Skip to main content

Full text of "Das malerische und romantische Westphalen"

See other formats


3> 
I 

l#      ^/^a3AINIl-3WV^ 


^OFCAIIFO%      ^OFCAlIFOff^ 


^WEÜNIVERS//) 


^öAavaaiH'^ 


^^i]jüi^v-iür^^ 


^Viü3AIKlHVV> 


"-'AäVüüll-iv- 


-vahibraryö/      ^<^^\mmoA.      ^x^eönivers/^     ^i 


.  r  1 1  n  n  i  nny  »-. 


%■ 


!iJ 


DA  -^ 


g  C  'M  '^'     '^  '^1  '^    ' '•  O  i}i  ,\ 


^ff 


_^    q^  *rf  ^'p^  ->-y   /\   ^v 


i^ 


rRRlLlGEATH  n.    S^aÜCKtKiü^. 


Das 


malerische  und  romantische 


Von 


Ferdinand  Freili^ratli 


und 


Levin  l^chückins:. 


Mit   30   Stahlstichen. 


BARMEN, 


LEIPZIG, 


bei  W.  Langewiesche.  bei   Friedr.   Voickmar. 


Gedruckt  bei  Sam.  Lucas  in  Elberfeld. 


Annex 

DD 

Seiner  M^estät 


dem 


^öniflf  »an  |lreu(?fn 


FRIEDRICH   WILHELM  IV. 


ehrfurchtsvoll    und   unterthäniffst 


iiewiamei. 


Äonrr' 


Stock,  Stein,  Gras,  Grein. 

I.Dsiiiifi  der  l'e/itiic. 

MJics  sind  die  Linden;  —  beide  morsch  und  alt! 

Rechts  die  zerbarst:  —  sie  khitft  mit  jähem  Spalt 

Auf  von  der  Wurzel  bis  zur  Splitterhaube. 

Weit  aber  greift  sie  mit  den  Aesten  aus; 

Fast  wie  die  Schwester  prangt  sie  grün  und  kraus, 

Und  schmückt  die  Stirn  mit  frühlingsfrischem  Laube. 

Dies  ist  der  Tisch;  —  hart  imter'm  Lindenpaar 
Erhebt  er  sich;  —  du  kannst  des  Reiches  Aar 
Zur  Stunde  noch  auf  seiner  Platte   schauen. 
Der  Stadt  des  Reiches  flog  sein  Adler  vor; 
Hier  auf  dem  Tische,  dort  auch  überm  Thor, 
Und  in  den  Kirchen  weist  er  seine  Klauen. 


n    Titel  Vignette. 


Ein  todt  Gcthici!  —  Der  Welschland  übcrllog, 

Um  Syriens  Palmen  kühne  Kreise  zog-, 

Das  heil'gc  Grab  und  Golgatha  beschirmte, 

Der  mit  dem  Wappenleu'n  Castilia's 

Auf  Einem  Deck^  auf  Einer  Flagge  sass, 

Und  durch  die  Wälder  der  Kaziken  stürmte:  — 

Die  Zeit  erlegt'  ihn !  —  Steine  sind  sein  Pfühl ! 
Wer  weckt  des  Kaisers  trotzig  Federspiel? 
Im  Steine  träumt  es,  wie  der  Falk  im  Ringe.  — 
Sein  Träumen  aber?  —  Schlachtfeld  und  Gelag, 
Blulbann  und  Blut:  —  auf  diesem  Tische  lag 
Das  nackte  Schwert  einst  und  die  Weidenschlinge 

0,  träume  zu!  —  Der  Wandrer  stört  dich  nicht! 
Und  doch  —  auch  Er  will  hegen  ein  Gericht! 
Er  weiss  das  Wort;  er  ist  befugt,  zu  schlichten! 
Ein  neuer  Freigraf  tritt  er  Jiühn  heran; 
Sein  Auge  blitzt:  —  in  rother  Erde  Bann 
Die  rothe  Erde  selber  will  er  richten! 

Sein  eigner  Frohne  schritt  er  durch  das  Land! 
Er  that  den  Schlag  an  jede  Trünimerwand, 
Er  hieb  den  Span  aus  jeder  Thurmespfortc, 
In  Burg  und  Kloster  flog  sein  Ladungsbrief, 
Um  Mitlernacht  zu  dreien  Malen  rief 
Auf  jedem  Kreuzweg  dräuend  er  die  Worte : 


„Horch  auf!  —  Die  Ladung-!  —   Du  verschiie'ncr  Slrich, 

Land  meiner  Väter^  ich  berufe  dich! 

KccJv  vor  dem  Stuhle  lass  dein  Banner  strahlen! 

Wie  Forst  und  Strom  und   frischgepflügtes  Land 

Dreiftirbig  scJiimmern  lassen  dein  Gewand, 

Grün,  weiss  und  schwarz   —    so  stelle  dich,  Westphalen! 

Du  bist  vcrvehmt,  es  ruht  auf  dir  die  Acht, 

Es  hat  das  Reich  dich  in  Gerücht  gebracht; 

Begegn'  ihm  stolz!   was  schlummerst  du  am  Hcerdc? 

Die  Rüger  harren  —  rings  die  Lande  sind's! 

Sie  rufen  laut:   das  Fohlen  Wittekinds, 

Ein  Schlachtross  weiland^  sank  zum  Ackerpferde! 

Nicht  schallt  sein  Wiehern  wild  mehr  im  Gefecht; 
Nicht  zäumen  Freiherr  mehr  und  Edelknecht 
Sein  trotzig  Haupt  zu  ritterlichem  Stephen. 
Sein  Aug'  ist  glanzlos,  und  sein  Mund  ist  stumm; 
Auf  öden  Haiden  treibt  es  sich  herum, 
Und  weidet  trag  an  namenlosen  Bächen. 

Auf  seinem  Nacken  herrscht  ein  rauher  Stamm; 
Er  treibt  es  ab  auf  steiler  Berge  Kamm, 
Er  lässt  es  träumend  über  Moore  schwanken. 
Zahm  und  geduldig  -schirrt  er's  vor  den  Pflug; 
Des  gelben  Haarrauchs  dunstig  Nebeltuch 
Umweht  als  Decke  flatternd  seine  Flanken. 


6 

Wo  sich  der  Thorweg  hebt^  von  Rauch  gebräunt, 
Vom  grünen  EicJikanip  sassisch  noch  umzäunt; 
Wo  des  Gehöftes  Halmendäclicr  ragen; 
Wo,  von  dem  Kranz  der  Pilgerin  umweht, 
Der  Schrein  des  Heil'gcn  dicht  am  Wege  steht, 
Da  lebt  es  dumpf,  und  hat  verlernt  das  Schlagen! 

Kannst  du  es  hören?  —  In  den  Klageruf, 
Der  dich  befehdet,  donnert  nicht  dein  Huf?  — 
0,  jag'  heran,  lass  deine  Mähne  fliegen! 
Mit  deinen  Eidcshelfern:   Berg  und  Fluss, 
Tritt  vor  den  Richter,  der  dich  richten  muss. 
Und  übersieb'ne  deiner  Feinde  Rügen! 

In  ihr  Gescheit  und  in  ihr  lautes  Drohn 

Mische  des  Felsbachs  und  der  Quelle  Ton, 

Die  um  das  Eisen  deiner  Hufe  lecken! 

Wirf  ab  die  Hülle  —  deiner  Thalc  Duft! 

Lass  deine  Berge  steigen  in  die  Luft, 

Wie  Zeugenfinger,   die  zum  Schwur  sich  recken! 

Lass  deine  Wälder  llüsternd  dich  umwchn, 
Lass  deine  Klippen  dir  zur  Seite  stehn, 
Lass  deine  Burgen  sich  in's  Stromthal  neigen! 
Lass  deiner  Dome  farb'ge  Scheiben  glühn, 
Lass  deiner  Gilden  alte  Pfeile  sprühn  — 
Air  deine  Helfer,  lass  sie  uahn  und  zeugen! 


7      

Mein  Ruf  gilt  allen,  ernst  und  richterlich! 
Durch  deine  Pforte ,  blaue  Weser,  brich, 
Und  lluthe  sanft  um  deine  Buchenhügel! 
Die  Heerde  blockt,  das  weisse  Segel  schwillt. 
Auftaucht  die  Stadt  —  o  so,  wie  einen  Schild, 
Zeige  den  Klägern  deinen  Wellenspicgel! 

Und  ihr  —  geröthet  von  der  Hämmer  Gluth, 

Als  färbte  Zornesfeuer  eure  Fluth; 

Umblitzt  von  Schlacken,   und  geschwärzt    von  Kohlen!  - 

Ruhrstrom  und  Lenne,  wild  und  mit  Gebraus 

Vernehmt  die  Rüge!  schäumend  tretet  aus, 

Die  Schmach  zu  waschen  von  Altsachsens  Fohlen !  — 

Dann  ihr  im  Sande!  —  Springt  und  wühlt  euch  durch! 
Frisch  durch  den  Schutt  der  Tempelherrenburg! 
Friscii  durch  der  Senne  dorniges  Gestrippe!  — 
Lasst  Walfen  reden:  —  an  das  Ufer  werft 
Hastatenschwerter,  die  einst  Rom  geschärft! 
Lasst  eure  Schädel  reden,  Ems  und  Lippe!  — 

Und  nun  ihr  Berge,  steil  und  laubverkappt!  — 

Wie  ihr  voll  Trotzes  euch  gelagert  habt 

Rings  an  der  Flüsse  kiesigen  Gestaden; 

VMo  euch  umtönt  des  Habichts  kurzer  Schrei, 

Wie  euch  durchbricht  des  Hirsches  braun  Geweih: 

So  kommt  und  zeugt,  und  so  auch  seid  geladen! 


8      

Nicht  ihr  allein:  —  auch,  was  auf  euch  g^ebaul!  — 
Die  von  den  Berg-en  ihr  herniederschaut, 
Graustirn'ge  Mahner  dem  Geschlecht  im  Thale, 
In  eurer  Trümmer  moosbewachsner  Pracht 
Hört  meine  Stimme  schallen  durch  die  Nacht, 
Burg  und  Kapelle,  Schloss  und  Kathedrale! 

Und  euch  auch  mein'  ich,  morsche  Bilder  ihr! 

Sei's  unter  Harnisch,  Helmbusch  und  Visir, 

Sei's  mit  der  Inful  und  dem  Hirtenstabo, 

Verschrt  vom  Regen  und  vom  Wetterstrahl  — 

Verlasst  des  Münsters  und  der  Burg  Portal, 

Und  schreitet  her,  umkreist  von  Dohl'  und  Rabe!  — 

Wandeln  die  Steine,  mag  das  Erz  auch  nahn! 
Weithin   erglänzt  es:  —  Male  ruf  ich  an 
Der  Patrioten  und  der  Volksbefrcier! 
Das  Schwert  in  Händen  und  die  „Phantasie'n," 
Legt  ab  eu'r  Zeugniss:  Moser  und  Armin! 
Du  schon  erhöht,  —  du  noch  im  Essenfeuer! 

Und  du  zuletzt,   der  Alles  inne  hält: 

Wald  und  Gebirge,  Strom  und  Ackerfeld, 

Aus  deinen  Häusern  komm,   aus  deinen  Hütten! 

Ob  du  verdienst  des  bösen  Leumunds  Schmach,' 

Zeig'  es  dem  Stuhle,  kräft'ger  Menschenschlag, 

Einfach  von  Wesen,  schlicht  und  derb  von  Sitten! 


9      

Lass  dich  erschau'n,  wie  du  die  Hand  mir  drückst, 
Wie  an  den  Heerd  du  meinen  Sessel  rückst, 
Wie  du  mich  bittest:  Iss,  als  wär's  dein  eigen! 
Wie  du  der  Väter  Brauch  und  Vorgang  ehrst, 
Wie  du  den  Stahl  reckst  und  die  Erndte  fährst, 
Wie  du  dich  schwingst  im  lust'gen  Schützenreigen! 

Ich  lad'  euch  vor,  ich  lad'  euch  allcsammt! 

Die  Nacht  ist  um,  die  Morgenröthe  flammt. 

Das  Schwert  ist  nackt,  der  SchöfTenkreis  geschlossen! 

Er  ist  mein  Volk!    Er  steht  und  wartet  still. 

Dem  Munde  lauschend,  der  euch  richten  will, 

Baarhäuptig  stehn  sie,  meine  Vehmgenossen!"  —  — 

So  scholl  sein  Ruf!     Die  Ladung  ist  geschehn!  — 

Und  jetzo  harrt  er  wo  die  Linden  stehn; 

Die  Sonne  wirft  ihr  Streiflicht  durch  die  Blätter. 

Wohin  er  schau'n  mag,  Licht  und  Leben  nur! 

Vor  ihm  des  Hellwegs  reiche  Aehrenflur, 

Und  über  ihm  des  Lerchenlieds  Geschmetter! 

Und  dort  die  Mauer,  zackig  einst  umzinnt. 
Die  Reinold  schülzt,  das  kühne  Heymonskind, 
In  die  er  einzog,  eine  blut'ge  Leiche! 
Auf  der,  ein  licht  ujid  strahlend  Heldcnbild, 
Er  oft  erschienen  ist  mit  Schwert  und  Schild, 
Und  abgewehrt  hat  der  Belagrer  Streiche!  — 


10       

Die  Sag-c  dringt^  das  Leben  auf  ihn  ein!  m^  > ,    :  i 
Die  er  berief^  sie  nalin  in  dichten  Reih'n;  '^^  u')\.  ,.-; 

Durch  seine  Seele  dröhnen  ihre  Schritte.           ''■'<'■  ub  ,. .. 

Er  liört  des  Fohlens  trotzig-  Hufgepoch;                   ub  aVN 

Die  Sonne  blitzt  —  so  sass  kein  Richter  noch»')!)  iib  oi7/ 

Auf  diesem  Stuhl  in  der  Geladnen  Mitte!           -f.  nf:  .;7/ 

Und  so  denn  freudig  hegt  er  sein  Gericht!  — 

Den  Boden  wechselnd,  die  Gesinnung  nicht y 

Wählt  er  die  rothe  Erde  für  die  gelbe! 

Die  Palme  dorrt,  der  Wüstenstaub  verweht:  — »Vv'^m  1?!»  lA 

An's  Herz  der  Heimath  wirft  sich  der  Poet, 

Ein  Anderer  und  doch  Derselbe! 


Porta  H^estphalica  bis  Herstelle. 


Uie  Porta  Wesiphalica  ist  die  Pforte  meines  Buchs.  Habt 
iiir  zuerst  den  Brückenkopf  des  einleitenden  Gedichts  genommen, 
so  müsst  ihr  nun  noch  das  Thor  der  Festung  erstürmen.  Durch 
die  Porta  führ'  ich  euch  in  das  Land,  nach  dem  sie  heisst. 

Wer  von  euch  stand  bei  Sonnenuntergang  auf  der  Weser- 
brücke bei  Minden?  Aus  den  Moor-  und  Haidestrecken  des 
nordwestlichen  W^estphalens  kommend,  deren  ödes  Grau  in  Grau 
nur  zuweilen  ein  Architecturblitz  aus  dem  I\Iittelalter  durchleuch- 
tet, der  Osnabrücker  Dom  etwa  oder  der  lichte,  giebelzackige 
Strahl  des  Rathhauses  zu  Münster,  schritt  er  vielleicht  trüb  genug 
in  die  alte  Stronistadt  Minden  hinein,  und  Aveder  das  buschige 
Glacis  noch  der  stattliche  Simeonsplatz,  weder  der  freundliche 
Domhof  noch  die  engen,  alterthümlich  düstern  Strassen  waren  im 
Stande,  ihn  eine  nahe  glänzende  Verv>irkiichung  seiner  bisher 
meist  unerfüllt  gebliebenen  Träume  von  einem  „malerischen 
und  romantischen  Westphalen"  hoffen  zu  lassen.  Endlich  hat  er 
das  Thor  an  der  Wasserscite  der  Stadt  erreicht.  Kühler  Hauch 
des  Stromes  Aveht  ihm  entgegen.  Noch  ein  paar  Schritte  und  er 
steht  auf  der  siebenbogigen  Brücke;  unter  ihm,  nordwärts  hinab 
in  die  weite,  unabsehbare  Fläche,  schiesst  die  Weser,  und  wen- 
det er  das  Gesicht  stromauf,  rechts  nach  Süden,  so  sieht  er  die 
Berge,  die  der  Prall  der  Wasser  vor  .Jahrtausenden  durchbrochen. 


12       

stolz  und  trotzig  sich  erheben.  Die  Porta  Westphalica*)  liegt 
vor  ihm,  nicht  ein  enges,  zu  beiden  Seiten  schroff  und  steil  in 
den  Strom  herabfallendes  Felsenthor  (nur  der  östliche,  der  An- 
tonius- oder  Jakobsberg,  wird  unmittelbar  von  der  Weser  bespült), 
sondern  ein  nicht  allzu  schmales  Querthal ,  das  ausser  dem  Strome 
Wiesen  und  Ackerland  anmuthig  ausfüllen,  dessen  Benennung 
aber,  zumal  von  dieser  Seite  und  in  dieser  Entfernung,  durchaus 
passend  und  gerechtfertigt  erscheint.  Es  ist  nämlich  noch  eine 
gute  Stunde  bis  dort,  wo  die  Weser  den  Gebirgsrücken  zerschnit- 
ten hat;  links  und  rechts,  dort  unter  den  Namen  des  Süntels 
oder  des  Wesergebirges  y.ar  k'S.oyi]v ,  hier  unter  dem  des  Wie- 
bengebirges  streichend,  zeigt  er  dem  Blicke  des  Beschauers  keine 
einzige  Kerbe,  keinen  einzigen  tieferen  Einschnitt;  nur  der  ge- 
waltige, weitklaffende  zwischen  Jakobs-  und  Wittekindsberg  liegt 
vor  Augen,  und  ist  nun,  abgesehen  davon,  dass  durch  ihn  der 
Fluss  aus  dem  Gebirgsland  in  die  Ebene  sich  ergiesst,  in  seiner 
Einsamkeit  um  so  mehr  einem  imposanten  Thore,  einer  Weser- 
scharte, wie  die  umwohnenden  Landleute  die  Pforte  nennen, 
vergleichbar,  als  die  Entfernung  ein  scheinbares  Aneinanderrücken 
der  getrennten  Bergmassen  bewirkt,  und  das  Wiesengelände  da- 
zwischen in  so  geringer  Breite  zeigt,  dass  nun  fast  Berg  neben 
Berg  emporzuragen,  und  die  Weser  hart  am  Fusse  beider  sich 
zu  schlängeln  scheint.  —  Das  ist  die  Porta,  und  wer  sie  so  ge- 
sehen hat,  nach  mühsamer  Durchwanderung  des  Flachlandes  von 
der  Mindener  Brücke  aus,  felsig  und  waldig,  und  von  den  heis- 
sen,  sehnsüchtigen  Tinten  eines  Sonnenuntergangs  zu  Ende  Mai's 
magisch  beleuchtet,  wohl  schlug  dem  das  Herz  hochauf  vor 
Freude,  und  er  lauschte  lechzend  hinab  in  das  murmelnde  Ge- 
schwätz des  Flusses,  der  alle  Mährchen  und  Heimlichkeiten  des 
eben  verlassenen  Waldgebirges  ihm  erzählen  zu  Avollen  schien. 
Silberfarben ,  hier  und  dort  einen  Scheideblitz  der  Sonne  zurück- 
werfend, kam  er  durch  Wiesen  und  Weiden  herangeschossen; 
einsame  Kähne  schwammen  stromunter;  drüben  noch  eine  voll- 
ständige Mast,  „Bock"  und  „Hinterhang"  und  „Bulle",  die  von 
keuchenden  Pferden  sich  hinauf  ziehen  Hess  nach  Hausberge; 
Heerden  am  Ufer;  —  ein  heiteres,   lachendes  Idyll   lag  vor  ihm, 


*)  Die  Ansicht   stellt  sie    von  der   entgegengesetzten   Seile,    Minden    im 
Hintci'siunde,  dar. 


—      13      — 

dessen  Grundton,  den  der  Ruhe  und  des  stillen  ländlichen  Frie- 
dens selbst  der  am  Fluss  gelagerte  Kriegsmann  —  Minden  — 
nicht  zu  stören  vermochte. 

So  und  in  solcher  Stimmung  war's,  dass  ich  selbst  vor  ein 
paar  Monaten  zum  ersten  Mal  die  Porta  erbliclvte.  Die  Fläche 
lag  hinter,  die  Berge  lagen  vor  mir,  und  es  trieb  mich,  den 
Staub  der  einen  mit  den  Büschen  der  andern  von  den  Kleidern 
zu  streifen.  Noch  eine  Nacht  und  einen  Vormittag  in  Minden, 
und  nun  unter  dem  fernen  Gegroll  mälig  sich  aufthürmender  Ge- 
witter auf  den  Witlekindsberg,  die  westliche  Pfortensäule,  die 
neben  jenem  Namen  auch  noch  den  üblicheren  der  Margarethen- 
klus  führt!  —  Wollt  ihr  sie  mit  mir  besteigen?  —  Ich  führe  euch 
gleich  auf  die  Spitze.  Dicht  mit  Buchen  bewachsen,  lässt  sie 
euch  auf  trocknem  Laubfall  einen  kühlen,  schattigen  Waldweg 
entlang  gehen.  Zweige  schlagen  euch  in's  Gesicht,  Waldmeister 
duftet  um  eure  Füsse,  und  wenn  ihr  den  Hut  mit  Geisblatt  oder 
mit  einer  keck  geschwungenen  Farrnkrautfeder  schmücken  wollt, 
so  braucht  ihr  nur  die  Hand  auszustrecken.  Plötzlich  steht  ihr 
vor  einem  mächtigen  Wartthurm ;  nicht  vor  einer  grauen,  mit 
Moos  und  Epheu  bewachsenen  Ruine ,  einer  zerbröckelnden  Trüm- 
mer aus  den  Zeiten  des  Feudalwesens,  die  euch,  wenn  ihr  sie 
besteigen  wollt,  ein  geharnischter  Thürmer  erschliesst  oder  ein 
buntjackiger  Schlosszwerg:  ein  Werk  der  letzten  Jahre  ist's,  das 
euch  zur  Rundschau  auf  seine  Zinnen  ladet,  und  ein  Müllerchen, 
das  im  Schalten  einer  benaclibarten  Buche  die  ärgste  Schwüle 
des  Mittags  bei'm  Spinnrade  verslreichen  lässt,  öffnet  euch  freund- 
lich die  Thüre  des  modernen  Lug  in's  Land.  Dir  tretet  ein,  eine 
Wendeltreppe  empfängt  euch,  zwei  und  siebenzig  Stufen ' fliegt 
ihr  hinan  —  und  nun  steht  ihr  oben  auf  der  Plateforme,  und 
biegt  euch  hinab  über  das  schützende  Geländer.  Welch'  ein 
Anblick!  Nördlich  das  Flachland  bis  zum  Meere,  südlich  ein 
beschränkteres,  dafür  aber  auch  bunteres  und  von  Wald  und  Fluss 
mannichfach  belebteres  Gebiet,  und  zwischen  beiden,  eine  Tlmrm- 
höhe  unter  euch,  knochig  und  langgestreckt,  und  von  der  ge- 
witterschwülen Sonne  des  Mittags  stechend  beschienen,  der  Rücken 
des  Gebirges.  Ein  zusammengesunkenes  Ross,  liegt  es  euch  zu 
Füssen,  seine  Laubflanken  zittern  vor  Erschöpfung  —  war'  ich 
ein  Gigant,  ich  sprang'  ilim  auf  den  Nacken,  und  ritt'  es  in  die 
Nordsee  —  zur  Schwemme! 


1119037 


14       

Und  hier,  eh'  ich  euch  ein  Führer  werde  durch  den  Land- 
strich, der  tief  unter  euch  wie  eine  Karte  aufgerollt  daliegt,  eh' 
ich  mit  dem  Finger  auf  seine  Berggipfel  und  auf  seine  Tiiurm- 
spitzen  deute,  eh'  ich  seine  Burgen  mit  euch  durchklettere,  und 
mit  euch  eintrete  in  seine  Hallen  und  Kreuzgänge,  lasset  mich 
ein  Wort  der  Verständigung  zu  euch  reden!  Wenn  ich  eucli  zu 
einer  Schweizerreise  aufforderte,  oder  zu  einem  Ausflug  in's 
Tyrol,  oder  gar  zu  einem  pittoresken  Zuge  durch  beliebige  Wü- 
sten, so  bedürfte  es  dessen  nicht.  Ihr  wüsstet  dann  von  vorn- 
herein selbst,  was  ihr  zu  erwarten  hättet,  und  wenn  die  Reise 
niciitsdestoweniger  euren  Erwartungen  nicht  entspräche,  so  könn- 
tet ihr  desswegen  nur  mit  dem  Ungeschick  oder  der  Unwissenheit 
des  Führers  rechten,  nicht  aber  mit  der  Gegend  selbst,  durch  die 
ihr  euch  führen  liesset.  Ein  Anderes  ist  es,  wenn  ich  euch  eine 
Wanderung  durch  Westphalen  vorschlage ,  durch  ein  Land,  dessen 
Loos  es  seit  Jahren  gewesen  ist,  mehr  gescholten  und  geschmäht, 
als  gepriesen  zu  werden.  Seit  Justus  Lipsius  im  Jahr  1586 
seine  schweinsledernen  Briefe  über  Westphalen  bald  „aus  der 
Barbarei  bei  den  Breifressern",  bald  „aus  dem  ScliAvcinstall,  den 
sie  Wirthshaus  nennen",  datirte,  hat  sich  die  Schärfe  einer  Un- 
zahl von  Federspitzen  an  uns  versucht,  und  wir  haben  uns  end- 
lich so  daran  gewcihnt,  dass  es  uns  ordentlich  freut  oder  gar 
rührt,  wenn  es  mit  solcher  Eleganz  geschieht,  wie  noch  neuer- 
lich in  Kühne's  Briefen  an  Dina.  *}  Lipsius  und  Kühne,  die  alte 
Literatur  und  die  „junge!"  Die  alte  litt  am  nordwestlichen  Saum 
unserer  Wildnisse,  die  junge  am  südöstlichen,  und  ich,  der  ich 
weder  zur  alten  noch  zur  jungen  gehöre ,  und  mich  nur  ärgere, 
dass  ein  Poet  heut  zu  Tage  überhaupt  zur  Literatur  gehören  muss, 
will  euch  nicht  bloss  an  die  Ränder ,  mitten  hinein  will  ich 
euch  führen,  wo  es  möglicher  Weise  noch  schlimmer  ist.  Ich 
glaube  wirklich,  dass  ich  euch  vorher  Muth  einsprechen  muss, 
und  dazu  ist  grade  hier,  wo  wir  aus  einer  Höhe  von  800  Fuss 
auf  einen  grossen,  und  wahrlich  nicht  den  schlechtesten,  Theil 
des  verschrieenen  Gebiets  hinabschauen,  der  rechte  Ort,  wie  mich 
dünkt.  Setzt  euch  drum  in  die  Runde;  stosst  mir  aber  die 
Reisetasche  nicht  von  der  Brüstung,   und  um  euch  von  vornher- 


*)  Münnliclie  und  weibliche  Charactere.     Tlieil  I. 


>#»it^A.A.jL 


—       15      

ein  mit  westphäliscber  3Iund-  und  Landesart  zu  befreunden,  so 
thut  erst  einen  „Schluck"  aus  meiner  ledernen  Feldflasche. 

Bestimmen  wir  zuerst  die  Grenzen  unseres  Terrains.  West- 
phalen  —  mag  der  Name  nun  von  Falen  d.  h.  Fohlen,  dem 
springenden  Pferde  in  Wittekinds  Banner  abzuleiten  sein,  das  wir 
noch  heute  sein :  Niuiquam  retrorsum  auf  dem  Braunschweigschen 
Wappen  wiehern  hören;  (Schade  grade  jetzt,  dass  es  nicht  auch, 
mit  derselben  Devise,  das  Symbol  des  Hauses  Hannover  geblie- 
ben ist!}  oder  von  dem  Grenzpfahl,  der  die  West-  von  den 
Ostphalea  getrennt  haben  soll;  oder  von  einem  altdeutschen,  dem 
englischen  fellow  entsprechenden  Worte  Phal;  oder  von  einem 
andern  Worte:  Falen  d.  i.  Gegend,  plaga,  regio;  oder  gar,  wie 
einige  Etymologen  wollen,  von  den  Yandalen —  Westphalen 
ist  uns,  wie  Karl  dem  Grossen,  das  gesammte  Land  zwischen 
Khein,  Weser  und  Ems,  wie  wir  dagegen  die  Striche  zwischen 
Weser  und  Elbe  unter  dem  Namen  Ostphalen  zusammenschlagen, 
und  von  dem,  zwischen  beiden  in  der  Enge  liegenden,  dritten 
Haupltheile  des  alten  Sachsenreiches,  Engern,  für  den  ZwTck 
unserer  Wanderung  s  o  viel  noch  zu  Westphalen  rechnen  ,  wie  wir 
nach  Strich  und  Lauf  des  Gebirgs  und  des  Flusses  sowohl,  als  nach 
Uebereinstimmung  in  Gesittung,  Yolkscharacter  und  Mundart  für 
gut  finden  und  verantworten  zu  können  glauben.  Es  ist  uns  das 
Land,  das  zu  Tacitus  Zeiten  Bructerer  und  Sigambrer,  Marser, 
Angrivarier  und  Cherusker  inne  hatten;  das  ganze,  von  den  Le- 
gionen zertretene  Gebiet  im  Nordwesten  Deutschlands,  das  dem 
Historiker  zu  seinem  Bilde  von  den  Sitten  und  dem  Culturzuslande 
des  alten  Germaniens  vorzugsweise  die  Umrisse  lieferte.  Es  ist  uns 
der  gesammte  Strich  um  Weser  und  Ems,  Ruhr  und  Lippe,  der 
in  der  rohen  Kraft  und  der  schlichten  ursprünglichen  Weise  seiner 
Bewohner,  zumal  aber  in  dem  Eichengrün  und  der  Weltabge- 
schiedenheit  seiner  einzeln  an  Quell  oder  Bach  lieirenden  Bauer- 
höfe  —  ut  fons,  iit  nemus  placuit  — ,  an  deren  rauchgeschwärz- 
tes, erndtekranzgeschmücktes  Scheunenthor  die  Zeit  und  der 
Fortschritt  nur  leise  und  in  grossen  Zwischenräumen  angepocht 
haben,  ganz  an  jene  Schilderungen  in  der  Germania  uns  erin- 
nert. Es  ist  ein  derber,  urkräftiger  Menschenschlag,  die  West- 
phalen. Als  der  Kronprinz  von  Preussen  auf  seiner  letzten  Reise 
durch  die  Provinz  (Sommer  1839)  einen  Tag  in  Soest  sich  auf- 
hielt, ritt  auch  eine  Deputation  aus  der  „Börde"  bei  ihm  vor,  an 


16 

die  zwei  bis  dreihundert  Bauern  stark.  Ein  prächtiger  Zug! 
Stämmige  Männer  und  stämmige  Pferde,  hellblaue  Röcke  und 
breitkrämpige  Hüte,  wenig  Sporen  und  die  Zügel  meist  in  der 
rechten  Hand,  aber  die  Fersen  in  den  Flanken,  die  Linke  mit 
dem  Hut  hoch  in  der  Luft,  und  so  in  Trab  oder  Galopp,  wie  es 
dem  Gaul  eben  anstand,  mit  Hurrahruf  bei  dem  Prinzen  vorbei. 
Ich  habe  lange  Nichts  gesehen,  was  mich  mehr  gefreut  hätte. 
So,  denk'  ich  mir,  muss  ein  Reiterangriff  der  Bructerer  gewesen 
sein:  wenig  Ordnung,  aber  Muth  und  Feuer,  und  wo  er  einhaut, 
da  wirft  er.  Es  mag  dem  Kronprinzen  Glänzenderes  und  Feine- 
res auf  seiner  Reise  veranstaltet  worden  sein ,  aber  Ehrlicheres 
und  Nationaleres  schwerlich.  Er  hat  auch  herzlich  gelacht,  als 
er  aus  dem  Fenster  herab  dankte,  und  es  war  nicht  das  Lachen 
des  Spottes  oder  der  Geringschätzung.  Wie  wollt'  es  auch?  Aus 
solchen  Stämmen  haut  sich  die  Staatsburg  ihre  Palisaden  zurecht: 
das  siebente  Armeekorps  ist  eins  der  stämmigsten  und  markig- 
sten im  ganzen  Heere. 

