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W V.0.9,6,
koͤmiſche Profaiter
neuen Ueberſetzungen.
Heransgegeben
©. L. F. Tafel, Profeſſor zu Tabingen,
C. N. Oſiander und G. Schwab,
Profeſſoren zu Stuttgart.
Bier und fünfzigſtes Baͤndchen.
— — —
Stuttgart,
Verlag der G. B. Metz ler'ſchen Buchhandlung.
r Oeſtreich in Commiſſſon von Mörſchner und Kalver
in Bien,
2 8 3 0.
£ucins Annaus Seneca des Philoſophen
Werke.
75
Zehntes Bändchen. — —
Abhandlungen,
überſetzt
von
J. M. Moſer,
Doctor der PYhiloſophie, evangel. Diaconus am Muͤnſter in Ulm,
- — m ⸗
Zehntes Bändchen.
Stuttgart,.
Verlag der J. B. Meslevfchen Buchhandlung.
Bür Deftreih in Commiffion von Mör ſchner win Tayet
in Wien.
ı8 53 0
Inhalt des Dritten Bud.
Beſte Benuͤtzung des nahenden Atterd umd ber Lebendzeit übers
haupt zur Betrachtung ber Welt und unfer ſelbſt. Refriedigender
inte, zu forfchen, wad zu thun, als was gefchehen ſey. Dad
Herrlichfte ift, dem Geiſt einporzuheben Über das Geſchick. Dazu
führt tie Betrachtung ber Natur.
Kay. ı — 4. Betrachtungen über dad MWaffer, deſſen
Entftehen , Anſchwellen, Sinken, Kälte, Wärme, Gefchmad,
Heiltraft, Schaͤdlichkteit, Schwere, Leichtigkeit, Farbe, Bes
wegung.
Kap. 5 — ı2. Wie 08 möglich fey, daß die Erde Waffer ges
nug hat, um die Fläffe ununterbrochen zu erhalten. Hypo⸗
theſen, woher das viele Waffer Eomme; aus dem Meere
zurüd in verborgenen Gängen ; bie Erbe gebe an bie Quel-
Yen und Ftäffe, was fie vom Regen aufgefangen. Widerle⸗
gung. Waſſervorraͤthe in der Tiefe der Erde. Werwands
lung der in Höhlen befindlichen unterirdiſchen Luft in Waſ⸗
fer ; und eben ſo Verwandinng der Erdduͤnſte in Waſſer.
Wie aus Waffer Erde wird, fo aus Erde Waſſer. Beftäns
dige Verwandlung eines Elements in das andere. Einwuͤrfe
und Beantwortung derſelben. Da dad Waſſer ein Element
it, fo kann man nicht fragen, woher ed komme, es ift
eben einer von den vier Theilen der Natur, und feet its
mer Etwas von fich felbft aus.
Rap. 13 — 79. ZWafer, der Anfang ver Weir, rare daR
ne, Unfıot BB Ihalch, taß der Serena \a Twe
figreit ſotvimmt,
13
dm Dednnticgen und eregung. Uxanpitiege Fra
Weiblichen ber Ktemente-
x
150 Inhalt des dritten Buchs.
ber Erbe mit dem Körper; Waffergänge und Luftgaͤnge,
wie Biutabern und Puldabern, mehrere Arten von Feuch⸗
tigteit in der Erde, wie im Körper. Urſachen der Unters
brechung, und der periodiſchen Abs und Zunahme der Ges
wäfler. Luft und Waſſer im Innern der Erde, daher auch
Thiere; ausgegrabene Fiſche. Seitenblicke auf ben Luxus,
welcher Fiſche im Zimmer haͤlt, damit ſie noch lebend auf
die Tafel kommen, und man fie in der Hand abſterben laſ⸗
fen inne. Fiſche aus unterirdifchen Gewaͤſſern kommen bis⸗
weiten herauf; Ihr Fleiſch ift toͤdtlich.
ap. 30 — 21. UIrſachen des verſchiedenen Geſchmacks ber Waf-
fer, ihrer Leichte und Schwere, Wärme und Kälte. Ver
fteinerndes Waſſer. Hoͤhlen mit toͤdtlicher Luft, von ber das
Waffer angefteat wird.
ap. 22 — 325. Eintheilung der GercAffer : Dcean, Fluͤſſe, Waſ⸗
fer vom Himmel, Die Erd Waffer find theit3 auf ber Ober:
flaͤche, theils unterirdiſch. Des Empedocles Hyypotheſe
über die Urſache der Wärme des Waſſerẽ. Toͤdtliche Waſ⸗
fer ohne Geruch und Geſchmack. Sonderkare Eigenfchaften
mancher Waſſer, deren Xrant die Wolle der Schaafe färbt;
manche tragen Menſchen, die nicht fhwimmen können, und
Öserhaupt ſchwere Koͤrper; ſchwimmende Inſeln. Einwir⸗
tung mancher Waſſer anf die Leibesfruchtbarkeit der Frauen.
Kriſtalliſirung des Waſſers.
ap. 26. Warum einige Fluͤſſe im Sommer wachſen? Daß
mauche Fluͤſſe verfinten und wieder zum Vorfchein kommen,
Gewiffe Quellen werfen zu Leftimmten Zeiten Unflath aus,
fo auch mandye Theile des Meeres.
Daß der Erde eine allgemeine Ueberſchwemmung bevors
ftent zu ihrem Untergang. Dabei wirkt Wieled zuſammen:
ber austretende Ocean, -ununterbrochene Regengzuͤſſe, reichlis
her ſtroͤmende Fluͤſſe und Quellen. Unmaͤßiger Regen 1dst
Sr Wurzeln ber Dflanzen auf und madıt ben Boden weich
—— demienenoô. Unfsudtbarteit und Hungersnotb. Ein⸗
Beyer Gebdube; Scaamelsen des Gamers in ven Cuirgenı
Mez Städte und Diauren hinvoeggelägrormmt, eb
!
\
Inhalt des.dritten Buchs. 1151
flache Rand ein See. Furchtbares Dunkel von Blitzen durch⸗
ir; das Meer will austreten, bie Fluͤſſe laſſen es nicht,
und werben ſelber aus Mangel der Muͤndung zu Seen,
nur auf ben Kbcften Gebirgsruͤcken, feuchte Stellen, bie Zus
weht der Menſchen und SHeerben- Gtürme regen bie unge⸗
heure Wafferfäche auf, und dad Meer wird von unten auf
in Unruhe geſetzt. Erſchuͤtterung der Erbe; neue Quellen ;
Einfiuß ber Geftirne theils auf bie Verbrennung, theils auf
die Ueberſchwemmung ber Erbe. Diefe trägt den Keim ih⸗
ver Usmgeftaltung in ſich, wie Sommer und Winter nach
Naturgefenen kommt. Haupturſache der qwemmung
iſt bie Verwandelbarteit ber Erde in Feuchtigkeit; jetzt Gleich⸗
gewicht der Elemente; dieſes hoͤrt auf, wenn ſich die Erbe
in feuchte Stoffe aufibſst. Der Wechſel des Jahrszeiten tritt
nicht mehr ein, Alles in Verwirrung. Alles ein Meer.
Solches zu thun bat die Natur von Anfang beftimmt, Les
beral unter der Erde ift Waſſer, und Altes wirkt zum Un:
teegang zufammen, wenn bie Welt nicht mehr halten fol.
Dann kommt eine neue Menſchheit.
2
—
Borwort.
Es entgeht mir nicht, mein allerbefter Lucilius, welch
großes Beginnen es für mid, iſt, ald einen Mann in hohen
Jahren, daß ich noch vorhabe, die Welt zu durchmuftern
und ihre Grüude und Geheimniffe auszuforichen und \e An:
dern zur Kenntniß darzulegen. Wo foll die Zeit hexkow⸗
MEN, 0 ZDieled auszurichten , fo Zerſtreutes u Kanmmeit
o Besbörgenes zu Öucchfchauen 288 drängt wid var Sr
41482 Seneca’s Abhandlungen.
fenalter und hält mir die Jahre vor, die unter gehaltlofen
“ Beftrebungen Hingebracht wurden: nun um fo mehr fou
mies denn angelegen feyn, und der Schaden einer verkehrt
angewandten Lebenszeit durch Anſtrengung wieder gut ges
macht werden. Die Nacht will ich. zum Tage nehmen, dem
Sefchäftsichen entfagen , mich losmachen von der Sorge um
ein Eigenthum, das feinem Befiter fo fern flieht; ganz fich
felber gehöre der Geiſt an, und nehme auf die Betrachtung
feiner ferbft wenigftens noch da Bedacht, wo er auf dem
: Sprung ift, zu fcheiden, Ja, Das wird er thun, und bei
fich feldft verweilen, und Tag für Zag die Kürze der Zeit
- berechnen. Was verloren ift, wird er durch forgfältige Bes
nützung der Gegenwart einholen. Am vedlichften geht man
von Menue zur Tugend über. Sch möchte mit jenem Vers
eines berühmten Dichters *) ausrufen:
Hoch her fährer der menſchliche Geiſt; das Größte bei fleiner
Srift beginnen wir. — —
Sp würd’ ich fprechen, wenn ich, ein Jüngling oder ein
Mann in den beften Jahren, Solches vorhätte. Denn für
fo große Dinge ift jegliche Zeit beſchränkt. Nun aber habe
ich mic) an eine fo ernfte, wichtige, nicht zn ermeffende
Arbeit erft nach den Mittagsftunden gemacht. So will id
denn thun, wie man’s auf einer Reife zu machen pflegt.
Wenn man zu fpät ausgereist ift, fo erſetzt man die Is
gerumg durch Eile. So will ich denn raſch daran gehen,
und die vielleicht nicht zu erfchwingende, in jedem Fall große
Pet ode Büäcdjicht anf meine Jahre angreifen. Es
9 _
Wir bier Dipter war, ift unbetannt.
whetwachtungen. Drittes Bud. 4468
th, bei jedem Blick auf die Größe des Vor⸗
ei dem Gedanken, wie viel noch zu thun,
Zeit dazu übrig ſey. — Manche haben fich
nit, daß fie die Gefchichten auswärtiger Kö⸗
und was Völker gegen einunder erfitten und
Wie viel befriedigender iſt's doch, die eiges
faen, als fremde dev Nachwelt zu erzählen!
die Thaten der Götter zu preifen, als die
s Philippus und Alexander, und Anderer, die,
er Unglüd berühmt, nicht minder eine Pet
waren, ald Ueberfchwemmungen, die akes
erſtrömten, und Feuersbrünſte, die eine große
Geſchöpfe verzehrten. Sie fchreiben, wie
die Alpen gefkiegen, wie er den duch Hiſpa⸗
ven aufgefriſchten Krieg unvermuthet nad
a, und wie er, als feine Macht gebrochen
thago's Demüthigung noch beharrlich in fei=
ven Königen umherzog, ſich zum Führer ges
anbietend und um ein Heer bettelnd; wie er
ı Haaren nicht abließ, in allen Winkeln nad)
n. Siehe da, ohne Vaterland konnt' er’d
t ohne Feind.
befriedigender iſt's doch, zu forfchen, was zur
I gefchehen fey ; und Die, fo ihre Sachen
jeftelit haben, zu überzeugen, daß von die
getheilt werde, was Beſtand hätte, und \ctur
Innen, beränderlicher ald der Bid, Do W
Aube, es liebt, der Freude den Kumm
Mm. 2
44bA Seneca's Abhandlungen.
zu unterlegen, und Eins in das Andere zu mifchen; darum
frane doch Keiner im Glück, und ed zage Niemand in Wis
derwärtigfeit ; es wechfeln die Dinge mit einander. — Was
frohlcckeſt du? Was dich fo hoch erhebt, — Wer weiß, wo
dich's flecken läßt! Es wird fein Ende haben, bevor das
deine kommt. — Warum fo niedergefchlagen? Du bift tief
geſunken: nun iſt's an dir, dich aufzuraffen. Zum Beſſern
neigt fich das Widrige, zum Mißgeſchick wendet fidys, wenn’s
dir nach Wunfc, geht. Auf diefen Wedyfel muß man ges
faßt ſeyn, nicht nur im @inzelleben der Familien, das
leicht einen Stoß erleidet, fondern auch in öffentlichen An—
gefegenheiten. Königreiche vom niedrigften Anfang haben
ſich über die Herrfcher der Welt geſtellt. Längft beftandene
Thronen find mitten in ihrer Blüthe in Staub gefunten.
Es läßt fich Feine Zahl angeben, wie Viele von Andern ges
ftürzt wurden: in Diefer Zeit gerade erhöht die Gottheit
die Einen, die Andern ſtürzt fie, und legt fie nicht fanft
hin, fondern fihmettert fle von ihrer Höhe alfo darnieder,
daß Feine Spur davon bleibt. Das kommt uns als etwas
Großes vor, weil wir Klein find. Diele Dinge find nicht
groß ihrer Natur nach, fondern nur im Verhältniß zu ums
ferer Niedrigkeit. Was ift das Herrlichſte im Menfchentes
ben? Nicht mit Flotten die Meere anzufüllen, nicht an
den Küften des Meeres die Flaggen aufzufchlagen, nicht,
weil kein Land mehr da ift, zur Unterdrücdung Anderer,
2er» Drean zu durchkreuzen und unbekannte Länder aufzufıs
Den: /onBern einen geiftigen Blid zu gewinnen, und den
WE Steg, die Herrjchaft über die Kalter zu vrrinaen.
Plige finds, dic da Städte, die da Wülter in ine
Naturbetrachtungen. Drittes Bud. A155
Gewalt hatten, ſich ſelbſt — gar Wenige. Was iſt das
| Herrlichfte? Den Geift emporzuheben über die Drghun-
gen und über die Verſprechungen des Geſchicks. Achte Nichts
| für werth, daß du darauf hoffeſt. Was Hat es denn,
das deines Wunfches werth wäre? Siehe denn, wenn
| du von den Umgang mit dem Göttlichen dich zum Menfch-
lichen herabläffeft , da wirft du gerade fo geblendet feyn,
| als wendeten fich deine Augen aus hellem Sonnenfchein
in dichten Schatten. Was ift das Herrlichſte? Mit hei—
terem Herzen das Unglück ertragen zu Eönnen; was auch
tommen mag, fo hinzunehmen,, als Job du gewollt hätteſt,
daß es fo Ecnıme. Denn du hätteft es ja wollen müffen,
wenn du gewußt hätteſt, daß das Alles nad) dem Ruthe
der Gottheit fo komme, Weinen, Elagen, feufzen,
| beißt den Glauben aufgeben. — Was ift das Herrliche
| fie? Eine Seele, gegen alles Unglück flark und trotzig,
der Genußſucht nicht nur abhold, fondern feind, nicht
| Gefahren auffuhend, aber aud) nicht fliehend, die da
verfieht, des Schickſals nicht nur gewärtig zu feyn, fon-
dern es zu geflalten, und gegen Glück und Unglüf ohne
Zugen und Verwirrung hervorzutreten, nicht Durch den
Sturn des Einen, noch durd den Schinmer des Aue
dern betroffen. Was ift das Herrlichſte? Nicht ins
Herz Fommen zu laffen arge Gedanken, zum Himmel zu
erheben veine Hände; Fein Gut zu wollen, das, damit
es an did komme, ein Anderer geben, ein Auterer
verlieren mb; gu winfchen, was man ohne Witerinind
minfpen Ruf, ei mohlgefiuntes Herz; was aber V
Fender PR dOD anfcplagen, wenn es andy em. Du
2 *
456 Geneca?s Abhandlungen.
mes Haus brächte, fo zu betrachten, als werde es hinaus⸗
kommen, wie es hereinkam. Was iſt das Herrlichſte?
Den Geiſt hoch zu erheben über das Zufällige; nicht zu
vergeſſen, daß man Menfch if, um, fen man num glüds
lich, zu wien, es werde nicht lange fo währen, ober
fey man unglüdtih, überzeugte zu feyn, daß man es
nicht ift, wenn man ſich nicht dafür hält. — Was ift
Bad Herrlichfte? Jeden Augenblick zum Sterben bereit
zu ſeyn; das macht frei, nicht den Beſtimmungen des
Nömifhen Rechts nad), fondern nach dem Recht der Nas
tur. Frei aber iſt; Wer nik ein Sklave von ſich ſelbſt
Meibt: denn das ift die ewige Kuechtfchaft, die fid
wicht abſchütteln läßt, und die Tag und Nacht gleich
art drüdt, ohne eine Feierftunde, ohne einen Urlaub. .
Gein eigener Sklave zu fern, ift die härteſte Sklaverei, 3
z
uwrurıd
und doch ifPe Leicht, ſie abzufchätteln, fo bald man aufs
hört, viele Forderungen an fidy zu machen, aufhört, fh —
feiber Lohn anzurechnen, fo bald man ſich fein Menfchens zu
wefen und feine Lebensjahre vorhält, mögen fie auch noch :
in der Blüthe ſeyn, — und zu fich ſelbſt fpriht: Warum
zenn fo außer fich feyn? Warum Leuchen? Warum fih
abſchwihen? Warım den Boden nmechren ? Warın das
Forum befuchen? Man vraucht nicht viel, und braucht's
nicht lange.
Su dieſem Zweck führt denn die Betrachtung der
RNatur. Wir werden und zuerft von allem Derunreinigen:
gen esffernen, fodann ben Geift felber, der groß und ers
en muß, bom Körper losmachen. Hernak, wenn
Muuſichuuq im Stillen geübt if, wird man ae
Naturbetrachtungen. Drittes Bud. 1457
. ungeiftiger feygn, vor den Augen der Welt. Nichts aber
e? tritt mehr an den Tag, als diefes Heilmittel, das, wene
1 wir’d lernen, gegen unſere Verkehrtheit und Leidenſchaft—
de | lichkeit Hilft, die wir zwar als verwerflic ertennen, aber
der | nicht ablegen.
ee
iſt
eit
seh
za⸗ Drittes Bud,
Hi — —
In Vom Waffer.
ub. 1. Wir wollen nun unfre Betrachtungen anftellen über
ci | das Wafler, und auf die Spur zu kommen ſuchen, anf
uf | Weihe Weife es entſteht; mag es nun [mit der Hervorbrin⸗
ſich sung des Waſſers] zugehen, wie Dvidius *) fagt:
ven: | „G&ilberw ſprudelt ein Duell, ſchlammlos mit glänzenden Wellen ;“
od der wie Birgilius ») fagt:
un „Ro neunfach mit mädtigan Donner bed Berges hervorbridt
fid Orchmend ein Meer, und mit tönender Woge bie Ufer bes
dail | ſpũlet.“
yeif oder, wie ich bei dir, mein theuerſter Junior, ***) finde:
| „Uns dem Siciliſchen Quell hervor der Eleiſche Strom fpringt.“
ud Kersefte [Drieft,]
Ban weicyen diefe Bouͤcher geriatet '
4468 Seneca's Abhandlungen.
welche Naturgeſetze das Waſſer bereiten; wie c3 zugehe,
daß fo viele mächtige Flüffe Tag und Nacht fortflrömen ;
warum die einen [nur] vom Winterwafler fchwellen, die ans
dern [gerade] dann fleigen, wenn die übrigen fallen. Den
Nil wollen wir inzwifchen vom Wllgemeinen ausnehmen,
da er von ganz eigenthümficher und befonderer Natur ift;
ihm wollen wir eine eigene Zeit widmen, und jebt die
gewöähntichen Waſſer unterfuchen,, ſowohl falte ald warme.
Bei diefen wird die Frage feyn müffen, ob fie warm ente
ſtehen, oder ob fie es erft werden. Auch von den übrigen
wollen wir reden , die entweder ihr Geſchmack oder irgend
ein Augen bemerfungswerth macht. Manche nämlich find
für die Angen gut, manche für die Nerven, manche heilen
zeraltete und von den Werzten bereits aufgegebene Schäden
aus. Manche helfen gegen Gefchwüre, manche erwärmen
durch ihren Genuß innerlich, und erleichtern Beſchwerden
in der Zunge und in den Eingeweiden. — Manche wirken nie:
derfchlagend anf das Blut: und jedes hat, je nachdem fein:
Geſchmack iſt, and) eine verfchiedene Wirkung.
2. Ale Waller find entweder fiehend oder fließend;
entweder fammeln fie fich, Lauf einmal] oder fie haben vers
ſchiedene Adern. Die einen find füß, die andern von ges
miichtem Gefchmad , ‘ed Eommen nämlich widerlihe dazu,
falzige und bittere oder mit einem Arzneigeſchmack; dahin
hatte den Beinamen Junior. Verſe von ihm werben auch
Kup, 26. angeführt, Dee Eleiſche Strom ift dee Alpheus,
7 nd —— und Elis und tan "water von Me,
a icilien fließt. wo ee ſich wait ter Darie ders
Naturbetrahtungen. Drittes Bud. 44159
gehören die fihwefelhaltigen, eiſenhaltigen, vitriofhaltigen.
Der Geſchmack deutet auf den Gehalt. Außerdem haben
fie noch mannigfaltige Unterfchiede: fürs Erfte in Hınficht
der Empfindung, — Da gibt es karte und warme; fodann
in Hinfiht des Geibichts; — leichte und fchwere ; ferner in
Hinfiht der Farbe, — reine, trübe, bläufichte, Tichtfarbe;
weiter in Hinſicht ihres Einfluffes auf die Gefundheit: es
gibe nämlich heilfame und nützliche, es gibt aber auch tödt⸗
liche, und die einen LBlafen=) Stein bilden. Manche find
dünn, manche fett; manche nahrhaft, manche gehen ohne
allen Nutzen für den Trinkenden ab, mandye wirken, wenn
man davon trinkt, auf die Fruchtbarkeit.
3. Ob das Waffer fteht oder fließt, das kommt auf
die Lage des Ortes an; an abfchüffigen Orten fließt es, an
ebenen hält es fich und bleibt flehen, und wird durch Luft—⸗
zug manchmal auch aufwärt3 gefrieben; das ift dann aber
ein gezwungener Zuftand, nicht ein ließen. Geſammelt
wird ed vom Regen; wenn ed aus einer eigeuen Quelle
fommt , ift ed Urwaſſer. Doch iſt's aud) möglich, daß an
einer und derfelben ‚Stelle geſammeltes und Urwaſſer ift,
wie man Das im Fucinifchen *) See fieht, in welchen, was
das anliegende Gebirge ergießt, Strommweife einfließt. Aber
es find in demfelben aud) große und verborgene Adern. Das
rum, wenn auc, die Winters Bergwafler verlaufen find,
bleibt er doc, wie zuvor.
4. Für's Erfte willen wir daher unterfuchen, wie 6
dann möꝙih /ey, daß bie Erte Waller genug habe, WW
u der ae Fer peißt heut zu Xage Lago Ai Caaı
| 2460 Sms Abhandlungen.
den Zauf der Fläffe unnnterbrochen”zu erhaften, und woher
denn fo viel Waffer komme Mir wundern uns, daß in
Meeren der Zuwachs durch die Flüffe nicht merklich iſt.
Eben fo muß man fic wandern, daß in der Erde der Abs
gang Deſſen, was ſich ind Meer ergießt, nicht bemerkt wird.
Wo liegt die Urfache, daß fie fo angefültt ift, daß fie aus
ihrem verborgenen Schooße fo viel geben kann, und immer
wieder dad Abgegangene fo ergänzt ? Derfelbe Grund, ben
wir-bei den Flüffen angeben, muß dann auch für die Büche
und Quellen gelten.
5, Einige find des Dafürhaltens, was die Erde von
Waſſern abgebe, Das befumme fie Alles wieder, und die
Meere wachſen deßhalb nicht, weil fie, was einftrömte,
nicht für fich behalten, fondern fogleich wieder abgeben.
Auf verborgenem Wege nämlich geht das Meer unter die
Erde und tritt an's Licht; im Geheimen kehrt es zurück,
und wird durch diefe Hebergänge geläntert, denn an den viels
fahen Kruͤmmungen der Erdfchichten ſich floßend, legt es
feine Bitterkeit ab, und verliert bei der großen Derändes
zung des Bodens den vertorbenen Geſchmack, und geht in
reines WBaffer über.
6. Manche glauben, Was die Erde vom Regen aufs
fängt, das gebe fie wieder an die Flüſſe ab. Als Beweis
Dafür führen fle an, daß es in Gegenden, wo Regengüffe
fetten find, auch fehr wenige Flüſſe gibt. Darum, fagen fie,
feyen die Aethiopiſchen Wüſten fo troden, und finde man
wemng Quellen im Innern von Afrika, weil dad Klima
FR Sal ein emwiger Sommer dort fey. Doher tie
„nöfdchen one Baum, ohne Päsnzung, keiten won
Naturbetrachtungen. Drittes Bud. 1461
nem Degen benezt, der ſchnell einſickert. Dagegen ift
tannt, daß Germanien umd Gallien und das angrenzende
tatien reichlich mit Bächen und Flüſſen verfehen find, weil
efe Länder ein fenchtes Klima haben, und es aud) im
nummer nicht an Regen fehlt.
7. Gegen Dieß, fiehft du wohl, Täßt jih Manches
wenden. Für's Erſte Fann ich, als ein fleißiger Wein⸗
sgumgraber dich verfühern, daß kein: Regen fo gewaltig
‚ der die Erde weiter ald bis auf eine Tiefe von zehn
6 befeuchtete. Ale Feuchtigkeit zehrt fich innerhalb der
ern? &rdfchichte auf, und kommt nicht weiter hinunter.
sie kann nun aber der Regen den Fläffen ihre Maſſe ges
a, wenn er nur die Oberfläche des, Bodens benezt? Der
oßte Theil davon läuft durch die Flußbette in das Meer
. Es ift gar wenig, was die Erde einfchludt, und and
s bleibt ihr nicht. Denn entweder ift fie troden, und
het Altes auf, was in fie einftrömt, oder fie iſt gefättigt,
d dann ſchluckt fie niche ein, was mehr fällt, als fie
aucht. Und defhalb wachen die Ströme richt gleich Ans
ags vom Megen, weil bdenfelben die dürftende Erde ganz
fich einzieht. — Und fpringen denn nicht manche Flüſſe
6 Felsgebirgen hervor? Was wird denn diefen der Re⸗
n mittheilen,, der an den nadten Felſen abläuft, und kei⸗
n Boden hat, wo er haften Fönnte ? Nimm noch dazı,
B in den trodenften Gegenden tief gegrabene Brunnen auf
ei bis dreihundert Fuß Ziefe reiche Warleradern Auer,
einer Tiere alfo, in Die das Waffen nicht Durcdvorinaen
ve: Das muß dich überzeugen, es {ey dort geine 0
GEFRRENE HHd angefammelte Zeudytigteit, NONE
4162 Geneca’d Abhandlungen.
wie man es zu nennen pflegt, lebendiges Waſſer. Jene Ans
ficht wird auch dadurch widerlegt, daß manche Quellen auf
dem höchften Gipfel des Gebirgs hervorfprudeln. Es ift
alfo offenbar, daß fie aufwärts getrieben oder dort gebildet
werden , indem alles Regenwaſſer abwärts läuft.
8. Mauche nieinen, gleichwie auf der Oberfläche der
Erde ungeheure Sümpfe liegen, und große fchiffbare Seen,
gleichwie die Meere mächtige Strecken weit in's Land hin
eingehen und in die Thäler hineinſtrömen, fo fey auch im
Innern der Erde füßen Waſſers die Fülle, und diefe flehen
eben fo, wie bei und der Dcean und feine Bufen, ſtill, ja
fie feyen von defto breiterer Ausdehnung, je mehr die Erde
fi) in die Ziefe erftreckt. Aus jenem Vorrath in der Tiefe
nun Eommen jene Ströme hervor: und man darf ſich wohl
nicht wuntern, daß für die Erde der Abgang nicht bemerk:
bar wird, „ta das Meer nom Zuwachs Nichts wahrnimmt.
9. Manche find für folgende Erklärung: Die Erde,
fagen fie, habe in ihrem Schooße hohle Gänge uud
viel Luft; Diefe wird nothwendig kalt, weil eine gewaltige
Beſchattung auf ihr liegt. Alsdann, weil fie unthärig und
ohne Bewegung ift, verwandelt fie fid), wenn fie fich nicht
mehr halten kann, in Waſſer. So wie über ung die Der
wandlung ter Luft Regen bildet: fo macht fie unter der
Erde Flüffe oder Bäche. Ueber uns Eann fie nicht ftehen,
wenn fie fange Zeit träg und fchwer if. Bisweilen freilich
wird fie durd, tie Sonne verdünnt, bisweilen durch Winde
guegedednt. Daser die Rrgengüffe nicht ohne große Unter⸗
edungen kommen. Was aber unter der Erde ik, 16 \onı
I eg dolle . un:
‚ Das fie in Waſſer verwannelt , Dad iR immer
Naturbetrachtungen. Drittes Bud. 41163
gleidy) , ein ewiger Schatten, eine unaufhörliche Kälte, eine
bewegungsloſe Dichtigkeit: folglich wird auch immer Stoff
zu Quellen oder Flüffen da feyn. — Wir find der Anfiche,
daß die Erde einer Veränderung fähig fey, es wird daher
auch Alles, was fie ausdünftet, weil es nicht von freier
Luft aufgenonmen wird, verdichtet und auf der Stelle in
Feuchtigkeit verwandelt.
0. Damit ift die erfte Urfache von der Entftehung des
Malers unter der Erde angegeben. Man kann mod) dazıı
fügen, daf (Altes aus Auem) immer Eins aus dem Ans |
dern wird. Aus Waſſer Luft, aus Luft Waller: aus Luſt
Feuer , ans Feuer Luft. Warum follte alfo nicht auch Erde
aus Waſſer werden, und Waffer aus Erde? Und wenn diefe
einer DBeränderung in etwas Anderes fühig iſt, warım nicht
auch Einer Verwandlung in Waſſer, ja gerade in Diefes ? f
Beites ift verwandt, Beides fchwer , Beides dicht, Beides |
auf den äußerſten [unterften] Theil des MWeltgebäudes getries |
ben. Aus Waſſer wird Erde. Warum follte nicht Waller |
aus Erde werden? — Über — [wendet man ein] die Zlüffe I
find fo groß. — Wenn du Das in Betracht ziehft, wie groß
fie find, fo betrachte auch, wie groß der Raum ift, aus
dem fie hervorgehen. Es fällt dir auf, da fie doch unauf⸗
hörlich fließen und zum Theil fogar in vafcher Eife dahins
flrömen, wie immer neues Waffer für fie vorhanden feyn
könne? Fällt dir aber Das auch auf, daß, obgleich die
Winde die ganze Luft in Bewegung feren, ed dad, iur N
Pa — fondern derſelbe Tag und Nacıt —
79 FOrSArOME, und erft nicht, wie die Ztüfe, in nen %
Armmten Deere feinen Eauf nimmf, fondern dur Den w
41464 Seueca’d Abhandlungen.
4 meßlichen Himmelsraum in ausgebreiteter Kraftäußerung
zieht? If dir denn Das aud) auffallend, daß, wenn ſich
unzählige Wellen gebrochen haben, doch noch eine nachfol-
gende Woge übrig ift ? Was in fic, ſelbſt zurückkehrt, das
seht nie aus. Alle Elemente find in einem beftändigen
Wechſellauf gegen einander begriffen. Was dem Einen abs
seht, geht in das Andere über. Und die Natur unterficcht
ihre Beflandtheile [Efemente) und beſtimmt fie gleichfam
sach Gewühten: damit nicht durd) Verletzung des Gleichge⸗
wichts der Himmel ein Uebergewicht erlange. Eines liegt
immer im Andern. Nicht nur gehet die Luft in Feuer über,
fondern fie ift nie ohne Feuer. Nimm ihr die Wärme, und
i fie wird ſtarren, flill ftehen, zu einer harten Maffe werden.
Es geht die Luft in Feuchtigkeit, allein fie iſt auch nicht
ohne Feuchtigkeit. Sowohl Luft ald Waller wird von der
Erde entwidelt, aber fie ift eben fo wenig jemals ohne
Waller als ohne Luft. Und ber Webergang von Einem in
das Andere ift deshalb um fo Seichter, weil ed mit Dem,
sin das es ſich verwandeln muß, bereits vermifcht if. Es
i hat alfo die Erde eine Feuchtigkeit: Piefe wird durch fie aus«
‚ gepreßt ; fie hut Luft; die wird durch Lichtleere und Wins
j terfroft verdichtet, daß fie eine Feuchtigkeit bildet. Sie ſel⸗
ber iſt auch einer Verwandlung in Feuchtigkeit fähig, und
thut, was fie ihrer Natur nach muß.
; ı2. Uber wie? entgegneft du mir? Wenn die Urſachen
äder Entftehung der Flüſſe und Quellen ohne Unterbrechung
—— soarun verſtegen fie bisweilen, und kommen bis⸗
7 Fr Drıren ßerosr, wo vorher keine waren? Die Ka
7 mandimal Busch ein Erdbeben in \norrause
Naturbetrachtungen. Drittes Bud. A165
gebracht, und der Einfturz derfelben ſchneidet die Gewäſſer
ab, die danı gehemmt nene Auswege fuchen und fich mit
einer Art von Schnellkraft folche bahnen, oder durch die
Erſchütterung ber Erde ferbft bald da bald dorthin verfest
werden. Es pflegt bei ung vorzukommen, daß Flüffe, wenn
fie ihren Kanal verloren haben, zurüdtreten; fodann aber,
weil fie um ihren Lauf gefommen find, fich einen nenen
fchaffen. Das habe fi, erzählt Theophraftus, *) auf dem
Berg Eoryens **) ereignet, wo nach einem Erdbeben neue
Quellen mit Macht hervorfprudelten. Indeſſen vermuthen
Dance, es treten auch andere Umſtände ein, die den Ge:
wäflern einen andern Urfprung geben, oder fie von ihrem
Lauf abbringen und ablenten. Es gab eine Zeit, wo dag
Hämusgebirge wafferarm war; nachdem aber die Nation der
Gallier ***) von Gaffander bedrängt, fich auf daſſelbe gezogen,
+) Wahrſcheinlich in feinem verloren oegangenen Wert „über
bie Gewaͤſſer.“ Vergl. Fabricii Bibl. gr. III. 7. p. 455.
ed, Harles. und Plin. Hist, Nat, 50, 4. 5
”*, In der Kleinaſiatiſchen Provinz Eilicien.
**65) Diefe Gallier wohnten eigentlic; in Pannonien und Jliyrien,
mochten dreimal einen Einfall in Thracien und Macedonien ;
zuerft unter Anführung bed Eambaules, DI. 120: ſodann
unter verfhiebenen Anführern, die aber, nachdem fie zuvor
den Macedonifchen König Ptolemäus Ceraunus getdbtet, von
Softhenes gefalagen wurden, DL. 124. Ein Theil des odrit⸗
ten Heereszuges Überwand unter Brennus ben ofthene®,
wurde aber dann vertilgt, während der Übrige Tue I
Heeres nach Wien 5309, und dort Gallogehäen \Glta
Zirn] geiinbete. ES muB ber erfte Speerebyan gerorien \EOX
I 130.3, im % 298, v. ein.
4166 Seneca’s Abhandlungen.
.*
und die Waldungen ausgehauen hatte, da Bam ein gewaltie
D
7
ger Reichthum an Waſſer zum Vorfchein, welches nämlich
[zuvor] die Wälder zu ihrer Nahrung einzogen; da aber
diefe auggereutet waren, da quoll die Feuchtigkeit, die num
nidyt mehr von dem Baumwerk anfgezehrt wurde, auf die
Dberfläche hervor. Gerade fo, fagt er, fen es in der Nähe
von Magnefia *) ergangen. Allein — Theophraftus fol mir's
nicht übel nehmen, — Das ift nicht wahrfcheinlich, denn die
fhattenreichften Orte find in der Regel, inımer aud) die wafs
ferreichften.. Das wäre nidyt der Fall, wenn die Bäume
das Waſſer anustrockneten , die ihre Nahrung aus Den nehe
"men, was ihnen zunäcft ift; die Waffermaffe der Flüſſe
- aber quillt aus dem Junerſten heraus, und wird weiter uns
ten empfangen, ald die Wurzeln auslaufen Eönnen. Sodann
erfordern die umgehauenen Bäume mehr Feuchtigkeit, denn.
fie fchlucfen nicht nur Das ein, wovon fie leben, fondern
aud) Das, wovon fie wieder wachfen. — Sn der Gegend
von Arcadia, einer ehemaligen Stadt auf der Infel Ereta,
erzählt er ferner, haben ſich Quellen und Seen verloren,
weil nad) der Zerftörung der Stadt das Land nicht mehr
4 bebaut worden fey: nachher aber, ald es wieder Bebauer
Terhielt, habe c8 auch wieder MWaffer befommen. Die Urs
face der Austrocknung fuck er darin, daß der zugefallene
4 Boden Hark geworden, und weil er nicht umgcarbeitet wurde,
*) Es waren im Alterthum zivei Etädte dieſes Namens, beide
ir Beinafien; und es iſt ungewiß, melde bier gemeint it,
„Die me lag in Zonien am Mäander und dem Berg The
"#7 Pie andere in Zybien, an dem Berg Sipyolut.
Naturbetrachtungen. Drittes Bud. A116
den Regen nicht habe durdylaffen können. Aber wie kommt'
denn, daß wir in den Ödeften Länderftreden zahlreiche Quel
len finden? Endlich find es wohl mehr Gegenden, die ma
um Ded Waller willen anzubauen anfing, als die deshal
erft Waffer befommen, weil fie angebaut wurden. Daß e
nicht das Regenwafler fey, was gleich bei der Duelle ga
mächtige und für Foße Schiffe fahrbare Flüſſe bier, i
daraus u erkennen, weil im Sommer und Winter eit
gleiche Maſſe ſich aus der Quelle ergießt. Der Regen kan
wohl einen Waldbach hervorbringen,, nicht aber ein gleid
mäßig in feinen Ufern fortfliegendes Waſſer; das wird vo
Regengüſſen nicht hervorgebracht, fondern nur geſchwellt.
ı3. Wir wollen, wenn es dir beliebt, hier noch etwa
tiefer eingehen, und du wirft dich überzeugen, daß ma
nicht weiter zu fuchen hat, wenn man einmal auf de
wahren Urfprung der Ströme gekommen if. Ein Flu
nämlich wird gebiftet, durch die vorhandene Maffe irger
eines nie verfiegenden Waſſers. Fragſt du mic alfo, w
denn das Waſſer werde, fo mache ic) die Gegenfrage: w
denn die Luft werde oder die Erde? Wenn cd vier Ef
mente gibt, fo kann man nicht fragen, woher das Waffı
komme; es ift eben einer von den vier Theilen der Natu
Was wunderft da dic) denn alfo, wenn ein jo bedeutend:
Theil der Natur immer Etwas von fich ferbit ausſtröme
fann? So wie die Luft, die gleichfalls einer von den viı
Theilen der Welt ift; Winde und fanfte Lüfte erregt,
das Waſſer Bäche und Flüſſe. Wenn ter Win die |
Sende Luft iſt, fo iſt aud) der Fluß ein Kiekend Wo
39 dabe eö.gewiß Ginlängfic in feiner Bedenttimut
. NL .
1468 Senecas Abhaublkungen.
faßt, wenn ich geſagt habe, es iſt ein Element. Du ſieh
wohl ein, was davon ausgeht, daran kann's nicht mer
geln. J ..
68 13. Das Waffer, fagt Thales, ift das mächkigfl
Element ; das, meint er, ſey das Erſte gewefen, daran
fen Altes entftanden. Aber auch wir find derfelben Anſicht
oder wenigfteng kommt es bei uns am Ende darauf hinaus
Wir fagen nämlich, das Feuer fey ed, das in der Melt di
Dberhand gewinne und Alles in fich verwandle; dafferh
verfchwinde aber und ſetze fih, und es bleibe, wenn da
euer verlofchen fey', nichts WUnderes in der Natur übrig
ald Feuchtigkeit, und in diefer liege der Keim zu einer Einf
tigen Welt verborgen. So ift [und] das Feuer das End
ter Welt, die Yeuchtigkeit aber der Anfang. Und da wii
es dir noch fonderbar vorfommen, daß daraus beftändi
Stüffe tollen hervortommen können, da ſich dody Alles i:
fie verwantelt und Alles aus ihr entfteht? Diefe Feuchtia
feit ift bei der Eintheilung der Elemente das vierte gewor
den, und man hat ihr diefe Stelle angewiefen, um dadurd
zu erklären, fie fey wohl hinreichend, um die Flüſſe, di
Bäche, die Quellen hervorzubringen. — Die nun folgend
J. AUnficht des Thales ift ungereimt. Er ſagt naͤmlich: be
Erdkreis werde vom Waffer getragen und wie ein Schiff ge
führt, und vermöge der beweglichen Natur deffelben wog
fie hin und her, wenn man fagt, fie erbebe. Daher ip:
fein Wunter , wenn die Feuchtigkeit reich genug ift, um
Pre Griffe beroorzubringen, weil ja die Welt ganz in euch
74er (wimmt. Diefer alten und rohen AnAdıt enticuing
#9, und glaube nur nicht, daß das Waller in den Exatu
Naturbetrachtungen. Drittes Buch. 4169
son unten herauf eindringe durch Risen, und einen Le
mache.
ı4. Die Aegyptier haben vier Elemente angenommen,
und aus jedem ein Paar gemacht, männlich und weiblid).
Die Luft nehmen ſie ald das Männliche an, fofern fie Wind
ik, als das Weibtiche, ſofern fie neblicht und nicht in Thä-
tigkeit ift. Männlich war ihnen dad Waſſer ald Meer, weib⸗
lich alles andere Waller. Das Feuer nannten fie männlich,
fofern ed als Flamme brennt, weiblich, fofern es für das
Gefühl unfhärlid, leuchet. Das Stärkere von der Erde
nannten fie männlich, wie Felfen und Steine ; den Namen
bes Weiblichen gaben fie ihr, fofern fie fih zum Anbau
eignef.
15. Das? Meer ift nur ein Ganzes; fo war es nämlich
von Anfang beftimmt; cd hat feine Adern, durch die es in
eine Authende Bewegung gefesnt wird. So wie dag Meer,
fd hat dann auch jenes mildere Gersäfler im Verborgenen
einen mächtig weiten Gang , den keines Fluſſes Lauf aus⸗
fhöpfen wird. Die Berechnung feiner Maffen ift nicht mög»
lich. Es ſtroͤmt davon aus, was Lzum Beſtand des Meeres]
zuviel iſt. — nn
Einigem hievon können wir beiffimmen , weiter ift aber
Das meine Anſicht: Ich nehme an, daß die Erde von der
Natur regiert wird, und zwar unfern Körpern ähnlich, in
welchen theild Blutadern, theils Pulsadern find, jene — Des
hältniffe für das Blut, diefe für die Luft. Aucy in der
Erpe Wand nam Befondere Gänge, durch die das Waler , UN
Sefoubere, durch Die bie gufe ; , . Een
Ermion, 100 Barpe, uft ihren Lauf nimmt; bolohoo
4170 Geneca’s Abhandlungen.
die Natur diefelbe den menfchlichen Körpers nachgebilder,
wie denn auch unfere Alten von Wafferadern gefprochen has
ben. So wie aber in. ung nicht nur Blut iſt, fondern viele
Arten von Feuchtigkeit, theild von unentbehrficher,, theils
von verdorbener und etwas zu fetter, — im Kopf das Bes -
hirn, in den Knochen das Mark, dann der Rob, der Spei«
del und die Thränen, und ein Stoff, der den Geleuten
beigegeben ift, wodurch fie vermäge der Schlüpfrigkeit. defs
feiben fchneker gewendet werben können: fo ud auch in
der Erde mehrere Arten von Feuchtigkeit. Manches verhär«
tet fi, wenn es feine Reife erlangt hat. Daher alle..mes
talifhe Erde, woraus die Habſucht ihr Geld und Silber
gewinnt, und was ſich aus dem flüffigen Zujtand in Stein
verwandelt. Un manden Drten aber fihmitzt Erbe und
Feuchtigkeit zufammen , wie, Erdpech und dergleichen. Dieß
ift Die Urfache des Waſſers, das nach dem Gefege und dem
Willen der Natur entſteht. Uebrigens find Die Feuchtigkeiten,
wie in unferem Körper, fo anch dort einer Verderbniß fäs
big; und die natürliche Beſchaffenheit leidet bald dur Stoß,
bald durch Dmetfchung, bald durch die veraltete Lage, baiı
durch Froft, bald durch Hitze; auch die Schwefellager. iu
der Erde ziehen Die Feuchtigkeit an ſich, welche bald Lange,
bald Purze Zeit anhält. So wie daher in nunſerm Köwper,
wenn eine Bintader angefchlagen worden ift, das Dfut. fo
Yange fließt, bis fie ganz ausgeleert ift, oder bis der Bruch
Der Bllorer fidy zufammenzieht oder unterbunden if, wer
Aryend eine andere Urſache das Blut zurittxeikt , (0 ergießt
* der Erte, wenn bie Adern Ind.amd aedfinrt Tan,
ab oder Fluß. Es kommt darauf an, wir weit ie
Naturbetrachtungen. Drittes Bud. As
Mer geöffnet, und in wie fern das Waſſer aufgezehrt wers
ben if. Bald tritt durc, irgend ein Hinderniß Dertrod«
nung ein, bald eine Art von Vernarbung und der gebahnte
Weg wird verfchloffen. Bald tritt der Fall ein, daß dieje⸗
nige Kraft der Erde, von der wir ſagten, fie fey einer Ver⸗
änderung fähig, ihren Nahrungsftoff nicht mehr in Fench—
tigkeit umfesen kaun; zu Zeiten wird jedoch das Erſchöpfte
wieder angefüllt, ſey ed nun, daß fich die Kräfte von ſelbſt
erfest haben, oder von anders woher gekommen find. Oft
nämlich ziehet das Leere, wenn ed an etwas Volles kommt,
Keuchtigkeit in fih ein. Oft löst fia) die Erde, welche leicht
in etwas Anderes übergeht, in Fäulniß auf und wird feucht.
Es geht unter der Erde gerade fo, wie in den Wolfen, daB
fie dicht auf einander gedrängt wird, und weil fie zu fchwer
wird, als daß fie bei ihrer Natur bleiben könute, eine
Benchtigkeit erzeugt. Oft fammelt fih, wie ein Than, eine
dänne nud zerftreute Flüffigkeit, die aus vielen Orten au
einem zufammenftrömt. Die Waffertheoretiter nennen Das
ein Yusfchwigen, weil eine Art von Tropfen entweder durch
ven Druck der Lage ausgepreßt oder durch Hitze hervorge⸗
bradye wird. Diefe magere Waſſermaſſe reicht kaum zu eie
se Duelle hin. Uber wenn die Urfachen bedeutend Aunb
and die Anſammlungen anfehnlih, fo kommen Flüſſe zum
Borfchein , bisweilen fchwächer, wenn das Wafler nur mie
telſt feines eigenen Gewichts hervortritt, bisweilen wat
Heftigkeit und mit einem eigenthümlichen Getoͤſe, wenn Va
Bafır a an aut herausgeworfen wird. -
16. ‚warum find gewiffe Quellen ale ſehs Stu
er on uud wieder in feds Stunden verfiege? Es W %
3 *
4172 Seneca’d Abhandlungen.
nöthig, Flüffe namentlich aufzuführen, die in gewiſſen Mos
naten groß, in gewiffen fchmal find, und bei einzelnen nach
der Veranlaffung zu forfchen, da ich für alle zufammen eis
wen und denfelben Grund anführen kann. So wie dad viers
tägige Fieber auf die Stunde kommt, fo wie das Podagra
feine Zeit einhält, fo wie die Reinigungsperiode, wenn
feine Störung eintritt, auf dem beftimnten Tag bleibt: fo
wie die Geburt auf ihren Monat kommt: fo haben die Ge⸗
wäfler ihre Perioden, wo fie fich zurüdziehen, und wo fie
wieder Eoınmen. Es gibt aber Eleinere Perioden, die eben
Deshatb um fo Teichker zu merken find; aber aud) größere,
doch nicht minder zuverläſſig. Und was ift denn Sonderbas
res daran, went du eine Ordnung wahrnimmft, und daß
de Natur ihren beftimmten Gang gehe? Es ift noch nie
der Winter ausdgeblieben; der Sommer mit feinen Gluthen
kommt zur rechten Zeit, und die Veränderungen des Herbs
es und des Frühlings haben ihren gewohnten DBerlauf.
Sowohl die Sonnenwende als die Tag» und Nachtgleiche
dringt die Tage, fo wie ſich's gehört. *) Auch unter der
Erde find Naturgefese, und weniger befannt, aber nicht
weniger beſtimmt. Was du oben ſiehſt, das glaube denn
für unten. Auch dort find ungeheure Höhlen , mächtige
Gänge und Räume, auf beiden Seiten von herabhängenden
Bergen umgeben. Es find jähe unendlich tiefe Schlünde,
Lie oft eingeftürzte Städte in ſich auffaßten, und die unges
> Ra einer wohl sicht unglüdtihen Eonjettur suus dies
Prater es beißen: „Eowohl bie Sonnenwente A vie Aoas
® Pfagtgleicge tehrt zu befiimmrer Zeit wiedre.
Naturbetradhtungen. Drittes Bud. 41473
geheuren Trümmer in ihrer Tiefe begruben. Diefe Aue find
vol von Luft, denn nirgends ift leerer Raum, und flehente
Bailer find tort, umfchloffen von Finfterniffen nnd unge—
beuren Räumen. Auch Thiere leben darin, aber träge und
unförmlich,, wie die, fo in lichterer und fetter Luft und in
Gewäaͤſſern ſich erzeugen, die durch das lange Stehen ohne
Leben find; und die meiſten folcher Thiere find blind, wie
die Maulwürfe und unter der Erde lebende Mäuſe, die Fein
Angenlicht Haben, weil fie Feines brauchen. Daher werden,
wie Theophraftus behauptet, an manchen Orten Fiſche aus
der Erde ausgearabeı.
17. Es wird dir hier Manches vorkommen, was du,
weil dir die Sache unglaublich iſt, mit guter Art für ein
Maͤhrchen erklären möchteſt: daß man nämlich nicht mit
Netzen oder Angeln, ſondern mit Hacke und Spaten auf's
Fiſchen ausgehe. Es wird ſchon auch noch kommen, ſdenkſt
du) Daß man im Meere auf die Jagd geht. — Aber warum
ſollen denn die Fifche nicht aufs Land übergehen, wenn
doch wir über die Meere ſetzen? — Es ift eben ein Aus⸗
tanfch der Wohnplätze. Es kommt dir wu.iderbar vor, daß
Das geſchehen fol: o wie viel unglaublicher ift dad Thum
und Treiben der Genußfucht, wie oft verläugnet fie die
Natur oder geht über fie hinaus! Im Zimmer ſchwimmen
Fiſche, und unter der Tafel fängt man einen, um ihn ſe—
gleich auf den Tiſch zu bringen. Der Seebarbe will ſchon
nicht mehr recht frifch dünfen, wenn er dem Goſt wiht ia
der Hand obfirb In gläfernen Flaſchen ſeeut man iM
vor, und DeoPachtef das Farbenfpiel bei ihrem Steve
ron ber 2oB Bringt bei dem Ringen des Athems gar TU
1174 Seneca's Abhandlungen.
cherlei Veränderungen in der Farbe hervor; manche laͤßt
man in der Fiſchbrühe ſterben, und bereitet ſie lebendig zu.
— Und Das will man für ein. Mährchen haften, daß ein
Fiſch unter der Erde leben könne, und angsgegruben werde,
flatt gefangen. Wie unglaublich follte es ihnen vorkommen,
wenn fie hörten, ein Fifch fchwimme in der Brühe, und
fey nicht des Speifend wegen über der Tafel abgethan wor
sen; obwohl er ein großer Leckerbiſſen ift, Hat er doch erft
Bte Augen ergötzen müffen, und dann erſt die Kehle.
38. Erlaube mir, daß ich, die Unterſuchung bei Seite
fegend, die Ueppigkeit geißle. Es gibt Doch, ſagt man,
nichts Schöneres , als einen fterbenden Seebarben. Mitten
im Todeskampfe verbreitet fich über den Sterbenden zuerft
eine Röthe, danı eine Bläffe; wie gleichartig wechfelt er
andy in. andern Farbenbildungen zwifchen Tod und Leben.
Da hat die träumende, gefchäftsiofe Genußfucht doc, lange
harren müffen! Schade, *) daß es fo lange anftand, daß fie
fa ſpaͤt erft zur Erkenntniß kam, um welch herrliches But
fe verkürzt und getänfcht ward! Dieß sroße und fchöne
Schaufpiel hatten bisher nur die Fifcher genoffen! Was fol
mir ein gefochter Fifch, ein lebloſer? wenn er auf die Tas
wi komme, fol er erft zu athınen aufhören. Wir munders
Ben und, daß man fo eckel war, nicht zugreifen zu wolten,
wenn der Fiſch nicht erft heute gefangen war; denn er follte,
nach der üblichen Redeweiſe, noch den Meergeſchmack has
den. Darum ließ man ihn eilig herbeibringen, und es
——— — —
2 Die Ueberte u
—— — „(oist bier der Exaduiigen Eonjetur. quam
Naturbetrachtungen. Drittes Bud. 41175
wurde den keuchenden und mit "Gefchrei herbeieilenten Träs
gern Platz gemacht. Wohin ift es gefommen mit den es
dermäulern! Der Fiſch, den man heute erft abthat, gilt ih—
nen fchon für einen faulen. — „Er ift doch aber erft heute
gefangen worden. Die Sadye ift zu wichtig, als daß id)
dir darin glauben Pönnte. — Ich kann Niemand, als mir
ferbft glauben; man bringe ihn zur Stelle ; vor meinen Aus
gen fol er das Leben aushauchen! — Zu folchem Webers
muth find die Bäuche der Schlemmer gefemmen, daß fie
dem Fiſch Keinen Geſchmack abgewinnen Lönnen, fie haben
ihn denn zuvor bei der Zafel noch fchwimmen und zappeln
gefehen. “Je erfinderifcher die fich ferbft mordende Genußs
fucht wird, deſto feiner und zierlicher ſinnet die Narrheit,
dad Gewohnte verachtend, Tag für Tag Etwas aus. Man
hörte fonft fagen: cs fey doc, Nichts befler, als ein Sees
barbe aus den Klippen heraus. Uber jebt Heißt es: es ift
Nichts fchöner, ats eis fterbender. Gib mir ein Glas in
die Hand, worin er feine Spränge macht, worin er zap⸗
yelt! Nachdem man ihn lange genug und viel gepriefen hat,
zieht man ihn aus dem durchfichtigen Gefängniß heraus, und
wer dann der größte Kemer ift, praäientirt ihn umher. Seht
dach! die glühende Röthe, höher als aller Mennig; feht
doch, was für dern er an den Seiten zieht! ey, follte
man nicht den Bauch für reines Blut halten! Und dann
wieder das Lichtfarbe, — und an den Schlaͤfen glänzt ja
Etwas himmelblau her! Jetzt ſtreckt er fich nnd wird bleich,
und allmäplig ganz einfärbig! Aber unter Dielen en TÜR
SKetsrer gu einem Srennd anes Sterbebette. Keiner tan Ti
über Rd gewinnen, Den Zop feimes teibtiagen orerd W
4476 Seneca’d Abhandlungen.
Atzufchen, obwohl er ihn gewünfcht Haben mag. Wie feltem
begleitet Einer die Leiche eined Familiengliedes bis zum
Sceiterhaufen! Bei der Brüder und Verwandten febtem
Stündfein tritt man ferne; zum Tod eined Seebarben drängt
man ſich zufammen. Es gibt ja nichts Schöneres, als die⸗
fen. Ich ann mir nicht wehren, ich muß mir bismeilen
. ein kühnes, die Sphäre des eigentlichen Ausdrucks überſprin⸗
gendes Wort erlauben, fie find zum Bauchdienft nicht mit
‚ den Zähnen und dem Magen und dem Munde zufrieden;
auch mit den Augen find fie Freſſer.
19. Doch, um zu meinem Swed zuräcdzufehren: fo
vernimm meinen Beweis, daß eine große Waſſermaſſe unter
der Erde verborgen fey, welche an Fifchen fruchtbar ift, die
Durch ihre bewegungsloſe Lage eckelhaft geworden find. Wenn
dieſelbe zuweilen hervor bricht, fo führt fie eine unermeßliche
Menge von Thieren mit fi), fehauerlich anzufchauen und
haͤßlich und fchädfich, wenn man davon koſtet. Wenigſtens
als in Carien in der Nähe der Stadt Hidyſſus *) ein ſol⸗
ches Wafler entfprungen war, ftarben alle die Leute, die fols
che Fiſche aßen, weldye der neue Strom an die von benfels
ben bis anf jenen Tag ungefehene Luft gebracht hatte,
Und das darf uns nicht wundern. Es waren nämlich fette
amd ausgeftopfte Körpermafien, wie aus einem lange unthäs
tigen Zuftand Lommend, überhaupt ohne Bewegung und in
- Sinfterniß gemäftet und dem Licht entiremdet, aud dem alles
gefunde Leben gefogen wird. Daß aber in foicher Tiefe der
7 Des Samen biefee Etat geben die Sankiäxiiten veriaiehen
var Dyeinium, Slöyeinm, Yavkum u. ſ. w.
nr an —
Naturbetrachtungen. Drittes Bub. 4477
Erde Fiſche entftenen Eönnen, dafür diene zum Bewe's,
daß auch Aale an verborgenen Orten ſich erzeugen, eine
freifich auch fchwere Eprife wegen der trägen Lebensweiſe
(diefer Thiere] befonders wenn Lie Tiefe des Schlammes
fie ganz und gar verbirgt. — Es hat alfo die Erde nicht
nur Wafleradern, aus deren vereinigtem Lauf Flüſſe ent:
ftehen könuen, fontern auch Ströme von ungeheurer Größe,
deren einige ihren Lauf immer im Verborgenen haben, Eis
fie in irgend einer Vertiefung verfunten, andere aber unter
irgend einem See herauffommen. Und wer weiß denn nicht,
daß manche ftehende Waſſer unergründfich find. Was fo
daraus folgen? Es foll deutlich werden, daß darin ei ters
fiegender,. Stoff für große Strönte fey , deffen Grenze nicht
erreicht wird, wie bei Slüffen und Quellen.
so. Über warum haben die Waſſer einen verfchiedenen
Geſchmack? Aus vier Urfachen. Die erfte liegt in dem Bo⸗
ten, durch den fie fließen, Die andere in ebendemfelben,
wenn er durch die Veränderung bdeffelben entſteht. Die
dritte in der Luft, welche in Waſſer zerſetzt worden iſt;
die vierte in der Verdorbenheit, die ihnen oft zukommt,
wenn fie Schaten feiden durch Derunreinigung. Das find
die Urfachen, die den Waſſern einen verfchiedenen Gefchmad
geben , und eine Arzneikraft, und Stickluft und einen fchäd«
fihen Geruch, und ihre Xeichte und Schwere und entwerer
Wärme oder übermäßige Kälte. Es kommt darauf an, ob fie
über fchwefelhaltige, oder falpeterhaltige, oder Erdpechhal:
tige Stellen laufen. Wenn fle auf folhem Wege wertuiken
Rub, A es IeBeusgefäßrlih, davon zu treinten. Bihet
/uge Vocoiud. [Berwandlungen X, 2 f.]
1178 Senecars Abhandlungen.
„Da ıft bei den Eiconen *) ein Fluß, der geirunfen, wie Stein har
Eingeweid madt, und, was er berührt, mit Marmor umtrufter.‘
Er ift giftartig, und Hat einen Schlamm von folcher Bei
fehhaffenheit, daß er fih an die Körper anfest und fie har
macht. Sowie der Staub von Puteoli **), wenn ev dat
Waſſer berünrt, zu Stein wird: fo bleibt im Gegenthei
diefes Waſſer, wenn es einen feften Körper berührt, hän
gen und heftet fi, an. Daher kommt cd, daß Dinge, di
mau in einen folchen See wirft, nad) einiger Seit verflei
nert herausgezogen werden. Dieß ift in manchen Gegender
Italiens der Fall; wenn man eine Ruthe oder einen Zwei
verfenft, fo zieht man ihn in wenigen Tagen verfleiner
heraus. Es wickelt fich nämlich um den Körper ein Schlamm
und leimt fich allmählig an; Das wird dir nicht mehr fı
wunderbar vorkommen, wenn du bemerkſt, daß der Albula, ***
und in der Regel überhaupt fchwefelhaltiged Waſſer an fei
nen Kanälen und Wafferleitungen fih als harte Meffe an
fest. Irgend eine jolche Urfache findet auch bei jenen Seer
ftatt, von welcden Seder, der den Diund daran fest, nac
demfelbigen Dichter [ Dvidv’d Verw. XV, 331, ]
„Rafet cher von wunderbar ſchwerem Schlummer betaͤubt wirb.
*) Die Ciconen, ein Volt in Thraden am Sluſſe Hebrut
Vergl. Rirgit vom Landbau IV, 520.
**), Don ben Hügeln bei Puteoli — Puzzuolo — an ber Seetäfl
Eampaniens fammelt ſich ein Staub, ber, wenn er das War
fer beruͤhrt, verfieiuert und eine gute Bruſewehr gesen de
Meer ift. Vergl. Pıinius Hist, Nat, 11, „o3.
"> Der YUibuta (Ergo bi Zartariv den Tibue (Kool) , nA weichen
Pr Eolfatara in bie Ziver fliegt.
Naturbetrachtungen. Drittes Bud. 41179
Er hat eine Wirkung ähnfich der des ungemifchten Weines,
nur heftiger. Denn gleichwie die Trunßenheit, bis fie vers
geht , Wahnfinn ift, und durch die Ueberladung in betäubens
den Schlummer übergeht: fo hat der Schwefelgehatt solches
MWaffers - ein von fchädficher Luft Fommendes fehr ſcharfes
Gift, welches das Gemüth entweder in Wahuſinn verfest,
oder mit Schlaf- betäubt. — Solch eine fchlimme Eigen—
(haft hat auch der Fluß von Lynceſtis: *) [Ovid's Ders
wandlg. XV, 530. ff.]
Welcher davon in wenig gemäßigten Zügen geichbyfer,
Wanket nicht anders, als hätt? ex vom ftärtiien Weine ges
trunfen.
21. Manche Höhlen gibt's auch, — wer hineinfchaut,
ift des Todes: und fo ſchnell wirkt das Uebel, daß es vor⸗
überfliegende Vögel hinabflürzt; von der Ark ift die Luft,
“von der Art der Ort, wo födtlihed Waſſer hHervortröpfelt.
Iſt die Vergiftung der Luft und des Raum's nicht ſo hef⸗
tig, fo ift auch die Schädlichfeit gemäßigter, und thut
Nichts anders, als daß auf die Nerven eingewirft wird,
die danu wie von Trunkenheit abgefpannt werden. Und id)
kann mich nicht wundern, wenn der Ort und die Luft das
Waſſer anfterft und den Gegenden aͤhnlich macht, durch wels
che und aus welchen ed kommt. Iſt ja doch auch der Ges
fhmad des Futters in der Mitch bemerkbar, und die Kraft -
des Meines tritt auch im Eſſig noch hervor. Es gibt Nichts,
das nicht Kennzeichen von Dem, woraus es entfteht, mers
ten ließe.
Fa 9 Erigon in ug. MI
zins Nat. Hist, 11, | Diesebonien und Epieud, Brev
1180 Seneca's Abhandlungen,
22. Es gibt auch noch eine andere Art von Waſſer,
pon der wir behaupten, es fey fo alt, ald die Welt. Mag
‚ num dieſe von Eroigkeit feyn, fo ift auch dieſes Waſſer von
jeher gewefen; oder hat fie einen Anfang gehabt, fo ift
auch diefes mit dem’ AU geordnet worden. Was Das fey,
fraaft du ? Der Dcean, und alled Meer, was von ihm aus
die Länder befpütt. Manche find der Anſicht, auch die
. Flüffe, deren Natur unerblärtich ift, haben zugleich mit
- m.‘
der Welt ihren Urfprung genommen, 3. B. der Iſter, der
Mit, diefe ungeheuren Ströme, und zu aufferordentlich,, ald
dag man befaupten Fönnte, fie haben den nämfichen Urs
fprung, wie die andern.
4. Das alfo it, nach @inigen, die Eintheilung des
Waſſers. Darauf Fommen die Wafler vom Himmel, die das
Gewöoͤlke von oben herabfalfen läßt. Don den Erdwaflern
find einige, wenn ich fo fagen fol, obenfchwimmende, die
:, auf der Oberfläche des Bodens dahinfchleichen ; andere find
‚ verborgen, von denen bereits die Nede war.
24. Warum mande Waffer warm feyen, mandye fo
heiß , daf fie gar nicht zu brauchen find, wenn fle nicht ent⸗
weder in freier Luft verdampfien oder durdy Beimifchung
. von Eaftem Tau werden, — davon führt man mehrere Urfa-
. en an. Empedokles *) ift der Meinung, durch Feuer, die
'an vielen Orten die Erde verbirgt und verdedt, werde das
Maffer warm, wenn fie unter dem Boden liegen, durch
*, Empedokles, ein Philoſoph und Dichter ous Agrigent Im
Erittem, lebte u oie Byufte Diympiade. Dre Stoiter Werus
Yon fig pdnfig Auf im, ste Diymp
4
Naturbetrachtungen. Drittes Bud. 4184
weichen das Waller feinen Durchgang hat. Man pflegt
Drachen *) zu machen und Dlivengefäße und allerlei Fors
men, in welchen man Röhren mit dünner Luft anbringt,
weiche ſich abwärts herumfchlingen, fo daß das Waſſer,
weiches oft um das nämliche Feuer herumgeht, fo viel Naum
durchſtromt, als nöthig ift, um Wärme hervorznbriagen.
Kalt tritt es alfo ein, warm fließt ed heraus. Eben dieß
meint Emyedocles, gefchehe unter der Erde, und Wer Bär
der ohne Feuer warm befommf, wird nicht glauben, daß
es falfch fey. Heiße Luft ſtrömt in diefelben ein an heißer
Stelle. Diefe Luft, die in Kanälen ſtrömt, erwärmt die
Wände und die Badewannen gerade fo, ald ob Feuer dar⸗
nnter angemaht wäre. Endlich wird alles Salte Waſſer
durch die Uebergänge in warmes verwandelt, und die Auge
dänftung führt Beinen Geſchmack nit ſich, weil es durd) ver-
fchloffene Räume geht. Dianche glauben, wenn das Waffer
durch ſchwefelhaltige Stellen aus» oder einftröme, fo nehme
es durch den Einfluß des durchflrömten Stoffes Wärme an,
und ald Beweis dafür beruft man fi auf den [fchwefelars
tigen] Geruch und Geſchmack. Es fpricht ſich nämlich darin
die Eigenthümlichkeit der Materie aus, von der die Wärme
kam. Daß du did, darüber nicht wundereft, fo gieße Wafs
fer auf ungeldjchten Kalk, — und diefer wird fieden, (aufs
braufen). _
35. Manche Waſſer find toͤdtlich, ohne daß fie fi
*, In ben Blbern Hatte man allerlei dergleichen \omberbor Ar
formte Gefaffe, in weigen das Baberoalfer wur db SI
va Gerlanfes erwärmt wurte.
4182 Senecws Abhandlungen.
entweder durch Geruch oder durch Geſchmack auszeichnen.
In der Gegend von Nonacris in AUrcadien ift ein Waffer,
— die Einwohner nennen e8 Styr, — Pas die Fremden tänfcht,
weil es weder dem Auge noch dem Geruc, verdächtig vors
fommt, fo wie die Gifte großer Künſtler find, die man erft
an der tödtlichen Wirkung erkennt. Dieſes Waſſer aber,
von dem ich oben redete, richtet mit der größten Geſchwin—
digkeit fein Verderben an, und es Hilft kein M’ctel. dager
gen, weil es fih im Augenblick, wo es getrunken worden
it, verhärtet, und nicht anders als wie Gyps nod, wäh.
vend es feucht ift, Aaufammengezogen wird, und die Ciuges
weide zuſammenſchnürt. Es ift aber ein fchädliches Waſſer
in Zheffafien, in der Nähe von Tempe, das fowohl vom
Wild ald von allem Dich gemieden wird; durch Eifen und
Erz frißt es durch, ſolch eine Kraft hat es, aud) das Harte
zu erweichen. Auch nährt es Beinerlei Baumwerk, und die
Kräuter flerben davon ab. Manche Flüffe haben wunder:
bare Eigenſchaften. Einige gibt es, teren Getränk bie
Schaafs-Heerden färbt; und in Eurzer Zeit tragen davon
diejenigen, welche ſchwarz gewefen waren, weiße Wolle;
die aber weiß gefommen waren , gehen fchwarz davon. Dieß
ift aud) die Wirkung zweier Flüſſe in Böotien, von denen
der eine wegen feiner Wirkung den Namen Melas [der
Schwarze] führt; Beide *) Fommen aus einem und demfel«
ben See, und haben doch enfgegengefegte Wirkungen. Auch
in Macedonien tft, wie Theophraftus yagt, ein Fluß, an
een man Die Schafe hinfährt, wenn man (le weiß
> .
De anöcere It Ser Eeppirus,
Vcaturbetrachtungen. Drittes Buch, 1183
vill. Denn wenn fie davon längere Zeit getrunken
fo wedyfeln fie die Farbe, als wären fie gefärbt
Braucht man nun ſchwärzliche Wolle, fo kann
n umentgeldlichen Färber haben ; man treibt die
nur an den nämlichen Peneus. Es find neue Ges
nner dafür vorhanden, daß in Galatia ein Fluß
an allen die nämliche Wirkung thue; es ſey einer
adbocien , durch deffen Trank die Pferde, aber fonft
vier, ſich verfärben, und die Haut weiß gefprentelt
Daß es wianche Seen gibt, welche Zeute tragen,
: nicht fchwimmen £önnen , ift befaunt. In Sicilien
d in Syrien ift noch gegenwärtig ein See, *) in
Ziegelfteine fchwimmen, und auch ſchwere Korper
rſenkt werden. Die Urfache davon liegt am Tage.
inen Gegeuſtand ab, welchen Du willft, und thue
Waſſer in die andere Wagfchafe, nur muß das
yon beiden gleich feyn, ift das Waſſer fchwerer, fo
den Gegendand, der leichter ift, als es ſelbſt, tras
id ihn um fo viel über ſich halten, als er Teichter
3 fchwerer it, wird fid) abwärts fenfen. Wein aber
wicht des Waſſers und des Gegenflandes, den du das
iegſt, gleich iſt: fo wird er weder zu Grunde gehen,
sehen, fondern in gleicher Kinie mit dem Waller oben
2 wird zwar fchwimmen, aber beinahe unter dem
‚ und auf feier Seite hervorragend. Das iſt der
warum manche Balken oberhalb des Walerd , TR
eraußftejen; manche bid zur Hälfte finten , wandıe
fobte Deeer, weſches yier Earz und Exbhars —XXX
4184 Seneca's Abhandlungen.
mit dem Maffer auf gleiher Linie Lim Rivean] ftehen.
Denn wenn das Gewicht von Beiden gleich ift, und kein's
dem andern nachgibt, fo finft auch das Schwerere und das
Leichtere Pwird getragen. Schwer und leicht laͤßt ſich aber
nicht beftimmen, auffer durch Vergleichung mit Tem, wovon
Etwas getragen werden fol. Wenn daher das Waffer
ſchwerer ift, ald der Körper des Menſchen, oder eines
Eteins, fo läßt es denfelben nicht finfen, obfchon es davon
auch nicht überwogen wird. Daher kommt es, daß in eis
ninen ftehenden Waffern auch Steine nicht zn Boden fins
ten, und id) rede von feften und harten; denn es gibt viele
löcherige und feichte, und aus folchen beftehen die ſchwim⸗
menden Infeln in Lydien.*) Theophraftus ift dafür ber
Sewährsnann. Ich feldft habe im Eutilifhen See [im
-Sabinifchen) eine fchwimmende Inſel gefehen. Auch anf
dem See von Vadimon [Lago di Bassano ] fährt eine ſolche
herum, und wieder eine auf dem Statonienfifchen „See
[Lago de bagni oder Solfatara bei Tibur.] Die Infel im
Euritifhen See hat auch Bäume und nährt Kräuter; dens
noch wird fie vom Waſſer getragen, und auf bdiefe oder
jeue Seite nicht nur vom Winde getrieben, fondern andy
von einem fanften Lüftchen. Und nie bleibe fie einen Tag
und eine Nacht hindurch an derfeiben Stelle, fo beweglich
ift fie von einem leichten Hauch. Das hat eine gedoppelte
*) Diese Infein heißen Calaminae ; — Rohrinfein — und wers
47 zit nur vom Binde, fonbern auch mit Stangen im
“Wegung gefegt. WBergl. Plia, Nat. bist, U, 5, fe wis
Fe au tanzende nfeln.
d eben deßhalb gewichrig ift, und Dann den Gtoff der
der fich [vom Waſſer] tragen läßt, und nicht aus
bichten Körper beſteht, obwohl er Bäume naͤhrt.
ielleicht hat die fette Feuchtigkeit leichte Baumftamme
See zerftreute Zweige an fidı gezogen und feft gchal:
zenn daher je Felsſteine auf diefer Inſel find, fo wird
zerfreffen und ausgehöhlt finden, wie diejenigen find,
pa einer verhärtcten Feuchtigkeit gebildet werden,
ich in der Nähe ter Biiche von Gefundbrunnen; und
mn der Unflath vom Waſſer zufammenwächst, fo wird | |
ı Schaum eine fefte Maſſe. Breilih muß er Teiche ul.
as aug windigem und gehaltlofem Stoff zufanunens '
n if. — In manchen Fällen läßt ſich feine Urſache
‚ marum z.B. das Nilwaſſer vie Frauen fruchtbas N
it, fo daß ed bei Mi anchen den Leib, der in langer |
'sarfeit verjchloffen war, zur Empfängniß erweicht Ä 4 |
|
w
|
-.———n qui TUT 07007 =avwy ie.
: bie Schwere des Waffers, welches Heifkräfte ents
J
|
|
'
4
|
h
ner, warım gewiffe Waller in Lycien das Empfan-
rauen haftbar machen; welhe Waller Diejenigen
ı, die eine nicht "halıba:e Gebärmutter haben. Ich
Drts zähle tiefes zu ven arundlos verbreiteten Sa:
kau hat geglaubt, manche Waffer ziehen dem Körper
ze zu, manche eine Art von Hautflecken und entſtel⸗
Leicyincht, fie mag nun angeſchwemmt oder eingetruns
den. Diefen Fehler fol das Waſſer haben, das fi
au gefammelt hat. — Wer folite nicht glauben, 1
: Waffer fey Dasjenige, weiches zu Exrykatl win?
ver umgelchtt: es gefchicht dieß wänlic wit WER
208 Born, h
Senecas Abhandlungen.
em, das eben wegen feiner Dünne durch die Kälte am
ften zum Frieren gebracht wird. Woher aber ſolcher
‚ entflehe, das ift aus dem Griechifchen Namen zu er«
5 Tryſtall Heißt bei ihnen nicht nur jener durchfichfige
m, fondern eben fo auch jenes Eis, aus welchem man
bt, daß ber Stein entftehe. Das vom Himmel kom⸗
de Waſſer nämlich, welches gar wenig Erdſtoff in fidy
i, wird, wenn es verhärtet, durcd dad Anhalten langer
älte je mehr und mehr verdichtet, bis es, nachdem alfe
aft hinausgefrieben ift, ganz in ſich zufammengepreßt, und,
a8 Feuchtigfeit war, zu Stein geworden ift.
ak, Einige Zlüffe werden im Sommer flärker, 3. B.
der Nil. Der Grund davon foll ein andermal angegeben
werden. ZTheophraftus gibt an, aud) in Pontus [einer Pros
vinz von Kleinafien] wachen einige Flüſſe zur Sommerszeit;
man glaubt aber vier Urfachen davon zu kennen. Entweder,
weil Die Erde dann am meiften geeignet ift, in Feuchtigkeit
umgefeßt zu werden; oder, weil in der Ferne große Regen»
güffe fallen, deren Waſſer, durch geheime Kanäle herbeige
führt, im Verborgenen andrängt. Der dritte Grund i
der: wenn durch Häufige Winde die Mündung gepeitfcht ur
durch das Anwogen zurücgefchlagen wird, fo entfteht i
Fluß Drucwaffer, *) und er fcheint zu wachfen, weil er f
nicht fort ergieft Der vierte Grund Tiegt in dem Einf
der Geftirne. -- Diefe wirken in gewiffen Monaten n
#393, nnd erfchöpfen die Flüſſe: iveten fie weiter zurück
mL fo Weibt ber STuß fliehen, und oͤrſickt fomir var
Prömenbe Bayer u einen böhern Stand Ana
Naturbetrachtungen. Drittes Bud. 1418
in und ziehen fie nicht fo vier auf. Was nun ſonſt zı
‚tsehrung beftimmt war, das kommt dann dem Wachsthı
4. *) Manche Flüſſe fallen offenbar in irgend eine Hol
hinab , und kommen und fo aus dem Gefichte; manche ve
tieren und verſenken ſich allmählig; aber in einiger Entfi
nung kommen fie wieder zum Vorfchein, und erhalten ihr
Lauf und ihren Namen wieder. Die Urfache iſt offenbar,
ift unter der Erde freier Pas. Alle Feuchtigkeit aber ge
ihrer Natur nad) abwärts und in's Leere. An jenem c
heimen Ort verientt, haben aljo folche Flüſſe ihren Xauf go
macht ; fobald aber etwas Feſtes, das fie hemmte, ihnen
den Weg trat, jo brachen fie auf der Seite durch, die i
nen zum Hervortreten am wenigften Widerftand Teiftefe, u
nahmen ihren Lauf wieder an.
Co wenn der Erde Schlund des Lycus**) Fluthen getrunten,
Tritt in ber Sein’ er hervor; aud anderem Quell ſich ergießen
Aiſo verfhiungen anizt und in ſtiller Tiefe verfließend
Trier Eraſinus, ber mächtige vor In Argos Gewäffern, ***)
Der nämliche Fall ift auch im Drient mit dem Tigris;
fintt in die Erde, und, nachdem man lange Nichts von ih
weiß, kommt er endlich in einem entfernten Orte wied
hervor , ohne daß zu bezweifeln ift, ob er denn auch d
* Es iſt auffallend, daß zu biefen Urfachen nicht auch bie ei
fachſte und narfirlihfte angeführt wird, nämlich dad Schm
zen bes Schnee's in den Nochgebirgen, da doch namentl
die Stäffe von Pontus aus dem Caucaſus und Zaurud to:
men. .
20) Locus, ein Find in Mrogien, Eraſinus in Areatien.
vr) Bergl, Doibd Berwandiungen XV, 276,
—8
— ” nu. "m. AT TE Tr mg
vw
»
1188 Seneea?s Abhandlungen,
nämliche ſey. Manche Quellen werfen zu beſtimmter Zeit
Unfloth and wie die Arethuſa, allemal im fünften Sommer
in Webereinflimmung mit der Feier der Olympiſchen Spiele.
Daher ift man der Meinung, daß der Alphäus aus Achaia
bis dahin dringe und unter dem-Meere feinen Lauf habe
und erft an den Küften von Syrakus wieder zum Vorſchein
tennne, und daß alfo in den Tagen, in weichen die Olym⸗
pifchen Spiele find, der Unrath von den Opferthieren , der
in den abwärts firömenden Fuß geworfen wird, Dort Yoies
der hervorkomme. Diefe Sage haft auch du erwähnt in dei⸗
nem Gedichte, theuerfter Lucilins, und eben fo Virgilius,
der die Arethnfa anretet:
„So wenn unter die Fluthen Siciliaes du dich Hnabfentft,
Möge das bittere Meer dir nint fein Waſſer vermiſchen. *)
Auf der Landzunge von Rhodus ift eine Quelle, die nach ge:
raumen Zwifchengeiten atterhand Uureines trüb vom Grund
anf wühlt, bis fie frei und’ geffärt if. Das thun an mans
chen Drten die Duellen, daß fie nicht nur Koth, fondern
auch Bfätter und Schaalen und allerlei verfanlte Dinge aus⸗
werfen: überall ift vieß bei dem Meere der Fall, in deffen
Natur es liegt, daß cd alles Unreine und Mitartige an die
Kürten wirft. Einige Theite des Meeres thun dieß zu be
flimmten Zeiten, wie 3. B. in der Nähe von Meffana und
Mylä das unruhige Meer Etwas wie Mift an's Ufer herz
wirft und ziſcht und braust, nicht ohne häßlichen Geruch. **)
*) Vergl. Dirgivs Ettogen J. 4. Das bittere Meer — eigent⸗
lich die Bittere Doris, der Name emer Nereide, Mees
SCSPgmr De,
? arran. Plia, nat, hist, II., 98. Mylaà wor eine Etahr va
‚altes auf einer Halbinſel. Das heutige Miaye.
Naturbetradgtungen. Drittes Bud, 1180
Daher der Mythus, daß dort die Sonnenrinder -ftallen. At
lein in manchen Fällen ift die Sache ſchwer auszumitteln,
befonders wo die Zeit einer foldyen Erfcheinung, von der fidys.,
handelt, nicht beobachtet und nicht awverläßig if. Daher
kann Dann die nächte und Örtliche Urfache freilich nicht auf:
gefunden werden, übrigens die allgemeine iſt dieſe: es liegt
überhaupt in der Natur flehender und eingegrenzter Gewäſ—
fer ,. daß fle ſich reinigen. In foldhen, bie einen Lauf haben,
fönnen freilich Verunreinigungen nicht bleibend feyn, denn
ihre Strömung treibt folche fort und hinweg. Die, welche
sicht wegſchaffen, was ſich augeſetzt hat, wogen mehr oder
minder. Das Pieer aber zicht Zeichname, Stroh und was
wie ein Ueberbleibſel von Geftrandeten ift, aus feitem In—⸗
nern heraus, und reinigt ſich nicht nur in Sturm und Fluth,
‚fondern auch wein es ruhig und fill iſt. —
37. Dod Das, worauf ic, jept gekommen bit, mahnt
mich, zu unterfuchen , wie es denn, wenn einmal der vom
Schickſal beftimmte Tag der [allgemeinen] Ueberſchwemmung
tommt, dabei zugehe, daß ein großer Theil der Erde unter
Batler gefest werte. Ob Das durch den Dcean bewirkt werde,
und das Äußere Meer fich gegen und erhebe; ob Häufige un—
anterbrochene Resengüffe und ein mit Vertreibung ded Som⸗
‚werd anhaltender Winter eine unermehliche Meuge Waſſers
‚us den geborftenen Wolken herabftürze: ob die Erde reiche
her Faikfle ausgieße und neue Quellen eröffne: oder ob
für das gewaltige Uebel nicht nur eine Urſahe wurhanten
ſey, onen 0 alte Umftände zufammenwirten, WO —
Bagensäffe Rlirzen, und Stüfje anwachjen sand die Deere
Ören BeDAlniffen aufgeregt must ufen und alles zus
4192 Sners Abhandlungen.
Zutept durch der Volker gema'tigen Ruin berfifmt und be-
- Laftet ergießt ‘er jüch in die Breite. Flüſſe, die fchon in th>
vem vrdentlihhen Baftand mit Waht vaherfirömen, Haben,
durch ven Witterungstauf aus der Ordnung gebracht, ihr
Bette verlaffen. Was meinft Du, deß da Rhodanus fey,
und was Rhemis mıd was Dannbius, wenn fie and) in ih⸗
rem Senpbert einen Lauf haben, gleih Waldſtromen, nnd
nun, wenn fie ausgetreten, fich reue Ufer marken, und ſo⸗
"bald fie den Boden zerriffen wach fihon das [neue] Bett wies
der verfaffen? Mit wetd, reißenter Eile wälzen fie ſich da⸗
“Hin, wo der durch ebenes Feld fließende Rhenus bei alter
"Ausdehnung dach nitht gemach geht, fondern in mächt ger
‚Breite fo vol daher wogt, als ginges durch einen Engpaß?
"Und wenn der Danubins nicht mehr nur den Fuß der Bes
birge nad ihre Mitte flreift, fondern ſich an die Gebirgs⸗
rücken felber macht, mit: ſich rollend durchweichte Bergwaͤnde
md herabgeſtürzte Felſen und Vorgebirge von großen Stre⸗
‘ten, die ſich, bei unterhöhltem Grand vom Feſtkand Todges
riſſen ? Alsdann, Beinen Ausweg findend, — denn er hat
ſich felber alkes derſperrt — geht es bei ihm Im Kreiſe um⸗
‚ger, und er treibt die ungeheure Maſſe von Laändern amd
‚Städten in einem Wirbel fort. Inzwiſchen dauern die
Megengitffe fort, die Luft wird ſchwerer, und fo geht in
derfelben fange Beit Uebel ans Uebel hervor. — Was ehe⸗
reis truͤbes Gewölk war, iſt jegt Nacht, und zwar eine ſchau⸗
rige fntchtbare Nacht , weil gräßfiche Lichtftreifen darein fal⸗
zuden häufige Bliye, und Stürme peitſchen
Een” 208 jet erfk bnrdy: der Ztüffe Buftebiien wicht,
FU Mg wird-umd-nun feine Ufer Trnmisrükt; Wh
Naturbetrachtungen. Drittes Bud. 1193
se hält es ſtch in feinen Grenzen, aber die daher rau⸗
senden Ströme laffen es nicht hinaus und treiben feine
Fluthen zurück: die meiften jedoch, als durch die erfchmwerte
Mündung zurüdgehaften, werden zu flehenden Waffern und
machen die Geflme einem See gleich. Nun ift Alles, fo
weit dad Auge reicht, vom Waſſer befegt. Jeder Hügel
ftet in der Tiefe verborgen, und überall ift die Tiefe un—
ermeßlich; nur anf den höchften Gebirgsrücen ſind feichre
Stellen. — Auf diefe höchften Gipfel hat man fih mit Weib
und Kind geflüchtet und die Heerden vor fich her getrieben;
abgeschnitten ift der Verkehr und das Zufammenkommen zwi⸗
hen den Unglüdieligen, ‚weil jede Niederung nit Waſſer
ausgefüllt ifi. Nur au den ragenden Gipfeln hingen fich die
Ueberrefte der Menſchheit au, und da es mit ihuen aufs
Yeußerfte gefommen, war das Einzige nod) dad ZTröftliche,
daß die Angſt fid in Bumpfe Betäubung verwandelt Hatte.
Die Staunenden hatten nicht Zeit zu fürchten, — aud) fein
Schmerzgefühl war mehr möglih. Denn des Schmerzes
Kraft ift an .Dem verloren, der über die Empfindung des
Uebels hinaus unglüdlih if. So ragen nun Gebirge als
Inſeln Hervor,, und vermehren die Baht der ausgeftreuten
Cycladen, *) wie jener finnreichfte der Dichter **) fagt, fo
‚wie auch die Stelle des erhabenen Gegenftandes würdig wire:
Aues war Eee, — es feniten fogar die Ufer dem Meere,
*) Ey.laben beißen eine Dinge im Kreife um Delos herum Lies
qaende Inſein Im Wegdrfagen Meere, z. B. Waıob , "MET
nos, ZU08, Ecgros u, ſ. w.
ws, s U un Berwmbkungen J, 'u92. 304. 85. ER»
4194 . Geneca’s Abhandlungen.
unr finEt er von dem mächtigen Schwung des Geiftes und
des Stoffes zu Findifcher Spielerei herab:
Wolf fywimmt unter den Schaafen, die Fluth trägt gelbliche
Loͤwen.
Es verräth Mangel an Nüchternheit, wenn man bei der
Schilderung des verfchlungenen Erdkreiſes üppigen Wib ſpie—
Ten läßt. Großartig ift die Stelle und dem Bilde angemeſ—
fer, wenn er fingt:
Baͤhnlos rauſchen daher durch offene Selber die Ströme;
— — es wanken getrfict vom Strudel die Thuͤrme.
Wunderherrlich, wenn er ſich nur nicht darnm befiimmert haͤtte,
was denn die Schaafe machen und die Welfe. — Und Täßt
ſich denn fchwimmen bei ſolcher Wafferfluth und fo reißender
Bewegung? Wird nicht jedes Thier von derfelben Gewalt,
‚ Die ed dahin raffte, in den Grund verfentt? Du haft das
Bild in feiner ganzen Größe aufgefeßt, wenn alles Land
überfinthet ift und der Himmel felber auf die Erde herab⸗
ftürzt. Halte dieß Bild feſt. Und du weißt ſchon, was dann
an feinem Orte ift, wenn bu beventit, cs ſchwimme ber
ganze Erdkreis. — Doch wir wollen zu unferem Zweck zu«
rückkehren.
28. Manche find der Anſicht, durch ungemäßigte Res
gengiffe Fönne die Erde wohl Schaden Teiden, aber nicht
isber und über mit Waffer bededft werden. Was groß ift,
braucht and) große Gewalt, bis ihm etwas zufagt. Der
Regen macht fihlechte Ernten, Baumfrüchte werden vom
Hagel herabgefchlagen; durch Bäche ſchwellen die Flüſſe an,
ber fie fegen ch wieder. — Manche find mehr dafür , Das
rer Eomme in Bewegung und davon ſey die Arkachre \oldyer
Jraturberrachtungen. Drittes Bud. 1195
Verwüſtung abzuleiten; — es kann, Lfagen fie,] nicht ſeyn,
daß Waldbäche oder Recengüffe oder Flüſſe an fo großer
Waſſersnoth ſchuld find. Wenn jene Zerſtörnng nahe ift,
md das Schickſal befcdyluffen hat, mit der Menſchheit eine
feihe Veränderung vorzunehmen, da gebe ich wohl zu, daß
unaufhörliche Plasregen kommen nnd das Regenmwerter nicht
nachlaffe, und kein Nordwind und feine trockene Luft mehr
ferrfchend fey, und daß die Regengüffe und die Ströme zu
viel Südwind haben:
— — — Biöher iN’d noch bei'm Schaden aeblieken:
Niedergeſchmettert lieget die Saat, zeunichtet des Landmoans
Heffaung, dahin iſt des langen Jahrs vergebliche Arreit
Aber die Länder ſollen nicht nur beſchädigt, fie ſollen über—
tetft werden. Endlich, nachdem jenes Vorſpiel vorangegau—
gen, wachen die Meere, aber nicht nur wie fonft, nnd frei:
bes ihre Wogen höher, als der höchſte Wafferftar? bei dem
gewaltigften Sturme je gewefen. Dann Fommen noch die
Winde hinterher, und regen die mächtige Fläche auf, die
fi) weit von dem Geſichtskreiſe des innern Uferg bricht. Sorann
wenn fie ed weit über feine Ufer hinaus verbreitet Haben,
und) Dad Meer auf fremden Gebiete ſteht, rückt das Uebel
gleichfam in die Nähe und es dringt die Fluth von den tief:
ſten Meeresgründen herauf. Denn gleich der Luft, gleich
dem Aether Hat diefes Element veichhaftigen Stoff, und je
mehr im DVerborgenen, defto größer die Maſſe. Diefe Auf
regung ift des Schickſals Werk, nicht der Fluch, deun die
Fluth richtet nur des Gefchides Befehl and, wat in
mächtigen Srümmungen ſchwellt fie dad Meex mi WM
freibf ed vor ih ber. Dann fteigt es gu einer Um
Senecas Abhandlungen.
‚ und Keht über jenen fichern Zufluchtsör tern
u. Und das ift Beine zu große Höhe für Bad
eil es fo hoch fteigen würde, ald die Höhen ber
‚, wenn man biefe in eine gleiche. Zinie bringen
se Meere find [überali] gleich ſhochſ. Denn wie
ih überall gleich. Das Hohle and lache iſt über:
Allein eben dadurch ift der Erdfreis gleich rund,
Seite aber find auch die Meere, welche fich an die
gelmäßige Kugelform anfchließen. Aber fo wie:bei
fchauen einer Fläche die alimählige Senkung nicht
yift; bemerfen wir die Krümmungen des Meered
und es fcheint Alles, was man davon fiehet, flach.
es fteht in gleichem Höhe» DVerhältniß mit der Erde.
: wird es fi, um auezüftrömen, nicht mächtig höch
en, inden es ihm genug ift, ein Eleinwenig zu ftei
um über den Gleichpunkt wegzukommen; und es ftröw
vom Ufer ab, wo es ja tiefer ift, fondern von d
te, wo es eine Schwellung hat. Wie daher die Zr
Zeit der Tags und Nachtgleiche, gerade wenn So—
Mond zufammentommt, [zur Zeit ded Neumonds] '
en höher zu treiben pflegt, als je fonft: fo zieht
ye zu Ueberdeckung der Länder ausgefandt wird,
: Heftigdeit, als fonft, wenn dad Meer am größte
Waſſer an fidı, und läuft nicht eher ab, als F
die Bipfel der Berge, die es überſtrömen will,
ift. — Hunderttauſende von Schritten weit Id
Bea Ötellen bie Fluth aus, ohne zu fchaden, um
Per Drönnng, Denn zu gemeflener Zeit w/
WE wieder ab, Aber zu jener Zeit ſchreitet
Imsechtungen. Drittes Bud. 4197
Raß-fort. — Ans weichem Grunde? frag
Aufichen, aus welchen die Verbreunung
as Eine, wie das Andere tritt: ein, wenu
w aut Hält, daß das Beflere beginne, Tas
w und Feuer ift das Herrſchende auf der
r kommt ihr Urfprung, daher ihr Untere
er mit der Erde eine Umgeſtaltung vorge⸗
mt dad Meer fo über uns ber, wie die
il eine andere Art bes Unterganges be-
find der Meinung, die Exde Teide dabei
es berſte ber Boten, und bee neue
Ten auf, weiche mehr ausſtrͤmen, weis es
mmtnaffe der Waſſer gehe. Berofue, )
» Belus, behauptet, ed werde dieß durch
ime bewirtt: und er iſt in feiner Sadıe
r Verbrennung und der Ueberſchwemmung
mt; es werde nämlich die Erdenwelt vers
fe Geflirne, die jest verfchiedene Bahnen
bs zufammentommen, und fo auf einem
ntte fliehen, daß eine gerade Linie durch
Wer gezogen. werben Fönne; die Wafler«
erfolgen, wenn eben diefelben Geftirne in
Cbaltaiſcher Philoſeph zur. Zeit Alex. d. Br,
alen in dem Tempel des Babylonifaen Gottes
ngebliyen Urheber6 ber Gterntunhe \iiee er
"vom Ehalbda und Babyion waub tin aneires
erst, Fabric, hibl, gr, Vol. KIN, vb-
f zufammen®@”
v4
aturbetradytungen. Drittes Bud. 1199
‚ehe. Die Haupturſache jedoch zn ihrer Webers
19 wird die Erde felbft darbieten, da wir ja fchon
ie ſeye einer Verwandlung fähig, und löſe fich in
Stoffe auf. Es wird alfo einmal dag Ende der
szenwelt kommen, da, ihre Deftandtheile unterges
müflen, und ganz von Grund aus verfilgt werben, auf
8 fie ganz von Neuem, in natürlicher Unfchädlicybeit wie—
‚er geboren werde und Nichts mehr fey, was fie verderblich
zu werden anweist: *) alsdann wird mehr feuchter Stoff,
ale ſtets war, entflehen. Denn jest find die Elemente nadı
Dem abgewogen, was fie eigentlid) zu thun haben. Es muß
Etwas ſeyn, das zu etwas Anderem tritt, wenn Das, was
in Gteichgewicht ſteht, aus dem Gleichgewicht kommen fol ;
diefes Etwas wird zu dem feuchten Stoff hinzutommen [näm«
fi die Erde, die fich in feuchte Stoffe auflöst.). Im jegie
gen Zuftand hat der feuchte Stoff fo viel Maffe, um die
Erde zu umgeben, nicht um fie zu überdeden. Was nım
dazu kommt, muß nothwendig an eine Stelle austreten, die
ihm nicht gehört. Dem Waffer alfo hat es die Erde gleis
dermaßen zusnfchreiben, daß fie als der fchwächere Theil
dem ftärfern unterliegt. Sie wird alfo anfangen zu faulen,
fofort focder werden und in Fenchtigkeit übergehen und durch
die anhaltende Verfeuchfung zerfließen. Dann werden unter
den Gebirgen Flüſſe hervorfpringen, und diefe mit ihren
Anftößen wankend machen, und ed braucht dann nur ein Teis
(ed Lüftchen, fo werden fie auseinander ſeyn, Aller Baren
wird Waſer berborbringen, auf den höchſten Sertiaen www
> Wintig reine Veenſchheit, wie fie jent W- -
1280 Senecas Abhandlungen.
von Quellen ſprudeln, gleichwie das Geſunde erkrankt und
die Nachbartheile eines Geſchwürs mitleiden; je näher Etwas
bei den zerfließenden Ländern iſt, deſto eher wird es ausge⸗
ſpült werden, triefen und dann in Fluß kommen, und wäh⸗
rend da und dort ein Fels ſich ſpaltet, wird es durch das
Gewäaͤſſer ſpringen uud Alles zu Einem Meere machen. Nichts
wjrd mehr von den Adriatiſchen, Nichts von den Sicilifchen
Meerpäſſen zu fehen ſeyn, nichts von Charybdis, nichts
von Scylla. Alle Sagen werden in dem neuen Meere ber
graben liegen, und der Drean, der die äußerften Länder uns
gürtet, wird in der Miste ſtehen. Was wird's feyn? Der
Winter wird Nichts darnad) fragen, ob die Monate fein
feyen, der Sommer wird verdrängt werden, und wo fonf
ein Geftirn dad Land trocken machte, wird es feine Glut
verforen haben und Nichts ausrichten können. Da ift’d aus
mit den vielen Namen, mit dem Caſpiſchen und rothen Meer,
mit dem Ambraciſchen und Gretifchen Meerbuſen, mit Pro⸗
: pontid und fchwarzem Meer. Aufhören wird all der Unter:
| fchied. Bufammenfließen wird Alles, was die Natur in die
: sehdrigen Theile gefchieden hat. Nicht Mauren, nicht Thür:
me werden Jemanden Schu gewähren; Nichts werden die
' Tempel den Flehenden helfen, Nichts die höchſten Gebäude
ji der Städte, denn vor den Fliehenden wird die Woge here
fihreiten und fie mitten aus ihren Burgen mit forfnehmen. —
Dom Abend und vom Morgen wird's zufammenftrönen, —
ein einziger Tag der Menfchheit ihr Grab bereiten. Was fie
er ers Öe/diides langer Huld angebaut, was fie über das
> va ‚erboßen. Sat, Bas Herrliche all und Gefchmüdte, wod
«Is Zuey shächtiger .
| Ber Wölfer werden dahin feyn.
— — 1 gyru ——
—
Naturbetrachtungen. Drittes Bud. 4201
Der Natur iſt, wie ich fagfe, Alles möglich; Hat
och Solches zu thun gleich) von Anfang beftimmt, und
. nicht auf einmal daran, fondern fie hat es angedroht.
von am erften Tage der Welt, da fie von formiofem
fei in diefe Geftaltungen überging, ward es befchloffen,
elcher Zeit die Erdenwelt in's Waſſer verſinken follte,
‚anf daß nicht die Arbeit einmal fie zu Hart ankomme,
s wäre etwas Neues zu thun, fo üben fid) die Meere
dängft darauf ein. Giehft du nicht, wie die Woge gegen
die Ufer brandet, als wollte fie Heraus? Siehſt du nicht,
wie die Fluth ihre Grenzen überfchreitet, und’ das Meer in
den Befis der Länder einführt? Siehſt du nicht, wie fie
einen ewigen Kampf mit Dem hat, was fie einfchließt? Wie
kannſt du nun noch da, woher du ſolch ein Stürmen fiekft,
Surcht Haben vor dem Meer und vor den mit Macht und
Gewalt daherftürzenden Flüſſen? Wo ift dann eine Stelle,
da die Natur nichts Naffes hingefegt hätte, auf daß fie ung,
wenn fie wollte, ergreifen koͤnnte ? Ich will ein Lügner Heis
sen, wenn man nicht, wo man die Erde aufgräbt, Feuch⸗
tigkeit findet, und fo oft und die Habfucht in die Gruben
führt, oder irgend eine Urſache uns in die Tiefe einzubringen
zwingt, fo if es Waller, was dem Aufgraben ein Eude
macht. — Nimm nun noch taju, daß in verborgenen Tiefen
ungeheure Seen find und viel von verfledt fiegendem Meer,
und mancher Strom, der verdeckt fließt. So wird alfo überall
ber Grund zur Wafferfluth da ſeyn, da die einen Gewaͤſſer uns
ter den Ländern her, andere um fie herumfließen, wie (anne
niedergepaltenen durchbrechen und Ströme wit Stitwen
Seven. 106 Ele, 5
4202 Seneca’s Abhandlungen. .
verbinden und Seen mit Sümpfen. Da wird bag Meer
‚den Mund aller Quellen volifülen, und aus maͤchtigern
Schlünden Iosbrechen laſſen. Gleichwie der Magen unfere
Körper zur Ausleerung bringt, gleichwie die Kräfte in Schweiß
fidy verlieren : fo wird die Erde flüffig werden; und wenn
Beine Urſache mehr wirkt, fo wird fie in fich ſelbſt den
Stoff zu ihrem Verfinten finden. So, glaub’ ich, wird alles
Gewaltige zufammenwirken. Und es wird nicht Tange braus
chen , bis es dahin if. Das Band, welches zufammenhäft,
wird angegriffen und anseinandergeriffen, wenn die Welt
einmal: Etwas von bdiefer fo zwedmäßig genauen Ordnung
nachgelaſſen; auf der Stelle wirb dann von allen Geiten,
anf der Oberfläche und aus verborgener Tiefe und aus der
Höhe der Einbruch Eommen. Nichts iſt fo gewaltfam und
unmäßig, nichts fo widerftrebend und gegen Das, ‚was feft
halten will, gewaltihätig, als eine große Waſſermaſſe; fie
wird von der ihr gewährten Macht Gebrauch machen und
auf Geheiß der Natur, was file zerreißt und umfängt, an⸗
füten. Sowie ein Teuer, das an verfhiedenen Stellen
entftanden ift, feinen Brand alsbald vermifcht, weil die
Flammen fidy zu vereinigen eifen: fo werden fich in einem
Augenblick die ausgetretenen Meere verbinden. Aber nicht
immer werden die Waffer Das thun Lönnen, fondern wenn
die Sernichtung des menfchlichen Geſchlechtes vollender iſt,
und 'anch die wilden Thiere, deren Natur die Menfchen an⸗
genommen haften , vertilgt find, fo wird das Waffer wieder
20 der Erde eingefchludt werden; die Natur wird das
rer georngen, zu fteßen und in feinen Grengen ıu toben,
2 Jurädgedrängt >ou unſern Wohnplägen wird ter Dream
Le
ine gefonderte Stellung getrieben und die alte Ordnung
er bherbeigerufen werden. Alles lebende Weſen wird
Neuem erzeugt und der Erde eine Menfıhheit gegeben
em; die von Freveln nichts weiß, und unter günſtigern
nen in die Welt tritt.
och auch bei ihr wird die Unſchuld nur bauren, fo lauge
a iſt. Schnell greift die Verderbniß um fid, — Tu⸗
iſt ſchwer zu finden, fie braucht einen Leiter und Zühe
Die Lafter aber lernen ſich auch ohne einen Lehren.
Inhalt des vierten Bude.
Ermahnung an Lucilius, anf feinem Poften — als Proeu⸗
rator von Sicilier — von Herrſchſucht, fern foviel als möglich
m Muße den Wilfenfchaften zu leben, insbefondere fin den
Scehmeichlern nicht hinzugeben, beren Schlingen bie Großen am
meiften außgefegt find. Gefahr von Denſelben bei aller Vorſicht.
Schmeichele ien gefallen, auch wenn man fie zurücdweist, Jeder
gibt am meiften ba Bioͤßen, wo er angegriffen wird, Nie darf
man fich fiber und fep genug glauben. Die gefährlichiten
Schmeichler find Die, die es am yplumpften machen. Gin Beis
fpiet und Vorbild, wie man ſich gegen Schmeichelei waffnen muͤſſe,
it Gallio, der ſich nicht einmal eine allgemein anerfannıe Vor⸗
trefflicpteit zum Lob anrechnen led. Man muß ficy nicht loben
offen, ſondern nur ſich ſelbſt Ioben durch dad Verhalten, und
Keinem trauen, welcher lobt. Allgemeine Verdorbenheit ber Mens
fhen. Darum muß man fi zurfdzicehen, und fih ber Betracys
zung der Natur hingeben.
Kap. 1 — 2. Unterfuhung, warum ber Nil in den Sommers
monaten fo waflerreiy werde. Abhängigkeit ber Fruchtbar⸗
keit Aegyptend von den Niluͤberſchwemmungen. ataratten
des Nils. Er ſetzt Schlamm und Erdreich an; ernährt große
Thiere, houptſaͤchlich das Srocodii. Deffen Kampf mit den
Deiphinen und Flucht vor dern Tentyriten. — Verſchiedene
Hopotheſen Über bie Urſachen von dem Wachen des Nils.
Anaragoras fagt, eb komme vom Schneewaſſer aus ben
#Herpbiopiiyen Gebirgen, Wiberlegung biefer Anfiat. The
Phi # fumt ben Orund bırin, baß die SHrundktaottoieke Ga
Fuoftsbinen bes Nils entgegenfiemmen, Wimriegueg,
Inhalt des vierten Buchs. 1205
Unfiht bed Denopides aus Ehios. Widerlegung derſelben.
Meinung des Diogenes von Apollonia, zur Erklärung de
Phänomens ungenügend.
Rey. 3 — 7. Bom Hagel und befien Entſtehung. Warum er
suwd fey? Warum es im Winter ſchneit, aber nicht hagelt.
Daß die Fruͤhlingsluft durch das berftende Eis und den
ſchmelzenden Schnee aus ben nördlichen Gegenden erfältet
werde, und ſich bann kalte Winde erzeugen, und fhatt Res
gend Kagel hervorbringen. — Beobachtung ber Wolken und
Borherfagen des Hagelwetters durch eigene Wetteraufſeher in
ap. 8 — 113. Vom Schnee; wo und wie er entſtehe. Was
rum die ber Erde am nächften liegende Luft wärmer fey, als
die Höhere? Die untere ift bier, die obere dünner ; biefe
Iäßt daher die Sonnenftrahlen mehr durch, jene weniger. —
Bar ım bie Luft auf den hoͤchſten Bergen , umerachtet fie ber
Sonme näher ift, do dadurch Nichts an Wärme gewinnen
Knne,. Die in ber Nähe der Erbe befindliche Kuft hat, wenns
Sehnee faͤllt, zu viel Kälte, als daß es regnen, und zu viel
Woͤrme, ald daB es bageln Lbnnte.
ap. ı2. Leber ben Luxus, welcher zu Nom mit Schnee mb
Eis getrieben werde; und woher biefer Luxus komme.
— —
Vorwort.
Du biſt, fo viel ich von dir vernehme, mein beſter Lu⸗
lins gerne in Gicilien und (in dem Amt) einer vuhigen
wocuratur. ) Du wirft auch ferner gerne da (eg, CR
. *
ı
N
\
> Emdiinz war — bar Genecars Berwentung — DIrckte
rm @latipeiter — in Budiien gevonben.
2206 Seneca's Abhandlungen.
an bei deiner Stelle innerhalb ihrer Grenzen bleiben und
nicht, was Verwaltung ift, zu unumfchränkter Herrfchaft
fleigern willſt. — Ich zweifle nicht, daß du es fo halten
wirft. Ich weiß, wie ferne du vom Ehrgeiz bift, und roelch
ein Freund der Muße und der Willenfchaften. — Nach jes
nem unruhvollen Zeben und Menfchengewühl mögen Diejes
nigen ein Verlangen haben, die ed mit ſich felbft nicht auss
halten. Du kommſt mit dir ſelbſt ganz gut and. Allein
wundern darf man fich nicht, daß dieß nur bei Menigen
der Fall ift: man ift herrſchſüchtig und aufdringlich "gegen
ſich ſelbſt. Bald macht ung die Liebe zu ung felbft, bald
We Unzufriedenheit mit ung felbft zu fchaffen; das unglück⸗
fefige Gemüth erheben wir bald in Hochmuth, bald peini-
gen wir ed durch Begierden, bald erfchlaffen wir es durch
Dergnügungen ; bald quälen wir es durch Sorgen. — Und
Das ift das Beflagenswerthefte, wir find nie für und. So
Tann ed auch bei der großen Gefelifchaft von Laſtern nicht
fehlen , wir leben in einem ewigen Krieg. Thne alfo, mein
Lucilius, wie du es zu halten gewohnt bift. Reiß did, fo
viel du kannſt, von dem Gewühle Ind, umd laß Bir Die
Schmeichler nicht zu Leibe; fie find Meiſter darin, die
Großen zu fangen. Gewachfen wirft du ihnen, auch bei
alter Vorficht, nicht feyn. Glaube mir, du gibft dich, wenn
du did) einnehmen Läffeft, felbjt in ihre Garne. Die Schmeis
heleien Haben das Eigene an fich, fie gefallen, auch wenn
2252 Sie zuvücweist; und hat man ihnen auch den Zugang
Perwegrt, am Ende Iäft man fie doc) ein. Denu gerade
vr, 2AB man fie abweist, fuchen fie fich zu entihätigen,
daypen fi mi 5 en
It abweifen, man mag noch (0 od Rs
Naturbetrachtungen. Viertes Bud. 4207
fie ſeyn. Es ift unglaublih, was ich jest fagen werde,
aber eben doch wahr. Jeder gibt fic gerade auf Der Seite
am meiften bloß, von der er angegriffen wird. Denn viels
leicht wird er gerade deshalb da angegriffen, weil er Blö—⸗
fen gibt. Yafle dich daher fo, daß du einfiehft, dahin kön⸗
neit du es nie brisgen, daS man dir nicht beitommen Fönnte.
Magft du auch alle Vorficht anwenden, zwifchen der Rü⸗
fung hinein wird man dir Eins verlegen. Der Eine
wird feine Schmeichefeien heimlich fpielen Taffen, und es
damit nicht übertreiben; der Andere offenbar, unverhofen,
mit angenommener Derbheit, und als ob das Einfalt wäre,
nizyt Abſicht. Meifter in diefer Kunft war Vitellius Plans
cus; *) der pflegfe zu fagen: man müſſe nicht verftecdt und
unmerklich ſchmeicheln. Es Hilft Nichte, zu buhlen, wenn
es unbemerkt bleibt. Der Schmeichler gewinnt anı meiften,
wenn man ihn auf der That ertappt; mehr noch, wenn er
ausgefchoften und beichämt wird. Nimm an, daß du bei
deiner Stellung ed nicht nur mit einem Plancus zu thun
haben wirft, und daß es noch Feine Mehr gegen das fo ges
mwaltige Uebel ift, wenn man nicht gelobt feyn will. Criſpus
Daffianus, **) der feinfte Kopf. den id) Fannte, in jeder
*) Lucius Munatius Plancus, College de3 M. Aemilius Les
pidas im Confulat, hielt es zuerft mit Brutus, dann mit
Antonius, dem er bei Eleopatra den Kuppier machte, Zus
legt trat er auf die Eeite des Auguſtus. — Vitellius, dee
nammalige Kaifer, haste ſchon unter Ealigula und Siantin
ne a RR
% j/NarU8, zwei x
Steoner, Mero’s Sucfoater ‚nal Eonfut und vn
. 4208 Seneca’s Abhandlungen.
Hinficht, befonders in Auffindung und Heilung der Schwach
heiten, pflegte zu fagen, gegen die Schmeichelei halten die
Leute zwar die Thüre vor, aber verfchließern fie nicht, und
jwar fo, wie man fie gegen ein Liebchen vorzuhalten pflegt;
die, wenn fie daran pocht, ganz willkommen ift, willfome
mener noch, wenn fie diefelbe aufbricht. Demetrius, ber
vortreffliihe Mann, äußerte fi, wie ich mid, erinnere,
‚gegen einen mächtigen Freigelaffenen: wenn ihm einmal
fein gutes Gewiſſen entleidet wäre, fo wollte er leicht den
Weg zum Reichwerden finden. Aber ic) beneide end), ſprach
er, um biefe Kunſt nicht, ich will vielmehr Denen, welche
zufammenfcharren müffen, Winke geben, wie fie ſich nicht
dem zweifelhaften Glück der Seefahrten, oder des Kaufend
und Verkaufens von Nechtshändeln zu unterziehen, ed nicht
mit dem unficher Iohnenden Yelbbau oder mit der noch ums
fiherer Iohnenden Wechfelbant zn verfuchen brauchen, wie
fie fidy nicht allein auf einem leichten, fondern fogar noch
auf einem recht Iufligen Wege Geld machen, und bie Leute
fo um das Ihrige bringen können , daß diefe felber noch ib»
ren Spaß dabei haben. Ich darf nur, fprach er, fchwören,
du ſeyeſt länger als Fidus Annäus und Apollonius Pycta, *)
wenn du fchon nur die Statur eines mit einem Thracier
singenden Thracierd haſt. — Und es gibt, du haft mein
Wort darauf, gar Seinen freigebigeren Mann, als du bift,
denn du kannſt den Schein haben, ats hätteft du Jedem Al⸗
> Hufen Namen von Glabiatoren , bie wegen ihrer
aLervergröße Serdbmt waren, — Thrax Wied dar Urt wee
toren, wege TIbraciſcher Rieivung un Wurm
4 fa oft ganz unter Ihre Gaine yalammeniauien
Raturbetrachtungen. Viertes Bud. 4209
led Das oefchenft, was bu ihm nicht abgenommen haft.
GSo ift’d, mein Junior, je offenbarer die Schmeichefei ift,
je unverfchämter, je mehr fie ſich die Schamhaftigkeit aus
dem Gefichte reibt, und die des Andern zernichtet, befto
ſchneller feiert fie ihren Zriumph. — Denn man hat es bes
reits fo weit in der Zoliheit gebracht, daß man Den, der
mit Schmeichelworten nicht fehr freigebig ift, für einen
Webelwollenden, (kargen Lober) hält. — Ich habe dir fchon
ft gefagt, daß mein Bruder Galliv, ein Mann, den Jeder,
wenn es ihm and) nicht möglich ift, ihn noch mehr zu lies
ben, doch zu wenig liebt, wie ihm andere Fehler ganz uns
befannet” find, dieſen fogar verabfchene. Du Haft ihn von
ieder Seite erprobt. Du haft angefangen, Seinen Geift fo
groß und würdevoll, hochzuachten, und hätteft ihn lieder zu
ven Göttern erhoben, ald [durch Schmeichelei] zur Gemein:
beit herabgezogen geſehen: — er bat ſich nicht beikommen
Iaffen, ILgleich hat er dir das Bein unterfchlagen]. Du haft
feine einfache Lebensweife zu rühmen angefangen , vermöge
deren er fich vom Geld fo fern hielt, daB er es weder zu
haben, noch zu verwerfen fcheint: und er hat dich gleich
das erfte Wort nicht ausreden laſſen. — Du haft angefan⸗
gen, feine Freundlichkeit und abſichtsloſe Anmuth zu bewun⸗
dern, die auch Diejenigen hinreißr, die fie nur im Vor⸗
beigehen berührt, nnd feine uneigennüsigen Verdienſte auch
um Solche, die nur zufällig mit ihm zufammentommen. Ja,
kein Sterblicher ift einem Einzelnen fo Lieb, ld Dieier AL:
len 3ft. wäßrend dabei feine natürliche Büte Toldye Grnoit
— Perzen ausübt, das von Anficht und Berkeiun
ve OPRF zu Auden if — Feder Laßt ſich dad weniafte
210 ° "Geneca’s Abhandlungen.
allgemein anerkannte Vortrefflichkeit zum Lob anrechnen;
auch von diefer Seite hat er fi) nichts Schönes von dir
fagen laſſen, fo daß du ausriefft, da habeft du nun einen
Mann gefunden, unbezwingbur gegen die Locktöne, die jeder
Menſch in fein Herz eindringen läßt. Da hoft du denn
nur.um fo mehr deine Achtung vor folder Klugheit und
vor folcher Fertigkeit in Vermeidung eines unvermeidlichen
Uebels zu erkennen geben müſſen, weil du gehofft hatteſt,
ed könne, obwohl du Schmeichelhaftes fagteft, Daflelbe doch
darum ein offenes Ohr finden, weil du Wahrheit fpradhfl.
Aber nur um fo mehr fah er ein, daß er fich dagegen zur
Wehre feben müffe. Denn flets will das Falſche Wahrheit
gewinnen, vom Wahren aus. Es ift jedoch nicht meine
Meinung, du folleft mit dir unzufrieden feyn, als ob du
Deine Nolte fchlecht gefpielt, und Jener irgend Etwas wie
Scherz oder Trug bei. dir veransgefegt hätte. — Nicht ers
tappt Hat er dich, fondern zurückgewieſen. — Das ſey venn
das Vorbild, nad, dem du did) richteft! Tritt irgend ein
Scmeichler zu dir, fo fprih: Willſt du nicht die Worte,
die jeht von einer Behörde zur andern mit allen Förmlich⸗
feiten übergehen, lieber an Einen bringen, der bereit, das
Gleiche zu thun, fich gefallen läßt, anzuhören, was du
fagen magſt. — Sch mag weder täufchen, noch kann id) mid)
täufchen faffen. Ich wollte mid fdyon von euch loben fafs
fen, wenn ihr nicht auch heiltofe Leute loben würdet. —
Allein, was willſt du dich fo. weit einfallen, daß fie dir in
2er Rdpe bBeifommen können? Bleibet Lieber hübfch weit
7 ernander weg, Wenn du den Wunfch ha, ak entli
"Deife gelobt ju werden: warum ſouſt du denn Aecmanı
Naturbetrachtungen. Viertes Bud. 4214
m dafür verbindlich ſeyn? Lobe du dich felber! Sage, ich
ibe mich edlen Wiffenfchafter ergeben, wiewohl mir meine
tietellofigbeie eine andre Weiſung gab, und meinen Geift
ı Ergreifung eines Faches beftimmen wollte, wo man vom
tudium auch fogleid, Etwas hat. Zu der uneinträglichen
edertunft hab’ ich mid; gewendet und dem heilfamen Stu⸗
am der Philoſophie Hab? ich mic, gewidmet. Sch Habe ei⸗
m Beweis abgelegt, daß für die Tugend jede Bruſt ces
haften fen, und mich emporringend über die befchränften
terhältniffe meiner Geburt, und nicht nad) meinen 2oofe,
ndern nach meinem Innern mic, meffend, Hab? ich mich
m Größten gleich geftellt; nicht Hat mir des Gätulicus *)
reundſchaft das Zutrauen dee Cajus [Caligula }- entriffen,
ht haben Mefjala **) und Narciſſus, ***) Tange des Stans
8 Feinde, ehe fie fih gegen fich ſelbſt Fehrten, meinen
ntfchtuß wankend machen, noc zu der Holle Anderer be-
egen können, die zu ihrem Unglück Günftlinge waren.
+) Enejus Lentutus Gaͤtulicus, ein vortreffiiher Menſch, Dichs
ter und Geſchichtſchreiber, kam bei Caligula in Ungnade, weil
ihn tie Legionen in Germanicn fo lieb ratten. Gr wurde
auf Befehl bes Kaiſers getöbtet im I. d. St. 792. — Wir
-fein Freund war, der — hätte man erwarten jollen — vers
Ior. wohl das Zutrauen bes Kaifers.
*) Meſſala, welcher bei Euetonius, Statilius Corvinus heißt,
and Narciſſus, der oft erwähnte Freigeraffene bed Claudius,
zettelten gegen biefen Kalfer eine Verſchwoͤrung an; jener
aber wurde an diefem felber zum Verraͤther.
» 9u ber Eonjetur: Biessalina er Narcissus, vordtta Ar
3.\
EuPera Soclon, in v. Claud Tot Aonal,
30. 37. AUl, 1. beregtigen, 39. u, Tacit.
— — — — — — a —— —— — en fu
nn
42412 Senecas Abhandlungen.
Meinen Naden hab’ ich dargeboten, für mein gegebenes
Wort. Kein Wort hab’ ich mir abdringen laffen, das nicht
mit gutem Gewiffen über meine Lippen gehen konnte. Für
die Freunde hab’ ich Alles gefürchter, für mich Nichts, als
etwa, ich möchte zu wenig für die Freundfchaft gethan has
ben. Nie hab’ ich weibifche Thränen geweint, noch mein
Leben von eines Andern Hand erfieht. Nichts hab’ ich ges
then, was einem Patrioten, was einem Manne nicht ziemte.
Größer als meine Gefahren , entfchloffen, entgegen zu gehen
Allem , was drohte, hab’ ich dem Schickſal gedankt, daß es
an mir erproben wollte, wie hoch ich Manneswort anfchlage.
