richtig handeln und fo
viel unnüge Worte machen kann! fo hatte fie fonft gefagt,
wenn ihr, der Kanzel oder feinem Privatgefpräche gegen
über, wiederholentlich die Geduld geriffen war. Er ift
zum Redner verdorben, der gute Magifter, er follte auf
einem andern Plage ftehen. Heute zum erftienmal wurde
fie mit Herzklopfen inne, daß der Mann doch wohl auf
geeignetem Plage ftehen und daß er, ein foharf und fein
blickender Seelforger, im rechten Momente auch die rechs
- ten Worte finden möge. „OD, er fpürte die Lüge,” flüfterte
fie; „er ſah mein Erröten. Mein Mann, fagte ich,
wünfchte meine Nähe, mein Mann hielte mich fern von
198 Der Poften der Fran
meinem Kinde und von meiner Pflicht? Und wenn er e8
täte, wenn er einen Willen zeigte, einmal einen Willen,
und wäre es einen fträflichen Willen —“
Sie vollendete die Frage nicht und blieb fich die Ants
wort darauf fchuldig, indem fie mit Gewalt eine peinliche
Erörterung zu bannen fuchte. Sie ging noch einige Zeit
unruhig im Saal auf und nieder, feßte fi dann und
verfanf, den Kopf in die Hand und den Fuß auf das
glänzende Gitter vor dem Kaminfeuer geftüßt, in rück⸗
fchauendes Sinnen.
Die Bilder ihrer frühen Sugend zogen an ihrem Auge
vorüber. Sie fah fich wieder fern am Öftfeeftrande, ein
einziges, einfames, mutterlofes Kind, unter den Augen des
ernften, firengfordernden Vaters, des Kameraden Leopolds
von Deffau; unter dem erften Schimmer der über ihrem
Lande auffteigenden SHeldenfonne Ale Erinnerungen
ihre8 Stammes, alle Sagen ihres heimifchen geiftlich-
ritterlichen Bodend, alle monumentalen Reſte der Größe,
alle Träume und Wünfche des jungen Herzens fnüpften
ſich an fühne Fahrten und Taten; die rege Phantafte vers
färte den preußifchen Zopf zu einer ritterlichen Locken⸗
mähne, das Blut pridelte ungeduldig in den Pulfen über
Zinzendorfd Schriften und der lateinifchen Grammatif dee
fteifen SInformators; mit Gier wurden die fpärlichen
Märchen und Minnelieder verfchlungen, welche die uns
günftige Zeit zutage förderte, Die Welt der Träume wimmelte
von kühnen Reden und Reifigen, und den fühnften von
allen, den tapferftien Ritter erfor fich die verlangende
Phantafte zum Herrn. Nur einem Helden wollte die
Heldentochter angehören. Und doc, wurde fie die Gattin
biefed Mannes, wurde ed aus freiwilliger Neigung, ja
Der Poften der Frau 4199
faft der väterlichen Mahnung zum Trotz. Hatte fie ihn
geliebt? Glich er ihrem ritterlichen Ideale? Er ftand vor
ihr jung, fchon, galant, ein froher Gefelle, wie er ihrer
Jugend gefehlt hatte, ein fchmuder Kavalier, der ihrem
Auge wohl gefallen durfte; ein Edelmann aus altem
Stamm, das hieß ein Mann von Ehre und Adel nadı
ihrer Väter Glauben. Sie war zum erftenmal in der
Hauptftadt, als er ihr huldigend gegenübertrat, hatte den
erften Blick getan in die wirkliche Welt und zu ahnen bes
gonnen, daß fie bis heute geträumt. Sie wähnte fidy im
Erwachen. Und dieſes Erwachen zog fich durch Sahre
ungeahnten Genuffes und neuer Kerrlichfeiten, an dem
glänzendften Hofe von Deutfchland, in einer reizvollen
Gegend, unter Gebilden der Kunft, unter Feften und
Huldigungen, tändelnden Männern und üppigen Frauen,
unter dem verlocdenden Heroldsrufen eines Voltaire und
Rouſſeau; ein goldener Morgen! wie hätte er ihre Sinne
nicht blenden, nicht ihre Heldenbilder verbunfeln follen
in feinem grellen Kontrafte gegen den Fahlen heimifchen
Strand? — Doch jählings, der Griff eines Helden in diefe
gleißende Welt, und welche Kehrfeite des anmutigen Bildes!
Das, was fo Schön fchien, wie verblichen, und die ver-
blichenen Träume, ach, wie fo ſchön! Und der, welcher
ihr Hort und Führer fein follte in diefer ftreitenden Welt,
der, deffen Lächeln fie gewect hatte aus ihren Kinder⸗
träumen, der froh lächelnde Mann auch heute noch, ihr
Mann, der ihre — -
Sie fuhr in die Höhe und machte in heftiger Bewegung
einen Gang durch dad Zimmer. „OD, daß er ein Mann
wäre!” rief fie aus, „daß er aufbraufte in dieſem Wetter⸗
fturme, daß er ein Schwert ergriffe, und wäre ed gegen
900 Der Poſten der Fran
mein eigen Blut! Armfeliger Mann, er fpottet meines
Preußen, denn er liebt, nein, er kennt fein Vaterland!
Gottlob, daß du mir Teuchteft, glorreicher Stern über
meinem Bolf! Sa, ja, es gibt noch Helden, und nur Die
Ritter meiner Träume, bed Herzens Ritter, ihre Zeit lief
ab! Alle, alle?” flüfterte fie, indem fie ſich auf ihren
früheren Platz zurücfegte und eine neue Erfcheinung fid)
dem inneren Blicke entgegendrängte. Der fremde Gaft
ihres Hauſes, der Gegner ihred Könige, ihres Gatten
Freund, — er, deflen Ahn der Schild der Ehre hieß -?
„Seine Durdylaudht, der Herr Herzog von Crillon!“ —
rief, die Flügeltüren auseinanderfchlagend, der Wacht⸗
meifter-ffammerdiener.
Der Gemeldete, der noch junge, fchöne Maréchal de
camp, Herzog von Grillon, der Meldung auf dem Fuße
folgend, trat mit rafchen Schritten auf Die Dame zu, deren
Hand er an feine Lippen zog und die er mit fchmeichelnder
Entfchuldigung begrüßte:
„Sch bin ein Egoift, Madame,” fagte er, „der mit ben
Augenbliden geizt, in weldyen ihm die holdefte Nähe ge-
gönnt ift. Aber ich flöre. Sie waren in Gedanken, Frau
Gräfin?“
„Sc träumte nur ein wenig, Herr Herzog,” entgegnete
Eleonore lächelnd, indem fie auf einen Seffel an ihrer
Seite deutete, „weil ich allein, zwifchen Puß und Tanz,
juft nichts Beſſeres zu tun wußte.”
„Und von was, von wem träumten Sie, fchöne Frau?“
fragte Herr von Erillon, Platz nehmend.
„Sch träumte von einem Helden, Kerr Herzog,” ant-
wortete die Dame mit einem Anflug fchelmifcher Kofetterie,
der zu dem Stil ihres Wefend im Grunde wenig paßte.
Der Poſten der Frau 201
„Bon Shrem Helden, Madame? Ihrem inzigen!
Immer nur ihm!“ rief der galante Franzofe. „Glück,
feliger Preußenfönig, beneidendwert, dem Haſſe einer Welt
zum Trotz.“
„Sie irren, mein, Herr,“ verfegte Eleonore. „Ein
Traum hat nicht eine fo präzife Geftalt, und König Frieds
rich fchickt fi) gar wenig zu einer Erfcheinung, welche
einer Frau in der Dämmerftunde auffteigtz er ift der Held
des Tages, der Held des Lichtes und des Gedankens.
Mein Träumen war mehr eine Grübelei. Was macht den
Helden, Herr Herzog?”
„Der Mut und die Treue, Madame,” fagte Kerr
von Grillon.
„Die Treue?” wendete bie Gräfin ein wenig verwundert
ein, „die Treue gegen wen?“
„Wenn er ein König ift, die Treue gegen fich felbft,
wenn er ein Edelmann ift, die Treue gegen den König.“
„Und wenn er von beiden feines fein follte, mein Herr?”
„Dann weiß ich von feinem Helden, Madame.“
„Begnügen wir und dann mit denen, von welchen Sie
wiffen, Herr Herzog,” verfeßte Eleonore mit einem Ans
flug von Spott, „und feßen wir den Fall, daß der König
eined Edelmanns ein Schwächling wäre, wie dann, mein
Herr?"
„Dann bindet die Ehre Die Treue auch an den Schwachen
und macht ihn ſtark,“ verfeßte Herr von Erillon mit Würde.
Darauf aber zu feinem leichteren, verbindlichen Ton zu⸗
rücdfehrend, fügte er hinzu: „Madame, Shr König, ſchwach
zur Stunde, ein Schwächling ift er nicht, dafür fei Gott;
Sie aber find eine Heldin, fchöne Frau, um der Treue
willen, mit weldyer Sie zu ihm fliehen, im eignen Haus,
20% Der Poften der Fran
im eignen Land, wider eine feindliche Welt, und id) be=
flage es, ja, ich beflage es, in einem wenig ruhmvollen
Kampfe auch Ihr Antagonift geworden zu fein.“
„Ei, ei, Kerr Herzog, wie fol ich diefe plögliche Ents
mutigung deuten?” fragte Die Gräfin mit nedendem Augen-
ſtrahl.
„Entmutigung? Sie lächeln ſelber, Frau Gräfin,” ent⸗
gegnete der Herzog. „Mut ohne Widerftand hieße fein
Gegenteil. Ihrem ftarfen, fiegreichen König Halt zu ge⸗
bieten, wäre ung eine Ehre gewejen. Den Gefchlagenen,
Bedrängten, Verzweifelnden übermächtig noch einmal an:
zugreifen, dünft mid, nahezu eine Schmach für den fran-
zöfifchen Namen.“
„Hoffen Sie denn mit mir, daß Sie die Angegriffenen
fein werden, Herr Herzog,” verfeßte die Gräfin mit dem
Tone eines ernftgemeinten Scherzed, Daher ihr Gegenüber
ed denn auch an einer eifrigen Zurecktweifung nicht fehlen
ließ. |
„Es wäre Tollmut, — Defperation, fchlimmer: es wäre
Torheit, Madame. Diefe ärmlichen, müdegehegten Trüm>
mer von Kollin gegenüber einer franzöfifchen Armee! Wir
zögern, wir fchonen ihn, — feinen deutfchen Feinden zum
Troß, er fieht es; wir gönnen ihm Zeit zu unterhandeln,
und id) ehre Shren König, den Zögling franzöfifcher Weis⸗
heit, zu hoch, um zu wähnen, daß feine Bravour der ein-
fachften Logik hohnſprechen und felbftmörderifch feinen
tapfer begründeten Ruhm dem Gelächter Europas preis⸗
geben ſollte.“
„Dder auch ihn unfterblidy machen!” entgegnete die
Preußin ftolz, fegte aber nach einer Heinen Paufe lächelnd
hinzu: „Ein Disput ded Blinden um die Farbe, nicht fo,
Der Doften der Fran 203
Herr Herzog? Was verfteht eine Frau von Helden und
Heldentum?“
„Sie verfteht fie zu ehren, fie verfteht es zu Iohnen,
Madame,“ erwiderte der ritterliche Franzofe. „Was helfen
Ihrem König feine Siege, wenn, wie man fagt, nicht die
Hand einer fchönen Frau den Kranz auf feine Stirn drückt?“
Er zog während diefer Rede die Hand der Dame an
feine Lippen, juft als der rechtmäßige Befiger diefer Hand
in das Zimmer trat. Die Huldigung feined Gaftes in
Wort und Bewegung fonnte ihm fo wenig ale das Ers
röten der anmutigen Wirtin entgangen fein, auch preßte
er einen Moment die fchmalen, purpurroten Lippen ärgers
lich übereinander. Schnell jedoch hatte er ſich befonnen,
daß fächfifche Lebensart franzöfifcher Feinheit und Freis
heit nichtd nachgeben dürfe, und mit einer arglofen
Courtoiſie, die man andrerzeit und andernorts vielleicht
Frivolität genannt haben würde, verbeugte er fich nach
beiden Seiten und rief: „Glücklich retourniert, mon duc?
Und Sie, teure Eleonore, Ihre Migräne zu rechter Zeit
überwunden? Scharmant, ganz fcharmant!”
„Migräne, Moritz?“ fragte feine Gemahlin äußerft ver-
wundert.
„D, diefe böfe, plögliche Plage, Migräne!” entgegnete
der gewandte Herr, die Achfeln zudend. „Hatte ich doch
faum noch gehofft, Sie auf dem Balle zu begrüßen,
Tenerfte. — Sie werden fehr nacdhfichtig fein müffen, Herr
Herzog. Ein Impromptu, ein ärmlicyes Landftädtchen!
Wahrhaftig, wir müßten und ſchämen, wenn wir nicht
hoffen dürften, bald an würdigerer Stätte Shnen die
Honneurs unferd Landes zu machen und zu zeigen, daß
wir aufmerffame Zöglinge des Ihrigen gewefen find.“
204 Der Poften der Frau
„Die Schönheit adelt die befcheidenfte Stätte,” ents
gegnete Herr von Erillon mit ehrfurchtsvoller Neverenz
gegen die Dame.
Sie madıte Tächelnd eine leichte, ihr Eheherr, gleichfalle
lächelnd, eine tiefe Berbeugung gegen den Galanthomme,
ale der Kammerdiener eintrat und die bereithaltende Sänfte
ber Frau Gräfin anfündigte. Herr von Crillon verließ
rafch das Zimmer, einen augenblidlichen Auffchub ers
bittend; : der Graf aber, nadı einem fcheuen Rundblid,
fagte, haftig auf feine Gemahlin zutretend, mit flüfternder
Stimme: „Du wirft nicht auf den Ball gehen, Eleonore.“
„Nicht auf den Ball gehen, Morig?” verfeßte fie vers
wundert, indem fie den goldenen Fächer von dem Fleinen,
funftvol aus Schildfrot geſchnitzten, Treſorchen“ herunters
langte. |
„Du wirft nicht gehen, fage ich.”
„sch verftehe Sie nicht, Graf.“
„Nichts Berftändlicheres, follte ich meinen, Gräfin, als
‚bie Öalanterien, den Affront dieſes Franzofen fich nicht
unter den Augen aller Welt gefallen laffen zu wollen.“
„Nichts Verftändlicheres follte ich meinen, Graf, als
einen galanten Affront — gefeßt, daß es ſich um einen fols
chen handelt, fid am wenigften unter feinem eignen Dache
gefallen zu laſſen, und den, weldyer ihn uns zufügt, mit
allen Zeichen. der Ergebenheit zu überhäufen.”
„Er ift ein Franzoſe, ein Freund, ein Gaft.“
„Und Sie find fächfifch-polnifcher Rammerherr, allers
dinge. Indeſſen, Sie haben mid) nun einmal in Gegens
wart diefes Ihres Gaftfreundes zu diefem Fefte ihm zu
Ehren eingeladen —“
„Fagon de parler, Scherz - -“
Der Doften der Frau 205
„Schade, daß id; Ihren Ernft fo wenig habe kennen
lernen, um diefen Scherz nicht für Ernft zu nehmen, und
Daß ich num feinen Grund fehe, der eine fo fpäte Korrektur
der Auffaffung rechtfertigen würde.” j
„Eine Frau braucht feine Gründe für einen veränders
ten Entfchluß. Einfälle, Zufälle, Launen, Bapeurs, - eine
Migräne find ihre Räfon.“
„Nicht die meine, Graf; und bei der meinen werde ich
beharren, bi8 Sie mir in Ihres Freundes Gegenwart
Durch Ihren ausgefprochenen Willen eine triftigere aufs
nötigen.”
„Und mid ridicule mache, als deutfcher Luftipiels
hobereau! Ich danke Ihnen, Frau Gräfin, ich danfe viel,
taufendmal!”
„Nun, auch ich habe Feine Luſt, mic lächerlich zu
machen, und darum auf Wiederfehen in der Menuett,
Herr Graf.“
Mit diefer Schlußerflärung und einer fpöttifchen Vers
beugung wendete die ftolzge Dame ſich nad) der Tür; der
gereizte Eheherr aber ſchien nicht geneigt, ald uͤberwun⸗
dener auf dem Kampfplate ſich mit dem Nachfehen zu
begnügen. „Lore, du bleibt!" rief er aufgebracht, fie bei
der Hand zurüdhaltend. Da aber juft der Urheber feines
Unwillens in den Saal zurüdfehrte, führte er diefe Hand
mit bewundernöwerter Faflung in tändelnder, ehemännis
fcher Laune an feine Lippen. Seine Gemahlin entzog fie
ihm rafch mit verächtlicher Miene; unwillfürlich ſtrich fie
mit den Kanten ihred Tafchentuches dbarüberhin, als ob
fie die Spuren heuchlerifcher Feigheit von ihrem Körper
loͤſchen wollte.
Herr von Grillen war unterdeflen näher getreten, der
206 Der Poften der Fran
fchönen Frau mit einer fchmeichelhaften Apoftrophe, würdig
eines Voltaire, leider aber unfrer Kenntnis verbaliter nicht
aufbewahrt, ein Bufett feinfter, den natürlichen gleich
duftender Parifer Blumen darbietend. Stumm, geteilt
zwifchen Verlangen und Verlegenheit, zögerte fie, es ent-
gegenzunehmen, bid der Gemahl lächelnd, mit der glück⸗
lichten Unbefangenheit die Mittlerrolle ergriff und, nicht
ohne obligate VBerbeugung gegen den Geber, ed aus feiner
Hand in die ihre legte. „Mit dem Schwert in der Hand,
oder mit dem Minnezeichen,” rief er aus, „preux chevalier
und feines Sieges gewiß.”
Noch war der allfeitige Danf und Gegendanf für diefeg
favaliere Smpromptu in tiefen Neverenzen nicht erledigt,
ald der Kammerdiener von neuem auftrat, die harrende
Equipage ded Herrn Grafen anzumelden. Der Herzog
faßte die Fingerfpisen der Dame, fie ihrem Vehikel zuzu⸗
führen, der Eheherr blieb einen Moment im Saale zurüd,
den fich Entfernenden einen Blick nachfchleudernd, fo
grimmig, ald ed feinem im Grunde ziemlich harmlofen
Augenpaare moͤglich fchien.
„Sie trotzt mir,“ murmelte er. „Nun denn Trotz gegen
Trotz, Madame. Noch iſt es Zeit! Glücklicher Zufall,
daß ich die Kundſchaft oben bei dem Hildburghauſen at⸗
trappiert habe. — Die Garniſon rückt in der Frühe über
den Fluß. Zurück, immer wieder zurück, dieſer Soubiſe.
Aber diesmal mir erwünſcht. — Am Nachmittag brechen
wir auf nach Dresden, nach Warſchau, wenn es ſein muß,
ſie darf, ſie ſoll dieſen Franzoſen nicht wiederſehen.“
Befriedigt laͤchelnd folgte er den Vorangegangenen und
langte im Hausflur an, als eben die vergoldete Porte⸗
chaiſe ſeiner Gemahlin aus derſelben getragen ward. Gaſt
Der Poſten der Frau 207
und Wirt beftiegen alfobald die bereitftehende Karofle und
fuhren einmütig felbander zu dem Feſte, das zu Ehren der
fremden Freunde und Erretter gefeiert werden follte. In
faum einer Minute ftanden fie, des überholten Tragfeflels
harrend, in der Torfahrt zum „Goldenen Scheffel”.
Die Kultur in unferm Städtchen war vor mehr ale
hundert Sahren keineswegs fo weit gediehen, um audy die
Propyläen einer Ergöglichkeit einer Dekoration bedürftig
zu erachten. Der unverdecdte Rinnftein floß inmitten eines
halsbrechenden Pflafterd, der Blick in einen moraftigen,
mit Schuppen und Karren gefüllten Hof lag frei geöffnet,
die Düfte nachbarlicher Ställe mifchten fich mit denen des
Wildbratens und polnifchen Karpfens, mit dem Bier und
Tabaksqualm, die aus Küche wie Schentftube drangen.
Der furfürftliche Kammerherr bemerfte und ermwiderte
achſelzuckend das epigrammatifche Lächeln feines hohen
Gafted von der Seine, dabei aber verneigte er fid) höflich
grüßend nad) allen Seiten, reichte den eintretenden Hul⸗
dinnen ded Kreifes feinen Arm zum Geleit bid an bie
Treppe, welche nach dem Tanzfaal im oberen Stodwertfe
führte, erinnerte die ftattliche Gemahlin des Herrn Amts⸗
hauptmannd an ihre Zufäge der erften Menuett, küßte
mehr als einer Schönen zum Willkomm die zarte Hand,
er lächelte, er lifpelte, er wißelte, er fchmwebte auf und
nieder, mit einem Worte: er war ein würdiger Epigone
der großen Epoche des galanten Sachfens, der Furfürft-
liche Kammerherr Moritz Graf von Fink; nicht das feelen
tundigfte Auge hätte auf diefer wolfenlofen Stirn ges
Iefen, daß ein gewaltiger Entfchluß in ihrem Innern reif
geworden war.
Wir wollen mit diefer Andeutung keineswegs eine bängs
208 Der Doften der Fran
liche Apprehenfion in dem Gemüte einer holden Leferin
erwecken und beileibe nicht behaupten, daß das Blut eines
Dthello in den Adern unfres kurfächfifchen Kavaliers ges
focht habe; ja, wir tragen billige Bedenfen, daß die
Miffetat des ſchwarzen Afritaners, wäre fie jenerzeit ſchon
über den Kanal in die Mufentempel der Elbe und Pleiße
vorgedrungen, den zürnenden Eheherrn zur Bewun⸗
derung oder gar zu verbrecherifcher Nachahmung hins
geriffen haben würde.
Smmerhin jedoch entbehrte er der Dofis Eitelkeit nicht,
welche zu dem Mirtum der Eiferfucht auch in einem weißen
Männerherzen erforderlich ift und welche unter Umftänden,
nicht minder als die Leidenfchaft, eine unberechnete Kata⸗
firophe zum Ausbruch bringen kann.
Die Sänfte der Dame, geleitet von zwei Windfadeln
tragenden Heiducken, ließ nicht lange Zeit auf ſich warten,
und der artige Franzofe eilte herbei, ftatt des nebenher,
fchreitenden Kammerdieners ihren Schlag zu Öffnen und
feiner fchönen Wirtin den Arm zum Geleit in das Fefts
lokal zu bieten.
„Einen Augenblid, mon duc,” rief indeſſen der herbei⸗
ſpringende Eheherr lächelnd, „die Damen lieben es, einen
prüfenden Blick in den Spiegel zu werfen, bevor ſie den
Ballſaal betreten. — Ein Zimmer für die Gräfin, Herr
Wirt!“
Unter den devoteften Büdlingen und Entfchuldigungen,
baß nur ein einziges, wenig ftandesgemäßes Kämmerlein
noch disponibel fei, öffnete der eilfertige Scheffelwirt,
dem bei feinen heutigen, unerhörten Obliegenheiten der
Kopf unter der weißen Zipfelmüge im buchftäblichen Sinne
wirbelte und wadelte, die Tür eined langen, fchmalen
Der Poſten der Frau 209
Korridors, auf eine zweite am entgegengefebten Ende des⸗
felben deutend, und fprang darauf in die Torfahrt zurüd,
wo feine Gegenwart von den verfchiedenften Stimmen
aus Küche und. Keller gefordert ward.
Gräfin Eleonore hatte ihren Gemahl bei feiner unvers
muteten, ihr völlig überflüffig dünkenden, fürforglichen
Forderung erftaunt angeblickt; um fidy jedoch in feine aufs
fällige Erörterung einzulaffen, nahm fie raſch dem Wirt
den Leuchter aus der Hand, fchritt unmutig, beide Wände
des Ganges mit der fteifen, glänzenden Robe ftreifend,
ihrem Gemahl voran und öffnete, feine nochmalige drins
gende Frage: ob fie darauf beftehe, den Ball zu befuchen,
feiner Antwort würdigend, die Tür bed angewiefenen
Zimmers.
Der Herr Herzog von Erillon hielt es für angemeffen,
nicht länger im Tormweg bed „Goldnen Scheffels“ des rüds
fehrenden Ehepaares zu warten und ftatt deffen oben am
Eingange des Tanzfaaled den Poften ald harrender Nitter
einzunehmen. Zehn lange Minuten mochten auf diefe
Weiſe vergangen fein, als fein gräflicher Wirt erfchien —
ohne feine Frau Gemahlin.
„Die Damen find incalculable, incommensurable, mon
duc,“ fagte er, gewohnter Weife lächelnd, „eine verfchobene
Schleife, eine in der Nachtluft aufgelöfte Locke — machen
ihnen Migräne. Die Gräfin — —“
Die Klänge der eröffnenden Polonäfe unterbrachen bie
Erklärung; der Graf reichte der Gemahlin des Landes
ftallmeifters, Freiheren von Tettenborn, die Fingerfpigen
und verfchwand mit ihr im Gedränge des Saales. Über
des Herzogs Mienen aber lagerte fidy eine verdrießliche
Wolfe. Was follte er auf diefem deutfchen Kirmesfeft
210 Der Poften der Fran
ohne fie? Er nahm im Nebenzimmer Plag unter einer
Gruppe franzöfifcher. Herren, welche fo wenig wie er Luft
bezeigten, die des Parifer Parfettes gewohnten choreos
graphifchen Künſte auf. den rauhen Dielen, unter den.
Staubwolten des „Goldnen Scheffeld” zu risfieren. Der
Champagner floß, ed wurde hoch pointiert; voran ber
Herzog, der feine Kühnheit, wie feinen Reichtum in den
gewagteften Sägen dofumentierte, Er fiegte und ließ fidh
befiegen mit gleichmütiger Nobleffe. Unfer Graf dahin⸗
gegen, ald der vornehmfte der maitres de plaisir, wetts
eiferte in Funftfertigen Pas mit den jüngften franzöfifchen
Helden. Die unerwartete Nachricht, daß die Befagung
in der Frühe des nächften Morgens die Stadt zu verlaflen
und fich über den Fluß zu ziehen habe, fchien ihn wenig
zu überrafchen, Er hatte ja früher als felbft fein Frieges
rifcher Gaft diefe Nachricht attrappiert, ald er dem Com-
mandeur en chef, Herzog von Hildburghaufen, feine Aufs
wartung machte, wenige Minuten bevor im Polnifchen
Kaufe feine ehemännifche Galle fo bedenklich aufgeregt
werden follte. FR a
Und wo war Gräfin Eleonore während der Zeit, daß
Gemahl und Kavalier fich dergeftalt mit ritterlichen Spielen
unterhielten? Ach, es wird ſchwer fallen, dieſes unglüd-
liche Opfer der Eiferfucht in einer Situation darzuftellen,
die ihre Heldenrolle gefährlich zu beeinträchtigen vermöchte.
Wir fahen die Dame zulegt mit haftigem Unmut, den
Leuchter in der Hand und ein gütliched Nachgeben ftolz
verfchmähend, die Schwelle des impropifierten Toiletten,
zimmersd überfchreiten. Der Gemahl hielt ſich befcheident-
lich vor der offen gebliebenen Türe, während fie rings an
Der Poften der Fran >
den Wänden umherleuchtete und endlich den Spiegel in
Form und Größe einer Schiefertafel entdeckte. Ein rafcher
Blick widerlegte ihre unpeftimmte Erwartung einer ber
Redreſſur bebürfenden Unordnung; fie fah, daß alles gut
und daß fie fchön genug fei, um auch die fchönfte Neben
buhlerin nicht zu fürdyten. So eilig, als fie gefommen,
wendete fie fich daher dem Ausgange wieder zu und war
eben im Begriff, durch die Tür zu treten, als diefelbe, —
der unfeine Ausdrud läßt fich nicht vermeiden, — ale Dies
felbe ihr recht eigentlich vor der Naſe zugefchlagen, der
Sclüffel von außen umgedreht und hörbar abgezogen
wurde. Ä |
Die ſchoͤne Frau prallt einige Schritte zurüd und fteht
einen Angenblic! wie in den Boden gewurzelt. Im nächften
aber ift fie mit einem Sprunge ſchon wieder an der Türe.
Ste rüttelt am Drüder — das Schloß gibt nicht nach;
fie ruft laut und immer lauter den Namen ihres Gemahle,
ihres Dienerd, des Wirtes felber — feine Antwort; fie
Iugt durdy das Schlüffellody — alles finfter; jest flürzt fie
nach dem Fenfter und reißt e& auf — aber auch hier
fchweigende, unenthüllbare Nacht. Keine menfchliche Spur
zu erfennen, feine menfchliche Hülfe zu errufen — Die fchöne
Frau ift eine Gefangene!
Bei diefer Entdeckung fiel unfre Heldin in einen Zu:
ftand, ja, er läßt fich nicht glimpflicher bezeichnen, in einen
Zuftand von Wut. Zornesröte wechfelte mit einer tödlichen
Bläffe auf ihrem Geficht, ihre Glieder zitterten, die Bruft
rang nad) Atem und Luft. Bon oben herab vernahm fie
die einladende Weife der Polonäfe: Sie fohleuderte das
Parifer Bufett an den Boden, riß die Rofen aus ihrem
Haar und trat fie mit Füßen, fie rannte im Zimmer auf
212 Der Poſten der Fran
und nieder, die Hände frampfhaft gegen ihre Stirn ges
ballt.
„O dieſe Feigheit, dieſe Gemeinheit!“ ſtoͤhnte ſie mit
einem konvulſiviſchen Lachen, das zu ihrer Erleichterung
nach und nach in einen Traͤnenſtrom überging.
Sie warf ſich auf den niedrigen Tritt am Fenſter, ver⸗
grub ihr Geſicht in die Hände, und während die heißen
Tropfen auf das ſilberglaͤnzende Stoffkleid niederrieſelten,
wechſelte in ihrem Herzen ein Kreislauf qualvoller Emp⸗
findungen vom bitterſten Hohn und Haß bis zu dem ihrer
ſtolzen, mutigen Seele ſo ungewohnten Mitleiden mit ſich
ſelbſt. Die Tränen verfiegten allmählich, fie verſank in
dumpfes Brüten, faß mit gefchloffenen Augen gleich einer
Schlafenden, während holde Erinnerungen, Träume der
Vergangenheit, wechfelnd mit bedrohlichen Zufunftöbildern
vor ihrem Geiſte famen und fchwanden. Bom Saale
herunter drang die Muſik der verfchiedenen Tänze, von
der Straße herauf wirbelte der Zapfenftreich, fie hörte es
nicht, fie faß wie erftarrt.
Endlich aber fprang fie auf mit einem jähen Entſchluß.
„Niemals, niemals,” rief fie laut und Teidenfchaftlich,
„nein, niemals werde ich in diefed Haus zurücdkehren,
niemals diefem Elenden wieder angehören. Pflicht um
Pflicht, Treue bis in den Tod! Aber ausharren, wo man
verachten muß, macht und verachtenswert!”" Unwillfürlidh
fielen ihr bei diefen Worten die Forderungen ihrer beiden
abendlichen Befucher wieder ein: „Treue fchlechterdings“,
und „auch an die Schwachheit bindet die Treue”, hatten
fie gefagt, ein jeder in feinem Sinn. Seltfam, daß fie es
juft heute fagen, daß ihre Gedanken heute juft diefe Rich⸗
tung nehmen mußten. Aber nein, nein. Die alfo fprachen,
Der Doften der Fran 213°
ed waren ein Priefter und ein Soldat. Was mußte der
eine von den Kämpfen eines weiblichen Herzens in ben
überfeinerten Zuftänden der großen Welt? Was wußte
der andre von den Leiden des Menfchenherzeng überhaupt?
Gelte, was fie behaupten, für die Maffe des ftumpf in
Arbeit und Notdurft ringenden Volks; fei es ein Gefeg
für Männer unter irgendwelchem Panier, — eine Frau
verliert ihren Adel, wenn fie ſich an einen Unmwürdigen
heftet, die Gemeinheit überwältigt fie, wenn fie ſich feiner
Gemeinfchaft nicht entringt.
Der Herzog, der Herzog? was war ihr diefer Mann?
fonnte fie fidy) einer Schuld bewußt werden? fühlte fie den
Borwurf auch nur eines fträflichen Gedanfend, auch nur
eines fträflichen Empfindens? Hatte ihr Gemahl aud) nur
einen Schatten von Recht, Schmach und Erniedrigung
über fie zu verhängen?
Sie preßte die Hand gegen das Herz, fie fuchte gleich»
fam feine Schläge zu zählen. Aber „Nein, nein!” - rief
fie audy jest, „icy taftete nach einem deal, um meinen
wanfenden Glauben zu fügen, id; tändelte mit einem
Traum, um meine leer gewordenen Stunden zu füllen,
aber felber meine Träume waren nicht meiner Treue feind.
O, wohl der Frau,” fuhr fie nach einer Paufe fort, „wohl
der Frau, welche einem ungeliebten Manne ihre Treue
verpfänbet hat, aber einem Manne, der fie ehrt und dem
fie vertraut. Doch einem in Neigung fich zugefellen und
von Stunde zu Stunde, Schritt für Schritt feine Hohls
heit innezuwerden, zu fehen, wie er jede Größe lächelnd
bezweifelt und dad Gemeine fid, lächelnd gefallen laͤßt,
wie er feige vor dem Mächtigen riecht und ehrlos den
Schwachen, ein Weib gar, mit Füßen tritt, das heißt
214 Der Poften der Fran
elend, das heißt elend fein wie ih. Zur Stunde erft ift
diefed Elend mir Mar geworden in feiner vollen, vers
nichtenden Bedeutung, und zur Stunde noch werde ich ihm
entfl-, nein, nicht heimlich entfliehen, offen ihm ing Ans
geficht zerbreche ich die fchmähliche Feſſel.“
Wieder faß fie eine Weile unbeweglich. Aber fie te blieb
nicht lange allein; eine zarte, Liebliche Geftalt fchmiegte
ſich an ihre Bruft, und eine Kinderftimme flammelte:
„Mutter, Mutter, was wird aus mir, wenn du mid) vers
Läffeft?" — „Mein Leo!” - rief fie — „mein Knabe, dich
fol ich Taffen, ihm laflen, dich, mein einziges Kind?” -
Shre Tränen firömten von neuem, fie rang verzweifelnd
die Hände. Aber audı) jet faßte fie fich bald. „Nimmers
mehr!” — rief fie entfchloffen, „mir gehörft du, mir zuerft,
mir allein; auch dich muß id) ja retten, retten von dem
Fluche, eined Tages deinen Vater verachten zu müflen.
Dich mir zu fichern, fliehe ich, entführe dich zu meinem
Bater, zu meinem alten, herrlichen Vater. Er wird Dich
fchügen, vor ihm wollen wir und beugen. Unter feinen
Augen folft du ein Mann werben, ein Edelmann wie er
felber, würdig ded Helden, der feinen Zepter über Dich
halten wird. Ein Kind, ein Weib, jeder Menſch vermag
zu beftehen ohne das Glück, ja ohne die Liebe felbft. Aber
Ehre und Ehrfurcht find wie der Atem in unfrer Bruft,
entflieht er ung, fteht das Leben ſtill.“
Schnell entfchloffen überdenkft fie den Weg und die
Mittel zur Flucht; in heftiger Bewegung fchreitet fie das
Zimmer auf und nieder. Ein Duft von Blumen ftrömt
ihr entgegen, ihr Fuß hat den Strauß berührt, den fie vor
Stunden im Zorn von fidy geworfen. Sie hebt ihn auf
und blidt eine Weile finnend in die fünftlichen Kelche.
Der Poften der Frau 215
„Er,“ flüftert fie, „auch er würde uns fügen, würde
mich freimachen und rächen. Aber fchügen gegen wen?
rädhen an wem? Gegen deinen Bater, an beinem Vater,
mein Kind, nein, nein! Auch er darf meine Flucht nicht
ahnen. - Kein buhlerifcher Schein auf ein bis heute mafel-
loſes Leben — auf das Andenken deiner Mutter, mein Sohn,
deiner Tochter, mein Bater, auf das Andenken einer
Preußin in fremdem, verderbtem Land.”
Es mußte fchon tief in der Nacht fein, als ihr Plan fir
und fertig war. Bon der Straße, vom Hofe herauf fein
Laut. Nur über ihr faft ohne Unterbrechung die Muſik
der wechſelnden Taͤnze.
Sie öffnete leiſe das Fenſter und fpähte hinaus in den
düfteren Raum. Ein Kichtftrahl, von einem Seitengebäude
ftreifend, Tieß fie allmählich einen engen, kleinen Seitenhof,
nad} der Landesfprache einen „Schlüfter”, unterfcheiden,
auf welchen das Fenfter mündete. Ein Haufen von Schutt
und Scherben unter demfelben mußte dad Entfommen ers
leichtern. |
Sie neftelte nun haftig die Zitternadeln aus ihrem Haar,
die Diamantgehänge von Bruft und Ohr, nahm Kollier
und Armfpangen ab und verbarg fie in ihrer Poche. Wenn
der Brofat des Gewandes nur ebenfo leicht zu verhüllen
gewefen wäre! Aber Lehmann mußte ja die Dunfle, warme
Saloppe bei ſich haben und ihrer längft in Begleitung der
Sänfte im Hauſe harren. Auf diefen treuen Mann fonnte
fie bauen. Er war ihr aus der Heimat mitgegeben ald
zuverläffiger Diener, ja faft ald Freund. Hatte fie ihn
aufgefunden, war fie geborgen. Nun herzhaft auf die
Brüftung des Fenſters und mit einem mutigen Sprunge
in die Freiheit!
216 | Der Poften der Frau
Der Kopf, die fchlanfen Schultern waren glüdlich durch
bie fchmalen Fenfterflügel gefchlüpft, aber, o weh! jetzt ift
fie gebannt, der ftandfefte Reifroct hindert das Entkommen.
Sie muß noch einmal zurüc, ſich der modifchen Feffel zu
entledigen. Da fteht das eherne Gerüfte gleich einem
Haus, dad erfte Hindernis auf neuer Bahn, ein Symbol
des Herkommens, mit dem fie bricht. Nun mit frifchem
Mute noch einmal auf die Brüftung - ein rafcher Sprung,
und die Gefangene ift frei! |
Taftend gleitet fie längs der Mauer dahin und hat bald
den Ausgang nach dem großen Hofe erreicht, den ein Schims
mer der einzigen, dunkel glimmenden Lampe der Torfahrt
notdürftig erhellt. Hinter einem Karren geborgen refognos
fziert fie dad Terrain. Der Flur fteht gefüllt von Sänften,
der rücfehrenden Tänzerinnen harrend, aber die Träger
und Diener haben fie verlaflen. Man hört ihre Elappen-
den Krüge und lärmenden Stimmen aus der Wirtöftube
dringen. Nur eine einfame Geftalt hat Pla auf einer
Banf didyt an der Hoftür genommen. Der Flüchtigen
Herz fchlägt freudig auf; der glüclichfte Zufall erleichtert
ihren Entfchluß: es ift Lehmann, der Getreue!
Sie fchleicht auf ihn zu, faßt feinen Arm und flüftert:
„Folge mir, Lehmann!“
„Ale Teufel, Frau Gräfin!” ruft der Diener erfchrect,
als fähe er eine Spufgeftalt.
„Stil, til, verrate mich nicht, folge mir.“
Er ging ihr nad. Sie traten in eine Scheune, die
heute abend als Remife aushelfen mußte.
„Sind wir hier ficher, Lehmann; fann und niemand
hören?”
„Höchſtens eine Maus, gnädige Gräfin. Sie fißen alle
Der Poften der Fran 217
in der Kneipe und fauderwelfchen fächfifch mit den Frans
zöftfchen. Mir wurde der Spuf zu toll, ih —“
„Still, ftil, Lehmann, wir haben Eile, höre mid. Du
bift meiner Familie von jeher ein treuer Diener, ja ein
Freund geweſen. Du folgft mir gern, nicht wahr?“
„Gnädige Gräfin, bid in den Tod.”
„sch danke dir, Alter; und nun merfe auf. Mein Ges
mahl hat mich gröblich beleidigt. Ich werde nicht mehr
in fein Haus zurückkehren.“
„Die gnädige Gräfin haben fächfifche Lunte gerochen,
juchhe!”
„Stil, Lehmann, ftill, ich fliehe!“
„Wir fliehen!” rief der Alte, vor Freude in die Höhe
fpringend. Plöglich aber fchien ihm ein Bedenken aufzus
ftoßen. Er fragte fid) am Kopfe und murmelte einige uns
verftändliche Laute.
„Was haft du, rede!” rief die Dame beunruhigt.
„sc meine nur, Frau Gräfin, — nicht wahr —“
„Was meinft du? rafch, raſch!“
„Na, ich meine — — Wir fliehen, wir zwei beide, gut!
Aber - na - na, was Franzöftfches ift Doch nicht zu dritt?“
„Schäme dich, Lehmann!” fagte Eleonore, dunfel ers
rötend. Diefer Argwohn felber in dem ergebenften Herzen
war der erfte Stein bes Anftoßes auf ihrer Bahn. „Schäme
dich! wir gehen nach Preußen zu meinem Vater.”
„Nach Preußen, burra! nad Preußen!” jubelte der
Veteran. „Sol ich die Sänfte beftellen, Komteſſe?“
„Behüte, Lehmann. Sch fage dir ja, daß ich nicht in
bes Grafen Haus zurückkehren werde.“
„Dder unfern Wagen?“
„Der würde mid) verraten. Sc muß unbemerkt auf
218 | Der Poſten der Fran
preußifches Gebiet zu gelangen fuchen. Wir gehen zu
Fuß aus der Stadt.”
„Zu Fuß in diefen Flitterfchuhen? Aber nur zu! Ich
weiß fchon Nat. Unter der Treppe hat die san
ihre Holzpantoffeln ftehen laſſen.“
„Das wird fich finden, Lehmann. Aber gib mir meine
Sachen, mich friert.“
Sie hüllte fi in Saloppe und Abendfchleier, welche
der Kammerdiener bisher forgfältig auf feinem Arm ge⸗
halten, und fuhr dann fort: „Wir müflen nun fo raſch
ald möglidy hinüber, meinen Leo zu holen.“
„Berfteht fich, unfer Leochen! Das Leochen muß mit
nach Preußen!”
„Aber der Weg über die Brücde wäre zu weit und un
ficher; wir würden entdecft und verfolgt werden.”
„Snädige Komteſſe, wir fohlagen uns durch.“
„Wir find nicht im Feldlager, Lehmann, wir find auf
einer Reife und auf einer heimlichen Reife. Wir müffen
einen nähern Weg nehmen. Der Fährmann Adam ift
dein Freund, du kannſt dich auf ihn verlaffen?“
„ie auf mich felber, Komteſſe, eine ehrliche Haut bie
auf die Knochen und zum Ausplaudern viel zu faul.“
„Nun gut, Lehmann. Wir gehen nad) dem Fährhaufe;
der Weg tft nicht weit und wenig belebt. Wir feßen über;
ich warte im Dorfe bei der blinden Mutter Beit, bis du
vom Gute den erften beiten Wagen beforgt und Leo mit
feiner Bonne zu mir gebracht haben wirft. Du fagft, daß
wir in der Frühe nad, Dresden aufzubrechen gebenfen,
erregft fo wenig als möglich Auffehen. Du fährft natürs
lich felbft. Bor Tagesanbruch müffen wir aber fchon über
bie Grenze fein. Haft du mid) verftanden, Lehmann?“
Der Poſten der Frau 219
„Bin nicht von Stroh, Komteſſe.“
„So fieh dich in der Torfahrt um, ob ich unbemerkt
hindurch kann.“
Der Alte ging und kehrte nach wenigen Minuten zurück,
ein Paar ſchwere Klappantoffeln triumphierend in die
Hoͤhe haltend.
„Glücklich erwiſcht!“ rief er, „und keine Katze zu ſpuͤren.
Nur dreiſt zu, Komteſſe!“
„Warum Komteſſe?“ fragte die Graͤſin, wehmütig die
Pantoffeln betrachtend, die fie, das Geraͤuſch zu vermeiden,
noch nicht überzuziehen wagte.
„Na, nad Preußen, Komteſſe,“ antwortete der Alte
vergnügt; „und unfern Grafen, den wären wir ja los.“
„Noch nicht fo ganz, Freund,” entgegnete die Dame
„Bei der Gräfin Fink mag es fein Bewenden haben. Für
diefe Schuhe fol dein Fährmann die Magd entfchädigen.”
Der Beteran ging voran, die Dame fchlich hinter ihm
drein über den Hof. Am Eingang zur Torfahrt blieb
fie ftehen und fragte leife: „Iſt der Graf noch oben,
Lehmann?”
„zu Befehl, gnädige Gräfin.“
. „Und der - Herr Herzog?“
„Auch noch, gnädige Gräfin.“
„Defto beſſer,“ murmelte fie mit bitterem Lächeln. „Sie
tanzen, und ich — ich werde fie niemald wiederjehen.“
Sie traten in das Tor und wanden fich durch dag
Gewirre der Sänften. Noch aber hatten fie den Auss
gang nicht erreicht, ald eine Stimme von der Treppe die
Gräfin erbeben machte. Es war ihr Gemahl, der nadı den
Sänftenträgern der Frau Amtshauptmännin rief.
- Die Gräfin fürzte nach der Für. Der Riegel war vors
220 Der Poften der Frau
gefchoben, und ehe fie zu öffnen vermochte, war ber Graf,
feine Dame am Arm, am Fuße der Treppe angelangt.
„Steh ftil, Lehmann,” flüfterte die Gräfin zitternd und
hinter eine Sänfte fchlüpfend, „hier, dicht vor mich. Rühre
dich nicht, weiche nicht von der Stelle.”
Die Träger der Frau Amtshauptmännin erfchienen auf
den nochmaligen Ruf des Grafen. Er hob die ftattliche
Schöne in ihr Behikel, ihren vollen Arm küſſend und
einige galante Redendarten flüfternd. Eleonorend Herz
lopfte zum Zerfpringen — vor Unwillen in diefem Augens
blife mehr als vor Furcht. Das Tor wurde geöffnet.
Die Sänfte verfhwand. Der Graf fah fid ziemlich fcheu
im Flure um. „Die arme Eleonore,” murmelte er, „bie
Zeit wird ihr lang geworben fein.“
Er bemerkte den Diener und befahl ein wenig Fleins
laut: „Gehe Er hinein, Lehmann, und hole Er die Träger
der Frau Gräftn.“
„Rühre did, nicht, Lehmann,” flüfterte die Gräfin.
Lehmann rührte ſich nicht. Sein Gebieter wandte fich
gegen den Korridor, der zu dem verhängnisvollen Toilettens
zimmer führte. Ein rafcher Schritt auf der Treppe ließ
ihn aber ftoden. Hinter der Tür verborgen, fah er feinen
herzoglichen Saft herunterfommen und den Tormweg durchs
fchreiten, hörte ihn, ald er ftugend den Kammerdiener der
Gräfin gewahr wurde, nad) feiner Dame Befinden ſich
erfundigen. Ehe Ehrenstehmann die fchwierige Antwort
gefunden hatte, ftürzte der verlegene Eheherr aus feinem
Verſteck. Gewiß, er fah bleicher aus, ald das Opfer
feiner Rache; zitternd, mit einer Armenfündermiene, machte
er einen ſchwachen Verſuch zu lächeln, indem er den
Herzog bat, feine Equipage zu benügen und allein vors
Der Poſten der Fran 221
auszufahren, ba er felber noch für eine BViertelftunde ges
feffelt fei.
Der Herzog ging aus dem Tor, der Wagen rollte von
Dannen.
Der Graf wifchte fidy den Angftfchweiß von der Stirn.
„Rafch, die Träger!” ftammelte er, an Lehmann vorüber
und in den Korridor fchlüpfend.
„Raſch, rafch, Lehmann, hinaus!” rief die Gräfin,
ftürzte hinter der Sänfte hervor und aus dem Tore.
Lehmann folgte ihr. Das Haus bildete eine Ede. Als
die Flüchtigen faum in die ſchmale Seitengafle eingebogen
waren, hörten fie den wiederholten, angftvollen Ruf nadı
dem Diener aus des Grafen Munde. So war denn ihre
Flucht ruchbar fhon in dem Momente der Ausführung;
eine Entdedung, Ergreifung nur allzu möglidy, jede Minute
koſtbar! |
Eleonore flog durch die nädhtlich einfamen Straßen
gleich einem gefcheuchten Reh. Der alte Diener vermochte
faum ihr zu folgen. Sie nahm ſich nicht die Zeit, die
unbehilflichen Überfchuhe anzuziehen, ohne Umfehen durch
die und dünn, nur voran, nur fort, hinaus, hinüber, nur
frei!
Bor dem Tore hielt ein franzöftfcher Poften die Wache.
„Diener und Kammerjungfer der Gräfin Fink,“ res
yetierte vernehmlich der alte Preuße.
Der Poften ließ das verbächtige Paar paffieren. Eleonore
mußte einen Augenblid innehalten, dann ging fie in etwas
gemäßigterem Schritt durch die Vorftadt, die ſich lang
und fchmal zwifchen dem Fluffe und feinem erhöhten Ufer,
rande hinzieht. Die große Straße nach Leipzig führt
burch dieſe Vorftadt, von deren legten Käufern etwa
222 Der Poſten der Frau
tauſend Schritte entfernt das Fährhaus am Eingange
einer auf die Höhen führenden Schlucht gelegen ift. Etwas
weiter talab fieht man auf dem entgegengefeßten Ufer das
gräflich Finkfche Dorf und Stammfchloß, anmutig zwifchen
Wiefen, — und Gaͤrten gruppiert, die Aue über⸗
ragen.
Gräfin Eleonore war bis jetzt in fo leidenſchaftlicher
Aufregung gewefen, daß fie das Abentenerliche ihres Unters
nehmend nur wenig in Betracht gezogen hatte; es fchien
thr leicht, weil das Verlangen danadı fie beherrfchte.
Sept, da für den Moment die dringendfte Gefahr der
Entdedung befeitigt fchien, in der feuchten, finfteren Nacht,
laͤngs des ftillraufchenden Fluffes an der Seite ihres
ftummen Begleiters dahinfchreitend, tauchten nad) und
nad) die Bedenfen und Fährniffe deutlich vor ihrem ins
neren Auge auf. Eine junge Frau, ein zartes Kind in
herbftlicher Sahreszeit, in riegerifcher Aufregung, ohne
Geld und Gepäd, ohne jegliche Vorkehrung auf der Flucht
weit über hundert Meilen nach einem unwirtlichen Lande!
Denn eine Reife aus dem Leipziger Kreife nach der Oft-
fee war vor hundert Jahren beileibe fein Kagenfprung,
wie heute, und würde auch in friedlichen Zeiten von
einem befonnenen Manne nicht ohne rechtögältiges Teſta⸗
ment, auf dem heimifchen Amte niedergelegt, unternommen
worden fein.
Aber die Tochter des alten preußifchen Soldaten war
fo leicht feineswegs von einem gefaßten Entfchluffe abs
zufchreden. Sie befaß einen ftolzen, energifchen Willen,
defien Feuer fieben Sahre verweichlichenden Genuffes nicht
abgedämpft hatten und, was felten der Fall bei rafchen,
Der Poften der Fran 228
phantafiereichen Naturen, fie befaß dabei eine Muge, um⸗
fihtige Art, die, ging Not an den Mann, die Mittel zu
ihren Zwecken zu finden wußte. Mit einem Worte: unfre
Heldin hatte Charakter. Sie konnte Böſes und Gutes
tun,. was juft nicht vielen, aud; Männern nicht, gegeben
ift, und in diefen Stunden, fo fchien es, ftand fie auf dem
Scheidewege zwifchen beiden.
„Komme es, wie e8 wolle,” fagte fie endlich abſchließend
zu ſich ſelbſt, „jurück kann und will ich nicht mehr. Nur
mein Kind — und über die Grenze! Das übrige wird ſich
finden. Und wenn ich mich an den Koͤnig ſelber wenden
ſollte. - Saft du Geld bei bir, Lehmann?” fragte ſi e nach
. einer Weile, zu dem Diener gewendet.
„Dreißig Spezies! einen Gulden und zwei Zwanziger,
Frau Gräfin,” antwortete Lehmann.
„Welcher Mammon, alter Freund!”
„Meine gefamte Barfchaft, gnäadige Gräfin. Seitdem
die fremden Raben im Lande haufen, hat einer ja nur
noch, was er auf feinem Leibe bei fich trägt.“
„So wirft du mir vorfchießen müffen, bi8 wir etwa in
Halle meine Juwelen verfaufen und in Berlin den Kredit
meined Vaters geltend machen können.“
Sie verfanf wieder in nachdenfliches Schweigen, bis fie
nad) etlichen Minuten vor dem Fleinen, einfamen Fähr-
haufe ftanden. Es dauerte eine Weile, ehe Lehmann durch
Klopfen und Rufen ein menfchliches Wefen ermunterte.
Das Fenfterchen wurde endlich geöffnet, und eine weib⸗
lihe Stimme brummte verdrießlich: „Der Fahrmann ift
nicht heim, 's kann nicht übergefeßt werden.“
„So lafle Sie und ein, wir wollen auf ihn warten,“
fagte der Alte.
299 Der Poſten ber Frau
„zum Kudud, warten!” verfegte die Frau Kährmännin
und wollte das Schößchen zufchlagen. |
Aber Freund Lehmann ftredte feinen einen langen Arm
nach dem Fenfter und packte ihre Sand.
„Sie ift noch im Traume, Hanne,” fagte er, „fo fperr
Sie doch Ihre alten dummen Gucklöcher auf. Wir find
ja die gnädige Herrichaft von drüben.”
„Schöne Herrichaft, in ſtockpechrabenſchwarzer Nacht
auf den Beinen und fo’n Gebrül wien preußifcher Ka⸗
nonier!”
„Kennt Sie denn den Lehmann nicht, Hanne? Steck
Sie die Lampe an und riegle Sie auf, fonft trete ich Ihr
die Tür in Stüde.”
Schon madıte er Anftalt, feine Drohung auszuführen,
ald Mutter Hanne in der Tür erfchien und, bad Laͤmp⸗
chen vorhaltend, mit weit aufgeriffenen Augen bie felts
famen Gäfte anftarrte.
„Weiß der Kerr, die Gnädige,” fagte fie verblüfft.
„Sch muß auf der Stelle hinüber,” nahm jetzt die Gräfin
das Wort. „Ruft den Adam, Mutter, rafch, raſch!“
„Nun eben, Gnädige, den Adam,” verſetzte Mutter
Hanne gelaflen, „aber der Adam ift ja eben nicht da.”
„Bo ift er?"
„zum Fifchen ift er.”
„Und wann fommt er zurüd?” |
„Benn er was gefangen hat, fommt er möglich zurüd.”
„So mag mid, Lehmann hinüberrudern. Leuchtet zum
Kahn, Mutter.”
„Nu eben, zum Kahn! Aber der Kahn ift ja eben
nicht da,“
„Bo ift der Kahn?“
Der Poften der Fran 225
„Der Adam figt drinnen und fiſcht.“
Ein Donnerfchlag für die vor Ungeduld zitternde Dame.
Sollte fie die unfchägbare Zeit mit Warten verbringen?
Ein andrer Fifcher hätte fie hinüberrudern können. Die
lange Borftadt, welche fie eben durchwandert hatte, war
Haus bei Haus von Holzhändlern und Fifchern bewohnt,
deren Innung ſich feit Sahrhunderten den Fluß entlang
anfehnlicher Privilegien von feiten weiland Landgraf Lud⸗
wigs von Thüringen erfreute, zum Dank dafür, daß ein
Bootsmann des Städtchens ihn nach feinem fühnen Sprunge
aus dem Turme von Giebichenftein in den rettenden Kahn
aufgenommen hatte. Sollte fie ſich die Straße zurüd nad)
der Borftadt wagen, den großen Umweg nad) ihrem Gute
machen? Das nächtliche Wachklopfen mußte Auffehen er-
regen, ein Erfennen war unvermeidlich, ein Entdeden von
feiten ihres Gemahls nur allzu wahrfcheinlich. Der Fährs
mann fonnte jeden Augenblick zurüdtommen. So ſchwer
ed war, ftillhaltend zu warten, ed fchien rätlicher, als jenes
Wagnis.
Sie folgte daher Mutter Hannen in deren Unterſtübchen
und bat fie, ſich in ihrer nächtlichen Ruhe nicht weiter
ftören zu laffen.
Die brave Alte deprezierte: „Zu Bette gehen, dermweile
die Serrfchaft im Haufe auf der Lauer ift! Na, wenn
der Adam heimfäme, da friegt ich was Hübſches auf die
Müpe!”
EhrensLehmann, als Hausfreund, gab lachend eine
erläuternde Pantomime zu dieſem Satze, die Dame
aber fragte unwillig: „Er mißhandelt Euch, arme Muts
ter?" Mutter Hanne fchüttelte ihr — —
326 Der Poften der Fran
„Was zur Sache gehört, bewahre, Gnädige, fonften
nicht,” antwortete fie.
„Was zur Sache gehört? Wie verfteht Shr das, Frau?”
„Herr Sechend, Gnädige, wenn eine einem zugefchworen
iſt, vor Gottes Altar!”
„Barbarifche Eheftandslogit! — und Bolfes Stimme
Gottes Stimme, heißt es,” murmelte die Gräfin.
Sie befchwichtigte indeflen die Bedenflichfeiten ihrer
Wirtin, indem fie verfpracdh, Die Verantwortung vor dem
rücfehrenden Hausherren zu übernehmen, und fo 309 fid}
denn Mutter Hanne zurüd mit den Worten: „Nu eben,
Gnädige, man wird eben alt, und fein bißchen Nachtruhe
ift einem zu gönnen, Um fein Stündchen Kirchenruhe ift
man fo fchon gekommen, feitdem ber Frite fo graufam
auf dem Tapete ift.“
Die Gräfin feste ſich an das Fenfter, die gefchloffene
Zimmerluft, Ofenraud und Lampenqualm beflemmten
ihren Atem.
„Wie diefe Armen leben,” fagte fie zu ſich felbft.
„Schätzt man ed auch, was man vor ihnen voraus hat?
Ich hätte weit mehr Gutes tun können. Der Graf ließ
mir freie Hand. Mein Leben würde reicher geweſen fein,
hätte ich; mehr auf andrer Mangel geachtet.” -
Doch weilten ihre Gedanfen nicht lange in diefer
philanthropifchen Richtung; fie öffnete das Fenfter, 309
die Zobelfaloppe dichter um ihre Schultern und ftarrte
durch die nur von einzelnen den Mebel durchbrechenden
Sternen erhellte Nadıt hinüber nad) ihrem nahen. und
doch. fo unerreichbaren Schloffe. Der alte Diener hatte
als Schildwache auf der. Banf vor der Hütte Pofto gefaßt.
Mutter Hannes fchnarchende Atemzüge in der Kammer,
&
‘ Der Poften der Frau 227
das. Unifono der plätfchernden Wellen waren die einzigen
Töne, welche die Stille unterbrachen und allmählic auch
die aufgeregte Frau am Fenfter in einen halben Schlummer
lullten. F
Wirre Bilder von Helden und Ungetümen, von Tänzern
und Kämpfern, von Flucht und Verfolgung fcheuchten ſich
beängftigend vor ihrem Sinn. Bon Zeit zu Zeit fprang
fie in die Höhe, machte einen Gang durch dad Zimmer,
ftörte das fchmachglühende Tampenlicht auf und fah an
der alten Schwarzwälder Uhr das erfchredfende Vorſchreiten
der Stunden. Dann febte fie fidy wieder, um ſich von
neuen Halluzinationen beflemmen zu laffen.
Schwanfend treibt fie auf heimifchem Meere, ihren Leo
feft an die Bruft gedrückt; der Nordwind brauft, hodhs
fchlagende Wogen drohen das Boot zu verfchlingen. Vor
ihr die rettende Düne, dort drüben das Vaterhaus. O,
nur noch einen einzigen fräftigen Ruderfchlag, alter Adam,
und fie ift heim, fie ift frei! Da, da plöglich am Strande
lauernd ein Punkt, eine Geftalt, ein elender Zwerg, aber
immer wachſend und wachfend, von fchattenhaften Ges
bilden gehoben, von dDämonifchen Sflavenhänden getragen,
jeßt ift ed ein Riefe mit weit ausgreifenden Armen, Heiland
der Welt, es ift ihr Gemahl — eine Spanne — und er
faßt ihr Kind! — hinter ihm dad Haug, es ift nicht ihres
Baterd Haus, es ift fein eignes, lichterftrahlendes Schloß,
feines, des: Verfolgers! Entſetzt fährt fie in die. Höhe, Falte
Tropfen ftehen auf ihrer Stirne, die Uhr fchlägt vier.
Wie fern. hatte fie gehofft um diefe Stunde zu fein, und
nun noch immer harrend am Ufer! Aber was ift das?
Das Schloß da drüben, vorhin in tiefem Dunkel, jest ift
ed erhellt, fo wie fie ed im Traume gefehen; fladernde
228 Der Poſten ber Fran
Lichter blinfen durch die Scheiben, ale ob haftige Schritte
von Zimmer zu Zimmer ftürmten.
Tödlich erfchredt eilt fie hinaus vor bie Tür.
„Sinüber, Kehmann, hinüber!” ruft fie, „fiehft du bie
Unruhe da drüben, mein Leo ift krank.“
„Behüte, Frau Gräfin, behüte,” beruhigte der Diener,
„der Kerr Graf werden gekommen fein, und zu ſuchen.
Ein Glück, daß fie alled in Ruhe finden; hier hüben werden
fie und nicht vermuten.“
„Du Fannft recht haben, Freund,” verfeste bie Bräfin
einigermaßen beſchwichtigt, „indeflen wir müſſen jegt eilen,
ihn zu kreuzen. Der Graf wird ſich druüͤben nicht aufhalten
und mid, weiter verfolgen. Komme ed, wie es wolle, geh,
fchaffe einen Kahn. Im äußerften Falle fuchen und finden
wir Schuß bei dem König.”
Sm Begriff, diefem Befehle zu folgen, hieft der alte
Diener aufhorchend ſtill.
„Was ift das, Lehmann?” fragte die Gräfin gleichfalls
ſtutzend. |
Man hörte Pferbegetrappel und flüfternde Laute auf
ber Straße hinter dem Hauſe.
„Hurtig hinein!“ rief Lehmann, die Gräfin in dad. Haus
drängend. Kaum hatte fie dad Zimmer erreicht, als Dicht
vor dem Fenfter Tritte und Stimmen vernehmbar wurben.
Sie verbarg die Lampe im Ofenlocdh und ſich feiber hinter
dem geöffneten Fenfterflügel. Im flüchtigen Sternenticht
erfannte fie einen Trupp berittener Geftakten.