Wir  halten  uns  also  an's  Volk  und  an  die  Gesittung.  Wo 
wir  den  Hof  des  Tacitus ,  wo '  wir  die  Kämpe  des  Sachsen  noch 
finden,  da  ist  Westphalen.  Wir  beschränken  uns  demnach  weder 
auf  das  Herzogthum  Westphalen,  das  sogenannte  Sauer-  oder 
Süderland,  früher  ein  Besitzthum  Heinrichs  des  Löwen,  und  nach 
dessen  Tode  von  Friedrich  Rothbart  an  das  Erzstift  Cöln  geschenkt, 
noch  auf  die  jetzige  Preussische  Provinz  Westphalen,  noch  greifen 
wir  über'  in  die  überrheinischen  Bestandtheile  des  ehemaligen 
Westphälischen  Kreises,  zu  dem  u.  A.  selbst  Lüttich,  Cambrai, 
Utrecht  und  Aachen  gehörten,  woraus,  wie  der  alte  Merian  sagt 
(beiläufig  der  erste  Herausgeber  eines  „malerischen  Westphalens", 
wenn  wir  seine  westphälischen  Städteansichten  so  nennen  wollen), 
„woraus  zu  ersehen,  dass  dieses  ein  weitschweiffiger  Cräiss" 
gewesen  sein  müsse.  An  das  Länder-  und  Ländchenaggregat  zu 
denken,  das  unter  Jerome  den  Namen  eines  Königreichs  West- 
phalen führte,  kann  uns  vollends  nicht  einfallen.  —  Lasset  uns 
den  Bezirk  abschreiten,  den  wir  betrachten  wollen!  —  Links,  in 
südöstlicher  Richtung,  die  Weser  hinauf  bis  nach  Herstelle,  die 
Feste  des  grossen  Frankenkaisers.  Von  dort  südwestlich  den 
Saum  der  Hessischen  Gebirge  entlang  bis  an  die  Quelle  der  Sieg, 
wo  die  Sprache  des  Volkes  schon  in  der  Weise  des  Oberlandes 
erklingt,   und  wo  uns  der  Westerwald  zur  Gränze   nach   Süden 


—      17      — 

wird.  Jetzt  nordwestlich,  immer  den  Rand  der  heutigen  Preus- 
sischen  Rheinprovinz  hinab ,  in  die  wir  gelegentlich  einen  kleinen 
Abstecher  machen.  Die  Mündungen  von  Sieg  und  Wupper,  von 
Ruhr  und  Lippe  bleiben  uns  links,  wo  fast  in  paralleler  Richtung 
der  Rliein  seine  Wogen  hinabwälzt.  Haben  wir  die  Lippe  über- 
schritten, so  wenden  wir  uns  nordöstlich,  da  wo  das  Städtchen 
Anholt  uns  die  Gränze  der  Marschen  und  Ebenen  Hollands  ge- 
zeigt hat,  lassen  später  das  Münsterland  und  Osnabrück  im  Süden, 
Ostfriesland  und  Oldenburg  im  Norden,  bis  wir  zuletzt,  etwa  bei 
Petershagen,  wieder  auf  die  Weser  stossen,  an  ihr  hinaufschrei- 
ten bis  zur  Porta,  und  so  Avieder  zur  Margarethenklus ,  zu  dem 
Punkte  gelangen,  von  dem  wir  ausgingen. 

Das  ist  der  Ländercomplex ,  den  wir  unter  der  Gesammtbe- 
nennung  Westphalen  für  uns  in  Anspruch  nehmen,  und  ich 
denke,  dass  man  uns  ungefährdet  in  seinem  Besitz  lassen  und 
die  grün -weiss- schwarze  Fahne,  die  wir  rings  auf  Berg  und 
Burg  aufpflanzen,  ruhig  flattern  lassen  wird.  Möchte  man  uns 
irgendwo  eines  Einfalls  in  fremdes  Gebiet  beschuldigen,  so 
könnte  es  nur  drüben  am  rechten  Weserufer  sein,  wo  die  Schaum- 
burg hell  und  freundlich  aus  dem  Grün  des  Nesselberges  hinter 
Rinteln  hervorschaut,  wo  der  Hohenstein  mit  seinen  Klüften  und 
Felsenrissen,  mit  seinen  Wichtelmännchen  und  seinem  Druiden- 
ringe ernst  und  düster  sich  erhebt,  und  wo  der  Langenfelder 
Wasserfall  schäumend  hinabstürzt  in  die  Tiefe.  Es  sind  das 
Alles  Punkte,  die  in  der  Sachsenzeit  zu  Engern,  zum  Buckigau 
gehörten,  und  die  jetzt  post  varios  casus  einem  Ländchen  zu 
eigen  sind,  das  sich  die  Grafschaft  Schaumburg  hessischen  An- 
theils  nennt.  Und  fast  furcht'  ich,  dass  der  goldene  Löwe  seine 
Errungenschaft  wahren  und  mein  dreifarbig  Banner  mit  gehobner 
Klaue  antasten  wird.  Ein  malerisches  und  romantisches  Weser- 
thal ist  angekündigt.  Franz  Dingelstedt  ist  sein  Schildhalter, 
und  schon  seh'  ich  den  Kampf  entbrennen  in  den  wiederhallen- 
den Schluchten  des  Süntels.  Die  Fähnlein  flattern ,  die  Trom- 
peten schmettern,  die  Schaumburg  wird  berannt  hiiben  und  drü- 
ben, und  wessen  Banner  oben  fliegen  wird,  bleibt  den  Schwertern 
überlassen.  Es  soll  aber  ein  ehrlicher  und  lustiger  Kampf  sein; 
wir  wollen  uns  Lieder  zusingen  Avährend  des  Streites,  und  zu- 
lezt,  denk'  ich,  sprengen  wir  mitten  im  Gefecht  auf  einander 
los,    lüften  den   Helm,   und   machen   es,  wie  Wittekind  und  St. 

2 


—      18      — 

Henimbertus ,  der  erste  Bischof  von  Minden.  Ich  weiss  nicht 
recht,  sprach  Wittekind  es  aus  oder  der  Bischof  —  so  viel 
aber  etymologisirt  die  Sage:  als  der  Herzog  den  Mönch  ein- 
führte in  seine  Burg  am  Weserstrand,  da  fiel  zwischen  ihnen 
das  Wort:  Min  —  Din,  d.  h.  der  Fleck  sei  mein,  wie  er 
dein  ist!  Und  so,  rath'  ich,  halten  wir  es  auch  mit  der  Graf- 
schaft Schaumburg  hessischen  Antheils!  Einst  den  Cheruskern, 
ist  sie  nun  den  Katten;  ehedem  sächsisch,  ist  sie  nun  frän- 
kisch; —  mögen  darum  beide  Banner  ruhig  nebeneinander  auf 
den  Zinnen  der  Schaumburg  flattern,  Dingelstedts  neben  dem 
meinigen,  der  Löwe  des  Hessen  neben  der  Tricolore  des  West- 
phalen!  — 

Ungehärmt  und  unter  sicherm  Geleit  aber  werden  wir  dann 
weiter  ziehen  können,  so  weit  die  rothe  Erde  sich  erstreckt, 
durch  ihre  Wälder  und  Thalschluchten,  über  ihre  Berge  und 
Ströme,  mit  dem  Wanderslabe  als  Wünschelruthe,  die  stille 
steht,  wo  das  Gold  der  Poesie  versteckt  als  Sage  in  den  Trüm- 
mern alter  Schlösser  und  Burgen  ruht,  wo  Dome  sich  wölben 
und  Städte  mit  ihrem  Mauerkranze  sich  aufthürmen,  als  Wächter 
des  Hortes,  den  die  Geschichte  sich  dort  gesammelt  hat.  Das 
ist  das  Romantische,  das  wir  suchen:  die  Erinnerungen  der 
grossen  Zeil,  auf  welcher  die  unsere  gebaut  ist,  als  ein  zweites 
und  höherstehendes  Fachwerk,  abgetrennt  Avohl  und  ohne  Stiege, 
die  zu  jener  uns  zurückführen  könnte,  aber  auf  ihr  beruhend 
und  ohne  Basis  ohne  sie.  Darum  blicken  wir  gern  aus  unsern 
hellen  hohen  Räumen  durch  den  Boden  unter  unsern  Füssen,  der 
noch  nicht  fest  und  recht  gefügt  ist  und  Lücken  und  Spalten 
weisst,  hinunter  in  die  alten  dunklen  und  massiven  Kammern, 
wo  an  den  rothbekreuzten  Wänden  Speer  und  Tartsche  hangen 
und  die  verrosteten  Rüstungen  über  den  zerfetzten  Bannern  lie- 
gen. Und  wenn  der  Sturm  da  unten  durch  die  zerbrochenen 
Bleifenster  hineinzieht  und  durch  den  mächtigen  Kamin  gröhlt 
und  ächzt,  dann  ist  uns,  als  hörten  wir  aus  dem  Rasseln  der 
Waffenstücke  das  Schliessen  der  Visiere  heraus  und  wie  Schwert 
und  Helm,  Pfeil  und  Tarische  zusammenklirren,  eine  wilde  Kampf- 
musik voll  rauher  Melodien,  zu  der  wir  stolz  gehoben  uns  die 
Worte  und  Lieder  selber  dichten,  die  Lieder  von  Liebe  und  Hass 
der  starken  Zeit,  von  ihrer  Heldenherrlichkeit  und  der  Freiheit,  die 
auf  dem  Bewusstsein  ihrer  Kraft  als  dem  Königsschilde  emporgeho- 


—      19      — 

ben,  ihre  Herrscherin  war.    Das  ist  es,  was  wir  in  ihr  suchen, 
was  ihre  Geschichte  uns  so  theuer  macht.  — 

Aber  bei  all'  diesem  Schwertgeklirr  und  Wagengerassel ,  bei 
all'  diesem  Gewühl,  das  mit  eisernem  Fusstritt  die  Geschichte 
an  euch  vorüberzieh'u  lässt,  hört  ihr  auch  andere,  mildere  Klänge, 
die  wie   fernes  Glockengeläut  an   einem   schönen  Sommerabend 
warm  und  innig  euch    zum  Herzen  dringen.     Aus  den  Gründen 
steigen  sie    empor,  von  den  Bergen  tönen  sie  herab,  FelsAvand 
und  Gestein  hallen  sie  wieder,   und  unter  den  Wohnungen  der 
Menschen  sind  es  zumeist  die  niedrigen,  die  von  Holz  gebauten, 
mit  strohgedeckten  Dächern,  in   die  sie  einzielin  und   in   denen 
sie  fortvibriren.    Die  Silberglocken   der  Sage  sind's,   von  denen 
ich  rede.     Auch   unser  Westphalen    durchzittern  sie,   und  wenn 
ihr  das  Land  mit  mir  durchhorchen  wollt,   so  könnt  ihr  überall, 
wo    ein    abgeschlossenes    Waldthal    euch    aufnimmt,     oder   wo 
ihr  einsam  über  die  braune,  baumlose  Haide  einherschreilet,  oder 
wo  raschelnder  Epheu  ein  morsches  Gemäuer  umklammert,  ihre 
Töne  vernehmen.    Wahr  ist's,    die  Sagen  unsres  Landes  haben 
nicht  ganz  das  Tiefe  und  Poetische ,  das  die  Sagen  anderer  Gegen- 
den Deutschlands  ,  namentlich  die  des  Rheines,  auszeichnet.  Keine 
Lurlei  singt  auf  einem  Felsen   des  Ruhr-   oder  Weserthals  ihre 
verlockenden  Weisen ,  keinen  Roland  hat  Westphalen ,  der  düstern 
Blicks  im  hohen  Fensterbogen  steht,  und  hinunter  sieht  auf  das 
Eiland  seiner  Liebe,  und  wenn  ihr  Nachts  an  einen  schwarzen, 
schilfumrauschten  Waldteich  tretet,    so  harrt  ihr  vergebens   auf 
die  weisse  Nonnenhand ,  die ,  wie  jene  des  Laacher  Sees ,  flehend 
emportaucht  aus  der  Tiefe.     Die  Sagen  Westphalens  sind  derber 
und  einfacher,  als  die  des  übrigen  Gesammtvaterlandes,  ausgestreut 
aber  sind  sie,  wohin  ihr  immer  lauschen  mögt,  eine  allzeit  frische, 
nie  verwelkende  Volkspoesie.    Durch  die  Strassen  Hamelns  zieht 
Bundting,    der   seltsame  Rattenfänger;   in   den  Kirchenstühlen 
Corvey's  glänzt   die  todweissagende  Lilie;    durch   die   Schlösser 
des  Hauses   Lippe  schreitet  gespenstisch    die  weisse    Frau;    tief 
im  Köterberge  blitzt  es  von  Gold  und  Schätzen ,  und  im  Desenbcrge 
bei  Warburg  sitzt  verzaubert  Karl  der   Grosse,    mit   der  Krone 
auf  dem  Haupte,  und  dem  Scepter  in  der  Hand.     In  Westphalen 
schlug   er   seine   Schlachten,    am   Rhein   aber  pflanzte  er  seine 
Reben,  bau'te- er  seine  Pfalzen   und  Palläste,    und  ruhte   er  aus 
in   den  Armen  der  Liebe.    Darum  auch  lässt  ihn  der  Rhein  bei 

2* 


—       20      — 

nächtlicher  Weile  durch  die  "Weinberge  schreiten ,  und  seine  Trau- 
ben segnen;  darum  lässt  er  ihn  bei  Aachen  am  stillen  Wasser- 
spiegel sitzen,  und  Fastradens  gedenken,  Westphalen  aber  bannt 
ihn  in  den  Desenberg,  wo  er  einst  im  Sachsenkriege  ein  unter- 
irdisch Hoflager  gehabt  haben  soll.  Da  sitzt  er  und  träumt,  der 
Bart  wächst  ihm  durch  den  Tisch,  wie  Friedrich  dem  Rothbart 
im  Kyffhäuser,  und  gleich  diesem  wird  auch  er  einst  wiederkeh- 
ren, um  Land  und  Leute  von  Neuem  zu  regieren.  — 


Wenden  wir  uns  nun  zuerst  nach  Minden  zurück,  das  wir 
von  unsrer  Höhe  herab  mit  seinen  Thürmen  und  seiner  massiven 
Weserbrücke  tiberschauen.  Eine  andere  Derivation  wie  die  schon 
angeführte  leitet  den  Namen  von  dem  Worte  „Minnen"  her,  um 
der  „minniglichen"  Lage  der  Stadt  willen,  und  stützt  sich  dabei 
auf  das  nahe  „Himmelreich,"  „Amorkamp"  und  „Venusbach," 
(Yenebeck  jetzt.)  eine  Erklärung  die  gewiss  so  gut  ist,  wie  so 
manche  andre  ohne  alle  Kenntniss  der  Geschichte  und  regelrech- 
ten Entwicklung  unsrer  Sprache  unternommene.  Hat  doch  schon 
Meibom,  der  alte  Historiker,  ein  Gedicht  auf  Mindens  schöne 
Lage,  worin  es  heisst: 

^Ibi  rivi,  ibi  fontes , 
Ibi  aquae  nee  non  montes, 
Et  brutorum  pascuae; 
Inibi  videntur  frontes 
Dominarum  et  insontes, 
Ibi  torrens  Wiserae.  — 

Dort  sind  Bäche,  dort  sind  Quellen, 
Berge,  draus  die  Wässer  scliAvelien, 
Für  die  Heerden  Weideaun; 
Dort  sind  Frauen  mit  der  hellen 
Reinen  Stirne,  dort  die  Wellen, 
Die  die  Weser  strömt,  zu  schaun. "  — 

Die  ältföten  historischen  Erinnerungen  der  Stadt  knüpft  die 
Sage  an  den  Sachsenherzog  Wittekind ,  der  hier ,  im  Engernlande, 
seine  hauptsächlichsten  Besitzungen,  auf  den  Bergeshöhen,  welche 
von  der  Weserscharte  aus  gegen  Nordwesten  sich  erstrecken, 
seine  Burgen  hatte,  bleibt  auch  sein  eigentlicher  Wohnsitz  unge- 


21       

wiss.  Da,  wo  der  Dom  in  Minden  steht,  habe  er,  heissl  es, 
ein  festes  Schloss  gehabt,  von  dem  noch  ein  stariier  Thurm  bis 
zum  Jahre  1613  erhalten  ^vorden,  wo  ihn  der  Domprobst  habe 
wegräumen  lassen;  da  seien  in  seinen  unterirdischen  Yerliessen 
steinerne  Särge,  Gerippe  und  irdene  Gefässe  gefunden  worden. 
Dass  aber  Wittekind  seinen  Hof  hergegeben  habe  zur  Erbauung 
des  Christentempels,  sei  also  gekommen:  der  gewaltige  Sach- 
senführer hatte  einst  in  das  Gewand  eines  Bettlers  sich  gewor- 
fen und  so  einen  Weg  in  das  Lager  Karl's,  des  verderblichen 
Feindes  seines  Volk's,  des  „Kerl's"^,  gefunden.  Hier  feierte  man 
das  Fest  der  Auferstehung  und  Wittekind  sah,  wie  dem  Fran- 
kenkönige und  den  Seinen  das  Brod  des  Abendmahls  gereicht 
wurde.  Bei  diesem  Anblicke  wurden  seine  Augen  aufgethan  und 
er  sah  in  jeder  dargereichten  Hostie  ein  wunderschönes  Knäblein, 
bald  freundlich,  bald  traurig,  je  nachdem  der  J^Iensch  war,  der 
die  Hostie  empfing.  Da  warf  der  heidnische  Held  zerknirscht 
seine  Verhüllung  ab  und  trat  vor  seinen  Feind  hin,  um  ihm  die 
Friedensrechte  zu  bieten,  und  ihn  um  Priester  zu  bitten,  die 
solche  Wunder  wirken  könnten.  Karl  versprach  sie  ihm  und 
einen  Bischof  obendrein:  eine  weisse  Gans  bezeichnete  den  Ort, 
w^o  die  Cathedrale  des  Bischofs  zu  erbauen  sei. 

Eine  gelungene  Bearbeitung  dieser  Sage  hat  der  Graf  Platen 
geliefert,  wie  sie  hier  nachfolgt: 

Da  kaum  die  Hügel  matt  erhellte 
Der  morgenrothe,  liclite  Schein, 
Wer  schleicht  sich  in  die  Zelte 
Des  Frankenlagers  ein? 
Mit  Schritten  leise,  leise, 
Wie  Späherschritte  sind, 
Verfolgt  er  die  geheime  Reise ; 
Das  ist  der  Sachse  Wittekind. 

Schon  focht  er  wider  mulh'ge  Franken 
Durch  lange  Jahre  blut'gen  Streif, 
Und  grollte  sonder  Wanken 
Dem  Herrn  der  Christenheit; 
Nun  schlich  «r  kühn  und  schnelle 
Zum  Feinde  sich  bei  Nacht, 
Vertauschend  seine  Heldenfelle 
Mit  einer  feigen  Bettlertracht. 


22       

Da  fühlt  er  plötzlich  sich  umrungen 
Von  Melodien  sanft  und  weich, 
Gesungen  wird,  geklungen 
Wird  um  ihn  her  zugleich; 
Verwundert  eilt  er  weiter, 
Durchzieht  das  rüst'ge  Heer, 
Da  sieht  er  Beter  statt  der  Streiter, 
Das  Kreuz  als  ihre  ganze  Wehr. 

Weihnachten  war  herangekommen, 
Der  heil'ge  Morgen  war  entglüht, 
Und  innig  schwoll  des  frommen , 
Des  grossen  Karl's  Gemüth: 
Zum  hohen  Tempelbaue 
Liess  wölben  er  sein  Zelt, 
Dass  er  im  Land  der  Heiden  schaue 
Die  Glorie  der  Christenwelt. 

Hoch  über'm  Altar  prangt  und  raget 
Ein  blauer  golddurchwirkter  Thron, 
Drauf  sitzt  die  reine  Maget, 
Und  ihr  im  Schoss  der  Sohn. 
Hell  schimmert  rings  das  schöne , 
Das  heilige  Geräth, 
Und  alle  Farben,  alle  Töne 
Begrüssen  sich  mit  Majestät. 

Schon  kniete  brünstig,  stillandächtig 
Der  Kaiser  vor  dem  Hochaltar, 
Mit  Grafenkronen  prächtig 
Um  ihn  die  Heldenschaar; 
Schon  fällt  vom  Spiel  der  Lichter 
Ein  rosenfarbner  Schein 
Auf  ihre  klaren  Angesichter,, 
Da  tritt  der  Heide  kek  hinein. 

Er  staunt,   als  er  die  stolzen  Päre 
Mit  Karl  auf  ihren  Knien  erkennt , 
Damit  sie  himmlisch  nähre 
Das  ew'ge  Sakrament; 
Doch  staunt  er  dess  nicht  minder. 
Da  sich  kein  Priester  fand. 
Und  sieh!  es  kamen  Engelkinder 
Im  blüthenweissen  Lichtgewand. 


—      23      — 

Sie  boten  zum  Versöhnungsmahle 

Die  Hostie  dem  Kaiser  dar, 

Die  auf  smaragdner  Schaale 

Sie  trugen  wunderbar: 

Und  Jubel  füllt  die  Seelen 

Empfahend  Brod  und  Wein, 

Es  dringt  ein  Lied  aus  tausend  Kehlen 

Vom  göttlichen  Zugegensein. 

Der  Sachse  steht  betäubt,  er  faltet 

Die  Hände  fromm,    sein  Aug'  ist  nass, 

Das  hohe  Wunder  spaltet 

Den  heidnisch  argen  Hass: 

Hin  eilt  er  wo  der  Haufe 

Mit  frohem  Blick  ihn  misst: 

Gib,  Karl,  dem  Wittekind  die  Taufe, 

Dass  er  umarme  dich  als  Christ! 

Die  Sage  bezeichnet  einen  „Königsborn"  bei  Minden  als  die 
Stelle  der  Taufe  des  Sachsenherzogs:  da  aber  diese  in  Attigui 
statt  fand,  so  schliesst  man  mit  mehr  Recht,  dass  der  Born  sei- 
nen Namen  von  Conrad  dem  Salier  erhalten  habe,  der  1026  zwei 
Jahre  lang  in  Minden  war  und  einen  Reichstag  hielt. 

So  wurde  das  Bisthum  Minden  gestiftet,  im  Jahre  803  oder 
780,  und  nachdem  der  erste  Präsul  der  neuen  Diöcese  verschie- 
den war,  folgten  ihm  noch  59  andere,  bis  Karl's  des  Grossen 
Werk  umgestürzt  wurde,  und  der  Westphälische  Frieden  die  sella 
episcopalis  der  hohen  Domkirche  zu  Minden  vor  die  Thüre  stellte, 
nachdem  sie  so  lange  als  Schlummerstuhl  für  die  einst  jugend- 
lich blühende,  hehre  Jungfrau  mit  dem  Schwert  in  der  einen, 
und  dem  Kreuz  in  der  andren  Hand,  mit  dem  Palmenzweige  der 
Yerheissung  um  das  orientalisch  dunkle,  glänzende  Haar,  die 
Idee  Karl's  des  Grossen,  gedient  hatte.  Die  Geschichte  die- 
ser Bischöfe  bietet  wenig  Interessantes  dar:  Erwerbungen 
von  Grundeigenthum ,  Errichtung  von  Freistühlen  der  Fehme, 
Reibungen  mit  dem  Domkapitel,  mit  der,  nach  demokrati- 
scher Regierungsform  strebenden  Hauptstadt ,  später  die  Un- 
ruhen, welche  die  Verbreitung  der  Reformation  in  ihrem  Ge- 
folge hat,  Fehden  mit  den  Nachbarn  u.  s.  w.,  das  ist  es,  wo- 
von fast  einzig  ihre  Annalen  zu  melden  haben.  Und  das  ist  über- 
haupt die  Geschichte  eines  solchen  Westphälischen  Bisthums,  die 
in  ihren  Grundzügen  fast  immer  dieselbe  bleibt,  bei  Minden  so  wie 


—       24      — 

bei  Paderborn,  den  Stiftern  Engerns,  bei  Münster,  so  wie  bei 
Osnabrück,  den  Stiftern  des  eigentlichen  Westphalens.  Zu- 
erst hat  weite  unendliche  Waldung  über  der  Gegend  gelegen, 
nur  gelichtet,  wo  ein  einzelner  Hof  der  Sassen  sein  Strohdach 
über  den  schlechtgefügten  Quadern  oder  den  moosverstopften 
Balken  der  rohen  Wände  erhebt;  lange  Zeit  erst,  nachdem  das 
Christenthum  jenseits  des  Rhein's  bei  den  Franken  verbreitet 
worden,  wagen  seine  Apostel  sich  bis  hierhin^  um  die  Nacht  der 
Gegend  und  den  Sinn  des  Volks  zu  hellen,  und  das  Wort  zu 
bringen,  wo  man  nichts,  als  die  rohe  That  kennt.  Das  geschieht 
um  die  Zeit  zumeist,  wo  die  ersten  Karolinger  das  Frankenreich 
beherrschen,  im  siebenten  Jahrhundert.  Die  Apostel  kommen  aus 
Franken,  am  häufigsten  aber  aus  Irland  oder  England  herüber, 
wo  schon  seit  Pabst  Gregor  dem  Grossen,  durch  die  Ueberzeu- 
gung  und  friedliche  Belehrung  verbreitet,  das  Christenthum  blüht: 
es  ist  wunderbar,  wie  überhaupt  jene  britischen  Inseln  uns  vor- 
aus gewesen  sind,  wo  immer  ein  neues  Werden,  eine  neue  Er- 
scheinung der  welthistorischen  Idee  für  Jahrhunderte  sich  vor- 
bereitet. Sie  haben  uns  aus  Irland  die  ersten  Apostel  des  Chri- 
stenthums  gesandt:  sie  haben  in  Wicklef  den  Anfang  der  Refor- 
mation bezeichnet,  dann  in  Baco  von  Verulam  und  Locke  die 
beiden  Thorsäulen  am  Tempel  der  äusseren  Philosophie  der 
neuern  Zeit,  in  Bolingbrocke ,  Shaftesbury  und  Andren  die  ersten 
Pechfackeln  der  Aufklärung  des  achtzehnten  Jahrhunderts,  woran 
später  die  Französischen  Materialisten  ihre  thörichten  Jungfrauen- 
Lämpchen  entzündeten,  aufzuweisen:  und  jetzt,  sind  sie  nicht 
wieder  die  Ersten  gewesen,  welche  die  industrielle  und  mate- 
rielle Richtung  unsrer  erfindungsreichen  Zeit  eingeschlagen  haben  ? 
Ihres  politischen  Vorgängerthums  nicht  einmal-  zu  gedenken. 
Doch  dies  im  Vorübergehen  —  obwohl  wir  bei  unsrer  Wande- 
rung durch  Westphalen  noch  auf  Manches  stossen  werden,  was 
in  Clima,  Charakter  der  Einwohner,  Sprache  und  Physiognomie 
der  Gegend  an  England  uns  erinnert. 

Die  christlichen  Missionare  gewinnen  nun  durch  die  begei- 
sterte Macht  ihres  Wortes,  durch  die  Kraft,  die  der  Wahrheit 
innewohnt,  und  den  Muth,  der  sie  die  Hand  an  die  geweihten 
Irmensäulen  oder  die  heiligen  Eichen  legen  lässt,  dem  harten 
Sinn  des  Volkes  einen  Glauben  ab,  der  zuerst  noch  störrisch 
mit  allerlei  wunderlichem   Heidenthum  gemischt,  der  christlichen 


—       25      — 

Lehre  mannigfache  Concessionen  abdringt,  dafür  aber  sich  lau- 
fen lässt  und  mithilft  an  der  Erbauung  kleiner  Waldkapellen,  bei 
denen  einer  der  frommen  Männer  zurückbleibt  zum  Dienste  des 
erkannten  Gottes.  Oft  aber  werden  die  Apostel  Opfer  ihres 
Eifers :  oder  sie  müssen  Tagelang  ohne  Labung  durch  die  Wäl- 
der ziehen,  um  vor  der  verfolgenden  Rohheit  sich  zu  retten. 
Fromme  Frauen,  bei  denen  ihre  Lehre  zuerst  Eingang  gefunden, 
beherbergen  und  pflegen  sie;  sie  wirken  ein  Wunder  zu  deren 
Belohnung,  wie  bei  ihrem  Grabmale  ebenfalls  Wunder  geschehen. 
Sagen  erhalten  uns  das  Andenken  daran;  sie  verscheuchen  die 
Unzahl  schädlicher  Yögel,  wie  Sankt  Ludger  die  wilden  Gänse 
zu  Billerbeck,  sie  lassen  Quellen  in  der  Einöde  aus  Felsen  ent- 
springen, heilen  Kranke  u.  s.  w.,  um  mit  äusserlichem  Wohlthun 
die  innere  Wohlthat  ihres  Wortes  anzudeuten.  Die  Poesie  zieht 
in  diesen  Sagen  zum  erstenmal  durch  unsere  Eichenwälder,  aber 
nicht  wie  die  spätere  Poesie  des  Mittelalters,  eine  blühende,  in 
Himmelblau  gekleidete  und  verlockende  Jungfrau,  die  voll 
selbstbewusster  Schöne  keck  in  dem  Sattel  ihres  milchweissen 
Zelters  sich  schaukelt  und  mit  ihm  durch  den  Tann  einhersprengt, 
den  muthigen  Falken  auf  der  Faust,  den  liebesiechen  Minnesän- 
ger und  den  begehrenden  ungestümen  Paladin  in  ihrem  Gefolge; 
—  es  ist  die  weissverschleierte  Gestalt  der  Legende,  die  in  Non- 
nentracht und  mit  dem  schwarzen  Kreuz  auf  dem  ruhig  wallenden 
Busen  ihren  nakten  Fuss  scheu  und  doch  voll  tiefinnigen  Yer- 
Irauens  auf  das  Waldesmoos  setzt,  und  zum  Beten  niederkniet, 
wo  unter  dem  düstern  Laubdach  einer  Linde  die  herzgeformten 
Blätter  ein  verwittertes  Steinkreuz  oder  ein  Marienbild  beschatten. 
Sie  hat  keine  Epheu-  oder  Eichenkränze,  um  ihre  Getreuen 
damit  zu  krönen;  aber  wem  sie  segnend  die  weisse  stigmatisirte 
Hand  auf  die  Locken  legt,  um  dessen  Haupt  leuchtet  die  Glorie 
des  Heiligenscheines:  so  hat  sie  die  Ewaldsbrüder,  die  heilige 
Ida,  den  heiligen  Switbert,  des  Earl  Siegfried  von  Northum- 
berland  Sohn  und  viele  Andre  gesegnet. 

Karl  der  Grosse  kommt,  um  mit  geharnischter  Rechte  der 
Bannerträger  des  Kreuzes  in  diesen  Gegenden  zu  werden:  aber 
wenn  auch  als  Eroberer  seine  Paladine  durch  die  Waldungen 
Westphalens  ziehen,  so  bringen  sie  den  Krieg  doch  nur  als  den 
Diener  des  Friedens:  nicht  wie  die  Römer,  die  bis  zum  Rhein 
und  zur  Weser  vordrangen,  legt  der  Frankenkönig  feste  Plätze 


—      26      — 

und  Castelle  in  dem  eroberten  Lande  an,  um  es  im  Zaum  zu 
halten,  sondern  Kirchen  und  Stifter  Averden  die  Haltplätze  seiner 
Gewalt,  und  wehrlose  Priester  die  Burgmänner,  die  sie  beschüt- 
zen sollen.  Die  Unterwerfung  des  Landes  wurde  um  so  dauern- 
der durch  diese  Festungen,  welche  die  Gemüther  in  der  Furcht 
Gottes  hielten ,  nicht  die  Leiber  in  Furcht  vor  Fränkischem  Wurf- 
geschiitz,  das  die  Sassische  Kraft  nach  Karl's  Tode  doch  wie- 
der überwältigt  hätte.  —  Auch  an  Karl's  des  Grossen  Erschei- 
nung knüpft  die  Legende  Wunderwirkungen,  wie  die  Sage 
mannigfache  Mähren;  so  schlägt  er  mit  einer  Gerte  einen  Fel- 
senblock bei  Osnabrück  in  Stücke,  der  als  heidnischer  Opfer- 
altar gedient  hatte.  — 

Dem  grossen  Karl,  dem  „aisken  Schlächter"  wie  ihn  die 
Sachsen  in  ihren  Verwünschungen  nannten,  soll  Westphalen  nach 
A.  W.  Schlegels  Behauptung  noch  einen  Vorzug  verdanken,  der 
sich  seit  vielen  Jahren  schon ,  was  man  auch  sonst  von  dem 
Lande  sagen  mag,  einer  allgemeinen  und  gerechten  Anerkennung 
erfreut.  Schlegel  hat  davon  in  seinem  Trinklied  auf  Karl  den 
Grossen  also  gesungen: 


Es  lebe  Karl  der  Grosse, 
Ein  echter  deutscher  Mann 
Und  jeder  Deutsche  stosse 
Mit  seinem  Becher  an! 


