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Full text of "Lucius Annaus Seneca des philosophen Werke"

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W V.0.9,6, 
koͤmiſche Profaiter 
neuen Ueberſetzungen. 
Heransgegeben 


©. L. F. Tafel, Profeſſor zu Tabingen, 
C. N. Oſiander und G. Schwab, 
Profeſſoren zu Stuttgart. 





Bier und fünfzigſtes Baͤndchen. 


— — — 





Stuttgart, 


Verlag der G. B. Metz ler'ſchen Buchhandlung. 
r Oeſtreich in Commiſſſon von Mörſchner und Kalver 
in Bien, 
2 8 3 0. 





£ucins Annaus Seneca des Philoſophen 


Werke. 


75 
Zehntes Bändchen. — — 








Abhandlungen, 
überſetzt 
von 


J. M. Moſer, 
Doctor der PYhiloſophie, evangel. Diaconus am Muͤnſter in Ulm, 





- — m ⸗ 


Zehntes Bändchen. 





Stuttgart,. 


Verlag der J. B. Meslevfchen Buchhandlung. 

Bür Deftreih in Commiffion von Mör ſchner win Tayet 
in Wien. 

ı8 53 0 





Inhalt des Dritten Bud. 


Beſte Benuͤtzung des nahenden Atterd umd ber Lebendzeit übers 


haupt zur Betrachtung ber Welt und unfer ſelbſt. Refriedigender 
inte, zu forfchen, wad zu thun, als was gefchehen ſey. Dad 
Herrlichfte ift, dem Geiſt einporzuheben Über das Geſchick. Dazu 
führt tie Betrachtung ber Natur. 


Kay. ı — 4. Betrachtungen über dad MWaffer, deſſen 
Entftehen , Anſchwellen, Sinken, Kälte, Wärme, Gefchmad, 
Heiltraft, Schaͤdlichkteit, Schwere, Leichtigkeit, Farbe, Bes 
wegung. 

Kap. 5 — ı2. Wie 08 möglich fey, daß die Erde Waffer ges 
nug hat, um die Fläffe ununterbrochen zu erhalten. Hypo⸗ 
theſen, woher das viele Waffer Eomme; aus dem Meere 
zurüd in verborgenen Gängen ; bie Erbe gebe an bie Quel- 
Yen und Ftäffe, was fie vom Regen aufgefangen. Widerle⸗ 
gung. Waſſervorraͤthe in der Tiefe der Erde. Werwands 
lung der in Höhlen befindlichen unterirdiſchen Luft in Waſ⸗ 
fer ; und eben ſo Verwandinng der Erdduͤnſte in Waſſer. 
Wie aus Waffer Erde wird, fo aus Erde Waſſer. Beftäns 
dige Verwandlung eines Elements in das andere. Einwuͤrfe 
und Beantwortung derſelben. Da dad Waſſer ein Element 
it, fo kann man nicht fragen, woher ed komme, es ift 
eben einer von den vier Theilen der Natur, und feet its 
mer Etwas von fich felbft aus. 


Rap. 13 — 79. ZWafer, der Anfang ver Weir, rare daR 


ne, Unfıot BB Ihalch, taß der Serena \a Twe 


figreit ſotvimmt, 


13 
dm Dednnticgen und eregung. Uxanpitiege Fra 


Weiblichen ber Ktemente- 


x 


150 Inhalt des dritten Buchs. 


ber Erbe mit dem Körper; Waffergänge und Luftgaͤnge, 
wie Biutabern und Puldabern, mehrere Arten von Feuch⸗ 
tigteit in der Erde, wie im Körper. Urſachen der Unters 
brechung, und der periodiſchen Abs und Zunahme der Ges 
wäfler. Luft und Waſſer im Innern der Erde, daher auch 
Thiere; ausgegrabene Fiſche. Seitenblicke auf ben Luxus, 
welcher Fiſche im Zimmer haͤlt, damit ſie noch lebend auf 
die Tafel kommen, und man fie in der Hand abſterben laſ⸗ 
fen inne. Fiſche aus unterirdifchen Gewaͤſſern kommen bis⸗ 

weiten herauf; Ihr Fleiſch ift toͤdtlich. 

ap. 30 — 21. UIrſachen des verſchiedenen Geſchmacks ber Waf- 
fer, ihrer Leichte und Schwere, Wärme und Kälte. Ver 
fteinerndes Waſſer. Hoͤhlen mit toͤdtlicher Luft, von ber das 
Waffer angefteat wird. 

ap. 22 — 325. Eintheilung der GercAffer : Dcean, Fluͤſſe, Waſ⸗ 
fer vom Himmel, Die Erd Waffer find theit3 auf ber Ober: 
flaͤche, theils unterirdiſch. Des Empedocles Hyypotheſe 
über die Urſache der Wärme des Waſſerẽ. Toͤdtliche Waſ⸗ 
fer ohne Geruch und Geſchmack. Sonderkare Eigenfchaften 
mancher Waſſer, deren Xrant die Wolle der Schaafe färbt; 
manche tragen Menſchen, die nicht fhwimmen können, und 
Öserhaupt ſchwere Koͤrper; ſchwimmende Inſeln. Einwir⸗ 
tung mancher Waſſer anf die Leibesfruchtbarkeit der Frauen. 
Kriſtalliſirung des Waſſers. 

ap. 26. Warum einige Fluͤſſe im Sommer wachſen? Daß 
mauche Fluͤſſe verfinten und wieder zum Vorfchein kommen, 
Gewiffe Quellen werfen zu Leftimmten Zeiten Unflath aus, 
fo auch mandye Theile des Meeres. 

Daß der Erde eine allgemeine Ueberſchwemmung bevors 
ftent zu ihrem Untergang. Dabei wirkt Wieled zuſammen: 
ber austretende Ocean, -ununterbrochene Regengzuͤſſe, reichlis 
her ſtroͤmende Fluͤſſe und Quellen. Unmaͤßiger Regen 1dst 
Sr Wurzeln ber Dflanzen auf und madıt ben Boden weich 

—— demienenoô.  Unfsudtbarteit und Hungersnotb. Ein⸗ 
Beyer Gebdube; Scaamelsen des Gamers in ven Cuirgenı 
Mez Städte und Diauren hinvoeggelägrormmt, eb 


! 
\ 


Inhalt des.dritten Buchs. 1151 


flache Rand ein See. Furchtbares Dunkel von Blitzen durch⸗ 
ir; das Meer will austreten, bie Fluͤſſe laſſen es nicht, 
und werben ſelber aus Mangel der Muͤndung zu Seen, 
nur auf ben Kbcften Gebirgsruͤcken, feuchte Stellen, bie Zus 
weht der Menſchen und SHeerben- Gtürme regen bie unge⸗ 
heure Wafferfäche auf, und dad Meer wird von unten auf 
in Unruhe geſetzt. Erſchuͤtterung der Erbe; neue Quellen ; 
Einfiuß ber Geftirne theils auf bie Verbrennung, theils auf 
die Ueberſchwemmung ber Erbe. Diefe trägt den Keim ih⸗ 
ver Usmgeftaltung in ſich, wie Sommer und Winter nach 
Naturgefenen kommt. Haupturſache der qwemmung 
iſt bie Verwandelbarteit ber Erde in Feuchtigkeit; jetzt Gleich⸗ 
gewicht der Elemente; dieſes hoͤrt auf, wenn ſich die Erbe 
in feuchte Stoffe aufibſst. Der Wechſel des Jahrszeiten tritt 
nicht mehr ein, Alles in Verwirrung. Alles ein Meer. 
Solches zu thun bat die Natur von Anfang beftimmt, Les 
beral unter der Erde ift Waſſer, und Altes wirkt zum Un: 
teegang zufammen, wenn bie Welt nicht mehr halten fol. 
Dann kommt eine neue Menſchheit. 


2 


— 





Borwort. 





Es entgeht mir nicht, mein allerbefter Lucilius, welch 
großes Beginnen es für mid, iſt, ald einen Mann in hohen 
Jahren, daß ich noch vorhabe, die Welt zu durchmuftern 
und ihre Grüude und Geheimniffe auszuforichen und \e An: 
dern zur Kenntniß darzulegen. Wo foll die Zeit hexkow⸗ 
MEN, 0 ZDieled auszurichten , fo Zerſtreutes u Kanmmeit 
o Besbörgenes zu Öucchfchauen 288 drängt wid var Sr 


41482 Seneca’s Abhandlungen. 


fenalter und hält mir die Jahre vor, die unter gehaltlofen 
“ Beftrebungen Hingebracht wurden: nun um fo mehr fou 
mies denn angelegen feyn, und der Schaden einer verkehrt 
angewandten Lebenszeit durch Anſtrengung wieder gut ges 
macht werden. Die Nacht will ich. zum Tage nehmen, dem 
Sefchäftsichen entfagen , mich losmachen von der Sorge um 
ein Eigenthum, das feinem Befiter fo fern flieht; ganz fich 
felber gehöre der Geiſt an, und nehme auf die Betrachtung 
feiner ferbft wenigftens noch da Bedacht, wo er auf dem 
: Sprung ift, zu fcheiden, Ja, Das wird er thun, und bei 
fich feldft verweilen, und Tag für Zag die Kürze der Zeit 
- berechnen. Was verloren ift, wird er durch forgfältige Bes 
nützung der Gegenwart einholen. Am vedlichften geht man 
von Menue zur Tugend über. Sch möchte mit jenem Vers 
eines berühmten Dichters *) ausrufen: 
Hoch her fährer der menſchliche Geiſt; das Größte bei fleiner 
Srift beginnen wir. — — 
Sp würd’ ich fprechen, wenn ich, ein Jüngling oder ein 
Mann in den beften Jahren, Solches vorhätte. Denn für 
fo große Dinge ift jegliche Zeit beſchränkt. Nun aber habe 
ich mic) an eine fo ernfte, wichtige, nicht zn ermeffende 
Arbeit erft nach den Mittagsftunden gemacht. So will id 
denn thun, wie man’s auf einer Reife zu machen pflegt. 
Wenn man zu fpät ausgereist ift, fo erſetzt man die Is 
gerumg durch Eile. So will ich denn raſch daran gehen, 
und die vielleicht nicht zu erfchwingende, in jedem Fall große 
Pet ode Büäcdjicht anf meine Jahre angreifen. Es 


9 _ 
Wir bier Dipter war, ift unbetannt. 


whetwachtungen. Drittes Bud. 4468 
th, bei jedem Blick auf die Größe des Vor⸗ 
ei dem Gedanken, wie viel noch zu thun, 
Zeit dazu übrig ſey. — Manche haben fich 
nit, daß fie die Gefchichten auswärtiger Kö⸗ 
und was Völker gegen einunder erfitten und 
Wie viel befriedigender iſt's doch, die eiges 
faen, als fremde dev Nachwelt zu erzählen! 
die Thaten der Götter zu preifen, als die 
s Philippus und Alexander, und Anderer, die, 
er Unglüd berühmt, nicht minder eine Pet 
waren, ald Ueberfchwemmungen, die akes 
erſtrömten, und Feuersbrünſte, die eine große 
Geſchöpfe verzehrten. Sie fchreiben, wie 
die Alpen gefkiegen, wie er den duch Hiſpa⸗ 
ven aufgefriſchten Krieg unvermuthet nad 
a, und wie er, als feine Macht gebrochen 
thago's Demüthigung noch beharrlich in fei= 
ven Königen umherzog, ſich zum Führer ges 
anbietend und um ein Heer bettelnd; wie er 
ı Haaren nicht abließ, in allen Winkeln nad) 
n. Siehe da, ohne Vaterland konnt' er’d 
t ohne Feind. 
befriedigender iſt's doch, zu forfchen, was zur 
I gefchehen fey ; und Die, fo ihre Sachen 
jeftelit haben, zu überzeugen, daß von die 
getheilt werde, was Beſtand hätte, und \ctur 
Innen, beränderlicher ald der Bid, Do W 
Aube, es liebt, der Freude den Kumm 
Mm. 2 


44bA Seneca's Abhandlungen. 


zu unterlegen, und Eins in das Andere zu mifchen; darum 
frane doch Keiner im Glück, und ed zage Niemand in Wis 
derwärtigfeit ; es wechfeln die Dinge mit einander. — Was 
frohlcckeſt du? Was dich fo hoch erhebt, — Wer weiß, wo 
dich's flecken läßt! Es wird fein Ende haben, bevor das 
deine kommt. — Warum fo niedergefchlagen? Du bift tief 
geſunken: nun iſt's an dir, dich aufzuraffen. Zum Beſſern 
neigt fich das Widrige, zum Mißgeſchick wendet fidys, wenn’s 
dir nach Wunfc, geht. Auf diefen Wedyfel muß man ges 
faßt ſeyn, nicht nur im @inzelleben der Familien, das 
leicht einen Stoß erleidet, fondern auch in öffentlichen An— 
gefegenheiten. Königreiche vom niedrigften Anfang haben 
ſich über die Herrfcher der Welt geſtellt. Längft beftandene 
Thronen find mitten in ihrer Blüthe in Staub gefunten. 
Es läßt fich Feine Zahl angeben, wie Viele von Andern ges 
ftürzt wurden: in Diefer Zeit gerade erhöht die Gottheit 
die Einen, die Andern ſtürzt fie, und legt fie nicht fanft 
hin, fondern fihmettert fle von ihrer Höhe alfo darnieder, 
daß Feine Spur davon bleibt. Das kommt uns als etwas 
Großes vor, weil wir Klein find. Diele Dinge find nicht 
groß ihrer Natur nach, fondern nur im Verhältniß zu ums 
ferer Niedrigkeit. Was ift das Herrlichſte im Menfchentes 
ben? Nicht mit Flotten die Meere anzufüllen, nicht an 
den Küften des Meeres die Flaggen aufzufchlagen, nicht, 
weil kein Land mehr da ift, zur Unterdrücdung Anderer, 
2er» Drean zu durchkreuzen und unbekannte Länder aufzufıs 
Den: /onBern einen geiftigen Blid zu gewinnen, und den 
WE Steg, die Herrjchaft über die Kalter zu vrrinaen. 
Plige finds, dic da Städte, die da Wülter in ine 


Naturbetrachtungen. Drittes Bud. A155 


Gewalt hatten, ſich ſelbſt — gar Wenige. Was iſt das 

| Herrlichfte? Den Geift emporzuheben über die Drghun- 
gen und über die Verſprechungen des Geſchicks. Achte Nichts 

| für werth, daß du darauf hoffeſt. Was Hat es denn, 
das deines Wunfches werth wäre? Siehe denn, wenn 

| du von den Umgang mit dem Göttlichen dich zum Menfch- 
lichen herabläffeft , da wirft du gerade fo geblendet feyn, 

| als wendeten fich deine Augen aus hellem Sonnenfchein 
in dichten Schatten. Was ift das Herrlichſte? Mit hei— 
terem Herzen das Unglück ertragen zu Eönnen; was auch 
tommen mag, fo hinzunehmen,, als Job du gewollt hätteſt, 
daß es fo Ecnıme. Denn du hätteft es ja wollen müffen, 
wenn du gewußt hätteſt, daß das Alles nad) dem Ruthe 
der Gottheit fo komme, Weinen, Elagen,  feufzen, 

| beißt den Glauben aufgeben. — Was ift das Herrliche 

| fie? Eine Seele, gegen alles Unglück flark und trotzig, 
der Genußſucht nicht nur abhold, fondern feind, nicht 

| Gefahren auffuhend, aber aud) nicht fliehend, die da 
verfieht, des Schickſals nicht nur gewärtig zu feyn, fon- 
dern es zu geflalten, und gegen Glück und Unglüf ohne 
Zugen und Verwirrung hervorzutreten, nicht Durch den 
Sturn des Einen, noch durd den Schinmer des Aue 
dern betroffen. Was ift das Herrlichſte? Nicht ins 
Herz Fommen zu laffen arge Gedanken, zum Himmel zu 
erheben veine Hände; Fein Gut zu wollen, das, damit 
es an did komme, ein Anderer geben, ein Auterer 
verlieren mb; gu winfchen, was man ohne Witerinind 
minfpen Ruf, ei mohlgefiuntes Herz; was aber V 

Fender PR dOD anfcplagen, wenn es andy em. Du 


2 * 


456 Geneca?s Abhandlungen. 


mes Haus brächte, fo zu betrachten, als werde es hinaus⸗ 
kommen, wie es hereinkam. Was iſt das Herrlichſte? 
Den Geiſt hoch zu erheben über das Zufällige; nicht zu 
vergeſſen, daß man Menfch if, um, fen man num glüds 
lich, zu wien, es werde nicht lange fo währen, ober 
fey man unglüdtih, überzeugte zu feyn, daß man es 
nicht ift, wenn man ſich nicht dafür hält. — Was ift 
Bad Herrlichfte? Jeden Augenblick zum Sterben bereit 
zu ſeyn; das macht frei, nicht den Beſtimmungen des 
Nömifhen Rechts nad), fondern nach dem Recht der Nas 
tur. Frei aber iſt; Wer nik ein Sklave von ſich ſelbſt 
Meibt: denn das ift die ewige Kuechtfchaft, die fid 
wicht abſchütteln läßt, und die Tag und Nacht gleich 
art drüdt, ohne eine Feierftunde, ohne einen Urlaub. . 
Gein eigener Sklave zu fern, ift die härteſte Sklaverei, 3 

z 


uwrurıd 


und doch ifPe Leicht, ſie abzufchätteln, fo bald man aufs 
hört, viele Forderungen an fidy zu machen, aufhört, fh — 
feiber Lohn anzurechnen, fo bald man ſich fein Menfchens zu 
wefen und feine Lebensjahre vorhält, mögen fie auch noch : 
in der Blüthe ſeyn, — und zu fich ſelbſt fpriht: Warum 
zenn fo außer fich feyn? Warum Leuchen? Warum fih 
abſchwihen? Warım den Boden nmechren ? Warın das 
Forum befuchen? Man vraucht nicht viel, und braucht's 
nicht lange. 
Su dieſem Zweck führt denn die Betrachtung der 
RNatur. Wir werden und zuerft von allem Derunreinigen: 
gen esffernen, fodann ben Geift felber, der groß und ers 
en muß, bom Körper losmachen. Hernak, wenn 
Muuſichuuq im Stillen geübt if, wird man ae 


Naturbetrachtungen. Drittes Bud. 1457 











. ungeiftiger feygn, vor den Augen der Welt. Nichts aber 
e? tritt mehr an den Tag, als diefes Heilmittel, das, wene 
1 wir’d lernen, gegen unſere Verkehrtheit und Leidenſchaft— 
de | lichkeit Hilft, die wir zwar als verwerflic ertennen, aber 
der | nicht ablegen. 

ee 

iſt 

eit 

seh 

za⸗ Drittes Bud, 

Hi — — 

In Vom Waffer. 

ub. 1. Wir wollen nun unfre Betrachtungen anftellen über 





ci | das Wafler, und auf die Spur zu kommen ſuchen, anf 
uf | Weihe Weife es entſteht; mag es nun [mit der Hervorbrin⸗ 
ſich sung des Waſſers] zugehen, wie Dvidius *) fagt: 

ven: | „G&ilberw ſprudelt ein Duell, ſchlammlos mit glänzenden Wellen ;“ 





od der wie Birgilius ») fagt: 
un „Ro neunfach mit mädtigan Donner bed Berges hervorbridt 
fid Orchmend ein Meer, und mit tönender Woge bie Ufer bes 


dail | ſpũlet.“ 
yeif oder, wie ich bei dir, mein theuerſter Junior, ***) finde: 
| „Uns dem Siciliſchen Quell hervor der Eleiſche Strom fpringt.“ 


ud Kersefte [Drieft,] 
Ban weicyen diefe Bouͤcher geriatet ' 


4468 Seneca's Abhandlungen. 


welche Naturgeſetze das Waſſer bereiten; wie c3 zugehe, 
daß fo viele mächtige Flüffe Tag und Nacht fortflrömen ; 
warum die einen [nur] vom Winterwafler fchwellen, die ans 
dern [gerade] dann fleigen, wenn die übrigen fallen. Den 
Nil wollen wir inzwifchen vom Wllgemeinen ausnehmen, 
da er von ganz eigenthümficher und befonderer Natur ift; 
ihm wollen wir eine eigene Zeit widmen, und jebt die 
gewöähntichen Waſſer unterfuchen,, ſowohl falte ald warme. 
Bei diefen wird die Frage feyn müffen, ob fie warm ente 
ſtehen, oder ob fie es erft werden. Auch von den übrigen 
wollen wir reden , die entweder ihr Geſchmack oder irgend 
ein Augen bemerfungswerth macht. Manche nämlich find 
für die Angen gut, manche für die Nerven, manche heilen 
zeraltete und von den Werzten bereits aufgegebene Schäden 
aus. Manche helfen gegen Gefchwüre, manche erwärmen 
durch ihren Genuß innerlich, und erleichtern Beſchwerden 
in der Zunge und in den Eingeweiden. — Manche wirken nie: 
derfchlagend anf das Blut: und jedes hat, je nachdem fein: 
Geſchmack iſt, and) eine verfchiedene Wirkung. 

2. Ale Waller find entweder fiehend oder fließend; 
entweder fammeln fie fich, Lauf einmal] oder fie haben vers 
ſchiedene Adern. Die einen find füß, die andern von ges 
miichtem Gefchmad , ‘ed Eommen nämlich widerlihe dazu, 
falzige und bittere oder mit einem Arzneigeſchmack; dahin 


hatte den Beinamen Junior. Verſe von ihm werben auch 
Kup, 26. angeführt, Dee Eleiſche Strom ift dee Alpheus, 
7 nd —— und Elis und tan "water von Me, 
a icilien fließt. wo ee ſich wait ter Darie ders 


Naturbetrahtungen. Drittes Bud. 44159 


gehören die fihwefelhaltigen, eiſenhaltigen, vitriofhaltigen. 
Der Geſchmack deutet auf den Gehalt. Außerdem haben 
fie noch mannigfaltige Unterfchiede: fürs Erfte in Hınficht 
der Empfindung, — Da gibt es karte und warme; fodann 
in Hinfiht des Geibichts; — leichte und fchwere ; ferner in 
Hinfiht der Farbe, — reine, trübe, bläufichte, Tichtfarbe; 
weiter in Hinſicht ihres Einfluffes auf die Gefundheit: es 
gibe nämlich heilfame und nützliche, es gibt aber auch tödt⸗ 
liche, und die einen LBlafen=) Stein bilden. Manche find 
dünn, manche fett; manche nahrhaft, manche gehen ohne 
allen Nutzen für den Trinkenden ab, mandye wirken, wenn 
man davon trinkt, auf die Fruchtbarkeit. 

3. Ob das Waffer fteht oder fließt, das kommt auf 
die Lage des Ortes an; an abfchüffigen Orten fließt es, an 
ebenen hält es fich und bleibt flehen, und wird durch Luft—⸗ 
zug manchmal auch aufwärt3 gefrieben; das ift dann aber 
ein gezwungener Zuftand, nicht ein ließen. Geſammelt 
wird ed vom Regen; wenn ed aus einer eigeuen Quelle 
fommt , ift ed Urwaſſer. Doch iſt's aud) möglich, daß an 
einer und derfelben ‚Stelle geſammeltes und Urwaſſer ift, 
wie man Das im Fucinifchen *) See fieht, in welchen, was 
das anliegende Gebirge ergießt, Strommweife einfließt. Aber 
es find in demfelben aud) große und verborgene Adern. Das 
rum, wenn auc, die Winters Bergwafler verlaufen find, 
bleibt er doc, wie zuvor. 

4. Für's Erfte willen wir daher unterfuchen, wie 6 
dann möꝙih /ey, daß bie Erte Waller genug habe, WW 


u der ae Fer peißt heut zu Xage Lago Ai Caaı 


| 2460 Sms Abhandlungen. 


den Zauf der Fläffe unnnterbrochen”zu erhaften, und woher 
denn fo viel Waffer komme Mir wundern uns, daß in 
Meeren der Zuwachs durch die Flüffe nicht merklich iſt. 
Eben fo muß man fic wandern, daß in der Erde der Abs 
gang Deſſen, was ſich ind Meer ergießt, nicht bemerkt wird. 
Wo liegt die Urfache, daß fie fo angefültt ift, daß fie aus 
ihrem verborgenen Schooße fo viel geben kann, und immer 
wieder dad Abgegangene fo ergänzt ? Derfelbe Grund, ben 
wir-bei den Flüffen angeben, muß dann auch für die Büche 
und Quellen gelten. 

5, Einige find des Dafürhaltens, was die Erde von 
Waſſern abgebe, Das befumme fie Alles wieder, und die 
Meere wachſen deßhalb nicht, weil fie, was einftrömte, 
nicht für fich behalten, fondern fogleich wieder abgeben. 
Auf verborgenem Wege nämlich geht das Meer unter die 
Erde und tritt an's Licht; im Geheimen kehrt es zurück, 
und wird durch diefe Hebergänge geläntert, denn an den viels 
fahen Kruͤmmungen der Erdfchichten ſich floßend, legt es 
feine Bitterkeit ab, und verliert bei der großen Derändes 
zung des Bodens den vertorbenen Geſchmack, und geht in 
reines WBaffer über. 

6. Manche glauben, Was die Erde vom Regen aufs 
fängt, das gebe fie wieder an die Flüſſe ab. Als Beweis 
Dafür führen fle an, daß es in Gegenden, wo Regengüffe 
fetten find, auch fehr wenige Flüſſe gibt. Darum, fagen fie, 
feyen die Aethiopiſchen Wüſten fo troden, und finde man 

wemng Quellen im Innern von Afrika, weil dad Klima 
FR Sal ein emwiger Sommer dort fey. Doher tie 
„nöfdchen one Baum, ohne Päsnzung, keiten won 


Naturbetrachtungen. Drittes Bud. 1461 


nem Degen benezt, der ſchnell einſickert. Dagegen ift 
tannt, daß Germanien umd Gallien und das angrenzende 
tatien reichlich mit Bächen und Flüſſen verfehen find, weil 
efe Länder ein fenchtes Klima haben, und es aud) im 
nummer nicht an Regen fehlt. 

7. Gegen Dieß, fiehft du wohl, Täßt jih Manches 
wenden. Für's Erſte Fann ich, als ein fleißiger Wein⸗ 
sgumgraber dich verfühern, daß kein: Regen fo gewaltig 
‚ der die Erde weiter ald bis auf eine Tiefe von zehn 
6 befeuchtete. Ale Feuchtigkeit zehrt fich innerhalb der 
ern? &rdfchichte auf, und kommt nicht weiter hinunter. 
sie kann nun aber der Regen den Fläffen ihre Maſſe ges 
a, wenn er nur die Oberfläche des, Bodens benezt? Der 
oßte Theil davon läuft durch die Flußbette in das Meer 
. Es ift gar wenig, was die Erde einfchludt, und and 
s bleibt ihr nicht. Denn entweder ift fie troden, und 
het Altes auf, was in fie einftrömt, oder fie iſt gefättigt, 
d dann ſchluckt fie niche ein, was mehr fällt, als fie 
aucht. Und defhalb wachen die Ströme richt gleich Ans 
ags vom Megen, weil bdenfelben die dürftende Erde ganz 
fich einzieht. — Und fpringen denn nicht manche Flüſſe 
6 Felsgebirgen hervor? Was wird denn diefen der Re⸗ 
n mittheilen,, der an den nadten Felſen abläuft, und kei⸗ 
n Boden hat, wo er haften Fönnte ? Nimm noch dazı, 
B in den trodenften Gegenden tief gegrabene Brunnen auf 
ei bis dreihundert Fuß Ziefe reiche Warleradern Auer, 
einer Tiere alfo, in Die das Waffen nicht Durcdvorinaen 
ve: Das muß dich überzeugen, es {ey dort geine 0 
GEFRRENE HHd angefammelte Zeudytigteit, NONE 


4162 Geneca’d Abhandlungen. 


wie man es zu nennen pflegt, lebendiges Waſſer. Jene Ans 
ficht wird auch dadurch widerlegt, daß manche Quellen auf 
dem höchften Gipfel des Gebirgs hervorfprudeln. Es ift 
alfo offenbar, daß fie aufwärts getrieben oder dort gebildet 
werden , indem alles Regenwaſſer abwärts läuft. 

8. Mauche nieinen, gleichwie auf der Oberfläche der 
Erde ungeheure Sümpfe liegen, und große fchiffbare Seen, 
gleichwie die Meere mächtige Strecken weit in's Land hin 
eingehen und in die Thäler hineinſtrömen, fo fey auch im 
Innern der Erde füßen Waſſers die Fülle, und diefe flehen 
eben fo, wie bei und der Dcean und feine Bufen, ſtill, ja 
fie feyen von defto breiterer Ausdehnung, je mehr die Erde 
fi) in die Ziefe erftreckt. Aus jenem Vorrath in der Tiefe 
nun Eommen jene Ströme hervor: und man darf ſich wohl 
nicht wuntern, daß für die Erde der Abgang nicht bemerk: 
bar wird, „ta das Meer nom Zuwachs Nichts wahrnimmt. 

9. Manche find für folgende Erklärung: Die Erde, 
fagen fie, habe in ihrem Schooße hohle Gänge uud 
viel Luft; Diefe wird nothwendig kalt, weil eine gewaltige 
Beſchattung auf ihr liegt. Alsdann, weil fie unthärig und 
ohne Bewegung ift, verwandelt fie fid), wenn fie fich nicht 
mehr halten kann, in Waſſer. So wie über ung die Der 
wandlung ter Luft Regen bildet: fo macht fie unter der 
Erde Flüffe oder Bäche. Ueber uns Eann fie nicht ftehen, 
wenn fie fange Zeit träg und fchwer if. Bisweilen freilich 
wird fie durd, tie Sonne verdünnt, bisweilen durch Winde 

guegedednt. Daser die Rrgengüffe nicht ohne große Unter⸗ 
edungen kommen. Was aber unter der Erde ik, 16 \onı 
I eg dolle . un: 

‚ Das fie in Waſſer verwannelt , Dad iR immer 


Naturbetrachtungen. Drittes Bud. 41163 


gleidy) , ein ewiger Schatten, eine unaufhörliche Kälte, eine 
bewegungsloſe Dichtigkeit: folglich wird auch immer Stoff 
zu Quellen oder Flüffen da feyn. — Wir find der Anfiche, 
daß die Erde einer Veränderung fähig fey, es wird daher 
auch Alles, was fie ausdünftet, weil es nicht von freier 
Luft aufgenonmen wird, verdichtet und auf der Stelle in 
Feuchtigkeit verwandelt. 

0. Damit ift die erfte Urfache von der Entftehung des 
Malers unter der Erde angegeben. Man kann mod) dazıı 
fügen, daf (Altes aus Auem) immer Eins aus dem Ans | 
dern wird. Aus Waſſer Luft, aus Luft Waller: aus Luſt 
Feuer , ans Feuer Luft. Warum follte alfo nicht auch Erde 
aus Waſſer werden, und Waffer aus Erde? Und wenn diefe 
einer DBeränderung in etwas Anderes fühig iſt, warım nicht 
auch Einer Verwandlung in Waſſer, ja gerade in Diefes ? f 
Beites ift verwandt, Beides fchwer , Beides dicht, Beides | 
auf den äußerſten [unterften] Theil des MWeltgebäudes getries | 
ben. Aus Waſſer wird Erde. Warum follte nicht Waller | 
aus Erde werden? — Über — [wendet man ein] die Zlüffe I 
find fo groß. — Wenn du Das in Betracht ziehft, wie groß 
fie find, fo betrachte auch, wie groß der Raum ift, aus 
dem fie hervorgehen. Es fällt dir auf, da fie doch unauf⸗ 
hörlich fließen und zum Theil fogar in vafcher Eife dahins 
flrömen, wie immer neues Waffer für fie vorhanden feyn 
könne? Fällt dir aber Das auch auf, daß, obgleich die 
Winde die ganze Luft in Bewegung feren, ed dad, iur N 

Pa — fondern derſelbe Tag und Nacıt — 
79 FOrSArOME, und erft nicht, wie die Ztüfe, in nen % 
Armmten Deere feinen Eauf nimmf, fondern dur Den w 





41464 Seueca’d Abhandlungen. 


4 meßlichen Himmelsraum in ausgebreiteter Kraftäußerung 
zieht? If dir denn Das aud) auffallend, daß, wenn ſich 
unzählige Wellen gebrochen haben, doch noch eine nachfol- 
gende Woge übrig ift ? Was in fic, ſelbſt zurückkehrt, das 
seht nie aus. Alle Elemente find in einem beftändigen 
Wechſellauf gegen einander begriffen. Was dem Einen abs 
seht, geht in das Andere über. Und die Natur unterficcht 
ihre Beflandtheile [Efemente) und beſtimmt fie gleichfam 
sach Gewühten: damit nicht durd) Verletzung des Gleichge⸗ 
wichts der Himmel ein Uebergewicht erlange. Eines liegt 
immer im Andern. Nicht nur gehet die Luft in Feuer über, 

fondern fie ift nie ohne Feuer. Nimm ihr die Wärme, und 
i fie wird ſtarren, flill ftehen, zu einer harten Maffe werden. 
Es geht die Luft in Feuchtigkeit, allein fie iſt auch nicht 
ohne Feuchtigkeit. Sowohl Luft ald Waller wird von der 
Erde entwidelt, aber fie ift eben fo wenig jemals ohne 
Waller als ohne Luft. Und ber Webergang von Einem in 
das Andere ift deshalb um fo Seichter, weil ed mit Dem, 

sin das es ſich verwandeln muß, bereits vermifcht if. Es 

i hat alfo die Erde eine Feuchtigkeit: Piefe wird durch fie aus« 

‚ gepreßt ; fie hut Luft; die wird durch Lichtleere und Wins 

j terfroft verdichtet, daß fie eine Feuchtigkeit bildet. Sie ſel⸗ 

ber iſt auch einer Verwandlung in Feuchtigkeit fähig, und 
thut, was fie ihrer Natur nach muß. 

; ı2. Uber wie? entgegneft du mir? Wenn die Urſachen 

äder Entftehung der Flüſſe und Quellen ohne Unterbrechung 

—— soarun verſtegen fie bisweilen, und kommen bis⸗ 

7 Fr Drıren ßerosr, wo vorher keine waren? Die Ka 

7 mandimal Busch ein Erdbeben in \norrause 


Naturbetrachtungen. Drittes Bud. A165 


gebracht, und der Einfturz derfelben ſchneidet die Gewäſſer 
ab, die danı gehemmt nene Auswege fuchen und fich mit 
einer Art von Schnellkraft folche bahnen, oder durch die 
Erſchütterung ber Erde ferbft bald da bald dorthin verfest 
werden. Es pflegt bei ung vorzukommen, daß Flüffe, wenn 
fie ihren Kanal verloren haben, zurüdtreten; fodann aber, 
weil fie um ihren Lauf gefommen find, fich einen nenen 
fchaffen. Das habe fi, erzählt Theophraftus, *) auf dem 
Berg Eoryens **) ereignet, wo nach einem Erdbeben neue 
Quellen mit Macht hervorfprudelten. Indeſſen vermuthen 
Dance, es treten auch andere Umſtände ein, die den Ge: 
wäflern einen andern Urfprung geben, oder fie von ihrem 
Lauf abbringen und ablenten. Es gab eine Zeit, wo dag 
Hämusgebirge wafferarm war; nachdem aber die Nation der 
Gallier ***) von Gaffander bedrängt, fich auf daſſelbe gezogen, 


+) Wahrſcheinlich in feinem verloren oegangenen Wert „über 
bie Gewaͤſſer.“ Vergl. Fabricii Bibl. gr. III. 7. p. 455. 
ed, Harles. und Plin. Hist, Nat, 50, 4. 5 

”*, In der Kleinaſiatiſchen Provinz Eilicien. 

**65) Diefe Gallier wohnten eigentlic; in Pannonien und Jliyrien, 
mochten dreimal einen Einfall in Thracien und Macedonien ; 
zuerft unter Anführung bed Eambaules, DI. 120: ſodann 
unter verfhiebenen Anführern, die aber, nachdem fie zuvor 
den Macedonifchen König Ptolemäus Ceraunus getdbtet, von 
Softhenes gefalagen wurden, DL. 124. Ein Theil des odrit⸗ 
ten Heereszuges Überwand unter Brennus ben ofthene®, 
wurde aber dann vertilgt, während der Übrige Tue I 
Heeres nach Wien 5309, und dort Gallogehäen \Glta 
Zirn] geiinbete. ES muB ber erfte Speerebyan gerorien \EOX 


I 130.3, im % 298, v. ein. 


4166 Seneca’s Abhandlungen. 


.* 


und die Waldungen ausgehauen hatte, da Bam ein gewaltie 





D 
7 


ger Reichthum an Waſſer zum Vorfchein, welches nämlich 
[zuvor] die Wälder zu ihrer Nahrung einzogen; da aber 
diefe auggereutet waren, da quoll die Feuchtigkeit, die num 
nidyt mehr von dem Baumwerk anfgezehrt wurde, auf die 
Dberfläche hervor. Gerade fo, fagt er, fen es in der Nähe 
von Magnefia *) ergangen. Allein — Theophraftus fol mir's 
nicht übel nehmen, — Das ift nicht wahrfcheinlich, denn die 
fhattenreichften Orte find in der Regel, inımer aud) die wafs 
ferreichften.. Das wäre nidyt der Fall, wenn die Bäume 
das Waſſer anustrockneten , die ihre Nahrung aus Den nehe 


"men, was ihnen zunäcft ift; die Waffermaffe der Flüſſe 
- aber quillt aus dem Junerſten heraus, und wird weiter uns 


ten empfangen, ald die Wurzeln auslaufen Eönnen. Sodann 
erfordern die umgehauenen Bäume mehr Feuchtigkeit, denn. 
fie fchlucfen nicht nur Das ein, wovon fie leben, fondern 
aud) Das, wovon fie wieder wachfen. — Sn der Gegend 
von Arcadia, einer ehemaligen Stadt auf der Infel Ereta, 
erzählt er ferner, haben ſich Quellen und Seen verloren, 
weil nad) der Zerftörung der Stadt das Land nicht mehr 


4 bebaut worden fey: nachher aber, ald es wieder Bebauer 
Terhielt, habe c8 auch wieder MWaffer befommen. Die Urs 
face der Austrocknung fuck er darin, daß der zugefallene 
4 Boden Hark geworden, und weil er nicht umgcarbeitet wurde, 


*) Es waren im Alterthum zivei Etädte dieſes Namens, beide 

ir Beinafien; und es iſt ungewiß, melde bier gemeint it, 
„Die me lag in Zonien am Mäander und dem Berg The 
"#7 Pie andere in Zybien, an dem Berg Sipyolut. 


Naturbetrachtungen. Drittes Bud. A116 


den Regen nicht habe durdylaffen können. Aber wie kommt' 
denn, daß wir in den Ödeften Länderftreden zahlreiche Quel 
len finden? Endlich find es wohl mehr Gegenden, die ma 
um Ded Waller willen anzubauen anfing, als die deshal 
erft Waffer befommen, weil fie angebaut wurden. Daß e 
nicht das Regenwafler fey, was gleich bei der Duelle ga 
mächtige und für Foße Schiffe fahrbare Flüſſe bier, i 
daraus u erkennen, weil im Sommer und Winter eit 
gleiche Maſſe ſich aus der Quelle ergießt. Der Regen kan 
wohl einen Waldbach hervorbringen,, nicht aber ein gleid 
mäßig in feinen Ufern fortfliegendes Waſſer; das wird vo 
Regengüſſen nicht hervorgebracht, fondern nur geſchwellt. 
ı3. Wir wollen, wenn es dir beliebt, hier noch etwa 
tiefer eingehen, und du wirft dich überzeugen, daß ma 
nicht weiter zu fuchen hat, wenn man einmal auf de 
wahren Urfprung der Ströme gekommen if. Ein Flu 
nämlich wird gebiftet, durch die vorhandene Maffe irger 
eines nie verfiegenden Waſſers. Fragſt du mic alfo, w 
denn das Waſſer werde, fo mache ic) die Gegenfrage: w 
denn die Luft werde oder die Erde? Wenn cd vier Ef 
mente gibt, fo kann man nicht fragen, woher das Waffı 
komme; es ift eben einer von den vier Theilen der Natu 
Was wunderft da dic) denn alfo, wenn ein jo bedeutend: 
Theil der Natur immer Etwas von fich ferbit ausſtröme 
fann? So wie die Luft, die gleichfalls einer von den viı 
Theilen der Welt ift; Winde und fanfte Lüfte erregt, 
das Waſſer Bäche und Flüſſe. Wenn ter Win die | 
Sende Luft iſt, fo iſt aud) der Fluß ein Kiekend Wo 


39 dabe eö.gewiß Ginlängfic in feiner Bedenttimut 


. NL . 

1468 Senecas Abhaublkungen. 

faßt, wenn ich geſagt habe, es iſt ein Element. Du ſieh 
wohl ein, was davon ausgeht, daran kann's nicht mer 
geln. J .. 

68 13. Das Waffer, fagt Thales, ift das mächkigfl 
Element ; das, meint er, ſey das Erſte gewefen, daran 
fen Altes entftanden. Aber auch wir find derfelben Anſicht 
oder wenigfteng kommt es bei uns am Ende darauf hinaus 
Wir fagen nämlich, das Feuer fey ed, das in der Melt di 
Dberhand gewinne und Alles in fich verwandle; dafferh 
verfchwinde aber und ſetze fih, und es bleibe, wenn da 
euer verlofchen fey', nichts WUnderes in der Natur übrig 
ald Feuchtigkeit, und in diefer liege der Keim zu einer Einf 
tigen Welt verborgen. So ift [und] das Feuer das End 
ter Welt, die Yeuchtigkeit aber der Anfang. Und da wii 
es dir noch fonderbar vorfommen, daß daraus beftändi 
Stüffe tollen hervortommen können, da ſich dody Alles i: 
fie verwantelt und Alles aus ihr entfteht? Diefe Feuchtia 
feit ift bei der Eintheilung der Elemente das vierte gewor 
den, und man hat ihr diefe Stelle angewiefen, um dadurd 
zu erklären, fie fey wohl hinreichend, um die Flüſſe, di 
Bäche, die Quellen hervorzubringen. — Die nun folgend 


J. AUnficht des Thales ift ungereimt. Er ſagt naͤmlich: be 





Erdkreis werde vom Waffer getragen und wie ein Schiff ge 
führt, und vermöge der beweglichen Natur deffelben wog 
fie hin und her, wenn man fagt, fie erbebe. Daher ip: 
fein Wunter , wenn die Feuchtigkeit reich genug ift, um 
Pre Griffe beroorzubringen, weil ja die Welt ganz in euch 


74er (wimmt. Diefer alten und rohen AnAdıt enticuing 


#9, und glaube nur nicht, daß das Waller in den Exatu 


Naturbetrachtungen. Drittes Buch. 4169 


son unten herauf eindringe durch Risen, und einen Le 
mache. 

ı4. Die Aegyptier haben vier Elemente angenommen, 
und aus jedem ein Paar gemacht, männlich und weiblid). 
Die Luft nehmen ſie ald das Männliche an, fofern fie Wind 
ik, als das Weibtiche, ſofern fie neblicht und nicht in Thä- 
tigkeit ift. Männlich war ihnen dad Waſſer ald Meer, weib⸗ 
lich alles andere Waller. Das Feuer nannten fie männlich, 
fofern ed als Flamme brennt, weiblich, fofern es für das 
Gefühl unfhärlid, leuchet. Das Stärkere von der Erde 
nannten fie männlich, wie Felfen und Steine ; den Namen 
bes Weiblichen gaben fie ihr, fofern fie fih zum Anbau 
eignef. 

15. Das? Meer ift nur ein Ganzes; fo war es nämlich 
von Anfang beftimmt; cd hat feine Adern, durch die es in 
eine Authende Bewegung gefesnt wird. So wie dag Meer, 
fd hat dann auch jenes mildere Gersäfler im Verborgenen 
einen mächtig weiten Gang , den keines Fluſſes Lauf aus⸗ 
fhöpfen wird. Die Berechnung feiner Maffen ift nicht mög» 
lich. Es ſtroͤmt davon aus, was Lzum Beſtand des Meeres] 
zuviel iſt. — nn 

Einigem hievon können wir beiffimmen , weiter ift aber 
Das meine Anſicht: Ich nehme an, daß die Erde von der 
Natur regiert wird, und zwar unfern Körpern ähnlich, in 
welchen theild Blutadern, theils Pulsadern find, jene — Des 
hältniffe für das Blut, diefe für die Luft. Aucy in der 
Erpe Wand nam Befondere Gänge, durch die das Waler , UN 


Sefoubere, durch Die bie gufe ; , . Een 
Ermion, 100 Barpe, uft ihren Lauf nimmt; bolohoo 


4170 Geneca’s Abhandlungen. 


die Natur diefelbe den menfchlichen Körpers nachgebilder, 
wie denn auch unfere Alten von Wafferadern gefprochen has 
ben. So wie aber in. ung nicht nur Blut iſt, fondern viele 
Arten von Feuchtigkeit, theild von unentbehrficher,, theils 
von verdorbener und etwas zu fetter, — im Kopf das Bes - 
hirn, in den Knochen das Mark, dann der Rob, der Spei« 
del und die Thränen, und ein Stoff, der den Geleuten 
beigegeben ift, wodurch fie vermäge der Schlüpfrigkeit. defs 
feiben fchneker gewendet werben können: fo ud auch in 
der Erde mehrere Arten von Feuchtigkeit. Manches verhär« 
tet fi, wenn es feine Reife erlangt hat. Daher alle..mes 
talifhe Erde, woraus die Habſucht ihr Geld und Silber 
gewinnt, und was ſich aus dem flüffigen Zujtand in Stein 
verwandelt. Un manden Drten aber fihmitzt Erbe und 
Feuchtigkeit zufammen , wie, Erdpech und dergleichen. Dieß 
ift Die Urfache des Waſſers, das nach dem Gefege und dem 
Willen der Natur entſteht. Uebrigens find Die Feuchtigkeiten, 
wie in unferem Körper, fo anch dort einer Verderbniß fäs 
big; und die natürliche Beſchaffenheit leidet bald dur Stoß, 
bald durch Dmetfchung, bald durch die veraltete Lage, baiı 
durch Froft, bald durch Hitze; auch die Schwefellager. iu 
der Erde ziehen Die Feuchtigkeit an ſich, welche bald Lange, 
bald Purze Zeit anhält. So wie daher in nunſerm Köwper, 
wenn eine Bintader angefchlagen worden ift, das Dfut. fo 
Yange fließt, bis fie ganz ausgeleert ift, oder bis der Bruch 
Der Bllorer fidy zufammenzieht oder unterbunden if, wer 
Aryend eine andere Urſache das Blut zurittxeikt , (0 ergießt 
* der Erte, wenn bie Adern Ind.amd aedfinrt Tan, 
ab oder Fluß. Es kommt darauf an, wir weit ie 


Naturbetrachtungen. Drittes Bud. As 


Mer geöffnet, und in wie fern das Waſſer aufgezehrt wers 
ben if. Bald tritt durc, irgend ein Hinderniß Dertrod« 
nung ein, bald eine Art von Vernarbung und der gebahnte 
Weg wird verfchloffen. Bald tritt der Fall ein, daß dieje⸗ 
nige Kraft der Erde, von der wir ſagten, fie fey einer Ver⸗ 
änderung fähig, ihren Nahrungsftoff nicht mehr in Fench— 
tigkeit umfesen kaun; zu Zeiten wird jedoch das Erſchöpfte 
wieder angefüllt, ſey ed nun, daß fich die Kräfte von ſelbſt 
erfest haben, oder von anders woher gekommen find. Oft 
nämlich ziehet das Leere, wenn ed an etwas Volles kommt, 
Keuchtigkeit in fih ein. Oft löst fia) die Erde, welche leicht 
in etwas Anderes übergeht, in Fäulniß auf und wird feucht. 
Es geht unter der Erde gerade fo, wie in den Wolfen, daB 
fie dicht auf einander gedrängt wird, und weil fie zu fchwer 
wird, als daß fie bei ihrer Natur bleiben könute, eine 
Benchtigkeit erzeugt. Oft fammelt fih, wie ein Than, eine 
dänne nud zerftreute Flüffigkeit, die aus vielen Orten au 
einem zufammenftrömt. Die Waffertheoretiter nennen Das 
ein Yusfchwigen, weil eine Art von Tropfen entweder durch 
ven Druck der Lage ausgepreßt oder durch Hitze hervorge⸗ 
bradye wird. Diefe magere Waſſermaſſe reicht kaum zu eie 
se Duelle hin. Uber wenn die Urfachen bedeutend Aunb 
and die Anſammlungen anfehnlih, fo kommen Flüſſe zum 
Borfchein , bisweilen fchwächer, wenn das Wafler nur mie 
telſt feines eigenen Gewichts hervortritt, bisweilen wat 
Heftigkeit und mit einem eigenthümlichen Getoͤſe, wenn Va 
Bafır a an aut herausgeworfen wird. - 
16. ‚warum find gewiffe Quellen ale ſehs Stu 
er on uud wieder in feds Stunden verfiege? Es W % 
3 * 


4172 Seneca’d Abhandlungen. 


nöthig, Flüffe namentlich aufzuführen, die in gewiſſen Mos 
naten groß, in gewiffen fchmal find, und bei einzelnen nach 
der Veranlaffung zu forfchen, da ich für alle zufammen eis 
wen und denfelben Grund anführen kann. So wie dad viers 
tägige Fieber auf die Stunde kommt, fo wie das Podagra 
feine Zeit einhält, fo wie die Reinigungsperiode, wenn 
feine Störung eintritt, auf dem beftimnten Tag bleibt: fo 
wie die Geburt auf ihren Monat kommt: fo haben die Ge⸗ 
wäfler ihre Perioden, wo fie fich zurüdziehen, und wo fie 
wieder Eoınmen. Es gibt aber Eleinere Perioden, die eben 
Deshatb um fo Teichker zu merken find; aber aud) größere, 
doch nicht minder zuverläſſig. Und was ift denn Sonderbas 
res daran, went du eine Ordnung wahrnimmft, und daß 
de Natur ihren beftimmten Gang gehe? Es ift noch nie 
der Winter ausdgeblieben; der Sommer mit feinen Gluthen 
kommt zur rechten Zeit, und die Veränderungen des Herbs 
es und des Frühlings haben ihren gewohnten DBerlauf. 
Sowohl die Sonnenwende als die Tag» und Nachtgleiche 
dringt die Tage, fo wie ſich's gehört. *) Auch unter der 
Erde find Naturgefese, und weniger befannt, aber nicht 
weniger beſtimmt. Was du oben ſiehſt, das glaube denn 
für unten. Auch dort find ungeheure Höhlen , mächtige 
Gänge und Räume, auf beiden Seiten von herabhängenden 
Bergen umgeben. Es find jähe unendlich tiefe Schlünde, 
Lie oft eingeftürzte Städte in ſich auffaßten, und die unges 


> Ra einer wohl sicht unglüdtihen Eonjettur suus dies 
Prater es beißen: „Eowohl bie Sonnenwente A vie Aoas 
® Pfagtgleicge tehrt zu befiimmrer Zeit wiedre. 


Naturbetradhtungen. Drittes Bud. 41473 


geheuren Trümmer in ihrer Tiefe begruben. Diefe Aue find 
vol von Luft, denn nirgends ift leerer Raum, und flehente 
Bailer find tort, umfchloffen von Finfterniffen nnd unge— 
beuren Räumen. Auch Thiere leben darin, aber träge und 
unförmlich,, wie die, fo in lichterer und fetter Luft und in 
Gewäaͤſſern ſich erzeugen, die durch das lange Stehen ohne 
Leben find; und die meiſten folcher Thiere find blind, wie 
die Maulwürfe und unter der Erde lebende Mäuſe, die Fein 
Angenlicht Haben, weil fie Feines brauchen. Daher werden, 
wie Theophraftus behauptet, an manchen Orten Fiſche aus 
der Erde ausgearabeı. 

17. Es wird dir hier Manches vorkommen, was du, 
weil dir die Sache unglaublich iſt, mit guter Art für ein 
Maͤhrchen erklären möchteſt: daß man nämlich nicht mit 
Netzen oder Angeln, ſondern mit Hacke und Spaten auf's 
Fiſchen ausgehe. Es wird ſchon auch noch kommen, ſdenkſt 
du) Daß man im Meere auf die Jagd geht. — Aber warum 
ſollen denn die Fifche nicht aufs Land übergehen, wenn 
doch wir über die Meere ſetzen? — Es ift eben ein Aus⸗ 
tanfch der Wohnplätze. Es kommt dir wu.iderbar vor, daß 
Das geſchehen fol: o wie viel unglaublicher ift dad Thum 
und Treiben der Genußfucht, wie oft verläugnet fie die 
Natur oder geht über fie hinaus! Im Zimmer ſchwimmen 
Fiſche, und unter der Tafel fängt man einen, um ihn ſe— 
gleich auf den Tiſch zu bringen. Der Seebarbe will ſchon 
nicht mehr recht frifch dünfen, wenn er dem Goſt wiht ia 
der Hand obfirb In gläfernen Flaſchen ſeeut man iM 
vor, und DeoPachtef das Farbenfpiel bei ihrem Steve 
ron ber 2oB Bringt bei dem Ringen des Athems gar TU 


1174 Seneca's Abhandlungen. 


cherlei Veränderungen in der Farbe hervor; manche laͤßt 
man in der Fiſchbrühe ſterben, und bereitet ſie lebendig zu. 
— Und Das will man für ein. Mährchen haften, daß ein 
Fiſch unter der Erde leben könne, und angsgegruben werde, 
flatt gefangen. Wie unglaublich follte es ihnen vorkommen, 
wenn fie hörten, ein Fifch fchwimme in der Brühe, und 
fey nicht des Speifend wegen über der Tafel abgethan wor 
sen; obwohl er ein großer Leckerbiſſen ift, Hat er doch erft 
Bte Augen ergötzen müffen, und dann erſt die Kehle. 

38. Erlaube mir, daß ich, die Unterſuchung bei Seite 
fegend, die Ueppigkeit geißle. Es gibt Doch, ſagt man, 
nichts Schöneres , als einen fterbenden Seebarben. Mitten 
im Todeskampfe verbreitet fich über den Sterbenden zuerft 
eine Röthe, danı eine Bläffe; wie gleichartig wechfelt er 
andy in. andern Farbenbildungen zwifchen Tod und Leben. 
Da hat die träumende, gefchäftsiofe Genußfucht doc, lange 
harren müffen! Schade, *) daß es fo lange anftand, daß fie 
fa ſpaͤt erft zur Erkenntniß kam, um welch herrliches But 
fe verkürzt und getänfcht ward! Dieß sroße und fchöne 
Schaufpiel hatten bisher nur die Fifcher genoffen! Was fol 
mir ein gefochter Fifch, ein lebloſer? wenn er auf die Tas 
wi komme, fol er erft zu athınen aufhören. Wir munders 
Ben und, daß man fo eckel war, nicht zugreifen zu wolten, 
wenn der Fiſch nicht erft heute gefangen war; denn er follte, 
nach der üblichen Redeweiſe, noch den Meergeſchmack has 
den. Darum ließ man ihn eilig herbeibringen, und es 


——— — — 


2 Die Ueberte u 
—— — „(oist bier der Exaduiigen Eonjetur. quam 


Naturbetrachtungen. Drittes Bud. 41175 


wurde den keuchenden und mit "Gefchrei herbeieilenten Träs 
gern Platz gemacht. Wohin ift es gefommen mit den es 
dermäulern! Der Fiſch, den man heute erft abthat, gilt ih— 
nen fchon für einen faulen. — „Er ift doch aber erft heute 
gefangen worden. Die Sadye ift zu wichtig, als daß id) 
dir darin glauben Pönnte. — Ich kann Niemand, als mir 
ferbft glauben; man bringe ihn zur Stelle ; vor meinen Aus 
gen fol er das Leben aushauchen! — Zu folchem Webers 
muth find die Bäuche der Schlemmer gefemmen, daß fie 
dem Fiſch Keinen Geſchmack abgewinnen Lönnen, fie haben 
ihn denn zuvor bei der Zafel noch fchwimmen und zappeln 
gefehen. “Je erfinderifcher die fich ferbft mordende Genußs 
fucht wird, deſto feiner und zierlicher ſinnet die Narrheit, 
dad Gewohnte verachtend, Tag für Tag Etwas aus. Man 
hörte fonft fagen: cs fey doc, Nichts befler, als ein Sees 
barbe aus den Klippen heraus. Uber jebt Heißt es: es ift 
Nichts fchöner, ats eis fterbender. Gib mir ein Glas in 
die Hand, worin er feine Spränge macht, worin er zap⸗ 
yelt! Nachdem man ihn lange genug und viel gepriefen hat, 
zieht man ihn aus dem durchfichtigen Gefängniß heraus, und 
wer dann der größte Kemer ift, praäientirt ihn umher. Seht 
dach! die glühende Röthe, höher als aller Mennig; feht 
doch, was für dern er an den Seiten zieht! ey, follte 
man nicht den Bauch für reines Blut halten! Und dann 
wieder das Lichtfarbe, — und an den Schlaͤfen glänzt ja 
Etwas himmelblau her! Jetzt ſtreckt er fich nnd wird bleich, 
und allmäplig ganz einfärbig! Aber unter Dielen en TÜR 
SKetsrer gu einem Srennd anes Sterbebette. Keiner tan Ti 
über Rd gewinnen, Den Zop feimes teibtiagen orerd W 


4476 Seneca’d Abhandlungen. 


Atzufchen, obwohl er ihn gewünfcht Haben mag. Wie feltem 
begleitet Einer die Leiche eined Familiengliedes bis zum 
Sceiterhaufen! Bei der Brüder und Verwandten febtem 
Stündfein tritt man ferne; zum Tod eined Seebarben drängt 
man ſich zufammen. Es gibt ja nichts Schöneres, als die⸗ 
fen. Ich ann mir nicht wehren, ich muß mir bismeilen 
. ein kühnes, die Sphäre des eigentlichen Ausdrucks überſprin⸗ 
gendes Wort erlauben, fie find zum Bauchdienft nicht mit 
‚ den Zähnen und dem Magen und dem Munde zufrieden; 
auch mit den Augen find fie Freſſer. 

19. Doch, um zu meinem Swed zuräcdzufehren: fo 
vernimm meinen Beweis, daß eine große Waſſermaſſe unter 
der Erde verborgen fey, welche an Fifchen fruchtbar ift, die 
Durch ihre bewegungsloſe Lage eckelhaft geworden find. Wenn 
dieſelbe zuweilen hervor bricht, fo führt fie eine unermeßliche 
Menge von Thieren mit fi), fehauerlich anzufchauen und 
haͤßlich und fchädfich, wenn man davon koſtet. Wenigſtens 
als in Carien in der Nähe der Stadt Hidyſſus *) ein ſol⸗ 
ches Wafler entfprungen war, ftarben alle die Leute, die fols 
che Fiſche aßen, weldye der neue Strom an die von benfels 
ben bis anf jenen Tag ungefehene Luft gebracht hatte, 
Und das darf uns nicht wundern. Es waren nämlich fette 
amd ausgeftopfte Körpermafien, wie aus einem lange unthäs 
tigen Zuftand Lommend, überhaupt ohne Bewegung und in 
- Sinfterniß gemäftet und dem Licht entiremdet, aud dem alles 
gefunde Leben gefogen wird. Daß aber in foicher Tiefe der 


7 Des Samen biefee Etat geben die Sankiäxiiten veriaiehen 
var Dyeinium, Slöyeinm, Yavkum u. ſ. w. 


nr an — 





Naturbetrachtungen. Drittes Bub. 4477 


Erde Fiſche entftenen Eönnen, dafür diene zum Bewe's, 
daß auch Aale an verborgenen Orten ſich erzeugen, eine 
freifich auch fchwere Eprife wegen der trägen Lebensweiſe 
(diefer Thiere] befonders wenn Lie Tiefe des Schlammes 
fie ganz und gar verbirgt. — Es hat alfo die Erde nicht 
nur Wafleradern, aus deren vereinigtem Lauf Flüſſe ent: 
ftehen könuen, fontern auch Ströme von ungeheurer Größe, 
deren einige ihren Lauf immer im Verborgenen haben, Eis 
fie in irgend einer Vertiefung verfunten, andere aber unter 
irgend einem See herauffommen. Und wer weiß denn nicht, 
daß manche ftehende Waſſer unergründfich find. Was fo 
daraus folgen? Es foll deutlich werden, daß darin ei ters 
fiegender,. Stoff für große Strönte fey , deffen Grenze nicht 
erreicht wird, wie bei Slüffen und Quellen. 

so. Über warum haben die Waſſer einen verfchiedenen 
Geſchmack? Aus vier Urfachen. Die erfte liegt in dem Bo⸗ 
ten, durch den fie fließen, Die andere in ebendemfelben, 
wenn er durch die Veränderung bdeffelben entſteht. Die 
dritte in der Luft, welche in Waſſer zerſetzt worden iſt; 
die vierte in der Verdorbenheit, die ihnen oft zukommt, 
wenn fie Schaten feiden durch Derunreinigung. Das find 
die Urfachen, die den Waſſern einen verfchiedenen Gefchmad 
geben , und eine Arzneikraft, und Stickluft und einen fchäd« 
fihen Geruch, und ihre Xeichte und Schwere und entwerer 
Wärme oder übermäßige Kälte. Es kommt darauf an, ob fie 
über fchwefelhaltige, oder falpeterhaltige, oder Erdpechhal: 
tige Stellen laufen. Wenn fle auf folhem Wege wertuiken 
Rub, A es IeBeusgefäßrlih, davon zu treinten. Bihet 
/uge Vocoiud. [Berwandlungen X, 2 f.] 





1178 Senecars Abhandlungen. 


„Da ıft bei den Eiconen *) ein Fluß, der geirunfen, wie Stein har 
Eingeweid madt, und, was er berührt, mit Marmor umtrufter.‘ 
Er ift giftartig, und Hat einen Schlamm von folcher Bei 
fehhaffenheit, daß er fih an die Körper anfest und fie har 
macht. Sowie der Staub von Puteoli **), wenn ev dat 
Waſſer berünrt, zu Stein wird: fo bleibt im Gegenthei 
diefes Waſſer, wenn es einen feften Körper berührt, hän 
gen und heftet fi, an. Daher kommt cd, daß Dinge, di 
mau in einen folchen See wirft, nad) einiger Seit verflei 
nert herausgezogen werden. Dieß ift in manchen Gegender 
Italiens der Fall; wenn man eine Ruthe oder einen Zwei 
verfenft, fo zieht man ihn in wenigen Tagen verfleiner 
heraus. Es wickelt fich nämlich um den Körper ein Schlamm 
und leimt fich allmählig an; Das wird dir nicht mehr fı 
wunderbar vorkommen, wenn du bemerkſt, daß der Albula, *** 
und in der Regel überhaupt fchwefelhaltiged Waſſer an fei 
nen Kanälen und Wafferleitungen fih als harte Meffe an 
fest. Irgend eine jolche Urfache findet auch bei jenen Seer 
ftatt, von welcden Seder, der den Diund daran fest, nac 
demfelbigen Dichter [ Dvidv’d Verw. XV, 331, ] 


„Rafet cher von wunderbar ſchwerem Schlummer betaͤubt wirb. 


*) Die Ciconen, ein Volt in Thraden am Sluſſe Hebrut 
Vergl. Rirgit vom Landbau IV, 520. 

**), Don ben Hügeln bei Puteoli — Puzzuolo — an ber Seetäfl 
Eampaniens fammelt ſich ein Staub, ber, wenn er das War 
fer beruͤhrt, verfieiuert und eine gute Bruſewehr gesen de 
Meer ift. Vergl. Pıinius Hist, Nat, 11, „o3. 


"> Der YUibuta (Ergo bi Zartariv den Tibue (Kool) , nA weichen 


Pr Eolfatara in bie Ziver fliegt. 





Naturbetrachtungen. Drittes Bud. 41179 


Er hat eine Wirkung ähnfich der des ungemifchten Weines, 
nur heftiger. Denn gleichwie die Trunßenheit, bis fie vers 
geht , Wahnfinn ift, und durch die Ueberladung in betäubens 
den Schlummer übergeht: fo hat der Schwefelgehatt solches 
MWaffers - ein von fchädficher Luft Fommendes fehr ſcharfes 
Gift, welches das Gemüth entweder in Wahuſinn verfest, 
oder mit Schlaf- betäubt. — Solch eine fchlimme Eigen— 
(haft hat auch der Fluß von Lynceſtis: *) [Ovid's Ders 
wandlg. XV, 530. ff.] 
Welcher davon in wenig gemäßigten Zügen geichbyfer, 


Wanket nicht anders, als hätt? ex vom ftärtiien Weine ges 
trunfen. 


21. Manche Höhlen gibt's auch, — wer hineinfchaut, 
ift des Todes: und fo ſchnell wirkt das Uebel, daß es vor⸗ 
überfliegende Vögel hinabflürzt; von der Ark ift die Luft, 
“von der Art der Ort, wo födtlihed Waſſer hHervortröpfelt. 
Iſt die Vergiftung der Luft und des Raum's nicht ſo hef⸗ 
tig, fo ift auch die Schädlichfeit gemäßigter, und thut 
Nichts anders, als daß auf die Nerven eingewirft wird, 
die danu wie von Trunkenheit abgefpannt werden. Und id) 
kann mich nicht wundern, wenn der Ort und die Luft das 
Waſſer anfterft und den Gegenden aͤhnlich macht, durch wels 
che und aus welchen ed kommt. Iſt ja doch auch der Ges 
fhmad des Futters in der Mitch bemerkbar, und die Kraft - 
des Meines tritt auch im Eſſig noch hervor. Es gibt Nichts, 
das nicht Kennzeichen von Dem, woraus es entfteht, mers 
ten ließe. 


Fa 9 Erigon in ug. MI 
zins Nat. Hist, 11, | Diesebonien und Epieud, Brev 





1180 Seneca's Abhandlungen, 


22. Es gibt auch noch eine andere Art von Waſſer, 
pon der wir behaupten, es fey fo alt, ald die Welt. Mag 


‚ num dieſe von Eroigkeit feyn, fo ift auch dieſes Waſſer von 


jeher gewefen; oder hat fie einen Anfang gehabt, fo ift 


auch diefes mit dem’ AU geordnet worden. Was Das fey, 


fraaft du ? Der Dcean, und alled Meer, was von ihm aus 
die Länder befpütt. Manche find der Anſicht, auch die 


. Flüffe, deren Natur unerblärtich ift, haben zugleich mit 


- m.‘ 


der Welt ihren Urfprung genommen, 3. B. der Iſter, der 
Mit, diefe ungeheuren Ströme, und zu aufferordentlich,, ald 
dag man befaupten Fönnte, fie haben den nämfichen Urs 
fprung, wie die andern. 

4. Das alfo it, nach @inigen, die Eintheilung des 
Waſſers. Darauf Fommen die Wafler vom Himmel, die das 


Gewöoͤlke von oben herabfalfen läßt. Don den Erdwaflern 


find einige, wenn ich fo fagen fol, obenfchwimmende, die 


:, auf der Oberfläche des Bodens dahinfchleichen ; andere find 
‚ verborgen, von denen bereits die Nede war. 


24. Warum mande Waffer warm feyen, mandye fo 
heiß , daf fie gar nicht zu brauchen find, wenn fle nicht ent⸗ 


weder in freier Luft verdampfien oder durdy Beimifchung 


. von Eaftem Tau werden, — davon führt man mehrere Urfa- 


. en an. Empedokles *) ift der Meinung, durch Feuer, die 
'an vielen Orten die Erde verbirgt und verdedt, werde das 
Maffer warm, wenn fie unter dem Boden liegen, durch 





*, Empedokles, ein Philoſoph und Dichter ous Agrigent Im 


Erittem, lebte u oie Byufte Diympiade. Dre Stoiter Werus 
Yon fig pdnfig Auf im, ste Diymp 


4 


Naturbetrachtungen. Drittes Bud. 4184 


weichen das Waller feinen Durchgang hat. Man pflegt 
Drachen *) zu machen und Dlivengefäße und allerlei Fors 
men, in welchen man Röhren mit dünner Luft anbringt, 
weiche ſich abwärts herumfchlingen, fo daß das Waſſer, 
weiches oft um das nämliche Feuer herumgeht, fo viel Naum 
durchſtromt, als nöthig ift, um Wärme hervorznbriagen. 
Kalt tritt es alfo ein, warm fließt ed heraus. Eben dieß 
meint Emyedocles, gefchehe unter der Erde, und Wer Bär 
der ohne Feuer warm befommf, wird nicht glauben, daß 
es falfch fey. Heiße Luft ſtrömt in diefelben ein an heißer 
Stelle. Diefe Luft, die in Kanälen ſtrömt, erwärmt die 
Wände und die Badewannen gerade fo, ald ob Feuer dar⸗ 
nnter angemaht wäre. Endlich wird alles Salte Waſſer 
durch die Uebergänge in warmes verwandelt, und die Auge 
dänftung führt Beinen Geſchmack nit ſich, weil es durd) ver- 
fchloffene Räume geht. Dianche glauben, wenn das Waffer 
durch ſchwefelhaltige Stellen aus» oder einftröme, fo nehme 
es durch den Einfluß des durchflrömten Stoffes Wärme an, 
und ald Beweis dafür beruft man fi auf den [fchwefelars 
tigen] Geruch und Geſchmack. Es fpricht ſich nämlich darin 
die Eigenthümlichkeit der Materie aus, von der die Wärme 
kam. Daß du did, darüber nicht wundereft, fo gieße Wafs 
fer auf ungeldjchten Kalk, — und diefer wird fieden, (aufs 
braufen). _ 

35. Manche Waſſer find toͤdtlich, ohne daß fie fi 


*, In ben Blbern Hatte man allerlei dergleichen \omberbor Ar 
formte Gefaffe, in weigen das Baberoalfer wur db SI 
va Gerlanfes erwärmt wurte. 


4182 Senecws Abhandlungen. 


entweder durch Geruch oder durch Geſchmack auszeichnen. 
In der Gegend von Nonacris in AUrcadien ift ein Waffer, 
— die Einwohner nennen e8 Styr, — Pas die Fremden tänfcht, 
weil es weder dem Auge noch dem Geruc, verdächtig vors 
fommt, fo wie die Gifte großer Künſtler find, die man erft 
an der tödtlichen Wirkung erkennt. Dieſes Waſſer aber, 
von dem ich oben redete, richtet mit der größten Geſchwin— 
digkeit fein Verderben an, und es Hilft kein M’ctel. dager 
gen, weil es fih im Augenblick, wo es getrunken worden 
it, verhärtet, und nicht anders als wie Gyps nod, wäh. 
vend es feucht ift, Aaufammengezogen wird, und die Ciuges 
weide zuſammenſchnürt. Es ift aber ein fchädliches Waſſer 
in Zheffafien, in der Nähe von Tempe, das fowohl vom 
Wild ald von allem Dich gemieden wird; durch Eifen und 
Erz frißt es durch, ſolch eine Kraft hat es, aud) das Harte 
zu erweichen. Auch nährt es Beinerlei Baumwerk, und die 
Kräuter flerben davon ab. Manche Flüffe haben wunder: 
bare Eigenſchaften. Einige gibt es, teren Getränk bie 
Schaafs-Heerden färbt; und in Eurzer Zeit tragen davon 
diejenigen, welche ſchwarz gewefen waren, weiße Wolle; 
die aber weiß gefommen waren , gehen fchwarz davon. Dieß 
ift aud) die Wirkung zweier Flüſſe in Böotien, von denen 
der eine wegen feiner Wirkung den Namen Melas [der 
Schwarze] führt; Beide *) Fommen aus einem und demfel« 
ben See, und haben doch enfgegengefegte Wirkungen. Auch 
in Macedonien tft, wie Theophraftus yagt, ein Fluß, an 
een man Die Schafe hinfährt, wenn man (le weiß 


> . 
De anöcere It Ser Eeppirus, 


Vcaturbetrachtungen. Drittes Buch, 1183 


vill. Denn wenn fie davon längere Zeit getrunken 
fo wedyfeln fie die Farbe, als wären fie gefärbt 

Braucht man nun ſchwärzliche Wolle, fo kann 
n umentgeldlichen Färber haben ; man treibt die 
nur an den nämlichen Peneus. Es find neue Ges 
nner dafür vorhanden, daß in Galatia ein Fluß 
an allen die nämliche Wirkung thue; es ſey einer 
adbocien , durch deffen Trank die Pferde, aber fonft 
vier, ſich verfärben, und die Haut weiß gefprentelt 
Daß es wianche Seen gibt, welche Zeute tragen, 
: nicht fchwimmen £önnen , ift befaunt. In Sicilien 
d in Syrien ift noch gegenwärtig ein See, *) in 
Ziegelfteine fchwimmen, und auch ſchwere Korper 
rſenkt werden. Die Urfache davon liegt am Tage. 
inen Gegeuſtand ab, welchen Du willft, und thue 
Waſſer in die andere Wagfchafe, nur muß das 
yon beiden gleich feyn, ift das Waſſer fchwerer, fo 
den Gegendand, der leichter ift, als es ſelbſt, tras 
id ihn um fo viel über ſich halten, als er Teichter 
3 fchwerer it, wird fid) abwärts fenfen. Wein aber 
wicht des Waſſers und des Gegenflandes, den du das 
iegſt, gleich iſt: fo wird er weder zu Grunde gehen, 
sehen, fondern in gleicher Kinie mit dem Waller oben 
2 wird zwar fchwimmen, aber beinahe unter dem 
‚ und auf feier Seite hervorragend. Das iſt der 
warum manche Balken oberhalb des Walerd , TR 


eraußftejen; manche bid zur Hälfte finten , wandıe 


fobte Deeer, weſches yier Earz und Exbhars —XXX 


4184 Seneca's Abhandlungen. 


mit dem Maffer auf gleiher Linie Lim Rivean] ftehen. 
Denn wenn das Gewicht von Beiden gleich ift, und kein's 
dem andern nachgibt, fo finft auch das Schwerere und das 
Leichtere Pwird getragen. Schwer und leicht laͤßt ſich aber 
nicht beftimmen, auffer durch Vergleichung mit Tem, wovon 
Etwas getragen werden fol. Wenn daher das Waffer 
ſchwerer ift, ald der Körper des Menſchen, oder eines 
Eteins, fo läßt es denfelben nicht finfen, obfchon es davon 
auch nicht überwogen wird. Daher kommt es, daß in eis 
ninen ftehenden Waffern auch Steine nicht zn Boden fins 
ten, und id) rede von feften und harten; denn es gibt viele 
löcherige und feichte, und aus folchen beftehen die ſchwim⸗ 
menden Infeln in Lydien.*) Theophraftus ift dafür ber 
Sewährsnann. Ich feldft habe im Eutilifhen See [im 
-Sabinifchen) eine fchwimmende Inſel gefehen. Auch anf 
dem See von Vadimon [Lago di Bassano ] fährt eine ſolche 
herum, und wieder eine auf dem Statonienfifchen „See 
[Lago de bagni oder Solfatara bei Tibur.] Die Infel im 
Euritifhen See hat auch Bäume und nährt Kräuter; dens 
noch wird fie vom Waſſer getragen, und auf bdiefe oder 
jeue Seite nicht nur vom Winde getrieben, fondern andy 
von einem fanften Lüftchen. Und nie bleibe fie einen Tag 
und eine Nacht hindurch an derfeiben Stelle, fo beweglich 
ift fie von einem leichten Hauch. Das hat eine gedoppelte 


*) Diese Infein heißen Calaminae ; — Rohrinfein — und wers 

47 zit nur vom Binde, fonbern auch mit Stangen im 

“Wegung gefegt. WBergl. Plia, Nat. bist, U, 5, fe wis 
Fe au tanzende nfeln. 


d eben deßhalb gewichrig ift, und Dann den Gtoff der 
der fich [vom Waſſer] tragen läßt, und nicht aus 
bichten Körper beſteht, obwohl er Bäume naͤhrt. 
ielleicht hat die fette Feuchtigkeit leichte Baumftamme 
See zerftreute Zweige an fidı gezogen und feft gchal: 
zenn daher je Felsſteine auf diefer Inſel find, fo wird 
zerfreffen und ausgehöhlt finden, wie diejenigen find, 
pa einer verhärtcten Feuchtigkeit gebildet werden, 
ich in der Nähe ter Biiche von Gefundbrunnen; und 
mn der Unflath vom Waſſer zufammenwächst, fo wird | | 
ı Schaum eine fefte Maſſe. Breilih muß er Teiche ul. 

as aug windigem und gehaltlofem Stoff zufanunens ' 

n if. — In manchen Fällen läßt ſich feine Urſache 

‚ marum z.B. das Nilwaſſer vie Frauen fruchtbas N 

it, fo daß ed bei Mi anchen den Leib, der in langer | 
'sarfeit verjchloffen war, zur Empfängniß erweicht Ä 4 | 

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-.———n qui TUT 07007 =avwy ie. 
: bie Schwere des Waffers, welches Heifkräfte ents 
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ner, warım gewiffe Waller in Lycien das Empfan- 
rauen haftbar machen; welhe Waller Diejenigen 
ı, die eine nicht "halıba:e Gebärmutter haben. Ich 
Drts zähle tiefes zu ven arundlos verbreiteten Sa: 
kau hat geglaubt, manche Waffer ziehen dem Körper 
ze zu, manche eine Art von Hautflecken und entſtel⸗ 
Leicyincht, fie mag nun angeſchwemmt oder eingetruns 
den. Diefen Fehler fol das Waſſer haben, das fi 
au gefammelt hat. — Wer folite nicht glauben, 1 
: Waffer fey Dasjenige, weiches zu Exrykatl win? 
ver umgelchtt: es gefchicht dieß wänlic wit WER 
208 Born, h 





Senecas Abhandlungen. 


em, das eben wegen feiner Dünne durch die Kälte am 
ften zum Frieren gebracht wird. Woher aber ſolcher 
‚ entflehe, das ift aus dem Griechifchen Namen zu er« 
5 Tryſtall Heißt bei ihnen nicht nur jener durchfichfige 
m, fondern eben fo auch jenes Eis, aus welchem man 
bt, daß ber Stein entftehe. Das vom Himmel kom⸗ 
de Waſſer nämlich, welches gar wenig Erdſtoff in fidy 
i, wird, wenn es verhärtet, durcd dad Anhalten langer 
älte je mehr und mehr verdichtet, bis es, nachdem alfe 
aft hinausgefrieben ift, ganz in ſich zufammengepreßt, und, 
a8 Feuchtigfeit war, zu Stein geworden ift. 
ak, Einige Zlüffe werden im Sommer flärker, 3. B. 
der Nil. Der Grund davon foll ein andermal angegeben 
werden. ZTheophraftus gibt an, aud) in Pontus [einer Pros 
vinz von Kleinafien] wachen einige Flüſſe zur Sommerszeit; 
man glaubt aber vier Urfachen davon zu kennen. Entweder, 
weil Die Erde dann am meiften geeignet ift, in Feuchtigkeit 
umgefeßt zu werden; oder, weil in der Ferne große Regen» 
güffe fallen, deren Waſſer, durch geheime Kanäle herbeige 
führt, im Verborgenen andrängt. Der dritte Grund i 
der: wenn durch Häufige Winde die Mündung gepeitfcht ur 
durch das Anwogen zurücgefchlagen wird, fo entfteht i 
Fluß Drucwaffer, *) und er fcheint zu wachfen, weil er f 
nicht fort ergieft Der vierte Grund Tiegt in dem Einf 
der Geftirne. -- Diefe wirken in gewiffen Monaten n 
#393, nnd erfchöpfen die Flüſſe: iveten fie weiter zurück 
mL fo Weibt ber STuß fliehen, und oͤrſickt fomir var 
Prömenbe Bayer u einen böhern Stand Ana 


Naturbetrachtungen. Drittes Bud. 1418 


in und ziehen fie nicht fo vier auf. Was nun ſonſt zı 

‚tsehrung beftimmt war, das kommt dann dem Wachsthı 
4. *) Manche Flüſſe fallen offenbar in irgend eine Hol 
hinab , und kommen und fo aus dem Gefichte; manche ve 
tieren und verſenken ſich allmählig; aber in einiger Entfi 
nung kommen fie wieder zum Vorfchein, und erhalten ihr 
Lauf und ihren Namen wieder. Die Urfache iſt offenbar, 
ift unter der Erde freier Pas. Alle Feuchtigkeit aber ge 
ihrer Natur nad) abwärts und in's Leere. An jenem c 
heimen Ort verientt, haben aljo folche Flüſſe ihren Xauf go 
macht ; fobald aber etwas Feſtes, das fie hemmte, ihnen 
den Weg trat, jo brachen fie auf der Seite durch, die i 
nen zum Hervortreten am wenigften Widerftand Teiftefe, u 
nahmen ihren Lauf wieder an. 

Co wenn der Erde Schlund des Lycus**) Fluthen getrunten, 

Tritt in ber Sein’ er hervor; aud anderem Quell ſich ergießen 

Aiſo verfhiungen anizt und in ſtiller Tiefe verfließend 

Trier Eraſinus, ber mächtige vor In Argos Gewäffern, ***) 
Der nämliche Fall ift auch im Drient mit dem Tigris; 
fintt in die Erde, und, nachdem man lange Nichts von ih 
weiß, kommt er endlich in einem entfernten Orte wied 
hervor , ohne daß zu bezweifeln ift, ob er denn auch d 


* Es iſt auffallend, daß zu biefen Urfachen nicht auch bie ei 
fachſte und narfirlihfte angeführt wird, nämlich dad Schm 
zen bes Schnee's in den Nochgebirgen, da doch namentl 
die Stäffe von Pontus aus dem Caucaſus und Zaurud to: 


men. . 
20) Locus, ein Find in Mrogien, Eraſinus in Areatien. 
vr) Bergl, Doibd Berwandiungen XV, 276, 


—8 


— ” nu. "m. AT TE Tr mg 


vw 


» 


1188 Seneea?s Abhandlungen, 


nämliche ſey. Manche Quellen werfen zu beſtimmter Zeit 
Unfloth and wie die Arethuſa, allemal im fünften Sommer 
in Webereinflimmung mit der Feier der Olympiſchen Spiele. 
Daher ift man der Meinung, daß der Alphäus aus Achaia 
bis dahin dringe und unter dem-Meere feinen Lauf habe 
und erft an den Küften von Syrakus wieder zum Vorſchein 
tennne, und daß alfo in den Tagen, in weichen die Olym⸗ 
pifchen Spiele find, der Unrath von den Opferthieren , der 
in den abwärts firömenden Fuß geworfen wird, Dort Yoies 
der hervorkomme. Diefe Sage haft auch du erwähnt in dei⸗ 
nem Gedichte, theuerfter Lucilins, und eben fo Virgilius, 
der die Arethnfa anretet: 

„So wenn unter die Fluthen Siciliaes du dich Hnabfentft, 

Möge das bittere Meer dir nint fein Waſſer vermiſchen. *) 
Auf der Landzunge von Rhodus ift eine Quelle, die nach ge: 
raumen Zwifchengeiten atterhand Uureines trüb vom Grund 
anf wühlt, bis fie frei und’ geffärt if. Das thun an mans 
chen Drten die Duellen, daß fie nicht nur Koth, fondern 
auch Bfätter und Schaalen und allerlei verfanlte Dinge aus⸗ 
werfen: überall ift vieß bei dem Meere der Fall, in deffen 
Natur es liegt, daß cd alles Unreine und Mitartige an die 
Kürten wirft. Einige Theite des Meeres thun dieß zu be 
flimmten Zeiten, wie 3. B. in der Nähe von Meffana und 
Mylä das unruhige Meer Etwas wie Mift an's Ufer herz 
wirft und ziſcht und braust, nicht ohne häßlichen Geruch. **) 

*) Vergl. Dirgivs Ettogen J. 4. Das bittere Meer — eigent⸗ 


lich die Bittere Doris, der Name emer Nereide, Mees 
SCSPgmr De, 


? arran. Plia, nat, hist, II., 98. Mylaà wor eine Etahr va 


‚altes auf einer Halbinſel. Das heutige Miaye. 


Naturbetradgtungen. Drittes Bud, 1180 


Daher der Mythus, daß dort die Sonnenrinder -ftallen. At 
lein in manchen Fällen ift die Sache ſchwer auszumitteln, 
befonders wo die Zeit einer foldyen Erfcheinung, von der fidys., 
handelt, nicht beobachtet und nicht awverläßig if. Daher 
kann Dann die nächte und Örtliche Urfache freilich nicht auf: 
gefunden werden, übrigens die allgemeine iſt dieſe: es liegt 
überhaupt in der Natur flehender und eingegrenzter Gewäſ— 
fer ,. daß fle ſich reinigen. In foldhen, bie einen Lauf haben, 
fönnen freilich Verunreinigungen nicht bleibend feyn, denn 
ihre Strömung treibt folche fort und hinweg. Die, welche 
sicht wegſchaffen, was ſich augeſetzt hat, wogen mehr oder 
minder. Das Pieer aber zicht Zeichname, Stroh und was 
wie ein Ueberbleibſel von Geftrandeten ift, aus feitem In—⸗ 
nern heraus, und reinigt ſich nicht nur in Sturm und Fluth, 
‚fondern auch wein es ruhig und fill iſt. — 

37. Dod Das, worauf ic, jept gekommen bit, mahnt 
mich, zu unterfuchen , wie es denn, wenn einmal der vom 
Schickſal beftimmte Tag der [allgemeinen] Ueberſchwemmung 
tommt, dabei zugehe, daß ein großer Theil der Erde unter 
Batler gefest werte. Ob Das durch den Dcean bewirkt werde, 
und das Äußere Meer fich gegen und erhebe; ob Häufige un— 
anterbrochene Resengüffe und ein mit Vertreibung ded Som⸗ 
‚werd anhaltender Winter eine unermehliche Meuge Waſſers 
‚us den geborftenen Wolken herabftürze: ob die Erde reiche 
her Faikfle ausgieße und neue Quellen eröffne: oder ob 
für das gewaltige Uebel nicht nur eine Urſahe wurhanten 
ſey, onen 0 alte Umftände zufammenwirten, WO — 

Bagensäffe Rlirzen, und Stüfje anwachjen sand die Deere 
Ören BeDAlniffen aufgeregt must ufen und alles zus 


4192 Sners Abhandlungen. 


Zutept durch der Volker gema'tigen Ruin berfifmt und be- 
- Laftet ergießt ‘er jüch in die Breite. Flüſſe, die fchon in th> 
vem vrdentlihhen Baftand mit Waht vaherfirömen, Haben, 
durch ven Witterungstauf aus der Ordnung gebracht, ihr 
Bette verlaffen. Was meinft Du, deß da Rhodanus fey, 
und was Rhemis mıd was Dannbius, wenn fie and) in ih⸗ 
rem Senpbert einen Lauf haben, gleih Waldſtromen, nnd 
nun, wenn fie ausgetreten, fich reue Ufer marken, und ſo⸗ 
"bald fie den Boden zerriffen wach fihon das [neue] Bett wies 
der verfaffen? Mit wetd, reißenter Eile wälzen fie ſich da⸗ 
“Hin, wo der durch ebenes Feld fließende Rhenus bei alter 
"Ausdehnung dach nitht gemach geht, fondern in mächt ger 
‚Breite fo vol daher wogt, als ginges durch einen Engpaß? 
"Und wenn der Danubins nicht mehr nur den Fuß der Bes 
birge nad ihre Mitte flreift, fondern ſich an die Gebirgs⸗ 
rücken felber macht, mit: ſich rollend durchweichte Bergwaͤnde 
md herabgeſtürzte Felſen und Vorgebirge von großen Stre⸗ 
‘ten, die ſich, bei unterhöhltem Grand vom Feſtkand Todges 
riſſen ? Alsdann, Beinen Ausweg findend, — denn er hat 
ſich felber alkes derſperrt — geht es bei ihm Im Kreiſe um⸗ 
‚ger, und er treibt die ungeheure Maſſe von Laändern amd 
‚Städten in einem Wirbel fort. Inzwiſchen dauern die 
Megengitffe fort, die Luft wird ſchwerer, und fo geht in 
derfelben fange Beit Uebel ans Uebel hervor. — Was ehe⸗ 
reis truͤbes Gewölk war, iſt jegt Nacht, und zwar eine ſchau⸗ 
rige fntchtbare Nacht , weil gräßfiche Lichtftreifen darein fal⸗ 
zuden häufige Bliye, und Stürme peitſchen 
Een” 208 jet erfk bnrdy: der Ztüffe Buftebiien wicht, 
FU Mg wird-umd-nun feine Ufer Trnmisrükt; Wh 


Naturbetrachtungen. Drittes Bud. 1193 


se hält es ſtch in feinen Grenzen, aber die daher rau⸗ 
senden Ströme laffen es nicht hinaus und treiben feine 
Fluthen zurück: die meiften jedoch, als durch die erfchmwerte 
Mündung zurüdgehaften, werden zu flehenden Waffern und 
machen die Geflme einem See gleich. Nun ift Alles, fo 
weit dad Auge reicht, vom Waſſer befegt. Jeder Hügel 
ftet in der Tiefe verborgen, und überall ift die Tiefe un— 
ermeßlich; nur anf den höchften Gebirgsrücen ſind feichre 
Stellen. — Auf diefe höchften Gipfel hat man fih mit Weib 
und Kind geflüchtet und die Heerden vor fich her getrieben; 
abgeschnitten ift der Verkehr und das Zufammenkommen zwi⸗ 
hen den Unglüdieligen, ‚weil jede Niederung nit Waſſer 
ausgefüllt ifi. Nur au den ragenden Gipfeln hingen fich die 
Ueberrefte der Menſchheit au, und da es mit ihuen aufs 
Yeußerfte gefommen, war das Einzige nod) dad ZTröftliche, 
daß die Angſt fid in Bumpfe Betäubung verwandelt Hatte. 
Die Staunenden hatten nicht Zeit zu fürchten, — aud) fein 
Schmerzgefühl war mehr möglih. Denn des Schmerzes 
Kraft ift an .Dem verloren, der über die Empfindung des 
Uebels hinaus unglüdlih if. So ragen nun Gebirge als 
Inſeln Hervor,, und vermehren die Baht der ausgeftreuten 
Cycladen, *) wie jener finnreichfte der Dichter **) fagt, fo 
‚wie auch die Stelle des erhabenen Gegenftandes würdig wire: 
Aues war Eee, — es feniten fogar die Ufer dem Meere, 


*) Ey.laben beißen eine Dinge im Kreife um Delos herum Lies 
qaende Inſein Im Wegdrfagen Meere, z. B. Waıob , "MET 
nos, ZU08, Ecgros u, ſ. w. 
ws, s U un Berwmbkungen J, 'u92. 304. 85. ER» 


4194 . Geneca’s Abhandlungen. 


unr finEt er von dem mächtigen Schwung des Geiftes und 
des Stoffes zu Findifcher Spielerei herab: 

Wolf fywimmt unter den Schaafen, die Fluth trägt gelbliche 

Loͤwen. 
Es verräth Mangel an Nüchternheit, wenn man bei der 
Schilderung des verfchlungenen Erdkreiſes üppigen Wib ſpie— 
Ten läßt. Großartig ift die Stelle und dem Bilde angemeſ— 
fer, wenn er fingt: 

Baͤhnlos rauſchen daher durch offene Selber die Ströme; 

— — es wanken getrfict vom Strudel die Thuͤrme. 
Wunderherrlich, wenn er ſich nur nicht darnm befiimmert haͤtte, 
was denn die Schaafe machen und die Welfe. — Und Täßt 
ſich denn fchwimmen bei ſolcher Wafferfluth und fo reißender 
Bewegung? Wird nicht jedes Thier von derfelben Gewalt, 

‚ Die ed dahin raffte, in den Grund verfentt? Du haft das 
Bild in feiner ganzen Größe aufgefeßt, wenn alles Land 
überfinthet ift und der Himmel felber auf die Erde herab⸗ 
ftürzt. Halte dieß Bild feſt. Und du weißt ſchon, was dann 
an feinem Orte ift, wenn bu beventit, cs ſchwimme ber 
ganze Erdkreis. — Doch wir wollen zu unferem Zweck zu« 
rückkehren. 

28. Manche find der Anſicht, durch ungemäßigte Res 
gengiffe Fönne die Erde wohl Schaden Teiden, aber nicht 
isber und über mit Waffer bededft werden. Was groß ift, 
braucht and) große Gewalt, bis ihm etwas zufagt. Der 
Regen macht fihlechte Ernten, Baumfrüchte werden vom 
Hagel herabgefchlagen; durch Bäche ſchwellen die Flüſſe an, 

ber fie fegen ch wieder. — Manche find mehr dafür , Das 


rer Eomme in Bewegung und davon ſey die Arkachre \oldyer 


Jraturberrachtungen. Drittes Bud. 1195 


Verwüſtung abzuleiten; — es kann, Lfagen fie,] nicht ſeyn, 
daß Waldbäche oder Recengüffe oder Flüſſe an fo großer 
Waſſersnoth ſchuld find. Wenn jene Zerſtörnng nahe ift, 
md das Schickſal befcdyluffen hat, mit der Menſchheit eine 
feihe Veränderung vorzunehmen, da gebe ich wohl zu, daß 
unaufhörliche Plasregen kommen nnd das Regenmwerter nicht 
nachlaffe, und kein Nordwind und feine trockene Luft mehr 
ferrfchend fey, und daß die Regengüffe und die Ströme zu 
viel Südwind haben: 
— — —  Biöher iN’d noch bei'm Schaden aeblieken: 
Niedergeſchmettert lieget die Saat, zeunichtet des Landmoans 
Heffaung, dahin iſt des langen Jahrs vergebliche Arreit 
Aber die Länder ſollen nicht nur beſchädigt, fie ſollen über— 
tetft werden. Endlich, nachdem jenes Vorſpiel vorangegau— 
gen, wachen die Meere, aber nicht nur wie fonft, nnd frei: 
bes ihre Wogen höher, als der höchſte Wafferftar? bei dem 
gewaltigften Sturme je gewefen. Dann Fommen noch die 
Winde hinterher, und regen die mächtige Fläche auf, die 
fi) weit von dem Geſichtskreiſe des innern Uferg bricht. Sorann 
wenn fie ed weit über feine Ufer hinaus verbreitet Haben, 
und) Dad Meer auf fremden Gebiete ſteht, rückt das Uebel 
gleichfam in die Nähe und es dringt die Fluth von den tief: 
ſten Meeresgründen herauf. Denn gleich der Luft, gleich 
dem Aether Hat diefes Element veichhaftigen Stoff, und je 
mehr im DVerborgenen, defto größer die Maſſe. Diefe Auf 
regung ift des Schickſals Werk, nicht der Fluch, deun die 
Fluth richtet nur des Gefchides Befehl and, wat in 
mächtigen Srümmungen ſchwellt fie dad Meex mi WM 
freibf ed vor ih ber. Dann fteigt es gu einer Um 


Senecas Abhandlungen. 


‚ und Keht über jenen fichern Zufluchtsör tern 
u. Und das ift Beine zu große Höhe für Bad 
eil es fo hoch fteigen würde, ald die Höhen ber 
‚, wenn man biefe in eine gleiche. Zinie bringen 
se Meere find [überali] gleich ſhochſ. Denn wie 
ih überall gleich. Das Hohle and lache iſt über: 
Allein eben dadurch ift der Erdfreis gleich rund, 
Seite aber find auch die Meere, welche fich an die 
gelmäßige Kugelform anfchließen. Aber fo wie:bei 
fchauen einer Fläche die alimählige Senkung nicht 
yift; bemerfen wir die Krümmungen des Meered 
und es fcheint Alles, was man davon fiehet, flach. 
es fteht in gleichem Höhe» DVerhältniß mit der Erde. 
: wird es fi, um auezüftrömen, nicht mächtig höch 
en, inden es ihm genug ift, ein Eleinwenig zu ftei 
um über den Gleichpunkt wegzukommen; und es ftröw 
vom Ufer ab, wo es ja tiefer ift, fondern von d 
te, wo es eine Schwellung hat. Wie daher die Zr 
Zeit der Tags und Nachtgleiche, gerade wenn So— 
Mond zufammentommt, [zur Zeit ded Neumonds] ' 
en höher zu treiben pflegt, als je fonft: fo zieht 
ye zu Ueberdeckung der Länder ausgefandt wird, 
: Heftigdeit, als fonft, wenn dad Meer am größte 
Waſſer an fidı, und läuft nicht eher ab, als F 
die Bipfel der Berge, die es überſtrömen will, 
ift. — Hunderttauſende von Schritten weit Id 
Bea Ötellen bie Fluth aus, ohne zu fchaden, um 
Per Drönnng, Denn zu gemeflener Zeit w/ 
WE wieder ab, Aber zu jener Zeit ſchreitet 


Imsechtungen. Drittes Bud. 4197 


Raß-fort. — Ans weichem Grunde? frag 
Aufichen, aus welchen die Verbreunung 
as Eine, wie das Andere tritt: ein, wenu 
w aut Hält, daß das Beflere beginne, Tas 
w und Feuer ift das Herrſchende auf der 
r kommt ihr Urfprung, daher ihr Untere 
er mit der Erde eine Umgeſtaltung vorge⸗ 
mt dad Meer fo über uns ber, wie die 
il eine andere Art bes Unterganges be- 


find der Meinung, die Exde Teide dabei 
es berſte ber Boten, und bee neue 
Ten auf, weiche mehr ausſtrͤmen, weis es 
mmtnaffe der Waſſer gehe. Berofue, ) 
» Belus, behauptet, ed werde dieß durch 
ime bewirtt: und er iſt in feiner Sadıe 
r Verbrennung und der Ueberſchwemmung 
mt; es werde nämlich die Erdenwelt vers 
fe Geflirne, die jest verfchiedene Bahnen 
bs zufammentommen, und fo auf einem 
ntte fliehen, daß eine gerade Linie durch 
Wer gezogen. werben Fönne; die Wafler« 
erfolgen, wenn eben diefelben Geftirne in 


Cbaltaiſcher Philoſeph zur. Zeit Alex. d. Br, 
alen in dem Tempel des Babylonifaen Gottes 
ngebliyen Urheber6 ber Gterntunhe \iiee er 
"vom Ehalbda und Babyion waub tin aneires 
erst, Fabric, hibl, gr, Vol. KIN, vb- 








f  zufammen®@” 
v4 


aturbetradytungen. Drittes Bud. 1199 


‚ehe. Die Haupturſache jedoch zn ihrer Webers 
19 wird die Erde felbft darbieten, da wir ja fchon 
ie ſeye einer Verwandlung fähig, und löſe fich in 
Stoffe auf. Es wird alfo einmal dag Ende der 
szenwelt kommen, da, ihre Deftandtheile unterges 
müflen, und ganz von Grund aus verfilgt werben, auf 
8 fie ganz von Neuem, in natürlicher Unfchädlicybeit wie— 
‚er geboren werde und Nichts mehr fey, was fie verderblich 
zu werden anweist: *) alsdann wird mehr feuchter Stoff, 
ale ſtets war, entflehen. Denn jest find die Elemente nadı 
Dem abgewogen, was fie eigentlid) zu thun haben. Es muß 
Etwas ſeyn, das zu etwas Anderem tritt, wenn Das, was 
in Gteichgewicht ſteht, aus dem Gleichgewicht kommen fol ; 
diefes Etwas wird zu dem feuchten Stoff hinzutommen [näm« 
fi die Erde, die fich in feuchte Stoffe auflöst.). Im jegie 
gen Zuftand hat der feuchte Stoff fo viel Maffe, um die 
Erde zu umgeben, nicht um fie zu überdeden. Was nım 
dazu kommt, muß nothwendig an eine Stelle austreten, die 
ihm nicht gehört. Dem Waffer alfo hat es die Erde gleis 
dermaßen zusnfchreiben, daß fie als der fchwächere Theil 
dem ftärfern unterliegt. Sie wird alfo anfangen zu faulen, 
fofort focder werden und in Fenchtigkeit übergehen und durch 
die anhaltende Verfeuchfung zerfließen. Dann werden unter 
den Gebirgen Flüſſe hervorfpringen, und diefe mit ihren 
Anftößen wankend machen, und ed braucht dann nur ein Teis 
(ed Lüftchen, fo werden fie auseinander ſeyn, Aller Baren 
wird Waſer berborbringen, auf den höchſten Sertiaen www 





> Wintig reine Veenſchheit, wie fie jent W- - 


1280 Senecas Abhandlungen. 


von Quellen ſprudeln, gleichwie das Geſunde erkrankt und 
die Nachbartheile eines Geſchwürs mitleiden; je näher Etwas 
bei den zerfließenden Ländern iſt, deſto eher wird es ausge⸗ 
ſpült werden, triefen und dann in Fluß kommen, und wäh⸗ 
rend da und dort ein Fels ſich ſpaltet, wird es durch das 
Gewäaͤſſer ſpringen uud Alles zu Einem Meere machen. Nichts 
wjrd mehr von den Adriatiſchen, Nichts von den Sicilifchen 
Meerpäſſen zu fehen ſeyn, nichts von Charybdis, nichts 
von Scylla. Alle Sagen werden in dem neuen Meere ber 
graben liegen, und der Drean, der die äußerften Länder uns 
gürtet, wird in der Miste ſtehen. Was wird's feyn? Der 
Winter wird Nichts darnad) fragen, ob die Monate fein 
feyen, der Sommer wird verdrängt werden, und wo fonf 
ein Geftirn dad Land trocken machte, wird es feine Glut 
verforen haben und Nichts ausrichten können. Da ift’d aus 
mit den vielen Namen, mit dem Caſpiſchen und rothen Meer, 
mit dem Ambraciſchen und Gretifchen Meerbuſen, mit Pro⸗ 
: pontid und fchwarzem Meer. Aufhören wird all der Unter: 
| fchied. Bufammenfließen wird Alles, was die Natur in die 
: sehdrigen Theile gefchieden hat. Nicht Mauren, nicht Thür: 
me werden Jemanden Schu gewähren; Nichts werden die 
' Tempel den Flehenden helfen, Nichts die höchſten Gebäude 
ji der Städte, denn vor den Fliehenden wird die Woge here 
fihreiten und fie mitten aus ihren Burgen mit forfnehmen. — 
Dom Abend und vom Morgen wird's zufammenftrönen, — 
ein einziger Tag der Menfchheit ihr Grab bereiten. Was fie 
er ers Öe/diides langer Huld angebaut, was fie über das 
> va ‚erboßen. Sat, Bas Herrliche all und Gefchmüdte, wod 
«Is Zuey shächtiger . 
| Ber Wölfer werden dahin feyn. 


— — 1 gyru —— 


— 
Naturbetrachtungen. Drittes Bud. 4201 


Der Natur iſt, wie ich fagfe, Alles möglich; Hat 

och Solches zu thun gleich) von Anfang beftimmt, und 
. nicht auf einmal daran, fondern fie hat es angedroht. 
von am erften Tage der Welt, da fie von formiofem 
fei in diefe Geftaltungen überging, ward es befchloffen, 
elcher Zeit die Erdenwelt in's Waſſer verſinken follte, 
‚anf daß nicht die Arbeit einmal fie zu Hart ankomme, 
s wäre etwas Neues zu thun, fo üben fid) die Meere 
dängft darauf ein. Giehft du nicht, wie die Woge gegen 
die Ufer brandet, als wollte fie Heraus? Siehſt du nicht, 
wie die Fluth ihre Grenzen überfchreitet, und’ das Meer in 
den Befis der Länder einführt? Siehſt du nicht, wie fie 
einen ewigen Kampf mit Dem hat, was fie einfchließt? Wie 
kannſt du nun noch da, woher du ſolch ein Stürmen fiekft, 
Surcht Haben vor dem Meer und vor den mit Macht und 
Gewalt daherftürzenden Flüſſen? Wo ift dann eine Stelle, 
da die Natur nichts Naffes hingefegt hätte, auf daß fie ung, 
wenn fie wollte, ergreifen koͤnnte ? Ich will ein Lügner Heis 
sen, wenn man nicht, wo man die Erde aufgräbt, Feuch⸗ 
tigkeit findet, und fo oft und die Habfucht in die Gruben 
führt, oder irgend eine Urſache uns in die Tiefe einzubringen 
zwingt, fo if es Waller, was dem Aufgraben ein Eude 
macht. — Nimm nun noch taju, daß in verborgenen Tiefen 
ungeheure Seen find und viel von verfledt fiegendem Meer, 
und mancher Strom, der verdeckt fließt. So wird alfo überall 
ber Grund zur Wafferfluth da ſeyn, da die einen Gewaͤſſer uns 
ter den Ländern her, andere um fie herumfließen, wie (anne 

niedergepaltenen durchbrechen und Ströme wit Stitwen 

Seven. 106 Ele, 5 


4202 Seneca’s Abhandlungen. . 


verbinden und Seen mit Sümpfen. Da wird bag Meer 
‚den Mund aller Quellen volifülen, und aus maͤchtigern 
Schlünden Iosbrechen laſſen. Gleichwie der Magen unfere 
Körper zur Ausleerung bringt, gleichwie die Kräfte in Schweiß 
fidy verlieren : fo wird die Erde flüffig werden; und wenn 
Beine Urſache mehr wirkt, fo wird fie in fich ſelbſt den 
Stoff zu ihrem Verfinten finden. So, glaub’ ich, wird alles 
Gewaltige zufammenwirken. Und es wird nicht Tange braus 
chen , bis es dahin if. Das Band, welches zufammenhäft, 
wird angegriffen und anseinandergeriffen, wenn die Welt 
einmal: Etwas von bdiefer fo zwedmäßig genauen Ordnung 
nachgelaſſen; auf der Stelle wirb dann von allen Geiten, 
anf der Oberfläche und aus verborgener Tiefe und aus der 
Höhe der Einbruch Eommen. Nichts iſt fo gewaltfam und 
unmäßig, nichts fo widerftrebend und gegen Das, ‚was feft 
halten will, gewaltihätig, als eine große Waſſermaſſe; fie 
wird von der ihr gewährten Macht Gebrauch machen und 
auf Geheiß der Natur, was file zerreißt und umfängt, an⸗ 
füten. Sowie ein Teuer, das an verfhiedenen Stellen 
entftanden ift, feinen Brand alsbald vermifcht, weil die 
Flammen fidy zu vereinigen eifen: fo werden fich in einem 
Augenblick die ausgetretenen Meere verbinden. Aber nicht 
immer werden die Waffer Das thun Lönnen, fondern wenn 
die Sernichtung des menfchlichen Geſchlechtes vollender iſt, 
und 'anch die wilden Thiere, deren Natur die Menfchen an⸗ 
genommen haften , vertilgt find, fo wird das Waffer wieder 
20 der Erde eingefchludt werden; die Natur wird das 
rer georngen, zu fteßen und in feinen Grengen ıu toben, 
2 Jurädgedrängt >ou unſern Wohnplägen wird ter Dream 


Le 


ine gefonderte Stellung getrieben und die alte Ordnung 
er bherbeigerufen werden. Alles lebende Weſen wird 
Neuem erzeugt und der Erde eine Menfıhheit gegeben 
em; die von Freveln nichts weiß, und unter günſtigern 
nen in die Welt tritt. 

och auch bei ihr wird die Unſchuld nur bauren, fo lauge 
a iſt. Schnell greift die Verderbniß um fid, — Tu⸗ 
iſt ſchwer zu finden, fie braucht einen Leiter und Zühe 
Die Lafter aber lernen ſich auch ohne einen Lehren. 





Inhalt des vierten Bude. 


Ermahnung an Lucilius, anf feinem Poften — als Proeu⸗ 
rator von Sicilier — von Herrſchſucht, fern foviel als möglich 
m Muße den Wilfenfchaften zu leben, insbefondere fin den 
Scehmeichlern nicht hinzugeben, beren Schlingen bie Großen am 
meiften außgefegt find. Gefahr von Denſelben bei aller Vorſicht. 
Schmeichele ien gefallen, auch wenn man fie zurücdweist, Jeder 
gibt am meiften ba Bioͤßen, wo er angegriffen wird, Nie darf 
man fich fiber und fep genug glauben. Die gefährlichiten 
Schmeichler find Die, die es am yplumpften machen. Gin Beis 
fpiet und Vorbild, wie man ſich gegen Schmeichelei waffnen muͤſſe, 
it Gallio, der ſich nicht einmal eine allgemein anerfannıe Vor⸗ 
trefflicpteit zum Lob anrechnen led. Man muß ficy nicht loben 
offen, ſondern nur ſich ſelbſt Ioben durch dad Verhalten, und 
Keinem trauen, welcher lobt. Allgemeine Verdorbenheit ber Mens 
fhen. Darum muß man fi zurfdzicehen, und fih ber Betracys 
zung der Natur hingeben. 


Kap. 1 — 2. Unterfuhung, warum ber Nil in den Sommers 
monaten fo waflerreiy werde. Abhängigkeit ber Fruchtbar⸗ 
keit Aegyptend von den Niluͤberſchwemmungen. ataratten 
des Nils. Er ſetzt Schlamm und Erdreich an; ernährt große 
Thiere, houptſaͤchlich das Srocodii. Deffen Kampf mit den 
Deiphinen und Flucht vor dern Tentyriten. — Verſchiedene 
Hopotheſen Über bie Urſachen von dem Wachen des Nils. 
Anaragoras fagt, eb komme vom Schneewaſſer aus ben 
#Herpbiopiiyen Gebirgen, Wiberlegung biefer Anfiat. The 

Phi # fumt ben Orund bırin, baß die SHrundktaottoieke Ga 

Fuoftsbinen bes Nils entgegenfiemmen, Wimriegueg, 


Inhalt des vierten Buchs. 1205 


Unfiht bed Denopides aus Ehios. Widerlegung derſelben. 
Meinung des Diogenes von Apollonia, zur Erklärung de 
Phänomens ungenügend. 

Rey. 3 — 7. Bom Hagel und befien Entſtehung. Warum er 
suwd fey? Warum es im Winter ſchneit, aber nicht hagelt. 
Daß die Fruͤhlingsluft durch das berftende Eis und den 
ſchmelzenden Schnee aus ben nördlichen Gegenden erfältet 
werde, und ſich bann kalte Winde erzeugen, und fhatt Res 
gend Kagel hervorbringen. — Beobachtung ber Wolken und 
Borherfagen des Hagelwetters durch eigene Wetteraufſeher in 


ap. 8 — 113. Vom Schnee; wo und wie er entſtehe. Was 
rum die ber Erde am nächften liegende Luft wärmer fey, als 
die Höhere? Die untere ift bier, die obere dünner ; biefe 
Iäßt daher die Sonnenftrahlen mehr durch, jene weniger. — 
Bar ım bie Luft auf den hoͤchſten Bergen , umerachtet fie ber 
Sonme näher ift, do dadurch Nichts an Wärme gewinnen 
Knne,. Die in ber Nähe der Erbe befindliche Kuft hat, wenns 
Sehnee faͤllt, zu viel Kälte, als daß es regnen, und zu viel 
Woͤrme, ald daB es bageln Lbnnte. 

ap. ı2. Leber ben Luxus, welcher zu Nom mit Schnee mb 
Eis getrieben werde; und woher biefer Luxus komme. 


— — 


Vorwort. 


Du biſt, fo viel ich von dir vernehme, mein beſter Lu⸗ 
lins gerne in Gicilien und (in dem Amt) einer vuhigen 





wocuratur. ) Du wirft auch ferner gerne da (eg, CR 





. * 
ı 
N 
\ 


> Emdiinz war — bar Genecars Berwentung — DIrckte 


rm @latipeiter — in Budiien gevonben. 


2206 Seneca's Abhandlungen. 


an bei deiner Stelle innerhalb ihrer Grenzen bleiben und 
nicht, was Verwaltung ift, zu unumfchränkter Herrfchaft 
fleigern willſt. — Ich zweifle nicht, daß du es fo halten 
wirft. Ich weiß, wie ferne du vom Ehrgeiz bift, und roelch 
ein Freund der Muße und der Willenfchaften. — Nach jes 
nem unruhvollen Zeben und Menfchengewühl mögen Diejes 
nigen ein Verlangen haben, die ed mit ſich felbft nicht auss 
halten. Du kommſt mit dir ſelbſt ganz gut and. Allein 
wundern darf man fich nicht, daß dieß nur bei Menigen 
der Fall ift: man ift herrſchſüchtig und aufdringlich "gegen 
ſich ſelbſt. Bald macht ung die Liebe zu ung felbft, bald 
We Unzufriedenheit mit ung felbft zu fchaffen; das unglück⸗ 
fefige Gemüth erheben wir bald in Hochmuth, bald peini- 
gen wir ed durch Begierden, bald erfchlaffen wir es durch 
Dergnügungen ; bald quälen wir es durch Sorgen. — Und 
Das ift das Beflagenswerthefte, wir find nie für und. So 
Tann ed auch bei der großen Gefelifchaft von Laſtern nicht 
fehlen , wir leben in einem ewigen Krieg. Thne alfo, mein 
Lucilius, wie du es zu halten gewohnt bift. Reiß did, fo 
viel du kannſt, von dem Gewühle Ind, umd laß Bir Die 
Schmeichler nicht zu Leibe; fie find Meiſter darin, die 
Großen zu fangen. Gewachfen wirft du ihnen, auch bei 
alter Vorficht, nicht feyn. Glaube mir, du gibft dich, wenn 
du did) einnehmen Läffeft, felbjt in ihre Garne. Die Schmeis 
heleien Haben das Eigene an fich, fie gefallen, auch wenn 
2252 Sie zuvücweist; und hat man ihnen auch den Zugang 
Perwegrt, am Ende Iäft man fie doc) ein. Denu gerade 
vr, 2AB man fie abweist, fuchen fie fich zu entihätigen, 

daypen fi mi 5 en 
It abweifen, man mag noch (0 od Rs 


Naturbetrachtungen. Viertes Bud. 4207 


fie ſeyn. Es ift unglaublih, was ich jest fagen werde, 
aber eben doch wahr. Jeder gibt fic gerade auf Der Seite 
am meiften bloß, von der er angegriffen wird. Denn viels 
leicht wird er gerade deshalb da angegriffen, weil er Blö—⸗ 
fen gibt. Yafle dich daher fo, daß du einfiehft, dahin kön⸗ 
neit du es nie brisgen, daS man dir nicht beitommen Fönnte. 
Magft du auch alle Vorficht anwenden, zwifchen der Rü⸗ 
fung hinein wird man dir Eins verlegen. Der Eine 
wird feine Schmeichefeien heimlich fpielen Taffen, und es 
damit nicht übertreiben; der Andere offenbar, unverhofen, 
mit angenommener Derbheit, und als ob das Einfalt wäre, 
nizyt Abſicht. Meifter in diefer Kunft war Vitellius Plans 
cus; *) der pflegfe zu fagen: man müſſe nicht verftecdt und 
unmerklich ſchmeicheln. Es Hilft Nichte, zu buhlen, wenn 
es unbemerkt bleibt. Der Schmeichler gewinnt anı meiften, 
wenn man ihn auf der That ertappt; mehr noch, wenn er 
ausgefchoften und beichämt wird. Nimm an, daß du bei 
deiner Stellung ed nicht nur mit einem Plancus zu thun 
haben wirft, und daß es noch Feine Mehr gegen das fo ges 
mwaltige Uebel ift, wenn man nicht gelobt feyn will. Criſpus 
Daffianus, **) der feinfte Kopf. den id) Fannte, in jeder 


*) Lucius Munatius Plancus, College de3 M. Aemilius Les 
pidas im Confulat, hielt es zuerft mit Brutus, dann mit 
Antonius, dem er bei Eleopatra den Kuppier machte, Zus 
legt trat er auf die Eeite des Auguſtus. — Vitellius, dee 
nammalige Kaifer, haste ſchon unter Ealigula und Siantin 

ne a RR 
% j/NarU8, zwei x 
Steoner, Mero’s Sucfoater ‚nal Eonfut und vn 


. 4208 Seneca’s Abhandlungen. 


Hinficht, befonders in Auffindung und Heilung der Schwach 
heiten, pflegte zu fagen, gegen die Schmeichelei halten die 
Leute zwar die Thüre vor, aber verfchließern fie nicht, und 
jwar fo, wie man fie gegen ein Liebchen vorzuhalten pflegt; 
die, wenn fie daran pocht, ganz willkommen ift, willfome 
mener noch, wenn fie diefelbe aufbricht. Demetrius, ber 
vortreffliihe Mann, äußerte fi, wie ich mid, erinnere, 
‚gegen einen mächtigen Freigelaffenen: wenn ihm einmal 
fein gutes Gewiſſen entleidet wäre, fo wollte er leicht den 
Weg zum Reichwerden finden. Aber ic) beneide end), ſprach 
er, um biefe Kunſt nicht, ich will vielmehr Denen, welche 
zufammenfcharren müffen, Winke geben, wie fie ſich nicht 
dem zweifelhaften Glück der Seefahrten, oder des Kaufend 
und Verkaufens von Nechtshändeln zu unterziehen, ed nicht 
mit dem unficher Iohnenden Yelbbau oder mit der noch ums 
fiherer Iohnenden Wechfelbant zn verfuchen brauchen, wie 
fie fidy nicht allein auf einem leichten, fondern fogar noch 
auf einem recht Iufligen Wege Geld machen, und bie Leute 
fo um das Ihrige bringen können , daß diefe felber noch ib» 
ren Spaß dabei haben. Ich darf nur, fprach er, fchwören, 
du ſeyeſt länger als Fidus Annäus und Apollonius Pycta, *) 
wenn du fchon nur die Statur eines mit einem Thracier 
singenden Thracierd haſt. — Und es gibt, du haft mein 
Wort darauf, gar Seinen freigebigeren Mann, als du bift, 
denn du kannſt den Schein haben, ats hätteft du Jedem Al⸗ 


> Hufen Namen von Glabiatoren , bie wegen ihrer 
aLervergröße Serdbmt waren, — Thrax Wied dar Urt wee 
toren, wege TIbraciſcher Rieivung un Wurm 
4 fa oft ganz unter Ihre Gaine yalammeniauien 


Raturbetrachtungen. Viertes Bud. 4209 


led Das oefchenft, was bu ihm nicht abgenommen haft. 
GSo ift’d, mein Junior, je offenbarer die Schmeichefei ift, 
je unverfchämter, je mehr fie ſich die Schamhaftigkeit aus 
dem Gefichte reibt, und die des Andern zernichtet, befto 
ſchneller feiert fie ihren Zriumph. — Denn man hat es bes 
reits fo weit in der Zoliheit gebracht, daß man Den, der 
mit Schmeichelworten nicht fehr freigebig ift, für einen 
Webelwollenden, (kargen Lober) hält. — Ich habe dir fchon 
ft gefagt, daß mein Bruder Galliv, ein Mann, den Jeder, 
wenn es ihm and) nicht möglich ift, ihn noch mehr zu lies 
ben, doch zu wenig liebt, wie ihm andere Fehler ganz uns 
befannet” find, dieſen fogar verabfchene. Du Haft ihn von 
ieder Seite erprobt. Du haft angefangen, Seinen Geift fo 
groß und würdevoll, hochzuachten, und hätteft ihn lieder zu 
ven Göttern erhoben, ald [durch Schmeichelei] zur Gemein: 
beit herabgezogen geſehen: — er bat ſich nicht beikommen 
Iaffen, ILgleich hat er dir das Bein unterfchlagen]. Du haft 
feine einfache Lebensweife zu rühmen angefangen , vermöge 
deren er fich vom Geld fo fern hielt, daB er es weder zu 
haben, noch zu verwerfen fcheint: und er hat dich gleich 
das erfte Wort nicht ausreden laſſen. — Du haft angefan⸗ 
gen, feine Freundlichkeit und abſichtsloſe Anmuth zu bewun⸗ 
dern, die auch Diejenigen hinreißr, die fie nur im Vor⸗ 
beigehen berührt, nnd feine uneigennüsigen Verdienſte auch 
um Solche, die nur zufällig mit ihm zufammentommen. Ja, 
kein Sterblicher ift einem Einzelnen fo Lieb, ld Dieier AL: 
len 3ft. wäßrend dabei feine natürliche Büte Toldye Grnoit 
— Perzen ausübt, das von Anficht und Berkeiun 
ve OPRF zu Auden if — Feder Laßt ſich dad weniafte 


210 ° "Geneca’s Abhandlungen. 


allgemein anerkannte Vortrefflichkeit zum Lob anrechnen; 
auch von diefer Seite hat er fi) nichts Schönes von dir 
fagen laſſen, fo daß du ausriefft, da habeft du nun einen 
Mann gefunden, unbezwingbur gegen die Locktöne, die jeder 
Menſch in fein Herz eindringen läßt. Da hoft du denn 
nur.um fo mehr deine Achtung vor folder Klugheit und 
vor folcher Fertigkeit in Vermeidung eines unvermeidlichen 
Uebels zu erkennen geben müſſen, weil du gehofft hatteſt, 
ed könne, obwohl du Schmeichelhaftes fagteft, Daflelbe doch 
darum ein offenes Ohr finden, weil du Wahrheit fpradhfl. 
Aber nur um fo mehr fah er ein, daß er fich dagegen zur 
Wehre feben müffe. Denn flets will das Falſche Wahrheit 
gewinnen, vom Wahren aus. Es ift jedoch nicht meine 
Meinung, du folleft mit dir unzufrieden feyn, als ob du 
Deine Nolte fchlecht gefpielt, und Jener irgend Etwas wie 
Scherz oder Trug bei. dir veransgefegt hätte. — Nicht ers 
tappt Hat er dich, fondern zurückgewieſen. — Das ſey venn 
das Vorbild, nad, dem du did) richteft! Tritt irgend ein 
Scmeichler zu dir, fo fprih: Willſt du nicht die Worte, 
die jeht von einer Behörde zur andern mit allen Förmlich⸗ 
feiten übergehen, lieber an Einen bringen, der bereit, das 
Gleiche zu thun, fich gefallen läßt, anzuhören, was du 
fagen magſt. — Sch mag weder täufchen, noch kann id) mid) 
täufchen faffen. Ich wollte mid fdyon von euch loben fafs 
fen, wenn ihr nicht auch heiltofe Leute loben würdet. — 
Allein, was willſt du dich fo. weit einfallen, daß fie dir in 
2er Rdpe bBeifommen können? Bleibet Lieber hübfch weit 
7 ernander weg, Wenn du den Wunfch ha, ak entli 


"Deife gelobt ju werden: warum ſouſt du denn Aecmanı 


Naturbetrachtungen. Viertes Bud. 4214 


m dafür verbindlich ſeyn? Lobe du dich felber! Sage, ich 
ibe mich edlen Wiffenfchafter ergeben, wiewohl mir meine 
tietellofigbeie eine andre Weiſung gab, und meinen Geift 
ı Ergreifung eines Faches beftimmen wollte, wo man vom 
tudium auch fogleid, Etwas hat. Zu der uneinträglichen 
edertunft hab’ ich mid; gewendet und dem heilfamen Stu⸗ 
am der Philoſophie Hab? ich mic, gewidmet. Sch Habe ei⸗ 
m Beweis abgelegt, daß für die Tugend jede Bruſt ces 
haften fen, und mich emporringend über die befchränften 
terhältniffe meiner Geburt, und nicht nad) meinen 2oofe, 
ndern nach meinem Innern mic, meffend, Hab? ich mich 
m Größten gleich geftellt; nicht Hat mir des Gätulicus *) 
reundſchaft das Zutrauen dee Cajus [Caligula }- entriffen, 
ht haben Mefjala **) und Narciſſus, ***) Tange des Stans 
8 Feinde, ehe fie fih gegen fich ſelbſt Fehrten, meinen 
ntfchtuß wankend machen, noc zu der Holle Anderer be- 
egen können, die zu ihrem Unglück Günftlinge waren. 


+) Enejus Lentutus Gaͤtulicus, ein vortreffiiher Menſch, Dichs 
ter und Geſchichtſchreiber, kam bei Caligula in Ungnade, weil 
ihn tie Legionen in Germanicn fo lieb ratten. Gr wurde 
auf Befehl bes Kaiſers getöbtet im I. d. St. 792. — Wir 
-fein Freund war, der — hätte man erwarten jollen — vers 
Ior. wohl das Zutrauen bes Kaifers. 

*) Meſſala, welcher bei Euetonius, Statilius Corvinus heißt, 
and Narciſſus, der oft erwähnte Freigeraffene bed Claudius, 
zettelten gegen biefen Kalfer eine Verſchwoͤrung an; jener 
aber wurde an diefem felber zum Verraͤther. 


» 9u ber Eonjetur: Biessalina er Narcissus, vordtta Ar 


3.\ 


EuPera Soclon, in v. Claud Tot Aonal, 
30. 37. AUl, 1. beregtigen, 39. u, Tacit. 


— — — — — — a —— —— — en fu 


nn 


42412 Senecas Abhandlungen. 


Meinen Naden hab’ ich dargeboten, für mein gegebenes 
Wort. Kein Wort hab’ ich mir abdringen laffen, das nicht 
mit gutem Gewiffen über meine Lippen gehen konnte. Für 
die Freunde hab’ ich Alles gefürchter, für mich Nichts, als 
etwa, ich möchte zu wenig für die Freundfchaft gethan has 
ben. Nie hab’ ich weibifche Thränen geweint, noch mein 
Leben von eines Andern Hand erfieht. Nichts hab’ ich ges 
then, was einem Patrioten, was einem Manne nicht ziemte. 
Größer als meine Gefahren , entfchloffen, entgegen zu gehen 
Allem , was drohte, hab’ ich dem Schickſal gedankt, daß es 
an mir erproben wollte, wie hoch ich Manneswort anfchlage. 
Etwas fo Großes durfte mir nicht wenig often. Und es 
hat mic, erft nicht ange ſchwankend gelaſſen, denn es ftand 
ja nicht auf der Wage, ob ed beſſer wäre, daß ich geopfert 
werde für mein Wort, oder mein Wort für mich. Nicht 
in der Hibe der Ueberraſchung habe ich mich zu dem Außer: 
fen Mittel entfchloflen, um der Wuth jener Gewaltigen zu 
entgehen. Sc, fah bei Cajus bie Folterwerkzeuge, ich ſah 
die Feuerqualen. Sch wußte laͤngſt, es fey unter ihm mit 
der Menfchheit dahin gekommen, daß es unter die Werke 
der Barmherzigkeit gehörte, wenh man Einen tödtete. Den 
nody hab’ ich midy nicht in's Schwert geflürzt, noch bin id, 
mit offenem Munde in's Meer gefprungen,, auf daß es nicht 
ſchiene, ich koͤnne für mein Wort nichts weiter, als ſter⸗ 
ben. — Denke dir num dazu noch einen Charakter, der fid 
| durch Geſchenke nicht gewinnen läßt, und bei der Habſucht 
ddrıgem Berstampf eine Sand , die fich wie nach Gewinn 
Dente dir dazu Sparſamkeit im Hautholt, Des 
Abelit im Umgang, DRenfchenfreundlihteit geaem Te 


— [7 Be - - - (3 ma ww 


ern und Ehrerbietung gegen bie Höhern. Darnach 
ige dich bei dir felbft, ob, was du da vorbrachtefk, 
ey oder falfch. Iſt's wahr, fo haft du einen wichtis 
ugen nor dem du gelobt biſt; iſt's falſch, fo haft du 
och wenigſtens] ohne einen Zeugen lächerlich gemacht. 
h iſt's, Daß du nun auch von mir meinft, ich wolle 
tweder fangen, oder auf die Probe ftellen. Glaube 
ı von Beidem am lichften magſt, und fange bei mir 
einem zu trauen. — Denke dich nur recht Kinein in 
Ausfpruch Virgils: *) 

gends fichere Treu.” 

n den von Ovid: **) 

- Wo Land ift umher, herricht wild bie Erinnys. 

ril ch, zur Unthat find fie verfgweren. — 

was Menander fagt ***) fagt: denn Wer fühlte nicht 
höhern Sinn tief angeregt durch den Abſcheu gegen 
gemeine KHinneigung der Menſchheit zu Verkehrtheiten. 
fagt er, leben heillod. — Damit tritt der Dichter 
am mit bäurifher Derbheit auf die Bühne Nicht 
reis nimmt er aus, nicht den Süngling, nicht das 
‚ nicht den Mann; un) fügt hinzu: nicht Einzelne 
en, nicht Wenige, fondern der Frevel fey bereits 
fammenhängendes Ganzes. — Darum muß man fich 


Strgits Ameis IV, 373. 
vid's Verroandlungen. I, 241. 
denander, ein beruͤhmter Schauſpieldichter zu Yin, De 


agmeme /riner verloren geganaenen Dramen har Eieiuub 


— Daft. 1709 unb Eameitee in ſ. Avrq. TAU 





2214 Seneca’s Abhandlungen. 


davon machen ſich auf fich ſelbſt zurückziehen, ja vielmehr 
fid) von ſich ſelbſt losmachen. Dazu will ic, dir, obfchon 
ein Meer ung trennt, bebülflich feyn, daß ich dich, wenn 
du nicht weißt, wohin, bei der Hand ergreife und zum Beſ⸗ 
fern führe. Und auf daß du dich nicht einſam fühlft, fo will 
ich mid in's Geſpräch mit dir einlaffen. Wir werden beis 
fammen ſeyn, mit.dem beffern "Theil unfers Selbſt. Wir. 
werden und gegegenfeitig Rath ertheilen, und während du 
an meinen Blicken, indem ich dir zuhdre, aufmerkfam hängff, 
will ich dich weit wegführen von deiner_Provinz, damit du 
nicht etwa zu viel anf jene Gefchichten baueft, und dir da: 
rin zu gefallen anfängft, wenn du bedenfft: unter mir ſte— 
het diefe Provinz, die der größten Städte Heeren nicht nur 
nicht unterlag, fondern die Macht derfelben brach, da fie 
der Preis war des ungeheuren Kriegs, zwiſchen Garthago 
nnd Rom, da fle die Macht von vier Häuptern Roms, *) 
alfo vom ganzen Reihe an einem Punkte vereinigt fah, 
ta3 Glück des Pompejus hoch emporhob, das des Gäfar 
erichöpfte, das des Lepidus ummandte, und das Glück Aller 
von fit) abhängig machte, diefe Provinz, die Zeuge war 


+) Diefe Bier find die Triumvirn Auguſtus, Antonius und 
Lepidus, und dann, Sextus Pompejus, ber zwei Jahre nach 
Caͤſar's Tcd, 710, Sicilien dekam. Bald darauf warb er 
im Krieg gegen das Triumvirat Sieger Über Octavian. Im 
J. d. St. 719. aber wurde er bei Naulochus — Kafale — 
von Dctavian in einer Seeſchlacht befiegt , und fand in Aſien 
feinen Tod. — Lepidus, weil er dem Dectavian im Sicili⸗ 
/aın Kriege beigeftanden, maßte fih im Uebermuth den 
Eis an, mußte ſich aber, von feiner Armee wah vom Gluͤck 
Seriaffen, Bald por Detgolan demuͤr higen. 


waltigen Schanſpiels, woraus die Sterbfichen Eier 
lernen fonnten ‚wie ſchnell der Fall fey vom Hoch⸗ 
Tiefſten, und auf wie verfchiedenen Wegen das 
eine große Macht zerflöre. Denn zu einer und dere 
eit fah fie den Pompejus und den Lepidus, vom 
‚er Größe jeden auf andere Weife ins tieffte Elend 
urzt, da Pompejus vor einem fremden Heere floh, 
vor feinem eigenen. " 





Vierte Bud. 