„Holla!“ rief eine Stimme, „das ift das Haus, wo mir
das Licht ſchimmern fahen, holla!“
„Das find preußifche Leute,” fagte die Grafen zu fich
felbft. Ä I,
Der Poften der Fran 229
„Preußen! Preußen!” rief Lehmann zu dem Fenfter
hinein.
„Wer fpricht hier?“ fragte der Führer der Truppe vom
Pferde herab.
„Ein Preuße!” antwortete der alte Soldat, militärifch
ſalutierend.
„Iſt dies das Faͤhrhaus vor dem seruger Tor?“
„Das Fahrhaus, zu Befehl.“
„Iſt Er der Faͤhrmann?“
„Kalten zu Gnaden, der bin ich nicht.“
„Ber ift Er?“
„Bachtmeifter Lehmann, vormalsvon Belling-Aufaren.”
„Der bei Molwig den Arm verlor?“
„Der nämliche, zu Befehl.“
„Ein braver Soldat. Wie fommt Er hierher?“
„Sn Dienften meiner Berrfchaft, der gnädigen Komteſſe
von Looß, verehelichten Gräfin von Fink.“
„Der Frau des Kammerherrn drüben?”
„Seine geweiene, zu Befehl.“
„Sind nsch Frangofen in der Stadt?“
„Marſchall Seubife mit feinem Korps rückten vorgeftern
ab, eine Beſatzung ift zurüdigeblieben.”
„Wie ftarft“
„zirka dreitaufend Dann influfive derer vom Reich.“
„Der Herzog von Hildburghauſen?“
„Logieren oben auf dem Schlofle.”
„Die Garnifon zieht fich diefen Morgen zurück?“
„Dielen Morgen über den Fluß, zu Befehl.”
„Weiß Er in hiefiger Gegend Beſcheid?“
„Zwei Meilen in der Runde jedweben Weg und
Steg.“
230 Der VPoften der Fran
„So folge Er dem Pifett und weife Er und den Weg
auf die Höhen.” |
„zu Befehl, alfobald ich meine gnädige Komteſſe ficher
an Ort und Stelle erpediert.”
„An Ort und Stelle, wohin?”
„Nach Ganditten zu ihres Herrn Vaters Erzellenz.”
„Da würden unfre Kanonen ein Beilchen warten müflen,
Freund. Sch denke, die Frau Gräfin wird ihre Reife ver-
fchieben können, bis Er und den Weg gezeigt.”
„Halten zu Gnaben, fie fann fie nicht verfchieben. Wir
lauern nur auf den Kahn, um unfern Sunfer brüben: zu
holen, danadı geht's fort.“
„Bo tft die Gräfin?“
„Drinnen in der Hütte.”
„So laß Er fie drinnen, bis Er wiederfommt. Vor Tag
ift Er wieder da. Allons! Marſch!“
Der alte Preuße ftand einen Augenblid verlegen, was
zu laffen oder was zu tun. Seine Gebieterin fam ihm
zu Hülfe. Sie hatte das Zwiegeſpräch am Fenfter mit
angehört. Die Ankunft der Preußen war ein Zwifchenfall,
von dem fie nicht wußte, ob fie ihn für unheilvoll oder
ermutigend halten follte. Doc, war fie zu einer glüdlichen
Auffaffung geftimmt und fah ein, daß Widerſtand un-
möglich fei. Schnell entfchloffen nahm fie daher die Lampe
aus dem Ofen und trat unter die Tür.
„Tue, was der Herr dir beftehlt, Lehmann. Wir fönnen
nicht widerftreben,” fagte fie; und fich würdevoll gegen
den Führer wendend, feßte fie hinzu: „Sch ftelle mich unter
den Schuß der Ehre eines preußifchen Offiziere.“
„Serviteur, Madame,” verfeßtetrocdenen Tons der Preuße.
Die junge, ſchone Frau im filberglängenden Gewande,
Der Poften der Fran 251
bei nächtlicher Weile, in der einfamen Fifcherhütte. war
wohl eine wundernehmende Erfcheinung felber für die juft
nicht zur Romantif geneigten preußifchen Helden. Auch
lief ein überrafchtes Geflüfter durch die Truppe, deren
Führer einen Augenblick ſchweigend verharrte, ſich dann
zu einigen Zurüdftehenden wendete und leife Worte mit
ihnen wechfelte. Nach einer Weile fehrte er, ohne der
Dame zu achten, zu dem vormaligen Wachtmeifter zurüd.
„Liegt die Sarnifon auf dem Schloffe?” fragte er.
„Auf dem Schloffe und bei den Bürgern in der
Stadt.”
„Und hier in der Borftadt?"
„Keine.“ |
„Wo fteht die übrige Armee?“
„Kantoniert in den jenfeitigen Dörfern firomauf und
ab.” |
„Wie weit ift ed von der Rippach bis zu den Höhen
über der Stadt?"
„Kaum eine Stunde, zu Befehl.“
„Weiß Er einen ficheren Übergang für fchweres Ges
ſchůtz?
„Zu Befehl.“
„So folge Er dem Pikett, wir werden bei ſeiner Dame
Wache halten, bis Er wiederkommt.“
Ehren⸗Lehmann machte kehrt mit einem ermutigenden
Blicke auf die Graͤfin, die er ja ſicher in preußiſchem
Schutze zurückließ. In wenigen Minuten waren die Tritte
des Detachements in der Schlucht verhallt. Der Reſt der
Preußen, ihre Zahl ließ ſich nicht im entfernteſten bes
fiimmen, fchien fid) ringe um das Haus zwifchen Berg
und Fluß zu poftieren. Alles ſchwieg; man hörte nur dag
932 Der Doften der Fran
Wiehern und Stampfen der Pferde, das zufällige Raffeln
einer Waffe.
Der Reiter, der biöher das Wort geführt hatte, war
abgeftiegen und allein auf das Haus zugefchritten, unter
defien Tür Gräfin Eleonore nod, immer in zweifelhafter
Erwartung ftand. In dem Augenblide, ald fie, ihrem
unbefannten Schugherrn voran, zurüd in das Zimmer
treten wollte, erfchallte von dem jenfeitigen Ufer der Ruf:
„Bol über!”
Der Preuße ftuste. Die Gräfin rief. erfchredt:
„Der Graf, der Graf!“
„Welcher Graf?” fragte der Preuße.
„Mein Gemahl, mein Verfolger!“
„Er wird ſeine Ungeduld zähmen oder durch den Fluß
ſchwimmen müſſen. Kahn und Fährmann, wie ich höre,
ſind nicht da,“ ſagte der Unbekannte, indem er gelaſſen
die Tür ſchloß.
Eleonore atmete erleichtert auf und trat in das Zim⸗
mer. Mutter Hanne, durch den preußifchen Überfall nicht
im mindeften in ihrem Morgenfchlummer geftört, fchnarchte
gleichtönig in der Kammer fort. Die Gräfin nahm ihren
früheren Plag am Fenfter wieder ein und laufchte auf
den vom jenfeitigen Ufer noch öfter wiederholten Ruf
nach dem Fährmann, bis endlich der Rufer, feine Er⸗
widerung findend, fich zu entfernen fchien.
Der Preuße hatte ſich währendpdeflen auf der Banf im
Dfenwinfel niedergelaflen, und die Dame fchielte forfchend
nach ihm hinüber, in der Hoffnung, ein früher befanntes
Geficht zu entdeden. Aber er faß dicht in feinen dunflen
Mantel gehüllt, den Hut tief in die Stirn gebrüdt, den
Kopf vorwärts gebeugt und dad Kinn auf den Säbelgriff
Der Poſten der Frau 233
geftügt, den er mit beiden Händen umflammerte. Diefe
Stellung und das Dämmerlicht des ſchwachen Olflämm⸗
chend geitatteten feine weitere Unterfuchung.
ung und gefährlich fchien der preußifche Held indeflen
nicht zu fein, denn er machte feine Miene, fein Tetesastete
mit der fchönen Frau auch nur zu einem Gefpräd, zu bes
nugen. Dahingegen ließ fich, nadı der Haltung der Truppe
ihm gegenüber, feine höhere Stellung in der Armee faum
bezweifeln, und fo faßte ſich denn die Gräfin das Herz,
ihn noch einmal um feinen Schuß anzufprechen und ſich
einen wichtigen Rat von ihm zu erholen.
„Eine glüdliche Fügung”, begann fie nach einigem Bes
finnen, „fcheint mir die Hülfe entgegengeführt zu haben,
welche ich aufzufuchen im Begriff ftand. Sie würden
mich verbinden, mein Herr, wollten Sie mir die erforder
lichen Schritte bezeichnen, um von Sr. Majeftät dem
König einen Geleitöbrief durch preußifches Gebiet zu er-
langen.“ |
„Die Straßen in Preußen find ficher, Madame,” ents
gegnete der Unbekannte, „ein gehöriger Paß ift hinreichend
Schuß und Geleit.”
„sch weiß es, mein Herr. Aber eben diefen mir mangeln-
den Paß zu erfegen, rechne ich auf ein fünigliches Wort,
um es diesfeitigen Reklamationen gegenüberzuftellen.“
„Beflen Reklamationen, Madame?“
„Mit einem Worte, mein Herr, den Anfprüchen des
Grafen Fin! an mid, oder meinen Sohn — —“
„Seinen Sohn, Madame?”
„Allerdings.“
Der Preuße fchmwieg.
„Nun, mein Herr?” fragte die Dame nach einer Paufe.
234 Der Poften der Frau
„Sparen Sie fid, die Mühe, Frau Gräfin,” antwortete
das unerfchütterliche Gegenüber, „bie preußifchen Gefeße
fhügen feine Frau, die ihrem Manne davonläuft.“
„Mein Herr!" fuhr die Gräfin beleidigt auf.
„Iſt ed nicht fo, Madame?“ verfeßte der Preuße gleichs
mütig, „deſto befler, wenn ich falfch verſtanden —
„sch bin eine Preußin, mein Herr —
„Geweſen, Gräfin Fink, gegenwärtig find Sie eine Sach⸗
fin. Sie müßten und denn die Ehre erweifen, das Kurs
fürftentum als eine eroberte Provinz zu betrachten. Aber
Preußin oder Sachſin, in diefem Falle gleichviel.”
„Sch bitte um Schuß auf dem Wege zum Haufe meines
Baters, eines preußifchen Edelmanns, und um Sicherheit
unter feinem Dache für mich und meinen Sohn, einerlei
aus welchen Gründen.”
„Nicht einerlei, Madame Ein Kind gehört feinem
Vater und eine Frau unter das Dad) ihres Ehemanne.”
„Und wenn ihr die Ehre verbietet, unter diefem Dache
zu weilen?“
„Die Ehre? Eine Frau hat feine Ehre, die ihr etwas
verbietet, Madame.”
„Unverfhämt!” rief die Gräfin in höchfter Entrüftung.
Der Preuße verfeßte defto gelaffener:
„Beruhigen Sie ſich, Frau Gräfin; was Ehre ift, wiſſen
nur Männer, denn fie allein wiflen für fie einzuftehen.
Bei den Weibern heißt das Ding anders.“
„Und wie heißt ed, wenn ich fragen darf?“
„Es heißt Keufchheit und Treue, Madame.”
„Und welche Genugtuung fol aus diefem Quiproquo
für eine beleidigte Frau deduziert werden?“
„Die Öenugtuung einer übereinftimmenden Pflicht. Denn
Der Poften der Frau 235
gleichwie der Mann von Ehre feinen Poften nicht verlaflen
darf, — wie, zum Erempel, ich den meinigen nicht verlaffen
dürfte, bie der Wachtmeifter Lehmann mich ablLöft, — gleichers
weife verpflichtet die Treue auch die Frau, auf dem ihrigen
ftandzuhalten.”
„Und was nennen Sie den Poften der Frau, mein
Herr?"
„Alemal das Haus, in welchem ihre Kinder erzogen
werden müſſen.“
„Und wenn fie auf dieſem Poften beleidigt worden iſt?“
„Mag fie Hand über Herz legen und fein Gefchrei er⸗
heben. Ein jeder Wachedienft hat feine Laſt.“
„Eine bequeme Moral für die hohen Herren, die ihre
Beleidigungen rächen dürfen.“
„Au contraire, Madame, eine bequeme Moral für die
Schönen Damen, die. fie nicht rächen, eventualiter ſich auf
einen Berteidiger berufen dürfen.“
„Ganz gut, mein Herr, infofern ber berufene Berteis
diger nicht zugleich der Beleidiger iſt.“
„Madame, ein Mann, der feine Frau beleidigt, tft ein
Poltron und hat alle Chancen, ein Pantoffelheld zu wer⸗
den. Zu feinem Nutz und Frommen, verfteht fidy, und
durch eine räfonable Frau. Möge fie denn in Gottes
Namen die Hofen anziehen an feiner Statt, und weder
er noch fie und ihre Schußbefohlenen werben fich zu bes
Magen haben.“
Die Gräfin drüdte ihr errötendes Geſicht gegen die
Sceiben; ihr Herz hämmerte vor Unmwillen. Wer war
diefer Mann, der eine folche Sprache gegen fie zu führen
wagte und der fo unbeweglidy in ſich gefrümmt in jenem
Winkel faß? Sie hätte dem höhnenden Grobian die Zür
Js
236 Der Poften der Frau
weifen mögen und fühlte fich doch in eigentümlicher Weiſe
durch ihn imponiert.
„sch fehe,” nahm fie nach einer Paufe noch einmal das
Wort, „daß ich die gewünfchte Auskunft von Ihnen nicht
zu gewärtigen habe.”
„Wenn Sie eine andre gewärtigen als die ich gegeben:
nein, Madame.”
„So werde ich mich ohne diefelde an einen Höheren
wenden.”
„Berfuchen Sie Ihr Keil, Madame.”
Die bitterlich enttäufchte Frau verſank in die beängftis
gendften Grübeleien. Sonnenaufgang war nahe. Was
follte fie beginnen, wenn der ungefchliffene Soldat im
Ofenwinkel recht hatte, der König fie nicht ſchützte, ben
Grund einer Scheidung, einer Trennung mindeftens, nicht
anerfannte, den Sohn dem Vater zufprach, bie Gattin den
Reklamationen des Gatten überlieferte?
Unter fo qualvollen Erörterungen mochten Stunden
vergangen fein; der feltfame Wächter hatte feine Mustel
geregt, in unverändert gebeugter Haltung ſchien er in
Schlummer gefunfen. Kaum aber dämmerte ver erfte
Morgenfchimmer, fo erwachte er oder.belebte ſich. Er ließ
feine Uhr repetieren. Sechs Schläge. Ohne Gruß und Blid
ging er aus dem Zimmer. Die Gräfin fah ihn der Mann:
fchaft entgegenfchreiten, die gleich einer Mauer zum Schuß
um die arme Hütte gereiht ftand und vor ihm in ſchwei⸗
gender Ehrfurcht falutierte.
„Wer ift diefer Mann?” fragte fi) Eleonore von neuem.
Ein jäher Blig durchzudte ihr Hirn. „Herr der Welt!“
rief fie aufipringend, „follte e8 - -P? Aber nein - uns
möglich!" — Seine Züge konnte fie auch jegt nicht unter-
Der Poften der Fran 237
fcheiden in dem grauen Oftobernebel, unter Dem eingedrück⸗
ten Hut, dem in die Höhe gezogenen Kragen des Mantels,
Aber diefe Feine, faft dürftige Geftalt, dieſe nachläflige
Kleidung und Haltung, diefer unelaftifche Gang, der kurze,
ungewählte Ton, — nein, nein, fo täufcht fein Ideal: ſo
ſah, fo fchritt, fo ſprach nicht der Held, der Dichter, der
geiftreichfie Dann des Jahrhunderte.
Sie öffnete dad Feniter, bog ſich hinaus und folgte mit
immer lauter Flopfendem Herzen feinen Bewegungen, als
er den Berg bis zur halben Höhe hinanftieg und durch
ein Kernrohr die Gegend nach allen Seiten überblicte.
Der Nebel fentte ſich nad) und nad, ein Pikett fprengte
die Schlucht hinab an ihn heran. Kine kurze Meldung
bes führenden Offizierd, und der Unbefannte wendete fich
raſch beweglich, ein veränderter Mann, nach dem Haufe
zurück. Iſt er gewachſen in den wenigen Minuten? Welches
Federwerk hat Nero und Muskel gefpannt? — Wer ift
biefer Mann? — fragte Eleonore fchier entjegt und ſah
ihn ploͤtzlich Auge in Auge ſich gegenüber.
„Die Ablöfung naht, Madame,” redete er fie an. „Sie
werben mir das Zeugnis geben, daß ich meinen Poiten
treulich gehütet habe. Tun Sie desgleichen, Gräfin Fink.
Sie follen in der Kürze auf demfelben vifitiert werden.“
Er reichte ihr nach Diefen Worten mit einem gewinnenden
Lächeln unb mit einer Bewegung von fo unnachahmlic
einfacher Hoheit die Hand, bag unfre Heldin unwillkürlich
erzitterte und ſich bis zur Erde verneigte.
„Darf ich nicht wiften, mein Herr," ftammelte fie ſchüch⸗
tern, „wem ich die Ehre diefer Ausficht, wem ich fo ritters
lichen Rat und Schuß zu danfen habe?“
„Einem Preußen, Madame, und einem Freunde Ihres
238 Der Poften der Frau
braven Vaters,” antwortete der Offizier. „Es war ein
räftiged Mark in dem alten Stamme der Looß. Sorgen
Sie dafür, daß das leßte Reis, auf fremden Stamm ges
pfropft, unentartet Wurzel fchlage. Auch die Treue hat
ihr Heldentum wie die Ehre, junge Frau, und vielleicht
find es nicht die fchmwerften Kämpfe, die mit dem Schwert
in der Hand zum Austrag fommen. ‚Zum Eheftand ges
hört mehr Herz, ald in die Schlacht zu ziehen‘, hat eine
Königin gefagt, die freilich nur bewiefen, daß fi ie feine
befaß.“
Er wendete ſich nach diefer Rede der Türe zu, Eleonore
folgte ihm in unausſprechlicher Bewegung.
„D Gott, Sie gehen!” rief fie unter hervorbrechenden
Tränen, „alles verläßt mich, was foll id tun?” |
„Standhalten, haushalten, Shr Haus halten, Gräfin
Fink,” verfegte zurücehrend der Preuße. „Einft lautete
der Ehrenſpruch einer Frau: ‚Casta vixit, lanem fecit,
domum servavit‘, das heißt auf deutfch — -“
„Sch weiß, was es heißt,” fiel die Dame unter Tränen
lächelnd ein, „aber wir find feine Nömerinnen.“
„Schlimm genug, Madame, denn wir brauchen wieder
Römer,” fagte der Preuße, indem er die Hütte verließ.
Er beftieg das bereitgehaltene Pferd und ritt die Ans
höhe hinauf, gefolgt von der wachthabenden Truppe. Die
auffteigende Sonne vergoldete die Flirrenden Waffen; der
Berg, die Schlucht, die ganze Gegend fchienen ‚wie mit
Zauberfchlag lebendig geworden. Eleonore fah mit Staus
nen, daß fie Die Nacht an der Spige einer Armee sugebradht
hatte.-
In demfelben Augenblide bog der alte Diener, von der
TWaflerfeite kommend, um die Ede des Hauſes. |
Der Poften der Fran 239
„Kennft du diefen Preußen, Lehmann?“ rief ihm die
Gräfin in atemlofer Spannung entgegen.
„Welchen Preußen, Frau Gräfin? Sie find alle da,
alle!” entgegnete der Veteran trunfen, ja taumelnd in einem
Freudenraufch.
„Den, der da oben reitet, Lehmann.“
„Die Sonne blendet mich, Frau Gräfin, aber fie find
alle da, alle!“
„Alle? — — auch der König?”
„Seine Majeftät fommandieren die VBorhut, wie man
fagt.“
„Lehmann, — fahft du ihn?“
„Und ob? Im Feuer von Molwig zum leßtenmal.”
„Sc meine heute.“
„Sc mußte ja die Batterien da oben auf die Berge
führen. Links über ung, da ftehen fie. Hurra, hurra!
Nun pfeift der Wind aus preußifchem Loche!“
„Aber diefer Mann, Lehmann — “
„Welcher Mann, Frau Gräfin?”
„Der diefe Nacht hier vor der Hütte mit dir ſprach.“
„Die Nacht war ſchwarz wie ein Bürenfell, nicht bie
Hand vor den Augen —“
„Lehmann — Lehmann, — ich glaube — diefer Dann
war —“ Ehe fie den großen Namen genannt, machte eine
Salve von der Höhe Haus und Tal erbeben.
Die Gräfin ftand flarr vor Schred, ber Beteran aber
ubilierte:
„Das find Die Preußen, das ift der König! Nun fahre
hin, Hilbburghaufen und Franzoſenbrut: König Friedrich
bi da, Fridericus. Rer, hurra!” Ä
„@inen Kahn, Lehmann, fchaffe einen Kahn!“ unters
240 Der Poften der Frau
brach ihn feine Herrin, in unfäglicher Angft, „hinüber,
auf der Stelle hinüber!”
„Na, was follen wir denn drüben, wenn die Preußen
hüben find?” fragte Lehmann verwundert.
„Und drüben mein Kind, mein Kind!”
„Aber wie follen wir denn hinüberfommen, wenn die
Kugeln fo mir nichts, dir nichts über das Waffer pfeifen?”
„Sch muß hinüber, ih muß! Mein Leo in Gefahr,
mein Leo ohne Schug! Komm, Lehmann, wir gehen durch
die Stadt.“
„Unferm Grafen rectamente ind Garn? Na, warum
find wir denn da erft echappiert? Die Preußen haben
ſich zwifchen ung gefchoben, von einer Verfolgung — —“
„Was frage ich nach dem Grafen, was frage ich nad)
Verfolgung und Ehre; mein Kind, mein Kind!“
„Und hören Sie denn nicht diefe Flintenfalven, gnäbdige
Gräfin? Wir nehmen die Stadt mit flürmender Sand.
Nur erft die Windbeutel proper hinausgefegt, dann 'nüber
und fort nad Ganditten! Sehn Sie doch, wie die Ku⸗
geln alle links nach der Brüdenfeite fliegen! Unfer Leochen
figt drüben wie in Abrahams Schoß, und wir Deögleichen
unter dem vorfpringenden Berge.”
Die Dame mußte fich überzeugen, daß ihr alter Diener
im Rechte, und daß Geduld haben und warten der einzige
Kat fei, den fie ſich felber zu geben vermöge. Aber was
waren das für Stunden der Spannung und der Todeös
qual, die fie zu durchleben hatte! KHänderingend ging fie
aus der Hütte ind Freie und aus dem Freien in die
Hütte. Das Gefchüßfeuer von oben, Flintenfalnen vom
Tore her drängten fidy von Sekunde zu Sekunde.
Das Getös erwecte auch endlich Mutter Hannen aus
Der Poften der Fran 341
threm Morgenfchlummer; doch nahm fie es Faltblütiger
als ihre unfreimilligen Gäfte, fo gewohnt war fie bereits
der „preußifchen Sachtereien” geworden. Sie fchäffterte
unbefümmert im Hauſe hin und her. „Wo nur der Adam
ſteckt?“ war der einzige Ausdrud ihrer Gemuͤtsbewegung.
Die Gräfin hatte ihren alten Platz am Fenfter wieder
eingenommen mit jener Ruhe, welche das eiferne Wört-
hen „Not“ auch dem Bedrängteften fchließlich einzuflößen
verfteht. Aber dad Abenteuer, deflen fie fich fo Fühn unters
fangen, das fie fo leicht ausführbar gewähnt hatte, in
welchem zweifelhaften Lichte erfchien es ihr jett! Die
Mahnung vor der Gefahr hatte fie überhört, jetzt in ber
Gefahr mußte fie fühlen, was es heißt, feinen Poften zu
verlaffen. Stolz und Vorwurf rangen in ihrer Bruft,
Ratlofigkeit Iehrte fie Unterwerfung. Was konnte, was
durfte fie tun? Der ewige Zuchtmeifter da oben, was war
fein Wille, fein Gebot? Sie faltete ihre Hände und flehte
inbrünftig: „Anwalt der Schwachen, Iehre mich wollen,
was ſtark macht; Herr und Bater, fchüge, behüte mein
Kind.” |
Stimmen vor dem Haufe unterbrachen ihre fromme Er⸗
hebung. Ehren-Adam war von der Stadtfeite her zuruͤck⸗
gefehrt, und der alte Wachtmeifter, welchem unter dem
Donner der Kanonen von der Höhe, dem Trommelwirbel
und Gewehrfeuer von dem Tore her dad Herz im Leibe
vor Ungeduld faum weniger zitterte als feiner fchwer bes
ängftigten Gebieterin, quäftionierte ihn in fo polternder
Haft, daß der gleichmütige Fifcher, das glüdliche Vor⸗
und Ebenbild feiner Ehehälfte, faum zu Worte gelangen
fonnte, auf die ſich überftürgende Neugier Befcheid zu geben.
Sept aber fchnitt die Gräfin alle Fragen und Erfundis
242 Der Poften der Fran
gungen mit einem Zuge ab, indem fie haftig auf bie Gruppe
zutrat und unter allen Umftänden an das jenfeitige Ufer
gerudert zu werden verlangte. Sie ftellte die großmütigfte
Belohnung in Augficht. Der Alte antwortete indes nur
mit einem gelaffenen Kopffchütteln.
„Es ift ja feine Gefahr, lieber Adam,” bat die Dame,
„Ihr feht, Die Gefchüße find nad) der Brückenſeite gerichtet.“
„Geht nicht, Snädige,” antwortete der Alte, „geht nicht!
der Kahn — —”
„Herrjemine, Adam, wo haft denn deinen Kahn?“ fiel
ihm Mutter Hanne in die Rebe.
„Am Brüdentore angebunden, Hanne.”
„Aber warum denn, Adam?“
„Weil die Kugeln wie Kagel ind Waffer fchmeißen,
Hanne!”
„Aber wie haft denn runter fommen Be ohne Kahn,
Adam?"
„Füßlings am Berge, zwifchen den Käufern hingeduckt,
Hanne.”
„So fchafft einen andern Kahn,” flehte die Gräfin,
„babt Erbarmen, lieber Adam, — drüben mein Kind, mein
liebes Kind.“
„Geht nicht, Gnädige, wahr und wahrhaftig, geht nicht,
folange das Feuern über der Borftadt anhält.“
Noc einmal mußte fich die unglücliche Gräfin in Ge⸗
duld faffen, an das Fenfterchen fegen und den Blick nadı
ihrem Schloffe richten, oder dem Laufe der Kugeln folgen,
die über die Käufer der Vorſtadt hinwegfauften. Auch
ihr Haus war dort bedroht, ihre Dienerfchaft, ihr Ge-
mahl waren ed, und die junge Frau fpürte an dem ängft-
lichen Klopfen ihres Herzens, daß ein fiebenjähriges Band
Der Poſten der Fran 243
doch nicht fo gleichgültig gelöft werde, wie fie noch vor
wenigen Stunden gewähnt hatte. In diefer vielfeitigen
Aufregung hörte fie nur mit halbem Ohr auf des alten
Fiſchers knappe Mitteilungen über den Zuftand in ber
Stadt. „Die Garnifon ift fchon zum: Ausrücken auf dem
Marktplatze verfammelt, als die feindlichen Kanonen fo
unerwartet über ihren Häuptern erdröhnen. Die Preus
Ben fuchen durch das öftliche und füdliche Tor in die Stadt
zu dringen, die Befatung will den Eintritt wehren, bie
fie felber fich über die Brüce zurücigezogen und mit der
jenfeitigen Armee vereinigt hat. Aber fchon find die Tore
genommen, eine Schar Ofterreicher ift zu Gefangenen ges
macht, nur an der Brüde halten franzöftfche Grenabiere
noch tapfere Gegenwehr.“
„Wer tommandiert die Franzofen am Brückentor?“
fragt die Gräfin, in banger Ahnung von ihrem Sige auf-
fahren.
„Mög’ der Herzog aus dem Polfchen Haufe, Gnaͤdige,“
antwortete der Fifcher.
Leichenbläffe auf dem Gefichte, ſank Eleonore auf ihren
Stuhl zurüd. Auch er, ihr Ritter, auch er in Todesgefahr!
Und fie allein, losgeriſſen von Freund und Feind, von
Haus und Kind! |
„Die Brüde brennt!” riefen jeßt die drei Stimmen
draußen wie aus einem Wunde, und in demfelben Mo⸗
ment erdröhnte Kanonendonner von den jenfeitigen Höhen.
Die Befagung mußte demnach glücklich hinübergefommen
fein, die Brücke angezündet haben und durch das Feuern
die Preußen von der Verfolgung des Feindes und dem
Löſchen des Brandes abzuhalten fuchen.
Eleonore ftieg die Leiter hinan, welche auf den Boden
944 Der Doften der Frau
des Hauſes führte, und beobachtete aus einer Dachluke
das jähe Umfichgreifen der Flammen. Das Feuern ließ
nad, die Feinde hatten fich gefammelt und zogen weiter.
Sie konnten ſich firomab nad) der Seite des Gutes wen⸗
den, vielleicht waren fie fchon drüben; drüben bei ihrem
vielbedrohten, verlaflenen Kinde. Berlaflen, verlaffen von
feiner Mutter. Jetzt mußte fie hinüber um jeden Preis.
Sie flehte von neuem händeringend, unter heftigem
Schluchzen.
„O, nur einen Kahn!“ rief ſie. „Adam, nur einen
Kahn. Lehmann rudert mich hinüber. Es bringt Euch
keine Gefahr, Adam, nur einen Kahn!“
Der Alte kratzte ſich eine Weile nachgrübelnd am Kopfe.
Die troſtloſe Dame dauerte ihn. Endlich hatte er einen
Ausweg gefunden. Sein Kahn lag zu nahe dem Brücken⸗
tore, den konnte er nicht ſchaffen. Aber beim letzten
Hauſe der Vorſtadt hatte ein andrer Meiſter ſein Fahr⸗
zeug angebunden. Wenn die Grafin ſich traute, Die Strecke
dahin zurüdzugehen, wollte er fie wohl hinüberfeßen. Die
Straße, man fonnte fie aus der Dachlufe überblidlen, war
menfchenleer, ber Fluß an jener Stelle fchmal, da eine
Feine Inſel — bei dem niedrigen Waflerftande jedoch mit
dem jenfeitigen Ufer durd; eine Sanddüne verbunden —
das Bett verengte. Freilich, der Weg von der Infel nach
dem Schloſſe fchlug einen gewaltigen Bogen, die Fährs
niffe auf demfelben ließen fich nicht im voraus berechnen.
„Sch wage den Weg!” rief die Gräfin entfchloffen, und
in wenigen Augenblicken waren alle drei auf der Straße
nach der Vorſtadt; die Gräfin voran mit beflügelten Schrit=
ten, die beiden Alten vermochten nur feuchend zu folgen.
Unbehindert erreichten fie das letzte Haus gegenüber
Der Poſten der Fran 245
der Meinen Inſel, deren dichte Baumgruppen noch nicht
völlig ihres herbftlichen Blätterfchmuces beraubt waren.
Die Vorftadt ließ nichts von dem Tumulte ahnen, der die
innere Stadt erfüllte. Die Bewohner hielten ſich ängftlich
in ihren Häufern verborgen, froh genug, daß die Kugeln
vom Berge, ohne zu zünden, über denfelben hinweggeflogen
waren und daß die Preußen fämtlich nad) der Brüden>
feite drängten.
Der Kahn wurde ohne Umftände Iodgebunden; Meifter
Adam faß am Ruder, die Dame und ihr Diener fliegen
ein. Im Augenblide des Abftoßend bemerkte Eleonore
auf einem Felfenvorfprunge, halb von der den Berg hinans
kletternden Häuferreihe verdeckt, unmittelbar ſich gegenüber
und deutlich erfennbar, ein preußifches Detachement in
gemeflener Entfernung von einem Führer, der durch ein
Fernglas den Brand der Brücde beobachtete.
Diefer Führer, fie täufchte fich nicht — ed war der Fleine
Mann im blauen NReitermantel und dreifrempigen Hut,
ihr geheimnisvoller Rater und Wächter von diefer Nacht!
Jetzt, im vollen Tageslichte, den Kopf zum Gebrauche des
Glaſes ein wenig gehoben, fonnte fie feine Züge unters
fcheiden; fie unterdrüdte einen Schrei, um den der Gruppe
den Rüden zufehrenden Schiffer nicht fugig zu machen;
die Hände über der Bruft gefaltet, neigte fie mit einer
demütigen Gebärde nur Ieife den Kopf und bebte freudig
zufammen, als fie zum Gegengruß eine freundliche Hand⸗
bewegung gewahrte, ähnlich der,. welche fie heute morgen
mit einer eleftrifchen Ahnung durchzuckt hatte.
Sn einiger Entfernung loderte die Brüde und fprühte
Funfen über das ruhig dahingleitende Waſſer. Hin und
wieder tönte noch ein Kanonenjchlag, ohne Fährnie aber
246 Der Poften der Fran
landete man an der Fleinen, bufchigen Sinfel. Der Kahn
lenkte zurüd. Eleonore bahnte fid) mit der Haft des ges
fheuchten Wildes einen Weg durch das dichte Weidens
geftrüpp, gefolgt von dem Diener gleich ihrem Schatten.
Plöglich, etwa in der Mitte der Sinfel, bleibt fie ftehen,
regungslos, wie in den Boden gewurzelt. Welche Be-
gegnung! Kaum zehn Schritte entfernt lagert unter einem
Erlenbufche, gleichfalls den Brand der Brüde beobachten,
ein franzöfifches Pifett, und fein Führer ift — der Herzog
von Erillon!
Das Ufergebüfch hat vor den fpähenden Blicken die
Überfahrt, das Getöfe aus der Stadt den leifen Ruder:
fchlag gedeckt, und fo fieht die Eilende ihren Helden und
ihren Ritter einander auf Schufledweite ald Feinde gegens
überftehend, und fich felbft wie durch ein Wunder zwifchen
beide gedrängt, um, ftarr vor Entfeßen, Zeugin einer Ge⸗
fahr zu werden, die o wie viel Höheres! als ihr eignes
Leben bedroht.
„Sch komme, den Herrn Marfchall zu fragen,“ dieſe
Worte hört fie einen jungen franzöfifchen Scharfichügen
an den Herzog richten, „ob ich den preußifchen General
niederfchießen darf, der hinter den gegenüberliegenden Häu⸗
fern den Brand der Brüde refognofziert. Er ift in unfrer
Gewalt und nach feiner Erfcheinung, wie nad) der Ehr-
erbietung, welche feine Umgebungen ihm erweifen, fein
Geringerer, ald —“
„Der König!” ruft Eleonore in tödlicher Angft aus dem
Gebüfche hervor, und zu des Herzogs Füßen niederftürzend,
„Ionen Sie, retten Sie den König!”
Herr von Crillon war vom Boden aufgefprungen und
hatte einen rafchen Blick nadı dem jenfeitigen Ufer hinüber:
Der Poften der Fran 247
geworfen. „Beruhigen Sie fi), Madame,” fagte er jegt,
indem er fie vom Boden in die Höhe z0g, „Ihr König iſt
nicht in Gefahr.”
Und fidy mit firengem Anfehen gegen den meldenden
Offizier zurückwendend, feste er hinzu:
„Leutnant Brünet, Sie find auf diefen Poften geftellt,
um die Bewegungen des Feindes gegen den Brüdenüber>
gang zu beobachten, nicht aber, um einen refognofzierenden
General meuchelmörderifch zu erfchießen. Am wenigften,
wenn Sie in demfelben die geheiligte Perfon eines Mon-
archen vermuten follten, der felber ald Feind noch Ans
fprudy auf unfre Ehrfurcht hat. Tun Sie Ihre Schuldig>
feit, Leutnant Brünet.”
Er nahm nad diefen Worten den Arm ber tief er⸗
fchütterten Frau, weldye mit fchlagendem Herzen und bes
geiftertem Blicke diefer ritterlichen Entfcheidung gelaufcht
hatte. „Eleonore,“ fagte er, nachdem er einige Schritte
fchweigend an ihrer Seite gegangen und vor den Blicken
feiner Begleiter durch das Gebüfch gedeckt war, „Eleonore,
ich ahne, was Sie in diefer Nacht gelitten, und ich weiß,
warum Sie e8 gelitten. Aber Ishr Leid wird gefühnt, die
Beleidigung gerächt werden.”
„D, nicht diefe Erinnerungen, Kerr Herzog,” rief die
Gräfin rafch und bewegt. — „Ein großer Moment hat Leid
und Beleidigung getilgt. KHochherziger Mann, was Sie
in diefem Augenblicke getan, wiegt ſchwerer, als zehn ges
wonnene Schlachten.“
„Madame,“ begnügte der Herzog fich zu entgegnen,
„mein Ahnherr hieß Louis Berton von Srillon!”
„Der Schild der Ehre, — im Enkel ungebrochen!” fagte
die Gräfin. „Er fchirmt ein Keldenleben, und in dem
248 Der Poſten der Frau
Herzen eines irrenden Weibed hat er den Mut der Tugend,
den Glauben an Menfchenhoheit wieder wach gezündet.
Das Kleine ſchwindet im Schatten großer Seelen.”
Sie zog ihren Arm aus dem feinen und wollte vorwärts
eilen. Er hielt ihre Hand zurück. „Sie fliehen, Eleonore?”
fragte er, „wohin gehen Sie?"
„In mein Haus,“ antwortete fie, „zu meinem m Sohne,
ihn nach dem Vorbild edler Männer zu erziehen.”
„Schönes, angebetetes Weib!“ rief Herr von Crillon
mit ftrahlendem Blick, indem er ihre Hände an fein Herz
drüdte. „Der Dienft des Soldaten bindet mid, in diefer
Stunde Ga, fehren Sie zurüd in Ihr Haus, aber ers
innern Sie ſich — und ich bürge ihnen dafür, daß Sie ed
unbehelligt von verwirften Anfprüchen werden tun dürfen
- erinnern Sie fid) an einen Freund, deflen teuerfted Glück
es fein wird, Sie zu verehren und zu ſchützen. Wir werben
uns wiederfehen, Eleonore.”
„Niemals, niemald, Herr Herzog!” entgegnete die
Gräfin. „Die Erinnerung an diefes Begegnen wird meine
Sterbeftunde freudig machen, — aber laflen Sie ung nies
mals, niemals wiederfehen.”
Sie riß ſich los und floh mit bebenden Schritten über
die Düne. Am jenfeitigen Ufer hielt fie an und blidte
noch einmal zurüc nad) der Stätte einer geheiligten Er⸗
fahrung. Der Felfenvorfprung ihr gegenüber war von
den Preußen verlaffen, der Herzog ftand noch unbeweglich
an der Stelle, wo fie von ihm gefchieden war.
Bogelleicht, mit hochgeröteten Wangen und ftrahlenden
Auges fchwebte fie nun über die Wiefen, den nachfeuchens
den Diener weit hinter ſich zurüdlaflend. Kein Menfchens
tritt ftörte fie, fo nahe dem wildeften Getümmel; ein
Der Poften der Fran >49
Strom freudiger Begeifterung wogte durch ihre Bruftz fie
hätte es in die Lüfte hinausjubeln mögen: „Die Ahnungen
meiner Tugend find wahr geworden, ich habe einem Helden
und einem Ritter Auge in Auge geblickt!“
Sn der Nähe des Dorfes bog fie von der Fahrftraße ab
und gelangte durch wüftliegende Gärten zu den Terraffen,
die vom Fluffe nach ihrem Schloffe hinaufführen. Ohne
Atem zu fchöpfen, eilte fie die Treppen hinan, drängte
fonder Gruß noch Laut durch die in banger Unruhe ver-
fammelten Leute ihres Hofes und Hauſes bis zu dem
Zimmer, aus welchem ihr Knabe ihr fröhlich entgegen
fprang. Sie flürzte vor ihm nieder, preßte ihn in ihre
Arme und hielt ihn lange unter ftrömenden Tränen an
ihrem Herzen.
„Mein Kind, mein Leo!” rief fie endlich, „vor dir will
ich Wache halten und meinen Poften nicht verlaflen, fo
wahr mir Gott helfe!“
Sollen wir hier fchließen, die Berfuchung von ung weifen,
als Nachtrag zu erzählen, ob, wann und von wem unfre
Heldin auf ihrem Poften vifitiert worden iſt? Wir bitten
noch um eine Fleine Geduld, auf den Vorwurf hin, gegen
eine gute Regel zu verftoßen und in den Fehler unfres
würdigen Pfarrherrn zu verfallen, der ſich gleichermeife
fchwer entfchließen fonnte, dad Buch im rechten Augen:
blide zuzuflappen.
Diefer vortreffliche Mann war es, deffen Räufpern die
junge Frau aus ihrer Ekſtaſe erweckte. Er war der Dame
in ihr Zimmer gefolgt, fein Herz brannte nady der Löfung
des Nätfeld, das ihn feit diefer Nacht, wo der Graf feine
Gemahlin vergeblid) auf dem Scyloffe und felbft im Pfarr
250 Der Poſten der Frau
haufe gefucht hatte, fo unausfprechlich, ja mehr noch al
die preußifchen Kanonen beängftigte. Er hatte fohon lange °
unbemerft hinter der Dame geftanden, als dieſe ſich endlich
von ihren Knieen erhob und, ihm beide Hände entgegen
reichend, zwifchen ihren Tränen lächelnd fagte:
„Es ift Reformationstag heute, mein Freund, und id)
gelobe Ihnen, eine treue Mutter zu werden.”
Sie hatte darauf eine Unterredung mit ihm, oder eigent-
lich eine Beichte vor ihm, in welcher feine Falte ihres
Herzens verborgen blieb. Er hörte fie an ohne Erwide⸗
rung, aber mit beredtfamen Tränen, und fam zum Schluffe
mit ihr überein, noch heute der Friedendunterhändler
zwifchen ihr und ihrem Gemahl zu werben.
„D, wenn Sie diefe Nacht feine Angft gefehen hätten,
Gnädigfte,” fagte er, nady feiner Weife zur Sühne redend,
„teine Neue und Qual, einen Stein in der Erbe hätte es
erbarmen mögen.”
Die junge Frau zuckte die Achfeln. Sie zweifelte ja
nicht daran, daß er ihretwegen in Sorge gewefen, fie wußte
ja wohl, er hatte fein Kiefelherz, ihr heiterer, flottlebiger
Gemahl. D, wenn er doc, etwas von einem Kiefel in
fich getragen, wenn er doch Funfen hätte fprühen fönnen,
fobald ein Stahl ihn berührt!
Am felbigen Nachmittage fehen wir den guten Herrn
Magifter in dem nämlichen Aufzuge, in dem wir geftern
feine Befanntfchaft gemacht haben, in Schuhen und Serges
mäntelchen, Hut und Parapluie unter dem Arm, in Ehrens
Adams glüdlicd, wieder an feinem gewohnten Anferplaße
ruhenden Kahne nad) der Stadt hinüberrudern, in welcher
die Preußen feit morgens unbehelligt hauften. Seinen
Herrn Patron fand er im Polnifchen Kaufe inzwifchen
Der Poſten der Fran 251
nicht, er war im Gefolge der Franzofen von dannen ges
zogen.
Am andern Morgen ftand der alte Herr ſchon wieder
zu einer Fußtour gerüftet. Direkt im Lager ber verbündeten
Armeen, das kaum zwei Wegftündchen fern vom Gute auf:
gefchlagen war, gedachte er Erfundigungen über den Ver⸗
bleib feined gnädigen Patrond einzuziehen und nebenbei
eine delifate, feelforgerifche Miffton auf eigne Berants
wortung bei dem ritterlichen franzöfifchen Herzog zu ers
füllen. Sndeflen noch ehe er das Dorf überfchritten hatte,
ftellte zum Schuße ded Schloſſes auf höheren Befehl eine
franzöfifche Sauvegarde fich ein, und er wurde durch ein
Billett feines Herren Patrond unterrichtet, daß felbiger,
von der glüdlichen Heimkehr feiner Frau Gemahlin avers
tiert, eine Gefchäftöreife nach feinen thüringifchen Gütern
unternommen habe. Schweigenb wechſelte der geiftliche
Herr einen Blick des Einverftändniffes mit der errötenden
Gräfin und legte die Anfprache zu den Akten, die er in
der Stille der Nacht in franzöfiichen Lettern aufgebaut
und memoriert hatte. Ach, er ahnte nicht, der brave
Sachſe, daß der fremde Herr ihn allenfalls noch leichter
in feinem heimifchen Deutfch verftanden haben würde.
Die Sauvegarde tat not; denn die nädhftfolgenden Tage
waren ſturm⸗ und drangvoll für die unglüdliche Gegend.
Franzoſen und Reichsvölker hauften und plünderten in ihr
um die Wette, Die Berlegenheit der entblößten Bauern war
unausfprechlidh.
Gräfin Eleonore hatte Feine Ruhe, ſich mit ihrem eignen
Schickſal zu befchäftigen. Ihrer felbftauferlegten Order
getreu, ftand fie Tag und Nacht auf ihrem Poften: ans
ordnend, aushelfend, Rat und Beiftand fpendend, bie
252 Der Poften der Fran
Hungernden fpeifend, die Nadten Heidend, die Obdach⸗
Iofen beherbergend, den Übermut bändigend, entfchloffen
wie ein Mann. Mehr ald einmal hörte man ftundenlangen
Kanonendonner gegen die noch immer von den Preußen
befegte Stadt, man fühlte fidy mitten im Kriegsgetümmel
und ahnte einen nahen, entfcheidenden Zufammenftoß.
Nach einigen Tagen fahen fich die ausgeplünderten Dörfer
eine kurze Weile befreit, indem die verbündeten Lager einige
Stunden weiter nach Welten vorgefchoben wurden. Die
Preußen dahingegen fchlugen eine Brüce über den Fluß
und fammelten ſich auf dem jenfeitigen Ufer. Eleonore
beobachtete von dem Turme ihres Schloffed den Übergang
des Königs unfern dem Plage, an welchen fich eine fo
denfiwürdige Erinnerung für fie fnüpfte; fie erwartete mit
Spannung die Ankunft heimifcher Säfte. Aber der König
wendete fich, die Uferhöhe zwifchen den Weinbergen durchs
fchneidend, — ein Punft, der lange Zeit den Namen des
Preußengäßchens geführt hat, — der Richtung des Guts
entgegengefegt, weſtlich den feindlichen Lagern zu, und fo
folgten denn nach der außerordentlichen Aufregung zwei
Tage verhältnismäßiger Stille, welche der Gräfin einen
prüfenden Blid in ihre innere wie äußere Lage geftatteten.
Sie hatte die erfte Probe ihrer Tüchtigfeit abgelegt und
fühlte ihre Kräfte einer Aufgabe gewachſen, die ihr nicht
nur not, fondern auch wohl tat; ein freudiger Mut durch⸗
leuchtete ihr ganzes Wefen.
Sechs Tage waren feit ihrer Heimkehr verfloflen, als
man in der Mittagsftunde des fünften November ans
haltendes Feuern in abendlicdher Richtung vernahm und
fich die Kunde eines Entfcheidungsfampfes verbreitete, wie
feltfamerweife häufig in verhängnisvollen Krijen, noch
Der Poften der Fran 253
ehe ein folcher zum Austrag fam. Der alte preußifche
PWachtmeifter, der in den Tagen zögernder Ungewißheit
ftumm und kopfhängerifch einhergefchlichen war, vermochte
nicht länger feiner Unruhe zu wibderftehen; die Knechte
des Hofes folgten ihm zu Pferde in der Richtung des
Schalles, die Bauern ftrömten zu Fuß über die wüftliegens
den Felder.
Gräfin Eleonore harrte ihrer Heimkehr in einem Fieber
innerlichfter Widerfprüche. Ihr König und Held, ihr Rit⸗
ter und Freund ftanden ſich gegenüber zwifchen Sieg und
Gefahr. Daneben ihr Kind, Haus und Hof, ihr Gatte —
wohin follte fie fid) wenden mit ihrem Hoffen und Sorgen?
Pohl und, daß das arme gebrechliche Menfchenhirn kri⸗
tifhe Momente felten nad) eigner Wahl zu entfcheiden
hat, daß eine unberechenbare Macht den Ausſchlag gibt
und wir und fchließlich, bei gutem Willen auch meift mit
gutem Glück, in dad Unvorhergefehene, ja in das Wider
ftrebendfte fügen lernen.
Der Nacmittag war fchon vorgerückt, ald plößlich der
verfchwundene Gemahl mit triumphierender Miene in den
Hof fprengte. „In diefem Augenblid ift alles entfchieden!“
rief er im Eintreten, der Gräfin die Hand Füffend, fo uns
befangen, als ob zwifchen ihnen beiden eine Störung nicht
zu erwähnen wäre. Eleonoren verfagte die Stimme, fie
klammerte ſich bebend an die Lehne ihres Seſſels, und ihr
unzertrennlicher Begleiter, der gute Magifter, mußte die
Frage von ihren Lippen nehmen, zu welcher ihre Bruft
nach Atem rang.
„Eine Bataille, gnädiger Kerr?" forfchte er, felber in
zitternder Spannung, „und welche Partei hat obtiniert?”
„Welcher Zweifel, mein Beſter?“ antwortete achſel⸗
254 Der Poſten der Fran
zudend der ſaͤchſiſche Kavalier. „Diefe elende Handvoll
Preußen! in meinem Angefichte brachen fie ihr Lager ab;
wie eine TIheaterdeforation, parole d’honneur! Das vers
fteht fie, die Potsdamer Wachtparade! Für diefen Winter,
für immer, will's Gott, wird er und in Ruhe laflen, der
großhänfige Störenfried!”
Die Preußin ftand wie vernichtet, kaum hatte fie Kraft,
des fiegedtrunfenen Eheherrn zärtlidy fohmeichelnde An⸗
näherung abzuwehren. Der geiftliche Freund fam ihrer
Pein erbarmend mit einer bedenflichen Einfchaltung zu
Hülfe. „Der Kerr Graf,” fragte er, fich zwifchen beide
fchiebend, „der Herr Graf, trügte mein Ohr mich nicht,
waren Augenzeuge der Schlacht?“
„Augenzeuge? nicht fo eigentlich, Verehrtefter,” verſetzte
der Graf. „Und eine Schladt? Nun? wenn Sie es fo
nennen wollen, ich nenne ed Schach und Matt. Über
Freyburg von unfern thüringifchen Gütern fommend, —
eine Gefchäftsreife unauffchieblich, liebes Lorchen. Indeſſen
freue ich mich des Zufall, der mir diefe artige Kleinigkeit
in die Hände fpielte.”
Eleonore fette dad Schmudfäftchen, das er ihr mit diefen
Worten überreichte, uneröffnet beifeite und erwiderte burch
einen Dankesblick die gefällige Neugier ihres Freundes,
mit welcher er noch einmal ihr eine Frift zur Samm⸗
Iung bereitete.
„Bon Ihren thüringifchen Gütern fommend, Gnä-
digfter — —?"
„Sah ich des Hildburghaufen Dispofition gen Nord
und Süd. Endlich zur Tat entfchloffen, dieſer Soubife!
In drei Kolonnen, auf vier Meilen Diftanz den Feind
ben Fluß paſſieren laflen, wahrhaftig, ed Hänge unerhört,
Der Doften der Frau 255
fäße er jet nicht dafür wie die Maus in der Falle.
Revanche für Pirna, hahaha!“
„Indeſſen, mein Herr Graf, dieſes anhaltende Feilen _.
„Das Feuern begann erft, nachdem mir beide Lager
außer Sicht waren. Der Garaus, den man ihnen madıt;
tant pis, wenn fie fidy zur Wehr gefegt. Aber, liebte
Eleonore —“
„Eine Mutmaßung demnach, lediglich, hochzuverehrender
Herr Graf, ein Schluß a priori, fozufagen, von wegen
des Schad; und Matt!”
„Eine Notwendigkeit, mein Befter, eine Naturnotwen⸗
digfeit geradezu. Eine franzöfifche Armee, eine vierfältige
Übermacht, und diefe miferablen Trümmer! Hätten Sie
ihre Klemme gefehen zwifchen Geifel und Janusrücken!
— — Aber Sie haben böfe Tage zu überftehen gehabt,
Teuerſte, — gottlob! daß fie hinter uns liegen; nach der
heutigen Affäre wird unfer vielgeliebter Herr nicht zögern,
aus Warfchau zurüchzufehren, und morgen fchon, denke ich,
daß auch wir zu einem fröhlichen Winter nach Dresden
aufbrechen fönnen.”
Gräftn Eleonore hatte allmählich Spannung und leidige
Erinnerungen zu bannen und fidy zu einem Entfchluß zu
faffen gewußt. „Nach Dresden aufbrechen?” wendete fie
mit äußerer Ruhe mindeftend ein; „nicht ich, Graf, ich
bleibe hier,“
„In diefer Sahreszeit, diefer Wüftenet, beileibe nicht,
liebes Herz,“ gegenredete fchmeichelnd der Kerr Ges
mahl.
„zu jeder Zeit und in jeder Lage, Graf. Unter dem
Drude fchwerer, gegenwärtiger Pflichten zumeift. Ich bitte,
hören Sie mich an. Noch ift diefe Stunde unfer, Gott
256 Der Poften der Fran
weiß, was die nächftfolgende bringen kann. Darum gleich
jett möge es Far werden zwifchen Sshnen und mir.“
„Wozu diefe Erörterungen, Liebchen! Vergeſſen wir
beide, was hinter und liegt, und fuchen uns in Zufunft
weniger verbrießlich einzurichten.“
„Eben weil ich fuchen will, das Vergangene zu vergeflen
und unfre Zufunft leidlicher einzurichten, muß ich auf diefe
Erörterungen dringen, Graf,” erflärte die Dame uner⸗
ſchütterlich — und gegen den Prediger gewendet, der uns
bemerft zu entfchlüpfen beabfichtigte, feßte fie hinzu:
„Bleiben Sie, mein Freund, ich wünfche, daß biefe
Unterredung einen Zeugen habe.“
„Simmel, welcher feierliche Eingang!” rief der junge
Herr im voraus ungeduldig; feine Gattin aber, indem fte
Pag nahm und den verlegen zu Boden blickenden froms
men Freund an ihre Seite winfte, verfeßte mit einem
bittern Anklang: „Sch verfpreche, Ihre Geduld zu fchonen
und das, was ich vergeflen will, fo wenig als möglich zu
berühren.“
Der Graf warf fi auf einen Seffel ihr gegenüber.
„Der Sache ein Ende zu machen, was wünſchen Sie?"
fragte er feufzend.
„Einfach: Shre Vollmacht für meine Pflicht,” antwors
tete die junge Frau. „Ich bin zu der Überzeugung ges
langt, daß ein unfteted, zerftreuended Leben, wie ich es
bis heute geführt habe, mir felbft, unfrem Sohne, Ihrem
Befisftande, unfrem gegenfeitigen Berhältniffe, Graf, un-
zuträglich ift, und nur mit dem unmwandelbaren Borfage,
hinfort Tediglicy dem Dienfte meines Hauſes zu leben,
habe ich nach einer ſchweren Erfahrung den Fuß über
feine Schwelle zurückgeſetzt.“
Der Voften der Fran 57
—————————— —
„O, der ernſthaften Kindereien, liebes Herz!“ unter⸗
brach ſie der Gemahl. „Nennen Sie das die Vergangen⸗
heit nicht berühren?“
„Nicht mehr als unerläßlich iſt. Hören Sie mich zu
Ende, Graf. Ihre Neigungen, Ihre Verhältniſſe viel⸗
leicht, fefleln Sie zurzeit an den Wechfel eines weit-
läufigen Verkehrs. Sch dürfte Sie daran erinnern, daß,
wie die Erziehung unſres Sohnes einen ftetigen Plaß, fo
die Verwaltung Ihrer Güter in hartbedrängter Zeit, der
Notftand unfrer Eingefeflenen die ununterbrochene tätige
Gegenwart eines Herrn erheifchen. Indeſſen, folange Sie
nicht felbft geneigt fein werden, ein fo ernfte Amt zu
übernehmen, befchränfe ich mid; auf die Forderung, dass
felbe mit unbedingter Bollmacht in meine Hand gelegt zu
fehen. Ich werde treu und wachſam an der Pforte Shreg
Hauſes ftehen, unfern Leo forgfältig und fräftig bilden,
feine Mühe des Erlernens und Ausübens fcheuen, mit
einem Worte, gewiflenhaft ald Ihre Statthalterin fchalten
und da, wo dad Vertrauen des Herzend wanfend gewor⸗
den ift, die Treue der Pflicht unerfchütterlich wahren.
Verlangen Sie dahingegen niemald wieder, daß ich in
einen Kreid zurüdfehre, vor welchem Sie mir wie ſich
felber erft ein Brandmal aufbrüden mußten, ehe ich zu
der Erfenntnis gelangte, daß ich in demfelben ein ver-
lorner Poften ſei.“
„Gut, ſehr gut, ganz vortrefflich!“ murmelte der
geiſtliche Herr, indem er ſich vor Bewunderung die
Hände rieb. Der aber, dem dieſe lange Rede gegolten
hatte, erwiderte ſie zunächſt mit einem unterdrückten
Gähnen, dann aber ſagte er halb lächelnd, halb vers
ftimmt:
[|
258 Der Poften der Fran
„Wie ‚hartnädig Sie find, Eleonore! Wer weiß um
jene flüchtige Übereilung, wer denft noch daran?“
„Sc weiß darum, Graf, - ich denke daran, denn vers
geben wollen heißt nicht vergeffen können. Sch fordere
daher in Gegenwart unfred Freundes Ihr Wort, und id)
werde es ftandhaft zu —“
„Quel bruit pour une omelette!“ rief Graf Morig
auffipringend. „In der Tat, Gräfin, Sie treiben ed zu
arg mit diefer falbungsreichen Erhortation. Sie haben
meine Frau angeftedt, Herr Magifter. Wollten wir Rech⸗
nung miteinander halten, liebes Kind, fo würde ich wohl
nicht minder mit einem Fleinen Sündenregifter aufwarten
dürfen. Aber ich meine, wir fchließen ab. Im übrigen
fönnte ich mir Ihr Paktum wohl gefallen laſſen, ficher
genug, daß Sie bald gelangweilt von der Tugend des
Butters und Käſemachens fommen würden, den Haus⸗
fchlüffel in meine Hand zurüczulegen und den Ballfächer
dagegen einzutaufchen. O, ich fenne meine Weiberchen!“
Wirre Stimmen vom Hofe herauf unterbrachen den
ehemännifchen, lächelnden Berdruß. „Was ift das? Schon
die Sieger?” rief er, nach dem Fenfter und dann fchnell
auf die Rampe eilend, die aus dem Parterrefaal in den
Hof herunterführte.
„Lehmann, — das halbe Dorf! Sie fchreien Sieg!“
Der Prediger drüdte der fchmerzlich bewegten Freundin
tröftend die Sand. „Der Übermut der Jugend und des
Glücks,“ fagte er. „Aber nur ftanphaft, ftandhaft, edle
Frau. Ihrer harren zwei unwibderftehliche Verbündete:
Not und Zeit, der Sieg bleibt Ihnen!“
„Sieg, Sieg!" jubelte vom Hofe herauf Die Stimme
des preußifchen Veteranen.
Der Poſten der Frau 259
Auch die Gräfin fprang auf und eilte in den Hof, der
fi im Umfehen mit einem Troß um die rüdfehrenden
Späher gefüllt hatte.
„Sieg, Sieg!” wiederholte, aller Devotion vor feiner
fächfifchen Herrfchaft vergeflend, der alte Preuße in einem
Freudenraufh. — „Gloria, Viktoria! Eine Hafenhap!
König Friedrich, hurra!“
Der Graf war im Begriff, dem unverfchämten Prahler
mit feiner Reitgerte eine Lektion zu geben.
Eleonore fiel ihm in den Arm, Mienen und Reden der
gleichzeitig Heimgekehrten beftätigten das Unerhörte. Ein
in den Hof fprengendes preußifches Pikett ließ den legten
Zweifel fohwinden. Was für ein Märchen unglaublich,
für ein Luftfpiel übertrieben gefchienen haben würde, es
wurde wahr. Ein Triumph der Schwachen, wie nie ein
zweiter mit geringeren Opfern erfauft: Geiſt und Ge⸗
wandtheit feierten ihn; eine Niederlage der Starfen, wie
nie eine zweite mit geringeren Wunden gefühnt: nur Die
Ehre der Feinde blieb als Leiche auf der Walftatt.
Kunde auf Kunde drängte fi, Maffe auf Maſſe. Ein
verwundeter Held wird preußifcherfeits im Schloffe an-
gemeldet, für den königlichen Sieger felber zur Nadıt
Quartier beftellt; die allgemeine Verwirrung, des Grafen
Beftürzung find unbefchreiblich.
„Schnell gefattelt!” rief er, aus feiner Erftarrung aufs
fahrend, feinem Reitfnechte zu, und die Gräftn haftig in den
Saal zurüdführenpd, flüfterte er mit fcheuem Blick: „Sch muß
fort auf der Stelle. Der König hält mich für feinen Feind.“
„Sch bezweifle ee, Graf,” verfeßte Eleonore mit vers
ächtlichem Achfelzuden, „der König von Preußen wird
sicht auf Sie achten.”
260 Der Poften der Fran
„Doc, doch, ich bin verdächtigt, unfchuldig, Gott weiß
ed, aber ich bis! Und wenn feldft - - mein König,
mein armer Herr — gefchlagen — —“
„Kern genug vom Schlag!“
„Ohne Land — —”
„zur Vorficht außer Lands!“
„zu ihm nah Warfhau! Was bleibt ihm, als die
Treue feiner Diener?”
„Wo der Herr, da fein — — — - Sie haben recht.”
Graf Mori wifchte fich die Augen. „Werden Sie mir
folgen, Eleonore?” fchluchzte er.
„Nein, — ich bleibe.“
„Sch darf Shnen nicht zureden, armed Weib. Eine
Reiſe, eine Flucht — unter diefen Berhältniffen, — in
diefer Sahreszeit — unfer Kleiner — Sie find eine Preußin,
man fennt Ihre Sympathien — man wird Rüdficht auf
Sie nehmen, Ihnen eine Sauvegarde bewilligen — —”
„Dhne Sorge, Graf, ich fürchte mich nicht,” unters
brach ihn Eleonore mit ſchnödem Ton und fohnöderer
Miene. |
Ein langfam in den Hof rollender Wagen unterbrad)
das peinlicye Zwiegefpräd. Der Graf fchlüpfte hinter die
Tür, vor deren Aufgang die Gräfin ruhig ftehen blieb.