Am  Rüdesheimer  Berge 
Hat  er  den  Wein  gepHanzt, 
Wo  Nixen  sonst  und  Zwerge 
Um  Hatto's  Thurm  getanzt. 

Wenn  wir  den  Rheinwein  trinken 
So  werde  sein  gedacht; 
Auch  die  westphälschen  Schinken 
Hat  er  erst  aufgebracht. 

Er  taufte  ja  die  Sachsen; 
Es  war  ein  strenges  Muss; 
Er  zog  sie  bei  den  Fachsen 
Wohl  in  den  WeserHuss. 


—      27       — 

Die  heidnischen  Westphalen, 
Die  schlachteten  nicht  ein ; 
Die  Mönche  drauf  befahlen 
Ein  fett  St.  Martinsschvvein. 

Den  heil'gen  Mann  zu  ehren , 
Hing  man  sie  in  den  Rauch : 
So  sah  man  sich  vermehren 
Den  lobenswerthen  Brauch. 

Es  lebe  Karl  der  Grosse, 
Ein  echter  deutscher  Mann! 
Und  jeder  Deutsche  stosse 
Bei  seinem  Namen  an ! 

Kehren  wir  zu  unsrer  historischen  Skizze  zurück.  —  Wo 
ein  bedeutender  Hof  liegt,  wie  in  Minden  der  Wittekinds,  oder 
wo  mehrere  zusammenlagen,  wie  die  vier  Höfe  an  der  Stelle, 
wo  jetzt  Münster  steht,  wo  schon  früher  Gottesdienst,  wenn  auch 
heidnischer,  gehalten  wurde,  da  wird  der  Bischofssitz  errichtet, 
und  die  Kirche  erbaut ,  wo  durch  ein  wunderbares  Ereigniss ,  das 
nächtliche  Leuchten  einer  Flamme  z.  B.,  die  als  second  sight  die 
ewige  Lampe  in  dem  zu  erbauenden  Gotteshause  vorbedeutet, 
der  Ort  angezeigt  wird.  Wie  nun  eine  Stadt  umher  ersteht,  wie 
der  Bischof  zu  der  Ausübung  seiner  rein  geistigen  Mission  nach 
und  nach  auch  die  weltliche  des  Grafenamts  in  seinem  Gau 
fügt  und  endlich  Landesherr  wird :  wie  die  alte  Regel  des  Zu- 
sammenlebens der  Domgeistlichen  umgangen  und  Chrodegang's  von 
Metz  Vorschriften  über  die  klösterliche  Einrichtung  der  Stifter  ver- 
gessen werden  u.  s.  w. ,  wird  in  der  allgemeinen  Geschichte  des 
Deutschen  Reiches  erzählt.  Die  Deutsche  Reichsgewalt  und  ihr 
Träger  hatten  wenig  Macht  über  die  Westphälischen  Verhältnisse; 
die  Sitze  der  Kaiser  waren  entfernt,  und  der  Weg  zu  ihnen  weit: 
man  sagt  ja,  ein  Bischof  von  Osnabrück  habe  ein  volles  Jahr 
Zeit  gebraucht ,  um  sich  gen  Worms  zu  Kaiser  und  Reichstag  auf 
den  unwirthbaren  und  unsichern  Strassen  durchzuarbeiten  :  so  hiess 
es  auch  für  Westphalen:  procul  a  Jooe ,  procul  a  fultnine,  und 
Fehden  und  Raufereien,  Sengen  und  Brennen  durchtobten  desto 
toller  und  wilder  das  Land.  Die  benachbarten  Dynasten  sind  es, 
die  unter  sich  oder  verbündet  gegen  das  Stift  den  Kampf  begin- 
nen; die  Bischöfe  treten  als  friedenwirkende  Vermittler  oder  als 
Sühner  und   Rächer  begangener  Unbilden   darin  auf,  wenn  sie 


—      28      — 

nicht  selbst  angegriffen  —  oft  von  dem  eignen  Schirmvogt  ihrer 
Kirche  —  sich  in  den  Stegreif  erheben  und  den  Hirtenstab  mit 
dem  Schwerte,  die  Infiil  mit  dem  Helm  vertauschen.  Sie  sind 
meist  siegreich  in  diesen  Fehden,  wenn  nicht  etwa  ein  Friedrich 
von  Isenburg  meuchlerisch  sie  erschlägt,  wie  den  heiligen  Engel- 
bert von  Köln ;  —  sie  wissen  dann  auch  den  Sieg  zu  benutzen, 
wie  davon  die  Burggrafschaft  Stromberg,  und  die  schönsten  Be- 
sitzungen der  Grafen  von  Tecklenburg  zeugen,  die  unter  die 
Herrschaft  des  Krummstabs  gebracht  wurden  mit  gewaffneter 
Hand.  So  auch  Ottenstein,  die  feste  Burg  des  Grafen  von  Solms, 
die  Bischof  Otto  lY.  von  Münster  acht  Jahre  lang  belagerte  und 
endlich  durch  Hunger  zu  der  Capitulation  zwang,  die  Weiber 
sollten  frei  mit  so  vielem  ihrer  Habe,  als  sie  zu  tragen  vermöch- 
ten, ausziehen,  die  Männer  aber  sich  gefangen  geben.  Als  dar- 
auf das  Thor  der  Feste  sich  erschloss,  sah  man  eine  schöne 
kräftige  Jungfrau  mit  einem  schweren  Manne  auf  ihren  Schultern, 
in  ihrer  Schürze  werthvolle  Urkunden  und  Geschmeide,  heraus- 
schreiten: es  war  die  Tochter  des  Grafen  Heinrich,  die  so  ihren 
Vater  aus  den  Händen  des  grimmen  Bischofs,  den  man  den  Hek- 
tor  Westphalens  nannte ,  rettete  und  gegen  seinen  Unwillen  Schutz 
bei  dem  in  der  Nähe  mit  vielen  Reisigen  haltenden  Geliebten, 
dem  jungen  Grafen  von  Steinfurt  fand,  der  jetzt  nicht  zögerte, 
sie  auf  seine  Burg  heimzuführen. 

Einen  langwierigen  und  öfter  gegen  sie  ausschlagenden 
Kampf  hatten  die  Bischöfe  mit  den  Hauptstädten  ihres  Landes  zu 
bestehen :  die  Westphälischen  Städte  waren  fast  alle  in  den  Bund 
der  Hansa  aufgenommen  und  wurden  blühend  und  reich  dadurch; 
das  Bcwusstsein  ihrer  immer  wachsenden  Macht  leitete  sie  bald 
zu  dem  Streben  nach  der  Freiheit,  welche  die  corporative  Ten- 
denz des  3Iitlelalters  im  Auge  hatte ,  und  welche  so  manche 
unabhängige  Stadt  im  deutschen  Reiche  besass :  so  entzogen  sie 
sich  nach  und  nach  dem  Grafenamt,  oder  der  Territorial-Hoheit 
des  Bischofs  und  beförderten  die  Fehmgerichte,  um  der  geistli- 
chen Jurisdiction  sich  zu  entziehen:  unterdess  bildete  sich,  meist 
nach  dem  Muster  des  Soester  oder  Magdeburger  Stadtrechts,  ihre 
innere  Verfassung  aus,  gewöhnlich  von  aristokratischen  Formen 
zu  demokratischen  übergehend;  den  Bischöfen  aber  blieb  in 
ihrer  eignen  Hauptstadt  oft  nicht  das  Recht  des  Uebernachtens 
und  daher  kam  es ,  dass  die  von  Minden  in  Petershagen ,  die  von 


—      29      — 

Osnabrück  in  Iburg,  Fürstenau,  auf  der  Petersburg,  die  von 
Paderborn  in  Neuhaus,  die  von  Münster  endlich  allenthalben, 
nur  nicht  in  Münster  residirten.  Doch  wusste  in  dem  letztge- 
nannten Stifte  die  Energie  Christoph  Bernhards  von  Galen  alle 
Rechte  und  Ansprüche  des  bischöflichen  Stuhles  gegen  die  Haupt- 
stadt auf  eine  so  unwiderstehliche  Weise  geltend  zu  machen,  dass 
der  stolze  Senat  sich  endlich  sogar  gefallen  Hess,  einmal  im 
Jahre  bei  einer  Prozession  hinter  den  Schülern  einherzuschreiten. 

Die  Reformation  dringt  endlich  auch  bis  in  das  gläubige 
Westphalen  und  mit  ihr  kommt  eine  Zeit  voll  Wirren  und  Unruhe; 
das  neue  Licht  geht  nicht  wie  eine  milde  Sonne  in  ruhiger,  un- 
nahbarer Majestät  auf,  sondern  es  offenbart  sich  wie  ein  Wet- 
terleuchten im  Sturme,  es  kommt  dem  Blitze  gleich,  der  ein  blu- 
tigrothes  Kreuz  durch  die  Wolken  wettert:  dem  geschichtlichen 
Verlaufe  dieser  Erscheinung  aber  haben  wir  im  allgemeinen  hier 
nicht  mehr  zu  folgen,  hier,  wo  wir  das  Pittoreske  und  die  Ro- 
mantik des  Landes  und  seiner  Geschichte  aufsuchen;  die  Refor- 
mation ist  ja  das  Antiromantische. 

Die  Geschichte  des  Bisthums  und  der  Stadt  Minden  ist  von 
diesem  allgemeinen  Verlaufe  durch  wenig  andres  ausgenommen, 
als  eine  Achtserklärung  etwa,  die  Karl  V.  über  die  Bürger,  als 
Genossen  des  Schmalkaldischen  Bundes  und  Räuber  an  den  Be- 
sitzthümern  der  Kirche ,  verhängte.  Nach  der  Bestimmung  des 
Westphälischen  Friedens  kam  die  Stadt  und  das  Fürstenthum  an 
Churbrandenburg ;  am  15.  October  iG49  trat  der  schwarze  Adler 
an  die  Stelle  der  zwei  gekreuzten  silbernen  Schlüssel  im  rothen 
Felde,  dem  Wappen  der  Stadt,  und  am  1.  Februar  1650  nahm 
der  grosse  Kurfürst  persönlich  die  Huldigung  entgegen.  —  Im 
lahre  1759  wurde  ein  Französisches  Heer  unter  Contades,  85000 
Mann  stark,  in  der  Ebene  südlich  von  Minden  vom  Herzog 
Ferdinand  von  Braunschweig  geschlagen. 

Unter  den  Gebäuden  Mindens  zeichnet  sich  nur  der  Dom  aus, 
und  auch  der  ist  eben  kein  Muster  von  der  hohen  A'ollendung, 
w^elche  die  Baukunst  des  Mittelalters  da,  wo  sie,  „versteinerte 
Musik"  schaffte,  sonst  erreichte.  Im  Jahre  1062  zerstörte  eine 
grosse  Feuersbrunsl,  als.  gerade  Kaiser  Heinrich  IV.  in  ]\Iinden 
sich  aufhielt,  die  früher  an  der  Stelle  stehende  kleinere  Kirche, 
die  dem  heiligen  Gorgonius ,  Laurenfius  und  Alexander  geweiht 
war:  da  bauete  man  die  jetzige  Calhedralc  in  ungefähr  zehn  Jah- 


—      30      — 

ren  auf  und  suchte  den  einfachen  Struckturen  im  vorgothischen 
Geschinacke  durch  grossartige  Dimensionen  das  Imponirende  zu 
geben,  das  uns  anweht,  wenn  die  hohen  gelben  Quadermauern 
der  Wände  und  die  Kreuzgewölbe  der  von  hohen  Pfeilern  getra- 
genen Decke  uns  umfangen.  Das  Domkapitel  hat  das  Bisthum 
überlebt.  In  dem  Homagialrecesse  von  1650  bestätigt,  ward  es 
erst  1808  aufgehoben.  Andre  Stifter  hatte  Minden  mehrere,  dar- 
unter das  Chorherrnstift  zu  St.  Martin  und  das  (seit  der  Refor- 
mation) freiweltliche  adliche  Fräuleinstift  zu  St.  Marien.  In  der 
Martins -Kirche  wird  ein  Gemälde  gezeigt,  das  man  Lucas  Kra- 
nach zuschreibt.  In  Minden  befindet  sich  ausserdem  eine  Privat- 
Sammlung  ganz  ausgezeichneter  Bilder  altdeutscher  Schule,  auf 
welche  wir  beim  Geburtsorte  Israel's  von  Meckenem,  des  Gold- 
schmids  von  Bocholt  und  bei  Gelegenheit  des  Liesboruer  Mei- 
sters zurückkommen  werden.  —  Wenden  wir  nun  das  Auge  ab 
von  den  Thürmen  und  Bastionen  der  besprochenen  Stadt  und  von 
den  Erinnerungen  aus  alter  Zeit,  welche  sich  für  uns  daran  ge- 
knüpft haben  und  lassen  es  den  ruhigen  Spiegel  der  Weser  hin- 
aufgleiten, die  von  der  Porta  an  durch  eine  fruchtbare  bebaute 
Ebene  ihre  Wässer  den  Bogen  der  Mindener  Brücke  zuwälzt. 
Vor  uns  in  der  Porta,  höchst  malerisch  am  rechten  Weserufer 
an  dem  Berge  sich  hinaufziehend ,  welcher  der  letzte  Höhenpunkt 
des  Süntelgebirges  ist  und  den  man  nach  einem  früher  darauf 
angesiedelten  Invaliden  den  Jacobsberg  genannt  hat  —  liegt 
Hausberge ,  das  „Haus  der  edlen  Herrn  vom  Berge",  eines  mäch- 
tigen Geschlechts,  das  bis  zu  seinem  Erlöschen  am  Ende  des 
14.  Jahrhunderts  die  erbliche  Schutzvogtei  über  die  Mindensche 
Kirche  besass,  und  als  Nachkommen  Wittekinds,  dessen  Namen 
fast  alle  Glieder  der  Familie  trugen ,  betrachtet  wurde.  Es  ge- 
hörte wenigstens  zu  den  wenigen  altsächsischen  Geschlechtern, 
die  sich  trotz  der  karolingischen  Eroberung  und  des  Fränkischen 
einwandernden  Adels  in  ihren  Sitzen  erhielten :  denn  unser  West- 
phälischer  Adel  ist  fast  insgesammt  fränkisch.  Der  Stammsitz 
der  Herrn  vom  Berge  scheint  ursprünglich  auf  der  Höhe  gelegen 
zu  haben,  welche  uns  als  Warte  dient,  und  in  Urkunden  als 
mons  Wedigonis  mit  einem  castellum  Widegenborch  vorkommt. 
Dieser  Berg  hat  uns  fast  800  Fuss  über  den  Weserspiegel  em- 
por getragen  ,  und  bildet  die  erste  wie  die  höchste  Spitze  des 
„Wiebengebirgs/^     Minoritenmönche  erbauten  im  13.  Jahrhundert 


—      31      — 

die  Margarethenklause  darauf:  im  10.  Jahrhundert  lebte  amWedi- 
gensteine,  wie  noch  jetzt  das  amFusse  des  Wittekindsberges  halb 
im  Walde  versteckte  Gehöft  heisst ,  eine  fromme  Frau ,  Theut- 
wif,  welche  gleichgesinnte  Frauen  um  sich  sammelte,  um  mit 
ihnen  nach  der  Regel  des  heiligen  Benedikt  dort  ihr  Leben  dem 
Gebete  zu  weihen.  Bischof  Milo  baute  ihnen  ein  Kloster,  das 
aber  bald  verlassen  wurde,  um  in  der  Stadt  selbst  sich  anzusie- 
deln, wo  das  Fräuleinstift  zu  St.  Marien  daraus  entstanden  ist. 
Man  hat  das  bekannte  schöne  Volkslied  vom  Fräulein  vom  Berge 
an  diese  Oertlichkeit,  die  Ruinen  des  Schlosses  in  Hausberge 
und  das  jetzt  verschwundene  Kloster  vom  Wittekindsberge,  ge- 
knüpft. 

Wir  wandern  nun  an  den  Gestaden  der  Weser  hinauf  in  süd- 
licher Richtung,  und  gelangen  so  zuerst  nach  Rehme  ,  einer  rei- 
chen Saline,  in  deren  Nähe  die  aus  dem  Teutoburger-Walde  an 
Herford  vorbeifliessende  Werre  sich  in  die  Weser  mündet  — 
dann  nach  Vlotho,  der  ,,Fluthau",  einem  reizend  liegenden  Städt- 
chen am  Fusse  eines  Berges ,  der  die  Ruinen  eines  früheren  Ami- 
hauses trägt.  Die  Gebirge  engen  den  Strom  hier  ein  und  bilden 
eine  der  schönsten  Stellen  seines  Thaies.  W^eiter  schreitend  in 
den  alten  Gau  Osterburg  hinein,  den  die  W^eser  vom  jenseiti- 
gen Buckigau  scheidet,  gewahren  wir  die  Höhe  von  Yarenholz 
auf  Lippischem  Gebiete,  mit  seinem  Schlosse,  das  1595  Graf 
Simon  VL  von  der  Lippe  mit  Benutzung  der  Reste  einer  alten 
sächsischen  Burg  erbaute,  welche  hier  vor  dem  Walde,  „vor'n 
Holte"  stand,  woher  der  jetzige  Name.  Die  Berge  weichen 
hier  von  der  Weser  auf  dem  linken  Ufer  zurück ;  die  nächste 
Stadt,  welche  der  Fluss  bespült,  Rinteln,  liegt  in  einer 
Ebene.  In  dem  Schlosse  zu  Yarenholz  soll  sich  die  weisse  Frau 
zeigen,  die  auch  in  den  andern  Schlössern  des  Lippeschen  Für- 
stengeschlechts umgeht.  Die  Stadt  Rinteln  war  lange  der  Sitz 
einer  Universität,  aber  es  scheint  nicht,  dass  das  Licht,  welches 
von  ihr  ausging  je  ein  hellleuchtendes  gewesen  sei,  es  würde 
sonst  die  blutigen  Flammen  der  Scheiterhaufen  nicht  neben  sich 
geduldet  haben,  die  man  im  siebenzehnten  Jahrhundert  mit  sol- 
cher Wuth  in  dieser  Musenstadt  schürte,  dass  kein  altes  Mütter- 
chen ihres  Lebens  sicher  war.  In  den  Jahren  1653  bis  60  soll 
der  weise  und  fürsichtige  Stadtrath  von  Rinteln  diese  evange- 
lisch-lutherischen Auto-da-fe  s  in  solcher  Anzahl   und  mit   einer 


Grausamkeit  gefeiert  haben,  dass  sie  den  Blutfesten  des  spani- 
schen Wuthglaubens  nichts  nachgeben.  War  es  deshalb,  dass 
grade  in  Rinteln  der  edle  Spee  1631  sein  berühmtes  Werk: 
caiiHs  criminalis  contra sagas ,  herausgab?  Man  weiss  nur,  dass 
es  dort  wenig  fruchtete. 

Hinter  Rinteln  bilden  auf  dem  rechten  Weserufer  die  jähen 
und  steilen  Höhenzüge  des  Süntels  (Sunthal,  Sonnenthal,  wie 
man  etymologisirt} ,  auf  dem  linken  die  mehr  sich  abflachenden 
Gebirge,  die  vom  Osning  oder  Teutoburger  Walde  aus  durch 
das  Lippische  bis  hierher  sich  ziehen,  eines  der  schönsten 
Stromthäler  in  Deutschland.  Die  höchst  malerischen  Punkte  des 
Paschen-  oder  Osterberges  mit  dem  alten  Schlosse,  die  Schaum- 
burg, des  Hohenstein's ,  der  wie  der  Stammvater  des  ganzen 
Süntelgebirgs  ragt,  des  Wasserfalls  bei  Langenfeld  darzustellen, 
muss  ich  dem  Crayon  und  dem  Grabstichel  überlassen ;  und  auch 
sie  können  den  Zauber  nicht  Aviedergeben ,  den  dies  gesegnete 
wunderschöne  Thal  mit  seinen  frischen  reichbelaubten  Waldhöhen, 
mit  seinen  fruchtbaren  Stromgestaden  auf  uns  übt.  Der  Blick 
schweift  von  der  Höhe  des  Paschenberges  über  die  ganze 
herrliche  Landschaft  von  den  Porta -Bergen  bis  nach  Hameln, 
das  mit  seinen  Thürmen  am  Horizonte  auftaucht:  gegen  Nordost 
ragen  die  Gipfel  des  Deistergebirges,  südwestlich  ihnen  gegen- 
über die  Hügelrücken  Pyrmonts  und  des  Lipper  Waldes,  ja  bei 
heitrem  Himmel  im  Osten  wolkenhaft,  ganz  in  die  blaue  Ferne 
gerückt,  die  Spitze  des  Brockens  empor;  unten  schlängelt  sich 
in  behaglicher  Ruhe  der  Fluss,  von  Hameln  bis  Rinteln  nach 
Nordwesten,  von  da  bis  gen  Ylotho  ganz  nach  Westen  strebend. 
—  Aber  man  wähle,  welchen  Standpunkt  man  will,  auf  der 
Lüdener  Klippe,  auf  dem  Hohenstein,  auf  der  kahlen  Halde  des 
Papenbrinks ,  überall  blickt  man  hinab  auf  ein  Gefilde ,  das  mit 
Recht  das  des  Sonnenthals  heisst.  Die  Geschichte  und  die  Sage 
hat  diese  Landschaft  sich  geweiht;  hier,  wo  das  Gebiet  der 
Cherusker  mit  dem  der  Angrivarier  zusammenstiess,  wurde  die 
Schlacht  des  Germanikus  auf  dem  Felde  Idistavisus  (von  Stau, 
Marschland,  Yisi,  Wiese  und  Jda,  Klippe,  Fels,  also  Felsen- 
stauwiese?) geschlagen;  an  derselben  Stelle  wurden  Karl's  des 
Grossen  Feldherren  Adalgis  Geilo  und  Warand  sammt  ihren 
Franken schaaren  von  Wittekind  vernichtet;  in  neuerer  Zeit  blu- 
teten hier,  beim  Segelhorster  Berg,  1633,  die  liguistischen  Heer- 


;'AO  S1S!?S1:1!'Ü\1I:j1IL  ■  B  • 


—      33      — 

häufen  des  Grafen  Merodc  unter  dem  Schwerte  des  protestanti- 
schen Herzogs  Georg  von  Lüneburg.  Die  Sage  lässt  auf  dem 
Pascha-  oder  Oslerberge,  dem  die  flammende  Feier  des  christli- 
chen Auferstehungsfestes  seinen  Namen  gab,  schon  früher  den 
heidnischen  Lichtdienst  der  Gottheit  des  strahlenden  Morgens, 
des  aufsteigenden  Lichts,  der  Ostara,  halten.  Sie  war  ja  eine 
freudige,  eine  heilbringende  Erscheinung,  deren  Begriff  leicht 
für  das  Auferstehungsfest  des  christlichen  Gottes  von  seinen 
Dienern  verwandt  werden  konnte.  Noch  lange  nachher  be- 
hauptete der  Yolksglaube,  die  Sonne  thue  beim  Aufgehen  am 
ersten  Ostertage  drei  Freudensprünge,  das  Wasser,  das  man 
am  Ostermorgen  schöpfe ,  sei  heilig  und  heilkräftig,  wie  das 
der  Weihnacht.  Weissgekleidete  Jungfrauen ,  die  sich  auf  Ostern, 
zur  Zeit  des  einkehrenden  Frühlings,  in  den  Felsenklüften  und 
auf  den  Bergen  sehen  lassen,  gemahnen  noch  an  die  alte 
Göttin.  (S.  J.  Grimm  Myth.  S.  182.)  Auf  den  Bergen  umher 
haben  ehemals  Riesen  gewohnt,  und  sind  hinüber  und  herüber 
geschritten  über  den  Strom,  oder  haben  sich  Bälle  zugewor- 
fen, von  einem  Berge  zum  andern.  In  der  Nähe  ist  eine 
Höhle,  das  Mönken-  oder  Münckenloch;  darin  hauste  einst  eine 
wunderschöne  Zwergin  oder  Wichtelweibchen ;  das  verliebte  sich 
in  den  Grafen  von  der  Schauenburg,  der  in  ihren  Gründen  jagte, 
und  warf  ihre  zauberhaften  Netze  um  den  schmucken  Ritter  so 
geschickt ,  dass  er  sich  bethören  liess  und  täglich  sich  wegschlich 
von  seiner  braven  Gemahlin,  um  seine  reizende  kleine  Buhlerin 
zu  sehen.  Die  Gräfin  aber  war  schlau  und  durchschaute  ihren 
Gemahl;  eines  Tages  folgte  sie  ungesehen  seinen  Gängen  und 
fand  in  der  Münckenhöhle  ihn  schlummernd,  sein  Haupt  mit  dem 
dunklen  Lockenhaar  auf  dem  Busen  der  verliebten  Elfe ,  die  ne- 
ben ihm  schlafend  auf  dem  Mooslager  ruhte.  Da  schlich  die 
Gräfin  leise  sich  näher  und  schnitt  eine  Locke  von  dem  langen 
Goldhaar  der  Verführerin  und  eilte  rasch  dann  auf  die  Burg  zu- 
rück, um  weinend  ihren  Raub,  den  Beweis,  dass  er  durchschaut 
sei,  ihrem  Gemahl  zu  zeigen.  Da  ging  der  Graf  in  sich  und 
fühlte  den  Zauber  gelösst  und  erhielt  Verzeihung  von  seinem  ed- 
len Weibe ;  als  er  nun  aber  nicht  mehr  zu  der  Höhle  kam ,  hörte 
man  Nachts  die  herzzerreissenden  Klagetöne  der  verlassenen 
Zwergin  die  Burg  umschwirren,  bis  sie  durch  Gebet  gebannt 
wurden. 

3 


—      34      — 

Diese  Burg  auf  dem  Nesselberge,  einem  Vorberge  des  Pa- 
schenberges, wurde  1030  von  einem  Grafen  Adolph,  der  über  den 
Bückigau  gebot,  erbaut  und  weil  er  von  ihr  seine  Besitzungen 
überschaute  die  Schauenburg  genannt.  Später  diente  sie,  als  das 
Geschlecht  dieses  Grafen  Holstein  zum  Lehn  bekam,  zum  Jagd- 
schloss  oder  zum  Wittwensitze.  Merian  bildet  sie  aus  dem  Jalire 
1640  noch  mit  Thürmen  und  Mauern  ab.  — 

Doch  soll  ich  das  ganze  Thal  beschreiben,  die  einzel- 
nen Trümmer  seiner  Burgen  euch  aufzählen  und  die  Spitzen  der 
Kirchthtirme,  die  ihr  im  Strom  sich  spiegeln  seht?  Soll  ich 
beschreiben,  wie  es  erscheint,  wenn  Regenwolken  ihre  flocki- 
gen Nebel  um  die  bcAvaldeten  Berggipfel  ziehen ,  oder  den  Höhen 
ihr  struppig  Haupthaar  über  Nacht  vom  Reife  gebleicht  ist, 
als  wäre  ein  unendlicher  Kummer  über  sie  gekommen ,  dass 
ihre  goldene  Zeit,  die  Zeit  der  Vergoldung  vom  Abendsonnen- 
schein und  von  dem  schönen  gelben  und  rothen  Laube  des 
Herbstes,  nun  geschwunden  sei?  Oder  soll  ich  beschreiben, 
wie  dunkle  Gewitter  drüber  niederhängen  und  um  die  hell  mit  ih- 
rem Mauerwerk  hervortretenden  Burgruinen  die  Stürme  tosen, 
dann  auch  das  letzte  Sonnenschlaglicht  schwindet  und  nun  die 
Blitze  züngelnd  um  die  gefesteten  Riesenhäupter  der  Stromeswäch- 
ter zucken?  Wie  lachend  endlich  es  am  hellen  Tage,  wenn  der 
Sonnenstrahl  in  den  leise  bewegten  Wellen  der  Weser  aufglitzert 
und  das  Auge  weithin  durch  die  Bläue  der  goldig  heitern  Lüfte 
dringt,  vor  euren  Blicken  daliegt?  Ich  vermag  nicht,  wie  ein 
greiser  Zauberer  aus  alten  Gedichten  Sturm  und  Ungewitter  oder 
den  heitern  Sonnenschein  des  Lenzes  zu  beschwören,  war'  ich 
auch  ein  Gärtner  im  Lande  des  Frühlings,  eines  ewigen  Früh- 
lings, ich  könnte  doch  nur  einzelne  Knospen  darin  pflegen  und 
für  euch  abbrechen,  nicht  den  Frühling  vor  euren  Augen  in's 
Land  ziehen  lassen.  Hir  müsst  selbst  dies  Thal  und  diese  Höhen, 
den  Osterberg  und  die  Schaumburg  und  den  Hohenstein,  den 
Wasserfall  zu  Langenfeld  und  die  in  der  Gebirgsschlucht  ver- 
stekte  Arensburg  besuchen,  um  eure  Brust  von  dem  ganzen  Zau- 
ber dieses  Thaies  anhauchen  und  durchziehen  zu  lassen,  um  die 
süsse  Luft  der  Freiheit  zu  athmen  und  euch  Flügel  zu  erträumen, 
die  euch  hinunter  trügen  bis  auf  die  schaukelnde  Woge  des 
Stroms,  die  euch  erlaubten,  auf  den  dichten  buschigen  Laub  Wip- 
feln euch  zu  wiegen,    Tage,   Monden  lang,   bis  in  „selige  Ver- 


—      35      — 

schoUenheit "  hinein!  Ihr  müsst  selbst  hier  fühlen,  was  in  den 
Versen  ausgedrückt  ist: 

— — dann  in 

Die  Luft  zu  dringen,  in  die  Sonnenglulh 

Des  Abends  mich  zu  tauchen,  Avie  ein  Geist, 

Der  ird'schen  Fesseln  und  des  Staubes  baar, 

Leicht  alle  Elemente  zu  diirchschweben, 

Des  Himmels  gold'nes  Licht,  der  Ströme  Fluth  — 

Das  All  durchwebend,  selbst  das  All  zu  sein 

Und  wie  der  Urkraft  Odem  zu  beherrschen  — 

Drängt  es  mich  wunderbar,  wenn  ich  bewegt 

Vom  Süller  weit  in  diese  Thäler  sehe, 

Die  in  der  Schönheit  Leuchten  sich  gewandet. 

Oder  wenn  in  den  freien  Lüften,  die  weich  und  schmeichelnd 
euch  anwehen ,  die  alte  ewige  Freiheit  ihre  Liebesboten  an  euer 
Herz  sendet ,  dann  sagt  auch  ihr  euch  hier  wohl ,  was  der  tief- 
sinnige Brite  Coleridge  an  einer  solchen  Stelle  empfand : 

Nicht  aus  dem  Joche  kann  der  Sclav  sich  retten , 
Der  willig  fröhnt,  der  Wüstling,  der  zerschlägt 
In  tollem  Spiel  die  Fesseln  nur  und  trägt 

Der  Freiheit  Namen  auf  gewicht'gern  Ketten: 


Dort  fühlt'  ich  Freiheit!  —  auf  dem  Klippenhang, 

Dess  Fichtenhain,  vom  Lufthauch  kaum  berührt, 
Harmonisch  mit  des  Meeres  Murmeln  sang, 
Stand  ich  und  schaute,  tief  dem  All  verbunden. 
Durch  Erd'  und  Meer  und  Luft,   wie  rings  umwunden, 

Wie  von  der  tiefsten  Lieb'  hinabgeführt; 
Dort,  Freiheit,  hat  dich  meine  Seel'  empfunden! 