Etwas fo Großes durfte mir nicht wenig often. Und es
hat mic, erft nicht ange ſchwankend gelaſſen, denn es ftand
ja nicht auf der Wage, ob ed beſſer wäre, daß ich geopfert
werde für mein Wort, oder mein Wort für mich. Nicht
in der Hibe der Ueberraſchung habe ich mich zu dem Außer:
fen Mittel entfchloflen, um der Wuth jener Gewaltigen zu
entgehen. Sc, fah bei Cajus bie Folterwerkzeuge, ich ſah
die Feuerqualen. Sch wußte laͤngſt, es fey unter ihm mit
der Menfchheit dahin gekommen, daß es unter die Werke
der Barmherzigkeit gehörte, wenh man Einen tödtete. Den
nody hab’ ich midy nicht in's Schwert geflürzt, noch bin id,
mit offenem Munde in's Meer gefprungen,, auf daß es nicht
ſchiene, ich koͤnne für mein Wort nichts weiter, als ſter⸗
ben. — Denke dir num dazu noch einen Charakter, der fid
| durch Geſchenke nicht gewinnen läßt, und bei der Habſucht
ddrıgem Berstampf eine Sand , die fich wie nach Gewinn
Dente dir dazu Sparſamkeit im Hautholt, Des
Abelit im Umgang, DRenfchenfreundlihteit geaem Te
— [7 Be - - - (3 ma ww
ern und Ehrerbietung gegen bie Höhern. Darnach
ige dich bei dir felbft, ob, was du da vorbrachtefk,
ey oder falfch. Iſt's wahr, fo haft du einen wichtis
ugen nor dem du gelobt biſt; iſt's falſch, fo haft du
och wenigſtens] ohne einen Zeugen lächerlich gemacht.
h iſt's, Daß du nun auch von mir meinft, ich wolle
tweder fangen, oder auf die Probe ftellen. Glaube
ı von Beidem am lichften magſt, und fange bei mir
einem zu trauen. — Denke dich nur recht Kinein in
Ausfpruch Virgils: *)
gends fichere Treu.”
n den von Ovid: **)
- Wo Land ift umher, herricht wild bie Erinnys.
ril ch, zur Unthat find fie verfgweren. —
was Menander fagt ***) fagt: denn Wer fühlte nicht
höhern Sinn tief angeregt durch den Abſcheu gegen
gemeine KHinneigung der Menſchheit zu Verkehrtheiten.
fagt er, leben heillod. — Damit tritt der Dichter
am mit bäurifher Derbheit auf die Bühne Nicht
reis nimmt er aus, nicht den Süngling, nicht das
‚ nicht den Mann; un) fügt hinzu: nicht Einzelne
en, nicht Wenige, fondern der Frevel fey bereits
fammenhängendes Ganzes. — Darum muß man fich
Strgits Ameis IV, 373.
vid's Verroandlungen. I, 241.
denander, ein beruͤhmter Schauſpieldichter zu Yin, De
agmeme /riner verloren geganaenen Dramen har Eieiuub
— Daft. 1709 unb Eameitee in ſ. Avrq. TAU
2214 Seneca’s Abhandlungen.
davon machen ſich auf fich ſelbſt zurückziehen, ja vielmehr
fid) von ſich ſelbſt losmachen. Dazu will ic, dir, obfchon
ein Meer ung trennt, bebülflich feyn, daß ich dich, wenn
du nicht weißt, wohin, bei der Hand ergreife und zum Beſ⸗
fern führe. Und auf daß du dich nicht einſam fühlft, fo will
ich mid in's Geſpräch mit dir einlaffen. Wir werden beis
fammen ſeyn, mit.dem beffern "Theil unfers Selbſt. Wir.
werden und gegegenfeitig Rath ertheilen, und während du
an meinen Blicken, indem ich dir zuhdre, aufmerkfam hängff,
will ich dich weit wegführen von deiner_Provinz, damit du
nicht etwa zu viel anf jene Gefchichten baueft, und dir da:
rin zu gefallen anfängft, wenn du bedenfft: unter mir ſte—
het diefe Provinz, die der größten Städte Heeren nicht nur
nicht unterlag, fondern die Macht derfelben brach, da fie
der Preis war des ungeheuren Kriegs, zwiſchen Garthago
nnd Rom, da fle die Macht von vier Häuptern Roms, *)
alfo vom ganzen Reihe an einem Punkte vereinigt fah,
ta3 Glück des Pompejus hoch emporhob, das des Gäfar
erichöpfte, das des Lepidus ummandte, und das Glück Aller
von fit) abhängig machte, diefe Provinz, die Zeuge war
+) Diefe Bier find die Triumvirn Auguſtus, Antonius und
Lepidus, und dann, Sextus Pompejus, ber zwei Jahre nach
Caͤſar's Tcd, 710, Sicilien dekam. Bald darauf warb er
im Krieg gegen das Triumvirat Sieger Über Octavian. Im
J. d. St. 719. aber wurde er bei Naulochus — Kafale —
von Dctavian in einer Seeſchlacht befiegt , und fand in Aſien
feinen Tod. — Lepidus, weil er dem Dectavian im Sicili⸗
/aın Kriege beigeftanden, maßte fih im Uebermuth den
Eis an, mußte ſich aber, von feiner Armee wah vom Gluͤck
Seriaffen, Bald por Detgolan demuͤr higen.
waltigen Schanſpiels, woraus die Sterbfichen Eier
lernen fonnten ‚wie ſchnell der Fall fey vom Hoch⸗
Tiefſten, und auf wie verfchiedenen Wegen das
eine große Macht zerflöre. Denn zu einer und dere
eit fah fie den Pompejus und den Lepidus, vom
‚er Größe jeden auf andere Weife ins tieffte Elend
urzt, da Pompejus vor einem fremden Heere floh,
vor feinem eigenen. "
Vierte Bud.
3om Schnee, Hagelund Regen.
So will id) denn, um dich auf ganz andere Gedan⸗
ringen, — obwohl Gieitien in ſich und um fid her
vundernswürdiges hat, einſtweilen alle Betradhtuns
s deine Provinz bei Seite ſtellen, und bein Nadıs
mf etwas ganz Anderes Ienten. Ich will namlich
Dasjenige unterfuhen, was ic im vorigen Buche
ben habe: warum denn der Nil in den Sommers
fo wafferreih werde. Die Philofophen melden,
der Danubins *) von Natur ähnlich, weil feine
meiber ‚Gerobot von ber Donau, indem er den es
Am Qt vergieigt. IV, 48, 50,
4216 Seneca’s Abhandlangen. |
Quellen gleichfalls unbekannt, und er im Sommer größer
fey als im Winter. Es hat fich gezeigt, Daß Beides unrich⸗
tig ift. Denn wir wiffen, baß feine Quelle in Deutichland
iſt, und mit dem Sommer fängt er zwar an zu warhfen,
aber zu einer Zeit, wo der Nil noch in feinem ordentlichen
Hafferftand bleibt, wenn es warm zu werben anfängt, und
die Sonne Eräftiger in ben leuten Frühlingstagen die Schness
maffen fchmelzt, die fie früher mitnimmt, als der Nil zu
fdywelten beginnt. In der übrigen Zeit des Sommers aber
wird er Kleiner und Pehrt zu dem Stand zurüd, den er im
Winter hatte, und ed geht wohl auch davon noch Etwas ab.
2. Der Nil aber wird vor dem Aufgang des Hundes
ſterns *) mitten in den heißen Tagen und bis über die
Tag: und Nachtgleiche hinaus immer größer. Diefen be:
rühmteften Strom hat die Natur vor den Augen der Menfchs
heit hervorgehoben und ihn fo eingerichtet, daß er zu ber
Seit Aegypten überſchwemmt, wenn der von der Hite ausges
brannte Boden feine Gewäffer tiefer einfchluckt, um fo viel
in ſich aufzunehmen, als bei der jährlid, wiederkehrenden
Trockenheit erforderlich if. Denn auf der Seite, die gegen
Aethiopien hin liege , fallen entweder gar Feine Regen, oder
nur felten, und fo, daß fie dem an das Wafler vom Him«
mel nidyt gewohnten Land Nichts helfen. Aegyptens einzige
Hoffnung, wie du weißt, bernhet darauf. Dem gemäß ift
daher das Jahr unfruchtbar oder fruchtbar, je nachdem er
groß einherftrömt oder fchwächer. — „Kein Pflüger ſchauet
> Der Gunbsftern geht In Aegypten am euſten Salus auf,
Naturbetrachtungen. Bierted Bud. 424
an den Himmel.’ Warum fol ich nicht mit meinem Dichter:
(herzen und ihm feinen Dvidius vorhalten, weicher fagt:
— — rnicht zum Zeus fiehet um Regen das Gras.
Könnte man darauf Fommen, wo fein Wachfen beginne, fü
fießen ſich auch die Urfachen feines verftärkten Laufes auf⸗
finden. Nun aber, nachdem er durch große Einöden durch⸗
zogen und in Sümpfe ausgefreten iſt, umd fich an verfchiedene
Dölter vertheitt hat, fammelt er fic von dem unftäten und
irren Lauf zuerft in der Nähe von Philä.**) Die ift eine
Inſel; gebirgig und anf allen Seiten abfchüffig: von zwei
fi) vereinigenden Strömen wird fie gebildet, denen der
Mil einen andern Lauf gibt, deflen Namen fie auch anneh⸗
men. Die ganze Stadt dort umfließt der Nil, mehr groß
als reißend, wo er aus Aethiopien ausgetreten iſt und an
den Sandwüſten vorbeifteömt, durch welche die Handelsftraße
wm Sndifchen Meer führt. Don da geht es an die Ca⸗
graften, eine durd) ein ausgezeichnetes Naturfchaujpiel bes
ühmte Gegend. Daſelbſt drängt er ſich durch flei.e und an
ehrern Orten unterhöhlte Felſen und fest fich in vafche,
äftige Bewegung. Denn er bricht ſich an den entgegen:
genden Felsblöcken, und durch enge Schluchten ſich durch⸗
end, fchlägt er Wogen, er mag zurüdgedrängt werden
re durchdringen; und nachdem an diefer Stelle feine Wafler
dWSo nennt er den Lucius. — Der folgende Vers ift nicht
von Do wie Senera irrig angibt, fondern von Tibull.
» 1, 30.
Na Pıinius ſiub das vier Inſeln, in dee Laudcho hrs
Hals, nit weit von Eirppaniine, V,g. -
m 108 Döpm,
2248 Seneca's Abhandlungen.
in Aufruhr gebracht vonrden find, die er ohne Geraͤuſch in
fanftem Bette gewälzt hat, ſtuͤrzt er, ſich felber nicht mehr
ähnlich, gewaltfam und raufchend durch die verengten Pälle
hervor. Bis dahin nämlich Aießt er fchlammig und trüb.
Wo er aber in ‚die Klippen der Schluchten eingetreten ift,
da fchäumt er, und Hat nicht mehr feine natürliche Farbe,
fondern wie fie ihm der gewaitfame Widerftand der Umge⸗
bungen gibt. Endlich wenn er fid durch Das, was ihm im
Wege fand, hindurchgezwängt hat, ſtürzt er auf einmal
losgelaſſen in eine ungeheure Tiefe und der donnerute Yall
ertönt mächtig in der umliegenden Gegend. Das konnten die
Nationen, die in jener rauhen Gegend hausten, nicht aus⸗
halten, denn betäubt wurden ihre Ohren von dem ewigen
Donner, und deßhalb Haben fie andere Wohnplätze gewählt.
Unter den Merkwürdigkeiten des Fluſſes erzählte man eine
von der unglaublichen Kedheit der Anwohner. Je Imei mit
einander befteigen ganz kleine Nachen, und Einer von ihnen
lenket das Schiff, der Andere fdyöpft es aus. Sodann
nachdem fie unter dem reißenden Toben des Nil und den ſich
begeguenden Wellen tüchtig herumgefchautelt worden find,
haften fie ſich endlich au die gar feichten Kanaͤle, durch die
fie den Engpäffen der Felſen entgehen; und mit der ganzen.
Strömung dahinfahrend , hemmen fle den fchießenden Machen
mit ihrer Hand, und indem fie zu großer Beängfligung der
Zufchaner ſich auf den Kopf ſtemmen, und man fie fchon als
verloren beklagt und von der mächtigen Maffe erfäuft und
begraben glaubt, fahren fie, weit von der Stelle weg, wo
fie untergefunten waren, mit Pfeitesfchnelfe auf ihrem Nas
Sen babin, and die Rürzende Welle erſaͤuft fie nicht, fondern
Naturbetrachtungen. Viertes Bud. 1219
trägt fie auf der Fläche des Waſſers fort. Das Anfchwellen
des Nils ift in der Nähe ber eben erwähnten Inſel Philä
äuerft zu bemerken. In geringer Entfernung davon wird
er von einem Felfen in zwei Arme gefpalten: den unnah⸗—
baren nennt man ihn im Sriechifchen, und nur die Dber-
priefter betreten denfelben. Un diefen Felsſtücken ift das
Yustreten des Fluſſes zuerft merklich. ine große Strede
davon ragen zwei Klippen hervor; Niladern nennen diefe
die Einwohner : von denfelben wird eine große Maffe ausge-
ſtrömt, doch nicht fo groß, das fie Aegypten bededen Bönnte.
In dieſe Definungen werfen die Priefter ein Feines Stück
Geld, und die Statthalter goldene Gefchente hinein, wenn
Das feierliche Opfer eintritt. Von hier aus Täuft der Nil
offenbar mit neuer Kraft ın einem hohen und tiefen Bette
dahin, und die gegenüberflehenden Berge engen ihn ein,
daß er fi nicht in die Breite ausdehnen kann. Erſt im
der Gegend von Memphis wird er frei, und ergießt fich
rings über das ebene Land, und spaltet fih in mehrere
Arme und verbreitet fich in Fünftlichen Kanälen, damit man
feine Größe durch die MWafferleitungen in der Gewalt hat,
dard) ganz Aegypten. Anfangs theilt er ſich, fodann ver:
einige er feine Waffer und fteht fit, wie ein breites unb
trübes Meer ausfehend; der reißende Lauf hört auf wegen
der Breite der Landftriche, in die er ſich ausdehnt, und
rechts und links ganz Aegyptenland umfängt. So viel der
Nil wächst, fo viel ift Hoffnung für den Jahrgang. Und
Ne Berechnung tänſcht den Landmann nicht, fo fehr ſtimmt
Mi Derbättniß der Befruchtung durch den Nil mit dem
6 *+
2220 GSeneca’s Abhandlungen.
ı .
Waſſerſtand des Fluſſes zufammen. Diefer bringt dem fan:
digen und dürftenden Boden nicht nur Waſſer, fondern auch
Erdreih. Dem da er trüb fließet, fo läßt er in den
trockenen Erdritzen allen Bodenfab zurüd, und was er von
Fettigkeit mit fich führte, klebt fich an die dürren Streden
an, und fo dient er den Aeckern in zweierlei Hinficht, theils
weit er überfchwenmt, theild weil er verfchlammt. Daher liegt,
wo er nicht hinkommt, Alles unfruchtbar und wüſte. Wenn er
aber über die Gebühr wächst, fo ſchadet's. Das ift eben die
wunderbare Natur des Yluffes, daß, während die audern
Ströme das Erdreich wegſchwemmen und ausfaugen, der Nil,
der doc, um fo Vieles größer wird als die andern, nicht nur
Nichts verzehrt und wegfrißt, fundern im Gegentheil nod)
Kräfte gibt und zum wenigften den Boden in der gehörigen
Mifchung erhält. Ja indem er Schlamm herbeiführt, fättigt
und bindet er den Sandboden. Und Aegypten verdankt ihm
nicht nur die Fruchtbarkeit feines Erdreichs, fondern dieſes
ſelbſt. Das ift ein wunderfchöner Anblick, wenn der Nil
nun auf die Felder eingedrungen iſt. Da fieht man Nichts
non den Feldern und die Thäler find bededt, die Städte
fiehen wie Inſeln hervor. Im Binnenlande gibt ed keinen
Verkehr, außer auf Schiffen. Und die Völker haben eine
um fo gnößere rende, je weniger fie von ihrem Land
feben. So auch, wo fih der Nil in feinen Ufern hält,
geht er in fieben Mündungen in das Meer, und melde
derfefben man nehmen mag, fie ift ein Meer. Nichtsdeſto⸗
weniger ergießt er bald auf das eine, ba auf das andere
Ufer viele nicht bedeutende Arme. Webrigens nährt er
2frere, bie den Seethieven theild an Oröße, theils an
k-
Naturbetrachtungen, Viertes Bud. 1221
chkeit Nichts nachgeben. Wie groß er fen, läßt ſich
van beurtheifen, daß er ungeheure Thiere enthält
soHl Nahrung als auch Raum genug hat, daß fie
in umtummeln können. Balbillus,*) ein vortreffe
Kann, der in jedem Fache der Wiffenfchaften feines
ſucht, erzählt und, daß er, während er als Statt:
Uegypten beherrfchte, in der Heracleotifchen Nil
8, welche die größte ift, es mit angefehen habe,
(phine, die vom Meere, nnd Erocodile, die aus
aß herfamen und in Heereszügen gegen einander -
nie in Parteien getheilt, eine Art Treffen geliefert
und bie Erocodile feyen von den friedlichen und un='
beißenden Thieren überwunden worden. Bei jener
obere Theil des Körpers hark und aud) gegen die
großer Thiere und urchdringlich, der untere aber
Id zart; diefe num verwundeten die unterfauchenden
e mit ihren Stacheln, die fie auf dem Rücken her⸗
nd haben, und fchlikten fie mit einem Sprung im
e auf. Nachdem fie auf folhe Weiſe mehrere ver-
Hatten, flohen die übrigen, die Schlachtordnung
ı umwendend, zurüd: fiehe da, ein Thier auf der
or einem Fühnen, und zwar das Fühnfte vor dem
nen! Auch die Zentyriten werden **) darüber Herr,
wa [wie man fälfchlih glaubte] vermöge einer
Amlichkeit ihrer Art und ihres Blutes, fondern
lbillus war Statthalter von Aegypten unter Nero.
e Bewsohner der Nilinſel Tentyre, — Denderah — nicht
it von Thebe. Man ſagte, die Crochd he Tinmen ven
ruch dieſer Menſchen nicht ertragen.
2222 ° Seneca’s Abhandlungen.
durch Verachtung [der Gefahr] und bfindes NHineingehen.
Denn file gehen geradezu auf diefelben los und fchleppen fie,
wenn fie die Sucht ergreifen, mit einem übergeworfenen
Strid fort. Manche, die nicht Geiftesgegenwarf genug
haben, um fie zu verfolgen, kommen um's Leben.
Daß der Nil einmal Seewaffer mit fid) geführt habe,
erzählt Theophraftus. Zwei Jahre hintereinander, im zehnten
und eilften Negierungsjahre der Königin Cleopatra fey er
nicht geftiecen. Das habe, fagt man,. zwei (Gewalthabern)
Ben Sturz bedeutet. Des Antonius und der Cleopatra
Herrfchaft wurde nämlich geftürzt. Daß in frühern Zeiten
der Nil neun Sahre lang nicht geftiegen fey, weiß man
Burd, Callimachus. *) ’
Nun aber will ich zu der Unterfuchung der Urfachen
übergehen, warum der Nil im Sammer wächst, uud will
bei den Älteften anfangen. Anaxagoras ſegt, von den Hethios
pifhen Gebirgsrüden laufe dad Schneewafler bis in den
Mir. Derfelden Meinung war man im Alterthum über:
haupt. So gibt ed Aeſchylus, Sophocles, Euripides an. —
Allein tab Das ungegründet fey, erhellet aus mehreren
Amfländen. Für's Erſte, daß Aethiopien ein brenneud heißes
Zaud fey, darauf deutet die verbrannte Hautfarbe der Bes
wohner hin und die Troglodyten, welche unter der Erde
ihre Wohnungen haben. Die Felfen find glühend heiß, wie
vom Feuer, nicht nır um Mittag, fonderu auch, wenn ter
> Coimaauıs, ber Houmnendichter, hatte auch ein vortiſchet
— Fer die giuſſe geſchrieben. Vergl. Eiygmol, M. &, 1,
Maturbetrachtungen. Vierted Bud. 1223
Tag fidy geneiget Hat: ein brennenter Staub ift der Sand,
in dem es keines Menfchen Fuß aushält: das Sitber ſchmelzt
fih vom Blei los, und die [gelötheten) Fugen der Bilds
jänfen [aus Metall] Töfen fic auf. Keine Uebergoldung oder
Derfilberung ift haltbar. Auch ift der Südwind, der von
jenem Landftrich herkommt, der heißefte unter den Winden.
Keines von den Thieren, die fich um die Jahrszeit der kür—
jeften Tage umnfichtbar machen, verbirgt fich jemald. Auch
den Winter über ift die Schlange auf der Oberfläche der
Erte. Ulerandria liegt ſchon weit von dem fo unmäfig
heißen Landſtrich, und doc, fällt Fein Schnee; was weiter
oben liegt, hat auch ;Feinen Regen. Wo foll nun in einer
Gegend, die unter folcher Sonnengluth liegt, Schnee her>
fommen, der den ganzen Sommer über anhielte? Wohl
mögen einzelne Berge folchen befommen, aber nie in grö⸗
Berer Muffe, als die Alpen, ald die Thracifchen Bergrüden,
oder ber Caucaſus. Uber die Flüffe diefer Gebirge fchwellen
im Frühling an und in den erſten Sommertagen; fpäterhin
find fie Eleiner, ald im Winter. Zur Frühlingszeit nämlich
loͤſen die Regengüffe den Schnee auf, und die Refte deflelben
gehen mit den erften warmen Tagen weg. Weder der Rhe⸗
nus, noch der Rhodanus, noch der After, noch der Eayftrus
find einer ſchädlichen Einwirkung [der Schneemaffen] im
Sommer audgefest. And doch ift auch anf jenen nordlichen
Gebirgsrücken [fort und fort] tiefer Schnee. *) Auch der
*) Die Ueberſetzung welcht bier von bem Nuhtopfihrn Aerir
ab, unb folge ber Letart ber Handſchriften des Fortunalur“
Subjacent malo acstate, Sunt et in illis allissimae \v
Sept. Jugiter nives, ober feiner Eonjertugs allissimme SU!
4224 \ Seneca's Abhandlungen.
Phaſis Lin Armenien und Colchis] und der Boryſthenes Dnepr]
müßte zu diefer Zeit wachfen, wenn der Schnee die Flüffe
nm die Sommerzeit (ungeachtet ded Sommers) groß madyen
könnte, Weberdieß, wenn das die Urſache von dem Steigen
des Nild wäre, fo müßte er mit Anfang des Sommerd am
voltften ſtrömen. Denn da find die Schneemaffen am größten
und noch unangegriffen, und das Schmeizen geht vom
Weichften aus. Der Nil aber fließt vier Monate lang in
gleichmäßigem Zunehmen. Wenn man dem Thales glaubt,
fo ftemmen fich die Hundetagswinde dem Ausftrömen des
Nils entgegen und halten feinen Lauf auf, indem fie das
Meer gegen feine Mündungen hintreiben. So prallt er ab
und Läuft in ſich ſelbſt Zurück, und. es ift Fein Wachfen,
fondern, weil er am Ausſtrömen gehindert ift, entſteht
Drudwaffer, und er tritt, fobald er irgendwo kann, ſchrau⸗
kenlos aus. Euthymenes von Maffllia*) bringt ein Zeugs
niß vor: „Ich befuhr,“ ſagt er, „das AUtlantifche Meer.
Dort firömt der Nil größer, fo lange die Hundstagswinde
ihre Zeit haben; fo fange nämlich die Winde anhalten,
drängt fi, dad Dieer gegen ihn. Wenn fie nachgelaffen
haben, wird auch dad Meer ruhig, und der ausftrömende
Nil Hat dann eine geringere Waſſermaſſe. Uebrigens hat
et in Sept. jugis nives, vergl, Jani Gruteri Animadrv, in
Sen, Opera, Tom. II, p. 660.
*) Bon diefem Euthymenes aus Maſſilia weiß man nur, daß
Artemidor von Epheſus etwa 100 Jahre vor Enr. Geb. einen
Iudsug ans beffen Echriften machte. Den Artemidor aber
epitemirte Marcianué. Bergi. Fahr. Bikl, gr. Ni, 2. 10.
2. 6164. Vol, IV, ed. Harles,
Raturbetradhtungen. Vierte Bud. 41225
das Meer einen füßen Gefchmad und Zhiere, den Nilthieren
ähnlich. — Über warum fängt denn, wenn den Mil
die Hundstagswinde anfchwellen, das Wachſen deſſelben
nicht nur früher an, fondern dauert auch Tänger als fie?
Ueberdieß wird er ja nicht größer, wenn fie auch heftiger
wehen; und fällt und fleigt nicht, je nachdem fie mir minder
oder mehr Gewalt floßen, was doc, der Fall ſeyn müßte,
wenn er durch ihren Einfluß wachfen würde. Und floßen
denn nicht die Hundstagswinde [welche von Norden kommen)
an die Aegyptiſche Küfte, und der Nil ſtrömt ihnen ent—
gegen ? Der müßte ja daher Pommen, wo fie herkommen,
wenn Die Lrfache Lfeines Wachſens] von ihnen ausginge.
Veberdieß würde er aus dem Meere ein reines und bläu—
liches Waffer bringen, nicht trüb, wie es jest der Fall ift.
Dazu kommt, daß das Zeugniß diefed Mannes durch eine
Menge von Zeugen widerlegt wird. Damals Eonnte man
freiticy Allerlei erdichten, als das Auswärtige noch unbes
kannt war. Da Eonnte man Mährchen verbreiten. Nun
aber wird die ganze Küſte des auswärtigen Meeres von
Kauffaprteifchiffen befahren, und da hört man von Nies
mand, der Mil fey zu jener Zeit blaͤulich, oder das Meer⸗
wafler von verändertem Geſchmack. Das läßt fi auch aus
natürlichen Gründen nicht glauben, weil gerade das Süßefte
und Leichtefte von der Sonne aufgezogen wird. Ueberdieß,
warum wächst er dann im Winter nicht? Da kann das
Meer ia auch von Winden aufgeregt werden, und maudımal
wohl von Rärkenn. Denn die Hundstagswinde nd gemihint.
due es baper von dem Atlantiſchen Meere, ſo wire *
r emmal Espptenland Aseridywenmen. Abein ex WS
1226: Seneea’s Abhandlungen.
ftnfenmweife. — Denopides aus Chios*) fagt: im Winter
halte fih die Wärme unter der Erde, defhalb fenen auch
die Höhlen warn, und die Brunnen haben laueres Waſſer,
und fo trocknen die Adern durch die inwendige Wärme aus.
Aber in andern Ländern werden die Flüſſe durd, Regengüffe
verftärkt; hingegen der Nil, weil ihm Eein Regen nachheife,
p werde fchwach ; darnady im Sommer wachfe er, denn da ift
"38 im Innern der Erde Salt, und die Quellen befommen
ihre Frifche wieder. — Wenn Dieb wahr wäre, fo würden
bie Flüffe [überhaupt] im Sommer wachfen, und alle
Brunnen im Sommer wafferreich feyn. Ferner, daß nicht
. eigentlicd, die Wärme unter der Erde im Winter größer iſt, —
[geht aus Folgendem hervor: das Waſſer und die Höhlen
und die Brummen find [nur derum] lau, weil ihnen feine
friſche Kuft von Außen beifommt. Daher ift es nicht eigents
liche Wärme, was fie haben, fondern fie laſſen nur Beine
; Kälte herein. Aus dem nämlidhen Grunde find fie im
. Sommer £ühler, weil die erwärnte Luft, die ihnen fern und
"von ihnen abgefondert ift, nicht in fie eindringt.
Diogenes von Apolonia**) fagt: Die Sonne zieht Feuchs
tigkeit an fich; dieſe wird von der ansgetrodneten Erde
:theild aus dem Meere, theild aus andern Gewäſſern einges
fogen. Es ift aber nicht möglich, daß ein Boden froden
fey und der andere zu viel Waſſer habe! Denn es ift Alles
*) Diefer Dmopibes, einer der aͤlteſten Naturforſcher, lebte
‚ entweder mit oder nach Anaxagoras.
> Diogene# aus Mpolienia, ein Zundrer bed Anaximenet,
—* and Ber Soule der Joniſchen Phileiophen, \cyriee
Gere. verloren grgangene, Buͤcher phyſitabſoen Weues.
Naturbetrachtungen. Viertes Buch. 4227
durchröchert und mit Gängen durchzogen. Zu Zeiten nimmt
dad Trockene Etwas vom Feuchten weg. Wenn die Erde
nicht Etwas befäme, würte fie verdorren. Darum! zicht
tie Sonne Waſſer auf, aber gerade folche füdfiche Gegenden
ſind's, welche [dem Waſſer] zufegen. Iſt nun der Boden
dürr, fo zieht er mehr Feuchtigkeiten an fih, fo wie in
Lampen das Dehl dahin fließt, wo es weggebrannt wird:
gerade fo neigt fich das Waffer dahin, wo es von der Kraft
der Wärme und des erhisten Erdreichd hingelockt wird.
Und von woher wird es denn gezogen? Natürlich aus
jenen Gegenden, wo ed immer winterlich ift, ans dem
Norden, mo es überſtrömt. Deßhalb ſtrömt der Pontus
[Enxinus, das ſchwarze Meer] in Einem fort reißend im
das untere Meer, nicht wie die andern Meere in abwech-
felnd Hin und her mwogender Ebbe und Fluth, fondern immer
nur auf die einzige Seite hin fich zudringend und vafdı
firömend. Wenn Dieß nicht der Fall wäre, und nicht auf
diefem Wege, was irgendwo fehlt, mitgetheilt, und was
irgendwo zu viel ift, abgegeben würde: fo wäre bereits Alles
entweder ausgetrocknet, oder überſchwemmt.“ — Da möchte
man aber den Diogenes fragen: warum denn, wenn der
Pontus und alle Ströme in einer wechfelfeitigen Verbindung
ftefen, die Flüffe nicht aller Orten im Sommer größer
feren? — Egypten wird von der Sonne mehr ausgerocht;
darım wächst der Mil mehr. Indeſſen erhalten auch in
andern. Ländern die Flüſſe einigen Zuwachs. Warum aber
iR ferner irgend ein Theil des Erdbodens ohne Bahititts
a 200) JEDER aus andern Gegenden an fidy zieht , AND TR®
va PD Meſt, Je wärmer es iſt? Und weiter, RUN
4228 Seneca's Abhandlungen.
der Nil füß, wenn er fein Wafler vom Meere hat? Ya,
e8 hat Fein Fluß einen füßeren Gefchmad. _
3. Es ift wohl eine etwas zu gewagte Behauptung,
wenn id) vom Hagel fage, er entitche auf diefelbe Weiſe,
wie bei und das Eid, dadurch nämlich, daß eine ganze Molke
gefriert. Darum rechne ich mich unter die Zeugen zweiter
Klaffe, die zwar nicht behaupten, Etwas gefehen, wohl
aber, ed gehört zu haben. Dder ich will es halten, wie
die Gefchichtfchreidber. Wenn Diefe nad) Gutbünken allerlei
Erdichteted vorgebracht haben, fo wollen Tie doch diefe oder
jene Thatfache nicht verbürgen, fondern feben bei: Wenn du
fo mir nicht genug glaubft, fn wird dir Pofidonius mit
feinem Anſehen bürgen, fowohl für das Bisherige, als für
ya8 Folgende. — Daß nämlid der Hagel aus einer waffere
yaltigen und bereits in Feuchtigkeit verwandelten Wolfe
entſtehe, wird er fo behaupten, als wäre er dabei gewefen.
Worum aber der Hagel rund fey, kannſt du auch ohne
Behrer wiffen, wenn bu nur bemerkt haft, daß alle Tropfen
fihh zu einem Knaͤuel zufammenrunden. Das ift aud
an den! Spiegeln zu; fehen, die durch das Anhauchen
eine Feuchtigkeit anfammeln,, und in Bechern, in die man
Etwas eintraͤufeln läßt, und auf jedem andern glatten Kör-
per: jagauch auf Blättern von Kräutern oder Bäumen,
wenn fi) je Tropfen daran hängen, liegen fie rund da ..
Was ift Härter. als Stein? und Was ift weicher, als Wafler ?
ni Dennoch bad Waffer, fo weich, hoͤhlet das harte Geftein.*)
2 Panft 50 lieben, I, 435 f.
| Naturbetrachtungen. Viertes Bud. 1229
oder wie ein anderer Dichter *) fast:
Saltente Xropfen Höhlen den Stein aus. — —
und auch diefe Aushöhlung ift wieder rund. Daraus ift Mar,
es muß Jenes aud) Dem aͤhnlich feyn, was ed aushöhlt.
h
|
Denn es gräbt ſich einen Ort aus, feiner Geftaft und feiner -
Befchaffenheit gemäß. Weberdieß Fann der Hagel, wenn er
auch noch nicht fo gewefen ift, wie er herabfaͤllt, fidy runden,
und da er fo off durch den Raum dichter Luft herabgewälzt
wird, ſich gleichmäßig und Ereisförmig abreiben. Dieß Fann
bei dem Schnee nicht der Fall fenn, weil er nicht fo maſſig,
ja weil er vielmehr fo Inder ift, und nicht aus einer;folchen
Höhe herabfält, fondern in der Nähe der Erde feinen Uns
fang hat. Daher geht fein Fall nicht eine weite Strede
durch die Luft, fondern kommt nur aus der Nähe her. —
Warum foll id) mir denn nicht das Nämliche erlauben, wie
Anaragoras ,**) da zwifchen Niemand mehr gleiche Freiheit
flattfinden fol, als zwifchen Philoſophen. Der Hagel ift
nichts ‚Anderes, ald in der Xuft fchwebendes Eid. Der
Schnee ift eine, während des fallenden Reifens gefrorne
Maſſe. Denn wie wir fchon behauptet haben, zwifchen Reif
und Eis ift der nämliche Unterfchied, wie zwifchen Waſſer
und Thau, und eben fo zwifchen Schnee und Hagel.
4. Ich hätte mich nun, nach Beendigung diefer Unters
ſuchung, alles Weitern überheben können: allein ich will
gut meffen , und weil ich dir denn doch fchon befchwertic, zu
”, Suretins I, 31%.
””) Sdnliq von dd Anaxagoras Meinung abyawrichen. vet Ui
“9 Bit a3 Chales und feinen Kehren Anaxwnened DEN
-
dB
4230 - Senecas Abhandlungen.
.feyn angefangen habe, fo will ich noch fagen, welche Fragen
noch weiter hierüber vorkommen. Es ift nämlich die Frage,
warum es im Winter fchneit, aber nicht hagelt, und warum
im Srühling, wenn die Kälte gebrochen ift, Hagel fällt.
Denn wenn ich auch in deinen Augen Unrecht Habe, ich we⸗
nigftens hege wahrhaftig die Heberzeugung, indem ich mich,
foweit es foldye unbedeutende falfche Angaben betrifft, bei
denen man Einen wohl den Mund zu flopfen, nicht aber
die Augen auszufraben pflegt, leichtgläubig zeige: Im Win-
ter friert die Luft, und deßhalb verwandelt fie fich dann
nicht in Waſſer, fondern in Schnee, mit dem die Luft näher
verwandt if. Wenn der Frühling begonnen hat, fo geht
"mit der Luft eine größere Veränderung vor, und bei wärs
merer Witterung entftehen größere Tropfen. Daher, wie
unſer Virgilius fagt:
— — wenn Regen brisngenb ber Lenz naht,
ſo iſt die Zerſetzuug der Luft vun größerer Bedeutung, ba
fie überall ungebunden iſt und ſich losmacht, wozu gerade
die Lauigkeit beiträgt. Daher fallen nidyt ſowohl anhal⸗
tende Regen, als tüchtige und mächtige Schlagregen. Die
Jahrszeit der Fürzeften Tage hat file und feine Regen,
“vote fie oft einzutreten pflegen, wenn ein itrichweifer und
Heiner Regen auch Schnee unfermifcht bringe. Einen Tag
mit Schneegeflöber nennen wir’d, wenn ein höherer Kälte:
grad ift und ein früber Himmel. MWeberdieß, wenn’ der
Nordwind bläst, der and) feine eigene Witterung mitbringt,
70 giPf 08 Peine Regen. Beim Südwind ift der Regen
TORILLZEr und Bic Zropfen voller.
Eine Erfoheinung, weiche die Unſrigen anführen,
Raturbetradgtungen. Viertes Bud. 1231
mag ich eigentlich nicht recht fagen, weil fie auf keinem .
.. feten Grund beruht, doch darf ich fie audy nicht übergehen.
Was ſchadet's denn, wenn man auch Etwas fdhreibt, wobei |
der Kritiker fchon ein Auge zudrüden muß. Sa, wenn man
einmal alle Beweife auf der Goldwage abwägen will, dann
darf man wohl bald flille feyn. Es gibt gar nicht Viel,
was Leinen Widerfpruch fände. In der Regel, wenn man's
auch durchfest, im Streit iſt's doch. Sie fagen: Alles,
was in der Gegend von Scythien und dem Pontus [(Eurinus}
und dem nördlichen Himmelsſtrich mit Eis überzogen und .
gefroren ift, das thaue im Frühling auf; dann berfte das
Eis der Flüffe und die eingefchneiten Gebirge werden des
Schnees 1od. Daher ift es alaublich, daß dadurch kalte
Winde entftehen, und fic mit der Frühlingsluft vermifchen.
Noch fegen fie Etwas hinzu, wovon ich weder eine Erfahs
suug habe, noch zu machen gedenfe. Und auch du, meine
ich, wenn du der Sadye je auf den Grund Eommen willft,
magſt dich hüten, mit dem Schnee eine folde Probe zu
mahen. Sie behaupten, es friere Einen weniger. an Die
süße, wenn man auf feflen und harten, als wenn man auf
feinen und lockern Schnee trete. Wenn fie alfo Recht has -
ben, fo gefchieht ed, daß Alles, was aus jenen nördlichen.
Gegenden von bereits aufgeloderten Schnee und berftendem
&is herabkommt, fid an die bereits laue und feuchte Luft
der füdlichen Strecken anfchließt und diefelbe beftreift. Wenn
es alfo veguen wollte, fo wird Hagel darand, und daran N
die Bälte Schul, .
6: 30 fann micy nicht enthalten, ae Ungeretuthet
zer Feufe von unferer Schule Preis zu geben Sx
d
Pr "5
4352 Senecas Abhandlungen.
haupten, Manche verftehen fi) auf die Beobachtung der
Wolken und fagen voraus, wann Hagel kommen werde, und
fie willen Das aus Erfahrung, da fie ſich die Farbe der
Wolken gemerkt häften, worauf fo manchmal Hagel folgte.
Das ſollte man gar yicht glauben, daß zu Eleonä*) von
Staatöwegen YaAanSopviaxes aufgeftellt waren, Wächter
über fommendes Hagelwetter. Wenn Diefe nur ein Zeichen
gegeben hatten, es fey Hagel nahe, was meinft du? wohl, daß
die Leute zu Mänteln und Pelzkleidern liefen? Nein! Es
: opferte Jeder für fi, der Eine ein Lamm, der Andere ein
junges Huhn. Natürlich nahmen dann jene Wolfen alsbald
eine andere Richtung, wenn fie etwas Blut gewittert hatten.
Du lachſt darüber? Da befommft du nun noch mehr zu
lachen! Menn Einer weder ein Lamm noch ein junges
Huhn hatte, fo legte er, — denn Das Eoftete ja Nichts —
Hand an fich ferbft. Und daß du nicht glaubt, die Wolfen
; wären fo ungenügfam oder granfam, er. flach ſich mit einem
; wohlgeipisten Griffel in den Finger, und — Das war das
| Opferblut: Und der Hagel wandte fi von dem Gütchen
- eines Solchen nicht minder weg, als von Dem, für weldyen
‚ er durd) größere Opfer war erbeten worden.
7. €&8 gibt Manche, die wollen willen, wi es ſich
denn damit eigentlich verhalte. Die Einen ſagen, wie
es denn auch Leuten von großer Weisheit ziemt, es fen
nicht möglich,“ daß man mit dem Hagel einen Vertrag
/ebliese, und den Witterungslauf mit Praäfentchen abkaufe,
Peglerid Gefoente auch die Bötter bezwingen. Andere
y
leo, eine ©tadt in Argolis im Peloponnıb.
Naturbetrachtungen. Viertes Bud. 1233
fagen, fie vermuthen, es Liege eben im Blut eine gewilfe
gewaltige Kraft, ein Gewölk abzulenfen und zurückzu⸗
treiben. — Allein, wie kann doc in fo ein Paar Tropfen
Blut eine ſolche Kraft ſtecken, daß fie in die Höhe hinauf:
wirkt und die Wolken eine Empfindung davon haben? Das
Kürzefte wäre, man fagte: ed ift Lüge, und Ieered Ges
ſchwätz. — Allein zu Eleonä 309 man Diejenigen, denen
das Amt der Gewitterwache übertragen war, zur Verant⸗
wortung: durch ihre Vernachläffigung hätten die Weinberge
Hagelfchlag erlitten oder wären die Saaten zu Grunde ge⸗
gangen. Auch bei ung ift in dem Zwölftafeingefeb dad Ver⸗
bot: es fol Niemand die Frucht eines Andern verzaubern.
Das nody in Unwifienheit befangene Alterthum glaubte,
durch Zauber werden Wolkenbrüche fowohl herbeigeführt,
als abgewendet: und doch iſt die Unmöglichkeit davon fo
offenbar, daß defhalb Niemand fid, an eines Philofophen
Unterricht zu wenden braucht.
5. Das Einzige will id) noch beifügen, und du wirft
mir gerne beipflichten und Beifall zußfatfhen. Der Schnee,
fagen fie, entitehe in demjenigen Theil der Luft, der nahe
bei der Erde ift, denn da fey aus drei Urfadhen mehr
Wärme Fürs Erfte, weil jede Ausdünſtung des Erd-
bodens, da er viel Heißes und Trodnes in fic hat, um fo
wärmer iſt; je weniger fie durc, Entfernung verändert iſt.
Zürs Zweite, weil die Sonnenftrahlen von der Erde zu⸗
rädpralien und in ſich felbft zurüdgehen. Ihre Verdopps .
lung aber erwärmt immer Das, was der Erve uuiatt
Siegt, und Diefed bat um ſo mehr laue Laft, weil ed an
OH LCH, 208 Dh, n
P
a Seneca's Abhandlungen.
gedoppelte Einwirkung der Sonne bekommt. Die dritt
Urſache iſt die, daß die höhere Region recht ausgeblaſel
wird; was aber’ tiefer liegt, wird weniger von Winden ge
peitſcht.
9. Daran ſchließt ſich die Anſicht des Democritus*) an
Jeder Körper, je feſter er iſt, fängt die Wärme um ſi
ſchneller anf und behält (fe um fo länger. Stellt man dahe
ein ebernes Gefäß in die Sonne und zugleich ein gläfernes um
ein filbernes, fo wird das eherne am fchneffften warn wer
dent und am laͤngſten warm bleiben. Nimm da} : warm
er meint, daß es ſo ſey. Solche Körper, fagt er, welch
härter und gedrängter und dichter find, muſſen nothwendi
kleinere Löcher [Poren] haben und in jedem derfelben ei
dunnere Luft. Die Folge iſt, daß, gleichwie Eleinere Ba
degeräthe und Kleinere Keſſel fchneller warm werben, diefi
verborgenen und unfichtbaren Löcher nicht nur fchnelfer Heil
werden, fondern auch wegen dieſer engen Oeffnungen, Talk
famer zurätfdeben, was fle eingeſogen haben:
10. Nachdem wir nun -ausführfich genug Die Sache ein
geleitet haben, koͤmmen wir auf Das, was wir jest untet
fuchen wollen. Aue Luft iſt um fo dichter, je näher fie der
Erde if. So wie im Waſſer und in jeder Feuchtigkeit dir
Bodenfag zu unterſt iſt: fo fest ſich ia der Luft das Dich
teffe immer nieder: Es ift aber bereits erwiefen, daß alll
*), Democeituld von Abbera, DI. 70 — 94. Eicero ‚‚vomw- bes
ee man Der Bbtter” fagt I, 43: mit des Dem⸗critus Quel:
&picuris feine Gärten vbewaͤſſert. ¶ Man
Pr Faonidare von ſeinen Werten. Wert, Kol,
Er DU, 34, Volum, I, p, 628 fg. Harkes.
Naturbetrachtungen. Viertes Bıd. A235
Körper, je didern und feftern Stoffes fie find, die aufge
fangene Wärme um fo treuer bewahren: allein je höher die
Luft ift, und je weiter von dem Unrath der Erde zurüdges
treten , defto lauterer und reiner ift fie. Daher hält fie die
Sonnenftrahlen nicht feft, fondern läßt fie wie durch leere
Räume Hindurchgeßen : deßhalb wird fie nicht fo warm.
12. Dagegen aber fagen Einige: die Gipfel der Berge
ſollten um fo wärmer feyn, je näher fie bei der Sonne find.
Fr Irrthum, den® ich, liegt darin, daß fie meinen, ber
Apennin, und die Alpen und andere durch ihre außerordens
fihe Höhe bekannte Gebirge erheben fidy fo hoch, daß ihre
Größe Etwas von der Nachbarfchaft der Sonne verfpiüren
könnte. — Es ift das freilich eine Höhe, fo lange man fie
mit uns vergleicht, alfein wenn man das Ganze bedenkt,
fo find fie offenbar alle niedrig.‘ Im Verhältniß zu einander,
find fie wohl Einer unter oder über dem Andern. Webrigend
fann bier von Feiner folchen Höhe die Rede fen, daß im
Vergteichung mit dem Ganzen nicht auch die größten in Fei«
sen Auſchlag kämen; fonft würde man auch nicht fagen, der
ganzei@rbireis fey eine Kugel. Die Kugel hat das Eigen-
thümtiche, daß ihr eine gleichmäßige Rundung zufommt:
flelfe dir aber eine folche gleichmäßige Rundung vor, wie du
ffe bei etuem Spielball fiehft. Die Fugen und Nathen thun
da weiter feinen Eintrag, daß man nicht fagen könnte, ex
ſey von allen Seiten ſich gleich. So wie auf einem folchen
Ball jene Lücen, in Hinfidt der runden Geftalt, TIME
ansmachen: So machen audy filr den ganzen Exhtreid vie vox⸗
renden Berge Niches ans, denn ihre Höhe yerichraeine
%
7
4256 Senecas Abhandlungen.
in Vergleichung mit dem ganzen Weltkörper. Wer da bes
banptet, ein höherer Berg, weil er die Sonne mehr in der
Naͤhe auffange , müffe auch wärmer feyn: ‘der Fann eben fo
aut auch behaupten, ein Menfch, der eine längere Statur
habe, müſſe fchneller warm werden, ald ein Eleiner, und
fein Kopf fchneller, als die Füße. Wer aber die Welt
mit dem gehörigen Maßſtabe mißt und bedenkt, daß die
Erde nur wie ein Punkt in ihr fey, der wird einfehen, daß
auf ihr Nichts fo herporragen könne, daß es mehr Einwir⸗
tung von den Himmelskörpern empfände, ald wäre ed ihnen
näher gerüdt. Jene Berge, die wir für bedentend anfehen
und die mit ewigem Schnee bedecten Firnen, find nichts
| Beftoweniger in der Tiefe, und näher zwar der Sonne ift
der Berg, ald die Ebene oder dad Thal, aber nur fo, wie
man von einem Haar fagt, es fey dicker ald das Andere
und ein Baum dicker ald der andere, fo ſagt man auch von
einem Berg, er fey höher als der andere. In demfelben
Derhältniß könnte man audy von einem Banın fagen, er
fey dem Himmel näher, ald der andere, was unrichtig ift,
weil unter Eleinen Dingen kein großer Unterfchied ftattfinden
kann, außer in DVergleichung derfelbden mit einander, Wenn
es an die Vergleichung mit einem unermeßlic) großen Körpen
geht, fo kommt Nichts darauf an ,. um wie Viel das Ein
größer fey, als das Andere, weil ed, mag der Unterfchie
noch fo bedeutend feyn, doch nur etwas ganz Kleines ift, vor
übertroffen wird.
ıs. Dod um zu meinem Haupfgegenftand zurück;
—— ed Daben ſebr Diele aus den angeführten Grüw
7 die Ynficht entfchieden, daß der Schnee in ’
Naturbetrachtungen. Vierte Bud. 1237
jenigen heit der Luft entftehe, der in der Nähe der Erde
ift, und daß er deßwegen nicht fo feit fey, weil nicht genug
Kälte da ift, ihn zufammenzuziehen. Denn die in der Nähe
[der Erde] befindliche Luft hat auf der einen Seite zu viel
Kälte, als daß fie in Waſſer und Regen übergehen, und
auf der andern zu wenig, als daß fie ſich zu Hagel ver«
bärten könnte. Bei folcher mittelmäßigen und nicht allzu—⸗
firengen Kälte entfleht aus dem fich verfeftigenden Waſſer
der Schnee.
13. MWie magft du. doch, fragſt du, auf ſolch albernes
Zeug, wodurch Niemand weder gelehrter noch beffer wir,
fo viel Mühe verwenden? Du erklärft, wie der Schnee
entftehe: während es viel wichtiger wäre, darzufhun, warum
man keinen Schnee [Gefrorenes ] kaufen ſollte. Alſo du
willſt, Daß ich gegen Schwelgerei losziehe. Das ift freilich
ein täglicher und fruchtlofer Kampf. Doch wollen wir das
gegen kaͤmpfen. Mag fie auch den Sieg davon fragen, fie
fol uns doch nicht ohne Kampf und Widerftand übermannen.
Und wie? Du meinft, diefe Unterfuchungen Aber die Natur
tragen zu Dem, was du wilft, Nichts bei? Wenn wir
nnterfuchen, wie der Schuee entſteht, und zeigen, daß feine
Natur der des Reifen ähnlich fey, daß er mehr Luft als
Waſſer enthalte, meint du, es fey Leine Beſchämung
für jene Leute, wenn fie, da es doch eine Schande ift,
Waſſer zu Saufen, fogar Etwas kaufen, das nicht einmal
Waſſer ift? Wir wollen aber doc, Lieber unterluhen, wir
ber Shure euch, ald wie er aufzubewahren (en —8
Wan, unict Zufrieden, alte Weine au mifchen und na
mad und Jaßren zu vertheilen f "uch die Exrimdunı
‘
8258 Senecas Abhandlungen. —
macht hat, den Schnee zuſammenzupreſſen, daß er dem
Sommer trotzt und gegen die heiße Jahrszeit durch einen
kalten Aufbewahrungsort geſchützt wird. Was ift dad Er-
gebniß folder Forfchungen? Daß man Waſſer kauft, das
man umfonft haben Eönnte. Es ift uns nicht vecht, daß
wir die Luft, daß wir die Sonne nicht zu Faufen brauchen;
daß diefe Luft auch für die Leckern und Reichen auf fo leich-
tem Wege und ohne Geld zu haben ift. O wie übel find Die
daran, daß noch irgend Etwas in der Natur allgemein preigs
gegeben ift! Das, was nac dem Willen der Natur für
Alle fließen und unverkümmert feyn follte, deilen Genuß fie
Allem, was lebt, gemeinfchaftlich gemacht, — Das, was
He fowoHt für den Menfchen, als für das Wild und die
Vögel und-für die unbeholfenften Thiere fo reichlich und
feonend zum Gebrauch augsgefpendet, das hat die gegen ſich
ſelbſt erfinderifche Genußfucht zu einer Waare gemacht. So
Bann ihr denn Nichts gefallen, als was theuer. ifl. Das
war noch das Einzige, worin die Reichen allen Leuten gleich
waren, worin fie vor dem Aermſten Nichts voraus halten
Eonnten. — Allein Leute, denen ihr Reichthum zur LZaft ift,
haben’s num doc, ausftudirt, wie man aud das Waſſer zu
einem Gegenflande des Luxus machen könnte. Ich will audı
zeigen, wie es gekommen ift, daß fließendes Waſſer nicht
mehr für Ealt genug gegolten hat. So lange der Magen
geſund und für gefunde Speife empfänglidy ift, und nur ans
sesällt, nicht überladen wird, begnügt er fid mit natür-
Den Hirten ber Nahrung und Erquickung. Wenn er aber
Wr Aglicpe Weberiadung die Hitze — wicht der Jahrayit,
” die and im ſelbſt Zommt, — empfindet, woenn ie
Naturbetrachtungen. Viertes Bud. 142539
naufhörliche Völlerei ſich auf den Unterleib wirft und den
Ragen durch die Galle, die fich erzeugt, ausdorrt, fo muß
jan denn freilich Etwas ſuchen, jene Hite zu‘ dämpfen, die
wade durch's Waſſer noch heftiger wird, und die Krankheit
urch Gegenmittel nod) reizt. So trinken fie denn nicht nur
n Sommer, fondern auch mitten im Winter aus diefem
runde Schnee. — Denn was Fann doch anders die Urſache
an, als ein inneres Uebel, und ein durch Schwelgerei ver:
vrbener Magen, dem man Feine Zeit gelaffen haft, auszu⸗
ihen; fondern an das Hauptmahl, das man bis zu Tages⸗
abruch ausdehnfe, hat man das Frühmahl angehängt, und
ar man durch die Menge und Verſchiedenheit der Gerichte
bon angefülft, fo Fam man durch einen Nachſchmaus *) bei
mem andern guten Bekannten noch fiefer hinein. Darnach
at die ununterbrochene Unmäßigkeit, fo viel fie auch vorher
erdaut Haben "mag, doch zu wüthender Eßluſt gereizt und
m DBerlangen nad) immer neuer Erfrifchung Wenn fie
sher ſchon ihre Speifezimmer [bei £ühler Witterung ] mit
Jorhängen**) und Fenftergläfern verwahren und Durch
sichliches. Yeuer den Winterfroft abhalten müffen: fo wi
ichtsdeſtoweniger Land, bei fo kühler Jahreszeit] der zer-
kktete und durch innere Hitze erfchlaffte Magen Etwas zur
*) Comissatio. Bon ber Tafel hinweg zogen uͤppige junge
Lente mit Belang üser die Straße und Üüberfielen irgend
einen guten Belaunten, um bei ibm von Venen 18
ſchmauſen.
*2 — ver ‚2dufer Maren bei ben 38
‚ jewssern att umge
Pe Biapt gewebene. ft uufeioen und v
02
4240 Seneca’s Abhandlungen.
YAuffeifchung. Denn fo wie man Befinnungslofe und Oh
mächtige mit Baltem Waſſer befprist, damit fie wieder zı
Bewußtſeyn Eommen follen: fo haben ihre Eranthaft ftarr
@ingeweide feine Empfindung, wenn fie nicht durch etw
Kaltes einen Reiz befommen. Daher kommt es wohl auı
daß «8 ihnen nicht einmal am Schnee genügt, fondern
nad) Eis verlangen, weil fie fich bei der feftern Maffe ne
beffer auf die Kälte verlafien zu Fönnen denken, und d
mifchen fie dann unter das Wafler. Und diefes Eis nimı
man nicht vom Boden weg, fondern, damit ed mehr Arı
habe und anhaltendere Kälte, fo gräbt man es aus tief
Sruben heraus. Daher hat es nicht nur einen Prei
fondern es hat das Waffer feine Krämer — und Pfui d
Scande! verſchiedene Marktpreife. Die Lacedämonier hab
die Salbenhändler aus ihrer Stadt vertrieben und eilen
aus ihrem Gebiete fich entfernen heißen, weil fie mit de
Oehl Mißbrauch trieben. Was hätten fie gethan, wenn
Werkſtätten gefehen hätten, zu Aufbewahrung des Schnee
und Laftvieh in Menge, zum Tragen bes Waſſers beftimu
defien Farbe und Geſchmack durch den Erzfchaum Lin d
Gefäßen] worin man es aufbewahrt, verunzeinigt wird.
Und — gute Götter! wie leicht iſt's doch, den gefund
Durft zu flilen! Uber wo fol freilich bei abgeflanden
Kehlen eine Empfindung herkommen, die durch die heiß
Speiſen dichäutig geworden find? Wie ihnen Nichts Br
3729 3, So ift ihnen auch Nichts warm genug. Sonde
— deiße und eilig in ihre Brühe eingetauchte Pil
— fe faſt rauchend hinunter, um fe —RX
em Gecrante zu loͤſchen. Du kannſte (oa ih
Naturbetrachtungen. Viertes Bud. A241
ausgemergelte Menfchen fehen, in Mäntelhen und Sales
binden eingehült, bleich und kränkelnd, die den Schnee
niche nur fchlürfen, fondern fogar effen, und Stüde davon
in ihre Becher werfen, daß diefe nicht unter den Pauſen
des Trinkens verwarmen. WMeinft du, das ſey Durft ?
Fieber iſt's, und zwar ein um fo heftigeres, weil es nicht
am Pulsſchlag und an einer ſich über die Hank verbreitenden
Wärme zu merken ift. Sondern dag Herzblut felber kommt
in Gährung durch die Schwelgerei, diefes unüberwindfiche
Uebel, das, fo weichlich und nachgiebig es ift, doch fo hart
und haltbar wird. Siehft du nicht, wie durch Angewöh⸗
nung Alles feine Kraft verliert? Und fo kommt es aud)
mit diefem Schnee, mit dem ihr euch für jebt noch volls
fhwemmet, und bei dem täglichen Frohmdienft für euren
Band), durch Gewohnheit nod) dahin, daß er euch ift, wie.
Waller. Sehet euch doch nach Etwas nod, Kälterem um,
weil eine Kälte, die man gewohnt ift, doch Nichts heißen
win!
Inhalt des fünften Bude.
Kap. ı — 6. Begrifféebeſtimmung. Die Luft ift nie ohme Be:
wegung. Der Wind aber ift ein Sließen der Luft. Hypo⸗
thefe über die Entftehung des Windes — nad) Democritus —
dur Anhäufung der Atome in leerem Raum. Widerlegung.
Verſchiedene Urſachen der Winde. Der Hauptgrund Liegt in
der natuͤrlichen und eigenrhümlichen,, aus ihr ſelbſt kommen⸗
ben Beweglichkeit der Luft, wie eine ſolche auch im Waffer
und im Seuer liegt.
Ray. 7 — 13. Ueber bie vor Sonnmaufgang entftehenden Winde,
Buchtenwinte, hauptſaͤchlich im Krähling und im Eommer, —
Hundstagswinde oder Paſſatwinde. Orkane, aus. geborftenen
und jählings zerriffenen Wolfen. Wirbelwinde, DVergleichung
mit Waſſerwirbeln, bidweilen fich entzuͤndend.
Kap. 14 — ı5. Binde aus Höhlen fommend und aus dem In⸗
nern der Erde. Unterfuchung altee Xergmwerte, durch Phis
lippus von Macedonien veranftaltet, wobei man große Fluͤſſe
und fiehende Waſſer unter der Erde gefunden. Geitenblide
auf die unter den Bergen wünlende, Gold und Silber ſuchende
Habſucht der Menfchen in alter und neuer Zeit.
Ray. 16. Von den vier Hauptwinden. Mande nehmen zwölf
Winde an, indem fie jede der vier Himmeldgegenden wieder
in drei abtheilen, und jedem Wind zwei Nebenwinde geben.
Spree Beremmungen, meiſtens Griechiſchen Urſprungs. Zuſam⸗
nenBang mit Ber Eintheilung des Himmeld in fÜnt Kreife
— E Lorzont. Maittagstreis. Durch die Wuß Rreiie,
De von bem Korizont and dem Ntaottetit darhiaeitn
Inhalt des fünften Buchs. 1243
werben, entfiehen — nad Dben und Unten — zehn Nothei-
Iungen der Luft; dazu kommen durch bad Snineinlaufen des
Mittagsfreifed in ben Horizont noch zwei Regionen, fomit
zwölf Unterfheidungapuntte in ber Luft und eben ſo viele
Winde, Winde, welche gewiffen Gegenden eigenthuͤmlich find.
— Nugen ber Winde, gefunde Luft zu erhalten, Regen zu
bringen und zu vertreiben, Fruchtbarkeit zu befördern, ben
Verkehr der Völker durch Seefahrt zu begünftigen. Aber bie
Menſchen mißbrauchen, in legterer Hinfiht, bie Wohlthat
der Natur in thoͤrichter Eroberungsſucht.
FSünftes Bud.
Don den Winden und ber Bewegung
der Luft.
ı. Der Wind ift fließende Luft. Manche haben den Be⸗
griff fo beftimme: der Wind ift eine nach einer Seite bin
‚ Mießente Luft. Diefe Begriffsbeflinnmung halte ich für ges
naner, weil die Luft niemals fo unbeweglich ift, daß fie nicht
einigermaßen in einem erregten Zufland wäre. Go nennt
man das Meer ruhig, wenn es nur leicht bewegt ift, und
sicht auf eine Seite hinſtrömt. Wenn man daher The
Virgil, Edoꝗq. M., 36.] liegt:
MAIS WIMSRINE End Meer fand: — —
PanG mar ot an ein Gtilleſtehen denten, RE
1244 Seneca's Abhandlungen,
eine leiſe Bewegung, und daß man es ruhig nennt, weil es
nicht da oder dorthin feine Strömung nimmt. So muß man
aud) vun der Luft denken, fie fen nie unbewegfich , wenn fie
auch ruhig ift. Dieß laͤßt fi) aus Folgendem einfehen : wenn
die Sonne in einen verfchloffenen Ort hineinfcheint, fo fehen
wir ganz Eleine Körperchen gegen einander ſchwimmen, die
einen aufwärts, die andern abwärts, wechfelnd gegeneinan-
der fich bemegend. Daher wäre es ein nicht fehr gehauer
Begriff, wenn man fagen würde: das Fluthen ift eine Bes
wegung des Meeres; denn auch das ruhige Meer bewegt fidy
ja. Hingegen alle Sorgfalt hätte man auf die Begriffsbes
flimmung gewendef, wenn es hieße: das Fluthen ift eine
Bewegung des Meeres auf eine Seite. Go wird auch bei
Dem, wovon gerade jest die Rede ift, Nichts auszufesen
feyn, wenn man ſich dazu verfleht, zu fagen: der Wind ift
eine auf eine Seite hin fließende Luft; oder: der Wind ift
eine mit Heftigkeit bewegte Luft, oder eine Kraftäußerung
der auf eine Seite hin gehenden Luft, oder ein etwas bes
fchleunigter Lauf der Luft. — Ich weiß wohl, was zu Guns
flen der erften Erffäruug erwiedert werden könnte. Was
braucht man [£önnte man ſagen,] hinzuzufesen : eine Luft,
die auf eine Seite hin fließt? — Alles ja, was da fließt,
fließt auf eine Seite hin. Kein Menfch fagt von einem
Waffer, es fließe, wenn ſich nur im fich ſelbſt bewegt, ſon⸗
dern ed muß irgendwo hingehen. Es kann alfo feyn, daß
Mb Etiwas bewegt, ohne zu fließen: aber umgekehrt ift es
WIDr möglid, baß es fließe, wenn es wicht auf eine Geite
9 æßt. Allein dieſer Kürze wollen wir und Keith wur
Ten, Wenn wir dabei vor Tadel ſichet gercit Thy w
Naturbetrachtungen. Fünftes Buch. 1245
man aber recht vorfichtig ſeyn, fo fpare man die Worte nicht,
deren Beifügung den Sophiftereien vorzubeugen im Stande
it. Nun gehen wir an die Sache ferbft, weil wir über den
Begriff uns Hinlänglidy ausgefprochen haben.
2. Democrifus ſagt: wenn in einem engen leeren Raum
viele Körperchen find, die er Atome nennt, fo erfolge Wind.
Dagegen fey die Luft im ruhigen und flillen Zuftand, wenn
in einem weiten leeren Raum wenig Körperchen find. Denn
fo wie man anf Markt und Straße, fo lange nicht viele Leute
da find, ohne Lärm geht: wenn aber ein Menfchenfchhwarm
an einem engen Plas zuſammenkommt, und Einer auf den
Andern ftößt, Wortwechfel entfteht: fo muß in dem Raum,
von tem wir umgeben find, wenn von vielen Körpern ein
Heiner Plab angefüllt ift, einer auf den andern floßen und
ı fie auf einander hinauf und wieder zurüd getrieben und in
einander verwicelt und von einander gedrückt werden, und
daraus entfleht der Wind, wenn Das, was mit einander in
Streit Eam, ſich aufeinander legt und Tange unentfchieden
und bin und her wogend ſich [auf eine Seite] hinneigf.
Wenn aber in einer großen Ausdehnung wenige Körper find,
fo können fie weder auf einander ſtoßen noch gegen einander
getrieben werden.
3. Daß Dieß falfch fen, läßt fid, fchon daraus fihtieger,
daß mandymal gerade dann Fein Wind vorhanden iſt, wenn vie
Enft ſchweres Gewolk Hat. Und doch find da gerate recht vice
Körper auf einen engen Raum hingedrängt, und taher Laut
die —— bes verdichteten Gewölkes. Zudew iR iu S
Mäpe der Flüfe und Seen häufig ein Nebel, und ed N
/ de KODer bidt zufammengedrängt und angefammet ı S
4246 Genern’s Abhandlungen.
doch geht kein Wind. Bisweilen aber verbreitet ſich eine
ſolche Finfterniß, daß man das Naheftehende nicht fehen
kann; Das wäre nicht der Fall, wenn nicht eine Menge von
Körpern fid) auf einen Pleinen led zufammendrängte. Nun
herricht aber nie größere Windſtille, als bei neblichter Wits
terung. Bedenke überdieß, daß im Gegentheil die Morgens
fonne bei ihrerı Aufgang die dichte und feuchte Luft vers
dännt. Dann erhebt fid) ein Lüftchen, menn die Verbin⸗
dung der. Körper lockerer wird, und ihre Gedrängtheit nud
Maffe ſich auflöst.
4. Auf weiche Art, fragft dus, entftehen denw nun aber die
Winde? — denn das leugneft du doch nicht, daß fie entftehen.
Auf mehr als einerlei Art. Das Einemal wirft nämlich die Erbe
ferbft eine große Maffe von Luft aus, und biädt aus der
Tiefe herauf; ein andermal, wenn ein bedeutendes und an«
haltendes Ausdünſten von unten herauf das Ausgedünſtete
in die Höhe treibt, wird fchon die Zerfegung des gemifchten
trockenen und feuchten] Dunftese zu Wind. So wenig- idy
mid) überreden kann, das Folgende zu glauben, fo darf ich
ed doch nicht übergehen : fo wie in unferem Körper durch
Speife Blähungen entftehen, die nicht ohne große Befchwerde
für die Nafe abgehen und den Unterleib bisweilen mit einem
Zon, bisweilen aber ohne Laute, einer Laft entheben: fo
meint man, gebe auch diefe große Natur Luft von ſich, ins
dem fie ihre Nahrungsmittel zerſetze. Wir diirfen ung Glürk
zeänfchen, daß fie immer verdaut, fonft hätten wir allerhand
Zurrarß gu Deforgen. Iſt nun aber wohl die Behauptung
“griinbeter, es fchweben von allen Xheiten der Erhe aut in
wem ſort biele Pleine Korperchen umher, UND Wert TUR
Naturbetrachtungen. Fünftes Bud. 41247
ih zufammengehäuft und fofort durch die Sonne verdünnt
zu werden angefangen haben, fo fol Wind entftehen, weil
Alles, was ſich in einen engen Raum ausbreitet, einen grö⸗
fern Raum braucht ?
5. Wie alfo ? die Ausdünftungen des MWaffers und des
Erdreichs, meinft du, feyen allein die Urfache des Windes ?
Aus diefen fol die Schwere der Luft entftehen, und ſodann
durch einen Anſtoß aufgelöst werden, da, was dicht ſteht,
wenn es dünn wird , nothwendig einen ausgedehntern Raum
haben wit? Ich halte Das freilich mit für die Urſache. Ues
brigens weit richtiger und bedeutender ift der Grund, daß
die Luft eine natürliche Kraft fich zu bewegen hat, und daß
fie dad Vermögen hiezu, fo wie zu anderer Thätigkeit nicht
anderswoher betommt, fondern in ſich feldft trägt. Oder
meinft du denn, wir zwar haben Kräfte erhalten, durch die
wir uns bewegen können, die Luft aber fey unthätig und
unbeweglich aelaflen worden? während doch das Waller, auch
wenn die Winde ruhen, feine eigenfhümfiche Bewegung haf,
fonft Eönnte es ja auch Feine lebendigen Geſchoͤpfe hervors
bringen. Wir. fehen ja auch, daß Moos und manche Kräns
ter im Waffer wachfen, die auf feiner Oberfläche jihwimnen.
6. Es ift alfo eine eigenthämliche Lebenskraft im
Waſſer. — Nur im Waffer? Nein, das Feuer fogar, wel:
ches Alles verjehrt, bringt Einiges hervor, und fo unwahr—
heimlich es auch Manchem vorfommen mag, es iſt eben doc)
wahr, daß Thiere durch das Feuer erzeugt werden, Trac
eine Kraft der Art Hat num audy die Luft, und deßhoW were
aaprer fie fich Bald, Bald dehnt fie fich aus und veimiar KM’
AU-ORNEIRT ZIeDE Ne ſich zufammen, das Qnderemol \t
41248 Seneca's Abhandlungen.
und fchiebt fie. ſich auseinander. Es ift alfo zwifchen der
Luft und dem Wind der nämliche LUnterfchied, wie zwifchen
einem See und einem Fluß. Bisweilen ift die Sonne ſelbſt
an und für fid) Die Urfache des Windes, wenn fie die flarre
Luft zerftreut und aus dem dichten und sufammengebrängten
Zuffand entbindet.
7. Das Allgemeine haben wir von den Winden anger
führt; wir fangen nun an, fie einzeln zu unterfuchen. Viel⸗
Leicht wird ſich zeigen, wie fie entflehen, wenn wir darüber
im Reinen find, zu welchen Seiten und von welchen Gegen-
den fie ausgehen. Zuerſt nun befrachten wir die von Gons
senaufgang entftehenden Winde, die entweder aus Flüſſen
oder aus Thalgründen oder aus einer Bucht fidh erheben.
Bon diefen ift Beiner anhaltend, fondern fo wie die Sonne
fräftiger wird, legt er fih, und. geht nicht weiter als der
Geſichtskreis zu Lande if. Diefe Art von Winden fängt
im Frühjahr an, und dauert nicht über den Sommer hin
ans. Sie kommt hauptſächlich daher, wo viel Gewäfler
und Gebirg ift. In den Ebenen, wenn fie aud) genug Wafs
fee Haben, weiß man doch Nichts von diefem Luftzug, näms
lich von einem folchen, der flarf genug wäre, um für einen
Wind gelten zu können.
8. Wie entfleht nun aber ein folder Wind, den die
Griechen Buchtenwind nennen? — Was die Sümpfe und
die Flüſſe ausdünften, — und das ift nicht nur viel, fons
bern ed geht auch in Einem fort, — das wird den Tag über
2on Ber Sonne aufgegebrt; bei Nacht aber hört es aud)
de auf, fonbern in die Gebirge eingefäloiien \ommelt es
uf einem Sridy Zanded, Wenn et Viren niit
Naturbetrachtungen. Fünftes Bud. 1249
Hat und fich num felbft nicht mehr halten ann, fondern - irs
gendwohin hinausgedrüdt wird und auf eine Seite hin ab-
gebt: das ift dann diefer Wind. Er wirft fi alfo dahin,
wo die unbefchränftere Strömung und die freiere Gegend ihn
hintreibt, wo feine Anhäufungen ſich auslaffen Eönnen. Ein
Beweis hiefür ift, daß er im erſten Theil der Nacht nicht
weht. Jene Anfammlung fängt da nämlich erft an, und ges
gen Sonnenaufgang ift fie dann völlig, und ſtrömt hauptſäch⸗
lich dahin aus, wo am meiften leerer Raum ift und ein gros
ger offener Platz. DBefchleunigt aber wird das Ausftrömen
durch den Aufgang der Sonne, welcher die Falte Luft in
Bewegung fest. Dem noch ehe fie ſich zeigt, wirkt fie fchon
durch ihr Licht, und treibt die Luft zwar noch nicht durch
ihre Strahlen fort, aber ſetzt fie durch das vorangefendete
Licht doch fchon in Unruhe und Thätigkeit. Denn wenn fie
nun wirklich heranfgeftiegen ift, wird ein Theil [der anges
fammelten Dünfte) nad) oben forfgerafft, ein Theil geht
durch die Wärme in das Weite. Darum können biefe Winde
nicht länger als über die Zrühftunden wehen; wenn ſich die
Sonne fehen läßt, ift ihre ganze Kraft dahin; und wenn
fie audy befonders heftig geweht haben, fo Laffen fie doch um
Mittag nad, und diefes Windchen dauert nie bis in den
Mittag Hinein. Es ift aber das Einemal ſchwächer und von
fürgerer Dauer, als das Anderemal, je nachdem es fich aus
flärkern oder fchwächern Beſtandtheilen angefammelt hat.
9 Warum aber find dergleichen Winde im Teühtiun
und im Sommer flärker? Nämlich in ven übrigen Ssuhrrd>
Ta —— ten Sun
Erurch 106 Bay, ⸗ aſchwach, ſo daß \e €
1250 Seneea’s Abhandlungen.
fchwelten. — Darum, weil der Frühling wafferreicher ift und
die Ausdünſtung größer von der reichern Waffermaffe, oder
weil die Gegenden bei der feuchten Befchaffenheit der Wite
terung mehr geträntt und wafferhaltig find. — Uber warım
entfteht er doch auch im Sommer? Weil nach dem Untere
gang der Eonne die Tageswärme noch bleibt und einen gro=
gen Theil der Nacht andanert; diefe lockt Ausdünſtungen
hervor , und was von felbft auszuſtrömen pflegt, zieht fie
mit Gewalt an; ſodann haf fie doch nicht fo viel Kraft, Das,
was fie hervorgelocdt hat, zum verzehren. Deßhalb dunſtet
die Erde aus fich ferkft und dann die Feuchtigkeit noch Täne
gere Zeit Körperchen and, die da auszuſtrömen und andges
hamdıt zu werden pflegen. Die aufgegangene Sonne aber
erregt Wind, nicht nur durch ihre Wärme, fondern auch
durd) das Auffallen der Strahlen. Das Licht nämlich , das,
wie ich. fagte, noch vor der Sonne kommt, macht die Luft
J noch nicht warn, fondern: gibt ihr nur einen Anſtoß; auf
"4 Diefen hin aber tritt fie auf die Seite. Wiewohl, ich möchte
4 eigentlith nicht zugeben, daß das Licht an ſich ohne Wär me
1 fey, da es ja ans der Wärme kommt. Es hat freilich viel-
Leicht nicht fo viel Erwärmendes, daß es wirklich fühlbar
4 wäre. Dennoch thnt es ſeine Wirkung, und zerffrent und
I verdünnt das Dichte. Weberbief werden auch Gegenden, bie‘
F vermdge einer ungünftigen Lage fo eingefchloffen find, daß
| die Sonne fle nicht felber treffen kann, auch bei jener
zooJBgen und düftern Erlenichtimg erwärmt, und find den
Eng über minder Palt, als bei Nacht. Auch da nämlich
* dere Vurine Aberhaupt durch ihre natürliche Kroit \he
‚weg und. ſtot ffe von ſich. So maht ed vun ud
Naturbetrachtungen. Funftes Bud. 12
die Sonne, und deßhalb kommt es Manchen vor, als Eoı
men die Winde Daher, wo die Sonne herkommt. Daß Di:
unrichtig fen , fiehf man daraus, daß die Luft auf jede Sei
hin LLaften] bewegt, und man gegen Aufgang bei vol
lem Winde fahren kann. Das wäre nicht der Fall, wem
der Wind immer von der Sonne her Fäme.
10. Die Etefien [Paffatwindel, die Manche zum Bes
weis für fi) gebrauchen wollen, unterſtützen ihre Behauptung
auch nicht fonderfih. Ich will zuerft ihre Anficht vorlegen,
— ſodann, warum ic) damit nicht einverftanden bin. Die
Hundstagswinde, fagen fie, kommen im Winter nidıt vor,
weil in den kürzeſten Tagen die Sonne zu fcheinen aufhört,
bevor die Kälte überwunden ift. Daher liegt dann nicht nur
Schnee, fondern er wird auch hart. Im Sommer fangen fie
an zu wehen, wo theild die Tage länger find, theils die
Sonnenftrahfen mehr ſenkrecht auf ung fallen. Es ift da-
her wahrfcheinfich, daß die durch die große Wärme in Be—
wegnng gefesten Schneemaſſen meht Fenchtigkeit aushauchen,
eben fo, Daß der durch den Schnee belaſtet geweſene und
dann entblöste Boden freier ausdünfte. So gehen dann vor
den nördlichen Kftmaten mehr Körper [maffige Ansdünſtun⸗
gen] ab, und ziehen fich in diejenigen Gegenden, welche
minder hoch und wärmer find. So erhalten die Eteflen Ans
ſtoß und Richtung und nehmen deßhalb mit der Sommerſon—
nenwende ihren Anfang, behalten aber ihre Stärke nidyt
länger ats bis der Hundsſtern aufgeht, weil bereits vun ven
kalten Himmeloſtrichen viel in diefe Gegenden getrieben Wirt
ni ber die Sonne richtet ſich mit veränderten a
| 8 *+
2252 Seneca's Abhandlungen.
gerade auf unfere Gegenden, und ziehet den einen Theil der
Luft an, den andern aber jest fie in Bewegung. So dämpft
Das Wehen der Paffatwinde den Sommer, und macht die
heißeften Monate minder drückend.
11. Nun muß ich, meinem DVerfprechen gemäß, fagen,
warum die Paffatwinde Nichts für jene Leute beweifen ımıd
ihrer Behauptung Fein Gewicht geben. Wir behaupten näms
lich, durch das Licht werde jenes Windchen angeregt, end:
lich lege es fidy, wenn die Sonne dazu kommt. Nun aber
werden die Paflatwinde von den Sciffern aus dem Grunde
die fchläfrigen und verzärtelten genannt, weit fie,
wie Gallio ſagt, vom Frühanfftehen Nichts wiffen wollen:
fie fangen zu einer Zeit fich zu erheben an, wo jenes Lüft⸗
hen gar nicht mehr anhält. Das wäre nicht der Fall, wenn
fie, gleich jenen Lüftchen, durch die Sonne vermindert wür:
den. Weberdieß, wenn bei ihnen die Dauer und Länge des
Tages die Urfache des Wehens wäre, fo würden fie wohl
aud) vor dem Solftitium wehen, wenn die Tage am Täng-
ſten find und die Schneemaffen in der Negel fchmelzen. Im
Monat Inlius nämlich ift fchon Altes fort, oder es liegt
wenigftend gar nicht mehr viel unter Schnee.
ı3. Es gibt einige Arten von Winden, die aus gebor«
flenen und jählings zerriffenen Wolken kommen. Solche
Wiude nennen die Griechen Orkane. Und diefe, meine ich,
| enstftehen auf folgente Weife: da die Körper, die aus den
@röcünften angehen, ſehr ungleichartig und einander ums
aD, einige ndmlicy von diefen Körpern troden, andere
en oe "fo ÜfE ed bei der großen Ungleihhartigteit Ver un
er m Kampf begriffeuen Körper, wenn fe wun
Naturbetrachtungen. Fünfte Bud. 41255
anf einen Klumpen zuſammengeballt find, wahrſcheinlich, daß
dadurch hohle Wolken gebildet, und zwiſchen denſelben röh-
renartige und der Enge nach Pfeifenähnliche Zwiſchenräume
gelaffen werden. In diefe Zwifchenräume ift eine dünne Enft
eingefchloffen , die, wenn fie, in nicht fehr freiem Lauf um .
hergeworfen, warm wird, einen größern Raum haben will, '
und deshalb nimmt fie dann eine weitere Ausdehnung und.
zerreißt ihre Umgebungen, und bricht in einen Wind ang,
der beinahe fturmähnfich iſt, weil er von oben herab kommt
und mit Heftigkeit und fcharf gegen und anfällt, denn er
kommt nicht firömend und auf gebahntem Wege, fondern er
hat zu Länıpfen und macht fid einen Weg mit gewaltigen.
Ringen. Solches Wehen ift in der Regel von Purzer Dauer.
Weil es die Behältniffe und Verwahrungsorte der Wolken
jerreißt, durch die es ficd, hindurchzog, darum kommt ed zu⸗
weilen ftürmifch, nicht ohne Blitz und Donner. Diefe Winde
find viel bedeutender und langwieriger, wenn fie noch andere
Winde, die aus demfelben Grunde hervorbrechen, in fich
aufnehmen und mehrere fich vereinigen, fo wie Waldbaͤche in
mäßiger Größe ſtroͤmen, fo Tange fie abgefondert ihren Lauf
haben: wenn aber mehrere ihre Waſſer zufammengelenft has
ben, werben fie größer als eigentliche und bleibende Flüſſe.
— So, läßt fi) annehmen, geht es auch bei den Stürmen,
daß fie nicht von Tanger Dauer find, fo lange einer für ſtich
iſt; wenn fie aber ihre Kräfte vereinigt haben, und die aus |
mehrern Seiten des Himmels heransgeworiene Tut KH SE
einen und denfelben Punkt zufammengemacyt hat, SO WWW
sam niE nur ißre Heftigkeit zu, fondeen andy Aore DOT-
4254 Seneca's Abhandlungen.
ı3. Der Wind wird alfo hervorgebracht durch eine auf:
gelöste Wolke; diefe aber wird auf verfchiedene Weile auf:
gelöst. Bisweilen ift, was eine ſolche Sufammenballung
auseinander reißt, der Kampf des eingefchloffenen und einen
Ausweg fuchenden Luftzugs; bisweilen die Wärme, die bald
durch die Sonne hervorgebracht ift, bald durd, das Aufein—
anderftoßen und durch die Reibung großer Körper aneinan—
der. Hier kann auch, wenn du willſt, zur Sprache kommen,
wie eg ſich mit dem Entfichen des Wirbelwinds ver:
halte. Es pflegt bei Flüflen zu geſchehen, daß fie, fo lauge
fie ohne Hemmung flrömen, einen einfachen und geraden
Zauf haben, aber, wenn fie anf ein Felsſtück floßen, das an
ver Seite des Ufers vorſteht, zurückgedrängt werden und
ihre MWaffer ohne Ausweg im Ring herum treiben, fo daß
Be ſich, nadyden fie ſich limmer] herumgedrcht haben, felbft
einfchlingen, und einen Waſſerwirbel bilden. Und ſo? läßt
der Wind, fo lange ihm Nichte im Wege fleht, feiner Kraft
freien Lauf. Wird er aber von einem Vorgebirge zurückge—
worfen, oder durch den Widerfland des zufammengedrängten
Raumes in einen abfchäffigen und ſchmalen Gang eingekrie:
Ben: fo wühlt er fid) öfters in ſich ferbft hinein, uud bildet
einen Wirbel, ähnlich dem Waller, von welchem wir fagien,
daß es fich in fich ſelbſt herumdrehe. Diefer herumgetriebene
and um eine und diefelbe Stelle ſich herundrehende Wind,
der fich gerade durch das Herumdrehen felber in Bewegung
fest, ift ein Wirbelwind. Derfelbe, wenn er etwas
bartnädig ift und fid) etwas lange herumwühlt, entzündet
Gh, und macht, was die Griechen Blitzwind nennen.
Naturbetrachtungen. Fünftes Bud. 1255
Das ift ein fenriger Wirbelwind. Diefe haben wohl
;
altes Gefährliche bei fi), was Winde haben, die aus den
Wolken ausgebrochen find, — fie reißen Geräthfchaften mit
fi) empor und ganze Schiffe werden von ihnen mit in bie
Höhe gezogen. *) AUufferden erzeugen manche Winde auch '
und) andere aus fid), und zerfireuen die in Bewegung ges '
feste Luft auch noc auf andern Seiten, als auf bie jie fidy |
Hingeneigt haben. Ach muß Doc, auch noch fagen, was mir
gerade einfällt: So wie Tropfen, wenn fie fchon fich bereits
.
herabneigen und fallen, doc) noch feinen Lauf haben, ſondern
man erft danıı, wenn fich mehrere vereinigt haben, und durch
die Menge eine Maffe bekommen , von ihnen ſagt, daß fie '
fließen und Iaufen.: fo iſt's auch noch nicht Wind, fo lange |
die Bewegungen der an mehrern Orten anfgeregten Luft noch
unbedeutend find; erſt dann fängr’s an, ein Wind zu fepn,
wenn er fie alle untereinander gebvacht und zu einem Stoß
vereinige hat. Luftzug ift von dem Wind dem Grade nach
verfchieden ; ein heftiger Luftzug ift ja Wind, und umgekehrt
eine ſchwach ftrömende Luft ift Lufthauch.
4. Ich komme nun darauf zurüd, was id, zu Anfang
Di a m —— —
behauptet hatte, daß Winde aus Höhlen kommen und aus .
dem inneren Schoos der Erde. Es ift nicht die ganze Erde .
in feft zufammenhängender Maffe bis auf die unterfte Ziefe
*) ·Fortunatus vermuthet hier eine Auslaffung : es möchte naͤm⸗
lich von Dem noch vorher die Rede gewefen ſeyn, was die
Griechen TUPwv nennen, von Windhoſen und Wafs
ferpofen.
: 4256 Seneca’s Abhandlungen.
auf feftem Grunde gebaut, fondern fie ift an vielen Theis
fen hohl,
— — und in blinder Finfterniß ſchwebend, *) —
und hat da und dort leere Räume ohne Feuchtigkeit. Wenn
ſchon keine Tageshelle dort einen Unterſchied der Nacht be«
merfbar macht, fo möchte id) doch behaupten, daß es in dies
fem Dunkel Wolken und Nebel gibt. Denn uud) die ober:
Halb der Erde find nicht darım vorhanden, weil man fie
fieht, fondern umgekehrt, man ſieht fie, weil fie vorhanden
find. Nichts deftoweniger, wenn man fie fchon nicht fieht,
find fie doch dort auch vorhanden. Man muß nämlich wiffen,
dag auch Flüffe dort ſtrömen, wie die unfrigen find, zum
Theil fanfe ſich hinziehend, zum Theil au felfigen Streden
mit donnerndem Sturze. Und wird man nun nicht eben fo
auch zugeben müffen, es gebe auch manche Seen unter der
Erde, und ed ftehen mandye Gewäfler ohne Ablauf. Wenn
dem fo ift, fo folgt notgwendig, daß die Luft fchwer wird
und durch ihre Schwere drücdt und durch ihr Drücken einen
ind erregt. Don diefen unterirdifchen Wolken aus, müfs
fen wir annehmen, werde in dem Dunkel ein Wind erzeugt,
wenn biefelben fo viel Kraft gefammelt haben, als nöthie
ift, um dadurch Das hinwegzuräumen, was ihm von ber
: Erde entgegenfteht, oder irgend einen offenen Weg für ihren
Ausbruch zu gewinnen und durch diefe Höhle dahin, wo wir
wohnen, hervorzudringen. Das aber ift offenbar, daß in
der Erde eine große Maſſe von Schwefel iſt und ven an⸗
> Bergl, Doibs Verwanblungen 1., 588. Bo \eoa Tr
orte anders lauten und eine andere Anrorahung oa.
Naturbetrachtungen. Fünftes Bud. 1257
derm Stoff, der eben fo das Feuer nährt. Wenn nun der
Lufthauch, indem er einen Ausgang fucht, fich durch folche
Streden hindurchgewunden hat, fo muß er durch die Rei—
bung nothwendig eine Flamme ewtzünden; und wenn die
Flammen weiter um fich greifen, fo muß, wenn auch Etwas
von träger Luft dort war, verdünnt und in Bewe«-
gung geſetzt werden, und fü it gewaltigem Getös und
Stoßen einen Weg fuchen. Doch dieß will ich noch genauer
"abhandeln , wenn ich meine Unterfuchungen über die Erdbe«
ben anftelle. *)
15. Erlaube mir jest, daß ich Pir ein Gefchichtchen er⸗
sähle. Don Afelepiodotus **) vernehmen wir, Philippus
(von Macedonien] habe in ein altes Längft verlaflenes Berge
wert viele Leute hinabfleigen laſſen, auf daß fie erforfchten,
wie reichhaltig und in weichem Zuftand ed wäre, ob die frie
here Habfucht Der Zukunft auch noch etwas übrig gelaffen
babe. Diefe Leute wären mit vielen Lichtern hinabgeftiegen,
und fie Hätten fid, mehrere Zage dort aufhalten ſollen; ſo⸗
dann, nad) einem langen Wege ermüdet, hätten fie mächtig
große Flüſſe gefehen, und gewaltige Behältniffe flehender
Waſſer, wie fie bei und find, und nicht von darüber herlie«
gender Erde bededt, fondern frei und weit, nicht ohne Schau⸗
bern anzufchauen. — Das habe ich mit großem Vergnügen
gelefen , denn ich habe daraus erkannt, daß unfer Jahrhun⸗
dert nicht an neuen Gebrechen, fondern an althergeerbten
— Bipioberad, cin Ypitofopb m water 8
* n Rbiloſoph und te ya UV
Av VoRwnins Zupbrer, Beat. Ppon 26.
4258 Seneca's Abhandlungen.
krankt; und daß nicht erft zu unferer Zeit die Habfucht in
den Adern der Erde und der Steine gewühlt, und nach
Tem gefpähet, was neidifch in Finfterniß verborgen war.
Auch jene unfere Vorfaggen, die wir mit Lobpreifung erhe—
ben, denen wir fo unähnlich geworden zu feyn klagen, ha⸗
ben von Hoffnung angelodt Berge aufgehauen, und haben
fid) dem Gewinn zu lie ter Trümmer geftelt. Schon
vor dem Maredonifchen Ppilippus find Könige gewefen , die
bis in die tiefften Schlupfwinfel dem Gelde nachgingen, und
die freie Luft aufopfernd ſich in jene Schachte, in welche
fein Werhfel von Nacht und Tag eindrang, hinabließen, und
das Sonnenlicht mit dem Rüden anfahen. Was war doc)
da für Herrlichkeit zu hoffen! Was war dody das für eine
Noth, die den zu den Sternen erhobenen Menfchen darnie⸗
der gebüdt und vergraben und in den Grund des Innerſten
der Erde hinabgeſenket hat, Gold herauszumühlen, das mit
eben fo viel Gefahr zu gewinnen, als zu befiten if. Dem
zu lieb hat er Minen gegraben und ift um die Lothige und
ungewiffe Beute hergekrochen, vergeffend des Tageslicht,
vergeffend der fchönen Natur, von der er fich weggewendet.
Fa kein Zodter liegt unter fo fehwerer Erde, als Gene, über
welche die quälende Habfucht das Gewicht ganzer Landſtre⸗
den hergeworfen, denen fie den Himmel entwendet, die fie
in die Tiefe eingegraben hat, wo jenes unheilvolle Gift fteckt.
Da hinab haben fie fid) gewagt, wo fie eine neue Lage der
Dinge, das Ausſehen bodentofer Länder und Winde in lee:
zem Dimmeldraum Eennen lernen folten, und cſchauerliche
Quæden eines Waſſers, das für kein Geihdei Tieit, m
Naturbetrachtungen. Fünftes Buch. 42569
tiefe , ewige Nacht. Und nachdem fie Solche unternoms
men, fürchken fie doc, noch das ZTodtenreich !
16. Doch, um auf Dad zurüdzufommen, wovon bie
Rede ift, es find viererlei Winde, abgetheilt nad Oſten,
Weſten, Süden und Norden. Die andern, die wir mit
verfchiedenen Namen benennen, fchließen fih an diefe an.
Eurus gehe gen Oſt und hin zum Arabiſchen Reiche,
Perſten und zum Gebirg, das früneften Lichtſtrahl auffangt.
Weſtliches Land und Küften von fintender Sonne gewärmet,
Sind dem Zephyr zunaͤchſt. Und Scythias noͤrdlichen Landftrich
Nahm der fchaurige Boreas fih: die Känder entgegen :
Seuchtet mit ſtetem Gewoͤlt' und thalendem Regen der & fi ds
wind. *)
Dder wenn du fle Fieber kürzer zufammengefaßt haben wilfft,
fo mögen fie fih, was freifich anf Feine Weife angeht, zu
einem Sturm fammelt,
Dfts und Säbwind toben zumal und ber ewige Stärmer
Africus: [ Guͤdweſtwind] **)
und daun der Nordwind, der bei jenem Kampf nicht mit:
ſpielen konute. Manche nehmen zwölf Winde au. Sie thei-
len nämlich die vier Himmelsgegenden je wieder in drei ab,
und geben jedem Mind zwei Nebenwinde. Durch diefen
Kanftgriff- beingt fie Varro, ***) der pünftliche Mann, in
Ordnung, — und er hat feine aufen Gründe dazı. Die
Sonne geht nämlich nicht immer an demfelben Punkte auf
*) Oribes Verwandlungen I, 61.
I Wirgivs Beneis 1, 85. v
"> . Zerentins Barro, wabrſcheinlich in feinen Yibris CaT?
#bas, Bagl, Script. rei Fuslicae, Tom. \L, p. 220. ®
:4260 Seneca⸗s Abhandlungen.
und unter; ſondern ein anderer iſt der Aufgang und der Un⸗
tergang zur Zeit der Tag⸗ und Nachtgleiche, — und dieſe tritt
zweimal ein, — ein anderer zur Zeit des Sonnenſtillſtands,
ein anderer zur Zeit des Winterd. Der Wind, der ſich von
der”Gegend erhebt, wo die Sonne um die Tag: und Nachts
gleiche aufgeht , heißt bei ung Subsolanus; [der eigentliche
Dftwind ] die Griechen nennen ihn EpnAorng. Vom Wine
teroften gehet der Eurus aus, den die Unfrigen Vulturnus
[ Südoftwind ] genannt Haben. Auch Livius nennt ihn fo,
bei jener für die Römer gar nicht glüdlichen Schlacht, in
welcher Hannibal unfer Heer gegen die aufgehende Sonne
und zugleich zu einer Stellung. gegen den Wind zu nöthigen
wußte, wo er dann durch den Vortheil des Windes und des
die Augen der Feinde blendenden Sonnenlichted den Sieg
erhielt. *) Auch Varro gebraucht diefe Benennung. Doch
auch der Eurus hat [in unferer Sprache bereits das Bür⸗
gerrecht erhalten, und er kommt im unferer Umgangsſpra⸗
che Niemand als fremd vor. Der Wind, der von dem Auf⸗
gangspunkt, beim Sonnenftiliftand ausgeht, heißt bei den
Griechen zaıxlagz; bei uns gibt es Leinen Namen dafür.
Die Ubendgegend bei der Tag» und Nachtgleiche fendet den
Favonius , [den eigentlichen Weſtwind], und Wer auch nicht
Griechiſch verfteht, wird dir fagen, das fen der Zephyr.
Dom Untergangspundt bei dem Sonnenftiliftand kommt der
Eorus, der bei Einigen Argefte 8 heißt. Ich halte Das
nicht für wichtig, weil der Eorus eine gewaltfame Wir:
fung Bat, und auf eine Seite hinceißt, der Argeſtes
— —
? Die Ott vi Eanns, Berol. Mcut TR, N 6.
Naturbetrachtungen. Fünftes Buch. 1264
e in der Regel fanft ift, und man mag auf dem Hins
e Herweg begriffen feyn, von gleicher Wirkung. Der
ricns von dem Winterweften bricht tobend aus; bei
Griechen heißt er Al. Unter den Nordwinden ift der
tfte der Aquilo, der mittlere der Septentrio [aus
s eigentlichen Nordpunkt], der unterfte der Thraſcias.
r legtere hat bei uns feinen Namen. Vom Südpol her
mt der Euronotus; fodann der Notus, lateinifch
iſter; endlih der Libonotus, der bei uns ohne
men ill.
7. Man nimmt aber an; es feyen zwölf Winde, nicht
ob überalf fo viele wären, — fie find bisweilen vermöge
klimatiſchen Lage der Länder nidye möglich, fondern weil
nirgends mehr gibt. So fagen wir, es gebe ſechs Beugs
je Lin der Inteinifchen Sprache], nicht als ob jedes Nenns
rt ſechs hätte, fondern weil feines mehr hat als feche.
ejenigen, welche auffteltten, es feyen zwölf Winde, Has
ı fi) daran gehalten, es müfle fo viele Winde geben, als
terfcheidungspunfte am Himmel. Den Himmel theilte
a naämlich in fünf Kreife, die durch die Erdare gehen.
; gibt einen NordEreis, einen Sonnenſtiliſtands—
reis, einen Kreis der Tag: und Nachtgleiche,
en für die Zeit des Fürzeften Tages, und einen dem
ordfreis gegenüberfichenden. Zu diefen kommt
fechster, der den obern Theil des Himmels von dem untern
unt. Es ift nämlich, wie du weißt, die Hälfte des Himmels
mer oben, die Hälfte unten. Diefe Linie, weldye yeoiiinen
eo if, mad man ſieht und was man nicht echt, wenne
Frieden Porizont; die Unfeigen [vie Staiter\ ”
—
1262 Seneca's Abhandlungen.
Begrenzer, Andere die Grenzlinie. Dieſer muß
man noch beifügen den Mittagskreis [Meridian], wel-
cher den Horizont in rechten Windeln durchfchneidet. Von
diefen Kreifen laufen einige quer enfgegen und durchfchnei-
den die andern, indem fie mit denfelben zufamnıentreffen. *)
Natürlich müſſen fo viele Unterfchiede in der Luft feyn, ale
ed Abtheilungen davon gibt. Daher durchfdyneidet der H 0:
rizont oder der abgrenzende Kreig jene fünf Kreife,
die man, wie ich eben fagfe, annimmt, nnd macht dadurch
zehnz Abtheilungen, fünf von Oſten, fünf von Welten. Der
Mittagskreis aber, der in den"Horizont hineinkänft,
made noch zwei Regionen dazn. So befommt die Luft
zwoͤlf Unterfcheidungspuntte, und eben fo vielerlei find vie
Winde, die fie hervorbringt. inige find gewiſſen Gegene
den eigenthüämlich, und fliegen nicht weiter fort, ſondern
gehen nur in die Nähe. Sie floßen von der Seite her und
nicht an den ganzen Weltkreis: — So beunruhigt der Ata-
bulus ** [nur] Apufien, der Japhx Calabrien, der Sciron
Athen, der Cataͤgis Pamphylien, der Eircind, Gallien; nnd
*, Wie bie Parallektreiſe pie Meridiane durchſchneiden.
**, Der Atabulus ifi ein glähenbheißer, fehätfiger Wind; Plin.
Nat. hist, XXVII, 35. ftege ihn mit einem Eubbiſchen
Wind, Olympius, zufanmen, welcher nach Ariftoteles Me-
taph. 11, 6. von ber Gegend kemmt, wo die Sonne im
Sommer untergeht. Bon der naͤmfitchen Art ift bei ben Athe⸗
nern der Sciron. Ariſtot. I, ı. — Dee Papyr Ift gleich⸗
aus weRlig, und wird mit dem Saurxrus zufammengefiellt,
Aufl. Gell. II, 33. Dee Earäois dem yibale von obem-
Pak a5. -—- Der Circius kommt von ver Sea, WO Vr
ae ImTtBinter antirgeht. Anl, Gel. I, az.
Naturbetrachtungen. Sünftes Bud. 41263
em biefer letztere ſchon Gebäude zerfchmettert, fo find
m bie Einwohner doch dankbar, ald wäre die geſunde Luft
res Elima's ihm zuzuſchreiben. Wenigftend hat ihm Au⸗
find, da er ſich in Gallien aufhielt, einen Tempel nicht
ne gelobt, fondern auch erbaut. sch fände Bein Ende,
enn ich fie alfe einzefn anführen wollte. Denn es ift faft
sine Gegend, die nicht irgend einen fich aus ihr erzeugen
en, und in ihrer Nähe anch wieder aufhörenren Wind
8. Man darf Das neben den übrigen wohl auch als
in Merk der Vorſehung beachten, das unfere Bewundes
ung verdient. Sie hat nämlich aus vielerlei Gründen die
Binde theils überhaupt gefchaffen,, theils verfchiedentlich ges
inet, vor Allem aber follten fie die Luft nicht faul wers
en laſſen, fondern fie durch unabläffige Erregung für die
e einathmenden Wefen dienlich, und zum Leben förderlich
chen. Spodann folften fie der Erde Regen verfchaffen
nd demfelben, wenn feiner zuviel werben wollte, wieder
inhalt thun. Denn bald bringen fie Gewölk, bald zer-
reuen fie es, damit fich die Regen auf dem ganzen Erd«
reis vertheilen können. Nach Italien wird der Regen durch
m Südwind gebracht, nach Afrika treibt ihn der Nord⸗
mp zuräd. Die Paſſatwinde laffen bei und das Gewölk
icht ſtehen bleiben. Eben dieſelben verfehen ganz Indien
„> Aeëthiopien um jene Zeif beftändig mit Waſſer. Ja
an bekäme wohl ein Getreide, wenn nidyt Das mit ven
eisubehaftenben permiſchte Yeberfüffige durch, Windesuchn
sseinanber gefföbert wiirde, wenn nicht Etwas täme, DM
Saar Dervorlodte, und die verborgene Frucht, aa
1264 Senecas Abhandlungen,
Durchbrechung ihrer Hüllen, weldye die Landwirthe Hülfen
nennen, auffchlöße. Und Was hat denn den gegenfeitigen
Verkehr unter alten Völkern befördert, und Nationen, die
durch ihre Wohnorte getrennt waren, zu einander gebracht ?
Eine große Wohlthat von der Natur, würde fie nur die
Leidenfchaft der Menfchen nicht zum Schaden kehren! Was
von dem ältern Cäſar oft gefagt und von Titus Livius *)
angeführt worden ift: „man wiſſe nicht, ob es für die Re⸗
publik beffer gewefen, daß er geboren ward, oder daß er
sicht geboren worden wäre,’ — das Iäßt fih nun freilich
wohl auch auf die Winde anwenden: ja, was fie Nüsliches
und Nothwendiges mit fich bringen, wird wahrlich wohl
überwogen durd) Das, was der Wahnfinn des menfchlichen
Geſchlechts zu feinem DVerderben ausfinnt. Deshalb Hört
aber Etwas nicht auf, feiner Natur nach ein Gut zu feyn,
wenn ed fchon durch die Schuld der Mißbrauchenden fchäd-
lich wird. Zu dem Swed nämlich hat die Vorfehung und
die weltregierende Gottheit den Winden den Luftkreis zum
Zummelplag gegeben, und felbige auf alle Seiten hin, aus⸗
flrömen Iaffen, damit Nichts durch träges Daliegen ver:
derbe, nicht auf daß wir Flotten, die einen Theil des Mee-
res in Befchlag nehmen follten, mit gewaffneten Soldaten
anfülfen, und Feinde im Meer oder hinter den Meeren aufe
fuchen könnten. O wahnfinniges Treiben, das uns zu ges
genfeitigem Verderben zufammenbringe! Wir laffen die
*) Walxſſcheinlich in dem verloren gegangenen 116ten Buch.
J. Edfor wird zum Unterfgieb von Auguſtus Caͤſar fo ges
want. Berg, Freinſheim's Supplemente €, 116,
Naturbetrachtungen. Funftes Bud, 4265
Winde in die Segel biafen, weil wir Krieg wollen, und
fürzen ums ih Gefahr um Ber Gefahr wien. Wir verſu⸗
chen es mit ungewilfem Glück, mit der von keiner Men⸗
ſcheumacht bezwingbaren Gewalt der Stürme, mit einen
Tode, der uns kein Grab hoffen läßt: — ESs wäre nicht
zer Düne werth, wenn wir dem Frieden zu kieb dahfe
ſchifften. Nun aber, wenn wir fo vielen verborgenen Klip⸗
ven entgangen find, und den Tüden der Strandpläge, wenn
wir vorbeigefommen find an den von ihren Höhen herab
Setarme erregenden Bergen, an melhen ein jäfer Wind die
Sthiffenden zerſchellt, hindurchgekommen durch Die in Ne
bet gehültten Tage und die durch Blitz und Donner ſchauer⸗
vollen Nächte, und vorbeigetommen an den Trümmern ber
denk Wirbelwinde zerfchmerterten Fahrzeuge: was haben
wie dann von dieſen Mühen nnd Aengſten für Fradit? was
für ein Hafen wird uns , durch fo vier Mißgeſchick Erſchopfte
auferehmen ? — Ga, Krieg [erwartet und] und der an der
Miſte entgegenſtehende Feind, und: ein Bölkergemetzel, das
auch Vie Sieger‘ zum größten Theit mit dahin rafft, und dei
Braid' uralter Städte. Was treiben wir Völkerfchaaren zu
dem Waffen zuſammen? Was werben wir Armeen, die mit⸗
ser in den Fluthen ihre Schlachtreihen entwirkeln fottun ?
Bad bennrichigen wir die Meere? Iſt die Erde nicht groß
gennug, um uns auf mancheriei Ark den Tod zu bringen ?
Reim, viet zu fanft behandelt ums das Geſchick, viel zu harte
Mrvper Hat fie nnd gegeben und eine viel zw gluͤckliche Ges
Madseil. Es richtet uns ja Fein andringender Unfall zu
Grande; es kann ja Jeglicher feine Jahre ohne Kaas ul.
Eeneca. 108 Bam. 9
4266 Senecas Abhandlungen.
bringen und ims-Greifenalter kommen. Wohlan, fo laßt
uns denn aufs Meer gehen und das zögernde Gefihic ges.
en uns herausfordern! — Ihr Armen, was fucht ihr?
Den Zod, an dem ed nirgendwo fehlt? Er wird euch erja=
en auch auf dem Auhebett: aber möge er euch nur nicht
n Freveln treffen! Er wird end) ereilen in eurem Haufe, —
aber daß er euch nur nicht ereife, unter laſterhaften Umtries
ben! Wie foll man es aber anders nennen, als Wahnfinn,
wenn man Gefahren weit umher verbreitet, und zürnend
loſsſtürmt, ohne dag man weiß, gegen Wen? und verwüs
ſtet, wad Einem in den Weg kommt, ohne fchaden zu wols
len, und wilden Zhieren gleich würgt, auch wo man kei⸗
nen Haß fühlt. Dieſe aber beißen doch noch entweder zur
Rache oder aus Hunger: wir aber, ohne das eigene und
fremdes Blut zu ſchonen, ſetzen die Meere in Unruhe, und
Laffen Schiffe vom Stapel und vertrauen unfer Leben den Wogen
an und wünfchen günftige Winde, um fo glücklich Bin feyn,
in einen Krieg zu gerathen. Wohin reißen uns Verkehrte
unfere Verkehrtheiten! Es ift viel, d wenig, wenn man
nur innerhalb feines Kreifes toll if. So fetzt Perfiens
biödfinniger König nach Griechenland über, das von feinen
Heeren nur überſchwemmt, nicht überwunden worden ift. So
wird Alexander, wenn er fchon über Baktra und Indien
inaus ift, noch willen wollen, was jenfeitd des großen.
eeres ſey, und es wird ihn drgern, daß er hier eine
Grenze findet. So wird Habfucht den Craſſus *) zu_den
Parthern bringen; er wird ſich nicyt ſcheuen vor den Ver⸗
wünfchungen des Volkstribuns, der ihn zurüchalten will,
nicht vor den Stürmen des ausgedehnteften Meeres, nicht
*, Eraffus, durch feinen Parthertrieg befannt, wurbe durch
bie ſchrecklichſten am Dpferbeerdb autgeiprochenen Berwäns
Wengen, smwoburcy ber Voltsteibun Atiejus Metellus ihn
— Meœæ asbriugen wollte, body nicht yarbdgrhalten. Beine
Sarg T 7 den ECupbrat zerſibrte der Bin. Vrch. MW⸗
- IL, P. 447. ed, Reiske,
Naturbetrachtungen. Fünftes Bud. 41267
vor den prophetifchen Bligen in der Nähe des Euphrat und
vor den Abmahnungen der Götter. Mitten durch die Zor⸗
nesflammen der Dienfchen und Götter nur dem Gelde zu!
Man hat daher nicht unrecht, wenn man fagt, die Natur
hätte es befler mit ung gemeint, wenn ſie den Winden zu
wehen verboien und das Zoben und Laufen derfelben einſtel⸗
iend, jedem nur in feinem eigenen Lande zu bleiben befoh⸗
ien hätte. Wenn es fonft Nichts wäre, fo lebte Feder doch
nur zu feinem und der Seinen Verderben; nun aber ift es
mir nicht genug am Sammer meines Hauſes, ich muß audy
von Auſſen her neplagt ſeyn. Kein Land ift fo weit ents
fernt „ daß es nichk irgendwohin feine Uebel ausfenden Fönnte,
Woher weiß ich denn, ob nicht irgend eines großen mir un⸗
bekannten Volkes Tyrann, übermüthig als Schooskind des
Stüds, feine Waffen über feine Grenzen hinaustrage, ob er |
nicht zu Unternehmungen aufs Ungewiſſe hin Flotten aus⸗
rüſte? Woher weiß ich, ob mir nicht dieſer Wiud oder je⸗
ner einen Krieg herwehen wird ? Es hätte viel zum Fries
den in der Menichheit beigetragen, wenn die Dleere wären |
verfchloffen geblieben. Doch, wie ich vorhin fagte, wir |
konnen nicht murren über die Gottheit, die und das Das
fen gab, wenn wir ihre Wohlthaten verderben, und mas Ä
den, daß fie das Gegentheil werden. Sie hat die Winde Ä
eseben „um die Zemperatur des Klima’s und der Länder
ı erhalten, um Waffen hervorzibringen und ihm wieder
mhalt zu thun, um den Früchten der Saatfelder und der
iume Gedeihen zu geben, die neben andern Urfachen auch
ch die Erſchütterung zur Reife gebracht werden, welche
Rührkraft nad) oben treibt und verfchie bt, daß fie nicht
nthätigem Schlummer Tiegen bleibt. Sie hat die Winde
affen, daß wir, was weiter hin liegt, kennen lernten;
der Menſch wäre ein, unwiflendes Geſchövi. wd wur
Welterfabrung geblieben, wenn ex in dir Greumt
„Beburtsrandes cingeſchloſſen waͤre. Sie hat vie BR
nd der Segen einer jeglichen Grad WR.
Fer icht daß fie Legionen und \
-
2968 Od Anpenöianger.
eng ji verberbtihe Saffen ber werte Weiter
ten ber {u
iſtis denn zum Seit, daß
a —
Gen) Sch jeneheit
BE daß fle zum Gegen werben foliten: wir felber has
DER oder jenes Uebel zu. haben nicht Alle die gleiche
t, wenn fie die Anker lichten, aber eine edle hat
a, denn ed gar verfchiedene Triebfedern, die uns
veramfaffen, Seereifen anzutteten. j eht man
um einer Berkehrtheit willen zn Schiffe. Vortrefflich fagt
to, auf den wir und zum Stufe nech berufen wollen,
ed fegen lantor igfiiten , um die die Menfchen ihr Lei
ben verkanfen. — Ta, theu Incitins , werm du ihre
Zotrheit — das Heißt bie ‚ denn wir laufen auch uns
die e ſo w n
lachen bei dem Geranten, vaß man für Dinge, die mar
fi zum Zeven ſchafft, das n aufopfert.
a
Koͤmiſche proſatker—
in
neuen Ueberſetzungen.
Herausgegeben
——— —— — — — — „on.
von
® 8%. F. Tafel, Yrofeffor "zu Taͤbingen,
C. N. Dfiander m G. Schwab,
Profeſſoren zu Stuttgart.
[um on: - ..
Fünf und fünfzigftes Bänden.
—
Stuttgart,
Verlag der J. B. Metz ler'eſchen, Buchhandlung.
Für Oeſtreich in Commiſſion von Mörſchner und Jaſper
in Wien.
2 830.
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kucius Annaͤus Seneca des Philoſophe
Werke.
Eilftes Baͤndchen.
Abhandlungen,
überſetzt
von |
I. Mm. Mofer,
Doctor. der Philoſophie, evangel. Diaconus am Mänfter in Ul
@ilftes Bandchen.
Stuttgart, .
| Verlag der 3. B. Meslerichen Bukkantiunn.
Bür Deßreid ia Eommiffion von Rödxiiyaer units"
in Wien.
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Inhalt des ſeches en Buch d.
Rap. ı — 3. Dee Anlaß zu einer -Unterfuchung Aber Erb
beben liegt. theilö in dem Werte ſeibſt, theils in der Gens
tung bed Bodens von-Pempeil und Herculaum. als einem
Greigniß bes Tages. Anfſuchuna von Troſtgruͤnden. Noth⸗
wendigseit derſelben. chem andern Level laͤßt fi eher aus:
weichen. — Daß +3 gleichguͤltig ſey, anf weid,e Art man
ſterbe. Alles droht uͤberall den Zinflturg, man tft durch
Auswanderung nicht ſicher. Vor dem ˖Wechſel ver Schickſale
iſt ˖ Nichte ſicher. Darnm iſts tboͤricht, zu fürchten, wo ſich
nicht yelfen laͤßt. Die undedeutendſten Dinge koͤnnen uns
den Toh bringen. Es treten die furchtbarſten Nieturerfcaeinungen
nicht auf beſoudere Veranſtaltung der Sbtter, ſondern ver⸗
moͤge ˖der : Bebramen der Natur ein. Nur das Ungewohnte
.macht ſie ums fo furchtbar. Das beſte Schutzenittel gegen
Be Furcht iſt, nach den natuͤrüchen Urſachen su forſchen.
Kap. 4 — 11. Wercſhiedene Erſcheinungen -wi den Erdbeben.
AUrſachen a) im Woaſſer; br.iın Seuer; c) ineder Erde ſeinſt;
-d) in der Luft. Unbeſtummte Weeieungen: ber Miten ;
-a) im Maſſer: 0 ‚Xhnied mon Milet, «voriger glaubt,
die ganze. Erde ſchuimme im Maſſer. Möiberiegumg. Andere
n bas Erdbeben auch aus dem Waſſer, aber aus ans
darn Sruͤnden, aus Gewaͤſſern, die durch die Erde laufen,
und aus. unterirdiſchen Sem. amd ıhagen ac tat Giouies.
dee Miss extlaͤrt werben wil; — ans
2) Im ;Geuer :. [0 :Binarageeot: wer Ryan α
75 dre-Grbe and Ruft Rieger. wie wer. uwb ad ber
Dinfeb Bener (ange -n.can dir Greve, TC
1274 Inhalt des fechsten Buchs.
Ausweg ſuche. Andere fagen, bad Feuer freie und unters
hoͤhle, und durch ben Einſturz folger Stellen werde das
Obenliegende erſchuͤttert;
c) in ber Erde ſelbſt: fo Anarimenes; aus ihr ſelbſt,
fagt er, fallen Theile weg. and verfmietenen Urſachen, wie
am alten Gebäuden. Nachholung einer Hypotheſe über das
Seuer als Urſache bed Erdbebens.
Kap. 12 — 19. d) in der Luft. Dafür find die meiſten und
die bebeutentftien Männer, Arche laus fag: Winde drins
gen In Die Hönlungen ber Erbe, und durch bie Ueberfuͤllung
von. Kuft entfieye das Erdbeben, indem fie einen Ausweg
ſuche. Anſicht des Artiftoteles und Theophraſtus
von einem Kampf, ber ſich begegnenden Luft; des Strato
yon einem Kampf bes Kalten und Warmen; Anderer
von einem Kampf des Waflerd und ber Luft, wie im Koͤr⸗
per des Menfaen Bint und Luft bei krankem Zuſtand einans
— bder entaegen wirten. Widerlegung. Manche behaupten:
dur Luͤcken und Loͤcher dringe in bie Erbe ein Luftzug hin⸗
an; bad Meer laffe ihn nit mehr herauf, und fo fehlage er
an bie auf ihn druͤckende Erbe an. — Die Meiften nehmen
an: tie Erde ift vol Lebensluft. die fie von alien Beiten ber
ausſtroͤmt, eine weite Luftſchichte unter der Erde muß bie
mit fo bewegiiger Materie angefütite Erbe zus Zeiten erſchuͤt⸗
tern, bei gehemmtem Lauf. Der Widerſtand vermehrt ihre
Kräfte, Meinung des Metrodorus aus Epiob.
Kap. 20 — 236. Unſichten, nach welchen ale angefährte Urſa⸗
nen zufammen, oder body mehrere zugleich bad Erdbeben hers
vorbringen. Democritus, Epicurus; Leyterer hält uͤbrigens
für die wvichtigſte Urſache des Erdbebens ben Luftzug; und
mit Net. Derſelbe bringt die größten Wirkungen hervor.
— Poſidonius unterfcheibet zwei Arten von Erdbeben: ein
Rtteiln (Schwanken) und ein Umneigen. Dazu mag
eine oritie tommen, bas Beben. Dieſe verſchiedenen Bewe⸗
— 5 Acben auch verſchiebene Urſachen. ragen der rät
mden Bertyung, ven bie Erde von unten ier erahnen
Ruf des Usciepioboras , bed Candy (a Dur
\
Inhalt des fechsten Buche. 1275
siehumg auf dieſen Digreflion über Alexander ben Großen.)
Luft ift in jedem Falle tie Urſache. Wie die Luft hineins
komme? Erſcheinungen, welche baranf hinmeilen, daß bie
Erſchuͤtterung aus ben unter ber Erde befindlichen mit Luft
angefülten leeren Räumen komme.
Kay. 37 — 31. Eigenthuͤmliche Erfaeinungen bei dem Eampas
nifchen Erdbeben; daß xine Heerde von ſechſshundert Schaafen
todt niederfiel. Entwicklung ber Urſache biefer Erſcheinung.
Es iſt viel toͤdtlicher Stoff in der Erde, den bie gebficten
Kopiere am meiften einatmen, wenn er durch's Erdbeben
berauftommt. — Daß Menihen Verftand und Belinnung
verlieren, kommt vom Schreden und von ber Anaft. — Daß
eine eherne Bildfäute fi gefpalten, follte nicht auffallen,
da ja Berge und Länder von einander geriffen werben, wenn
die Natur im Aufrube begriffen ift; Sicilien warb von Ita⸗
lien, Afrita von Europa weggeriffen. Warum das Erdve⸗
ven mehrere Tage anhielt? — Steinchen von Moſaitvoͤden
machten ficy los und fügten ſich wieder zuſammen.
Kay. 53. Beruhigungsgruͤnde. So große Unfälle machen ſtark
gegen alle, denn bie andern find gering. ine Kieinigteit
ift das Lesen, aber etwas Großes ſeine Verachtung; durch
ſie wird man ruhig. Die Todesfurcht nur beunruhigt das
Sechſstes Bud.
Von Erdbeben.
2. ir baden vernommen, mein thevexee Yuactint,
1# Vompejt, eine volfreihe Stadt in Eoamyanien | WO N
emen Seite die Küften yon Surrentum nd
276 mern Abhanblungen.
anf der andern bie won Herenlanum ſuh einanbermähern,
"und. das zinge "ofene, Bier aber klandwaͤrts) aurätftretende
Meer. in eine tiebliche Bucht ‚einschließen , durch ein Erdbe⸗
ben gefunten fey, *) und auch die anliegenden „Begenden
gelitten: haben, und: zwar zur Winterszeit, won der .nufere
"ten zn behaupten pflegten, "daß, fie von folther Gefahr
„frei ſey. Es war am fünften yehruar.unter. dem erſten Con⸗
flat" des Regulus nuud Virginius, als dieſes Erdbeben Cam⸗
Panien mit gewaltiger Zerſtoͤrung verwüſtete, das zwar vor
ſolchem Unglück nie ſicher iſt, doch aber ohne Schaden durchs
„gekommen, and ſo oft ſchon mit der blaßen Angſt das
von gekoinmen war. Auch ein Theilder Stadt. Herculanum
ftürzte ein, und was nich übrig iſt, ſteht zweifelhaft. Und
in der Colonie der Nuceriner iſt es; obwohl ohne Zerftö-
rung, dad) nicht ohne Schaden . abgelaufen. Auch Neapolis
shatsar Prirateigenthum Vieles, aber an--äffentlichem Nichts
verloren, und ift von dem entfeplinhen Ungtäd nur leicht
geftreift worden. Landhanſer aber von einer ſteilen Lage
haben hie und da, jedoch ohne Schaden, gewankt. Man
erzählt noch dazu, es fey, eine Heerde von fechshundert
Stück Schaafen todt niedergefalien, Bildfäulen haben ſich
geipalten, umd manche Laute feyen ‚Darauf ibetäubt und be⸗
wußtlos herumgeirrt. Die Urfachen hievon zu ergründen,
leitet mich theild der Sufammenhbang des vorliegenden Wer;
tes, theild das gerade in biefe. Beit sefaliene Ereigniß. Es
Eeaaktterung , erlt VYompejl un; J. u Edhr.
Destiny Yan re
*
it... 25
Naturbetrachtungen. Sechͤtes Bud. 1277
Bad für die Geangſteten Troſtgründe anfzufuchen, und man
muß ihnen von der entſetzlichen Furcht helfen. Denn wie
ſoll man noch Etwas für ſicher halten können, wenn die
Welt felber erſchüttert wird, und ihre feſteſten Theile wan⸗
Ben ? Weun, was das einzige Unbewegliche und Feſtſtehende,
wodurch fie Alles, was ſich auf fie ſtützt, Hält, wie Waſſer
bewegt wird ? Wenn die Erde ihre Eigenthümlichkeit verlo⸗
ren hat, das Stehen: — wo foll denn unfre Angſt ein Ziel
‚haben? Wo follen unſere Körper einen Zufluchtsort finten,
wo fid, in ihrer Unruhe hinwenden, ‚wenn, was uns äng⸗
„ftet , von unten herauf kommt und aus dem Grund der Erde
hervortritt ?.Da ift allgemeine Beftürzung, wenn die Häus
fer kracheu und der Untergang ſich ankündigt. Da rennt
Jeder jählings davon und verläßt feine Hausgötter und ver:
traut-fich dem freien Himmel an. Wo wollen wir ung nach
einem. beraenden Winkel umfeben, wo nad, Hülfe, wenn der
Erdkreis felber feine Trümmer über uns herführt ? Wenn
Das. ,-was und ſchützt und heat, worüber die Städte herge-
baut. find , was Manche den Grund des Erdfreifes genannt
haben ‚-weichet und wanket? Was kann dir, ich will nicht
-fagen , zur Hütfe, nur zum. Zrofte dienen, wenn der Schre⸗
der Beinen Ausweg mehr hat? Ich frage, :wo ift noch Et⸗
‚was ‚das feſt genug wäre, und flark. genug, einen Andern
and fich ſelbſt zu fchüsen ? Einen Feind kann ich durch
Mauren zuvärtweifen ; hohe und fleile Burgen können durch
:den -erfehwerten Zugang wohl mächtige Syeere uihahten.
Begen Erähme rettet uns ein Hafen, — vor verkagtuntt
sesbeecbender-Bemwalt und dem endios fürgenven RS
FRAGE MIA Ei Dad; die Flamme ·geht WIT ww‘
42378 Eeneca's Abhandlungen.
wenn ich fliehe; gegen Donner und das Dräuen des Him⸗
mels iſt mir ein unterirdifch Haus und eine tier gegrabene *
Höhe ein Schusmittel. Jenes Feuer vom Himmel fchlägt ”
nicht durch den Erdboden durch, fondern es darf ihm leicht "
Etwas entgegenftehen, fo prallt es ab. Bei der Pet kann
ich auswandern. Jedem Uebel kaun man entkommen. Noch '
nie hat der Blitz ganze Völker verbrannt. Die verpeftete
Luft hat Städte entvölkert, aber nicht weggerafft. Ater *
dieß Weber ift von der größten Ausdehnung, unvermeidlid, *
weit um ſich greifend, allgemein verderbliih. Denn nicht
nur Hänfer oder Familien oder einzelne Städte leert es "
aus, fondern ganze Völker und Gegenden Eehrt es um, und
begräbt fie batd unter Schutt, bald verſenkt es fie in tiefe ®
Schlünde, und läßt nicht foviel davon übrig, daß wahrzus °
nehmen wäre, was nicht mehr ift, fen doch wenigftens ein⸗
mal gewefen: fondern über die anfehnfichiten Städte breitet "
fi), ohne eine Spur von ihrer früheren Herrlichkeit, der -
Boden her. Und es gibt Leute genug, welche diefe Todes⸗
art befonders fürchten, durch die fie fammt ihren Wohnuns
gen in's Bodenloſe fallen und lebendig aus der Zahl der Les
bendigen weggerafft werden , als ob ed nicht bei jedem Top '
an daffelbe Ziel ginge. Neben Anderm ift Das ein befon=
derer Zug von der Serechtigkeit der Natur, daß, wenn es
Ausgeht, Einer daſſelbe Loos hat, wie der Andere. Darum
iſts gleich, ob mid, ein einziger Stein zerfchellt, oder ob |
ich von einem ganzen Berg erbrüdt werde; ob die Laſt ei⸗
zes einzigen Hauſes über mid) tommt, wad ich unter dem '
Meinen Schutt und Staub davon exrfide, Wer dw du am
ver ErdPreid mein Haupt aubedt: ob ich viren Ara am
Naturbetrachtungen. Sechstes Bud. 4279
t und unter freiem Himmel verhauche, oder in der un«
suren Kluft gähnender Länder: ob ich allein in dieſe
fe finte oder unter großem Geleit mitfallender Volks⸗
aren. Es liegt mir Nichts daran, wie groß der Lärm
meinem Tod fey, — der ift doch überall gleich. .So
t und denn hohen Muth fallen gegen jene Serftörung,
man weder vermeiden, noch durch Worficht befeitigen
". Hören wir nicht weiter die Leute an, welche Cam:
ien Lebewohl fagten, und nach, diefem Unfall auswanders
‚ und erklären, fie werten diefe Gegend nie wieder bes
ten. Wer bürgt-ipnen dafür, daß diefer oder jener Bo⸗
anf befierem Grund ftehe? Alles fteht unter dem. näm-
en 2008, und ift es noch nicht erfchüttert, ſo iſt's doch
erfchüttern; die Stelle vielleicht, auf der du jebt mit
derer Sorge ſtehſt, wird diefe Nacht oder vor Nacht
h dieſer Tag fpalten. Woher willft du wiſſen, ob nicht
Gegenden beffer daran find, an denen das Geſchick feine
icht bereits ausgelafien hat, oder ob es befler in denen
die zu ihrem künftigen Einſturz jebt noch halten? Denn
irren, wenn wir irgend einen Theil des Erdbodens von
er Gefahr ausgenommen und frei glauben. Alte fiud
dem nämlichen Gefebe unterworfen. Nichts hat die Nas
fo gebildet, daß es unveräuderlich wäre. Das Eine
t Heute, das Andere morgen. And gleichwie in großen
idten jeßzt dieß Haus, jett jenes fich ſenkt: fo nimme
diefem Erdkreis jebt dieſer Theil Schaden, jest ein ans
*. Zprus war vor Zeiten durch Einſturz vereuien.
ea bar wolf Stidfe auf einmal verforen. Im vereihhe
Gapre Pt ber Anlauf diefer 3erflörenden Kraft — Ver
48801 Seneecas Abhandlungen:
“ fie, worin:fie wolle — Achaja und. Macedonien: beichätigt,
jest Campanien. Das Schickfal macht die Runde, und
blieb Etwas: ange übergangen, es kommt fchon wieder.