Ein preußifches Pikett eöfortierte das Gefährt, in deſſen
Snnern der Leibarzt des Könige und ein Diener in preußis
fcher Livree den angemeldeten „verwundeten Helden“ unters
füsten. Der Schlag wird geöffnet, der Leidende forg-
fältig herausgehoben. Totenbleich und ſchwankend klam⸗
mert ſich die Gräfin an die Brüftung der Rampe, der
Graf ftürzt, ſich felber vergeflend, aus feinem Lauſch⸗
winufel hervor: — der befinnungslofe, blutende Gaft feines
Der Poften der Frau 261
Baufes, der Gefangene Preußens — es ift der Herzog von
Erillon!
„Tot?“ fragte Graf Moritz in aufrichtiger Angft.
„Nur fchwer bleffiert, mein Herr,” antwortete der Arzt,
mit bedenflicher Miene fchnell einen Ruheplag für den
feiner Sorgfalt Anvertrauten fordernd.
Graf Mori drüdte die fchlaffhängende Hand des Ver⸗
wundeten an fein Herz und entfernte fich haftig unter
hervorbrechenden Tränen. Kleonore, mit gewaltfamer
Anftrengung ſich zufammenraffend, geleitete den traurigen
Zug durch den Saal des Erdgefchoffes in ein anftoßendes
Zimmer, auf ihr eigned Ruhebett. Während man bie
Anftalten zu dem erforderlichen Verbande vorbereitete,
blieb fie einige Minuten mit dem Ohnmäcdhtigen allein,
‚zu feinen Füßen Fnieend, fein blutendes Haupt an ihrem
Herzen. Er fchlägt die Augen auf, fein Blic trifft den
ihren mit dem Ausdruck verzweifelnden Erfennend. „Daß
wir und niemals, niemalg wiedergefehen hätten, Eleonore!“
flüfterte er mit fchmerzbeflommener Stimme.
Der Arzt, gefolgt von Lehmann, dem preußifchen Diener
und dem hilfreichen Magifter, trat wieder ein. Die Gräfin
mußte ſich entfernen. Nod) laufchte fie an der Tür des
Kabinetts, als ihr Gemahl in der Livree feines Reitknechts,
den Fleinen Leo auf dem Arm, in den Saal gefchlichen
fam. Jede Spur einer eiferfüchtigen Anwandlung fchien
in feinem Herzen erlofchen, er umarmte feine Frau, herzte
das Kind und ftammelte unter Tränen: „Gott weiß, es
bricht mir das Herz, mein liebes Xorchen, dich zu verlaffen
in diefer Qual und Not.”
Eleonore faßte feine Hand, der Schmerz hatte ihre
höhnende Bitterfeit gebrochen. Auch fie hatte eine Schuld
262 Der Poften der Fran
zu bereuen und zu büßen. „Bleibe, Morig,” fagte fie.
„Laß und gegenfeitig vergeben und uns einander das
Schickſal fommender Tage tragen helfen. Bleibe in der
Heimat, bei deinem Sohn — —“
Der junge Mann ſchwankte, fein Knabe fchmiegte fich
an ihn; feit Jahren hatte fein Weib nicht ein fo herzliches
Wort zu ihm gefprochen. „Lorchen, mein Lorchen,“ fchluchzte
er. „Was fol ich tun? Sch haffe ja feinen, ich fürchte
auch feinen, aber ich liebe meinen Herrn, meinen armen,
guten Herrn. Was, adı, was fol ich tun?“
„Deine Pflicht, Moritz!“ fagte die Gräfin.
„Meine Pflicht!” wiederholte er mechanifch, während
fein Ohr nadı dem Fenfter fpannte. |
Rafcher Huffchlag, ein einftimmiger Ruf: „Der König!”
fhallte vom Hofe herauf. Dann alles totenftill.
„Der König!" rief Graf Morig zufammenfahrend.
„Mein König, mein armer Herr, zu ihm, fort, fort!“
Der Wagifter, der Inſpektor, der Kaushofmeifter
drängten in den Saal und Rat forderind an ihn heran.
„Dort mein alter ego!“ rief er zurüd, und mit einem
Satze war er aus ihren Augen verfchwunden.
„Den Grafen ruft die Pflicht zu feinem Landesherrn,“
fagte die Gräfin, den fliehenden Gebieter vor feinen Bes
dienfteten rechtfertigend. Dann aber audy ihn vor fich
felber rechtfertigend, fügte fie hinzu, ihren Knaben an die
Bruft drüdend: „Er liebt einen Herrn. Du aber, mein
Sohn, daß du ein Mann werdeſt, Tenne, liebe ein Bater-
land.”
Darauf nahm fie den Knaben an die Sand und eilte
nach der Tür, ihren hohen Gaft zu begrüßen.
Der König war vom Pferde geftiegen, während fein
Der Poften der Fran 263
Gefolge im Hofe zurüdblieb; mit rafcher Bewegung fchritt
er die Stufen der Freitreppe hinan in den Saal, der Meine
Mann im blauen Mantel, den Hut tief in die Stirn ges
drüct, ihr Wächter und Rater in jener Vornacht vers
hängnisvollen Kampfes und Sieged. Sein Anblid gab
ihr die volle Faſſung zurüd, fie neigte fich bi8 zur Erde
mit jenem vornehmen Anftand, der ihrer höftfchen Zeit
und Zone eigen war. Ohne fie zu bemerken oder zu be-
achten, ging er an ihr vorüber und rafch dem aus bes
Verwundeten Zimmer tretenden Diener entgegen.
„Der Herzog, Deefen?“
„Sind einpafftert, Majeftät.”
„Rufe Er den Doktor.”
Der Arzt erfchien in der nächften Minute.
„Wie fteht e8 um den Herzog, Doktor?"
„Bir haben ihm den Verband erneuert, Majeftät.”
„Sind die Wunden gefährlich?”
„sch hoffe es nicht, Majeftät.”
„Werden wir die Reife wagen können?“
„Mit VBorficht, ja, Majeftät.”
„Darf ich ihn fehen, Doktor?”
„sch werde Seine Durchlaucht auf diefe Gnade vor:
bereiten, Majeftät.”
Der Arzt "ging in dad Kabinett zurüd, der König
ftand unbeweglich in der Mitte ded Saales, die Gräfin
laufchte unter der Eingangstür in zitternder Erwars
tung.
„Bas finnt er? was hat er vor?” flüfterte der Mas
gifter, der ſich lugend hinter der Portiere verborgen hielt:
— „ahnt er, weiß er?”
„Sa, er weiß es," antwortete die Gräftn zuverſichtlich.
264 Der Poften der Frau
„Er hat das Ahnen großer Seelen und den Scharfblid,
ber dem Helden ziemt.“
„Der Herr Herzog bitten um die Gnade, vor Seiner
Majeftät erfcheinen zu dürfen,“ meldete der rückkehrende
Arzt.
„Daß er fich nicht rühre, Doktor! ich fomme zu ihm,”
befahl der Monarch, rafch und leife in des Verwundeten
Zimmer tretend. Die Gräfin folgte ihm bis an die offen>
bleibende Tür, der Herr Magifter fchlüpfte hinter ihr
drein und noch einmal zwifchen die Falten der Portiere.
Der Gefangene ftand vor feinem Ruhebett mit vers
bundenem Haupt, den Arm in der Binde, totenbleich, den
Blick zu Boden gefchlagen; der preußifche Diener und der
preußifche Exwachtmeiſter ftüßten ihn zu beiden Seiten,
ber legtere, indem er durch feine martialifchfte Miene fich
dafür entfchädigte, an dem gebührlichen Salut vor feinem
König verhindert zu fein.
Herr von Erillon verfuchte ed, feinem hohen Befucher
einige Schritte entgegenzugehen, der König kam ihm durd)
eine gebietend abmwehrende Bewegung zuvor. Raſch
und dicht an ihn herantretend, zog er den Hut und be-
grüßte ihn mit jener eigentümlichen, fchlichten Hoheit, die
ihm die widerftrebendften Gemüter zu unterwerfen pflegte.
„Kerr Herzog," fagte er, „ich beflage dad Mißgeſchick
eines Helden, deffen Bravour ich bewundert habe.“
„Sire,“ ftammelte der Gefangene, ſich tief verbeugend,
und eine dunkle Nöte überflammte fein Geficht, „Sire, -
fo viel Gnade, — nach fo viel — Schma-“
„Keine Aufregung, mein Herr!” fiel ihm der König
lächelnd ins Wort. „Sch habe Ihre Landsleute niemals
für meine ernfthaften Feinde halten mögen; meine ges
Der Poften der Fran 265
Iungene Überrafchung hat mir heute bewiefen, daß dies
Vertrauen gegenfeitig war. — Aber wie fühlen Sie fidy,
lieber Herzog?” fuhr er mit herzlichem Tone fort, indem .
er dem Berwundeten die Hand reichte. „Sch bin gefommen,
Sie ald werten Gaft in meine Hauptftadt einzuladen, um
Sie heil und neu gefräftigt Ihrem Baterlande zurückzu⸗
geben.“
Der Franzofe beugte fid) auf die Hand des Königs
nieder und führte fie an feine Lippen, während fichtbarlich
ein Schauer feinen Körper überriefelte. „Sire,“ fagte
er zitternd, „Sie find größer — ald Turenne, — denn er
verhöhnte — feine Feinde, und — Ihro Majeftät — gießen
Ol in ihre Wunden.“
Er ſchwankte; der König gab haftig ein Zeichen, ihm
Ruhe zu gewähren, und verließ das Kranfenzimmer.
„Zu Er fein Beſtes, Doftor,” damit verabfchiedete er
den ihn in den Saal begleitenden Arzt, „das mögliche,
hört Er, mir den Herzog bei Kräften nach Berlin zu
bringen. Monsieur de Voltaire fol fich nicht rühmen
dürfen, daß Roßbach Frankreich einen Mann gefoftet
habe, ver feine Schuldigfeit getan.”
Der Arzt zog fidy unter ehrerbietiger Verbeugung in
das Kabinett zurüd, Gräfin Eleonore trodnete ihre Tränen,
ein Blick hinter den Vorhang offenbarte ihr, daß der Sieger
des Tages einen Gegner mehr überwunden habe.
Mit einer rafchen Bewegung wendete fich der König zu
ihr, die er erft jet zu bemerken fchien.
„Sraf Fink, Madame?” fragte er.
Die Gräfin bemwältigte ihre Rührung und verfeßte mit
ruhiger Würde: „Majeftät, mein Gemahl ift auf dem
Wege nad) Warfchau, an der Seite feines Königs Die
266 Der Doften der Fran
Folgen dieſes großen Tages zu erwarten.” — Der König
blicfte der Dame mit gutmütigem Spotte ind Geficht.
„Und die Frau Gräfin fcheuten ein improvifiertes Stine
- raire fonder Schug und Geleite?“
„Allerdings, Majeftät. Denn man hatte fie belehrt:
der Poften einer Frau fei das Haus, in welchem fie ihrem
Sohne,” fie deutete auf den Knaben an ihrer Hand, „ben
Bater zu vertreten habe.”
„Eine heilfame Lehre, Madame, und am rechten Orte
appliziert.”
„Sie dankt fie audy einem großen Zuchtmeifter, Mas
jeftät, und der Gnade, auf ihrem befcheidenen Poften von
dem ruhmreichften Helden vifitiert zu werden.“
Der ruhmreiche Held nahm eine Prife. Dann mit freund»
fihem Lächeln feine Wirtin auf die Schulter klopfend,
fagte er leife: „Rompliment für Kompliment: die Hoſen
paflen Ihnen gut, Madame.”
Unfre Heldin lachte unverhohlen. Ihr König und Herr
reichte ihr eine Sand, indem er die andre auf des Knaben
Haupt legte:
„Nun, halten Sie mutig ftand auf Ihrem Poften, brave
Frau,” fo fchloß er feine huldvolle Vifitation; „dag ver-
heißt dem Stamme meines alten Looß noch einen Fräftigen
Zweig, und der Herr Graf von Fink wird feiner fchönen
Hausehre die Ehre feines Hauſes danken lernen.“
N
Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier
Der Regen ſtrömte am dreißigſten April des blut⸗ und
wafferftrömenden Jahres 1813, als zwei Meßbeſucher
haſtig das Ranftädter Tor in Leipzig paſſierten und im vor⸗
ftädtifchen Gafthof „Zur Laute“ das Anfpannen ihres Fuhr⸗
werfs beftellten. Die Kunde hatte fich verbreitet von einem
geftern erfolgten Zufammenftoß der ruffifchen und französ
fifchen Vorhut in der Nähe ihres Wohnortes, faum vier
Meilen von Leipzig entfernt. Es drängte fie, ihr bedrohtes
Heimmwefen zu erreichen.
Sm Begriff, ihr Vehikel zu befteigen, wurden fie von einem
Studenten aufgehalten und gebeten, ihre Fahrt teilen zu
dürfen, da die Poft überfüllt, eine andere Gelegenheit aber
auch in diefem vorzugsweife den Hauderern der weftlichen
Straße ald Ausfpannung dienenden Wirtöhaufe nicht aufs
zutreiben fei.
Der Student war ein frifches, junges Blut, in fchnurens
befegter Pekefche, das fchwarzsrot-gold geränderte Käppchen
der Thüringer Landsmannfchaft auf dem braunen Locken⸗
fopfe und gegen die Gewohnheit der handelöbefliffenen
Univerfitätöftadt den klirrenden Schleppfäbel an der Seite;
Gefundheit glänzte auf feinen Wangen, ein feuriger Strahl
aus den offenen blauen Augen. Er nannte fid) Hermann
Wille und bezeichnete als Ziel feiner Reife das Haus feines
Bormunds, eined Predigers, in der Nähe der Stadt, nad)
welcher die Herren auf dem Wege waren.
Das Geſuch wurde fo zutraulidy gemährt als geftellt;
der Student ſchwang fich auf den Rückſitz den beiden älteren
Herren gegenüber; bald bewegte fich dad Gefährt auf der
ebenen, pappelgefäumten Chauffee.
268 Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier
Nach den Schneemaffen des lange dauernden Winters
und den anhaltenden Frühlingsgüflen war der Weg heil-
108, das Fortfommen jedoch troß der plänfelnden Koſaken⸗
yatrouillen, oder vielleicht wegen derfelben ſicher wie in
Friedengzeiten. Die gefprächige Laune des Heinen, unter⸗
feßten Herrn Hofrats und des langen hageren Herrn Syn⸗
difus geriet nicht einen Augenblid ind Stoden.
Selbftverftändlicy drehte fich die Unterhaltung um die
große Tagesfrage: die Schlacht, welche die verbündeten
Monarchen Napoleon zu bieten gedachten, der, am Sieben⸗
zehnten in Mainz eingetroffen, fidy in Eilmärfchen diefer
Gegend näherte. Der Boden, auf welchem diefe Schlacht
vorausſichtlich gefchlagen werden würde, hieß ein neutraler,
denn die Entfcheidung ded engeren Vaterlandes, Sachſen,
zwifchen den beiden drängenden Parteien hing noch in der
Schwebe. Der Syndifus lobte den weifen Entjchluß feines
landesflüchtigen königlichen Herrn, daß er, feine Nefidenz
von Regensburg nad) Prag verlegend, fich den öfterreichis
ſchen Pazifitationsmaßregeln angefchloffen habe.
Der Hofrat war entfchieden franzöfifch, das heißt: napo⸗
leonifdh.
Dem gegenüber ließ e8 der Student nun aber auch nicht
an freiheitöbegeifterter Gegenrede fehlen. Er berief fich auf
die überwiegende Stimmung ded Landes, auf die Spaltung
fogar im fächfifchen Heere, den Austritt mehrerer höherer
Offiziere, die zweifelhafte Haltung ded Kommandanten von
Torgau, auf den Enthufiagmug, welchen die Proflamationen
MWittgenfteins und Blüchers in der Jugend erweckt hatten.
„Eure Wahl,“ zitierte er mit flammendem Blid, „eure
Wahl fann eure Krone in Gefahr bringen, fann dereinft
eure Kinder bei dem Gedanken an ihre Väter erröten machen;
Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier 269
aber aufhalten fann fie Deutfchlande große Bewegung
nicht.”
„Deklamiert nur immer,” verfeßte darauf der Hofrat.
„Klappert und raffelt, ftemmt und fperrt euch, foviel euch
beliebt: der Mann ift euch zu groß, ihr ftürzt ihn doc
nicht. Nie wax er größer ald heute, da er ſich wie mit
Zauberfchnelle von der Niederlage erhoben hat, welche
nicht Menfchenwig und Kraft, nur die blinde Natur über
ihn verhängte! Aufgerichtet fteht er euch gegenüber, ein
Mann, der will und weiß, was er will, ein ganzer Menſch!“
„Auch wir wollen und wiflen, was wir wollen,” rief
der Süngling begeiftert.
„Und was wollt ihr, was wißt ihr, törichte Kinder?“
„Bir wollen frei werden und ein Bott!“
„rei von was, junger Mann?“
„Frei von dem Tyrannen!“
„Bon einem Tyrannen, um fünfzig Dagegen einzu-
taufchen,” entgegnete der Hofrat. „Und ein Bolt? Nun
ja, vielleicht unter ihm und durch ihn, den Titanen, der
die Gefchichte dieſes Jahrhunderts auf feinen Schultern
trägt. Denn was ift Gefchichte anderes ald Tat und Hans
deln überragender Menfchen, wie fie dem formlofen Brei
der Völfermaffen Geftalt und Richtung geben?”
„Die Zeit heroifcher Tyrannen ift abgelaufen,” ftel Her⸗
mann ein. „Er war der lebte. Bon heute ab wird allein
das Volk feine Gefchichte machen, deren Sahrbücher werden
ſich füllen mit wohltätigem Wirken und freie Fürften über
freie Völker regieren.“
„D des Widerſinns,“ rief der andere, „freie Fürften
und freie Voͤlker! des Widerfpruchs! Klingt's doch wie
freie Lämmer und freie Wölfe. Blickt auf euere Väter
270 Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier
und Brüder, gutmütige deutfche Schwärmer! Geftern mit
Preußen gegen Franfreich; tags darauf mit Frankreich
gegen Preußen und Öfterreich. Dann wieder mit Preußen
und Ofterreich unter Frankreich gegen Rußland, und mor-
gen vielleicht mit Preußen und Öfterreich für Rußland
gegen Napoleon. Und das diefelben Männer binnen noch
nicht fieben Fahren. Und das nennt ihr wollen und wiffen,
was ihr wollt?”
„Wehe und, daß ed fo war!” verfeßte Hermann ers
rötend. „Aber ed wird anders werden; es ift ſchon anders
geworden.“
„Was ift anders geworden, junger Mann? Daß das
ausgemergelte Preußen, von ruffifchem Ehrgeiz gefirrt,
den Spieß fehrte, nachdem ein vormwißiger General die
Dreiftigfeit gehabt, feinen Verräterfopf aufs Spiel zu feßen,
in mißlicher Lage auf unmwirtlichen Wegen ftillzuftehen und
auf dieſe Weife den Karren einmal in den Sumpf gefahren
hatte? Iſt Preußen Deutfchland? Wo bleibt der Rhein-
bund, wo Öfterreich, wo —“
„Nein,“ unterbrach ihn der Student, „nicht darum; nicht
um Preußens ruhmmwürdiger Erhebung willen allein. Aber
weil ein einziger glühender Strom auch durch unfere Herzen
zieht, weil unfere Schande und brennt, weil wir dürften,
fie mit unferm Blute zu löfchen; weil wir während eines
ehriofen Lebens zu fterben gelernt haben, und ein Menſch,
ein Volk, das den Tod nicht fcheut, Fein Sklave werben
oder bleiben fann.”
„Schöne Worte, hohl wie Nüffe, Herr Studioſus,“
fpottete der Hofrat. „Und wenn ed euch gelänge, den
zu vernichten, der größer ift ald Alerander und Cäfar,
größer als Carolus Magnus, vielleicht den legten großen
Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier 271
Menfchen zu vernichten, wenn e8 euch gelänge, Pygmäen:
- das Fatum ift blind wie die Natur, und wir haben ſchon
manchen Helden ftürzen fehen über einen Peitjchenftiel,
ben eine Kinderhand auf feinen Weg geworfen hatte, wenn
die Iaunifche Fortuna ihrem Liebling untreu wurde: was
hättet ihr gewonnen, die ihr euch Deutfche nennt? Nur
die einzige Gelegenheit verfcherzt, eins zu werden und
vielleicht eines Tages auch frei, fobald eine weniger ftarfe
Hand als die feine die Zügel der Weltherrfchaft nicht mehr
feftzuhalten vermöchte. Dann, ja dann! Aber unter euren
hundertföpfigen Duodezherren, verblendete Toren, die ihr
feid! fie werden fich beneiden und haflen, morgen wie geftern;
gegeneinander fpionieren und intrigieren, werden ſich
zupfen und zerren um ein Krümchen Macht und ein Fünts
hen Glanz, und Deutjchland bleibt ein Frikaffee, und ihr,
gemütliche Sungen, wenn ihr die Kaftanien aus dem Feuer
geholt habt, werdet gehänfelte Knechte bleiben wie biöher.“
Unter derlei Kontroverjen, weldye die Gegend, durch die
fie fuhren, von Hunnen⸗ und Schwedens, Preußen und
Franzofenzeiten her in mannigfachem Wechſel anregte,
war die größte Strede des Weges zurüdgelegt worden und
hatten die drei uneinigen deutfchen Männer ed nicht vers
ſchmäht, in behaglichem Einmut das ZTofaierfläfchchen
wie die Proviantkapſel rein auszuleeren, welche der Hof⸗
rat, ein Huldiger ded Sinnes, den Idealiſten den gröbften
nennen, fürforglicd, mitgenommen hatte. Der filberne Bes
her ging die Reihe rund; der Friedensfyndifus leert ihn
auf das Wohl feines gerechten Königs, der Ruhmeshofrat
auf das feines glorreichen Helden, der Student tranf auf
das Heil des freien deutfchen Reiche, und juft war der
Öaftgeber im Begriff, Die Neige mit einem erhebenden Toaft
272 Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier
hinunterzufchlürfen, ald beim Einbiegen in die ungepflafterte
Straße eined wackern bdeutfchen Dorfes die ſchwerfällige
Kutſche zuſammenknackte und die beiden Freunde im dicken
Moraft — bucdyftäblicdy ausgedrüdt — auf der Nafe lagen.
Nur der Student, der kecklich herausgeſprungen, war fauber
dDavongefommen. Er lachte nad) Studentenart, fobald er
den anderen auf die Beine geholfen und fidy überzeugt
hatte, daß fie mit Ausnahme ihrer fchmwarzflebenden Ge⸗
ſichter und Kleider, heil Davongelommen waren.
Nachdem man fich in der Schenfe notbürftig abgewaſchen
und vom Schrecken erholt hatte, kam man überein, den
Heimweg zu Fuße anzutreten, bis die zerbrochene Achſe
wieder feftgefchmiedet fei und der Wagen fie überholt
haben werde. Der Regen hatte nachgelaffen, die Wolken
zerteilten fich, die Luft wehte frühlingsmild, die Bewegung
nach der dDurchrüttelnden Fahrt tat wohl. Man hatte tun-
lichft Erfundigungen über das geftrige Renfontre einge:
zogen und erfahren, daß Ruſſen und Preußen vor dem
jählings einbrechenden Neyfchen Korps die befeßt gehals
tene Stadt geräumt und nadı mehrftündigem Scharmügßel,
jenfeit deren öftlichen Tores, ſich nach Süden gezogen
hätten, während die Franzofen die Stadt, fowie die zus
nächft liegenden Dörfer nunmehro innehielten.
Das heillofe Wetter mochte die Operationen am heuti-
gen Tage unterbrochen haben, und fo zogen unfere Wan⸗
derer die Straße entlang, zwifchen den Franzofen in Nord
und Wert und den Verbündeten in Oft und Süd gleidy-
fam auf einer neutralen Demarfationslinie. An dispu⸗
tierlichem Stoff war ein Vorrat gefammelt worden, der
in dem Wegftündchen bis zu ihrem Ort gar nicht zu er-
fchöpfen fchien.
Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier 273
Der Hofrat war, wie ber Syndikus, feines Zeichend
Surift, und ein gefchickter Surift; bemühte fich jedoch feit
einiger Zeit, ald Dichter ein Lorbeerreis zu ernten, wie es
des fcharffinnigften Advofaten Stirn nur felten zu frönen
pflegt. Einem folhen Manne und feinen volltönenden
Schlagworten gegenüber konnte der junge Student des
Jus nicht umhin, ed mit gleicher Münze wettzumachen,
und da er felber fein Dichter war oder zu fein fich bemühte,
ftimmte er eine der ftolgen Freiheitöhymnen an, mit welchen
ein Landsmann und Mitftudent, der wirklich ein Dichter
war, fein Herz geichwellt hatte,
„Friſch auf, mein Volk, die Flammenzeichen rauchen!”
fchimetterte er, unter dem Chorus der aufwirbelnden Kerchen,
zu dem ſich Flärenden Himmel empor.
Der Hofrat deutete mit der Hand nadı einem flattlichen
Gebäude, das unfern der ſich von da ab zum Tal nieders
fenfenden Straße, eine feſte Ringmauer überragend, weit
in die Gegend hinausfchaute., „Schade!” fagte er, „daß
Sie feine Leier bei ſich führen, fchöner Nitter, um dad
Affompagnement Ihres raflelnden Schwerted zu unters
ftügen, Wir hätten Fräulein Muthchen auf ihrem Siedels
hofe ein Ständchen bringen und und der gaftlichften Auf⸗
nahme von feiten ihres Hausmeiers gewärtigen dürfen.”
Der Student pried mit befcheidenem Spott des Dichters
reiche Phantafie, die ſich aus dem Hader der Zeit in die
romantifche Vergangenheit geflüchtet habe; der Dichter aber
erwibderte:
„Sie erweifen meiner Phantafte zu viel Ehre, junger
Mann. Wir bewegen und auf realem Boden. Dort ragt
ber Siedelhof. Denken Sie fid) nun hinter feinen grauen
Mauern das fchönfte Mädchen und den gründlichiten
®
274 Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier
Narren im Leipziger Kreife, was beides etwas heißen
will — -“
„Und die reichfte Erbin die eine, die ehrlichite Haut den
anderen, was aud) nicht zu verachten iſt,“ fiel der Syn⸗
dikus ein. „Aber fchauen Sie auf, meine Herren. Lupus
in fabula! Dort drüben fprengt Fräulein Muthehen mit
ihrem Hausmeier.“
Hermann, der angedeuteten Richtung folgend, gewahrte
ein berittened, wunderliches Paar, das von Süden her
quer über die Straße jagte, fo flugesartig, daß die Wan-
derer, faum zwanzig Schritte entfernt, nicht von demfelben
bemerftwurden, vielleicht auch nicht bemerft werben wollten.
Dahingegen feine Einzelnheit der blißfchnell vorüberrau-
fchenden Erfcheinung des jungen Mannes fcharfen, ver-
fchlingenden Blicken entging.
So fah er denn eine fchlanfe, aber fräftige Amazone
auf feurigem Roß, das grüne Neitffeid, dicht am Halſe
fchließend, der Zeitmode zumider, mit langer, natürlicher
Taille, aber kaum bis zu den Knöcheln reichendem Rod,
unter welchem ein Beinfleid von gleichem Stoff und Stie-
fein von derbem Leber bemerkbar wurden. Über dem
blühenden Geſicht faß auf dem ftarfgebauten, von unge
fünftelten, blonden Locken umwallten Kopf ein graues Hüt⸗
chen, fonder Feder und Schleier; jede ihrer Bewegungen
war gewandt und bdreift.
Der Dame folgte in kurzem Trab ein baumlanger, hagerer
Fünfziger, fteilrecht und feierlich aufgerichtet, Nafe und
Kinn ein fpiter Winkel, Knies und Armbiegung eine
fharfe Ede, über dem altdeutfchen ſchwarzen Nod der
breite Hemdkragen zurücgeflappt, Hals und Bruft ents
bIößt, Haars und Bartwuchs, graugelblich gemifcht, einer
Fräulein Muthchen und ihre Hausmeier 275
Mähne gleich über die ſchmalen Schultern hinunterfallend,
barhäuptig und wenn auch nicht fchlechthin barfüßig, fo
body ohne Stiefeln oder Schuh und zwifchen den weißen,
kurzen Soden und dem fchlotternden ſchwarzen Beinkleid,
das fich beim Reiten in die Höhe gezogen hatte, eine Hand
breit nackt hervorlugend der jehnige Teil des Beine, der
bei anderen Perfonen eine Wade genannt zu werben pflegt.
Diefer Darftelung getreu präfentierten ſich dem jungen
Studenten Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier.
Die beiden älteren Herren lachten überlaut:
„Er fcheint die Entdedung gemacht zu haben, daß die
Zeutfchen ohne Fußbefleidung den Varus in die Flucht
gefchlagen,“ rief der Hofrat. „Ein Glüd, daß fie aber
den Oberfchentel in ein Büffelfell geſteckt haben follen,
fonft würden wir ihn wahrlich auch als teutfchen Sans»
eulotten im Lande umhertraben fehen. Mid; wundert nur,
daß er fich immer noch fo gewiflenhaft wäfcht und kaͤmmt,
da Reinlichfeit feine der Tugenden ift, die Tacitus de
Germanis rühmen durfte.”
„Aber das Fräulein, das tollfühne Kind!” fiel der Syns
dikus bedenflid, ein. „sch wette, daß ed eine Rekognoſ⸗
‚zierung des geftrigen RenfontresTerraind vorgenommen
hat.“ |
„Eine Erkennung ded Begegnungsbodens,“ berichtigte
der Hofrat, und beide lachten von neuem.
Hermann dahingegen blieb ernfthaft und war plößlich
fchweigfam geworden. Unverwendet folgten feine Blicke
dem feltfamen Paar. Die fchöne Dame war vor einem
Pförtchen der Ringmauer vom Pferde gefprungen, das ihr
Begleiter neben dem feinen an der Leine durch das Hof⸗
tor führte, während jene mit rafchen Schritten einen uns
976 Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier
fernen Hügel erftieg, welcher den Gipfel des Flußufers
bildet.
Das im Tal liegende, zum Gute gehörige Dorf konnte
von der Straße aus nicht gefehen werden. Nur bie
Zurmfpige der auf halber Höhe ftehenden Kirche ragte
bis zur Höhe des Hügels, defien obere Abplattung, von
einem Cifengitter umgeben und von einem gegenwärtig
noch unbelaubten, alten Eichenbaum überbreitet, den fich
bergan ziehenden, ländlichen Friedhof abfchloß. Die Dame
öffnete die Tür des Gitterd, das fie mit halbem Leibe
überragte, und fchaute wie von einer Warte nad, allen
Seiten in die Gegend.
„Diefe Geftalt,” rief jetzt Hermann, lebhaft erregt,
„diefe Geftalt habe ich auf der nämlichen Stelle fchon eins
mal gefehen!“
„Nichts Außerordentliches, junger Freund,“ verfeßte
der Hofrat. „Welches Kind meilenweit in der Runde fennte
nicht das Fräulein von Kettenloß, und welcher Reifende,
der dieſe vielbetretene Straße zieht, hätte fie nicht einmal
auf den Gräbern ihres Freienhügels gefehen?"
„Nicht daß ich die Dame kennte,“ entgegnete der Stus
dent; „ich höre ihren Namen heute zum erften Male, und
es ift länger als ſechs Sahre, daß ich diefe Straße nicht
wieder gezogen bin. Es wirb mir nur eine Begegnung
aufgefrifcht, welche jenerzeit die Phantafie des ſechzehn⸗
jährigen Alumnen lebhaft befchäftigt hat.“
„Beben Sie diefelbe zum beften, junger Freund,” fagte
der Syndikus. „Ein Abenteuer mit Fräulein Muthchen
wird jedenfalls fchmachafter fein, als Ihr politifcher Kohl
immer von neuem aufgewärmt.“
„Sie fpannen Ihre Erwartung zu hoch,“ entgegnete Her⸗
Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier 277
mann. „Sc fprach nicht von einem Abenteuer, faum
von einem Begegnen, nur von einem Blick aus der Ferne
auf diefen damals noch nicht eingehegten Plag. Indeſſen
es ſei:
„Es mochte etwa drei Wochen nach der unglüdlichen
Schlacht von Sena fein, als ich mit meinem ein paar Sahre
älteren Bruder zu Fuße dieſes Weges fam, um von dem
Sterbebette eines geliebten Vaters unter den Schuß unferer
alma mater zurücdzufehren. Weg und Wetter waren noch
heillofer als heute; wir hatten übermüdet in dem näm-
lichen Dorfe Nachtquartier halten müffen, in weldyem —“
Raſcher Hufſchlag und ein ftaunendes „Ah!“ feiner Be⸗
gleiter unterbrachen den Erzähler; der Anblid einer glän-
zenden Kavalfade, von der Stadtfeite her die Straße
hinauffprengend, ließ nicht nur das Wort im Munde, aber
das Herz in feinem Leibe ftoden. „Wer ift das?" ſtam⸗
melte er beftürzt. |
„Das ift — Er!“ rief der Hofrat begeiftert, und feine
fleinen grauen Augen blitten, ald er mit tiefer Reverenz
den Hut von der blonden Perüde 309.
Auch der deutfche Held in spe hatte unwillkuͤrlich das
dreifarbig geränderte, landsmannſchaftliche Käppchen ab⸗
genommen, und die lange Nafe des Herrn Syndifus bes
rührte um ein Saar den nachbarlichen Steinhaufen der
Shauffee. Alle Zeichen der Untertänigfeit waren indeſſen
verfchwendet. Weder „Er“ noch, einer feiner reichbes
treßten, beftederten, ordenprangenden Suite bemerfte Die
befcheidenen Wanderer. In furzer Biegung von der Straße
abfchwenfend, fprengte die Kavalfade denſelben Weg, die
Ringmauer entlang, weldyen die Dame vor wenigen Mis
nuten gewandelt war, und dem Hügel zu, auf welchem fie
278 Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier
- noch immer überrafcht, geblendet, gebannt von der außer⸗
ordentlichen Begegnung regungslos ftand. Nur der Bors
dere, nur „Er“ hatte Raum auf der fohmalen Plattform
vor dem Gitter, von welcher er durch ein Fernrohr die
Gegend nach allen Seiten überfchaute, während fein Ge-
folge am Fuße des Hügels, fo gut wie die drei Wanderer
am Straßenrand den Blick magnetiſch auf ihn gerichtet
hielt. Und ein feltfam anziehendes Bild war es ja aud,
das die Befchauer zwei, drei Minuten lang in atemlofer
Spannung feflelte: auf dem weißen Hengſt die Fleine, ger
drungene Geftalt im feftgefchloffenen, unfcheinbaren Rod,
die Krempe des Hutes, vom Regen ermweicht, tief in den
Nacken niederhangend, unter der ehernen Imperatorens
ftirne mit Falfenbliden den Schauplag fommender Taten
erfpähend, der marmorbleiche Italiener Auge in Auge dem
blühenden, deutichen Mädchen, das, — „wie die Göttin
der Freiheit,” fo murmelte unfer Student — nur durd
ein Grabgitter getrennt, ihm fo nahe ftand, daß die Hände
ſich hätten erreichen fünnen.
Die Dame hatte, vielleicht in jähem Erfchreden, mit
dem linken Arme fidy an den Stamm des Eichbaumes ge-
klammert, der als der einzige feiner Art fidy erhalten hatte,
aus jener fernen Zeit, da die Uferabhänge des Fluſſes
noch dichter Laubwald waren, und der, weithin fichtbar,
als ein Wahrzeichen ver Gegend galt. Den rechten Arm
hielt fie in nördlicher Richtung ausgeftredt, wo jenfeit
des Fluffes in ftundenweiter Ferne eine Bodenmwelle von
gleicher Höhe wie die, auf der fie fand, Die Gegend über-
ragte.
Auch ihr Gegenüber ſchaute einen Moment und deutete,
gegen einen rückwärts haltenden Begleiter gewendet, auf
Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier 279
diefen Punkt. „Der Sanushügel von Roßbach?” fragte
Hermann, deflen fcharfen Blicken feine Bewegung entging,
flüfternd den Hofrat. Kaum aber hatte er die Frage aus
gefprochen, fo Ienfte der Gewaltige fein Roß und fprengte
den Weg zurüd, den er gefommen war.
Die Wanderer ftanden entblößten Hauptes wie eins
gewurzelt auf der alten Stelle; ihre abermalige Ver⸗
beugung wurde fo wenig als vorhin erwidert, und ihre
Perfonen würden nicht bemerft worden fein, wenn nicht
eine gemütliche Schafherde ſich fonder Reſpekt vor Menfchen-
macht und Hoheit über die Landftraße audgebreitet und
die Bahn des Helden für einen Augenblic gehemmt hätte.
Er wendete dad Haupt nod) einmal zurüd nad) dem Hügel,
auf welchem das Fräulein unbewegt in der früheren Stel-
lung ftand.
„Shriemhild!” hörte man ihn zu dem ihm zur Seite
haltenden Führer feiner Garden fagen, während ein ans
mutiged Lächeln die feinen Lippen umfpielte, denen das
Lächeln eine feltene Gunft geworden fchien.
Der den Mufen huldigende Herr Hofrat wurde durch
den Namen Chriemhild in faum zu bändigende Efftafe
verfeßt. Welch Univerfalgenie, diefer Mann! Ein Dichter
vielleicht größer als er felbft! Wie geiftreidy hatte Er den
Werther deſſen Autor gegenüber fommentiert! Den deut-
[chen Poeten durdhzudte der Gedanke, dad Heldenweib der
Nibelungen, die er bis jet nur dem Namen nad) fannte,
zum Borwurf einer Tragödie zu machen.
„Wer - ift?” fragte, nadı der Höhe deutend, irgend-
ein befternter Herr der Suite den alten Schäfer, welcher
ungerührt von der außerordentlichen Begegnung auf einem
Steinhaufen der Straße faß und fein Veſperbrot in lang⸗
280 Sräulein Muthchen und ihr Hausmeier
famen Biffen verzehrte; und als der ehrliche Deutfche die
Frage nicht alfobald beantwortete, wiederholte er diefelbe
mit einem Zufag, den wir zu beutfcher Ehre nicht wieber-
geben wollen.
Der Schäfer richtete feine Augen gelaffen nad der bes
zeichneten Stelle und fagte mit einem fhmunzelnden Zug
über dem breiten Geficht: „Na, kennt Er denn Fräulein
Muthchen nicht, Herr Franzofe?“
„Fräulein — Muthken!“ wiederholte der General feinem
Gebieter.
„Quel nom barbare pour une si belle personne!“ hörte
ber Hofrat, der fich in feiner Begeifterung einige Schritte
vor, dicht an die Gruppe gedrängt hatte, feinen Heros
fagen.
„Mademoiselle Courage!“ magte er, mit einem tiefen
Büdling, zur Erläuterung auszufprechen.
Der Heros blickte ihn an und nidte mit dem Haupt,
als ob er in Diefer Übertragung den Namen paßlich finde;
bann feßte er über den Graben hinweg, daß Schafe und
Lämmer geängftigt auseinanderftoben. Die Suite der
Generale folgte ihm, die Straße zur Stadt hinab. Sm
Nu war bie blendende Erfcheinung wie eine Fata Morgana
verfchwunden. Auch Mademoiselle Courage hatte den
Sreienhügel verlaffen und war durch die Gartenpforte
nach ihrem Siedelhofe zurüdgefehrt.
ALS die Reiſenden ſich wieder allein mit dem Schäfer
und feiner Herde auf der Landſtraße fahen, löften ſich
die Berzen. Der Hofrat war fchlechthin in einem Raufch.
„Welch ein Zauber“, fo rief er, „um einen großen Mann.
Diefe antiten Heldenzüge! ich hatte fie niemals in folcher
Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier 281
Nähe gefehen. Laflen Sie und dem Pfade folgen, den
feine Spur geweiht, laſſen Sie und hinauf zu dem alten
Hünengrabe fteigen und die Landſchaft überfchauen, Die
Er zur Szene neuer glorreicher Taten erforen hat. Wer
blickt in diefed Auge und begreift nicht, daß es anders
auffaßt ald gemeine Sterbliche? daß Menfchen und Dinge,
über die es ftreift, wie in eherne Tafeln feinem Gedächtnis
eingegraben find?”
„Glückſeliger Poet!” entgegnete der Syndifus, der fonft
nicht eben ein Spötter war, „glücdfeliger Poet, deſſen
Figur er geftreift hat und der fid, rühmen darf, unfterbs
lich im Gedächtnis des ‚legten großen Menfchen‘ fortzus
leben! Aber ich pflichte Shnen bei; laflen Sie une von
dort oben nach unferem Wagen ausfpäahen, da es nicht
geraten fein möchte, unfere Bagage dem Zufall der Land⸗
ftraße preigzugeben, wir auch zu Fuße mit unferen fotigen
Habitern einen Fläglichen Einzug halten würden in der
Stadt, welche der Titan durch feine Gegenwart verewigt.“
Sie gingen voran; Hermann folgte ihnen in, fchwei-
gender Bewegung. Bald ftanden fie auf der Höhe und
blicften über das jest verfchloffene Gitter auf zwei Gräber
unter dem alten Baum, deſſen Schaft das Fräulein vorhin,
fei e8 im Schred‘, fei e8 mit Bedeutung, umflammert hatte.
Der eine der Hügel war fauber gepflegt und mit Frühlinge-
blumen gefchmüdt, der andere einfach mit Rafen belegt.
Kein Name war auf einem Stein oder Kreuz bezeichnet.
Die Abendfonne, die Woltenfchicht Durchdringend, be>
leuchtete die Gegend in ihrem blühenden Lenzesſchmuck;
der Blick fchweifte über den Friedhof mit feiner Kirche,
dann über das Dorf hinweg ftromauf firomab den Fluß,
der wie ein filberned Band das Tal durchfchlängelt, im
282 Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier
Werften begrenzt durch die Stadt, mit ihrem beherrfchenden
Schloſſe, zahlreiche Kirchfpiele, Wald, Wiefe, Nebhügel
und frifchgrüne Saatfelder boten einen erfreulichen Wechfel.
Nach fchwindelndem Aufſchwung, wie nadı fchlaffem
Ermatten ift ed ja allezeit die Natur, weldye dad Gemüt
wieder in ein Gleichmaß feßt, und fo konnten auch unfere
Wanderer dem nicht blendend, aber wohltuend vor ihren
Augen ſich entfaltenden Reize nicht lange widerftehen, ohne
von dem Außerordentlichen zum Tagedgewohnten zurüds
zufehren: zunächft zu Fräulein Muthchen und ihrem Haus⸗
meier, deren Walten und Wirken fie in den wohlbeftellten
Feldern und Gärten, der firengen Ordnung in Haus und
Hof verftändlich vor fid) ausgebreitet fahen.
Alles war fchlicht und dauerhaft, wie um der unruhigen
Epoche zu trogen, nichts prunfvoll angelegt; Fein Ziers
ftrauch, Feine Blume in den weitläufigen Gärten; aber
jedes Fleinfte Fleckchen zu nutzbringendem Ertrage beftellt.
Man bemerfte den Hausmeier, — jest in ftarfen Schuhen
und grobem Leinenfittel, — wie er im Hofe mit würde:
voller Gelaffenheit hin und wider fchritt, Mauern, Türen
und Läden gewiflenhaft unterfuchte, dann wieder den Kopf
aus einer Dachlufe ftredte und dem Hofgefinde Weifung
gab, den durch das geftrige Plänflerfeuer angerichteten
Schaden wiederherzuftellen.
Aud das Fräulein erfchien von Zeit zu Zeit im Hofe
in dem nämlichen grünen, feine ihrer rafchen Bewegungen
hindernden Anzug, den fie vorhin zu Pferde getragen hatte.
Der Syndikus bemerfte, daß fie erft feit einem Monate
dDiefed grüne Kleid gegen ein ſchwarzes vom nämlichen
Schnitt, welches fie feit dem Tode ihrer Mutter nicht ab⸗
gelegt, vertaufcht habe; und der Hofrat meinte lachend,
Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier 283
daß Preußens Kriegserflärung ihr die Farbe der Hoffnung
wieder wert gemacht. Man fah die Dame die im Hofe
mit Aufräumen und Zutragen befcjäftigten Arbeiter an⸗
ftellen und antreiben, jeden Mangel, jeden Schaden augen-
blicklich entdeden, prüfen, abhelfen, rafch und entſchieden
felber Hand and Werk legen; man mußte ſich fagen, daß
nur auf diefe refolute, pünftliche Weiſe, bei firengem Zus
fammenhalten bedeutender Mittel, die mufterhafte Ord⸗
nung eined Befigtumsd aufrechterhalten werben konnte,
das in der bedrohlichiten Lage, feit faft fieben Sahren, den
Requifitionen, ja Plünderungen von Freund wie Feind
ausgefeßt geweſen war, erft fürzlich den aus Rußland
geflüchteten Scharen entblößter, fiebernder Franzofen ale
Spital und bis vor wenig Tagen dem Stabe ded am
weiteften vorgebrungenen ruffifchen Korps ald Quartier
gedient hatte, eined Beſitztums, auf deflen. Grund und
Boden geftern einige der erften Opfer deutfcher Befreiung
gefallen, in deflen Mauern die erften Kugeln des neuen
Feldzugs gedrungen waren und in deflen nächfter Nähe
ſich die erfte hochwichtige Entſcheidungsſchlacht vorbereitete.
Der Syndifus, welcher der Gutöherrin Suftitiarius war,
erzählte, wie hausmütterlich heiter er die Dame neulich
mit den Koſaken haufend angetroffen habe und in weld)
wehmütiger Stimmung ſich diefe Naturföhne von ihren
Biertonnen und Krautfübeln getrennt; wie fie beim Ab»
fchied immer wieder umgefehrt feien, ihr vom Pferde
herunter die Hand gereicht und gerufen haben: „Mutter
Muthchen, gut Mutter Muthchen!“ um darauf unter den
traurigften Molltönen ihres VBorfängerd und dem einfachen
Akkompagnement ihrer Rohrflöten weniger gaftlichen Her⸗
bergen entgegenzuziehen. „Sa, ein Kernmädchen, dieſes
284 Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier
Muthehen, das dem Teufel und feinen Scharen ſtand⸗
halten würde, ohne mit der Wimper zu zuden!” fo fchloß
der Syndikus diefe wie einige ähnliche Mitteilungen. Der
Hofrat rief aus:
„Sa, bei Gott! Schade um die fchöne Perfon und um
ihr Schönes Geld!”
„Schade inwiefern?” fragte Sermann, welcher ben
Schilderungen mit dem lebhafteften Anteil gefolgt war.
„Beil fie beide nur einem freien deutfchen Danne
zugute fommen laflen will,” antwortete jener lachend,
„und über diefem Vorſatz, allem Anfchein nach, zur alten
Jungfer werden wird, infofern Held Kupido fid am Ende
nicht Doch noch unmwiderftehlicher als Held Bonaparte, ja
als der unwiderftehlichfte Damenheld erweifen follte. Unter
allen Umftänden — wenn die Gefchichte wahr ift, die man
ſich ihrerzeit. einftimmig erzählt hat —, unter allen Um⸗
ftänden war ed die graufamfte alberne Schrulle ihres
phantaftifchen Vaters, dem armen, blutjungen Dinge, im
Moment der tiefften Zerfnirfchung, hier am offenen Grabe
ber Mutter quafi ein Kloftergelübde aufzuerlegen, anftatt
fie im Gegenteil darauf hinzumeifen, daß, wenn in der
allgemeinen Zerrüttung Spiel und Tanz der Jugend vers
leidet werben, die Freuden der Liebe fie für vieles und
eine Frau für alles zu entichädigen imftande find.“
„Diefe Auffaffung ift freilich der des feligen Major
eine ſchnurſtracks entgegengefegte; recht aber haben Sie
in der Hauptſache,“ wendete der Syndikus ein. „Und
wenn ich Shnen ebenfo zugeben muß, daß die Niederlage
von Sena, verbunden mit dem faft gleichzeitigen Tode feiner
Gattin, den Mann einigermaßen wirbelig gemacht hatte,
fo muß ed um fo mehr wundernehmen, wie feine Tochter,
⸗
Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier 285
ihrer kuriofen Erziehung und am Ende gar der abenteuers
lichen Beftattungsizene zum Troß, dad, was fie geworden
ift, unfer Fräulein Muthchen, werden konnte.“
„Sie erwähnen einer Beftattungsfzene, mein Herr,“
nahm jet Hermann dad Wort, „und führen mich damit
auf die Begegnung zurüd, die id; Ihnen mitzuteilen im
Begriffe war, ald — -”
„Fahren Sie jet fort, junger Freund,” unterbrady ihn
der Hofrat. „Seben wir und, da der Wagen noch immer
auf fich warten läßt, auf den Steinblod vor diefem vers
meintlichen Hünengrabe, das der tolle Major zum Freiens
hügel umgetauft hat. Die Sonne foheint warm, und Die
Luft weht erquicklich. Ihre Erzählung fol uns die Täftige
Wartezeit verkürzen.“
Die beiden älteren Herren breiteten bei den Worten ihre
Neifeüberröde von Kalmud fürforglicy über den Stein
und nahmen Plas, während der Student, ihnen gegenüber:
ftehend und von Zeit zu Zeit einen Bli in den Gutshof
werfend, alfo begann:
„Wir hatten, wie ich fagte, in jenem Dorfe übernachtet,
waren aber vor Tagedgrauen fchon wieder auf den Füßen.
Kaum lagen die legten Käufer hinter ung, als, von einem
Seitenwege einbiegend, ein Fuhrmwerf auf die große Straße
lenkte und fo langfam vor uns herfuhr, daß wir eine
Strecke dicht hinter ihm Schritt zu halten, auch bei dem
bämmernden Morgen ed genau in Augenfchein zu nehmen
vermochten. Es war ein einfacher Korbwagen, mit einem
Paar Rappen befpannt und gelenkt von einem Mann, der
in einen ſchwarzen Mantel gehüllt und mit einem totens
fahlen Geficht und Knaben den Eindrud eines Märchens
fürften oder wenigftend ben eines unheimlich großen
286 Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier
Erdenherrn machte. An feiner Seite faß unbeweglich ein
blondes Mädchen etwa meines Alters in tiefem Trauer⸗
leid. Die Nüdfige des großen Holfteiner Wagens waren
fortgenommen und durdy einen fchwarzverhüllten Gegen-
ftand erfeßt, der fich als ein Sarg nicht verfennen ließ.
Unbemerft folgten wir dem feltfamen Konduft, wie er in
der Nähe des Edelhofes abbog, längs der Gartenmauer
fih bewegte und auf diefem Hügel ftillehielt. Etliche
Männer hielten bereits vor einem frifch gefchaufelten ®rabe,
anfcheinend Dienftleute des Hofes, Doch meine ich unter
ihnen mid) auch der Geftalt zu erinnern, welche die Herren
Fräulein Muthchens Hausmeier tituliert haben, nur daß
er dazumal in fnapper, fchulmeifterlicher Tracht und fogar
mit einem flattlichen Zopf angetan war.“
„Ganz recht,” fiel der Hofrat ein; „er hat fich erft an
dem Tage, von welchem Sie erzählen, junger Freund, den
Zopf nicht etwa abgefchnitten, denn der Zopf ſteckt ihm
heute wie damals im Geblüte, aber losgebunden und frei
ald Lömenmähne um feine Schultern wallen laſſen; wie
denn überhaupt der cherusfifche Geſchmack in ihm auf:
gewacht ift, nachdem die fräntifchen Sieger ihm recht gründs
lid) im Magen lagen.“
„Die Sonne”, fo fuhr Hermann fort, „ging in diefem
Augenblid auf, hell und Mar, wie fie feit Wochen nicht
gefchienen hatte. Das trauernde Paar flieg vom Wagen,
ber Sarg ward heruntergehoben und ſchweigend verfentt.
Das Gefinde entfernte fi) auf einen Wink des fchuls
meifterlichen Anordners; das junge Mädchen fanf auf bie
Knie, während der bleiche Herr im Trauermantel nebft
dem im Zopf Schaufel um Schaufel die Grube füllte.
Als das Werk vollbracht war, ftredite der, welchen ich den
Sräulein Muthchen und ihr Hausmeier 287
Bater nennen will, den rechten Arm in die Höhe wie zu
einem Schwur. Seine Lippen bewegten fidy, was er aber
ſprach, war fo leife, daß wir es nicht verftehen fonnten.
Das junge Mädchen erhob fich, legte mit ruhiger Gebärde
ihre Rechte in die feine und rief vernehmlich: ‚Sch ſchwoͤre
es!“ Dann wendeten alle drei fich langfam dem Haufe
zu; fie gingen dicht an und vorüber; der Kerr blidte finfter
auf die fnabenhaften Zeugen. Die Dame fchaute und voll
ins Geficht; ihre Züge waren jünger und zarter als heute,
aber die nämlichen, Die ich vor einer Stunde auf den erften
Blick wiedererfannte. Die Züge Fräulein Muthchens.“
„Shre Schilderung“, fagte der Hofrat, nachdem Her⸗
mann gefchloffen hatte, „fimmt genau mit denen überein,
welche felbft in jener Zeit allgemeinfter Aufregung die
Gemüter lebhaft befchäftigt haben. Wie die heimliche
Szene eigentlic, fund geworden ift, weiß Gott. So etwas
fliegt in der Luft. Die einen lächelten darob, die anderen
fühlten fich zu Tränen gerührt. Der Major Kettenloß
war einer von den wenigen Sachſen, der in dem Feldzug
von 1806 den Sturz des gehaßten Imperators erwartet
hatte. Wie er nun heimfehrt von der Doppelniederlage
ded vierzehnten Oktober, die Seele zerwühlt durch die
Eindrüde der allgemeinen, wüften Entmutigung, wie durch
die Gewißheit des Übertritts feines Kriegäheren zu dem
gehaßten Fremdling, findet er feine allezeit kränkelnde
Gattin der Angft und Qual um ihr Eigenfted, wie um
dad Allgemeine unterliegend. Alle teueren Bande find
ihm mit einem Schlage zerriffen. Um ſich felbft und feinem
einzigen Kinde die peinigende Erinnerung unauslöfchlich
einzuprägen, fährt er bei Nacht und Nebel allein mit feiner
Tochter die Gattin von Leipzig, wo fie geftorben war, nicht
288 Fräulein Muthchen und ihr Haugmeier
etwa in die Familiengruft, die fich auf einem anderen
Gute befindet, fondern hier auf diefen Hügel, den der
Bolfdglaube zu einem Hünengrabe ftempelt, das heißt zu
einer Maffengruft jener foharmanten, fchiefäugigen Bars
baren, welchen der Finkler in diefer Gegend den Garaus
machte und das Ofterland für alle Zeit aus den Händen
riß. Er, der Major nämlich, beftattet die Leiche in der von
Ihnen beobachteten Weife und nimmt bei der Gelegenheit
feiner Tochter das Gelübde ab, nicht früher einem Manne
anzugehören, ald bis die Scharte des Vaterlandes aus-
gewegt fein werde, und, notabene, auch dann nur einem
folhen Manne, der fid an diefem bedenflichen Mords
gefchäfte heidenmäßig beteiligt haben wird. Der Major
war überhaupt, ich weiß nicht ob ein Don Quixote, oder
im Ernft fo eine Art von Sato, ald welcher er fich darzu⸗
ftellen beliebte; jedenfalld ein exrzeffiv ungemütlicher Ge⸗
fel. Er zeigte fchon vor jener Kataftrophe die hale-
ftarrigfte Verachtung des Sahrhunderts, deſſen aufflärenden
Beruf wir anderen preifen. Seiner feiner Koryphäen fand
Gnade vor feinen Augen, der einzige Alte Frik etwa aus⸗
genommen, und auch diefer nur ald Soldat und mit einem
fauerfüßen Geficht, denn wie er auch den Germanen
herausbeißen mochte, der Major blieb ein Sachſe und der
Kris ein Preuße, das heißt Hund und Kate von Natur,
junger Herr. Überall witterte er VBerweichlichung, Ent:
artung und Verfall, felber — obgleich er ein Kenner war
- in dem Aufblühen unferer Literatur und Kunft, mins
deftens in deren Einfluß auf das deutfche Voll. Die Eins
drücde der Franzöfifchen Revolution und der Rheinfeldzüge,
an denen er teilnahm, konnten feine peffimiftifche Anlage
nur verfchlimmern, Seit den Tagen von Raftatt fah er
Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier 289
Deutfchlande Untergang voraus, und feine Hoffnung auf
Erfolge von 1806 muß eine Intonfequenz genannt werden,
in welche auch folche ftarrföpfige Naturen, ja diefe erft
recht, zu verfallen pflegen.
„Diefem eigenfinnigen Eifenfrefler war ed nun aber bes
fhieden, alles was Zärtlichkeit an ihm hieß, an eine Frau
zu heften, fo weich und durdhfichtig, daß ein Lufthauch fie
umblaſen fonnte und ſechs Söhne, die fie ihm ſchenkte, bald
nach der Geburt wieder fterben zu fehen. Nur ihr leßtes
Kind, ein Mädchen, fam fo lebensfähig zur Welt, daß an
ihm eine heidenmäßige, fpartanifche Erziehung ing Wert
gefeßt werden durfte. Der Anfang derfelben wurde mit
dem Namen Erdmuthe gemacht. Die Mutter mochte den
Aberglauben des Volkes teilen, nadı weldyem ein Kind,
aus deffen Namen ſich das Wort ‚Erde‘ zufammenfegen
läßt, gegen den Tod gefeit iſt. Den Vater beftimmte Die
Zufammenfegung mit ‚Mut‘, die Eigenfchaft, welche er
zuerft, ja einzig, am Menfchen fchäste. Man kann ſich
der Berfuchung faum entfchlagen, den wütigen Heißſporn
im Grunde feined Herzens für eine Memme zu halten.
Denn wer führt das, was wirklich fein Lebensprinzip ift,
bei jeder Gelegenheit auf der‘ Zungenfpige? oder wer
fchäßt an anderen nicht zumeift dad, was er in ſich felber
vermißt?”
„Sie tun dem Manne unrecht,” fiel hier der Syndifus
ein, „ich bin in den mannigfaltigften Beziehungen zu dem
Major von Kettenloß gewefen, habe ihn aber niemals vor
einer Gefahr zurückweichen, nie ein Unrecht begehen oder
auch nur dulden fehen, fobald er ed zu hindern imftande
war, habe ihn niemals eine Unwahrheit fagen, niemals
fchmeicheln oder heucheln hören. Und das find doch wohl‘
®
290 Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier
die Kriterien eined angeborenen, nicht eines fich felber
aufgedrungenen Muted. Was dahingegen die Erziehung
feiner Tochter betrifft, lieber Freund, fo haben Sie redht:
er fuchte die Eigenfchaften in ihr auszubilden, an deren
Mangel er feine Generation krank wähnte Alle Welt
theoretifierte ja dazumal über Erziehung. Die einen ver:
langten Freiheit, ja Willfür, die anderen Ehrerbietung
und Unterordnung; diefe Bildung zum Schönheitsideal,
jene Natürlichkeit bis zur Unbildung. Unfer Major forderte
Mut, pofitiven Mut, das heißt zunächft Kraft, auch bei
den Frauen, den Müttern des Fünftigen Gefchlechts.
„Das Feine Muthchen wurde daher von der Wiege ab
nach der Möglichkeit abgehärtet, Fräftig genährt, kalt ges
badetz; fie lernte früher fehwimmen und reiten als Iefen
und fchreiben. Die leifefte Anwandlung von Zaghaftig-
feit und Furcht, Efel oder Aberglauben wurde im Keime
oft mit den härteften Gegenmitteln erftidt. Die Gegen-
ftände ded Unterricht und feine Methode entfprachen
fpäterhin diefem Fräftigen Syftem. In welchem Maße die
weiche, zärtliche Wutter bei diefer Behandlung litt, ift
nicht mit Worten auszuſprechen. ‚Was foll aus dem
MWildfang werden?‘ hörte ich fie mehr als einmal lagen.
‚Die erften Reize des Weibes, Sanftmut, Demut und
Anmut, werden in ihr audgetilgt; fie wird niemals ges
liebt werden, niemals einen Mann glüclich machen.‘
„„Wenn Männer Sklaven werben, müflen die Frauen
fid) felbft regieren Ternen, pflegte ihr Gemahl mit
finfterer Miene darauf zu antworten. Oder, wenn er
einmal in freundlidy mitteilfamer Stimmung war, dann
fagte er auch wohl: ‚Deine eignen Worte, Liebes Weib,
firafen dich Lügen. Hat doch die Offenbarung unferer
Fräulein Muthchen und ihr Haugmeier 291
Sprache jene eure ureigenften Reize aus dem Mut ab»
geleitet; ja felber der Schmerz in feiner edelften Er-
fcheinung wird ald Wehmut weiblichen Geſchlechts. Euer
Reich ift das Gemüt und fol es fein und bleiben. Aber
auch das Gemüt fließt aus dem Mut, ja Herz und Mut
haben, beherzt und mutig fein ift bei den Deutfchen,
mindeftend im Hort der Sprache, die der Himmel behüten
möge, noch ein und das nämliche. Gönne daher unferem
Muthehen, dad und Tochter und Sohn zugleidy fein fol,
ihren mutigen und fogar mutwilligen Sinn. Ihr Leben,
heute noch ein Spiel, morgen wird's Ernft, und je herz-
hafter fie es zu faflen weiß, um fo herzlicher wird fie eines
Tages einem braven Manne angehören.‘ ”
„Sn der Tat eine artige Galanterie unferer erften ges
heimnisvollen Sprachfünftler,” fo unterbrady an dieſer
Stelle der Hofrat den Erzähler, „eine artige Galanterie,
daß fie dem gemeinfamen Stammvater Mut einen Kreis
von lauter Lieblichen und Löblichen Töchtern und da⸗
gegen ald Söhne eine Schar häßlicher Unholde angeeignet
haben.”
„sch dächte, Armut und Schwermut wären juft auch
feine Huldinnen,“ wendete der Syndikus lachend ein,
„Aber doch rührende Genien.“
„Für den gutgelaunten Poeten, bei wohlbefegter Tafel!
in der Wirklichkeit jedoch — —”
„Keinenfalld von der feindlichen Sorte, die und Menfchens
finder ald Mißmut, Unmut, Kleinmut, Wankelmut, Übers
mut, Hochmut fchifaniert und turbiert.“
„Zugeftanden; und müflen wir für dieſe unhöfliche
Laune unferer Grammatif und mit einer anderen widers
wärtigen Stammesgenoſſenſchaft tröften, Die von der Selbft-
292 Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier
fucht bis zur Schwindfucht mit faum größerem Rechte
ausſchließlich dem fchönen Geſchlecht vindiziert worben ift.
Um aber zu unferem Major zurüczufehren, fo hielt er ſich
ftatt an jene unartigen Sprößlinge in der Erziehung
wenigftend an die wohlgearteten. „Es ift ein Zeichen der
Schwäche an den Männern,‘ prägte er feinem Muthchen
ein, ‚wenn fie die Schwächen der Frauen reizend finden.