Man  nimmt  in  Deutschland  gewöhnlich  den  Rhein  mit  seinen 
Gestaden  zum  Massstab  für  jedes  andere  schöne  Stromthal.  Mit 
ihm  verglichen  hat  die  Weser  weniger  grossartige  und  wildro- 
mantische Parthien;  ihre  Gebirgsmassen  sind  weniger  zusammen- 
gedrängt; aber  sie  ist  idyllischer  und  hat  auch  die  tieflrüben 
Verliesse  des  Rheines  nicht,  wo  die  schwarzen  Schieferfelsen, 
bedeckt  von  der  höchst  kümmerlichen  Vegetation  der  Rebengär- 
ten euch  in  ihren  engen  Kesseln  von  der  Welt  für  ewig  zu  son- 
dern scheinen  ;  die  Weser  ist  überall  ein  freundlicher  Fluss ;  sie 
schlängelt  sich  durch  ein  offenes  helles  Gefilde,  mit  voller  Frei- 
heit der  Bewegung,  denn  die  errichteten  Grundgesetze  für  ihren 

3* 


—      36      — 

Lauf,  die  Bergeszüge,  scheinen  sich  nach  ihr  gerichtet  zuhaben, 
nicht  sie  von  ihnen  bestimmt  worden  zu  sein.  Ich  möchte  die 
Weser  im  Gegensatze  zum  Rheine  desshalb  den  protestantischen 
Fluss  Deutschlands  nennen,  und  den  letztern  den  katholischen. 
Wo  der  Weser  die  Autorität  der  Gewalt  in  deii  Bergmassen  der 
Porta  westphalica  entgegengetreten  ist,  da  scheint  sie  ihren 
dreissigjährigen  Krieg  geführt  und  endlich  die  Anerkennung  ihres 
freien  Princips  errungen  zu  haben;  der  Rhein  dagegen  ist  der  ka- 
tholische Strom  Deutschlands ;  er  spiegelt  nicht  allein  die  schön- 
sten Dome ,  die  Münster  von  Speier  und  Köln  und  Mainz  in  sei- 
nen Wogen,  er  gibt  sich  in  seinen  beengten  Windungen  den  Ge- 
setzen hin,  welche  Gott  ihm  für  seinen  Lebenslauf  in  den  stei- 
nernen Tafeln  seiner  Felsenwände  offenbart  hat:  Avas  er  an  Ber- 
gen und  Klippen  bespült ,  trägt  zudem  die  Trümmer  mittelaltriger 
Herrlichkeit ,  die  finster  und  klagend  hineinschauen  in  die  mo- 
derne Völkerwanderung  da  unten,  welche  einen  so  bunten,  schreien- 
den Contrast  mit  seinem  einfach  düstern  Charakter  bildet.  Ich 
habe  hier  die  pittoreske  Parthie  des  Rhein's,  welche  am  meisten 
bewundert  wird,  von  Bingen  bisGoblenz,  im  Auge,  eine  Strecke, 
die  mir  immer  wie  vor  Gram  und  Galle  über  das  neue  modern- 
flüchtige und  blaudunstige  Leben,  das  tagtäglich  jetzt  auf  tosen- 
den Dampfschiffen  über  die  Wasserbahn  zieht,  alt  und  grau  ge- 
worden schien.  Ich  glaube,  man  müsste  den  Rhein  dort  schliessen 
und  ihn  Jahrelang  ungestört  lassen ,  dass  er  an's  Licht  gebären 
könnte,  was  in  den  dunklen  Klüften  brütet;  die  zusammenge- 
sunkenen Felsen  würden  in  jugendlicher  Kraft  sich  aufrichten 
und  mit  lichterem  üppigerem  Laube  neu  ihre  Wände  begrünen 
und  ein  frisches  blühendes  Leben  in  ihre  dunklen  Kessel  einzie- 
hen lassen.  Was  hätte  die  Lurlei  Eiligeres  zu  thun,  wenn  man 
sie  ungestört  Hesse,  als  auf's  Neue  ihren  alten  romantischen 
Spuck  mit  aller  Fährlichkeit  der  verlockenden  tiefwehmüthigen 
Zauberklänge  zu  beginnen  ?  Und  mit  den  Klängen  aus  der  al- 
ten verschwundenen  Zeit  mit  den  tiefsinnigen  Weisen,  aus  denen 
die  mährchenhafte  Poesie  alter  Jahrhunderte  ihre  Zauberdome 
baute ,  würde  sie  die  alten  Burgen  wieder  aufbauen ,  wie  Am- 
phion  Thebens  Mauern  einst;  die  zerfallenen  Gewölbe  würden 
neu  sich  schliessen,  und  der  Donjon  wieder  hoch  und  stolz  seine 
Zinnen  recken,  wenn  er  die  alten  bekannten  Töne  der  Zauber- 
jungfrau vernähme. 


—      37      — 

Doch,  kehren  wir  vom  Rhein  zur  Weser  zurück,  und  zwar 
zum  linken  Ufer  des  Flusses,  denn  jenseits  ist  nicht  rothe  Erde 
mehr  und  wir  würden  dort  in  das  Land  der  Ostphalen  überschwei- 
fen, wenn  es  überhaupt  ein  solches  gibt.  Denn  ich  glaube,  dass  der 
Name  „Ostphalen"  kein  ursprünglicher  Yolksname  sei,  sondern 
später  gebildet,  um  „Westphalen"  ein  correspondirendes  östliches 
Phalen  -  Land  an  die  Seite  zu  stellen.  Nun  aber  ist  „Westphalen" 
kein  zusammengesetztes,  und  „Phalen"  gar  kein  Wort;  daher 
kann  natürlicher  Weise  auch  keine  Derivation  für  letzteres  ge- 
funden werden ;  sondern  der  Ursprung  des  Namens  unsres  Lan- 
des liegt  in  dem  eines  altsassischen  Heroen,  Westfalah,  der  im 
Angelsächsischen  Yesterfalina  genannt  wird,  wo  man  seine  Ab- 
stammung durch  Beldeg  von  Yoden  (Odin)  herleitet;  er  mag  der 
Stammvater  und  das  schützende  Numen  des  Volksstammes  gewe- 
sen sein,  der  nach  ihm  der  Westphälische  heisst. 

Einer  der  schönsten  Punkte  auf  der  linken  Seite  des  Flusses 
ist  die  Anhöhe  in  der  Nähe  der  jetzt  restaurirten  Kirche  des  alten 
freiadlichen  Frauenstiftes  Möllenbeck.  Eine  edle  Matrone  Hild- 
burg gründete  im  9.  Jahrhundert  mit  einem  Priester  Folkart  aus 
Minden  dies  Gotteshaus ,  worin  Jungfrauen  und  Frauen  sich  zu- 
rückziehen und  ohne  strenge  Clausur,  im  schwarzen  Gewände 
und  weissen  Schleier,  nach  des  heil.  Benedikt  Regel,  ihre  Tage 
dem  Gebete  Avidmen  sollten.  Im  14.  Jahrhundert  war  eine  der 
Stiftsfrauen  Adelheid  vom  Berge,  von  der  eine  seltene  lateinische 
Druckschrift  erzählt ,  dass  sie  so  schön  wie  reich  an  Geist  und 
Kenntnissen  geAvesen.  „Bei  dem  Auf-  und  Untergange  der 
Sonne,  heisst  es  darin,  sah  man  sie  auf  dem  benachbarten, 
damals  mit  einem  Kreuze  geschmückten  Hügel  Stundenlang  mit 
gefalteten  Händen  regungslos  dastehn ,  indem  ihr  Geist  den  Ban- 
den des  Körpers  entschwunden  zu  sein  schien.  Nach  ihrem  frü- 
hen Tode  fand  man  von  ihr  mehrere  Gedichte  in  lateinischer 
Sprache,  welche  einen  tiefen  Schmerz  über  ihr  vernichtetes  Leben 
aussprechen."  —  „Du  bist",  besingt  sie  eine  Quelle,  „das  Sinn- 
bild meines  Herzens:  Deine  schauerliche  Grotte  ist  entfernt  von 
den  Stürmen  und  Leidenschaften  der  Welt;  du  hörst  nichts  als 
das  Girren  der  Holztaube,  und  die  Klagetöne  der  Nachtigall.  Im 
Scheine  des  Abendroths  umspielt  dich  das  Eichhörnchen  und 
der  junge  Hase;  aber  vergoldet  die  Gluth  auch  deine  rieselnden 
Wellen  —  mein  Herz  umwölkt  eine  düstre  Mitternacht.    Der  Duft 


—      38      — 

des  Veilchens  erstirbt  unter  meinen  ermatteten  Füssen  und  keine 
deiner  Blumen  erinnert  mich  an  einen  Freund:  nur  der  Tod  bie- 
tet mir  den  kalten  Arm  und  wenn  ich  mit  ihm  gegangen ,  wird 
Niemand  bald  mehr  wissen ,  wer  Adelheid  vom  Berge  war." 

Ich  weiss  nicht,  ob  acht  ist,  w^as  ich  hier  mitgetheilt  habe, 
denn  ich  kenne  die  Quelle  nicht:  aber  wenn  auch  nicht,  bleibt 
Adelheid  vom  Berge,  wie  sie  dasteht  auf  der  Höhe,  die  man 
jetzt  den  kahlen  Berg  nennt,  umflattert  von  dem  weissen  Schleier, 
die  hohe  schlanke  Gestalt  und  das  Herz  voll  Poesie  und  Sehn- 
sucht unter  die  Falten  des  schwarzen  Gewandes  verhüllt ,  das 
scharf  umrissen  sich  hervorhebt  auf  dem  glänzenden  Hintergrunde 
des  abendlich  glühenden  Horizonts,  bleibt  Adelheid  vom  Berge 
nicht  immer  eine  Wahrheit  voll  tiefer ,  voll  unendlicher  Wehmuth  ? 
Sie  steht  traurend,  das  Bild  eines  vergrämten  Nonnenlebens,  an 
ihre  öde  Höhe  gebannt,  an  ihr  Kreuz  gelehnt  und  darf  nicht 
hinab  in  die  Gefilde ,  die  in  der  Ferne  lockend  sich  mit  dem 
Schmelze  eines  rosigglühenden  Lebens  und  Lichtes  gefärbt  haben: 
sie  fühlt,  dass  dort  ihre  Heimath  sei,  nach  der  alle  Stimmen 
ihrer  innersten  Natur,  alle  Gottgegebenen  Offenbarungen  ihres 
jungfräulichen  Wesens  sie  ziehen :  aber  sie  darf  nicht.  Und 
weshalb  nicht?  —  Wahrlich  Seume  mag  oft  Recht  haben,  wenn 
er  sagt:  „Leben  heisst  wirken  und  vernünftig  wirken;  nach 
unsrer  Weise  aber  heisst  es  leiden  und  unvernünftig  leiden." 
Adelheid  vom  Berge  ist  nicht  das  wehmüthige  Bild  eines  ver- 
grämten Nonnenlebens  allein ;  und  darum  hängen  unsre  Blicke 
an  der  melancholischen  Erscheinung  mit  desto  innigerem  Gefühle, 
und  es  mag  uns  eine  Art  Genugthuung  geben ,  wenn  wir  hören, 
wie  wenig  Segen  auf  dem  Kloster  lag,  das  sie  in  seine  Mauern 
schloss.  Im  Jahre  1441  war  die  Zucht  des  Convents  so  aus 
allen  Banden  und  Fugen  gekommen,  dass  Augustiner  Mönche 
aus  dem  Münsterlande  Besitz  von  dem  Stifte  nahmen ;  diese 
mussten  nach  der  Reformation  protestantischen  Conventualen 
weichen,  bis  der  Westphälische  Friede  eine  Domaine  aus  dem 
reichen  Gotteshause  schuf. 

Wir  müssen  die  Weser  hier  verlassen,  um  nachzuholen, 
was  wir  von  interessanten  Punkten  in  ihrem  Wassergebiet  bisher 
zur  Rechten  hinter  uns  Hessen.  Fast  parallel  mit  ihrem  Laufe 
erstreckt  sich  vom  Ravensbergischen  her  bis  in's  Paderbornische 
der  Teutoburger  Wald;  im  Paderbornischen  zieht  sich  seine  Ver- 


—      39      — 

längerung,  das  Egge-Gebirge,  bis  zu  den  rauheren  Höhen  des  Sü- 
derlandes  hinüber;  es  ist  die  Wasserscheide  zwischen  der  We- 
ser und  dem  Rhein  oder  der  Lippe,  und  die  Gränze  zwischen 
den  lachenden  fruchtbaren  Fluren  des  Fürstenthums  Lippe  und 
der  dürren  Steppe  der  jenseits  gelegenen  Senne.  Der  mittelalter- 
liche Name  des  Teutoburger  Waldes  ist  Osning  oder  Osuegge ;  der 
jetzt  gebräuchliche  ist  nach  einer  Stelle  in  Tacitus  Annalen  (L  60.) 
gebildet,  um  des  deutschthümlicheren  Klanges  Willen,  und  in 
Folge  der  wohl  völlig  bewiesenen  Hypothese,  dass  in  den  Schluch- 
ten dieses  Gebirges  die  deutschen  Wölfe  Roma's  stolze  Aare  zer- 
rissen haben.  Der  arme  geschlagene  Yarus  ist  nämlich  seitdem 
wie  ein  quasi  pecuUum  castrense  des  Lippischen  Landes  geAvor- 
den ,  auf  dessen  ausschliesslichen  Besitz  es  eifersüchtig  genug 
ist,  um  sein  Recht  daran  durch  Derivationen  wie  Varenholz 
(^vor'n  Holte)  von  Yarusholz,  Feldrohm  von  Fall -Rom,  Her- 
mannsburg (erbaut  1187  von  Hermann  von  Schwalenberg)  von 
Arminiusburg  zu  verstärken.  Und  doch  bedurfte  es  dessen  nicht, 
um  den  Beweis  zu  führen,  dass  der  Osning  klassischer  Boden 
für  die  deutsche  Geschichte  sei,  wie  der  verdienstvolle  Archiv- 
rath  Clostermeier  zu  Detmold  in  seiner  gediegenen  Erörterung 
der  Frage ,  „wo  Herrmann  den  Yarus  schlug "  dargethan  hat. 
Ich  muss  auf  ihn  verweissen ,  in  Beziehung  auf  diese  vielfach 
discutirte  Controverse,  denn  es  gestattet  der  Raum  nicht,  den 
mannigfachen  Spuren  des  grossen  Ereignisses  hier  nachzugeheji, 
um  endlich  voll  überzeugter  oder  gläubiger  Andacht  in  der  Schlucht 
stehen  zu  bleiben ,  wo  Yarus  seine  Legionen  vernichtet  und 
hingeschlachtet  sah  von  der  nordischen  Berserkerwuth,  die  in 
den  Schnäbeln  seiner  Adler  den  Oelzweig  nicht  entdecken  konnte, 
w^elchen  sie  doch  auch  als  erste  Boten  einer  nahenden  Cultur 
neben  den  Blitzen  drohender  Waffenmacht  in  ihren  Fängen  trugen. 
Ich  weiss  nicht,  ob  wir  so  stolz  die  Herrmannsschlacht  als  die 
grösste  deutscher  Waffenthaten  in  die  Bücher  unsrer  Geschichte 
eintragen  dürfen:  und  zwar  nicht  allein  deshalb,  w^il  sie  jenseits 
eines  Stromes  liegt ,  der  ein  jenseitiges  und  diesseitiges  Ufer 
unsrer  Historie  so  von  einander  abtrennt,  dass  keine  Beziehung 
zwischen  beiden  mehr  Statt  hat ;  jenseits  der  Yölkerwanderung 
nämlich.  Wenn  man  aber  auf  einer  der  Höhen,  welche  das 
Gefilde  der  Yarusschlacht  überschauen,  auf  der  Grotenburg  bei 
Detmold,  einem  der  höchsten  Punkte  des  Osnings,  dem  Herrmann 


—      40      — 

eine  colossale  Ruhmessäule  in  einem  Kupfernen  Standbilde  auf- 
richtet, so  ist  das  eine  Idee,  der  man  um  des  deutschen  Gemein- 
gefühls willen,   alles  Gedeihen  wünschen  muss.     Mag  Herrmann 
immerhin  mehr  ein  Moment  unserer  Urgeschichte  sein ,    als  eine 
bestimmte  Individualität,   die  im  Bew^usstsein    des  Volkes  lebte; 
das   Denkmal  wird   dazu   dienen ,    das  GesammtbeAvusstsein   zu 
beleben,  oder  auch  nur  momentan,  bei  dem  Feste  der  Enthüllung 
eine  nationale  Begeisterung  zu  wecken  ,   wie  wir  ihrer  bedürfen. 
Auch  Gutenberg  war  keine  im  Volke  lebendige  Individualität  mehr: 
und   w^enn    man   den  Cultus  des  Genius   einmal  die  Standbilder 
seiner  Heiligen  auf  ehernen  Altären,    wie  überall  jetzt  im  deut- 
schen Vaterlande,  errichten  lässt,   so  ist  der  Cultus  eines  Herr- 
mann,  solch   eine   moderne  Irminsul ,    gewiss    weit   unschädli- 
cher   als    die    Apotheose    einer    noch    im    frischen    Andenken 
stehenden  Persönlichkeit  mit  allen  ihren  Schwächen.    Denkmale 
sind  wie  Leichengepränge  —  für  die  Ueberlebenden,   wenn  man 
für  eines  stimmt,  kann  man  sie  alle  gelten  lassen,  ja  auch  das, 
w^elches  die  Männer  von  Babylon  dem  Salaterfinder  Nabuchodono- 
sor  zu  errichten  im  Begriffe  stehen  sollen.    Das  Denkmal  Armin's 
wird  nach  dem  Modell  und  unter  der  Leitung  des  Bildhauers  von 
Bändel  in  den  grossartigsten  Dimensionen  auf  einem  hohen  gothi- 
schen  Unterbaue  ausgeführt.    Die  Höhe  der  Gestalt  Avird  40  Fuss 
betragen.    Der  Ort  der  Errichtung  könnte,    auch  abgesehen  von 
den  localen  Traditionen ,  nicht  besser  gewählt  werden ,  wenn  eine 
poetisclfe  Illusion  uns  in  die  Jahrhunderte  der  Deutschen  Heroen- 
zeit versetzen    soll.    Das  Gebirge  ist  hier  mit  den  herrlichsten 
Buchenwaldungen  bedeckt,    die  hochstämmig  und  schlank,    wie 
stolz  auf  ihre  reiche  Vegetationskraft,    die  unbemoosten  Stämme 
dicht  aneinander  emporrecken;   der   eigenthtimliche  Zauber   des 
Waldnachtlebens  haucht  euch  hier  an,  wenn  irgendwo,  mit  seinen 
träumerisch  dunklen  Stimmen,  mit  dem  Girren  ferner  Holztauben 
und  dem  sachten  V^icgen  der  windbewegten  Aeste ,   Töne  ,   die, 
wenn  auch  laut  und  vernehmlich  an  euer  Ohr  dringend,  doch  die 
tiefe  Stille  ringsum ,  die  feierliche  Andacht  der  Natur  nicht  unter- 
brechen,   sondern  sie    heben.     Und   schreitet  ihr  unter  diesen 
Laubhallen  einher,  über  das  Moos,  das  hier  und  dort,    wo  eine 
Lichtung  ist ,    der  grelle  Sonnenschein  fleckt ,   und  die  zarleren 
Schatten  bewegter  Blätter  überhuschen  ,  dann  träumt  ihr  euch  leicht 
das  alte  Leben  wieder  hinein  in  diese  W^aldungen:  wer  sagt  euch. 


ir 


—      41      — 

dass  der  Holzhauer,  der  dort  mit  der  blankgeschliffenen  Axt  auf 
seiner  Schulter,  selbst  eine  patriarchalisch  ungeschliffene  Figur 
im  groben  Kittel ,  dem  ausgefahrenen  Geleise  eines  Hohlwegs 
folgt,  nicht  einer  der  deutschen  freiheitschwärmenden  Jünglinge 
sei,  der  zu  seinen  langlocldgen  bärenhäutigen  Brüdern  eilt,  um 
in  der  Dörenschlucht  und  im  Pass  am  Falkenberge  auch  sein 
Trinkhorn  mit  Römerblute  zu  füllen?  Hört,  wie  seine  Stimme 
plötzlich  des  Echo  der  Berge  weckt;  ich  glaube,  er  singt:  „Was 
ist  des  Deutschen  Vaterland,  ist's  Sachsenland,  Westphalenland? 
nein,  nein,  sein  Vaterland  muss  grösser  sein!"  Die  Hlusion  ist 
vollständig,  denkeich.  —  Oder  wollt  ihr  noch  den  Schatten  der 
Seherin  A^elleda  heraufbeschwören?  Hir  könnt  auch  ihm  in  die- 
sen Wäldern  begegnen  oder  wenigstens  einem  ähnlichen  und 
verwandten  Wesen,  einer  weissen  Frau,  deren  Erscheinung  und 
Existenz  die  Detmolder  Volkssage  behauptet.  Vor  nahen  Todes- 
fällen in  der  regierenden  fürstlichen  Familie  schreitet  sie  trau- 
rend  durch  die  Gemächer  und  Gorridor's  des  Residenzschlosses 
zu  Detmold:  oder  sie  sitzt  an  einem  Tische  mit  flammenden 
Wachskerzen  und  ist  emsig  mit  Schreiben  beschäftigt:  so  sahen 
sie  zuletzt  zwei  Bediente,  die  in  der  Dämmerung  gingen,  die 
Fensterläden  eines  entlegenen  Gemaches  zu  schliessen ,  Einer  im 
Innern ,  der  Andere  von  Aussen  her  durch  die  Scheiben  blickend. 
Als  jener  bis  in  die  Mitte  des  Gemaches  getreten  war,  zerrann 
sie  in  Nebel  und  war  dann  spurlos  verschwunden. 

Diese  Sage  von  einer  weissen  Frau  in  so  vielen  Residenz- 
schlössern Deutschlands  ist  durch  ihre  weite  Verbreitung  und  die 
Menge  ehrenhafter  Zeugnisse  für  die  Existenz  des  räthselhaften 
Wesens  eins  der  merkwürdigsten  Momente  unsres  Volksglaubens. 
Jakob  Grimm  *)  bringt  sie  mit  der  alten  Göttin  Frau  Holda  in 
Verbindung,  die  durch  die  christliche  Auffassung  des  Mittelalters 
von  dem  Wesen  der  alten  Gottheiten,  nicht  negirt,  sondern  zu 
einem  dämonischen  Wesen  umgeschaffen  wurde.  Holda  heisst  in 
Süddeutschen  Gegenden  Frau  Berchte  und  nimmt  hier  einen  bös- 
artigeren Charakter  an,  geht  aber  wie  jene  in  den  Zwölften, 
zwischen  W^eihnachten  und  Neujahr  um,  und  wacht  wie  sie  über 
die  Spinnerinnen;  ihr  FesX  muss  durch  eine- althergebrachte  Speise, 
Brei  und  Fische,  begangen   werden.     (Wie  die  weisse  Frau  in 


*)  Deutsche  Mythologie ,  Seile  169.    S.  auch  dessen  deutsche  Sagen. 


—       42       — 

Böhmen  auf  ihrer  Burg  dies  Fest  und  das  jährliche  Breiessen 
einsetzte,  erzählt  Jung  Stilling  in  seiner  Geisterkunde.)  Als  ein 
gutes  günstiges  Wesen,  sagt  Grimm,  erscheint  sie  in  manchen 
andern,  gewiss  hoch  in  das  Mittelalter  hinaufreichenden  Yorstel- 
luiigen.  Die  weisse  Frau  ist  ihr  schon  dem  Namen  nach  völlig 
gleichbedeulig,  denn  pemht,  ^er/tf  drückt  aus:  glänzend,  leuchtend, 
weiss.  Diese  weisse  Frau  pflegt  zwar  an  bestimmte  Geschlechter 
geknüpft  zu  werden  (sie  erscheint  zu  Neuhaus  in  Böhmen,  zu 
Berlin,  Baireuth,  Darmstadt,  Carlsruhe,  und  bei  allen  Geschlech- 
tern, die  den  dort  residirenden  durch  Verheirathung  verwandt 
geworden  sind,  in  Westphalen  zu  Detmold  und  auf  dem  Schlosse 
zu  Bentheim)  aber  den  Namen  Bertha  fortzuführeu,  z.  B.  Bertha 
von  Rosenberg.  Sie  thut  Niemanden  zu  Leide ,  neigt  ihr  Haupt  vor 
wem  sie  begegnet,  spricht  nichts  und  ihr  Besuch  deutet  einen  nahen 
Todesfall  an,  es  sei  denn,  dass  sie  keinen  sclnvarzen  Handschuh 
oder  keinen  schwarzen  Gürtel  um  ihr  schneeweisses  Gewand  trüge. 
Auch  trägt  sie  einen  Schlüsselbund  und  eine  weisse  Schleierhaube. 
Nach  Einigen  soll  Bertha  mit  einem  bösen  störrischen  Manne, 
Johann  von  Lichtenstein  auf  Neuhaus  in  Böhmen ,  vermählt  gewe- 
sen sein.  Nach  ihres  Gemahls  Tode  fing  sie  an,  zu  grosser  Be- 
schwerde ihrer  Unterthanen,  die  ihr  frölmen  mussten,  ein  Schloss 
zu  bauen.  Dafür  stiftete  sie  ihnen  das  jährliche  Essen  und  Fest, 
dessen  Uebergehung  sie  durch  Misshandlungen  der  Schlossbe- 
woliner  rächt.  Auch  erscheint  sie,  um  fürstliche  Kinder  zu  pfle- 
gen, die  von  den  Ammen  vernachlässigt  werden.  Eine  Fürstin 
war  einst  vor  dem  Spiegel  mit  ihrer  Toilette  für  einen  Ball  be- 
schäftigt, und  fragte  ihre  Kammerfrau,  welche  sie  hinter  einer 
Spanischen  Wand  in  ihrer  Garderobe  glaubte:  „wie  viel  Uhr 
ist's?"  —  „Acht  Uhr,  Ew.  Liebden,"  versetzte  eine  unbekannte 
hohle  Stimme,  und  als  die  Fürstin  erschreckt  aufsah,  stand  die 
weisse  Frau  in  der  Thüre  der  Garderobe.  Acht  Tage  danach 
starb  die  Fürstin.  —  Nach  einer  andern  Sage,  welche  Christian 
Graf  zu  Stollberg  dichterisch  bearbeitete,  hat  die  weisse  Frau 
in  ihrem  Leben  als  Wittwe  Otto's  Grafen  von  Orlamünde  auf 
Plassenburg  ihre  zwei  Kinder  aus  Liebe  zum  Burggrafen  Albrecht 
dem  Schönen  von  Nürnberg  ermordet;  denn  er  hatte  gesagt,  zwi- 
schen ihre  Verbindung  stellten  sich  vier  Augen ;  darunter  verstand 
sie,  als  es  ihr  hinterbracht  wurde,  ihre  Kinder,  und  tödtete  sie 
durch  Nadeln,  die  sie  in  ihre  zarten  Hirnschalen  steckte,  er  aber 


—      43       — 

halte  seine  Eltern,  die  den  Bund  nicht  wollten,  gemeint.  Eine 
dritte  Angabe  behauptet,  sie  habe  in  ihrem  Leben  mit  solcher 
ausschliesslichen  Liebe  an  ihren  Kindern  und  den  Ihrigen  gehan- 
gen, dass  sie  darüber  des  lieben  Gottes  vergass  und  noch  in 
ihrer  Todesstunde  für  die  Aussteuer  einer  Tochter  allein  Gedan- 
ken hatte.  Dafür  sei  sie  nun  verwünscht,  so  lange  in  den  Häu- 
sern ihres  Geschlechtes  umzugehen,  bis  eine  Enkelin  aus  ihrem 
Stamme  den  Mulh  habe,  die  gespenstische  grauenhafte  Ahnfrau, 
die  nach  ihrem  Tode  noch  durch  die  Nacht  einhersclnvebt,  um 
zu  suchen,  wer  sie  liebe,  —  inbrünstig  zu  umarmen.  —  Es  hat 
vieles  für  sich,  sagt  Grimm,  dass  einige  in  unsren  Ueberlieferun- 
gen  berühmte  Frauen  des  Namens  Berlha  mit  der  geisterhaften 
Bertha  zusammenhängen;  sie  sind  aus  der  Götter-  in  die  Hel- 
densage aufgenommen  worden.  Eine  weit  zurückliegende  Ver- 
gangenheit pflegt  man  in  Italien  und  Frankreich  durch  die  Worte  : 
„in  der  Zeit  als  Königin  Bertha  spann"  anzudeuten:  es  ist  wie- 
der die  Vorstellung  der  spinnenden  Hausmutter.  Bertha  des 
Königs  Blume  und  der  Weissblume  Tochter,  hernach  Gemahlin 
Pipin's  und  Mutter  des  grossen  Karls,  verleugnet  ihren  mythi- 
schen Ursprung  nicht.  Sie  heisst  „Berthe  mit  dem  Fuoze,"  au 
grand  fied,  ein  Attribut,  das  aus  alter  Ueberlieferung  hervor- 
geht von  einer  reine  Pedauque,  „regina  pede  aiicae/'  [pied  d'oie, 
Gänsefuss,^  deren  Bild  an  alten  Kirchen  in  Stein  gehauen  steht. 
Es  scheint  der  Fuss  einer  Schwanjungfrau,  den  sie  zum  Zeichen 
ihrer  höhern  Natur  nicht  ablegen  kann.  Als  Schwanjungfrau 
ist  sie  nun  natürlich  „die  M'eisse  Frau,"  die  Perahta  oder  Berlha. 
Der  Osning  ist  wahrscheinlich  der  heilige  Wald,  worin  die 
Irminsul ,  das  berühmte  Götterbild  der  alten  Deutschen,  stand.  Das 
Wort  hat  bei  den  Chronisten  bald  die  Bedeutung  von  Heiiigthum, 
bald  von  Hain ,  bald  von  Bildsäule.  Budolph  von  Fulda  sagt 
von  ihr:  es  war  eine  grosse  hölzerne  Säule  aufgerichtet,  unter 
freiem  Himmel  verehrt ,  ihr  Name  sagt  aus :  allgemeine ,  alles 
tragende  Säule.  Doch  scheint  sie  einem  besonderen  Wesen  halb- 
göttlicher  Natur  geweiht  gewesen  zu  sein,  wo  der  Begriff  der 
Säule  nicht  in  den  eines  heiligen  Baumes  überhaupt  übergeht, 
wie  sich  oft  nachweisen  lässt.  Spuren  ihres  Gullus  Avill  J.  Grimm 
in  der  Osnabrückischen  lledensart:  „he  ment,  nse  Herr  Gott 
heet  Herrn/'  (sei  gutmüthig  und  zürne  nicht)  finden,  oder  in 
der  „use  Herr  Gott  heet  nich  Herrn,  he  heet  leve  Herre  un  weet 


—      44      — 

tval  to  te  griepen."  Darin  soll  leise  Sehnsucht  nach  der  milden 
Herrschaft  des  alten  heidnischen  Gottes  im  Gegensatze  zu  dem 
strenge  richtenden  und  strafenden  christlichen  Gotte  unverhalten 
sich  ausdrücken.  In  einigen  Gegenden  Westphalens  und  Hessens 
lebt  unter  dem  Volke  der  Reim: 

Hermen,  sla  Dermen, 
Sla  Pipen,  sla  Truminen, 
De  Kaiser  will  kummen, 
Met  Hamen  und  Stangen, 
Will  Hermen  uphangen. 

