6. Jahrgang Juli 5. Heft
DER AUGARTEN
Zeitfchrift des Wiener Dichterkreifes
Herausgeber: Jofef Weinheber
Kauptfchriftleiter: Edmund finke, Wien 13, Vinzenz Heßgaffe 15
Verleger: Augartenverlag Stephan S3abo
Die Z3eitfchrift erfcheint monatlich
Zuſchriften und Einfendungen find an den Verlag zu richten. Für underlangt
eingefendete Manufftipte übernehmen wir feine Berantivortung. Nachdrud verboten.
Bezugspreis RM 10.— jährlich, Einzelheft RM 1.—.
Inhalt: au
Egon Cäſar Eonte Corti, Welthiftorifche Randbemerkungen. ... 193
EIMUNDSINTEH Jonggggg N Re et ee eek se Tee 198
Anton von Maifly, Erinnerungen an Anaftafius StÜin . - » » 2: 2 2 22.2. 199
RS HEINSDONN SM OTZTE TORE 2.204
ASTIEOLICHHOCCHEN LSJLETSHILTITINEITEN INT Er a 205
Man anen,nBoltsmarcchenausnden Steleumart an. 211
DIUSLRIDDIORSETLET AS EEE 2
Dr. Egon Fenz, Zur Lautdeutungslehreee 2.2.0. N ——
SSTIEOLICHERDINTELMUNIET, 88ßßſſ 222
Franz Joſef Schicht, Anbekannte Anekdote aus dem Leben Franz Grillparzers 223
ofen, Brandler, Jet. verlotenenSoHte Er re RT.)
Rudolf Kremfer, Der Mythos der Antite . .... u AR cs 226
Derfaimundpteisnnen 229
Kleine Beittäger cn ea re 11 232
Buchbeſprechiigßg Rad 1 ee er 234
Eigentümer und Verleger: Augartenverlag Gtephan Gzabo, Wien 2, Antere Augartenfirabe 30;
Sernfprecher 21 46-2-34. Für den Inhalt verantwortlich: Gtephan Gzabo d. J. Wien 8, Lederer-
gaffe 17. Für den Anzeigenteil verantwortlich: Franz Gzabo, Wien 19, Eichendorffgaffe 1; derzeit ift
PBreislifte 2 gültig. Drucd bon Gtephan Gzabo, Wien 2, Anter
°
er
Erinnerungen an Anaſtaſius Brün
Don Anton von Hailly
Durch einen mütterlichen Bruder, der eine Lieblingsnichte des Grafen
Anton Auerſperg, Baronin Marie Gchweiger-Lerchenfeld, zur Frau
hatte, jtand meine Familie in einer wenn auch entfernten Beriwandtjchaft
zum Dichter. Meben einigen belanglofen Familienbriefen befinden fich
in meinem Befige auch einige recht mette Zeichnungen der Frau des
Dichters, die eine vortueffliche Malerin war, und feiner Schweſtern
Nina (Ama) und Sophie. Eine Gcehivefter meiner Mutter, Tante
Thereſ', Hatte den Dichter perjönlich gut gefannt und da fie lange
bei jeiner Michte Marie gelebt hat, hatte jie Gelegenheit, viel über ihn
und feine Familie zu erfahren. Kam Tante Theref’, die echte Reifetante
der Giebzigerjahre, über den Winter zu ung nach, Götz, unterhielt
fie ung in ihrer ſympathiſchen Biedermeierart mit allerlei Eindrücken
und Grlebnifjen bei den Beriwandtfchaften in Bettau, Laibach, Marburg
‚und Graz, und jo vergaß fie auch nicht, ung über Maſtaſius Grün
zu erzählen, der damals noch zu den bedeutenöften Dichtern gerechnet
wurde.
Wir wohnten in Görz in einem alten barocken Haufe, in deſſen Flur
eine lateinifche Inſchrift in Erinnerung an den in Dalmatien ermordeten
Strafen Rabatta angebracht ivar. Unſer Hof war der Reit einer Baftei
und über den überwölbten Staötgraben jpann jich eine alte Brücke,
die in den jchön gepflegten Barf der „Frau Baronin” führte. Diefer
Barf war das Güditalien meiner Jugend. Da gediehen die herrlichiten
Lorbeer- und Buchsbäume, mächtige Platanen, Magnolien und Kaſto—
nien, jchlanfe Zypreſſen und feltene Fächerpalmen. Das Zimmer der
Tante hatte die Aussicht auf dieſe italienische Herrlichkeit, und denke
ich an die Tante zurück, jo ſchwebt mir in meiner Erinnerung immer
twieder das winterliche Bild diejes entzüchenden alten Parkes mit
feinen herrlichen Bäumen und bunten Blumenbeeten, feinen idylliſchen
Tempelchen, Grotten, griechifchen Göttern und Ghringbrumnen vor.
Tante Therej’ war eine gejcheite, Fuge Frau von geradezu phäno—
menalem Gedächtmiffe, jchrieb jeden Gomntagnachmittag zehn bis fünf-
zehn Geiten lange Briefe an die liebe Verwandtſchaft, betrieb fleißig
Seheimmedizin und Homöopathie und war von rührender Fürſorge um
unfer aller Wohlergehen. Wie eine Märchenfrau hatte fie die Gabe,
in geheimnisvoller Weiſe ihre vielen Eindrüce in der Fremde zu er-
zählen, die für ung Kinder unendlich weit war. Es ift umfo erflärlicher,
daß wir in der Gtille der Kleinjtadt ihre Anweſenheit befonders in
199
Ehren hielten und wir uns auch, jtets freuten, wenn fie wieder etwas
Feſſelndes aus dem Leben Maſtaſius Grüns zu erzählen wußte. Ich
fann mich an viele intime Familiengefchichten noch lebhaft erinnern,
die eine treffende Charafteriftif zur Weſenheit des Dichters geben,
die aber verjchiviegen bleiben mögen. So manche diefer eindrucksvollen
Epiſoden fand ich in veiferen Jahren im befannten Schlüffelroman
„Die Exkluſiven“ von Edith Galburg beftätigt. Edith Salburg-Falfen-
jtein lernte in Graz den jteirifchen Landadel näher fennen und hatte
daher reichliche Gelegenheit weniger erbauliche Familiengefchichten der
Strafen Auerſperg zu erfahren, die fie in einer wenig ſympathiſchen,
rückjichtslofen Weife dichterifch zu. veriverten verjtand. Auch in den
Erinnerungen des Laibacher Gchriftjtellers Peter v. Radies „Alna-
ftafius Grün, Verfchollenes und Vergilbtes“ (Leipzig 1879) entdeckte
ich beachtensiverte Beiträge zur Zamiliengejchichte des Dichters, die mir
aus den Erzählungen meiner Zante ebenjogut befannt waren. Für feine
biographijche Einleitung zu den Werfen Anaſtaſius Grüns hat Bro-
feffor Anton Schlofjar in Graz des Dichters Lieblingsnichte zu Rate
gezogen, jo daß ich, hier auch einige in meiner Jugenözeit erlaufchte _
Sefchichtehen wiederfand.