Die Frau in ihrem Gebiet braucht diefelben Kräfte und
Tugenden wie der Mann, ja fie braucht fie Doppelt, denn
fie hat mehr zu leiden und dad nämliche zu tun.
„Das Schlachtfeld der Frau ift dad Kranfenbett, mag
fie darauf liegen oder daran Wache halten, und wenn
fie vor einem Blutstropfen in Ohnmacht oder vor einer
Spinne in Krämpfe fällt, ift fie fo wenig dad, was fie
fein fol, wie der Mann, welcher dem Feinde gegenüber
die Flinte ind Korn wirft. Sie hat unparteilich unter
denen, die ihr dienen, Recht zu fprechen, Ehre und Ord⸗
nung im Hauſe aufrechtzuhalten, und dazu gehört Mut.
Sie fol ihre Kinder nicht nur ftillen und hätfcheln, fondern
fie ziehen und züchtigen, und dazu gehört wieder Mut; fie
fol ihnen im Notfall den Vater erfegen können, und dazu
gehört Mut, großer Mut. Sie fol dem Freunde freimütig
raten, dem Feinde großmütig vergeben, fo gut wie der
Mann, und wie langmütig muß fie ald Gattin Launen
und Schwächen bes Gatten tragen, wie heldenmätig der
Roheit entgegenzutreten wiflen, wenn fie in ihrem Amte
treu erfunden werden fol?‘ “
„Und welches ift ſchließlich das Schickſal dieſes außer⸗
orbentlicen Mannes geweſen?“ fragte Hermann, ber
mit ben lebhafteſten Zeichen des Intereſſes diefen Mit-
teilungen gefolgt war.
Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier 293
„Sie ftehben vor feinem Grabe,” antwortete der Syn⸗
dikus. „Seit jenen unglüdlichen Oftobertagen trug er
den Todeskeim in fich; unter dem Eindrud des letzten
mißglücten Widerftandes brady er zufammen. Er hatte
felbftverftändlich unmittelbar nach Sachſens Beitritt zum
Rheinbund den Militärdienft verlaffen und lebte feitdem
auf diefem Gute, obgleich er reicher eingerichtete in ſchö⸗
nerer Lage befaß. Er redete fich ein, daß, wie ſchon mehr
als einmal eine große Enticheidung zwifchen diefen Korn
flächen im Herzen von Deutfchland erfolgt fei, aud) dies⸗
mal die Erlöfung fich in ihrem Umkreis vollbringen werde.
Als fein zehrender Zuftand fchon bedenklich um fich ge-
griffen hatte, wankte er noch immer jeden Mittag hinaus
auf den Freienhügel, legte ſich, um ſich gleichfam auf die
Grabesruhe vorzubereiten, ftundenlang nieder auf feinen
erwählten legten Erbenplag unter der alten Eiche neben
der Gruft der geliebten Frau.
„Bei der Kunde von dem gefcheiterten Schillfchen Unter
nehmen fteigerte fich fein Fieber zur qualvoliften Unruhe.
Am Tage der Schlacht von Wagram fand man ihn tot
auf diefer Stelle. Damit aber auch ber leßte Aft nicht
ohne eine gewifle Abfonderlichkeit vor fich gehe, mußte
feiner Anordnung zufolge fein Leichnam, gehüllt in den
Trauermantel, den er feit dem Tode der Gattin getragen,
ohne Sarg verfenft werden. Der Auflöfungsprozeß follte
fich fo rafch als möglich vollziehen, und feine Atome follten
dem alten Freiheitöbaume feines Volkes frifche Nahrung
geben. Jeden Schmud feined Hügels, wie die Bezeich-
nung mit feinem Namen Kettenloß hatte er unterfagt, fo-
lange das Baterland in Ketten liege.
„Kurz vor feinem Tode ließ er feine erft achtzehnjährige
294 Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier
Tochter mündig fprechen und jedem beauffichtigenden
Kuratorium entziehen. Meine Einwände gegen dieſes
gewagte Vertrauen bei des Fräuleind Tugend und einem
fo vielfeitigen Befiß wies er mit den Worten zurüd:
‚Sie foll eine ftarfe Aufgabe haben, um der VBerwaifung
an Eltern und Vaterland nicht zu unterliegen.“ Und er
hat das Kind nicht überfchägt. Fräulein Muthchen hat
fi) ihrer Aufgabe gewachſen erwiefen wie der tüchtigfte
Mann, freilich aber auch an ihrem Faftotum, dem Haus:
meier, eine Stüße gehabt, wie feine zuverläffigere gefunden
werden konnte.“
„Wer ift denn nun aber eigentlicd; dieſes wunderliche
Faftotum von einem Hausmeier?“ fragte Hermann zum
Schluß.
„Der frühere Erzieher des Fräuleing, feines Zeichens
und Namens Magifter Polyfarpus Storch, oder in feine
gegenwärtige Mundart überfegt: Meifter Vielfraß Storch.
Als Sohn eines Predigerd auf einem Kettenloßfchen Gute
war er ded Majord Tugendgefpiele und wurde durch
die Sympathie der Franzofenfreflerei fein Freund. Im
übrigen, troß feiner Monomanie oder wenn Sie wollen
Narretei, ein Mann, der Kopf und Herz auf dem redhten
Flecke trägt, der für feine Zöglingin durchs Feuer ginge
und ihr die erfprießlichiten Dienfte leiftet als Rentmeifter,
Baumeifter, Wirtfchaftsinfpeftor oder, wie er felber es
benamfet, ald Hausmeier und Vogt der Edel» und Siedels
höfe feiner Gebieterin, des Freifräuleing Erdmuthe von
Kettenloß.” 7
„Das wäre ein Paar, deflen Bekanntſchaft ich machen
möchte!” rief der Student. -
„So laffen Sie uns einen Beſuch auf dem Siedelhofe
Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier 293
abſtatten,“ verſetzte der Hofrat; „die geſtrige Kriegsſzene
vor feiner Tür und unſer zerbrochener Wagen find ein
hinlänglicher Vorwand, und Ihr raffelnder Säbel wird
eine treffliche Empfehlung fein. Kommen Sie, junger
Freund. Ich führe Sie bei Fräulein Muthchen und ihrem
Hausmeier ein.”
„Sc werde indeflen nach unferem verunglüdten Fuhr⸗
werf ſehen, deffen Herftellung ſich über Gebühr verzögert.
Sobald es heil ift, hole ich die Herren bei Fräulein Muths
chen ab,” fagte der Syndikus, fid) empfehlend.
Die beiden anderen fchlugen den Weg nad) dem Hoftor
ein. Der Hofrat meinte lachend: „Hüten Sie fich nur,
daß Sie von der Schönen und ihrem Leibnarren nicht
eingefangen und fo en passant für den Dienft der Freiheit
gepreßt werden, Sie deutfcher Schwärmer!”
„Das Befte, was ich mir wünfchen fönnte!” entgegnete
Hermann, gleichfalls lachend.
Der Hausmeier und Vogt des Freifräuleind Erdmuthe
von Kettenloß, den man im Hofe über der Probe einer
Feuerfprige antraf, fchien dem dichtenden Serrn Hofrat
nicht fonderlich grün zu fein, denn er würdigte ihn faum
eined Gegengrußed, während er den frifehblühenden Stus
denten mit fichtbarlichem Wohlgefallen betrachtete. Als
der ältere Herr, unbekeidigt durch die teutonifche Grobheit,
den Studiofug juris Hermann Wille vorftellte, fragte er:
„Hermann Wille! Ein Sohn des weiland biderben
Pfarrherrn David Wille zu Studnig im Leipziger Kreiſe?“
Hermann bejahte die Frage, und der Alte fuhr fort:
„Dahero ein Bruder des Plagmeiftere Wille, welcher
ald Beigeordneter des fächfifchen Befehlshabers den tapfer
296 Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier
ren Welfenherzog in diefen Gauen fchmählid, behelligt
hat.“ |
„Sa, mein Herr,” antwortete Hermann, ein Lächeln
unterdrüdend. „Leutnant Wille, der damalige Adjutant
unfereds Kommandanten von Torgau, General Thieles
mann, ift mein Bruder.”
„Keine derartige Babelverwirrung in Eurem Munde,
junger Mann,” verwies der Hausmeier. „Säubert das
Heiligtum Eurer Sprache. Teutfhe MWürdige an die
Stelle fränfifcher Maulhelden! Fort mit dem welfchen
Mummenfchanz! Keinen Leutnant, feinen General! Ein
teutfcher Plaßmeifter, ein teutfcher Feldmeifter über dem
teutfchen Wachtmeifter, neben dem teutfchen Hauptmann
und OÖberften, um fräntifche Unzucht über die teutfche
Scheide hinaus zu jagen! Anjeto die zweite Frage:
Warum dient der Sohn eines teutfchen Mannes unter
den Söldlingen des Unterdrückers?“
„Weil er feinem Kriegsheren Treue gefchworen hat,
Herr Magifter,” verjeßte Hermann.
„Barum fchwur er ihm Treue, da er frei und jener
von der Bergögung geblendet war? Warum entfleucht er
nicht heute unter das Banner feiner teutfchen Brüder?“
„Sie predigen Emeute, teutfcher Mann!” rief der Hof:
rat, während Hermann fchwieg.
Der lange, hagere Magifter Story warf einen grim⸗
migen Blid auf den furzen, rundlichen Franzofenfreund,
fuhr jedoch, ohne fidy ftören zu laffen, gegen den Stu-
denten gewendet fort: „Und Shr, junges Blut, tragt
Shr ein teutfched Schwert zu eitlem Prahl? Wie lange
wollen teutfche Sünglinge ihren Müttern noch müßig in
den Kloßtopf guden? Iſt ed an der Zeit, über den Geſetz⸗
u
Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier 297
büchern des ausländifchen Altertums zu Fauben, derweil
dad Recht Eured Vaterlandes mit Füßen getreten wird!
Fort mit den Grübelfängen! Feuerfchlünde find die Löfung!
Auf, Hermann! fein teutfcherer Name! Auf, Wille! fein
teutfcherer Seelenfinn! Auf, Hermann Wille; Teutfchlande
große Stunde hat ausgehoben!“
Nach diefem Aufruf, der von der Feuerfprige, wie von
einem Katheder herab, umringt von gaffenden Knechten
und Mädchen, unter dem begleitenden Geblöf der heim⸗
fehrenden Schafherde gedonnert worden war, gab Magifter
Polykarpus Stordy noch einen mächtigen Waflerftrahl zum
beften, vor welchem die beiden Befucher Iachend nach dem
Haufe flüchteten. Ein Diener in einfachem, bürgerlichem
Anzug wies fie in ein Gemach, das geräumig, gewolbt, mit
gebräuntem Eichenholze ausgelegt und ausgeftattet war,
aber wie die Gärten jeglicher Zierat und felber der Bes
quemlichkeit von Teppichen und Polftern entbehrte. Das
Fräulein, das augenblicklich befchäftigt fei, follte hier ers
wartet werden.
Sie fanden ben alten Prediger des Dorfes vor, einen
Bekannten ded Hofrats, und erfuhren von ihm die geftrige
friegerifche Einleitung in aufflärendem Zufammenhang.
Während diefer Mitteilungen trat Fräulein Erdmuthe ein
mit heiterem Anftand und von der Bewegung geröteten
Wangen. |
Der Hofrat eilte ihr entgegen, unter zierlicher Verbeus
gung ihre Hand an feine Lippen führend und fichtlich felbft
befriedigt von einem Smpromptu, in weldyem Mademoifelle
Courage als deutfche Chriemhild gefeiert ward. Die denf-
würdige Begegnung auf dem Freienhügel war damit aufs
Tapet gebradit.
298 Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier
„Sch fah Shren Helden nicht zum erftenmal,” verfegte
das Fräulein ruhig, „War ich doch zufällig in Shrer
Stadt, Herr Hofrat, ald er fie im Fluge berührte nach
dem fohmachvollften Frieden, der jemals in Deutfchland
gefchloffen worden ift, und heute noch fühle ich eine bren-
nende Scham in der Erinnerung an jene weißgefleide-
ten Sungfrauen, arglofe Kinder, die von ihren Vätern und
Müttern dazu hergegeben worden waren, den Triumphator
mit Blumenfetten feftzuhalten und ihn huldigend zu bes
grüßen mit Gemeinplägen in ftocdender Sprache, welche
die Kinder felbft nicht verftanden, und der, welchen fie
ehren follte, nody viel weniger verftanden haben würde.”
Der Herr Hofrat ſchlug einigermaßen verlegen die
Augen nieder. Er war von feinen Mitbürgern ald Dichter
jener ſchwungvollen franzöftfchen Huldigungsverſe, Die
Fräulein Muthchen Gemeinpläge nannte, bezeichnet, fagen
wir gepriefen worden, obgleich er die Autorfchaft päterhin
verleugnet hat, die Verſe auch nicht in feinen gefammelten
Werfen aufgeführt find.
„Es gefief mir an Ihrem Helden,” fo fuhr Fräulein
Muthchen während diefer unferer Parenthefe fort, „daß er
den Fnechtifchen Empfang nicht annahm, die huldigende
Abficht durch feinen freundlichen Blick lohnte und, während
fein Mamelud vom Bode herab das Publifum mit Knuten⸗
hieben auseinandertrieb, fonder Gruß mit der Sturmes-
eile feiner acıt Roffe von dannen ftob, verfolgt von dem
Blumenregen der jubelnden weißen Kinder,
„Und dann fah ich ihn wieder, es find jeßt vier Monate,
im Morgengrauen einer bitterfalten Dezembernadt. Ein
Pferd vor feinem Schlitten war nahe meinem Tor auf der
glatten Schneebahn geftürzt und ber Poftillion gekommen,
ww
Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier 299
es big zur Stadt durch eines der meinen zu erfeßen. Er ahnte
nicht, für wen er die Aushülfe in Anfpruch nahm, und
ebenfo ahnungslos begleitete ic, ihn, in der Abficht, einem
bei der nächtlichen Fahrt Durchfälteten während des Auf:
enthalts einen erwärmenden Trunk anzubieten. Und ich
erfannte den bleichen, in fidy verfunfenen Mann auf den
erften Blid, ein Marmorbild heute wie damals und faum
ein Wechfel zwifchen den Mienen des Siegerd und denen
des DVernichteten. Aber mid) erbarmte des Mannes, der
den graufigen Untergang einer Million von Menſchen⸗
leben auf feinem Gewiſſen hatte, und ich flehte zu Gott,
daß er feiner Seele gnädig fein möge.
„Heute aber, wo er mir aufgerichtet zu neuen Frevel:
taten gegenüberftand, Auge in Auge, in folcher Nähe und
Ruhe, heute zitterte ich, und ich — —”
„Geftehen Sie es nur, mutige Chriemhild,“ fiel der Hof⸗
rat lächelnd ein, „geitehen Sie ed nur: hätten Sie einen
Dolch in Shrem Gürtel getragen, ein Schwert unter dem
faltigen Gewand, fo würde Deutfchland eine Sudith oder
Corday zu verherrlichen haben.”
„Heiland der Welt, welch ein verbrecherifcher Scherz!”
rief erbleichend der alte Pfarrer, das Fräulein aber ent-
gegnete ruhig, indem fie den Spötter mit einem Blicke
tiefer Verachtung maß:
„Und was bliebe denn euch Männern, wenn die Weiber
eure Tyrannen meuchlings ermorden wollten?”
Der Hofrat brach den mißlichen Gegenftand ab, indem
er feinen Reifeunfall erzählte und der Dame feinen jungen
Begleiter vorftellte. Sie begnügte ſich mit einem flüchtigen,
ftummen Gruße gegen ihn und wendete ſich dann raſch
zu dem Prediger, dem fie mit den Worten die Hand reichte:
800 Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier
„Daß ich über dem böfen Feinde den werten Freund
verfäumen mußte! Sch habe Sie warten laſſen, Herr
Pfarrer - -“
„Sc wartete gar gern, Fräulein Erdmuthe, von biefem
Fenfter aus Zeuge Ihres gefchäftigen Waltens,“ verfeßte
der alte Herr. „Die Sorge um Sie, nad) der geftrigen
Schredensizene, hat mid, heraufgetrieben.”
„Nun, wir find ziemlich heil dDavongefommen, wie Sie
fehen, und dad Dorf im Tal ift ja, gottlob! völlig uns
berührt geblieben. Wenn Sie mich aber etwa von hier
fortnötigen wollen, alter Freund, fo fparen Sie fid, die
Worte; fie würden vergeblich fein.“
„Sc weiß e8, denn ich fenne Sie,” verfegte der Pfarrer.
„Ein Wunſch jedoch liegt mir noch auf dem Herzen — -“
„Friſch heraus!“ rief das Fräulein munter. „Warum
ftoden Sie? Was foll ich, was kann id — —“
„Helfen wie immer, edle Erbmuthe; die Brüdergemeinde
in Herrenhut, der Ihre felige Frau Mutter fo von Herzen
zugetan war, hat den edlen Salinendireftor von Harden⸗
berg und mich durch ihn mit einer Sammlung beauftragt,
zum Zweck der Ausrüftung etlicher opferwilliger Send-
boten, die das Licht des Evangeliums an den eifigen Pol,
in Grönland Steppen, unter verwahrlofte Menfchentinder
zu tragen bereit find. Ein Scherflein für die heiligite
Sache, fromme Erdmuthe.”
Sie ftand eine Weile fchweigend, mit niedergefchlagenen
Augen, dann entgegnete fie ernft: „Das Nein wird mir
fchwer, um des Andenfend meiner Mutter willen, um
Hardenbergs und aud um Shretwillen, verehrter Freund,
aber ich habe fein Geld.“
„Erbmuthe!” rief der Paftor vorwurfsvoll.
Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier 301
„Nein, ich habe Fein Geld,” wiederholte fie entfchieden.
„Keines für diefen Zweck. Jetzt nicht; vielleicht fpäter.
Sch weiß, was Sie fagen wollen. Sch bin reich, aber zu
arm für unfere Not. Das Nächte voran bei allem Tun,
auch beim Wohltun. Heißen Sie Ihren opfermutigen
Sendlingen ihrem Baterlande zum Frieden helfen durch
das Schwert, und kommen Sie zu diefer Augrüftung in
mein Haus, alles was ed enthält, wird Ihnen zu Gebote
ftehen. Erft den armen Lazarus vor der eigenen Tür,
dann den Bedürftigen vor der fremden. Der arme Las
zarus aber vor unferer Tür, das ift das bdeutfche Volk,
dag mit Schmad; und Wunden bebedte, an feinen Sünden
franfe, mißhandelte deutfche Voll. Bis es heil und frei
geworden, feine Ruhe Tag und Nacht; unfer Dichten und
Trachten, unfer Darben und Sparen, Gebet und Arbeit
für dieſes Volk, den legten Heller, den lebten Biffen für
unfer Bolt.“
Alle ftanden bewegt dem eifrigen Mädchen gegenüber,
deſſen reine Züge ein ſchräg in das dunfle Zimmer fallens
der Strahl der untergehenden Sonne verflärte. Aus dee
Predigerd Blicken ſchwand die Empfindlichkeit, der Sars
fadmus von den Kippen des Dichterd. Hermanns Augen
füllten fid) mit Tränen. „Den letzten Blutstropfen für
unfer Volk!“ rief er, als fie geendet hatte, indem er übers
wältigt zu ihren Füßen ftürzte.
Das Fräulein blickte mit warmer Freude zu ihm nieder,
reichte ihm dann die Hand, um ſich zu erheben, und fagte
nad kurzem Sinnen: „Wir fehen und, wenn mir recht
ift, nicht zum erften Male.” Und ale Hermann fich zu⸗
ftimmend verneigte, fuhr fie fort: „Sa, ja, nun weiß ich
Beſcheid. Sie fanden, nody ein Knabe, am Grabe meiner
902 Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier
Mutter, Sie hatten Tränen im Auge und trugen Trauers
leider wie ich.“
„Sch hatte meinen Vater verloren,” verfeßte Hermann
und erzählte darauf, von ihrem freundlichen Anteil er-
mutigt, daß er heute zum erften Male wieder diefes Weges
gefommen fei, um die Zuftimmung feines Vormundes zu
dem Entfchlufle, der deutfchen Sache unter Lützows Banner
zu dienen, und ein Fleined väterliches Erbteil zum Zwecke
feiner Ausrüſtung einzuholen.
Der Pfarrherr nahm nad) diefer Mitteilung warnend
das Wort. =
„Ihr Entfchluß kommt zu früh,” fagte er.
„Er fommt zur rechten Stunde,” wendete das Fräulein
ein.
„zu rechter Stunde!” befräftigte der Student.
„Nicht alfo, junger Mann,” entgegnete der reis.
„Ihr Bormund, mein lieber Amtöbruder, ift mein Freund.
Sch darf in feinem Namen reden. Noch ift Shr König
Franfreich8 Bundesgenofle — —“
„Und Ihres Baterlandes Widerpart,” rief Erbmuthe.
„Sie find ein Sachſe, Hermann Wille,” gegenredete der
Prediger.
„Sch bin ein Deutfcher!” fagte der Student.
„Shr Bruder ift fächfifcher Offizier; wollen Sie ein
Brudermörder werden?”
„Sol er müßig und feige fein Baterland morden
fehen?” fragte das Fräulein.
„Er fol warten, bis Gott entfchieden hat,” verfeßte
der Pfarrer. |
„Bis es zu fpät ift,“ rief Erbmuthe, „bis die große
Sache an Heinlichen Bedenken gefcheitert it. Wehe über
Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier 308
und, daß feiner, ja feiner mit reiner Band und freiem
Herzen diefer Sache dienen darf! Schlingen hier und
MWiderhafen dort! E8 gilt einen Entfchluß, eine rafche
Tat! Keiner darf zögern, feiner fich entziehen. Nicht der
Köchfte, nicht der Geringfte; nur alle vermögen’s. Alle
müffen fühnen, was alle gefündigt. Stehen alle zu-
fammen - —“
„Und fteht Gott wider euch, was hilft euer Rennen
und Sagen?” wendete der Prediger ein. „Hören Sie ein
Beifpiel, das in einer Chronif diefer Gegend aufgezeichnet
iſt.“
„Paßt es auf unſeren Fall?" fragte Fräulein Muthchen
einigermaßen bedenklich.
„Es iſt wie für ihn geſchaffen,“ verſetzte der geiſtliche
Herr.
„So teilen Sie es mit.“
„Vor vielen, vielen Jahren ereignete ſich mitten im
Maimonat, als die Fluren ſchon grün und die Bäume
voller Blüten waren, ein gewaltiger Schneefall, ſchier wie
ein Wunder. Etwelche gottlofe Leute zeterten und fluchten
ob ihrer vereitelten Hoffnungen. Sie fchüttelten Den Schnee
von ihren Bäumen, fegten ihn von ihren Feldern und
glaubten ſich geholfen zu haben, weil fie das Übel ver-
ſchwunden fahen. Allein, fiehe da! nach wenigen Tagen
ftanden ihre Saaten erfroren und ihre Reifer fahl, während
die ihrer gelaffeneren Nachbarn, unter der rauhen Dede
gefchügt, in Üppigfeit fproßten und weiterblühten.“
„Der Schnee fchmilzt, aber Ketten müflen gebrochen
werden,” unterbrad; ihn das Fräulein ungeduldig. „Der
Natur follen wir und unterwerfen. Gegen Menfchen
haben wir einen Willen.”
304 Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier
Raſcher Hufſchlag vom Hofe herauf machte ihre Rede
ſtocken. Alles ſtürzte an die Fenſter. „Der General!“
rief das Fraͤulein mit einem jachen Erroͤten. Sie eilte nach
der Tür, durch welche in der nächſten Minute, von Ma⸗
gifter Story eingeführt, ein Militär in großer ruffifcher
Uniform, die Bruft mit Orden und Ehrenzeichen bededt,
in das Zimmer trat. Der nämliche, der längere Zeit der
Quartiergaft diefed Hauſes gewefen war.
„Sch komme, Sie zu warnen, Gnäbdigfte,” fagte er, ins
dem er ded Fräulein Sand an feine Fippen 309. „Sat
ed geftern vorgefpuft, bald, vielleicht morgen fchon fommt
es ernfthaft zum Klappen. Ihr Gut, Shr Leben vielleicht
find bedroht.”
„Dank, Erzellenz," verfegte Erbmuthe herzlich, aber
ruhig. „Gott mag ed gnädig fügen.”
„Aber Sie, Erzellenz, Sie find in Gefahr,“ flüfterte
heranfchleichend der alte Pfarrer. „Er, der Kaifer, ift in
der Nähe, faum eine Stunde, daß er in diefer Gegend
refognofzierte.“
„Sch weiß es, würbdiger Kerr,“ antwortete laut ber
Öeneral. „Indeſſen auch wir refognofzieren, und Koſaken⸗
pferde traben raſch.“ Gegen die Dame gewendet, fegte
er darauf hinzu: „Wer mag fagen, nadı welcher Richtung
die nächfte Stunde ung treibt? Doch mochte ich nicht ohne
Lebewohl aus der Nähe eines Hauſes fcheiden, deſſen edle
Gaftfreundfchaft mich nahezu mit meinem einftigen Vaters
lande ausgeſöhnt hat.”
„Erzellenz find, wie Ihr Name allerdings anbeutet, ein
geborener Deutfcher?” fragte der Hofrat, der den General
flüchtig hatte fennen lernen und den Verkehr mit berühms
ten Leuten, wenn fie auch Feinde hießen, hochhielt.
Sräntein Muthchen und ihr Hausmeier 08
„Sch war ein Deutfcher, bevor ich mich fchämen mußte,
ed einzugeftehen,” erwiderte der General mit einem fcharfen
Bli auf den Dichter.
„Und an dem Tage, wo Sie fi nicht mehr fchämen
werden, es einzugeftehen, werden Sie dann wieder ein
Deutfcher fein, Exzellenz?“ fragte dad Fräulein.
„Mein,“ antwortete der Herr; „ich habe ein mächtiges
und einiges Reich ald Vaterland fchäten lernen, und mächtig
und einig wird Deutfchland niemals werden, auch wenn
eö fich mit unferer Hülfe von feinen gegenwärtigen Ketten
befreit.”
Es entftand eine Paufe, in welcher feiner eine gewiſſe
Bewegung zu bergen vermochte; am wenigften Erdmuthe,
welche die Augen zu Boden gefchlagen hatte und nicht rot,
fondern bleicdh geworden war. Doch war fie bie Erfte, die
fid; zu einer Wendung des Gefpräches fammelte und fogar
mit einem Anflug von Schelmerei auf ihren Hausmeier
beutend fagte: „Sc merfe ed meinem alten Freunde an,
daß eine Anklage auf feinem Herzen brennt. Eine Ans
Fage wider Ihre neuen Landsleute, Erzellenz. Bringen
Sie Ihre Sache an, Vater Storch. Ich werde zeugen.“
„Und ich hören und richten,” - verfegte Tächelnd ber
Beneral. |
Magifter Polykarpus Stord, trat dem ruffifchen Herrn
mit gemeflenen Schritten gegenüber und hob mit feiers
fichftem Ernfte an:
„Hoher Feldmeifter! Sch hielt heute morgen im Geleit
meiner edlen Gebieterin einen Umritt über das Kampffeld
des geftrigen Tages, in der Abficht, nach Verwundeten
auszufpähen, welche etwa am Wege oder in den Dörfern
ohne Pflege liegen geblieben feien. Da, jach wie ein
®
306 Fräulein Muthchen und ihr Haugmeier
Wetter, fielen zwei Mitglieder Eurer unregelmäßigen
Söldnerfchar, hoher Feldmeifter, gleichwie eine Räubers
bande über mich her. Sie zerrten dad Schuhwerk von
meinen Füßen und trafen Anftalten, mic) noch anderweitig
zu entblößen, dafern nicht diefed edle Fräulein voller
Mutes herangeiprengt wäre, das Schwert an meiner
Linken aus der Scheide gezogen und die Süffbuben in die
Flucht gefcheucht hätte.“
„Zapfere Amazone!” rief der General herzlich Tachend.
„Es Fam nicht zum Blutvergießen, Exzellenz!“ verſetzte
das Fräulein gleichfalls Tachend. „Ihre beiden Helden
fegten davon gleich Sn beim bloßen Anblicf meiner
graulichen Figur.”
„Sie werden Sie für einen rächenden Engel gehalten
haben,” fagte der General galant, und Magifter Stordy,
welcher die Schlußfolgerung feiner Anklage noch nicht
gezogen hatte, fuhr fort:
„Es ift nicht um den Verluft meiner Schuhe, hoher
Feldmeifter. Wir haben deren zu Hunderten in unferen
Truhen bereitliegen, und nicht bloß Schuhe; hohe Stiefel
von ftarfem Rindsleder, mit Zwecken befchlagen, desgleichen
Hemden und Fußlappen, fo in den Sahren des Harrens
für unfere Befreier gefertigt worden find. Befehlen der
hohe Kerr, fo wird ein etwaiger Bedarf für den eigenen
Leib ihm ohne Säumen ausgeliefert werden. Desfelbigen-
gleichen würde es mir, fäme es darauf an, ein leichtes
fein, nicht nur barfüßig, fondern in noch weiter mangeln-
ber Bekleidung ald Verfolger hinter dem welfchen Feinde
bis in fein gottlofes Babel drein zu traben. Ich bin fein
MWeichling, edler Feldmeifter. Es ift Iediglich um das
Recht und um die Zucht. Der Dienft der heiligen Preis
Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier 307
heit in teutfchen Bauen foll nicht mit Straßenraub feinen
Anfang nehmen.”
Magiiter Storch hatte geredet; die Zuhörer lachten, und
das Krimen des Straßenraubd fchien ald Späßchen im
Sande zu verlaufen. Fräulein Muthchen fühlte fich jedoch
bewogen, die Anflage ihres Hausmeiers wieder aufzus
nehmen.
„Er hat recht, Exzellenz,“ fagte fi. „Es ift ein Beis
fpiel von vielen. Wir geben willig unfere Stiefeln, aber
wir wollen unfere Schuhe und nicht nehmen laſſen.“
„Der Herr Magifter wird feine Schuhe wieder erhalten
und der Koſak die Knute,“ entichied der General.
„Die Knute?“ rief das Fräulein purpurrot.
„Die Knute!” wiederholte der andere,
„Wir begnügen und mit den Schuhen, Erzellenz.“
„Schuhe und Knute find nicht zu trennen, Fräulein.”
„So verzichten wir auf Dir Schuhe und Erzellenz auf
die Knute.“
„Herr Storch erhält: feine Schuhe und der Kofaf bie
Knute.“
Das Fräulein war an das Fenſter getreten. Eine zweite
Paufe entftand. Der ruffifche Herr unterbrach fie mit den
Worten:
„Es tft Zeit zum Aufbruh. Für Sie zunächſt, Gnäs
bigfte. Suchen Sie heute noch Leipzig zu erreichen.“
„Sof und Herd verlaffen, Gott bemwahre mich!" ver:
fette das mutige Fräulein.
„Eine Dame allein in diefem einzelnftehenden Haus!
— ich wiederhole Ihnen, Sie find bedroht.”
„Nicht mehr bedroht, Exzellenz, ald meine Shafiehnnen
und Mägde oder die Weiber meined Dorfs. Sch bleibe.”
808 Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier
„Sochherziges Kind!” rief der General, indem er der
Dame zum Abfchied die Hand drüdte. „Sie hätten eines
Soldaten Frau werden follen.“
„Sp Gott will, werde ich audy noch eines Soldaten
Frau, Erzellenz,” fagte das Fräulein.
„Ihr Ernft, Freiin von Kettenloß?“
„Mein ernftlicher Wunſch, Herr General.”
„Sch nehme Sie beim Wort, fchöne Erbmuthe. An
dem Tage, wo ich Ihnen freier ald heute gegenübertreten
d arf __a
„Das heißt: an dem Tage, mo ein deutfcher Mann fidy
nicht mehr ſeines Vaterlandes zu fohämen braucht und
ein deutfched Mädchen ohne Erröten einem beutfchen
Manne ins Auge bliden darf — -“
„An dem Tage wollen Sie einem braven Soldaten bie
Werbung geftatten?”
„An dem Tage werde ich einem braven deutfchen
Soldaten meine Hand reichen.”
„Topp! Scylagen Sie ein. Ich halte Sie beim Wort,
Erdmuthe.”
„Sc fchlage ein und halte mein Wort, General.”
Hermann hatte während dieſes Zwiegefpräds in leb⸗
haftem Kampfe geftanden. Als jetzt der Ruſſe nach der
Tür fchritt, trat er ihm entfchloffen in den Weg und ſprach:
„Ich war im Begriff, Exzellenz, unter Major Luͤtzow
preußifche Dienfte zu nehmen — —“
„Kalten Sie ein, junger Mann,” unterbrady ihn der
Pfarrer, indem er feine Hand ergriff. „Noch find Sie
nicht Shr eigner Herr. Ihr Bormund — —“
„Shr Herz ift Ihr VBormund, Hermann Wille!“ rief
das Fräulein. „Laſſen Sie ſich nicht beirren. Die Stunde
Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier 309
drängt. Nehmen Sie mein Pferd. Folgen Sie dem
General.“
„Holgen Sie mir, mein Herr,” fagte der General.
„Rußland und Preußen fämpfen unter einem Banner.
Sch nehme Sie mit doppelter Freude in unferen Dienft
als einen Rekruten, den Fräulein Erdmuthe für die Sache
der Freiheit geworben hat.”
„sch folge Ihnen, mein General,” fagte der Student.
„Gott befohlen!” rief das Fräulein, feine Sand druͤckend.
In wenigen Minuten fprengten General und Rekrut _
aus dem Tore. Die drei Zeugen des Paktes waren ihnen
gefolgt und blickten ihnen nach, bis fie gen Süden hin
ihren Augen entfchwunden waren. Da juft der zerbrochene
Wagen auf der Straße fidy näherte, empfahl ſich auch der
Hofrat, um die Heimreife fortzufegen.
Am anderen Morgen, dem erften ded Wonnemondeg,
war der Hausmeier aus dem Siedelhofe verfchwunden.
Die Dame wußte, wohin es ihn gezogen hatte. Es war
ein Tag der Spannung, wie fie noch feinen erlebt; ein
Tag der Probe. Draußen Gewühl und Bewegung; inner
halb der alten Mauern aber alles ftill und in gewohnten
Öang.
Sn unabfehbaren Reihen zog die franzöfifche Armee
den Ebenen von Leipzig zu, in denen die Entfcheidungs-
fchlacht erwartet wurde. Bon ihrer Warte aus fah Fräu-
lein Erdmuthe den Kaifer, an der Spike des Korps von
Mey, die Straße vom Tale aufwärts reiten. Kaum daß
er ihren Augen entfchwunden war, drang ein lebhaftes
Feuer aus der jenfeitigen Wiederabfenfung herauf. Ein
Zufammenftoß hatte ftattgefunden. War es mit dem vors
310 Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier
gefchobenen ruffifchen Korps, an deſſen Spitze der erfte
Mann ftand, welcher Erbmuthe den Eindrud eines Helden
gemacht? mit dem Korps, dem fie einen deutichen Re⸗
fruten geworben hatte? Das Getümmel wogte aufwärts
bis auf ihren eigenen Grund; fie hätte die Kämpfenden
unterfcheiden können; aber die Kugeln fauften um fie her,
fie mußte ſich in dad Haus zurüdziehen.
Sn ſolchem Spannen werden Minuten zu Stunden;
noch aber war feine wirffiche Stunde abgelaufen, als eine
Bahre in den Hof getragen und ein Schwerverwundeter
zu ärztlicher Unterfuchung in die Wohnhalle niedergelaffen
wurde. Mein, nicht ein Verwundeter, ein Toter. Er:
fchüttert blidte Erdmuthe in die ftarren Züge des Mannes,
der geftern, dem Kaifer zunächft, ihr in aller Lebenskraft
gegenübergeftanden hatte.
Wieder eine Stunde fpäter, und mit einem Leintuche
aus Erdmuthend Truhen verhült, in ihrem eigenen ges
fchloffenen Wagen wurde die Leiche des Herzogs von
Sftrien aus dem Hofe gefahren; das erfte große feindliche
Opfer in dem Ringfampfe um Deutſchlands Befreiung,
und eines der edelften! Daß fein Begegnen die heran⸗
ziehenden jungen Truppen nicht als fchlimmes Vorzeichen.
wanfend mache, wurde langfamen, mühfamen Schrittes:
ein Seitenweg nach der Stadt eingefchlagen. Der erfte
Feind im Siedelhofe war ein Toter.
Aber nicht der legte. Kaum daß das fich in die Ferne
ziehende Gefechtöfeuer verhallt war, lange bevor der Tag
fich neigte, lag dad Gut, dad Dorf, lagen alle Anfied-
lungen im weiten Umfreis mit feindlichen Truppen über:
füllt. Szene auf Szene drängte fi. Erdmuthe hatte
nicht mehr Zeit, zu finnen und zu raften.
Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier 311
Mit grauendem Morgen zogen die Franzoſen ab; andere
folgten vom Tale herauf, am Gute vorüber, weiter gen
Often. Gegen Mittag aber wurde die Straße ftill, nur
in des einfamen Mädchend Bruft Flopfte das Herz zum
Zerfpringen. |
Es war ihres Vaterd Geburtstag, der zweite Mai;
wann würde fie einen Kranz auf feinen Hügel legen, ein
Kreuz mit dem Namen Kettenloß darauf errichten Dürfen?
Sie flieg zum Freienhügel hinauf und blickte über die
maienblühende Gegend, die noch vor einer Stunde eine
wimmelnde Menfchenwoge gewefen war und jeßt aus⸗
geftorben fchien. Die Arbeiter waren von den Feldern
entflohen, felbft der Schäfer hatte feine Herde nicht aus⸗
getrieben. Aber dad Gewitter war an ihrem Haufe vor-
übergezogen; follte der Tag vergehen, ehe es fich entlud?
Zum erften Male im Leben empfand die tätig Gemwöhnte
eine unruhige Langeweile, eine bängliche Leere, eine ftumme
Angft. Sie ging nach dem Hofe zurüd. Kein Gefchäft
wollte ihr gelingen; fie fehnte fich nach einer Menſchen⸗
nähe, einer Kunde. Sie dünfte fich felber nicht mehr die
alte Erdmuthe, fondern ein nervenfchwaches, aufgeregtes
Kind. Halb gedanfenlos ging fie endlicd; nad) dem Hügel
zurück und fanf abgefpannt auf dem Steinblod vor dem⸗
felben nieder.
Plöglich wurde unter ihren Füßen der Boden wie durch
ein Erdbeben erfchüttert; grollender Donner zitterte durch
die Luft. Ein eleftrifcher Schlag führte das ſtockende
Leben in Erdmuthens Pulfe zurüd; fie fprang auf den
Stein und fpähete über die baumlofe Ebene. Dort im
Südoften Dampften und dröhnten die Feuerfchlünde. Das
war fein Scharmüßel wie in den verwichenen Tagen; dag
812 Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier
war die Schlacht, die heißerfehnte Entfcheidungsfchlacht,
in deren Erwartung der teuere Mann, der da unten fchlief,
feine Augen gefchloffen hatte. Sie fanf auf ihre Knie
und betete laut.
Dann ging fie, die Hand gegen die Bruft gepreßt, nad)
ihrem Haufe zurüd. Nun galt e8 zu handeln; mit ficherem
Bli und ficherer Hand führte fie ihr Gefchäft. Jeder
Nerv war gefpannt, fie hätte zu Pferde fteigen und ſich
unter die Kämpfenden ftürzen mögen.
Der Nadmittag verging unter raftlofem Hin und
Wider zwifchen Haus und Höh! Auf der Straße wurde
ed lebendig wie am Morgen. Adjutanten fprengten talab;
bie noch zurücftehenden Zruppenteile zogen im Eilfchritt
bergauf. Mächtige Feuerftätten Ioderten am öftlichen
Horizonte auf; unaufhörlicd, droͤhnten die Kanonen, knat⸗
terten die Gewehre; eine neue Kampfesftätte fchien fich
gegen Norden hin aufgetan zu haben; der Abend däm⸗
merte, und noch immer feine Raſt.
Da auf einmal im Halbdunkel fam ein düfterer, ſchlei⸗
chender Zug die Heerftraße entlang, und immer näher und
näher drang ächzender Wehefchrei. Die verftümmelten
Opfer der Schlacht! Die Bauern des Dorfes, die in ängft-
licher Neugier fidy auf der Höhe gefammelt hatten, eilten
mit dem Hausgefinde entfegt in den Hof zurüd und vers
riegelten das Tor. Das Fräulein ftand allein, oben auf
ihrer Warte. Und immer näher fam die Wagenreihe, wie
eine ſchwarze Schlange fid, den Talweg zur Stadt hinabs
wälzend, und immer lauter wurde dad Gewimmer, und aus
der Ferne drang noch immer das Grollen der Gefchüße
und der verwüftende Flammenfchein. Die Bauern flohen
nad) dem Dorfe zurüd, die Mägde flüchteten in die Keller,
Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier 313
und felber die Knechte verftopften ihre Ohren vor dem
unerträglichen Gewinfel. Auch Erdmuthe ftand mit vers
hülltem Geſicht. Das war die Schladht, die erfte Tat nach
der Ermannung ihres Volks, in deren Erfehnen man fie
zu leben gelehrt hatte! und dad war der Preis, den der
"Feind gezahlt! Sie fah nur franzöfifche Eöforten. Wo
waren der Freunde Opfer? Wo war ihr alter Lehrer, wo
ihr Held, der General? wo der Jüngling, den fie vielleicht
zum Tode geworben hatte? Und auf welcher Seite war
der Sieg?
Sie hatte Feine Zeit, diefe Fragen auszudenken, ein
brüllender Schrei übertönte das Gewinfel. Fluchende,
freifchende, befehlerifche Stimmen drangen über die Mauer
in den Hof, nadı welchem Erbmuthe zurüdgeeilt war.
Sie ließ das Tor öffnen und trat, von den Knechten ges
folgt, hinaus. Ein Wagen war auf der holprigen Straße
umgeftürzt; die Berwundeten lagen am Boden, gequeticht,
von nachfolgendem Fuhrwerk gedrängt; ein zweiter Wagen
ftolperte über den eriten; es währte eine Weile, bevor ein
anderes Gleis eingefchlagen ward. Dann zug man ihrer,
foviele noch lebten, unter den Trümmern hervor. Kriechend
auf Händen und Füßen, einer den andern führend, ges
fchleift, getragen, füllten fie den Hof; mit der Wut der
Berzweiflung entwanden hinter ihnen fich noch manche den
überbürbdeten, rüttelnden Karren und drängten den vorde⸗
ren nach. Erbmuthe mußte mit Gewalt das Tor fchließen
laffen, denn ihr Haus war bie zum Giebel hinauf gefüllt.
Nun auf einmal waren Hand und Fuß in Bewegung,
nun galt es Hülfe und Pflege, Mut und Standhaftigfeit
diefen jammerpollen Menfchentrümmern gegenüber, nun
warb es wahr, was ber Vater eined Tages gefagt: das
314 Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier
Krankenbett ift das Schlachtfeld der Frau. Ein junger
Arzt der Eskorte leiftete unerläßlichen Beiftand; auch der
alte Pfarrer und fein Sohn, der fein Subftitut geworden
war, famen zur Aushülfe herbei; die Seele aller Be⸗
wegung aber war Erbmuthe; von unten nad, oben, von
Lager zu Lager, von Wunden zu Wunden, von Leichen
zu Lebenden die ganze Nacht hindurch. Auf dem Kampf-
felde war es ftill geworden, auch der Brand der Dörfer
war erlofchen; nur eine Xeuchtfugel, die dann und wann
in die Höhe flieg, oder ein Wachtfeuer bezeichnete die
Stätte, wo Hunderttaufend auf Tod und Leben gerungen
hatten, und der erſte Tagesblick ftel nieder auf den Zug
der Geopferten, die mit gellendem Weheruf noch immer
rangen zwifchen Leben und Tod. Tauſend um Taufende,
eine endlofe Qual.
Der Morgen fchritt vorwärte, ohne daß der Kampf fich
erneuerte. Die bänglichfte Ahnung beſchlich Erbmuthen.
Der junge franzöftfche Arzt, welcher Die erften Einrichtungen
in ihrem Haufe geleitet hatte und dann in die Stadt geeilt
war, wo nicht Hände genug zur Hülfe bereit fein fonnten,
hatte ihr einen ohngefähren Überblid über den franzöfifcher-
feit8 unerwartet entbrannten Kampfesakt gegeben. Als
jener aber den Platz verlaffen hatte, um aus einem ber
eroberten, in Brand geratenen Dörfer die Berwundeten
zu entfernen, bevor die Preußen das Dorf vielleicht wieder:
eroberten, war das Gefecht noch unentfchieden. Da in-
defien der Kaifer, welcher Leipzig nahezu erreicht haben
follte, zurüctgefehrt war und den Befehl perfönlidh leitete,
auch der Bizefönig mit frifchen Kräften von Norden her
erwartet wurde, zweifelte der Chirurg nicht Daran, daß der
Sieg von feinen Freunden errungen werden müſſe.
Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier 315
Und auch das Fräulein zweifelte nicht länger daran,
als Stunde auf Stunde der Tag in dumpfer Stille zur
Hüfte ging; hätten ihre Freunde ſich behauptet, würden
die Feinde auf der Straße, die fie gelemmen waren, ſich
zurückgezogen haben.
Sie hatte einen ihrer Verwalter um Kunde nach dem
Schlachtfelde abgeſendet, und als er am Nachmittag
zurückkehrte, vernahm fie, Daß die Verbündeten das ſüd⸗
lichfte der vier von den Franzofen bejeßten Dörfer,
um welche der Kampf entbrannt war, zwar feftgehalten,
aber in der. Stille der Nacht geräumt hätten und daß
die Franzofen ihnen am Morgen gefolgt feien. In
welcher Richtung, mit welchem Erfolg? wer fragte da⸗
nad) in dem ungeheueren Elend der verwüfteten Heim⸗
ſtätten? Die Freunde waren gewichen! Erdmuthe wußte
genug.
Spät am Abend trat fie in ihr Zimmer, im oberen
Stod, das den Blid auf den Freienhügel hatte und das
einzige .unbefeßte im Haufe war. Sie legte ſich nieder,
aber der Schlaf floh ihr Lager. Sie fprang wieder auf
und machte noch einmal einen Rundgang durch das Haus.
Die Mehrzahl der Wärter, Diener und Mägde des Haufes
oder Bauern aus dem Dorf waren auf ihren Sigen ein
gefchlummert; auch dem jungen Subftituten, der fie zu
überwachen hatte, ftelen die Augen zu. Die Kranken,
mehrenteild unbärtige Knaben, fuchten wenigftend oder
fehnten fidy nach Ruhe; Ordnung und Sauberkeit herrfchs
ten überall; nirgend ein Mangel.
Erdmuthe ging in ihr Zimmer zurüd; fie öffnete das
Senfter. Eine weiche Maienluft, würzige Blütendüfte
drangen herein; Die Natur wußte nicht8 von dem Sammer
516 Fränlein Mutbchen und ihr Hausmeier
ber Menfchen, und der Sammer der Menfchen wußte nicht®
von dem Frieden der Natur. Die halbe Scheibe des abs
nehmenden Mondes zog ftilleuchtend gen — hin.
Die Dorfuhr ſchlug zwei.
Da auf einmal ſah Erdmuthe eine dunkle Gruppe, von
einem Feldwege einbiegend, die Landſtraße überſchreiten
und dem Hauſe ſich zubewegen. Das Hoftor wurde bei⸗
ſeitegelaſſen, längs der Ringmauer langſam hingegangen
und vor dem Pförtchen ſtillgehalten, das vom Hügel in
den Garten führte. Vier Männer ließen einen dunklen
Gegenftand zur Erde nieder und entfernten ſich in der
Richtung, von welcher fie gefommen waren. Ein fünfter
war zurüdgeblieben, aber er ftand im Schatten der Mauer;
Erdmuthe, fo weit fie ſich aus dem Fenfter biegen mochte
und wie fehr fie die fcharfen Augen anftrengte, vermochte
nicht die Geftalt zu unterfcheiden.
Jetzt aber hörte fie ein leifes Klopfen an der Pforte,
und alfobald trat die Geftalt hinter dem Dunfel der
Dauer hervor auf den mondbeichienenen Pfad zum Hü⸗
gel, ein bligender Gegenftand wurde kreuzweis in der Luft
gefchwenft. Das Fräulein eilte in den Garten, entriegelte
das. Pförtchen und ftand dem Alten gegenüber, der noch
immer auf halber Höhe mit dem Säbel winfte, an beffen
Griffe ein Paar große Schuhe feftgefoppelt waren, die bei
der Bewegung gegeneinander Flapperten.
Während der Hausmeier Iangfam den Hügel hinabftieg,
warf das Fräulein einen Blick auf die Laft, welche die
Männer geheimnisvoll an der Pforte niedergelaffen hatten.
Es war eine Bahre, dunfelverhüllt gleich der, welche vor
drei Tagen zuerft in das Tor dieſes Haufes getragen wor;
den war.
Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier 917
„Still!“ raunte der Magifter ihr zu. „Es ift ein Freund!
Darf nidyt gefangen werben, nicht erfpäht.”
Leicht wie ein Kind nahm er den Freund, der eine Leiche
fchien wie jener erfte Feind, in feine Arme, trug ihn Ieife
die Treppe hinan in des Fräuleind Zimmer, auf ihr eignes
Bett. Nicht ein Laut regte ſich im Haufe, die nächtliche
Szene hatte feinen Zeugen gehabt.
„Den Riegel vor!“ befahl der Alte.
Er Iöfte den groben Bauernmantel über der unbeweg⸗
lichen Geftalt, ven Verband von ihrer Stirn; in atemlofer
Spannung folgte Erdmuthe feinen Bewegungen; mit ges
ſchloſſenen Augen, von klebendem Blut bedeckt, ſchattengrau
lag vor ihr ausgeſtreckt der Freiwillige, den fie vor wenig
Tagen in Sünglingeblüte für den Dienft des Vaterlandes
geworben hatte.
„Tot!“ rief Erdmuthe, felber totenbleich, indem fie vor
dem Lager auf die Knie fant.
„Nur ein Glied,” verfeßte der Hausmeier gelaflen.
„Waſſer her!” rief er darauf; entblößte fonder Bedenken
des Sünglings Oberkörper, wufc ihn ab und fchidte ſich
an, aus einem Laken bes Betted, das er ohne Umftände
zerriß, einen frifchen Verband um ben blutenden Stumpf
ded rechten Armes zu legen. _
„Ein Krüppel!” murmelte Erbmuthe fchaudernd.
„Nur die Rechte!” entgegnete der Alte mit unftörbarer
Ruhe. „Wird mit der Linken fechten lernen. Rühmlich
geopfert, feinem Feldmeifter eine Schugwehr nicht gegen
einen fräntifchen, nein, gegen einen teutichen Wüterich.
Stand dabei; fah ihn fallen; Rofle und Reiter über ihn
hinweg, hui! Der hohe Feldmeifter entfam; deckte den
Rückzug.“
9418 Sräntein Muthchen und ihr Hausmeier
„Den Rückzug!“ flüfterte das Fräulein fchmerzlich.
„Kein Baum fällt auf den erften Dieb,” fagte der Haus⸗
meier gleichmütig. „Gingen zurüd, nidyt Sieger, nicht
beſiegt, ehrenvoll, tapfer, teutfche Mannen. Keine Ge-
fangenen, nur der Toten viel. Hohe Helden bluten. Aber
auch fie werben leben wie diefer und wieder faämpfen und
immer wieder bis zum Sieg. Wenn er aber bereinft er-
rungen fein wird, der Sieg, im legten Kampfe, helden-
mäßiger als in diefem erften wird nicht geblutet worden
fein. Den hier pflegt heil, heimlich, daß feiner ed merft. Die
Gegend ift Feindes Land zur Stunde noch. Ich zog ihn vor
unter Eurem toten Roß; fchleppte ihn nach Görfchen, das die
Unferen behaupteten. Aber es wurde geräumt. Alles fahl,
alles wuͤſt. Ein paar aus dem Dorfe halfen gegen Geld und
gutes Wort. Trugen ihn weiter in der Nacht, feithalben in
den Siedelhof von Poferna. Sch löfte das Glied; aber die
Frau fehlt im Haus; wer follte ihn pflegen und bergen?
Schafften ihn hierher. Die Reihe ift an Euch.“
Waͤhrend diefer Erzählung, die in abgebrochenen Sätzen
gemacht wurde, waren die Wunden gewafchen und ver:
bunden, belebende Mittel angewendet worden. Die Heil:
kunſt war nicht die geringfte der Fertigkeiten, auf welche
Magifter Polyfarpus Stord, in den Sahren ded Harrens
ſich vorbereitet. Er hatte bei feiner Seftion in den Nachbar⸗
orten gefehlt und ſchon 1806 in dem großen Spital, zu
dem das ftädtifche Schloß eingerichtet worden war, gute
Dienfte geleiftet. Aber alle Hülfe fchien hier umfonit;
Hermann Wille lag bewußtlos, Falt, ein Bild des Todes.
„Dein Opfer!” klagte Erdmuthens Herz fie an.
Um fo wohlgemuter blieb ihr Hausmeier. Daß ein
befreundeter Geld durch einen teutfchen Wann gerettet
Fraͤulein Muthchen und ihr Hausmeier 319
worden, den feine Herrin auf ihrem Siedelhofe geworben,
nahm er faft als einen perfönlichen Triumph. Daß diefer
teutfche Mann auf dem Siedelhofe genefen werde, ftand
ihm ebenfo außer Zweifel, wie daß das geftrige Scheitern
nur eine erfte Probe geweſen fei, und eine ftarfe, gute
Probe. Der Sieg fand fid) mit der Zeit, und die Opfer
zählten nicht für Polyfarpus Storch. Das, was Politik
genannt wird oder firategifche Kombination, wurde auf
dem Siedelhofe überhaupt und von feinem Hausmeier ins⸗
befondere nicht betrieben. Man hatte fich eine gute
Sade in den Kopf und in das Herz gefest, und wenn
nur redjt viele Leute fie fidy wie auf dem Siedelhofe in
Kopf und Herz feßten, wenn fie dem Ziele zufteuerten,
ohne rechts oder links zu blicken, wie hätte da diefes Ziel
nicht erreicht werden follen? „Fort mit den Grübels
fangen!” blieb die Lofung. |
Haft ebenfofehr wie die Rettung des Freimilligen
freute Magifter Storch die Habhaftwerdung feiner Schuhe,
deren Räuber der hohe Feldmeifter am Tage vor der
Schlacht entdeckt und gebührentlich gefnutet hatte. „Ein
Mal unferes Rechts!” fagte Meifter Polyfarpus, indem
er die beiden, Schifferfähnen gleichenden, fchwarzbraunen
Gehäufe gleich einer Trophäe an einem Hirfchgeweih über
der Tür der unteren Halle befeftigte. „Ein Wahrzeichen
teutichen Nechtd gegen Freund wie Feind. Keinen Schuh,
feinen Schuhbreit teutfcher Erde dem Fremdling in Oft
wie Weft! Recht, rein, frei Zeutfchland den Teutfchen!“
Nach diefer monumentalen Beforgung verzehrte Meifter
Polyfarpus in Gemütsruhe einen halben Schinfen, leerte
einen Krug Dünnbiers dazu, tat dann ein paar Stunden
lang, auf dem Fußboden der Kalle ausgeſtreckt, einen
890 Fräulein Muthchen und ifr Hausmeier
Schlaf, aus welchem fein Schlachtendonner ihn erwedt
haben würde, und war gegen Mittag wieder aus bem
Siedelhofe verfchwunden.
Und nun pflegte Fräulein Erbmuthe ihren Refruten in
der Stille ihrer Mädchenfammer heil, und nur die Ges
treueften ihres Hauſes teilten ihre Sorge. Sie hatte für
ſich ſelbſt ein Kager in der Giebelkammer auffchlagen laſſen,
die ihr Hausmeier fein Lugindland nannte. Aber fie
weilte felten genug barin; jede freie Stunde am Tag und
die Hälfte jeder Nacht faß fie allein an des armen Lazarus
Bett, Iaufchte den krauſen Träumen feines fieberglühenden
Hirns, verband feine Wunden, Fleidete ihn und fütterte
ihn wie die Mutter ihr Kind. Das, was man jungfräus
liche Schämigfeit nennt, regte fich nicht in einer, die für
das Schlachtfeld des Weibes erzogen und deren Phantafie
nicht auf Liebesabenteuer, fondern auf Heldentaten ges
richtet worden war, und dad, was böfe Nachrede heißt,
wurde ihr nicht hinterbradht oder von ihr nicht beachtet.
Allmaͤhlich ward es ftill und leer auf dem Siedelhofe;
Tag für Tag gab es ein Scheiden. Die einen zogen in
Krieden abwärts auf den Ruheplat unter dem Freien
hügel, die anderen mit frifchem Mut gen Often hin, von
woher die Kunde neuer Siege gedrungen war. Die Freis
heit des Vaterlandes fchien bebrängter ald zu ber Zeit,
da fie ihr Banner erhoben hatte, und noch immer lag
Hermann Wille regungslos und anteilelos in des fchönen
Fräuleind Kemnate.
Erdmuthend Haltung war ungebeugt, ihr Blick nicht
minder ficher, ihre Hand nicht minder rege ald am erften
Tage ihrer neuen Pflicht; nur ihre Wange war bleicher,
Sräulein Muthchen und ihr Hausmeier 321
ihr Auge weiter, die Stimme leifer geworden; fie fpürte
es an ſich felbft und verfpürte auch den Grund. Schwäche
oder Verzagen hieß er nicht; denn obfchon faft jeder Tag
eine Kunde brachte, welcher die Hoffnung der Guten
niederfchlug, fo Fammerte fie ſich mit den Beften an
ihren Glauben und an den Dienft der Treue im Kleis
nen, aus welchem früher oder fpäter dad Große reifen
muß. |
Allmählich kehrten denn auch ihres Pfleglings Kräfte
und Sinne zurück; zuerft die förperlichen famt Schlummer
und Appetit; dann die der Seele vom Erinnern bie zum
Denten und Wollen. Sobald das Fieber geftillt war,
heilten die Kopfmunden raſch, und auch der Stumpf bes
Armed verharichte; denn ed war gefundes Sugendblut,
das in Hermann Wille Adern floß. Als Anfang Suni
Magifter Stordy in den Siedelhof zurüdkehrte, fand er
feinen Geretteten kräftig genug, um auß des Alten Munde
die Kunde des Waffenftillftandes zu vernehmen und fie
ohne Nachteil aufzunehmen, wenn er fie auch fchmerzlicher
empfand als das Unheil von Lügen und Bauen, das ihm
feine Wärterin fchonend verborgen hatte.
Der Alte dahingegen erwies ſich auch jegt nicht ale
Grübelfang. Sobald das Korn auf dem Siedelhofe ges
fchnitten fein würde, ging es ja wieder los und voran.
Er fand den Rekruten hinlänglich heil, um fich in Leipzig
eine Lederrechte anfegen zu laflen und mit der Linken von
Fleiſch und Bein ſich im Fechten und Schießen einzuüben.
Die Luft auf dem Siedelhofe war wieder rein, ber lebte
Welſche abgezogen. An einem warmen Suniusmorgen
führte er den teutfchen Süngling hinunter in den Garten,
in. weldyem außer wilden Hedenrofen nur Bohnen und
®
329 Fräulein Muthchen und ihr Haugmeier
Erbfen blühten, und ließ ihn auf dem Steinblocd des
Freienhügel allein mit feinen ftillen Gedanfen.
Hermann hatte während feiner langen Zimmerhaft im
Halbzuftand der Krankheit unter der Tieblichiten Pflege
feine Schmerzen mit einer Art Wolluft empfunden und
fich der wonnevollen Täufchung hingegeben, als fünne
alles fo bleiben für unausdenfbare Zeit. Heute im Freien,
erweckt durch den Alten zu dem Bewußtfein der Genefung,
überfchaute er feine Tage, wie fie, ohne Täufchung, ge-
fchaut werden mußte.
Er war gefund, aber verftümmelt; er war ein Krüppel,
aber fähig, feiner Pflicht treu zu bleiben. Er war ein
armer Student, und fie, die ihn für den Dienft des Vater:
landes geworben hatte, war die Freiin von Kettenloß, Die
mit nicht mißzuverftehenden Worten einem erlauchten
Führer ihr Wort gegeben hatte. Die ſchwere Kette von
Entfagungen und Entichließungen, welche diefe Erfenntnig
nach ſich 309, ringelte fic um fein Herz. Das erfte Glied
diefer Kette hieß fliehen; er wünfchte, daß ihr letztes Glied
fterben heiße. Seiter, die Wangen von Dafeinsfreude
gerötet, hatte er vor einer Stunde feine Gaftfreundin
verlaflen, um zum erften Male im Freien wieder Atem
zu. fchöpfen; bleich, mit umflorten Blicken trat er ihr
entgegen, als fie ihn jest auf feinem Ruheplatze auf-
fuchte.
"Aber ed war wie ein fräftigendes Fluidum, das dieſes
Mädchen ausftrömte und einftrömte in alle, die ihm nahe
famen; ald es jeßt den Refonvalefzenten mit einiger Be-
forgnis fragte, ob der erfte Ausweg ihn angegriffen habe,
da fchämte er fich feines Kleinmutes, erflärte, daß er ſich
fo wohl und ftarf fühle wie vor feiner Niederlage, und
Fräulein Muthchen und ihr Haugmeier 323
feßte dann mit weichem Klang hinzu, indem er der Dame
Hand ergriff und an fein Herz drüdte: „Danfen, edles
Fräulein, mit Worten Shnen danfen, vermag ich nicht;
aber, wild Gott! Ihnen bemeifen, daß Sie dem Vater⸗
lande fein unwürdiges Leben erhalten haben. Während
die Waffen ruhen, will ich fie üben lernen mit der einen
Hand, die ihrem Dienfte geblieben ift. Heute, in diefer
Stunde noch breche ich nach Leipzig auf. Diefe Fuß-
wanderung foll meine erfte Übung fein. Mein Fleines
Erbteil ift mir durch Ihre gütige Vermittlung überwiefen
worden. Ich rüfte mid) aus; habe vielleicht noch Zeit,
mir in Leipzig ein fünftliches Glied anfegen zu laflen, —
wenn nicht, geht es auch ohne das, — und fuche dann,
meinem erften Plane und dem Worte, das ich meinem
herrlichen Körner gegeben habe, getreu, die Lützower zu
erreichen, die, wie Magifter Storch mir verfichert hat, von
Süden her der preußifchen Grenze zugezogen find und
diefelbe hoffentlich fchon überfchritten haben.“
Fräulein Erdmuthe hatte während diefer Nede mit ihren
großen, Haren Augen unverwendet in die ihres Freis
willigen geblidt, und was fie hinter ihrem feuchten Schims
mer erfpürt — das wird auf dem legten Blatte diefer
Gefchichte zu lefen fein. Jetzt drüdte fie dem jungen
Manne bloß herzlich die Hand und widerfpradh ihm nur
infofern, als fie in ihn drang, für den Weg nadı Leipzig
und für feine fernerweitigen Fahrten zum zweiten Male
ihr eigenes Pferd anzunehmen.