Das Eine wird feltener angegriffen, das Andere: öfter.
Nichts läßt es: frei, und fchadlos. Nicht. nur wir Mene
fhen, die: wir ald kurzdaurende und hinfällige Gefchöpfe
geboren. werden, Städte und. Küftenländer und Ufer und
dad Meer felber kommt unter die. Zwinaherrfchaft des
Schickfals. Dennad) verfpreden wir uns dDaurende Outer
vom Schickſal, und. glanben , daß. der Glückszuſtand, deflen -
Unbeftändigkeit eilfertiger iſt, aldı alles in dev Welt, bei.ire
send Einem etwas Gewichtiged und Haltbares haben- werde.
Mührend. man fidy Altes als ewig.verfpricht,, denke man
nicht: daran, daß Das felber, worauf man fleht, nicht Stand.
haste. Denn es ift nicht etwa unx in. @umpanien oder Ty⸗
rus oder in Achaja, fondern mit jedem Boden fo ſchlecht be⸗
ſchaffen, daß er nicht gut zufammenhängt und aus mehreven
Urfachen. ſich auflöst., und. im. Ganzen zwar bleibt, aber:
theilweife einſtuͤrzt. —
2. Was mady ich? Ich hatte verſprochen, Zrofl:zu ge⸗
ben gegen die Gefahren, — und fiebe, ich verkündige von:-
alten Seiten Schredthafteh Ich fage, es ſey Nichta von.:
ewiger Nuhe, was: vergehen undızenflörend, wirken. kann.
Aber gerade das ftelle ich als Troſtgrund auf; und zwar '
als: den triftigſten, dieweil es thöricht ift, zu fürdyten,. _
zos. ſach nicht heifem läßt. Bei Verſtaͤndigen ifl’d- die Ver⸗ 4
nunfe, weiche bie Schredniffe :verbaunt; die Unverkändigem. —
bes. ;madıt bie Hoffnungsloſigteit au. van, wei. Ges
98. alfo auf:.Die.:Drenfchheit . üuherangt veyamerıen. \ayar-
Naturbetrachtungen. Sechstes Bud. 41281
was in Beziehung auf jene [Trojaner] gefagt iſt, die in
plötzlicher Gefangenfchaft mitten zwifchen Flammen und Feins
den ohne alle Beflunung waren:
Einziges Heil ber Verlornen, auf keine Rettung zu hoffen. *)
Wollet ihr Nichts fürchten, fo bedenket, daß Altes zu fürch⸗
ten ift; blictet um eudy) her, wie unbedeutende Dinge ung
aus dem Bleis bringen. Ohne ein gewiſſes Maaß ift ung
weder Speife, noch Trank, noch Wachen nod) Schlaf heils
fam. So werdet ihr euch denn überzeugen, daß wir wins
zige Perföncen find, ſchwächlich, hinfällig, Die zu vernich-
ten keine große Mühe koſtet. Ohne Zweifel wäre das Eine
schon Gefahr genug, daß die Länder beben, daß fie auf ein»
mal auseinander gehen, und Das, was daranf war, eitts
zwei reiſſen. Da bildet fi) denn Einer viel ein, wenn er
fi) nur vor Blitzen und Erdbeben und gähnenden Schlün⸗
den fürchtet: will Der denn, feiner Schwachheit eingedenE,
auch einen Katarıh noch fürchten ? Fa freilich, wir find von
Der Natur fo ausgeftattet, wir haben einen fo glücklichen
Gliederbau bekommen, und find fo mächtig erflarft, und
deshalb find wir gar nicht umzubringen, es fey denn, daß
Erdtheile erbeben,, der Himmel donnere und der Boden eins
finte! Der Schmerz an einem Nagel, und wenns erft nicht
einmal ein ganzer ift, wenu er nur einen kleinen Riß au
der Seite hat, nimmt ung mit; — und ich follte mich vor
dem Beben der Erde fürchten, da ich an einem etwas titan
*) Berge. Dirail8 Aeneis T, 354. wo vom YAenead tie ee N
Ser bei Ber @roberung von Tro RN fetten Lay Dt
Bevca, 116 Bon, ja in ber verzweif a
128) Seneca’s Abhandlungen.
Halsſchleim erſticken kann? Mir follte bang feyn vor dem
aus feinem Plage gefretenen Meere, und ob nicht in unges
wöhnlicy großem Lauf die Fluth waflerreicher herandringe,
da doc Manche ſchon an einem Schluck erftickt find, der ihs
nen in Iden unrechten Hals kam? Wie thöricht iſt's, ein
Staufen zu Haben vor dem Meere, während man weiß,
man könne an einem Tropfen ſterben! Es gibt feinen befs
fern Troſt gegen den Tod, ald gerade die Sterblichkeit, und
feinen beifern gegen Alles, was von Außen fchredt, als daß
unzählige Gefahren im Innern felber find. Was ift doch
unfinniger , als bei Donnerfchlägen auf den Boden zu fins
ten, und fich aus Angſt vor den Blitzen unter die Erde zum
verfriedyen ? Was iſt thörichter,, als das Wanken oder den
plögtichen inftarz von Bergen zn fürchten und die Einbrüs
che des and feinen Ufern geworfenen Meeres, während der
Tod überall vor der Thüre ift und von allen Seiten entge>
gentritt, und Nichts fo klein iſt, das nicht Kraft genug
hätte zum Verderben der Menichheit? — So gewiß ift es,
es folfte und jenes Alles nicht aus der Faffung bringen,
als ob es mehr Webers in ſich Hätte, denn ein gewöhnlicher
Tod, ja, da es nun einmal feyn muß, daß man aus der
Melt geht und diesen Hauch einmal ausbläst, fo follte es
uns im GegentHeil freuen, auf nicht gemeinem Wege ums
zutommen. Geftorben muß es feyn, es ſey, wo oder wann
es mil. Diag diefer Boden immerhin fteyen bleiben und
AD an feiner Stelle halten und von keiner Gewalt ange
vorn werden: er wird doch einmal auf mie Venen. Komme
auf Iuoe Darauf an, ob ich ihn auf mid Arge, Wer dv
©? — Er ſpaltet fidy mit ungehenrer Gemilt —
Naturbetrachtungen. Sechstes Bud. 41283
ich weiß nicht, was für eines Webels: er berftet, und vere
ſenkt mid) in eine unermeßliche Tiefe. Nun was ifl’s denn !
Iſt's leichter zu fterben auf der Oberfläche ? Hab? ic, Grund
zu lagen, wenn die Natur mich nicht an gemeinem Drte
will liegen haben ? wenn fie Etwas von ihr auf mich legt?
Herrlich, fagt mein. Bagellius *) in jenem berühmten Gedichte:
Muß ich falten, fo möcht? id, fallen vom Himmel herab.
Eben fo kaun man fagen: Soll ich fallen, fo möcht ich
fallen, wenn der Erdkreis erfchüttert wird, — nicht als ob
es Recht wäre, den allgemeinen Untergang zu wünfchen,
aber es ift ein großer Troſt gegen den Tod, wenn man
auch die Erde ſterblich fieht.
3. Dienlidy mag ed auch feyn, wenn man fich vorftellt,
nicht die Sötter thun dergleichen, und nicht durch den Zorn
ber höhern Wefen leide entweder der Himmel oder die Erde
eine folche Veränderung. Das hat feine eigenen Urfachen-
diefed Toben ift nicht Folge eines höheren Gebots, fondern es
fommen diefe Störungen aus einer fehlerhaften Beſchaffen⸗
beit, wie bei unfern Körpern; und wenn die Welt Gewalt
auszuüben fcheint, fo wird foldhe an ihr ausgeübt. Weil
wir aber den wahren Grund nicht Bennen, fo ift ung Alles
ſchrecklich, und unfere Angſt wird nody durch die Seltenheit
*, Diefer Bagellins tft unbekannt. Die Handſchriften haben
den Namen fehr verfgieben: Vagellis, Nagellius, Agellius.
— Unter dem Namen Valgius ift wohl ein Diditer and Aue
gafus zeit bereut, vergl. Tibull IV, 1. 18o, uns Kor
atyr I, 10. 823, — Biellei an, Buusc
el, Bes Braten Ueicht folte 2% ei
q »+
4284 Seneca’s Abhandlungen. -
Moicher Ereianiffe] vermehrt. Aus Dem, womit man ver-
traut ift, macht man fich nicht fo viel; was man nicht ge=
wohnt ift, bringe größere Furchtfamkeit hervor. Warım
tft und aber irgend Etwas ungewohnt? Weil wir die Natur
mit dem Ange, nicht mit der Vernunft auffaffen,, und nicht
bedentfen, Was fie thun Eönne, nur Was fie fchon gethan
hat. Für diefe Gedankenlofigteit werden wir denn beftraft,
indem wir erfchreden, als widerführe ung etwas Seltfames:
während es doc, nichts Seltfames ift, fondern Etwas, das
wir nicht gewohnt find. Denn wie? Wird man nicht von
Scheu gegen die Götter dDurchdrungen, und zwar Volk und
Dbrigkeit, wenn man die Sonne fid) verfinftern fieht, oder
den Mond, deſſen Verfinfterung häufiger ift, er mag ſich
nun theilweife oder ganz verbergen; nnd noch in einem weit
böhern Grade, wenn jene ſich Lam Himmel] durchkreuzende
Fackeln erfcheinen, und der Himmel zum größten Theil im
Feuer flieht, und die Schweifſterne fommen, und mehrere
Sonnenkugeln, und die Sterne fich bej Tage fehen laſſen,
und fchnell vorübergehende Feuer, die eine große Helle nach
fidy ziehen? Nichts dergleichen bewundert man, ohne es
zu fürchten, und ohnerachtet der Grund der Furcht in dem
Mangel an Kenntniß liegt, halt man's doch nicht für der
Mühe werth, die Kenntniß zu befisen, um die Furcht zu
verlieren. — Wie viel vernünftiger iſt's doch, den Urfachen
»achzuforfchen,, und zwar mit Anſtrengung aller Seefenträfte,
San ja Boch in aller Belt kein Gegeuftand gefunden wers
en, Per mebr verbiente, daß ſich ihm unter Guſ wie nur
wede, fonbern ganz widıne,
“ Anterfucpen wir daher, Was es ey, dad Te Em
Naturbetrahhtungen. Sechſstes Bud. 1286
von den unterſten Tiefen aufregt, Was_eine Maſſe von
ſolcher Schwere in Bewegung fest, — Was denn flärker
fey als fie, und Was eine folche Laſt durch feine Kraft zum
Banken bringe: warum fie bald erzittere, bald locker unb
Iofe geworden, fich fenke, bald zerfpalten auseinander gehe,
und ed das Einemal lange anftehen laffe, bis wieder ein
Sturz kommt, bald folches rafch aufeinander folge; warım
fie jest Flüſſe von anfehnlicher Größe einwärtd ziehe, bald
neue hervordräde; manchmal Adern warmer Gewäller auf-
fchließe, manchmal fie wieder abEühle und bisweilen durch eines
Berges oder Felfen vorher unbekannten Erater Feuer auge
fpeie, bisweilen Tängit befanntes und durch Jahrhunderte be=
rüchtigtes Dämpfe. — Zaufend Wunder gebiert fie, und gibe
Gegenden ein ganz anderes Ausfehen, Berge macht fie nie=
driger und Ebenen höher, Thäler erhebt ſie, und läßt neue
Inſeln im Meere auffteigen. Durch weiche Urſachen Solches
gefchehe, verdient wohl erforfcht zu werden. Was wird
man denn, fraaft du, damit gewinnen? Das Wichtigfte, —
daß man die Natur kennt. Denn wiewoht die Befchäftigung
mit dieſem Gegenflande Vieles hat, was Nuben bringen
kann, fo ift doch das Schönfte, daß fie den Menfchen durch
ifre Erhabenheit feſſelt, und daß man fih nicht Lohn’,
fondern Wunders halber darauf einläßt. Betrachten wir
daher, woher jene Erfcheinungen rühren, und dieſe Ber
trachtung ift mir fo angenehm, daß ich, obwohl ich fchon
als junger Mann einmal eine Schrift über Exhhehen herante
gab, mich doch jest zu verfuchen und zu eryrnben Tot kt.
06 ip mit den Jahren entweder an Einfcdt wer Weist
w Forſcherſſci zugenommen babe.
4286 Seneca's Abhandlungen.
5. Die Urfadhe, warum die Erde erfchüttert wird,
haben die Einen im Waffer, die Andern im Feuer, wieder
Andere in der Erde felbft und noch, Andere in der Luft zu
Anden geglaubt. Manche haben geſagt, das fey ihnen Elar,
daß eine von dieſen Urfachen gelte; aber weiche es fey,
darüber feyen fie nicht im Neinen. Nun wollen wir Ein’s
nad) dem Andern durchgehen. Vor Allem muß ich bemerken,
daß die Meinungen der Alten etwas unbeflimmt und unaus—
gebildet find. Man irrte noch um den rechten Punkt herum.
Bei den erften Verſuchen war Alles auffallend, nachher
wurde es erft mehr ausgefeilt; doch wenn man je auf Etwas
gekommen ift, fo hat man’d eben doch von ihnen. Es war
Bas Unternehmen eined großen Geiſtes, die innern Gemächer
der Natur zu durchflöbern, und nicht zufrieden mit ihrem
Anblick, von Außen Kineinzufchauen, nach Innen und in die
Geheimniſſe der Götter tief einzudringen. — Wer die Hoff:
ung hegte, es Finnen feibige aufgefunden werten, der hat
fchon etwas Großes zu der Erforfchung beigetragen. Man
muß daher die Alten mit Nachſicht anhören. Nichts ift in
feinem Anfang vollendet. Und nicht nur bei diefen Gegen»
Hand, der unter allen der umfaflendfte und verwiceltfte ift,
and bei weichem, wenn auch fchon viel geleiftet ſeyn wird,
doch alle Tahrhunderte noch Etwas zu thun finden werden,
fondern bei jedem andern Gefchäfte waren die erften Schritte
anmer weit von der Vollfommenheit entfernt.
6. Daß im Waffer die Urfache liege, ift nicht nur von
Einem behauptet worden, und nicht nur auf einerlei Weife.
2Z/ales pon Milet ift der Anſicht, daß die ganze Erde
v7 antenliegenbder Feuchtigkeit getragen werde und darin
omysungen. Sechſstes Bud. 41287
ſchwimme, man mag darınfer nun den Dcean verftchen, oder
Das große Meer, oder ein noch einfaches Gewälfer von an⸗
derer Natur und das Element der Feuchtigkeit. Yon diefem :
Gewäfler, fagt er, wird der Erdkreis getragen, gleichwie "
ein großes und für das Gewäſſer, worauf es drückt, ſchweres
Schiff. — Es ift nicht nöthig, die Gründe anzuführen, aus +"
denen er der Anficht ift, daß der fchwerfte Theil des Welt:
gebäude nicht von der Luft getragen werde, die fo dünn —
und flüdjtig ift, denn ed Handelt fich jebt nicht um die Lage
der Erde, fondern um ihre Erfchütterung. Als Beweis
dufür, daß im Waller die Urfache Tiege, wodurch Ddiefer
Erdfreis beunruhigt wird, führt ev den Umftand an, daß "
bei jedem bedeutenden Erdbeben in der Regel neue Quellen '
Hervorbrechen,, wie es ja audy bei Schiffen der Fall ift, daß
fie, wenn fie ſich neigen und auf eine Seite fich ſenken,
Waſſer einfchluden, welches bei der ganzen Laſt Deffen,
was es bei fid, führt, wenn die Schiffe ungewöhnfich hinabs
gedrückt werden, über fie herſtrömt, oder wenigftens vechte '
md Kinds mehr als gewöhnlich fteigt. — Daß diefe Meinung
ilſch fen, braucht nicht weitläufig bewiefen zu werden.
zenn nämlich das Waller die Erde trüge und diefes biss :
eilen einen Stoß erlitte, fo müßte fie immer in Bewegung
in, und wir würden und nicht darüber wundern, daß fle
Unruhe gefebt wird, fondern daß fie ruhig bleibt. Im
em Fall würde die ganze Erde erfchüttert werden, nicht
theilweife, fondern allgemein. Wie wäre ed denn mögs
daß Etwas,. das ganz gefragen wird, nicht ganz im
egung gefest würde, wenn es durch dad Tragende in
egung gefept wird? — Uber warum reden Basler.
J
J
1288 Seneca's Abhandlungen.
quellen hervor? — Für's Erſte hat ſchon oft ein Erdbeben
Statt gefunden, ohne daß ein neues Gewäſſer hervorgefloffen
ift. Sodann, wenn aus diefer Urſache Wafler hervorbräche,
fo würde es an den Seiten der Erde herumftrömen, fo wie
wir auf Flüffen und auf dem Meere wahrnehmen, daß fich
das Wachren des Waſſers, fo oft Fahrzeuge verfinfen,
hauptfächlicd, an den Seiten zeigt. Endlich aber würde der
Ausbruch, von dem die Rede iſt, nicht fo unbedeutend feyn,
und es würde nicht, wie durch eine Rise, Grundwaffer hers
vorquellen, fondern es entflünde eine gewaltige Ueberſchwem⸗
- mung, ald von einem unendlichen und Altes mit fich forte
‚ nehmenden Gewäiler.
\ 7. Manche haben das Erdbeben [zwar auch) dem Wafler
„ äugefchrieben, aber nicht aus dem nämlichen Grunde. Durd)
# Die ganze Erde, fagen fie, laufen viele Arten von Waffern. —
Hie und da fortwährende Ströme, die, aud) ohne daß ihnen
| Regengüfle aufhelfen, groß genug find, um befahren werden
:zu Eönnen. Daher führt denn der Nil im Sommer feinen
mächtigen Waflerftand, daher, mitten zwifchen ruhigen und
‚friedlihen Provinzen fErömend, der Danubius und Rhenus,
‚der eine die Einfälle der Sermaten abhaltend und Europa’s
I mnd Afia’s Grenze bildend, der andere die Germanen, das
kriegsluſtige Volk zurückweiſend.) — Nimm dazu die Seen
son mächtiger Ausdehnung, die ftehenden Gewäller um
Woͤlker her, die einander felber nicht Kennen, und die Mos
*) Da die Scythen ſowohl in Europa als im Aſien wehnten,
und da Ihre Befinungen jenfeits ber Domas anfingen, fo
3 Sonnte in biefer Beziekung gefagt werben, bie Donau ſcheide
Ma ab uropa? eigentlich bildete dee Tanais bie Grenze.
Naturbetrachtungen. Sechstes Bud. 1289
räfte, durch die kein Fahrzeng kommt, und die felbit den
Anwohnern unzugänglich find. Sodann die vielen Brunnen,
die vielen Flußquellen, die da auf einmal erfcheinende und
aus verborgener Tiefe hervorkommende Ströme auswerfen.
Berner die vielen periodifcdh angefammelten ftürzenden Wald⸗
bäche, deren Waſſer fo Eurz als plöglich firömen. Ganz
diefe Natur und dieſe Beftaltung haben auch die Gewäller
im Innern der Erde. Auch da laufen einige in mächtigere
Bette, und flürzen jählings gewälzt dahin; andere ſtröͤmen
frägern und Teichtern Laufes, und fließen fanft und ruhig.
er kann aber behaupten, daß fie nicht auch in ungeheuren
Behältniffen fi, anfammeln, und an vielen Stellen träge
Gegen bieiden? Er braucht Feines Iangen Beweiſes, daß
da viele Gewäffer feyen, wo alle find. Denn die Erde
würde nicht fo viele Flüffe hervorzubringen im Stande ſeyn,
wenn fie diefelben nicht von einer aufbewahrten und veichs
lichen Maſſe ausftrömte. Wenn Dieß richtig ift, fo muß
daferbft bisweilen ein Strom anwachſen, und feine Ufer
verlaffend,, mit Gewalt gegen Das, was ihm im Wege liegt,
andringen. So muß eine Erfchütterung von irgend einer
‚Seite erfolgen, gegen die der Fluß anftößt, und an diefe
wird er anichlagen, bis er wieder abnimmt. Auch kann es
gefchehen, daß ein anflrömenter Bach eine Gegend unter-
böpft und eine Maffe mit fich fortreißt; Fällt dann diefe,
fo muß, Was darauf liegt, erfchüttert werden. Wer aber
nicht glaubt, daß im verborgenen Schosos der Erde Bufen
eines nnermeßlichen Meeres feyen, der traut wohl nur feinen
Augen zu viel, und weiß nicht weiter zu deuten, ML
fieht, Denn ich Sehe doch auch gar nicht cin, Er tem
:4290 Seneca’s Abhandlungen.
hindern und im Wege ftehen foll, daß es nicht auch dort in
der verborgenen Tiefe ein Ufer gebe und ein durch unficht:
bare Zugänge eingedrungenes Meer, das auch dort wohl
eben fo viel Raum einnimmt, oder vielleicht deßhalb noch
mehr, weil die Oberfläche mit fo vielen lebendigen Wefen
zu theifen war ; denn Das, was vom Tageslicht weggewiefen
und ohne einen Beſitzer gelaffen ward, hat ja um fo freiern
Kaum für das Gewäſſer. Und wo ift denn ein Hinderniß,
daß ed dorf nicht fluthe und von Winden bewege werde,
die in jeder Lüce des Erdbodens und von jeder Luft erzeugt
werden? Möglich iſt's daher, daß ein entflandener unge:
wöhnlid, großer Sturm an diefen oder jenen Theil der Erde
anfchläge und ihm mit Heftigkeit erfchüttert. Haben ja doch
aud) bei ung viele Streden, die weit vom Meere entfernt
waren, durch den heftigen Andrang deffelben Stöße erlitten,
und Lanthäufern, die vor unfern Augen Tiegen, hat die
fernher braufende Fluth zugefest. Auch in diefem Fall iſt's
möglich, Daß dad unterirdifche Meer mitwirkt; und in jedem
alle muß das Dbenftehende erfchüttert werden.
8. Ich glaube in der. That nicht, daß du lange Anſtand
nehmen wirft, ob du glauben fouft, daß ed unterirdifche
Ströme gebe und ein verborgened Meer. Denn von woher
bricht denn all Jenes hervor, und woher kommt es denn zu
und, als daher, weil der Urfprung der Feuchtigkeit einges
fchloffen it? Denn fiehe doch, wenn du wahrnimmft, daß
der Tigris mitten in feinem Lauf unterbrochen wird umd
48rrodnef, und nicht feine ganze Maffe fich ablenkt, ſon⸗
m nach und nach, ohne daß man die Whnohme werkt,
7 Steiner wird, Dann ganz verſchwindet wo went \s
Naturbetrachtungen. Sechstes Bud. 1291
denn, daß er Hinfomme, als in den dunfeln Erdenfchoog,
zumal, da du fiehft, er kommt wieder hervor, und nicht
Heiner, als er zuvor geftrömt. Und betrachte doch den Al⸗
pheurs, von dem die Dichter fingen, der in Achaja fich vers
ſenkt, und nachdem er Das Meer durchftrömt hat, in Si—⸗
cilien wieder den Tieblichen Duell Arethuſa ergießt. Und
weißt du nicht, daß unter den Vermuthungen, mit denen
man das Anfchwellen des Nil's im Sommer erklären will,
aud) die ift, er breche von der Erde aus durch, und wachſe
nicht durch Gewäſſer von oben her, fondern von unten herz
auf? — Ich habe die beiden Genturionen, welche der Kaifer
Nero, der, wie anderes DBortreffliche, fo auch die Wahrheit
in vorzüglichem Grade liebt, zur Auffuchung der Nilquellen
abgefchickt hatte, erzählen hören, fie haben einen weiten
Weg gemacht, da fie vom König von Wethiopien unterſtützt
und den angrenzenden Königen empfohlen, immer tiefer eins
gedrungen wären. Wir Samen, erzählten fie, an uner«
meßliche Moräfte, deren Ausgang weder die Einwohner
kannten, noch irgend Semand L[fennen zu lernen] hoffen
Tann , fo fehr ift das MWuffer mit. Kräutern verwachfen, und
darin weder zu Fuß durchzufommen, noch mit einem Fahr⸗
zeug, denn wenn ein folches nicht Elein wäre und nur esnen
einzigen Mann fallend, fo würde es der verfehlammte und
verftopfte Sumpf nicht fragen. — Dafelbft, hieß es, fahen
wir zwei Felſen, aus denen die gewaltige Waffermaffe eines
Alufles herausſtürzte. Allein, es mag nun dieß Vie Duelle
des mia Ton, oder nur ein Zuwachs zu Tewmielten , <b en
dort fein Urfyrung ſeyn, oder mag er hier, MÄR
fedserm £aufe in den Boden eingefitert WM ars N
3
1292 Seneca's Abhandlungen.
hervortreten: glaubſt du nicht, daß diefe Waflermaffe,
es fey wie ed wolle, aus einem großen See in der Erde
heranstomme? Es muß diefelbe ja nothwendig eine an
mehrern Orten zerftreute Feuchtigkeit haben, und die fidh
in der Tiefe aufimmengedrängt hat, wenn diefelbe mit folcher
Gewalt foll hervorbrechen können.
9. Manche Halten dag Feuer für die Urfache des Erd»
bebend und zwar auf verfchiedene Weife. Unter Diefen ift
befonders Anaragoras, weicher dafür hält, ungefähr durch
die gleiche Urfache werde wie die Luft, fo auch die
Erde erfchüttert, wenn unter der Erde der Luftzug Pie
untere dichte und in Wolken zufammengetriebene Luft mit
derfelben Kraft zerreißt, wie auch bei und das Gewölke ges
brochen zu werden pflegt, und aus diefem Iufammenfchlagen
der Wolken und durch den Lauf der aus ihrer Stelle ver:
drängten Luft euer hervortritt. Diefes nun läuft gegen
Dasjenige an, was ihm im’ Wege fteht, und ſucht einen
Ausweg und reißt das Widerſtand Leiftende auseinander,
bie es aus dem Gedränge einen Weg, zum Himmel aussus
laufen , entweder von felbft gefunden, oder fi mit Gewalt
I und Schaden felber gebahnt hat. — Andere halten dafür,
Das Feuer fey freilich Urfache, aber nicht aug dem anges
gebenen Grunde; fondern weil es an mehrern Orten fidy
entgegendrängt und brennt, und Alles aufzehrt, was ihm
zunächft liegt. Wenn dann diefe manchmal unterhöhlt find
vnd einftürzen, fo erfolge eine Erfchütterung derjenigen
— de ißrer untergeſtellten Stühen ermangelnd ſo Lange
By Pr6 fie zufammenfallen, weil Nichts entgegentuuunt,
Pie Eaff aufgefangen würde. Dann tiiwen Ih
- Raturbetrachtungen. Sechstes Bud. 4295
lünde und ungeheure Erdfpalten; oder wenn fie lange
uhergefchwantt haben, fo Legen fie fid, über Das her, was
ch übrig ift und ſteht. Daffelbe nehmen wir auch bei uns
ahr, wenn in einem Theil der Stadt Feuer ift. Sind die
alten abgebrannt, oder Das, was dem Obenſtehenden
alt gab, verdorben, dann flürzt der Giebel, nachdem er
b-Iange hin und her bewegt hat, zufammen und ift fo lange
nftät und hat Beine fichere Stelle, bis er auf feftem Grund
egen geblieben ift.
10. Anaximenes fagt, die Urfache bes Erdbebens Liege ”
a der Erde ferbft, und es komme nicht Etwas von
Iußen, was au fie ftoße, fondern in und aus ihr felbft
illen manchmal Theile von ihr weg, bie entweder durch
euchtigkeit los geworden feyen, oder vom Feuer verzehrt,
der durch einen heftigen Luftzug hinweggerättelt. Doc)
venn auch diefe Fälle nicht eintreten, fo gebe es allerlei,
wodurch, fih Etwas losmache oder abgeriffen werde. Denn
Iir6 Erfte macht die Länge der Zeit Alles wanfen, und
dichts ift vor dem Alter fiher. Diefes nagt aud) an feften
nd fehr flarfen Dingen. Gleichwie daher an alten Ge⸗
äuden Bandes verfällt, ohne daß es erfchüttert worden
1; wenn nämlich die Schwere größer ift, als die Kraft:
» gefchieht es bei diefem ganzen Erpkörper, daß fid) feine
‘heile durch die -Zänge der Zeit Tosmachen, und wenn ie -
5 geworden find, fallen, und Das, was darüber her ul,
rbeben muß: erſtlich fchon dadurch, tag Ke KG Lmun mus
ven, Denn es gibt nichts Großes, das vine Erihittuiun
een, womit ed zufammenhing, Loögeriien wÜttt> —
‚fie gefallen (ind, gefcyieget es , dag ie au TEEN
d
41294 Geneca’s Abhandlungen.
aufgefaken, wieder auffpringen, gleich einem DBalle, der,
wenn er gefallen ift, auffpringe, und öfters einen neuen
Schwung erhält, weil er fo oft vom Boden zu neuem Aufs
fpringen emporgeworfen wird. Wenn aber Etwas in fies
hendes Waſſer gefalten ift, fo erfchüttere diefer Fall fogar
die Umgebungen durch die Wogen, welches durch das plöß-
liche gewaltige und aus der Höhe herabgefchleuderte Gewicht
verurfacht wird.
11. Manche fchreiben jene Erderfchütterung zwar dem
Feuer zu, aber auf eine andere Werfe. Da es nämlich an
mehrern Orten glüht, fo muß es nothwendig einen unges
heuren Dampf hervorbringen , der nirgends hinaus kann
und vermöge feiner Kraft eine Spannung in der Luft het⸗
vorbringe, und, wenn er zu einer gewiffen Heftigkeit fteigt,
das ihm im Wege Stehende auseinander treibt; wenn er aber
minder heftig ift, weiter Nichts thut, als daß er eine Bes
mwegung hervorbringt. Wir fehen das Wafler fieden über
dem Feuer. Was es bei einem fo eingefchloffenen und uns
ausgedehnten Wufler bewirkt, das, müſſen wir glauben,
thut es noch in einem weit höhern Grad, wenn es heftig
und in mächtigen Umfang große Gewäfler aufrest. In
diefem Falle febt ed durch, die Ansdünſtung der Wellen wers
fenden Gewäſſer, Alles, woran es fchläge, in Bewegung.
12. Daß es die Luft fey, welche dad Erdbeben her
vorbringt, dafür- find niche nur die meiften, fondern auch
die beveutendften Männer. WUrchelaus,*) der Aiterthums⸗
“85 ij bier yoohl nicht des Anaxaqoras Schuͤler und des
Coawted Loprer, Aichelaus aus Milet gemeint, fondern
- Naturbetrachtungen. Sechstes Bud. 1295
und, ſagt fo: Die Winde dringen in die Höhlungen der
de hinab: alsdann wenn dort alle Räume voll find, und
» Luft fo verdichtet worden ift, als fie Eonnte, fo drüdt
» noch Hinzutommende Luft auf die fräher vorhandene und
eibt fie aus ihrer Stelle, und unter heftigen Schlägen
ängt fie dieſelbe zuerſt zuſammen, und bringe fie enblicy
Unruhe. Darauf fchiebt fie, einen Ausweg fuchend, alfe
gen Stellen auseinander, und ſucht ihr Sefängniß zu ers
ehen. So geſchiehet es, daß von der Fämpfenden und
sen Ausweg fuchenden Luft die Länder erfchüttert werden.
enn daher ein Erdbeben beyorfteht, fo geht eine Stille
d Ruhe in der Luft voran, weil nämlid, die Maffe der
ft, welhe Winde zu erregen pflegt, fich in der unter
iſchen Wohnung aufhält. Auch jest, da in Campanien
& Teste Erdbeben war, fland die Luft, obwohl es Winter
ir, die Tage vorher von oben herab ruhige. Sol aber
raus folgen, daß nie, wenn ein Wind geht, ein Erdbeben
htrete? — Sehr felten iſt's freilidy, dab zwei Winde zue«
ei) wehen. Doc ift’d möglich umd nicht ohne DBeifpiel.
zenn wir Dieß annehmen, und es gewiß ift, daß zwei
zinde anf einmal herrfchen: warum follte es nicht gefchehen
men, daß der eine die obere Luft in Bewegung ſetzte, der
dere die untere.
13. Unter Diejenigen, welche dieſer Abſicht beipflichten,
ohne Zweifel Derjenige, weicher ein Buch über die Infer
Eubda geſchrieben, wo auch oͤfters Erobeben waren. Aris
ſtoteles erwaͤhnt unter Denen, die uͤber Erdbeben geſchrieben
haden, des Archelaus noch nicht. Mom \olirht daran, %
er nach Ariſtoteles gelebt habe.
41296 Seneca's Abhandlungen.
barf man den Ariſtoteles vechnen und feinen Schüler Theo—
phraſtus, einen Mann, der zwar nicht, wie die Griechen
meinter,, eine Götterberedtfamfeir*) befaß, aber doch eine
Tiebliche und ungekünſtelt zierlihe. Die Anfichten dicfer
Beiden will ich darlegen. Es findet beftändig eine Aus:
Dünftung aus der Erde Statt, welche bald trocken, bald mit
etwas Feuchtem verbunden ift. Diefe, welche tief von unten
herauf kommt und hoch fteigt, als fie kaun, wenn fie
wicht mehr weiter —8 auslaufen kann, geht ſie wieder
rückwaͤrts und wälzt ſich in ſich ſelbſt zurück: und indem
nun der Kampf der ſich begegnenden Luft das im Wege
Stehende in Bewegung ſetzt, und fie entweder keinen Aus:
weg hat oder durc enge Stellen fid, hinausdrängt, erregt
fie Erfchütterung und Unruhe. Aus der nämlichen Schule
ift Strato ‚„**) der diefen Theil der Philofopbie hauptſächlich
bearbeitet hat und ein Naturforicher war. Seine Theorie
ift folgende: Das Kalte und dad Warme find ſich immer
entgegen und können nicht beifammen feyn: wo die Wärme
weggeht, da zieht ſich die Kälte hin, und umgekehrt, warm
ift es da, wo die Kälte weggetrieben worden ift. Mit
diefer Behauptung hat es feine Richtigkeit; daß aber beide
Kräfte einander entgegengefeht feyen, mag dir aus Fol—⸗
gendem deutlich werden. Zur Winterszeit, wenn oben auf
*) Darauf deutet fein Beiname: Theophraſtus, d. ift der götts
lim Redende, — weisen ihm Wriftoreie® gab; eigentlich
hieß ee Tyrtamus, vergt. Cic, Orator. 19. Plin. nat.
hist, I, praef. Quintil, Inst. Or. X, ı — 8).
w“, Sıraro von Lampſacus, ded Tyeophroſtus Nachfolger, und
£eprer bes Pioiemdus Philadelphus, um’s Jayr v. Chr. aBı.
Naturbetrachtungen. Sechstes Bud. 4297
der Erde Kälte ift, find die Brunnen warm, und eben fe,
die Höhlen und alle unterirdischen Derter, weil ſich dahin
die Wärme gezogen hat, die der Kälte auswich, indem dieſe
die Oberfläche in Bells nahm. Iſt nun die Wärme in die
untern Regionen hinabgedrungen, und hat fie fid) da fo viel
wie möglich hingedrängt, fo ift fie um fo Eräftiger, je dichter
fie ward. Zu diefer komme nun nod) eine andere, welcher
snothwendiger Weife jene fchon angefammelte und eug einges
gepreßte weichen muß. Der nämliche Fall tritt im Gegen⸗
heil ein, wenn eine zu große Maſſe von Kälte in die
Höhlen eingedrungen ifl. Was dort von Wärme noch ſteckt,
zieht fih, der Kälte weichend, in bie Enge und wird mit
großer Heftigkeit fortgetrieben,, weil die Natur. beider Stoffe
2eine Vereinigung und kein Beifammenweilen leidet. Wenn
alfo einer derfelden fid) auf die Flucht begibt und auf jede
Weiſe hinaus will, fo ſetzt er Altes, was ihm nahe ift, in
Aufruhr und Bewegung. Daher pflegt auch vor einem Erds -
beben ein Brüllen gehört zu werden, indem die Winde in
der Tiefe toben. Denn anf eine andere Weife könnte nichk,
wie unfer Virgilius*) fagt:
Unter den Füßen erbröhnen der Boden, und Berge ſich regen,
wenn das nicht durch die Winde bewirkt würde. Diefer '
Kampf wechſelt fodann: es hört die Anfammlung des Wars
men auf, und hinwiederum aud, der Ausbruh. Daun wirb
Dad Kalte gesämpft und laͤßt nach, um bald wieder defle .
mächtiger zu werden. Indem alfo die wechfelnden Kräfte in
+) Bergi. Virgiles Aeneis IV. 256.
Gene. 118 Eden, y
19398 . + Beneea’s Abhandlungen.
ihrem Laufe find nnd die Luft hin und wieder wandert, ent⸗
flieht die Erfchätterung.
14. Einige halten dafür, das Erbbeben entftehe zwar
durch die Luft, und gerade auf diefe Weife, aber aus einer
andern Urfache, als Wriftoteles angibt. Vernimm, was
Diefe fagen. Unfer Körper wird angefencheet theils durch
das Blut, theils durch die Luft, die ihre eigenen Gänge
umher macht. Wir haben aber zum Theil enge Behäftniffe
der Lebendluft, durch weiche fie weiter nichts als durchs
fledömt, zum Theil weitere, in denen fie ſich anfammelt,
und von wo fie fich vertHeilt. So ift dieſer ganze Erdkörper
theils von Waffern, welche die Stelle des Blutes vertreten,
theits von Winden burchftrömt, die man wohl nicht anders,
18 den Lebenshauch [der Erde] nennen Bann. Diefe beiden
laufen an manchen Orten zufammen , an manchen bleiben fie
ſtehen. Aber fo wie in unferm Körper, fo lange er im ger
ſunden Zuſtande ift, die beweglichen Blutadern auch unges
ftöre ihre Ordnung halten, wenn aber eine Störung eintritt,
fihnelter fchlagen, und Seufzer und tiefes Aufathmen Zeichen
von Entkräftung und Müdigkeit find: fo bieibt auch die
Erde, fo ange fie in ihrem natürlichen Zuſtande ift, uner⸗
fdyüttert, fehlt ed aber irgendwo, dann entflehf eine Bes
wegung, wie in einem kranken Körper, indem die Zuft,
weiche ruhig durchftrömte, heftig angefchlagen wirb und ihre
; Adern erfchüttert; es iſt aber nicht, wie vorhin behauptet
"wurde, da man die Erde als ein lebendes Wefen angefehen
wien wit; denn wein fie wie ein lebendiges Weſen wäre,
ne Ne burchaus eine gleiche Erichütterung eriohten.
7a andy bei uns nicht der Zau, dar das Aiever den
—— —— — nn.
Naturbeteachtungen. Sechſstes Bud. 1299
oder jenen heil gelinder angreift, fondern ed geht durch.
alle. Theile gleichmäßig durch. Es kommt alfo darauf an,
ob von ber die Erde umgebenten Luft ein Zug in fie ein«
dringt: und fo lange diefe einen Ausweg hat, geht es ohne
Auſtoß ab; wenn ſich aber Etwas .entgegenftellt und fie auf
Etwas trifft, was ihr den Meg verfperrt, dann wird fie
anfangs von der fich hinterher brängenden Luft befchwert.
Sodann madıt fie ſich durch irgend einen Spalt verkümmert
durch, und gebt um fo heftiger, je mehr fie in die Enge
gepreßt iſt. Das kann nicht ohne Kampf abgehen, und der
Sampf nicht ohne Erfchütterung. Findet fle aber andy) nicht
einmal einen Spalt zum Ausitsömen; dann tobt fie zuſam⸗
mengebalit, und dreht fid, dahin umd dorthin herum, und
flürzt bald Etwas nieder, bald reißt fie Etwas auseinanderz
und wenn fie fehr dünn, und doc, zugleich fehr ſtark ax
verrammelte Pläße gleichwohl Hinfcheicht, und Alles, wohin
fie eingedrungen, mit .ihrer Kraft auseinander reißt und
zerfprengt, dann wird die Erde erfchüftert. And entweder
geht fie, um dem Winde Plab zu maden, auseinander,
oder, wenn fie ihm Platz gemacht hat, finkt fie, der Unter⸗
Lage beraubt, in diefelbe Höhfung hinab, durch die fie ihr
herausgelaſſen hat.
35. Manche meinen fo: die Erde ift an vielen Stelle
durchlöchert, und fie hat nicht nur jene urfprünglicden Wege,
die Sie, gleichſam als Luftlöcher, von Anfang bekommen
hat, fondern viele Hat ihre mod) der Iuiall aegehen. — De
manchen Stellen bat das Waſſee mit hinsbammummen ı S
oben von Erdreich, Ing; andere; Stellen And DR
500 Seneen’s Abhandlungen.
anggewühlt worden, und es hat ſich da durch mächtige Flu⸗
then ein offener Bruch gezeigt. Durch diefe Lücken dringt
der Luftzug hinein; und wenn dieſen dad Meer eingefchloffen
hält und ihn weiter in die Tiefe hinabtreibt, und bie Fluth
ihn nicht zurüdigehen läßt, dann wälzt er fich herum, da
ihm zugleich ein Ausweg und der Nücweg abgefchnitten ift.
Und weil er nicht in gerader Linie fort kann, was feine
natürliche Richtung ift, fo firebt er in die Höhe, und
fchlägt die auf ihn drüdende Erbe auseinander.
216. Noch muß id anführen, Was die meiften Schrift:
flelfer annehmen, und womit man vielleicht einflimmen wird.
Daß die Erde nicht ohne Luft ſey, ift offenbar. ch meine
sicht nur die, wodurch fie mit ſich feibft zufammenhängt
und ihre Theile verbindet, die aud in Steinen und fodten
Körpern ift,, fondern ich meine jene Leben gebende und erres
: gende und Alles nährende. Wenn fie Beine ſolche hätte,
wie könnte fie doc in fo viele Bäume und Pflanzen, die
von nichts Anderem leben, Luft eingießen? Wie könnte fie
die fo verfchiedenen Wurzeln hegen, die bald fo, bald anders
m fie hineingeſenkt find, zum Theil oben Tiegend, zum
Theil tiefer gehend, wenn fie nicht viel Lebensluft hätte,
Bie fo Vieles und fo DVerfchiedenes erzeugt und durch ihr
Einſchlucken und ihre Nahrung aufziehe? — Ich bediente
mic, bis jetzt nur fchwacher Beweife. — Aber diefer ganze
- Himmel, welchen der feurige Aether, ald der höchfte Theil
Ser Belt, einfchließt, alle diefe Sterne, deren Zahl ſich
Dr dereosnen Idßt, biefe ganze Schaar von Himmelskörs
* der andern nicht zu gedenken, dieſe Sonne , vr
er und ihre Bahn hält ‚ und mehr ald eimml \a
Naturbetrachtungen. Sechstes Bud. 41301
groß ift, als der ganze Umfang der Erde, — bieß Alles
zieht Nahrung ans dem Erdftoff, und vertheilt fie unter
ſich, und wird durch gar nichts Anderes erhalten, ald durch
die Aushauchung der Erde. Diefe dient allen diefen Körperu
zur Nahrung und Weide. Es Eönnte aber die Erde nidyt
fo Vieles und fo Großes, und was größer ift, als fie felbfk,
ernähren, weunn fie nicht voll Lebensluft wäre, die fie Tag
und Nacht von allen Seiten her ausftrömt. Es ift nicht ane
ders möglich, als daß fie einen großen Vorrath hat, da von
ihr fo Viel verlangt und genommen wird; und es erzeugt
fi) immer fo Biel, ald jeder Zeit abgehen muß. Sie
koͤnnte auch nicht Fahr aus Fahr ein Vorrath genug haben
an Luft für fo viele Himmelskörper , wenn nicht hinwiederum
aus diefen auch Etwas abginge, und Eines fih in das
Andere auflöste. Demungeachtet aber muß fie doc) Ueberfluß
an Luft haben und davon angefüllt feyn, und aus verbor⸗
genen Vorräthen weiche hervorbringen. Es iſt daher Eein
Zweifel, daß viel Luft tief im Innern ſteckt, und eine weite
Zuftfchichte die ungefehenen Räume unter der Erde bedeckt
halt. Und wenn es damit feine Richtigkeit hat, fo muß ja
Das oft erfchüttert werden; was mit fo beweglicher Materie
angefültt ift. Denn Das kann doch wohl Niemanden zweis
felhaft feyn, daß Nichts fo unruhig ift, als die Luft und fo
veränderlicd, und zur Bewegung geneigf.
17. Die Folge ift dann, daß fie thut, Was ihr natüre
Hdyrift, und daß, Was fid, immer bewegen wi, ya Däten
auch andere Dinge in Bewegung ſeht. WWd woun gie
Die ? wenn ihr Lauf gehemmt ift. Sy \anae rt ws
fein Hiuderniß findet, fließt fie ruhig int“ guet N
23502 Senecad Abhandlungen.
Widerſtand und Aufenthalt, fo tobt fie und durchbricht das
Hemmende, gerade wie jener,
— — der die Brüde nicht duldet, Araxes. *)
So lange diefer fein unerfchwertes und freies Bett hat,
läßt er feine Wafler in Ordnung dahinftrömen. Wenn aber
abſichtlich oder zufällig herbeigeführte Felsblöcke den heran:
dringenden zurückhalten, fo gewinnt er durch den Aufenthalt
an Heftigkeit, und je mehr fid, ihm entgegenftelft, deſto
mehr bekommt er Kräfte. Denn eine jegliche Woge, die
von hinten herkommt und durch fich ferbft wächst, wenn fie
ihre eigene Laſt nicht mehr fragen kann, verfchafft ſich Gewalt
durch Serflörung , und geht reißend dahin fammt Dem, was
ifr im Wege lag. — Gerade fo geht es bei der Luft. Je
flärker und beweglicher fie ift, defto ſchneller fähret fie dahin,
and mit defto größerer Heftigkeit durchbricht fie alle Schran:
fen. Daraus nämlich entfieht eine Erfchätterung derjenigen
Gegend, unter welcher der Kampf vorgefallen if. Daß
: Dieß richtig fen, laͤßt fi) auch durch folgenden Umſtand bes
weifen: oft nämlich, wenn ein Erdbeben war, hat der
—Wind, im Fall daß ein Theil der Erdrinde geborften ift,
. viele Tage lang von borther geweht, wie Dieß bei dem
Erdbeben, welches Chalcis**) betraf, Statt gefunden haben
fol. So meldet Aselepiodotus, der Zuhörer des Pofldoniug,
namentlich in feinen Unterfuchungen über Nafurbegebens
Beiter. Man findet anch bei andern Schriftftellern, eg
Fade BD in einer beflinmten Gegend die Erde aufgethan
„> Detgt, Birgil’6 Aeneis VII, 738.
” 4 ‚972
7 Vakis, die Sauptfiaht auf ber Inſel Erde.
Naturbetrachtungen. Sechstes Bud), | 4503
und von daher fey geraume Zeit der Wind gegangen; diefer
nämlich hatte ſich felber jenen Weg gebahnt, durch deu er
.aueftrömte. |
18. Die Haupkurfache alfo, warum Erdbeben entflehen,
ift der feiner Natur nad) rafche und feine Richtung nad)
ortlichen Verhältniffen verändernde Luftzug. So lange der:
fetbe Eeinen Anftoß leidet und in einem leeren Raume
ſteckt, liegt er unfdyädlich, und ohne daß feine Umgebungen .
Etwas zu leiden haben, Wenn ihn aber eine von außen
dazu kommende Urfache ſtört, ihn treibt und einengt, fo
darf man annehmen, er gibt erſt noch nach, und macht fi
dahin umd dorthin. Wenn ihm aber die Möglichbeit, auszu⸗
weichen, genommen ift und er von allen Seiten Widerſtand
findet: dann
— — mit großem Donner bed Berges
- Braut er um fein Gefängniß umher, — — 9
das er, nad) langem Pochen niederreißt und über ben Haufen
wirft, um fo heftiger, mit je ffärferem Hemmniß er ge
rungen hat. Daranf, wenn er Alles umher, was ihn hielt,
durchſtöbert hat, ohne Kinausfommen au köunen, fo pralit
ed anf der Seite, wo er hauptfächlidy eingezwängt ift, Zus
til, und vertheilt. fich entweder auf geheimen Auswegen, —
Denn gerade das Erdbeben vermindert den feften Zufammens
bang, — oder er bricht durch eine neue Deffnung hervor.
So kann deun feine gewaltige Maffe nicht mehr bezähme
werden, und den Wind hält Beine Tellels denn
jegliches Band, und nimmt jede Tat wit Ai Kurt, TU
7 Berge. Birgivs Aeneis 1,.55. 56.
| 1504 Smeca’d Abhandlungen.
die kleinſten Räume ergoffen, geht er über die Erweites
rungen hinaus, und in ungebändigter, natürlicher Krafts
Äußerung uneingefchränft, eignet er fich, befonders wenn er
[durch Widerfland] gereizt ift, fein Recht zu. — Der Wind
aber ift etwas Unwiderſtehliches, denn es kann Nichte
geben,
Das bie kaͤmpfenden Wind’ und bie tönend erkranfenden Stürme
Beuge mit Herrſchergewalt und zsähm’ in Banden und Kerter. *)
Dhne Zweifel wollten die Dichter darunter den Kerker vers.
fanden wiffen, in welchem fie unter der Erde eingefchloffen
ſtecken. Uber daran haben fie nicht gedacht, dab Das, was
eingefchloffen ift, noch nicht Wind fen, und, was einmal
Wind ift, nicht mehr eingefchloffen werden könne. Denn was
eingefchloffen ift, ift ruhig und flehend, aller Wind aber if
I im Fortgehen begriffen. Zu diefen Beweiſen kommt audy
noch der Umſtand, aus welchem erfichtlich ift, das Erdbeben
werde durch den Luftzug hervorgebradht, daß nämlich auch
uufere Körper nur in dem Fall zittern, wenn irgend eine
1] Urfache unfern Athem in Unordnung bringt, fo wie er 3. B.
Durch Furcht zufammengezogen oder durdy’s Alter kraftlos
wird, oder durd, Unthätigzeit der Blutadern feine Lebhaf⸗
tigkeit verliert, oder durch Froſt gehemmt, oder bei’m Fie⸗
beranfall in feinem Lauf geflört wird. Denn fo lange er
Innangefochten fortſtrömt und feinen gewohnten Gang bat,
zeigt fi kein Zittern am Körper. Wenn aber Etwas ein-
tritt, was feine Verrichtungen hindert, dann wird, weil
— meßr im Stande iſt, Das zu tragen, was er in
? Birsı. Bigirs Bensie I ‚55. 54.
Naturbetrachtungen. Sechstes Bud. 1506
feinem träftigen Zuſtand fefthielt, bei feiner Abnahme ers
fhüttert, was er bei vollen Kräften aufrecht erhalten hatte.
ı9. Bir müffen nun auch den Metrodorus aus Ehios*)
anhören, der feine willtührlihe Meinung auch wie eine
[wiflenfchafttihe] Anſicht ausfpricht. Ic erlaube mir audy
diejenigen Meinungen nicht zu übergehen, die ich mißbilfige.
Denn es ift beffer, wenn Alles vorgelegt wird, und wo wir
nicht einftimmen, erklären wir die Anficht Lieber für unftarthaft,
als daß wir nur darıiber weggehen. — Was fagt er denn
nun? So wie, wenn Einer in einem Faſſe fingk, diefe
feine Stimme durd) das ganze Faß unter einer Art von
Erfchütterung durchläuft und wiederhallt, und obwohl niche
ſtark fich erhebend, doch herumkommt, nicht ohne Berührung
und Wiederhall des Körpers, von dem fie eingefchloffen ift:
fo Haben die ungehenern, unter der Erde befindlichen Höhlen
ißre eigene Luft, welche, fobald eine andere von oben bins
zutommende eine Erfchütterung darin macht, gerade fo in
Bewegung geſetzt wird, wie jener leere Raum, von dem
ich fo eben ſprach, von dem hineingefchrieenen Rufe tönt.
so. Wir kommen nun an Diejenigen, welche Alles zu⸗
fammen, wovon ich ſprach, als die Urfache [des Erdbebens]
annehmen, oder doch Mehreres davon zugleih. — Demos
eritus meint, es fen Mehreres die Urſache. Er fagt nämlich,
das Erdbeben werde bisweilen durch den Zuftzug bewirkt,
bisweilen durch das Wafler, bisweilen durch Beides, und
er führt Dieß folgendermaßen aus. Ein Teil ter Exe iR
"9 Metroborub aus Ehios. em Eähler der Demncanud,
„Uber De Katur, .. Bergi. eero Academ. “I. a).
x
4506 Senecas Abhandlungen.
hohl, und in dieſem firömt eine große Mafle von Waſſer
jufammen. Davon ift Einiges dünn, und flüffiger ald das
Andere. Wenn Diefes durch die dazufommende Schwere zus
‚rücfgedrängt wird, fo fchlägt es an die Länder an und erfchüt:
tert fie. Es kann nicht AAutben, ohne Das in Bewegung zu
fegen, woran es anfchlägt. Ueberdieß, was wir fo eben
von der Luft fagten, läßt fi) wohl aud) von dem Waſſer be⸗
haupten. Wenn es fich auf einer Stelle angefammelt hat,
‚und fic) felber nicht mehr faffen kann, fo legt es ſich irgendwo
hin und bahnt ſich Aafangs einen Weg durch fein Gewicht,
hernach durch feinen Andrang. Denn es kann ja nicht ans
ders als bergabwärts feinen. Ausgang nehmen, nachdem es
fid) fange einfchließen sieh; und es kann nicht vuhig gerade
fortfließen, und ohne Erfchütterung der Stellen, durch
weiche und in welche es fällt. Wenn es aber, nachdem es
einmal dahinzuflürzen angefangen hat, an einem Orte fichen
bleibt und jene Strommaffe ſich in fich ſelbſt zurückwälzt,
fo wird fie an ein gegenüberfiehendes Land hingetrieben,
und fegt diefes in Bewegung auf der Seite, wo dad Land
am meiften beweglich if. Ueberdieß fegt ſich bisweilen die
naßgewordene Erde tiefer, wenn fie die Flüſſigkeit recht
tief in fi) eingefaugt hat, und der. Grund und Boden felber
leidet Noch. Alsdanu wird derjenigen Seite zugefest, auf
welche fid) hauptfächlich tie Schwere des dorthin frebenden
Gewäflers neigt. Bisweilen aber flößt die Luft auf bie
Wogen, und wenn fie ihnen. heftig zuſeßt, fo erſchüttert
Me naritlicherweife die Gegend der Exrre, auf welche fie Die
Afasmmengedräugten. Waſſer hingetrieben hat. Bisweien
IE fie fh auf die -Bänge. [der Winoe) ia dr. Sat, W
Aaturbetrachtungen. Sechstes Bud. 1807
erſchuͤttert Alles; Die Erde aber ift für die Winde zugänglid,,
und die Luft ift zu fein, als daß fie ausgeſchloſſen werben
Biante; und zu heftig, als dag fie ſich Widerfland entgegen
ſeßen ließe, wean fie einmal in Uufregung und Wuth if.
Alles Dieß, ſagt Epicurus, feyen mögliche Urfachen,, und
er verſucht es mit noch miehrern Andern, und tadelt Diejes
nigen, welche behauptet huben, es fey Eines deren die allei⸗
nige Urſache, da es fchwer halte, über Dinge, die man nur
erfchließen müſſe, etwas Beftimmtes zu behaupten. Es if
aber, wie er fagt, möglich, daß das Waller ein Erdbeben
heevorbringe, wenn ed dieſe oder jene Theile ausgefpült und
weggefreſſen hat, nach deren Schwächung denn freilich Dass
jenige nicht mehr gefragen werden kann, was davon gehalten
wurde, ſo lange fie nod) unverfehrt waren. Es Ift möglich,
daß das Erdbeben hervorgebracht wird durch den Drud der
Zuft. Vielleicht nämlich wird die Luft in Unruhe gefeht,
wenu von Außen her eine andere Luft eintritt. Wielleicht
wird fie dadurch, daß ein Theil auf einmal wegfällt, erfchüts
tert, und erleidet von daher eine Bewegung. Vielleicht wird
sie von irgend einer Seite der Erde gleich als von einer Urs
son Säulen und Wfeitern gehalten; und wenn diefe leiden
und weichen, fo erzittert dann die darauf ruhende ungeheure
Mafle. . Vielleicht wird die warme Maffe der Luft in Feuer
verwandt und fährt, dem Blitze gleich, hernieder,, gewals
tigen Schaden anrichtend an Dem, was im Wege fteht.
Vielleicht fest irgend ein Wehen die fumpfartigen un Ar:
enden Gewäfer in Bewegung , und dann erikjättert entür
rein Stoß bie Erde, oder die Unruhe der Tuit. Me S
"dur Die Bewegung zunimmt und 6 \elher α
41508 Senecas Abhandlungen.
von unten herauf bis nad) Dben Läuft. Jedoch Beine Urſache
des Erdbebens Hält er für wichtiger, ald den Luftzug.
a1. Auch wir nehmen an, diefer Luftzug fey es, der
fo mächtige Wirkungen hervorbriagen könne, denn Nichts
in der Natur ift mächtiger, Nichts heftiger, als er, und
ohne ihn hat felbft Das, was das Heftigfte ift, Feine Kraft.
Das Feuer, vom Luftzug wird es angefacht; das Waller iff,
wenn man ihm den Wind nimmt, ohne Zeben. Dann erft kommt
es in Thätigkeit, wenn ed von einem Wehen erregt wird;
und dieſes Fann große Streden Landes auseinander reißen,
und neue Berge, die unten lagen, in die Höhe heben, und
Inſeln, die zuvor nie gefehen wurden, mitten im Meere
aufſtellen. — Wer zweifelt noch, daß Thera und Therafia *)
und jene Inſel; die unter unfern Augen im Hegäifchen Meere
emporftieg, durch Luftzug an's Tageslicht gebracht worden
fey ? — Nach Pofidonius gibt es zwei Arten von Erdbeben,
jede hat eine eigene Benennung. Die eine ift ein Lfcheitel«
rechtes] Rutteln, wenn die Erde gerüttelt wird und eine
Bewegung aufs und abwärts erleidet; die andere ein [wag⸗
rechtee2Schwanten, wobei fie wie ein Schiff auf die Seiten
wankt. Ich denke mir noch eine dritte Art, für welche une
fer Ausdruck bezeichnend ift; denn nicht ohne Grund haben
ed unfere Alten ein Beben genannt, welches etwas ganz
anderes ift, als jene beiden Arten. Denn dabei wird ja
*; PYlinins Natur, Hist. I, 87. Wergt. IV, 12. fast:
HL ficy puerſt Thera erhob, nannte man es Catlifte,
—— s ficy fpdter Theraſia los, weh WIR Yama ywatlagen
2 Seiten utomate ober andy Mete root, WR W
"TR Zeiten usben Hefem Sheras Kym
Rarurbetrachtungen. Sechstes Bud. 1309
wicht Alles gerättelt, noch umgeneigt, auch nicht im eine
Ihwingende Bewegung verfehrt. Es iſt das ein Umftand, der
ie ſolchem Fall am wenigften Schaden macht, fo wie das
Umneigen weit verderblicher iſt, als die Erfchütterung. Denn
wenn nicht fchnell auch von der entgegengefesten Seite eine
Bewegung eintritt, die das Umgeneigte wieder in's Gleichges
wicht bringt, fo folgt nothwendig der Einſturz. Da diefe
Bewegungen von Natur einander nicht gleich find, fo find
and) ihre Urfachen verfchieden.
22. Zuerft nun wollen wir von der rüffelnden Bewes
gung fprechen. Wenn bisweilen große Zaften vermittelft meh:
rerer Fuhrwerke gezogen werden, und die Räder mit hefs
gem Drud in holperigen Wegen aufftoßen, fo wirft bu
bie Empfindung ‚haben, daß der Boden erfchüttert werde.
Asclepiodotus meldet: als ein von der Seite eines Berges
abgeriffenes Felsſtück herunter fiel, ftürzten die beuachbarten
Gebäude von der Erfckütterung ein. Eben fo kann es uns
ter der Erde gefchehen, daß von den überhangenden Felſen
fid) einer losmacht und mit einem großen Gewicht und Schalt
in eine unten befindliche Höhle herabfälit, um fo heftiger,
entweder je fchwerer er ift, oder je höher er herabkommt.
Und fo wird die ganze Ueberlage des hohl Tiegenden Thales
in Bewegung gefebt. Und es ift nicht nur vwermöge ihrer
Schwere denkbar , daß ſich Felsſtücke losreiſſen, fondera da
oben Hin Flüſſe Saufen, fo fchwächt die beftändige Feuchtig⸗
feit die Zugen des Geſteins, und nimmt täyfih eiweb es
von Dem, woran ed haftet, und frert, wenn W VW
v, jene Haut ab, durch die es zufammengehalten N
„was Zug für Tag abgenupt ward , werd weit Vet
1310 : :Senecars Abhandinngen.
durch die lange Schwächung fo unhaltbar, daß es die Laſt
nicht: mehr zu tragen im Stande if. Dann fallen Steine:
von ungeheurem Gewicht herab, und jener herabgeſtürzte
Fels, weldyer, was er von Grund auf erfchättert, nicht
mehr feft fiehen läßt, —
Kommt mit Gedonner, — pideruch, Was mar
N)
wie ımfer Virgilius ſagt. ) — Das mag die Urſache feyn
von der die Länder von unten heranf rättelnden Bewegung.
Sch gehe zu der andern über.
3. Die Erde ift ihrer Natur nach nicht überall dicht,
und hat viel leeren Raum. Durch dieſe Lücken ſtrömt Luft;
und wenn dieſe in Maſſe herankommt und nicht durchkann,
ſo exfchüttert fie die Erde. Dieß nehmen, wie ich kurz vor⸗
hin anführte, and) Andere ald Urſache [der Erdbeben] an,
wenn dn ja auf die Menge von Beugen Gewicht legen ſoll⸗
tet. Auch Calliſthenes ſtimmt dafür, ein nicht zu verachten
der Zeuge. Denn er war ein ausgezeichneter Kopf, und
mochte fi in den tollen König nicht ſchicken. ) .Das if
ein ewiger Vorwurf für Alerander, deflen ihn feine Tapfer⸗
feit entledigen wird. Denn fo oft man ſagt: er hat niele-
faufend Perfer getödtet: fo wird erwiebert : werden: aber
auch einen Calliſthenes. So oft man anpreist: ex Kat den
Darius getüdiet, weldyer damals der große König war; ſo
m Bergl Virqils Neneis VIIL, 535.
—* Eauliſtbenes aus Dlynth wer dem Alexouder von Ariſtoteles
empfohlen worden und eine Zeitlang {ehe Webr td Vom,
—— aber vurteer wegen ſeinee Vahrehiee wid Kran
€ DDABE:UmMd getbättt.: ' Wexgl, Cartiüs NN. 5:
Naturbettachtimgen. Sechſtes Bud. 13 14
wirb es dagegen heißen: aber auch den Calliſthenes. So oft
man erzählen wird: er hat Alles bis an den Dcean über
wunden , und diefen ferbft, wie ed nie gefchah, mit Flotten
befahren , und fein Reid von einem Winkel Thraciens bis
an die Grenzen des Weltmeerd ausgedehnt: fo wird man
fagen: aber er hat den Calliſthenes getödtet. Mag er’s allen
alten Muftern von Feldherren und Königen zuvor gefhan has’
den: von Allem, was er gethan, wird Nichts fo groß feyn,
as der Frevel an Eallifthenes. — Diefer Calliſthenes in den
Büchern „*) worin er befchreibt, wie Helice und Burid uns
terging , und was für ein Unglücksfall diefe Städte in’s
Meer oder das Meer in fie hineingeführt habe, behauptet,
Daffelbe , was wir oben fagten. Die Xuft dringt durd) vers
borgene Deffnungen in die Erde ein, wie überall, fo auch
unter dem Meere. Wenn fodann jener Pfad, auf dem fie
hinebgefommen war, verbaut ift, den Rückweg aber dag
ſich Hinterher entgegendrängende Waſſer verfperrt hat, fo
‚ läuft fie dahin und dorthin, und indem fie fich felber im
|
Wege iſt, macht ſie die Erde wanken. Deßhalb werden am
häufigften die am Meere Tiegenden Länder beunruhigt, und
daher hat man dem Neptun die Kraft zugefchrieben, das
Meer aufzuregen Lund was am Meere lieg). Wer nur die
Unfangsgründe des Griechifchen gelernt, weiß fchon, daß
derfelbe dort aaoiXImv [der Exderfchütterer] heißt. —
, In ſeinen Büchern, welche den Titel Hellenica Khncten, Evarcn
htſtoriſchen Werte, erzählte er ben Untergang der Get ©
sodpsten, beiben Agdiigen Etäbte, die an Evrirois
Meerbufen gelegen waren, Das Erxeignig galt im we!
; 370, v. Ehr.
4512 Seneca's Abhandlungen.
24. Daß die Luft der Grund dieſes Uebels ſey, damit
bin ich auch ſelbſt einverftanden , wie aber diefe Luft hinein-
dringe, — das ift noch eine Frage: ob durch dünne, mit
den Augen wahrzunehmende Deffuungen, oder durch größere
und weitere; ob von unten herauf, oder auch durd) die Ober⸗
fläche der Erde? — Das Lestere ift nicht zu glauben. Nimmt
ja doch audy an unfern Körpern die Haut Eeine Luft ein,
und fie hat feinen Eingang, aufler auf dem Wege, wo fie
- eingeathmet wird; und wenn fie von und eingeathmet ift,
kann fie nur in einem lodern und hohlen Theil des Körpers
beftehen. Sie hält fidy ja nicht zwifchen Sehnen und Fleiſch⸗
maffe auf, fondern in den Eingeweiden und in dem wei—
ten verborgenen Raume. Das Nämliche läßt fih dann
aud) bei der Erde vermuthen, ſchon deshalb, weil die Er-
fchütterung nicht oben auf der Erde oder in der Nähe der
Höhen ift, fondern unterwärts und von unten herauf. Ein
Beweis hiefür ift, dad Meere von der größten Tiefe in Uns
ruhe kommen, weil nämlich das, worüber fie herftrömen, ere
fchüttert wird. Deßhalb ift es wahrfcheinlich, daß das Erd:
beben von der Tiefe herauf kommt, und daß dort in unger
heuren Höhlen Luft erzeugt wird. Doc, nein, behauptet
Semand, fowie, wenn uns ein Kältefchauer überlauft, ein
Zittern darauf folgt, fo ſetzt auch die von auffen herkom⸗
mente Luft die Länder in eine rüttelnde Bewegung. — Al⸗
fein das ift auf Beine Weife möglich. Da müßte ein Frieren
Marfinden, wenn ed gehen folte, wie bei und, die eine dus
Sere Zerantsffung zu einem Schauder bringt. Ich will wohl
Gen, Daß mit der Erbe Etwas vorgeht, wad wit wie
"PfnDUng [eines Lalten Schauderi) Acahatät nt,
Naturbetrachtungen. Sechstes Bud. 41313
aber nicht aus aus dem nämlichen Grund. Ihr Anftoß muß
"on einer innern und kieferliegenden Urfache herfommen ;
was fich wohl hauptſächlich aus dem Umſtand erweifen Yäßt,
Daß, wenn der Boden durdy eine heftige Erfchütterung uns
ter gewaltigem Einſturz ſich aufgethan hat, dieſer Schlund
manchmal ganze Städte verfchlingt und begräbt. — Thucydi⸗
des fagt, zur Zeit des Peloponnefifchen Krieges fey die Inſel
Ytalante*) entweder ganz oder wenigftens dem größten Theil
nach unfergegangen. Das Nämliche gefchah, wenn man dem
Poſidonius glauben will, mit Sidon. *) Und es braudyt
Dafür keine Zeugen. Wir Fönnen ung ja felbft erinnern, daß,
als das Land von einer innern Erſchütterung zerriffen ward,
mandye Derter zerftört worden und Felder untergegangen
find. Wie ich glaube, daß es dabei zugehe, will ich num
- darlegen.
35. Wenn die Luft einen großen und leeren Raum in
der Erde angefüllt hat und num anfängt, unruhig zu wers
den und fich nad) einem Ausweg umzufchen : fo ftößt fie öfs
terd an die Seiten an, innerhalb deren fie ftecft, und über
Denen manchmal Städte liegen. Da erfolgt denn bisweilen
eine folcdye Erſchütterung, daß die obenftehenden Gebäude eine
fallen, manchmal in einem folchen Grade, daß die Wände,
welche die ganze Decke der Höhlung tragen, in jenen unten
* Die Inſel Atalante in der Naͤhe von Euboͤa. Das Ereigniß
fallt in dad ſechete Jahr des Peloponneſiſchen Krieges. DI, 88. 3.
Tyucyd. III.,
I.
22) Bergi. Etrabo ). 3. p. 155; Pr feger. oa ge Et
son Siton untergegangen,
Eruera, 118 Bon, | k
4514 Senecas Abhandlungen.
befindlichen Yeeren Raum hinabftürzen, und ganze Städte in
eine unermeßliche Tiefe hinabſinken. — Man behauptet, —
wenn du es glauben willſt, es habe vor Zeiten der Oſſa mit
den Olympus zuſammengehangen, hernach fey er durd) ein
Erdbeben gewichen, und ber einzige gewaltige Berg fey in
zwei heile geriffen worden. Dann habe ſich der Penens
Bahn gemacht , der die Sümpfe, von denen Theffalien be-
ſchwert war, trocden legte, und die Waller, die ohne Abfluß
fumpfartig geflanden waren, mit fidy fortnahm. *) In der
Mitte zwifchen Eis und Megalenopolis **) ift der Fluß La«
don, welcher durch ein Erdbeben entflanden iſt. — Was folk
Das beweifen ? Daß ſich in weiten Höhlen — benn wie fol
idy die leeren Räume unter der Erde anders benennen? —
Luft anſammle. Wenn dieß nicht der Fall wäre, fo müßten
große Länderftredden erfchüttert werden, und viele auf ein«
mal wanten. Nun aber leiden nur Fleine Striche, und ein
Erdbeben erſtreckt fi nie auf zweihundert Meilen. *** Man
bedenke, das nenerliche, das die ganze Welt mit Gerede er«
fuͤllt Hat, ift nicht über Campanien hinaus gegangen. Braudy
*) Vergl. Herobot VIT,, 129. Strabo IX., 5. 2. Theſſalien
iſt von vier oder fuͤnf Bergen eingeſchloſſen, Pellon, Oſſa,
Olympus, Pindus, Othrys. Es gleicht einem Becher, in
welchen von dieſen Bergen aus fünf Fluͤſſe ftrbmen, Veneus,
Apidauus, Onochonus, Enipeus und Pamiſus, welche, feits
dem einmal ein Erdbeben dort war, durch das Thal Tempe
unter dem Namen Peneus vereinigt ins Meer fließen, und
nur zwei See'n zuruͤcklaſſen, Neffonis und Boͤbeis.
“+ In Arcadin. Vergl. Strabo IX., p. 332. — Pauſanias
jagt in feiner Beſchreibung von Griechenland nichtd davon,
"> enm vleizig beutſe Meilen.
j Naturbetrac[htungen. Sechstes Bud. AILE
ich zu erwähnen, daß, während Chaltis *) erbebte, Thebe
fe ftand ? während Aegium **) heimgefucht ward, bas fo
sahe Paträ von dem Erdbeben nur durdy’s Hörenfagen Es
was wußte? Tene ungeheure Erfchütterung, welche die bei«
den Städte Helice und Buris erfchütterte, hörte bieffeins
Aegium auf. Es ift alfo offenbar, die Erfchütterung erſtreckt
fi) nur fo weit, ald der unter der Erde befindliche leere
Raum.
6. ch hätte mid, zum Beweiſe hiefür anf die Anga⸗
ben großer Männer berufen Eönnen, welche melden, Aegyp⸗
ten habe nie von großen Erdbeben gelitten. Als Grund da⸗
son geben fie den Umſtand an, daß es ganz aus Schlamm
aufgeſchwemmt fey. Wenn man nämlic, dem Homer ***) glau⸗
ben darf, fo war Pharus +) von dem feften Lande [ehmats]
fo weit entfernt, als ein Schiff an einem Tage mit vollen Ges
geln fahren kann. Allein fie rückte dem feſten Lande näher. +1)
Der trübfließende Nil nämlich, weldyer viel Schlamm mit
ſich führt, und denſelben manchmal an das frühere Land ane
fegt, hat Aegypten von Jahr zu Jahr wachfen gemacht und
weiter hinausgerüct. Daher ift es von fettem und ſchlam⸗
migem Boden und hat keine Lücke in feinem Innern, fons
dern ift durch den trocdengewordenen Schlamm zu einer feſten
*) Eine Stadt auf der Infel Eubda.
”r, In Achaja am Corinthiſchen Meerbuſen. Patraͤ gleichfalls
in Achaja, den Echinaden gegenuͤber.
2*0) Vergl. OSkyſſee IV., 354 f.
+) Pharus, eine Inſel Hei Aegypten, nahe bei Alexandria, wos
mit fie durch eine Brüde verbunden war. — Den Namen
der Inſel trug auch der beruͤhmte Leuchhoxo halriıtt.
ir) Eigentlich wopl amgetehrt. F .*
4316 Seneca's Abhandlungen.
Maſſe gewachhfen, und der Bau wurde aufeinandergedrückt
und feftauffigend, da die Theile ſich anfeinanderfitteten, und
eö konnte Sein leerer Raum dazwifchen kommen, weil „zu
der feften Diaffe flets eine [anfänglich] flüffige und weiche
kam. — Allein es kommen ſowohl in Aegypten ald auf Des
los Erdbeben vor, wenn ſchon Virgilius haben will, es
fiehe feſt. *) |
„Unerſchuͤttert ftelt’ er’3 zu wohnen, und Sturm zu verachten,“
Don diefer Infel behaupteten auch Philoſophen, das leicht:
Hläubige Völkchen, fie werde nicht erfchättert, und haben
den VPindarus **) zum Gewährsmann. Thuchdides ***) fagt,
vorher fey fie unerfchüttert gewefen, aber um die Zeiten des
Deloponnefifchen Krieges habe ein Erdbeben daſelbſt Statt
gefunden. Gallifthenes führt an, es habe ſich Solches auch
fonft fcyon ereignet. Unter den vielen wunderbaren Erfcheis
nungen, fagt er, durch welche fich der Einſturz von Helice und
Buris ankündigte, waren die merfwürdigften eine ungeheuer
große Fenerfänle und die Erfchütterung von Delod. Und er
. meint, es follte daffelbe aus dem Grunde für unerfchütterlich
gehalten werden, weil ed, im Meere liegend, hohle Felfen
und Geftein mit Durchgängen habe, die der eingenommenen
Vergl. Virgilius in der Aeneide III., 77. Webrigens möchte
diefe Stelle nicht fowohl darauf zu beziehen ſeyn, als ob
Deios Fein Erdbeben habe; fondern auf die Sage, daß biefe
Infel ehemals im Meere herumgeſchwommen fey, von Apollo
aber einen feften Plag zwiſchen ben Cycladiſchen Infeln Gya⸗
rus und Myconus angewiefen erhalten babe.
*) Bei Strabo X., p. 313. und Sragmente IIL, p. 44 ff.
und 162. bei Heyne.
") Zyuspbiöe8 vom Veloponneſiſchen Krieg, I., 8.
Narurbetrachtungen. Sechstes Bud. 1317
Luft doch einen Ausweg geftatten. Deßhalb feyen auch die
Inſeln von zuverläßigern Boden, und die Städte [auf den
Inſeln] um fo ſicherer, je näher fie dem Meere liegen. —
Daß dieß falfch fey, Hat Pompeji und Herculanım empfun-
den.*) Dazu kommt, daß alle Meerestüften den Erdbeben
ausgefest find. So ift Paphos [auf Eyprus) nicht nur eitte
mal zuſammengeſtürzt; fo dag berühmte und an foldyes Uns
glück gewöhnte Nicopolid [in Epirns). CEyprus ift von der
hohen See umgeben, und leidet doch von Erdbeben. **) Und
Tyrus wird auch eben fo von Erdbeben, ald von Webers
fhwemmungen heimgefucht. — '-
Das find nun die Urfachen, die man von ben Erdbeben
anführt.
27. Man erzählt jedoch, es habe fich bei dem Tentem
Campanifchen Erdbeben manches Eigenthümliche gezeigt, wor«
über nun Auskunft gegeben werden fol. Man fagt nämlich,
es fen in der Gegend von Pompeji eine Heerde von ſechs⸗
hundert Schaafen todt niedergefalfen. Man hat feinen Grund,
anzunehmen, es fen dieß den Schaafen aus Angft begegnet.
Wir Haben die Behauptung aufgeftellt, ed pflege nad) gro⸗
gen Erdbeben eine Peſt zu entftehen. Und darüber darf man
fi nicht wundern, denn es ftedt in der Tiere viel tödtli«
der Stoff. Iſt ja gerade die Luft, welche entweder durch
vie Schuld des Bodens oder weil es ihr an Bewegung fehlt,
*) Weiche Stäste zwar nicht anf einer Inſel, aber doch ſehr
nahe am Meere lagen.
») Dieß ift gegen Ariſtoteles, welcher Meteorol. II, 8. Schauns
tet, die Infeln auf der hohen Gere teiven sid In wen Se
beben, wie bie in der Naͤhe der Küften.
2518 Senecas Abhandlungen.
and die, welche in beftändigem Dunkel erftarrt, Denen, die
fie einathmen, gefährlich ; oder wenn fie von dem ungefunten
unterirdifchen Yeuer verdorben, nun nach langem Daliegen
hervortommt, fo verunreinigt und verderbt fie unfere reine
und flüffige Luft, und bringt bei Denen, welche die unge—
wohnte Luft einathmen, fonderbare Arten von Krankheiten
hervor. Sind denn nicht aud die Waffer, die in- der Ziefe
ſtecken, unbrauchbar und ungefund, weil fie nie Etwas
zu thun haben undnie in Thätigkeit verfeht werden, und
nie ein freier Lufthauch fie aufregt. Darum find fie did,
und, von fchwerer und ewiger Finfterniß bededt, haben fie
aur tödtlichen und für unfern Körper nicht paffenden Stoff
in fih. Auch die mit ihnen vermifchte Luft, und die, wel:
che zwifchen jenen Sümpfen liegt, verbreitet, wenn fie her:
aufkommt, ihr Verderben weit umher, und tödtet Die, fo
fie einathmen. — Das empfinden am Teichteften die Thiere,
an welche die Seuche um fo eher zu kommen pflegt, je ges
fräßiger fie find: fie find am meiften unter freiem Himmel,
and genießen am meiften das Waller, was an den Seuchen
doc, am meiften Schuld if. Daß aber die Schaafe mit ihs
rem zarteren Körperbau, befonders weil fie den Kopf fo nahe
an der Erde tragen, davon hHingerafft wurden, fällt mir
nicht auf , da fie den Hauch der unheilvollen Luft ganz in
der Nähe des Bodens einzogen. Diefe hätte auch den Mens
fehen gefchadet, wenn fie in größerer Maſſe ausgeftrömt
wäre; aber fie ift von der Menge der reinen Luft zu nichte
gemacht worden, bevor fie ſich fo weit erhob , daß fie von
#329 Menschen eingeatbmet werden konnte.
Naturbetrachtungen. Sechstes Bud. 41349
28. Daß. aber tie Erde viel tödlichen Stoff habe,
magſt du wohl auch, daraus erkennen, daß fo viele Giftpflans
zen wachfen, nicht mit unferer Nachhülfe, fondern von felbft,
weil nämlic, der Boden Saamen ded Böfen hat, wie des
Guten. — Ta es ift der Sal, daß in mehreren Gegenden
Italiens an manchen Erdöffnungen ein peftartiger Dunft aus⸗
ſtrömt, weldyen einzuathmen weder für Menfchen noch für
Das Vieh ohne Gefahr if. Sogar die Vögel, wenn fie
darein kommen, bevor er durdy eine beflere Luft gemildert
wird, fallen während des Fluges herab, und ihre Körper
werden blau, und der Hals fchwillt auf, als wären fie mit
Bewalt erſtickt worden. Diefe Luft, fo Tange fie in der Erbe
eingeſchloſſen ift, und aus einer fchwachen Deffnung aus⸗
ſtrömt, hat blog die Kraft, daß fie, was hinabfieht und fich
freiwillig hineinbegibt, dahinrafft. Wenn fie dann Sahrhuns
derte lang in def verborgenen Finſterniß und an dem ‚vers
Zümmerten Orte immer verdorbener geworden ift, fo. wird
fie Durch die Länge der Zeit fchwer, und um fo bösartiger,
je unthätiger. Wenn fie einen Ausweg gefunden hat, fo
entbindet fie jenes ewige Uebel einer lichtloſen Kälte und
einer unserirdifchen Nacht, und verunreinigt die Luft unfes
rer Regionen. Denn das Verderbliche wird Herr über des
Beſſere. Alsdann geht auch unfere reinere Luft inZeite
fchädliche über. Daher die plöslichen und unaufhörlichen To⸗
besfälte, und regellos abfcheuliche WUrten von Krankheiten,
weil fie nämlidy aus unerhörten Urfachen entfichen. Kurz
oder lang währet ſolch ein Sterben, je nachdem die verderb⸗
liche Beichaffenheit der Luft mehr oder weniger Keaik Sk.
Und nicht eher hört die-Berpeftung anf, N SW ir ‘Dr
4520 Seneca’s Abhandlungen.
weglichteit der Atmofphäre und der Schwung ber Winde
jene gefährliche Stickluft durchgearbeitet hat.
29. Daß aber Mandye wie toll und befinnungslos bie
Furcht umher treibt, welche die Seele aus der Faflung
bringt, fchon wenn fie Einzelne ergreift und nicht aufferors
dentlidy ift, um fo mehr aber, wenn der Schreden ein allges
meiner ift, und Städte zufammenflürzen und Völker vers
fchüttet werden und die Erde gerüttelt wird, — darf man
fid) denn wundern, wenn Gemüther, die fid unter Jammer
und Angft nicht zu helfen wiffen, in Verwirrung gerathen ?
Es ift nichts Leichtes, unter großer Unglüdsrällen den Vers
fland nicht zu verlieren. Daher kommen in der Regel die
rupigften Naturen in ſolche Angft, daß fie fich nicht mehr
zu Rechte finden. Wenigftend geräth Niemand in Schreden,
ohne einigermußen die Beflinnung zu verlieren, und Wer
ſich fürchtet, ift immer Einen ähnlich, der nicht bei Der
ſtand ift. Allein die Einen kommen von der Furcht fchnell
wieder zu fid) felbft, Andere werden durch dieſelbe heftiger
verwirrt und gerathen in Wahnfinn. Deßhalb Iaufen die
Leute oft unter Kriegesfchrerten wie verrückt umher, und
nirgends findet man mehr Beifpiele von fchwärmerifcher Begeis
flerung, ald wenn Furcht mit Aberglauben untermengt bie
Seelen ergriffen hat. —
Daß eine Bildſaule ſich geſpalten habe, faͤllt mir nicht
auf; ich habe ja fchon erzaͤhlt, Berge haben ſich von Ber⸗
gen getrennt, und der Boden felbft fey von unfen auf ge⸗
. borften.
Diese Blind, einft heftig erfyättert tu fareetgem ufturz
— GBoperiei Wenberung wirtt ba6 lang andauernde
Naturbetrachtungen. Sechstes Buch. 41324
Kböten ſich, gehet bie Gag’, da beide Ränder zuvor ſtets
Eines gewefen; daB maͤchtige Meer drang her, und die Waffer
Riſſen Hefperia weg von Sicilien, — Auen und Staͤdte
Trennt ein Ufer, und eng dazwifchen ftrbmet die Meerfluth. )
Du fiehft,_ daß ganze Gegenden von ihrem Plage weggerifs
fen werden, und was aneinander gelegen war , drüben über
dem Meer liegt; du fichft, es Eommt aud) vor, daß Städte
und Nationen getrennt werden, wenn ein Theil der Natur
gegen fich ferbft in Aufruhr gerathen ift, oder Meer oder
Teuer oder Luft irgendwo anpralit, und es hat das Alles,
wie ein Theil vom Ganzen, eine erflaunliche Gewalt. Denn
obwohldes nur einem Theile nach wüthet, ed tobt eben doc)
mit Weltkräften. So hat das Meer auch Hifpanien aus der
Verbindung mit Africa herausgeriffen. Und fo ift durd) jene
Ueberſchwemmung, von der die größten Dichter fingen, Si⸗
cilien von Italien abgefchnitten worden. Und was ganz von
der Tiefe herauffommt, hat wohl noch Etwas mehr Gewalt.
Denn indem es ſich durch enge Räume Hindurchfämpfen muß,
wird Altes heftiger. Was für mächtige Wirkungen und was
für fonderbare Erſcheinungen diefe Erderfchütterungen here
. vorgebracyt haben, ift zur Genüge dargethan worden.
530. Warum follte man nun noch darüber fonderlich bes
troffen feyn, daß das Erz einer einzigen Bildfäule, das nicht
einmal maſſiv, fondern Hohl und dünn war, geborften ift; da
ſich vielleicht in baffelbe eine Luft einfchloß, die irgendwo
*%) Berge. Virairs Aeneis III., 414 — 419, wo davon die Rebe
it, daß Italien und BSicitien ehemals zufammenhieng mb
heise Ränder erft durch ein Erdbbeben von eimamıer aexiTea
wurben.
4322 Sexueras Abhandlungen.
durchzukommen fuchte? Und Wer weiß Das nicht, dab man
bisweilen wahrnimmt, wie Gebäude, die ihre winkelrechte
Stellung verloren haben, durch die Erfchitterung wieder in
die rechte Lage Fommen ? Manche aber, die ungeſchickt anges
Legt und von den Baulenteu nacläßig und unfeft zufemmens
gefest find, hat öfters Erfchütterung eines Erdbebens in die
Fugeun gebracht. Und wenn ed ganze Wände und ganze Häus
fer fpaltet, und die maffiven Seiten großer Thürme zerreißt,
und Pfeiler umwirft, welche Bauwerke fügen, warum
follte man es denn nur des Aufzeichnens werth halten, daß
eine Bildfänle von unten bie zum Kopfe in zwei gleiche Hälfs
ten zerfprungen fey? — Warum dauerte aber das Erdbeben
mehrere Tage lang? Denn Sampanien hörte nicht auf, beftäns
Dig zu erbeben, zwar gemäßigfer, aber zu ungeheurem Scha=
den, weil es an Gegenftänden, die fchon gedrückt und gerüttelt
waren, wieder Rütteln verurfachte und diefe, welche fchon
fchfecht flanden , nicht einen Anftoß, foudern nurseine Uns
ruhe brauchten, um über den Haufen zu fallen. Es war
nämlich noch nicht alle Luft heraus, fondern fie fchweifte
noch umher, obwohl ihr größerer heil fid) davon gemacht
hatte.
31. Unter den Beweiſen, die man dafür anführt, daß
das Erdbeben durch die Luft bewirkt werde, darf man ohne
Anſtand auch folgenden vorbringen. Wenn ein”fehr großes
Erdbeben geweſen iſt, wobei es Staͤdten und Ländern hart
ssping, So kann demfelben nicht alsbald ein anderes eben ſo
Seftiges folgen, ſonderu nady einer fehr großen Erfchütter
wg Zommen nur unbebeutenre Stöße, weil jene wit au
” Iewait den Eämpfenden Binden einen Yutweg win
Naturbetrachtungen. Sechstes Bud. 4325
hat. Die Refte der alsdann noch gebliebenen Luft haben
nicht mehr die Kraft, und es braucht bei ihnen feinen Kampf,
fie haben ja ſchon einen Weg gefunden, und folgen auf dems
ſelben nach, auf welchen die erfte und größte Maffe bins
ausging. — Auch Das halte id, für merkwürdig, was ein
fehr unterrichteter und bedeutender Mann beobachtete, er
war nämlich bei jenem Ereigniß gerade im Bad. Er vers
fiherte, er babe im Bad wahrgenommen , wie die Steins
chen, mit welchen der [Moſaik⸗] Boden eingelegt war, fich
Eins vom Andern Iosmachten und wieder zufammenfügten ;
und wie das Waller, je nachdem der Fußboden fid) öffnete
oder zufammenging, bald in die Fugen einfiderte, bald Bla⸗
fen trieb und hervorguoll. Eben Denfelben habe id) erzaͤh⸗
fen hören, er habe bemerkt, Daß weiche Stoffe gelinder aber
häufiger zittern, als foldhe, die von Natur hart find. —
32. Sp viel, mein befter Zucilius, in Betreff der Ur⸗
ſachen. Nun aber Dad, was zur Beruhigung der Gemüther
dienen mag, denn ed liegt und doc; mehr daran, Daß man
Stärke der Seele, als dag man Einficht gewinne. Doch es
kann das Eine nicht Fommen ohne das Andere. Denn nirs
gend anderswoher gewinnt die Seele Stärke, ald vou dev
edein Miffenfchaft, als von der Betrachtung der Natur.
Denn Wen follte nicht gerade fold ein Unfall gegen Alle
flärken und erheben? Was fol ich denn noch einen Meits
ſchen fürchten oder ein reißended Thier, oder einen Pfeil
oder Speer? Es gibt größere Gefahren, die Ih nm ar.
ten habe. — Blipfirahlen und (einftürgenbe\ Tuer WS
große Städe von der ganzen Natur find wert Sm
Dasum mit bobem Mutbe müflen voir den AM wu
1524 Seneca’s Abhandlungen.
dern, mag er geradezu und mit gewaltigem Angriff auf ung
losgehen, oder auf feine alltägliche und allgemeine Weife;
es ift gleichgüftig, wie drohend er Fonıme, und wie groß
Das fey, was er über ung herführt: Was er von uns will,
ift eine Kleinigkeit. Das wird der Jahre Zahl ung entreie
gen, Das ein Schmerz im Ohr, Das ein zu großer Vors
rath verdorbener Säfte in unferem Innern, Das eine Speife
die dem Magen nicht zufagen will oder ein leichter Stoß an
den Fuß. — Eine Kleinigkeit ift des Menfchen Lebenshauch,
aber etwas erhaben Großes die Verachtung dieſes Hauches.
er diefen verachtet, wird ruhig die Meere toben fehen,
und wenn auc alle Etürme darauf los geworden wären, und
wenn auch die Fluth in einer Art von Weltverwirrung den
: ganzen Drean in die Länder hineintriebe. — Sorglos wird
| er des biigenden Himmels wilden und fchauerlichden Anblick
fehen; mag der Himmel trachen, und feine Feuerflammen
aufammenwerfen, um Alles zu Grunde zu richten und zu=
vörderft ihn. Gorglos wird er anf die geborftenen Fugen
und den gähnenden Boden hinfhanen. Mögen jene Reiche
der Unterwelt fich aufthun: flehen wird er ohne Zagen über
biefem Abgrund, und vielleicht hinabfpringen, wo er hin⸗
ab t ü r z'en müßte. Was geht ed mich an, wie groß Das
ſey, was mir den Untergang bringe. Iſt doch der Unter⸗
| gang felber Nichts Großes. — Und wollen wir alücklich ſeyn,
wollen wir weder von der Furcht vor Menfchen, noch vor
&Spttern, noch vor Ereigniffen gequält feyn, wollen wir auf
249 OrAd mit feinen Berheiffungen unndthiger Dinge, mit
Flag Aeinlichen Droßungen hody herabiehen , willen wir
9 Feben und mit den Böttern fetot an Btüriehstet
Naturbetrachtungen. Sechstes Bud. 1325
wetteifern , fo müffen wir diefen Lebenshauch in Bereitfchaft
Halten. — Mag dieſen ein tüdifcher Geguer erhafchen wols
Ien, oder eine Krankheit, oder des Feindes Schwert, oder
das Krachen flürzender Infeln, oder der Untergang ber Erbe
feibft, oder die ungeheure Feuermaſſe, weiche Städte und
Land gleich verheerend frißt, fey ed was es wolle, —
er ift zu haben. Was habe ich anderes zu thun, als daß
ich den fcheidenden ermahne und mit guten Wünfchen ents
laſſe: „‚zeuch hin mit Muth, zeuch hin mit Glück!“ — Bes
finne dich doch nicht, ihn heimzugeben. Es handelt fid) nicht
um die Sache, nur um die Zeit. Du thufl, was du doch
irgend einmal thun mußt. Bitte dody nicht, fürchte doc
nicht, zieh? dich doch nicht zurück, als gingeft du einem Uns
glück entgegegen. Deine Erzeugerin, Natur, harret bein,
und eine beffere, gefahrlofere Heimath. Dort beben die Läns
der nicht mehr, und nicht mehr floßen Winde mit mächtigem
Wolkendonner auf einander, da verwüften Feine Feuerflam⸗
men Gegenden und Städte, da ift Fein Schiffbruch zu fürch⸗
ten, der ganze Flotten hinabſchlingt, keine Waffenſchaaren
laſſen die Fahnen feindlich gegen einander wehen, nicht wetts
eifert der Wahnfinn im Wechfelmord vieler Tauſende, da ift
feine Peſt, da find Feine in allgemeiner Verwirrung breis
nende , für untergehende Völker zufammen lodernde Scheis
terhaufen. Iſt's Teiche: was fürchten wir's? Ss ſchwer:
lieber komm' es einmal, als daß es immer bevorftehe. — Ich
folite mich aber fürchfen, unterzugehen, wenn Wie Exue wur
wir untergehf, wenn Das zerfchmettert wird , WA WNb ET
fihmettert, und uns Nicyts thun kann, ohne daR
aber? Ganz Helice und Buris ift iws Merr —RB
1326 ‚Senerns Abhanbeunger.
and id) follte um mein einzig Körperchen in Furcht feyn ?
Ueber zwei Städte fegelt man weg, — zwei find’s freilich
nar , wovon wir wiffen, und fehriftfich aufbewahrte Kunde
baden. Uber wie viele andere find wohl an andern Orten
verfunten? Wie viele Voͤlker hat entweder die Erde oder
das Meer in feinen Schoos verfchloffen? Ich follte mich weis
gern, zu enden, ba ich doch weiß, daß es ein Ende mit mir
nehmen muß? ja weiß, dag Alles endlich ift ? Ich follte den
letzten Athemaufzug fürdten? — Darum, mein Luciliug,
ermuthige dich, fo viel du kannſt, gegen die Furcht des To⸗
des. Diefe ifl’d, was und niedrig macht; dieſe iſt's, welche
derade das Leben, mit dem fie fo karg thut, beunruhigt nnd
verfchwendet. Diefe macht Alles größer, Erdbeben und Blitze.
Das Alles wirft du aber ſtandhaft ertragen, wenn du bes
denkſt, daß Nichts daran liege, ob die Zeit kurz oder lang
ſey. Stunden ſindes, die wir verlieren; nimm an, es feyen
Tage, nimm an, es feyen Monden, nimm an, es feyen
Jahre, — mir verlieren eben Etwas, das doc, vergehen
müßte. — Was Tiegt denn, ich bitte dich, daran, ob wir
jest dazu kommen. Hin geht die Seit, und verläßt ung,
wir mögen noch fo fehr um fie geizen. Meder die Bünftige
iſt mein, noch die vergangene. Sch fchwebe auf einem Punkt
der fliehenden Zeit, und Größe iſt's, genügfam zu feyn. Als
Einen fagte: ich habe meine fechzig Jahre, — erwiederte
ihm trefflich der weife Lälius: *) du meinft wohl die ſech⸗
*) Eajus Laͤlius, ein Sohn besjenigen Sajus Laͤlius, der ein
Kriegägenoffe bed Altern Gciplo Africanus war, Vergl. Cic,
de amicitia, 3, de Offic. IL, 11. Ul., 4.
Naturbetracheungen. Gechstes Buch. 4837
zig, bie du nicht mehr haſt? — Nicht einmal daran erken⸗
nen wir die Befchaffenheit unfers nie feflzuhaltenden Lebens
und die Natur der uns nie angehörenden Zeit, daß wir nur
nad) verlornen Jahren zählen können ? Das wollen wir und
in’s Herz prägen, das wollen wir uns immer wiederholen:
geftorben muß es ſeyn. — Wann? — Was liegt daran? —
Der od ift Nasurgefeh, der Tod ift der Tribut und bie
Pflicht der Sterblichen und das Heilmittel gesen alle Leber.
Wünfchen muß ihn, auch Wer ihn fürchtet. Laß alles ges
ben, und bente, mein Lueilins, nur auf das Eine, daß
Dir vor dem Wort „Tod“ nicht graue; mache bir ihn das
durch vertraut, daß du viel an ihn denkt, damit bu, wenn
ed nun feyn muß, ihm ſogar entgegen gehen kannſt.
Inhalt des fiebenten Buchs.
Ray. ı — 3. Gleichguͤltigkeit der Menfchen gegen bad Große und
Herrliche, was fie täglich und nach dem gewoͤhnlichen Verlauf
am Himmel fehen; Bewunderung bed Ungewörnlicden, fo
auch der Eometen. — Wichtigkeit der Nachforſchung über
das Weſen der Geftirne Überhaupt, ob fie Slammen und feus
riae Scheiben feyen, ober maffige, erbartige Körper, bie ihr
Licht anderswoher erhalten. Ob bie Someten von berfeiden
Beichaffenheit feyen, wie die Himmeldtdrper? Ihre Aehnlich⸗
teir mit diefen. — Ob der Himmel fiy umbdrehe, ober bie
Erde? Nothwendigkeit der Beobachtung mehrerer Cometener⸗
fgeinungen. Anfichten Älterer Ppilofophen und Aftrunomen,
Kap. k — 10. Des Epigened Anſicht über die Entfiehung einis
ger Meteore, unter welde er, mebft Andern, bie Cometen
rechnet; er nimmt zweierlei Arten vom Eometen an, foldye,
die inte Gluth nach allen Seiten und foldye , die diejelbe, wie
einen Schweif, nur nad einer Eeite hin ausfirdmen. Die
erftern eutſtehen aus ven naͤmlichen Urſachen, wie bie Him⸗
melsfackeln und Feuerbalten, aus einem Wirbelmind. Wider⸗
Yenung. Auch bie letztern erklärt er aus Erdduͤnſten und
Winden. MWiberlegung.
Kay. sı — 16. Aeitere Erflärungsarten ber Entftchung der Cos
meten, 3. B., daß zwei fih am einander anhängende ober
auch nur ſich einander annähernde Srrfterne durch ihr zuſam⸗
snenfleßerbes Licht einen verlängerten Etern bilden. Wider⸗
T—— — —
Inhalt des ſiebenten Buchs. 1529
legung. Irrthuͤmer des Artemiborus, usb deren Wiberlegung,
Zweifel an. ber Richtigkeit hiſtoriſcher Angaben, namentlich
des Epherus.
Kap. ı7 — 18. Anſicht des Apollonius Mynbius, daß
manche Eometen Irrſterne ſeyen, eigene Seſtirne, wie Sonne
und Mond; — übrigens gebe es verſchiedene, unaͤhnlich am
Größe und Farbe. Wiberlegung.
Ray. 19 — 35. Zeno's Anſicht [ähnlich der des Epigenes]. und
anderer Stoiter, wornad die Eometen gleich Meteoren in
dichter Luft erzeugt werben. Widerlegung. *) Die Eometen
gehören zu den ewigen Werten ber Natur, und find nicht
blos augenblickliche Feuererſchelnungen. Gründe dafür. Es
komme darauf an, ob nicht die Cometen Planeten ſeyen, obgleich
man bis jegt nur fünf Dianeren kenne. Manches ift noch
nicht beobachtet, und Manches ifl, wovon man behauptet,
daß es fey, ohne zu willen, wie es ſey. Es ift no
Manches zu erforfchen und auszumitteln.
Kay. 36 — 37. Warum manche Himmelstörper eine ruͤckgaͤngige
Bervegung zu machen fcheinen? Warum man dur die Comes
ten durchfehen Tonne, wenn fie body Sterne fegen? — Beants
wortung biefer Einwuͤrfe. Daß der Cometentörper nicht längs
Ucht fondern rund fey; Ungleichheit des Limits verfchierener
Geftirne, Die Natur Tiebt Abwechslung in allen ıhren Bils
dungen, '
Kap. 28 — 29. Was die Eometen andeuten in Beziehung anf
Witterungslauf und Nlaturereigniffe. — Ob der Lauf der Eos
meten langſam fey, und ſchwere Beftandtheile von Erdſtoff vers
rathe? Ds fie in ihrem Kauf die Ricytung apwärtd nehmen ? —
Kay. 30. Schluß. Daß man bei folmen Unterfuchungen ſich keine
anmaßenden Urtheile erlauben ſolte. So tief liegende Dinge
onnen nur langfam ausgemitteit werten. Den Sierslichen
bleist Manches verborgen. Es iſt nıcht Alles für fie geſchaf⸗
*) Seneca weicht in dieſer Sache von ben Philoſophen feiner
Schule ab,
Seneca. 118 Bochn. 2
|
Ei
RT
Li
keit
—
Hrkaer
Siebentes Bud.
Bor den Eometen.
2. Es ia wohl Niemand fo geiſtlos und ſtumpfſinni g
und am der Erde Haftend, daß er ſich nicht zur Hinmelswelt
erhube und mit ganzer Geele aufraffte, zumal wenn eine uns
gewdhuliche, wundervolle Erfcheinung am SHititmel zu fehen
iſt. So fange freilich Alles feinen gewohnten Verlauf hat,
verliert das Große der reigniffe durch die Gewohnheit;
bein das iſt unfere Natur, daB das Autagliche, mag es auch
oc fo bewunbernömärdig ſehn, Lunbealhfit] an uns vor«
Wbergeht, die anbedeutenditen Erſcheinungen dagegen, men
te nur nicht gewöhnlich find, und ein anziehentes Schaus
(bier gewähren. Und fo bringt jene Schaar von Geflirnen, .
Die det unermeßlicyen Himmelsbau fo herrlich ſchmucken, Bein
Sefammentaufen der Sente hervor. Aber wenn an dem gewohn ·
Naturbetrachtungen. Siebentes Bud. 4331
sen Sana etwas verändert ift, da gafft Alles den Himmel
au. — Die Sonne fieht kein Menfch an, es fey denn, daß
de verinftert ift. . Den Mond beobachtet keine Seele, aufler
wenn er verdunkelt iſt. Daun erheben ganze Städte ein
Geſchrei, und es zittert jeder Einzelne in aberglänbifcher
Goͤtterfurcht. — Aber. wie viel wichtiger iſts doch, daß hie
‚Senne, wenn id fo fagen darf, eben fo viel Schriste macht,
als Tage, und den Jahresfreis mit ihrem Umlauf fchliekt,
daß fie vom [Sommer] Sonnenfliliftand an fi zur Wer
kür zung: der Tage wendet, dag fie vom Sonnenftiliflaud in ih:
ver Stellung ſich abwärts neigt und den Mächten Zuwachs
geſtattet, daß fie die Sterne verbirgt, daß fie, - obwohl fie
um gar Bieles größer ift, als die Erde, diefe doch nicht
derbreunt, fondern nur erwärmt, indem fie ihre Wärme nach
höhern pder geringern Graden mäßist, und daß fie ten Mond
nie voll oder verduntelt zeigt, auffer wenn er ihr gerade ge⸗
genüber ſteht. — Doch das beachtet man nicht, fo auge es
regelmäßig geht. Tritt aber eine Unregelmäßigkeit ein, oder
täßt ſich etwas Ungewöhnſliches fehen, da iſt's ein Gaffen,
ein Fragen, ein Hinaufzeigen! So fehr liegt's in unferer
Natur, mehr dad Ungewohnte anzuflaunen, als das Große.
Das ift denn auch der Yal bei den Eometen. Wenn eine
ſolche feltene und ungewohnt geſtaltete Feuererſcheinung ſich
zeigt, da will Jedermann wiſſen, was denn Das ſey, und
alles Andere vergeſſend, fragt man nur nad) dem neuen Gaſt,
und weiß nicht, fol man ihn bewundern oder fürchten. Deun
es gibt fchon Leute, die einen Lärm machen und wichtige
Mruphezeihungen daraus verkündigen. Deßhalb forſcht was
n*
4332 Senecas Abhandlungen.
denn, und möchte wiffen, ch es ein Wunderzeichen fey, oder
ein Geftirn. Und wahrlih, man kann nichts Herrlicheres
unterfuchen,, und nichts Nützlicheres lernen, als die Natur
der Himmelskärper und Geſtirne, ob ſie eine zufammenge:
drängte Flamme feyen, was theild unfer Auge beftätigt,
theils eben das von andern geborgte Licht (gewiſſer Körper),
theils die von ihnen ausgehende Wärme; oder ob es Feine
feurigen Scheiben find, fondern eine Art von maffigen, erd>
ähnlichen Körpern, welche, durch feurige Bahnen rollend,
von Diefen ifren Glanz und ihre Farbe haben, vhne von
fich ferbft Hell zu feyn. Diefer Meinung waren große Mäns
ner, welche die Geſtirne für Körper hielten, die aus harter
Maife beftärden und fremdes Licht genößen. Denn eine
Flamme an und für fih, fagen fie, würde zerfließen, wenn
fie nicht Etwas hätte, das fie hielte und wovon fie gehals
ten würde, und wäre fie nur ein fenriger Klumpen und nicht
m einem feften Körper verwahrt, fo hätte der Himmel in
feinem Umfchwung fie gewiß Tänaft auseinander fahren laſſen. —
2». Um dem auf die Spur zu kommen, wird cd zweck⸗
mäßig feyn, zu unterfuchen, ob die Eometen von derfelben
Befchaffenheit feyen, wie die Himmelskörper. Sie fdheinen
nämlich Einiges mit denfelben gemein zu haben, den Auf:
gang und Niedergang, ja ſogar, odfchon fie nicht fo zuſam⸗
mengedrängt find, und einen fangen Schweif haben, das
Ausſehen. Sie find ja auch feurig und glänzend. Wenn af:
fo jene erdartige Körper find, fo werden’d wahl diefe auch
feyn. Sind fie aber nichts Unteres, denn ein reines ‘Feuer,
and bleiben fie ihre ſechs Monden lang ftehen, ohne daß die
Ampreßung und foynelle Bewegung des Himmels ihnen ihr
r
Naturbetrachtungen. Siebentes Buch. 1333
Beſtehen nimmt, ſo koͤnnen auch ſie aus ſo feinem Stoffe
beſtehen, ohne daß der beſtändige Umſchwung des Himmels
fie auseinander rüttelt. Zu dieſem Zweck wird es auch er⸗
forderlich ſeyn, daß man darüber in’d Reine komme, ob der
Himmel fidy umdrche und die Erde ſtehen bleibe, oder ob
die Erde ſich drehe, während der Himmel ftehen bleibt.
Manche haben nämlicd, behauptet, wir feyen es, die da, ohne
es zu wiffen, von der Natur [im Kreiſe herum) getragen
werden , und der Aufgang und Niedergang [der Sonne und
der Geftiene) komme nicht von der Bewegung des Himmels,
wir felber gehen auf und unter. *) Die Sadre verdient ers
wogen zu. werden, damit man doc, aud) weiß, woran wir
find, ob wir einen ganz ruhigen, oder einen fehr vafch bes
weglihen Wohnfis haben, ob die Gottheit Alles um uns
her, oder ob fie uns herum freibt. — Nöthig aber ift, daß
man die Eometen : Erfcheinungen von frühern Zeiten her ges
fammelt habe. Denn bis jetzt kann wegen ihrer Seltenheit
ihr Lauf noch nicht beftimmt und ausgemittelt werden, ob fie
einen Wechfel beobachten und eine beitimmte Ordnung fie
erıf die beftimmte Seit hervorführe. Es ift dieß eine neue
aftronomifche Beobachtung , und die erft neuerdings in Grie⸗
chenland eingeführt wurde.
5. Auch Democritus., ber feinfte Zorfcher unter: allen
ten, fpricht die Wermuthung aus, ed gebe mehrere Sterne,
weiche laufen; aber er hat weder die Zahl derfelben, noch
ihre Namen angegeben, und man wußte [zu feiner Zeit] noch
©, Pythagoras und die Pothagorder gingen in Aeler Ca
dem Nicolaus Copernicus voran. Berl, TI Ba Ex
srappie der Alten. I., p. kız fs
| 4534 Seneca’s Abhandlungen.
i i Nichte von den Bahnen der fünf Geſtirne [Planeten]. En⸗
Borus *) war ed, der zuerft diefe Bewegung von Aegypten
her in Griechenland befannt machte. Diefer fagt jedoch Nichte
‚ son den Cometen. Woraus erhelfet, daß auch bei ben Aes
gyptern, die ſich doc, fo vorzüglich mit Aſtronomie beſchäf⸗
. tigten , diefed Fady nicht bearbeitet war. In fpäterer Zeit
hat Eonon, **) ebenfalls ein genauer Forfcher, zwar die von
den Aegyptern beobachteten Sonnenfinfterniffe zufammenges
ſtellt, aber der Eometen nicht erwähnt, und er häfte ed ge=
wiß nicht übergangen, wenn er fichere Nefultate von For⸗
fhungen hierüber bei ihnen vorgefunden hätte. Uebrigens
find auch zween Männer, ***) die bei den Chalddern gelernt zu
haben behaupten, mit einander uneinig, Epigened und Apol⸗
fonins Myndius, letzterer ein befonderd gefchickter Nativitäts
ftelfer. Diefer naͤmlich behauptet, die Eometen werden von
den Chalddern zu den Planeten gerechnet und man kenne
ihre Bahnen. Epigenes dagegen fagt, die Chaldäer wüßten
Aber die Cometen nichts Beſtimmtes, und es fcheine, daß
dieſelben durch eine Art von Wirbelwind in aufgeregter und
im Schwingung verfester Zuft ſich entzünden.
4. Zuvörderſt wollen wir nun feine Anſichten aufftellen
und widerlegen. Den meiften Einfluß auf alle Bewegungen
m der obern Region fdjeint ihm der Stern des Saturnus
. *) Euborus aus Enidus in Earien, Piato’3 Zuhbrer und deffen
Begleiter auf ber Reife nach Aegypten. 360. v. Chr.
*) Sonn aus Samos, ein berühmter Mathematiter, welcher
e zu Alexandria lebte, um's Jahr 253 vor Er,
"> GErigeued uud Npolionius von Myndos waren Beilgenoffen
Orsseca’b.
Naturbetrachtungen. Siebentes Bud. 4555
zu haben. Diefer, wein er an die dem Mars zunächft fies
henden Sternbitder ftreift, oder in die Nachbarſchaft des
Mondes tritt, oder in die Strahlen der Sonne hineinfällt,
fo zieht er, da er von Natur windie und froflig iſt, an meh:
zern Stellen die Luft zufammen und ballt fie zu einer Ka⸗
ge. Sodann, wenn er die Strahlen der Soune angenom⸗
men hat, donnert und blipt ee. Und wenn fih and) der
Mars mit ihm vereinigt, fo fchlägt er ein. Ueberdieß, ſagt
er, huben die Donnerkeile einen andern Stoff, als die Bliss
erfcheinungen. Naͤmlich die Austänflung der Gewäfler und
altes feuchten Stoffes bringe nur Glanzerfcheinungen am
Simmel hervor , welche fchreden ohne einzuſchlagen; hinge⸗
gen jener wärmere und trocdenere Aushauch der Erde macht
Die einfchlagenden Blige. Die Feuerbalten und Himmels⸗
fadein aber , welche ſich nur durch die Größe von einander
unterscheiden, entftehen auf folgende Weile. — Wenn irgend
eine Zufammenbalfung von Luft, die wir Wirbelwind neu⸗
zen, feuchten und erdigen Stoff in ſich verfchließt, fo fieht
fie, wohin fie auch laufen mag, wie ein geſtrecktes Feuer
aus, und zwar fo lange, als jene Zuſammenhäufung von
Luft dauert, welche eine Menge feuchten und erdigen Gtofs
fes in (ich führt.
&. Um bei der zuletzt erwähnten Unrichtigkeit anzufau⸗
gen, to if es falfch, daß die Himmeldfadeln und Feuerbal⸗
den durch einen Wirbelwind zum Dorfchein kommen. Der
Wirbelwind ensfieht und acht ja in der Nähe der Erbe.
Deshalb reißt er Bäume mit der Wurzel aus, und wo er
fi, hinwirft, entbläst er den Boden, Wälder uni Kiuier
reißt er manchmal wieder, amd if in der Dirgel wer
"4556 Seneca’s Abhandlungen.
Wolken, in feinem Fall aber höher, als fie. Die Feuerbal⸗
"Sen hingegen laffen ficdh in der Göhern Region des Himmels
fehen. Auf diefe Weile ftehen fle nie den Wolken entgegen.
Weberdieß rafet der Wicbelwind ſchneller fort, als jede
Wolke, und dreht fid im Kreife herum. Zudem hört er
ſchnell auf und zerreißt ſich felbft durch feine eigene Kraft.
Die Feuerbalken aber fdhießen und fliegen nicht vorüber,
wie die Himmelsfadeln, fondern verweilen fich, und ſcheinen
nur auf einer Seite des Himmeld. Auch Eharimander *) in
feinem Buch über die Eometen erzählt, Anaragoras habe am
Himmel ein gewaltiges und ungewöhnliches Licht von ber
Größe eines tüchtigen Balkens gefehen,, und das habe viele
Zage lang geleuchtet. Eine folche Tänglichte Feuergeftalt,
‚meldet Calliſthenes, habe ſich fehen laſſen, ehe Buris und
SHelice vom Meere verfchlungen wurden. Ariſtoteles behaup⸗
tet, das fey kein Fenerbalken, fondern ein Comet gewefen ;
Übrigens wegen der gar großen. Glut habe es fich nicht als
ein auseinander Ianfendes Licht [wie im Schweife der Eomes
ten) gezeigt, aber im Verlauf der Zeit, als es nicht mehr
fo heftig brannte, habe es wieder wie ein Comet ausgefehen.
Bei diefer Yeuererfcheinung war viel Merkwärdiges wahr zus
nehmen, — doc, das Wichtigfte ift, daß, als fie am Him⸗
mel erfchien,, fogleih Buris und Heliee vom Deere bed eckt
wurden. Hat nun aber Ariftoteles nicht nur jene Erfcheinung,
fondern alte Fenerbalken für Eometen gehalten ? Er macht
die Unterfcheidung, daß diefe ein zuſammenhaͤngendes Teuer
a a a a a
2 MU Ssmau Deiamest ; in jehems Sal nach Weiftoteles,
Naturbetrachtungen. Siebentes Bud. 1357
haben, die andern Erfcheinungen aber ein flackerndes. Die
Fenerbalken haben freilich eine gleichmäßige Flamme, bie
nirgends unterbrochen .oder matt ift, au den dußerften Theis
fen aber sufammengedrängt ‚, wie nad Calliſthenes die eben
erwähnte war.
"6. Es gibt, ſagt Epigenes , zwei Arten von Cometen.
Die einen flrömen ihre Glut nad allen Seiten hin aus, unb
verändern ihre Stelle nicht ; Die andern verbreiten ein unfläs
tes Zener, wie einen Schweif , auf eine Seite hin, und ges
ben an den Sternen vorüber, wie zu unfern Zeiten zween
bemerkt wurden. Jene erften,, die nach allen Seiten hin ei⸗
nen Bart haben und unbeweglich find, ftehen. in «der Regel
niedrig, .und erzeugen ſich durch die nämlichen Urfachen, wie
die Feuerbatten und Himmelsfadeln, nämlich aus einer uns
geſtümmen und in Unruhe gerashenen Luft, welche viel aus
der Erde ausgehauchten dürren uud feuchten Stoff bin und ber
kehrt. Es kann ja ein Luftzug , der fi durch einen engen
NRaum binausgezwängt hat, die über ihm liegende Luft ent⸗
zänden, wenn fle mit Nahrungsftoff für das Feuer angefüllt
ik , dennoch, Bann er fie von der erleuchteten Stelle fo wei⸗
ter treiben, daß fie auf Beinen Fall wieder zürädktrömen und
wiedertommen kann; fodann kann es ſich am näcflen und
den folgenden Zagen abermals erheben und den nämlichen
Streifen wieder entzünden. Nehmen wir doch wahr, daß
Winde mehrere Tage nacheinander regelmäßig wieberfchren.
Auch Regen uud andere Witterungserfeheinungen kommen
wie vorausberechnet wieber. Um aber feine Anſicht kug
anszubrüden , er if der Meinung, viele Exuarten weile.
eigenttich. auf Die nämlidye Weile , wie dir ah WR
1858 Seneca’s Abhandlungen.
wind herportretenden euer. Der Unterfchied ift nur der,
dan jene Wirbeiminde von oben her gegen die Erde herabge-
drüdt werden, diefe [Eometen) aber fid) von der Erde in
die höhere Region erheben.
7. Dagegen hat man Dieles einzuwenden. Für's Er:
fie: wenn ein Wind Schuld wäre, fo würde niemals ein
Eomet ohne Wind erfcheinen. Nun aber erfcheint er auch
bei der ruhigften Luft. Sodann: wenn er durch einen Wind
. entftünde, fo würde er auch mit dem Wind nachlaffen; und
finge er durd) den Wind an, fo würde er mit dem Wind
wachen, und wäre um fo feuriger,, je heftiger diefer wehte.
Dazu komme noc der Umftand : Der Wind berührt viele
Seiten der Luft, der Comet erfcheint nur an einer Stelle;
der Wind komme nicht hoch Hinauf, die Eometen aber fieht
man höher , ale die Winde gehen können. —-
Darauf geht er zu denjenigen [&ometen] über, von des
nen er fagt, fie haben mehr das eigentliche Ausfehen eines
Sterne, und die ſich bewegen und an den Sternbildern vor:
übergehen. Und diefe, hehanptet er, entitehen auch aus den⸗
felben Urſachen, wie die, welche er die niedrigerftcehenden
nannte, der Unterſchied ſey nur der, daß die Erddünfte, wel⸗
he viel dürren Stoff bei fi) führen, höher hinauf wollen,
und in die erhabenern Himmelsregionen durch den Nordwind
binaufgetrieben werden. — Dagegen ift nur zu bemerten,
wenn der Nordwind fie triebe, fo müßten fie flets gegen
Mittag laufen, wohin ja diefer Wind feine Richtung hat.
. Wein fie laufen in verfchiedenen Richtungen, die einen ges
sen Potgen, bie andern gegen Abend, alle aber in Krüme
eo, und einen foichen Weg würde ihnen der Wind
Naturbetrachtimgen. Siebentes Bud. 13.
nicht anmeifen. Ferner: wenn jene Rordwinte durch d
Zug von der Erde nad) Oben gehoben würden, fo wärdı
bei andern Winten Beine Eometen entfichen. Aber es en.
ftehen doch welche.
8. Wir wollen nun feinen erften Grund — er bedient fid
ja beider, — widerlegen. Aüles, was die Erde von feuchten
und trocknem Stoff aushaucht, das gibt, wenn es fich Zn:
fammengemacht hat, vermöge der widerfirebenden Natur dies
fer Stoffe, der Luft die Richtung, daß fie fich in einem
Wirbel herumdreht. Jene Gewalt des ſich herumdrehenden
Windes ſodann entzündet durch ihren Lauf, was fie in fi
hinein vafft, und hebt 88 in die Höhe: und von dem durch
den Druck entflandenen Feuer bleibt fo lange ein Schein,
als es nicht an nährendem Stoff fehlt; hört. diefer auf, ſo
verliert fich auch der Schein. — Wenn er dieß fagt, fo
denft er nicht daran, was die Wirbelwinde für einen Lauf
haben, und was für einen die Cometen. Gene haben einen
Kürmifdyen und heftigen Lauf, noch rafcher als die eigente
tihen Winde; der Lauf der Enmeten ift fanft, und es if
sumerklich, wie weit fie im Verlauf eined Tages und einer
Racht gekommen find. Ferner ift die Bewegung der Wir⸗
belwinde unftät und nicht zufammengehaften, und, wenn ich
mic, eines Ausdrucdes des Salluſtius bedienen darf, ſtrudel⸗
artig; die der Emmeten aber ift regelmäßig, und auf der
beſtimmten Bahn fortfchreitend. — Möchte wohl Jemand
unter und glauben, daß der Miond oder die fünf Geſtirne
[Mameten] vom Winde fortgeriffen oder durch einen Wir⸗
bei im Kreife herumgetrieben werden. — Ui wre arnlık
nicht. Barum? Weit fie Beinen vegeliagen we wen Seh
1510 Generais Abhandlungen.
ausgefesten Lauf haben. Das Nämtiche gilt von den Eos
meten. Sie waudeln nicht verworren und flürmifch, daß
man glauben Fönnte, es feyen vegellofe und veränderliche
Urfachen, wodurch fie in Bewegung gefegt werden. Weiter:
wenn aud) jene Wirbel den erdigen und feuchten Stoff zus
fammenraffen und aus den Tiederungen in die Höhe hin aufe
drücen Lönnten: fo würden fie ihn doch nicht über die
Mondhöhe hinaufführen. Ihre ganze Kraft reicht nicht bis
über die Wolkenregion Hinaus. Die Eometen aber fehen wir,
mitten unter der Sternenfcdaar in ben höhern Regionen wan⸗
dein. Es ift daher nicht wahrfcheintich, daß auf eine folche
Entfernung ein Wirbelwind furtwirte, denn je flärker er
ift, defto zeitiger verzehrt er fich. |
9 Man dann alfo annehmen, was man will: entweder
it feine Gewalt unbedeutend, — dann kann er nicht fo
hoch Hinaufreichen, oder fie ift groß und heftig, — dann
wird fie fi) um fo fchneller fetbft brechen. Außerdem fteis
gen jene niedrigern Cometen, wie man meint, ans dem
Grunde nicht Höher hinauf, weil fie zu viel Erdftoff haben.