3om Schnee, Hagelund Regen. 


So will id) denn, um dich auf ganz andere Gedan⸗ 
ringen, — obwohl Gieitien in ſich und um fid her 
vundernswürdiges hat, einſtweilen alle Betradhtuns 
s deine Provinz bei Seite ſtellen, und bein Nadıs 
mf etwas ganz Anderes Ienten. Ich will namlich 
Dasjenige unterfuhen, was ic im vorigen Buche 
ben habe: warum denn der Nil in den Sommers 
fo wafferreih werde. Die Philofophen melden, 
der Danubins *) von Natur ähnlich, weil feine 


meiber ‚Gerobot von ber Donau, indem er den es 
Am Qt vergieigt. IV, 48, 50, 














4216 Seneca’s Abhandlangen. | 


Quellen gleichfalls unbekannt, und er im Sommer größer 
fey als im Winter. Es hat fich gezeigt, Daß Beides unrich⸗ 
tig ift. Denn wir wiffen, baß feine Quelle in Deutichland 
iſt, und mit dem Sommer fängt er zwar an zu warhfen, 
aber zu einer Zeit, wo der Nil noch in feinem ordentlichen 
Hafferftand bleibt, wenn es warm zu werben anfängt, und 
die Sonne Eräftiger in ben leuten Frühlingstagen die Schness 
maffen fchmelzt, die fie früher mitnimmt, als der Nil zu 
fdywelten beginnt. In der übrigen Zeit des Sommers aber 
wird er Kleiner und Pehrt zu dem Stand zurüd, den er im 
Winter hatte, und ed geht wohl auch davon noch Etwas ab. 
2. Der Nil aber wird vor dem Aufgang des Hundes 
ſterns *) mitten in den heißen Tagen und bis über die 
Tag: und Nachtgleiche hinaus immer größer. Diefen be: 
rühmteften Strom hat die Natur vor den Augen der Menfchs 
heit hervorgehoben und ihn fo eingerichtet, daß er zu ber 
Seit Aegypten überſchwemmt, wenn der von der Hite ausges 
brannte Boden feine Gewäffer tiefer einfchluckt, um fo viel 
in ſich aufzunehmen, als bei der jährlid, wiederkehrenden 
Trockenheit erforderlich if. Denn auf der Seite, die gegen 
Aethiopien hin liege , fallen entweder gar Feine Regen, oder 
nur felten, und fo, daß fie dem an das Wafler vom Him« 
mel nidyt gewohnten Land Nichts helfen. Aegyptens einzige 
Hoffnung, wie du weißt, bernhet darauf. Dem gemäß ift 
daher das Jahr unfruchtbar oder fruchtbar, je nachdem er 
groß einherftrömt oder fchwächer. — „Kein Pflüger ſchauet 


> Der Gunbsftern geht In Aegypten am euſten Salus auf, 


Naturbetrachtungen. Bierted Bud. 424 


an den Himmel.’ Warum fol ich nicht mit meinem Dichter: 
(herzen und ihm feinen Dvidius vorhalten, weicher fagt: 
— — rnicht zum Zeus fiehet um Regen das Gras. 
Könnte man darauf Fommen, wo fein Wachfen beginne, fü 
fießen ſich auch die Urfachen feines verftärkten Laufes auf⸗ 
finden. Nun aber, nachdem er durch große Einöden durch⸗ 
zogen und in Sümpfe ausgefreten iſt, umd fich an verfchiedene 
Dölter vertheitt hat, fammelt er fic von dem unftäten und 
irren Lauf zuerft in der Nähe von Philä.**) Die ift eine 
Inſel; gebirgig und anf allen Seiten abfchüffig: von zwei 
fi) vereinigenden Strömen wird fie gebildet, denen der 
Mil einen andern Lauf gibt, deflen Namen fie auch anneh⸗ 
men. Die ganze Stadt dort umfließt der Nil, mehr groß 
als reißend, wo er aus Aethiopien ausgetreten iſt und an 
den Sandwüſten vorbeifteömt, durch welche die Handelsftraße 
wm Sndifchen Meer führt. Don da geht es an die Ca⸗ 
graften, eine durd) ein ausgezeichnetes Naturfchaujpiel bes 
ühmte Gegend. Daſelbſt drängt er ſich durch flei.e und an 
ehrern Orten unterhöhlte Felſen und fest fich in vafche, 
äftige Bewegung. Denn er bricht ſich an den entgegen: 
genden Felsblöcken, und durch enge Schluchten ſich durch⸗ 
end, fchlägt er Wogen, er mag zurüdgedrängt werden 
re durchdringen; und nachdem an diefer Stelle feine Wafler 





dWSo nennt er den Lucius. — Der folgende Vers ift nicht 
von Do wie Senera irrig angibt, fondern von Tibull. 
» 1, 30. 
Na Pıinius ſiub das vier Inſeln, in dee Laudcho hrs 
Hals, nit weit von Eirppaniine, V,g. - 


m 108 Döpm, 


2248 Seneca's Abhandlungen. 


in Aufruhr gebracht vonrden find, die er ohne Geraͤuſch in 
fanftem Bette gewälzt hat, ſtuͤrzt er, ſich felber nicht mehr 
ähnlich, gewaltfam und raufchend durch die verengten Pälle 
hervor. Bis dahin nämlich Aießt er fchlammig und trüb. 
Wo er aber in ‚die Klippen der Schluchten eingetreten ift, 
da fchäumt er, und Hat nicht mehr feine natürliche Farbe, 
fondern wie fie ihm der gewaitfame Widerftand der Umge⸗ 
bungen gibt. Endlich wenn er fid durch Das, was ihm im 
Wege fand, hindurchgezwängt hat, ſtürzt er auf einmal 
losgelaſſen in eine ungeheure Tiefe und der donnerute Yall 
ertönt mächtig in der umliegenden Gegend. Das konnten die 
Nationen, die in jener rauhen Gegend hausten, nicht aus⸗ 
halten, denn betäubt wurden ihre Ohren von dem ewigen 
Donner, und deßhalb Haben fie andere Wohnplätze gewählt. 
Unter den Merkwürdigkeiten des Fluſſes erzählte man eine 
von der unglaublichen Kedheit der Anwohner. Je Imei mit 
einander befteigen ganz kleine Nachen, und Einer von ihnen 
lenket das Schiff, der Andere fdyöpft es aus. Sodann 
nachdem fie unter dem reißenden Toben des Nil und den ſich 
begeguenden Wellen tüchtig herumgefchautelt worden find, 
haften fie ſich endlich au die gar feichten Kanaͤle, durch die 


fie den Engpäffen der Felſen entgehen; und mit der ganzen. 


Strömung dahinfahrend , hemmen fle den fchießenden Machen 
mit ihrer Hand, und indem fie zu großer Beängfligung der 
Zufchaner ſich auf den Kopf ſtemmen, und man fie fchon als 
verloren beklagt und von der mächtigen Maffe erfäuft und 
begraben glaubt, fahren fie, weit von der Stelle weg, wo 
fie untergefunten waren, mit Pfeitesfchnelfe auf ihrem Nas 
Sen babin, and die Rürzende Welle erſaͤuft fie nicht, fondern 


Naturbetrachtungen. Viertes Bud. 1219 


trägt fie auf der Fläche des Waſſers fort. Das Anfchwellen 
des Nils ift in der Nähe ber eben erwähnten Inſel Philä 
äuerft zu bemerken. In geringer Entfernung davon wird 
er von einem Felfen in zwei Arme gefpalten: den unnah⸗— 
baren nennt man ihn im Sriechifchen, und nur die Dber- 
priefter betreten denfelben. Un diefen Felsſtücken ift das 
Yustreten des Fluſſes zuerft merklich. ine große Strede 
davon ragen zwei Klippen hervor; Niladern nennen diefe 
die Einwohner : von denfelben wird eine große Maffe ausge- 
ſtrömt, doch nicht fo groß, das fie Aegypten bededen Bönnte. 
In dieſe Definungen werfen die Priefter ein Feines Stück 
Geld, und die Statthalter goldene Gefchente hinein, wenn 
Das feierliche Opfer eintritt. Von hier aus Täuft der Nil 
offenbar mit neuer Kraft ın einem hohen und tiefen Bette 
dahin, und die gegenüberflehenden Berge engen ihn ein, 
daß er fi nicht in die Breite ausdehnen kann. Erſt im 
der Gegend von Memphis wird er frei, und ergießt fich 
rings über das ebene Land, und spaltet fih in mehrere 
Arme und verbreitet fich in Fünftlichen Kanälen, damit man 
feine Größe durch die MWafferleitungen in der Gewalt hat, 
dard) ganz Aegypten. Anfangs theilt er ſich, fodann ver: 
einige er feine Waffer und fteht fit, wie ein breites unb 
trübes Meer ausfehend; der reißende Lauf hört auf wegen 
der Breite der Landftriche, in die er ſich ausdehnt, und 
rechts und links ganz Aegyptenland umfängt. So viel der 
Nil wächst, fo viel ift Hoffnung für den Jahrgang. Und 
Ne Berechnung tänſcht den Landmann nicht, fo fehr ſtimmt 
Mi Derbättniß der Befruchtung durch den Nil mit dem 
6 *+ 


2220 GSeneca’s Abhandlungen. 


ı . 
Waſſerſtand des Fluſſes zufammen. Diefer bringt dem fan: 
digen und dürftenden Boden nicht nur Waſſer, fondern auch 
Erdreih. Dem da er trüb fließet, fo läßt er in den 
trockenen Erdritzen allen Bodenfab zurüd, und was er von 
Fettigkeit mit fich führte, klebt fich an die dürren Streden 
an, und fo dient er den Aeckern in zweierlei Hinficht, theils 
weit er überfchwenmt, theild weil er verfchlammt. Daher liegt, 
wo er nicht hinkommt, Alles unfruchtbar und wüſte. Wenn er 
aber über die Gebühr wächst, fo ſchadet's. Das ift eben die 
wunderbare Natur des Yluffes, daß, während die audern 
Ströme das Erdreich wegſchwemmen und ausfaugen, der Nil, 
der doc, um fo Vieles größer wird als die andern, nicht nur 
Nichts verzehrt und wegfrißt, fundern im Gegentheil nod) 
Kräfte gibt und zum wenigften den Boden in der gehörigen 
Mifchung erhält. Ja indem er Schlamm herbeiführt, fättigt 
und bindet er den Sandboden. Und Aegypten verdankt ihm 
nicht nur die Fruchtbarkeit feines Erdreichs, fondern dieſes 
ſelbſt. Das ift ein wunderfchöner Anblick, wenn der Nil 
nun auf die Felder eingedrungen iſt. Da fieht man Nichts 
non den Feldern und die Thäler find bededt, die Städte 
fiehen wie Inſeln hervor. Im Binnenlande gibt ed keinen 
Verkehr, außer auf Schiffen. Und die Völker haben eine 
um fo gnößere rende, je weniger fie von ihrem Land 
feben. So auch, wo fih der Nil in feinen Ufern hält, 
geht er in fieben Mündungen in das Meer, und melde 
derfefben man nehmen mag, fie ift ein Meer. Nichtsdeſto⸗ 
weniger ergießt er bald auf das eine, ba auf das andere 
Ufer viele nicht bedeutende Arme. Webrigens nährt er 
2frere, bie den Seethieven theild an Oröße, theils an 

k- 


Naturbetrachtungen, Viertes Bud. 1221 


chkeit Nichts nachgeben. Wie groß er fen, läßt ſich 
van beurtheifen, daß er ungeheure Thiere enthält 
soHl Nahrung als auch Raum genug hat, daß fie 
in umtummeln können. Balbillus,*) ein vortreffe 
Kann, der in jedem Fache der Wiffenfchaften feines 
ſucht, erzählt und, daß er, während er als Statt: 
Uegypten beherrfchte, in der Heracleotifchen Nil 
8, welche die größte ift, es mit angefehen habe, 
(phine, die vom Meere, nnd Erocodile, die aus 
aß herfamen und in Heereszügen gegen einander - 
nie in Parteien getheilt, eine Art Treffen geliefert 
und bie Erocodile feyen von den friedlichen und un=' 
beißenden Thieren überwunden worden. Bei jener 
obere Theil des Körpers hark und aud) gegen die 
großer Thiere und urchdringlich, der untere aber 
Id zart; diefe num verwundeten die unterfauchenden 
e mit ihren Stacheln, die fie auf dem Rücken her⸗ 
nd haben, und fchlikten fie mit einem Sprung im 
e auf. Nachdem fie auf folhe Weiſe mehrere ver- 
Hatten, flohen die übrigen, die Schlachtordnung 
ı umwendend, zurüd: fiehe da, ein Thier auf der 
or einem Fühnen, und zwar das Fühnfte vor dem 
nen! Auch die Zentyriten werden **) darüber Herr, 
wa [wie man fälfchlih glaubte] vermöge einer 
Amlichkeit ihrer Art und ihres Blutes, fondern 


lbillus war Statthalter von Aegypten unter Nero. 

e Bewsohner der Nilinſel Tentyre, — Denderah — nicht 
it von Thebe. Man ſagte, die Crochd he Tinmen ven 
ruch dieſer Menſchen nicht ertragen. 


2222 ° Seneca’s Abhandlungen. 


durch Verachtung [der Gefahr] und bfindes NHineingehen. 
Denn file gehen geradezu auf diefelben los und fchleppen fie, 
wenn fie die Sucht ergreifen, mit einem übergeworfenen 
Strid fort. Manche, die nicht Geiftesgegenwarf genug 
haben, um fie zu verfolgen, kommen um's Leben. 

Daß der Nil einmal Seewaffer mit fid) geführt habe, 
erzählt Theophraftus. Zwei Jahre hintereinander, im zehnten 
und eilften Negierungsjahre der Königin Cleopatra fey er 
nicht geftiecen. Das habe, fagt man,. zwei (Gewalthabern) 
Ben Sturz bedeutet. Des Antonius und der Cleopatra 
Herrfchaft wurde nämlich geftürzt. Daß in frühern Zeiten 
der Nil neun Sahre lang nicht geftiegen fey, weiß man 
Burd, Callimachus. *) ’ 

Nun aber will ich zu der Unterfuchung der Urfachen 
übergehen, warum der Nil im Sammer wächst, uud will 
bei den Älteften anfangen. Anaxagoras ſegt, von den Hethios 
pifhen Gebirgsrüden laufe dad Schneewafler bis in den 
Mir. Derfelden Meinung war man im Alterthum über: 
haupt. So gibt ed Aeſchylus, Sophocles, Euripides an. — 
Allein tab Das ungegründet fey, erhellet aus mehreren 
Amfländen. Für's Erſte, daß Aethiopien ein brenneud heißes 
Zaud fey, darauf deutet die verbrannte Hautfarbe der Bes 
wohner hin und die Troglodyten, welche unter der Erde 
ihre Wohnungen haben. Die Felfen find glühend heiß, wie 
vom Feuer, nicht nır um Mittag, fonderu auch, wenn ter 


> Coimaauıs, ber Houmnendichter, hatte auch ein vortiſchet 


— Fer die giuſſe geſchrieben. Vergl. Eiygmol, M. &, 1, 





Maturbetrachtungen. Vierted Bud. 1223 


Tag fidy geneiget Hat: ein brennenter Staub ift der Sand, 
in dem es keines Menfchen Fuß aushält: das Sitber ſchmelzt 
fih vom Blei los, und die [gelötheten) Fugen der Bilds 
jänfen [aus Metall] Töfen fic auf. Keine Uebergoldung oder 
Derfilberung ift haltbar. Auch ift der Südwind, der von 
jenem Landftrich herkommt, der heißefte unter den Winden. 
Keines von den Thieren, die fich um die Jahrszeit der kür— 
jeften Tage umnfichtbar machen, verbirgt fich jemald. Auch 
den Winter über ift die Schlange auf der Oberfläche der 
Erte. Ulerandria liegt ſchon weit von dem fo unmäfig 
heißen Landſtrich, und doc, fällt Fein Schnee; was weiter 
oben liegt, hat auch ;Feinen Regen. Wo foll nun in einer 
Gegend, die unter folcher Sonnengluth liegt, Schnee her> 
fommen, der den ganzen Sommer über anhielte? Wohl 
mögen einzelne Berge folchen befommen, aber nie in grö⸗ 
Berer Muffe, als die Alpen, ald die Thracifchen Bergrüden, 
oder ber Caucaſus. Uber die Flüffe diefer Gebirge fchwellen 
im Frühling an und in den erſten Sommertagen; fpäterhin 
find fie Eleiner, ald im Winter. Zur Frühlingszeit nämlich 
loͤſen die Regengüffe den Schnee auf, und die Refte deflelben 
gehen mit den erften warmen Tagen weg. Weder der Rhe⸗ 
nus, noch der Rhodanus, noch der After, noch der Eayftrus 
find einer ſchädlichen Einwirkung [der Schneemaffen] im 
Sommer audgefest. And doch ift auch anf jenen nordlichen 
Gebirgsrücken [fort und fort] tiefer Schnee. *) Auch der 


*) Die Ueberſetzung welcht bier von bem Nuhtopfihrn Aerir 
ab, unb folge ber Letart ber Handſchriften des Fortunalur“ 
Subjacent malo acstate, Sunt et in illis allissimae \v 

Sept. Jugiter nives, ober feiner Eonjertugs allissimme SU! 





4224 \ Seneca's Abhandlungen. 


Phaſis Lin Armenien und Colchis] und der Boryſthenes Dnepr] 
müßte zu diefer Zeit wachfen, wenn der Schnee die Flüffe 
nm die Sommerzeit (ungeachtet ded Sommers) groß madyen 
könnte, Weberdieß, wenn das die Urſache von dem Steigen 
des Nild wäre, fo müßte er mit Anfang des Sommerd am 
voltften ſtrömen. Denn da find die Schneemaffen am größten 
und noch unangegriffen, und das Schmeizen geht vom 
Weichften aus. Der Nil aber fließt vier Monate lang in 
gleichmäßigem Zunehmen. Wenn man dem Thales glaubt, 
fo ftemmen fich die Hundetagswinde dem Ausftrömen des 
Nils entgegen und halten feinen Lauf auf, indem fie das 
Meer gegen feine Mündungen hintreiben. So prallt er ab 
und Läuft in ſich ſelbſt Zurück, und. es ift Fein Wachfen, 
fondern, weil er am Ausſtrömen gehindert ift, entſteht 
Drudwaffer, und er tritt, fobald er irgendwo kann, ſchrau⸗ 
kenlos aus. Euthymenes von Maffllia*) bringt ein Zeugs 
niß vor: „Ich befuhr,“ ſagt er, „das AUtlantifche Meer. 
Dort firömt der Nil größer, fo lange die Hundstagswinde 
ihre Zeit haben; fo fange nämlich die Winde anhalten, 
drängt fi, dad Dieer gegen ihn. Wenn fie nachgelaffen 
haben, wird auch dad Meer ruhig, und der ausftrömende 
Nil Hat dann eine geringere Waſſermaſſe. Uebrigens hat 


et in Sept. jugis nives, vergl, Jani Gruteri Animadrv, in 
Sen, Opera, Tom. II, p. 660. 
*) Bon diefem Euthymenes aus Maſſilia weiß man nur, daß 
Artemidor von Epheſus etwa 100 Jahre vor Enr. Geb. einen 
Iudsug ans beffen Echriften machte. Den Artemidor aber 
epitemirte Marcianué. Bergi. Fahr. Bikl, gr. Ni, 2. 10. 
2. 6164. Vol, IV, ed. Harles, 


Raturbetradhtungen. Vierte Bud. 41225 


das Meer einen füßen Gefchmad und Zhiere, den Nilthieren 
ähnlich. — Über warum fängt denn, wenn den Mil 
die Hundstagswinde anfchwellen, das Wachſen deſſelben 
nicht nur früher an, fondern dauert auch Tänger als fie? 
Ueberdieß wird er ja nicht größer, wenn fie auch heftiger 
wehen; und fällt und fleigt nicht, je nachdem fie mir minder 
oder mehr Gewalt floßen, was doc, der Fall ſeyn müßte, 
wenn er durch ihren Einfluß wachfen würde. Und floßen 
denn nicht die Hundstagswinde [welche von Norden kommen) 
an die Aegyptiſche Küfte, und der Nil ſtrömt ihnen ent— 
gegen ? Der müßte ja daher Pommen, wo fie herkommen, 
wenn Die Lrfache Lfeines Wachſens] von ihnen ausginge. 
Veberdieß würde er aus dem Meere ein reines und bläu— 
liches Waffer bringen, nicht trüb, wie es jest der Fall ift. 
Dazu kommt, daß das Zeugniß diefed Mannes durch eine 
Menge von Zeugen widerlegt wird. Damals Eonnte man 
freiticy Allerlei erdichten, als das Auswärtige noch unbes 
kannt war. Da Eonnte man Mährchen verbreiten. Nun 
aber wird die ganze Küſte des auswärtigen Meeres von 
Kauffaprteifchiffen befahren, und da hört man von Nies 
mand, der Mil fey zu jener Zeit blaͤulich, oder das Meer⸗ 
wafler von verändertem Geſchmack. Das läßt fi auch aus 
natürlichen Gründen nicht glauben, weil gerade das Süßefte 
und Leichtefte von der Sonne aufgezogen wird. Ueberdieß, 
warum wächst er dann im Winter nicht? Da kann das 
Meer ia auch von Winden aufgeregt werden, und maudımal 
wohl von Rärkenn. Denn die Hundstagswinde nd gemihint. 

due es baper von dem Atlantiſchen Meere, ſo wire * 
r emmal Espptenland Aseridywenmen. Abein ex WS 


1226: Seneea’s Abhandlungen. 


ftnfenmweife. — Denopides aus Chios*) fagt: im Winter 
halte fih die Wärme unter der Erde, defhalb fenen auch 
die Höhlen warn, und die Brunnen haben laueres Waſſer, 
und fo trocknen die Adern durch die inwendige Wärme aus. 
Aber in andern Ländern werden die Flüſſe durd, Regengüffe 
verftärkt; hingegen der Nil, weil ihm Eein Regen nachheife, 
p werde fchwach ; darnady im Sommer wachfe er, denn da ift 
"38 im Innern der Erde Salt, und die Quellen befommen 
ihre Frifche wieder. — Wenn Dieb wahr wäre, fo würden 
bie Flüffe [überhaupt] im Sommer wachfen, und alle 
Brunnen im Sommer wafferreich feyn. Ferner, daß nicht 
. eigentlicd, die Wärme unter der Erde im Winter größer iſt, — 
[geht aus Folgendem hervor: das Waſſer und die Höhlen 
und die Brummen find [nur derum] lau, weil ihnen feine 
friſche Kuft von Außen beifommt. Daher ift es nicht eigents 
liche Wärme, was fie haben, fondern fie laſſen nur Beine 
; Kälte herein. Aus dem nämlidhen Grunde find fie im 
. Sommer £ühler, weil die erwärnte Luft, die ihnen fern und 
"von ihnen abgefondert ift, nicht in fie eindringt. 

Diogenes von Apolonia**) fagt: Die Sonne zieht Feuchs 
tigkeit an fich; dieſe wird von der ansgetrodneten Erde 
:theild aus dem Meere, theild aus andern Gewäſſern einges 
fogen. Es ift aber nicht möglich, daß ein Boden froden 
fey und der andere zu viel Waſſer habe! Denn es ift Alles 


*) Diefer Dmopibes, einer der aͤlteſten Naturforſcher, lebte 
‚ entweder mit oder nach Anaxagoras. 
> Diogene# aus Mpolienia, ein Zundrer bed Anaximenet, 
—* and Ber Soule der Joniſchen Phileiophen, \cyriee 
Gere. verloren grgangene, Buͤcher phyſitabſoen Weues. 







Naturbetrachtungen. Viertes Buch. 4227 


durchröchert und mit Gängen durchzogen. Zu Zeiten nimmt 
dad Trockene Etwas vom Feuchten weg. Wenn die Erde 
nicht Etwas befäme, würte fie verdorren. Darum! zicht 
tie Sonne Waſſer auf, aber gerade folche füdfiche Gegenden 
ſind's, welche [dem Waſſer] zufegen. Iſt nun der Boden 
dürr, fo zieht er mehr Feuchtigkeiten an fih, fo wie in 
Lampen das Dehl dahin fließt, wo es weggebrannt wird: 
gerade fo neigt fich das Waffer dahin, wo es von der Kraft 
der Wärme und des erhisten Erdreichd hingelockt wird. 
Und von woher wird es denn gezogen? Natürlich aus 
jenen Gegenden, wo ed immer winterlich ift, ans dem 
Norden, mo es überſtrömt. Deßhalb ſtrömt der Pontus 
[Enxinus, das ſchwarze Meer] in Einem fort reißend im 
das untere Meer, nicht wie die andern Meere in abwech- 
felnd Hin und her mwogender Ebbe und Fluth, fondern immer 
nur auf die einzige Seite hin fich zudringend und vafdı 
firömend. Wenn Dieß nicht der Fall wäre, und nicht auf 
diefem Wege, was irgendwo fehlt, mitgetheilt, und was 
irgendwo zu viel ift, abgegeben würde: fo wäre bereits Alles 
entweder ausgetrocknet, oder überſchwemmt.“ — Da möchte 
man aber den Diogenes fragen: warum denn, wenn der 
Pontus und alle Ströme in einer wechfelfeitigen Verbindung 
ftefen, die Flüffe nicht aller Orten im Sommer größer 
feren? — Egypten wird von der Sonne mehr ausgerocht; 
darım wächst der Mil mehr. Indeſſen erhalten auch in 
andern. Ländern die Flüſſe einigen Zuwachs. Warum aber 
iR ferner irgend ein Theil des Erdbodens ohne Bahititts 
a 200) JEDER aus andern Gegenden an fidy zieht , AND TR® 
va PD Meſt, Je wärmer es iſt? Und weiter, RUN 


4228 Seneca's Abhandlungen. 


der Nil füß, wenn er fein Wafler vom Meere hat? Ya, 
e8 hat Fein Fluß einen füßeren Gefchmad. _ 
3. Es ift wohl eine etwas zu gewagte Behauptung, 
wenn id) vom Hagel fage, er entitche auf diefelbe Weiſe, 
wie bei und das Eid, dadurch nämlich, daß eine ganze Molke 
gefriert. Darum rechne ich mich unter die Zeugen zweiter 
Klaffe, die zwar nicht behaupten, Etwas gefehen, wohl 
aber, ed gehört zu haben. Dder ich will es halten, wie 
die Gefchichtfchreidber. Wenn Diefe nad) Gutbünken allerlei 
Erdichteted vorgebracht haben, fo wollen Tie doch diefe oder 
jene Thatfache nicht verbürgen, fondern feben bei: Wenn du 
fo mir nicht genug glaubft, fn wird dir Pofidonius mit 
feinem Anſehen bürgen, fowohl für das Bisherige, als für 
ya8 Folgende. — Daß nämlid der Hagel aus einer waffere 
yaltigen und bereits in Feuchtigkeit verwandelten Wolfe 
entſtehe, wird er fo behaupten, als wäre er dabei gewefen. 
Worum aber der Hagel rund fey, kannſt du auch ohne 
Behrer wiffen, wenn bu nur bemerkt haft, daß alle Tropfen 
fihh zu einem Knaͤuel zufammenrunden. Das ift aud 
an den! Spiegeln zu; fehen, die durch das Anhauchen 
eine Feuchtigkeit anfammeln,, und in Bechern, in die man 
Etwas eintraͤufeln läßt, und auf jedem andern glatten Kör- 
per: jagauch auf Blättern von Kräutern oder Bäumen, 
wenn fi) je Tropfen daran hängen, liegen fie rund da .. 


Was ift Härter. als Stein? und Was ift weicher, als Wafler ? 
ni Dennoch bad Waffer, fo weich, hoͤhlet das harte Geftein.*) 





2 Panft 50 lieben, I, 435 f. 


| Naturbetrachtungen. Viertes Bud. 1229 
oder wie ein anderer Dichter *) fast: 
Saltente Xropfen Höhlen den Stein aus. — — 


und auch diefe Aushöhlung ift wieder rund. Daraus ift Mar, 
es muß Jenes aud) Dem aͤhnlich feyn, was ed aushöhlt. 


h 
| 


Denn es gräbt ſich einen Ort aus, feiner Geftaft und feiner - 


Befchaffenheit gemäß. Weberdieß Fann der Hagel, wenn er 


auch noch nicht fo gewefen ift, wie er herabfaͤllt, fidy runden, 


und da er fo off durch den Raum dichter Luft herabgewälzt 
wird, ſich gleichmäßig und Ereisförmig abreiben. Dieß Fann 
bei dem Schnee nicht der Fall fenn, weil er nicht fo maſſig, 
ja weil er vielmehr fo Inder ift, und nicht aus einer;folchen 
Höhe herabfält, fondern in der Nähe der Erde feinen Uns 
fang hat. Daher geht fein Fall nicht eine weite Strede 
durch die Luft, fondern kommt nur aus der Nähe her. — 
Warum foll id) mir denn nicht das Nämliche erlauben, wie 
Anaragoras ,**) da zwifchen Niemand mehr gleiche Freiheit 
flattfinden fol, als zwifchen Philoſophen. Der Hagel ift 
nichts ‚Anderes, ald in der Xuft fchwebendes Eid. Der 
Schnee ift eine, während des fallenden Reifens gefrorne 
Maſſe. Denn wie wir fchon behauptet haben, zwifchen Reif 
und Eis ift der nämliche Unterfchied, wie zwifchen Waſſer 
und Thau, und eben fo zwifchen Schnee und Hagel. 

4. Ich hätte mich nun, nach Beendigung diefer Unters 
ſuchung, alles Weitern überheben können: allein ich will 
gut meffen , und weil ich dir denn doch fchon befchwertic, zu 


”, Suretins I, 31%. 


””) Sdnliq von dd Anaxagoras Meinung abyawrichen. vet Ui 
“9 Bit a3 Chales und feinen Kehren Anaxwnened DEN 


- 


dB 


4230 - Senecas Abhandlungen. 


.feyn angefangen habe, fo will ich noch fagen, welche Fragen 
noch weiter hierüber vorkommen. Es ift nämlich die Frage, 
warum es im Winter fchneit, aber nicht hagelt, und warum 
im Srühling, wenn die Kälte gebrochen ift, Hagel fällt. 
Denn wenn ich auch in deinen Augen Unrecht Habe, ich we⸗ 
nigftens hege wahrhaftig die Heberzeugung, indem ich mich, 
foweit es foldye unbedeutende falfche Angaben betrifft, bei 
denen man Einen wohl den Mund zu flopfen, nicht aber 
die Augen auszufraben pflegt, leichtgläubig zeige: Im Win- 
ter friert die Luft, und deßhalb verwandelt fie fich dann 
nicht in Waſſer, fondern in Schnee, mit dem die Luft näher 
verwandt if. Wenn der Frühling begonnen hat, fo geht 
"mit der Luft eine größere Veränderung vor, und bei wärs 
merer Witterung entftehen größere Tropfen. Daher, wie 
unſer Virgilius fagt: 
— — wenn Regen brisngenb ber Lenz naht, 
ſo iſt die Zerſetzuug der Luft vun größerer Bedeutung, ba 
fie überall ungebunden iſt und ſich losmacht, wozu gerade 
die Lauigkeit beiträgt. Daher fallen nidyt ſowohl anhal⸗ 
tende Regen, als tüchtige und mächtige Schlagregen. Die 
Jahrszeit der Fürzeften Tage hat file und feine Regen, 
“vote fie oft einzutreten pflegen, wenn ein itrichweifer und 
Heiner Regen auch Schnee unfermifcht bringe. Einen Tag 
mit Schneegeflöber nennen wir’d, wenn ein höherer Kälte: 
grad ift und ein früber Himmel. MWeberdieß, wenn’ der 
Nordwind bläst, der and) feine eigene Witterung mitbringt, 
70 giPf 08 Peine Regen. Beim Südwind ift der Regen 
TORILLZEr und Bic Zropfen voller. 
Eine Erfoheinung, weiche die Unſrigen anführen, 


Raturbetradgtungen. Viertes Bud. 1231 


mag ich eigentlich nicht recht fagen, weil fie auf keinem . 
.. feten Grund beruht, doch darf ich fie audy nicht übergehen. 
Was ſchadet's denn, wenn man auch Etwas fdhreibt, wobei | 
der Kritiker fchon ein Auge zudrüden muß. Sa, wenn man 
einmal alle Beweife auf der Goldwage abwägen will, dann 
darf man wohl bald flille feyn. Es gibt gar nicht Viel, 
was Leinen Widerfpruch fände. In der Regel, wenn man's 
auch durchfest, im Streit iſt's doch. Sie fagen: Alles, 
was in der Gegend von Scythien und dem Pontus [(Eurinus} 
und dem nördlichen Himmelsſtrich mit Eis überzogen und . 
gefroren ift, das thaue im Frühling auf; dann berfte das 
Eis der Flüffe und die eingefchneiten Gebirge werden des 
Schnees 1od. Daher ift es alaublich, daß dadurch kalte 
Winde entftehen, und fic mit der Frühlingsluft vermifchen. 
Noch fegen fie Etwas hinzu, wovon ich weder eine Erfahs 
suug habe, noch zu machen gedenfe. Und auch du, meine 
ich, wenn du der Sadye je auf den Grund Eommen willft, 
magſt dich hüten, mit dem Schnee eine folde Probe zu 
mahen. Sie behaupten, es friere Einen weniger. an Die 
süße, wenn man auf feflen und harten, als wenn man auf 
feinen und lockern Schnee trete. Wenn fie alfo Recht has - 
ben, fo gefchieht ed, daß Alles, was aus jenen nördlichen. 
Gegenden von bereits aufgeloderten Schnee und berftendem 
&is herabkommt, fid an die bereits laue und feuchte Luft 
der füdlichen Strecken anfchließt und diefelbe beftreift. Wenn 
es alfo veguen wollte, fo wird Hagel darand, und daran N 
die Bälte Schul, . 
6: 30 fann micy nicht enthalten, ae Ungeretuthet 
zer Feufe von unferer Schule Preis zu geben Sx 


d 


Pr "5 


4352 Senecas Abhandlungen. 


haupten, Manche verftehen fi) auf die Beobachtung der 
Wolken und fagen voraus, wann Hagel kommen werde, und 
fie willen Das aus Erfahrung, da fie ſich die Farbe der 
Wolken gemerkt häften, worauf fo manchmal Hagel folgte. 
Das ſollte man gar yicht glauben, daß zu Eleonä*) von 
Staatöwegen YaAanSopviaxes aufgeftellt waren, Wächter 
über fommendes Hagelwetter. Wenn Diefe nur ein Zeichen 
gegeben hatten, es fey Hagel nahe, was meinft du? wohl, daß 
die Leute zu Mänteln und Pelzkleidern liefen? Nein! Es 
: opferte Jeder für fi, der Eine ein Lamm, der Andere ein 
junges Huhn. Natürlich nahmen dann jene Wolfen alsbald 
eine andere Richtung, wenn fie etwas Blut gewittert hatten. 
Du lachſt darüber? Da befommft du nun noch mehr zu 
lachen! Menn Einer weder ein Lamm noch ein junges 
Huhn hatte, fo legte er, — denn Das Eoftete ja Nichts — 
Hand an fich ferbft. Und daß du nicht glaubt, die Wolfen 
; wären fo ungenügfam oder granfam, er. flach ſich mit einem 
; wohlgeipisten Griffel in den Finger, und — Das war das 
| Opferblut: Und der Hagel wandte fi von dem Gütchen 
- eines Solchen nicht minder weg, als von Dem, für weldyen 
‚ er durd) größere Opfer war erbeten worden. 

7. €&8 gibt Manche, die wollen willen, wi es ſich 
denn damit eigentlich verhalte. Die Einen ſagen, wie 
es denn auch Leuten von großer Weisheit ziemt, es fen 
nicht möglich,“ daß man mit dem Hagel einen Vertrag 
/ebliese, und den Witterungslauf mit Praäfentchen abkaufe, 
Peglerid Gefoente auch die Bötter bezwingen. Andere 





y 
leo, eine ©tadt in Argolis im Peloponnıb. 


Naturbetrachtungen. Viertes Bud. 1233 


fagen, fie vermuthen, es Liege eben im Blut eine gewilfe 
gewaltige Kraft, ein Gewölk abzulenfen und zurückzu⸗ 
treiben. — Allein, wie kann doc in fo ein Paar Tropfen 
Blut eine ſolche Kraft ſtecken, daß fie in die Höhe hinauf: 
wirkt und die Wolken eine Empfindung davon haben? Das 
Kürzefte wäre, man fagte: ed ift Lüge, und Ieered Ges 
ſchwätz. — Allein zu Eleonä 309 man Diejenigen, denen 
das Amt der Gewitterwache übertragen war, zur Verant⸗ 
wortung: durch ihre Vernachläffigung hätten die Weinberge 
Hagelfchlag erlitten oder wären die Saaten zu Grunde ge⸗ 
gangen. Auch bei ung ift in dem Zwölftafeingefeb dad Ver⸗ 
bot: es fol Niemand die Frucht eines Andern verzaubern. 
Das nody in Unwifienheit befangene Alterthum glaubte, 
durch Zauber werden Wolkenbrüche fowohl herbeigeführt, 
als abgewendet: und doch iſt die Unmöglichkeit davon fo 
offenbar, daß defhalb Niemand fid, an eines Philofophen 
Unterricht zu wenden braucht. 

5. Das Einzige will id) noch beifügen, und du wirft 
mir gerne beipflichten und Beifall zußfatfhen. Der Schnee, 
fagen fie, entitehe in demjenigen Theil der Luft, der nahe 
bei der Erde ift, denn da fey aus drei Urfadhen mehr 
Wärme Fürs Erfte, weil jede Ausdünſtung des Erd- 
bodens, da er viel Heißes und Trodnes in fic hat, um fo 
wärmer iſt; je weniger fie durc, Entfernung verändert iſt. 
Zürs Zweite, weil die Sonnenftrahlen von der Erde zu⸗ 
rädpralien und in ſich felbft zurüdgehen. Ihre Verdopps . 
lung aber erwärmt immer Das, was der Erve uuiatt 
Siegt, und Diefed bat um ſo mehr laue Laft, weil ed an 
OH LCH, 208 Dh, n 


P 


a Seneca's Abhandlungen. 


gedoppelte Einwirkung der Sonne bekommt. Die dritt 
Urſache iſt die, daß die höhere Region recht ausgeblaſel 
wird; was aber’ tiefer liegt, wird weniger von Winden ge 
peitſcht. 

9. Daran ſchließt ſich die Anſicht des Democritus*) an 
Jeder Körper, je feſter er iſt, fängt die Wärme um ſi 
ſchneller anf und behält (fe um fo länger. Stellt man dahe 
ein ebernes Gefäß in die Sonne und zugleich ein gläfernes um 
ein filbernes, fo wird das eherne am fchneffften warn wer 
dent und am laͤngſten warm bleiben. Nimm da} : warm 
er meint, daß es ſo ſey. Solche Körper, fagt er, welch 
härter und gedrängter und dichter find, muſſen nothwendi 
kleinere Löcher [Poren] haben und in jedem derfelben ei 
dunnere Luft. Die Folge iſt, daß, gleichwie Eleinere Ba 
degeräthe und Kleinere Keſſel fchneller warm werben, diefi 
verborgenen und unfichtbaren Löcher nicht nur fchnelfer Heil 
werden, fondern auch wegen dieſer engen Oeffnungen, Talk 
famer zurätfdeben, was fle eingeſogen haben: 

10. Nachdem wir nun -ausführfich genug Die Sache ein 
geleitet haben, koͤmmen wir auf Das, was wir jest untet 
fuchen wollen. Aue Luft iſt um fo dichter, je näher fie der 
Erde if. So wie im Waſſer und in jeder Feuchtigkeit dir 
Bodenfag zu unterſt iſt: fo fest ſich ia der Luft das Dich 
teffe immer nieder: Es ift aber bereits erwiefen, daß alll 


*), Democeituld von Abbera, DI. 70 — 94. Eicero ‚‚vomw- bes 
ee man Der Bbtter” fagt I, 43: mit des Dem⸗critus Quel: 
&picuris feine Gärten vbewaͤſſert. ¶ Man 
Pr Faonidare von ſeinen Werten. Wert, Kol, 
Er DU, 34, Volum, I, p, 628 fg. Harkes. 


Naturbetrachtungen. Viertes Bıd. A235 


Körper, je didern und feftern Stoffes fie find, die aufge 
fangene Wärme um fo treuer bewahren: allein je höher die 
Luft ift, und je weiter von dem Unrath der Erde zurüdges 
treten , defto lauterer und reiner ift fie. Daher hält fie die 
Sonnenftrahlen nicht feft, fondern läßt fie wie durch leere 
Räume Hindurchgeßen : deßhalb wird fie nicht fo warm. 

12. Dagegen aber fagen Einige: die Gipfel der Berge 
ſollten um fo wärmer feyn, je näher fie bei der Sonne find. 
Fr Irrthum, den® ich, liegt darin, daß fie meinen, ber 
Apennin, und die Alpen und andere durch ihre außerordens 
fihe Höhe bekannte Gebirge erheben fidy fo hoch, daß ihre 
Größe Etwas von der Nachbarfchaft der Sonne verfpiüren 
könnte. — Es ift das freilich eine Höhe, fo lange man fie 
mit uns vergleicht, alfein wenn man das Ganze bedenkt, 
fo find fie offenbar alle niedrig.‘ Im Verhältniß zu einander, 
find fie wohl Einer unter oder über dem Andern. Webrigend 
fann bier von Feiner folchen Höhe die Rede fen, daß im 
Vergteichung mit dem Ganzen nicht auch die größten in Fei« 
sen Auſchlag kämen; fonft würde man auch nicht fagen, der 
ganzei@rbireis fey eine Kugel. Die Kugel hat das Eigen- 
thümtiche, daß ihr eine gleichmäßige Rundung zufommt: 
flelfe dir aber eine folche gleichmäßige Rundung vor, wie du 
ffe bei etuem Spielball fiehft. Die Fugen und Nathen thun 
da weiter feinen Eintrag, daß man nicht fagen könnte, ex 
ſey von allen Seiten ſich gleich. So wie auf einem folchen 
Ball jene Lücen, in Hinfidt der runden Geftalt, TIME 
ansmachen: So machen audy filr den ganzen Exhtreid vie vox⸗ 
renden Berge Niches ans, denn ihre Höhe yerichraeine 

 % 


7 


4256 Senecas Abhandlungen. 


in Vergleichung mit dem ganzen Weltkörper. Wer da bes 
banptet, ein höherer Berg, weil er die Sonne mehr in der 
Naͤhe auffange , müffe auch wärmer feyn: ‘der Fann eben fo 
aut auch behaupten, ein Menfch, der eine längere Statur 
habe, müſſe fchneller warm werden, ald ein Eleiner, und 
fein Kopf fchneller, als die Füße. Wer aber die Welt 
mit dem gehörigen Maßſtabe mißt und bedenkt, daß die 
Erde nur wie ein Punkt in ihr fey, der wird einfehen, daß 
auf ihr Nichts fo herporragen könne, daß es mehr Einwir⸗ 
tung von den Himmelskörpern empfände, ald wäre ed ihnen 
näher gerüdt. Jene Berge, die wir für bedentend anfehen 
und die mit ewigem Schnee bedecten Firnen, find nichts 
| Beftoweniger in der Tiefe, und näher zwar der Sonne ift 
der Berg, ald die Ebene oder dad Thal, aber nur fo, wie 
man von einem Haar fagt, es fey dicker ald das Andere 
und ein Baum dicker ald der andere, fo ſagt man auch von 
einem Berg, er fey höher als der andere. In demfelben 
Derhältniß könnte man audy von einem Banın fagen, er 
fey dem Himmel näher, ald der andere, was unrichtig ift, 
weil unter Eleinen Dingen kein großer Unterfchied ftattfinden 
kann, außer in DVergleichung derfelbden mit einander, Wenn 
es an die Vergleichung mit einem unermeßlic) großen Körpen 
geht, fo kommt Nichts darauf an ,. um wie Viel das Ein 
größer fey, als das Andere, weil ed, mag der Unterfchie 
noch fo bedeutend feyn, doch nur etwas ganz Kleines ift, vor 
übertroffen wird. 

ıs. Dod um zu meinem Haupfgegenftand zurück; 
—— ed Daben ſebr Diele aus den angeführten Grüw 

7 die Ynficht entfchieden, daß der Schnee in ’ 





Naturbetrachtungen. Vierte Bud. 1237 


jenigen heit der Luft entftehe, der in der Nähe der Erde 
ift, und daß er deßwegen nicht fo feit fey, weil nicht genug 
Kälte da ift, ihn zufammenzuziehen. Denn die in der Nähe 
[der Erde] befindliche Luft hat auf der einen Seite zu viel 
Kälte, als daß fie in Waſſer und Regen übergehen, und 
auf der andern zu wenig, als daß fie ſich zu Hagel ver« 
bärten könnte. Bei folcher mittelmäßigen und nicht allzu—⸗ 
firengen Kälte entfleht aus dem fich verfeftigenden Waſſer 
der Schnee. 

13. MWie magft du. doch, fragſt du, auf ſolch albernes 
Zeug, wodurch Niemand weder gelehrter noch beffer wir, 
fo viel Mühe verwenden? Du erklärft, wie der Schnee 
entftehe: während es viel wichtiger wäre, darzufhun, warum 
man keinen Schnee [Gefrorenes ] kaufen ſollte. Alſo du 
willſt, Daß ich gegen Schwelgerei losziehe. Das ift freilich 
ein täglicher und fruchtlofer Kampf. Doch wollen wir das 
gegen kaͤmpfen. Mag fie auch den Sieg davon fragen, fie 
fol uns doch nicht ohne Kampf und Widerftand übermannen. 
Und wie? Du meinft, diefe Unterfuchungen Aber die Natur 
tragen zu Dem, was du wilft, Nichts bei? Wenn wir 
nnterfuchen, wie der Schuee entſteht, und zeigen, daß feine 
Natur der des Reifen ähnlich fey, daß er mehr Luft als 
Waſſer enthalte, meint du, es fey Leine Beſchämung 
für jene Leute, wenn fie, da es doch eine Schande ift, 
Waſſer zu Saufen, fogar Etwas kaufen, das nicht einmal 
Waſſer ift? Wir wollen aber doc, Lieber unterluhen, wir 
ber Shure euch, ald wie er aufzubewahren (en —8 
Wan, unict Zufrieden, alte Weine au mifchen und na 

mad und Jaßren zu vertheilen f "uch die Exrimdunı 


‘ 


8258 Senecas Abhandlungen. — 


macht hat, den Schnee zuſammenzupreſſen, daß er dem 
Sommer trotzt und gegen die heiße Jahrszeit durch einen 
kalten Aufbewahrungsort geſchützt wird. Was ift dad Er- 
gebniß folder Forfchungen? Daß man Waſſer kauft, das 
man umfonft haben Eönnte. Es ift uns nicht vecht, daß 
wir die Luft, daß wir die Sonne nicht zu Faufen brauchen; 
daß diefe Luft auch für die Leckern und Reichen auf fo leich- 
tem Wege und ohne Geld zu haben ift. O wie übel find Die 
daran, daß noch irgend Etwas in der Natur allgemein preigs 
gegeben ift! Das, was nac dem Willen der Natur für 
Alle fließen und unverkümmert feyn follte, deilen Genuß fie 
Allem, was lebt, gemeinfchaftlich gemacht, — Das, was 
He fowoHt für den Menfchen, als für das Wild und die 
Vögel und-für die unbeholfenften Thiere fo reichlich und 
feonend zum Gebrauch augsgefpendet, das hat die gegen ſich 
ſelbſt erfinderifche Genußfucht zu einer Waare gemacht. So 
Bann ihr denn Nichts gefallen, als was theuer. ifl. Das 
war noch das Einzige, worin die Reichen allen Leuten gleich 
waren, worin fie vor dem Aermſten Nichts voraus halten 
Eonnten. — Allein Leute, denen ihr Reichthum zur LZaft ift, 
haben’s num doc, ausftudirt, wie man aud das Waſſer zu 
einem Gegenflande des Luxus machen könnte. Ich will audı 
zeigen, wie es gekommen ift, daß fließendes Waſſer nicht 
mehr für Ealt genug gegolten hat. So lange der Magen 
geſund und für gefunde Speife empfänglidy ift, und nur ans 
sesällt, nicht überladen wird, begnügt er fid mit natür- 
Den Hirten ber Nahrung und Erquickung. Wenn er aber 
Wr Aglicpe Weberiadung die Hitze — wicht der Jahrayit, 
” die and im ſelbſt Zommt, — empfindet, woenn ie 


Naturbetrachtungen. Viertes Bud. 142539 


naufhörliche Völlerei ſich auf den Unterleib wirft und den 
Ragen durch die Galle, die fich erzeugt, ausdorrt, fo muß 
jan denn freilich Etwas ſuchen, jene Hite zu‘ dämpfen, die 
wade durch's Waſſer noch heftiger wird, und die Krankheit 
urch Gegenmittel nod) reizt. So trinken fie denn nicht nur 
n Sommer, fondern auch mitten im Winter aus diefem 
runde Schnee. — Denn was Fann doch anders die Urſache 
an, als ein inneres Uebel, und ein durch Schwelgerei ver: 
vrbener Magen, dem man Feine Zeit gelaffen haft, auszu⸗ 
ihen; fondern an das Hauptmahl, das man bis zu Tages⸗ 
abruch ausdehnfe, hat man das Frühmahl angehängt, und 
ar man durch die Menge und Verſchiedenheit der Gerichte 
bon angefülft, fo Fam man durch einen Nachſchmaus *) bei 
mem andern guten Bekannten noch fiefer hinein. Darnach 
at die ununterbrochene Unmäßigkeit, fo viel fie auch vorher 
erdaut Haben "mag, doch zu wüthender Eßluſt gereizt und 
m DBerlangen nad) immer neuer Erfrifchung Wenn fie 
sher ſchon ihre Speifezimmer [bei £ühler Witterung ] mit 
Jorhängen**) und Fenftergläfern verwahren und Durch 
sichliches. Yeuer den Winterfroft abhalten müffen: fo wi 
ichtsdeſtoweniger Land, bei fo kühler Jahreszeit] der zer- 
kktete und durch innere Hitze erfchlaffte Magen Etwas zur 





*) Comissatio. Bon ber Tafel hinweg zogen uͤppige junge 
Lente mit Belang üser die Straße und Üüberfielen irgend 
einen guten Belaunten, um bei ibm von Venen 18 
ſchmauſen. 

*2 — ver ‚2dufer Maren bei ben 38 

‚ jewssern att umge 

Pe Biapt gewebene. ft uufeioen und v 


02 


4240 Seneca’s Abhandlungen. 


YAuffeifchung. Denn fo wie man Befinnungslofe und Oh 
mächtige mit Baltem Waſſer befprist, damit fie wieder zı 
Bewußtſeyn Eommen follen: fo haben ihre Eranthaft ftarr 
@ingeweide feine Empfindung, wenn fie nicht durch etw 
Kaltes einen Reiz befommen. Daher kommt es wohl auı 
daß «8 ihnen nicht einmal am Schnee genügt, fondern 
nad) Eis verlangen, weil fie fich bei der feftern Maffe ne 
beffer auf die Kälte verlafien zu Fönnen denken, und d 
mifchen fie dann unter das Wafler. Und diefes Eis nimı 
man nicht vom Boden weg, fondern, damit ed mehr Arı 
habe und anhaltendere Kälte, fo gräbt man es aus tief 
Sruben heraus. Daher hat es nicht nur einen Prei 
fondern es hat das Waffer feine Krämer — und Pfui d 
Scande! verſchiedene Marktpreife. Die Lacedämonier hab 
die Salbenhändler aus ihrer Stadt vertrieben und eilen 
aus ihrem Gebiete fich entfernen heißen, weil fie mit de 
Oehl Mißbrauch trieben. Was hätten fie gethan, wenn 
Werkſtätten gefehen hätten, zu Aufbewahrung des Schnee 
und Laftvieh in Menge, zum Tragen bes Waſſers beftimu 
defien Farbe und Geſchmack durch den Erzfchaum Lin d 
Gefäßen] worin man es aufbewahrt, verunzeinigt wird. 
Und — gute Götter! wie leicht iſt's doch, den gefund 
Durft zu flilen! Uber wo fol freilich bei abgeflanden 
Kehlen eine Empfindung herkommen, die durch die heiß 
Speiſen dichäutig geworden find? Wie ihnen Nichts Br 
3729 3, So ift ihnen auch Nichts warm genug. Sonde 
— deiße und eilig in ihre Brühe eingetauchte Pil 
— fe faſt rauchend hinunter, um fe —RX 
em Gecrante zu loͤſchen. Du kannſte (oa ih 


Naturbetrachtungen. Viertes Bud. A241 


ausgemergelte Menfchen fehen, in Mäntelhen und Sales 
binden eingehült, bleich und kränkelnd, die den Schnee 
niche nur fchlürfen, fondern fogar effen, und Stüde davon 
in ihre Becher werfen, daß diefe nicht unter den Pauſen 
des Trinkens verwarmen. WMeinft du, das ſey Durft ? 
Fieber iſt's, und zwar ein um fo heftigeres, weil es nicht 
am Pulsſchlag und an einer ſich über die Hank verbreitenden 
Wärme zu merken ift. Sondern dag Herzblut felber kommt 
in Gährung durch die Schwelgerei, diefes unüberwindfiche 
Uebel, das, fo weichlich und nachgiebig es ift, doch fo hart 
und haltbar wird. Siehft du nicht, wie durch Angewöh⸗ 
nung Alles feine Kraft verliert? Und fo kommt es aud) 
mit diefem Schnee, mit dem ihr euch für jebt noch volls 
fhwemmet, und bei dem täglichen Frohmdienft für euren 
Band), durch Gewohnheit nod) dahin, daß er euch ift, wie. 
Waller. Sehet euch doch nach Etwas nod, Kälterem um, 
weil eine Kälte, die man gewohnt ift, doch Nichts heißen 
win! 





Inhalt des fünften Bude. 


Kap. ı — 6. Begrifféebeſtimmung. Die Luft ift nie ohme Be: 
wegung. Der Wind aber ift ein Sließen der Luft. Hypo⸗ 
thefe über die Entftehung des Windes — nad) Democritus — 
dur Anhäufung der Atome in leerem Raum. Widerlegung. 
Verſchiedene Urſachen der Winde. Der Hauptgrund Liegt in 
der natuͤrlichen und eigenrhümlichen,, aus ihr ſelbſt kommen⸗ 
ben Beweglichkeit der Luft, wie eine ſolche auch im Waffer 

und im Seuer liegt. 

Ray. 7 — 13. Ueber bie vor Sonnmaufgang entftehenden Winde, 
Buchtenwinte, hauptſaͤchlich im Krähling und im Eommer, — 
Hundstagswinde oder Paſſatwinde. Orkane, aus. geborftenen 
und jählings zerriffenen Wolfen. Wirbelwinde, DVergleichung 
mit Waſſerwirbeln, bidweilen fich entzuͤndend. 

Kap. 14 — ı5. Binde aus Höhlen fommend und aus dem In⸗ 
nern der Erde. Unterfuchung altee Xergmwerte, durch Phis 
lippus von Macedonien veranftaltet, wobei man große Fluͤſſe 
und fiehende Waſſer unter der Erde gefunden. Geitenblide 
auf die unter den Bergen wünlende, Gold und Silber ſuchende 
Habſucht der Menfchen in alter und neuer Zeit. 

Ray. 16. Von den vier Hauptwinden. Mande nehmen zwölf 
Winde an, indem fie jede der vier Himmeldgegenden wieder 
in drei abtheilen, und jedem Wind zwei Nebenwinde geben. 

Spree Beremmungen, meiſtens Griechiſchen Urſprungs. Zuſam⸗ 

nenBang mit Ber Eintheilung des Himmeld in fÜnt Kreife 
— E Lorzont. Maittagstreis. Durch die Wuß Rreiie, 
De von bem Korizont and dem Ntaottetit darhiaeitn 


Inhalt des fünften Buchs. 1243 


werben, entfiehen — nad Dben und Unten — zehn Nothei- 
Iungen der Luft; dazu kommen durch bad Snineinlaufen des 
Mittagsfreifed in ben Horizont noch zwei Regionen, fomit 
zwölf Unterfheidungapuntte in ber Luft und eben ſo viele 
Winde, Winde, welche gewiffen Gegenden eigenthuͤmlich find. 
— Nugen ber Winde, gefunde Luft zu erhalten, Regen zu 
bringen und zu vertreiben, Fruchtbarkeit zu befördern, ben 
Verkehr der Völker durch Seefahrt zu begünftigen. Aber bie 
Menſchen mißbrauchen, in legterer Hinfiht, bie Wohlthat 
der Natur in thoͤrichter Eroberungsſucht. 





FSünftes Bud. 


Don den Winden und ber Bewegung 
der Luft. 


ı. Der Wind ift fließende Luft. Manche haben den Be⸗ 
griff fo beftimme: der Wind ift eine nach einer Seite bin 
‚ Mießente Luft. Diefe Begriffsbeflinnmung halte ich für ges 
naner, weil die Luft niemals fo unbeweglich ift, daß fie nicht 
einigermaßen in einem erregten Zufland wäre. Go nennt 
man das Meer ruhig, wenn es nur leicht bewegt ift, und 
sicht auf eine Seite hinſtrömt. Wenn man daher The 
Virgil, Edoꝗq. M., 36.] liegt: 
MAIS WIMSRINE End Meer fand: — — 
PanG mar ot an ein Gtilleſtehen denten, RE 


1244 Seneca's Abhandlungen, 


eine leiſe Bewegung, und daß man es ruhig nennt, weil es 
nicht da oder dorthin feine Strömung nimmt. So muß man 
aud) vun der Luft denken, fie fen nie unbewegfich , wenn fie 
auch ruhig ift. Dieß laͤßt fi) aus Folgendem einfehen : wenn 
die Sonne in einen verfchloffenen Ort hineinfcheint, fo fehen 
wir ganz Eleine Körperchen gegen einander ſchwimmen, die 
einen aufwärts, die andern abwärts, wechfelnd gegeneinan- 
der fich bemegend. Daher wäre es ein nicht fehr gehauer 
Begriff, wenn man fagen würde: das Fluthen ift eine Bes 
wegung des Meeres; denn auch das ruhige Meer bewegt fidy 
ja. Hingegen alle Sorgfalt hätte man auf die Begriffsbes 
flimmung gewendef, wenn es hieße: das Fluthen ift eine 
Bewegung des Meeres auf eine Seite. Go wird auch bei 
Dem, wovon gerade jest die Rede ift, Nichts auszufesen 
feyn, wenn man ſich dazu verfleht, zu fagen: der Wind ift 
eine auf eine Seite hin fließende Luft; oder: der Wind ift 
eine mit Heftigkeit bewegte Luft, oder eine Kraftäußerung 
der auf eine Seite hin gehenden Luft, oder ein etwas bes 
fchleunigter Lauf der Luft. — Ich weiß wohl, was zu Guns 
flen der erften Erffäruug erwiedert werden könnte. Was 
braucht man [£önnte man ſagen,] hinzuzufesen : eine Luft, 
die auf eine Seite hin fließt? — Alles ja, was da fließt, 
fließt auf eine Seite hin. Kein Menfch fagt von einem 
Waffer, es fließe, wenn ſich nur im fich ſelbſt bewegt, ſon⸗ 
dern ed muß irgendwo hingehen. Es kann alfo feyn, daß 
Mb Etiwas bewegt, ohne zu fließen: aber umgekehrt ift es 
WIDr möglid, baß es fließe, wenn es wicht auf eine Geite 
9 æßt. Allein dieſer Kürze wollen wir und Keith wur 
Ten, Wenn wir dabei vor Tadel ſichet gercit Thy w 


Naturbetrachtungen. Fünftes Buch. 1245 


man aber recht vorfichtig ſeyn, fo fpare man die Worte nicht, 
deren Beifügung den Sophiftereien vorzubeugen im Stande 
it. Nun gehen wir an die Sache ferbft, weil wir über den 
Begriff uns Hinlänglidy ausgefprochen haben. 

2. Democrifus ſagt: wenn in einem engen leeren Raum 
viele Körperchen find, die er Atome nennt, fo erfolge Wind. 
Dagegen fey die Luft im ruhigen und flillen Zuftand, wenn 
in einem weiten leeren Raum wenig Körperchen find. Denn 
fo wie man anf Markt und Straße, fo lange nicht viele Leute 
da find, ohne Lärm geht: wenn aber ein Menfchenfchhwarm 
an einem engen Plas zuſammenkommt, und Einer auf den 
Andern ftößt, Wortwechfel entfteht: fo muß in dem Raum, 
von tem wir umgeben find, wenn von vielen Körpern ein 
Heiner Plab angefüllt ift, einer auf den andern floßen und 
ı fie auf einander hinauf und wieder zurüd getrieben und in 
einander verwicelt und von einander gedrückt werden, und 

daraus entfleht der Wind, wenn Das, was mit einander in 

Streit Eam, ſich aufeinander legt und Tange unentfchieden 

und bin und her wogend ſich [auf eine Seite] hinneigf. 

Wenn aber in einer großen Ausdehnung wenige Körper find, 

fo können fie weder auf einander ſtoßen noch gegen einander 

getrieben werden. 

3. Daß Dieß falfch fen, läßt fid, fchon daraus fihtieger, 
daß mandymal gerade dann Fein Wind vorhanden iſt, wenn vie 
Enft ſchweres Gewolk Hat. Und doch find da gerate recht vice 
Körper auf einen engen Raum hingedrängt, und taher Laut 

die —— bes verdichteten Gewölkes. Zudew iR iu S 

Mäpe der Flüfe und Seen häufig ein Nebel, und ed N 

/ de KODer bidt zufammengedrängt und angefammet ı S 


4246 Genern’s Abhandlungen. 


doch geht kein Wind. Bisweilen aber verbreitet ſich eine 
ſolche Finfterniß, daß man das Naheftehende nicht fehen 
kann; Das wäre nicht der Fall, wenn nicht eine Menge von 
Körpern fid) auf einen Pleinen led zufammendrängte. Nun 
herricht aber nie größere Windſtille, als bei neblichter Wits 
terung. Bedenke überdieß, daß im Gegentheil die Morgens 
fonne bei ihrerı Aufgang die dichte und feuchte Luft vers 
dännt. Dann erhebt fid) ein Lüftchen, menn die Verbin⸗ 
dung der. Körper lockerer wird, und ihre Gedrängtheit nud 
Maffe ſich auflöst. 

4. Auf weiche Art, fragft dus, entftehen denw nun aber die 
Winde? — denn das leugneft du doch nicht, daß fie entftehen. 
Auf mehr als einerlei Art. Das Einemal wirft nämlich die Erbe 
ferbft eine große Maffe von Luft aus, und biädt aus der 
Tiefe herauf; ein andermal, wenn ein bedeutendes und an« 
haltendes Ausdünſten von unten herauf das Ausgedünſtete 
in die Höhe treibt, wird fchon die Zerfegung des gemifchten 
trockenen und feuchten] Dunftese zu Wind. So wenig- idy 
mid) überreden kann, das Folgende zu glauben, fo darf ich 
ed doch nicht übergehen : fo wie in unferem Körper durch 
Speife Blähungen entftehen, die nicht ohne große Befchwerde 
für die Nafe abgehen und den Unterleib bisweilen mit einem 
Zon, bisweilen aber ohne Laute, einer Laft entheben: fo 
meint man, gebe auch diefe große Natur Luft von ſich, ins 
dem fie ihre Nahrungsmittel zerſetze. Wir diirfen ung Glürk 
zeänfchen, daß fie immer verdaut, fonft hätten wir allerhand 

Zurrarß gu Deforgen. Iſt nun aber wohl die Behauptung 
“griinbeter, es fchweben von allen Xheiten der Erhe aut in 
wem ſort biele Pleine Korperchen umher, UND Wert TUR 


Naturbetrachtungen. Fünftes Bud. 41247 


ih zufammengehäuft und fofort durch die Sonne verdünnt 
zu werden angefangen haben, fo fol Wind entftehen, weil 
Alles, was ſich in einen engen Raum ausbreitet, einen grö⸗ 
fern Raum braucht ? 

5. Wie alfo ? die Ausdünftungen des MWaffers und des 
Erdreichs, meinft du, feyen allein die Urfache des Windes ? 
Aus diefen fol die Schwere der Luft entftehen, und ſodann 
durch einen Anſtoß aufgelöst werden, da, was dicht ſteht, 
wenn es dünn wird , nothwendig einen ausgedehntern Raum 
haben wit? Ich halte Das freilich mit für die Urſache. Ues 
brigens weit richtiger und bedeutender ift der Grund, daß 
die Luft eine natürliche Kraft fich zu bewegen hat, und daß 
fie dad Vermögen hiezu, fo wie zu anderer Thätigkeit nicht 
anderswoher betommt, fondern in ſich feldft trägt. Oder 
meinft du denn, wir zwar haben Kräfte erhalten, durch die 
wir uns bewegen können, die Luft aber fey unthätig und 
unbeweglich aelaflen worden? während doch das Waller, auch 
wenn die Winde ruhen, feine eigenfhümfiche Bewegung haf, 
fonft Eönnte es ja auch Feine lebendigen Geſchoͤpfe hervors 
bringen. Wir. fehen ja auch, daß Moos und manche Kräns 
ter im Waffer wachfen, die auf feiner Oberfläche jihwimnen. 

6. Es ift alfo eine eigenthämliche Lebenskraft im 
Waſſer. — Nur im Waffer? Nein, das Feuer fogar, wel: 
ches Alles verjehrt, bringt Einiges hervor, und fo unwahr— 
heimlich es auch Manchem vorfommen mag, es iſt eben doc) 
wahr, daß Thiere durch das Feuer erzeugt werden, Trac 
eine Kraft der Art Hat num audy die Luft, und deßhoW were 
aaprer fie fich Bald, Bald dehnt fie fich aus und veimiar KM’ 

AU-ORNEIRT ZIeDE Ne ſich zufammen, das Qnderemol \t 


41248 Seneca's Abhandlungen. 


und fchiebt fie. ſich auseinander. Es ift alfo zwifchen der 
Luft und dem Wind der nämliche LUnterfchied, wie zwifchen 
einem See und einem Fluß. Bisweilen ift die Sonne ſelbſt 
an und für fid) Die Urfache des Windes, wenn fie die flarre 
Luft zerftreut und aus dem dichten und sufammengebrängten 
Zuffand entbindet. 

7. Das Allgemeine haben wir von den Winden anger 
führt; wir fangen nun an, fie einzeln zu unterfuchen. Viel⸗ 
Leicht wird ſich zeigen, wie fie entflehen, wenn wir darüber 
im Reinen find, zu welchen Seiten und von welchen Gegen- 
den fie ausgehen. Zuerſt nun befrachten wir die von Gons 
senaufgang entftehenden Winde, die entweder aus Flüſſen 
oder aus Thalgründen oder aus einer Bucht fidh erheben. 
Bon diefen ift Beiner anhaltend, fondern fo wie die Sonne 
fräftiger wird, legt er fih, und. geht nicht weiter als der 
Geſichtskreis zu Lande if. Diefe Art von Winden fängt 
im Frühjahr an, und dauert nicht über den Sommer hin 
ans. Sie kommt hauptſächlich daher, wo viel Gewäfler 
und Gebirg ift. In den Ebenen, wenn fie aud) genug Wafs 
fee Haben, weiß man doch Nichts von diefem Luftzug, näms 
lich von einem folchen, der flarf genug wäre, um für einen 
Wind gelten zu können. 

8. Wie entfleht nun aber ein folder Wind, den die 
Griechen Buchtenwind nennen? — Was die Sümpfe und 
die Flüſſe ausdünften, — und das ift nicht nur viel, fons 
bern ed geht auch in Einem fort, — das wird den Tag über 

2on Ber Sonne aufgegebrt; bei Nacht aber hört es aud) 
de auf, fonbern in die Gebirge eingefäloiien \ommelt es 
uf einem Sridy Zanded, Wenn et Viren niit 


Naturbetrachtungen. Fünftes Bud. 1249 


Hat und fich num felbft nicht mehr halten ann, fondern - irs 
gendwohin hinausgedrüdt wird und auf eine Seite hin ab- 
gebt: das ift dann diefer Wind. Er wirft fi alfo dahin, 
wo die unbefchränftere Strömung und die freiere Gegend ihn 
hintreibt, wo feine Anhäufungen ſich auslaffen Eönnen. Ein 
Beweis hiefür ift, daß er im erſten Theil der Nacht nicht 
weht. Jene Anfammlung fängt da nämlich erft an, und ges 
gen Sonnenaufgang ift fie dann völlig, und ſtrömt hauptſäch⸗ 
lich dahin aus, wo am meiften leerer Raum ift und ein gros 
ger offener Platz. DBefchleunigt aber wird das Ausftrömen 
durch den Aufgang der Sonne, welcher die Falte Luft in 
Bewegung fest. Dem noch ehe fie ſich zeigt, wirkt fie fchon 
durch ihr Licht, und treibt die Luft zwar noch nicht durch 
ihre Strahlen fort, aber ſetzt fie durch das vorangefendete 
Licht doch fchon in Unruhe und Thätigkeit. Denn wenn fie 
nun wirklich heranfgeftiegen ift, wird ein Theil [der anges 
fammelten Dünfte) nad) oben forfgerafft, ein Theil geht 
durch die Wärme in das Weite. Darum können biefe Winde 
nicht länger als über die Zrühftunden wehen; wenn ſich die 
Sonne fehen läßt, ift ihre ganze Kraft dahin; und wenn 
fie audy befonders heftig geweht haben, fo Laffen fie doch um 
Mittag nad, und diefes Windchen dauert nie bis in den 
Mittag Hinein. Es ift aber das Einemal ſchwächer und von 
fürgerer Dauer, als das Anderemal, je nachdem es fich aus 
flärkern oder fchwächern Beſtandtheilen angefammelt hat. 

9 Warum aber find dergleichen Winde im Teühtiun 
und im Sommer flärker? Nämlich in ven übrigen Ssuhrrd> 


Ta —— ten Sun 
Erurch 106 Bay, ⸗ aſchwach, ſo daß \e € 


1250 Seneea’s Abhandlungen. 


fchwelten. — Darum, weil der Frühling wafferreicher ift und 
die Ausdünſtung größer von der reichern Waffermaffe, oder 
weil die Gegenden bei der feuchten Befchaffenheit der Wite 
terung mehr geträntt und wafferhaltig find. — Uber warım 
entfteht er doch auch im Sommer? Weil nach dem Untere 
gang der Eonne die Tageswärme noch bleibt und einen gro= 
gen Theil der Nacht andanert; diefe lockt Ausdünſtungen 
hervor , und was von felbft auszuſtrömen pflegt, zieht fie 
mit Gewalt an; ſodann haf fie doch nicht fo viel Kraft, Das, 
was fie hervorgelocdt hat, zum verzehren. Deßhalb dunſtet 
die Erde aus fich ferkft und dann die Feuchtigkeit noch Täne 
gere Zeit Körperchen and, die da auszuſtrömen und andges 
hamdıt zu werden pflegen. Die aufgegangene Sonne aber 
erregt Wind, nicht nur durch ihre Wärme, fondern auch 
durd) das Auffallen der Strahlen. Das Licht nämlich , das, 
wie ich. fagte, noch vor der Sonne kommt, macht die Luft 
J noch nicht warn, fondern: gibt ihr nur einen Anſtoß; auf 
"4 Diefen hin aber tritt fie auf die Seite. Wiewohl, ich möchte 
4 eigentlith nicht zugeben, daß das Licht an ſich ohne Wär me 
1 fey, da es ja ans der Wärme kommt. Es hat freilich viel- 
Leicht nicht fo viel Erwärmendes, daß es wirklich fühlbar 
4 wäre. Dennoch thnt es ſeine Wirkung, und zerffrent und 
I verdünnt das Dichte. Weberbief werden auch Gegenden, bie‘ 
F vermdge einer ungünftigen Lage fo eingefchloffen find, daß 
| die Sonne fle nicht felber treffen kann, auch bei jener 
zooJBgen und düftern Erlenichtimg erwärmt, und find den 
Eng über minder Palt, als bei Nacht. Auch da nämlich 
* dere Vurine Aberhaupt durch ihre natürliche Kroit \he 
‚weg und. ſtot ffe von ſich. So maht ed vun ud 





Naturbetrachtungen. Funftes Bud. 12 


die Sonne, und deßhalb kommt es Manchen vor, als Eoı 
men die Winde Daher, wo die Sonne herkommt. Daß Di: 
unrichtig fen , fiehf man daraus, daß die Luft auf jede Sei 
hin LLaften] bewegt, und man gegen Aufgang bei vol 
lem Winde fahren kann. Das wäre nicht der Fall, wem 
der Wind immer von der Sonne her Fäme. 

10. Die Etefien [Paffatwindel, die Manche zum Bes 
weis für fi) gebrauchen wollen, unterſtützen ihre Behauptung 
auch nicht fonderfih. Ich will zuerft ihre Anficht vorlegen, 
— ſodann, warum ic) damit nicht einverftanden bin. Die 
Hundstagswinde, fagen fie, kommen im Winter nidıt vor, 
weil in den kürzeſten Tagen die Sonne zu fcheinen aufhört, 
bevor die Kälte überwunden ift. Daher liegt dann nicht nur 
Schnee, fondern er wird auch hart. Im Sommer fangen fie 
an zu wehen, wo theild die Tage länger find, theils die 
Sonnenftrahfen mehr ſenkrecht auf ung fallen. Es ift da- 
her wahrfcheinfich, daß die durch die große Wärme in Be— 
wegnng gefesten Schneemaſſen meht Fenchtigkeit aushauchen, 
eben fo, Daß der durch den Schnee belaſtet geweſene und 
dann entblöste Boden freier ausdünfte. So gehen dann vor 
den nördlichen Kftmaten mehr Körper [maffige Ansdünſtun⸗ 
gen] ab, und ziehen fich in diejenigen Gegenden, welche 
minder hoch und wärmer find. So erhalten die Eteflen Ans 
ſtoß und Richtung und nehmen deßhalb mit der Sommerſon— 
nenwende ihren Anfang, behalten aber ihre Stärke nidyt 
länger ats bis der Hundsſtern aufgeht, weil bereits vun ven 
kalten Himmeloſtrichen viel in diefe Gegenden getrieben Wirt 
ni ber die Sonne richtet ſich mit veränderten a 

| 8 *+ 


2252 Seneca's Abhandlungen. 


gerade auf unfere Gegenden, und ziehet den einen Theil der 
Luft an, den andern aber jest fie in Bewegung. So dämpft 
Das Wehen der Paffatwinde den Sommer, und macht die 
heißeften Monate minder drückend. 

11. Nun muß ich, meinem DVerfprechen gemäß, fagen, 
warum die Paffatwinde Nichts für jene Leute beweifen ımıd 
ihrer Behauptung Fein Gewicht geben. Wir behaupten näms 
lich, durch das Licht werde jenes Windchen angeregt, end: 
lich lege es fidy, wenn die Sonne dazu kommt. Nun aber 
werden die Paflatwinde von den Sciffern aus dem Grunde 
die fchläfrigen und verzärtelten genannt, weit fie, 
wie Gallio ſagt, vom Frühanfftehen Nichts wiffen wollen: 
fie fangen zu einer Zeit fich zu erheben an, wo jenes Lüft⸗ 
hen gar nicht mehr anhält. Das wäre nicht der Fall, wenn 
fie, gleich jenen Lüftchen, durch die Sonne vermindert wür: 
den. Weberdieß, wenn bei ihnen die Dauer und Länge des 
Tages die Urfache des Wehens wäre, fo würden fie wohl 
aud) vor dem Solftitium wehen, wenn die Tage am Täng- 
ſten find und die Schneemaffen in der Negel fchmelzen. Im 
Monat Inlius nämlich ift fchon Altes fort, oder es liegt 
wenigftend gar nicht mehr viel unter Schnee. 

ı3. Es gibt einige Arten von Winden, die aus gebor« 
flenen und jählings zerriffenen Wolken kommen. Solche 
Wiude nennen die Griechen Orkane. Und diefe, meine ich, 

| enstftehen auf folgente Weife: da die Körper, die aus den 
@röcünften angehen, ſehr ungleichartig und einander ums 

aD, einige ndmlicy von diefen Körpern troden, andere 
en oe "fo ÜfE ed bei der großen Ungleihhartigteit Ver un 
er m Kampf begriffeuen Körper, wenn fe wun 


Naturbetrachtungen. Fünfte Bud. 41255 


anf einen Klumpen zuſammengeballt find, wahrſcheinlich, daß 
dadurch hohle Wolken gebildet, und zwiſchen denſelben röh- 
renartige und der Enge nach Pfeifenähnliche Zwiſchenräume 
gelaffen werden. In diefe Zwifchenräume ift eine dünne Enft 
eingefchloffen , die, wenn fie, in nicht fehr freiem Lauf um . 
hergeworfen, warm wird, einen größern Raum haben will, ' 
und deshalb nimmt fie dann eine weitere Ausdehnung und. 
zerreißt ihre Umgebungen, und bricht in einen Wind ang, 
der beinahe fturmähnfich iſt, weil er von oben herab kommt 
und mit Heftigkeit und fcharf gegen und anfällt, denn er 
kommt nicht firömend und auf gebahntem Wege, fondern er 
hat zu Länıpfen und macht fid einen Weg mit gewaltigen. 
Ringen. Solches Wehen ift in der Regel von Purzer Dauer. 
Weil es die Behältniffe und Verwahrungsorte der Wolken 
jerreißt, durch die es ficd, hindurchzog, darum kommt ed zu⸗ 
weilen ftürmifch, nicht ohne Blitz und Donner. Diefe Winde 
find viel bedeutender und langwieriger, wenn fie noch andere 
Winde, die aus demfelben Grunde hervorbrechen, in fich 
aufnehmen und mehrere fich vereinigen, fo wie Waldbaͤche in 
mäßiger Größe ſtroͤmen, fo Tange fie abgefondert ihren Lauf 
haben: wenn aber mehrere ihre Waſſer zufammengelenft has 
ben, werben fie größer als eigentliche und bleibende Flüſſe. 
— So, läßt fi) annehmen, geht es auch bei den Stürmen, 
daß fie nicht von Tanger Dauer find, fo lange einer für ſtich 
iſt; wenn fie aber ihre Kräfte vereinigt haben, und die aus | 
mehrern Seiten des Himmels heransgeworiene Tut KH SE 
einen und denfelben Punkt zufammengemacyt hat, SO WWW 
sam niE nur ißre Heftigkeit zu, fondeen andy Aore DOT- 


4254 Seneca's Abhandlungen. 


ı3. Der Wind wird alfo hervorgebracht durch eine auf: 
gelöste Wolke; diefe aber wird auf verfchiedene Weile auf: 
gelöst. Bisweilen ift, was eine ſolche Sufammenballung 
auseinander reißt, der Kampf des eingefchloffenen und einen 
Ausweg fuchenden Luftzugs; bisweilen die Wärme, die bald 
durch die Sonne hervorgebracht ift, bald durd, das Aufein— 
anderftoßen und durch die Reibung großer Körper aneinan— 
der. Hier kann auch, wenn du willſt, zur Sprache kommen, 
wie eg ſich mit dem Entfichen des Wirbelwinds ver: 
halte. Es pflegt bei Flüflen zu geſchehen, daß fie, fo lauge 
fie ohne Hemmung flrömen, einen einfachen und geraden 
Zauf haben, aber, wenn fie anf ein Felsſtück floßen, das an 
ver Seite des Ufers vorſteht, zurückgedrängt werden und 
ihre MWaffer ohne Ausweg im Ring herum treiben, fo daß 
Be ſich, nadyden fie ſich limmer] herumgedrcht haben, felbft 
einfchlingen, und einen Waſſerwirbel bilden. Und ſo? läßt 
der Wind, fo lange ihm Nichte im Wege fleht, feiner Kraft 
freien Lauf. Wird er aber von einem Vorgebirge zurückge— 
worfen, oder durch den Widerfland des zufammengedrängten 
Raumes in einen abfchäffigen und ſchmalen Gang eingekrie: 
Ben: fo wühlt er fid) öfters in ſich ferbft hinein, uud bildet 
einen Wirbel, ähnlich dem Waller, von welchem wir fagien, 
daß es fich in fich ſelbſt herumdrehe. Diefer herumgetriebene 
and um eine und diefelbe Stelle ſich herundrehende Wind, 
der fich gerade durch das Herumdrehen felber in Bewegung 
fest, ift ein Wirbelwind. Derfelbe, wenn er etwas 
bartnädig ift und fid) etwas lange herumwühlt, entzündet 
Gh, und macht, was die Griechen Blitzwind nennen. 


Naturbetrachtungen. Fünftes Bud. 1255 


Das ift ein fenriger Wirbelwind. Diefe haben wohl 


; 


altes Gefährliche bei fi), was Winde haben, die aus den 


Wolken ausgebrochen find, — fie reißen Geräthfchaften mit 
fi) empor und ganze Schiffe werden von ihnen mit in bie 


Höhe gezogen. *) AUufferden erzeugen manche Winde auch ' 
und) andere aus fid), und zerfireuen die in Bewegung ges ' 


feste Luft auch noc auf andern Seiten, als auf bie jie fidy | 


Hingeneigt haben. Ach muß Doc, auch noch fagen, was mir 
gerade einfällt: So wie Tropfen, wenn fie fchon fich bereits 


. 


herabneigen und fallen, doc) noch feinen Lauf haben, ſondern 


man erft danıı, wenn fich mehrere vereinigt haben, und durch 


die Menge eine Maffe bekommen , von ihnen ſagt, daß fie ' 


fließen und Iaufen.: fo iſt's auch noch nicht Wind, fo lange | 


die Bewegungen der an mehrern Orten anfgeregten Luft noch 
unbedeutend find; erſt dann fängr’s an, ein Wind zu fepn, 
wenn er fie alle untereinander gebvacht und zu einem Stoß 
vereinige hat. Luftzug ift von dem Wind dem Grade nach 
verfchieden ; ein heftiger Luftzug ift ja Wind, und umgekehrt 
eine ſchwach ftrömende Luft ift Lufthauch. 

4. Ich komme nun darauf zurüd, was id, zu Anfang 


Di a m —— — 


behauptet hatte, daß Winde aus Höhlen kommen und aus . 
dem inneren Schoos der Erde. Es ift nicht die ganze Erde . 


in feft zufammenhängender Maffe bis auf die unterfte Ziefe 


*) ·Fortunatus vermuthet hier eine Auslaffung : es möchte naͤm⸗ 
lich von Dem noch vorher die Rede gewefen ſeyn, was die 


Griechen TUPwv nennen, von Windhoſen und Wafs 
ferpofen. 


: 4256 Seneca’s Abhandlungen. 


auf feftem Grunde gebaut, fondern fie ift an vielen Theis 
fen hohl, 
— — und in blinder Finfterniß ſchwebend, *) — 

und hat da und dort leere Räume ohne Feuchtigkeit. Wenn 
ſchon keine Tageshelle dort einen Unterſchied der Nacht be« 
merfbar macht, fo möchte id) doch behaupten, daß es in dies 
fem Dunkel Wolken und Nebel gibt. Denn uud) die ober: 
Halb der Erde find nicht darım vorhanden, weil man fie 
fieht, fondern umgekehrt, man ſieht fie, weil fie vorhanden 
find. Nichts deftoweniger, wenn man fie fchon nicht fieht, 
find fie doch dort auch vorhanden. Man muß nämlich wiffen, 
dag auch Flüffe dort ſtrömen, wie die unfrigen find, zum 
Theil fanfe ſich hinziehend, zum Theil au felfigen Streden 
mit donnerndem Sturze. Und wird man nun nicht eben fo 
auch zugeben müffen, es gebe auch manche Seen unter der 
Erde, und ed ftehen mandye Gewäfler ohne Ablauf. Wenn 
dem fo ift, fo folgt notgwendig, daß die Luft fchwer wird 
und durch ihre Schwere drücdt und durch ihr Drücken einen 
ind erregt. Don diefen unterirdifchen Wolken aus, müfs 
fen wir annehmen, werde in dem Dunkel ein Wind erzeugt, 
wenn biefelben fo viel Kraft gefammelt haben, als nöthie 
ift, um dadurch Das hinwegzuräumen, was ihm von ber 


: Erde entgegenfteht, oder irgend einen offenen Weg für ihren 


Ausbruch zu gewinnen und durch diefe Höhle dahin, wo wir 
wohnen, hervorzudringen. Das aber ift offenbar, daß in 
der Erde eine große Maſſe von Schwefel iſt und ven an⸗ 





> Bergl, Doibs Verwanblungen 1., 588. Bo \eoa Tr 


orte anders lauten und eine andere Anrorahung oa. 


Naturbetrachtungen. Fünftes Bud. 1257 


derm Stoff, der eben fo das Feuer nährt. Wenn nun der 
Lufthauch, indem er einen Ausgang fucht, fich durch folche 
Streden hindurchgewunden hat, fo muß er durch die Rei— 
bung nothwendig eine Flamme ewtzünden; und wenn die 
Flammen weiter um fich greifen, fo muß, wenn auch Etwas 
von träger Luft dort war, verdünnt und in Bewe«- 
gung geſetzt werden, und fü it gewaltigem Getös und 
Stoßen einen Weg fuchen. Doch dieß will ich noch genauer 
"abhandeln , wenn ich meine Unterfuchungen über die Erdbe« 
ben anftelle. *) 

15. Erlaube mir jest, daß ich Pir ein Gefchichtchen er⸗ 
sähle. Don Afelepiodotus **) vernehmen wir, Philippus 
(von Macedonien] habe in ein altes Längft verlaflenes Berge 
wert viele Leute hinabfleigen laſſen, auf daß fie erforfchten, 
wie reichhaltig und in weichem Zuftand ed wäre, ob die frie 
here Habfucht Der Zukunft auch noch etwas übrig gelaffen 
babe. Diefe Leute wären mit vielen Lichtern hinabgeftiegen, 
und fie Hätten fid, mehrere Zage dort aufhalten ſollen; ſo⸗ 
dann, nad) einem langen Wege ermüdet, hätten fie mächtig 
große Flüſſe gefehen, und gewaltige Behältniffe flehender 
Waſſer, wie fie bei und find, und nicht von darüber herlie« 
gender Erde bededt, fondern frei und weit, nicht ohne Schau⸗ 
bern anzufchauen. — Das habe ich mit großem Vergnügen 
gelefen , denn ich habe daraus erkannt, daß unfer Jahrhun⸗ 
dert nicht an neuen Gebrechen, fondern an althergeerbten 


— Bipioberad, cin Ypitofopb m water 8 
* n Rbiloſoph und te ya UV 
Av VoRwnins Zupbrer, Beat. Ppon 26. 


4258 Seneca's Abhandlungen. 


krankt; und daß nicht erft zu unferer Zeit die Habfucht in 
den Adern der Erde und der Steine gewühlt, und nach 
Tem gefpähet, was neidifch in Finfterniß verborgen war. 
Auch jene unfere Vorfaggen, die wir mit Lobpreifung erhe— 
ben, denen wir fo unähnlich geworden zu feyn klagen, ha⸗ 
ben von Hoffnung angelodt Berge aufgehauen, und haben 
fid) dem Gewinn zu lie ter Trümmer geftelt. Schon 
vor dem Maredonifchen Ppilippus find Könige gewefen , die 
bis in die tiefften Schlupfwinfel dem Gelde nachgingen, und 
die freie Luft aufopfernd ſich in jene Schachte, in welche 
fein Werhfel von Nacht und Tag eindrang, hinabließen, und 
das Sonnenlicht mit dem Rüden anfahen. Was war doc) 
da für Herrlichkeit zu hoffen! Was war dody das für eine 
Noth, die den zu den Sternen erhobenen Menfchen darnie⸗ 
der gebüdt und vergraben und in den Grund des Innerſten 
der Erde hinabgeſenket hat, Gold herauszumühlen, das mit 
eben fo viel Gefahr zu gewinnen, als zu befiten if. Dem 
zu lieb hat er Minen gegraben und ift um die Lothige und 
ungewiffe Beute hergekrochen, vergeffend des Tageslicht, 
vergeffend der fchönen Natur, von der er fich weggewendet. 
Fa kein Zodter liegt unter fo fehwerer Erde, als Gene, über 
welche die quälende Habfucht das Gewicht ganzer Landſtre⸗ 
den hergeworfen, denen fie den Himmel entwendet, die fie 
in die Tiefe eingegraben hat, wo jenes unheilvolle Gift fteckt. 
Da hinab haben fie fid) gewagt, wo fie eine neue Lage der 
Dinge, das Ausſehen bodentofer Länder und Winde in lee: 
zem Dimmeldraum Eennen lernen folten, und cſchauerliche 
Quæden eines Waſſers, das für kein Geihdei Tieit, m 


Naturbetrachtungen. Fünftes Buch. 42569 


tiefe , ewige Nacht. Und nachdem fie Solche unternoms 
men, fürchken fie doc, noch das ZTodtenreich ! 

16. Doch, um auf Dad zurüdzufommen, wovon bie 
Rede ift, es find viererlei Winde, abgetheilt nad Oſten, 
Weſten, Süden und Norden. Die andern, die wir mit 
verfchiedenen Namen benennen, fchließen fih an diefe an. 


Eurus gehe gen Oſt und hin zum Arabiſchen Reiche, 
Perſten und zum Gebirg, das früneften Lichtſtrahl auffangt. 
Weſtliches Land und Küften von fintender Sonne gewärmet, 
Sind dem Zephyr zunaͤchſt. Und Scythias noͤrdlichen Landftrich 
Nahm der fchaurige Boreas fih: die Känder entgegen : 
Seuchtet mit ſtetem Gewoͤlt' und thalendem Regen der & fi ds 
wind. *) 
Dder wenn du fle Fieber kürzer zufammengefaßt haben wilfft, 
fo mögen fie fih, was freifich anf Feine Weife angeht, zu 
einem Sturm fammelt, 
Dfts und Säbwind toben zumal und ber ewige Stärmer 
Africus: [ Guͤdweſtwind] **) 
und daun der Nordwind, der bei jenem Kampf nicht mit: 
ſpielen konute. Manche nehmen zwölf Winde au. Sie thei- 
len nämlich die vier Himmelsgegenden je wieder in drei ab, 
und geben jedem Mind zwei Nebenwinde. Durch diefen 
Kanftgriff- beingt fie Varro, ***) der pünftliche Mann, in 
Ordnung, — und er hat feine aufen Gründe dazı. Die 
Sonne geht nämlich nicht immer an demfelben Punkte auf 


*) Oribes Verwandlungen I, 61. 

I Wirgivs Beneis 1, 85. v 

"> . Zerentins Barro, wabrſcheinlich in feinen Yibris CaT? 
#bas, Bagl, Script. rei Fuslicae, Tom. \L, p. 220. ® 


:4260 Seneca⸗s Abhandlungen. 


und unter; ſondern ein anderer iſt der Aufgang und der Un⸗ 
tergang zur Zeit der Tag⸗ und Nachtgleiche, — und dieſe tritt 
zweimal ein, — ein anderer zur Zeit des Sonnenſtillſtands, 
ein anderer zur Zeit des Winterd. Der Wind, der ſich von 
der”Gegend erhebt, wo die Sonne um die Tag: und Nachts 
gleiche aufgeht , heißt bei ung Subsolanus; [der eigentliche 
Dftwind ] die Griechen nennen ihn EpnAorng. Vom Wine 
teroften gehet der Eurus aus, den die Unfrigen Vulturnus 
[ Südoftwind ] genannt Haben. Auch Livius nennt ihn fo, 
bei jener für die Römer gar nicht glüdlichen Schlacht, in 
welcher Hannibal unfer Heer gegen die aufgehende Sonne 
und zugleich zu einer Stellung. gegen den Wind zu nöthigen 
wußte, wo er dann durch den Vortheil des Windes und des 
die Augen der Feinde blendenden Sonnenlichted den Sieg 
erhielt. *) Auch Varro gebraucht diefe Benennung. Doch 
auch der Eurus hat [in unferer Sprache bereits das Bür⸗ 
gerrecht erhalten, und er kommt im unferer Umgangsſpra⸗ 
che Niemand als fremd vor. Der Wind, der von dem Auf⸗ 
gangspunkt, beim Sonnenftiliftand ausgeht, heißt bei den 
Griechen zaıxlagz; bei uns gibt es Leinen Namen dafür. 
Die Ubendgegend bei der Tag» und Nachtgleiche fendet den 
Favonius , [den eigentlichen Weſtwind], und Wer auch nicht 
Griechiſch verfteht, wird dir fagen, das fen der Zephyr. 
Dom Untergangspundt bei dem Sonnenftiliftand kommt der 
Eorus, der bei Einigen Argefte 8 heißt. Ich halte Das 
nicht für wichtig, weil der Eorus eine gewaltfame Wir: 
fung Bat, und auf eine Seite hinceißt, der Argeſtes 


— — 


? Die Ott vi Eanns, Berol. Mcut TR, N 6. 


Naturbetrachtungen. Fünftes Buch. 1264 


e in der Regel fanft ift, und man mag auf dem Hins 
e Herweg begriffen feyn, von gleicher Wirkung. Der 
ricns von dem Winterweften bricht tobend aus; bei 
Griechen heißt er Al. Unter den Nordwinden ift der 
tfte der Aquilo, der mittlere der Septentrio [aus 
s eigentlichen Nordpunkt], der unterfte der Thraſcias. 
r legtere hat bei uns feinen Namen. Vom Südpol her 
mt der Euronotus; fodann der Notus, lateinifch 
iſter; endlih der Libonotus, der bei uns ohne 
men ill. 

7. Man nimmt aber an; es feyen zwölf Winde, nicht 
ob überalf fo viele wären, — fie find bisweilen vermöge 
klimatiſchen Lage der Länder nidye möglich, fondern weil 
nirgends mehr gibt. So fagen wir, es gebe ſechs Beugs 
je Lin der Inteinifchen Sprache], nicht als ob jedes Nenns 
rt ſechs hätte, fondern weil feines mehr hat als feche. 
ejenigen, welche auffteltten, es feyen zwölf Winde, Has 
ı fi) daran gehalten, es müfle fo viele Winde geben, als 
terfcheidungspunfte am Himmel. Den Himmel theilte 
a naämlich in fünf Kreife, die durch die Erdare gehen. 
; gibt einen NordEreis, einen Sonnenſtiliſtands— 
reis, einen Kreis der Tag: und Nachtgleiche, 
en für die Zeit des Fürzeften Tages, und einen dem 
ordfreis gegenüberfichenden. Zu diefen kommt 
fechster, der den obern Theil des Himmels von dem untern 
unt. Es ift nämlich, wie du weißt, die Hälfte des Himmels 
mer oben, die Hälfte unten. Diefe Linie, weldye yeoiiinen 
eo if, mad man ſieht und was man nicht echt, wenne 
Frieden Porizont; die Unfeigen [vie Staiter\ ” 


— 


1262 Seneca's Abhandlungen. 


Begrenzer, Andere die Grenzlinie. Dieſer muß 
man noch beifügen den Mittagskreis [Meridian], wel- 
cher den Horizont in rechten Windeln durchfchneidet. Von 
diefen Kreifen laufen einige quer enfgegen und durchfchnei- 
den die andern, indem fie mit denfelben zufamnıentreffen. *) 
Natürlich müſſen fo viele Unterfchiede in der Luft feyn, ale 
ed Abtheilungen davon gibt. Daher durchfdyneidet der H 0: 
rizont oder der abgrenzende Kreig jene fünf Kreife, 
die man, wie ich eben fagfe, annimmt, nnd macht dadurch 
zehnz Abtheilungen, fünf von Oſten, fünf von Welten. Der 
Mittagskreis aber, der in den"Horizont hineinkänft, 
made noch zwei Regionen dazn. So befommt die Luft 
zwoͤlf Unterfcheidungspuntte, und eben fo vielerlei find vie 
Winde, die fie hervorbringt. inige find gewiſſen Gegene 


den eigenthüämlich, und fliegen nicht weiter fort, ſondern 


gehen nur in die Nähe. Sie floßen von der Seite her und 
nicht an den ganzen Weltkreis: — So beunruhigt der Ata- 
bulus ** [nur] Apufien, der Japhx Calabrien, der Sciron 
Athen, der Cataͤgis Pamphylien, der Eircind, Gallien; nnd 


*, Wie bie Parallektreiſe pie Meridiane durchſchneiden. 

**, Der Atabulus ifi ein glähenbheißer, fehätfiger Wind; Plin. 
Nat. hist, XXVII, 35. ftege ihn mit einem Eubbiſchen 
Wind, Olympius, zufanmen, welcher nach Ariftoteles Me- 
taph. 11, 6. von ber Gegend kemmt, wo die Sonne im 
Sommer untergeht. Bon der naͤmfitchen Art ift bei ben Athe⸗ 
nern der Sciron. Ariſtot. I, ı. — Dee Papyr Ift gleich⸗ 

aus weRlig, und wird mit dem Saurxrus zufammengefiellt, 

Aufl. Gell. II, 33. Dee Earäois dem yibale von obem- 

Pak a5. -—- Der Circius kommt von ver Sea, WO Vr 
ae ImTtBinter antirgeht. Anl, Gel. I, az. 


Naturbetrachtungen. Sünftes Bud. 41263 


em biefer letztere ſchon Gebäude zerfchmettert, fo find 
m bie Einwohner doch dankbar, ald wäre die geſunde Luft 
res Elima's ihm zuzuſchreiben. Wenigftend hat ihm Au⸗ 
find, da er ſich in Gallien aufhielt, einen Tempel nicht 
ne gelobt, fondern auch erbaut. sch fände Bein Ende, 
enn ich fie alfe einzefn anführen wollte. Denn es ift faft 
sine Gegend, die nicht irgend einen fich aus ihr erzeugen 
en, und in ihrer Nähe anch wieder aufhörenren Wind 
8. Man darf Das neben den übrigen wohl auch als 
in Merk der Vorſehung beachten, das unfere Bewundes 
ung verdient. Sie hat nämlich aus vielerlei Gründen die 
Binde theils überhaupt gefchaffen,, theils verfchiedentlich ges 
inet, vor Allem aber follten fie die Luft nicht faul wers 
en laſſen, fondern fie durch unabläffige Erregung für die 
e einathmenden Wefen dienlich, und zum Leben förderlich 
chen. Spodann folften fie der Erde Regen verfchaffen 
nd demfelben, wenn feiner zuviel werben wollte, wieder 
inhalt thun. Denn bald bringen fie Gewölk, bald zer- 
reuen fie es, damit fich die Regen auf dem ganzen Erd« 
reis vertheilen können. Nach Italien wird der Regen durch 
m Südwind gebracht, nach Afrika treibt ihn der Nord⸗ 
mp zuräd. Die Paſſatwinde laffen bei und das Gewölk 
icht ſtehen bleiben. Eben dieſelben verfehen ganz Indien 
„> Aeëthiopien um jene Zeif beftändig mit Waſſer. Ja 
an bekäme wohl ein Getreide, wenn nidyt Das mit ven 
eisubehaftenben permiſchte Yeberfüffige durch, Windesuchn 
sseinanber gefföbert wiirde, wenn nicht Etwas täme, DM 
Saar Dervorlodte, und die verborgene Frucht, aa 


1264 Senecas Abhandlungen, 


Durchbrechung ihrer Hüllen, weldye die Landwirthe Hülfen 
nennen, auffchlöße. Und Was hat denn den gegenfeitigen 
Verkehr unter alten Völkern befördert, und Nationen, die 
durch ihre Wohnorte getrennt waren, zu einander gebracht ? 
Eine große Wohlthat von der Natur, würde fie nur die 
Leidenfchaft der Menfchen nicht zum Schaden kehren! Was 
von dem ältern Cäſar oft gefagt und von Titus Livius *) 
angeführt worden ift: „man wiſſe nicht, ob es für die Re⸗ 
publik beffer gewefen, daß er geboren ward, oder daß er 
sicht geboren worden wäre,’ — das Iäßt fih nun freilich 
wohl auch auf die Winde anwenden: ja, was fie Nüsliches 
und Nothwendiges mit fich bringen, wird wahrlich wohl 
überwogen durd) Das, was der Wahnfinn des menfchlichen 
Geſchlechts zu feinem DVerderben ausfinnt. Deshalb Hört 
aber Etwas nicht auf, feiner Natur nach ein Gut zu feyn, 
wenn ed fchon durch die Schuld der Mißbrauchenden fchäd- 
lich wird. Zu dem Swed nämlich hat die Vorfehung und 
die weltregierende Gottheit den Winden den Luftkreis zum 
Zummelplag gegeben, und felbige auf alle Seiten hin, aus⸗ 
flrömen Iaffen, damit Nichts durch träges Daliegen ver: 
derbe, nicht auf daß wir Flotten, die einen Theil des Mee- 
res in Befchlag nehmen follten, mit gewaffneten Soldaten 
anfülfen, und Feinde im Meer oder hinter den Meeren aufe 
fuchen könnten. O wahnfinniges Treiben, das uns zu ges 
genfeitigem Verderben zufammenbringe! Wir laffen die 


*) Walxſſcheinlich in dem verloren gegangenen 116ten Buch. 
J. Edfor wird zum Unterfgieb von Auguſtus Caͤſar fo ges 
want. Berg, Freinſheim's Supplemente €, 116, 


Naturbetrachtungen. Funftes Bud, 4265 


Winde in die Segel biafen, weil wir Krieg wollen, und 
fürzen ums ih Gefahr um Ber Gefahr wien. Wir verſu⸗ 
chen es mit ungewilfem Glück, mit der von keiner Men⸗ 
ſcheumacht bezwingbaren Gewalt der Stürme, mit einen 
Tode, der uns kein Grab hoffen läßt: — ESs wäre nicht 
zer Düne werth, wenn wir dem Frieden zu kieb dahfe 
ſchifften. Nun aber, wenn wir fo vielen verborgenen Klip⸗ 
ven entgangen find, und den Tüden der Strandpläge, wenn 
wir vorbeigefommen find an den von ihren Höhen herab 
Setarme erregenden Bergen, an melhen ein jäfer Wind die 
Sthiffenden zerſchellt, hindurchgekommen durch Die in Ne 
bet gehültten Tage und die durch Blitz und Donner ſchauer⸗ 
vollen Nächte, und vorbeigetommen an den Trümmern ber 
denk Wirbelwinde zerfchmerterten Fahrzeuge: was haben 
wie dann von dieſen Mühen nnd Aengſten für Fradit? was 
für ein Hafen wird uns , durch fo vier Mißgeſchick Erſchopfte 

auferehmen ? — Ga, Krieg [erwartet und] und der an der 
Miſte entgegenſtehende Feind, und: ein Bölkergemetzel, das 
auch Vie Sieger‘ zum größten Theit mit dahin rafft, und dei 
Braid' uralter Städte. Was treiben wir Völkerfchaaren zu 
dem Waffen zuſammen? Was werben wir Armeen, die mit⸗ 
ser in den Fluthen ihre Schlachtreihen entwirkeln fottun ? 
Bad bennrichigen wir die Meere? Iſt die Erde nicht groß 
gennug, um uns auf mancheriei Ark den Tod zu bringen ? 
Reim, viet zu fanft behandelt ums das Geſchick, viel zu harte 
Mrvper Hat fie nnd gegeben und eine viel zw gluͤckliche Ges 
Madseil. Es richtet uns ja Fein andringender Unfall zu 
Grande; es kann ja Jeglicher feine Jahre ohne Kaas ul. 

Eeneca. 108 Bam. 9 


4266 Senecas Abhandlungen. 


bringen und ims-Greifenalter kommen. Wohlan, fo laßt 
uns denn aufs Meer gehen und das zögernde Gefihic ges. 
en uns herausfordern! — Ihr Armen, was fucht ihr? 
Den Zod, an dem ed nirgendwo fehlt? Er wird euch erja= 
en auch auf dem Auhebett: aber möge er euch nur nicht 
n Freveln treffen! Er wird end) ereilen in eurem Haufe, — 
aber daß er euch nur nicht ereife, unter laſterhaften Umtries 
ben! Wie foll man es aber anders nennen, als Wahnfinn, 
wenn man Gefahren weit umher verbreitet, und zürnend 
loſsſtürmt, ohne dag man weiß, gegen Wen? und verwüs 
ſtet, wad Einem in den Weg kommt, ohne fchaden zu wols 
len, und wilden Zhieren gleich würgt, auch wo man kei⸗ 
nen Haß fühlt. Dieſe aber beißen doch noch entweder zur 
Rache oder aus Hunger: wir aber, ohne das eigene und 
fremdes Blut zu ſchonen, ſetzen die Meere in Unruhe, und 
Laffen Schiffe vom Stapel und vertrauen unfer Leben den Wogen 
an und wünfchen günftige Winde, um fo glücklich Bin feyn, 
in einen Krieg zu gerathen. Wohin reißen uns Verkehrte 
unfere Verkehrtheiten! Es ift viel, d wenig, wenn man 
nur innerhalb feines Kreifes toll if. So fetzt Perfiens 
biödfinniger König nach Griechenland über, das von feinen 
Heeren nur überſchwemmt, nicht überwunden worden ift. So 
wird Alexander, wenn er fchon über Baktra und Indien 
inaus ift, noch willen wollen, was jenfeitd des großen. 

eeres ſey, und es wird ihn drgern, daß er hier eine 
Grenze findet. So wird Habfucht den Craſſus *) zu_den 
Parthern bringen; er wird ſich nicyt ſcheuen vor den Ver⸗ 
wünfchungen des Volkstribuns, der ihn zurüchalten will, 
nicht vor den Stürmen des ausgedehnteften Meeres, nicht 


*, Eraffus, durch feinen Parthertrieg befannt, wurbe durch 

bie ſchrecklichſten am Dpferbeerdb autgeiprochenen Berwäns 

Wengen, smwoburcy ber Voltsteibun Atiejus Metellus ihn 

— Meœæ asbriugen wollte, body nicht yarbdgrhalten. Beine 

Sarg T 7 den ECupbrat zerſibrte der Bin. Vrch. MW⸗ 
- IL, P. 447. ed, Reiske, 





Naturbetrachtungen. Fünftes Bud. 41267 


vor den prophetifchen Bligen in der Nähe des Euphrat und 
vor den Abmahnungen der Götter. Mitten durch die Zor⸗ 
nesflammen der Dienfchen und Götter nur dem Gelde zu! 
Man hat daher nicht unrecht, wenn man fagt, die Natur 
hätte es befler mit ung gemeint, wenn ſie den Winden zu 
wehen verboien und das Zoben und Laufen derfelben einſtel⸗ 
iend, jedem nur in feinem eigenen Lande zu bleiben befoh⸗ 
ien hätte. Wenn es fonft Nichts wäre, fo lebte Feder doch 
nur zu feinem und der Seinen Verderben; nun aber ift es 
mir nicht genug am Sammer meines Hauſes, ich muß audy 
von Auſſen her neplagt ſeyn. Kein Land ift fo weit ents 
fernt „ daß es nichk irgendwohin feine Uebel ausfenden Fönnte, 
Woher weiß ich denn, ob nicht irgend eines großen mir un⸗ 
bekannten Volkes Tyrann, übermüthig als Schooskind des 
Stüds, feine Waffen über feine Grenzen hinaustrage, ob er | 
nicht zu Unternehmungen aufs Ungewiſſe hin Flotten aus⸗ 
rüſte? Woher weiß ich, ob mir nicht dieſer Wiud oder je⸗ 
ner einen Krieg herwehen wird ? Es hätte viel zum Fries 
den in der Menichheit beigetragen, wenn die Dleere wären | 
verfchloffen geblieben. Doch, wie ich vorhin fagte, wir | 
konnen nicht murren über die Gottheit, die und das Das 
fen gab, wenn wir ihre Wohlthaten verderben, und mas Ä 
den, daß fie das Gegentheil werden. Sie hat die Winde Ä 
eseben „um die Zemperatur des Klima’s und der Länder 
ı erhalten, um Waffen hervorzibringen und ihm wieder 
mhalt zu thun, um den Früchten der Saatfelder und der 
iume Gedeihen zu geben, die neben andern Urfachen auch 
ch die Erſchütterung zur Reife gebracht werden, welche 
Rührkraft nad) oben treibt und verfchie bt, daß fie nicht 
nthätigem Schlummer Tiegen bleibt. Sie hat die Winde 
affen, daß wir, was weiter hin liegt, kennen lernten; 
der Menſch wäre ein, unwiflendes Geſchövi. wd wur 
Welterfabrung geblieben, wenn ex in dir Greumt 
„Beburtsrandes cingeſchloſſen waͤre. Sie hat vie BR 
nd der Segen einer jeglichen Grad WR. 
Fer icht daß fie Legionen und \ 


- 


2968 Od Anpenöianger. 
eng ji verberbtihe Saffen ber werte Weiter 
ten ber {u 


iſtis denn zum Seit, daß 
a — 
Gen) Sch jeneheit 


BE daß fle zum Gegen werben foliten: wir felber has 


DER oder jenes Uebel zu. haben nicht Alle die gleiche 

t, wenn fie die Anker lichten, aber eine edle hat 

a, denn ed gar verfchiedene Triebfedern, die uns 

veramfaffen, Seereifen anzutteten. j eht man 

um einer Berkehrtheit willen zn Schiffe. Vortrefflich fagt 

to, auf den wir und zum Stufe nech berufen wollen, 

ed fegen lantor igfiiten , um die die Menfchen ihr Lei 

ben verkanfen. — Ta, theu Incitins , werm du ihre 

Zotrheit — das Heißt bie ‚ denn wir laufen auch uns 
die e ſo w n 


lachen bei dem Geranten, vaß man für Dinge, die mar 
fi zum Zeven ſchafft, das n aufopfert. 


a 


Koͤmiſche proſatker— 


in 
neuen Ueberſetzungen. 


Herausgegeben 


——— —— — — — — „on. 


von 


® 8%. F. Tafel, Yrofeffor "zu Taͤbingen, 
C. N. Dfiander m G. Schwab, 
Profeſſoren zu Stuttgart. 


[um on: - .. 


Fünf und fünfzigftes Bänden. 


— 





Stuttgart, 


Verlag der J. B. Metz ler'eſchen, Buchhandlung. 


Für Oeſtreich in Commiſſion von Mörſchner und Jaſper 
in Wien. 


2 830. 


nen 


kucius Annaͤus Seneca des Philoſophe 
Werke. 


Eilftes Baͤndchen. 








Abhandlungen, 
überſetzt 
von | 
I. Mm. Mofer, 
Doctor. der Philoſophie, evangel. Diaconus am Mänfter in Ul 





@ilftes Bandchen. 





Stuttgart, . 
| Verlag der 3. B. Meslerichen Bukkantiunn. 
Bür Deßreid ia Eommiffion von Rödxiiyaer units" 
in Wien. 
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Inhalt des ſeches en Buch d. 


Rap. ı — 3. Dee Anlaß zu einer -Unterfuchung Aber Erb 
beben liegt. theilö in dem Werte ſeibſt, theils in der Gens 
tung bed Bodens von-Pempeil und Herculaum. als einem 
Greigniß bes Tages. Anfſuchuna von Troſtgruͤnden. Noth⸗ 
wendigseit derſelben. chem andern Level laͤßt fi eher aus: 
weichen. — Daß +3 gleichguͤltig ſey, anf weid,e Art man 
ſterbe. Alles droht uͤberall den Zinflturg, man tft durch 
Auswanderung nicht ſicher. Vor dem ˖Wechſel ver Schickſale 
iſt ˖ Nichte ſicher. Darnm iſts tboͤricht, zu fürchten, wo ſich 
nicht yelfen laͤßt. Die undedeutendſten Dinge koͤnnen uns 
den Toh bringen. Es treten die furchtbarſten Nieturerfcaeinungen 
nicht auf beſoudere Veranſtaltung der Sbtter, ſondern ver⸗ 
moͤge ˖der : Bebramen der Natur ein. Nur das Ungewohnte 
.macht ſie ums fo furchtbar. Das beſte Schutzenittel gegen 

Be Furcht iſt, nach den natuͤrüchen Urſachen su forſchen. 

Kap. 4 — 11. Wercſhiedene Erſcheinungen -wi den Erdbeben. 
AUrſachen a) im Woaſſer; br.iın Seuer; c) ineder Erde ſeinſt; 
-d) in der Luft. Unbeſtummte Weeieungen: ber Miten ; 

-a) im Maſſer: 0 ‚Xhnied mon Milet, «voriger glaubt, 
die ganze. Erde ſchuimme im Maſſer. Möiberiegumg. Andere 
n bas Erdbeben auch aus dem Waſſer, aber aus ans 
darn Sruͤnden, aus Gewaͤſſern, die durch die Erde laufen, 
und aus. unterirdiſchen Sem. amd ıhagen ac tat Giouies. 
dee Miss extlaͤrt werben wil; — ans 
2) Im ;Geuer :. [0 :Binarageeot: wer Ryan α 
75 dre-Grbe and Ruft Rieger. wie wer. uwb ad ber 
Dinfeb Bener (ange -n.can dir Greve, TC 


1274 Inhalt des fechsten Buchs. 


Ausweg ſuche. Andere fagen, bad Feuer freie und unters 
hoͤhle, und durch ben Einſturz folger Stellen werde das 
Obenliegende erſchuͤttert; 

c) in ber Erde ſelbſt: fo Anarimenes; aus ihr ſelbſt, 
fagt er, fallen Theile weg. and verfmietenen Urſachen, wie 
am alten Gebäuden. Nachholung einer Hypotheſe über das 
Seuer als Urſache bed Erdbebens. 

Kap. 12 — 19. d) in der Luft. Dafür find die meiſten und 

die bebeutentftien Männer, Arche laus fag: Winde drins 
gen In Die Hönlungen ber Erbe, und durch bie Ueberfuͤllung 
von. Kuft entfieye das Erdbeben, indem fie einen Ausweg 
ſuche. Anſicht des Artiftoteles und Theophraſtus 
von einem Kampf, ber ſich begegnenden Luft; des Strato 
yon einem Kampf bes Kalten und Warmen; Anderer 
von einem Kampf des Waflerd und ber Luft, wie im Koͤr⸗ 
per des Menfaen Bint und Luft bei krankem Zuſtand einans 

— bder entaegen wirten. Widerlegung. Manche behaupten: 

dur Luͤcken und Loͤcher dringe in bie Erbe ein Luftzug hin⸗ 
an; bad Meer laffe ihn nit mehr herauf, und fo fehlage er 
an bie auf ihn druͤckende Erbe an. — Die Meiften nehmen 
an: tie Erde ift vol Lebensluft. die fie von alien Beiten ber 
ausſtroͤmt, eine weite Luftſchichte unter der Erde muß bie 
mit fo bewegiiger Materie angefütite Erbe zus Zeiten erſchuͤt⸗ 
tern, bei gehemmtem Lauf. Der Widerſtand vermehrt ihre 
Kräfte, Meinung des Metrodorus aus Epiob. 

Kap. 20 — 236. Unſichten, nach welchen ale angefährte Urſa⸗ 
nen zufammen, oder body mehrere zugleich bad Erdbeben hers 
vorbringen. Democritus, Epicurus; Leyterer hält uͤbrigens 
für die wvichtigſte Urſache des Erdbebens ben Luftzug; und 
mit Net. Derſelbe bringt die größten Wirkungen hervor. 
— Poſidonius unterfcheibet zwei Arten von Erdbeben: ein 
Rtteiln (Schwanken) und ein Umneigen. Dazu mag 

eine oritie tommen, bas Beben. Dieſe verſchiedenen Bewe⸗ 

— 5 Acben auch verſchiebene Urſachen. ragen der rät 

mden Bertyung, ven bie Erde von unten ier erahnen 

Ruf des Usciepioboras , bed Candy (a Dur 


\ 


Inhalt des fechsten Buche. 1275 


siehumg auf dieſen Digreflion über Alexander ben Großen.) 
Luft ift in jedem Falle tie Urſache. Wie die Luft hineins 
komme? Erſcheinungen, welche baranf hinmeilen, daß bie 
Erſchuͤtterung aus ben unter ber Erde befindlichen mit Luft 
angefülten leeren Räumen komme. 

Kay. 37 — 31. Eigenthuͤmliche Erfaeinungen bei dem Eampas 
nifchen Erdbeben; daß xine Heerde von ſechſshundert Schaafen 
todt niederfiel. Entwicklung ber Urſache biefer Erſcheinung. 
Es iſt viel toͤdtlicher Stoff in der Erde, den bie gebficten 
Kopiere am meiften einatmen, wenn er durch's Erdbeben 
berauftommt. — Daß Menihen Verftand und Belinnung 
verlieren, kommt vom Schreden und von ber Anaft. — Daß 
eine eherne Bildfäute fi gefpalten, follte nicht auffallen, 
da ja Berge und Länder von einander geriffen werben, wenn 
die Natur im Aufrube begriffen ift; Sicilien warb von Ita⸗ 
lien, Afrita von Europa weggeriffen. Warum das Erdve⸗ 
ven mehrere Tage anhielt? — Steinchen von Moſaitvoͤden 
machten ficy los und fügten ſich wieder zuſammen. 

Kay. 53. Beruhigungsgruͤnde. So große Unfälle machen ſtark 
gegen alle, denn bie andern find gering. ine Kieinigteit 
ift das Lesen, aber etwas Großes ſeine Verachtung; durch 
ſie wird man ruhig. Die Todesfurcht nur beunruhigt das 





Sechſstes Bud. 


Von Erdbeben. 
2. ir baden vernommen, mein thevexee Yuactint, 
1# Vompejt, eine volfreihe Stadt in Eoamyanien | WO N 
emen Seite die Küften yon Surrentum nd 


276 mern Abhanblungen. 
anf der andern bie won Herenlanum ſuh einanbermähern, 
"und. das zinge "ofene, Bier aber klandwaͤrts) aurätftretende 
Meer. in eine tiebliche Bucht ‚einschließen , durch ein Erdbe⸗ 
ben gefunten fey, *) und auch die anliegenden „Begenden 
gelitten: haben, und: zwar zur Winterszeit, won der .nufere 
"ten zn behaupten pflegten, "daß, fie von folther Gefahr 
„frei ſey. Es war am fünften yehruar.unter. dem erſten Con⸗ 
flat" des Regulus nuud Virginius, als dieſes Erdbeben Cam⸗ 
Panien mit gewaltiger Zerſtoͤrung verwüſtete, das zwar vor 
ſolchem Unglück nie ſicher iſt, doch aber ohne Schaden durchs 
„gekommen, and ſo oft ſchon mit der blaßen Angſt das 
von gekoinmen war. Auch ein Theilder Stadt. Herculanum 
ftürzte ein, und was nich übrig iſt, ſteht zweifelhaft. Und 
in der Colonie der Nuceriner iſt es; obwohl ohne Zerftö- 
rung, dad) nicht ohne Schaden . abgelaufen. Auch Neapolis 
shatsar Prirateigenthum Vieles, aber an--äffentlichem Nichts 
verloren, und ift von dem entfeplinhen Ungtäd nur leicht 
geftreift worden. Landhanſer aber von einer ſteilen Lage 
haben hie und da, jedoch ohne Schaden, gewankt. Man 
erzählt noch dazu, es fey, eine Heerde von fechshundert 
Stück Schaafen todt niedergefalien, Bildfäulen haben ſich 
geipalten, umd manche Laute feyen ‚Darauf ibetäubt und be⸗ 
wußtlos herumgeirrt. Die Urfachen hievon zu ergründen, 
leitet mich theild der Sufammenhbang des vorliegenden Wer; 
tes, theild das gerade in biefe. Beit sefaliene Ereigniß. Es 


Eeaaktterung , erlt VYompejl un; J. u Edhr. 
Destiny Yan re 


* 


it... 25 


Naturbetrachtungen. Sechͤtes Bud. 1277 


Bad für die Geangſteten Troſtgründe anfzufuchen, und man 
muß ihnen von der entſetzlichen Furcht helfen. Denn wie 
ſoll man noch Etwas für ſicher halten können, wenn die 
Welt felber erſchüttert wird, und ihre feſteſten Theile wan⸗ 
Ben ? Weun, was das einzige Unbewegliche und Feſtſtehende, 
wodurch fie Alles, was ſich auf fie ſtützt, Hält, wie Waſſer 
bewegt wird ? Wenn die Erde ihre Eigenthümlichkeit verlo⸗ 
ren hat, das Stehen: — wo foll denn unfre Angſt ein Ziel 
‚haben? Wo follen unſere Körper einen Zufluchtsort finten, 
wo fid, in ihrer Unruhe hinwenden, ‚wenn, was uns äng⸗ 
„ftet , von unten herauf kommt und aus dem Grund der Erde 
hervortritt ?.Da ift allgemeine Beftürzung, wenn die Häus 
fer kracheu und der Untergang ſich ankündigt. Da rennt 
Jeder jählings davon und verläßt feine Hausgötter und ver: 
traut-fich dem freien Himmel an. Wo wollen wir ung nach 
einem. beraenden Winkel umfeben, wo nad, Hülfe, wenn der 
Erdkreis felber feine Trümmer über uns herführt ? Wenn 
Das. ,-was und ſchützt und heat, worüber die Städte herge- 
baut. find , was Manche den Grund des Erdfreifes genannt 
haben ‚-weichet und wanket? Was kann dir, ich will nicht 
-fagen , zur Hütfe, nur zum. Zrofte dienen, wenn der Schre⸗ 
der Beinen Ausweg mehr hat? Ich frage, :wo ift noch Et⸗ 
‚was ‚das feſt genug wäre, und flark. genug, einen Andern 
and fich ſelbſt zu fchüsen ? Einen Feind kann ich durch 
Mauren zuvärtweifen ; hohe und fleile Burgen können durch 
:den -erfehwerten Zugang wohl mächtige Syeere uihahten. 
Begen Erähme rettet uns ein Hafen, — vor verkagtuntt 
sesbeecbender-Bemwalt und dem endios fürgenven RS 

FRAGE MIA Ei Dad; die Flamme ·geht WIT ww‘ 


42378 Eeneca's Abhandlungen. 


wenn ich fliehe; gegen Donner und das Dräuen des Him⸗ 
mels iſt mir ein unterirdifch Haus und eine tier gegrabene * 
Höhe ein Schusmittel. Jenes Feuer vom Himmel fchlägt ” 
nicht durch den Erdboden durch, fondern es darf ihm leicht " 
Etwas entgegenftehen, fo prallt es ab. Bei der Pet kann 
ich auswandern. Jedem Uebel kaun man entkommen. Noch ' 
nie hat der Blitz ganze Völker verbrannt. Die verpeftete 
Luft hat Städte entvölkert, aber nicht weggerafft. Ater * 
dieß Weber ift von der größten Ausdehnung, unvermeidlid, * 
weit um ſich greifend, allgemein verderbliih. Denn nicht 
nur Hänfer oder Familien oder einzelne Städte leert es " 
aus, fondern ganze Völker und Gegenden Eehrt es um, und 
begräbt fie batd unter Schutt, bald verſenkt es fie in tiefe ® 
Schlünde, und läßt nicht foviel davon übrig, daß wahrzus ° 
nehmen wäre, was nicht mehr ift, fen doch wenigftens ein⸗ 
mal gewefen: fondern über die anfehnfichiten Städte breitet " 
fi), ohne eine Spur von ihrer früheren Herrlichkeit, der - 
Boden her. Und es gibt Leute genug, welche diefe Todes⸗ 
art befonders fürchten, durch die fie fammt ihren Wohnuns 
gen in's Bodenloſe fallen und lebendig aus der Zahl der Les 
bendigen weggerafft werden , als ob ed nicht bei jedem Top ' 
an daffelbe Ziel ginge. Neben Anderm ift Das ein befon= 
derer Zug von der Serechtigkeit der Natur, daß, wenn es 
Ausgeht, Einer daſſelbe Loos hat, wie der Andere. Darum 
iſts gleich, ob mid, ein einziger Stein zerfchellt, oder ob | 
ich von einem ganzen Berg erbrüdt werde; ob die Laſt ei⸗ 
zes einzigen Hauſes über mid) tommt, wad ich unter dem ' 
Meinen Schutt und Staub davon exrfide, Wer dw du am 
ver ErdPreid mein Haupt aubedt: ob ich viren Ara am 


Naturbetrachtungen. Sechstes Bud. 4279 


t und unter freiem Himmel verhauche, oder in der un« 
suren Kluft gähnender Länder: ob ich allein in dieſe 
fe finte oder unter großem Geleit mitfallender Volks⸗ 
aren. Es liegt mir Nichts daran, wie groß der Lärm 
meinem Tod fey, — der ift doch überall gleich. .So 
t und denn hohen Muth fallen gegen jene Serftörung, 
man weder vermeiden, noch durch Worficht befeitigen 
". Hören wir nicht weiter die Leute an, welche Cam: 
ien Lebewohl fagten, und nach, diefem Unfall auswanders 
‚ und erklären, fie werten diefe Gegend nie wieder bes 
ten. Wer bürgt-ipnen dafür, daß diefer oder jener Bo⸗ 
anf befierem Grund ftehe? Alles fteht unter dem. näm- 
en 2008, und ift es noch nicht erfchüttert, ſo iſt's doch 
erfchüttern; die Stelle vielleicht, auf der du jebt mit 
derer Sorge ſtehſt, wird diefe Nacht oder vor Nacht 
h dieſer Tag fpalten. Woher willft du wiſſen, ob nicht 
Gegenden beffer daran find, an denen das Geſchick feine 
icht bereits ausgelafien hat, oder ob es befler in denen 
die zu ihrem künftigen Einſturz jebt noch halten? Denn 
irren, wenn wir irgend einen Theil des Erdbodens von 
er Gefahr ausgenommen und frei glauben. Alte fiud 
dem nämlichen Gefebe unterworfen. Nichts hat die Nas 
fo gebildet, daß es unveräuderlich wäre. Das Eine 
t Heute, das Andere morgen. And gleichwie in großen 
idten jeßzt dieß Haus, jett jenes fich ſenkt: fo nimme 
diefem Erdkreis jebt dieſer Theil Schaden, jest ein ans 
*. Zprus war vor Zeiten durch Einſturz vereuien. 
ea bar wolf Stidfe auf einmal verforen. Im vereihhe 
Gapre Pt ber Anlauf diefer 3erflörenden Kraft — Ver 


48801 Seneecas Abhandlungen: 


“ fie, worin:fie wolle — Achaja und. Macedonien: beichätigt, 
jest Campanien. Das Schickfal macht die Runde, und 
blieb Etwas: ange übergangen, es kommt fchon wieder. 
Das Eine wird feltener angegriffen, das Andere: öfter. 
Nichts läßt es: frei, und fchadlos. Nicht. nur wir Mene 
fhen, die: wir ald kurzdaurende und hinfällige Gefchöpfe 
geboren. werden, Städte und. Küftenländer und Ufer und 
dad Meer felber kommt unter die. Zwinaherrfchaft des 
Schickfals. Dennad) verfpreden wir uns dDaurende Outer 
vom Schickſal, und. glanben , daß. der Glückszuſtand, deflen - 
Unbeftändigkeit eilfertiger iſt, aldı alles in dev Welt, bei.ire 
send Einem etwas Gewichtiged und Haltbares haben- werde. 
Mührend. man fidy Altes als ewig.verfpricht,, denke man 
nicht: daran, daß Das felber, worauf man fleht, nicht Stand. 
haste. Denn es ift nicht etwa unx in. @umpanien oder Ty⸗ 
rus oder in Achaja, fondern mit jedem Boden fo ſchlecht be⸗ 
ſchaffen, daß er nicht gut zufammenhängt und aus mehreven 
Urfachen. ſich auflöst., und. im. Ganzen zwar bleibt, aber: 
theilweife einſtuͤrzt. — 

2. Was mady ich? Ich hatte verſprochen, Zrofl:zu ge⸗ 
ben gegen die Gefahren, — und fiebe, ich verkündige von:- 
alten Seiten Schredthafteh Ich fage, es ſey Nichta von.: 
ewiger Nuhe, was: vergehen undızenflörend, wirken. kann. 
Aber gerade das ftelle ich als Troſtgrund auf; und zwar ' 
als: den triftigſten, dieweil es thöricht ift, zu fürdyten,. _ 
zos. ſach nicht heifem läßt. Bei Verſtaͤndigen ifl’d- die Ver⸗ 4 

nunfe, weiche bie Schredniffe :verbaunt; die Unverkändigem. — 

bes. ;madıt bie Hoffnungsloſigteit au. van, wei. Ges 
98. alfo auf:.Die.:Drenfchheit . üuherangt veyamerıen. \ayar- 


Naturbetrachtungen. Sechstes Bud. 41281 


was in Beziehung auf jene [Trojaner] gefagt iſt, die in 
plötzlicher Gefangenfchaft mitten zwifchen Flammen und Feins 
den ohne alle Beflunung waren: 

Einziges Heil ber Verlornen, auf keine Rettung zu hoffen. *) 
Wollet ihr Nichts fürchten, fo bedenket, daß Altes zu fürch⸗ 
ten ift; blictet um eudy) her, wie unbedeutende Dinge ung 
aus dem Bleis bringen. Ohne ein gewiſſes Maaß ift ung 
weder Speife, noch Trank, noch Wachen nod) Schlaf heils 
fam. So werdet ihr euch denn überzeugen, daß wir wins 
zige Perföncen find, ſchwächlich, hinfällig, Die zu vernich- 
ten keine große Mühe koſtet. Ohne Zweifel wäre das Eine 
schon Gefahr genug, daß die Länder beben, daß fie auf ein» 
mal auseinander gehen, und Das, was daranf war, eitts 
zwei reiſſen. Da bildet fi) denn Einer viel ein, wenn er 
fi) nur vor Blitzen und Erdbeben und gähnenden Schlün⸗ 
den fürchtet: will Der denn, feiner Schwachheit eingedenE, 
auch einen Katarıh noch fürchten ? Fa freilich, wir find von 
Der Natur fo ausgeftattet, wir haben einen fo glücklichen 
Gliederbau bekommen, und find fo mächtig erflarft, und 
deshalb find wir gar nicht umzubringen, es fey denn, daß 
Erdtheile erbeben,, der Himmel donnere und der Boden eins 
finte! Der Schmerz an einem Nagel, und wenns erft nicht 
einmal ein ganzer ift, wenu er nur einen kleinen Riß au 
der Seite hat, nimmt ung mit; — und ich follte mich vor 
dem Beben der Erde fürchten, da ich an einem etwas titan 

*) Berge. Dirail8 Aeneis T, 354. wo vom YAenead tie ee N 


Ser bei Ber @roberung von Tro RN fetten Lay Dt 
Bevca, 116 Bon, ja in ber verzweif a 


128) Seneca’s Abhandlungen. 