Eine Stunde. fpäter ftand Hermann Wille wie bei
feinem Einzug im fnappen, ſchwarzen Studentenrod, Doc)
ohne auffällige Schwertgeraffel, zum Augritt bereit am
Zor des Siedelhofed. Magifter Polyfarpus Storch fchnallte
924 Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier
fürforglich die Riemen an feiner Gebieterin Leibpferd feft
und richtete an dasfelbe, wie an eine vernunftbegabte
Kreatur, eine Standrede, in weldyer er ed ihm zur Ge-
wiſſensſache machte, einen waderen, teutfchen Süngling
ohne Boden und Bäumen durch das Schlachtgetümmel
zu tragen. Ein junger Knecht des Hofes, auch ein Ge⸗
worbener Fräulein Erdmuthens, fattelte an feiner Seite
ein Padpferd und fchnallte die Ausruͤſtung, foweit fie
aus den Vorräten des GSiedelhofes zu befchaffen war,
daran feft. Das Fräulein drüdte beiden Scheidenden zum
Lebewohl ftumm die Hand.
Hermanns Blick ſchweifte noch einmal hinauf zu dem
Freienhügel, deffen Eichenbaum jegt weithin feinen Schat⸗
ten breitete. Sieben Wochen, faft auf Die Stunde, waren
ed, daß er Zeuge geweſen war auf diefer Höhe der Bes
gegnung zwifchen dem deutfchen Mädchen und dem ges
waltigen Italiener, der das einft grimmig gehaßte Franken⸗
reich zum Fußfchemel feines ehrgierigen Dranges gemadıt
hatte, um nun von dort aus, foweit feine Arme greifen
fonnten, alles, was Baterlandsliebe heißt, im Herzen der
Völker zu erftiden, wie er diefe Liebe in feinem eigenen
Herzen erftict hatte, auf daß er der werde, der er ge-
worden war. Gieben Wochen waren es auch, faft auf
die Stunde, daß ein Freund und Führer im Kampfe gegen
den Iyrannen, ein Geld, dem deutſchen Mädchen, das er
verehrte, ind Geficht gefagt hatte ohne Scheu, wie er ein
Baterland, deflen er fid, geſchänt, vertaufcht habe gegen
eined, das er ehren durfte und dem er treu bleiben werde,
fei ed auch dereinſt ald Widerpart deffen, welches ihn
geboren. j |
Und er, Hermann Wille, er felber, der Sohn des
Fräulein Muthchen und ihre Hausmeier 325
fächfifchen Pfarrers, hatte er nicht deutfchen Brüdern im
Kampfe gegenübergeftanden? War er nicht durch eines
Deutfhen Hand zum Krüppel geworden? War er nicht
im Begriff, gegen feine nächſten Landesbrüder, ja gegen
feinen leiblichen Bruder die Waffe regieren zu lernen?
Die Folge diefer Gedanfen, die blikartig kreuz und
quer fein Hirn durchzuckten, war noch nicht ausgedacht,
als jach aus der Richtung, von welcher der erfte Schlachten
Donner gedrungen war, wiederum ein rollender dumpfer
Hall fidy am Freienhügel brach. Gefchüsfalven, Pulver-
qualm inmitten der Waffenftile! Eine Minute lang
ftanden die Freunde regungslos, von einer furchtbaren
Ahnung erftarrt. Dann, ohne ein Wort zu fagen, ſchwang
ſich Hermann auf das Pferd und fprengte in der Richtung
des Schalled über die Felder. Der Magifter trabte auf
dem Packpferde des Knechtes hinter ihm drein. Erbmuthe
blickte ihnen nach, bebend, ja, zum erften Male bebend wie
ein fchwaches Weib.
Als wir das Sfizzenblatt von Fräulein Muthchen und
ihrem Hausmeier begannen, geichah ed in der Abficht,
aus dem Heldendrama jener Zeit eine heitere Szene vor-
zuführen, und fonnte Schauer und Graud audy nicht völlig
befeitigt oder mit munteren Farben übertündyt werden, fo
fei doch jest ein Schleier gebreitet über das unheimliche
Zwifchenfpiel, dad jene Szene in ſich fchloß. Es war
ausgefpielt, lange bevor der Alte und der unge vom
Siedelhof die Stätte erreicht hatten, auf welcher bie
fchmählichfte Tat vollbracht worden war, zu welcher
deutfche Soldaten durch fremde Gewalt gemißbraudjt
werden durften: die Stätte der Wehetat an den Lützowern
auf der Grenze des Schlachtfeldes von Lügen.
326 Fräulein Muthhen und ihr Hausmeier
Für Erdmuthen fchlidy der Tag zur Rüfte, bangevoller
als felber der jener erften gefcheiterten Schlacht. Die
Nacht brach herein ohne Enthüllung ded Rätſels. Erd⸗
muthe ging mit großen Schritten längs der Platte ihres
Freienhügeld auf und ab; dann wieder hinunter in den
Hof und immer wieder hinauf zu der Warte, von welcher
ſich die Gegend am weiteften überfchauen ließ.
Als aber der erfte Schimmer des Mitfommertages däm⸗
merte, da öffnete eine vertraute Schließerhand das Pfört-
chen im Garten, und wie in jener Maiennacht ftand fie dem
alten Freunde gegenüber, der einen Süngling auf feinen
Schultern trug, aber einen, der nicht wieder zum Leben er⸗
wachen follte; einen deutfchen Süngling, aber einen Feind!
„Mein Bruder!” hauchte Hermann, der fchwanfend an
des Alten Seite fchritt. „Noch eine Gunft, edles Fräulein,
eine höchfte! Ein Grab in reiner Erde für den Ketten
meined Blut.“
Und als fie ihn auf dem Rande des Friedhofd, den noch
der Eichenbaum des Freienhügels befchattete, eingefenkt
hatten, da faltete der brave Magifter vom Siedelhof feine
Hände, und nachdem er den Segen gefprochen, fagte er:
„Wäre ed der lekte Feind, den ein teutjcher Super zu
Grabe trug!“
Hermann aber erhob fich von feinen Knieen und rief:
„Nun erft bin ich genefen und gefeit gegen Wehr und
Trug; nun da nichts mehr mein heißt ale diefer eine Arm
und das Vaterland.“
„Und ein Freundesherz, das treu Shrer harren wird
bis zu einem befferen Tage!“ fagte Erdmuthe, indem fie,
warme Tränen in den Augen, feine Sand drüdte.
Fräulein Muthchen und ihr Haugmeier 3237
Und diefer beffere Tag, diefer befte deutfche Tag feit Jahr⸗
hunderten brach an, noch ehe das Raub der alten Eiche
auf dem Freienhügel fich gelb gefärbt hatte. Faft eine
Woche hindurch — wer mochte die Tage zählen, die wie
Sahre dauerten und Jahre bedeuteten? — hatte gen Often
hin das Wetter gegrollt, und die Paufen, in denen es fich
zu neuem Ausbruch fammelte, hatten laftender gedrückt,
als die endlofen Stunden, in denen es fich entlud. Drei⸗
mal war in der von Pulverdampf gefchwängerten Luft
. die Sonne untergegangen wie ein glühender Riefenmond.
Dann zwei Nächte lang und einen Tag war in tödlicher
Haft eine unabfehbare Menfchenmoge den Talabhang hers
niedergedrängt, und zwifchen diefer Woge hindurch, zwifchen
den Menfchentrümmern, die, verfcehmachtet, verftümmelt,
zertreten, zerqueticht, ächzend, oder ftill für immer, die
Straße bededten, zwifchen diefen Opfern feines Hochmuts,
der die gegönnte Rettungsſtunde verfchmähte, war auch
„Er“ diefe Straße zurüdgejagt zum legten Male, an dem
nämlichen Tage, wo er vor fieben Jahren zum erften Male
fie ald Sieger betreten hatte. Dort drüben auf den jen-
feitigen Höhen, wo die Wachtfeuer Ioderten, da hielt Er
feit vierundzwanzig Stunden Raft und Rat allein mit fich
felbft; denn Menfchenrat hatte diefer Mann niemals ges
hört, und hatte er jemald den Gottesrat gehört, der aus
der Tiefe eines Gewiſſens fpricht?
Im Siedelhof lag wieder jeded Kämmerlein, lagen
Sceuer und Stall gefüllt mit Lechzenden und Blutenden
aus der Feinde Reihen; aber aller Haß fieben langer Sahre
war ausgetilgt; feiner dachte an Ruhe; Fräulein Erbmuthe
ging wie auf Federn in der langen, leuchtenden Oftobers
nacht zwijchen dem legten Feind und dem erften Freund,
328 Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier
Und diefer erfte Freund war ber ältefte und treuefte.
„Freiheit!“ brüllte Magifter Polyfarpus Stord, mit teus
tonifcher Bärenftimme in das geöffnete Tor des Siedels
hofes. „Freiheit!” und nod einmal „Freiheit!” dann
trabte er weiter an der Spiße der erften Verfolger, denen
er den Weg auf die diegfeitigen Höhen zeigte. Kaum
eine Stunde fpäter - und die Kanonenſchläge des Marfchall
Vorwärts hesten die gegenüberlagernden Feinde aus ihrer
furzen Raſt. Wenige Minuten fpäter loderte die Fluß⸗
brücke in die Höhe; ein Halt, das der Kaifer feinem grimmig-
ften Verfolger gebot; das leßte auf dem Grund des deutfchen
Fürften, der des fremden Kaiferg treuefter Freund geweſen
und in diefer Stunde der Gefangene eines anderen deut⸗
ſchen Fürften war.
Während diefer Verfolgungspaufe, im Schimmer bee
weitleuchtenden Brüctenbrandes fprengten zwei Reiter in
das Tor des Siedelhofes: der hohe Feldmeifter und fein
Beigeordneter, Fräulein Erdmuthens Gemworbener und
Geretteter, der nad der Waffenruhe nicht in Luͤtzows
zerftreuter Schar, fondern in den Reihen des Schlefifchen
Heeres feinen Pla gefunden hatte. Braun, vermwettert
waren die Züge, die blaue Litewka war von Pulver ge-
ſchwärzt, der rechte Ärmel hing fchlaff an der Seite herab,
aber das ſchwarzweiße Ehrenfreuz fchmüdte die hoch⸗
‚ Hopfende Bruft. Im Nu ging’d von den Roſſen hinab
und hinein in die Kalle, unter der Dame freudig ftrö-
mende Augen.
„Wort gehalten, Sieg!” rief der General, ihre beiden
Hände fchüttelnd.
„Freiheit!“ jubelte fie, unter halbem Schluchzen und '
bunfel errötend,
Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier 329
„Und nun ade, Freiin von Kettenloß, und unter die
Haube, Frau Demut.”
„Noch nicht, Exzellenz; erft die Friedendgloden.”
„Unfer Pakt, fchöne Dame?“
„Gilt, tapferer Herr, und foll erneuert werden.“
Sie Lüfte ihre Hände aus denen des Generals und ging
fiheren Schritted auf den Adjutanten zu, der mit nieder
gefchlagenen Augen und blaß, als hätte er die Befreiungs⸗
fchlacht verloren, unter ber Tür ftehen geblieben war.
„Lieben Sie mich noch, Hermann?” fragte fie, groß und
Har zu ihm aufblickend.
„Erdmuthe!“ ftammelte er, indem er halb befinnungss
[08 zu ihren Füßen niederftürzte.
„Das ift Verrat!” rief der General.
„Daß ift Treue!” verfeßte dad Fräulein. „Eines deuts
fchen Soldaten Frau follte ich werden, am Tage, wo
Deutfchland wieder zu Ehren gefommen fei. Sp unfer
Bertrag. Und dies die Ratififation: mein Herz und meine
Hand dem deutfchen Manne, der die feine geopfert hat, um
das Leben eines befreundeten, fremden Helden zu retten.
Hätte ic) treulicher wählen fünnen, mein General?”
„Zeufeldmuthchen!” rief der General, drüdte herzhaft
einen Kuß auf ihre Stirn und verließ rafch die Halle.
Sein Adjutant folgte ihm nad) wenigen Minuten, deren
Inhalt geahnt werden möge.
Als aber die Glocken des Friedendfeftes läuteten, da
führte der General ein glüdliches Paar vorüber am Freien
hügel zum Altar in dem Kirchlein am Fluffe. Der Haus⸗
meier, Herr Magifter Polyfarpus Storch, welcher den
Säbel abgelegt hatte, aber den rüderftatteten Raub des
Koſaken ald Trophäe an feinen Füßen trug, machte voran
330 Fräulein Muthchen und ihr Haugmeier
fehreitend mit ausgebreiteten Armen Pla durdy die
dräangende, jubelnde Menge aus Stadt und Land. Der
fromme Paftor hielt die Trauungsrede; der Ruhmespichter
lieferte das Hochzeitskarmen. Der Friedensſyndikus brachte
den ZTrinffprudy aus auf dad junge Paar. Auf dem
Grabe ded Majord lag der erfte Blütenfranz; von allen
Gefichtern Teuchtete die Freude; die Tafeln im Hofe
brachen fchier von Schüfleln und Kannen, in denen fein
Biffen oder Tropfen zurücgeblieben ift, und viele Sahre
lang erzählten fich die Leute von dem Friedendfefte unter
dem Freienhügel.
Hauptmann Wille hat das Schwert nicht wieder mit
der Feder, fondern mit dem Pfluge vertaufcht und nur im
nächften Jahre für etliche Sommermonde wieder aus der
Scheide gezogen. Die geopferte Rechte hat er nie vers
mißt, um der anderen Rechten willen, die er fidh durch
dDiefes Opfer eroberte. Der Hausmeier wurde nod) eins
mal zum Herrn Magifter und hat ſechs flämmige Buben
auf dem Siedelhofe großgezogen.
Frau Erdmuthe hätte zu dem Willmut und Helmut
und Freimut und Konforten gar gern eine feine Des
muta gehabt. Aber alles Glück ift nun einmal nicht beis
einander, und erft ihr erftes Enfelfind hat das ihrige volls
gemacht.
Dem General, dem ed, gottlob! erfpart worden ift, Die
Waffen feines zweiten Baterlandes jemals gegen daß erfte
zu tragen, ift ein treuer Freund der Leute auf dem Siedel⸗
hofe geblieben und manchesmal als wertefter Gaft in
feinen Mauern eingefehrt; eine Frau genommen hat er
nicht. Seine Taten aud) in fpäterer Zeit find zu laut ges
worden, als daß er fie felber im Munde führen follte,
Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier 331
Penn er aber einmal recht guter Laune war, nad} einem
neuen Triumph oder einem frohen Ehrenmahl, dann er-
zählte der alte Herr im Kreife der Freunde und unters
haltender, ale wir es ihm nachgetan, den Streidy, den ihm
Fräulein Muthchen mit ihrem Rekruten gefpielt hat.
Die goldene Hochzeit
Erftes Kapitel
Selanse unfer ehrmürdiger Dom geftanden — und das
ift Sahrhunderte länger ald irgendein heutigentages
noch folides Gotteds oder Menfchenhaug im Lande weit und
breit —, hatte er Feine Feierlichfeit erlebt gleich der, welche
in der Mittagsftunde des erften Sunius (an deffen Abend
ich diefe Darftellung zu Papier bringe) in feinen Mauern
begangen werden follte.
Goldene Hochzeiten freilich find nicht felten in der Ge⸗
meinde gefeiert worden; denn die Luft ftreift heilfam vom
Gebirge herüber, die Landfchaft ift fruchtbar, der Volfe-
ftamm wohlhabend und fräftig, war letzteres zumal in
der guten alten Zeit, wo man mit feinen Genüffen noch
mehr auf den Magen ald auf den Kragen Rüdficht nahm, —
daher ed denn nicht als etwas Außerordentliches erfcheinen
fann, einen oder den andern das Alter des Pfalmiften er-
reichen, wohl gar um ein Sahrzehnt überfchreiten zu fehn.
Vielleicht mag ed auch fchon vorgekommen fein, daß ein
derartiger Subelbund vor dem Altare unferes Gotteshaufes
für die Ewigfeit erneuert worden ift; wenngleich Seine
Hochwürden der Herr Oberdomprediger und Propft, Doktor
Renatus Henrici, troß gründlichfter Forſchung in fchrifts
licher wie mündlicher Überlieferung, feine folche Begeben-
heit in feiner Domdyronif hat verzeichnen fünnen. Der
Fall aber ift erweislicy hier nicht Dagewefen und wird
mutmaßlich aud) andernorts fo leicht nicht dageweſen fein,
der Fall fage ich: zum erften: daß die goldene Hochzeit,
wie die grüne, von dem nämlichen Diener Gottes und an
dem nämlichen Altare, will fagen an dem unferes Domes,
Die goldene Hochzeit 333
eingefegnet worden if. Zum zweiten: baß beide, der
Subelbräutigam und fein Seelenhirt, heute wie Damals in
dem nämlichen Amte fungieren, will fagen, jener als
zweiter, Diefer als erfter Pfarrherr am Dom. Zum
dritten: daß auch die Brautjungfer noch am Leben ift
und in feiner anderweitigen Stellung ale vor fünfzig
Sahren, will fagen: als Jungfrau und Wirtfchaftsführerin
ihres unbeweibten Herrn Bruders, ded Herrn Oberdom⸗
predigerd, Doftor Renatus Henrici. Und endlich zum
vierten: daß fogar Schreiber dieſes, nämlic; meine Wenigs
feit, Zebedäus Gutedel, ald Küfter und Kirdyner am Dom,
die hohen Altarferzen anzuzünden und das erfte wie das
legte Trauunggzeugnis feined Vorgeſetzten in das Kirchen
regifter einzutragen berufen ift.
Rechnet man zu diefen vier Punkten noch das Anfehn,
in welchem die beiden Domfamilien Henrici und Borsdorf
über die Gemeinde hinaus, im ganzen Lande, ja bid zum
Thron in die Höhe geftanden find; rechnet man dazu, daß
das Amt am Dom in diefen beiden Familien gleichjam
erblidy gewefen ift, indem fchon der Großvater und Vater
unferes Herrn Propſtes — — -
. Notabene: Ich werde, wohllautenden Wechfeld halber,
den Herrn Oberdomprediger Henrici einmal Herr Propft
und ein andered Mal Herr Doktor titulieren, indem fels
biger die legtere Würde, beiläufig fchon feit vierzig Sahs
ren, auf Grund eines Ehrendiploms ber hohen Univerfität
Wittenberg befleidet. Ich meine aber die eines Doctor
theologiae, wie weiland der große Martinug Luther; beis
Leibe nicht philosophiae, die ja jeder bedeutungslofe Skris
bent um ein Dubeldei von Gelehrfamkeit und fogar gegen
Geldſpeſen zu erlangen vermag. Des Kern Doftors
334 Die goldene Hochzeit
Amtsbruder, der Subelbräutigam, paffiert umfchichtig als
Domprediger oder Herr Magifter.
Sch wollte alfo fagen, daß bereits der Großvater und
Bater unferes Herrn Propftes desfelbigen Stellung am
Dome innegehabt haben, wie auch daß bereits der Vater
der Subelbraut, Magifter David Adami, in dem zeitweis
ligen Amte ihres Ehegatten fungierte; daß aber befagter
Ehegatte hinwiederum dem alten Oberdomprediger und
Propſt Henrici, Vater des jezeitigen, als Subftitut zur Seite
geftanden, bis nad des erfteren VBerfcheiden, der leßtere — —
Aber mich bedünft, ald ob ich mich bei Aufzeichnung
diefer geiftlichen Erbfolge einigermaßen ind Unklare zu
verwideln im Begriffe fei, und ziehe zu richtigem Ver⸗
ftändnis daher vor, einfad und fachgemäß die Stamm:
tafel unferes ehrwürdigen Domchroniften zu Fopieren,
infoweit naͤmlich folche Stammtafel die beabfichtigte Dars
ftellung berührt oder, Forrefter ausgedrüct, von felbiger
Darftellung berühret wird. Demzufolge:
A. Oberdomprediger und Pröpfte am Dome zu f:
a) Dr. Renatus Henrici von 1760 bis 1805.
b) Dr. Renatus Henrici, des Obigen Sohn, von 1805
bis dato,
B. Domprediger, das heißt zweite Prediger, am Dome
von T: |
2) Magifter David Adami, von 1770 bis 1800.
b) Magifter Renatus Henrici, nachheriger Oberdom⸗
prediger und Propſt, von 1800 bis 1805.
c) Magifter Ehriftian Borsdorf von 1805 bis dato.
Alle diefe Umftände in Betracht gezogen, wird nun Die
Behauptung keineswegs ungereimt erfcheinen, daß dag
Greifengefchlecht in der alten Propftei am Dom - - -
Die goldene Hochzeit 335
Notabene: Erft unter dem gegenwärtigen Regiment ift
die Propftei in zwei getrennte Behaufungen abgeteilt, der
innere Zufammenhang vermauert, eine befondere Eins
gangstür von der Straßenfeite für eine jede von ihnen
angelegt, auch der urfprünglich gemeinfame Hof und ſüd⸗
lich nach der Niederftadt ſich abfenfende Garten durch eine
manndhohe Mauer fepariert worden.
Aber, beiläufig: ich werde mich diefer erläuternden Rand»
bemerfungen, Parenthefen und Notabened in Zukunft zu
entraten fuchen, da fie den zierlichen Fluß der Nede doc
bemerfbarlich ftören. Bin ich nur erft über die unerläß-
liche Einleitung hinweg, fo fpüre ich zum voraus, welch
unhemmbarer Zug aus dem bewegten Gemüt in meine
Feder frömen wird.
Was ich alfo fagen wollte, war, daß männiglidy dag
Patriarchengefchlecht in der grauen Propftei am Dom, in
Hufive des befcheidenen Anhängfels in der Küfterei, als
leibhaftig mit dem hehren Tempel verwachfen betrachtet
ward; vergleichbar dem Efeu, der im Laufe der Jahr⸗
hunderte zum Baume erftarft und, unlöslich in feine
Fugen eingeranft, feinen Lebensſaft aus dem feuchten Ge-
mäuer faugt. Was ich fernerhin fagen wollte, war: daß
das heutige Subelfeft nicht nur als eine feltene, erfreuliche
Familienfeier, fondern wie eine wunderbar erbauliche Be⸗
gebenheit zur Gloria unfered weitberühmten Domes von
Stadt und Landfchaft verhandelt und mitgefeiert ward.
Sn fämtlichen Korporationen hatten fich glüdwünfchende
Sendungen, in allen Familien der Gemeinde Spenden der
Liebe und Hochſchätzung vorbereitet. Die Kränze und
Kronen, zum Schmude des Altarplages gewunden, hatten
zwar eiligft befeitigt werden müffen, da der gottfelige Eifer
836 Die goldene Hochzeit
des Herrn Propftes diefelbigen als eine weltliche, ja heids
nifche Zierat, welche bereits die erfte Chriftenheit aus ihren
Srbauungsftätten verbannt hat, bezeichnete: fie waren je-
Doch, die Kränze und Kronen nämlich, bei ftiller Nacht in
finniger Anordnung vor der Propftei befeftigt worden.
Der Herr Domreftor hatte eine Kantate gedichtet und der
Herr Domfantor fie funftvoll in Mufif gefeßt, die Damen
und Herren der Stadt, bis zum hohen Adel hinauf, be-
teiligten fi) an ihrer Aufführung. Eine Deputation des
geiftlichen Konfiftoriumsd war aus der Provinzialhaupts-
ftadt eingetroffen; durch alle Tore zogen die Herren Amts⸗
brüder der Ephorie, in feierlichem Ornate, dem gemeins
ſchaftlichen Sammelplage in der Domaula zu; alle Leute
trugen Sonntagsfleider; aus allen Türen firömte ein
MWürzeduft feftlicher Kuchen und Braten, denn dba war
wohl faum ein Haus, das nicht einen Gaft aus der Um⸗
gegend beherbergte. Vom früheften Morgen ab wogte
auf dem Domplage ein froherwartungsvolled Treiben, und
netto zwei Stunden, bevor der Domvogt dad große Portal
auf der Weſtſeite öffnete, Iauerte vor demfelben bie liebe
Menfchheit Kopf bei Kopf gleich einer Mauer, um im ers
fehnten Augenblicte auf die gelegenften Schau- und Hör⸗
pläße vorzudringen.
Über diefes Portal, das von Kennern als ein Mufters
werf fälfchlich „altdeutſch“ benamfeten Bauftiles gepriefen
wird, wie aud) von dem Dom in feiner Gefamtheit muß
befürwortet werden, daß lange vor dem heutigen Subel-
tage der Zahn der Zeit bedenklich an ihnen zu nagen bes
gonnen hatte. Seit Sahren war von einer gründlidyen
Renovation die Nede geweſen. An Mitteln fehlte ed bei
dem beträchtlichen Kirchenvermögen nicht.
Die goldene Hochzeit 337
Die ftädtifchen Behörden wie das geiftliche Konfiftorium
der Provinz hatten das Unternehmen wiederholentlich in
Anregung gebracht; ein hoher Landtag ſich damit befchäfs
tigt. Seine Majeftät der König, auch im Kunftgebiet,
wie männiglich befannt, der Erfte feined Reichs, hatte
diefe Reftauration „eine Herzensſache“ für Allerhöchftdies
felben genannt. Weltberühmte Künftler vom Baufach
waren entjendet, Gutachten, Pläne, Anfchläge eingereicht
worden, — dennoch aber die dringliche Angelegenheit ſeit
einem vollen Sahrzehent ſchlechthin gefcheitert, gefcheitert
an dem Widerfpruche und Widerftande des gewaltigen
Henrici, der, ich weiß mich nicht faßlicher auszudrücken,
in feinem Regimente ein Autofrat war und den Dom
gleichfam als ein feiner Treue anvertrauted Dominium
betrachtete.
Herftellung der Baufälligfeiten genehmigte, ja heifchte,
jedwede Neuerung verweigerte er. Jedweder neue Stein
follte genau in die alte Fuge paſſen, jedweder Schnörfel,
jedwedes Ornament genau nad, dem alten Mufter ges
meißelt, fein Chorftuhl verrüdt, fein Nebenaltar befeitigt
werden. Nicht eine der Privatfapellen auf und unter den
Emporen durfte fallen, noch viel weniger diefe Emporen
felber. Die Heinen Betfäfige und Andachtölauben, die fich
trennend zwifchen der vorderen Tauf- und mittleren
Predigtkirche eingeniftet hatten, galten, ald Denkmale pros
teftantifcher Verſenkung, ihm hoͤchſt erhaltenswert; eher
aber würde der außerordentliche Mann fein Regiment, ja
fein Leben geopfert haben, als die durchbrochene Steins
wand, — obſchon mahnend an die Fatholifche Vorzeit —,
die gleich einem funftvoll gewebten Vorhang das Heilige
von dem Allerheiligften fcheidet. Alles follte erhalten oder
®
338 Die goldene Hochzeit
wieberhergeftellt werben, wie ed gewefen oder geworben
war. „Zutaten, nicht Zerftörungen!” herrfchte der Propft.
Man munfelte von gar eifermütigen Auftritten zwifchen
Kunftjüngern und Behörden einerfeitd und dem Dom-
repräfentanten andrerfeit3; man wußte von hemmenden
Gewalteingriffen, die zuverläffig feinem anderen als dies
ſem allerhöchftbegünftigten Greife zugute gehalten worden
wären, bis dann fchließlich ein Föniglicher Kabinettsbefehl
die heifle Angelegenheit vorderhand in den Ruheftand
verfeßte.
Lieber Himmel! Wir Fleinen Leute fehen und hören
gewiflfe Dinge in einem weit fchärferen Lichte als die
Hauptperſonen, vor weldyen bemäntelnd hinter dem Berge
gehalten wird. Mir, dem Küfter, ift die Allerhöchfte Ab⸗
fiht fo wenig wie die allgemeine Anficht von der Sadıe
entgangen: der Auffchub erfolgte nicht ald Bewilligung,
fondern aus Schonung für unferen alten Herrn.
Wie Iange konnte er ed denn noch treiben in feinem
Regiment? Der Bau erforderte Jahre. Sollte man den
Greis per fas et nefas aus feinem urväterlichen ‚Beilig-
tum in ein befcheidenes Snterimsfirchlein der Vorftadt
verweifen? Ihn wohl gar aus der Propftei vertreiben,
in welcher feine und feiner Ahnen Wiege geftanden hatte
und welche nadı dem in der Stille von obenher ange-
nommenen Plane famt der anflebenden Umgebung — auch
der Küfterei! — der Erde gleichgemacht werden mußte,
um dem Gotteshauſe eine freie Anfchau und Umfchau zu
gewähren? Nein. Wir Alten follten von der Bühne erft
abtreten, bevor das Neue ind Leben gerufen warb.
Aber wir Alten treten ab weit, weit fpäter, ald man
vorausgefehen. In dem feuchtlalten, felten durch einen
Die goldene Hochzeit 839
Sonnenftrahl erquickten Dunftkreife unferes Gottesfchreines
umfängt und eine wunberbarliche Lebensluft, die und ein
Geichlecht nach dem anderen überbauern läßt. Die heim-
liche Erwartung, daß der Propft, nachdem er fchon vor
Sahren fein fünfzigiähriges Amtsjubiläum gefeiert, fich
freiwillig in den Ruheftand begeben werde, ward zufchans
den: der eiferne Greis Dachte nicht daran, feinen Poften
zu verlaflen, ehe Gott ihn rief. Unermüdet forfcht er vom
Morgen bis zur Nacht in feiner Zelle; ungebeugt fteht er
jeden Fefttag auf der Kanzel. Nicht auf eine Stunde
überläßt er, felber zu Händen feines Amtsbruders, des
Herrn Magifters, die Schlüffel der Kleinodienfammer in
feinem Seiligtum, und mancher Frembling hat in den leßten
Sahren, da die Eifenbahn einen lebhaften Verkehr für uns
fere Stadt hervorgerufen, der alte Herr aber haushältes
rifcher mit feiner Zeit und Kraft geworden ift und feine
Führerfchaft nur noch, als einen Akt gnädiger Herab⸗
laſſung, abfonderlich hohen und gelehrten Häuptern zugute
fommen läßt, mancher Fremdling, fage ich, hat vor ber
gefchloffenen Reliquienfapelle unfere® Domes abziehen
müffen, ohne die foftbaren Meßgewänder, die tunftvollen
Altargefäße und andere Raritäten aus alter, allein firdh-
licher Zeit in Augenfchein genommen zu haben. Inſonder⸗
heit aber ift mancher vergebliche Seufzer gefallen um den
Anblic der feltfamen Rofe von Sericho, die ein Kreuzritter
aus dem Heiligen Lande zu und gebracht haben fol und
die in geographifchen Handbüchern als die höchite Merk:
würdigfeit, ja geradezu ald das Wahrzeichen unferer
Domftadt aufgeführt wird, wiewohl fie dem Auge doch
nur als ein vertrodnetes Möslein erfcheint, an dem noch
nicht einmal ein Menſch die Probe gemacht, ob es, mit
840 Die goldene Hochzeit
Wafler befprengt, in Wahrheit zu einem frifchen Ge⸗
wächſe in die Höhe quillt oder gar zu einer farbigen
Blume erblüht.
Es würde für den dereinftigen Leſer diefer Hiſtorie viels
leicht nicht ohne Intereffe fein, an diefer Stelle eine Schils
derung der Seltfam- und Koftbarfeiten aus dem Kronfchage
unferes Oberhirten eingefchaltet zu finden. Aber ein uns
redliches Gefchäft für den Schreiber würde ſolche Ein⸗
fchaltung fein, da jener gelehrte und gründliche Forſcher
längft ſchon aud, das geringfügigfte Stüdlein in feiner
Domdhronif niedergelegt hat und aus dem Grabe heraus
feinen demütigen Handlanger und Diener eines geiftlichen
Diebſtahls bezichtigen konnte. Das fei ferne von mir!
Hat gegenwärtiged Sfriptum doch wefentlich auch nichts
mit dem Dome als foldhem zu fchaffen, nur mit feinen
In⸗ und Beifaffen am Tage der heutigen Subelfeier. Sa,
fammle ich im Grunde doch nur das Material zu einem
erbaulichen Xebenebilde für eine würdigere Hand, wenn
eines Tages die meine in Staub zerfallen wird, und vers
zeichne ich doc; nur fonder Kunft und Studium die Um⸗
ftände, welche diefer Subelfeier erft ihre wahre Bedeutung
gegeben haben; Umftände, die in meiner vertraulichen
Stellung mir ganz allein zu Auge und Ohr gefommen find
und die in der Henricifchen Chronik dereinft nicht nach⸗
zulefen fein werden.
Nach mufterwürdiger Hiftorienfchreiber-Sitte beginne
ich demzufolge mit dem Allgemeinften: will fagen mit
Himmel und Wetter, die ſich der jubilierenden Menfchheit _
zu einer Feitgenoflenfchaft verbündet hatten.
Denn nadıdem ein Fühler, regnerifcher Maimonat in ber
Die goldene Hochzeit 344
Tat weniger Wonne verbreitet hatte, ald gemäß der alten
guten Bauernregel Segen für Scheuer und Faß in Auss
ſicht ftellte, Tagerte fich heute, am erften Junius, ein wol⸗
tenlofe8 Blau über die erquickte Erde, blinfte die Tiebe
Sonne warm und goldig hernieder und hatte das Gebirge
über Nacht all die grauen, dicken Nebelfappen abgemworfen,
in die es fich feit Wochen gehüllt. Deutlich, wie mit Dem
Griffel gezeichnet, begrenzten feine Felsfpigen und Wald»
rüden den weftlichen Horizont.
„Wie diefe Heiterkeit gleich beim Erwachen das teuere
Hochzeitspaar ergötzen wird!” fagte ich zu mir felber,
nachdem ich gerührten Herzend im erften Dämmerungd-
fchimmer mein Morgendanflied gefungen hatte.
Denn der Magifter Borsdorf war ein Freund und
fozufagen Liebhaber der fichtbarlichen Natur. Sein erfter
Blick galt den Morgen: und fein leßter den Abendfternen;
Wind und Wolken wußte er zu berechnen wie ein Schäfer
oder Jägersmann; folange feine anjeßo leider ſchwach
werdenden Füße ihn trugen, fchweifte er mit Botanifter-
trommel und Schmetterlingsfchere. in Wald und Flur
umher. Daheim aber wartete er in Schachteln und Gläfern
des gefammelten Gewürms, wartete des Bienenhaufes in
feinem Garten mit der Sorgfalt eined Familienvaters.
Seine Sinfeftenfammlung wurde von Kennern ald eine
Sehenswürdigkeit gepriefen, in ihrer Art faum geringer
als felber die Kleinodienfammer unſeres Doms; feines
Aurifelflors im Lenz, der Pracht feiner wiederholt bis in
den Herbft hinein blühenden Rofen würden fich herrfchaft-
liche Anlagen nicht zu fehämen haben. Mit offenem Auge
fucht, findet und unterfcheidet er Das unfcheinbarfte Gebilde,
mit gedeihlicher Hand pflanzt, pflegt, fördert, veredelt er
342 Die goldene Hochzeit
den fchwächften Keim, und wer, wie ich in jüngeren Sahren,
ihn auf einer fommerlichen Wanderung durdy dad Gebirge
begleitet hat, der darf fagen, daß er gleidyzeitig Luft und
Belehrung eines Reifenden gefoftet.
Wie aber der himmlifche Vater Sinn und Trieb der
Menfchen verfchiedentlicd, gefchärft, wie er fie gerichtet hat,
daß, Rüden an Rüden gelehnt, dem einen die fichtbare,
dem anderen die unfichtbare Natur zur Offenbarung wird,
davon hatte man, wie an feinem zweiten, an ded Magifters
Amtsbruder und Nachbar ein lehrreiches Exempel.
Seitdem Renatus Henrici den Oberpoften am Dome
angetreten, hatte er dad Weichbild unferer Stadt feinen
Fußbreit überfchritten; der Gottesader der Gemeinde, der
in fein Amtsbereich gehört, war feine Außerfte Grenze.
Sa, in der langen Zeit, wo faum einer feiner Schritte mir
verborgen geblieben ift, habe ich ihn nur ein einziges Mal
fi, was man fo Iuftwandeln nennt, außerhalb feines
Gartens bewegen fehen. Das gefchah aber in jenem Früh-
ling, fünfzig Sahre vor dem heurigen, da er juft in bie
Oberdomwürde aufgerüct war und die liebliche Magdalene
Adami, die Mündel und Pflegetochter feines weiland Herrn
Vaters, ald arme Domwaiſe, neben feiner Schwefter Des
bora, unter feinem Dache und Schuße verweilte.
Ad), damald lag freilich die Zukunft weit reicher, als
fie fi) nach Gottes unerforſchlichem Natfchluffe geftaltet
hat, vor meinen hoffnungstrunfenen Blicken. Die vier
Domfinder, Ehriftian Borsdorf (fein Bater war Rektor der
Domfchule) und Debora Henrici, Renatus Henrici und
Magdalene Adami, verfprachen, zwei Paare am Dome zu
werden; die geiftliche Erbfolge ſchien in doppelter Weiſe
und in den Ffräftigften Gefchlechtern geſichert. So vor
Die goldene Hochzeit 943
fünfzig Sahren. Und heute? Renatus und Debora Hen⸗
rict find ledigen Standes und folchergeftalt ohne Leibes⸗
erben verblieben; dem Chriftian Borsdorf und feiner
Ehegattin Magdalene Adami find von einer zahlreichen
Nachkommenſchaft nur zwei Großfinder erhalten worden:
von einem Sohne eine Tochter, Debora Borsdorf, und von
einer Tochter ein Sohn, Renatus Friedheim; beide als
Augens und Herzenstroft ihrer alten Tage, in ihrem Haufe
lebend; die Enkelin, eine holdfelige Sungfrau, juft fo alt
wie ihre Großmutter heute vor fünfzig Sahren, nämlich
achtzehn; der Enkel, ald Subftitut feined Großvaters, wie
diefer damals bei dem weiland Oberdomprediger Henrici.
So heute! Und gefegt den denkbar glüdlichften Fall, daß
der fönigliche Patron unfered Doms feinen anderen als
ben Friedheim zum Nachfolger feined Großvaterd, even-
tualiter auch noch auf einen höheren Poften, berufen follte,
ein Fall, der - man berechne die Scharen älterer Bewerber
bei folcher Ausſicht! — der alfo gar nicht in Betracht kom⸗
men dürfte, ohne die Verwendung des einflußreichen Hen⸗
rici zugunften des Erbherfommend und ohne die Löblichen
Eigenfchaften des jungen Kandidaten, — gefeßt alfo dieſen
glücklichen, aber, ach! nur allzu unwahrfcheinlichen Fall,
fo hieß er Friedheim, nicht Henrici, nicht einmal Borsdorf;
die alten Namen, die alten Erinnerungen löfchen aus;
alles wird anders; auch gut, will's Gott! beffer in manchen -
Stüden vielleicht; aber anders, unergründlid, anders, und
dieſes Anders tut einem adıtzigjährigen Herzen weh.
Endlich aber ich felber, Zebedäus Gutedel, der ich in
ber Sugend meine Freiheit aufgegeben und die Leibeigens
fchaft des Eheftanded auf mid) geladen hatte, nicht ohne
zärtliche Neigung, es ift wahr, aber zum erften doch in der
344 Die goldene Hochzeit
Hoffnung, dem Dome einen Erbfüfter zu erzielen, auch ich
fahre in die Grube. — Aber wohin fchweift mein Geift!
Ad), die Folgerichtigfeit ift eine fchwere Kunft, wenn eine
Idee, fozufagen eine Hauptidee, unabläfftg in unferem
Hirn und Herzen wühlt! Da bin id; ſchon wieder bei
dem A und D meiner fohlaflofen Nächte und follte Doch
eigentlich bei jenem hoffnungsvollen Frühlingstage fein,
an welchem ich Renatus Henrici mit einem Strauße gelber
Butterblumen aus dem Poetengange hinter unferer Kuh⸗
wiefe zuruͤckkehren fah.
Aber diefe Maienanwandlung war entſchwunden, flüch⸗
tig wie fie aufgeftiegen; Renatus Henrici war damals fchon
ein allzu tieffinniger Gelehrter, ein viel zu weit fchallender
Redner und Schriftfteller, gleichfam ein proteftantifcher
Kirchenvater geworden, um ſich auf Die Dauer eine weich⸗
herzige Stimmung für die vergängliche Natur zu geftatten.
Hatte er nicht Bücher und Handfchriften? hatte er nicht
Amt und Regiment, hatte er nicht feinen Dom? Alles
das für den forfchenden Geift! für das Leibliche aber, zur
wohltätigen Erfchütterung von Lunge und Zwerchfell —
wennfchon er bei feinem gefegneten Appetit und bis zur
Stunde ungeftörten Kreislauf fämtlicher Körperfunftionen
diefer Nachülfe kaum zu bedürfen fchien — hatte er da
nicht feinen Garten? Konnte er nicht — und tat er e8
nicht regelmäßig bei Wind und Wetter, in Regen und
Schnee — konnte er nicht jeden Nachmittag in der Zeit,
wo das Sonnenlicht ſchwach und Bas Rampenlicht blendend
wird, fünfunddreißig Minuten nad, der Uhr in dem alten
Ulmengange auf und nieder fpazieren und feinen Gedanken
dabei Audienz geben, ohne von einem fremden Menfchens
geficht oder gar einem ſchwatzhaften Mundwerk geftört zu
|
Die goldene Hochzeit . 345
werden? Schüßte ihn nicht die mannshohe Mauer vor
der Begegnung der Nachbarfamilie und das dichte Ges
ſtrüpp felber vor deren befäftigenden Blicken? Hätte ein
anderer Menſch außer feiner Schwefter Debora die pflichts
fchuldige Nückficht gezeigt, gleichfam als ein Schatten oder
Schugengel, in tiefem Schweigen, zehn Schritt hinter ihm
drein zu wandeln?
Was aber den Horizont betrifft, Wolken, Sonne, Mond
und Sterne, welche die hohen Bäume des Gartens vers
decften: kannte dieſer Forfcher in Gott nicht einen weiteren
Himmel und eine höhere Unendlichkeit ald die, welche
fchwache, wenn auch mitunter recht fromme Menfchenfinder
hinter derlei Luftgebilden und leuchtenden Himmelskörpern
erträumen?
„Alles Bergängliche ift nur Schein und Widerfchein”,
fagte Renatus Henrici, und Renatus Henrici, der fein
ganzes Wefen in dad Sein verfenfte, hätte der nach einem
Widerfchein fragen follen?
Zweites Kapitel
Nein, der Mann war zu groß, um nach dem Maße ges
wöhnlicher Menſchen gemeflen zu werden. Er wußte das
auch, und darum wollte ed mich fchier bänglich wie ein
Zeichen heranfchleichender Alterdfchwäche bedünken, daß
ich ihn heute morgen, ald er aus der engen dunflen Schlaf-
zelle zwifchen den beiden von ihm bewohnten Zimmern
trat, nicht wie alle Tage in die nadı dem Dome belegene
Studierftube und alfobald auf das mächtige, mit Büchern
und Sfripturen beladene Pult, fondern auf das nad) dem
Garten führende Fenfter des Frühſtücksgemachs zufchreiten
und in die auffteigende Sonne bliden fah.
&
346 Die goldene Hochzeit
Sch fah ihn, fage ich; denn ich faß fchon eine gute
Weile in dem fogenannten Küfterzimmer, nach welchem
beide Türen der pröpftlicen Gemächer Tag und Nacht
geöffnet ftehen, und harrte der Anweiſungen, die er mir in
der Frühe entgegenzunehmen geboten hatte. Keine feiner
ungewohnten Bewegungen entging mir daher. Er öffnete
ein Schößchen, fog mit einem tiefen Atemzuge — wenns
nicht etwa ein Seufzer gewefen ift — bie würzigen Düfte
ein, die aus dem WMagiftergarten herüberdrangen, und
ftand darauf wohl zehn Minuten lang regungslos in den
goldenen Morgenhimmel verfunfen, fo ald ob er ein ſel⸗
tenes, zwiefältig zu enträtfelndes Palimpfeftos vor Augen
habe, dergleichen Pergamente er höher ald alle andere
Handichriften in Ehren hält.
Solchergeftalt in Betrachtungen vertieft, ftand er noch
am Fenfter, als feine Schweiter, „bad Domfräulein“, wie
fie von aller Welt genannt wird, nachdem fie dreimal Ieife
an bie Tür geflopft hatte, in das Zimmer trat.
Sie neigte tief, aber fchweigend zum Gruße das Haupt,
ließ einen verwunderten Blick auf den Bruder am Fenfter
ftreifen, feßte das Kaffeegeichirr, das fie im Arme trug,
auf den Tiſch, ſchenkte eine Zafle ein und ftellte den
Heft, welcher, in langfamen Zügen gefchlürft, den ganzen
Bormittag vorzuhalten pflegte, auf der Kohlenpfanne
warm. Sie war im Begriff, fich leife, wie fie gekom⸗
men, wieder zu entfernen, ald der Propft, ohne feinen
Platz zu verlaffen, fi) mit der bedeutfamen Frage an fie
wendete:
„Zräumft du zuzeiten, Debora?“
„Zuzeiten, Renatus,“ antwortete das Fräulein mit gros
pen befremdeten Augen.
Die goldene Hochzeit 347
„Sch niemals, — aber diefe Nacht,“ fagte er und blickte
wieder hinaus in die Sonne.
Sie wollte fich zum zweiten Male entfernen; zum zweiten
Male hielt ein Laut aus feinem Munde fie feft.
„Fünfzig Jahre, Debora!l” murmelte er, in Erinnes
rungen verloren.
„Fünfzig Sahre, Renatus!“ wiederholte das Fräulein,
indem fie mit langfamen Schritten fich feinem Plage näherte.
„Mir ift, ald wäre es geftern gewefen, Debora.“
„Mir ift e8 alle Tage feitdem wie geftern gewefen,
Renatus.“
„Die Sonne ſcheint klar wie damals, der Himmel iſt
blau und die Koppe unverhüllt.“
„Der Flieder blüht ſpät wie damals, da die .
bereits im Aufbrechen find.“
„Ein halbes Jahrhundert, Debora!”
„Ein halbes Jahrhundert, Renatus!“
Es folgte eine Paufe. Die beiden hohen Geftalten ftan-
den nebeneinander, regungslos, ald wären fie von Stein.
„Debora!”" hob endlich der Bruder wieder an, „Des
bora, die Zeit ift unmerflicdh gefommen, und Ordnung
nüße auch in geringfügigen Dingen. Debora, morgen
mache ich mein Teſtament.“
„Sch mache es mit dir, Renatus.“
„Genau weiß id) ed nicht, aber — fünfzig Sahre! — e8
fummt fidy zufammen; dreißigtaufend müflen e8 fein.“
„Bei mir ift ed mehr. Und außerdem: fünfzig Sahre!
es fpinnt und webt fi) zufammen: jeden Sahrgang ein
Gedeck und ebenfoviel Stüc Leinwand find es, Renatus.“
„Wir haben keine Kinder, Debora.”
Das Fräulein fenfte die Augen zu Boden,
548 Die goldene Hochzeit
„Keine Blutöverwandten, feine Freunde, Debora.”
Das Fräulein feufzte.
„Sterbe ich vor dir, Debora — —“
„Gott verhüt e8, Renatus.“
„Sp genießeft du bis an dein Ende, wad id) verlaffe.
Aber unfer Erbe — —“
„Unfer Erbe —“
„Sit der Dom.”
„Der Dom!“
Du lieber Himmel, dachte ich in meinen Gedanken,
was foll der Dom mit dem ſchönen Leinen und Drell?
Und felber, was fol der Dom mit den Henricifchen Erb-
talern, er, der fchon fo viele ungenugt in feinem Gottes⸗
faften liegen hat? Mit diefen Gedanken aber jagte der
alte, immer neue Aufruhr mir durch Kopf und Herz.
In den ungezählten Lebengftunden, die ich harrend auf
dem Küfterftuhle in ftiller Betrachtung des gottfeligen
Fleißes diefed Mannes hingebracht und mich in die Zellen
der gelehrten Benediftiner, die einftmals in diefen Räumen
geheimft, zurückverſetzt, da hatte fich in meinem inwendigen
Menfchen die Überzeugung ausgebildet, wenngleich ich
ſchwarz auf weiß fie leider nicht darzutun vermag, Die
Überzeugung, daß das Domgefchlecht der Henrici von
einem jener Mönche feinen Urfprung leite, einem Pater
Henricus etwa, dem der große Doktor Luther mit dem
Erempel der Ehelichfeit das Flöfterliche Gelübde fprengen
ließ. Und nun nagte ed an meiner Seele wie ein Wurm,
dieſes gefegnete Exempel an einem Henrici zufchanden
werden und ben Lebten feined Namend der Grube ent:
gegenfahren zu fehen, gleichſam wieder ald einen Mönd).
Ehe ich nun aber zu befchreiben verfuche, was mid; bei
Die goldene Hochzeit 849
feinen Worten heute morgen ftärfer ald jemals erfchätterte,
möge ed mir, ohne Unbefcheidenheit, vergönnt fein, in die
Schilderung meiner hohen Vorgefegten ein Wörtchen über
meine eigene Wenigfeit einzumeben, infofern felbige näms
lich das Verhältnis zu jenen hochverehrten Perfonen bes
rührt. |
Keine fchreiendere Ungerechtigkeit und feine empörendere
Zügellofigfeit der Prefle als die Schablone, nach welcher
in fpaßhaften Hiftorien, in fchnurrigen Märlein und felber
in gereimten Berfen — die ich aber als ungereimte traf
tiere - dad Amt meiner Kollegen, der Kirchner und Küfter,
gleich einem Schmarogerdienft, die Zunft in ihrer Ges
famtheit — Ausnahmen laſſe ich gelten — ald eine von
Scylemmern und Handnarren verfpottet wird; in ihrer
geiftlichen Art etwa den Barbieren und Schneidern an
die Seite zu ftellen, die unter den bürgerlichen Hans
tierungen famt und fonderd wie Kafenfüße und winds
beutelige Poffenreißer abfonterfeit werden, da id) doch
manchen beherzten und gefegten Mann unter denen ihres
Zeichens fennen gelernt habe. Wahrlich, es ift kein Kunfts
ſtück von diefen Herren Hiftorienfchreibern, derlei abges
drofchene Allotria immer von neuem wieder aufzumärmen,
und gedenfe ich vor meinem Abfcheiden zur Redjtfertigung
meiner Standedwürde mit einem Schriftftüf vor das
Publikum zu treten, auf welches ich mir zum voraus er⸗
(aube, die Blicke aller Wahrheitöfreunde hinzulenfen; ein
Schriftſtück, dem ich Die Fraftvollften Stunden meines Lebens
zugewendet und das, ich hoffe es, das Gedächtnis der alten
Domkuůͤſterei, nachdem dieſe längft dem Erdboden gleich
fein wird, friſch und lebendig erhalten, den erlofchenen
Namen „Gutedel”, wenn auch in befcheidener Entfernung
350 Die goldene Hochzeit
von dem der Henrici, — aber nicht ohne Ehre für unfern
Dom deffen Schriftftellern beigefellen wird.
An diefer Stelle nur eine Frage im allgemeinen:
„Man gönnt einem Kürften viele Kammerherren,
einem Feldherren viele Adjutanten, und einem Kirchen
oberhaupte will man einen einzigen Küfter verfünmern y
Und eine zweite im befonderen:
„Ein Parafit und Faulenzer, ein Hansnarr nach der
ffribentifchen Schablone, würde ein folcher fich eines Ver⸗
hältniffes rühmen dürfen, wie Zebedäus Gutedel ſich des
feinen zu einem Borsdorf und Henrici?”
Denn das zu dem heutigen Jubilar und feiner werten
Familie kann ich, ohne Schmeichelei, fchlechthin ein ges
mütliches nennen. Gehöre ich nicht zu ihnen wie der Ießte
Ring einer Kette? Bin ich um ein Haarbreit weniger
als Hausfreund? Werde ich nicht in Freud und Leid zu
Rate gezogen? Erhalte ich nicht mein Teil von allen
MWünfchen und Sorgen, wie von allen Lederbiflen, die der
Haushalt mit ſich bringt: im November von der Schlacht»
fchüffel, zum heiligen Chrift meinen Weden, am grünen
Donnerstag eine KHonigfcheibe aus dem Bienenhaufe?
Wann Mingen im Magifteranteil der alten Propftei die
Stäfer zu einem Profit oder Memento aneinander, daß
Zebedäus Gutedels Freudens und Tranenkelch fich nicht
mit dem ihren mifcht? |
Weit verfchieden Dahingegen der Standpunkt des Hen⸗
riciſchen Gefchwifterpaares gegenüber meiner befcheidenen
Perfon. Ich kann ihn nicht anders als einen erhabenen
bezeichnen, und nicht ein einziges Mal in foundfo viel
Sahren bin ich vor das Angeficht meines höchften Ober:
hauptes mit einer anderen Empfindung getreten ald ber,
Die goldene Hochzeit 351
ee u rl una
die mir in den hohen, grauen Ballen unfered Domes wie
ein Schauer der Feierlichfeit vom Wirbel zur Zehe riefelt.
Gleichwohl habe ich mid; juft von diefem außerordent-
lichen Herren der ehrendften Beweife der Gemwogenheit zu
rühmen gehabt. Erft durch feine Verwendung ift die
Domtfüfterei zu den Erträgen gelangt, welche fie heute zu
einem beneidenswerten Poften macht. Aus feinem eignen
Sädel hat er dereinft meine Mutter, ald Küfterwitwe,
meinen blindgeborenen Bruder und mandhen aus meiner
Frauen Sippfchaft reichlich unterftügt; und das ohne
vorausgegangene Bitte, ohne Frage nadı der Verwen⸗
dung, mit fichtbarlicher Scheu vor dem Habdank. Renatus
Henrici ift großartig im Geldpunfte, wie in jeglichem
anderen; wie hätte ohne das fein Vermögen auch nicht
weit die dreißigtaufend überfteigen follen, deren er vorhin
erwähnte? Denn, mit Ausnahme feiner Bibliothef, bes
darf er für die eigne Perfon fo wenig ald ein Klofters
bruder; er war ein Erbfohn von Wutterfeite, und die
Oberdomftelle trägt, fchlecht gerechnet, an die dreitaufend
im Sahre; die fogenannten Stolagebühren noch gar nicht
einbegriffen, die er jederzeit in die Domkaſſe fließen läßt.
Desfelbigengleichen hat der Propft Henrici mit eigner
Hand meinen Ehebund eingefegnet, meine Kindlein ges
tauft und fie zu Grabe geleitet, ald Gott der Herr fie mir
wieder nahm. Der Fall ift nicht vorgefommen, daß ich
mich erinnere, aber hätte ich Rat gefucht für meinen Geift,
ich würde mich an den Doktor gewendet haben; fuchte ich
Troft für mein Gemüt, und ed gefchah des öfteren, ging
ich hinüber in das Magifterhaus. Über alle und jede
Wonhltat jedoch muß ich mid) rühmen der ftillfchweigenden
Zeugenfchaft an allen Arbeiten und Handlungen des ehr-
352 Die goldene Hochzeit
würdigen Mannes, des ftolgen Bewußtfeing, niemald durch
ein Zeichen der Verheimlichung oder des Mißtrauens von
ihm gefränft worden zu fein. Und wäre ed mitten in der
Nacht gewefen, ich Durfte unangemeldet bei ihm eintreten;
ic trug feinen Hausſchlüſſel in meiner Tafche und wars
tete im bequemen Küfterftuhle des allezeit für mid; offnen
Vorgemachs den Augenblid feiner Muße für mein Ans
liegen ab. Sch gehörte eben zum Dom; ich war ein Erbe
von Bäterfeite an felbigem fo gut ald er felbft; wer den
Diener beleidigte, hätte den Herrn beleidigt; gleichwie
einer, der etwa die Safriftei verunreinigt oder den Klingels
beutel beftohlen, das Heiligtum der Kirche felber gefchändet
hat. Und fo kann ich denn dreift behaupten, daß ich nie
mit einem Menfchen wie mit diefem mich gleicherweife in
Fleifch und Bein verwachfen, fozufagen eines Leibes und
eines Geiftes empfunden habe, wenn ich mich auch unter
feinen Umftänden unterfangen haben würde, meine Stimme
zu einem Einfpruche zu erheben, Rat oder Widerrat aufs
fommen zu laflen, felbft wenn ich dann und wann nicht
gleichen Sinnes mit dem geftrengen Herrn des Domes su
fein vermochte.
Wie ich ihn aber anjeßo vor dem Fenfter ftehen und
ungeblendet, gleich dem Aar, in die glänzende Morgens
fonne fchauen fah, wie ich ihn feines legten Willend und
des fühllofen Erben von Stein erwähnen hörte, da trat
von neuem und Aßender denn je die Zufunft vor meine
jammervolle Seele, wo diefer uralte, Fräftige Stamm, im
Schatten ded Domes aufgewachſen, verdorren und fpurlos
verfchwinden, wo diefe Wohnftätten, Zeugen fo langbes
währter geiftlicher Tugend, der Erde gleich fein follten.
Und nicht ein Name übrig, der aus dem neuen Regiment
Die goldene Hochzeit 353
in das alte zurücdeutete; Fein Faden, fein Klang, der das
Merdende mit dem Abgefchiedenen verband! Sei ed um
die Gutedel und um die Küfterei; ed kann Kletterpflanzen
verfchiedentlichen Namens geben. Sei es um die Borsdorf:
fie waren ein neued Neid, nur durch Chelichfeit der alten
Eiche aufgepfropft; aber die Henrici, die Pröpfte! die Wur-
zel und die Krone diefer Eiche zu gleicher Zeit, audy fie,
auch fie! Unwillfürlich faltete ic; meine Hände und flehte,
— flehte um ein Wunder!
Die heißen Tropfen ſchwammen in meinen Augen, und
als ich fie hinunterpreffen wollte, um nicht mit den Spuren
unliebfamer Weichlichkeit vor meinem Herrn zu erfcheinen,
da ſchnürte fich mir Die Gurgel zufammen, ein Schluden
ergriff mich, ein Küfteln, und diefes Geräuſch weckte ben
Doftor aus feiner Kontemplation.
„Der Küfter!” fagte er, ſich befinnend.
Das Wort war mir ein Befehl; ich trat in das Frühs
ſtückszimmer und unter die Augen des gewaltigen Mannes.
Hätte ich feit den mehr als fiebenzig Sahren, daß ich in
unferer Domfchule neben Renatus Henrici mensa des
flinieren gelernt oder auf dem Domhofe Ball und Kreifel
mit ihm gefpielt, — wiewohl letzteres häufiger mit Chriftian
Borsdorf, dem Dritten im Bunde der Domfnaben, denn
jener war allezeit mehr ein Schul- ald Spielfamerad —
hätte feit diefen mehr als fiebenzig Sahren ich Nenatus
Henrici heute zum erften Male wiedergefehen, wahrlich!
auf den erften Bli würde id) in dem Greife den Knaben
wiedererfannt haben, fo wenig, oder fo naturmäßig hatte
er ſich verändert, und fo unauslöfchlich prägte feine Ers
fcheinung ſich dem menfchlichen Gedächtniffe ein.
Er war fchon damals um Kopfeshöhe größer als wir
554 Die goldene Hochzeit
anderen feines Alters; Fleifch befaß er fo wenig als heute
an feinem Körper, aber wie heute noch eine eherne Mus⸗
fulatur und eine fteilrechte Haltung, welche die Laſt der
Jahre nicht um eine Linie gefrümmt hat. Seine mächtig
gefchwungene Nafe gleicht der des Königs der Lüfte, und
ber Herrfcherglanz in dem weitgeöffneten, dunfeln Auge,
die hochgewölbte, über der Nafenwurzel dicht verwachſene
Braue, die gemahnen mid) jedesmal an das Bildnis von
Gott dem Herrn im Süngften Gericht über dem Hauptaltar
in unferem Dom. (Wer möchte denn auch beweifen, daß
nicht ein Henrici dem alten Maler ald Modell zu dieſem
Meifterftüc gefeffen hat?D Sein rabenfchwarzes Haar,
nur mit wenigen hellen Fäden untermifcht, ftrebt über der
breiten, gewaltigen Stirn in die Höhe, gleich einem Wald,
und fest feinem Längenmaße nod) ein beträchtliches zu.
Selten rötete auch im Knabenalter ein Blutstropfen Die
gelbbleichen Wangen, und das blendende Gebiß zeigt fich
diefed Tages noch unerfchüttert zwifchen dem fchmalen,
fchwachgefärbten Lippenfaum. Eine Fürftens und Heldens
geftalt, diefer Mann!
Und wahrlich! wie ein Fürft und Held nimmt er ſich
auch aus drüben in der Bilderreihe der Pröpfte zwifchen
ben Spitbogen ded hohen Chors. Alle überragt er. Der
fchwarze Talar und die Bäffchen dünken einem nur zur
Berhüllung über eine Nitterrüftung geworfen: die leifefte
Bewegung, und Schwert wie Harnifch leuchten hervor.
Und ein Held, ein Fürft, das fcheint er nicht nur, nein,
das ift diefer Mann. Ein Fürft und Held im Geift! Denn
einer, ber feit Menfchengedenfen fein Zeichen von Schwach⸗
heit, von Sehnſucht oder Verlangen kundgetan; einer, der
niemals fichtbarlid; Freude oder Leid von einem andern
Die goldene Hochzeit 355
Menfchen empfangen; der niemals zeitliche Not und Sorge
getragen; der niemald zagend an einem Kranfens oder
Sterbebette gefeflen, ja, nicht einen einzigen Tag felber
auf dem Kranfenbette gelegen; einer, der feines Menfchen
Hand gedrüdt und geflehet hat: „fei mein Freund!”; der
niemald vor einem Menfchenauge gezittert, gefeufzt, ge⸗
flagt oder eine Träne geweint; der von jeglichem Gottes»
und Menfchenwert nur einen Andachtötempel und die
Geiftesfrüchte der Vor- und Mitwelt in fein Leben aufges
nommen, — ift der nicht ein anderer als die unruhigen
Zaufende rings um ihn her? Ssft er nicht geboren, über
fie zu herrfchen? Iſt er nicht ein Held und Überwinder?