Ihre Schwere hält fie in ven nächften Umgebungen. Eben
deshalb müflen dann aber gerade die andern, länger dauren⸗
den und höohern Eometen noch, weniger Mangel an Gtoff
haben. Denn fie würden ga nicht länger fichtbar ſeyn Lale
die andern), wenn fie nicht durch mehr Nahrungsſtoff erhals
ten würden. Ich fagte fo eben, der Wirbelwind Fönne
nicht lange andauern und fich wicht über den Mond hinauf
und bis in die Gternregion erheben. Der Wirbelmind wird
asiiib Dusch das Ringen mehrerer Winde mit einander
Pesporgebradt. Diefed Bann nicht lange anhalten. Denn
Naturbetrachtungen. Siebentes Bud. 1341
un die unftäte und unentfrbieden wehende Luft fich zuſam⸗
ngebalit hat, weicht am Ende die allgemeine Maffe einem
izigen Zug. Ein bedeutender Sturm ift aber nie von
ner. — Die Stürme, je mehr fie Kraft haben, halten
fto türzere Zeit an. Wenn die Winde auf den höchften
rad geftiegen find, Taffen fie mit al ihrer Heftigkeit nad).
syade durch eine folche Lalfgemeine) Aufregung müffen fie
f ihre eigene Zernichtung hinarbeiten. Daher hat man
e einen Wirbelwind einen ganzen Tag lang bemerkt, nicht
ımal eine Stunde lang. QWUufferordentlich iſt feine Schnels
teit, aber auch aufferordentlich feine Kürze. Ueberdieß
ꝛibt er ſich heftiger und fchneller auf der Erde und in ihrer
ähe umher, je höher er ift, deflo weniger ift er gebuns
n und gefpannt, und deshalb zerftreut er fih. Dazu
mmet, daß er, wenn er aud) am höchften fliege, wo die
terne ihre Bahn haben, doch in jedem Fall durch die
ewegung, welcher da3 AU folge, aufgehoben würde. Denn
18 ift rafcher, als jene Umdrehung des Himmeld. Durd)
efe würde die vereinigte Gewalt aller Winde zerfprengt
den, und die erften und flarken Fugen der Erde, ges
weige denn ein Theifchen von der fich in fich ſelbſt herum⸗
ehenten Luft.
ı0. Zudem kann ja ein durch Wirbelwind hervorge⸗
achtes Feuer nicht in der Höhe bleiben, ed müßte denn
r Wirbelwind ferbft bleiben. Was ift aber fo unglaubfid),
8 ein langes Anhalten bei einem Wirbelwind? Muß ja
ch in jedem Fall eine Bewegung durch eine entgegengefeute
jewegung unterliegen. Gene Region hat ia (dam er Cu
ABA . - : mem Abhandblungen.
gene Kreisbewmegung, die deu ganzen Himmel mit herum
mimmt,
Und vafıy wälgend im Umſchwung ziehet bie hohen Geftirne. *)
“Und wenn je eine längere Yrift zugegeben werden könnte für
vie Eometen, [die durch das Feuer, das fid aus dem Wirs
velwind entwirelt, hervorgebracht werben fnllen] was aber
auf keine Weife angeht: was wollte man denn von denjenis
gen Eometen fagen, die fid) immer ſechs Monate lang fehen
Tießen ? Ferner mäßten zwei Bewegungen in einer uud ders
ſelben Region ftattfinden ; für's Erfte jene göttliche und uus
aufhörliche, [der Geſtirne] die ihre Werk ohne Unterlag
verrichtet; und füres Zweite eine ungewöhnliche und neue,
die durch Wirbelwinde veranlaßt wäre. So müßte denn
nothwendig eine die andere hindern. — Es ift aber doch je⸗
ner Kreislauf des Mondes und die Bewegung der andern
über dem Monde dahinwandelnden Geſtirne unabänderlich,
und es ift nirgends ein Anſtoß, ein Widerflaud, und wir
haben Leinen Grund zu vermuthen, daß fich irgend ein Aufs
enthalt entgegenftelle. Keinen Glauben verdient ed [daher],
dag ein Wirbelwind, die gewaltfamfte und unruhigfte Art
von Lufterichefnungen, mitten in die Reihen der Geflirne
hineindringe und fich unter den geordneten und ruhigen [Sims
"melstörpern ] umhertriebe. Wir wollen wohl glauben, daß
durch den fich herumtreibenden Wirbelwind ein Feuer ent:
zündet werde, und diefes in die Höhegetrieben, uns Etwas,
wie ein langes Geftirn, vermuthen und fehen falle. Aber
” Berg, Opid's Berwandlungen II, 71.
Naturbetracheungen. Sirbeutes Bud. 16843
ih vente, es muß dieß doch wohl von derſelben Beſchaffen⸗
heit ſeyn, wie Das, whburc das Feuer hervorgebracht wird.
Um Wirbelwind nun feht man etwas Rundes. Gr dveht
ih ja um einen und denfelben Punkt herum, und wälzt
it) , wie eine Säule, die ſich herumtreibt. Folglich mäßte
tkm auch das Feuer aͤhnlich ſeyn, das er in ſich verſchloß.
wein es iſt lang und auseinandergehend, und ficht ‚gar
nicht wie Ereisförmig aus,
ı2. Berlaffen wir nun den Epigenes, und gehen: ‚die An⸗
ſichten Anderer durch! Bevor ich aber damit anfange, muß
ich befonders vorausbemerten, daß ſich die Tometen nicht
nur anf einer Seite des Himmels bliden laſſen, und nicht
nur im Thierkreis, fondern fewohl im Dften als im We⸗
ften, am haufigſten jedoch in der Rondgegend. Ihre Geftatt
iſt nicht immer dieſelbe. Denn obwohl die Griechen unter
ſcheiden zwifchen folchen, bei denen die Flamme bartartig
herunterhaͤngt, und zwifchen ſolchen, die anf alle Seiten
hin wie ein fliegendes Haar haben, und zwifchen folchen,
die zwar ein (umher ansftrahlendes) zerftrentes, aber doch
in einem Kern fich vereinigendes Feuer zeigen, fo haben
Siefe älle doch einen und denſelben Charakter, und werden
mie gutem Grund Comiten [ Haarfterne) genannt. klein
da die Seftalten derielben erft wieder nad) langer Seit zu
beobachten find, fo Hält es fchwer, fie unter einander zu
vergreichen. Fa felbft zu der Zeit, wo fie fid) fehen Taffen,
find die Beobachter nicht einig, was es mit ihnen für eine
Bewandtniß habe; fondern je nachdem der Eine oder der
Andere ein fchärferes oder fchwächeres Auge hat, un
er auch, es ſey eirer mehr Ticytianb wüex wer wurst, SS
! 4544 Senecas Abhandlungen.
der Scdweif ſey mehr einwärts gedrängt, oder vertheile
ſich mehr auf die Seite. Doc, es mögen ſolche Unterſchiede
flattfinden oder uicht, nothwendig mäflen die Cometen doc
auf eine und diefelbe Weife entfliehen. Darüber aber muß
man einmal im Reinen.feyn, daß fich unvegelmäßiger Weife
eine ungewöhnliche Sternart fehen laſſe, mit einem auss
ſtrahleuden Feuer um fih her. Manche Aeltere nehmen
folgende .Entftehungsweife an: Wenn von den Irrſternen
ſich einer an einen andern anhängt: fo fließe dad Licht von
beiden zuſammen, und bilde die Geſtalt eines verlängerten
Sterns. — Und dieß.Lfagen fie] ift nicht nur dann der
Fall, wenn ein Stern den andern berührt, fondern fchon
- wenn er fid) demfelben nähert. Der Zwijchenraum nämlich,
der zwifchen beiden ift, wird von dem einen wie von dem
. andern erlendytet und feurig gemadıt, und bildet ein langes
Feuer.
ı3. Dieſen habe ich Das entgegenzuhalten, daß es
eine beftimmte Zahl von Wandelfteinen gibt, daß aber zu
einer und derfelben Zeit zugleich jene erfcheinen und ein
Comet. Dadurd) wird ed denn offenbar, Daß nicht durch das
Zufammentreffen von jenen der Comet eutfleht, jondern daß
er etwas Eigenes und für ſich Beftegendes if. — Tritt ja
bei alle dem doch häufig der Fall ein, daß ein Stern unter
den Punkt eines Höhern Sternes zu ficehen Kommt: es fleht
ja manchmal der Saturnus über dem Jupiter, und der
Mars fchaut in gerader Linie auf die Venus oder auf den
Mercurius herab; aber um dieſes Laufes willen, wenn fchon
2er eine unter den andern zu flehen kommt, entftcht Doch
fein Comer; fonft müßte alle Jahre einer kommen, denn
Naturbetrachtungen. Siebentes Bud. 1346
jedes Jahr ſind dieſe oder jene Sterne in demſelben Zeichen
mit andern.
Menn ein über einem andern ftehender Stern einen
Eomeren hervorbrächte, fo würde ‚diefer in einem Augen⸗
blick aufpören zu jeyn. Denn mit dem Durchgang geht es
gar fehr ſchnell. Deshalb ift jede DVerfinfterung eines Ges
ftirne von Eurzer Dauer, weil eben der Zauf, der fie herbei⸗
geführt hatte, fie auch fchnelt wieder aufhebt. Wir nehmen
wahr , daß ed nur eine Burze Zeit anfteht , fo ift die Sonne
und der Mond nad) dem Anſang ihrer Derfinfterung wieder
frei: und wie viel fchnelfer muß es bei fo bedeutend klei⸗
nern Sternen mit dem Durchfchreiten gehen ? Die Eometen
bleiben ja aber wohl ſechs Monden lang: das wäre: nicht
der Zall, wenn, fie durch das BZufammentreffen von zwei
Sternen hervorgebracht würden. Diefe können ja doch nicht
lange an einander feyn, und das Gefes ihrer eigenthümli-
den Schneuigkeit muß fie ja immer vorwärts treiben. Ue⸗
berdi eß kommt es uns freilich wohl fo vor, als ob fie bei
einander wären; fie find übrigens Linder Wirklichkeit] durch
ungeheure Zwiichenräume von einauder getrenit. Wie kann
alſo ein Stern fein Licht bis zum andern fchiden, fo daß
beide verbunden zu ſeyn fchienen, da ungeheure Strecken
zwifchen ihnen liegen? „Das Licht von zwei Sternen, ents
gegnet man, vermifcht fih, und dann fieht es aus, als obes
Eines wäre, nämlich auf die Art, wie das Gewölke röth«
ich wird durch die Annäherung der Sonne, wie es in ber
Abend s oder Morgenbeleuchtung lichtgelb iſt, wie der Re⸗
genbogen gleichfalls nur durch die Sonne Keine, RU rt
Cena. 118 Be 5 &
1586. Senecars Abhandhingem:
ſeinden Farben bekommt.“ — [Allen] Dieb Alles iſt die-.
Wirkung einer großen Kraft; ift’s ja doc die Sonne, weis
che dieſe Beleuchtungen hervorbringt. Die Sterne: können
Dus nicht ſo. Sodann entſteht Dieß Alles nur unterhalb
bes Mendes in der Erdnaͤhe. Was weiter oben iſt, iſt rein
und: fledenlos, und: hat immer feine eigenthümliche Farbe.
ueserbieß wein ſo Etwas der Ball wäre, fo wäre es ohne
Dauer und würde unf der Stete wieder verföfchen, wie die:
Kreiſe, weiche die Summe oder den Mond umgebett, in einem
Augenblick vergehen. Wuch der Regenbogen Hirt ja niche-
lange. Wenn es fo Etwas wäre; woburd der Zwiſchen⸗
raum zwifchen zwei Sternen anszefülft würde, fo müßte es
Hauch fo fchnell wieder vergehen: Im keinem Fall würde es
f fo lange bleiben, ald die Eometen ſich aufzuhalten pflegen.
Die Sterne Haben ihre Bahn innerhalb des Thierkreiſes,
an diefen Kreis Halten fie fih, aber die Eometen fieht man
überall. Sie haben eben fo wenig eine beflinmte Zeit, zır
der ſie erſcheinen, ald es eine Stelle gibt, über die fie etwa
nicht Hinansgingen:
13. Dagegen bringt Artemidorus vor, diefe fünf Sterne
(Planeten] feyen nicht die einzigen‘, welde wandeln, fons
dern die einzigen, die man beobachtet habe. Uebrigens ges
hen unzählige auf verborgener Bahn, die ung entweder
wegen ihres nicht hellen Lichtes unbekannt feyen, oder weil
ihre Kreife eine ſolche Stellung haben, daß Ile erft daun
fichtbar werden, wenn fie [der Erde am nächſten] an die
Außeriten Puukte diefer Kreiſe gekommen feyen. Daher
fommen un bänn, wie er behauptet, ungewöhnliche Sterne
@ Geflcpre, bie ipr Licht mit den Fixſtetnen vermiſchen, und
Naturbetrachtungen. Siebentes Buch. 1347
ein’ größeres Fener vor ſich her ansſtrömen, als es bei deu:
Seternen gewoͤhnlich iſt. Dieß iſt unter‘ den Nichtigkeiten,
die er vorbringt, das Unbedentendſte: ſeine ganze Himmels⸗
thesrte iſt eine unverfchämte Züge. Denn wenn wir ibm”
glauben, fo iſt der oberſte Himmelsrand ganz maſſig, wie
ein Haus geveſtet, und von hohem und dichtem Stoffe, aus
vereinigten und anfammengehänften Atomen gebildet. Die“
ihm zundchftliegende Oberfläche ift feunrig”und fo feft auf ein⸗
ander liegend, (lädenfos) daß ſie nicht aufgelöst und bee
ſchaͤbigt werden Bann. Doch hat fie eine Urt von Luftlöchern
und gleichſam Fenſter, durch’ welche von der Außer Seite.
des Himmels her die Fener einſtrömen, die aber nicht fe”
erof find, daß fie im Innern eine Unordming anrichten.
Und eben fo gehen diefelben vom Himmel aus nad) Außen.
Und fo find jene ungewöhnlichen Erfcheinungen aus jener
über den Himmel hinausliegenden Materie gefloffen. —
Dieß in feiner Nichtigkeit darftellen zu wollen, — wäre
Spiegelfeihterei. 9
14. Wenn mir doch der gute Mann, der über die
Weit eine fo feſte Zimmerdecke woͤlbt, nur ſagen möchte,
wernm wir ihm denn glauben folfen, daß der Himmel eine
fo dicke Maffe fey! Was war es denn doch, das fo maffige
Körper dort hinauf brachte und fie dort feſt Hält? Sodann,
was von folder Dice ift. muß nothwendig auch von aroßer
Scywere-feyn. Wie bleibt denn nun das Schwere in der
Luft? Wie kommt's, daß jene Maſſe nicht herabkömmt und
+5 Wortlich: bie Hand aͤben und mit den Yrmen ’a Ten TÜM
ſchlagen — spwe. Gegner fig im Teogien Burn. BER
8348 Seneca's Abhandlungen.
fidy durch ihre eigene Laſt zerbricht ? Denn Das ift doch
nicht möglich, daß eine ſolche Gewichtlaft, wie er annimmt,
fchwebe und auf etwas Gewichtlofem ruhe. Auch läßt fich
nicht wohl behaupten, es fey von außenher irgend ein Halt,
fo daß fie nicht fallen könne; und wiederum auc, nicht, es
key in der Mitte etwas Entgegenſtehendes, das die herdrüs
ende Maffe auffange und ſtütze. Ueberdieß wird wohl Nie:
mand zu behaupten wagen, der Himmel laufe durdy den ums
ermeßlichen Raum, und falle zwar, aber es fey nicht bes
merkbar, 0b er falle, weil fein Stürzen ein ewiges, und
nihts Aeußerſtes da ift, woran er anſtieße. Solches haben
Einige (Pythagoraͤer] von der Erde behauptet, da ſie fid)
nicht erklaren Eonnten, nach welchen Gefegen in der Luft
eine ſchwere Diaffe ftehen ſollte. — ‚Sie läuft, ſagten fie,
immer, aber ihre Fallen ift nidye wahrzunehmen, weil Das,
in was fie fällt, unendlich iſt. --
Womit willft du denn aber ferner beweifen, daß nicht
aur fünf Sterne ſich bewegen, fondern daß es viele foldye
gebe und in vielen Regionen des Himmels ? Dder wenn dieß
auch ohne einen annchmbaren Beweis gilt: fo kann man
entgeguen: Warum follte man nicht auch behaupten Eönnen,
es bewegen fich entweder alle Sterne oder Feiner? Ueberdieß
nünt es dich aber Nichts, daß vie Sterne fo fchaarenweife
anter einander umberlaufen folfen. Denn je mehr ihrer
wären, defto öfter müßten fie auf einander floßen. Die
Eometen find aber felten, und erregen deshalb unfre Bes
wunderung. Wirft du nicht durch alle Jahrhunderte widers
Zegt, in denen man folder Sterne Aufgang merkwürdig ges
Aunden und für die Nachwelt aufgezeichnet hat? —
Aaturbetrachtungen. Giebentes Bud. 1349
5. Nach de Tode des Syrerkönigs Demetrius, *) deſſen
Söhne Demetriud und Antiochus waren, kurz vor dem
Achaiſchen Kriege, erichien ein Comet, der nicht Peiner
war, ale die Sonne. Zuerſt war er eine feurige und vöthe
lihe Scheibe, die ein helles Licht ausftrahlte, ſtark genug,
um durch die Nacht Hindurchzufenchten. Darnad) zog fi
feine Größe allmählig zufammen nnd es verfchwand feine
Helle. Zulett aber verging er ganz. Wie viel Sterne
müßten wohl da zufammentommen, um eine ſolche Waffe zu
bilden? Stelle taufend zufammen, fie werden diefer Sonuens
geftatt nicht gleichfommen. Unter dem. König Attalus *%
erfchien ein Comet, der Anfangs nicht gar groß war. So—
dann hob und breitete er fich aus, und Bam bis in den Ar⸗
quinoctiaftreis, fo daß er jenem Himmelsſtrich, der die Milch⸗
ſtraße Heißt , in’s Unermeßliche ſich ausdehnend, gleich warb.
Wie viel Wandelfterne müßen wohl ba zufammengelommen
ſeyn, daß fie einen fo langen Strich des Himmels mit un«
unterbrochenem euer ausfüllen Fönnten ?
36. So viel gegen ben Beweis ; noch habe ich gegen
die Zeugen zu fprechen. Und es braucht nicht viel Umftände,
den Ephornd als Gewährsmann anznfechten, ***) er ift eim
Geſchichtſchreiber. Manche wollen fi durch Erzählung ums
2) Demetrius Goter, geſt. 151. vor Ehr. DL 157, 2.
*s) Digmyp. 155, 2. vor Ehr, 239.
=) Ephorus aus Cumaͤ in Aeolis, hatte den Iſocrates zum
Lehrer. Er ſchrieb ein umiverfalniftoriiges Wert, dab ben
Zeitraum von 1091 bis 341. vor Ehre. enthält, und verlos
sen gegangen iſt. Micht alle Alten Halten ya Ar an we
glaubwuͤrdig, wie Seneca.
‚50 Senacaꝰs Abhandlungen.
aublicher Dinge beliebt machen, und ziehen Leſer an, bie
men keine Aufmerkſamkeit ſchenken würden, wenn man ih⸗
en nur mit alltäglichen Dingen käme. Manche ſind leicht⸗
Käubig, Manche nachläſſig, bei Mauchen fchleicht fich eine
Büge ein, Mauche haben ihr Wohlgefallen daran. Die Eis
nen vermeiden fie nicht, die Andern gehen darauf aus. Und
Bas gilt im Allgemeinen von. der ganzen Klaffe diefer Leute,
weiche nicht meint, daß ihre Arbeit Beifall finden und bei’m
Volk belient werden könne, wenn ſie nicht mit Lügen ges
‚Spidt wird. Ephorus aber nimmt ed mit der Wahrheit nicht
fonderlich genau, und ift bald der Betrogene, bald der Bes
Müger, fo wie er denn von dem Cometen, den die Augen
aller Sterbiichen beobachtet Haben , weil er ungemein wich-
tige Begebenheiten zur Folge hatte, und durch feinen Auf⸗
sang Kelice und Buris in’d Meer ſerkte, die Behauptung
aufſtellt, ed habe fich derfeibe in zween Sterne gefchieden; —
davon weiß aber Niemand Etwas, ald er. Denn Wer hätte
doc, gerade auf den Augenblick Acht haben können, in wels
dem ter Comet ſich auflöste und zwei Theile aus ihm wur⸗
Ben ? Und wenn Jemand wirklich den Cometen fih in zwei
Theile fpalten fah ‚„- warum hat denn Das Niemand bemerkt,
wie er aus zwei Theilen entſtand? Und warum bat er denn
nicht beigefebt „ in was für Sterne derfelbe getheilt ward,
da er doc, einer von den fünf Sternen ſeyn folte? —
17. Apouonius aus Myndus [in Karien)] ift der ent:
‚negengefegten Meinung. Er behauptet nämlich, es entfteh:
sicht ein Comet ans mehreren Arrfternen, fontern manch
- &ometen ſeyen Irrſterne. — Es ift, fagt er, nicht ein ri
sender Sein, und nicht ein Feuerſchein, der von dem ni
Naturbetrachtungen. Miabentes Bud. 4561
gen Sufammentveffen zweier Sterne herrührt, ſondern der
AEomet .ift- auch ein eigenes Beflirn, wie dad dev Sonne oder
des Diondes. Seine Geſtalt iſt von der Urt, daß ſie nicht
in's Munde geht, ſondern etwas geſtreikkt und in's Lange
„gezogen. Uebrigens ift feine Bahn nicht zu ſchauen: er
durchzieht die hͤhern Regionen Des Himmels, und iſt erſt
dann ſichtbar, wenn er in. die unterſte Gegend ſeines Lau⸗
fes kommt. Auch dürfen wir nicht meinen, den man unter
Auguſtus ſah, der ſey der nämliche, welcher wieder unter
Claudius bemerkt wurde, oder der, fo unter dem Kaifer
Mero erfchien, und die Cometen aus ihrem üben Nu
. brachte, *) fey dem ähnlich - geweien, der. nad) der Ermor⸗
bung des vergötterten Julius [&äfar] an den Feftfpiele
„ber Venus Genetrix um die eilfte- Stunde ded Tages **
aufging. Es gibt viele und verfchiedene, ungleich an Größe,
‚amähnlic, an Farbe. Die einen haben eine Röthe, ohne ir:
„gend ein Licht; die andern eine Weiße and ein reines Ka
res Licht, wieder andere eine Flamme, und zwar nicht rei
and dünn, fondern viel dunſtige Gluth um ſich her verbrei
-tend. Manche find bintroch , fchröckhaft, und deuten au
nach folgendes Blufvergießen, diefe vermindern und vermeh
. ven. ihr Licht, gleichwie andere Geftirne, — und find, wen
.. fle:weiter herabfommen, heller, und erfcheinen in der Nah
‚größer; wenn fie-aber umkehren, - werden fie Eleiner un
dunkler, , weil fie ſich weiter wegziehen.
*) Es war Bolksmeinung, daß die Eometen eine Regierung
g bedeuten.
veraͤnderun
**y; Aliſo gegen Sonnenuntergang. Plinius, Bist, var. L. v
berichtet: „Abends, da bie Sonne N nn
41552 Senecas Abhandlungen.
18. Dagegen ift fogleich zu erwicdern, es fey 8
Eometen nicht derfelbe Fall, wie bei andern Sternen.
Cometen nämlich ind an dem erften Tage ihres Erſch
am größten; fie ſollten nun freilich zunehmen, je nä
Herbeitämen. Allein es ift nun einmal fo, daß es mit
bleibt, wie man fle das erftemaf fleht, bis fie zu ver
anfangen. — Sodann gilt gegen ihn [den Apollonius
Nämliche, was gegen die früher Erwähnten gefagt '
Wäre der Comet ein Wandelſtern und ein eigentliche
ſtirn: fo würde er fich innerhalb der Grenzen des
kreiſes bewegen, innerhalb deſſen jedes Geſtirn feine
findet. Nie fcheint ein Stern durdy den andern durch
fer Auge kann nicht mitten durch ein Geſtirn hindurch
gen, fo daß es durch baffelbe weiter in die obern Me
hineinichaute. Durch den Eometen aber fieht man x
wie durch eine Wolfe, was weiter dahinten if, wora
bellet, daß er nicht ein Geſtirn iſt, fondern ein unbet
der und unordentlicher Feuerſchein.
19. Unfers Zeno's Anfiht iſt biefe: es neige
meint er, Sterne zufammen und vereinigen ihre Stı
durch diefe Verbindung des Lichts entftehe das Bild
langlichten Sterned. Daher halten Einige dafür, die
ten feyen Nichts, fondern ihre Exrfcheinung werde dur
Wiederſchein von Geftirnen, die ſich nahe fegen, oder
die Vereinigung folder, die mit einander zufammenk
bewirkt. — Manche fagen , fie ſeyen allerdings Etwar
fie haben ihre eigenen Bahnen, und laſſen ſich nach be
ten Zeiträumen immer wieder fehen. Manche lafl
wol für Etwas gelten, aber man ſollte fie nicht ©
Naturbetrachtungen. Siebentes Bud. 41553
nennen, weil fie vergehen und nicht lauge dauern, und nach
£urzem Verweilen zerftichen.
30. Diefer Anfiche find die" Meiftentder Unfrigen,, und
fie denken dabei das. Richtige nicht zu verfehlen. Wir fehen
je, daß ſich in der Luft verfchiedene Arten von Feuerſchei⸗
nen erzeugen, und daß bald der Himmel glüht, bald
Mäctige Streifen von Flammen am Himmelsruͤcken erfcheinen, *)
bald -Himmelsfadeln mit weitausgebehntem Feuer dahinfahs
zen. Sodanu die Blitze, obwohl fie vermöge ihrer aufferors
dentlichen Geſchwindigkeit zu gleicher Seit das Auge bien
den und wieder frei machen , find Yenerfcheine einer in Reis
bung verfegten Luft, welche in großer Gewalt an ſich ſelbſt
anfchlägt. Deshalb Leiften fie auch Leinen Widerftand, fons
dern wenn fle getrieben werden, ſtroͤmen fie aus, und es ift
mit ihnen fogleich vorbei. Andere Feuerſcheine aber bleiben
lange, und gehen nicht eher weg, als bis aller Nährſtoff,
wovon fie fich erhielten, aufgezehrt ift. — Hieher gehören
jene von Pofidenius aufgezeichneten Wunderdinge, brennende
Saͤulen und Schilde, und andere ganz befonders auffallende
Slammenerfcheinungen, auf die man nicht achten würde,
wenn fie gewöhnfich und vegelmäßig Jorkämen. Uber Jeder
mann flaunt über Das, was aus der Höhe herab einen
plöglichen Yeuerfchein wirft, mag ed nun ein vorübergehens
der Schimmer feyn, oder mag es in der zufammengepreßten
und in Gluth verfesten Luft, ald ein Wunderding ftehen
bfeiben. — Und hat fid) denn nicht ſchon manchmat eine
*) Bergl. Virqil vom Randtau I, 367, uni Sraruk Siresm
betractungen I, ı%
d
As 3 6Gonacaꝰs Abhandlungen.
Küde in dem - zurüdtretenten Aether geöffnet . und ein we
verhreitetes Licht in einer Vertiefung? Da Eönnte mw
- ausrufen: Was ift Das ?
— — im mitten feir ich. gekffueb ben Simmel *) ”
Unb die ‚Sterne wandeln am: Bol, — —
wie fie zuweilen aus umerwarteter Nacht hervorglänzen uı
mitten durch den Tag hindurchbrechen. — Allein damit he
28 eine andere Bewandtniß, daß diefe zu einer ungehdrig«
Zeit in der Luft erfcheinen, da man ja fchon weiß, daß f
vorhanden feyen , wenn fie auch verftedt find. Viele Com
ten ſehen wir nicht, weil fie durch die Sonnenſtrahlen ve
dunkelt werden ; und Poſidonius meldet, es habe fih b
einer Sonnenfinfterniß ein Comet fehen laffen, den die Nä—
der Sterne verdedt hatte. Dft aber fieht man, wenn :d
Sonne untergeht, ein zerftreutes Feuer nicht ferne von ih
Der Stern felbit nämlich wird von der Sonne überftraf
und kann deshalb nicht gefehen werden; aber fein Haa
ſchweif weicht ven Sunnenftrahlen aus,
212. Die Unfrigen nehmen alfo an, die Cometen we
den, wie die Himmelsfackeln, wie die Trompeten und Feue
balken und andre Erfcheinungen am- Himmel von Dicht
Luft erzeugte. Daher zeigen fie fid) am häufigften geg
Norden, weil dort am meiften unbewegte Luft if. — Ab
warum bleibt denn der Comet nidyt ftehen, fondern lär
fort? Das will ich erfiären. Er geht wie alled Feuer jı
ner Nahrung nach; denn obwohl er in die Höhe firel
geht er Doch, wenn es ihm an Stoff gebricht, zurüd u
——— — —
Aitviſv NMeucibe IX, 230. 21.
Natunbetvachtungen. Biene Buch. 11365
„abwärts. Er macht ſich in der Luft auch nicht rechts: oder
Kinds, denn er hat Leinen Weg, fondern: wohin ihn die
Ader feines Nahrungsfloffes zieht, da fchleicht er ſich hin,
und er. hat nicht, wie ein Stern, feinen Gang, fondern er
frift fich fort, -wie ein euer. — Aber. warum bleibt: er
denn eine lange Zeit fichtbar , und verkifcht nicht gleich : wies
der? Der, den wir unter Nero's heilvoller Regierung fahen,
sieh ſich ja ſechs Monden Iaug fchauen, und nahm gerade
die entgegengefente Richtung von dem unter Claudius.
.Diefer nämlic) erhob fid von Norden dem Scheitelpunft
zu und wandte fi) gegen Oſten, wo er..immer.dunkler wurde ;
jener fing. in der nämlichen Gegend an, aber: nad) Welten
gewendet, zog er fich gegen Süden, uud verfchwand uns
daſelbſt aus den Augen. Der eine — fo-ift dieß zu erklaͤ⸗
ren — hatte der-niedrigern und für das Feuer mehr geeig:
.neten Region ‚nachzugehen ; der andere dagegen hatte eine
[für die Nahrung des Feuers) reichlicher und beffev aus—⸗
..geftattete Bahn. Wenn fie nun alfo herabkommen, ſo ift
ed der Stoff, der fie anzicht, nicht der.-Weg. Diefer war
.ja.bei den beiden, die wir beobachten, der enfgegengefeste,
da der eine fich rechts bewegte, der andere Finke. Dagegen
. Haben alte Sterne ihren Lauf auf eine und -diefelbe Seite,
:admlic, den Lauf des Himmels ‚gerade entgegen. Diefer
nämlich rollet von WUufgang gegen Niedergang; jene aber
‚gehen von Niedergang gegen YAufgaug. Und ſo Haben fie
eine getoppelte Bewegung, die ihrer eigenen Bahn, und die
‚andere, weiche fie mit ſich -fortreißt.
33. Ich pflichte den Unfrigen ‚nicht bei. : Denn ich. Kalte
„ sicht Dafür, . daß der Comet ‚ein aungatikiuteb Beer NS
4556 Geneca’s Abhandlungen.
fondern daß er zu den ewigen Werfen der Natur gehöre,
Fürs Erfte ift Alles, was vie Luft erzeugt von kurzer
Dauer. Es entftcht ja in einem flüchtigen und ſtets fidy
verändernden Körper. Wie Bann denn in der Luft Etwas
fange das Nämliche bleiben , während die Luft feibft nie
biejelbe bleibt ? Sie ift immer in einem fließenden Zuſtand
und hat nur Eurze Ruhe. In einem Angenbli nimmt fie
eine andere Befchaffenheit an, als fie zuvor gehabt. Bald
ift fie vegnerifch, bald heiter, bald zwifchen Beidem wechfelnd,
und die Wolken, die mit ihr am meiften gemein haben , in
welche fie ſich einfchließt, und aus welchen fie entbunden
wird, fammeln ſich bald, bald brechen fie, niemals lagern
fie fi) unbeweglih. Es ift unmöglich, daß ein Feuerſchein
regelmäßig in einem unftäten Körper feinen Platz behaupte,
nnd fo _unvertrieben hafte, wenn ihn nicht die Natur fo
eingerichtet hat, daß er nicht aus feiner Ruhe gebracht wers
den kann. Sodann wenn fein Derweilen von feinem Nah⸗
rungsftoff abhinge, fo ginge er immer abwärts. Denn die
Luft ift ja um fo dichter, je näher fie der Erde ift: num
aber ſenkt fi) der Comet nie bis in die unterfte Sphäre,
und kommt nicht dem Boden nahe. Im jedem alle geht
ein Feuer entweder dahin, wohin feine Natur ftrebt, näm«
lich in die Höhe; oder dahin, wohin es der Stoff zieht,
an den es ſich Hänge und den ed verzehrt.
23. Ein ordentliches und himmliſches Feuer nimmt
niemals einen frummen Weg. Dem Geftirn ift es eigen,
daß es eine Kreisbahn macht. Ob nun andere Cometen Das
sswa nicht gerhan haben, weiß ich nicht: die beiten in un-
/eem Beitelter baben es gethan. — Ferner: Alles, was
|
anal
Naturbetrachtungen. Siebentes Buch. 1388
LET AAuft und ein Theil der Gbttheit, wieder ein Anderer,
eine ganz feine Luft; und noch ein: Anderer, ein unkörper⸗
liches Wirkungsvermögen. Es mag wohl auch: Einer: ſagen /
fie-fey But; und ein Anderer, ſie ſey Wärme: So un⸗
möglich iſtes der Seele, über andere Dinge im Klaren zu
ſeyn, daß ſie ſich ſekber noch zu unterfuchen hat.
5. Bas wundern wir uns alfo, daß: die. Cometen,
ein fo feltenes Schaufpiel am Himmel, noch nicht nach bes-
ftimmten Gefetzen erfaßt find, und daß man ihre Anfänge::
und ihr - Aufhören noch nicht kennt; da fie erft nach fo ge⸗
waftigen Zwiſchenzeiten wieder erfcheiten? Es find nody“
Leine fünfzehnhundert Fahre, feitdem Griechenland
— — Zahl den Sternen und Namen beftimmt. *)
Und noch heut zu Tage gibt ed manche Völker, die den
Himmel nur keunen, wie fie ihn anfchauen, und die noch
nicht wiflen, warum der Mond verfinftert und befchastee..
werde. Und es ift nicht lange her, daß dieß. auch bei uns
erft ficher berechnet worden iſt. E3 wird eine Zeit fommen, .
wo, was jetzt verborgen ift, durch die Zeit und durch die,
Torfchungen. langer Jahrhunderte an's Licht gezagen wird.
Zur Unterfuchung fo großer Dinge reicht ein Menfchenteben.
nicht hin, und wenn es fich einzig mit dem. Himmel bes
fchäftigte. Und man tHeilt die wenigen Jahre erft nicht ein«
mal zu gleichen Theilen, zwifchen Studien und Thorheiten.t
*) Vergl. Birgit vom Landbau J, 137., wo von dem fi lbernen
Zeitalter die Rede iſt, da Titan Hyperion, Prometheus und
Atlas die Sternkunde aufprachte, Letzierer iſt eiaeiia
mit Moſes und Eecrops.
ln — —4 — ⸗ — — — -
— j — An
N
1360 -Geneca’s Abhandlungen.
Darum werden dergleichen Dinge *) erft in fanger Zeitfolge
ausgemittelt werden. Die Zeit wird Eommen, wo unfre
Nachkommen . fih wundern, daß wir fo offenbare Dinge
nicht gewußt haben. Wie es fich bei diefen fiinf Sternen,
die ſich und Parbieten und bald da bald dort ſich zeigend
uns unfre Aufmerkſamkeit abnöthigen, mit dem Aufgang
des Diorgens und ded Abends verhalte, wie mit ihrem
Stillſtand, iu ‚weichen Fällen le gerade fortgehen, warum
fie fich rücwärts wenden, — Pas haben wir eben erft zu
begreifen angefangen. Ob Jupiter aufs oder -untergehe,
oder ob er ein rückwärts fchreiteuder Stern ſey, denn diefen
Namen haben wir ihm bei feinem Wbweichen gegeben, —
Das haben wir erft vor wenigen Fahren gelernt. Es haben
fi) Leute gefunden, die und fagten: ihr irret, wenn ihr
euch vorftellet, daß irgend ein Stern feinen Lauf hemme
oder abändere. Die Himmelskörper Eönnen weder flehen
bleiben, noch ablenken; es geht Alled vorwärts, und nimmt
feinen Weg, wie es feine Richtung urfprünglich erhalten
hat. Ihr Lauf und ihr Ziel muß Ein’s feyn. Diefed ewige
Werk hat feine unabänderliche Bewegung: flünde dieß eine
mal ftill, fo müßte etwas Anderes flörend, Dem enfgegentrer
ten, was jept durch feine Ordnung und Gleichmäßigkeit
gehalten wird. —
26. Uber warum fcheint es denn bei manchen, als ob
fie eine rücgängige Bewegung machen? — Daß es ausfieht,
als gehe es langfam bei ihnen, das kommt von dem Entge⸗
*) Wir folgen Gier der Eonjettur: per successiones ista (ſtatt
“stas) longss esplicabuutar.
Aaturberachtungen. Siebentes Bud).
genlaufen der Sonne und von der Beſchaffenheit der
und Kreisbahnen, wenn dieſe eine ſolche Lage haben,
au gewiſſen Zeiten ihr Anblick trügt. So ſcheinen Sq
wenn fie auch mit vollen Segeln fahren, doch zu flehen.
wird ſchon einmal Einer auftreten, der da vorzeichnet,
weichen Regionen die Cometen wandeln, warum fie fo.
geſondert von den übrigen ihren Weg nehmen, und von w
cher Größe und Befichaffenheit fie feyen. — Durch die Stern
Hält man entgegen , flieht man nicht hindurch, was weiterhi
it, — aber durch die Eometen dringt :unfere Sehkraft. —
[Darauf erwiedere ich) vor Allem: wenn dieß ber Fall if,
fo it es nicht an demjenigen Theil, wo das Geſtirn ſelbſt
ift, aus dichtem Feuer durch und durch befiehend,, foubern
nur da, wo unzulammenhängender Lichtglanz ausftrömt umd
ſich in den Haarfchweif ausbreitet. Durch die Lüden des
Feuers fiehft du durch, nicht Durch die Eometen felbft durch
ihren Kern]. Die Sterne, fast .man ferner, find alfe rund,
die Cometen Tänglicht ; daraus geht deutlich hervor, daß fle
2eine Sterne find. Ja, Wer wird dann aber dir zugeben,
Die Enmeten feyen lang? Ihr eigensfiches Weſen ift eben,
wie bei den andern Geſtirnen, eine Kugel, im Hebrigen ift
es ihr Glanz, der ſich in die Länge zieht. So wie die Sonne
ähre Strahlen weit und breit ansfendet, übrigens eine ans
dere Geftalt die ihrige ift, eine andere die des Lichtes, das
von ihr ausſtroͤmt, fo ift der Cometenkörper ſelbſt rund, fein
Stanz aber erfcheint länger, als bei.den übrigen Geſtirnen.
27. Du fragft: warum Bad? Sag bu wir aber erit,
warım der Mond ein der Sonne ganz unätalidyeh TUE vw
Seneca. 116 Dion. J
4562 Seneca’s Abhandlungen. ,
prängt, ba ers dach von der Sonne befommt? warım er
bald röthlich, bald blaß ift? warum er eine bleiartige und
lichtloſe Farbe hat, wenn er von dem Anſcheine der Sonne
ausgefchtoffen ift ? Sage mir, warum alle Sterne ein unter
ſich ſelbſt zum Theil ungleiches Ausfehen haben, und ein
ganz anderes, ald die Sonne? So wie nun Das nicht macht,
daß fie Feine Geſtirne find, went fie einander fchon nicht
gleich ſehen, fo koönnen die Eometen nichts defto weniger ets
was Fortbeftehendes feyn und von derfelden Natur, wie die
andern Geſtirne, wenn fie fchon nicht ausſehen, wie diefe.
Und wie? Beſteht denn nicht die Welt felber, wenn du fie
betrachteft, aus Gegenfäben ? Warum ift denn die Sonne im
Zeichen des Löwen immer glühend heiß, und brennt die
Länder durch Hibe aus ; in Waſſermann aber bringe fie Wine
terfroft hervor, und bedeckt die Flüffe mit Eis. — Und doch
ift das eine wie das andere Geſtirn von derfelben Beſchaf⸗
fenheit, mögen fie auch ihrer Wirkung und Eigenthümlich⸗
teit nady ungleich ſeyn. In ganz kurzer Zeit erhebt ſich der
Widder, aber ganz langſam ſtellt fich die Wage in's Gleich⸗
gewicht, [erfcheint das Ganze der Wage]; nnd doch hat das
eine wie das andere Geſtirn diefelbe Natur, wenn fchon jes
nes in Eurzer Zeit feine Höhe erreicht, dieſes aber lange
braucht, um vorwärts zu kommen. Siehſt du nicht, wie
entgegengefester Natur die Elemente find ? Ste sind ſchwer,
. fie find leicht, fie find kalt, fie find warm, fie find trocken,
fie find feucht. Die ganze Harmonie diefer Welt befteht eng
nicht übereänftimmenden heilen. Du fagft, der Comer fey
Fein Stern, weil feine Geſtalt nicht der Regel entfpreche
und den andern nicht aͤhnlich ſey. — Ja freilich wohl; der
Naturbetrachtungen. Siebentes Bud. 1363
Stern , der nach dreißig Sahren wieder an feine Stelle zu-
rückehrt, 9 it er denn aud aufs Haar Ähnlich dem
andern, der innerhalb eines Jahres jeinen Punkt wieder
findet? — Nein, nicht einförmig richtet die Natur ihr Werk
ein, fondern fie hat auch ihre Luft an der Abwechslung. Sie
hat das Eine größer gemacht, ald das Andere, das Andere
fhnelfer ; das Eine flärker, das Andere gemäßigter; Matt
ches aber hat fie aus der Menge hervorgehoben, um ed aus—⸗
gezeichnet und bemerkbar herporfreten zu laffen, Manches
hat fie unter den großen Haufen geworfen. Man erkennt
die Macht der Natur, wenn man meint, was fie nidye
öfters thut, könne fie gar nicht. Comeken zeigt jie nicht
häufig, fle hat ihnen eine audere Stellung, andere Zei:
ten, und eine andere Bewegung angewiefen, als den übris
gen. Es war ihre Abſicht, auch durch diefe die Größe .ih-
ver Werke zu verherrlichen , und das Ausfehen diefer Kör-
per ift zu fchön, als daß man es für etwas Zufällige haf-
ten Fönnte, man mag nun ihren Umfang betrachten, oder
ihren Lichtglanz, welcher größer umd feuriger ift, als bei
den übrigen. Sa ihr Anblick hat etwas Ausgezeichnetes und
Defonderes, denn er iſt nicht in's Enge zufammengezogen
und gedrängt, fondern freier ausgebreitet und die ‚Region
vieler Sterne umfaffend.
29. Ariſtoteles ſagt, die Cometen zeigen Sturm AN,
und ungeflüme Winde und Regengüſſe. — Nun? foll das
Bein Geſtirn feyn, was Zukünftiges verkündet? Es iſt dieß
*) Wie der Saturn,
N %
41564 Senecas Abhandlungen.
nämlich nicht in dem Sinn ein MWitterungsanzeichen,, wie es
‚einen Regen bedeutet,
„Wenn nun funtelt tas Oehl, und faulmbe Schwaͤmme vers
wachſen ze
der wie es einen Seefturm bedeutet, wenn das im Meer
‚wohnende
„Blaͤshuhn fpielet auf trodenem Raum, die gewohnten Gewaͤſſer
Laſſend, und uͤber dem hohen Gewoͤlt herflieget der Reiger ;“ *)
ſondern fo, wie die Tag- und Nachtgleiche ein Zeichen iſt,
daß das Jahr ſich zur Wärme oder zur Kälte umneigt, und
fo wie Das, was die Chaldäer [Aſtrologen] wahrfagen, was
bei der Geburt ein Stern Trauriges oder Erfreuliches be:
ſtimme. Um dich zu überzeugen, daß es fo ſey, [bevenke,]
der Comet bedeutet durd) feinen Aufgang nicht für den Au—
genblick Winde und Negen, wie Ariftoteles fagt, fondern e:
laͤßt auf den ganzen Sahrgang [nichts Gutes] fchließen. Dar:
ans ift klar, er habe feine Vorbedeutungen nicht aus den
wächften Umgebungen, um fie für Das, was zumächft Eom-
men follte, zu geben, fondern es fey etwas tiefer Liegendes
und in den Geſetzen der Welt Verſchloſſenes. So hat ber
Comet , der unter dem Confulat des Paterculus und Vopis—
cus erfibien, Dagjenige in Erfüllung gebracht, was vo:
Ariftoteles und Theophraftus als Vorbedeutung ausgefpro-
hen worden iſt. E8 waren nämlich aller Orten große und
anhaltende Stürme. Und in Achaja und Macedonien find
Städte durch Erdbeben eingeftützt.
Noch wendet man ein: ihre Langfamkeit fep ein Beweis,
”, Berge. Virgit vom Landban I. 392. 563. 364.
Naturbetraehtungen. Siebeutes Buch. 41365
daß fie fchwer feyen und viel Erdftoff in fich Haben; überdieß
and) ihr Lauf; fie werden nämlich in der Regel den Polen
zugefrieben. —
29. Das ift Beides unrichkig. Ueber den erftern Punkt
will ich zuerſt reden. Alſo was langſamer geht, fol fchwer
ſeyn ? Iſt denn rer Stern des Saturnus fchwer, der unter
allen am Tangfamften feine Bahn vollendet? Im Gegentheit,
ein Beweis von feiner LZeichtigkeit ift, daß er über den ans
dern flieht. — Ga, ſagſt du, er hat eben einen größern Um—⸗
kreis, und geht nicht langſamer ald die andern, wohl aber
weiter. — Laß dir doch einfallen, daß id) das Nämliche anch
von den Cometen behaupten kann, wenn and) ihr Kauf £räs
ger wäre. Allein es ift nicht wahr, daß fie langfamer ges
hen. Denn innerhalb ſechs Monaten hat der lebte den Hals
ben Himmel durchlaufen ; der frühere hat fi) in noch wenis
gern Monaten zurüchgezogen. — „Allein Lentgegnet man weis
ter] weil fie fchwer find, fo fleigen fie abwärts. Für's Erfte
geht Nichts abwärts was im Kreife umhergeht. Sodanı Hat
te. Lestere [unter Nero] den Anfang feiner Bewegung im Nor⸗
den gemacht, ift in weftlicher Richtung nach Süden gegangen,
ud iſt, indem er feinen Zauf [am füdlichen Himmel) erhob,
verfchwunden. Der andere unfer Claudius hat fich aud) zuerft
im Norden fehen laffen, und ift ananfhörlich gerade aus hö—
her geftiegen,, bid er unfichtbar wurde.
Dieb iſt's, was in Betreff der Cometen theils Andern,
theils mir ſelbſt von Belang däuchte. Ob ed damit feine
Richtigkeit Habe, mögen Diejenigen ausmitteln, die eine vich«
tige wiffenfcjaftliche Kenntniß von der Sodye veitgen. I
kann bier blos nadfpüren nnd im Stiuen MALEN DUO
1866 Seneca’s Abhandlungen.
thungen nachgehen, auf der einen Seite nicht mit ber Zu—⸗
verficht, daß ich's finde, auf der andern aber doch nicht ohne
Hoffnung. —
50. Vortrefflich ſagt Ariſtoteles, wir ſollten nie bes
fheidener feyn, ald wenn von den Göttern die Rede ift.
Henn wir mit feierlichem Ernſt in Tempel treten, wenn
wir, im Begriff zum DOpferheerd zu nahen, den Blick fen
fen, die Toaa zufammenhalten, und uns durchaus demüthig
zu erweifen fuchen: um wie viel mehr folten wir ung beftres
ben, wenn wir über die Geflivne, über die Himmelskörper,
über das Weſen der Götter Befprechungen anftellen, daß
wir ja Feine unbefonnene, keine das Zartgefühl verlegende
oder tinwiffenheit verrathende Behauptung aufftellen oder
em mit Wilfen etwas Unrichtiged vorbringen ? — Und Taffen
wir es uns doc) nicht auffallen, wenn Dinge, die fo tief
itegen, auch fo langſam herausgebracht werden. Panätius )
aid Diejenigen, welche die Meinung geltend machen wol:
fen, als wäre. der Comet Fein ordentliches Geſtirn, fons
ern ein trügender Schein vor einem Geftirn, haben forgs
fältig die Frage abgehandelt, ob jeder Theil des Jahres gleich
geſchickt ſey, Cometen hervorzubringen, ob jede Negion Des
Himmels geeignet fey, fie zu erzeugen, ob fie überall, wo
fie wandeln können, auch entftehen können, und dergleichen
Sragen mehr, welche alle wegfallen, wenn ich behaupte, es
ſeyen diefelben nicht zufällig entftehende Yeuerfcheine, fons
sern [gleich den Geſtirnen]) mit in den Himmel verwchen,
2 Yandtind, cin Zeitgenoffe bes jängern Scipio Africanus und
6 ditern Eato, alfo etwa 150, I. wer Cyr.
Naturbetrachtungen. Siebentes Buch. 1567
übrigens nicht häufig. von ihm zum Worfchein gebracht, ſon⸗
dern auf verborgenen Bahnen geführt. Wie Vieles wandelt
wohl auffer ihnen eine geheime Bahn, für ein menfchliches
Auge niemals aufgehend! Denn nidyt Alles hat die Gottheit
für den Menfchen geſchaffen. Welch ein Eleiner Theil diefes
mächtigen Werkes ift und zugeteilt? Er felbft, der darüber
waltet, der es gefchaffen, der diefed Ganze gegründet und um
ſich Her geftellt Hat, der der größte und edelfte Theil feines
Wertes ift, Hat ſich unferm Blick entzogen, und ift nur mit
dem Gedanken zır erfchauen.
31. Ueberdieß ift Vieles dunkel, was dem höchften We⸗
fen verwandt ift und eine ſich demfelben annähernde Kraft
befist. Oder vielleicht — was nod) feltfamer ift, — wird
unfer Auge davon erfüllt und doch iſt's unfichtbar, ſey es,
daß es der Yeinheit wegen von menfchlicher Sehkraft nicht
erreicht werden kann, oder daß in verborgenem Heiligthum
etwas fo Herrliches wohnt, und fein Reich, das heißt, fich
ſelber regiert, und Eeinem Wefen den Zugang geſtattet, auf
fer dem Geifte. — Was Das fey, ohne weiches Nichts iſt,
können wir nicht wiſſen: und wir wundern und, wenn wir
einige Flämmchen [Eleine Leuchtkörper] nicht recht verftehen,
während uns das Größte von der Welt, die Gottheit verbor⸗
gen ift ? Wie manche Thiere hat man erft in unferem Jahr⸗
hundert Fennen gelernt! Und wahrlich manche, die und noch
unbekannt find, wird die Menfchheit Fünftiger Zeitalter erft
kennen lernen. Manches ift für Johrhunderte aufbewahrt,
die dann erft kommen werden, wenn dad Andenken an uns
längſt verffungen if. Die Wert müßte ein vecht kleines
Ding ſeyn, wenn nicht alle Welt an ihr ya weiten il.
4
1568 Seneca’s Abhandlungen.
' Nicht anf einmal werden manche Myfterien mitgetheilt. Eleu⸗
ſis bewahrt noch Etwas auf,. was erft enthüllt wird, wenn
| man wiederfomme. Die Natur offenbaret ihre Heiligthümer
nicht alle miteinander. Wir halten und für Cingeweihte,
und weilen noch in ihrem Vorhof, Jene Geheimniffe offene
| baren ſich nicht alle ohne Unterfchied und nicht Alten: fie
liegen tiefer und find im innern Heiligthum verſchloſſen.
: Don diefen wird Einiges unfer jebiges, Anderes ein nach⸗
| folgendes Zeitalter erfennen. Wanır alfo werden dergleichen
ı Dinge zu unferer Kenntniß gebracht werden ? Langfam kommt
I hervor, was groß ift, zumal, wenn die Anftrengung nicht
- fortwährend ift. Hat man es, worauf man Doch alfein mit
| Hanzer Seele hinarbeitet, doc), nody nicht einmal dahin ges
ı bracht, vollkommen Iafterhaft zu feyn. Noch find die Laſter
im Fortfchreiten begriffen. Die Weppigkeit findet Limmer
noch] etwas Neues, woran fie ihren Wahnflnn zeige. Die
| Schamtofigkeit weiß ſich immer wieder aufs Neue zu bes
ı fleden. Die Zügellofigkeit und Peſt der Genußſucht findet
immer noch etwas Verzärtelnderes und Weichlicheres, um
ſich zu Grunde zu richten. — Noch hat man nicht genug
ı alte Kraft vergeudet. Noch vertilgt man durch Stätte und
| Pus des Körpers den Neft von edler Sitte. Weibern hat
: man es im Pas zunorgethan, und buhferifchen Schmud, deu
| feine Matrone anziehen follte, tragen jetzt Männer. Ver⸗
| zärfeften und weichlichen Ganges hemmt man den Schritt,
I and geht nicht, fondern ſteigt einher. Man ſchmückt mit
I Ringen die Finger, und pubt jedes Gelenk mit Evelfteinen
: auf. Tagtaͤglich finnet man, wie man der Mannheit Gewalt
"run, ober wie man fie herabwürdigen wolle, weil es
Naturbetrachtungen. Siebentes Buch. 1369
doch nicht möglich ift, fie von fid) zu than. Der Eine läßt
fih zum DVerfchnittenen machen, der Andere nimmt feine
Zuflucht zu der ſchmaͤhlichen Holle des Fechterſpiels, und
fi) zum Zode vermiethend ergreift er die Waffen zu ehrlos
fem Dienfte. Auch der Arme hat fi) Etwas ausgedackt, um
mit feinem Elend ein Gewerbe zu treiben.
33. Darfft du dic nun noch wundern, wenn die Phi⸗
fofophie noch nicht ihre ganze Aufgabe gelöſst hat? Hat fick
ja doch die Verderbniß noch nicht auf den höchſten Gipfel
geſchwungen. Noch heut zu Zage wächst fie, und für fie
arbeiten wir Ale, ihr weihen unfere Augen, ihr unfere
Hände den Dienſt. — Die Philoſophie — Wer mag fidh
an fie machen ? Wer achtet fie genug, um fie anders als im
Borbeigehen kennen zu lernen? Wer fieht fich nach der Phi⸗
tofophie oder nad, irgend einer edlen Wiffenfchaft um, auffer
wenn für die Spiele gefchloffene Zeit ift, oder ein Regentag
einfälit, den man dann wohl verloren geben Bann? So kommt
ed, daß fo viele Philoſophenſchulen ohne Nachfolger ausſter⸗
ben. Die Akademiker — fowohl die alten*) als die neuern **).
haben Keinen Dieifter mehr. — Und Wer lehrt denn Pyrrhos
Srundfäbe? ***) Des Pythagoras Schule, die der große
Haufe fchon gar nicht leiden mag, +) hat ihren Lehrſtuhl
nicht befesen Fünnen. Die neue, Römiſch kräftige Schule
*) Aus Platos Schule,
++, Die dem Arceſilas und Earneabes ſich nachbildeten.
**0) Die ſteptiſche Philoſophie.
+) Wegen der Strenge ihrer Grundfäge, weiche große Enthalt⸗
ſamkeit forderten,
4570 Seneca’s Abhandlungen.
- der Sertier *) ift in ihrem Keim erftidt, obwohl fie mit
großem Anlauf begonnen hatte. Dagegen wie läßt man fich’s
angelegen feyn, daß ja Feines Pantomimen Name in Vers
geifenheit finte! Feſt fteht durch Nachfolger dDieß Haus eines
Pylades und Bathyllus;**) für folche Künfte gibt ed Schü:
fer und Lehrer in Menge. In Privathäufern durd) die ganze
Stadt lärmt es mit Schanbühnen. Da machen Männer und
Weiber ihre Sprünge. Und Mann und Weib wetteifern,
ſich Jenen preiszugeben. Dann wenn man genug unter der
Maske geſteckt hat, geht ed in die Gnrkühe. **) Um die
Philoſophie kümmert fich feine Seele. — So ift denn Eeine
Rede vom Auffinden Desjenigen, was und die Alten ald Et⸗
was, dad fie nicht ganz herausbrachten, hinterlaffen haben ;
im Gegentheil ed geht Manches, was bereits aufgefunden
war, wieder verloren, — und wahrhaftig, wenn wir mit
aller Kraft darauf drängen, wenn fich darauf mit aller Bes
fonnenheit die Jugend legte, wenn es die Alten lehrten, die
ungen ftudirten, — man käme Baum auf den rechten Grund:
wo nämlich die Wahrheit liegt, — und nun fucht man fie
oberflaͤchlich und leichtſinnig.
*) Quintus Sextius, Water und Sohn, zur Zeit des Julius
Saͤſar, ſtifteten eine philoſophiſche Sekte, deren Grundſaͤtze
ſich der Pythagoraͤiſchen Philoſophie annaͤherten. Vergl. Se⸗
neca's Briefe 59. 64. Suetonius im Leben des Graimma⸗
titerd Eraffitius. — Plinius nat. hist, XVIL,, 28.
*+, Beruͤrmte Pantomimen zu Auguſtus Zeiten.
*++) en h:t übrigens nocy den Nebenbegriff eines unehrbaren
auſes.
Nachleſe
aus
Schriften von Seneca.”)
Ileber die Armuth.
ESs iſt etwas Schönes, ſagt Epikur, um eine vergnuͤgte
Armuth. Doch das iſt ſchon nicht mehr Armuth, wenn man
dabei vergnügt iſt. Wer mit der Armuth aut auskommt,
ift reich. Nicht wenn man Wenig hat, fondern wenn man
‚Mehr will, ift man arm. Denn was hilft ed, in Kaften
und Scheunen Alles voll ſtecken zu haben, und noch fo viele
Heerden zu haben oder zu wuchern, wenn man nad) Dem
fchielt, was man nicht hat, wenn man nicht zu Dem, was erwors
ben ift, fondern zu Dem, was erft erworben werden foll, Luft:
hat ? — Di fragft, was denn ber Maßſtab für den Reiche
*) Diefe Nachlefe, welche von ben Fragmenten zu unterſcheiden
iſt, rührt in biefer Zufammenftelung nicht von Seneca felbft
ber ; es find gefammelte Gedanken, wie eine Anthologie aus
verſchiedenen Bädern unfers Schriftſtellers und fo ziemſich
in feinee Manier , zufammengeftellt. Sie finken Ch um
is einer alten Handſchrift. —
1372 Nachlefe aus Schriften
thum fey? Fürs Erfte, daß man habe was nöthig ift, fürs
Zweite, fo viel ald genug ift. Man kann nicht ohne Sorgen
leben, wenn man zu viel daran denkt, fein Leben zu verlän—
gern. Kein Gut macht feinen Beſitzer glücklich, wenn nicht die
Seele darauf gefaßt ift, es zu verlieren. Ein großer Neidys
thum ift die in das Gefek der Natur fich fügende Armuth. —
Und weißt du, was für Grenzen uns das Geſetz der Natur ges
fteckt Hat? Daß wir nicht Hunger, nicht Durſt, nicht Froſt lei—
den. Um Hunger und Durft abzuwehren, brancht man ficdh
nicht auf Meere und in Feldlager zu wagen. Leicht zu er-
werben ift, was die Natur verlangt, — da ift der Tiſch
bald gedeckt. Um das Unnöthige vergießt man Schweiß, Das
iſt's, was die Kleider abnützt, was graue Haare macıt, was
an fremde Küften verfchlägt. So viel genug ift, hat man
bei der Hand. Wer fid im Beſitz des Geinigen nicht für
| den Reichſten hält, der mag Herr von der ganzen Welt feyn,
— u, Sl _ 00 mr cken vn ——
— —*
an
er ift doch efend. Elend ift, Wer fidy nicht für den Glüſck⸗
fichften hält, und wenn er über die ganze Welt herrſchte.
| Mer nicht glaubt, daß er's ſey, ift nicht glüdlih. — Mau
: muß Nichts haben, wobei Der, fo es zu vanben frachtet,
| viel ‚gewinnen könnte. Dein Körper foll fo wenig als mög⸗
lich zu erbeuten darbieten. Es geht: Niemand, vder nur
fehr Wenige , auf Menfchenbint aus, um des Blutes willen.
Den Nadten läßt der Straßenräuber gehen; auch auf ımte
lagertem Weg ift dev Arme unangefochten. — Den meiften
| Genuß vom Reichthum hat, Wer deffelden am wmeniaften
bedarf. Lebft du nach der Natur, fo wirft du nie arm ſeyn;
nach dem Vorurtheil, niemals reich. Ganz wenig bedarf
Pre Macut, unermeblich viel ber Wahn. Würde auf did zus
von Seneca. 41575:
ſammengehaͤuft, was viele Reiche beſaßen, würde dad Glück
dich über alle Grenzen von PrivatreichtHum hinaus erheben,
mit Gold bedecken und in Purpur Bleiden, und dir folche
Herrl ichkeiten und Schäte gewähren, daß du die Erde mit
Marmor bededen, baß du den Reichthum nicht nur haben, .
fondern darauf treten könnteſt, kämen dazu noch Bildfäulen
und Malerwerke, und was je die Kunſt im Dienft der Pracht:
fiebe in Gold und Silber ausgearbeitet Hat, — du würdeft
daran nur lernen, noch Größeres zu wünfchen. Die natür:
lichen Bedürfniffe haben ihre Grenzen, die aus einem Wahn
entftehenden finden Fein Ende. Denn für den Wahn gibt
es fein Ziel. Die Wahrheit hat einen Grenzpuntt, der
Irrthum geht in's Unendliche. — Darum ziehe did) vom Eis
ten zurück: und wilft du wiffen, ob du natürliche oder eitle
Wünſche Haft, fo überlege, ob fie irgendwo einen Ruhepunkt
haben. Wenn du, weit fortgefchritten, immer nocd Etwas
im fernen Hintergrunde fieheft, fo erkenne, das fey nicht
naturgemäß, Die Armuth iſt unbefchwert , unbekümmert.
Wenn der Schlachtruf ertönt, weiß fie, ed fey nicht auf fie
abgefehen ; wenn Alles verloren ift, ſucht fie, wie fie hins
anstomme, nicht was fie hinausbringe. Und muß er [der
Ar me)] zu Schiffe gehen, fo ift am Ufer nicht Unruhe von
des Hafens Seräufch, nicht von eines einzigen Menfchen
Begleitung; nicht umftehet ihn eine Schaar von Leuten, bie
zu erhalten ein veicher Ertrag aus den Gegenden jenfeits
des Meeres herbeigewünfcht werden muß. Es ift feine Sa-
che, wenige Bäuche zu füttern, und die fchon gut gewöhnt
find, und Nichts verlangen, als gejättige zu werden. Der
Hunger koſtet wenig, theuer ift nur die RXVGCìùad. Bit
4574 Nachleſe aus Schriften
muth ift zufrieden, den augenblidtichen Bedürfniffen abzu⸗
helfen. Das ift ein vernünftiger Reicher, der, wenn er auch
Reichthümer hat, fie doc, ald etwas Vergängliches bejist.
Warum follteft du dich alfo weigern, fie zur Genoffin zu ha⸗
ben, da ihre Zebensweife der Reiche nachahmt, wenn er ver-
nünftig ift? — Willſt du eine freie Seele haben, fo mußt
du entweder arm feyn, oder wie ein Urmer. Es kann Feine
unjer Wohl fördernde Beſtrebung finktfinden ohne Liebe zur
Mäaßigkeit. Cinfachheit der Lebensweiſe ift freiwillige Are
muth. Wielfältig haben ganze Heere Mangel an allen Dins
gen gelitten, haben von Wurzeln der Kräuter gelebt, und
unfäglichen Hunger erdufdet. Und dieß Alles haben fie aus:
geftanden für eine Königsherrfchaft, von der fie, was nod)
Das Wunderlichſte ift, nicht einmal Etwas hatten. — Und
man folfte noc, Anftand nehmen, Armuth zu erfragen, um
das Gemüth von Leidenfchaften frei zu machen ? Vielen war
des Reichthums Gewinn nicht das Ende, fondern nur ein
Wechſel ihres Elends. Und das wundert mich nicht. Der
Fehler Tiegt nicht in den Dingen, fondern im Gemüth ſelbſt.
Pas und die Armuth beichwerfich gemacht Hat, wird auch
der Reichthum befchwerfich machen. Wie es einerlei ift, ob
du den Kranken auf ein hölzernes Bet: leaft, oder auf ein
goldenes: Du magft ihn hinüber oder herüber legen, wie
du willft, ev nimmt eben feine Krankheit mit: fo iſt es gleich⸗
viel, ob ein Erantes Gemüth im Keichthum oder in der Ar—
muth ift: fein Uebel geht mit ihm, Zu einem forgenfreien
Leben brauche ich dag Glück nich“. Denn was für dad Ber
dürfniß genug ift, wird es gewähren, wenn ed auch zürnt.
WYnf dag und Dad Geſchick nicht ungefaßt finde, werde die
von Seneeca. 4575
Armuth unfre Vertraute. Wir werden mit minderer Sorge
-veich feyn, wenn wir wiflen, wie gar nicht fchwer es ift,
arm zu feyn. Schide dich an, mit der Armuth Zeltbrüder⸗
fchaft zu haften. .
Bag’ ed, 0 Fremdͤling, verachte die Echaͤte, und denke du dich
auch,
„Wuͤrdig der Gottheit.” 9)
Kein Anderer ift werth, Bott ähnlich zu heißen, als Wer
die Schäbe zu verachten gelernt hat. Darum will ich dir den
Beſitz nicht.verwehren, aber machen möcht? ich, daß du ihn
furchtlos befäßeft. „Dahin wirft du es einzig dadurch brine
gen, daB du die Weberzeugung Haft, du werdet auch ohne
denferben gut leben, und dag du ihn ald Etwas befrachteft,
das ein Ende nehmen werde. Sen es, Wer es will, der
dich verläßt, es war ihm nicht um dich, fondern um etwas
Anderes bei dir zu thun. — Schon darum allein follte man
die Armuth lieb Haben, weil fie zeigt, von Wem man ges
liebt werde. — Es will viel heißen, wenn man durch das
Zuſammenleben mit dem Neichthum nicht verdorben wird,
Groß ift Der, weicher beim Reichthum arm if. Es kommt
tein Menfd) veich auf die Welt. Wer an das Licht tritt,
hat die Weifng, mit Brod und Milch fich zu begnügen. :
Und:doch find ung, die wir einen foldyen Anfang genommen, '
Königreiche nicdyt groß genug. Brod und Waller verlangt
die Natur. Dafür ift Feder reich genug; und wenn Einer feine |
Bedürfniffe in diefe Grenzen einfchränft, der kann Jupitern
ſelbſt die höchfte Glückſeligkeit ffreitig machen. — Der Glücks
—
*) Virgils Aen. VIII, 364 f.
7
‚A576 Nachleſe aus Schriften
zuſtand ift etwas Beunruhigendes, man macht ſich felbft Sor⸗
gen dabei, fchafft ſich Grilfen, auf allerlei MWeife. Die Ei-
nen werden zu Prachtliebe gereizt, die Andern wollen große
Herren werden; die Einen werden aufgeblafen, die Andern
verweichlicht. — Willſt du dich überzeugen, daß Armuth
ſchlechterdings Fein Unglück fey, fo vergleiche unv des Armen
und des Reichen Miene miteinander. Deffer und herzlicher
Lacht der Arme; Bein Bekümmerniß verfchencht feine Ruhe,
— er fleht [dafür] zu hoch, — die Sorge fliegt wie eine
leichte Wolfe an ihm vorüber. — Die Heiterkeit Derer, die
man glücklich nennt, ift erheuchelt; fen unerträglicher und
übertriebener Stolz macht Diefen, wenn's ſchon nicht Jeder⸗
mann ſieht, düfter, ja es drückt ihn um fo mehr, weil fole
che Leute manchmal nicht vor aller Welt unglücklich feyn
dürfen, nein, ev muß unter Herzzerfreffendem Kunmer den
Glücklichen fpielen. — Reichthümer, Ehrenftellen, hohe Ge—
walt und dergleichen ziehen vom rechten Weg ab; folche
Dinge find in der Meinung der Leute etwas Köftliches, —
ihren Gehalt nad) werthlos. Wir haben nicht die richtige
Scäsung für die Dinge, über welche man nicht der Leute
Geſchwätz, fondern die Natur hören follte. Sie haben nichts
Großarfiged, was unfern Geift anzichen könnte, außer daß
wir eben gewohnt find, einen Werth darauf zu legen. Man
preißt fie nicht, weil fie wünfchenswerth find, fondern weil
man fie wünfcht. Dieß ift der überwiegende Grund, den
der Reichthum für ſich hat. [Im übrigen aber] verändert er
die Geſinnung, gediert Stolz und Anmaßung und hat den
Neid zum Gefolge; er beninnmt uns in folchem Grade den
Derfond, daß wir unfere Luſt daran haben, wenn wir nur
von Venen 1377
von Geld hören, ed mag barans folgen, was ba will, —
Was ein Gut ift, darf Beinen Vorwurf auf fi kommen
laſſen; es ift rein und verderbt und beunruhigt das Herz
nicht; es erhebt und erfreuet zwar die Seele, aber ohne
aufzublafen. Was ein Gut ift, flößt Selbftvertrauen ein,
der Reichthum macht Bed, Was ein Gut ift, gibt hohen
Muth, Reihthum macht, daß man ſich ſelbſt überfchäpt.
(Beruhigung bei Unfällen.)
Obſchon die Dichtwerke aller Poeten beftändig beine
edle Lieblingsbeichäftigung find: fo Hab’ ich doch, nachdem
ich⸗s einmal überlegte, für eintretende Unfälle dieß Büch⸗
fein an dich richten wollen, das, wenn auch nicht unter
den. Seitgenoffen *), doch wohl bei der Nachwelt einigen
‚Namen befommen wird.
. Womit fol ich nun zuvörderſt beginnen? — Wenn da
Nichts dawider haſt, mit dem Zode. — Alſo mit Dem,
*% Wie erlauten und in biefer fatalen und offenbar verborkes
wen Stelle praesentes ftatt praccedentes zu Iefen: ober,
wenn praeced. beibehalten wird; fo wäre ber Sinn: is
einer Urt, wie Keiner ber Srühern die Sache barzuftellen
pflegte, wie es aber doch wohl in Zukunft (oͤſter) gefches
ben wird. Der: Obſchon die Dichtwerte aller Poeten
dein Herz ſtets erleuchten, fo hab' ich doch, indem ich
ven Entſchluß faßte, dieſes Werkchen für eintretende Un⸗
fale an dich zu richten, mich einem Geſchaͤft unterzogen,
dem fig dee Bräneren Seiner unterzog, von bem aber bie
VWachwelt ſprechen wird,
Seueca. 118 Bin. 8
4578 Nachleſe aus Schriften
was das Letzte iſt? — Nein, das Wichtigfte. Dabor fchriftt
‘ja alle Welt zufammen, und, wie du es anfiehft; nicht ohne
Brund. Was man fonft fürchtet, laßt doch noch irgend eis
nen Ausweg offen, bei dem Tod ift Altes abgefchnikten.
Anderes fpannt und wohl auf eine Folter, — der Tod
ſchlingt Altes in fi hinein. Bei Allem, wovor man ein
“ Grauen hat, geht es eben auf den Tod hinaus, Anderes
führt auf Ummwegen dahin. *) Her auch ſonſt Nichts zu
fürchten glaubt, hat doch in diefer Hinficht eine Furcht.
Was man fonft fürchtet, dagegen gibt's doch entweder ein
Mittel oder einen Zroft. Darum fafle did, fo, Daß bu,
. wenn man Mr in's Geficht hinein den Tod drohte, alle ſeine
Schreckenspfeile verlachen kannſt.
„Du wirſt ſterben.“ Das iſt des Menſchen Natur,
nicht Strafe. „Du wirſt ſterben.“ Unter dieſer Bedin⸗
gung bin ich in's Leben getreten, daß ich wieder austreren
maß. „Du wirft 'fterben. Das gehört zum Wötter⸗
recht, daß man wieder hergibt, was man empfangen haf.
„Du wirft ſterben.“ Das Leben ift ein Wandern. Iſt
man weit genug ‚gewandelt, fo muß man wieder heimgehen.
„Du wirft ſterben.“ Ich dachte, du wüßteſt mir etwas
Neues. Dazu bin id) ja gefommen, das ift mein Gefdyäfte,
dahin führt mic, jeder Tag. Dielen Grenzftein hat mir die
Natur fogleich gefezt, da ich geboren ward. Was hätt’ id)
für Grund, darüber unwillig zu ſeyn? Darauf hab’ ich ger
ſchweren. „Du wirft ſterben.“ Es iſt chöriche, zu fürdhe
ze) Nach der Eonjectur: aliaque per circuitum (sc. eo per-
Jucun!).
‘
von Genen. 1379
ten, was man nicht vermeiten Fan. Dem entgeht man
doch nicht, wenn's auch Yinausgeihoben wird. „Du wirft
ſterben.“ Aber ich bin weder der Erſte, noch der Letzte.
Diele find mir vorangegangenz; Alle werden folgen. „Du
wirft ſterben.“ Das ift ter letzte Dienft, den ich als Menſch
zu thuu habe. Welcher Vernünftige hat was dawider, wenn
er den Abfchie bekomme? Da hinüber wohin alte Welt
muß, sch” ich aber audı. Auf dieſe Bedingung hin wird
Altes geboren. "Was einen Anfang hatte, hört auch auf.
u Du wirft ſterben.“ Mas nur Einmal if, iſt nichts
Schweres. Meine Schuld tenw ih. Die Hab’ ich bei einem
Gläubiger gemacht , den ich nicht durch einen Bankbruch zu
Schaden bringen Fan. „Du wirft ſterben.“ ums Him ⸗
meldwillen! Es Bann ja einem Sterblichen Niemand ein
größer Glück drohen , als diefes!
ber du wirft enthauptit werden!" Mas liegt daran,
ob ic, durch Hieb oder Stich fterbe? „Aber es wird wicht
anf einen Hieb gehen, und eine Menge von Schwertern
wird anf dich Toshauen.“
Was liegt daran, wie viele Wundon ich hate, Kann
tod) nur- Eine toͤdtlich Senn.
„Du wirft in der Fremde ſterben.“ Es mag feyn, wie
146 will, et führt in's Todtenreih nur ein Weg. — „Du
wirſt in der Fremde ſterben.“ Ich bin zu bezahlen bereit,
Was ich ſchutdig bin. Mein -Derleiher mag zuſehen, wo er
mic) befangen fönne. „Du wirft in der Fremde ſterben.“
Der Todte it überall in feinem eigenen Land. „Du wirft
in ter Fremde ſterben.“ Es fchläfe ſich Bu (a ihtı
*
4380 Nachleſe aus Schriften
als daheim. „Du wirft in der Fremde fterben. So komm’
ich in Die Heimath ohne Reiſegeld. —
„Aber du wirft jung ſterben.“ Am beften, man flirbt,
‚ehe mans wünfcht. „Du wirft jung flerben. Das ift dad
Einzige, wad dem jungen Mann fo gut zufleht, wie dem
Greis. Wir werden nicht nach der Volksliſte abgerufen, -
und man fragt da nicht nadı der Zahl der Jahre. Erwach⸗
fene eder Kinder — es fteht Alles unter dem gleichen unaud:
‚weichbaren Zodesgefes. Am beften iſt's zu fterben, wenn
man pc gern lebte „Du wirft jung ſterben.“ — Wer
an das Aeußerſte feines Lebensziels gekommen iſt, flirbt
als Greis. Denn es kommt nicht darauf an, was das Al
ter des Menſchen, fondern was fein Ziel ift. ‚Du wirf
jung ſterben.“ Vielleicht überhebt mich das Glück irgend
eines Uebels , und wenn keines andern, doch des Alters. —
„Du wirft juna ſterben.“ Es liegt Nichts daran, wie viel
Sabre ic, art bin, fondern wie viele ich empfangen habe.
Wenn ich nicht weiter Ichen kann, das iſt mein Greifen
alter.
„Du wirft unbegraben Tiegen bleiben.” — Was 'ſoll
id) darauf erwiedern, als jened Wort Maro’s ;
— — — leicht ift des Grabes Entbehrung.
Wenn ih Nichts empfinde, fo geht mich's Nichts an, ob
mein Körper des Grabes verfuftig acht. Und hab’ ich Em:
pfindung, fo it begraben zu Seyn in jedem Fall eine Qual.
„Dun wirft unbegraben Tiegen bleiben.“
— — Der Himmel bedeckt; Wem mangelt die Urne,
Bas iſt's dern, ob mid, das Feuer krißt, oder ein wildes
von Geneca. 1584
Thier , ober das allgemeine Grab, tie Erde. Wer Nichts
davon eimpfinder, brands nicht, und Wer es fühle, dem
ifps eine Laſt. — ,,Dn wirft unbegraben daliegen.“ Aber
du dagegen verbrannt, du dazegen verfchüttet, du dagegen
verfaufend , du dagegen mit herausgenommenen Eingeweiden
and zufammengefchmort, und unter einen Stein gelegt, wo
du alfmählig zerfreſſen wirft und ausgetrocknet. Das Ber
graben iſt eigentlicy gar Nichts. Man wird nicht beftattet,
fondern hingeworfen. — J
„Du wirft nicht begraben werden.“ — Was iſt denn
zu fürchten, bei der vollkommenſten Sicherheit. Der Ort
iſt ja über das’ Biel altes Atbifens hinaus, Dem Leben
find wir viel ſchutdig, dem Tod haben wir feine Verbind⸗
lichteit. Nicht der Geftorbenen, fondern der Lebenden wer
gen ift man aufs Begraben gefommen, auf daß tie Körper
entfernt werden, bie für den Anbfict und für den Geruch
ectelhaft find. Die Einen bedeckt die Erde, die Andern vers
zehrt die Flamme, Andere fehließt ein Grabftein ein, unter
dem man die Gebeine wieder haben kann. Es ift nicht um
die Todten, fondern um unfre Augen zu thun.
„Ich bin krauk.“ So ift die Zeit gefommen, wo idy
mich ſeibſt kenuen fernen fann. Nicht auf dem Meere nur
eder in, der Schlacht zeigt ſich der Heid. Auch auf dem
Krankenbette laßt ſich tapfrer Muth beweiſen. „Ich bin
krank.“ Das kann nicht ewig dauren. Entweder verlafe
ich das Fieber, oder es verlaßt mich. Immer fönnen wir.
nicht beifammen ſeyn. Mit der Krankheit hab? ich's zu
thun, eutweder wird fie unterliegen, oder -überwinten.
41380 Nachleſe aus Schriften
als daheim. „Du wirft. in der Fremde ſterben.“ So kom
ich in Die Heimath ohne Reiſegeld. —
1, Aber du wirft jung ſterben.“ Am beſten, man Mir
ehe mans wünſcht. „Du wirft jung ſterben,“ Das if!
Einzige, was dem jungen, Mann fo gut zufteht, wie d
Greis. Wir werden nicht nach der Volksliſte abgeruf
und man fragt da nicht nach der Zahl der Jahre, Erwa
ſene eder Kinder — es ſteht Alles unter dem gleichen unaı
weichbaren Zodesgefeh., Am: beften iſt's zu flerben, we
man mod) gern lebte. „Du wirft jung ſterben.“ — U
an das Menferfte feines Lebensziels gekommen iſt, fli
als Greis. Denn es komme nicht Darauf an, was das t
ter des Menſchen, fondern was fein Ziel iſt. „Du wi
jung. flerben.'’ Vielleicht überhebt mid das Glück irge
eines Uebels, und wenn keines andern, doch des Alters,
‚n Du wirft jung ſterben.“ Es liegt Nichts daran, wie d
Sahre ich alt bin, fonbern wie viele ich empfangen ba
Wenn id) nicht weiter Leben kann, das iſt mein Greifi
alter.
„Du wirft unbegraben Tiegen bleiben." — Was If
id) darauf erwiedern, ald jenes Wort Maro's;
— — — beiqt iſt des Grabes Entbehrung.
Wenn ich Nichts empfinde, fo geht mich's Nichts an,“
mein Körper des Grabes verluſtig geht. Und hab’ ich E
pfindung, fo ift begraben zu ſeyn in jedem Fall eine Qu
„Du wirft unbegraben Tiegen bleiben,’
— — Der Himmel bededt; Wein mangelt die Urne,
Bas ifP8 denn, ob mid) das Feuer frißt, oder ein wild
‚von Geneca. 1384
Thier, oder dad allgemeine Grab, die Erte. Mer Nichte
davon empfindet, braucht's nicht ,- und Wer c8 fühlt, dem
ie8 eine Lafl. — „Du wirft unbegraben daliegen.“ Aber
du Dagegen verbrannt, du dagegen verfchütter, du dagegen
verfaufend , du dagegen mit herausgenommenen Eingeweiden
und zufammengefchmort, und unter einen Stein gelenkt, wo
du allmaͤhlig zerfreffen wirft und ausgetrocknet. Das Bes
graben iſt eigentlid,) gar Nichts. Man wird nicht beftattet,
fondern hingeworfen. — |
„DDu wirft nidyt bearaben werden.’ — Mas ift denn
zu fürchten, bei der vollfommenften Sicherheit. Der Ort
iſt ja über das’ Ziel alles Abbüßens hinaus. Dem Leben
find wir viel ſchuldig, dem Tod haben wir feine Verbind⸗
lichkeit. Nicht der Geſtorbeuen, fondern der Lebenden wer
gen ift man auf's Begraben gekommen, auf daß tie Körper
entfernt werden, die für ten Anblick und für den Geruch
eckelhaft find. Die Einen bedeckt die Erde, die Andern vers
ehrt die Flamme, Andere schließt ein Grabftein ein, unter
dem man die Gebeine wieder haben kann. Es ift nicht um
die Zodten, fondern um unfre Augen zu thun.
„Ich bin krauk.“ Co ift die Zeit gekommen, wo idy
mich feibft Eennen lernen kann. Nicht auf dem Meere nur
eder in, der Schladst zeigt fid, der Held. Auch auf dem
Kranfenbette läßt ſich tapfrer Muth beweifen. „Ich bin
krank.“ Das kann nicht ewig dauren. Entweder verlaffe
ich das Fieber, oder es verläßt mich. Immer können wir
nicht beiſammen feyn. Dit der Krankheit hab? ich's zu
thun, eutweder wird fie unterliegen, oder überminten,
2882 | Nachleße aus Schriften
„Es reden die Leute ſchlecht von dir.“ Aber ſchlechte.
Es würde mid) bennruhigen, wenn ein Marcus. Cato ſo
von mie ſpraͤche, oder ein Laͤlius der Weiſe, oder der au⸗
dere Cato, oder die beiden Scipionen. Nun iſt mir's ein
ww, daß ich den Schlechten miß falle. Es kann ein Rice
terſpruch kein Gewicht haben, wenn ein Menfch dad Wer:
dammungsurtheil fpricht , der ſelbſt verdammlich if. , Es
reden die Leute Uebels von dir.‘ Das Eöunte mich rühren,
‚wenn fie es mit Vernnuft thäten: fo thun fies aber in
Uuvernunft. Sie reden nicht aegen mich, fondern gegen
fh. — „Sie reden Mebels von dir.’ Sie willen eben nicht
Gutes zu veden. Sie thun, nit was ich verdiene, fons
‚bern wie ed ihre Art if. Es gitt ja gewilfe Hunde, denen
es fo angeboren ift, daß fie nicht aus Wildheit, fondern
and Gewohnheit bellen.
„Du wirft inter Verbannung leben.‘ Du irrſt. Wenn’s
Alles ift, über mein Daterland kann ich Loch nicht hinaus.
Es ift für Alle nur Eined. Ueber Das hinaus kann Nies
mand wandern. „Du wirft verfaunt werden.’ Nicht das
Daterland ift mir verwehrt, nur ein Ort. Zn welches Land
sch auch Fommen mag, ich komme in mein Eigenthum. Kein
Land ift ein DVerbannungsort, es ift nur ein andres Vater
„Sand. — „Du wirft nicht in deinem Vaterland ſeyn.“ Gin
Baterlend ift, wo gut feyn it. Das aber, wodurch gut
ſehn ift, liest am Menfchen, nicht am Ort, in feiner Macht
ſteht's, weiches fein Schickſal ſey. Denn wenn er weife if,
fo ift er auf der Wanderung begriffen ; ift er ein Thor, daun
erst ift er in Verbannung — „Du wirft in Verbannung
von Geneca. 4883
eben. Damit ift Nichts anderes gefagt, ald: „man wirb.
Dir dein Bürgerrecht an einem andern Ort auweiſen.“ —
„Es fteht dir ein Schmerz bevor.” — Iſt er nicht
von Bedeutung , fo wollen wir ihn ertragen; da will audy
das Duden nicht viel heißen : ift er ſchwer: fo if der Ruhm
Lihn zu erfragen] Beine Kleinigkeit. Einen Schrei mag
der Schmerz immerhin auspreffen, nur fein Geheimniß preffe er
heraus. „Es kann der Menfch dem Schmerz nicht gewachfen
ſeyn.“ — Aber der Schmerz ift auch der Vernunft. nicht
gewachſen. — „Etwas Hartes ift der Schmerz.“ Nein,
fondern du ein Weichling. — ,. Wenige haben den Schmerz
ertragen können.“ — Nun fo. wollen wir unter diefen Wes
nigen ſeyn. — „Wir find Schwach, von Natur." — Schel⸗
tet mir die Natur nicht. Sie hat uns zu Helden geboren. —
Laßt uns dem Schmerz entfliehen.’ — Wie, wenn er
aber den Fliehenden nachgeht?
„Die Armuth ift mir zur Laſt.“ — Nein, du der Ars
muth. Nicht an der Armuth liegt der Fehler, fondern an
dem Armen. Sie ift unbefchwert, heiter, gefahrlos. —
„Ih bin arm.” — Du mertft nicht, daß dir's nicht im
der Wirklichkeit fehlt, fonbern in ter Meinung. Du biſt
arm, meildu dir fo vorkommſt. — „Ich bin arm.“ — Fehlt
es doch den: Bögeln an Nichts. Die Thiere leben vom eis.
nem Tag zum andern. Das Wild in feiner Wüfte hat ges
nug zur Nahrung.
„Ich bin nicht mächtig.” — Wünfche dir Glück, fo wirk
du deine Macht nicht mißhrauchen. — „Ich kann Unrecht
teiden müſſen.“ — Wünfche Bir Glück, — thun wird Aus&<C
"nicht können. — „Es hat Der oter Ionen el Bein.
158% Nachleſe aus Schriften
Das Denkſt du, fey ein Menfh? Ein Kaften if. — Wer
wird denn eine Kaffe um ihre vollen Fächlein beneiden ?
Der, den du für des Geldes Herrn hHältft, ift auch fo ein
Faͤchlein. — „Ja, er bat viel. — Iſt er ein Geizhals
oder ein Derfchwender ? Wenn er ein Geizhals ift, fo kat
er’d nicht; ift er ein Derfchwender, fo wird er’s nicht bee
halten. Der, den du für glückſelig hättft, hat oft Kummer,
oft feufzt er. — „Viele Leute find in feinem Gefolge.‘ —
Die liegen gehen dem Honig nad), die Wölfe dem Aas,
die Ameifen dem Getreite. Dem Gewinn zieht ſolches Ge⸗
finder nach, nicht dem Mann.
„Mein Geld ift verloren. — Vielleicht wäreft durch
daffelbe du verloren gewefen. — „Ich habe Geld verloren.” —
So haft du doc welches gehabt. „Mein Geld ift hin. —
Uber du Haft num davon aud) nicht mehr fo viel Gefahr.
„Ic habe mein Geld verloren! — O du Glücklicher,
wenn du damit auch den Geiz verloren haft! Doch gefezt,
der bleibt dir auch, fo bift du doch in jedem. Fall glücklicher,
daß diefem gewaltigen Webel etwas Stoff entzogen worden
if. — „Mein Geld ift zu Grunde gegangen. * — Aber eben
diefes — wie Diele bat es fchon zu Grunde gerichtet! Und
fo bift du nun künftig auf Reifen um fo unbefchwerter, zu
Haufe um fo ſicherer. Du wirft nicht nur Beinen Erben
haben, fondern auch Seinen fürchten. Das Glück hat dich
entlaftet, wenn du's zu fchäben weißt, und ficherer geſtellt.
Kür Schaden hältſt du's? Ein Heilmittel iſt's. Du weineft,
du fenfzeft, du fchreift dich Für unglüdfelig aus, daß du
um Reichthümer gefommen bil. — Es ift deine Schuld,
205 bir biefer Verluſt fo trancig if. Du würdet dich nicht
von Senen, 1585
fo unglüdlich fühfen, wenn du fie befeffen Hätteft, als‘ künne
teft, du fie verlieren. — „Ich habe mein Geld verloren. —
Nämlich Das, was erft ein Anderer verloren haben mußte,
damit du es haben konnteſt —
„Ich habe die Augen verloren.“ Auch die Nacht hat
ihre Luſt. „Ich habe die Augen verloren.“ — Wie vielen
Begierden iſt damit der Weg abgeſchnitten? Von wie Vie⸗
lem wirſt du verſchont bleiben, um deßwillen man ſich wohl,
auf daß man. es nicht ſehe, die Augen ausreißen ſollte!
Siehſt du nicht ein, daß Blindheit ein Schritt zur Uns
ſchuld iſt? Den Einen weifen feine Augen zum Ehbruch,
den Andern zur Biutfchande, dem Einen ein Haus, deffen
er ſich gelüſten Laffe, dem Andern die Stadt und alf ihr
Unheil. Wenigſtens find fie Anreizungen au Laſtern und
Wegweiſer zu Schandthaten.
„Ich habe meine Kinder verloren.‘ Thor du, wie
kannt du lagen über das Sterben fterblicdyer Wefen ? Was ift
denn Das Neues oder Auffallendes? Wie felten ift ein
Haus ohne diefen Unfall ? Witt du denn einen Baun uns
glüctich nennen, wenn feine Früchte fallen, und er ſtehen
bleibt? Und das ift ja deine Frucht. — 6 iſt kein Menſch,
den dieſe Wunde nicht treffen könnte. [ Kein Menſch ſteht
auſſerhalb der Schußweite folder Wunden. ] — Fruͤhe Leis
hen führt man aus dem Diebejerkaufe hinweg, aber eben fü
aut aus Königspaläften. Der Tod führt feine Reihen
nicht nach der Altersordnung. Nicht je nachdem er kam,
wird Jeder auch entlaffen. — Was wiillſt du denn dagegen
Haben? Was. iſt denn gegen: dein Erwarten giant ER
Aind Bergängrice dahingegangen. — ‚üer a te Ss
- S
.
1886. Nachleſe aus Schriften
wänfht, fie ſolten mic; überfeben.'' — Doch hatte bir. das
Niemard zugefagt! — „Meine Kinder find geſtorben.“ —
Sie hatten Einen, dem fie mehr angehörten, als dir, bei
die weilten fie nur Vergünſtigungsweiſe. Zur @rziehung
hatte fle dir das Schickſal übertragen. Es hat fie zurückge⸗
nommen , nicht entriffen.
„Ich habe Schiffbruch gelitten." — Denke nicht, was
du ‚verloren haft, fondern daß du entfommen bift. — „Euts
biößt von Allem bin ich davon gekommen." — Doch bit du
Bayon gekonmen. — „Ich habe Altes verloren.‘ — Aber
du Hätten auch ſammt Allem verloren ſeyn Fünnen.
„Ich bin unter Räuber gefalen.“ — Ein Anderer aber
unter Anklaͤger, ein Anderer unter Diebe, ein Anderer
unter Betrüger. Der [Eehens-) Weg ift voll Laurer. Jam⸗
mere nicht, daß du unter fle gefallen bift, wänfche dir Glück,
daß du enttamft. — „Ich habe einfußreiche Feinde. —
So wie du gegen reiflende Thiere dich nah Schugmitteln
umſiehſt, fo wie gegen Schlangen : fo befinne dic, gegen
Geinte auf Hülfsmittel, um fle entweder abzuhalten, oder
zu dämpfen, ader, was das Beſte wäre, fie zu verhöhnen. —
„AIch Habe Feinde.“ Das Schlimmere it Das, daß du
eine Freunde haft.
„Id habe einen Freund verloren?" Iſt's deun auch
gewiß, daß du an ihm Einen hattet? — „Ich habe einen
Sreund verloren.‘ — Suche dir einen Audern, fuche ihn
da, wo er zu fuden ſeyn könnte. Suche ihn unter den
edeln Wiſſenſchaften, fuche ihn bei edler und redlicher Pflicht»
efällang, ſuche ihn bei augeſtrengter Thatigkeit. Es if
944 wit. @rwas, das man bei der. Tafel gewinnt, — fuche
von Seneca. 4887,
dir einen Nechtfchaffenen. — „Ich habe einen Freund. vers
loren.“ — Habe getroften. Muth, wenn es nur. Einer ift;
ſchaͤme did, wenn es der Einzige war. — Was. verlicheft
du Dich denn unter fo gewaltigen Stürmen auf einen einzis
geu Anker ?
.Ich habe eine vechtichafene Gattin verloren?" —
Hatteft du fie als eine Nechtfchaffene gefunden, oder fie zu
einer ſolchen gebildet ? Hatteft du fie als eine folche ſchon
gefunden, fo erkenne daraus, daß du fie hatteſt, du könneſt
auch jest noch eine folche Haben. Hatteſt du fie fo gebildet,
ſo hoffe getroſt. Dein Werk ift dahin, der Künftler lebt |
noch. — „Ich habe eine gute Gattin verloren.‘ — Was ges
fiel din an ihr? Ihre Züchtigkeit ? Wie viel find Ihrer nicht, |
weiche Biefeibe nach langer Bewahrung dody noch verloren? —
Ihr anfändiged Benehmen? Wie Mauche unter den Bes |
währten des Matronenftandes haben am Ende doch nody
angefangen , unter die Beifpiele von Weränderlichkeit zu ges |
hören? — Beglüdte did, ihre Treue? Wie Manche fchen |
wir ,.die aus den beften Gattinnen die fchiechteflen wurden,
aus den gewiflenhafteften die ungeorbnetften ? Die Gemäthes :
art aller Unerfaprenen, [Leute ohne Philoſophie doch am
meiften die der Weiber, ift wandelbar. Gefent, du hatte
eine rechtfchaffene Gattin, du Eannft dach nicht behaupten, :
daß fie hei diefer Geflunung geblieben wäre. Nichts ift fo
beweglich, ald der Wille der Weiber, Nichts fo unftät. :
Wir wiflen von Auffündigungen alter Ehen, und, was
noch ärger ift als Scheidung, von Unfrieden bei unglüdfis'
den Verbindungen. Wie manches Weib. hat ten Man,
den. fie in der Jugend lich hatte, verlafen, umcıt we
in. >)
—
1388 Nachleſe Aus Schriften
'inander älter wurden!" Wie manchmal haben wir über alte
Beute gelacht, die ihre Ehe getrennt haben. Bei wie mans.
dem Weibe Kat fich eine ſtadt kundige Liebe in noch ſtadt⸗
kundigern Haß verwandelt!
„Aber die Meinige iſt nicht nur rechtſchaffen geweſen,
fondern fie wäre es auch geblieben, wenn fie das Leben ger
Habt Hätte." — Ahr Tod hat dich in den Stand gefent,
daß du dieß ohne Gefahr behaupten kannſt.
„Ich habe eine rechtſchaffene Gattin verloren.“ — Die wird
wieder zu finden ſeyn, wenn du Nichts anders ſuchſt; als daß
fie rechtſchaffen fey. Laß dich nur nicht von Rüͤckſichten leiten,
auf Ahnen⸗Bilder und Abftammung, oder Vermögen, welchem
bie edle Abkunft felbft nachgefezt wird. Dergleichen, zu fammt
Her Schönheit, wird nicht lange Stand haften. Ein Ges
müth, das fich nicht mit Eitelteiten bläht, wirft du cher
lenken. Wenn Eine zu viel von fic ferbft Hält, wie ift
nahe daran, den Mann zu verachten. Heirathe du eine
wohl Erzogene, und die nicht fchon von der Mutter her in
Laſtern ſteckt: nicht Eine, in deren Ohrläppchen von jedem
ein Heirathgut herabhängt! micht Eine, die mit Perlen
überladen ift, und die Dir weniner mitbringt, als ihre
Kleider werth find die in offener Sänfte in der Stadt um:
bergetragen, von aller Welt überall fo gut befchaut wird,
als von ihrem Ehemann, und für deren Gepäde das Haus
nicht weit genug ift. Eine Solche, die noch nicht vom alls
gemeinen Ton verdorben ift, wirft du leicht nach dem dei⸗
nigen flimmen.
„AIch habe eine rechffchaffene Gattin verloren. —
EpAmif on bich nicht, zu weinen und deinen Verluſt uuer⸗
20.290. Genese. on 1389
tedgtich zu nennen? Wenn Das das Einzige ift, was dit
fehlt, fouft du fie dann betrauren, oder nicht? Wenn du
bedenfft, daß du Gatte bift, fo beren® auch, daß dı
‚Mann bift. ' |
„Ich habe eine-vechtfchaffene Gattin verloren.“ — Ein
ante Schwerter tft nicht wieher zu bekommen, oder ein
Mutter. Eine Gattin ift ein Gur, das die Zeit brinat:
fie gehört nicht zu Dem, was Jedem nur einmal zu Theil
wird. — „Ich habe eine rechtſchafene Gattin. verleren.“ —
Ich kann dir Manche aufzählen, bie nach der Trauer um
eine vortreffliche Gattin eine noch vortrefflichere bekommen
haben.
— —
ter: durchfommen. Glückiich it, nicht Der Andern fo vors |
kommt, fondern Wer ſich ſelbſt dafür hält.
ni Br m Li; Eee. . Aue
verloren gegangenen Schriften
| | des
LU Seneca* ,.
Bei Quintilian VII, 3.
Henn man bei und im Dufammenfügen oder Abkeiten
der Worte einmal einen Fühnen Griff thut, fo findet man
datei kaum die schörige Anerkennung. Go erinnere ich
mich noch ans meinen frühen Jünglingsjahren, daß Pompos
nius **) und Seneca fid) in Vorreden dorauf eingelaffen has
ben, ob es bei Attins ***) in der Tragödie eine gute Mes
*, Diefe Sragınente finden fih außer Quintifiau, Pinius, Sue⸗
tonius und Gellzus, hauptſaͤchlich bei den Kirchenvätern Lacs
tanrius , Hieronymus und Auguftlinus, und bei den Gram⸗
matitern Servius und Priſcianus.
*) Publius Pompenius Secundus, ein Xragbdienkichter zu den
Zeiten des Caligula und Elaudius.
vr) Aıtius obre Accius, ein Traooͤbiendichter vor Eicero,
Beil. aus vetloren gegangenen Schriftäiie. "tänı
densart fey, wenn et: mer fept den Schritt über die
Schwelle.““
Bei Ebendenfelbein VIlI, 6.
Manche Kedensarten bekommen einen Siun erſt Dusch
den Gegenſatz, wie ein ſolcher bei Seneca vorkommt, in ber
Schrift, die Nero nad) Ermordung feiner Mutter an den
Senat ſchictte, da er den Scheln haben. wollte, als Hätte er
in Gefahr gefchwebt : — ich noch in Sicherheit fep, lheißt
es dort] das Kann ’idy iveder glauben, noch mich darüber
freuen. 5
Bei Ebendemferben IX, 1.
Die Nenern aber, und hauptfächlich Die, fo ſich ins
Redenhalten eindben wollen, Haben eine gar kecke und et⸗
was feidenfchaftliche Phantafie, wie Seneca *) in dem
Streitfall, deffen Hauptinhalt it, daß ein Water feinen
Sohn und deffen Stiefmutter im Ehebruch ergriff und tödtete,
geleitet von feinem andern Sohn. — „Führe mid Hin, ich
folge; faſſe diefe areife Hand und drücke ſie hin, wo du
win." — Und batd daran [fpricht der Sohn): „Da fich,
was du lange nicht geglaubt. haft." — „Nein, Lerwiedert
der Vater] ich fehe Nichts, — Nacht ſchwimmt vor meinen
Augen und dichte Finſterniß.“ — Diefe Durftellung hat gar
zu viel Anfchautichteit. Denn es ift nicht mehr, ale ob der
Verfall erzähft würde, fondern als ob es Wirklichkeit waͤre.
=) Hier iſt Seneca ber Rhetor, ker Baker veherd Wutskesten
gemeint,
ı4492 Vrnſbſt. auf, nerloren gegangenen Seifen,
Ebendafelb ſt.
ueberhaupt ſteht es einem Manne von Gewicht nicht
zu, zu ſchwören außer wo es fepn muß. Und Seneca
fpricht ſich darüber gar ſchon ang: es fey das nicht Sache
"Deren, die Einen In” Schut zu neßfnen baden, 'fohdern nur
Beugen ehe Dad zu.
«Wei Plinius, Maturseii. VI, i5.
Seneca — denn man hat auch; bei und eine Beſchrei⸗
bung von Indien unternominen,, — gibt ſechzig Ströme
diefes Landes an, und Völkerſchaften einhundertundachtzehn.
Eine gleich mühfame Arbeit möchte es ſeyn, die Gebirge
aufzuzähfen.
Bei Ebendemfelben IX, 55.
Don dem Lebensalter der Fifche haben wir kuͤrzlich ein
merkwürdiges Beifpiel vernommen. Panfilypum ift ein
Landgut in Eampanien, mahe bei Neapolis. Dort fey,
fehreibt Aundus Seneca, in den Kaiſerlichen Fiſchteichen
ein von Dedins Pollio eingefenter Fiſch, ſechzig Jahre
nachher geftorben, während zwei von gleichem Alter mit
ihm und von der nämfichen Gattang damals noch lebten.
Suetonius im Leben des Tiberius 73.
Seneca meldet von ihm [dem Tiberius ], er habe, als
er merkte, daß ihm die Sinne ſchwinden, den Ring vom
. Binger gezogen, und, als wollte ex ihn Jemanden geben,
des 2. U. Seneca. 4595
eine Zeitlang gehalten, dann aber wieder an ben Finger
geedt u. ſ. w.
Aulns Gellins Attiſche Nähte XI; =.
Seneca im zwei und zwanzigſten Buch der moralifchen
Briefe, die er an Lucilins richtete, fagt von Quintus Ens
nius, es habe derfeibe auf den Eethegus, *) einen Mann
von alterthümticher Art, folgende laͤcherliche Verſe ges
mad:
— — im bieß fein Bolt vor Zeiten, ihm hießen
Einft die Meufegen, bie damals waren und Yabre verlehten,
Exftlingentänge dem Wo; entfproffen,, und fräftige Guada-
Und hernach fchreibt. er über diefelbigen Verſe Folgendes :
es wundert mic), daß Männer von der größten Beredtſam⸗
teit, wenn fie auch für Ennind eingenommen waren, ſolch
laͤcherliches Zeug als etwas Worzügliches gepriefen haben.
Wenigftens führt Cicero auch diefe Verfe von ihm als gute
an. *) — Und fo fpricht er auch von Eicero. Es wundert
mich nicht, fagt er , daß Einer diefe Verfe Schreiben Eonnte,
da ſich auch Jemand fand, der fie lobte; es muß dem gro⸗
Ben Redner Eicero nur um ſich ſelbſt zu thun gewefen ſeyn,
wenn er folhe Verſe für gute angefehen willen - wollte,
*) Marcus Eornelius Sethegus, um's Jahr 200. vor Ehre.
Eonfut zu Rom mit Sempronius Tubitanus, Iegte fi in
feinem hoben Aiter erft anf die Rebetunft, worin er es no
fer weit brachte, "
*) Siehe Eicero’s Brutus €, 15.
Eeneca. 118 Dom, 9
39h Bruchſt. aus merloren gegangenen Schriften
Bald nachher fast Seneca: Man findet auch bei Cicero
ſelbſt Mandyes in feinem. profaifchen Vortrag, woraus zu
erfennen ift, er habe den Ennius nicht vergeblich gelefen.
Er legt fofort Einiged dar, was er als Ennianiſch 'bei Ci⸗
ceso tadelt, daß derſelbe in feinen Büchern über den Staat
fofgendermmßen fchrieb: 3. B. der LZacedämonier Menelaus
‚hatte eine füßredendbe* Anmuth; und daß er
in einer andern Stelle ſagt: er fol ſich der Redekürze
im Ausdruck befleißigen. Weiter ſagt Seneca: der
Fehler lag nicht an Cicero, ſondern am Zeitgeſchmack. Denn
man mußte freilich ſo ſagen, da man ja ſolche Ausdrücke |
lad. Ferner fügt. er noch bei: Cicero habe gerade folhe
Ausdrücke eingefchaltet, um der üblen Nachrede einer gar zu
fhmudreichen und polirten (zierlichen) Sprache zu entgehen.
|
t
’
Auch über Virgitins fpricht er ſich in der nämtichen
Stelle folgendermaßen aus: Unfer Virgilius hat aus eis
tem andern runde mande harte und ungeregelte und
Manches in’d Breite ziehende Verſe mit einfließen taffen,
als damit des Ennius Anhänger in der neuen Poefle etwas
Alterthümliches finden möchten. — Bald daranf ſagt er
[naͤmlich A. Gellius] auch aus Seneca noch: Manche Ges
danken des Ennius find fo großartig, daß file, obwohl fie
zur Seit der Leufe von Bocksgeruch **) gefchrieben find,
*) Es wird hier ber lateiniſche Ausdruck suaviloquens jucun-
ditas getabelt, wie gleich darauf der Ausdruck breviloquen-
tia in dicendo,
*+, Anfpielung auf die alten Römer, die fi viel mit Wiehzucht,
namentlich mit Bocks⸗ und Ziegenzucht befchäftigten, und .
Gecsenfag gegen bie Parfümerien der ſpaͤtern Römer.
‚von &, U. Senea, 4305
och: wohl auch:bei wen Pomadeherren Gepatten finden Füns
men. Und nachdem ex die oben angeführten Verſe des En⸗
nius getadelt, fagt er: Die, welche ſolche Verſe gern ha⸗
ben, die mögen ſich wohl auch die Bettſtellen von Meiſter
Sotericus loden.) — Doc du magſt dir nun auch Eiuni⸗
ges Wenige auführen und vorbringen laſſen, was von ben
jenem Seueca*) doc) gut geſagt iſt, wie z. B. Das,
Was Er auf einen geizigen und gierigen und nad) Geld dur⸗
tenden Menſchen ſagt: „Was liegt denn daran, wie viel
dau haſt; as iſt ja doch weit mehr, das du nicht haſt.“
Bei Tertullian über die Seele. Kap. 42.
Biel gedrängter noch fagt Seneca: nad) dem Tode hat
Altes ein Ende, auch der Tod felbit. ’
Bei Lactantius, Unterweifungen über
das Goͤttliche. I, 4
Wie oft erhebt auch Annäus Seneca, der unter den
Römern wohl der eifrigfte Stoiter war, die Gottheit mit
gebührendem Lob! Wenn er zum Beifpiel von dem frühs
zeitigen Sterben fpricht, fagt er: Ertennft du nicht die
Schabenheit und Majeftät deines Richters? Er ift der Ber
herrſcher des Erdkreiſes und des Himmels und aller Götter,
‚Gert — , von ihm find alle jene höheren Weſen abhängig,
die wir anbeten und denen wir dienen.
Dyne Bwochfel ein ſchlechter Tiſchler zu Genecas Beit.
**) Bon telgem Gelius fonft mar wiel hist, wer), Noct, Di.
XI, 2. zu Anfang, os 4
4396. Bruchſt. aus. verloren gegangenen Schriften
Chen Derfelbe in feinen „Ermahnungen“: Diefer
[Gott] da er den. erften Grund zu dem herrlichen Weltges
‚bäude legte, und Das anordnete, was das Allergrößte und
Vortrefflichſte iſt, das die Natur auszurichten weiß, hat
dennoch, damit Alles unter einer befondern Leitung ginge,
obwohl. er felber fich über den ganzen Weltenbau verbreitet
hat, als Diener feined Reiches die Götter hervorgebracht. —
And wie Manches hat er [ Seneca] fonft noch gefagt, bas
mit unfern Anfichten Aehnlichkeit Hat, und wovon id) jetzt
nicht weiter handeln will, weil ed anderswo befler an feis
nem Orte ift.
Kap. 7
Es hat auch damit feine Richtigkeit, was ich oben ald
einen Ausſpruch Seneca’s in feinen , Ermahnungen ’' ans
‚geführt habe, daß Gott Diener *) feines Reiches gefihafs
fen habe.
Ebendafelbſt—
Das hat Seneca, der ſcharfblickende Mann, wohl ein⸗
geſehen in ſeinen „Ermahnungen.“ — Wir ſind, ſagt er,
nicht unabhängig. Darum blicken wir auf Einen, dem
"wir zu verdanken haben, was das Beſte an ung if. Wir
find von einem Andern gefchaffen, von einem Andern vers
forgt. Gott Hat fid) ferbft gemacht.
*% Darunter verfteht dann freilich Lactantius nicht, wie Se⸗
neca, Untergdtter, fondern Engel,
von 8. A. Seneea. 197
Kap. 16.
Nicht ohne Wis ſagt Seneca in feinen Büchern der
Moratphilofophie: Was ift denn der Grand, warum nad
den Dichtern der geile Jupiter aufgehört haben foll, Kin⸗
‚der zu zeugen? Iſt er etwa ein Sechziger geworden, und
hat ihm das Papifche Geſetz *) eine Klammer [an die Zeus
gungstheife] angelegt? Dder hat er das Drei⸗Kinder⸗Recht.
befommen? **) Oder ift ihm endlich einmal [der Spruch}
eingefallen: Du haft von deinem Nächften zu erwarten,
was du ihm gethan haft? Und fürchtet er, es möchte es
ihm Einer machen, wie ev’d dem Saturnus ***) gemacht
bat? |
Im zweiten Bud. Kap. 2.
Mit Recht fagt daher Seneca in feinen Büchern, der
MoralsMann verehrt die Bilder der Götter, man fleht
zu ihnen auf den Knieen, man beter fie an; man fist oder
ftebt Tage lang vor ihnen; man wirft ihnen ein Stüd Geld
din und fchlachtet ihnen Dpferthiere. Und während man
*) Die lex Papia Poppaea von den Eonfuln M. Papius Mus
tilus und Poppäns unter Kaiſer Auguftus ſprach aus, daß:
Männer von 60 Jahren als unfähig zum Kindergeugen aus
geſehen werben follten; vergl. Sueton. Claudius 23.
29) Bäter von drei Rindern hatten vor Andern, welche weniger
ober keine Kinder hatten, Worrechte, namentlich in Bewers
"bung um Aemter. Die Kaifer ſchenkten dieſes Recht Bis:
— weilen au Solchen, die nicht drei Kinder hatten.
+) Jupiter ſtieß mach dem Mythus feinen Parır Gekeceni
vom Thron.
138 Bruchſt. aus verloren .gegamgenen Schriften
vor diefen fo hohe Achtung hat, verachtet man die Meifter,
von denen fle gemacht wurden,
Kap. 4
Mit gutem Grund fpottet nun Seueca auch über Bie
Morheit der Greiſe. Nicht nur zweimal, fagt er, find wir
Kinder, wie ed gewöhnlich heißt, fordern: immer. Der
Unterſchied ift aber der, daß unfre Spiele in’d Große gehen:
Kap. 9.
Eine beffere Anſicht hat Seneca, der icharffinuigfte um»
ter alien Stoifern, welcher einfah, daS die Natur nichts
Anders ift, als Gott. Sollen wir nun, fagt er, Gott
nicht preißen, da ihm die Tugend etwas Natürliches ift.
Er hat fie freilich‘ von Niemand gelernt. Allerdings, wir
wollen ihn preißen; denn obwohl fie ihm etwas Natürliches
aiſt, fo hat er fie fich doch felber gegeben, weil. Gott ſelbß
die Natır ift.
Sm dritten Buch. Kap. 15.
Bon dem nämlichen Irrthum verleitet, fagt Seneca,
denn Wer follte wohl auf dem richtigen Weg bleiben, wenn
ein Eicero irrt? — : Die Philofophie iſt nichts Anderes,
als die rechte. Art zu eben, oder: die Einficht, wie man
tugendhaft Ieben mäffe, oder: die Kunſt, das Leben auf
die rechte Weife zu führen, Nicht unrecht find wir daran,
wenn wir fagew: die Philofophie fey die Vorſchrift zu: einem
guten und tugendhaften Leben. Und Wer da fagt, fie fey
eine Afdtſchnur für das Lehen, ver gibt ihr wohl ihre ges
Sörige Benennung,
t
Fe von 2. A. Omen . > AS
Ebondaſelb ſt.
Ferner ſagt Seneca in feinen „Ermahnungen“: Die
meiften Philofophen find von dev Art, daß fie zu ihrer
eigenen Schande predigen. Denn wenn man fie gegen den
Geiz, gegen die Wolluſt, gegen die Rangſucht donneru
hört, fo muß man denden, fie wollen ein Bekenntniß über
ſich ſelbſt ablegen; fo fpringen die Schmähmworte, die fie
gegen die Welt ausftoßen , auf fie felbft zurüd. Man hat
diefe Leute nicht anders anzufehen, denn als Aerzte, die
nach: ihrem. Hauoſchild geitmitrer haben, in ihren Büchfen
aber Gift.
Ebendaſelb ſt.
Der Weiſe wird, ſagt eben dieſer Seneca, Lin mans
hen Fällen] Etwas thun, was er felber nicht gut heißen
kann, went es aud nur darum wäre, um dadurch eine
hohere Thätigfeit einzuleiten; den edeln Charakter wird er
nie verläugnen, wohl ader ſich in die Zeit fchiden; und
was Andere zu ihrem Ruhm over zu ihrem MVergnügen. bes
nägen, daraus wird er Gelegenheit nehmen, wirkfam zu
ſeyn. Und bald nachher: Der Weife wird. Aues auch tun;
was die Genußmenfchen Khan und die Unverftändigen, aber
Fr anfıeben dieſelbe Weiſe, nicht in eben denfelben Ab⸗
ichten.
Map. 16.
Und: Eenera fagt: 6 find wech uicht taufend Jahre,
ſeindon wen Die. erften Gruuuſcha dee Woer Vernen
4400 Bruchſt. aus verloren gegangenen Schriften
gefernt hat. Miele Jahrhunderte hat alfo die Menfchheit
gelebt, ohne über fid) felbft zu denken.
| Kap. 23.
Es habe, behauptet Seneca, einen Stoiker gegeben,
welcher ſich in Unterfuchungen einließ, ob er annehmen
follte, daß andy die Sonne ihre Bewohner habe; ed fey
Das nämlich eine unnöthige Bedenklichkeit von ihm gewefen.
Kap. 2.
Ein gewifler Aniceris, erzählt man, habe den Plato
um acht Seftertien losgekauft. Darüber fchimpft nun Se
neca den Loskaufer, daß er den Plato um einen Spott
preis angefchlagen habe.
Sm fünften Buch. Kap. g.
Mer Alles willen will, nehme Seneca’ds Schriften zur
Hand, weicher ber richtigfte Zeichner des öffentlichen Sit⸗
tenverderbniffes und der ſtrengſte Tadler defielben war.
- Kap. 1%
Mit Recht ſagt daher Senera, indem er den Menfchen
ihre Widerfprüche gegen fih felbft zum Vorwurf made:
Muth halten fie für die Höchfle Tugend, und dennoch ers
flären fie Den, der den Tod verachtet, für einen Rafenden.
Das ift doch gewiß der höchſte Grad von Verkehrtheit.
Im ſechsſsten Buch. Kap. ı7.
So iſt's auch mit dem Ausſpruch Senecas in feinen
Büchern der Moralphiloſophie: Das iſt der ehrenwerthe
von 2. A. Omen. - 4404
Mann, nidht durd die Prieftermäge ausgezeichnet oder
duch den Purpur, oder durch den Lictoren⸗Dieuſt, aber
deßhalb in Feiner KHinficht minder groß; der, wenn er
dem Tod in's Antlitz fieht, nicht beftürzt wird, als fchaute
er etwas Ungewöhnliched; der, wenn er am ganzen Körper
Martern erleiden, wenn er die Flammen fein Antlitz ums
fodern faffen, oder feine Urme am Galgen ausbreiten muß,
nicht darnady fragt, was er leide, fondern wie gut er's zu
ertragen wife. Wer aber die Gottheit ehrt, duldet ſolches
und fürchtet's nicht.
Kap. 24
Halte es doch Keiner für Gewinn, wenn ein Menſch
um fein Derbrechen weiß. Denn Alles weiß Der, unter
beffen Augen wir leben; [halte es auch Keiner für Gewinns
wenn man fich vor der ganzen Menfchheit verborgen halten
kann: ihm kann ja Nichts verborgen, Nichts ein Geheim⸗
niß fegn. Seine .„‚Ermahnungen‘! Hat Seneca mit einem
herrlichen Ausſpruch gefchloffen: Etwas unertlärbar Großes,
und größer, als man’d denten kann, ift die Gottheit;
ihr, der wir durdy unfer Leben dienen, wollen wir uns
wohlgefälig machen. Es hilft Nichts, daß :unfer Bewußt⸗
ſeyn Lin und ſelbſt] verfchloffen ift: vor Gott flehen wi
offen da. —
Was könnte von Einem, der Gott kennt, MWahreres
geſagt werden, als [in den angeführten Worten] der Mann
fagte, der die wahre chriſtliche Religion nicht kanute ? —
1608 Bruchſi. aus verloren gegaugenen Schriften
| Ebendaſelbſt.
Derſelbige ſagt im erſten Buche des naͤmlichen Werkes:
Bas machſt du? Was haft du im Sinne? Was verhehlſt
d#? Dein Anffeher geht mit dir. Den Einen mag dir
ein- anderweitiger Aufenthalt aus den Augen gerücdt haben,
den Andern der od, einen Dritten fein Liebelbefinven:
aber Einer iff dir anf Dem Nacken, den dir nicht los wer:
den kannſt. Was fuchff du dir einen abgelegenen Ort aus,
und willſt ber Zeugen los feyn? Du meinſt, ed fey dir
gelungen, Aller Augen zu entgehen? Thor du, was nuzt
dich's, Leinen Mitwiſſer zu haben, da du ein Gewiſſen
haft?
| Kap 25.
Wie viel beſſer und richtiger ſagt Seneea: Wollt ihr
euch: Gott denken ? Edenbet ihn euch] groß. und freundlich,
nad in milder Erhabenbeit ehrwürdig, als einen: Zreund,
der euch ſtets nahe iſt; der nicht verehrt feyn will: durch
Opfer und Bhutfiröme, — denn wie follt? ex Freude haben
an: dem Miederfchlachten ſchuldloſer Gefchöpfe, — ſondern
durch ein reined Herz und edle, tugendhafte Vorſaätze. —
Nicht Tempel von hoch anfgethärmtem Geflein will er ſich
gebauet wiflen: in feiner Bruſt folt ihm ein Jeglicher einen
Altar errichten.
Im flebenten Bud. Kap. 13.
Einnig. theilt Seneca die Seiten der Stadt Rom nach
den Menfchenaltern ein. Das frühefte Kindesalter, ſagt
er, fep unter dem König Romulus gewefen, von welchem
von L. I Genen 4405
Rom fein Daſeyn Habe, und auch gleichſam groß gezogen
worden ſey; ſodann das Knabenalter unter den übrigen
Konigen, unter denen ed größer geworden und durch unſere
Kenntniffe und Einrichtungen gebildet worden fey; aber uns
ter. des. Tarquinius Regierung, da es ſchon angefangen
habe, in die Fünglingsjahre einzutreten, ſey ihm die ſelavi⸗
fche Unterwerfung umerträglich geworden; da habe es das
Zoch der Zwingherrfchaft abgeworfen. und lieber Gefegen
als Königen gehorchen wollen. Und ats feine Junglings—
periode mit dem Ende des Punifchen Krieges gefchloffen
war, da habe es endlich mit erſtarkten Kräffen angefangen,
in das befte Mannesalter zu treten. Denn nad) Karthar
903 Berftörung, welcher Staat fo lange um bie Weltherr⸗
ſchaft mitbuhlte, ſtreckte es feine Hände über denFganzen
Erdfreis zu Waffer und zn Land; bis es, nachdem es alle
Könige und Nationen unter das Joch feiner Oberherrfchaft
gebracht Hatte, und es nun an Stoff zu Kriegen fehlte,
feine Kraft mißbrauchte, mit der es fich felber verehrte,
Das war der Anfang feines Greifenalters, als ed durch
Bürgerkriege zerriffen und an innerem Verderben feidend,
wieder zu der Regierungsform einer Alleinherrſchaft zurück
fanf, und gleichſam in feine zweite Kindheit zurücverfegl
wurde. Denn nad dem Verluſt der Freiheit, um weldı
es unter Brutus Anführung und Leitung nod) gefochten,
ward es fo altersſchwach, als ob es fich felber nicht mehn
aufrecht zu haften vermödite, wenn es ſich nicht auf die
Stüge feiner Beherrfdjer lehnte.
404 Bruchſt. aus verloren gegangenen Schriften
Beidem h. Hieronymus im erften Bude
‚gegen Jovinianus.
Als die Veſtalin Claudia in dend Verdacht der Enteh-
ung getommen war, und bie Bildfäufe der Idaiſchen Mute
er [Eybele] auf einer Furt in der Tiber ſtecken blieb,
o ſoll fie, um ihre unentweihte Ehre zu bemeifen, mit ihe
em Gürtef das Schiff herausgezogen haben, welches viele
aufend Menfchen nicht hatten von der Stelle bringen kon ⸗
em. Beffer, fagt der Dheim des Dichters Zucanıs [Ser
eca], wäre fie doc daran gewefen, wenn dieſer Erfolg
ie Krone anerkannter Ehre gewefen wäre, flatt daß er eine
Ehrenreftung gegen den Iweifel daran war.
Zn ebendemfelben Bud.
Es haben Mriftoteles, Plutarchus und unfer Seneca,
Schriften über die Ehe gefchrieben, aus melden fchon
ben Einiges vorfam, und auch Das fieht, was wir jept
ioch anführen. — Liebe um der fchönen Geftatt willen wird
ald vergeffen und iſt nicht viel anders, als Verrücktheit,
in haͤßliches und mit einem gefunden Gemüth im Wider«
druch ftehendes Later. Sie verwirret die Gedanken: fie
erderbt edle und hohe Gefinnungen umd zieht von großen
Bedanker zu den niedrigften herab: fie macht die Menſchen
nzufrieden , leidenſchaftlich, unbefonnen, hart im Gebieten
md ſtlaviſch ſchmeichelnd, unfähig zu Allem, am Ende
ar Liebe ſelbſt. Denn indem fie von unerfättliher Sucht
"9 Oenuß brennt, bringt fie die meifte Zeit in @iferfucht,
von L. A. Seneca. \ 41405
in Zhränen und Klagen hin, macht ſich verhaßt. und ift fi
am Ende felber verhaft.
Etwas weiter unten.
Meberdieß führt Seneca an, er habe einen Geden ges
kannt, der, wenn er ausgehen wollte, die Bruft feiner
Frau mit einem Gurt verwahrte, und [zu Haufe] auch
nicht einen Augenblick ohne ihre Gegenwart fenn konnte;
der Mann und die Frau tranten Peinen Zropfen, ohne daß
das Getränke zuvor von den Lippen des Andern berührt
war; darnach noch andere eben folche Thorheiten, die fie
begingen,, zu denen die blinde Gewalt einer gluhenden Lei⸗
denſchaft ſie hinrieß.
Am Schluß.
Und was iſt, heißt es bei Seneca, von ſolchen Maͤn⸗
nern zu ſagen, welche-in Armuth ſlecken, und von welchen
ein großer Theil dazu fich miethen läßt, um den Namen
eined Ehemanns zu. führen, zur Verhöhnung der Gefebe,
die gegen die Ehelofen gegeben find? Was kann ein Gol«
cher für einen Einfluß auf die Sitten haben, und Züchtig⸗
feit verlangen und Manneschre behaupten gegen eine Pers
fon, gegen die er das Weib ift.