„Nicht  unmöglich j  dass  sich  in  diesen,  durch  die  lange  Tra- 
dition der  Jahrhunderte  gegangenen  und  wahrscheinlich  entstell- 
ten Worten  Ueberreste  eines  Lieds  erhalten  haben,  das  zu  der 
Zeit  erscholl,  als  Karl  die  Irmensäule  zerstörte.  Auf  den  noch 
altern  Arminius  und  die  Römer  lassen  sie  sich  viel  w^eniger  deu- 
ten." (S.  Grimm  1.  c.)  Man  muss  überhaupt  den  historischen 
Herrmann  nicht  mit  dem  mythischen  Irmin  verwechseln.  Der 
Osning  aber,  der  die  geweihte  Säule  oder  eine  derselben,  denn 
es  scheint  ihrer  mehrere  gegeben  zu  haben,  beschatl^ete ,  mag 
daher  seinen  Namen  haben,   der  „heiliger  Wald"   bedeutet,    da 

05  gleich  atis  sein  mag,  ein  Wort  das  „Gottheit"  ausdrückt 
und  die  gothische  oder  althochdeutsche  Form  für  das  Skandi- 
navische Ase  ist.  Man  hat  seither  die  Irminsul  in  der  Ehres- 
burg, (dem  heutigen  Stadtbergen  an  der  Diemel,  wie  man 
glaubt)  aufgestellt  gehalten;  doch  gründet  sich  diese  Annahme 
auf  ein  Missverständniss  der  betreffenden  Stellen  in  den  Geschicht- 
schreibern über  Karl's  Feldzüge;  eine  richtige  Interpretation 
(Clostermeier's  „der  Eggesterstein"}   zeigt,  wie   man  die  Stelle 

6  Stunden  tiefer  im  Osning  annehmen  müsse.  — 

Die  grösste  Merkwürdigkeit  des  Lippischen  Waldgebirgs  sind 
die  sogenannten  Extersteine,  besser  Eggestersteine.  Es  ist  unend- 
lich viel  über  sie  gefabelt  und  geschrieben  worden:  desshalb  werdet 
ihr  mir  eine  neue  detaillirte  Beschreibung  erlassen,  um  so  mehr, 
als  das  anliegende  Bild  den  höchst  pittoresken  Anblick  dieser  selt- 
samen Felsengruppe  gewährt.  Sie  liegt  eine  Viertelstunde  von  dem 
Lippischen  Städtchen  Hörn  entfernt  am  Ufer  eines  Baches,  die 
Lichtheupte  genannt,  über  den  die  höchste  Spitze  des  ersten 
Felsens  (zur  rechten  Seite  auf  dem  Bilde)    125  Fuss  hoch  riesig 


—      45      — 

emporragt;  wie  nackte  Grundsäulen  der  Erde,  von  denen  das  ver- 
hüllende Gewand,  das  andre  Berge  umkleidet,  forlgeschwemmt 
scheint,  stehen  sie  da,  ein  imponirender  phantastischer  Anblick! 
Die  einzelnen  Massen  sind  ganz  von  einander  getrennt;  durch 
die  beiden  letzten  der  fünf  Felsen  führt  die  Chaussee  zwischen 
Hörn  und  Paderborn;  den  zweiten  und  dritten  verbindet  oben 
eine  eiserne  Brücke.  Sie  bestehen  aus  feinkörnigem  Felssand- 
stein, der,  mit  Eisenocher  als  Bindungsmittel  gemischt,  ihnen  eine 
gelblich  graue  Farbe  gibt.  Auf  dem  vierten  Felsen  hängt  ein 
Stein,  der  jeden  Augenblick  herabzustürzen  droht  und  der  Sage 
nach  einst  eine  Lippische  Gräfin  zerschmettern  Avird.  Die  drei 
ersten  gewähren  von  ihrer  Höhe  eine  weilgedehnte  herrliche 
Aussicht  über  das  ganze  anmuthige  blühende  Land,  über  die  Ge- 
birgszüge vom  Köterberge  in  der  Nähe  der  Weser  bis  zu  den 
Höhen  im  Osnabrückischen.  Im  Innern  des  ersten  und  des  zwei- 
ten Felsens  sind  kleine  Hallen  oder  Kapellen  ausgehauen,  dort 
unten ,  hier  oben ,  unter  dem  Gipfel ,  an  dem  ersten  Felsen  ist 
ausserdem  in  uralter  Arbeit  unten,  nach  aussen  hin,  eine  Kreuz- 
abnahme in  Hautrelief  angebracht ;  die  Darstellung  ist  ziemlich 
wohl  erhalten  und  nur  von  Menschenhänden  hier  und  da  ver- 
stümmelt; an  beiden  Seiten  des  Bildwerkes  führen  Oeffnungen  in 
das  Innere ;  zur  linken  Seite  der  Oeffnung  links  ist  noch  ein 
Bild  des  heiligen  Petrus  in  Basrelief  ausgehauen,  aber  bis  zur 
Unkenntlichkeit  verwittert.  l^Ian  hat  den  Namen  Exter-  oder 
Externstein.  von  dem  Worte  Exter,  das  im  Plattdeutschen  Elster  be- 
deutet, ableiten  wollen  und  desshalb  auch  rupes  picanim  übersetzt. 
Besser  aber  ist  die  Derivation  von  Egse,  Spitze,  Kante,  (daher 
Egge-Gebirge,  der  Name  des  Paderbornischen  Osnings}  und 
die  Schreibart  Eggesterstein.  Das  man  heidnische  Gottheiten  an 
diesem  Steine  verehrt  habe,  ist  freilich  möglich,  aber  eine  durch- 
aus unbewiesene  Hypothese,  wenn  sie  sich  auf  eine  Stelle  in 
H.  Hamelmanns  Schrift:  „Beschreibung  der  Westphälischen  Städte'^ 
gründet.  Nach  ihm  soll  nämlich  Karl  der  Grosse  hier  an  der 
Stätte  eines  heidnischen  Heiligthums  einen  christlichen  Altar  mit 
den  Bildsäulen  der  Apostel  errichtet  haben.  Es  ist  allerdings 
faktisch,  dass  Karl  in  der  Nähe  von  Thietmelle,  d.  h,  die  Volks- 
Gerichtsstätte ,  (von  Thiet,  Volk,  und  Mal,  Gerichtsstätte,)  dem 
heutigen  Detmold  emen  Sieg  erfocht,  worauf  die  Schlacht  an  der 
Hase  im  Osnabrückischen  erfolgte,  welche  783  die  Unterjochung 


—      46      — 

Westphalens  entschied  ,  dass  785  Karl  der  Grosse  selbst ,  nach- 
dem er  bei  dem  nahen  Schieder  und  Lüde  das  Weihnachtfest 
gefeiert  hatte  ,  durch  den  ganzen  Gau  bis  nach  Rehme  an  der 
Weser  gezogen  sei:  aber  nirgends  findet  sich  eine  Andeutung, 
dass  er  zu  den  Eggestersteinen  gekommen  sei.  Auf  alle  die 
andern  fabelhaften  Sagen  und  Behauptungen  über  die  Eggester- 
steine, dass  die  Göttin  des  Morgens  und  des  Aufgangs,  Easter 
oder  Ostara  dort  verehrt  sei,  dass  sie  ein  Hauptsitz  deutschen 
Lichtdienstes  gewesen ,  dass  Drusus  bei  ihnen  in  Gefahr  gerathen, 
dass  auf  ihnen  die  gefangenen  Römeranführer  nach  der  Varus- 
schlacht geopfert  seien,  dass  Yelleda  in  dem  zweiten  Felsen 
gehaust  habe  —  können  wir  hier  nicht  eingehen ;  sie  sind  hin- 
länglich von  Clostermeier  in  seiner  schon  genannten  Beschrei- 
bung widerlegt  worden.  Nach  ihm  ist  so  viel  gewiss,  dass 
die  Felsen  von  einer  edlen  Familie  des  elften  Jahrhunderts  an 
das  Kloster  Abdinghof  in  Paderborn  verkauft  Avorden  seien,  und 
dass  dieses  sie  zu  einer  Stätte  christlicher  Andacht  hergerichtet 
habe,  vielleicht  um  einen  Wallfahrtsort  daraus  zu  schaffen.  Zu 
dem  Ende  scheinen  nun  die  Kapellen  im  ersten  und  zweiten 
Felsen  ausgehauen  worden  zu  sein ;  doch  mochte  der  Hauptgot- 
lesdienst  unter  freiem  Himmel  gehalten  werden,  so  dass  die 
Steinhauerarbeit  am  ersten  Felsen  als  Altarbild  diente  und  unter 
ihr  der  Altar  errichtet  war.  Die  Bildhauerarbeit  umfasst  eigent- 
lich zwei  horizontal  geschiedene  Felder,  von  denen  das  obere 
besser  erhalten  als  das  untere,  die  Kreuzesabnahme  darstellt, 
das  andere  kaum  noch  erkennbare  den  Sündenfall  Adam's  und 
Eva's;  der  Baum  der  Erkenntniss ,  um  den  sich  die  gewaltige 
Schlange  unten  in  vielen  Verschlingungen  windet ,  bildet  auf  dem 
oberen  Bilde  den  Stamm  des  Kreuzes,  um  symbolisch  die  Ver- 
bindung zwischen  Sündenfall  und  Kreuzestod  anzudeuten.  Die 
Figuren  sind  schlecht  gezeichnet,  unnatürlich  lang  und  hager, 
ihre  Formen  jedoch  kräftig  behandelt  und  scharf  hervorgehoben ; 
auch  kündet  sich  einige  Kenntniss  der  Perspective  an;  sie  stam- 
men gewiss  aus  dem  zwölften  Jahrhundert,  denn  der  Abt  Gum- 
bert  von  Abdinghof  liess  sich  im  Jahre  1093  erst  seine  Erwer- 
bung der  Eggestersteine  bestätigen,  und  wenn  er  auch  sofort  die 
Arbeit  an  denselben  beginnen  liess,  so  kann  deren  Vollendung 
doch  schwerlich  vor  dem  folgenden  Jahrhundert  angenommen 
werden ,   da  das   Aushauen  der    Kapellen    gewiss  mühsam  von 


—      47      — 

Statten  ging.  Zwar  findet  man  in  Otfried's  Evangelienharmonie 
aus  der  zweiten  Hälfte  des  neunten  Jahrhunderts  (S.  Schilter 
Thes.  Antiq.  Teut.  I.)  ein  Seitenstück  zu  der  Abbildung  an  den 
Eggestersteinen ,  das  die  rohen  Umrisse  eines  am  Kreuze  han- 
genden Erlösers  in  ähnlichem  Style  darstellt.  Aber  zwei  Jahr- 
hunderte mehr  mögen  in  jener  Zeit  die  Künste  nicht  um  ein 
sehr  Bedeutendes  gefördert  haben;  ausserdem  zeigt  sich  aber 
auch  in  der  Arbeit  an  den  Eggestersteinen  schon  ein  grösserer 
Reichthum  von  Ideen.  Die  ganze  Architektur  der  Kapellen  mit 
ihren  Hufeisenförmigen  Bogen  gehört  zudem  der  Byzantinik  an, 
oder  dem  Neugriechischen  mit  arabischen  Ideen  befruchteten 
deutschen  Baustyle,  der  vom  Ende  des  zehnten  und  vom  elften 
Jahrhundert  an  bis  in  das  erste  Yiertel  des  dreizehnten  Jahrhun- 
derts bei  uns  herrschte  und  vorzüglich  am  Rhein  die  Menge 
seiner  ausgezeichnet  schönen  Basiliken  sich  als  Monumente  setzte. 
Meister  aus  Paderborn  mögen  die  Arbeit  an  unsren  Felsen  aus- 
geführt haben,  denn  dort  hatte  die  Bauliebhaberei  des  Bischofs 
Meinverkus  schon  früher,  im  Anfang  des  elften  Jahrhunderts 
eine  Schule  gestiftet ,  aus  der  erfahrene  Werkmeister  hervor- 
gingen. 

Die  Reformation  beendete  die  Andacht  an  den  Eggesterstei- 
nen, die  früher  durch  Zeichen  und  \Yunder  unterstützt  wurde; 
in  der  That  mag  keine  Stätte  sich  besser  zu  einem  wunderthätigen 
Wallfahrtsort  eignen ,  als  die  Kapelle  in  diesen ,  ich  möchte  sagen, 
gespenstischen  Felsen,  die  so  mächtig  auf  die  Phantasie  wirken 
und  unwillkührlich  düstere  Ideen  von  altem  heidnischen  Götter- 
dienst und  seinen  Menschenopfern  in  uns  heraufbeschwüren. 
Weisst  doch  die  Sage  an  der  einen  Seite  des  ersten  der  Steine 
die  Spuren  einer  Flamme  in  dem  braungelben  Eisenocher  nach, 
welche  die  Stelle  bezeichnen  soll,  wo  sich  der  Teufel  gegen  die 
Wand  gestemmt,  um  das  christliche  Heiligthum  zu  stürzen  und 
zu  zerstören.  Das  unendlich  Düstre,  Grauenhafte,  tief  auf  die 
Phantasie  wirkende ,  das  gewöhnlich  in  den  Physiognomien  wun- 
derthätiger  Bilder  liegt  (bei  der  ganz  schwarzen  Madonna  von  Lo- 
retto  liat  z.  B.  die  Farbe  diese  Wirkung;  am  gräulichsten  mag  wohl 
Nofre  Dame  de  Puy  in  Süd -Frankreich  sein,  wahrscheinlich  ein 
heidnisches  Idol  ursprünglich) ,  läge  hier  in  der  ganzen  Umgebung. 

Im  Jahre  1659  bekam  der  Grossherzog  Ferdinand  von  Flo- 
renz den   seltsamen  Einfall  den   Eggesterstein   zu  kaufen;   die 


—      48      — 

Verhandlungen  darüber  wurden  zwischen  einem  Domdechanten 
von  Paderborn  und  einem  Landdroslen  Levin  von  Donop  geführt; 
die  gebotenen  60,000  Kronen  wurden  aber  nicht  angenommen 
und  der  Handel  zerschlug  sich,  vielleicht  weil  man  die  Absicht 
entdeckte ,  die  frühere  katholische  Andacht  dort  wiederherzu- 
stellen. Um  die  jetzige  Zugänglichkeit  der  Felsen  durch  Treppen 
und  Brücke  haben  sich  der  Graf  Herrmann  Adolph  von  der  Lippe 
im  siebzehnten  Jahrhundert,  der  sie  durch  Thürme  und  Mauern 
befestigte,  und,  nach  der  Zerstörung  von  dessen  Vorrichtungen, 
die  unvergessliche  Fürstin  Pauline  von  der  Lippe  verdient  gemacht. 
Eine  Sammlung  der  vielfältigen  Bilder  in  Kupfer-  und  Stein- 
druck, welche  die  Eggestersteine  darstellen,  habe  ich  die  Wände 
des  Zimmers  schmücken  sehen ,  welches  Grabbe  in  seinem  Hause 
zu  Detmold  bewohnte;  ich  dachte  dabei  an  seine  Werke,  die 
mir  immer  wie  im  Angesicht  der  Eggestersteine,  oder  in  ihren 
düstren  Kapellen  concipirt  schienen;  ja,  ich  möchte  sie  selbst 
die  Eggestersteine  unsrer  Literatur  nennen,  so  massenhaft  phan- 
tastisch, so  nackt  und  enlblöst  von  den  umhüllenden  Gewändern 
einschmeichelnder  weicher  Phrasen  stehen  sie  da;  die  Hand  der 
Cultur  hat  sie  nicht  geglättet,  nicht  gefeilt,  sondern  die  Umrisse 
mit  gewaltiger  Hand  und  schmetterndem  Meissel  scharf  aus  dem 
Rohen  herausgehauen,  wie  jene  Kreuzabnahme  der  Byzantinik. 
Wenn  ihr  das  trunkene  Genie  dieses  Dichters  aus  seinen  gigan- 
tisch grossartigen  Schöpfungen  verehren,  aus  seinen  Hohen- 
staufen-Tragödien ,  wo  er  mit  Wolfram  von  Eschenbach  so  un- 
endlich weiche  und  liefe  Klänge  Avie  verwehte  Geisterstimmen 
aus  seinen  Saiten  lockt,  lieben  gelernt  habt,  so  kümmert  euch 
vor  Allem  nur  nicht  um  ihn  hier,  wo  wir  in  seiner  Heimath 
sind.  Soll  euch  die  Wahrheit  und  das  Verständniss  des  viel 
angefochtenen  Wortes:  „Der  Dichtung  Flamm'  ist  allezeit  ein 
Fluch!"  mit  all  seiner  unsagbaren  Wehmuth  aufgehen?  Lasst 
es  lieber  unverstanden,  lasst  das  irdische  Sein  des  Dichters 
und  alle  Erinnerungen  daran  in  den  weiten  Wäldern  der  Teuto- 
burger  Berge  verschollen  sein ,  in  die  er  ja  heimzog  vom  fernen 
Rhein,  um  in  ihnen  zu  sterben.  Es  sind  so  manche  Erinnerun- 
gen schon  in  ihnen  verschollen;  aus  dem  Säussein  in  ihren 
Aesten  hört  Niemand  mehr  das  Aechzen  erschlagener  Römer,  das 
Flehen  sterbender  Sachsenhelden  heraus,  die  unter  zuckenden 
Frankenbeilen  zu  ihren  Göttern   riefen;    lasst   in    ihren  Wehen 


^49      — 

auch  den  Hülferuf  ihres  letzten  Helden  zerrinnen,  der  in  einen 
grimmen  Streit  gestellt  wurde,  in  den  Kampf  mit  dem  Leben, 
aber  keine  Waffen  hatte,  um  ihn  zu  bestehen;  konnte  er  anders, 
als  nach  dem  nächsten  greifen,  um  sich  zu  wehren  und  es  dem 
Gegner  an  den  Kopf  zu  schleudern,  nach  dem  Nächsten,  das  bei 
ihm  stand  und  das  unglücklicher  Weise  eine  Rumflasche  war  ?  — 
In  einem  andren  Lippischen  Städtchen,  Blomberg,  war  früher 
ein  berühmtes  Kloster  bei  einem  Wunderbrunnen,  zu  dem  von 
Nah  und  Fern  die  Siechenden  strömten,  um  Genesung  und  Heil 
aus  ihm  zu  schöpfen;  die  wunderbare  Kraft  aber  war  also  über 
den  Brunnen  gekommen:  es  lebte  eine  arme  Frau  in  Blomberg, 
die  trieb  ein  gleiches  Gewerbe  mit  ihrer  Nachbarin,  und  blieb 
arm,  während  jene  täglich  reicher  wurde;  da  fragte  sie:  „Wie 
macht  Hir  es,  Nachbarin,  dass  Euch  alles  gelingt,  was  Ihr  vor- 
nehmt, und  mir  nichts,  obwohl  auch  ich  nicht  faul  bin?"  Die 
Nachbarin  versetzte  lächelnd:  „Ihr  müsst  einen  Gott  im  Kasten 
haben,  wenn  Euer  Gut  gedeihen  soll;  die  Arbeit  allein  thut  es 
nicht."  Das  lag  der  armen  Frau  lange  im  Sinn ;  endlich  entschloss 
sie  sich,  den  Gott,  der  in  der  Kirche  auf  dem  Altar  stehe,  zu 
nehmen  und  ihn  in  ihren  Kasten  zu  legen ;  desshalb  Hess  sie  sich 
in  der  Kirche  nach  dem  Gottesdienste  einscliliessen,  nahm  die 
Hostie  aus  der  Monstranz  und  schlich  zitternd,  als  die  Kirche 
wieder  geöffnet  Avurde,  nach  Hause.  Bald  darauf  aber  wurde 
der  Kirchenraub  entdeckt,  und  die  Untersuchung  sollte  mit  einer 
Haussuchung  beginnen ;  dess  erschrack  die  arme  Frau  sehr,  nahm 
ihre  Hostie  und  warf  sie  in  den  Brunnen ;  aber  sie  wollte  natür- 
lich nicht  untersinken ,  und  wie  jene  auch  rühren  mochte , 
die  Hostie  wurde  von  den  suchenden  Mönchen  entdeckt,  und 
die  Frau  gefoltert  und  verbrannt;  der  Brunnen  jedoch  empfing 
von  ihrer  That  eine  Wunderkraft,  dass  er  die  Segnung  der 
Gegend  wurde.  Das  ist  eine  Mähr  aus  alter  Zeit,  in  der  man 
einen  tieferen  Sinn  suchen  könnte ,  als  die  Mönche ,  welche  sie 
aufbewahrt  und  benutzt  haben ,  darin  ahnten.  Die  Alte ,  die 
es  wagte,  den  Gott  von  dem  Altar  zu  nehmen,  worauf  man 
ihn  nun  einmal  gestellt,  die  es  wagte,  mit  der  ganzen  heiligen 
Kraft  seines  wunderbaren  Wesens  das  Wasser  ihres  Brunnens 
zu  weihen,  dass  Genesung  und  Heil  für  alle  Leidenden  daraus 
entquoll  —  ward  gefoltert  und  verbrannt.  Ist  nicht  der  Dichter 
so  der  Herr  eines  Wunderbrunnens ,  dessen   Gewässer  er  durch 

4 


—       50       — 

einen  Strahl  der  Göttlichkeit  und  mit  der  ganzen  heiligen  Kraft 
eines  wunderbaren  Wesens  zu  weihen  die  Kühnheit  hat,  dass 
nun  Alle  Heil  daraus  trinken  oder  magische  Labung,  während 
ihn  selbst  das  Leben  foltert,  der  Dichtung  Flamme  verzehrt? 
Last  ihm  dann  mindestens  die  Weise,  wie  er  seiner  Qualen  Herr 
zu  werden,  wie  er  sie  zu  übertäuben  glaubt;  lasst  auch  dem 
armen  Grabbe ,  der  euren  Gott  in  den  Brunnen  warf ,  seine  Weise, 
seine  Rumflasche  und  sonstige  Unanständigkeiten  —  er  ist  ja  todt, 
das  Leben  hat  über  ihn  gerichtet  —  er  ist  verbrannt ! 

Auch  Christian  von  Dohm's  muss  ich  an  dieser  Stelle  er- 
wähnen, der  1751  zu  Lemgo  geboren  ward  und  dort  seine  für 
die  Geschichte  des  vorigen  Jalirhunderts  so  wichtigen  Denkwür- 
digkeiten schrieb.  Dohm  gehört  zu  dem  Triumvirate  Memoiren- 
schreibender Diplomaten,  die  unwillkührlich  durch  die  Aehnlich- 
keit  ihrer  Schreibart,  durch  die  gleich  sorgsam  behandelte  Ge- 
wandung ihrer  Gedanken  an  einander  erinnern;  es  sind  William 
Temple  und  Varnhagen,  der  sich  von  Ense  schreibt,  ausser 
Dohm ;  ihr  Styl  ist  so  glatt  wie  Eis ,  aber  es  steht  kein  Wasser 
unter  diesem  Eise ;  der  Varnhagen's  hat  dazu  oft  die  buntfarbigen 
Crystallblumen,  welche  entstehen,  wenn  man  heftig  beim  Hin- 
überrutschen über  Eis  auf  den  Kopf  fällt.  — 

Uns  bleibt  noch  übrig,  auf  die  mittelaltrige  Vergangenheit 
des  Fürstenthums  Lippe  zurückzublicken.  Die  Herrscher  dieses 
kleinen  blühenden  Landes,  voll  einer  dicht  gedrängten  betriebsa- 
men Bevölkerung,  stammen  von  einer  edlen  Familie  her,  die  unter 
Kaiser  Lothar  dem  Sachsen  als  an  der  Lippe  begütert  genannt 
wird;  desshalb  heissen  sie  Jungherrn  oder  edle  Herrn  „tho  der 
Lippe".  Ihr  ältester  Sitz  soll  Lipperode,  ein  Ort  jenseits  des 
Osnings  gewesen  sein,  und  Lippstadt  ihnen  seine  Entstehung 
verdanken.  Die  Herrschaft  diesseits  des  Osnings,  das  Fürsten- 
thum  Lippe  erhielten  sie  als  ein  Lehn  der  Paderbornischen  Kirche 
im  zwölften  Jahrhundert,  in  welchem  der  Stammvater  der  jetzigen 
beiden  Linien,  der  Fürsten  von  Lippe -Detmold  und  der  von 
Lippe -Bückeburg  oder  besser  von  Schaumburg  C-Holstein), 
Bernhard  IL  auftritt.  Nach  ihm  war  das  Geschlecht  besonders 
reich  an  Gliedern ,  die  sich  dem  Dienste  der  Kirche  widmeten ; 
man  zählt  zwei  Erzbischöfe ,  sechs  Bischöfe,  sechs  Dompröbste' 
einen  Kreuzritter  darunter  in  einem  Zeitraum  von  150  Jahren! 
Diese  kirchliche  Richtung  mochte   der  Ahnherr  Bernhard  selbst 


—      51      — 

seiner  Familie  gegeben  haben,  ein  Mann,  der  ein  so  Ereigniss- 
und Thatenreiches  Leben  führte,  dass  man  ihn  den  Lippischen 
Odysseus  genannt  hat,  und  in  ihm  den  Vorwurf  zu  einem  epi- 
schen Gedichte  sehen  konnte.  Der  Verfasser  desselben  hiess 
Justinus  und  verdankte  seine  Erziehung  wie  seine  Stiftspfründe 
zu  Höxter  einem  Gliede  der  Lippischen  Dynastenfamilie;  aus 
Dankbarkeit  dafür  scheint  er  den  Ahnherrn  derselben  besungen 
zu  haben,  wie  auch  Dankbarkeit  gegen  einen  spätem  Bernhard 
eine  Uebersetzung  des  Gedichts  durch  die  Stiftsjungfrauen  zu 
Lippstadt  veranlasste.  Es  ist  nämlich  in  Lateinischer  Sprache  in 
regelrechtem  elegischen  Versmasse  geschrieben  und  erzählt,  wie 
der  Graf  Bernhard ,  anfangs  dem  geistlichen  Stande  gewidmet, 
durch  den  Tod  eines  altern  Bruders  zur  Regierung  berufen,  sich' 
in  allem  ritterlichen  Werke  ausgezeichnet,  dann  von  Feinden 
aus  dem  Lande  getrieben ,  durch  eine  List  sich  wieder  zu  seinem 
Rechte  verhelfen  habe :  er  bot  nämlich  das  Landvolk  auf  und 
rückte  damit  wieder  in  seine  Gränzen  ein,  nachdem  er  den 
Bauern  befohlen ,  ihre  Pflugschaaren  und  eisernen  Ackergeräthe 
glänzend  blank  zu  scheuren  und  wie  ritterliche  Waffen  zu  erhe- 
ben. Als  nun  seiner  Feinde  Späher  von  den  besetzten  Warten 
herab  ihn  anrücken  sahen ,  glaubten  sie,  ein  Heer  gerüsteter  Ritter 
ziehe  heran ,  und  Alles  begab  sich  in  panischem  Schrecken  auf 
die  Flucht.  So  erhielt  Graf  Bernhard  sein  Land  wieder.  Er 
zieht  darauf  zum  Reichstag,  was  seinem  Sänger  Veranlassung 
zu  der  schönsten  Episode  gibt,  welche  die  Pracht  des  kaiserli- 
chen Hoflagers ,  den  Reichthum  und  die  Tugenden  der  Grossen 
des  Reichs,  den  Prunk  und  die  Anmuth  ihrer  Gezelte,  ihrer 
Mahlzeiten ,  ihrer  Gewänder  beschreibt.  Vor  dem  versammelten 
Hofe  erscheint  Graf  Beruhard  mit  würdiger  Repräsentation: 
Justinus  lässt  vor  ihm  her  die  Hörner  tönen,  die  Laute  erklingen, 
die  Flöten  lispeln  und  die  Pauken  schlagen,  dass  alle  ob  der 
Herrlichkeit  staunen.  Der  Kaiser  forscht ,  wer  und  von  wan- 
nen die  Kommenden  seien,  und  heisst  sie  sich  setzen;  sie  aber 
werfen  ihre  reichgestickten  Mäntel  ab ,  um  sich  darauf  nieder- 
zulassen. Nachdem  nun  die  Reichsgeschäfte  beendet  sind  und 
Alle  zum  Fortgehen  sich  erheben,  lassen  Bernhard  und  seine 
Begleiter  ihre  Mäntel  am'  Boden  liegen,  und  daran  gemahnt, 
spricht  Bernhard:  „es  ist  nicht  Sitte  in  unserm  Lande,  dass  ein 
ehrlicher  Mann  die  Sessel  mit  sich  forttrage,  auf  denen  er   sass. 

4* 


—      52      — 

Durch  solches  ritterliches  Gehaben  erwirbt  er  nun  die  Gunst  des 
Kaisers  sich  bald  und  erhält  von  ihm,  was  er  am  Hofe  suchte, 
die  Erlaubniss  eine  neue  Burg  in  seinem  Lande  erbauen  zu  dür- 
fen.   Da  errichtet  er  an  der  Lippe  die  Burg  gleiches  Namens. 

Eine  haile  Krankheit  raubt  ihm  nicht  lange  nachher  den 
Gebrauch  seiner  Glieder,  aber  er  lässt  sich  in  einem  Tragsessel 
umhertragen,  um  so  bei  den  Kämpfen  in  seinen  Fehden  gegen- 
wärtig zu  sein.  Doch  erinnern  ihn  seine  Leiden  an  seine  frühere 
Bestimmung  für  den  Dienst  Gottes  und  der  Kirche;  desshalb 
entsagt  er  der  irdischen  Hoheit  und  der  Herrschaft,  die  er  sei- 
nem Sohne  Herrmann  anvertraut ,  trennt  sich  von  seiner  Gemahlin, 
einer  Gräfin  von  Are,  und  von  seinen  elf  Kindern,  um  sich  in 
den  Orden  der  Cistercienser  zu  begeben  und  ein  Mönch  in  der 
Abtei  Marienfeld  im  Münsterlande  zu  werden.  Aber  hier  das 
stolze  Ritterhaupt  kahl  geschoren  unter  die  Obedienz  drücken 
zu  müssen  und  die  rauhe  Kutte  statt  des  goldgestickten  Sammts 
zu  tragen,  dünkt  ihm  bald  nicht  Ascese  genug;  er  will  auch 
noch  um  seines  Erlösers  willen  aus  dem  Vaterlande  verbannt 
sein  und  lässt  sich  nach  Dünamünde  versetzen,  wo  die  Mönche 
ihn  zum  Abte  erwählen. 

Auch  in  Dünamünde  lässt  es  den  Lippischen  Odysseus  nicht 
lange  ruhen ;  bald  sieht  ihn  der  römische  Stuhl  auf  seinen  Stufen 
knien  ,  um  die  Erlaubniss  vom  heiligen  Vater  auszuwirken,  das 
Kreuz  gegen  die  heidnischen  Liefländer  predigen  zu  dürfen ;  denn 
er  hatte  in  seiner  neuen  Heimath,  am  Baltischen  Meere,  von 
den  harten  Verfolgungen  vernommen ,  welche  über  die  Christen 
in  Liefiand  gebracht  seien.  Die  Bitte  wird  ihm  gewährt  und  er 
selbst  wird  zum  Bischof  von  Semgallen  ernannt;  sein  zweiter 
Sohn,  Otto,  der  schon  Bischof  von  Utrecht  ist,  während  sein 
ältester  Sohn  Gerhard  den  erzbischöflichen  Stuhl  der  Domkirche 
zu  Bremen  inne  hat,  weiht  den  Vater  dazu  mit  dem  heiligen  Oele 
ein,  und  setzt  ihm  die  Inful  auf  die  hohe,  von  lichter  Begeiste- 
rung glühende,  auf  die  väterliche  Stirn!  —  Bei  Gott,  ich  kann 
dem  Justinus  nicht  weiter  folgen  —  ich  hätte  der  Bischof  von 
Utrecht  sein  mögen,  der  seinem  eignen  Vater  die  Mitra  auf  das 
geliebte,  theure  Haupt  setzt!  Seht  ihr  sie  vor  dem  Hochaltar  ihrer 
Cathedrale,  die  beiden  Männer,  wie  die  hohe  ,  von  ihren  Jahren 
ungebeugte  Gestalt  des  Vaters  vor  dem  Sohne  kniet ,  Avie  er 
in  frommer  Andacht  und  voll  Ehrfurcht  vor  der  höheren  Würde 


—      53      — 

des  schon  Gesalbten,  zu  ihm  aufblickt,  ein  Haupt  mit  helden- 
kräftigen und  doch  weichen  Zügen,  denen  eine  Idee  voll  unend- 
licher Begeislerungsmacht  ihr  flammendes  Siegel  aufgeprägt  hat, 
dass  es  aussieht,  als  ob  der  goldne  Hintergrund,  welchen  das 
Gewand  seines  Sohnes  bildet,  der  Heiligenschein  sein  müsse, 
der  in  voller  Glorie  um  dies  Haupt  loht !  Und  seht  ihr  den 
Sohn,  wie  seine  Hände  zittern,  in  denen  er  die  Inful  hält,  wie 
der  Rubinenblitzende  Hirtenstab  ihm  an  die  Brust  zurückgefallen 
ist,  wie  Thränen  sein  blühendes  Gesicht  netzen,  als  nun  in 
Triumphesfreudigen  Klängen  das  donnernde  Tedeum  durch  die 
Gewölbe  der  Cathedrale  schwillt?  —  Es  war  ein  glücklicher 
Mann,  dieser  Bischof  Otto  von  Utrecht!  glücklicher  vielleicht 
als  ein  Kaiser,    der  seiner  Liebe   das  Diadem  durch  die  Locken 

schlingen   kann!  — Der  Bischof  Bernhard  predigte   nun 

das  Kreuz,  sammelte  Ritter,  Waffen  und  Rosse  und  stritt  sieg- 
reich zu  Gottes  Ehre  gegen  die  Heiden:  alt  und  lebenssatt  legte 
er  sich  zu  Lehal  in  Liefland  endlich  zum  Sterben  hin,  und 
hauchte  seine  Seele  in  Gottes  Hände  aus ;  seine  Leiche  ward 
nach  Dünamünde  gebracht  und  harrt  dort  einer  fröhlichen  Auf- 
erstehung. —  (S.  H.  Meibom.  Script.  Rer.  Germ.  /.) 