Wohl die einörucsvollite Gejchichte von Tante There’ war für
mich; jene von der Wiege des Dichters. Ich habe dieſe jeelenvolle
Geſchichte in einem Aufjfage von Guido Graf Auerfperg in der
Wiener Neuen Freien Preſſe aus dem Fahre 1905 zum erjtenmall
gedruckt gefunden. Bis dahin war, ſoweit ich wenigjtens unterrichtet
bin, dieje Wiegengefchichte nur in Verivandtjchaftsfreifen befannt.
Sch gebe jie in der Faſſung ivieder, wie fie uns Tante Theref’ oft
und oft an langen Winterabenden erzählt hat, wenn die Bora um das
Haus am Görzer Stadtgraben tobte.
Der Bater des Dichters, Graf Maria Alerander Auerjperg, ver-
liebte fich in feinen jungen Jahren in ein armes Mädchen, das mit
feiner Mutter ein Häuschen in der Nähe des Schloſſes Thum am
Hart bewohnte. Die jungen Leute trafen jeden Abend unter einer
alten Eiche zufammen. Als die Eltern Aleranders von jeiner heim-
lihen Liebe erfuhren, machten jie ihm große Vorwürfe und be-
ftimmten, wie es damals in Wdeisfveijen noch üblich war, eine ihm
ebenbürtige Braut, mämlich Baronin Gäkcilia Billichgrätz, von der
uns Tante Thereſ' immer wieder verjicherte, fie jei Feine jchöne,
aber eine gejcheite Frau geweſen. Zür Alexander gab es num ſchwere
Stunden, ehe er ſich zu einer Trennung don feiner echten Liebe ent-
jchließen konnte. Aber fehließlich mußte es doch fein! Noch einmal
fam er wie zum Abjchied mit dem Mädchen unter der Eiche zu—
200
fammen — eg joll am Abend vor feiner Verlobung geweſen fein —
und da ſprach die Berlaffene den Wunſch aus, er folle die alte Eiche,
den einzigen Zeugen ihrer Liebe, fällen und daraus eine Wiege für
feinen Exftgeborenen zimmern lafjen. Das Mädchen ſoll jodann, um
alles zu vergefjen, in die Fremde gezogen fein. Aexander blieb feinem
Berfprechen treu. Ein Jahr darauf Tag in der aug der alten Liebes-
eiche gezimmerten Wiege fein erjtgeborener Anton.
Beim Berfauf des Stammjchlofjes der Auerjperg - Thum am Hart
wurde von den Erben mit dem Käufer vereinbart, daß bei einem meuer-
lichen Berfaufe des GSchlofjes das befannte Anaftafius Grün-Zimmer
in dag Eigentum des Mufeums der Stadt Laibach übergehe, was
auch 1910 gefchah. Dort wird die Wiege des Dichters aufbeiwahtt.
Gie ift von einfacher Bauart uno mit chriftlichen Heilszeichen und
fogar mit einem Pentagramm verfehen. Da ung Tante Thereſ' wieder-
‚holt beteuerte, daß die rührende Wiegengefchichte auf Wahrheit be-
ruhe, wäre daher die Frage aufzumwerfen, wie das bejcheidene Land-
mädchen auf dieſen ſeltſamen Gedanfen gefommen fei? And das ft
nicht ſchwer zu erflären. Die Wiegengefchichte enthält nämlich ein altes
GSagenmotid, das dem Mädchen aus der VBolfsüberlieferung ziveifellos
befamnt war. Das Motiv, aus einem Baum eine Wiege für den Er-
löſer ufiv. zu zimmern, ſtammt aus der mittelalterlichen Legende vom
Kreuze Ehrifti. Daß hier der uralte Glaube an den Animismus der
Natur mitjpielt, aljo die mitfühlende Zeimahme des Baumes an
Menſchenſchickſalen, ift ebenjo felbitverjtändlich.
Tante Theref’ jchilderte Anaftafius Grün als einen anjonften ernjten
gelehrten Mann, der auch gejellig fein konnte. Mit Vorliebe jprach
er mit jeltener Rhetorif über Dinge, die ihm naheftanden. Diejer
„dozierende Profeſſor“ Fonnte übrigens auch ironisch fein und fein
Garfasmus, der an VBerbitterung grenzte, traf bejonders jene Leute,
die ihn jeharf angriffen. Auffallend an ihm ivar feine geradezu pedan-
tifche vechtliche Gefinnung. Ein Eharafter durch und durch, pflegte er
jedem die Wahrheit zu jagen, weshalb er auch jtarf angefeindet wurde.
Geine freiheitliche Geſinnung, die er in feinen dichterifchen Ergüſſen
merklich zum Ausdruck bringt, hat den Dichter, der nach feiner Ab—
itammung den bevorrechteten Ständen angehörte, bei der Regierung
unbeliebt gemacht. Die heitere Gefchicehte von der jpanifchen Wand
bei Metternich, die, wenn ich nicht irre, auch Nofegger in feinem
Tagebuch; aufgezeichnet hat, Habe ich auch von Tante Thereſ' ge-
hört. Grün, der ſich über feine Gegner geme luftig machte, jorgte
felbſt für die Verbreitung diejes heiteren Erlebniſſes. Kanzler Metter—
nich ud 1838 den Dichter zu einer vertraulichen Anterredung ein.