Halsſchleim erſticken kann? Mir follte bang feyn vor dem 
aus feinem Plage gefretenen Meere, und ob nicht in unges 
wöhnlicy großem Lauf die Fluth waflerreicher herandringe, 
da doc Manche ſchon an einem Schluck erftickt find, der ihs 
nen in Iden unrechten Hals kam? Wie thöricht iſt's, ein 
Staufen zu Haben vor dem Meere, während man weiß, 
man könne an einem Tropfen ſterben! Es gibt feinen befs 
fern Troſt gegen den Tod, ald gerade die Sterblichkeit, und 
feinen beifern gegen Alles, was von Außen fchredt, als daß 
unzählige Gefahren im Innern felber find. Was ift doch 
unfinniger , als bei Donnerfchlägen auf den Boden zu fins 
ten, und fich aus Angſt vor den Blitzen unter die Erde zum 
verfriedyen ? Was iſt thörichter,, als das Wanken oder den 
plögtichen inftarz von Bergen zn fürchten und die Einbrüs 
che des and feinen Ufern geworfenen Meeres, während der 
Tod überall vor der Thüre ift und von allen Seiten entge> 
gentritt, und Nichts fo klein iſt, das nicht Kraft genug 
hätte zum Verderben der Menichheit? — So gewiß ift es, 
es folfte und jenes Alles nicht aus der Faffung bringen, 
als ob es mehr Webers in ſich Hätte, denn ein gewöhnlicher 
Tod, ja, da es nun einmal feyn muß, daß man aus der 
Melt geht und diesen Hauch einmal ausbläst, fo follte es 
uns im GegentHeil freuen, auf nicht gemeinem Wege ums 
zutommen. Geftorben muß es feyn, es ſey, wo oder wann 
es mil. Diag diefer Boden immerhin fteyen bleiben und 
AD an feiner Stelle halten und von keiner Gewalt ange 
vorn werden: er wird doch einmal auf mie Venen. Komme 
auf Iuoe Darauf an, ob ich ihn auf mid Arge, Wer dv 
©? — Er ſpaltet fidy mit ungehenrer Gemilt — 


Naturbetrachtungen. Sechstes Bud. 41283 


ich weiß nicht, was für eines Webels: er berftet, und vere 
ſenkt mid) in eine unermeßliche Tiefe. Nun was ifl’s denn ! 
Iſt's leichter zu fterben auf der Oberfläche ? Hab? ic, Grund 
zu lagen, wenn die Natur mich nicht an gemeinem Drte 
will liegen haben ? wenn fie Etwas von ihr auf mich legt? 
Herrlich, fagt mein. Bagellius *) in jenem berühmten Gedichte: 

Muß ich falten, fo möcht? id, fallen vom Himmel herab. 

Eben fo kaun man fagen: Soll ich fallen, fo möcht ich 

fallen, wenn der Erdkreis erfchüttert wird, — nicht als ob 
es Recht wäre, den allgemeinen Untergang zu wünfchen, 
aber es ift ein großer Troſt gegen den Tod, wenn man 
auch die Erde ſterblich fieht. 

3. Dienlidy mag ed auch feyn, wenn man fich vorftellt, 
nicht die Sötter thun dergleichen, und nicht durch den Zorn 
ber höhern Wefen leide entweder der Himmel oder die Erde 
eine folche Veränderung. Das hat feine eigenen Urfachen- 
diefed Toben ift nicht Folge eines höheren Gebots, fondern es 
fommen diefe Störungen aus einer fehlerhaften Beſchaffen⸗ 
beit, wie bei unfern Körpern; und wenn die Welt Gewalt 
auszuüben fcheint, fo wird foldhe an ihr ausgeübt. Weil 
wir aber den wahren Grund nicht Bennen, fo ift ung Alles 
ſchrecklich, und unfere Angſt wird nody durch die Seltenheit 


*, Diefer Bagellins tft unbekannt. Die Handſchriften haben 
den Namen fehr verfgieben: Vagellis, Nagellius, Agellius. 
— Unter dem Namen Valgius ift wohl ein Diditer and Aue 
gafus zeit bereut, vergl. Tibull IV, 1. 18o, uns Kor 

atyr I, 10. 823, — Biellei an, Buusc 
el, Bes Braten Ueicht folte 2% ei 
q »+ 


4284 Seneca’s Abhandlungen. - 


Moicher Ereianiffe] vermehrt. Aus Dem, womit man ver- 
traut ift, macht man fich nicht fo viel; was man nicht ge= 
wohnt ift, bringe größere Furchtfamkeit hervor. Warım 
tft und aber irgend Etwas ungewohnt? Weil wir die Natur 
mit dem Ange, nicht mit der Vernunft auffaffen,, und nicht 
bedentfen, Was fie thun Eönne, nur Was fie fchon gethan 
hat. Für diefe Gedankenlofigteit werden wir denn beftraft, 
indem wir erfchreden, als widerführe ung etwas Seltfames: 
während es doc, nichts Seltfames ift, fondern Etwas, das 
wir nicht gewohnt find. Denn wie? Wird man nicht von 
Scheu gegen die Götter dDurchdrungen, und zwar Volk und 
Dbrigkeit, wenn man die Sonne fid) verfinftern fieht, oder 
den Mond, deſſen Verfinfterung häufiger ift, er mag ſich 
nun theilweife oder ganz verbergen; nnd noch in einem weit 
böhern Grade, wenn jene ſich Lam Himmel] durchkreuzende 
Fackeln erfcheinen, und der Himmel zum größten Theil im 
Feuer flieht, und die Schweifſterne fommen, und mehrere 
Sonnenkugeln, und die Sterne fich bej Tage fehen laſſen, 
und fchnell vorübergehende Feuer, die eine große Helle nach 
fidy ziehen? Nichts dergleichen bewundert man, ohne es 
zu fürchten, und ohnerachtet der Grund der Furcht in dem 
Mangel an Kenntniß liegt, halt man's doch nicht für der 
Mühe werth, die Kenntniß zu befisen, um die Furcht zu 
verlieren. — Wie viel vernünftiger iſt's doch, den Urfachen 
»achzuforfchen,, und zwar mit Anſtrengung aller Seefenträfte, 
San ja Boch in aller Belt kein Gegeuftand gefunden wers 
en, Per mebr verbiente, daß ſich ihm unter Guſ wie nur 
wede, fonbern ganz widıne, 
“ Anterfucpen wir daher, Was es ey, dad Te Em 


Naturbetrahhtungen. Sechſstes Bud. 1286 


von den unterſten Tiefen aufregt, Was_eine Maſſe von 
ſolcher Schwere in Bewegung fest, — Was denn flärker 
fey als fie, und Was eine folche Laſt durch feine Kraft zum 
Banken bringe: warum fie bald erzittere, bald locker unb 
Iofe geworden, fich fenke, bald zerfpalten auseinander gehe, 
und ed das Einemal lange anftehen laffe, bis wieder ein 
Sturz kommt, bald folches rafch aufeinander folge; warım 
fie jest Flüſſe von anfehnlicher Größe einwärtd ziehe, bald 
neue hervordräde; manchmal Adern warmer Gewäller auf- 
fchließe, manchmal fie wieder abEühle und bisweilen durch eines 
Berges oder Felfen vorher unbekannten Erater Feuer auge 
fpeie, bisweilen Tängit befanntes und durch Jahrhunderte be= 
rüchtigtes Dämpfe. — Zaufend Wunder gebiert fie, und gibe 
Gegenden ein ganz anderes Ausfehen, Berge macht fie nie= 
driger und Ebenen höher, Thäler erhebt ſie, und läßt neue 
Inſeln im Meere auffteigen. Durch weiche Urſachen Solches 
gefchehe, verdient wohl erforfcht zu werden. Was wird 
man denn, fraaft du, damit gewinnen? Das Wichtigfte, — 
daß man die Natur kennt. Denn wiewoht die Befchäftigung 
mit dieſem Gegenflande Vieles hat, was Nuben bringen 
kann, fo ift doch das Schönfte, daß fie den Menfchen durch 
ifre Erhabenheit feſſelt, und daß man fih nicht Lohn’, 
fondern Wunders halber darauf einläßt. Betrachten wir 
daher, woher jene Erfcheinungen rühren, und dieſe Ber 
trachtung ift mir fo angenehm, daß ich, obwohl ich fchon 
als junger Mann einmal eine Schrift über Exhhehen herante 
gab, mich doch jest zu verfuchen und zu eryrnben Tot kt. 
06 ip mit den Jahren entweder an Einfcdt wer Weist 
w Forſcherſſci zugenommen babe. 


4286 Seneca's Abhandlungen. 


5. Die Urfadhe, warum die Erde erfchüttert wird, 
haben die Einen im Waffer, die Andern im Feuer, wieder 
Andere in der Erde felbft und noch, Andere in der Luft zu 
Anden geglaubt. Manche haben geſagt, das fey ihnen Elar, 
daß eine von dieſen Urfachen gelte; aber weiche es fey, 
darüber feyen fie nicht im Neinen. Nun wollen wir Ein’s 
nad) dem Andern durchgehen. Vor Allem muß ich bemerken, 
daß die Meinungen der Alten etwas unbeflimmt und unaus— 
gebildet find. Man irrte noch um den rechten Punkt herum. 
Bei den erften Verſuchen war Alles auffallend, nachher 
wurde es erft mehr ausgefeilt; doch wenn man je auf Etwas 
gekommen ift, fo hat man’d eben doch von ihnen. Es war 
Bas Unternehmen eined großen Geiſtes, die innern Gemächer 
der Natur zu durchflöbern, und nicht zufrieden mit ihrem 
Anblick, von Außen Kineinzufchauen, nach Innen und in die 
Geheimniſſe der Götter tief einzudringen. — Wer die Hoff: 
ung hegte, es Finnen feibige aufgefunden werten, der hat 
fchon etwas Großes zu der Erforfchung beigetragen. Man 
muß daher die Alten mit Nachſicht anhören. Nichts ift in 
feinem Anfang vollendet. Und nicht nur bei diefen Gegen» 
Hand, der unter allen der umfaflendfte und verwiceltfte ift, 
and bei weichem, wenn auch fchon viel geleiftet ſeyn wird, 
doch alle Tahrhunderte noch Etwas zu thun finden werden, 
fondern bei jedem andern Gefchäfte waren die erften Schritte 
anmer weit von der Vollfommenheit entfernt. 

6. Daß im Waffer die Urfache liege, ift nicht nur von 
Einem behauptet worden, und nicht nur auf einerlei Weife. 

2Z/ales pon Milet ift der Anſicht, daß die ganze Erde 
v7 antenliegenbder Feuchtigkeit getragen werde und darin 


omysungen. Sechſstes Bud. 41287 
ſchwimme, man mag darınfer nun den Dcean verftchen, oder 


Das große Meer, oder ein noch einfaches Gewälfer von an⸗ 


derer Natur und das Element der Feuchtigkeit. Yon diefem : 


Gewäfler, fagt er, wird der Erdkreis getragen, gleichwie " 
ein großes und für das Gewäſſer, worauf es drückt, ſchweres 
Schiff. — Es ift nicht nöthig, die Gründe anzuführen, aus +" 


denen er der Anficht ift, daß der fchwerfte Theil des Welt: 


gebäude nicht von der Luft getragen werde, die fo dünn — 


und flüdjtig ift, denn ed Handelt fich jebt nicht um die Lage 
der Erde, fondern um ihre Erfchütterung. Als Beweis 
dufür, daß im Waller die Urfache Tiege, wodurch Ddiefer 


Erdfreis beunruhigt wird, führt ev den Umftand an, daß " 


bei jedem bedeutenden Erdbeben in der Regel neue Quellen ' 


Hervorbrechen,, wie es ja audy bei Schiffen der Fall ift, daß 


fie, wenn fie ſich neigen und auf eine Seite fich ſenken, 


Waſſer einfchluden, welches bei der ganzen Laſt Deffen, 
was es bei fid, führt, wenn die Schiffe ungewöhnfich hinabs 


gedrückt werden, über fie herſtrömt, oder wenigftens vechte ' 


md Kinds mehr als gewöhnlich fteigt. — Daß diefe Meinung 
ilſch fen, braucht nicht weitläufig bewiefen zu werden. 


zenn nämlich das Waller die Erde trüge und diefes biss : 


eilen einen Stoß erlitte, fo müßte fie immer in Bewegung 
in, und wir würden und nicht darüber wundern, daß fle 
Unruhe gefebt wird, fondern daß fie ruhig bleibt. Im 
em Fall würde die ganze Erde erfchüttert werden, nicht 
theilweife, fondern allgemein. Wie wäre ed denn mögs 
daß Etwas,. das ganz gefragen wird, nicht ganz im 
egung gefest würde, wenn es durch dad Tragende in 
egung gefept wird? — Uber warum reden Basler. 


J 
J 


1288 Seneca's Abhandlungen. 


quellen hervor? — Für's Erſte hat ſchon oft ein Erdbeben 
Statt gefunden, ohne daß ein neues Gewäſſer hervorgefloffen 
ift. Sodann, wenn aus diefer Urſache Wafler hervorbräche, 
fo würde es an den Seiten der Erde herumftrömen, fo wie 
wir auf Flüffen und auf dem Meere wahrnehmen, daß fich 
das Wachren des Waſſers, fo oft Fahrzeuge verfinfen, 
hauptfächlicd, an den Seiten zeigt. Endlich aber würde der 
Ausbruch, von dem die Rede iſt, nicht fo unbedeutend feyn, 
und es würde nicht, wie durch eine Rise, Grundwaffer hers 
vorquellen, fondern es entflünde eine gewaltige Ueberſchwem⸗ 
- mung, ald von einem unendlichen und Altes mit fich forte 
‚ nehmenden Gewäiler. 
\ 7. Manche haben das Erdbeben [zwar auch) dem Wafler 
„ äugefchrieben, aber nicht aus dem nämlichen Grunde. Durd) 
# Die ganze Erde, fagen fie, laufen viele Arten von Waffern. — 
Hie und da fortwährende Ströme, die, aud) ohne daß ihnen 
| Regengüfle aufhelfen, groß genug find, um befahren werden 
:zu Eönnen. Daher führt denn der Nil im Sommer feinen 
mächtigen Waflerftand, daher, mitten zwifchen ruhigen und 
‚friedlihen Provinzen fErömend, der Danubius und Rhenus, 
‚der eine die Einfälle der Sermaten abhaltend und Europa’s 
I mnd Afia’s Grenze bildend, der andere die Germanen, das 
kriegsluſtige Volk zurückweiſend.) — Nimm dazu die Seen 
son mächtiger Ausdehnung, die ftehenden Gewäller um 
Woͤlker her, die einander felber nicht Kennen, und die Mos 


*) Da die Scythen ſowohl in Europa als im Aſien wehnten, 

und da Ihre Befinungen jenfeits ber Domas anfingen, fo 
3 Sonnte in biefer Beziekung gefagt werben, bie Donau ſcheide 
Ma ab uropa? eigentlich bildete dee Tanais bie Grenze. 











Naturbetrachtungen. Sechstes Bud. 1289 


räfte, durch die kein Fahrzeng kommt, und die felbit den 
Anwohnern unzugänglich find. Sodann die vielen Brunnen, 
die vielen Flußquellen, die da auf einmal erfcheinende und 
aus verborgener Tiefe hervorkommende Ströme auswerfen. 
Berner die vielen periodifcdh angefammelten ftürzenden Wald⸗ 
bäche, deren Waſſer fo Eurz als plöglich firömen. Ganz 
diefe Natur und dieſe Beftaltung haben auch die Gewäller 
im Innern der Erde. Auch da laufen einige in mächtigere 
Bette, und flürzen jählings gewälzt dahin; andere ſtröͤmen 
frägern und Teichtern Laufes, und fließen fanft und ruhig. 
er kann aber behaupten, daß fie nicht auch in ungeheuren 
Behältniffen fi, anfammeln, und an vielen Stellen träge 
Gegen bieiden? Er braucht Feines Iangen Beweiſes, daß 
da viele Gewäffer feyen, wo alle find. Denn die Erde 
würde nicht fo viele Flüffe hervorzubringen im Stande ſeyn, 
wenn fie diefelben nicht von einer aufbewahrten und veichs 
lichen Maſſe ausftrömte. Wenn Dieß richtig ift, fo muß 
daferbft bisweilen ein Strom anwachſen, und feine Ufer 
verlaffend,, mit Gewalt gegen Das, was ihm im Wege liegt, 
andringen. So muß eine Erfchütterung von irgend einer 
‚Seite erfolgen, gegen die der Fluß anftößt, und an diefe 
wird er anichlagen, bis er wieder abnimmt. Auch kann es 
gefchehen, daß ein anflrömenter Bach eine Gegend unter- 
böpft und eine Maffe mit fich fortreißt; Fällt dann diefe, 
fo muß, Was darauf liegt, erfchüttert werden. Wer aber 
nicht glaubt, daß im verborgenen Schosos der Erde Bufen 
eines nnermeßlichen Meeres feyen, der traut wohl nur feinen 
Augen zu viel, und weiß nicht weiter zu deuten, ML 


fieht, Denn ich Sehe doch auch gar nicht cin, Er tem 





:4290 Seneca’s Abhandlungen. 


hindern und im Wege ftehen foll, daß es nicht auch dort in 
der verborgenen Tiefe ein Ufer gebe und ein durch unficht: 
bare Zugänge eingedrungenes Meer, das auch dort wohl 
eben fo viel Raum einnimmt, oder vielleicht deßhalb noch 
mehr, weil die Oberfläche mit fo vielen lebendigen Wefen 
zu theifen war ; denn Das, was vom Tageslicht weggewiefen 
und ohne einen Beſitzer gelaffen ward, hat ja um fo freiern 
Kaum für das Gewäſſer. Und wo ift denn ein Hinderniß, 
daß ed dorf nicht fluthe und von Winden bewege werde, 
die in jeder Lüce des Erdbodens und von jeder Luft erzeugt 
werden? Möglich iſt's daher, daß ein entflandener unge: 
wöhnlid, großer Sturm an diefen oder jenen Theil der Erde 
anfchläge und ihm mit Heftigkeit erfchüttert. Haben ja doch 
aud) bei ung viele Streden, die weit vom Meere entfernt 
waren, durch den heftigen Andrang deffelben Stöße erlitten, 
und Lanthäufern, die vor unfern Augen Tiegen, hat die 
fernher braufende Fluth zugefest. Auch in diefem Fall iſt's 
möglich, Daß dad unterirdifche Meer mitwirkt; und in jedem 
alle muß das Dbenftehende erfchüttert werden. 

8. Ich glaube in der. That nicht, daß du lange Anſtand 
nehmen wirft, ob du glauben fouft, daß ed unterirdifche 
Ströme gebe und ein verborgened Meer. Denn von woher 
bricht denn all Jenes hervor, und woher kommt es denn zu 
und, als daher, weil der Urfprung der Feuchtigkeit einges 
fchloffen it? Denn fiehe doch, wenn du wahrnimmft, daß 
der Tigris mitten in feinem Lauf unterbrochen wird umd 

48rrodnef, und nicht feine ganze Maffe fich ablenkt, ſon⸗ 
m nach und nach, ohne daß man die Whnohme werkt, 
7 Steiner wird, Dann ganz verſchwindet wo went \s 


Naturbetrachtungen. Sechstes Bud. 1291 


denn, daß er Hinfomme, als in den dunfeln Erdenfchoog, 
zumal, da du fiehft, er kommt wieder hervor, und nicht 
Heiner, als er zuvor geftrömt. Und betrachte doch den Al⸗ 
pheurs, von dem die Dichter fingen, der in Achaja fich vers 
ſenkt, und nachdem er Das Meer durchftrömt hat, in Si—⸗ 
cilien wieder den Tieblichen Duell Arethuſa ergießt. Und 
weißt du nicht, daß unter den Vermuthungen, mit denen 
man das Anfchwellen des Nil's im Sommer erklären will, 
aud) die ift, er breche von der Erde aus durch, und wachſe 
nicht durch Gewäſſer von oben her, fondern von unten herz 
auf? — Ich habe die beiden Genturionen, welche der Kaifer 
Nero, der, wie anderes DBortreffliche, fo auch die Wahrheit 
in vorzüglichem Grade liebt, zur Auffuchung der Nilquellen 
abgefchickt hatte, erzählen hören, fie haben einen weiten 
Weg gemacht, da fie vom König von Wethiopien unterſtützt 
und den angrenzenden Königen empfohlen, immer tiefer eins 
gedrungen wären. Wir Samen, erzählten fie, an uner« 
meßliche Moräfte, deren Ausgang weder die Einwohner 
kannten, noch irgend Semand L[fennen zu lernen] hoffen 
Tann , fo fehr ift das MWuffer mit. Kräutern verwachfen, und 
darin weder zu Fuß durchzufommen, noch mit einem Fahr⸗ 
zeug, denn wenn ein folches nicht Elein wäre und nur esnen 
einzigen Mann fallend, fo würde es der verfehlammte und 
verftopfte Sumpf nicht fragen. — Dafelbft, hieß es, fahen 
wir zwei Felſen, aus denen die gewaltige Waffermaffe eines 
Alufles herausſtürzte. Allein, es mag nun dieß Vie Duelle 
des mia Ton, oder nur ein Zuwachs zu Tewmielten , <b en 
dort fein Urfyrung ſeyn, oder mag er hier, MÄR 
fedserm £aufe in den Boden eingefitert WM ars N 


3 


1292 Seneca's Abhandlungen. 


hervortreten: glaubſt du nicht, daß diefe Waflermaffe, 
es fey wie ed wolle, aus einem großen See in der Erde 
heranstomme? Es muß diefelbe ja nothwendig eine an 
mehrern Orten zerftreute Feuchtigkeit haben, und die fidh 
in der Tiefe aufimmengedrängt hat, wenn diefelbe mit folcher 
Gewalt foll hervorbrechen können. 

9. Manche Halten dag Feuer für die Urfache des Erd» 
bebend und zwar auf verfchiedene Weife. Unter Diefen ift 
befonders Anaragoras, weicher dafür hält, ungefähr durch 
die gleiche Urfache werde wie die Luft, fo auch die 
Erde erfchüttert, wenn unter der Erde der Luftzug Pie 
untere dichte und in Wolken zufammengetriebene Luft mit 
derfelben Kraft zerreißt, wie auch bei und das Gewölke ges 
brochen zu werden pflegt, und aus diefem Iufammenfchlagen 
der Wolken und durch den Lauf der aus ihrer Stelle ver: 
drängten Luft euer hervortritt. Diefes nun läuft gegen 
Dasjenige an, was ihm im’ Wege fteht, und ſucht einen 
Ausweg und reißt das Widerſtand Leiftende auseinander, 
bie es aus dem Gedränge einen Weg, zum Himmel aussus 
laufen , entweder von felbft gefunden, oder fi mit Gewalt 
I und Schaden felber gebahnt hat. — Andere halten dafür, 

Das Feuer fey freilich Urfache, aber nicht aug dem anges 

gebenen Grunde; fondern weil es an mehrern Orten fidy 

entgegendrängt und brennt, und Alles aufzehrt, was ihm 
zunächft liegt. Wenn dann diefe manchmal unterhöhlt find 
vnd einftürzen, fo erfolge eine Erfchütterung derjenigen 

— de ißrer untergeſtellten Stühen ermangelnd ſo Lange 
By Pr6 fie zufammenfallen, weil Nichts entgegentuuunt, 
Pie Eaff aufgefangen würde. Dann tiiwen Ih 


- Raturbetrachtungen. Sechstes Bud. 4295 


lünde und ungeheure Erdfpalten; oder wenn fie lange 
uhergefchwantt haben, fo Legen fie fid, über Das her, was 
ch übrig ift und ſteht. Daffelbe nehmen wir auch bei uns 
ahr, wenn in einem Theil der Stadt Feuer ift. Sind die 
alten abgebrannt, oder Das, was dem Obenſtehenden 
alt gab, verdorben, dann flürzt der Giebel, nachdem er 
b-Iange hin und her bewegt hat, zufammen und ift fo lange 
nftät und hat Beine fichere Stelle, bis er auf feftem Grund 
egen geblieben ift. 

10. Anaximenes fagt, die Urfache bes Erdbebens Liege ” 
a der Erde ferbft, und es komme nicht Etwas von 
Iußen, was au fie ftoße, fondern in und aus ihr felbft 
illen manchmal Theile von ihr weg, bie entweder durch 
euchtigkeit los geworden feyen, oder vom Feuer verzehrt, 
der durch einen heftigen Luftzug hinweggerättelt. Doc) 
venn auch diefe Fälle nicht eintreten, fo gebe es allerlei, 
wodurch, fih Etwas losmache oder abgeriffen werde. Denn 
Iir6 Erfte macht die Länge der Zeit Alles wanfen, und 
dichts ift vor dem Alter fiher. Diefes nagt aud) an feften 
nd fehr flarfen Dingen. Gleichwie daher an alten Ge⸗ 
äuden Bandes verfällt, ohne daß es erfchüttert worden 
1; wenn nämlich die Schwere größer ift, als die Kraft: 
» gefchieht es bei diefem ganzen Erpkörper, daß fid) feine 
‘heile durch die -Zänge der Zeit Tosmachen, und wenn ie - 
5 geworden find, fallen, und Das, was darüber her ul, 
rbeben muß: erſtlich fchon dadurch, tag Ke KG Lmun mus 
ven, Denn es gibt nichts Großes, das vine Erihittuiun 
een, womit ed zufammenhing, Loögeriien wÜttt> — 
‚fie gefallen (ind, gefcyieget es , dag ie au TEEN 


d 


41294 Geneca’s Abhandlungen. 


aufgefaken, wieder auffpringen, gleich einem DBalle, der, 
wenn er gefallen ift, auffpringe, und öfters einen neuen 
Schwung erhält, weil er fo oft vom Boden zu neuem Aufs 
fpringen emporgeworfen wird. Wenn aber Etwas in fies 
hendes Waſſer gefalten ift, fo erfchüttere diefer Fall fogar 
die Umgebungen durch die Wogen, welches durch das plöß- 
liche gewaltige und aus der Höhe herabgefchleuderte Gewicht 
verurfacht wird. 

11. Manche fchreiben jene Erderfchütterung zwar dem 
Feuer zu, aber auf eine andere Werfe. Da es nämlich an 
mehrern Orten glüht, fo muß es nothwendig einen unges 
heuren Dampf hervorbringen , der nirgends hinaus kann 
und vermöge feiner Kraft eine Spannung in der Luft het⸗ 
vorbringe, und, wenn er zu einer gewiffen Heftigkeit fteigt, 
das ihm im Wege Stehende auseinander treibt; wenn er aber 
minder heftig ift, weiter Nichts thut, als daß er eine Bes 
mwegung hervorbringt. Wir fehen das Wafler fieden über 
dem Feuer. Was es bei einem fo eingefchloffenen und uns 

ausgedehnten Wufler bewirkt, das, müſſen wir glauben, 
thut es noch in einem weit höhern Grad, wenn es heftig 
und in mächtigen Umfang große Gewäfler aufrest. In 
diefem Falle febt ed durch, die Ansdünſtung der Wellen wers 
fenden Gewäſſer, Alles, woran es fchläge, in Bewegung. 

12. Daß es die Luft fey, welche dad Erdbeben her 
vorbringt, dafür- find niche nur die meiften, fondern auch 

die beveutendften Männer. WUrchelaus,*) der Aiterthums⸗ 


“85 ij bier yoohl nicht des Anaxaqoras Schuͤler und des 
Coawted Loprer, Aichelaus aus Milet gemeint, fondern 


- Naturbetrachtungen. Sechstes Bud. 1295 


und, ſagt fo: Die Winde dringen in die Höhlungen der 
de hinab: alsdann wenn dort alle Räume voll find, und 
» Luft fo verdichtet worden ift, als fie Eonnte, fo drüdt 
» noch Hinzutommende Luft auf die fräher vorhandene und 
eibt fie aus ihrer Stelle, und unter heftigen Schlägen 
ängt fie dieſelbe zuerſt zuſammen, und bringe fie enblicy 
Unruhe. Darauf fchiebt fie, einen Ausweg fuchend, alfe 
gen Stellen auseinander, und ſucht ihr Sefängniß zu ers 
ehen. So geſchiehet es, daß von der Fämpfenden und 
sen Ausweg fuchenden Luft die Länder erfchüttert werden. 
enn daher ein Erdbeben beyorfteht, fo geht eine Stille 
d Ruhe in der Luft voran, weil nämlid, die Maffe der 
ft, welhe Winde zu erregen pflegt, fich in der unter 
iſchen Wohnung aufhält. Auch jest, da in Campanien 
& Teste Erdbeben war, fland die Luft, obwohl es Winter 
ir, die Tage vorher von oben herab ruhige. Sol aber 
raus folgen, daß nie, wenn ein Wind geht, ein Erdbeben 
htrete? — Sehr felten iſt's freilidy, dab zwei Winde zue« 
ei) wehen. Doc ift’d möglich umd nicht ohne DBeifpiel. 
zenn wir Dieß annehmen, und es gewiß ift, daß zwei 
zinde anf einmal herrfchen: warum follte es nicht gefchehen 
men, daß der eine die obere Luft in Bewegung ſetzte, der 
dere die untere. 

13. Unter Diejenigen, welche dieſer Abſicht beipflichten, 





ohne Zweifel Derjenige, weicher ein Buch über die Infer 
Eubda geſchrieben, wo auch oͤfters Erobeben waren. Aris 
ſtoteles erwaͤhnt unter Denen, die uͤber Erdbeben geſchrieben 
haden, des Archelaus noch nicht. Mom \olirht daran, % 
er nach Ariſtoteles gelebt habe. 


41296 Seneca's Abhandlungen. 


barf man den Ariſtoteles vechnen und feinen Schüler Theo— 
phraſtus, einen Mann, der zwar nicht, wie die Griechen 
meinter,, eine Götterberedtfamfeir*) befaß, aber doch eine 
Tiebliche und ungekünſtelt zierlihe. Die Anfichten dicfer 
Beiden will ich darlegen. Es findet beftändig eine Aus: 
Dünftung aus der Erde Statt, welche bald trocken, bald mit 
etwas Feuchtem verbunden ift. Diefe, welche tief von unten 
herauf kommt und hoch fteigt, als fie kaun, wenn fie 
wicht mehr weiter —8 auslaufen kann, geht ſie wieder 
rückwaͤrts und wälzt ſich in ſich ſelbſt zurück: und indem 
nun der Kampf der ſich begegnenden Luft das im Wege 
Stehende in Bewegung ſetzt, und fie entweder keinen Aus: 
weg hat oder durc enge Stellen fid, hinausdrängt, erregt 
fie Erfchütterung und Unruhe. Aus der nämlichen Schule 
ift Strato ‚„**) der diefen Theil der Philofopbie hauptſächlich 
bearbeitet hat und ein Naturforicher war. Seine Theorie 
ift folgende: Das Kalte und dad Warme find ſich immer 
entgegen und können nicht beifammen feyn: wo die Wärme 
weggeht, da zieht ſich die Kälte hin, und umgekehrt, warm 
ift es da, wo die Kälte weggetrieben worden ift. Mit 
diefer Behauptung hat es feine Richtigkeit; daß aber beide 
Kräfte einander entgegengefeht feyen, mag dir aus Fol—⸗ 
gendem deutlich werden. Zur Winterszeit, wenn oben auf 


*) Darauf deutet fein Beiname: Theophraſtus, d. ift der götts 
lim Redende, — weisen ihm Wriftoreie® gab; eigentlich 
hieß ee Tyrtamus, vergt. Cic, Orator. 19. Plin. nat. 
hist, I, praef. Quintil, Inst. Or. X, ı — 8). 

w“, Sıraro von Lampſacus, ded Tyeophroſtus Nachfolger, und 
£eprer bes Pioiemdus Philadelphus, um’s Jayr v. Chr. aBı. 


Naturbetrachtungen. Sechstes Bud. 4297 


der Erde Kälte ift, find die Brunnen warm, und eben fe, 
die Höhlen und alle unterirdischen Derter, weil ſich dahin 
die Wärme gezogen hat, die der Kälte auswich, indem dieſe 
die Oberfläche in Bells nahm. Iſt nun die Wärme in die 
untern Regionen hinabgedrungen, und hat fie fid) da fo viel 
wie möglich hingedrängt, fo ift fie um fo Eräftiger, je dichter 
fie ward. Zu diefer komme nun nod) eine andere, welcher 
snothwendiger Weife jene fchon angefammelte und eug einges 
gepreßte weichen muß. Der nämliche Fall tritt im Gegen⸗ 
heil ein, wenn eine zu große Maſſe von Kälte in die 
Höhlen eingedrungen ifl. Was dort von Wärme noch ſteckt, 
zieht fih, der Kälte weichend, in bie Enge und wird mit 
großer Heftigkeit fortgetrieben,, weil die Natur. beider Stoffe 
2eine Vereinigung und kein Beifammenweilen leidet. Wenn 
alfo einer derfelden fid) auf die Flucht begibt und auf jede 
Weiſe hinaus will, fo ſetzt er Altes, was ihm nahe ift, in 
Aufruhr und Bewegung. Daher pflegt auch vor einem Erds - 
beben ein Brüllen gehört zu werden, indem die Winde in 
der Tiefe toben. Denn anf eine andere Weife könnte nichk, 
wie unfer Virgilius*) fagt: 

Unter den Füßen erbröhnen der Boden, und Berge ſich regen, 
wenn das nicht durch die Winde bewirkt würde. Diefer ' 
Kampf wechſelt fodann: es hört die Anfammlung des Wars 
men auf, und hinwiederum aud, der Ausbruh. Daun wirb 
Dad Kalte gesämpft und laͤßt nach, um bald wieder defle . 
mächtiger zu werden. Indem alfo die wechfelnden Kräfte in 


+) Bergi. Virgiles Aeneis IV. 256. 
Gene. 118 Eden, y 


19398 . + Beneea’s Abhandlungen. 


ihrem Laufe find nnd die Luft hin und wieder wandert, ent⸗ 
flieht die Erfchätterung. 

14. Einige halten dafür, das Erbbeben entftehe zwar 
durch die Luft, und gerade auf diefe Weife, aber aus einer 
andern Urfache, als Wriftoteles angibt. Vernimm, was 
Diefe fagen. Unfer Körper wird angefencheet theils durch 
das Blut, theils durch die Luft, die ihre eigenen Gänge 
umher macht. Wir haben aber zum Theil enge Behäftniffe 
der Lebendluft, durch weiche fie weiter nichts als durchs 
fledömt, zum Theil weitere, in denen fie ſich anfammelt, 

und von wo fie fich vertHeilt. So ift dieſer ganze Erdkörper 
theils von Waffern, welche die Stelle des Blutes vertreten, 
theits von Winden burchftrömt, die man wohl nicht anders, 
18 den Lebenshauch [der Erde] nennen Bann. Diefe beiden 
laufen an manchen Orten zufammen , an manchen bleiben fie 
ſtehen. Aber fo wie in unferm Körper, fo lange er im ger 
ſunden Zuſtande ift, die beweglichen Blutadern auch unges 
ftöre ihre Ordnung halten, wenn aber eine Störung eintritt, 
fihnelter fchlagen, und Seufzer und tiefes Aufathmen Zeichen 
von Entkräftung und Müdigkeit find: fo bieibt auch die 
Erde, fo ange fie in ihrem natürlichen Zuſtande ift, uner⸗ 
fdyüttert, fehlt ed aber irgendwo, dann entflehf eine Bes 
wegung, wie in einem kranken Körper, indem die Zuft, 
weiche ruhig durchftrömte, heftig angefchlagen wirb und ihre 
; Adern erfchüttert; es iſt aber nicht, wie vorhin behauptet 
"wurde, da man die Erde als ein lebendes Wefen angefehen 
wien wit; denn wein fie wie ein lebendiges Weſen wäre, 
ne Ne burchaus eine gleiche Erichütterung eriohten. 
7a andy bei uns nicht der Zau, dar das Aiever den 


—— —— — nn. 


Naturbeteachtungen. Sechſstes Bud. 1299 


oder jenen heil gelinder angreift, fondern ed geht durch. 
alle. Theile gleichmäßig durch. Es kommt alfo darauf an, 
ob von ber die Erde umgebenten Luft ein Zug in fie ein« 
dringt: und fo lange diefe einen Ausweg hat, geht es ohne 
Auſtoß ab; wenn ſich aber Etwas .entgegenftellt und fie auf 
Etwas trifft, was ihr den Meg verfperrt, dann wird fie 
anfangs von der fich hinterher brängenden Luft befchwert. 
Sodann madıt fie ſich durch irgend einen Spalt verkümmert 
durch, und gebt um fo heftiger, je mehr fie in die Enge 
gepreßt iſt. Das kann nicht ohne Kampf abgehen, und der 
Sampf nicht ohne Erfchütterung. Findet fle aber andy) nicht 
einmal einen Spalt zum Ausitsömen; dann tobt fie zuſam⸗ 
mengebalit, und dreht fid, dahin umd dorthin herum, und 
flürzt bald Etwas nieder, bald reißt fie Etwas auseinanderz 
und wenn fie fehr dünn, und doc, zugleich fehr ſtark ax 
verrammelte Pläße gleichwohl Hinfcheicht, und Alles, wohin 
fie eingedrungen, mit .ihrer Kraft auseinander reißt und 
zerfprengt, dann wird die Erde erfchüftert. And entweder 
geht fie, um dem Winde Plab zu maden, auseinander, 
oder, wenn fie ihm Platz gemacht hat, finkt fie, der Unter⸗ 
Lage beraubt, in diefelbe Höhfung hinab, durch die fie ihr 
herausgelaſſen hat. 

35. Manche meinen fo: die Erde ift an vielen Stelle 
durchlöchert, und fie hat nicht nur jene urfprünglicden Wege, 
die Sie, gleichſam als Luftlöcher, von Anfang bekommen 
hat, fondern viele Hat ihre mod) der Iuiall aegehen. — De 
manchen Stellen bat das Waſſee mit hinsbammummen ı S 

oben von Erdreich, Ing; andere; Stellen And DR 


500 Seneen’s Abhandlungen. 


anggewühlt worden, und es hat ſich da durch mächtige Flu⸗ 
then ein offener Bruch gezeigt. Durch diefe Lücken dringt 
der Luftzug hinein; und wenn dieſen dad Meer eingefchloffen 
hält und ihn weiter in die Tiefe hinabtreibt, und bie Fluth 
ihn nicht zurüdigehen läßt, dann wälzt er fich herum, da 
ihm zugleich ein Ausweg und der Nücweg abgefchnitten ift. 
Und weil er nicht in gerader Linie fort kann, was feine 
natürliche Richtung ift, fo firebt er in die Höhe, und 
fchlägt die auf ihn drüdende Erbe auseinander. 

216. Noch muß id anführen, Was die meiften Schrift: 
flelfer annehmen, und womit man vielleicht einflimmen wird. 
Daß die Erde nicht ohne Luft ſey, ift offenbar. ch meine 
sicht nur die, wodurch fie mit ſich feibft zufammenhängt 
und ihre Theile verbindet, die aud in Steinen und fodten 
Körpern ift,, fondern ich meine jene Leben gebende und erres 

: gende und Alles nährende. Wenn fie Beine ſolche hätte, 
wie könnte fie doc in fo viele Bäume und Pflanzen, die 
von nichts Anderem leben, Luft eingießen? Wie könnte fie 
die fo verfchiedenen Wurzeln hegen, die bald fo, bald anders 
m fie hineingeſenkt find, zum Theil oben Tiegend, zum 
Theil tiefer gehend, wenn fie nicht viel Lebensluft hätte, 
Bie fo Vieles und fo DVerfchiedenes erzeugt und durch ihr 

Einſchlucken und ihre Nahrung aufziehe? — Ich bediente 
mic, bis jetzt nur fchwacher Beweife. — Aber diefer ganze 

- Himmel, welchen der feurige Aether, ald der höchfte Theil 

Ser Belt, einfchließt, alle diefe Sterne, deren Zahl ſich 

Dr dereosnen Idßt, biefe ganze Schaar von Himmelskörs 

* der andern nicht zu gedenken, dieſe Sonne , vr 

er und ihre Bahn hält ‚ und mehr ald eimml \a 


Naturbetrachtungen. Sechstes Bud. 41301 


groß ift, als der ganze Umfang der Erde, — bieß Alles 
zieht Nahrung ans dem Erdftoff, und vertheilt fie unter 
ſich, und wird durch gar nichts Anderes erhalten, ald durch 
die Aushauchung der Erde. Diefe dient allen diefen Körperu 
zur Nahrung und Weide. Es Eönnte aber die Erde nidyt 
fo Vieles und fo Großes, und was größer ift, als fie felbfk, 
ernähren, weunn fie nicht voll Lebensluft wäre, die fie Tag 
und Nacht von allen Seiten her ausftrömt. Es ift nicht ane 
ders möglich, als daß fie einen großen Vorrath hat, da von 
ihr fo Viel verlangt und genommen wird; und es erzeugt 
fi) immer fo Biel, ald jeder Zeit abgehen muß. Sie 
koͤnnte auch nicht Fahr aus Fahr ein Vorrath genug haben 
an Luft für fo viele Himmelskörper , wenn nicht hinwiederum 
aus diefen auch Etwas abginge, und Eines fih in das 
Andere auflöste. Demungeachtet aber muß fie doc) Ueberfluß 
an Luft haben und davon angefüllt feyn, und aus verbor⸗ 
genen Vorräthen weiche hervorbringen. Es iſt daher Eein 
Zweifel, daß viel Luft tief im Innern ſteckt, und eine weite 
Zuftfchichte die ungefehenen Räume unter der Erde bedeckt 
halt. Und wenn es damit feine Richtigkeit hat, fo muß ja 
Das oft erfchüttert werden; was mit fo beweglicher Materie 
angefültt ift. Denn Das kann doch wohl Niemanden zweis 
felhaft feyn, daß Nichts fo unruhig ift, als die Luft und fo 
veränderlicd, und zur Bewegung geneigf. 

17. Die Folge ift dann, daß fie thut, Was ihr natüre 
Hdyrift, und daß, Was fid, immer bewegen wi, ya Däten 
auch andere Dinge in Bewegung ſeht. WWd woun gie 

Die ? wenn ihr Lauf gehemmt ift. Sy \anae rt ws 
fein Hiuderniß findet, fließt fie ruhig int“ guet N 


23502 Senecad Abhandlungen. 


Widerſtand und Aufenthalt, fo tobt fie und durchbricht das 
Hemmende, gerade wie jener, 


— — der die Brüde nicht duldet, Araxes. *) 


So lange diefer fein unerfchwertes und freies Bett hat, 
läßt er feine Wafler in Ordnung dahinftrömen. Wenn aber 
abſichtlich oder zufällig herbeigeführte Felsblöcke den heran: 
dringenden zurückhalten, fo gewinnt er durch den Aufenthalt 
an Heftigkeit, und je mehr fid, ihm entgegenftelft, deſto 
mehr bekommt er Kräfte. Denn eine jegliche Woge, die 
von hinten herkommt und durch fich ferbft wächst, wenn fie 
ihre eigene Laſt nicht mehr fragen kann, verfchafft ſich Gewalt 
durch Serflörung , und geht reißend dahin fammt Dem, was 
ifr im Wege lag. — Gerade fo geht es bei der Luft. Je 
flärker und beweglicher fie ift, defto ſchneller fähret fie dahin, 
and mit defto größerer Heftigkeit durchbricht fie alle Schran: 
fen. Daraus nämlich entfieht eine Erfchätterung derjenigen 
Gegend, unter welcher der Kampf vorgefallen if. Daß 
: Dieß richtig fen, laͤßt fi) auch durch folgenden Umſtand bes 
weifen: oft nämlich, wenn ein Erdbeben war, hat der 
—Wind, im Fall daß ein Theil der Erdrinde geborften ift, 
. viele Tage lang von borther geweht, wie Dieß bei dem 
Erdbeben, welches Chalcis**) betraf, Statt gefunden haben 
fol. So meldet Aselepiodotus, der Zuhörer des Pofldoniug, 
namentlich in feinen Unterfuchungen über Nafurbegebens 
Beiter. Man findet anch bei andern Schriftftellern, eg 
Fade BD in einer beflinmten Gegend die Erde aufgethan 


„> Detgt, Birgil’6 Aeneis VII, 738. 
” 4 ‚972 
7 Vakis, die Sauptfiaht auf ber Inſel Erde. 


Naturbetrachtungen. Sechstes Bud), | 4503 


und von daher fey geraume Zeit der Wind gegangen; diefer 
nämlich hatte ſich felber jenen Weg gebahnt, durch deu er 
.aueftrömte. | 
18. Die Haupkurfache alfo, warum Erdbeben entflehen, 
ift der feiner Natur nad) rafche und feine Richtung nad) 
ortlichen Verhältniffen verändernde Luftzug. So lange der: 
fetbe Eeinen Anftoß leidet und in einem leeren Raume 
ſteckt, liegt er unfdyädlich, und ohne daß feine Umgebungen . 
Etwas zu leiden haben, Wenn ihn aber eine von außen 
dazu kommende Urfache ſtört, ihn treibt und einengt, fo 
darf man annehmen, er gibt erſt noch nach, und macht fi 
dahin umd dorthin. Wenn ihm aber die Möglichbeit, auszu⸗ 
weichen, genommen ift und er von allen Seiten Widerſtand 
findet: dann 
— — mit großem Donner bed Berges 

- Braut er um fein Gefängniß umher, — — 9 

das er, nad) langem Pochen niederreißt und über ben Haufen 
wirft, um fo heftiger, mit je ffärferem Hemmniß er ge 
rungen hat. Daranf, wenn er Alles umher, was ihn hielt, 
durchſtöbert hat, ohne Kinausfommen au köunen, fo pralit 
ed anf der Seite, wo er hauptfächlidy eingezwängt ift, Zus 
til, und vertheilt. fich entweder auf geheimen Auswegen, — 
Denn gerade das Erdbeben vermindert den feften Zufammens 
bang, — oder er bricht durch eine neue Deffnung hervor. 
So kann deun feine gewaltige Maffe nicht mehr bezähme 
werden, und den Wind hält Beine Tellels denn 
jegliches Band, und nimmt jede Tat wit Ai Kurt, TU 


7 Berge. Birgivs Aeneis 1,.55. 56. 





| 1504 Smeca’d Abhandlungen. 
die kleinſten Räume ergoffen, geht er über die Erweites 
rungen hinaus, und in ungebändigter, natürlicher Krafts 
Äußerung uneingefchränft, eignet er fich, befonders wenn er 
[durch Widerfland] gereizt ift, fein Recht zu. — Der Wind 
aber ift etwas Unwiderſtehliches, denn es kann Nichte 
geben, 

Das bie kaͤmpfenden Wind’ und bie tönend erkranfenden Stürme 

Beuge mit Herrſchergewalt und zsähm’ in Banden und Kerter. *) 
Dhne Zweifel wollten die Dichter darunter den Kerker vers. 
fanden wiffen, in welchem fie unter der Erde eingefchloffen 
ſtecken. Uber daran haben fie nicht gedacht, dab Das, was 
eingefchloffen ift, noch nicht Wind fen, und, was einmal 
Wind ift, nicht mehr eingefchloffen werden könne. Denn was 
eingefchloffen ift, ift ruhig und flehend, aller Wind aber if 
I im Fortgehen begriffen. Zu diefen Beweiſen kommt audy 
noch der Umſtand, aus welchem erfichtlich ift, das Erdbeben 
werde durch den Luftzug hervorgebradht, daß nämlich auch 
uufere Körper nur in dem Fall zittern, wenn irgend eine 
1] Urfache unfern Athem in Unordnung bringt, fo wie er 3. B. 
Durch Furcht zufammengezogen oder durdy’s Alter kraftlos 
wird, oder durd, Unthätigzeit der Blutadern feine Lebhaf⸗ 
tigkeit verliert, oder durch Froſt gehemmt, oder bei’m Fie⸗ 
beranfall in feinem Lauf geflört wird. Denn fo lange er 
Innangefochten fortſtrömt und feinen gewohnten Gang bat, 
zeigt fi kein Zittern am Körper. Wenn aber Etwas ein- 
tritt, was feine Verrichtungen hindert, dann wird, weil 
— meßr im Stande iſt, Das zu tragen, was er in 












? Birsı. Bigirs Bensie I ‚55. 54. 


Naturbetrachtungen. Sechstes Bud. 1506 


feinem träftigen Zuſtand fefthielt, bei feiner Abnahme ers 
fhüttert, was er bei vollen Kräften aufrecht erhalten hatte. 
ı9. Bir müffen nun auch den Metrodorus aus Ehios*) 
anhören, der feine willtührlihe Meinung auch wie eine 
[wiflenfchafttihe] Anſicht ausfpricht. Ic erlaube mir audy 
diejenigen Meinungen nicht zu übergehen, die ich mißbilfige. 
Denn es ift beffer, wenn Alles vorgelegt wird, und wo wir 
nicht einftimmen, erklären wir die Anficht Lieber für unftarthaft, 
als daß wir nur darıiber weggehen. — Was fagt er denn 
nun? So wie, wenn Einer in einem Faſſe fingk, diefe 
feine Stimme durd) das ganze Faß unter einer Art von 
Erfchütterung durchläuft und wiederhallt, und obwohl niche 
ſtark fich erhebend, doch herumkommt, nicht ohne Berührung 
und Wiederhall des Körpers, von dem fie eingefchloffen ift: 
fo Haben die ungehenern, unter der Erde befindlichen Höhlen 
ißre eigene Luft, welche, fobald eine andere von oben bins 
zutommende eine Erfchütterung darin macht, gerade fo in 
Bewegung geſetzt wird, wie jener leere Raum, von dem 
ich fo eben ſprach, von dem hineingefchrieenen Rufe tönt. 
so. Wir kommen nun an Diejenigen, welche Alles zu⸗ 
fammen, wovon ich ſprach, als die Urfache [des Erdbebens] 
annehmen, oder doch Mehreres davon zugleih. — Demos 
eritus meint, es fen Mehreres die Urſache. Er fagt nämlich, 
das Erdbeben werde bisweilen durch den Zuftzug bewirkt, 
bisweilen durch das Wafler, bisweilen durch Beides, und 
er führt Dieß folgendermaßen aus. Ein Teil ter Exe iR 


"9 Metroborub aus Ehios. em Eähler der Demncanud, 
„Uber De Katur, .. Bergi. eero Academ. “I. a). 


x 


4506 Senecas Abhandlungen. 


hohl, und in dieſem firömt eine große Mafle von Waſſer 
jufammen. Davon ift Einiges dünn, und flüffiger ald das 
Andere. Wenn Diefes durch die dazufommende Schwere zus 
‚rücfgedrängt wird, fo fchlägt es an die Länder an und erfchüt: 
tert fie. Es kann nicht AAutben, ohne Das in Bewegung zu 
fegen, woran es anfchlägt. Ueberdieß, was wir fo eben 
von der Luft fagten, läßt fi) wohl aud) von dem Waſſer be⸗ 
haupten. Wenn es fich auf einer Stelle angefammelt hat, 
‚und fic) felber nicht mehr faffen kann, fo legt es ſich irgendwo 
hin und bahnt ſich Aafangs einen Weg durch fein Gewicht, 
hernach durch feinen Andrang. Denn es kann ja nicht ans 
ders als bergabwärts feinen. Ausgang nehmen, nachdem es 
fid) fange einfchließen sieh; und es kann nicht vuhig gerade 
fortfließen, und ohne Erfchütterung der Stellen, durch 
weiche und in welche es fällt. Wenn es aber, nachdem es 
einmal dahinzuflürzen angefangen hat, an einem Orte fichen 
bleibt und jene Strommaffe ſich in fich ſelbſt zurückwälzt, 
fo wird fie an ein gegenüberfiehendes Land hingetrieben, 
und fegt diefes in Bewegung auf der Seite, wo dad Land 
am meiften beweglich if. Ueberdieß fegt ſich bisweilen die 
naßgewordene Erde tiefer, wenn fie die Flüſſigkeit recht 
tief in fi) eingefaugt hat, und der. Grund und Boden felber 
leidet Noch. Alsdanu wird derjenigen Seite zugefest, auf 
welche fid) hauptfächlich tie Schwere des dorthin frebenden 
Gewäflers neigt. Bisweilen aber flößt die Luft auf bie 
Wogen, und wenn fie ihnen. heftig zuſeßt, fo erſchüttert 
Me naritlicherweife die Gegend der Exrre, auf welche fie Die 
Afasmmengedräugten. Waſſer hingetrieben hat. Bisweien 
IE fie fh auf die -Bänge. [der Winoe) ia dr. Sat, W 


Aaturbetrachtungen. Sechstes Bud. 1807 


erſchuͤttert Alles; Die Erde aber ift für die Winde zugänglid,, 
und die Luft ift zu fein, als daß fie ausgeſchloſſen werben 
Biante; und zu heftig, als dag fie ſich Widerfland entgegen 
ſeßen ließe, wean fie einmal in Uufregung und Wuth if. 
Alles Dieß, ſagt Epicurus, feyen mögliche Urfachen,, und 
er verſucht es mit noch miehrern Andern, und tadelt Diejes 
nigen, welche behauptet huben, es fey Eines deren die allei⸗ 
nige Urſache, da es fchwer halte, über Dinge, die man nur 
erfchließen müſſe, etwas Beftimmtes zu behaupten. Es if 
aber, wie er fagt, möglich, daß das Waller ein Erdbeben 
heevorbringe, wenn ed dieſe oder jene Theile ausgefpült und 
weggefreſſen hat, nach deren Schwächung denn freilich Dass 
jenige nicht mehr gefragen werden kann, was davon gehalten 
wurde, ſo lange fie nod) unverfehrt waren. Es Ift möglich, 
daß das Erdbeben hervorgebracht wird durch den Drud der 
Zuft. Vielleicht nämlich wird die Luft in Unruhe gefeht, 
wenu von Außen her eine andere Luft eintritt. Wielleicht 
wird fie dadurch, daß ein Theil auf einmal wegfällt, erfchüts 
tert, und erleidet von daher eine Bewegung. Vielleicht wird 
sie von irgend einer Seite der Erde gleich als von einer Urs 
son Säulen und Wfeitern gehalten; und wenn diefe leiden 
und weichen, fo erzittert dann die darauf ruhende ungeheure 
Mafle. . Vielleicht wird die warme Maffe der Luft in Feuer 
verwandt und fährt, dem Blitze gleich, hernieder,, gewals 
tigen Schaden anrichtend an Dem, was im Wege fteht. 
Vielleicht fest irgend ein Wehen die fumpfartigen un Ar: 
enden Gewäfer in Bewegung , und dann erikjättert entür 
rein Stoß bie Erde, oder die Unruhe der Tuit. Me S 
"dur Die Bewegung zunimmt und 6 \elher α 


41508 Senecas Abhandlungen. 


von unten herauf bis nad) Dben Läuft. Jedoch Beine Urſache 
des Erdbebens Hält er für wichtiger, ald den Luftzug. 

a1. Auch wir nehmen an, diefer Luftzug fey es, der 
fo mächtige Wirkungen hervorbriagen könne, denn Nichts 
in der Natur ift mächtiger, Nichts heftiger, als er, und 
ohne ihn hat felbft Das, was das Heftigfte ift, Feine Kraft. 
Das Feuer, vom Luftzug wird es angefacht; das Waller iff, 
wenn man ihm den Wind nimmt, ohne Zeben. Dann erft kommt 
es in Thätigkeit, wenn ed von einem Wehen erregt wird; 
und dieſes Fann große Streden Landes auseinander reißen, 
und neue Berge, die unten lagen, in die Höhe heben, und 
Inſeln, die zuvor nie gefehen wurden, mitten im Meere 
aufſtellen. — Wer zweifelt noch, daß Thera und Therafia *) 
und jene Inſel; die unter unfern Augen im Hegäifchen Meere 
emporftieg, durch Luftzug an's Tageslicht gebracht worden 
fey ? — Nach Pofidonius gibt es zwei Arten von Erdbeben, 
jede hat eine eigene Benennung. Die eine ift ein Lfcheitel« 
rechtes] Rutteln, wenn die Erde gerüttelt wird und eine 
Bewegung aufs und abwärts erleidet; die andere ein [wag⸗ 
rechtee2Schwanten, wobei fie wie ein Schiff auf die Seiten 
wankt. Ich denke mir noch eine dritte Art, für welche une 
fer Ausdruck bezeichnend ift; denn nicht ohne Grund haben 
ed unfere Alten ein Beben genannt, welches etwas ganz 
anderes ift, als jene beiden Arten. Denn dabei wird ja 


*; PYlinins Natur, Hist. I, 87. Wergt. IV, 12. fast: 
HL ficy puerſt Thera erhob, nannte man es Catlifte, 
—— s ficy fpdter Theraſia los, weh WIR Yama ywatlagen 
2 Seiten utomate ober andy Mete root, WR W 
"TR Zeiten usben Hefem Sheras Kym 


Rarurbetrachtungen. Sechstes Bud. 1309 


wicht Alles gerättelt, noch umgeneigt, auch nicht im eine 
Ihwingende Bewegung verfehrt. Es iſt das ein Umftand, der 
ie ſolchem Fall am wenigften Schaden macht, fo wie das 
Umneigen weit verderblicher iſt, als die Erfchütterung. Denn 
wenn nicht fchnell auch von der entgegengefesten Seite eine 
Bewegung eintritt, die das Umgeneigte wieder in's Gleichges 
wicht bringt, fo folgt nothwendig der Einſturz. Da diefe 
Bewegungen von Natur einander nicht gleich find, fo find 
and) ihre Urfachen verfchieden. 

22. Zuerft nun wollen wir von der rüffelnden Bewes 
gung fprechen. Wenn bisweilen große Zaften vermittelft meh: 
rerer Fuhrwerke gezogen werden, und die Räder mit hefs 
gem Drud in holperigen Wegen aufftoßen, fo wirft bu 
bie Empfindung ‚haben, daß der Boden erfchüttert werde. 
Asclepiodotus meldet: als ein von der Seite eines Berges 
abgeriffenes Felsſtück herunter fiel, ftürzten die beuachbarten 
Gebäude von der Erfckütterung ein. Eben fo kann es uns 
ter der Erde gefchehen, daß von den überhangenden Felſen 
fid) einer losmacht und mit einem großen Gewicht und Schalt 
in eine unten befindliche Höhle herabfälit, um fo heftiger, 
entweder je fchwerer er ift, oder je höher er herabkommt. 
Und fo wird die ganze Ueberlage des hohl Tiegenden Thales 
in Bewegung gefebt. Und es ift nicht nur vwermöge ihrer 
Schwere denkbar , daß ſich Felsſtücke losreiſſen, fondera da 
oben Hin Flüſſe Saufen, fo fchwächt die beftändige Feuchtig⸗ 
feit die Zugen des Geſteins, und nimmt täyfih eiweb es 
von Dem, woran ed haftet, und frert, wenn W VW 
v, jene Haut ab, durch die es zufammengehalten N 
„was Zug für Tag abgenupt ward , werd weit Vet 


1310 :  :Senecars Abhandinngen. 


durch die lange Schwächung fo unhaltbar, daß es die Laſt 
nicht: mehr zu tragen im Stande if. Dann fallen Steine: 
von ungeheurem Gewicht herab, und jener herabgeſtürzte 
Fels, weldyer, was er von Grund auf erfchättert, nicht 
mehr feft fiehen läßt, — 
Kommt mit Gedonner, — pideruch, Was mar 
N) 


wie ımfer Virgilius ſagt. ) — Das mag die Urſache feyn 
von der die Länder von unten heranf rättelnden Bewegung. 
Sch gehe zu der andern über. 

3. Die Erde ift ihrer Natur nach nicht überall dicht, 
und hat viel leeren Raum. Durch dieſe Lücken ſtrömt Luft; 
und wenn dieſe in Maſſe herankommt und nicht durchkann, 
ſo exfchüttert fie die Erde. Dieß nehmen, wie ich kurz vor⸗ 
hin anführte, and) Andere ald Urſache [der Erdbeben] an, 
wenn dn ja auf die Menge von Beugen Gewicht legen ſoll⸗ 
tet. Auch Calliſthenes ſtimmt dafür, ein nicht zu verachten 
der Zeuge. Denn er war ein ausgezeichneter Kopf, und 
mochte fi in den tollen König nicht ſchicken. ) .Das if 
ein ewiger Vorwurf für Alerander, deflen ihn feine Tapfer⸗ 
feit entledigen wird. Denn fo oft man ſagt: er hat niele- 
faufend Perfer getödtet: fo wird erwiebert : werden: aber 
auch einen Calliſthenes. So oft man anpreist: ex Kat den 
Darius getüdiet, weldyer damals der große König war; ſo 


m Bergl Virqils Neneis VIIL, 535. 
—* Eauliſtbenes aus Dlynth wer dem Alexouder von Ariſtoteles 
empfohlen worden und eine Zeitlang {ehe Webr td Vom, 
—— aber vurteer wegen ſeinee Vahrehiee wid Kran 
€ DDABE:UmMd getbättt.: ' Wexgl, Cartiüs NN. 5: 


Naturbettachtimgen. Sechſtes Bud. 13 14 


wirb es dagegen heißen: aber auch den Calliſthenes. So oft 
man erzählen wird: er hat Alles bis an den Dcean über 
wunden , und diefen ferbft, wie ed nie gefchah, mit Flotten 
befahren , und fein Reid von einem Winkel Thraciens bis 
an die Grenzen des Weltmeerd ausgedehnt: fo wird man 
fagen: aber er hat den Calliſthenes getödtet. Mag er’s allen 
alten Muftern von Feldherren und Königen zuvor gefhan has’ 
den: von Allem, was er gethan, wird Nichts fo groß feyn, 
as der Frevel an Eallifthenes. — Diefer Calliſthenes in den 
Büchern „*) worin er befchreibt, wie Helice und Burid uns 
terging , und was für ein Unglücksfall diefe Städte in’s 
Meer oder das Meer in fie hineingeführt habe, behauptet, 
Daffelbe , was wir oben fagten. Die Xuft dringt durd) vers 
borgene Deffnungen in die Erde ein, wie überall, fo auch 
unter dem Meere. Wenn fodann jener Pfad, auf dem fie 
hinebgefommen war, verbaut ift, den Rückweg aber dag 


ſich Hinterher entgegendrängende Waſſer verfperrt hat, fo 
‚ läuft fie dahin und dorthin, und indem fie fich felber im 


| 


Wege iſt, macht ſie die Erde wanken. Deßhalb werden am 


häufigften die am Meere Tiegenden Länder beunruhigt, und 
daher hat man dem Neptun die Kraft zugefchrieben, das 
Meer aufzuregen Lund was am Meere lieg). Wer nur die 
Unfangsgründe des Griechifchen gelernt, weiß fchon, daß 
derfelbe dort aaoiXImv [der Exderfchütterer] heißt. — 





, In ſeinen Büchern, welche den Titel Hellenica Khncten, Evarcn 
htſtoriſchen Werte, erzählte er ben Untergang der Get © 
sodpsten, beiben Agdiigen Etäbte, die an Evrirois 

Meerbufen gelegen waren, Das Erxeignig galt im we! 
; 370, v. Ehr. 


4512 Seneca's Abhandlungen. 


24. Daß die Luft der Grund dieſes Uebels ſey, damit 
bin ich auch ſelbſt einverftanden , wie aber diefe Luft hinein- 
dringe, — das ift noch eine Frage: ob durch dünne, mit 
den Augen wahrzunehmende Deffuungen, oder durch größere 
und weitere; ob von unten herauf, oder auch durd) die Ober⸗ 
fläche der Erde? — Das Lestere ift nicht zu glauben. Nimmt 
ja doch audy an unfern Körpern die Haut Eeine Luft ein, 
und fie hat feinen Eingang, aufler auf dem Wege, wo fie 

- eingeathmet wird; und wenn fie von und eingeathmet ift, 
kann fie nur in einem lodern und hohlen Theil des Körpers 
beftehen. Sie hält fidy ja nicht zwifchen Sehnen und Fleiſch⸗ 
maffe auf, fondern in den Eingeweiden und in dem wei— 
ten verborgenen Raume. Das Nämliche läßt fih dann 
aud) bei der Erde vermuthen, ſchon deshalb, weil die Er- 
fchütterung nicht oben auf der Erde oder in der Nähe der 
Höhen ift, fondern unterwärts und von unten herauf. Ein 
Beweis hiefür ift, dad Meere von der größten Tiefe in Uns 
ruhe kommen, weil nämlich das, worüber fie herftrömen, ere 
fchüttert wird. Deßhalb ift es wahrfcheinlich, daß das Erd: 
beben von der Tiefe herauf kommt, und daß dort in unger 
heuren Höhlen Luft erzeugt wird. Doc, nein, behauptet 
Semand, fowie, wenn uns ein Kältefchauer überlauft, ein 
Zittern darauf folgt, fo ſetzt auch die von auffen herkom⸗ 
mente Luft die Länder in eine rüttelnde Bewegung. — Al⸗ 
fein das ift auf Beine Weife möglich. Da müßte ein Frieren 
Marfinden, wenn ed gehen folte, wie bei und, die eine dus 

Sere Zerantsffung zu einem Schauder bringt. Ich will wohl 

Gen, Daß mit der Erbe Etwas vorgeht, wad wit wie 
"PfnDUng [eines Lalten Schauderi) Acahatät nt, 


Naturbetrachtungen. Sechstes Bud. 41313 


aber nicht aus aus dem nämlichen Grund. Ihr Anftoß muß 
"on einer innern und kieferliegenden Urfache herfommen ; 
was fich wohl hauptſächlich aus dem Umſtand erweifen Yäßt, 
Daß, wenn der Boden durdy eine heftige Erfchütterung uns 
ter gewaltigem Einſturz ſich aufgethan hat, dieſer Schlund 
manchmal ganze Städte verfchlingt und begräbt. — Thucydi⸗ 
des fagt, zur Zeit des Peloponnefifchen Krieges fey die Inſel 
Ytalante*) entweder ganz oder wenigftens dem größten Theil 
nach unfergegangen. Das Nämliche gefchah, wenn man dem 
Poſidonius glauben will, mit Sidon. *) Und es braudyt 
Dafür keine Zeugen. Wir Fönnen ung ja felbft erinnern, daß, 
als das Land von einer innern Erſchütterung zerriffen ward, 
mandye Derter zerftört worden und Felder untergegangen 
find. Wie ich glaube, daß es dabei zugehe, will ich num 
- darlegen. 

35. Wenn die Luft einen großen und leeren Raum in 
der Erde angefüllt hat und num anfängt, unruhig zu wers 
den und fich nad) einem Ausweg umzufchen : fo ftößt fie öfs 
terd an die Seiten an, innerhalb deren fie ftecft, und über 
Denen manchmal Städte liegen. Da erfolgt denn bisweilen 
eine folcdye Erſchütterung, daß die obenftehenden Gebäude eine 
fallen, manchmal in einem folchen Grade, daß die Wände, 
welche die ganze Decke der Höhlung tragen, in jenen unten 


* Die Inſel Atalante in der Naͤhe von Euboͤa. Das Ereigniß 


fallt in dad ſechete Jahr des Peloponneſiſchen Krieges. DI, 88. 3. 
Tyucyd. III., 


I. 
22) Bergi. Etrabo ). 3. p. 155; Pr feger. oa ge Et 
son Siton untergegangen, 


Eruera, 118 Bon, | k 


4514 Senecas Abhandlungen. 


befindlichen Yeeren Raum hinabftürzen, und ganze Städte in 
eine unermeßliche Tiefe hinabſinken. — Man behauptet, — 
wenn du es glauben willſt, es habe vor Zeiten der Oſſa mit 
den Olympus zuſammengehangen, hernach fey er durd) ein 
Erdbeben gewichen, und ber einzige gewaltige Berg fey in 
zwei heile geriffen worden. Dann habe ſich der Penens 
Bahn gemacht , der die Sümpfe, von denen Theffalien be- 
ſchwert war, trocden legte, und die Waller, die ohne Abfluß 
fumpfartig geflanden waren, mit fidy fortnahm. *) In der 
Mitte zwifchen Eis und Megalenopolis **) ift der Fluß La« 
don, welcher durch ein Erdbeben entflanden iſt. — Was folk 
Das beweifen ? Daß ſich in weiten Höhlen — benn wie fol 
idy die leeren Räume unter der Erde anders benennen? — 
Luft anſammle. Wenn dieß nicht der Fall wäre, fo müßten 
große Länderftredden erfchüttert werden, und viele auf ein« 
mal wanten. Nun aber leiden nur Fleine Striche, und ein 
Erdbeben erſtreckt fi nie auf zweihundert Meilen. *** Man 
bedenke, das nenerliche, das die ganze Welt mit Gerede er« 
fuͤllt Hat, ift nicht über Campanien hinaus gegangen. Braudy 


*) Vergl. Herobot VIT,, 129. Strabo IX., 5. 2. Theſſalien 
iſt von vier oder fuͤnf Bergen eingeſchloſſen, Pellon, Oſſa, 
Olympus, Pindus, Othrys. Es gleicht einem Becher, in 
welchen von dieſen Bergen aus fünf Fluͤſſe ftrbmen, Veneus, 
Apidauus, Onochonus, Enipeus und Pamiſus, welche, feits 
dem einmal ein Erdbeben dort war, durch das Thal Tempe 
unter dem Namen Peneus vereinigt ins Meer fließen, und 
nur zwei See'n zuruͤcklaſſen, Neffonis und Boͤbeis. 

“+ In Arcadin. Vergl. Strabo IX., p. 332. — Pauſanias 
jagt in feiner Beſchreibung von Griechenland nichtd davon, 
"> enm vleizig beutſe Meilen. 


j Naturbetrac[htungen. Sechstes Bud. AILE 


ich zu erwähnen, daß, während Chaltis *) erbebte, Thebe 
fe ftand ? während Aegium **) heimgefucht ward, bas fo 
sahe Paträ von dem Erdbeben nur durdy’s Hörenfagen Es 
was wußte? Tene ungeheure Erfchütterung, welche die bei« 
den Städte Helice und Buris erfchütterte, hörte bieffeins 
Aegium auf. Es ift alfo offenbar, die Erfchütterung erſtreckt 
fi) nur fo weit, ald der unter der Erde befindliche leere 
Raum. 

6. ch hätte mid, zum Beweiſe hiefür anf die Anga⸗ 
ben großer Männer berufen Eönnen, welche melden, Aegyp⸗ 
ten habe nie von großen Erdbeben gelitten. Als Grund da⸗ 
son geben fie den Umſtand an, daß es ganz aus Schlamm 
aufgeſchwemmt fey. Wenn man nämlic, dem Homer ***) glau⸗ 
ben darf, fo war Pharus +) von dem feften Lande [ehmats] 
fo weit entfernt, als ein Schiff an einem Tage mit vollen Ges 
geln fahren kann. Allein fie rückte dem feſten Lande näher. +1) 
Der trübfließende Nil nämlich, weldyer viel Schlamm mit 
ſich führt, und denſelben manchmal an das frühere Land ane 
fegt, hat Aegypten von Jahr zu Jahr wachfen gemacht und 
weiter hinausgerüct. Daher ift es von fettem und ſchlam⸗ 
migem Boden und hat keine Lücke in feinem Innern, fons 
dern ift durch den trocdengewordenen Schlamm zu einer feſten 


*) Eine Stadt auf der Infel Eubda. 
”r, In Achaja am Corinthiſchen Meerbuſen. Patraͤ gleichfalls 
in Achaja, den Echinaden gegenuͤber. 
2*0) Vergl. OSkyſſee IV., 354 f. 
+) Pharus, eine Inſel Hei Aegypten, nahe bei Alexandria, wos 
mit fie durch eine Brüde verbunden war. — Den Namen 
der Inſel trug auch der beruͤhmte Leuchhoxo halriıtt. 
ir) Eigentlich wopl amgetehrt. F .* 


4316 Seneca's Abhandlungen. 


Maſſe gewachhfen, und der Bau wurde aufeinandergedrückt 
und feftauffigend, da die Theile ſich anfeinanderfitteten, und 
eö konnte Sein leerer Raum dazwifchen kommen, weil „zu 
der feften Diaffe flets eine [anfänglich] flüffige und weiche 
kam. — Allein es kommen ſowohl in Aegypten ald auf Des 
los Erdbeben vor, wenn ſchon Virgilius haben will, es 
fiehe feſt. *) | 

„Unerſchuͤttert ftelt’ er’3 zu wohnen, und Sturm zu verachten,“ 
Don diefer Infel behaupteten auch Philoſophen, das leicht: 
Hläubige Völkchen, fie werde nicht erfchättert, und haben 
den VPindarus **) zum Gewährsmann. Thuchdides ***) fagt, 
vorher fey fie unerfchüttert gewefen, aber um die Zeiten des 
Deloponnefifchen Krieges habe ein Erdbeben daſelbſt Statt 
gefunden. Gallifthenes führt an, es habe ſich Solches auch 
fonft fcyon ereignet. Unter den vielen wunderbaren Erfcheis 
nungen, fagt er, durch welche fich der Einſturz von Helice und 
Buris ankündigte, waren die merfwürdigften eine ungeheuer 
große Fenerfänle und die Erfchütterung von Delod. Und er 
. meint, es follte daffelbe aus dem Grunde für unerfchütterlich 
gehalten werden, weil ed, im Meere liegend, hohle Felfen 
und Geftein mit Durchgängen habe, die der eingenommenen 


Vergl. Virgilius in der Aeneide III., 77. Webrigens möchte 
diefe Stelle nicht fowohl darauf zu beziehen ſeyn, als ob 
Deios Fein Erdbeben habe; fondern auf die Sage, daß biefe 
Infel ehemals im Meere herumgeſchwommen fey, von Apollo 
aber einen feften Plag zwiſchen ben Cycladiſchen Infeln Gya⸗ 
rus und Myconus angewiefen erhalten babe. 
*) Bei Strabo X., p. 313. und Sragmente IIL, p. 44 ff. 
und 162. bei Heyne. 
") Zyuspbiöe8 vom Veloponneſiſchen Krieg, I., 8. 








Narurbetrachtungen. Sechstes Bud. 1317 


Luft doch einen Ausweg geftatten. Deßhalb feyen auch die 
Inſeln von zuverläßigern Boden, und die Städte [auf den 
Inſeln] um fo ſicherer, je näher fie dem Meere liegen. — 
Daß dieß falfch fey, Hat Pompeji und Herculanım empfun- 
den.*) Dazu kommt, daß alle Meerestüften den Erdbeben 
ausgefest find. So ift Paphos [auf Eyprus) nicht nur eitte 
mal zuſammengeſtürzt; fo dag berühmte und an foldyes Uns 
glück gewöhnte Nicopolid [in Epirns). CEyprus ift von der 
hohen See umgeben, und leidet doch von Erdbeben. **) Und 
Tyrus wird auch eben fo von Erdbeben, ald von Webers 
fhwemmungen heimgefucht. — '- 

Das find nun die Urfachen, die man von ben Erdbeben 
anführt. 

27. Man erzählt jedoch, es habe fich bei dem Tentem 
Campanifchen Erdbeben manches Eigenthümliche gezeigt, wor« 
über nun Auskunft gegeben werden fol. Man fagt nämlich, 
es fen in der Gegend von Pompeji eine Heerde von ſechs⸗ 
hundert Schaafen todt niedergefalfen. Man hat feinen Grund, 
anzunehmen, es fen dieß den Schaafen aus Angft begegnet. 
Wir Haben die Behauptung aufgeftellt, ed pflege nad) gro⸗ 
gen Erdbeben eine Peſt zu entftehen. Und darüber darf man 
fi nicht wundern, denn es ftedt in der Tiere viel tödtli« 
der Stoff. Iſt ja gerade die Luft, welche entweder durch 
vie Schuld des Bodens oder weil es ihr an Bewegung fehlt, 


*) Weiche Stäste zwar nicht anf einer Inſel, aber doch ſehr 
nahe am Meere lagen. 

») Dieß ift gegen Ariſtoteles, welcher Meteorol. II, 8. Schauns 
tet, die Infeln auf der hohen Gere teiven sid In wen Se 
beben, wie bie in der Naͤhe der Küften. 


2518 Senecas Abhandlungen. 


and die, welche in beftändigem Dunkel erftarrt, Denen, die 
fie einathmen, gefährlich ; oder wenn fie von dem ungefunten 
unterirdifchen Yeuer verdorben, nun nach langem Daliegen 
hervortommt, fo verunreinigt und verderbt fie unfere reine 
und flüffige Luft, und bringt bei Denen, welche die unge— 
wohnte Luft einathmen, fonderbare Arten von Krankheiten 
hervor. Sind denn nicht aud die Waffer, die in- der Ziefe 
ſtecken, unbrauchbar und ungefund, weil fie nie Etwas 
zu thun haben undnie in Thätigkeit verfeht werden, und 
nie ein freier Lufthauch fie aufregt. Darum find fie did, 
und, von fchwerer und ewiger Finfterniß bededt, haben fie 
aur tödtlichen und für unfern Körper nicht paffenden Stoff 
in fih. Auch die mit ihnen vermifchte Luft, und die, wel: 
che zwifchen jenen Sümpfen liegt, verbreitet, wenn fie her: 
aufkommt, ihr Verderben weit umher, und tödtet Die, fo 
fie einathmen. — Das empfinden am Teichteften die Thiere, 
an welche die Seuche um fo eher zu kommen pflegt, je ges 
fräßiger fie find: fie find am meiften unter freiem Himmel, 
and genießen am meiften das Waller, was an den Seuchen 
doc, am meiften Schuld if. Daß aber die Schaafe mit ihs 
rem zarteren Körperbau, befonders weil fie den Kopf fo nahe 
an der Erde tragen, davon hHingerafft wurden, fällt mir 
nicht auf , da fie den Hauch der unheilvollen Luft ganz in 
der Nähe des Bodens einzogen. Diefe hätte auch den Mens 
fehen gefchadet, wenn fie in größerer Maſſe ausgeftrömt 
wäre; aber fie ift von der Menge der reinen Luft zu nichte 
gemacht worden, bevor fie ſich fo weit erhob , daß fie von 
#329 Menschen eingeatbmet werden konnte. 


Naturbetrachtungen. Sechstes Bud. 41349 


28. Daß. aber tie Erde viel tödlichen Stoff habe, 
magſt du wohl auch, daraus erkennen, daß fo viele Giftpflans 
zen wachfen, nicht mit unferer Nachhülfe, fondern von felbft, 
weil nämlic, der Boden Saamen ded Böfen hat, wie des 
Guten. — Ta es ift der Sal, daß in mehreren Gegenden 
Italiens an manchen Erdöffnungen ein peftartiger Dunft aus⸗ 
ſtrömt, weldyen einzuathmen weder für Menfchen noch für 
Das Vieh ohne Gefahr if. Sogar die Vögel, wenn fie 
darein kommen, bevor er durdy eine beflere Luft gemildert 
wird, fallen während des Fluges herab, und ihre Körper 
werden blau, und der Hals fchwillt auf, als wären fie mit 
Bewalt erſtickt worden. Diefe Luft, fo Tange fie in der Erbe 
eingeſchloſſen ift, und aus einer fchwachen Deffnung aus⸗ 
ſtrömt, hat blog die Kraft, daß fie, was hinabfieht und fich 
freiwillig hineinbegibt, dahinrafft. Wenn fie dann Sahrhuns 
derte lang in def verborgenen Finſterniß und an dem ‚vers 
Zümmerten Orte immer verdorbener geworden ift, fo. wird 
fie Durch die Länge der Zeit fchwer, und um fo bösartiger, 
je unthätiger. Wenn fie einen Ausweg gefunden hat, fo 
entbindet fie jenes ewige Uebel einer lichtloſen Kälte und 
einer unserirdifchen Nacht, und verunreinigt die Luft unfes 
rer Regionen. Denn das Verderbliche wird Herr über des 
Beſſere. Alsdann geht auch unfere reinere Luft inZeite 
fchädliche über. Daher die plöslichen und unaufhörlichen To⸗ 
besfälte, und regellos abfcheuliche WUrten von Krankheiten, 
weil fie nämlidy aus unerhörten Urfachen entfichen. Kurz 
oder lang währet ſolch ein Sterben, je nachdem die verderb⸗ 
liche Beichaffenheit der Luft mehr oder weniger Keaik Sk. 
Und nicht eher hört die-Berpeftung anf, N SW ir ‘Dr 


4520 Seneca’s Abhandlungen. 


weglichteit der Atmofphäre und der Schwung ber Winde 
jene gefährliche Stickluft durchgearbeitet hat. 

29. Daß aber Mandye wie toll und befinnungslos bie 
Furcht umher treibt, welche die Seele aus der Faflung 
bringt, fchon wenn fie Einzelne ergreift und nicht aufferors 
dentlidy ift, um fo mehr aber, wenn der Schreden ein allges 
meiner ift, und Städte zufammenflürzen und Völker vers 
fchüttet werden und die Erde gerüttelt wird, — darf man 
fid) denn wundern, wenn Gemüther, die fid unter Jammer 
und Angft nicht zu helfen wiffen, in Verwirrung gerathen ? 
Es ift nichts Leichtes, unter großer Unglüdsrällen den Vers 
fland nicht zu verlieren. Daher kommen in der Regel die 
rupigften Naturen in ſolche Angft, daß fie fich nicht mehr 
zu Rechte finden. Wenigftend geräth Niemand in Schreden, 
ohne einigermußen die Beflinnung zu verlieren, und Wer 
ſich fürchtet, ift immer Einen ähnlich, der nicht bei Der 
ſtand ift. Allein die Einen kommen von der Furcht fchnell 
wieder zu fid) felbft, Andere werden durch dieſelbe heftiger 
verwirrt und gerathen in Wahnfinn. Deßhalb Iaufen die 
Leute oft unter Kriegesfchrerten wie verrückt umher, und 
nirgends findet man mehr Beifpiele von fchwärmerifcher Begeis 
flerung, ald wenn Furcht mit Aberglauben untermengt bie 
Seelen ergriffen hat. — 

Daß eine Bildſaule ſich geſpalten habe, faͤllt mir nicht 
auf; ich habe ja fchon erzaͤhlt, Berge haben ſich von Ber⸗ 
gen getrennt, und der Boden felbft fey von unfen auf ge⸗ 
. borften. 

Diese Blind, einft heftig erfyättert tu fareetgem ufturz 
— GBoperiei Wenberung wirtt ba6 lang andauernde 


Naturbetrachtungen. Sechstes Buch. 41324 


Kböten ſich, gehet bie Gag’, da beide Ränder zuvor ſtets 

Eines gewefen; daB maͤchtige Meer drang her, und die Waffer 

Riſſen Hefperia weg von Sicilien, — Auen und Staͤdte 

Trennt ein Ufer, und eng dazwifchen ftrbmet die Meerfluth. ) 
Du fiehft,_ daß ganze Gegenden von ihrem Plage weggerifs 
fen werden, und was aneinander gelegen war , drüben über 
dem Meer liegt; du fichft, es Eommt aud) vor, daß Städte 
und Nationen getrennt werden, wenn ein Theil der Natur 
gegen fich ferbft in Aufruhr gerathen ift, oder Meer oder 
Teuer oder Luft irgendwo anpralit, und es hat das Alles, 
wie ein Theil vom Ganzen, eine erflaunliche Gewalt. Denn 
obwohldes nur einem Theile nach wüthet, ed tobt eben doc) 
mit Weltkräften. So hat das Meer auch Hifpanien aus der 
Verbindung mit Africa herausgeriffen. Und fo ift durd) jene 
Ueberſchwemmung, von der die größten Dichter fingen, Si⸗ 
cilien von Italien abgefchnitten worden. Und was ganz von 
der Tiefe herauffommt, hat wohl noch Etwas mehr Gewalt. 
Denn indem es ſich durch enge Räume Hindurchfämpfen muß, 
wird Altes heftiger. Was für mächtige Wirkungen und was 
für fonderbare Erſcheinungen diefe Erderfchütterungen here 
. vorgebracyt haben, ift zur Genüge dargethan worden. 

530. Warum follte man nun noch darüber fonderlich bes 
troffen feyn, daß das Erz einer einzigen Bildfäule, das nicht 
einmal maſſiv, fondern Hohl und dünn war, geborften ift; da 
ſich vielleicht in baffelbe eine Luft einfchloß, die irgendwo 


*%) Berge. Virairs Aeneis III., 414 — 419, wo davon die Rebe 
it, daß Italien und BSicitien ehemals zufammenhieng mb 
heise Ränder erft durch ein Erdbbeben von eimamıer aexiTea 
wurben. 


4322 Sexueras Abhandlungen. 


durchzukommen fuchte? Und Wer weiß Das nicht, dab man 
bisweilen wahrnimmt, wie Gebäude, die ihre winkelrechte 
Stellung verloren haben, durch die Erfchitterung wieder in 
die rechte Lage Fommen ? Manche aber, die ungeſchickt anges 
Legt und von den Baulenteu nacläßig und unfeft zufemmens 
gefest find, hat öfters Erfchütterung eines Erdbebens in die 
Fugeun gebracht. Und wenn ed ganze Wände und ganze Häus 
fer fpaltet, und die maffiven Seiten großer Thürme zerreißt, 
und Pfeiler umwirft, welche Bauwerke fügen, warum 
follte man es denn nur des Aufzeichnens werth halten, daß 
eine Bildfänle von unten bie zum Kopfe in zwei gleiche Hälfs 
ten zerfprungen fey? — Warum dauerte aber das Erdbeben 
mehrere Tage lang? Denn Sampanien hörte nicht auf, beftäns 
Dig zu erbeben, zwar gemäßigfer, aber zu ungeheurem Scha= 
den, weil es an Gegenftänden, die fchon gedrückt und gerüttelt 
waren, wieder Rütteln verurfachte und diefe, welche fchon 
fchfecht flanden , nicht einen Anftoß, foudern nurseine Uns 
ruhe brauchten, um über den Haufen zu fallen. Es war 
nämlich noch nicht alle Luft heraus, fondern fie fchweifte 
noch umher, obwohl ihr größerer heil fid) davon gemacht 
hatte. 

31. Unter den Beweiſen, die man dafür anführt, daß 
das Erdbeben durch die Luft bewirkt werde, darf man ohne 
Anſtand auch folgenden vorbringen. Wenn ein”fehr großes 
Erdbeben geweſen iſt, wobei es Staͤdten und Ländern hart 
ssping, So kann demfelben nicht alsbald ein anderes eben ſo 

Seftiges folgen, ſonderu nady einer fehr großen Erfchütter 
wg Zommen nur unbebeutenre Stöße, weil jene wit au 
” Iewait den Eämpfenden Binden einen Yutweg win 


Naturbetrachtungen. Sechstes Bud. 4325 


hat. Die Refte der alsdann noch gebliebenen Luft haben 
nicht mehr die Kraft, und es braucht bei ihnen feinen Kampf, 
fie haben ja ſchon einen Weg gefunden, und folgen auf dems 
ſelben nach, auf welchen die erfte und größte Maffe bins 
ausging. — Auch Das halte id, für merkwürdig, was ein 
fehr unterrichteter und bedeutender Mann beobachtete, er 
war nämlich bei jenem Ereigniß gerade im Bad. Er vers 
fiherte, er babe im Bad wahrgenommen , wie die Steins 
chen, mit welchen der [Moſaik⸗] Boden eingelegt war, fich 
Eins vom Andern Iosmachten und wieder zufammenfügten ; 
und wie das Waller, je nachdem der Fußboden fid) öffnete 
oder zufammenging, bald in die Fugen einfiderte, bald Bla⸗ 
fen trieb und hervorguoll. Eben Denfelben habe id) erzaͤh⸗ 
fen hören, er habe bemerkt, Daß weiche Stoffe gelinder aber 
häufiger zittern, als foldhe, die von Natur hart find. — 

32. Sp viel, mein befter Zucilius, in Betreff der Ur⸗ 
ſachen. Nun aber Dad, was zur Beruhigung der Gemüther 
dienen mag, denn ed liegt und doc; mehr daran, Daß man 
Stärke der Seele, als dag man Einficht gewinne. Doch es 
kann das Eine nicht Fommen ohne das Andere. Denn nirs 
gend anderswoher gewinnt die Seele Stärke, ald vou dev 
edein Miffenfchaft, als von der Betrachtung der Natur. 
Denn Wen follte nicht gerade fold ein Unfall gegen Alle 
flärken und erheben? Was fol ich denn noch einen Meits 
ſchen fürchten oder ein reißended Thier, oder einen Pfeil 
oder Speer? Es gibt größere Gefahren, die Ih nm ar. 
ten habe. — Blipfirahlen und (einftürgenbe\ Tuer WS 

große Städe von der ganzen Natur find wert Sm 
Dasum mit bobem Mutbe müflen voir den AM wu 


1524 Seneca’s Abhandlungen. 


dern, mag er geradezu und mit gewaltigem Angriff auf ung 
losgehen, oder auf feine alltägliche und allgemeine Weife; 
es ift gleichgüftig, wie drohend er Fonıme, und wie groß 
Das fey, was er über ung herführt: Was er von uns will, 
ift eine Kleinigkeit. Das wird der Jahre Zahl ung entreie 
gen, Das ein Schmerz im Ohr, Das ein zu großer Vors 
rath verdorbener Säfte in unferem Innern, Das eine Speife 
die dem Magen nicht zufagen will oder ein leichter Stoß an 
den Fuß. — Eine Kleinigkeit ift des Menfchen Lebenshauch, 
aber etwas erhaben Großes die Verachtung dieſes Hauches. 
er diefen verachtet, wird ruhig die Meere toben fehen, 
und wenn auc alle Etürme darauf los geworden wären, und 
wenn auch die Fluth in einer Art von Weltverwirrung den 
: ganzen Drean in die Länder hineintriebe. — Sorglos wird 
| er des biigenden Himmels wilden und fchauerlichden Anblick 
fehen; mag der Himmel trachen, und feine Feuerflammen 
aufammenwerfen, um Alles zu Grunde zu richten und zu= 
vörderft ihn. Gorglos wird er anf die geborftenen Fugen 
und den gähnenden Boden hinfhanen. Mögen jene Reiche 
der Unterwelt fich aufthun: flehen wird er ohne Zagen über 
biefem Abgrund, und vielleicht hinabfpringen, wo er hin⸗ 
ab t ü r z'en müßte. Was geht ed mich an, wie groß Das 
ſey, was mir den Untergang bringe. Iſt doch der Unter⸗ 
| gang felber Nichts Großes. — Und wollen wir alücklich ſeyn, 
wollen wir weder von der Furcht vor Menfchen, noch vor 
&Spttern, noch vor Ereigniffen gequält feyn, wollen wir auf 
249 OrAd mit feinen Berheiffungen unndthiger Dinge, mit 
Flag Aeinlichen Droßungen hody herabiehen , willen wir 
9 Feben und mit den Böttern fetot an Btüriehstet 


Naturbetrachtungen. Sechstes Bud. 1325 


wetteifern , fo müffen wir diefen Lebenshauch in Bereitfchaft 
Halten. — Mag dieſen ein tüdifcher Geguer erhafchen wols 
Ien, oder eine Krankheit, oder des Feindes Schwert, oder 
das Krachen flürzender Infeln, oder der Untergang ber Erbe 
feibft, oder die ungeheure Feuermaſſe, weiche Städte und 
Land gleich verheerend frißt, fey ed was es wolle, — 
er ift zu haben. Was habe ich anderes zu thun, als daß 
ich den fcheidenden ermahne und mit guten Wünfchen ents 
laſſe: „‚zeuch hin mit Muth, zeuch hin mit Glück!“ — Bes 
finne dich doch nicht, ihn heimzugeben. Es handelt fid) nicht 
um die Sache, nur um die Zeit. Du thufl, was du doch 
irgend einmal thun mußt. Bitte dody nicht, fürchte doc 
nicht, zieh? dich doch nicht zurück, als gingeft du einem Uns 
glück entgegegen. Deine Erzeugerin, Natur, harret bein, 
und eine beffere, gefahrlofere Heimath. Dort beben die Läns 
der nicht mehr, und nicht mehr floßen Winde mit mächtigem 
Wolkendonner auf einander, da verwüften Feine Feuerflam⸗ 
men Gegenden und Städte, da ift Fein Schiffbruch zu fürch⸗ 
ten, der ganze Flotten hinabſchlingt, keine Waffenſchaaren 
laſſen die Fahnen feindlich gegen einander wehen, nicht wetts 
eifert der Wahnfinn im Wechfelmord vieler Tauſende, da ift 
feine Peſt, da find Feine in allgemeiner Verwirrung breis 
nende , für untergehende Völker zufammen lodernde Scheis 
terhaufen. Iſt's Teiche: was fürchten wir's? Ss ſchwer: 
lieber komm' es einmal, als daß es immer bevorftehe. — Ich 
folite mich aber fürchfen, unterzugehen, wenn Wie Exue wur 
wir untergehf, wenn Das zerfchmettert wird , WA WNb ET 
fihmettert, und uns Nicyts thun kann, ohne daR 
aber? Ganz Helice und Buris ift iws Merr —RB 


1326 ‚Senerns Abhanbeunger. 


and id) follte um mein einzig Körperchen in Furcht feyn ? 
Ueber zwei Städte fegelt man weg, — zwei find’s freilich 
nar , wovon wir wiffen, und fehriftfich aufbewahrte Kunde 
baden. Uber wie viele andere find wohl an andern Orten 
verfunten? Wie viele Voͤlker hat entweder die Erde oder 
das Meer in feinen Schoos verfchloffen? Ich follte mich weis 
gern, zu enden, ba ich doch weiß, daß es ein Ende mit mir 
nehmen muß? ja weiß, dag Alles endlich ift ? Ich follte den 
letzten Athemaufzug fürdten? — Darum, mein Luciliug, 
ermuthige dich, fo viel du kannſt, gegen die Furcht des To⸗ 
des. Diefe ifl’d, was und niedrig macht; dieſe iſt's, welche 
derade das Leben, mit dem fie fo karg thut, beunruhigt nnd 
verfchwendet. Diefe macht Alles größer, Erdbeben und Blitze. 
Das Alles wirft du aber ſtandhaft ertragen, wenn du bes 
denkſt, daß Nichts daran liege, ob die Zeit kurz oder lang 
ſey. Stunden ſindes, die wir verlieren; nimm an, es feyen 
Tage, nimm an, es feyen Monden, nimm an, es feyen 
Jahre, — mir verlieren eben Etwas, das doc, vergehen 
müßte. — Was Tiegt denn, ich bitte dich, daran, ob wir 
jest dazu kommen. Hin geht die Seit, und verläßt ung, 
wir mögen noch fo fehr um fie geizen. Meder die Bünftige 
iſt mein, noch die vergangene. Sch fchwebe auf einem Punkt 
der fliehenden Zeit, und Größe iſt's, genügfam zu feyn. Als 
Einen fagte: ich habe meine fechzig Jahre, — erwiederte 
ihm trefflich der weife Lälius: *) du meinft wohl die ſech⸗ 


*) Eajus Laͤlius, ein Sohn besjenigen Sajus Laͤlius, der ein 
Kriegägenoffe bed Altern Gciplo Africanus war, Vergl. Cic, 
de amicitia, 3, de Offic. IL, 11. Ul., 4. 


Naturbetracheungen. Gechstes Buch. 4837 


zig, bie du nicht mehr haſt? — Nicht einmal daran erken⸗ 
nen wir die Befchaffenheit unfers nie feflzuhaltenden Lebens 
und die Natur der uns nie angehörenden Zeit, daß wir nur 
nad) verlornen Jahren zählen können ? Das wollen wir und 
in’s Herz prägen, das wollen wir uns immer wiederholen: 
geftorben muß es ſeyn. — Wann? — Was liegt daran? — 
Der od ift Nasurgefeh, der Tod ift der Tribut und bie 
Pflicht der Sterblichen und das Heilmittel gesen alle Leber. 
Wünfchen muß ihn, auch Wer ihn fürchtet. Laß alles ges 
ben, und bente, mein Lueilins, nur auf das Eine, daß 
Dir vor dem Wort „Tod“ nicht graue; mache bir ihn das 
durch vertraut, daß du viel an ihn denkt, damit bu, wenn 
ed nun feyn muß, ihm ſogar entgegen gehen kannſt. 


Inhalt des fiebenten Buchs. 


Ray. ı — 3. Gleichguͤltigkeit der Menfchen gegen bad Große und 


Herrliche, was fie täglich und nach dem gewoͤhnlichen Verlauf 
am Himmel fehen; Bewunderung bed Ungewörnlicden, fo 
auch der Eometen. — Wichtigkeit der Nachforſchung über 
das Weſen der Geftirne Überhaupt, ob fie Slammen und feus 
riae Scheiben feyen, ober maffige, erbartige Körper, bie ihr 
Licht anderswoher erhalten. Ob bie Someten von berfeiden 
Beichaffenheit feyen, wie die Himmeldtdrper? Ihre Aehnlich⸗ 
teir mit diefen. — Ob der Himmel fiy umbdrehe, ober bie 
Erde? Nothwendigkeit der Beobachtung mehrerer Cometener⸗ 
fgeinungen. Anfichten Älterer Ppilofophen und Aftrunomen, 


Kap. k — 10. Des Epigened Anſicht über die Entfiehung einis 


ger Meteore, unter welde er, mebft Andern, bie Cometen 
rechnet; er nimmt zweierlei Arten vom Eometen an, foldye, 
die inte Gluth nach allen Seiten und foldye , die diejelbe, wie 
einen Schweif, nur nad einer Eeite hin ausfirdmen. Die 
erftern eutſtehen aus ven naͤmlichen Urſachen, wie bie Him⸗ 
melsfackeln und Feuerbalten, aus einem Wirbelmind. Wider⸗ 
Yenung. Auch bie letztern erklärt er aus Erdduͤnſten und 
Winden. MWiberlegung. 


Kay. sı — 16. Aeitere Erflärungsarten ber Entftchung der Cos 


meten, 3. B., daß zwei fih am einander anhängende ober 
auch nur ſich einander annähernde Srrfterne durch ihr zuſam⸗ 


snenfleßerbes Licht einen verlängerten Etern bilden. Wider⸗ 


T—— — — 


Inhalt des ſiebenten Buchs. 1529 


legung. Irrthuͤmer des Artemiborus, usb deren Wiberlegung, 
Zweifel an. ber Richtigkeit hiſtoriſcher Angaben, namentlich 
des Epherus. 

Kap. ı7 — 18. Anſicht des Apollonius Mynbius, daß 
manche Eometen Irrſterne ſeyen, eigene Seſtirne, wie Sonne 
und Mond; — übrigens gebe es verſchiedene, unaͤhnlich am 
Größe und Farbe. Wiberlegung. 

Ray. 19 — 35. Zeno's Anſicht [ähnlich der des Epigenes]. und 
anderer Stoiter, wornad die Eometen gleich Meteoren in 
dichter Luft erzeugt werben. Widerlegung. *) Die Eometen 
gehören zu den ewigen Werten ber Natur, und find nicht 
blos augenblickliche Feuererſchelnungen. Gründe dafür. Es 
komme darauf an, ob nicht die Cometen Planeten ſeyen, obgleich 
man bis jegt nur fünf Dianeren kenne. Manches ift noch 
nicht beobachtet, und Manches ifl, wovon man behauptet, 
daß es fey, ohne zu willen, wie es ſey. Es ift no 
Manches zu erforfchen und auszumitteln. 

Kay. 36 — 37. Warum manche Himmelstörper eine ruͤckgaͤngige 
Bervegung zu machen fcheinen? Warum man dur die Comes 
ten durchfehen Tonne, wenn fie body Sterne fegen? — Beants 
wortung biefer Einwuͤrfe. Daß der Cometentörper nicht längs 
Ucht fondern rund fey; Ungleichheit des Limits verfchierener 
Geftirne, Die Natur Tiebt Abwechslung in allen ıhren Bils 
dungen, ' 

Kap. 28 — 29. Was die Eometen andeuten in Beziehung anf 
Witterungslauf und Nlaturereigniffe. — Ob der Lauf der Eos 
meten langſam fey, und ſchwere Beftandtheile von Erdſtoff vers 
rathe? Ds fie in ihrem Kauf die Ricytung apwärtd nehmen ? — 

Kay. 30. Schluß. Daß man bei folmen Unterfuchungen ſich keine 
anmaßenden Urtheile erlauben ſolte. So tief liegende Dinge 
onnen nur langfam ausgemitteit werten. Den Sierslichen 
bleist Manches verborgen. Es iſt nıcht Alles für fie geſchaf⸗ 


*) Seneca weicht in dieſer Sache von ben Philoſophen feiner 
Schule ab, 


Seneca. 118 Bochn. 2 





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Li 
keit 
— 
Hrkaer 


Siebentes Bud. 





Bor den Eometen. 


2. Es ia wohl Niemand fo geiſtlos und ſtumpfſinni g 
und am der Erde Haftend, daß er ſich nicht zur Hinmelswelt 
erhube und mit ganzer Geele aufraffte, zumal wenn eine uns 
gewdhuliche, wundervolle Erfcheinung am SHititmel zu fehen 
iſt. So fange freilich Alles feinen gewohnten Verlauf hat, 
verliert das Große der reigniffe durch die Gewohnheit; 
bein das iſt unfere Natur, daB das Autagliche, mag es auch 
oc fo bewunbernömärdig ſehn, Lunbealhfit] an uns vor« 
Wbergeht, die anbedeutenditen Erſcheinungen dagegen, men 
te nur nicht gewöhnlich find, und ein anziehentes Schaus 
(bier gewähren. Und fo bringt jene Schaar von Geflirnen, . 
Die det unermeßlicyen Himmelsbau fo herrlich ſchmucken, Bein 

Sefammentaufen der Sente hervor. Aber wenn an dem gewohn · 


Naturbetrachtungen. Siebentes Bud. 4331 


sen Sana etwas verändert ift, da gafft Alles den Himmel 
au. — Die Sonne fieht kein Menfch an, es fey denn, daß 
de verinftert ift. . Den Mond beobachtet keine Seele, aufler 
wenn er verdunkelt iſt. Daun erheben ganze Städte ein 
Geſchrei, und es zittert jeder Einzelne in aberglänbifcher 
Goͤtterfurcht. — Aber. wie viel wichtiger iſts doch, daß hie 
‚Senne, wenn id fo fagen darf, eben fo viel Schriste macht, 
als Tage, und den Jahresfreis mit ihrem Umlauf fchliekt, 
daß fie vom [Sommer] Sonnenfliliftand an fi zur Wer 
kür zung: der Tage wendet, dag fie vom Sonnenftiliflaud in ih: 
ver Stellung ſich abwärts neigt und den Mächten Zuwachs 
geſtattet, daß fie die Sterne verbirgt, daß fie, - obwohl fie 
um gar Bieles größer ift, als die Erde, diefe doch nicht 
derbreunt, fondern nur erwärmt, indem fie ihre Wärme nach 
höhern pder geringern Graden mäßist, und daß fie ten Mond 
nie voll oder verduntelt zeigt, auffer wenn er ihr gerade ge⸗ 
genüber ſteht. — Doch das beachtet man nicht, fo auge es 
regelmäßig geht. Tritt aber eine Unregelmäßigkeit ein, oder 
täßt ſich etwas Ungewöhnſliches fehen, da iſt's ein Gaffen, 
ein Fragen, ein Hinaufzeigen! So fehr liegt's in unferer 
Natur, mehr dad Ungewohnte anzuflaunen, als das Große. 
Das ift denn auch der Yal bei den Eometen. Wenn eine 
ſolche feltene und ungewohnt geſtaltete Feuererſcheinung ſich 
zeigt, da will Jedermann wiſſen, was denn Das ſey, und 
alles Andere vergeſſend, fragt man nur nad) dem neuen Gaſt, 
und weiß nicht, fol man ihn bewundern oder fürchten. Deun 
es gibt fchon Leute, die einen Lärm machen und wichtige 
Mruphezeihungen daraus verkündigen. Deßhalb forſcht was 
n* 


4332 Senecas Abhandlungen. 


denn, und möchte wiffen, ch es ein Wunderzeichen fey, oder 
ein Geftirn. Und wahrlih, man kann nichts Herrlicheres 
unterfuchen,, und nichts Nützlicheres lernen, als die Natur 
der Himmelskärper und Geſtirne, ob ſie eine zufammenge: 
drängte Flamme feyen, was theild unfer Auge beftätigt, 
theils eben das von andern geborgte Licht (gewiſſer Körper), 
theils die von ihnen ausgehende Wärme; oder ob es Feine 
feurigen Scheiben find, fondern eine Art von maffigen, erd> 
ähnlichen Körpern, welche, durch feurige Bahnen rollend, 
von Diefen ifren Glanz und ihre Farbe haben, vhne von 
fich ferbft Hell zu feyn. Diefer Meinung waren große Mäns 
ner, welche die Geſtirne für Körper hielten, die aus harter 
Maife beftärden und fremdes Licht genößen. Denn eine 
Flamme an und für fih, fagen fie, würde zerfließen, wenn 
fie nicht Etwas hätte, das fie hielte und wovon fie gehals 
ten würde, und wäre fie nur ein fenriger Klumpen und nicht 
m einem feften Körper verwahrt, fo hätte der Himmel in 
feinem Umfchwung fie gewiß Tänaft auseinander fahren laſſen. — 
2». Um dem auf die Spur zu kommen, wird cd zweck⸗ 
mäßig feyn, zu unterfuchen, ob die Eometen von derfelben 
Befchaffenheit feyen, wie die Himmelskörper. Sie fdheinen 
nämlich Einiges mit denfelben gemein zu haben, den Auf: 
gang und Niedergang, ja ſogar, odfchon fie nicht fo zuſam⸗ 
mengedrängt find, und einen fangen Schweif haben, das 
Ausſehen. Sie find ja auch feurig und glänzend. Wenn af: 
fo jene erdartige Körper find, fo werden’d wahl diefe auch 
feyn. Sind fie aber nichts Unteres, denn ein reines ‘Feuer, 
and bleiben fie ihre ſechs Monden lang ftehen, ohne daß die 
Ampreßung und foynelle Bewegung des Himmels ihnen ihr 


r 


Naturbetrachtungen. Siebentes Buch. 1333 


Beſtehen nimmt, ſo koͤnnen auch ſie aus ſo feinem Stoffe 
beſtehen, ohne daß der beſtändige Umſchwung des Himmels 
fie auseinander rüttelt. Zu dieſem Zweck wird es auch er⸗ 
forderlich ſeyn, daß man darüber in’d Reine komme, ob der 
Himmel fidy umdrche und die Erde ſtehen bleibe, oder ob 
die Erde ſich drehe, während der Himmel ftehen bleibt. 
Manche haben nämlicd, behauptet, wir feyen es, die da, ohne 
es zu wiffen, von der Natur [im Kreiſe herum) getragen 
werden , und der Aufgang und Niedergang [der Sonne und 
der Geftiene) komme nicht von der Bewegung des Himmels, 
wir felber gehen auf und unter. *) Die Sadre verdient ers 
wogen zu. werden, damit man doc, aud) weiß, woran wir 
find, ob wir einen ganz ruhigen, oder einen fehr vafch bes 
weglihen Wohnfis haben, ob die Gottheit Alles um uns 
her, oder ob fie uns herum freibt. — Nöthig aber ift, daß 
man die Eometen : Erfcheinungen von frühern Zeiten her ges 
fammelt habe. Denn bis jetzt kann wegen ihrer Seltenheit 
ihr Lauf noch nicht beftimmt und ausgemittelt werden, ob fie 
einen Wechfel beobachten und eine beitimmte Ordnung fie 
erıf die beftimmte Seit hervorführe. Es ift dieß eine neue 
aftronomifche Beobachtung , und die erft neuerdings in Grie⸗ 
chenland eingeführt wurde. 

5. Auch Democritus., ber feinfte Zorfcher unter: allen 
ten, fpricht die Wermuthung aus, ed gebe mehrere Sterne, 
weiche laufen; aber er hat weder die Zahl derfelben, noch 
ihre Namen angegeben, und man wußte [zu feiner Zeit] noch 


©, Pythagoras und die Pothagorder gingen in Aeler Ca 
dem Nicolaus Copernicus voran. Berl, TI Ba Ex 
srappie der Alten. I., p. kız fs 


| 4534 Seneca’s Abhandlungen. 


i i Nichte von den Bahnen der fünf Geſtirne [Planeten]. En⸗ 
Borus *) war ed, der zuerft diefe Bewegung von Aegypten 
her in Griechenland befannt machte. Diefer fagt jedoch Nichte 

‚ son den Cometen. Woraus erhelfet, daß auch bei ben Aes 
gyptern, die ſich doc, fo vorzüglich mit Aſtronomie beſchäf⸗ 

. tigten , diefed Fady nicht bearbeitet war. In fpäterer Zeit 
hat Eonon, **) ebenfalls ein genauer Forfcher, zwar die von 
den Aegyptern beobachteten Sonnenfinfterniffe zufammenges 
ſtellt, aber der Eometen nicht erwähnt, und er häfte ed ge= 
wiß nicht übergangen, wenn er fichere Nefultate von For⸗ 
fhungen hierüber bei ihnen vorgefunden hätte. Uebrigens 
find auch zween Männer, ***) die bei den Chalddern gelernt zu 
haben behaupten, mit einander uneinig, Epigened und Apol⸗ 
fonins Myndius, letzterer ein befonderd gefchickter Nativitäts 
ftelfer. Diefer naͤmlich behauptet, die Eometen werden von 
den Chalddern zu den Planeten gerechnet und man kenne 
ihre Bahnen. Epigenes dagegen fagt, die Chaldäer wüßten 
Aber die Cometen nichts Beſtimmtes, und es fcheine, daß 
dieſelben durch eine Art von Wirbelwind in aufgeregter und 
im Schwingung verfester Zuft ſich entzünden. 

4. Zuvörderſt wollen wir nun feine Anſichten aufftellen 
und widerlegen. Den meiften Einfluß auf alle Bewegungen 
m der obern Region fdjeint ihm der Stern des Saturnus 


. *) Euborus aus Enidus in Earien, Piato’3 Zuhbrer und deffen 
Begleiter auf ber Reife nach Aegypten. 360. v. Chr. 
*) Sonn aus Samos, ein berühmter Mathematiter, welcher 
e zu Alexandria lebte, um's Jahr 253 vor Er, 


"> GErigeued uud Npolionius von Myndos waren Beilgenoffen 
Orsseca’b. 


Naturbetrachtungen. Siebentes Bud. 4555 


zu haben. Diefer, wein er an die dem Mars zunächft fies 
henden Sternbitder ftreift, oder in die Nachbarſchaft des 
Mondes tritt, oder in die Strahlen der Sonne hineinfällt, 
fo zieht er, da er von Natur windie und froflig iſt, an meh: 
zern Stellen die Luft zufammen und ballt fie zu einer Ka⸗ 
ge. Sodann, wenn er die Strahlen der Soune angenom⸗ 
men hat, donnert und blipt ee. Und wenn fih and) der 
Mars mit ihm vereinigt, fo fchlägt er ein. Ueberdieß, ſagt 
er, huben die Donnerkeile einen andern Stoff, als die Bliss 
erfcheinungen. Naͤmlich die Austänflung der Gewäfler und 
altes feuchten Stoffes bringe nur Glanzerfcheinungen am 
Simmel hervor , welche fchreden ohne einzuſchlagen; hinge⸗ 
gen jener wärmere und trocdenere Aushauch der Erde macht 
Die einfchlagenden Blige. Die Feuerbalten und Himmels⸗ 
fadein aber , welche ſich nur durch die Größe von einander 
unterscheiden, entftehen auf folgende Weile. — Wenn irgend 
eine Zufammenbalfung von Luft, die wir Wirbelwind neu⸗ 
zen, feuchten und erdigen Stoff in ſich verfchließt, fo fieht 
fie, wohin fie auch laufen mag, wie ein geſtrecktes Feuer 
aus, und zwar fo lange, als jene Zuſammenhäufung von 
Luft dauert, welche eine Menge feuchten und erdigen Gtofs 
fes in (ich führt. 

&. Um bei der zuletzt erwähnten Unrichtigkeit anzufau⸗ 
gen, to if es falfch, daß die Himmeldfadeln und Feuerbal⸗ 
den durch einen Wirbelwind zum Dorfchein kommen. Der 
Wirbelwind ensfieht und acht ja in der Nähe der Erbe. 
Deshalb reißt er Bäume mit der Wurzel aus, und wo er 
fi, hinwirft, entbläst er den Boden, Wälder uni Kiuier 
reißt er manchmal wieder, amd if in der Dirgel wer 


"4556 Seneca’s Abhandlungen. 


Wolken, in feinem Fall aber höher, als fie. Die Feuerbal⸗ 
"Sen hingegen laffen ficdh in der Göhern Region des Himmels 
fehen. Auf diefe Weile ftehen fle nie den Wolken entgegen. 
Weberdieß rafet der Wicbelwind ſchneller fort, als jede 
Wolke, und dreht fid im Kreife herum. Zudem hört er 
ſchnell auf und zerreißt ſich felbft durch feine eigene Kraft. 
Die Feuerbalken aber fdhießen und fliegen nicht vorüber, 
wie die Himmelsfadeln, fondern verweilen fich, und ſcheinen 
nur auf einer Seite des Himmeld. Auch Eharimander *) in 
feinem Buch über die Eometen erzählt, Anaragoras habe am 
Himmel ein gewaltiges und ungewöhnliches Licht von ber 
Größe eines tüchtigen Balkens gefehen,, und das habe viele 
Zage lang geleuchtet. Eine folche Tänglichte Feuergeftalt, 
‚meldet Calliſthenes, habe ſich fehen laſſen, ehe Buris und 
SHelice vom Meere verfchlungen wurden. Ariſtoteles behaup⸗ 
tet, das fey kein Fenerbalken, fondern ein Comet gewefen ; 
Übrigens wegen der gar großen. Glut habe es fich nicht als 
ein auseinander Ianfendes Licht [wie im Schweife der Eomes 
ten) gezeigt, aber im Verlauf der Zeit, als es nicht mehr 
fo heftig brannte, habe es wieder wie ein Comet ausgefehen. 
Bei diefer Yeuererfcheinung war viel Merkwärdiges wahr zus 
nehmen, — doc, das Wichtigfte ift, daß, als fie am Him⸗ 
mel erfchien,, fogleih Buris und Heliee vom Deere bed eckt 
wurden. Hat nun aber Ariftoteles nicht nur jene Erfcheinung, 
fondern alte Fenerbalken für Eometen gehalten ? Er macht 
die Unterfcheidung, daß diefe ein zuſammenhaͤngendes Teuer 


a a a a a 
2 MU Ssmau Deiamest ; in jehems Sal nach Weiftoteles, 





Naturbetrachtungen. Siebentes Bud. 1357 


haben, die andern Erfcheinungen aber ein flackerndes. Die 
Fenerbalken haben freilich eine gleichmäßige Flamme, bie 
nirgends unterbrochen .oder matt ift, au den dußerften Theis 
fen aber sufammengedrängt ‚, wie nad Calliſthenes die eben 
erwähnte war. 

"6. Es gibt, ſagt Epigenes , zwei Arten von Cometen. 
Die einen flrömen ihre Glut nad allen Seiten hin aus, unb 
verändern ihre Stelle nicht ; Die andern verbreiten ein unfläs 
tes Zener, wie einen Schweif , auf eine Seite hin, und ges 
ben an den Sternen vorüber, wie zu unfern Zeiten zween 
bemerkt wurden. Jene erften,, die nach allen Seiten hin ei⸗ 
nen Bart haben und unbeweglich find, ftehen. in «der Regel 
niedrig, .und erzeugen ſich durch die nämlichen Urfachen, wie 
die Feuerbatten und Himmelsfadeln, nämlich aus einer uns 
geſtümmen und in Unruhe gerashenen Luft, welche viel aus 
der Erde ausgehauchten dürren uud feuchten Stoff bin und ber 
kehrt. Es kann ja ein Luftzug , der fi durch einen engen 
NRaum binausgezwängt hat, die über ihm liegende Luft ent⸗ 
zänden, wenn fle mit Nahrungsftoff für das Feuer angefüllt 
ik , dennoch, Bann er fie von der erleuchteten Stelle fo wei⸗ 
ter treiben, daß fie auf Beinen Fall wieder zürädktrömen und 
wiedertommen kann; fodann kann es ſich am näcflen und 
den folgenden Zagen abermals erheben und den nämlichen 
Streifen wieder entzünden. Nehmen wir doch wahr, daß 
Winde mehrere Tage nacheinander regelmäßig wieberfchren. 
Auch Regen uud andere Witterungserfeheinungen kommen 
wie vorausberechnet wieber. Um aber feine Anſicht kug 
anszubrüden , er if der Meinung, viele Exuarten weile. 
eigenttich. auf Die nämlidye Weile , wie dir ah WR 


1858 Seneca’s Abhandlungen. 


wind herportretenden euer. Der Unterfchied ift nur der, 


dan jene Wirbeiminde von oben her gegen die Erde herabge- 
drüdt werden, diefe [Eometen) aber fid) von der Erde in 
die höhere Region erheben. 

7. Dagegen hat man Dieles einzuwenden. Für's Er: 
fie: wenn ein Wind Schuld wäre, fo würde niemals ein 
Eomet ohne Wind erfcheinen. Nun aber erfcheint er auch 
bei der ruhigften Luft. Sodann: wenn er durch einen Wind 


. entftünde, fo würde er auch mit dem Wind nachlaffen; und 


finge er durd) den Wind an, fo würde er mit dem Wind 
wachen, und wäre um fo feuriger,, je heftiger diefer wehte. 
Dazu komme noc der Umftand : Der Wind berührt viele 
Seiten der Luft, der Comet erfcheint nur an einer Stelle; 
der Wind komme nicht hoch Hinauf, die Eometen aber fieht 
man höher , ale die Winde gehen können. —- 

Darauf geht er zu denjenigen [&ometen] über, von des 
nen er fagt, fie haben mehr das eigentliche Ausfehen eines 
Sterne, und die ſich bewegen und an den Sternbildern vor: 
übergehen. Und diefe, hehanptet er, entitehen auch aus den⸗ 
felben Urſachen, wie die, welche er die niedrigerftcehenden 
nannte, der Unterſchied ſey nur der, daß die Erddünfte, wel⸗ 
he viel dürren Stoff bei fi) führen, höher hinauf wollen, 
und in die erhabenern Himmelsregionen durch den Nordwind 
binaufgetrieben werden. — Dagegen ift nur zu bemerten, 
wenn der Nordwind fie triebe, fo müßten fie flets gegen 
Mittag laufen, wohin ja diefer Wind feine Richtung hat. 


. Wein fie laufen in verfchiedenen Richtungen, die einen ges 


sen Potgen, bie andern gegen Abend, alle aber in Krüme 


eo, und einen foichen Weg würde ihnen der Wind 


Naturbetrachtimgen. Siebentes Bud. 13. 


nicht anmeifen. Ferner: wenn jene Rordwinte durch d 
Zug von der Erde nad) Oben gehoben würden, fo wärdı 
bei andern Winten Beine Eometen entfichen. Aber es en. 
ftehen doch welche. 

8. Wir wollen nun feinen erften Grund — er bedient fid 
ja beider, — widerlegen. Aüles, was die Erde von feuchten 
und trocknem Stoff aushaucht, das gibt, wenn es fich Zn: 
fammengemacht hat, vermöge der widerfirebenden Natur dies 
fer Stoffe, der Luft die Richtung, daß fie fich in einem 
Wirbel herumdreht. Jene Gewalt des ſich herumdrehenden 
Windes ſodann entzündet durch ihren Lauf, was fie in fi 
hinein vafft, und hebt 88 in die Höhe: und von dem durch 
den Druck entflandenen Feuer bleibt fo lange ein Schein, 
als es nicht an nährendem Stoff fehlt; hört. diefer auf, ſo 
verliert fich auch der Schein. — Wenn er dieß fagt, fo 
denft er nicht daran, was die Wirbelwinde für einen Lauf 
haben, und was für einen die Cometen. Gene haben einen 
Kürmifdyen und heftigen Lauf, noch rafcher als die eigente 
tihen Winde; der Lauf der Enmeten ift fanft, und es if 
sumerklich, wie weit fie im Verlauf eined Tages und einer 
Racht gekommen find. Ferner ift die Bewegung der Wir⸗ 
belwinde unftät und nicht zufammengehaften, und, wenn ich 
mic, eines Ausdrucdes des Salluſtius bedienen darf, ſtrudel⸗ 
artig; die der Emmeten aber ift regelmäßig, und auf der 
beſtimmten Bahn fortfchreitend. — Möchte wohl Jemand 
unter und glauben, daß der Miond oder die fünf Geſtirne 
[Mameten] vom Winde fortgeriffen oder durch einen Wir⸗ 
bei im Kreife herumgetrieben werden. — Ui wre arnlık 
nicht. Barum? Weit fie Beinen vegeliagen we wen Seh 


1510 Generais Abhandlungen. 


ausgefesten Lauf haben. Das Nämtiche gilt von den Eos 
meten. Sie waudeln nicht verworren und flürmifch, daß 
man glauben Fönnte, es feyen vegellofe und veränderliche 
Urfachen, wodurch fie in Bewegung gefegt werden. Weiter: 
wenn aud) jene Wirbel den erdigen und feuchten Stoff zus 
fammenraffen und aus den Tiederungen in die Höhe hin aufe 
drücen Lönnten: fo würden fie ihn doch nicht über die 
Mondhöhe hinaufführen. Ihre ganze Kraft reicht nicht bis 
über die Wolkenregion Hinaus. Die Eometen aber fehen wir, 
mitten unter der Sternenfcdaar in ben höhern Regionen wan⸗ 
dein. Es ift daher nicht wahrfcheintich, daß auf eine folche 
Entfernung ein Wirbelwind furtwirte, denn je flärker er 
ift, defto zeitiger verzehrt er fich. | 
9 Man dann alfo annehmen, was man will: entweder 
it feine Gewalt unbedeutend, — dann kann er nicht fo 
hoch Hinaufreichen, oder fie ift groß und heftig, — dann 
wird fie fi) um fo fchneller fetbft brechen. Außerdem fteis 
gen jene niedrigern Cometen, wie man meint, ans dem 
Grunde nicht Höher hinauf, weil fie zu viel Erdftoff haben. 
Ihre Schwere hält fie in ven nächften Umgebungen. Eben 
deshalb müflen dann aber gerade die andern, länger dauren⸗ 
den und höohern Eometen noch, weniger Mangel an Gtoff 
haben. Denn fie würden ga nicht länger fichtbar ſeyn Lale 
die andern), wenn fie nicht durch mehr Nahrungsſtoff erhals 
ten würden. Ich fagte fo eben, der Wirbelwind Fönne 
nicht lange andauern und fich wicht über den Mond hinauf 
und bis in die Gternregion erheben. Der Wirbelmind wird 
asiiib Dusch das Ringen mehrerer Winde mit einander 
Pesporgebradt. Diefed Bann nicht lange anhalten. Denn 


Naturbetrachtungen. Siebentes Bud. 1341 


un die unftäte und unentfrbieden wehende Luft fich zuſam⸗ 
ngebalit hat, weicht am Ende die allgemeine Maffe einem 
izigen Zug. Ein bedeutender Sturm ift aber nie von 
ner. — Die Stürme, je mehr fie Kraft haben, halten 
fto türzere Zeit an. Wenn die Winde auf den höchften 
rad geftiegen find, Taffen fie mit al ihrer Heftigkeit nad). 
syade durch eine folche Lalfgemeine) Aufregung müffen fie 
f ihre eigene Zernichtung hinarbeiten. Daher hat man 
e einen Wirbelwind einen ganzen Tag lang bemerkt, nicht 
ımal eine Stunde lang. QWUufferordentlich iſt feine Schnels 
teit, aber auch aufferordentlich feine Kürze. Ueberdieß 
ꝛibt er ſich heftiger und fchneller auf der Erde und in ihrer 
ähe umher, je höher er ift, deflo weniger ift er gebuns 
n und gefpannt, und deshalb zerftreut er fih. Dazu 
mmet, daß er, wenn er aud) am höchften fliege, wo die 
terne ihre Bahn haben, doch in jedem Fall durch die 
ewegung, welcher da3 AU folge, aufgehoben würde. Denn 
18 ift rafcher, als jene Umdrehung des Himmeld. Durd) 
efe würde die vereinigte Gewalt aller Winde zerfprengt 
den, und die erften und flarken Fugen der Erde, ges 
weige denn ein Theifchen von der fich in fich ſelbſt herum⸗ 
ehenten Luft. 