Die  folgenden  Herrn  zu  der  Lippe  Avaren  besonders  glück- 
lich in  ihren  Heirathen,  welche  ihnen  den  Besitz  der  Herrschaft 
Rheda,  eines  Theils  der  Grafschaft  Schwalenberg,  der  Herr- 
schaft Stoppelberg,  und  die  beiden  Grafschaften  Pyrmont  und 
Spiegelberg  verschafften ;  unglückliche  Fehden  brachten  sie  jedoch 
um  fast  alle  diese  Acquisitionen  wieder.  Doch  hatte  Bernhard  YL 
das  Glück ,  in  einer  Fehde  mit  Herzog  Heinrich  von  Braunschweig, 
der  ihn  bekriegte ,  weil  er  auf  seiner  Burg  Yarenholz  ungetreuen 
Vasallen  des  Herzogs  Schutz  gegeben  hatte,  diesen  mächtigen  Feind 
am  Odernberge,  den  19.  November  1404,  aufs  Haupt  zu  schlagen 
und  den  Herzog  selbst  gefangen  zu  bekommen.  Dieser  wurde 
in  das  feste  Bergschloss  auf  dem  Falkenberge ,  einer  der  Höhen 
des  Osnings  eingesperrt,  und  zwar  in  so  harter  Haft,  dass  er 
den  Gebrauch  seiner  Glieder  dadurch  verlor :  an7io  domini  ii04, 
sagt  eine  alte  Chronik ,  do  wart  Hinrick  van  Luneborch  gefangen 
van  Her  Bernde  van  der  Lippe  unde  wart  gefort  tip  den  Valken- 
berg,  dar  helt  en  de  Here  strenglicken  ein  jar  iimb ,  dat  he  na 
up  Krücken  moste  gan,  do  he  los  loart.  Diese  grausame  Be- 
handlung  mag   die  Gemahlin   des   Gefangenen  bewogen   haben, 


—      54      — 

persönlich  bei  dem  Sieger  um  die  Befreiung  des  Herzogs  zu 
flehen,  ein  Schritt,  welcher  der  Geschichte  unbekannt,  aber  von 
dem  folgenden  Yolksliede  verherrlicht  ist: 

Jk  sag  minen  Heren  van  Falkensteen 
To  siner  Borg  op  rieden, 
En  Schild  forte  he  beneven  sik  her, 
Blank  Schwerd  an  siner  Sieden. 

„God  gröle  ju  Heren  van  Falkensteen; 
„Syji  des  Land's  en  Here? 
„Ei  so  gebet  mek  weder  den  Gefang'nen  min, 
„Um  aller  Jungfrou'n  Ere; 

De  Gefangene,  den  ik  gefangen  hebb', 
De  is  nü  worden  suer, 
De  liegt  tom  Falkensteen  in  dem  Thoorn, 
Darin  sal  he  vervulen. 

„Sal  he  dan  tom  Falkensteen  in  dem  Thoorn, 
„Sal  he  darin  vervulen? 
„Ei  so  wil  ik  wal  jegen  de  Muren  treen, 
„Un  helpen  Leefken  truren. 

Un  as  se  wal  jegen  de  Muren  trat, 
Hört  se  fien  Leefken  d'rinne. 
„Sal  ik  ju  helpen?  dat  ik  nig  kan, 
„Dat  nimt  mi  Wit  un  Sinne. 

Na  Hus,  na  Hus,  mine  Jungfroue,  zart, 
Un  tröst  jue  arme  Weysen. 
Nemt  ju  op  dat  Jar  enen  andern  Man, 
De  ju  kan  helpen  truren. 

„Nem  ik  op  dat  Jar  enen  andern  Man, 
„By  eme  möst  ik  slapen. 
„So  leet  ik  dan  ok  jo  min  Truren  nig. 
„Slög  he  mine  arme  Weysen. 

„Ei  so  wolt  ik,  dat  ik  enen  Zelter  hedd, 
„Un  alle  Jungfrou'n  rieden, 
„So  wolt  ik  met  Heren  van  Falkensteen, 
„Um  min  fien  Leeflten  strieden. 

Oh  ne,  oh  ne,  mine  Jungfrou  zart; 
Des  möst  ik  dregen  Schande, 
Nemt  ji  ju  Leefken  Aval  by  de  Hand , 
Trek  ju  met  ut'  dem  Lande. 


—      55      — 

„Ut  dinem  Lande  trek  ik  so  nig, 
„Du  gifst  mi  dan  en  Scliriven, 
„Wenn  ik  nu  komme  in  fremde  Land, 
„  Dat  ik  darin  kann  bliven.  — 

As  se  wal  in  en  grot  Ilede  kam 
Wal  lüde  ward  se  singen: 
„Nu  kau  ik  den  Heren  van  Falkensteen 
„Met  minen  Worden  tvvingen. 

„Do  ik  dit  nu  nig  hene  segen  kan, 
„Do  Avill  ik  doen  hen  sclirif'en, 
„Dat  ik  den  Heren  van  Falkensteen 
„Met  minen  Worden  kont  twingen. 

Die  Befreiung  des  Herzogs  wurde  jedoch  seiner  Gemahlin  nicht 
so  leicht,  wie  es  das  Lied  angibt;  erst  im  Juni  1405  wurde  er 
gegen  das  Versprechen  eines  Lösegelds  von  100,000  Rheinischen 
Goldgulden  und  nach  Stellung  von  zwei  Landesherrn  und  26  Kit- 
tern als  Bürgen,  nachdem  er  eidlich  die  Urfehde  gelobt,  sei- 
ner Haft  entlassen  von  dem  „Herrn  von  Falkenstein",  der  in  der 
Volksromanze  so  edelmüthig  ist.  Aber  wieder  in  seine  Burgen 
heimgekehrt  und  unter  seinen  Baronen,  scheint  der  Vertrag  sich 
ihm  in  ganz  andrem  Lichte  gezeigt  zu  haben  wie  damals,  als  er 
noch  in  der  engen  Fürstenkammer  auf  dem  Falkenberge  sass, 
die  man  noch  im  vorigen  Jalirhundert  unter  den  Ruinen  des 
Schlosses  zeigte ,  als  sprechenden  Beweis ,  mit  welch'  unbeque- 
men, von  allem  Luxus  entblössten  Räumen  die  Fürsten  des 
fünfzehnten  Jahrhunderts  sich  zu  begnügen  wussten  —  ein  Ge- 
mach, um  den  leidenschaftlichsten  Rococo- Liebhaber  sein  Ste- 
ckenpferd für  immer  darin  aufstallen  zu  lassen.  Genug,  der 
Herloghe  Hinrick,  de  toch  lo  liome  unde  leyt  sich  von  dem  eijd 
absolveren  tmde  toch  in  des  greoen  van  der  Lippe  Land  unde 
brende  reyn  äff  dal  do  was,  dar  wart  nich  vele  gerovet.  Zudem 
wurde  die  Reichsacht  über  Bernhard  VL  und  seinen  Sohn  Simon, 
die  edlen  Herrn  zur  Lippe  verhängt;  ganz  Westphalen  und  Nie- 
dersachsen stand  gegen  sie  auf  und  ihr  Gebiet  wurde  mit  Feuer 
und  Schwert  verwüstet.  Nur  der  Churfürst  Friedrich  von  Cöln, 
der  Grossohm  der  Gemahlin  Bernliard's ,  einer  Gräfin  von  Moeurs, 
verwandte  sich  für  sie  ,  und  so  gelang  es  ihnen  endlich ,  dem 
völligen  Untergange  und  der  verdienten  Strafe  für  die  unritter- 


—      56      — 

lieh  grausame  Behandlung  ihres  Gefangenen  durch  Vergleichsver-- 
iräge  zu  entgehen. 

Bernhard  YIL,  der  kriegerische ,  (f  1511)  verkaufte  die  schon 
früher  verpfändete  Hälfte  von  Lippstadt  an  den  Herzog  von  Cleve, 
wodurch  dieser  Gebietstheil  an  Preussen,  den  Erben  der  Glevi- 
schen  Lande  gekommen  ist.  Unter  ihm  verwandelte  der  Böhmer- 
krieg das  Land  in  eine  Einöde,  60,000  raublustiger  wilder  Böh- 
men, welche  der  Erzbischof  von  Cöln,  Graf  Dietrich  von  Moeurs, 
als  Hülfstruppen  in  seiner  Fehde  mit  der  Stadt  Soest  brauchte, 
fielen  von  Höxter  her  im  Jahre  1447  in  das  Land  ein;  denn 
Bernhard  VH.  war  der  Bundesgenosse  des  Herzogs  von  Cleve, 
in  dessen  Schutz  sich  die  angegriffene  Reichsstadt  während  dieser 
berühmten  „Soester  Fehde''  gestellt  hatte.  Der  damals  erst 
18jährige  Edelherr  zur  Lippe  musste  bei  diesem  Einfall  in  eine 
Tonne  verschlossen  zu  Schiffe  sich  die  Weser  hinunter  retten, 
bis  ihn  schützend  die  Schauenburg  in  ihren  Mauern  aufnahm.  — 

Seit  dem  16.  Jahrhundert  verlegten  die  um  diese  Zeit  erst  den 
Grafentitel  annehmenden  Herrn  zur  Lippe  ihre  Residenz  nach 
Detmold,  nachdem  sie  früher  auf  ihren  Burgen  zu  Lipperode, 
Bracke,  Blomberg,  Rheda  u.  s.  w.  gehaust.  Ihre  Herrschaft 
zeichnete  sich  durch  ihre  Milde  aus;  noch  jetzt  mag  das  Land 
das  einzige  Deutschlands  sein  ,  welches  fast  gar  keine  direkte 
Steuern  kennt.  Viel  seines  Wohlstandes  verdankt  es  dem  gross- 
artigen und  wahrhaft  ehrwürdigen  Regentengeiste  der  Fürstin 
Pauline,  geborenen  Prinzessin  von  Anhalt -Bernburg,  einer  Frau, 
die  selbst  Napoleon  Achtung  vor  ihrem  Geiste  abdrängte  —  wie 
das  jetzt  sprichwörtlich  geworden  ist ,  wenn  man  von  den  Regen- 
tentugenden eines  Deutschen  Fürsten  der  vorigen  Generation 
redet. 

Die  schönsten  Parthien,  die  man  von  Detmold  aus  machen 
kann,  sind  die  zum  Falkenberge,  auf  die  Grotenburg  oder  den 
Teut,  und  die,  welche  diesen  Berg  zur  Linken  lassend,  durch 
die  Schlucht,  welche  er  mit  seinem  westlichen  Nachbar  bildet, 
dann  links  um  die  Grotenburg  herum ,  immer  durch  die  herrlichsten 
Buchenwaldungen  und  Eiciienhaine,  zum  Petri- Stieg  führt,  wo 
eine  schöne  weitgedehnte  Aussicht  sich  bietet  auf  ein  reich  bevöl- 
kertes und  bebautes  Land,  dem  nur  die  Windungen  und  Gestade 
eines  grossen  silberwogigen  Stromes  fehlen,  um  sich  kühn  den 
berühmtesten  Aussichten  unsres  Vaterlandes  an  die  Seite  stellen  zu 


—      57      — 

dürfen.  Zunächst  im  Thale  unten  liegt  das  Dorf  Heiligenkirciien, 
das  aus  seinem  grünen  Laube  mit  den  rothen  Ziegeldächern,  dem 
hohen  Thurme  und  der  pittoresken  alten  Kirche  freundlich  her- 
vorschaut; das  herrliche  Thal  der  „Berlebecke"  führt  unten  von 
Detmold  her  zu  diesem  reizend  gelegenen  Orte,  der,  einer  der 
ältesten  im  ganzen  Ländchen,  schon  1036  in  einer  Urkunde  vor- 
kommt; ja  Karl  der  Grosse  selbst  soll  die  Kirche  den  Heiligen 
gestiftet  haben,  welche  ihm  zu  seinem  Siege  über  die  Sachsen 
bei  Thietmelle  beistanden.  — 

Aber  eine  noch  romantischere  Parthie,  eine  kühne  Wanderung 
ist  die,  welche  ich  jetzt  euch  vorschlage;  es  gilt  nämlich  nichts 
geringeres,  als  die  erste  beste  der  Höhen  des  Osnings  zu  erklim- 
men, welche  das  Thal  von  Detmold  gegen  die  Stürme  des  Süd- 
wests beschirmen  und  dort  oben  von  Kuppe  zu  Kuppe,  durch 
Schlucht  und  Hain,  und  Busch  und  Stein  einen  Weg  uns  zu 
brechen,  immer  dem  Zuge  gen  Nordwesten  nach,  welchem  die 
Berge  folgen.  Sie  ist  mühsam,  die  Reise,  aber  wir  stehen  auf 
dem  Boden  altdeutscher  Kraft  und  altdeutschen  Siegesstolzes; 
wie  ein  Gefolgsherr,  der  durch  die  Wälder  seinem  Drange  nach 
Abentheuer  folgt,  schreit'  ich  voran,  das  Eichenlaub  meines  Hu- 
tes unser  grünes  Banner,  und  ihr  folgt  mir  als  getreue  Gesaljo's, 
die  Gesellen  nach  dem  Rechte  der  Waffenbrüderschaft,  das  euch 
verbindet,  mit  mir  zu  stehen  und  —  zu  fallen,  ein  Umstand,  der 
leicht  eintreten  kann.  Oben  auf  der  Höhe  winkt  der  Lohn,  der 
Blick  in  die  weiteste  Ferne,  die  wir  mit  den  im  Sonnenstrahl 
leuchtenden  Waffen  siegreicher  Gedanken  uns  unterthänig  machen, 
um  dem  überwundenen  Volke  der  Philister,  das  da  unten  haust, 
den  dritten  Fuss  seines  Gebietes  abzunehmen;  wir  wollen  es  für 
uns,  für  die  Romantik  und  die  Poesie.  Seht  ihr  es  daliegen  das 
bunte  Panorama  mit  Wies'  und  Wald  und  Berg  und  Burg,  mit 
Thurm  und  Thor?  Gen  Süden  dehnt,  von  ihren  wilden  Rossen 
durchflogen,  die  Senne  sich  aus,  eine  unendliche  Ebene,  sandig, 
wenig  bebaut,  mit  einzelnen  Dörfern  und  Höfen,  welche  der 
Eichenhain  oder  die  Tannengruppe  birgt.  Nur  gegen  Südwesten 
hin  erspäht  ihr  weitgedehnte  Waldungen ;  sie  hegen  das  alte 
Schloss  der  Grafen  von  Rittberg,  die  Holte,  mit  ihren  zerfallenen 
Thürmchen  und  verschütteten  Gräben;  lasst  mich  den  Schlossherrn 
aus  der  Ferne  grüssen,  der  jetzt  dort  mit  bespornten  Schritten 
das  nachklirrende  Echo  des  öden  Rittersaales  weckt  und  sinnend 


—      58      — 

das  blonde  Haupt  schüttelt,  wenn  es  zu  laut  wird,  dies  Echo, 
wenn  es  gespenstisch  in  den  bestaubten  Räumen  des  einsamen 
Waldkastel's  zu  rumoren  beginnt;  denn  es  ist  nicht  geheuer  dort 
und  eine  Sage  knüpft  an  die  Burg  ein  Ereigniss,  welches  mit 
verändertem  Namen  die  folgende  schöne  dichterische  Bearbeitung 
erzählt: 

Das  Fräulein  von  Rodenschild. 

Sind  denn  so  schwül  die  Nacht'  im  April? 
Oder  ist  so  siedend  das  junge  Blut? 
Sie  schliesst  die  Wimper,  sie  liegt  so  still, 
Und  horcht  des  Herzens  pochender  Fluth. 
„0,  will  es  nimmer  und  nimmer  tagen? 
0,  will  nicht  endlich  die  Stunde  schlagen! 
Ich  wache,  und  selbst  der  Seiger  ruht." 

Doch  horch!    es  summt,  Eins,  Zwey,  und  Drey,  — 
„Noch  immer  fort?"  —  Sechs,  Sieben,  Acht, 
Elf,  Zwölf,  —  0  Himmel,  war  das  ein  Schrey? 
Doch  nein,  Gesang  erhebt  sich  sacht, 
Nun  wird  mir's  klar,  mit  frommem  Munde 
Begrüsst  das  Hausgesinde  die  Stunde,  '•) 
Anbrach  die  heilige  Osternacht." 

Seitab  das  Fräulein  die  Kissen  stösst, 

Und  wie  ein  Reh  von  dem  Lager  setzt, 

Des  Mieders  engende  Schleifen  lösst, 

Jn's  Häubchen  drängt  sie  die  Locken  jetzt. 

Das  Fenster  öffnend,  leise  leise, 

Sie  horcht  der  mählig  schwellenden  Weise, 

Seltsam  vom  Schrey  der  Eule  durchsetzt. 

0  dunkel  die  Nacht!  und  schaurig  der  Wind! 

Die  Fahnen  wirbeln  am  knarrenden  Thor,  — 

Da  aus  der  Halle  das  Hausgesind, 

Mit  Blendlaternen,  tritt  einzeln  vor. 

Der  Pförtner  dehnet  sich,   halb  schon   träumend, 

Am  Dochte  zupfet  der  Jäger  säumend. 

Und  wie  ein  Oger  gähnet  der  Mohr. 


*)  Es  bestand,  und  besteht  hier  und  dort  noch  in  katholischen  Ländern 
die  Sitte,  am  Vorabende  des  Oster-  und  Weihnachlfages  den 
zwölften  Glockenschlag  abzuwarten,  um  den  Eintritt  des  Festes 
mit  einem  frommen  Liede  zu  begrüssen. 


—      59      — 

Was  ist?  —  wie  das  aus  einander  schnellt! 

In  Reihen  ordnen  die  Männer  sich, 

Und,  eine  Wacht,  vor  die  Dirnen  stellt 

Die  graue  Zofe  sich  ehrbarlich , 

„  Ward  ich  gesehn  an  des  Vorhangs  Lücke  ? 

Doch  nein,  zum  Balkone  starren  die  Blicke, 

Nun  langsam  wenden  die  Häupter  sich." 

„  Weh  meine  Augen  I   bin  ich  verrückt  ? 
Was  gleitet  entlang  das  Treppengeländ'? 
Hab  ich  nicht  so  aus  dem  Spiegel  geblickt? 
Das  sind  meine  Schritte  —  welch  ein  Geblend! 
Nun  hebt's  die  Hände,  wie  Zwirnes  Flocken, 
Das  ist  mein  Strich  über  Stirn  und  Locken!  — 
Weh!  bin  ich  toll?  oder  naht  mein  End?" 

Das  Fräulein  schaudert,  und  hält  sich  doch, 

Das  Fräulein  wendet  die  Blicke  nicht. 

Und  leise  rührend  die  Stufen  noch 

Am  Steingelände  fährt  das  Gesicht, 

In  seiner  Rechten  den  Leuchter  tragend, 

Und  pfeilrecht  drüber  die  Flamme  ragend, 

Blau,  regungslos,  wie  ein  Elfenlicht 

Nun  langsam  unter  dem  Sternendom, 
Nachtwandlern  gleich  in  Traumes  Geleit, 
Entlang  die  Reihen  schwebt  das  Phantom, 
Und  Jeder  tritt  einen  Schritt   zur  Seit'.  — 
Nun  lautlos  gleitet's  über  die  Schwelle  — 
Und  wieder  drinnen  erscheint  die  Helle, 
Hinauf  sich  windend  die  Stiegen  breit. 

Das  Fräulein  hört  das  Gemurmel  nicht, 
Sieht  nicht  die  Blicke,  stier  und  verscheucht, 
Fest  folgt  ihr  Auge  dem  blauen  Licht, 
Wie's  dunstig  über  die  Scheiben  streicht, 
—  Nun  ist's  im  Saal  —  nun  im  Archive  — 
Nun  steht  es  still  an  der  Nische  Tiefe  — 
Nun  matter,  matter  —  hal  es  erbleicht I 

„Du  sollst  mir  stehen!   ich  will  dich  fahnl" 

Und  wie  ein  Aal  die  beherzte  Maid 

Durch  Nacht  und  Krümmen  schlüpft  ihre  Bahn, 

Hier  droht  ein  Stoss,  dort  häkelt  das  Kleid, 

Leis  tritt  sie  auf,  o  Geistersinne 

Sind  scharf!  —  dass  nicht  das  Gesicht  entrinne! 

Ja,  muthig  ist  sie,  bei  meinem  Eid! 


60 


Ein  dunkler  Rahmen ,  Archives  Thor ; 

—  Ha,  Schloss  und  Riegel!  —  sie  sieht  gebannt. 

Sacht  sacht  das  Auge  und  dann  das  Ohr 

Drückt  zögernd  sie  an  der  Spalte  Rand, 

Tiefdunkel  drinnen  —  doch  einem  Rauschen 

Der  Pergamente  glaubt  sie  zu  lauschen, 

Und  einem  Streichen  entlang  der  Wand. 

So  niederkämpfend  des  Herzens  Schlag, 

Sie  hält  den  Odem,  sie  lauscht,   sie  neigt, 

Was, -ihr  zur  Seite,   entglimmt  gemach'!* 

Ein  Glühwurmleuchten,  —  es  schwillt,  es  steigt  — 

Und,  Arm  an  Arm,  auf  Schrittes  Weite, 

Der  Schemen  lehnt  an  der  Pforte  Breite, 

Gleich  ihr,  zur  Nachbarspalte,  gebeugt. 

Sie  fährt  empor,  —  das  Unding  auch  — 
Sie  tritt  zurück  —  so  die  Gestalt  — 
Nun  stehn  die  Beiden,  Aug'  in  Aug', 
Und  bohren  sich  an  mit  Vampyres  Gewall, 
Das  gleiche  Häubchen  deckt  die  Locken , 
Das  gleiche  Linnen,  wie  Schnees  Flocken, 
Nachlässig  gleich  um  die  Glieder  wallt. 

Langsam  das  Fräulein  die  Rechte  streckt, 

Und  langsam,  wie  aus  der  Spiegefwand, 

Sich  Linie  um  Linie  entgegen  reckt 

Mit  gleichem  Rubine  die  gleiche  Hand  ; 

Nun  rührt  sichs  —  die  Lebend'ge  spüret, 

Als  ob  ein  Luftzug  sie  schneidend  rühret. 

Der  Schemen  bleicht,  —  zerrinnt,  —  entschwand. 

Und  wo  im  Saale  der  Reihen  fliegt, 
Da  siehst  ein  Mädchen  du,  schön  und  wild,— 
Vor  Jahren  hat's  eine  Weile  gesiecht  — 
Das  stets  in  den  Handschuh  die  Rechte  hüllt. 
Man  sagt,  kalt  sey  sie  wie  Eises  Flimmer, 
Doch  lustig  die  Maid,  sie  hiess  ja  immer: 
„Das  tolle  Fräulein  von  Rodenschild  " 


Im  Siiden  am  Rande  der  Senne  erblicken  wir  die  Thürme 
von  Paderburn  und  darüber  emporragend  die  blauen,  vvolken- 
gleicheii  Höhen  der  Süderläiidischen  Gebirge;  links  begränzt  die 
Egge  mit  ihren  waldigen  Kuppen  die  Aussicht,  rechts  sieht  man 
in  eine  endlose  Ebene   hinein   und   darin  bei   sehr  heiterm  Hirn- 


—      61      — 

mel  die  Thürme  von  Münster.  Wenden  wir  uns  aber  und  bli- 
cken gen  Norden,  so  fällt  vor  allen  nebst  Lemgo,  und  dem  links 
von  seinem  Sparrenberge  halb  versteckten  Bielefeld,  Herford  in's 
Auge  und  ein  Theil  des  Ravensberger  Landes,  in  dem  es  die 
zweite  Hauptstadt  ist.  Herford  hiess  wegen  seiner  vielen  Heili- 
gengebeine und  der  Menge  seiner  Klöster  ehemals  „dat  hilge  Her- 
vede" ,  Sancta  Herfordia:  es  gehörte  im  16ten  Jahrhundert  unter 
die  Reichsstädte  und  spiegelte  stolz  die  Menge  seiner  spitzen 
Thürme  in  der  freundlichen  Werre,  die  hier  die  kleinere  Aa  auf- 
nimmt. Wir  müssen  die  Blicke  für  eine  Zeitlang  darauf  haften 
lassen.  Die  Stadt  liegt  in  einem  reich  bebauten  fruchtbaren 
Thale,  dem  nach  Osten  hin  die  Berge  des  Osnings,  hier  mehr 
Hügel  von  etwa  4  bis  500  Fuss  Höhe,  die  nächste  Begränzung 
geben;  doch  liegt  auch  noch  an  der  Südseite  des  Ortes  ein 
Hügel,  den  man  den  Luttenberg  nennt  und  darauf  die  Kirche 
und  Gebäude  des  ehemaligen  Collegiatstiftes.  Dies  Gottes- 
haus wurde  im  Jahre  1012  erbaut  und  von  Bischof  3Ieinwerkus 
von  Paderborn  eingeweiht,  nachdem  1011  auf  Sankt  Gervasii 
und  Protasii  Tag  die  heilige  Jungfrau  einem  armen  nach  Herford 
wandernden  Schäfer  erschienen  war,  und  ihn  geheissen  hatte, 
zur  Äbtissin  des  Klosters  in  Herford  zu  gehen  und  ihren  Willen 
zu  verkünden,  dass  auf  dem  Luttenberge  ihr  ein  Haus  der  Ver- 
ehrung erbaut  werde.  Ein  altes  Bild  in  der  Kirche  erhielt  früher 
das  Andenken  an  diese  Vision;  auch  zeigte  man  dort  ein  Stück  des 
Baumes,  auf  welchem  die  heilige  Jungfrau  sich  in  Gestalt  einer  Taube 
niedergelassen  hatte ,  um  noch  einmal  dem  Schäfer  ihre  AVorte 
zu  wiederholen,  als  man  ihm  zuerst  keinen  Glauben  beigemessen 
hatte.  Das  eben  erwähnte  Kloster  in  Herford  war  eine  zur  Zeit 
Wittekinds  gestiftete  Frauen-Abtei,  die  Reichsstandschaft  besass 
und  über  die  Stadt  und  ihr  Gebiet  herrschte,  nachdem  Kaiser 
Karl  IV.  1377  der  Äbtissin  Hildegarde  von  Olgenbach  die  volle 
Jurisdiktion  zuerkannt  hatte:  eine  ihrer  Nachfolgerinnen,  Gräfin 
Anna  von  Limburg  trat  aber  1547  die  Hoheitsrechte  dem  Herzoge 
Gerhard  von  Jülich  ab  und  im  Oktober  dieses  Jahres  huldigte 
diesem  die  Stadt:  1802  wurde  die  Abtei  aufgehoben,  das  CoUe- 
giatstift  auf  dem  Luttenberffe  erst  1810. 

Nordwestlich  von  Herford  liegt  ein  unscheinbares  kleines  Dorf, 
welches  gewiss  das  merkwürdigste  AVestphalens  ist:  es  heisst 
Enger  und  war  einst  eine  stolze  Stadt,  die  den  ganzen  Gau  der 


—      62      — 

Augrivarier  beherrschte,  denn  sie  umschloss  die  Königsburg 
Wittekinds;  (König  nennt  ihn  allgemein  die  Yolkssage,  obwohl 
Karl  der  Grosse  ihm  nach  seiner  Bekehrung  nur  ein  erbliches 
Herzogthum  über  Westphalen  und  Engern  übertrug.)  Die  Stadt 
Enger  hatte  sieben  Thore,  sie  dehnte  sich  gen  Süden  bis  an 
den  Elsternbusch  aus;  Westerenger  aber  war  die  Vorstadt  und 
hier  hatte  der  König  ein  Vorwerk ,  dem  auch  noch  der  Name 
geblieben  ist.  Von  dieser  alten  Stadt  entdeckt  man  jetzt  keine 
Spur  mehr:  die  Kirche  und  an  ihrer  Südseite,  am  Raine  des 
etwas  erhöht  liegenden  Friedhofs,  der  die  Kirche  umgibt,  ein 
kleines  Mauerstück  von  Wittekind's  Burg  sind  alles  ,  was  aus 
des  Herzogs  Tagen  übrig  geblieben  ist.  Die  Entstehung  der 
Kirche  und  der  Burg  wird  nach  der  mündlichen  Tradition  des 
Volkes  so  erzählt:  als  Wittekind  ein  Christ  geworden  war  und 
Frieden  im  Lande  hatte,  da  beschloss  er,  einen  Königsitz  sich 
zu  bauen,  wo  er  in  Ruhe,  seine  treuesten  Genossen  um  sich, 
den  Rest  seiner  Tage  verleben  könne.  Drei  Orte  aber  waren  ihm 
vor  allen  lieb,  die  Höhe  von  Bünde,  der  Werder  von  Relime 
und  das  hügelichte  Angerthal:  unschlüssig  über  die  Wahl,  er- 
klärte er  desshalb ,  er  würde  den  Ort  wählen,  wo  zuerst  eine 
Kirche  erbaut  wäre.  Nun  begann  man  an  allen  drei  Orten  eifrig 
zu  werken:  aber  der  Baumeister  im  Angertheile  war  der  listigste; 
er  baute,  sich  buchstäblich  an  des  Königs  Wort  haltend,  eine 
Kirche  ohne  Thurm ,  und  die  stand  ■  rasch  und  bald  fertig  da; 
so  wählte  Wittekind  die  Stelle  für  seine  Burg  aus  und  Hess  zu- 
gleich der  Kirche  den  noch  fehlenden  Thurm  mit  gehöriger  Müsse 
ansetzen;  die  Stadt  entstand  umher  und  umschloss  mit  ihren 
Mauern  das  jetzige  Marktfeld,  wo  sich  der  Hauptplatz  befand 
und  das  Opferfeld ,  wo  man  zuvor  den  heidnischen  Göttern  Men- 
schenopfer gebracht  hatte,  nebst  mehreren  andren  Feldstücken, 
über  welche  jetzt  Pflug  und  Egge  fahren.  In  der  Umgegend  aber 
siedelten  sich  die  Sattelmeier  an,  wenn  sie  nicht  schon  aus 
älterer  Zeit  her  ihre  Sitze  dort  halten:  das  waren  Wittekind's 
Gesaljo's,  die  Saalgenossen  oder  sein  nächstes  Gefolge:  sie  muss- 
ten  ihn  zu  Pferde  begleiten  und  noch  lange  nachher  halten  ihre 
Höfe  die  Verpflichtung,  einen  berittenen  Mann  in  den  Heerbann 
zu  stellen.  Es  sind  ihrer  jetzt  noch  vierzehn  vorhanden,  sieben 
in  der  Nähe  von  Enger,  die  andren  Aveiterhin  nach  Werlher, 
Dornberg ,  Schildesche  und  Heepen  zu.    Wenn  sie  mit  dem  Könige 


—      63      — 

ritten,  so  begann  der  zu  Hiddenhausen  den  Zug  und  der  Meier 
zu  Hücker  schloss  ihn:  einer  war  Aufseher  des  Marstalls,  ein 
andrer  Wildmeister  und  ordnete  die  Jagden;  ein  dritter  war  das 
Haupt  der  Hirten ,  welche  die  zahlreichen  Sauheerden  des  Königs 
weideten :  >Yindmeier  war  Wittekinds  Jäger  und  nährte  seine  Hun- 
de. Die  Sattelmeier  hatten  noch  bis  auf  unsre  Zeiten  den  Ge- 
nuss  manches  Vorrechts,  das  aus  alten  Tagen  ihnen  angestammt 
war:  sie  waren  Zehentfrei  und  wurden  besonders  feierlich  be- 
stattet: es  wurde  unter  Andrem  ein  gesatteltes  Pferd  hinter  ihrem 
Sarge   hergeführt. 