201
Im immer des Kanzlers fiel Grün neben jeinem Gchreibtifche auch
eine große jpanifche Wand jofort auf, die übrigens auch auf einem
Holzichnitte aus der Zeit zu jehen ift. Der Kanzler warf ihm feine
viel zu freijinnige Denfart in feinen Dichtungen vor, worauf ihm Grün
erwiderte, er habe die grundlojen Berfolgungen der Bolizei ſchon jatt,
weshalb er auszumandeın gedenfe. Während diejfer Anterhaltung
machte ſich hinter der ſpaniſchen Wand ein Geräufch bemerfbar, das
der Dichter wohl gehört, aber nicht weiter beachtet Hat. Als nach der
Audienz der Dichter im VBorzimmer jeinen Überzieher anziehen wollte,
bielt ihm der Amtsdiener einen fremden vor, worauf ſich der gute
Mann jofort entjchuldigte: „Ach, pardon! Sch Hab’ dem Grafen
Sedlnitzky jeinen eriwijcht!” Nun erinnerte ſich Grün des Geräufches:
binter der Spanischen! Der befannte Bolizeichef von Wien hatte näm-
lich im Auftrage des Kanzlers das Geſpräch belaufceht und der
ahnungslofe Amtsdiener verriet dem Dichter diefes große Amts—
geheimnis.
Anaftafius Grün war vor feiner 1839 jtattgefundenen Heirat mit
Marie, der Tochter des Landeshauptmannes Grafen Attems, zwei—
mal jo recht verliebt. Als er noch; Zus in Graz jtudierte, hielt er ich
gerne in feinem Familienhauſe in Saibach wegen der jchönen Tochter
des Baron Anton Godelli von Fahnmenfeld auf, der damals daſelbſt
eine höhere VBerwaltungsitelle befleidete. Die Familie Codelli gehörte
dem Friauliſchen Landadel an und war früher einmal jehr vermögend,
wie ihre Görzer Gtiftungen erkennen lajjen.
DBaronin Codelli wollte jedoch von einer Verbindung ihrer Tochter
mit dem jungen Grafen Auerſperg nichts wiffen, weshalb es zu einer
Trennung der jungen Leute fam. Baroneſſe Godelli iſt des Dichters
„weiße Roſe“ geblieben. Er dürfte dieſes Mädchen bejonders tief
geliebt haben, denn dag Roſenmotiv fommt nicht nur in feiner Wid-
mung „Weiße Roſe“, jondern auch in anderen Gedichten merflich zum:
Ausdruck. Dazu könnte man ſich jeinen Spruch: „Zog Einer je durchs
Alpenland, der dort nicht feine Rofe fand?” als Leitmotiv denten.
In den „Blättern der Liebe“ und in „Lied und Leben“ taucht immer
wieder die Gejtalt jeiner erjten Liebe auf. Diejen Liebesfchmerz juchte
Auerjperg mit einigen Gpottgedichten zu überwinden, wie etwa in
der Gatire „Böfer Streich” und im Liede „Bring’ mir, Knabe, Pfeif”
und Knaſter“. In den „Blättern der Liebe” aus der Zeit von 1825
bis 1829 deuten die Gedichte „Neue Liebe”, „Zweite Liebe“, „Der
imbejtändige“ und moch andere auf eine ziveite Liebesperiode des
Dichters hin. Man vermutet, daß es jich um eine Herzensneigung zu
jeiner Kuſine Emilie, der Tochter des Grafen Niklas von Auerſperg
202
auf Schloß Mokritz, gehandelt Hat, die, faum 21 Fahre alt, 1838 ge-
ſtorben ift.
der die Ehe des Dichters wußte uns Tante Therej’ wenig Er—
bauliches mitzuteilen, wenn auch jene Biographen das Gegenteil be-
haupten. Das anfangs zärtliche Verhältnis des Dichters zu feiner
reizenden Frau trübte fich nach Jahren und nur die gegenfeitige Dul-
dung, wie jie in ſolchen Kreifen jchon einmal üblich var, verhin-
derte eine Trennung der beiden. Grün wußte ſich mit jeinen Studien zu
tröften und dann ging er viel auf Reifen. Beſonders glücklich fühlte
er ſich unter jeinen Wiener Freunden im „Silbernen Kaffeehaus“, beim
„Stern“ ujiv., wo er jich vor allem Nikolaus Lenau anfchloß, wes—
bald wir ihm auch den äußerst wertvollen Beitrag zur Biographie
diejes Dichters zu verdanfen haben. Er fuhr auch gerne nach Gtutt-
gart, wo ihm unter den Gchivaben befonders Ludtvig Uhland nahe-
ftand. Zudem förderte er als politifcher Dichter den geiftigen und kul—
turellen Aufſchwung der Deutfchen in jeder Hinficht durch Wort und
Schrift.
Nach einer neunzehnjährigen Ehe wurde dem Dichter im Jahre
1858 ein Gohn, namens Theodor, geboren, was allerdings in ein-
geiveihten Kreijen feine bejondere berrafchung bot. Nach dem Tode
Grüns wurde ein VBerivandter, wenn ich nicht irre, ein Baron PBas-
cottini, zum Vormund Theodors bejtimmt. Als Theodor einmal eine
größere Reife unternahm, mußte er ein Tejtament verfafjen, dag
jchlieglich der. Familie zum Verhängnis wurde. Gein größtes Ver—
gnügen waren die gewagtejten NReiterfunftftücte. Bei einem Graben-
überſprung ftürzte er mit jeinem Pferde in die Böſchung. Das auf
ihn follernde Pferd drückte ihm die Bruftfnochen ein, fo daß der
faum 23jährige junge Mann im Sahre 1881, ein Jahr nach, dem
Tode jeiner Mutter, an ſchweren inneren Verletzungen verfchied.