Er hätte auf einem Throne ftehen follen! Und wahrlich!
wie auf einem Throne fteht er auch: einfam, unerreichbar
über der niederen Welt; fei es vor dem Pult in feiner
ftilen Klaufe; fei ed auf der Kanzel mit dem martferfchüts
ternden Wort, oder am Altar mit dem erhobenen Kelch
des Saframents; fei ed am Rande des Grabes, wenn er
das Vergängliche verfchütten fieht und den Segen über
das Unvergängliche fpendet.
„Küfter, du ſchwärmſt!“ höre ich Fopfichüttelnd den
Nachgeborenen fagen, dem dieſe Blätter in die Hände
fallen werden. „Dein Held und Kerr ift eine Audgeburt
deiner müßigen Stunden drüben im Küfterftuhle der grauen
Propftei. Hat Renatus Henrici denn nicht Vater und
Mutter gehabt wie andere Erdenfühne? Hat er nicht dieſes
Tages nody eine Schweiter? Hat er nicht einen Amts⸗
bruder, der fein Sugendfreund gemwefen und deffen Ehefrau
unter feinem Dache herangewachfen ift?“
Auf diefe Fragen antworte ich wie folgt: „Sa, natürs
lich hat er eine Mutter gehabt, aber fie verloren, ehe ein
856 | Die goldene Hodyzeit
Kind diefen Verluſt ermißt; er hat einen Vater gehabt,
aber ihn hinfcheiden fehen als müden reis. Sa, er hat
noch heute eine Schweiter, die fein Ebenbild ift und gleidhs
fam fein Widerhall: Tang, hager, kühn von Nafe, fchwarz
von Haar, gelb von Farbe, gefund und ungebeugt wie er;
einfam und farg von Worten wie er; ftridend und fpins
nend, wenn er lieft und fchreibt; lebend für feine Ehre,
wie er für des Domes Ehre; Geift von feinem Geift und
Bein von feinem Bein. Er hat auch einen Jugendfreund
und eine Gugendfreundin gehabt, — aber dennoch, oder eben
darum ift Renatus Henrici Das geworden, was er ift und
was ich von ihm behauptet.
„Zebedäus!“ rief der Propft, als ich in Die Stupdierftube
trat; und weil er nicht wie gewöhnlid, vor feinem Pulte
faß, fondern, ſich vom Fenfter abwendend, die Hände auf
dem Rüden, im Zimmer hin und wider fchritt, traf midy
ein Strahl aus feinem Feuerauge.
„Was ift Ihm, Zebedäus?“ fragte er. „Hat Er ges
weint?” |
„Zu Befehl, Hochwürden, ich habe geweint,” ftammelte
ich verwirrt ob einer Aufmerffamfeit, die weder mir noch
wohl einem anderen je im Leben von ihm zuteil geworden
war.
„Warum hat Er geweint, Zebedäus?“
„Hochwürden, — diefer Tag, — und was id) eben vers
nommen — —”
„Daß ich von meinem Tode geſprochen habe? Kat Er
mich für unfterblicy gehalten, alter Mann?”
„Beileibe nicht darum. Wer wäre reifer als Hoch⸗
würden für das ewige Freudenreich!”
Die goldene Hochzeit 357
„So ift e8 wohl gar mein Teftament, das Ihn Fleins
mütig macht?“
„Auch das nicht, Hochwürden. Selber ein Süngling
tut wohl, fein Haus zu beftellen.“
„Nun, warum weint Er denn, Zebedäus?“
„Sch weine von wegen des Erben, Hochwürden.“
„Wüßte Er einen würdigeren Erben als unferen Dom?“
Eine nie gefannte Mutigfeit kam über mich. Ganz ges
wiß die Wirkung meines inbrünftigen Gebeted von vorhin.
„Aber der Dom ift von Stein,” fo wagte ich mid, heraus.
„Er fühlt die Wohltat nicht, und er bedarf fie nicht, Hoch:
würden. Der Danf ihrer Erben erquidt die Wohltäter
im Senfeite.”
Er runzelte die Stirn und befchleunigte feine Schritte.
Eine lange Weile ſprach er fein Wort. Endlich aber be⸗
gann er von neuem und, wie mir fchien, mit einem weich⸗
mütigen Klang. „Er hat auch feine Kinder, Zebedäus.“
„Sc bin nur ein geringer Mann, Hochwürden,“ vers
feßte ich. „sch heiße Gutedel, nicht Henrici. Sie ftarben
bald nach der Geburt. Es waren ihrer acht; aber. ein
Wiegenkind gleicht dem andern; ihr Bild ift mir ent-
fhwunden. Befchleicht mich zuzeiten die Wehmut, tröfte
ich mich mit denen, die niemals einen Leibesfegen emp⸗
funden haben.”
„Nun, fieht Er, Zebedäus,“ entgegnete milde der Propft,
„ich tröfte mich mit denen, die ihn wieder verloren. Alles
Fleifch ift wie Gras und verweht wie die Blumen des
Feldes. Aber ein Bau wie diefer predigt vielen Gefchlech-
tern. Noch in Trümmern wird er dereinft, wie felber Die
Tempel der Heidenwelt es tun, an die Ewigkeit mahnen.
Unfer Erbe, Alter, fei der Dom!“
358 Die goldene Hochzeit
Sch meinte, einen ſchwachen Seufzer zu vernehmen,
einen Seufzer aus diefer Bruft! Ein Geift alter Stuns
den fchien aus einem Winkel hervorzufchleichen und an
feine Seele zu klopfen. Mein Mut wuchs.
„Das fei ferne!” fo fuhr ich kühnlich heraus, „Sehova
hat dem frommen Patriarchen einen Samen erwedt, da
er höher betagt war ald Hochwürden.“
Renatus Henrici lächelte; ja, er lachte beinahe laut.
„Er fafelt!” fagte er, gegen das Domfräulein gewens
det, das beiftimmend mit dem Kopfe nidte. „Er fafelt,
Debora!” |
Aber über mid; war eine Verwegenheit gefommen, die
mich pflichtfchuldigen Refpeft und lange Gewohnheit vers
geffen hieß. „Hochwürden!“ rief ich aus, „Hochwürden,
Gott der Herr zeugt in dem Menfchen nicht nur durch das
Blut! Er zeugt auch durch das Herz!“ |
„Bas will Er damit fagen?” fragte der große Mann,
der alles wußte, Die Augen verwundert auf mich Unwiffens
den gerichtet.
„Ich will damit ſagen,“ antwortete ich unerfchroden,
„ich will damit fagen, Hochwürden, daß ed auch Kinder
gibt durdy Wahl; Namen, die man überträgt; Erben,
nicht nad) weltlihem Gefeß, aber nad) freier Neigung
des Gemüted. Und wenn ein Fremder gefunden würde,
wert, der Sohn eines Henrici zu fein, an feinem Beifpiele
ſich emporzuranfen, feines Geiftes in feinem SKeiligtume
weiterzumwirfen, und der leiblich finderlofe Greid wollte zu
ihm fagen: ‚Trage du meinen Namen, fei du mein Sohn
und Erbe!“ fo wäre ed fchier fo gut, ald wenn er feinem
eigenen Stamme entiproffen, und dem Dome wäre ein
Henrici neugeboren, wie dem Abraham ein Ssfrael!“
Die goldene Hochzeit 859
Der Doktor war während meiner Rede noch bleicher
geworben, feine Augen bohrten gleich einem Stahl in die
meinigen. „Sprit Er von einer Perfon oder fegt Er nur
einen Fall?“ fragte er fcharf, aber ruhig.
Sch muß es Tollfühnheit nennen; aber: „Ich ſprach von
einer Perſon,“ fagte ich zuverfichtlich und nannte darauf
einen Namen, — einen Namen — —
Sch kann einen heiligen Eid darauf ablegen, daß ich nies
mald vor gegenwärtiger Stunde diefen Anfchlag gehegt;
daß ich Iediglich wie durdy höhere Eingebung diefe Rede
gehalten, dieſen Namen aufgerufen habe. Und faum war
er meinen Lippen entfchlüpft, fo überfiel mid, auch ein
Zittern und Zagen, ald ob ich auf die Knie finfen und um
Vergebung für meinen Frevel hätte flehen müffen. Denn,
wiewohl id; aus mancher Erfahrung das Eiferartige in
meines Herrn Gemüte hatte fennen lernen: diefe Wirkung
hatte ich nicht erwartet.
„Schweige Er!" herrfchte er mit einer Donnerftimme,
und der Bliß feiner Augen traf mich wie ein Strahl ber
Bernichtung.
Seine Wangen waren afchfarben geworden, die Bruft
feuchte nach Atem; ich fah einen Schlagfluß heranziehen
mit der Empfindung eined Batermörderd. Debora ftand wie
eine Säule ſtarr und fteif. Die furchtbarfte Paufe meines
Lebens!
Aber nur wenige Minuten, und er hatte ſich gefaßt. Er
fchritt in die Studierftube; wir hinter ihm drein. Er feßte
ſich auf den alten Xederftuhl vor dem Pult, blätterte in
den aufgefchlagenen Skripturen und ſagte darauf gelaſſen
wie alle Tage:
„Er kommt wegen der Lieder, Zebedaͤus.“
360 Die goldene Hochzeit
Sch neigte bejahend das Haupt, denn meine Zunge war
noch ftarr.
„Hat Er ſich befonnen?”
Ich ſchüttelte.
Er wendete ſich an das Fräulein. „Erinnerſt du dich
der Lieder, Debora, die wir heute vor fünfzig Jahren
während der Trauung geſungen haben?“
Das Fräulein blickte beſchämt ob ihrer Vergeßlichkeit zu
Boden. „Der Lieder? der Lieder, Renatus?“ ſtammelte ſie,
„des Textes wohl, ed war —“
„Ich weiß ihn,“ unterbrach er ſie. „Auch gibt es nur
einen für einen Diener am Amt. Er muß es heute wies
der fein.”
„Kuriofer Text für die goldene Trauung!” rumorte
es heimlich in mir, meiner Beftürzung zum Trog. „Wer
heiratet, tut gut; wer nicht heiratet, beffer.” Bei der grü⸗
nen Hochzeit hatte id) das naͤmliche gedacht.
„Die Kieder, Debora?“ fragte der Propft von neuem.
Sie fchüttelte händeringend den Kopf.
„Es ift gut, ich weiß fie zu finden. Sie werden bei ber
Rede verzeichnet ftehen.”
Damit öffnete er ein verborgened Fady in feinem Pult
und zog ein verfiegelted Kuvert hervor, dad er einen Augens
blick zögernd zwifchen feinen Fingern hielt. Mir war, ale
fähe ich e& wie einen Schatten über feine Züge laufen,
ehe er haftig und heftig das Siegel erbradh, einen Heinen,
roftigen Schlüffel hervorzog und ihn in einen zweiten heim-
lichen Kaften ftedite. Eine herrifche Handbewegung hieß
und das Zimmer verlaflen. Wir flohen.
„Die Türe zu!” fchrie er mir nad).
Ich ſchloß fie leiſe und tief befchämt. Seit fechzig Sahren
— — — —— — — en — — ee
Die goldene Hochzeit 361
die erfte Kränfung des Mißtrauend! Das Fräulein fchleus
berte einen Durchbohrenden Blid auf mid) herab, indem fie
mit großen Schritten den Raum bis zu ihrem eigenen Zimmer
zurüdlegte. Die Ähnlichkeit mit ihrem brüderlichen Borbilde
war mir noch feinerzeit fo aufgefallen.
Sch ftand atemlos vor der gefchloffenen Tür; ratlos, was
mit mir felber zu beginnen. Ich fam mir vor wie Adam,
den der Engel aus dem Paradiefe vertrieben hat. Drinnen
hörte ich das Klappern und Raffeln des Schlüſſels im Pult⸗
fach, dann bes Herrn heftige Schritte im Zimmer auf und
ab. Bon neuem Drehen und Rütteln. Endlich, endlich —
den Ruf: „Zebedäug!”
Eilenden, bebenden Fußes trat ich ein. Der Propft
ftand in vergeblicher Bemühung vor dem Kaften, der, in
fünfzig Sahren ungeöffnet, verquollen und deſſen Schloß
eingeroftet war. „Vermag Er's?“ fragte er ungeduldig.
„Berfuchen — Hochwürden,“ ftotterte ich; flog in des
Fräuleind Gemach; erbat mir ein wenig Öl und Seife
und hufchte, mit beiden verfehen, in dad Studierzimmer zus
rüd, gefolgt von der Dame, die gewohnt war, ihrem Bruder
jede häusliche Dienftleiftung eigenhändig zu gewähren.
Meine Berfuche währten eine Weile. Ich fürchtete, den
Bart abzubrechen und den gereizten Herrn noch mehr auf>
zubringen. Seine Unruhe verwirrte mid), Die Hände zitter>
ten immer heftiger.
„Laß Er's!“ rief der Propft zu wiederholten Malen; aber
fooft ich innehielt, ermachte die Begierde von neuem, und
er befahl: „Fahr Er fort!” Endlid) bewegte fich der Schlüfs
ſel. Ein Ruck aus Leibeskräften — der Kaften fuhr heraus
und polterte auf die Platte des Pultes. Sch felber war auf
den Herrenſtuhl zurücdgetaumelt. Indem ich mid) haftig
362 Die goldene Hochzeit
erhob, offenbarte ein einziger Blick mir den ausgeftreuten
Snhalt: vergilbte Papiere, einen goldnen Fingerreif, eine
rote verblaßte Bufenfchleife und ein Feines weibliches
Porträt, — adj, ich erinnerte mich feiner nur allzumohl!
In diefem Augenblice drangen aus dem Nachbargarten
die Töne einer feierlichen Morgenmuſik. Pofaunen und
Menfchenftimmen fehallten zu ung herauf: „Herr Gott, dich
loben wir!“
Der Doktor winfte wie vorhin, aber fanfter, mit der
Hand. Das Fräulein und ich verließen das Zimmer. Dies⸗
mal fchloß ich ohne Geheiß die Tür.
Sch trat an das Fenfter des Vorgemachs, öffnete ein
Schößchen und fchaute über die gemauerte Scheidewand
hinweg auf die Erholungsftätten ber beiden Domfamilien.
Ein gewaltiger Unterfchied auch hier!
Zu meinen Füßen ein Streifen Land, fo etwa, wie ich
mir einen Urwald vorgeftellt habe. Nächtiger Schatten,
wildwucdhernde Pflanzung zu beiden Seiten des einzigen
geebneten Pfads zwifchen den riefigen Ulmen, die ſich am
Ende zu einer Laube erweitern. Nie hat feit einem halben
Sahrhundert ein Menſch in diefer Laube geruht; die fteiners
nen Tifche und Bänke find dunkel bemooft; ſchmarotzender
Teufelszwirn, dad verrottete Pfahlwerf überwuchernd, hat
faft den Eingang verfperrt. Der Raſen neben dem Ulmen:
gange ift niemald von einer Sichel berührt worden; manns⸗
hoch fchießt er empor, verwelft in Winterdzeit und fchießt
von neuem mit frifchem Trieb. Hin und wieder hat ſich
eine Malve oder Königsferze aus alter Zeit zwifchen den
unbefchnittenen, ftruppigen Heden von Buchs und Taxus
neu beftocdt; dunfler Efeu umrankt das Gemäuer; Spagen,
Dohlen, Fledermäufe, Käuzlein fogar, niften in feinen
Die goldene Hochzeit 363
Ritzen und fcheuchen die fröhlichen Singvögel hinüber in
den blühenden Magiftergarten, wo liebreicdye Hände ihnen
Körner und Brofamen ftreuen.
Diefer Nacbargarten, im Gegenfaß, wie emfig und
fauber gepflegt! Zu beiden Seiten des Fruchtbaumganges
die Gemüfebeete mit Blumenftreifen eingeſäumt; Narziffen
und Goldlad ihre Düfte ftreuend, fünftighin von dem
Flore des Sommers und Herbſtes abgelöft; die mittägige
Flucht des Haufes mit Nebgeländen, die fchattigen Seiten
mauern mit Beerfträuchen bezogen, und die Taube am
Schluß, von blühendem Flieder und Geißblatt überranft,
nach der Gartenfeite luftig geöffnet, mit reinlichen Sig-
plägen gefüllt; die Bienen fchwärmend aus ihrem Stod,
die Tauben flatternd aus ihrem Schlag; Meife und Gold:
ammer zwitfchernd in Baum und Zaun.
Die Muſikanten hatten auf der Straße hinter der Laube
Pofto gefaßt; vor derfelben, vom Kaufe her, regte fich
frohe Gefchäftigfeit. Die Magd, im Sonntagspuß, fam
flappernd mit dem Kaffeegefchirrz; die Enkelin und felber
der junge, geiftliche Enkel brachten blumengefchmücte
Kuchenförbe. Und ale ich die Fleine Debora — fo will
ich fie zur Unterfcheidung von dem großen Domfräulein
heißen - fo flinf und zierlich daherfchweben fah, im weißen
Kleid und grünen Taftfchürzchen, einen frifchen Mai⸗
blumenftrauß vor der Bruft, fo ſchlank und doch rundlic,,
fo freudenhell, da ftand mir jene andere leibhaftig wieder
vorgezaubert, deren Bildnis vorhin im alten Pult — — aber
halt!
Das waren die nämlichen hellgelben Haarzöpfe, das ei⸗
runde, blütenreine Angeficht umrahmend, das nämliche
Erdbeermündchen, diefelben fanften und Doch klugen, golds
564 Die goldene Hochzeit
braunen Aurifelaugen. Hurtig breitete fie das weiße Tuch
über den Gartentifch, ordnete Taflen und Kannen, ſchmückte
die Pläge des Subelpaared mit feftlichen Gewinden, und
nachdem alles bereit, legte fie mit einem herzinnigen Auf⸗
blick ihre Hand in die ihres Vetters Renatus, deflen Züge
und Habitus mich gleicherweife, wie niemals zuvor, an
die ded Großvaterd in feiner Sugendzeit gemahnten.
So, Hand in Hand, flogen fie nun dem Ssubelpaare
entgegen, dad vom Kaufe her Iangfam auf die Laube zus
gefchritten fam. Der Choral verftummte; die Pofaunen
fchwiegen; wohltönende Männerftimmen hoben, ohne Bes
gleitung, eine weltliche, aber nicht minder bewegliche Weife
an. Sn diefem Augenblice ftanden die Sungen den Alten
gegenüber, beugten fich über ihre Hände und zogen fie an
ihre Lippen; die Alten aber drückten die Kinder wechfelfeitig
an ihre Herzen unter ftrömenden Tränen. Die Kluft eined
halben Sahrhunderts fchien ausgefüllt, ihre eigne Jugend
wieder aufgewacht in dem lieblichen Paare.
Ich zog mein Sadtud) hervor, um meine überlaufenden
Augen zu trodnen, und erft bei diefer Bewegung wurde
id; gewahr, daß dad Domfräulein hinter mir geftanden
und, fo gut wie ich felbft, Zeuge des rührenden Auftritts
gewefen war. Sie fah weiß aus wie eine Wand. Sc
entfernte mich eilfertig, unter tiefer Berbeugung; in meinem
Herzen brannte die Frage, ob am Nebenfenfter wohl auch
der Bruder, und mit welchen Gefühlen, das Bild im Mas
giftergarten überfchaut habe?
Sch hatte in meinem Haufe ein feftliched Karmen, ges
bunden in Goldpapier, zur Feier diefed Tages bereitliegen;
mit wenigen Striden war die Obe, in ber ic) vor fünfzig
Sahren, wo ich ein geläufigerer Dichterling als heute war,
Die goldene Hochzeit 365
die grüne Liebeshochzeit befungen, fchicklic, für Die goldne
Subelhochzeit umgewandelt worden. Desgleichen harrte
ein Paar Mundtaffen der Überreichung, von ähnlicher
Form wie die meines erften Hochzeitsangebindes; nur daß
an Stelle der blühenden Roſen und Bergißmeinnicht ein
goldnes Gewinde das feine Meißener Porzellan überranfte.
Aber felber der Katzenſprung nadı der Küfterei währte
mir zu lange für mein bewegted Gemüt. Sonder Karmen
noch Taſſen ftürzte ich hinüber zu den Glüdlichen in dem
Magiftergarten. |
Die Mufifanten hatten fich zurüdigezogen; die Familie
faß um den Frühftüdstifch in der blühenden Laube, Der
Morgentau gliterte gleich Freudentränen auf Blume und
Blatt; ed duftete wie Weihrauch in dem Fleinen Ge-
hege. Meine Zähren rannen unaufhaltfam, meine Füße
ſchwankten.
Und jetzt werden die gütigen Menſchen meiner gewahr;
das Jubelpaar ſchreitet mir entgegen. „Alter, treuer
Freund!“ ſagt die Matrone und faßt meine beiden Hände.
Der Greis ſinkt an mein Herz: „Alter, braver Gutedel!“
ruft er aus.
Ach, wie ſoll ich es denn nur beſchreiben, was noch in
der Erinnerung meine Bruſt zu zerſpringen ſchwellt?
Ja, wohl iſt es groß, an ſeinem Oberherrn in ſchwei⸗
gender Ehrfurcht in die Höhe zu blicken; aber weinend
ſeinen Vorgeſetzten am Buſen zu halten als einen Freund,
— dieſe, dieſe Wonne! — — Und ich, der ich fünfzig Jahre
lang, in erquickendem Wechſel, beide dieſer Seligkeiten
gekoſtet habe, — - wahrlich, wahrlich, es hat niemals einen
Glücklicheren meines Amtes gegeben!
Und wie nun aud das jugendliche Enkelpaar mir ents
566 ‚Die goldene Hochzeit
gegenflatterte, nicht nur gefchwifterliche, nein, — ich ahnete
ed ja längft! — nein, bräutliche Liebe in Wort und Blick;
wie fie mich Zitternden unter die Arme faßten, mid) zum
Kaffeetifche führten und mich bedienten, ald wäre id) einer
der Ihrer; wie die holdfelige Debora mir die Wangen
ftreichelte, mich ihr Gutedelchen nannte und mir die brau⸗
nen, Inufperigen Randſtückchen des felbftgebadenen Ro⸗
finentuchend zufchob, die ich fo vorzugsmeife liebe; wie
fie dazwifchen immer ihrem Renatus fo feelenvergnügt in
die treuen, blauen Augen blickte, dann wieder den Groß⸗
eltern Hand und Lippen füßte und ed aus jedem an ſich
unbedeutenden Worte herausflang: „Sind wir nicht die
allerglüdlichften Kinder? und hättet ihr Alten an eurem
Ehren» und Subeltage wohl größere Freude erleben fönnen
ale durch ung?” da, da ſchwoll mir das Herz immer höher
und weiter, und ich fühlte, daß ich meine leiblichen Kind»
fein, wenn Gott der Herr fie mir gnädig erhalten, nicht
zärtlidher darin hätte bergen fünnen als diefed gefegnete
Liebespaar.
Nachdem wir und hinlänglich an Speife und Tranf ges
labt hatten, wurde die Stimmung gelaffener und nuns
mehr die Verlobung der Enkel, wie deren Ausficht für die
Zukunft, gründlich hin und wieder befprochen. Ich erfuhr
auf dieſe Weife, daß der junge Hülfsprediger am geftrigen
Tage von einem adligen Kirchenpatron, der fein Unis
verfitätöfreund gewefen war, den Antrag einer Pfarrftelle
in einer abgelegenen Provinz erhalten habe und daß die
Sicherheit eined heimatlichen Neftes, verbunden mit der
Subelftimmung der Borfeier, die Tanggehegten Herzens⸗
wünfche zur Ausfprache gebracht.
Die Stelle war befcheiden, würde jedody unter anderen
Die goldene Hochzeit 567
Berhältniffen für einen jungen Anfänger immerhin ein
Treffer zu nennen gewefen fein. Hatte der Großvater
denn aber nicht den Plan, ſich emeritieren zu laffen, und
die Ianggehegte heimliche Hoffnung, den Entel in feine
Stelle rüden zu fehen? Hieß ed nicht den lebten ers
wärmenden Sonnenftrahl aus dem Leben des alten Paares
verweifen, wenn fie fich in weite Ferne und berechenbar
auf Nimmerwiederfehen von den geliebten Kindern trennen
mußten? Annehmen und fcheiden, oder ablehnen und aufs
Ungewifle hoffen, die Frage war ein bitterer Tropfen in
unferem Freudenfelche.
„Ach!“ fo dachte ich wehmütig in meinen Gedanken,
„ach, wenn ich doch nur auf eine einzige Stunde der Propft,
Doftor Renatus Henrici wäre! Denn was foftete ed mich
dann mehr ald ein Schreiben an meinen allergnädigften
Landesherrn, der fidy mir, — nämlich dem Propft, — von
Sugend ab huldreich, ja ſchier unterwürftg erzeigt ‚hat,
gleichwie ein Sohn und Lehrling im Geift; was, fage ich,
foftete e8 mich weiter als eine bittende Darftelung, und
das Amt am Dom hätte feinen anderen Erben als ben
würdigen Großfohn meines alten Freundes und Kons
fraterd Borsdorf.
Meine Gedanfen hatten fich in der Stille mit denen des
guten Magifterd begegnet.
— „Sa, wenn — Er - zu einer Fürfprache zu bewegen
wäre!” — fagte er, mit der Hand auf dad Nacdıbarhaus
deutend, nach einem tiefen Seufzer.
Sch antwortete mit einem noch tieferen. Der Auftritt,
beffen Zeuge ich vor faum einer Stunde gewefen war,
benahm mir jegliche Hoffnung.
„Bir haben fein Recht, mein Ehriftian, eine Bitte
368 Die goldene Hochzeit
zu wagen,” fagte die Watrone leife, mit gefenftem
Blid.
„Nein, wir haben kein Recht!” feufzte der Greid. Und
auch ich fchüttelte den Kopf.
Der junge Herr Renatus aber erhob ſich und fpradı
aus warmer Seele: „Und warum hätten wir fein Recht,
liebe Großeltern, eine Bitte, eine Frage mindeſtens an
den ftrengen alten Mann zu wagen? Was fünnte mid,
abhalten, noch in diefer Stunde vor ihn zu treten und
zu fagen: Sie waren der Sugendfreund meined Groß-
vaterg, der Bruder und MWohltäter feiner Gattin — —“
„Um des Heilands willen, nicht die ſe Erinnerung,
mein Sohn!” riefen beide Alte aus einem Munde.
„Nicht diefe Erinnerung!” wiederholte ich.
Doch der feurige Jüngling ließ fidy nicht irremadhen.
„Sie kennen mich,” fuhr er lebhaft fort; „Sie haben
meine felige Mutter und mich felbft mit beiden gnaden-
reichen Saframenten in den Bund der Chriftenheit ein
geführt; Ihnen zu Ehren trage ich den Namen Renatus.
Sch bin unter Ihren Augen aufgewachſen; Sie haben
meine Zeugniffe geprüft, meinen Wandel beobachtet. Sie
wiffen, in welchem Sinne id) feit Sahresfrift meinem
Großvater ein Gehülfe gewefen bin, Gotted Wort von
der Kanzel verfündet, die Pflichten chriftlicher Seelforge
in der Gemeinde geübt habe. Achten Sie mid) fähig und
würdig, an meines Oroßvaterd Statt, unter Ihnen,
neben Shnen das Amt an diefem hehren Gotteshaufe
dauernd zu verwalten? mid) an Ihrem Beifpiele weiters
zubilden und mit meinen Gaben vor Gott wie Menfchen
zu beftehen? Wenn Sie aber diefer Aufgabe mid; fähig
und würdig achten, wollen Sie dieſes Anerfenntnis laut
Die goldene Hochzeit 569
werden laflen, daß ich mein innered wie mein äußeres
Lebenslos auf Ihr Zeugnis zu gründen imftande ſei?“
Drittes Kapitel
Wir drei Alten faßen fchweigend, die Augen zu Boden
geſenkt. Es ift ja fo fchwer, einem vertrauenden Menfchen
Mut und Glauben durdy unfere Zweifel abzufühlen. Die
jugendliche Braut dahingegen fchaute mit fiegeöfreudigem
Blick und hochroten Wangen zu ihrem Verlobten in die
Hoͤh; die Vergangenheit nicht ahnend, deren Mahnen ung
Greiſe fo bänglidy bewegte.
„Und ich, ich gehe mit bir, Nenatus!” rief fie, indem
fie ihre Sand in die feine legte. — „Zritt du vor den
alten Herrn; ich trete vor die alte Dame.
„Fräulein Debora! will ich fagen und recht bemütig
ihre Hand Füffen; Fräulein Debora, Sie haben mich nies
mals freundlich angefehen, fooft ich Shnen im Kirchftuhle
gegenüberfaß; Sie haben mir niemals ein Wort gegönnt,
faum meinen Gruß erwidert. Und dod) find Sie meine
Patin; doch trage ich Ihren Namen, der jeden Morgen
und jeden Abend in unferen Gebeten widerflingt. Und
doch hat man von Kind auf mid, Sie lieben gelehrt wie
meine Mutter im Simmel, und idy fehne mid) nad, Ihrem
Segen zu dem Bunde, den id, mit meinem Renatud ge⸗
fchloffen habe. Denn ich liebe meinen Renatus; und feit
ich die Seine geworden, dünfen mic; alle Menfchen näher,
ja fo nahe gerüdt, daß id) fie an mein Herz ziehen und
fie fo froh und glüdlicy fehen möchte, wie ich felber es
bin. Aber meine Großmutter blickt traurig an dem Tage,
mit welchem der liebe Gott fo wenige begnadigt. Ihr
Auge fucht eines, das ihrer Jugend fchwefterlich zuges
®
370 Die goldene Hochzeit
lächelt hat und jest fein Begegnen vermeidet; - warum?
ich weiß es nicht. Ihre Hand ftredt fie nad) einer, die
fie mit Wohltaten beladen und jest ihren Drud ver-
weigert; — warum? id; weiß es nicht. Fräulein Debora,
löſen Sie den Stachel aus dem Herzen der alten Frau;
blicken Sie freundlicdy zu ihr hinüber; führen Sie heute
die Elternmutter, wie Sie vor fünfzig Sahren die bräut-
liche Sungfrau zum Altare geführt; kehren Sie ein in
unfer Haus, ein teurer, langerfehnter, ein vielgefegneter
Saft!" -
„Seh, meine Tochter, geht, meine Kinder!” rief die
Matrone haftig und mit bebenden Lippen.
„Seht gleich jeßt; euer Herz ift warm, euer Vorſatz
von Gott. Er geleit euch!“
„Sa, geht, lieben Kinder,” fagte gelaflener der Greis,
der nicht die Rührigfeit feiner Gattin in das Alter hinüber⸗
gerettet hatte,
„Sa, gehen Sie, Herr Nenatus, Fräulein Debora,”
fagte auch ich. „Gottes Wege find wunderbar; aud die
zu den Herzen der Menjchen.”
Frohen Mutes, Arm in Arm, ſchwebte das Paar den
Gartenweg entlang. Wir blidten ihm nad), ftumm, mit
gefalteten Händen.
„Und wir, Chriftian?” hob nad; einer langen Paufe
die Matrone an; „tollen wir fie allein gehen laſſen?
Nicht ihnen folgen, an diefem Tage, vielleicht in der legten
Stunde? Nicht danfen, wenn ihnen gelang, was ung
nimmer gelingen follte? Bitten, wenn fie vergeblich ges
beten haben; noch einmal bitten um den Frieden dieſes
Erinnerungstaged, um die Ruhe unferes Sterbebetteg?"
„Lenchen, Herzenslenchen!“ wendete der alte Mann bes
— — — —
\
Die goldene Hochzeit 371
denflich ein. Aber fie fchlang, fanft errötend gleich einer
Braut, die Arme um fein weißes Haupt; ihre heißen
Tränen perlten darauf nieder, — und fie gingen.
Sch hinter ihnen drein, Schritt für Schritt, wie ihr
Schatten. Wir redeten fein Wort. In wenigen Minuten
ftanden wir auf der Schwelle des Nachbarhaufes. „Zum
erften Male feit fünfzig Sahren!” flüfterte die Matrone.
Sm Vorgemady hörten wir die bewegte Stimme des
Enfeld aus dem Studierzimmer; die der Enkelin aud dem
Fräuleinzimmer dringen, Die Großmutter hielt plötzlich
inne.
„Nicht vor dem Ohre des Kindes,” ſprach fie errötend.
„Du, Shriftian, erwarte Nenatus hier oben, ich gehe in
den Garten, bis Debora entlaffen ift. Sie, lieber Freund,
geben mir einen Wink zu rechter Zeit.“
Damit ging fie leife die Treppe wieder hinunter und in
den Garten; id; fah vom Fenfter fie in der großen näch⸗
tigen Laube des Hintergrundes verfchwinden. Ihr Eheherr
fchlich mit eingepreßtem Atem im Zimmer auf und ab; um
mir Mut einzuflößen, nahm ich die große Poftille zur Hand,
die auf dem Tifche vor dem Küfterftuhle ihren Pla und
mir manche Stunde des Harrens erbaulich verkürzt hat.
Ich las das dreizehnte Kapitel des erften Korintherbriefs;
das heiligfte Kapitel, das, nad, meinem Dafürhalten, die
Hand eines Menfchen aufgezeichnet hat. Sch mußte es
auswendig, Wort fürWort, feit Fänger als fiebenzig Sahren.
Sedesmal aber, daß ich ed von neuem las, lang ed mir
wie eine neue Botfchaft; und mit dem Schlußfaß: „Die
Liebe ift die größte unter ihnen!” — den Gaben des Geiftes
nämlich, — da fühlte ich heute eine Föftliche Gewißheit in
mein Herz einziehen; die Gewißheit: daß auch der ftarke,
372 Die goldene Hochzeit
eifrige Mann diefed Hauſes, der in feinem Glauben und
Hoffen nicht erft aus einem Saulus ein Paulus zu werden
brauchte, für die höchfte unter den Gaben doch noch eine
Stunde von Damaskus erleben werde; dad Wunder, um
welches ich am Morgen fchon einmal an diefer Stelle ges
fleht hatte.
Kaum aber, daß diefe Freudigkeit in mir warm gewors
ben war, wurde ich übergoflen wie von einer eifigen Traufe.
Die Rede ded Supplifanten in der Studierftube war vers
ftummt: Renatus Henrici gab feinen Befcheid. Den Worts
laut unterfchied ich nicht, aber der Ton der Stimme lang
wie kurzes, fcharfes „Nein!” Und einen Augenblid fpäter
ſtürzte auch Renatus, der Enkel, aus der Tür, und der
Riegel wurde haftig von innen vorgefchoben.
„Alles vergebens!” rief der junge Mann mit verftörten
Mienen und einer abwehrenden Handbewegung, indem er
ſich eilig entfernte.
„Sch wußte es!" flüfterte Fleinlaut fein Großvater und
wollte dem Enfel folgen. Ich aber hielt ihn zurüd.
„Das Fräulein!“ batich, auf der Dame Zimmer deutend.
Er fchüttelte den Kopf; allein ich drängte ihn nach der
Tür. Er legte die Hand auf die Klinke, kehrte aber wieder
um und blickte mir ängftlidy in das Geficht. Ich öffnete
beherzt und fchob ihn über die Schwelle in dem Augen-
blicke, ald die Feine Debora wie ein verfcheuchtes Vögels
chen über fie heraus flüchtete. Hinter ihr ftand das Doms
fräulein, fteif wie eine Statue vor der neuen behelligenden
Erfcheinung.
Die Tür fiel in das Schloß. Die Kleine floh ohne Aufs
enthalt der Treppe zu; Tränenfpuren feuchteten ihre Augen,
fie fchüttelte den Kopf über diefes ftarre, unverftändliche
Die goldene Hochzeit 373
Menfchenrätfel. Ich folgte ihr, um der in der Laube hars
renden Matrone das Scheitern des Findlichen Angriffds
plans mitzuteilen. |
Sählings ftockte mein Fuß. Ich hörte des Propftes Tür
ſich fchließen und feinen heftigen Tritt der Treppe nahen.
In diefem Augenblide fürchtete ich mich fchier vor ihm.
Ich fchlüpfte behende hinter die Tür, die aus dem Haus⸗
flur in den Garten führt, und Iugte durch die Luͤcke der
Angel, wohin er ſich wenden werde.
Die Fleine Debora war überrafcht am Fuße der Treppe
ftehen geblieben, des Mannes Aufregung aber fo gewaltig,
daß er fie erft bemerkte, ald er Auge in Auge ihr gegen
über innehielt. Sie, die er jeden Tag in ihrem Garten
hätte beobachten können, der er jeden Sonntag auf dem
Kirchwege begegnet war, — er fah fie heute zum erften
Male. Er fah fie; - aber es war, ald ob eine Sinnen
täufchung ihn überflöge, vielleicht durch den Anblick des
alten Heinen Bildniffes hervorgerufen. Fünfzig Sahre
waren plößlich verfchwunden; nicht Debora, Magdalena
Adami in ihrer Sugendfchöne ftand vor Renatus Henrici
hingezaubert, und Renatus Henrici, der reis, erzitterte
unter einem Sünglingefchauer.
Sie beugte fich bis zur Erde vor der hohen Geftalt, griff
mit Lebhaftigfeit nach feiner Hand und führte fie an ihre
Lippen. Bei diefer Bewegung löfte ſich der Fleine Mai-
biumenftrauß von ihrem Bufen; er fiel in feine Hand.
Er riß fich haftig von. ihr los, indem er ſich nach der
Öartenfeite wendete. Die Meine Debora floh wie ein Reh
der Straßentür zu.
In den Garten ging er, zu biefer Stunde! Ich
wußte nicht, was ich denfen follte. Bon ihm unbemerkt
374 Die goldene Hochzeit
fdylüpfte ich aus meinem Berfte und hinter den dichten
Taxushecken der Laube zu. Dabei laufchte und lugte ich
durch die Lücken nad) dem alten Herrn.
Er ging auf dem gewohnten Wege zwifchen den uralten
Küfterriefen; aber nicht in dem gleichmäßigen Tempo feines
Dämmerungsganges, nicht Tritt für Tritt, die Hände auf
dem Rüden und die Augen am Boden. Er machte etliche
Schritte, hielt dann inne; feßte fid) von neuem in Be⸗
wegung, fuhr mit der Hand über die Stirn. Ein Zug
von Kampf oder Krampf bewegte die fchmalen, farblofen
Lippen; die tiefe Furche zwifchen den Brauen glättete fich
und grub fich ftärfer wieder ein in jähem Wechfel. Ein
Etwas arbeitete heimlich, aber mächtig in feiner Bruft.
Noch einmal hielt er ftill. Mechaniſch führte er den Fleinen
Strauß an fein Geſicht; fchaute lange in die weißen
Glockenkelche und fog, wie befremdet, ihren Balfam in ſich
hinein. Ein tiefer Seufzer, ein Atemzug der Erquidung
rang fich empor. Hatte er zum erften Male einen Blumen⸗
Duft gefpürt?
Bei unferm leßten Spaziergange hatte mir Chriftian
Borsdorf die gar finnige Legende erzählt, wie ein frommer
Shriftenapoftel mit der eindringlichften Rede vergeblid) ver:
fucht hatte, das im freien Feld um ihn gefcharte Heiden
volf von dem Wunder der dreieinigen Gottheit zu über:
zeugen. Verzweifelnd blickt er zu Boden, gewahrt ein be-
fcheidenes Kleeblatt, pflüdt es, hält es in die Höhe und
ruft: „Die ihr nicht glauben wollt, fchaut! wie dieſes Fleine
Blatt, fo der große Gott: Drei und doch eins!“ Das Hei⸗
denvolf aber fchaut, glaubt und ehrt noch heute das Klee⸗
blatt als fein heiligfted Symbol.
Seltſam! diefe Erzählung fiel mir. wieder ein, als ich
Die goldene Hochzeit | 375
Renatus Henrici die erquidende Maienwürze einatmen
fah. „Alles Natürliche ift Sinnbild des Übernatürlichen!“
hatte mein Freund gefagt, und ich dachte bei mir felbft:
„Der Duft, der geheimnisvoll labend in den Bufen dringt,
follte der nicht das wahrhaftige Sinnbild der Liebe fein?
follte nicht Gott der Herr, wie durch die Geftalt eines
Blatts, fo durch den Weihrauch einer Blüte feine ewigen
Wunder einem Menfchenherzen offenbaren können?”
Renatus Henrici hatte die Laube erreicht; ich ftand ver⸗
borgen faum fünf Schritte von ihm entfernt. „Sobald er
fid) wendet,” dachte ich, „gebe ich der armen Frau einen
Wink.”
Aber er wendet fich nicht. Er fteht unfchlüffig; was
hält ihn? Hebt dann haftig den Arm; er zittert; — was
treibt ihn? Er fchlägt das wuchernde Geftrüpp zurüd und
tritt in das düftere Laubgemach. Ein jäher Auffchrei! -
Sic, gegenüber fieht er dad Weib, das er fünfzig Sahre
lang in der Stille, fei es der Tugend, fei ed des Haſſes
oder — der Kiebe? gemieden hat, gleich einer Verbrecherin.
Sie war von ihrem Sitze aufgefprungen bei feinem
Nahen.
„Renatus!” ftammelte fie freudenvoll durchzuckt.
Aber fchon hatte er fich gefammelt und wollte entfliehen.
Gie griff nach feiner widerftrebenden Hand. „Du fommft
zu mir,” fagte fie; „Renatus, du fuchft mich hier, hier
an diefer, diefer Erinnerungsftätte?“
„Sc fuchte niemand. Ich kam aus Zufall dieſes Wege,“
verjeßte er herbe, indem er fich zur Ruͤckkehr wendete.
Sie aber ftellte fidy ihm am Ausgang entgegen, faßte von
neuem nad; feiner Sand und ſprach:
„Nicht aus Zufall, Renatus! Das Begegnen an diefer
876 Die goldene Hochzeit
Stätte, Wand an Wand neben Ihnen, Tür an Tür, fünfzig
Jahre lang vergeblich erfehnt, erfleht, erftrebt, nennen Sie
ed Führung, Renatus, und gehen Sie heute nicht von
mir ohne Wort, wie an jenem Tage, und fo oft ſeitdem;
heute nicht, wo dad Grab mir näher ift ald damals der
Altar; heute hören Sie mid und entfühnen mid.“
„Entfühnen?” fragte er kalt. „Sind Sie verflagt wor⸗
den, Frau?”
Sie neigte ſchweigend dag Haupt bie auf die Bruft.
„Niemals, niemals!“ rief er heftig.
Sie aber entgegnete mit dem beweglichen Stimmenflang,
den ihr das Alter nicht geraubt hatte: „Sa, ich bin ver-
flagt worden; ich bin ed worden, Renatus. Nicht laut,
nicht öffentlich, nicht mit Worten und Zeichen; aber im
Herzen und Gedanken; aber im Schweigen und Meiden;
aber durdy Ihr einfames Leben; aber durch Ihre Groß⸗
mut, unerforſchlicher Mann.“
Sie machte eine Pauſe; vielleicht in der Hoffnung eines
Wortes von ihm. Er ſprach es nicht; aber er blieb.
„Renatus,“ hob ſie endlich wieder an; noch leiſer, noch
bebender als zuvor, „einſt liebten Sie ein Kind, eine
Waiſe — —“
„Laſſen wir, was ſo lange vergangen iſt,“ unterbrach
er fie. „Sie und ich, wir würden es nicht mehr vers
ftehen.“ |
„Sa, wir verftehen ed noch,” entgegnete fie. „Auch Sie,
Renatus, verftehen ed. Und ih? O, wohl verftehe ich eg,
was fünfzig Sahre an meiner Seele gezehrt wie ein Wurm
und auf meinem Haupte gebrannt wie eine glühende Kohle.
Hören Sie mid, daß ic; Ihnen fage, in diefer äußerſten
Stunde, wie ich es verftand.”
Die goldene Hochzeit 377
Wieder madıte fie eine Pauſe. Er regte ſich nicht. Nach⸗
dem fie ſich gefammelt hatte, fuhr fie fort: |
„Sie Tiebten ein Kind, eine Waife, deren Bruder Sie
gewesen, deren Schüger und Wohltäter Sie geworden
waren; liebten fie und gedachten fie zu Ihrem Eigentum
‚zu machen für das Leben. Widerſtandslos hatte fie ihr
Wort verpfändet, ohne zu ahnen, was e8 bedeute. Und
die Sie liebten — verriet Sie. Hier unter diefen Bäumen,
die den Treuſpruch vernommen, wurden Sie Zeuge eines
zwiefältigen Treubruchs, — nein, eines zehnfältigen. Denn
der andere, dem fich das Herz der Geliebten zugewendet,
war ein Diener Gottes, wie Sie, war der Freund ihrer
Jugend, Renatus, und hatte feine Treue Ihrer Schweſter
verlobt, der Schwefter und Wohltäterin auch des treulofen
Kindes.
„Wie es gefchehen konnte, daß zwei von einander ftrebs
ten, die fo Heiliges verbindet, zwei zu einander, die das
Heiligſte fcheiden follte? Renatus, klagen Sie den Trieb
an, der fo ſchwach macht und zugleich fo ftarf macht, fo
ftark, daß er heute, nach fünfzig Sahren, noch ungebrochen
des Weibes und ded Mannes Herz regiert. Nicht, daß fie fich
liebten, war ihre Schuld; daß fie diefer Liebe feinen Damm
zu feßen wußten — auch das nicht einmal. Aber daß fie
fleinmütig zagten, zögerten, täufchten, die zufällige Über:
rafchung fprechen ließen, ftatt eines redlichen Vertrauens;
daß fie Betrüger, Verräter zu werden verdienten.
„Aber die Betrogenen, Berratenen, fie fchalten nicht; —
fie fchwiegen; — fie fchmähten nicht: fie deckten zu; fie hal-
fen, förderten, fpendeten mit reichlichen Händen, geleiteten
die Treulofen zum Altar, und an der Schwelle ihres Haus
ſes fchieden fie von ihnen, — für immer.
378 Die goldene Hochzeit
„Seit diefer Stunde wandeln fie ihren Pfad, einfam zu
zweien; meiden fie ein Gefchlecht, deflen Nächſte ihrem
Glauben Kohn geiprochen. Sie forfchen, fie fchaffen, fie
fpenden und üben firenge Tugend. Ihr Haus ift ein Tem⸗
pel, und ein Tempel ift ihr Baus; aber fie wehren dem
Danfe und der Bewunderung, und niemals hat Gottes
Liebe wieder zu ihnen geredet durch eines geliebten Men-
fhen Mund.
„Jene anderen aber, jene treulofen Liebenden; ach, auch
fie waren nicht glücklich. Glauben Sie mir, Renatug, fie
waren e8 nicht; troß ihrer Liebe, troß äußeren Gedeihend,
bei allem Segen der Familie und eines heimatlichen Herds;
Die Ode der Verratenen breitete fic über den Frieden und
die Fülle ihrer Herzen, Nenatus, wenn ich Sie und die
Schweſter, die Shnen treu geblieben ift, im Schatten diefer
Bäume auf und nieder wandeln fah, fo ſchweigend, fo
wechfellos, fo ohne Regung einen Tag und alle, viefe
fünfzig Sahre, da hätte ich mich aus meinem Fenfter und
zu Ihren Füßen flürzgen mögen mit dem Flehen: vergib mir
und lebe auf! Wenn Sie die priefterliche Hand auf meine
Kinder und Enfel legten im erften Saframent, wenn Sie
mir das heilige VBerfühnungsmahl fpendeten, da zitterte
meine Hand, die Ihre zu faflen, und meine Seele fchrie:
Sprich dich felber los als Menfch, nachdem du mich ale
Priefter Iosgefprochen. Und endlich in jenen ſchmerzens⸗
reichften Stunden, ald Sie den legten Segen über die Gruft
der Kinder fpendeten, da flehte dad Herz der Mutter:
‚Nimm fie, mein Gott, und den Reichtum, den du und
geraubt, lege ihn denen zu, die wir arm gemacht haben.‘
Heute aber, Renatus, heute, wo dein priefterliches Wort
unferen Bund, wie einft für das Leben, fo für die Ewig⸗
Die goldene Hochzeit 379
feit weihen, deine Hand zum legten Male auf meinem
Haupte ruhen fol, — denn bald, morgen vielleicht, in
meinem Sarge, da fühl ichs ja nicht mehr; lege fie heute
auf mich, daß ichs fühle mit einem erneuerten Herzen.
Der uns erhalten, wie durch ein Wunder, fo nahe ein
ander, fo ferne einander; hat er und erhalten zu ewigen
Entfremden? O, reiße die Mauer nieder, die du um did)
und zwifchen und gezogen; fei noch einmal mein Wohltäter,
mein Bruder, liebe meine Kinder, Renatus, mache meine
Sterbeftunde froh!“
Sie konnte nicht weiter. Sie fchluchzte wie in Krämpfen,
ſank zu feinen Füßen, umflammerte feine Knie. Und er?
Ich hatte alle Scheu vergeſſen; ich war hervorgetreten,
ftand dicht an feiner Seite und weinte laut. Aber er ſah
und hörte mich nicht.
„Magdalene!” rief er und ftürzte neben fie zu Boden
und fchlug mit der geballten Kauft an feine Bruft; „Mag-
dalene, Schwefter, Geliebte! — Sch habe meines Herrn Bot-
fchaft bis heute verfündet, ein unnüßer Knecht!“
Dann aber richtete er fich auf, zog fie in die Höhe, brei-
tete die Arme aus und hielt fie an feinem Herzen, lange
fchweigend, bis alles Zittern fich gelegt. Sch ſchlich mich
ungefehen von dannen. Ehe id die Gartentür erreicht
hatte, fah ich das alte Fräulein hereintreten, Sand in Hand
mit dem Sugendfreunde. Auch ihre Augen waren gerötet.
So fchritten fie nach der Laube der Schuld und der Vers
föhnung; ich aber floh in mein Kämmerlein und lob⸗
preifete Gott, .
380 Die goldene Hochzeit
Vierted Kapitel
Pier Stunden waren verfloffen feit diefer. Der Doktor
hatte mich nicht einmal angeredet, fooft er an dem Küfter«
ftuhle vorübergegangen war. Er pflog lange Unterredungen
mit der Schwefter. „Heute, gleich heute; wir haben Eile,
Debora!” hatte ich ihn fagen hören. Er fchrieb, fiegelte!
nahm ein frifches Blatt. Die Tür hatte er nicht wieder
abgefchloffen; ich durfte ihn beobachten wie fonft. Er fchien
um fünfzig Sahre verjüngt, ging wie auf Federn mit
leichten, elaftifchen Schritten. Auf feinen Wangen brannte
ein Purpurfleden, der fremden Blüte gleich, die erft in
hundert Sahren jählinge zum Aufbruch fommt. DO, du
Kleinod unfered Domes, du Wundermoog aus dem Ges
lobten Land! — alles Sinnliche ift nur Gleichnis des Über:
finnlichen, - ein Morgentau hat das dürre Moos zur Roſe
angefchwelt!
Aber aud) das Fräulein war in Eifer geraten. Gie
flog treppauf, treppab, Happerte mit dem Schlüffelbund,
öffnete Kiften und Truhen und fchleppte, mit der Magd
um die Wette, die fchweren Linnenbündel, die fie famt
ihren Domarmen in einem halben Sahrhundert zufammen-
gefponnen hatte, vom Boden in dad erfte Stod. Das gab
eine Befcherung, daß man ein halbes Dugend Bräute hätte
ausftatten können, oben in dem großen Zönafel, der, je
nachdem, die beiden Dommohnungen fchieb oder verband
und deſſen Hallen nicht wieder zu einer Feftlichfeit geöffnet
worden waren, feitdem Propft Henrici, der Vater, Die
Verlobung der beiden Dompaare in ihnen gefeiert hatte.
Das war ein Leben in der alten, ftillen Propftei, als ob
ein Sturmwind fich jählings erhoben habe, aber einer, der
Die goldene Hochzeit 881
die fchweren Wolken verjggt, die Füfte rein und die liebe
Sonne heiter madıt.
Erft eine Stunde vor der Trauung fam die alte Dame
zur Ruhe, und bald darauf trat fie aus ihrem Zimmer in
dem foftbaren Anzuge, den fie fich vor etlichen Jahren
hatte anfertigen Iaffen, als Ihre Majeftät die Königin
unferer Stadt und Kathedrale Hochdero Beſuch in Aus-
ficht geftellt hatten. Ihro Majeftät haben bis dato dieſe
Berheißung nicht zu erfüllen geruht, aber wie gut war es
doch, daß der feftliche Anzug fir und fertig lag!
Der fchwere ſchwarze Seidenmoire floß in eine Schleppe
an der ftattlichen Geftalt hinab; über dem dunfeln Haare
breitete fich das feinfte Spißengewebe; am Halſe, und faft
bis zum Gürtel niederhangend, prangte dad unfchäßbare
Erbteil der reichen, feligen Frau Mutter, eine morgens
ländifche, mattweiße Perlenfchnur; über dem Herzen aber
ruhte dad Ordenskreuz, das der Dame für bewiefene vater-
Iändifche Tugenden während der Kriegedrangfale vers
liehen worden war. Wie fie in diefem Staate, mit majes
ftätifchen Schritten an mir vorüberraufchte, erfchien fie
mir erft recht ald das „Domfräulein”, idy erhob und vers
beugte mid, in ehrfurdytövoller Bewunderung. Sie aber
nickte mir lächelnd zu, als ob fie an ſich felber ein Ge-
fallen trüge. In meinem Leben hatte ich die große Des
bora nicht fo guter Laune gefehen. |
„Es ift Zeit, Renatus!“ fagte fie, bei ihrem Bruder
eintretend.
„Sch bin bereit, Debora!” antwortete er, indem er fich
ohne Säumen von feinem Pulte erhob.
Sie half ihm den langen, feidenen Talar anlegen, den
er nur ein einziges Mal getragen hatte, ald er vor feinem
382 Die goldene Hochzeit
föniglichen Herrn jene denfwürdige Rede hielt, von welcher
Höchftderfelbe öffentlich befannte: fie habe ihn erweckt wie
eine Prophetenftimme; fie heftete die feinen Beffchen an
feinen Hals und an feine Bruft den Ordenöftern, der auch
nur an jenem Ehrentage an das Licht gezogen worden
war. Sie hatte ihm diefe Hilfgleiftungen beim Anfleiden
gelaffen und pünftlicd, jedweden Sonn und Felttag in
fünfzig Sahren erwiefen; heute aber flogen ihre Blicke
und Hände, und wie er fie fo ſchmuck und ftrahlend fidh
gegenüberftehen fah, da fagte er lächelnd: „Du fiehft ja
aus wie eine Prinzeffin, Tiebe Schweſter!“
„Ich bin auch ftolz und froh wie eine Prinzeffin, lieber
Bruder,” verſetzte fie.
Er ermwiderte nichts; aber er nickte ihr zu, und — ja, idh
fann befchwören, daß ich es gefehen mit diefen meinen
leiblichen Augen, Renatus Henrici Füßte feine Schweſter
Debora auf die Stirn!
Eilig, ale hätte fie es verfäumt, raufchte fie nun die
Treppe hinab und hinüber in das Magifterhaus, in dad
fie feit fünfzig Sahren feinen Fuß gefest hatte.
Der Propft trat in das Küſtergemach. Er fagte auch
jest noch fein Wort zu mir; aber im Vorüberftreifen fielen
feine Augen auf das noch aufgefchlagene dreizehnte Kapitel
des erften Korintherbriefd und dann hinüber auf mich mit
einem Blick — einem Blick, der mich in meinem letzten
Stündlein befeligen wird.
Er fchritt voran; ich in gebührender Entfernung hinter
ihm drein. Die dichtdrängende Menge machte mit ehr-
erbietigem Neigen vor und Platz, wie vor einem König
und feinem Hof. In der Safriftei fenfte er feine Knie
auf den Betjchemel nieder, wie jedesmal vor der Predigt
⁊
Die goldene Hochzeit 383
oder einem feierlichen Akt. Aber er betete länger als ein
Vaterunſer, und er betete auch anders als ſonſt: mit er⸗
hobenem Blick, über der Bruſt gefaltenen Händen und
bebenden Lippen. |
Die große Domglocke, Maria gloriosa, hob aus; er richs
tete fich auf und fchritt, von mir gefolgt, zum Altare des
hohen Shore.
Die drei Pforten des Lettnerd ftanden geöffnet; im
Mittelfchiffe und auf den Emporen drängte fic Kopf bei
Kopf. Weißgefleidete Sungfrauen, Rofenfronen im Haar
und in der Hand, bildeten eine Kette, den Hauptgang ent-
lang. Rings um den Altarplag hatten die Würdenträger
der Stadt und Umgegend Pofto gefaßt; die Behörden, das
Offizierforps in feiner Paradeuniform; felber, — und das
fchreibe ich nieder als ein Dofument gar beherzigendwerter
Eintracht und Ehrerbietung vor unferem Gotteshaufe und
feinem Oberherrn, - felber die Geiftlichkeit der Fathofifchen
Konfeffion und der Rabbiner der Sudengemeinde. Aber
Renatus Henrici fohien von all diefer Feft- und Herrlich-
feit nichte gewahr zu werden. Seine Augen blidten un-
verwendet nadı oben, ale ob er eine himmlifche Eingebung
empfange.
Nun aber öffnete fich das große Portal; die Glocken
fchwiegen; die erften Klänge der Kantate hoben an. Feier-
lich langſam, von blumenftreuenden Kindern eingeleitet,
bewegte ſich der Hochzeitszug das Schiff entlang. Voran
und alle überragend das Fräulein Debora Henrici, dem
großen Mittelturme auf unferem Dome vergleichbar, in
feiner majeftätifchen Erhabenheit. Zu ihrer Rechten die
bleiche, fchmächtige, noch im Alter fchöne Subelbraut, im
filberfarbigen Gewande, den goldenen Kranz über der
384 Die goldene Hochzeit
fchneeweißen Haube und dem nicht minder weißen, wellis
gen Haar. Auf den linken Arm des Fräuleing geftüßt,
der Subelbräutigam; mehr gebeugt vom Alter ald wir
anderen, feine Zeitgenoffen, aber noch immer einen Schims
mer der Jugend auf den rofigen Wangen und einen freund»
lichen Strahl in dem blauen, fchwimmenden Auge Ein
goldener Hochzeitöftrauß glänzte an dem fchwarzen Talar.
Den drei Greifen folgte das bräutliche Enfelpaar, und
diefem, je zwei und zwei, die lange Reihe der Amtsbrüder
der Ephorie,
Der Zug hatte fid) um den Altarplag geordnet, bis der
Geſang verftummte. Nun trat dad Jubelpaar vor den
priefterlichen Freund; das Fräulein Dicht hinter den beiden,
den Blick durchdringend auf den Bruder gegenüber ges
heftet. Renatus Henrici aber, der Achtzigiährige, hob
mit mächtiger Sünglingsflimme jene wunderbare Rede an,
die man eines Tages nicht in feinen Sammlungen Iefen
wird, weil fie, ohne Ausarbeitung, frei aus feiner Seele
ftrömte, mit deren vollftändigem Tert id; aber meine
Schilderung frönen würde, wenn id; mich des Gedädhts
niffes meiner jungen Sahre noch rühmen dürfte, und wenn
der Aufruhr in meinem Gemüt nicht noch den Reſt des⸗
felben gefangengenommen hätte.
„Gib mir die Liebe, mein Gott,” fo betete er zum Eins
gang, — und ich wußte num fchon, welches Negifter er
aufgezogen; — „gib mir die Liebe und lege deinen heiligen
Geift auf meine Lippen. Denn wenn idy mit Menfchens
und mit Engelzungen redete und hätte der Liebe nicht,
fo wäre ich ein tönendes Erz und eine klingende Schelle.”
Darauf der Bibeltert. Nichts von Heiraten und Nichts
heiraten; nichts von Gut⸗ oder Beflertun. Kein Wort
*
Die goldene Hochzeit 385
von damals; ein neuer Tert, ein frifcher Sprud, ein
heutiger Morgenfegen! „Bis hierher und nicht weiter;
hier follen ſich brechen beine ftolzen Wellen!“
Und diefen Wal und Damm, den der Herr gegen die
Wogen ded Menfchenlebens gefegt hat, den nannte er das
Herz.
„Reißt diefen Feld aus feinem Grunde,“ fo rief er,
„und ihr habt die Flut, die alles Göttliche zerftört, und
euch bleibt die Wüfte, in welcher alle Pflanzung erftirbt..
Dann werdet ihr fehen, wie dad Verwandte auseinander:
ftrebt, dad, was in einander wirfen follte, die Gemeins
fchaft flieht; fehen, wie die natürliche Ordnung fich Löft,
der Diener zum Herrfcher, der Herricher zum Dränger
wird, Maß und Einklang im Toben der Willfür unters
gehn. Denkt euch die Menfchheit ohne Liebe, — aber wer
denfet dad Chaos? Und wer fchaudert nicht bei der Vor⸗
ftellung, oder vor der Erinnerung, wie ein größeres der
menfchlichen Gebilde fich für einen Zeitmoment aus der
ewigen Ordnung löft und erft nach blutigen Kämpfen
durch eine eiferne Fauſt in ein Gefeg zurüdgebannet
wird?
„Sehet aber, und fehet mit Schaudern auch den eins
zelnen Menfchen, wenn er fich lieblo8 aus dem Zufammen-
hange feiner Brüder löfl. Denn der vereinzelte Selbft-
ling, der fich ftarf dünfet, und fo fchwach, frei und in
Wahrheit ein Sklave ift, der Tieblofe Selbftling, und hätte
er niemals erweislich eine Sünde begangen, er ift ärger
als der erwiefene Sünder, ber mit Inbrunft ein einziges
Menfchenherz an dem feinen gehegt; und der Selbftling
frevelt, wenn er fagt, er fei ein Chriſt. ‚Wer feinen
Bruder nicht liebt, den er fieht, wie. will er Gott lieben,
®
386 Die goldene Hochzeit
den er nicht fieht?“ fpricht der Herr; und Er entfühnt
das fündige Weib mit den Worten: ‚Du haft viel geliebt,
Dir wird viel vergeben werden‘ Gott gab ſich einen
Sohn, und er gab ihn ung: die Liebe, die höchfte unter
den dreieinigen Gottesfräften, — das ift die Summa dee
Shriftentumse. |
„Der Menfc aber, der fidy lieblos vereinzelt, er liebt
nicht Gott, fondern. einen Goͤtzen. Und er ftellt den
Götzen hoch auf einen Altar; und der Gößge ift er felbft.
Der Quell feiner Offenbarung ift afterweifer Stolz, und
das Feld feiner Arbeit hat eine felfige Rinde und eine
Dede von Aſche, in mweldyer die zarten Keime bed Ge⸗
mütes erfterben.