Viele  andre  Erinnerungen  an  den  grossen  Heerführer  be- 
wahrt in  Namen  und  Anklängen  die  Gegend.  Man  zeigt  im 
Dorfe  Enger  die  Stellen,  wo  seine  Küche  und  der  Küchen- 
garten ,  w^o  das  Backhaus  und  der  Hühnerhof  lagen :  Pferde- 
schwemme  und  Burggraben  werden  euch  gewiesen,  ja  der  acht- 
eckige ausgekehlte  Stein,  welcher  einst  über  der  Schlossespforte 
lag  und  die  Krone  trug;  unfern  des  Ortes  bei  einem  dornbe- 
wachsenen Hügel,  sieht  man  den  Platz  von  Wittekinds  Vogel- 
heerd  und  Vogelhaus,  bei  dem  er  oft  und  gern  verweilte  und 
zwei  junge  Bursche  zu  Fang  und  Pflege  der  Thiere  angestellt 
hatte.  An  der  Stelle  der  Umgegend ,  wo  gegenwärtig  das  Wahr- 
zeichen des  Gaues,  die  heiligen  (sieben}  Buchen  stehen,  hatte 
er  eine  Warte  zur  Rundschau  erbauen  lassen  neben  einer  Eiche, 
die  ein  Heiligthum  aus  alter  Zeit  war :  er  mochte  dort  in  schwa- 
chen Stunden  mit  seinen  Gedanken  zu  den  alten  Göttern  zurück- 
wallfahrten, denen  er  untreu  geworden  war.  An  der  Stelle  des 
uralten  heiligen  Baumes  wuchs  später  die  wunderbare  Buche  auf, 
deren  Ueberreste  noch  zu  schauen  sind:  es  war  ein  Stamm,  der 
nahe  an  der  Erde  in  sieben  mächtige  Aeste  sich  auseinander 
zweigte  und,  oben  wieder  vereinigt,  mit  den  sieben  Wipfeln  die 
gewaltige  Krone  eines  einzigen  Riesenbaumes  bildete.  —  Aber 
Wittekinds  Gebeine  selbst  ruhen  in  der  stillen  Dorfkirche;  man 
betritt  dies  einfache,  ein  hohes  Alter  in  seinen  etwas  verwor- 
renen Strukturen  verrathende  Gotteshaus  mit  einer  Art  heiliger 
Scheu  vor  dem  hier  waltenden  Numen  des  grossen  Mannes,  der 
so  standhaft  und  muthig  für  sein  altes  gutes  Recht  sich  stemmte 
gegen  die  fränkischen  Eroberer,  die  auf's  Neue  mit  einem  neuen 
Glauben  in  das  Land  seiner  Väter  drangen:  waren  sie  doch  seit 
je  Ketzer  gewesen,  wie  seine  Priester  es  lehrten:  denn  Sachsen 


—      64      — 

und  Franken  lebten  seit  uralten  Tagen  in  verschiedener  y,Ehe" 
oder  gesetzmässigem  Wesen  [Eoa]  und  Bunde  unter  sich  und 
mit  ihren  Göttern:  mit  der  Glaubensspaltung  aber  war  ein  Na- 
tionalhass  zwischen  beide  Völker  gekommen,  der  ihre  Kriege 
um  so  mörderischer,  der  Sachsen  völlige  Unterwerfung  um  so 
schwieriger  machte.  Es  ist  das  ein  Punkt,  der  unsrer  Geschicht- 
forschung bisher  noch  entgangen  ist.  Der  arme  Wittekind  aber 
ahnte  nicht,  dass  es  hier  nicht  galt,  einem  Eroberer  die  Stirn  zu 
bieten  oder  dem  Nationalhasse  mit  der  nationalen  Siegesgewohn- 
heit entgegenzutreten,  sondern  dass  eine  neue  Phase  der  Geschichte 
über  den  dunklen  ahnungsvoll  flüsternden  Buchenzweigen  seines 
Angergaues  aufgehe,  wie  eine  dämmernde  Aurora  nach  einer 
heiligen  Weiht  nacht,  durch  deren  rosigangehauchte  Morgennebel 
die  Engel  des  Friedens  schweben,  um  auf  die  schlummernden 
stillen  Menschen  unten  ihre  Blumen  auszustreuen.  Dem  gewal- 
tigen Karl  aber  machten  die  Engel  nicht  rasch  genug  mit  ihren 
Gaben;  er  reckte  die  kühne  gigantische  Hand  bis  zu  ihnen 
empor  und  entriss  die  Blumen  ihrem  Schoosse;  dann  zog 
er  sein  Schwert  und  fuhr  mit  allen  seinen  Paladinen  in  Witte- 
kinds Wälder  hinein,  stach  sein  mächtig  Waffen  in  den  Grund 
und  pflanzte  so  der  Engel  Blumen  in  die  sächsische  Erde.  Das 
mochte  nicht  die  rechte  Art  sein,  denn  was  er  als  friedlich  ver- 
söhnende Lilie  setzte,  entfaltete  sich  nur  zu  oft  zur  schmerzen- 
reichen Passionsblume ,  die  zu  ihrer  Nahrung  das  beste  Herzblut 
des  germanischen  Menschen  verlangte  und  mit  narkotisch  über- 
wältigenden Düften  in  das  Mark  seiner  Kraft  drang :  aber  Blu- 
men der  Engel  und  überirdischen  Wesens  blieben  sie  doch,  und 
einmal  zu  vollem  Erschliessen  von  dem  Strahl  der  neuaufgehen- 
den Sonne  der  Geschichte,  deren  Tage  und  Nächte  eine  Reihe 
Jahrhunderte  sind,  wach  geküsst,  konnte  kein  Stahlarm  eines 
Wittekind  sie  wieder  ausreissen  aus  dem  Boden,  in  dem  sie 
Wurzeln  geschlagen. 

Das  hatte  Wittekind  nicht  erkannt;  und  woher  auch  sollte 
ihm  die  Kunde  gekommen  sein  in  seine  einsamen  Wälder,  woher 
das  Verständniss  einer  neuen  Zeit ,  die  nie  einen  Herold  sich  vor- 
aussendet, der  Brief  und  Siegel  von  Dem  da  oben  vorweisst, 
dass  ihre  Idee  ein  Evangelium  seie,  und  nun  von  bestimmtem 
Tag  und  Datum  an  die  Welt  in  eine  andere  sich  umzukehren 
habe.    Wissen  es  doch   so  viele  unter   uns   nicht,   obwohl  sie 


—      65      — 

nicht  in  einsamen  Wäldern  leben  und  täglich  die  Boten  verneh- 
men, "welche  die  Cultur  des  einen  Landes  an  das  andere  sendet, 
dass  eine  neue  Zeit  angebrochen  sei  und  sacht  emporsteige,  nicht 
wie  damals  eine  flammend  erstehende  Sonne  über  nächtig  dunk- 
len Wipfeln  und  Waldesbergen,  sondern  ein  ruhig  scheinender 
Tag,  der  Nebel  sich  senken  lässt  und  die  Lüfte  klärt:  glauben 
sie  doch  jetzt  noch,  mit  ihren  Händen  den  Nebel  festhalten, 
durch  das  Schwenken  zerfetzter  Bannerlappen  die  Unklarheit  des 
alten  Dunstes  Avieder  hineinarbeiten  zu  können  in  den  blau-son- 
nigen Aether,  wo  er  beginnt,  sich  zu  zeigen.  So  machen  *sie 
eine  wunderbar  verworrene  Zeit,  wo  man  wie  Karl  der  Grosse 
eine  riesige  Hand  emporrecken  möchte,  und  den  Engeln  die 
Blumen  zumal  entreissen,  mit  denen  sie  über  uns  schweben,  und 
die  sie  so  sacht  und  so  spärlich  auf  uns  harrende  Menschenkinder 
als  die  Knospen  der  Zukunftsblüthe  ausstreuen:  denn  nur  sel- 
ten fällt  eine  ihrer  Himmelsgaben  Avie  ein  leuchtend  niederstei- 
gendes Meteor  herab  oder  steht  tiber  uns,  eine  lohende  Segens- 
flamme in  ihrem  Kelche.  Und  WTil  wir  kleingläubig  sind  und 
leicht  verzagen ,  kommt  eine  nagende  Wehmuth  und  eine  schmerz- 
liche Ahnung  über  uns  bei  all  dem  Harren. 

Es  blitzt  am  Horizonte  hinter  den  Bergen  auf:  durchleuchtet 
ein  Meteor  die  Naciit?  Horch,  das  sind  Geschützesschläge, 
die  donnernd  an  den  Felsenufern  des  Stromes  hinabrollen.  Auf 
den  Halden  und  den  höchsten  Kuppen  prasseln  gewaltige  Schei- 
ter auf,  ein  Flammen,  als  feiere  es  die  Apetheose  des  eben 
verschiedenen  Tages :  durch  die  verschleierte  Nacht  schwingen 
sonor  und  feierlich  die  Glocken  ihre  metallnen  Klänge;  rings 
aus  allen  Thürmen  die  der  breitrollende  Rhein  bespült,  hallt 
es  wieder,  über  meinem  Haupte  schwirrt  es  die  Freudenkunde 
den  majestätisch  ernsten  dunklen  Bergen  zu,  bis  in  ihre  inner- 
sten Klüfte:  es  ist  eine  Knospe  der  Zukunftbliithe  auf  die  Erde 
niedergefallen  und  durch  die  Weihenacht,  Avelche  jetzt  die  Ge- 
schichte sich  feiert,  schoss  sie  wie  ein  leuchtendes  Meteor  her- 
ab ,  eine  lohende  Segensflamme  in  ihrem  Kelche !  —  Ihr  fragt 
mich,  wo  ich  sie  sehe?  auf  dem  Diadem  eines  Mannes,  dem 
heute  diese  Reiche   huldigten,*}   der,  so  Gott,  der  Lenker  der 


*)  Geschrieben  am  Rheine  den  15.  Oktober  IbtO. 


—      66      — 

Fürstenherzen  will,  unsre  Wehmuth  heilen  und  die  düstre  Ahnung 
von  uns  nehmen  wird. 

Der  Fluss  meiner  Rede  geht  wie  ein  Strom ,  der  viele  Win- 
dungen macht,  oder  besser  wie  die  Prozession  nach  Kevelaer, 
welche  nach  jedem  zweiten  Schritt  zum  graden  Ziele  den  dritten 
zur  Seite  springt.  Es  wird  hohe  Zeit,  dass  ich  eure  Gedanken 
zu  Wittekinds  Grabe  zurücklenke ,  das  auf  dem  Chore  der  Kirche 
zu  Enger  steht.  Es  ist  eine  im  Styl  der  Renaissance  von  Kaiser 
Karl  IV.,  der  persönlich  die  Stätte  besuchte,  (1377)  errichtete 
Tomba,  auf  welcher  der  alte  Held  in  Stein  ausgehauen  liegt: 
man  weiss  nicht,  ob  nach  einem  altern  Bilde  oder  nach  dem, 
welches  sich  der  Künstler  von  ihm  machte.  Er  ist  in  eine  Art 
Priestertalar  gewandet,  worauf  Edelsteine  angedeutet  scheinen; 
die  linke  Hand  hält  den  Scepter,  die  rechte  ruhet  auf  der  Brust. 
Wittekind  ist  ohne  Bart,  mit  kurzem  Haupthaar  abgebildet,  das 
zum  Theil  von  einer  mützenartigen  Kopfbedeckung  verhüllt  wird: 
die  Füsse  stecken  in  einer  Art  Schnabelschuhe,  die  fast  bis  an 
die  Zehen  offengeschlitzt  und  ohne  Bänder  zur  Befestigung  sind. 
Das  Monument  trägt  an  der  linken  Seite  des  Würfels  die 
Inschrift : 

Monumentmn  Wittekindi,  Warnechini  ßii,  AngriDariorum 
regis,  XU.  Saxoniae  procerum  ducis  fortissimi. 
rechts  liesst  man: 

Hoc  Collegium  Dionisianum  in  Dei  Opt.  Max.  honorem 
privilegiis  reditibusque  donatum,  fundavit  et  confirmamt. 
Obiit  anno  Christi  DCCCVIL,  relicfo  filio  et  regni  herede 
Wigeberto. 
Oben  auf  dem  Rande  der  vorspringenden  Stein  -  Platte ,  in  welche 
das  Bildwerk  ausgehauen  ist,  steht  geschrieben: 

Ossa  viri  forlis  —  Cujus  sors  nescia  mortis, 
iste  locus  munit  —  euge  bene  Spiritus  audit 
Omnis  mundatur  —  hunc  regem  qui  veneratur 
egros  hie  morbis  —  rex  salvat  et  orbis. 
Das  letztere  bezieht   sich  auf  den  Ruf  der   Wunderlhätigkeit,  in 
welchem  lange  Zeit  Wittekinds  Grabmal  stand:  wenigstens  wurde 
häufig  dahin  gewallfahrtet.  —  Noch  jetzt  wird  jährlich  am  Drei- 
königsfeste eine  Stunde  lang,  von  12  bis  1  Uhr,  ihm  zu  Ehren 
wie  einem  Heiligen  geläutet,  ein  Gebrauch,  der  nun  über  tausend 
Jahre  lang  bestanden  hat ,  obwohl  Wittekinds  Gebeine  wohl  über 


—      67      — 

400  Jahre  nicht  hier,  sondern  in  Herford  waren.  Witlekind  hatte 
nänilich  bei  der  Kirche  in  Enger  dem  heiligen  Dionis  ein  Colle- 
giatstift  fundirt  und  mit  reichen  Besitztiiümern  ausgestattet:  als 
aber  im  Laufe  der  Zeit  der  Ort  verödete,  gefiel  es  den  Stiftsherrn 
nicht  länger  in  dem  einsamen  Dorfe  und  das  ganze  Capitel  zog 
nach  Herford ,  nachdem  es  seine  Ländereien  und  Güter  vermiethet 
hatte.  Nach  Herford  sollte  nun  auch  Zins  und  Zehente  abgelie- 
fert werden;  aber  die  Pflichtigen  weigerten  sich  allesammt  und 
wollten  nur  beim  Grabe  ihres  Königs  ihre  Gefälle  niederlegen. 
Da  nahmen  die  Kapitularen  zur  List  ihre  Zuflucht.  Heimlich  in 
stiller  Nacht  Hessen  sie  die  Gruft  öffnen,  und  die  Ueberreste  des 
Königs  nach  Herford  schafl'en,  wohin  nun  die  Gefälle  folgen 
mussten.  Erst  als  das  Stift  aufgehoben  Avorden  war,  Avurden  die 
Gebeine  Wittekinds  den  Engern  wiedergegeben  durch  Urtheil  und 
Recht;  es  haben  die  Sattelmeier  sie  von  Herford  eingeholt,  um 
ihre  Kirche  getragen  und  dann,  nicht  in  der  alten  Tomba,  son- 
dern in  einem  Glas-Kasten  in  der  Sakristei  der  Kirche  beigesetzt. 
—  Als  die  Ueberreste  noch  in  Herford  waren,  befand  sich 
neben  ihnen  ein  alter  Trinkbecher,  oder  vielmehr  eine  vierek- 
kige  Schale ;  sie  ist  aus  grünem  Stein ,  rings  umher  mit  vergolde- 
tem Kupfer  eingefasst,  und  trägt  auf  dem  Rande  die  Inschrift: 
Munere  tarn  claro  —  ditat  nos  Affrica  raro. 

Eine  alte  dazu  gehörige  Kapsel  von  fremdem  bemaltem 
Holze  zeigt  die  Worte:  Yisdai  de  Affrica  rex.  Das  ist  Wittekinds 
Mundbecher,  ein  Geschenk  Karl's  des  Grossen  gewesen:  er  ist 
aus  grünem  Steine  aber  desshalb  gemacht,  weil  der  kein  Gift 
vertragen  kann.  Wohl  ursprünglich  die  Gabe  eines  afrikanischen 
Königs  an  Karl,  und  aus  Agalmatolith  gefertigt. 

Die  Sage ,  die  der  Duft  der  Geschichte  ist  und  wie  ein  bun- 
ter Sclimetterlingsstaub ,  flüchtig  und  leicht  verwischt,  auf  ihren 
Blättern  liegt,  musste  sich  natürlich  besonders  reich  und  glän- 
zend um  den  Character  lagern,  welcher  für  die  Sachsen  und 
Westphalen  den  wichtigsten  Uebergang  in  ihrer  geschichtlichen 
Entwicklung  darstellt;  die  Gebilde  der  Tradition  mussten  sich 
am  liebsten  um  die  Persönlichkeit  cristallisiren,  welche  in  sich 
das  heidnische  und  das  christliche  Element  zugleich  umfasst, 
denn  der  Uebergang  von  einem  der  Gegensätze  zum  andren  ist 
so  gewaltsam  und  sprunghaft,  dass  es  ein  AYunder  wäre,  wenn 
man  anders   als  durch  Wunderwirkungen  ihn   zu  motiviren  ge- 

5* 


—      68      — 

w'usst  hätte.    Die  Sage  von  einer  dieser  Wunderwirkungen  haben 
wir  oben  kennen  gelernt;  eine   andere  erzählt   Folgendes:   einst 
ritt  Wittekind  über  die  Heerstrasse  hin,   über  die  Berghöhe,  auf 
■welcher  jetzt  Bergkirchen  liegt  und   erwog   bei  sich,   welcher 
Glaube  der  beste   sei ,    der   Gottesdienst    seiner  Väter   oder   die 
neue  Lehre  der  Franken.    Und  er  sprach  bei  sich:   ist  diese  die 
rechte,  möchte  ich  dann  ein  Zeichen  haben,  wodurch  ich  gewiss 
würde!    Siehe  da,   in  demselben  Augenblicke  scharret  das  Boss 
und  aus  dem  felsigen  Boden  springt  ein  mächtiger  Quell.  Darauf 
ist  der  König  abgestiegen,    hat  von   dem  Wasser  getrunken  und 
gelobt,  ein  Christ  zu  werden:   und  in  derselben  Quelle  wurde  er 
getauft,  der  noch  jetzt  unter  der  Kirche   entspringt;  die  Kirche 
hat  Wittekind  dahin  bauen  lassen  und  Pabst  Leo  selber  hat  sie 
eingeweihet:  Karl  der  Grosse  war  der  Pathe  und  zum  Andenken 
an  dies  hochwichtige  Ereigniss  haben  die  Engern  und  Westpha- 
len  statt  des    frühern  schwarzen  Bosses   ein  weisses   zu  ihrem 
Feldzeichen  gewählt.  —   Eine  reichere  Ausbeute. würde  sich  ge- 
wiss ergeben  haben,  wenn  man   früher  daran  gedacht  hätte,   sie 
hier,  in  dem  verlassenen  Enger,  zu  suchen  und  aufzubewahren.  *} 
Der  Blick  auf  Herford  und  Enger  hat  unsre  Wanderung  auf- 
gehalten; wir  schreiten  nun  fürder,   kommen  an  der  Buine  der 
Antonius -Kapelle  vorüber,   die   auf  dem  Tönsberge  im  Gebüsch 
versteckt  und  umgeben    mit  Ueberresten  alter   Circumvallationen, 
diesem  langgedehnten  Bergrücken  seinen  Namen  gibt,  und  kom- 
,  men  endlich  in  die  Schlucht  hinab ,  in  welche  das  Dorf  Oerling- 
, hausen  sich  hineinzieht.    Wenn  wir  nicht  vorziehen,  in  dem  gast- 
freundlichen Gute  Barkhausen  einzukehren,    das  unten  im  tiefen 
Thale  zwischen  seinen   Gartenanlagen  und  unter  hohen  Eichen- 
wipfeln   seine   lichten   Mauern   und  den  düstren   feudalistischen 
Thurm  versteckt,  erklimmen  wir  jenseits  Oerlinghausen  die  mehr 
sich  nach  Norden  wendenden  Höhen  auf's   Neue,   folgen  ihrem 
Zuge  und  gelangen  so  endlich  auf  den  letzten  Gipfel  dieser  Berg- 
reihe, dem  zu  Füssen  das  kleine   Lutterthal  sich  ausbreitet  und 
uns  von  dem  gegenüberliegenden  Gebirge  abschneidet.  Ein  schö- 
nes Panorama  rollt  sich   hier  vor  uns  auf;    unten   das   freund- 


*)  S.   Die   Grafschaft   Ravensberg.     Minden  1835,   wo  noch  Mehreres 
zusammensestellt  ist. 


—      69      — 

liehe  Bielefeld  mit  seinen  Leinwandbleichen  und  zur  Rechten 
eine  hügelichte  fruchtbare  Ebene,  ein  lachendes  Gefilde,  das 
weithin  dicht  besäet  ist  mit  den  rothen  Dächern  fleissiger  Weber: 
unmittelbar  neben  uns  fesseln  die  Ruinen  des  Schlosses  Spar- 
renberg  unsre  Aufmerksamkeit.  Auf  unser  Begehren  öffnet  sich 
das  massive  Burgthor  vor  unsren  Schritten  und  wir  treten  in  die 
Ringmauern  der  Bergfeste  ein;  aber  es  gibt  wenig  zu  bewundern 
hier,  als  „morsche  Trümmer  der  Vergangenheit."  Wenden  wir 
das  Auge  lieber  auf  die  freundliche  Stadt  und  den  vor  uns  lie- 
genden Johannisberg  mit  seinen  Anlagen ,  von  wo  herab  man  die 
schönste  Aussicht  auf  die  Ruine  des  Sparrenbergs  hat. 

Wir  stehen  hier  in  dem  Gau  des  Angerlandes ,  der  ursprüng- 
lich Wessago  hiess,  später  aber,  nach  dem  Bergschloss,  das 
seines  Erbauers  Rabo  oder  Rawe  Namen  trägt  und  weiter  unten 
im  Wassergebiete  der  Ems  uns  beschäftigen  wird,  die  Grafschaft 
Ravensberg  genannt  wurde.  Der  Ort  Bielefeld  kommt  als  Bilan- 
velde  zuerst  unter  Schenkungen  vor,  welche  unter  dem  Abte 
Adalgar  in  der  Mitte  des  neunten  Jahrhunderts  dem  Stift  Corvei 
gemacht  werden;  aber  ich  finde  nicht,  wann  und  wodurch  er 
unter  die  Jurisdiktion  der  Ravensberger  Grafen  gerathen  ist.  Er 
hegte  lange  Zeit  zwei  denkwürdige  Männer  in  seinen  Mauern 
Gobelin  Persona  (Persoen,)  den  Vorboten  der  Reformation,  und 
Ilerrmann  Hamelmann ,  den  Vorkämpfer  derselben  in  diesen  Ge- 
genden. Beide  sind  als  Geschichtschreiber  von  besonderer  Wich- 
tigkeit für  Westphalen  bekannt.  Persoen  war  seit  1414  Decan 
in  Bielefeld;  Hamelmann  wurde  1552  als  Prediger  an  die  Colle- 
giatkirche  der  heil.  Maria  hierhin  berufen:  ich  werde  auf  beide 
zurückkommen,  wenn  wir  ihre  Geburtsstädte,  Paderborn  und  Osna- 
brück erreicht  haben.  Bielefeld  hat  einen  mehr  als  Europäischen 
Ruf  durch  seine  Leinewand  bekommen:  sein  Flachsbau,  seine  Ge- 
webe und  sein  Garnhandel  reichen  bis  in  das  13te  Jahrhundert  hinauf, 
einen  besondern  Aufschwung  aber  bekam  dieser  Betrieb  im  16. 
und  17.  Jahrhundert,  als  Philipps  IL  und  seiner  beiden  Nachfolger 
Druck  auf  den  Niederländern  lag,  dass  sie  Schaarenweise  ge- 
zwungen w^urden,  ihre  Heimath  zu  verlassen  und  ihren  Kunst- 
fleiss  in  die  Fremde  zu  verpflanzen.  So  kam  auch  nach  Biele- 
feld ein  Theil  derselben  und  was  früher  nur  die  blühenden  We- 
bereien in  Gent,  Antwerpen,  Brügge  u.  s.  w.  zu  liefern  verstan- 
den, wurde  bald  hier  in  gleicher  Güte  producirt,  unter  Andrem 


—      70      — 

die  Schleier  oder  die  nachher  sogenaniite  Bielelelder  klare  Leine- 
wand.  —  Merkwürdigkeiten  besitzt  die  Stadt  keine,  wenn  man 
nicht  das  Grabmal  des  Ravensbergischen  Grafen  Otto  und  seiner 
Gemahlin  Hedwig,  oder  das  Wilhelm's  von  Berg,  früher  Bischofs 
von  Paderborn,  und  seiner  Gemahlin  Adelheid  von  Tecklenburg 
dahin  rechnet,  beide  in  der  Marienkirche  in  der  Neustadt.  Die 
Feste  auf  dem  Sparrenberge  ward  im  Jahre  1177  erbaut:  in  jener 
Zeit  standen  die  Grafen  von  Ravensberg  auf  der  Seite  der  Gibel- 
linen,  die  von  der  Lippe  aber  auf  der  Seite  der  Weifen.  Bern- 
hard von  der  Lippe  war  ein  besonders  thätiger  Bundesgenoss 
Heinrich's  des  Löwen,  und  als  dieser  des  Kaisers  Rolhbart  Ab- 
wesenheit in  Italien  benutzte,  um  seine  Feinde  zu  züchtigen, 
unter  ihnen  aber  auch  der  Rabe  in  die  Fänge  des  Löwen  fiel, 
fauf  dem  Halerfelde,  zwischen  Hase  und  Dute  im  Osnabrücki- 
schen,) da  drang  jener,  der  Lippische  Verbündete,  rasch  in  des 
Geschlagenen  Gebiet  ein,  und  baute  auf  dem  Sparrenberge  einen 
Thurm,  von  dessen  Zinnen  er  das  Banner  mit  dem  Löwen  we- 
llen Hess ,  und  den  er  die  Löwenburg  nannte.  Aber  Herrmann, 
der  Graf  von  Ravensberg,  war  nur  vor  dem  Löwen  geflohen,  dem 
Nachbarfürsten  wich  er  nicht,  sondern  stürmte  mit  seinen  Man- 
nen den  Thurm ,  riss  den  Löwen  nieder  und  erhöhte  seine  Spar- 
ren an  dessen  Stelle.  Davon  heisst  die  Burg  jetzt  Sparrenberg. 
Spjiter  gerieth  derselbe  Herrmann  von  Ravensberg  in  Fehde  mit 
dem  Bischöfe  Herrmann  von  Münster,  der  Bielefeld  eroberte  und 
zum  Denkmal  seines  Siegs  die  Bürger  zwang,  allen  in  der  Nähe 
stehenden  Eichen  die  Köpfe  abzuhauen.  Sein  Stadtrecht  empüng 
Bielefeld  von  Münster.  Seit  1286  war  der  Sparrenberg  der  Sitz 
eines  gräflichen  Amtmanns  oder  Drosten,  vielleicht  auch  schon 
früher;  als  das  Land  unter  Bergische  Hoheit  gekommen  war, 
blieb  die  frühere  Aemter-Eintheilung  desselben  bestehen  und 
Herzog  Wilhelm  HL  von  Berg  setzte  Philipp  von  Waldeck  auf 
den  Sparrenberg  als  Drosten  mit  einem  jährlichen  Einkommen 
an  Geld  und  Naturalien,  worunter  man  am  Ende  des  Inventar's 
von  Hunderten  von  Kühen,  Schweinen,  Hammeln  u.  s.  w.  auch 
zwei  jährliche  Fuder  Wein's  für  die  Frau  Drostin  aufgeführt 
findet.  Im  Jahre  1545  ward  die  Burg  Sparrenberg  von  Grund 
aus  neu  aufgeführt  mit  Zirkuiarbefestigungen  nach  Albrecht  Dü- 
rers Erfindung;  selten  Residenz,  ward  sie  1743  endlich  zu  Ge- 
fängnissen eingerichtet. 


—      71      — 

Von  Bielefeld  an  streifen  die  Berge  des  Osnings  in  nord- 
westlicher Richtung  in's  Osnabrückische  hinüber,  wo  die  von 
der  Porta  her  in  fast  grader  Richtung  westlich  bis  nach  Iburg 
sich  ziehende  Bergkette  mit  ihnen  zusammenfällt:  wir  aber  dür- 
fen ihnen  nicht  mehr  folgen ,  denn  wir  stehen  an  der  Grenze  des 
Wassergebietes  der  Weser;  schon  die  Lutter,  welche  Bielefelds 
Bleichen  bespült,  fällt  mit  dem  einen  Arm  in  das  Thal  der  Ems 
hinab.  Was  der  nördliche  Theil  des  Westphälischen  Wesergebiets 
an  romantischen  Punkten  bietet,  haben  wir  besucht  oder  über- 
schaut: der  Gedanke  trägt  uns  nun  schnell  über  das  schon  durch- 
messene  Lippe-Ländchen  fort,  wieder  nach  dem  Süden  des  West- 
phälischen Flussgebiets,  welches  die  Weser  beherrscht,  und  soll 
uns  hier  auf  die  Spitze  des  Köterberges  stellen,  der  an  der 
Gränze  von  Lippe  und  Corvei,  unweit  der  Weser  wie  ein  Flü- 
gelmann des  Osnings  steht.  Der  Köterberg  (Götterberg ,  als  Stelle 
heidnischer  Gottesverehrung,  wie  man  glaubt)  ist  in  Westphalen 
berühmt  durch  seine  Sagen.  „  Er  ist  innen  voll  Gold  und  Schät- 
zen, die  einen  armen  Mann  wohl  reich  machen  könnten,  wenn 
er  dazu  gelangte.  Auf  der  nördlichen  Seite  sind  Höhlen ,  da  fand 
einmal  ein  Schäfer  den  Eingang  und  die  Thüre  zu  den  Schät- 
zen: aber  wie  er  eingehen  wollte,  in  demselben  Augenblicke 
kam  ein  ganz  blutiger  entsetzlicher  Mann  über's  Feld  gelaufen 
und  erschreckte  und  verscheuchte  ihn.  Südlich  auf  einem  wald- 
bewachsenen Hügel  am  Fusse  des  Berges  stand  die  Harzburg, 
wovon  die  Mauern  noch  zu  sehen,  und  vor  kurzem  Schlüssel 
gefunden  sind.  Darin  wohnten  Hühnen  und  gegenüber,  auf  dem 
zwei  Stunden  fernen  Zierenberg  stand  eine  andere  Hühnenburij. 
Da  warfen  die  Riesen  sich  oft  Hämmer  herüber  und  hinüber. 
Auf  dem  Köterberge  hütete  vor  Zeiten  friedlich  ein  Schäfersmann, 
da  stand,  als  er  sich  einmal  umwandte,  ein  prächtiges  Königs- 
Fräulein  vor  ihm  und  sprach:  „nimm  die  Springwurzel  und  folge 
mir  nach. "  Die  Springwurzel  erhält  man  dadurch,  dass  man 
einem  Grünspecht  (Elster  oder  Wiedehopf)  sein  Nest  mit  einem 
Holz  zukeilt;  der  Vogel,  wie  er  das  bemerkt,  fliegt  alsbald  fort, 
und  weiss  die  wunderbare  Wurzel  zu  finden ,  die  ein  Mensch  noch 
immer  vergeblich  gesucht  hat.  Er  bringt  sie  im  Schnabel  und 
will  sein  Nest  damit  wieder  öffnen,  denn  hält  er  sie  vor  den 
Holzkeil ,  so  springt  er  heraus ,  wie  vom  stärksten  Schlag  getrieben. 
Hat  man    sich   versteckt  und    macht  nun  ,   wie  er  herankommt. 