ı0. Zudem kann ja ein durch Wirbelwind hervorge⸗ 
achtes Feuer nicht in der Höhe bleiben, ed müßte denn 
r Wirbelwind ferbft bleiben. Was ift aber fo unglaubfid), 
8 ein langes Anhalten bei einem Wirbelwind? Muß ja 
ch in jedem Fall eine Bewegung durch eine entgegengefeute 
jewegung unterliegen. Gene Region hat ia (dam er Cu 


ABA . - : mem Abhandblungen. 


gene Kreisbewmegung, die deu ganzen Himmel mit herum 
mimmt, 

Und vafıy wälgend im Umſchwung ziehet bie hohen Geftirne. *) 
“Und wenn je eine längere Yrift zugegeben werden könnte für 
vie Eometen, [die durch das Feuer, das fid aus dem Wirs 
velwind entwirelt, hervorgebracht werben fnllen] was aber 
auf keine Weife angeht: was wollte man denn von denjenis 
gen Eometen fagen, die fid) immer ſechs Monate lang fehen 
Tießen ? Ferner mäßten zwei Bewegungen in einer uud ders 
ſelben Region ftattfinden ; für's Erfte jene göttliche und uus 
aufhörliche, [der Geſtirne] die ihre Werk ohne Unterlag 
verrichtet; und füres Zweite eine ungewöhnliche und neue, 
die durch Wirbelwinde veranlaßt wäre. So müßte denn 
nothwendig eine die andere hindern. — Es ift aber doch je⸗ 
ner Kreislauf des Mondes und die Bewegung der andern 
über dem Monde dahinwandelnden Geſtirne unabänderlich, 
und es ift nirgends ein Anſtoß, ein Widerflaud, und wir 
haben Leinen Grund zu vermuthen, daß fich irgend ein Aufs 
enthalt entgegenftelle. Keinen Glauben verdient ed [daher], 
dag ein Wirbelwind, die gewaltfamfte und unruhigfte Art 
von Lufterichefnungen, mitten in die Reihen der Geflirne 
hineindringe und fich unter den geordneten und ruhigen [Sims 
"melstörpern ] umhertriebe. Wir wollen wohl glauben, daß 
durch den fich herumtreibenden Wirbelwind ein Feuer ent: 
zündet werde, und diefes in die Höhegetrieben, uns Etwas, 
wie ein langes Geftirn, vermuthen und fehen falle. Aber 


” Berg, Opid's Berwandlungen II, 71. 


Naturbetracheungen. Sirbeutes Bud. 16843 


ih vente, es muß dieß doch wohl von derſelben Beſchaffen⸗ 
heit ſeyn, wie Das, whburc das Feuer hervorgebracht wird. 
Um Wirbelwind nun feht man etwas Rundes. Gr dveht 
ih ja um einen und denfelben Punkt herum, und wälzt 
it) , wie eine Säule, die ſich herumtreibt. Folglich mäßte 
tkm auch das Feuer aͤhnlich ſeyn, das er in ſich verſchloß. 
wein es iſt lang und auseinandergehend, und ficht ‚gar 
nicht wie Ereisförmig aus, 
ı2. Berlaffen wir nun den Epigenes, und gehen: ‚die An⸗ 
ſichten Anderer durch! Bevor ich aber damit anfange, muß 
ich befonders vorausbemerten, daß ſich die Tometen nicht 
nur anf einer Seite des Himmels bliden laſſen, und nicht 
nur im Thierkreis, fondern fewohl im Dften als im We⸗ 
ften, am haufigſten jedoch in der Rondgegend. Ihre Geftatt 
iſt nicht immer dieſelbe. Denn obwohl die Griechen unter 
ſcheiden zwifchen folchen, bei denen die Flamme bartartig 
herunterhaͤngt, und zwifchen ſolchen, die anf alle Seiten 
hin wie ein fliegendes Haar haben, und zwifchen folchen, 
die zwar ein (umher ansftrahlendes) zerftrentes, aber doch 
in einem Kern fich vereinigendes Feuer zeigen, fo haben 
Siefe älle doch einen und denſelben Charakter, und werden 
mie gutem Grund Comiten [ Haarfterne) genannt. klein 
da die Seftalten derielben erft wieder nad) langer Seit zu 
beobachten find, fo Hält es fchwer, fie unter einander zu 
vergreichen. Fa felbft zu der Zeit, wo fie fid) fehen Taffen, 
find die Beobachter nicht einig, was es mit ihnen für eine 
Bewandtniß habe; fondern je nachdem der Eine oder der 
Andere ein fchärferes oder fchwächeres Auge hat, un 
er auch, es ſey eirer mehr Ticytianb wüex wer wurst, SS 


! 4544 Senecas Abhandlungen. 


der Scdweif ſey mehr einwärts gedrängt, oder vertheile 
ſich mehr auf die Seite. Doc, es mögen ſolche Unterſchiede 


flattfinden oder uicht, nothwendig mäflen die Cometen doc 
auf eine und diefelbe Weife entfliehen. Darüber aber muß 
man einmal im Reinen.feyn, daß fich unvegelmäßiger Weife 
eine ungewöhnliche Sternart fehen laſſe, mit einem auss 


ſtrahleuden Feuer um fih her. Manche Aeltere nehmen 


folgende .Entftehungsweife an: Wenn von den Irrſternen 
ſich einer an einen andern anhängt: fo fließe dad Licht von 


beiden zuſammen, und bilde die Geſtalt eines verlängerten 
Sterns. — Und dieß.Lfagen fie] ift nicht nur dann der 
Fall, wenn ein Stern den andern berührt, fondern fchon 


- wenn er fid) demfelben nähert. Der Zwijchenraum nämlich, 


der zwifchen beiden ift, wird von dem einen wie von dem 


. andern erlendytet und feurig gemadıt, und bildet ein langes 


Feuer. 

ı3. Dieſen habe ich Das entgegenzuhalten, daß es 
eine beftimmte Zahl von Wandelfteinen gibt, daß aber zu 
einer und derfelben Zeit zugleich jene erfcheinen und ein 
Comet. Dadurd) wird ed denn offenbar, Daß nicht durch das 
Zufammentreffen von jenen der Comet eutfleht, jondern daß 
er etwas Eigenes und für ſich Beftegendes if. — Tritt ja 
bei alle dem doch häufig der Fall ein, daß ein Stern unter 
den Punkt eines Höhern Sternes zu ficehen Kommt: es fleht 
ja manchmal der Saturnus über dem Jupiter, und der 
Mars fchaut in gerader Linie auf die Venus oder auf den 
Mercurius herab; aber um dieſes Laufes willen, wenn fchon 
2er eine unter den andern zu flehen kommt, entftcht Doch 


fein Comer; fonft müßte alle Jahre einer kommen, denn 


Naturbetrachtungen. Siebentes Bud. 1346 


jedes Jahr ſind dieſe oder jene Sterne in demſelben Zeichen 
mit andern. 

Menn ein über einem andern ftehender Stern einen 
Eomeren hervorbrächte, fo würde ‚diefer in einem Augen⸗ 
blick aufpören zu jeyn. Denn mit dem Durchgang geht es 
gar fehr ſchnell. Deshalb ift jede DVerfinfterung eines Ges 
ftirne von Eurzer Dauer, weil eben der Zauf, der fie herbei⸗ 
geführt hatte, fie auch fchnelt wieder aufhebt. Wir nehmen 
wahr , daß ed nur eine Burze Zeit anfteht , fo ift die Sonne 
und der Mond nad) dem Anſang ihrer Derfinfterung wieder 
frei: und wie viel fchnelfer muß es bei fo bedeutend klei⸗ 
nern Sternen mit dem Durchfchreiten gehen ? Die Eometen 
bleiben ja aber wohl ſechs Monden lang: das wäre: nicht 
der Zall, wenn, fie durch das BZufammentreffen von zwei 
Sternen hervorgebracht würden. Diefe können ja doch nicht 
lange an einander feyn, und das Gefes ihrer eigenthümli- 
den Schneuigkeit muß fie ja immer vorwärts treiben. Ue⸗ 
berdi eß kommt es uns freilich wohl fo vor, als ob fie bei 
einander wären; fie find übrigens Linder Wirklichkeit] durch 
ungeheure Zwiichenräume von einauder getrenit. Wie kann 
alſo ein Stern fein Licht bis zum andern fchiden, fo daß 
beide verbunden zu ſeyn fchienen, da ungeheure Strecken 
zwifchen ihnen liegen? „Das Licht von zwei Sternen, ents 
gegnet man, vermifcht fih, und dann fieht es aus, als obes 
Eines wäre, nämlich auf die Art, wie das Gewölke röth« 
ich wird durch die Annäherung der Sonne, wie es in ber 
Abend s oder Morgenbeleuchtung lichtgelb iſt, wie der Re⸗ 
genbogen gleichfalls nur durch die Sonne Keine, RU rt 

Cena. 118 Be 5 & 


1586. Senecars Abhandhingem: 


ſeinden Farben bekommt.“ — [Allen] Dieb Alles iſt die-. 
Wirkung einer großen Kraft; ift’s ja doc die Sonne, weis 
che dieſe Beleuchtungen hervorbringt. Die Sterne: können 
Dus nicht ſo. Sodann entſteht Dieß Alles nur unterhalb 
bes Mendes in der Erdnaͤhe. Was weiter oben iſt, iſt rein 
und: fledenlos, und: hat immer feine eigenthümliche Farbe. 
ueserbieß wein ſo Etwas der Ball wäre, fo wäre es ohne 
Dauer und würde unf der Stete wieder verföfchen, wie die: 
Kreiſe, weiche die Summe oder den Mond umgebett, in einem 
Augenblick vergehen. Wuch der Regenbogen Hirt ja niche- 
lange. Wenn es fo Etwas wäre; woburd der Zwiſchen⸗ 
raum zwifchen zwei Sternen anszefülft würde, fo müßte es 


Hauch fo fchnell wieder vergehen: Im keinem Fall würde es 
f fo lange bleiben, ald die Eometen ſich aufzuhalten pflegen. 


Die Sterne Haben ihre Bahn innerhalb des Thierkreiſes, 
an diefen Kreis Halten fie fih, aber die Eometen fieht man 
überall. Sie haben eben fo wenig eine beflinmte Zeit, zır 
der ſie erſcheinen, ald es eine Stelle gibt, über die fie etwa 
nicht Hinansgingen: 

13. Dagegen bringt Artemidorus vor, diefe fünf Sterne 
(Planeten] feyen nicht die einzigen‘, welde wandeln, fons 
dern die einzigen, die man beobachtet habe. Uebrigens ges 
hen unzählige auf verborgener Bahn, die ung entweder 
wegen ihres nicht hellen Lichtes unbekannt feyen, oder weil 
ihre Kreife eine ſolche Stellung haben, daß Ile erft daun 
fichtbar werden, wenn fie [der Erde am nächſten] an die 
Außeriten Puukte diefer Kreiſe gekommen feyen. Daher 


fommen un bänn, wie er behauptet, ungewöhnliche Sterne 
@ Geflcpre, bie ipr Licht mit den Fixſtetnen vermiſchen, und 


Naturbetrachtungen. Siebentes Buch. 1347 


ein’ größeres Fener vor ſich her ansſtrömen, als es bei deu: 
Seternen gewoͤhnlich iſt. Dieß iſt unter‘ den Nichtigkeiten, 
die er vorbringt, das Unbedentendſte: ſeine ganze Himmels⸗ 
thesrte iſt eine unverfchämte Züge. Denn wenn wir ibm” 
glauben, fo iſt der oberſte Himmelsrand ganz maſſig, wie 
ein Haus geveſtet, und von hohem und dichtem Stoffe, aus 
vereinigten und anfammengehänften Atomen gebildet. Die“ 
ihm zundchftliegende Oberfläche ift feunrig”und fo feft auf ein⸗ 
ander liegend, (lädenfos) daß ſie nicht aufgelöst und bee 
ſchaͤbigt werden Bann. Doch hat fie eine Urt von Luftlöchern 
und gleichſam Fenſter, durch’ welche von der Außer Seite. 
des Himmels her die Fener einſtrömen, die aber nicht fe” 
erof find, daß fie im Innern eine Unordming anrichten. 
Und eben fo gehen diefelben vom Himmel aus nad) Außen. 
Und fo find jene ungewöhnlichen Erfcheinungen aus jener 
über den Himmel hinausliegenden Materie gefloffen. — 
Dieß in feiner Nichtigkeit darftellen zu wollen, — wäre 
Spiegelfeihterei. 9 

14. Wenn mir doch der gute Mann, der über die 
Weit eine fo feſte Zimmerdecke woͤlbt, nur ſagen möchte, 
wernm wir ihm denn glauben folfen, daß der Himmel eine 
fo dicke Maffe fey! Was war es denn doch, das fo maffige 
Körper dort hinauf brachte und fie dort feſt Hält? Sodann, 
was von folder Dice ift. muß nothwendig auch von aroßer 
Scywere-feyn. Wie bleibt denn nun das Schwere in der 
Luft? Wie kommt's, daß jene Maſſe nicht herabkömmt und 


+5 Wortlich: bie Hand aͤben und mit den Yrmen ’a Ten TÜM 
ſchlagen — spwe. Gegner fig im Teogien Burn. BER 


8348 Seneca's Abhandlungen. 


fidy durch ihre eigene Laſt zerbricht ? Denn Das ift doch 
nicht möglich, daß eine ſolche Gewichtlaft, wie er annimmt, 
fchwebe und auf etwas Gewichtlofem ruhe. Auch läßt fich 
nicht wohl behaupten, es fey von außenher irgend ein Halt, 
fo daß fie nicht fallen könne; und wiederum auc, nicht, es 
key in der Mitte etwas Entgegenſtehendes, das die herdrüs 
ende Maffe auffange und ſtütze. Ueberdieß wird wohl Nie: 
mand zu behaupten wagen, der Himmel laufe durdy den ums 
ermeßlichen Raum, und falle zwar, aber es fey nicht bes 
merkbar, 0b er falle, weil fein Stürzen ein ewiges, und 
nihts Aeußerſtes da ift, woran er anſtieße. Solches haben 
Einige (Pythagoraͤer] von der Erde behauptet, da ſie fid) 
nicht erklaren Eonnten, nach welchen Gefegen in der Luft 
eine ſchwere Diaffe ftehen ſollte. — ‚Sie läuft, ſagten fie, 
immer, aber ihre Fallen ift nidye wahrzunehmen, weil Das, 
in was fie fällt, unendlich iſt. -- 

Womit willft du denn aber ferner beweifen, daß nicht 
aur fünf Sterne ſich bewegen, fondern daß es viele foldye 
gebe und in vielen Regionen des Himmels ? Dder wenn dieß 
auch ohne einen annchmbaren Beweis gilt: fo kann man 
entgeguen: Warum follte man nicht auch behaupten Eönnen, 
es bewegen fich entweder alle Sterne oder Feiner? Ueberdieß 
nünt es dich aber Nichts, daß vie Sterne fo fchaarenweife 
anter einander umberlaufen folfen. Denn je mehr ihrer 
wären, defto öfter müßten fie auf einander floßen. Die 
Eometen find aber felten, und erregen deshalb unfre Bes 
wunderung. Wirft du nicht durch alle Jahrhunderte widers 
Zegt, in denen man folder Sterne Aufgang merkwürdig ges 

Aunden und für die Nachwelt aufgezeichnet hat? — 


Aaturbetrachtungen. Giebentes Bud. 1349 


5. Nach de Tode des Syrerkönigs Demetrius, *) deſſen 
Söhne Demetriud und Antiochus waren, kurz vor dem 
Achaiſchen Kriege, erichien ein Comet, der nicht Peiner 
war, ale die Sonne. Zuerſt war er eine feurige und vöthe 
lihe Scheibe, die ein helles Licht ausftrahlte, ſtark genug, 
um durch die Nacht Hindurchzufenchten. Darnad) zog fi 
feine Größe allmählig zufammen nnd es verfchwand feine 
Helle. Zulett aber verging er ganz. Wie viel Sterne 
müßten wohl da zufammentommen, um eine ſolche Waffe zu 
bilden? Stelle taufend zufammen, fie werden diefer Sonuens 
geftatt nicht gleichfommen. Unter dem. König Attalus *% 
erfchien ein Comet, der Anfangs nicht gar groß war. So— 
dann hob und breitete er fich aus, und Bam bis in den Ar⸗ 
quinoctiaftreis, fo daß er jenem Himmelsſtrich, der die Milch⸗ 
ſtraße Heißt , in’s Unermeßliche ſich ausdehnend, gleich warb. 
Wie viel Wandelfterne müßen wohl ba zufammengelommen 
ſeyn, daß fie einen fo langen Strich des Himmels mit un« 
unterbrochenem euer ausfüllen Fönnten ? 

36. So viel gegen ben Beweis ; noch habe ich gegen 
die Zeugen zu fprechen. Und es braucht nicht viel Umftände, 
den Ephornd als Gewährsmann anznfechten, ***) er ift eim 
Geſchichtſchreiber. Manche wollen fi durch Erzählung ums 


2) Demetrius Goter, geſt. 151. vor Ehr. DL 157, 2. 
*s) Digmyp. 155, 2. vor Ehr, 239. 
=) Ephorus aus Cumaͤ in Aeolis, hatte den Iſocrates zum 
Lehrer. Er ſchrieb ein umiverfalniftoriiges Wert, dab ben 
Zeitraum von 1091 bis 341. vor Ehre. enthält, und verlos 
sen gegangen iſt. Micht alle Alten Halten ya Ar an we 
glaubwuͤrdig, wie Seneca. 


‚50 Senacaꝰs Abhandlungen. 


aublicher Dinge beliebt machen, und ziehen Leſer an, bie 
men keine Aufmerkſamkeit ſchenken würden, wenn man ih⸗ 
en nur mit alltäglichen Dingen käme. Manche ſind leicht⸗ 
Käubig, Manche nachläſſig, bei Mauchen fchleicht fich eine 
Büge ein, Mauche haben ihr Wohlgefallen daran. Die Eis 
nen vermeiden fie nicht, die Andern gehen darauf aus. Und 
Bas gilt im Allgemeinen von. der ganzen Klaffe diefer Leute, 
weiche nicht meint, daß ihre Arbeit Beifall finden und bei’m 
Volk belient werden könne, wenn ſie nicht mit Lügen ges 
‚Spidt wird. Ephorus aber nimmt ed mit der Wahrheit nicht 
fonderlich genau, und ift bald der Betrogene, bald der Bes 
Müger, fo wie er denn von dem Cometen, den die Augen 
aller Sterbiichen beobachtet Haben , weil er ungemein wich- 
tige Begebenheiten zur Folge hatte, und durch feinen Auf⸗ 
sang Kelice und Buris in’d Meer ſerkte, die Behauptung 
aufſtellt, ed habe fich derfeibe in zween Sterne gefchieden; — 
davon weiß aber Niemand Etwas, ald er. Denn Wer hätte 
doc, gerade auf den Augenblick Acht haben können, in wels 
dem ter Comet ſich auflöste und zwei Theile aus ihm wur⸗ 
Ben ? Und wenn Jemand wirklich den Cometen fih in zwei 
Theile fpalten fah ‚„- warum hat denn Das Niemand bemerkt, 
wie er aus zwei Theilen entſtand? Und warum bat er denn 
nicht beigefebt „ in was für Sterne derfelbe getheilt ward, 
da er doc, einer von den fünf Sternen ſeyn folte? — 

17. Apouonius aus Myndus [in Karien)] ift der ent: 
‚negengefegten Meinung. Er behauptet nämlich, es entfteh: 
sicht ein Comet ans mehreren Arrfternen, fontern manch 
- &ometen ſeyen Irrſterne. — Es ift, fagt er, nicht ein ri 

sender Sein, und nicht ein Feuerſchein, der von dem ni 


Naturbetrachtungen. Miabentes Bud. 4561 


gen Sufammentveffen zweier Sterne herrührt, ſondern der 
AEomet .ift- auch ein eigenes Beflirn, wie dad dev Sonne oder 
des Diondes. Seine Geſtalt iſt von der Urt, daß ſie nicht 
in's Munde geht, ſondern etwas geſtreikkt und in's Lange 
„gezogen. Uebrigens ift feine Bahn nicht zu ſchauen: er 
durchzieht die hͤhern Regionen Des Himmels, und iſt erſt 
dann ſichtbar, wenn er in. die unterſte Gegend ſeines Lau⸗ 
fes kommt. Auch dürfen wir nicht meinen, den man unter 
Auguſtus ſah, der ſey der nämliche, welcher wieder unter 
Claudius bemerkt wurde, oder der, fo unter dem Kaifer 
Mero erfchien, und die Cometen aus ihrem üben Nu 
. brachte, *) fey dem ähnlich - geweien, der. nad) der Ermor⸗ 
bung des vergötterten Julius [&äfar] an den Feftfpiele 
„ber Venus Genetrix um die eilfte- Stunde ded Tages ** 
 aufging. Es gibt viele und verfchiedene, ungleich an Größe, 
‚amähnlic, an Farbe. Die einen haben eine Röthe, ohne ir: 
„gend ein Licht; die andern eine Weiße and ein reines Ka 
res Licht, wieder andere eine Flamme, und zwar nicht rei 
and dünn, fondern viel dunſtige Gluth um ſich her verbrei 
-tend. Manche find bintroch , fchröckhaft, und deuten au 
nach folgendes Blufvergießen, diefe vermindern und vermeh 
. ven. ihr Licht, gleichwie andere Geftirne, — und find, wen 
.. fle:weiter herabfommen, heller, und erfcheinen in der Nah 
‚größer; wenn fie-aber umkehren, - werden fie Eleiner un 

dunkler, , weil fie ſich weiter wegziehen. 
*) Es war Bolksmeinung, daß die Eometen eine Regierung 

g bedeuten. 


veraͤnderun 
**y; Aliſo gegen Sonnenuntergang. Plinius, Bist, var. L. v 
berichtet: „Abends, da bie Sonne N nn 
























41552 Senecas Abhandlungen. 


18. Dagegen ift fogleich zu erwicdern, es fey 8 
Eometen nicht derfelbe Fall, wie bei andern Sternen. 
Cometen nämlich ind an dem erften Tage ihres Erſch 
am größten; fie ſollten nun freilich zunehmen, je nä 
Herbeitämen. Allein es ift nun einmal fo, daß es mit 
bleibt, wie man fle das erftemaf fleht, bis fie zu ver 
anfangen. — Sodann gilt gegen ihn [den Apollonius 
Nämliche, was gegen die früher Erwähnten gefagt ' 
Wäre der Comet ein Wandelſtern und ein eigentliche 
ſtirn: fo würde er fich innerhalb der Grenzen des 
kreiſes bewegen, innerhalb deſſen jedes Geſtirn feine 
findet. Nie fcheint ein Stern durdy den andern durch 
fer Auge kann nicht mitten durch ein Geſtirn hindurch 
gen, fo daß es durch baffelbe weiter in die obern Me 
hineinichaute. Durch den Eometen aber fieht man x 
wie durch eine Wolfe, was weiter dahinten if, wora 
bellet, daß er nicht ein Geſtirn iſt, fondern ein unbet 
der und unordentlicher Feuerſchein. 

19. Unfers Zeno's Anfiht iſt biefe: es neige 
meint er, Sterne zufammen und vereinigen ihre Stı 
durch diefe Verbindung des Lichts entftehe das Bild 
langlichten Sterned. Daher halten Einige dafür, die 
ten feyen Nichts, fondern ihre Exrfcheinung werde dur 
Wiederſchein von Geftirnen, die ſich nahe fegen, oder 
die Vereinigung folder, die mit einander zufammenk 
bewirkt. — Manche fagen , fie ſeyen allerdings Etwar 
fie haben ihre eigenen Bahnen, und laſſen ſich nach be 
ten Zeiträumen immer wieder fehen. Manche lafl 
wol für Etwas gelten, aber man ſollte fie nicht © 


Naturbetrachtungen. Siebentes Bud. 41553 


nennen, weil fie vergehen und nicht lauge dauern, und nach 
£urzem Verweilen zerftichen. 

30. Diefer Anfiche find die" Meiftentder Unfrigen,, und 
fie denken dabei das. Richtige nicht zu verfehlen. Wir fehen 
je, daß ſich in der Luft verfchiedene Arten von Feuerſchei⸗ 
nen erzeugen, und daß bald der Himmel glüht, bald 

Mäctige Streifen von Flammen am Himmelsruͤcken erfcheinen, *) 
bald -Himmelsfadeln mit weitausgebehntem Feuer dahinfahs 
zen. Sodanu die Blitze, obwohl fie vermöge ihrer aufferors 
dentlichen Geſchwindigkeit zu gleicher Seit das Auge bien 
den und wieder frei machen , find Yenerfcheine einer in Reis 
bung verfegten Luft, welche in großer Gewalt an ſich ſelbſt 
anfchlägt. Deshalb Leiften fie auch Leinen Widerftand, fons 
dern wenn fle getrieben werden, ſtroͤmen fie aus, und es ift 
mit ihnen fogleich vorbei. Andere Feuerſcheine aber bleiben 
lange, und gehen nicht eher weg, als bis aller Nährſtoff, 
wovon fie fich erhielten, aufgezehrt ift. — Hieher gehören 
jene von Pofidenius aufgezeichneten Wunderdinge, brennende 
Saͤulen und Schilde, und andere ganz befonders auffallende 
Slammenerfcheinungen, auf die man nicht achten würde, 
wenn fie gewöhnfich und vegelmäßig Jorkämen. Uber Jeder 
mann flaunt über Das, was aus der Höhe herab einen 
plöglichen Yeuerfchein wirft, mag ed nun ein vorübergehens 
der Schimmer feyn, oder mag es in der zufammengepreßten 
und in Gluth verfesten Luft, ald ein Wunderding ftehen 
bfeiben. — Und hat fid) denn nicht ſchon manchmat eine 


*) Bergl. Virqil vom Randtau I, 367, uni Sraruk Siresm 
betractungen I, ı% 
d 


As 3 6Gonacaꝰs Abhandlungen. 


Küde in dem - zurüdtretenten Aether geöffnet . und ein we 
verhreitetes Licht in einer Vertiefung? Da Eönnte mw 

- ausrufen: Was ift Das ? 

— — im mitten feir ich. gekffueb ben Simmel *) ” 
Unb die ‚Sterne wandeln am: Bol, — — 

wie fie zuweilen aus umerwarteter Nacht hervorglänzen uı 
mitten durch den Tag hindurchbrechen. — Allein damit he 
28 eine andere Bewandtniß, daß diefe zu einer ungehdrig« 
Zeit in der Luft erfcheinen, da man ja fchon weiß, daß f 
vorhanden feyen , wenn fie auch verftedt find. Viele Com 
ten ſehen wir nicht, weil fie durch die Sonnenſtrahlen ve 
dunkelt werden ; und Poſidonius meldet, es habe fih b 
einer Sonnenfinfterniß ein Comet fehen laffen, den die Nä— 
der Sterne verdedt hatte. Dft aber fieht man, wenn :d 
Sonne untergeht, ein zerftreutes Feuer nicht ferne von ih 
Der Stern felbit nämlich wird von der Sonne überftraf 
und kann deshalb nicht gefehen werden; aber fein Haa 
ſchweif weicht ven Sunnenftrahlen aus, 

212. Die Unfrigen nehmen alfo an, die Cometen we 
den, wie die Himmelsfackeln, wie die Trompeten und Feue 
balken und andre Erfcheinungen am- Himmel von Dicht 
Luft erzeugte. Daher zeigen fie fid) am häufigften geg 
Norden, weil dort am meiften unbewegte Luft if. — Ab 
warum bleibt denn der Comet nidyt ftehen, fondern lär 
fort? Das will ich erfiären. Er geht wie alled Feuer jı 
ner Nahrung nach; denn obwohl er in die Höhe firel 
geht er Doch, wenn es ihm an Stoff gebricht, zurüd u 


——— — — 
Aitviſv NMeucibe IX, 230. 21. 


Natunbetvachtungen. Biene Buch. 11365 


„abwärts. Er macht ſich in der Luft auch nicht rechts: oder 
Kinds, denn er hat Leinen Weg, fondern: wohin ihn die 
Ader feines Nahrungsfloffes zieht, da fchleicht er ſich hin, 
und er. hat nicht, wie ein Stern, feinen Gang, fondern er 
frift fich fort, -wie ein euer. — Aber. warum bleibt: er 
denn eine lange Zeit fichtbar , und verkifcht nicht gleich : wies 
der? Der, den wir unter Nero's heilvoller Regierung fahen, 
sieh ſich ja ſechs Monden Iaug fchauen, und nahm gerade 
die entgegengefente Richtung von dem unter Claudius. 
.Diefer nämlic) erhob fid von Norden dem Scheitelpunft 
zu und wandte fi) gegen Oſten, wo er..immer.dunkler wurde ; 
jener fing. in der nämlichen Gegend an, aber: nad) Welten 
gewendet, zog er fich gegen Süden, uud verfchwand uns 
daſelbſt aus den Augen. Der eine — fo-ift dieß zu erklaͤ⸗ 
ren — hatte der-niedrigern und für das Feuer mehr geeig: 
.neten Region ‚nachzugehen ; der andere dagegen hatte eine 
[für die Nahrung des Feuers) reichlicher und beffev aus—⸗ 
..geftattete Bahn. Wenn fie nun alfo herabkommen, ſo ift 
ed der Stoff, der fie anzicht, nicht der.-Weg. Diefer war 
.ja.bei den beiden, die wir beobachten, der enfgegengefeste, 
da der eine fich rechts bewegte, der andere Finke. Dagegen 
. Haben alte Sterne ihren Lauf auf eine und -diefelbe Seite, 
:admlic, den Lauf des Himmels ‚gerade entgegen. Diefer 
nämlich rollet von WUufgang gegen Niedergang; jene aber 
‚gehen von Niedergang gegen YAufgaug. Und ſo Haben fie 
eine getoppelte Bewegung, die ihrer eigenen Bahn, und die 
‚andere, weiche fie mit ſich -fortreißt. 
33. Ich pflichte den Unfrigen ‚nicht bei. : Denn ich. Kalte 
„ sicht Dafür, . daß der Comet ‚ein aungatikiuteb Beer NS 


4556 Geneca’s Abhandlungen. 


fondern daß er zu den ewigen Werfen der Natur gehöre, 
Fürs Erfte ift Alles, was vie Luft erzeugt von kurzer 
Dauer. Es entftcht ja in einem flüchtigen und ſtets fidy 
verändernden Körper. Wie Bann denn in der Luft Etwas 
fange das Nämliche bleiben , während die Luft feibft nie 
biejelbe bleibt ? Sie ift immer in einem fließenden Zuſtand 
und hat nur Eurze Ruhe. In einem Angenbli nimmt fie 
eine andere Befchaffenheit an, als fie zuvor gehabt. Bald 
ift fie vegnerifch, bald heiter, bald zwifchen Beidem wechfelnd, 
und die Wolken, die mit ihr am meiften gemein haben , in 
welche fie ſich einfchließt, und aus welchen fie entbunden 
wird, fammeln ſich bald, bald brechen fie, niemals lagern 
fie fi) unbeweglih. Es ift unmöglich, daß ein Feuerſchein 
regelmäßig in einem unftäten Körper feinen Platz behaupte, 
nnd fo _unvertrieben hafte, wenn ihn nicht die Natur fo 
eingerichtet hat, daß er nicht aus feiner Ruhe gebracht wers 
den kann. Sodann wenn fein Derweilen von feinem Nah⸗ 
rungsftoff abhinge, fo ginge er immer abwärts. Denn die 
Luft ift ja um fo dichter, je näher fie der Erde ift: num 
aber ſenkt fi) der Comet nie bis in die unterfte Sphäre, 
und kommt nicht dem Boden nahe. Im jedem alle geht 
ein Feuer entweder dahin, wohin feine Natur ftrebt, näm« 
lich in die Höhe; oder dahin, wohin es der Stoff zieht, 
an den es ſich Hänge und den ed verzehrt. 

23. Ein ordentliches und himmliſches Feuer nimmt 
niemals einen frummen Weg. Dem Geftirn ift es eigen, 
daß es eine Kreisbahn macht. Ob nun andere Cometen Das 
sswa nicht gerhan haben, weiß ich nicht: die beiten in un- 

/eem Beitelter baben es gethan. — Ferner: Alles, was 


| 


anal 





Naturbetrachtungen. Siebentes Buch. 1388 


LET AAuft und ein Theil der Gbttheit, wieder ein Anderer, 
eine ganz feine Luft; und noch ein: Anderer, ein unkörper⸗ 
liches Wirkungsvermögen. Es mag wohl auch: Einer: ſagen / 
fie-fey But; und ein Anderer, ſie ſey Wärme: So un⸗ 
möglich iſtes der Seele, über andere Dinge im Klaren zu 
ſeyn, daß ſie ſich ſekber noch zu unterfuchen hat. 

5. Bas wundern wir uns alfo, daß: die. Cometen, 
ein fo feltenes Schaufpiel am Himmel, noch nicht nach bes- 
ftimmten Gefetzen erfaßt find, und daß man ihre Anfänge:: 
und ihr - Aufhören noch nicht kennt; da fie erft nach fo ge⸗ 
waftigen Zwiſchenzeiten wieder erfcheiten? Es find nody“ 
Leine fünfzehnhundert Fahre, feitdem Griechenland 

— — Zahl den Sternen und Namen beftimmt. *) 


Und noch heut zu Tage gibt ed manche Völker, die den 
Himmel nur keunen, wie fie ihn anfchauen, und die noch 
nicht wiflen, warum der Mond verfinftert und befchastee.. 
werde. Und es ift nicht lange her, daß dieß. auch bei uns 
erft ficher berechnet worden iſt. E3 wird eine Zeit fommen, . 
wo, was jetzt verborgen ift, durch die Zeit und durch die, 
Torfchungen. langer Jahrhunderte an's Licht gezagen wird. 
Zur Unterfuchung fo großer Dinge reicht ein Menfchenteben. 
nicht hin, und wenn es fich einzig mit dem. Himmel bes 
fchäftigte. Und man tHeilt die wenigen Jahre erft nicht ein« 
mal zu gleichen Theilen, zwifchen Studien und Thorheiten.t 


*) Vergl. Birgit vom Landbau J, 137., wo von dem fi lbernen 
Zeitalter die Rede iſt, da Titan Hyperion, Prometheus und 
Atlas die Sternkunde aufprachte, Letzierer iſt eiaeiia 
mit Moſes und Eecrops. 


ln — —4 — ⸗ — — — - 





— j — An 


N 


1360 -Geneca’s Abhandlungen. 


Darum werden dergleichen Dinge *) erft in fanger Zeitfolge 
ausgemittelt werden. Die Zeit wird Eommen, wo unfre 
Nachkommen . fih wundern, daß wir fo offenbare Dinge 
nicht gewußt haben. Wie es fich bei diefen fiinf Sternen, 
die ſich und Parbieten und bald da bald dort ſich zeigend 
uns unfre Aufmerkſamkeit abnöthigen, mit dem Aufgang 
des Diorgens und ded Abends verhalte, wie mit ihrem 
Stillſtand, iu ‚weichen Fällen le gerade fortgehen, warum 
fie fich rücwärts wenden, — Pas haben wir eben erft zu 
begreifen angefangen. Ob Jupiter aufs oder -untergehe, 
oder ob er ein rückwärts fchreiteuder Stern ſey, denn diefen 
Namen haben wir ihm bei feinem Wbweichen gegeben, — 
Das haben wir erft vor wenigen Fahren gelernt. Es haben 
fi) Leute gefunden, die und fagten: ihr irret, wenn ihr 
euch vorftellet, daß irgend ein Stern feinen Lauf hemme 
oder abändere. Die Himmelskörper Eönnen weder flehen 
bleiben, noch ablenken; es geht Alled vorwärts, und nimmt 
feinen Weg, wie es feine Richtung urfprünglich erhalten 
hat. Ihr Lauf und ihr Ziel muß Ein’s feyn. Diefed ewige 
Werk hat feine unabänderliche Bewegung: flünde dieß eine 
mal ftill, fo müßte etwas Anderes flörend, Dem enfgegentrer 
ten, was jept durch feine Ordnung und Gleichmäßigkeit 
gehalten wird. — 

26. Uber warum fcheint es denn bei manchen, als ob 
fie eine rücgängige Bewegung machen? — Daß es ausfieht, 
als gehe es langfam bei ihnen, das kommt von dem Entge⸗ 


*) Wir folgen Gier der Eonjettur: per successiones ista (ſtatt 
“stas) longss esplicabuutar. 


Aaturberachtungen. Siebentes Bud). 


genlaufen der Sonne und von der Beſchaffenheit der 
und Kreisbahnen, wenn dieſe eine ſolche Lage haben, 
au gewiſſen Zeiten ihr Anblick trügt. So ſcheinen Sq 
wenn fie auch mit vollen Segeln fahren, doch zu flehen. 
wird ſchon einmal Einer auftreten, der da vorzeichnet, 
weichen Regionen die Cometen wandeln, warum fie fo. 
geſondert von den übrigen ihren Weg nehmen, und von w 
cher Größe und Befichaffenheit fie feyen. — Durch die Stern 
Hält man entgegen , flieht man nicht hindurch, was weiterhi 
it, — aber durch die Eometen dringt :unfere Sehkraft. — 
[Darauf erwiedere ich) vor Allem: wenn dieß ber Fall if, 
fo it es nicht an demjenigen Theil, wo das Geſtirn ſelbſt 
ift, aus dichtem Feuer durch und durch befiehend,, foubern 
nur da, wo unzulammenhängender Lichtglanz ausftrömt umd 
ſich in den Haarfchweif ausbreitet. Durch die Lüden des 
Feuers fiehft du durch, nicht Durch die Eometen felbft durch 
ihren Kern]. Die Sterne, fast .man ferner, find alfe rund, 
die Cometen Tänglicht ; daraus geht deutlich hervor, daß fle 
2eine Sterne find. Ja, Wer wird dann aber dir zugeben, 
Die Enmeten feyen lang? Ihr eigensfiches Weſen ift eben, 
wie bei den andern Geſtirnen, eine Kugel, im Hebrigen ift 
es ihr Glanz, der ſich in die Länge zieht. So wie die Sonne 
ähre Strahlen weit und breit ansfendet, übrigens eine ans 
dere Geftalt die ihrige ift, eine andere die des Lichtes, das 
von ihr ausſtroͤmt, fo ift der Cometenkörper ſelbſt rund, fein 
Stanz aber erfcheint länger, als bei.den übrigen Geſtirnen. 
27. Du fragft: warum Bad? Sag bu wir aber erit, 
warım der Mond ein der Sonne ganz unätalidyeh TUE vw 
Seneca. 116 Dion. J 


4562 Seneca’s Abhandlungen. , 


prängt, ba ers dach von der Sonne befommt? warım er 
bald röthlich, bald blaß ift? warum er eine bleiartige und 
lichtloſe Farbe hat, wenn er von dem Anſcheine der Sonne 
ausgefchtoffen ift ? Sage mir, warum alle Sterne ein unter 
ſich ſelbſt zum Theil ungleiches Ausfehen haben, und ein 
ganz anderes, ald die Sonne? So wie nun Das nicht macht, 
daß fie Feine Geſtirne find, went fie einander fchon nicht 
gleich ſehen, fo koönnen die Eometen nichts defto weniger ets 
was Fortbeftehendes feyn und von derfelden Natur, wie die 
andern Geſtirne, wenn fie fchon nicht ausſehen, wie diefe. 
Und wie? Beſteht denn nicht die Welt felber, wenn du fie 
betrachteft, aus Gegenfäben ? Warum ift denn die Sonne im 
Zeichen des Löwen immer glühend heiß, und brennt die 
Länder durch Hibe aus ; in Waſſermann aber bringe fie Wine 
terfroft hervor, und bedeckt die Flüffe mit Eis. — Und doch 
ift das eine wie das andere Geſtirn von derfelben Beſchaf⸗ 
fenheit, mögen fie auch ihrer Wirkung und Eigenthümlich⸗ 
teit nady ungleich ſeyn. In ganz kurzer Zeit erhebt ſich der 
Widder, aber ganz langſam ſtellt fich die Wage in's Gleich⸗ 
gewicht, [erfcheint das Ganze der Wage]; nnd doch hat das 
eine wie das andere Geſtirn diefelbe Natur, wenn fchon jes 
nes in Eurzer Zeit feine Höhe erreicht, dieſes aber lange 
braucht, um vorwärts zu kommen. Siehſt du nicht, wie 
entgegengefester Natur die Elemente find ? Ste sind ſchwer, 
. fie find leicht, fie find kalt, fie find warm, fie find trocken, 
fie find feucht. Die ganze Harmonie diefer Welt befteht eng 
nicht übereänftimmenden heilen. Du fagft, der Comer fey 
Fein Stern, weil feine Geſtalt nicht der Regel entfpreche 
und den andern nicht aͤhnlich ſey. — Ja freilich wohl; der 


Naturbetrachtungen. Siebentes Bud. 1363 


Stern , der nach dreißig Sahren wieder an feine Stelle zu- 
rückehrt, 9 it er denn aud aufs Haar Ähnlich dem 
andern, der innerhalb eines Jahres jeinen Punkt wieder 
findet? — Nein, nicht einförmig richtet die Natur ihr Werk 
ein, fondern fie hat auch ihre Luft an der Abwechslung. Sie 
hat das Eine größer gemacht, ald das Andere, das Andere 
fhnelfer ; das Eine flärker, das Andere gemäßigter; Matt 
ches aber hat fie aus der Menge hervorgehoben, um ed aus—⸗ 
gezeichnet und bemerkbar herporfreten zu laffen, Manches 
hat fie unter den großen Haufen geworfen. Man erkennt 
die Macht der Natur, wenn man meint, was fie nidye 
öfters thut, könne fie gar nicht. Comeken zeigt jie nicht 
häufig, fle hat ihnen eine audere Stellung, andere Zei: 
ten, und eine andere Bewegung angewiefen, als den übris 
gen. Es war ihre Abſicht, auch durch diefe die Größe .ih- 
ver Werke zu verherrlichen , und das Ausfehen diefer Kör- 
per ift zu fchön, als daß man es für etwas Zufällige haf- 
ten Fönnte, man mag nun ihren Umfang betrachten, oder 
ihren Lichtglanz, welcher größer umd feuriger ift, als bei 
den übrigen. Sa ihr Anblick hat etwas Ausgezeichnetes und 
Defonderes, denn er iſt nicht in's Enge zufammengezogen 
und gedrängt, fondern freier ausgebreitet und die ‚Region 
vieler Sterne umfaffend. 

29. Ariſtoteles ſagt, die Cometen zeigen Sturm AN, 
und ungeflüme Winde und Regengüſſe. — Nun? foll das 
Bein Geſtirn feyn, was Zukünftiges verkündet? Es iſt dieß 


*) Wie der Saturn, 
N % 


41564 Senecas Abhandlungen. 


nämlich nicht in dem Sinn ein MWitterungsanzeichen,, wie es 
‚einen Regen bedeutet, 
„Wenn nun funtelt tas Oehl, und faulmbe Schwaͤmme vers 
wachſen ze 
der wie es einen Seefturm bedeutet, wenn das im Meer 
‚wohnende 
„Blaͤshuhn fpielet auf trodenem Raum, die gewohnten Gewaͤſſer 
Laſſend, und uͤber dem hohen Gewoͤlt herflieget der Reiger ;“ *) 


ſondern fo, wie die Tag- und Nachtgleiche ein Zeichen iſt, 
daß das Jahr ſich zur Wärme oder zur Kälte umneigt, und 
fo wie Das, was die Chaldäer [Aſtrologen] wahrfagen, was 
bei der Geburt ein Stern Trauriges oder Erfreuliches be: 
ſtimme. Um dich zu überzeugen, daß es fo ſey, [bevenke,] 
der Comet bedeutet durd) feinen Aufgang nicht für den Au— 
genblick Winde und Negen, wie Ariftoteles fagt, fondern e: 
laͤßt auf den ganzen Sahrgang [nichts Gutes] fchließen. Dar: 
ans ift klar, er habe feine Vorbedeutungen nicht aus den 
wächften Umgebungen, um fie für Das, was zumächft Eom- 
men follte, zu geben, fondern es fey etwas tiefer Liegendes 
und in den Geſetzen der Welt Verſchloſſenes. So hat ber 
Comet , der unter dem Confulat des Paterculus und Vopis— 
cus erfibien, Dagjenige in Erfüllung gebracht, was vo: 
Ariftoteles und Theophraftus als Vorbedeutung ausgefpro- 
hen worden iſt. E8 waren nämlich aller Orten große und 
anhaltende Stürme. Und in Achaja und Macedonien find 
Städte durch Erdbeben eingeftützt. 

Noch wendet man ein: ihre Langfamkeit fep ein Beweis, 





”, Berge. Virgit vom Landban I. 392. 563. 364. 


Naturbetraehtungen. Siebeutes Buch. 41365 


daß fie fchwer feyen und viel Erdftoff in fich Haben; überdieß 
and) ihr Lauf; fie werden nämlich in der Regel den Polen 
zugefrieben. — 

29. Das ift Beides unrichkig. Ueber den erftern Punkt 
will ich zuerſt reden. Alſo was langſamer geht, fol fchwer 
ſeyn ? Iſt denn rer Stern des Saturnus fchwer, der unter 
allen am Tangfamften feine Bahn vollendet? Im Gegentheit, 
ein Beweis von feiner LZeichtigkeit ift, daß er über den ans 
dern flieht. — Ga, ſagſt du, er hat eben einen größern Um—⸗ 
kreis, und geht nicht langſamer ald die andern, wohl aber 
weiter. — Laß dir doch einfallen, daß id) das Nämliche anch 
von den Cometen behaupten kann, wenn and) ihr Kauf £räs 
ger wäre. Allein es ift nicht wahr, daß fie langfamer ges 
hen. Denn innerhalb ſechs Monaten hat der lebte den Hals 
ben Himmel durchlaufen ; der frühere hat fi) in noch wenis 
gern Monaten zurüchgezogen. — „Allein Lentgegnet man weis 
ter] weil fie fchwer find, fo fleigen fie abwärts. Für's Erfte 
geht Nichts abwärts was im Kreife umhergeht. Sodanı Hat 
te. Lestere [unter Nero] den Anfang feiner Bewegung im Nor⸗ 
den gemacht, ift in weftlicher Richtung nach Süden gegangen, 
ud iſt, indem er feinen Zauf [am füdlichen Himmel) erhob, 
verfchwunden. Der andere unfer Claudius hat fich aud) zuerft 
im Norden fehen laffen, und ift ananfhörlich gerade aus hö— 
her geftiegen,, bid er unfichtbar wurde. 

Dieb iſt's, was in Betreff der Cometen theils Andern, 
theils mir ſelbſt von Belang däuchte. Ob ed damit feine 
Richtigkeit Habe, mögen Diejenigen ausmitteln, die eine vich« 
tige wiffenfcjaftliche Kenntniß von der Sodye veitgen. I 
kann bier blos nadfpüren nnd im Stiuen MALEN DUO 


1866 Seneca’s Abhandlungen. 


thungen nachgehen, auf der einen Seite nicht mit ber Zu—⸗ 
verficht, daß ich's finde, auf der andern aber doch nicht ohne 
Hoffnung. — 

50. Vortrefflich ſagt Ariſtoteles, wir ſollten nie bes 
fheidener feyn, ald wenn von den Göttern die Rede ift. 
Henn wir mit feierlichem Ernſt in Tempel treten, wenn 
wir, im Begriff zum DOpferheerd zu nahen, den Blick fen 
fen, die Toaa zufammenhalten, und uns durchaus demüthig 
zu erweifen fuchen: um wie viel mehr folten wir ung beftres 
ben, wenn wir über die Geflivne, über die Himmelskörper, 
über das Weſen der Götter Befprechungen anftellen, daß 
wir ja Feine unbefonnene, keine das Zartgefühl verlegende 
oder tinwiffenheit verrathende Behauptung aufftellen oder 
em mit Wilfen etwas Unrichtiged vorbringen ? — Und Taffen 
wir es uns doc) nicht auffallen, wenn Dinge, die fo tief 
itegen, auch fo langſam herausgebracht werden. Panätius ) 
aid Diejenigen, welche die Meinung geltend machen wol: 
fen, als wäre. der Comet Fein ordentliches Geſtirn, fons 
ern ein trügender Schein vor einem Geftirn, haben forgs 
fältig die Frage abgehandelt, ob jeder Theil des Jahres gleich 
geſchickt ſey, Cometen hervorzubringen, ob jede Negion Des 
Himmels geeignet fey, fie zu erzeugen, ob fie überall, wo 
fie wandeln können, auch entftehen können, und dergleichen 
Sragen mehr, welche alle wegfallen, wenn ich behaupte, es 
ſeyen diefelben nicht zufällig entftehende Yeuerfcheine, fons 
sern [gleich den Geſtirnen]) mit in den Himmel verwchen, 


2 Yandtind, cin Zeitgenoffe bes jängern Scipio Africanus und 
6 ditern Eato, alfo etwa 150, I. wer Cyr. 


Naturbetrachtungen. Siebentes Buch. 1567 


übrigens nicht häufig. von ihm zum Worfchein gebracht, ſon⸗ 
dern auf verborgenen Bahnen geführt. Wie Vieles wandelt 
wohl auffer ihnen eine geheime Bahn, für ein menfchliches 
Auge niemals aufgehend! Denn nidyt Alles hat die Gottheit 
für den Menfchen geſchaffen. Welch ein Eleiner Theil diefes 
mächtigen Werkes ift und zugeteilt? Er felbft, der darüber 
waltet, der es gefchaffen, der diefed Ganze gegründet und um 
ſich Her geftellt Hat, der der größte und edelfte Theil feines 
Wertes ift, Hat ſich unferm Blick entzogen, und ift nur mit 
dem Gedanken zır erfchauen. 

31. Ueberdieß ift Vieles dunkel, was dem höchften We⸗ 
fen verwandt ift und eine ſich demfelben annähernde Kraft 
befist. Oder vielleicht — was nod) feltfamer ift, — wird 
unfer Auge davon erfüllt und doch iſt's unfichtbar, ſey es, 
daß es der Yeinheit wegen von menfchlicher Sehkraft nicht 
erreicht werden kann, oder daß in verborgenem Heiligthum 
etwas fo Herrliches wohnt, und fein Reich, das heißt, fich 
ſelber regiert, und Eeinem Wefen den Zugang geſtattet, auf 
fer dem Geifte. — Was Das fey, ohne weiches Nichts iſt, 
können wir nicht wiſſen: und wir wundern und, wenn wir 
einige Flämmchen [Eleine Leuchtkörper] nicht recht verftehen, 
während uns das Größte von der Welt, die Gottheit verbor⸗ 
gen ift ? Wie manche Thiere hat man erft in unferem Jahr⸗ 
hundert Fennen gelernt! Und wahrlich manche, die und noch 
unbekannt find, wird die Menfchheit Fünftiger Zeitalter erft 
kennen lernen. Manches ift für Johrhunderte aufbewahrt, 
die dann erft kommen werden, wenn dad Andenken an uns 
längſt verffungen if. Die Wert müßte ein vecht kleines 
Ding ſeyn, wenn nicht alle Welt an ihr ya weiten il. 


4 


1568 Seneca’s Abhandlungen. 


' Nicht anf einmal werden manche Myfterien mitgetheilt. Eleu⸗ 
ſis bewahrt noch Etwas auf,. was erft enthüllt wird, wenn 
| man wiederfomme. Die Natur offenbaret ihre Heiligthümer 
nicht alle miteinander. Wir halten und für Cingeweihte, 

und weilen noch in ihrem Vorhof, Jene Geheimniffe offene 
| baren ſich nicht alle ohne Unterfchied und nicht Alten: fie 

liegen tiefer und find im innern Heiligthum verſchloſſen. 
: Don diefen wird Einiges unfer jebiges, Anderes ein nach⸗ 
| folgendes Zeitalter erfennen. Wanır alfo werden dergleichen 
ı Dinge zu unferer Kenntniß gebracht werden ? Langfam kommt 
I hervor, was groß ift, zumal, wenn die Anftrengung nicht 
- fortwährend ift. Hat man es, worauf man Doch alfein mit 
| Hanzer Seele hinarbeitet, doc), nody nicht einmal dahin ges 
ı bracht, vollkommen Iafterhaft zu feyn. Noch find die Laſter 

im Fortfchreiten begriffen. Die Weppigkeit findet Limmer 

noch] etwas Neues, woran fie ihren Wahnflnn zeige. Die 
| Schamtofigkeit weiß ſich immer wieder aufs Neue zu bes 
ı fleden. Die Zügellofigkeit und Peſt der Genußſucht findet 
immer noch etwas Verzärtelnderes und Weichlicheres, um 
ſich zu Grunde zu richten. — Noch hat man nicht genug 
ı alte Kraft vergeudet. Noch vertilgt man durch Stätte und 
| Pus des Körpers den Neft von edler Sitte. Weibern hat 
: man es im Pas zunorgethan, und buhferifchen Schmud, deu 
| feine Matrone anziehen follte, tragen jetzt Männer. Ver⸗ 
| zärfeften und weichlichen Ganges hemmt man den Schritt, 
I and geht nicht, fondern ſteigt einher. Man ſchmückt mit 
I Ringen die Finger, und pubt jedes Gelenk mit Evelfteinen 
: auf. Tagtaͤglich finnet man, wie man der Mannheit Gewalt 
"run, ober wie man fie herabwürdigen wolle, weil es 


Naturbetrachtungen. Siebentes Buch. 1369 


doch nicht möglich ift, fie von fid) zu than. Der Eine läßt 
fih zum DVerfchnittenen machen, der Andere nimmt feine 
Zuflucht zu der ſchmaͤhlichen Holle des Fechterſpiels, und 
fi) zum Zode vermiethend ergreift er die Waffen zu ehrlos 
fem Dienfte. Auch der Arme hat fi) Etwas ausgedackt, um 
mit feinem Elend ein Gewerbe zu treiben. 

33. Darfft du dic nun noch wundern, wenn die Phi⸗ 
fofophie noch nicht ihre ganze Aufgabe gelöſst hat? Hat fick 
ja doch die Verderbniß noch nicht auf den höchſten Gipfel 
geſchwungen. Noch heut zu Zage wächst fie, und für fie 
arbeiten wir Ale, ihr weihen unfere Augen, ihr unfere 
Hände den Dienſt. — Die Philoſophie — Wer mag fidh 
an fie machen ? Wer achtet fie genug, um fie anders als im 
Borbeigehen kennen zu lernen? Wer fieht fich nach der Phi⸗ 
tofophie oder nad, irgend einer edlen Wiffenfchaft um, auffer 
wenn für die Spiele gefchloffene Zeit ift, oder ein Regentag 
einfälit, den man dann wohl verloren geben Bann? So kommt 
ed, daß fo viele Philoſophenſchulen ohne Nachfolger ausſter⸗ 
ben. Die Akademiker — fowohl die alten*) als die neuern **). 
haben Keinen Dieifter mehr. — Und Wer lehrt denn Pyrrhos 
Srundfäbe? ***) Des Pythagoras Schule, die der große 
Haufe fchon gar nicht leiden mag, +) hat ihren Lehrſtuhl 
nicht befesen Fünnen. Die neue, Römiſch kräftige Schule 


*) Aus Platos Schule, 
++, Die dem Arceſilas und Earneabes ſich nachbildeten. 
**0) Die ſteptiſche Philoſophie. 
+) Wegen der Strenge ihrer Grundfäge, weiche große Enthalt⸗ 
ſamkeit forderten, 


4570 Seneca’s Abhandlungen. 


- der Sertier *) ift in ihrem Keim erftidt, obwohl fie mit 
großem Anlauf begonnen hatte. Dagegen wie läßt man fich’s 
angelegen feyn, daß ja Feines Pantomimen Name in Vers 
geifenheit finte! Feſt fteht durch Nachfolger dDieß Haus eines 
Pylades und Bathyllus;**) für folche Künfte gibt ed Schü: 
fer und Lehrer in Menge. In Privathäufern durd) die ganze 
Stadt lärmt es mit Schanbühnen. Da machen Männer und 
Weiber ihre Sprünge. Und Mann und Weib wetteifern, 
ſich Jenen preiszugeben. Dann wenn man genug unter der 
Maske geſteckt hat, geht ed in die Gnrkühe. **) Um die 
Philoſophie kümmert fich feine Seele. — So ift denn Eeine 
Rede vom Auffinden Desjenigen, was und die Alten ald Et⸗ 
was, dad fie nicht ganz herausbrachten, hinterlaffen haben ; 
im Gegentheil ed geht Manches, was bereits aufgefunden 
war, wieder verloren, — und wahrhaftig, wenn wir mit 
aller Kraft darauf drängen, wenn fich darauf mit aller Bes 
fonnenheit die Jugend legte, wenn es die Alten lehrten, die 
ungen ftudirten, — man käme Baum auf den rechten Grund: 
wo nämlich die Wahrheit liegt, — und nun fucht man fie 
oberflaͤchlich und leichtſinnig. 


*) Quintus Sextius, Water und Sohn, zur Zeit des Julius 
Saͤſar, ſtifteten eine philoſophiſche Sekte, deren Grundſaͤtze 
ſich der Pythagoraͤiſchen Philoſophie annaͤherten. Vergl. Se⸗ 
neca's Briefe 59. 64. Suetonius im Leben des Graimma⸗ 
titerd Eraffitius. — Plinius nat. hist, XVIL,, 28. 

*+, Beruͤrmte Pantomimen zu Auguſtus Zeiten. 
*++) en h:t übrigens nocy den Nebenbegriff eines unehrbaren 
auſes. 








Nachleſe 
aus 


Schriften von Seneca.”) 


Ileber die Armuth. 


ESs iſt etwas Schönes, ſagt Epikur, um eine vergnuͤgte 
Armuth. Doch das iſt ſchon nicht mehr Armuth, wenn man 
dabei vergnügt iſt. Wer mit der Armuth aut auskommt, 
ift reich. Nicht wenn man Wenig hat, fondern wenn man 
‚Mehr will, ift man arm. Denn was hilft ed, in Kaften 
und Scheunen Alles voll ſtecken zu haben, und noch fo viele 
Heerden zu haben oder zu wuchern, wenn man nad) Dem 
fchielt, was man nicht hat, wenn man nicht zu Dem, was erwors 
ben ift, fondern zu Dem, was erft erworben werden foll, Luft: 
hat ? — Di fragft, was denn ber Maßſtab für den Reiche 





*) Diefe Nachlefe, welche von ben Fragmenten zu unterſcheiden 
iſt, rührt in biefer Zufammenftelung nicht von Seneca felbft 
ber ; es find gefammelte Gedanken, wie eine Anthologie aus 
verſchiedenen Bädern unfers Schriftſtellers und fo ziemſich 
in feinee Manier , zufammengeftellt. Sie finken Ch um 
is einer alten Handſchrift. — 


1372 Nachlefe aus Schriften 


thum fey? Fürs Erfte, daß man habe was nöthig ift, fürs 
Zweite, fo viel ald genug ift. Man kann nicht ohne Sorgen 
leben, wenn man zu viel daran denkt, fein Leben zu verlän— 
gern. Kein Gut macht feinen Beſitzer glücklich, wenn nicht die 
Seele darauf gefaßt ift, es zu verlieren. Ein großer Neidys 
thum ift die in das Gefek der Natur fich fügende Armuth. — 
Und weißt du, was für Grenzen uns das Geſetz der Natur ges 
fteckt Hat? Daß wir nicht Hunger, nicht Durſt, nicht Froſt lei— 
den. Um Hunger und Durft abzuwehren, brancht man ficdh 
nicht auf Meere und in Feldlager zu wagen. Leicht zu er- 
werben ift, was die Natur verlangt, — da ift der Tiſch 
bald gedeckt. Um das Unnöthige vergießt man Schweiß, Das 
iſt's, was die Kleider abnützt, was graue Haare macıt, was 
an fremde Küften verfchlägt. So viel genug ift, hat man 
bei der Hand. Wer fid im Beſitz des Geinigen nicht für 
| den Reichſten hält, der mag Herr von der ganzen Welt feyn, 


— u, Sl _ 00 mr cken vn —— 


— —* 


an 


er ift doch efend. Elend ift, Wer fidy nicht für den Glüſck⸗ 


fichften hält, und wenn er über die ganze Welt herrſchte. 
| Mer nicht glaubt, daß er's ſey, ift nicht glüdlih. — Mau 
: muß Nichts haben, wobei Der, fo es zu vanben frachtet, 
| viel ‚gewinnen könnte. Dein Körper foll fo wenig als mög⸗ 
lich zu erbeuten darbieten. Es geht: Niemand, vder nur 
fehr Wenige , auf Menfchenbint aus, um des Blutes willen. 
Den Nadten läßt der Straßenräuber gehen; auch auf ımte 
lagertem Weg ift dev Arme unangefochten. — Den meiften 
| Genuß vom Reichthum hat, Wer deffelden am wmeniaften 
bedarf. Lebft du nach der Natur, fo wirft du nie arm ſeyn; 
nach dem Vorurtheil, niemals reich. Ganz wenig bedarf 
Pre Macut, unermeblich viel ber Wahn. Würde auf did zus 





von Seneca. 41575: 


ſammengehaͤuft, was viele Reiche beſaßen, würde dad Glück 
dich über alle Grenzen von PrivatreichtHum hinaus erheben, 
mit Gold bedecken und in Purpur Bleiden, und dir folche 
Herrl ichkeiten und Schäte gewähren, daß du die Erde mit 
Marmor bededen, baß du den Reichthum nicht nur haben, . 
fondern darauf treten könnteſt, kämen dazu noch Bildfäulen 
und Malerwerke, und was je die Kunſt im Dienft der Pracht: 
fiebe in Gold und Silber ausgearbeitet Hat, — du würdeft 
daran nur lernen, noch Größeres zu wünfchen. Die natür: 
lichen Bedürfniffe haben ihre Grenzen, die aus einem Wahn 
entftehenden finden Fein Ende. Denn für den Wahn gibt 
es fein Ziel. Die Wahrheit hat einen Grenzpuntt, der 
Irrthum geht in's Unendliche. — Darum ziehe did) vom Eis 
ten zurück: und wilft du wiffen, ob du natürliche oder eitle 
Wünſche Haft, fo überlege, ob fie irgendwo einen Ruhepunkt 
haben. Wenn du, weit fortgefchritten, immer nocd Etwas 
im fernen Hintergrunde fieheft, fo erkenne, das fey nicht 
naturgemäß, Die Armuth iſt unbefchwert , unbekümmert. 
Wenn der Schlachtruf ertönt, weiß fie, ed fey nicht auf fie 
abgefehen ; wenn Alles verloren ift, ſucht fie, wie fie hins 
anstomme, nicht was fie hinausbringe. Und muß er [der 
Ar me)] zu Schiffe gehen, fo ift am Ufer nicht Unruhe von 
des Hafens Seräufch, nicht von eines einzigen Menfchen 
Begleitung; nicht umftehet ihn eine Schaar von Leuten, bie 
zu erhalten ein veicher Ertrag aus den Gegenden jenfeits 
des Meeres herbeigewünfcht werden muß. Es ift feine Sa- 
che, wenige Bäuche zu füttern, und die fchon gut gewöhnt 
find, und Nichts verlangen, als gejättige zu werden. Der 
Hunger koſtet wenig, theuer ift nur die RXVGCìùad. Bit 


4574 Nachleſe aus Schriften 


muth ift zufrieden, den augenblidtichen Bedürfniffen abzu⸗ 
helfen. Das ift ein vernünftiger Reicher, der, wenn er auch 
Reichthümer hat, fie doc, ald etwas Vergängliches bejist. 
Warum follteft du dich alfo weigern, fie zur Genoffin zu ha⸗ 
ben, da ihre Zebensweife der Reiche nachahmt, wenn er ver- 
nünftig ift? — Willſt du eine freie Seele haben, fo mußt 
du entweder arm feyn, oder wie ein Urmer. Es kann Feine 
unjer Wohl fördernde Beſtrebung finktfinden ohne Liebe zur 
Mäaßigkeit. Cinfachheit der Lebensweiſe ift freiwillige Are 
muth. Wielfältig haben ganze Heere Mangel an allen Dins 
gen gelitten, haben von Wurzeln der Kräuter gelebt, und 
unfäglichen Hunger erdufdet. Und dieß Alles haben fie aus: 
geftanden für eine Königsherrfchaft, von der fie, was nod) 
Das Wunderlichſte ift, nicht einmal Etwas hatten. — Und 
man folfte noc, Anftand nehmen, Armuth zu erfragen, um 
das Gemüth von Leidenfchaften frei zu machen ? Vielen war 
des Reichthums Gewinn nicht das Ende, fondern nur ein 
Wechſel ihres Elends. Und das wundert mich nicht. Der 
Fehler Tiegt nicht in den Dingen, fondern im Gemüth ſelbſt. 
Pas und die Armuth beichwerfich gemacht Hat, wird auch 
der Reichthum befchwerfich machen. Wie es einerlei ift, ob 
du den Kranken auf ein hölzernes Bet: leaft, oder auf ein 
goldenes: Du magft ihn hinüber oder herüber legen, wie 
du willft, ev nimmt eben feine Krankheit mit: fo iſt es gleich⸗ 
viel, ob ein Erantes Gemüth im Keichthum oder in der Ar— 
muth ift: fein Uebel geht mit ihm, Zu einem forgenfreien 
Leben brauche ich dag Glück nich“. Denn was für dad Ber 
dürfniß genug ift, wird es gewähren, wenn ed auch zürnt. 
WYnf dag und Dad Geſchick nicht ungefaßt finde, werde die 


von Seneeca. 4575 


Armuth unfre Vertraute. Wir werden mit minderer Sorge 
-veich feyn, wenn wir wiflen, wie gar nicht fchwer es ift, 
arm zu feyn. Schide dich an, mit der Armuth Zeltbrüder⸗ 
fchaft zu haften. . 

Bag’ ed, 0 Fremdͤling, verachte die Echaͤte, und denke du dich 


auch, 
„Wuͤrdig der Gottheit.” 9) 


Kein Anderer ift werth, Bott ähnlich zu heißen, als Wer 
die Schäbe zu verachten gelernt hat. Darum will ich dir den 
Beſitz nicht.verwehren, aber machen möcht? ich, daß du ihn 
furchtlos befäßeft. „Dahin wirft du es einzig dadurch brine 
gen, daB du die Weberzeugung Haft, du werdet auch ohne 
denferben gut leben, und dag du ihn ald Etwas befrachteft, 
das ein Ende nehmen werde. Sen es, Wer es will, der 
dich verläßt, es war ihm nicht um dich, fondern um etwas 
Anderes bei dir zu thun. — Schon darum allein follte man 
die Armuth lieb Haben, weil fie zeigt, von Wem man ges 
liebt werde. — Es will viel heißen, wenn man durch das 
Zuſammenleben mit dem Neichthum nicht verdorben wird, 
Groß ift Der, weicher beim Reichthum arm if. Es kommt 
tein Menfd) veich auf die Welt. Wer an das Licht tritt, 
hat die Weifng, mit Brod und Milch fich zu begnügen. : 
Und:doch find ung, die wir einen foldyen Anfang genommen, ' 
Königreiche nicdyt groß genug. Brod und Waller verlangt 
die Natur. Dafür ift Feder reich genug; und wenn Einer feine | 
Bedürfniffe in diefe Grenzen einfchränft, der kann Jupitern 
ſelbſt die höchfte Glückſeligkeit ffreitig machen. — Der Glücks 


— 





*) Virgils Aen. VIII, 364 f. 


7 


‚A576 Nachleſe aus Schriften 


zuſtand ift etwas Beunruhigendes, man macht ſich felbft Sor⸗ 
gen dabei, fchafft ſich Grilfen, auf allerlei MWeife. Die Ei- 
nen werden zu Prachtliebe gereizt, die Andern wollen große 
Herren werden; die Einen werden aufgeblafen, die Andern 
verweichlicht. — Willſt du dich überzeugen, daß Armuth 
ſchlechterdings Fein Unglück fey, fo vergleiche unv des Armen 
und des Reichen Miene miteinander. Deffer und herzlicher 
Lacht der Arme; Bein Bekümmerniß verfchencht feine Ruhe, 
— er fleht [dafür] zu hoch, — die Sorge fliegt wie eine 
leichte Wolfe an ihm vorüber. — Die Heiterkeit Derer, die 
man glücklich nennt, ift erheuchelt; fen unerträglicher und 
übertriebener Stolz macht Diefen, wenn's ſchon nicht Jeder⸗ 
mann ſieht, düfter, ja es drückt ihn um fo mehr, weil fole 
che Leute manchmal nicht vor aller Welt unglücklich feyn 
dürfen, nein, ev muß unter Herzzerfreffendem Kunmer den 
Glücklichen fpielen. — Reichthümer, Ehrenftellen, hohe Ge— 
walt und dergleichen ziehen vom rechten Weg ab; folche 
Dinge find in der Meinung der Leute etwas Köftliches, — 
ihren Gehalt nad) werthlos. Wir haben nicht die richtige 
Scäsung für die Dinge, über welche man nicht der Leute 
Geſchwätz, fondern die Natur hören follte. Sie haben nichts 
Großarfiged, was unfern Geift anzichen könnte, außer daß 
wir eben gewohnt find, einen Werth darauf zu legen. Man 
preißt fie nicht, weil fie wünfchenswerth find, fondern weil 
man fie wünfcht. Dieß ift der überwiegende Grund, den 
der Reichthum für ſich hat. [Im übrigen aber] verändert er 
die Geſinnung, gediert Stolz und Anmaßung und hat den 
Neid zum Gefolge; er beninnmt uns in folchem Grade den 
Derfond, daß wir unfere Luſt daran haben, wenn wir nur 


von Venen 1377 


von Geld hören, ed mag barans folgen, was ba will, — 
Was ein Gut ift, darf Beinen Vorwurf auf fi kommen 
laſſen; es ift rein und verderbt und beunruhigt das Herz 
nicht; es erhebt und erfreuet zwar die Seele, aber ohne 
aufzublafen. Was ein Gut ift, flößt Selbftvertrauen ein, 
der Reichthum macht Bed, Was ein Gut ift, gibt hohen 
Muth, Reihthum macht, daß man ſich ſelbſt überfchäpt. 


(Beruhigung bei Unfällen.) 


Obſchon die Dichtwerke aller Poeten beftändig beine 
edle Lieblingsbeichäftigung find: fo Hab’ ich doch, nachdem 
ich⸗s einmal überlegte, für eintretende Unfälle dieß Büch⸗ 
fein an dich richten wollen, das, wenn auch nicht unter 
den. Seitgenoffen *), doch wohl bei der Nachwelt einigen 
‚Namen befommen wird. 

. Womit fol ich nun zuvörderſt beginnen? — Wenn da 
Nichts dawider haſt, mit dem Zode. — Alſo mit Dem, 





*% Wie erlauten und in biefer fatalen und offenbar verborkes 
wen Stelle praesentes ftatt praccedentes zu Iefen: ober, 
wenn praeced. beibehalten wird; fo wäre ber Sinn: is 
einer Urt, wie Keiner ber Srühern die Sache barzuftellen 
pflegte, wie es aber doch wohl in Zukunft (oͤſter) gefches 
ben wird. Der: Obſchon die Dichtwerte aller Poeten 
dein Herz ſtets erleuchten, fo hab' ich doch, indem ich 
ven Entſchluß faßte, dieſes Werkchen für eintretende Un⸗ 
fale an dich zu richten, mich einem Geſchaͤft unterzogen, 
dem fig dee Bräneren Seiner unterzog, von bem aber bie 

VWachwelt ſprechen wird, 


Seueca. 118 Bin. 8 


4578 Nachleſe aus Schriften 


was das Letzte iſt? — Nein, das Wichtigfte. Dabor fchriftt 
‘ja alle Welt zufammen, und, wie du es anfiehft; nicht ohne 
Brund. Was man fonft fürchtet, laßt doch noch irgend eis 
nen Ausweg offen, bei dem Tod ift Altes abgefchnikten. 
Anderes fpannt und wohl auf eine Folter, — der Tod 
ſchlingt Altes in fi hinein. Bei Allem, wovor man ein 
“ Grauen hat, geht es eben auf den Tod hinaus, Anderes 
führt auf Ummwegen dahin. *) Her auch ſonſt Nichts zu 
fürchten glaubt, hat doch in diefer Hinficht eine Furcht. 
Was man fonft fürchtet, dagegen gibt's doch entweder ein 
Mittel oder einen Zroft. Darum fafle did, fo, Daß bu, 
. wenn man Mr in's Geficht hinein den Tod drohte, alle ſeine 
Schreckenspfeile verlachen kannſt. 

„Du wirſt ſterben.“ Das iſt des Menſchen Natur, 
nicht Strafe. „Du wirſt ſterben.“ Unter dieſer Bedin⸗ 
gung bin ich in's Leben getreten, daß ich wieder austreren 
maß. „Du wirft 'fterben. Das gehört zum Wötter⸗ 
recht, daß man wieder hergibt, was man empfangen haf. 
„Du wirft ſterben.“ Das Leben ift ein Wandern. Iſt 
man weit genug ‚gewandelt, fo muß man wieder heimgehen. 
„Du wirft ſterben.“ Ich dachte, du wüßteſt mir etwas 
Neues. Dazu bin id) ja gefommen, das ift mein Gefdyäfte, 
dahin führt mic, jeder Tag. Dielen Grenzftein hat mir die 
Natur fogleich gefezt, da ich geboren ward. Was hätt’ id) 
für Grund, darüber unwillig zu ſeyn? Darauf hab’ ich ger 
ſchweren. „Du wirft ſterben.“ Es iſt chöriche, zu fürdhe 


ze) Nach der Eonjectur: aliaque per circuitum (sc. eo per- 
Jucun!). 


‘ 


von Genen. 1379 


ten, was man nicht vermeiten Fan. Dem entgeht man 
doch nicht, wenn's auch Yinausgeihoben wird. „Du wirft 
ſterben.“ Aber ich bin weder der Erſte, noch der Letzte. 
Diele find mir vorangegangenz; Alle werden folgen. „Du 
wirft ſterben.“ Das ift ter letzte Dienft, den ich als Menſch 
zu thuu habe. Welcher Vernünftige hat was dawider, wenn 
er den Abfchie bekomme? Da hinüber wohin alte Welt 
muß, sch” ich aber audı. Auf dieſe Bedingung hin wird 
Altes geboren. "Was einen Anfang hatte, hört auch auf. 
u Du wirft ſterben.“ Mas nur Einmal if, iſt nichts 
Schweres. Meine Schuld tenw ih. Die Hab’ ich bei einem 
Gläubiger gemacht , den ich nicht durch einen Bankbruch zu 
Schaden bringen Fan. „Du wirft ſterben.“ ums Him ⸗ 
meldwillen! Es Bann ja einem Sterblichen Niemand ein 
größer Glück drohen , als diefes! 

ber du wirft enthauptit werden!" Mas liegt daran, 
ob ic, durch Hieb oder Stich fterbe? „Aber es wird wicht 
anf einen Hieb gehen, und eine Menge von Schwertern 
wird anf dich Toshauen.“ 

Was liegt daran, wie viele Wundon ich hate, Kann 
tod) nur- Eine toͤdtlich Senn. 

„Du wirft in der Fremde ſterben.“ Es mag feyn, wie 
146 will, et führt in's Todtenreih nur ein Weg. — „Du 
wirſt in der Fremde ſterben.“ Ich bin zu bezahlen bereit, 
Was ich ſchutdig bin. Mein -Derleiher mag zuſehen, wo er 
mic) befangen fönne. „Du wirft in der Fremde ſterben.“ 
Der Todte it überall in feinem eigenen Land. „Du wirft 
in ter Fremde ſterben.“ Es fchläfe ſich Bu (a ihtı 

* 


4380 Nachleſe aus Schriften 


als daheim. „Du wirft in der Fremde fterben. So komm’ 
ich in Die Heimath ohne Reiſegeld. — 

„Aber du wirft jung ſterben.“ Am beften, man flirbt, 
‚ehe mans wünfcht. „Du wirft jung flerben. Das ift dad 
Einzige, wad dem jungen Mann fo gut zufleht, wie dem 
Greis. Wir werden nicht nach der Volksliſte abgerufen, - 
und man fragt da nicht nadı der Zahl der Jahre. Erwach⸗ 
fene eder Kinder — es fteht Alles unter dem gleichen unaud: 
‚weichbaren Zodesgefes. Am beften iſt's zu fterben, wenn 
man pc gern lebte „Du wirft jung ſterben.“ — Wer 
an das Aeußerſte feines Lebensziels gekommen iſt, flirbt 
als Greis. Denn es kommt nicht darauf an, was das Al 
ter des Menſchen, fondern was fein Ziel ift. ‚Du wirf 
jung ſterben.“ Vielleicht überhebt mich das Glück irgend 
eines Uebels , und wenn keines andern, doch des Alters. — 
„Du wirft juna ſterben.“ Es liegt Nichts daran, wie viel 
Sabre ic, art bin, fondern wie viele ich empfangen habe. 
Wenn ich nicht weiter Ichen kann, das iſt mein Greifen 
alter. 

„Du wirft unbegraben Tiegen bleiben.” — Was 'ſoll 
id) darauf erwiedern, als jened Wort Maro’s ; 

— — — leicht ift des Grabes Entbehrung. 

Wenn ih Nichts empfinde, fo geht mich's Nichts an, ob 
mein Körper des Grabes verfuftig acht. Und hab’ ich Em: 
pfindung, fo it begraben zu Seyn in jedem Fall eine Qual. 

„Dun wirft unbegraben Tiegen bleiben.“ 

— — Der Himmel bedeckt; Wem mangelt die Urne, 


Bas iſt's dern, ob mid, das Feuer krißt, oder ein wildes 


von Geneca. 1584 


Thier , ober das allgemeine Grab, tie Erde. Wer Nichts 
davon eimpfinder, brands nicht, und Wer es fühle, dem 
ifps eine Laſt. — ,,Dn wirft unbegraben daliegen.“ Aber 
du dagegen verbrannt, du dazegen verfchüttet, du dagegen 
verfaufend , du dagegen mit herausgenommenen Eingeweiden 
and zufammengefchmort, und unter einen Stein gelegt, wo 
du alfmählig zerfreſſen wirft und ausgetrocknet. Das Ber 
graben iſt eigentlicy gar Nichts. Man wird nicht beftattet, 
fondern hingeworfen. — J 

„Du wirft nicht begraben werden.“ — Was iſt denn 
zu fürchten, bei der vollkommenſten Sicherheit. Der Ort 
iſt ja über das’ Biel altes Atbifens hinaus, Dem Leben 
find wir viel ſchutdig, dem Tod haben wir feine Verbind⸗ 
lichteit. Nicht der Geftorbenen, fondern der Lebenden wer 
gen ift man aufs Begraben gefommen, auf daß tie Körper 
entfernt werden, bie für den Anbfict und für den Geruch 
ectelhaft find. Die Einen bedeckt die Erde, die Andern vers 
zehrt die Flamme, Andere fehließt ein Grabftein ein, unter 
dem man die Gebeine wieder haben kann. Es ift nicht um 
die Todten, fondern um unfre Augen zu thun. 

„Ich bin krauk.“ So ift die Zeit gefommen, wo idy 
mich ſeibſt kenuen fernen fann. Nicht auf dem Meere nur 
eder in, der Schlacht zeigt ſich der Heid. Auch auf dem 
Krankenbette laßt ſich tapfrer Muth beweiſen. „Ich bin 
krank.“ Das kann nicht ewig dauren. Entweder verlafe 
ich das Fieber, oder es verlaßt mich. Immer fönnen wir. 
nicht beifammen ſeyn. Mit der Krankheit hab? ich's zu 
thun, eutweder wird fie unterliegen, oder -überwinten. 





41380 Nachleſe aus Schriften 


als daheim. „Du wirft. in der Fremde ſterben.“ So kom 
ich in Die Heimath ohne Reiſegeld. — 

1, Aber du wirft jung ſterben.“ Am beſten, man Mir 
ehe mans wünſcht. „Du wirft jung ſterben,“ Das if! 
Einzige, was dem jungen, Mann fo gut zufteht, wie d 
Greis. Wir werden nicht nach der Volksliſte abgeruf 
und man fragt da nicht nach der Zahl der Jahre, Erwa 
ſene eder Kinder — es ſteht Alles unter dem gleichen unaı 
weichbaren Zodesgefeh., Am: beften iſt's zu flerben, we 
man mod) gern lebte. „Du wirft jung ſterben.“ — U 
an das Menferfte feines Lebensziels gekommen iſt, fli 
als Greis. Denn es komme nicht Darauf an, was das t 
ter des Menſchen, fondern was fein Ziel iſt. „Du wi 
jung. flerben.'’ Vielleicht überhebt mid das Glück irge 
eines Uebels, und wenn keines andern, doch des Alters, 
‚n Du wirft jung ſterben.“ Es liegt Nichts daran, wie d 
Sahre ich alt bin, fonbern wie viele ich empfangen ba 
Wenn id) nicht weiter Leben kann, das iſt mein Greifi 
alter. 

„Du wirft unbegraben Tiegen bleiben." — Was If 
id) darauf erwiedern, ald jenes Wort Maro's; 

— — — beiqt iſt des Grabes Entbehrung. 
Wenn ich Nichts empfinde, fo geht mich's Nichts an,“ 
mein Körper des Grabes verluſtig geht. Und hab’ ich E 
pfindung, fo ift begraben zu ſeyn in jedem Fall eine Qu 

„Du wirft unbegraben Tiegen bleiben,’ 

— — Der Himmel bededt; Wein mangelt die Urne, 


Bas ifP8 denn, ob mid) das Feuer frißt, oder ein wild 


‚von Geneca. 1384 


Thier, oder dad allgemeine Grab, die Erte. Mer Nichte 
davon empfindet, braucht's nicht ,- und Wer c8 fühlt, dem 
ie8 eine Lafl. — „Du wirft unbegraben daliegen.“ Aber 
du Dagegen verbrannt, du dagegen verfchütter, du dagegen 
verfaufend , du dagegen mit herausgenommenen Eingeweiden 
und zufammengefchmort, und unter einen Stein gelenkt, wo 
du allmaͤhlig zerfreffen wirft und ausgetrocknet. Das Bes 
graben iſt eigentlid,) gar Nichts. Man wird nicht beftattet, 
fondern hingeworfen. — | 

„DDu wirft nidyt bearaben werden.’ — Mas ift denn 
zu fürchten, bei der vollfommenften Sicherheit. Der Ort 
iſt ja über das’ Ziel alles Abbüßens hinaus. Dem Leben 
find wir viel ſchuldig, dem Tod haben wir feine Verbind⸗ 
lichkeit. Nicht der Geſtorbeuen, fondern der Lebenden wer 
gen ift man auf's Begraben gekommen, auf daß tie Körper 
entfernt werden, die für ten Anblick und für den Geruch 
eckelhaft find. Die Einen bedeckt die Erde, die Andern vers 
ehrt die Flamme, Andere schließt ein Grabftein ein, unter 
dem man die Gebeine wieder haben kann. Es ift nicht um 
die Zodten, fondern um unfre Augen zu thun. 

„Ich bin krauk.“ Co ift die Zeit gekommen, wo idy 
mich feibft Eennen lernen kann. Nicht auf dem Meere nur 
eder in, der Schladst zeigt fid, der Held. Auch auf dem 
Kranfenbette läßt ſich tapfrer Muth beweifen. „Ich bin 
krank.“ Das kann nicht ewig dauren. Entweder verlaffe 
ich das Fieber, oder es verläßt mich. Immer können wir 
nicht beiſammen feyn. Dit der Krankheit hab? ich's zu 
thun, eutweder wird fie unterliegen, oder überminten, 


2882 | Nachleße aus Schriften 


„Es reden die Leute ſchlecht von dir.“ Aber ſchlechte. 
Es würde mid) bennruhigen, wenn ein Marcus. Cato ſo 
von mie ſpraͤche, oder ein Laͤlius der Weiſe, oder der au⸗ 

dere Cato, oder die beiden Scipionen. Nun iſt mir's ein 
ww, daß ich den Schlechten miß falle. Es kann ein Rice 
terſpruch kein Gewicht haben, wenn ein Menfch dad Wer: 
dammungsurtheil fpricht , der ſelbſt verdammlich if. , Es 
reden die Leute Uebels von dir.‘ Das Eöunte mich rühren, 
‚wenn fie es mit Vernnuft thäten: fo thun fies aber in 
Uuvernunft. Sie reden nicht aegen mich, fondern gegen 
fh. — „Sie reden Mebels von dir.’ Sie willen eben nicht 
Gutes zu veden. Sie thun, nit was ich verdiene, fons 
‚bern wie ed ihre Art if. Es gitt ja gewilfe Hunde, denen 
es fo angeboren ift, daß fie nicht aus Wildheit, fondern 
and Gewohnheit bellen. 

„Du wirft inter Verbannung leben.‘ Du irrſt. Wenn’s 
Alles ift, über mein Daterland kann ich Loch nicht hinaus. 
Es ift für Alle nur Eined. Ueber Das hinaus kann Nies 
mand wandern. „Du wirft verfaunt werden.’ Nicht das 
Daterland ift mir verwehrt, nur ein Ort. Zn welches Land 
sch auch Fommen mag, ich komme in mein Eigenthum. Kein 
Land ift ein DVerbannungsort, es ift nur ein andres Vater 
„Sand. — „Du wirft nicht in deinem Vaterland ſeyn.“ Gin 
Baterlend ift, wo gut feyn it. Das aber, wodurch gut 
ſehn ift, liest am Menfchen, nicht am Ort, in feiner Macht 
ſteht's, weiches fein Schickſal ſey. Denn wenn er weife if, 
fo ift er auf der Wanderung begriffen ; ift er ein Thor, daun 
erst ift er in Verbannung — „Du wirft in Verbannung 


von Geneca. 4883 


eben. Damit ift Nichts anderes gefagt, ald: „man wirb. 
Dir dein Bürgerrecht an einem andern Ort auweiſen.“ — 

„Es fteht dir ein Schmerz bevor.” — Iſt er nicht 
von Bedeutung , fo wollen wir ihn ertragen; da will audy 
das Duden nicht viel heißen : ift er ſchwer: fo if der Ruhm 
Lihn zu erfragen] Beine Kleinigkeit. Einen Schrei mag 
der Schmerz immerhin auspreffen, nur fein Geheimniß preffe er 
heraus. „Es kann der Menfch dem Schmerz nicht gewachfen 
ſeyn.“ — Aber der Schmerz ift auch der Vernunft. nicht 
gewachſen. — „Etwas Hartes ift der Schmerz.“ Nein, 
fondern du ein Weichling. — ,. Wenige haben den Schmerz 
ertragen können.“ — Nun fo. wollen wir unter diefen Wes 
nigen ſeyn. — „Wir find Schwach, von Natur." — Schel⸗ 
tet mir die Natur nicht. Sie hat uns zu Helden geboren. — 
Laßt uns dem Schmerz entfliehen.’ — Wie, wenn er 
aber den Fliehenden nachgeht? 

„Die Armuth ift mir zur Laſt.“ — Nein, du der Ars 
muth. Nicht an der Armuth liegt der Fehler, fondern an 
dem Armen. Sie ift unbefchwert, heiter, gefahrlos. — 
„Ih bin arm.” — Du mertft nicht, daß dir's nicht im 
der Wirklichkeit fehlt, fonbern in ter Meinung. Du biſt 
arm, meildu dir fo vorkommſt. — „Ich bin arm.“ — Fehlt 
es doch den: Bögeln an Nichts. Die Thiere leben vom eis. 
nem Tag zum andern. Das Wild in feiner Wüfte hat ges 
nug zur Nahrung. 

„Ich bin nicht mächtig.” — Wünfche dir Glück, fo wirk 
du deine Macht nicht mißhrauchen. — „Ich kann Unrecht 
teiden müſſen.“ — Wünfche Bir Glück, — thun wird Aus&<C 
"nicht können. — „Es hat Der oter Ionen el Bein. 


158% Nachleſe aus Schriften 


Das Denkſt du, fey ein Menfh? Ein Kaften if. — Wer 
wird denn eine Kaffe um ihre vollen Fächlein beneiden ? 
Der, den du für des Geldes Herrn hHältft, ift auch fo ein 
Faͤchlein. — „Ja, er bat viel. — Iſt er ein Geizhals 
oder ein Derfchwender ? Wenn er ein Geizhals ift, fo kat 
er’d nicht; ift er ein Derfchwender, fo wird er’s nicht bee 
halten. Der, den du für glückſelig hättft, hat oft Kummer, 
oft feufzt er. — „Viele Leute find in feinem Gefolge.‘ — 
Die liegen gehen dem Honig nad), die Wölfe dem Aas, 
die Ameifen dem Getreite. Dem Gewinn zieht ſolches Ge⸗ 
finder nach, nicht dem Mann. 

„Mein Geld ift verloren. — Vielleicht wäreft durch 
daffelbe du verloren gewefen. — „Ich habe Geld verloren.” — 
So haft du doc welches gehabt. „Mein Geld ift hin. — 
Uber du Haft num davon aud) nicht mehr fo viel Gefahr. 
„Ic habe mein Geld verloren! — O du Glücklicher, 
wenn du damit auch den Geiz verloren haft! Doch gefezt, 
der bleibt dir auch, fo bift du doch in jedem. Fall glücklicher, 
daß diefem gewaltigen Webel etwas Stoff entzogen worden 
if. — „Mein Geld ift zu Grunde gegangen. * — Aber eben 
diefes — wie Diele bat es fchon zu Grunde gerichtet! Und 
fo bift du nun künftig auf Reifen um fo unbefchwerter, zu 
Haufe um fo ſicherer. Du wirft nicht nur Beinen Erben 
haben, fondern auch Seinen fürchten. Das Glück hat dich 
entlaftet, wenn du's zu fchäben weißt, und ficherer geſtellt. 
Kür Schaden hältſt du's? Ein Heilmittel iſt's. Du weineft, 
du fenfzeft, du fchreift dich Für unglüdfelig aus, daß du 
um Reichthümer gefommen bil. — Es ift deine Schuld, 

205 bir biefer Verluſt fo trancig if. Du würdet dich nicht 


von Senen, 1585 
fo unglüdlich fühfen, wenn du fie befeffen Hätteft, als‘ künne 
teft, du fie verlieren. — „Ich habe mein Geld verloren. — 

Nämlich Das, was erft ein Anderer verloren haben mußte, 
damit du es haben konnteſt — 

„Ich habe die Augen verloren.“ Auch die Nacht hat 

ihre Luſt. „Ich habe die Augen verloren.“ — Wie vielen 
Begierden iſt damit der Weg abgeſchnitten? Von wie Vie⸗ 
lem wirſt du verſchont bleiben, um deßwillen man ſich wohl, 
auf daß man. es nicht ſehe, die Augen ausreißen ſollte! 
Siehſt du nicht ein, daß Blindheit ein Schritt zur Uns 
ſchuld iſt? Den Einen weifen feine Augen zum Ehbruch, 
den Andern zur Biutfchande, dem Einen ein Haus, deffen 
er ſich gelüſten Laffe, dem Andern die Stadt und alf ihr 
Unheil. Wenigſtens find fie Anreizungen au Laſtern und 
Wegweiſer zu Schandthaten. 

„Ich habe meine Kinder verloren.‘ Thor du, wie 
kannt du lagen über das Sterben fterblicdyer Wefen ? Was ift 
denn Das Neues oder Auffallendes? Wie felten ift ein 
Haus ohne diefen Unfall ? Witt du denn einen Baun uns 
glüctich nennen, wenn feine Früchte fallen, und er ſtehen 
bleibt? Und das ift ja deine Frucht. — 6 iſt kein Menſch, 

den dieſe Wunde nicht treffen könnte. [ Kein Menſch ſteht 
auſſerhalb der Schußweite folder Wunden. ] — Fruͤhe Leis 
hen führt man aus dem Diebejerkaufe hinweg, aber eben fü 
aut aus Königspaläften. Der Tod führt feine Reihen 
nicht nach der Altersordnung. Nicht je nachdem er kam, 
wird Jeder auch entlaffen. — Was wiillſt du denn dagegen 
Haben? Was. iſt denn gegen: dein Erwarten giant ER 
Aind Bergängrice dahingegangen. — ‚üer a te Ss 


- S 
. 





1886. Nachleſe aus Schriften 


wänfht, fie ſolten mic; überfeben.'' — Doch hatte bir. das 
Niemard zugefagt! — „Meine Kinder find geſtorben.“ — 
Sie hatten Einen, dem fie mehr angehörten, als dir, bei 
die weilten fie nur Vergünſtigungsweiſe. Zur @rziehung 
hatte fle dir das Schickſal übertragen. Es hat fie zurückge⸗ 
nommen , nicht entriffen. 

„Ich habe Schiffbruch gelitten." — Denke nicht, was 
du ‚verloren haft, fondern daß du entfommen bift. — „Euts 
biößt von Allem bin ich davon gekommen." — Doch bit du 
Bayon gekonmen. — „Ich habe Altes verloren.‘ — Aber 
du Hätten auch ſammt Allem verloren ſeyn Fünnen. 

„Ich bin unter Räuber gefalen.“ — Ein Anderer aber 
unter Anklaͤger, ein Anderer unter Diebe, ein Anderer 
unter Betrüger. Der [Eehens-) Weg ift voll Laurer. Jam⸗ 
mere nicht, daß du unter fle gefallen bift, wänfche dir Glück, 
daß du enttamft. — „Ich habe einfußreiche Feinde. — 
So wie du gegen reiflende Thiere dich nah Schugmitteln 
umſiehſt, fo wie gegen Schlangen : fo befinne dic, gegen 
Geinte auf Hülfsmittel, um fle entweder abzuhalten, oder 
zu dämpfen, ader, was das Beſte wäre, fie zu verhöhnen. — 
„AIch Habe Feinde.“ Das Schlimmere it Das, daß du 
eine Freunde haft. 

„Id habe einen Freund verloren?" Iſt's deun auch 
gewiß, daß du an ihm Einen hattet? — „Ich habe einen 
Sreund verloren.‘ — Suche dir einen Audern, fuche ihn 
da, wo er zu fuden ſeyn könnte. Suche ihn unter den 
edeln Wiſſenſchaften, fuche ihn bei edler und redlicher Pflicht» 
efällang, ſuche ihn bei augeſtrengter Thatigkeit. Es if 

944 wit. @rwas, das man bei der. Tafel gewinnt, — fuche 





von Seneca. 4887, 


dir einen Nechtfchaffenen. — „Ich habe einen Freund. vers 
loren.“ — Habe getroften. Muth, wenn es nur. Einer ift; 
ſchaͤme did, wenn es der Einzige war. — Was. verlicheft 
du Dich denn unter fo gewaltigen Stürmen auf einen einzis 
geu Anker ? 

.Ich habe eine vechtichafene Gattin verloren?" — 
Hatteft du fie als eine Nechtfchaffene gefunden, oder fie zu 
einer ſolchen gebildet ? Hatteft du fie als eine folche ſchon 
gefunden, fo erkenne daraus, daß du fie hatteſt, du könneſt 
auch jest noch eine folche Haben. Hatteſt du fie fo gebildet, 
ſo hoffe getroſt. Dein Werk ift dahin, der Künftler lebt | 





noch. — „Ich habe eine gute Gattin verloren.‘ — Was ges 

fiel din an ihr? Ihre Züchtigkeit ? Wie viel find Ihrer nicht, | 
weiche Biefeibe nach langer Bewahrung dody noch verloren? — 
Ihr anfändiged Benehmen? Wie Mauche unter den Bes | 
währten des Matronenftandes haben am Ende doch nody 
angefangen , unter die Beifpiele von Weränderlichkeit zu ges | 
hören? — Beglüdte did, ihre Treue? Wie Manche fchen | 
wir ,.die aus den beften Gattinnen die fchiechteflen wurden, 
aus den gewiflenhafteften die ungeorbnetften ? Die Gemäthes : 
art aller Unerfaprenen, [Leute ohne Philoſophie doch am 
meiften die der Weiber, ift wandelbar. Gefent, du hatte 

eine rechtfchaffene Gattin, du Eannft dach nicht behaupten, : 
daß fie hei diefer Geflunung geblieben wäre. Nichts ift fo 

beweglich, ald der Wille der Weiber, Nichts fo unftät. : 
Wir wiflen von Auffündigungen alter Ehen, und, was 
noch ärger ift als Scheidung, von Unfrieden bei unglüdfis' 
den Verbindungen. Wie manches Weib. hat ten Man, 
den. fie in der Jugend lich hatte, verlafen, umcıt we 


in. >) 


— 


1388 Nachleſe Aus Schriften 


'inander älter wurden!" Wie manchmal haben wir über alte 
Beute gelacht, die ihre Ehe getrennt haben. Bei wie mans. 
dem Weibe Kat fich eine ſtadt kundige Liebe in noch ſtadt⸗ 
kundigern Haß verwandelt! 

„Aber die Meinige iſt nicht nur rechtſchaffen geweſen, 
fondern fie wäre es auch geblieben, wenn fie das Leben ger 
Habt Hätte." — Ahr Tod hat dich in den Stand gefent, 
daß du dieß ohne Gefahr behaupten kannſt. 

„Ich habe eine rechtſchaffene Gattin verloren.“ — Die wird 
wieder zu finden ſeyn, wenn du Nichts anders ſuchſt; als daß 
fie rechtſchaffen fey. Laß dich nur nicht von Rüͤckſichten leiten, 
auf Ahnen⸗Bilder und Abftammung, oder Vermögen, welchem 
bie edle Abkunft felbft nachgefezt wird. Dergleichen, zu fammt 

Her Schönheit, wird nicht lange Stand haften. Ein Ges 
müth, das fich nicht mit Eitelteiten bläht, wirft du cher 
lenken. Wenn Eine zu viel von fic ferbft Hält, wie ift 
nahe daran, den Mann zu verachten. Heirathe du eine 
wohl Erzogene, und die nicht fchon von der Mutter her in 
Laſtern ſteckt: nicht Eine, in deren Ohrläppchen von jedem 
ein Heirathgut herabhängt! micht Eine, die mit Perlen 
überladen ift, und die Dir weniner mitbringt, als ihre 
Kleider werth find die in offener Sänfte in der Stadt um: 
bergetragen, von aller Welt überall fo gut befchaut wird, 
als von ihrem Ehemann, und für deren Gepäde das Haus 
nicht weit genug ift. Eine Solche, die noch nicht vom alls 
gemeinen Ton verdorben ift, wirft du leicht nach dem dei⸗ 
nigen flimmen. 

„AIch habe eine rechffchaffene Gattin verloren. — 

EpAmif on bich nicht, zu weinen und deinen Verluſt uuer⸗ 


20.290. Genese. on 1389 


tedgtich zu nennen? Wenn Das das Einzige ift, was dit 
fehlt, fouft du fie dann betrauren, oder nicht? Wenn du 
bedenfft, daß du Gatte bift, fo beren® auch, daß dı 
‚Mann bift. ' | 

„Ich habe eine-vechtfchaffene Gattin verloren.“ — Ein 
ante Schwerter tft nicht wieher zu bekommen, oder ein 
Mutter. Eine Gattin ift ein Gur, das die Zeit brinat: 
fie gehört nicht zu Dem, was Jedem nur einmal zu Theil 
wird. — „Ich habe eine rechtſchafene Gattin. verleren.“ — 
Ich kann dir Manche aufzählen, bie nach der Trauer um 


eine vortreffliche Gattin eine noch vortrefflichere bekommen 
haben. 


— — 


ter: durchfommen. Glückiich it, nicht Der Andern fo vors | 
kommt, fondern Wer ſich ſelbſt dafür hält. 











ni Br m Li; Eee. . Aue 
verloren gegangenen Schriften 
| | des 
LU Seneca* ,. 


Bei Quintilian VII, 3. 

Henn man bei und im Dufammenfügen oder Abkeiten 
der Worte einmal einen Fühnen Griff thut, fo findet man 
datei kaum die schörige Anerkennung. Go erinnere ich 
mich noch ans meinen frühen Jünglingsjahren, daß Pompos 
nius **) und Seneca fid) in Vorreden dorauf eingelaffen has 
ben, ob es bei Attins ***) in der Tragödie eine gute Mes 


*, Diefe Sragınente finden fih außer Quintifiau, Pinius, Sue⸗ 
tonius und Gellzus, hauptſaͤchlich bei den Kirchenvätern Lacs 
tanrius , Hieronymus und Auguftlinus, und bei den Gram⸗ 
matitern Servius und Priſcianus. 

*) Publius Pompenius Secundus, ein Xragbdienkichter zu den 
Zeiten des Caligula und Elaudius. 


vr) Aıtius obre Accius, ein Traooͤbiendichter vor Eicero, 


Beil. aus vetloren gegangenen Schriftäiie. "tänı 
densart fey, wenn et: mer fept den Schritt über die 
Schwelle.““ 


Bei Ebendenfelbein VIlI, 6. 

Manche Kedensarten bekommen einen Siun erſt Dusch 
den Gegenſatz, wie ein ſolcher bei Seneca vorkommt, in ber 
Schrift, die Nero nad) Ermordung feiner Mutter an den 
Senat ſchictte, da er den Scheln haben. wollte, als Hätte er 
in Gefahr gefchwebt : — ich noch in Sicherheit fep, lheißt 


es dort] das Kann ’idy iveder glauben, noch mich darüber 
freuen. 5 


Bei Ebendemferben IX, 1. 


Die Nenern aber, und hauptfächlich Die, fo ſich ins 
Redenhalten eindben wollen, Haben eine gar kecke und et⸗ 
was feidenfchaftliche Phantafie, wie Seneca *) in dem 
Streitfall, deffen Hauptinhalt it, daß ein Water feinen 
Sohn und deffen Stiefmutter im Ehebruch ergriff und tödtete, 
geleitet von feinem andern Sohn. — „Führe mid Hin, ich 
folge; faſſe diefe areife Hand und drücke ſie hin, wo du 
win." — Und batd daran [fpricht der Sohn): „Da fich, 
was du lange nicht geglaubt. haft." — „Nein, Lerwiedert 
der Vater] ich fehe Nichts, — Nacht ſchwimmt vor meinen 
Augen und dichte Finſterniß.“ — Diefe Durftellung hat gar 
zu viel Anfchautichteit. Denn es ift nicht mehr, ale ob der 
Verfall erzähft würde, fondern als ob es Wirklichkeit waͤre. 

=) Hier iſt Seneca ber Rhetor, ker Baker veherd Wutskesten 
gemeint, 


ı4492 Vrnſbſt. auf, nerloren gegangenen Seifen, 
Ebendafelb ſt. 


ueberhaupt ſteht es einem Manne von Gewicht nicht 
zu, zu ſchwören außer wo es fepn muß. Und Seneca 
fpricht ſich darüber gar ſchon ang: es fey das nicht Sache 
"Deren, die Einen In” Schut zu neßfnen baden, 'fohdern nur 
Beugen ehe Dad zu. 


«Wei Plinius, Maturseii. VI, i5. 


Seneca — denn man hat auch; bei und eine Beſchrei⸗ 
bung von Indien unternominen,, — gibt ſechzig Ströme 
diefes Landes an, und Völkerſchaften einhundertundachtzehn. 
Eine gleich mühfame Arbeit möchte es ſeyn, die Gebirge 
aufzuzähfen. 


Bei Ebendemfelben IX, 55. 


Don dem Lebensalter der Fifche haben wir kuͤrzlich ein 
merkwürdiges Beifpiel vernommen. Panfilypum ift ein 
Landgut in Eampanien, mahe bei Neapolis. Dort fey, 
fehreibt Aundus Seneca, in den Kaiſerlichen Fiſchteichen 
ein von Dedins Pollio eingefenter Fiſch, ſechzig Jahre 
nachher geftorben, während zwei von gleichem Alter mit 
ihm und von der nämfichen Gattang damals noch lebten. 


Suetonius im Leben des Tiberius 73. 


Seneca meldet von ihm [dem Tiberius ], er habe, als 
er merkte, daß ihm die Sinne ſchwinden, den Ring vom 
. Binger gezogen, und, als wollte ex ihn Jemanden geben, 


des 2. U. Seneca. 4595 


eine Zeitlang gehalten, dann aber wieder an ben Finger 
geedt u. ſ. w. 


Aulns Gellins Attiſche Nähte XI; =. 


Seneca im zwei und zwanzigſten Buch der moralifchen 
Briefe, die er an Lucilins richtete, fagt von Quintus Ens 
nius, es habe derfeibe auf den Eethegus, *) einen Mann 
von alterthümticher Art, folgende laͤcherliche Verſe ges 
mad: 

— — im bieß fein Bolt vor Zeiten, ihm hießen 
Einft die Meufegen, bie damals waren und Yabre verlehten, 
Exftlingentänge dem Wo; entfproffen,, und fräftige Guada- 


Und hernach fchreibt. er über diefelbigen Verſe Folgendes : 
es wundert mic), daß Männer von der größten Beredtſam⸗ 
teit, wenn fie auch für Ennind eingenommen waren, ſolch 
laͤcherliches Zeug als etwas Worzügliches gepriefen haben. 
Wenigftens führt Cicero auch diefe Verfe von ihm als gute 
an. *) — Und fo fpricht er auch von Eicero. Es wundert 
mich nicht, fagt er , daß Einer diefe Verfe Schreiben Eonnte, 
da ſich auch Jemand fand, der fie lobte; es muß dem gro⸗ 
Ben Redner Eicero nur um ſich ſelbſt zu thun gewefen ſeyn, 
wenn er folhe Verſe für gute angefehen willen - wollte, 





*) Marcus Eornelius Sethegus, um's Jahr 200. vor Ehre. 
Eonfut zu Rom mit Sempronius Tubitanus, Iegte fi in 
feinem hoben Aiter erft anf die Rebetunft, worin er es no 
fer weit brachte, " 

*) Siehe Eicero’s Brutus €, 15. 


Eeneca. 118 Dom, 9 


39h Bruchſt. aus merloren gegangenen Schriften 


Bald nachher fast Seneca: Man findet auch bei Cicero 
ſelbſt Mandyes in feinem. profaifchen Vortrag, woraus zu 
erfennen ift, er habe den Ennius nicht vergeblich gelefen. 
Er legt fofort Einiged dar, was er als Ennianiſch 'bei Ci⸗ 


ceso tadelt, daß derſelbe in feinen Büchern über den Staat 


fofgendermmßen fchrieb: 3. B. der LZacedämonier Menelaus 
‚hatte eine füßredendbe* Anmuth; und daß er 
in einer andern Stelle ſagt: er fol ſich der Redekürze 


im Ausdruck befleißigen. Weiter ſagt Seneca: der 


Fehler lag nicht an Cicero, ſondern am Zeitgeſchmack. Denn 


man mußte freilich ſo ſagen, da man ja ſolche Ausdrücke | 
lad. Ferner fügt. er noch bei: Cicero habe gerade folhe 


Ausdrücke eingefchaltet, um der üblen Nachrede einer gar zu 
fhmudreichen und polirten (zierlichen) Sprache zu entgehen. 


| 


t 
’ 





Auch über Virgitins fpricht er ſich in der nämtichen 


Stelle folgendermaßen aus: Unfer Virgilius hat aus eis 
tem andern runde mande harte und ungeregelte und 
Manches in’d Breite ziehende Verſe mit einfließen taffen, 
als damit des Ennius Anhänger in der neuen Poefle etwas 
Alterthümliches finden möchten. — Bald daranf ſagt er 
[naͤmlich A. Gellius] auch aus Seneca noch: Manche Ges 
danken des Ennius find fo großartig, daß file, obwohl fie 
zur Seit der Leufe von Bocksgeruch **) gefchrieben find, 


*) Es wird hier ber lateiniſche Ausdruck suaviloquens jucun- 
ditas getabelt, wie gleich darauf der Ausdruck breviloquen- 
tia in dicendo, 

*+, Anfpielung auf die alten Römer, die fi viel mit Wiehzucht, 


namentlich mit Bocks⸗ und Ziegenzucht befchäftigten, und . 


Gecsenfag gegen bie Parfümerien der ſpaͤtern Römer. 


‚von &, U. Senea, 4305 


och: wohl auch:bei wen Pomadeherren Gepatten finden Füns 
men. Und nachdem ex die oben angeführten Verſe des En⸗ 
nius getadelt, fagt er: Die, welche ſolche Verſe gern ha⸗ 
ben, die mögen ſich wohl auch die Bettſtellen von Meiſter 
Sotericus loden.) — Doc du magſt dir nun auch Eiuni⸗ 
ges Wenige auführen und vorbringen laſſen, was von ben 
jenem Seueca*) doc) gut geſagt iſt, wie z. B. Das, 
Was Er auf einen geizigen und gierigen und nad) Geld dur⸗ 
tenden Menſchen ſagt: „Was liegt denn daran, wie viel 
dau haſt; as iſt ja doch weit mehr, das du nicht haſt.“ 


Bei Tertullian über die Seele. Kap. 42. 


Biel gedrängter noch fagt Seneca: nad) dem Tode hat 
Altes ein Ende, auch der Tod felbit. ’ 


Bei Lactantius, Unterweifungen über 
das Goͤttliche. I, 4 


Wie oft erhebt auch Annäus Seneca, der unter den 
Römern wohl der eifrigfte Stoiter war, die Gottheit mit 
gebührendem Lob! Wenn er zum Beifpiel von dem frühs 
zeitigen Sterben fpricht, fagt er: Ertennft du nicht die 
Schabenheit und Majeftät deines Richters? Er ift der Ber 
herrſcher des Erdkreiſes und des Himmels und aller Götter, 
‚Gert — , von ihm find alle jene höheren Weſen abhängig, 
die wir anbeten und denen wir dienen. 





Dyne Bwochfel ein ſchlechter Tiſchler zu Genecas Beit. 
**) Bon telgem Gelius fonft mar wiel hist, wer), Noct, Di. 
XI, 2. zu Anfang, os 4 


4396. Bruchſt. aus. verloren gegangenen Schriften 


Chen Derfelbe in feinen „Ermahnungen“: Diefer 
[Gott] da er den. erften Grund zu dem herrlichen Weltges 
‚bäude legte, und Das anordnete, was das Allergrößte und 
Vortrefflichſte iſt, das die Natur auszurichten weiß, hat 
dennoch, damit Alles unter einer befondern Leitung ginge, 
obwohl. er felber fich über den ganzen Weltenbau verbreitet 
hat, als Diener feined Reiches die Götter hervorgebracht. — 
And wie Manches hat er [ Seneca] fonft noch gefagt, bas 
mit unfern Anfichten Aehnlichkeit Hat, und wovon id) jetzt 
nicht weiter handeln will, weil ed anderswo befler an feis 
nem Orte ift. 


Kap. 7 
Es hat auch damit feine Richtigkeit, was ich oben ald 
einen Ausſpruch Seneca’s in feinen , Ermahnungen ’' ans 


‚geführt habe, daß Gott Diener *) feines Reiches gefihafs 
fen habe. 


Ebendafelbſt— 


Das hat Seneca, der ſcharfblickende Mann, wohl ein⸗ 
geſehen in ſeinen „Ermahnungen.“ — Wir ſind, ſagt er, 
nicht unabhängig. Darum blicken wir auf Einen, dem 
"wir zu verdanken haben, was das Beſte an ung if. Wir 
find von einem Andern gefchaffen, von einem Andern vers 
forgt. Gott Hat fid) ferbft gemacht. 


*% Darunter verfteht dann freilich Lactantius nicht, wie Se⸗ 
neca, Untergdtter, fondern Engel, 


von 8. A. Seneea. 197 
Kap. 16. 


Nicht ohne Wis ſagt Seneca in feinen Büchern der 
Moratphilofophie: Was ift denn der Grand, warum nad 
den Dichtern der geile Jupiter aufgehört haben foll, Kin⸗ 
‚der zu zeugen? Iſt er etwa ein Sechziger geworden, und 
hat ihm das Papifche Geſetz *) eine Klammer [an die Zeus 
gungstheife] angelegt? Dder hat er das Drei⸗Kinder⸗Recht. 
befommen? **) Oder ift ihm endlich einmal [der Spruch} 
eingefallen: Du haft von deinem Nächften zu erwarten, 
was du ihm gethan haft? Und fürchtet er, es möchte es 
ihm Einer machen, wie ev’d dem Saturnus ***) gemacht 
bat? | 


Im zweiten Bud. Kap. 2. 


Mit Recht fagt daher Seneca in feinen Büchern, der 
MoralsMann verehrt die Bilder der Götter, man fleht 
zu ihnen auf den Knieen, man beter fie an; man fist oder 
ftebt Tage lang vor ihnen; man wirft ihnen ein Stüd Geld 
din und fchlachtet ihnen Dpferthiere. Und während man 


*) Die lex Papia Poppaea von den Eonfuln M. Papius Mus 
tilus und Poppäns unter Kaiſer Auguftus ſprach aus, daß: 
Männer von 60 Jahren als unfähig zum Kindergeugen aus 

geſehen werben follten; vergl. Sueton. Claudius 23. 

29) Bäter von drei Rindern hatten vor Andern, welche weniger 
ober keine Kinder hatten, Worrechte, namentlich in Bewers 
"bung um Aemter. Die Kaifer ſchenkten dieſes Recht Bis: 

— weilen au Solchen, die nicht drei Kinder hatten. 

+) Jupiter ſtieß mach dem Mythus feinen Parır Gekeceni 
vom Thron. 


138 Bruchſt. aus verloren .gegamgenen Schriften 


vor diefen fo hohe Achtung hat, verachtet man die Meifter, 
von denen fle gemacht wurden, 


Kap. 4 

Mit gutem Grund fpottet nun Seueca auch über Bie 
Morheit der Greiſe. Nicht nur zweimal, fagt er, find wir 
Kinder, wie ed gewöhnlich heißt, fordern: immer. Der 
Unterſchied ift aber der, daß unfre Spiele in’d Große gehen: 

Kap. 9. 

Eine beffere Anſicht hat Seneca, der icharffinuigfte um» 
ter alien Stoifern, welcher einfah, daS die Natur nichts 
Anders ift, als Gott. Sollen wir nun, fagt er, Gott 
nicht preißen, da ihm die Tugend etwas Natürliches ift. 
Er hat fie freilich‘ von Niemand gelernt. Allerdings, wir 
wollen ihn preißen; denn obwohl fie ihm etwas Natürliches 
aiſt, fo hat er fie fich doch felber gegeben, weil. Gott ſelbß 
die Natır ift. 


Sm dritten Buch. Kap. 15. 

Bon dem nämlichen Irrthum verleitet, fagt Seneca, 
denn Wer follte wohl auf dem richtigen Weg bleiben, wenn 
ein Eicero irrt? — : Die Philofophie iſt nichts Anderes, 
als die rechte. Art zu eben, oder: die Einficht, wie man 
tugendhaft Ieben mäffe, oder: die Kunſt, das Leben auf 
die rechte Weife zu führen, Nicht unrecht find wir daran, 
wenn wir fagew: die Philofophie fey die Vorſchrift zu: einem 
guten und tugendhaften Leben. Und Wer da fagt, fie fey 
eine Afdtſchnur für das Lehen, ver gibt ihr wohl ihre ges 

Sörige Benennung, 


t 


Fe von 2. A. Omen . > AS 
Ebondaſelb ſt. 


Ferner ſagt Seneca in feinen „Ermahnungen“: Die 
meiften Philofophen find von dev Art, daß fie zu ihrer 
eigenen Schande predigen. Denn wenn man fie gegen den 
Geiz, gegen die Wolluſt, gegen die Rangſucht donneru 
hört, fo muß man denden, fie wollen ein Bekenntniß über 
ſich ſelbſt ablegen; fo fpringen die Schmähmworte, die fie 
gegen die Welt ausftoßen , auf fie felbft zurüd. Man hat 
diefe Leute nicht anders anzufehen, denn als Aerzte, die 
nach: ihrem. Hauoſchild geitmitrer haben, in ihren Büchfen 
aber Gift. 


Ebendaſelb ſt. 


Der Weiſe wird, ſagt eben dieſer Seneca, Lin mans 
hen Fällen] Etwas thun, was er felber nicht gut heißen 
kann, went es aud nur darum wäre, um dadurch eine 
hohere Thätigfeit einzuleiten; den edeln Charakter wird er 
nie verläugnen, wohl ader ſich in die Zeit fchiden; und 
was Andere zu ihrem Ruhm over zu ihrem MVergnügen. bes 
nägen, daraus wird er Gelegenheit nehmen, wirkfam zu 
ſeyn. Und bald nachher: Der Weife wird. Aues auch tun; 
was die Genußmenfchen Khan und die Unverftändigen, aber 
Fr anfıeben dieſelbe Weiſe, nicht in eben denfelben Ab⸗ 

ichten. 


Map. 16. 


Und: Eenera fagt: 6 find wech uicht taufend Jahre, 
ſeindon wen Die. erften Gruuuſcha dee Woer Vernen 


4400 Bruchſt. aus verloren gegangenen Schriften 


gefernt hat. Miele Jahrhunderte hat alfo die Menfchheit 
gelebt, ohne über fid) felbft zu denken. 
| Kap. 23. 

Es habe, behauptet Seneca, einen Stoiker gegeben, 
welcher ſich in Unterfuchungen einließ, ob er annehmen 
follte, daß andy die Sonne ihre Bewohner habe; ed fey 
Das nämlich eine unnöthige Bedenklichkeit von ihm gewefen. 


Kap. 2. 

Ein gewifler Aniceris, erzählt man, habe den Plato 
um acht Seftertien losgekauft. Darüber fchimpft nun Se 
neca den Loskaufer, daß er den Plato um einen Spott 
preis angefchlagen habe. 


Sm fünften Buch. Kap. g. 
Mer Alles willen will, nehme Seneca’ds Schriften zur 
Hand, weicher ber richtigfte Zeichner des öffentlichen Sit⸗ 
tenverderbniffes und der ſtrengſte Tadler defielben war. 


- Kap. 1% 

Mit Recht ſagt daher Senera, indem er den Menfchen 
ihre Widerfprüche gegen fih felbft zum Vorwurf made: 
Muth halten fie für die Höchfle Tugend, und dennoch ers 
flären fie Den, der den Tod verachtet, für einen Rafenden. 
Das ift doch gewiß der höchſte Grad von Verkehrtheit. 


Im ſechsſsten Buch. Kap. ı7. 
So iſt's auch mit dem Ausſpruch Senecas in feinen 
Büchern der Moralphiloſophie: Das iſt der ehrenwerthe 


von 2. A. Omen. - 4404 


Mann, nidht durd die Prieftermäge ausgezeichnet oder 
duch den Purpur, oder durch den Lictoren⸗Dieuſt, aber 
deßhalb in Feiner KHinficht minder groß; der, wenn er 
dem Tod in's Antlitz fieht, nicht beftürzt wird, als fchaute 
er etwas Ungewöhnliched; der, wenn er am ganzen Körper 
Martern erleiden, wenn er die Flammen fein Antlitz ums 
fodern faffen, oder feine Urme am Galgen ausbreiten muß, 
nicht darnady fragt, was er leide, fondern wie gut er's zu 
ertragen wife. Wer aber die Gottheit ehrt, duldet ſolches 
und fürchtet's nicht. 


Kap. 24 


Halte es doch Keiner für Gewinn, wenn ein Menſch 
um fein Derbrechen weiß. Denn Alles weiß Der, unter 
beffen Augen wir leben; [halte es auch Keiner für Gewinns 
wenn man fich vor der ganzen Menfchheit verborgen halten 
kann: ihm kann ja Nichts verborgen, Nichts ein Geheim⸗ 
niß fegn. Seine .„‚Ermahnungen‘! Hat Seneca mit einem 
herrlichen Ausſpruch gefchloffen: Etwas unertlärbar Großes, 
und größer, als man’d denten kann, ift die Gottheit; 
ihr, der wir durdy unfer Leben dienen, wollen wir uns 
wohlgefälig machen. Es hilft Nichts, daß :unfer Bewußt⸗ 
ſeyn Lin und ſelbſt] verfchloffen ift: vor Gott flehen wi 
offen da. — 

Was könnte von Einem, der Gott kennt, MWahreres 
geſagt werden, als [in den angeführten Worten] der Mann 
fagte, der die wahre chriſtliche Religion nicht kanute ? — 


1608 Bruchſi. aus verloren gegaugenen Schriften 
| Ebendaſelbſt. 

Derſelbige ſagt im erſten Buche des naͤmlichen Werkes: 
Bas machſt du? Was haft du im Sinne? Was verhehlſt 
d#? Dein Anffeher geht mit dir. Den Einen mag dir 
ein- anderweitiger Aufenthalt aus den Augen gerücdt haben, 
den Andern der od, einen Dritten fein Liebelbefinven: 
aber Einer iff dir anf Dem Nacken, den dir nicht los wer: 
den kannſt. Was fuchff du dir einen abgelegenen Ort aus, 
und willſt ber Zeugen los feyn? Du meinſt, ed fey dir 
gelungen, Aller Augen zu entgehen? Thor du, was nuzt 
dich's, Leinen Mitwiſſer zu haben, da du ein Gewiſſen 
haft? 

| Kap 25. 

Wie viel beſſer und richtiger ſagt Seneea: Wollt ihr 
euch: Gott denken ? Edenbet ihn euch] groß. und freundlich, 
nad in milder Erhabenbeit ehrwürdig, als einen: Zreund, 
der euch ſtets nahe iſt; der nicht verehrt feyn will: durch 
Opfer und Bhutfiröme, — denn wie follt? ex Freude haben 
an: dem Miederfchlachten ſchuldloſer Gefchöpfe, — ſondern 
durch ein reined Herz und edle, tugendhafte Vorſaätze. — 
Nicht Tempel von hoch anfgethärmtem Geflein will er ſich 
gebauet wiflen: in feiner Bruſt folt ihm ein Jeglicher einen 
Altar errichten. 


Im flebenten Bud. Kap. 13. 


Einnig. theilt Seneca die Seiten der Stadt Rom nach 
den Menfchenaltern ein. Das frühefte Kindesalter, ſagt 
er, fep unter dem König Romulus gewefen, von welchem 


von L. I Genen 4405 


Rom fein Daſeyn Habe, und auch gleichſam groß gezogen 
worden ſey; ſodann das Knabenalter unter den übrigen 
Konigen, unter denen ed größer geworden und durch unſere 
Kenntniffe und Einrichtungen gebildet worden fey; aber uns 
ter. des. Tarquinius Regierung, da es ſchon angefangen 
habe, in die Fünglingsjahre einzutreten, ſey ihm die ſelavi⸗ 
fche Unterwerfung umerträglich geworden; da habe es das 
Zoch der Zwingherrfchaft abgeworfen. und lieber Gefegen 
als Königen gehorchen wollen. Und ats feine Junglings— 
periode mit dem Ende des Punifchen Krieges gefchloffen 
war, da habe es endlich mit erſtarkten Kräffen angefangen, 
in das befte Mannesalter zu treten. Denn nad) Karthar 
903 Berftörung, welcher Staat fo lange um bie Weltherr⸗ 
ſchaft mitbuhlte, ſtreckte es feine Hände über denFganzen 
Erdfreis zu Waffer und zn Land; bis es, nachdem es alle 
Könige und Nationen unter das Joch feiner Oberherrfchaft 
gebracht Hatte, und es nun an Stoff zu Kriegen fehlte, 
feine Kraft mißbrauchte, mit der es fich felber verehrte, 
Das war der Anfang feines Greifenalters, als ed durch 
Bürgerkriege zerriffen und an innerem Verderben feidend, 
wieder zu der Regierungsform einer Alleinherrſchaft zurück 
fanf, und gleichſam in feine zweite Kindheit zurücverfegl 
wurde. Denn nad dem Verluſt der Freiheit, um weldı 
es unter Brutus Anführung und Leitung nod) gefochten, 
ward es fo altersſchwach, als ob es fich felber nicht mehn 
aufrecht zu haften vermödite, wenn es ſich nicht auf die 
Stüge feiner Beherrfdjer lehnte. 


404 Bruchſt. aus verloren gegangenen Schriften 


Beidem h. Hieronymus im erften Bude 
‚gegen Jovinianus. 


Als die Veſtalin Claudia in dend Verdacht der Enteh- 
ung getommen war, und bie Bildfäufe der Idaiſchen Mute 
er [Eybele] auf einer Furt in der Tiber ſtecken blieb, 
o ſoll fie, um ihre unentweihte Ehre zu bemeifen, mit ihe 
em Gürtef das Schiff herausgezogen haben, welches viele 
aufend Menfchen nicht hatten von der Stelle bringen kon ⸗ 
em. Beffer, fagt der Dheim des Dichters Zucanıs [Ser 
eca], wäre fie doc daran gewefen, wenn dieſer Erfolg 
ie Krone anerkannter Ehre gewefen wäre, flatt daß er eine 
Ehrenreftung gegen den Iweifel daran war. 


Zn ebendemfelben Bud. 


Es haben Mriftoteles, Plutarchus und unfer Seneca, 
Schriften über die Ehe gefchrieben, aus melden fchon 
ben Einiges vorfam, und auch Das fieht, was wir jept 
ioch anführen. — Liebe um der fchönen Geftatt willen wird 
ald vergeffen und iſt nicht viel anders, als Verrücktheit, 
in haͤßliches und mit einem gefunden Gemüth im Wider« 
druch ftehendes Later. Sie verwirret die Gedanken: fie 
erderbt edle und hohe Gefinnungen umd zieht von großen 
Bedanker zu den niedrigften herab: fie macht die Menſchen 
nzufrieden , leidenſchaftlich, unbefonnen, hart im Gebieten 
md ſtlaviſch ſchmeichelnd, unfähig zu Allem, am Ende 
ar Liebe ſelbſt. Denn indem fie von unerfättliher Sucht 
"9 Oenuß brennt, bringt fie die meifte Zeit in @iferfucht, 


von L. A. Seneca. \ 41405 


in Zhränen und Klagen hin, macht ſich verhaßt. und ift fi 
am Ende felber verhaft. 


Etwas weiter unten. 


Meberdieß führt Seneca an, er habe einen Geden ges 
kannt, der, wenn er ausgehen wollte, die Bruft feiner 
Frau mit einem Gurt verwahrte, und [zu Haufe] auch 
nicht einen Augenblick ohne ihre Gegenwart fenn konnte; 
der Mann und die Frau tranten Peinen Zropfen, ohne daß 
das Getränke zuvor von den Lippen des Andern berührt 
war; darnach noch andere eben folche Thorheiten, die fie 
begingen,, zu denen die blinde Gewalt einer gluhenden Lei⸗ 
denſchaft ſie hinrieß. 


Am Schluß. 