Thum am Hart, dag Lieblingsjchloß des Dichters, Fam an die
Houptlinie der Auerſperg in Krain und wurde bald darauf verfauft,
tags der übrigen Verwanötſchaft fehr zu Herzen ging. Dies alles und
jo manches andere, das mir mitzuteilen erfpart bleibt, hat Gräfin
Galburg in ihrem Roman gefchildert. Zur ganzen Tragif diefes Fami—
lienſchickſals muß man unmillfürlich an Grüns fchönen Vers in feinem
Gedichte „Der legte Dichter” denken:
„And jimgend einst und jubelnd,
Durchs alte Erdenhaus
Sieht als der letzte Dichter
Der legte Menſch hinaus.“
203
f x N
6. Jahrgang April 2. heft
DER AUGARTEN
zeitfchrift des Wiener Dichterkreifes
Kerausgeber: Jofef Weinheber
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EOLEFLRDEINHEDETFHETSERHULITIUSENE 10 2 ra a re ee 49
SUEDTLHROAHENEZIITTLELITENE DL Er ee —66
Anton vo. Mailly, Die Wiener Märchengefellfchaft - - =»... 2... ne... 66
Zudivig Tügel, Die Dichtung als Geftalterin volfhafter Lebensordnungen . . . 75
Friß STÜDEEN.DIELOFUTENI HL. 1 a Re A rehle C e e ar ER ‚89
Theater und Film . DERART NEED CR Ro RE Ol an ln 28.) 6 90
Büchbeſprechiggeeegegegee 94
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83K 66252,
Die WBiener Märchengeſellſchaft
(Ein Beitrag zur Grimm⸗FSorſchung)
Don Anton v. Maillu
Wenn auch mythologiſch beeinflußt, hat Wilhelm Grimm in feinen
DBorreden zu den „Kinder- und Hausmärchen“ und zu den „Deutjchen
Sagen” jchon jene Richtlinien vorgezeichnet, die jpäteren Forſchern für
die Auslegung der Märchen- und Sagenmotive ſehr zujtatten famen.
Auch in der „Heldenjage“ (1835) jpricht fich Wilhelm Grimm zu diefer
Frage weiter aus. In feinen „Rechtsaltertimern“ (1828) enthüllt Safob
Srimm die Herkunft vieler Öunfler, alter Gewohnheiten und Bräuche,
womit eigentlich die Anterſuchung über Herfunft und Arſprung deg
großen Kreijes der NRechtsaltertimermotive in Sage und Märchen einen
fejten Boden geivann, den man aber leider in der Folge viel zu wenig
beachtet hat, weil man die Duelle rätjelhaften Bolfsgutes vor allem nur
in der Müthologie zu finden glaubte.
Die Brüder Grimm famen auch auf den Gedanken den Verſuch einer
vergleichenden Anterſuchung der Märchen- und Gagenmotive der ver-
jchiedenen Bölfer zu unternehmen, ſoweit dies zu ihren Zeiten überhaupt
möglich ivar, was fie legten Endes ermunterte, mit einer regen Sammel-
tätigfeit der Ilberlieferungen der europäischen Völker zu beginnen, waos
dann auch überall Nachahmung fand.!) Die Anhänger und Nachfolger
der Brüder Grimm in der Anterſuchung über den Urſprung des Bolfsgutes
haben dieſe Anregungen viel zu wenig beachtet. Man hielt jich in den
Auslegungen viel zu jehr an die Mythologie und jo blied man noch
jahrzehntelang bei den Deutungsverjuchen der mythologiſchen Schule
ſtecken und verfing jich vielfach in phantaſtiſchen Gpefulationen, die
jchlieglich eine ſyſtematiſche Anterſuchung geradezu verhindert haben.
Auch die Anhänger der Philologifchen (linguiſtiſchen) Schule wagten
fich nicht über das Gebiet ihrer Mutterfprache hinaus und hielten ich
in ihren Deutungsderjuchen vielfach an die mythologiſche Schule. Gie
liegen ſich auch nicht zu der Anficht befehren, daß gewiſſe Zuſtände,
mythiſche und phantajtiiche Bilder und überlieferte Erzählungen jelbjt-
ftändig an verfchiedenen Orten entjtehen fünnen, jobald bejtimmte gleiche
Vorausſetzungen in Sitte, Brauch und Denfart ufiv. gegeben find, Be—
dingungen, auf die jchon Wilhelm Grimm in der Vorrede zur 2. Auf-
lage des dritten Bandes bejonders hingewiefen hat: „Die Lberein-
jtimmung mit fremden, durch Zeit und Ort oft weit getrennten Aber—
1) Bolte-Bolivfa, Anmerkungen zu den Kinder- u. Hausmärchen d. Br. Grimm. *Zeipzig 1913—18,
1930. Brüder Grimm, Kinder- u. Hausmärchen 3. Bd.
66
lieferungen ift jorgfältig angezeigt, indem foir auf diefen Amſtand, eben
weil er nicht leicht zu erklären ift, wohl mit Recht Gewicht legen. Man
wird hie und da eine unmittelbare Mitteilung vermuten, vielleicht wahr-
fcheinlich machen können, in den meijten Fällen jedoch nicht und dann
bleibt die Erfcheinung unerflärt und nicht minder auffallend.”