„Meine Brüder, die ihr hierhergefommen feid, um mit
und, den Greifen, den Ratſchluß Iangmütig erhaltender
Barmherzigkeit zu einem heiligenden Zwecke zu verehren;z
meine Brüder, wäre einer unter und, welchen dieſe meine
Rede trifft, der feinen Mitmenſchen den Rüden fehrt oder
ſich hoffärtig über feineögleichen erhebt; der nad, feinem
Freunde begehrt und dem Feinde die Sand der Ber:
föhnung verweigert, - wäre ein folcher unter ung, der fühle
in diefer Stunde feine Zwietracht mit Gott; er fchlage
an feine Bruft und fage: ‚Herr, fei mir Sünder gnädig!‘
dann aber, und wäre es in der legten Stunde, dann öffne
er feine Arme und wende das Antliß nach den Hütten
feiner Brüder.“
Der Redner machte eine Paufe. Er hatte getan nach
feinen Worten: an feine Bruft gefchlagen wie der Zöllner,
und dann die Arme ausgebreitet, ald ob er ein lange
verfäumtes Gefchlecht an fein Herz zu drücken begehre.
Durch die Gemeine ging fein Atemzug. Renatus Henrici
Die goldene Hodyzeit 387
aber fuhr fort, den Bli vol ftrahlender Heiterkeit auf
das Subelpaar gerichtet.
„Sehet dahingegen jenen anderen, der liebend in der
ewigen Ordnung verharrt. Unmerklich Iöfen fich alle
natürliche und göttliche Rätfel vor feinem Gemüt. Der
tötende Winterfroft entweicht, ein milder Dunſtkreis breitet
ſich über die fchaffende Erde; gierig faugt der Boden des
Himmels Erquickungen in ſich; Pflanzungen erblühen,
füße Düfte fteigen in die Höhe; feine Werkftatt wird ein
Öarten, fein Haus eine Heimat; Hand an Hand reiht
fich zur Kette, die aus der vergangenen in die zufünftige
Ewigkeit leitet. |
„Und fo habt ihr euch geliebt, meine Freunde; fo Tiebet
euch weiter von Kind auf Kindeskind. Duldet eudy,
traget euch, helfet euch untereinander; bauet weiter an
dem Walle, vor welchem die ftolgen Gewäſſer ſich brechen,
bis er hinauf in den Himmel ragt. Mifcht ein Staub-
forn der Erde fich in den reinen Mörtel, fcheidet es nicht
aus, daß es einzeln, die Lüfte trübend verfliege; es bindet
fid) dennoch zum Kitt, bildet fich zur Schicht, auf welcher
die Saaten der Zufunft treiben. Denn nur die Liebe
bringt Frucht und Fülle und Frieden und ewige Seligfeit.
„Diefe Liebe aber, die trägt und duldet, die das Un⸗
gleiche ebnet und das Gleiche verbindet; die Liebe, die
nicht eifert und ſich nicht bläht, an der die Wogen bes
Menfchenftolzes fich brechen, die Liebe, die ftärfer als der
Tod und des Geſetzes Erfüllung ift, diefe Liebe bewähre
fich für und für auch an diefem hehren Gotteshaufe. Sein
verfallendes Gewand wird neu werden. Sei es ein-
-trächtig gewirkt in dem Geifte, den eine neue Zeit aus
fid) herausgeboren hat. Auch die Zeit fließt aud Gott.
388 Die goldene Hochzeit
jüngere Diener, Männer diefer Zeit, werben nach ung,
den Greifen, dad ewige Evangelium in feinen Hallen pres
digen, die heiligenden Gnadenmittel fpenden, bald, viels
leicht morgen fchon. Lenke dann die Liebe ihre Zungen, öffne
ihre Arme, regiere ihre Geifter zu deflen Serrlichkeit, der Die
Liebe fchuf; das heißt, der fie ausftrömte aus fidh, einftrömte
in ung, daß wir feine Kinder heißen follten. Amen.“
Er ſchwieg. Durch die Taufende, die feine Rede gehört
hatten, ging ed wie Waldesbeben im Abendhauch. Da
war wohl feiner, der nidyt ahnete, was ihre Bedeutung
war. Drei aber unter ihnen: die Schweiter, die Ssubels
braut und ich, der Diener, wir wußten, daß wir nicht
nur einen erweckenden Aufruf vernommen, nicht nur das
Zeugnis einer fpäten, leßten Erfahrung der Seele, fon-
dern eine öffentliche Beichte und Buße zur Sühne eines
achtzigjährigen, verfehlten Lebens.
Aber noch einmal öffnete er feinen Mund und ſprach:
„Und wie ich diefen Ehebund eingefegnet habe vor
einem halben Sahrhundert für das zeitliche Leben und
heute zum zweiten Male fegne für die Ewigfeit, nach der
furzen Brautnacht des Todes; und weil ich nicht weiß,
ob die Hand ded Greifed priefterlich dad Band wird
fnüpfen dürfen, das die Enkel verbinden foll, wie ed die
Ahnen verbunden hat, fo tritt vor mich in diefer Stunde,
du junges Paar, daß ich den Segen über dein Berlöbnie
fpreche, ald ein Vater und Freund.”
Tiefbewegt traten Renatus und Debora, die Enkel,
vor den Altarplag und beugten ihre Knie; die Subeleltern
hinter ihnen. Renatus Henrici aber legte feine Hände
auf beider Paare Haupt und fagte nichts weiter ale;
„Liebet euch, meine Kinder, fo wird Gott euch Lieben.”
Die goldene Hochzeit 389
Er ſchritt und voran in die Safriftei. Ciner um dag
andere, die alte wie die junge Braut, der alte wie ber
junge Bräutigam, lagen fie dort an dem Herzen des greifen
Gefchwifterpaared. Wie er aber feinen Paten Renatus
in den Armen hielt, da fragte er feierlich: „Renatus,
willft du fortan meinen ganzen Namen tragen? Willft
du auch mein Gehülfe im Amt, willft du mein Sohn und
dereinft mein Erbe fein?“
Erfchüttert fan der Süngling zu feinen Füßen; er aber
hob ihn auf, legte feine Hand in die der weinenden Braut
und wanfte leife nach der Tür.
„Hab ich es recht gemacht, Freund Zebedäus?“ flüfterte
er mir zu mit einem Händedruck und dem freundlichiten
Lächeln, das ich jemals auf feinen Lippen wahrgenommen
habe.
Sch aber faltete die Hände und betete: „Kerr, nun
läffeft du deinen Diener in Frieden fahren, denn meine:
Augen haben deinen Sohn in feinem ewigen Erbe ges
fehen.“
Phosphorus Dollunder
De Hollunder faß am Schreibtifch feines mit
Komfort und Zierlichkeit ausgeftatteten „Muſeums“
- wie er ed nannte — in der Apotheke zum Holunderbaum,
die er neuerdingd vom Keller zum Giebel modern hatte
herftellen laflen. Er memorierte die Rede, mit welcher er
heute, am Sylvefterabend, die Schweſternloge zu erbauen
gedachte. Denn Phosphorus Hollunder war Maurer; —
welcher Apothefer wäre in Herrn Hollunders jugendlicher
Heldenzeit es nicht gewefen? — Er galt für den begeifterts
ften Sprecher in der Loge zur Feurigen Kugel, zumal an
den Schwefternabenden, wo fein Bortrag fein fchönes
Auge troden gelaffen haben fol,
Er hatte laut gelernt und ein helloderndes Feuer in
feinem Gemüt entzündet. Mit großen Schritten ging er
nunmehr im Zimmer auf und ab. Der Strom der Phan⸗
tafie war ficher in das Gedächtnis geleitet; ein Anftoß nicht
zu befürchten; wenn aber ja, fo ift Phosphorus Hollunder
der Mann, der ſich auf feine Infpiration verlaflen darf.
Angeregt durch Tiebliche Bilder von Frauenhuld und
Frauenwürde, welche naturgemäß den Stoff feiner heutigen
Rede bilden, drängt ihn aus allgemeinen Regionen eine
unmwiderftehlihe Macht in die Heimlichfeit feines Herz⸗
fammerleind zurück und zaubert den Gegenftand feiner
lange verfchwiegenen Minne leibend und lebend vor den
entzücten Blid. Da fteht fie, die Hehre, die Cäcilia aller
feiner zarten — leider nie veröffentlichten Lieder. (Den
Zeitgenoffen Hollunders brauchen wir faum zu fagen, daß
‚Urania‘ und ‚Die bezauberte Rofe‘ feine Vorbilder und
Lieblingsdichtungen waren; das jüngere Gefchlecdht wird
fich derfelben aus der Fiteraturgefchichte erinnern.)
Phosphorus Hollunder 991
Das Herz geht dem Redner über. Während er in ftarfer
Bewegung auf und nieder fchreitet, ruft er aus:
„Berfchmähft du mich, Blanfa? Weiſeſt mich von dir?
D Mädchen, halte ein! Befinne dich, bedenke, ich bin ein
gebildeter Mann, ein wohlangefehener Mann, — nicht aud)
ein wohlanzufehender Mann?“
Sein Blid fiel bei der legten, nur gelifpelten Frage in
den goldumrahmten Trumeau zwifchen den Fenfternifchen;
errötend fenfte er die Augen jedoch haftig zu Boden und
fuhr mit weichen Tönen in feiner Selbftempfehlung fort:
„Bedenke, ich bin ein guter Mann; oder wenigfteng, ich‘
fönnte ed werden, denn ich liebe dich, Blanfa, und die
Liebe macht gut.”
Die alabafterne Stuguhr fchlug in diefem Augenblid
fech8 und fpielte die Melodie von „Wie der Tag mir
fehleichet, ohne dich verbracht." Eine Mahnung an die
Toilette; denn um fieben follte die VBerfammlung ihren
Anfang nehmen, und Herr Hollunder war an bedeutenden
Tagen gern der Erfte. Er zog daher den palmendurdhs
wirkten Kaftan aus, der in Verbindung mit dem purpurs
farbigen Fe; ihm ein ausnehmend mufelmännifches Ans
fehen gab, wennfchon er in allem übrigen durch morgens
ländifche Kennzeichen oder Neigungen je nachdem weder
intereffieren nody abfitoßen konnte. Rauchte er doch nicht
einmal und tranf ftatt des Kaffees Schofolade. Auch war
fein Saar von der Helle des Flachfes, und fein Nafenbein
ſchlug auch nicht entfernt einen orientalifchen Adlerhaken.
Ohne ſich in feinen peripatetifchen Ergüflen ftören zu
laffen, begann er darauf ſich in den Gefellfchaftsanzug zu
hüllen, der fürforglid, auf dem Sofa ausgebreitet lag. Ins
dem er die Weſte von himmelblauem Moire überftreifte,
392 Dhosphorus Hollunder
durchzuckte es ihn aber plögßlich wie bei dem Stich eines
giftigen Inſekts, und es dauerte eine Weile, bis die grelle
Diffonanz in elegifche Molltöne überging.
„Was fann dir diefer Leutnant fein, Blanka?“ fragte
er. „OD, fliehe ihn, fliehe ihn! Er wird dich verderben.
Es ift nicht Sitte und Treue in ihm, und Sitte und Treue.
find die Pfeiler, auf welche das Weib fein Glüd zu bauen
hat. Und doc) lächelft du ihm, Geliebte! O, wohl fehe
ich es, wie holdfelig du lächelft, wenn er unter deinem
Fenfter vorübergaloppiert. Ich fehe es, und es fchneidet
mir durdy das Herz. Was reizt did; an dem Leutnant,
Blanka? Kann keiten glüdlich machen? Oper eine blißende
Uniform? Heißt das Bildung: über Hinderniffe feßen, ein
feuchendes Pferd zu Tode jagen? Das As in der Karte,
den armen Vogel im Fluge treffen ohne Fehl? Er wird
bein Herz treffen, Mädchen. Er ift ein roher Gefel. Ich
habe ihn beobachtet am Pharotifch und bei der Bowle. Da
offenbart fi des Mannes Natur. Sch fpiele niemals,
und beim Glaſe werde ich traulich und mache Berfe, wie
die Freunde fagen. Aber diefer Leutnant, o, 0! Was
eleftrifiert euch Frauen, fobald er ſich zeigt? Hat er Bil:
dung? Hat er Geift? Hat er nur ein Herz? — Er trägt
einen Orden, weil er, e8 ift wahr, einmal eine fühne, eine
edle Tat getan. Aber es geichah in jachem Affekt, nicht
aus befonnener Wahl. Das ift fein Wert, der dauernd
ein zärtliches Weib beglüdt. Er befitt auch eine fchöne
Geſtalt und — — -”
Wieder fiel Phosphorus Hollunders Blick in den Spiegel,
und er lächelte nicht ohne Befriedigung, während er die
Schleife des weißen Atladtuches breit zog. „Und — Schön⸗
heit iſt allerdings ein Schlüſſel, der uns die Pforten der
Dhosphorus Hollunder 393
Menfchenherzen erfchließt. Das beweift dein Anblid,
Blanka, dein allesbewältigender Anblid! Aber Schönheit
des Leibes allein? Nein, Geliebte, wäre nicht auch deine
Seele edel und hold, ich würde dich fliehen, wie eine
Schlange.
„Du bift arm, mein Kind,” fuhr er nach einer Paufe
fort, indem er die blißende Diamantnadel in dem ſpitzen⸗
geränderten Sabot befeftigte. „Du bift arm, mein Kind,
und das beglücdt mich; fo werde ich dir mandje Freude
bereiten dürfen, die du jegt nicht fennen lernft. Denn
ich gebe fo gern; und wem gäbe ic; lieber ale dir? Dein
wäre alles, was mein ift, und ich nur dein Sflave.
„Aber du bift ein Edelfräulein; bift du auch ftolz,
Mädchen? Blanfa von Horned, ein ehrwürdiger Name!
Indeſſen auch der Hollunder Erinnerung reicht Jahr⸗
hunderte zurück. Betrachte über der Apotheke den Baum
in grauen Stein gemeißelt, das Wahrzeichen unſeres Ge⸗
ſchlechts, und darunter die Jahreszahl 1530. Wir haben
uns die fchöne Sitte ded Adeld angeeignet in Bild und
Schrift, dad Andenken unferer Ahnen ehrfürchtig zu wahren.
Drei Sahrhunderte blicken wir zurück auf Väter, Die unferer
Stadt zum Mufter bürgerlicher Tugend und Treue ge-
reichten, auf häusliche, züchtige Mütter, Vorbilder ihres
Geſchlechts. Drei Jahrhunderte lang vererbte die Apo⸗
thefe auf einen Erftlingsfohn, einen Phosphorus, das heißt
Lichtbringer, Lichtmagnet, Morgenftern! Ein bedeutungss
voller Name! Ich habe ihn wieder angenommen ftatt des
nüchternen ‚Ernft‘, den meine Eltern ihm beigefügt hatten.
Ernft Hollunder — wie unmelodifch, wie nichtöfagend! —
Die jüngeren Söhne unſeres Sefchlechtd widmeten ſich Dem
geiftlichen oder gelehrten Stande, Es gibt mandyen nam⸗
594 Dhosphorus Hollunder
haften Hollunder in den Annalen der Wiſſenſchaft. Gern
wäre ich ein jüngerer Sohn geweſen; aber id; bin der
einzige. Sch befaffe mich wenig mit meinem Gefchäft; ich
habe höhere Intereſſen; doch der Pflicht, welche folche
Vergangenheit auferlegt, durfte ich mich nicht entziehen;
ich mußte die Apothefe übernehmen. — Ich bin eine Waife,
ohne Gefchwifter, ohne nahe Verwandte,” rief jeßt der
gute Hollunder mit übergehenden Augen, „ach, liebe mich,
Blanfa, werde du mein alles!“
Mühfam bewältigte er die weichmütige Anwandlung
und trat nun, mit dem fcehwarzen Leibrod die feftliche
Toilette beendend, noch einmal mufternd vor den Spiegel.
Ein Blic genügte, ihm fein Selbftgefühl wiederzugeben.
„Und dann, Blanfa von Horned!” rief er plöglich, den
Kopf ftolz in den Naden werfend, „Blanfa von Horned,
was ift Adel heutigentages? Adel ift Bildung. Stelle
mich dem Leutnant gegenüber in einem Turnier des Geifteg,
und er wird feinen Mann gefunden haben,“ fette er nach
einer Paufe, fie und ſich felbft entfchuldigend hinzu. —
„Aber, nein doc, nein. Sin dir ift feine Schwäche, fein
Vorurteil. Du bift rein wie eine Frühlingsblüte. Dein
großes, demütig geſenktes Auge, die edle Humanität deiner
Mutter find mir Bürgenz; du bift, deinem ritterlichen
Namen zum Troß, ein Kind deiner Zeit; du verfchmähft
nicht das bürgerliche Gewerbe eined Gatten unter dem
Ehrenmantel der Bildung. Indeſſen - follteft du — fändeft
du — hätteft du — o, nur ein Wort — Geliebte — nur einen
Wink — und idy opfere dir meinen Stammbaum, ich vers
pachte die Apotheke, ich Faufe mir ein Rittergut; Blanka,
ich mache dich zur Edelfrau.”
$
Dhosphorus Hollunder 395
Die Uhr fchlug halb fieben; Herr Hollunder mußte fein
Selbftgefpräd; beenden, foviel er nody auf dem Kerzen
hatte; doch fühlte er auch jegt fchon fich erleichtert und
frei; feine Werbung war fo gut wie angebradht, feitbem
er ihre Berechtigung fich felbft klargemacht hatte. Blanka
von Horneck, die er feit feinen Schuljahren im ftillen ver:
ehrt, mußte ihn jeßt verftehen ohne Worte; er hatte eine
fiyere Stellung ihr gegenüber eingenommen. Nun nur
noch ein Bürftenftrich durch die hochgelockte Tolle über
feiner Stirn, ein Flafon Eau de lavande über das feidene
Taſchentuch gefprengt, die weißen Handfchuhe angepreßt,
den Karbonari übergeworfen und freudig bebenden Schrit-
tes hinüber in die Loge zur Feurigen Kugel.
Sm Borfaal fließ er auf die alte Suftine, die feine
Kinderfrau gewefen war und nun das Hausregiment
führte. „Was madıft du hier auf dem zugigen Korridor?“
fragte er gütig, „du wirft dich erfälten, liebe Muhme.“
„Sc ftehe Wache, Herr Hollunder,“ verjeßte die Alte,
mit weniger Freundlichkeit als ihr Herr.
„Du ſtehſt Wache? Wache gegen wen?“
„Gegen die gottlofen Buben, die Lehrlinge unten.”
„Segen meine jungen Herren?“
„Sa, gegen die ausverfchämten jungen Herren, juft
gegen die.”
„Aber erkläre mir, Muhme — —“
„Nun, was ift da viel zu erflären? Der Serr Hols
Iunder waren wieder einmal im Zuge mit einer Pres
digt; da laure ich dann auf, um die Schlingel fort:
zujagen, wenn fie auf dem Wege nad dem Kräuterboden
hier am Schlüffelloche horchen und fichern, Die nichtönugige
Brut!”
396 Phosphorus Hollunder
„Spreche ich wirklich Taut, wenn ich allein und in Ges
danken verfunfen bin, Suftine?”
„Laut und vernehmlich wie von der Kanzel herab, mein
Herr Hollunder. Aber nur nicht geniert; ich paſſe auf.
Und was mid; anbelangt, meine Ohren müflen in der
legten Zeit gewaltig ſchwach geworden fein; ich habe Dicht
am Schlüffellocdy den Zufammenhang heute nicht unter:
fcheiden können.”
Herr Hollunder lächelte. Das fommt vom Alleinfein,
dachte er bei fich felbft. Man wird fein eigener Unter-
halter, man wird am Ende nody ein Egoift. Übrigens
glaube ich wirklich, daß ich zum Nedner geboren bin!
„Ärgere dich nicht, alte Seele,“ tröftete er darauf mit
freundlicher Würde feine alte Duenna, „ärgere dich nicht,
wenn die jungen Herren mich einmal wieder belaufchen
follten. Sie werden nichts Ungeziemendes aus meinem
Munde vernehmen. Ein alter Römer hat einmal gefagt,”
- fo fegte er im Fortgehen mehr an fich felbft gerichtet
hinzu, — „er möchte von Glas fein, daß feine Mitbürger
jederzeit den Grund feiner Seele überbliden könnten.
Es gibt auch deutfche Männer, die wie diefer Römer
denfen!“
Herr Hollunder ftand ſchon unter der Tür, als er ſich
noch einmal zurüdwendete, um feiner Wirtfchafterin zu⸗
zurufen: |
„Laß es heute, am Sylveſter, den jungen Herren ja an
nichts fehlen, liebe Muhme. Spare feine feine Zutat beim
Heringsſalat, weil ich ihn nicht mit verzehre. Der Fleine
Keller ißt fo gern Kuchen. Sei mir beileibe nicht fnauferig
mit Stollen und Pfefferfcheiben, hörft du, Alte Du
aber, treue Seele, bleibe mir ja nicht etwa auf, bis ich
Phosphorus Hollunder 397
zuruͤckkehre. Scjlafe gemädhlicd, hinein in das neue Sahr,
in welchem der liebe Gott did; erhalten möge frifch und
fräftig wie bisher.”
Herr Hollunder ging; die alte Suftine wifchte fich eine
lange Weile die Augen.
„Welch ein Herr!” ſchluchzte fie. „Der richtige Engel,
mein Phosphorus! Und wenn id} dermaleinft vor Gottes
Thron erfcheine, werde ich fagen: Sch habe ihn aufgezogen!
und voller Gnaden empfangen werden. Großmütig wie
ein Löwe. Die ausverfchämten Bengel foll ich noch ertra
traftieren !”
Waͤhrenddeſſen nahm Kerr Hollunder den Weg durch
feine Apothefe. „Ich kann diefen feftlichen Abend nicht
in Ihrem Kreife feiern, meine Herren,” fagte er, indem er
feinem Provifor die Hand drückte. „Sch verlafle mid,
wie in allen Stüden, auf Sie, mein lieber Speck. Machen
Sie freundlid) den Wirt an meiner Statt. Er verfteht ſich
auf einen fraftigen Punfch fo gut wie auf jedes andere
heilfame Gebräu. Sie fünnen ihm vertrauen, meine jungen
Herren. Sch wünfche Shnen allen einen fröhlichen Eintritt
in das neue Sahr!“
Die jungen Herren wünfchten deögleichen und aufrich-
tigen Herzend; denn niemals hatten Lehrlinge einen güti-
geren Lehrherrn gehabt ale die des kaum vierundgmanzig-
jährigen Herrn Hollunder. Einer wie der andere würde
daher durchs Feuer für ihn gegangen fein, wenn er es ſich
aud nicht zur Sünde anrechnete, auf dem Wege nach dem
Kräuterboden an feiner Tür zu horchen und feine Gemüts⸗
ergüffe zu befichern.
Über unfered Freundes Erlebniffe während der nächft-
398 Phosphorus Hollunder
folgenden Weiheftunden müflen wir ſchweigen, da das
Mpyfterium des Föniglichen Baues diefelben dedt. So viel
darf ohne Treubruch indeflen ausgeplaudert werden, daß
Blanka von Horned, die nebft ihrer Mutter, der Witwe
eined ehemaligen Bruders, eine Ehreneinladung erhalten
hatte, ihm niemals fo holdfelig erfchienen war wie heute in
ihrem weißen Gewande mit den lichtblauen Schleifen. „Blau,
die Farbe des Himmeld und Ihrer Augen, die Farbe der
auserwählten Seelen,” wie er ihr während feiner Tifch-
nachbarfchaft zuflüfterte, indem er einen verfchämten Blick
auf fein blaues Gilet fallen ließ. Er fühlte fich in einer
unbefangeneren Stimmung als fonft ihr gegenüber, trat
mit feinen Anfprüchen fühner hervor, und ald nach dem
feierlichen Neujahrsgruße die Gefellfchaft fich trennte, bot
er, zu ritterlichem Geleit, beiden Damen von Korned
feinen Arm. Nur die Mutter nahm denfelben jedoch an;
das Fräulein hüpfte unter dem Vorgeben, daß die Schnee
bahn für drei Perfonen zu fchmal fei, hinter der voran⸗
leuchtenden Laterne der Dienerin.
„Sie haben eine warme Schilderung von dem Werte
und der Beflimmung des Weibes entworfen, Herr Hol⸗
under,” fagte nad) einiger Zeit die Majorin von Horned,
da fie es für angemeflen hielt, ihren Befchüger durch ein
anerfennendes Wort über feinen Bortrag zu belohnen.
„Möchten Sie dad Traumbild Ihrer Seele im Leben ver-
wirfficht finden!” „Sch babe es gefunden!” fiel Herr
Hollunder raſch und feurig ein, ſtockte aber jählinge, er-
rötete dem nächtlichen Dunkel zum Trotz und feßte nach
einer Paufe mit innigem Klang hinzu: „Auch Sie, gnä-
digfte Frau Majorin, find mir ſolch ein erfüllte Traum:
bild der Seele. Ich habe meine felige Mutter nie gefannt;
Phosphorus Holiunder 399
fooft ich- mir aber ein Bild von ihr zu machen fuche,
erfcheint es mir unter Shrer edlen, hochverehrten Geftalt.“
Was hätte ein junger Mann der Matrone Schmeichels
hafteres fagen fönnen. Frau von Horneck drückte ſchweigend
feine Hand; er zog fie an die Lippen, und da fie juft vor
dem Haufe ftanden, fuchte er, fich empfehlend, Die der Tochter
zu gleicher Huldigung zu fallen. Blanfa entzog fie ihm
haftig und fchlüpfte in die Tür. Dennoch ging unfer Freund
in einem Raufche von Seligfeit nadı Haufe. Der warme
Handdrud der alten Dame deckte das froftige Ablehnen
der jungen. Er träumte in der heiligen erften Sahresnacht
von feiner Mutter im Himmel und von den blauen Augen
ihrer Nachfolgerin unter dem Wahrzeichen des Holunder⸗
baums.
*
Frau und Fräulein von Horneck blieben dagegen in ihrem
gemeinfamen Schlafzimmer noch ftundenlang wadı. Das
ſchöne Kind hatte ſich, abgefpannt von der langen Abends
tafel mit ihren Reden und Liedern, alfobald niedergelegt;
die Mutter feste fidy an der Tochter Bett und fprad}:
„Der Rückblick aus diefer Nacht in ein abgelaufenes
Sahr, in ein ablaufendes Leben, ein unwillfürlich banges
Ahnen der Zukunft, hat je öfter je mehr etwas Herzbewe⸗
gended. Mir ift es nicht wie ruhen zumute, Sch möchte
noch.ein Weilchen mit dir plaudern, Blanfa; vorausgefeßt,
daß du nicht allzu ermüdet biſt.“
„D, wenn du zu mir redeft, du gute, kluge Mama, da
werde ich wieder munter und wenn ich nod) fo müde bin,“
verſetzte die Tochter, fich zärtlich an die Mutter ſchmiegend.
„Dir hörte ich zu die ganze Nacht; und wenn du mir er>
laubſt, liegen zu bleiben, verftehe ich dich noch einmal fo
400 Dhosphorus Hollunder
leicht und antworte dir viel klüger als beim Sitzen oder
Gehen.“
„So laß dein Köpfchen ruhen, Heine Schmeichelfage,”
entgegnete die Mutter. „Denn du fönnteft dich nicht Har
und ernft genug fühlen angeſichts einer Entfcheidung, die
fid, kaum über diefe Nacht hinaus verzögern laſſen wird.”
„Sch, ich mich entfcheiden?” fragte Blanka erftaunt.
„Über was denn, Mama?“
„Seren Hollunders Abfichten in bezug auf dich fcheinen
mir unzweifelhaft, Blanfa. Es wäre ein großes Unrecht,
dem redlichen Manne gegenüber eine Zmweideutigfeit oder
auch nur ein Hinhalten walten zu laffen. Du mußt dich
zu einer Wahl entfcheiden, liebe Tochter.“
„zu einer Wahl? Gibt es denn hier eine Wahl, Mama?”
„Nach meiner Meinung: nein. Aber doc; vielleicht nach
der deinen. Oder wäreft bu bereits entfchloffen, feine
Hand anzunehmen?”
„Hollunders Hand, diefed Narren Hollunder, Mütter-
chen?”
„Hüte deine Zunge, Blanka. Sch kenne wenig beffere
Menichen ald Hollunder, feinen, ber dir beglüdendere
Ausfichten zu bieten hätte.”
„Als Hollunder? Du fcherzeft wohl, liebe Mutter?”
„Nein, mein Kind. Ic, fpredje im heiligften Ernft,
nach ftrengen Erfahrungen des Lebend. Oder fchägeft du
diefe nimmermüde Güte, dieſe gleichmäßige Heiterfeit, fchät-
zeft du ein unfchuldiges, warmes Herz fo gering, um da-
gegen etliche Tächerliche Feine Anhängfel in Betracht zu
bringen, welche der erfte befte Schidfalgfturm abftreifen
wird? Hollunders Gefchmadlofigfeiten find Auswüchſe
einer mühelofen Jugend, einer allzu bequemen Lage in
Dhosphorus Hollunder 401
fleinftädtifch bürgerlichen Verhältniſſen, eines Berufes, der
zwifchen Gewerbe und Studium die Mitte hält und dem
er fich leider bis jegt nicht mit ausfüllendem Ernte widmet.
So verfällt er in Spielereien, in einen mitunter, id} gebe
es zu, etwas läppifchen Dilettantismus, während junge
Edelleute, zumal im Militärftande, während einer langen
Friedenszeit wie die unfere - — —”
„Aber, Mama, welch ein Vergleich! Unfere Offi⸗
jiere — —“
„Die Gegenüberſtellung würde überflüſſig geweſen ſein,
wenn ich nicht wüßte, Blanka, wie ausſchließlich du dich,
als Soldatenfind, in diefe gefellfchaftlichen Kreife geftellt
fühlft. Sch wiederhole daher: während junge Militärs,
in der ähnlichen Lage, ihre Kräfte nicht hinlänglich zu
verwerten, nur alzuoft in das entgegengefegte Extrem
verfallen und einem maßlofen Sinnesgenufle frönen.
Einen mir vorfchwebenden Namen aus diefer Kategorie
will ich unterdrüden. Du errätft ihn, liebe Tochter.
Dünft ed dir nun aber verzeihlicher, zu fpielen, zu trinfen,
aus bloßem Zeitvertreib Sitte und Tugend Hohn zu fprechen,
ale, im unbeftimmten Drange nad) etwas Höherem, in Ge⸗
bieten umherzufchweifen, für welche die berechtigende Kraft
des Talents gebricht? Keine häufigere und leichtfertigere
Neigung bei unferer Abfchägung der Menfchen, liebe
Blanka, ald eine Srrung bed Geſchmacks höher anzus
fchlagen, das heißt verwerflicher zu finden, ald einen
Fehler des Gemüts, das Lächerliche mehr ald das Lafter,
den Überfchtwang der Idealität mehr als deren gänzliches
Berneinen. Menfchen wie Hollunder werden bald genug
im rechtmäßigen Takte fchreiten lernen, wenn eine ernfte
Erfahrung, eine bedeutende Pflicht, ein wahrer Schmerz
®
402 Phosphorns Hollunder
gleich einer Taufe ded Geifted fie überfommt. So wie
an einem Bildwerfe von Holz oder Stein die edle fünft-
ferifche Geftalt erft zutage tritt, wenn ein Regenguß die
Farbe abjpült, mit welcher kindiſcher Ungefchmad ihr ein
lebhafteres Anfehen zu geben verfuchte. Auch die Ehe ift
foldy ein klärendes Bad; eine geliebte, gebildete Frau leitet
einen Mann unmerflich auf die geziemende Bahn und
macht ihn zu dem, wofür die Natur ihn beftimmte. Der
Übergang mag peinlich fein, mein gutes Kind; aber der
Erfolg ift gewiß und der Lohn unermeßlich.“
„Sc bin nicht erfahren genug, liebe Mutter,” ents
gegnete Blanfa, „um mit deinen Anfichten zu rechten.
Sch weiß nur, daß mein innerfted Wefen fich gegen fie
fträubt. Iſt ed mir doch niemals in den Sinn gefommen,
daß du ein derartiges Los für mich im Sinne haben
fönnteft. Phosphorus Hollunder! - fchon diefer Tächer-
liche Name!”
„St die Schule unferes Lebens danadı geweſen, um
Borurteile in ihr großzuziehen?” fragte die Mutter. „Was
rum ift der Name Hollunder dir lächerlich, Blanka?“
„Wer denkt nicht dabei an ein Tranfpirationsmittel,
Mama?“ verfegte Blanka Fichernd. „Zumal bei einem
Apotheker.”
„Keine Poflen, Kind! Setze ein Adeldzeichen vor den
Namen, und du wirft ihn wohllautend und ehrwürdig
finden, fo gut wie Ochs, Kalb, Gang, Riedefel und hundert
andere, mit denen fich weit lächerlichere Vorftellungen ver-
binden laſſen. Hat dir mein eigener Familienname ‚von
Schweinen‘ jemald Anftoß erregt? Drei Feine Buch⸗
ftaben vermögen did) mit einer juft nicht galanten oder
fauberen Namendvetterfchaft zu verfühnen, und Phos⸗
Dhosphorus Hollunder 403
phorus von Kollunder würde dein Öhrchen, Heine Törin,
durchaus nicht mißfällig berühren, gelt?“
Blanka fchüttelte den Kopf in einer Stimmung, bie
zwifchen Weinen und Lachen die Mitte hielt. „Kinen
Mann Phosphorus zu nennen!” fagte fie.
„Ss taufe ihn um,” entgegnete Frau von KHorned
Tächelnd, „nenne ihn Ernſt; feine Mutter hat ihm diefen
zweiten Namen beigefügt, vielleicht weil fie deine Be⸗
denfen vorgefühlt. Ich weiß indes recht wohl, daß dein
Einwand nur ein Vorwand ift und daß der Name dir
nur darum widerfteht, weil er dich an das bürgerliche
Gewerbe erinnert. Dad Gewerbe fränft deinen Stolz.
Aber worauf bift du ftolz, Blanfa? Weißt du etwas mehr
von deinen Vorfahren, ald Herr Hollunder von den feinen?
Daß fie brave, ehrenhafte Leute gewesen find, hier in einer
befcheiden bürgerlichen, dort in einer befcheiden militäri-
fchen oder Beamtenftellung; mag der Ausgangspunkt der
legteren ein wenig glänzender, der der erfteren ein wenig
dunfler gewefen fein: ihr beiderfeitiger Bildungsgrad wird
feit Generationen fidy nicht weſentlich unterfchieden haben.
Was aber den Apotheker anbelangt, — liebe Blanka,
würdeft du gegen einen Landwirt etwad einzuwenden
haben? Warum fcheint ed dir nun geringer, mit Gewiſſen⸗
haftigfeit und Kenntnis die Kräfte der Natur zu vers
wenden, um der ſchwerſten Menfchenplage, der Krankheit,
entgegenzumwirfen, warum fcheint ed Dir geringer, ale
feinen Ader zu bebauen, Vieh zu mäften, Korn und Wolle
zu verhandeln und auf diefe Weife, gleichfalld im Dienfte
der Natur, die erften Lebendbedürfniffe zu befriedigen?
Geftehe es, Kind, nur darum, weil du auch folche, die du
für deinedgleichen hältft, derlei ländliche Hantierungen
404 Phosphorus Hollunder
treiben fiehft und dir noch fein adliger Apotheker befannt
geworden if. Alfo aus Vorurteil. Wollte ich dir nun
aber auch, wenngleich nicht die Berechtigung, fo doch eine
verbreitete Wirkſamkeit gewifler geiftiger Gewöhnungen,
die wir Vorurteile nennen, zugeftehen, fo müßte ich dir
in diefem Falle doch eine weit verbreitetere Wirkfamfeit
entgegenfegen, denn Herr Hollunder ift ein fo wohlhaben;
der Mann, daß alle gang und gäben Vorurteile vor feinem
Reichtum verfchwinden müſſen.“
„Ich verſtehe dich nicht mehr, beſte Mutter,“ wendete
Blanka ein. „Heute empfiehlſt du den Reichtum eines
Mannes, und wie oft haſt du mir das Veraͤchtliche einer
Spekulationsheirat vorgehalten?“
„Ich tue es noch, mein Kind, inſofern eine Heirat nur
Spekulation, inſofern es nur der äußere Glanz iſt, welchen
ein Mädchen in der innerſten menſchlichen Verbindung
ſucht. Bei einem Manne von Hollunders Charakter wird
der Reichtum zu einem erfüllenden Segen. Ich weiß,
daß es einer ernſtgebildeten Frau, — daß es vielleicht
auch dir, liebe Blanka, die Zufriedenheit nicht verfümmern
wird, wenn fie ein baummollenes Kleid ftatt eines feidenen
trägt, ein einfaches Mahl von Fayence genießt, ftatt Leders
biffen von koſtbarem Gerät. Bielleicht, fage ich, da ja
in dem ſich fo mächtig verbreitenden Luxus unferer Zeit
eine bedenfliche Verfuchung felbft für die Befcheidene liegt.
Unter allen Umftänden jedoch ift e& auch für die Bes
fcheidenfte fchwer, den Biffen zu berechnen, mit dem fie
den Gaftfreund bewirten, den Grofchen, mit welchem fie
den Dürftigen unterftüßen möchte, ihre wärmften Impulſe
allezeit unter Kontrolle zu halten. Bei deiner erregbaren
Natur, liebe Blanfa, ift ed doppelt ſchwer. Ich fürdıte,
Phosphorus Hollunder 405
ich fürchte” — Frau von Horneck feufzte bei diefer Wen⸗
dung -, „daß fich viel von deines Vaters Wefen in dem
deinen fortgeerbt hat, mein armes Kind.” |
„Du fürchteft das?” fragte Blanka betroffen, da fie
gewohnt war, den frühverftorbenen Vater mit uneinges
fchränfter Hingebung zu verehren. „Du fürdhteft e8?
War mein Bater nicht edel und gütig? Liebteſt du ihn
nicht, meine Mutter?”
„Er war ein edler, gütiger Mann, und ich liebte ihn,
Blanka,“ antwortete Frau von Horneck und feufzte
wiederum bei den Worten. „Dennoch habe ich viel mit
ihm und durch ihn gelitten. Denn fein Temperament
und Geſchick Tagen in dauerndem Zwiefpalt, ohne daß
eines mächtig genug gewefen wäre, dad andere von Grund
aus zu bewältigen. Ich werde dir diefe Erfahrungen
eheftens näher bezeichnen, da ich Dich vor einer Krife ftehen
fehe, in der fie dir zur Lehre werden können. Heute
möchte ich dir nur noch fagen, wie tief es mid, beglüden
würde, wenn ic) dic, ähnlichen Konfliften entzogen wüßte,
wurzelnd in einem Boden, in welchem herzendfreundliche
Triebe ſich entfalten dürften, ohne ſich — häufig mehr als
unfere Irrtümer — in Klippen umzuwandeln, an welchen
ein Lebengfchiff nur allzuoft fcheitert.“
Blanka ergriff der Mutter Hand; fie fühlte fich je länger je
tiefer von deren Ernft bewegt. Frau von Horned fuhr fort:
„Du haft in der befcheidenen, aber geficherten Einrich-
tung, welche mein Sahrgeld mir geftattete, wohl Bes
fhränfung, aber feine Not, feine Sorgen fennen lernen.
Schließe ich die Augen, bleibft du mittellos zurück, ohne
eine Familie, in deren Verband du did) natürlich und ſchick⸗
lich einrichten dürfte — —“
406 Dhosphorus Hollunder
„S, ſprich nicht von diefer unausdenfbaren Möglichkeit,
Mutter!” rief das junge Mädchen mit überftrömenden
Augen. „Du Fannft, du darfft nicht vor mir fterben. Wie
follte ich Ieben ohne dich?“
„Doch, mein Herz, fprechen wir einmal von diefer Mög-
lichkeit; fie dürften dir weniger fern liegen, ald du ahneſt,“
entgegnete Frau von Horneck fanft. „Mein kräftiges Aus»
fehen täufche dich nicht. Ein plößliches Sterben ift faft
erblich in meiner Familie; auch mein Leben kann rafch
abgeschnitten werden. Was dann mit dir, mein armes
Kind? Eine günftige Heirat für eine unvermögende Tochs
ter der gebildeten Stände wird heutzutage je mehr und
mehr zu einer Chance wie das große Los, und auf biöher
noch wenig gebrochener Bahn felbftändig durch die Welt
zu dringen, bedingt für und Frauen einen harten Kampf.
Glaubſt du dic, folchen Kampfes fähig, Blanfa? Sieh
unfere arme Couſine Biftoria an, wie fauer ed ihr wird,
ſich durch Mufif- und Spracdhftunden notdürftig zu erhalten.
Denke did in ähnliche Lagen ald Lehrerin, Erzieherin, Ges
fellfchafterin, allemal als eine Abhängige. Stelle dagegen
ein Los an ber Seite eined geehrten, eines Tiebenden
Mannes, in gefichertem, bürgerlichem Befig; ein Walten
in angemeffener weiblicher Sphäre, in unverfümmerter
Freiheit, gütige Neigungen und anmutige Fähigkeiten zu
Tugenden und Wohltaten auszubilden.“
„Aber ich Liebe diefen Hollunder nicht!” rief Blanka
aufgeregt. „Er ift mir gleichgültig; nein, nein, er ift mir
widerwärtig!”
„Sc will diefen ftarfen Ausdruck deiner Überrafchung
zugute halten, Blanka,“ verfegte die Mutter. „Schon die
Gleichgültigfeit würde ald Einwand genügen. Denke dars
Dhosphorus Hollunder 407
über nadı, ob fie der Achtung und Dankbarkeit, die du
nicht verfagen fannft, dauernd widerftehen fann, ob leßtere
fi) nicht in Freundfchaft und endlich in Neigung ums
wandeln fünnten, ob du dich unfähig fühlft, im Rechts
und Gutestun den Ballaft für dein Lebensfchiff zu finden.
Bringe aud) die Gewöhnung in Anfchlag, die felbft üble
Zuftände erträglich macht, wie viel mehr aber den Treff:
lichen zu gebührender Schäßung verhilft. Die ausgleichende
Macht der Ehe und des Familienlebeng ift eine unbeftreit-
bare Erfahrung. Ferne fei ed von mir, dich zu überreden,
wo ich dich nicht überzeugen fann. Aber ed war meine
Pflicht, die Vorurteile zu zerftreuen, die fchattenartig das
Bild eined guten Menfchen umfloren; den Blendungen
der Jugend gegenüber deine innere wie äußere Lage in das
gehörige Licht zu ſetzen. Jetzt fchlafe, mein Kind, und Gott
wache über dich in einem neuen Sahr.”
Frau von Horneck beugte fich tränenden Auges über Die
geliebte Tochter, die, ihre Arme um der Mutter Hald ges
fchlungen, lange Zeit fohluchzend an ihrem Kerzen lag.
Dann drüdte fie einen Kuß auf Blanfad Stirn und legte
ſich zur Ruhe. |
Blanka war erfchüttert: Die Vorftellung, ihre Mutter
verlieren zu fünnen, durdyzitterte fie zum erften Male, bes
ftürmte fie mit Angft und Entfegen. Aber eine frohe
Sugendlichfeit vermag ſo düftere, wefenlofe Bilder nicht
feſtzuhalten. Andere und wieder andere drängen ſich vor.
Phosphorus Hollunder ald Bräutigam! Weiter trägt der
jungfräuliche Bli noch nicht. Er prallt Schon ab an diefer
erften Klippe. Und wie durch Zauber taucht am Rande
derfelben eine andere Geftalt empor; undeutlich, unbe⸗
fimmt, es ift wahr, aber mit allen Reizen der Schönheit,
408 Dhosphorus Hollunder
der NRitterlichkeit, Fühn erfaflenden Verlangens. Affur von
Hohenwart, der junge Huſar, der, feit kurzem in die Stadt
verfeßt, alle Zungen von ſich reden, alle Mäbchenherzen
fchlagen madıt. Die Mutter hatte, ohne ihn zu nennen,
warnend auf ihn hingedeutet; aber Mütter müffen wohl
eine andere Sehlinie haben als ihre Töchter.
Die Tochter fieht ihn, das verunglüdte Kind zu retten,
dem Ziehbrunnen zuftürzen, ſich am Seile in die graufige
Tiefe winden, fieht nach einer Paufe lautlofen Erftarreng
den Edlen mit zerfetten Händen, blutend, befinnungslos
in die Höhe ziehen, das gerettete Kind im Arm. Das
Zeichen diefer heldenmütigen Tat glänzt wie ein Stern
auf der jugendlichen Bruſt. Dann, wenige Wochen erft
find es her, dann fieht fie ſich felbft, Taufchend hinter der
Gardine hervor, ald der Vielbefprochene zum erften Male
unter ihrem Fenfter vorüberfprengt. Plößlich hemmt er
das feurige Roß, und mit fühnem Blick die Laufcherin er-
fpähend, ſenkt er huldigend die Spige feines Degens vor
der Errötenden.
Und diefer ritterlichen Erfcheinung gegenüber fteht
lächelnd Phosphorus Hollunder, wie er im Teekränzchen
allbefannte Balladen deflamiert, mit fchwacher Stimme
Liebeslieder zur Gitarre fingt, wenn nicht gar über dem
Herdfeuer wiberliche Mirturen braut. Sie wagt es, ſich
ald Braut an Affur von Hohenwarts Arme durch die
Hauptftraßen wandelnd vorzuftellen, mit ftolgem Glüd die
nachſchauenden Blicke der Bewunderer und der Neider ge-
nießend. Dann wieder, an Phosphorus Hollunders Arme,
dem fpöttifchen Lächeln der Bekannten ausmweichend, mit
niedergefchlagenen Augen ihren Gruß vermeidend, ſich
durch Hintergäßchen drüdend. Kundert ähnliche Bilder
Dhosphorus Hollunder 409
Drängen, fcheuchen, jagen einander, bis endlich der Schlaf
gefchlihen fommt, der gute, bilderlöfchende und bilders
zaubernde Schlaf. „Aflur von Hohenwart — Phosphorus
Hollunder“ - flüftert die Lippe noch, halb fchon im Traum.
„Aſſur! Aſſur!“ — und fie Gi ein.
Am Neujahrsabend war — ourcenball. Herr Hollunder,
als Vorſteher, der erſte auf dem Platze. In ſeidenen
Strümpfen, Schnallenſchuhen, chapeau claque, Weſte und
Binde von weißem Atlas, muſtert er noch einmal die
Orden, Schleifen, Sträußchen, Bonbons und Nippes, die
er aus eigener Tafche angefchafft und mit denen er einen
hohen Shriftbaum geſchmückt hat. Kerr Hollunder weiß,
wem er beim Kotillon mit den finnigften Darbietungen
feine Gunft bezeigen wird.
Sm Hintergrunde des Saale erhebt ſich auf einem haut
pas zwifchen Blumengruppen eine Art von Thron, über
welchem, goldflimmernd, ein riefiger Pantoffel fchwebt.
Einem Teil des fchönen Gefchlechts, und juft dem, wichtig-
ften Teil für den Ordner, ift durch die geftrige Schweſtern⸗
loge das unbeftreitbare Herrſcherrecht der Sylvefterftunde
verfümmert worden. Herr Hollunder wird den Beein-
trächtigten heute glänzend Genugtuung geben. Er neigt
fih a priori vor der Würdenträgerin, welcher er das
Zepter zu einem mütterlichen Regimente unter dem ſchwe⸗
benden Pantoffel überreichen wird; ach, nicht bloß für Diefe
eine Sahresftunde überreichen möchte. Alles, was er finnt
und fchafft, ift Symbol, ift zarter Wink. Troß diefer Be-
fliffenheit ift Herr Hollunder indeffen nicht unbefangen,
wie fonft bei feiner gefellfchaftlichen Pflicht. Während er
mit Anmut und Würde die erften eintretenden Damen be⸗
40. Dhosphorus Hollunder
willfommnet, fchlägt fein Herz wie ein Hammer unter dem
glänzenden Gilet, und frampfhaft heftet fich zwiſchen Bück⸗
ling und Büdling das Auge nach der Tür, durch welche
die Griehnte eintreten wird. Traͤgt fie den Strauß, den
er am Morgen in feinem Treibhaufe gepflückt, ihrer würdig,
* einer Königstochter, finnvol gleich einem Selam, eigen-
händig gebunden und nebft einer zierlichen Karte für die
hochverehrte Frau Mutter ald Neujahrögruß überfendet
hat? Zrägt fie ihn, fo wird er Diefes Zeichen der Huld
für einen Schiedsſpruch des Schickſals halten.
Der Saal ift überfüllt. Herr von Hohenwart Iehnt mit
gefreuzten Armen unter der Tür des Speifegimmerd; Herr
Hollunder ſchwebt angftvoll gefpannt und doch gefällig die
Neihen auf und nieder. Endlich, endlich — da tritt fie
ein an der Seite der flattlichen Mutter! Phosphorus
Hollunder zwingt einen jauchzenden Auffchrei in feine
Bruft zurüd, denn zu einem duftigen Gewande trägt Die
Holde im Haar den weißen Kamelienzweig, den er ale
Krone in feinen Strauß gewunden. Ihr einziger Schmud!
Blanka fah bläffer aus ald gewöhnlich, ihr großes Auge
war umflort und ruhte häufig am Boden, aber nicht nur
unferem Freunde erfchien fie von zauberifchem Reiz; auch
Herr von Hohenwart, biefer Kenner und gefürchtete Kri-
tifer der Frauenfchöne, betrachtete das holde Gefchöpf mit
Entzücken. Herr Hollunder ftürzte den Eintretenden ent-
gegen, reichte Frau von Horneck die Hand zur eröffnenden
Polonäfe, gab mit feinem meißfeidenen Zafchentuche dem
Orcheiter das Signal zur eröffnenden Polonäfe, und voran
ſchritt er der vielgliedrigen wandelnden Schlange mit der
Miene eines Triumphatord. Als gewiflenhafter Vorfteher
hatte er die Muſik zu den Tanzen felbft ausgewählt, und
Dhosphorus Hollunder 4411
war die Polonäfe auf die Arie „Kennft du der Liebe
Qualen?” aud, nicht ganz neu, fo entſprach ihr Tert Doch
wie fein zweiter den Gefühlen des finnigen Ordners, der
fidy nicht verfagen konnte, durch kunſtvolle Berfchlingungen
und Berfchiebungen die Paare bunt zu mifchen. Juſt ald
bei der Strophe „Und doc, o Mädchen, lieb ich dich”
- er hatte diefed Lieblingslied wiederholt in Konzerten
vorgetragen — dad Tempo fich fchwungvoller zu bewegen
anhob, reichte er Blanfa zu einer zierlichen Tour die Hand.
Seine Augen ftrahlten den Text zu der Melodie, er wagte
einen fchüchternen Händedruck und fchlüpfte dunfeler-
rötend der nächften Dame zu. Wer vermöchte Die Wonne
des guten Menfchen zu fchildern? Und als die Geliebte
dann beim Antritt zum erften Walzer mit verlegenem
Lächeln, das ihm als holde Schämigfeit erfchien, für feinen
föftlichen Blumengruß danfte, als er fie bebend in feinen
Armen hielt, ihr Atemhauch ſich in den feinigen mifchte,
da, da — o, du überfeliger Held Hollunder!
Später am Abend führte auch Herr von Hohenwart,
der biöher nicht getanzt hatte, Blanfa auf ihren Plaß
zurüd, Ihr Bufen wogte, die Wangen glühten, Die Augen
waren weit geöffnet und die Lippen halb, wie die eines
lächelnden Kindes. So engelleicht war fie noch nie im
Arme eined Tänzers durch den Saal geflogen, mit folcher
Inbrunſt hatte noch niemals einer fie dicht an fich heran
gepreßt. Sie hatte die Lider nicht vom Boden erhoben,
aber fie wußte, daß alle Blicke auf dem unvergleichlichen
Paare geruht hatten. Sie fühlte fidy gefeiert und beneidet
wie noch nie. Kerr von Hohenwart fragte fie, ob fie den
eben beginnenden Kotillon noch für ihn frei habe. Sie
mußte ablehnen. .
412 | Dhosphorus Hollunder
„Die Tanzluft fommt Ihnen fpät, Herr von Hohen⸗
wart,” fagte fie fcherzend.
„Sie gönnten mir den Borzug eined Tanzes nicht früher,
Gnädigſte,“ entgegnete er, indem fein dunkles Auge Das
ihre fuchte. „Meinen Sie, daß idy noch wie ein Fähnrich
tanze, um zu tanzen?“
Sie fühlte eine Blutwoge über ihre Wangen gleiten.
Hatte fie felbft heute zum erften Male doch getanzt nicht
bloß, um zu tanzen. Mit gezmungenem Lächeln fragte fie:
„Aber was gewährt Ihnen ein Ball, wenn nicht den
Tanz?”
„Bas?“ erwiderte er. „Nun, was das Leben übers
haupt: einen Moment der Schönheit und außerdem —
Langeweile.“
„Langeweile?“ rief Herr Hollunder, der herbeigetreten
war, um Blankas Nachbarin zum Kotillon zu führen, da
auch für ihn die Gefeierte vom lebten Balle her verfagt
gewefen war. Wie gern würde er die Krone ber Tänze,
hinter ihrem Stuhle harrend, überfchlagen haben, hätte
feine Dirigentenpflicht nicht mächtig in ihm pulfiert und
das gute Herz ihn gedrängt, ein ältliches Mauerblümchen
eine frohe Stunde hindurd) wieder blühen zu machen.
„Langeweile?” wiederholte er. „Ad, da beflage ich
Sie, mein Herr Leutnant. Ich habe nod) niemals Ranges
weile empfunden.“
„Pillendrehen ift auch eine unterhaltende Befchäftigung,”
verfeßte Herr von Hohenwart, zu Blanfa gewendet, un:
befümmert, daß Kollunder die Bemerfung hören Fonnte.
„Jedenfalls nüßlicher ald Schnurrbartdrehen,” gab
diefer zurüd, vom Zorne fchlagfertig infpiriert. Denn,
wenngleich unfer Freund im allgemeinen von den Dämos
Phosphorus Hollunder 413
‚nen des Kleinlebend die Empfindlichkeit und üble Laune
fo wenig fannte ald die Langeweile, durd den Hohn aus
diefem Munde und in diefer Gegenwart fühlte er fich
empört.
Er führte feine Dame in die Reihe, und Herr von
Hohenwart lachte fo unbefangen, ald ob von einer Bes
leidigung aus diefem Munde nicht die Rede fein könne.
„Sch gratuliere Shnen zu diefem Prachteremplar von
einem Berehrer, Gnädigfte,” fagte er. „Ein närrifcher
Kanz, wie alle Apotheker.”
Blanka zitterte, ihre Pulfe flogen, Glut und Blaͤſſe
wechfelten auf ihren Wangen; fie wußte nicht, ob vor
Scham, vor Zorn, vor welchen überwältigenden Emps
findungen.
„Wie fhön Sie find!” rief Herr von Hohenwart ent⸗
züdt.
Sie erhob ſich haftig und folgte ihrem herbeieilenden
Tänzer in die Reihe.
Der vortanzende Herr Hollunder überbot ſich in finns
voN erfundenen Touren. Fräulein von Korned ward mit
feinen Blumen und Gaben überfchüttet, feine erzentrifche
Huldigung zum Geflüfter der Geſellſchaft. Wiederum fühlte
fie alle Blicke auf ſich gerichtet, aber wie frampfte jegt
das Herz fich ihr zufammen unter diefen Blicken.
Nach dem Neuerfundenen fam nun aber aud) das Alts
bewährte an die Reihe. Zunächſt die Lieblingstour, in
welcher der Tänzer feine Dame auf einen Stuhl inmitten
ded Kreifes Pla nehmen läßt und ihr nebft einer Roſe
ein Körbchen überreicht, um mit diefen Symbolen von
zwei Kavalieren den einen zu beglücen, den andern abzus
weifen. Aflur von Hohenwart und Phosphorus Kollunder
414 Dhosphorus Hollunder
waren die Blanka präfentierten Herren. Sie fühlte einen
Stich im Herzen, ald fie diefelben auf ſich zufchreiten fah.
Durfte fie den überdreiften Ritter noch ermutigen? den
erwartungsvoll bebenden Freier durd; ein nicht mißzu⸗
verftehendes Zeichen entfernen, oder — oder —? Ihre Augen
trafen wie von felbft die ernft auf fie gerichteten der
Mutter. Haftig fprang fie auf und reichte unferm Helden
die Blüte, dem andern den Korb, Er feste ihn gelaflen
auf den Stuhl und tanzte die Tour mit der flattlichen
Gemahlin feines Rittmeifters, während Blanfa im Arm
des Erforenen voranwalzte. Sie fühlte feinen dankbaren
Händedrud, feinen ftrahlenden Blick; fie wußte, daß er
fein Schickſal entfchieden glaubte. Ihr fchwindelte. Ein
dunkler Flor breitete fich über ihre Augen; ohnmächtig
ſank fie in die Arme der Mutter, die fich mit ihr ent-
fernte, fobald fie fich von dem Anfall erholt hatte,
Unter der Zür warf Blanfa noch einen Blid in den
Saal zurüd.
Das Pantoffelregiment hob eben an mit der legten
Kotillontour, dem Kehraus. Der arme Hollunder lehnte
geifterbleich in einer Ede; die Schönen waren barmherzig
genug, feine Qual zu refpeftieren: feine holte ihn. Kerr
von Hohenwart verließ lachend den Saal, um im Neben-
zimmer an ber Champagnerbomle älterer Kameraden teils
zunehmen. Er fol in diefer Nacht von fprudelnder Laune
geweſen fein, eine Kleine Bank proponiert, mehr Geld, ald
er bejaß, verloren und beim Nachhaufegehen mit einem
jugendlichen Schwarm einen Straßenunfug getrieben haben,
infolgedeffen es mit der Polizei zu Händeln kam. Er wurde
darauf eine Woche lang nicht auf feinem wilden Rappen
durch die Straßen jagend bemerkt. Wan munfelte von
Phosphorus Hollunder 415
Strafarreft, von gravierenden finanziellen Verlegenheiten.
Der militärifchen Laufbahn des übermütigen Kavalierd
wurde ein übled Prognoftifon geftellt.
8
Das Auffehen diefer außerordentlichen Ballereigniffe
und die fi) daran fnüpfenden Mutmaßungen ihrer Folgen
waren in unferer Stadt noch nicht ausgeflungen, als eines
Mittage Frau und Fräulein von Horned im grünums
ranften Fenfter ihres Wohnzimmers fid) gegenüberfaßen.
Die Mutter ließ ihre Sandarbeit fallen, mit forglicyem
Ernft ruhte ihr Blick auf der Tochter, die unter dem Vor⸗
wande von Kopfmeh das Geficht, in die Hände vergraben, '
auf das Fenfterbrett neigte. Sählings fchredte fie empor,
das Ohr richtete ſich nach der Tür; fie hörte Tritte, er:
bebte und war im Begriff, nach der entgegengefeßten
Seite zu entfliehen, ald ein mahnender Blick der Mutter
fie willenlos auf ihren Plaß zurüdzog.
Ein leifes Klopfen, und Herr Hollunder ſchwebte in das
Zimmer. Ga wahrlich, er ſchwebte, mit Bräutigams-
fchwingen und eine Bräutigamsglorie über der umlocten
Stirn. Herzhaft füßte er erft der Mutter, dann fchüchtern der
Tochter die Hand und hob darauf an: „Wie froh macht
ed mich, Freunde und Bekannte nunmehr an meinem Glücke
teilnehmend zu wiffen und den hohen Gewinn meines Les
bens nicht mehr in meinem Herzen verfchließen zu brauchen.
Der Stidy der Verlobungsanzeigen, deren Anfchaffung
Sie, verehrte Mutter, mir gütigft überließen, hat etwas
aufgehalten. Spät geftern abend find fie indeffen von
Leipzig eingetroffen; ic; habe die für den hiefigen Ort be-
flimmten heute morgen in Ihrem Namen verteilen laſſen
416 Dhosphorus Hollunder
und erlaube mir, die in die Ferne zu verfendenden Ihnen
zu überreichen.”
Er legte bei diefen Worten mit einer Miene, welche die
Befriedigung einer gelungenen Überraſchung ausdrückte,
in Frau von Hornecks Hand ein Kuvert, das diefe freundlich
danfend öffnete. Etliche der Blätter fielen auf den Tifch,
Blanka warf einen Blid darauf, wurde leichenblaß und
verließ, ohne ein Wort zu Außern, mit rafchen Schritten
das Zimmer. Was mochte fo Entfeßenerregendes ihr aufs
geitoßen fein? |
Es waren rofa glacierte Karten von anfehnlichem Um⸗
fang; in der Mitte machte die Baronin Wilhelmine von
Horneck, geborene Freiin von Schweinchen, die Anzeige
der Verlobung ihrer einzigen Tochter Blanfa mit dem
Herrn Ernft Phosphorus Hollunder; korrekt der Üblichkeit
gemäß. Ungemäß war nur die Zutat einer Randzeichnung
in Golddrud, von dem Funftfinnigen Bräutigam eigens
händig entworfen. Ald Mittels und Edftüde prangten
größere Embleme: eine aufgehende Sonne, ein Altar mit
Iodernder Opferflamme, eine NRitterburg von einem Kos
Iunderbaum befchattet, die verfchlungenen Wappen ber
Horneck und Schweindyen mit ihren Geweih und Borften
tragenden Scildhaltern; zwifchen ihnen hindurch aber
wand ſich eine Arabeöfe, in welcher die herfömmlichften
Sinnbilder zärtlichften Glücks, ald da find Rofen und Vers
gißmeinnicht, Füllhörner, Herzen und verfchränfte Hände,
geflügelte Amoretten und ſich fchnäbelnde Täubchen durd,
blühende KHolunderranfen verbunden waren.
Frau von Horneck fchaute eine Weile ſchweigend vor
fich nieder, und der arme Hollunder begann zu ahnen, daß
er den Gefchmad der edlen Dame nicht ſonderlich getroffen
Dhosphorus Hollunder 417
habe. Endlid, nahm fie das Wort: „Eine zierliche Arbeit,
wohlgeeignet für ein Albumblatt; indeflen, verzeihen Sie,
lieber Sohn, für den gegenwärtigen Zweck würde mir eine
einfache Anzeige geeigneter erfchienen fein, Eine Annonce
fchließt Demonftrationen der Freude aus, und Zieraten
am unrechten Ort follten billigerweife vermieden werden.
Überhaupt, mein guter Hollunder, geftatten Sie bei diefer
Gelegenheit der, welcher Sie fo bereitwillig Mutterrechte
eingeräumt haben, den Rat und die Bitte, in allen Stüden
fo fchlicht als möglich in Sshrem Auftreten zu fein, wenn
Sie den in befcheidenen Berhältniffen herangebildeten Sinn
meiner Tochter nicht Durch allzu grellen Abftand beängftigen
wollen.”
„sc, glaube, Sie zu verftehen, meine verehrte Mutter,”
erwiderte der gute Kollunder, helle Tränen in den Augen.