Und was iſt, heißt es bei Seneca, von ſolchen Maͤn⸗ 
nern zu ſagen, welche-in Armuth ſlecken, und von welchen 
ein großer Theil dazu fich miethen läßt, um den Namen 
eined Ehemanns zu. führen, zur Verhöhnung der Gefebe, 
die gegen die Ehelofen gegeben find? Was kann ein Gol« 
cher für einen Einfluß auf die Sitten haben, und Züchtig⸗ 
feit verlangen und Manneschre behaupten gegen eine Pers 
fon, gegen die er das Weib ift. 


Beidem h. Augufiinus: Vom Reiche Got: 
tes. vi, 10, 


Die Sreiheit freilich, welche Diefer ( Barro ) nicht 
hatte, fd daß er es nicht wagen kannte, ame Gmtrisntr 


206 Bruchſt. aus werloven gegangenen Schriften 


‚In Rom, die der des Theaters ganz ähnlich, war, öffentlich 
' wie diefe zu tadeln, wurde, wenn auch nicht durchaus, doch 
einigermaßen dem Annäus Seneca zu Theil, von welchem 
wir einige Spuren fluden, daß er zu den Zeiten unferer 
Apoſtel geblüht habe. Er genoß dieſe Freiheit im Schreis 
den, wenn fie ihn auch im Leben fehlte. Denn in dem 
Buch, das er gegen den Aberglauben in der Religion 
ſchrieb, sadelt er jene Volks⸗ uud Stadt⸗Götterlehre viel 
anummwundener und heftiger, als Varro die theatralifche 
und dichterifhe. Wo er nämlich von den Götterbildern 
handelt, fagt er: Die heiligen, unfterblichen :und unantaft: 
baren Götter ſtellt man in ſchlechtem und bewegungdtos 
ſem Stoff dar. In Menfchen- und Zhiers und Fiſchge⸗ 
falten Eleidet man fie ein, manchmal wohl gar in ein Ge⸗ 
miſch aus verfchiedenen Körpern. Göttliche Wefen nennt 
man, was, wein es auf einmal Leben bekäme und vor und 
‚träte, als ein Ungethüm erfcheinen wärde. 
Etwas fpäter fodann, nachdem er die natürliche Got⸗ 
terlehre preifend, die Anſichten einiger Philoſophen aus 
; einander gefeze hat, legt er ſich felbft eine Frage vor, und 
ſagt: Hier möchte Jemand einwenden: Wie? ich fol glau⸗ 
ben , daß der Himmel und die Erde Götter feyen, und ei- 
‚ nige über , andere unter dem Bond ? Ich foll mir gefallen 
laſſen, was Plato oder der SPeripatetifer Strato fagt, 
von denen der Eine die Goteheit ohne Körper, der Andere 
ohne Seele annimmt? — Und darauf anfmortend fagt er: 
Nun, fcheinen div denn richtiger die Träumereien eines 
Titus Tatius ‚oder Romulus oder Zulus Hoflifius? — 


€ 


eur A. Seneca. 21407 


Eitus Zatius *) feilte eine Göttin Einacina’®*) auf, No⸗ 
unuſus den Pieus ***) und den Tibergott, Hoffifius den 
Pavor und Palor [Schreden und Blaͤſſe aus Angft} , diefe 
ſo abfcheutichen Gemüthszuſtände der Menichen, wovon der 
reine die Erfchirtterung einer erſchredten Secie ift, der an⸗ 
dene — wicht etwa eine Krankheit des Körpers, fondern gar 
nur eine Verfärbung deffeiben. — Willſt du ‚etwa lieber 
dieſe für göttliche Wefen harten und in den Himmel aufs 
nehmene — Und über die graufam ſchmählichen [gottes- 
dienſttichen] Gebräuche, — ‚wie frei fchreibt er über diefe! 
Der. Eine, fagt er, verſtümmelt fih au den männlichen 
Zbeilen der Andere zerſchneidet ſich die Arme. Wie kann 
man ſich noch vor dem Zorn der Götter fürchten, wenn 
nz fi. auf folche Weife ifre- Gunſt verdient hat? Die 
Götter aber ſelbſt follte man auf feine Weife mehr vereh: 
zen, wenn fle unter Underm fo verehrt ſeyn wollen. So 
‚groß, ift der Wahnfinn eines verflörten und verrüdten Were 
ſtandes, daß man die Götter auf eine Weife verföhnen 
will, wie nicht einmal Menfchen wüthen. Die abfcheulich- 
Ben Tyrannen, von deren Grauſamkeit mau in Liedern 
fingt und fagt, Haben wohl Diefem oder Jenem die Glie⸗ 
der zerfleifchen laſſen, aber Keinen befohlen, fie ſelbſt zu 


*) Titus Tatius, ber Sabinertoͤnig, ter nach gemachtem Wer⸗ 
gleich wegen des geſchehenen Weiberraubs friedlich mit eis 
nem Theil feines Voll nam Rom zoh. ın!: 

+4) Cluacina oder Cloacina, ein Beiname der Venus; ine Stand⸗ 
bild wurde in der cloaca maxima gefwiben, daher tur Name. 

+) Picus, ein fabelhafter König ber Aboriginer, welcher na. 
‚Circe in einen Specht verwandelt wurde, Werah Bewes 
Yen. VII, 189. 





| 





4408 Bruchſt. aus verloren gegangenen Schriften 


zerjaden. Sur Befriedigung des königlichen Gelüſtens find 
wohl Manche entmannt worden, aber noch Fein Menſch 
bat auf eines Herrſchers Geheiß Hand an lich ſelbſt Tegen 
mäffen, um fein Mann mehr zu feyn. — In Zempeln 
megeln fie ſich ferbft nieder, und fenden unter eigener Ders 
wundung und Verblutung ihre Gebete empor. Wenn fich 
‚Einer dazu verfiehen mag, mit anzufehen, was fie thun, 
und was fie ausftehen , fo wird er Dinge finden, ſo unzie⸗ 
‚mend für Leute von Ehre, fo unmwürdig für freie Menfchen, 
ſo widerfprechend dem gefunden DVerflande, daß, Niemand 
- zweifeln würde, fie feyen toll, wenn der Zoliheitägenoffen 
weniger wären; fo aber iſt's die Menge ter Verrädten, 
was ihnen noch den gefunden Verſtand zufpricht. 

Was er dann weiter erzählt, daß auch auf dem Capito⸗ 
lium vorgehe, und was er ohne Scheu die Leute im Allge⸗ 
meinen zeiht, Wer ſollte doch glauben, daß ſolches anders 
als etwa zum Hohn [des Heiligen) oder im Wahnflun ves 
fchehe ? Nachdem er feinen Spott darüber gehabt, daß bei . 
den Aegyptiſchen Gottesdienften um den Oſiris*) Klage ans 
aeftelit werde, ald wäre er verloren, bad aber über fein 
Wiederfinden große Freude fey, da das DVerlieren und das 
Finden deffelben nur erdichtet ift, dennoch aber Schmerz 
und Freude darüber von Leuten die weder Etwas verloren, 
noch Etwas gefunden haben, als wäre Altes wirklich, aus⸗ 
getrcht wird; fo fagt er dabei, diefer Unfinn hat doch feine 

eftimmte Zeit. Das ift noch erträglich, wenn man eins 
mal des Jahrs ein Narr _ift. Komme id) auf's Eapitoliunt, fo 
muß ich mich der an den Tag gelegten Thorheit vor aller Welt 
fhämen, uud des Dienftes, den fich eitler Wahnfinn zur 
Pflicht macht. Der Eine gibt der Goftheit Nebengötter bei, 
der Andere zeigt dem Jupiter die Stunden an, der Eine 


*) Ueber den Oſirikmylhus vergl. Sr. Ereuzers Symbolik umd 
Mythologie der alten Voͤlker, refonders der Griechen; im 
Anszuge vier & H. Mofer, Leipzig und Darmſtadt ı822. 


[2 e 


von 2,4. Seneca., 14 


macht den Amiöbiener, der Andere den Salbeneinreiber und tı 

mit bloßer Bewegung der- Arme, als falbte er ein. Manche 

forgen der Juno und Minerva den Haarputz, aber weit w 

ſtehen fle nicht nur von dem @ötterbild, fondern fogar vom Tei 

vel, machen aber doch die Bewegung mit den Fingern, als fräi 
felten fle. Andere Halten ihnen den Spiegel; Andere fprechen di 
Götter zu Bürgen an; Andere halten ihnen ihre Klagfchrifte 
vor, und unterrichten fie von ihren Prozeſſen. Gin gefchidte 
Dberpantomime fpielte als ein abgelebter Greis täglich auf dem 
Sapitolium feine Rolle, als würden ihm die Götter gerne zus 
fehen, da er bei den Menſchen nichts mehr galt. Künftler aller 
Art Kringen dort ihre Zeit zu, und weihen den unfterblichen 
Göttern ihre Dienfte. 

Und bald darauf ſagt er: Diefe jedoch weihen der Gottheit 
einen, wenn auch unnöthigen, doch nicht ſchaͤndlichen und ehrlofen 
Dienſt. Aber es fiten auch Weiter auf dem Gapitolium, die ba 
meinen, Jupiter fey in fle verliebt, und die fih nicht einmal 
durch die Scheu vor der — wenn man den Posten glaubt — 
hoch erbitterten Juno abſchrecken laſſen. 

Eine folche Freiheit Hatte Barro nicht; nur die Götterlehre 
der Dichter getraute er fich. zu geißeln, nicht aber die bes Staates, 
weldhe Diefer ganz zernichtet hat. Doch wenn wir auf das 
Wahre ſehen, fo find Tempel, wo ſolche Dinge vorgehen, fchlimmer 
entweiht, als Theater, wo man dergleichen darftelli. Darum Hat 
Seneca in Bezug auf die Religion der öffentlichen Götterlehre 
dem Weifen eigentlich die Rolle zugetheilt, daß er im Kerzen 
nicht daran glaube, doch aber im Aeußern ſich darnach richte. Er 
agt nämlich: Das Alles wird der Weife beobachten, als Etwas, 
as durch Geſetze geboten, nicht aber als Etwas, das den Goͤt⸗ 
ern lieb if. 

Und bald hernach Heißt es: Scließt man denn nicht gar 
ich Ehen zwifchen den Goͤttern, und erft nicht wie ſich's ges 
het, nämlich zwifchen Brüdern und Schwehtern, dem Mae aM 


m die Bellona zur Gattin, dem Bulcan vie Bernd , von "Re 
Beneca. 418 Bdan. " W 


1410 Bruchſt. aus verloren gegangenen Schriften 


tem die Salacia;*) Einige jedoch läßt man ehelos, als ob e8 an 
Gelegenheit gefehlt Hätte, beſonders bei Einigen im MWittmen- 
flande, 3. B. bei der Populonia, oder Fulgora und bei der ver: 
nötterten Rumina,**) wo mich’8 übrigens nicht wundert, daß fein 
Breier Tommen wollte Alles, was zu diefem unachtbaren Götter: 
eh varın gehört, den durch die Ränge der Zeit der lange Aber: 
glan'e zufammengehäuft bat, wollen wir, fagt er, fo anbeten, 
daß wir nicht ver:eflen, ihre Verehrung fey nicht fowohl wefent: 
ih, als fle zur Eitte aehöre. Es mar alfo bei jenen Geſetzen 
urd dem Gebrauch in der Volfegötterlehre freilich nicht anf Das 
abaefehen, was den Göttern lieb wäre und wefentlich zur Sache 
nebörte: afllein»jener Mann [Seneca]. den die Philoſophen eigent- 
lich zu einem freien Mann gemacht haben, hat dennoch, weil er 
ein Senator des erlauchten Nömifchen Volkes war, verehrt, was 
er mirbifli te, gethan, was er verwarf, und angebetet, was er 
ald verderblich erkannte. 


Kap. 11. 


Diefer [Seneca] tabelt unter andern Religionsmeinungen ber 
BVolfsgätterlehre auch die Gottesvienfte ter Juden und befonders 
die Sabbate, indem er behauptet, es fey eine zweckloſe Sache, 
daß fie vermöge des jereämaligen fiekenten Zwifchentages fo ziem- 
lich den flebenten Theil ihrer Lebenszeit mit Nichtsthun verfchlen- 
dern. und Manches, wo ed auf den Augenblick anfomme, dadurd, 
dag man’d nicht thue, zu Schaden gehe. Der Chriften jedoch, 
die Damals fihon mit den Inden im größten Zwiefvalt waren, 
bat er fih auf feine Weife zu erwähnen getraus, um nicht auf 
der. einen Seite durch ihre Lob der alten Gewohnheit feiner Ba- 


*) Salacia, eine Meergättin, vielleicht Amphitrite oder Thetys. 
Bergl Servius zu Virgil Georg. f., 31. 
» Die Populonia Halten GCinige nur für einen Beinamen ber 
Sunoz Bulgora iR die Gotin der Blitze; Rumina bie Got⸗- 
An ber Edugenben. | 


\ 


von L. A. Seneca. 141 


terkadt zu nahe zu treten, ober auf der andern durch ihren Kabel 
vielleicht gegen feine eigene Ueberzeugung zu reden. 


Ebendaſelbſt. 


Da er auf jene Juden *) zu ſprechen kommt, ſagt er: Nach⸗ 
dem ber PVerfehr mit jenem verworfenen Bolt mit der Zeit fo 
um ſich gegriffen hat, daß es bereits in allen Ländern Eingang 
gefunden, fo haben fle, tie Befiegten, den Siegern Gejeße ge: 
geben. — Es iſt dies ein Ausfpruch der Berwunderung, und er. 
wußte nicht, was durch göttliche Schickung [mit jenem Molke] 
vorging. Deutlich fügt er aber feine Anflcht bei, wodurch er zu 
erkennen geben wollte, was er von der Beichaffenheit ihrer Delle 
niondgebräuche dachte. Gr fagt nämlih: Sene haben doch den 
Grund ihrer gotteödienfllichen Gebräuche gewußt: aber der größere 
Theil unſers Volkes thut Etwas, wovon es nicht weiß, warum? 


Bei dem Biograpben des P. Virgilius 
Maro. 


Seneca meldet, der Dichter Julius Montanug **) habe ge⸗ 
fagt: er möchte dem Birgil wanches ftehlen, wenn er fih auch 
feinen Bortrag und feine Miene und feine Geberden denken Fünnte; 
denn die nümlichen Verſe Flingen gut, wenn Sener fle vortrage; 
ohne ihn aber feyen fie ohne Leben, wie ſtumm. 


Det Serviuß zum fehdten Buß der 
| Meneide. 


Seneca Ichrieb über die Rage und über die Gotteddienſte 
. der Aegypter. Er fagt: In der Gegend “von Syene,**’*) dem 


*) Unter diefen Juden verfteht Seneca die Chriften. 
*) Julius Mantanus, ein elegifcher Dichter zur Aett us Ir . 
ſere Tiberins, ſchrieb auch aber ven VBBRoßod ver 8 
Eyene in Oberaͤghpten am RU, an der Aeiteniien 


1412 Bruchſt. aus verloren gegangenen Schriften. 


äußerfien Theile Negyptens, fey ein Ort, den man Philä nennt, 
das Heißt: die Frennbinnen; darum, weil dort Iſts von den 
Aegypten verfühnt wurbe, auf bie fie böfe war, weil fle die Glie⸗ 
der ihres Gemahls Oſtris nicht fand, den fein Bruder Typhon 
getöbtet hatte. Nachdem fie diefelben aber nachher gefunden hatte 


und begraben wollte, wählte fie dazu die geſicherte Stelle eines 


nahen Sumpfes, wovon gewiß ft, daß man nicht leicht hinüber: 


kommen Tann. Er iſt nämlich fchlammig und mit Bapyrusflauden 


verwachfen. N 


Bei Ebendemſelben zum neunten Bud 
„der Aeneide. N 
Der Ganges if ein Fluß in Indien, der nah Seneca in 
feinee Schrift über die Lage Indiens in neun Rinnfalen firömt, 
nach Mela aber in fleben, übrigens bemerkt Diefer zugleich, es 
fagen Einige, er fließe in breien. . 
Bei Prijetanud im fiebenten Bud. 
Seneca, dem Ovivius*) folgend, [fagt]: 
„Wählt fie ein grobes Gewand, lobe das grobe Gewand.” 


Im Eoncilium von Tours ll, XV. 


Manche Laien, während fie verfchiedentlich Ehebruch verüben, 
vermuthen bei Andern Das, weſſen fie fi von fi jelbft bewußt 
find, wie Seneca fagt: die ſchändlichſten Lafer feyen an Den- 
jenigen zu finden, welche meinen, die Tollheiten, welche fie treiben, 


‚feyen auch die Leidenfchaft Anderer. 





— 


*) Ovidius von der Kunft zu Lieben II, 300. 


x 


[4 


iii 





Lucius Anndus Seneca bes Philoſophen 
Weerke. 


Vierte Abtheilung. 






Ueberſetzt 


von 


Auguſt Pauly, 


Profeſſor am obern Gymnaſium zu Stuttgart. 





Stuttgart, 


Berlag der 3. B. Metzler'ſchen Buchhandlung. 
Für Oeſtreich in Eommiffion von Mörfchner und Jaſper 
| in Wien. 
185% 





- Lucius Annaus Seneca des Philofophen 


Werke. 





Zwoͤlftes Baͤndchen. 





Briefe 
überſetzt 
von 
Yuguft Pauly, 


Profeffor am obern Symnafium zu Stuttgart. 





Erftes Bändchen. 





Stuttgart, 


Derlag der I. B. Metzle r'ſchen Buchhandlung. 
Für Deftreich in Commiſſion von Mörtdyuer won Jaiyer 
in Wien. 
- 18 3 % 


rn 


Einleitung 





Die Grundfäge feiner eclectifch = ftoifchen Moral⸗ 
philofophie, welche Seneca in einzelnen Abhands 
Iungen ausführlicher erdrtert hatte, find in feinen 
Briefen, ald in einem moralifchen Handbuche, aber 


ganz in der zwanglofen Weiſe zuſammezgeſtellt, zu 


welcher ihn die glädlich gewählte Form belehrender und 
paränetifcher Zufchriften berechtigte. Diefe find fammts 


lich an einen Lucilius gerichtet, unter welchem wir 


uns fchwerlich einen fingisten Freund, fondern dew 
geiftreichen Berfaffer des fonft dem Cornelius Severus 
zugefchriebenen bidactifch.pittoresfen Gedidztes Werten 


zu benlen haben, wie durch) Wervðedoxð — 
Gena. 128 Ban. 


ii J Einleitung. 

fehr wahrfcheinlich gemacht worden ift. Lucilius, durch 
Verbindungen und dffentlihe Stellung der garoßen 
Melt angehdrend, wird von dem Freunde angelegent: 
lich aufgefordert, einer fchlechten Zeit ſich auszufon- 


dern, und zur Philoſophie und zu ſich ſelbſt zuruͤck⸗ 


zufehren. Dieß ift ald die Grundtendenz diefer ganz 
zen Brieffammlung zu betrachten. Aber fie iſt nicht 
blos an Lucilius, fie ift an die ganze Mitwelt, und 
mehr noch, weil Seneca. mit diefer zerfallen ſcheint, 
gu die. Nachwelt gerichtet. „Der Nachwels Angeles 


genheit betreibe ich: für fie fchreibe ich Etliches, was 


ihr nuͤtzen mag *).“ 

Offenbar alſo in der Abſicht bffentlicher Befannts 
machung gefchrieben, tragen diefe Aufiäge Das treue⸗ 
fie Gepräge der Eigenthümlichfeit Seneca's mit ihren 
Tugenden und ihren fo ſchwer gerügten, doch meift 
genialen Fehlern. Der Ton derfelben ift mebr oder 
minder. rhetorifch , und gar oft wird der Leſer mehr 
geblendet als überzeugt umd erwärnt, Nicht felten 
iſt der if der Zufammenbang fchwer zu verfolgen: die Rede 


ET 7 f ben achten Brief und den ein und mans 
digen, 


8 
k 





Einleitung. . HT, 
ift oft nachlaͤſſig hingeworfen, manches Bild grell, 
bie und da dad Beſtreben übertrieben, die Gedanken 

durch Contrafte zu beleuchten. Aber eben fo ofe ift 
Seneca erhaben durch Enthufiasmus für fttrliche Grd= _ 
Be, lehrreich durch feine Kenntniß des menfchlichen 
Herzend, und höchft anziehend durd) die Reize einer 
glänzenden, in hohem Grade rhythmiſch⸗ melodiſchen 
Sprache. 

Die Abfaſſung dieſer Briefe faͤut in die ſpaͤtern 

Jahre des Schriftſtellere. Einige ſind noch in Nero's 
beſſern Zeiten geſchrieben *),, vielleicht mit abſichtli⸗ 

* cher Beziehung auf den moralifcben Unterricht des 
‚Jungen Kaiſers; andere aber fibeinen ſchon auf die 
⸗Schreckensherrſchaft zu deuten. 

— Vorliegende Uebertragüng . bedarf nachfi ichtiger 
Beurtheilung. Seneca iſt lichtvoll und leicht zu le⸗ 

| fen ; aber ſchwer, oft beinahe unmöglich. ift ed, in 
feiner Eigenthuͤmlichkeit ihn nachzubilden, zumal wo 

‚ die ESpige antithetiſcher Einfälle auf einem Wort: 

fpiele oder gar einem bloßen Gleichtlange berubt. 


3. 3. B. ben fiebenten. WBery. wart DC 
vierjebnten, 





—umn—m— 2 


x» 


Iv Einleitung. 

Uebrigens darf dem Freunde ernfter Lectüre wohl die⸗ 
feö Buch in einer Zeit empfohlen werden, welche in 
mancher Beziehung an jene Seneca's gemahnt. 

Ruͤhmend habe ich noch meines Vorgängers 
Dlöhaufen zu erwähnen, deſſen fehr forgfältige 
Weberfeßung ich an manchen Stellen dankbar bendgt 
habe. | , 

Der Text, dem ich folge, ift im Ganzen der 
Schweighäufer'fhe (Strasburg, 1809. 2 Bde. 8.) 
uno der in meiner Ausgabe außerwählter Briefe 
(Stuttgart. Megler, 1825. 8.) gegebene. 


Pauly. 





Seneca's Briefe. 


E'rſter Brief. 


Werth der Zeit. 

Thue alfo, mein Lucilius; vetre Dich Dir ſelbſt; ſammle 
und bewahre die Zeit, welche bis jezt Dir hafd geraubt, bald 
entwandt ward, bald entſchluͤpfte. Glaͤube mir, es iſt fo, 
wie ich fihreibe: ein Theil der Zeit wird uns entriffen, ein 
anderer unvermerke entzogen, ‚ein dritter zerrinnt ung. Doc 
der fchimpflichfte Verluſt ift der, welcher aus Nuchläßigkeit 
erwäcstz; und betrachten wird genauer, fo verfließe der 
größte Theil der Zeit den Menfchen, indem fie Uebels thun, 
ein großer, indem fe Nichts thun, das ganze Leben, indem 
fie andere Dinge thun, als fie follten. Wen wilft Du mir 
ne:nen, der einigeu Verth auf die Zeit legte? der den Tag 
ſchatzte? der es einfähe, daß er täglich ſtirbt? Das ift unfer 
Irrthum, daß wir den Tod in der Zukunft ſchauen: er if 
zum großen Theile fchon vorüber; was von unferenn Lehen 
hinter ung Ilegt, hat der Tod. Alio, men Tuitind XS. 
wie Du —* halte alle Stunden zuionmen > — 

gen Zug » fo wirft du weniger VOR TEN nn J 
gen. Jadem man dag Leben vericdyhiebt ı en 


141B Seneca’d Briefe. 


Alles, mein Lucilins, iſt fremdes Eigenthum, nur die Seit 
ft unfer. Dieſes fo flüchtige, fo leicht verlierbare But ift 
der einzige Bells, in welchen die Natur ung gefest, und doc 
verdrängt uns daraus, Wer da will. Und fo groß ifk die 
Thorheit der Sterblichen, daß fle das Geringfte und Armſe— 
ligfte, wenigftend das Erſetzbare, haben fle ed empfangen, fich 
aufrechnen laffen, dagegen Niemand ſich in Schuld glaubt, 
wenn er Zeit erhalten, während viefe Doch das Einzige ift, 
was auch ter Dankbare nicht erftatten kann. Du fragft viel: 
leicht, was ich denn ſelbſt thue, der ich Dir diefe Kehren gebe? 
Sch will es Dir offen geftehen. Es ift bei mir, wie bei Dem, 
der vielen Aufwand macht, aber forgfältig Buch Hält; die 
Rechnung über meine Ausgabe ift in Ordnung. Ich Bann 
nicht fagen, daß mir Nichts zu Grunde gehe; aber Was 
zu Grunde gehe, und warum und wie, vermag id) zu fügen; 
die Gründe meiner Armuth Bann ih angeben. Allein es 
aeht mir, wie den Meilen, die ohne ihe DVerfchuiden im 
Dürftigbeit geratben find; Jeder verzeiht, Niemand hilft ihs 
nen. Doch — was ifl’8? Ich halte Den nicht für arm, dem 
das Wenige - genügt, das er übrig hat. Dir aber rathe ich, 
fpare was Du haft, und fange *) bei guter Zeit an. Dein, 
wie unfere Alten meinten, „zu ſpät ift es, die Meine zu 
fparen. Denn nicht bloß Wenig ift es, fondern auch dag 
Schlechteſte, was auf dem Boden bleibt. 


9 Mac ber Vulq. incipias. 


2— — ⸗- — 


Zweiter Brief. 1419 
Zweiter Brief. 


Wie foll man feine Lectüre einrichten? 


Nach Dem, was Du mir fchreibft, und nach Dem, was 
ich höre, faffe ich eine gute Hoffnuna von Dir. Du wans 
dert nicht hin und ber, und zerftreuft Dich nicht durch häu⸗ 
figen Wechfel des Aufenthaltes. Ein ſolches Sichhinundher⸗ 
werfen deutet auf ein krankes Gemüth. Auf Einer Stelle 
bieiden, und bei fich verweilen zu können, das halte ich für 
das erfte Merkmal eines geordneten Sinnes. — Siehe ba: 
gegen wohl zu, ob jenes Lefen vieler Schriftfteller und 
verfchiedenartiger Bücher nicht etwas U ſtätes und Flüchti⸗ 
ges zeige. Bei gewiffen einzelnen Geiftern mußt Du vers 
weilen, und aus ihnen Dich nähren, wenn Du Etwas gewins 
nen willft, das treu in der Seele hafte. Nirgends ıft, Wer 
überau ift. Die ihr Leben auf Reisen zubringen, haben ges 
meiniglich viele Gaſtfreunde, aber keinen Freund. Diſſelbe 
begegnet nothwendig Dem, der an P-ineds Manns Gift ver: 
traufich ſich anſchließt, fondern in eiligem LZuufe über Alles 
hingeht. Keine Speife ift gedeihlich und gehr in den Körper 
über, welche ſogleich nach tem Genuffe wieder abgeht. Nichte 
hindert io fehr die Geneſung, als häufiger Wechſel der Arz⸗ 
neien. Die Wunde vernarbt niht, an welcher viele Mittel 
verfucht werden : die Pflunze erflarft nicht, die häufig verfest 
wird: es gibt Nichts fo Wirkfames, dab es im Vorbeigehen 
nützte. Die Menge der Bucher zeritrent, DA Du u OUT 
/o viele Iefen Bannft, als Du haben mh, N ö S 
0 viele zu haben, ats Da 1e ertannk. „Wen! OST 

? s . . XX 
‚Ad mag nun einmal baid in dieſex Bad? AU 


1420 Seneca's Briefe. 


jenem.’ Es verräth einen verdorbenen Magen, an Dielem 
herumzukoſten: diefes verfciedenartige Mancherlei verunreis 
nigt ihn und nährt nicht. Lied daher immer nur bewährte 
Schriftfteller, und wenn Du je einmal Luſt haft auch bei Ans 
deren einzufprechen, fo Lehre immer wieder zu jenen erfteren 
zurüd. Erwirb Dir täglich Etwas, was gegen die Armut, 
gegen den Top, nicht minder genen die andern Hebel Dich zu 
ftärten vermag: und aus dem Vielen, was Du durchlaufen, 
hebe Eines aus, um es an diefem Tage zu verdauen.. Das 
thue ich felbft auch. Von Mehrerem, was ich gelefen, halte 
ich etwas Einzelnes fell. Das Heutige ift ein Satz, den ich 
bei Epicnr getroffen. (Denn ich pflege auch in Feindes Las 
ger hinüber zu geben, nicht als ein Weberläufer, fondern als 
Kundfchafter.) Epicur fat: Es ift etwas Ehrenvolles 
um die vergnügte Armuth. Allein — ift die Armuth 
vergnügt, fo ift fie nicht mehr Armut. Nicht Wer Wenig 
hat, fondern Wer Mehr begehrt, ift arm. Denn Was liegt 

daran, wie Diet Tener in feiner Truche, wie Viel auf ſei—⸗ 
nen Speichern liegen hat, wie viele Heerden, wie vieie Ka⸗ 
pitalien er befitt, wenn er nad) Fremdem giert, und zuſam⸗ 
menzäbft, nicht Was erworben ift, fondern Was noch erwors 
ben werden fol? Welches das Maaß des Reichthums fen, 
fragt Du? Fürs Erfte, zu haben Was nöthig, hiernächft, 
Was genug ift. — 


Dritter Brief 
Bon dem Zutrauen gegen Trenmde. 


Du baft mir Deine Briefe dur Deinen v un R 
Mtichſt, überbringen laſſen. Hexvo warnt 


Dritter Briefe 1421 


ihm nicht Altes Dich Betreffende mitzutheilen, weil nicht eins 
mal Du feldft Dieb zu thun pflege. So haft Du in einem 
und demfelben Briefe gefagt, er fey Dein Freund, und wies 
ter, er fen ed nicht. Du haft demnach diefes Wort fo im 
allgemeinen Sinne genommen, und haft ihn Freund genannt, 
wie wir Alle, die fi) um Aemter bewerben, „vortreffliche 
Männer‘ nennen, oder die und Begegnenden, wern uns ihr 
Name nicht beifältt, mit „Herr“ begrüßen. In fofern mag 
es hingehen. Allein, wenn Du Jemand, Dem Du nicht eben 
foviel anvertrauft, als Dir ferbft, wirftich für Deinen Freund 
hältſt, fe irrſt Du ſehr und Tennft Dad Wefen der wahren 
Freundfchaft nur unvollkommen. Berathe Dich vielnichr über 
Alles mit deinem Freunde, doch vorher noch über ihn felbft. 
Nach den Freundfchaftsbunde mußt Du trauen, vor demfels 
ben beurtheilen. Diejenigen aber verkehren die Ordnung der 
Pflichten , welche, geaen Theophraſts Vorſchrift, erft Tieben, 
Daun beurtheilen, und nicht fieben, nachdem fie beurtheitt 
haben. Bedenke es fange, ob Einer in Deine Freuntichaft 
aufzunehmen ſey: finteft Du für gut, daß es geichehe, daun 
öffne ihm Dein ganzes Herz, daun fprich mit ikm fo frei, 
als mit Dir ſelbſt. Nur lebe fo, Laß Du Dir felbft Nichte 
zu vertrauen habeft, was Du nicht fogar Deinem Feinde an: 
vertrauen Pönnteft. Allein, Da Mauches eintritt, woraus Die 
Sitte Geheimniffe gemacht hat, fo theile mit dem Freunde 
alte Sorgen, alle Deine Gedanken. Halte ihn für treu ,S 
machſt Du ihn dazu. Manche lehren hinrergeäen , INTER 
fürchten, bintergangen zu werden, und dus ihren EM 
geben fie Andern ein Recht, an ihnen zu \untiget. | 
forte ich alfo auch nur mit een Worre RU 


1422 Seneca’d Briefe. 


Sreund zurüdhalten? warum, wenn ich nur mit ihm zufam: 
men bin, nicht glauben, allein zu ſeyu? Es gibt Leute, die 
Jedem, der ihnen in den Weg fommt, Dinge erzählen, welche 
nur dem Freunde zu !vertrauen find, und Was immer fie 
drüct, in jegliches-Ohr entladen. Andere hinwider fcheuen 
fogar das Mitwiſſen Derer, die ihnen die Liebften find, und 
— ſich ſelbſt Nichrs’vertvauend, wenn fie könnten — fchlie- 
Ben fie in ihre Innerſtes jenliches Geheimniß. Keinesd von 
Beiden fol man thun, denn Beides ift ein Fehler, Allen 
trauen und Keinem : nur ift das Eine, möchte ich fagen, ein 
edlerer Fehler, das Andere ein minder gefährlicher. Eben fo 
werden Beide zu tadeln feyn, fowohl Die, welche immer uns 
ruhig And, als Die, weldhe immer ruhen. Denn jene Ge: 
räuſch Tiebende Unruhe ift nicht Thätigkeit, ſondern das Ums 
hertreiben eines Leidenfchaftlicd, aufgeregten Gemüthes : und 
es ift nicht Ruhe, wenn man jede Bewegung für Befchwerde 
achtet, fondern Zrägheit und Erfihlaffung. Merten 'wir uns 
alfo, was ich bei Pomponius *) lad: ‚Manche haben fich 
dergeftatt in ihre Schlupfwinfel zurüdgezoaen, daß fie glau⸗ 
ben, Alles fey im Gedränge, was im Lichte iſt.“ Man muß 
Beides verbinden, mit der Ruhe die Handlung, mit der Hand: 
lung die Ruhe. Befrage den Rath der Natur; fie wird Dir 
Sagen, fle habe wie den Tag, fo die Nacht gefchaffen. 


*) Ein tragifcher Dichter dieſes Namens lebte unter Auguſtus 
und Ziberiuß, 


ü—— — 


Vierter Btief. 1423 
Vierter Brief. 


Yufmunterung zum fortgefesten Streben nad 
Weisheit: fie befreit von der Todesfurcht. 
Beharre bei Dem, was Du begonnen, und eile, fo fehr 
Di kannſt, damit Du deflo länger eines gebefferten und ge- 
ordneten Gemüthed Dich freuen mögefl. Du freueft Dich 
zwar fon, fo lange Du Dich befferfi, fo lange Du Dich 
ordnet: doch ein ganz anderes Vergnügen ift es, Das wir: 
bei der Beſchauung einer von allen Schwächen reinen und 
flefenfofen Seele genießen. Es ift Dir gewiß noch im Ge⸗ 
Dächtniß, welche Freude Du empfandeft, als Du das Knaben- 
kſeid abgeleat, Das Männergewand angeihan harteft und aufs 
Fo um geführt wurdeft. Eine größere Freude wartet Dei: . 
ner, wenn Du den fnabenhaften Sinn abgelegt und Lie Weis: 
heit Dich unter die Männer gefchrieben haben wird. Noch 
imner biieb in uns, zwar nicht Kinabenalter, aber, mag 
ſchlimmer ift, Kuabenfinn zurüd. Und um fo trauriger ift 
Dieß, da wir das Anfehen ter reife, die Fehler der Kna⸗ 
ben haben, und nicht nur der Knaben, fondern der Kinder. 
Jene zittern vor unbedentenden, dieſe vor eingebilderen Ue⸗ 
bein: wir vor Beiden. Schreite vorwärts, und Du wirft 
enichen, daB Manches eben deßwegen weniger zu fürdyten 
ift, weil es große Furcht erregt. Nichts, fo groß cd ſey, ift 
zu fürdten, wenn es das Lepte if. Der Tod fommt u 
Dr; zu fürdten wäre er, wenn ex dA Dir [run Tue) 
ne£smwendig ift er entwerer noch nicht Ta, vuer Kin nn 
‚Arer schwer iſt's, ſauſt Du, die Serie AT B 
efveifpeit zu vermögen \U Bieht Du wat, SI 


1434 Seneca's Briefe. 


dige Urfachen fie öfters hat, dieſe Verachtung? Einer ers 
hing fih vor der Thüre feiner Getiebten; ein Anderer ftürzte 
fih vom Dache, um feinen fcheitenden Herrn nicht länger 
hören zu müffen; ein Dritter, um nicht von der Frucht ın: 
südgebracht zu werden, fieß fich einen Dotch in den Leib, 
Und tem Diannesfinne follre nicht gelingen, Was der Angf 
gelana ? iu ruhiges Leben wird Keinem zu Theil, der zu 
fehr auf feine Verlängerung denke, der unter» die hochſten 
Güter viele Coniufn rechnet. Das fen Dein tägfihes Trach⸗ 
ten, wie Du mit Bteichmuth ein Leben verlaffen mögeſt, das 
Diele umklammern und feftbaltei, wie Die, werche ein Gieß- 
bach fortreißt, Geſträuche und Felſen. Gar Viele treiben 
Plägtich zwifchen Todesiurche und ten Qualen des Lebens: 
feben wouen fle nicht, und zu flerben wiſſen fie nicht. Scraffe 
Dir atfo ein heitered Leben, ındem Di alle Beſorgniß um 
taffeibe verbauneit. Kein Gut frommt feinem Beutzer, außer 
auf deffen Verluſt frin Gemuth gefaßt iſt. Keines Dinges 
Verluſt aber ıft leichter , als defln, Das, wenn es verloren 
if, nicht vermilt wird. Alſo gegen Aues, was auch Die 
Mächtigften treffen Eann, ermurhige und verhärte Dich. Urber 
des Pompejus Kopf haben ein Unmündiger und ein MWers 
fhnittener das Urtheil gefprodten; über Eraffus ein graufas 
mer und ubermüthiger Parther; ein Lepidus mußte auf des 
Ka ters Cajus Geheiß feinen Naden dem Tribun Dexter dar; 
bieten, und Gajus felbft bot den feinigen dem Chärea. Nies 
ma ren hat das Gluͤck fo hoch geſtelt, day es ihm nicht chen 
— Prohte, alo es gewährte. Lxove — 
Ze. In eirem Augenblicke trürmt Ah var mer DD 
felben Tage, mo das Fahrzeug an Den yuehen \nirlte, 





I aA 4% a 32 U MR 


Vierter Brief, 2 


warb ed verfchlungen. Bedenke, ein Räuber, ein Feind Eu 
yas Echwert Dir an Die Kehle feben: und es bedarf nü 
sinmal überlegener Gewalt ; in jedes Sclaven Willkür fte 
Dein Leben oder Dein Tod. Ich behaupte: Wer fein eige 
Beben verachtet, it des Deinigen Herr. rinnere Di a 
Die Beitpiele Derer, denen offene Gewalt oder Arglift men 
terifcher Hausgenoflen den Untergang gebracht, und Du wırf 
Anden, daß nicht Wenigere fielen durch erboste Sclaven als 
durch den Sorn der Könige. Was kanıı Dir alfo daran lies 
zen, wie mächtig Der fey, Den Du fürchtet, da Das, weßs 
wegen Du Ihn fürchtet, Jeder thun kann ? „Aber, wenn 
ich dem Feinde in die Hände falle, fo wird der Sieger mich 
zum Tode führen laffen —“ zum Zode, ja, wohin Du doch 
vefübrt wirft. Warum täufcheft Du Dich ſelbſt und wirft 
et jest gewahr, Was Dir längft Schon gefchieht? Ich fage 
Nir: feit Deiner Geburt wirt Du zum Tode geführt. Mit 
viefem und Aehnlichem müſſen wir unfere Secle befitäftigen, 
san wir in Ruhe jene lezte Etunde erwarten wollen, der 
Furcht alle Uebrigen unruhig macht. 
Doch — damit ich ſchließe — hier haft Du, was mir 
te befonders gefiel (und auch Dieß iſt cinem fremden Gars 
entnommen): „Großem Reichthum gleich ift eine nad 
Geſetz der Natur geordnete Armuth.“ Jenes Gefeg der 
w aber, weißt Du, weiche Gränzen es uns beftimmt ? 
zu hungern, nicht zu dürften, nicht zu feieren. Um 
er und Durft zu vertreiben, it ed widır ahrain, SEr R 
Pr der Patäfte fidy zu Lagern, hoimdtiine DIES 
impfende Gnade fidy gefallen AU —XXX u 
PS Meer ſich zu wagen oder den SWAı N 


N nme eg er 


E . , ode in u me ee — — TE 


14236 Seneca's Briefe. 


Leicht zu befommen und vor und liegt, was die Natur be: 
gehrt. Das Meberflüffige nur koſtet Schweiß, und Diefes 
it's, was unfer Gewand abnubt, was uns zwingt, in feld: 
lagern zu ergranen, was an ferne Küſten uns fcdhleuderf. 
Sur Hand ift, Was genug if. Wer mit feiner Armuth Ad 
gut verträgt, ift reich. 





Funfter Brief. 


Man trage feine PhHilofophie nicht zur Scan, 
und vermeide auffallende Tracht und 
Lebensweiſe. 


Daß Du anhaltend Dir Mühe gibſt, und mit Hintan⸗ 
ſehung alles Andern auf das Eine bedacht biſt, wie Du tägs 
lich beffer werden mögeft, das lobe ich, darüber freue ich 
mich ; und ich ermahne Dich, dabei zu beharren, ja ich bitte 
Dich darum. Nur rathe ih Dir, nicht nach der Weife Des 
rer , die nicht weiter kommen, fondern fid, fehen laſſen wol⸗ 
len, etwas Auffallendes in Tracht und Lebensart anzuneh: 
men. Groben, unfaubern Anzug, ungefchorenes Haar, vers 
nach:äßigten Bart, beftändiges Losziehen auf das Geld, das 
Nachtlager auf der biofen Erde, kurz alle jene verkehrten 
Mittel der Eiteikeit vermeide. Der Name Philoſoph ift für 
Ah schon gehäffig, auch wenn er noch fo anfpruchios auftritt; 


Bas wiirde erfi werden, wenn wir gand AU der hergekracı: 
zen DBeife ber geute heraustreten vonliten? rer mut 
Muß ein Anderes ſeyn: anfer Ausichen page w ver m 
"@ngen fol unfer Kıeid nicht; aber eb von MER SUN 


Fünfter Brief. 1427 


Keine Silbergefäffe , eingelegt mit Bildwerken aus gediege- 
nem Golde, wollen wir befigen : aber halten wir eg nicht für 
den Beweis der Genügfamteit, gar Bein Gold uud Silber zu 
haben. Unfere Aufgabe fey , eine beffere Lebensweiſe zu be: 
folgen, als die der Welt, nicht eine entgegengefegte ; fonft 
ftoßen wir Die, welche wir beffern wollen, von und ab und 
verfcheuchen fie. Auch bewirten wir, daß fie gar Nichts am 
ung ngchafmen wollen, da fie befürchten, Alles nachahmen zu 
müffen. Das Erfte, was die Philoſophie verfpricht, ift ein 
verftäntiger Sinn, Zeutfeligkeit und Gefelliafeit: ed paßt 
nicht zu diefer Ankündigung, den Sonderling zu fpielen, 
Huͤten wir und, daß Das, wodurd wir uns Bewunderung 
verfchaffen wollen , nicht vielmehr lächerlich und widerwärtig 
erſcheine. Unſer Zweck ift ja, der Natur gemäß zu leben. 
Aber es ift gegen die Natur, feinen Körper zu quälen, audı 
einen wohlfeilen äußern Anftand zu verichmahen, die Unfau: 
bereit auffuchen, und nicht nur einer geringen, fondern ekel— 
hafter und garftiger Koft fich bedienen. Wie es Ueppiakeit 
heißt, nad) Lederbiffen tracdhten, fo ift, aud) das Gewöhnliche 
und leicht zu Bekommende vermeiden, Unfinn. Genügfams 
Peit verlangt die Philofophie, nicht Kaſteiung: es gibt aber 
eine anftländige Genügſamkeit. Dieß ift Das Maaß, , welches 
mir gefällt. Ufer Leben halte eine weife Mitte zwifchen 
den firengen Sitten und denen der Welt: achten müſſe Je⸗ 
der unfer Xeben, aber ſich dare n finden. — Wie Tewa Ua? 
Sollen wir es machen, wie die Anderen? Su tan mt 
faied feyn zwirchen uns und ihnen?! — Ein WU ST 
Undbnlich der Menge folen wir Jedem eriihttuet SS 
adher betrachtet. Wer in unfer Haus eintritt, SS 


2428 Seneca's Briefe. 


uns, als unfer Geräthe bewundern. Groß if der Mann, 
der irden Gefchirr gebraucht wie Silberzeug: aber wahrlich 
nicht Eleiner auch Der, welcher fein Silbergeſchirr gebraucht, 
als ob es irden wäre. Schwachen Gemürhes ift, Wer den 
Reichthum nicht ertragen kann. 


Doc, um den einen Gewinn and; ded heutigen Tages 
mit Dir zu theilen, fo fand ich bei unferem Hecato *), daß 
es unter die Mittel wider die Furcht gehöre, feinen Begier⸗ 
den ein Ende zu machen. Er fagt: „Du wirft aufhören zu 
fürchten, wenn Du aufgehört haben wirft, zu hoffen.” Du 
wirft fagen : wie können diefe fo verfchiedenen Dinge fo über: 

einkommen? Es ift fo, mein Lucilius; Indem fie fi zu wir 
derfprecdyen fcheinen, find fle verbunden. Wie dieſelbe Kette 
den Bewachten und die Wache verbindet, fo gehen auch jene 
Dinge, welche fo unähnlich find, gleichmäßig zufammen. Die 
Furcht begleitet die Hoffnung. Und ich wundere mich nicht, 
Daß es fo ift: beide find Zuftände eines fchweberden Gem: 
thes, Zuſtände einer unruhigen Erwartung des Künftigen. 
Die wichtigfte Urfache von beiden aber ift, daß wir uns nicht 
in die Gegenwart fügen, fondern unfere Gedanken in die 
Ferne fchiden. Und fo ift das Morherfehungsvermögen, die- 
fes große Gut des menfhlichen Wefens, in ein Webel ver- 
£ehrt. Das Thier flieht vor der Gefahr, die ed vor ſich 
flieht : wenn es entronnen, ift ed forgenfrei. Wir quälen uns 
ber bad Künftige und über das Vergangene. Viele unferer 
Borziüge fpaden uns: unfer Gedaͤchtniß Führt und vie Mein 





> Mus Rpodus, Schaler bes Stoiterd Yanitint. 


Sechster Brief. ‚2429 


ver Furcht zurück; unfer Vorherſehungsvermögen bereitet fie 
uns vorans. Niemand iſt nur durch die Gegenwart unglücklich. 





Sechster Brief. 


Senecars Bahsthbum in ber Befferung feiner 
ſelbſt: fein Wunſch, gemeinfhaftfih wit 
feinem Zreunde darin fortzufchreiten. 


Ich finde, mein Lucillus, daß ich mich wicht nur beffere, 
ondern umſchaffe; nicht als verfiherte oder erwartete ich, 
daß Nichts in mir zurück fey, was zu ändern wäre. Wie 
ſollte ich nicht noch Manches an mir haben, was geflärkt 
der gedämpft oder gehoben zu werden bedarf? Über eben 
a8 ift ein Beichen eines zum Beſſeren übergegangenen Ges 
nüthes, daß es feine Fehler, die ed bisher nicht kannte, 
einfieht. Gewiſſen Kranken wünfht man Glück, wenn fie 
anfangen fic, krank zu fühlen. Ic wünfchte, diefe meine fo 
raſche Veränderung mit Dir zu theilen; alsdann Fönnte ich 
unferer Freundfchaft mit Zuverficht eine noch feitere Dauer 
verfprechen, einer Achten Zreundfchaft, die nicht Furcht, nicht 
Hoffnung, nicht die Sorge um eigenen Vortheil zerreißt — eis 
ner Freundſchaft, mit welcher man flirbt, und für welche man 
ſtirbt. Manchen will id) Dir nennen, Dem es nicht an ei⸗ 
nem Freunde, aber an der Freundfchaft fehlte. Dieß kann 
nicht gefchehen, wenn gleiche Richtung det Bern ser 
Bute: bie Herzen zum Bereine yieht, Wie ltr Dr 
2 fe wiffen, daß fie Alles, und beinndert Dod BR 


Ym Daben. — Du Ba : t works: Was 
Seneca. 135 Bgm, uf Die wo ” 


2430 Seneca’s Briefe. 


tigen Gewinn ich jeden Tag mir bringen fehe, „Nun deun,“ 
faoft Di, „ſende auch mir, Was Du an Dir fo wirkfam er 
fahren.‘ Ja, mid) felbft verlangt, ed Altes in Dich überzus 
gießen; und fchon darum freue ich mich, Etwas zu lernen, 
damit idy’s Ichren könne; und wie wird mid) irgend Etwas 
vergnügen, wie trefflich und Heilfam es auch fey, wenn ich 
es für mid) allein wiffen fol? Würde mir ade Weisheit 
unter ber Bedingung verliehen, fle verfchloffen zu haften und 
nicht auszufprechen, ich würde fle zurüctweifen. Keines Gu⸗ 
tes Befis ift ohne Mitgenoffen erfreufih. Ich werde Dir 
alfo die Bücher ſelbſt fchiden; und damit Du nicht viele 
Mühe zu verwenden habeſt, das zerſtreute Nuͤtzliche aufzu⸗ 
fuchen , fo werde ich Zeichen einlegen, um Did) ſogleich auf 
Dasjenige zu führen, was meinen Beifall und meine Bewun⸗ 
derung hat. Doch das lebendige Wort und unfer Zuſammen⸗ 
leben wird Die noch mehr nüben, ald meine fchriftliche Rede. 
Daper komm und flehe. Denn einmal glauben die Menfchen _ 
kieber ihren Augen, als ihren Ohren; fodann iſt fang der 
Weg durch Vorfchriften, kurz und wirffam durch Beifpiele, 
Eleanthes wäre nie ein Abbild des Zeno geworden, wenn er 
Diefen nur gehört hätte. Er hatte mit ihm gelebt; er hatte 
fein Innerftes durchſchaut; er hatte Beobachtet, ob er nach 
feiner Lehre lebte. Plato und Ariftoteles, und die ganze nad) 
verſchiedenen Seiten hin ſich wendende Schaar der Weifen, 
Hat mehr aus des Socrates Charakter, ald aus feinen Wors 
sen gewonnen. Einen Metrodorus, Hermarchus, Polyanus 
das miche Epicurs Schule, fordern fein Dame m air 
Acnnern gemadyt. — Aber nicht darum cn Turale ih 


Dieb, Daß Du lernen, ſondern andy, dab Du wir waren wirt 


Siebenter Brief. 1431- 


Denn. gar: Biel werten wir Einer zu des Underen Beſten 
beitragen. 
Indeſſen, weit ich Dir Dein Pleines Taggeld ſchulde, fo 
wit ich Dir fagen, welher Satz bei Hecato mir heute 
Freude machte. „Du fragſt,“ fagte er, „Was ic) gelernt 
babe? Mein Zreund zu feyn. Er Hat Viel gewonnen; 
er wird nie allein feyn. Wille, ein Solcher iſt der Zreund- 
Alter. Bu 


Siebenter Brief. 
Bermeide die Menge; vermeide ihre Schaufpies- 


‚Te, zumal die blutigen. Trachte nie nady 
dem Beifall der Dielen. 


Was Du hauptfählid zu meiden habeft ? fragt Dis 

. mid. Das Menfhengewühl. Noch kannſt Du Didy in dafs 
felbe nicht mit Sicherheit einlaffen. Ich wenigftens win Die 
meine Schwäche geftehen.: Nie Eomme ich in derfelben ſitt⸗ 
lichen Verfaſſung nad) Haufe, in weldyer ich ausging: Mau⸗ 
ches, was ich in Ordnung gebracht, wird aufgeregt, Mauches, 
was ich verbannt hatte, kehrt wieder. Wie den Kranken, 
die ein langdauerndes Siechthum fo ſchwaͤchte, daß fie nie 
ohne Schaden ins Freie gebracht werden können, alfo ergeht 
es ung, deren Gemüther aus Tanger Krankheit ſich erhofen. 
ZGeindlich wirbt der Verkehr mit der Menge, Amer NS 
der und nicht einen Fehler empfähle , vuer B8R 

andermerktt anhienge. Gewiß, je weht ve DS 


für. © 
da6 wie uns miſchen, deſto größer Ak MN“ 2“ 


u va ri aATu Ta em T 


Me ee ea 


%s- 


1432 Seneca's Briefe. 


aber iſt fo fchädfich für bie guten Sitten, als vor irgend 


nem Schanfpiele zu figen; denn alsdann beſchleichen 
unter der Ergoͤſzlichkeit die Laſter um fo leichter. Gla 


"Du es wohl? Ich kehre habgieriger zurüd, ehrſüchti 


Annficher,, ja grauſamer fogar und unmenſchlicher, wei 


. anter Menſchen war. Zufällig gerieth ich des Mittag 


Das Theater, Scherze erwartend und witzige Einfälle 
irgend eine Erheiterung, wobei der Menfhen Augen 
Menſchenblut ausruhen möchten. Ic fand das Gegent 
alles vorangegangene Kämpfen war Barmherzigkeit gem 
Keine ergoͤtzlichen Kunſte mehr — reines Gemesel iſt es 
fle haben Nichts, um fich zu decken; mit dem ganzen KÜ 
dem Streiche bioßgeftellt, führen fie. keinen Hieb umf 
Dergleihen fehen die Meiften lieber, als bie ‚ordentfi 


"Paare tunftmäßiger *) Fechter. Und wie follten fie ni 
Hier wehrt Fein Helm, kein Schild den Stahl ab. 2 


Wenn Scuswehren? wozu Zechterkünfte? Alles Der 


—Tripen Hält den Tod nur auf. Des Morgens wirft 


| 


ten Zodfchlag. Das Ende 


Menſchen den Lowen und Bären, des Mittags ihren 


ſchauern vor. Wer eben gemorbet, wi 
‚, wird zum Morde e 
Undern vorgeworfen : den Sieger fpart man zu einem 


X. für alle Kämpfende muß der 
ſeyn; mit deuer und Schwert geht man zu Werke. Un 


n en in ihrer Kanſt, die auf Pr 
2 erhalten, und vom Volke jede 
mentlid erbete N wurden, Des Mittand 8 
ei ‚a un Kampie, tie W 
ad, tervarii, mer Sue N >. < 

7 DB galt für Thteanipruneh FAR 


Siebenter Brief. 1433 


treibt man's, bis der Kampfplap leer iſt. — „Aber Diefer 
hat einen Straßenraub begangen.” Nun, fo hatte er ver⸗ 
dient, gehangen zu werden.“ „Jener bat einen Menſcher er⸗ 
mordet.“ Wer morbete, verdient Daffelbe zn erleiden. Aber 
Was Haf Du verdient, Clender, *) diefes mit anzufehen? 
— „Hau' ein! prügle, brenne ihn! **) Warum rennt er fo 
zaghaft dem Schwert entgegen? Warum baut Diefer fo gar ' 
nicht herzhaft drein? Warum flirbt Jener fo ungern 2" — 
Mit Kuüttetichläger werden fie ins Blutbad getrieben, um mit 
nadter, entgegengehaltener Bruft die wechfelfeitigen Siebe zu 
empfangen. Die Spiele find ja unterbrochen : indeffen werden 
Menſchen gefchlachtet, damit nicht gefeiert werde. — Aber 
fehet ihr denn nicht, daß böfe Beifpiele auf Diejenigen zu⸗ 
rückwirken, die fie geben ?_ Dantet den unfterblichen Böts 
tern, daß ihr Den graufam ſeyn lehret, der es nicht lernen 
Bann. ***) Terne halten vom Volke muß man das zarte, 
im Guten noch zu wenig feſte Gemüth: Teicht tritt man zur 
Mehrheit über. Einen Socrates, Cato und Laͤlius ſogar 
hätte eine unaͤhnliche Menge aus ihrer Haltung bringen koͤn⸗ 
nen: fo. wenig wird irgend Einer von ung, wie fehr wir bes 
müht find, unferem Gemüthe die rechte Verfaffung zu geben, 
den Andrang von Laftern auszuhalten vermögen, die mit fo 
mächtigem Gefolge gegen uns anräden. Ein einziges Bei⸗ 
fpiel der Schwelgerei oder der Habſucht fliftes viel Unheil: 


ar 
% Nimii ber dr diefe Anicheutiigteiten LT gas 
*% Die Bagbaften wurden wir Zenerirhahen TO WUS 
getrieben, 
”) Den jungen Nero. 


Pen Seneca's Briefe. 


ein Weichling, mit dem wir leben, entnerdt ung alfmäpfig 
und erfchlafft und; ein reicher Nachbar macht unfere Begier⸗ 
den rege; ein bösartiger Gefährte fest auch an der reinften 
und einfachften Seele feinen Roft ab. Was, glaubſt Du, 
‚wird bei einem Gemüthe werden, auf welches das ganze 
Volk feine Angriffe richtet? — Nothwendig müßteft Du ents 
weder nachahmen oder haffen. Beides aber ift zu meiden: 
. Du folft werer den Schlechten ähnlich werden, weil ihrer 
Miele find, noch der Feind der Vielen, weıl fie Dir unähns 
lich find. Siehe Did in Dich ſelbſt zuräd, fo viel Du 
kannſt: verkehrte mit Solchen, die Dich beffer machen werden; 
laß Solche ſich an Dich anfchließen, die Du beffer machen 
kannſt. Go tritt eine Wechfelwirkung ein: man lernt, indem 
‚man lehrt. Laß Dich alfo nicht von Ruhmbegierde, um der Welt 
Dein Talent zu offenbaren, in die Mitte des Volkes führen, 
daß Du ihm Vorleſungen halteft oder Unterredungen: ich 
wollte ferbft, Du thäteft Dieb, wenn Du eine Waare hättefl, 
die diefer Pöbel; brauchen könnte. Niemand ift, der Dich 
begriffe. Vielleicht daß Einer oder der Andere Dir aufſtieße; 
allein auch Diefen wirft Du erft heranbifden und enleiten 
müſſen, damit er Dich, begreifen lerne. — „Für Wen aber 
babe ich das Alles gelernt?! — Du barfft nicht fürchten, 
deine Mühe verloren zu haben: Du haft es für Dich gelernt. 
Über damit ic) heute nicht für mich allein gelernt habe, 
ſo will id) Dir drei mir aufgefallene vorfreffliche Ausfprüche, 
eugefdhr beffelben Sinnes, mittheiien . wire dien derfels 
ven mag diefer Brief feine Schuld berahlen; dir vers JJ 
ven empfange als Vorausbezahlung · Deo,— 
ner gilt mir für das Wott, und dad Butt für Eiuen. 


Achter Brief. | 1435 


— Gut ahtwortete and) Jener (Mer es gewefen, ift unge 
wiß), ber auf die Fraͤge, was er beabfichtige bei fo großem 
Zleiß in einer Kunft, die er nur bei fehr Wenigen an dem 
Mann bringen würde, fagte: „Mir genügen Wenige, mir 
genügt Einer, mir genügt auch gar Keiner. — Vortrefflich iſt 
endlich diefer dritte Satz, den einft Epicurus an einen feiner - 
wiſſenſchaftlichen Freunde fchrieb: „Dieß nicht für, die Dies 
fen, fondern für Di: denn wir find Einer dem Andern 
Dublitum genug.” Solches, mein Lucilius, mußt Du in dei⸗ 
ner Seele niederlegen, um bie aus dem Beifall der Menge 
entfpringende Luft zu verachten. Diele loben Dich. Haft 
Du Grund, mit Dir zufrieden zu feyn, wenn Du ber Mann 
bift, den die Vielen verftehen? Nach Innen müſſen beine 
Dorzüge ſchauen. 


Achter Brief. 
‚Die tpätige Muße bes Weifen. 


„Du willſt,“ ſagſt Du, „daß ich das Menfchengewähl 
meide, daß ich mich zurüctziehe, und mir an meinem Bewußt⸗ 
feyn genügen laſſe. Wo find nun jene enre Worfchriften,. 
“welche gebieten, thätig zu fepn bis zum Tode?“ — Wie? 

glaubſt Du etwa, ich fise müßig? Darum habe id) midy 
serborgen und meine Thuren verfchloffen, damit ic recht 
Dielen näpe. Kein Tag vergeht wie in Dkitiitettt —* 
Sbeil ber Nächte wahr” idy den Stuten, 10 B8 
wicht Seit für den Schlaf, ich unterliege An > wen XX 
rastet buch, Wachen und zufaliend , veÄ ha 


is Senmeca's Briefe. 


beit. Ich babe mich zurückgezogen nicht nur von den Men⸗ 
fen, fondern auch Yon den Dingen, und zuerſt von den mei⸗ 
nigen. Der Nachwelt Angelegenheit betreib’ ich: ich fchreibe 
Einiges nieder, was ihr vieleicht nützen kann; heilfame 
Mahnungen, gleichfam die Rezepte zu wohlthätigen Arzneien, 
übergebe id) dem Papiere; daß fie wirkfam find, habe ich an 
meinen eigenen Schäden erfahren, tie, wiewohl noch nicht 
vbllig geheilt, doch aufgehört haben, um ſich zu greifen. Den 
rechten Weg, den ich felbft fpät erft und müde vom Irren 


gefunden, zeige ich Andern. Ich rufe: „meidet, Was dem - 


Volke gefälit, und Was der Zufall bietet! Bei jedem ungefähs 
ren Gut verweilet argwoͤhniſch und fchüchtern! Gewild und 
Fiſche werden durch irgend eine Iodende Hoffnung berüdk. 
Ihr glaubt, Dergleichen feyen Gefchente tes Stüds? Es 
find Schlingen. Wer immer von euch ein ungefährdet Leben 
führen” will, vermeide, fo viel er kann, jene Wohltfiaten an 
er Leimruthe, in denen wir uns fo Häglich täufchen; wir 
meinen fie zu haben, und man hat uns. ) In Abgründe 
führt ein folcher Lauf: das Ende eines fo hoch wandelnden 
Lebens ift Falten. Sofort hilft Fein Widerftand, weſſen Fahr⸗ 
zeug das Glück in tie Quere zu führen begonnen. Entwe⸗ 
der gerade Fahrt, oder fchnellen Untergang! **) Aber das 
Gefchick ſtürzt das Schiff nicht mit Einemmale um, fondern 
dreht ed im Wirbel und wirft es an die Klippen. Befolge 
aljo diefe vernünftige und heilfame Lebensregel: dem Körper 





9) Hdbemur flatt haeremus 
e) , Lex Sarker. 
nlidy ſpruͤchwoͤrtlicher —8* 
RRXR zu d. Gt. 


Achter Brief. - 1437 


nur fo viel zuzugeſtehen, als zur Geſundheit nöthig iſt. Er: 
muß etwas hart gehalten werden, damit er der Seele nicht: 
ungehorſam ſey: die Speife flille den Hunger, der Trank: 
Löfche den Durft, das Kleid wehre der Kälte, die Wohnung: 
ſey eine Schutzwehr gegen Alles, was den Körper bedroht. 
Ob diefe Wohnung aus Raſen aufgeführt tft, oder aus mans: 
cherlei Geftein entlegener Länter, ift gleichgültig; glanbe 
mir, ein Strobdad) dert den Menſchen fo gut, ald ein golde⸗ 
. ned. Verachte Alles, was eine überflüffige Mühe zur Pracht 
und Zierde ansgeftellt hat. Denke, daß Nichts, als ter 
Geiſt, Bewunderung verdient: ift er felbft groß, fo iſt ihm 
Nichts groß.” Menn ich fo mit mir, fo mit der Nachwelt. 
rede, glaubſt Du nicht, Daß ich nüslicher befchäftigt bin, als. 
wenn ich in die Gerichtähöfe liefe, um Bürgfchaft au leiſten, 
oder Zeftamentsurkunden meinen Siegelring aufdrückte, oder 
Bewerbern im Senat meine Hand und meine Stimme liche ? 
Staube mir, Wer Nichts zu thun fcheint, thut oft fehr Wich⸗ 
figes: Menfchliches und Göttliches befchäftigt ihn zugleich. 
Allein ich muß fchließen, und, wie ich zu hun pflege, 
Etwas für diefen Brief erlegen. Dieß fol nicht von dem 
Meinigen genommen werden: noch immer entrolfe ich den 
Epicurus, bei welchem ich heute diefen Saß fand: „Du 
mußt der Philoſophie dienftbar werden, damit Dir die wahre. 
Treiheit zu Theil werde. Es wird nicht von einem Tag auf 
den anderen vertröftet, Wer ihr fich unterwarf und zu eigen 
gab. Er wird sogleich im Freiheit grirat, denn Cara BR. 
der Dpitofopbie dienen , ift Zreineit. Dilitt u I 
mic, warum idy fo viele fhyöne Syrädge vxa S ‘ 


. - je N 
Alf "Vielmehr von den Ynfern , antähre? - N 


1438 - Seneca's Briefe. u ® 


Gedanken nur Epieurs Eigenthum, und nicht Gemeingnt 
wären! Wie Vieles: fügen Dichter, was von Philofos 
shen entweder gefagt worten iſt, oder doch gefagt werden 
ſollte! Ich wilf/nicht der Zragiter gedenken, noch unferer 
Schauſpiele, in welchen der Römer in feiner Toga auftritt 
(denn auch Diefe behaupten einen gewiſſen ftrengen Ernft, 
und ftehen zwifchen Lufts und Zranerfpielen in der Mitte) 
— wie viele der treffenditen Gedanken find nicht unter den . 
Mimen zerfirent ?. wie Vieles von Publins *) eignet ſich 
mehr für den Cothurn, als für die Soden? Einen Vers von 
ihm, der fi auf die Philoſophie bezieht, und zwar gerade 
auf ben Gegenftand derſelben, der ung fo eben befchäftigte, 
und worin er warnt, das Zufällige für unfer Beflsthum zu - 
balten, will ich hier anführen: | 

Was und durch Wünfchen Fam, bleibt immer fremdes Gut. 
ch erinnere mid, daß Du diefen Gedanken um Vieles beſ⸗ 
— fer und angemeflener fo ausdrüdteft : 

Nicht Dein ift, was zu Deinigem dad Glück gemacht. 
Auch diefen noch beſſeren Ausſpruch von Dir will ich nicht 
übergehen: 

Was mar Dir geben kann, Fann man Dir nehmen. 
Zieß rechne id Dir aber nicht ale Zahlung an: ic, gebe es 
Dir von dem Deinen, 


+) Mit dem Beinamen Syrus, ein WMimendichter im Zeit⸗ 
alter Auguſt's. 


Neunter Brief. 1459 


Neunter Brief 


| Der Beife ift ſich ferbf genug: gleichwohl 
I wünfht er fi Freunde, 


Du begehrft zu wiſſen, ob Epicur Recht habe, in einem 
feiner Briefe Diejenigen zu tadeln, welche fagen, der Weife 
genüge fich fetbft, und bedürfe deßwegen keines Freundes, 
Diefer Tadel Epicurs galt dem Stiipo und Denen, weldyen 
eine unanregbare [impatiens] Seele ald das höchſte Gut 
erfcheint. (Man verfällt unvermeidfich in eine Zweideufigs 
geit, wenn man anadasa kurz mit Einem Worte ausdrüden, 


und-impatientia fagen wit. Denn man kann darunter gerade 
das Begentheil von Dem, was man ausdrärfen wollte, ver 
ftehen. Wir wollen mit impatiens Denjenigen bezeichnen, 
‚der jede Empfindung von Leiden für Nichts achtet; und man 
wird ſich dabei einen Menfchen denken ,. der gar Bein Uebel 
leiden (vertragen) könne. Siehe alfo zu, ob es nicht anges 
meffener feyn wird, von einer unverwundbaren Seefe 
zu ſprechen, von einer Seele, die über alles Leiden 
hinaus iſt?) Das ift der Unterfchied zwifchen ung und 
Jenen: unfer Weifer beflegt zwar jedes Ungemach, aber er 
empfindet ed; der ihrige empfindet es nidyt einmal, Darin 
fonımen wir mit Jenen überein, daß der Weife fich felbft 
genug fey. Allein einen Freund, einen Nachbar, einen Haus⸗ 

.. genoffen will er dennod, haben, wiewohler I Wit 8 
Und febe, wie ſehr er ſich fetbft genug Ss 

weilen fchon ein Theil feiner ſeibſt. Wenn EM Rn 

per ein Feind ihn um eine Hand gebradit, WI“ 


1448 Smeca’d Briefe. 
fall *) ihm ein Auge ausgeftoßen, fo begnügt er fich mit Dem, 
was ihm übrig geblieben, und ift bei beſchaͤdigtem nnd vers 
flämmeltem Leibe fo vergnügt, ald er bei unverletztem war. 
Lieber will er zwar, daß ihm Nichts fehle: aber fehlt ihm 
Etwas, fo vermißt er es nicht. In fo weit ift der Weife fidh 
ferdft genug, nicht daß er ohne Freund ſeyn will, fondern dag 
er es Bann. Sch fage, er Bann es; denn wenn er ih verfe 
ren, fo trägt er ed mit Gleichmuth. Ohne Freund wird er 
übrigens nie feyn; er hat es in feiner Gewalt, wie fuel 
er ihn erfenen will. Wie ein Phidias, dem eine Bildfänle 
verdorben worden, ſich fofort eine andere fchaffen wirb; fo 
wird auch er, der Meifter in der Kunft, Breundfchaften zu 
fläften, einen Anderen an die Stelle des Verlorenen feben. Du 
fragſt, wie er fo ſchnell einen Freund fich verfchaffen Bönne ? 
Ich will es Dir fagen, wenn Du es zufrieden feyn wirft, daß . 
ih Die nun gleih meine Gebühr entricdhte, und für dieſen 
Brief die Rechnung niit Dir abfchließe. Hecato fagt: „Ich 
will Dir ein Liebesmittel anzeigen, Beinen Trank, Bein Kraut, 
nicht den Spruch irgend einer Zauberin. Es heißt: wil Iſt 
Du geliebtſeyn, ſo Liebe!" Aber nicht nur eine Freund⸗ 
fdyaft, die fhon alt und bewährt ift, gewährt großen Genuß, 
fondern auch das Erwerben und Schließen einer neuen. Wie 
fid) verhält der einerntende Lantmann zum ansfäenden , alfo 
auch Der, weicher ſich einen Freund fdyon erworben, zu Dem, 
dev ihn erft erwirbt. Der Philofoph Attalus pflegte zn far 
gen, einen Freund gewinnen, fey augenehmer, ats einen be⸗ 
Aben; wie es für den Künflier angenehmer w were, 
# gemalt zu haben. Der Küniter , veien uam Ban 


IE Eymweisbäufer gu d. St. 


"Mennter Brief. 1441 


4 mit feinem Werke beichäftigt ift, empfindet Hohen Genuß 
biefer Beſchaͤftiguͤng felbft. Sein Vergnügen ift nicht mehr 
fetße, wenn er von dem voliendeten Werke die Hand abgesos 
bat: dann genießt er nur der Frucht feiner Kunſt; er genoß 
Kunft feibft, während er malte. Fruchtreicher ift die reifere 
gend unferer Söhne, aber Fieblicher ihre Kindheit. 
Kehren wir nun zu unferem Gabe zurüd, Der Weiſe 
I, auch wenn er fich ſelbſt genügt, gleichwohl einen Freumt 
en, wäre es andy ans keinem anderen Grunde, ald um 
eundesliebe zu üben, damit eine fo wichtige Tugend nicht 
‚ch liege: nicht wie Epicur in dem oben erwähnten Briefe 
t, nm Jemand zu haben, der ihm zur Seite fie, wenn 
krauk liegt, oder ihm, wenn er gefangen ift oder Notf 
vet, mit Hülfe beifpringe; fondern um Jemand zu haben, 
deffen Krankenbette er felber ſitze; den er, wenn feind: 
e Wachen ihn umringen, in Freiheit ſetze. Wer nur fidı 
Aafihtigt, und um feiner willen eine Freundfchaft fchliegt, 
ikt fchlecht: wie er anfängt, fo wird er enden. Er hat 
ı einen Freund verfchafft, der ihn gegen Feſſeln ſchützen 
: fobald die Kette Elirrt, wird er davon gehen. Das fint 
Freundſchaften, weiche das Volk die zgeitwährender 
ınt. Wer um des Nutzens willen angenommen worden, wirt 
lange gefallen, als er nüben kann. So kommt es, daß eir 
hwarm von Freunden die Glücklichen umlagert: um bie 
flärzten her ifl’8 gar einfam; wo_der Freunde eine Prü: 
ig wartet, machen fle fi davon. Se tummt db, RW 
viele abſcheuliche Beifpiele haben von Suden ı we 
md aus Furcht im Stich ließen, per Start! | 
Farcht verriethen. & Tann wicht jenlen. TO 


1242 Seneca's Briefe. 


zum Anfang paſſen. Wer Eines Freund zu werben angefats 
gen, weil es ihm fo vortheilhaft war, Dem wird, wenn ihm 
an der Freundfchaft noch fonft Etwas außer ihr felbft gefält, 
auch irgend ein Preis gegen fie gefallen. Wozu gewinne ih . 
mir einen Freund? Um Jemand zu haben, für den idy fler- 
ben kann, Jemand zu haben, den ich in die Verbannung bes 
gleite , für deflen Leben ich das meinige einfeße, dem ich 
mich opfere. Was Du meinft, ift nicht Freundfchaft, fondern 
Speculation, die nur ihrem Vortheil nachgeht, und berechnet, 
Was zu gewinnen fen. Ungezweifelt hat der Uffeck der Liebe 
Aehnlichkeit mit der Freundſchaft: man könnte jenen eine 
rafend gewordene Freundſchaft nennen. Liebt nun wohl Je⸗ | 
mand aus Gewinnſucht, oder um Ehre und Ruhm zu erlars 
gen? Die Liebe an und für fich, alles Andere Hintanfepend, 
entzündet in den Herzen das Verlangen nad) dem fchönen | 
Gegenftande, nicht ohne die Hoffnung auf gegenfeitige Zärts 
fichkeit. Und nun, die Urfache, aus welcher der unedlere 
Affect entfteht, folte die edlere feyn ? — Doch es handelt ſich 
ja hier nicht darum, vb die Zreundfchaft um ihrer felbft oder 
irgend eines anderen Zweckes willen wünfchenswerch fen. Iſt 
fie es um ihrer -feibft willen, fo kann mit ihr in Verbindung 
treten, auch Wer fich feıbft genug ift. Und wie wird er mit 
ihr in Verbindung treten ? Als mit einem Gegenflande von 
höchſter Schönheit, nicht von Gewinnfucht befangen, andy 
nicht geſchreckt durch den Wechfel des Schidfalde. Es ent 
Zreibes die Sreundfchaft ihrer hohen Würde, Wer jle nur auf 
gen Fall des Glückes ftiftet. e OREEFREN 
Der Beife ift fidy felbft gewug. Dieir Si, wen tu 
ine, wird von den Meifen ehr \aih aataien. Di 


Neunter Brief. 1443 


ſchließt den Weiſen von allen Seiten aus, und draͤugt ihn 
auf ſich ferbft zurüd. Allein man muß unterfcheiben, wozu 
und wie weit diefer Sab verbindlidy macht. Der Weiſe tft 
ſich ferbft genug, um glüdlich zu leben, nicht um zu leben. 
Denn zu diefem Tezteren bedarf er noch vieler anderer Dinge; 
zu Jenem nur einer gefunden und erhabenen Seele, welche 
anf den Gtüdswechfel herabfieht. Noch will ich Dich anf 
eine Unterfcheidung von Chrpfippus aufmerkfam machen. Er 
fagt: „dem Weifen mangelt Nichts; dennod braucht er 
mandye Dinge. Der Unmweife braucht Nichts, denn er weiß 
Nichts zu gebrauchen; _aber ihm mangelt Alles.’ Der Weife 
braucht Hände, Augen und vieles Andere, was das tägliche 
Leben erfordert; aber ihm mangelt Nichte. Denn Mangel 
wird gefagt von einem nothwendigen Bedürfniffe, und der 
Weife kennt Fein folches. Alſo, fo fehr er fidy felbft genug 
ift, braucht er doch Freunde, und er wünfcht, deren möglichft 
Viele zu haben; nicht um glücklich zu leben, denn er lebt 
auch ohne Freunde glücklich. Das höchſte Gut bedarf Peiner 
äußeren Hülfsmittelz; es wird im Innern gepflegt, es beftehe 
ganz in ſich ſelbſt. Dem Zufall beginnt unterworfen zu ſeyn, 
er einen Theil feiner felbft außer ſich ſucht. Doch — wie 
wird es mit dem Lehen des Weiſen flehen, wenn er von 
Freunden verlaffen im Gefängniffe liegt, oder einfam unser 
einem fremden Volke fid, befindet, oter anf Langwieriger 
Seefahrt zurüdgehalten oder an ein dded Geflade gemorken 
wird? Wie mit dem Leben Iupiterd , x 
aufgelöst haben, alle Bötter in Einn Werawmwr 
werben, bie Natur einen Stilftend waden , WI SS 
feinen Gedanten hingegehen, in fc vahen WW- 


.a444 Seneca's Briefe. 


der Weiſe: er birgt ſich in ſich ſelbſt, er iſt mit ſich allein. 
So lange er nun freilich nach eigenem Gefallen feine Lage 
einrichten kann, thut ex ed, und ift dabei fich ſelbſt genng: 
‚er vermählt ſich, und — ift ih felbft genug, wird Mater, 
doch ift er ſich felbft genug; gleichwohl wird er nicht Ieben 
wollen, müßte er ohne Dienichen Ieben. Zur Freundſchaft 
zieht ihn nicht eigener Vortheil, fondern ein natürlicher Reis 
bin. Denn wie nad) anderen Dingen ein gewifles füßes Mer: 
Iangen uns angeboren ft, fo auch nach der Freundſchaft. Wie 
die Einſamkeit und zuwider ift, dagegen aus Verlangen nad 
Geſelligkeit der Menſch dem Menſchen ſich anfchiießt, fo ift 
es auch ein von Natur ung inwohnender Trieb, der nnd 
Freunde wänfchen läßt. Nichts deflo weniger, wiewohl er 
aufs Zärtlichfte feine Freunde liebt, wiewohl er fie fo hoch 
als fidy ſelbſt, ja noch höher hält, wird er dod au fein Gut 
anf fich felbft befchränfen und fagen, was einft Stitpo fagte, 
— derſelbe Stilpo, gegen welchen Epicurs Brief gerichtet ift. 
Seine Vaterſtadt war erflürmt; er hatte feine Kınder, feine 
Gattin verloren; einfam und doch glücklich verließ er die 
große Brandftätte, und ald Demetrius, der feinen Beinas 
men , Poliorcefes, von der Städte Verwüſtung trug, ihn 
fragte, ob er Verluſt erlitten hätte, fprady er: „Ich habe 
alte meine Güter bei mir. D ein Mann voll Kraft und 
Muth! Er hat feines Feindes Sieg beflegt. „Ich babe Nichts 
verloren‘, war feine Antwort; und fo hat er ihn zu zweifeln 
genöfbigt, ob er geflegt habe, „Ih habe das Meine alles bei 
anir : meine Zugend, meinen vectlihen Stun, win Brökı 
eis, und eben Das, daß ich Niäts vÜr in St ee 
%a7 mir nebmen Sann.' Wir year N - 


Meunter Brief. 1445 


wife Thiere, weiche, ohne fich zu befchädigen, mitten burch dag 
euer gehen: um wie viel wunderwürdiger ift der Dann, 
der unverlest und unbefchädigt durch Todbeswaffen, Trümmer 
und Flammen wandelt? Du ficheft, wie viel Teichter es ift, 
ein ganzes Volk, als Einen Mann zu überwinden. Dieß 
Wort hat er mit dem Stoiter gemein, der auch, wie Jener, 
feine Güter unberührt durch, eingeäfcherte Städte trägt. Er 
iſt ſich ſelbſt genug: in diefe Graͤnze fchließt er feine Gluͤck⸗ 
ſeligkeit ein. Und glaube nicht, daß nur wir (Stoiker) eine 
fo großartige Sprache führen: fogar Stilpon’d Tadler, Epis 
curus, bat eine ähnliche Aeußerung gethan, die Du als eine 
Zugabe hinnehmen magft, wiewohl ich mich für heute ſchon 
abgefunden ‚habe. Epicurus fagt: „Wem das Seine nicht das 
Herrlichfte dunkt, der ift unglüdiich, und wäre er Herr ber 
‚ganzen Welt.‘ Dder, wenn ed fo audgedrüdt Dir beſſer 
fdyeint (denn wir haben und an bie Gedanken, nicht ſclaviſch 
an die Worte zu haften): „Unglücklich ift, Wer fich nicht 
für den Gtüdtichken hält, und wenn er der ganzen Melt ges 
böte.“ Und damit Du Did, überzeugeft, daß diefe Anficht eher 
eine allgemeine ift, welche der natürliche Verſtand felbft aus⸗ 
ſpricht, fo finden wir bei dem Eomiter (Syrus) die Worte: 
Nicht gluͤcklich iſt, Wer es zu ſeyn nicht glauben will. 
Denn was liegt daran, wie dein Zuftand befchaffen fey, wenn 
Du ihn ſelbſt für fchlimm hältſt? — „Wie aber‘, Hör ich 
Dich fragen, ‚wenn jener Menfch, der mit Schanden reich i&, 
welcher Herr ift DVieler, aber noch Mehrerer Scan , Sn 
er fey glüdlidy : wird ex es dadurdy , daß ab SUET 
Wiht Bas er ſagt, fondern Was ex KÜnit , BVXR 


nicht Bas er heute, fondern Bas ex iunmer TEN- 
Sencca. 128 Bhdn, > 


1448 Seneca's Briefe. 


ob die Gottheit ed ſaͤhe; fpric fo mit ber Gottheit, als eb 
die Menſchen es Körten. " | 


Eilfter Brief. 


Die Schamröthe. Naturfehler laffen fi nicht 
völlig Ändern. — Man nehme in Gedanken mu— 
fterhafte Männer zu Zeugen aller feiner 

Handlungen. 

Ich unterhielt mich mit deinem Freunde, einem, jungen’ 
Manne von guter Gemüthsanlage. Gleich das erfte Gefpräcd 
verrieth, welche Vorzüge des Herzens und Geiftes er beſitzt, 
und welche Fortfchritte er ſchon gemacht hat. Er gab mir 
einen Borfhmad, dem er entfprechen wird: denn er fprach 

mit mir nicht vorbereitet, fondern unverfehens uͤberraſcht. 
Auch nachdem er ſich gefammelt Hatte, Eonnte er ſich doch 
Teiner Verſchämtheit — ein gutes Zeichen an einem Jüng⸗ 
fing — baum entfchlagen: ex war über und über roth gewor= 
den. Diefe Röthe wird ihn, fo viel ich vermuthe, auch wenn 
er ſich gekräftigt und aller feiner Fehler ſich entäußert haben 
wird, auch ald Weiſen noch begleiten. Keine Weisheit ver: 
mag Naturfehler des Körpers oder der Seele zu befeitigen: 
Was angefchaffen und angeboren iſt, kann durd, Kunft ver: 
minbert, nicht überwunden werden. Es gibt Männer voll 
Fefligteit unb Kraft, weichen, gleich. Erſchoͤytten und Erhib: 
ren, ins Angeſicht der Boltsgemeinte der Shmet auitriat, 
Aberen zittern bie Kniee, wenn fie dientlih reden lat, 
deren Happern bie Zähne, ihre Zunge Kammat, \ie vo 


Eilfter Brief. 1449 


ven beben. Dergleichen wird weder durch Anweiſung noch 
durch Hebung verbannt: die Natur übt ihre Macht, und mahnt 
durch folhe Schwächen auch die Stärktften an fih. Dahin 
gehört auch diefe Röthe, welche unverfehens ſogar Männer 
von großer Eharakterftärte überläuft. Stärker freilich tritt 
fie bei Jünglingen zu Tage, die mehr Lebenswärme und eine 
zartere Stirne haben: nichts deito weniger befällt fie auch 
vielerfahrene Greiſe. Es gibt Leute, die nie mehr zu fürdys 
ten find, ald wenn fie roch geworden; als ob fie damif alle 
Verfhäntheit abgelegt hätten. Sulla übte feine Gewalt 
am graufamjten, wenn ihm das Blut in das Geſicht getreten 
war. Es gab Fein zarteres Geſicht, ald das des Pompeius ; 
immer erröthete er in Gegenwart Vieler, zumal wenn er 
vor dem Volke ſprach. Noch erinnere ich mich, wie Fabia⸗ 
nus *) erröthefe ,-ald er, um ein Zeuaniß abzulegen, in den 
Senat eingeführt ward: und diefe Verfchämtheit fland ihm 
ungemein gut. Nicht Schwäche des Geiſtes war’d, Was dies 
fe8 bewirkte, fondern das Ungewohnte der Lage: der Unges 
übte wird dadurd, wenn feine Lörperliche Anlage Leicht dazu 
Hinneigt, wenn auch nicht außer Faſſung gebracht, doch ber 
wegt; denn während Andere ein gutes [ruhiges] Blut has 
ben, befigen diefe ein Teicht aufwallendes, bewegliches, das 
Schnell in's Gefiht tritt. Keine Weisheit vermag, wie ges 
fagt, Dieb zu vertreiben : fonft hätte fie ja die Natur ſelbſt 
in ihrer Gewalt, wenn fle ale Gebrechen auetilgen Pönnter 
Was die angeborene Förperliche Belhyafeuhäit , U — 
rament, mit ſich bringt, wird haiten Hhuo | WI RAN 





*) Yhitofoph und Rhetor. 


1450 Seneca's Briefe. 


lange auch das Gemüth, fich zu vegeln, bemüht war. Nichts - 
dergleichen laäͤßt ſich befeitigen,, fo wenig, ale herbeiziehen. 
Buͤhnenkünſtler, welche die Affecte nachahmen, Furcht uch 
Angſt ausdrücken, Traurigkeit darſtellen, geben ſich das An⸗ 

ſehen der Schaam durch allerhand Zeichen: fie ſenken das 
Haupt, dämpfen die Stimme heften die Blicke niederwärts 
dur Erde: nur die Röthe Lönnen fie ſich nicht erzwingen. 
Diefe Eann man weder hindern noch annehmen. Gegen der: 
gleihen Dinge verfpricht .die Weisheit Nichts und vermag 
Nichts: fie gehören fich felbft an, und ungeheißen Fommen 
fie, ungeheißen gehen fie. 

Aber nun fordert diefer Brief feinen Schlußfab. Hier 
ein fchöner und heilfamer, den Du deinem Herzen einprägen 
mögeft: „Wir müſſen und irgend einen edlen Mann aus⸗ 
fuchen, den wir fletd vor Augen haben, damit wir leben, als 
ſchaue er ung zu, und immer handeln, als fehe er es.’ Dieß 
ift Epicurs Lehre, mein Lucilius: er gibt ung einen Hü— 
ter, einen Sittenaufieher; und er thut Recht daran. ine 
große Zahl von Sünden fällt weg, wenn dem Sünder ein 
Zeuge zur Seite flieht. Trage Einen im Herzen, um ihn 
mit einer Schen zu verehren, die auch bein Innerſtes hei: 
lige. O glüdlih Der, Welcher nicht nur durch feine Gegen 
wart, fondern an Welchen fchon der Gedanke beffert! Glück⸗ 
lich aber aud) Der, Welcher Einen fo zu fcheuen weiß, daß 
er fid) fchon nad) deſſen Andenken regelt und bildet! Wer 
einen Yobern ſo verehren Bann, wird bald ſelbſt verehrungss 

würdig fepn. Wähle Dir alio einen Ev. rer, wenn Die 
Diefer zu ſchroff ſeyn ſollte, wähle einen Mon von wie 
m Sinne, einen Lilius; vwoähle irgend Einen, vehen BU 


Zwdlfter Briefe | 1451 


bei und Rede Dir gefiel, der eine Tiebenswürdige Seele in 
einen Mienen trug: ihn, deinen Hüter, dein Mufterbitd, 
halte fortwährend deinen Blicken vor. Ic fage Dir, wir 
yebürfen Temandes, nach Welchen ſich unfer Charakter bilde. 
Ohne Richtſchnur wirft Du das Verkehrte nicht ind Gleiche 
dringen. | 


ZwÖölfter Brief. 

Die eilende Zeit uud ihr weifer Gebraud. 

Wohin ich mich wende, erblicke ich Beweife meines Als 
ers. Ich war auf mein Gut gefommen, und beklagte mid 
iber die Koften des -baufälligen Landhauſes. Der DBerwalter 
yerficherte,, die Schuld Liege nicht an einer Vernachlaͤßigung 
yon feiner Seite: er thue Alles; allein das Gebäude fey alt. 
Ind diefe Billa war unter meinen Händen entflanden! Was 
vird’3 mit mir werden, wenn Mauerfteine, fo alt als ich, 
bon mürbe find? Voll Verdruß ergreife ich die nächite 
Selegenheit, mid) auszulaſſen. „Es ift offenbar’, fage ich, 
‚diefe Piatanen werden vernachläßigt: fie haben kein Zaubs 
vie Enotig und verfchrumpft find die Zweige! wie verküm⸗ 
nert und dürr die Stämme! Das wäre nicht fo, weun 
nan ihren Boden umher aufloderte, wenn man fle begöſſe!“ 
Der Mann fchwört bei meinem Schupgeift, er thue Alles, 
e faffe es nirgends an feiner Sorgfalt fehlen; allein die 
Diatanen seven fchon alt. Unter und gan — 1 WE 
satte fie gepflanzt, ich hatte ihre exiken Blätter geieet- = 
Düre gewendet frage ich: „Wer IN ver lt NER 
De iſt er an die Thüre geſtelt; er not N 


1452 Seneca’5 Briefe 


aus. *)' Wo haft Du doch Denher? Wie konnte Dir’s Bergnä: 
gen machen, eine fremde Leiche aufzunehmen?‘ Aber Jener 
fragte mich: „Kennſt Du mich nicht? Ich bin Felicio, dem 

Du die Bilderchen zu bringen pflegtaft, des Verwalters Phi⸗ 
loſitus Sohn, bein Liebling.’ — „Der Menfch iſt verrückt,“ 
verfeste ich. — Er war nod) ein Feiner Knabe, als er mein 
Liebling geworden. — „Das kann ganz wohl fen: er verliert 
nur eben feine Zähne.’ — So verdante idy es meinem Land» 
gute, daß ed mir, wohin ich blicken mochte, mein hohes Al: 
ter unter die Augen geftelit hat. Heißen wir es willfommen, 
diefes Alter, halten wir es Lieb und werth! es ift reich an 
Genuß, wenn wir es zu nüsen willen. Die Früchte ſchme⸗ 
den am füßeften, wenn fie zu Ende gehen; am reigendflen 
ift der Knabe, der eben aufhört, Knabe zu fenn; dem Zecher 
ſchmeckt am beften der lebte Schlud, der ihn deckt, der feine 
Zrundenheit vollendet. Das Lieblichfte, was jede Luft in fich 
hat, ſpart fie auf das Ende, Das angenehmfte Lebensalter 
ift das, welches ſich fchon abwärts neigt, doch noch nicht jähs 
lings ſtürzt; und and) jenes, das auf der Ichten Stufe fteht, 
hat, duͤnkt mich, feine Genuͤſſe; oder es tritt an deren Stelle 
eben Das, keiner Genüffe zu bedürfen. Wie wohlthuend, 
feine Begierden müde gemacht, und hinter fich gelaffen zu 
haben! „Aber es ift läſtig,“ fagft Du, „ten Tod fo nahe 
vor ſich zu ſehen.“ Fuͤr's Erfte muß ihn der Jüngling fo 
gut vor Augen haben, ale ber Greis, denn wir werden nicht 
sec Aiteroclaſſen abgerufen: ſodann it ja Niemand fo alt, 





9% Die Zobten wurben im Atrium, wit ten Ser um 
die Haustbore, ausgeſtellt. 


8 


Zwoͤlfter Brief. 1453 


DaB es ihm Frevel wäre, noch anf Einen Tag zu hoffen. 
Ein Tag aber ift eine Stufe des Lebens; die ganze Lebens⸗ 
zeit befteht aus Theilen und Kreifen, von welchen die weite: 
ren fih um die engeren fließen. Der dußerfte, ter alte 
übrigen umfaßt und einfchließt, zieht Nic von der Geburts: 
ftunde bis zum letzten Tage: ein anderer fchließt die Jahre 
des Tünglingsalters ein: ein dritter ift, der die ganze Kind» 
heit umfangend begrängt; hierauf Der Jahreskreis ſeibſt, der 
alle die Zeiten in ſich begreift, aus deren Vervielfältigung 
das Leben fich zufammenfest. Den Monat umgürtet ein en⸗ 
gerer Eirkel, und den engften Umkreis hat der Tag: doch 
auch diefer zieht fich vom Anfang bis zum Ende, vom Auf: 
gange bis zum Niedergange. Daher fagte Heraclitus, der 
den Beinamen Scotinus von feiner dunteln Sprache hatte: 
„in Tag tft gleich allen.‘ Dieß nahm der Eine fo, der 
Andere anderd. Einer fagte: Ein Tag ift allen übrigen 
gleich an Stunden ; und er hat nicht Unrecht: denn wenn der 
Tag ein Zeitabſchnitt ift von vier und zwanzig Stunden, fo 
mögen nothwendig alle Zage unter fich gleich feyn, weil die 
Nacht hat, was der Tag verloren. Ein Underer fagt: Ein 
Tag ift allen gleich vermöge ihrer Aehnlichkeit: denm auch 
der laͤngſte Seitraum hat Nichts, Was man nicht and) in 
— dem einzelnen Tage anträfe, Licht und Nacht; und bald län⸗ 
ger bald kürzer, je nach tem wechfelnden Kreislaufe der 
Weit, macht: ex nur mehrere folcher Abſchnitte, nicht verſchie⸗ 
dene. Man richte alfo jeden Tag fo ein, Mb wu er —— 
ſlöſſe, bie Summe ber Lebenstage voð masnıte- nn 
‚der Eprien durch langen Miäbrauh zu een SWS 


N 
gemacht Datte, ließ fi » wenn ex heim Zeugelatt 


1454 Seneca's Briefe. 


üppigem *) Schmauſe ſich felbft gleihfam das Zottenopfer 
gebracht, von der Tafel in das Schlafgemad) fragen, während 
unter dem Geklatſche der Genoffen feiner Lüfte zur Muſit 
gefungen ward: Beßioraı, Beßiarar! [ES ift ausgelebt! 
es ift ausgelebt!] And jeden Tag begrub er fih fü. Was 
Diefer bei böfem Gewiflen that, das wollen wir bei gutem 
thun, und fchlafen gehend, froh und freudig fprechen: 

Ja! ich lebt', und vollbrachte ben Lauf vom Gefchide 

befchieben ! **) 


Zügt die Gottheit den miorgenden Tag noch hinzu, fo neh: 


men wir ihn fröhlich an! Der ift der glücktichfte, forgenfreiefte 
Beſitzer feiner felbft, der den Morgen ohne Unruhe er: 
wartet. Wer fagen kann: Ich habe gelebt, fteht. täglich 
zum Gewinn auf, 

Dody ich muß jezt meinen Brief befchließen. Und wie? 
fragft Du; fo ohne allen Sparpfennig foll er in meine Hände 
Eommen ? Sey unbeforgt; er bringe Etwas mit. Doch 
warum fage id, Etwas? Er bringt Viel. Denn Was wäre 
Löftlicher als die Worte, die ich ihm für Dich mitgebe, „Es 
ift ein Uebel, in Noth zu leben; aber. in Noth zu leben, ift 
nie Noth.“ Und warum es nie Noth ſey? Don allen Seis 
ten führen dev Wege viele zur Freiheit, Furze und leicht zu 
mwandelnde, Danken wir der Gottheit, daß Niemand im Le: 
beu gehalten werden kann: die Noth felbft Eönnen wir nies 
dertreten. „Epicurus fagte Dieß“, entgegneft Du: „Was thuft 


Du mit fremdem Gute?“ Was wahr ift, gehört mir; ich 


” Fonereis epulis, eig. Leihenfhmaniereien, vi wi 


2 


Den viel thörihter Aufwand gemacht wurke. 
Birgii Heneib, IV, 655. 


R 


Dreizehnter Brief. 1455 


bieibe dabei, den Epicur Dir vorzuführen: damit Die, welche 
nur auf die Worte [ihres Meiſters] ſchwören, und nicht fras 
gen, Was einer fagt, fondern Wer es fagt, wiffen mögen, 
Was gut ift, ſey Gemeingut. 


Dreizehnter Brief. 


Mitter wider die yurdk. 
Sch weiß, daß Du Muth haſt. Noch ehe Du Dich mit 
heilfamen und. alfed Harte überwindenden Meisheitsichren 
ansrüfteteft, wareft Du mit Dir felbft zufrieden dem Scyids 
fafe gegenüber; noch weit mehr aber, nachdem Du mit dens 
ſelben wirklich in Kampf gerathen und deine Kräfte verfucht 
haft, auf die man fich nie ficher verlaffen kann, fo lange nicht 
vieles Mißliche von da und dort erfchienen, und und bieweis 
fen wirklich recht nahe getreten if. So erft wird der echte 
Muth, der nie in fremde Wilffür gerathen wird, bewährt; 
Dieß ift fein Probierftein. Nie wird der Athlete, der noch 
feinen blauen Fleck bekam, großes Feuer mit auf den 
Kampfplas bringen. Der ader fein Blut fehon gefehen; Deſ⸗ 
fen Zähne nackten unter Sauftfchlägen ; ‘Der, niedergerun- 
gen, Led Gegners Laft auf feinem Leibe trug; Dem, obwohl 
er fauf, der Muth nicht ſank; Der, fo oft er fiel, trogiger 
fidy wieder erhob: Der jchreitet mit. großer Hoffnung in dei 
- Kampf. Und nun, um dieß Gleichniß zu weriigen. m 

ft Iafete das Schickſal über Die, und dooh rat "DS Ss 
dm nicht, fondern fprangft empor und Keüht RN Sen 
ſo fefter wieber auf. Denn Tapferkeit, Tier MM 


1456 Seneca's Briefe. 


fteigert fih. — Dody, wenn Du willſt, empfange auch vön 
mir einige Hülfsmittel, mit welchen Da Didy verwahren me: 
geft. Der Dinge, die uns fchreden, mein Lucilius, find mehr, . 
als die und drücken; und öfter leiden wir in der Einbildung, 
als in der Wirklichkeit. Ich rede zu Dir nicht Die ftoifche 
Sprade, fondern eine mehr herabgeflimmte. Denn wir 
Stoiker fagen, alles Dad, Was Seufzer auspreßt und Weh⸗ 
Eagen, ift unbedeutend und nicht zu achten. Aber laffen wir 
. diefe großen Worte, fo wahr fie, bei den Göttern! find. Nur 
diefe Lehre gebe ich Dir: ſey nicht unglücklich vor der Zeit; 
denn wofür Dir bangt, weil es Dir droht, Das wird viel: 
leicht nie kommen, iſt wenigſtens noch nicht ta. Einiges 
quaäͤlt ung mehr, als es ſoll; Anderes quält früher, als es 
ſoll; wieder Anderes quält, Was uns überhaupt nicht quä- 
len follte. Entweder — wir vergrößern unfern Schmerz, 
oder wir erdichten ihm, oder wir nehmen ihn voraus, Jener 
erfte Punkt bleibe, weil über die Sache erklärter Streit ob: 
waltet, für jezt ausgefezt. Denn Was ich unbedeutend nenne, 
wirft Du für das Aergſte haften: ich Benne Welche, Die 
unter Geißelhieben lachen, und Andere fchreien auf bei eis 
nem Badenftreich. Später werben wir fehen, ob diefe Dinge 
aus eigener Kraft, oder durch unfere Schwäche ſtark find. 
Nur Das verfprih mir, wenn die Lente herzulaufen und 
Dich überreden wollen, daß Du unglücklich ſeyſt, alddann 
nicht zu beachten, Was Diefe fagen, fondern Was Du em: 
pfindeft, dein eigenes Gefühl in Berathung zu ziehen, und 
Dich feibft, der Du ja, Was Dich angeht, am beften kenneſt, 
3a fragen: Bas ift es doch, daß Diefe weinen über mich, 
2aß fie fo Angfllich thun, daß Ne \oyar wi, zu berühren 


Dreizehnter Brief. 1457 


fürchten, als ob mein Unglück auf fle überfpringen könnte? 
Iſt etwa hier ein Hebel? oder ift die Sache mehr verrufen 
als ſchlimm? Frage Did, ſelbſt: gräme id, midy_vicleicht 
and befümmere ich mic, ohne Urfache, und made Etwas zu 
einem Uebel, Was es nicht ift ? — Uber Du-fragft: „wie 
soll ich inne werden, ob nichtig oder wirklich ift, Was mich 
ängftigt 2° Darüber laß Dir diefe Regel geben: Wir quäs 
fen und entweder über Gegenwärtiges, oder über Zufünftiges, 
oder über Beides zugleich. Weber das Gegenwärtige ift das 
Urtheil leicht. Iſt dein Körper frei,.ift er gefund, und 
fchmerzt Dich keine Kränkung, fo erwarten wir, Was da 
kommen wird; für heute hat es Nichts auf ſich. „Aber das 
Schlimme ſleht noch bevor!" Fürs erſte unterfuche, ob 
fihere Merkmale vorhanden find von einem Eommenden Uebel: 
denn meiftensd find es Dermuthungen, die uns zu fchaffen 
machen; und Was Kriege zu entfcheiden pflegt, und weit 
mehr noch über Einzelne entfcheidet, das Gerücht, treibt fein 
Spiel mit und. Ja, mein Lucilius: zu eilig freten wir dem 
Bahne bei; wir prüfen nicht, Was ung in Furcht fezt, und 
unterſuchen es nicht, fondern zittern und wenden den Rüden, 
wie Die, welche eine Staubwolfe, von einer Vichheerde auf: 
gejagt, ans dem Feldlager freibt, oder die irgend ein Ge- 
rede, ohne Bewährsmann ausgefprengt, in Schreden verfezt 
hat. Sonderbar! das Grundloſe ift es mehr, was und be⸗ 
ſtürzt macht. Das Wirkfiche hat fein Maß: aber Was im 
Ungewiffen liegt, ift ein Spiel der Dermuthungen eines za⸗ 
genden Gemüthes. Keine Furcht ift Daher fo verderblich, fo 
unheilbar, ald die eines kranken Gehitnd‘ ehr antumr IN, 
unversänftig, aber diefe iſt unfinnig, Vaterluigen or ie 


4 


1458 Seneca's Briefe. 


die Sache genauer. Es ift wahrfcheintich, daß ein Uebel er- 
folgen wird: — aber wahr ift cd darum noch nicht. Wie 
Vieles ift unerwartet gefommen? wie Vieles Erwartete ift 
‚nie erfchienen ? Auch wenn es wirklich bevorfteht, Was hilft 
es, feinem Schmerz entgegen zu gehen? Du wirſt inn früh 
genug empfinden, wenn er einmal da feyn wird; bie dahin 
verfprich Dir das Beſſere. „Was Du damit gewinneft 2’! Zeit! 
Vieles kann inzwijchen eintreten, wodurdy die heranrüdende 
Gefahr, fo nahe fie Dir gefommen, aufgehalten, gehoben, 
oder auf ein anderes Haupt abgeleitet werden kann. Mitten 
aus Flammen öffnet ſich off ein rettender Ausweg: Manchen 
haben fintende Trümmer fanft zur Erde getragen: nicht fel- 
ten ward dem Schwert noch über dem Naden Einhalt gebe: 
ten: Mancher überlebte feinen Henker. Anch das Ungläd 
behanptet feinen Unbeſtand. Vieleicht tritt es ein, vielleicht 
tritt ed nicht ein; inzwifchen ift ed noch nicht da: drum ſtelle 
Die das Beffere vor. Oft, ohne daß Vorzeichen erfchienen, 
weiche ein Unheil verfündigten, fchafft die Seele fich nichtige 
Bilder, oder wendet ein Wort von zweifelhafter Bedeutung 
ins Schlimme, oder denkt fich den Groll eines Anderen grö— 
Ber als er ift, und fragt nicht, wie fehr er erzürnt fey, fon- 
dern was der Erzürnte vermöge. Es wäre Fein Grund mehr, 
im Leben zu verweilen, es wäre des Elendes Fein Maas, 
wenn man fürchtete, was man alles fürchten Fönnte. "Hier 
delfe bie Beisheit; hier ſetze Didy mit flarfem Beifte auch 
Aber bie Furcht des Augenſcheinlichen weg, wo nicht, fo ver: 
Teide Schwäche mit Schwäche, uud dampie Ve Tritt 
er Soffnung. Bon Allem, was wie fürdgten, IR TE in 
wiR, Daß ed nicht noch gewiſſer wäre , daR Lab Bertätet 


Dreisehnter Brief. 1459 


ausbleiben und die Hoffnung uns täufchen kann. Alſo Hoffs 

nung und Furcht prüfe genau, und fo oft Alles ungewiß ift, 

begänftige Did, ſelbſt; glaube, Was Dir Tieber if. Auch 

wenn Du mehr Stimmen haft für die Furcht, fo neige Dich 
nichts defto weniger auf die andere Seite, und höre auf, Did) 

zu beunruhigen. Und dabei erwäge, daß der größere Theil 

der Menfchen, ohne daß ein wirkliches Weber fie drückt oder. 
mit Gewißheit ihnen bevorfteht, ängſtlich und raftlos ſich ges 

berdet. Denn Niemand, einmal aufgeregt, gebietet ſich Ruhe, 

oder bringt feine beängftigenden Vorftelungen auf die Wahr⸗ 

Heit zurück. Niemand fpricht: „der Gewährsmann verdient 

feinen Gtauben; er hat es erdichtet, ober er hat fich belügen' 
Taffen. Wir überlaffen ung dem rzählenden; wir zittern 

vor Zweifelhaftem ald vor Gewiſſem; wir halten Fein Maaß, 

und eine kleine Bedenklichkeit wird fogleich zur Angſt. 

Doch ich fihäme mich, fo mit Dir zu fprechen, und mit 
fo wohlfeiten Mitteln Did) Fräftigen zu wollen. Laß Andere 
fagen: vielleicht komme es nicht! Sage Du: und Was ift 
e6 denn, wenn es. kommt? Wir werden fehen, Wer jiegen 
wirds vielleicht ift ed für mid, wenn ed kommt, und es 
wartet meiner ein Tod, der mein. Leben adeln wird. Der 
Schierlingsbecher hat des Socrates Größe vollendet. Ent⸗ 
winde dem Cato ſein Schwert, das die Freiheit ihm wahrte, 
und Du haſt ihm einen großen Theil feines Ruhmes ent⸗ 

‚zogen. — Wozu aber eine fo lange Erinunterung. da Du 
nur erinnert, nicht anfgemuntert u wreden vrantıtt R 
DBeq, ben ich Dich führe‘, iſt nicht verkditeten WOW SS 

wer Natur: Du bift geboren zu Dem; was W WS- 
medr erhöße und verfcdyönere dein Suter. 


- 


1460 | Seuera s Beicke. 


Ich ſchließe nun, und drücke meinem Brief das Siegel 
auf, das heißt, ich vertraue ihm irgend ein großes Wort an, 
um es Dir zu überbringen. „Unter andern liebefn bes Tho: 
ren ift auch Dieß: er fängt immer an, zu leben.“ Weberlege, 
mein trefflicher Lucilius, Was diefes Wort fagen will, und 
Du wirft finden, wie fchmählich die Gedankenloſigkeit der 
Menfchen ift, welche jeden Tag einen neuen Grund zu ihrem 
Leben legen, und audy am Ausgange nad aufs Neue anfan 
gen, zu hoffen. Betrachte die Menſchen um Dich her: Du 
wirft Greife treffen, die ſich recht ernftlich anſchicken zur Ber 
werbung um Aemter, zu weiten Beifen, zu Handelsunterneh⸗ 
mungen. Was ift häßlicher, als ein Greis, der zu leben an⸗ 
fängt ? — Ich würde ben Gigenthümer dieſes Ausfpruchs 
nicht beifügen, wenn ed nicht Epicur wäre, deſſen - wohlbes 
kannte Sprüche ich zwar font anzuführen und mir anzueignen 
mir erlaube, ‚unser welchen aber vorliegender minder befannte 
ſich nicht befindet. 


Vierzehnter Brief. 


Weife Sorge für das Wohl und die Sicherheit 
des Körpers, 

Ich geftehe, es ift ung Liebe für unfern Körper angebo: 
zen ; ic) geftehe, daß wir Vorforge für ihn tragen follen ; ich 
laͤugne nicht, daß wir ihm Schonung und Pflege fchufdig find: 
aber daß wir fein Sclave ſeyn follen, Täugne ich. Denn der 

Scave Bieler ift, Wer feines Körpers Sclave ift, Wer für 
n zu Angfitich beforgt if, Wer ur a Uled veyuit, ie 


Vierzehnter Brief. 1461 


müſſen uns nicht fo verhalten, ald ob wir um des Körpers wil: 
fen leben müßten, fondern ale ob wir es ohne ihn nicht könne 
‚ten. Eine übertriebene Liebe zu demfelben beunruhigt uns 
durch Schreckniſſe, beläfligt uns mit Sorgen, giebt ung Bes 
Schimpfungen preis. Das Ehrenhafte ift Den wohlfeil, dem 
der Körper zu theuer if. Man nehme ihn in redye forgfäls 
tige Obhut, doch fo, daß, wenn Vernunft, wenn Ehre, went 
Sseundespflicht es fordert, man bereit fen, ihn den Flammen 
zu überantworten. Gleichwohl folen wir, fo viel wir ver: 
mögen, auch Ungemächlichkeiten, nicht blos Gefahren, vers 
meiden, und ins Sichere uns zurückziehen, indem wir darauf 
deuken, wie wir ferne halten mögen, was zu fürchten iſt. 
Deſſen aber ſind drei Arten, wie mich dünkt: man fürchtet 
Mangel, man fürchtet Krankheiten, man fürchtet die Gewalt: 
ftreiche des Mächtigern. Von allen Diefem erfchüttert und 
nichts mehr, als womit fremde Gewalt ung bedroht; denn es 
kommt mit großem Beräufch und Lärm. Gene natürlichen 
Uebel, tie ich nannte, Mangel und Krankheiten, fchleichen 
fich ftil heran, ohne ſchreckenden Eindrud auf Aug’ und Ohr, 
Bemwaltig aber ift das Gefolge diefes dritten Uebels: Stahl 
und Flammen hat cs um fih, und Ketten und eine Schaar 
Beftien, um fie auf Menfchenleiber zu heben. Da treten 
Kerker, Kreuz, Folter, eiferne Haken Dir vor die Seele, und 
jener Pfahl, der Durch des Menfchen Mitte getrieben, zum 
Munde heraustritt, und Glieder, zerfeht durch auseinander 
vennende Wagen, und jenes Hemde, durchwoben und beftris 
chen mit Nahrung der Flammen und was fonft noch graufame 
Wuth/⸗ erfonnen hat. Es ift fonach nicht zu vermundere, wen 
die Furcht dor einer Sache fo grob iX, \eren MOmitins 
Geueca, 136 Shan. nz 


1462 Seneca’s Briefe. 


keit groß and deren Zuräftungen gräßlich find. Wie nämlich 
der Folterer um fo mehr ausrichtet, je mehr Werkzeuge der 
Qual er zur Schan legt — denn von dem Anblick wird über: 
wättigt, auch Wer dem wirklichen Leiden widerftanden hätte — 
fo find auch von.allen den Dingen, welche die Seele beugen 
und bezwingen, diejenigen die wirkfamften, weiche der Ans 
ſchauung etwas zu bieten haben. Jene Drangſale find nicht 
minder ſchwer, ich meine Hunger und Durft, innerliche Ge- 
ſchwüre, Zieberhige, welche die Eingeweide ausdörrt; aber 
fie find unfichtbar,. fie tragen nichts vor fi her, was dro- 
hend in die Augen fiele. Diefe dagegen flegen, wie große 
Kriegsheere, ſchon durch ihren Anblick und ihre Rüftung. 
Laß uns daher auf unferer Hut ſeyn, und Niemand zu nahe 
treten. Bald ift es das Volk, welches wir zu fürchten ha= 
ben; bald find es, wenn die-Staatöverfaffung von der Art 
ift, daß Altes vom Senate ausgeht, die in deinfelben einfluß⸗ 
reichen Männer; bald find es Einzelne, denen die Gewalt 
bes Volkes — gegen das Volk — gegeben iſt. Alle Diefe zu 
Freunden zu haben, wäre fehr ſchwerz es genügt, ſie nicht 
zu Feinden zu haben. Sonach wird der Weife nie den Zorn 
der Mächtigen hervorrufen; er wird ihn vielmehr zu meiden 
ſuchen, wie.auf einer Seefahrt den Sturm. Als Du nad) 
Sicilien reisteft, febteft Du über Die Meerenge. Der unbe⸗ 
ſonnene Steuermann verachtete die Drohungen des Südwinds 
— denn diefer iſt's, welcher die Siciliſchen Gewäfler empört 
zud in ZBirbein umtreibt — er hielt ſich nicht au das Tinte 
Aſer, fondern an dasjenige,\in deſen Nähe Charttis tie Ges 
der in ihren Strudel zieht. Aber der Behutinme Krank 
e der Gegend Kundigen, wie fäysd wit ter Stun vn 


Vierzennter Brief. — 1463 


halte, welche Zeichen aus tem Gewölke zu entnehmen ſeyen, 
und nimmt feine Richtung ferne von jener durch ihre Wirbel 
berüchtigten Gegend. Daffelbe thut der Weife: er meidet dem 
Gcwaltigen, der ihm fchaden Eöunte, hütet fich aber, daß er. 
nicht icheine ihn zu meiden. Denn zum Theil "beruht unſere 
Sicherheit auch daranf, daß wir es nicht Wort haben, wie fehr 
wir dieſelbe fuchen; dein Was man flicht, verdammt man. 
Wir haben alfo darauf zu denken, wie wir uns vor dem 
Menge fihern mögen. Fürs Erfte müffen wir nie-dad Gleiche 
mit ihr begehren (denn unter Mitbewerbern herrfiht Bank); 
hiernächft Nichts befiten, auf was ein Anderer lauern und es 
zu feinem großen Vortheil und entreißen könnte. Trage am 
Deinem Leibe möglichſt wenig, was zur Beute werden könnte. 
Niemand oder fehr Wenige frachten nach Menfchenbfut um 
dieſes ſelbſt willen: Mehrere find, die rechnen, als die haffen. 
Den Nackten läßt der Rauber ziehen: auch auf umlagerter 
. Straße wandelt der Arme im Frieden. 

Drei Dinge find es ferner, die man, nad einer altem 
Regel,-meiden muß: Haß, Neid, Verachtung. Wie Dieß ge= 
ſchehen Eönne, zeigt allein die Weisheit. Denn ſchwer ift Bier 
das Mittelmaas zu freffen, und es ift zu beforgen, es möchte 
die Furcht vor dem Neide uns in Verachtung gerathen lafe 

fen, und wir möchten, indem wir feibft nicht hoch auftreten 
wollen, die Leute glauben machen, ſie dürfen uns auf bie 
Köpfe treten. Für Diele, die ſich fürchten Eonnten, war 
Die die Urfache, Daß fle ſich wirklich fürchten wugten. Br 
hen wir und alfo von alten Seiten zmüt niit wir Er 
Der eö, verachtet, als verdächtig pa gl. DU RN RUE 
aebme man feine Zufucht. dieſe WiÜentaott SE 


1464 Seneca's Briefe. 


Mriefterbinde *) nicht nur bei den Guten, fondern anch bei 
den Halbfchlechten. Denn bie Öffenstiche Redekunſt, fo wie 
jedes Andere, mas auf das Volk wirkt, hat feine Gegner; 
die Philofophie aber,. ruhig und nur mit ſich befchäfttat, kann 
nie in Verachtung finfen; ihr geftehen alle anderen Wiffen- 
schaffen, auch bei den Schlechteſten, Ehre zu. Nie wird die 
Nichtswärdigbeit fo fehr erftarken, nie wird fle fich fo gegen 
“die Tugenden verfchmören, dat der Name Philoſoph nicht 
ein ehrwiürdiger und Heiliger bfiebe. Webrigend muß bie 
Philoſophie ferbft in anfpinchlofer Stille und Ruhe betrieben 
werden. „Aber wie?’ fragft Du; „philoſophirt etwa M. 
Cato nur in befcheidener Stille, indem er einen Bürgerkrieg 
mit feiner Stimme niederſchlug? indem er ſich mitten zwi: 
fhen die Waffen würhendey Parteihäupter ſtellte? indem er, 
während Andere bei Pompejus anftoßen, Antere bei Cäfar, 
beide zugleich gegen ſich aufbringt?“ Man Pönnte allerdings 
darüber rechten, ob der Weiſe in jenen Zeiten au den öffents 
—Tichen Gefchäften hatte theiinehmen follen. Man könnte fra: 
gen: „was willft du denn, M. Cato? Es handelt ſich nun 
nicht mehr um die Freiheit, fie ift längft untergegangen; nur 
ob EAfar oder Pompejns den Staat befisen folle, fragt fich 
noch. Was Haft mit diefem Zanfe du zu thun. Keine der 
Parteien ift die deinige. Es handelt ſich um einen Herrn: 
was kann dir daran liegen, welcher von beiden fliegt? Es 
Bann der Beſſere fliegen; doch nothwendig wird zum Schlechs 
teren, Wer gefiege hat.“ Ich berührte hier die lezte Role, 


») Eine Kopfbinde (infula), welche bie Perfon dei Priejters 
oder des Schutzflehenden, ber fie teug, unoerlegtich machte, 


Vierzehnter Brief. 1465 


weiche Cato fpielte: altein auch die früheren Sahre waren 
nicht von der Art, un ten Weifen die Theilnahme an einer 
Staaisverwaltung zu erlauben, die in Räuberhände gefallen 
war. Was har Eato Anderes gethan, als feine Stimme laut, 
aber vergeblidy erhoben, intem er vom Volke bald auf den 
Händen getragen, bald vollgefpucdt und vom Forum wegges 
ſchleppt, bald aus dem Senat in den Kerfer geführt ward ? 
Doc) ein antermat davon, ob der Weife auch vergebliche 
Mühe ſich geben foll: für jezt weife ich Dich zu Denjenigen, 
welche von Öffentlichen Gefchäfren fich ausgeichloffen, und ſich 
zurückge zogen haben, um die Wiſſenſchaft des Lebens zu pfle⸗ \ 
gen, und Gefege zu entwerfen für das Menfchengefchlecht, 
ohne irgend einem Machthaber zum Anſtoße zu gereichen. 
Der Weife wird nie die herrfchende Sitte ſteren: er wird 
nie durch eine befremdende Lebensweife Des Volkes Aufmerk—⸗ 
ſamkeit erregen. Wie nun? wird aljo Der unfehibar gefichert 
feyn, wer diefe Vorfchrift befolgt? Verbürgen kann ich Dir 
Dieb eben "fo wenig, als den Mäßigen Gefundheit: und 
Doch iſt Mäßigung die Duelle der Gefundheit. Auch im Hafen 
geht hie und da ein Schiff unter: was, dünkt Dich, kann 
nicht Alles auf hoher See geichehen? Wo nicht einmal die 
Muße Sicherheit gewährt, um mie viel näher müßte die Ges 
fahr dem Vielgefchäfrigen, Vieles unternehmenpden ftehen ? 
Bisweilen kommen Unfchufdige um; Wer wollte es längnen ? 
Doch häufiger die Schuldigen. Der Fechter bleibt ein Künffe 
fer, auch wenn ihn feine Rüftung nicht ſchüzte. Endlich ſieht 
der Weife in allen Dingen auf die Abſicht, nicht auf den Er⸗ 
folg. Das Eingehen in eine Sache Keht in unierer Gunst) 
Aber den Ynsgang entſcheidet dag Bid, dewihh em SS 


466 Seneca's Briefe. 

über mid einräume. Es kann mir Plagen, kann mir Wibers 
wärtiges zuſchicken. ber mein Herr ift darum der Raub: 
wmörber nicht, wenn er mich tödtet. 

Nun ſtreckſt Du die Hand aus, die tägliche Velftener zu 
empfangen. Wohl, ich will ſie Dir mit einer goldenen füllen. 
Und weil ich von Golde fpreche, fo vernimm, wie Gebrauch. 
and Nutzung deffelben Dir um ſo werther werden kann. „Der 
genieft des Reichthums am meiften, der am menigften des 
Reichthums bedarf." Du wilft, ich foll ten Gewährsmann 
nennen. Damit Du fiehft, wie ich fo gar nicht eigennüßig 
Din, Hab’ ich mir vorgenommen, Fremdes zu loben. Es find 
Cpicurus Worte, oder Metroder's, oder irgend Eines aus je- 
mer MWerkftätte. Was liegt auch daran, Wer fie fprach? 
Sie find zu Alten gefprochen. Wer des Reichthums bedarf, 
fürchtet für ihn; aber Niemand hat Genuß von einen Site, 
Für welches er in Sorgen ift: immer trachtet er, noch mehr 
Hinzuzufügen, und indem er auf deffen Vermehrung denkt, 
wergißt er, es zu nüben: er läßt fih Rechnungen flellen, Läuft 
Bad Forum *) aus, blättert im Zinsbuch, und wird aus dem 
Herrn der Dermwalter. 


Sünfzehbnter Brief. 
Meber Leibesübungen, als Mittel zur Erbaltung 
der Geſundheit. 
Es war eine alte Sitte, die ſich bis auf meine Seit er: 
Abielſt, bie Briefe mit den Worten anzufangen: „Wenn Da 


7 280 bie GSedgefhäfte gemacht warten. 


Sünfzehnter Brief. 1467 


Did wohl befindeft, fo ift ed aut; ich befinde mich wohl.“ 
Mit Recht fagen auch wir: „wenn Du phifofophirft, fo ift es 
gut.“ Denn Dieſes erft heißt, ſich wohl befinden; ohne Die- 
fes ift die Seele krank; und auch der Körper, wenn er noch 
fo Eräftig iſt, iſt nur in derfeiben Weile gefund, wie es ber 
Körper eines Wahnfinnigen und Verrückten if. Alſo für 
diefe Geſundheit forge zunächft: fodann auch für jene andere, 
welche Dir nicht theuer zu ftehen fommen wird, wenn es 
Dir blos darım zu thun iſt, gefund zu ſeyn. Denn feine 
Arme üben, feine Schultern breit machen, feine Bruſt ftählen, 
ift eine chörichte, am wenigften für einen Gelehrten fchidkliche 
Beſchaͤftigung. Schläge die Athletenmaſt auch noch fa gut 
bei Dir an, fchwellten fich Deine Muskeln and, noch fo Erdfs 
tig, Du würdeft doch nie die Kräfte eines feiften Stierd, noch 
fein Gewicht erreichen. Zudem bedrüct und tähmt den Geift 
eine größere Bürde des Körpers. So viel Du alfo Lannfl, 
befchränfe den Umfang Deined Körpers und mahe Deinem 
Geifte Raum. Viele Befchwerden begleiten Den, der nur 
für [athletifhe) Ausbildung des Körpers forgt: zuerft bie 
angeftrengten Mebungen, wodurch bie geiflige Kraft ausge⸗ 
trocknet und für ein anhaltendes und firengeres Studiren 
unbrauchbar gemacht wird; ſodann iſt die allzureichliche Nah⸗ 
rung der Feinheit des Geiſtes nachtheilig. Ferner find es 
Sclaven der fchlechteften Art, die man- zu Lehrern annimmt, 
Menſchen, nur mit Del und Wein befchäftigt, die ihren Tag 
nach Wunſch hingebracht, wenn fie tücdhtig gefchwigt, und an 
die Stelle der vergoffenen Säfte einen reichlichen Trunk durch 
die vertrocknete Kehle eingeführt hohen, Ruten Her SS 
Shwipen iſt das Leben eined WRagentranten. — "ITS 


1466 Seneca's Briefe. 


giebt Uebungen, die eben ſo leicht als kurz ſind, und, indem 
fie dem Körper ſofort Erholung verſchaffen, die Zeit ſchonen, 
auf welche vorzüglich Rückſicht zu nehmen iſt: Laufen, Ber 
wegungen der Arme mit Gewichten, Sprünge, entweder in 
die Höhe, oder in die Weite, oder kürzere nad) Art der” 
hüpfenden Sulier (Marspriefter), oder, um eine unedlere 
Dergleihung zu gebrauchen, der Walker. Wähle hiervon, 
was Du willſt; durd Gewohnheit wird es Dir leicht werben. 
Was Du aber and, thun magft, Fehre bald vom Körper wies 
der zum Geifte zurück: diefen übe Tag und Nacht; mäßige 
Anftrengung erhäft ihn. An diefer Uebung hindert weder 
Hitze noch Kälte, nicht einmal das Alter. Für das But for: 
ge, welches durch die Länge der Zeit beffer wird. Ich ver: 
ange nicht, daß Du immer über Deinen Büchern oder Dei: 
nen Papieren Tiegen folfl: man muß dem Geifte Swifchens 
räume gönnen, dach, daß er nicht erfchlaffe, fontern ſich erhole. 
Wenn man fi tragen läßt, empfindet der Körper einige Ers 
fchüfterung, die dem Studiren nicht hinderlich ift: man kann 
lefen, dictiren, ſprechen, zuhören, welches Altes felbft beim 
Spazierengehen fi thun laͤßt. Auch die Anſtrengung der 
Stimme ift eine nicht zu veradhtende Uebung; jedoch mißrathe 
ih Dir *) jenes Lünftliche Heben und Sinkenlaſſen derſelben 
nad) der Melodie und dem Zeitmaas. Wenn Du freilich Luft 
haben follteft, fogar. zu Ternen, wie man fpazieren gehen fol, 
wohlan, nimm jene Leute an, die der Hunger neue Künfte 
gelehrt hat: es wird lich gleich Einer finden, der Deine Schritte 
zegelt, und beim Effen Dir auf Baden und Zähne Acht giebt, 


I YIB zu ben mäßigen Pedantereien der Kortoreniiole gehörig, 


Fünfzehnter Brief. 1469 


md in feiner Dreiftigkeit immer weiter gehen wird, je mehr 
Deine geduldige Leichtgläubigkeit ihm Vorſchub thut. „Alſo 
fol die Stimme gleih mit Schreien und mit der höchften 
Anftrengung Beginnen 2° Es ift fo natürlich, allmätig lebhaft 
zu werden, daß auch Streitente mit Spreden anfangen und 
in das Schreien übergehen. Niemand erhebt gleich den Noth⸗ 
fhrei: Quiriten, zu-Hälfe! Je nachdem alfo die Stim« 
mung Deines Gemüthes es mit fi) bringt und Deine Zunge 
Did) mahnt, deciamire abwechfelnd bald heftiger , bald. gelafs 
fener. Gedämpft fleige Deine Stinme, wenn Du ihr Ein: 
hart thuft, herab, ſtatt zu fallen: fie behaupte immer die 
Mäfigung Deffen, der fie lenkt, und laffe fih nicht in ein 
rohes und bäurifches Toben aus. Deun wir gehen ja nicht 
darauf aus, die Stimme feldft, fondern durch die Stimme 
ung au üben. . 

Somit habe ich Dir fein kleines Gefchäft abgenommen. 
Möge zu diefem Dienfte, den ich Dir erwiefen, noch eine Kleine 
Gabe, ein nicht unwillfommenes Gefchent *) hinzutreten. Es 
ift der treffliche Lehrſatz: „Ein unweifes Leben ift ein uners 
freuliches, aͤngſtliches; es ift gänzlich abhängig von Dem, was 
fommen wird.‘ Mer Dieb geſagt hat? Derfelbe, der das 
Obige. Welches Leben glaubt Du wohl daß hier ein un⸗ 
weiſes genannt werde? Etwa das eines Baba oder SIflon ? **) 
Neiu, unfer eigenes Leben heißt fo, fo lange eine blinde Bes 
gierde uns zu fchädlichen, wenigflens nie zu fättigenden Din⸗ 
“ *) Munus gratum mit Muretus und Sruter. Schweighiufers 

unus ‚gradus iſt mir ımverfiändlich. 
**) Zwei und unbefaunte Menfchen, aber var AHA Werüsı- 
tigte Zhoren zu Seneca's Zeit. 