Beidem h. Augufiinus: Vom Reiche Got:
tes. vi, 10,
Die Sreiheit freilich, welche Diefer ( Barro ) nicht
hatte, fd daß er es nicht wagen kannte, ame Gmtrisntr
206 Bruchſt. aus werloven gegangenen Schriften
‚In Rom, die der des Theaters ganz ähnlich, war, öffentlich
' wie diefe zu tadeln, wurde, wenn auch nicht durchaus, doch
einigermaßen dem Annäus Seneca zu Theil, von welchem
wir einige Spuren fluden, daß er zu den Zeiten unferer
Apoſtel geblüht habe. Er genoß dieſe Freiheit im Schreis
den, wenn fie ihn auch im Leben fehlte. Denn in dem
Buch, das er gegen den Aberglauben in der Religion
ſchrieb, sadelt er jene Volks⸗ uud Stadt⸗Götterlehre viel
anummwundener und heftiger, als Varro die theatralifche
und dichterifhe. Wo er nämlich von den Götterbildern
handelt, fagt er: Die heiligen, unfterblichen :und unantaft:
baren Götter ſtellt man in ſchlechtem und bewegungdtos
ſem Stoff dar. In Menfchen- und Zhiers und Fiſchge⸗
falten Eleidet man fie ein, manchmal wohl gar in ein Ge⸗
miſch aus verfchiedenen Körpern. Göttliche Wefen nennt
man, was, wein es auf einmal Leben bekäme und vor und
‚träte, als ein Ungethüm erfcheinen wärde.
Etwas fpäter fodann, nachdem er die natürliche Got⸗
terlehre preifend, die Anſichten einiger Philoſophen aus
; einander gefeze hat, legt er ſich felbft eine Frage vor, und
ſagt: Hier möchte Jemand einwenden: Wie? ich fol glau⸗
ben , daß der Himmel und die Erde Götter feyen, und ei-
‚ nige über , andere unter dem Bond ? Ich foll mir gefallen
laſſen, was Plato oder der SPeripatetifer Strato fagt,
von denen der Eine die Goteheit ohne Körper, der Andere
ohne Seele annimmt? — Und darauf anfmortend fagt er:
Nun, fcheinen div denn richtiger die Träumereien eines
Titus Tatius ‚oder Romulus oder Zulus Hoflifius? —
€
eur A. Seneca. 21407
Eitus Zatius *) feilte eine Göttin Einacina’®*) auf, No⸗
unuſus den Pieus ***) und den Tibergott, Hoffifius den
Pavor und Palor [Schreden und Blaͤſſe aus Angft} , diefe
ſo abfcheutichen Gemüthszuſtände der Menichen, wovon der
reine die Erfchirtterung einer erſchredten Secie ift, der an⸗
dene — wicht etwa eine Krankheit des Körpers, fondern gar
nur eine Verfärbung deffeiben. — Willſt du ‚etwa lieber
dieſe für göttliche Wefen harten und in den Himmel aufs
nehmene — Und über die graufam ſchmählichen [gottes-
dienſttichen] Gebräuche, — ‚wie frei fchreibt er über diefe!
Der. Eine, fagt er, verſtümmelt fih au den männlichen
Zbeilen der Andere zerſchneidet ſich die Arme. Wie kann
man ſich noch vor dem Zorn der Götter fürchten, wenn
nz fi. auf folche Weife ifre- Gunſt verdient hat? Die
Götter aber ſelbſt follte man auf feine Weife mehr vereh:
zen, wenn fle unter Underm fo verehrt ſeyn wollen. So
‚groß, ift der Wahnfinn eines verflörten und verrüdten Were
ſtandes, daß man die Götter auf eine Weife verföhnen
will, wie nicht einmal Menfchen wüthen. Die abfcheulich-
Ben Tyrannen, von deren Grauſamkeit mau in Liedern
fingt und fagt, Haben wohl Diefem oder Jenem die Glie⸗
der zerfleifchen laſſen, aber Keinen befohlen, fie ſelbſt zu
*) Titus Tatius, ber Sabinertoͤnig, ter nach gemachtem Wer⸗
gleich wegen des geſchehenen Weiberraubs friedlich mit eis
nem Theil feines Voll nam Rom zoh. ın!:
+4) Cluacina oder Cloacina, ein Beiname der Venus; ine Stand⸗
bild wurde in der cloaca maxima gefwiben, daher tur Name.
+) Picus, ein fabelhafter König ber Aboriginer, welcher na.
‚Circe in einen Specht verwandelt wurde, Werah Bewes
Yen. VII, 189.
|
4408 Bruchſt. aus verloren gegangenen Schriften
zerjaden. Sur Befriedigung des königlichen Gelüſtens find
wohl Manche entmannt worden, aber noch Fein Menſch
bat auf eines Herrſchers Geheiß Hand an lich ſelbſt Tegen
mäffen, um fein Mann mehr zu feyn. — In Zempeln
megeln fie ſich ferbft nieder, und fenden unter eigener Ders
wundung und Verblutung ihre Gebete empor. Wenn fich
‚Einer dazu verfiehen mag, mit anzufehen, was fie thun,
und was fie ausftehen , fo wird er Dinge finden, ſo unzie⸗
‚mend für Leute von Ehre, fo unmwürdig für freie Menfchen,
ſo widerfprechend dem gefunden DVerflande, daß, Niemand
- zweifeln würde, fie feyen toll, wenn der Zoliheitägenoffen
weniger wären; fo aber iſt's die Menge ter Verrädten,
was ihnen noch den gefunden Verſtand zufpricht.
Was er dann weiter erzählt, daß auch auf dem Capito⸗
lium vorgehe, und was er ohne Scheu die Leute im Allge⸗
meinen zeiht, Wer ſollte doch glauben, daß ſolches anders
als etwa zum Hohn [des Heiligen) oder im Wahnflun ves
fchehe ? Nachdem er feinen Spott darüber gehabt, daß bei .
den Aegyptiſchen Gottesdienften um den Oſiris*) Klage ans
aeftelit werde, ald wäre er verloren, bad aber über fein
Wiederfinden große Freude fey, da das DVerlieren und das
Finden deffelben nur erdichtet ift, dennoch aber Schmerz
und Freude darüber von Leuten die weder Etwas verloren,
noch Etwas gefunden haben, als wäre Altes wirklich, aus⸗
getrcht wird; fo fagt er dabei, diefer Unfinn hat doch feine
eftimmte Zeit. Das ift noch erträglich, wenn man eins
mal des Jahrs ein Narr _ift. Komme id) auf's Eapitoliunt, fo
muß ich mich der an den Tag gelegten Thorheit vor aller Welt
fhämen, uud des Dienftes, den fich eitler Wahnfinn zur
Pflicht macht. Der Eine gibt der Goftheit Nebengötter bei,
der Andere zeigt dem Jupiter die Stunden an, der Eine
*) Ueber den Oſirikmylhus vergl. Sr. Ereuzers Symbolik umd
Mythologie der alten Voͤlker, refonders der Griechen; im
Anszuge vier & H. Mofer, Leipzig und Darmſtadt ı822.
[2 e
von 2,4. Seneca., 14
macht den Amiöbiener, der Andere den Salbeneinreiber und tı
mit bloßer Bewegung der- Arme, als falbte er ein. Manche
forgen der Juno und Minerva den Haarputz, aber weit w
ſtehen fle nicht nur von dem @ötterbild, fondern fogar vom Tei
vel, machen aber doch die Bewegung mit den Fingern, als fräi
felten fle. Andere Halten ihnen den Spiegel; Andere fprechen di
Götter zu Bürgen an; Andere halten ihnen ihre Klagfchrifte
vor, und unterrichten fie von ihren Prozeſſen. Gin gefchidte
Dberpantomime fpielte als ein abgelebter Greis täglich auf dem
Sapitolium feine Rolle, als würden ihm die Götter gerne zus
fehen, da er bei den Menſchen nichts mehr galt. Künftler aller
Art Kringen dort ihre Zeit zu, und weihen den unfterblichen
Göttern ihre Dienfte.
Und bald darauf ſagt er: Diefe jedoch weihen der Gottheit
einen, wenn auch unnöthigen, doch nicht ſchaͤndlichen und ehrlofen
Dienſt. Aber es fiten auch Weiter auf dem Gapitolium, die ba
meinen, Jupiter fey in fle verliebt, und die fih nicht einmal
durch die Scheu vor der — wenn man den Posten glaubt —
hoch erbitterten Juno abſchrecken laſſen.
Eine folche Freiheit Hatte Barro nicht; nur die Götterlehre
der Dichter getraute er fich. zu geißeln, nicht aber die bes Staates,
weldhe Diefer ganz zernichtet hat. Doch wenn wir auf das
Wahre ſehen, fo find Tempel, wo ſolche Dinge vorgehen, fchlimmer
entweiht, als Theater, wo man dergleichen darftelli. Darum Hat
Seneca in Bezug auf die Religion der öffentlichen Götterlehre
dem Weifen eigentlich die Rolle zugetheilt, daß er im Kerzen
nicht daran glaube, doch aber im Aeußern ſich darnach richte. Er
agt nämlich: Das Alles wird der Weife beobachten, als Etwas,
as durch Geſetze geboten, nicht aber als Etwas, das den Goͤt⸗
ern lieb if.
Und bald hernach Heißt es: Scließt man denn nicht gar
ich Ehen zwifchen den Goͤttern, und erft nicht wie ſich's ges
het, nämlich zwifchen Brüdern und Schwehtern, dem Mae aM
m die Bellona zur Gattin, dem Bulcan vie Bernd , von "Re
Beneca. 418 Bdan. " W
1410 Bruchſt. aus verloren gegangenen Schriften
tem die Salacia;*) Einige jedoch läßt man ehelos, als ob e8 an
Gelegenheit gefehlt Hätte, beſonders bei Einigen im MWittmen-
flande, 3. B. bei der Populonia, oder Fulgora und bei der ver:
nötterten Rumina,**) wo mich’8 übrigens nicht wundert, daß fein
Breier Tommen wollte Alles, was zu diefem unachtbaren Götter:
eh varın gehört, den durch die Ränge der Zeit der lange Aber:
glan'e zufammengehäuft bat, wollen wir, fagt er, fo anbeten,
daß wir nicht ver:eflen, ihre Verehrung fey nicht fowohl wefent:
ih, als fle zur Eitte aehöre. Es mar alfo bei jenen Geſetzen
urd dem Gebrauch in der Volfegötterlehre freilich nicht anf Das
abaefehen, was den Göttern lieb wäre und wefentlich zur Sache
nebörte: afllein»jener Mann [Seneca]. den die Philoſophen eigent-
lich zu einem freien Mann gemacht haben, hat dennoch, weil er
ein Senator des erlauchten Nömifchen Volkes war, verehrt, was
er mirbifli te, gethan, was er verwarf, und angebetet, was er
ald verderblich erkannte.
Kap. 11.
Diefer [Seneca] tabelt unter andern Religionsmeinungen ber
BVolfsgätterlehre auch die Gottesvienfte ter Juden und befonders
die Sabbate, indem er behauptet, es fey eine zweckloſe Sache,
daß fie vermöge des jereämaligen fiekenten Zwifchentages fo ziem-
lich den flebenten Theil ihrer Lebenszeit mit Nichtsthun verfchlen-
dern. und Manches, wo ed auf den Augenblick anfomme, dadurd,
dag man’d nicht thue, zu Schaden gehe. Der Chriften jedoch,
die Damals fihon mit den Inden im größten Zwiefvalt waren,
bat er fih auf feine Weife zu erwähnen getraus, um nicht auf
der. einen Seite durch ihre Lob der alten Gewohnheit feiner Ba-
*) Salacia, eine Meergättin, vielleicht Amphitrite oder Thetys.
Bergl Servius zu Virgil Georg. f., 31.
» Die Populonia Halten GCinige nur für einen Beinamen ber
Sunoz Bulgora iR die Gotin der Blitze; Rumina bie Got⸗-
An ber Edugenben. |
\
von L. A. Seneca. 141
terkadt zu nahe zu treten, ober auf der andern durch ihren Kabel
vielleicht gegen feine eigene Ueberzeugung zu reden.
Ebendaſelbſt.
Da er auf jene Juden *) zu ſprechen kommt, ſagt er: Nach⸗
dem ber PVerfehr mit jenem verworfenen Bolt mit der Zeit fo
um ſich gegriffen hat, daß es bereits in allen Ländern Eingang
gefunden, fo haben fle, tie Befiegten, den Siegern Gejeße ge:
geben. — Es iſt dies ein Ausfpruch der Berwunderung, und er.
wußte nicht, was durch göttliche Schickung [mit jenem Molke]
vorging. Deutlich fügt er aber feine Anflcht bei, wodurch er zu
erkennen geben wollte, was er von der Beichaffenheit ihrer Delle
niondgebräuche dachte. Gr fagt nämlih: Sene haben doch den
Grund ihrer gotteödienfllichen Gebräuche gewußt: aber der größere
Theil unſers Volkes thut Etwas, wovon es nicht weiß, warum?
Bei dem Biograpben des P. Virgilius
Maro.
Seneca meldet, der Dichter Julius Montanug **) habe ge⸗
fagt: er möchte dem Birgil wanches ftehlen, wenn er fih auch
feinen Bortrag und feine Miene und feine Geberden denken Fünnte;
denn die nümlichen Verſe Flingen gut, wenn Sener fle vortrage;
ohne ihn aber feyen fie ohne Leben, wie ſtumm.
Det Serviuß zum fehdten Buß der
| Meneide.
Seneca Ichrieb über die Rage und über die Gotteddienſte
. der Aegypter. Er fagt: In der Gegend “von Syene,**’*) dem
*) Unter diefen Juden verfteht Seneca die Chriften.
*) Julius Mantanus, ein elegifcher Dichter zur Aett us Ir .
ſere Tiberins, ſchrieb auch aber ven VBBRoßod ver 8
Eyene in Oberaͤghpten am RU, an der Aeiteniien
1412 Bruchſt. aus verloren gegangenen Schriften.
äußerfien Theile Negyptens, fey ein Ort, den man Philä nennt,
das Heißt: die Frennbinnen; darum, weil dort Iſts von den
Aegypten verfühnt wurbe, auf bie fie böfe war, weil fle die Glie⸗
der ihres Gemahls Oſtris nicht fand, den fein Bruder Typhon
getöbtet hatte. Nachdem fie diefelben aber nachher gefunden hatte
und begraben wollte, wählte fie dazu die geſicherte Stelle eines
nahen Sumpfes, wovon gewiß ft, daß man nicht leicht hinüber:
kommen Tann. Er iſt nämlich fchlammig und mit Bapyrusflauden
verwachfen. N
Bei Ebendemſelben zum neunten Bud
„der Aeneide. N
Der Ganges if ein Fluß in Indien, der nah Seneca in
feinee Schrift über die Lage Indiens in neun Rinnfalen firömt,
nach Mela aber in fleben, übrigens bemerkt Diefer zugleich, es
fagen Einige, er fließe in breien. .
Bei Prijetanud im fiebenten Bud.
Seneca, dem Ovivius*) folgend, [fagt]:
„Wählt fie ein grobes Gewand, lobe das grobe Gewand.”
Im Eoncilium von Tours ll, XV.
Manche Laien, während fie verfchiedentlich Ehebruch verüben,
vermuthen bei Andern Das, weſſen fie fi von fi jelbft bewußt
find, wie Seneca fagt: die ſchändlichſten Lafer feyen an Den-
jenigen zu finden, welche meinen, die Tollheiten, welche fie treiben,
‚feyen auch die Leidenfchaft Anderer.
—
*) Ovidius von der Kunft zu Lieben II, 300.
x
[4
iii
Lucius Anndus Seneca bes Philoſophen
Weerke.
Vierte Abtheilung.
Ueberſetzt
von
Auguſt Pauly,
Profeſſor am obern Gymnaſium zu Stuttgart.
Stuttgart,
Berlag der 3. B. Metzler'ſchen Buchhandlung.
Für Oeſtreich in Eommiffion von Mörfchner und Jaſper
| in Wien.
185%
- Lucius Annaus Seneca des Philofophen
Werke.
Zwoͤlftes Baͤndchen.
Briefe
überſetzt
von
Yuguft Pauly,
Profeffor am obern Symnafium zu Stuttgart.
Erftes Bändchen.
Stuttgart,
Derlag der I. B. Metzle r'ſchen Buchhandlung.
Für Deftreich in Commiſſion von Mörtdyuer won Jaiyer
in Wien.
- 18 3 %
rn
Einleitung
Die Grundfäge feiner eclectifch = ftoifchen Moral⸗
philofophie, welche Seneca in einzelnen Abhands
Iungen ausführlicher erdrtert hatte, find in feinen
Briefen, ald in einem moralifchen Handbuche, aber
ganz in der zwanglofen Weiſe zuſammezgeſtellt, zu
welcher ihn die glädlich gewählte Form belehrender und
paränetifcher Zufchriften berechtigte. Diefe find fammts
lich an einen Lucilius gerichtet, unter welchem wir
uns fchwerlich einen fingisten Freund, fondern dew
geiftreichen Berfaffer des fonft dem Cornelius Severus
zugefchriebenen bidactifch.pittoresfen Gedidztes Werten
zu benlen haben, wie durch) Wervðedoxð —
Gena. 128 Ban.
ii J Einleitung.
fehr wahrfcheinlich gemacht worden ift. Lucilius, durch
Verbindungen und dffentlihe Stellung der garoßen
Melt angehdrend, wird von dem Freunde angelegent:
lich aufgefordert, einer fchlechten Zeit ſich auszufon-
dern, und zur Philoſophie und zu ſich ſelbſt zuruͤck⸗
zufehren. Dieß ift ald die Grundtendenz diefer ganz
zen Brieffammlung zu betrachten. Aber fie iſt nicht
blos an Lucilius, fie ift an die ganze Mitwelt, und
mehr noch, weil Seneca. mit diefer zerfallen ſcheint,
gu die. Nachwelt gerichtet. „Der Nachwels Angeles
genheit betreibe ich: für fie fchreibe ich Etliches, was
ihr nuͤtzen mag *).“
Offenbar alſo in der Abſicht bffentlicher Befannts
machung gefchrieben, tragen diefe Aufiäge Das treue⸗
fie Gepräge der Eigenthümlichfeit Seneca's mit ihren
Tugenden und ihren fo ſchwer gerügten, doch meift
genialen Fehlern. Der Ton derfelben ift mebr oder
minder. rhetorifch , und gar oft wird der Leſer mehr
geblendet als überzeugt umd erwärnt, Nicht felten
iſt der if der Zufammenbang fchwer zu verfolgen: die Rede
ET 7 f ben achten Brief und den ein und mans
digen,
8
k
Einleitung. . HT,
ift oft nachlaͤſſig hingeworfen, manches Bild grell,
bie und da dad Beſtreben übertrieben, die Gedanken
durch Contrafte zu beleuchten. Aber eben fo ofe ift
Seneca erhaben durch Enthufiasmus für fttrliche Grd= _
Be, lehrreich durch feine Kenntniß des menfchlichen
Herzend, und höchft anziehend durd) die Reize einer
glänzenden, in hohem Grade rhythmiſch⸗ melodiſchen
Sprache.
Die Abfaſſung dieſer Briefe faͤut in die ſpaͤtern
Jahre des Schriftſtellere. Einige ſind noch in Nero's
beſſern Zeiten geſchrieben *),, vielleicht mit abſichtli⸗
* cher Beziehung auf den moralifcben Unterricht des
‚Jungen Kaiſers; andere aber fibeinen ſchon auf die
⸗Schreckensherrſchaft zu deuten.
— Vorliegende Uebertragüng . bedarf nachfi ichtiger
Beurtheilung. Seneca iſt lichtvoll und leicht zu le⸗
| fen ; aber ſchwer, oft beinahe unmöglich. ift ed, in
feiner Eigenthuͤmlichkeit ihn nachzubilden, zumal wo
‚ die ESpige antithetiſcher Einfälle auf einem Wort:
fpiele oder gar einem bloßen Gleichtlange berubt.
3. 3. B. ben fiebenten. WBery. wart DC
vierjebnten,
—umn—m— 2
x»
Iv Einleitung.
Uebrigens darf dem Freunde ernfter Lectüre wohl die⸗
feö Buch in einer Zeit empfohlen werden, welche in
mancher Beziehung an jene Seneca's gemahnt.
Ruͤhmend habe ich noch meines Vorgängers
Dlöhaufen zu erwähnen, deſſen fehr forgfältige
Weberfeßung ich an manchen Stellen dankbar bendgt
habe. | ,
Der Text, dem ich folge, ift im Ganzen der
Schweighäufer'fhe (Strasburg, 1809. 2 Bde. 8.)
uno der in meiner Ausgabe außerwählter Briefe
(Stuttgart. Megler, 1825. 8.) gegebene.
Pauly.
Seneca's Briefe.
E'rſter Brief.
Werth der Zeit.
Thue alfo, mein Lucilius; vetre Dich Dir ſelbſt; ſammle
und bewahre die Zeit, welche bis jezt Dir hafd geraubt, bald
entwandt ward, bald entſchluͤpfte. Glaͤube mir, es iſt fo,
wie ich fihreibe: ein Theil der Zeit wird uns entriffen, ein
anderer unvermerke entzogen, ‚ein dritter zerrinnt ung. Doc
der fchimpflichfte Verluſt ift der, welcher aus Nuchläßigkeit
erwäcstz; und betrachten wird genauer, fo verfließe der
größte Theil der Zeit den Menfchen, indem fie Uebels thun,
ein großer, indem fe Nichts thun, das ganze Leben, indem
fie andere Dinge thun, als fie follten. Wen wilft Du mir
ne:nen, der einigeu Verth auf die Zeit legte? der den Tag
ſchatzte? der es einfähe, daß er täglich ſtirbt? Das ift unfer
Irrthum, daß wir den Tod in der Zukunft ſchauen: er if
zum großen Theile fchon vorüber; was von unferenn Lehen
hinter ung Ilegt, hat der Tod. Alio, men Tuitind XS.
wie Du —* halte alle Stunden zuionmen > —
gen Zug » fo wirft du weniger VOR TEN nn J
gen. Jadem man dag Leben vericdyhiebt ı en
141B Seneca’d Briefe.
Alles, mein Lucilins, iſt fremdes Eigenthum, nur die Seit
ft unfer. Dieſes fo flüchtige, fo leicht verlierbare But ift
der einzige Bells, in welchen die Natur ung gefest, und doc
verdrängt uns daraus, Wer da will. Und fo groß ifk die
Thorheit der Sterblichen, daß fle das Geringfte und Armſe—
ligfte, wenigftend das Erſetzbare, haben fle ed empfangen, fich
aufrechnen laffen, dagegen Niemand ſich in Schuld glaubt,
wenn er Zeit erhalten, während viefe Doch das Einzige ift,
was auch ter Dankbare nicht erftatten kann. Du fragft viel:
leicht, was ich denn ſelbſt thue, der ich Dir diefe Kehren gebe?
Sch will es Dir offen geftehen. Es ift bei mir, wie bei Dem,
der vielen Aufwand macht, aber forgfältig Buch Hält; die
Rechnung über meine Ausgabe ift in Ordnung. Ich Bann
nicht fagen, daß mir Nichts zu Grunde gehe; aber Was
zu Grunde gehe, und warum und wie, vermag id) zu fügen;
die Gründe meiner Armuth Bann ih angeben. Allein es
aeht mir, wie den Meilen, die ohne ihe DVerfchuiden im
Dürftigbeit geratben find; Jeder verzeiht, Niemand hilft ihs
nen. Doch — was ifl’8? Ich halte Den nicht für arm, dem
das Wenige - genügt, das er übrig hat. Dir aber rathe ich,
fpare was Du haft, und fange *) bei guter Zeit an. Dein,
wie unfere Alten meinten, „zu ſpät ift es, die Meine zu
fparen. Denn nicht bloß Wenig ift es, fondern auch dag
Schlechteſte, was auf dem Boden bleibt.
9 Mac ber Vulq. incipias.
2— — ⸗- —
Zweiter Brief. 1419
Zweiter Brief.
Wie foll man feine Lectüre einrichten?
Nach Dem, was Du mir fchreibft, und nach Dem, was
ich höre, faffe ich eine gute Hoffnuna von Dir. Du wans
dert nicht hin und ber, und zerftreuft Dich nicht durch häu⸗
figen Wechfel des Aufenthaltes. Ein ſolches Sichhinundher⸗
werfen deutet auf ein krankes Gemüth. Auf Einer Stelle
bieiden, und bei fich verweilen zu können, das halte ich für
das erfte Merkmal eines geordneten Sinnes. — Siehe ba:
gegen wohl zu, ob jenes Lefen vieler Schriftfteller und
verfchiedenartiger Bücher nicht etwas U ſtätes und Flüchti⸗
ges zeige. Bei gewiffen einzelnen Geiftern mußt Du vers
weilen, und aus ihnen Dich nähren, wenn Du Etwas gewins
nen willft, das treu in der Seele hafte. Nirgends ıft, Wer
überau ift. Die ihr Leben auf Reisen zubringen, haben ges
meiniglich viele Gaſtfreunde, aber keinen Freund. Diſſelbe
begegnet nothwendig Dem, der an P-ineds Manns Gift ver:
traufich ſich anſchließt, fondern in eiligem LZuufe über Alles
hingeht. Keine Speife ift gedeihlich und gehr in den Körper
über, welche ſogleich nach tem Genuffe wieder abgeht. Nichte
hindert io fehr die Geneſung, als häufiger Wechſel der Arz⸗
neien. Die Wunde vernarbt niht, an welcher viele Mittel
verfucht werden : die Pflunze erflarft nicht, die häufig verfest
wird: es gibt Nichts fo Wirkfames, dab es im Vorbeigehen
nützte. Die Menge der Bucher zeritrent, DA Du u OUT
/o viele Iefen Bannft, als Du haben mh, N ö S
0 viele zu haben, ats Da 1e ertannk. „Wen! OST
? s . . XX
‚Ad mag nun einmal baid in dieſex Bad? AU
1420 Seneca's Briefe.
jenem.’ Es verräth einen verdorbenen Magen, an Dielem
herumzukoſten: diefes verfciedenartige Mancherlei verunreis
nigt ihn und nährt nicht. Lied daher immer nur bewährte
Schriftfteller, und wenn Du je einmal Luſt haft auch bei Ans
deren einzufprechen, fo Lehre immer wieder zu jenen erfteren
zurüd. Erwirb Dir täglich Etwas, was gegen die Armut,
gegen den Top, nicht minder genen die andern Hebel Dich zu
ftärten vermag: und aus dem Vielen, was Du durchlaufen,
hebe Eines aus, um es an diefem Tage zu verdauen.. Das
thue ich felbft auch. Von Mehrerem, was ich gelefen, halte
ich etwas Einzelnes fell. Das Heutige ift ein Satz, den ich
bei Epicnr getroffen. (Denn ich pflege auch in Feindes Las
ger hinüber zu geben, nicht als ein Weberläufer, fondern als
Kundfchafter.) Epicur fat: Es ift etwas Ehrenvolles
um die vergnügte Armuth. Allein — ift die Armuth
vergnügt, fo ift fie nicht mehr Armut. Nicht Wer Wenig
hat, fondern Wer Mehr begehrt, ift arm. Denn Was liegt
daran, wie Diet Tener in feiner Truche, wie Viel auf ſei—⸗
nen Speichern liegen hat, wie viele Heerden, wie vieie Ka⸗
pitalien er befitt, wenn er nad) Fremdem giert, und zuſam⸗
menzäbft, nicht Was erworben ift, fondern Was noch erwors
ben werden fol? Welches das Maaß des Reichthums fen,
fragt Du? Fürs Erfte, zu haben Was nöthig, hiernächft,
Was genug ift. —
Dritter Brief
Bon dem Zutrauen gegen Trenmde.
Du baft mir Deine Briefe dur Deinen v un R
Mtichſt, überbringen laſſen. Hexvo warnt
Dritter Briefe 1421
ihm nicht Altes Dich Betreffende mitzutheilen, weil nicht eins
mal Du feldft Dieb zu thun pflege. So haft Du in einem
und demfelben Briefe gefagt, er fey Dein Freund, und wies
ter, er fen ed nicht. Du haft demnach diefes Wort fo im
allgemeinen Sinne genommen, und haft ihn Freund genannt,
wie wir Alle, die fi) um Aemter bewerben, „vortreffliche
Männer‘ nennen, oder die und Begegnenden, wern uns ihr
Name nicht beifältt, mit „Herr“ begrüßen. In fofern mag
es hingehen. Allein, wenn Du Jemand, Dem Du nicht eben
foviel anvertrauft, als Dir ferbft, wirftich für Deinen Freund
hältſt, fe irrſt Du ſehr und Tennft Dad Wefen der wahren
Freundfchaft nur unvollkommen. Berathe Dich vielnichr über
Alles mit deinem Freunde, doch vorher noch über ihn felbft.
Nach den Freundfchaftsbunde mußt Du trauen, vor demfels
ben beurtheilen. Diejenigen aber verkehren die Ordnung der
Pflichten , welche, geaen Theophraſts Vorſchrift, erft Tieben,
Daun beurtheilen, und nicht fieben, nachdem fie beurtheitt
haben. Bedenke es fange, ob Einer in Deine Freuntichaft
aufzunehmen ſey: finteft Du für gut, daß es geichehe, daun
öffne ihm Dein ganzes Herz, daun fprich mit ikm fo frei,
als mit Dir ſelbſt. Nur lebe fo, Laß Du Dir felbft Nichte
zu vertrauen habeft, was Du nicht fogar Deinem Feinde an:
vertrauen Pönnteft. Allein, Da Mauches eintritt, woraus Die
Sitte Geheimniffe gemacht hat, fo theile mit dem Freunde
alte Sorgen, alle Deine Gedanken. Halte ihn für treu ,S
machſt Du ihn dazu. Manche lehren hinrergeäen , INTER
fürchten, bintergangen zu werden, und dus ihren EM
geben fie Andern ein Recht, an ihnen zu \untiget. |
forte ich alfo auch nur mit een Worre RU
1422 Seneca’d Briefe.
Sreund zurüdhalten? warum, wenn ich nur mit ihm zufam:
men bin, nicht glauben, allein zu ſeyu? Es gibt Leute, die
Jedem, der ihnen in den Weg fommt, Dinge erzählen, welche
nur dem Freunde zu !vertrauen find, und Was immer fie
drüct, in jegliches-Ohr entladen. Andere hinwider fcheuen
fogar das Mitwiſſen Derer, die ihnen die Liebften find, und
— ſich ſelbſt Nichrs’vertvauend, wenn fie könnten — fchlie-
Ben fie in ihre Innerſtes jenliches Geheimniß. Keinesd von
Beiden fol man thun, denn Beides ift ein Fehler, Allen
trauen und Keinem : nur ift das Eine, möchte ich fagen, ein
edlerer Fehler, das Andere ein minder gefährlicher. Eben fo
werden Beide zu tadeln feyn, fowohl Die, welche immer uns
ruhig And, als Die, weldhe immer ruhen. Denn jene Ge:
räuſch Tiebende Unruhe ift nicht Thätigkeit, ſondern das Ums
hertreiben eines Leidenfchaftlicd, aufgeregten Gemüthes : und
es ift nicht Ruhe, wenn man jede Bewegung für Befchwerde
achtet, fondern Zrägheit und Erfihlaffung. Merten 'wir uns
alfo, was ich bei Pomponius *) lad: ‚Manche haben fich
dergeftatt in ihre Schlupfwinfel zurüdgezoaen, daß fie glau⸗
ben, Alles fey im Gedränge, was im Lichte iſt.“ Man muß
Beides verbinden, mit der Ruhe die Handlung, mit der Hand:
lung die Ruhe. Befrage den Rath der Natur; fie wird Dir
Sagen, fle habe wie den Tag, fo die Nacht gefchaffen.
*) Ein tragifcher Dichter dieſes Namens lebte unter Auguſtus
und Ziberiuß,
ü—— —
Vierter Btief. 1423
Vierter Brief.
Yufmunterung zum fortgefesten Streben nad
Weisheit: fie befreit von der Todesfurcht.
Beharre bei Dem, was Du begonnen, und eile, fo fehr
Di kannſt, damit Du deflo länger eines gebefferten und ge-
ordneten Gemüthed Dich freuen mögefl. Du freueft Dich
zwar fon, fo lange Du Dich befferfi, fo lange Du Dich
ordnet: doch ein ganz anderes Vergnügen ift es, Das wir:
bei der Beſchauung einer von allen Schwächen reinen und
flefenfofen Seele genießen. Es ift Dir gewiß noch im Ge⸗
Dächtniß, welche Freude Du empfandeft, als Du das Knaben-
kſeid abgeleat, Das Männergewand angeihan harteft und aufs
Fo um geführt wurdeft. Eine größere Freude wartet Dei: .
ner, wenn Du den fnabenhaften Sinn abgelegt und Lie Weis:
heit Dich unter die Männer gefchrieben haben wird. Noch
imner biieb in uns, zwar nicht Kinabenalter, aber, mag
ſchlimmer ift, Kuabenfinn zurüd. Und um fo trauriger ift
Dieß, da wir das Anfehen ter reife, die Fehler der Kna⸗
ben haben, und nicht nur der Knaben, fondern der Kinder.
Jene zittern vor unbedentenden, dieſe vor eingebilderen Ue⸗
bein: wir vor Beiden. Schreite vorwärts, und Du wirft
enichen, daB Manches eben deßwegen weniger zu fürdyten
ift, weil es große Furcht erregt. Nichts, fo groß cd ſey, ift
zu fürdten, wenn es das Lepte if. Der Tod fommt u
Dr; zu fürdten wäre er, wenn ex dA Dir [run Tue)
ne£smwendig ift er entwerer noch nicht Ta, vuer Kin nn
‚Arer schwer iſt's, ſauſt Du, die Serie AT B
efveifpeit zu vermögen \U Bieht Du wat, SI
1434 Seneca's Briefe.
dige Urfachen fie öfters hat, dieſe Verachtung? Einer ers
hing fih vor der Thüre feiner Getiebten; ein Anderer ftürzte
fih vom Dache, um feinen fcheitenden Herrn nicht länger
hören zu müffen; ein Dritter, um nicht von der Frucht ın:
südgebracht zu werden, fieß fich einen Dotch in den Leib,
Und tem Diannesfinne follre nicht gelingen, Was der Angf
gelana ? iu ruhiges Leben wird Keinem zu Theil, der zu
fehr auf feine Verlängerung denke, der unter» die hochſten
Güter viele Coniufn rechnet. Das fen Dein tägfihes Trach⸗
ten, wie Du mit Bteichmuth ein Leben verlaffen mögeſt, das
Diele umklammern und feftbaltei, wie Die, werche ein Gieß-
bach fortreißt, Geſträuche und Felſen. Gar Viele treiben
Plägtich zwifchen Todesiurche und ten Qualen des Lebens:
feben wouen fle nicht, und zu flerben wiſſen fie nicht. Scraffe
Dir atfo ein heitered Leben, ındem Di alle Beſorgniß um
taffeibe verbauneit. Kein Gut frommt feinem Beutzer, außer
auf deffen Verluſt frin Gemuth gefaßt iſt. Keines Dinges
Verluſt aber ıft leichter , als defln, Das, wenn es verloren
if, nicht vermilt wird. Alſo gegen Aues, was auch Die
Mächtigften treffen Eann, ermurhige und verhärte Dich. Urber
des Pompejus Kopf haben ein Unmündiger und ein MWers
fhnittener das Urtheil gefprodten; über Eraffus ein graufas
mer und ubermüthiger Parther; ein Lepidus mußte auf des
Ka ters Cajus Geheiß feinen Naden dem Tribun Dexter dar;
bieten, und Gajus felbft bot den feinigen dem Chärea. Nies
ma ren hat das Gluͤck fo hoch geſtelt, day es ihm nicht chen
— Prohte, alo es gewährte. Lxove —
Ze. In eirem Augenblicke trürmt Ah var mer DD
felben Tage, mo das Fahrzeug an Den yuehen \nirlte,
I aA 4% a 32 U MR
Vierter Brief, 2
warb ed verfchlungen. Bedenke, ein Räuber, ein Feind Eu
yas Echwert Dir an Die Kehle feben: und es bedarf nü
sinmal überlegener Gewalt ; in jedes Sclaven Willkür fte
Dein Leben oder Dein Tod. Ich behaupte: Wer fein eige
Beben verachtet, it des Deinigen Herr. rinnere Di a
Die Beitpiele Derer, denen offene Gewalt oder Arglift men
terifcher Hausgenoflen den Untergang gebracht, und Du wırf
Anden, daß nicht Wenigere fielen durch erboste Sclaven als
durch den Sorn der Könige. Was kanıı Dir alfo daran lies
zen, wie mächtig Der fey, Den Du fürchtet, da Das, weßs
wegen Du Ihn fürchtet, Jeder thun kann ? „Aber, wenn
ich dem Feinde in die Hände falle, fo wird der Sieger mich
zum Tode führen laffen —“ zum Zode, ja, wohin Du doch
vefübrt wirft. Warum täufcheft Du Dich ſelbſt und wirft
et jest gewahr, Was Dir längft Schon gefchieht? Ich fage
Nir: feit Deiner Geburt wirt Du zum Tode geführt. Mit
viefem und Aehnlichem müſſen wir unfere Secle befitäftigen,
san wir in Ruhe jene lezte Etunde erwarten wollen, der
Furcht alle Uebrigen unruhig macht.
Doch — damit ich ſchließe — hier haft Du, was mir
te befonders gefiel (und auch Dieß iſt cinem fremden Gars
entnommen): „Großem Reichthum gleich ift eine nad
Geſetz der Natur geordnete Armuth.“ Jenes Gefeg der
w aber, weißt Du, weiche Gränzen es uns beftimmt ?
zu hungern, nicht zu dürften, nicht zu feieren. Um
er und Durft zu vertreiben, it ed widır ahrain, SEr R
Pr der Patäfte fidy zu Lagern, hoimdtiine DIES
impfende Gnade fidy gefallen AU —XXX u
PS Meer ſich zu wagen oder den SWAı N
N nme eg er
E . , ode in u me ee — — TE
14236 Seneca's Briefe.
Leicht zu befommen und vor und liegt, was die Natur be:
gehrt. Das Meberflüffige nur koſtet Schweiß, und Diefes
it's, was unfer Gewand abnubt, was uns zwingt, in feld:
lagern zu ergranen, was an ferne Küſten uns fcdhleuderf.
Sur Hand ift, Was genug if. Wer mit feiner Armuth Ad
gut verträgt, ift reich.
Funfter Brief.
Man trage feine PhHilofophie nicht zur Scan,
und vermeide auffallende Tracht und
Lebensweiſe.
Daß Du anhaltend Dir Mühe gibſt, und mit Hintan⸗
ſehung alles Andern auf das Eine bedacht biſt, wie Du tägs
lich beffer werden mögeft, das lobe ich, darüber freue ich
mich ; und ich ermahne Dich, dabei zu beharren, ja ich bitte
Dich darum. Nur rathe ih Dir, nicht nach der Weife Des
rer , die nicht weiter kommen, fondern fid, fehen laſſen wol⸗
len, etwas Auffallendes in Tracht und Lebensart anzuneh:
men. Groben, unfaubern Anzug, ungefchorenes Haar, vers
nach:äßigten Bart, beftändiges Losziehen auf das Geld, das
Nachtlager auf der biofen Erde, kurz alle jene verkehrten
Mittel der Eiteikeit vermeide. Der Name Philoſoph ift für
Ah schon gehäffig, auch wenn er noch fo anfpruchios auftritt;
Bas wiirde erfi werden, wenn wir gand AU der hergekracı:
zen DBeife ber geute heraustreten vonliten? rer mut
Muß ein Anderes ſeyn: anfer Ausichen page w ver m
"@ngen fol unfer Kıeid nicht; aber eb von MER SUN
Fünfter Brief. 1427
Keine Silbergefäffe , eingelegt mit Bildwerken aus gediege-
nem Golde, wollen wir befigen : aber halten wir eg nicht für
den Beweis der Genügfamteit, gar Bein Gold uud Silber zu
haben. Unfere Aufgabe fey , eine beffere Lebensweiſe zu be:
folgen, als die der Welt, nicht eine entgegengefegte ; fonft
ftoßen wir Die, welche wir beffern wollen, von und ab und
verfcheuchen fie. Auch bewirten wir, daß fie gar Nichts am
ung ngchafmen wollen, da fie befürchten, Alles nachahmen zu
müffen. Das Erfte, was die Philoſophie verfpricht, ift ein
verftäntiger Sinn, Zeutfeligkeit und Gefelliafeit: ed paßt
nicht zu diefer Ankündigung, den Sonderling zu fpielen,
Huͤten wir und, daß Das, wodurd wir uns Bewunderung
verfchaffen wollen , nicht vielmehr lächerlich und widerwärtig
erſcheine. Unſer Zweck ift ja, der Natur gemäß zu leben.
Aber es ift gegen die Natur, feinen Körper zu quälen, audı
einen wohlfeilen äußern Anftand zu verichmahen, die Unfau:
bereit auffuchen, und nicht nur einer geringen, fondern ekel—
hafter und garftiger Koft fich bedienen. Wie es Ueppiakeit
heißt, nad) Lederbiffen tracdhten, fo ift, aud) das Gewöhnliche
und leicht zu Bekommende vermeiden, Unfinn. Genügfams
Peit verlangt die Philofophie, nicht Kaſteiung: es gibt aber
eine anftländige Genügſamkeit. Dieß ift Das Maaß, , welches
mir gefällt. Ufer Leben halte eine weife Mitte zwifchen
den firengen Sitten und denen der Welt: achten müſſe Je⸗
der unfer Xeben, aber ſich dare n finden. — Wie Tewa Ua?
Sollen wir es machen, wie die Anderen? Su tan mt
faied feyn zwirchen uns und ihnen?! — Ein WU ST
Undbnlich der Menge folen wir Jedem eriihttuet SS
adher betrachtet. Wer in unfer Haus eintritt, SS
2428 Seneca's Briefe.
uns, als unfer Geräthe bewundern. Groß if der Mann,
der irden Gefchirr gebraucht wie Silberzeug: aber wahrlich
nicht Eleiner auch Der, welcher fein Silbergeſchirr gebraucht,
als ob es irden wäre. Schwachen Gemürhes ift, Wer den
Reichthum nicht ertragen kann.
Doc, um den einen Gewinn and; ded heutigen Tages
mit Dir zu theilen, fo fand ich bei unferem Hecato *), daß
es unter die Mittel wider die Furcht gehöre, feinen Begier⸗
den ein Ende zu machen. Er fagt: „Du wirft aufhören zu
fürchten, wenn Du aufgehört haben wirft, zu hoffen.” Du
wirft fagen : wie können diefe fo verfchiedenen Dinge fo über:
einkommen? Es ift fo, mein Lucilius; Indem fie fi zu wir
derfprecdyen fcheinen, find fle verbunden. Wie dieſelbe Kette
den Bewachten und die Wache verbindet, fo gehen auch jene
Dinge, welche fo unähnlich find, gleichmäßig zufammen. Die
Furcht begleitet die Hoffnung. Und ich wundere mich nicht,
Daß es fo ift: beide find Zuftände eines fchweberden Gem:
thes, Zuſtände einer unruhigen Erwartung des Künftigen.
Die wichtigfte Urfache von beiden aber ift, daß wir uns nicht
in die Gegenwart fügen, fondern unfere Gedanken in die
Ferne fchiden. Und fo ift das Morherfehungsvermögen, die-
fes große Gut des menfhlichen Wefens, in ein Webel ver-
£ehrt. Das Thier flieht vor der Gefahr, die ed vor ſich
flieht : wenn es entronnen, ift ed forgenfrei. Wir quälen uns
ber bad Künftige und über das Vergangene. Viele unferer
Borziüge fpaden uns: unfer Gedaͤchtniß Führt und vie Mein
> Mus Rpodus, Schaler bes Stoiterd Yanitint.
Sechster Brief. ‚2429
ver Furcht zurück; unfer Vorherſehungsvermögen bereitet fie
uns vorans. Niemand iſt nur durch die Gegenwart unglücklich.
Sechster Brief.
Senecars Bahsthbum in ber Befferung feiner
ſelbſt: fein Wunſch, gemeinfhaftfih wit
feinem Zreunde darin fortzufchreiten.
Ich finde, mein Lucillus, daß ich mich wicht nur beffere,
ondern umſchaffe; nicht als verfiherte oder erwartete ich,
daß Nichts in mir zurück fey, was zu ändern wäre. Wie
ſollte ich nicht noch Manches an mir haben, was geflärkt
der gedämpft oder gehoben zu werden bedarf? Über eben
a8 ift ein Beichen eines zum Beſſeren übergegangenen Ges
nüthes, daß es feine Fehler, die ed bisher nicht kannte,
einfieht. Gewiſſen Kranken wünfht man Glück, wenn fie
anfangen fic, krank zu fühlen. Ic wünfchte, diefe meine fo
raſche Veränderung mit Dir zu theilen; alsdann Fönnte ich
unferer Freundfchaft mit Zuverficht eine noch feitere Dauer
verfprechen, einer Achten Zreundfchaft, die nicht Furcht, nicht
Hoffnung, nicht die Sorge um eigenen Vortheil zerreißt — eis
ner Freundſchaft, mit welcher man flirbt, und für welche man
ſtirbt. Manchen will id) Dir nennen, Dem es nicht an ei⸗
nem Freunde, aber an der Freundfchaft fehlte. Dieß kann
nicht gefchehen, wenn gleiche Richtung det Bern ser
Bute: bie Herzen zum Bereine yieht, Wie ltr Dr
2 fe wiffen, daß fie Alles, und beinndert Dod BR
Ym Daben. — Du Ba : t works: Was
Seneca. 135 Bgm, uf Die wo ”
2430 Seneca’s Briefe.
tigen Gewinn ich jeden Tag mir bringen fehe, „Nun deun,“
faoft Di, „ſende auch mir, Was Du an Dir fo wirkfam er
fahren.‘ Ja, mid) felbft verlangt, ed Altes in Dich überzus
gießen; und fchon darum freue ich mich, Etwas zu lernen,
damit idy’s Ichren könne; und wie wird mid) irgend Etwas
vergnügen, wie trefflich und Heilfam es auch fey, wenn ich
es für mid) allein wiffen fol? Würde mir ade Weisheit
unter ber Bedingung verliehen, fle verfchloffen zu haften und
nicht auszufprechen, ich würde fle zurüctweifen. Keines Gu⸗
tes Befis ift ohne Mitgenoffen erfreufih. Ich werde Dir
alfo die Bücher ſelbſt fchiden; und damit Du nicht viele
Mühe zu verwenden habeſt, das zerſtreute Nuͤtzliche aufzu⸗
fuchen , fo werde ich Zeichen einlegen, um Did) ſogleich auf
Dasjenige zu führen, was meinen Beifall und meine Bewun⸗
derung hat. Doch das lebendige Wort und unfer Zuſammen⸗
leben wird Die noch mehr nüben, ald meine fchriftliche Rede.
Daper komm und flehe. Denn einmal glauben die Menfchen _
kieber ihren Augen, als ihren Ohren; fodann iſt fang der
Weg durch Vorfchriften, kurz und wirffam durch Beifpiele,
Eleanthes wäre nie ein Abbild des Zeno geworden, wenn er
Diefen nur gehört hätte. Er hatte mit ihm gelebt; er hatte
fein Innerftes durchſchaut; er hatte Beobachtet, ob er nach
feiner Lehre lebte. Plato und Ariftoteles, und die ganze nad)
verſchiedenen Seiten hin ſich wendende Schaar der Weifen,
Hat mehr aus des Socrates Charakter, ald aus feinen Wors
sen gewonnen. Einen Metrodorus, Hermarchus, Polyanus
das miche Epicurs Schule, fordern fein Dame m air
Acnnern gemadyt. — Aber nicht darum cn Turale ih
Dieb, Daß Du lernen, ſondern andy, dab Du wir waren wirt
Siebenter Brief. 1431-
Denn. gar: Biel werten wir Einer zu des Underen Beſten
beitragen.
Indeſſen, weit ich Dir Dein Pleines Taggeld ſchulde, fo
wit ich Dir fagen, welher Satz bei Hecato mir heute
Freude machte. „Du fragſt,“ fagte er, „Was ic) gelernt
babe? Mein Zreund zu feyn. Er Hat Viel gewonnen;
er wird nie allein feyn. Wille, ein Solcher iſt der Zreund-
Alter. Bu
Siebenter Brief.
Bermeide die Menge; vermeide ihre Schaufpies-
‚Te, zumal die blutigen. Trachte nie nady
dem Beifall der Dielen.
Was Du hauptfählid zu meiden habeft ? fragt Dis
. mid. Das Menfhengewühl. Noch kannſt Du Didy in dafs
felbe nicht mit Sicherheit einlaffen. Ich wenigftens win Die
meine Schwäche geftehen.: Nie Eomme ich in derfelben ſitt⸗
lichen Verfaſſung nad) Haufe, in weldyer ich ausging: Mau⸗
ches, was ich in Ordnung gebracht, wird aufgeregt, Mauches,
was ich verbannt hatte, kehrt wieder. Wie den Kranken,
die ein langdauerndes Siechthum fo ſchwaͤchte, daß fie nie
ohne Schaden ins Freie gebracht werden können, alfo ergeht
es ung, deren Gemüther aus Tanger Krankheit ſich erhofen.
ZGeindlich wirbt der Verkehr mit der Menge, Amer NS
der und nicht einen Fehler empfähle , vuer B8R
andermerktt anhienge. Gewiß, je weht ve DS
für. ©
da6 wie uns miſchen, deſto größer Ak MN“ 2“
u va ri aATu Ta em T
Me ee ea
%s-
1432 Seneca's Briefe.
aber iſt fo fchädfich für bie guten Sitten, als vor irgend
nem Schanfpiele zu figen; denn alsdann beſchleichen
unter der Ergoͤſzlichkeit die Laſter um fo leichter. Gla
"Du es wohl? Ich kehre habgieriger zurüd, ehrſüchti
Annficher,, ja grauſamer fogar und unmenſchlicher, wei
. anter Menſchen war. Zufällig gerieth ich des Mittag
Das Theater, Scherze erwartend und witzige Einfälle
irgend eine Erheiterung, wobei der Menfhen Augen
Menſchenblut ausruhen möchten. Ic fand das Gegent
alles vorangegangene Kämpfen war Barmherzigkeit gem
Keine ergoͤtzlichen Kunſte mehr — reines Gemesel iſt es
fle haben Nichts, um fich zu decken; mit dem ganzen KÜ
dem Streiche bioßgeftellt, führen fie. keinen Hieb umf
Dergleihen fehen die Meiften lieber, als bie ‚ordentfi
"Paare tunftmäßiger *) Fechter. Und wie follten fie ni
Hier wehrt Fein Helm, kein Schild den Stahl ab. 2
Wenn Scuswehren? wozu Zechterkünfte? Alles Der
—Tripen Hält den Tod nur auf. Des Morgens wirft
|
ten Zodfchlag. Das Ende
Menſchen den Lowen und Bären, des Mittags ihren
ſchauern vor. Wer eben gemorbet, wi
‚, wird zum Morde e
Undern vorgeworfen : den Sieger fpart man zu einem
X. für alle Kämpfende muß der
ſeyn; mit deuer und Schwert geht man zu Werke. Un
n en in ihrer Kanſt, die auf Pr
2 erhalten, und vom Volke jede
mentlid erbete N wurden, Des Mittand 8
ei ‚a un Kampie, tie W
ad, tervarii, mer Sue N >. <
7 DB galt für Thteanipruneh FAR
Siebenter Brief. 1433
treibt man's, bis der Kampfplap leer iſt. — „Aber Diefer
hat einen Straßenraub begangen.” Nun, fo hatte er ver⸗
dient, gehangen zu werden.“ „Jener bat einen Menſcher er⸗
mordet.“ Wer morbete, verdient Daffelbe zn erleiden. Aber
Was Haf Du verdient, Clender, *) diefes mit anzufehen?
— „Hau' ein! prügle, brenne ihn! **) Warum rennt er fo
zaghaft dem Schwert entgegen? Warum baut Diefer fo gar '
nicht herzhaft drein? Warum flirbt Jener fo ungern 2" —
Mit Kuüttetichläger werden fie ins Blutbad getrieben, um mit
nadter, entgegengehaltener Bruft die wechfelfeitigen Siebe zu
empfangen. Die Spiele find ja unterbrochen : indeffen werden
Menſchen gefchlachtet, damit nicht gefeiert werde. — Aber
fehet ihr denn nicht, daß böfe Beifpiele auf Diejenigen zu⸗
rückwirken, die fie geben ?_ Dantet den unfterblichen Böts
tern, daß ihr Den graufam ſeyn lehret, der es nicht lernen
Bann. ***) Terne halten vom Volke muß man das zarte,
im Guten noch zu wenig feſte Gemüth: Teicht tritt man zur
Mehrheit über. Einen Socrates, Cato und Laͤlius ſogar
hätte eine unaͤhnliche Menge aus ihrer Haltung bringen koͤn⸗
nen: fo. wenig wird irgend Einer von ung, wie fehr wir bes
müht find, unferem Gemüthe die rechte Verfaffung zu geben,
den Andrang von Laftern auszuhalten vermögen, die mit fo
mächtigem Gefolge gegen uns anräden. Ein einziges Bei⸗
fpiel der Schwelgerei oder der Habſucht fliftes viel Unheil:
ar
% Nimii ber dr diefe Anicheutiigteiten LT gas
*% Die Bagbaften wurden wir Zenerirhahen TO WUS
getrieben,
”) Den jungen Nero.
Pen Seneca's Briefe.
ein Weichling, mit dem wir leben, entnerdt ung alfmäpfig
und erfchlafft und; ein reicher Nachbar macht unfere Begier⸗
den rege; ein bösartiger Gefährte fest auch an der reinften
und einfachften Seele feinen Roft ab. Was, glaubſt Du,
‚wird bei einem Gemüthe werden, auf welches das ganze
Volk feine Angriffe richtet? — Nothwendig müßteft Du ents
weder nachahmen oder haffen. Beides aber ift zu meiden:
. Du folft werer den Schlechten ähnlich werden, weil ihrer
Miele find, noch der Feind der Vielen, weıl fie Dir unähns
lich find. Siehe Did in Dich ſelbſt zuräd, fo viel Du
kannſt: verkehrte mit Solchen, die Dich beffer machen werden;
laß Solche ſich an Dich anfchließen, die Du beffer machen
kannſt. Go tritt eine Wechfelwirkung ein: man lernt, indem
‚man lehrt. Laß Dich alfo nicht von Ruhmbegierde, um der Welt
Dein Talent zu offenbaren, in die Mitte des Volkes führen,
daß Du ihm Vorleſungen halteft oder Unterredungen: ich
wollte ferbft, Du thäteft Dieb, wenn Du eine Waare hättefl,
die diefer Pöbel; brauchen könnte. Niemand ift, der Dich
begriffe. Vielleicht daß Einer oder der Andere Dir aufſtieße;
allein auch Diefen wirft Du erft heranbifden und enleiten
müſſen, damit er Dich, begreifen lerne. — „Für Wen aber
babe ich das Alles gelernt?! — Du barfft nicht fürchten,
deine Mühe verloren zu haben: Du haft es für Dich gelernt.
Über damit ic) heute nicht für mich allein gelernt habe,
ſo will id) Dir drei mir aufgefallene vorfreffliche Ausfprüche,
eugefdhr beffelben Sinnes, mittheiien . wire dien derfels
ven mag diefer Brief feine Schuld berahlen; dir vers JJ
ven empfange als Vorausbezahlung · Deo,—
ner gilt mir für das Wott, und dad Butt für Eiuen.
Achter Brief. | 1435
— Gut ahtwortete and) Jener (Mer es gewefen, ift unge
wiß), ber auf die Fraͤge, was er beabfichtige bei fo großem
Zleiß in einer Kunft, die er nur bei fehr Wenigen an dem
Mann bringen würde, fagte: „Mir genügen Wenige, mir
genügt Einer, mir genügt auch gar Keiner. — Vortrefflich iſt
endlich diefer dritte Satz, den einft Epicurus an einen feiner -
wiſſenſchaftlichen Freunde fchrieb: „Dieß nicht für, die Dies
fen, fondern für Di: denn wir find Einer dem Andern
Dublitum genug.” Solches, mein Lucilius, mußt Du in dei⸗
ner Seele niederlegen, um bie aus dem Beifall der Menge
entfpringende Luft zu verachten. Diele loben Dich. Haft
Du Grund, mit Dir zufrieden zu feyn, wenn Du ber Mann
bift, den die Vielen verftehen? Nach Innen müſſen beine
Dorzüge ſchauen.
Achter Brief.
‚Die tpätige Muße bes Weifen.
„Du willſt,“ ſagſt Du, „daß ich das Menfchengewähl
meide, daß ich mich zurüctziehe, und mir an meinem Bewußt⸗
feyn genügen laſſe. Wo find nun jene enre Worfchriften,.
“welche gebieten, thätig zu fepn bis zum Tode?“ — Wie?
glaubſt Du etwa, ich fise müßig? Darum habe id) midy
serborgen und meine Thuren verfchloffen, damit ic recht
Dielen näpe. Kein Tag vergeht wie in Dkitiitettt —*
Sbeil ber Nächte wahr” idy den Stuten, 10 B8
wicht Seit für den Schlaf, ich unterliege An > wen XX
rastet buch, Wachen und zufaliend , veÄ ha
is Senmeca's Briefe.
beit. Ich babe mich zurückgezogen nicht nur von den Men⸗
fen, fondern auch Yon den Dingen, und zuerſt von den mei⸗
nigen. Der Nachwelt Angelegenheit betreib’ ich: ich fchreibe
Einiges nieder, was ihr vieleicht nützen kann; heilfame
Mahnungen, gleichfam die Rezepte zu wohlthätigen Arzneien,
übergebe id) dem Papiere; daß fie wirkfam find, habe ich an
meinen eigenen Schäden erfahren, tie, wiewohl noch nicht
vbllig geheilt, doch aufgehört haben, um ſich zu greifen. Den
rechten Weg, den ich felbft fpät erft und müde vom Irren
gefunden, zeige ich Andern. Ich rufe: „meidet, Was dem -
Volke gefälit, und Was der Zufall bietet! Bei jedem ungefähs
ren Gut verweilet argwoͤhniſch und fchüchtern! Gewild und
Fiſche werden durch irgend eine Iodende Hoffnung berüdk.
Ihr glaubt, Dergleichen feyen Gefchente tes Stüds? Es
find Schlingen. Wer immer von euch ein ungefährdet Leben
führen” will, vermeide, fo viel er kann, jene Wohltfiaten an
er Leimruthe, in denen wir uns fo Häglich täufchen; wir
meinen fie zu haben, und man hat uns. ) In Abgründe
führt ein folcher Lauf: das Ende eines fo hoch wandelnden
Lebens ift Falten. Sofort hilft Fein Widerftand, weſſen Fahr⸗
zeug das Glück in tie Quere zu führen begonnen. Entwe⸗
der gerade Fahrt, oder fchnellen Untergang! **) Aber das
Gefchick ſtürzt das Schiff nicht mit Einemmale um, fondern
dreht ed im Wirbel und wirft es an die Klippen. Befolge
aljo diefe vernünftige und heilfame Lebensregel: dem Körper
9) Hdbemur flatt haeremus
e) , Lex Sarker.
nlidy ſpruͤchwoͤrtlicher —8*
RRXR zu d. Gt.
Achter Brief. - 1437
nur fo viel zuzugeſtehen, als zur Geſundheit nöthig iſt. Er:
muß etwas hart gehalten werden, damit er der Seele nicht:
ungehorſam ſey: die Speife flille den Hunger, der Trank:
Löfche den Durft, das Kleid wehre der Kälte, die Wohnung:
ſey eine Schutzwehr gegen Alles, was den Körper bedroht.
Ob diefe Wohnung aus Raſen aufgeführt tft, oder aus mans:
cherlei Geftein entlegener Länter, ift gleichgültig; glanbe
mir, ein Strobdad) dert den Menſchen fo gut, ald ein golde⸗
. ned. Verachte Alles, was eine überflüffige Mühe zur Pracht
und Zierde ansgeftellt hat. Denke, daß Nichts, als ter
Geiſt, Bewunderung verdient: ift er felbft groß, fo iſt ihm
Nichts groß.” Menn ich fo mit mir, fo mit der Nachwelt.
rede, glaubſt Du nicht, Daß ich nüslicher befchäftigt bin, als.
wenn ich in die Gerichtähöfe liefe, um Bürgfchaft au leiſten,
oder Zeftamentsurkunden meinen Siegelring aufdrückte, oder
Bewerbern im Senat meine Hand und meine Stimme liche ?
Staube mir, Wer Nichts zu thun fcheint, thut oft fehr Wich⸗
figes: Menfchliches und Göttliches befchäftigt ihn zugleich.
Allein ich muß fchließen, und, wie ich zu hun pflege,
Etwas für diefen Brief erlegen. Dieß fol nicht von dem
Meinigen genommen werden: noch immer entrolfe ich den
Epicurus, bei welchem ich heute diefen Saß fand: „Du
mußt der Philoſophie dienftbar werden, damit Dir die wahre.
Treiheit zu Theil werde. Es wird nicht von einem Tag auf
den anderen vertröftet, Wer ihr fich unterwarf und zu eigen
gab. Er wird sogleich im Freiheit grirat, denn Cara BR.
der Dpitofopbie dienen , ift Zreineit. Dilitt u I
mic, warum idy fo viele fhyöne Syrädge vxa S ‘
. - je N
Alf "Vielmehr von den Ynfern , antähre? - N
1438 - Seneca's Briefe. u ®
Gedanken nur Epieurs Eigenthum, und nicht Gemeingnt
wären! Wie Vieles: fügen Dichter, was von Philofos
shen entweder gefagt worten iſt, oder doch gefagt werden
ſollte! Ich wilf/nicht der Zragiter gedenken, noch unferer
Schauſpiele, in welchen der Römer in feiner Toga auftritt
(denn auch Diefe behaupten einen gewiſſen ftrengen Ernft,
und ftehen zwifchen Lufts und Zranerfpielen in der Mitte)
— wie viele der treffenditen Gedanken find nicht unter den .
Mimen zerfirent ?. wie Vieles von Publins *) eignet ſich
mehr für den Cothurn, als für die Soden? Einen Vers von
ihm, der fi auf die Philoſophie bezieht, und zwar gerade
auf ben Gegenftand derſelben, der ung fo eben befchäftigte,
und worin er warnt, das Zufällige für unfer Beflsthum zu -
balten, will ich hier anführen: |
Was und durch Wünfchen Fam, bleibt immer fremdes Gut.
ch erinnere mid, daß Du diefen Gedanken um Vieles beſ⸗
— fer und angemeflener fo ausdrüdteft :
Nicht Dein ift, was zu Deinigem dad Glück gemacht.
Auch diefen noch beſſeren Ausſpruch von Dir will ich nicht
übergehen:
Was mar Dir geben kann, Fann man Dir nehmen.
Zieß rechne id Dir aber nicht ale Zahlung an: ic, gebe es
Dir von dem Deinen,
+) Mit dem Beinamen Syrus, ein WMimendichter im Zeit⸗
alter Auguſt's.
Neunter Brief. 1459
Neunter Brief
| Der Beife ift ſich ferbf genug: gleichwohl
I wünfht er fi Freunde,
Du begehrft zu wiſſen, ob Epicur Recht habe, in einem
feiner Briefe Diejenigen zu tadeln, welche fagen, der Weife
genüge fich fetbft, und bedürfe deßwegen keines Freundes,
Diefer Tadel Epicurs galt dem Stiipo und Denen, weldyen
eine unanregbare [impatiens] Seele ald das höchſte Gut
erfcheint. (Man verfällt unvermeidfich in eine Zweideufigs
geit, wenn man anadasa kurz mit Einem Worte ausdrüden,
und-impatientia fagen wit. Denn man kann darunter gerade
das Begentheil von Dem, was man ausdrärfen wollte, ver
ftehen. Wir wollen mit impatiens Denjenigen bezeichnen,
‚der jede Empfindung von Leiden für Nichts achtet; und man
wird ſich dabei einen Menfchen denken ,. der gar Bein Uebel
leiden (vertragen) könne. Siehe alfo zu, ob es nicht anges
meffener feyn wird, von einer unverwundbaren Seefe
zu ſprechen, von einer Seele, die über alles Leiden
hinaus iſt?) Das ift der Unterfchied zwifchen ung und
Jenen: unfer Weifer beflegt zwar jedes Ungemach, aber er
empfindet ed; der ihrige empfindet es nidyt einmal, Darin
fonımen wir mit Jenen überein, daß der Weife fich felbft
genug fey. Allein einen Freund, einen Nachbar, einen Haus⸗
.. genoffen will er dennod, haben, wiewohler I Wit 8
Und febe, wie ſehr er ſich fetbft genug Ss
weilen fchon ein Theil feiner ſeibſt. Wenn EM Rn
per ein Feind ihn um eine Hand gebradit, WI“
1448 Smeca’d Briefe.
fall *) ihm ein Auge ausgeftoßen, fo begnügt er fich mit Dem,
was ihm übrig geblieben, und ift bei beſchaͤdigtem nnd vers
flämmeltem Leibe fo vergnügt, ald er bei unverletztem war.
Lieber will er zwar, daß ihm Nichts fehle: aber fehlt ihm
Etwas, fo vermißt er es nicht. In fo weit ift der Weife fidh
ferdft genug, nicht daß er ohne Freund ſeyn will, fondern dag
er es Bann. Sch fage, er Bann es; denn wenn er ih verfe
ren, fo trägt er ed mit Gleichmuth. Ohne Freund wird er
übrigens nie feyn; er hat es in feiner Gewalt, wie fuel
er ihn erfenen will. Wie ein Phidias, dem eine Bildfänle
verdorben worden, ſich fofort eine andere fchaffen wirb; fo
wird auch er, der Meifter in der Kunft, Breundfchaften zu
fläften, einen Anderen an die Stelle des Verlorenen feben. Du
fragſt, wie er fo ſchnell einen Freund fich verfchaffen Bönne ?
Ich will es Dir fagen, wenn Du es zufrieden feyn wirft, daß .
ih Die nun gleih meine Gebühr entricdhte, und für dieſen
Brief die Rechnung niit Dir abfchließe. Hecato fagt: „Ich
will Dir ein Liebesmittel anzeigen, Beinen Trank, Bein Kraut,
nicht den Spruch irgend einer Zauberin. Es heißt: wil Iſt
Du geliebtſeyn, ſo Liebe!" Aber nicht nur eine Freund⸗
fdyaft, die fhon alt und bewährt ift, gewährt großen Genuß,
fondern auch das Erwerben und Schließen einer neuen. Wie
fid) verhält der einerntende Lantmann zum ansfäenden , alfo
auch Der, weicher ſich einen Freund fdyon erworben, zu Dem,
dev ihn erft erwirbt. Der Philofoph Attalus pflegte zn far
gen, einen Freund gewinnen, fey augenehmer, ats einen be⸗
Aben; wie es für den Künflier angenehmer w were,
# gemalt zu haben. Der Küniter , veien uam Ban
IE Eymweisbäufer gu d. St.
"Mennter Brief. 1441
4 mit feinem Werke beichäftigt ift, empfindet Hohen Genuß
biefer Beſchaͤftiguͤng felbft. Sein Vergnügen ift nicht mehr
fetße, wenn er von dem voliendeten Werke die Hand abgesos
bat: dann genießt er nur der Frucht feiner Kunſt; er genoß
Kunft feibft, während er malte. Fruchtreicher ift die reifere
gend unferer Söhne, aber Fieblicher ihre Kindheit.
Kehren wir nun zu unferem Gabe zurüd, Der Weiſe
I, auch wenn er fich ſelbſt genügt, gleichwohl einen Freumt
en, wäre es andy ans keinem anderen Grunde, ald um
eundesliebe zu üben, damit eine fo wichtige Tugend nicht
‚ch liege: nicht wie Epicur in dem oben erwähnten Briefe
t, nm Jemand zu haben, der ihm zur Seite fie, wenn
krauk liegt, oder ihm, wenn er gefangen ift oder Notf
vet, mit Hülfe beifpringe; fondern um Jemand zu haben,
deffen Krankenbette er felber ſitze; den er, wenn feind:
e Wachen ihn umringen, in Freiheit ſetze. Wer nur fidı
Aafihtigt, und um feiner willen eine Freundfchaft fchliegt,
ikt fchlecht: wie er anfängt, fo wird er enden. Er hat
ı einen Freund verfchafft, der ihn gegen Feſſeln ſchützen
: fobald die Kette Elirrt, wird er davon gehen. Das fint
Freundſchaften, weiche das Volk die zgeitwährender
ınt. Wer um des Nutzens willen angenommen worden, wirt
lange gefallen, als er nüben kann. So kommt es, daß eir
hwarm von Freunden die Glücklichen umlagert: um bie
flärzten her ifl’8 gar einfam; wo_der Freunde eine Prü:
ig wartet, machen fle fi davon. Se tummt db, RW
viele abſcheuliche Beifpiele haben von Suden ı we
md aus Furcht im Stich ließen, per Start! |
Farcht verriethen. & Tann wicht jenlen. TO
1242 Seneca's Briefe.
zum Anfang paſſen. Wer Eines Freund zu werben angefats
gen, weil es ihm fo vortheilhaft war, Dem wird, wenn ihm
an der Freundfchaft noch fonft Etwas außer ihr felbft gefält,
auch irgend ein Preis gegen fie gefallen. Wozu gewinne ih .
mir einen Freund? Um Jemand zu haben, für den idy fler-
ben kann, Jemand zu haben, den ich in die Verbannung bes
gleite , für deflen Leben ich das meinige einfeße, dem ich
mich opfere. Was Du meinft, ift nicht Freundfchaft, fondern
Speculation, die nur ihrem Vortheil nachgeht, und berechnet,
Was zu gewinnen fen. Ungezweifelt hat der Uffeck der Liebe
Aehnlichkeit mit der Freundſchaft: man könnte jenen eine
rafend gewordene Freundſchaft nennen. Liebt nun wohl Je⸗ |
mand aus Gewinnſucht, oder um Ehre und Ruhm zu erlars
gen? Die Liebe an und für fich, alles Andere Hintanfepend,
entzündet in den Herzen das Verlangen nad) dem fchönen |
Gegenftande, nicht ohne die Hoffnung auf gegenfeitige Zärts
fichkeit. Und nun, die Urfache, aus welcher der unedlere
Affect entfteht, folte die edlere feyn ? — Doch es handelt ſich
ja hier nicht darum, vb die Zreundfchaft um ihrer felbft oder
irgend eines anderen Zweckes willen wünfchenswerch fen. Iſt
fie es um ihrer -feibft willen, fo kann mit ihr in Verbindung
treten, auch Wer fich feıbft genug ift. Und wie wird er mit
ihr in Verbindung treten ? Als mit einem Gegenflande von
höchſter Schönheit, nicht von Gewinnfucht befangen, andy
nicht geſchreckt durch den Wechfel des Schidfalde. Es ent
Zreibes die Sreundfchaft ihrer hohen Würde, Wer jle nur auf
gen Fall des Glückes ftiftet. e OREEFREN
Der Beife ift fidy felbft gewug. Dieir Si, wen tu
ine, wird von den Meifen ehr \aih aataien. Di
Neunter Brief. 1443
ſchließt den Weiſen von allen Seiten aus, und draͤugt ihn
auf ſich ferbft zurüd. Allein man muß unterfcheiben, wozu
und wie weit diefer Sab verbindlidy macht. Der Weiſe tft
ſich ferbft genug, um glüdlich zu leben, nicht um zu leben.
Denn zu diefem Tezteren bedarf er noch vieler anderer Dinge;
zu Jenem nur einer gefunden und erhabenen Seele, welche
anf den Gtüdswechfel herabfieht. Noch will ich Dich anf
eine Unterfcheidung von Chrpfippus aufmerkfam machen. Er
fagt: „dem Weifen mangelt Nichts; dennod braucht er
mandye Dinge. Der Unmweife braucht Nichts, denn er weiß
Nichts zu gebrauchen; _aber ihm mangelt Alles.’ Der Weife
braucht Hände, Augen und vieles Andere, was das tägliche
Leben erfordert; aber ihm mangelt Nichte. Denn Mangel
wird gefagt von einem nothwendigen Bedürfniffe, und der
Weife kennt Fein folches. Alſo, fo fehr er fidy felbft genug
ift, braucht er doch Freunde, und er wünfcht, deren möglichft
Viele zu haben; nicht um glücklich zu leben, denn er lebt
auch ohne Freunde glücklich. Das höchſte Gut bedarf Peiner
äußeren Hülfsmittelz; es wird im Innern gepflegt, es beftehe
ganz in ſich ſelbſt. Dem Zufall beginnt unterworfen zu ſeyn,
er einen Theil feiner felbft außer ſich ſucht. Doch — wie
wird es mit dem Lehen des Weiſen flehen, wenn er von
Freunden verlaffen im Gefängniffe liegt, oder einfam unser
einem fremden Volke fid, befindet, oter anf Langwieriger
Seefahrt zurüdgehalten oder an ein dded Geflade gemorken
wird? Wie mit dem Leben Iupiterd , x
aufgelöst haben, alle Bötter in Einn Werawmwr
werben, bie Natur einen Stilftend waden , WI SS
feinen Gedanten hingegehen, in fc vahen WW-
.a444 Seneca's Briefe.
der Weiſe: er birgt ſich in ſich ſelbſt, er iſt mit ſich allein.
So lange er nun freilich nach eigenem Gefallen feine Lage
einrichten kann, thut ex ed, und ift dabei fich ſelbſt genng:
‚er vermählt ſich, und — ift ih felbft genug, wird Mater,
doch ift er ſich felbft genug; gleichwohl wird er nicht Ieben
wollen, müßte er ohne Dienichen Ieben. Zur Freundſchaft
zieht ihn nicht eigener Vortheil, fondern ein natürlicher Reis
bin. Denn wie nad) anderen Dingen ein gewifles füßes Mer:
Iangen uns angeboren ft, fo auch nach der Freundſchaft. Wie
die Einſamkeit und zuwider ift, dagegen aus Verlangen nad
Geſelligkeit der Menſch dem Menſchen ſich anfchiießt, fo ift
es auch ein von Natur ung inwohnender Trieb, der nnd
Freunde wänfchen läßt. Nichts deflo weniger, wiewohl er
aufs Zärtlichfte feine Freunde liebt, wiewohl er fie fo hoch
als fidy ſelbſt, ja noch höher hält, wird er dod au fein Gut
anf fich felbft befchränfen und fagen, was einft Stitpo fagte,
— derſelbe Stilpo, gegen welchen Epicurs Brief gerichtet ift.
Seine Vaterſtadt war erflürmt; er hatte feine Kınder, feine
Gattin verloren; einfam und doch glücklich verließ er die
große Brandftätte, und ald Demetrius, der feinen Beinas
men , Poliorcefes, von der Städte Verwüſtung trug, ihn
fragte, ob er Verluſt erlitten hätte, fprady er: „Ich habe
alte meine Güter bei mir. D ein Mann voll Kraft und
Muth! Er hat feines Feindes Sieg beflegt. „Ich babe Nichts
verloren‘, war feine Antwort; und fo hat er ihn zu zweifeln
genöfbigt, ob er geflegt habe, „Ih habe das Meine alles bei
anir : meine Zugend, meinen vectlihen Stun, win Brökı
eis, und eben Das, daß ich Niäts vÜr in St ee
%a7 mir nebmen Sann.' Wir year N -
Meunter Brief. 1445
wife Thiere, weiche, ohne fich zu befchädigen, mitten burch dag
euer gehen: um wie viel wunderwürdiger ift der Dann,
der unverlest und unbefchädigt durch Todbeswaffen, Trümmer
und Flammen wandelt? Du ficheft, wie viel Teichter es ift,
ein ganzes Volk, als Einen Mann zu überwinden. Dieß
Wort hat er mit dem Stoiter gemein, der auch, wie Jener,
feine Güter unberührt durch, eingeäfcherte Städte trägt. Er
iſt ſich ſelbſt genug: in diefe Graͤnze fchließt er feine Gluͤck⸗
ſeligkeit ein. Und glaube nicht, daß nur wir (Stoiker) eine
fo großartige Sprache führen: fogar Stilpon’d Tadler, Epis
curus, bat eine ähnliche Aeußerung gethan, die Du als eine
Zugabe hinnehmen magft, wiewohl ich mich für heute ſchon
abgefunden ‚habe. Epicurus fagt: „Wem das Seine nicht das
Herrlichfte dunkt, der ift unglüdiich, und wäre er Herr ber
‚ganzen Welt.‘ Dder, wenn ed fo audgedrüdt Dir beſſer
fdyeint (denn wir haben und an bie Gedanken, nicht ſclaviſch
an die Worte zu haften): „Unglücklich ift, Wer fich nicht
für den Gtüdtichken hält, und wenn er der ganzen Melt ges
böte.“ Und damit Du Did, überzeugeft, daß diefe Anficht eher
eine allgemeine ift, welche der natürliche Verſtand felbft aus⸗
ſpricht, fo finden wir bei dem Eomiter (Syrus) die Worte:
Nicht gluͤcklich iſt, Wer es zu ſeyn nicht glauben will.
Denn was liegt daran, wie dein Zuftand befchaffen fey, wenn
Du ihn ſelbſt für fchlimm hältſt? — „Wie aber‘, Hör ich
Dich fragen, ‚wenn jener Menfch, der mit Schanden reich i&,
welcher Herr ift DVieler, aber noch Mehrerer Scan , Sn
er fey glüdlidy : wird ex es dadurdy , daß ab SUET
Wiht Bas er ſagt, fondern Was ex KÜnit , BVXR
nicht Bas er heute, fondern Bas ex iunmer TEN-
Sencca. 128 Bhdn, >
1448 Seneca's Briefe.
ob die Gottheit ed ſaͤhe; fpric fo mit ber Gottheit, als eb
die Menſchen es Körten. " |
Eilfter Brief.
Die Schamröthe. Naturfehler laffen fi nicht
völlig Ändern. — Man nehme in Gedanken mu—
fterhafte Männer zu Zeugen aller feiner
Handlungen.
Ich unterhielt mich mit deinem Freunde, einem, jungen’
Manne von guter Gemüthsanlage. Gleich das erfte Gefpräcd
verrieth, welche Vorzüge des Herzens und Geiftes er beſitzt,
und welche Fortfchritte er ſchon gemacht hat. Er gab mir
einen Borfhmad, dem er entfprechen wird: denn er fprach
mit mir nicht vorbereitet, fondern unverfehens uͤberraſcht.
Auch nachdem er ſich gefammelt Hatte, Eonnte er ſich doch
Teiner Verſchämtheit — ein gutes Zeichen an einem Jüng⸗
fing — baum entfchlagen: ex war über und über roth gewor=
den. Diefe Röthe wird ihn, fo viel ich vermuthe, auch wenn
er ſich gekräftigt und aller feiner Fehler ſich entäußert haben
wird, auch ald Weiſen noch begleiten. Keine Weisheit ver:
mag Naturfehler des Körpers oder der Seele zu befeitigen:
Was angefchaffen und angeboren iſt, kann durd, Kunft ver:
minbert, nicht überwunden werden. Es gibt Männer voll
Fefligteit unb Kraft, weichen, gleich. Erſchoͤytten und Erhib:
ren, ins Angeſicht der Boltsgemeinte der Shmet auitriat,
Aberen zittern bie Kniee, wenn fie dientlih reden lat,
deren Happern bie Zähne, ihre Zunge Kammat, \ie vo
Eilfter Brief. 1449
ven beben. Dergleichen wird weder durch Anweiſung noch
durch Hebung verbannt: die Natur übt ihre Macht, und mahnt
durch folhe Schwächen auch die Stärktften an fih. Dahin
gehört auch diefe Röthe, welche unverfehens ſogar Männer
von großer Eharakterftärte überläuft. Stärker freilich tritt
fie bei Jünglingen zu Tage, die mehr Lebenswärme und eine
zartere Stirne haben: nichts deito weniger befällt fie auch
vielerfahrene Greiſe. Es gibt Leute, die nie mehr zu fürdys
ten find, ald wenn fie roch geworden; als ob fie damif alle
Verfhäntheit abgelegt hätten. Sulla übte feine Gewalt
am graufamjten, wenn ihm das Blut in das Geſicht getreten
war. Es gab Fein zarteres Geſicht, ald das des Pompeius ;
immer erröthete er in Gegenwart Vieler, zumal wenn er
vor dem Volke ſprach. Noch erinnere ich mich, wie Fabia⸗
nus *) erröthefe ,-ald er, um ein Zeuaniß abzulegen, in den
Senat eingeführt ward: und diefe Verfchämtheit fland ihm
ungemein gut. Nicht Schwäche des Geiſtes war’d, Was dies
fe8 bewirkte, fondern das Ungewohnte der Lage: der Unges
übte wird dadurd, wenn feine Lörperliche Anlage Leicht dazu
Hinneigt, wenn auch nicht außer Faſſung gebracht, doch ber
wegt; denn während Andere ein gutes [ruhiges] Blut has
ben, befigen diefe ein Teicht aufwallendes, bewegliches, das
Schnell in's Gefiht tritt. Keine Weisheit vermag, wie ges
fagt, Dieb zu vertreiben : fonft hätte fie ja die Natur ſelbſt
in ihrer Gewalt, wenn fle ale Gebrechen auetilgen Pönnter
Was die angeborene Förperliche Belhyafeuhäit , U —
rament, mit ſich bringt, wird haiten Hhuo | WI RAN
*) Yhitofoph und Rhetor.
1450 Seneca's Briefe.
lange auch das Gemüth, fich zu vegeln, bemüht war. Nichts -
dergleichen laäͤßt ſich befeitigen,, fo wenig, ale herbeiziehen.
Buͤhnenkünſtler, welche die Affecte nachahmen, Furcht uch
Angſt ausdrücken, Traurigkeit darſtellen, geben ſich das An⸗
ſehen der Schaam durch allerhand Zeichen: fie ſenken das
Haupt, dämpfen die Stimme heften die Blicke niederwärts
dur Erde: nur die Röthe Lönnen fie ſich nicht erzwingen.
Diefe Eann man weder hindern noch annehmen. Gegen der:
gleihen Dinge verfpricht .die Weisheit Nichts und vermag
Nichts: fie gehören fich felbft an, und ungeheißen Fommen
fie, ungeheißen gehen fie.
Aber nun fordert diefer Brief feinen Schlußfab. Hier
ein fchöner und heilfamer, den Du deinem Herzen einprägen
mögeft: „Wir müſſen und irgend einen edlen Mann aus⸗
fuchen, den wir fletd vor Augen haben, damit wir leben, als
ſchaue er ung zu, und immer handeln, als fehe er es.’ Dieß
ift Epicurs Lehre, mein Lucilius: er gibt ung einen Hü—
ter, einen Sittenaufieher; und er thut Recht daran. ine
große Zahl von Sünden fällt weg, wenn dem Sünder ein
Zeuge zur Seite flieht. Trage Einen im Herzen, um ihn
mit einer Schen zu verehren, die auch bein Innerſtes hei:
lige. O glüdlih Der, Welcher nicht nur durch feine Gegen
wart, fondern an Welchen fchon der Gedanke beffert! Glück⸗
lich aber aud) Der, Welcher Einen fo zu fcheuen weiß, daß
er fid) fchon nad) deſſen Andenken regelt und bildet! Wer
einen Yobern ſo verehren Bann, wird bald ſelbſt verehrungss
würdig fepn. Wähle Dir alio einen Ev. rer, wenn Die
Diefer zu ſchroff ſeyn ſollte, wähle einen Mon von wie
m Sinne, einen Lilius; vwoähle irgend Einen, vehen BU
Zwdlfter Briefe | 1451
bei und Rede Dir gefiel, der eine Tiebenswürdige Seele in
einen Mienen trug: ihn, deinen Hüter, dein Mufterbitd,
halte fortwährend deinen Blicken vor. Ic fage Dir, wir
yebürfen Temandes, nach Welchen ſich unfer Charakter bilde.
Ohne Richtſchnur wirft Du das Verkehrte nicht ind Gleiche
dringen. |
ZwÖölfter Brief.
Die eilende Zeit uud ihr weifer Gebraud.
Wohin ich mich wende, erblicke ich Beweife meines Als
ers. Ich war auf mein Gut gefommen, und beklagte mid
iber die Koften des -baufälligen Landhauſes. Der DBerwalter
yerficherte,, die Schuld Liege nicht an einer Vernachlaͤßigung
yon feiner Seite: er thue Alles; allein das Gebäude fey alt.
Ind diefe Billa war unter meinen Händen entflanden! Was
vird’3 mit mir werden, wenn Mauerfteine, fo alt als ich,
bon mürbe find? Voll Verdruß ergreife ich die nächite
Selegenheit, mid) auszulaſſen. „Es ift offenbar’, fage ich,
‚diefe Piatanen werden vernachläßigt: fie haben kein Zaubs
vie Enotig und verfchrumpft find die Zweige! wie verküm⸗
nert und dürr die Stämme! Das wäre nicht fo, weun
nan ihren Boden umher aufloderte, wenn man fle begöſſe!“
Der Mann fchwört bei meinem Schupgeift, er thue Alles,
e faffe es nirgends an feiner Sorgfalt fehlen; allein die
Diatanen seven fchon alt. Unter und gan — 1 WE
satte fie gepflanzt, ich hatte ihre exiken Blätter geieet- =
Düre gewendet frage ich: „Wer IN ver lt NER
De iſt er an die Thüre geſtelt; er not N
1452 Seneca’5 Briefe
aus. *)' Wo haft Du doch Denher? Wie konnte Dir’s Bergnä:
gen machen, eine fremde Leiche aufzunehmen?‘ Aber Jener
fragte mich: „Kennſt Du mich nicht? Ich bin Felicio, dem
Du die Bilderchen zu bringen pflegtaft, des Verwalters Phi⸗
loſitus Sohn, bein Liebling.’ — „Der Menfch iſt verrückt,“
verfeste ich. — Er war nod) ein Feiner Knabe, als er mein
Liebling geworden. — „Das kann ganz wohl fen: er verliert
nur eben feine Zähne.’ — So verdante idy es meinem Land»
gute, daß ed mir, wohin ich blicken mochte, mein hohes Al:
ter unter die Augen geftelit hat. Heißen wir es willfommen,
diefes Alter, halten wir es Lieb und werth! es ift reich an
Genuß, wenn wir es zu nüsen willen. Die Früchte ſchme⸗
den am füßeften, wenn fie zu Ende gehen; am reigendflen
ift der Knabe, der eben aufhört, Knabe zu fenn; dem Zecher
ſchmeckt am beften der lebte Schlud, der ihn deckt, der feine
Zrundenheit vollendet. Das Lieblichfte, was jede Luft in fich
hat, ſpart fie auf das Ende, Das angenehmfte Lebensalter
ift das, welches ſich fchon abwärts neigt, doch noch nicht jähs
lings ſtürzt; und and) jenes, das auf der Ichten Stufe fteht,
hat, duͤnkt mich, feine Genuͤſſe; oder es tritt an deren Stelle
eben Das, keiner Genüffe zu bedürfen. Wie wohlthuend,
feine Begierden müde gemacht, und hinter fich gelaffen zu
haben! „Aber es ift läſtig,“ fagft Du, „ten Tod fo nahe
vor ſich zu ſehen.“ Fuͤr's Erfte muß ihn der Jüngling fo
gut vor Augen haben, ale ber Greis, denn wir werden nicht
sec Aiteroclaſſen abgerufen: ſodann it ja Niemand fo alt,
9% Die Zobten wurben im Atrium, wit ten Ser um
die Haustbore, ausgeſtellt.
8
Zwoͤlfter Brief. 1453
DaB es ihm Frevel wäre, noch anf Einen Tag zu hoffen.
Ein Tag aber ift eine Stufe des Lebens; die ganze Lebens⸗
zeit befteht aus Theilen und Kreifen, von welchen die weite:
ren fih um die engeren fließen. Der dußerfte, ter alte
übrigen umfaßt und einfchließt, zieht Nic von der Geburts:
ftunde bis zum letzten Tage: ein anderer fchließt die Jahre
des Tünglingsalters ein: ein dritter ift, der die ganze Kind»
heit umfangend begrängt; hierauf Der Jahreskreis ſeibſt, der
alle die Zeiten in ſich begreift, aus deren Vervielfältigung
das Leben fich zufammenfest. Den Monat umgürtet ein en⸗
gerer Eirkel, und den engften Umkreis hat der Tag: doch
auch diefer zieht fich vom Anfang bis zum Ende, vom Auf:
gange bis zum Niedergange. Daher fagte Heraclitus, der
den Beinamen Scotinus von feiner dunteln Sprache hatte:
„in Tag tft gleich allen.‘ Dieß nahm der Eine fo, der
Andere anderd. Einer fagte: Ein Tag ift allen übrigen
gleich an Stunden ; und er hat nicht Unrecht: denn wenn der
Tag ein Zeitabſchnitt ift von vier und zwanzig Stunden, fo
mögen nothwendig alle Zage unter fich gleich feyn, weil die
Nacht hat, was der Tag verloren. Ein Underer fagt: Ein
Tag ift allen gleich vermöge ihrer Aehnlichkeit: denm auch
der laͤngſte Seitraum hat Nichts, Was man nicht and) in
— dem einzelnen Tage anträfe, Licht und Nacht; und bald län⸗
ger bald kürzer, je nach tem wechfelnden Kreislaufe der
Weit, macht: ex nur mehrere folcher Abſchnitte, nicht verſchie⸗
dene. Man richte alfo jeden Tag fo ein, Mb wu er ——
ſlöſſe, bie Summe ber Lebenstage voð masnıte- nn
‚der Eprien durch langen Miäbrauh zu een SWS
N
gemacht Datte, ließ fi » wenn ex heim Zeugelatt
1454 Seneca's Briefe.
üppigem *) Schmauſe ſich felbft gleihfam das Zottenopfer
gebracht, von der Tafel in das Schlafgemad) fragen, während
unter dem Geklatſche der Genoffen feiner Lüfte zur Muſit
gefungen ward: Beßioraı, Beßiarar! [ES ift ausgelebt!
es ift ausgelebt!] And jeden Tag begrub er fih fü. Was
Diefer bei böfem Gewiflen that, das wollen wir bei gutem
thun, und fchlafen gehend, froh und freudig fprechen:
Ja! ich lebt', und vollbrachte ben Lauf vom Gefchide
befchieben ! **)
Zügt die Gottheit den miorgenden Tag noch hinzu, fo neh:
men wir ihn fröhlich an! Der ift der glücktichfte, forgenfreiefte
Beſitzer feiner felbft, der den Morgen ohne Unruhe er:
wartet. Wer fagen kann: Ich habe gelebt, fteht. täglich
zum Gewinn auf,
Dody ich muß jezt meinen Brief befchließen. Und wie?
fragft Du; fo ohne allen Sparpfennig foll er in meine Hände
Eommen ? Sey unbeforgt; er bringe Etwas mit. Doch
warum fage id, Etwas? Er bringt Viel. Denn Was wäre
Löftlicher als die Worte, die ich ihm für Dich mitgebe, „Es
ift ein Uebel, in Noth zu leben; aber. in Noth zu leben, ift
nie Noth.“ Und warum es nie Noth ſey? Don allen Seis
ten führen dev Wege viele zur Freiheit, Furze und leicht zu
mwandelnde, Danken wir der Gottheit, daß Niemand im Le:
beu gehalten werden kann: die Noth felbft Eönnen wir nies
dertreten. „Epicurus fagte Dieß“, entgegneft Du: „Was thuft
Du mit fremdem Gute?“ Was wahr ift, gehört mir; ich
” Fonereis epulis, eig. Leihenfhmaniereien, vi wi
2
Den viel thörihter Aufwand gemacht wurke.
Birgii Heneib, IV, 655.
R
Dreizehnter Brief. 1455
bieibe dabei, den Epicur Dir vorzuführen: damit Die, welche
nur auf die Worte [ihres Meiſters] ſchwören, und nicht fras
gen, Was einer fagt, fondern Wer es fagt, wiffen mögen,
Was gut ift, ſey Gemeingut.
Dreizehnter Brief.
Mitter wider die yurdk.
Sch weiß, daß Du Muth haſt. Noch ehe Du Dich mit
heilfamen und. alfed Harte überwindenden Meisheitsichren
ansrüfteteft, wareft Du mit Dir felbft zufrieden dem Scyids
fafe gegenüber; noch weit mehr aber, nachdem Du mit dens
ſelben wirklich in Kampf gerathen und deine Kräfte verfucht
haft, auf die man fich nie ficher verlaffen kann, fo lange nicht
vieles Mißliche von da und dort erfchienen, und und bieweis
fen wirklich recht nahe getreten if. So erft wird der echte
Muth, der nie in fremde Wilffür gerathen wird, bewährt;
Dieß ift fein Probierftein. Nie wird der Athlete, der noch
feinen blauen Fleck bekam, großes Feuer mit auf den
Kampfplas bringen. Der ader fein Blut fehon gefehen; Deſ⸗
fen Zähne nackten unter Sauftfchlägen ; ‘Der, niedergerun-
gen, Led Gegners Laft auf feinem Leibe trug; Dem, obwohl
er fauf, der Muth nicht ſank; Der, fo oft er fiel, trogiger
fidy wieder erhob: Der jchreitet mit. großer Hoffnung in dei
- Kampf. Und nun, um dieß Gleichniß zu weriigen. m
ft Iafete das Schickſal über Die, und dooh rat "DS Ss
dm nicht, fondern fprangft empor und Keüht RN Sen
ſo fefter wieber auf. Denn Tapferkeit, Tier MM
1456 Seneca's Briefe.
fteigert fih. — Dody, wenn Du willſt, empfange auch vön
mir einige Hülfsmittel, mit welchen Da Didy verwahren me:
geft. Der Dinge, die uns fchreden, mein Lucilius, find mehr, .
als die und drücken; und öfter leiden wir in der Einbildung,
als in der Wirklichkeit. Ich rede zu Dir nicht Die ftoifche
Sprade, fondern eine mehr herabgeflimmte. Denn wir
Stoiker fagen, alles Dad, Was Seufzer auspreßt und Weh⸗
Eagen, ift unbedeutend und nicht zu achten. Aber laffen wir
. diefe großen Worte, fo wahr fie, bei den Göttern! find. Nur
diefe Lehre gebe ich Dir: ſey nicht unglücklich vor der Zeit;
denn wofür Dir bangt, weil es Dir droht, Das wird viel:
leicht nie kommen, iſt wenigſtens noch nicht ta. Einiges
quaäͤlt ung mehr, als es ſoll; Anderes quält früher, als es
ſoll; wieder Anderes quält, Was uns überhaupt nicht quä-
len follte. Entweder — wir vergrößern unfern Schmerz,
oder wir erdichten ihm, oder wir nehmen ihn voraus, Jener
erfte Punkt bleibe, weil über die Sache erklärter Streit ob:
waltet, für jezt ausgefezt. Denn Was ich unbedeutend nenne,
wirft Du für das Aergſte haften: ich Benne Welche, Die
unter Geißelhieben lachen, und Andere fchreien auf bei eis
nem Badenftreich. Später werben wir fehen, ob diefe Dinge
aus eigener Kraft, oder durch unfere Schwäche ſtark find.
Nur Das verfprih mir, wenn die Lente herzulaufen und
Dich überreden wollen, daß Du unglücklich ſeyſt, alddann
nicht zu beachten, Was Diefe fagen, fondern Was Du em:
pfindeft, dein eigenes Gefühl in Berathung zu ziehen, und
Dich feibft, der Du ja, Was Dich angeht, am beften kenneſt,
3a fragen: Bas ift es doch, daß Diefe weinen über mich,
2aß fie fo Angfllich thun, daß Ne \oyar wi, zu berühren
Dreizehnter Brief. 1457
fürchten, als ob mein Unglück auf fle überfpringen könnte?
Iſt etwa hier ein Hebel? oder ift die Sache mehr verrufen
als ſchlimm? Frage Did, ſelbſt: gräme id, midy_vicleicht
and befümmere ich mic, ohne Urfache, und made Etwas zu
einem Uebel, Was es nicht ift ? — Uber Du-fragft: „wie
soll ich inne werden, ob nichtig oder wirklich ift, Was mich
ängftigt 2° Darüber laß Dir diefe Regel geben: Wir quäs
fen und entweder über Gegenwärtiges, oder über Zufünftiges,
oder über Beides zugleich. Weber das Gegenwärtige ift das
Urtheil leicht. Iſt dein Körper frei,.ift er gefund, und
fchmerzt Dich keine Kränkung, fo erwarten wir, Was da
kommen wird; für heute hat es Nichts auf ſich. „Aber das
Schlimme ſleht noch bevor!" Fürs erſte unterfuche, ob
fihere Merkmale vorhanden find von einem Eommenden Uebel:
denn meiftensd find es Dermuthungen, die uns zu fchaffen
machen; und Was Kriege zu entfcheiden pflegt, und weit
mehr noch über Einzelne entfcheidet, das Gerücht, treibt fein
Spiel mit und. Ja, mein Lucilius: zu eilig freten wir dem
Bahne bei; wir prüfen nicht, Was ung in Furcht fezt, und
unterſuchen es nicht, fondern zittern und wenden den Rüden,
wie Die, welche eine Staubwolfe, von einer Vichheerde auf:
gejagt, ans dem Feldlager freibt, oder die irgend ein Ge-
rede, ohne Bewährsmann ausgefprengt, in Schreden verfezt
hat. Sonderbar! das Grundloſe ift es mehr, was und be⸗
ſtürzt macht. Das Wirkfiche hat fein Maß: aber Was im
Ungewiffen liegt, ift ein Spiel der Dermuthungen eines za⸗
genden Gemüthes. Keine Furcht ift Daher fo verderblich, fo
unheilbar, ald die eines kranken Gehitnd‘ ehr antumr IN,
unversänftig, aber diefe iſt unfinnig, Vaterluigen or ie
4
1458 Seneca's Briefe.
die Sache genauer. Es ift wahrfcheintich, daß ein Uebel er-
folgen wird: — aber wahr ift cd darum noch nicht. Wie
Vieles ift unerwartet gefommen? wie Vieles Erwartete ift
‚nie erfchienen ? Auch wenn es wirklich bevorfteht, Was hilft
es, feinem Schmerz entgegen zu gehen? Du wirſt inn früh
genug empfinden, wenn er einmal da feyn wird; bie dahin
verfprich Dir das Beſſere. „Was Du damit gewinneft 2’! Zeit!
Vieles kann inzwijchen eintreten, wodurdy die heranrüdende
Gefahr, fo nahe fie Dir gefommen, aufgehalten, gehoben,
oder auf ein anderes Haupt abgeleitet werden kann. Mitten
aus Flammen öffnet ſich off ein rettender Ausweg: Manchen
haben fintende Trümmer fanft zur Erde getragen: nicht fel-
ten ward dem Schwert noch über dem Naden Einhalt gebe:
ten: Mancher überlebte feinen Henker. Anch das Ungläd
behanptet feinen Unbeſtand. Vieleicht tritt es ein, vielleicht
tritt ed nicht ein; inzwifchen ift ed noch nicht da: drum ſtelle
Die das Beffere vor. Oft, ohne daß Vorzeichen erfchienen,
weiche ein Unheil verfündigten, fchafft die Seele fich nichtige
Bilder, oder wendet ein Wort von zweifelhafter Bedeutung
ins Schlimme, oder denkt fich den Groll eines Anderen grö—
Ber als er ift, und fragt nicht, wie fehr er erzürnt fey, fon-
dern was der Erzürnte vermöge. Es wäre Fein Grund mehr,
im Leben zu verweilen, es wäre des Elendes Fein Maas,
wenn man fürchtete, was man alles fürchten Fönnte. "Hier
delfe bie Beisheit; hier ſetze Didy mit flarfem Beifte auch
Aber bie Furcht des Augenſcheinlichen weg, wo nicht, fo ver:
Teide Schwäche mit Schwäche, uud dampie Ve Tritt
er Soffnung. Bon Allem, was wie fürdgten, IR TE in
wiR, Daß ed nicht noch gewiſſer wäre , daR Lab Bertätet
Dreisehnter Brief. 1459
ausbleiben und die Hoffnung uns täufchen kann. Alſo Hoffs
nung und Furcht prüfe genau, und fo oft Alles ungewiß ift,
begänftige Did, ſelbſt; glaube, Was Dir Tieber if. Auch
wenn Du mehr Stimmen haft für die Furcht, fo neige Dich
nichts defto weniger auf die andere Seite, und höre auf, Did)
zu beunruhigen. Und dabei erwäge, daß der größere Theil
der Menfchen, ohne daß ein wirkliches Weber fie drückt oder.
mit Gewißheit ihnen bevorfteht, ängſtlich und raftlos ſich ges
berdet. Denn Niemand, einmal aufgeregt, gebietet ſich Ruhe,
oder bringt feine beängftigenden Vorftelungen auf die Wahr⸗
Heit zurück. Niemand fpricht: „der Gewährsmann verdient
feinen Gtauben; er hat es erdichtet, ober er hat fich belügen'
Taffen. Wir überlaffen ung dem rzählenden; wir zittern
vor Zweifelhaftem ald vor Gewiſſem; wir halten Fein Maaß,
und eine kleine Bedenklichkeit wird fogleich zur Angſt.
Doch ich fihäme mich, fo mit Dir zu fprechen, und mit
fo wohlfeiten Mitteln Did) Fräftigen zu wollen. Laß Andere
fagen: vielleicht komme es nicht! Sage Du: und Was ift
e6 denn, wenn es. kommt? Wir werden fehen, Wer jiegen
wirds vielleicht ift ed für mid, wenn ed kommt, und es
wartet meiner ein Tod, der mein. Leben adeln wird. Der
Schierlingsbecher hat des Socrates Größe vollendet. Ent⸗
winde dem Cato ſein Schwert, das die Freiheit ihm wahrte,
und Du haſt ihm einen großen Theil feines Ruhmes ent⸗
‚zogen. — Wozu aber eine fo lange Erinunterung. da Du
nur erinnert, nicht anfgemuntert u wreden vrantıtt R
DBeq, ben ich Dich führe‘, iſt nicht verkditeten WOW SS
wer Natur: Du bift geboren zu Dem; was W WS-
medr erhöße und verfcdyönere dein Suter.
-
1460 | Seuera s Beicke.
Ich ſchließe nun, und drücke meinem Brief das Siegel
auf, das heißt, ich vertraue ihm irgend ein großes Wort an,
um es Dir zu überbringen. „Unter andern liebefn bes Tho:
ren ift auch Dieß: er fängt immer an, zu leben.“ Weberlege,
mein trefflicher Lucilius, Was diefes Wort fagen will, und
Du wirft finden, wie fchmählich die Gedankenloſigkeit der
Menfchen ift, welche jeden Tag einen neuen Grund zu ihrem
Leben legen, und audy am Ausgange nad aufs Neue anfan
gen, zu hoffen. Betrachte die Menſchen um Dich her: Du
wirft Greife treffen, die ſich recht ernftlich anſchicken zur Ber
werbung um Aemter, zu weiten Beifen, zu Handelsunterneh⸗
mungen. Was ift häßlicher, als ein Greis, der zu leben an⸗
fängt ? — Ich würde ben Gigenthümer dieſes Ausfpruchs
nicht beifügen, wenn ed nicht Epicur wäre, deſſen - wohlbes
kannte Sprüche ich zwar font anzuführen und mir anzueignen
mir erlaube, ‚unser welchen aber vorliegender minder befannte
ſich nicht befindet.
Vierzehnter Brief.
Weife Sorge für das Wohl und die Sicherheit
des Körpers,
Ich geftehe, es ift ung Liebe für unfern Körper angebo:
zen ; ic) geftehe, daß wir Vorforge für ihn tragen follen ; ich
laͤugne nicht, daß wir ihm Schonung und Pflege fchufdig find:
aber daß wir fein Sclave ſeyn follen, Täugne ich. Denn der
Scave Bieler ift, Wer feines Körpers Sclave ift, Wer für
n zu Angfitich beforgt if, Wer ur a Uled veyuit, ie
Vierzehnter Brief. 1461
müſſen uns nicht fo verhalten, ald ob wir um des Körpers wil:
fen leben müßten, fondern ale ob wir es ohne ihn nicht könne
‚ten. Eine übertriebene Liebe zu demfelben beunruhigt uns
durch Schreckniſſe, beläfligt uns mit Sorgen, giebt ung Bes
Schimpfungen preis. Das Ehrenhafte ift Den wohlfeil, dem
der Körper zu theuer if. Man nehme ihn in redye forgfäls
tige Obhut, doch fo, daß, wenn Vernunft, wenn Ehre, went
Sseundespflicht es fordert, man bereit fen, ihn den Flammen
zu überantworten. Gleichwohl folen wir, fo viel wir ver:
mögen, auch Ungemächlichkeiten, nicht blos Gefahren, vers
meiden, und ins Sichere uns zurückziehen, indem wir darauf
deuken, wie wir ferne halten mögen, was zu fürchten iſt.
Deſſen aber ſind drei Arten, wie mich dünkt: man fürchtet
Mangel, man fürchtet Krankheiten, man fürchtet die Gewalt:
ftreiche des Mächtigern. Von allen Diefem erfchüttert und
nichts mehr, als womit fremde Gewalt ung bedroht; denn es
kommt mit großem Beräufch und Lärm. Gene natürlichen
Uebel, tie ich nannte, Mangel und Krankheiten, fchleichen
fich ftil heran, ohne ſchreckenden Eindrud auf Aug’ und Ohr,
Bemwaltig aber ift das Gefolge diefes dritten Uebels: Stahl
und Flammen hat cs um fih, und Ketten und eine Schaar
Beftien, um fie auf Menfchenleiber zu heben. Da treten
Kerker, Kreuz, Folter, eiferne Haken Dir vor die Seele, und
jener Pfahl, der Durch des Menfchen Mitte getrieben, zum
Munde heraustritt, und Glieder, zerfeht durch auseinander
vennende Wagen, und jenes Hemde, durchwoben und beftris
chen mit Nahrung der Flammen und was fonft noch graufame
Wuth/⸗ erfonnen hat. Es ift fonach nicht zu vermundere, wen
die Furcht dor einer Sache fo grob iX, \eren MOmitins
Geueca, 136 Shan. nz
1462 Seneca’s Briefe.
keit groß and deren Zuräftungen gräßlich find. Wie nämlich
der Folterer um fo mehr ausrichtet, je mehr Werkzeuge der
Qual er zur Schan legt — denn von dem Anblick wird über:
wättigt, auch Wer dem wirklichen Leiden widerftanden hätte —
fo find auch von.allen den Dingen, welche die Seele beugen
und bezwingen, diejenigen die wirkfamften, weiche der Ans
ſchauung etwas zu bieten haben. Jene Drangſale find nicht
minder ſchwer, ich meine Hunger und Durft, innerliche Ge-
ſchwüre, Zieberhige, welche die Eingeweide ausdörrt; aber
fie find unfichtbar,. fie tragen nichts vor fi her, was dro-
hend in die Augen fiele. Diefe dagegen flegen, wie große
Kriegsheere, ſchon durch ihren Anblick und ihre Rüftung.
Laß uns daher auf unferer Hut ſeyn, und Niemand zu nahe
treten. Bald ift es das Volk, welches wir zu fürchten ha=
ben; bald find es, wenn die-Staatöverfaffung von der Art
ift, daß Altes vom Senate ausgeht, die in deinfelben einfluß⸗
reichen Männer; bald find es Einzelne, denen die Gewalt
bes Volkes — gegen das Volk — gegeben iſt. Alle Diefe zu
Freunden zu haben, wäre fehr ſchwerz es genügt, ſie nicht
zu Feinden zu haben. Sonach wird der Weife nie den Zorn
der Mächtigen hervorrufen; er wird ihn vielmehr zu meiden
ſuchen, wie.auf einer Seefahrt den Sturm. Als Du nad)
Sicilien reisteft, febteft Du über Die Meerenge. Der unbe⸗
ſonnene Steuermann verachtete die Drohungen des Südwinds
— denn diefer iſt's, welcher die Siciliſchen Gewäfler empört
zud in ZBirbein umtreibt — er hielt ſich nicht au das Tinte
Aſer, fondern an dasjenige,\in deſen Nähe Charttis tie Ges
der in ihren Strudel zieht. Aber der Behutinme Krank
e der Gegend Kundigen, wie fäysd wit ter Stun vn
Vierzennter Brief. — 1463
halte, welche Zeichen aus tem Gewölke zu entnehmen ſeyen,
und nimmt feine Richtung ferne von jener durch ihre Wirbel
berüchtigten Gegend. Daffelbe thut der Weife: er meidet dem
Gcwaltigen, der ihm fchaden Eöunte, hütet fich aber, daß er.
nicht icheine ihn zu meiden. Denn zum Theil "beruht unſere
Sicherheit auch daranf, daß wir es nicht Wort haben, wie fehr
wir dieſelbe fuchen; dein Was man flicht, verdammt man.
Wir haben alfo darauf zu denken, wie wir uns vor dem
Menge fihern mögen. Fürs Erfte müffen wir nie-dad Gleiche
mit ihr begehren (denn unter Mitbewerbern herrfiht Bank);
hiernächft Nichts befiten, auf was ein Anderer lauern und es
zu feinem großen Vortheil und entreißen könnte. Trage am
Deinem Leibe möglichſt wenig, was zur Beute werden könnte.
Niemand oder fehr Wenige frachten nach Menfchenbfut um
dieſes ſelbſt willen: Mehrere find, die rechnen, als die haffen.
Den Nackten läßt der Rauber ziehen: auch auf umlagerter
. Straße wandelt der Arme im Frieden.
Drei Dinge find es ferner, die man, nad einer altem
Regel,-meiden muß: Haß, Neid, Verachtung. Wie Dieß ge=
ſchehen Eönne, zeigt allein die Weisheit. Denn ſchwer ift Bier
das Mittelmaas zu freffen, und es ift zu beforgen, es möchte
die Furcht vor dem Neide uns in Verachtung gerathen lafe
fen, und wir möchten, indem wir feibft nicht hoch auftreten
wollen, die Leute glauben machen, ſie dürfen uns auf bie
Köpfe treten. Für Diele, die ſich fürchten Eonnten, war
Die die Urfache, Daß fle ſich wirklich fürchten wugten. Br
hen wir und alfo von alten Seiten zmüt niit wir Er
Der eö, verachtet, als verdächtig pa gl. DU RN RUE
aebme man feine Zufucht. dieſe WiÜentaott SE
1464 Seneca's Briefe.
Mriefterbinde *) nicht nur bei den Guten, fondern anch bei
den Halbfchlechten. Denn bie Öffenstiche Redekunſt, fo wie
jedes Andere, mas auf das Volk wirkt, hat feine Gegner;
die Philofophie aber,. ruhig und nur mit ſich befchäfttat, kann
nie in Verachtung finfen; ihr geftehen alle anderen Wiffen-
schaffen, auch bei den Schlechteſten, Ehre zu. Nie wird die
Nichtswärdigbeit fo fehr erftarken, nie wird fle fich fo gegen
“die Tugenden verfchmören, dat der Name Philoſoph nicht
ein ehrwiürdiger und Heiliger bfiebe. Webrigend muß bie
Philoſophie ferbft in anfpinchlofer Stille und Ruhe betrieben
werden. „Aber wie?’ fragft Du; „philoſophirt etwa M.
Cato nur in befcheidener Stille, indem er einen Bürgerkrieg
mit feiner Stimme niederſchlug? indem er ſich mitten zwi:
fhen die Waffen würhendey Parteihäupter ſtellte? indem er,
während Andere bei Pompejus anftoßen, Antere bei Cäfar,
beide zugleich gegen ſich aufbringt?“ Man Pönnte allerdings
darüber rechten, ob der Weiſe in jenen Zeiten au den öffents
—Tichen Gefchäften hatte theiinehmen follen. Man könnte fra:
gen: „was willft du denn, M. Cato? Es handelt ſich nun
nicht mehr um die Freiheit, fie ift längft untergegangen; nur
ob EAfar oder Pompejns den Staat befisen folle, fragt fich
noch. Was Haft mit diefem Zanfe du zu thun. Keine der
Parteien ift die deinige. Es handelt ſich um einen Herrn:
was kann dir daran liegen, welcher von beiden fliegt? Es
Bann der Beſſere fliegen; doch nothwendig wird zum Schlechs
teren, Wer gefiege hat.“ Ich berührte hier die lezte Role,
») Eine Kopfbinde (infula), welche bie Perfon dei Priejters
oder des Schutzflehenden, ber fie teug, unoerlegtich machte,
Vierzehnter Brief. 1465
weiche Cato fpielte: altein auch die früheren Sahre waren
nicht von der Art, un ten Weifen die Theilnahme an einer
Staaisverwaltung zu erlauben, die in Räuberhände gefallen
war. Was har Eato Anderes gethan, als feine Stimme laut,
aber vergeblidy erhoben, intem er vom Volke bald auf den
Händen getragen, bald vollgefpucdt und vom Forum wegges
ſchleppt, bald aus dem Senat in den Kerfer geführt ward ?
Doc) ein antermat davon, ob der Weife auch vergebliche
Mühe ſich geben foll: für jezt weife ich Dich zu Denjenigen,
welche von Öffentlichen Gefchäfren fich ausgeichloffen, und ſich
zurückge zogen haben, um die Wiſſenſchaft des Lebens zu pfle⸗ \
gen, und Gefege zu entwerfen für das Menfchengefchlecht,
ohne irgend einem Machthaber zum Anſtoße zu gereichen.
Der Weife wird nie die herrfchende Sitte ſteren: er wird
nie durch eine befremdende Lebensweife Des Volkes Aufmerk—⸗
ſamkeit erregen. Wie nun? wird aljo Der unfehibar gefichert
feyn, wer diefe Vorfchrift befolgt? Verbürgen kann ich Dir
Dieb eben "fo wenig, als den Mäßigen Gefundheit: und
Doch iſt Mäßigung die Duelle der Gefundheit. Auch im Hafen
geht hie und da ein Schiff unter: was, dünkt Dich, kann
nicht Alles auf hoher See geichehen? Wo nicht einmal die
Muße Sicherheit gewährt, um mie viel näher müßte die Ges
fahr dem Vielgefchäfrigen, Vieles unternehmenpden ftehen ?
Bisweilen kommen Unfchufdige um; Wer wollte es längnen ?
Doch häufiger die Schuldigen. Der Fechter bleibt ein Künffe
fer, auch wenn ihn feine Rüftung nicht ſchüzte. Endlich ſieht
der Weife in allen Dingen auf die Abſicht, nicht auf den Er⸗
folg. Das Eingehen in eine Sache Keht in unierer Gunst)
Aber den Ynsgang entſcheidet dag Bid, dewihh em SS
466 Seneca's Briefe.
über mid einräume. Es kann mir Plagen, kann mir Wibers
wärtiges zuſchicken. ber mein Herr ift darum der Raub:
wmörber nicht, wenn er mich tödtet.
Nun ſtreckſt Du die Hand aus, die tägliche Velftener zu
empfangen. Wohl, ich will ſie Dir mit einer goldenen füllen.
Und weil ich von Golde fpreche, fo vernimm, wie Gebrauch.
and Nutzung deffelben Dir um ſo werther werden kann. „Der
genieft des Reichthums am meiften, der am menigften des
Reichthums bedarf." Du wilft, ich foll ten Gewährsmann
nennen. Damit Du fiehft, wie ich fo gar nicht eigennüßig
Din, Hab’ ich mir vorgenommen, Fremdes zu loben. Es find
Cpicurus Worte, oder Metroder's, oder irgend Eines aus je-
mer MWerkftätte. Was liegt auch daran, Wer fie fprach?
Sie find zu Alten gefprochen. Wer des Reichthums bedarf,
fürchtet für ihn; aber Niemand hat Genuß von einen Site,
Für welches er in Sorgen ift: immer trachtet er, noch mehr
Hinzuzufügen, und indem er auf deffen Vermehrung denkt,
wergißt er, es zu nüben: er läßt fih Rechnungen flellen, Läuft
Bad Forum *) aus, blättert im Zinsbuch, und wird aus dem
Herrn der Dermwalter.
Sünfzehbnter Brief.
Meber Leibesübungen, als Mittel zur Erbaltung
der Geſundheit.
Es war eine alte Sitte, die ſich bis auf meine Seit er:
Abielſt, bie Briefe mit den Worten anzufangen: „Wenn Da
7 280 bie GSedgefhäfte gemacht warten.
Sünfzehnter Brief. 1467
Did wohl befindeft, fo ift ed aut; ich befinde mich wohl.“
Mit Recht fagen auch wir: „wenn Du phifofophirft, fo ift es
gut.“ Denn Dieſes erft heißt, ſich wohl befinden; ohne Die-
fes ift die Seele krank; und auch der Körper, wenn er noch
fo Eräftig iſt, iſt nur in derfeiben Weile gefund, wie es ber
Körper eines Wahnfinnigen und Verrückten if. Alſo für
diefe Geſundheit forge zunächft: fodann auch für jene andere,
welche Dir nicht theuer zu ftehen fommen wird, wenn es
Dir blos darım zu thun iſt, gefund zu ſeyn. Denn feine
Arme üben, feine Schultern breit machen, feine Bruſt ftählen,
ift eine chörichte, am wenigften für einen Gelehrten fchidkliche
Beſchaͤftigung. Schläge die Athletenmaſt auch noch fa gut
bei Dir an, fchwellten fich Deine Muskeln and, noch fo Erdfs
tig, Du würdeft doch nie die Kräfte eines feiften Stierd, noch
fein Gewicht erreichen. Zudem bedrüct und tähmt den Geift
eine größere Bürde des Körpers. So viel Du alfo Lannfl,
befchränfe den Umfang Deined Körpers und mahe Deinem
Geifte Raum. Viele Befchwerden begleiten Den, der nur
für [athletifhe) Ausbildung des Körpers forgt: zuerft bie
angeftrengten Mebungen, wodurch bie geiflige Kraft ausge⸗
trocknet und für ein anhaltendes und firengeres Studiren
unbrauchbar gemacht wird; ſodann iſt die allzureichliche Nah⸗
rung der Feinheit des Geiſtes nachtheilig. Ferner find es
Sclaven der fchlechteften Art, die man- zu Lehrern annimmt,
Menſchen, nur mit Del und Wein befchäftigt, die ihren Tag
nach Wunſch hingebracht, wenn fie tücdhtig gefchwigt, und an
die Stelle der vergoffenen Säfte einen reichlichen Trunk durch
die vertrocknete Kehle eingeführt hohen, Ruten Her SS
Shwipen iſt das Leben eined WRagentranten. — "ITS
1466 Seneca's Briefe.
giebt Uebungen, die eben ſo leicht als kurz ſind, und, indem
fie dem Körper ſofort Erholung verſchaffen, die Zeit ſchonen,
auf welche vorzüglich Rückſicht zu nehmen iſt: Laufen, Ber
wegungen der Arme mit Gewichten, Sprünge, entweder in
die Höhe, oder in die Weite, oder kürzere nad) Art der”
hüpfenden Sulier (Marspriefter), oder, um eine unedlere
Dergleihung zu gebrauchen, der Walker. Wähle hiervon,
was Du willſt; durd Gewohnheit wird es Dir leicht werben.
Was Du aber and, thun magft, Fehre bald vom Körper wies
der zum Geifte zurück: diefen übe Tag und Nacht; mäßige
Anftrengung erhäft ihn. An diefer Uebung hindert weder
Hitze noch Kälte, nicht einmal das Alter. Für das But for:
ge, welches durch die Länge der Zeit beffer wird. Ich ver:
ange nicht, daß Du immer über Deinen Büchern oder Dei:
nen Papieren Tiegen folfl: man muß dem Geifte Swifchens
räume gönnen, dach, daß er nicht erfchlaffe, fontern ſich erhole.
Wenn man fi tragen läßt, empfindet der Körper einige Ers
fchüfterung, die dem Studiren nicht hinderlich ift: man kann
lefen, dictiren, ſprechen, zuhören, welches Altes felbft beim
Spazierengehen fi thun laͤßt. Auch die Anſtrengung der
Stimme ift eine nicht zu veradhtende Uebung; jedoch mißrathe
ih Dir *) jenes Lünftliche Heben und Sinkenlaſſen derſelben
nad) der Melodie und dem Zeitmaas. Wenn Du freilich Luft
haben follteft, fogar. zu Ternen, wie man fpazieren gehen fol,
wohlan, nimm jene Leute an, die der Hunger neue Künfte
gelehrt hat: es wird lich gleich Einer finden, der Deine Schritte
zegelt, und beim Effen Dir auf Baden und Zähne Acht giebt,
I YIB zu ben mäßigen Pedantereien der Kortoreniiole gehörig,
Fünfzehnter Brief. 1469
md in feiner Dreiftigkeit immer weiter gehen wird, je mehr
Deine geduldige Leichtgläubigkeit ihm Vorſchub thut. „Alſo
fol die Stimme gleih mit Schreien und mit der höchften
Anftrengung Beginnen 2° Es ift fo natürlich, allmätig lebhaft
zu werden, daß auch Streitente mit Spreden anfangen und
in das Schreien übergehen. Niemand erhebt gleich den Noth⸗
fhrei: Quiriten, zu-Hälfe! Je nachdem alfo die Stim«
mung Deines Gemüthes es mit fi) bringt und Deine Zunge
Did) mahnt, deciamire abwechfelnd bald heftiger , bald. gelafs
fener. Gedämpft fleige Deine Stinme, wenn Du ihr Ein:
hart thuft, herab, ſtatt zu fallen: fie behaupte immer die
Mäfigung Deffen, der fie lenkt, und laffe fih nicht in ein
rohes und bäurifches Toben aus. Deun wir gehen ja nicht
darauf aus, die Stimme feldft, fondern durch die Stimme
ung au üben. .
Somit habe ich Dir fein kleines Gefchäft abgenommen.
Möge zu diefem Dienfte, den ich Dir erwiefen, noch eine Kleine
Gabe, ein nicht unwillfommenes Gefchent *) hinzutreten. Es
ift der treffliche Lehrſatz: „Ein unweifes Leben ift ein uners
freuliches, aͤngſtliches; es ift gänzlich abhängig von Dem, was
fommen wird.‘ Mer Dieb geſagt hat? Derfelbe, der das
Obige. Welches Leben glaubt Du wohl daß hier ein un⸗
weiſes genannt werde? Etwa das eines Baba oder SIflon ? **)
Neiu, unfer eigenes Leben heißt fo, fo lange eine blinde Bes
gierde uns zu fchädlichen, wenigflens nie zu fättigenden Din⸗
“ *) Munus gratum mit Muretus und Sruter. Schweighiufers
unus ‚gradus iſt mir ımverfiändlich.
**) Zwei und unbefaunte Menfchen, aber var AHA Werüsı-
tigte Zhoren zu Seneca's Zeit.