„Sie find fehr nachfichtig, fehr fchonend! Ach, ermüden Sie
nur nicht, durch Ihren Rat die Lüden in meiner Bildung
auszufüllen, um mid, meiner lieben Blanfa würdig und
fähig zu machen, fie zu beglüden.“
Nach einer Weile entfernte er fich, betrübt über das Nicht-
wiedererfcheinen feiner Braut, betrübter über den Grund
besfelben. Frau von Horneck blickte ihm mit inniger Rühs
rung nach, feufzte tief auf und ging dann in die Nebens
ftube, wo Blanfa unter frampfhaftem Schluchzen auf ihrem
Bette lag. Sie fuchte die Aufgeregte zu befchwichtigen; diefe
aber rief händeringend: „Diefe Kächerlichfeit richtet mich
zugrunde! Mit Fingern wird man auf mid; weifen. Wie
fol ich wagen, den Leuten wieder unter Die Augen zu treten?”
„Unbefangen lächelnd, mein Kind,“ antwortete die Mut⸗
ter; „mit dem Bewußtfein richtiger Schägung einer Fleinen
Geſchmacksverirrung.“
418 Phosphorus Hollunder
„Klein, Mutter, flein? Und lächeln, wo man vor Scham
in die Erde finfen möchte?“
„Du übertreibft, Blanfa. Welche Frau hätte nicht irgend=
einmal gute Miene zum böfen Spiel, wie oft ſelbſt zu Un-
bill und Frevel ihres Gatten machen müffen? Welche Frau
wäre durch die Ehe gefchritten ohne lächelnde Larve, wenn
auch das Herz ihr biutete? Und welcher Frau läge ed nicht
ob, mit leifer Hand den Berirrten auf die rechte Bahn zu
leiten, nicht bloß bei Lappalien, wie diefen!”
Da aber das junge Mädchen fich durch fein Zureden bes
ruhigen ließ, fagte die Mutter nach einer Paufe ernten
Bedenkens:
„Ich fürchte, unſere Entſchließung war übereilt. Wenn
dein Widerſtreben ſo tief wurzelt, daß ſchon beim erſten,
geringfügigſten Anlaß Mut und Selbſtüberwindung dir
gebrechen, fo wäre es Sünde, das Glück eines guten Men:
ſchen auf das Spiel zu fegen. Noch ift es Zeit zu einer
Ablehnung. Man foll feine Aufgabe übernehmen, für
welche man die erforderliche Kraft bezweifelt, zumal wenn
man nicht fich allein für den Erfolg verantwortlich ift. Sch
habe dich für ftärfer gehalten, ald du bift. Fafle Dich jest
und laß uns miteinander das Richtige prüfen und ent-
fcheiden.“
Das fchwerfte Verhängnis fchnitt diefe Prüfungen ab,
bevor fie zum leßtgültigen Entfcheid geführt hatten, ja, be-
vor felbft die treffliche Mutter ſich vollig klar darüber ge-
worden war, daß, je zarter und zärtlicher ein junges weibs
liches Herz, man um fo unfähiger ift, mit Alteröweisheit
und Gründen der Billigfeit gegen fein natürliches Ver⸗
langen, Reiz der Sinne und der Phantafie, und weit mehr
nody gegen feine Abneigungen, ja felbft gegen das blanfe
Dhosphorus Hollunder 419
Vorurteil durchzudringen. Die Zweige der Weide neigen
und biegen fich bei der leifeften Berührung und fallen dod)
allezeit in den ihnen gemäßen Hang zurüd.
Frau von Horneck erfranfte noch am nämlichen Abend.
Ein Nervenfchlag Tahmte Befinnung und Sprache und
machte ihrem guten Leben jäh ein Ende. War es doch,
als habe die bis dahin fo rüftige Frau diefen nahen Aus⸗
gang vorgefühlt und mütterliche Angft fie gedrängt, ihr
fchyußlofes Kind in treuen Händen zu bergen.
Blankas Zuftand glich einer Zerrüttung. Es war ein
Schlag aus blauem Himmel; der erfte, der tieffte, ja, der
einzige, der fie treffen fonnte. Bis zum lebten vernichten
den Aft lag fie lautlos über der toten Geftalt; flumm und
ftumpf ftarrte fie wochenlang in das Leere. Sie fchien für
alle übrigen Berhältniffe die Erinnerung verloren zu haben;
ihres Verlobten Treue, ftille Trauer, die anſpruchsloſe
Würdigung ihres Schmerzes bemerkte fie nicht einmal.
Fräulein von Schweinchen fiedelte in die Wohnung der
Waiſe über. Doch hatte Blanka von Elein auf zu ausfchließ-
lich in und mit ihrer Mutter gelebt, um ſich der einzigen
Verwandten zuzumwenden, und die arme alte Dame war zu
dringlidy durch ihre Erwerbeöpflichten in Anfpruch genom⸗
men, um fich dem troftlofen Kinde, foviel ald ihm not ges
tan hätte, zu widmen. Der Verkehr mit früheren Bekannten,
ja, bloß deren Anblid, war Blanfa zuwider. Aller Wert,
alle Bedeutung des Lebens dünfte ihr mit dem Mutterleben
audgelöfcht. Man hätte fie in ein Klofter führen, fie leben—
dig einfargen fönnen, fie würde feinen Widerftand erhoben
haben. In der Selbftfucht ihres Schmerzes dachte fie an
nichtd, an niemand als die Tote, und dennoch, oder viels
leicht gerade darum, dachte fie nicht daran, die legte müt-
420 Dhosphorus Hollunder
terfiche Warnung zu beachten, ihr neugefchloffenes Verhälts
nid zu prüfen und, wenn erforderlich, zu löfen. Zucte im
Berlauf aber dann und wann ein mahnendes Bewußtwerden
ihrer Lage und deren Verpflichtungen in Gegenwart und
Zufunft, einem grellen Funken gleich, durch ihr Gemüt, fo
erdrüdte die Laft ihrer Hülflofigfeit doch raſch jeden
rettenden Entſchluß. Was befaß fie? was verftand fie?
was vermochte fie? an welche Reiftung war fie gemöhnt?
welcher Anftrengung gewachjen? nicht einmal der der
duldenden Ergebung. Schwerlich hat ein Kind jemals
mehr der mütterlichen Führung bedurft; aber fehmerz-
licher hat audy Feines deren Entbehren gefühlt und gebüßt.
So lebte fie hin von Tag zu Tag, ohne in ihrer Not dag
Notwendige feft in das Auge zu faffen und ſich ihm in einer
oder der anderen Weife gerecht zu machen. Wochen, Monate
fchlichen hin. Die Tante, über diefen Starrfinn in Vers
zweiflung, gab ihr eines Tages zu Gehör, daß eine baldige
eheliche Verbindung in ihrer inneren wie äußeren Tage das
Gebotenfte fcheine. Hollunder trat während diefer Vor⸗
ftellung ein. Er drängte, er fchmeichelte nicht, gab nur leiſe
feine Sehnfucht zu verftehen, indem er feine Wünfche den
Heifchungen eines trauernden Gemütes unterordnete. Die
treue Liebe des Kindes war ein Reiz mehr in feinen Augen,
eine Bürgfchaft für die dereinftige treue Liebe des Weibes
und feines höchften Güde. In diefem gütigen Kerzen
war fein Moment der Ungeduld und beleidigter Eigen⸗
ſucht. Ob Blanka diefen Adel verftand? Ob fie denfelben
nur ahnete? Vielleicht daß eine egoiftifche Leidenfchaft fie
aufgerüttelt hätte, fie dem Manne näher gebracht oder
von ihm losgeriſſen; dem Manne, welchem fie jest ohne
Widerſpruch, ohne Furcht, wie ohne Hoffnung zufagte,
Dhosphorus Hollunder 421
binnen weniger Wochen fich ihm zu eigen zu geben für
das Leben.
Fräulein von Schweindhen, die für den Abend verpflichtet
war, entfernte fich in Begleitung des dankbar freudigen
Bräutigamd. Blanfa blieb allein. Für den Sohannidtag
war ihre Hochzeit anberaumt; jest hatten wir Mai. Eine
Monatsfrift, wie kurz und doch wie lang, um ein Menfchen-
[08 zu wenden und zu enden. Ihre Mutter hatte nur weniger
Stunden zum Aufhören hienieden bedurft.
„Meine Mutter wird ſich erbarmen und mich zu fid)
hinüberholen vor dem Johannistag,“ dachte Blanfa.
Dennoch fchnürte die Bruft fi ihr zufammen. hr
Atem ging ſchwer. Sie öffnete das Fenfter. Eine milde,
balfamifche Maienluft 309 herein, Sehnfucht ermwedend,
bie in das dumpfe Gemüt der Waife. E8 zog fie in das
Freie, nadı dem Grabe der Mutter. Wohl dämmerte ed
fchon; aber fie konnte nicht widerftehen.
Sie faß auf dem grünen Hügel und verjammerte die
Zeit. Statt Mut und Klarheit hatte fie an heiliger
Stätte nur neues, verwirrendes Weh gefunden, Klagen
und unftillbare Tränen. „Hilf mir, Mutter!” ftöhnte fie
und rang fich die Hände wund. Sie hatte ſich zu einem
liebelofen Leben verpflichtet und fonnte nicht leben, ohne
zu lieben.
Das abendliche Dunkel drängte zum Aufbruch. O,
daß fie fich hier hätte betten dürfen für ewig; heute, diefe
Stunde noch! Keine Stätte dünfte ihr unheimifcher als
ihr mutterlofe® Haus; es fei denn jene, die ihrer harrte,
wenn fie diefed Haus verließ. Sie riß ſich los.
Als fie aus dem Friedhofepförtchen trat, fchauderte fie.
Der Weg bid zum Stadttor war nur kurz, aber einfam;
422 Phosphorus Hollunder
in der umbufchten Schlucht ſchon nächtiges Dunkel, ringes
um lautlofe Stille. Und doch war ihr, als fpüre fie eine
Nähe, wehe ein Ddemzug fie an, höre fie ein Wegen.
Und im nädjften Augenblick fchrie fie hell auf. Eine hohe
Seftalt ftand an ihrer Seite; Affur von Hohenwart um⸗
faßte die Schwanfende mit beiden Armen. Sie hatte ihn
feit jenem Abend, an dem fie die erften Worte mit ihm
gewechfelt, nicht wiedergefehen. Ob aber auch feiner nicht
gedacht? Hatte auch fein Bild der Todeshauch verweht?
„sch bin Shnen gefolgt, Blanka,“ flüfterte er. „Sch
mußte Sie noch einmal fehen, bevor ich Sie vielleicht für
immer verliere. Seit Wochen trachte ich nach diefer
Minute. Sch verlaffe den Dienft, diefe Gegend — viel-
leicht noch mehr. Mir bleiben nur wenige Stunden. Hören
Sie mich an. Sch kann nicht fo von Ihnen fcheiden.“
Shre Glieder zitterten. Schauer, halb der Furcht, halb
ungeahnten Entzückens, riefelten über ihren Leib. Ihre
Stimme war gelähmt. Willenlos ließ fie ihre Hände in
denen des Verführers. Er hordhte auf.
„Stimmen! Tritte!” fagte er, indem er fie in ein zur
Seite liegended Gebüfch zu ziehen fuchte. „Sie wider-
fireben? Sie mißtrauen mir? Fühlen Sie denn nicht,
daß ich Sie liebe? wie ich Sie liebe, Blanfa? Blanfa, ich
muß Sie ſprechen. Geftatten Sie mir heute abend den Ein-
tritt in Shr Haud. Es ift eine Abfchiedgftunde, Blanka.“
Sie ftöhnte wie ein Kind und machte einen Berfud,,
ſich ihm zu entwinden.
„Sin Abfchied vielleicht auf ewig,” drängte er, indem
er fie dicht an fich heranzog. „Sol ich dich auf die er-
bärmlichfte Weife verlieren? Meine Perle durch feile
Krämerhände befudeln fehen?“
Phosphorus Hollunder 423
Diefer ſchnöde Unglimpf gab der Betörten die Faffung
wieder. Dort ragte dad Kreuz über. dem Grabe ber
Mutter. Shr Schatten umfchwebte fie, als fie den Mann
verhöhnen hörte, weldyen die Verflärte mit leßter Liebes⸗
forge zu ihres Kindes Befchüger erwählt hatte. Sie riß
ihre Hände aus den umftriefenden. „Fort!“ Freifchte fie
auf, „fort!“ -
„Blanka!“ rief Affur und preßte fie mit heißem Vers
langen an feine Bruft; „Blanfa, liebft du diefen Mann?”
Berzmeifelnd, fchwindelnd windet fie mit letzter Ans
ftrengung fidy aus feinen Armen, flieht, ohne umzubliden,
den Abhang nieder. Bor ihren Ohren fchwirrt fein nach⸗
eilender Schritt, gellt der Ruf: „Blanka!“ Tange, nachdem
rings um fie her alles ftill geworden, hallt er noch nach,
als fie, atemlos ihr Zimmer erreichend, die Tür hinter
fi) abfchließt und halb in Wahnfinn, halb in Erfchöpfung
zu Boden ftürzt. Ein Sturm jach in der Bruft entfeffelt,
hat den Bleidrucd der Apathie verſcheucht. Furcht und
Hoffnung, Widerwillen und Verlangen, eines immer frevel-
hafter als das andere, felbft vor ihrem umflorten Gewiffen,
wirbeln durch das fiebernde Blut. Wunfc und Vorwurf
jagen und verdrängen fih. Aus dem verlaffenen Kinde
ift plöglich ein Weib geworden.
Sn diefem unbefchreiblichen Zuftande fand fie ihre Ver:
wandte. Dad alte Fräulein wollte feinen Augen faum
trauen ob des Mädchens verwandelter Erfcheinung und
Stimmung, ob der glühenden Wangen, der leuchtenden
Blicke, der rafchen Worte und Schritte. Hatte das Bes
wußtfein ihres Glücks wirflich nur in der jungfräulichen
Bruft gefchlummert? die Augficht der nahen Erfüllung die
Kebenggeifter erwedt? Der Vernunft gemäß mußte die
424 Dhosphorus Hollunder
brave Lehrmeifterin e& bezweifeln; aber fie glaubte ed gern,
und darum glaubte fie ed. Der Glaube ift ja allezeit die
Planke beim Schiffbruch des Begreifend. Sie wähnte die .
fieberifc Erregte der Ruhe bedürftig und war es felbft
nach ihrem erfchöpfenden Tagewerf. Da Tante und Nichte
nicht, wie Mutter und Tochter ed getan, in einem Zimmer
fchliefen, fagten fie fich Gute Nacht nach kurzem Beieinander.
Blanka legte fidy nicht. Sie fchritt im Zimmer auf und
ab ohne Raſt. Das Fenfter ftand noch offen: lindkühle
Nachtluft fächelte ihre glühende Stirn, Düfte von Nar-
ziffen und Flieder ftrömten in die hodyatmende Bruft. Sm
Waͤldchen drüben ſchluchzte die Nachtigall in den Naturs
lauten der Liebe, „himmelhoch jauchzend, zum Tode bes
trübt”. Süßes, unnennbares Sehnen, wonniges Ahnen
fchmeichelten fich mit diefen Tönen und Düften in der
Sungfrau Bufen. Sie fah Aſſurs hohe Geftalt, fpürte
feinen brennenden Blick, fühlte bebend den Drud feiner
Hand, feinen wogenden Atem, ald er fie eine Minute lang
an feiner Bruft gehalten. Ihr war, ald hielte er fie noch;
als müffe er fie dort halten für ewig. Sie hörte nod
einmal feine von Leidenfchaft zitternden Worte. Halb uns
bewußt beugte fie fich aus dem Fenfter, Taufchte nad) feinem
Zritt, fpähte nach feiner Geftalt. Der abnehmende Mond
war aufgegangen; die Straße hell und totenftill. Biertel-
ftunde auf PViertelftunde verrann.
Bom Sarren matt, wirft fie fidy endlich auf ihr Bett.
Unter einem Schlummerfchleier winft und lacht die ers
fehnte Geftalt; im Zraume fchweigt der Zweifel. Jäh⸗
lings fährt fie in die Höhe! Der Ruf ihres Namens hat
fie erweckt. Gedämpft, aber deutlich: „Blanfa!” Und
welche Stimme! Sie flürgt nad) dem Fenfter, das fie nicht
Dhosphorus Hollunder 425
geichloffen. Ein Blumenftrauß fällt zu ihren Füßen nieder.
Sie beugt ſich hinaus, fieht noch den Schatten einer hohen
Geſtalt, hört einen rafchen Schritt, in der Bahnhofftraße
verhallend. Er! Er entfernte fih. Wohin? Warum?
Seine Worte fielen ihr ein: „Ich verlaffe das Land -
vielleicht noch mehr”; feine Bitte um ein letztes Lebewohl,
das fie verweigert. Hatte fie redlich, hatte fie graufam
gehandelt? Schon vermodhte fie Recht und Unrecht nicht
mehr zu unterfcheiden. Iſt Liebe nicht das oberfte Gefeg?
fragte fie fi. Und Blanfa hatte niemals einen Roman
gelefen und nur Worte der Tugend aus dem Munde
einer Mutter vernommen.
Sie dadıte nicht daran, ſich niederzulegen, nicht an ihr
Abendgebet, nicht an ihre felige Mutter. Ihr deuchte,
daß fie niemals wieder ruhen werde. Sie ftand am Feniter,
durch das ein frifcher Dämmerungswind blied. SmMofen
Nachtkleide und doch fieberheiß preßte fie den blühenden
Abfchiedegruß an die Bruft, an ihre brennenden Lider,
fog feine Düfte ein, ald wären ed die Atemzüge, die fie
vor wenig Stunden beraufcht hatten. Ihr ganzes Weſen
war in Aufruhr.
Der Morgen graute. Was ift das? Zwifchen den Rofen
ein weißer Schimmer. Ein zerdrüdted Blatt. Wie ihre
Finger zitterten, indem fie ed glätteten! Wie ihre Augen
funfelten beim Anblic der haftigen und fo fühnen Züge.
„Du denfft mir zu entfliehen? Törichtes Kind! Weißt
Du denn nicht, daß Du mich Tiebft, wie ich Dich? Weißt Du
denn nicht, was lieben heißt? Mein bift Du, mein! Lebe
ich oder fterbe ich, mein! Keine Pflicht, fein Schwur, feine
Erden» oder Himmelsmacht kann Dich mir entwinden.“
—
426 | Phosphorus Hollunder
Am Mittagstifch brachte Fräulein von Schweindhen,
merflich befliffen, die Gerüchte zum Vortrag, die fie auf
ihren Morgengängen eingeheimft hatte. Leutnant von
Hohenwart hatte plöglicdh feinen Abfchied gefordert, bis zu
deflen Eintreffen Urlaub erhalten und in der Nadıt die
Stadt verlaffen. Man fpradı allgemein von einem bevor-
ftehenden Duell mit einem Kameraden, infolge von Bes
feidigungen am Spieltiſch; das foundfovielfte des über-
mütigen Patrond. Bei Heller und Pfennig nannte man
feine Schuldenlaft, refapitulierte die rückſichtsloſen Liebes—
abenteuer, die Überfchreitungen jeglicher Art, welche den
Tollfopf fchon von Regiment zu Regiment getrieben und
fchließlich, feiner militärifchen Tüchtigfeit zum Troß, feine
Stellung unhaltbar gemacht hatten. Die fid; einfichtiger
Dünfenden, und das alte Fräulein gehörte zu ihnen, er-
örterten, wie e8 in Zeiten langen Friedens, gleich der, in
welche diefe Ereigniffe fielen, die Tagesordnung ift, die
gefahrvollen Anomalien eine Berufes, der, auf der einen
Seite ſklaviſch bindend, auf der anderen zügellog, Eitelfeit,
Vorurteile, einen barbarifchen Ehrbegriff hegend und pfle-
gend, Generationen hindurd; ein tatlos zumartendes Schein-
leben führt. Man zählte die Opfer auf, welche diefe wider
ſpruchsvolle Einrichtung ſchon gefordert hatte und nod)
forderte.
Derlei Zuträgereien, auch von anderer Seite - nur nidyt
von der ihres Verlobten —, umfchwirrten Blanfas Ohr.
Sie wandelte wie in einem wüften Traum. Dazwifchen
das Bewußtfein ihres heimlichen Begegneng, des verfagten
Lebewohls, die Todesqual um fein bedrohtes Leben. Sn
jeder unbeobadhteten Minute überlag fie fein glühendes Ab-
fchiedswort und barg ed dann wiederaufihrem Herzen, gleich
Phosphorus Hollunder 427
einem Talisman, der ihn zu feien und fie zu befreien vers
möge. Manchmal erfchraf fie vor fich felbft, wenn fie Die eige-
nen Rippen flüftern hörte: „Sm Leben und Sterben mein!“
Endlich, nach einer Woche ftummer Höllenpein, verbreitete
fi} die Kunde über den Ausgang des Duelle. Beide Geg⸗
ner waren verwundet, feiner lebensgefährlich, wie es hieß.
Herr von Hohenwart, der unfehlbare Schüße, follte feinen
Beleidiger großmütig gefchont haben, indem er ihm das
Piftol aus der Hand feuerte und die leßtere nur leicht
dabei ftreifte. Sein eigener Arm war zerfchmettert.
In einer Ortfchaft jenfeits der Grenze wartete er, nebft
feiner Heilung, den Spruch des Kriegsgerichts ab. Diefer
wurde als der mildefte vorausgeſetzt und auf vollftän-
dige allerhöchfte Begnadigung gewärtigt, da der Ehrenrat
zu dem Zweifampf feine Zuftimmung gegeben hatte, Herr
von Hohenwart der Beleidigte und der Ausgang Fein
tödlicher war. In plöglichem Umfchlag verwandelte der
gefchmähte Teichtfertige Damenheld fich zum chevalier sans
peur et sans reproche, — eine Woche lang oder zwei, um
dann allgemein vergeflen zu werden.
Blanfad Gemütszuftand in den Wochen, die zwifchen
diefem Ereignis und dem feftgefetten Hochzeitdtage lagen,
glich dem Wanfen und Schmanfen eines leden Schiffe.
Wohl fah fie jest ihre Außere wie innere Lage in deut-
lichem, ja häufig in grellftem Licht. Sie mußte, was eines
Mannes Weib fein bedeute. Neigung, Ehre und Gewiffen
drängten fie zu einem aufrichtigen Wort, zu einer befreien
den Tat. Aber wie das eine außfprechen, Die andere durch⸗
führen? Arm, hülflos, freundlos, wie fie war, ohne ein
Erinnerungszeichen von dem einzigen Menfchen, für den
und mit dem fie ſtandhaft das Äußerfte zu tun und zu
428 Dhosphorus Hollunder
leiden fich fähig gefühlt haben würde. Wer hätte ihr hel⸗
fen können, ald er? Zu wem hätte fie flüchten können, ale
zu ihm? Zu ihm? Liebte er fie denn noch? Hatte er nicht
auch mit ihr bloß fein Spiel getrieben? Nein, nein, nein!
Aber hatte fie ihn nicht von fich gewiefen, ihn herzlos ge⸗
kraͤnkt? Wohin hatten Irrung und Schickſal ihn gefcheucht?
Nirgends ein Halt. Die Mutter im Grabe, der Geliebte
verfchollen. Die Zeit rollte vorwärts. Die Unglüdliche
fand feinen Abfchluß.
Und der liebreiche Hollunder? D gewiß, er fpürte ihren
Kampf, fpürte ihn an dem jähen Wechfel ihrer Stim-
mungen, dem unwilligen Ablehnen jest, der reumütigen
Danfbarfeit dann. Oftmalg flieg wohl die Ahnung in ihm
auf, daß fie ihm nicht in gleichem Sinne angehöre, wie er
ihr. Aber er war ein Neuling in den Erfahrungen dee
Herzens, ein gläubiger Neuling; immer wieder fiegten
Liebe, Vertrauen und vor allem ein mitleidsvolles Weh
über feine Zweifel. Immer wieder fand er den Grund
ihrer Schwanfungen in der ftolzen Scheu eines jungfraus
lichen Gemüt, die er von feinen Dichtern auf Treu und
Glauben annahm, in dem Bangen des Berwaiftfühlens
und unüberwundenem, kindlichem Schmerz, den er im eigen:
ften Herzensgrunde verftand, und fo endete er regelmäßig
damit, die Anzeichen der Schwadhheit ald neue Reize der
Geliebten zu verehren und fie ſich felbft zu einem Sporn
der Umbildung, ihren Neigungen gemäß, werden zu laflen.
„Seine Nachgiebigfeit verdirbt alles,” feufzte Fräulein
von Schweinchen. „Keine Frau fchäßt einen Mann, der
feldft mit ihren Unarten einverftanden ift.“
So nahte der Sohannistag. Der aufgeflärte Hollunder
verachtete jeglichen Aberglauben; aber er fuchte und liebte
Phosphorus Hollunder 429
Bedeutungen. Wie hätte er das fegenfpendende Zäufers
feft nicht zu dem ber befeligendften Weihe erwählen follen?
Der Trauer halber durfte die Feier nur in äußerfter Stille
begangen werden, deshalb hatte man fie, auf Blanfas Ber-
langen bis zur Abendftunde verfchoben. Ein halber Tag
Aufſchub dünfte ihr Gewinn. Hollunders Vorſchlag einer
Hochzeitsreiſe war von ihr mit Heftigfeit abgelehnt worden.
Sie fünne ſich nicht aus der Nähe des mütterlichen Grabes
- entfernen, redete fie anderen und vielleicht ſich felbft ein.
Sn Wahrheit graufte ihr vor dem Alleinfein mit dem frems
ben Manne in einer fremden Umgebung. Dahingegen
ſchien ihr zuzufagen, die Sommermonate nicht in dem gro⸗
pen, geräuſchvollen Stadthauſe, ſondern ländlich ſtill in
Hollunders kleiner Gartenvilla vor dem Tore zu verbringen.
Er hatte fie einladend traulich herrichten und ſchmücken
laſſen. Die Zimmer blickten auf eine Blumenterraſſe, von
welcher parkartige Anlagen ſich zum Fluſſe abſenkten. Da
auf deſſen jenſeitigem Ufer neuerdings der Bahnhof er⸗
richtet war, mangelte ed inmitten bed Stillebend nicht an
einem zerftreuenden Wechfel.
In dieſes rofenblühende Heim gedachte Phosphorus
Hollunder unmittelbar nach vollbradhter Zeremonie feine
Gattin zu führen und hier fern von allem wirtfchaftlichen
oder gejchäftlihen Treiben die feligfte Lebengzeit zu ges
nießen. Die Beföftigung follte aus dem Stadthaufe be-
zogen werden; nur ein junges Mädchen zu Blankas per⸗
fönlichem Dienft gegenwärtig fein.
*
Als mit dem ſiebenten Glockenſchlag des Johannis⸗
abends Phosphorus Hollunder das Horneckſche Wohn⸗
zimmer betrat, ſeine Verlobte zur Trauung abzuholen, war
430 Dhosphorus Hollunder
er peinlich betroffen, fie ftatt in dem bräutlich weißen Ges
wande, das er unter Fräulein von Schweinchens Anleitung
. für fie erwählt hatte, im Trauerfleide von fchwarzer Seide
zu finden. Die Tante äußerte fich entrüftet wie noch nie
über diefen Schein eigenfinniger Bevorzugung ded Todes
vor dem neuen Leben. Sei man aud, aufgeklärt genug,
um das in bürgerlichen Kreifen gang und gäbe Vorurteil
gegen die Farbe der Trauer bei feftlichen Gelegenheiten
unhaltbar zu finden, da Männer ja immer und Frauen
der niederen Stände meiftenteils in ſchwarzem Anzug vor
Altar und Taufftein träten, fo müßte in vorliegendem Falle
diefe Wahl für eine unentfchuldbare Taftlofigfeit und Un⸗
danfbarfeit erklärt werden.
„Mit wie viel Mühe und Not“, fo fchalt fie, „habe ich
ed auch nur dahin gebracht, durch Kranz und Schleier, wie
durch das Entblößen von Hals und Armen der Erfcheinung
ein einigermaßen feftliches Anfehen zu geben!”
„Laflen Sie unfere liebe Blanfa, ihrem Sinne gemäß, ges
währen, befte Tante,” fiel Hollunder ihr in das Wort. „Ihr
Gefühl, nicht das unfere ift e8, das gefchont werden muß.“
Blanfa empfand in dieſer Minute die zarte Liebe dieſes
Mannes wie einen ftechenden Schmerz. Der Borwurf
brannte fie, wie wenig fie folcher Hingebung würdig fei,
wie fehr er ein wärmereg, bereitwilligered Gemüt verdiene.
Sie hätte noch im Außerften Moment ihn vor einem
fchweren Irrtum, fich felbft vor fchwerem Betruge wahren,
hätte fagen mögen: „Sch liebe dich nicht.” Aber auch in
diefem legten Moment war ihr Pflichtbewußtfein verworren,
ihr Wille ſchwach. „Sch kann nicht andere. Komme, was
mag!” dachte fie und ließ ſich ſumm wie ein Opferlamm
zum Wagen führen, den fie mit ihrer Verwandten teilte,
Dhosphorus Hollunder 431
" Der Bräutigam fuhr voran und empfing fie am Ein-
gang der Kirche.
Der Plag vor diefer, das Schiff bis zum abgefperrten
Altarraum waren Kopf bei Kopf gefüllt. Denn fo un
fcheinbar die Zeremonie angeordnet war, wer hätte fich
das Zufammengeben des reichften Bürgers der Stadt mit
deren fchönftem Kinde entgehen laffen mögen? Das abend-
liche Halbdunkel, der Düftere Anzug der Braut, ihre Leichen⸗
bläffe und fteinerne Gleichgültigfeit machten fchon beim
Borfchritt das bänglichfte Auflehen. Blanka erhob den
Bli nicht vom Boden. Sicherlich unterfchied fie feines
der fie umdrängenden, altbefannten Gefichter, bemerfte fie
wohl nicht einmal. Warum überriefelte fie denn plötzlich ein
Schauder, als fie an dem im tiefften Schatten liegenden
Kanzelpfeiler vorüberfchritt? Wer war die hohe, dunfle
Geftalt, die, an den Pfeiler gelehnt, ihre Schulter ftreifte?
Hatte ein Laut, ein Hauch ihr Ohr berührt? Oder welchen
Spuf trieb ihre Phantafie? Ihre Füße fchwanften; halb
-bewußtlo8 fant fie auf ihren Seflel im Angeficht des Altars
und erholte fich nur notdürftig, während vom Chor das
Hochzeitlied erfchallte:
„Du bift der Stifter unferer Freuden, Herr, der du
Mann und Weib erfchufft.”
Phosphorus Hollunders bindendes Gelübde drang heil
und freudig aus feinem Herzen in die der Hörer. Blankas
Sa hat felbft ihr Verlobter nicht vernommen. Als der
Priefter den Trauring an ihren Finger fteden wollte, zit:
terte ihre Sand fo Efonvulfivifch, fanf dann fo fchlaff an
ihrem Körper herab, daß der Reif zu Boden rollte. Kol:
Iunder büdte fich nun, ihn aufzufuchen. Vergeblich. Rafch
gefaßt, ftreifte er einen foftbaren Diamantring von feiner
432 Phosphorus Hollunder
Rechten, ihn gegen den verlorenen audzutaufchen. Aber
ed war nicht dad vorbeftimmte Symbol der Treue. Durch
die Menge lief ein ahndungsvolles Gemurmel. Nur der
glücdfelige Bräutigam und die totenftarre Braut blieben
von dem unheilvollen Omen unberührt. .
Mit ftolzger Siegermiene führte Phosphorus Hollunder
fein angetrautee Weib, fein Eigentum vor Gott und der
Welt durch das nunmehr völlig im Dunkel liegende Kirchen
ſchiff. Er führte? — nein, er zog, er trug fie nahezu, denn
ihre Füße fchienen im Boden zu wurzeln. Als fie in die
Nähe der Kanzel famen, ftaute Die zum Ausgang drängende
Menge ſich derartig, daß das Paar einen Moment inne-
halten mußte. Wiederum, frampfhafter noch ale vorhin,
bebte und fhauderte die junge Frau. Kalter Schweiß
perlte auf ihrer Stirn; die Zähne fchlugen im Fieberfroft
aneinander. Wie in Todesängften hob fie einen Moment
die Lider in die Höhe; in dem nächften zuckte fie, wie vom
Blig getroffen, zufammen, ballte, ald ob fie einen Gegen-
ftand berge, die herabhängende rechte Hand gegen die Bruft
und ſank befinnungslos in ihres Gatten Arme. Er trug
fie in den Wagen; die Tante folgte im zweiten.
Im enggefchloffenen Raume allein mit dem Gegenftande
feiner höchften Wonne, das fchöne Ieblofe Weib in feinen
Armen, vergaß der geängftigte Glückliche alle bisherige
Zurüdhaltung. Er umflammerte fie, preßte feine Lippen
auf die ihren, erweckte mit den füßeften Schmeichelnamen
fie zu einem fchaudernden Bewußtwerden bes Dafeins.
Angefommen vor ihrem neuen Beim, das blumen-
geſchmuͤckt im Kerzenlicht ftrahlte, floh fie, wie ein ges
jagtes Reh, die Rampe hinan nadı ihrem Zimmer. Als
nach ein paar Minuten die Tante dieſes betrat, fland
Dhosphorus Hollunder 433
fie vor der Lampe, einen verglimmenden Papierfegen in
ber Hand,
„Was tuft du, Kind?" fragte das Fräulein.
Blanka gab Feine Antwort. Sie fiel wie vernichtet auf
das Sofa, das Geficht in die Hände vergraben, und hörte
wohl faum, wie die treue Freundin, zurebend, ermunternd,
anpreifend fie auf die Anmut der Umgebung aufmerkſam
machte.
„In Wahrheit, eine Hütte der Liebe!“ rief das alte
Fräulein mit einem Seufzer halb der Wehmut, halb bee
Entzüdend.
Die Glastüren nad der ZTerraffe fanden geöffnet;
Roſen⸗ und Drangendüfte drangen fanft beraufchend in
dad Zimmer. Es war ein ſchwüler Mittfommerabend;
zur Nacht drohte ein Gewitter. Schattenartig zog Wolfe
um Wolfe über die noch fchmale Sichel des Mondes, über
bie einzeln am Horizonte blaͤßlich auffteigenden Sterne;
in ber Ferne plätfcherte, rafdh bewegt, der Fluß. |
„D, du gefegnete, heilige Täufernacht!“ flüfterte das
alte Fräulein mit gefaltenen Händen.
Die junge Frau hatte feinen Blick, feinen Laut des
BVerftändnifles, fein Segen erflehendes Gebet. Regungss
[08 Tieß fie fich Kranz und Schleier abnehmen, das übliche
Frauenhäubchen auffegen. Ale die Tante dann aber
fragte, ob fie ihr die Jungfer zum Umkleiden ſchicken
folle, wehrte fie e8 ab mit einer Gebärde des Ents
ſetzens.
Das alte Fräulein ahnete die Schauer eines jungfräus
lichen Gemüts, die zu erfahren das Schickſal ihr nicht
gegönnt hatte, ahnete dad Bedürfnis des Sammelnd
vor Gott im widhtigften Augenblicke eines Frauenlebens.
oe
434 Dhosphorus Hollunder
„Ach, mein Kind," fagte fie, feuchten Auges, „verſenke
dich nur recht innig in das Bemußtfein, mit deinem
eigenften Wefen einen guten Menfchen durc und durch
zu beglüden. Jedes andere 808 ift fümmerlicher Not»
behelf für eine Frau. Glaube es deiner alten Verwandten,
und Gott wird dich fegnen.“ |
Ad, warum vermied fie aus Schonung hinzuzuſetzen:
„und deine Mutter im Simmel”? Bielleicht, daß diefe
Mahnung Herz und Scidfal einer Unglüdlichen zum
Glück gewendet hätte — vielleicht! Sie füßte recht ins
brünftig des jungen Weibes Stirn und ging dann hinüber
in Sollunders Zimmer.
„Sönnen Sie ihr eine Fleine Paufe der Sammlung,
werter Freund,“ ftammelte fie, kraft ihrer heutigen Mutters
rolle, aber errötend und mit niedergefchlagenen Augen.
Phosphorus Hollunder errötete gleichfalls und fchlug
gleichfalld die Augen nieder. Er küßte der verehrten Tante
die Hand und reichte ihr den Arm, fie zum Wagen zu
führen.
Durch ein Mißverftändnis hatte der Wagen fich zus
gleich mit der Hochzeitöfutfche entfernt; ein männlicher
Dienftbote war nicht anwefend, die Sungfer voraugfichtlich
mit ihrer Herrin befchäftigt und Phosphorus Hollunder
zu fehr Gentleman, als daß er einer Dame geftattet hätte,
von feiner Schwelle aus einen nächtlichen Heimgang
fonder Geleit anzutreten. Das alte Fräulein aber, wenn»
ſchon die verkörperte Befcheidenheit und, an einfame
Abendwege mit Laternchen und Hausſchlüſſel gewöhnt,
ſich durchaus Feines Schuges bedürftig fühlend, nahm
nad einigem Sträuben diefen felten erlebten Ritters
dient an, im Hinblick auf die BViertelftunde Freiheit,
Phosphorus Hollunder 435
welche der aufgeregten jungen Frau burd ihn gewährt
werde. |
So führte denn Herr Hollunder Fräulein von Schwein
chen bedächtig nad) ihrer ziemlicd; abgelegenen Wohnung,
um alsbald geflügelten Schrittes in die feine zurüdzu-
ehren. Die Paufe der Sammlung hatte überlange für
feine Ungeduld gewährt.
Er klopft an der Geliebten Tür, anfänglich fchüchtern,
dann hinlänglich vernehmbar., Kein Herein. Er wagt
zu klinken. Die Tür ift von innen verriegelt. Befcheiden
geht er in fein Zimmer zurüd, etliche Male auf und nieder,
dann von neuem hinüber, feine Einlaßverfuche wieder-
holend. Vergeblich. Er ruft leife ihren Namen. Keine
Antwort. Läuter und immer lauter. Alles ftill.
„Sie wird auf der Terraffe fein, der Abend ift fo
zauberiſch,“ denkt er und eilt durch den Hof in den
Garten. Die Slastür nad) Blanfas Zimmer fteht offen; da
er die Erfehnte im Freien nicht erfpäht, tritt er ein. Die
Lampe brennt. Blanka ift nicht da. Er Hopft an die Tür
des Schlafzimmerg, öffnet leife - auch hier ift fie nicht.
Ein banges Ahnen befchleicht ihn. Doch fein Glaube
ift noch tapfer; er wehrt ed ab. „Sie wirb hinab in die
Anlagen gegangen fein,“ beruhigt er fih und folgt ihr,
nach allen Seitenpfaden fpähend und laufchend, die Mittel:
allee entlang bid zum Ufer. Da liegt die Gonvel, in
welcher er geträumt hatte, fich an wonnigen Sommer;
abenden mit der Geliebten zu fchaufeln. Dort wiegen ſich
ein paar Schwäne, bie er aus dem Ei hatte heranwachſen
fehen und an deren Familientreue er fich oftmals, wie an
einem Borbilde, erbaut. Bon feiner Gattin nirgend eine
Spur.
456 Phosphorus Hollunder
Aber hört er nicht ein Flüftern, fpürt ein Bewegen,
ein Sichregen, fühlt er nidyt Menfchennähe? ZTäufchung!
Es ift das Röhricht, das im Windeshaudhe raufcht — ein
Nachtvogel — ein fpringender Fiſch. Er ruft Blankas
Namen nad, allen Richtungen. Kein Gegenlaut!
Mit ftodendem Atem fliegt er in ihr Zimmer zurüd.
Ob fie in die Manfarde geitiegen ift, die Dienerin zu
rufen? Unmöglich! Die Tür ift ja von innen verriegelt.
Tödliche Angft durchzittert ihn. Seine Augen irren ringe
im Zimmer umher; nichts ift verändert. Auf dem Tifche
liegen Kranz und Schleier, fo wie die Tante fie abges
nommen, am Boden der Strauß von Orangeblüten, den
fie während der Trauung getragen.
Aber halt! Dort auf dem Schreibtifch — eine Unord⸗
nung, wie die Haft fie bewirkt, — ein blitender Gegens
ftand — der Diamantring, den er, ftatt des verlorenen,
an ihren Schwurfinger geftedt — daneben ein Blatt; ihre
Züge, faum leferlic, hingeworfen — die Tinte in der Feder
noch feucht. — Zwei Zeilen!
Ich verlafle Sie, ehe ich Sie elend made. Denn idh
liebe Sie nicht. Sch — ich kann Ihnen nicht angehören!“
„Sie ift tot!" fchreit er auf und ftürzt überwältigt zu
Boden. Aber nur einen einzigen entjeglichen Augenblid.
Sm naͤchſten ift er wieder Herr feiner felbft, erfennt er
mit dem Lichtblid der Liebe und ber Verzweiflung die
wirffiche Lage und was fie gebot. In diefem Moment
ber Hellficht wurde der weichmütige Kollunder zum Mann.
Sie Iebt, fie ift entflohen und nicht allein entflohen. Er
weiß, er fennt den Verführer. Aber noch kann er ihn ers
reichen, dem Räuber feine Beute entreißen. Nicht mehr,
um fie zu befigen, nur fie zu retten vor Elend und Schmad).
Dhosphorus Hollunder 437
Die legten Bahnzüge nadı Nord und Süd kreuzen fich in
diefer Stunde. Einer von ihnen ift der, mit welchem fie
fliehen. Er muß ihnen nad. Auf dem Wege über die
Brüce Fame er zu fpät. Der Kahn muß ihn an das ans
dere Ufer tragen, auf dem der Bahnhof liegt.
Kaum den Gedanken ausgedacht, fteht er am Ufer. Die
Gondel ift verfchwunden. Ein ferner Ruderfchlag dringt
an fein Ohr; der Mond, hinter einer Wolfe hervortretend,
beleuchtet zwei jenfeits landende Geftalten; das leere Fahr⸗
zeug treibt ftromab. Auf dem Bahnhof lauten die Signale.
Ohne Wahl ftürzt der Unglüdliche in den Fluß, um
ſchwimmend das andere Ufer zu erreichen. In feften Klei-
dern ift es ein harter Kampf; allein die Feidenfchaft ftählt
jede Fiber. Er feßt den Fuß an dad Land in dem Augen:
blick, als ein fchriller Pfiff den Abgang des lebten Zuges
verfündet. Zriefend, feuchend ftürmt er mit leßter Kraft
die Rampe hinan, erreicht er den Perron. Schon ift das
Signal aud) für den entgegengefegten Zug gegeben; zwei,
drei Wagen hat er in Todesfpannung durchſpäht. Eine
lange Reihe fteht noch vor ihm, — da, wiederum der herz>
fprengende Pfiff. „Halt! Halt!” fchreit er mit den Ge⸗
bärden eined Rafenden. Der unglüdlihe Mann bricht
leblos zuſammen. |
Man trägt ihn in den Wartefaal. Der wohlbefannte
Bürger an feinem Hochzeitsabend, in feinem Hochzeits⸗
Fleid, waffertriefend, im Begriffe zu fliehen, von einer
Ohnmacht befallen — wer vermag das Nätfel zu Iöfen,
wenn diefed nicht der Wahnwitz iſt? Er wird umge>
fleidet vorfichtig auf einer Bahre in das bräutlich ge⸗
fhmücte Sommerhausd getragen. Ein Bahnbeamter, der
vorauseilt, Die junge Frau auf das Schrednis vorzubes
438 Dhosphorus Hollunder
reiten, verwundert fich, fie nirgend zu finden. Die
Dienerin tft in der Manſarde eingefchlafen und weiß feine
Auskunft zu geben. Unterdeffen bringt man den Kranfen
und legt ihn in das hochzeitliche Bett. Er fchlägt die
Augen auf, gibt aber fein Zeichen der Befinnung. Die
Ärzte der Stadt fammeln fi) zu Nat und Hülfe um das
Lager; die Bewohner des ftädtifchen Hauſes eilen herbei;
die treue Suftine, Fräulein von Schweindhen blicken hände⸗
ringend auf das Entfegliche, ohne ed deuten zu koͤnnen.
So ſpät fchon der Abend, verbreitet ſich gleich einem Lauf⸗
feuer von Haus zu Haus die Kunde: Phosphorus Hols
Iunder ift faum eine Stunde nad; feiner Trauung irrfinnig
geworden, — feine Frau verſchwunden.
Mit dem grauenden Morgen dämmert aud) ein Schimmer
der Wahrheit, um im Laufe des Tages, für die Nächfts
ftehenden mindefteng, deutliche Geftalt anzunehmen. Mehr
als einer will am geftrigen Spätnadjmittage Herrn von
Hohenwart in dunfeln Zivilfleidern auf der Straße, ja
felbft in der Kirche gefehen haben. Sogar am Bahnhofe
fol bei einbrechender Nacht eine hohe Geftalt, die der feinis
gen gleichen konnte, mit einer tiefverfchleierten Dame am
Arm bemerkt worden fein. Die Richtung, welche das Paar
genommen, war nicht zu erfunden.
Mit den Mittagszügen eilten Fräulein von Schweinchen
nordwärtg, ein Freund Hollunders gen Süden den Fliehens
den nach. Ohne Spur und Kunde von ihnen Fehrten fie
zurüd, fich traurig eingeftehend: Was hätte die gelungene
Entdeckung dem unglüdlichen Freunde genugt, oder was
feiner unglüdlicheren Frau? In der Stadt hatte man
feitdem erfahren, daß die Unterfuchung gegen Herrn von
Hohenwart niedergefchlagen, fein Abfchiedsgefuc, geneh-
Dhosphorns Hollunder 439
migt worden, auch durch den Tod eines Verwandten ihm
ein befcheidened Erbe zugefallen fei.
Phosphorus Hollunder lag mwährenddeflen im Raſe⸗
ftabium des Fiebers, an der Außerften Marfe des Lebens.
Wochenlang träumte er von Blut, fchäumte von Rache,
fchrie wütend nach dem Leben feines Beleidigerd, dem
Mörder feines Glücks und feiner Ehre.
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Als aber Phosphorus Hollunder mit ausgetobtem Blut
fid) von dieſer ſchweren Niederlage erhob, da war er ein
anderer als in feinen glüdlichen Sugendtagen; da war er
der, zu welchem eine gütige Natur ihn beftimmt, die herbfte
Erfahrung ihn gezeitigt hatte; ein Mann, ein Menſch fo
lauter und feit, wie fie nur einzeln und felten und begegnen
zu unferem Zrofte und zu unferem Heil. So wie jene
treffliche Frau e8 vorausdgefagt, hatte ein reinigended Bad
die findifchen Farben von einem edlen Gebilde gefpült und
feine Schönheit offenbar gemacht. Der Täufer hatte ihn
getauft mit feiner ftärfften Effenz - dem Schmerz.
Als er an einem klaren Oftobertage zum erften Male
gebeugt und bleich über die Terraffe fchlich, die er fo prans
gend für die Geliebte gefchmüct hatte und deren Rofen
jest verduftet waren, ald alle holden Hoffnungen dieſes
Jahres, alle Bitternid, die Fieberwut der Rache nodh ein=
mal an feiner Erinnerung vorüberzogen, noch einmal die
Hand ſich frampfhaft ballte, da fagte er nach einem langen
Blick in die Sonne, die wie ein Gottedauge groß und
mild auf ihn niederfchaute:
„Auch das Rohr des Schwachen trifft dann und wann
fein Ziel. Soll ich ihn töten? Mid) von ihm töten laffen,
weil das Leben feinen Reiz mehr für mid) hat? So oder
440 Phosphorus Hollunder
fo, fie noch elender machen, als fie vielleicht fchon ift, oder
unfehlbar werden wird. Nein! Die rettende Tat fam zu
fpät; die rächende ift nicht mein Zeil; denn ich habe fie
geliebt, und war es ihre Schuld, daß fie mich nicht lieben
fonnte?”
An dem nämlichen Tage reichte er die Scheidungsflage
ein, welche fein Weib von nicht einer Stunde berechtigte,
dad eined anderen zu werden.
Es gibt eine Gefährtin, treuer ald das Glück, hülfreicher
als die Liebe felbft, das ift die Mühe. Unfer Freund, der
bisher mit dem Leben gefpielt hatte wie ein Kind, nun
fuchte er fie, die fich allezeit gern finden läßt, und fie machte
ihn zum Mann. Er verließ auf Jahre unfere Stadt, nicht
wie früherhin, um zwifchen Natur und halbverftandenen
Kunftgenüflen umherzufchwärmen, nein, um zu lernen.
Er arbeitete in den Laboratorien bewährter Meifter, an
fänglich vielleicht nur, um ſich zu betäuben, allgemach indes
angezogen und gebannt durch den Magnet, der in jeglicher
Forſchung ruht. Scheidend und verbindend prüfte er Bes
fannted und gewann Unbefanntes; heimgefehrt, verwertete
er praftifch, was er theoretifch erworben. Er legte die
erften chemifchen Fabriken in unferer Gegend an, beförderte
deren Wohlftand und feinen eigenen. Die Entdedung und
induftrielle Ausbeutung unferer Kohlenlager ift weſentlich
fein Wert.
Phosphorus Hollunder wurde nicht wieder Vortänzer
der Gefellfchaft, fang in Konzerten feine Kiebeslieder mehr,
dilettierte nicht mehr in Heldenrollen mit überflüffigen
Gebärden vor einem lächelnden Publikum; er madıte feine
Berfe mehr mit allbefannten Reimen und ſprach im Lite⸗
rarifchen Verein, den er begründet, nicht mehr Aufgelefenes,
Phosphorus Hollunder _ 441
das er nur halb verftand, fondern wenn er ſprach, war
ed Erfanntesd über Gegenftände ſeines Fachs. Indem er
das Notwendige fich vorfegte, fiel ihm dad Nützliche zu,
und das Schöne entging ihm felten. Überhaupt aber ſprach
er nur noch wenig. Auch in der Feurigen Kugel fchmweigt,
fo fagt man, der einftmals beredfamfte Mund, Aber die
Angelegenheit des „Töniglichen Baues“, Humanität und
chriftliche Bruderpflicht, Die hat Phosphorus Hollunder auf
das Panier feines Lebens gefchrieben, befennt fie öffentlich
und übt fie ohne Ermüden.
Kurz vor feiner Verheiratung hatten feine Mitbürger
ihn zum Stadtrat erwählt. Sebt übernahm er freiwillig
das Dezernat der Armenangelegenheiten und widmete fich
demſelben mit einer Ausdauer, welche eine völlig neue Ord⸗
nung in dieſe fchwierigfte aller fommunalen Aufgaben
brachte und unfere Einrichtungen zum Mufter werden ließ
> für die gefamte Provinz. Phosphorus Hollunder zeigte,
| was in einem mittleren Gemeinwejen ein einziger wohls
R gefinnter und wohlgeftellter Bürger zu leiften vermag; wie
er den Schlendrian verfcheuchen, anregend auf die Läffigen
wirken, durch fein Beifpiel einen Wetteifer zum Beſſeren
entzüunden und fidy mit allen Ständen verbinden fann, um
das, was not tut, anzubahnen und durchzuführen.
„Wir feuern der Berarmung und ihren entfittlichenden
Folgen nicht eher, ald bis es den moralifch und materiell
Bermögenden Gewiflensfache wird, Die moralifch und mates
riel Unvermögenden in ihren eigenften Pflichtenfreis, gleichs
fam in ihre Familienforge aufzunehmen. KRümmerte nur
ein Menfch fich ernftlich und treu um ein paar fremde
Menſchen, ja, nur um einen einzigen, ein Baus um ein
anderes, ald gehöre es zu ihm, fie würden ſich nicht übers
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442 Dhosphorus Hollunder
bürdet fühlen; der Not und Verwahrlofung aber würde
weit gründlicher abgeholfen werden, als durch die Mehrs
zahl kraftzerfplitternder Vereine, denen der Blid in das
Einzelleben, das Verhältnis von Perfon zu Perfon entgeht.”
Nach diefem Grundjag wirkte unfer Freund. Er vers
teilte den Mangel unter die Fülle, und fein Zeil war der
reichlichfte. Die Liebe, die eine nicht beglüden, eine nicht
erwidern fonnte, fie ift zum Segen geworden für einen
weiten Kreis. Ihr Hebel in einem guten Menfchenherzen
war das Leid. Würde die Freude gleiches gefördert, das Er⸗
barmen gezeitigt haben, auf weldyem im Ringen ums Das
fein der Sieg ded Menfchlichen, die Blüte des Chriftentums
beruht? „Um die Freude am Leben nicht erfterben zu laſſen,
müſſen wir mit unferen Brüdern und für unfere Brüder
leiden Iernen,“ fo fagt nicht, aber denkt Phosphorus Hols
Iunder.
Er ift jegt geehrt als Forfcher, angefehen als praftifcher
Gefhäftsmann, ald Freund und Wohltäter geliebt. Er
ift der würdige Vertreter unferer Stadt in der erften ges
feggebenden Berfammlung des Staates; fein Name gehört
zu den gejchäßteften über jene Grenzen hinaus. Die Heine
Adelöpartifel vor demfelben wird ihm nicht entgehen, in⸗
fofern ihn danach gelüftet; einftweilen trägt er einen
langen Titel und verfchiedentliche Orbengzeichen. Sein
Wohlftand mehrt fi) von Sahr zu Sahr. Die jungen Fräus
leind und ihre Mütter blicfen einladend auf den jungen
Mann, der eine Gattin verlor, bevor er fie befeflen hatte.
Sn diefem einzigen Punkte jedoch fcheint dem Tiebreichen
Hollunder das Herz zu verfagen. Er fohägt die Häuslichen,
die Befcheidenen, auch die Gebildeten und fogar die im alls
gemeinen weniger Beliebten, die man charaftervoll oder.
Phosphorus Hollunder 443
bedeutend nennt. Schön aber tft ihm nur eine einzige
erfchienen, und er hat fie niemals vergeflen.
Niemals jedoc, und gegen niemand hat er ihren Namen
wieder genannt; es wäre denn etwa gegen Fräulein von
Schweinchen, mit welcher er in freundfchaftlicher Verbin
dung geblieben ift und welche feit feiner Heimfehr fogar dag
obere Stockwerk des Haufes zum Holunderbaum bewohnt.
Die alte Dame gibt feine Sprach- und Mufifftunden mehr;
ihre Umftände müffen fich erheblich gebeflert haben, infolge
eines Bermächtniffes, wie Herr Hollunder zu verftehen gibt.
Man zerbradh fich umfonft lange Zeit den Kopf, von wen und
woher, und munfelte dann mandherlei, was indes weder
Herrn Hollunder noch auch der alten Dame zur Unehre
gereichte. Auch jede Anfpielung auf ihre Nichte beant-
wortet fie nur mit einem Seufzer und Schütteln des er;
grauten Hauptes, wennfchon man weiß, daß fie in Brief-
wechfel mit ihr fteht und fogar Geldfendungen an fie
abgehen läßt. Gott fei Dank, daß fie jetzt dazu imftande ift.
Denn das Schiefal der fchönen Frau hat auf die Dauer
ihrer Heimat nicht verborgen bleiben fünnen. Sie hat ihre
ſchwere Irrung ſchwer gebüßt, den Mangel an Mut bie
zu jener Stunde, die aus der Schwadhheit eine Sünde
werden läßt. Kaum, daß der eheliche Segen zum zweiten
Male über fie gefprochen, find einem romantifchen Traume
an einem Alpenfee, find dem Rauſche erfter Leidenfchaft
Kämpfe gefolgt, in welchen zwar nidyt die Xiebe, aber der
Frieden ded Herzens erlag. Sie war nicht Die Natur, deren
Energie den unfteten Sinn eines Affur unter peinvollen Ver⸗
hältniffen gebändigt hätte. Ohne Beruf, ohne die gewohnten
Standesgenoffen, fein Fleines Erbe bald genug erfchöpft,
wie hätte der bis dahin rüdfichtslog in das Leben Stürs
444 Dhosphorus Hollunder
mende lernen follen, an der Seite eines einfach zärtlichen
Weibes fich häuslich zu befchränfen, zu erwerben, im eng⸗
ften Kreife heimifch zu werden? Nicht nur die Schwäche,
auch die Scham mehrte gegen Ungebühr den Widerftand
der Frau. Sie fühlte fic eine Laft werden und durfte nicht
Magen. Sie erntete, was fie gefäet.
Hierhin und dorthin fchweifend, vieles ergreifend, nichts
fefthaltend, von unruhiger Langeweile gefoltert, von Gläu⸗
bigern gedrängt, haben abenteuernder Sinn, Not und
foldatifche Neigung ihn endlich in überfeeifche Kriegs-
bienfte getrieben, in weldyen fein Name bie heute vers
fchollen ift.
Seine Gattin folgte ihm nicht. Ein fiecher Körper,
ein zarted Kind, gebrochenes Vertrauen, Scham und Gram
hielten fie zurüd. Aber der ewig geheimnisvolle Zug des
Herzens begleitete den Schuldigen mit unfäglicher Sehns
fucht und mit unfäglichem Weh.
Kraft und Schönheit welften rafch; durch mühfelige
Handarbeit ihr und ihres Kindes Leben friftend, rang fie
mit harten Entbehrungen, bis der Umfchlag in Fräulein
von Schweindhend Berhältniffen auch ihr zugute fam.
Ein brieflicher Verkehr bahnte ſich an zwifchen der Reuigen
und der VBergebenden; eine hülfreiche Hand ward geboten
und durfte nicht zurücdigewiefen werden. —
Mehr ald ein Sahrzehnt war vergangen, ald mitten in
ber Nacht der Geheime Kommerzienrat Hollunder mit
feiner alten Freundin eine Reife nach den Alpen antrat,
Sie fuhren ohne Unterbrechung Tag und Nacht; fchweis
gend faßen fie einander gegenüber. Die Dame trodnete
von Zeit zu Zeit ihre Tränen; ihr Begleiter blidte in
tiefem Ernfte vor fich nieder. Am zweiten Nachmittag
Dhosphorus Hollunber 445
erreichten fie ihr Ziel. Die Dame ließ ſich unverweilt
nad) einem ländlichen Haufe führen, das einfam am See
gelegen war. Nach einer langen, langen Stunde folgte
ihr der Freund.
Als er die fchmale Treppe zu dem Giebelftübchen in die
Höhe ftieg, bebten feine Kniee. Eine Tür ftand geöffnet,
um über den hölzernen Söller die Strahlen der unters
gehenden Sonne in dad Zimmer dringen zu laflen. Auf
ber Schwelle war er wie gebannt. Diefes bleicdhe, von
Harm und Not erfchöpfte Weib, dag todesmatt das Haupt
an die Bruft der mütterlichen Freundin lehnte, dad war
fein Weib, vor Gott und Menfchen ihm zu eigen gegeben;
dies fchöne Kind, blauäugig und braunlodig wie die, an
deren Kniee es ſich ſchmiegt, es ift ihr Kind, aber nicht
das feine. Phosphorus Hollunder gedenkt der Zeit, da er
die Mutter gekannt hat, nicht größer als jetzt ihre Tochter,
und ſchon damals hat er fie geliebt und ſich erforen.
Das Auge der Kranken begegnet dem feinen; er rafft
ſich zufammen, tritt ihr ruhig und herzlich entgegen. Kein
Blick zeigt einen Vorwurf; feine Miene feinen Sammer.
Als aber jeßt die unglüdliche Frau ſich erhebt, ihm ents
gegenwantt, zu feinen Füßen niebergleitet und lauts
fhluchzend feine Kniee umflammert, ba hält er fich nicht
länger, unter heißen Tränen zieht er fie vom Boden in
die Hoͤhe, drüdt fie an feine Bruft und hält fie lange
umfchlungen.
Wochen hindurch faß er nun als treuefter Hüter an
ihrem Sterbebette. Selbft ohne Hoffnung, fuchte er Mut
und Lebenshoffnung in ihr aufzumeden, er rief die kuns
digften Ärzte zu ihrer Gülfe herbei, ſprach ihr von dem
beilfamen Klima des Südens, von ihrer Tochter Erziehung
446 Phosphorus Hollunder
und Zukunft. Die Stimme der Kranken war gelähmt,
aber ihre Augen ruhten faft unverwandt auf dem gütigen
Manne, mit einem Auddrud, der Phosphorus Hollunder
noch in feiner Sterbeftunde beglüden wird, Mehr ale
einmal führte fie feine in der ihren ruhende Sand an ihre
Lippen und legte fie dann wie zum Gegen auf ihres
Kindes Haupt. Phosphorus Hollunder aber zog das liebe,
fohmiegfame Mädchen auf feine Kniee, in feine Arme, und
fein ftummer Händedrud fagte der Mutter, daß ihre Waife
des Vaters nicht entbehren werde.
Als wieder der Morgen grauete, wurde die ftille Kranfe
unruhig, ihr Atem fchwer; die Tante fchlief in der Neben⸗
fammer; Hollunder allein faß wachend neben der Sterbenden.
Das Kind, eingefchlummert an ihrer Seite, fuhr ängftlich in
die Höhe und barg den Kopf an der Mutter Bruft.
Blankas Augen fchweiften unftät hin und wider, bie
Hände tafteten bald nad diefem, bald nach jenem Gegen-
ftand. Die erften Sonnenftrahlen fallen auf die Wand
ihr gegenüber; ihr Blick haftet ftarr an dem Bilde, dad
‚an derfelben hängt, die Arme greifen wie zum Umfangen
danadı aus. Der Freund verfteht diefen Blick. Er zieht
den Vorhang zurücd, der das Bild feit feiner Ankunft ver-
fchleiert hat, und Affur von Hohenwarts Züge treten zum
legten Male vor das brechende Auge feiner Frau, zaubern
den legten Rofenfchimmer auf ihre fahlen Wangen. Sinn
und Kraft find ihr zurücgefehrt; fie richtet fich jach in
die Höhe, ſchlingt mit Leidenfchaft die Arme um ihres
Kindes Haupt, preßt ed an ſich und legt ed dann an dad
Herz des treneften Mannes.
„Dein, dein!“ ruft fie mit lauter Stimme; ihr Kopf
ſinkt zurüd, fie ift tot.
Dhosphorus Hollunder 447
Phosphorus allein fland an dem Grabe, in welches
man Blanfa von Hohenwart verfenfte. Cine Stunde
fpäter war er mit ihrer Tochter und der alten Freundin
auf dem Wege zur Heimat. Die Feine Blanka wird unter
feinem Baterfchuß erzogen. Phosphorus Hollunder ift
glüdlich, er hat ein Wefen, für das er lebt und das an
ihm hängt mit der Zärtlichfeit eines eignen Kindes und
mit der fchwärmerifchen Dankbarkeit einer Waiſe.
Drud von Bernhard
Zauchnis in Leipzig