1470 Seneca's Briefe. 


gen hinreißt ; die wir genug hätten, wenn und etwas genng 
ſeyn könnte; die wir nicht bedenfen, wie füß ed fey, nichte 
zu begehren, wie groß, volle Genüge zu haben und vom Gfüde 
nicht abzuhäugen. Grinnere Did dann oft, mein Lucilius, 
wie vieled Du erreicht haft; und wenn Du noc Viele fiehft, 
die Dir vorgehen, fo gedente and, der Vielen, die nad) Dir 
find. Wenn Du dankbar ſeyn willft gegen die Götter und 
genen das Schickſal Deines Lebens, fo denke daran, über wie 
viele Du hinausgefommen bifl. Doc, was gehen Dich. Au: 
dere an? Da bift über Dich ferbft hinaus. Gebe Dir’ eine 
Sränze, welche Du nicht überfchreiten Eönnteft, auch wenn 
Du woliteft: einmal werten fie doch von Dir weichen, jene 
tückiſchen Güter, die immer höher ſchäzt, Wer fie hofft, 
als Mer fie erreicht hat. Wäre etwas Haltbared an ihnen, 
fo würden fie irgend einmal fätfigen: fo aber veizen fie nur 
den Durft, indem wir fie in nnd gießen. Es wird anders 
werden mit al dem biendenden Prunk. Und worüber der 
Zukunft geheimnißvolles Loos entfcheitet, warum follte ich 
vom Schickſal erhalten wollen, ed mir zu gewähren, flatt von 
mir felbft, es nicht zu verlangen? Warum follte ich es auch 
verlangen ? Warım vergeffen der menſchlichen Gebrechlichkeit? 
Mozu Arbeit auf Arbeit häufen? Siehe, diefer Tag ift ter 
teste; und ob er es nicht ift, fo ift er nahe dem Testen. 


Schdz;ehenter Brief. 
Augen der praktifhen Philofophie. 
E⸗ iR Dir Bar geworden, ich weiß ed, mein Lucilius, 
228 man nicht glüctic , nicht einmal erträglin \chen tan, 


Sechszehenter Brief. 1471 


ohne das Studium der Weisheit; und daß ein glückliched Le⸗ 
ben die Frucht nur des vollendeten Studiums derfelben, eitt 
erträglicdhes jedoch fchon die des begonnenen fey. Dennoch muß 
Dieß, fo Far es ift, noch feſter begründet, und durch tägli— 
ches Erwägen uns noch fiefer eingeprägt werden. Die erd- 
Gere Aufgabe ift, WVorfäge zu bewahren, als das Gute ſich 
vorzufegen. Man muß beharren, man muß durch mmabläffis 
ges Streben fih Eräitigen, bis zum guten Sinne wird, was 
guter Wille war, Du haft bei mir deinnach Leine weitläufti= 
gen Derjicherungen nöthig: ich fehe, Daß Du ſchon weit ge: 
kommen biſt. Sch weiß, von wannen fommt, was Du fchreibft; 
es ift nichts Erhencheltes, nichts Gefchminkte‘, Doch ver: 
hehle ich Dir nicht, was ich denke: ſchon habe ich Hoffnung 
von Dir, Zuverſicht noch nicht. Ich wünſche, es wire bei 
Dir daffelde: Du darfit. nody nicht fo rafch und fo leichthin 
Dir glauben; eutfalte Dich vor Die ſelbſt, erforfdye und bes 
obachte Dich auf alle Weife. Darauf fieh vor Allem, ob Zu 
in der Phitofophie oder im Leben felbft weiter gefommen 
ſeyſt. Die Philoſophie ift nicht ein Kunſtſtück, um daffelbe 
vor dem Volke zur Schau zu tragen: fie befteht nicht in 
Worten, fondern in Handlungen. Sie wird auch nicht ges 
braucht, um unter angenehmer Unterhaltung den Tag hinzu⸗ 
bringen, und, wenn wir Muße haben, vor langer Weile uns 
zu bewahren: fie bilder und geftaltet den Geiſt, fie ordnet 
das Leben, ſie regelt die Handlungen, fie zeigt, was zu thun 
und zu laſſen fey, fie ſizt am Steuerruder, und lenkt die Fahrt 
durch Fluthen und Klipnen. Ohne fie iſt Niemand forgens 
frei. Unzähliges ereignet fidy zu jeber Stute, wad Wen ’Iute 
erfordert, ber bei ipr zu fuchen AR, — Dia wm Rt SS 


1472 Eeneca's Briefe. 


einwenden: „Was nüzt mir die Philofophie, wenn es ein 
Schidial giebt? Was nüzt fie, wenn eine Gottheit die Welt 
regiert? Was nüzt fie, wenn der Zufall gebieter ? Denn ab: 
geändert kann tas Gewifle nicht werden, und. gegen das Uns 
gewiſſe laͤßt fid) nichts vorktehren, wenn entweder ein Gott 
meinen Entfchließungen zuvorgefommen iſt und befchioffen 
Hut, wag ich thun foU, oder ein Verhängniß meinem MWillen 
nichts überläßt. Mag es dad Eine oder das Andere feyn, 
mein Zucilius, oder may Alles zugleich feyn — wir müffen nach 
Weisheit ftreben! Ob das Verhbangniß feinem unerbi:rtiichen 
Geſetze uns unterworfen hat, ob ein Gott das AU nad) ſei⸗ 
nem Willen prdret, ob ohne Ordnung der Zufall die menfchs 
lichen Dinge in Bewegung fezt und hin und Ger wirft — die 
Philoſophie muß uns in ihren Schug nehmen, Sie wird und 
mahnen, ter Gottheit gerne zu gehorchen, dem Schickſal hart⸗ 
nädig au widerſtehen: fle wird Dich lehren, Gott au folgen, 
den Zufall zu ertragen. — Wiewohl, wir haben jezt nicht 
auf die Betrachtung überzugehen, Was uns zuflehe, wenn 
eine Vorſehung das Ruder Der Dinge führt, oder wenn Die 
Kette der Berhängmffe uns dahin fchleppt, oder wenn der 
blinde Zufalt des Augenblicks waltet: ich komme für jezt auf 
Das zurück, daß ich Dich erinnere und ermahne, das GStres 
ben Deines Geiftes nicht ſiuken, micht erkalten zu Laffen. 
Halte es feft, laß es flerig werden, Damit zur Eigenfchaft 
werde, was erft nur Streben wer. 

Gleich Anrangs haft Du, wenn ich Dich recht Benne, Dich 
darnach umgejehen, was wohl diefer Brief für ein YUngebinde 
irbringen werde. Durdyfudy ihn, und Du wirft es finren 
Da Soft aber nicht Urface meine Treigedigteit u temuse 


Sechszehenter Brief. . 1473 


tern; noch immer übe ich fie auf fremde Koften. Doch — 
was fage ih, auf fremde Koften? Was irgend jemand 
Gutes fagte, ift mein. So auh_Dieh, was Epicurus ands 
ſprach: „Wenn Du nach der Natur lebt, wirft Du nie arm, 
wenn nach dem Wahn, nie reich fern.‘ Ein Geringes 
verlangt die Natur, der Wahn Ungemeſſenes. Man häufe 
anf Did), was viele Begüterte zugleich beſaßen; dag Glück 
erhebe Didy weit über die Verhältniſſe des reichflen Private 
mannes, ed bedede Dich mit Gold und umkleide Dich mit 
Purpur; ed verfege Dich in eine foldhe Fülle von Herrliche 
‚Seit, daß Du die Erde birgft unter Deinen Marmorbauten, 
Daß Du im Stande bift, Kleinodien nicht nur zu befißen, 
fondern daran zu treten; *) dazu ollen noch Bildwerke fonts 
men und Gemälte, und was fonft alfed die Künfte für ten 
Luxus fchaffen — Du wirft von Diefem nur lernen, Orößes 
res zu begehren. Natürliche Berürfniffe haben ihre Grän— 
zen: was der Irrwahn erzeugt, hat nicht, wo es ende. Mer 
auf der Straße geht, findet ein Ziel: das Irren iſt endlos. 
Darum ziehe Didy zurück von dem Eiteln; und wenn Du 
wiſſen wilift, ob, wad Du verlangft, Gegenftand einer natür⸗ 
lichen oder einer blinden Begierde fen, fo ſiehe, ob es damit 
irgendwo fein Bewenden haben werde. Wenn, fo weit Du 
gehft, doch immer eın Weiteres übrig bleibt, ſo wiſſe, daB es 
nichts Natürliches iſt. 


*) Anfrielung auf die koſtbaren Moſaikfußböden aus edelm 
Geſtein. 


1474 Seneca's Briefe. 
Siebenzehenter Brief. 


Nach Weisheit ift vor Allem zu fireben: die Sorge 
um äußere Güter darfdaran nicht hindern. 


Wirf jene Dinge alle von Dir, wenn Du vernünftig bift, 
oder vielmehr, um es zu werden; umd flrebe in vollem Lauf 
und aus allen Kräften einem weifen Sinne zu. ST Etwas,’ 
das Dich aufhaͤlt, fo wickle Dich los oder fehneitde ed ab. — 
„Vermögens: Angelegenheiten ,'' fagft Di, „„befchäftigen mid) 
noch: ich wünfche fie fo zu ordnen, daß ich Habe, was ich 
brauche, ohne Gefchäfte zu treiben; Damit weder die Armuth 
mir, noch ich irgend Jemand zur Laſt ſey.“ Indem Du fo 
fprichft, fcheint es, daß Du die Bedeutung und die Wirkfane 
keit des Gutes, worauf Du denkſt, noch nicht erkannt haft. 
Du fiehft zwar im Allgemeinen ein, wie viel die Philoſophie 
nüße: aber im Einzelnen haft Du Dich davon nicht gründlich 
genug überzeugt, und weißt noch nicht, wie viel fie uns überall 
hilft, wie fie, um Cicero's Worte zu gebrauchen, „in den 
wichtigften Dingen uns fördert, und zu den geringrügigften 
ſich herabläßt.“ Folge mir, ziehe fie zu Nathe! Sie wird 
Dich abmahnen, über Deinen Rechnungen zu Üben. Denn 
Das ifl’3, was Dir fuhft, und was du mit jenem Aufſchub 
erfangen wilfft, daß Du die Armuth nicht zu fürchten habeſt. 
Wie aber, wenn fie zu wünſchen wäre? Schon Vielen ift im 
Etreben nad, Weisheit ihr Reichthum hinderlich geivefen ; 
der Arme ift ungehindert, ift forgenirei. Wenn die Trompete 
ertönt, fo weiß er, daß es nicht ihm gilt: erhebt fid, irgentmwo 

ein Rothgefchrei, fo ſucht er, wie er davon komme, nicht, 
va8 er fortbringe. Geht es zu Sciie, a 6 rein Getöfe 


Siebenzehenter Brief. 145 
im Hafen; Peine Begleitung füllt gefchäftig das Geſtade: er 
ift nicht unigeben von einem Schwarme von Sclaven, zu de⸗ 
ren Fütterung man den überfeeifchen Gegenden Zruchtbarkeit 
wünfchen muß. Es ift leicht, wenige und wohlgezogene Mäs 
gen zu befriedigen, bie nichts weiter begehren, ald gefüllt zu 
werden. Wenig koſtet der Hunger, viel ein ekler Gaumen. 
Die Armuth beguügt fich, die naͤchſten Betürfniffe zu befries 
digen. Was ift es alio, daß Du Dich weigern follteft, die 
Armuth zur Hausfreundin anzunehmen, deren Lebendweife 
der vernünftige Reiche nachahmt? Willſt Du für den Geift 
feben, fo mußt Du arnı feyn, oder dem Armen ähnlich. Dein 
Streben kann nicht gedeihlich feyn ohne Genügfamkeit. Ge: 
nügfamfeit aber ift freiwillige Armuch. Hinweg alſo mit 
Entfchuldigungen, wie diefe: „So viel genug ift, habe ich. 
noch nicht; wenn ic, es zu diefer Summe gebracht Haben 
werde, fo werde ich mich ganz der Philofophie hingeben.‘* 
Gerade, was Du aufſchiebſt, was Du erſt nach anderen Din: 
gen zu thun Dir vornimmſt, follteft Du vor allem Anderen 
thun; damit follteft Du beginnen. „Ich will mir verfchaffen, 
wovon ich lebe,’ fagft Du. Lerne auch zugleich, ed zu ver- 
fchaffen. Werbietet Div Etwas, gut zu leben — gut zu flers 
ben ,. verbietet Dir Nichte. Armuth fol und nicht von der 
Philoſophie abrufen, nicht einmal Die Noth. Denn Wer nad) 
diefem Ziele eiff, muß fogar Hunger erfragen: ertraͤgt man 
ihn dorh bei Belagerungen. Und was ift dort der Kohn die⸗ 
ſes Duldens anders, als nicht in des Siegers Hände zu fals 
len? Hier aber, welch ein höherer Kahn, wo ung verheißen 
wird, ewig frei zu feyn, vor keinem Menfchen, teinen Suse 
zittern zu dürfen? Dazu follte man auch yaagetd 08 SSR 


1476 Seneca's Briefe. 


gen ſuchen. Kriegsheere haben Mangel an allen Dingen ers 
ragen, haben von rohen Wurzeln gelebt, haben mit Dingen, 
die zu nennen fchon eferhaft ift, ihren Hunger befchwichtigt. 
Und dieſes Altes ertrugen fie — wunderbar genng — für die 
Herrſchaft eines Andern: und man follte fich nicht entfchlies 
fen, die Armuth zu erdufden, um feinen Geift von Thorheis 
ten zu befreien? Es ift alfo nicht Noch, erft zu fammeln; 
zur Dhitofophie Fann man auch ohne Reifegeld gelangen. 
Dder willft Du erft, wenn Du alles uebrige ſchon haſt, hin⸗ 
terher auch die Weisheit haben? Dieſe ſoll unter den Hülfs⸗ 
mitteln zum Leben das lezte, und — ſo zu ſagen — nur eine 
Zugabe ſeyn? Nein: haſt Du Etwas, ſo philoſophire; 
denn woher weißt Du, ob Du nicht ſchon zu viel haſt? Haſt 
Du nichts, ſo ſuche die Philoſophie eher, als irgend etwas 
Anderes. „Aber es wird mir am Nothwendigen fehlen.“ 
Das wird nicht möglich ſeyn, weil die Natur ſehr Weniges 
verlangt: der Weiſe aber richtet ſich nach der Natur. Tritt 
aber der Aänfierfte Nothſtand ein, nun fo enteilt er alsbald 
dent Leben, und jhört auf, fich fesbft zu befäftigen. Sollte ihm 
jedodı nur Etwas übrig bfeiben, fey es noch fo gering und 
befchränet, um das Leben zu friften, fo wird er damit vorlieb 
nehmen und ohne Kummer und Sorgen um Unnöthiges, feis 
nem Leibe an Nahrung und Bededung das Seine geben, und 
Dabei heiter und wohlgemuth lachen über die Geſchäftigkeit 
der Reichen und über das Jagen und Nennen Derer, die es 
werden wollen, und fagen: „wozu hHältft Du Dich felbft fo 
lange auf? Willſt Du auf den Ertrag Deines angelegten Gels 
des warten oder auf vortheilhafte Handelsgefchäite, oder auf 
das Vermächtniß eines wohlhabenden Alten , da es doch bei 
Die ffebt, fogleidy reich zu ſeyn? Die Weisheit \R heit ver 


Achtzehenter Brief. 1477 


Schätze; fie ſchickt ſie Dem, welchem fie dieſelben entbehrlich 
macht.“ — Doch Dies geht Undere an: Du ftehft den Bes 
güterten näher. Verſetze Did) in ein anderes Zeitalter, und 
Du haft zu viel. Aber was genug Ift, findet ſich in jegli⸗ 
chem Zeitalter. 

Ich könnte hier. fchließen, wenn ic did richt verwöhnt 
hätte. Den Parthiſchen Königen darf Niemand zur Begräs 
ßung nahen, ohne ein GefchenE mitzubringen: von Die Bann 
man nicht unentgeldlich Abfchied nehmen. Was Du betom: 
meit? Ich habe es von Epicurus entlehnt. „Diele, die fich 
Reichthum erworben, haben dadurd ihrem Eiend Bein Ende 
gemacht, fondern demfelben nur eine andere Geſtalt gegeben.‘ 
Und ic) wundere mid, darüber nicht: denn der Fehler liege - 
nicht in den Dingen, fondern im Gemüthe. Was die Urs 
muth fchwer zu ertragen machte, macht aud) den Reichthum 
ſchwer. Wie es gleichgültig ift, ob Du den Kranken in ein 
hölzernes DBettgeflelle, oder in ein goldenes legſt — wohin 
Du ihn aud) bringen magft, er wird fein Zeiden mit ſich neh⸗ 
men — eben fo macht ed nichts aus, ob die Franke Seele 
in Reichehum oder in Armuth verfezt wird: ihr Gebrechen 
folgt ihr. 





Uhtzebenter Brief. 
Man ziehe fid zurüd von der wilden Luſt der 
Menge: man übe ſich in Entbehrungen, um 
gleihgäültig zu werden gegen die Guuf 
des Glücks. 
Wir ftehen im Monat December, wo fidy die Start au 
waltig viel zu fchaffen macht, wo der Shremmud Sur WR 
Goueca, 1238 Bochn. > 


hy 


1478 Seneca's Briefe. 


dffentlidy eingeräumt ift, wo Alles vol ift vom gewaltigen 
Lärm der Zuräftungen — als ob noch ein Unterfchied wäre 
zwifchen ten Saturnalien und den MWerklagen. Und dedy if 
fo gar Fein Unterſchied mehr, daß ſich Derjenige nicht geirrt 


zu haben fcheint, welcher fagte, ‚vormals fey der December | 


ein Monat gewefen, jezt ein Jahr. Wenn ich Dich bei mir 
hätte, fo würde ich mid) gerne mit Dir darüber befprechen, 
was Du glaubeft, dag wir zu thun hätten: ob wir an unferer 
gewohnten täglichen Weife nichts ändern, oder, um nicht zu 
fehr im Gegenfas mit dem allgemeinen Brauche zu erfcheinen, 
gleichfalls Iuftiger tafeln und unfere Zoga ablegen follen ? 
Denn was fonft einzig nur in Kriegsnöthen und befrübten 


Zeiten zu gefchehen pflegte, thut man jezt um der luſtigen 


Feftesfeier willen — man wechfelt die Tradıt. Wenn ic) Di 
recht Eenne, fo würdeft Du den Vermittler fpielen und der 
Meinung feyn, wir follen dem fchwärmenden Haufen mit feis 
nen Narrenmützen *) eben fo wenig durchgängig gleichen, als 
zöllig gegen ihn abftehen. Allein — ob nicht gerade in bie 
fen Tagen dem Herzen die Forderung aufzuerlegen ift, alle 
Luft ſich allein zu verfagen, während alle Welt fih in Dies 
ſelbe verſenkt? Den untrüglichften Beweis für feine Feſtig— 
keit erhält man, wenn man fidy von Dem, was ten Sinnen 
fchmeichelt und zur üppigen Zuft verfoct, fo wenig hinzichen 





*) Pileats turba. Die Sclaven, benen in ben Tagen ter Ca: 
turnalien vergönnt war, fih in den Freifland zu träumen, 
trugen dann das Syinvol ber Gmancipation, den pileus, 
die ſpitzige Filzmütze, welche, Überhaupt als Ieichen feftlis 
cher Fufibarkeit andy ber Sreien, in bie Diüge unferer Pos 
ficiuelli ſtbergegangen iſt. 


- | ———ĩ sum NER" m mn 2 —— 


Achtzehenter Brief. 1479 

Täßt, als ihm entgegen geht. Dazu gehört mehr entfchloffene 
Kraft, mitten unter einem Volke, das ſich beraufcht und den 
Magen überladet, allein der Nüchterne und Vernünftige zu 
bleiben; mehr Mäßigung beweist es, fich nicht anszufchließen, 
um nicht aufzsufalfen, aber aud) nicht unter Alle fi) zu mi« 
‚chen; und Daffelbe vorzunehmen, aber nicht auf dieſelbe Weiſe, 
indem man aud) ohne eigentliches Wohlfeben einen feftlichen .. 
Zag begehen kann. Allein ich möchte nun einmal die Feſtig⸗ 
feit Deiner Seele prüfen, und, nad) dem Rathe großer Män- 
ner, auch Dir empfehlen, zwifchen hinein etliche Tage feftzu: - 
fegen, an welchen Du, Dich begnügend mit fehr ſchmaler und 
geringer Keft, mit einer groben und rauhen Kleidung, zu Dir 
ſelbſt ſageſt: „Alſo Das war's, wovor man ſich bange feyn 
ließ?“ So lange das Herz forgenfrei iſt, bereite es ſich auf 
das Schwere vor, und gegen die Unbilden des Geſchicks Eräfe 
fige es fich mitten unter defjen Gunflbezeugungen. Im fies 
fen Frieden, und ohne einen Feind zu haben, hält der Sol⸗ 
dat feine Marfchübungen, wirft Verfchanzungen auf, und 
müht ſich ab in überflüſſigen Arbeiten, um den nothwendigen 
gewachfen zu feyn. Wer, wenn es gilt, nicht zittern fol, 
muß, ehe es gift, geübt werden. Dieß befolgten Die, welche 
alle Monate die Armuth nachahmten und dem Mangel fich 
näherten, um nicht vor einer Sache zu erbeben, die fie Tängft 
gelernt hatten. — Glaube übrigens nicht, daß ich hier nur 
von .....) Mahlzeiten, und von Kammern der Armuth 





*) Die Leſeart iſt hier unſicher. Die Vulg. hat nach Muretus: 
ad modicas coenas, mäßige Mahlzeiten. Des Zur: 
nebus 'Timoneas, dad Schweigh. aufnahm, iſt gewig dos 
Richtige nicht. ur 


:1480 Seneca's Briefe. 


fpreche, und was fonft noch die Züfternheit, ihres Reichthums 
überdrüffig, bisweilen zum Zeitverfreibe auffucdht. Nein, es _ 
fey Dir Ernft mit dem harten Stuhl, dem groben Mantel, 
-dem derben, ſchwarzen Brote. Go halte es drei, vier Tage 
aus, bisweilen noch laͤnger; denn es ſoll nicht ein Spiel feyn, 
fondern eine Probe. Und dann, glaube mir, Lucilius, wird 
ed Dich hoch erfreuen, für einen Grofchen gefättige zu feyn; ' 
"Du wirft begreifen, daß man, um forgenfrei zu fen, bas 
Glück nidyt braucht: denn, was unentbehrlich ift, wird es ge: 
ben, *) auch wenn es zürnt. Glaube aber darum nicht, es 
fey etwas Großes, was Du thuft: es wird nichts Anderes 
feyn, als was viele tauſend Sclaven, viele tanfend Arme 
thun. Infofern nur achte Did, als Du es ungenöthigt thuſt, 
"and als ed Dir eben fo Teiche feyn wird, daffelbe immer zu 
ertragen, als es bisweilen zu verfuchen. Wir müffen ung am 
Pfahl **) üben; und damit das Gefchid uns nicht unvorbe: 
_reitet treffe, werde die Armuth unfere Vertraute. Der Reich: 
thum wird und weniger Sorgen madjen, wenn wir gelernt 
haben, wie fo gar nicht fchwer ift, arm zu ſeyn. Epicurus, 
jener Lehrer des Dergnügensd, hatte beflimmte Zage, an wel: 
chen er feinen Hunger ärmlich ftilfte, um zu fehen, ob Etwas 
zum vollen und reinen Vergnügen, und wie viel ihm noch 
fehle, und ob dieß Fehlende werth fey, daß man es mit gro⸗ 
Ber Mühe ergänze. Dieß fagt er wenlaftens felbft in jenen 
Briefen, die er, während Charinus Archon war, an Po: 
lyänus fchriedb. Und zwar rühmt er fih, mit einem nicht 
*) Dabit vermuthe ich, ftatt debet. 


#7 Dem hölzernen Phantom eines Gegners, welches zu Waf: 
fenäbungen biente, 


Achtzehenter Brief. - 1481 


vollen Aß ſich zu beköſtigen; Metrodorus, der es noch nicht 
fo weit gebracht, brauche ein ganzes. *) „Und eine ſolche 
Koſt, meinſt Du, mache ſatt?“ Vergnügen ſogar macht 
fie; aber nicht jenes leichte, flüchtige, immer wieder aufzu⸗ 
frifchende Vergnügen, fondern ein befländiges und zuverläfft- 
ges. Nicht als ob es etwas Angenehmes wäre um Waſſer, 
Graupen und ein Stück Gerftenbrod‘: aber das höchfte Ver⸗ 
gnügen iſt, fih im Stande zu wiffen, auch an diesen Dingen 
Vergnügen zu finden, und fich. dahin gebracht zu fehen, wo- 
die Ungunft des Glüdes uns nicht8 mehr anhaben Fan, 
Mehr Auswahl hat felbft die Kerkerkoſt: ja Denen, welche 
die Strafe des Todes erwarten, reicht ihr Henker Fein fo 
färgliches Dahl. Welche Scefengröße, au® freiem Willen 
ſich zu Den zu verjlehen, was felbft: Menſchen, über weldhe. 
das Aeußerſte erkannt ift, nicht zu befürchten haben! Das 
heißt den Gefchoffen ded Geſchickes zuvorkommen. . 
Entfchließe. Dich denn, mein Zucilius, die Weife diefer 
Männer zu befolgen, und beflimme gewiffe Tage, an welchen 
Du Did losmachſt von Deinem Beſitzthum, und Did mit 
dein möglichit Wenigen befreundeſt: entſchließe Dich, mit ber 
Armuth in Verkehr zu treten, . 


Wag' es, o Freund, zu verachten das God, und bilde Dich würdig 
Gottes, **) 


Kein Anderer ift Gottes würdig, ale Mer den Reichthum ver: 
achtet. Ic unterfage Dir feinen Beflt nicht; aber ich win 
fcye zu bewirken, daß Du ihn mit Seelenruhe befigeft: und 
Dieß wirft Du nur dann erlangen, warın Du Did) überzeugt " 


* Gin Aß = 1a g. GEr. ober 215fpg Kr.  \ 
**) Birgit. Yen. VIII, 364 f. 


1482 ' Seneca's Briefe. 


haben wirft, dab Du audy ohne denfelben glücklich zu Teben 
vermögeft, und wenn Du ihn immer als etwas Vergänglis 
ches anſtehſt. 

Doch ich muß jezt meinen Brief zufammentegen. — „Zahle 
vorerft Deine Schuld,‘ Hör ich Dich fagen. Sch weife Dich 
an Epicurus: der wird Dir Zahlung leiffen. „Unmäßiger Zorn 
erzeugt Wahnfinn.‘ Wie wahr Dieß fey, mußt Du wiffen, da 
Du einen Sclaven und einen Feind gehabt haft. Diefe Leidens 
[haft entbrennt übrigens gegen Perfonen aller Art: fie entſteht 

eben fo aus Liebe, ald aus Haß, und nicht minder bei ernften 
Dingen, ald unter Spiel und Scherz. Und es kommt nicht 
darauf an, ob die Urfache wichtig fey, aus welcher fie entfpringt, 
fondern welcher Art das Gemüth fen, deſſen fie ſich bemächtigt. 
So liegt nichts daran, wie groß ein Feuer fey, fondern wo es 
hingeräth ; denn fo viel auch deſſen ift, nehmen es doch fefte 
Körper nicht auf; bürre Stoffe hingegen und Teicht ergriffene 
nähren auch das Fünkchen bis zur Brunſt. Go ift eg, mein 
Lucilius: ‚eines unbändigen Zornes Erde ift Wuth; und da: 
her ift der Zorn zu vermeiden, nicht blos, um gemäßigt, fon: 
dern, um geſund ztı bleiben. 


Neunzebenter Brief. 


Aufforderung, aus der glänzenden Unruhe des 
Staatsdienftes in die philoforhifde Muße 
fih zurückzuziehen. 

Kit hoher Freude empfange ich jedesmal Deine Briefe: 
son fie erfüllen midy mit guter Hofwangy wand de verinreien 


— — nn non 


Neunzehenter Brief. | 1483 


mir nicht nur, nein fle verbürgen mir das Beſte von Dir. 
Thue fo, mein Lucilins: ich bitte, ich befchwöre Dich (denn 
was gäbe ed Beſſeres, um was ich den Freund bitten könnte, 
als um was ich ihm zu feinem eigenen Beſten bitten will 2): 
entziehe Dich, wenn Du kannſt, jenen Befchäftigungen, wo 
nicht, fo reiße Di) los. Lange genug haben wir die Zeit 
verfpfittert: jezt im höhern Alter wollen wir anfangen, an 
ten Rückzug zu denken. Wird man ed ung verübeln Pönnen ? 
Wir haben auf hoher See gelebt: wir wollen im Hafen fterben. 
Doch möchte ich Dir nicht rathen, mit Deiner Zurückgezo⸗ 
genheit Dir einen Namen machen zu wollen: Du folft damit 
fo wenig groß thun, als es geheim halten. Indem ich den 
Unfinn der Welt verdamme, will ich Dich damit keineswegs 
fo weit treiben, daß Du irgend einen Schlupfwinkel auffa- 
cheft, um in Vergeffenheit zu leben: :benimm Dich fo, daß 
Deine Zurücgezogenheit offenkundig fey, ohne aufzufallen. 
Mer ih noch nicht entfhieden, Wer feine Entfchließuns” 
gen erft noch zu nehmen hat, mag darüber zu Mathe gehen, 
ob er fein Leben in Dunkelheit Hinbringen will: Dir ſteht die 
Wahl nicht mehr frei. Dich hat Dein Tebhafter Geift, Deine 
geſchmackvollen Schriften, Deine anfehnlichen, glänzenden Vers 
bindungen in die Welt eingeführt; fchon Haft Du eine Bes 
. rühmtheit gewonnen: und magft Du jest in weitefter Ferne 
. Did bergen, ja gänzlich Dich verfriehen, Loch wird Deine 
: frühere Laufbahn auf Dich aufmerffam machen. Mit Duns 
kelheit kannſt Du Dich nicht umgeben; wohin Du Did auch 
flüchten wollteft, immer würde Dich viel des früheren Lidtek 
* begleiten. Aber Ruhe Tannft Du Die alen, Dre 
Iemandes Haß oder der Reue und ianern Barmer WW 


1484 Seneca's Briefe. 


feben. Denn Was wirft Du aufgeben, das aufgegeben zu has 
ben, Dir je ein läftiger Gedanke werden Pönnte? Deine 
Clienten? Keiner derfeiben hängt Dir felbft an, fondern dem 
Vortheil, den Du ihm ſchaffſt. Deine Freunde ? In alten 
Zelten war's die Freundfchaft, die man fuchte; jezt ift es die 
gute Beute, Einige Greife, die ſich verlaffen fchen, werden 
ihre Teftamente ändern; Wer Dir aufwartete, wird zu ans 
dern Thüren wandern: allein eine wichtige Sache kann nicht 
wohlfeit feyn. Weberlege, ob Du lieber Dich, oter etwas von 
dem Deinen aufgeben willft. DO! daß es Dir veradunt gewe- 
fen wäre, alt zu werden in den Verhältniſſen Deiner Her: 
Bunft; daß doch nie dag Schickſal Did) boch geſtellt hätte! 
Aber mit rafchem Ungeftüm hast das Glück Di einem ge: 
finden, harmlofen Leben weit entrüdt — eine Provinz, eine 
Procuratur, und was diefe Ehrenftellen noch weiter verfpre: 
chen; immer höhere nnd wichtigere Dienfle warten Deiner: 
_ sr eier Stufe wirft Du auf die andere fleigen. Was wird 
das Ende feyn? Auf was warteft Dur, um aufzuhören? Bis 
Du haft, was Du wünſcheſt? Die Zeit wird nie fommen, 
Wie wir fagen, daß die Urfachen eine Kette biiden, die fich 
zum Verhängniß verknüpft, fo auch die Begierden: eine geht 
aus dem Ende der andern hervor. Du bift in ein Leben ges 
worfen, das Deinen Befchwerden und Deiner Knechtſchaft nie 
von felbft eine Gränze feben wird. Entziehe tem Joche Dei: 
ven wundgeriebenen Nacken: beffer fogar, er werde auf eins 
mal abgehauen, ald immer gedrüct. Zieheſt Du Did, ins 
Privatleben zurüd, fo wirft Du zmar in Allem weniger, aber 
Sennoch volle Benüge haben: jest aber fättigt auch das Viele 
wit, mas von allen Seiten Dir zuhromt, Bot wüt Du 


Neungehenter Brief. 1485 


nun lieber, faft fen ron Wenigem, oder hungern bei'm Leber: 
Auß? Das Glück iſt fo habgierig, als fremder Habpier aus⸗ 
geſezt. So lange Dir ferbit Nichts genug iſt, wirft Du es 
auch Andern nicht ſeyn. — „Über wie foll id: heraustreten 2‘ 
fraaft Du. — Wie Du immer kannſt. Bedenke, wie vieles 
Mißliche Du gewagt für den Geiderwerb, wie viele Mühen 
Du beftanpen haft um der Ehre willen. Nun ift auch Etwas 
für die Muße zu wagen, oder Du mußt unter den Unfechtuns 
gen auswärtiger Staatsämter, dann derer, die Dich in der 
Stadt erwarten, ergrauen, mitten ım Tumult und in immer 
neuem Wogeugedrang, dem Du nicht entgehen kannſt, fo ans 
fpruchios, fo geruhia Du Dich benchmen magft. Denn was 
hilft es, dak Du ruhig ſeyn willſt? Deine Stellung will es 
nicht. Und noch immer willſt Du fle fleigern? Jeder Schritt 
höher ift ein Schritt weiter zur Furcht. 

Ich wit Dir hier eine Yeußerung des Mäcenas anfüh— 
ven, der die Wahrkeit fagte, da cr ſelbſt auf der Kolter lan. *) 
„Die Höhe jerbfi dennert an die Gipfel. Su welchem Buche 
er Dieß fagre? In feinem Promerheue. Er wollte fagen: 
„Der Hohen Bipfel find vem Donner ausgeſetzt.“ Aber möch⸗ 
teft Du wohl, um ale Macht in der Welt, fprehen wie ein 
Berauichter ? Mäcenas war ein Mann von Geiſt, der den 
Römern ein großes Vorbid der Wonliedenheit gegeben has 
ben würde, wenn fein Glück ihn nicht eutnervt, ja eutmannt 
härte. Diefer Ausgang wartet Deiner, wenn Du nıcht ſchon 
jezt die Segel einzieheft, und — was Jener zu fpät wolle — 
Did nahe am Ufer hättft. " 


DD, h. da ihn bie läſtige Bürde Gove haura Sutuen 
drädte, 


1486 Eeneca's Briefe. 


Ich könnte Dir diefen Gedanken des Mäcenas an Zah⸗ 
Iungs Statt anrechnen; alfein Du würdeft, wenn ih Dich 
rechte denne, Einfprache erheben, und meine Schufd nur in 
guter, grober Sorte empfangen wollen. Wie nın die Sache 
ſteht, muß ‚ich von Epicurus borgen. „Es ift eher darauf zu 

ſehen,“ fagt er, „mit Wem man effe und frinte, als Was 
man effe und trinke. Denn ohne Freund ift das Effen ein 
Straß und das Keben eines Wolfes und Löwen. Einen Freund 
aber wirft Du nicht haben, fo lange Du Dich nicht zurüds 
ziehft: Fonft wirft Du nur Gäfte Haben, die aus dem Schwarme 
der Aufwartenden Dein Sclave, der Dir die Namen anzuges 
ben hat, ausfonderte.. Uber Der geht irre, der einen Freund 
"im Vorzimmer fucht, und an der Tafel erproben will. Kein 
größeres Uebel hat der vielbefchäftigte und von feinem Gfüd 
in Befig genommene Mann, als daß er Die für feine Freunde 
hätt, deren Freund er ſelbſt nicht iſt, und daß er feine Wohl: 

—thaten für wirkfam hält, ihm Sreunde zu gewinnen, da es 
dody Leute giebt, die, je mehr fie fchuidig find, deſto mehr 
haften. Ein Bleines Aulehen macht Schufdner, ein großes 
macht Feinde. — „Sonach würden durch Wohlthaten Feine 
Freunde erworben ?’’ — Sie werden ed, wenn man die Ems 
pfänger wählen darf; wenn die Wohlthaten angebracht find, 
nicht ausgeftreut. Inzwiſchen, bis Du beginnft, Deinem eis 
genen Sinn auzugehören, folge dem Rathe der Weifen, und 
glaube, daß mehr darauf antomme, Wem, als Was Du 
giebſt. 


Zwanzigſter Brief. 1487 


Zwanzigfier Brief. 


Die Philoſophie foll dem Charakter fefte 
Haltung geben 

Wenn Du Dich wohl befindeft und Di würdig achtet, 
einmal der Deinige zu werden, fo freue ich mich: denn mein 
: wird der Ruhm ſeyn, Dich diefen Wogen, auf welchen Di 
ohne Hoffnung herauszukommen umhertreibft, entriffen zu has 
ben. Nur um Das bitte ih Dich, mein Lucilins, dazu ers 
mahne ich Dich, daß Du die Philoſophie in die Tiefe Deines 
Herzend eindringen laffeft, und Deine Zortfchritte nicht an 
Deinen Reden oder Schriften, fontern an der Feſtigkeit Deis 
nes Willens und an der Abnahme Deiner Begierden. erpros 
beft. Bewähre Deine Worte mit der That! Deine Aufgabe 
ift nicht die des Declamators, der nach dem Beifalle feines 
Zuhdrerfreifes hafcht, oder Deffen, der die Ohren junger und 
müßiger Zente mit einem bunten Bortrage und einer gewands ‘ 
ten Darftellung unterhält. "Die Philofophie Iehrt handel, 
nicht reden; fie fordert, Laß Jeder nad) feinen Vorfägen lebe, 
daß das Leben den Worten nicht widerfpreche, daß das Leben 
ſelbſt, in fid zufammenhingend , ohne Widerftreit der Hand⸗ 
Iungen, Eine Farbe habe. Das ift die größfe Aufgabe-der 
Meisheit und ihr Kennzeichen, Daß die Werke im Binklange 
ftehen mit der Rede, und ter Mann überall ſich ſelbſt gleich 
und ſtets der nämliche fey. Wer wird das leiſten? Wenige: 
doch Einige. Es ift ſchwer; auch fage ich nicht, daß der Weiſe 
immer in gleichem Schritt gehe: doch geht er immer auf dem 
gleichen Wege. Beobachte Did, alle, 0b «wa Dim Ru 
dung und Deine Wohnung nicht yafammenfiunmen DS 


1488 Seneca’d Briefe. 


etwa freigebig gegen Did) felbft, und Farg gegen die Deinigen 
bit; eb Du haushälteriſch fpeifeft, aber verſchwenderiſch 
baueſt? Ergreife ein für allemal eine Richtſchnur, um nach 
ihr zu leben: und nad) dieſer briuge Dein ganzes Leben ins 
Gleiche. Manche fehränßen fih zu Haufe ein; draußen ma: 
chen fie fich breit und dehnen ſich aus. Diele Ungleichheit ift 
ein Fehler und das Zeichen eines fchwankenden Gemüches, 
das noch nicht feine Hattuna gewonnen hat. Nun will ich 
aud) den Grund jener Unbeftändigkeit, jener DVerfchiedenheit 
der Handlungen wie ter Entfhlichungen, angeben. Keiner 
fest ih vor, Was er will, vder beharrt dabei, Was er ſich 
etwa vorgefert, fondern ſpringt Davon ab: er ändert nicht nur 
feinen Entſchluß, fondern Fommt von ihm zurück, und verfällt 
wieder in Das, was er aufzeieben oder verurtheilt hat. Um 
daher die alten Begriffebeflimmungen von Weisheit zu befeis 
tigen. und die Regel, nach welcher das menfcliche Leben zu 
würdigen ift, mit Einemmale zu umfaffen, Bann ich mich mit 
tiefer begnügen: Was ift Weisheit? Smmer Daffelbe wol: 
fen, und Daffelde nicht wollen. Dabei brauchſt Du die Bes 
dingung nicht anzufügen, daß recht ſeyn müſſe, Was man 
wolle; denn unmöglicd” kann Einem eben daſſelbe immer ge: 
fallen, wenn ed wicht das Rechte ift. Die Menſchen willen 
nicht, was fie wollen, außer in dem Augenblick, da fie wollen. 
für immer hat fih Keiner über fein Wollen oder Nichtwollen 
entfnieden. Täglich wechſelt das Urtheil und wandelt ſich in 
das Entgegengefeite um; und die Meilten bringen das Leben 
fpietend hin. Halte denn mit Nahtrud 0b Dem, was Du 
Dir vorgelejt; vielleicht daß Du's zum Hochſten bringft, oder 
206 za Dem, was Du allein noch wicht für das Hude er: 


Zwanzigfter Brief. 1489 


kennſt. — „Aber,“ fragſt Du, „was fol aus diefem Schwar⸗ 
me von Hausfreunden werden ?'' Diefer Schwarn wırd fidh 
ſelbſt zu füttern wiflen, wenn Du ihm niche meyhr füttern 
wirft: oder, was Deine Wohithaten Dich nicht erfahren lie⸗ 
fen, wirft Du durch die der Armuth erfahren. Diefe wird 
die ächten und zuverläffigen Freunde übrig behalten: Wer 
nicht Dir, fondern etwas Anderem anhing, Wird Davon. ve: 
hen. Iſt alſo nicht ſchon um diefes Einen willen die Armuth 
zu lieben, weit fie zeigt, von Wen Du geliebt wirft? O wann 
wird jener Zag fommen, wo Keiner mehr Dir zu Ehren lü: 
gen wird! Dahin alfo feyen alle Deine Gedanken gerichtet; 
dafür forge, Dieß wünfde, daß Du zufrieden feyeft mir Dir 
und mit den Gütern, die aus Dir felbft Fommen. Mit alien 
übrigen Wünfchen magft Du vie Gottheit verfdjonen. Wo 
gäbe es ein Glück, das näher zu haben wäre? Beſchränke 
Dich auf das Geringe, aus deffen Bells Du nicht vertrieben 
werden Fannft; und daß Du Dieß um fo williger: thueft, dazu 
möge der Tribut beitragen , mit wetchem id) siefen Brief zu 
begleiten habe, und den ich nun gleich entrichten will. Sieh⸗ 
immer fcheel Dazu ; auch diefesmal w-rd Epicurus gerne für mid) 
zahlen: „Großartiger, glaube mır, erfcheinen Deine Worte 
auf dem Strohlager und im groben Mantel; fie werden da 
nicht blos gefprochen, fie bewähren fin." Ich wenigſtens 
höre, was unfer Demetrius *) aut, mit andern Ohren, wenn 
ich ihn halb unbekleidet, nicht eınmal auf Stroh, auf der 
Erde liegen fehe: er ift mir nicht ein Lehrer des Wahren, 
fondern ein Zeuge, — „Wie jo? kanu man nicht Reid) 





® 
*) Ein berühmter Eyniker jener Zeit, 


1490. Seneca's Briefe. 


thümer verachten und gleichwohl welchd beſitzen?“ Wie ſollte 
maͤn nicht? Ja der iſt ein Mann von großer Seele, der, um⸗ 
ſtrömt von ihnen, lacht und ſich höchlich verwundert, daß fie 
gerade an ihn gekommen, und der es mehr von Andern hört, 
als ſelbſt inne wird, daß ſie ihm gehören. Es iſt viel, den 
Reichthum im Hauſe zu haben, und durch ihn nicht verdorben 
zu werden; und groß iſt, Wer mitten in ſeinen Schätzen arm 
ift, aber weniger angefochten, Wer gar Beine beſizt. — „Ich 
weiß Boch nicht,‘ fagft Du, „wie jener die Armuth erfragen 
würde, wenn er wirklich in diefelbe geriethe.“ Und ich weiß 
eben fo wenig, ob diefer oder jener arıne Nacheiferer Epicus 
rus den Reihthum verachten würde, wenn er ihm zufiele 
Daher muß man bei Beiden die Gefinnung würdigen und dar⸗ 
auf fehen, ob Diefer nur von feiner Armuth abhängig, umd 
ob Jener es von feinem Reichthum nicht ſey? Sonſt wäre 
ein Stropfager und ein grober Mantel ein fchwacher Beweis 
eines veredelten Willens, wenn nicht am Zage liegt, daß man 
dergleichen nicht aus Noth erträgt, fondern aus Wahl. Uebri— 
gens zeugt es von großartiger Naturanlage, Dieß nicht mit 
haftiger Eite zu ergreifen, als das Beſſere, fondern ſich dars 
auf vorzubereiten, als auf das Leichte. Und es ift dat Leichte, 
mein Lucilius; es ift, wenn man naͤch langer Ueberlegung 
hinzutriet, fogar angenehm. Dort nur ift Freiheit von Ans 
fechtung, ohne weldye Nichts angenehm iſt. Für nothwendig 
halte ich alio, was, wie ich Dir fchrieb, große Männer ofts 
mals gethan, daß wir gewifle Tage ausfenen, an welchen wir 
uns durch eingebildete Armuth vorüben auf die wirkfiche: 
was wir nm fo mehr zu thun haben, weil wir, durch Wohl⸗ 
ſeben verweichlidyt, alles für hart und ſchwer anfehen. Um 


Einundzwanzigſter Brief. 1491 


fo mehr muß der Geift aus feinem Schlafe gewedt, aufge, 
rüttelt, und daran erinnert werden, daß die Natur für uns 
fehr Weniges beſtimmt habe. Niemand wird reich geboren; 
Mer das Licht erblickt, ift angewichen, mit Milch und einem 
Lafen zufrieden zu feyn. Dieß ift unfer Anfang — und Kö— 
nigreiche find und nicht weit genug ? 


Einundzwanzigſter Brief. 
Nur das geiffige Streben giebt wahren Ruhm, 
und fihert das Andenken. 

Die Leute, von welchen Du fchreibft, machen Dir viel au 
thun, meinft Du. Am meiften macht Du Dir ferbft zu thun: 
Du bift Dir ſelbſt zur Laſt. Du weißt nicht, wad Du willft: 
das Gute verftehft Du beffer zu loben, als zu befolgen , und 
fieheft zwar, wo das Glück wohnt, aber wagft nicht, zu ihn 
zu kommen. Was es aber fey, das Dich hindert, will ich 
Dir fagen, weil es Dir ferbft nicht Elar genug ift. Du Häftft 
für wichtig, was Du zurücklaſſen foltft; und während Du 
Dir jene harmloſe Ruhe, zu welcher Du übergehen foltft, zum 
Ziele gefezt haft, hält Dich der Glanz Deines gegenwärtigen 
Lebens, aus welchem Du heraustreten ſollſt, zurück, als nb 
Dir in Niedrigfeit und Dunkel zu verfinfen bevorflünde. Du 
irrft, mein Lucilius; von diefem Leben zu jenem fleigt man 
aufwärts. Wie ſich ver Glanz unterfcheidet von Licht, indem 
diefes feine wahre Duelle in fich hat, jener von Erborgtem 
ſchimmert: fo unterfcheidee ſich diefes Zehen von jenem. Dies 
fes wird von Strahlen, die von außen her Tannen, KUREN, 


1492 | Seneca's Briefe. 


nnd Wer ſliſch vor duffelbe ſtellt, wirft einen dichten Schatte: 
darüber: jenes ift von feinem eigenen Fichte erleuchtet. Dei 
geiftiged Streben wird Dir Namen und Adel geben. Id 
will Dir Epicurus Beiſpiel anführen. In feinem Briefe aı 
den Idomeneus, *) worin er ihn, damals den Diener ſtreng 
gebietenter Macht und mie aroßen Dingen befihäftigt, voı 
jeinem frimmernden Leben weg auf rinen fihern und biei 
benden Ruhm hinwies, fagte er: ‚Wenn Ruhmliebe Did 
rührt, fo wiffe, daß meine Briefe Dich befannter machen 
werden, als Alles, was Du hoch hältft, und wegen deſſer 
man Dich feibft hoch hält.” Und hat er nicht vie Wahrheii 
gefagt ? Wer wüßre von einen Fromeneus, hätte nicht Epi 
eurus diefen Namen in feine Briefe eingetragen? Alle jem 
Großbeamten und Satrapen, ja den König ſelbſt, der den 
Idomeneus feine Amtswüurde ertheilte, deckt tiefe Vergeſſenheit 
Des Articns Namen laſſen Cicero's Briefe nicht untergehen 
—es haͤtte ihm nichts genützt, Daß Agrippa feine Tochter, Zi 
berius feine Enkelin zur Gemahlin hatte, und daß Drufu 
Caͤſar fein Urenkel war; unter fo großen Namen bliebe de: 
-feinige verfchwiegen, wenn nicht Eicero ihn ſich angefchloife 
hätte. Hoch wird über und der Strom der Zeit herfluthen 
wenige Beifter werden über ihm ihr Haupt erheben, und dei 
Merseffenheit widerftehend noch ange fid) behaupten, bi 
endlich auch fie demſelben Stillſchweigen verfalien. War 
Epicurus feinem Freunde verfprechen konnte, verfpreche id 
auch Dir, mein Encilius. Sch werde bei der Nachwelt Gel: 
tung haben: ich Bann Ramen zu Tanger Dauer mitnchmen. 


”) Aus Lampyſacus, Schwager bed Epicurus, vieleicht am KHofı 
bes Königs Lpſimachus. 


Einundzwanzigfter Brief. 1493 


Unfer Virgilius verſprach Iweien ein ewiges Gedaͤchtniß, und 
ec gewährt ed ihnen: 9) 
O glücfeliged Paar! Wenn meine Geſang es vermoͤgen, 
Raubt Euch nimmer ein Tag andenkendem Preiſe der Nachwelt, 
Weil Aeneas Geſchlecht Capitoliums ewigem Feldberg 
Anwohnt, und mit Gewalt obherrſcht der romaniſche Daten 


Wen das Glück in die Mitte des öffentlichen Lebens zog, 
Mer Gtied oder Theilhaber fremder Macht ift, deffen Auſe⸗ 
hen blüht und fein Haus ift beſucht, fo lange er felbft aufs 
recht flieht: nad ihm vergeht fchnel auch fein Andenken, 
Aber begabter Geiſter Würdigung gewinnt mit der Zeit; und 
nicht nur ihnen- ferbit wird Ehre zu -Theil, fondern was auch 
an ihren Namen fid, hängt, findet Aufnahme. _ 

Damit aber Idomeneus nicht umfonft in meinen Brief 
gekommen fey, möge er die Zahlung für denfelben aus_eiges 
nen Mitteln Teiften. Au ihn hatte Epicurus jenen vortreff: 
tihen Ausfpruch- gerichtet, worin er ihm den Rath giebt, den 
Pythocles nicht auf die allgemein hergebrachfe, aber mißliche 
Meife begütert zu machen. „Willſt Du.’ fagt er, „den Pp⸗ 
thocleg reich machen, fo mußt Du nicht fein Geld vermehren, 
fondern feine Begierden vermindern.‘ Diefer Satz iſt zu 
klar, als daß er der Erläuterung, zu treffend, als daß er der 
Nachhülfe bevürfte. Nur das Eine habe ich Dir zu bemer⸗ 
ten, daß Du ihm nicht allein vom Reichthum gefagt glaubefl. 
Auf was Da ihn auch anwenden willft, er wirb daffelbe gel⸗ 
ten. Willſt Du ans Pothocies einen würdigen Mann ma= 
chen, fo mußt Du nidyt feine Würden vermehren, fondern 
feine Begierden vermindern. Willſt Du, daß dem Pythocles 


*) Nifus und Guryalus, Aen. IX, 446 fi. Voß. 
Seneca 128 Bbchn. 8 


1494 Seneca’d Briefe. 
beftändig wohl fey, fo mußt Du nicht fein Wohlleben ver- 
mehren, fondern feine Begierden vermindern: willſt Du, daß 
Pythbocles alt; und die Zahl feiner Tahre voll werde, fo mußt 
Du nicht ‚feine Jahre vermehren, fondern feine Begierden 
vermindern. — Glaube nicht, daß diefe Sätze nur dem Epi: 
. ceurnd angehören: fie find Gemeingut. Was man im Senat. 
zu thun pflege, glaube Ich auch in der Philofophie thun zu 
müffen: wenn eine Meinung ausgefprochen worden, die mir 
zum Theil gefällt, fo verlange ih, daB ſie getheilt werde, 
und trete ihr bei. Sch führe Epicurus treffliche Ausfprüdıe 
darum fo gerne an, um Denjenigen, die zu feiner Philofephie 
in der falfchen Meinung ihre Zuflucht nehmen, ald fänden fie 
dort einen Deckmantel für ihre Lafter, zu zeigen, daß, wohin 
man fidy auch wende, ein fittlich gutes Leben zur Pflicht ge: 
macht fen. Wenn man in Epicurus Garten tritt, über deffen 
Eingang gefchrieben fteht: „Fremdling, hier iit gut weilen; 
bier ift Vergnügen das höchſte Gut!“ fo wird alsbald ber 
gaftfreundfiche und gefaͤlige Aufſeher dieſes Wohnfiges er: 
‚ fcheinen, und Dich mit Gerftengraupen bewirthen, aud) Wafs 
fer zur Genüge auftifchen, und Dich fragen: „Nun, findet 
Du Dich gut aufgenommen ? In diefem Garten wird die @: 
luſt nicht. gereist, fondern geftilit: man fchaffe fich hier nicht 
durch dad Trinken ſelbſt noch größeren Durft, Sondern löſcht 
ihn durch ein natärliches und unentgeldliches Mittel. Zn dies 
fem Vergnügen bin ich alt geworden.” — Ich ſpreche mit 
Dir nnr von ſolchen Bedüriniſſen, die ſich richt befchwidhti- 
gen laffeı, benen man etwad geben mud , damie de aufhören, 
Denn was jene außerordentlihen berrift, Teren Bettiinumm 
” auffchieben, die man beihränten UN —XXXXX 


Zwelundzwanzigfter Brief. 1495 
will ich nur dieß Eine erinnern: jenes Vergnügen ift natür- 
lich und nicht entbehrlich; *) diefem aber bift Du Nichts 
fhuldig: Was Du darauf verwenden, ift freiwillig. Der 
Magen hört nicht auf Gebote: er fordert und mahnt. Doch 
ift er Bein befchwerlicher Gläubiger: er läßt fi mit Weni⸗ 
nem abfinden, wenn Du ihm nur giebft, wie viel Du 
ſchuldig biſt, nicht, wie viel Du kannſt. | R 


Zweiundzwanzigfler Brief. 
Lucilius habe. die nädhfte Gelegenheit zu ergrei: 
fen, um den Gefhäften des öffentlichen 

Dienftes fich zu entziehen. 

Du wirft nun einfehen, das du Dich ans jenem ſchein⸗ 
volfen und unfeligen Getreibe herauszuziehen haft; aber, wie 
Du es angehen folleft, wünfcheft Du zu wiffen. Manches 
laͤßt fi) nur an Ort und Stelle zeigen. Der Arzt kann nicht 
brieflich beflimmen, wann man effen oder ein Bad nehmen 
foll: er muß den Puls befühlen. Es ift ein altes Sprüch⸗ 
wort: „ber Fechter faßt feinen Entſchluß auf dem Sande’: **) 
die Blicke geheftet auf ded Gegners Miene, auf die Bewes 
gungen feines Armes, auf jede Wendung feines Körpere, wird 
er inne, Was er zu than hat. Im Allgemeinen läßt fich 
zwar angeben und fchriftlich beflimmen, Was man gewoͤhn⸗ 
th thue, und Was man thun folle; dergleichen Ratldstäss. 

Tann man-nicht blos Abwelennen, Kunden aa VEN TERSSH 


.. Nec non necess. 
> D. 5. er auf ben Kampfolas. B* 


1406 | Seneca's Briefe. 


den Gefchlechte ertheilen. Allein das Weitere, wann und 
wie man es thun folle, wird Niemand aus der Ferne anzus 
geben vermögen: man muß die Umflände in Berathung zie⸗ 
hen. Und nicht nur Anmwefenheit an Ort und Stelle, fondern 
Wachſamkeit ift nöthig, um die eilende Gelegenheit wahrzu: 
nehmen. Schau nad) ihr Did um; und wenn Du fie ers 
blidft, fo ergreife fie. Mit allem Ernfte und aus allen Kräf: 
. ten arbeite darnady, Dich jenen Dienften zu entziehen. Und 
zwar vernimm, wie mein Gutachten Tautet: id, meine, *) 
-Du foHeft entweder jenes Leben, oder das Leben ſelbſt verlaf: 
fen. Zugleich aber glaube ich, Du ſolleſt dabei ſachte zu 
Werte gehen, und Was Du leider angeknüpft, ablöfen, flutt 
es abıureißen. Nur wenn Feine Möglichkeit feyn follte, zu 
röfen, fo magft Da reißen. Niemand ift fo zaghaft, daf er 
fieber immer hängen, als einmal fallen möchte. Inzwiſchen, 
was die Hauptfache iſt, verwickle Dich nicht noc, mehr: be 
gnüge Dich mit den Gefchäften, in welche Du Dich eingelaf: 
fen, oder in welche Du, wie Du es lieber angefehen wiffen 
willſt, bineingerathen bift, Es iſt nicht raͤthlich, daß Du 
weiter ſtrebeſt: oder Du wirft jene Entfchuldigung verlieren, 
und es wird an den Tag fommen, daß Du nicht hineingeras 
then bift. Denn es ift falſch, Was man gewöhnlich fagen 
hört: „Ich konnte nicht anders: was half es, nicht zu wol« 
fen? Ich mußte. Niemand muß dem Gtücde haftig nach⸗ 
Jaufen: es will Schon etwas heißen, ftille zu flehen, wenn das 
&räüd uns fortziehen will, und ihm wenigftend nicht auf ber 
Ferfe zu folgen, wenn man fc, wadı wur yur Barker Sur. 


”) Ceuseo, 





Zweiundzwanzigfter Brief. 1497 


Wirkt Dies mir verdenken, wenn ich nicht allein komme, 
Dir zu rathen, fondern noch Andere berdbeirue — Plügere 
Männer, als ich ſelbſt bin, an die ich mich zu menden pflege, 
wenn ich etwas zu bedenken habe? Lies des Epicurud bieder 
gehörigen Brief an Idomeneus, worin er ihn bittet, „ſo viel 
er. könne, zu eilen umd ſich zu flüchten, bevor irgend eine 
größere Macht dazwifchen trete, weiche ihm die Freiheit raube, 
fidy zurüczuziehen. Doch,“ fest er Hinzu, „habe er es nicht 
eher zu verfuchen, nis bie er es auf eine geſchickte und zeit⸗ 
gemäße Weile thun Eönne: aber wenn jener längit erharrte 
Zeitpunkt erfchienen fey, jo ſolle er fi mit Einem Sprunge 
in Freiheit fegen. Wer auf Flucht finne, dürfe nicht ſchium⸗ 
mern, und auch aus der fchwierisften Lage fey ein glückliches 
Entkommen zu hoffen, wenn wir nicht eilen, ehe es Zeit, noch 
füumen, wenn es Zeit iſt.“ | 

Und nun, denke ich, wirft Du auch einen Stoifchen Say 
hören wollen. Ich glaube nicht, daß Jene bei Dir der Unbe⸗ 
fonnenheit ſich verdächtig machen werden: ſie find mehr vor⸗ 
fihtig als tapfer. Du erwartet vielleicht Heußerungen, wie 
folgende : „es iſt fchimpflich, einer Bürde ſich zu entziehen: 
ringe mit dem Dienfte, den Du einmal übernommen. Der 
ift fein muthiger und tüchtiger Mann, der vor der Arbeit 
flieht , deffen Muth nicht gerade unter den Schwierigkeiten 
waͤchſt.“ So wird man zu Dir fprechen, wenn es der Mühe 
werth ift, auszudanern; wenn Dir, als rechtſchaffenem Manne, 
nichts Unwürdiges zu ıhun oder zu leiden zugemuther wich. 
Souſt wird man nicht verlangen, daR Do vnetien, —B8 
volren Arbeiten Dich aufreiveft, und in Belhätten ws 

Geſchaſte zu haben. Der Weile wird ar AUmtı 


1500 Seneca's Briefe. 

über uns befchweren, und fagen: „Was fol Die? Ich habe 
euch ohne Begierden gefchaffen, ohne Furcht, ohne Aberglaus 
ben, ohne Falſch, ohne alle fonftige Gebrechen; fo geht auch 
hinaus, wie ihr hereingefommen ſeyd.“ — Der hat die 
Weisheit erfaßt, der fo forglos flirbt, als er geboren ward. 
Mir aber zittern, wenn eine Gefahr herannaht; behaupten 
weder Muth nody Farbe, und vergießen unnüge Thränen, 
Was tft (himpflicher, als gerade anf der Schwelle der Frei: 
beit Anaftlich feyn? Die Urfache aber ift diefe: wir find leer 
an allem Guten, und daher mit einer um fo heffigeren Liebe 
zum Leben behaftet. Denn bei uns bfeibt davon Nichts üb: 
rig:. ed ift ganz vorüber, ed ift zerronnen. Niemand forgt, 
daß er weife, fondern, daß er lange lebe; während es doch 
Jedem gelingen kann, weife, aber Keinem, lange zu leben. 


Dreiundgwanzigfier Brief. 


Was iſt wahre Freude, und wie wird fie 
gewonnen? 

Meint Du etwa, ich werde Dir fchreiben, wie freundlich 
diefesmal der Winter mit uns verfahren, der auch wirklich 
ſehr gelind und kurz war; wie böfe dagegen diefer Frühling, 
wie unzeitig diefe Kälte ſey — und was dergleichen Fadhei⸗ 
ten mehr find, die man nur vorbringt, um Etwas zu fagen? 
Nein, ich will Etwas fihreiben, was mir und Dir nützen 
Tann. Und was wird dieß Anderes feyn, als eine Auffordes 

zung zur BerebMlung des Siunes? Was die Grundlage da: 
von fey, fragft Du? Sich nicht der Enten au irren. Dad 


h 


Dreiundzwanzigfter Brief. 1501 


— die Grundlage nenne ic Dieb? Nein, es ift der Gipfel. 
Denn zum Höchften ift gelangt, Wer da weiß, worüber er 
fi freue, Wer feine Glückſeligkeit nicht fremder Macht un: 
terftellte. Angefochten ift and feiner felbft nicht gewiß, Wen 
irgend eine Hoffaung reist, wäre auch nahe zur Hand, was 
er hofft; wär’ es auch nicht ſchwer zu gewinnen ; hätten ihn _ 
feine Hoffnungen auch nie getäufcht. Das fey Dein Erſtes, 
mein Lucilius: lerne Did) freuen. Dentft Du nun vicheicht, 
ich entziehe Dir fo viele Genüffe, wenn ich das Zufällige abe 
weife; wenn idy die Hoffnungen, diefe füßeften Ergösungen, 
gemieden willen will? Im (Gegentheif, ich will, daß Dir nie: 
mals die Freude fehle. Ich will, daß fie Dir daheim ers 
wachſe; und fie wird es, wenn fle nur in Dir ſelbſt ift. Ver: 
gnügungen anderer Art füllen das Herz nicht: fie glätten nur 
die Stirne, und find flüchtig; Du müßteft denn meinen, Wer 
lacht, fen froh. Die Geele muß warer ſeyn, vol Suverficht, 
und über Altes erhaben. Glaube mir, es ift eine ernſte Suche 
um die wahre Freude. Oder meinft Du, man werde mit 
anfgeräumter und, wie jene Lüſtlinge fprechen, vergnüglicher 
Miene den Tod verachten? der Armuth feine Thür öffnen 2 
feine Lüfte im Zaume haften ? daranf denken, wie man Schmer⸗ 
zen muthig dulde? Wer Solches in fich bewegt, lebt in gro: 
fer, aber wenig fchmeichelnter rende. In diefer Freude. 
Beſitz möchte ich Dich ſehen: fie wird Dir vie fehlen, fobald 
Du einmal gefunden haft, wo fie zu fuchen iſt. Geringe Mes 
talle werden an der Oberfläche gewonnen ; die Löftlichften Mind, 
deren Adern die Tiefe birgt, und die dem anhaltend Graben: 
den immer veichlicher entfprechen. Was die Welt eradekı 
giebt gehaltlofe und obenhinfkreifenne Tu, W B 


a 


1502 Seneca's Briefe. 


die von außen. und zugeführt ift, ermangelt des Grundes: 
diejenige, von weicher ich fpreche, und zu der ich Dir zu ver⸗ 
heifen trachte, ift eine feftbegründete, und geht tiefer nach ins 
nen. Thue, ich bitte Dich, theurer Lucilius, was allein Did) 
glücklich machen kann. Wirf von Dir und zertritt jene Dinge, 
die von außen glänzen, und die von Andern Dir verfprochen 
werden: trachte nac dem wahren Gut, und freue Dich Defs 
fen, was Dein if. Was ift aber Dad, was Dein it? Du 
ſelbſt und der beffere Theil Deiner felbft. Auch diefer elende 
Leib, wiewohl ohne ihn nichts ausgerichtet werden kann, gelte 
Die mehr für unentbehrlich, als für wichtig: er fehaffe nur 
nichtige, Eurze, Neue bringende Genüſſe, die, wenn fie nicht 
mit großer Mäßigung befchränft werden, in ihr Gegentheil 
ſich verwandeln. Ic fage Dir: an einem jähen Abhang ſteht 
die Luft; fie neigt fidh zum Schmerze, wenn fie nicht Maaß 
hätt. Aber Maaß halten -ift fchider in Dem, mas man für 
ein Gut anfieht. Wer nach dem wahren Gute begieriz ift, 
ift gefichert. Worin Diefes beftehe, fragſt Du mich, und ans 
Was es uns erwachſe? Ich will. ed Dir fagen: aus einem 
guten Gewiffen, aus einem edlen Willen, aus rechtfchaffenen 
Haudlungen, aus der Verachtung alles Zufälligen, aus dem 
gerunigen und flefigen Gange eines immer diefelbe Bahn eins 
haltenden Lebens. Denn Die, welche von einem Vorſatze auf 
‚. den andern überfpringen, oder nicht einmal überfpringen, fons 
dern vom, Zufalle ſich hinüberwerfen laſſen, wie können fie, 
/o unftät und fchwebend, irgend etwas Gewiſſes und Bleiben: 
37 ßaben? Wenige find, die ſich wad tab Ahre ee sun 
Plane ordnen ; die Anderen find wie Dinat, vr —XXXX 
Der fcmwimmen: fie gehen nicht, \onrern weiten, BRUSS 


Pierundzwanzigfter Brief, 1503 


find Weihe, die eine ruhige Welle zönernd und fanft dahin 
trägt; Andere entraffr eine ungeflumere Woge; Andere werden 
von der mattgewordenen Fluth -am nächften Ufer abgeſezt; 
" Andere endlich wirft ein zorniger Gießbach in die See din⸗ 
aus. Daher müffen wir feftitelen, Was wir wollen, und das 
bei beharren. 
Hier ift der Ort, meine Schuld zu zahlen. Ic kam 
Dir ein Wort Deines Epicurus zurüdgeben, und diefen Brief 
damit auslöſen. „Es ift verdrüßtich, das Leben immer anzu⸗ 
fangen ;‘' oder, wenn fih der Gedanke beffer fo ausdrücken 
laſſen follte: „unglücklich lebt, Wer immer zu leben bes 
ginnt.“ Wie fo? frasft Du: dieſe Worte verlangen eine 
Erläuterung. Weil ein forches Leben immer ein unvollendes 
‚tes bleibt. Man Bann niche zum Zode fertig flehen, wenn 
man eben er zu leben beginnt. Darauf haben wir zu dene 
fen, daß wir genug gelcht haben möchten: Dieb glaubt Nies 
mand, der eben anhebt zu leben. Glaube nicht, daß Soldyer 
nur wenige feyen; diefer Art find fat Alle. Manche fangen 
zu leben erft dann. an, wann fie aufhören follen. Wenn Du 
Dieß für wunderbar Hältft, fo will ich hinzufügen, worüber 
Du Dich.nod) mehr wundern wirft: Manche haben zu leben 
anfgehdrt, ehe fie anfingen. 


Vierundzwanzigfier Brief. 

Wie fic, der Weije gegen drohendellebel watfnc. 
Du ſchreibſt, der Ausgang eined Wedtätritted | I = 
die Buch Deines Widerfachers Dich berrott, wu nn 
/orgt; und Du glaubft nun, ich werde Die ven Rs 


. 1504 Seneca’d Briefe. 


Dir das Beſte vorzuftellen, und Did, mit wohlthuender Sof 
nung zu beruhigen. .Denn was haben wir nöthig, das 
Schlimme herbeizuziehen,, und, was wir frühe genug zu leis 
den haben werden, wenn es einmal da fenn wird, vorauszn: 
empfinden, und uns fo die Gegenwart durch die Angſt vor 
der Zufunft zu verderben? Es iſt unftreitig Thorheit, weil 
man vielleicht einmal unglücklich feyn wird, ed deßwegen jezt 
ſchon au ſeyn. 

Allein ich will Dich auf einem audern Wege zur Seelen⸗ 
ruhe führen. Wenn Du Dich aller Befümmerniß entfchlagen 
willſt, fo ftelle Dir Altes, was Du befürchtet, als wirklich 
bevorfiehend vor; miß bei Dir ſelbſt die Größe des Uebels 
ad, Was es auch fey, und bringe Deine Furcht auf die Wage: 
Du wirft gewiß finden, daß entweder nicht wichtig, oder nicht 
von Dauer ift, Was Du fürchteſt. Und Du brauchst nicht 
fange nach Beifpielen zu fuchen, an welchen Du Didy ftärken 
kannſt: jedes Zeitalter hat deren hervorgebracht. Welchen 
Theil der Gerichte, unferer Heimath oder des Auslandes, 
Du an Deinem Gedächtniffe vorübergehen laffen magft, überall 
werben dir Charaktere von hoher Vervollkommnung oder von 
großem Streben begegnen. Wirft Du verurtheilt, was Bann 
Dir härteres begegnen, als in die Verbannung wandern zu 
müffen? oder in das Gefängniß geführt zu werden ? Was 
giebt es fonft noch, was Einer fürchten könnte, als daß man 
ihn auf glühende Kohlen lege, daß man ihn umbringe? Stelle 
Dir diefe Dinge alle nad) einander vor Augen, und laß ihre 
Merächter auftreten: Du haft fle nicht zu fuchen, nur auszu⸗ 
wählen. Rutilius ertrug feine Verurtheilung, als wäre ihm 

dabei nichts weiter verbrüßlich, als daß (Acht gerichtet wurde. 


- Bierundzwanzigfter Brief. 1505 


Metelius fügte fid, in feine Berbannung mit Muth, Rutitins 
fogar gerne; Jener Lehrte zurüd, der Republik zu gefallen, 
Diefer verweigerte feine Rückkehr fogar einem Sulfa, welchem 
damals Nichts verweigert ward. Socrates fehrte nod, im 
Kerker, und wollte ihn nicht verlaffen, wiewohl mau ihm die 
- Rettung durdy Flucht verfprady : er blieb, um den Menfchen 
die Furcht vor den zwei ärgften Dingen zu benehmen, vor 
Tod und Gefangenſchaft. Mucius hielt feine Hand in die 
Flamme, Es fchmerzt, gebrannt zu werden; und wie viel 
mehr, wenn man fich felbft brennt? Du fiehft, wie ein Menich 
ohne Unterricht, ohne philofophifche Ausrüſtung gegen Tod 
und Schmerz, zur mit der Kraft des Kriegers begabt, des 
mißlungenen Unternehmens Buße fid auferlegt. Da fteht 
er und fieht zu, wie feine Hand in die Glutpfanne des Fein⸗ 
des trieft, und zieht fie, bis anf die bloßen Knochen zer⸗ 
ſchmolzen, nicht eher zurück, bis ihm vom Feinde das Feuer 
entzogen wird. Er konnte in jenem Lager eine gluͤcklichere 
That vollbringen, eine muthigere nie. Siehe, um wie viel 
beherzter ter Hochfinnige. Gefahren entgegen geht, ald der 
Grauſame welche bereitet. Leichter verzieh Porfena dem 
Mucins, daß er ihm ermorden wollte, als Mucins fidy, Daß - 
er es nicht gethan. = | 
„Mäprchen find Dieß,“ ſprichſt Du, „die man in alfen 
Schulen ableiert: gewiß wirft Du mir au, wenn Du auf 
die Todesverachlung zu reden kommſt, die Gefchichte von Cato 
erzählen." — Wie follte id) es nicht erzählen, wie er in jes 
ner Tezten Nacht, das Schwert sieben dem Haupte, in Plato’s 
Phaͤdon lad? Mit diefen beiden Hülfsmittelr Karte a ASS 
den Tezten Mugenblicten-vorgefehen , wit dem KU SU I 


1506 | Seneca’s Briefe. 


"ben zu wollen, mit dem andern, um es zu Bönnen. Nach⸗ 
dem er feine Angelegenheiten in Ordnung gebradyt, fo gut es 
gefchehen Lonnte in jenen Zeiten der Serrüttung und des Un: 
tergangs, glaubte er Dafür. forgen zn müffen, daß Niemand 
die Macht betäme, dem Cato das Leben zu nehmen, noch fo 
glücklich werden möchte, ed. ihm zu erhalten. Und fo z0g er 
fein Schwert, das er bis anf jenen Tag rein von Mord be: 
wahrt hatte, mit den Worten: „Du haft Nichts ausgerichter, 
o Glück, indem Du allen meinen Unternehmungen Dich wi: 
derſezteſt. Nicht für meine eigene, Sondern fir des Vater: 
landes Freiheit habe ich bis jest gekämpft. Nicht um frei, 
fondern um unter Freien zu leben, war ic) fo beharrlidy hä: 
tig: nun, weil die Sache der Menichheit aufgegeben ift, werde 
Eato in Sicherheit gebracht!“ Mir diefen Worten drückte ex 
-die Todeswunde in feinen Leib. Die Aerzte verbanden ihn: 
Blut und-Kräfte ſchwanden; aber aa Muth fich gleich, zürnte 
er nun nidyt über Cäfar allein, fondern über fich, riß mit der 
bioßen Hand die Wunte auf, und euntließ nicht, fondern trieb 
hinaus jene erhabene, jegliche Menfchenmacht verachtende Seele. 
Ich führe Dir ſolche Veiſpiele nicht in der Abſicht an, 
mein Talent an ihnen zu üben, fondern um Dich gegen Das, 
was für das Furchtbarſte gilt, au ermuthigen. Es wird 
mir Dieß um fo leichter werden, wenns ic) Div zeige, wie 
nicht nur muthige Männer diefen Augenblick des Aushau⸗ 
chens ihrer Seele für nichts achteten, fondern wie einige, 
fonft zanhafte Leute hierin an Muth den Entichlofjenften «6 
gleich gethan haben ; wie dort tes Enejus Pompejus Schwie. 
gervater Scipio, da widrige Winde ihn nach Afrika zurück⸗ 
warfen, und ber Feind feines Scyifek I hemächtigte, dem 


Vierundzwanzigiter Brief. 1507 


Dolch ſich durch die Bruft fließ, und als man fragte, wo ber 
Feldherr wäre? antworteie: „mit dem Feidherrn fteht es 
aut. Dieſes Wort ſtellt ihn feinen Ahnen gleich; es läßt- 
den Ruhm der Scipione, zu deffen Schauplag das Werbäug- 
niß Afrika anwies, Leine Unterbrechung erfahren. Es war 
ein Großes, über Carthago zu fliegen; noch größer iſt's, über 
den Tod, „Mit dem Feldherrn ſteht es gut.“ Durfte ein 
Feldherr, und zwar Eato’d Feldherr, anders ſterben? — Doch 
ich wit Dich nicht an die Gefchichte verweifen, noch aus al: 
ten Sahrhunderten die Merächter Des Todes, deren fo viele 
iind, zufammenfischen; bersachte nur Diefe unfere Zeiten, über 
deren Schlaffheit und Genußſucht wir klagen. Menfchen aus 
allen Ständen, Reihe und Arme, Alte und Junge, werden 
Dir begeanen, welche ihre Leiden durch Ten Tod abPürzten. 
Glaube mir, mein Lucilius, der Tod iſt fo fehr nicht zus fürch⸗ 
ten; ja es it feine Wohlthat, daß wir überhaupt nichts zu 
rürdhten haben. Sorglos höre alio Deines Feindes Drohuns 
gen: und ſo viel Zuverſicht Dir auch Dein gutes Gewiilen 
giebt, fo Hofe zwar die gerechtefte Enticheivung ; aber , weil 
Vieles nicht zur Rechtsſache Gehöriges einwirkt, fo bereite 
Did) auf die ungerechtefte vor. Vor Allem aber vergiß nie, 
ten Dingen ihre ſchreckende Begleitung zu nehmen, und zu 
ichen, was an jeder Sache ifl. Du wirft Did, überzeugen : 
die Furcht allein iſt's, was fie ſchrecklich macht. Was ten 
Kindern begegnet, begegnet auch ung, den großen Kinkern. 
Bor Leuten, die fie lieben, an die fie gewöhnt find, mit des 
nen fie fpielen, erzittern fie, wenn fle fie verlarnt erbiiden. 
Nicht den Menfchen nur, auch deu Dingen iſt die Larne ak- 
anziehen und ihr eigenes Bed winter 1a ren "ER 


>08 Seneca's Briefe. 


Haft Du mir Schwerter und Feuerbraͤnde, und einen Schwarm 
rohender Henker um Did, her? Weg mit diefer Mummerei, ; 
n welche Du Dich hülleſt, um Thoren zu ängfligen! "Du 
»iſt *) der Tod, den unlängft einer meiner Sclaven, eine meis 
ner Selavinnen verachtefe. 

Und Du — was legſt Du mir Deine Geißeln und Dei: 
nen ganzen Vorrath von Marterinfirumenten vor Augen, 
und zeigft für jedes Glied eine befontere Mafchine, berech: 
net, ed zu zerquälen, und taufend andere Werkzeuge, um den 
Menfhen in Stückchen zu zerfleifchen 2 Lege ab, was Schauer 
erregt s heiße fchweigen jene Seufzer und Ausrufungen, jene 
gräßlidyen, unter den Martern ausgeftoßenen Töne Du bift 
ja nur ber Schmerz, den jener Podagriſt verachtet, den jener 
Magenkranke mitten unter Tafelgenüffen erfrägt, den das 
Weib aushält, die zum erftenmale Mutter wird. Er if 
Leicht diefer Schmerz, wenn ich ihn fragen kann; kurz, wenn 
ich es nicht Eann. 

Mit diefer Wahrheit, die Du ſchon oft gehört und oft aus: 
gefprochen worden, befchäftige Deinen Geiſt; aber, ob Du fie 
richtig aufgefaßt und mit Ueberzeugung ausgeſprochen habeft, 
erprobe durch die That. Denn der fchimpflichfte Vorwurf, 
den man uns gewöhnlich macht, iſt: wir machen ung nur 
mit den Worten der Philofophie, nicht mit ihren Werken zu 
thun. — Haft Du denn jest erft erfahren, daß Tod, daß 
Verbannung und Qualen Dir drohen? Dazu bift Du gebo- 
ren. Altes, mas geichehen Bann, müffen wir ung als bevor: 
ſtehend denken. Doch ich weiß, Du thuft längſt, was id, zu 
ban Dich mahne. Für jest vathe ich Dir nur, Deinen Geiſt 


9E Er, und fo unten dolor es, 


Vierundzwanzigfter Brief. 150g 


nicht in jene Sorgen zu verfenten; er wirb abgeftumpft und 
ermangelt der Kraft, wenn er fich erheben fol. Lenke ihn 
von Deiner befondern Angelegenheit aufs Allgemeine: erins 
nere ihn; daß Du einen fterblichen und zerbrechlichen Körper 
haft, dem nicht nur von der Lngerechtigteit oder der Ge⸗ 
walt eines Mächtigern Schmerz droht; felbft Vergnügungen 
wandeln fich in Qualen. TIafelgenüffe führen Unverdaulich⸗ 
keit herbei; Berauſchungen Nervenfhwäde und Sittern; 
Wollüſte zerrütten Füße, Hände und alle Glieder. MIch fol 
arm werden? Go werde id, viele Gefährten haben. Ich 
fol in die Verbannung wandern ? Ich werde mir vorftellen, 
dort geboren zu feyn, wohin man mic, fchiden wird. Ich 
werde in Bande gelegt? Was wäre Dieß? Bin idy denn 
jest frei? Die Natur Hat mich an dieſes fehwere Gewicht 
meines Körpers gefeffelt. Ich werde fterben ? Damit fagft 
Du, ich werde aufhören Frank ſeyn, aufhören: gefeffelt wers 
den zu können, aufhören fterblicd, zu feyn. Es wäre“ abge 
fhmadt, Epicurus Lied hier anftimmen, und Dir fagen zu 
wollen, daß die Schredniffe der Unterwelt nichtig feyen, daß 
Fein Srion auf dem Rade ſich drehe, Bein Siſyphus ein Beld- 
ftück mit den Schultern bergan wälze, und daß eines Men- 
fen Eingeweide unmöglicd, alle Tage zerhadt werden und 
wieder wachſen fönnen. Niemand ift Kind genug, vor dem Cer⸗ 
berus ſich zu fürchten, vor jener Kinfterniß und jenen Lars 
vengeftalten der Gerippe. Der Tod vernichtet entweder, oder 
er befreit uns: den Berreiten bfeibt nur dad Beſſere, fie 
find entbürdet. Vernichtet er, fo bleibt uns Nichte; Gutes 
wie Schlechtes iſt hinweggenommen. Geflatte mir, bier v 
Seneca. 128 Bbchn. J 


1510 Seneca's Briefe. 


nen Vers von Dir ſelbſt anzuführen, und Dich zuvor zu 
erinnern, ihn nicht nur für Andere, fondern auch für Di 
ſelbſt geichrieben anzuſehen. Es ift ſchimpflich, anders zu 
ſprechen, als man denkt; wie viel ſchimpflicher, anders zu 
fchreiben, als man denkt? Ich erinnere mih, daß Du ein: 
mal von dem Gabe handeltefl, „wir verfinten nicht plötzlich 
in den Tod, fondern rüden ihm allmälig entgegen. Wir 
fterben täglich ; denn täglich wird uns ein Theil des Lebens 
genommen, und felbft fo lange wir nocd, zunehmen, nimmt 
unfer Leben ab. Wir kommen um unfere Kindheit, dann 
um das Knaben» und Jünglingsalter ; alle bie auf den ge: 
ftrigen Tag vergangene Seit iſt dahin, und felbft dieſen Tag, 
in welchem wir leben, theilen wir mit dem Tode. Wie es 
nicht der legte Tropfen ift, der die Waſſeruhr leer macht, 
fondern jeder herabgeronnene: fo macht die lebte Stunde, in 
der wir zu ſeyn aufhören, nicht für fid, allein den Tod aus, 
fondern fie vollendet ihn. Dann Fommen” wir: wirklich zu 
ihm; aber wir find fchen lange ihm nahe gekommen.” Nach—⸗ 
dem Du Die in deiner gewohnten großartigen Ausdrucks— 
weife, die nie Fraftvoller wird, als wo; Du der Wahrheit 
Deine Worte leihft, dargeftellt hatteſt, ſagteſt Du: 
Nicht ein Tod nur kommt fiber uns; dee letzte Xcd 
Sit, der dahin ung rafft. 
Ich wollte lieber, Du läſeſt Dich jelbft, als meinen Brief: 
es würde Dir Par werden, daß der Tony den wir fürchten, 
une ber legte, nicht der einzige iR. ir. Do de 
merke, wornach Du Dich vhtx. DO NET WU, 
a⸗ en Brief beigelegt Habe ı weldet Hrttieuere 


Bierundzwanzigfter. Brief. 1514 


Wort, welchen heilfamen Lehrfpruch. Dir follft über denfels 
ben Gegenitand,. der und eben befchäftigte, etwas erhalten. 
Epicurus fagt, indem er Diejenigen, welche den Tod fehnlich 
wünfchen, nicht minder ſcharf, als Diejenigen tadelt, die ihn 
fürchten: „Es ift lächerlich, aus Lebensüberbruß in. den Tod - 
zu eifen, wenn man durch die Art feines Lebens es dahin 
gebracht hat, daß man in denfelben eilen muß.‘ Und ap 
einem andern Orte: „Was ift fo Tücherlih, als nad bem 
Tode zu verlasgen, nachdem man durd die Furcht nor dem 
Tode fich ein unruhiges Leben gemacht hat?“ Du kannſt 
and) folgende Worte deffelben Schlages beifügen: „Die Uns 
klugheit, ja der Unfinn mancher Menſchen ift fo groß,. bag 
fie durdy Furcht vor dem Tode fih zum Tode zwingen lafs 
fen.‘ Mit weichem diefer Sätze Du Dich befcdhäftigen magft 
— Du wirft Deine Seele flärfen zur Ausdauer gegen den 
Tod, wie gegen das Leben. Gegen Beides haben wir uns 
zw verwahren und zu fräffisen, Daß wir bad Leben weber zu 
fehr Tieben, noch zu jehr haffen. Auch wenn die Vernunft 
uns räth, ihm ein Ende zumachen, fo dürfen wir ung gleich: 
wohl nicht in blindem Anlauf in den Tod flürzen. Der 
muthige und weile Mann foll nicht aus dem Leben fliehen, 
fondern gehen. : Und vor Allen werde jene Stimmung ge ‘ 
mieden, die ſich fo Bieler bemächtigt, im Sterben eine Luft 
su finden. Denn, mein Lucilius, ed gibt, wie zu andern Dins 
gen, fo auch zum Sterben einen unüberlegten Hang, her oft 
ebelfinnige Männer von Fräftigem Charakter . SE 
zagende und Feinmüthige Naturen. Aue veradiken > * 


ben, Diefe brüdt ee. Einige beidyeint ne SC 
” - 


45312 Seneca's Briefe. 


mer Daſſelbe zu thun und zu ſehen, und fle fühlen nicht ſowohl 
Haß, ald Weberdruß des Lebende: Die Philoſophie ſelbſt 
greibt ung, daß wir leicht in denfelben gergthen, indem wir 
fagen: „Wie lange koch biefes Einerlei? Ich erwache und 
iſchlafe; effe und werbe wieder hungrig; friere und ſchwitze; 
Feined Dinges ift ein Ende, Alles bewegt fih im Kreislauf, 
nieht und verfolgt fih. Auf die Nacht kommt der Tag, auf 
den Zag die Nacht; der Sommer geht über in den Herbſt, 
dem Herbft folgt auf dem Fuße der Winter, welchem der 
Frühling ein Biel febt. Alles geht vorüber, um wieberzus 
tehren; ich fehe nichts Nenes, ich thue nichts Neues: am 
"Ende wird auch Dieß zum Ekel.“ Manche find, bie es 
:gicht für unerträglich halten, zu leben, aber für überfläſſig. 


— — — — 


Fuͤnfundzwanzigſter Brief. 

Weber zwei Bekannte von Seneca und Lncilins, 
unb bie Art, wiechre Befferung an verfuhen 
ſey. — Ermunterung zur Genügſamkeit. — 
Mandente und handle alginGegenwart 
eines Zeugen. 

Mas unfere beiten Freunde betrifft, fo muß man vers 
ſchiedene Wege einfchlagen: die Behlee des Einen muß man 
verbiffern, die des Andern brechen. Ich werde mit aller 
Sreimüthigkeit zn Werke gehen: ich liebe Jenen nicht, wenn 
äh ihn nicht Hark anlaffe. „Wie?“ fragft Du: „einen vier 

Sigjäbrigen Müntel dentft Du unter Deiner Aufficht zu hal⸗ 
eu 7 Siehe body diefed Alter, wie wertärtet vod uugefügig 


Sinfundzwanzigfier Brief. 193 


es fchon ift! Er kann nicht umgeformt werben; nur dab 
Zarte läßt fidh bilden. — Ob id) Etwas ausrichten werde⸗ 
weiß ich nichts aber lieber will ich, daß ed mir am Erfolg, 
ald an treuem Willen fehle. Man darf die Hoffuung nicht 
anfgeben, felbit langwierige Krankheiten heilen zu können, 
wenn man der Unmäßigkeit ſteuert, und den Kranken nöthigt,. 
Dieled auch gegen feinen Willen zu thun und zu leiden. 
— Auch zu dem Andern habe ich nicht viel Zufrauen,, aus⸗ 
genommen, daß er über feine Fehler noch voch wird. Diefes 
Schamgefühl ift zu unterhalten: fo lange es in feinem Ges 
“ müthe andauert, wird immer einige gute Hoffuung Statt finden 
können. Mit jenem Veteran aber glaube ich fchonender vers 
fahren zu müffen, damit er nicht dahin Fomme, an ſich ſelbſt 
zu verzweifeln. Keine Zeit, ihm beizufommen, ift geeigneter, 
ald Die gegenwärtige, wo er einen Stilftand macht, wo er 
einem Gebeflerten ähnlich ift. Andere hat diefe Paufe ges 
täuſcht: ich fafle mich nicht bereden, fondern erwarte, daß 
feine Schler mit großem Wucher wiederkehren werden; denn 
ich weiß, fle haben fich nicht verloren, fondern ſie ruhen 
bios. Ich werde dieſer Angelegenheit einige Zeit widmen, 
und verfuchen, ob Etwas gethan werden kann, oder nicht. 
Du, mein Freund, erweife Dich une, wie Du thuſt, ale 
einen Mann von Willenskraft, und fchleppe Did nicht mik 
vielem Bepäde. Nichts von Dem, was wir haben, ift noth⸗ 
wendig. Kehren wir zum Geſetze der Natur zurüd, und 
unfer Reichthum liegt bereit. Was wir bedürfen, ift entwe⸗ 
der umfonft zu haben, oder wohlfeil. Die Natur verlangt 
Brod und Waſſer, und hieran ift Niemand arm. „Me 
auf Die feine Bebürfniffe beihräntt, way a WILD 


1514 ESeneca's Briefe, 


ſelbſt an Seligkeit wetteifern,“ wie Epienrus ſagt, von wels 
chem ich noch ein anderes Wort diefem Briefe beifchließen 
will. „Handle in allen Stücken fo, als fähe Epicurus Dir 
zul” Es ift unftreitig heilfam, ſich felbft einen Aufſeher zu 
beftellen, auf den man ſtets Hinbficke, und den man fih bei 
feinen Gedanken als zugegen vorftelle.e Das bei weitem 
Scyönfte ift freilich, fo zu Ieben, wie unter den Augen eines 
techtfchaffenen und immer gegenwärtigen Mannes: doch bin 
ih fhon zufrieden, wenn Du immer fohandelft, als ob über: 
Haupt irgend @iner zufchaute. Die Einſamkeit beredet uns 
zu allem Schlechten. Wenn Du ed einmal dahin gebracht 
haft, daß Du achtungsvolle Schen aud vor Dir felbft haft, 
dann wirft Du Deinen Aufſeher entlaffen dürfen: indeſſen 
bewache Dich durch das Anfehen irgend eines Andern, fey 
diefer num Cato oder Scipio oder Läling, oder irgend Einer, 
"in deffen Anwefenheit audy verborbene Menfchen ihre Fehler 
anterdrüden würden; bis Du aus Dir felbft den Mann ges 
macht haſt, in deffen Gegenwart Du zu fündigen Dich ſcheueſt. 
Haft Du Dieß gethan, haft Du angefangen, bei Dir ſelbſt 
in Achtung au flehen, fo kann audy ich wagen, Dir zu er: 
lauben, was Epicurus gleichfalls anrätk: „Dann zumal ziehe 
Dich in Did, felbft zurück, wann Du genöthigt bift, unter 
ber Menge zu leben. Du mußt der Vielheit unähnlich 
werden. Doc, bis es für Dich ficher ift, in Dich ſelbſt Dich 
zurüdzuziehen, fieh Did) nach Einzelnen um. Da ift Keis 
ner, für den es nicht beffer wäre, mit irgend Jemand, ale 
mit fich, zufammen zu fen. „Dann zumal ziehe Dich in 
Dich Jelbfi zurüd, wann Du genöthigt bift, unter ber Menge 
3a /eBen;’' wenn Du andere gut, \eiteniuaittae und Herr 


Sechsundzwanzigſter Brief, .1515 


Deiner ferbft bift: fonft müßteft Du von Dir hinweg unter 
die Menge Dich begeben ; denn Du hätteft einen fchlechten 
Geſellſchafter. 


Sechsundzwanzigſter Brief. 
Seneca's Greiſenalter. Der Tod erprobt die 
wahre Weisheit. 

Unlängft fagte ih Dir, ich befinde mich im WAngelichte 
tes Greiſenalters; jetzt, fürchte ich, habe ich es ſchon hinter 
mir gelaffen. Schon ziemt ein anderes Wort Diefen meinen 
Fahren, wenigftens diefer Leibesbefchaffenheit; infofern Al⸗ 
ter die Benennung ift für die mattgewordene , nicht für bie 
"gänzlich gebrodyene Lebenskraft. Zähle mich zu Denen, bie 
ausgelebt, die das leute Ziel erreicht haben. Und hoch fage 
id) Dir, daß ich mir Glück wünſche; ich gewahre am Geiſte 
des Alters Unbill nicht, fo fehr ich fie am Körper "fühle, 
Nur meine Behler und die Werkzeuge meiner Behler find ges 
‚altert. Mein Geift ift frifch, und froh, nicht mehr viel mit 
dem Körper zu thun zu haben. Er hat einen großen Theil 
feiner Bürde abgelegt; er jubelt und flreitet mir mein Alter 
ab, indem er fagt, nun erft fey feine Blüthezeit. Glauben 
wir ihm; laffen wir fein Glück ihn genießen! , 

Aber es frommt, nachzudenken und zu prüfen, wie weit 
ich diefe Seelenruhe und Mäßigung meined Charakters ber 
Weisheit, und wie weit ich fie bein Alter verdanke; forgfältig 
zu unterfuchen, was Alles ich nicht mehr thun Tann, und 
‚was ich nicht will, obwohl ich's Tante, Wera in iron. 


1516 ESeneca's Briefe. 


was ich nicht kaun, auch nicht will, ſo freue ich mich, es 
nicht zu koͤnnen. Denn wie bürfte ich klagen, wie es für 
ein Ungemach anfehen, wenn abgenommen hat, Was aufhören 
fol 3 „Doch“ fagft Du, „ift es das größte Ungemach, fo 
zufammenzufinten und. binzufterben, fo recht eigentlich zu 
jerrinnen. Denn wir werden nicht mit Einem Schlag hin- 
geſtreckt: wir werden ftüchweife weniger ; jeder Tag entzieht 
und etwas von unfern Kräften.‘ Welcher Ausgang wäre 
denn beffer, als allmälig, durch natürliche Auflöſung, in 
fein Ende zu verfinten ? Nicht etwa, weil ein vafcher, plotz⸗ 
licher Austritt aus dem Leben ein Uebel wäre, fondern weil 
ed eine fanftere Weife ift, unvermerst entrückt zu werben. 
Ich wenigſtens beobachte mich, und fpreche zu mir felbft; als 
ob jest die Prüfung bevorftünde, und jener Tag gekommen 
wäre, welcher Rechenfchaft geben foll von allen meinen Jah⸗ 
ren: „Nichts ift es noch, was ich bis jest an Bort und 
That geleiſtet. Nichtsfagende und trügerifche Unterpfänder 
des Muthes find Dieb, und in manchen gekünftelten Flitter 
gehüllt: wie weit ich es gebracht habe, muß erft ber Tod 
mir bezeugen. Ohne Sagen bereite ich mich alfo auf jenen 
Tag, an welchem ich, entkleidet alles Blendwerks und jegli⸗ 
cher Schminte, über mich felbit entfcheiden foll, ob: nur meine 
Rede oder meine Gefinnung ſtark if; ob es Heuchelei und 
Schauſpiel war, wenn ich dem Schickſal mit Worten voll 
tropigen Stolzes entgegentrat. Berufe Dich nicht auf das 
Urtheil der Menfchen: es ift immer unzuverläſſig und neigt 
fib bald nach diefer, bald nach jener Seite. Berufe Did 
nicht auf Bad Studium, das Du durdy’s ganze Leben getrie 
Sen: ber Tod wird über Dich ertenuen. Ja, alle jene phi⸗ 


Schsundzwanzigiter Brief, 1517 


loſophiſchen Abhandlungen, ziene gelehrten Geſpräche, jene 
Worte, aus den Lehren der Weiſen zufammengelefen, und 
eine gebildete Sprache — fie beweifen nicht die wahre Stärke 
der Seele: denn auch der Verzagtefte fpricht oft in kühner 
Rede. Was Du geleiftet, wird ofienbar werden, wenn Du 
in den letzten Zügen liegſt. — Es fen; idy laſſe fie gelten, 
Diefe Beftimmung: ich ſcheue das Gericht nicht.” So fpreche 
ich zu mir felbft, und ich. wollte, Du ließeft es auch zu Dir 
geinrochen feyn. Was verichlägt es, daß Du jünger bift ? 
Man rechnet nicht nach Jahren. Es ift ungewiß, wo ber 
Tod Did) erwarte; darum erwarte Du ihn allenthalben. 
Schon wollte idy fchließen: meine Hand fchickte (ih ar, 
daß „Lebewohl“ beisuichreiben; aber bag Dpfer muß vollen- 
det werden, *) dieſer Brief muß feinen Reifepfennig haben. 
Ich brauche nicht erfi zu fagen, von Wem ich ihn borgen: 
werde:.Du weißt, Wellen Kaffe ich benübe. Warte noch ein 
Fein wenig, und ich werde meine Zahlung von meinem Eigenen 
feiften. Inzwiſchen wird mir Epicurus borgen, welcher fagt: 
„Bereite Dich auf den Tod, mag nun dad Beſſere fenn, daß 
der Tod zu uns komme, oder wir zu ihm.‘ Hier ift ber 
Sinn Elar: es ift eine herrliche Sache, flerben zu lernen. 
Du hältſt es vielleicht für überfläffig, zu lernen, Was man 
nur Einmal brauchen kann? Das ift ed eben, warum wir 
uns darauf bereiten müffen. Man muß Das immer lernen, 
wovon man zuvor nicht die Erfahrung machen kann, ob wir 
ed auch verfichen. „Bereite Dich auf den Tod.” Mer Dieß 
fagt, heißt uns auf die Freiheit ung bereiten. Wer fterben ge 


2) Sprichwoͤrtlich. 


1518 Seneca's Briefe... 


. Iernt hat, hat verleent, Sclave zu fenn; er ift über aller 
Gewalt, wenigftend außer aller. Was gehen Kerker ihn am, 
und Wachen und Niegel ? rei fteht ihm der Ausgang. Nur 
Eine Kette ift, die uns gefeflelt Hält, die Liebe zum Leben; 
ift fie zwar nicht abzumerfen, fo ift fie wenigftend zu ſchwä⸗ 
chen, damit, wenn die Umftände es fordern, Nichts uns halte 
und hindere, bereit zu ſeyn, was einmal Doc, gefchehen muß, 
auf der Stelle zu thun. 


Siebenundzwanzigfier Brief. 

In der Tugend beftebt die wahre Glückſelig— 
Peit: man muß ferbft fie erſtreben, ſie läßt ſich 
nicht kaufen. 

„Du gibſt mir Ermahnungen,“ fprihft Du; „haſt Du 
fie denn Die ſelbſt fchon gegeben, Dich felbft fchon gebeffert, 
um jest der Beſſerung Anderer Did, widmen zu können?“ 
Ich bin nicht fo anmaßend, daß ich, felbft ein Kranker, Hei: 
(ungen unternähme: fondern als läge ich mit Dir in Einem 
Krantenzimmer, fprecdhe ich von unferem gemeinfchaftlichen 
Uebel, und theife Dir meine Mittel mit. Höre mid, alſo, 
als ob ich mit mir felbft fpräche: ich führe Dich in mein 
Inneres ein, und rechte in deiner Gegenwart mit mir felbft. 
Ich rufe mir ſelbſt zu: zähle Deine Jahre, und Du wirft er: 
röthen, noch immer Daffelbe zu wollen, was Du als Knabe 
wollteft, noch immer Daffelbe zu betreiben. Erweile Dir 
diefe letzte Wohlthat dieſſeits Deines Todestages, daß Du 
vor Dir ſelbſt Deine Fehler ſterben laͤſſeſt. Verabſchiede 


Siebenundziwanzigfter Brief. 1519 


jene verwirrenden Genüffe, die man fo theuer bezahlen muß: 
fie ſchaden fihon, ehe fie Eommen, und fchaden noch, wenn 
fie. vorüber find. Wie mit Verbrechen, auch wenn man 
fie nicht entdedte, da fie begangen wurden, gleichwohl: bie 
Unruhe nicht zugleich vorüber geht; fo knüpft an unedle 
Sreuden, auch nach ihnen nocd, die Reue fihan. "Sie find 
nicht haftbar, fie find nicht treu: auch wenn fie nicht fchas 
den, entfliehen fie doch. Siehe Dich vielmehr nad) einem 
bleibenden Gute um. Uber es gibt Feined, außer, weldyes 
"das Herz in ſich ſelbſt findel. Nur die Tugend gibt unwan⸗ 
delbare, harmiofe Freude: mas etwa Widerliches ſich entge⸗ 
genfteltt, ift wie die Wolfe, die unten wegzieht, und das Tas 
gesticht nicht überwältigt, ,‚Aber wann wird mir's glücen, 
zu Ddiefer Freude zu gelangen 2’ Du fäumft bie jebt gerade 
nicht : aber Du willſt es übereilen. Noch ift viel zu thun 
übrig, und wachfame Sorge ift nöthig; Du felbft mußt 
Deine Anftrenguug daran feen, wenn Du zu Stande kom— 
men willft. Dieſes Gefchäft duldet Feine Uebertragung. In 
anderen Studien kann man ſich eixen Gehülfen nehmen. 
So febte zu meinen Seiten noch der reiche Galvifius Gabi- 
nus: er war ein Zreigelaffener nad) Vermögen und Denkt: 
art. Nie fah ich einen Menfchen mit feinem Wohlſtande 
fo wenig Würde verbinden. Er hatte ein fo unglückliches 
Gedächtniß, daß ihm bald der Name des Ulyſſes, bald bes 
Adyilles oder Priamus entfiel, Namen, die uns doch fo be: 
Fannt *) find, als die unferer Erzieher. Ein alter Nomens 
clator, welcher die Namen nicht angibt, fondern welche ſchmie⸗ 


*, Tam bene, quam, 


1530 Seneca's Briefe. 


det, wird bie Leute doch nie fo verkehrt begrüßen, ale dieſer 
bie Zrojaner und Achäer. . Nichts deſto weniger wollte er 
gelehrt ericheinen. Und fo erſann er fi) dann dieſen Aus⸗ 
weg: er kaufte ſich Sclaven für eine große Summe. Einer 
derielben mußte den Homer inne haben, ein Anderer den 
Heflodus; an neun Anbere wurben die neun Lyriker vertheilt. 
Daß er ſie fehr theuer gekauft, ift nicht zu verwundern: er 
fand fle nicht vor, und verdingte es, fie erſt zuzurichten. 
Wie er fi) diefe Bedienung angefchafft hatte, da fing erft 
die Noth feiner Gäſte an: dieſe Sclaven mußten zu feinen 
Füßen ftehen, und ihm einmal um bad andere bie Verſe, 
weiche er herfagen wollte, angeben ; dennoch entfielen fie ihm 
wieder nicht felten mitten in einem Worte. Gatellius Qua: 
dratus, ein Schmaroger, der reihe Narren benagt, fie la» 
chend unterhält, und, was mit Beidem verbunden ift, über fie 
ſelbſt lacht, gab ihm den Kath, ſich Grammatiter zu halten, 
Die das ihm-Eutfallene fammeln follten. Und als Sabinus 
erwieberte, ſchon feine Sclaven Fofteten ihn jeder hundert- 
tanfend Seſtertien, verſetzte Satellius: „Eben fo diele Bü: 
cherfchränte wären Dir wohlfeiler zu fliehen gekommen.‘ 
Dennoch, ftand der Mann in dem Wahne, Alles felbft zu 
wiffen, was jeter feiner Leute wußte. Derfelbe Satellius wollte 
ihn einmal dazu bringen, daß er im Ringkampf aufträte, der kränk⸗ 
liche, blaffe, abgemagerte Mann! Sabinus entgegnete ihm: 
„Wie follte ich Dieß können? Ich lebe ja kaum.“ — ‚Sage 
doch Das nicht, ich bitte Dich,” verfeßte Jener: „ſiebſt Du 
denn nicht, wie viele gefunde nnd ſtarke Burfche Du haft ?‘ 
— Ein vernünftiger Sinn wird weder erborgt, noch ges 


Achtundzwanzigſter Brief. 1521 


kauft; und wenn er feil wäre, fo würde er, denke ich, keinen 
Käufer finden: einen thörichten kauft man täglich. 

Empfange noch, was ich Dir ſchulde, und gehabe Dich 
wohl. „Ein nach dem Gefeb der Natur georbnetes Arms 
ſeyn ift Reichthum.“ Dieb ſagt Epicurus mehr als eins 
mal, und immer wieder anders; aber nie zu oft Tann ge⸗ 
fagt werden, was man nie genug lernt. - Einigen ‚braucht 
man die Heilmittel bloß anzuzeigen, Andern muß man fie 
aufdringen. 


— —— — — 


Achtundzwanzigſter Brief. 
Ueber den häufigen Wechſel des Aufenthaltes. 
Das ſey Dir allein begegnet, meinſt Du, und wunderſt 
Dich darüber, als über etwas Neues, daß Du durch eine 
ſo lange Reiſe und ſo häufigen Wechſel des Orts dennoch dei⸗ 
nen Trübſinn und Deine Schwermuth nicht verſcheucht haſt. 
Deinen Sinn mußt Du wechſeln, nicht den Himmeilſtrich. 
Magſt Du immer über eine weite See fchiffen, mögen vor 

Deinen Blicken, wie unfer Virgilius ſagt, ) 
— — — Länder und Städte verſchwinden: 


wohin Du Dich auch wendeſt, Deine Fehler werden Dir 
folgen. Zu Einem, der dieſelbe Klage führte, ſagte einſt So⸗ 
krates: „Was wunderſt Du Dich, daß Deine Reiſen Dir 
Nichts nützen, da Du Dich ſelbſt überall mitnimmſt?“ Was 
Dich forttrieb, folgt Dir auf dem Fuße. Was ſoll es Dir 


*, Aen. II, 71. 


1522 Eeneca's Briefe. 


frommen, neue Länder: zu fehen, Städte und Gegenden ken⸗ 
nen zu lernen? Erfolglos bleibt biefes Umhertveiben. Willſt 
du wiffen, warum fie Dir nicht hilft diefe Flucht? Mit Dir 
flieht Du, Was Deine Seele brüdt, muß erft abgelegt 
werden: eher wird es Dir an keinem Orte gefallen. Gtelle 
Dir Deinen jetzigen Zuſtand als einen folchen vor, wie ihn 
unfer Virgilius ald den der Seherin fchildert , die aufgeregt 
und entflammt ift, eines Geiftes voll, der nicht Der ihrige if: 
— — es tobt — 

Ungeſtüm die Prophetin, ob etwa ber ’Bruft fie entfchfitteln 
- Könne den mächtigen Gott. *) 
Nun wanderfi Du Ka und dorthin, um der anf Dir la 
ftenden Bürde los zu werden, bie durch. diefes Umherwerfen 
nur immer befchwerlicher wird; wie auch ein Fahrzeug von 
unbewegten Laften minder gedrückt wird, unordentlich durch⸗ 
einander gewälzte dagegen die Seite, auf welche ſie fallen, 
ſchneller niedertauchen. Was Du auch thuſt, thuſt Du Dir 
zum Nachtheil: durch die Bewegung ſelbſt ſchadeſt Du Dir; 
denn Du rüttelſt einen Kranken. Haft Du aber jenes Ue— 
bei von Dir hinweggenommen, Dann wird jeder MWechfel Bes 
Drted Dir angenehm werden. Dann magft Du in die ferne 
ften Länder verichlagen werben: in welchen Winkel des Bars 
barenlantes du verfept wirft — freundlih und wirthbar 
wirft Du jeden Wohnfis finden. Wichtiger iſt die Zrage, 
vie Du fommft, ald wohin Du kommſt. — Daher follen 
wir unſer Herz an Beinen Ort hängen, fondern der Ueber: 
zeugung leben: „nicht für einen Winkel bin id, geboren; 





®) Ebenbaf. Vl, 78H. 89%. 


Achtundzwanzigſter Brief. 15233 


mein Baterland iſt dieſe ganze Welt. Würde Dieß Die 
tar fenn, fo Lönnteftt Du Did nicht wundern, baß ber 
Wechſel des Aufenthaltes, indem Du aus Ueberdruß an eis 
ner Gegend immer wieder in eine andere wanderft, Dir Nichte 
heifen will: die erfte befte würde Dir gefallen haben, wen 
Dur jede für die Deinige hielteſt. So hingegen reifeft Du 
nicht, fondern Du irrft, treibft Dich umber, wechfelft Ort 
mit Ort; während Doch, was Du ſuchſt, das Glücklichleben, 
an jeglihem Orte zu finden if. Wo iſt irgend ein fo ftür- 
mifchee Getreibe, als auf dem Markte? Auch dert Bann 
man geruhig leben, wenn es nöfhig ift. Aber wenn ic, über 
mich frei verfügen Darf, werde ich ver dem Anblick fogar 
und der Nachbarfikaft tes Marktes weit entfliehen, denn 
wie ungejunde Orte auch dem fefteften Körperbau aufeben, 
jo gitt es auch welche, die einem guten, aber noch nicht 
vollfommenen und eritarften Gemüthe wenig zuträglich find. 
Ich halte es nicht mit Denen, welche mitten in die Fluthen 
iich begeben, und ern ungeflüm bewegtes Leben vorzichent, 
täglich mit den Schwierigkeiten der Welt hochherzig ringen. 
Der Weife wird dergleichen zu beftehen willen, aber nicht 
anffuchen ; er wird lieber im Trieben leben, als im Kampfe. 
Denn es fronmet nicht viel, feine eigenen Fehler von ſich 
geworfen zu haben, wenn man mit fremden hadern muß. — 
„Dreißig Tyrannen,“ fagft Du, „fanden um Socrates ber, 
und vernochten nicht, feinen Muth zu brechen.’ Was liegt 
daran, wie viele Herren es find? Die Knechtſchaft ift nur 
@ine. Wer fie verachtef, iſt unter einem noch fo großen 
Haufen von Herrfchern frei, 


4 


1524 Seneca's Briefe. 


Es if Seit, abzubredhen: zuvor aber habe id, ben 
Botenlohn zu erlegen. „Der Anfang des Heiles ift die Er⸗ 
Eenntniß der Sünde. Es ift Dieß, dünkt mich, ein treffli- 
ches Wort von Epicurus. Denn Wer nicht weiß, daß er 
fehlt, Tann ſich nicht beffern wollen. Du mußt über 
Deinen Fehlern Did, betreten, ehe Dir fle ablegen Fannft. 
Manche rühnen ſich ihrer Fehler. Und Du glanbft, man 
werde auf Seilmittel denken, wenn man feine Gebrechen für 
Tugenden rechnet ? Atfo, fo viel Du kannſt, überführe Dich 

ſelbſt, unterfuhe Di; ſey Dein eigener Ankläger, darauf 
Dein Richter, endlich Dein Zürfprecher ; bisweilen aber thue 
Dir ſelbſt wehe. 


Neunundzwanzigſter Brief. 


Schwierigkeit, Lente zu bejfern, wie Mar 
cellinus. 
Du erkundigeſt Dich nad unſerem Marcellinus, 
und wünſcheſt zu wiſſen, wie es ihm gehe. Er kommt ſelten 
zu mir, aus keiner andern Urſache, als weil er ſich fürchtet, 
die Wahrheit zu hören. Allein dieſe Gefahr iſt für ihn 
nicht mehr vorhanden: man muß mit Niemand fprechen, 
der nicht hören will. Man zweifelt daher, ob Diogenes und 
nicht minder die übrigen Eyniber, Die ſich ihrer Freiheit ohne 
alle Rüdfichten bedienten, und ihre Ermahnurgen Jedem, 
der ihnen in den Weg Fam, ertheilten, Diejed hätten than 
follen. Ber wird einen Gehörlofea, einen von Natur oder 
durch Krankheit Taubſtummen fdymälen wetten? — „Uber,“ 


Neunundzwanzigfter Brief. 1525 


entgeaneft Du, „won die Worte fparen ? Sie Eoften ja nichts. 
Ich Bann nicht wiffen, ob ich Dem nüsge,.den ich ermahne: 
aber Das farnn ich willen, daß. ich, wenn ich Viele ermahne, 
Boch irgeud Einem nügen werde. Man muß den Saamen 
ausſtreuen: wie follte unter vielen Verſuchen nicht wenigftens 
Einer gelingen?‘ — Ich glaube nicht, mein Lucilius, daß 
ein weiter Mann diefes thin wird: man ſchwächt dadurch 
das Gewicht feines Anſehens bei Denen, die man beffern 
Zönnte, wäre man weniger alltäglich geworden. Ein Schütze 
darf nicht zuweilen einmal treffen, fondern wohl zumeiten 
fehlſchießen. Eıne Kunft, weiche ibren Zweck nur zufällig. 
erreicht, ift Feine Kunft. Die Weisheit ift eine Kunft: fie 
ſey auf etwas Gewiſſes gerichtet, und wähle Xeute, bei beren 
Behandlung etwas auszurichten ift; von Denen, die Nichts 
hoffen laſſen, trere fie zurüc, doch veriaffe fie dieſeiben nicht 
fo eilig, fondern verfuche, obwohl hoffnungslos, an ihnen noch 
die le,ten Mittel. Unfern Marcellinus babe ich noch nicht 
aufgegeben. Noch kann er gererter werden, wenn man ihm 
fchleunig die Hand reicht. Zwar. ift. Gerahr vorhanden, er 
möchte Den, der fle ihm reiche, mit fich fortreißen: denn die 
Krait feires Talentes ift groß, Hat aber fchen Lie R-chtung 
aufs Schlimme genommen, Gleichwohl werde ich in kiefe 
Gefahr mich beseben, umd es wagen, ihm feinen fchlimmen 
Zuftand zu offenbaren. Cr wird ſich benehmen, wie er fonft 
pflegt, und jene witzigen Einfälle zu Hülfe rufen, die auch 
tem Niedergeſchlagenen ein Lachen abzundthigen vermögen : 
er wird zuerſt über ſich feloft, dann über uns ſcherzen, und 
wird mir Alles, was ich ihm fagen wi, nurnenpetuen. ir 
wird u fere Schulen duuämußern, um Da V& 
Gensca. 4260 Bbochn. 8 


1526 ° Seneca's Briefe. 


Geſchenkenehmen, ihre Liebſchaften, ihren ledern Gaumen 
vorwerfen; er wird mir den Einen im Ehebruch, einen Uns 
dern in einer Schenke, einen Dritten am Hofe zeigen, und 
nie den pofflerlihen Philsſophen Arifto vorführen, der, in: 
dem er ſich fpazieren tragen ließ, feine Vorträge hielt: denn 
diefe Zeit war es, welche er feiner philoſophiſchen Thätigkeit 
vorbehalten Hatte. Won Diefem ſagte eiuft Scaurus auf. bie 
Trage, weicher Schnie Ariſto angehöre: „Ein Peripatetifer*) 
ift er nun einmal nicht.“ Und Julius Gräcinug, jener vor- 
trefflihe Dann, der einft um feine Meinung über Denfelben 
befragt wurde, gab zur Untwort: „Ich kann nichts fagen: 
denn ich weiß nicht, 'wie er ſich au Fuß hält;“ gerade als 
ob man ihn wegen eines Eſſedares (MWagenicchtere) befraat 
Hätte. Solche Gankler, weiche freilich mehr Ehre Davon hätten, 
die Philofophie liegen zu laſſen, als fie au Markte zu tragen, 
wird er mir in's Geſicht vorbalten. Dennoch bin ich ent« 
. fdhloffen, mir folhen Hohn gefallen zu laffen. Mag er mich 
zum Laden bringen; vielleicht daß ich ihn zu Thränen 
bringe: oder, wenn ev zu lachen fortfährt, werde ich mich 
frenen, daß ihm waznigftens eine Iuflige Art des Wahns 
ſinns zu Theil geworden if. Wiewohl, diefe Laſtigkeit iſt 
nicht von Dauer: beobachte folche Leute, und Du wirft fins 
den, daß fie jezt aufs Heftigſte Iachen, und nach wenigen 
Augenblicken auf’3 Heftigſte wüthen. Es ift mein Vorjag, 
ihn anzugreifen und ihm zu zeigen, wie viel mehr Werth 
“er haben würde, wenn er Dielen einen geringern zu haben 
fchiene. Seine Fehler wit ich, kann ich fie auch nicht aus⸗ 
"# Die Philofophen der ariotelighen Schule bieden fc, weil 
fie im Auf⸗ und Abgehen dacırtın. 


Neunundzwanzigfter Brief. 1527 


tifgen, doch hemmen. Sie werden nicht aufhören, aber eine 
Pauſe machen; vielleicht daß fie auch aufhören, wenn fle ein- 
mal an Panfen ſich gewöhnt haben. Schon Dieß iſt nicht zu 
verſchmähen; wie denn bei fhwer Erkrankten eine gute Zwi: 
fchenzeit an tie Stelle der Geſundheit tritt. 

Indeſſen, mein Freund, während ich mich gegen Jenen 
rüſte, bringe Du, der Du es vermagft, der Du einfiehft, 
weichen Uebeln Du entzangen, wie weit Du gefommen bift, ' 
und daraus abnehmen Pannft, wohin Du noch weiter bommen 
kannſt, Dein Inneres vollends in Ordnung, erhebe Deinen 
Much und ftehe feft gegen das Sefürchtete. Zähle Die nicht, 
welche Div bange machen. Wäre es nicht thöricht, die Menge 
an einer Stelle zu fürchten, wo nur Einer hindurch Bann ? 
So können auch Deinem Leben nicht Viele zugleich beifoms. 
men, ob auch Viele Dir den Tod drohen. So hat es Die 
Natur geordnet: den Lebenkathem kann Div nur Einer rau— 
ber, wie Einer ihn Dir gab. 

Wenn Du beſcheiden wäreſt, würdeſt Du mir dieſes lez⸗ 
temal die Zahlung erlaſſen. Aber um nicht karg zu verfah⸗ 
ven in Entrichtung des Zinſet aus einem fremden Capital, 
will ich auch Dir, was ich fehutbig bin, meinefwegen zugehen 
laſſen. „Ich wollte nie tem Volke gefallen: denn was ich 
Tann, gefälft dem Volke nicht; und was dem Wolfe gefältt, 
kann ich nicht." — „Wer fasfe das?“ fraaft Du; als ob 
Du nicht wüßtelt, über Wen ich verfüge: — Epicurus. U: 
lein daffelbe werden Dir Alle aus allen Schulen zurufen, 
Peripatetiker, Academiker, Stoiter und Epniker. Denn Ber, 
dem die Tugend gefälft, kann tem Wute uilient = 
febtechten Künften will die Weltsgunk awuugth SN 


1528 | Seneca's Briefe. 


winft Dich den Leuten ähnlich machen: fle Toben nicht, Was 
fie nicht ald das Ihrige anerkennen. Es Liegt aber weit 
mehr daran, wie Du Dir feibit. als wie Du Anderen ers 
ſcheineſt. Die Xiebe ſchändlicher Menſchen kann durch andere 
aid fhändlihe Mittel nie erworben. werden. „Was wird 
alſo jene gepriefene, jene allem Willen und allem Bells vors 
äuziehende Phitofephie leiſten?“ — Sie wird machen, 
daß Tu lieber Dir ſeilbſt, ats dem Molke gefällt; daß Du 
die Meinungen nad) ihrem Werthe, nicht nach ihrer Zahl 
Schägeft; dab Du ohne Furcht vor Göttern und Men dien 
lebeſt; daß Du das Uebel entweder beriegeft oder endet. Das 
- gegen. — wenn ic, Dich fehe, gefeiert von den Bunftbezeus 
qgunaen der Menge, wo Du immer auftrietft, umraufcht von 
:dem Jubel jenes Beifalls, womit man mimifche Kuünftler aus⸗ 
‚zeichnet; wenn ale Weiber der ganzen Stadt und alle Kin: 
der Deines Lobes voll find; wie follte ich Dich nicht bemits 
Seiden, da ich weiß, welcher Weg zu folcher Beliebtheit führe ? 


Dreißigſter Brief 
Besen die Todesfurdt. 

Ich fand den vortreffliben Aufidius Baffus fehr 
‚entkrafret und im Kampf mit feiner Alterſchwäche. Dieſe 
Drückt ihn fchon zu tief herab, als Laß er fih wieder heben 
2önnte; fein Sreifenafter laftes mit vollem Gewicht auf ihm. 
Du weißt, daß fein Körper immer ſchwächlich und arm am 
Edften war: lange hatte ex ihn hingehalten, oder, richtiger 

Feben, äufammengetüuteit, \üyacı IR ur wii 


Dreißigſter Brief. 1529: 


niedergefunfen. Wie man bei einem Schiffe, das Waſſer ein 
räßt, wohl einer oder der andern Rize wehren kann, aber 
wenn es einnral an vielen Stellen zugleich fe au werden 
und auseinander zu weichen anfängt, dem ſich auflöfenden 
Fahrzeug nicht mehr zu heifen ift; fo läßt Mich auch die Ges 
brechl chkeis eines areren Körpers eine Zeit lang aufrecht 
halten uud unterftügen: allein wenn einmal das morfche Ge⸗ 
bäude aus allen Fugen geht, und, wenn man hier einem 
Scharen begeguen will, dort ein anderer fih aufthur, dann 
it ed Zeit zu fehen, wie man hinausfomme Jedoch am 
Geiſte It unfer Bıffus noch früh. Deß gewährt ihm die 
Philoiopkie: ie ernäte ihm muthig und froh in jealicher Ver⸗ 
faTung des Körpers, heiter im An eſichte des Todes, und 
läßt ihn nicht ſinken, wenn aud) feine Kräfte finden. Ein 
groß r Steuermann fchiffe auch mir zerriffenem Segel, uud 
richten auch Das entmaſtete Wat zu geraden Fahrt. Se 
unfer Baffas: er ſieht feinem Ende mit. einer Stimmung, 
mit einer Miene entgegen, womit eines Andern Ende entges 
gen zu fehen, für su große Sicherheit gälte. Es ift etwas 
Großes, mein Zucifind, woran mai lanae zu lernen hat: 
wenn jene unansbleibliche Stunde eintritt, mir Gteihmuß 
von binnen zu gehen. In andere Arten des Sterbens miſcht 
fih noch Hoffnung: eine Krankheit kann fich heben, eine 
Fenersbruuſt gelöfcht werden ; mandıer Eiafturz har fanft abe 
gefezt, die er zu verfchütten drohte; das Mrer nat Manchen 
mie derſelben G wait, womit es ihn verſchlang, unverleze 
wieder a aeworfen; der Krieger zog das Schwert von dem 
Naden D-ffen zurück, den er idoten wahte, urn 
mehr zu hoffen har, Ben das Brent WO LS 


Desire 


ı550 Seueca's Briefe. 


fur dieſen allein giebt es Keine günſtige Dazwiſchenkunit. 
Auf keire Weile ſtirbt der Menſch ſanfter, aber auch ani 
keine finger. Es iſt, als ob Baſſus ſich ſeldſt zu Grabe beglei— 
tete und beſtattete, ſeinen eigenen Tod überlebte, und den Verluſt 
feiner ſelbſt als Weiſer trüße. Denn er ſpricht viel vom Tode, 
und laͤßt es ſich recht angelegen ſeyn, uns zu überzeugen, 
Daß, was etwa Ungemächliches und Furchterregendes an die— 
fee Sache ift, des Steibenden Schuld fen, nicht ded Ster— 
bens, und daß bei dem Tode ſelbſt chen fo wenig ein Yeiden 
fen, ald nach demſelben. Wer fürchtet, Wad er nicht erfeiden 
wird, ift nicht alberner, ald Wer fürchtet, Was er nicht fütz 
{en wir). Oder wie kann man sich einbilden, man werte 
eine Sache fühlen, die nicked mehr fühlen läßt? „So il 
alſo,“ feste er hinzu, „Ber Zod ſo ganz Bein Uebel, daß er 


alte Furcht por dem Uebel aufhebt.“ 


Ich weiß, Daß Dieſes sft geiagt worden ift, und oft 6cs 
fagt werden muß: aber wenn ich Derafeichen zur fad, oder 
aus den Munde Solcher hörte, Lie Etwas nicht finchtbar 
nannten, weil es iknen Ferne war, jo empfand ich nicht Lie: 
selbe heilfame Wirkung. Diefer hingegen hatte bei mir das 
ftärefle Gewicht, da er vom nahen Tede retete. Ich geftche 
Dir meine Meinung: man hat, glaube ich, im Sterben ſelbſt 
mehr Much, als in tier Nähe des Sterbens. Der Tor, ifl 
er einmal da, giebt auch dem Ungebiltdeten den Entſchluſt, 
dad Unvermeirtiche nicht vermeiden ;u wollen. So bietet 
der Fechter, war er auch während des ganzen Kampfes ter 
verzagtefte , feine Kehle tem Geaner dar, und giebt dem ir: 
senden Schwerte die gehörige Nichtung. Aber jener erit 


außende, Boch unfchldar Fommende Tod rertange eiue nach⸗ 


Dreißigfter Brief. 153: 


haltigere Yertigkeit des Muthes; diefe jedoch iſt feltener, und 
Bann nur von dem Weifen bewiefen werden. Um fo lieber 
hörte ich alfo Baffus vom Tode reden, wie er mir gleichfam. 
fein Gutachten uber ihn flellte, und die Nature deſſelben mie 
beſchrieb, als hätte er ihn ans der Nähe betrachtet. Mehr 
Glauben, denke ich, würte kei Dir finden, mehr Gewicht 
. würde haben, Wer von den Todten auferfände, und aus Er: 
fahrung Dir bezenate, daß im ode kein Uebel fey. Welche 
Bennruhigung das Nahen des Todes mit fich führe, werden 
Dir am beften Diejenigen fagen, die ihm nahe flanden, die 
ihn kommen fuhen und aufnahmen. Unter Diefe darfſt Du 
unferen Baffus zähfen, der uns nicht getäufcht fehen wollte; 
und diefer behauptet, nicht minder thöricht fey, Wer den 
Tod, als Wer das Alter fürdte. Denn wie das Greifenal: 
ter auf die Jugend folgt, fo der Tod auf das Greifenalter. 
Der wollte nicht leben, der nicht fterben will. Denn Das Les 
ben it ung mit der Betingung des Todes verliehen: es ifl 
der Gang ‘zu diefen. Ihn alfo fürchten, ift ſinnkos: nur 
Das Zweifelhafte fürchtet man, dem Gewiſſen flieht man ent: 
gegen. Der Zod ift eine gerechfe und unbeſiegbare Noth⸗ 
wendigbeit. Wer kann fid) beklagen, im einer Lage zu fenn, 
in welcher ohne Ausnahme Alte find? Das erfte Gefeb der 
Gerechtigkeit ift Gleichheit. So wäre es aber überflüſſig, 
der Natur eine Schußrede zu halten, die für uns Bein andes 
res Geſetz, als für fie felbft, gelten laſſen will. Was fie 
verband, lösſt fie auf, und Was fie auflödte, verbindet fie 
wieder. Wem fomit dad Glück geworden, daß er nicht ges 
‚waltfam aus dem Leben geriffen, fordern vun Srüheumun 


demjeiben allmählig und [hrittweine antrat tt, SIRDN 


1532 Seneca's Briefe. 


nicht allen Göttern dafür danken, Daß er lebendfatt in jen 
MRuhe eingeben fol, die jedem Sterbtichen nothwendig, mn 
dem Müden fo füß ift? Du flehft, wie Manche den Zod flc 
wünfchen, und zwar angelegentlicher, als man gewöhnlich ur 
das Leben bitter. Ich weiß nicht, ob wir von Dieien, welch 
den Tod ſich erbitten, oder nicht vielmehr von Genen, weich 
ihn mit Heiterkeit und Ruhe erwarten, mehr Muth lerne 
tönren. Jenes wird nicht felten von der Wuth der Der 
jweiflung oder dem Unmuth des Augenblickes bewirkt: Bief 
Seelenruhe fließt aus fefter Meberzeugung. Einer kommt 
dem Tode zürnend, zum Tote; heiter wird ihn Nieman 
empfangen, Wer fich nicht lange auf ihn vorbereiten hat. - 
Sch muß daher neftehen, daß ich diefen mir fo theuern Man 
aus mehr als Einer Urfache fehr häufig beiutte, hauptſächlie 
um zu willen, ob ich ihn immer als denfelben fände, oder o 
mit den Kräften feined Körpers auch die Friſche feines Gei 
ſtes abschme. Dod) diefe wuchs nur deſto mehr, aleichwi 
die Freude des Wogenlenkers immer fichtbarer wird, wenn e 
fi) auf der ſiebenten Umfahrt der Palme nähert. Zugerha 
den Sägen Epicur’s fagte er mir, „vors Erſte hoffe ev, e 
fey kein Schmerz bei jenem legten Uthemzug; und wäre Die 
doch, fo liege ein Troft ſchon in der Kurze: Denn Fein Schmer 
‚ fey lang, der groß ifl. Uebrigens werte ihm während de 
Zostreunung des Geiftes vom Körper, auch wenn He mi 
Dein verbunden wäre, der Gedanke zu Hülfe kommen, da 
er nach diefem Leiden nicht weiter leiden könne. Er zweifl 
aber nicht, daß eine Breifenfeele fhon anf den äußerſten Lip 
sen fahwebe, und ohne große Gewalt vom Körper lich frenne 
Ein Feuer, das eines Fräftigen Stofed Ih venäntiat, wir 


Dreißigfter Brief. 1553. 


nur durch Waffer, bisweilen durch Schutt erſtickt: ein Feuer, 
dem die Nahrung ausgeht, erlifcht von ſelbſt.“ 

Solche Worte höre ich gerne, mein Zucilius; nicht als 
ob fie nen wären, fondern weil fie fid vor meinen Augen 
bewahrheiten. Aber wie? HOb ich nicht fchon viele gefehen, 
die ſich feibft den Lebensfaden abriffen ? Wohl, ich fah deren 
viele: aber mehr gelten mir Die, welche den Tore nahen 
ohne Lebenshaß, und jenen an ſich kommen laſſen, nicht ihn 
herbeiziehen. „Jenes guäfende Gefühl,’ faste er Öftere, 
„iſt unfer eigenes Werk, indem wir zittern, wenn wir den 
Tod uns nahe glauben. Über Wem wäre ter Tod nicht 
nahe, der an allen Drten, in jedem Augenblicke bereit fteht ? 
Bedächten wir doch, wenn irgend eine Urſache des Todes 
heranzutreten fchrint, um wie viel näher uns noch andere 
Urfachen ftehen, die man gleichwohl nicht fürchtet!’ Einem 
war der Tod von feinem Feinde gedroht: Dem kam eine Un» 
vertanlichkeit zuvor. Wollten wir die Urfachen unferer Furcht 
unterfcheiden, fo wirden wir finden, daß tie Einen wirklich, 
Andere eingebildet find. Nicht den Tod fürchten wir, ſon⸗ 
dern die Vorftelung von ihm: von, Ihm ſelbſt find wir als 
fenthalben gleichweit entfernt. Folglich wenn der Tod zu 
fürchten iſt, iſt er immer zu fürchten. Denn von welcher 
Seit ift der Tod ausgeſchloſſen? 