1470 Seneca's Briefe.
gen hinreißt ; die wir genug hätten, wenn und etwas genng
ſeyn könnte; die wir nicht bedenfen, wie füß ed fey, nichte
zu begehren, wie groß, volle Genüge zu haben und vom Gfüde
nicht abzuhäugen. Grinnere Did dann oft, mein Lucilius,
wie vieled Du erreicht haft; und wenn Du noc Viele fiehft,
die Dir vorgehen, fo gedente and, der Vielen, die nad) Dir
find. Wenn Du dankbar ſeyn willft gegen die Götter und
genen das Schickſal Deines Lebens, fo denke daran, über wie
viele Du hinausgefommen bifl. Doc, was gehen Dich. Au:
dere an? Da bift über Dich ferbft hinaus. Gebe Dir’ eine
Sränze, welche Du nicht überfchreiten Eönnteft, auch wenn
Du woliteft: einmal werten fie doch von Dir weichen, jene
tückiſchen Güter, die immer höher ſchäzt, Wer fie hofft,
als Mer fie erreicht hat. Wäre etwas Haltbared an ihnen,
fo würden fie irgend einmal fätfigen: fo aber veizen fie nur
den Durft, indem wir fie in nnd gießen. Es wird anders
werden mit al dem biendenden Prunk. Und worüber der
Zukunft geheimnißvolles Loos entfcheitet, warum follte ich
vom Schickſal erhalten wollen, ed mir zu gewähren, flatt von
mir felbft, es nicht zu verlangen? Warum follte ich es auch
verlangen ? Warım vergeffen der menſchlichen Gebrechlichkeit?
Mozu Arbeit auf Arbeit häufen? Siehe, diefer Tag ift ter
teste; und ob er es nicht ift, fo ift er nahe dem Testen.
Schdz;ehenter Brief.
Augen der praktifhen Philofophie.
E⸗ iR Dir Bar geworden, ich weiß ed, mein Lucilius,
228 man nicht glüctic , nicht einmal erträglin \chen tan,
Sechszehenter Brief. 1471
ohne das Studium der Weisheit; und daß ein glückliched Le⸗
ben die Frucht nur des vollendeten Studiums derfelben, eitt
erträglicdhes jedoch fchon die des begonnenen fey. Dennoch muß
Dieß, fo Far es ift, noch feſter begründet, und durch tägli—
ches Erwägen uns noch fiefer eingeprägt werden. Die erd-
Gere Aufgabe ift, WVorfäge zu bewahren, als das Gute ſich
vorzufegen. Man muß beharren, man muß durch mmabläffis
ges Streben fih Eräitigen, bis zum guten Sinne wird, was
guter Wille war, Du haft bei mir deinnach Leine weitläufti=
gen Derjicherungen nöthig: ich fehe, Daß Du ſchon weit ge:
kommen biſt. Sch weiß, von wannen fommt, was Du fchreibft;
es ift nichts Erhencheltes, nichts Gefchminkte‘, Doch ver:
hehle ich Dir nicht, was ich denke: ſchon habe ich Hoffnung
von Dir, Zuverſicht noch nicht. Ich wünſche, es wire bei
Dir daffelde: Du darfit. nody nicht fo rafch und fo leichthin
Dir glauben; eutfalte Dich vor Die ſelbſt, erforfdye und bes
obachte Dich auf alle Weife. Darauf fieh vor Allem, ob Zu
in der Phitofophie oder im Leben felbft weiter gefommen
ſeyſt. Die Philoſophie ift nicht ein Kunſtſtück, um daffelbe
vor dem Volke zur Schau zu tragen: fie befteht nicht in
Worten, fondern in Handlungen. Sie wird auch nicht ges
braucht, um unter angenehmer Unterhaltung den Tag hinzu⸗
bringen, und, wenn wir Muße haben, vor langer Weile uns
zu bewahren: fie bilder und geftaltet den Geiſt, fie ordnet
das Leben, ſie regelt die Handlungen, fie zeigt, was zu thun
und zu laſſen fey, fie ſizt am Steuerruder, und lenkt die Fahrt
durch Fluthen und Klipnen. Ohne fie iſt Niemand forgens
frei. Unzähliges ereignet fidy zu jeber Stute, wad Wen ’Iute
erfordert, ber bei ipr zu fuchen AR, — Dia wm Rt SS
1472 Eeneca's Briefe.
einwenden: „Was nüzt mir die Philofophie, wenn es ein
Schidial giebt? Was nüzt fie, wenn eine Gottheit die Welt
regiert? Was nüzt fie, wenn der Zufall gebieter ? Denn ab:
geändert kann tas Gewifle nicht werden, und. gegen das Uns
gewiſſe laͤßt fid) nichts vorktehren, wenn entweder ein Gott
meinen Entfchließungen zuvorgefommen iſt und befchioffen
Hut, wag ich thun foU, oder ein Verhängniß meinem MWillen
nichts überläßt. Mag es dad Eine oder das Andere feyn,
mein Zucilius, oder may Alles zugleich feyn — wir müffen nach
Weisheit ftreben! Ob das Verhbangniß feinem unerbi:rtiichen
Geſetze uns unterworfen hat, ob ein Gott das AU nad) ſei⸗
nem Willen prdret, ob ohne Ordnung der Zufall die menfchs
lichen Dinge in Bewegung fezt und hin und Ger wirft — die
Philoſophie muß uns in ihren Schug nehmen, Sie wird und
mahnen, ter Gottheit gerne zu gehorchen, dem Schickſal hart⸗
nädig au widerſtehen: fle wird Dich lehren, Gott au folgen,
den Zufall zu ertragen. — Wiewohl, wir haben jezt nicht
auf die Betrachtung überzugehen, Was uns zuflehe, wenn
eine Vorſehung das Ruder Der Dinge führt, oder wenn Die
Kette der Berhängmffe uns dahin fchleppt, oder wenn der
blinde Zufalt des Augenblicks waltet: ich komme für jezt auf
Das zurück, daß ich Dich erinnere und ermahne, das GStres
ben Deines Geiftes nicht ſiuken, micht erkalten zu Laffen.
Halte es feft, laß es flerig werden, Damit zur Eigenfchaft
werde, was erft nur Streben wer.
Gleich Anrangs haft Du, wenn ich Dich recht Benne, Dich
darnach umgejehen, was wohl diefer Brief für ein YUngebinde
irbringen werde. Durdyfudy ihn, und Du wirft es finren
Da Soft aber nicht Urface meine Treigedigteit u temuse
Sechszehenter Brief. . 1473
tern; noch immer übe ich fie auf fremde Koften. Doch —
was fage ih, auf fremde Koften? Was irgend jemand
Gutes fagte, ift mein. So auh_Dieh, was Epicurus ands
ſprach: „Wenn Du nach der Natur lebt, wirft Du nie arm,
wenn nach dem Wahn, nie reich fern.‘ Ein Geringes
verlangt die Natur, der Wahn Ungemeſſenes. Man häufe
anf Did), was viele Begüterte zugleich beſaßen; dag Glück
erhebe Didy weit über die Verhältniſſe des reichflen Private
mannes, ed bedede Dich mit Gold und umkleide Dich mit
Purpur; ed verfege Dich in eine foldhe Fülle von Herrliche
‚Seit, daß Du die Erde birgft unter Deinen Marmorbauten,
Daß Du im Stande bift, Kleinodien nicht nur zu befißen,
fondern daran zu treten; *) dazu ollen noch Bildwerke fonts
men und Gemälte, und was fonft alfed die Künfte für ten
Luxus fchaffen — Du wirft von Diefem nur lernen, Orößes
res zu begehren. Natürliche Berürfniffe haben ihre Grän—
zen: was der Irrwahn erzeugt, hat nicht, wo es ende. Mer
auf der Straße geht, findet ein Ziel: das Irren iſt endlos.
Darum ziehe Didy zurück von dem Eiteln; und wenn Du
wiſſen wilift, ob, wad Du verlangft, Gegenftand einer natür⸗
lichen oder einer blinden Begierde fen, fo ſiehe, ob es damit
irgendwo fein Bewenden haben werde. Wenn, fo weit Du
gehft, doch immer eın Weiteres übrig bleibt, ſo wiſſe, daB es
nichts Natürliches iſt.
*) Anfrielung auf die koſtbaren Moſaikfußböden aus edelm
Geſtein.
1474 Seneca's Briefe.
Siebenzehenter Brief.
Nach Weisheit ift vor Allem zu fireben: die Sorge
um äußere Güter darfdaran nicht hindern.
Wirf jene Dinge alle von Dir, wenn Du vernünftig bift,
oder vielmehr, um es zu werden; umd flrebe in vollem Lauf
und aus allen Kräften einem weifen Sinne zu. ST Etwas,’
das Dich aufhaͤlt, fo wickle Dich los oder fehneitde ed ab. —
„Vermögens: Angelegenheiten ,'' fagft Di, „„befchäftigen mid)
noch: ich wünfche fie fo zu ordnen, daß ich Habe, was ich
brauche, ohne Gefchäfte zu treiben; Damit weder die Armuth
mir, noch ich irgend Jemand zur Laſt ſey.“ Indem Du fo
fprichft, fcheint es, daß Du die Bedeutung und die Wirkfane
keit des Gutes, worauf Du denkſt, noch nicht erkannt haft.
Du fiehft zwar im Allgemeinen ein, wie viel die Philoſophie
nüße: aber im Einzelnen haft Du Dich davon nicht gründlich
genug überzeugt, und weißt noch nicht, wie viel fie uns überall
hilft, wie fie, um Cicero's Worte zu gebrauchen, „in den
wichtigften Dingen uns fördert, und zu den geringrügigften
ſich herabläßt.“ Folge mir, ziehe fie zu Nathe! Sie wird
Dich abmahnen, über Deinen Rechnungen zu Üben. Denn
Das ifl’3, was Dir fuhft, und was du mit jenem Aufſchub
erfangen wilfft, daß Du die Armuth nicht zu fürchten habeſt.
Wie aber, wenn fie zu wünſchen wäre? Schon Vielen ift im
Etreben nad, Weisheit ihr Reichthum hinderlich geivefen ;
der Arme ift ungehindert, ift forgenirei. Wenn die Trompete
ertönt, fo weiß er, daß es nicht ihm gilt: erhebt fid, irgentmwo
ein Rothgefchrei, fo ſucht er, wie er davon komme, nicht,
va8 er fortbringe. Geht es zu Sciie, a 6 rein Getöfe
Siebenzehenter Brief. 145
im Hafen; Peine Begleitung füllt gefchäftig das Geſtade: er
ift nicht unigeben von einem Schwarme von Sclaven, zu de⸗
ren Fütterung man den überfeeifchen Gegenden Zruchtbarkeit
wünfchen muß. Es ift leicht, wenige und wohlgezogene Mäs
gen zu befriedigen, bie nichts weiter begehren, ald gefüllt zu
werden. Wenig koſtet der Hunger, viel ein ekler Gaumen.
Die Armuth beguügt fich, die naͤchſten Betürfniffe zu befries
digen. Was ift es alio, daß Du Dich weigern follteft, die
Armuth zur Hausfreundin anzunehmen, deren Lebendweife
der vernünftige Reiche nachahmt? Willſt Du für den Geift
feben, fo mußt Du arnı feyn, oder dem Armen ähnlich. Dein
Streben kann nicht gedeihlich feyn ohne Genügfamkeit. Ge:
nügfamfeit aber ift freiwillige Armuch. Hinweg alſo mit
Entfchuldigungen, wie diefe: „So viel genug ift, habe ich.
noch nicht; wenn ic, es zu diefer Summe gebracht Haben
werde, fo werde ich mich ganz der Philofophie hingeben.‘*
Gerade, was Du aufſchiebſt, was Du erſt nach anderen Din:
gen zu thun Dir vornimmſt, follteft Du vor allem Anderen
thun; damit follteft Du beginnen. „Ich will mir verfchaffen,
wovon ich lebe,’ fagft Du. Lerne auch zugleich, ed zu ver-
fchaffen. Werbietet Div Etwas, gut zu leben — gut zu flers
ben ,. verbietet Dir Nichte. Armuth fol und nicht von der
Philoſophie abrufen, nicht einmal Die Noth. Denn Wer nad)
diefem Ziele eiff, muß fogar Hunger erfragen: ertraͤgt man
ihn dorh bei Belagerungen. Und was ift dort der Kohn die⸗
ſes Duldens anders, als nicht in des Siegers Hände zu fals
len? Hier aber, welch ein höherer Kahn, wo ung verheißen
wird, ewig frei zu feyn, vor keinem Menfchen, teinen Suse
zittern zu dürfen? Dazu follte man auch yaagetd 08 SSR
1476 Seneca's Briefe.
gen ſuchen. Kriegsheere haben Mangel an allen Dingen ers
ragen, haben von rohen Wurzeln gelebt, haben mit Dingen,
die zu nennen fchon eferhaft ift, ihren Hunger befchwichtigt.
Und dieſes Altes ertrugen fie — wunderbar genng — für die
Herrſchaft eines Andern: und man follte fich nicht entfchlies
fen, die Armuth zu erdufden, um feinen Geift von Thorheis
ten zu befreien? Es ift alfo nicht Noch, erft zu fammeln;
zur Dhitofophie Fann man auch ohne Reifegeld gelangen.
Dder willft Du erft, wenn Du alles uebrige ſchon haſt, hin⸗
terher auch die Weisheit haben? Dieſe ſoll unter den Hülfs⸗
mitteln zum Leben das lezte, und — ſo zu ſagen — nur eine
Zugabe ſeyn? Nein: haſt Du Etwas, ſo philoſophire;
denn woher weißt Du, ob Du nicht ſchon zu viel haſt? Haſt
Du nichts, ſo ſuche die Philoſophie eher, als irgend etwas
Anderes. „Aber es wird mir am Nothwendigen fehlen.“
Das wird nicht möglich ſeyn, weil die Natur ſehr Weniges
verlangt: der Weiſe aber richtet ſich nach der Natur. Tritt
aber der Aänfierfte Nothſtand ein, nun fo enteilt er alsbald
dent Leben, und jhört auf, fich fesbft zu befäftigen. Sollte ihm
jedodı nur Etwas übrig bfeiben, fey es noch fo gering und
befchränet, um das Leben zu friften, fo wird er damit vorlieb
nehmen und ohne Kummer und Sorgen um Unnöthiges, feis
nem Leibe an Nahrung und Bededung das Seine geben, und
Dabei heiter und wohlgemuth lachen über die Geſchäftigkeit
der Reichen und über das Jagen und Nennen Derer, die es
werden wollen, und fagen: „wozu hHältft Du Dich felbft fo
lange auf? Willſt Du auf den Ertrag Deines angelegten Gels
des warten oder auf vortheilhafte Handelsgefchäite, oder auf
das Vermächtniß eines wohlhabenden Alten , da es doch bei
Die ffebt, fogleidy reich zu ſeyn? Die Weisheit \R heit ver
Achtzehenter Brief. 1477
Schätze; fie ſchickt ſie Dem, welchem fie dieſelben entbehrlich
macht.“ — Doch Dies geht Undere an: Du ftehft den Bes
güterten näher. Verſetze Did) in ein anderes Zeitalter, und
Du haft zu viel. Aber was genug Ift, findet ſich in jegli⸗
chem Zeitalter.
Ich könnte hier. fchließen, wenn ic did richt verwöhnt
hätte. Den Parthiſchen Königen darf Niemand zur Begräs
ßung nahen, ohne ein GefchenE mitzubringen: von Die Bann
man nicht unentgeldlich Abfchied nehmen. Was Du betom:
meit? Ich habe es von Epicurus entlehnt. „Diele, die fich
Reichthum erworben, haben dadurd ihrem Eiend Bein Ende
gemacht, fondern demfelben nur eine andere Geſtalt gegeben.‘
Und ic) wundere mid, darüber nicht: denn der Fehler liege -
nicht in den Dingen, fondern im Gemüthe. Was die Urs
muth fchwer zu ertragen machte, macht aud) den Reichthum
ſchwer. Wie es gleichgültig ift, ob Du den Kranken in ein
hölzernes DBettgeflelle, oder in ein goldenes legſt — wohin
Du ihn aud) bringen magft, er wird fein Zeiden mit ſich neh⸗
men — eben fo macht ed nichts aus, ob die Franke Seele
in Reichehum oder in Armuth verfezt wird: ihr Gebrechen
folgt ihr.
Uhtzebenter Brief.
Man ziehe fid zurüd von der wilden Luſt der
Menge: man übe ſich in Entbehrungen, um
gleihgäültig zu werden gegen die Guuf
des Glücks.
Wir ftehen im Monat December, wo fidy die Start au
waltig viel zu fchaffen macht, wo der Shremmud Sur WR
Goueca, 1238 Bochn. >
hy
1478 Seneca's Briefe.
dffentlidy eingeräumt ift, wo Alles vol ift vom gewaltigen
Lärm der Zuräftungen — als ob noch ein Unterfchied wäre
zwifchen ten Saturnalien und den MWerklagen. Und dedy if
fo gar Fein Unterſchied mehr, daß ſich Derjenige nicht geirrt
zu haben fcheint, welcher fagte, ‚vormals fey der December |
ein Monat gewefen, jezt ein Jahr. Wenn ich Dich bei mir
hätte, fo würde ich mid) gerne mit Dir darüber befprechen,
was Du glaubeft, dag wir zu thun hätten: ob wir an unferer
gewohnten täglichen Weife nichts ändern, oder, um nicht zu
fehr im Gegenfas mit dem allgemeinen Brauche zu erfcheinen,
gleichfalls Iuftiger tafeln und unfere Zoga ablegen follen ?
Denn was fonft einzig nur in Kriegsnöthen und befrübten
Zeiten zu gefchehen pflegte, thut man jezt um der luſtigen
Feftesfeier willen — man wechfelt die Tradıt. Wenn ic) Di
recht Eenne, fo würdeft Du den Vermittler fpielen und der
Meinung feyn, wir follen dem fchwärmenden Haufen mit feis
nen Narrenmützen *) eben fo wenig durchgängig gleichen, als
zöllig gegen ihn abftehen. Allein — ob nicht gerade in bie
fen Tagen dem Herzen die Forderung aufzuerlegen ift, alle
Luft ſich allein zu verfagen, während alle Welt fih in Dies
ſelbe verſenkt? Den untrüglichften Beweis für feine Feſtig—
keit erhält man, wenn man fidy von Dem, was ten Sinnen
fchmeichelt und zur üppigen Zuft verfoct, fo wenig hinzichen
*) Pileats turba. Die Sclaven, benen in ben Tagen ter Ca:
turnalien vergönnt war, fih in den Freifland zu träumen,
trugen dann das Syinvol ber Gmancipation, den pileus,
die ſpitzige Filzmütze, welche, Überhaupt als Ieichen feftlis
cher Fufibarkeit andy ber Sreien, in bie Diüge unferer Pos
ficiuelli ſtbergegangen iſt.
- | ———ĩ sum NER" m mn 2 ——
Achtzehenter Brief. 1479
Täßt, als ihm entgegen geht. Dazu gehört mehr entfchloffene
Kraft, mitten unter einem Volke, das ſich beraufcht und den
Magen überladet, allein der Nüchterne und Vernünftige zu
bleiben; mehr Mäßigung beweist es, fich nicht anszufchließen,
um nicht aufzsufalfen, aber aud) nicht unter Alle fi) zu mi«
‚chen; und Daffelbe vorzunehmen, aber nicht auf dieſelbe Weiſe,
indem man aud) ohne eigentliches Wohlfeben einen feftlichen ..
Zag begehen kann. Allein ich möchte nun einmal die Feſtig⸗
feit Deiner Seele prüfen, und, nad) dem Rathe großer Män-
ner, auch Dir empfehlen, zwifchen hinein etliche Tage feftzu: -
fegen, an welchen Du, Dich begnügend mit fehr ſchmaler und
geringer Keft, mit einer groben und rauhen Kleidung, zu Dir
ſelbſt ſageſt: „Alſo Das war's, wovor man ſich bange feyn
ließ?“ So lange das Herz forgenfrei iſt, bereite es ſich auf
das Schwere vor, und gegen die Unbilden des Geſchicks Eräfe
fige es fich mitten unter defjen Gunflbezeugungen. Im fies
fen Frieden, und ohne einen Feind zu haben, hält der Sol⸗
dat feine Marfchübungen, wirft Verfchanzungen auf, und
müht ſich ab in überflüſſigen Arbeiten, um den nothwendigen
gewachfen zu feyn. Wer, wenn es gilt, nicht zittern fol,
muß, ehe es gift, geübt werden. Dieß befolgten Die, welche
alle Monate die Armuth nachahmten und dem Mangel fich
näherten, um nicht vor einer Sache zu erbeben, die fie Tängft
gelernt hatten. — Glaube übrigens nicht, daß ich hier nur
von .....) Mahlzeiten, und von Kammern der Armuth
*) Die Leſeart iſt hier unſicher. Die Vulg. hat nach Muretus:
ad modicas coenas, mäßige Mahlzeiten. Des Zur:
nebus 'Timoneas, dad Schweigh. aufnahm, iſt gewig dos
Richtige nicht. ur
:1480 Seneca's Briefe.
fpreche, und was fonft noch die Züfternheit, ihres Reichthums
überdrüffig, bisweilen zum Zeitverfreibe auffucdht. Nein, es _
fey Dir Ernft mit dem harten Stuhl, dem groben Mantel,
-dem derben, ſchwarzen Brote. Go halte es drei, vier Tage
aus, bisweilen noch laͤnger; denn es ſoll nicht ein Spiel feyn,
fondern eine Probe. Und dann, glaube mir, Lucilius, wird
ed Dich hoch erfreuen, für einen Grofchen gefättige zu feyn; '
"Du wirft begreifen, daß man, um forgenfrei zu fen, bas
Glück nidyt braucht: denn, was unentbehrlich ift, wird es ge:
ben, *) auch wenn es zürnt. Glaube aber darum nicht, es
fey etwas Großes, was Du thuft: es wird nichts Anderes
feyn, als was viele tauſend Sclaven, viele tanfend Arme
thun. Infofern nur achte Did, als Du es ungenöthigt thuſt,
"and als ed Dir eben fo Teiche feyn wird, daffelbe immer zu
ertragen, als es bisweilen zu verfuchen. Wir müffen ung am
Pfahl **) üben; und damit das Gefchid uns nicht unvorbe:
_reitet treffe, werde die Armuth unfere Vertraute. Der Reich:
thum wird und weniger Sorgen madjen, wenn wir gelernt
haben, wie fo gar nicht fchwer ift, arm zu ſeyn. Epicurus,
jener Lehrer des Dergnügensd, hatte beflimmte Zage, an wel:
chen er feinen Hunger ärmlich ftilfte, um zu fehen, ob Etwas
zum vollen und reinen Vergnügen, und wie viel ihm noch
fehle, und ob dieß Fehlende werth fey, daß man es mit gro⸗
Ber Mühe ergänze. Dieß fagt er wenlaftens felbft in jenen
Briefen, die er, während Charinus Archon war, an Po:
lyänus fchriedb. Und zwar rühmt er fih, mit einem nicht
*) Dabit vermuthe ich, ftatt debet.
#7 Dem hölzernen Phantom eines Gegners, welches zu Waf:
fenäbungen biente,
Achtzehenter Brief. - 1481
vollen Aß ſich zu beköſtigen; Metrodorus, der es noch nicht
fo weit gebracht, brauche ein ganzes. *) „Und eine ſolche
Koſt, meinſt Du, mache ſatt?“ Vergnügen ſogar macht
fie; aber nicht jenes leichte, flüchtige, immer wieder aufzu⸗
frifchende Vergnügen, fondern ein befländiges und zuverläfft-
ges. Nicht als ob es etwas Angenehmes wäre um Waſſer,
Graupen und ein Stück Gerftenbrod‘: aber das höchfte Ver⸗
gnügen iſt, fih im Stande zu wiffen, auch an diesen Dingen
Vergnügen zu finden, und fich. dahin gebracht zu fehen, wo-
die Ungunft des Glüdes uns nicht8 mehr anhaben Fan,
Mehr Auswahl hat felbft die Kerkerkoſt: ja Denen, welche
die Strafe des Todes erwarten, reicht ihr Henker Fein fo
färgliches Dahl. Welche Scefengröße, au® freiem Willen
ſich zu Den zu verjlehen, was felbft: Menſchen, über weldhe.
das Aeußerſte erkannt ift, nicht zu befürchten haben! Das
heißt den Gefchoffen ded Geſchickes zuvorkommen. .
Entfchließe. Dich denn, mein Zucilius, die Weife diefer
Männer zu befolgen, und beflimme gewiffe Tage, an welchen
Du Did losmachſt von Deinem Beſitzthum, und Did mit
dein möglichit Wenigen befreundeſt: entſchließe Dich, mit ber
Armuth in Verkehr zu treten, .
Wag' es, o Freund, zu verachten das God, und bilde Dich würdig
Gottes, **)
Kein Anderer ift Gottes würdig, ale Mer den Reichthum ver:
achtet. Ic unterfage Dir feinen Beflt nicht; aber ich win
fcye zu bewirken, daß Du ihn mit Seelenruhe befigeft: und
Dieß wirft Du nur dann erlangen, warın Du Did) überzeugt "
* Gin Aß = 1a g. GEr. ober 215fpg Kr. \
**) Birgit. Yen. VIII, 364 f.
1482 ' Seneca's Briefe.
haben wirft, dab Du audy ohne denfelben glücklich zu Teben
vermögeft, und wenn Du ihn immer als etwas Vergänglis
ches anſtehſt.
Doch ich muß jezt meinen Brief zufammentegen. — „Zahle
vorerft Deine Schuld,‘ Hör ich Dich fagen. Sch weife Dich
an Epicurus: der wird Dir Zahlung leiffen. „Unmäßiger Zorn
erzeugt Wahnfinn.‘ Wie wahr Dieß fey, mußt Du wiffen, da
Du einen Sclaven und einen Feind gehabt haft. Diefe Leidens
[haft entbrennt übrigens gegen Perfonen aller Art: fie entſteht
eben fo aus Liebe, ald aus Haß, und nicht minder bei ernften
Dingen, ald unter Spiel und Scherz. Und es kommt nicht
darauf an, ob die Urfache wichtig fey, aus welcher fie entfpringt,
fondern welcher Art das Gemüth fen, deſſen fie ſich bemächtigt.
So liegt nichts daran, wie groß ein Feuer fey, fondern wo es
hingeräth ; denn fo viel auch deſſen ift, nehmen es doch fefte
Körper nicht auf; bürre Stoffe hingegen und Teicht ergriffene
nähren auch das Fünkchen bis zur Brunſt. Go ift eg, mein
Lucilius: ‚eines unbändigen Zornes Erde ift Wuth; und da:
her ift der Zorn zu vermeiden, nicht blos, um gemäßigt, fon:
dern, um geſund ztı bleiben.
Neunzebenter Brief.
Aufforderung, aus der glänzenden Unruhe des
Staatsdienftes in die philoforhifde Muße
fih zurückzuziehen.
Kit hoher Freude empfange ich jedesmal Deine Briefe:
son fie erfüllen midy mit guter Hofwangy wand de verinreien
— — nn non
Neunzehenter Brief. | 1483
mir nicht nur, nein fle verbürgen mir das Beſte von Dir.
Thue fo, mein Lucilins: ich bitte, ich befchwöre Dich (denn
was gäbe ed Beſſeres, um was ich den Freund bitten könnte,
als um was ich ihm zu feinem eigenen Beſten bitten will 2):
entziehe Dich, wenn Du kannſt, jenen Befchäftigungen, wo
nicht, fo reiße Di) los. Lange genug haben wir die Zeit
verfpfittert: jezt im höhern Alter wollen wir anfangen, an
ten Rückzug zu denken. Wird man ed ung verübeln Pönnen ?
Wir haben auf hoher See gelebt: wir wollen im Hafen fterben.
Doch möchte ich Dir nicht rathen, mit Deiner Zurückgezo⸗
genheit Dir einen Namen machen zu wollen: Du folft damit
fo wenig groß thun, als es geheim halten. Indem ich den
Unfinn der Welt verdamme, will ich Dich damit keineswegs
fo weit treiben, daß Du irgend einen Schlupfwinkel auffa-
cheft, um in Vergeffenheit zu leben: :benimm Dich fo, daß
Deine Zurücgezogenheit offenkundig fey, ohne aufzufallen.
Mer ih noch nicht entfhieden, Wer feine Entfchließuns”
gen erft noch zu nehmen hat, mag darüber zu Mathe gehen,
ob er fein Leben in Dunkelheit Hinbringen will: Dir ſteht die
Wahl nicht mehr frei. Dich hat Dein Tebhafter Geift, Deine
geſchmackvollen Schriften, Deine anfehnlichen, glänzenden Vers
bindungen in die Welt eingeführt; fchon Haft Du eine Bes
. rühmtheit gewonnen: und magft Du jest in weitefter Ferne
. Did bergen, ja gänzlich Dich verfriehen, Loch wird Deine
: frühere Laufbahn auf Dich aufmerffam machen. Mit Duns
kelheit kannſt Du Dich nicht umgeben; wohin Du Did auch
flüchten wollteft, immer würde Dich viel des früheren Lidtek
* begleiten. Aber Ruhe Tannft Du Die alen, Dre
Iemandes Haß oder der Reue und ianern Barmer WW
1484 Seneca's Briefe.
feben. Denn Was wirft Du aufgeben, das aufgegeben zu has
ben, Dir je ein läftiger Gedanke werden Pönnte? Deine
Clienten? Keiner derfeiben hängt Dir felbft an, fondern dem
Vortheil, den Du ihm ſchaffſt. Deine Freunde ? In alten
Zelten war's die Freundfchaft, die man fuchte; jezt ift es die
gute Beute, Einige Greife, die ſich verlaffen fchen, werden
ihre Teftamente ändern; Wer Dir aufwartete, wird zu ans
dern Thüren wandern: allein eine wichtige Sache kann nicht
wohlfeit feyn. Weberlege, ob Du lieber Dich, oter etwas von
dem Deinen aufgeben willft. DO! daß es Dir veradunt gewe-
fen wäre, alt zu werden in den Verhältniſſen Deiner Her:
Bunft; daß doch nie dag Schickſal Did) boch geſtellt hätte!
Aber mit rafchem Ungeftüm hast das Glück Di einem ge:
finden, harmlofen Leben weit entrüdt — eine Provinz, eine
Procuratur, und was diefe Ehrenftellen noch weiter verfpre:
chen; immer höhere nnd wichtigere Dienfle warten Deiner:
_ sr eier Stufe wirft Du auf die andere fleigen. Was wird
das Ende feyn? Auf was warteft Dur, um aufzuhören? Bis
Du haft, was Du wünſcheſt? Die Zeit wird nie fommen,
Wie wir fagen, daß die Urfachen eine Kette biiden, die fich
zum Verhängniß verknüpft, fo auch die Begierden: eine geht
aus dem Ende der andern hervor. Du bift in ein Leben ges
worfen, das Deinen Befchwerden und Deiner Knechtſchaft nie
von felbft eine Gränze feben wird. Entziehe tem Joche Dei:
ven wundgeriebenen Nacken: beffer fogar, er werde auf eins
mal abgehauen, ald immer gedrüct. Zieheſt Du Did, ins
Privatleben zurüd, fo wirft Du zmar in Allem weniger, aber
Sennoch volle Benüge haben: jest aber fättigt auch das Viele
wit, mas von allen Seiten Dir zuhromt, Bot wüt Du
Neungehenter Brief. 1485
nun lieber, faft fen ron Wenigem, oder hungern bei'm Leber:
Auß? Das Glück iſt fo habgierig, als fremder Habpier aus⸗
geſezt. So lange Dir ferbit Nichts genug iſt, wirft Du es
auch Andern nicht ſeyn. — „Über wie foll id: heraustreten 2‘
fraaft Du. — Wie Du immer kannſt. Bedenke, wie vieles
Mißliche Du gewagt für den Geiderwerb, wie viele Mühen
Du beftanpen haft um der Ehre willen. Nun ift auch Etwas
für die Muße zu wagen, oder Du mußt unter den Unfechtuns
gen auswärtiger Staatsämter, dann derer, die Dich in der
Stadt erwarten, ergrauen, mitten ım Tumult und in immer
neuem Wogeugedrang, dem Du nicht entgehen kannſt, fo ans
fpruchios, fo geruhia Du Dich benchmen magft. Denn was
hilft es, dak Du ruhig ſeyn willſt? Deine Stellung will es
nicht. Und noch immer willſt Du fle fleigern? Jeder Schritt
höher ift ein Schritt weiter zur Furcht.
Ich wit Dir hier eine Yeußerung des Mäcenas anfüh—
ven, der die Wahrkeit fagte, da cr ſelbſt auf der Kolter lan. *)
„Die Höhe jerbfi dennert an die Gipfel. Su welchem Buche
er Dieß fagre? In feinem Promerheue. Er wollte fagen:
„Der Hohen Bipfel find vem Donner ausgeſetzt.“ Aber möch⸗
teft Du wohl, um ale Macht in der Welt, fprehen wie ein
Berauichter ? Mäcenas war ein Mann von Geiſt, der den
Römern ein großes Vorbid der Wonliedenheit gegeben has
ben würde, wenn fein Glück ihn nicht eutnervt, ja eutmannt
härte. Diefer Ausgang wartet Deiner, wenn Du nıcht ſchon
jezt die Segel einzieheft, und — was Jener zu fpät wolle —
Did nahe am Ufer hättft. "
DD, h. da ihn bie läſtige Bürde Gove haura Sutuen
drädte,
1486 Eeneca's Briefe.
Ich könnte Dir diefen Gedanken des Mäcenas an Zah⸗
Iungs Statt anrechnen; alfein Du würdeft, wenn ih Dich
rechte denne, Einfprache erheben, und meine Schufd nur in
guter, grober Sorte empfangen wollen. Wie nın die Sache
ſteht, muß ‚ich von Epicurus borgen. „Es ift eher darauf zu
ſehen,“ fagt er, „mit Wem man effe und frinte, als Was
man effe und trinke. Denn ohne Freund ift das Effen ein
Straß und das Keben eines Wolfes und Löwen. Einen Freund
aber wirft Du nicht haben, fo lange Du Dich nicht zurüds
ziehft: Fonft wirft Du nur Gäfte Haben, die aus dem Schwarme
der Aufwartenden Dein Sclave, der Dir die Namen anzuges
ben hat, ausfonderte.. Uber Der geht irre, der einen Freund
"im Vorzimmer fucht, und an der Tafel erproben will. Kein
größeres Uebel hat der vielbefchäftigte und von feinem Gfüd
in Befig genommene Mann, als daß er Die für feine Freunde
hätt, deren Freund er ſelbſt nicht iſt, und daß er feine Wohl:
—thaten für wirkfam hält, ihm Sreunde zu gewinnen, da es
dody Leute giebt, die, je mehr fie fchuidig find, deſto mehr
haften. Ein Bleines Aulehen macht Schufdner, ein großes
macht Feinde. — „Sonach würden durch Wohlthaten Feine
Freunde erworben ?’’ — Sie werden ed, wenn man die Ems
pfänger wählen darf; wenn die Wohlthaten angebracht find,
nicht ausgeftreut. Inzwiſchen, bis Du beginnft, Deinem eis
genen Sinn auzugehören, folge dem Rathe der Weifen, und
glaube, daß mehr darauf antomme, Wem, als Was Du
giebſt.
Zwanzigſter Brief. 1487
Zwanzigfier Brief.
Die Philoſophie foll dem Charakter fefte
Haltung geben
Wenn Du Dich wohl befindeft und Di würdig achtet,
einmal der Deinige zu werden, fo freue ich mich: denn mein
: wird der Ruhm ſeyn, Dich diefen Wogen, auf welchen Di
ohne Hoffnung herauszukommen umhertreibft, entriffen zu has
ben. Nur um Das bitte ih Dich, mein Lucilins, dazu ers
mahne ich Dich, daß Du die Philoſophie in die Tiefe Deines
Herzend eindringen laffeft, und Deine Zortfchritte nicht an
Deinen Reden oder Schriften, fontern an der Feſtigkeit Deis
nes Willens und an der Abnahme Deiner Begierden. erpros
beft. Bewähre Deine Worte mit der That! Deine Aufgabe
ift nicht die des Declamators, der nach dem Beifalle feines
Zuhdrerfreifes hafcht, oder Deffen, der die Ohren junger und
müßiger Zente mit einem bunten Bortrage und einer gewands ‘
ten Darftellung unterhält. "Die Philofophie Iehrt handel,
nicht reden; fie fordert, Laß Jeder nad) feinen Vorfägen lebe,
daß das Leben den Worten nicht widerfpreche, daß das Leben
ſelbſt, in fid zufammenhingend , ohne Widerftreit der Hand⸗
Iungen, Eine Farbe habe. Das ift die größfe Aufgabe-der
Meisheit und ihr Kennzeichen, Daß die Werke im Binklange
ftehen mit der Rede, und ter Mann überall ſich ſelbſt gleich
und ſtets der nämliche fey. Wer wird das leiſten? Wenige:
doch Einige. Es ift ſchwer; auch fage ich nicht, daß der Weiſe
immer in gleichem Schritt gehe: doch geht er immer auf dem
gleichen Wege. Beobachte Did, alle, 0b «wa Dim Ru
dung und Deine Wohnung nicht yafammenfiunmen DS
1488 Seneca’d Briefe.
etwa freigebig gegen Did) felbft, und Farg gegen die Deinigen
bit; eb Du haushälteriſch fpeifeft, aber verſchwenderiſch
baueſt? Ergreife ein für allemal eine Richtſchnur, um nach
ihr zu leben: und nad) dieſer briuge Dein ganzes Leben ins
Gleiche. Manche fehränßen fih zu Haufe ein; draußen ma:
chen fie fich breit und dehnen ſich aus. Diele Ungleichheit ift
ein Fehler und das Zeichen eines fchwankenden Gemüches,
das noch nicht feine Hattuna gewonnen hat. Nun will ich
aud) den Grund jener Unbeftändigkeit, jener DVerfchiedenheit
der Handlungen wie ter Entfhlichungen, angeben. Keiner
fest ih vor, Was er will, vder beharrt dabei, Was er ſich
etwa vorgefert, fondern ſpringt Davon ab: er ändert nicht nur
feinen Entſchluß, fondern Fommt von ihm zurück, und verfällt
wieder in Das, was er aufzeieben oder verurtheilt hat. Um
daher die alten Begriffebeflimmungen von Weisheit zu befeis
tigen. und die Regel, nach welcher das menfcliche Leben zu
würdigen ift, mit Einemmale zu umfaffen, Bann ich mich mit
tiefer begnügen: Was ift Weisheit? Smmer Daffelbe wol:
fen, und Daffelde nicht wollen. Dabei brauchſt Du die Bes
dingung nicht anzufügen, daß recht ſeyn müſſe, Was man
wolle; denn unmöglicd” kann Einem eben daſſelbe immer ge:
fallen, wenn ed wicht das Rechte ift. Die Menſchen willen
nicht, was fie wollen, außer in dem Augenblick, da fie wollen.
für immer hat fih Keiner über fein Wollen oder Nichtwollen
entfnieden. Täglich wechſelt das Urtheil und wandelt ſich in
das Entgegengefeite um; und die Meilten bringen das Leben
fpietend hin. Halte denn mit Nahtrud 0b Dem, was Du
Dir vorgelejt; vielleicht daß Du's zum Hochſten bringft, oder
206 za Dem, was Du allein noch wicht für das Hude er:
Zwanzigfter Brief. 1489
kennſt. — „Aber,“ fragſt Du, „was fol aus diefem Schwar⸗
me von Hausfreunden werden ?'' Diefer Schwarn wırd fidh
ſelbſt zu füttern wiflen, wenn Du ihm niche meyhr füttern
wirft: oder, was Deine Wohithaten Dich nicht erfahren lie⸗
fen, wirft Du durch die der Armuth erfahren. Diefe wird
die ächten und zuverläffigen Freunde übrig behalten: Wer
nicht Dir, fondern etwas Anderem anhing, Wird Davon. ve:
hen. Iſt alſo nicht ſchon um diefes Einen willen die Armuth
zu lieben, weit fie zeigt, von Wen Du geliebt wirft? O wann
wird jener Zag fommen, wo Keiner mehr Dir zu Ehren lü:
gen wird! Dahin alfo feyen alle Deine Gedanken gerichtet;
dafür forge, Dieß wünfde, daß Du zufrieden feyeft mir Dir
und mit den Gütern, die aus Dir felbft Fommen. Mit alien
übrigen Wünfchen magft Du vie Gottheit verfdjonen. Wo
gäbe es ein Glück, das näher zu haben wäre? Beſchränke
Dich auf das Geringe, aus deffen Bells Du nicht vertrieben
werden Fannft; und daß Du Dieß um fo williger: thueft, dazu
möge der Tribut beitragen , mit wetchem id) siefen Brief zu
begleiten habe, und den ich nun gleich entrichten will. Sieh⸗
immer fcheel Dazu ; auch diefesmal w-rd Epicurus gerne für mid)
zahlen: „Großartiger, glaube mır, erfcheinen Deine Worte
auf dem Strohlager und im groben Mantel; fie werden da
nicht blos gefprochen, fie bewähren fin." Ich wenigſtens
höre, was unfer Demetrius *) aut, mit andern Ohren, wenn
ich ihn halb unbekleidet, nicht eınmal auf Stroh, auf der
Erde liegen fehe: er ift mir nicht ein Lehrer des Wahren,
fondern ein Zeuge, — „Wie jo? kanu man nicht Reid)
®
*) Ein berühmter Eyniker jener Zeit,
1490. Seneca's Briefe.
thümer verachten und gleichwohl welchd beſitzen?“ Wie ſollte
maͤn nicht? Ja der iſt ein Mann von großer Seele, der, um⸗
ſtrömt von ihnen, lacht und ſich höchlich verwundert, daß fie
gerade an ihn gekommen, und der es mehr von Andern hört,
als ſelbſt inne wird, daß ſie ihm gehören. Es iſt viel, den
Reichthum im Hauſe zu haben, und durch ihn nicht verdorben
zu werden; und groß iſt, Wer mitten in ſeinen Schätzen arm
ift, aber weniger angefochten, Wer gar Beine beſizt. — „Ich
weiß Boch nicht,‘ fagft Du, „wie jener die Armuth erfragen
würde, wenn er wirklich in diefelbe geriethe.“ Und ich weiß
eben fo wenig, ob diefer oder jener arıne Nacheiferer Epicus
rus den Reihthum verachten würde, wenn er ihm zufiele
Daher muß man bei Beiden die Gefinnung würdigen und dar⸗
auf fehen, ob Diefer nur von feiner Armuth abhängig, umd
ob Jener es von feinem Reichthum nicht ſey? Sonſt wäre
ein Stropfager und ein grober Mantel ein fchwacher Beweis
eines veredelten Willens, wenn nicht am Zage liegt, daß man
dergleichen nicht aus Noth erträgt, fondern aus Wahl. Uebri—
gens zeugt es von großartiger Naturanlage, Dieß nicht mit
haftiger Eite zu ergreifen, als das Beſſere, fondern ſich dars
auf vorzubereiten, als auf das Leichte. Und es ift dat Leichte,
mein Lucilius; es ift, wenn man naͤch langer Ueberlegung
hinzutriet, fogar angenehm. Dort nur ift Freiheit von Ans
fechtung, ohne weldye Nichts angenehm iſt. Für nothwendig
halte ich alio, was, wie ich Dir fchrieb, große Männer ofts
mals gethan, daß wir gewifle Tage ausfenen, an welchen wir
uns durch eingebildete Armuth vorüben auf die wirkfiche:
was wir nm fo mehr zu thun haben, weil wir, durch Wohl⸗
ſeben verweichlidyt, alles für hart und ſchwer anfehen. Um
Einundzwanzigſter Brief. 1491
fo mehr muß der Geift aus feinem Schlafe gewedt, aufge,
rüttelt, und daran erinnert werden, daß die Natur für uns
fehr Weniges beſtimmt habe. Niemand wird reich geboren;
Mer das Licht erblickt, ift angewichen, mit Milch und einem
Lafen zufrieden zu feyn. Dieß ift unfer Anfang — und Kö—
nigreiche find und nicht weit genug ?
Einundzwanzigſter Brief.
Nur das geiffige Streben giebt wahren Ruhm,
und fihert das Andenken.
Die Leute, von welchen Du fchreibft, machen Dir viel au
thun, meinft Du. Am meiften macht Du Dir ferbft zu thun:
Du bift Dir ſelbſt zur Laſt. Du weißt nicht, wad Du willft:
das Gute verftehft Du beffer zu loben, als zu befolgen , und
fieheft zwar, wo das Glück wohnt, aber wagft nicht, zu ihn
zu kommen. Was es aber fey, das Dich hindert, will ich
Dir fagen, weil es Dir ferbft nicht Elar genug ift. Du Häftft
für wichtig, was Du zurücklaſſen foltft; und während Du
Dir jene harmloſe Ruhe, zu welcher Du übergehen foltft, zum
Ziele gefezt haft, hält Dich der Glanz Deines gegenwärtigen
Lebens, aus welchem Du heraustreten ſollſt, zurück, als nb
Dir in Niedrigfeit und Dunkel zu verfinfen bevorflünde. Du
irrft, mein Lucilius; von diefem Leben zu jenem fleigt man
aufwärts. Wie ſich ver Glanz unterfcheidet von Licht, indem
diefes feine wahre Duelle in fich hat, jener von Erborgtem
ſchimmert: fo unterfcheidee ſich diefes Zehen von jenem. Dies
fes wird von Strahlen, die von außen her Tannen, KUREN,
1492 | Seneca's Briefe.
nnd Wer ſliſch vor duffelbe ſtellt, wirft einen dichten Schatte:
darüber: jenes ift von feinem eigenen Fichte erleuchtet. Dei
geiftiged Streben wird Dir Namen und Adel geben. Id
will Dir Epicurus Beiſpiel anführen. In feinem Briefe aı
den Idomeneus, *) worin er ihn, damals den Diener ſtreng
gebietenter Macht und mie aroßen Dingen befihäftigt, voı
jeinem frimmernden Leben weg auf rinen fihern und biei
benden Ruhm hinwies, fagte er: ‚Wenn Ruhmliebe Did
rührt, fo wiffe, daß meine Briefe Dich befannter machen
werden, als Alles, was Du hoch hältft, und wegen deſſer
man Dich feibft hoch hält.” Und hat er nicht vie Wahrheii
gefagt ? Wer wüßre von einen Fromeneus, hätte nicht Epi
eurus diefen Namen in feine Briefe eingetragen? Alle jem
Großbeamten und Satrapen, ja den König ſelbſt, der den
Idomeneus feine Amtswüurde ertheilte, deckt tiefe Vergeſſenheit
Des Articns Namen laſſen Cicero's Briefe nicht untergehen
—es haͤtte ihm nichts genützt, Daß Agrippa feine Tochter, Zi
berius feine Enkelin zur Gemahlin hatte, und daß Drufu
Caͤſar fein Urenkel war; unter fo großen Namen bliebe de:
-feinige verfchwiegen, wenn nicht Eicero ihn ſich angefchloife
hätte. Hoch wird über und der Strom der Zeit herfluthen
wenige Beifter werden über ihm ihr Haupt erheben, und dei
Merseffenheit widerftehend noch ange fid) behaupten, bi
endlich auch fie demſelben Stillſchweigen verfalien. War
Epicurus feinem Freunde verfprechen konnte, verfpreche id
auch Dir, mein Encilius. Sch werde bei der Nachwelt Gel:
tung haben: ich Bann Ramen zu Tanger Dauer mitnchmen.
”) Aus Lampyſacus, Schwager bed Epicurus, vieleicht am KHofı
bes Königs Lpſimachus.
Einundzwanzigfter Brief. 1493
Unfer Virgilius verſprach Iweien ein ewiges Gedaͤchtniß, und
ec gewährt ed ihnen: 9)
O glücfeliged Paar! Wenn meine Geſang es vermoͤgen,
Raubt Euch nimmer ein Tag andenkendem Preiſe der Nachwelt,
Weil Aeneas Geſchlecht Capitoliums ewigem Feldberg
Anwohnt, und mit Gewalt obherrſcht der romaniſche Daten
Wen das Glück in die Mitte des öffentlichen Lebens zog,
Mer Gtied oder Theilhaber fremder Macht ift, deffen Auſe⸗
hen blüht und fein Haus ift beſucht, fo lange er felbft aufs
recht flieht: nad ihm vergeht fchnel auch fein Andenken,
Aber begabter Geiſter Würdigung gewinnt mit der Zeit; und
nicht nur ihnen- ferbit wird Ehre zu -Theil, fondern was auch
an ihren Namen fid, hängt, findet Aufnahme. _
Damit aber Idomeneus nicht umfonft in meinen Brief
gekommen fey, möge er die Zahlung für denfelben aus_eiges
nen Mitteln Teiften. Au ihn hatte Epicurus jenen vortreff:
tihen Ausfpruch- gerichtet, worin er ihm den Rath giebt, den
Pythocles nicht auf die allgemein hergebrachfe, aber mißliche
Meife begütert zu machen. „Willſt Du.’ fagt er, „den Pp⸗
thocleg reich machen, fo mußt Du nicht fein Geld vermehren,
fondern feine Begierden vermindern.‘ Diefer Satz iſt zu
klar, als daß er der Erläuterung, zu treffend, als daß er der
Nachhülfe bevürfte. Nur das Eine habe ich Dir zu bemer⸗
ten, daß Du ihm nicht allein vom Reichthum gefagt glaubefl.
Auf was Da ihn auch anwenden willft, er wirb daffelbe gel⸗
ten. Willſt Du ans Pothocies einen würdigen Mann ma=
chen, fo mußt Du nidyt feine Würden vermehren, fondern
feine Begierden vermindern. Willſt Du, daß dem Pythocles
*) Nifus und Guryalus, Aen. IX, 446 fi. Voß.
Seneca 128 Bbchn. 8
1494 Seneca’d Briefe.
beftändig wohl fey, fo mußt Du nicht fein Wohlleben ver-
mehren, fondern feine Begierden vermindern: willſt Du, daß
Pythbocles alt; und die Zahl feiner Tahre voll werde, fo mußt
Du nicht ‚feine Jahre vermehren, fondern feine Begierden
vermindern. — Glaube nicht, daß diefe Sätze nur dem Epi:
. ceurnd angehören: fie find Gemeingut. Was man im Senat.
zu thun pflege, glaube Ich auch in der Philofophie thun zu
müffen: wenn eine Meinung ausgefprochen worden, die mir
zum Theil gefällt, fo verlange ih, daB ſie getheilt werde,
und trete ihr bei. Sch führe Epicurus treffliche Ausfprüdıe
darum fo gerne an, um Denjenigen, die zu feiner Philofephie
in der falfchen Meinung ihre Zuflucht nehmen, ald fänden fie
dort einen Deckmantel für ihre Lafter, zu zeigen, daß, wohin
man fidy auch wende, ein fittlich gutes Leben zur Pflicht ge:
macht fen. Wenn man in Epicurus Garten tritt, über deffen
Eingang gefchrieben fteht: „Fremdling, hier iit gut weilen;
bier ift Vergnügen das höchſte Gut!“ fo wird alsbald ber
gaftfreundfiche und gefaͤlige Aufſeher dieſes Wohnfiges er:
‚ fcheinen, und Dich mit Gerftengraupen bewirthen, aud) Wafs
fer zur Genüge auftifchen, und Dich fragen: „Nun, findet
Du Dich gut aufgenommen ? In diefem Garten wird die @:
luſt nicht. gereist, fondern geftilit: man fchaffe fich hier nicht
durch dad Trinken ſelbſt noch größeren Durft, Sondern löſcht
ihn durch ein natärliches und unentgeldliches Mittel. Zn dies
fem Vergnügen bin ich alt geworden.” — Ich ſpreche mit
Dir nnr von ſolchen Bedüriniſſen, die ſich richt befchwidhti-
gen laffeı, benen man etwad geben mud , damie de aufhören,
Denn was jene außerordentlihen berrift, Teren Bettiinumm
” auffchieben, die man beihränten UN —XXXXX
Zwelundzwanzigfter Brief. 1495
will ich nur dieß Eine erinnern: jenes Vergnügen ift natür-
lich und nicht entbehrlich; *) diefem aber bift Du Nichts
fhuldig: Was Du darauf verwenden, ift freiwillig. Der
Magen hört nicht auf Gebote: er fordert und mahnt. Doch
ift er Bein befchwerlicher Gläubiger: er läßt fi mit Weni⸗
nem abfinden, wenn Du ihm nur giebft, wie viel Du
ſchuldig biſt, nicht, wie viel Du kannſt. | R
Zweiundzwanzigfler Brief.
Lucilius habe. die nädhfte Gelegenheit zu ergrei:
fen, um den Gefhäften des öffentlichen
Dienftes fich zu entziehen.
Du wirft nun einfehen, das du Dich ans jenem ſchein⸗
volfen und unfeligen Getreibe herauszuziehen haft; aber, wie
Du es angehen folleft, wünfcheft Du zu wiffen. Manches
laͤßt fi) nur an Ort und Stelle zeigen. Der Arzt kann nicht
brieflich beflimmen, wann man effen oder ein Bad nehmen
foll: er muß den Puls befühlen. Es ift ein altes Sprüch⸗
wort: „ber Fechter faßt feinen Entſchluß auf dem Sande’: **)
die Blicke geheftet auf ded Gegners Miene, auf die Bewes
gungen feines Armes, auf jede Wendung feines Körpere, wird
er inne, Was er zu than hat. Im Allgemeinen läßt fich
zwar angeben und fchriftlich beflimmen, Was man gewoͤhn⸗
th thue, und Was man thun folle; dergleichen Ratldstäss.
Tann man-nicht blos Abwelennen, Kunden aa VEN TERSSH
.. Nec non necess.
> D. 5. er auf ben Kampfolas. B*
1406 | Seneca's Briefe.
den Gefchlechte ertheilen. Allein das Weitere, wann und
wie man es thun folle, wird Niemand aus der Ferne anzus
geben vermögen: man muß die Umflände in Berathung zie⸗
hen. Und nicht nur Anmwefenheit an Ort und Stelle, fondern
Wachſamkeit ift nöthig, um die eilende Gelegenheit wahrzu:
nehmen. Schau nad) ihr Did um; und wenn Du fie ers
blidft, fo ergreife fie. Mit allem Ernfte und aus allen Kräf:
. ten arbeite darnady, Dich jenen Dienften zu entziehen. Und
zwar vernimm, wie mein Gutachten Tautet: id, meine, *)
-Du foHeft entweder jenes Leben, oder das Leben ſelbſt verlaf:
fen. Zugleich aber glaube ich, Du ſolleſt dabei ſachte zu
Werte gehen, und Was Du leider angeknüpft, ablöfen, flutt
es abıureißen. Nur wenn Feine Möglichkeit feyn follte, zu
röfen, fo magft Da reißen. Niemand ift fo zaghaft, daf er
fieber immer hängen, als einmal fallen möchte. Inzwiſchen,
was die Hauptfache iſt, verwickle Dich nicht noc, mehr: be
gnüge Dich mit den Gefchäften, in welche Du Dich eingelaf:
fen, oder in welche Du, wie Du es lieber angefehen wiffen
willſt, bineingerathen bift, Es iſt nicht raͤthlich, daß Du
weiter ſtrebeſt: oder Du wirft jene Entfchuldigung verlieren,
und es wird an den Tag fommen, daß Du nicht hineingeras
then bift. Denn es ift falſch, Was man gewöhnlich fagen
hört: „Ich konnte nicht anders: was half es, nicht zu wol«
fen? Ich mußte. Niemand muß dem Gtücde haftig nach⸗
Jaufen: es will Schon etwas heißen, ftille zu flehen, wenn das
&räüd uns fortziehen will, und ihm wenigftend nicht auf ber
Ferfe zu folgen, wenn man fc, wadı wur yur Barker Sur.
”) Ceuseo,
Zweiundzwanzigfter Brief. 1497
Wirkt Dies mir verdenken, wenn ich nicht allein komme,
Dir zu rathen, fondern noch Andere berdbeirue — Plügere
Männer, als ich ſelbſt bin, an die ich mich zu menden pflege,
wenn ich etwas zu bedenken habe? Lies des Epicurud bieder
gehörigen Brief an Idomeneus, worin er ihn bittet, „ſo viel
er. könne, zu eilen umd ſich zu flüchten, bevor irgend eine
größere Macht dazwifchen trete, weiche ihm die Freiheit raube,
fidy zurüczuziehen. Doch,“ fest er Hinzu, „habe er es nicht
eher zu verfuchen, nis bie er es auf eine geſchickte und zeit⸗
gemäße Weile thun Eönne: aber wenn jener längit erharrte
Zeitpunkt erfchienen fey, jo ſolle er fi mit Einem Sprunge
in Freiheit fegen. Wer auf Flucht finne, dürfe nicht ſchium⸗
mern, und auch aus der fchwierisften Lage fey ein glückliches
Entkommen zu hoffen, wenn wir nicht eilen, ehe es Zeit, noch
füumen, wenn es Zeit iſt.“ |
Und nun, denke ich, wirft Du auch einen Stoifchen Say
hören wollen. Ich glaube nicht, daß Jene bei Dir der Unbe⸗
fonnenheit ſich verdächtig machen werden: ſie find mehr vor⸗
fihtig als tapfer. Du erwartet vielleicht Heußerungen, wie
folgende : „es iſt fchimpflich, einer Bürde ſich zu entziehen:
ringe mit dem Dienfte, den Du einmal übernommen. Der
ift fein muthiger und tüchtiger Mann, der vor der Arbeit
flieht , deffen Muth nicht gerade unter den Schwierigkeiten
waͤchſt.“ So wird man zu Dir fprechen, wenn es der Mühe
werth ift, auszudanern; wenn Dir, als rechtſchaffenem Manne,
nichts Unwürdiges zu ıhun oder zu leiden zugemuther wich.
Souſt wird man nicht verlangen, daR Do vnetien, —B8
volren Arbeiten Dich aufreiveft, und in Belhätten ws
Geſchaſte zu haben. Der Weile wird ar AUmtı
1500 Seneca's Briefe.
über uns befchweren, und fagen: „Was fol Die? Ich habe
euch ohne Begierden gefchaffen, ohne Furcht, ohne Aberglaus
ben, ohne Falſch, ohne alle fonftige Gebrechen; fo geht auch
hinaus, wie ihr hereingefommen ſeyd.“ — Der hat die
Weisheit erfaßt, der fo forglos flirbt, als er geboren ward.
Mir aber zittern, wenn eine Gefahr herannaht; behaupten
weder Muth nody Farbe, und vergießen unnüge Thränen,
Was tft (himpflicher, als gerade anf der Schwelle der Frei:
beit Anaftlich feyn? Die Urfache aber ift diefe: wir find leer
an allem Guten, und daher mit einer um fo heffigeren Liebe
zum Leben behaftet. Denn bei uns bfeibt davon Nichts üb:
rig:. ed ift ganz vorüber, ed ift zerronnen. Niemand forgt,
daß er weife, fondern, daß er lange lebe; während es doch
Jedem gelingen kann, weife, aber Keinem, lange zu leben.
Dreiundgwanzigfier Brief.
Was iſt wahre Freude, und wie wird fie
gewonnen?
Meint Du etwa, ich werde Dir fchreiben, wie freundlich
diefesmal der Winter mit uns verfahren, der auch wirklich
ſehr gelind und kurz war; wie böfe dagegen diefer Frühling,
wie unzeitig diefe Kälte ſey — und was dergleichen Fadhei⸗
ten mehr find, die man nur vorbringt, um Etwas zu fagen?
Nein, ich will Etwas fihreiben, was mir und Dir nützen
Tann. Und was wird dieß Anderes feyn, als eine Auffordes
zung zur BerebMlung des Siunes? Was die Grundlage da:
von fey, fragft Du? Sich nicht der Enten au irren. Dad
h
Dreiundzwanzigfter Brief. 1501
— die Grundlage nenne ic Dieb? Nein, es ift der Gipfel.
Denn zum Höchften ift gelangt, Wer da weiß, worüber er
fi freue, Wer feine Glückſeligkeit nicht fremder Macht un:
terftellte. Angefochten ift and feiner felbft nicht gewiß, Wen
irgend eine Hoffaung reist, wäre auch nahe zur Hand, was
er hofft; wär’ es auch nicht ſchwer zu gewinnen ; hätten ihn _
feine Hoffnungen auch nie getäufcht. Das fey Dein Erſtes,
mein Lucilius: lerne Did) freuen. Dentft Du nun vicheicht,
ich entziehe Dir fo viele Genüffe, wenn ich das Zufällige abe
weife; wenn idy die Hoffnungen, diefe füßeften Ergösungen,
gemieden willen will? Im (Gegentheif, ich will, daß Dir nie:
mals die Freude fehle. Ich will, daß fie Dir daheim ers
wachſe; und fie wird es, wenn fle nur in Dir ſelbſt ift. Ver:
gnügungen anderer Art füllen das Herz nicht: fie glätten nur
die Stirne, und find flüchtig; Du müßteft denn meinen, Wer
lacht, fen froh. Die Geele muß warer ſeyn, vol Suverficht,
und über Altes erhaben. Glaube mir, es ift eine ernſte Suche
um die wahre Freude. Oder meinft Du, man werde mit
anfgeräumter und, wie jene Lüſtlinge fprechen, vergnüglicher
Miene den Tod verachten? der Armuth feine Thür öffnen 2
feine Lüfte im Zaume haften ? daranf denken, wie man Schmer⸗
zen muthig dulde? Wer Solches in fich bewegt, lebt in gro:
fer, aber wenig fchmeichelnter rende. In diefer Freude.
Beſitz möchte ich Dich ſehen: fie wird Dir vie fehlen, fobald
Du einmal gefunden haft, wo fie zu fuchen iſt. Geringe Mes
talle werden an der Oberfläche gewonnen ; die Löftlichften Mind,
deren Adern die Tiefe birgt, und die dem anhaltend Graben:
den immer veichlicher entfprechen. Was die Welt eradekı
giebt gehaltlofe und obenhinfkreifenne Tu, W B
a
1502 Seneca's Briefe.
die von außen. und zugeführt ift, ermangelt des Grundes:
diejenige, von weicher ich fpreche, und zu der ich Dir zu ver⸗
heifen trachte, ift eine feftbegründete, und geht tiefer nach ins
nen. Thue, ich bitte Dich, theurer Lucilius, was allein Did)
glücklich machen kann. Wirf von Dir und zertritt jene Dinge,
die von außen glänzen, und die von Andern Dir verfprochen
werden: trachte nac dem wahren Gut, und freue Dich Defs
fen, was Dein if. Was ift aber Dad, was Dein it? Du
ſelbſt und der beffere Theil Deiner felbft. Auch diefer elende
Leib, wiewohl ohne ihn nichts ausgerichtet werden kann, gelte
Die mehr für unentbehrlich, als für wichtig: er fehaffe nur
nichtige, Eurze, Neue bringende Genüſſe, die, wenn fie nicht
mit großer Mäßigung befchränft werden, in ihr Gegentheil
ſich verwandeln. Ic fage Dir: an einem jähen Abhang ſteht
die Luft; fie neigt fidh zum Schmerze, wenn fie nicht Maaß
hätt. Aber Maaß halten -ift fchider in Dem, mas man für
ein Gut anfieht. Wer nach dem wahren Gute begieriz ift,
ift gefichert. Worin Diefes beftehe, fragſt Du mich, und ans
Was es uns erwachſe? Ich will. ed Dir fagen: aus einem
guten Gewiffen, aus einem edlen Willen, aus rechtfchaffenen
Haudlungen, aus der Verachtung alles Zufälligen, aus dem
gerunigen und flefigen Gange eines immer diefelbe Bahn eins
haltenden Lebens. Denn Die, welche von einem Vorſatze auf
‚. den andern überfpringen, oder nicht einmal überfpringen, fons
dern vom, Zufalle ſich hinüberwerfen laſſen, wie können fie,
/o unftät und fchwebend, irgend etwas Gewiſſes und Bleiben:
37 ßaben? Wenige find, die ſich wad tab Ahre ee sun
Plane ordnen ; die Anderen find wie Dinat, vr —XXXX
Der fcmwimmen: fie gehen nicht, \onrern weiten, BRUSS
Pierundzwanzigfter Brief, 1503
find Weihe, die eine ruhige Welle zönernd und fanft dahin
trägt; Andere entraffr eine ungeflumere Woge; Andere werden
von der mattgewordenen Fluth -am nächften Ufer abgeſezt;
" Andere endlich wirft ein zorniger Gießbach in die See din⸗
aus. Daher müffen wir feftitelen, Was wir wollen, und das
bei beharren.
Hier ift der Ort, meine Schuld zu zahlen. Ic kam
Dir ein Wort Deines Epicurus zurüdgeben, und diefen Brief
damit auslöſen. „Es ift verdrüßtich, das Leben immer anzu⸗
fangen ;‘' oder, wenn fih der Gedanke beffer fo ausdrücken
laſſen follte: „unglücklich lebt, Wer immer zu leben bes
ginnt.“ Wie fo? frasft Du: dieſe Worte verlangen eine
Erläuterung. Weil ein forches Leben immer ein unvollendes
‚tes bleibt. Man Bann niche zum Zode fertig flehen, wenn
man eben er zu leben beginnt. Darauf haben wir zu dene
fen, daß wir genug gelcht haben möchten: Dieb glaubt Nies
mand, der eben anhebt zu leben. Glaube nicht, daß Soldyer
nur wenige feyen; diefer Art find fat Alle. Manche fangen
zu leben erft dann. an, wann fie aufhören follen. Wenn Du
Dieß für wunderbar Hältft, fo will ich hinzufügen, worüber
Du Dich.nod) mehr wundern wirft: Manche haben zu leben
anfgehdrt, ehe fie anfingen.
Vierundzwanzigfier Brief.
Wie fic, der Weije gegen drohendellebel watfnc.
Du ſchreibſt, der Ausgang eined Wedtätritted | I =
die Buch Deines Widerfachers Dich berrott, wu nn
/orgt; und Du glaubft nun, ich werde Die ven Rs
. 1504 Seneca’d Briefe.
Dir das Beſte vorzuftellen, und Did, mit wohlthuender Sof
nung zu beruhigen. .Denn was haben wir nöthig, das
Schlimme herbeizuziehen,, und, was wir frühe genug zu leis
den haben werden, wenn es einmal da fenn wird, vorauszn:
empfinden, und uns fo die Gegenwart durch die Angſt vor
der Zufunft zu verderben? Es iſt unftreitig Thorheit, weil
man vielleicht einmal unglücklich feyn wird, ed deßwegen jezt
ſchon au ſeyn.
Allein ich will Dich auf einem audern Wege zur Seelen⸗
ruhe führen. Wenn Du Dich aller Befümmerniß entfchlagen
willſt, fo ftelle Dir Altes, was Du befürchtet, als wirklich
bevorfiehend vor; miß bei Dir ſelbſt die Größe des Uebels
ad, Was es auch fey, und bringe Deine Furcht auf die Wage:
Du wirft gewiß finden, daß entweder nicht wichtig, oder nicht
von Dauer ift, Was Du fürchteſt. Und Du brauchst nicht
fange nach Beifpielen zu fuchen, an welchen Du Didy ftärken
kannſt: jedes Zeitalter hat deren hervorgebracht. Welchen
Theil der Gerichte, unferer Heimath oder des Auslandes,
Du an Deinem Gedächtniffe vorübergehen laffen magft, überall
werben dir Charaktere von hoher Vervollkommnung oder von
großem Streben begegnen. Wirft Du verurtheilt, was Bann
Dir härteres begegnen, als in die Verbannung wandern zu
müffen? oder in das Gefängniß geführt zu werden ? Was
giebt es fonft noch, was Einer fürchten könnte, als daß man
ihn auf glühende Kohlen lege, daß man ihn umbringe? Stelle
Dir diefe Dinge alle nad) einander vor Augen, und laß ihre
Merächter auftreten: Du haft fle nicht zu fuchen, nur auszu⸗
wählen. Rutilius ertrug feine Verurtheilung, als wäre ihm
dabei nichts weiter verbrüßlich, als daß (Acht gerichtet wurde.
- Bierundzwanzigfter Brief. 1505
Metelius fügte fid, in feine Berbannung mit Muth, Rutitins
fogar gerne; Jener Lehrte zurüd, der Republik zu gefallen,
Diefer verweigerte feine Rückkehr fogar einem Sulfa, welchem
damals Nichts verweigert ward. Socrates fehrte nod, im
Kerker, und wollte ihn nicht verlaffen, wiewohl mau ihm die
- Rettung durdy Flucht verfprady : er blieb, um den Menfchen
die Furcht vor den zwei ärgften Dingen zu benehmen, vor
Tod und Gefangenſchaft. Mucius hielt feine Hand in die
Flamme, Es fchmerzt, gebrannt zu werden; und wie viel
mehr, wenn man fich felbft brennt? Du fiehft, wie ein Menich
ohne Unterricht, ohne philofophifche Ausrüſtung gegen Tod
und Schmerz, zur mit der Kraft des Kriegers begabt, des
mißlungenen Unternehmens Buße fid auferlegt. Da fteht
er und fieht zu, wie feine Hand in die Glutpfanne des Fein⸗
des trieft, und zieht fie, bis anf die bloßen Knochen zer⸗
ſchmolzen, nicht eher zurück, bis ihm vom Feinde das Feuer
entzogen wird. Er konnte in jenem Lager eine gluͤcklichere
That vollbringen, eine muthigere nie. Siehe, um wie viel
beherzter ter Hochfinnige. Gefahren entgegen geht, ald der
Grauſame welche bereitet. Leichter verzieh Porfena dem
Mucins, daß er ihm ermorden wollte, als Mucins fidy, Daß -
er es nicht gethan. = |
„Mäprchen find Dieß,“ ſprichſt Du, „die man in alfen
Schulen ableiert: gewiß wirft Du mir au, wenn Du auf
die Todesverachlung zu reden kommſt, die Gefchichte von Cato
erzählen." — Wie follte id) es nicht erzählen, wie er in jes
ner Tezten Nacht, das Schwert sieben dem Haupte, in Plato’s
Phaͤdon lad? Mit diefen beiden Hülfsmittelr Karte a ASS
den Tezten Mugenblicten-vorgefehen , wit dem KU SU I
1506 | Seneca’s Briefe.
"ben zu wollen, mit dem andern, um es zu Bönnen. Nach⸗
dem er feine Angelegenheiten in Ordnung gebradyt, fo gut es
gefchehen Lonnte in jenen Zeiten der Serrüttung und des Un:
tergangs, glaubte er Dafür. forgen zn müffen, daß Niemand
die Macht betäme, dem Cato das Leben zu nehmen, noch fo
glücklich werden möchte, ed. ihm zu erhalten. Und fo z0g er
fein Schwert, das er bis anf jenen Tag rein von Mord be:
wahrt hatte, mit den Worten: „Du haft Nichts ausgerichter,
o Glück, indem Du allen meinen Unternehmungen Dich wi:
derſezteſt. Nicht für meine eigene, Sondern fir des Vater:
landes Freiheit habe ich bis jest gekämpft. Nicht um frei,
fondern um unter Freien zu leben, war ic) fo beharrlidy hä:
tig: nun, weil die Sache der Menichheit aufgegeben ift, werde
Eato in Sicherheit gebracht!“ Mir diefen Worten drückte ex
-die Todeswunde in feinen Leib. Die Aerzte verbanden ihn:
Blut und-Kräfte ſchwanden; aber aa Muth fich gleich, zürnte
er nun nidyt über Cäfar allein, fondern über fich, riß mit der
bioßen Hand die Wunte auf, und euntließ nicht, fondern trieb
hinaus jene erhabene, jegliche Menfchenmacht verachtende Seele.
Ich führe Dir ſolche Veiſpiele nicht in der Abſicht an,
mein Talent an ihnen zu üben, fondern um Dich gegen Das,
was für das Furchtbarſte gilt, au ermuthigen. Es wird
mir Dieß um fo leichter werden, wenns ic) Div zeige, wie
nicht nur muthige Männer diefen Augenblick des Aushau⸗
chens ihrer Seele für nichts achteten, fondern wie einige,
fonft zanhafte Leute hierin an Muth den Entichlofjenften «6
gleich gethan haben ; wie dort tes Enejus Pompejus Schwie.
gervater Scipio, da widrige Winde ihn nach Afrika zurück⸗
warfen, und ber Feind feines Scyifek I hemächtigte, dem
Vierundzwanzigiter Brief. 1507
Dolch ſich durch die Bruft fließ, und als man fragte, wo ber
Feldherr wäre? antworteie: „mit dem Feidherrn fteht es
aut. Dieſes Wort ſtellt ihn feinen Ahnen gleich; es läßt-
den Ruhm der Scipione, zu deffen Schauplag das Werbäug-
niß Afrika anwies, Leine Unterbrechung erfahren. Es war
ein Großes, über Carthago zu fliegen; noch größer iſt's, über
den Tod, „Mit dem Feldherrn ſteht es gut.“ Durfte ein
Feldherr, und zwar Eato’d Feldherr, anders ſterben? — Doch
ich wit Dich nicht an die Gefchichte verweifen, noch aus al:
ten Sahrhunderten die Merächter Des Todes, deren fo viele
iind, zufammenfischen; bersachte nur Diefe unfere Zeiten, über
deren Schlaffheit und Genußſucht wir klagen. Menfchen aus
allen Ständen, Reihe und Arme, Alte und Junge, werden
Dir begeanen, welche ihre Leiden durch Ten Tod abPürzten.
Glaube mir, mein Lucilius, der Tod iſt fo fehr nicht zus fürch⸗
ten; ja es it feine Wohlthat, daß wir überhaupt nichts zu
rürdhten haben. Sorglos höre alio Deines Feindes Drohuns
gen: und ſo viel Zuverſicht Dir auch Dein gutes Gewiilen
giebt, fo Hofe zwar die gerechtefte Enticheivung ; aber , weil
Vieles nicht zur Rechtsſache Gehöriges einwirkt, fo bereite
Did) auf die ungerechtefte vor. Vor Allem aber vergiß nie,
ten Dingen ihre ſchreckende Begleitung zu nehmen, und zu
ichen, was an jeder Sache ifl. Du wirft Did, überzeugen :
die Furcht allein iſt's, was fie ſchrecklich macht. Was ten
Kindern begegnet, begegnet auch ung, den großen Kinkern.
Bor Leuten, die fie lieben, an die fie gewöhnt find, mit des
nen fie fpielen, erzittern fie, wenn fle fie verlarnt erbiiden.
Nicht den Menfchen nur, auch deu Dingen iſt die Larne ak-
anziehen und ihr eigenes Bed winter 1a ren "ER
>08 Seneca's Briefe.
Haft Du mir Schwerter und Feuerbraͤnde, und einen Schwarm
rohender Henker um Did, her? Weg mit diefer Mummerei, ;
n welche Du Dich hülleſt, um Thoren zu ängfligen! "Du
»iſt *) der Tod, den unlängft einer meiner Sclaven, eine meis
ner Selavinnen verachtefe.
Und Du — was legſt Du mir Deine Geißeln und Dei:
nen ganzen Vorrath von Marterinfirumenten vor Augen,
und zeigft für jedes Glied eine befontere Mafchine, berech:
net, ed zu zerquälen, und taufend andere Werkzeuge, um den
Menfhen in Stückchen zu zerfleifchen 2 Lege ab, was Schauer
erregt s heiße fchweigen jene Seufzer und Ausrufungen, jene
gräßlidyen, unter den Martern ausgeftoßenen Töne Du bift
ja nur ber Schmerz, den jener Podagriſt verachtet, den jener
Magenkranke mitten unter Tafelgenüffen erfrägt, den das
Weib aushält, die zum erftenmale Mutter wird. Er if
Leicht diefer Schmerz, wenn ich ihn fragen kann; kurz, wenn
ich es nicht Eann.
Mit diefer Wahrheit, die Du ſchon oft gehört und oft aus:
gefprochen worden, befchäftige Deinen Geiſt; aber, ob Du fie
richtig aufgefaßt und mit Ueberzeugung ausgeſprochen habeft,
erprobe durch die That. Denn der fchimpflichfte Vorwurf,
den man uns gewöhnlich macht, iſt: wir machen ung nur
mit den Worten der Philofophie, nicht mit ihren Werken zu
thun. — Haft Du denn jest erft erfahren, daß Tod, daß
Verbannung und Qualen Dir drohen? Dazu bift Du gebo-
ren. Altes, mas geichehen Bann, müffen wir ung als bevor:
ſtehend denken. Doch ich weiß, Du thuft längſt, was id, zu
ban Dich mahne. Für jest vathe ich Dir nur, Deinen Geiſt
9E Er, und fo unten dolor es,
Vierundzwanzigfter Brief. 150g
nicht in jene Sorgen zu verfenten; er wirb abgeftumpft und
ermangelt der Kraft, wenn er fich erheben fol. Lenke ihn
von Deiner befondern Angelegenheit aufs Allgemeine: erins
nere ihn; daß Du einen fterblichen und zerbrechlichen Körper
haft, dem nicht nur von der Lngerechtigteit oder der Ge⸗
walt eines Mächtigern Schmerz droht; felbft Vergnügungen
wandeln fich in Qualen. TIafelgenüffe führen Unverdaulich⸗
keit herbei; Berauſchungen Nervenfhwäde und Sittern;
Wollüſte zerrütten Füße, Hände und alle Glieder. MIch fol
arm werden? Go werde id, viele Gefährten haben. Ich
fol in die Verbannung wandern ? Ich werde mir vorftellen,
dort geboren zu feyn, wohin man mic, fchiden wird. Ich
werde in Bande gelegt? Was wäre Dieß? Bin idy denn
jest frei? Die Natur Hat mich an dieſes fehwere Gewicht
meines Körpers gefeffelt. Ich werde fterben ? Damit fagft
Du, ich werde aufhören Frank ſeyn, aufhören: gefeffelt wers
den zu können, aufhören fterblicd, zu feyn. Es wäre“ abge
fhmadt, Epicurus Lied hier anftimmen, und Dir fagen zu
wollen, daß die Schredniffe der Unterwelt nichtig feyen, daß
Fein Srion auf dem Rade ſich drehe, Bein Siſyphus ein Beld-
ftück mit den Schultern bergan wälze, und daß eines Men-
fen Eingeweide unmöglicd, alle Tage zerhadt werden und
wieder wachſen fönnen. Niemand ift Kind genug, vor dem Cer⸗
berus ſich zu fürchten, vor jener Kinfterniß und jenen Lars
vengeftalten der Gerippe. Der Tod vernichtet entweder, oder
er befreit uns: den Berreiten bfeibt nur dad Beſſere, fie
find entbürdet. Vernichtet er, fo bleibt uns Nichte; Gutes
wie Schlechtes iſt hinweggenommen. Geflatte mir, bier v
Seneca. 128 Bbchn. J
1510 Seneca's Briefe.
nen Vers von Dir ſelbſt anzuführen, und Dich zuvor zu
erinnern, ihn nicht nur für Andere, fondern auch für Di
ſelbſt geichrieben anzuſehen. Es ift ſchimpflich, anders zu
ſprechen, als man denkt; wie viel ſchimpflicher, anders zu
fchreiben, als man denkt? Ich erinnere mih, daß Du ein:
mal von dem Gabe handeltefl, „wir verfinten nicht plötzlich
in den Tod, fondern rüden ihm allmälig entgegen. Wir
fterben täglich ; denn täglich wird uns ein Theil des Lebens
genommen, und felbft fo lange wir nocd, zunehmen, nimmt
unfer Leben ab. Wir kommen um unfere Kindheit, dann
um das Knaben» und Jünglingsalter ; alle bie auf den ge:
ftrigen Tag vergangene Seit iſt dahin, und felbft dieſen Tag,
in welchem wir leben, theilen wir mit dem Tode. Wie es
nicht der legte Tropfen ift, der die Waſſeruhr leer macht,
fondern jeder herabgeronnene: fo macht die lebte Stunde, in
der wir zu ſeyn aufhören, nicht für fid, allein den Tod aus,
fondern fie vollendet ihn. Dann Fommen” wir: wirklich zu
ihm; aber wir find fchen lange ihm nahe gekommen.” Nach—⸗
dem Du Die in deiner gewohnten großartigen Ausdrucks—
weife, die nie Fraftvoller wird, als wo; Du der Wahrheit
Deine Worte leihft, dargeftellt hatteſt, ſagteſt Du:
Nicht ein Tod nur kommt fiber uns; dee letzte Xcd
Sit, der dahin ung rafft.
Ich wollte lieber, Du läſeſt Dich jelbft, als meinen Brief:
es würde Dir Par werden, daß der Tony den wir fürchten,
une ber legte, nicht der einzige iR. ir. Do de
merke, wornach Du Dich vhtx. DO NET WU,
a⸗ en Brief beigelegt Habe ı weldet Hrttieuere
Bierundzwanzigfter. Brief. 1514
Wort, welchen heilfamen Lehrfpruch. Dir follft über denfels
ben Gegenitand,. der und eben befchäftigte, etwas erhalten.
Epicurus fagt, indem er Diejenigen, welche den Tod fehnlich
wünfchen, nicht minder ſcharf, als Diejenigen tadelt, die ihn
fürchten: „Es ift lächerlich, aus Lebensüberbruß in. den Tod -
zu eifen, wenn man durch die Art feines Lebens es dahin
gebracht hat, daß man in denfelben eilen muß.‘ Und ap
einem andern Orte: „Was ift fo Tücherlih, als nad bem
Tode zu verlasgen, nachdem man durd die Furcht nor dem
Tode fich ein unruhiges Leben gemacht hat?“ Du kannſt
and) folgende Worte deffelben Schlages beifügen: „Die Uns
klugheit, ja der Unfinn mancher Menſchen ift fo groß,. bag
fie durdy Furcht vor dem Tode fih zum Tode zwingen lafs
fen.‘ Mit weichem diefer Sätze Du Dich befcdhäftigen magft
— Du wirft Deine Seele flärfen zur Ausdauer gegen den
Tod, wie gegen das Leben. Gegen Beides haben wir uns
zw verwahren und zu fräffisen, Daß wir bad Leben weber zu
fehr Tieben, noch zu jehr haffen. Auch wenn die Vernunft
uns räth, ihm ein Ende zumachen, fo dürfen wir ung gleich:
wohl nicht in blindem Anlauf in den Tod flürzen. Der
muthige und weile Mann foll nicht aus dem Leben fliehen,
fondern gehen. : Und vor Allen werde jene Stimmung ge ‘
mieden, die ſich fo Bieler bemächtigt, im Sterben eine Luft
su finden. Denn, mein Lucilius, ed gibt, wie zu andern Dins
gen, fo auch zum Sterben einen unüberlegten Hang, her oft
ebelfinnige Männer von Fräftigem Charakter . SE
zagende und Feinmüthige Naturen. Aue veradiken > *
ben, Diefe brüdt ee. Einige beidyeint ne SC
” -
45312 Seneca's Briefe.
mer Daſſelbe zu thun und zu ſehen, und fle fühlen nicht ſowohl
Haß, ald Weberdruß des Lebende: Die Philoſophie ſelbſt
greibt ung, daß wir leicht in denfelben gergthen, indem wir
fagen: „Wie lange koch biefes Einerlei? Ich erwache und
iſchlafe; effe und werbe wieder hungrig; friere und ſchwitze;
Feined Dinges ift ein Ende, Alles bewegt fih im Kreislauf,
nieht und verfolgt fih. Auf die Nacht kommt der Tag, auf
den Zag die Nacht; der Sommer geht über in den Herbſt,
dem Herbft folgt auf dem Fuße der Winter, welchem der
Frühling ein Biel febt. Alles geht vorüber, um wieberzus
tehren; ich fehe nichts Nenes, ich thue nichts Neues: am
"Ende wird auch Dieß zum Ekel.“ Manche find, bie es
:gicht für unerträglich halten, zu leben, aber für überfläſſig.
— — — —
Fuͤnfundzwanzigſter Brief.
Weber zwei Bekannte von Seneca und Lncilins,
unb bie Art, wiechre Befferung an verfuhen
ſey. — Ermunterung zur Genügſamkeit. —
Mandente und handle alginGegenwart
eines Zeugen.
Mas unfere beiten Freunde betrifft, fo muß man vers
ſchiedene Wege einfchlagen: die Behlee des Einen muß man
verbiffern, die des Andern brechen. Ich werde mit aller
Sreimüthigkeit zn Werke gehen: ich liebe Jenen nicht, wenn
äh ihn nicht Hark anlaffe. „Wie?“ fragft Du: „einen vier
Sigjäbrigen Müntel dentft Du unter Deiner Aufficht zu hal⸗
eu 7 Siehe body diefed Alter, wie wertärtet vod uugefügig
Sinfundzwanzigfier Brief. 193
es fchon ift! Er kann nicht umgeformt werben; nur dab
Zarte läßt fidh bilden. — Ob id) Etwas ausrichten werde⸗
weiß ich nichts aber lieber will ich, daß ed mir am Erfolg,
ald an treuem Willen fehle. Man darf die Hoffuung nicht
anfgeben, felbit langwierige Krankheiten heilen zu können,
wenn man der Unmäßigkeit ſteuert, und den Kranken nöthigt,.
Dieled auch gegen feinen Willen zu thun und zu leiden.
— Auch zu dem Andern habe ich nicht viel Zufrauen,, aus⸗
genommen, daß er über feine Fehler noch voch wird. Diefes
Schamgefühl ift zu unterhalten: fo lange es in feinem Ges
“ müthe andauert, wird immer einige gute Hoffuung Statt finden
können. Mit jenem Veteran aber glaube ich fchonender vers
fahren zu müffen, damit er nicht dahin Fomme, an ſich ſelbſt
zu verzweifeln. Keine Zeit, ihm beizufommen, ift geeigneter,
ald Die gegenwärtige, wo er einen Stilftand macht, wo er
einem Gebeflerten ähnlich ift. Andere hat diefe Paufe ges
täuſcht: ich fafle mich nicht bereden, fondern erwarte, daß
feine Schler mit großem Wucher wiederkehren werden; denn
ich weiß, fle haben fich nicht verloren, fondern ſie ruhen
bios. Ich werde dieſer Angelegenheit einige Zeit widmen,
und verfuchen, ob Etwas gethan werden kann, oder nicht.
Du, mein Freund, erweife Dich une, wie Du thuſt, ale
einen Mann von Willenskraft, und fchleppe Did nicht mik
vielem Bepäde. Nichts von Dem, was wir haben, ift noth⸗
wendig. Kehren wir zum Geſetze der Natur zurüd, und
unfer Reichthum liegt bereit. Was wir bedürfen, ift entwe⸗
der umfonft zu haben, oder wohlfeil. Die Natur verlangt
Brod und Waſſer, und hieran ift Niemand arm. „Me
auf Die feine Bebürfniffe beihräntt, way a WILD
1514 ESeneca's Briefe,
ſelbſt an Seligkeit wetteifern,“ wie Epienrus ſagt, von wels
chem ich noch ein anderes Wort diefem Briefe beifchließen
will. „Handle in allen Stücken fo, als fähe Epicurus Dir
zul” Es ift unftreitig heilfam, ſich felbft einen Aufſeher zu
beftellen, auf den man ſtets Hinbficke, und den man fih bei
feinen Gedanken als zugegen vorftelle.e Das bei weitem
Scyönfte ift freilich, fo zu Ieben, wie unter den Augen eines
techtfchaffenen und immer gegenwärtigen Mannes: doch bin
ih fhon zufrieden, wenn Du immer fohandelft, als ob über:
Haupt irgend @iner zufchaute. Die Einſamkeit beredet uns
zu allem Schlechten. Wenn Du ed einmal dahin gebracht
haft, daß Du achtungsvolle Schen aud vor Dir felbft haft,
dann wirft Du Deinen Aufſeher entlaffen dürfen: indeſſen
bewache Dich durch das Anfehen irgend eines Andern, fey
diefer num Cato oder Scipio oder Läling, oder irgend Einer,
"in deffen Anwefenheit audy verborbene Menfchen ihre Fehler
anterdrüden würden; bis Du aus Dir felbft den Mann ges
macht haſt, in deffen Gegenwart Du zu fündigen Dich ſcheueſt.
Haft Du Dieß gethan, haft Du angefangen, bei Dir ſelbſt
in Achtung au flehen, fo kann audy ich wagen, Dir zu er:
lauben, was Epicurus gleichfalls anrätk: „Dann zumal ziehe
Dich in Did, felbft zurück, wann Du genöthigt bift, unter
ber Menge zu leben. Du mußt der Vielheit unähnlich
werden. Doc, bis es für Dich ficher ift, in Dich ſelbſt Dich
zurüdzuziehen, fieh Did) nach Einzelnen um. Da ift Keis
ner, für den es nicht beffer wäre, mit irgend Jemand, ale
mit fich, zufammen zu fen. „Dann zumal ziehe Dich in
Dich Jelbfi zurüd, wann Du genöthigt bift, unter ber Menge
3a /eBen;’' wenn Du andere gut, \eiteniuaittae und Herr
Sechsundzwanzigſter Brief, .1515
Deiner ferbft bift: fonft müßteft Du von Dir hinweg unter
die Menge Dich begeben ; denn Du hätteft einen fchlechten
Geſellſchafter.
Sechsundzwanzigſter Brief.
Seneca's Greiſenalter. Der Tod erprobt die
wahre Weisheit.
Unlängft fagte ih Dir, ich befinde mich im WAngelichte
tes Greiſenalters; jetzt, fürchte ich, habe ich es ſchon hinter
mir gelaffen. Schon ziemt ein anderes Wort Diefen meinen
Fahren, wenigftens diefer Leibesbefchaffenheit; infofern Al⸗
ter die Benennung ift für die mattgewordene , nicht für bie
"gänzlich gebrodyene Lebenskraft. Zähle mich zu Denen, bie
ausgelebt, die das leute Ziel erreicht haben. Und hoch fage
id) Dir, daß ich mir Glück wünſche; ich gewahre am Geiſte
des Alters Unbill nicht, fo fehr ich fie am Körper "fühle,
Nur meine Behler und die Werkzeuge meiner Behler find ges
‚altert. Mein Geift ift frifch, und froh, nicht mehr viel mit
dem Körper zu thun zu haben. Er hat einen großen Theil
feiner Bürde abgelegt; er jubelt und flreitet mir mein Alter
ab, indem er fagt, nun erft fey feine Blüthezeit. Glauben
wir ihm; laffen wir fein Glück ihn genießen! ,
Aber es frommt, nachzudenken und zu prüfen, wie weit
ich diefe Seelenruhe und Mäßigung meined Charakters ber
Weisheit, und wie weit ich fie bein Alter verdanke; forgfältig
zu unterfuchen, was Alles ich nicht mehr thun Tann, und
‚was ich nicht will, obwohl ich's Tante, Wera in iron.
1516 ESeneca's Briefe.
was ich nicht kaun, auch nicht will, ſo freue ich mich, es
nicht zu koͤnnen. Denn wie bürfte ich klagen, wie es für
ein Ungemach anfehen, wenn abgenommen hat, Was aufhören
fol 3 „Doch“ fagft Du, „ift es das größte Ungemach, fo
zufammenzufinten und. binzufterben, fo recht eigentlich zu
jerrinnen. Denn wir werden nicht mit Einem Schlag hin-
geſtreckt: wir werden ftüchweife weniger ; jeder Tag entzieht
und etwas von unfern Kräften.‘ Welcher Ausgang wäre
denn beffer, als allmälig, durch natürliche Auflöſung, in
fein Ende zu verfinten ? Nicht etwa, weil ein vafcher, plotz⸗
licher Austritt aus dem Leben ein Uebel wäre, fondern weil
ed eine fanftere Weife ift, unvermerst entrückt zu werben.
Ich wenigſtens beobachte mich, und fpreche zu mir felbft; als
ob jest die Prüfung bevorftünde, und jener Tag gekommen
wäre, welcher Rechenfchaft geben foll von allen meinen Jah⸗
ren: „Nichts ift es noch, was ich bis jest an Bort und
That geleiſtet. Nichtsfagende und trügerifche Unterpfänder
des Muthes find Dieb, und in manchen gekünftelten Flitter
gehüllt: wie weit ich es gebracht habe, muß erft ber Tod
mir bezeugen. Ohne Sagen bereite ich mich alfo auf jenen
Tag, an welchem ich, entkleidet alles Blendwerks und jegli⸗
cher Schminte, über mich felbit entfcheiden foll, ob: nur meine
Rede oder meine Gefinnung ſtark if; ob es Heuchelei und
Schauſpiel war, wenn ich dem Schickſal mit Worten voll
tropigen Stolzes entgegentrat. Berufe Dich nicht auf das
Urtheil der Menfchen: es ift immer unzuverläſſig und neigt
fib bald nach diefer, bald nach jener Seite. Berufe Did
nicht auf Bad Studium, das Du durdy’s ganze Leben getrie
Sen: ber Tod wird über Dich ertenuen. Ja, alle jene phi⸗
Schsundzwanzigiter Brief, 1517
loſophiſchen Abhandlungen, ziene gelehrten Geſpräche, jene
Worte, aus den Lehren der Weiſen zufammengelefen, und
eine gebildete Sprache — fie beweifen nicht die wahre Stärke
der Seele: denn auch der Verzagtefte fpricht oft in kühner
Rede. Was Du geleiftet, wird ofienbar werden, wenn Du
in den letzten Zügen liegſt. — Es fen; idy laſſe fie gelten,
Diefe Beftimmung: ich ſcheue das Gericht nicht.” So fpreche
ich zu mir felbft, und ich. wollte, Du ließeft es auch zu Dir
geinrochen feyn. Was verichlägt es, daß Du jünger bift ?
Man rechnet nicht nach Jahren. Es ift ungewiß, wo ber
Tod Did) erwarte; darum erwarte Du ihn allenthalben.
Schon wollte idy fchließen: meine Hand fchickte (ih ar,
daß „Lebewohl“ beisuichreiben; aber bag Dpfer muß vollen-
det werden, *) dieſer Brief muß feinen Reifepfennig haben.
Ich brauche nicht erfi zu fagen, von Wem ich ihn borgen:
werde:.Du weißt, Wellen Kaffe ich benübe. Warte noch ein
Fein wenig, und ich werde meine Zahlung von meinem Eigenen
feiften. Inzwiſchen wird mir Epicurus borgen, welcher fagt:
„Bereite Dich auf den Tod, mag nun dad Beſſere fenn, daß
der Tod zu uns komme, oder wir zu ihm.‘ Hier ift ber
Sinn Elar: es ift eine herrliche Sache, flerben zu lernen.
Du hältſt es vielleicht für überfläffig, zu lernen, Was man
nur Einmal brauchen kann? Das ift ed eben, warum wir
uns darauf bereiten müffen. Man muß Das immer lernen,
wovon man zuvor nicht die Erfahrung machen kann, ob wir
ed auch verfichen. „Bereite Dich auf den Tod.” Mer Dieß
fagt, heißt uns auf die Freiheit ung bereiten. Wer fterben ge
2) Sprichwoͤrtlich.
1518 Seneca's Briefe...
. Iernt hat, hat verleent, Sclave zu fenn; er ift über aller
Gewalt, wenigftend außer aller. Was gehen Kerker ihn am,
und Wachen und Niegel ? rei fteht ihm der Ausgang. Nur
Eine Kette ift, die uns gefeflelt Hält, die Liebe zum Leben;
ift fie zwar nicht abzumerfen, fo ift fie wenigftend zu ſchwä⸗
chen, damit, wenn die Umftände es fordern, Nichts uns halte
und hindere, bereit zu ſeyn, was einmal Doc, gefchehen muß,
auf der Stelle zu thun.
Siebenundzwanzigfier Brief.
In der Tugend beftebt die wahre Glückſelig—
Peit: man muß ferbft fie erſtreben, ſie läßt ſich
nicht kaufen.
„Du gibſt mir Ermahnungen,“ fprihft Du; „haſt Du
fie denn Die ſelbſt fchon gegeben, Dich felbft fchon gebeffert,
um jest der Beſſerung Anderer Did, widmen zu können?“
Ich bin nicht fo anmaßend, daß ich, felbft ein Kranker, Hei:
(ungen unternähme: fondern als läge ich mit Dir in Einem
Krantenzimmer, fprecdhe ich von unferem gemeinfchaftlichen
Uebel, und theife Dir meine Mittel mit. Höre mid, alſo,
als ob ich mit mir felbft fpräche: ich führe Dich in mein
Inneres ein, und rechte in deiner Gegenwart mit mir felbft.
Ich rufe mir ſelbſt zu: zähle Deine Jahre, und Du wirft er:
röthen, noch immer Daffelbe zu wollen, was Du als Knabe
wollteft, noch immer Daffelbe zu betreiben. Erweile Dir
diefe letzte Wohlthat dieſſeits Deines Todestages, daß Du
vor Dir ſelbſt Deine Fehler ſterben laͤſſeſt. Verabſchiede
Siebenundziwanzigfter Brief. 1519
jene verwirrenden Genüffe, die man fo theuer bezahlen muß:
fie ſchaden fihon, ehe fie Eommen, und fchaden noch, wenn
fie. vorüber find. Wie mit Verbrechen, auch wenn man
fie nicht entdedte, da fie begangen wurden, gleichwohl: bie
Unruhe nicht zugleich vorüber geht; fo knüpft an unedle
Sreuden, auch nach ihnen nocd, die Reue fihan. "Sie find
nicht haftbar, fie find nicht treu: auch wenn fie nicht fchas
den, entfliehen fie doch. Siehe Dich vielmehr nad) einem
bleibenden Gute um. Uber es gibt Feined, außer, weldyes
"das Herz in ſich ſelbſt findel. Nur die Tugend gibt unwan⸗
delbare, harmiofe Freude: mas etwa Widerliches ſich entge⸗
genfteltt, ift wie die Wolfe, die unten wegzieht, und das Tas
gesticht nicht überwältigt, ,‚Aber wann wird mir's glücen,
zu Ddiefer Freude zu gelangen 2’ Du fäumft bie jebt gerade
nicht : aber Du willſt es übereilen. Noch ift viel zu thun
übrig, und wachfame Sorge ift nöthig; Du felbft mußt
Deine Anftrenguug daran feen, wenn Du zu Stande kom—
men willft. Dieſes Gefchäft duldet Feine Uebertragung. In
anderen Studien kann man ſich eixen Gehülfen nehmen.
So febte zu meinen Seiten noch der reiche Galvifius Gabi-
nus: er war ein Zreigelaffener nad) Vermögen und Denkt:
art. Nie fah ich einen Menfchen mit feinem Wohlſtande
fo wenig Würde verbinden. Er hatte ein fo unglückliches
Gedächtniß, daß ihm bald der Name des Ulyſſes, bald bes
Adyilles oder Priamus entfiel, Namen, die uns doch fo be:
Fannt *) find, als die unferer Erzieher. Ein alter Nomens
clator, welcher die Namen nicht angibt, fondern welche ſchmie⸗
*, Tam bene, quam,
1530 Seneca's Briefe.
det, wird bie Leute doch nie fo verkehrt begrüßen, ale dieſer
bie Zrojaner und Achäer. . Nichts deſto weniger wollte er
gelehrt ericheinen. Und fo erſann er fi) dann dieſen Aus⸗
weg: er kaufte ſich Sclaven für eine große Summe. Einer
derielben mußte den Homer inne haben, ein Anderer den
Heflodus; an neun Anbere wurben die neun Lyriker vertheilt.
Daß er ſie fehr theuer gekauft, ift nicht zu verwundern: er
fand fle nicht vor, und verdingte es, fie erſt zuzurichten.
Wie er fi) diefe Bedienung angefchafft hatte, da fing erft
die Noth feiner Gäſte an: dieſe Sclaven mußten zu feinen
Füßen ftehen, und ihm einmal um bad andere bie Verſe,
weiche er herfagen wollte, angeben ; dennoch entfielen fie ihm
wieder nicht felten mitten in einem Worte. Gatellius Qua:
dratus, ein Schmaroger, der reihe Narren benagt, fie la»
chend unterhält, und, was mit Beidem verbunden ift, über fie
ſelbſt lacht, gab ihm den Kath, ſich Grammatiter zu halten,
Die das ihm-Eutfallene fammeln follten. Und als Sabinus
erwieberte, ſchon feine Sclaven Fofteten ihn jeder hundert-
tanfend Seſtertien, verſetzte Satellius: „Eben fo diele Bü:
cherfchränte wären Dir wohlfeiler zu fliehen gekommen.‘
Dennoch, ftand der Mann in dem Wahne, Alles felbft zu
wiffen, was jeter feiner Leute wußte. Derfelbe Satellius wollte
ihn einmal dazu bringen, daß er im Ringkampf aufträte, der kränk⸗
liche, blaffe, abgemagerte Mann! Sabinus entgegnete ihm:
„Wie follte ich Dieß können? Ich lebe ja kaum.“ — ‚Sage
doch Das nicht, ich bitte Dich,” verfeßte Jener: „ſiebſt Du
denn nicht, wie viele gefunde nnd ſtarke Burfche Du haft ?‘
— Ein vernünftiger Sinn wird weder erborgt, noch ges
Achtundzwanzigſter Brief. 1521
kauft; und wenn er feil wäre, fo würde er, denke ich, keinen
Käufer finden: einen thörichten kauft man täglich.
Empfange noch, was ich Dir ſchulde, und gehabe Dich
wohl. „Ein nach dem Gefeb der Natur georbnetes Arms
ſeyn ift Reichthum.“ Dieb ſagt Epicurus mehr als eins
mal, und immer wieder anders; aber nie zu oft Tann ge⸗
fagt werden, was man nie genug lernt. - Einigen ‚braucht
man die Heilmittel bloß anzuzeigen, Andern muß man fie
aufdringen.
— —— — —
Achtundzwanzigſter Brief.
Ueber den häufigen Wechſel des Aufenthaltes.
Das ſey Dir allein begegnet, meinſt Du, und wunderſt
Dich darüber, als über etwas Neues, daß Du durch eine
ſo lange Reiſe und ſo häufigen Wechſel des Orts dennoch dei⸗
nen Trübſinn und Deine Schwermuth nicht verſcheucht haſt.
Deinen Sinn mußt Du wechſeln, nicht den Himmeilſtrich.
Magſt Du immer über eine weite See fchiffen, mögen vor
Deinen Blicken, wie unfer Virgilius ſagt, )
— — — Länder und Städte verſchwinden:
wohin Du Dich auch wendeſt, Deine Fehler werden Dir
folgen. Zu Einem, der dieſelbe Klage führte, ſagte einſt So⸗
krates: „Was wunderſt Du Dich, daß Deine Reiſen Dir
Nichts nützen, da Du Dich ſelbſt überall mitnimmſt?“ Was
Dich forttrieb, folgt Dir auf dem Fuße. Was ſoll es Dir
*, Aen. II, 71.
1522 Eeneca's Briefe.
frommen, neue Länder: zu fehen, Städte und Gegenden ken⸗
nen zu lernen? Erfolglos bleibt biefes Umhertveiben. Willſt
du wiffen, warum fie Dir nicht hilft diefe Flucht? Mit Dir
flieht Du, Was Deine Seele brüdt, muß erft abgelegt
werden: eher wird es Dir an keinem Orte gefallen. Gtelle
Dir Deinen jetzigen Zuſtand als einen folchen vor, wie ihn
unfer Virgilius ald den der Seherin fchildert , die aufgeregt
und entflammt ift, eines Geiftes voll, der nicht Der ihrige if:
— — es tobt —
Ungeſtüm die Prophetin, ob etwa ber ’Bruft fie entfchfitteln
- Könne den mächtigen Gott. *)
Nun wanderfi Du Ka und dorthin, um der anf Dir la
ftenden Bürde los zu werden, bie durch. diefes Umherwerfen
nur immer befchwerlicher wird; wie auch ein Fahrzeug von
unbewegten Laften minder gedrückt wird, unordentlich durch⸗
einander gewälzte dagegen die Seite, auf welche ſie fallen,
ſchneller niedertauchen. Was Du auch thuſt, thuſt Du Dir
zum Nachtheil: durch die Bewegung ſelbſt ſchadeſt Du Dir;
denn Du rüttelſt einen Kranken. Haft Du aber jenes Ue—
bei von Dir hinweggenommen, Dann wird jeder MWechfel Bes
Drted Dir angenehm werden. Dann magft Du in die ferne
ften Länder verichlagen werben: in welchen Winkel des Bars
barenlantes du verfept wirft — freundlih und wirthbar
wirft Du jeden Wohnfis finden. Wichtiger iſt die Zrage,
vie Du fommft, ald wohin Du kommſt. — Daher follen
wir unſer Herz an Beinen Ort hängen, fondern der Ueber:
zeugung leben: „nicht für einen Winkel bin id, geboren;
®) Ebenbaf. Vl, 78H. 89%.
Achtundzwanzigſter Brief. 15233
mein Baterland iſt dieſe ganze Welt. Würde Dieß Die
tar fenn, fo Lönnteftt Du Did nicht wundern, baß ber
Wechſel des Aufenthaltes, indem Du aus Ueberdruß an eis
ner Gegend immer wieder in eine andere wanderft, Dir Nichte
heifen will: die erfte befte würde Dir gefallen haben, wen
Dur jede für die Deinige hielteſt. So hingegen reifeft Du
nicht, fondern Du irrft, treibft Dich umber, wechfelft Ort
mit Ort; während Doch, was Du ſuchſt, das Glücklichleben,
an jeglihem Orte zu finden if. Wo iſt irgend ein fo ftür-
mifchee Getreibe, als auf dem Markte? Auch dert Bann
man geruhig leben, wenn es nöfhig ift. Aber wenn ic, über
mich frei verfügen Darf, werde ich ver dem Anblick fogar
und der Nachbarfikaft tes Marktes weit entfliehen, denn
wie ungejunde Orte auch dem fefteften Körperbau aufeben,
jo gitt es auch welche, die einem guten, aber noch nicht
vollfommenen und eritarften Gemüthe wenig zuträglich find.
Ich halte es nicht mit Denen, welche mitten in die Fluthen
iich begeben, und ern ungeflüm bewegtes Leben vorzichent,
täglich mit den Schwierigkeiten der Welt hochherzig ringen.
Der Weife wird dergleichen zu beftehen willen, aber nicht
anffuchen ; er wird lieber im Trieben leben, als im Kampfe.
Denn es fronmet nicht viel, feine eigenen Fehler von ſich
geworfen zu haben, wenn man mit fremden hadern muß. —
„Dreißig Tyrannen,“ fagft Du, „fanden um Socrates ber,
und vernochten nicht, feinen Muth zu brechen.’ Was liegt
daran, wie viele Herren es find? Die Knechtſchaft ift nur
@ine. Wer fie verachtef, iſt unter einem noch fo großen
Haufen von Herrfchern frei,
4
1524 Seneca's Briefe.
Es if Seit, abzubredhen: zuvor aber habe id, ben
Botenlohn zu erlegen. „Der Anfang des Heiles ift die Er⸗
Eenntniß der Sünde. Es ift Dieß, dünkt mich, ein treffli-
ches Wort von Epicurus. Denn Wer nicht weiß, daß er
fehlt, Tann ſich nicht beffern wollen. Du mußt über
Deinen Fehlern Did, betreten, ehe Dir fle ablegen Fannft.
Manche rühnen ſich ihrer Fehler. Und Du glanbft, man
werde auf Seilmittel denken, wenn man feine Gebrechen für
Tugenden rechnet ? Atfo, fo viel Du kannſt, überführe Dich
ſelbſt, unterfuhe Di; ſey Dein eigener Ankläger, darauf
Dein Richter, endlich Dein Zürfprecher ; bisweilen aber thue
Dir ſelbſt wehe.
Neunundzwanzigſter Brief.
Schwierigkeit, Lente zu bejfern, wie Mar
cellinus.
Du erkundigeſt Dich nad unſerem Marcellinus,
und wünſcheſt zu wiſſen, wie es ihm gehe. Er kommt ſelten
zu mir, aus keiner andern Urſache, als weil er ſich fürchtet,
die Wahrheit zu hören. Allein dieſe Gefahr iſt für ihn
nicht mehr vorhanden: man muß mit Niemand fprechen,
der nicht hören will. Man zweifelt daher, ob Diogenes und
nicht minder die übrigen Eyniber, Die ſich ihrer Freiheit ohne
alle Rüdfichten bedienten, und ihre Ermahnurgen Jedem,
der ihnen in den Weg Fam, ertheilten, Diejed hätten than
follen. Ber wird einen Gehörlofea, einen von Natur oder
durch Krankheit Taubſtummen fdymälen wetten? — „Uber,“
Neunundzwanzigfter Brief. 1525
entgeaneft Du, „won die Worte fparen ? Sie Eoften ja nichts.
Ich Bann nicht wiffen, ob ich Dem nüsge,.den ich ermahne:
aber Das farnn ich willen, daß. ich, wenn ich Viele ermahne,
Boch irgeud Einem nügen werde. Man muß den Saamen
ausſtreuen: wie follte unter vielen Verſuchen nicht wenigftens
Einer gelingen?‘ — Ich glaube nicht, mein Lucilius, daß
ein weiter Mann diefes thin wird: man ſchwächt dadurch
das Gewicht feines Anſehens bei Denen, die man beffern
Zönnte, wäre man weniger alltäglich geworden. Ein Schütze
darf nicht zuweilen einmal treffen, fondern wohl zumeiten
fehlſchießen. Eıne Kunft, weiche ibren Zweck nur zufällig.
erreicht, ift Feine Kunft. Die Weisheit ift eine Kunft: fie
ſey auf etwas Gewiſſes gerichtet, und wähle Xeute, bei beren
Behandlung etwas auszurichten ift; von Denen, die Nichts
hoffen laſſen, trere fie zurüc, doch veriaffe fie dieſeiben nicht
fo eilig, fondern verfuche, obwohl hoffnungslos, an ihnen noch
die le,ten Mittel. Unfern Marcellinus babe ich noch nicht
aufgegeben. Noch kann er gererter werden, wenn man ihm
fchleunig die Hand reicht. Zwar. ift. Gerahr vorhanden, er
möchte Den, der fle ihm reiche, mit fich fortreißen: denn die
Krait feires Talentes ift groß, Hat aber fchen Lie R-chtung
aufs Schlimme genommen, Gleichwohl werde ich in kiefe
Gefahr mich beseben, umd es wagen, ihm feinen fchlimmen
Zuftand zu offenbaren. Cr wird ſich benehmen, wie er fonft
pflegt, und jene witzigen Einfälle zu Hülfe rufen, die auch
tem Niedergeſchlagenen ein Lachen abzundthigen vermögen :
er wird zuerſt über ſich feloft, dann über uns ſcherzen, und
wird mir Alles, was ich ihm fagen wi, nurnenpetuen. ir
wird u fere Schulen duuämußern, um Da V&
Gensca. 4260 Bbochn. 8
1526 ° Seneca's Briefe.
Geſchenkenehmen, ihre Liebſchaften, ihren ledern Gaumen
vorwerfen; er wird mir den Einen im Ehebruch, einen Uns
dern in einer Schenke, einen Dritten am Hofe zeigen, und
nie den pofflerlihen Philsſophen Arifto vorführen, der, in:
dem er ſich fpazieren tragen ließ, feine Vorträge hielt: denn
diefe Zeit war es, welche er feiner philoſophiſchen Thätigkeit
vorbehalten Hatte. Won Diefem ſagte eiuft Scaurus auf. bie
Trage, weicher Schnie Ariſto angehöre: „Ein Peripatetifer*)
ift er nun einmal nicht.“ Und Julius Gräcinug, jener vor-
trefflihe Dann, der einft um feine Meinung über Denfelben
befragt wurde, gab zur Untwort: „Ich kann nichts fagen:
denn ich weiß nicht, 'wie er ſich au Fuß hält;“ gerade als
ob man ihn wegen eines Eſſedares (MWagenicchtere) befraat
Hätte. Solche Gankler, weiche freilich mehr Ehre Davon hätten,
die Philofophie liegen zu laſſen, als fie au Markte zu tragen,
wird er mir in's Geſicht vorbalten. Dennoch bin ich ent«
. fdhloffen, mir folhen Hohn gefallen zu laffen. Mag er mich
zum Laden bringen; vielleicht daß ich ihn zu Thränen
bringe: oder, wenn ev zu lachen fortfährt, werde ich mich
frenen, daß ihm waznigftens eine Iuflige Art des Wahns
ſinns zu Theil geworden if. Wiewohl, diefe Laſtigkeit iſt
nicht von Dauer: beobachte folche Leute, und Du wirft fins
den, daß fie jezt aufs Heftigſte Iachen, und nach wenigen
Augenblicken auf’3 Heftigſte wüthen. Es ift mein Vorjag,
ihn anzugreifen und ihm zu zeigen, wie viel mehr Werth
“er haben würde, wenn er Dielen einen geringern zu haben
fchiene. Seine Fehler wit ich, kann ich fie auch nicht aus⸗
"# Die Philofophen der ariotelighen Schule bieden fc, weil
fie im Auf⸗ und Abgehen dacırtın.
Neunundzwanzigfter Brief. 1527
tifgen, doch hemmen. Sie werden nicht aufhören, aber eine
Pauſe machen; vielleicht daß fie auch aufhören, wenn fle ein-
mal an Panfen ſich gewöhnt haben. Schon Dieß iſt nicht zu
verſchmähen; wie denn bei fhwer Erkrankten eine gute Zwi:
fchenzeit an tie Stelle der Geſundheit tritt.
Indeſſen, mein Freund, während ich mich gegen Jenen
rüſte, bringe Du, der Du es vermagft, der Du einfiehft,
weichen Uebeln Du entzangen, wie weit Du gefommen bift, '
und daraus abnehmen Pannft, wohin Du noch weiter bommen
kannſt, Dein Inneres vollends in Ordnung, erhebe Deinen
Much und ftehe feft gegen das Sefürchtete. Zähle Die nicht,
welche Div bange machen. Wäre es nicht thöricht, die Menge
an einer Stelle zu fürchten, wo nur Einer hindurch Bann ?
So können auch Deinem Leben nicht Viele zugleich beifoms.
men, ob auch Viele Dir den Tod drohen. So hat es Die
Natur geordnet: den Lebenkathem kann Div nur Einer rau—
ber, wie Einer ihn Dir gab.
Wenn Du beſcheiden wäreſt, würdeſt Du mir dieſes lez⸗
temal die Zahlung erlaſſen. Aber um nicht karg zu verfah⸗
ven in Entrichtung des Zinſet aus einem fremden Capital,
will ich auch Dir, was ich fehutbig bin, meinefwegen zugehen
laſſen. „Ich wollte nie tem Volke gefallen: denn was ich
Tann, gefälft dem Volke nicht; und was dem Wolfe gefältt,
kann ich nicht." — „Wer fasfe das?“ fraaft Du; als ob
Du nicht wüßtelt, über Wen ich verfüge: — Epicurus. U:
lein daffelbe werden Dir Alle aus allen Schulen zurufen,
Peripatetiker, Academiker, Stoiter und Epniker. Denn Ber,
dem die Tugend gefälft, kann tem Wute uilient =
febtechten Künften will die Weltsgunk awuugth SN
1528 | Seneca's Briefe.
winft Dich den Leuten ähnlich machen: fle Toben nicht, Was
fie nicht ald das Ihrige anerkennen. Es Liegt aber weit
mehr daran, wie Du Dir feibit. als wie Du Anderen ers
ſcheineſt. Die Xiebe ſchändlicher Menſchen kann durch andere
aid fhändlihe Mittel nie erworben. werden. „Was wird
alſo jene gepriefene, jene allem Willen und allem Bells vors
äuziehende Phitofephie leiſten?“ — Sie wird machen,
daß Tu lieber Dir ſeilbſt, ats dem Molke gefällt; daß Du
die Meinungen nad) ihrem Werthe, nicht nach ihrer Zahl
Schägeft; dab Du ohne Furcht vor Göttern und Men dien
lebeſt; daß Du das Uebel entweder beriegeft oder endet. Das
- gegen. — wenn ic, Dich fehe, gefeiert von den Bunftbezeus
qgunaen der Menge, wo Du immer auftrietft, umraufcht von
:dem Jubel jenes Beifalls, womit man mimifche Kuünftler aus⸗
‚zeichnet; wenn ale Weiber der ganzen Stadt und alle Kin:
der Deines Lobes voll find; wie follte ich Dich nicht bemits
Seiden, da ich weiß, welcher Weg zu folcher Beliebtheit führe ?
Dreißigſter Brief
Besen die Todesfurdt.
Ich fand den vortreffliben Aufidius Baffus fehr
‚entkrafret und im Kampf mit feiner Alterſchwäche. Dieſe
Drückt ihn fchon zu tief herab, als Laß er fih wieder heben
2önnte; fein Sreifenafter laftes mit vollem Gewicht auf ihm.
Du weißt, daß fein Körper immer ſchwächlich und arm am
Edften war: lange hatte ex ihn hingehalten, oder, richtiger
Feben, äufammengetüuteit, \üyacı IR ur wii
Dreißigſter Brief. 1529:
niedergefunfen. Wie man bei einem Schiffe, das Waſſer ein
räßt, wohl einer oder der andern Rize wehren kann, aber
wenn es einnral an vielen Stellen zugleich fe au werden
und auseinander zu weichen anfängt, dem ſich auflöfenden
Fahrzeug nicht mehr zu heifen ift; fo läßt Mich auch die Ges
brechl chkeis eines areren Körpers eine Zeit lang aufrecht
halten uud unterftügen: allein wenn einmal das morfche Ge⸗
bäude aus allen Fugen geht, und, wenn man hier einem
Scharen begeguen will, dort ein anderer fih aufthur, dann
it ed Zeit zu fehen, wie man hinausfomme Jedoch am
Geiſte It unfer Bıffus noch früh. Deß gewährt ihm die
Philoiopkie: ie ernäte ihm muthig und froh in jealicher Ver⸗
faTung des Körpers, heiter im An eſichte des Todes, und
läßt ihn nicht ſinken, wenn aud) feine Kräfte finden. Ein
groß r Steuermann fchiffe auch mir zerriffenem Segel, uud
richten auch Das entmaſtete Wat zu geraden Fahrt. Se
unfer Baffas: er ſieht feinem Ende mit. einer Stimmung,
mit einer Miene entgegen, womit eines Andern Ende entges
gen zu fehen, für su große Sicherheit gälte. Es ift etwas
Großes, mein Zucifind, woran mai lanae zu lernen hat:
wenn jene unansbleibliche Stunde eintritt, mir Gteihmuß
von binnen zu gehen. In andere Arten des Sterbens miſcht
fih noch Hoffnung: eine Krankheit kann fich heben, eine
Fenersbruuſt gelöfcht werden ; mandıer Eiafturz har fanft abe
gefezt, die er zu verfchütten drohte; das Mrer nat Manchen
mie derſelben G wait, womit es ihn verſchlang, unverleze
wieder a aeworfen; der Krieger zog das Schwert von dem
Naden D-ffen zurück, den er idoten wahte, urn
mehr zu hoffen har, Ben das Brent WO LS
Desire
ı550 Seueca's Briefe.
fur dieſen allein giebt es Keine günſtige Dazwiſchenkunit.
Auf keire Weile ſtirbt der Menſch ſanfter, aber auch ani
keine finger. Es iſt, als ob Baſſus ſich ſeldſt zu Grabe beglei—
tete und beſtattete, ſeinen eigenen Tod überlebte, und den Verluſt
feiner ſelbſt als Weiſer trüße. Denn er ſpricht viel vom Tode,
und laͤßt es ſich recht angelegen ſeyn, uns zu überzeugen,
Daß, was etwa Ungemächliches und Furchterregendes an die—
fee Sache ift, des Steibenden Schuld fen, nicht ded Ster—
bens, und daß bei dem Tode ſelbſt chen fo wenig ein Yeiden
fen, ald nach demſelben. Wer fürchtet, Wad er nicht erfeiden
wird, ift nicht alberner, ald Wer fürchtet, Was er nicht fütz
{en wir). Oder wie kann man sich einbilden, man werte
eine Sache fühlen, die nicked mehr fühlen läßt? „So il
alſo,“ feste er hinzu, „Ber Zod ſo ganz Bein Uebel, daß er
alte Furcht por dem Uebel aufhebt.“
Ich weiß, Daß Dieſes sft geiagt worden ift, und oft 6cs
fagt werden muß: aber wenn ich Derafeichen zur fad, oder
aus den Munde Solcher hörte, Lie Etwas nicht finchtbar
nannten, weil es iknen Ferne war, jo empfand ich nicht Lie:
selbe heilfame Wirkung. Diefer hingegen hatte bei mir das
ftärefle Gewicht, da er vom nahen Tede retete. Ich geftche
Dir meine Meinung: man hat, glaube ich, im Sterben ſelbſt
mehr Much, als in tier Nähe des Sterbens. Der Tor, ifl
er einmal da, giebt auch dem Ungebiltdeten den Entſchluſt,
dad Unvermeirtiche nicht vermeiden ;u wollen. So bietet
der Fechter, war er auch während des ganzen Kampfes ter
verzagtefte , feine Kehle tem Geaner dar, und giebt dem ir:
senden Schwerte die gehörige Nichtung. Aber jener erit
außende, Boch unfchldar Fommende Tod rertange eiue nach⸗
Dreißigfter Brief. 153:
haltigere Yertigkeit des Muthes; diefe jedoch iſt feltener, und
Bann nur von dem Weifen bewiefen werden. Um fo lieber
hörte ich alfo Baffus vom Tode reden, wie er mir gleichfam.
fein Gutachten uber ihn flellte, und die Nature deſſelben mie
beſchrieb, als hätte er ihn ans der Nähe betrachtet. Mehr
Glauben, denke ich, würte kei Dir finden, mehr Gewicht
. würde haben, Wer von den Todten auferfände, und aus Er:
fahrung Dir bezenate, daß im ode kein Uebel fey. Welche
Bennruhigung das Nahen des Todes mit fich führe, werden
Dir am beften Diejenigen fagen, die ihm nahe flanden, die
ihn kommen fuhen und aufnahmen. Unter Diefe darfſt Du
unferen Baffus zähfen, der uns nicht getäufcht fehen wollte;
und diefer behauptet, nicht minder thöricht fey, Wer den
Tod, als Wer das Alter fürdte. Denn wie das Greifenal:
ter auf die Jugend folgt, fo der Tod auf das Greifenalter.
Der wollte nicht leben, der nicht fterben will. Denn Das Les
ben it ung mit der Betingung des Todes verliehen: es ifl
der Gang ‘zu diefen. Ihn alfo fürchten, ift ſinnkos: nur
Das Zweifelhafte fürchtet man, dem Gewiſſen flieht man ent:
gegen. Der Zod ift eine gerechfe und unbeſiegbare Noth⸗
wendigbeit. Wer kann fid) beklagen, im einer Lage zu fenn,
in welcher ohne Ausnahme Alte find? Das erfte Gefeb der
Gerechtigkeit ift Gleichheit. So wäre es aber überflüſſig,
der Natur eine Schußrede zu halten, die für uns Bein andes
res Geſetz, als für fie felbft, gelten laſſen will. Was fie
verband, lösſt fie auf, und Was fie auflödte, verbindet fie
wieder. Wem fomit dad Glück geworden, daß er nicht ges
‚waltfam aus dem Leben geriffen, fordern vun Srüheumun
demjeiben allmählig und [hrittweine antrat tt, SIRDN
1532 Seneca's Briefe.
nicht allen Göttern dafür danken, Daß er lebendfatt in jen
MRuhe eingeben fol, die jedem Sterbtichen nothwendig, mn
dem Müden fo füß ift? Du flehft, wie Manche den Zod flc
wünfchen, und zwar angelegentlicher, als man gewöhnlich ur
das Leben bitter. Ich weiß nicht, ob wir von Dieien, welch
den Tod ſich erbitten, oder nicht vielmehr von Genen, weich
ihn mit Heiterkeit und Ruhe erwarten, mehr Muth lerne
tönren. Jenes wird nicht felten von der Wuth der Der
jweiflung oder dem Unmuth des Augenblickes bewirkt: Bief
Seelenruhe fließt aus fefter Meberzeugung. Einer kommt
dem Tode zürnend, zum Tote; heiter wird ihn Nieman
empfangen, Wer fich nicht lange auf ihn vorbereiten hat. -
Sch muß daher neftehen, daß ich diefen mir fo theuern Man
aus mehr als Einer Urfache fehr häufig beiutte, hauptſächlie
um zu willen, ob ich ihn immer als denfelben fände, oder o
mit den Kräften feined Körpers auch die Friſche feines Gei
ſtes abschme. Dod) diefe wuchs nur deſto mehr, aleichwi
die Freude des Wogenlenkers immer fichtbarer wird, wenn e
fi) auf der ſiebenten Umfahrt der Palme nähert. Zugerha
den Sägen Epicur’s fagte er mir, „vors Erſte hoffe ev, e
fey kein Schmerz bei jenem legten Uthemzug; und wäre Die
doch, fo liege ein Troft ſchon in der Kurze: Denn Fein Schmer
‚ fey lang, der groß ifl. Uebrigens werte ihm während de
Zostreunung des Geiftes vom Körper, auch wenn He mi
Dein verbunden wäre, der Gedanke zu Hülfe kommen, da
er nach diefem Leiden nicht weiter leiden könne. Er zweifl
aber nicht, daß eine Breifenfeele fhon anf den äußerſten Lip
sen fahwebe, und ohne große Gewalt vom Körper lich frenne
Ein Feuer, das eines Fräftigen Stofed Ih venäntiat, wir
Dreißigfter Brief. 1553.
nur durch Waffer, bisweilen durch Schutt erſtickt: ein Feuer,
dem die Nahrung ausgeht, erlifcht von ſelbſt.“
Solche Worte höre ich gerne, mein Zucilius; nicht als
ob fie nen wären, fondern weil fie fid vor meinen Augen
bewahrheiten. Aber wie? HOb ich nicht fchon viele gefehen,
die ſich feibft den Lebensfaden abriffen ? Wohl, ich fah deren
viele: aber mehr gelten mir Die, welche den Tore nahen
ohne Lebenshaß, und jenen an ſich kommen laſſen, nicht ihn
herbeiziehen. „Jenes guäfende Gefühl,’ faste er Öftere,
„iſt unfer eigenes Werk, indem wir zittern, wenn wir den
Tod uns nahe glauben. Über Wem wäre ter Tod nicht
nahe, der an allen Drten, in jedem Augenblicke bereit fteht ?