Wilhelm befchäftigte fich übrigens weiter mit diefem Problem und
Örückt fich in der 3. Auflage der Märchen vom Fahre 1856 darüber
ſchon flarer aus: „Die Llbereinftimmung zwifchen Märchen und Zeit
und Entfernung weit getrennter nicht minder als nahe aneinander gren-
zender Völker beruht teils in der ihnen zugrunde liegenden Idee und
der Darjtellung bejtimmter &haraftere, teils in der bejonderen Ver—
flechtung und Löjung der Greigniffe. Es gibt aber Zujtände, die jo
einfach und natürlich find, daß fie überall wiederkehren, wie es Ge—
danfen gibt, die jich wie von ſelbſt einfinden; es fonnten jich daher
in den verjchiedenen Ländern diejelben oder doch jehr ähnliche Märchen
unabhängig voneinander erzeugen; fie find den einzelnen Wörtern ver-
gleichbar, welche auch nicht verivandte Sprachen durch Nachahmung der
Naturlaute mit geringer Abweichung oder auch ganz übereinjtimmend
berborbringen.“
Wilhelm verjucht diefen für die Forſchung Äußerjt wichtigen Ge-
danfen des weiteren an der Hand von Mtotivenbeijpielen zu erläutern
und gibt dazu treffende Begründungen, die man fpäter auch als richtig
erfannt bat: „... Wo noch gejicherte, herföümmliche Drönung und
Sitte des Lebens herrſcht, wo noch der Zufammenhang menfchlicher Ge-
fühle mit der umgebenden Natur empfunden und die Vergangenheit von
der Gegenivart nicht losgerifjen wird, da dauern fie fort. ... Gemeinjam
allen Märchen jind die Aberreſte eines in die ältefte Zeit binauf-
teichenden Glaubens, der fich in bilölicher Auffaffung überjinnlicher
Dinge ausjpricht. Dies Mythiſche gleicht Flemen Gtücen eines zer-
iprungenen Göeljteines, die auf dem von Gras und Blumen über-
wachjenen Boden zerjtreut liegen und nur von dem fchärfer blicenden
Auge entdeckt werden. Die Bedeutung davon iſt längjt verloren, aber
fie wird noch empfunden, und gibt dem Märchen feinen Gehalt,
während es zugleich die natürliche Luft an dem Wunderbaren befrie-
digt; niemals find fie bloßes Farbenfpiel gebaltlojer Bhantajie. ...
Man wird fragen, ivo die äußeren Grenzen des Gemeinfamen bei den
Märchen beginnen und wie die Grade der Berivandtichaft jich abjtufen.
Die Grenze wird bezeichnet durch den großen Volksſtamm, den man
den indogermanijchen zu nennen pflegt, und die Ber wandtfchaft zieht
ſich in immer engeren Ringen um die Wohnfige der Deutfchen, etiva in
demjelben Verhältnis, in welchem wir in den Sprachen der einzelnen
67
dazugehörigen Völker Gemeinfames und Bejonderes entdecken.“
Dieſe anjchaulichen Betrachtungen Wilhelm Grimms erfannte man
eigentlich ziemlich ſpät als die grundlegenden Richtlinien für eine ſyſte-
matiſche Xmterfuchung alten VBolfsgutes. Damit gewann das ver-
gleichende Motivenjtudium der Märchen und Sagen an Bedeutung.
und fo befchränfte man jich nicht nur auf die Anterſuchung des deut-
ichen Volksgutes, fondern zog vor allem auch. die Kulturgeschichte der
übrigen indogermanifchen Völker heran. Man verglich dabei vor allem
die Motive, den Inhalt der Erzählungen und ließ das Sprachliche bei-
feite. Go entjtand die analogijche Schule, die fchlieglich den verbin-
denden Weg zur ethnologifchen Schule gegeben hat. Dieje Schule dehnt
ihre Forſchung grumöfäglich auf alle Völker und bejonders auch auf
die Naturvölfer aus in der richtigen Erfenntnis, daß die meijten Mär—
chen- und Gagenmotive uraltes Kulturgut enthalten. Das alles hat
Wilhelm Grimm jchon voraus geahnt!?)
Friedrich van der Lehen wies in feinen Studien über dag Märchen
nad), daß für die Anterſuchung über Arſprung und Herkunft des Mär-
chens neben der Methode der ethnologiſchen Schule auch die Theorie
des Drientaliften Theodor Benfen als Ergänzung notwendig jei. Nach
Benfen wanderten jeit dem 10. Jahrhundert viele inöifche und morgen-
ländifche Märchen nad) Europa und machen nun auch einen Zeil
unferes Märchenfchages aus. Einige ivenige Märchen jtammen aus
dem äghptifchen, biblifchen, griechifchen und römifchen Altertum. Gelbjt-
verſtändlich darf man diefe Auslegung nicht zu genau nehmen, da viele
orientalifche Märchen- und Gagenmotive aus Gründen, die wir bereits
dargelegt haben, fajt überall zu finden jind.
Wenn auch für die Llnterfuchung des Märchens zum Zeil alte
Kulturbilder, eine magifch-rechtlihe Symbolik, vergejfene Anſchau—
ungen ufiv. in Betracht fommen, jo muß troßdem doch in Berückjichti-
gung gezogen werden, daß Märchen vorzugsiveife durch Wunjchmotive
aufgebaute Phantafieerzeugnifje find, deren Entjtehung aus uralten
Gewohnheiten in den verjchiedenen Ländern unter mehr oder weniger
gleichen Vorausfegungen zu erflären ift.
Die Ausbildung einer uralten Gitte, einer Gewohnheit zum Motiv
einer Erzählung, dann weiter zur phantaftifchen Lrform eines Märchens
macht den Anterſchied zwiſchen Sage und Märchen leicht erflärlich.
Sn der Sage bilden nämlich, fulturhiftorifche Motive das Wejentliche
in der Handlung. Sie enthält hiftorifche Begebenheiten und Anſchau⸗
ungen, oft ſelbſt in romantiſch-phantaſtiſcher Form geſchildert, ohne
Bol. Leyen, Das Märchen. Leipzig 1911; K. Reufchel, Deutfche Volfsfunde. Leipz!g 1920, 1, 124 fz
K. Spieß, Das deutſche Voltsmärchen. Leipzig 1917.
68
dabei die gewiſſe Glaubiwürdigfeit des Volkes einzubüßen und jie läßt
fich, ebenfo leicht wiſſenſchaftlich erflären. Das Märchen hingegen ent-
hält uralte Phantaſiebilder, meijt verbindende Wunfchmotive oder mit-
unter auch bis zur Anglaubwürdigkeit ausgeartete, phantajtijch ver—
zerrte KRultur- und Rechtsbilder, in denen jogar oft eine äußerjt in-
terefjante uralte Symbolif merklich vorialtet.
Befanntlich wurden die Brüder Grimm durch Achim von Arnim
und Elemens Brentano auf das Sammeln des alten deutfchen Volks—
gutes aufmerffam gemacht. Neben den Romantifern in Heidelberg
und Berlin beitand um die Sahrhundertivende ebenfo in Wien ein
großer Kreis von Literaten und Gelehrten, die als Sammler alten
Bolfsgutes eine rege Tätigkeit entfalteten.