Doch ich muß befürchten, daß Dir fo Tange Briefe ver: 
haßter noch als der Tod ſeyn möchten: ich fehließe alſo. 
Du aber denke ftetd an den Tod, um ihn nie zu fürchten. 


EEE — u 


1554 Seneca’d Briefe. 


Einunddreißigſter Brief. 
Verachte die Meinungen der Menge, und firebe 
nah dem höchſten Gut, der Erkenntuiß der 

Wahrbeit. | 

Nun erkenne ich meinen Lucilius: er fängt an, fich zu 
Zeigen, wie er zu werden verſprach. Folge jenem Drange 
Deines Geiſtes, mit welhem Du, die Güter Des Pöbels in 
ten Staub tretend, allem Zrefflichen Dich zuwandteſt. Ich 
begchre nicht, daß Du größer und beffer werdeft, als Du 
Dir vorfezteft. Der Grund, ten Dir geleat, hat einen weis 
ten Raum eingenommen: führe nur aus, Was Du begonnen, 
nnd Was Du in Deiner Seele truaft, fege in's Werk. Das 
Sanze ift: Du wirft ein Weifer werden, wenn Du Dein: 
Dhren verjchliefeit. ber es gentgt nicht, fie mit Wachs zu 
verftopfen : es iſt eine Lichtere Verklebung vonnöthen, als 
deren ſich Ulyſſes bei feinen Gefährten bedient haben fol. 
Jene Stimme, die dort! zu fürchten war, war eine ſüße, doch 
nur eine einzelne: aber diefe, die Du zu fürchten haft, kommt 
nicht Dips von Einer Klippe Her; fie umtönt Dich von allen 
Enden. Steure daher nicht nur an Einem, tücifcher Luſt 
verbäctigen Site, fondern an allen Städten voruber; fen 
taub auch gegen Die, weihe Dich am meiften lieben. Gut 
meinend wünfchen fle Dis Schlimmes: und wern du glücklich 
ſeyn willſt, fo bitte die Götter, daß von Dem, mas fie für 
Dich erfiehen, Die Nichts zu Theil werte. Es find Peine 
Güter, womit fie Dich überhäuft fehen wollen. Ein Gut 
giebt es, das des glücklichen Xebend Grund und Stüße ift -- 
Selbſtoertrauen. Dieß kaun Die aber ihr werten, weni 


Einunddreißigiter Brief. 1535 


Du nicht die Mühſal verachteit und fie unter die Dinge zaͤhlſt, 
weiche weder gut find, noch fhlimm. Denn es ift nicht mög: 
ih, daß dieſelbe Sache batd fchlimm fen, bad gut; bafd 
leicht und erträgtich, batd furdhrbar. Ein Gut ift die Müh— 
fal nicht; was ift denn aber ein Gut? Ihre Verachrung. 
Daher möchte ich Diejenigen tadeln, welde um Eitles fid) 
. abmühen: aber bewuntern werde id, die nad) dem Edeln 
Strebeutden, je mehr fie fich auftreugen, je weniger fie ſich's 
ertanben zu unferliegen oder zu raſten. Ich werde ihnen zur 
“rufen: „erhebet euch um fo Eräftiger, füßet die Bruft, und in 
einem Athem, wo möglich, erjteigek jene Höhe! Erler See— 
fen Nahrung iſt die Mühe.“ — Alſo nicht nach jenem alten 
Wunſche Deiner Eltern haft Dn zu wählen, was Du Dir 
zufalfen fehen, was Du Dir wünfden möchtet; und über: | 
hauz?, für einen Mann, der ſchon zum Höchſten binturchge: 
drungen, wäre es fdhimpflich, noch Immer den Goͤttern anzu: 
liegen. Wozu Gefübte? Mache Dich ſelbſt glücktich; und 
‚Du wirft es, fobald Du erkannt haft, Daß gut nur Das ſey, 
dem die Tugend beigefelit, jchimpflich aber Altes, womit das 
Later verbunden iſt. Wie Nichts glänzt ohne hinzutretendes 
Licht, Nichts ſchwarz it, außer was in Finſterniß ift, oder 
Dunkles in fi) aufnimmt; wie cd keine Wärme giebt ohne 
die Beihälre tes Feuers, und ohne Luſt Feine Kälte; fo 
wirft Die Gemeinfchaft Der Tugend und Des Kaflers Edles 
und Schimpfliches. 
Was ift nun. das Guter Richtige Erkenntniß. — 
„Was ift. das Uebel?" Die Unwiffenheit. Der Weife und 
Kundige wird die Dinge nach den Umflänten verwerten una 
‚wählen. Aber Was er vermirft , fürditet ar ar Se 








1536 Seneca’d Briefe. 


wundert er, Was er wählt; wenn anders ein großer u 
befiegter Seit in ihm wohnt. Du fouft Did, nicht 
werfen und beugen Lauffen. Der Muhſal Dich nicht 3 
gern, genügt nicht: fordre fie. „Aber,“ fragst Du, 
es nicht auch eine eitle und überflüffige Mühe ?““ 
wozu geringfügige Beweggründe uns aufriefen. Abe 
fie ift fein Uebel, eben fo wenig als jene, welche auf 
ned verwendet wird; weil der ausdauernde Wille der 
es ift, der zum Harten und Beſchwerdevollen aufforde 
ſpricht: „Was fäumeft Du? Es iſt nice männlich, v 
Schwerte ſich zu fürchten.“ Hierzu muß noch kommen, 
die Tugend vollkommen ſey, Gleichförmigkeit und ein 
Alles harmoniſche Haltung des Lebens; was nicht geı 
werden kann ohne richtige Erkenntniß, ohne die Wiffe 
durch weiche Gottliches und Menfchtiches zur Einſicht 
Dieß ift das hoͤchſte Gut; hat Du Dich feiner bem: 
fo beginnſt Du, der Götter Genoffe zu ſeyn, niche ut 
hender. — „Aber,“ fragt Du, ‚wie foll ıch dahin 
gen?“ Nicht über das Peninifche oder das Grajiſc 
birg; nicht durch Candaviens Wüſten; nicht die Syrter 
die Schlla, noch die Charybdis Haft Du zu befahren 
doch Haft Du diefe alle durchwandere, um den Prei 
Beringen Procuratur. Die Reife, wozu die Natur Dich 
ftete, ift fo fiher al anmurhig. Die Natur gab Dir 
Du nur nicht zu vernachläfiigen brauchſt, um Gott 
Dich gu erheben, Gott ähnlich aber wird das Gel 
nicht machen; Bott hat Nichte. Did duryartien 
Gott iſt ohne Gewand. Andy wicht der Rad, NN 
fragen Deiner, ſelbſt, die unter den Roevxe 


Elnunddreißigſter Brief. 1537 
Kunde Deines Namens; Gott wird von Ke gekannt, und 
diele denten ſchlecht von ihm ungeſtraft A in Schwa 
bon Skaven, die ten Tragfefjer dur DE und gan 
eppen; jener bö und Ädyfigfte ott traͤgt ſelbſt A 
leg, Schönpeir nicht, och Starke olüc, 
lich mad on von dieſe Dingen bält Auer 
aus. Dan fuche alfo as, was ni i Tage fich 
derſchlechte t, de G nichts Enfgegenften kann „Und 
ieß iſt ⸗ Der G iſt; aber einer haben guter, großer. 
ie anderg möchte u einen ſoſchen nennen, einen 
ott, d einem nſchenkörper Is feiner Herberge 
wohne? folder G& ſt kaun ſich ein laden und 
Feigelaffene ebe SU, a Inem fchen Ritter 
en. Wa iſt ein R miſcher Ritte ‚ein F aſſener, ein 
Sklave? 6 Ehrgeiz od erechtigkeit tſprun⸗ 
gen. Au medrigſten Winker kann man ſich in deu 
Himmer ſchwin er hebe Dich Nur, und 
— — wardi⸗ der Gottheit 
Bilde auch Digg! 
ʒoſche ildung tnicht⸗ it Gold und Silber zu 
haffen nie wird us dieſem ein Gott dh liches Bild 
Drägt werden, nee, ar, d Gotter ä waren 
irden fie qus Thon fi | 





1538 Seneca's Briefe. 


Zweiunddreißigfler Brief. 
Zieht Dich zurück und ftrebe, Dir ſelbſt an: 
sugehören. 

Ich forfche nach Die und frage Die Leute, welche aus 
Deiner Gegend kommen, geflifjentfich aus, was Du thueft, wo 
und mit Wen Du lebeſt. Du Fannft mich nicht täufcben: 
ich bin bei Dir. Lebe fo, als ob ich hörte, was Du thuft, 
ja, als ob ich es fähe. Wihft Du willen, was mir von Al— 
(em, das ich von Dir höre, am meiften Freude macht? Daß 
idy nichts höre; Daß die Meiften von Denen, Pie ich frage 
nicht wiſſen, was Du thuſt. Died führt zum Heil, nicht zu 
verfehren mie Unäpnfichen, ganz Underes Wünſchenden. Ich 
habe zwar die Zuverficht, Du könneſt nicht abgelenkt werben, 
und werdeft bei Deinem Vorſatz befarren, audy wenn .ein 
Schwarm von Verführern- Dich umgiebt. Was ift es affe, 
Das ich fürchte? Nicht, daß fie Dich umwandeln, aber daß 
fie Di hindern. Denn viel fchaset aud, Wer und auf: 
Hält, zumal bei Liefer Kürze des Lebens, das uns noch Bür: 
zer wird durch unſern Unbeſtand, indem wir ed bald fo, bald 
anders von vorn anfangen. Wir zerreißen es in Theilchen 

und zerftüdeln es, Eile denn, thenerfter Lucilins: denfe, 
wie Du Deine Schrifte verdoppeln würdeft, wenn der Feind 
- Dir anf dem Nacken wäre, wenn Du beſorgteſt, die Reiter 
fprengen heran und fepen den Fliehenden auf den Ferſen 
nad. And Dieß gefchieht wirklich: man ſezt Dir nach. Be: 
Sihleunige Deinen Lauf und entkomme. Bringe Dich in Gi: 
Derpeit, «nd betrachte oftmals, wie ſchon es fen, fein Leben 
ia vollenden noch vor dem Tode, vvd Lana WIE RUE den 


Zweiunddreißig ſter Brief. 1539 


Reſt feiner Zeit au erwarten, und auf ſich ſelbſt zu ſtehen, 
in ben Bells eines glücklichen Lebens eingefezt, das nicht 
glückticher wird, wenn es länger wird. O wann wirft Du 
jene Seit fchauen, wo Du einfehen wirft, daß tie Zeit Dich 
nichts angeht; wo Du ftilfe und friedfam, unbeforge um den 
morgenden Tag, in Dir feibft volle Genüge haben wirft! 
Was es denn ſey, fragſt Du, das die Menfchen fo begierig 
nach dem Künftigen macht? Niemand gehört fi feibit an. 
— Etwas ganz Anderes, als einft Deine Eltern Dir wünfd): 
ten, wünfche ich Dir, nämlich die Verachtung aller jener Dinge, 
deren Fülle fle Dir erflehter. Mit ihren Gelübden plündern fie 
Viele, um Dich zn bereichern: denn Was fie Dir zumenden, 
muß einem Andern genommen werden. Ich winfche Dir den 
Beſitz Deiner felbft, Damit der von unftäten Entwürfen tms 
hergetriebene Geift endlich ficher und feit flche; Damit er an 
fi) ſelbſt Gefallen finde, und nach Erfenntniß der wahren 
Güter (die man beflzt, fobald man fie erkennt) eines Zus 
wachfes an Jahren nicht bedürfe. Der allein ift über die 
Nothwendigteit hinausgetommen, hat ausgedient und ift frei, 
welcher lebt nach vollendetem Leben. 


— — .. 





Lucius Annaus Seneca des Philofopben: 


Werte 


Dreizehbentes Bändchen. 





Briefe 
überfest | 
von Ä 
Auguft Pauly, ‚ 


Profeffor am obern Symnaflum zu Stuttgart. 





Zweites Bändchen. 





Stuttgart, 


Verlag der 5. B. Metz le r'ſchen Buchhandlung. 

. Sir Dehreid in Eommiffion von Miriänern‘ U ARIREE 
| in Wien, 

418 3 % 


p” 


Dreiunddreißigfier Brief. 


Uns den Schriften der Stoifer find Peine ein— 
zelne Gedanken auszuheben: man muß ihre 
Werte ganz in fidh aufnehmen, 
Du verfängft, daß ich auch diefen Briefen, wie den frils 
heren, einzelne Ausſprüche unferer *) gıoßen Meister beifüge. 
Sie waren nicht um Blümchen bemüht: ihr Vortrag iſt. 
. mannhaft und and Einem Guffe; mo einzelnes Herporragende 
ſich bewerklich macht, herrfcht Ungleichheit. Man bewundert ' 
nicht einen einzelnen Baunı, wenn Ter ganze Wald fich zu gfeis - 
cher Höhe erhoben hat, Mir Ansiprüchen folcher Art find 
Gedichte angefüllt und Geſchichtwerke. Ich wolite daher 
nicht, daß Du jene Sprüche für Epicnrus Eigenthum hiele. 
teft: fie find allgemeines, zumal unfer Gut. Allein fie fallen 
dort um fo mehr auf, weil fie feitener erfcheinen; weil fe 
unerwartet find; weil ed befremdet, ein ſtaxkes Wort von eis 
nem, Manne zu hören, der fih zur MWeichtichkeit bekennt. 
So lautet wenigſtens dad gewöhnliche Urtheil: mir jedoch iſt 
auch Epicurus ein Starker, obwohl er weich gekleidet geht. 
Stärke, Thatkraft und ein kampiräfiger Sina tun AS Sn 
bei Verfern finden, wie bei dem Lerdrgeattiiten. DS 


2 Der Stoiter nämlich. 


1546 Seneca's Briefe. 


alfo Keine [aus floifchen Schriften] ausgehobenen uı 
hoiten Säge: wie bei Intern das Einzelne, was a 


‚wird, fo ift bei uns das fortlaufende Ganze U 


alfo nicht jenes Mugenfällige; wir täufchen den Käı 
um ihn dann, wenn er eingetreten, nichts weiter. 
faffen,, als wa3 vor der Thür hängt. Ihm felbft 
wir, wo er will, die Proben sugzufuchen. Ge 
wollten einzelne Gedanken aus ter Menge ausjonde 
folften wir fie zueignen? Dem Zeno, oder Eleint 
Ehryfirpus. oder Pandtiug, oder Poſidonius? Wir ft 
keinem Könige: Jeder gehört ich ſelbſt an; bei Jen« 
wird, was Hermarchus oder Metrotorud geſagt, Eü 
gefchrieben. Aucd, was iraeıd Einer von jener € 
geſprochen, ift unter der Zeitung und dem geheiligten 
jenes Kinzisen gefagt. Wir Fönnen, behaupre ich, 
wir's verfuchten, aus der fo großen Menge gleic 
Dinge nichts Einzelnes ausziehen. 

Nur der Dürftige zählet fein Vieh. **) 
Wohin Deine Blicke fallen, werden Dir Stelien 
die ſich auszeichnen würden, wenn man fie nicht un 
artigen laͤſe. 

Gied alſo die Hoffnung auf, die größten Geiſter 
zuge Eoflen zu können: Da mußt le ganz fihauen, 


. mit ihnen befinäftigen. Ein Plan wird durchgefü 


ua cinem vorgezeichnerer Grundriſſe fügt ſich 
Acomert zufammen, ans welchem Nichts herausaez 


* 
Aan ohne den Einſturz ded San. AU 


7 Dem Evicur. 
2 Ouib. Metam. XIII, 821. 


Dreiunbdreißigfter Brief. 1947 


entgegen, daß Du einzelne Glieder, jedoch nur am ganzen 
Menihen, betrachtet. Die Frau, deren Fuß oder Arm - 
man rühmt, ift noch nicht fchön: nur Die ifbe, deren 
ganze Geſtalt von der Bewunderung der einzelnen Theile 
absiceht. — Indeſſen, wenn Dar darauf Eeftehft, fo will ich 
nicht fo Färglih mit Dir verfahren: Du folift ed ans vollen 
Händen. befomnen. Die Menge [folcher Ausſprüche] ift uns 
geheuer; fie liegenlallenthalben zur Sand, und find nur zu 
nehmen, nicht zu fammeln. Denn fie entfallen nicht einzeln, 
fonderu fie ſtrömen in umunferbrochener Folge, und find unter 
fih) verknüpft. Und ich zweite nicht, daß fle Uneingeweihten 
und Solcdyen, die erſt an ter Thüre zuhören, vieles nüpen 
fönnen. Denn einzelne Eurzgefaßte, wie in ein Versmaaß 
eingefchloffene Gedanken haften leichter. Daher geben wir 
den Kuaben Denkſprüche, und was die Brieden Chrieen 
Laligemeine Sentenzen] nennen, zum Auswendiglernen, weil 
der jugendliche Geift, der eines fch..elleren und zugleich, ſiche⸗ 
ren Fortſchreitens noch nicht fähig iſt, dieſe leicht erfaflen 
kann. Dem Manne ſteht e8 übel an, nad folchen Blumen 
au hafchen, auf wenige, albekannte Sätze ſich zu flüben, und 
bloß auf fein Gedächtniß zu fußen. Er muß einmal auf ſich 
felbft fteheu; er ſpreche dergleichen aus ſich, nichtdaus der 
Erinnerung. Es macht Pıin Alten oder dem Manne, der dem 
Alter nahe ſteht, Felne Ehre, nur aus dem Lehrbuch weife 
zu feyn. „Dad fagte Zee” — und was fagft Du? „Dieß 
Cleanthes“ — und Du? Wie lange wm UA DI DIS 
unter einem Andern ‚bewegen? Thw and Ds re: 
welde des Behaltens werth ſeyen; brin® un Ra I 
dem Deinigen zu Tage. Alte Jene, Tr Mt Se 


1548 | Seneca's Briefe. 


bie nur Ausleger des Fremden find, und unter fremden 
Schatten ſich bergen, haben meines Bedünkens nichts Ehren» 
haftes: fie wagen es nicht, endlich aud) Das zu üben, wa 
‚ie fo lange gelernt. Ihr Gedächfniß übten fie an fremdem 
Stoffe; .aber ein Anderes ift Behalten, ein Anderes ift Wil: 
fen. Behalten heißt einen dem Gedächtniß anvertranten 
Segenftand bewahren: Wiffen hingegen ift, Fegliches zu fei- 
nem Eigenthun machen, und nicht itets von der Vorfchrift 
abhängen, oter unaufhörlich nah dem Lehrer blicken [und 
fprechen:] „Das hat Zeno gefngt, Dad’ Eleanthed. Es fey 
ein Unterſchied zwijchen Div und einem Buche, Wie lange 
noch wirt Du fernen? lehre nun auch. Warum fol ich hö- 
zen, was ich lefen Eau? „Viel,“ fagt man, „thut die lebendige 
Stimme. Doch nicht die, welde fremden Worten gelichen 
wird, und Dienfte des Abſchreibers verrichtee. Nimm noch 
hinzu, daß Diejenigen, welche nie mündig werden, ihren Bor: 
gängern erſtlich auch darin folgen, worin noch jeder von feis 
nem Vorgänger abwich; zweitens ihnen in einer Sade fol 
gen, die noch immer geiucht, aber nie gefunden werden wird, 
wenn wir und mie dem bereitd Gefundenen begnügen. Aus 
ßerdem, Wer einen Mudern folge, findet Nichts, ja er fucht 
. nicht einmal, — „Wie? id) foll alfo nie in den Fußtapfen 
der Vorgänger wandeln?’ Nun, id) werde mic, des alten 
Weges berienen; finde ich aber einen näheren und ebeneren, 
fo bahne ich mir diefen. Die vor uns ſchon jene Ideen an« 
Fegten, find nicht unfere Gebieter , ſondern unfere Führer. 
Die Wabrheit ſteht Alten ofen; wody iR Üe mar in Biktua 
tenonmen, und Vieles von ihr verticiit won Ten Trmue 


v Geſchlechtern. 


— — — 


WVierunddreißigſter Brief. 1549 
Vierunddreißigſter Brief. 
Freude über Zucirius Fortſchritte in der 
Weisheit. - 
Ich fühle midy groß und befeligf, mein Alter weicht und 
ugendwärme durchdringt mid), fo oft ich aus Dem, was 
u thuſt und fchreibft, wahrnehme, wie weit Du, nadıdem 
a die Menge längſt hinter Dir gelaffen, nun über Did) 
(oft Hinansfehreiteft. Wenn der Lantmanı des Baumes fic) 
eut, den er zun Tragen gebradyt: wenn der Hirt an ben 
tugebornen feiner Heerde Vergnügen findet; wenn, Wer 
ven Pilealing erzogen, in feiner Jugend jich ſelbſt verjüngt 
blickt: was wird, dünkt Dich, der Erzieher eines Geiftes 
npfinden, wenn er, Was er als Zurfes gebildet, ſchnell Heise 
igereift ſieht? Ich mache Anfpruch auf Dich: Du bift mein 
zerk. Ich habe, da ich Dein Weſen erkannte, Hand anges 
gt, habe Dich ermuntert, angefpornt, ließ Dich nicht Tanz 
im gehen, fondern trieb Dich zuweilen an, und thue noch 
nmer Daifelbe, aber ermuntere nur Einen, der, bereits in 
Alem Laufe, mid) gegenfeitig ermuntert. — „Was Anders," 
aaft Du, „will ich noch 2° Daran Tiegt das Meifte. Denn 
ad man von dem Anfang zu fasen pflegt, daß er dev Ar- 
it Hälfte ausmache, das gift audı, wo es fich vom Gemüthe 
indelt: man ift fhon zum greßen Theile gut, wenn man 
st werden will. Weißt Du, Wen ich gut nenne? Den Dolls 
ıdeten, Vollkommenen, den feine Matt, LERNTE 
achen kann. Diefen fehe ich in Die worand, wen Ds J 
rren und mit Ernſt ed Die angirgen set rss 
alle Deine Reden und Handinnaen wu 


1550 Seneca's Briefe, 


men und fich entſprechen, und ein und daffelbe Gepräge fra 
gen. Das Gemüth des Mannes, deffen Handlungen unter 
fih nicht harmoniren, iſt nidt in tec rechten Ordnung. 


Fuͤnfunddreißigſter Brief. 


Arbeite an Deiner Vervollkommnung, fo wirf 
Du mein wahrer Jreun®. 

Wenn id Dich fo angelegentlic, bitte, Dich, in der Weil: 
heit zu vervollkommunen, fo betreibe ich meinen eigenen Vor— 
fheil. Sch wünfche einen Freund zu befinen; und Die kann 
mir nur zu Theil werden, wenn Du, wie Du begonnen, fort: 
fähıft, Di angjubitten. Denn bis jezt liebſt Du mid; 
mein Freund bift Du nicht. „Wie fo? wären Dieß zweierlei 
Dinge?’ Allerdings; unähnliche fogar, Wer mein Freund 
if, liebe mih: Wer mich liebt, ift darum noch nicht mein 
Freund, Die Freundfdyaft nüzt jederzeit; Die Liebe ſchadet 
fegar bisweilen. Vervollkommne Did, wäre cd auch blos, | 
‚am lieben zu fernen. Beeile Did, aber, damit Du, während 
Du mir zu Bunte Did, vervollffommneft, SJene3 nicht für eis 
nen Andern gelernt haben mögeft. *) Wiewohl es mir fihon 
jest Genuß gewährt, mir vorzuftellen, wie wir Eines Sinnes 
ſeyn, und wie, was meinen Jahren au frijcher Kraft abgeht, 
die Deinigen mir, wenn gleich der Unterfchicd chen nicht groß 
ift, wieder erfegen werden: doch wünfche ich fehr an der 
2BirPlich£eit mich zu erfreuen. Zwar wahen uns Die, welche 
wir lieben, auch in der Abwelenheit Treuie, AAUTUEN 
— — 


er 
ID 5. damit ich die Sruͤchte Derard Bederevoð wu v 


Sechsunddreißigſter Brief. 1551 


berflächlich und vorübergehend. Anblick, Gegenwart, Um: 
ang gewähren erft ein Tebendiged Dergnügen, zumal wenn 
lan nicht nur vor ſich ficht, den man wünſcht, fondern and), 
ie man ihn wünſcht. Bringe mir daher Dich felbft, ein 
errliches Geſchenk! und um ed Dir dringlicher zu machen, 
edenfe, daß Du fterbiich biſt, und ich ein Greid. Komm' 
feıd zu mir, doch zuvor nody zu Dir felbft. Vervollkommne 
Yich, und vor Allem jorge, daß Du mit Dir felbft überein: 
im neſt. &o oft Du erfahren willft, ob etwas gethan fey, 
, beobachte Dich, ob Du heute noch daffelbe wolleft, was 
eftern. Ein Wechſel des Willens verräth ein Gemüth, das 
uf Wogen treibt, *) und, wie der Wind weht, bald da bald 
ort zum Vorſchein kommt. Was feft ift und mwohlgegrüne 
et, treibt nicht umher. Diefes Glück Hat nur ter vollendete 
Beife; einigermaßen aber auch, der ed zu werden angefan: 
en, und fchon Yortfchritte gemacht hat; nur mit dem Un⸗ 
erfchied, daß Diefer noch in Bewegung geräth und fchwanft, 
yiewohl er feinen Standort nicht verläßt: Jener aber geräty 
icht einmal in Bewegung. 


Sechsunddreißigſter Brief. 
Berachte die Urtheile der. Menge und den Tod, 


Ermuntere Deinen Freund, hochſinnig Diejenigen zu 
erachten, welche ihn Vorwürfe machen, daß er Schatten 
nd Muße gefucht, daß er feine alängente 

: x PICS 
“1, und, während er noch mehr reiten TIÄME, 


) Natare, . j 





1552 Seneca's Briefe. 


tern die Ruhe vorgezogen hat. Wie weife er für feinen 
Nutzen gehandelt, fol er ihnen täglich beweifen. Leute, die 
man beneidet, hören nicht auf, fich zu verändern: Einige wer: 
den erdrüdt, Andere ſtürzen. Es iſt ein unruhig Ding um 
das Glück. Es treibt fi) felbft under, und verwirrt das 
Gehirn auf mehr ald eine Weile. Es reizt den Einen zu 
Diefem, ven Undern zu Jenem — Diefen zum Streben nad) 
Macht, Jenen nad) Wohlleben; Diefe macht ed anfgeblafen, 
Jene verweichlicht ed und löst fie gänzlich auf. „Doc Eis 
ner und der Andere kann ed gut erfragen.‘ So, mie Man: 
cher den Wein. Laß Dis nicht überreden, zu glauben, daß 
der Mann glücklich fey, den Diele belageen: man läuft zu 
ihm wie zum Teiche; die eng dieſem ſchöpfen, trüben ihn auch. 
-- Sie nennen Deinen Freund einen närrifchen Menfcen, 
einen Einfältigen. Aber Du weißt ja, es giebt Leute, Die 
verkehrt fprechen und gerade das Gegentheil ausdrücken. Gie 
nannten ihn gzlücklich: war er's deshalb ? Eben fo wenig 
kümmert es mich, daß er Manchem rauher und widerwärfiger 
Gemüthsart zu ſeyn scheint. Ariſto pflegte zu jagen: „Ein 
Jüngling von finſterem Weſen fey ihm lieber, als cin fuflis 
ger, den die Menge liebenswürdig findet. Ein junger Wein, 
den man raub und herbe finde, werde mit der Zeit gut: der 
ſchon wohlſchmeckt, fo lange er noch auf der Hefe liegt, ſey 
nicht von Dauer. Laß fie ihn doch einen finftern Menſchen 
fchelten,, der feinem eigenen Fortkommen feind fey: es wird 
dh mit der Zeit geben , dieſes fnftere Weien. Beharre er 
zur dabei, die Tugend zu üben, dad tiere Ballen in da 
uruneßmen, nicht jenes, wovon NV R SIR 
nögt, (ondern Jenes, womit dad BUN 


N 


Sechs unddreißigſter Brief. 


fol. Denn jezt iſt für ihn die Zeit des Lernend. — ı 
ob es irgend eine Zeit gabe, da man nicht fernen müß 
Keineswegs! Aber, wie es für jedes Alter auſtändid iſt 
iernen, fo doch nicht für jedes Alter, ſich unterweifen 
laſſen. Es ift eine ſchimpfliche und lächerliche Sache um 
nen alten Mann, der das Alphabet lernt. Der Juͤngli 
muß fammeln, der Greis gebrauchen. Du wirft alfo für D 
felbft etwas fehr Nüsfiches thun, wenn Du Ienen fo g 
machſt, ats moglich. Soiche Wohfthaten, ſagt man (und f 
find unftreitig erften Ranges) foll man fuchen und ertheiler 
welche zu aewähren eben fo vortheilhart ift, als zu empfan 
gen. — Uebrigens hat er nun feine freie Wahl niehr: ei 
hat jein Wort gegeben; und es it weniger fchimpflich, einen 
Stänbiger , als eine aute Hoffnung zu täuſchen. Um jene 
Schuld abzufragen, brandıt der Kaufmann Glück auf feinen 
Seerahrten, der Landmann Fruchtbarkeit Des Hodeng, den er 
baut, und die Gunſt des Himmels: Diefer aber kann, was 
er ſchuldet, mit tem blofen Willen leiften. Ueber den Cha: 
rakter hat Das Glück Feine Gewalt: Bicfen bringe er im 
Ordnung, tag fein Gemüch in ber ungetrübteflen Ruhe zu 
jener Vollendung gelange, wo es weder Verfuft noch Gewinn 
erfährt, fondern, die Dinge mögen gehen, wie fie wollen, ftets 
in derfeiben Verfaſſung bleibt, wo es, wenn ihm Güter ter 
Melt in Menge zufellen, gleichwohl hoch über feinem Beſitze 
ftebt, oder wenn ihm ter Zufall Etwas davon oder UL 
entreißt, dennody nicht Eleiner wirt, — Wire ur iu WS 
sBerlande geboren, fo würde ex Scan Mb KU TEN Ne 
annen; ober in Germanien, ſo würde Dei gr . 
Achten Burffpieß ſchwi us er ya 8 2& 
ngen; Hätte x % 


x 


1954 Seneca's Briefe. 


Ahnen gelebt, fo hätte er reiten und den Feind aus d 
turchbohren gelernt, Dergteichen väth cder geken 
Jeden die Erziehungeweife feines Volke, Aber auf 9 
Diejer zu dentfen? Auf Das, wos gegen ale Wa: 
gen jede Gattung von Feinden treffliche Dienfte thut, 
Verachtung des Todes, der unftreitig etwas Yurchtt 
fih hat, womit er unfere Gemürh vr, welche die Po 
Selbſtliebe ſchuf, zurückſiößt; denn wir häften nicht 
uns gegen ihn zu rüften und zu flählen, wenn ein 
der Zrieb uns ihm eben fo entgegen führte, wie 
und zur Selbſterhaltung gedrungen fühlen. Nieman 
um geruhigen Herzens, wenn es feyn müßte, auf R 
liegen ; fondern darum härtet man fich ab, daß man di 
unter feiner Folter beuge, daß man, wenn es feyn m 
hend, bisweilen auch wand, auf dem Wall Naͤchte durı 
und nicht einmal auf feinen Spieß ſich flübe, weil D 
anf irgend eine Stütze ſich lehnt, nicht felten der Sc 
(leicht. — Der Tod ift fein Ungemach; denn notl 
müßte Der felbft feyn, für den er ein Ungemac, wäre 
Dich aber ein fo großes Verlangen nad) einer längern 
beherrfcht, fo erwäge, daß Nichts von allen Dem, wu 
nen Blicken ſich entzieht, und’in den Schooß ber Nat 
welchem cd hervorging, und bald wieder hervorgehei 
zurückkehrt, vernichtet werte. Es hört auf, aber es 
nicht. Und der Tod, den wir fürchten, deffen wir uı 
gern, unterbridyt dag Leben: ix tout et ung nicht. € 
svieber ein Zag kommen, der und ind Tr ati 
Deffen würden ſich Diele weigern, hätten \e Tea 
hgene vergeffen. Dody ein audermal wuerde \ 


Siebenunddreißigfter Brief. 1555 


icher zeigen, daß Alles, was zu vergehen fdheint, nur vers 
sandelt wird. Wer geht, um wiedergutehren,, darf ruhia 
eyn. Betrachte den in ſich zurückgehenden Kreislauf der 
Yinge, und Du wirft finden, daß Nichts in dieſer Welt zus 
ichte wird, fondern Alles in eincm ſteten Wechſel abnimmt 
nd wächst. Der Sommer vergeht, aber ein folgendes Jahr 
ringt ihn wieder; der Winter iſt verſchwunden, aber mit 
einen Monaten wird er zurückkehren; die Sonne wird ver⸗ 
wife von der Nacht, aber fle ſelbſt wird bald der Tag ver⸗ 
reiben. Diefer Umlauf der Geſtirne wiederholt nur, was 
ergangen ift, und unabläſſig hekt fich eine Haͤlfte de⸗ Him⸗ 
nels, die andere ſinkt nieder. 

Ich ſchließe, und füge nur das Eine hinzu, daß weder 
dinder, noch Knaben, noch Verrückte den Tod fürchten, und 
aß es die größte Schmach wäre, wenn die Vernunft uns 
icht eine Furchtloſigkeit geben könnte, zu welcher die Unver⸗ 
nuft gelangen läßt. 


Siebenunddreißigfter Brief. 
Strenger Dienft der Weisheit: fie führt zur 
| Serlbftftändigkeit. 
Was am meiften Dich bindet, nad einem wackern Sinn 
a freben, ift Dein Verfprechen, ein waderer Mann zu feyn. *) 
)u haft durch den Kriegereid Dich verpflichtet, Bar "DB 


— 





2 Anwendung ber Formel des sacramentum, sure SS 
eides (virum bonum se praebiiurum ec.) X 
ber Weisbeit. 


1556 | - Seneca’d Briefe.- 


fast, cs fen dieß ein. bequemer und leichter Kriegsdienſt, Hat 
Dich zum beften: ich will nicht, daß man Dich täuſche. Dieſe 
fo ehrenvolle Verpflichtung, wie jene ſchmähliche [der Gla⸗ 
diatoren], gefchieht auf dieſelben Worte: „ſich brennen, fih 
feſſeln, ſich niederhauen zu laſſen.“ Won Jenen, welche ihre 
Arme dem Amphitheater verdingen, und ſich füttern laſſen, 
um ihr Blut dafür zu geben, will man verſichert ſeyn, daß 
ſie dergleichen auch wider Willen leiden; von Dir, daß. Du 
es willig und gerne leideſt. Jenen iſt geſtattet, ihre Waffen 
zu ſtrecken, und das Mitleid des Volkes zu verſuchen: Du 
darfſt weder die Waffen ſtrecken, noch um Dein Leben bitten: 
hohen Hauptes und unbeſiegt mußt Du ſterben. Was nüzt 
es auch, wenige Tage oder Jahre zu gewinnen? Wir werden 
geboren, um auf den Tod zu kaͤmpfen. „Wie werde ich mich 
aber iosmachen?“ Entfliehen kannſt Du der Nothweundigkeit 
nicht: überwinden kannſt Du fie. Es werte Bahn! md 
diefe Bahn wird die Philsfophie Dir öffnen. Zu ihr begieb 
Did, wenn Du in Sicherheit, wenn Du forgios und glücklich, 
wenn Du, was Das Höchfte ift, frei feyn willſt. Anders Bann 
Dir Dieß nicht werten. Es ift ein niedriges, verächtiiches, 
gemeines, kriechendes, vielen und wüthenten Leidenſchaften 
unterworfenes Weſen um die Thorheit. Dieje fo Harte, 
bisweilen abwechfelnd, bisweilen zugleid, Herrfchenden Gebie⸗ 
ter hält die Weisheit von Dir fern: fie allein ift Freiheit. 
Nur Ein Weg führt zu ihr, und zwar ein gerader: Du 
Zarmft nicht irren; wandte ihn mit (eſtem Schritt. Willſt 
Du Dir Alles unterwerfen, ſo wuntermiet DI eh ver Dec 
nunft. Du wirft Diele vegieren , wenn die Demut DIE 
egiert. Bon ihr wirft Du lernen, wat Ind WR Dun 


Ahtunddreißigfter Brief. . 1557 
reifen ſollſt, und wirft nicht erſt anf die Dinge verfallen. 
Richt leicht wird Einer zu fügen wiffen, wie ed kam, daß er 
a8 wollte, was er will: er ließ fich nicht durch Ueberlegung 
u Etwas führen, ſondern ward durch irgend einen Drang 
arauf geſtoßen. Eben ſo häufig rennt das Glück gegen uns 
u, als wir gegen das Glück. Schimpflich iſt ed, nicht zu 
ehen, ſondern ſortgetragen zu werden, und auf einmal 
sitten im Wirbel der Dinge ſtannend zu fragen : „Wie bin 
9 hieher gekommen?“ 


Achtunddreißigſter Brief. 


Yie beſte Art der philoſophiſchen Mittheilung. 
Mit Recht dringſt Du darauf, daß wir dieſes brieflichen 
zerkehrs häufig pflegen. Am meiſten nüzt eine Mittheilung, 
ie in kleineren Abſchnitten in die Seele eingeht: ausgear⸗ 
eitete, vor einem horchenden Volke hinſtrömende Vorträge 
aben mehr Gerauſchvolles, weniger Vertrauliches. Die Phi⸗ 
yrophie iſt ein guter Rath: einen Rath ertheilt man nicht 
lit Schreien. Mitunter muß man ſich zwar auch jener — 
aß ich ſo ſage — volksredneriſchen Form bedienen, wo ein 
inentfchloffener anzutreiben iſt. Aber wo es ſich nicht darum 
andelt, daß Einer lernen wolle, fondern daß er lerne, Hat 
tan ſich zu diefer gelaffeneren Sprache zu wenden. Sie geht 
sichter ein und haftet beffer: denn man brauur N wär, 
ber wirffame Worte. Man ſtreue fe nd wir ST 
r: fo Plein biefe find, fo entwictein Ne do& — ON» 
igueten Boden treffen, ihre Kyäfte, mW EN 
Seneca 158 Bbchn. 


1558. Seneca’s Briefe. 


kleinſten Umfange das größte Wachsthum. Go aud) die Ver: 
nunftwiffenfehaft: fie erſtreckt fich beim erſten Unblick nicht 
weit: im Wirken wächst fie. Nur Weniges ift es, was ges 
fagt wird; aber wenn es die Seele wohl aufgenommen, ers 
flarkt ed und wächst empor. Es verhält fih, behaupte id, 
mit Zchren, wie mit Saamenförnern: fle wirken Großes, fo 
Hein fie find; nur wuß, wie ich ſazte, ein Lüchtiges Gemüth 
ſich ihrer bemächtigen und fie in ſich fchließen. Vieles wird | 
es denn hinwieder ſelbſt erzeugen, und mehr wiedergeben, ald 
ed empfangen hat. 

| 

| 

| 


Neununddreißigſter Brief. 


Das Beifpiel der Weifen erhebe.den Geift über 
das Niedrige und Sinnliche. 


Das [phifofophifchel Sedentbuh, das Du wünſcheſt, 
werde ich in forgfältiger Ordnung und in bündiger Kürze 
abfaffen; wiewohl ich Dir zu bedenken gebe, ob nicht eine 
ordentliche Ausführung von größerem Nuben wäre, als diefe 
— Breviarien, wie man fie jezt nennt, oder Summas 
rien, wie fie hießen, da man noch Latein ſprach. Jene Art 
iſt mehr für den Lernenden, diefe für den Kenner Bedärfniß: 
denn jene belehrt, diefe erinnert. Sch wiki Dir jedoch mit 
Beiden dienen. Daß ich überall die Gewährsmänner nenne, 

Sarfft Dis nicht verlangen: wur Wer unbekannt iſt, beruft 
Rd anf bekannte Namen. Ich werde Ks Va But \k 


’'en, ba8 Du wünſcheſt, ader aui meine De — 
SE Du ja Biele, deren Schriſten mon mut 


Neununddreißigſter Brief. 159 


gehöriger Ordnung liedt. *) Nimm das Verzeichniß der Phi⸗ 
loſophen zur Hand; fchon Dieß muß Did) weden, wenn Die. 
ſiehſt, wie Viele für Dich gearbeitet haben :. Du wirft wäns 
fhen, auch, einer von ihnen zu feyn. Das -ift das Schönfte 

an einem edlen Gemüthe, daß es für das Gute fid, begei= 
ftern läßt. Einen Manı von erhabenem Sinn erfreut das 

Niedrige und Gemeine nicht; nur großartige Ideen ziehen. 
ihn an und erheben ihn. Wie eine Flamme immer gerade 
nach oben firebf, und eben fo wenig niedergehalten. werden, 
als ruhen kann; fo ift auch unfer Geift in fteter Bewegung, 
und defto regfamer und thätiger, je feuriger er ift. Und 
glücklich, Wer diefen Drang auf das Beffere richtet! Er wird 
dem Bereich des Schickſals fich entziehen, wird das Glück 

mäßigen, das Unglück mindern, ınd was Andere bewundern, 
verachten, Einem großen Geifte gebührt es, auf das Große 
herabzufehen, und das Gemäßigte dem Vebertriebenen vor= 

uziehen: denn Jenes ift nüptich und flärkt die Lebenskraft, 
Diefes ſchadet durch feinen Heberfluß.. So drückt ein zu üp⸗ 
piges Wachsthum die Suat zur Erde: die Zweige brechen: 

unter ihrer Laſt; allzu fetter Boden hindert die Reife. Daf- 

felbe widerfährt aud) den Gemüthern, welche ein übermäßi= 

ges Glück außer Faſſung bringt: fle fehaden nicht nur Ans 

dern, fondern ſich ſelbſt. Wer ward je von einem Feinde fo 
fehr gemißhandelt, ald Mancher von feinen Lüften? Solchen 


+) So Olshauſen. Der Sinn ber Worte: Interim muftos 
habes, quorum scripta nescio an satis ordinent, if mie 
zweifelhaft. Gebrauchte vielleikht Seneca neo = SZ 
gen ben Gebranc dee Späteren olfimattr, WW ST 
gen: — „deren Schriften den SR lädt \S 


fam zu ordnen vermögen‘ — 2 4 * 


a5bo Seneca's Briefe. 


Leuten könnte man ihre zügelloſe Leidenſchaft, ihre u 
nigen Begierden blos darum zu Gute halten, weil ſie 
was ſie gethan. Und nicht mit Unrecht quält. fie dieſe 
nothwendig muß eine Begierde in's Ungemeſſene au 
fen, die einmal das natürliche Maaß überſprungen ha 
Natürliche bat feine Gränze; eitle Gelüſte find ohne 
ten. Das Nothwendige wird durch Das Bedürfniß be 
das Ueberflüſſige — in welche Gränzen willft Du 
fchließen ?_ Sie verfenten fid, in Lüfte, die, zur Gen 
geworden, ihnen unentbehrlich iind; und nun find fie 
glücklichſten, weil fie es dahin gebracht haben, daß, W 
flüfjig gewefen , ihnen nothwendig wurde, Sie fröf 
Luft, und genießen fie nicht ; und was aller Gebrechen | 
ſtes ift — fie lieben ihre Gebrechen. Dann aber 
Maaß des Unheild voll, wann das Schändliche ni— 
vergnügt, fondern fogar gefälft; und da ift Peine Hül 
wo, was LZufter wer, zur Sitte wird. 


Vierzigſter Brief. 
Sprich langſam. 

Sch bin Dir dankbar, daß Du mir häufig fchreid 
es ift Dieß die einzig mögliche Weife, mir Dich f 
zeigen. Jedesmal, wenn ich einen Brief von Dir 

find wir zuſammen. Wenn: Bildniffe abwefender 
zus Bergnöügen machen, weil ſe dad Auiimin e 
und uns m:t einer nidytigen Xäuihung her dod 
Ted Umganges tröftenz um wie wiel anaenehiiet 


Dierzigfter Brief. 1561: 


nicht Briefe ſeyn, Die uns Achte Spuren des’ abmwefenden 
"Freundes, ächte Merkmale deffelben überliefern? Denn was 
bei’m Anblicke feibft.das Angenebmſte ift, gewährt auch die 
dem Briefe aufgedrückte Freundeshand — das Wiedererkennen. 
Du hörteft, fchreibft Du mir, den Philoſophen Serapio, 
als er Deine Gegend [Sicilien] befuchte: er pflege feine 
Worte mit großer Haft gleichfam zufammen zu ballen, Taffe- 
fte fi) nicht entſtrömen, fondern verfchlude ffe Halb und: 
dränge fie heraus; denn es kämen ihrer zu viele, ald daß: 
Eine Zunge ihnen genügte. Dieß billige ich nicht an einem Phi⸗ 
loſophen, deffen Vortrag, wie jein Zeben, regelmäßig feyn muß: 
geordnet aber ift Nichts. was übereilt wird und haftig bes 
trieben. Gene heftige Sprache, Die ohne Unterbrechung wie 
Schneeflocken daherſtürmt, weist-Homer dort dem Redner 
anz, bie fanfte entfließt ‚‚Tüßer denn Honig’ dem Greife. 
Glaube mir, diefe reißende, überfliömende Gewalt der Rede 
paßt mehr für einen M-,ttfchreier, als für Den, weicher 
eine große und ernfte Sache behandelt und ald Lehrer fpricht. 
Sein Vortrag foll eben fo wenig fröpfeln-, ald in Strömen 
fib ergießen; fou das Gehör weder in Spannung verſetzen, 
noch überhäufen. Denn auch jene Wertarmurh und Dürftig- . 
keit hat ficy eines minder aufmerffamen Zuhörer zu erfreuen, 
weil er über tem langfamen, oft unterbiochenen Gang ver⸗ 
drüßtich wird; doc, ſezt fich leichter feft, auf was man wars 
tet, ald was voruberfliegt. Man fagt ja, daß man dem Schü⸗—⸗ 
ter die Lehren beibringe: aber was eht. wird YXSVS& 


bramt. Eın Vortrag ferner, welder Üie Ber Hurt 


£igt, muß ungefünftelt feyn und einiodz NM er 
dem BIE aber hat nichts Wanıed vb De 


1564 Seneca'd Briefe. 


bis zu Ende. Es giebt jedoch Dinge, welche einer Nation mehr, 
der andern weniger gut anftehen. Bei den Griechen läßt 
man fih eine folche ungebundere Weife gefallen; wir find 
fogar beim Schreiben an Unterſcheidungspunkte gewöhnt. 
Huch unfer Cicero, mit weldyem die Romifche Wohfredenpeit 
einen Schwung nahm, gieng im Schritt. Die Römifche Rete 
ift mehr umfichtig, erwägend und giebt zu erwägen. Yabias 
nus, ein nach Leben und Wiffenfchaft und — was beiten 
nachfteht — an Redekunſt vortreffliher Mann, fprac mehr 
fertig ald haſtig, fo taß man ed Leichtigkeit, nicht Eil⸗ 
fertigfeit, nennen konnte. Jene geflatte ich auch dem 
Philoſophen; ich verlange aber nicht, daß fein Vortrag ohne 
alten Anſtoß fortfchreite: es iſt mir lieber, daß er fich auss 
ſpreche, ald daß er fih ausfchücte. Ich warne Didy um 
fo ernftticher vor jener Krankheit, weit fle Dich nur anwans 
dein Fönnte, wenn Du aufgehört hättet, Did) zu ſchämen. 
Du müßteft Die alle Schaam von der Stirn flreichen und 
Did) ſelbſt nicht hören: denn Vieles müßte jener unbeachtete 
Wortftrom mit fih führen, was Du ſelbſt tadeln würdeft. 
Kein, ich fage Dir: eine folche Verkehrtheit kann Dich nicht 
anwandeln, fo lange Dein Ehrgefühl nichts gelitten hat. — 
Uebrigens ift tägliche Hevung vonnöthen, ınd dag Studium 
außer dem Stoffe aud) den Worten zuzuwenden. Allein, aud) 
wenn diefe Div noch fo reichlich zu Gebote ſtehen, wenn fie 
Dir ohne alle Mühe von Munde fließen, fo muft Du fie 
Doch mäßig gebrauden; denn wie dem weifen Manne ein bes 
Meidener Bang ziemt , fo audy eine gemellene , wur wer 
gene Sprache. Das Ergebnip von diefem Yen win ie 


Az Sprich Iangfam. 


 Einundvierzigfier Brief. . 1565 


Einundpierzigfler Brief. 
Der Bott in uns, 
Du fhuft das Beſte und dag für Dich Heilfamite, wenn 
‚ wie Du ſchreibſt, in Deinem Streben nad) geiftiger Ver⸗ 
ing beharreft. Es ift aber thöricht, diefe zu wünſchen, da 
ı fie füch felhft geben Fann. Nicht zum Hinmel braucdıt man 
Hände zu erheben, noch deu Tempeldiener anzuflehen, daß er 
zum Ohre des Götterbildes, ald könnten wir fo mehr 
jrt werden, näher hinzutreten laffe: Gott ift Dir nahe, 
‚fe bei Dir, ift in Dir. Sa, mein Lucilius: eg wohnt in 
ein heiliger Geift, ein Beobachter und Wächter über 

8 Böſe und Gute in uns; diefer behandelt, wie wir ihn 
andeln, fo auch ung. Niemand iſt ein guter Menfih ohne 
tt. Oder könnte Einer, nicht von ihm unterftügt, über 
Glück fh erheben?..Er iſt's, der große und erhabene 
tſchließungen verleiht. In jedem Tugendhaften 

— — — — — vohne 

(Welcher Gott? iſt verborgen) ein Gott. *) 
nn Du einen Wald vol uralter, ungewöhnlich hoher 
ume findefl, welcher mit feinen dichten, über einander ges 
bfenen Welten und Zweigen Dir den Anblick des Himmels 
ſieht; fo weckt die Echabenheit diefed Haines, die ſtille 
jefchiedenheit, die wunderbaren Schatten dieſes freien und 
) fo dichten Gewölbes in Dir den Glauben an die Gotts 
. Und wo eine tiefe Grotte unter überhängendem Ge⸗ 
‚e in das ausgehöhlte Geſteih Ady inetuyeit | UN Di 
/chenhand gemacht, fontern wurd Natmtrite V = 


Birgit. en. VI, 352, _ °. 


1566 Seneca’8 Briefe. 


ausgektüffet, da wird Deine Seele eine Ahnund des Göttli⸗ 
chen durdybeben. Großer Flüſſe Urfprung verehren wir: wo 
irgend aus dunkelem Grunde ein gewaltiger Strom zu Zage 
bricht, flehen Altäre; warme Quellen find ung ehrwürdig; 
und manchen Seen hat fcha:tigtes Dunkel oder unergründete 
Tiefe Heiligkeit verliehen. Wenn Du eisen Mann findefl, 
in Gefahren ungebeugt, von Xüften unberührt, im Unglüd 
glüctich, in Mitten der Stürme ruhig, Der die Menſchen 
unter fi), neben fih die Götter erblidt — wird nicht Ehre 
furcht gegen ihn Dich ergreifen? Wirft Du nicht ſprechen: 
Ein folches Werfen ift zu groß und zu erhaben, als daß es 
dem ſchwachen Körper, in welchem es wohnt, gleichartig ſeyn 
Pönnte. Kine göttliche Kraft ift über ihn gekommen, Diefe 
hohe, immer gleiche Seele, welche die Welt ale zu Elein für 
fie vergißt, und, was wir fürchten und wünfchen, belächelt, 
diefe belebt eine himmliſche Macht. Eine ſolche Größe Bann 
ohne der Gottheit Mitwirkung nicht beſtehen. Darum iſt er 
feinem beſſern Theile nach dort, von wannen er herabgekom⸗ 
men. Wie der Sonne Licht zwar auf die Erde trifft, aber 
dort ift, von wo es ausſtrahlt, fo iſt eine große umd heilige, 
au unferer näberen Erkenntniß des Göttlichen berabgefandte 
Seele zwar im Verkehr mit und, aber unzertrennlich von 
ihrer Heimath: dorthin ift ihr Bli und ihr Streben geridy 
tet; unter uns wandelt fie ald ein Wefen höherer Art. — 
Und welche Seele ift dieß? Eine ſolche, die ſich nur auf 
Güter veraäßt, welche ihr eigen find. Was kann thörichter 
fepn, als au einem Menfchen loben, was nicht fein it? If 
wohl ein größerer Narr, als der bewundert, was im nächften 
Yugenbtick auf einen Andetn übergehen tanı? Briten Ar 


Einundvierzigfter Brief. 1567 


get machen ein Pferd nicht befier. Anders tritt ein Löwe 
mit goldenen Mähren auf den Schauplag, dey man flreicheln 
darf, und der, weil er müde ift, feine Zierrathen ſich anlegen 
faffen muß; anders ein ungefchmücter, von ungebrochenent 
Muthe. Diefer, feurig und ungeflüm, wie die Natur ihn 
wollte, und ſchauerlich-ſchön, und deffen Schmuck ift, daß man 
ohne Schreck ihn nicht anfehen Bann, wird jenem erfchlafften 
und mit Goldflitter bekangenen weit vorgezogen. Jeder foll 
fid) nur des Seinigen rühmen. Wir loben die Rebe, die 
ihre Schößlinge mit Früchten belaftet, nnd mit den Gewicht 
ihres Ertrages —*— den Pfahl niederzieht. Wer iſt, dem 
ein Weinſtock lieber wäre, an welchem goldene Trauben, gol⸗ 
dene Blätter hängen? Des Weinſtocks eigene Tugend iſt feine 
Fruchtbarteif: auch an dem Menfchen ift nur Das zu loben, 
was fein iſt. Er hat eine fchmude Dienerſchaft, ein fchd- " 
nes Haus, viel Ackerland, viele Capitalien: aber alles Dieß 
ift nicht im ihm, fondern um ihn, Lobe an ihm, was ihm 
nicht genommen, nicht gegeben werden Bann; was des Mans 
nes Eigenthun ift. Und Diek it? Sein Beift, und im Geiſte 
die ausgebildete Vernunft. Deun ter Menſch ift ein Thier, 
das Vernunft hat; und diefer fein Vorzug wird vollkommen, 
wenn er feine Beflimmung erfüllt. Was fordert aber dieſe 
Vernunft von ihm? Das Leichtefte: feiner Natur gemäß zu 
leben. Uber eben Dieß mird durch die allgemeine Thorheit 
fchwer gemacht. Wir reißen einander wechfelsweife zu Feh⸗ 
lern bin. Wie follen wir aber zum Heile zurückgeführt wer: 
den, wenn Niemand uns anhäff, und Die Welt ums forttreibt ? 


rn m] 


1568 Seneca's Briefe. 
Zweiundvierzigſter Brief. 


Um einen guten Mann iſt es eine ſettene Sache. 
Nichtigkeit des äußern Beſitzes. 

Schon hat jener Mann Dich überredet, er ſey gut? Aber 
in ſo kurzer Zeit wird man kein guter Mann, noch auch als 
ſolcher erkannt. And ich ſpreche hier nur erſt von einem gus 
ten Manne des zweiten Ranger. Denn Einer des erſten wird, 
wie der Phönir, wohl nur alle fünfhuntert Jahre geboren; 
und es ift Bein Wunder, wenn da3 Große nur nad) langen 
Zwifchenräumen erzeugt wird. Das Mittelmäßige. und was 
für den großen Hanfen geboren wird, bringt der Zufall oft 
hervor: das Ausgezeichnete erhäft feinen Werth ſchon durd 
die Settenheit. — Allein Jener ift nody weit eutfernt von 
Dem, wofür er ſich auggiebt; und wenn er wüßte, was ein 
guter Menſch ift, würde er noch nicht glauben es zu feyn, ja 
vieleicht die Hoffnung aufgeben, c8 je zu werden. — „Aber 
er denkt doch fihlecdhe von den Schlechten.” Das thun tie 
Schlechten auch: und es giebt Feine größere Strare für die 
Schlechtigkeit, als daß fie ſich feibit und ihren Genoffen miß: 
fällt. — „Er haßt doch Diejenigen, welche ciuc ſchnell ger 
wounene , große Gewalt gewaltthätig mißbrauchen.‘' Er 
würd Daffelbe thun, wenn er’s vermöchte. Die Lafter gar 
Dieler bleiben verſteckt, weil fie unmächkig find. Würden 
ihre Kräfte ihuen genügen, jle würden nicht geringerer Dinge 
fih erfrechen, atd Diejenigen, welche ihr Glück entlarvte. Es 
fehlt ihnen an Mitten, ihre Schlechtigkeit zu entfalten. So 
/äßt fich andy die giftigite Schlange ohne Gefahr anfaffen, fo 
age fie vor Kälte ſtarr ift: fie hat jet ihr Stit wit wen 


Zweinndvierzigfter Brief. 1569 


foren, aber es ift ohne Wirkung. Manchen Graufamen, Ehrs 
ſüchtigen, Wollüſtigen fehlt es, um es den Schlimmften gleich 
zu thun, nur an der Gunft des Glückes. Daß ſie es wollen, 
wirft Du finden: laß fie können, was ſie wölten. Erinnerſt 
Du Dich noch, daß ich, ald Du einft behaupteteft, einen Ge: 
wiffen in Deiner Gewalt zu haben, erwiederte,, der Menfch 
fey ein leichter Vogel, und Du habeft ihn nicht bei'm Fuße, fons 
dern an einer Feder? Ich fagte die Unwahrheit: nur au eis 
sen Flanum hatteft Du ihn; er Tieß ihm. dahinten und flog 
davon. Du weißt, weldıe Streiche er Dir im der Folge 
fpielte, wie Vieles er anftellte, was anf fein Haupt zurüdfals 
ten wird. Er fah nicht, daß er durch fremde Gefahren in 
feine eigene renne: er dachte nicht, wie laͤſtig es ſey, was er 
ſuchte, auch wenn ed nicht überflüffig wäre. 

Das ift ed, was wir an den Dingen, welche wir begeh: 
ren, und auf welche wir mit fo großer Anſtrengung hinarbei- 
ten, in Betracht ziehen müſſen, daß fie entweder Feinen Alu: 
ben, oder fogar Schaden fliften. Manche find überflüffie, 
manche and nicht das Gerinafte werth. Aber das fehen wir 
nicht, und bilden uns ein, und glauben, umſonſt zu haben, 
was und _fehr thener zu flehen kommt. Darin zumal verräth 
ſich unfer Stumpffinn, daß wir nur Das zu kaufen glauben, 
wofür wir Geld zahlen, und Dasjenige für unentgeldlid) 
halten, wofür wir uns ferbft hingeben. Mas wir zu kaufen 
feine Luft hätten, wenn wir unfer Haus, oder irgend. ein an— 
genehmes und einträgliches Grundſtück dafür geben müßten, 
das beeilen wir und mit Horgen und Gefahren, mit Verluſt 
unferer Ehre, unferer Freiheit, unferer Zeit und zu verldat 
fen. Sonach ift uns nichts fo (ehe Keil, U WU EN. 


1570 Seneca's Briefe. 


In alten unferen Entfchließungen und Handlungen wol 
len wir alfo Taffeibe thun, was wir zu thun pfleaen, wenn 
wir, um etwas zu Euufen, in irgend eine Bude £reten: wir 
wollen acht geben, wie hoch Das, was wir winfchen , abge: 
geben wirt. Oft ift es cine Sache von dem hoͤchſten Werthe, 
wofür man nichts zahlt. Diele Dinge aber Fann ich Dir nei 
nen, die, gefucht nud angekauft, und unfere Freiheit entjies 
hen: wir gehörten und an, wenn je nicht ung gehörten. 

Dieß alfo erwäge bei Dir felbft, nicht nur, wo es ſich 
von dem Gewinn, fondern auch, wo es fich vom Verluſte hans 
delt. Es geht Dir Erwas zu Grunde? Nun es war von . 
außen gekommen, und Du wirft eben fo leicht ohne daffelbe - 
leben, wie zuvor. Haft Du es lange befeffen, fo verlierft Da 
es, nachdem Du deffen ſatt geworden; wo nicht, fo verlierf 
Du's, ehe Du Did) daran gewöhnteſt. Du wirft ein gerin: 
geres Vermögen haben ? Aber auch weniger Verdruß. Me: 
niger EinAuß? Uber auch weniger- Neider. Betrachte 
ringsum alte die Dinge, die und zum Wahnfinn treiben, von 
denen wir unter fo vielen Thränen uns trennen, uud Du 
wirft Did) überzeugen, da& nicht ihr Verluſt felbft uns drückt, 
fondern tie Einbitdung eines Verluſtes. Niemann fühlt, 
fondern denkt ſich etwas verloren zu haben. Wer ſich hat, 
hat nichts eingebüße ; aber wie Wenigen wird es zu Theil, 
fich zu haben? 


Dreiundvierzigfler Brief, 
Lebe ald vor den Augen der B38 
„Wie Dieß bis zu mir gelangt ey ont Du, 
ir meine Gedanken erzähtt habe, Te Du wa wit ie 


Dreiundvierzigfter Brief. 1591 


manden erzählteſt?“ Was fo Vielcd weiß — das Gerücht. 
„Wie?“ fagft Du; „idy wäre a!fo bedeutend genug, um ein 
Gerücht zu erregen 2° Du darff Dich nicht mit Rücdficht 
auf diefe Stadt meſſen: *)auf jene haft Dir zu fehen, in wel: 
her Du Dich aufhältſt. Was über feine Umgebungen her: 
vorragt, ift da groß, wo es hervorragt. Denn die Größe hat 
Fein beſtimmtes Maaß: fie fteigt oder fällt durch MWergleis 
chung. Ein Schiff, das anf einem Fluſſe aroß ift, iſt gar 
Bein auf der See; ein Steuerruder, das groß ift für das 
eine Schiff, ift ſehr Blein für das antere. So bift Du jezt 
groß in Deiner Proyinz, fo gering Du Dich felbft achten 
magft: was Du thuft, wie Du fpeifeft, wie Du ſchläfſt, dar⸗ 
nad) frage man, das weiß man. Um fo vorjichtiger mußt Du 
Veben. Dann darflt Du Dich für glücklich halten, wann Du 
vor den Augen der Welt Ichen kannſt; wanı Deine Wände 
- Dich nur fhüßen, nicht verbergen — diefe Wände, von des - 
nen man fid) fo oft umgeben glaubt, nicht, um ficherer zu 
Icben , fondern, um gehzimer zu fündigen.- Ich fage Dir — 
und hiernach kannſt Du unfere Sitten beurtheilen —: Du 
wirftnidhtleicht Einen finden, der bei offenen 
Thüren leben könnte. Unfer böfes Gewiſſen und unfer 
Stolz hat Hüter vor diefelben geftellt. Man lebt fo, daß es 
ertappf werden heißt, plöslidy gefchen zu werden. Aber was 
hilft es, fich zu verbergen, und die Augen und Ohren der 
Menfhen zu vermeiden? Ein gutes Gewiffen ruft der Zeus 
gen Menge herbei: ein böſes ift audy in der Einlamkeit ex 
ängfligt und forgenvoll, Iſt cd vedat, wad DU Ey, SON 


u ans X 
9 Rom. Lucilius befand ſich daweld \a@titen: SENT 


fh zu Syracus, 


1572 Seneca's Briefe. 


e3 Jedermann willen: ift es fchimpflich, was liegt daran, daß 
es Niemand weiß, da Du ed weißt? D Du Unglücklicher, 
wenn Du dieſen Zeugen verachteſt! 


Vierundvierzigſter Brief. 
Die Weisheit gibt den wahren Adel. 


Abermals machſt Du Dich mir fo klein, und ſagſt, erſt 
hätte Dich die Natur, hieranf das Glück ſehr übelwollend 
behandelt: und doch fteht es bei Dir, heranszutreten aus dem 
großen Haufen, und zur höchften Stufe des Glückes Dich ems 
porzufchwingen. Iſt etwas Gutes au der Philoſophie, fo if 
ed Das befondersd, Laß fle auf Eeinen Stammbaum fieht. Wir 
alle kommen, gchen wir auf den erften Urfprung zurück, von 
den Göttern. Du bift Römifcher Ritter, und zu dieſem Nang 
hat Deine Zhätigkeit Dich erhoben. Aber für wie Viele find 
die vierzehen Sitze *) verfchloffen! Nicht Seden läßt Die En: 
vie zu; und auch das Feldlager ift ekel in der Wahl derer, 
die e8 zu Mühen und Gefahren annehme. Uber ein edler 
Sinn ift Alten möglich: dazu find wir Alle von del. Keis 
nen verfchmäht die Philoſophie, Keinen wählt le aus: fie 
lenchtet Allen. Socrates war kein Patrivier; Gleauthes war 
ein Wailerträger, und verdingte feine Arme zum Begießen eis 
ned Gartens; Plato war nicht von Adel, als die Philoſophie 
ihn empfing: lie adeite ihn. Wie ſoillteſt Du verzweifeln, 
Diefen gleich werden zu Fonnen ? Diefe Alte find Deine Ah⸗ 
nen, wenn Di Did) ihrer würdig zeigft; Du wirft ed aber, 


) Im Theater. 


Vierundsierzigfter Brief. 1573 


u vor Allem Dich überzeugft, dab Du an Adel Kei: - 
bfiehft. Jeder von uns hat gleich Viele vor ſich; 
ft, deſſen Urfprung nicht jenfeits aller Erinnerung 
lato fagt, ed gebe feinen Konig, der nicht von Sclas 
inen Sclaven, der nicht von Königen ſtamme. Das 
t ein langer Wechfel gemifcht, und das Schickſal zu 
und zu oberft gekehrt. Wer ift alfo edel geboren ? 
Natur für die Tugend wohl ansgerüftet bat. Nur 
5 ift zu fchauen: im Webrigen, wenn man ſich aufs 
ruft, ſtammt Feder von einer Zeit her, vor welcher 
ft. on Aubeginn der Welt bis auf diefen Tag ging 
abwechfelnde Reihe von Vornehmen und Gemeinen 
Ein Vorfaal voll rauchigter Ahnenbilder adelt nicht. 
» hat für unfern Ruhm gelebt, und Was vor uns 
ſört uns nicht. Die Befinnung macht adelig; durch 
en wir uns aus jedem Gtande über die Gunft bes 
erheben. Denke Dir, kein Römiſcher Ritter zu fepn, 
ein Yreigelaffener ; dod, kann Du es dahin bringen, 
der einzige Freie bift unter den Freigeborenen. 
18 ,’' fragft Du, „wenn Du Outes und Schlimmes 
h des Volkes Vorgang unterfcheideft ?' Man muß 
‚ nicht woher die Dinge fommen, fonbern wohin fie 
Wenn es Etwas giebt, was das Leben gluͤcklich mas 
n, fo gilt Dieß mit vollem Recht für ein Gut; benn 
nicht ins Schlimme ausarten. Was iſt ed alfo, worin 
t, da doch Feder nad einem glüdlichen Leben vers 
Darin, daß man die Mittel für die Sache ſelbſt Kätt 
e, während man ihr nachhängt , Kick. Bea, aller 
Befentliche eined glüctticyen Lrbend To iierntiee 
136 Bbhn. . | ®. 


1574 Senecas Briefe. 


deter Ruhe und unerſchütterlicher Suverfiche beftekt, fü 
man fich ſelbſt Gründe zur Befümmerniß, und trägı 

- yur, fondern fchleppt der Laften vicle auf der umle 
Straße des Lebens einher. So entfernt man ſich immen 
von der Erreihung feiner Wünfche, und je mehr Müt 
anwendet, deſto mehr hindert man ſich felbft und kom: 
rück. Daſſelbe gefchieht Denen, welche in einem Lab 
voran eilen: ihre Haft verwickelt fie. 


Fuͤnfundvierzigſter Brief. 
Gegen die unfruhtbaren dialectifhen Kü 
der Stoißer. 

Du Hagft über Mangel an Büchern an dem Orte 
nes Aufenthaltes. Ed kommt nicht darauf au, ob Du 
viele, fondern ob Du gute haft: ein beſtimmtes Leſen 
ein wechfelndes unterhält. Wer fein Biel erreichen wil 
Einen Weg zu verfolgen, nicht auf mehreren herumzuſ 
fen; diefes hieße. nicht gehen, fondern irren. „Aber,“ 
Du , „ich wollte lieber, Du gäbeft mir Bücher, ale 
ſchlaͤge.“ Sch bin bereit, Dir zu ſchicken, welche ich mı 
mer habe, und meine ganze Vorrathskammer auszuleer« 
mid) felbft würde ich, wenn ich könnte, zu Dir hinüber 
ten; und wenn ich nicht hoffe, Du werdefl Deiner T 
nächrtens entbunden werden, fo würde id mir alten | 

diefe Unternehmung wirklich auferlegen, und Feine © 
‚uud Sharpbdis, noch jene fabelhaite Merrenge WÜte miı 
eädjchreden. Ich würde hinüber Tegeln, W arte‘ 


Fünfundvierzigfter Brief. 155 


ſchwimmen fogar, nur um Dich umarmen und aus eigener 
Anſicht beurtheilen zu können, wie fehr Du am Geift ges 
wichfen ſeyſt. Bu 
Wenn es übrigens meine Bücher find, die ich Dir ſchi⸗ 
cken ſoll, fo glaube ich mich deßwegen eben fo wenig für eis 
nen guten Schriftfteltev haften au dürfen, als id) mir einbifs 
den würde, fchön zu feyn, wenn Du mein Bild verlangteft. 
Ich weiß, daß Dieß eine Aeußerung Deiner Vorliebe, nicht 
Deines Urtheils ift: und ift es wirklich Dein Urtheit, fo hat 
Deine Vorliebe Didy irre geführt. Doc. — mögen fle feyn, 
wie fie wollen — lied fle als die Schriften eines Mannes, 
der das Wahre fucht, und mit Beharrlichkeit fucht, noch nicht 
aber es erkannt hat. Ic habe mid, Keinem zu eigen geges 
ben; ich trage Keines Namen: ich traue viel dem Urtheil 
großer Männer; doch über Mandyes behalte ih mir das 
Meinige vor. Denn auch Jene haben Vieles übrig gelaffen, 
was nicht gefunden, fondern noch zu fuchen iſt, und fle häts 
ten vielleicht das öthigere gefunden, wenn fie nicht auch 
nach Weberflüffigem gefucht hätten. Diele Zeit raubte ihnen 
das fpinfindige Spielen mit Wörtern, die verfänglichen Dies 
gutirkänfte, womit ein mäßiger Scharfiinn ſich befchäftige. 
Wir echten Knoten, und verbinden einen Dopfelftun mit 
den Wörtern: dann loͤſen wir ihn wieder. So viele Muße 
haben wir? Wiſſen wir denn bereitd zu leben, zu fterben ? 
Mit aller Kraft der Seele müſſen wir dahin zu Pommen fü: 
hen, wo man fidy nicht mehr vor der Täufchung der Worte, 
fondern der Dinge zu hüten Hat. Was fonderft Du mie fie 
Aehnlichkeiten der Wörter, durch welde wa Kemer SS 
warb, wenn es nicht‘ eben disputirte? Die DS NN 


156 Seneca's Briefe. 


diefe Terne unterfcheiden. Statt bes Guten ergreifen wir bi 
Schlimme: unfere Wünfche ftreiten mit unferen Wünfce 
unfere Entfchläffe mit unferen Entfchlüfen. Der Schmeic 
rer — wie ähnlich ift er dem Freunde! Er ahme ihn nic 
bloß nach, er überbiefet ihn fogar und läuft ihm einen Do 
fprung ab; er wird in ein offenes und geneigtes Gehör au 
genommen und dringt in die Tiefe tes Herzens, indem 
eben durch Das, wodurch er fchadet, fich beliebt macht. Lebt 
wie ich diefe Aehnlichkeiten unferfcheiden Fönne. Es kom 
flatt eines Freundes ein fchmeichlerifcher Keind zu mir. 2 
fter fchleichen fich bei und, unter dem Namen von Tugend: 
ein: unter beim Titel der Tapferkeit verſteckt ſich Tontäh 
heit; Befonnenheit heißt Feigheit; der Furchtſame wird fi 
vorfichtig genommen. Im ſolchen Dingen irrt man mit gr 
Ber Gefahr: diefen drücke gewiſſe Kennzeichen auf. Sing 
gen. ift wohl Niemand fo albern, feine Stirne zu befüple 
wenn man ihn fragt: „ob er Hörner habe; *) noch auch 
einfältig und ftumpffinnig, um es nicht zu willen, wenn 7 
ihn mit einer fpigfindigen Schlußfolge beichwasen wiltft. Je 
Täufcherei bringt alfo eben fo wenig Schaden, als Bed 
und Steinchen der Zafchenfpieler, die und eben durch ihr 
Trug ergögen; Taf mid) erfahren, wie Alles zugeht, und 
bat für mich keinen Werth mehr. Daffelbe gilt mir von 
nen Sanafchlingen — denn wie könnte ich diefe Sophism 
richtiger benennen? — ſie nützen Denen, welche fie Benne 


H Unfpielung auf einen ber bekannten Verier-Schrüffe, 1! 

in ber ftoifchen Schule zu Haufe waren. „Was man miı 

- verkoren bat, bat wen: Da ak tekae Hörner verlore 
alfo Haft Du welche. 


Sünfunbvierzigfter Brief. 1577 


wenig, ald fle Denen fchaden, die fle nicht Bennen. Wenn 
3 aber doch den Doppelfinn gewiſſer Wörter zerlegen willſt, 
lehre uns, Der fey nicht glüdlicdh, den bad Volk fo nennt, 
d welchem vieles Gold zugefteömt iſt, fondern Der, deffen 
njes Gut in feinem Innern liegt, der großdenkende, hohe, - 
d was Andere bewundern, niedertreteude Mann; der Mies 
mderifteht, mit dem er fich vertaufchen möchte; der dem 
enfchen nur nad) der Seite fchäzt, nad) welcher er Menſch 
; der nach den Geſetzen feiner Lehrerin, der Natur, ſich 
heet, und lebt, wie fle ed vorfchreidt; dem feine Güter 
ne Gewalt entreißt; der dad Schlinme zum Guten wen⸗ 
, feines Urtheils gewiß, unerfchüttert, unerfchroden ; den 
e Bewalt zwar bewegt, keine außer Faſſung bringt; ben 
z Glück, wenn es fein ſchaͤdlichſtes Geſchoß anf ihn abe 
nellt, nicht verwundet, nur rist, und auch Dieß felten. 
am die übrigen Gefchoffe, mit welden das Menfchenges 
lechtzbekriegt wird, praffen ab, wie der Hagel, der, auf 
: Dächer gefchleudert, ohne alles Ungemach des Bewohners 
aſſelt und ſich auflöst. — Was hältſt Du mich mit jenem 
Aruffe auf, den Du felbft den ‚Lügner‘ ") nennft, über 
fo viele Bücher gefchrieben ſind? Slehe, die ganze Welt 
je mir; diefe überführe; diefe bringe, wenn Da fcharffins 
3 biſt, zue Wahrheit zurück. Sie erklärt für nothwendig, 
*) Gr lautete fo; Epimenides fügt, alle Ereter fenen Lügner, 
und ist ſelbſt ein Ereter, alfo ift er felkft auch ein Lügner, 
unb man muß ihm nicht glauben. Deßmwegen find Die 
Ereter wahrhaft, und man muß ihnen glauben; Epimem⸗ 
des aber ifk ein Ereter; alfo muß man ihm glauben. Alfo 
muß man dem Eyimenibes glauben" uuh wa wo ie 
nicht glauben. 


1578 Seneca's Briefe. 


was zum größten Theile überflüſſig ift; und auch, was nicht 
aberftüffie ift, bat doch in ſich die Kraft nicht, froh und 
glücklich zu machen. Auch was nothwendig ift, ift darum 
nicht gleich ein Guf, und wir werfen diefed Wort weg, went 
wir ed vom Brode, von der Volenta und anderen Dingen 
brauchen, die zum Leben unentbehrlic, find. Was ant if, 
ift nothwendig; was nothwendig, ift nicht fofort gut; weil. 
ed auch Dinge der verächtlichften Art giebt, die gleichwohl 
nothwendig find. Niemand verkennt fo fehr die hohe Wuͤrde 
des Buten, daß er daffelbe gemeinen Dingen gleich ftelte, 
welche nur für Einen Tag nüglich find. Sollteſt Du alſo 
nicht vielmehr Deine Sorge darauf richten, daß Du Allen 
zeigeft, mit welch großem Aufwande von Zeit nach Ueberfluͤſ⸗ 
figem geſucht wird, und wie fo Mauchen über dem Sammeln 
der Mittel des Lebens das Leben ſelbſt hingeht ? Prüfe ben 
Einzelnen, betrachte die Geſammtheit: Keiner ift, deſſen Le⸗ 
ben nicht auf morgen zielte. Und was Dieß ſchade? Unend 
Lich viel, Denn man lebt nicht, fondern ift im Begriffe zu 
eben: man verfchiebt Alles. And) wenn wir Bedacht naͤh—⸗ 
men, wide gleichwohl dad Leben uns voreilen; num, fo wir 
fäumen, geht es an uns als ein fremdes vorüber, und wird 
befdhloffen am lezten Tage, verloren au jedem. 

Doch um nicht das Maaß eines Briefes zu überſchrei⸗ 
ten, der nicht mit beiden Händen gehalten feyn will, fo will 
ich diefen meinen Streithandel mit den Dialectikern, weldz 
ihre große Spisfindigkeiten zur Hanptfade machen, auf ei: 
nen andern Tag verfchieben. 


Schöundvierzigfier Brief. 1579 


Sechs undvierzigſter Brief. 
Lob einesBuhes von Lucilius. 

Dein Werk, welches Du mir verſprochen, % habe ich 
erhalten, und indem ich mir vorbehalten wollte, Daffelbe 
mit Bequemlichkeit zu Iefen, öffnete ich ed, um nur erſt ei- 
nen Vorſchmack davon ‚zu befommen. Allein bald zog es 
mid) fo fehr an, daß ich immer weiter lad; uud wie gut es. 
gefchriegen ift, darfft Du daraus fchließen, daß es mir kurz 
vorkam, wiewohl es eine ſchwere Rolle ift, die für meine und 
Deine Hand :zu gewichtig, bei den erften Anblick vielmehr 
einem Titus Livins oder Epicurus anzugehören ſcheint; ich 
fühlte mich aber durch feine Anmuth fo gefeffelt und ans 
gezogen, daß ich es ohne Unterbrechung durchlas. Der Son: 
nenfchein lud mich ein, der Hunger mahnte mid, : Wolken 
drohten mir; dennoch verfehlang id) es ganz. Es hat mid 
nicht nur unterhalten ; es hat mich innig erfreut. Welcher 
Geiſt! weldyes Feuer! Ich würde fagen, welcher Schwung! 
wie Du mitunter ausgeruht und nur von Zeit zu Zeit Dich 
gehoben hättet! Allein Du haft nicht Lin Momenten] einen 
Schwung genommen, fondern Did) immer auf gleicher Höhe 
gehalten; das Ganze ift männliih-und würdevoll. ‚Nichte 
befto weniger erfcheint zwifchenein und am vechten Orte eine 
wohltfuende Milde. Du bift großartig und erhaben: fo, 
wünſche ich, daß Du bleibeit, fo fortſchreiteſt. Etwas hat 
auch der Stoff dazu gethan. Darum wähle immer einen 


*) Vielleicht feine poetifhe Schilderung de Arion. 


1580 Ä Seneca's Briefe. 


fruchtbaren, der groß genug für Deinen Geiſt fen, und ihr 
anrege. Mehreres werde idy Dir über Dein Buch fchreiben, 
wenn ich mich noch einmal damit befchäftigt haben werde; 
noch hat Ach mein Urtheil nicht genug befeſtigt, und es if 
mir, ale ob ich es nur vorlefen gehört, micht gefefen hätte. 
Laß mid) es andy unterfuchen. Du haft Nichts zu befürch⸗ 
ten: Du wirft die Wahrheit Hören. O Glücklicher, der Du 
Nichts haft, um deßwillen man Did aus fo weiter Ferne 
befügen möchte; wiewohl, man fügt ja, auch wenn Bein. Grund 
vorhanden ist, aus bioßer Gewohnheit. 





Siebenundpierzigfler Brief. 
Menfhlihkeitgegen Gclaven. 
Gerne höre ich von. Leuten, die von Dir herfommen, ers - 
zählen, wie freundlich Du mit Deinen Sclaven umgehſt: fo 
geziemt es Deiner Weisheit und Deiner Bildung Es find 
Sclaven, aber Menfhen; Sclaven, aber Hausgenoſſen; 
Sclaven, oder vielmehr Freunde niedrigen Standes ; Gclaven 
— nein unfere Mitfclaven find es, wenn wir bedeuten, daß 
der Willlür des Geſchickes gegen und eben fo viel, wie ges 
gen Jene, zufteht. Daher Aude ich den Mann lächerlich, 
Ber es für eine Schande Hält, mit feinen Sclaven zu ſpei⸗ 
fen. Und warum ? Einzig, weil eine übermütbige Sitte ei 
nen Öelavenfchwarm um den tafelnden Herrn herſtellt. Dies 
‚fer ißt mehr, als er faflen Bann, und beiaftet mit ungeheurer 
Gier den ausgefpannten Magen, der ded Magens Befchäft 
serlernt Hat, um Alles wit arögerer Unkreugung wieder 


Siebenmboierzögfter Brief. 1981 


auszufüuͤhren, als er es eingeführt Hat: *) aber die unglütks 
lichen Sclaven dürfen die Lippen nicht bewegen, felbit nicht, 
um zu reden. Die Ruthe bannt auch. das leiſeſte GBemur⸗ 
mel: nicht einmal zufällige Dinge, ale Hufen, Nieflen, 
Schlucken, entgehen der Zuüchtigung; mit ſchwerer Mißhand⸗ 
lung wird jeder Laut gebüßt, der das Stillſchweigen unters 
bricht; ganze Nächte ftehen fle ſtumm und nüchtern. "Bo 
fommt e6, daß file über Ihren Herrn reden, bie vor ihm 
nicht reden dürfen. Aber Jene, denen nicht nur vor ihren 
Herren, fondern mit ihnen das Wort vergönnt war, denen 
man den Mund nicht verfiegelte, waren bereit, für den 
Herrn den Naden darzubieten, und bie ihm drohende Be⸗ 
fahr auf ihr eigen Haupt abzuleiten. Bei den Mahlzeiten 
fprachen fie, aber auf der Folter fchwiegen fi. — Dann 
wirft man mit jenem nicht minder übermüthigen Sprich⸗ 
worte um fi: „So viele Selaven, fo viele Feinde.“ Mir 
haben fie nicht zu Feinden; wir machen fie dazu. Noch 
manches andere Granfame und Unmenſchliche übergehe ich, 
wie, daß wir fie nicht als Menfchen, foudern als Laſtthiere 
mißbrauchen ; daß, wenn wir ung zur Tafel gelagert Yuben, 
Einer unfern Speichel abwiſcht; ein Anderer niedergebüdkt 
die Weberbleibfel der Trunkenen aufſammelt; ein Dritter 
koſtbares Geflügel zerlegt, umd indem er die geſchickte Hand. 
zwiſchen Bruft und Kenlen in Achern Wendungen herum 
führt, in Stücke zerfällt. Der Unglückliche, welcher dem ein- 
zigen Zwede lebt, Maftvich mit Auftand vorzuſchneiden; 





2) Consol. ad Helr, IX, 10.1 Yomunt, ut ‚edunt; ‚odent, ur 


vomant, 


1582 Seneca’s Briefe. 


aber erbärnicher it, Wer Dieß aus Lüſternheit lehrt, als 
Wer es aus Roth lernt. Ein WUnderer, der Mundfchent, 
wie ein Weib heransgepubt, ringe mit feinen Jahren: er. 
Darf nicht über Das Knabenalter hinausfommen, man hält 
ihn zurück: und, obwohl flämmig, wie ein Krieger, hat er 
ein glatte Kinn, die Haare find ihm ausgeſchabt oder ganz: 
lich ausgeriffen: fo durchwacht er Die ganze Naht, die er 
halb der Trunßenheit feines Herrn, halb deſſen Wolluft zu: 
theilt, in Schlafgennahe Mann, im Tafelzimmer Knabe. 
Einen Andern ift die Prüfung der Gäfte übertragen. Da 
ſteht denn dev Unglückliche, und paßt auf, Wen Schmeidhelei 
und Ummäßigkelt des Schlundes oder der: Zunge einer Ein: 
ladung auf morgen werth mache. Beruer bie Einkäufer, 
welche die genauefte Kenntnik bes Gaumens ihres Herrn be 
fisen, welche wiſſen, welcher Geſchmack ihn reizt, welcher 
Anblick ihm Vergnügen macht, welches neue Gericht den 
Kranken Magen aufrichten könne, was ihm aus Ueberfätti- 
gung auekle, nach was ihn gerade heute gelüſte. Mit diefen 
Leuten zu fpeiien, Bann er fidy nicht entfchließen, und hält 
ed für eine Verringerung feiner Hoheit, mit feinen Sclaven 
an demſelben Tiſch fich nieberzulaffen. Uber bie Götter mö: 
gen ihm gnädig fegn, daß er nicht mehr ald Einen Herrn 
unter ihnen finde! Ich fah vor der Schwelle des Calli⸗ 
tus“) feinen ehemaligen Herren ftehen, und fah, wie Der, 
welcher ihm das Täfelchen *”) angeheftet und ihn unter ber 
*) Eines Freigelaffenen und Sfnftlings bes Kaiſers Elaudius. 
+, Worauf Name, Preis, Eigenfchaften u. f. w. bes ver: 
Fänflicden Sclaven fanden. Die fchlechteften warden aus 
erſt andgeboten (prima decuria). 





Siebenundvierzigfter Brief. 1583 


rerächtlichften Sclavenwaare aufgeführt hatte, ubgewiefen 
wurde, während man Andere vorlieh. So hat er ihm den 
Dane. bezahlt, jener in die erfte Decurie geworfene Sclave, 
an welcher die Ausrufer ihre Stimme erproben; .er hat ihn 
num auch von fich gefloßen, hat ihn feines Haufes für un: 
würdig erklärt. Der Herr hatte den Galliftus verkauft: 
aber wie Vieles verkaufte Calliſtus feinem Herren! 

Willſt Du nicht bedenken, daß Der, welchen Du Deinen 
Selaven nennfl, aus denselben Saamen entiproffen, unter 
demſelben Himmel diefelbe Luft athmet, und lebt und flirbt, 
wie Du ? Du Bannft chen fo auf ihn als Freien fehen, wic 
er Dich ald Sclaven. Durch die Niederlage des Varus hat 
Das. Schickſal manchen Maun von der glänzendſten Geburt, 
der die Senatorenwiürbe ald Lohn feines Kriegsdisnfled vor 
Augen hatte, niedergebrüdt ; den Einen hat es zum Hirten, 
einen Andern zum Wächter einer Hütte gemacht. Beradhte 
num einen Menfchen feines Standes wegen, "in welchen Du, 
während Du ihn verachseft, ſelbſt übergehen kannſt! 

Doc, ich will mid, nicht in einen Gegenflant ten fo 
weiten Umfange einlaffen, nnd von der Behandlung der 
Sclaven reden, Denen wir fo übermüthig, fo hart, fo fchimpf: 
lich begeguen. Nur den Hauptinhalt meiner Regeln gebe 
ich; er lautet: Gehe mit dem Beringereu fo um, 
wie Du wünſcheſt, daß der Höhere mit Dir nm 
gehen möge. So oft Dir einfällt, wad Du Alles gegen 
Deinen Sclaven Div erlauben barfft, fo laß Dir auch ein⸗ 
falten, Daß Dein Herr fidy eben fo viel gegen Dich erlauben 
dürfe. „Aber ich habe feinen Herrn,‘ ſagſt Du. Dr bit 
noch nicht alt genug: vielleicht wirk Da wo Enns 


1384 Seneca's Briefe. 


men. Weißt Du nicht, wie alt Hecuba war, als fie zu dies 
- nen anfleng, wie alt E&röfus, und die Mutter bes Das 
rius, und Plato und Diogenes? Gehe ſchonend mit Deinem 
Gclaven um: ja mache ihn zu Deinem Gefellfchafter, mit 
dem Du fprichft, den Du um Rath fragft, mit dem Du zu 
Tifhe ſſheſt. 

„Pfui, wie gemein, wie ekelhaft!“ vuft mir Hier ber 
ganze Schwarm verwöhnter Zärtlinge entgegen. Und doch 
werde ich vielleicht eben dieſelben betreffen, wie fle dem Scla⸗ 
ven eines andern Herrn die Hand Lüffen. Und wißt ihr 
. nicht einmal, wie geflifientlich unfere Boreltern alles Ge 

häffige von der Herrfchart, und von den Gclaven alles Er⸗ 
niebrigende ferne hielten? Sie nannten den Herrn: Dans 
vater [pater familiae], die Sclaven (was noch in "den Mis 
men beſteht) Hansgenoffen [familiares]. Sie fehten ein 
Feſt ein, nicht, damit nur an diefem Tage die Herten mit 
ihren Sclaven eſſen follten, -fondern fie räumten ihnen an 
bemfelben die Ehrenpläge im Haufe ein, ließen ſie richterliche 
Ausſprüche than, und. erklärten damit die Familie für eine 
Republik im Kleinen. „So foll ich alfo alle meine Sclaven 
an meinen Tiſch ziehen?” Eben fo wenig ald alle Freie. 
Aber Du irrt, wenn Du glaubft, idy werbe @inige wegen 
ihrer unfaubern Befchäftigung ausichließen, wie 3. B. ben 
Maulthiertreiber oder den Kuhhirten; ich werde ſie nicht 
nach ihren Berrihtungen, fondern nach ihren Sitten fdyä- 
den. Beine Sitten gibt ſich Feder ſelbſt: die Berrichtungen 
weist ihnen ber Zufall an. Einige mögen mit Dir fpeifen, 
zeil fie Defjen würdig find: Andere, damit fle’d werben. 
Denn was von ihrem gemeinen Amganer vrhı Scttenenneftes 


Siebenundvierzigfter Brief. 1585 


ihnen anklebt, wird dad Zufammenfenn mit Gebülbeteren 
abftreifen. Du braucht nicht bloß auf dem Forum und in 
der Eurie nach einem Freunde zu fuchen, mein Lucilius: 
Du Eaunft, wenn du forgfältig Acht geben willft, auch im. 
eigenen Hauſe einen folchen finden. Oft Tiegt ein guter 
Stoff unbenüst, in Ermanglung eines Künftlerd: verfuche 
es, und erfahre es ſelbſt. Wie Der ein Ihor ift, welcher 
ein Pferd, das er kaufen will, nicht felbft betrachtet, fondern 
nur deffen Reitdecke und Zeug: fo ift. ein noch weit größe 
rer Thor, Wer den Menfchen nad, feinem Kleide ſſchätzt 
oder nad) feinem Stande, welcher uns gleidy einem Kleide 
umgibt. Er ift Sclave, aber vielleicht frei am Geifte. Er 
ift. Schave — wird ihm Dieß fchaben ? Zeige mir Einen, 
der es nicht wäre. Der Eine ift Selave der Wolluſt; ein 
Anderer der Habſucht, wieder ein Auderer des Ehrgeitzes, 
und Allesder Furcht. Ic, Eönnte Dir einen geweienen Kons 
ful nennen, der eines alten Weibes Sclave iſt; ‚einen Reis 
chen / den eine Magd ſich dienſtbax gemacht hat; ich könnte 
Dir die vornehmften jungen Leute zeigen, deren Herren mis 
mifche Zänzer find. Keine Sclaverei iſt ſchimpflicher, als 
eine freiwillige. Laß Dich alſo nicht durch jene ekeln Vor: 
nehmen abfchreden, Deinen Sclaven freundlich, und nicht 
als ein ſtolzer Höherer, zu begegnen. Sie follen Dich ehren, . 
ftatt Dich zu fürchten. 

Da wird man aber einwenden, ich wolle den Sclaven 
die Sreiheitsmüse auffesen, wolle die Herren von ihrer Höhe, 
herabftürgen, wenn id) fage, der Selave fall feinen Herrn 
ehren, nicht fürchten. Aber ic, wieberhiie dd, vr SS ST 
- ehren, wie-man einen Höheren ehrt, Deten EU WEST 


1586 Senkea's Briefe. 


dem man feine Achtung beweist. Wer Jenes einwendet, ver: 
gißt, daß für einen Herren Das nicht zu wenig ſeyn Kann, 
was ber Gottheit genügte — verehrt und geliebt zu werden. 
Furcht kann sich der Liebe nicht beimiſchen. Du thnſt alfo 
nady meinen Urtheile ganz vecht, wenn Du von Deinen 
Schaven wicht gefürchtet werden willft, und nur mit Mors 
ten ftraiit. Mit Schlägen werden unvernünftige Thiere ges 
mahnt. Nicht Alles, was und zuwider ift, befchädigt ung; 
aber unſere Verwöhnung läßt und unwillkürlich in ben 
MWahniinn des Zorns gerathen, fo ort Etwas unfern Wün- 
fchen nicht entſpricht. Wir haben ten Sinn der Könige 
angenommen, bie gleichfalls, vergeffend ihrer Macht und ber 
Schwäche Anderer, vor Zorn fich entfärben und mwüthen, 
als ob fie ein Unrecht erlitten hätten, eine Gefahr, vor wel⸗ 
cher fie doc, die Höhe ihres Glücksſtandes fo ficher ftellt. 
Auch iſt Dien ihnen nicht unbelannt: aber fle ergreifen be 
gierig die Gelegenheit zu ſchaden, weil fle dieſelbe ſuchen; 
fle nehmen es als ein Unrecht auf, um welches zu thun. 
Länger will ich Did) nicht aufhalten, weil Du keine 
Mahnungen bedarfſt. Das haben gute Sitten unter Ande⸗ 
rem an ſich, daß sie ſich ſelbſt gefallen, und beharren ; die 
Schlechtigkeit ift ohne Haft, und ändert ſich oft, nicht in’e 
Beffere, tondern in Anderes. 


* 


mn Sn nie 


Achtundvierzigſter Brief. 1587 


Achtundvierzigſter Brief. 
Ueber Freundſchaft. — Gegen die Dialectifchen 
Spielereien der Stoiker. 

Auf Deinen Brief, den Du mir auf der Reiſe ſchriebſt, 
und der fo lang iſt als die. Reiſe ſelbſt, werde ich Dir nädı- 
ftend antworten. Ich muß in ungeflörker Ruhe darüber 
nachdenken, wozu ich Div rathen foll. Haft Du dody ſelbſt, 
der Du mid) fragft, zuvor lange überlegt, ob Du mich um 
Rath fragen follft ; um wie viel mehr muß. ich Dieß thun, 
da längere Zeit dazu gehört, eine Frage zu löfen, ale fie vor⸗ 
zulegen — zumal, da Dein Vortheil hierbei nidyt der mei⸗ 
‚nige ift? Doch fchon wieder fpreche ich wie Epicurus. Nein, 
mein Vortheil ift der Deinige; ober ich bin Dein Freund 
nicht, wenn nicht jede Dich angehende Angelegenheit audy- 
die meinige ift. Die Freundſchaft ftiftet zwifchen uns eine 
Gemeinfchaft aller Dinge: es gibt für den Einzelnen kein 
befondered Glück uud fein Unglück: wir leben gemeinſchaft⸗ 
lich. Man kann auch nicht glücklich leben, wenn man nur 
auf fidy flieht, und Alles zu feinem eigenen Vortheil zu wen⸗ 
den ſucht: Du mußt für den Andern Ieben, wenn Du für 
Dich ſelbſt leben willſt. Diefe gejellige Verbindung der 
Menſchen unter ſich, ſorgfältig und heilig bewahrt, bringt 
uns Alle in Zuſammenhang mit Allen, zeigt, daß es ein ge⸗ 
meinſchaftliches Recht des Menſchengeſchlechtes gibt, und be⸗ 
fördert gar ſehr die Pflege auch jener engeren Verbindung, 
von welcher ich ſprach, Die Pflege derfreunbidsik. 
Denn Der wird mit dem Treunte Ailed gem res WS 
Mer Bieled mil einem Menſchen gemein t- 


ı598 Seneca's Briefe. 


Solche Lehren, mein trefflicher Lucilins, was ich dem 
Freunde, was ich dem Menfchen zu feiften Habe, will id 
mir von jenen fcharffinnigen Männern weit lieber geben, als 
mir von ihnen. fagen Taffen, in wie vielerlei Sinn das Wort 
Freund gebraucht werde, und was Alles das Wort Menſch 
bedeute. Nach zwei verfchiebenen Richtungen laufen, wie Da 
fiehft, die Weisheit nud Die Thorheit aus einander. Welcher fol 
ich beitreten, welchen Weg verfolgen ? Jenem ift der Menſch 
ein Sreund; Diefem ift der Freund (weiter nichts als) ein 
Menſch; Diefer verfhafft den Freund für fih, Jener ſich 
für den Freund. Du aber: verdreheft mir Worte und fpies 
Left mit Sylben. Als ob ic, wenn ich nicht ganz fchlaue 
Zragen forme, und durdy einen falſchen Schluß ans ber 
Wahrheit eine Lüge zu folgern verflehe, unmöglich zu unter 
fcheiden wüßte, was ich zu meiden und was ich zu erftreben 
habe! Ich ſchäme mich es zu fagen: wir Greife fpiefen bei 

— ſo ernſten Dingen! — „Die Maus ift eine Spibe; bie 
Maus aber benagt den Käfe; alfo benagt eine Sylbe bem 
Kaſe.“ Angenommen, ich verflünde diefen Trugſchluß nicht 
aufzulöfen ; welche Gefahr, welches Ungemac könnte mir 
ans diefer Unkunde erwachten ? Ohne Zweifel wäre zu bes 
fürdyen, ich werbe einmal Sylben in der Mansfalle fangen, - 
oder ed werde mir, wenn ich nicht Acht gebe, ein Buch den _ 
ganzen Käfe aufeffen. Doc, vielleicht noch ſcharfſinniger iſt 
folgender Schluß: „die Maus ift eine Sylbe; eine Solbe 
aber benagt den Käfe nicht; alfo benagt die Maus ben Käfe 
nicht.“ O, welche Eindifche Poſſen! Alfo darum falten wir 

die Stirn ?2 Darum laffen wir den Bart wachen? Das iſt's, 

2298 wir mit ſo ernfthaftern, dlafem Brite kehrt 


r 


Achtundvierzigſter Brief. 1589 


Willſt Du willen, was die Philofophie dem Menfchen» 
gefchlechte verheißt? Guten Rath. Diefen ruft ber Tod; 
Genen plagt die Armuth; einen Dritten quält fremder oder 
eigener Neichthum. Diefen fchanert vor dem Unglück; es 
ner möchte fid) feinem Glück entziehen; Diefer iſt unyufrice 
den mit den Menfchen, Jener mit den Göttern. Wie fell 
tet Du Di mit jenen Spielereien befaften? Es ift zu 
ſcherzen Beine Zeit: Du bift zu Uinglüctichen berufen. Du 
haft -verfprochen, Schiffbrüdhigen, Gefangenen, Kranken, 
Nothteidenden und Golden Hülfe zu: bringen, die fchon dem 
aufgehobenen Beil den Naden darreichen: wohin verirrft Du 
Dich? Was treibt Dun? Der, mit den Du ſcherzen willft, 
ift geängſtigt. „Hülf uns,” antworten Dir Alle, die in 
Anfechtung find, was Du auch fprechen magfl. Von allen 
Seiten ftredenfle die Hände nah Dir aus, und flehen um 
Hülfe für das verlorene und zu Grunde gehende Leben; an 
Dir ift’d, Hoffnung und Stärkung zu gewähren; Dich bite 
ten fie, diefem gewaltigen WBogendrang fie zu entziehen,’ und 
ven Verſchlagenen und Irrenden bir helle Leuchte der Wahrs 
heit zu zeigen. Sag’ ihnen, was die Natur nöthig und was 
fie überflüſſig machte; wie leichte Gebote fie gegeben; wie 
froh, wie unangefochten das Leben Derer ſey, die ihr folgen; 
wie voller Hinderniffe aber und mannichfach verbittert das 
Leben Derer, die dem Wahne mehr als der Natur vertrauen. 
Bor Allen zeige ihnen, welches der Mittel, die geeignet 
find. einen Theil jener Uedel zu heben, die Begierden aus—⸗ 
rotte, welces fle zügle. 

Woliten tie Götter, dab de und ak EN IT N 

Seneca. 138 Vechn. 


1590 Seneca's Briefe. 


(diefe Dialectiker)! Aber fie ſchaden. Dieß, will ich Dir, wenn 
Du es verlangft, aufs Kiarfte beweiſen, daß eine herrlice 
Anlage, bie fih anf folhe Spipfindigkeiten wirft, ner 
trüppelt und verkümmert. Ic ſchaͤme mich, es zu fanen, 
welche Waffen fie Denen reihen, die gegen das Schichſal 
ankaͤmpfen follen, und wie fle Diefeiben ansräften. Auf dies 
fem Wege wandelt man zum hoͤchſten Gute! Nein, auf ihm 
gelangt die Philoſophie nur zu jenen ſchwarzen, ſchmählichen, 
felbit den Advocaten entehrenden Sophiftereien. Denn Indem 
ihr die Lente durch eure ragen wiſſentlich in ZTrugfulüfe 
führet,, was wollt ihr andere, ale den Prozeß gegen je ge 
wonnen zu haben ſcheinen? Allein wie dort der Praͤtor, fo 
ſtellt auch diejen Die Philofophie ihren Rechtsſtand wieder 
ber. Warum entfernt ihr euch jo weit von euern gewaltigen 
Verfprechungen ? Ihr habt große Worte geſprochen; ihr 
wolltet mic, dahin bringen, daß des Schwertes Biipen fo 
wenig als des Goldes meine Augen biende; daß ich mit Hel⸗ 
dengröße, was Alle wünfchen und was Alle fürchten, nieder 
trete, — und nun feige ihe herab zu den Elementen ber 
Grammatik! Was fazt ihr? Wandelt man fo zu den Ster⸗ 
nen? Denn das iſt's, was die Philofophie mir terheikt, 
„wich Gott aleidy zu machen: dazu bin ich berufen, dazum 
bin ich gekommen. So löſe denn dein Wort! 

So viel Du alfo Fannft, mein Lucius, erthalte Die 
diefer Sophiftereien und Nedefchlingen ter Phitojophen. Di: 
fenheit und ſchlichte Einfalt ziemt dem Gutgeſinuten. Auch 
wenn der Lebenszeit noch viel Abrig wäre, fo mäßten 
wir fie ſparſam eintheifen, damit fie für das Noͤthige and: 


Neunundvierzigfter. Brief. 1591. 


reihe; nun aber, weicher Wahnfinn, Unnöthiges zu lernen 
bei foicher Armuth an Zeit! 


Neunundvierzigſter Brief. 
Eile des Lebens: 3eitverderb der Dialectiker. 


Es verräth zwar Gleichgültigkeit und Mangel an-Liebe, 
nur durch irgend eine Gegend gemahnt, anf das Andenken 
an einen Freund zurückzukommen; doch rufen bisweilen ver. 
traute Pläge, die in unferem Herzen wohnende Sehnſucht 
iebhafter. hervor , und erneuern nicht ein erlofchenes Auden⸗ 
ten, fondern frifchen nur das ruhende auf; wie der Schmerz 
Zranuernder, auch wenn die Zeit ihn befänftigt bar, oft durch 
den Eintritt eines vertrauten Dienerd, oder durch den An⸗ 
blick eined Gewandes, einer Wohnung, wieder neu wird, 
So kannſt Du nicht glauben, wie Gampanten, zumal Nea⸗ 
geil, im Angeſicht deines Pompeji, mein Verlangen nad Dir 
erneuert hat. Du ſchwebſt vor meinen Blicken, ganz wie 
Du warft, ald ih von Dir ſchied; ich fehe Dich Deine Thraͤe 
nen zurücddrängen, jehbe, wie Du Deine allen Zwang durd, 
brechenden Gefühle nicht zu bewältigen vermag. Mir if, 
als hätte ich Dich fo eben erft verloren. - Denn was war 
nicht fo eben, wenn wir zurüddenten ? Go eben nad ſaß 
ich als Knabe in des Philoſophen Sotion Schute; fo eben 
fieng ih au, ald Sachwalter aufzutreten; fo eben hörte ich 
auf, dieß zu wollen; fo eben hörte ich auf, es zu können. 
Unbefchreibtich ift die Eile der Zeit, am Don RUN ir 


1592 Seneca's Briefe. 


auf, wenn man rückwärts blickt. Denn ſo Lange wir auf das 
Gegenwärtige gerichtet find, täufcht fie uns: ihr Worüber: 
fchlüpfen in unaufpaltfamer Flucht ift unmerklich. Du fragft 
nad) der Urfahe? Die ganze vergangene Seit ift beifammen 
auf Einer Stelle: man überfieht fie auf Einmal: es ift Eine 
Tiefe, in weiche Altes hinabflürzt. Und lange Imifchenräume 
können ja nicht feyn, wo das Ganze fo kurz if. Es ift ein 
Punkt, was wir leben, und noch weniger als ein Punkt; 
aber diefes Kleinfte hat die Natur fcheinbar in einen weitern 
Raum vertheilt. Etwas davon machte fie zur Kindheit, Et⸗ 
was zum Kuabenalter, Etwas zum Tünglingsalter, Etwas 
zu einer Urt Uebergang vom Tünglingsalter und Greifenal: 
ter, Etwas zum Greifenalter ſeibſt. Wie viele Stufen hat 
fie auf einem fo kleinen Raume angebraht! So eben esft 
hab’ ich Dir das Geleite gegeben; und doch iſt dieſes fo 
eben ein guter Theil unferer Lebenszeit, teren Kürze wir 
— laß uns dieß bedenken! — einft fühlen werden. Sonft 
pflegte mir die Zeit nicht fo reiffend ſchnell zu entfliehen: 
jezt finde ich ihre Eile unglaublich, vielleicht weil ich das 
lezte Ziel nahe fühle, oder weil ich aufmer&fam zu werden 
und meine Berlufte zu berechnen anfange. 

Um fo unwürdiger finde ich. ed, daß es Leute giebt, die 
den größeren Theil diefer Zeit, melche, auch wenn fie noch 
fo forgfältig in Acht genommen wird, doch nicht einmal für 
das Nothwendige ausreicht, auf Meberflüfliges verwenden. 
Gicero fagt, er würte, andy wenn man feine Jahre ihm ver: 
Doppelte, nicht Zeit haben, die Lyriker zu leſen. Nicht an- 

Ders IE ed mit den Dialectitern: nur daß diefe mit ihren Uns 
Bereimtpeiten es ernfthafter nehmen. Lee eitiüten üsren 


Neunundoierzigfter Brief. 1593 


Mathwillen für Das, was er ift: Diefe bilden fich ſelbſt ein.. 
etwas Wichtiges zu thun. Ic behaupte übrigens nicht, 
daß man fie feines Blickes würdigen fole; man ſoll fie als 
lerdings befchauen, doch nur aus der Ferne, und bloß, das 
mit man fidy durch fie nicht zum Beten halten laffe, und 
nicht etwa meine, als befißen fie irgend ein wichtiges, vers 
bosgeued But. Was quälſt Du Did und magerft Did, ab 
über einer Aufgabe, die zu verachten mehr Verſtand verräth, 
als fie aufzutdöfen? Wer nichts zu forgen hat, und nad 
Behagen fortwantert, mag Kleinigkeiten auflefen: wenn der 
Feind auf dem Naden ift, und der Krieger aufzubrechen bat, 
fo beißt die Noch wegwerfen, was ein müffiger Friede ges 
famınelt hatte. Ich habe Feine Zeit, auf doppelfinnige Wör: 
ter Jagd zu machen, und meinen Wis daran zu verfuchen. 


Schau, wie bie Völker ſich rotten, wie rings in verfchloffenen 
oren 


Seflungen wegen den Stahl! *) 


Mit hohem Muthe ſoll ich dieſes Getöfe des rings mich 
umlärmenden Krieges vernehmen. Mit Recht hielten mich 
Aue für einen Verrückten, wenn ich, während Greife und 
Frauen Steine anf die Sinnen der Mauer ſchleppten, wäßs 
send die bewaffnete Jugend innerhalb der Thore das Zeichen 
zum Ausfall erwartete ‚oder forderte, während die Waffen 
des Feindes fchon in den Thoren blizten, und der Boden 
ſelbſt, unterwühlt in geheimen Gängen, zitterte — wenn ich 
da müſſig fälle, und Syllogismen ſchmiedete, wie folgenden: 
„Was Du nicht verloren haft, haft Du: Hörner haft Du 


») Virgil Aen. VIII, 385 f. 


1594 Seneca’s Briefe, 


nicht verforen, alfo haft Du Hörner,’ und was dergleichen, 
nad) dem Mufter diefes fcharffinnigen Unfinns geformte Kunſt⸗ 
ſtückchen mehr find. Und auch jeze müßte ih Dir für ver- 
rückt gelten, wenn ich anf ſolche Dinge Mühe verwendete: 
denn ich werde wirklich befagert. In jenem Falle würde mir 


die Gefahr doch nur ron Auffen drohen, die Mauer wäre 


mich vom Zeinde fdeiden; jezt aber ift das Todtbringende 
bei mir. Sch babe keine Muße für ſolche Thorheiten: ein 
hochwichtiges Gefchäft kab’ ich unter den Händen. Mas foll 
ich thun? Der Tod verfolgs mich: das Leben flieht. Gegen 
Diefes Iehre mich Etwas: bringe mich dahin, Daß ich den 
Tod nicht fliehe, das Leben mir nicht entfliehe. Ermuthige 
mich gegen das Schwere, zum Gleichmuth gegen das Unver⸗ 
meidliche: ermweitere mir den engen Raum der Beit; Iehre 
mi, daß des Lebens Werth nicht auf feiner Dauer, fon- 
dern auf feinem Gebrauche beruhe, und daß es gefchegen 
könne, ja fehr häufig geſchehe, daß, Wer lange gelcht, zu 
“Bar gelebt hat. Sage mir, wenn ich fchlaien gehe: „viel: 
leicht, daß du nicht aufwachſt.“ — Wenn ich erwache, fe 
ſprich: „vielleichE wirft Du nicht wieder ſchlafen.“ Und wenn 
ich ausgehe , fo fage: „vieleicht kehrſt Du nicht wieder zu 
rũck.“ Und Behre ich wieder, fo fage: „vielleicht gehft Du 
nicht mehr aus.” Du irrft, wenn Da glaubft, nur zu 
Schiffe frenne das Leben vom Tode ein Kleiner Raum: über: 
all ift die Scheitewand gleich dünn. Nicht überall zeigt fich 
der Tod fo nahe, aber überall ift er fo nahe. Diefe Fin 
ſterniß verfcheuhe; und Du wirft mie das leichter beibrin⸗ 
sen, anf was ich vorbereitet bin. Die Natur Hat uns ges 
Sedrig gefchaffen ; fie hat und eine aunaätanmene Weruueli, 


Fuͤnfzigſter Brief. 1595 
doch eine folche gegeben, die vervollkommnet werden kaun. 
Sprich zu mir von der Gerechtigkeit, von der Frömmigkeit, 
von der Genügſamkeit und von der Züchtigkeit, ſowohl jes 
uer, die einen fremden Körper nicht antaftet, als der, Die 
den ihrigen in Ehren hält. Willſt du mich durch Keine Um⸗ 
wege führen, fo werde ich leichter dahin gelangen, wohin ich 
trachte. Denn, wie jener Tragiker, fagt: „Einfach iſt der 
Mahrheit Sprache.” *) Man fol fie alfo nicht verwideln: 
denn jene hinterliftige Verfchlagenheit ziemt am wenigften 
Geiftern, welche Großes erftreben. 


Fuͤnfzigſter Brief. 
Dan Terne fich felber kennen, um fih zu 
beffern. 

Deinen Brief erhielt ich erft mehrere Monate , nachden 
Du ihn hatteſt abgehen laſſen. Ich hielt es daher für nutz⸗ 
108, den Ucberbriuger zu fragen , .was du macheſt; denn er. 
muß ein autes Gedachtniß haben, wenn er fich deffen noch 
erinnert. Zudem hoffe ih, Du lebeſt nun ſchon fo, daß ich, 
wo Du auch feyit, willen kann, was Du macheſt. Denn 
was follteft Du anderes machen, als Dich ferbft täglich befs 
fern, einen Irrthum um den andern ablegen, und einfehen 
fernen, daß Deine Schuld fey, was Du für die Schuld der 
Dinge Hättft. Denn gar Manches legen wir dem Drt und 
den Umſtänden zur Laſt, was und, wohin wir und aud vers 
fepen, begfeiten wird. Die Harpaſte, die naͤrriſche Sclavin 


*) Euririd, Phouic. a8. 





. 1596 Seueca's Briefe. 


meiner Frau, kennſt Du; fle biich ais ein läſtiges Erbſtück 
in meinem Haufe zurüd; denn ich bin foichen Mißgeburten 
höchſt abgeneigt ; wer: ich mich mit einem Narren befuftigen 
will, fo brauche ich ihm nicht weit zu. fuchen: ich Ladye über 
mich ſelbſt. Diefe Närrin alfo hat mit einemmale das Ge: 
fiht verloren. Die Sache wird Dir unglaublich feyn, aber 
fie tft wahr. — Harpafte weiß nicht, daß ſie blind ift, und 
verlangt einmal um das Andere won ihrem Aufſeher, taß er 
mit ihr ausziehe: das Haus, behauptet fie, ſey "finfter. 
Darüber lachen wir; aber daſſelbe, merke Div’d, begegnet 
uns Ulen. Niemand weiß, daß er geibig, Niemand, dag er 
Sclave feiner Begierden ift. Die Blinden fuchen doc) einen 
Führer; wir irren ohne Führer und ſptechen: ,Ehriüchtig 
bin ic) nicht; aber man kann nun einmal zu Kom nicht an⸗ 
Ders leben. — Aufwand mache ich nichts aber fihon bie 
Stadt nöthigt zu großen Ausgaben. — Es iſt nicht mein 
Fehler, daß ich jühzsrnig bin, daß meine Lebensweiſe noch 
nicht feſt und geregelt iſt; das macht die Jugend.“ 

Warum betrügen wir uns ſelbſt? Nicht außer uns iſt 
unſer Gebrechen; es iſt in und, haftet in unſern Eingewei⸗ 
den. Daher gelangen wir ſo ſchwer zur Geneſung, weil 
wir nicht wiſſen, daß wir krank find. Auch wenn wir ans 
fingen, uns heilen zu Taffen, wie lange würden wir wohl 
brauchen, fo viele Weber, fo große Schwächen zu vertreiben? 
Nun aber fuchen wir nicht einmal einen Wrzt: dieſer hätte 
geringere Mühe, wenn wir ihn beizögen, fo lange der Scha⸗ 
den noch neu ift: die noch zarten, unverfuchtn Herzen wit: 
den leicht dem Führer anf dem rechten Wege folgen. Nies 

mand laͤßt ſich ſchwer zur Naotux führen, old Wer Gen von 


| Sinfzigfter Brief. 1597 
ihr abſtel. Wir erröthen, Vernunft erft zu lernen: aber, 
mwahrlih, wenn ed eine Schande ift, einen Lehrer dafür .zu 
fuhen, fo gebe man nur auch die Hoffuung auf, daß und 
der Zufall ein fo großes Gut eingießen fönne —; wir müls 
fen arbeiten. "Und, um die Wahrheit zu fagen: die Arbeit 
ift. nicht einmal fehr groß; nur funge man, wie gefagt, mit 
der Bildung nnd DBefferung des Gemüthet an, noch che defs 
fen Verkehrtheit fi verhärtet hat. Doh auch an dem vers 
härteten verzweiſte ich nicht: Nichts it, was behar:licher 
Fleis, aufmerffame und gewiffenhafte Sorgfalt nicht über: 
winden könnte. Baumflämme, fo gekrümmt fie feyen, laffen 
fid) gerade machen; gebogene Balken dehnt die Wärme, und 
anders gewachſen, werden fie 31 Den umgefornit, was unfer 
Bedürfniß erheifcht. Um wie viel Leichter aber nimmt die 
Seele, dieſes bieafame Wefen, das fihmiegfamer ift als jede 
Flüſſigkeit, eine Form an? Denn was ift dir Seele aus - 
ders, als eine efgenthümtliche Mer Aether? und Du flieht, 
daß der Aether leichter ift, ald jeder andere Stoff, weil er 
der feinfte Stoff if. Ob audı dıs Böſe ung fchon in Beflb 
genommen ,-ob ed fange fchon im Befige unſerer ift, fo darf 
Dich dieß doch nicht hindern, mein Lucitius, gute Hoffnun⸗ 
gen von und zu faſſen. Niemanden wird die aufe Gellnnung 
eber, als die fchlinme, zu Theil ; wir Alte find zum Voraus 
eingenommen. Tugenden lernen heißt Fehler verlernen. Aber 
- am fo muthiger müffen wir zur Beflerung unferer feibit 
fchreiten, weit der Beflg Ted ung einmal gewordenen Guten 
ein bleidender if. Die Tugend wird nicht verlernt Denn 
das Böfe, als ein Widriget, haftet auf fremden Barren, u 
Bann fomit vertrichen und ausgeratter werden“ HET ET TS 


1598 ESẽsneca's Briefe. 


was feine Stelle gefunden hat. Die Tugend ift der Natur 
geniäß: das Lafter if ihr witerftrebend und feindlich. Allein, 
wie einmal in uns aufgenommene Tugenden nidyt wieder 
ausziehen können, und es leicht ift, fie zu bewahren; fo if 
der erfte Zugang zu ihnen fleil, weil das ſchwache, malte 
Herz ſich darin zuerſt verräth , daß es vor dem Unverfudhten 

ſich fürchte. Man muß ed alio zwingen, Daß es beginne. 
Sofort ift die Arznei nicht derbe: indem fie anichlägt, ſchmeckt 

fie fogar. Anderer Heilmittel freut man fich erft nach ers 
langter Geſundheit: die Philofophie ift gleichermaßen heilfam 
und füß. 


ES inundfünfzigfler Brief. 
Die Bäder zu Bajd. 

Wie Jeder kann, mein Lueitius! Du haft dort ten 
Aetna, jenen weltbekannten Berg Sicilieus —: warum ihn 
Meſſala oder Valgius (denn ich las es bei beiten) den Eins 
zigen nennt, finde ich nicht, indem fehr viele Stelfen Feuer 
auewerfen, zicht nur hochgelegene (wiewohl dieſe häufiger, 
weit dad Feuer immier möglichft hoch ſteigt), fondern and 
tiefer liegente Gegenden — : wir find, fo gut wir können, 
mit Bajd zufrieden, das ich Abrigens am Tage nach meiner 
Ankunft wieder verließ, als einen Drt, der bri allen Gaben, 
die er von der Natur empfangen, dennoch deßwegen zu vers 
meiden ift, weil die Ueppigkeit ihn zu ihrem Tummelplaß 
gemacht hat. 

„Mie alſo? Darf man irgend einem Orte Haß anfüus 

drgen 7'° Bewiß nicht; aber wie einem weilen nat tugerthafe 


„ 


Einundfünfzigfter Brief. 1599 


ten Manne eine Kleidung beffer anfteht, als die andere, 
shne daß er irgend eine Farbe haßt, fondern indem er ges 
wiſſe Farben einem Wanne, der ſich zur Einfad,heit bekennt, 
für minder angemeffener hält: fo giebt «6 auch Gegenden, 
weiche der Weife oder der nach Weisheit Strebente ats ſol⸗ 
che vermeidet, die mit guten Sitten fich nicht gut vertragen. 
Sp wird er, wenn er darauf denkt, ſich zurückzuziehen, ge« 
wiß nie Canopus *) wählen, wiewohl Candpus Niemanden 
verbietet, vernünftig zu fepn, ja nicht einmal Bajd. Denn 
diefer Dit Hat angefangen, Me Herberge der Laſter zu wer: 
den: dort erlaubt fid, die Ueppigkeit Alles; dort, als ob 
eine gewiſſe Ungebundenheit dem Orte gebühre, entfeffelt fie 
ſich freier. Allein nicht bloß für den Körper, auch für die 
Sitten follen wir einen gefunten Aufenthalt wählen. So 
wenig ich unter Folterfnechten wohnen möchte, eben fo wenig 
auch zwiſchen Gurfüchen. Betrnunkene, wie fle auf ten Luſt⸗ 
gängen am Ufer hintäumeln, die Seen, belebt von ſchmau⸗ 
-fenden Geſellſchaften auf Schiffen und von raufrtenden Pins 
fifchören,, und manches Andere, mas die Schwelgerei, alt 
wäre fie aller Geſetze ledig, nicht nur fündigt, fondern zur 
Schau ftellt — wozu fol ich Bas Altes fehen? Darauf viels 
mehr folfen wir denfen,; wie wir den Reitzungen der Lafler 
fo weit ald ındglid, entfliehen. Wir follen das Herz feſt ma⸗ 
chen, und es von der verlockenden Schmeichelei drr Wolluſt 
ferne halten. Ein Winter bat Hannibals Kıaft gelöst, 
und den Mann, den Eis und Schnee ber Alpen nicht beuge 





2) Fine Stabt in Aegypten, deren verfügen ST Sn 
Spruchwoit geworden waren, 


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1600 Eeneia’s Briefe. 


“ten, enfnervfen die weichen warmen Polfter Campaniı 


Durch Waffen fiegte er: durch Laſter ward er beileat. 2 
wir haben Krieg zu führen, und zwar in einer Urt des D 
ſtes, die nie Ruhe noch Raſt geflattet. Wir müſſen vor 
fen die Lüfte betänpfen, welche, wie Du fiehft, auch 
sropigften Eharactere mit ſich fortgeriffen baden, Ber 
ſich vergeftelte hat, zu welch großem Werke er fchritt, v 
erkennen, daß hier nicht mit weichlichem Behagen verfat 
werden darf, 

Was follen mic jene Behälter warmen Waflers, | 
Schwitzzimmer, in welchen eingefchloffene trodene Din 
dem Körper alle Feuchtigkeit entziehen? Nur die Arbeit 
und den Schweiß austreiben. Würden wir thun, was H 
nibat gethan, und den Zauf der Thaten unterbrechend. 
den Krieg einitellend, bemüht ſeyn, dem Leibe gütlich 
thun , fo würde Jedermann dieſe unzeitige und dem Sie 
ſelbſt, gefchweige Dem, der erft im Begriff ift, ed zu m 
den ,„ gefährliche Unrpätigbeit mie Recht tadeln. Wir a 
dürfen und noch wenigec erlauben, als Gene, welche 
Punifchen Fahnen folgten: größere Gefahr wartet um 
wenn wir weichen, größere Arbeit fogar, wenn wir bet 
sen. Das Sch Aal führt Kıieg mit mir: ich will mir & 
Geſetze vorfchreiben, Bein Joch auflegen laſſen; oder v 
mehr — was mit noch größerer Kraft gethan feyn will 
ich ſchüttle es ab. Da darf ich Bas Gemüth nicht weich ıx 
den laffen. Gebe id) der Wouuft nach, fo muß ich auch | 
Schmerz, der Ermüdung, ter Armuth nachzeben; ein glei 
Reit wird die Ehrſucht, der Zorn fid, über mich anmaß 


—X viele Leidenſchaften werden fidy wm wich, Kreiten, ia u 


Einundfünfzigfter Brief. 1601 


gerreiffen. Die Freiheit ift das Biel; um diefen Preis wird 
gerungen. Welche Freiheit idy meine? Keines Dinges, kei⸗ 
ned Zwanges, keines Zufalls Sclave ſeyn, und mit dem 
Schickſal ſich auf gleihen Boden ftelfen. Bon dem Tage an, 
wo ich mich ftärker fühle als das Schickſal, wird es nichts 
mehr vermögen. ch follte mir feine Macht gefallen laſſen, 
da der Tod in meiner Gewalt fteht? | | 
Mit ſolchen Gedauken befchäftigt wähle man fich einen 
ernten, heiligen Ort. Eine allzu anmuthige Gegend macht 
das Gemüth weibifch: nud unftreitig Bann die Gegend dazu 
- beitragen, die Thatkraſt zu verderben. Auf jedem Wege 
kommen Laſtthiere fort, deren Huf auf rauhem Boden fich 
-verhärtet hut; auf weichen, fumpfigten Zriften Gemäflete 
nupen ſchnell fih ab. Rüſtiger ift der Soldat, der aus dem 
Gebirge kommt; verdroffen der Städter und der Verwöhnte. 
Keine Urbeit verfant ter Arm, der vom Pfluge weg bie 
Waffen ergriff: anf dem erften Marſche erliegt, Wer von 
Salben glänzt und disftet. Die fiengere Lebeusart in einer 
rauheren Gegend flärft den Geiſt, und macht ihn für große 
Unternehninngen tüdtig. Es war des Scipio würdig, ‚fid) 
nad) Liternum, ftatt nad Baji, zu vrerbannen: auch nad) 
feinem Sturze durite er fich nicht fo weichfich Betten. Und 
ferbft Jene, anf weiche das Schickſal des Römervolkes zuerft 
die Macht des Sıaates übertrug, Darius, Pompejus und 
Cäfar, erbauten zwar Zandhäufer in der Gegend von Bajd, 
aber fie fezten diefeiben anf die höchften Gipfel ver Berge. 
Es bräuchte ihnen Friegerifcher, von Hoher Warte auf die zu 
ihren Füßen liegende weite Laudfchaft niederen. Dre 
trachte die Page, welche fie wählten, wa 8. wir WEIS 


1602 Seneca's Briefe. 


Gebäude errichteten, und Du wirft finden, daß es nicht Laub⸗ 
hünfer, ſoudern feſte Schiöffer find. Glaubſt Du wohl, ein 
Cato würde je in cinem jener niedlichen Luſthäuſer gewohnt 
haben, um die vorüberfchiffenden Buhldirnen zu zählen, die 
Menge buntbemalter und mannichfaltiger Gondeln, und be 
auf dem ganzen See fchwimmenden Rofen zu betrachten, und 
die fich überbietenden Wechfelgefänge nächtlicher Sänger zu 
vernehmen? Hätte Eato nicht lieber fein Leben Hinter dem 
Walle zugebracht, als eine einzige Nacht unter ſolchen Dins 
gen? Wer, der ein Mann ift, folite ſich aud dem Schafe 
nicht lieber durch den Schladhtruf, als durch SympHonieen 
wecken laffen ? 