Bedächten wir doch, wenn irgend eine Urſache des Todes
heranzutreten fchrint, um wie viel näher uns noch andere
Urfachen ftehen, die man gleichwohl nicht fürchtet!’ Einem
war der Tod von feinem Feinde gedroht: Dem kam eine Un»
vertanlichkeit zuvor. Wollten wir die Urfachen unferer Furcht
unterfcheiden, fo wirden wir finden, daß tie Einen wirklich,
Andere eingebildet find. Nicht den Tod fürchten wir, ſon⸗
dern die Vorftelung von ihm: von, Ihm ſelbſt find wir als
fenthalben gleichweit entfernt. Folglich wenn der Tod zu
fürchten iſt, iſt er immer zu fürchten. Denn von welcher
Seit ift der Tod ausgeſchloſſen?
Doch ich muß befürchten, daß Dir fo Tange Briefe ver:
haßter noch als der Tod ſeyn möchten: ich fehließe alſo.
Du aber denke ftetd an den Tod, um ihn nie zu fürchten.
EEE — u
1554 Seneca’d Briefe.
Einunddreißigſter Brief.
Verachte die Meinungen der Menge, und firebe
nah dem höchſten Gut, der Erkenntuiß der
Wahrbeit. |
Nun erkenne ich meinen Lucilius: er fängt an, fich zu
Zeigen, wie er zu werden verſprach. Folge jenem Drange
Deines Geiſtes, mit welhem Du, die Güter Des Pöbels in
ten Staub tretend, allem Zrefflichen Dich zuwandteſt. Ich
begchre nicht, daß Du größer und beffer werdeft, als Du
Dir vorfezteft. Der Grund, ten Dir geleat, hat einen weis
ten Raum eingenommen: führe nur aus, Was Du begonnen,
nnd Was Du in Deiner Seele truaft, fege in's Werk. Das
Sanze ift: Du wirft ein Weifer werden, wenn Du Dein:
Dhren verjchliefeit. ber es gentgt nicht, fie mit Wachs zu
verftopfen : es iſt eine Lichtere Verklebung vonnöthen, als
deren ſich Ulyſſes bei feinen Gefährten bedient haben fol.
Jene Stimme, die dort! zu fürchten war, war eine ſüße, doch
nur eine einzelne: aber diefe, die Du zu fürchten haft, kommt
nicht Dips von Einer Klippe Her; fie umtönt Dich von allen
Enden. Steure daher nicht nur an Einem, tücifcher Luſt
verbäctigen Site, fondern an allen Städten voruber; fen
taub auch gegen Die, weihe Dich am meiften lieben. Gut
meinend wünfchen fle Dis Schlimmes: und wern du glücklich
ſeyn willſt, fo bitte die Götter, daß von Dem, mas fie für
Dich erfiehen, Die Nichts zu Theil werte. Es find Peine
Güter, womit fie Dich überhäuft fehen wollen. Ein Gut
giebt es, das des glücklichen Xebend Grund und Stüße ift --
Selbſtoertrauen. Dieß kaun Die aber ihr werten, weni
Einunddreißigiter Brief. 1535
Du nicht die Mühſal verachteit und fie unter die Dinge zaͤhlſt,
weiche weder gut find, noch fhlimm. Denn es ift nicht mög:
ih, daß dieſelbe Sache batd fchlimm fen, bad gut; bafd
leicht und erträgtich, batd furdhrbar. Ein Gut ift die Müh—
fal nicht; was ift denn aber ein Gut? Ihre Verachrung.
Daher möchte ich Diejenigen tadeln, welde um Eitles fid)
. abmühen: aber bewuntern werde id, die nad) dem Edeln
Strebeutden, je mehr fie fich auftreugen, je weniger fie ſich's
ertanben zu unferliegen oder zu raſten. Ich werde ihnen zur
“rufen: „erhebet euch um fo Eräftiger, füßet die Bruft, und in
einem Athem, wo möglich, erjteigek jene Höhe! Erler See—
fen Nahrung iſt die Mühe.“ — Alſo nicht nach jenem alten
Wunſche Deiner Eltern haft Dn zu wählen, was Du Dir
zufalfen fehen, was Du Dir wünfden möchtet; und über: |
hauz?, für einen Mann, der ſchon zum Höchſten binturchge:
drungen, wäre es fdhimpflich, noch Immer den Goͤttern anzu:
liegen. Wozu Gefübte? Mache Dich ſelbſt glücktich; und
‚Du wirft es, fobald Du erkannt haft, Daß gut nur Das ſey,
dem die Tugend beigefelit, jchimpflich aber Altes, womit das
Later verbunden iſt. Wie Nichts glänzt ohne hinzutretendes
Licht, Nichts ſchwarz it, außer was in Finſterniß ift, oder
Dunkles in fi) aufnimmt; wie cd keine Wärme giebt ohne
die Beihälre tes Feuers, und ohne Luſt Feine Kälte; fo
wirft Die Gemeinfchaft Der Tugend und Des Kaflers Edles
und Schimpfliches.
Was ift nun. das Guter Richtige Erkenntniß. —
„Was ift. das Uebel?" Die Unwiffenheit. Der Weife und
Kundige wird die Dinge nach den Umflänten verwerten una
‚wählen. Aber Was er vermirft , fürditet ar ar Se
1536 Seneca’d Briefe.
wundert er, Was er wählt; wenn anders ein großer u
befiegter Seit in ihm wohnt. Du fouft Did, nicht
werfen und beugen Lauffen. Der Muhſal Dich nicht 3
gern, genügt nicht: fordre fie. „Aber,“ fragst Du,
es nicht auch eine eitle und überflüffige Mühe ?““
wozu geringfügige Beweggründe uns aufriefen. Abe
fie ift fein Uebel, eben fo wenig als jene, welche auf
ned verwendet wird; weil der ausdauernde Wille der
es ift, der zum Harten und Beſchwerdevollen aufforde
ſpricht: „Was fäumeft Du? Es iſt nice männlich, v
Schwerte ſich zu fürchten.“ Hierzu muß noch kommen,
die Tugend vollkommen ſey, Gleichförmigkeit und ein
Alles harmoniſche Haltung des Lebens; was nicht geı
werden kann ohne richtige Erkenntniß, ohne die Wiffe
durch weiche Gottliches und Menfchtiches zur Einſicht
Dieß ift das hoͤchſte Gut; hat Du Dich feiner bem:
fo beginnſt Du, der Götter Genoffe zu ſeyn, niche ut
hender. — „Aber,“ fragt Du, ‚wie foll ıch dahin
gen?“ Nicht über das Peninifche oder das Grajiſc
birg; nicht durch Candaviens Wüſten; nicht die Syrter
die Schlla, noch die Charybdis Haft Du zu befahren
doch Haft Du diefe alle durchwandere, um den Prei
Beringen Procuratur. Die Reife, wozu die Natur Dich
ftete, ift fo fiher al anmurhig. Die Natur gab Dir
Du nur nicht zu vernachläfiigen brauchſt, um Gott
Dich gu erheben, Gott ähnlich aber wird das Gel
nicht machen; Bott hat Nichte. Did duryartien
Gott iſt ohne Gewand. Andy wicht der Rad, NN
fragen Deiner, ſelbſt, die unter den Roevxe
Elnunddreißigſter Brief. 1537
Kunde Deines Namens; Gott wird von Ke gekannt, und
diele denten ſchlecht von ihm ungeſtraft A in Schwa
bon Skaven, die ten Tragfefjer dur DE und gan
eppen; jener bö und Ädyfigfte ott traͤgt ſelbſt A
leg, Schönpeir nicht, och Starke olüc,
lich mad on von dieſe Dingen bält Auer
aus. Dan fuche alfo as, was ni i Tage fich
derſchlechte t, de G nichts Enfgegenften kann „Und
ieß iſt ⸗ Der G iſt; aber einer haben guter, großer.
ie anderg möchte u einen ſoſchen nennen, einen
ott, d einem nſchenkörper Is feiner Herberge
wohne? folder G& ſt kaun ſich ein laden und
Feigelaffene ebe SU, a Inem fchen Ritter
en. Wa iſt ein R miſcher Ritte ‚ein F aſſener, ein
Sklave? 6 Ehrgeiz od erechtigkeit tſprun⸗
gen. Au medrigſten Winker kann man ſich in deu
Himmer ſchwin er hebe Dich Nur, und
— — wardi⸗ der Gottheit
Bilde auch Digg!
ʒoſche ildung tnicht⸗ it Gold und Silber zu
haffen nie wird us dieſem ein Gott dh liches Bild
Drägt werden, nee, ar, d Gotter ä waren
irden fie qus Thon fi |
1538 Seneca's Briefe.
Zweiunddreißigfler Brief.
Zieht Dich zurück und ftrebe, Dir ſelbſt an:
sugehören.
Ich forfche nach Die und frage Die Leute, welche aus
Deiner Gegend kommen, geflifjentfich aus, was Du thueft, wo
und mit Wen Du lebeſt. Du Fannft mich nicht täufcben:
ich bin bei Dir. Lebe fo, als ob ich hörte, was Du thuft,
ja, als ob ich es fähe. Wihft Du willen, was mir von Al—
(em, das ich von Dir höre, am meiften Freude macht? Daß
idy nichts höre; Daß die Meiften von Denen, Pie ich frage
nicht wiſſen, was Du thuſt. Died führt zum Heil, nicht zu
verfehren mie Unäpnfichen, ganz Underes Wünſchenden. Ich
habe zwar die Zuverficht, Du könneſt nicht abgelenkt werben,
und werdeft bei Deinem Vorſatz befarren, audy wenn .ein
Schwarm von Verführern- Dich umgiebt. Was ift es affe,
Das ich fürchte? Nicht, daß fie Dich umwandeln, aber daß
fie Di hindern. Denn viel fchaset aud, Wer und auf:
Hält, zumal bei Liefer Kürze des Lebens, das uns noch Bür:
zer wird durch unſern Unbeſtand, indem wir ed bald fo, bald
anders von vorn anfangen. Wir zerreißen es in Theilchen
und zerftüdeln es, Eile denn, thenerfter Lucilins: denfe,
wie Du Deine Schrifte verdoppeln würdeft, wenn der Feind
- Dir anf dem Nacken wäre, wenn Du beſorgteſt, die Reiter
fprengen heran und fepen den Fliehenden auf den Ferſen
nad. And Dieß gefchieht wirklich: man ſezt Dir nach. Be:
Sihleunige Deinen Lauf und entkomme. Bringe Dich in Gi:
Derpeit, «nd betrachte oftmals, wie ſchon es fen, fein Leben
ia vollenden noch vor dem Tode, vvd Lana WIE RUE den
Zweiunddreißig ſter Brief. 1539
Reſt feiner Zeit au erwarten, und auf ſich ſelbſt zu ſtehen,
in ben Bells eines glücklichen Lebens eingefezt, das nicht
glückticher wird, wenn es länger wird. O wann wirft Du
jene Seit fchauen, wo Du einfehen wirft, daß tie Zeit Dich
nichts angeht; wo Du ftilfe und friedfam, unbeforge um den
morgenden Tag, in Dir feibft volle Genüge haben wirft!
Was es denn ſey, fragſt Du, das die Menfchen fo begierig
nach dem Künftigen macht? Niemand gehört fi feibit an.
— Etwas ganz Anderes, als einft Deine Eltern Dir wünfd):
ten, wünfche ich Dir, nämlich die Verachtung aller jener Dinge,
deren Fülle fle Dir erflehter. Mit ihren Gelübden plündern fie
Viele, um Dich zn bereichern: denn Was fie Dir zumenden,
muß einem Andern genommen werden. Ich winfche Dir den
Beſitz Deiner felbft, Damit der von unftäten Entwürfen tms
hergetriebene Geift endlich ficher und feit flche; Damit er an
fi) ſelbſt Gefallen finde, und nach Erfenntniß der wahren
Güter (die man beflzt, fobald man fie erkennt) eines Zus
wachfes an Jahren nicht bedürfe. Der allein ift über die
Nothwendigteit hinausgetommen, hat ausgedient und ift frei,
welcher lebt nach vollendetem Leben.
— — ..
Lucius Annaus Seneca des Philofopben:
Werte
Dreizehbentes Bändchen.
Briefe
überfest |
von Ä
Auguft Pauly, ‚
Profeffor am obern Symnaflum zu Stuttgart.
Zweites Bändchen.
Stuttgart,
Verlag der 5. B. Metz le r'ſchen Buchhandlung.
. Sir Dehreid in Eommiffion von Miriänern‘ U ARIREE
| in Wien,
418 3 %
p”
Dreiunddreißigfier Brief.
Uns den Schriften der Stoifer find Peine ein—
zelne Gedanken auszuheben: man muß ihre
Werte ganz in fidh aufnehmen,
Du verfängft, daß ich auch diefen Briefen, wie den frils
heren, einzelne Ausſprüche unferer *) gıoßen Meister beifüge.
Sie waren nicht um Blümchen bemüht: ihr Vortrag iſt.
. mannhaft und and Einem Guffe; mo einzelnes Herporragende
ſich bewerklich macht, herrfcht Ungleichheit. Man bewundert '
nicht einen einzelnen Baunı, wenn Ter ganze Wald fich zu gfeis -
cher Höhe erhoben hat, Mir Ansiprüchen folcher Art find
Gedichte angefüllt und Geſchichtwerke. Ich wolite daher
nicht, daß Du jene Sprüche für Epicnrus Eigenthum hiele.
teft: fie find allgemeines, zumal unfer Gut. Allein fie fallen
dort um fo mehr auf, weil fie feitener erfcheinen; weil fe
unerwartet find; weil ed befremdet, ein ſtaxkes Wort von eis
nem, Manne zu hören, der fih zur MWeichtichkeit bekennt.
So lautet wenigſtens dad gewöhnliche Urtheil: mir jedoch iſt
auch Epicurus ein Starker, obwohl er weich gekleidet geht.
Stärke, Thatkraft und ein kampiräfiger Sina tun AS Sn
bei Verfern finden, wie bei dem Lerdrgeattiiten. DS
2 Der Stoiter nämlich.
1546 Seneca's Briefe.
alfo Keine [aus floifchen Schriften] ausgehobenen uı
hoiten Säge: wie bei Intern das Einzelne, was a
‚wird, fo ift bei uns das fortlaufende Ganze U
alfo nicht jenes Mugenfällige; wir täufchen den Käı
um ihn dann, wenn er eingetreten, nichts weiter.
faffen,, als wa3 vor der Thür hängt. Ihm felbft
wir, wo er will, die Proben sugzufuchen. Ge
wollten einzelne Gedanken aus ter Menge ausjonde
folften wir fie zueignen? Dem Zeno, oder Eleint
Ehryfirpus. oder Pandtiug, oder Poſidonius? Wir ft
keinem Könige: Jeder gehört ich ſelbſt an; bei Jen«
wird, was Hermarchus oder Metrotorud geſagt, Eü
gefchrieben. Aucd, was iraeıd Einer von jener €
geſprochen, ift unter der Zeitung und dem geheiligten
jenes Kinzisen gefagt. Wir Fönnen, behaupre ich,
wir's verfuchten, aus der fo großen Menge gleic
Dinge nichts Einzelnes ausziehen.
Nur der Dürftige zählet fein Vieh. **)
Wohin Deine Blicke fallen, werden Dir Stelien
die ſich auszeichnen würden, wenn man fie nicht un
artigen laͤſe.
Gied alſo die Hoffnung auf, die größten Geiſter
zuge Eoflen zu können: Da mußt le ganz fihauen,
. mit ihnen befinäftigen. Ein Plan wird durchgefü
ua cinem vorgezeichnerer Grundriſſe fügt ſich
Acomert zufammen, ans welchem Nichts herausaez
*
Aan ohne den Einſturz ded San. AU
7 Dem Evicur.
2 Ouib. Metam. XIII, 821.
Dreiunbdreißigfter Brief. 1947
entgegen, daß Du einzelne Glieder, jedoch nur am ganzen
Menihen, betrachtet. Die Frau, deren Fuß oder Arm -
man rühmt, ift noch nicht fchön: nur Die ifbe, deren
ganze Geſtalt von der Bewunderung der einzelnen Theile
absiceht. — Indeſſen, wenn Dar darauf Eeftehft, fo will ich
nicht fo Färglih mit Dir verfahren: Du folift ed ans vollen
Händen. befomnen. Die Menge [folcher Ausſprüche] ift uns
geheuer; fie liegenlallenthalben zur Sand, und find nur zu
nehmen, nicht zu fammeln. Denn fie entfallen nicht einzeln,
fonderu fie ſtrömen in umunferbrochener Folge, und find unter
fih) verknüpft. Und ich zweite nicht, daß fle Uneingeweihten
und Solcdyen, die erſt an ter Thüre zuhören, vieles nüpen
fönnen. Denn einzelne Eurzgefaßte, wie in ein Versmaaß
eingefchloffene Gedanken haften leichter. Daher geben wir
den Kuaben Denkſprüche, und was die Brieden Chrieen
Laligemeine Sentenzen] nennen, zum Auswendiglernen, weil
der jugendliche Geift, der eines fch..elleren und zugleich, ſiche⸗
ren Fortſchreitens noch nicht fähig iſt, dieſe leicht erfaflen
kann. Dem Manne ſteht e8 übel an, nad folchen Blumen
au hafchen, auf wenige, albekannte Sätze ſich zu flüben, und
bloß auf fein Gedächtniß zu fußen. Er muß einmal auf ſich
felbft fteheu; er ſpreche dergleichen aus ſich, nichtdaus der
Erinnerung. Es macht Pıin Alten oder dem Manne, der dem
Alter nahe ſteht, Felne Ehre, nur aus dem Lehrbuch weife
zu feyn. „Dad fagte Zee” — und was fagft Du? „Dieß
Cleanthes“ — und Du? Wie lange wm UA DI DIS
unter einem Andern ‚bewegen? Thw and Ds re:
welde des Behaltens werth ſeyen; brin® un Ra I
dem Deinigen zu Tage. Alte Jene, Tr Mt Se
1548 | Seneca's Briefe.
bie nur Ausleger des Fremden find, und unter fremden
Schatten ſich bergen, haben meines Bedünkens nichts Ehren»
haftes: fie wagen es nicht, endlich aud) Das zu üben, wa
‚ie fo lange gelernt. Ihr Gedächfniß übten fie an fremdem
Stoffe; .aber ein Anderes ift Behalten, ein Anderes ift Wil:
fen. Behalten heißt einen dem Gedächtniß anvertranten
Segenftand bewahren: Wiffen hingegen ift, Fegliches zu fei-
nem Eigenthun machen, und nicht itets von der Vorfchrift
abhängen, oter unaufhörlich nah dem Lehrer blicken [und
fprechen:] „Das hat Zeno gefngt, Dad’ Eleanthed. Es fey
ein Unterſchied zwijchen Div und einem Buche, Wie lange
noch wirt Du fernen? lehre nun auch. Warum fol ich hö-
zen, was ich lefen Eau? „Viel,“ fagt man, „thut die lebendige
Stimme. Doch nicht die, welde fremden Worten gelichen
wird, und Dienfte des Abſchreibers verrichtee. Nimm noch
hinzu, daß Diejenigen, welche nie mündig werden, ihren Bor:
gängern erſtlich auch darin folgen, worin noch jeder von feis
nem Vorgänger abwich; zweitens ihnen in einer Sade fol
gen, die noch immer geiucht, aber nie gefunden werden wird,
wenn wir und mie dem bereitd Gefundenen begnügen. Aus
ßerdem, Wer einen Mudern folge, findet Nichts, ja er fucht
. nicht einmal, — „Wie? id) foll alfo nie in den Fußtapfen
der Vorgänger wandeln?’ Nun, id) werde mic, des alten
Weges berienen; finde ich aber einen näheren und ebeneren,
fo bahne ich mir diefen. Die vor uns ſchon jene Ideen an«
Fegten, find nicht unfere Gebieter , ſondern unfere Führer.
Die Wabrheit ſteht Alten ofen; wody iR Üe mar in Biktua
tenonmen, und Vieles von ihr verticiit won Ten Trmue
v Geſchlechtern.
— — —
WVierunddreißigſter Brief. 1549
Vierunddreißigſter Brief.
Freude über Zucirius Fortſchritte in der
Weisheit. -
Ich fühle midy groß und befeligf, mein Alter weicht und
ugendwärme durchdringt mid), fo oft ich aus Dem, was
u thuſt und fchreibft, wahrnehme, wie weit Du, nadıdem
a die Menge längſt hinter Dir gelaffen, nun über Did)
(oft Hinansfehreiteft. Wenn der Lantmanı des Baumes fic)
eut, den er zun Tragen gebradyt: wenn der Hirt an ben
tugebornen feiner Heerde Vergnügen findet; wenn, Wer
ven Pilealing erzogen, in feiner Jugend jich ſelbſt verjüngt
blickt: was wird, dünkt Dich, der Erzieher eines Geiftes
npfinden, wenn er, Was er als Zurfes gebildet, ſchnell Heise
igereift ſieht? Ich mache Anfpruch auf Dich: Du bift mein
zerk. Ich habe, da ich Dein Weſen erkannte, Hand anges
gt, habe Dich ermuntert, angefpornt, ließ Dich nicht Tanz
im gehen, fondern trieb Dich zuweilen an, und thue noch
nmer Daifelbe, aber ermuntere nur Einen, der, bereits in
Alem Laufe, mid) gegenfeitig ermuntert. — „Was Anders,"
aaft Du, „will ich noch 2° Daran Tiegt das Meifte. Denn
ad man von dem Anfang zu fasen pflegt, daß er dev Ar-
it Hälfte ausmache, das gift audı, wo es fich vom Gemüthe
indelt: man ift fhon zum greßen Theile gut, wenn man
st werden will. Weißt Du, Wen ich gut nenne? Den Dolls
ıdeten, Vollkommenen, den feine Matt, LERNTE
achen kann. Diefen fehe ich in Die worand, wen Ds J
rren und mit Ernſt ed Die angirgen set rss
alle Deine Reden und Handinnaen wu
1550 Seneca's Briefe,
men und fich entſprechen, und ein und daffelbe Gepräge fra
gen. Das Gemüth des Mannes, deffen Handlungen unter
fih nicht harmoniren, iſt nidt in tec rechten Ordnung.
Fuͤnfunddreißigſter Brief.
Arbeite an Deiner Vervollkommnung, fo wirf
Du mein wahrer Jreun®.
Wenn id Dich fo angelegentlic, bitte, Dich, in der Weil:
heit zu vervollkommunen, fo betreibe ich meinen eigenen Vor—
fheil. Sch wünfche einen Freund zu befinen; und Die kann
mir nur zu Theil werden, wenn Du, wie Du begonnen, fort:
fähıft, Di angjubitten. Denn bis jezt liebſt Du mid;
mein Freund bift Du nicht. „Wie fo? wären Dieß zweierlei
Dinge?’ Allerdings; unähnliche fogar, Wer mein Freund
if, liebe mih: Wer mich liebt, ift darum noch nicht mein
Freund, Die Freundfdyaft nüzt jederzeit; Die Liebe ſchadet
fegar bisweilen. Vervollkommne Did, wäre cd auch blos, |
‚am lieben zu fernen. Beeile Did, aber, damit Du, während
Du mir zu Bunte Did, vervollffommneft, SJene3 nicht für eis
nen Andern gelernt haben mögeft. *) Wiewohl es mir fihon
jest Genuß gewährt, mir vorzuftellen, wie wir Eines Sinnes
ſeyn, und wie, was meinen Jahren au frijcher Kraft abgeht,
die Deinigen mir, wenn gleich der Unterfchicd chen nicht groß
ift, wieder erfegen werden: doch wünfche ich fehr an der
2BirPlich£eit mich zu erfreuen. Zwar wahen uns Die, welche
wir lieben, auch in der Abwelenheit Treuie, AAUTUEN
— —
er
ID 5. damit ich die Sruͤchte Derard Bederevoð wu v
Sechsunddreißigſter Brief. 1551
berflächlich und vorübergehend. Anblick, Gegenwart, Um:
ang gewähren erft ein Tebendiged Dergnügen, zumal wenn
lan nicht nur vor ſich ficht, den man wünſcht, fondern and),
ie man ihn wünſcht. Bringe mir daher Dich felbft, ein
errliches Geſchenk! und um ed Dir dringlicher zu machen,
edenfe, daß Du fterbiich biſt, und ich ein Greid. Komm'
feıd zu mir, doch zuvor nody zu Dir felbft. Vervollkommne
Yich, und vor Allem jorge, daß Du mit Dir felbft überein:
im neſt. &o oft Du erfahren willft, ob etwas gethan fey,
, beobachte Dich, ob Du heute noch daffelbe wolleft, was
eftern. Ein Wechſel des Willens verräth ein Gemüth, das
uf Wogen treibt, *) und, wie der Wind weht, bald da bald
ort zum Vorſchein kommt. Was feft ift und mwohlgegrüne
et, treibt nicht umher. Diefes Glück Hat nur ter vollendete
Beife; einigermaßen aber auch, der ed zu werden angefan:
en, und fchon Yortfchritte gemacht hat; nur mit dem Un⸗
erfchied, daß Diefer noch in Bewegung geräth und fchwanft,
yiewohl er feinen Standort nicht verläßt: Jener aber geräty
icht einmal in Bewegung.
Sechsunddreißigſter Brief.
Berachte die Urtheile der. Menge und den Tod,
Ermuntere Deinen Freund, hochſinnig Diejenigen zu
erachten, welche ihn Vorwürfe machen, daß er Schatten
nd Muße gefucht, daß er feine alängente
: x PICS
“1, und, während er noch mehr reiten TIÄME,
) Natare, . j
1552 Seneca's Briefe.
tern die Ruhe vorgezogen hat. Wie weife er für feinen
Nutzen gehandelt, fol er ihnen täglich beweifen. Leute, die
man beneidet, hören nicht auf, fich zu verändern: Einige wer:
den erdrüdt, Andere ſtürzen. Es iſt ein unruhig Ding um
das Glück. Es treibt fi) felbft under, und verwirrt das
Gehirn auf mehr ald eine Weile. Es reizt den Einen zu
Diefem, ven Undern zu Jenem — Diefen zum Streben nad)
Macht, Jenen nad) Wohlleben; Diefe macht ed anfgeblafen,
Jene verweichlicht ed und löst fie gänzlich auf. „Doc Eis
ner und der Andere kann ed gut erfragen.‘ So, mie Man:
cher den Wein. Laß Dis nicht überreden, zu glauben, daß
der Mann glücklich fey, den Diele belageen: man läuft zu
ihm wie zum Teiche; die eng dieſem ſchöpfen, trüben ihn auch.
-- Sie nennen Deinen Freund einen närrifchen Menfcen,
einen Einfältigen. Aber Du weißt ja, es giebt Leute, Die
verkehrt fprechen und gerade das Gegentheil ausdrücken. Gie
nannten ihn gzlücklich: war er's deshalb ? Eben fo wenig
kümmert es mich, daß er Manchem rauher und widerwärfiger
Gemüthsart zu ſeyn scheint. Ariſto pflegte zu jagen: „Ein
Jüngling von finſterem Weſen fey ihm lieber, als cin fuflis
ger, den die Menge liebenswürdig findet. Ein junger Wein,
den man raub und herbe finde, werde mit der Zeit gut: der
ſchon wohlſchmeckt, fo lange er noch auf der Hefe liegt, ſey
nicht von Dauer. Laß fie ihn doch einen finftern Menſchen
fchelten,, der feinem eigenen Fortkommen feind fey: es wird
dh mit der Zeit geben , dieſes fnftere Weien. Beharre er
zur dabei, die Tugend zu üben, dad tiere Ballen in da
uruneßmen, nicht jenes, wovon NV R SIR
nögt, (ondern Jenes, womit dad BUN
N
Sechs unddreißigſter Brief.
fol. Denn jezt iſt für ihn die Zeit des Lernend. — ı
ob es irgend eine Zeit gabe, da man nicht fernen müß
Keineswegs! Aber, wie es für jedes Alter auſtändid iſt
iernen, fo doch nicht für jedes Alter, ſich unterweifen
laſſen. Es ift eine ſchimpfliche und lächerliche Sache um
nen alten Mann, der das Alphabet lernt. Der Juͤngli
muß fammeln, der Greis gebrauchen. Du wirft alfo für D
felbft etwas fehr Nüsfiches thun, wenn Du Ienen fo g
machſt, ats moglich. Soiche Wohfthaten, ſagt man (und f
find unftreitig erften Ranges) foll man fuchen und ertheiler
welche zu aewähren eben fo vortheilhart ift, als zu empfan
gen. — Uebrigens hat er nun feine freie Wahl niehr: ei
hat jein Wort gegeben; und es it weniger fchimpflich, einen
Stänbiger , als eine aute Hoffnung zu täuſchen. Um jene
Schuld abzufragen, brandıt der Kaufmann Glück auf feinen
Seerahrten, der Landmann Fruchtbarkeit Des Hodeng, den er
baut, und die Gunſt des Himmels: Diefer aber kann, was
er ſchuldet, mit tem blofen Willen leiften. Ueber den Cha:
rakter hat Das Glück Feine Gewalt: Bicfen bringe er im
Ordnung, tag fein Gemüch in ber ungetrübteflen Ruhe zu
jener Vollendung gelange, wo es weder Verfuft noch Gewinn
erfährt, fondern, die Dinge mögen gehen, wie fie wollen, ftets
in derfeiben Verfaſſung bleibt, wo es, wenn ihm Güter ter
Melt in Menge zufellen, gleichwohl hoch über feinem Beſitze
ftebt, oder wenn ihm ter Zufall Etwas davon oder UL
entreißt, dennody nicht Eleiner wirt, — Wire ur iu WS
sBerlande geboren, fo würde ex Scan Mb KU TEN Ne
annen; ober in Germanien, ſo würde Dei gr .
Achten Burffpieß ſchwi us er ya 8 2&
ngen; Hätte x %
x
1954 Seneca's Briefe.
Ahnen gelebt, fo hätte er reiten und den Feind aus d
turchbohren gelernt, Dergteichen väth cder geken
Jeden die Erziehungeweife feines Volke, Aber auf 9
Diejer zu dentfen? Auf Das, wos gegen ale Wa:
gen jede Gattung von Feinden treffliche Dienfte thut,
Verachtung des Todes, der unftreitig etwas Yurchtt
fih hat, womit er unfere Gemürh vr, welche die Po
Selbſtliebe ſchuf, zurückſiößt; denn wir häften nicht
uns gegen ihn zu rüften und zu flählen, wenn ein
der Zrieb uns ihm eben fo entgegen führte, wie
und zur Selbſterhaltung gedrungen fühlen. Nieman
um geruhigen Herzens, wenn es feyn müßte, auf R
liegen ; fondern darum härtet man fich ab, daß man di
unter feiner Folter beuge, daß man, wenn es feyn m
hend, bisweilen auch wand, auf dem Wall Naͤchte durı
und nicht einmal auf feinen Spieß ſich flübe, weil D
anf irgend eine Stütze ſich lehnt, nicht felten der Sc
(leicht. — Der Tod ift fein Ungemach; denn notl
müßte Der felbft feyn, für den er ein Ungemac, wäre
Dich aber ein fo großes Verlangen nad) einer längern
beherrfcht, fo erwäge, daß Nichts von allen Dem, wu
nen Blicken ſich entzieht, und’in den Schooß ber Nat
welchem cd hervorging, und bald wieder hervorgehei
zurückkehrt, vernichtet werte. Es hört auf, aber es
nicht. Und der Tod, den wir fürchten, deffen wir uı
gern, unterbridyt dag Leben: ix tout et ung nicht. €
svieber ein Zag kommen, der und ind Tr ati
Deffen würden ſich Diele weigern, hätten \e Tea
hgene vergeffen. Dody ein audermal wuerde \
Siebenunddreißigfter Brief. 1555
icher zeigen, daß Alles, was zu vergehen fdheint, nur vers
sandelt wird. Wer geht, um wiedergutehren,, darf ruhia
eyn. Betrachte den in ſich zurückgehenden Kreislauf der
Yinge, und Du wirft finden, daß Nichts in dieſer Welt zus
ichte wird, fondern Alles in eincm ſteten Wechſel abnimmt
nd wächst. Der Sommer vergeht, aber ein folgendes Jahr
ringt ihn wieder; der Winter iſt verſchwunden, aber mit
einen Monaten wird er zurückkehren; die Sonne wird ver⸗
wife von der Nacht, aber fle ſelbſt wird bald der Tag ver⸗
reiben. Diefer Umlauf der Geſtirne wiederholt nur, was
ergangen ift, und unabläſſig hekt fich eine Haͤlfte de⸗ Him⸗
nels, die andere ſinkt nieder.
Ich ſchließe, und füge nur das Eine hinzu, daß weder
dinder, noch Knaben, noch Verrückte den Tod fürchten, und
aß es die größte Schmach wäre, wenn die Vernunft uns
icht eine Furchtloſigkeit geben könnte, zu welcher die Unver⸗
nuft gelangen läßt.
Siebenunddreißigfter Brief.
Strenger Dienft der Weisheit: fie führt zur
| Serlbftftändigkeit.
Was am meiften Dich bindet, nad einem wackern Sinn
a freben, ift Dein Verfprechen, ein waderer Mann zu feyn. *)
)u haft durch den Kriegereid Dich verpflichtet, Bar "DB
—
2 Anwendung ber Formel des sacramentum, sure SS
eides (virum bonum se praebiiurum ec.) X
ber Weisbeit.
1556 | - Seneca’d Briefe.-
fast, cs fen dieß ein. bequemer und leichter Kriegsdienſt, Hat
Dich zum beften: ich will nicht, daß man Dich täuſche. Dieſe
fo ehrenvolle Verpflichtung, wie jene ſchmähliche [der Gla⸗
diatoren], gefchieht auf dieſelben Worte: „ſich brennen, fih
feſſeln, ſich niederhauen zu laſſen.“ Won Jenen, welche ihre
Arme dem Amphitheater verdingen, und ſich füttern laſſen,
um ihr Blut dafür zu geben, will man verſichert ſeyn, daß
ſie dergleichen auch wider Willen leiden; von Dir, daß. Du
es willig und gerne leideſt. Jenen iſt geſtattet, ihre Waffen
zu ſtrecken, und das Mitleid des Volkes zu verſuchen: Du
darfſt weder die Waffen ſtrecken, noch um Dein Leben bitten:
hohen Hauptes und unbeſiegt mußt Du ſterben. Was nüzt
es auch, wenige Tage oder Jahre zu gewinnen? Wir werden
geboren, um auf den Tod zu kaͤmpfen. „Wie werde ich mich
aber iosmachen?“ Entfliehen kannſt Du der Nothweundigkeit
nicht: überwinden kannſt Du fie. Es werte Bahn! md
diefe Bahn wird die Philsfophie Dir öffnen. Zu ihr begieb
Did, wenn Du in Sicherheit, wenn Du forgios und glücklich,
wenn Du, was Das Höchfte ift, frei feyn willſt. Anders Bann
Dir Dieß nicht werten. Es ift ein niedriges, verächtiiches,
gemeines, kriechendes, vielen und wüthenten Leidenſchaften
unterworfenes Weſen um die Thorheit. Dieje fo Harte,
bisweilen abwechfelnd, bisweilen zugleid, Herrfchenden Gebie⸗
ter hält die Weisheit von Dir fern: fie allein ift Freiheit.
Nur Ein Weg führt zu ihr, und zwar ein gerader: Du
Zarmft nicht irren; wandte ihn mit (eſtem Schritt. Willſt
Du Dir Alles unterwerfen, ſo wuntermiet DI eh ver Dec
nunft. Du wirft Diele vegieren , wenn die Demut DIE
egiert. Bon ihr wirft Du lernen, wat Ind WR Dun
Ahtunddreißigfter Brief. . 1557
reifen ſollſt, und wirft nicht erſt anf die Dinge verfallen.
Richt leicht wird Einer zu fügen wiffen, wie ed kam, daß er
a8 wollte, was er will: er ließ fich nicht durch Ueberlegung
u Etwas führen, ſondern ward durch irgend einen Drang
arauf geſtoßen. Eben ſo häufig rennt das Glück gegen uns
u, als wir gegen das Glück. Schimpflich iſt ed, nicht zu
ehen, ſondern ſortgetragen zu werden, und auf einmal
sitten im Wirbel der Dinge ſtannend zu fragen : „Wie bin
9 hieher gekommen?“
Achtunddreißigſter Brief.
Yie beſte Art der philoſophiſchen Mittheilung.
Mit Recht dringſt Du darauf, daß wir dieſes brieflichen
zerkehrs häufig pflegen. Am meiſten nüzt eine Mittheilung,
ie in kleineren Abſchnitten in die Seele eingeht: ausgear⸗
eitete, vor einem horchenden Volke hinſtrömende Vorträge
aben mehr Gerauſchvolles, weniger Vertrauliches. Die Phi⸗
yrophie iſt ein guter Rath: einen Rath ertheilt man nicht
lit Schreien. Mitunter muß man ſich zwar auch jener —
aß ich ſo ſage — volksredneriſchen Form bedienen, wo ein
inentfchloffener anzutreiben iſt. Aber wo es ſich nicht darum
andelt, daß Einer lernen wolle, fondern daß er lerne, Hat
tan ſich zu diefer gelaffeneren Sprache zu wenden. Sie geht
sichter ein und haftet beffer: denn man brauur N wär,
ber wirffame Worte. Man ſtreue fe nd wir ST
r: fo Plein biefe find, fo entwictein Ne do& — ON»
igueten Boden treffen, ihre Kyäfte, mW EN
Seneca 158 Bbchn.
1558. Seneca’s Briefe.
kleinſten Umfange das größte Wachsthum. Go aud) die Ver:
nunftwiffenfehaft: fie erſtreckt fich beim erſten Unblick nicht
weit: im Wirken wächst fie. Nur Weniges ift es, was ges
fagt wird; aber wenn es die Seele wohl aufgenommen, ers
flarkt ed und wächst empor. Es verhält fih, behaupte id,
mit Zchren, wie mit Saamenförnern: fle wirken Großes, fo
Hein fie find; nur wuß, wie ich ſazte, ein Lüchtiges Gemüth
ſich ihrer bemächtigen und fie in ſich fchließen. Vieles wird |
es denn hinwieder ſelbſt erzeugen, und mehr wiedergeben, ald
ed empfangen hat.
|
|
|
Neununddreißigſter Brief.
Das Beifpiel der Weifen erhebe.den Geift über
das Niedrige und Sinnliche.
Das [phifofophifchel Sedentbuh, das Du wünſcheſt,
werde ich in forgfältiger Ordnung und in bündiger Kürze
abfaffen; wiewohl ich Dir zu bedenken gebe, ob nicht eine
ordentliche Ausführung von größerem Nuben wäre, als diefe
— Breviarien, wie man fie jezt nennt, oder Summas
rien, wie fie hießen, da man noch Latein ſprach. Jene Art
iſt mehr für den Lernenden, diefe für den Kenner Bedärfniß:
denn jene belehrt, diefe erinnert. Sch wiki Dir jedoch mit
Beiden dienen. Daß ich überall die Gewährsmänner nenne,
Sarfft Dis nicht verlangen: wur Wer unbekannt iſt, beruft
Rd anf bekannte Namen. Ich werde Ks Va But \k
’'en, ba8 Du wünſcheſt, ader aui meine De —
SE Du ja Biele, deren Schriſten mon mut
Neununddreißigſter Brief. 159
gehöriger Ordnung liedt. *) Nimm das Verzeichniß der Phi⸗
loſophen zur Hand; fchon Dieß muß Did) weden, wenn Die.
ſiehſt, wie Viele für Dich gearbeitet haben :. Du wirft wäns
fhen, auch, einer von ihnen zu feyn. Das -ift das Schönfte
an einem edlen Gemüthe, daß es für das Gute fid, begei=
ftern läßt. Einen Manı von erhabenem Sinn erfreut das
Niedrige und Gemeine nicht; nur großartige Ideen ziehen.
ihn an und erheben ihn. Wie eine Flamme immer gerade
nach oben firebf, und eben fo wenig niedergehalten. werden,
als ruhen kann; fo ift auch unfer Geift in fteter Bewegung,
und defto regfamer und thätiger, je feuriger er ift. Und
glücklich, Wer diefen Drang auf das Beffere richtet! Er wird
dem Bereich des Schickſals fich entziehen, wird das Glück
mäßigen, das Unglück mindern, ınd was Andere bewundern,
verachten, Einem großen Geifte gebührt es, auf das Große
herabzufehen, und das Gemäßigte dem Vebertriebenen vor=
uziehen: denn Jenes ift nüptich und flärkt die Lebenskraft,
Diefes ſchadet durch feinen Heberfluß.. So drückt ein zu üp⸗
piges Wachsthum die Suat zur Erde: die Zweige brechen:
unter ihrer Laſt; allzu fetter Boden hindert die Reife. Daf-
felbe widerfährt aud) den Gemüthern, welche ein übermäßi=
ges Glück außer Faſſung bringt: fle fehaden nicht nur Ans
dern, fondern ſich ſelbſt. Wer ward je von einem Feinde fo
fehr gemißhandelt, ald Mancher von feinen Lüften? Solchen
+) So Olshauſen. Der Sinn ber Worte: Interim muftos
habes, quorum scripta nescio an satis ordinent, if mie
zweifelhaft. Gebrauchte vielleikht Seneca neo = SZ
gen ben Gebranc dee Späteren olfimattr, WW ST
gen: — „deren Schriften den SR lädt \S
fam zu ordnen vermögen‘ — 2 4 *
a5bo Seneca's Briefe.
Leuten könnte man ihre zügelloſe Leidenſchaft, ihre u
nigen Begierden blos darum zu Gute halten, weil ſie
was ſie gethan. Und nicht mit Unrecht quält. fie dieſe
nothwendig muß eine Begierde in's Ungemeſſene au
fen, die einmal das natürliche Maaß überſprungen ha
Natürliche bat feine Gränze; eitle Gelüſte find ohne
ten. Das Nothwendige wird durch Das Bedürfniß be
das Ueberflüſſige — in welche Gränzen willft Du
fchließen ?_ Sie verfenten fid, in Lüfte, die, zur Gen
geworden, ihnen unentbehrlich iind; und nun find fie
glücklichſten, weil fie es dahin gebracht haben, daß, W
flüfjig gewefen , ihnen nothwendig wurde, Sie fröf
Luft, und genießen fie nicht ; und was aller Gebrechen |
ſtes ift — fie lieben ihre Gebrechen. Dann aber
Maaß des Unheild voll, wann das Schändliche ni—
vergnügt, fondern fogar gefälft; und da ift Peine Hül
wo, was LZufter wer, zur Sitte wird.
Vierzigſter Brief.
Sprich langſam.
Sch bin Dir dankbar, daß Du mir häufig fchreid
es ift Dieß die einzig mögliche Weife, mir Dich f
zeigen. Jedesmal, wenn ich einen Brief von Dir
find wir zuſammen. Wenn: Bildniffe abwefender
zus Bergnöügen machen, weil ſe dad Auiimin e
und uns m:t einer nidytigen Xäuihung her dod
Ted Umganges tröftenz um wie wiel anaenehiiet
Dierzigfter Brief. 1561:
nicht Briefe ſeyn, Die uns Achte Spuren des’ abmwefenden
"Freundes, ächte Merkmale deffelben überliefern? Denn was
bei’m Anblicke feibft.das Angenebmſte ift, gewährt auch die
dem Briefe aufgedrückte Freundeshand — das Wiedererkennen.
Du hörteft, fchreibft Du mir, den Philoſophen Serapio,
als er Deine Gegend [Sicilien] befuchte: er pflege feine
Worte mit großer Haft gleichfam zufammen zu ballen, Taffe-
fte fi) nicht entſtrömen, fondern verfchlude ffe Halb und:
dränge fie heraus; denn es kämen ihrer zu viele, ald daß:
Eine Zunge ihnen genügte. Dieß billige ich nicht an einem Phi⸗
loſophen, deffen Vortrag, wie jein Zeben, regelmäßig feyn muß:
geordnet aber ift Nichts. was übereilt wird und haftig bes
trieben. Gene heftige Sprache, Die ohne Unterbrechung wie
Schneeflocken daherſtürmt, weist-Homer dort dem Redner
anz, bie fanfte entfließt ‚‚Tüßer denn Honig’ dem Greife.
Glaube mir, diefe reißende, überfliömende Gewalt der Rede
paßt mehr für einen M-,ttfchreier, als für Den, weicher
eine große und ernfte Sache behandelt und ald Lehrer fpricht.
Sein Vortrag foll eben fo wenig fröpfeln-, ald in Strömen
fib ergießen; fou das Gehör weder in Spannung verſetzen,
noch überhäufen. Denn auch jene Wertarmurh und Dürftig- .
keit hat ficy eines minder aufmerffamen Zuhörer zu erfreuen,
weil er über tem langfamen, oft unterbiochenen Gang ver⸗
drüßtich wird; doc, ſezt fich leichter feft, auf was man wars
tet, ald was voruberfliegt. Man fagt ja, daß man dem Schü⸗—⸗
ter die Lehren beibringe: aber was eht. wird YXSVS&
bramt. Eın Vortrag ferner, welder Üie Ber Hurt
£igt, muß ungefünftelt feyn und einiodz NM er
dem BIE aber hat nichts Wanıed vb De
1564 Seneca'd Briefe.
bis zu Ende. Es giebt jedoch Dinge, welche einer Nation mehr,
der andern weniger gut anftehen. Bei den Griechen läßt
man fih eine folche ungebundere Weife gefallen; wir find
fogar beim Schreiben an Unterſcheidungspunkte gewöhnt.
Huch unfer Cicero, mit weldyem die Romifche Wohfredenpeit
einen Schwung nahm, gieng im Schritt. Die Römifche Rete
ift mehr umfichtig, erwägend und giebt zu erwägen. Yabias
nus, ein nach Leben und Wiffenfchaft und — was beiten
nachfteht — an Redekunſt vortreffliher Mann, fprac mehr
fertig ald haſtig, fo taß man ed Leichtigkeit, nicht Eil⸗
fertigfeit, nennen konnte. Jene geflatte ich auch dem
Philoſophen; ich verlange aber nicht, daß fein Vortrag ohne
alten Anſtoß fortfchreite: es iſt mir lieber, daß er fich auss
ſpreche, ald daß er fih ausfchücte. Ich warne Didy um
fo ernftticher vor jener Krankheit, weit fle Dich nur anwans
dein Fönnte, wenn Du aufgehört hättet, Did) zu ſchämen.
Du müßteft Die alle Schaam von der Stirn flreichen und
Did) ſelbſt nicht hören: denn Vieles müßte jener unbeachtete
Wortftrom mit fih führen, was Du ſelbſt tadeln würdeft.
Kein, ich fage Dir: eine folche Verkehrtheit kann Dich nicht
anwandeln, fo lange Dein Ehrgefühl nichts gelitten hat. —
Uebrigens ift tägliche Hevung vonnöthen, ınd dag Studium
außer dem Stoffe aud) den Worten zuzuwenden. Allein, aud)
wenn diefe Div noch fo reichlich zu Gebote ſtehen, wenn fie
Dir ohne alle Mühe von Munde fließen, fo muft Du fie
Doch mäßig gebrauden; denn wie dem weifen Manne ein bes
Meidener Bang ziemt , fo audy eine gemellene , wur wer
gene Sprache. Das Ergebnip von diefem Yen win ie
Az Sprich Iangfam.
Einundvierzigfier Brief. . 1565
Einundpierzigfler Brief.
Der Bott in uns,
Du fhuft das Beſte und dag für Dich Heilfamite, wenn
‚ wie Du ſchreibſt, in Deinem Streben nad) geiftiger Ver⸗
ing beharreft. Es ift aber thöricht, diefe zu wünſchen, da
ı fie füch felhft geben Fann. Nicht zum Hinmel braucdıt man
Hände zu erheben, noch deu Tempeldiener anzuflehen, daß er
zum Ohre des Götterbildes, ald könnten wir fo mehr
jrt werden, näher hinzutreten laffe: Gott ift Dir nahe,
‚fe bei Dir, ift in Dir. Sa, mein Lucilius: eg wohnt in
ein heiliger Geift, ein Beobachter und Wächter über
8 Böſe und Gute in uns; diefer behandelt, wie wir ihn
andeln, fo auch ung. Niemand iſt ein guter Menfih ohne
tt. Oder könnte Einer, nicht von ihm unterftügt, über
Glück fh erheben?..Er iſt's, der große und erhabene
tſchließungen verleiht. In jedem Tugendhaften
— — — — — vohne
(Welcher Gott? iſt verborgen) ein Gott. *)
nn Du einen Wald vol uralter, ungewöhnlich hoher
ume findefl, welcher mit feinen dichten, über einander ges
bfenen Welten und Zweigen Dir den Anblick des Himmels
ſieht; fo weckt die Echabenheit diefed Haines, die ſtille
jefchiedenheit, die wunderbaren Schatten dieſes freien und
) fo dichten Gewölbes in Dir den Glauben an die Gotts
. Und wo eine tiefe Grotte unter überhängendem Ge⸗
‚e in das ausgehöhlte Geſteih Ady inetuyeit | UN Di
/chenhand gemacht, fontern wurd Natmtrite V =
Birgit. en. VI, 352, _ °.
1566 Seneca’8 Briefe.
ausgektüffet, da wird Deine Seele eine Ahnund des Göttli⸗
chen durdybeben. Großer Flüſſe Urfprung verehren wir: wo
irgend aus dunkelem Grunde ein gewaltiger Strom zu Zage
bricht, flehen Altäre; warme Quellen find ung ehrwürdig;
und manchen Seen hat fcha:tigtes Dunkel oder unergründete
Tiefe Heiligkeit verliehen. Wenn Du eisen Mann findefl,
in Gefahren ungebeugt, von Xüften unberührt, im Unglüd
glüctich, in Mitten der Stürme ruhig, Der die Menſchen
unter fi), neben fih die Götter erblidt — wird nicht Ehre
furcht gegen ihn Dich ergreifen? Wirft Du nicht ſprechen:
Ein folches Werfen ift zu groß und zu erhaben, als daß es
dem ſchwachen Körper, in welchem es wohnt, gleichartig ſeyn
Pönnte. Kine göttliche Kraft ift über ihn gekommen, Diefe
hohe, immer gleiche Seele, welche die Welt ale zu Elein für
fie vergißt, und, was wir fürchten und wünfchen, belächelt,
diefe belebt eine himmliſche Macht. Eine ſolche Größe Bann
ohne der Gottheit Mitwirkung nicht beſtehen. Darum iſt er
feinem beſſern Theile nach dort, von wannen er herabgekom⸗
men. Wie der Sonne Licht zwar auf die Erde trifft, aber
dort ift, von wo es ausſtrahlt, fo iſt eine große umd heilige,
au unferer näberen Erkenntniß des Göttlichen berabgefandte
Seele zwar im Verkehr mit und, aber unzertrennlich von
ihrer Heimath: dorthin ift ihr Bli und ihr Streben geridy
tet; unter uns wandelt fie ald ein Wefen höherer Art. —
Und welche Seele ift dieß? Eine ſolche, die ſich nur auf
Güter veraäßt, welche ihr eigen find. Was kann thörichter
fepn, als au einem Menfchen loben, was nicht fein it? If
wohl ein größerer Narr, als der bewundert, was im nächften
Yugenbtick auf einen Andetn übergehen tanı? Briten Ar
Einundvierzigfter Brief. 1567
get machen ein Pferd nicht befier. Anders tritt ein Löwe
mit goldenen Mähren auf den Schauplag, dey man flreicheln
darf, und der, weil er müde ift, feine Zierrathen ſich anlegen
faffen muß; anders ein ungefchmücter, von ungebrochenent
Muthe. Diefer, feurig und ungeflüm, wie die Natur ihn
wollte, und ſchauerlich-ſchön, und deffen Schmuck ift, daß man
ohne Schreck ihn nicht anfehen Bann, wird jenem erfchlafften
und mit Goldflitter bekangenen weit vorgezogen. Jeder foll
fid) nur des Seinigen rühmen. Wir loben die Rebe, die
ihre Schößlinge mit Früchten belaftet, nnd mit den Gewicht
ihres Ertrages —*— den Pfahl niederzieht. Wer iſt, dem
ein Weinſtock lieber wäre, an welchem goldene Trauben, gol⸗
dene Blätter hängen? Des Weinſtocks eigene Tugend iſt feine
Fruchtbarteif: auch an dem Menfchen ift nur Das zu loben,
was fein iſt. Er hat eine fchmude Dienerſchaft, ein fchd- "
nes Haus, viel Ackerland, viele Capitalien: aber alles Dieß
ift nicht im ihm, fondern um ihn, Lobe an ihm, was ihm
nicht genommen, nicht gegeben werden Bann; was des Mans
nes Eigenthun ift. Und Diek it? Sein Beift, und im Geiſte
die ausgebildete Vernunft. Deun ter Menſch ift ein Thier,
das Vernunft hat; und diefer fein Vorzug wird vollkommen,
wenn er feine Beflimmung erfüllt. Was fordert aber dieſe
Vernunft von ihm? Das Leichtefte: feiner Natur gemäß zu
leben. Uber eben Dieß mird durch die allgemeine Thorheit
fchwer gemacht. Wir reißen einander wechfelsweife zu Feh⸗
lern bin. Wie follen wir aber zum Heile zurückgeführt wer:
den, wenn Niemand uns anhäff, und Die Welt ums forttreibt ?
rn m]
1568 Seneca's Briefe.
Zweiundvierzigſter Brief.
Um einen guten Mann iſt es eine ſettene Sache.
Nichtigkeit des äußern Beſitzes.
Schon hat jener Mann Dich überredet, er ſey gut? Aber
in ſo kurzer Zeit wird man kein guter Mann, noch auch als
ſolcher erkannt. And ich ſpreche hier nur erſt von einem gus
ten Manne des zweiten Ranger. Denn Einer des erſten wird,
wie der Phönir, wohl nur alle fünfhuntert Jahre geboren;
und es ift Bein Wunder, wenn da3 Große nur nad) langen
Zwifchenräumen erzeugt wird. Das Mittelmäßige. und was
für den großen Hanfen geboren wird, bringt der Zufall oft
hervor: das Ausgezeichnete erhäft feinen Werth ſchon durd
die Settenheit. — Allein Jener ift nody weit eutfernt von
Dem, wofür er ſich auggiebt; und wenn er wüßte, was ein
guter Menſch ift, würde er noch nicht glauben es zu feyn, ja
vieleicht die Hoffnung aufgeben, c8 je zu werden. — „Aber
er denkt doch fihlecdhe von den Schlechten.” Das thun tie
Schlechten auch: und es giebt Feine größere Strare für die
Schlechtigkeit, als daß fie ſich feibit und ihren Genoffen miß:
fällt. — „Er haßt doch Diejenigen, welche ciuc ſchnell ger
wounene , große Gewalt gewaltthätig mißbrauchen.‘' Er
würd Daffelbe thun, wenn er’s vermöchte. Die Lafter gar
Dieler bleiben verſteckt, weil fie unmächkig find. Würden
ihre Kräfte ihuen genügen, jle würden nicht geringerer Dinge
fih erfrechen, atd Diejenigen, welche ihr Glück entlarvte. Es
fehlt ihnen an Mitten, ihre Schlechtigkeit zu entfalten. So
/äßt fich andy die giftigite Schlange ohne Gefahr anfaffen, fo
age fie vor Kälte ſtarr ift: fie hat jet ihr Stit wit wen
Zweinndvierzigfter Brief. 1569
foren, aber es ift ohne Wirkung. Manchen Graufamen, Ehrs
ſüchtigen, Wollüſtigen fehlt es, um es den Schlimmften gleich
zu thun, nur an der Gunft des Glückes. Daß ſie es wollen,
wirft Du finden: laß fie können, was ſie wölten. Erinnerſt
Du Dich noch, daß ich, ald Du einft behaupteteft, einen Ge:
wiffen in Deiner Gewalt zu haben, erwiederte,, der Menfch
fey ein leichter Vogel, und Du habeft ihn nicht bei'm Fuße, fons
dern an einer Feder? Ich fagte die Unwahrheit: nur au eis
sen Flanum hatteft Du ihn; er Tieß ihm. dahinten und flog
davon. Du weißt, weldıe Streiche er Dir im der Folge
fpielte, wie Vieles er anftellte, was anf fein Haupt zurüdfals
ten wird. Er fah nicht, daß er durch fremde Gefahren in
feine eigene renne: er dachte nicht, wie laͤſtig es ſey, was er
ſuchte, auch wenn ed nicht überflüffig wäre.
Das ift ed, was wir an den Dingen, welche wir begeh:
ren, und auf welche wir mit fo großer Anſtrengung hinarbei-
ten, in Betracht ziehen müſſen, daß fie entweder Feinen Alu:
ben, oder fogar Schaden fliften. Manche find überflüffie,
manche and nicht das Gerinafte werth. Aber das fehen wir
nicht, und bilden uns ein, und glauben, umſonſt zu haben,
was und _fehr thener zu flehen kommt. Darin zumal verräth
ſich unfer Stumpffinn, daß wir nur Das zu kaufen glauben,
wofür wir Geld zahlen, und Dasjenige für unentgeldlid)
halten, wofür wir uns ferbft hingeben. Mas wir zu kaufen
feine Luft hätten, wenn wir unfer Haus, oder irgend. ein an—
genehmes und einträgliches Grundſtück dafür geben müßten,
das beeilen wir und mit Horgen und Gefahren, mit Verluſt
unferer Ehre, unferer Freiheit, unferer Zeit und zu verldat
fen. Sonach ift uns nichts fo (ehe Keil, U WU EN.
1570 Seneca's Briefe.
In alten unferen Entfchließungen und Handlungen wol
len wir alfo Taffeibe thun, was wir zu thun pfleaen, wenn
wir, um etwas zu Euufen, in irgend eine Bude £reten: wir
wollen acht geben, wie hoch Das, was wir winfchen , abge:
geben wirt. Oft ift es cine Sache von dem hoͤchſten Werthe,
wofür man nichts zahlt. Diele Dinge aber Fann ich Dir nei
nen, die, gefucht nud angekauft, und unfere Freiheit entjies
hen: wir gehörten und an, wenn je nicht ung gehörten.
Dieß alfo erwäge bei Dir felbft, nicht nur, wo es ſich
von dem Gewinn, fondern auch, wo es fich vom Verluſte hans
delt. Es geht Dir Erwas zu Grunde? Nun es war von .
außen gekommen, und Du wirft eben fo leicht ohne daffelbe -
leben, wie zuvor. Haft Du es lange befeffen, fo verlierft Da
es, nachdem Du deffen ſatt geworden; wo nicht, fo verlierf
Du's, ehe Du Did) daran gewöhnteſt. Du wirft ein gerin:
geres Vermögen haben ? Aber auch weniger Verdruß. Me:
niger EinAuß? Uber auch weniger- Neider. Betrachte
ringsum alte die Dinge, die und zum Wahnfinn treiben, von
denen wir unter fo vielen Thränen uns trennen, uud Du
wirft Did) überzeugen, da& nicht ihr Verluſt felbft uns drückt,
fondern tie Einbitdung eines Verluſtes. Niemann fühlt,
fondern denkt ſich etwas verloren zu haben. Wer ſich hat,
hat nichts eingebüße ; aber wie Wenigen wird es zu Theil,
fich zu haben?
Dreiundvierzigfler Brief,
Lebe ald vor den Augen der B38
„Wie Dieß bis zu mir gelangt ey ont Du,
ir meine Gedanken erzähtt habe, Te Du wa wit ie
Dreiundvierzigfter Brief. 1591
manden erzählteſt?“ Was fo Vielcd weiß — das Gerücht.
„Wie?“ fagft Du; „idy wäre a!fo bedeutend genug, um ein
Gerücht zu erregen 2° Du darff Dich nicht mit Rücdficht
auf diefe Stadt meſſen: *)auf jene haft Dir zu fehen, in wel:
her Du Dich aufhältſt. Was über feine Umgebungen her:
vorragt, ift da groß, wo es hervorragt. Denn die Größe hat
Fein beſtimmtes Maaß: fie fteigt oder fällt durch MWergleis
chung. Ein Schiff, das anf einem Fluſſe aroß ift, iſt gar
Bein auf der See; ein Steuerruder, das groß ift für das
eine Schiff, ift ſehr Blein für das antere. So bift Du jezt
groß in Deiner Proyinz, fo gering Du Dich felbft achten
magft: was Du thuft, wie Du fpeifeft, wie Du ſchläfſt, dar⸗
nad) frage man, das weiß man. Um fo vorjichtiger mußt Du
Veben. Dann darflt Du Dich für glücklich halten, wann Du
vor den Augen der Welt Ichen kannſt; wanı Deine Wände
- Dich nur fhüßen, nicht verbergen — diefe Wände, von des -
nen man fid) fo oft umgeben glaubt, nicht, um ficherer zu
Icben , fondern, um gehzimer zu fündigen.- Ich fage Dir —
und hiernach kannſt Du unfere Sitten beurtheilen —: Du
wirftnidhtleicht Einen finden, der bei offenen
Thüren leben könnte. Unfer böfes Gewiſſen und unfer
Stolz hat Hüter vor diefelben geftellt. Man lebt fo, daß es
ertappf werden heißt, plöslidy gefchen zu werden. Aber was
hilft es, fich zu verbergen, und die Augen und Ohren der
Menfhen zu vermeiden? Ein gutes Gewiffen ruft der Zeus
gen Menge herbei: ein böſes ift audy in der Einlamkeit ex
ängfligt und forgenvoll, Iſt cd vedat, wad DU Ey, SON
u ans X
9 Rom. Lucilius befand ſich daweld \a@titen: SENT
fh zu Syracus,
1572 Seneca's Briefe.
e3 Jedermann willen: ift es fchimpflich, was liegt daran, daß
es Niemand weiß, da Du ed weißt? D Du Unglücklicher,
wenn Du dieſen Zeugen verachteſt!
Vierundvierzigſter Brief.
Die Weisheit gibt den wahren Adel.
Abermals machſt Du Dich mir fo klein, und ſagſt, erſt
hätte Dich die Natur, hieranf das Glück ſehr übelwollend
behandelt: und doch fteht es bei Dir, heranszutreten aus dem
großen Haufen, und zur höchften Stufe des Glückes Dich ems
porzufchwingen. Iſt etwas Gutes au der Philoſophie, fo if
ed Das befondersd, Laß fle auf Eeinen Stammbaum fieht. Wir
alle kommen, gchen wir auf den erften Urfprung zurück, von
den Göttern. Du bift Römifcher Ritter, und zu dieſem Nang
hat Deine Zhätigkeit Dich erhoben. Aber für wie Viele find
die vierzehen Sitze *) verfchloffen! Nicht Seden läßt Die En:
vie zu; und auch das Feldlager ift ekel in der Wahl derer,
die e8 zu Mühen und Gefahren annehme. Uber ein edler
Sinn ift Alten möglich: dazu find wir Alle von del. Keis
nen verfchmäht die Philoſophie, Keinen wählt le aus: fie
lenchtet Allen. Socrates war kein Patrivier; Gleauthes war
ein Wailerträger, und verdingte feine Arme zum Begießen eis
ned Gartens; Plato war nicht von Adel, als die Philoſophie
ihn empfing: lie adeite ihn. Wie ſoillteſt Du verzweifeln,
Diefen gleich werden zu Fonnen ? Diefe Alte find Deine Ah⸗
nen, wenn Di Did) ihrer würdig zeigft; Du wirft ed aber,
) Im Theater.
Vierundsierzigfter Brief. 1573
u vor Allem Dich überzeugft, dab Du an Adel Kei: -
bfiehft. Jeder von uns hat gleich Viele vor ſich;
ft, deſſen Urfprung nicht jenfeits aller Erinnerung
lato fagt, ed gebe feinen Konig, der nicht von Sclas
inen Sclaven, der nicht von Königen ſtamme. Das
t ein langer Wechfel gemifcht, und das Schickſal zu
und zu oberft gekehrt. Wer ift alfo edel geboren ?
Natur für die Tugend wohl ansgerüftet bat. Nur
5 ift zu fchauen: im Webrigen, wenn man ſich aufs
ruft, ſtammt Feder von einer Zeit her, vor welcher
ft. on Aubeginn der Welt bis auf diefen Tag ging
abwechfelnde Reihe von Vornehmen und Gemeinen
Ein Vorfaal voll rauchigter Ahnenbilder adelt nicht.
» hat für unfern Ruhm gelebt, und Was vor uns
ſört uns nicht. Die Befinnung macht adelig; durch
en wir uns aus jedem Gtande über die Gunft bes
erheben. Denke Dir, kein Römiſcher Ritter zu fepn,
ein Yreigelaffener ; dod, kann Du es dahin bringen,
der einzige Freie bift unter den Freigeborenen.
18 ,’' fragft Du, „wenn Du Outes und Schlimmes
h des Volkes Vorgang unterfcheideft ?' Man muß
‚ nicht woher die Dinge fommen, fonbern wohin fie
Wenn es Etwas giebt, was das Leben gluͤcklich mas
n, fo gilt Dieß mit vollem Recht für ein Gut; benn
nicht ins Schlimme ausarten. Was iſt ed alfo, worin
t, da doch Feder nad einem glüdlichen Leben vers
Darin, daß man die Mittel für die Sache ſelbſt Kätt
e, während man ihr nachhängt , Kick. Bea, aller
Befentliche eined glüctticyen Lrbend To iierntiee
136 Bbhn. . | ®.
1574 Senecas Briefe.
deter Ruhe und unerſchütterlicher Suverfiche beftekt, fü
man fich ſelbſt Gründe zur Befümmerniß, und trägı
- yur, fondern fchleppt der Laften vicle auf der umle
Straße des Lebens einher. So entfernt man ſich immen
von der Erreihung feiner Wünfche, und je mehr Müt
anwendet, deſto mehr hindert man ſich felbft und kom:
rück. Daſſelbe gefchieht Denen, welche in einem Lab
voran eilen: ihre Haft verwickelt fie.
Fuͤnfundvierzigſter Brief.
Gegen die unfruhtbaren dialectifhen Kü
der Stoißer.
Du Hagft über Mangel an Büchern an dem Orte
nes Aufenthaltes. Ed kommt nicht darauf au, ob Du
viele, fondern ob Du gute haft: ein beſtimmtes Leſen
ein wechfelndes unterhält. Wer fein Biel erreichen wil
Einen Weg zu verfolgen, nicht auf mehreren herumzuſ
fen; diefes hieße. nicht gehen, fondern irren. „Aber,“
Du , „ich wollte lieber, Du gäbeft mir Bücher, ale
ſchlaͤge.“ Sch bin bereit, Dir zu ſchicken, welche ich mı
mer habe, und meine ganze Vorrathskammer auszuleer«
mid) felbft würde ich, wenn ich könnte, zu Dir hinüber
ten; und wenn ich nicht hoffe, Du werdefl Deiner T
nächrtens entbunden werden, fo würde id mir alten |
diefe Unternehmung wirklich auferlegen, und Feine ©
‚uud Sharpbdis, noch jene fabelhaite Merrenge WÜte miı
eädjchreden. Ich würde hinüber Tegeln, W arte‘
Fünfundvierzigfter Brief. 155
ſchwimmen fogar, nur um Dich umarmen und aus eigener
Anſicht beurtheilen zu können, wie fehr Du am Geift ges
wichfen ſeyſt. Bu
Wenn es übrigens meine Bücher find, die ich Dir ſchi⸗
cken ſoll, fo glaube ich mich deßwegen eben fo wenig für eis
nen guten Schriftfteltev haften au dürfen, als id) mir einbifs
den würde, fchön zu feyn, wenn Du mein Bild verlangteft.
Ich weiß, daß Dieß eine Aeußerung Deiner Vorliebe, nicht
Deines Urtheils ift: und ift es wirklich Dein Urtheit, fo hat
Deine Vorliebe Didy irre geführt. Doc. — mögen fle feyn,
wie fie wollen — lied fle als die Schriften eines Mannes,
der das Wahre fucht, und mit Beharrlichkeit fucht, noch nicht
aber es erkannt hat. Ic habe mid, Keinem zu eigen geges
ben; ich trage Keines Namen: ich traue viel dem Urtheil
großer Männer; doch über Mandyes behalte ih mir das
Meinige vor. Denn auch Jene haben Vieles übrig gelaffen,
was nicht gefunden, fondern noch zu fuchen iſt, und fle häts
ten vielleicht das öthigere gefunden, wenn fie nicht auch
nach Weberflüffigem gefucht hätten. Diele Zeit raubte ihnen
das fpinfindige Spielen mit Wörtern, die verfänglichen Dies
gutirkänfte, womit ein mäßiger Scharfiinn ſich befchäftige.
Wir echten Knoten, und verbinden einen Dopfelftun mit
den Wörtern: dann loͤſen wir ihn wieder. So viele Muße
haben wir? Wiſſen wir denn bereitd zu leben, zu fterben ?
Mit aller Kraft der Seele müſſen wir dahin zu Pommen fü:
hen, wo man fidy nicht mehr vor der Täufchung der Worte,
fondern der Dinge zu hüten Hat. Was fonderft Du mie fie
Aehnlichkeiten der Wörter, durch welde wa Kemer SS
warb, wenn es nicht‘ eben disputirte? Die DS NN
156 Seneca's Briefe.
diefe Terne unterfcheiden. Statt bes Guten ergreifen wir bi
Schlimme: unfere Wünfche ftreiten mit unferen Wünfce
unfere Entfchläffe mit unferen Entfchlüfen. Der Schmeic
rer — wie ähnlich ift er dem Freunde! Er ahme ihn nic
bloß nach, er überbiefet ihn fogar und läuft ihm einen Do
fprung ab; er wird in ein offenes und geneigtes Gehör au
genommen und dringt in die Tiefe tes Herzens, indem
eben durch Das, wodurch er fchadet, fich beliebt macht. Lebt
wie ich diefe Aehnlichkeiten unferfcheiden Fönne. Es kom
flatt eines Freundes ein fchmeichlerifcher Keind zu mir. 2
fter fchleichen fich bei und, unter dem Namen von Tugend:
ein: unter beim Titel der Tapferkeit verſteckt ſich Tontäh
heit; Befonnenheit heißt Feigheit; der Furchtſame wird fi
vorfichtig genommen. Im ſolchen Dingen irrt man mit gr
Ber Gefahr: diefen drücke gewiſſe Kennzeichen auf. Sing
gen. ift wohl Niemand fo albern, feine Stirne zu befüple
wenn man ihn fragt: „ob er Hörner habe; *) noch auch
einfältig und ftumpffinnig, um es nicht zu willen, wenn 7
ihn mit einer fpigfindigen Schlußfolge beichwasen wiltft. Je
Täufcherei bringt alfo eben fo wenig Schaden, als Bed
und Steinchen der Zafchenfpieler, die und eben durch ihr
Trug ergögen; Taf mid) erfahren, wie Alles zugeht, und
bat für mich keinen Werth mehr. Daffelbe gilt mir von
nen Sanafchlingen — denn wie könnte ich diefe Sophism
richtiger benennen? — ſie nützen Denen, welche fie Benne
H Unfpielung auf einen ber bekannten Verier-Schrüffe, 1!
in ber ftoifchen Schule zu Haufe waren. „Was man miı
- verkoren bat, bat wen: Da ak tekae Hörner verlore
alfo Haft Du welche.
Sünfunbvierzigfter Brief. 1577
wenig, ald fle Denen fchaden, die fle nicht Bennen. Wenn
3 aber doch den Doppelfinn gewiſſer Wörter zerlegen willſt,
lehre uns, Der fey nicht glüdlicdh, den bad Volk fo nennt,
d welchem vieles Gold zugefteömt iſt, fondern Der, deffen
njes Gut in feinem Innern liegt, der großdenkende, hohe, -
d was Andere bewundern, niedertreteude Mann; der Mies
mderifteht, mit dem er fich vertaufchen möchte; der dem
enfchen nur nad) der Seite fchäzt, nad) welcher er Menſch
; der nach den Geſetzen feiner Lehrerin, der Natur, ſich
heet, und lebt, wie fle ed vorfchreidt; dem feine Güter
ne Gewalt entreißt; der dad Schlinme zum Guten wen⸗
, feines Urtheils gewiß, unerfchüttert, unerfchroden ; den
e Bewalt zwar bewegt, keine außer Faſſung bringt; ben
z Glück, wenn es fein ſchaͤdlichſtes Geſchoß anf ihn abe
nellt, nicht verwundet, nur rist, und auch Dieß felten.
am die übrigen Gefchoffe, mit welden das Menfchenges
lechtzbekriegt wird, praffen ab, wie der Hagel, der, auf
: Dächer gefchleudert, ohne alles Ungemach des Bewohners
aſſelt und ſich auflöst. — Was hältſt Du mich mit jenem
Aruffe auf, den Du felbft den ‚Lügner‘ ") nennft, über
fo viele Bücher gefchrieben ſind? Slehe, die ganze Welt
je mir; diefe überführe; diefe bringe, wenn Da fcharffins
3 biſt, zue Wahrheit zurück. Sie erklärt für nothwendig,
*) Gr lautete fo; Epimenides fügt, alle Ereter fenen Lügner,
und ist ſelbſt ein Ereter, alfo ift er felkft auch ein Lügner,
unb man muß ihm nicht glauben. Deßmwegen find Die
Ereter wahrhaft, und man muß ihnen glauben; Epimem⸗
des aber ifk ein Ereter; alfo muß man ihm glauben. Alfo
muß man dem Eyimenibes glauben" uuh wa wo ie
nicht glauben.
1578 Seneca's Briefe.
was zum größten Theile überflüſſig ift; und auch, was nicht
aberftüffie ift, bat doch in ſich die Kraft nicht, froh und
glücklich zu machen. Auch was nothwendig ift, ift darum
nicht gleich ein Guf, und wir werfen diefed Wort weg, went
wir ed vom Brode, von der Volenta und anderen Dingen
brauchen, die zum Leben unentbehrlic, find. Was ant if,
ift nothwendig; was nothwendig, ift nicht fofort gut; weil.
ed auch Dinge der verächtlichften Art giebt, die gleichwohl
nothwendig find. Niemand verkennt fo fehr die hohe Wuͤrde
des Buten, daß er daffelbe gemeinen Dingen gleich ftelte,
welche nur für Einen Tag nüglich find. Sollteſt Du alſo
nicht vielmehr Deine Sorge darauf richten, daß Du Allen
zeigeft, mit welch großem Aufwande von Zeit nach Ueberfluͤſ⸗
figem geſucht wird, und wie fo Mauchen über dem Sammeln
der Mittel des Lebens das Leben ſelbſt hingeht ? Prüfe ben
Einzelnen, betrachte die Geſammtheit: Keiner ift, deſſen Le⸗
ben nicht auf morgen zielte. Und was Dieß ſchade? Unend
Lich viel, Denn man lebt nicht, fondern ift im Begriffe zu
eben: man verfchiebt Alles. And) wenn wir Bedacht naͤh—⸗
men, wide gleichwohl dad Leben uns voreilen; num, fo wir
fäumen, geht es an uns als ein fremdes vorüber, und wird
befdhloffen am lezten Tage, verloren au jedem.
Doch um nicht das Maaß eines Briefes zu überſchrei⸗
ten, der nicht mit beiden Händen gehalten feyn will, fo will
ich diefen meinen Streithandel mit den Dialectikern, weldz
ihre große Spisfindigkeiten zur Hanptfade machen, auf ei:
nen andern Tag verfchieben.
Schöundvierzigfier Brief. 1579
Sechs undvierzigſter Brief.
Lob einesBuhes von Lucilius.
Dein Werk, welches Du mir verſprochen, % habe ich
erhalten, und indem ich mir vorbehalten wollte, Daffelbe
mit Bequemlichkeit zu Iefen, öffnete ich ed, um nur erſt ei-
nen Vorſchmack davon ‚zu befommen. Allein bald zog es
mid) fo fehr an, daß ich immer weiter lad; uud wie gut es.
gefchriegen ift, darfft Du daraus fchließen, daß es mir kurz
vorkam, wiewohl es eine ſchwere Rolle ift, die für meine und
Deine Hand :zu gewichtig, bei den erften Anblick vielmehr
einem Titus Livins oder Epicurus anzugehören ſcheint; ich
fühlte mich aber durch feine Anmuth fo gefeffelt und ans
gezogen, daß ich es ohne Unterbrechung durchlas. Der Son:
nenfchein lud mich ein, der Hunger mahnte mid, : Wolken
drohten mir; dennoch verfehlang id) es ganz. Es hat mid
nicht nur unterhalten ; es hat mich innig erfreut. Welcher
Geiſt! weldyes Feuer! Ich würde fagen, welcher Schwung!
wie Du mitunter ausgeruht und nur von Zeit zu Zeit Dich
gehoben hättet! Allein Du haft nicht Lin Momenten] einen
Schwung genommen, fondern Did) immer auf gleicher Höhe
gehalten; das Ganze ift männliih-und würdevoll. ‚Nichte
befto weniger erfcheint zwifchenein und am vechten Orte eine
wohltfuende Milde. Du bift großartig und erhaben: fo,
wünſche ich, daß Du bleibeit, fo fortſchreiteſt. Etwas hat
auch der Stoff dazu gethan. Darum wähle immer einen
*) Vielleicht feine poetifhe Schilderung de Arion.
1580 Ä Seneca's Briefe.
fruchtbaren, der groß genug für Deinen Geiſt fen, und ihr
anrege. Mehreres werde idy Dir über Dein Buch fchreiben,
wenn ich mich noch einmal damit befchäftigt haben werde;
noch hat Ach mein Urtheil nicht genug befeſtigt, und es if
mir, ale ob ich es nur vorlefen gehört, micht gefefen hätte.
Laß mid) es andy unterfuchen. Du haft Nichts zu befürch⸗
ten: Du wirft die Wahrheit Hören. O Glücklicher, der Du
Nichts haft, um deßwillen man Did aus fo weiter Ferne
befügen möchte; wiewohl, man fügt ja, auch wenn Bein. Grund
vorhanden ist, aus bioßer Gewohnheit.
Siebenundpierzigfler Brief.
Menfhlihkeitgegen Gclaven.
Gerne höre ich von. Leuten, die von Dir herfommen, ers -
zählen, wie freundlich Du mit Deinen Sclaven umgehſt: fo
geziemt es Deiner Weisheit und Deiner Bildung Es find
Sclaven, aber Menfhen; Sclaven, aber Hausgenoſſen;
Sclaven, oder vielmehr Freunde niedrigen Standes ; Gclaven
— nein unfere Mitfclaven find es, wenn wir bedeuten, daß
der Willlür des Geſchickes gegen und eben fo viel, wie ges
gen Jene, zufteht. Daher Aude ich den Mann lächerlich,
Ber es für eine Schande Hält, mit feinen Sclaven zu ſpei⸗
fen. Und warum ? Einzig, weil eine übermütbige Sitte ei
nen Öelavenfchwarm um den tafelnden Herrn herſtellt. Dies
‚fer ißt mehr, als er faflen Bann, und beiaftet mit ungeheurer
Gier den ausgefpannten Magen, der ded Magens Befchäft
serlernt Hat, um Alles wit arögerer Unkreugung wieder
Siebenmboierzögfter Brief. 1981
auszufüuͤhren, als er es eingeführt Hat: *) aber die unglütks
lichen Sclaven dürfen die Lippen nicht bewegen, felbit nicht,
um zu reden. Die Ruthe bannt auch. das leiſeſte GBemur⸗
mel: nicht einmal zufällige Dinge, ale Hufen, Nieflen,
Schlucken, entgehen der Zuüchtigung; mit ſchwerer Mißhand⸗
lung wird jeder Laut gebüßt, der das Stillſchweigen unters
bricht; ganze Nächte ftehen fle ſtumm und nüchtern. "Bo
fommt e6, daß file über Ihren Herrn reden, bie vor ihm
nicht reden dürfen. Aber Jene, denen nicht nur vor ihren
Herren, fondern mit ihnen das Wort vergönnt war, denen
man den Mund nicht verfiegelte, waren bereit, für den
Herrn den Naden darzubieten, und bie ihm drohende Be⸗
fahr auf ihr eigen Haupt abzuleiten. Bei den Mahlzeiten
fprachen fie, aber auf der Folter fchwiegen fi. — Dann
wirft man mit jenem nicht minder übermüthigen Sprich⸗
worte um fi: „So viele Selaven, fo viele Feinde.“ Mir
haben fie nicht zu Feinden; wir machen fie dazu. Noch
manches andere Granfame und Unmenſchliche übergehe ich,
wie, daß wir fie nicht als Menfchen, foudern als Laſtthiere
mißbrauchen ; daß, wenn wir ung zur Tafel gelagert Yuben,
Einer unfern Speichel abwiſcht; ein Anderer niedergebüdkt
die Weberbleibfel der Trunkenen aufſammelt; ein Dritter
koſtbares Geflügel zerlegt, umd indem er die geſchickte Hand.
zwiſchen Bruft und Kenlen in Achern Wendungen herum
führt, in Stücke zerfällt. Der Unglückliche, welcher dem ein-
zigen Zwede lebt, Maftvich mit Auftand vorzuſchneiden;
2) Consol. ad Helr, IX, 10.1 Yomunt, ut ‚edunt; ‚odent, ur
vomant,
1582 Seneca’s Briefe.
aber erbärnicher it, Wer Dieß aus Lüſternheit lehrt, als
Wer es aus Roth lernt. Ein WUnderer, der Mundfchent,
wie ein Weib heransgepubt, ringe mit feinen Jahren: er.
Darf nicht über Das Knabenalter hinausfommen, man hält
ihn zurück: und, obwohl flämmig, wie ein Krieger, hat er
ein glatte Kinn, die Haare find ihm ausgeſchabt oder ganz:
lich ausgeriffen: fo durchwacht er Die ganze Naht, die er
halb der Trunßenheit feines Herrn, halb deſſen Wolluft zu:
theilt, in Schlafgennahe Mann, im Tafelzimmer Knabe.
Einen Andern ift die Prüfung der Gäfte übertragen. Da
ſteht denn dev Unglückliche, und paßt auf, Wen Schmeidhelei
und Ummäßigkelt des Schlundes oder der: Zunge einer Ein:
ladung auf morgen werth mache. Beruer bie Einkäufer,
welche die genauefte Kenntnik bes Gaumens ihres Herrn be
fisen, welche wiſſen, welcher Geſchmack ihn reizt, welcher
Anblick ihm Vergnügen macht, welches neue Gericht den
Kranken Magen aufrichten könne, was ihm aus Ueberfätti-
gung auekle, nach was ihn gerade heute gelüſte. Mit diefen
Leuten zu fpeiien, Bann er fidy nicht entfchließen, und hält
ed für eine Verringerung feiner Hoheit, mit feinen Sclaven
an demſelben Tiſch fich nieberzulaffen. Uber bie Götter mö:
gen ihm gnädig fegn, daß er nicht mehr ald Einen Herrn
unter ihnen finde! Ich fah vor der Schwelle des Calli⸗
tus“) feinen ehemaligen Herren ftehen, und fah, wie Der,
welcher ihm das Täfelchen *”) angeheftet und ihn unter ber
*) Eines Freigelaffenen und Sfnftlings bes Kaiſers Elaudius.
+, Worauf Name, Preis, Eigenfchaften u. f. w. bes ver:
Fänflicden Sclaven fanden. Die fchlechteften warden aus
erſt andgeboten (prima decuria).
Siebenundvierzigfter Brief. 1583
rerächtlichften Sclavenwaare aufgeführt hatte, ubgewiefen
wurde, während man Andere vorlieh. So hat er ihm den
Dane. bezahlt, jener in die erfte Decurie geworfene Sclave,
an welcher die Ausrufer ihre Stimme erproben; .er hat ihn
num auch von fich gefloßen, hat ihn feines Haufes für un:
würdig erklärt. Der Herr hatte den Galliftus verkauft:
aber wie Vieles verkaufte Calliſtus feinem Herren!
Willſt Du nicht bedenken, daß Der, welchen Du Deinen
Selaven nennfl, aus denselben Saamen entiproffen, unter
demſelben Himmel diefelbe Luft athmet, und lebt und flirbt,
wie Du ? Du Bannft chen fo auf ihn als Freien fehen, wic
er Dich ald Sclaven. Durch die Niederlage des Varus hat
Das. Schickſal manchen Maun von der glänzendſten Geburt,
der die Senatorenwiürbe ald Lohn feines Kriegsdisnfled vor
Augen hatte, niedergebrüdt ; den Einen hat es zum Hirten,
einen Andern zum Wächter einer Hütte gemacht. Beradhte
num einen Menfchen feines Standes wegen, "in welchen Du,
während Du ihn verachseft, ſelbſt übergehen kannſt!
Doc, ich will mid, nicht in einen Gegenflant ten fo
weiten Umfange einlaffen, nnd von der Behandlung der
Sclaven reden, Denen wir fo übermüthig, fo hart, fo fchimpf:
lich begeguen. Nur den Hauptinhalt meiner Regeln gebe
ich; er lautet: Gehe mit dem Beringereu fo um,
wie Du wünſcheſt, daß der Höhere mit Dir nm
gehen möge. So oft Dir einfällt, wad Du Alles gegen
Deinen Sclaven Div erlauben barfft, fo laß Dir auch ein⸗
falten, Daß Dein Herr fidy eben fo viel gegen Dich erlauben
dürfe. „Aber ich habe feinen Herrn,‘ ſagſt Du. Dr bit
noch nicht alt genug: vielleicht wirk Da wo Enns
1384 Seneca's Briefe.
men. Weißt Du nicht, wie alt Hecuba war, als fie zu dies
- nen anfleng, wie alt E&röfus, und die Mutter bes Das
rius, und Plato und Diogenes? Gehe ſchonend mit Deinem
Gclaven um: ja mache ihn zu Deinem Gefellfchafter, mit
dem Du fprichft, den Du um Rath fragft, mit dem Du zu
Tifhe ſſheſt.
„Pfui, wie gemein, wie ekelhaft!“ vuft mir Hier ber
ganze Schwarm verwöhnter Zärtlinge entgegen. Und doch
werde ich vielleicht eben dieſelben betreffen, wie fle dem Scla⸗
ven eines andern Herrn die Hand Lüffen. Und wißt ihr
. nicht einmal, wie geflifientlich unfere Boreltern alles Ge
häffige von der Herrfchart, und von den Gclaven alles Er⸗
niebrigende ferne hielten? Sie nannten den Herrn: Dans
vater [pater familiae], die Sclaven (was noch in "den Mis
men beſteht) Hansgenoffen [familiares]. Sie fehten ein
Feſt ein, nicht, damit nur an diefem Tage die Herten mit
ihren Sclaven eſſen follten, -fondern fie räumten ihnen an
bemfelben die Ehrenpläge im Haufe ein, ließen ſie richterliche
Ausſprüche than, und. erklärten damit die Familie für eine
Republik im Kleinen. „So foll ich alfo alle meine Sclaven
an meinen Tiſch ziehen?” Eben fo wenig ald alle Freie.
Aber Du irrt, wenn Du glaubft, idy werbe @inige wegen
ihrer unfaubern Befchäftigung ausichließen, wie 3. B. ben
Maulthiertreiber oder den Kuhhirten; ich werde ſie nicht
nach ihren Berrihtungen, fondern nach ihren Sitten fdyä-
den. Beine Sitten gibt ſich Feder ſelbſt: die Berrichtungen
weist ihnen ber Zufall an. Einige mögen mit Dir fpeifen,
zeil fie Defjen würdig find: Andere, damit fle’d werben.
Denn was von ihrem gemeinen Amganer vrhı Scttenenneftes
Siebenundvierzigfter Brief. 1585
ihnen anklebt, wird dad Zufammenfenn mit Gebülbeteren
abftreifen. Du braucht nicht bloß auf dem Forum und in
der Eurie nach einem Freunde zu fuchen, mein Lucilius:
Du Eaunft, wenn du forgfältig Acht geben willft, auch im.
eigenen Hauſe einen folchen finden. Oft Tiegt ein guter
Stoff unbenüst, in Ermanglung eines Künftlerd: verfuche
es, und erfahre es ſelbſt. Wie Der ein Ihor ift, welcher
ein Pferd, das er kaufen will, nicht felbft betrachtet, fondern
nur deffen Reitdecke und Zeug: fo ift. ein noch weit größe
rer Thor, Wer den Menfchen nad, feinem Kleide ſſchätzt
oder nad) feinem Stande, welcher uns gleidy einem Kleide
umgibt. Er ift Sclave, aber vielleicht frei am Geifte. Er
ift. Schave — wird ihm Dieß fchaben ? Zeige mir Einen,
der es nicht wäre. Der Eine ift Selave der Wolluſt; ein
Anderer der Habſucht, wieder ein Auderer des Ehrgeitzes,
und Allesder Furcht. Ic, Eönnte Dir einen geweienen Kons
ful nennen, der eines alten Weibes Sclave iſt; ‚einen Reis
chen / den eine Magd ſich dienſtbax gemacht hat; ich könnte
Dir die vornehmften jungen Leute zeigen, deren Herren mis
mifche Zänzer find. Keine Sclaverei iſt ſchimpflicher, als
eine freiwillige. Laß Dich alſo nicht durch jene ekeln Vor:
nehmen abfchreden, Deinen Sclaven freundlich, und nicht
als ein ſtolzer Höherer, zu begegnen. Sie follen Dich ehren, .
ftatt Dich zu fürchten.
Da wird man aber einwenden, ich wolle den Sclaven
die Sreiheitsmüse auffesen, wolle die Herren von ihrer Höhe,
herabftürgen, wenn id) fage, der Selave fall feinen Herrn
ehren, nicht fürchten. Aber ic, wieberhiie dd, vr SS ST
- ehren, wie-man einen Höheren ehrt, Deten EU WEST
1586 Senkea's Briefe.
dem man feine Achtung beweist. Wer Jenes einwendet, ver:
gißt, daß für einen Herren Das nicht zu wenig ſeyn Kann,
was ber Gottheit genügte — verehrt und geliebt zu werden.
Furcht kann sich der Liebe nicht beimiſchen. Du thnſt alfo
nady meinen Urtheile ganz vecht, wenn Du von Deinen
Schaven wicht gefürchtet werden willft, und nur mit Mors
ten ftraiit. Mit Schlägen werden unvernünftige Thiere ges
mahnt. Nicht Alles, was und zuwider ift, befchädigt ung;
aber unſere Verwöhnung läßt und unwillkürlich in ben
MWahniinn des Zorns gerathen, fo ort Etwas unfern Wün-
fchen nicht entſpricht. Wir haben ten Sinn der Könige
angenommen, bie gleichfalls, vergeffend ihrer Macht und ber
Schwäche Anderer, vor Zorn fich entfärben und mwüthen,
als ob fie ein Unrecht erlitten hätten, eine Gefahr, vor wel⸗
cher fie doc, die Höhe ihres Glücksſtandes fo ficher ftellt.
Auch iſt Dien ihnen nicht unbelannt: aber fle ergreifen be
gierig die Gelegenheit zu ſchaden, weil fle dieſelbe ſuchen;
fle nehmen es als ein Unrecht auf, um welches zu thun.
Länger will ich Did) nicht aufhalten, weil Du keine
Mahnungen bedarfſt. Das haben gute Sitten unter Ande⸗
rem an ſich, daß sie ſich ſelbſt gefallen, und beharren ; die
Schlechtigkeit ift ohne Haft, und ändert ſich oft, nicht in’e
Beffere, tondern in Anderes.
*
mn Sn nie
Achtundvierzigſter Brief. 1587
Achtundvierzigſter Brief.
Ueber Freundſchaft. — Gegen die Dialectifchen
Spielereien der Stoiker.
Auf Deinen Brief, den Du mir auf der Reiſe ſchriebſt,
und der fo lang iſt als die. Reiſe ſelbſt, werde ich Dir nädı-
ftend antworten. Ich muß in ungeflörker Ruhe darüber
nachdenken, wozu ich Div rathen foll. Haft Du dody ſelbſt,
der Du mid) fragft, zuvor lange überlegt, ob Du mich um
Rath fragen follft ; um wie viel mehr muß. ich Dieß thun,
da längere Zeit dazu gehört, eine Frage zu löfen, ale fie vor⸗
zulegen — zumal, da Dein Vortheil hierbei nidyt der mei⸗
‚nige ift? Doch fchon wieder fpreche ich wie Epicurus. Nein,
mein Vortheil ift der Deinige; ober ich bin Dein Freund
nicht, wenn nicht jede Dich angehende Angelegenheit audy-
die meinige ift. Die Freundſchaft ftiftet zwifchen uns eine
Gemeinfchaft aller Dinge: es gibt für den Einzelnen kein
befondered Glück uud fein Unglück: wir leben gemeinſchaft⸗
lich. Man kann auch nicht glücklich leben, wenn man nur
auf fidy flieht, und Alles zu feinem eigenen Vortheil zu wen⸗
den ſucht: Du mußt für den Andern Ieben, wenn Du für
Dich ſelbſt leben willſt. Diefe gejellige Verbindung der
Menſchen unter ſich, ſorgfältig und heilig bewahrt, bringt
uns Alle in Zuſammenhang mit Allen, zeigt, daß es ein ge⸗
meinſchaftliches Recht des Menſchengeſchlechtes gibt, und be⸗
fördert gar ſehr die Pflege auch jener engeren Verbindung,
von welcher ich ſprach, Die Pflege derfreunbidsik.
Denn Der wird mit dem Treunte Ailed gem res WS
Mer Bieled mil einem Menſchen gemein t-
ı598 Seneca's Briefe.
Solche Lehren, mein trefflicher Lucilins, was ich dem
Freunde, was ich dem Menfchen zu feiften Habe, will id
mir von jenen fcharffinnigen Männern weit lieber geben, als
mir von ihnen. fagen Taffen, in wie vielerlei Sinn das Wort
Freund gebraucht werde, und was Alles das Wort Menſch
bedeute. Nach zwei verfchiebenen Richtungen laufen, wie Da
fiehft, die Weisheit nud Die Thorheit aus einander. Welcher fol
ich beitreten, welchen Weg verfolgen ? Jenem ift der Menſch
ein Sreund; Diefem ift der Freund (weiter nichts als) ein
Menſch; Diefer verfhafft den Freund für fih, Jener ſich
für den Freund. Du aber: verdreheft mir Worte und fpies
Left mit Sylben. Als ob ic, wenn ich nicht ganz fchlaue
Zragen forme, und durdy einen falſchen Schluß ans ber
Wahrheit eine Lüge zu folgern verflehe, unmöglich zu unter
fcheiden wüßte, was ich zu meiden und was ich zu erftreben
habe! Ich ſchäme mich es zu fagen: wir Greife fpiefen bei
— ſo ernſten Dingen! — „Die Maus ift eine Spibe; bie
Maus aber benagt den Käfe; alfo benagt eine Sylbe bem
Kaſe.“ Angenommen, ich verflünde diefen Trugſchluß nicht
aufzulöfen ; welche Gefahr, welches Ungemac könnte mir
ans diefer Unkunde erwachten ? Ohne Zweifel wäre zu bes
fürdyen, ich werbe einmal Sylben in der Mansfalle fangen, -
oder ed werde mir, wenn ich nicht Acht gebe, ein Buch den _
ganzen Käfe aufeffen. Doc, vielleicht noch ſcharfſinniger iſt
folgender Schluß: „die Maus ift eine Sylbe; eine Solbe
aber benagt den Käfe nicht; alfo benagt die Maus ben Käfe
nicht.“ O, welche Eindifche Poſſen! Alfo darum falten wir
die Stirn ?2 Darum laffen wir den Bart wachen? Das iſt's,
2298 wir mit ſo ernfthaftern, dlafem Brite kehrt
r
Achtundvierzigſter Brief. 1589
Willſt Du willen, was die Philofophie dem Menfchen»
gefchlechte verheißt? Guten Rath. Diefen ruft ber Tod;
Genen plagt die Armuth; einen Dritten quält fremder oder
eigener Neichthum. Diefen fchanert vor dem Unglück; es
ner möchte fid) feinem Glück entziehen; Diefer iſt unyufrice
den mit den Menfchen, Jener mit den Göttern. Wie fell
tet Du Di mit jenen Spielereien befaften? Es ift zu
ſcherzen Beine Zeit: Du bift zu Uinglüctichen berufen. Du
haft -verfprochen, Schiffbrüdhigen, Gefangenen, Kranken,
Nothteidenden und Golden Hülfe zu: bringen, die fchon dem
aufgehobenen Beil den Naden darreichen: wohin verirrft Du
Dich? Was treibt Dun? Der, mit den Du ſcherzen willft,
ift geängſtigt. „Hülf uns,” antworten Dir Alle, die in
Anfechtung find, was Du auch fprechen magfl. Von allen
Seiten ftredenfle die Hände nah Dir aus, und flehen um
Hülfe für das verlorene und zu Grunde gehende Leben; an
Dir ift’d, Hoffnung und Stärkung zu gewähren; Dich bite
ten fie, diefem gewaltigen WBogendrang fie zu entziehen,’ und
ven Verſchlagenen und Irrenden bir helle Leuchte der Wahrs
heit zu zeigen. Sag’ ihnen, was die Natur nöthig und was
fie überflüſſig machte; wie leichte Gebote fie gegeben; wie
froh, wie unangefochten das Leben Derer ſey, die ihr folgen;
wie voller Hinderniffe aber und mannichfach verbittert das
Leben Derer, die dem Wahne mehr als der Natur vertrauen.
Bor Allen zeige ihnen, welches der Mittel, die geeignet
find. einen Theil jener Uedel zu heben, die Begierden aus—⸗
rotte, welces fle zügle.
Woliten tie Götter, dab de und ak EN IT N
Seneca. 138 Vechn.
1590 Seneca's Briefe.
(diefe Dialectiker)! Aber fie ſchaden. Dieß, will ich Dir, wenn
Du es verlangft, aufs Kiarfte beweiſen, daß eine herrlice
Anlage, bie fih anf folhe Spipfindigkeiten wirft, ner
trüppelt und verkümmert. Ic ſchaͤme mich, es zu fanen,
welche Waffen fie Denen reihen, die gegen das Schichſal
ankaͤmpfen follen, und wie fle Diefeiben ansräften. Auf dies
fem Wege wandelt man zum hoͤchſten Gute! Nein, auf ihm
gelangt die Philoſophie nur zu jenen ſchwarzen, ſchmählichen,
felbit den Advocaten entehrenden Sophiftereien. Denn Indem
ihr die Lente durch eure ragen wiſſentlich in ZTrugfulüfe
führet,, was wollt ihr andere, ale den Prozeß gegen je ge
wonnen zu haben ſcheinen? Allein wie dort der Praͤtor, fo
ſtellt auch diejen Die Philofophie ihren Rechtsſtand wieder
ber. Warum entfernt ihr euch jo weit von euern gewaltigen
Verfprechungen ? Ihr habt große Worte geſprochen; ihr
wolltet mic, dahin bringen, daß des Schwertes Biipen fo
wenig als des Goldes meine Augen biende; daß ich mit Hel⸗
dengröße, was Alle wünfchen und was Alle fürchten, nieder
trete, — und nun feige ihe herab zu den Elementen ber
Grammatik! Was fazt ihr? Wandelt man fo zu den Ster⸗
nen? Denn das iſt's, was die Philofophie mir terheikt,
„wich Gott aleidy zu machen: dazu bin ich berufen, dazum
bin ich gekommen. So löſe denn dein Wort!
So viel Du alfo Fannft, mein Lucius, erthalte Die
diefer Sophiftereien und Nedefchlingen ter Phitojophen. Di:
fenheit und ſchlichte Einfalt ziemt dem Gutgeſinuten. Auch
wenn der Lebenszeit noch viel Abrig wäre, fo mäßten
wir fie ſparſam eintheifen, damit fie für das Noͤthige and:
Neunundvierzigfter. Brief. 1591.
reihe; nun aber, weicher Wahnfinn, Unnöthiges zu lernen
bei foicher Armuth an Zeit!
Neunundvierzigſter Brief.
Eile des Lebens: 3eitverderb der Dialectiker.
Es verräth zwar Gleichgültigkeit und Mangel an-Liebe,
nur durch irgend eine Gegend gemahnt, anf das Andenken
an einen Freund zurückzukommen; doch rufen bisweilen ver.
traute Pläge, die in unferem Herzen wohnende Sehnſucht
iebhafter. hervor , und erneuern nicht ein erlofchenes Auden⸗
ten, fondern frifchen nur das ruhende auf; wie der Schmerz
Zranuernder, auch wenn die Zeit ihn befänftigt bar, oft durch
den Eintritt eines vertrauten Dienerd, oder durch den An⸗
blick eined Gewandes, einer Wohnung, wieder neu wird,
So kannſt Du nicht glauben, wie Gampanten, zumal Nea⸗
geil, im Angeſicht deines Pompeji, mein Verlangen nad Dir
erneuert hat. Du ſchwebſt vor meinen Blicken, ganz wie
Du warft, ald ih von Dir ſchied; ich fehe Dich Deine Thraͤe
nen zurücddrängen, jehbe, wie Du Deine allen Zwang durd,
brechenden Gefühle nicht zu bewältigen vermag. Mir if,
als hätte ich Dich fo eben erft verloren. - Denn was war
nicht fo eben, wenn wir zurüddenten ? Go eben nad ſaß
ich als Knabe in des Philoſophen Sotion Schute; fo eben
fieng ih au, ald Sachwalter aufzutreten; fo eben hörte ich
auf, dieß zu wollen; fo eben hörte ich auf, es zu können.
Unbefchreibtich ift die Eile der Zeit, am Don RUN ir
1592 Seneca's Briefe.
auf, wenn man rückwärts blickt. Denn ſo Lange wir auf das
Gegenwärtige gerichtet find, täufcht fie uns: ihr Worüber:
fchlüpfen in unaufpaltfamer Flucht ift unmerklich. Du fragft
nad) der Urfahe? Die ganze vergangene Seit ift beifammen
auf Einer Stelle: man überfieht fie auf Einmal: es ift Eine
Tiefe, in weiche Altes hinabflürzt. Und lange Imifchenräume
können ja nicht feyn, wo das Ganze fo kurz if. Es ift ein
Punkt, was wir leben, und noch weniger als ein Punkt;
aber diefes Kleinfte hat die Natur fcheinbar in einen weitern
Raum vertheilt. Etwas davon machte fie zur Kindheit, Et⸗
was zum Kuabenalter, Etwas zum Tünglingsalter, Etwas
zu einer Urt Uebergang vom Tünglingsalter und Greifenal:
ter, Etwas zum Greifenalter ſeibſt. Wie viele Stufen hat
fie auf einem fo kleinen Raume angebraht! So eben esft
hab’ ich Dir das Geleite gegeben; und doch iſt dieſes fo
eben ein guter Theil unferer Lebenszeit, teren Kürze wir
— laß uns dieß bedenken! — einft fühlen werden. Sonft
pflegte mir die Zeit nicht fo reiffend ſchnell zu entfliehen:
jezt finde ich ihre Eile unglaublich, vielleicht weil ich das
lezte Ziel nahe fühle, oder weil ich aufmer&fam zu werden
und meine Berlufte zu berechnen anfange.
Um fo unwürdiger finde ich. ed, daß es Leute giebt, die
den größeren Theil diefer Zeit, melche, auch wenn fie noch
fo forgfältig in Acht genommen wird, doch nicht einmal für
das Nothwendige ausreicht, auf Meberflüfliges verwenden.
Gicero fagt, er würte, andy wenn man feine Jahre ihm ver:
Doppelte, nicht Zeit haben, die Lyriker zu leſen. Nicht an-
Ders IE ed mit den Dialectitern: nur daß diefe mit ihren Uns
Bereimtpeiten es ernfthafter nehmen. Lee eitiüten üsren
Neunundoierzigfter Brief. 1593
Mathwillen für Das, was er ift: Diefe bilden fich ſelbſt ein..
etwas Wichtiges zu thun. Ic behaupte übrigens nicht,
daß man fie feines Blickes würdigen fole; man ſoll fie als
lerdings befchauen, doch nur aus der Ferne, und bloß, das
mit man fidy durch fie nicht zum Beten halten laffe, und
nicht etwa meine, als befißen fie irgend ein wichtiges, vers
bosgeued But. Was quälſt Du Did und magerft Did, ab
über einer Aufgabe, die zu verachten mehr Verſtand verräth,
als fie aufzutdöfen? Wer nichts zu forgen hat, und nad
Behagen fortwantert, mag Kleinigkeiten auflefen: wenn der
Feind auf dem Naden ift, und der Krieger aufzubrechen bat,
fo beißt die Noch wegwerfen, was ein müffiger Friede ges
famınelt hatte. Ich habe Feine Zeit, auf doppelfinnige Wör:
ter Jagd zu machen, und meinen Wis daran zu verfuchen.
Schau, wie bie Völker ſich rotten, wie rings in verfchloffenen
oren
Seflungen wegen den Stahl! *)
Mit hohem Muthe ſoll ich dieſes Getöfe des rings mich
umlärmenden Krieges vernehmen. Mit Recht hielten mich
Aue für einen Verrückten, wenn ich, während Greife und
Frauen Steine anf die Sinnen der Mauer ſchleppten, wäßs
send die bewaffnete Jugend innerhalb der Thore das Zeichen
zum Ausfall erwartete ‚oder forderte, während die Waffen
des Feindes fchon in den Thoren blizten, und der Boden
ſelbſt, unterwühlt in geheimen Gängen, zitterte — wenn ich
da müſſig fälle, und Syllogismen ſchmiedete, wie folgenden:
„Was Du nicht verloren haft, haft Du: Hörner haft Du
») Virgil Aen. VIII, 385 f.
1594 Seneca’s Briefe,
nicht verforen, alfo haft Du Hörner,’ und was dergleichen,
nad) dem Mufter diefes fcharffinnigen Unfinns geformte Kunſt⸗
ſtückchen mehr find. Und auch jeze müßte ih Dir für ver-
rückt gelten, wenn ich anf ſolche Dinge Mühe verwendete:
denn ich werde wirklich befagert. In jenem Falle würde mir
die Gefahr doch nur ron Auffen drohen, die Mauer wäre
mich vom Zeinde fdeiden; jezt aber ift das Todtbringende
bei mir. Sch babe keine Muße für ſolche Thorheiten: ein
hochwichtiges Gefchäft kab’ ich unter den Händen. Mas foll
ich thun? Der Tod verfolgs mich: das Leben flieht. Gegen
Diefes Iehre mich Etwas: bringe mich dahin, Daß ich den
Tod nicht fliehe, das Leben mir nicht entfliehe. Ermuthige
mich gegen das Schwere, zum Gleichmuth gegen das Unver⸗
meidliche: ermweitere mir den engen Raum der Beit; Iehre
mi, daß des Lebens Werth nicht auf feiner Dauer, fon-
dern auf feinem Gebrauche beruhe, und daß es gefchegen
könne, ja fehr häufig geſchehe, daß, Wer lange gelcht, zu
“Bar gelebt hat. Sage mir, wenn ich fchlaien gehe: „viel:
leicht, daß du nicht aufwachſt.“ — Wenn ich erwache, fe
ſprich: „vielleichE wirft Du nicht wieder ſchlafen.“ Und wenn
ich ausgehe , fo fage: „vieleicht kehrſt Du nicht wieder zu
rũck.“ Und Behre ich wieder, fo fage: „vielleicht gehft Du
nicht mehr aus.” Du irrft, wenn Da glaubft, nur zu
Schiffe frenne das Leben vom Tode ein Kleiner Raum: über:
all ift die Scheitewand gleich dünn. Nicht überall zeigt fich
der Tod fo nahe, aber überall ift er fo nahe. Diefe Fin
ſterniß verfcheuhe; und Du wirft mie das leichter beibrin⸗
sen, anf was ich vorbereitet bin. Die Natur Hat uns ges
Sedrig gefchaffen ; fie hat und eine aunaätanmene Weruueli,
Fuͤnfzigſter Brief. 1595
doch eine folche gegeben, die vervollkommnet werden kaun.
Sprich zu mir von der Gerechtigkeit, von der Frömmigkeit,
von der Genügſamkeit und von der Züchtigkeit, ſowohl jes
uer, die einen fremden Körper nicht antaftet, als der, Die
den ihrigen in Ehren hält. Willſt du mich durch Keine Um⸗
wege führen, fo werde ich leichter dahin gelangen, wohin ich
trachte. Denn, wie jener Tragiker, fagt: „Einfach iſt der
Mahrheit Sprache.” *) Man fol fie alfo nicht verwideln:
denn jene hinterliftige Verfchlagenheit ziemt am wenigften
Geiftern, welche Großes erftreben.
Fuͤnfzigſter Brief.
Dan Terne fich felber kennen, um fih zu
beffern.
Deinen Brief erhielt ich erft mehrere Monate , nachden
Du ihn hatteſt abgehen laſſen. Ich hielt es daher für nutz⸗
108, den Ucberbriuger zu fragen , .was du macheſt; denn er.
muß ein autes Gedachtniß haben, wenn er fich deffen noch
erinnert. Zudem hoffe ih, Du lebeſt nun ſchon fo, daß ich,
wo Du auch feyit, willen kann, was Du macheſt. Denn
was follteft Du anderes machen, als Dich ferbft täglich befs
fern, einen Irrthum um den andern ablegen, und einfehen
fernen, daß Deine Schuld fey, was Du für die Schuld der
Dinge Hättft. Denn gar Manches legen wir dem Drt und
den Umſtänden zur Laſt, was und, wohin wir und aud vers
fepen, begfeiten wird. Die Harpaſte, die naͤrriſche Sclavin
*) Euririd, Phouic. a8.
. 1596 Seueca's Briefe.
meiner Frau, kennſt Du; fle biich ais ein läſtiges Erbſtück
in meinem Haufe zurüd; denn ich bin foichen Mißgeburten
höchſt abgeneigt ; wer: ich mich mit einem Narren befuftigen
will, fo brauche ich ihm nicht weit zu. fuchen: ich Ladye über
mich ſelbſt. Diefe Närrin alfo hat mit einemmale das Ge:
fiht verloren. Die Sache wird Dir unglaublich feyn, aber
fie tft wahr. — Harpafte weiß nicht, daß ſie blind ift, und
verlangt einmal um das Andere won ihrem Aufſeher, taß er
mit ihr ausziehe: das Haus, behauptet fie, ſey "finfter.
Darüber lachen wir; aber daſſelbe, merke Div’d, begegnet
uns Ulen. Niemand weiß, daß er geibig, Niemand, dag er
Sclave feiner Begierden ift. Die Blinden fuchen doc) einen
Führer; wir irren ohne Führer und ſptechen: ,Ehriüchtig
bin ic) nicht; aber man kann nun einmal zu Kom nicht an⸗
Ders leben. — Aufwand mache ich nichts aber fihon bie
Stadt nöthigt zu großen Ausgaben. — Es iſt nicht mein
Fehler, daß ich jühzsrnig bin, daß meine Lebensweiſe noch
nicht feſt und geregelt iſt; das macht die Jugend.“
Warum betrügen wir uns ſelbſt? Nicht außer uns iſt
unſer Gebrechen; es iſt in und, haftet in unſern Eingewei⸗
den. Daher gelangen wir ſo ſchwer zur Geneſung, weil
wir nicht wiſſen, daß wir krank find. Auch wenn wir ans
fingen, uns heilen zu Taffen, wie lange würden wir wohl
brauchen, fo viele Weber, fo große Schwächen zu vertreiben?
Nun aber fuchen wir nicht einmal einen Wrzt: dieſer hätte
geringere Mühe, wenn wir ihn beizögen, fo lange der Scha⸗
den noch neu ift: die noch zarten, unverfuchtn Herzen wit:
den leicht dem Führer anf dem rechten Wege folgen. Nies
mand laͤßt ſich ſchwer zur Naotux führen, old Wer Gen von
| Sinfzigfter Brief. 1597
ihr abſtel. Wir erröthen, Vernunft erft zu lernen: aber,
mwahrlih, wenn ed eine Schande ift, einen Lehrer dafür .zu
fuhen, fo gebe man nur auch die Hoffuung auf, daß und
der Zufall ein fo großes Gut eingießen fönne —; wir müls
fen arbeiten. "Und, um die Wahrheit zu fagen: die Arbeit
ift. nicht einmal fehr groß; nur funge man, wie gefagt, mit
der Bildung nnd DBefferung des Gemüthet an, noch che defs
fen Verkehrtheit fi verhärtet hat. Doh auch an dem vers
härteten verzweiſte ich nicht: Nichts it, was behar:licher
Fleis, aufmerffame und gewiffenhafte Sorgfalt nicht über:
winden könnte. Baumflämme, fo gekrümmt fie feyen, laffen
fid) gerade machen; gebogene Balken dehnt die Wärme, und
anders gewachſen, werden fie 31 Den umgefornit, was unfer
Bedürfniß erheifcht. Um wie viel Leichter aber nimmt die
Seele, dieſes bieafame Wefen, das fihmiegfamer ift als jede
Flüſſigkeit, eine Form an? Denn was ift dir Seele aus -
ders, als eine efgenthümtliche Mer Aether? und Du flieht,
daß der Aether leichter ift, ald jeder andere Stoff, weil er
der feinfte Stoff if. Ob audı dıs Böſe ung fchon in Beflb
genommen ,-ob ed fange fchon im Befige unſerer ift, fo darf
Dich dieß doch nicht hindern, mein Lucitius, gute Hoffnun⸗
gen von und zu faſſen. Niemanden wird die aufe Gellnnung
eber, als die fchlinme, zu Theil ; wir Alte find zum Voraus
eingenommen. Tugenden lernen heißt Fehler verlernen. Aber
- am fo muthiger müffen wir zur Beflerung unferer feibit
fchreiten, weit der Beflg Ted ung einmal gewordenen Guten
ein bleidender if. Die Tugend wird nicht verlernt Denn
das Böfe, als ein Widriget, haftet auf fremden Barren, u
Bann fomit vertrichen und ausgeratter werden“ HET ET TS
1598 ESẽsneca's Briefe.
was feine Stelle gefunden hat. Die Tugend ift der Natur
geniäß: das Lafter if ihr witerftrebend und feindlich. Allein,
wie einmal in uns aufgenommene Tugenden nidyt wieder
ausziehen können, und es leicht ift, fie zu bewahren; fo if
der erfte Zugang zu ihnen fleil, weil das ſchwache, malte
Herz ſich darin zuerſt verräth , daß es vor dem Unverfudhten
ſich fürchte. Man muß ed alio zwingen, Daß es beginne.
Sofort ift die Arznei nicht derbe: indem fie anichlägt, ſchmeckt
fie fogar. Anderer Heilmittel freut man fich erft nach ers
langter Geſundheit: die Philofophie ift gleichermaßen heilfam
und füß.
ES inundfünfzigfler Brief.
Die Bäder zu Bajd.
Wie Jeder kann, mein Lueitius! Du haft dort ten
Aetna, jenen weltbekannten Berg Sicilieus —: warum ihn
Meſſala oder Valgius (denn ich las es bei beiten) den Eins
zigen nennt, finde ich nicht, indem fehr viele Stelfen Feuer
auewerfen, zicht nur hochgelegene (wiewohl dieſe häufiger,
weit dad Feuer immier möglichft hoch ſteigt), fondern and
tiefer liegente Gegenden — : wir find, fo gut wir können,
mit Bajd zufrieden, das ich Abrigens am Tage nach meiner
Ankunft wieder verließ, als einen Drt, der bri allen Gaben,
die er von der Natur empfangen, dennoch deßwegen zu vers
meiden ift, weil die Ueppigkeit ihn zu ihrem Tummelplaß
gemacht hat.
„Mie alſo? Darf man irgend einem Orte Haß anfüus
drgen 7'° Bewiß nicht; aber wie einem weilen nat tugerthafe
„
Einundfünfzigfter Brief. 1599
ten Manne eine Kleidung beffer anfteht, als die andere,
shne daß er irgend eine Farbe haßt, fondern indem er ges
wiſſe Farben einem Wanne, der ſich zur Einfad,heit bekennt,
für minder angemeffener hält: fo giebt «6 auch Gegenden,
weiche der Weife oder der nach Weisheit Strebente ats ſol⸗
che vermeidet, die mit guten Sitten fich nicht gut vertragen.
Sp wird er, wenn er darauf denkt, ſich zurückzuziehen, ge«
wiß nie Canopus *) wählen, wiewohl Candpus Niemanden
verbietet, vernünftig zu fepn, ja nicht einmal Bajd. Denn
diefer Dit Hat angefangen, Me Herberge der Laſter zu wer:
den: dort erlaubt fid, die Ueppigkeit Alles; dort, als ob
eine gewiſſe Ungebundenheit dem Orte gebühre, entfeffelt fie
ſich freier. Allein nicht bloß für den Körper, auch für die
Sitten follen wir einen gefunten Aufenthalt wählen. So
wenig ich unter Folterfnechten wohnen möchte, eben fo wenig
auch zwiſchen Gurfüchen. Betrnunkene, wie fle auf ten Luſt⸗
gängen am Ufer hintäumeln, die Seen, belebt von ſchmau⸗
-fenden Geſellſchaften auf Schiffen und von raufrtenden Pins
fifchören,, und manches Andere, mas die Schwelgerei, alt
wäre fie aller Geſetze ledig, nicht nur fündigt, fondern zur
Schau ftellt — wozu fol ich Bas Altes fehen? Darauf viels
mehr folfen wir denfen,; wie wir den Reitzungen der Lafler
fo weit ald ındglid, entfliehen. Wir follen das Herz feſt ma⸗
chen, und es von der verlockenden Schmeichelei drr Wolluſt
ferne halten. Ein Winter bat Hannibals Kıaft gelöst,
und den Mann, den Eis und Schnee ber Alpen nicht beuge
2) Fine Stabt in Aegypten, deren verfügen ST Sn
Spruchwoit geworden waren,
.
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.. Ki =;
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1600 Eeneia’s Briefe.
“ten, enfnervfen die weichen warmen Polfter Campaniı
Durch Waffen fiegte er: durch Laſter ward er beileat. 2
wir haben Krieg zu führen, und zwar in einer Urt des D
ſtes, die nie Ruhe noch Raſt geflattet. Wir müſſen vor
fen die Lüfte betänpfen, welche, wie Du fiehft, auch
sropigften Eharactere mit ſich fortgeriffen baden, Ber
ſich vergeftelte hat, zu welch großem Werke er fchritt, v
erkennen, daß hier nicht mit weichlichem Behagen verfat
werden darf,
Was follen mic jene Behälter warmen Waflers, |
Schwitzzimmer, in welchen eingefchloffene trodene Din
dem Körper alle Feuchtigkeit entziehen? Nur die Arbeit
und den Schweiß austreiben. Würden wir thun, was H
nibat gethan, und den Zauf der Thaten unterbrechend.
den Krieg einitellend, bemüht ſeyn, dem Leibe gütlich
thun , fo würde Jedermann dieſe unzeitige und dem Sie
ſelbſt, gefchweige Dem, der erft im Begriff ift, ed zu m
den ,„ gefährliche Unrpätigbeit mie Recht tadeln. Wir a
dürfen und noch wenigec erlauben, als Gene, welche
Punifchen Fahnen folgten: größere Gefahr wartet um
wenn wir weichen, größere Arbeit fogar, wenn wir bet
sen. Das Sch Aal führt Kıieg mit mir: ich will mir &
Geſetze vorfchreiben, Bein Joch auflegen laſſen; oder v
mehr — was mit noch größerer Kraft gethan feyn will
ich ſchüttle es ab. Da darf ich Bas Gemüth nicht weich ıx
den laffen. Gebe id) der Wouuft nach, fo muß ich auch |
Schmerz, der Ermüdung, ter Armuth nachzeben; ein glei
Reit wird die Ehrſucht, der Zorn fid, über mich anmaß
—X viele Leidenſchaften werden fidy wm wich, Kreiten, ia u
Einundfünfzigfter Brief. 1601
gerreiffen. Die Freiheit ift das Biel; um diefen Preis wird
gerungen. Welche Freiheit idy meine? Keines Dinges, kei⸗
ned Zwanges, keines Zufalls Sclave ſeyn, und mit dem
Schickſal ſich auf gleihen Boden ftelfen. Bon dem Tage an,
wo ich mich ftärker fühle als das Schickſal, wird es nichts
mehr vermögen. ch follte mir feine Macht gefallen laſſen,
da der Tod in meiner Gewalt fteht? | |
Mit ſolchen Gedauken befchäftigt wähle man fich einen
ernten, heiligen Ort. Eine allzu anmuthige Gegend macht
das Gemüth weibifch: nud unftreitig Bann die Gegend dazu
- beitragen, die Thatkraſt zu verderben. Auf jedem Wege
kommen Laſtthiere fort, deren Huf auf rauhem Boden fich
-verhärtet hut; auf weichen, fumpfigten Zriften Gemäflete
nupen ſchnell fih ab. Rüſtiger ift der Soldat, der aus dem
Gebirge kommt; verdroffen der Städter und der Verwöhnte.
Keine Urbeit verfant ter Arm, der vom Pfluge weg bie
Waffen ergriff: anf dem erften Marſche erliegt, Wer von
Salben glänzt und disftet. Die fiengere Lebeusart in einer
rauheren Gegend flärft den Geiſt, und macht ihn für große
Unternehninngen tüdtig. Es war des Scipio würdig, ‚fid)
nad) Liternum, ftatt nad Baji, zu vrerbannen: auch nad)
feinem Sturze durite er fich nicht fo weichfich Betten. Und
ferbft Jene, anf weiche das Schickſal des Römervolkes zuerft
die Macht des Sıaates übertrug, Darius, Pompejus und
Cäfar, erbauten zwar Zandhäufer in der Gegend von Bajd,
aber fie fezten diefeiben anf die höchften Gipfel ver Berge.