Nach Erſcheinen des erjten Bandes von des „Knaben Wunderhorn“
im Sabre 1805 begann Brentano bereits an jeiner Märchenfammlung zu
arbeiten und wurde alsbald mit den Brüdern Grimm näher befannt,
die ſowohl dag Anternehmen des „Wunderhoms” unterſtützten, als
auch Beiträge für Brentanos Märchenbuch aus der Kajjeler Gegend
aufzeichneten. Damit begann eigentlich ihr Meärchenfammeln, dem
fpäter die Gagen folgten. Im Jahre 1810 überjanöte Jakob Grimm
fein ganzes gejammeltes Märchenmaterial Brentano nach Berlin.
Diejer Märchenfchaß, den der unbeftändige Brentano unbenüßt liegen
ließ, tauchte hundert Sahre fpäter in der Bibliothef des elſäſſiſchen
Trappiſtenkloſters Ddenberg auf und ift in den Jahren 1924 und 1926
in Buchform erfchienen. Diefe Handfchrift hatte urjprünglich über
50 Stücke, worunter 26 von Jakob und 15 von Wilhelm Grimm ber-
rührten und die übrigens größtenteils in die im Jahre 1812 erjchienenen
„Kinder- und Hausmärchen“ aufgenommen fwurden.!)
Jakob Grimm, der ſich mit dem Plane einer vergleichenden Mtotiven-
unterfuchung bejchäftigte und damit vor allem eine geeignete Llnterlage
für die weiteren Forjehungen über Arſprung des Märchens und der
Sage bezweckte, gefiel die Ffünjtlerifche Bearbeitung der Märchen und
Sagen von Elemens Brentano überhaupt nicht. Nach einer Fleinen
Spannung mit ihm reifte in Safob der Plan, die Märchen in der
Volksfaſſung ſelbſt herauszugeben.
Am 15. Dezember 1810, als er der ein Vierteljahr zuvor überſandten
Hanoͤſchrift einen inzwiſchen eingelaufenen Nachtrag folgen ließ, fragte
er bei Brentano an, „ob man nicht ein Sournal eröffnen fönnte unter
1) Den ausgezeichneten Ausführungen von Prof. Dr. Johannes Bolte im 4. Bande der Anmer—
tungen zu den Märchen, 421, vielfach gefolgt. Zur Entftehung der Märchenfammlung vgl. auch
die perfünlichen Erinnerungen, die Hermann Grimm in feinem Aufſatze „Die Brüder Grimm
und die Kinder- und Hausmärchen“ mitteilt (Beiträge zur Deutjchen Kulturgefchichte. Berlin 1897,
2145.) .
69
dem Zitel: Altdeutfcher Sammler, worin man nichts aufnähme, als
mündlich aufgezeichnete Sagen der gemeinen Zeute, ohne alle Anmer—
fungen? Traurig iſt es, wie viel Bortreffliches durch längeres Warten
und das Abſterben unferer Generation verloren gehen muß.” Brentano
war damit einverftanden und jchlug eine Verteilung der Handjchriften
an einzelne Sammler vor, um jodann die gefammelten Märchen und
Sagen in Folgen erjcheinen zu lajjen.
Auf Brentanos Erjuchen verfaßte für diefen Zweck Jakob Grimm
am 22. Sänner 1811 eine ausführliche „Aufforderung an die gejamten
Freunde deutjcher Poeſie und Gefchichte”, die wegen ihres Inhaltes
deshalb hervorgehoben zu werden verdient, weil jie die Unterlage des
„Märchenbriefes” bildete, den Jakob Grimm vier Jahre jpäter in Wien
verfaßt hat. Profeffor Johannes Bolte bemerft hiezu mit Recht, daß
diefe „Aufforderung“ in ihrer den damaligen Zeitverhältnifjen voraus-
eilenden Gründlichfeit und wifjenfchaftlihen Schärfe auf Nichtgelehrte
faum verlockend wirken fonnte und durch die Abweiſung aller Be—
arbeitungen und Modernifierungen die Herausgeber von des „Knaben
Wunderhorn” geradezu abfchrecken mußte.
In feiner „Aufforderung“ hebt Jakob Grimm hervor, daß er es
für das Biel feiner Bejtrebungen halte, alle mündlichen Sagen de8
gejamten deutfchen Vaterlandes zu jammeln, alfo alle Traditionen und
Gagen des gemeinen Mannes, mögen fie traurigen oder lujtigen, leh—
renden oder fröhlichen Inhalt haben, auch aus welcher Zeit fie jeien,
mögen fie in fehlichter Form herumgehen oder in bindende Reime ge-
faßt fein, mögen fie mit unferer Büchergefchichte übereinjtimmen oder
ihr tracks zumiderlaufen oder gar in einem anderen Ginn jich als un-
gereimt darjtellen ... ganz bejonders die Märchen der Ammen und
Kinder, die Abenögefpräche und Spimnjtubengefchichten ... alles höchjt
getreu, buchftabentreu aufgezeichnet, mit allem dem jogenannten An—
finn, welcher leicht herauszufinden, immer aber noch leichter zu löſen
ift als die Fünftlichjte Wiederherftellung, die man jtatt feiner verſuchen
wollte. Die Aufzeichnung ſoll in Mundart, Redeweife und Wendung
des Erzählenden gejchehen, jelbjt wo jolche fehlerhaft und ſich gegen
die Regeln verfündigend erfchienen, welche zum großen Glück unferes
freien Sprachjtammes felber noch feinmal feftgejtanden haben. Anter—
mifchte Reime und Sprüche find genau beizubehalten. Die Anterneh—
mung joll durchaus fein jogenannt unterhaltendes Buch liefern, ihr
gänzlich gelehrtes Ziel, das fich nichtsöeftoiweniger von jedermanns
Ergöglichfeit nicht entfernen wird, befteht im Zujammentragen von Ma—
terialien zu einer Geſchichte deutfcher Poeſie.“
Diefer Entwurf, deſſen Bedeutung viel fpäter richtig eingejchäßt
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wurde, blieb ungedruct. Der romantiſch veranlagte Brentano, ver-
ärgert über die gelehrte Anregung Jakob Grimms, fümmerte fich um die
Herausgabe der Märchen nicht mehr, während Armin die Brüder
aufmunterte, die Märchenfammlung baldigjt herauszugeben. nö fo
£rijchien am 18. Dftober 1812 der erite Band der „Kinder- und Haus-
märchen“. Sowohl die VBorrede von Wilhelm Grimm diefer Auflage,
als auch jene des 1815 herausgegebenen zweiten Bandes und die Ein-
leitung der 2. Auflage aus dem Jahre 1819, worin fich Wilhelm über
das Weſen des Märchens ausfpricht, Haben ihren ganz befonderen
Wert für die Märchenforſchung durchaus nicht eingebüßt.