Doch ic habe lange genug mit Bajä schadert, nie ges 
nug mit den Laſtern; diefe, mein Lucilius, ich bitte Dich, 
verfolge ohne Maaß und Ende: denn auc fie kennen weder 
Ende noch Maaß. Wirk von Dir, was Dein Herz zerfleiſcht; 
und könnten fie nicht anders heransgeichafft werden, fo wäre 
das Herz ſelbſt mit ihnen auszureiffen. Vor allem jage die 
Wollüſte hinaus, und halte fie für deine ärgſten Feinde. 
Denn wie jene Räuber, welche die Aegypter Phileten 
nennen, umarmen file und, um und zu eriwrgen. 


Zweiundfuͤnfzigſter Brief. 
Wir bedürfen fremden Beiſtandes zum Buten. 
Bo haben wir ihn zu fuhen? 


Bas iſt es, mein Lucilins, was und, wenn wir hierhin 
wolen, bortpin zieht, und ums rain tet, wen wa we 


Zwelundfünfzigfter Brief. 16035 


jun entfernen wünſchen? Was ift ed, das mit unferem 
üthe im Kampfe liegt, und und nicht erlaubt, Etwas 
für allemal zu wollen? Wir ſchwanken zwifchen wech⸗ 
m Entwürfen; wir wollen Nichts aus freier Entfchlies 
;s Nidies entichieden, Nichts für immer. — „Das ift 
Thorheit,“ ſagſt Du, „die bei Nichts beharrt, der 
td fange gefällt. — Aber wie und warn werden wir 
von ihr losreißen? Niemand if für ſich flark genug, 
yeranszuarbeiten. Mau muß die Hand ihm bieten, ihn 
iszieden. Epicur fagt, „Einige“ (und unter Diefen er 
) „hätten fih den Weg zur Wuhrheit ohne Jemandes 
e ſelbſt gebahnt; Solche lobt er am meiſten, die, von 
ı beranggetrieben, ſich ſeibſt vorwärts brachten. Andere 
rfen fremder Unterſtützung; ſchreiten nicht vor, wenn 
nand ihnen vorangehe, aber folgen wacker nach: unter 
en fey Metrodorus. Uuch Diefe fenen trefflihe Natu⸗ 
doch zweiter Art. Wir gehören nun nicht zu Jenen 
n Ranges: es ſteht gut mit und, wenn ung der zweite 
wiefen wird. WBerachte auch den Menſchen nicht, der 
hy fremde Hilfeleiflung gerettet werden kann; es ift ſchon 
‚ gerettet feyn zu wolen. Außer Diefen wirft Du eine 
re, auch nicht verächtlihe Gattung Menſchen finden, 
he nämlich, die man zum Rechten antreiben und nöthis 
kann, Die nit nur einen Führer, fondern einen Nach⸗ 
r, und, daß ich fo fare, AUntreiber nöthig haben. - Das 
ie dritte Claſſe. Wenn Du ein Beifpiel verlangft, fo 
nach Epicurs Aeußerung, Hermarchus ein folcher. 
ev findet er Jenen glücklicher, Dielen achtet ex wahr. 
e gelangten zwar am dafjelve Ziel; kan ab TR ae 


1604 Seneca's Briefe. 


Verdienſt, auch aus dem Schwierigeren Stoffe daſſelbe [mas 
and dem guten) zu macen Deute Dir, es wurden zwei . 
Gebäude errichtet, beide von gleichem Umfang, -gleicher Höhe 
md Pracht; dad eine aber Pam auf einen feſten Boden zu 
fiehen; da wuchs das Werk ſchnell empor. Das andere hat 
einen locern Grund, it in ein weiches, fumpfiged Erdreich 
eingelaffen, und viele Mühe und Arbeit mußte verwendet 
werden, bid man anf feften Boden fam. An jenem Gebäude 
fällt, was man gearbeitet, gleich in die Augen; an biefem 
fiegt ein großer, nnd ter fchwieriafte Theil des Werkes 
verborgen. Einige Naturen find Leicht zu behandeln yndb 
allezeit fertig; andere muß man erſt mühfem bearbeiten, und, 
daß ich fo ſage, in ihren Fundamenten angreifen. Alſo 
möchte ich fagen, der ift der Gläcklichere, welcher mit fi 
felbft Beine Mühe hatte; ein größeres Verdienft um fidy feibfl 
hat ſich Derjenige erworben, welcher ‚die Ungunft feiner 
Natur überzmand, und zur Weisheit ſich nicht hinleitete, 
foudern hinriß. Du dariſt glauben, daß eine fo harte, fo 
viele Mühe erfordernde Natur auch und geworden ift: wir 
wandeln durch Widerfiebeutes. So ringen wir denn, und 
rufen wir fremde Hülfe an! 

„Uber Wen, fragft Da, „ſoll id anınfen ?_ Diefen ? 
Jenen?“ — Kehre Du auch zu den Allen zurück; fie fleten 
Dir bereit: nicht nur, die find, fondern auch, die muren, 
tönen und zu Hülfe kommen. Don Denen aber, vie find, 
laß uns nicht Die wählen, welche in großer Eile ihre Worte 
hinwerfen, auf Gemeinplägen fid) tummeln, und in Prirats 
Sdufern umber ihre Borträge halten; fondern Die, weiche 

durch das Reben felbft Ichren ; vworldye , oem ie alant, mas 


awelundfünfzigfier Brief. ‚1605 


man thun foll, es durch ihr eigenes Thun bewähren; welche 
zeigen, was man zu meiden bat, und nie ſelbſt über Dem 
betroffen werden, was fie für verwerflich erElärt haben. 
Wähle zu Deinem Beiftande den Mann, den Du mehr be: 
mwunderft, wenn Du ihn fiehft, als wenn Du ihn hörft. 
Gleichwohl möchte ich Did, nicht verhindern, auch Solche 
zu hören, welche das Volk zuzulaffen und zu dieſem zu 
fprechen gewohnt find; wenn fie nur mit dem Vorſatz vor 
die Menge treten, ſelbſt beffer zu werden und Andere zu 
beſſern; wenn file nicht aus @itefkeit dergleichen fich zum 
Gefchäfte machen. Denn was ift fchimpflicher, als eine 
Philoſophie, die nad) Beifallgefchrei begierig ift? Lobt etwa - 
ein Kranker feinen Arzt, fo lange ex ihn fchneidet? Schwei⸗ 
gend und mit Hingebung laßt mit euch die Heilung vornehmen: 
auch wenn ihr Beifall rufet, laßt mir es feyn, als ob ihr 
fenfzet äber der Berührung eurer Schäden. Oder wollt ihr 
etwa damit beweifen, wie aufmerffam ihr feyd, wie fehr die 
Größe der Gedanken zuch ergreife? Nun wohl: ift cd, daß 
ihr urtheilet, daß ihr eure Etimme gebef über Das, was 
gut ift, warum folte ich eud) das nicht erlauben ? Aber" 
des Pythagoras Schüler mußten fünf Sabre lang fehweigen : 
glanbſt Du nun, daß ihnen mit dem Sprechen auf einmal 
aud dad Loben erlaubt gewefen fey? Wie groß aber wäre 
die Verrücktheit Defien, ter erfreut über dad Zurufen der 
Unwiſſenden aus dem Hörfaal ginge? "Wie fanı man fid 
ireuen, von Meufchen gelobs zu werden, die man ſelbſt nicht 
toben dann? Der Stoiter Fabianus redete zum Wolfe: 

aber man hörte ihm mit beſcheidener Stile; nur bisweilen 


Seneca. 138 Bbchn. 


1606 Seneca’d Briefe. | 


brady ein großes Gefchrei des Beifalls auf, allein ein ſolches, 
das die Größe der Ideen, nicht der Wohltant der ungehemmt 
und glatt dahinfließenden Rede hervorrief, Es fol ein Uns 
terfchied feyu zwifchen dem Beifalleuf im Theater und im 
Hörſaal. Es gibt auch eine Unsgelaffenheit im Loben. Jede 
Sache verräth fi bei näherer Betrachtung; und ein Schluß 
auf den Charakter läßt fid, auch aus den unbedeutendften 
Dingen machen. Den Sittenfofen bezeichnet fein Gang, eine 
Bewegung der Hand, zuweilen ein einziges Wort, Lie Art, 
wie er den Zinger zum Kopfe führt *), wie cr die Mugen 
verdreht; den Boshaften bisweilen fein Zachen ; den Narren 
Miene und Haltung. Alles diefed tritt durd) Merkmale an 
den Tag. Was an Jedem iſt, kannſt Du erfahren, wenn 
Du beobachteft, wie er lobt. Von allen Seiten ftreden ſich 
dem Philoſophen beifaffflatfchende Hände enfgegen: dewun⸗ 
dernd erhebt fi der ganze Haufe, und überragt ihn; aber 
nun ift es nidye mehr fein Zob, was er vernimmt, fondern, 
wenn Du ed recht verftehft, fein Grabgeſang. Weberfaffen 
wir diefe Stimmen jeren Künften, deren Aufgabe ift, dem 
Volke zu gefallen: ter Philofophie werde Verehrung, May 
ed bismeilen jungen Leuten geftattet ſeyn, dem Drange ihres 
Herzens nachzugeben; aber nur dann, wenn es wirklicher 
Drang ift, wenn fie nicht Länger vermögen, ſich Stillſchwei⸗ 
gen zu gebieten. Ein Lod diefer Art hat etwas Ermunterns 
des für den Zuhörer ſelbſt, und begeiftert Die Gemürher der 


Jünglinge. Der Inhalt fey es, nicht Die ſchön gefepten 


*) Um fi den Lodenbau nicht zu verderben; der Weichlinn. 
S, Lucian Rednerſchule 11. - 


—⸗ — * 


— 


Dreiundfinfzigfier Brief. 1607 


Worte, was fe röhre: denn eine Beredfamkeit, die nicht 
nach ihrem Gegenſtande, fondern nad ihr ſeibſt begierig.. 
macht, if ‚ihnen ſchaͤdlich. — Ich verichiebe jedoch. diefen - 
Gegenftand für jept; denn eine eigene und ausführliche Er⸗ 
Örterung verlangen bie ragen, wie man zum Volke fprechem . 
fol, was man ſich gegen das Volk, und was dem WVolke 
gegen ſich erlauben dürfe. Daß die Philofophie, feittem fie 
ſich öffentlich gemacht, Schaden genommen, ift außer Zweifel: 
alfein in ihrem Heiligthume darf fie ſich offenbaren, wofern 
ihr nur nicht ein Oteiener, fondern ein Pricfter, zu Theil 
wird, 


Dreinndfünfzigfler,; Brief, 
Eine gefährliche Seereiſe. — Selbſtkeuntniß. 
Die Philoſophie verhilft zu dieſer. 

Wozu wird man mich nicht noch bereden können, da 
man mich beredet Hat, zu Schiffe zu gehen? Wir lichteten 
bei ruhiger See die Anker; aber der Himmel war mit ſchwe⸗ 
ven, ſchwarzgranen Wolken betedt, die gewöhntid, in Waffen. 
oder in Wind fih auflöſen. Gleichwohl, fo zweifelhaft und 
drohend das Wetter war, glaubte ich doch die wenigen Mils 
lien von deinem Parthenope *) nach Puteoli mich durchſtehlen 
zu können, und ließ daher, um defto gefchwinder zu entkom⸗ 
men und alle Buchten abzufchneiden, die Richtung mitten 
durch die hohe See gerade nad) Nefis **) nehmen. Als Ich 





+) Neapel. 
**+) Sept Nefita, eine Fleine Infel, —J 


1608 Seneca's Briefe. 


. fihon fo weit war, daß ed mir gleichgültig feyn konnte, ob 
ich weiter führe oder umkehrte, fing jene Stätte der See, 
die mich verführt hatte an, ſich zu verlieren; ed war noch Bein 
GStarm, aber die See ging fhon Hopf, und die Wogen folg: 
ten ſich allmählig flärfer. Ich bat jest den Steuermann, 
mich irgendwo ang Land zu fenen: allein der Mann fagte, 
bie Küfte ſey fchrof und ohne Landungsplatz, und nichts 
fürchte er in einem Sturme fo fehr, als das fer. Und doc 
war mir zu fchlimm, als daß ih an die Sefahr denken 
konnte; mich quälte nämlidy die Seefrankheit, jenes Lähmende 
und doch wirkungsloſe Uebelſeyn, welches die Galle aufregt, 
ohne fie auszumwerfen. Ufo drang ich in den Steuermann, 
und Zwang ihn, er mochte wollen oder nicht, nach dem Lande 
zu ſteuern. Als wir in die Nähe deffelben gefommen waren, 
wartete ich nicht, bie gefchah, was dort Virgil Haben will: 

Meerwärts dreh'n fie die Schnübel ber Schiffe — — 
oder 

Werfen vom Schnabel den Anker — — — . 
Eingedenb meiner Kunft werfe ich mich, ein alter Verehrer 
des kalten Waflers, in das Meer, wie es einem kalt Ba: 
denden ziemt, im wollenen Unterfleive. Was glaubft Du, 
daß ich ausgeflanden, als ich die Klippen emporklomm, als 
ich einen Weg fuchte und bahnte? Da bin ich inne gewor: 
den, daß tie Seeleute das Land nicht mit Unrecht fürdhten. 
Unglaublich ift ed, was ich trug, ale ich mic, felbft nicht 
tragen Bonnte. Ich fage dir, Ulyſſes war nicht ſowohl im 
Zorne des Meeres’ gchoren, Laß er überall Schiffbruch litt: 
er war ſeekrank. Auch ich will in zwanzig Jahren überall 

anfommen; wohin ich fchifien (ol. 


Dreiundfünfzigfter Brief. 160g 


Sobald als mein Magen, den die Seekrankheit bekannt⸗ 
fidy mit dem Dieere verläßt, ſich erholt, und ich mich durch 
Salboͤhl erfrifcht hatte, fing ich an darüber nachzudenfen, 
wie doch fo leicht wir unferer Fehler vergefien, feibft der 
förperlichen, die immer von Zeit zu Zeit an ſich erinnern, 
geichweige derjenigen, welche um fo verborgener bleiben, je 
vrößer jie find. Eine leichte fieberifche Aufregung täufcht 
ung: aber wenn fie zunimmt und daraus wirkliche Sieberhige 
wird, fo zwingt dad Uebel auc den Harten und Duldfamen 
zum Geftändniß. Man fühlt Schmerz‘in den Füßen, leichte 
Stidye in den Gelenken: noch immer will man es nicht Wort 
haben; man hat dein Knöchel verrenft, fpricht man, oder 
bei irgend einer. Förperlidyen. Hebung fih zu fehr angeftrengt. 
So auge die Krankheit noch unentfchieden und erft im Beginn 
ift, ſucht man einen Namen dafür; fangen aber die Knöchel 
zu fchwellen an, und werden beide Füße zu rechten, fo muß 
man geftehen, daß es das Podagra ſey. Das Gegentheil 
geichieht bei den Krankheiten, worunter tie Seele leidet: 
je übler man ſich befindet, defto weniger fühlt man ed. Du . 
Darfft Dich darüber niche wundern, liebſter Zucilius. Wer 
nur feicht ſchlummert, und in diefem Zuftande mit Traumbil⸗ 
dern ſpielt, ift lich bisweilen fchlafend bewußt, daß er fchläft: 
ein tiefer, ſchwerer Schlaf aber verlöfcht auch die Traumbil⸗ 
der, und macht die tief verfenfte Seele des Bewußtſeyns ans 
‚fähig. „Warum gefteht Niemand feine Fehler 7° Weil er noch 
in ihnen befangen ift. Der Wachende erzählt feine Träume; 
feine Fehler geftehen ift ein Zeichen der Genefung. Erwachen 
wir denn, um und unferer Irrchämer ühertiien —N 
nen! Uber nur die Philoſophie wird und ÜMLSER = 


ı6 10 Seneca's Briefe. 


allein den betäufenden Echlaf verfheuchen. Ihr gib Dich 
ganz zu eigen: Du bift ihrer würdig, fle Deiner, Eile jn 
ähre Arme; und allem Anderen verweigere Dich entſchloſſen 
und offen. Es ift nicht, ald ob Du nur in verflohfenen Augen⸗ 
blicken philofophiren dürfte. Wenn Du rauf wäre, fo 
hättet Du die Sorge für Deine hänelichen Angelegenheiten 
eingeftellt; Deine gerichtlichen Gefchäfte ließe Du unbeach: 
set, und wohl Niemand wäre Dir wichtig genug, um feinek- 
wegen. ald Sachwalter in feidlichen Zwiſchenräumen auf dad 
Forum zu gehen: Deine ganze Scele wäre nur Darauf ge: 
richtet, fo bald als möglich Deiner Krankkeif los zu werten, 
Run dann, warun thuft Du jene nicht daſſelbe? Entferne 
alte Hinderniffe, und lebe nur für die Veredlung Deiner 
Geſinnung; Bein Wielbeichäftiater bringt ed dahin. Die 
Philoſophie übt ihre Herrfcherrecht: fie gibt Zeit, und enıs 
-pfängt fie nit. Sie iſt wicht Nebenſache; fie ift die Haupt: 
fadye, die Herrin; fle erfcheine und befichlt. Eine Stadt, 
weiche Alerandern einen Theil ihres Geblets und die Hiffte 
ihres gefammten Beflged anbot, erhielt von ibm die Ant: 
wort: „Ich bin nicht in der Abſicht nach Allen gekommen, 
anzunehmen, was ihr mir neben würdet, fondern damit ifr 
Haben ſollt, was ic) euch übrig laſſen werde. Daſſelbe 
Gpricht die Philofophie zu allen Dingen: „ich werde nicht die 
Zeit annehmen, welche euch übrig bleiben wird, fondern ihr 
#0At diejenige haben, weiche ich euch überlaſſe.“ Hieher 
zichte Deinen ganzen Sinn; zu ihren Füßen ſetze Dich; fle 
verehre; ein großer Raum fey zwifchen Dir und’den Andern, 
Alten Sterbluchen wirft Du weit vorarachen, weniger weit 
Dir die Götser, Wab uoch zwiſchen Diefen um Dir ir in 


i 


Vierundfünfzigfter Brief. _ 16011 


Unterfchied feyn werde, fraaft Du? Eie werden länger be- 
ſtehen. Uber, wahrlich, es ift eines großen Künſtlers Berk, 
ein ſolches Ganzes in einen Fleinen Raum zu ſchließen. Für 
den Weijen ift feine Lebenedauer von demfelben Umfang, wie 
‚für den Gott die Ewigkeit. Und es gibt efwad, worin der 
Weiſe den Gott übertrifft: diefer dankt es der Natur, daß 
er nichts fürchtet; der Weile dankt ſich ſelbſt. Siehe, weldye 
Größe: die Ehhwäce des Drenfchen zu haben, und die Furcht⸗ 
foffgkeit eines Gottes! Unglaublich ift die Kraft der Philo— 
jophie, um ale Macht des Sufälligen zu entkräften. Kein 
Geſchoß haftet an ihr; fie iſt feft und ficher: viele folche 
Geſchoſſe fängf fie, wie matte und leichte Pfeile, fpieleud 
in ihrem weiten Gewande aus; andere zerftreut fie und 
ſchlendert ſte auf Den zurück, der fie gefendet hatte. 





Vierundfuͤufzigſter Brief. 
Vorbereitung auf den Tod. 


Meine Kränklichkeit hatte mir einen langen Urlaub 
gegeben; *) plöglich fiel fie mich wieder an. „In welcher 
Art? frast Du. Du haft Grund, fo zu fragen; fo wenig 
ift mir irgend eine Art unbekannt. Einer bin ich jedoch vor 
alten gleichſam zu eigen gegeben; ich fehe nicht, warum ich 
fie mit dem Briechifchen Namen benennen foll, da fie ganz 
paſſend mit suspirium [Bruſtkrampf] bezeichnet werden kann. 
Der Anfall ift von fehr Eurzer Dauer, ähnlich einem Windſtoß; 





*% D, h. hatte mid lange verſchovt. 


1612 Seneca's Briefe. 


in einer Stunde iſt Alles vorüber. Denn wer gibt lauge 
den Geiſt auf? Alle den Körper bedrückenden oder gefähr- 
denden Uebel find durch mid, hindurchgegangen; Täfliger als 
diefed fand ich Feines. Und wirklich — Jedes andere, was 
es auch fey, ift nur eine Krankheit; dieſes ift ein Todes⸗ 
kampf. Daher nennen es and) die Uerzte die Vorübung 
des Sterbend. Denn endlich ıhuf der Athem doch wirks 
lich, was er mehrmals verſucht hat. 

Glaubſt Du etwa, ich fchreide dir darum fo heiter, weil 
ih davon gekommen bin? Wenn ich mich über diefen Aus» 
gang als über meine Genefung- freute, handelte ich nicht 
minder lächerlich, -ats Einer, der feine Sache gewonnen zu 
haben glaubte, wenn man ihm einen längern Termin gefent 
hat. Nein, audy mitten in jenen Erſtickungszufällen hörte 
id) nicht auf, durch frohe und ermuthigende Betrachtungen 
mid) zu beruhigen. „Was ifl’8 denn 2‘ frag’ ich mich. Der 
Tod verſucht ed oft mit mir. Möge er immerbin.” Habe 
ih es doch längſt fhon mit ihm verfucht. Und waun? 
Schon ehe ich, geboren ward. Todt ſeyn bedeutet, daß Das, 
was war, nicht mehr if. Aber was dich ift, weiß ich fchon; 
dieſes [Nichtfenn) wird nad) mir feyn, was es vor mir war, 
Wenn darin ein Leiden liegt, fo muß es auch darin gelegen 
haben, ehe wir in die Welt eintraten: allein wir haben ba, 
mals Fein Ungemach empfunden. Ich frage Di, wire es 
nicht Unſinn, fagen zu wollen, es ſtehe ichlimmer um bie 
Lampe, wenn fie erfofchen ift, als ehe man fie angündete? 
Auch wir werden angezündet und erlöfcyen wiederz in dieſer 

Swirchenzcit haben wir Empfindung von Leiden: vor und 
ad iſt fiefe Ruhe. Darin, düntt mi, irren wir, wein 


- Bierundfünfzigfter Brief. 1613 


Lucilius, dag wir glauben, der Tod folge erft, da er doch 
eben fowohl Lorangegangen iſt, als folgen wird, Was vor 
und war, ift Tod. Was iſt's denn alfo, ob wie nod) nicht 
anfangen oder aufhören zu feyn? Won beidem ift die gleiche 
Folge, das Nichtfeyn. 

Mit diefen und ähnlichen Ermunterungen (flillfchweigen- 
den, verſteht fich, denn zu Worten konnte ich nicht kommen) 
hörte ich nicht auf mir zuzufprechen. Nach und nach machte 
diefe Beengung , die fhhon ein Kingen mit dem Athem gewes 
fen, größere Paufen, zögerte, “und blieb aus. Doc auch 
noch jest, wiewohl- des Uebel aufgehört, hat das Athmen 
nicht feinen natürlichen Gang: ich fühle noch immer, daß es 
gehemmt und aufgehalten if. Mag ed doch! kommt ja mein 
Seufzen nicht aus dem. Herzen. Das verbürg’ id Dir: ic) 
werde bor dem letzten Augenblicke nicht zittern; ich bin tors 
bereitet, und rechne nicht auf einen ganzen Tag. Den lobe 
Dir und ahme ihm nad), der nicht mit Widerwillen flirbt, 
fo fange ihn noch vergnügte zu leben. Denn was wäre es 
Großes, zu gehen, wenn man hinansgeworfen wird? Wie: 
wohl, auch hierin Fann man groß feyn. Ich laſſe mich hin= 
auswerfen, doc als ginge ich felbft. Und deßwegen wird 
ber Weife nie Hinausgeworfen: weil hinaus werfen fo viek 
ift als Einen von einer Stelle fchaffen, die er gutwillig nicht 
verläßt. Wider Willen aber thut der Weife nichts. Er 
entzieht ſich der Noshwendigkeit,: weil ey will, wozu fie 
zwingen würde. 


1614 Seneca's Briefe. - 


Fünfundfünfzigfler Brief. 
Die Billa des Vatia. — Auch mit abwefenden 
| Sreunden find wirim Verkehr. 

Ich verlaffe fo eben den Wagen, nicht weniger ermüdet, 
als wenn ich eben fo Lange zu Fuß gegangen wäre, als ich 
gefreffen habe. Lange zu fahren ift auch eine Arbeit, nud 
vielleicht eine um ſo beſchwerlichere, weil fle gegen die Ne— 
tur it, die und Füße gegeben hat, um damit feldft zu gehen, 
wie fie und Augen gab, um feibft zu fehen. Unſer weichliches 
Leben hat uns zur Echwäde verurtheilt, und, was wir 
Tange nicht thun wollten, Hören wir anf zu Bönnen. Für 
mich war ed übrigend nothwendig, den Körper durchzurütteln, 
um den Echleim von der beengten Bruft zu fchaffen, oder, 
wenn cd eine andere Urſache war, die meinen Athem bes 
ſchwerte, ihn durch diefe Erfchüfterung zu erfeichtern: und 

wirklich fühle ich, daß fie mir gute Dienfte that. Ich dehute 
 alfo meine Epazierfahrt aus, wozu mich ohne dieß vie Reize 
des Ufers einluden, welces ſich zwiichen Cumä und dem 
Landgut des Servilius Vatia in einer Bucht hinzieht, und 
zwiſchen den Meere auf der einen und dem Cachernilfchen) 
See auf der anderen Seite gleichfam eine ſchmale Straße 
bildet. Diefe war im Folge des reufichen Seefturmes noch 
ziemtich fell. Denn fle wird, wie Du weiät, wenn bie 
Wogen Hoch gehen, überfluthet: eine längere Meeresftilfe Iödt 
wieder den fandigten Boden, indem die Feuchtigkeit entweicht, 
welche ihn verbunden hatte. — Nach meiner Gewohnheit 
FH ich nach irgend cinem BGegenttanre um, deſſen Betrach⸗ 
ung mir nüplicy werden Könnte, und (a Adler meine aan 


Sinfundfünfzigfter Brief. 1615 


if das Landgut, weldes eint dem Watia gehört hatte. 
ier alfo ward, wo jener reiche gewefene Prätor feine 
ahre verlebte, der durch nichts ald durch feine Muße bes 
mnt war, und wegen diefer allein für glücklich galt. Denn 

oft Einer durch die Freundfchaft des Aſinius Gallus, ©) 
ser durch den Haß und ſpäter Durch die Liebe des Sejanus 
en zu haffen nicht minder gefährlich war, als ihn zu lies 
ꝛn) geſtürzt ward, fo riefen die Leute aus: „O glücklicher 
zatia, Du allein verftehft zu leben!“ Allein ter Mann 
eftand nur verborgen au bleiben, nicht zu leben. 

Es ift ein großer Unterfchied, ob Dein Leben in Muße 
ver in Trägheit hingekt. Nie aing ich, als Vatia lebte, 
ı diefer Villa vorüber, ohne zu fagen: „hier liegt Vatia 
graben.’ Alfein, mein Lucilins, es ift um tie Phlfofophie 
was fo Heilige und Ehrwürbiges, daß auch eine erborgte 
ebntichkeit mit ihr wohlgefitt. Den Menfhen, dert” 
duße lebt, hält das Volk für einen Zurückgezogenen, der 
ine ale Anfechtung, mit fich zufrieden, nur fich left — ein 
lück, Tas nur der Weiſe genießen kann. Nur er, den 
chts bekümmert, verfieht fich zu eben; denn, was bie - 
anptfache iſt, nur er verfteht ed, zu leben. Denn wer 
efchäfte und Menfchen flieht, wen das Fehlſchlagen feiner 
zünſche verbannte, wer es wicht anfehen kann, wie Andere 
üdticher find; wer wie ein ſcheues und wehrlofed hier 
is Furcht fich verkriecht, der lebt nicht ſich, ſondern, was 
s Schimpflichſte iſt, dem Bauche, dem Schlafe, der 





*) Aſinius Gallus, ein PFreifiuniger za Krim DET, 
Sejanuß, des Legteren, fäter getüürniet: ⸗- 


1616 ESeneea's Briefe. 


Wolluſt. Wer für Niemand lebt, lebt darum noch nicht 
für ſich. Doch iſt es immer nichts Kleines, ſich gleich zu 
bleiben, und zu beharren auf ſeinem Vorſatze, ſo daß auch 
ein gefliſſentliches Ausdauern in der Unthatigkeit eine gewiſſe 
Würde gibt. 

Don der Villa felbft. kann ich Dir nichts Näheres fchrei- 
ben; ich kenne nur ihre Auffenfeite, und mwas- fie für die 
DBorübergehenden zur Schau trägt. Sie hat zwei küuſtlich 
gebildete, tem geräumigften Vorſaal an Weite gleich fom= 
mende Grotten, deren eine die Sonne gar nicht zuläßt, die 
andere diefelbe bis zum Untergange behält. Einen Pfatanen-. 
Hain durchfchneidet, in Art eines Canales, ein Bach, der den 
acherufifchen See mit dem Meere verbindet, und einen Vor⸗ 
rath von Fifchen enthält, welcher, auch wenn man ihn forts 
während benüste, nicht leicht zu erfchöpfen wäre. Allein 
man fchont ihn, ſo Iange das Meer' zugänglich ift: fo oft 
aber Stürme den Fifihern Feiertage gewähren, bedient man 
ſich des Vorraths, der zur Hand iſt. Die-größte Bequems 
lichkeit diefer Villa ift jedoch, die, daß fie an Bajä graͤnzt; 
ie hat die Annehmlichkeiten von Bajä, ohne deſſen Unde⸗ 
auemes zu heilen. Ich weiß aus eigener Erfahrung, was 
dieß werth ift.*) Mir fcheint dieſes Landgut für das ganze 
Fahr geeignet zu feyu. Es empfängt die lauen Weſtwinde, 
‚und zwar fo ganz, daß es diefelben Bajä vorenthält. Vatia 
war, dünkt mich, kein Thor, daß er diefen Ort ſich wählte, 
um bier die Muße eines thatenlofen Greifed zu verlieben. 





% 5, ben Anfang des folgenden Briefes. 


FSünfundfünfzigfter Brief. 1617 
Und doch Bann dee Ort nur wenig zu einem ruhigen 
Leben beitragen. Das Gemüth ift ed, mas ſich Alles verſchö⸗ 
nern Bann. Ich habe Tranrige gefehen in einer heiteren und 
reizenden Billa; ich habe mitten in einer Eindde Leute geſe⸗ 
den, die Wielbefchäftigten glichen. Du Haft alfo keinen 
Grund, zu glauben, Du feyeft darum nicht in der beiten Ver⸗ 
faſſung, weil Da nice in Campanien fenft. Aber warum 
bit Du's nicht? Sende Deine Gedanken hieher. Auch mit 
abmweienden Freunden Bann man verkehren, fo oft und fo 
lange man will. Fa wir genießen dieſes .fo grose Vergnü⸗— 
gen in höherem Grade, wenn wir abmwefend find: die Ges 
genwart verwöhnt und; und weil wir oft zufammenfprechen, 
Iuffwandeln, beiſammen fisen, fo deufen wir, wenn ir 
allein find, nicht an Die, welche wir fo eben erft gefehen 
haben. lm fo getufdiger follen wir uns in ihre Abweſenheit 
ſchicken, weit wir, auch wenn wir fie bei uns haben, doc, 
oft genug von-ihnen gefrennt find. Mechnen wir zuerft Die 
Nächte, die wir allein zubringen, die verfihiedenen Befchäfs 
tigungen, die und trennen, die befontern Studien eines 
Jeden, die Fleinen Zandreifen: — und Du wirft finden, daß 
es nicht eben viel ift, was und durch den Aufenthalt aufer 
Landes entzogen wird. Den Freund muß man im Herzen 
befigen: diefes ift nic abwefend, es ſieht, wen es will, täg- 
ih. So ſtudiere denn mit mir, fpeife mit mir, begfeite 
mich auf meinen Spaziergängen. Wir lebten ſehr beengt, 
wenn es für unfere Gedanken irgend eine Schranke gäbe. 
Ich fehe Dih, mein Zucilius; ja ih höre Dich; ich bin Dir 
fo nahe, daß ich ungewiß bin, ob id) Dir wirklich Brieis, 
oder nur kurze Handbriefchen {cdyreiben (NW. 


1618 Seneca's Briefe. 


Sechsundfuͤnfzigſter Brief. 
Das geräuſchvolle Leben zu Bajü Über ben 
Weiſen ſtört fein Lärm. 

Ich will verloren ſeyn, wenn es wahr iſt, was man 
gewöhnlich glaubt, Stilte ſey dem Studirenden unentbehrlic. 
Der mannidyraltigfte Lärm umrauſcht mich hier von allen 
Seiten: ich wohne gerade über dem Bade. Nun ftelle Dir 
alle die verfchiedenen Töne vor, die einen dazu bringen Bönns 
ten, daß man feinen eigenen Ohren grolte. Wenn die 
Stürfern ſich üben, und ihre mit Blei beſchwerten Hände 
fhwingen, wenn ſie ſich abarbeiten, oder Aıbeitenden nadıs 
ahmen, fo vernehme ich ein Geaͤchze, und, fo oft fie den 
angehalteien Athem ausfloßen, das heftige Zifchen deſſelben: 
wenn ſich's fügt, Daß ein plumper Satber fein Wefen treibt, 
der fich begnügt, auf die ganz gemeine Weife zu Werbe zn 
gehen, fo höce ich das Klatſchen der Hand auf den nadten 

— Schultern, was, je nachden die Hand hohl oder flach aufs 
fällt, verichietene Töne gibt. Kommt nun noch ein Dal: 
ſchläger dazu, und fängt an, feine Schläge zu zählen, fo ift 
keines Bleibens mehr. Denke Dir ferner das viele Gezänte, 
das Geſchrei, wenn ein Dieb erwifcht wird, den Singſang 
DBadender, die ſich mit ihrer Stimme gefallen, das gewaltige 
Gepläticher des gepeitfchten Waſſers, fo oft einer in Pad 
Baſſin fpringt. Außer diefen Tönen, die doch wenigſtens 
natürlich Mind, ftelle Dir die feine und ſchrillende Erimme 
vor, die ein Haarzupfer *) herauspreßt, um fich bemer klicher 


9) Der feine Dienfte den Weichlingen amietet , bie fih, um 


Sechsundfuͤnfzigſter Brief. 4619 


ı machen; er ſchweigt nicht eher, als bis er etwas zu zupfen 
at, wo er denn den Andern für ſich fehreien laͤßt. WVolends . 
18 Aufrufen der Kuchenbäcer, der Wurſt- und Leckereien—⸗ 
indfer, und aller der Krämer und Garköde, die ihre 
Baare, Jeder mit feiner eigenthümlichen, anffallenden Mo— 
nlation , feilbicten. 

„Du biſt von Eiſen,“ wirft Du fagen, „oder taub, 
enn unter fo buntem und mißtönendem Geſchrei Deine 
zedanken in Ordnung bfeiben, da unfern Erifpus fehon eine 
ınge Reihe vor Beſuchen um dad Leben zu bringen droht!’ 
tein, wahrlich, mid) Eümmert dieſes Getöfe eben fo wenia, 
(3 ein raufchender Bad) oder ein Waſſerfall, wiewohl idy 
eiß, daß cin gewifles Volk jeine Stadt einft aus Feiner 
ndern Urfache verlegte, ald weil cd das Toien des Nil⸗ 
Mes nicht ertragen könnte. Störender finde ich übrigens 
ie Stimmen Redender, als einen bloßen Lärm. Jene zies 
en die Seele ab, Diefer fchlägt bios an das Ohr und füllf 
1. Zu ten Dingen, welche mich, ohne mich zu zerfirenen, 
mrauſchen, vechne ich einen vorüberrollenden Wagen, einen 
ı oder neben dem Haufe arbeitenden Schmid oder Zimmers _ 
ſann, oder den Mann neben der Metafudans [Brunnen 
inte] , der feine Flöten und Trompeten probirt, und grelle 
ne, nicht Melodieen, von ſich gibt. Auch ift mir ein 
Schal, der zuweilen unterbrochen wird, läftiger, als ein 
thaltender. Allein gegen Alles dieſes habe ich mich fchon 
 abgehärtet, daß id) Feibft ten Bootsmann hören Bann, der 


ihre Pubertaͤt zu verläugnen, die Haare unter den Achfeln 
ausrupfen ließen. 


1620 Seneca‘s Briefe. 


mit zerreißender Stimme den Auderknechten den Takt ans 
gibt. Ich zwinge meinen Geift, nur auf fi gerichtet zu 
fenn, und fi nicht von Außendingen abziehen zu "I:ffen. 
Mag draußen der Tautefte Lärm toben, iſt nur in meinem 
Innern Bein Zumuft, hadern nur in mir nicht Gelüfte und 
Furcht, liegen nicht Habfucht und Verſchwendung mit einanter 
in Iwiefpalt und Kampf. Denn was nüst die tieffte Stille 
der ganzen Umgegend, wenn die Leidenfchaften braufen? 
Alles Hatte bie Nacht im Tiebliche Ruhe verfenker. 

Der Dichter ) irrt. Es gibt Feine liebliche Ruhe außer 
der, in welche die Vernunft ns verſenkt. Die Nacht bringt 
Ungemach, und hebt ed nicht ; ſie Ändert nur unfere Sorgen. 
Denn die Träume der Schlafenden find nicht minder ſtürmiſch 
als ihre Tage. Gene Ruhe ift die wahre, bie fich Über ein 
reines Gemfth verbreitet. Betrachte dagegen Genen, ter 
im tiefen Stitffhweigen des weiten Palaſtes den Schlaf fucht, 
deffen Sclavenfhwarm den Mund nicht Öffnen darf, und, um 
mit feinem Laut feine Ohren zu berühren, mit fchwebenden 
Fußtritten feinem Lager ſich nähert. Er wirft ſich von einer 
Seite auf die andere, und hafcht in mitten feiner Beküm— 
merniffe nach einem bischen Schlummer. Was er hörte, 
beklagt er ſich gehört zu haben. Was glaubft Du, ift Schuld 
daran? Sn feinem Gemüthe ift Lärm: dieſer ift zu ftilfen, 
tiefer Aufruhr iſt zu dämpfen. Man darf nicht glauben, daß 
dad Gemüt forort ruhig fen, wenn der Körper liegt. Bis⸗ 
weiten ift die Ruhe unruhig Wir müßen uns Daher zur 
Thätigkeit erwecen, müßen mit den Miffenjchaften ernſtlich 


9 Barro, 


Sechsundfuͤnfzigſter Brief. ıbaı 


und bejchäftigen, fo oft die ſich ſelbſt unerträgliche Unthäs 
tigkeit ung in Mißbehagen verfebt. Große. Feldherrn bändi⸗ 
gen, wenn ihre Truppen nicht gerne gehorchen wollen, Dies 
felben mit irgend einer Arbeit, und halten fle durd, Aus⸗ 
märfhe in Ordnung. Befchäftigte haben nicht Zeit zum 
Muthwillen, und nichts ift fo gewiß, als daß die Lafter der 
Unthätigkeit durch Thätigkeit verfrieben werden. Oft glaus 
ben wir uns aus Ueberdruß an den Staatsgefchäften und 
aus Reue über eine unglüdliche und undankbare Stellung, 
zurichgezogen zu haben: und doc, erwacht bisweilen in dem 
Schlupfwinkel, in welchen Furchtfamkeit und Abfpannung 
ung getrieben, unfer Ehrgeiz wieder. Diefer hatte aufgehört, 
nicht weil er ansgerottet, fondern weil er müde oder viel- 
leicht muthlos geworden war, indem die Dinge nicht nad 
feinem Sinne gingen. Daſſelbe fage ich von der läfternen 
Sinnlichkeit, weiche ſich auch bisweilen verloren zu haben - 
fcheint: nicht longe aber währt es, fo lockt fie die Verehrer 
der Genügſamkeit aufs Neue an, und finnt mitten in der 
Sparſamkeit anf jene Wolüfte, welche fie nicht verurtheift, 
nur befeitigt hafte, und zwarenur defto Teidenfchaffficher, je 
heimlicher. Denn alle Sehler, die offen hervortreten, find 
minder gefährlich: auch Krankheiten neigen ſich zur Belle 
rung, wenn fie aus dem Verborgenen hervorbredhen und ihre 
Stärke offenbaren. Und fo find, glaube es mir, Habſucht, 
Ehrgeitz und alle übrigen Gebrechen des menſchlichen Her⸗ 
zens gerade dann am gefährlichften, wann fle hinter einer 
erheuchelten Geſundheit ſich verfteden. Wir fcheinen nur 
ruhig und find es nicht: Denn wenn es ung wirklich Ent 
Seneca. 138 Bbchn. Ss. 


| 1622 Seneca's Briefe. 


ift, wenn wir wirklich unlern Rüdzus angetreten haben, und 
allen dußern Schimmer verachten, fo wird, wie ich vorhin 
fagte, nichts ung zerftreuen, feine Stimmen ſingender Menfchen 
oder Vögel werden unſere guten, wohlgeoxdneten, auf ihren 
Gegenftand feſt gerichteten Gedanken unterbrecden. Noch 
fehlt e8 dem Geifte an Haltung, nocd hat er fich nicht in 
fein Inneres zurücgezogen, ſo lange Töne und anderes Zu: 
fälliges ihn aufregen. Er trägt -in fidy irgend eine Bebüm- 
merniß, eine gewiffe Aengſtlichkeit, die ihn fo nengierig 
macht, wie unſer Virgilius *) fagt: 
Und mich, welchen noch jüngf Fein fllegender Sturm der 
Geſchoſſe 
Kümmerte, oder entgegen getummelte Schaaren ber Grajer, 
Schreckt nun jedes Geſaäuſel der Luft, regt jedes Geräuſch auf, 
Daß ich im Gang oft ſtutze, für Bürde beſorgt und Begleitung. 
Jener iſt der Weiſe, den nicht geſchwungene Speere, nicht 
aneinander geſchlagene Schilde dichter Feindeſchaaren, nicht 
das Krachen erſchütterter Städte ſchrecken: Dieſer aber iſt 
der Unerfahrene, der bei jedem Geräufch erbebt, und für 
Leib und But fürchtet, der jedem Laut für Alarm nimmt, und 
bei der Leichteften. Bewegung außer fidy geräth. Sein Ge 
päde macht ihn aͤngſtlich. Betrachte, welchen Du immer 
willſt von jenen Glücklichen, die fo Vieles mit fidy fchleppen 
und.auf den Schultern tragen, und du wirft finden, er ifb 


— — — — für Bürde beforgt und Begleitung. + 
) Aen. XI, 725 ff. Worte des Aeneas, ald er feinen Water 


Anchiſes aus den Flammen trug, und fein Kind Ascanine 
an ber Hand führte, 


Eiebenundfin fzigiier Briefe © 1635 


So wiſſe denn daß Du Dich in Ordnung gebracht haft, went 
fein Lärm Dich mehr berührt, wenn Peine Stimme Did 
aus Dir ſelbſt verfett, fie mag Dir fehmeicheln: oter Dir 
drehen, oder auch nur mit leeren Schall um Deine Ohren 
töner, „Aber ift ed denn nicht viel beffer, überhaupt ferır 
von allem Stimmengewirre zu ſeyn?“ Sa, ich geftche es: 
daher werte ich diefen Ort wieder verlaffen, mo ich mich 
nur auf die Probe ſteilen und üben wollte Was it Noth, 
fich Länger zu quälen? Hart dad Uloſſes für jeine Sefährten 
ein fo leitttes Mittel ſelbſt genen Eirenen erfunden. 





Sicbennundfünfzigfier Brief. 
Der Weg durch die Jelfengrotte von Neapel, 

Als ich von Byä nad Neapel zurüdreifen ſollte, ließ 
ih mir gerne begreiflih machen, das Weiter fen ſtürmiſch, 
nur um nicht eine zweite Waſſerfahrt verfuchen zu müßen. 
Allein des Kothed war anf Der ganzen Straße fo viel, daß 
es mir wear, als reiste ich gleibwohl zu Baffer. Ich hatte 
au Diefem Taze die ganze Schule Des Athleten durchzuma« . 
hen: nach der Salbe empfing mid) der Staub der Neapoli—⸗ 
tanifchen Crypta, *) dieſes endloſen Kerkers mit feinen trüs 
ben Lichtern, die nicht dazu dienen, um in der Finfterniß, - 
fondern um diefe ſelbſt zu fehen. Wiewohl, aud) wenn diefer 
Raum Licht hätte, fo würde der Staub e3 nehmen. Iſt es 





*%, Sept die Grotte von Poſilippo, durch weiche die Straße is 
einer Strecke von ſiebenhundert Eyritten V- 
Sg * 


1624 Seneca's Srtiefe. 
(dem icı Freien eine beſbwerliche, drückende Sache or: den 
Staub, was iſt es erſt kier, wo er oehne einen Kritzug ein: 
geſchloſſen, und sich im fih feibil zufammenbalfen®, au? die 
zurückfaͤllt, die ihn erregten? So haben wir zwei jich wie: 
verfireitende Witerwärtigkeiten, auf Lemfelben Wege, an 
demſelben Tage auszuhalten gehabt: wir litten vom Keth 
und vom Staub zugleich. 

Uebrigens gab mir jener finflere Ranm doch eirigen 
tom zum Nachdenken. ch fühlte eine gewiſſe Beklemmung 
des Gemüthes, ohne eben mic, zu fürchten, einen gewiſſen 
Eindruck, weichen das Nene und Schauerlihe der ungewchn: . 
ten Umgebung hervorbrachte. Doch id will nicht von mir 
ſelbſt fprechen, der ich noch weit entfernt bin, ein erträgticher 
Menſch, gefchweige ein volifommener zu fenn. Aber auch 
der Mann, tiber weichen das Schickſal ale Gewalt verloren, 
kann noch eine Erſchütternng des Gcmüthes erleiden, kann 
noch bieweilen fich entfärben. Ss gibt Zufälfe, mein Luci— 
lius, welchen Feine Tugend entgehen kann; die Natur erin: 
nert an ihre Sterblichkeit. Auch ein Solcher wird die Miene 
aus Traurigkeit verliehen, wird zuſammenſchauern Bei plös— 
tichem Schreck, oder fchwindeln, wenn er am Rande eines 
Abgrundes in die entienliche Tiefe hinabſchant. Dies it 
nicht Furcht, ſondern eine natürliche, für die Vernunft m 
beſtegdare Unwandlung. So gibt es kräftige Menſchen, ie, 
entſchloſſen, ihr eigenes Bent zu vergießen, gfeichweht kein 
tremdes chen können. Monde ſinken in Ohnmacht Seim 
Pnbiit und bei der Nerührung einer Fiifchen Wunde, Marde 

ud Beim Unblick einer ſchon atten und eiternden. Manche, 
te Pein Schwert fehen Lönnen, emrianygra martınten Huk, Qch 


Siebenundfünfzigfier Brief. - _ 1625 


empiand alſo, mie geſagt, nicht eben eine heftige Gcmüthes 
bewegung, doc eine Veränderung: fobatd ich aber das Ta: 
geslicht wieder erblickte, Eehrte, ofne daß ich daran Dachte, 
und ungeheißen, meine Heiterkeit wieder. Da fing id) an, . 
bei mir felbft darüber nadyzutenfen, wie ungereimt es fev, 
dab wir manche Dinge mehr, manche weniger fürchten, 
während dus Ende aller daffelbe if. Was iſt cd für ein 
Unterſchied, ob ein Wachthaus oder ein Berg über ung 
zuſammenſtürzt? Gewiß einer, und doch werden fidh Viele 
weit mehr vor dem letteren Einſturze fürchten, wiewohl beite 
gleich tödtlich find. So fehr fehen wir bei unferer Furcht 
nicht auf die Wirkung, fondern auf das Wirkende. 
Nun glaukſt Du vielleicht, ich rede hier von den Stoi⸗ 
fern, welche fidy vorftellen, die Seele eines Menfchen, der 
von einer großen Laſt zermalmt worden, könne nicht fortdau— 
era, fondern löfe ſich fogleic auf, weil fie Peinen freien 
Ausgang habe? Mein, von Liefen fpreche ich nicht; idy 
glaube, daß fie, wenn fie diefes behaupten, im Irrthum 
iind. Wie eine Flamme nicht zu Boden gedrüct werden kann, 
indem jle ringe um den Gegenſtand her ausweicht, der ſie 
niederbrückt; wie die Luft durch einen Schlag oder Wirt 
nicht verlegt, ja nicht einmal getrennt wird, fondern den 
Korper umſtrömt, dem fie wid: fo kann auch der Geift, 
welcher aus dem feinften Stoffe beſteht, nicht feſtgenommen, 
noh in einem Körper erdrücdt werden; er verdankt ed ter 
Leichtigkeit frines Stoffes, daß er fid) hindurchdrängt durch 
Das, was ihn drückt. Wie der Blisftrahl, wenn er weit 
umher Alles erfchüttert und erleuchtet hat, Vu va com 
Beine Oeffnung fährt, fo entficht andy Te See, OU BI 
- - L 


1626 Seneca's Briefe. | 


feiner id, als Feuer, durch jeden Körper. Alſo ift die F 
nur, ob die Seele unſterblich ſeyn könne? So viel ſey 
gewiß: wenn fie den Körper überlebt, fo kann fie aus 
feiben Grunde auf Feine Weile FFerben, aus welchem fie 
untergeht. Es gibt Feine Uniterbiichfeit mit Ausnahme, 
nichts ſchadet tem, was ewig iff. 


Achtundfuͤnfzigſter Brief. 


Weber das ov des Plato. Es iftinder fichtba 
Welt nichts Bleibendes. Leber Alter und T 

Wie arm, ja wie mangelhait unjere Sprache ift, 
ich nie lebhafter, als beute empfunden. Mir fpracken 
über Plato, und es begegneten uns tanfend Begriffe, 
welche wir Yusdrüce fuchten und Feine fanden. Ginice « 
die ſich ung darbofen, gaben wir, weil wir au ekel wa 
wieder auf. Sell man es aber dulden, dab der Mange 
dende noch edel iſt? Das [Infekt], welches die Grie 
oesirns [die Brenife] nennen, das tie Viehheerden verfi 
durch die Wilder ſcheucht und zerftreut, hieß bei unf 
Alten asilus. Ditß müßen wir dem Virgilkus glauben (Ge 
11T, 146.): - 

Est lacuın Silari juxta ilicibusqne virentem 

Plurimns Alburoum volitaus, cui nomen asilo 

Romanum est, osstrum Graii verliere vocantes; 

. Asper, acerba sonaus; quo tola exterrita silvis 
Dilfugiunt armenta, 


55h vermuthe, daß das Römithe Wort verloren gegar 


A — So waren and) einige einiade (Act) Mütter 


> 


Achtundfuͤnfzigſter Brief. | 1627 


Gebranche; man fagte 3. B. cernere ferro inter se. Auch 
dieß may Dir Virgiilus beweifen (Acn. XII, 709.): 

— — —  stupet ipse Latinus, 

Ingentes, genitos diversis partibus orbis, 

Inter se colisse viros, et cernere ferro; 
wofür man jetzt decernere fagt: der Gebraud) des einfachen 
Zeitworts ift verloren gegangen. "Die Alten fagten: si jusso 
für si jussero. Glaube dieß nicht mir, fondern dem zuver- 
läßigen Virgilius (Aen. IX, 467.): 

Cactera, quae Jusso , mecum manüs inserat arma. P 


Ich gebe Dir dieſe genauen Nachweifungen nicht in der. Abs 
ſicht, dir zu zeigen, wie viele Seit ich bei meinem Grammas - 
titer verloren habe; fondern damit Du daraus fchließeft, wie 
viele Wörter bei Ennius und Attius im Roſte Tiegen 
mögen, da fchon bei Virgilins, ‚der doch täglich in unferen 
Händen ift, mehrere ſich finden, die uns abgehen. 

Aber was fol diefe Vorbereitung ? fragft Du. Sch will 
Dir nur geftehen, ich wünfchte, wenn es fenn kann, mit 
Genehmhaltung Deiner Ohren, bad Wort Essentia zu gebrau⸗ 
chen; wo nicht, fo gebraucde ic, es ihnen zum Verdruſſe. 
Ich habe einen Gewaͤhrsmann für dieſes Wort, und ic) denke. 
einen tüchtigen, an Cicero: und wenn Du einen neuern 
verlangft, den Fabianus, einen Medner von gewählter 
Sprache, die feibft unfer ekler Geſchmack fein und zierlich 
findet. Was läßt ſich auch anderes 4huu, mein Lucilius? 
Wie wollten wir die ovaoia [Weſenheit)] ausdrüden ; dieſes 
‚ Nothwendige, tie Natur in fidh Begreifende, diefe Grunds 
lage des Ganzen? Ich bitte Dit; alſo we weten 





1628 Seneca's Briefe. 


daß id) dieſes Wortes mich bediene; ich werde mir ange 
feyn laſſen, von diefem mir ertheilten Rechte den möt 
fparfamen Gebrauch zu machen; vieleicht daß ich fcho 
frieden bin, es brauden zu Dürfen. Denn was wir 
-Deine Gefäligkeit nügen, wenn ich Das, weßwegen id 
unfere Sprache ungehalten bin, auf keine Weife Tate 
ausdrücken kanu? 
Du wirft noch ſtrenger urtheilen über dieſe Beſcht 
beit des Römifchen, wenn id Dir ſage, daß es eine ei 
Spibe ift, die ich nicht überfegen Fann. Und welche? ds 
[das Seyende, das Ding). Vielleicht erfheine ich Dir 
ungefchidt; da ja die Wendung zur Hand iſt, bafü 
fügen: Quod est. Allein ich fehe darin einen großen U 
ſchled: ich bin genöthigt ein Zeitwort für ein Nennwo 
fegen. Doc es ſey, meil es nun einmal undermeidlic 
Dieſes Quod est alfo wird, wie unfer gelehrter Freund 
fagte, von Plato in ſechs verfchietenen Weifen genommen 
werde fie Die alle erklären; nur muß id) zuvor beme 
in weihem Sinne man von genus ober Species ſpreche. 
ſuchen wir nun zuerft das genus ald das Dberfte, unter 
chem die übrigen species-ftehen, von weldem alle Einthe: 
ausgeht, und welches Altes in ſich begreift. Wir wertı 
finden, wenn wir umgekehrt vom Einzelnen ausgehen: 
fo werden wir aufwärts zum Oberſten gelangen. Dev M 
iſt eine species, wie Yriftoteles fagt; das Pferd, der ! 
iſt eine species; es muß. fomit ein Gemeinſchaftliches, 
biefe species Verknüpfendes geſucht werden , das ſie alfe 
faffe, und unter welchem (le ſtehen. Und dies üft [der 
sei]: Thier. So erſcheint tenn Kür Nie den Woer 


Ahtundfünfzigfier Brief. ’ 1629 


Dinge, Menfh, Pferd, Hund, das genus: Thiere. Aber 
es gibt auch Dinge, melde ein Leben (anima) haben, und - 
doch nicht Thiere (animalia) int. Denn wir nehmen an, 
daß .auc den Pflanzen und Gewächſen ein Leben inwohnt, 
weßwegen wir anch von ihnen fagen, Daß fie leben und ab⸗ 
ſterben. Eine höhere Stelle werden alfo die belebten 
Dinge (animanlia) einnehmen, unter welchen Thiere und 
Pflanzen begriffen iind. Andere Dinge aber haben fein Zchen, 
z. B. Steine, und fo wird noch ein Höheres feyn, als das 
Belebte, nämlih Körper; diefen theile ich fo ein, daß ich 
fage: die Körper find entweder befebt, joder nicht belebt. 
Aber andy über dem Körper fteht noch Etwas; deun wir 
unterfcheiten zwifchen körperlichen uud unförperlichen Dingen. 
Was wird alfo Das feyn, was in.diefe beiden (Begriffe) 
zerfällt ? Eben jenes, dem wir jo eben den nicht fehr paflen- 
den Namen Quod est, gegeben haben. Dieß wird in feine 
species zerlegt, indem wir fagen: Was ift, ift entweder 
förperlicy oder unkörperlich. Dieſes genus alfo ift das erſte 
und höchfte, und fo zu fagen das genus generale; die übrigen 
find auch wieder genera, oder specialia. Menſch ift ein 
geuus, denn es enthält die species der Völkerſtämme, Grie: 
chen, Römer, Parther; der Farben, weiße, fchwarze, gelbe; 
die Individuen, Catg, Cicero, Lucretius. In ſo fern diefer 
Begriff eine Vielheit in ſich faßt, ift er ein genus; in fo fern 
er unter einem andern ſteht, ift er eine species, Nur das 
genus: Quod est, iſt dad Allgemeine, und haft fein Weiteres 
über fih. Es ift das Prinzip aller Dinge; alfes iſt un⸗ 
ter ihm. 


. 


1650 Seneca's Briefe. 


Die Stoiker wollen auch über diefes noch ein höheres, 
altgemeineres feben, wovon gleich nachher: vorerſt will id; 
zeigen, daß dieſes genus, von welchem ich fpreche, mit Recht 
als Las oberfte aufgeflellt werde, da es alle Dinge in ſich 
faßt. Was ift, theile ich in die beiden species des Körper: 


lichen und Unförperlichen. Es gibt fein Dritted. Das Körs 


Derliche zerfälit wiedernm in Belebtes und Unbelebtes. Das 
Belebte theile ich fo, Das ich fage: was belebt fit, hat ent: 
weder eine Seele (animus), oder bioßes Xeben (anima); oder: 
er hat entweder freie Bewegung von einem Orte zum andern, 
oder es ift an den Boden nehefter, und zieht Nahrung und 
Wahsthum aus feinen Wurzeln. Wiederum die Thiere zer⸗ 
lege ich in die species: fterbliche und unfterbliche. 

Einige Stoiter aber nehmen als oberſtes genus das 
Etwas (quiddam) au, und zwar aus folgendem Grunde. 
In der Natur, ſagen file, ift Einiges wirklich, Anderes 
nicht, Denn auch das, was nicht wirklich ift, was nur als 


- Vorftellung vor die Seele tritt, befteht gleichwohl in der 


Natur der Dinge; wie z. B. Centauren, Oiganten, und 
andere nichtige Schöpfungen der Phantafie, weniaftend als 
Bilder beftehen, wenn fie gicich kein Werfen (substantiaın) 
haben. 

Nun kehre ich zurücd zu Dem, wag ih Dir verfprochen, 
und zeige Dir, wie Plato alles, was ift, in ſecht Arten ıheift. 
Die erfte wird weder durch das Geſicht, noch durch das Ges 
fühl noch durch irgend einen andern Sinn wahrgenommen; fle 
ift nur denkbar. Der aligemeine Begriff, 3. B. Menfch im Auges 
meinen, tritt nicht vor die Augen, wohl aber der befondere, Eis 


sero, @ato, Das Thier wird nicht geiehen, (antern grtamkt , mar 


Ahtundfünfzigfter Brief. 1631 


fieht nur feine species, den Hund, dad Pferd. — Als das Sweite 
von Dem, was ift, ftellt Plato dag Weſen auf, welches Aues 
überragt, Alles übertrifft. Von diefem fagt er das Senn 
vorzugsweiſe aus; wie man 3.3. mit dem gemeinfshaftlichen 
Namen Dichter zwar jeden bezeichnet, der Verſe macht, bei 
‚den Sriehen aber dieſes Wort auf die Bezeichnung eines 
‚ Einzigen zu befchränfen pflegt. Man verfteht den Homer, 
wenn man von dem Dichter ſpricht. Und dieſes Mefen 
it — Gott, als welcher größer und mächtiger ift denn Alles. — 
Die dritte Gattung begreift die Dinge, welche an und für 
ſich And: fle find unzählig, liegen aber außer unferem Ge: 
fichtäfreife. Und was find fie, fraaft Du. Plato's eigen: 
thümjicher Apparat,; er nennt fie Ideen; aus ihnen hat 
Altes, was wir fehen, fein Dafeyn, nach ihnen bildet ſich 
Altes. Ste find ewig, unwandelbar, unantaflbar, Vernimm 
denn, was die Ideen fenen, oder vielmehr, was fie nach 
Plato's Anſicht ſeyen. „Die Ideen find die ewigen Urkbilder 
alter der Dinge, welche in ter Natur beſtehen.“ Dieſer Bes 
griffsbeſtimmung will ich eine weitere Erörterung beifügen, 
um Dir die Sache noch Elarer au machen. Wenn ich ein 
Bild von Dir malen will, fo bit Du das Urbild zu meinem 
Gemälde; von dieſem Urbild faßt mein Geift das Gepräge 
auf, welches er feinem Werke aufdrücken will. So ift Deine 
Geſichtsbildung, Die mir zeige, was ich nachzuahmen habe, 
die Idee. Solcher Urbilder hat die Natur cine unbegränzte 
Menge von Menfchen, Fiſchen, Bäumen; und alle Dinge, 
welche fie fchafft, find Abdrücke derfeiben. — Als das Vierte 
ſtellt Plato das Idos auf. Es bedarf animerktanen War 
denkens, um zu verſtehen, wos Tieieh roh S 


‘1632 Seneca's Briefe. - 


baft e8 tem Plato, nicht mir zuzurechnen, wenn Du d 
Dinge fehwierig finteft. Uebrigens haben ja feine Unterfc 
dungen immer ihre Schwierigkeit. So eben vediente ich r 
der Vergleichung mit einem Dialer. Der Vialer, wel 
mit feinen Farben den Virgilins darſtellen wollte, mı 
diefen feibft ins Auge fallen. Virgils Geficht war die 5% 
Das Urbild Des werdenden Werkes. Was nun der Künt 
aus diefem Urbild entnahm, und auf fein Werk übertrug, 
das Atos. Du fragft nach dem Unterfchied won Idos 
dee? Die Idee ift das Urbild, das Idos die von | 
Urbild geronimene und auf das Kunftwerk übergerrac 
Form. Jenes ahınt er nad, tiefes macht er ſetbſt. GC 
Statue hat eine cigenthümfiche Geſichtsbildung; diefe ift 
Idos. Diefe eigenthümlidhe Gefichtsbiltung aber hat 
Uebild ſelbſt, weiches der Künſtler vor Augen hatte, alt 
die Statue formte, und dieſe ift die Idee. Werlangft 
roh eine andere Unterfcheitung? Das Ides tft im We 
felbit, die Idee außer demfelben, und nicht blos außer, f 
dern auch vor demfeiben. — Die fünfte Urt begreift 
Dinge, welche gemeinhin find; biefe gehen uns zunü 
an, und hieher gehört Altes, Meuſchen, Thiere, Sachen. 
Die ſechste enthält die Dinge, bie nur gleichſam fir 
wie der Raum, die Zeit. 
Was wir fchen und berühren, rechnet Plato nicht 
den Dingen, welchen er cin eigentliches Seyn zuſchre 
Denn fie find im Zuftande des Fließens, eines beftändigen ' 
nehmens und Wachfend. Keiner von ung ift berfelbe 
Alter, ber er als Jüngling gewelen; Keiner ift am Mor; 
der. er Tags juoer war. Unſer Körper wird wir von di 





Adytundfünfzigiter Brief. 1633 


Strome dahingeriſſen: was Du fiehft, eilt wie die Zeit von 
dannen; Nichts von Allem, was um und ift, bleibt. Id 
ſelbſt, indem ich davon rede, daß Alles fid, verändere, bin 
inzwifchen ein Anderer geworden. Das ifte, was Heraclitus 
fagte: im denſelben Fluß fleist man nicht zweimal. Der 
Name des Fluſſes bleibt derfcibe; fein Waller ift vorüber. 
Dies fällt an tem Fluſſe nur mehr in die Augen, als an 
dem Menſchen; aber auch uns führt ein nicht minder rafcher 
Strom dahin. Und darum wundere ich mid) über unfere 
Verblendung, daß wir an einem fo flüchkigen Beflbe, an 
unferem Körper, mit folcher Liebe hängen, und uns vor 
. dem einftigen Zode fürchten, als ob nicht jeder Augenblick 
der Tod des vorigen Zuftandes wäre MWie follten wir und 
fürchten ‚es möchte Einmal gefchehen, was täglicdy gefchicht 2 
Ich fprady nur von dem Menfchen, diefem unfeften, hinfälfie 
gen, allen Einflüſſen andgefesten Stoffe: aber auch die Welt 
ſelbſt, diefed ewige, unzerftörbare Ganze, Ändert fi und 
bleibt nicht diefeibe, Sie hat Alles roch in fi, was fie je 
hatte; aber fie kat ed anders, als fie es hatte; fie ändert 
tie. Ordnung. - 
Was follen mir diefe Subtilitäten nützen? fragſt Du 

Nützen eben nichts, dünkt mid. Allein wie ein Künſtler 
feine von feiner Metallarbeit angegriffenen und müden Augen 
zur Erholung bisweilen wegwendet und an einem anderen 
Gegenſtaude, wie man. fasf, weidet; fo müßen auch wir je 
und je unfern Geift abſpannen, und ihm durch irgend eine 
angenehme Erholung ſtärken. Allein auch diefe Erholung 
ſelbſt ſey eine Befchäffigung. - Und fogar audı aus ala 
Betrachtungen, wie dieſe, wirſt Du, wenn Da fe ut it 


163; Seneca's Briefe. 


Auimerkſamkeit anftellen willſt, Etwas entnehmen, was Dir 
nüben fann. So pflege ich es zu machen, Yacilins: aus 
jeder Erholung, auch wenn fie der Philoſophie noch fo fremd 
ift, verfuche ich etwas Brauchhares und Nützliches zu ziehen, 
und mir zu bereiten. Willſt Du nun willen, was aus ten 
Dingen zu gewinnen fey, die uns fo eben befchiftigten, und 
Lie doch von dem Geichäfte der Umbildung unferes Charaks 
ters fo ferne abliegen? wie die platonifchen Ideen uns beffer 
zu machen vermdaen? was wir aus ihnen entnehmen follen, 
das im Stande fen, unfere Begierden zu daͤmpen? Schon 
Dad, daß Plato alien den Dingen, welce unferh Sinnen 
unterworfen iind, und uns reizen amd entflanmen, fein 
wahres Senn zufihreibt. Sie find demnach nur eingebilder, 
und fragen nur für einige Zeit irgend eine Geſtalt; aber 
Nichts an ihmen iſt dauernd und weienhaft. Und Loch vers 
Taugen wir darnach, als ob sie immer dauern, als ob wir 
fie immer haben würden. Wir ſchwache, hinjlieente Weien, 
möchten wir nur von Zeit zu Zeit ftilfe ſtehen, »)) und unfern 
Sinn aufwärts richten zu Dem, was ewig ift, und in Be— 
wunderung betrachten die boch üder und ſchwebenden Urbil- 
der aller Dinge, und die Gottheit, die unter ihnen waltet, 
und dafür forgr, wie fe Dad, was lie nicht unſterblich ſchai⸗ 
fen founte, weil die Materie fle Finderte, doch vor dem 
Zode ſichern, und durch Dernunit die Bebrechen des Körper: 
Iihen überwinden möge! Deun alle Dinge dauern fort, 
nicht, weil fie ewig Mind, fondern weil die Sorge des Welt: 
regenten ıle vor dem Untergange bewahrt. Das Unſterbliche 


®*, Consistamus. > 


Achtundfuͤnfzigſter Brief. | 1635 


bedarf dee Beſchützers nicht. Über die Körperwelt erhält 
der Meifter, der fie ſchuf, durch feine Allmacht fiegend über 
die Zerftörbarfeit der Materie. Laß und Alles das verachten, 
was fo werthlos ift, daß man zweifeln müße, ob es übers 
haupt fey. Zugleich lab und denken: wenn die göttliche 
Vorſicht das Weltganze ſelbſt, das nicht minder ſterblich iſt, 
als wir, den Gefahren entzieht; ſo kann auch unſere Vorſicht 
anf einige Augenblicke dieſem Körperchen feine Dauer ver 


—längern, wenn wir jene Lüſte regeln und einfchränfen, durch 


welche die Meiften zu Grunde gehen. Plato felbft hat es 
durch Sorgfalt bid zu einem hohen Alter gebracht. Zwar 
harte er von der Natur einen ſtarken und kraͤftigen Körper 
erhalten, und feine breite Bruſt hatte ibm den Namen 
Plato gegeben: doch hatten Seereiſen und Gefahren ihn 
viel von feinen Kräften entsogen, Allein Genügſamkeit, ein: 
befcheideneds Maß in allen den Dingen, welche die Begierde 
wecken, und wachſame Aufmerſamkeit uuf fi felbit hat ihm, 
tro& vielen hindernden Urfachen, zum Greifenafter verholfen. 
Denn Du wirft ohne Zweifel wiffen, daß Plato in Folge 
diefer ſorgfältigen Lebensweiſe einundachtzig Jahre, und 
zwar vollftändig, erreichte, indem er gerade an feinen Ges 
burtstage farb. Magier, welde gerade in Athen waren, 
opferten daher dem Verſtorbenen, in der Meinung, daß er 
ein höheres Loos, als gewöhnliche Sterbliche, gezogen, in: 
dem er die vollfommenfte Zahl, welche aus neunmal neun 
entftehe, voU gemacht hatte, Wiewohl ich zweifle nicht, daß 
er auch, bereit gewefen wäre, anf etliche Tage von der vollen 
‚Summe und auf das Opfer ſelbſt zu verzichten. -— Sı ta 
alfo eine genägfame Lebensart vad verliigeiu SS 


1636 Eeneca’s Briefe. 


glaube zwar nicht, daß ein hohes Alter lebhaft zu wünſchen 
fey, doch ift es auch nicht zu verfchmähen. Es ift angenehm, 
fo Lange ald möglich nie fich zufammen zu feyn, wenn man 
fi wirdig gemacht hat, feiner zu genießen. 

Allein die Srace wäre zu beantworten, ob.man es nidt 
verihmähen foll, an vie äußerfle Gränze des Alters zu ges 
langen, ob man das Ende nicht mit eigener Hand herbeizu: 
führen habe, flatt es zu erharren? Der ift nahe Daran zu 
jagen, der willenlos wartet, bis das Todesgeſchick erfcheint; 
fo wie Derjenige dem Weine unmäßig ergeben ift, der den 
Krug mit dem letzten Tropfen der Hefe ausfchlärft. Allein 
es fragt fih doch, ob jenes legte Reſtchen des Lebens wirks 
lid) die Hefe fen, oder vielleicht Iauterer und reiner als das 
übrige; ob der Geift ncch nichts gelitten ; ob er noch Tunter⸗ 
ftügt werde von ungeſchwächten Sinnen; ob der Körper nor 
nicht entfräftet und vor der Zeit erfiorben ſey? Denn es ift 
ein fehr großer Unterfchied, ob Jemand fein Leben, oder fein 
Sterben verlängert. Wenn ter Körper zu feinen Dienftleis 
flungen unbrauchbar geworden ift, warum follten wir ben 
befchwerten Geift nicht hinausführen dürfen? Vielleicht 
follten wir ed noch etwas früher Chun, ald es nethwendig 
ift, um nicht, wenn es feyn muß, fihon unfähig zu ſeyn, 
es zu-thun. Da die Scfahr, elend zu leben, eine fchlimmere 
ift, als die, vor der Zeit zu fterben, fo kann nur ein Thor 
ed verfehmähen, un den Preis eines Augenblicks von einer 
großen Befahr fid) loszukaufen. Nur Wenige gelangen durd) 

ein hohes Alter hindurdy ohne Einvute ti un irre: er 
Diele ift das Leben ein bradyliegendet, warisiet Bit, Tim 


| Achtundfünfigſter Brief. 163, 


Doch einmaf endigen muß? Höre mic wicht mit Unmuth, als 
ob bdiefe meine Behauptungen fchon dic, ſelbſt angingen; 
fondern beurtheile bios, was ich fage. Ich werde dem Alter 
nicht entfliehen, wenn es mich mir ganz bewahrt, ‚ganz 
nämlich, jenem beffern Theife nach. Aber wenn es anfangen 
folfte, meinen Geift anzugreifen, und fein DBermögen zu 
entträften, wenn ed mir nicht das Leben, fondern nur das 
thieriſche Daſeyn noch übrig läßt, dann werde ich mich mit 
Einem Sprunge retten aus der morfchen, hinfinfenden Bes 
hauſung. Einer Krankheit, fo lange fie heilbar und meinem 
Geifte nicht hinderlich iſt, werde ich mich nicht durch den 
Tod entziehen: ich werde nicht eines Schmerzes wegen Hand 
an mid) legen; fo ſterben, hieße befiegt werden. Weiß ih 
aber, daß ich ihn immer werde leiden müßen — nun fo werde 
idy von danuen gehen, aber nicht wegen bes Schmerzes felbft, 
Sondern weil er mid, an altem dem hindern würde, wegen 
deſſen man lebt. Schwach und feig ift, wer um bes Schniers 
zes willen flirbt: aber ein Thor iſt, wer dem Schmerz zu 
Gefallen lebt. 

Doch ich? verliere mich zu weit: der Stoff iſt von der 
Art, daß man dazu einen ganzen Tag verbrauchen koͤnnte. 
Aber wer mit einem Briefe nicht zu Ende kommen kant, 
wie wird der feinem Leben ein Ende zu machen vermögen ? 
So (ebe denn wohl! — ein Wort, das Du lieber Iefen 
wirft, als vom Tod, umd nichts ald vom Tod! 





Genr:a. 136 Bbchn, | . \ 


1658 Seneca's Briefe. 


Nennundfünfzigfter. Brief. 
@in Urtheil Seneews über die Schreibart 
eucitius. — Leber Selbſtkenntniß und w 
Freude. 


Deinen Brief habe ich mit großer Luſt geleſen. Gi 
mir nämlich, diefes Wort in feinem gewöhnlichen Sin 
nehmen, und fchiebe Ihm nicht feine floifche Bedeutung ı 
Mir halten die Luft für einen Fehler. Immerhin: dod 
gen wir das Wort zur Bezeichnung einer heitern Seele 
mung zu gebrauchen. Ich weiß ed, es iſt eine übelb 
tigte Sache um Die Luſt wenn wir unfer [foifches] W 
verzeichniß befragen), und Freunde kann nur dem % 
zu Theil werden: denn fle ift das Hochgefühl einer au 
eigenthümlichen Güter und Kräfte vertrauenden € 
Gleichwohl fagen wir nad) dem gewöhnlichen Sprachgebr: 
diefes oder jenes Mannes Erhebung zum Gonfulat, 
feine Vermaͤhlung, oder die Entbindung feiner Gattin 
uns große Freude gemacht; und dennoch find diefe : 
oft fogar nicht erfreutih, daß fie nicht felten die Ar 
künftiger Traner find: zur rende aber gehört, daß fe 
aufhören, nicht in's Gegentheif tich verwandeln Bann. ' 
. daher unfer Virgilius ſagt: 

— — — — bei Herjzens leidige Freuden, ) 
fo iſt dieß zwar ſchön, aber ſehr uneigentlich gefprı 
denn es gibt keine Teidige Freude. Er hat mit d 
Namen die Lüfte beiegt, und ausgebrüdt, was er 


”) Yen. VI, 678. 


Neunnndfänfzigfter Brief. 1639 


wollte: denn er bezeichnete Dienfchen, welche über ihre Lei- 
den vergnägt find. Indeſſen ſagte ich doch nicht mit Unrecht, 
ih habe Deinen Brief mit großer Luſt gelefen. Denu wie 
löblich auch ein Grund feyn mag, aus welchem der Unweife 
fid) frent, fo nenne ich doch feine Feidenichaftliche, ſchnell 
wieder im das Entgegenzeſeßte übergehende Stimmung eine 
durch die Vorſtellung von einem fulichen Gute angeregte 
ungemäßigte, ausfchweifende Zuft. 

Dody. um auf das zurückzukommen, was ich ſagen wollte, 
fo vernimm, was an Deinem Briefe mir Dergnügen gemacht 
hat. Du Haft die Worte in Deiner Gewalt: die Rede reißt 
Dich nicht Hin, führt Didy nicht weiter, als ia Deinem Plane 
tiegt. Diele find, Lie durch dad Gefallen an eiuem fchönen 
- Worte ſich verleiten laſſen, Etwas zu fchreiben, was fle gar 
nicht fchreiben wollen. Dieß begegnet Die niht: Dein 
ganzer Vortrag ift gedrängt und ſachgemäß. Du fagft, fo 
viel Du fagen willſt, und deuteft noch mehr an, als Du 
faot. Dieß läßt noch auf ein wichtigeres Gnt fihließen; es 
iſt ein Beweis, daß auch Dein Gemüth nichts Ueberflüſſiges, 
nichts Aufgedunjenes hat. Ich finde hin und wieder Meta: 
phern, die eben fo wenig verwegen ald ungerällig find: mögen 
fie atfo ihre Glück verſuchen. Ich finde Bilder; und wer 
uns ihren Gebrauch verbietet, und fie blos den Dichtern ges 
ftattet wiffen will, fcheint mir Keinen von den Alten gelefen . 
zu haben, welche doch mit ihren Vorträgen noch Bein DBeis 
faliflatfchen zu erhafdyen fuchten. Sie, die fo einfach, und 
nur mit der Abſicht, ihren Gegenftand klar darzuflellen, 
fprachen, find poll von Gleichniſſen: und diefe find meiner 

\» - 


1640 Seneca's Briefe. 


Meinung nach unentbehrlich, nicht ans demfelben Grunde, 
wie ten Dichtern, fondern um der Unzulänglichkeit [Lunferer 
Sprache) zu Hülfe zu kommen, und um den Lehrling und 
Zuhörer in die Anfchauung 'zu verfeßen. Ich lefe eben jest 
den Sextius, einen Schriftfteller vol Kraft, der in Grie— 
chiſcher Sprache, aber in Römifchen Geiſte phitofophirt. 
Es ergriff mich ein von ihm gebrauchtes Bild: „ein Keiegs⸗ 
heer, wenn es von allen Seiten des Feindes gemärtia ſeyn 
muß, rüdt im Diered vor, zur Schlacht gerüſtet. Ein 
Steihes muß der Weije thun: feine Tugenden muß er nad 
allen Seiten entfalten, damit, wo immer ein Feind erfcheis 
nen mag. dort die Schuswehr in Bereitſchaft ſey, und ben 
Winke des Führers ohne Verwirrung entfpreche. Was in 
Kriegsheeren, die von großen Feldherrn geordnet werten, 
gefchieht, daß alle Trupren das Befehlwort zugleich verneh⸗ 
„men, indem fie fo geftellt find, vap das von Einem ausge— 
hende Zeichen die Reihen des Fußoolks und’ der Reiterei 
zumal durchläuft: eben dieß iſt auch uns, und noch weit 
mehr, von Nöthen. Go Eertius. Kriegsheere beforgen ja 
die Erfcheinung des Feindes oft ohne Grund, und der Marfch 
ift oft der gefahrfofefte, welcher der mißlichfte ſchien. Für 
den Thor gibt ed nirgends Frieden: Schrecken ift über ihm, 
wie unter ihm; nad beiden Seiten hin bebt er; Gefahren 
folgen ihm und dommen ihm entgegen; vor Allem erzittert 
er, und ſtets ungerüftet, erfchrickt er auch vor der Hüfie, 
die ihm naht. Der Weile Dagegen iſt gewappnet und gefaßt 
gegen jeden Anlauf: mag Armuth, Bram, Schmach und 
Qual anf ihn eindringen, er weicht nidyt. Unerfchroden geht 
es iPnen entgegen und wandelt mitten turdy Te Kin, Vieles 


- Neunundfünfzigfter Brief. 1641. 


ift, was uns feſſelt, Vieles was uns entkräftet, wir haben 
zu lange in jenen Laſtern gelegen: es ift fchwer, uns zu. 
waihen, denu wir find nicht nur beſchmutzt, fondern davon 
durchdrungen. | 
Um nicht aus einem Bilde in das audere zu gerathen, - 
will id) eine Frage aufwerfen, die ich bei mir ſelbſt oft über: 
lege, wie ed doch Fomme, daß und die Thorbeit fo hartnds 
dig feſthält? — Fürs. erfle, weil wir fie nicht entfchloffen 
von und treiben, und nicht mit allem Nachdrud auf unfere 
Rettung hinarbeiren ; fodann, weil wir den von weifen Män⸗ 
nern gefundenen Heilmitteln ‚nicht volles Vertrauen ſchenken, 
‚und unfere Herzen nicht auffchließen, um fie in uns aufzuneh⸗ 
men, fondern eiue fo wichtige Sache nur Teichtfertig betreibe. 
Wie kann aber Iemand Das, was nöthig iſt, gegen das 
Lafter fernen, wenn er nur ſo lange lernt, als feine Later 
ihm Seit laſſen? Seiner von und geht tief; wir fchöpfen 
blod auf der Oberfläche; ein Bishen Zeit auf das Studium 
der Weisheit verwendet, heißt ge:ıug und ‚mehr ald gerug 
für Gefchäftöleute. Was uns Hauptfächlich hindert, ift, daß 
wir fo bald mit und ſelbſt zufrieden find. Treffen wir (es 
mand, der und brav, einſichtsvoll, uneigennügig nennt, gleich 
finden wir, daß der Mann recht hat. Bald aber find wir 
nicht mehr mit mäßigem Lobe zufrieden; was auch ein 
Schmeichler ohne Scheu -und Scham auf und häuft — wir 
nehmen es als einen fchuldigen Tribut hin. Verſichert er, 
daß wir die Bellen und. Weifelten feyen, wir flimmen ihm 
bei, fo oft wir ihn audy als Lügner erkannt.haben. Ja fo 
weit geht unfere Selbftgefälligkeit, da& wir wa EM DRs 
willen gelobt feyn wollen, von weÄhEN N nen 


1642 Seneca's Briefe. 


(Hegentheit thun. Mitten unter Todesmartern, die er voll 
ziehen läßt, hört ſich Jener gerne den Sauftmäthigſten 
nennen, unter Naubhandfungen den Uneigennüsigften, und 
den Möäßigften mitten unter feinen Wolläfter und feiner 
Mölferei. So kommt ed, daß wir mas nicht ändern wollen, 
weil wir glauben, die Beſten zu ſeyn. Alexander, als er 
Indien durchſchwärmte, und Völker, die kaum ihren Nach⸗ 
barn gehörig bekannt waren, im Kriege zu Grunde richtete, 
war einft bei der Belagerung emer Stadt, deren Mauern 
er umritt, um ihre fehwächften Stellen zu eıfpähen, von 
einem Pfeil getroffen worden. Nichts deſto weniger beharrte 
er darauf, Zu Pferte zu bleiten, und fein Vorhaben durd⸗ 
äufepen. Allein da durch de Hemmung des Blutlaufs ber 
„Schmerz der’ vortretenden Wunde zunahm, und das vom 
Dferde herabhängende Bein altmählich flare wurde, fo wer 
er genöthigt abzufleigen und fagte: „Alle ſchwören, daß ich 
Inpiters Sonn fey; aber diefe Wunde ruft laut, ich fey ein 
Menſſch.“ Daſſelbe lab auch uns thun; fo oft und die Schmei« 
chefet, Jeden nac feinem Dias, kethören will, fo laß und 
fprechen: „Ihr fagt zwar, ich fen weile; ich aber fehe, wie 
viel Unnüges ich begehre, wie viel E chädfiches ich mir wünſche; 
nicht einmal Das erkenne ich, was Thieren ihre Sättigung 
zeigt, welches das redte Mas für Trank und Epeife feon 
müſſe; noch weiß ich nicht, wie viel ich zu faſſen vermag.“ 
Nun will ih Did Ihrer, wie Du zur Einfidyt kommen 
Bannft, dab Du roch Fein Weiſer fenftl. Der Weite ift voll 
Freubigkeit, heiter, ruhig, unerfchättert, fein Leben ten 
&dtrern gleich, Nun frage Dies \eihk. Wem Du riemats 
Hedergefcylagen bift, wenn der Dir ur Küsktur in 


Neunundfänfzigfier Brief. 1643 


Deinem Gemüthe nie unruhige Erwartungen erregt, wenn 
die gleichförmige Stimmung einer großgeſinnten, mit ſich 
ferbft zufriedenen Seete Did) Tag und Nacht nicht verfäßt, 
fo hat Du das Hoͤchſte des menfchlichen Glückes erreicht. 
Aber wenn Did, verlangt, Wollüſte aller Art und überaffher - 
Dir zu verfchaffen,, fo wifle, taß Dir zur Weisheit eben fo 
viel, Ald zur Freude fehlt. Zu diefer wünfher Du zu ges 
langen; aber Du irrft, wenn Du unter Reichthümern dahin 
au kommen hoffit.. Glaubſt Du die Freude zu finden in hohen 
Ehrenftelien? Du fuchft fie in Betümmerniffen. Die Dinge, 
nach welchen Du frachteft, als follten fie Dir Luſt und Froh⸗ 
finn geben, find Quellen der Schmerzen. Alle Welt jagt 
nach rende; aber woher eine dauerhafte, hohe Freude zu 
gewinnen fey, weiß man nicht. Der Eine meint, aus Gaſt⸗ 
gelagen und Schmelgerei; ein Anderer and ehrgeizigen Des 
ſtrebungen und einem großen Elienfenfchwarm; ein Dritter 
aus einer Liebfchaft; ein Vierter aus ten fchönen Wiſſen⸗ 
ſchaften und ans Studien, die er mit eitler Prahlerei betreibt, 
und die ihn um Michts beffer mahen. Alle Diefe befrügen 
fih durch täuſchende und kurze Vergnügungen, wie ein Naufch 
den Iuftigen Wahnfinn Einer Stunde mit langem Ekel vers 
ailt, und wie die Gunft des Elatfchenden und Beifall zuru« 
fenden Volkes durch große Unruhe erworben und gebäßt 
wird. Bedenke alfo dieß: die Wirkung der Weisheit iſt 
eine ſich gleich bleibende Freude Das Gemüth dee Weifen 
ift gleich dem Firmament über dem Monde: immer ift es 
dort heiter. Du haft alfo Grund genug, zu wollen, daß Du 
ein Weifer ſeyſt; weil Diefer nie one Treuar iR, RU SD 
dem Bewußtfeyn der Tugenden ereädyst wir greie. NV 


164. Seneca's Briefe. 


der Startmüthige, der Gerechte, der Mäßige kann fid 
freuen. „Wie? frasft Du; „„Thörichte und Laſterhafte 
freuen ſich alfo niemals?“ Nicht anders, ale wie fidy der 
Löwe freut, wenn er einen Fraß gefunden. Haben ſie fid 
in Trunt und Wolläften müde gefchwelgt ; ift die Nacht ihnen 
unter Zechen zerronnen, hat die Fülle ter Genüfle, dem 
engen Körper über dad Maß feiner Faſſung eingenöthigt, 
Eitergeichwüre zu erzeugen angefangen; dann rufen bie Glen: 
den mit jenen Worten Virgils aus: *) 

Denn wie die Außerfie Naht wir unter kosrrätreifgen 

Freuben 

Hingetraääumt — das weißt Du. 
Jede Nacht verbringt der Schwelger unter verraͤtheriſchen 
Freuden, und zwar als wäre fie die letzte, Jene Freude 
aber , welche bie Götter und ihre Nacheifereribegleitet, wird 
nicht unterbrochen, und hört nicht auf. Sie würde aufhören, 
wäre fie von Auffen genommen. Weil fie nicht fremdes Ges 
ſchenk iſt, fo ſteht fie auch nicht unter fremder Willkühr. 
Was das Glück nicht gab, entreißt es nicht. 





Sechzigſter Brief. 
Manbegehre nicht mehr, als bie Natur verlangt. 
Ich führe Berchwerbe, ich zanke mit Dir, ich zürne Dir. 
Alſo auch jest noch wünfhent Du, was Deine Amme, Dein 
Auffeher, Deine Mutter Dir wünfchten? Noch immer haft 
Du nicht eingefehen, wie viel Schlimmes fie Dir wünfchten? 


> Heneit, VI, 515, Voß. 


Sechzigſter Brief. 1645 


D wie unhold find uns oft die Wüniche ter Unfrigen! und 
zwar um fo unholder,, je mehr fie in Erfüllung gingen. Es 
wundert mich nun nicht mehr, wenn alles Unheil und vom 
Kindesalter an verfolge: wir mwuchfen unter den Verwün— 
ſchungen unferer Eftern heran. Laß und nun aud einmal: 
unelgennügige Gebete zu den Göttern fchiden. Wie fange 
noch werden wir Forderungen an fie machen, ale ob wir. uns 
noch nicht ferbft ernähren -Eönnten? Wie lange noch werden 
untere. Saaten tie Ländereien großer Städte einnehmen ? 
Wie lange follen ganze Völker nur für und ernten? Wie 
lange wird man anf einer Menge von Schiffen, und über 
mehr als Ein Meer herbeiholen, was auf die Tafel eines 
Einzigen gethürmt werten fol? Den;Gtier fättigt eine 
Weide von einigen wenigen Faacherten: ein einziger Wald 
reicht für eine Heerde von Elephanten hin: nur der Menfch 
mäftet fi von Land und Meer zugleich. Hat etwa die Natur 
feitit uns, bei einem fo mäßigen Körperumfung, dieſen fo 
unerfättlihen Magen gegeben, taß wir die ungeheuerften und 
gefräßigften Thiere an Gierigkeit übertreffen follen ?” Gemiß 
nicht. Wie viel-ift ed denn, was die Natur verlangt? Sie 
läßt fih mit fo Wenigem abjertigen. Nicht der Hunger 
kommt uns thener zu ftehen, fondern unfere Eitelkeit. Leute 
alfo, die, wie Sal luſt ius fagt, ihrem Bauche unterthan 
find, wollen wir nicht zu den Menfchen, fondern zu den 
Zhieren zählen; einige ‚nicht einmal au diefen, fondern zu 
den Todten. Es Iebt nur, wer feine Kräfte braucht: wer 
aber in dumpfer Erftarrung ſich verkrochen hält, liege zu 
Hauſe als in feiner Gruft. Eines (uhr Mesa Rss 


SQ 


1646 Seneca's Briefe. 


folfte man auf eine Marmortafel *) über feiner Schwelle 
ſchreiben. Er iſt feinem Tode zuvorgefommen, 


Einundfehzigfter Brief. 
Bereite dich auf den Tod. 


- Hören wir auf, zu wollen, was wir gewollt.kaben! 
Ich wenigſtens firebe’ats Greis dahin, daß ich nicht daſſelhe 
‚zu wollen fcheine, was ich als Knabe wollte. Dahin zielen 
alle meine Tage, alle meine Nächte: dieß ift mein Geſchäft, 
mein einziges Sinnen, den alten Fehlern ein Ende zu mas 
hen. Darnach tracht' ich, daß ein Tag mir wie das ganze 
Leben ſey. Ich Halte ihm nicht ängftlich feſt, ale wäre er 
der leute: aber id) betrachte ihn, als könnte er fogar der 
teste feyn. Ich fchreibe Dir diefen Brief in einer ſolchen 
Faffung des Gemüths, ald würde der Tod midı mitfen im 
- Schreiben abrufen. Bereit, von hinnen zu gchen, genieße 
ich eben darum des Lebens, weil ich es nicht hoch anfchlage, 
wie lange ed noch dauern werte, Ehe idy Greis war, dachte 
id, darauf, wohl zu leben; nun ich Greis bin — wohl zu 
fterben; gerne flerben aber heißt wohl fterben. Laß Dir's 
angelegen feyn, nie Etwas wider Willen zu Thun. Was da 
kommen mag, komme für den Wiberftrebenden als ein Zwin⸗ 
gended. Für den Wollenden gibt es Beinen Zwang. Glaube 
mir, wer einem Beiehle fidy gerne unterzicht, vermeidet die 
Härtefte Seite der Kuechtfchaft, zu than, was er nicht will. 





2 Wie auf Grabmaͤlern gewöhntin. 


Zweinndfechzigfter Brief. 1647 


Nicht, wer auf Geheiß etwas thut, ift unglüdtich, fondern, 
wer es wider Willen thut. Bringen wir affo unfer Gemüth 
in die Stimmung, daß wir, was die Umftände erforder, auch 
ferbft wollen, vor altem aber, daß wir ohne Befümmerniß 
an nnfer Ende denfen. Wir müßen ung eher auf den Top, 
ats auf das Leben vorbereiten. Das Leben ift genugfam ver⸗ 
"forget: aber wir find nach den Hülfsmitteln deffelben begierig; 
“wir glauben, es fehle uns noch etwas, und werden ed immer 
glauben. Nicht Jahre noch Tage werden mahen, daß wir 
genug gelebt haben, fondern unfer Herz. Ich, theurer Luci⸗ 
lius, babe zur Genüge gelebt: gefättigt erwart? ich den 
Tod. 


Zweinndſechzigſter Brief. 

Man kann philoſophiſche Muffe mitten unter 
Geſchaäften gewinnen. 

Die lügen, welche den Schein haben wollen, als hins 
dere fie die Vienge von Arbeiten an edleren Studien: fie 
ſtellen ſich, als hätten fie-viele Gefchäfte, vermehren fle, und 
rauben fich ıhre Zeit ſelbſt. Ich habe Muffe, mein Lucilius, 
reichliche Muffe, und, wo Id} auch bin, bin id) mein eigen, 
Den Gefchäften gebe ich mich nicht ganz, ich leihe mid, ihnen 
nur, und fuche die Antäffe, Zeit zu verberben, nicht auf. 
Wo ich mid anch befinde, befchäftige ich mid, mit meinen 
Betrachtungen, und bewege irgend einen heilfamen Gedanken 
in meinem Semüthe. Auch wenn ich meinen Freunden midy 
witme, entziehe ich mid, doch nicht win Kelht, tt run 


1648 J Seneca's Briefe." 


ftände oder eine Dienflleiftung in bürgerlichen Gefchäften mich 
mit Anderen zufammenführen, ſo verweile ich nicht Tange 
bei Diefen. Nur mit den Beiten bin ich zufammen: zu ihnen, 
an welcdem Drte, in welchem Jahrhunderte fie auch Ichten, - 
begebe ich mich im Geiſte. Den edlen Demetrius *) führe 
ich überall hin mit mir: abgewandt von den Bepurpurten 
fpreche ich mit diefem Halbnackten und bewundere ihn, Wie 
ſollte ich nicht? Ich habe gefehen, daß ikm nichts mangelt. 
Alles verachten kann man, alles haben kann Niemand. Der 
kürzeſte Weg zum Reichthum ift die Verachtung des Reid 
thums. Unfer Demetrius aber lebt, nicht als veracdhtete er 
Alles, fondern ale hätte er ed Anderen zun Belt überlaffen. 


Dreiundfedzigfler Brief. 
Ueber die Trauer beim Tode unferer Sreunde 


Du empfindeft ſchmerzlich den Tod Deines Freundes 
Flacen. Ich wünschte jedoch nicht, daß Du Did) Deinem 
Schmerze zu fehr hingebeſt. Ihn Dir ganz au verbieten, 
möchte ich nicht wagen; doch weiß ich, daß es beffer wäre 
(gar einen zu empfinden]. Allein wer befäffe eine ſalche 
Seelenftärke, außer wer fid) ſchon hoch über das Gefchid 
erhoben Hat? Auch Diefen würde ein folcher Fall anregen, 
aber auch nur anregen: Mnd dagegen kann man es zu gut 
haften, wenn wir es zu Thränen Eommen laflen, wofern fle 
nicht zu reichlich fließen, und wir ſelbſt lie aurüddrängen. 
Anfer Ange fol nicht troden bleiben bei’'m Verluſt eines 


9 S. Brief 20. ©. 1489. 


" . Dreiundfechzigfter Brief. 1649 
Freundes, aber es foll nicht überſtrömen; wir folfen weinen, 
doch nicht Heulen. „Eine harte Forderung,‘ fagft Du? Und 
Boch hat Griechenlants größter Dichter das Recht zu weinen 
anf einen einzigen Taz befchränkt, und gefagt: 
— — auch Nioke ſelbſt gedachte ber Nahrung. *) 

Arayen wir: woher dieſes Wehklagen, woher biefes Unmaß 
des Weinens? Mit Thränen wollen wir unſere Sehnſucht 
ausdrücken; wir überlaſſen uns nicht dem Schmerz, wir zei⸗ 
gen ihn. Man trauert nicht für ſich ſelbſt. O der unglück⸗ 
ſeligen Thorheit! Es gibt auch eine Eitelkeit der Trauer. — 
„Wie?“ rufſt Du aus: „ich ſoll alſo meines Freundes ver⸗ 


geſſen?“ — Du verfprichft Ihn ein kurzes Andenken, wenn 


es nicht länger danern ſoll, als Dein Schmerz. Bald genug 
wird irgend ein Zufall lachende Heiterkeit über dieſe Stirn 
verbreiten: ich brauche Dich nicht erſt auf die Zänge der Zeit 
hinzuweiſen, welche alle Sehnſucht mildert, und auch den 
herbſten Schmerz befänftigt. Sobald Du. aufhören wirft, 
Did) ſelbſt zu beobachten, werden aud) jene Züge der Tratter 
fich verlieren. Für jene hüteft Du Deinen Schmerg:: allein 
auch tiefer Obhuk wird er entjchlüpfen, und um fo fehneller 
aufhören , je heftiger er war. Denken wir darauf, wie die 
Erinnerung an unfere Verlorenen uns eine angenehme wer⸗ 
den möge: Niemand kemmt gerne auf Das zurüd, an was 
er nicht ohne peinfiche Empfindung zu denken vermag. Wenn 
es jedoch unvermeidlich ift, daß der Gedanke au Hingeſchie⸗ 
dene, die wir liebten, uns wehmüthig ſtimmt, fo hat ja eben 





*) Jliade XIX, 228. XXIV, 602. 





1650 Senecca's Briefe. | 


auch diefe Wehmuth ihr Süßes. Unſer Attalus pflegte 


zu ſagen: „die Erinnerung an verſterbene Freunde iſt in der 
Art angenehm, wie mauche Früchte eine gewiſſe liebliche 
Herbe haben, und wie an einem ſehr alten Weine eden ſein 
bitterlicher Geſchmack gefällt. Nach einer längeren Zwifcen: 
zeit vertiert ſich das Beklemmende des Gefühld, und unſer 
Vergnügen iſt ein reines.“ Wenu wir dieſem Attalus glau: 
ben, fo heißt „feiner lebenden Freunde gedenken,“ fo viel, 

-ald Honig und Backwerk genießen; die Befchäftigung mit 
Solchen aber, die nicht mehr find, gewährt eine bitterfübe 
Empfindung. „Allein wer wollte fdugnen, daß auch ſcharfe 
und herbe Dinge den Magen reizen?’ Ich bin nicht derfels 
ben Meinung. Mir it der Gedanke au verftorbene Freunde 

- füß und wohfthuend. Denn ic, befaß fie, als würde ich fie 
verlieren, und verlor fie, ald hätte ich fie noch. 


So thue denn, mein Lucilins, was Deiner Billigkeit 


gemäß iſt; höre auf, eine Wohlthat des Schickſals zu ver 
kennen. Es bat genommen, aber auch gegeben. Lan uns 
alfo geizen mit tem Genuß unferer Freunde, weil es unge: 
wiß ift, wie Tauge er und noch vergüunt ſeyn wird. Laß 
uns bedenken, wie oft wir ſie nicht fahen, obwohl wir an 
demfelben Orte lebten: und wir werden einfehen, Daß wir 
mehr Seit wihrend ihres Lebens vertoren. Unertraͤgtich aber 
iſt es, wenn Menfchen , die genen ihre Freunde vollkommen 
gleichgültig gewefen waren, ihren Zod aufs Kiäglichfte be: 
janmern, Menfchen, tie Niemind lieben, außer wen ſie 
verloren haben. Und fie trauern jene um fo ungemäßigter, 





”) Ein Stoicer ja Tiberius Zeit. S. Brief 9. S. 1410, 


Dreiundfechzigiter Brief. ı65 


weil fie beforgen, man möchte bezweifeln, ob fie je liebten 
„zu ſpät fuchen fie ihre Zärtlichkeit zu beweifen. Haben mai, 
nody audere Freunde, jo iſt ed für Diefe wenig verbindlich 
daß fie uns nicht einmal fo viel gelten follen, um uud übe 
‚den Verluſt eines Einzigen zu troſten. Haben wir Keine, fı 
haben wir ung felbft größern Schaden zugefügt, ald wir von 
Schickſal erlitten. Diefes hat uns nur Einen entriffen; wi: 
Eounten fo Manchen und erwerben, und thaten es nice 
Und wer nicht mehe als Einen zu lieben vermag, bat and 
den Einzigen nicht allzufehr geliebt. Wenn ein Ausgeplün 
derter, der fein einziges Gewand verlor, nur wehllage 

- wollte, ſtatt ſich umzufehen, wie er vor der Kälte ſich fchüs: 
"amd Etwas zur Bedeckung feiner nackten Schultern finde 
. müßte man ihn nicht für den größten Thoren halten? De 
Du liebteſt, haft Du begraben, fuche, wen Du lieben 
„Weiſer ift es, den Verloregen erfesen, als ihn beklagen 
Ich weiß, es ift ein verbranchter Gedanke, den ich nod 
hinzufügen will: doch darf ich ihn Tarum nicht übergehen 
weit ihn Sedermann im Munde führt. Auch wer feinen 
. Schmerze nicht abſichtlich ein Ende macht, findet es mit der 
Zeit. Allein es ift für einen vernünftigen Menſchen das un: 
. ‚würdigfle Mittel gegen die Traurigkeit, des Trauerus müdı 
zu fegn. Ich wollte licher, Du verlieffeft Deinen Gram 
als er Dich. Höre möglichſt bald auf, etwas zu thun, war 
Du, auch wenn Du wollteft, nicht lange thun könnteſt. Eir 
Jahr haben unfere Alten den Zrauen zur Trauer vorgefchrie 
beu, night damit fie fo lange, fondern damit fie nächt länge: 
trauerten: für Männer gibt es Leine gefesliche Zeit, wei 
diefen keine gezient. Und auch yon jenen zürtlihen Tuasıs 


1652 ESeneca's Briefe. 


die Baum vom Scheiterhaufen wegzubringen,, von dem Leis 
nam faum loszureißen waren, weldye kannſt Du mir nennen, 
deren Thränen einen ganzen Monat floßen? Nichts macht 
fih fo bald gehäſſig, als die Traurigkeit; fo lunge fie neu 
it, findet fie einen Tröfter, und zieht Manchen an; ift fie 
veraltet, fo wird fie verlacht, und nicht mit Unrecht; denn 
fie it entweder erheuchelt oder thöricht. 

Gleichwohl beweinte ich, der ich Die dieß ſchreibe, den 
Tod meines thenern Aunäus Serenus 9 fo ungemäßigt, daß 
ich zu meinem Verdruß ein Beiſpiel abgebe wie man vom 
Schmerz überwältigt werden fann. Nunmehr mißbillige ich 
mein Berehmen, und weiß nun, daß ich deßwegen haupt⸗ 
fächtich ſo tief betrübt war, weil ich nie daran dachte, daß 
er vor mir ſterben könne. Ich hatte nur int Sinne, daß er 
jünger, und nm vieles jünger war, als ich, als ob daB To⸗ 
desoerhängniß eine Drdnung beobachtete! — Möchten wir, 
alfo anhaltend unſere eigene, und die Sterblichkeit aller 
unferer Lieben bedenten! Ich hätte damals zn mir ferbft 
fprechen follen: „Mein Serenus ift jünger ats ich: doch 
was ändert dieß? Er ſollte nach mir fterben, aber er Bann 
“es vor mir.‘ Allein ich hatte cd nzterlaffen, und fo hat 
mid das Schickſal unvorbereitet erfchüttert. Jetzt bedenke 
ich, daß Altes fterblich ift, und zwar nach einem ungewiffen 
Geſetze. Was einmal gefchehen kann, kann auch heute ges 
fchehen. So denken wir denn, mein theuerfter Zucilius, mit 
dem Freunde, den wir betrauern, ift ed dabin gefommen, 
wohin ed auch mit uns bald kommen wird. Und vielleicht — 


“7 Ueber ihn ſ. ©. 374 diefer Weber\. 


Bierundfechzigfter Brief. 1655 


wenn anders die Sage der Weifen waht ift, und uns irgend’ 
ein Ort aufnimmt — ift er uns nur vorangefandf, den wir 
verforen glauben. 


XVEA 


Vierundſechzigſter Brief. | 


Lob der Schriften des ältern Q. Sertine Per 
dienſte der dlteren Weiſen. 


Geftern warft Du bei und. — „Nur geſtern?“ konnteſt' 
Du empfindlich fragen; deßwegen fagte ich bei ung, denn 
bei mir bit Du immer. — Es waren einige Freunde zu 
mir anf Befuc gekommen, um deren wilfen etwas mehr 
Rand) aufging, kein folcher, wie er ans den Küchen der 
Veppigen emporzuqualmen, und die Feerwächter zu erfchres 
“den pflegt, fondern ein ganz mäßiger, der nur andenfek, 
daß Säfte gekommen. Die Unterhaltung war mannichfaltig, 
ganz einem gefelligen Manfe gemäß, und fprang, ohne einen 
Gegenftandp!zu erfhöpfen, von einem auf den anderen über. 
Dann wurde eine Schrift des Quintus Sertius, des 
Vaters, vorgelefen, eines großen Mannes, wie Du mir 
glanben darfft, und, auch wenn er ed aud nicht Wort haben 
wi, eines Stoikers. Himmel, welche Kraft, welcher Hoch⸗ 
finn befeett ihn! Dieß wirft Du nicht bei alten Philoſophen 
finden. Die Schriften Mancher tragen nur einen glänzenden” 
Namen, und find im Uebrigen kraftlos. Voll von Theorie, 
Polemik und Sophiftif, *) können fie dem Herzen den Muth 


”) So glaubte ich das Original: instituunt, disputant, ca-- 
villantur, am bezeichnendfien wiebergagaera, Bun von 
ſprechende beutfche Zeitwörter Keen AL A — 

Geneca, 138 Bbdyn, 


1654 Seneca's Briefe. 


nicht geben‘, den fie felbft nicht Haben, Aber lied ten Sex: 


tius, und Du wirft ausrufen, „welches Leben, welche Kraft, 


weiche Freiheit! wie hoch ſteht er über den Sterblichen!. 
voll großen Selbftvertrauens fcheide ich von ihm.‘ In welcher 
Beelenftimmung ich auch ſeyn mag — wenn id) ihn leſe, fo 
möchte ich, glaube es mir, alle Wecrfelfälfe des Glückes hers 
ausfordern, möchte ausrufen: „Was fäumeft Du, o Schids 
fat? Zrete in die Schranken mit mir! Du-fiehft mid) ges 
rüſtet.“ Ich eigne mir den Muth des Mannes an, der die 


Gelegenheit auffucht, ſich zu erproben nnd feine Tapferkeit 
zu zeigen. 


Daß ſtatt ſcheuen Gewilbes doch auch ein ſchaumender Eber, 
Wänfhet er, ober ein er Leu vom Gebirge fid) 
. ftärze. 9, 
Haben möchte ich Etwas, das ich überwinden, in deſſen Er⸗ 
dulden ich mich üben könnte. Denn auch dieß Vortreffliche 


bat Sertius, daß er Dir die Herrlichkeit des glüdtichen 


Lebens zeigt, und Dich gleichwohl nicht daran verzweifeln 
räßt. Du wirft inden, daß es hoch geftelit ift, aber erreichbar 
dem Willen. Daffelde wird Dir auch die Tugend ſelbſt ges 
währen, daß Du fie bewunterft nnd doch hoffſt. Mir wes 
nigitens pflegt (hen die Betrachtung der Weisheit viele Zeit 
wenzunehmen: mit Staunen befchaue ich fie, fo, wie die 
Welt felbft, die ich nicht felten als ein Hanz neuer Zufchauer 
anſehe. 

Ich verehre die Erfindungen der Philoſophie und ihre 
Erfinder: mit Freuden benütze ich fie als das Vermaͤchtniß 





”) Birg, Aen. IV, 158 . 


Vierundfechzigfter Brief. 1655 


Dieler. Für mid) find diefe Güter gewonnen, für mid) ers 
arbeitet worden. Allein wir follen thun, wie ein guter 
Hausvater: wir follen vermehren, was wir übertommen 
haben; vergrößert foll diefes Erbgut von mir anf die Mach» 
melt übergehen. Noch ift viel zu thun übrig, und vıel wird 
übrig bleiben; und Keinem, würde er erft nad taufend 
Menfchenaltern geboren, wird die Mögi-chkeit abaefchnitten 
feyn, noch etwas hinzuzufügen. Doch, wenn auch Alles von 
unſern Vorgängern fchon gefunden wäre, neu blicbe ung 
doch immer der Gebrauch, die Erkenutsiß des Gefundene: 
und feine Anordnung. So find und Heilmittel für kranke 
Augen übertiefert: ich brauche nicht nach neuen zu ſuchen; 
allein fie find nach den verfchiederen Uebeln und Umftänden 
a zuwenden. Das Eine lindert tie Schärfe in den. Augen; 
ein Anderes vertheilt die Gefchwulft der Augenfierer; ein 
“ Drittes dient bei fchnellen Entzündungen und Flüſſigkeiten; 
‚ein Viertes färkt die Sehkraft. Man muß fie nun zubereis 
“sen, die rechfe Zeit auserfehen,, und jedes im rechten Maße 
anwenden. Auch für die Seele haben die Alten uns Heils 
mittel hinterlaſſen; aber wie und wann fle gebraucht werden 
ſollen, ift unfer Gefchäft, zu erforfchen. Vieles ift von 
Denen gethan, die vor und waren, aber noch nicht abgethan; 
gleichwohl verdienen fie Hochachtung, ja göttliche Verehrung. 
Wie follte id) alfo nicht die Bilder großer Männer ale Ans 
reizungsmittel für meinen Geiſt betradten, und die Gedaͤcht⸗ 
nißtage ihrer Geburt feiern ? Wie follte ich nicht ihre Namen 
immer mit Ehrfurcht nennen? Keine geringere Verehrung, 
als meinen Lehrern, bin ich auch jenen Lehrern det ER 
lichen Geſchlechtes ſchuldig, don weiten UBSSS NDN 


1656 Seneca's Briefe. 


ausgegangen if. Wenn ich einen Conſul fehe, ober einen 
Prator, fo fol ich alles thun, womit die Ehrenftelle geehrt 
zu werden pflege, foll vom Pferde fpringen, außerdem das 
Haupt entblößen, aus dem Wege treten? „Den Gedanken 
an die Catone dagegen, an Lälius den Weifen, an Socrates 
und Plato, an Zeno und Cleanthes, fol ich mir ohne bie 
Empfindung der höchſten Achtung vor die Seele ſtellen? 
Nein, ich verehre jene Alten, und erhebe mich alfezeit, 
wenn fa große Namen genannt werden. ' 


‘ 


Fuͤnfundſechzigſter Brief. 
Heber Urfadhe und Materie. Nutzen ſolcher 
Betrachtungen. 


Den geſtrigen Tag theilte ich mit meiner- Krankheit: 
den Vormittag nahm fie für fi in Anſpruch; den Nachmit: 
tag überließ fie mir. Zuerſt verfuchte ich meinen Geift mit 
Leſen; fodann, als er dieß zuließ, wagfe.ich es, ihm etwas 
mehr zuzumuthen, oder vielmehr zu geflatsen. Ich fehrieb 
etwas, und zwar mit größerer AUnftrengung, ald gewöhnlich: 
denn ich hatte mit einem fchwierigen Stoffe zu Fämpfen, und 
woltte ihm nicht unterliegen. Endlich kamen Freunde da: 
zvifchen, welche Gewalt brauchten und mir Einhalt thaten, 

"ald einem Kranken, der fidy nicht zu mäßigen wilfe. An bie 
Stelle bes Schreibgrifield trat jet tie mündliche Unterbal: 
ng, aus welcher ich Die denjenigen Begentund wiiieiten 
M, ber nody im Streite iſt. Wit ven DE 


Fuͤnfundſechzigſter Brief. 1657. 


richter angenommen; und Du wirft mehr zu thun haben, als 
Du. glaubſt. Die Sache iſt eine dreifache. 

Du weißt, daß unſere Stoiker zwei Prinzipien aller 
Dinge annehmen, die Urſache und die Materie. Die Materie 
iſt todt, füt jede Einwirkung empfänglich, und fo lange un— 
thätig, als - Niemand fie in Bewegung fegt. Die Urſache 
aber, das ift die Vernunft, geſtaltet tie Materie, wandelf 
fie um nach Gefallen, und bringt aus ihr mannigfaltige 
»Werke hervor. Es muß alfo zuerft etwas feyn, woraus 
ein Ding wird, fodann Etwas, wodurd, es wird: Defes 
ift die Urfache, jenes die Materie. Alte Kunft ift Nachah⸗ 
mung der Natur; was ic, alfo.von dem Welrganzen Tante, 
iſt auch anzuwenden auf Das, was der Menfdy zu fchaffen 
hat. -Die.Bildfäule febt voraus eine Materie, welche von 
dem. Künftler fi) behandeln ließ, und-einen Künſtler, wels 
cher der Materie ihre Geftalt gab. Bei der Bilvfäule ift 
alfo die Materie das Erz, die Urfache ift der Meiſter. Daſ⸗ 
ſelbe ift ed mit allen Dingen: fie beftehen aus dem Bewirk⸗ 
ten und aus dem Dewirkenden. Die Stoiter nehmen nur 
- Eine Urſache an, die bewirkende; Ariſtoteles aber ift der 
Meinung, die Urfache fen in dreifachem Sinne zu verſtehen. 
Die erfte Urfache fey die Materie felbft, ohne welche nichts 
hervorgebracht werden kann; die zweite der Meifter; die 
dritte die Form, welche jedem Werke, wie einer Bildfäufe, 
gegeben-wird. Diefe nennt Ariſtoteles eidog. Noch kommt, 
fagt er, ein Viertes Hinzu, der Zweck des ganzen Werkes. 
Ich will dieß näher erklären. Won Au Buster ss 
erffe Urfache das Erz; denn fie wäre A F 
wicht dasjenige vorhanden geweien wie, NIE 


1658. Eeneca's Briefe. 


oder geformt ward. Die zweite Urfache ift der Känftier: 
denn jenes Erz hätte nie in die Geflalt einer Bildfäule um- 
gefchaffen werden Töanen, Wenn nicht eine geſchickte Hand 
hinzugefommen wäre. Die dritte Urfache ift die Form: denn 
jene Bildiäule wärde nicht den Namen Dorpphorus oder 
Diadumenud führen, wenn ihr nicht gerade diefes Gepräge 
aufgedrückt worden wäre, Die vierte Urfache ift der Zweck 
ihrer Verfertiuung ; deun wäre Fein Zweck vorhanden gewefen, 
fo wäre fie nicht zu Stande gefommen. Der Zweck aber if 
Daajenige, was den Künftler zur Arbeit einlud, was er bei 
derfeiben beabjichtiate. Sein Zweck iſt nun entweder Geld, 
wenn er fen Werk auf den Verkauf verferrigte; oder Bes 
rühmtheit, wenn er arbeitete, um fich einen Namen zu ma: 
hen; oder fein Zweck ift ein religidfer, wennver ein Geſchenk 
in .einen Tempel flifren wollte. Alſo auch dieß ift eine Urs 
ſache, um welcher willen etwas gefchieht. Dover iſt nicht 
etwa ımter die Wifachen eined zu Stande gebrachten Werkes 
auch dasjenige zu zählen, ohne weiches Daffelbe nicht ent 
fanden wäre? Eine fünfte Urfache fügt zu diefen noch Plato 
hinzu, das Urbild, was er felbft die Idee nennt; fie ift 
dasjenige, was der Künftter bei Ausführung des beabſichtig⸗ 
ten Werkes vor Augen hatte. Es thut nichts zur Sache, ob 
diefes Urbild, anf welches er feine Blicke heftet, ih außer 
ihm ſelbſt, oder in ihm_ befinde, d. h. von ihm felbfl ges 
ſchaffen und fi) vorgeſtellt. Diefe Urbilder aller Dinge bat 
die Gottheit in fih; der götttiche Geiſt begreift Zahl und 
Maß aller zu fchaffenden Dinge; er ift voll von jenen For⸗ 
zen, welche Plato die unendiichen, unwandelbaren, umners 
khöpfichen Ideen nennt. So vergehen ywar tie Meulchen; 


Fuͤnfundſechzigſter Srif.e. 1659 


aber die Menſchheit ſelbſt, nach weicher der einzelne Menfdy 
gefchaffen wird, bleibt; und, indem die Menfchen kämpfen 
und fterben , erleidet jene nichts. — Rad) Plato gibt es alſo 
fünf Urfachen der Dinge: dasjenige, aus was, dad, durch 
was, das in was, das nad) was, und dag, wegen deflen 
Etwas, entfieht: hierzu kommt endlich dasjenige felbit, was 
aus diefen Urfahen zu Stande gekommen. So iſt an der 
Bildfäule — weil ich num einmal idiefes Gleichniß gewählt 
habe — das „aus was: Metall; das „durch was:“ der 
Künftler; das „in was:“ die Form, die ihr gegeben wird> 
dad „nach was:“ das Urbild, weiches der Verfertiger nadys 
ahmt; das „wegen deſſen:“ der Zweck der Arbeit. Was 
dus diefem allem entfteht, ift die Bildfäute ferbft. Alles 
dieſes hat, wie Plato ſagt, auch die Welt: einen Werkmeis 
fler, biefer ift Gott; Etwas, woraus fie wird, dieß iſt die 
Materie; eine Form , diefe iſt die Geſtaltung und Einrich- 
- tung der Welt, wie wir fie vor uns fehen; ein Urbitd, nach 
. welhem Gott‘ diefed prachtvolle AU erfchuf; einen Iwed, 
um deffen willen er es erfchuf. Du fragft, was Gottes Zweck 
fm? Das Gute. So fagt wenigftens Plato: „Welche 
Urſache Hatte Gott, die Welt zu fchaffen? Gott ift gut; in 
dem Guten aber ift Feinerlei Neid: alfo ſchuf er die Welt 
fo gut ald möglich.“ 

Halle alfo jest als Schiedsrichter Dein Urtheil und 
fage, wer nach Deiner Meinung das Wahrſcheinlichſte, nicht, 
Wer das Wahrfte Ichre: denn dieſes Liegt fo Koch über ung, 
als die Wahrheit ſelbſt. Jene Maffe von Urfadhen, die 
Ariftoteles und Plato annehmen, enthält entweder ihrer an 
viele, oder zu wenige. Denn vwornn Ar fir Kueiitiutr Sb 


ur 


1660 Seneca’s.MBriefe. 


Dasjenige erflären, ohne welches ein Ding nicht zu Stande 
kommen kann, fo haben fie -zu wenige angenommen. -Gie 
müßten unter die Urfachen auch die Zeit feben; nichts Eann 
ohne Zeit gefhehen: — chen jo den Raum; wenn es nichts 
gibt, wo Etwas gefchehen fol, fo kaun es nicht geſchehen: — 
ferner die Bewegung’; ohne dieſe entſteht und vergeht nichts; 
ohne fie gibt es Feine Kunſt, Feine Ihätigkeit. Wir haben 
vielmehr eine erfte und allgemeine Urfache aufzufuchen: diefe 
muß eine einfache jeyn; denn die Materie iit auch einfach. 
Fragen wir nun, welche ift diefe Urfache ? die wirkende Ders 
nunft, d. h. Bott. Alles jenes Einzelne, was wir aufger 
führt haben, ift nicht eine Anzahl wirklicher Urſachen, ‚fon 
‚dern Alles hänge von einer einzigen Urfache, nämlich ber 
- wirkenden, ab. Die Form, -fagft Du, ſoll eine Urſache 
seyn Allein der Meifter gibt fie dem Werke: fle ift ein 
Theil, nicht die Urfache ſelbſt. Auch das Urbild ift nicht 
die Urfache, fondern ein der Urfache unentbehrliches Werk⸗ 
zeug. Das Urbitd iſt dem Künſtler eben fo unentbehrlid, 
als fein Meißel und feine Zeile: ohne diefe Bann fein Kunft: 
‚ were nicht fortfchreiten, und gleichwohl find fie nicht Theile 
„befjelben oder Urfachen. Der Zweit, fagt man ferner, um 
defien willen ein Künftler eine Arbeit beginnt, iſt eine Urs 
ſache. Mag er fo heißen; doch ift er wicht Die-.wirkende, 
fondern eine Nebenurſache. Solche aber gibt «8 unzählige; - 
wir fragen hier nach der alfgemeinften. Wenn Jene übrigens 
das Weltganze, das vollendete Wert felbit, eine Urſache 
nennen, fo ift dieß nicht mit ihrer gewohnten Genauigkeit 
gesprochen: denn es iſt ein großer. Unterfchied zwifchen dem 
Werte yub ber Urfache des Werkes. 


2 


Zünfundfechgigfter Brief. 1661 


Hierüber fprich. entweder Dein Urtheil, oder -- was -in 
focchen Dingen das Leichtere ift — erkläre, Du fenft mit 
Deiner Anſicht noch nicht im Reiuen, und verweife mich auf 
ein Andermal. — „Allein,“ höre ih Dich fagen, „wie 
kann es Div. Vergnügen machen, Deine Zeit mit Dingen zu 
vertreiben , welche Di von feiner Deiner Yeidenfchaften 
defreien, keine Deiner Begierden verbannen t’' -- Aller⸗ 
dings betreibe ich alles Dasjenige auerft, wodurch das Ge: 
müth zur Ruhe kommt; zuerit erforfche ich mich, hierauf 
diefe Welt. Aber auch die gegenwärtige Beſchäftigung ift 
Bein Zeitverderb, wie Du meinft. Arten folche Unterfuchune 
gen nur nicht ing Kleinliche und in zweckloſe Spisfukigkei: 
sen aus, fo erheben und befchwingen fie den Geift, der, von 
feiner fchweren Bürde gedrüdt, ſich loszumachen uud zu 
jenen Wefen wieter zurüdzufehren wünſcht, zu benen er 
gehörte. Diefer Leib ift des Geiſtes Laſt und Strafe: er 
drückt ſchwer auf ihn amd hält ihn in Banden, wenn nicht 
Die Philofoghie herzutritt, und ihn an dem Schaufpiel ber 
Natur ich erholen läßt, und von dem Srdifchen zum Gött⸗ 
lichen emportebt. Dieß iſt feine Freiheit, feine Erloſung: 
.er entzieht ich zumeilen feiner Haft und erneuert ſich durch 
Bas Himmtifche. Künftfer, deren Augen bei ungünfligem 
und ſpärlichem Lichte auf irgend einen feinen Gegenfland 
fidy geheftet, und. bie zur Ermüdung angeftrengt haben, gehen 
ins Freie und erholen ihr Geſicht an irgend einem der öffent- 
lichen- Unterhaltung gewidmeten Orte ın vollen Lichte: fo 
ſucht auch unfer, in diefe düftere und dumpfige Behaufung 
-eingefchloffener. Geift, fo oft er kann, das Freie, und rupt 
aus in der Befchauung der Natur, ‚Der Melk, ut wer was, 


662° Eeneca's Briefe. 


Weisheit firebt, iſt zwar an feinen Körper gebunden; aber 
mit feinem befferen Theile ift er ferne von ihm, und Hält 
feine Gedanfen auf das Höhere gerichtet. Das Leben ik 
ihm ein Kriegsdienft, zu dem ihn gleichem ein Fahneneid 
verbindet: er ift in einer foldyen Faſſung, daß er das Leben 
nicht liebt, und nicht haft, und Menfchliches ſich gefallen 
läßt, wiewohl er weiß, daß es noch ein Beſſeres gibt. Du 
wilft mir die Betrachtung der. Natur unterfagen., mid, von 
dem Ganzen abziehen, und auf den Theil befchränten? Id 
fol nicht fragen, was der Anfang ded Ganzen, wer der 
Bildner aller Dinge fey ? wer die in eine einzine, chaotifche 
and träge Maffe Jufammengeworfenen Grundftoffe gefondert 
habe ? ‚nicht fragen, wer ter Werkmeifter diefer Weit ſey, 
wie Geſetz ımd Ordnung in diefes ungehenre Ganze gebracht, 
wer das Zerftreute gefammelt, dad Vermiſchte andgefchieden, 
dem Todten und Geftaftlofen Leben und Form gegeben habe? 
aus. welcher Quelle diefe große Lichtmaffe firome? ob «6 
Feuer oder etwas noch Helieres fey als Feuer? Ich fol 
nach diefem Allem nicht fragen, fol nicht wiffen wollen, von 
wo ich hieher gekommen? ob ich diefe Welt einmal oder 
mehrmals erbliden fol? wohin ich von hier gehen werde? 
weicher Aufenthalt meine Seele erwarte, wenn fie von dem 
Geſetze diefer Knechtſchaft entbunden feyn wird ? Du will 
mir’s wehren, im Himmel einheimifc au fenn, d. h. ich ſoll 
gefenkten Hauptes leben? Nein, ich bin größer, unb zu 
Größerem geboren, als daß ich ein Sclave meines Körpers 
fenn könnte, den id) nicht anders betrachte, denn als eine 
Feel, meiner Zreiheit angelegt. Ihn gebe ich dem Schick⸗ 
ſale preid, damit ed anf ihn ſich beiährönte vod durch ihn 


Funfundſechzigſter Brief. 1663 


indurch laſſe ich Peine Wunde bis zu mir felbft dringen. 
Bas an mir Schaden leiden Bann, iſt nur diefes; in diefem 
erftörbaren Haufe wohnt die Seele frei. Nie foll mich dies 
es Tleifch zur Furcht, nie zu einer des edeln Mannes 
würdigen Verftelung vermögen; nie werde ich diefem elen⸗ 
en Leibe zu gefallen die Unmwahrheit fprechen. Ich werde, 
venu id) es für gut halte, die Gemeinfchaft mit ihm auf: 
Men; und aud) jetzt, fo fange ich mit ihm zufammenhänge, 
nd wir nicht zu gleichen Rechten verbündes; der Geift ſpricht 
a allen Stüden den Vorzug an. Seinen Leib verachten, iſt 
ie gewiffe Freiheit. 

Und diefer Freiheit — um auf meinen Gegenftand zu⸗ 
Adzutommen — ift ganz befonders eine Betrachtung förder⸗ 
ch, wie die fo eben befprocene. Die Materie und Gott 
tachen die Gefammtheit der Dinge aus. Gott regiert bie 
Beit, Die ihn als ihren Beherricher und Führer umgibt und 
bar folgt. Das Wirkende, nämlich Gott, ift das Mädhtigere 
nd Beflere, ald die Materie, welche Gott gehordit. Was 
Bott in der Melt, ift der Geift in dem Menfchen; was dorf. 
ie Materie, ift an uns der Leid. Alſo fey dem Beſſeren 
as Geringere unterthan; wir feyen mächtig gegen des Schicks 
sis Macht, und zittern nicht vor Mißhandlung, Wunden, 
beten und Armuch! Der Tod ſelſt ift entweder das Ende, 
der ein Uebergang. Ich fürchte mich nicht, zu enden; den 
6 ift eben fo viel, als nicht angefangen zu haben. Ich 
ürchte mich nicht, Üüberzugehen; denn ich werde nirgends fo 
nge wohnen. 


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