Es bräuchte ihnen Friegerifcher, von Hoher Warte auf die zu
ihren Füßen liegende weite Laudfchaft niederen. Dre
trachte die Page, welche fie wählten, wa 8. wir WEIS
1602 Seneca's Briefe.
Gebäude errichteten, und Du wirft finden, daß es nicht Laub⸗
hünfer, ſoudern feſte Schiöffer find. Glaubſt Du wohl, ein
Cato würde je in cinem jener niedlichen Luſthäuſer gewohnt
haben, um die vorüberfchiffenden Buhldirnen zu zählen, die
Menge buntbemalter und mannichfaltiger Gondeln, und be
auf dem ganzen See fchwimmenden Rofen zu betrachten, und
die fich überbietenden Wechfelgefänge nächtlicher Sänger zu
vernehmen? Hätte Eato nicht lieber fein Leben Hinter dem
Walle zugebracht, als eine einzige Nacht unter ſolchen Dins
gen? Wer, der ein Mann ift, folite ſich aud dem Schafe
nicht lieber durch den Schladhtruf, als durch SympHonieen
wecken laffen ?
Doch ic habe lange genug mit Bajä schadert, nie ges
nug mit den Laſtern; diefe, mein Lucilius, ich bitte Dich,
verfolge ohne Maaß und Ende: denn auc fie kennen weder
Ende noch Maaß. Wirk von Dir, was Dein Herz zerfleiſcht;
und könnten fie nicht anders heransgeichafft werden, fo wäre
das Herz ſelbſt mit ihnen auszureiffen. Vor allem jage die
Wollüſte hinaus, und halte fie für deine ärgſten Feinde.
Denn wie jene Räuber, welche die Aegypter Phileten
nennen, umarmen file und, um und zu eriwrgen.
Zweiundfuͤnfzigſter Brief.
Wir bedürfen fremden Beiſtandes zum Buten.
Bo haben wir ihn zu fuhen?
Bas iſt es, mein Lucilins, was und, wenn wir hierhin
wolen, bortpin zieht, und ums rain tet, wen wa we
Zwelundfünfzigfter Brief. 16035
jun entfernen wünſchen? Was ift ed, das mit unferem
üthe im Kampfe liegt, und und nicht erlaubt, Etwas
für allemal zu wollen? Wir ſchwanken zwifchen wech⸗
m Entwürfen; wir wollen Nichts aus freier Entfchlies
;s Nidies entichieden, Nichts für immer. — „Das ift
Thorheit,“ ſagſt Du, „die bei Nichts beharrt, der
td fange gefällt. — Aber wie und warn werden wir
von ihr losreißen? Niemand if für ſich flark genug,
yeranszuarbeiten. Mau muß die Hand ihm bieten, ihn
iszieden. Epicur fagt, „Einige“ (und unter Diefen er
) „hätten fih den Weg zur Wuhrheit ohne Jemandes
e ſelbſt gebahnt; Solche lobt er am meiſten, die, von
ı beranggetrieben, ſich ſeibſt vorwärts brachten. Andere
rfen fremder Unterſtützung; ſchreiten nicht vor, wenn
nand ihnen vorangehe, aber folgen wacker nach: unter
en fey Metrodorus. Uuch Diefe fenen trefflihe Natu⸗
doch zweiter Art. Wir gehören nun nicht zu Jenen
n Ranges: es ſteht gut mit und, wenn ung der zweite
wiefen wird. WBerachte auch den Menſchen nicht, der
hy fremde Hilfeleiflung gerettet werden kann; es ift ſchon
‚ gerettet feyn zu wolen. Außer Diefen wirft Du eine
re, auch nicht verächtlihe Gattung Menſchen finden,
he nämlich, die man zum Rechten antreiben und nöthis
kann, Die nit nur einen Führer, fondern einen Nach⸗
r, und, daß ich fo fare, AUntreiber nöthig haben. - Das
ie dritte Claſſe. Wenn Du ein Beifpiel verlangft, fo
nach Epicurs Aeußerung, Hermarchus ein folcher.
ev findet er Jenen glücklicher, Dielen achtet ex wahr.
e gelangten zwar am dafjelve Ziel; kan ab TR ae
1604 Seneca's Briefe.
Verdienſt, auch aus dem Schwierigeren Stoffe daſſelbe [mas
and dem guten) zu macen Deute Dir, es wurden zwei .
Gebäude errichtet, beide von gleichem Umfang, -gleicher Höhe
md Pracht; dad eine aber Pam auf einen feſten Boden zu
fiehen; da wuchs das Werk ſchnell empor. Das andere hat
einen locern Grund, it in ein weiches, fumpfiged Erdreich
eingelaffen, und viele Mühe und Arbeit mußte verwendet
werden, bid man anf feften Boden fam. An jenem Gebäude
fällt, was man gearbeitet, gleich in die Augen; an biefem
fiegt ein großer, nnd ter fchwieriafte Theil des Werkes
verborgen. Einige Naturen find Leicht zu behandeln yndb
allezeit fertig; andere muß man erſt mühfem bearbeiten, und,
daß ich fo ſage, in ihren Fundamenten angreifen. Alſo
möchte ich fagen, der ift der Gläcklichere, welcher mit fi
felbft Beine Mühe hatte; ein größeres Verdienft um fidy feibfl
hat ſich Derjenige erworben, welcher ‚die Ungunft feiner
Natur überzmand, und zur Weisheit ſich nicht hinleitete,
foudern hinriß. Du dariſt glauben, daß eine fo harte, fo
viele Mühe erfordernde Natur auch und geworden ift: wir
wandeln durch Widerfiebeutes. So ringen wir denn, und
rufen wir fremde Hülfe an!
„Uber Wen, fragft Da, „ſoll id anınfen ?_ Diefen ?
Jenen?“ — Kehre Du auch zu den Allen zurück; fie fleten
Dir bereit: nicht nur, die find, fondern auch, die muren,
tönen und zu Hülfe kommen. Don Denen aber, vie find,
laß uns nicht Die wählen, welche in großer Eile ihre Worte
hinwerfen, auf Gemeinplägen fid) tummeln, und in Prirats
Sdufern umber ihre Borträge halten; fondern Die, weiche
durch das Reben felbft Ichren ; vworldye , oem ie alant, mas
awelundfünfzigfier Brief. ‚1605
man thun foll, es durch ihr eigenes Thun bewähren; welche
zeigen, was man zu meiden bat, und nie ſelbſt über Dem
betroffen werden, was fie für verwerflich erElärt haben.
Wähle zu Deinem Beiftande den Mann, den Du mehr be:
mwunderft, wenn Du ihn fiehft, als wenn Du ihn hörft.
Gleichwohl möchte ich Did, nicht verhindern, auch Solche
zu hören, welche das Volk zuzulaffen und zu dieſem zu
fprechen gewohnt find; wenn fie nur mit dem Vorſatz vor
die Menge treten, ſelbſt beffer zu werden und Andere zu
beſſern; wenn file nicht aus @itefkeit dergleichen fich zum
Gefchäfte machen. Denn was ift fchimpflicher, als eine
Philoſophie, die nad) Beifallgefchrei begierig ift? Lobt etwa -
ein Kranker feinen Arzt, fo lange ex ihn fchneidet? Schwei⸗
gend und mit Hingebung laßt mit euch die Heilung vornehmen:
auch wenn ihr Beifall rufet, laßt mir es feyn, als ob ihr
fenfzet äber der Berührung eurer Schäden. Oder wollt ihr
etwa damit beweifen, wie aufmerffam ihr feyd, wie fehr die
Größe der Gedanken zuch ergreife? Nun wohl: ift cd, daß
ihr urtheilet, daß ihr eure Etimme gebef über Das, was
gut ift, warum folte ich eud) das nicht erlauben ? Aber"
des Pythagoras Schüler mußten fünf Sabre lang fehweigen :
glanbſt Du nun, daß ihnen mit dem Sprechen auf einmal
aud dad Loben erlaubt gewefen fey? Wie groß aber wäre
die Verrücktheit Defien, ter erfreut über dad Zurufen der
Unwiſſenden aus dem Hörfaal ginge? "Wie fanı man fid
ireuen, von Meufchen gelobs zu werden, die man ſelbſt nicht
toben dann? Der Stoiter Fabianus redete zum Wolfe:
aber man hörte ihm mit beſcheidener Stile; nur bisweilen
Seneca. 138 Bbchn.
1606 Seneca’d Briefe. |
brady ein großes Gefchrei des Beifalls auf, allein ein ſolches,
das die Größe der Ideen, nicht der Wohltant der ungehemmt
und glatt dahinfließenden Rede hervorrief, Es fol ein Uns
terfchied feyu zwifchen dem Beifalleuf im Theater und im
Hörſaal. Es gibt auch eine Unsgelaffenheit im Loben. Jede
Sache verräth fi bei näherer Betrachtung; und ein Schluß
auf den Charakter läßt fid, auch aus den unbedeutendften
Dingen machen. Den Sittenfofen bezeichnet fein Gang, eine
Bewegung der Hand, zuweilen ein einziges Wort, Lie Art,
wie er den Zinger zum Kopfe führt *), wie cr die Mugen
verdreht; den Boshaften bisweilen fein Zachen ; den Narren
Miene und Haltung. Alles diefed tritt durd) Merkmale an
den Tag. Was an Jedem iſt, kannſt Du erfahren, wenn
Du beobachteft, wie er lobt. Von allen Seiten ftreden ſich
dem Philoſophen beifaffflatfchende Hände enfgegen: dewun⸗
dernd erhebt fi der ganze Haufe, und überragt ihn; aber
nun ift es nidye mehr fein Zob, was er vernimmt, fondern,
wenn Du ed recht verftehft, fein Grabgeſang. Weberfaffen
wir diefe Stimmen jeren Künften, deren Aufgabe ift, dem
Volke zu gefallen: ter Philofophie werde Verehrung, May
ed bismeilen jungen Leuten geftattet ſeyn, dem Drange ihres
Herzens nachzugeben; aber nur dann, wenn es wirklicher
Drang ift, wenn fie nicht Länger vermögen, ſich Stillſchwei⸗
gen zu gebieten. Ein Lod diefer Art hat etwas Ermunterns
des für den Zuhörer ſelbſt, und begeiftert Die Gemürher der
Jünglinge. Der Inhalt fey es, nicht Die ſchön gefepten
*) Um fi den Lodenbau nicht zu verderben; der Weichlinn.
S, Lucian Rednerſchule 11. -
—⸗ — *
—
Dreiundfinfzigfier Brief. 1607
Worte, was fe röhre: denn eine Beredfamkeit, die nicht
nach ihrem Gegenſtande, fondern nad ihr ſeibſt begierig..
macht, if ‚ihnen ſchaͤdlich. — Ich verichiebe jedoch. diefen -
Gegenftand für jept; denn eine eigene und ausführliche Er⸗
Örterung verlangen bie ragen, wie man zum Volke fprechem .
fol, was man ſich gegen das Volk, und was dem WVolke
gegen ſich erlauben dürfe. Daß die Philofophie, feittem fie
ſich öffentlich gemacht, Schaden genommen, ift außer Zweifel:
alfein in ihrem Heiligthume darf fie ſich offenbaren, wofern
ihr nur nicht ein Oteiener, fondern ein Pricfter, zu Theil
wird,
Dreinndfünfzigfler,; Brief,
Eine gefährliche Seereiſe. — Selbſtkeuntniß.
Die Philoſophie verhilft zu dieſer.
Wozu wird man mich nicht noch bereden können, da
man mich beredet Hat, zu Schiffe zu gehen? Wir lichteten
bei ruhiger See die Anker; aber der Himmel war mit ſchwe⸗
ven, ſchwarzgranen Wolken betedt, die gewöhntid, in Waffen.
oder in Wind fih auflöſen. Gleichwohl, fo zweifelhaft und
drohend das Wetter war, glaubte ich doch die wenigen Mils
lien von deinem Parthenope *) nach Puteoli mich durchſtehlen
zu können, und ließ daher, um defto gefchwinder zu entkom⸗
men und alle Buchten abzufchneiden, die Richtung mitten
durch die hohe See gerade nad) Nefis **) nehmen. Als Ich
+) Neapel.
**+) Sept Nefita, eine Fleine Infel, —J
1608 Seneca's Briefe.
. fihon fo weit war, daß ed mir gleichgültig feyn konnte, ob
ich weiter führe oder umkehrte, fing jene Stätte der See,
die mich verführt hatte an, ſich zu verlieren; ed war noch Bein
GStarm, aber die See ging fhon Hopf, und die Wogen folg:
ten ſich allmählig flärfer. Ich bat jest den Steuermann,
mich irgendwo ang Land zu fenen: allein der Mann fagte,
bie Küfte ſey fchrof und ohne Landungsplatz, und nichts
fürchte er in einem Sturme fo fehr, als das fer. Und doc
war mir zu fchlimm, als daß ih an die Sefahr denken
konnte; mich quälte nämlidy die Seefrankheit, jenes Lähmende
und doch wirkungsloſe Uebelſeyn, welches die Galle aufregt,
ohne fie auszumwerfen. Ufo drang ich in den Steuermann,
und Zwang ihn, er mochte wollen oder nicht, nach dem Lande
zu ſteuern. Als wir in die Nähe deffelben gefommen waren,
wartete ich nicht, bie gefchah, was dort Virgil Haben will:
Meerwärts dreh'n fie die Schnübel ber Schiffe — —
oder
Werfen vom Schnabel den Anker — — — .
Eingedenb meiner Kunft werfe ich mich, ein alter Verehrer
des kalten Waflers, in das Meer, wie es einem kalt Ba:
denden ziemt, im wollenen Unterfleive. Was glaubft Du,
daß ich ausgeflanden, als ich die Klippen emporklomm, als
ich einen Weg fuchte und bahnte? Da bin ich inne gewor:
den, daß tie Seeleute das Land nicht mit Unrecht fürdhten.
Unglaublich ift ed, was ich trug, ale ich mic, felbft nicht
tragen Bonnte. Ich fage dir, Ulyſſes war nicht ſowohl im
Zorne des Meeres’ gchoren, Laß er überall Schiffbruch litt:
er war ſeekrank. Auch ich will in zwanzig Jahren überall
anfommen; wohin ich fchifien (ol.
Dreiundfünfzigfter Brief. 160g
Sobald als mein Magen, den die Seekrankheit bekannt⸗
fidy mit dem Dieere verläßt, ſich erholt, und ich mich durch
Salboͤhl erfrifcht hatte, fing ich an darüber nachzudenfen,
wie doch fo leicht wir unferer Fehler vergefien, feibft der
förperlichen, die immer von Zeit zu Zeit an ſich erinnern,
geichweige derjenigen, welche um fo verborgener bleiben, je
vrößer jie find. Eine leichte fieberifche Aufregung täufcht
ung: aber wenn fie zunimmt und daraus wirkliche Sieberhige
wird, fo zwingt dad Uebel auc den Harten und Duldfamen
zum Geftändniß. Man fühlt Schmerz‘in den Füßen, leichte
Stidye in den Gelenken: noch immer will man es nicht Wort
haben; man hat dein Knöchel verrenft, fpricht man, oder
bei irgend einer. Förperlidyen. Hebung fih zu fehr angeftrengt.
So auge die Krankheit noch unentfchieden und erft im Beginn
ift, ſucht man einen Namen dafür; fangen aber die Knöchel
zu fchwellen an, und werden beide Füße zu rechten, fo muß
man geftehen, daß es das Podagra ſey. Das Gegentheil
geichieht bei den Krankheiten, worunter tie Seele leidet:
je übler man ſich befindet, defto weniger fühlt man ed. Du .
Darfft Dich darüber niche wundern, liebſter Zucilius. Wer
nur feicht ſchlummert, und in diefem Zuftande mit Traumbil⸗
dern ſpielt, ift lich bisweilen fchlafend bewußt, daß er fchläft:
ein tiefer, ſchwerer Schlaf aber verlöfcht auch die Traumbil⸗
der, und macht die tief verfenfte Seele des Bewußtſeyns ans
‚fähig. „Warum gefteht Niemand feine Fehler 7° Weil er noch
in ihnen befangen ift. Der Wachende erzählt feine Träume;
feine Fehler geftehen ift ein Zeichen der Genefung. Erwachen
wir denn, um und unferer Irrchämer ühertiien —N
nen! Uber nur die Philoſophie wird und ÜMLSER =
ı6 10 Seneca's Briefe.
allein den betäufenden Echlaf verfheuchen. Ihr gib Dich
ganz zu eigen: Du bift ihrer würdig, fle Deiner, Eile jn
ähre Arme; und allem Anderen verweigere Dich entſchloſſen
und offen. Es ift nicht, ald ob Du nur in verflohfenen Augen⸗
blicken philofophiren dürfte. Wenn Du rauf wäre, fo
hättet Du die Sorge für Deine hänelichen Angelegenheiten
eingeftellt; Deine gerichtlichen Gefchäfte ließe Du unbeach:
set, und wohl Niemand wäre Dir wichtig genug, um feinek-
wegen. ald Sachwalter in feidlichen Zwiſchenräumen auf dad
Forum zu gehen: Deine ganze Scele wäre nur Darauf ge:
richtet, fo bald als möglich Deiner Krankkeif los zu werten,
Run dann, warun thuft Du jene nicht daſſelbe? Entferne
alte Hinderniffe, und lebe nur für die Veredlung Deiner
Geſinnung; Bein Wielbeichäftiater bringt ed dahin. Die
Philoſophie übt ihre Herrfcherrecht: fie gibt Zeit, und enıs
-pfängt fie nit. Sie iſt wicht Nebenſache; fie ift die Haupt:
fadye, die Herrin; fle erfcheine und befichlt. Eine Stadt,
weiche Alerandern einen Theil ihres Geblets und die Hiffte
ihres gefammten Beflged anbot, erhielt von ibm die Ant:
wort: „Ich bin nicht in der Abſicht nach Allen gekommen,
anzunehmen, was ihr mir neben würdet, fondern damit ifr
Haben ſollt, was ic) euch übrig laſſen werde. Daſſelbe
Gpricht die Philofophie zu allen Dingen: „ich werde nicht die
Zeit annehmen, welche euch übrig bleiben wird, fondern ihr
#0At diejenige haben, weiche ich euch überlaſſe.“ Hieher
zichte Deinen ganzen Sinn; zu ihren Füßen ſetze Dich; fle
verehre; ein großer Raum fey zwifchen Dir und’den Andern,
Alten Sterbluchen wirft Du weit vorarachen, weniger weit
Dir die Götser, Wab uoch zwiſchen Diefen um Dir ir in
i
Vierundfünfzigfter Brief. _ 16011
Unterfchied feyn werde, fraaft Du? Eie werden länger be-
ſtehen. Uber, wahrlich, es ift eines großen Künſtlers Berk,
ein ſolches Ganzes in einen Fleinen Raum zu ſchließen. Für
den Weijen ift feine Lebenedauer von demfelben Umfang, wie
‚für den Gott die Ewigkeit. Und es gibt efwad, worin der
Weiſe den Gott übertrifft: diefer dankt es der Natur, daß
er nichts fürchtet; der Weile dankt ſich ſelbſt. Siehe, weldye
Größe: die Ehhwäce des Drenfchen zu haben, und die Furcht⸗
foffgkeit eines Gottes! Unglaublich ift die Kraft der Philo—
jophie, um ale Macht des Sufälligen zu entkräften. Kein
Geſchoß haftet an ihr; fie iſt feft und ficher: viele folche
Geſchoſſe fängf fie, wie matte und leichte Pfeile, fpieleud
in ihrem weiten Gewande aus; andere zerftreut fie und
ſchlendert ſte auf Den zurück, der fie gefendet hatte.
Vierundfuͤufzigſter Brief.
Vorbereitung auf den Tod.
Meine Kränklichkeit hatte mir einen langen Urlaub
gegeben; *) plöglich fiel fie mich wieder an. „In welcher
Art? frast Du. Du haft Grund, fo zu fragen; fo wenig
ift mir irgend eine Art unbekannt. Einer bin ich jedoch vor
alten gleichſam zu eigen gegeben; ich fehe nicht, warum ich
fie mit dem Briechifchen Namen benennen foll, da fie ganz
paſſend mit suspirium [Bruſtkrampf] bezeichnet werden kann.
Der Anfall ift von fehr Eurzer Dauer, ähnlich einem Windſtoß;
*% D, h. hatte mid lange verſchovt.
1612 Seneca's Briefe.
in einer Stunde iſt Alles vorüber. Denn wer gibt lauge
den Geiſt auf? Alle den Körper bedrückenden oder gefähr-
denden Uebel find durch mid, hindurchgegangen; Täfliger als
diefed fand ich Feines. Und wirklich — Jedes andere, was
es auch fey, ift nur eine Krankheit; dieſes ift ein Todes⸗
kampf. Daher nennen es and) die Uerzte die Vorübung
des Sterbend. Denn endlich ıhuf der Athem doch wirks
lich, was er mehrmals verſucht hat.
Glaubſt Du etwa, ich fchreide dir darum fo heiter, weil
ih davon gekommen bin? Wenn ich mich über diefen Aus»
gang als über meine Genefung- freute, handelte ich nicht
minder lächerlich, -ats Einer, der feine Sache gewonnen zu
haben glaubte, wenn man ihm einen längern Termin gefent
hat. Nein, audy mitten in jenen Erſtickungszufällen hörte
id) nicht auf, durch frohe und ermuthigende Betrachtungen
mid) zu beruhigen. „Was ifl’8 denn 2‘ frag’ ich mich. Der
Tod verſucht ed oft mit mir. Möge er immerbin.” Habe
ih es doch längſt fhon mit ihm verfucht. Und waun?
Schon ehe ich, geboren ward. Todt ſeyn bedeutet, daß Das,
was war, nicht mehr if. Aber was dich ift, weiß ich fchon;
dieſes [Nichtfenn) wird nad) mir feyn, was es vor mir war,
Wenn darin ein Leiden liegt, fo muß es auch darin gelegen
haben, ehe wir in die Welt eintraten: allein wir haben ba,
mals Fein Ungemach empfunden. Ich frage Di, wire es
nicht Unſinn, fagen zu wollen, es ſtehe ichlimmer um bie
Lampe, wenn fie erfofchen ift, als ehe man fie angündete?
Auch wir werden angezündet und erlöfcyen wiederz in dieſer
Swirchenzcit haben wir Empfindung von Leiden: vor und
ad iſt fiefe Ruhe. Darin, düntt mi, irren wir, wein
- Bierundfünfzigfter Brief. 1613
Lucilius, dag wir glauben, der Tod folge erft, da er doch
eben fowohl Lorangegangen iſt, als folgen wird, Was vor
und war, ift Tod. Was iſt's denn alfo, ob wie nod) nicht
anfangen oder aufhören zu feyn? Won beidem ift die gleiche
Folge, das Nichtfeyn.
Mit diefen und ähnlichen Ermunterungen (flillfchweigen-
den, verſteht fich, denn zu Worten konnte ich nicht kommen)
hörte ich nicht auf mir zuzufprechen. Nach und nach machte
diefe Beengung , die fhhon ein Kingen mit dem Athem gewes
fen, größere Paufen, zögerte, “und blieb aus. Doc auch
noch jest, wiewohl- des Uebel aufgehört, hat das Athmen
nicht feinen natürlichen Gang: ich fühle noch immer, daß es
gehemmt und aufgehalten if. Mag ed doch! kommt ja mein
Seufzen nicht aus dem. Herzen. Das verbürg’ id Dir: ic)
werde bor dem letzten Augenblicke nicht zittern; ich bin tors
bereitet, und rechne nicht auf einen ganzen Tag. Den lobe
Dir und ahme ihm nad), der nicht mit Widerwillen flirbt,
fo fange ihn noch vergnügte zu leben. Denn was wäre es
Großes, zu gehen, wenn man hinansgeworfen wird? Wie:
wohl, auch hierin Fann man groß feyn. Ich laſſe mich hin=
auswerfen, doc als ginge ich felbft. Und deßwegen wird
ber Weife nie Hinausgeworfen: weil hinaus werfen fo viek
ift als Einen von einer Stelle fchaffen, die er gutwillig nicht
verläßt. Wider Willen aber thut der Weife nichts. Er
entzieht ſich der Noshwendigkeit,: weil ey will, wozu fie
zwingen würde.
1614 Seneca's Briefe. -
Fünfundfünfzigfler Brief.
Die Billa des Vatia. — Auch mit abwefenden
| Sreunden find wirim Verkehr.
Ich verlaffe fo eben den Wagen, nicht weniger ermüdet,
als wenn ich eben fo Lange zu Fuß gegangen wäre, als ich
gefreffen habe. Lange zu fahren ift auch eine Arbeit, nud
vielleicht eine um ſo beſchwerlichere, weil fle gegen die Ne—
tur it, die und Füße gegeben hat, um damit feldft zu gehen,
wie fie und Augen gab, um feibft zu fehen. Unſer weichliches
Leben hat uns zur Echwäde verurtheilt, und, was wir
Tange nicht thun wollten, Hören wir anf zu Bönnen. Für
mich war ed übrigend nothwendig, den Körper durchzurütteln,
um den Echleim von der beengten Bruft zu fchaffen, oder,
wenn cd eine andere Urſache war, die meinen Athem bes
ſchwerte, ihn durch diefe Erfchüfterung zu erfeichtern: und
wirklich fühle ich, daß fie mir gute Dienfte that. Ich dehute
alfo meine Epazierfahrt aus, wozu mich ohne dieß vie Reize
des Ufers einluden, welces ſich zwiichen Cumä und dem
Landgut des Servilius Vatia in einer Bucht hinzieht, und
zwiſchen den Meere auf der einen und dem Cachernilfchen)
See auf der anderen Seite gleichfam eine ſchmale Straße
bildet. Diefe war im Folge des reufichen Seefturmes noch
ziemtich fell. Denn fle wird, wie Du weiät, wenn bie
Wogen Hoch gehen, überfluthet: eine längere Meeresftilfe Iödt
wieder den fandigten Boden, indem die Feuchtigkeit entweicht,
welche ihn verbunden hatte. — Nach meiner Gewohnheit
FH ich nach irgend cinem BGegenttanre um, deſſen Betrach⸗
ung mir nüplicy werden Könnte, und (a Adler meine aan
Sinfundfünfzigfter Brief. 1615
if das Landgut, weldes eint dem Watia gehört hatte.
ier alfo ward, wo jener reiche gewefene Prätor feine
ahre verlebte, der durch nichts ald durch feine Muße bes
mnt war, und wegen diefer allein für glücklich galt. Denn
oft Einer durch die Freundfchaft des Aſinius Gallus, ©)
ser durch den Haß und ſpäter Durch die Liebe des Sejanus
en zu haffen nicht minder gefährlich war, als ihn zu lies
ꝛn) geſtürzt ward, fo riefen die Leute aus: „O glücklicher
zatia, Du allein verftehft zu leben!“ Allein ter Mann
eftand nur verborgen au bleiben, nicht zu leben.
Es ift ein großer Unterfchied, ob Dein Leben in Muße
ver in Trägheit hingekt. Nie aing ich, als Vatia lebte,
ı diefer Villa vorüber, ohne zu fagen: „hier liegt Vatia
graben.’ Alfein, mein Lucilins, es ift um tie Phlfofophie
was fo Heilige und Ehrwürbiges, daß auch eine erborgte
ebntichkeit mit ihr wohlgefitt. Den Menfhen, dert”
duße lebt, hält das Volk für einen Zurückgezogenen, der
ine ale Anfechtung, mit fich zufrieden, nur fich left — ein
lück, Tas nur der Weiſe genießen kann. Nur er, den
chts bekümmert, verfieht fich zu eben; denn, was bie -
anptfache iſt, nur er verfteht ed, zu leben. Denn wer
efchäfte und Menfchen flieht, wen das Fehlſchlagen feiner
zünſche verbannte, wer es wicht anfehen kann, wie Andere
üdticher find; wer wie ein ſcheues und wehrlofed hier
is Furcht fich verkriecht, der lebt nicht ſich, ſondern, was
s Schimpflichſte iſt, dem Bauche, dem Schlafe, der
*) Aſinius Gallus, ein PFreifiuniger za Krim DET,
Sejanuß, des Legteren, fäter getüürniet: ⸗-
1616 ESeneea's Briefe.
Wolluſt. Wer für Niemand lebt, lebt darum noch nicht
für ſich. Doch iſt es immer nichts Kleines, ſich gleich zu
bleiben, und zu beharren auf ſeinem Vorſatze, ſo daß auch
ein gefliſſentliches Ausdauern in der Unthatigkeit eine gewiſſe
Würde gibt.
Don der Villa felbft. kann ich Dir nichts Näheres fchrei-
ben; ich kenne nur ihre Auffenfeite, und mwas- fie für die
DBorübergehenden zur Schau trägt. Sie hat zwei küuſtlich
gebildete, tem geräumigften Vorſaal an Weite gleich fom=
mende Grotten, deren eine die Sonne gar nicht zuläßt, die
andere diefelbe bis zum Untergange behält. Einen Pfatanen-.
Hain durchfchneidet, in Art eines Canales, ein Bach, der den
acherufifchen See mit dem Meere verbindet, und einen Vor⸗
rath von Fifchen enthält, welcher, auch wenn man ihn forts
während benüste, nicht leicht zu erfchöpfen wäre. Allein
man fchont ihn, ſo Iange das Meer' zugänglich ift: fo oft
aber Stürme den Fifihern Feiertage gewähren, bedient man
ſich des Vorraths, der zur Hand iſt. Die-größte Bequems
lichkeit diefer Villa ift jedoch, die, daß fie an Bajä graͤnzt;
ie hat die Annehmlichkeiten von Bajä, ohne deſſen Unde⸗
auemes zu heilen. Ich weiß aus eigener Erfahrung, was
dieß werth ift.*) Mir fcheint dieſes Landgut für das ganze
Fahr geeignet zu feyu. Es empfängt die lauen Weſtwinde,
‚und zwar fo ganz, daß es diefelben Bajä vorenthält. Vatia
war, dünkt mich, kein Thor, daß er diefen Ort ſich wählte,
um bier die Muße eines thatenlofen Greifed zu verlieben.
% 5, ben Anfang des folgenden Briefes.
FSünfundfünfzigfter Brief. 1617
Und doch Bann dee Ort nur wenig zu einem ruhigen
Leben beitragen. Das Gemüth ift ed, mas ſich Alles verſchö⸗
nern Bann. Ich habe Tranrige gefehen in einer heiteren und
reizenden Billa; ich habe mitten in einer Eindde Leute geſe⸗
den, die Wielbefchäftigten glichen. Du Haft alfo keinen
Grund, zu glauben, Du feyeft darum nicht in der beiten Ver⸗
faſſung, weil Da nice in Campanien fenft. Aber warum
bit Du's nicht? Sende Deine Gedanken hieher. Auch mit
abmweienden Freunden Bann man verkehren, fo oft und fo
lange man will. Fa wir genießen dieſes .fo grose Vergnü⸗—
gen in höherem Grade, wenn wir abmwefend find: die Ges
genwart verwöhnt und; und weil wir oft zufammenfprechen,
Iuffwandeln, beiſammen fisen, fo deufen wir, wenn ir
allein find, nicht an Die, welche wir fo eben erft gefehen
haben. lm fo getufdiger follen wir uns in ihre Abweſenheit
ſchicken, weit wir, auch wenn wir fie bei uns haben, doc,
oft genug von-ihnen gefrennt find. Mechnen wir zuerft Die
Nächte, die wir allein zubringen, die verfihiedenen Befchäfs
tigungen, die und trennen, die befontern Studien eines
Jeden, die Fleinen Zandreifen: — und Du wirft finden, daß
es nicht eben viel ift, was und durch den Aufenthalt aufer
Landes entzogen wird. Den Freund muß man im Herzen
befigen: diefes ift nic abwefend, es ſieht, wen es will, täg-
ih. So ſtudiere denn mit mir, fpeife mit mir, begfeite
mich auf meinen Spaziergängen. Wir lebten ſehr beengt,
wenn es für unfere Gedanken irgend eine Schranke gäbe.
Ich fehe Dih, mein Zucilius; ja ih höre Dich; ich bin Dir
fo nahe, daß ich ungewiß bin, ob id) Dir wirklich Brieis,
oder nur kurze Handbriefchen {cdyreiben (NW.
1618 Seneca's Briefe.
Sechsundfuͤnfzigſter Brief.
Das geräuſchvolle Leben zu Bajü Über ben
Weiſen ſtört fein Lärm.
Ich will verloren ſeyn, wenn es wahr iſt, was man
gewöhnlich glaubt, Stilte ſey dem Studirenden unentbehrlic.
Der mannidyraltigfte Lärm umrauſcht mich hier von allen
Seiten: ich wohne gerade über dem Bade. Nun ftelle Dir
alle die verfchiedenen Töne vor, die einen dazu bringen Bönns
ten, daß man feinen eigenen Ohren grolte. Wenn die
Stürfern ſich üben, und ihre mit Blei beſchwerten Hände
fhwingen, wenn ſie ſich abarbeiten, oder Aıbeitenden nadıs
ahmen, fo vernehme ich ein Geaͤchze, und, fo oft fie den
angehalteien Athem ausfloßen, das heftige Zifchen deſſelben:
wenn ſich's fügt, Daß ein plumper Satber fein Wefen treibt,
der fich begnügt, auf die ganz gemeine Weife zu Werbe zn
gehen, fo höce ich das Klatſchen der Hand auf den nadten
— Schultern, was, je nachden die Hand hohl oder flach aufs
fällt, verichietene Töne gibt. Kommt nun noch ein Dal:
ſchläger dazu, und fängt an, feine Schläge zu zählen, fo ift
keines Bleibens mehr. Denke Dir ferner das viele Gezänte,
das Geſchrei, wenn ein Dieb erwifcht wird, den Singſang
DBadender, die ſich mit ihrer Stimme gefallen, das gewaltige
Gepläticher des gepeitfchten Waſſers, fo oft einer in Pad
Baſſin fpringt. Außer diefen Tönen, die doch wenigſtens
natürlich Mind, ftelle Dir die feine und ſchrillende Erimme
vor, die ein Haarzupfer *) herauspreßt, um fich bemer klicher
9) Der feine Dienfte den Weichlingen amietet , bie fih, um
Sechsundfuͤnfzigſter Brief. 4619
ı machen; er ſchweigt nicht eher, als bis er etwas zu zupfen
at, wo er denn den Andern für ſich fehreien laͤßt. WVolends .
18 Aufrufen der Kuchenbäcer, der Wurſt- und Leckereien—⸗
indfer, und aller der Krämer und Garköde, die ihre
Baare, Jeder mit feiner eigenthümlichen, anffallenden Mo—
nlation , feilbicten.
„Du biſt von Eiſen,“ wirft Du fagen, „oder taub,
enn unter fo buntem und mißtönendem Geſchrei Deine
zedanken in Ordnung bfeiben, da unfern Erifpus fehon eine
ınge Reihe vor Beſuchen um dad Leben zu bringen droht!’
tein, wahrlich, mid) Eümmert dieſes Getöfe eben fo wenia,
(3 ein raufchender Bad) oder ein Waſſerfall, wiewohl idy
eiß, daß cin gewifles Volk jeine Stadt einft aus Feiner
ndern Urfache verlegte, ald weil cd das Toien des Nil⸗
Mes nicht ertragen könnte. Störender finde ich übrigens
ie Stimmen Redender, als einen bloßen Lärm. Jene zies
en die Seele ab, Diefer fchlägt bios an das Ohr und füllf
1. Zu ten Dingen, welche mich, ohne mich zu zerfirenen,
mrauſchen, vechne ich einen vorüberrollenden Wagen, einen
ı oder neben dem Haufe arbeitenden Schmid oder Zimmers _
ſann, oder den Mann neben der Metafudans [Brunnen
inte] , der feine Flöten und Trompeten probirt, und grelle
ne, nicht Melodieen, von ſich gibt. Auch ift mir ein
Schal, der zuweilen unterbrochen wird, läftiger, als ein
thaltender. Allein gegen Alles dieſes habe ich mich fchon
abgehärtet, daß id) Feibft ten Bootsmann hören Bann, der
ihre Pubertaͤt zu verläugnen, die Haare unter den Achfeln
ausrupfen ließen.
1620 Seneca‘s Briefe.
mit zerreißender Stimme den Auderknechten den Takt ans
gibt. Ich zwinge meinen Geift, nur auf fi gerichtet zu
fenn, und fi nicht von Außendingen abziehen zu "I:ffen.
Mag draußen der Tautefte Lärm toben, iſt nur in meinem
Innern Bein Zumuft, hadern nur in mir nicht Gelüfte und
Furcht, liegen nicht Habfucht und Verſchwendung mit einanter
in Iwiefpalt und Kampf. Denn was nüst die tieffte Stille
der ganzen Umgegend, wenn die Leidenfchaften braufen?
Alles Hatte bie Nacht im Tiebliche Ruhe verfenker.
Der Dichter ) irrt. Es gibt Feine liebliche Ruhe außer
der, in welche die Vernunft ns verſenkt. Die Nacht bringt
Ungemach, und hebt ed nicht ; ſie Ändert nur unfere Sorgen.
Denn die Träume der Schlafenden find nicht minder ſtürmiſch
als ihre Tage. Gene Ruhe ift die wahre, bie fich Über ein
reines Gemfth verbreitet. Betrachte dagegen Genen, ter
im tiefen Stitffhweigen des weiten Palaſtes den Schlaf fucht,
deffen Sclavenfhwarm den Mund nicht Öffnen darf, und, um
mit feinem Laut feine Ohren zu berühren, mit fchwebenden
Fußtritten feinem Lager ſich nähert. Er wirft ſich von einer
Seite auf die andere, und hafcht in mitten feiner Beküm—
merniffe nach einem bischen Schlummer. Was er hörte,
beklagt er ſich gehört zu haben. Was glaubft Du, ift Schuld
daran? Sn feinem Gemüthe ift Lärm: dieſer ift zu ftilfen,
tiefer Aufruhr iſt zu dämpfen. Man darf nicht glauben, daß
dad Gemüt forort ruhig fen, wenn der Körper liegt. Bis⸗
weiten ift die Ruhe unruhig Wir müßen uns Daher zur
Thätigkeit erwecen, müßen mit den Miffenjchaften ernſtlich
9 Barro,
Sechsundfuͤnfzigſter Brief. ıbaı
und bejchäftigen, fo oft die ſich ſelbſt unerträgliche Unthäs
tigkeit ung in Mißbehagen verfebt. Große. Feldherrn bändi⸗
gen, wenn ihre Truppen nicht gerne gehorchen wollen, Dies
felben mit irgend einer Arbeit, und halten fle durd, Aus⸗
märfhe in Ordnung. Befchäftigte haben nicht Zeit zum
Muthwillen, und nichts ift fo gewiß, als daß die Lafter der
Unthätigkeit durch Thätigkeit verfrieben werden. Oft glaus
ben wir uns aus Ueberdruß an den Staatsgefchäften und
aus Reue über eine unglüdliche und undankbare Stellung,
zurichgezogen zu haben: und doc, erwacht bisweilen in dem
Schlupfwinkel, in welchen Furchtfamkeit und Abfpannung
ung getrieben, unfer Ehrgeiz wieder. Diefer hatte aufgehört,
nicht weil er ansgerottet, fondern weil er müde oder viel-
leicht muthlos geworden war, indem die Dinge nicht nad
feinem Sinne gingen. Daſſelbe fage ich von der läfternen
Sinnlichkeit, weiche ſich auch bisweilen verloren zu haben -
fcheint: nicht longe aber währt es, fo lockt fie die Verehrer
der Genügſamkeit aufs Neue an, und finnt mitten in der
Sparſamkeit anf jene Wolüfte, welche fie nicht verurtheift,
nur befeitigt hafte, und zwarenur defto Teidenfchaffficher, je
heimlicher. Denn alle Sehler, die offen hervortreten, find
minder gefährlich: auch Krankheiten neigen ſich zur Belle
rung, wenn fie aus dem Verborgenen hervorbredhen und ihre
Stärke offenbaren. Und fo find, glaube es mir, Habſucht,
Ehrgeitz und alle übrigen Gebrechen des menſchlichen Her⸗
zens gerade dann am gefährlichften, wann fle hinter einer
erheuchelten Geſundheit ſich verfteden. Wir fcheinen nur
ruhig und find es nicht: Denn wenn es ung wirklich Ent
Seneca. 138 Bbchn. Ss.
| 1622 Seneca's Briefe.
ift, wenn wir wirklich unlern Rüdzus angetreten haben, und
allen dußern Schimmer verachten, fo wird, wie ich vorhin
fagte, nichts ung zerftreuen, feine Stimmen ſingender Menfchen
oder Vögel werden unſere guten, wohlgeoxdneten, auf ihren
Gegenftand feſt gerichteten Gedanken unterbrecden. Noch
fehlt e8 dem Geifte an Haltung, nocd hat er fich nicht in
fein Inneres zurücgezogen, ſo lange Töne und anderes Zu:
fälliges ihn aufregen. Er trägt -in fidy irgend eine Bebüm-
merniß, eine gewiffe Aengſtlichkeit, die ihn fo nengierig
macht, wie unſer Virgilius *) fagt:
Und mich, welchen noch jüngf Fein fllegender Sturm der
Geſchoſſe
Kümmerte, oder entgegen getummelte Schaaren ber Grajer,
Schreckt nun jedes Geſaäuſel der Luft, regt jedes Geräuſch auf,
Daß ich im Gang oft ſtutze, für Bürde beſorgt und Begleitung.
Jener iſt der Weiſe, den nicht geſchwungene Speere, nicht
aneinander geſchlagene Schilde dichter Feindeſchaaren, nicht
das Krachen erſchütterter Städte ſchrecken: Dieſer aber iſt
der Unerfahrene, der bei jedem Geräufch erbebt, und für
Leib und But fürchtet, der jedem Laut für Alarm nimmt, und
bei der Leichteften. Bewegung außer fidy geräth. Sein Ge
päde macht ihn aͤngſtlich. Betrachte, welchen Du immer
willſt von jenen Glücklichen, die fo Vieles mit fidy fchleppen
und.auf den Schultern tragen, und du wirft finden, er ifb
— — — — für Bürde beforgt und Begleitung. +
) Aen. XI, 725 ff. Worte des Aeneas, ald er feinen Water
Anchiſes aus den Flammen trug, und fein Kind Ascanine
an ber Hand führte,
Eiebenundfin fzigiier Briefe © 1635
So wiſſe denn daß Du Dich in Ordnung gebracht haft, went
fein Lärm Dich mehr berührt, wenn Peine Stimme Did
aus Dir ſelbſt verfett, fie mag Dir fehmeicheln: oter Dir
drehen, oder auch nur mit leeren Schall um Deine Ohren
töner, „Aber ift ed denn nicht viel beffer, überhaupt ferır
von allem Stimmengewirre zu ſeyn?“ Sa, ich geftche es:
daher werte ich diefen Ort wieder verlaffen, mo ich mich
nur auf die Probe ſteilen und üben wollte Was it Noth,
fich Länger zu quälen? Hart dad Uloſſes für jeine Sefährten
ein fo leitttes Mittel ſelbſt genen Eirenen erfunden.
Sicbennundfünfzigfier Brief.
Der Weg durch die Jelfengrotte von Neapel,
Als ich von Byä nad Neapel zurüdreifen ſollte, ließ
ih mir gerne begreiflih machen, das Weiter fen ſtürmiſch,
nur um nicht eine zweite Waſſerfahrt verfuchen zu müßen.
Allein des Kothed war anf Der ganzen Straße fo viel, daß
es mir wear, als reiste ich gleibwohl zu Baffer. Ich hatte
au Diefem Taze die ganze Schule Des Athleten durchzuma« .
hen: nach der Salbe empfing mid) der Staub der Neapoli—⸗
tanifchen Crypta, *) dieſes endloſen Kerkers mit feinen trüs
ben Lichtern, die nicht dazu dienen, um in der Finfterniß, -
fondern um diefe ſelbſt zu fehen. Wiewohl, aud) wenn diefer
Raum Licht hätte, fo würde der Staub e3 nehmen. Iſt es
*%, Sept die Grotte von Poſilippo, durch weiche die Straße is
einer Strecke von ſiebenhundert Eyritten V-
Sg *
1624 Seneca's Srtiefe.
(dem icı Freien eine beſbwerliche, drückende Sache or: den
Staub, was iſt es erſt kier, wo er oehne einen Kritzug ein:
geſchloſſen, und sich im fih feibil zufammenbalfen®, au? die
zurückfaͤllt, die ihn erregten? So haben wir zwei jich wie:
verfireitende Witerwärtigkeiten, auf Lemfelben Wege, an
demſelben Tage auszuhalten gehabt: wir litten vom Keth
und vom Staub zugleich.
Uebrigens gab mir jener finflere Ranm doch eirigen
tom zum Nachdenken. ch fühlte eine gewiſſe Beklemmung
des Gemüthes, ohne eben mic, zu fürchten, einen gewiſſen
Eindruck, weichen das Nene und Schauerlihe der ungewchn: .
ten Umgebung hervorbrachte. Doch id will nicht von mir
ſelbſt fprechen, der ich noch weit entfernt bin, ein erträgticher
Menſch, gefchweige ein volifommener zu fenn. Aber auch
der Mann, tiber weichen das Schickſal ale Gewalt verloren,
kann noch eine Erſchütternng des Gcmüthes erleiden, kann
noch bieweilen fich entfärben. Ss gibt Zufälfe, mein Luci—
lius, welchen Feine Tugend entgehen kann; die Natur erin:
nert an ihre Sterblichkeit. Auch ein Solcher wird die Miene
aus Traurigkeit verliehen, wird zuſammenſchauern Bei plös—
tichem Schreck, oder fchwindeln, wenn er am Rande eines
Abgrundes in die entienliche Tiefe hinabſchant. Dies it
nicht Furcht, ſondern eine natürliche, für die Vernunft m
beſtegdare Unwandlung. So gibt es kräftige Menſchen, ie,
entſchloſſen, ihr eigenes Bent zu vergießen, gfeichweht kein
tremdes chen können. Monde ſinken in Ohnmacht Seim
Pnbiit und bei der Nerührung einer Fiifchen Wunde, Marde
ud Beim Unblick einer ſchon atten und eiternden. Manche,
te Pein Schwert fehen Lönnen, emrianygra martınten Huk, Qch
Siebenundfünfzigfier Brief. - _ 1625
empiand alſo, mie geſagt, nicht eben eine heftige Gcmüthes
bewegung, doc eine Veränderung: fobatd ich aber das Ta:
geslicht wieder erblickte, Eehrte, ofne daß ich daran Dachte,
und ungeheißen, meine Heiterkeit wieder. Da fing id) an, .
bei mir felbft darüber nadyzutenfen, wie ungereimt es fev,
dab wir manche Dinge mehr, manche weniger fürchten,
während dus Ende aller daffelbe if. Was iſt cd für ein
Unterſchied, ob ein Wachthaus oder ein Berg über ung
zuſammenſtürzt? Gewiß einer, und doch werden fidh Viele
weit mehr vor dem letteren Einſturze fürchten, wiewohl beite
gleich tödtlich find. So fehr fehen wir bei unferer Furcht
nicht auf die Wirkung, fondern auf das Wirkende.
Nun glaukſt Du vielleicht, ich rede hier von den Stoi⸗
fern, welche fidy vorftellen, die Seele eines Menfchen, der
von einer großen Laſt zermalmt worden, könne nicht fortdau—
era, fondern löfe ſich fogleic auf, weil fie Peinen freien
Ausgang habe? Mein, von Liefen fpreche ich nicht; idy
glaube, daß fie, wenn fie diefes behaupten, im Irrthum
iind. Wie eine Flamme nicht zu Boden gedrüct werden kann,
indem jle ringe um den Gegenſtand her ausweicht, der ſie
niederbrückt; wie die Luft durch einen Schlag oder Wirt
nicht verlegt, ja nicht einmal getrennt wird, fondern den
Korper umſtrömt, dem fie wid: fo kann auch der Geift,
welcher aus dem feinften Stoffe beſteht, nicht feſtgenommen,
noh in einem Körper erdrücdt werden; er verdankt ed ter
Leichtigkeit frines Stoffes, daß er fid) hindurchdrängt durch
Das, was ihn drückt. Wie der Blisftrahl, wenn er weit
umher Alles erfchüttert und erleuchtet hat, Vu va com
Beine Oeffnung fährt, fo entficht andy Te See, OU BI
- - L
1626 Seneca's Briefe. |
feiner id, als Feuer, durch jeden Körper. Alſo ift die F
nur, ob die Seele unſterblich ſeyn könne? So viel ſey
gewiß: wenn fie den Körper überlebt, fo kann fie aus
feiben Grunde auf Feine Weile FFerben, aus welchem fie
untergeht. Es gibt Feine Uniterbiichfeit mit Ausnahme,
nichts ſchadet tem, was ewig iff.
Achtundfuͤnfzigſter Brief.
Weber das ov des Plato. Es iftinder fichtba
Welt nichts Bleibendes. Leber Alter und T
Wie arm, ja wie mangelhait unjere Sprache ift,
ich nie lebhafter, als beute empfunden. Mir fpracken
über Plato, und es begegneten uns tanfend Begriffe,
welche wir Yusdrüce fuchten und Feine fanden. Ginice «
die ſich ung darbofen, gaben wir, weil wir au ekel wa
wieder auf. Sell man es aber dulden, dab der Mange
dende noch edel iſt? Das [Infekt], welches die Grie
oesirns [die Brenife] nennen, das tie Viehheerden verfi
durch die Wilder ſcheucht und zerftreut, hieß bei unf
Alten asilus. Ditß müßen wir dem Virgilkus glauben (Ge
11T, 146.): -
Est lacuın Silari juxta ilicibusqne virentem
Plurimns Alburoum volitaus, cui nomen asilo
Romanum est, osstrum Graii verliere vocantes;
. Asper, acerba sonaus; quo tola exterrita silvis
Dilfugiunt armenta,
55h vermuthe, daß das Römithe Wort verloren gegar
A — So waren and) einige einiade (Act) Mütter
>
Achtundfuͤnfzigſter Brief. | 1627
Gebranche; man fagte 3. B. cernere ferro inter se. Auch
dieß may Dir Virgiilus beweifen (Acn. XII, 709.):
— — — stupet ipse Latinus,
Ingentes, genitos diversis partibus orbis,
Inter se colisse viros, et cernere ferro;
wofür man jetzt decernere fagt: der Gebraud) des einfachen
Zeitworts ift verloren gegangen. "Die Alten fagten: si jusso
für si jussero. Glaube dieß nicht mir, fondern dem zuver-
läßigen Virgilius (Aen. IX, 467.):
Cactera, quae Jusso , mecum manüs inserat arma. P
Ich gebe Dir dieſe genauen Nachweifungen nicht in der. Abs
ſicht, dir zu zeigen, wie viele Seit ich bei meinem Grammas -
titer verloren habe; fondern damit Du daraus fchließeft, wie
viele Wörter bei Ennius und Attius im Roſte Tiegen
mögen, da fchon bei Virgilins, ‚der doch täglich in unferen
Händen ift, mehrere ſich finden, die uns abgehen.
Aber was fol diefe Vorbereitung ? fragft Du. Sch will
Dir nur geftehen, ich wünfchte, wenn es fenn kann, mit
Genehmhaltung Deiner Ohren, bad Wort Essentia zu gebrau⸗
chen; wo nicht, fo gebraucde ic, es ihnen zum Verdruſſe.
Ich habe einen Gewaͤhrsmann für dieſes Wort, und ic) denke.
einen tüchtigen, an Cicero: und wenn Du einen neuern
verlangft, den Fabianus, einen Medner von gewählter
Sprache, die feibft unfer ekler Geſchmack fein und zierlich
findet. Was läßt ſich auch anderes 4huu, mein Lucilius?
Wie wollten wir die ovaoia [Weſenheit)] ausdrüden ; dieſes
‚ Nothwendige, tie Natur in fidh Begreifende, diefe Grunds
lage des Ganzen? Ich bitte Dit; alſo we weten
1628 Seneca's Briefe.
daß id) dieſes Wortes mich bediene; ich werde mir ange
feyn laſſen, von diefem mir ertheilten Rechte den möt
fparfamen Gebrauch zu machen; vieleicht daß ich fcho
frieden bin, es brauden zu Dürfen. Denn was wir
-Deine Gefäligkeit nügen, wenn ich Das, weßwegen id
unfere Sprache ungehalten bin, auf keine Weife Tate
ausdrücken kanu?
Du wirft noch ſtrenger urtheilen über dieſe Beſcht
beit des Römifchen, wenn id Dir ſage, daß es eine ei
Spibe ift, die ich nicht überfegen Fann. Und welche? ds
[das Seyende, das Ding). Vielleicht erfheine ich Dir
ungefchidt; da ja die Wendung zur Hand iſt, bafü
fügen: Quod est. Allein ich fehe darin einen großen U
ſchled: ich bin genöthigt ein Zeitwort für ein Nennwo
fegen. Doc es ſey, meil es nun einmal undermeidlic
Dieſes Quod est alfo wird, wie unfer gelehrter Freund
fagte, von Plato in ſechs verfchietenen Weifen genommen
werde fie Die alle erklären; nur muß id) zuvor beme
in weihem Sinne man von genus ober Species ſpreche.
ſuchen wir nun zuerft das genus ald das Dberfte, unter
chem die übrigen species-ftehen, von weldem alle Einthe:
ausgeht, und welches Altes in ſich begreift. Wir wertı
finden, wenn wir umgekehrt vom Einzelnen ausgehen:
fo werden wir aufwärts zum Oberſten gelangen. Dev M
iſt eine species, wie Yriftoteles fagt; das Pferd, der !
iſt eine species; es muß. fomit ein Gemeinſchaftliches,
biefe species Verknüpfendes geſucht werden , das ſie alfe
faffe, und unter welchem (le ſtehen. Und dies üft [der
sei]: Thier. So erſcheint tenn Kür Nie den Woer
Ahtundfünfzigfier Brief. ’ 1629
Dinge, Menfh, Pferd, Hund, das genus: Thiere. Aber
es gibt auch Dinge, melde ein Leben (anima) haben, und -
doch nicht Thiere (animalia) int. Denn wir nehmen an,
daß .auc den Pflanzen und Gewächſen ein Leben inwohnt,
weßwegen wir anch von ihnen fagen, Daß fie leben und ab⸗
ſterben. Eine höhere Stelle werden alfo die belebten
Dinge (animanlia) einnehmen, unter welchen Thiere und
Pflanzen begriffen iind. Andere Dinge aber haben fein Zchen,
z. B. Steine, und fo wird noch ein Höheres feyn, als das
Belebte, nämlih Körper; diefen theile ich fo ein, daß ich
fage: die Körper find entweder befebt, joder nicht belebt.
Aber andy über dem Körper fteht noch Etwas; deun wir
unterfcheiten zwifchen körperlichen uud unförperlichen Dingen.
Was wird alfo Das feyn, was in.diefe beiden (Begriffe)
zerfällt ? Eben jenes, dem wir jo eben den nicht fehr paflen-
den Namen Quod est, gegeben haben. Dieß wird in feine
species zerlegt, indem wir fagen: Was ift, ift entweder
förperlicy oder unkörperlich. Dieſes genus alfo ift das erſte
und höchfte, und fo zu fagen das genus generale; die übrigen
find auch wieder genera, oder specialia. Menſch ift ein
geuus, denn es enthält die species der Völkerſtämme, Grie:
chen, Römer, Parther; der Farben, weiße, fchwarze, gelbe;
die Individuen, Catg, Cicero, Lucretius. In ſo fern diefer
Begriff eine Vielheit in ſich faßt, ift er ein genus; in fo fern
er unter einem andern ſteht, ift er eine species, Nur das
genus: Quod est, iſt dad Allgemeine, und haft fein Weiteres
über fih. Es ift das Prinzip aller Dinge; alfes iſt un⸗
ter ihm.
.
1650 Seneca's Briefe.
Die Stoiker wollen auch über diefes noch ein höheres,
altgemeineres feben, wovon gleich nachher: vorerſt will id;
zeigen, daß dieſes genus, von welchem ich fpreche, mit Recht
als Las oberfte aufgeflellt werde, da es alle Dinge in ſich
faßt. Was ift, theile ich in die beiden species des Körper:
lichen und Unförperlichen. Es gibt fein Dritted. Das Körs
Derliche zerfälit wiedernm in Belebtes und Unbelebtes. Das
Belebte theile ich fo, Das ich fage: was belebt fit, hat ent:
weder eine Seele (animus), oder bioßes Xeben (anima); oder:
er hat entweder freie Bewegung von einem Orte zum andern,
oder es ift an den Boden nehefter, und zieht Nahrung und
Wahsthum aus feinen Wurzeln. Wiederum die Thiere zer⸗
lege ich in die species: fterbliche und unfterbliche.
Einige Stoiter aber nehmen als oberſtes genus das
Etwas (quiddam) au, und zwar aus folgendem Grunde.
In der Natur, ſagen file, ift Einiges wirklich, Anderes
nicht, Denn auch das, was nicht wirklich ift, was nur als
- Vorftellung vor die Seele tritt, befteht gleichwohl in der
Natur der Dinge; wie z. B. Centauren, Oiganten, und
andere nichtige Schöpfungen der Phantafie, weniaftend als
Bilder beftehen, wenn fie gicich kein Werfen (substantiaın)
haben.
Nun kehre ich zurücd zu Dem, wag ih Dir verfprochen,
und zeige Dir, wie Plato alles, was ift, in ſecht Arten ıheift.
Die erfte wird weder durch das Geſicht, noch durch das Ges
fühl noch durch irgend einen andern Sinn wahrgenommen; fle
ift nur denkbar. Der aligemeine Begriff, 3. B. Menfch im Auges
meinen, tritt nicht vor die Augen, wohl aber der befondere, Eis
sero, @ato, Das Thier wird nicht geiehen, (antern grtamkt , mar
Ahtundfünfzigfter Brief. 1631
fieht nur feine species, den Hund, dad Pferd. — Als das Sweite
von Dem, was ift, ftellt Plato dag Weſen auf, welches Aues
überragt, Alles übertrifft. Von diefem fagt er das Senn
vorzugsweiſe aus; wie man 3.3. mit dem gemeinfshaftlichen
Namen Dichter zwar jeden bezeichnet, der Verſe macht, bei
‚den Sriehen aber dieſes Wort auf die Bezeichnung eines
‚ Einzigen zu befchränfen pflegt. Man verfteht den Homer,
wenn man von dem Dichter ſpricht. Und dieſes Mefen
it — Gott, als welcher größer und mächtiger ift denn Alles. —
Die dritte Gattung begreift die Dinge, welche an und für
ſich And: fle find unzählig, liegen aber außer unferem Ge:
fichtäfreife. Und was find fie, fraaft Du. Plato's eigen:
thümjicher Apparat,; er nennt fie Ideen; aus ihnen hat
Altes, was wir fehen, fein Dafeyn, nach ihnen bildet ſich
Altes. Ste find ewig, unwandelbar, unantaflbar, Vernimm
denn, was die Ideen fenen, oder vielmehr, was fie nach
Plato's Anſicht ſeyen. „Die Ideen find die ewigen Urkbilder
alter der Dinge, welche in ter Natur beſtehen.“ Dieſer Bes
griffsbeſtimmung will ich eine weitere Erörterung beifügen,
um Dir die Sache noch Elarer au machen. Wenn ich ein
Bild von Dir malen will, fo bit Du das Urbild zu meinem
Gemälde; von dieſem Urbild faßt mein Geift das Gepräge
auf, welches er feinem Werke aufdrücken will. So ift Deine
Geſichtsbildung, Die mir zeige, was ich nachzuahmen habe,
die Idee. Solcher Urbilder hat die Natur cine unbegränzte
Menge von Menfchen, Fiſchen, Bäumen; und alle Dinge,
welche fie fchafft, find Abdrücke derfeiben. — Als das Vierte
ſtellt Plato das Idos auf. Es bedarf animerktanen War
denkens, um zu verſtehen, wos Tieieh roh S
‘1632 Seneca's Briefe. -
baft e8 tem Plato, nicht mir zuzurechnen, wenn Du d
Dinge fehwierig finteft. Uebrigens haben ja feine Unterfc
dungen immer ihre Schwierigkeit. So eben vediente ich r
der Vergleichung mit einem Dialer. Der Vialer, wel
mit feinen Farben den Virgilins darſtellen wollte, mı
diefen feibft ins Auge fallen. Virgils Geficht war die 5%
Das Urbild Des werdenden Werkes. Was nun der Künt
aus diefem Urbild entnahm, und auf fein Werk übertrug,
das Atos. Du fragft nach dem Unterfchied won Idos
dee? Die Idee ift das Urbild, das Idos die von |
Urbild geronimene und auf das Kunftwerk übergerrac
Form. Jenes ahınt er nad, tiefes macht er ſetbſt. GC
Statue hat eine cigenthümfiche Geſichtsbildung; diefe ift
Idos. Diefe eigenthümlidhe Gefichtsbiltung aber hat
Uebild ſelbſt, weiches der Künſtler vor Augen hatte, alt
die Statue formte, und dieſe ift die Idee. Werlangft
roh eine andere Unterfcheitung? Das Ides tft im We
felbit, die Idee außer demfelben, und nicht blos außer, f
dern auch vor demfeiben. — Die fünfte Urt begreift
Dinge, welche gemeinhin find; biefe gehen uns zunü
an, und hieher gehört Altes, Meuſchen, Thiere, Sachen.
Die ſechste enthält die Dinge, bie nur gleichſam fir
wie der Raum, die Zeit.
Was wir fchen und berühren, rechnet Plato nicht
den Dingen, welchen er cin eigentliches Seyn zuſchre
Denn fie find im Zuftande des Fließens, eines beftändigen '
nehmens und Wachfend. Keiner von ung ift berfelbe
Alter, ber er als Jüngling gewelen; Keiner ift am Mor;
der. er Tags juoer war. Unſer Körper wird wir von di
Adytundfünfzigiter Brief. 1633
Strome dahingeriſſen: was Du fiehft, eilt wie die Zeit von
dannen; Nichts von Allem, was um und ift, bleibt. Id
ſelbſt, indem ich davon rede, daß Alles fid, verändere, bin
inzwifchen ein Anderer geworden. Das ifte, was Heraclitus
fagte: im denſelben Fluß fleist man nicht zweimal. Der
Name des Fluſſes bleibt derfcibe; fein Waller ift vorüber.
Dies fällt an tem Fluſſe nur mehr in die Augen, als an
dem Menſchen; aber auch uns führt ein nicht minder rafcher
Strom dahin. Und darum wundere ich mid) über unfere
Verblendung, daß wir an einem fo flüchkigen Beflbe, an
unferem Körper, mit folcher Liebe hängen, und uns vor
. dem einftigen Zode fürchten, als ob nicht jeder Augenblick
der Tod des vorigen Zuftandes wäre MWie follten wir und
fürchten ‚es möchte Einmal gefchehen, was täglicdy gefchicht 2
Ich fprady nur von dem Menfchen, diefem unfeften, hinfälfie
gen, allen Einflüſſen andgefesten Stoffe: aber auch die Welt
ſelbſt, diefed ewige, unzerftörbare Ganze, Ändert fi und
bleibt nicht diefeibe, Sie hat Alles roch in fi, was fie je
hatte; aber fie kat ed anders, als fie es hatte; fie ändert
tie. Ordnung. -
Was follen mir diefe Subtilitäten nützen? fragſt Du
Nützen eben nichts, dünkt mid. Allein wie ein Künſtler
feine von feiner Metallarbeit angegriffenen und müden Augen
zur Erholung bisweilen wegwendet und an einem anderen
Gegenſtaude, wie man. fasf, weidet; fo müßen auch wir je
und je unfern Geift abſpannen, und ihm durch irgend eine
angenehme Erholung ſtärken. Allein auch diefe Erholung
ſelbſt ſey eine Befchäffigung. - Und fogar audı aus ala
Betrachtungen, wie dieſe, wirſt Du, wenn Da fe ut it
163; Seneca's Briefe.
Auimerkſamkeit anftellen willſt, Etwas entnehmen, was Dir
nüben fann. So pflege ich es zu machen, Yacilins: aus
jeder Erholung, auch wenn fie der Philoſophie noch fo fremd
ift, verfuche ich etwas Brauchhares und Nützliches zu ziehen,
und mir zu bereiten. Willſt Du nun willen, was aus ten
Dingen zu gewinnen fey, die uns fo eben befchiftigten, und
Lie doch von dem Geichäfte der Umbildung unferes Charaks
ters fo ferne abliegen? wie die platonifchen Ideen uns beffer
zu machen vermdaen? was wir aus ihnen entnehmen follen,
das im Stande fen, unfere Begierden zu daͤmpen? Schon
Dad, daß Plato alien den Dingen, welce unferh Sinnen
unterworfen iind, und uns reizen amd entflanmen, fein
wahres Senn zufihreibt. Sie find demnach nur eingebilder,
und fragen nur für einige Zeit irgend eine Geſtalt; aber
Nichts an ihmen iſt dauernd und weienhaft. Und Loch vers
Taugen wir darnach, als ob sie immer dauern, als ob wir
fie immer haben würden. Wir ſchwache, hinjlieente Weien,
möchten wir nur von Zeit zu Zeit ftilfe ſtehen, »)) und unfern
Sinn aufwärts richten zu Dem, was ewig ift, und in Be—
wunderung betrachten die boch üder und ſchwebenden Urbil-
der aller Dinge, und die Gottheit, die unter ihnen waltet,
und dafür forgr, wie fe Dad, was lie nicht unſterblich ſchai⸗
fen founte, weil die Materie fle Finderte, doch vor dem
Zode ſichern, und durch Dernunit die Bebrechen des Körper:
Iihen überwinden möge! Deun alle Dinge dauern fort,
nicht, weil fie ewig Mind, fondern weil die Sorge des Welt:
regenten ıle vor dem Untergange bewahrt. Das Unſterbliche
®*, Consistamus. >
Achtundfuͤnfzigſter Brief. | 1635
bedarf dee Beſchützers nicht. Über die Körperwelt erhält
der Meifter, der fie ſchuf, durch feine Allmacht fiegend über
die Zerftörbarfeit der Materie. Laß und Alles das verachten,
was fo werthlos ift, daß man zweifeln müße, ob es übers
haupt fey. Zugleich lab und denken: wenn die göttliche
Vorſicht das Weltganze ſelbſt, das nicht minder ſterblich iſt,
als wir, den Gefahren entzieht; ſo kann auch unſere Vorſicht
anf einige Augenblicke dieſem Körperchen feine Dauer ver
—längern, wenn wir jene Lüſte regeln und einfchränfen, durch
welche die Meiften zu Grunde gehen. Plato felbft hat es
durch Sorgfalt bid zu einem hohen Alter gebracht. Zwar
harte er von der Natur einen ſtarken und kraͤftigen Körper
erhalten, und feine breite Bruſt hatte ibm den Namen
Plato gegeben: doch hatten Seereiſen und Gefahren ihn
viel von feinen Kräften entsogen, Allein Genügſamkeit, ein:
befcheideneds Maß in allen den Dingen, welche die Begierde
wecken, und wachſame Aufmerſamkeit uuf fi felbit hat ihm,
tro& vielen hindernden Urfachen, zum Greifenafter verholfen.
Denn Du wirft ohne Zweifel wiffen, daß Plato in Folge
diefer ſorgfältigen Lebensweiſe einundachtzig Jahre, und
zwar vollftändig, erreichte, indem er gerade an feinen Ges
burtstage farb. Magier, welde gerade in Athen waren,
opferten daher dem Verſtorbenen, in der Meinung, daß er
ein höheres Loos, als gewöhnliche Sterbliche, gezogen, in:
dem er die vollfommenfte Zahl, welche aus neunmal neun
entftehe, voU gemacht hatte, Wiewohl ich zweifle nicht, daß
er auch, bereit gewefen wäre, anf etliche Tage von der vollen
‚Summe und auf das Opfer ſelbſt zu verzichten. -— Sı ta
alfo eine genägfame Lebensart vad verliigeiu SS
1636 Eeneca’s Briefe.
glaube zwar nicht, daß ein hohes Alter lebhaft zu wünſchen
fey, doch ift es auch nicht zu verfchmähen. Es ift angenehm,
fo Lange ald möglich nie fich zufammen zu feyn, wenn man
fi wirdig gemacht hat, feiner zu genießen.
Allein die Srace wäre zu beantworten, ob.man es nidt
verihmähen foll, an vie äußerfle Gränze des Alters zu ges
langen, ob man das Ende nicht mit eigener Hand herbeizu:
führen habe, flatt es zu erharren? Der ift nahe Daran zu
jagen, der willenlos wartet, bis das Todesgeſchick erfcheint;
fo wie Derjenige dem Weine unmäßig ergeben ift, der den
Krug mit dem letzten Tropfen der Hefe ausfchlärft. Allein
es fragt fih doch, ob jenes legte Reſtchen des Lebens wirks
lid) die Hefe fen, oder vielleicht Iauterer und reiner als das
übrige; ob der Geift ncch nichts gelitten ; ob er noch Tunter⸗
ftügt werde von ungeſchwächten Sinnen; ob der Körper nor
nicht entfräftet und vor der Zeit erfiorben ſey? Denn es ift
ein fehr großer Unterfchied, ob Jemand fein Leben, oder fein
Sterben verlängert. Wenn ter Körper zu feinen Dienftleis
flungen unbrauchbar geworden ift, warum follten wir ben
befchwerten Geift nicht hinausführen dürfen? Vielleicht
follten wir ed noch etwas früher Chun, ald es nethwendig
ift, um nicht, wenn es feyn muß, fihon unfähig zu ſeyn,
es zu-thun. Da die Scfahr, elend zu leben, eine fchlimmere
ift, als die, vor der Zeit zu fterben, fo kann nur ein Thor
ed verfehmähen, un den Preis eines Augenblicks von einer
großen Befahr fid) loszukaufen. Nur Wenige gelangen durd)
ein hohes Alter hindurdy ohne Einvute ti un irre: er
Diele ift das Leben ein bradyliegendet, warisiet Bit, Tim
| Achtundfünfigſter Brief. 163,
Doch einmaf endigen muß? Höre mic wicht mit Unmuth, als
ob bdiefe meine Behauptungen fchon dic, ſelbſt angingen;
fondern beurtheile bios, was ich fage. Ich werde dem Alter
nicht entfliehen, wenn es mich mir ganz bewahrt, ‚ganz
nämlich, jenem beffern Theife nach. Aber wenn es anfangen
folfte, meinen Geift anzugreifen, und fein DBermögen zu
entträften, wenn ed mir nicht das Leben, fondern nur das
thieriſche Daſeyn noch übrig läßt, dann werde ich mich mit
Einem Sprunge retten aus der morfchen, hinfinfenden Bes
hauſung. Einer Krankheit, fo lange fie heilbar und meinem
Geifte nicht hinderlich iſt, werde ich mich nicht durch den
Tod entziehen: ich werde nicht eines Schmerzes wegen Hand
an mid) legen; fo ſterben, hieße befiegt werden. Weiß ih
aber, daß ich ihn immer werde leiden müßen — nun fo werde
idy von danuen gehen, aber nicht wegen bes Schmerzes felbft,
Sondern weil er mid, an altem dem hindern würde, wegen
deſſen man lebt. Schwach und feig ift, wer um bes Schniers
zes willen flirbt: aber ein Thor iſt, wer dem Schmerz zu
Gefallen lebt.
Doch ich? verliere mich zu weit: der Stoff iſt von der
Art, daß man dazu einen ganzen Tag verbrauchen koͤnnte.
Aber wer mit einem Briefe nicht zu Ende kommen kant,
wie wird der feinem Leben ein Ende zu machen vermögen ?
So (ebe denn wohl! — ein Wort, das Du lieber Iefen
wirft, als vom Tod, umd nichts ald vom Tod!
Genr:a. 136 Bbchn, | . \
1658 Seneca's Briefe.
Nennundfünfzigfter. Brief.
@in Urtheil Seneews über die Schreibart
eucitius. — Leber Selbſtkenntniß und w
Freude.
Deinen Brief habe ich mit großer Luſt geleſen. Gi
mir nämlich, diefes Wort in feinem gewöhnlichen Sin
nehmen, und fchiebe Ihm nicht feine floifche Bedeutung ı
Mir halten die Luft für einen Fehler. Immerhin: dod
gen wir das Wort zur Bezeichnung einer heitern Seele
mung zu gebrauchen. Ich weiß ed, es iſt eine übelb
tigte Sache um Die Luſt wenn wir unfer [foifches] W
verzeichniß befragen), und Freunde kann nur dem %
zu Theil werden: denn fle ift das Hochgefühl einer au
eigenthümlichen Güter und Kräfte vertrauenden €
Gleichwohl fagen wir nad) dem gewöhnlichen Sprachgebr:
diefes oder jenes Mannes Erhebung zum Gonfulat,
feine Vermaͤhlung, oder die Entbindung feiner Gattin
uns große Freude gemacht; und dennoch find diefe :
oft fogar nicht erfreutih, daß fie nicht felten die Ar
künftiger Traner find: zur rende aber gehört, daß fe
aufhören, nicht in's Gegentheif tich verwandeln Bann. '
. daher unfer Virgilius ſagt:
— — — — bei Herjzens leidige Freuden, )
fo iſt dieß zwar ſchön, aber ſehr uneigentlich gefprı
denn es gibt keine Teidige Freude. Er hat mit d
Namen die Lüfte beiegt, und ausgebrüdt, was er
”) Yen. VI, 678.
Neunnndfänfzigfter Brief. 1639
wollte: denn er bezeichnete Dienfchen, welche über ihre Lei-
den vergnägt find. Indeſſen ſagte ich doch nicht mit Unrecht,
ih habe Deinen Brief mit großer Luſt gelefen. Denu wie
löblich auch ein Grund feyn mag, aus welchem der Unweife
fid) frent, fo nenne ich doch feine Feidenichaftliche, ſchnell
wieder im das Entgegenzeſeßte übergehende Stimmung eine
durch die Vorſtellung von einem fulichen Gute angeregte
ungemäßigte, ausfchweifende Zuft.
Dody. um auf das zurückzukommen, was ich ſagen wollte,
fo vernimm, was an Deinem Briefe mir Dergnügen gemacht
hat. Du Haft die Worte in Deiner Gewalt: die Rede reißt
Dich nicht Hin, führt Didy nicht weiter, als ia Deinem Plane
tiegt. Diele find, Lie durch dad Gefallen an eiuem fchönen
- Worte ſich verleiten laſſen, Etwas zu fchreiben, was fle gar
nicht fchreiben wollen. Dieß begegnet Die niht: Dein
ganzer Vortrag ift gedrängt und ſachgemäß. Du fagft, fo
viel Du fagen willſt, und deuteft noch mehr an, als Du
faot. Dieß läßt noch auf ein wichtigeres Gnt fihließen; es
iſt ein Beweis, daß auch Dein Gemüth nichts Ueberflüſſiges,
nichts Aufgedunjenes hat. Ich finde hin und wieder Meta:
phern, die eben fo wenig verwegen ald ungerällig find: mögen
fie atfo ihre Glück verſuchen. Ich finde Bilder; und wer
uns ihren Gebrauch verbietet, und fie blos den Dichtern ges
ftattet wiffen will, fcheint mir Keinen von den Alten gelefen .
zu haben, welche doch mit ihren Vorträgen noch Bein DBeis
faliflatfchen zu erhafdyen fuchten. Sie, die fo einfach, und
nur mit der Abſicht, ihren Gegenftand klar darzuflellen,
fprachen, find poll von Gleichniſſen: und diefe find meiner
\» -
1640 Seneca's Briefe.
Meinung nach unentbehrlich, nicht ans demfelben Grunde,
wie ten Dichtern, fondern um der Unzulänglichkeit [Lunferer
Sprache) zu Hülfe zu kommen, und um den Lehrling und
Zuhörer in die Anfchauung 'zu verfeßen. Ich lefe eben jest
den Sextius, einen Schriftfteller vol Kraft, der in Grie—
chiſcher Sprache, aber in Römifchen Geiſte phitofophirt.
Es ergriff mich ein von ihm gebrauchtes Bild: „ein Keiegs⸗
heer, wenn es von allen Seiten des Feindes gemärtia ſeyn
muß, rüdt im Diered vor, zur Schlacht gerüſtet. Ein
Steihes muß der Weije thun: feine Tugenden muß er nad
allen Seiten entfalten, damit, wo immer ein Feind erfcheis
nen mag. dort die Schuswehr in Bereitſchaft ſey, und ben
Winke des Führers ohne Verwirrung entfpreche. Was in
Kriegsheeren, die von großen Feldherrn geordnet werten,
gefchieht, daß alle Trupren das Befehlwort zugleich verneh⸗
„men, indem fie fo geftellt find, vap das von Einem ausge—
hende Zeichen die Reihen des Fußoolks und’ der Reiterei
zumal durchläuft: eben dieß iſt auch uns, und noch weit
mehr, von Nöthen. Go Eertius. Kriegsheere beforgen ja
die Erfcheinung des Feindes oft ohne Grund, und der Marfch
ift oft der gefahrfofefte, welcher der mißlichfte ſchien. Für
den Thor gibt ed nirgends Frieden: Schrecken ift über ihm,
wie unter ihm; nad beiden Seiten hin bebt er; Gefahren
folgen ihm und dommen ihm entgegen; vor Allem erzittert
er, und ſtets ungerüftet, erfchrickt er auch vor der Hüfie,
die ihm naht. Der Weile Dagegen iſt gewappnet und gefaßt
gegen jeden Anlauf: mag Armuth, Bram, Schmach und
Qual anf ihn eindringen, er weicht nidyt. Unerfchroden geht
es iPnen entgegen und wandelt mitten turdy Te Kin, Vieles
- Neunundfünfzigfter Brief. 1641.
ift, was uns feſſelt, Vieles was uns entkräftet, wir haben
zu lange in jenen Laſtern gelegen: es ift fchwer, uns zu.
waihen, denu wir find nicht nur beſchmutzt, fondern davon
durchdrungen. |
Um nicht aus einem Bilde in das audere zu gerathen, -
will id) eine Frage aufwerfen, die ich bei mir ſelbſt oft über:
lege, wie ed doch Fomme, daß und die Thorbeit fo hartnds
dig feſthält? — Fürs. erfle, weil wir fie nicht entfchloffen
von und treiben, und nicht mit allem Nachdrud auf unfere
Rettung hinarbeiren ; fodann, weil wir den von weifen Män⸗
nern gefundenen Heilmitteln ‚nicht volles Vertrauen ſchenken,
‚und unfere Herzen nicht auffchließen, um fie in uns aufzuneh⸗
men, fondern eiue fo wichtige Sache nur Teichtfertig betreibe.
Wie kann aber Iemand Das, was nöthig iſt, gegen das
Lafter fernen, wenn er nur ſo lange lernt, als feine Later
ihm Seit laſſen? Seiner von und geht tief; wir fchöpfen
blod auf der Oberfläche; ein Bishen Zeit auf das Studium
der Weisheit verwendet, heißt ge:ıug und ‚mehr ald gerug
für Gefchäftöleute. Was uns Hauptfächlich hindert, ift, daß
wir fo bald mit und ſelbſt zufrieden find. Treffen wir (es
mand, der und brav, einſichtsvoll, uneigennügig nennt, gleich
finden wir, daß der Mann recht hat. Bald aber find wir
nicht mehr mit mäßigem Lobe zufrieden; was auch ein
Schmeichler ohne Scheu -und Scham auf und häuft — wir
nehmen es als einen fchuldigen Tribut hin. Verſichert er,
daß wir die Bellen und. Weifelten feyen, wir flimmen ihm
bei, fo oft wir ihn audy als Lügner erkannt.haben. Ja fo
weit geht unfere Selbftgefälligkeit, da& wir wa EM DRs
willen gelobt feyn wollen, von weÄhEN N nen
1642 Seneca's Briefe.
(Hegentheit thun. Mitten unter Todesmartern, die er voll
ziehen läßt, hört ſich Jener gerne den Sauftmäthigſten
nennen, unter Naubhandfungen den Uneigennüsigften, und
den Möäßigften mitten unter feinen Wolläfter und feiner
Mölferei. So kommt ed, daß wir mas nicht ändern wollen,
weil wir glauben, die Beſten zu ſeyn. Alexander, als er
Indien durchſchwärmte, und Völker, die kaum ihren Nach⸗
barn gehörig bekannt waren, im Kriege zu Grunde richtete,
war einft bei der Belagerung emer Stadt, deren Mauern
er umritt, um ihre fehwächften Stellen zu eıfpähen, von
einem Pfeil getroffen worden. Nichts deſto weniger beharrte
er darauf, Zu Pferte zu bleiten, und fein Vorhaben durd⸗
äufepen. Allein da durch de Hemmung des Blutlaufs ber
„Schmerz der’ vortretenden Wunde zunahm, und das vom
Dferde herabhängende Bein altmählich flare wurde, fo wer
er genöthigt abzufleigen und fagte: „Alle ſchwören, daß ich
Inpiters Sonn fey; aber diefe Wunde ruft laut, ich fey ein
Menſſch.“ Daſſelbe lab auch uns thun; fo oft und die Schmei«
chefet, Jeden nac feinem Dias, kethören will, fo laß und
fprechen: „Ihr fagt zwar, ich fen weile; ich aber fehe, wie
viel Unnüges ich begehre, wie viel E chädfiches ich mir wünſche;
nicht einmal Das erkenne ich, was Thieren ihre Sättigung
zeigt, welches das redte Mas für Trank und Epeife feon
müſſe; noch weiß ich nicht, wie viel ich zu faſſen vermag.“
Nun will ih Did Ihrer, wie Du zur Einfidyt kommen
Bannft, dab Du roch Fein Weiſer fenftl. Der Weite ift voll
Freubigkeit, heiter, ruhig, unerfchättert, fein Leben ten
&dtrern gleich, Nun frage Dies \eihk. Wem Du riemats
Hedergefcylagen bift, wenn der Dir ur Küsktur in
Neunundfänfzigfier Brief. 1643
Deinem Gemüthe nie unruhige Erwartungen erregt, wenn
die gleichförmige Stimmung einer großgeſinnten, mit ſich
ferbft zufriedenen Seete Did) Tag und Nacht nicht verfäßt,
fo hat Du das Hoͤchſte des menfchlichen Glückes erreicht.
Aber wenn Did, verlangt, Wollüſte aller Art und überaffher -
Dir zu verfchaffen,, fo wifle, taß Dir zur Weisheit eben fo
viel, Ald zur Freude fehlt. Zu diefer wünfher Du zu ges
langen; aber Du irrft, wenn Du unter Reichthümern dahin
au kommen hoffit.. Glaubſt Du die Freude zu finden in hohen
Ehrenftelien? Du fuchft fie in Betümmerniffen. Die Dinge,
nach welchen Du frachteft, als follten fie Dir Luſt und Froh⸗
finn geben, find Quellen der Schmerzen. Alle Welt jagt
nach rende; aber woher eine dauerhafte, hohe Freude zu
gewinnen fey, weiß man nicht. Der Eine meint, aus Gaſt⸗
gelagen und Schmelgerei; ein Anderer and ehrgeizigen Des
ſtrebungen und einem großen Elienfenfchwarm; ein Dritter
aus einer Liebfchaft; ein Vierter aus ten fchönen Wiſſen⸗
ſchaften und ans Studien, die er mit eitler Prahlerei betreibt,
und die ihn um Michts beffer mahen. Alle Diefe befrügen
fih durch täuſchende und kurze Vergnügungen, wie ein Naufch
den Iuftigen Wahnfinn Einer Stunde mit langem Ekel vers
ailt, und wie die Gunft des Elatfchenden und Beifall zuru«
fenden Volkes durch große Unruhe erworben und gebäßt
wird. Bedenke alfo dieß: die Wirkung der Weisheit iſt
eine ſich gleich bleibende Freude Das Gemüth dee Weifen
ift gleich dem Firmament über dem Monde: immer ift es
dort heiter. Du haft alfo Grund genug, zu wollen, daß Du
ein Weifer ſeyſt; weil Diefer nie one Treuar iR, RU SD
dem Bewußtfeyn der Tugenden ereädyst wir greie. NV
164. Seneca's Briefe.
der Startmüthige, der Gerechte, der Mäßige kann fid
freuen. „Wie? frasft Du; „„Thörichte und Laſterhafte
freuen ſich alfo niemals?“ Nicht anders, ale wie fidy der
Löwe freut, wenn er einen Fraß gefunden. Haben ſie fid
in Trunt und Wolläften müde gefchwelgt ; ift die Nacht ihnen
unter Zechen zerronnen, hat die Fülle ter Genüfle, dem
engen Körper über dad Maß feiner Faſſung eingenöthigt,
Eitergeichwüre zu erzeugen angefangen; dann rufen bie Glen:
den mit jenen Worten Virgils aus: *)
Denn wie die Außerfie Naht wir unter kosrrätreifgen
Freuben
Hingetraääumt — das weißt Du.
Jede Nacht verbringt der Schwelger unter verraͤtheriſchen
Freuden, und zwar als wäre fie die letzte, Jene Freude
aber , welche bie Götter und ihre Nacheifereribegleitet, wird
nicht unterbrochen, und hört nicht auf. Sie würde aufhören,
wäre fie von Auffen genommen. Weil fie nicht fremdes Ges
ſchenk iſt, fo ſteht fie auch nicht unter fremder Willkühr.
Was das Glück nicht gab, entreißt es nicht.
Sechzigſter Brief.
Manbegehre nicht mehr, als bie Natur verlangt.
Ich führe Berchwerbe, ich zanke mit Dir, ich zürne Dir.
Alſo auch jest noch wünfhent Du, was Deine Amme, Dein
Auffeher, Deine Mutter Dir wünfchten? Noch immer haft
Du nicht eingefehen, wie viel Schlimmes fie Dir wünfchten?
> Heneit, VI, 515, Voß.
Sechzigſter Brief. 1645
D wie unhold find uns oft die Wüniche ter Unfrigen! und
zwar um fo unholder,, je mehr fie in Erfüllung gingen. Es
wundert mich nun nicht mehr, wenn alles Unheil und vom
Kindesalter an verfolge: wir mwuchfen unter den Verwün—
ſchungen unferer Eftern heran. Laß und nun aud einmal:
unelgennügige Gebete zu den Göttern fchiden. Wie fange
noch werden wir Forderungen an fie machen, ale ob wir. uns
noch nicht ferbft ernähren -Eönnten? Wie lange noch werden
untere. Saaten tie Ländereien großer Städte einnehmen ?
Wie lange follen ganze Völker nur für und ernten? Wie
lange wird man anf einer Menge von Schiffen, und über
mehr als Ein Meer herbeiholen, was auf die Tafel eines
Einzigen gethürmt werten fol? Den;Gtier fättigt eine
Weide von einigen wenigen Faacherten: ein einziger Wald
reicht für eine Heerde von Elephanten hin: nur der Menfch
mäftet fi von Land und Meer zugleich. Hat etwa die Natur
feitit uns, bei einem fo mäßigen Körperumfung, dieſen fo
unerfättlihen Magen gegeben, taß wir die ungeheuerften und
gefräßigften Thiere an Gierigkeit übertreffen follen ?” Gemiß
nicht. Wie viel-ift ed denn, was die Natur verlangt? Sie
läßt fih mit fo Wenigem abjertigen. Nicht der Hunger
kommt uns thener zu ftehen, fondern unfere Eitelkeit. Leute
alfo, die, wie Sal luſt ius fagt, ihrem Bauche unterthan
find, wollen wir nicht zu den Menfchen, fondern zu den
Zhieren zählen; einige ‚nicht einmal au diefen, fondern zu
den Todten. Es Iebt nur, wer feine Kräfte braucht: wer
aber in dumpfer Erftarrung ſich verkrochen hält, liege zu
Hauſe als in feiner Gruft. Eines (uhr Mesa Rss
SQ
1646 Seneca's Briefe.
folfte man auf eine Marmortafel *) über feiner Schwelle
ſchreiben. Er iſt feinem Tode zuvorgefommen,
Einundfehzigfter Brief.
Bereite dich auf den Tod.
- Hören wir auf, zu wollen, was wir gewollt.kaben!
Ich wenigſtens firebe’ats Greis dahin, daß ich nicht daſſelhe
‚zu wollen fcheine, was ich als Knabe wollte. Dahin zielen
alle meine Tage, alle meine Nächte: dieß ift mein Geſchäft,
mein einziges Sinnen, den alten Fehlern ein Ende zu mas
hen. Darnach tracht' ich, daß ein Tag mir wie das ganze
Leben ſey. Ich Halte ihm nicht ängftlich feſt, ale wäre er
der leute: aber id) betrachte ihn, als könnte er fogar der
teste feyn. Ich fchreibe Dir diefen Brief in einer ſolchen
Faffung des Gemüths, ald würde der Tod midı mitfen im
- Schreiben abrufen. Bereit, von hinnen zu gchen, genieße
ich eben darum des Lebens, weil ich es nicht hoch anfchlage,
wie lange ed noch dauern werte, Ehe idy Greis war, dachte
id, darauf, wohl zu leben; nun ich Greis bin — wohl zu
fterben; gerne flerben aber heißt wohl fterben. Laß Dir's
angelegen feyn, nie Etwas wider Willen zu Thun. Was da
kommen mag, komme für den Wiberftrebenden als ein Zwin⸗
gended. Für den Wollenden gibt es Beinen Zwang. Glaube
mir, wer einem Beiehle fidy gerne unterzicht, vermeidet die
Härtefte Seite der Kuechtfchaft, zu than, was er nicht will.
2 Wie auf Grabmaͤlern gewöhntin.
Zweinndfechzigfter Brief. 1647
Nicht, wer auf Geheiß etwas thut, ift unglüdtich, fondern,
wer es wider Willen thut. Bringen wir affo unfer Gemüth
in die Stimmung, daß wir, was die Umftände erforder, auch
ferbft wollen, vor altem aber, daß wir ohne Befümmerniß
an nnfer Ende denfen. Wir müßen ung eher auf den Top,
ats auf das Leben vorbereiten. Das Leben ift genugfam ver⸗
"forget: aber wir find nach den Hülfsmitteln deffelben begierig;
“wir glauben, es fehle uns noch etwas, und werden ed immer
glauben. Nicht Jahre noch Tage werden mahen, daß wir
genug gelebt haben, fondern unfer Herz. Ich, theurer Luci⸗
lius, babe zur Genüge gelebt: gefättigt erwart? ich den
Tod.
Zweinndſechzigſter Brief.
Man kann philoſophiſche Muffe mitten unter
Geſchaäften gewinnen.
Die lügen, welche den Schein haben wollen, als hins
dere fie die Vienge von Arbeiten an edleren Studien: fie
ſtellen ſich, als hätten fie-viele Gefchäfte, vermehren fle, und
rauben fich ıhre Zeit ſelbſt. Ich habe Muffe, mein Lucilius,
reichliche Muffe, und, wo Id} auch bin, bin id) mein eigen,
Den Gefchäften gebe ich mich nicht ganz, ich leihe mid, ihnen
nur, und fuche die Antäffe, Zeit zu verberben, nicht auf.
Wo ich mid anch befinde, befchäftige ich mid, mit meinen
Betrachtungen, und bewege irgend einen heilfamen Gedanken
in meinem Semüthe. Auch wenn ich meinen Freunden midy
witme, entziehe ich mid, doch nicht win Kelht, tt run
1648 J Seneca's Briefe."
ftände oder eine Dienflleiftung in bürgerlichen Gefchäften mich
mit Anderen zufammenführen, ſo verweile ich nicht Tange
bei Diefen. Nur mit den Beiten bin ich zufammen: zu ihnen,
an welcdem Drte, in welchem Jahrhunderte fie auch Ichten, -
begebe ich mich im Geiſte. Den edlen Demetrius *) führe
ich überall hin mit mir: abgewandt von den Bepurpurten
fpreche ich mit diefem Halbnackten und bewundere ihn, Wie
ſollte ich nicht? Ich habe gefehen, daß ikm nichts mangelt.
Alles verachten kann man, alles haben kann Niemand. Der
kürzeſte Weg zum Reichthum ift die Verachtung des Reid
thums. Unfer Demetrius aber lebt, nicht als veracdhtete er
Alles, fondern ale hätte er ed Anderen zun Belt überlaffen.
Dreiundfedzigfler Brief.
Ueber die Trauer beim Tode unferer Sreunde
Du empfindeft ſchmerzlich den Tod Deines Freundes
Flacen. Ich wünschte jedoch nicht, daß Du Did) Deinem
Schmerze zu fehr hingebeſt. Ihn Dir ganz au verbieten,
möchte ich nicht wagen; doch weiß ich, daß es beffer wäre
(gar einen zu empfinden]. Allein wer befäffe eine ſalche
Seelenftärke, außer wer fid) ſchon hoch über das Gefchid
erhoben Hat? Auch Diefen würde ein folcher Fall anregen,
aber auch nur anregen: Mnd dagegen kann man es zu gut
haften, wenn wir es zu Thränen Eommen laflen, wofern fle
nicht zu reichlich fließen, und wir ſelbſt lie aurüddrängen.
Anfer Ange fol nicht troden bleiben bei’'m Verluſt eines
9 S. Brief 20. ©. 1489.
" . Dreiundfechzigfter Brief. 1649
Freundes, aber es foll nicht überſtrömen; wir folfen weinen,
doch nicht Heulen. „Eine harte Forderung,‘ fagft Du? Und
Boch hat Griechenlants größter Dichter das Recht zu weinen
anf einen einzigen Taz befchränkt, und gefagt:
— — auch Nioke ſelbſt gedachte ber Nahrung. *)
Arayen wir: woher dieſes Wehklagen, woher biefes Unmaß
des Weinens? Mit Thränen wollen wir unſere Sehnſucht
ausdrücken; wir überlaſſen uns nicht dem Schmerz, wir zei⸗
gen ihn. Man trauert nicht für ſich ſelbſt. O der unglück⸗
ſeligen Thorheit! Es gibt auch eine Eitelkeit der Trauer. —
„Wie?“ rufſt Du aus: „ich ſoll alſo meines Freundes ver⸗
geſſen?“ — Du verfprichft Ihn ein kurzes Andenken, wenn
es nicht länger danern ſoll, als Dein Schmerz. Bald genug
wird irgend ein Zufall lachende Heiterkeit über dieſe Stirn
verbreiten: ich brauche Dich nicht erſt auf die Zänge der Zeit
hinzuweiſen, welche alle Sehnſucht mildert, und auch den
herbſten Schmerz befänftigt. Sobald Du. aufhören wirft,
Did) ſelbſt zu beobachten, werden aud) jene Züge der Tratter
fich verlieren. Für jene hüteft Du Deinen Schmerg:: allein
auch tiefer Obhuk wird er entjchlüpfen, und um fo fehneller
aufhören , je heftiger er war. Denken wir darauf, wie die
Erinnerung an unfere Verlorenen uns eine angenehme wer⸗
den möge: Niemand kemmt gerne auf Das zurüd, an was
er nicht ohne peinfiche Empfindung zu denken vermag. Wenn
es jedoch unvermeidlich ift, daß der Gedanke au Hingeſchie⸗
dene, die wir liebten, uns wehmüthig ſtimmt, fo hat ja eben
*) Jliade XIX, 228. XXIV, 602.
1650 Senecca's Briefe. |
auch diefe Wehmuth ihr Süßes. Unſer Attalus pflegte
zu ſagen: „die Erinnerung an verſterbene Freunde iſt in der
Art angenehm, wie mauche Früchte eine gewiſſe liebliche
Herbe haben, und wie an einem ſehr alten Weine eden ſein
bitterlicher Geſchmack gefällt. Nach einer längeren Zwifcen:
zeit vertiert ſich das Beklemmende des Gefühld, und unſer
Vergnügen iſt ein reines.“ Wenu wir dieſem Attalus glau:
ben, fo heißt „feiner lebenden Freunde gedenken,“ fo viel,
-ald Honig und Backwerk genießen; die Befchäftigung mit
Solchen aber, die nicht mehr find, gewährt eine bitterfübe
Empfindung. „Allein wer wollte fdugnen, daß auch ſcharfe
und herbe Dinge den Magen reizen?’ Ich bin nicht derfels
ben Meinung. Mir it der Gedanke au verftorbene Freunde
- füß und wohfthuend. Denn ic, befaß fie, als würde ich fie
verlieren, und verlor fie, ald hätte ich fie noch.
So thue denn, mein Lucilins, was Deiner Billigkeit
gemäß iſt; höre auf, eine Wohlthat des Schickſals zu ver
kennen. Es bat genommen, aber auch gegeben. Lan uns
alfo geizen mit tem Genuß unferer Freunde, weil es unge:
wiß ift, wie Tauge er und noch vergüunt ſeyn wird. Laß
uns bedenken, wie oft wir ſie nicht fahen, obwohl wir an
demfelben Orte lebten: und wir werden einfehen, Daß wir
mehr Seit wihrend ihres Lebens vertoren. Unertraͤgtich aber
iſt es, wenn Menfchen , die genen ihre Freunde vollkommen
gleichgültig gewefen waren, ihren Zod aufs Kiäglichfte be:
janmern, Menfchen, tie Niemind lieben, außer wen ſie
verloren haben. Und fie trauern jene um fo ungemäßigter,
”) Ein Stoicer ja Tiberius Zeit. S. Brief 9. S. 1410,
Dreiundfechzigiter Brief. ı65
weil fie beforgen, man möchte bezweifeln, ob fie je liebten
„zu ſpät fuchen fie ihre Zärtlichkeit zu beweifen. Haben mai,
nody audere Freunde, jo iſt ed für Diefe wenig verbindlich
daß fie uns nicht einmal fo viel gelten follen, um uud übe
‚den Verluſt eines Einzigen zu troſten. Haben wir Keine, fı
haben wir ung felbft größern Schaden zugefügt, ald wir von
Schickſal erlitten. Diefes hat uns nur Einen entriffen; wi:
Eounten fo Manchen und erwerben, und thaten es nice
Und wer nicht mehe als Einen zu lieben vermag, bat and
den Einzigen nicht allzufehr geliebt. Wenn ein Ausgeplün
derter, der fein einziges Gewand verlor, nur wehllage
- wollte, ſtatt ſich umzufehen, wie er vor der Kälte ſich fchüs:
"amd Etwas zur Bedeckung feiner nackten Schultern finde
. müßte man ihn nicht für den größten Thoren halten? De
Du liebteſt, haft Du begraben, fuche, wen Du lieben
„Weiſer ift es, den Verloregen erfesen, als ihn beklagen
Ich weiß, es ift ein verbranchter Gedanke, den ich nod
hinzufügen will: doch darf ich ihn Tarum nicht übergehen
weit ihn Sedermann im Munde führt. Auch wer feinen
. Schmerze nicht abſichtlich ein Ende macht, findet es mit der
Zeit. Allein es ift für einen vernünftigen Menſchen das un:
. ‚würdigfle Mittel gegen die Traurigkeit, des Trauerus müdı
zu fegn. Ich wollte licher, Du verlieffeft Deinen Gram
als er Dich. Höre möglichſt bald auf, etwas zu thun, war
Du, auch wenn Du wollteft, nicht lange thun könnteſt. Eir
Jahr haben unfere Alten den Zrauen zur Trauer vorgefchrie
beu, night damit fie fo lange, fondern damit fie nächt länge:
trauerten: für Männer gibt es Leine gefesliche Zeit, wei
diefen keine gezient. Und auch yon jenen zürtlihen Tuasıs
1652 ESeneca's Briefe.
die Baum vom Scheiterhaufen wegzubringen,, von dem Leis
nam faum loszureißen waren, weldye kannſt Du mir nennen,
deren Thränen einen ganzen Monat floßen? Nichts macht
fih fo bald gehäſſig, als die Traurigkeit; fo lunge fie neu
it, findet fie einen Tröfter, und zieht Manchen an; ift fie
veraltet, fo wird fie verlacht, und nicht mit Unrecht; denn
fie it entweder erheuchelt oder thöricht.
Gleichwohl beweinte ich, der ich Die dieß ſchreibe, den
Tod meines thenern Aunäus Serenus 9 fo ungemäßigt, daß
ich zu meinem Verdruß ein Beiſpiel abgebe wie man vom
Schmerz überwältigt werden fann. Nunmehr mißbillige ich
mein Berehmen, und weiß nun, daß ich deßwegen haupt⸗
fächtich ſo tief betrübt war, weil ich nie daran dachte, daß
er vor mir ſterben könne. Ich hatte nur int Sinne, daß er
jünger, und nm vieles jünger war, als ich, als ob daB To⸗
desoerhängniß eine Drdnung beobachtete! — Möchten wir,
alfo anhaltend unſere eigene, und die Sterblichkeit aller
unferer Lieben bedenten! Ich hätte damals zn mir ferbft
fprechen follen: „Mein Serenus ift jünger ats ich: doch
was ändert dieß? Er ſollte nach mir fterben, aber er Bann
“es vor mir.‘ Allein ich hatte cd nzterlaffen, und fo hat
mid das Schickſal unvorbereitet erfchüttert. Jetzt bedenke
ich, daß Altes fterblich ift, und zwar nach einem ungewiffen
Geſetze. Was einmal gefchehen kann, kann auch heute ges
fchehen. So denken wir denn, mein theuerfter Zucilius, mit
dem Freunde, den wir betrauern, ift ed dabin gefommen,
wohin ed auch mit uns bald kommen wird. Und vielleicht —
“7 Ueber ihn ſ. ©. 374 diefer Weber\.
Bierundfechzigfter Brief. 1655
wenn anders die Sage der Weifen waht ift, und uns irgend’
ein Ort aufnimmt — ift er uns nur vorangefandf, den wir
verforen glauben.
XVEA
Vierundſechzigſter Brief. |
Lob der Schriften des ältern Q. Sertine Per
dienſte der dlteren Weiſen.
Geftern warft Du bei und. — „Nur geſtern?“ konnteſt'
Du empfindlich fragen; deßwegen fagte ich bei ung, denn
bei mir bit Du immer. — Es waren einige Freunde zu
mir anf Befuc gekommen, um deren wilfen etwas mehr
Rand) aufging, kein folcher, wie er ans den Küchen der
Veppigen emporzuqualmen, und die Feerwächter zu erfchres
“den pflegt, fondern ein ganz mäßiger, der nur andenfek,
daß Säfte gekommen. Die Unterhaltung war mannichfaltig,
ganz einem gefelligen Manfe gemäß, und fprang, ohne einen
Gegenftandp!zu erfhöpfen, von einem auf den anderen über.
Dann wurde eine Schrift des Quintus Sertius, des
Vaters, vorgelefen, eines großen Mannes, wie Du mir
glanben darfft, und, auch wenn er ed aud nicht Wort haben
wi, eines Stoikers. Himmel, welche Kraft, welcher Hoch⸗
finn befeett ihn! Dieß wirft Du nicht bei alten Philoſophen
finden. Die Schriften Mancher tragen nur einen glänzenden”
Namen, und find im Uebrigen kraftlos. Voll von Theorie,
Polemik und Sophiftif, *) können fie dem Herzen den Muth
”) So glaubte ich das Original: instituunt, disputant, ca--
villantur, am bezeichnendfien wiebergagaera, Bun von
ſprechende beutfche Zeitwörter Keen AL A —
Geneca, 138 Bbdyn,
1654 Seneca's Briefe.
nicht geben‘, den fie felbft nicht Haben, Aber lied ten Sex:
tius, und Du wirft ausrufen, „welches Leben, welche Kraft,
weiche Freiheit! wie hoch ſteht er über den Sterblichen!.
voll großen Selbftvertrauens fcheide ich von ihm.‘ In welcher
Beelenftimmung ich auch ſeyn mag — wenn id) ihn leſe, fo
möchte ich, glaube es mir, alle Wecrfelfälfe des Glückes hers
ausfordern, möchte ausrufen: „Was fäumeft Du, o Schids
fat? Zrete in die Schranken mit mir! Du-fiehft mid) ges
rüſtet.“ Ich eigne mir den Muth des Mannes an, der die
Gelegenheit auffucht, ſich zu erproben nnd feine Tapferkeit
zu zeigen.
Daß ſtatt ſcheuen Gewilbes doch auch ein ſchaumender Eber,
Wänfhet er, ober ein er Leu vom Gebirge fid)
. ftärze. 9,
Haben möchte ich Etwas, das ich überwinden, in deſſen Er⸗
dulden ich mich üben könnte. Denn auch dieß Vortreffliche
bat Sertius, daß er Dir die Herrlichkeit des glüdtichen
Lebens zeigt, und Dich gleichwohl nicht daran verzweifeln
räßt. Du wirft inden, daß es hoch geftelit ift, aber erreichbar
dem Willen. Daffelde wird Dir auch die Tugend ſelbſt ges
währen, daß Du fie bewunterft nnd doch hoffſt. Mir wes
nigitens pflegt (hen die Betrachtung der Weisheit viele Zeit
wenzunehmen: mit Staunen befchaue ich fie, fo, wie die
Welt felbft, die ich nicht felten als ein Hanz neuer Zufchauer
anſehe.
Ich verehre die Erfindungen der Philoſophie und ihre
Erfinder: mit Freuden benütze ich fie als das Vermaͤchtniß
”) Birg, Aen. IV, 158 .
Vierundfechzigfter Brief. 1655
Dieler. Für mid) find diefe Güter gewonnen, für mid) ers
arbeitet worden. Allein wir follen thun, wie ein guter
Hausvater: wir follen vermehren, was wir übertommen
haben; vergrößert foll diefes Erbgut von mir anf die Mach»
melt übergehen. Noch ift viel zu thun übrig, und vıel wird
übrig bleiben; und Keinem, würde er erft nad taufend
Menfchenaltern geboren, wird die Mögi-chkeit abaefchnitten
feyn, noch etwas hinzuzufügen. Doch, wenn auch Alles von
unſern Vorgängern fchon gefunden wäre, neu blicbe ung
doch immer der Gebrauch, die Erkenutsiß des Gefundene:
und feine Anordnung. So find und Heilmittel für kranke
Augen übertiefert: ich brauche nicht nach neuen zu ſuchen;
allein fie find nach den verfchiederen Uebeln und Umftänden
a zuwenden. Das Eine lindert tie Schärfe in den. Augen;
ein Anderes vertheilt die Gefchwulft der Augenfierer; ein
“ Drittes dient bei fchnellen Entzündungen und Flüſſigkeiten;
‚ein Viertes färkt die Sehkraft. Man muß fie nun zubereis
“sen, die rechfe Zeit auserfehen,, und jedes im rechten Maße
anwenden. Auch für die Seele haben die Alten uns Heils
mittel hinterlaſſen; aber wie und wann fle gebraucht werden
ſollen, ift unfer Gefchäft, zu erforfchen. Vieles ift von
Denen gethan, die vor und waren, aber noch nicht abgethan;
gleichwohl verdienen fie Hochachtung, ja göttliche Verehrung.
Wie follte id) alfo nicht die Bilder großer Männer ale Ans
reizungsmittel für meinen Geiſt betradten, und die Gedaͤcht⸗
nißtage ihrer Geburt feiern ? Wie follte ich nicht ihre Namen
immer mit Ehrfurcht nennen? Keine geringere Verehrung,
als meinen Lehrern, bin ich auch jenen Lehrern det ER
lichen Geſchlechtes ſchuldig, don weiten UBSSS NDN
1656 Seneca's Briefe.
ausgegangen if. Wenn ich einen Conſul fehe, ober einen
Prator, fo fol ich alles thun, womit die Ehrenftelle geehrt
zu werden pflege, foll vom Pferde fpringen, außerdem das
Haupt entblößen, aus dem Wege treten? „Den Gedanken
an die Catone dagegen, an Lälius den Weifen, an Socrates
und Plato, an Zeno und Cleanthes, fol ich mir ohne bie
Empfindung der höchſten Achtung vor die Seele ſtellen?
Nein, ich verehre jene Alten, und erhebe mich alfezeit,
wenn fa große Namen genannt werden. '
‘
Fuͤnfundſechzigſter Brief.
Heber Urfadhe und Materie. Nutzen ſolcher
Betrachtungen.
Den geſtrigen Tag theilte ich mit meiner- Krankheit:
den Vormittag nahm fie für fi in Anſpruch; den Nachmit:
tag überließ fie mir. Zuerſt verfuchte ich meinen Geift mit
Leſen; fodann, als er dieß zuließ, wagfe.ich es, ihm etwas
mehr zuzumuthen, oder vielmehr zu geflatsen. Ich fehrieb
etwas, und zwar mit größerer AUnftrengung, ald gewöhnlich:
denn ich hatte mit einem fchwierigen Stoffe zu Fämpfen, und
woltte ihm nicht unterliegen. Endlich kamen Freunde da:
zvifchen, welche Gewalt brauchten und mir Einhalt thaten,
"ald einem Kranken, der fidy nicht zu mäßigen wilfe. An bie
Stelle bes Schreibgrifield trat jet tie mündliche Unterbal:
ng, aus welcher ich Die denjenigen Begentund wiiieiten
M, ber nody im Streite iſt. Wit ven DE
Fuͤnfundſechzigſter Brief. 1657.
richter angenommen; und Du wirft mehr zu thun haben, als
Du. glaubſt. Die Sache iſt eine dreifache.
Du weißt, daß unſere Stoiker zwei Prinzipien aller
Dinge annehmen, die Urſache und die Materie. Die Materie
iſt todt, füt jede Einwirkung empfänglich, und fo lange un—
thätig, als - Niemand fie in Bewegung fegt. Die Urſache
aber, das ift die Vernunft, geſtaltet tie Materie, wandelf
fie um nach Gefallen, und bringt aus ihr mannigfaltige
»Werke hervor. Es muß alfo zuerft etwas feyn, woraus
ein Ding wird, fodann Etwas, wodurd, es wird: Defes
ift die Urfache, jenes die Materie. Alte Kunft ift Nachah⸗
mung der Natur; was ic, alfo.von dem Welrganzen Tante,
iſt auch anzuwenden auf Das, was der Menfdy zu fchaffen
hat. -Die.Bildfäule febt voraus eine Materie, welche von
dem. Künftler fi) behandeln ließ, und-einen Künſtler, wels
cher der Materie ihre Geftalt gab. Bei der Bilvfäule ift
alfo die Materie das Erz, die Urfache ift der Meiſter. Daſ⸗
ſelbe ift ed mit allen Dingen: fie beftehen aus dem Bewirk⸗
ten und aus dem Dewirkenden. Die Stoiter nehmen nur
- Eine Urſache an, die bewirkende; Ariſtoteles aber ift der
Meinung, die Urfache fen in dreifachem Sinne zu verſtehen.
Die erfte Urfache fey die Materie felbft, ohne welche nichts
hervorgebracht werden kann; die zweite der Meifter; die
dritte die Form, welche jedem Werke, wie einer Bildfäufe,
gegeben-wird. Diefe nennt Ariſtoteles eidog. Noch kommt,
fagt er, ein Viertes Hinzu, der Zweck des ganzen Werkes.
Ich will dieß näher erklären. Won Au Buster ss
erffe Urfache das Erz; denn fie wäre A F
wicht dasjenige vorhanden geweien wie, NIE
1658. Eeneca's Briefe.
oder geformt ward. Die zweite Urfache ift der Känftier:
denn jenes Erz hätte nie in die Geflalt einer Bildfäule um-
gefchaffen werden Töanen, Wenn nicht eine geſchickte Hand
hinzugefommen wäre. Die dritte Urfache ift die Form: denn
jene Bildiäule wärde nicht den Namen Dorpphorus oder
Diadumenud führen, wenn ihr nicht gerade diefes Gepräge
aufgedrückt worden wäre, Die vierte Urfache ift der Zweck
ihrer Verfertiuung ; deun wäre Fein Zweck vorhanden gewefen,
fo wäre fie nicht zu Stande gefommen. Der Zweck aber if
Daajenige, was den Künftler zur Arbeit einlud, was er bei
derfeiben beabjichtiate. Sein Zweck iſt nun entweder Geld,
wenn er fen Werk auf den Verkauf verferrigte; oder Bes
rühmtheit, wenn er arbeitete, um fich einen Namen zu ma:
hen; oder fein Zweck ift ein religidfer, wennver ein Geſchenk
in .einen Tempel flifren wollte. Alſo auch dieß ift eine Urs
ſache, um welcher willen etwas gefchieht. Dover iſt nicht
etwa ımter die Wifachen eined zu Stande gebrachten Werkes
auch dasjenige zu zählen, ohne weiches Daffelbe nicht ent
fanden wäre? Eine fünfte Urfache fügt zu diefen noch Plato
hinzu, das Urbild, was er felbft die Idee nennt; fie ift
dasjenige, was der Künftter bei Ausführung des beabſichtig⸗
ten Werkes vor Augen hatte. Es thut nichts zur Sache, ob
diefes Urbild, anf welches er feine Blicke heftet, ih außer
ihm ſelbſt, oder in ihm_ befinde, d. h. von ihm felbfl ges
ſchaffen und fi) vorgeſtellt. Diefe Urbilder aller Dinge bat
die Gottheit in fih; der götttiche Geiſt begreift Zahl und
Maß aller zu fchaffenden Dinge; er ift voll von jenen For⸗
zen, welche Plato die unendiichen, unwandelbaren, umners
khöpfichen Ideen nennt. So vergehen ywar tie Meulchen;
Fuͤnfundſechzigſter Srif.e. 1659
aber die Menſchheit ſelbſt, nach weicher der einzelne Menfdy
gefchaffen wird, bleibt; und, indem die Menfchen kämpfen
und fterben , erleidet jene nichts. — Rad) Plato gibt es alſo
fünf Urfachen der Dinge: dasjenige, aus was, dad, durch
was, das in was, das nad) was, und dag, wegen deflen
Etwas, entfieht: hierzu kommt endlich dasjenige felbit, was
aus diefen Urfahen zu Stande gekommen. So iſt an der
Bildfäule — weil ich num einmal idiefes Gleichniß gewählt
habe — das „aus was: Metall; das „durch was:“ der
Künftler; das „in was:“ die Form, die ihr gegeben wird>
dad „nach was:“ das Urbild, weiches der Verfertiger nadys
ahmt; das „wegen deſſen:“ der Zweck der Arbeit. Was
dus diefem allem entfteht, ift die Bildfäute ferbft. Alles
dieſes hat, wie Plato ſagt, auch die Welt: einen Werkmeis
fler, biefer ift Gott; Etwas, woraus fie wird, dieß iſt die
Materie; eine Form , diefe iſt die Geſtaltung und Einrich-
- tung der Welt, wie wir fie vor uns fehen; ein Urbitd, nach
. welhem Gott‘ diefed prachtvolle AU erfchuf; einen Iwed,
um deffen willen er es erfchuf. Du fragft, was Gottes Zweck
fm? Das Gute. So fagt wenigftens Plato: „Welche
Urſache Hatte Gott, die Welt zu fchaffen? Gott ift gut; in
dem Guten aber ift Feinerlei Neid: alfo ſchuf er die Welt
fo gut ald möglich.“
Halle alfo jest als Schiedsrichter Dein Urtheil und
fage, wer nach Deiner Meinung das Wahrſcheinlichſte, nicht,
Wer das Wahrfte Ichre: denn dieſes Liegt fo Koch über ung,
als die Wahrheit ſelbſt. Jene Maffe von Urfadhen, die
Ariftoteles und Plato annehmen, enthält entweder ihrer an
viele, oder zu wenige. Denn vwornn Ar fir Kueiitiutr Sb
ur
1660 Seneca’s.MBriefe.
Dasjenige erflären, ohne welches ein Ding nicht zu Stande
kommen kann, fo haben fie -zu wenige angenommen. -Gie
müßten unter die Urfachen auch die Zeit feben; nichts Eann
ohne Zeit gefhehen: — chen jo den Raum; wenn es nichts
gibt, wo Etwas gefchehen fol, fo kaun es nicht geſchehen: —
ferner die Bewegung’; ohne dieſe entſteht und vergeht nichts;
ohne fie gibt es Feine Kunſt, Feine Ihätigkeit. Wir haben
vielmehr eine erfte und allgemeine Urfache aufzufuchen: diefe
muß eine einfache jeyn; denn die Materie iit auch einfach.
Fragen wir nun, welche ift diefe Urfache ? die wirkende Ders
nunft, d. h. Bott. Alles jenes Einzelne, was wir aufger
führt haben, ift nicht eine Anzahl wirklicher Urſachen, ‚fon
‚dern Alles hänge von einer einzigen Urfache, nämlich ber
- wirkenden, ab. Die Form, -fagft Du, ſoll eine Urſache
seyn Allein der Meifter gibt fie dem Werke: fle ift ein
Theil, nicht die Urfache ſelbſt. Auch das Urbild ift nicht
die Urfache, fondern ein der Urfache unentbehrliches Werk⸗
zeug. Das Urbitd iſt dem Künſtler eben fo unentbehrlid,
als fein Meißel und feine Zeile: ohne diefe Bann fein Kunft:
‚ were nicht fortfchreiten, und gleichwohl find fie nicht Theile
„befjelben oder Urfachen. Der Zweit, fagt man ferner, um
defien willen ein Künftler eine Arbeit beginnt, iſt eine Urs
ſache. Mag er fo heißen; doch ift er wicht Die-.wirkende,
fondern eine Nebenurſache. Solche aber gibt «8 unzählige; -
wir fragen hier nach der alfgemeinften. Wenn Jene übrigens
das Weltganze, das vollendete Wert felbit, eine Urſache
nennen, fo ift dieß nicht mit ihrer gewohnten Genauigkeit
gesprochen: denn es iſt ein großer. Unterfchied zwifchen dem
Werte yub ber Urfache des Werkes.
2
Zünfundfechgigfter Brief. 1661
Hierüber fprich. entweder Dein Urtheil, oder -- was -in
focchen Dingen das Leichtere ift — erkläre, Du fenft mit
Deiner Anſicht noch nicht im Reiuen, und verweife mich auf
ein Andermal. — „Allein,“ höre ih Dich fagen, „wie
kann es Div. Vergnügen machen, Deine Zeit mit Dingen zu
vertreiben , welche Di von feiner Deiner Yeidenfchaften
defreien, keine Deiner Begierden verbannen t’' -- Aller⸗
dings betreibe ich alles Dasjenige auerft, wodurch das Ge:
müth zur Ruhe kommt; zuerit erforfche ich mich, hierauf
diefe Welt. Aber auch die gegenwärtige Beſchäftigung ift
Bein Zeitverderb, wie Du meinft. Arten folche Unterfuchune
gen nur nicht ing Kleinliche und in zweckloſe Spisfukigkei:
sen aus, fo erheben und befchwingen fie den Geift, der, von
feiner fchweren Bürde gedrüdt, ſich loszumachen uud zu
jenen Wefen wieter zurüdzufehren wünſcht, zu benen er
gehörte. Diefer Leib ift des Geiſtes Laſt und Strafe: er
drückt ſchwer auf ihn amd hält ihn in Banden, wenn nicht
Die Philofoghie herzutritt, und ihn an dem Schaufpiel ber
Natur ich erholen läßt, und von dem Srdifchen zum Gött⸗
lichen emportebt. Dieß iſt feine Freiheit, feine Erloſung:
.er entzieht ich zumeilen feiner Haft und erneuert ſich durch
Bas Himmtifche. Künftfer, deren Augen bei ungünfligem
und ſpärlichem Lichte auf irgend einen feinen Gegenfland
fidy geheftet, und. bie zur Ermüdung angeftrengt haben, gehen
ins Freie und erholen ihr Geſicht an irgend einem der öffent-
lichen- Unterhaltung gewidmeten Orte ın vollen Lichte: fo
ſucht auch unfer, in diefe düftere und dumpfige Behaufung
-eingefchloffener. Geift, fo oft er kann, das Freie, und rupt
aus in der Befchauung der Natur, ‚Der Melk, ut wer was,
662° Eeneca's Briefe.
Weisheit firebt, iſt zwar an feinen Körper gebunden; aber
mit feinem befferen Theile ift er ferne von ihm, und Hält
feine Gedanfen auf das Höhere gerichtet. Das Leben ik
ihm ein Kriegsdienft, zu dem ihn gleichem ein Fahneneid
verbindet: er ift in einer foldyen Faſſung, daß er das Leben
nicht liebt, und nicht haft, und Menfchliches ſich gefallen
läßt, wiewohl er weiß, daß es noch ein Beſſeres gibt. Du
wilft mir die Betrachtung der. Natur unterfagen., mid, von
dem Ganzen abziehen, und auf den Theil befchränten? Id
fol nicht fragen, was der Anfang ded Ganzen, wer der
Bildner aller Dinge fey ? wer die in eine einzine, chaotifche
and träge Maffe Jufammengeworfenen Grundftoffe gefondert
habe ? ‚nicht fragen, wer ter Werkmeifter diefer Weit ſey,
wie Geſetz ımd Ordnung in diefes ungehenre Ganze gebracht,
wer das Zerftreute gefammelt, dad Vermiſchte andgefchieden,
dem Todten und Geftaftlofen Leben und Form gegeben habe?
aus. welcher Quelle diefe große Lichtmaffe firome? ob «6
Feuer oder etwas noch Helieres fey als Feuer? Ich fol
nach diefem Allem nicht fragen, fol nicht wiffen wollen, von
wo ich hieher gekommen? ob ich diefe Welt einmal oder
mehrmals erbliden fol? wohin ich von hier gehen werde?
weicher Aufenthalt meine Seele erwarte, wenn fie von dem
Geſetze diefer Knechtſchaft entbunden feyn wird ? Du will
mir’s wehren, im Himmel einheimifc au fenn, d. h. ich ſoll
gefenkten Hauptes leben? Nein, ich bin größer, unb zu
Größerem geboren, als daß ich ein Sclave meines Körpers
fenn könnte, den id) nicht anders betrachte, denn als eine
Feel, meiner Zreiheit angelegt. Ihn gebe ich dem Schick⸗
ſale preid, damit ed anf ihn ſich beiährönte vod durch ihn
Funfundſechzigſter Brief. 1663
indurch laſſe ich Peine Wunde bis zu mir felbft dringen.
Bas an mir Schaden leiden Bann, iſt nur diefes; in diefem
erftörbaren Haufe wohnt die Seele frei. Nie foll mich dies
es Tleifch zur Furcht, nie zu einer des edeln Mannes
würdigen Verftelung vermögen; nie werde ich diefem elen⸗
en Leibe zu gefallen die Unmwahrheit fprechen. Ich werde,
venu id) es für gut halte, die Gemeinfchaft mit ihm auf:
Men; und aud) jetzt, fo fange ich mit ihm zufammenhänge,
nd wir nicht zu gleichen Rechten verbündes; der Geift ſpricht
a allen Stüden den Vorzug an. Seinen Leib verachten, iſt
ie gewiffe Freiheit.
Und diefer Freiheit — um auf meinen Gegenftand zu⸗
Adzutommen — ift ganz befonders eine Betrachtung förder⸗
ch, wie die fo eben befprocene. Die Materie und Gott
tachen die Gefammtheit der Dinge aus. Gott regiert bie
Beit, Die ihn als ihren Beherricher und Führer umgibt und
bar folgt. Das Wirkende, nämlich Gott, ift das Mädhtigere
nd Beflere, ald die Materie, welche Gott gehordit. Was
Bott in der Melt, ift der Geift in dem Menfchen; was dorf.
ie Materie, ift an uns der Leid. Alſo fey dem Beſſeren
as Geringere unterthan; wir feyen mächtig gegen des Schicks
sis Macht, und zittern nicht vor Mißhandlung, Wunden,
beten und Armuch! Der Tod ſelſt ift entweder das Ende,
der ein Uebergang. Ich fürchte mich nicht, zu enden; den
6 ift eben fo viel, als nicht angefangen zu haben. Ich
ürchte mich nicht, Üüberzugehen; denn ich werde nirgends fo
nge wohnen.
ng