Im Fahre 1811 ftifteten in Berlin Adam Müller, Achim v. Arnim
und noch einige andere Literaten die „chriftlich-deutfche Tifchgefellfchaft“,
die auf die Entwicklung der Berliner Romantif einen weſentlichen Ein-
fluß ausgeübt hat.!) Adam Müller, Berliner von Geburt, wurde 1805
zu Wien fatholifch, ging dann wieder nach Berlin und wirfte jpäter
als Bublizijt, dann als Landesfommiffär in Tirol und fchließlich, 1827
geadelt, als Hofrat in der Wiener Staatskanzlei. Durch jeine Schriften
über Staatswiſſenſchaften geivann er die Gunſt von Friedrich v. Genp.
Sn Wien wohnte er eine Zeitlang mit Eichendorff im gräflichen Caroly—
fchen Gartenpalais.
Wahrjcheinlich nach dem Vorbilde der Berliner Tiſchgeſellſchaft
gründeten Adam Müller und Friedrich Schlegel im Jahre 1813 im
alten „Strobelfopfbierhaus” in der Strobelgaſſe hinter St. Stephan
in Wien eine literarische Tafelrunde, „Das Kränzchen” genannt, die
offiziell eigentlich nur bis 1814 bejtanden hat; das alte Bierhaus wurde
aber troßdem von den Romantifern weiter befucht, jo daß der Stamm-
tiſch moch lange erhalten blieb. Zur Chronif dieſes befonders zur
Kongreßzeit auch von ausländiſchen Gelehrten und Literaten viel be-
juchten Bierhaufes erfährt man jelbjt aus den Erinnerungsiverfen feiner
fiterarifchen Stammgäjte jeltfameriveife ivenig. In der Kongreßzeit var
diejes düftere, langgeſtreckte Geivölbe, das bis zur Wollzeile reichte,
eine Art Börſe gelegentlicher Geſchäfte mit mehr oder weniger
idealen Gütern. Wie die Antiquitäten- und Münzhändler, fuchten hier
auch die Bücherantiquare unter den vielen „Fremden von Diftinftion“
ihre Käufer für alte Handfchriften und Werfe aus Klofter- und Gchloß-
bibliothefen. Es war ja die Zeit nach den napolemifchen Kriegen und
da trieb die Not oft zur Veräußerung alter Familienſchätze.
Der Antiquar Franz Gräffer erzählt in feinen „Neuen Wiener Lofal-
fresfen“ die äußerft intereffante Geſchichte des vom Literarhiftorifer von
der Hagen für verloren gehaltenen Hohenemfer-Koder der Nibelungen.
) Bgl. Zofef Nadler, Die Berliner Romantif, Berlin 1920.
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Sn feiner jaloppen Art berichtet er, wie er mit Friedrich v. Schlegel
in einer außerordentlich wichtigen Angelegenheit einmal zu tun hatte.
Der Franzoſe dv. Frickart vertraute ihm diejfen Koder, um ihn um 1000
Solddufaten zu verfaufen. Gräffer bot diejen hiſtoriſchen Schaß zuerſt
den Hofbibliothefen in Wien, Nürnberg und München erfolglos an.
Schließlich aber erwarb der vermögende Joſef Frh. v. Laßberg aus
Ehpichhaufen die jeltene Handschrift, die nach jenem Zode auf Schloß
Meersburg nach, Donaueschingen weiter verfauft wurde. Das Gefchäft
mit Frh. d. Laßberg wurde, wie Gräffer begeijtert hervorhebt, „in
einem ordinären Bierhaus“ gepflogen, „Es war diefes damals gar
berühmte Bierhaus in der Wollzeile, dicht neben der Apotheke, jchmal
und finfter, voll Zabafdampf zum Erſticken. Waren die Sitzungen
vorüber, die feinen Souper vorbei, jo kamen viele der Helden (des Kon-
greifes nämlich) noch in Robe dorthin, wo man jich in Neglige befand;
auch dv. Laßberg, Jakob Grimm und viele andere, die jich nicht wohl
nennen laſſen.“
Sn der Kongreßzeit gehörten die befanntejten Vertreter der roman-
tifchen Schule dem „Kränzchen“ an, vie u. a. Eichendorff, 2. Zacharias
Werner, der Maler Friedrich dv. Klinkowſtröm, ferner Hofrat Baron
Bentfer mit den Brüdern Bajjy, Nedafteur Joſef v. Bilat, Clemens
Brentano, die Brüder dv. Gollin, die Gchriftjteller Leo Frh. v. Secken—
dorf und Joſef Ludwig Gtoll und viele andere Anhänger von Klemens
Maria Hofbauer.
Sn den „Strobelfopf”-Kreis der Wiener NRomantifer geriet auch
Jakob Grimm, der befanntlich als heſſiſcher Legationsjefretär zur Kon-
greßzeit in Wien weilte. Diejer Berfehr war für ihn inſoweit förderlich,
als er bier reichlihe Gelegenheit fand, Eindrüce für jeine literar-
bijtorifchen und volfsfundlichen Forfchungen zu jammeln. Jakob Grimm
fam nach dem Erfcheinen des zweiten Bandes der Märchen anfangs
1815 auf den Gedanken, eine Märchengefellichaft ins Leben zu rufen.
der die Bildung diefer vergeffenen Märchengeſellſchaft in Wien findet
man in einem Briefe Jakobs an Wilhelm die erjte Mitteilung. Er
fchreibt ihm, daß er etivag Gutes für die Sammlung der Volkspoeſie
zu tun Hoffe und eine förmliche Gejellichaft, die ſich allerwärts in
Deutjchland verbreiten jolle, in Wien jtifte. In jenem Briefe vom
18. Zänner 1815 teilt er ihm mit, daß feine Gejellfchaft „glücklich und
aufs Förmlichſte zuftande gefommen ei, und er eriwartet davon auf
den jchlechtejten Fall jeldjt mehr wichtige Beiträge als jie ſonſt je zu-
fammengebracht hätten“. Am 10. Februar berichtet er wieder, daß der
gedructe Zirfularbrief, der Märchenbrief, wie er genannt wurde,
der aus der hier von ihm geftifteten Geſellſchaft ausgehe, die Preſſe
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Die Brüder Grimm bei der Märchenfrau
in Miederzwehren
verlajfen habe. Er bemerkt weiter, dad Briefe gedruckt und an wenig-
jtens hundert Orte und DBefanntfchaften verfandt wurden. „Mit der
erjten Gelegenheit ſollſt du Eremplare zur Aufteilung erhalten.“ In
den nächiten Wochen wurden von Wien bereits gegen 50 Zirfular-
briefe in alle Zeile des Reiches verſchickt. Aus feinem Briefwechſel
geht ebenfo hervor, daß der Gig der Märchengejellichaft das alte
Gtrobelfopfbierhaus war.!) Der Märchenbrief Jakobs, abgedruckt in
feinen „Kleineren Schriften“ (7 Bd.) ift nur noch in wenigen. Grem-
plaren erhalten geblieben. Diejer Wiener Märchenbrief ift, wie wir
wiſſen, die eine erweiterte Faſſung der „Aufforderung“, die Safob 1811
für Brentanos Märchenbuch bejorgt hat und die ungedrucdt geblieben
ift. Für die Märchen- und Sogenforſchung ift der „Girfularbrief” mit
den Daten: „Wien, 12. Februar 1815 und Kajjel, den 22. Februar
1815“ verjehen, deshalb von großer Bedeutung, weil Jakob darin alle
möglichen Zweige der VBolfsfunde und Literaturgefchichte berückjichtigt
und mit Gelehrtenfcharfjinn feinen Plan einer ſyſtematiſchen Anter—
fuchung der eingelaufenen Beiträge reichlich Öurchdacht hat. Im „Eir-
fular, die Sammlung der Volkspoeſie betreffend” teilt Jakob einleitend
von der Stiftung einer Gefellfchaft mit, „die durch ganz Deutfchland
ausgebreitet iverden joll und zum Ziele nimmt, alles was unter dem
gemeinen deutfchen Landvolf von Lied und Gage vorhanden ift, zu
retten und zu ſammeln“. Nach Satob follen gejammelt werden u. a.
Bolfslieder und Reime, Sagen und Märchen, Lotalfagen, Zierfabeln,
Gtreiche und Schwänke, Buppenfpiele, alte Bolfsbräuche und Jahres—
fejte, Spiele, abergläubifche Meinungen, Sprichwörter, Redensarten
und dergleichen, wobei er den Sammlern ans Herz legt, alle diefe
Gegenjtände getreu und wahr aufzunehmen, ſowie die Ortlichkeit und
die Zeit der Mitteilung genau aufzuzeichnen. Die heutige Märchen-
und Gagenforfehung hält fich genau nach diefen Winfen Safob Grimms.
Srimms Bemühungen in der märchen- und fagenreichen Oſtmark
durch den Meärchenbrief mit Beiträgen reichlich beglückt zu werden,
haben nicht jenen Erfolg gezeitigt, den er fich erhofft hatte; dasſelbe
war übrigens auch im Reich der Fall. Immerhin verdanft Jakob
Stimm dem Stammtifch im „Strobelfopf“ einige recht intereffante Mär—
chen und andere Bolfsüberlieferungen. Eine Lifte der Wiener Mit—
glieder der Meärchengefellichaft ist jelbjt im Grimm-Schrank der Ber-
liner Breußifchen Staatsbibliothek nicht aufzufinden. Aus den Briefen
Jakobs und aus den Anmerfungen zu feinen Märchen und Sagen
läßt fich vermuten, daß dieſer Gefellfchaft u. a. der Buchhändler Franz
Sräffer, Michael Schmidt und der aus Magdeburg gebürtige Heinrich
1) Bgl. Briefivechfel zwifchen Safob u. Wilhelm Stimm aus der Jugendzeit, Weimar 1881, a. v. Gt.
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Eejtein, ſowie die Romantifer Brüder Paſſyh, Baron Joſef Benfler,
ein „Herr Gechter”, wahrjcheinlich der Mufiklehrer Anton Bruckners,
ferner der Schriftteller Andreas Schuhmacher und noch einige andere
Literaten nabejtanden.
Mit der Abreiſe Jakob Grimms aus Wien dürfte ſeine „Märchen-
geſellſchaft“ im „Strobelkopf“ aufgelöſt worden ſein. Seine Ausbeute
an Märchen und Sagen war in Wien relativ gering. Sonderbarerweiſe
baben die Brüder Grimm aus den damals bereits erjchienenen topo-
graphifchen und volfsfundlichen Werfen, die in der Oſtmark in der
Rommtiferperiode bejonders zahlreich herausgegeben wuroden, für ihr
Meärchen- und Gagenbuch wenig zufammengetragen. Der Grund liegt
vor allem wohl darin, daß Jakob Grimm in Wien in feiner freien Zeit
fich vor allem für mittelalterliche Hamdfchriftenliteratur interefjierte und
daher den volkskundlichen Forſchungen nicht jo eifrig nachgehen Fonnte.
Zahllofe Übel haft du erduldet, weil du dein
Genügen nichf darin findeft, daß deine Vernunft
das fuf, wozu fie beftimm£ ift.
Marc Aurel
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