—      72      — 

einen  grossen  Lärm,  so  Ifisst  er  sie  erschreckt  fallen  (man kann 
aber  auch  nur  ein  weisses  oder  rothes  Tuch  unter  das  Nest  brei- 
ten, so  wirft  er  sie  darauf,  sobald  er  sie  gebraucht  hat.)  Eine 
solche  Springwurzel  besass  der  Hirt,  liess  nun  seine  Thiere  her- 
umtreiben und  folgte  dem  Fräulein.  Sie  führte  ihn  bei  einer 
Höhle  in  den  Berg  hinein;  kamen  sie  zu  einer  Thür  oder  einem 
verschlossenen  Gang,  so  musste  er  seine  Wurzel  vorhalten  und 
alsbald  sprang  sie  krachend  auf.  Sie  gingen  immer  fort ,  bis  sie 
etwa  in  die  Mitte  des  Berges  gelangten,  da  sassen  noch  zwei 
Jungfrauen  und  spannen  emsig;  der  Böse  war  auch  da,  aber 
ohne  Macht  und  unten  an  den  Tisch ,  vor  dem  die  beiden  sassen, 
festgebunden.  Ringsum  waren  in  Körben  Gold  und  leuchtende 
Edelsteine  aufgehäuft  und  die  Königstochter  sprach  zu  dem  Schä- 
fer, der  da  stand  und  die  Schätze  anlusterte :  „  Nimm  dir  soviel 
du  willst. "  Ohne  Zaudern  griff  er  hinein  und  füllte  seine  Ta- 
schen, so  viel  sie  halten  konnten,  und  wie  er,  also  reich  beladen, 
wieder  heraus  wollte,  sprach  sie:  „Aber  vergiss  das  Beste 
nicht!"  Er  meinte  nicht  anders,  als  das  wären  die  Schätze  und 
glaubte  sich  gar  wohl  versorgt  zu  haben,  aber  es  war  die  Spring- 
wurzel. Wie  er  nun  hinaustrat ,  ohne  die  Wurzel ,  die  er  auf 
den  Tisch  gelegt,  schlug  das  Thor  mit  Schallen  hinter  ihm  zu, 
hart  an  die  Ferse,  doch  ohne  weitern  Schaden,  wiewohl  er  leicht 
sein  Leben  hätte  einbüssen  können.  Die  grossen  Reichthümer 
brachte  er  glücklich  nach  Haus ,  aber  den  Eingang  konnte  er 
nicht  wieder  finden.*}  —  Der  Köterberg  gewährt  von  seinem 
kegelartigen,  oben  mit  einer  Warte  gekrönten  Gipfel  eine  weite 
und  schöne  Aussicht.  Wir  haben  die  Blicke  nach  drei  verschie- 
denen Richtungen  von  hieraus  zu  wenden:  erst  nordwestlich 
auf  das  nahe  Schwalenberg,  (Schwalbenberg,)  wo  einst  von 
der  hochgelegenen  Burg  herab  ein  mächtiges  Grafengeschlecht 
sein  gebirgiges  und  waldiges  Gebiet  überschaute;  sodann  nach 
Norden  hin,  wo  das  Preussische  Städtchen  Lüde,  der  alte  Lager- 
platz Karl's  des  Grossen  liegt  und  hinter  ihm  das  schöne,  das 
weltberühmte  Pyrmont.  Dieser  freundliche  Ort  ist  eigentlich  nur 
eine  lange ,  von  Gärten  und  Höfen  unterbrochene  Strasse  ,  an 
deren  Ende  das  Brunnenhäuschen  mit  seinem  kräftigen  Heilquell 


*)  S.  Grimm's  deutsche  Sagen. 


—      73      — 

den  Point  de  Viie  bildet;  im  rechten  Winkel  schliesst  sich  die 
breite  prächtige  Allee  mit  den  Cur-  und  Restaurationssälen  dem 
Theater  und  hellen  Sommerwohnungen  daran.  Nach  Norden  und 
Osten  hin  umschliessen  es  schützende  Waldgebirge,  nach  den 
andern  Seiten  ist  die  Gegend  ebener;  das  Fürstlich-Waldeck'sche 
Residenzschloss  liegt  hart  am  Orte,  ebenso  in  entgegengesetzter 
Richtung,  nach  Süden,  eine  beträchtliche  Saline  mit  ihren  Sool- 
bädern ,  und  unfern  die  Quäker-Colonie  Friedensthal.  Der  Königs- 
berg mit  seiner  schönen  Aussicht,  das  3Ionument  aus  schwarzem 
Marmor  zum  Andenken  an  Friedrich  den  Grossen,  der  hier  den 
Brunnen  trank,  die  tödtlichen  Stickstoff  aushauchende  Grotte 
sind  die  Sehenswürdigkeiten  des  Ortes ,  wenn  man  nicht  lieber 
die  während  der  Saison  hier  zusammenfliegende  haute  volee  den 
Verein  von  Allem,  was  glänzend  und  schön  oder  voll  Ans}3nich's 
darauf  ist ,  so  nennen  Avill.  Pyrmont  heisst  in  den  ältesten  Ur- 
kunden Peremunt  (Mündung  des  Yere-  oder  Pere- Baches?}  und 
wurde  von  einem  Grafengeschlecht  beherrscht,  dessen  Urspruno- 
so  dunkel,  wie  seine  Geschichte  glanzlos  ist.  Der  Miiierakruellen 
erwähnt  zuerst  der  Chronist  Heinrich  von  Herford  der  1370 
starb ;  im  sechszehnten  Jahrhundert  begann  ihr  häufio-er  Besuch 
und  hielt  5ich,  bis  der  dreissigj ährige  Krieg  auch  sie  verödete- 
gegen  das  Ende  des  vorigen  Jahrhunderts  aber  war  Pyrmont  mit 
Spaa  vielleicht  das  besuchteste  Bad  Europa's. 

Kehren  wir  jetzt  ganz  zur  Weser  zurück:  eine  Strecke  weit 
wo  sie  Hameln  und  Bodenwerder  bespült,  haben  wir  sie  nie- 
dersächsischem Gebiete  überlassen  müssen :  in  der  Geirend  von 
Polle  schlägt  sie  einen  majestätischen  Bogen ,  eine  mächtio-e 
Krümmung,  als  wolle  sie  sich  sperren  gegen  den  Eintritt  In 
(las  fremde  Land.  Von  hier  an  bis  Herstelle  hinauf  wird  sie 
wieder  Gränzüuss  Westphalens.  Polle  liegt  auf  der  nach  Westen 
geschweiften  Höhe  jenes  Bogens.  Es  ist  ein  Flecken  mit  den 
Ruinen  eines  alten  Schlosses,  das  Haus  Polle  genannt  das  früher 
zu  den  Besitzungen  der  im  SoUinger  -  Walde  begüterten  Grafen 
von  Everstein  gehörte.  Was  es  uns  interessanter  macht,  ist 
die  malerische  Schönheit  der  Gegend,  in  welche  es  uns  zurück 
versetzt.  Die  bewaldeten  Berge  treten  oft  dicht  an  die  Weser 
heran,  hier  und  da  ragen  steilrechte  Felsenwände  wie  aus  dem 
Strome  empor  und  die  Steinmühle,  welche  das  anliegende  Bild 
darstellt,    ist  ein    so  romantisch  pittoresker  Punkt,   wie  nur  ir- 

6 


—      74      — 

gendwo  in  der  Weser  ein  andrer  sich  spiegeln  mag.  Der 
Fluss  behält  diesen  Charakter  mehr  oder  minder  durch  den 
ganzen  Gau,  der  ehemals  Tilithi  hiess ,  wie  in  dem  höher  lie- 
genden Auga-Gau,  dessen  schönste  und  denkwürdigste  Punkte 
Corvei  und  Höxter  bilden. 

Die  alte  gefürstete  Reichsabtei  Corvei  liegt  in  einer  Ebene, 
die  nach  zwei  Seiten  hin  von  einer  Krümmung  der  Weser  um- 
schlossen wird,  unter  seinen  Gärten  und  Alleen,  als  ein  schö- 
nes und  imposantes  Denkmal  alter  Herrlichkeit  da.  Das  Gebäude 
ist  ein  grosses  aus  Bruchsteinen  erbautes  Quadrat,  das  in  seinem 
Innern  mehrere  Höfe  und  die  Kirche  birgt;  jetzt  zum  Schlosse 
umgeschaffen ,  zeigen  die  meisten  seiner  Räume  den  steifen, 
schwerprächtigen  Geschmack  des  vorigen  Jahrhunderts:  reiche 
seidne  und  gewirkte  Tapeten,  Vergoldungen  und  Stukaturen  im 
Uebermass,  Deckengemälde  u.  s.  w.  kurz  die  ganze  Rococo- 
Herrlichkeit,  welche  man  noch  vor  zwanzig  Jahren  rastlos  zu 
vertilgen  strebte  und  jetzt  wieder  so  sorglich  zusammenleimt. 
Die  Wände  eines  der  Gemächer  sind  mit  den  Brustbildern  der 
Aebte,  von  Adelhard  dem  Stifter  an,  ausgefüllt,  und  seltsamer 
Weise  endet  auch  hier,  wie  in  vielen  andern  säcularisirten  Stif- 
tern, wie  in  dem  Römersaale  zu  Frankfurt,  mit  dem  Bilde  des 
letzten  Herrn  der  Raum,  der  für  so  viele  Jahrhunderte  genügt 
hatte.  In  Corvei  fehlt  zwar  das  Bild  des  letzten  Fürstabts, 
des  Bischofs  von  Lüning;  aber  der  Raum  dafür  ist  vorhanden 
und  kein  Zollbreit  mehr.  Die  gothisch  verzierte  Kirche  ist  schön 
und  geräumig.  Corvei  ist  eine  der  ältesten  und  bedeutendsten 
Kloster- Stiftungen  in  Deutschland  und  viele  Jahrhunderte  hin- 
durch segensreich  für  Nah  und  Fern  gewesen:  seine  Gründung 
fällt  in  die  Zeit  der  Regierung  Kaiser  Ludwig's  des  Frommen 
(816).  Damals  hatte  das  Frankenreich  schon  viele  Klöster,  wo- 
hin die  Söhne  der  bekehrten  Sachsen  gesandt  wurden,  um  in 
ihnen  den  Unterricht  zu  empfangen,  den  noch  keine  Anstalt  der 
Heimath  bot.  So  hatte  Bathilde,  eines  Königs  Chlodwigs  Ge- 
mahn im  Jahre  660  in  der  Gegend  von  Amiens,  an  dem  Bache 
Corbie,  der  sich  in  die  Saone  mündet,  dem  Orden  des  heiligen 
Benedikt  von  Nursia  ein  Kloster  gestiftet,  das  rasch  aufblühte. 
Man  nannte  es  Corbie  oder  Corbeia  aurea;  seine  Mönche  muss- 
ten  nach  Benedickt's  Regel,  welcher  damals  alle  Fränkischen 
Klöster  folgten,    ihre  Stunden   zwischen   Gebet  und   der  Arbeit 


—      75      — 

Iheilen,  welche,  der  Wissenschaft  zugewendet,  dem  Benediktiner- 
Orden  so  grosse  und  bleibende  Verdienste  um  die  Cultur  des 
Mittelalters  erworben  hat.  Der  Abt  Adelhard  von  Corbie,  ein 
Enkel  Carl  Martel's,  fasste  zuerst  den  Plan,  nachdem  sein  Vet- 
ter, der  grosse  Karl  im  Lande  der  Sachsen  die  ersten  Bisthümer 
errichtet  habe ,  nun  auch  durch  Brüder  seines  Ordens  eine  Pflanz- 
schule des  Christenthums  dort  zu  stiften ,  welche  Lehrer  und 
Priester  des  bekehrten  Volkes  erziehe.  Unter  den  Sachsen,  die 
sich  in  Corbie  befanden,  war  ein  Bruder,  Theodrad  genannt:  der 
versprach,  als  er  von  dem  Plane  des  Abtes  vernommen,  auf  den 
Gütern  seines  Vaters  einen  passenden,  einsamen,  mit  einer  Quelle 
versehenen  Ort  dem  Orden  für  die  Stiftung  auszuwirken.  Adel- 
hard willigte  gern  darein  und  sandte  nun  Theodrad  selbst  in  die 
sächsische  Heimath ;  dieser  aber  traf  auf  unerwartete  Schwierig- 
keiten, und  Abt  Adelhard  ward  von  Kaiser  Ludwig  in  ein  ent- 
ferntes Kloster  verwiesen:  erst  seinem  Nachfolger  in  Corbie,  der 
auch  Adelhard  genannt  wurde,  gelang  es,  die  Stiftung  ins  Werk 
zu  richten.  Theodrad's  Verwandten  bewilligten  jetzt  den  Platz, 
und  das  neue  Kloster  erstand,  auf  Kosten  der  alten  Congregation, 
an  einem  stillen  abgelegenen  Orte,  Hetha  genannt,  tief  im  Sol- 
linger  Walde,  wo  durch  frühere  Einsiedler  der  Stätte  schon  eine 
Art  Weihe  gegeben  war;  (später  Neustadt,  Jagdschloss  Neuhaus.) 
Die  Stiftung  gedieh,  aber  nicht  in  dem  Masse,  wie  man  erwar- 
tet hatte:  wohl  wuchs  die  Zahl  der  Mönche,  nachdem  Corbie 
mehrere  seiner  Brüder  unter  dem  ersten  Präpositus  Adalbert  her- 
übergesandt hatte,  rasch  genug,  dass  die  Congregation  unter  drei 
Priore  dreifach  getheilt  werden  musste:  aber  der  Boden  wider- 
stand den  Culturversuchen  hartnäckig,  Wetter  und  Erdbeben  zer- 
störten die  Quelle,  welche  Wasser  spendete,  und  als  der  alte  ver- 
bannte Adelhard,  neu  begnadigt,  herüberkam,  um  nach  dem  Werke 
zu  schauen,  das  er  zuerst  beschlossen  hatte,  fand  er  den  Zustand 
der  Brüder  so ,  dass  er  sich  an  den  Kaiser  um  die  Erlaubniss 
wenden  musste,  einen  passenderen  Ort  für  die  Stiftung  auswäh- 
len zu  dürfen.  Der  fromme  Ludwig  gewährte  gern.  Die  Stelle, 
wo  jetzt  Corvei  liegt,  im  Bezirke  der  königlichen  Villa  Huxori, 
bot  in  ihrer  Lage  eine  Aehnlichkeit  mit  dem  den  Brüdern  theu- 
ren  alten,  goldenen  Corbie  dar,  und  wie  die  Erinnerung  an  die 
Mutter- Congregation  sie  schon  früher  für  ihre  Anlage  denselben 
Namen  hatte  wählen  lassen,    so  bestimmte   dieser  Umstand  nun 

6* 


—       7ü      — 

auch  die  Wahl  des  Ortes.  Aul"  der  erkorenen  SläUe  >v<ud  ein 
Zell  erriclilet  für  den  Bischof  und  die  HeiligthiinuM-,  umher 
schaarlen  sich  die  Brüder  in  feierlicher  Versammlung^  und  san- 
gen Psalmen  und  beteten  Gottes  Segen  auf  ihr  Werk  herab: 
Bischof  Badurad  von  Paderborn  aber  trat  in  der  goldenen  Ge- 
wandung und  mit  den  Insignien  seiner  Würde  aus  dem  Zelte 
hervor,  segnete  den  Boden  mit  dem  Wasser  der  Weihe  ein  und 
pflanzte  mit  mächtiger  Hand  das  Kreuzeszeichen  in  den  Grund, 
da  wo  man  den  ersten  Stein  zum  Hochaltäre  der  Kirche  legen 
sollte*}.  Nun  wurde  rüstig  gebaut,  gemeisselt  und  gefügt:  noch 
der  Herbst  desselben  Jahres  (822)  zeigte  den  Bergen  und  Schluch- 
ten des  Solling's  ein  Schauspiel,  wie  sie  nicht  vorher  oder  spä- 
ter je  gesehen.  Da  schritten  in  feierlichem  Aufzuge  die  Mönche 
durch  den  Wald,  von  Hetha  fort,  wo  sie  fast  sieben  Jahre  ge- 
weilt, der  neuen  Wohnung  zu.  An  ihrer  Spitze  schritt  der  greise 
Adelhard  über  das  gelbe  rauschende  Laub  einher;  ihm  folgten 
sein  frommer  Bruder  Walo  und  die  Männer,  so  vom  goldenen 
Corbie  herübergekommen,  „die  grossen  Lehrer,  mit  denen  er  dem 
neuen  Kloster  unsterblichen  Ruhm  zuführte,"  der  heilige,  der 
glühende  Anschar,  Skandinaviens  Apostel,  mit  seinem  Nelfen 
Nortfried,  Witmar  und  der  edle  Autbert  und  viele  Andre;  nach 
ihnen  trugen  die  übrigen  Brüder  das  Kruzifix  und  die  Reliquien 
und  die  heiligen  Geräthe  des  Gotteshauses.  So  zogen  die  schwarz- 
gewandeten  Männer  durch  das  Dunkel  des  Sollinger  Waldes  und 
sandten  das:  Dexilla  regis  prodeunt  und  andere  Gesänge  des  fro- 
hen Lobes  zu  den  rauschenden  Wipfeln  der  Eichen  empor,  die 
wie  ernste  Wilden  den  ungewohnten  Aufzug  anschauen  moch- 
ten und  ilir  letztes  Avelkes  Laub  auf  ihn  schütteln,  aus  der  zu- 
sammen flüsternden  Verwunderung  der  Zweige  herab,  zu  denen 
früher  nur  heidnische,  schlachten-  und  blutesfrohe  Weisen  hin- 
aufgetönt. Von  nah  und  ieni  Avaren  die  Sachsen  herbeigeströmt 
und   durchlobten   die   stille    Waldeinsamkeit:    wo   aber    der   Zug 


*)  Bei  dem  Legen  des  Grundsteines  fand  man  eine  Säule  von  rüthlichem, 
geglättetem  Marmor,  welclie  man  für  die  Irmensäule  hielt  und  als 
solche  auch  nach  Hildesheim  gebracht,  dort  im  Chore  aul'gesfellt 
und  mit  dem  Bildnisse  der  heiligen  .lungf'ran  geschmiicKt  hat.  Viel- 
leicht war  es  ein  Heiligthum  von  dem  nahen  Brnnsberge.  (_Piderit's 
geschichtliche  Wanderungen. J 


—       77      — 

nahte,  da  schaarlen  sie  slill  sich  zur  Seite,  die  wilden  Männer 
mit  dem  wirren  langen  Blondhaar  und  den  schreckbaren  Antlitzen, 
die  das  Kopffell  erschlagener  Bären  und  Eber  deckte:  oder  sie 
reihten  fromm  dem  Zuge  sich  an  und  schritten  mit  hinab  in  das 
Ireuiidliche  Weserthal ,  und  sahen ,  wie  vor  einer  unabsehbaren 
3Ienschenmenge  Carl  Martel's  Enkel  und  der  Bischof  der  Pader- 
sladt  in  dem  neuen  Kloster  das  erste  feierliche  Hochamt  hielten. 

Die  junge  Stiftung  nahm  rasch  einen  glänzenden  Aufschwung: 
Kaiser  Ludwig  nnd  seine  Gemahlin  "Judith  beschenkten  sie  reich- 
lich mit  Privilegien  und  Gütern,  Immunität  und  Münzrecht:  Hil- 
duin  der  Abt  von  St.  Denis  bei  Paris  verschaffte  dem  Kloster 
die  Reliquien  des  heiligen  Yitus,  eines  Knaben  aus  Lucana  in 
Lydien,  der  in  seinem  zwölften  Jahre  unter  Diocletian  den  Mär- 
tyrertod erlitten  hatte ;  er  wurde  mit  dem  Protomartyr  Stephanus, 
dem  Heiligen  von  Corbeia  aurea,  Schutzpatron  unseres  Corbie, 
und  als  dem  letzteren  Kaiser  Lothar  die  eroberte  und  von  Cor- 
veiischen  3Iissionaren  bekehrte  Insel  Rügen  schenkte,  da  wurde 
auch  hier  der  heilige  Vitus  als  Patron  verehrt.  Die  Männer  von 
Rügen  aber  empörten  sich  nicht  lange  nachher,  schlugen  ihre 
Missionare  todt  und  führten  den  heidnischen  Cultus  wieder  ein: 
doch  in  wundersamer  Begriffsverwirrung  ward  nun  der  cliristliche 
Heilige  ihr  Hauptgötze,  und  Sankt  Vitus  als  Swantowit  in  scheuss- 
licher  Gestalt  auf  dem  blutigen  Altar  ihres  Tempels  zu  Arkona 
gestellt.  *3 

Reicher  aber  als  durch  alle  Schenkungen ,  glänzender  als 
durch  seine  Reliquien  oder  die  feierlichen  Einzüge  mehrerer 
Kaiser  in  seine  ^lauern^  Avie  Heinrich's  II.  und  Kunigundens, 
des  heiligen  Herrscherpaares ,  ward  Corvei  durch  seine  grossen 
Männer,  durch  seine  Verdienste  um  Glauben  und  Wissen  der  Vor- 
zeit. Unter  jenen  nenne  ich  nur  Bruno,  der  als  Gregor  V.  die 
schwarze  Kaputze  von  Corvei  mit  der  Tiara  vertauschte,  Anschar 
und  seinen  Nachfolger  Sankt  Rembertus,  die  ersten  Erzbischöfe 
von  Hamburg  und  Bremen  und  des  Nordens  rastlos  eifrige  Be- 
kehrer: dann  Rabanus  Maurus,  der  aus  Buchenau  im  Stifte 
Mainz,  seinem  Geburtsorte,  nach  Fulda   zur  Erziehung  gesandt, 


*)    Vielleicht    ward   jedoch   bei    den   .Slaven    schon   früher    Swantowit, 
Swiatowid  als  Gott  der  Sonne  und  des  Kriegs  verelirt. 


—      78      — 

als  Lehrer  nach  Corvei  ging:  Paschasius  Radbertus  endlich,  der 
aus  Frankreich  den  ersten  Gründern  in  das  Land  der  Sachsen 
folgte.  Was  Mönche  von  Corvei  für  die  deutsche  Geschicht- 
schreibung gethan  haben,  ist  bekannt:  (z.  B,  Wittekind,  Rector 
der  Schule, zu  Corvei  im  Anfange  des  elften  Jahrhunderts;)  we- 
niger wohl,  dass  ohne  ihren  Eifer  auch  für  die  classische  Lite- 
ratur die  fünf  ersten  Bücher  der  Annalen  des  Tacitus  für  uns 
verloren  sein  würden.  Sie  wurden  im  Juli  1514  in  der  Kloster- 
Bibliothek  wieder  aufgefunden  und  dem  Pabste  Leo  X.  zum  Ge- 
schenk gemacht,  der  sie  im  folgenden  Jahre  durch  den  Druck 
vervielfältigen  liess.  Das  Manuscript  befindet  sich  jetzt  in  Flo- 
renz. Ehemals  musste  im  Scriptorium  der  Mönche  zu  Corvei  der 
Tacitus  jährlich  zehn  Mal  abgeschrieben  werden.  Auch  den 
ersten  Publicisten  im  modernen  Sinne  und  die  erste  Flugschrift 
hat  Corvei  hervorgebracht:  ein  Mönch  verfasste  sie  um  das  Jahr 
1073  gegen  Kaiser  Heinrich  IV. 

So  wurde  Corvei  mächtig,  berühmt  und  einflussreich:  von 
allen  Seiten  verlangte  man  Lehrer,  Aebte,  Bischöfe  von  ihm: 
von  allen  Seiten  strömten  die  Söhne  der  edelsten  Geschlechter 
dorthin,  um  ihre  Erziehung  in  dem  gelehrten  Kloster  zu  erhal- 
ten: die  Zahl  der  Mönche  stieg  einst  auf  300.  Zugleich  erhöhte 
mit  dem  Ruhm  und  Reichthum  die  Schönheit  des  Aeusseren  sich 
und  immer  geschmückter  und  sorgfältiger  bedacht  ward  seine 
Kirche;  Abt  Adelgar  bauete  drei  hohe  schöne  Thürme;  Thiatmar 
liess  sechs  prachtvolle  eherne  Säulen  setzen  und  die  grosse  fern- 
hin schallende  Glocke  Cantabona  giessen ;  neben  Abtei  und  Kloster 
ward  sogar  auch  ein  Kaiserhaus  erbaut  zur  Aufnahme  der  Kaiser, 
welche  nach  Corvei  kamen.  Und  auch  die  Sage  verherrlichte 
das  segensreiche  Gotteshaus  in  unzähligen  Legenden  und  Wun- 
dern. Wem  von  euch  ist  die  schöne  Mähre  von  der  weissen 
Lilie  zu  Corvei  nicht  bekannt?  Sie  hing  in  alten  Zeiten  auf 
dem  Chore  an  einem  ehernen  Kranze :  wann  aber  das  Ende  eines 
Mönches  nahte,  dann  fand  er  sie  in  der  Frühe,  wenn  er  zur 
Matutin  in  die  Kirche  ging,  auf  seinem  Chorstuhle  liegen.  Einst 
war  es  der  junge  Conventuale  Marcward  von  Spiegel,  der  sie 
auf  seinem  Sessel  fand:  er  erschrak  dess  sehr,  dass  er  sein 
junges  Leben  lassen  sollte,  während  so  viele  ältere  Mönche  mit 
morgenfrischen  blühenden  Gesichtern  zum  Hymnus  aus  dem  Kreuz- 
gange herbeikamen:    desshalb  legte  er  heimlich    und  rasch  die 


—      79      — 

Lilie  dem  greisen  Weribold  in  seinen  Stuhl.  Der  alte  Mann  ent- 
setzte sich,  dass  er  in  eine  schwere  Krankheit  fiel:  aber  er  ge- 
nas, Marcward  von  Spiegel  jedoch  starb  nach  drei  Tagen.  Seit 
der  Zeit  erschien  die  Wunderblume  nicht  mehr.  —  War  einer 
der  Mönche  krank  und  konnte  im  Chore  nicht  erscheinen,  dann 
hörte  man  den  Gesang  eines  Engels  von  seinem  Platze  her:  auch 
konnte  man,  wenn  die  Knaben  der  Abteischule  das  Gloria  patri 
etc.  sangen,  aus  der  Ferne  des  oberen  Chores  her,  wo  St.  Yiti 
Reliquien  verwahrt  wurden ,  die  Stimmen  der  Engel  mit  wunder- 
barer Lieblichkeit  das  Sicut  erat  in  principio  etc.  intoniren  hören. 

—  Am  Yituslest  kamen  zwei  lebendige  Hirsche  aus  dem  Sollin- 
ger  Walde  herübergeschwommen  und  schritten  durch  das  Thor, 
das  noch  später  die  Hirschpforle  hiess,  in  die  Küche:  einen  be- 
hielt man  und  Hess  den  anderen  in  die  Wildniss  zurück;  hinter 
dem  Altar  in  der  Kirche  sprudelte  zugleich  ein  mächtiger  Quell 
des  besten  Weines  auf.  Das  geschah  lange  Jahre,  bis  man  einst 
beide  Hirsche  zurückhielt  und  von  dem  Weine  zuviel  trank:  da 
hörten  die  Wunder  auf.  In  jenen  glücklichen  Tagen  des  Klo- 
sters sah  man  oft  auch  den  Schatten  des  heiligen  Adelhard  durch 
die  Kirche  schweben:  zwei  Engel  erschienen  jährlich  im  Chore 
und  leiteten  die  Gesänge,  bis  die  dreiste  Frage  eines  Präpositus, 
Aver  sie  seien ,  und  woher  sie  kämen ,  sie  auf  immer  verscheuchte. 

—  Ein  Ereigniss  aus  den  Zeiten  des  zweiten  Kreuzzug's  wird 
also  erzählt:  eine  Schaar  räuberischen  Gesindels,  das  die  Abwe- 
senheit der  edlen  Ritterschaft  zu  seinen  Gewaltthätigkeiten  be- 
nutzte, machte  einen  Angriff  auf  Gorvei.  Die  Räuber  kamen 
plötzlich  zu  Schiffe  die  Weser  herunter,  drangen  bei  nächtlicher 
Weile  in  den  Garten  und  erstiegen  dann  die  Kapelle  der  heiligen 
Maria,  erbrachen  ein  Fenster,  das  in  die  Kirche  führte,  wo  man 
alle  Kleinodien  und  Paramente  unverschlossen  aufbew^ahrte,  und 
wollten  schon  in  die  Kirche  sich  niederlassen,  als  sie  plötzlich 
eine  Schaar  bewaffneter  Reuter  den  Altar  umgeben  sahen.  Die 
unten  geblieben  waren,  glaubten  es  nicht  und  stiegen  auch  hin- 
auf; aber  alle  sahen  dieselbe  drohende  Erscheinung.  Da  such- 
ten sie,  noch  voll  Zweifels,  den  Ilaupteingang  der  Kirche:  und 
sieh,  auch  dieser  war  mit  Bewaffneten  besetzt.  Noch  einmal  mach- 
ten sie  einen  Versuch,  -von  Osten  her  in  das  Chor  und  in  die 
Sakristei  zu  dringen;  sie  erstiegen  ein  Fenster,  sahen  aber  wie- 
der jene  bewaffnete  Schaar  und  hörten  nun  zugleich  den  Gesang 


—      80      — 

der  Brüder  und*  das  Läuten  zur  Frühmesse;  das  Mor<i;enrolli 
glänzte  über  den  Bergen  auf;  die  Räuber  nmssten  ueiclien  und 
gestanden  später  selbst,  dass  Gespenster  sie  vertrieben  hätten. 
So  erzählt  die  Geschichte  von  Corvei  und  Höxter,  die  Wigand 
gesclirieben  hat  und  worin  ihr  die  ferneren  Ereignisse  in  der 
merkwürdigen  Abtei,  ihre  Beziehungen  zu  Kaiser  und  Reich,  zu 
ihren  Nachbarn  und  Untergebenen,  zu  den  fortbildenden  Gestal- 
tungen der  Verfassung  und  des  Wesens  der  alten  und  ältesten 
Zeit  lehrreich  und  in  klarer  Darstellung  beschrieben  findet. 

Als  die  gefürstete  Ueichsabtei  Corvei  glücklich  der  drohen- 
den Säkularisation  durch  den  Weslphälischen  Frieden  entgangen 
war,  und  ihrem  tausendjährigen  Jubiläum  entgegensah,  machte 
der  Frieden  von  Lüneville  dieser  Hoffnung  und  ihrem  Bestände 
ein  Ende.  Der  Erbprinz  von  Oranien,  dem  sie  zur  Entschädi- 
gung übergeben,  musste  sie  bald  dem  neuen  Königreich  West- 
phalen  einverleiben  sehen:  dessen  Erbe  w^urde  Preussen,  welches 
dem  Landgrafen  von  Hessen-Rotenburg,  den  es  zu  entschädigen 
hatte,  die  Standesherrschaft  über  das  Stift  einräumte:  als  Theil 
der  Hessen-Rotenburgischen  Erbschaft  ist  es  jetzt  an  den  Prinzen 
Victor  von  Hohenlohe-Schillingsfürst  gekommen. 

Eine  schöne  hohe  Buchenallee  führt  von  Corvei  nach  dem 
nahen  Städtchen  Höxter,  das  an  einem  schlanken  Bogen  des 
glatten  Stromes  wie  eine  schmucke  Dirne  vor  ihrem  Spiegel 
steht.  Seine  Lage  ist  weniger  grossartig  romantisch  als  lachend 
freundlich;  fast  koquett  anmuthlg  gleitet  die  Weser  um  die  zier- 
lichen Pfeiler  einer  neuerbauten  Brücke,  als  ob  sie  mit  ihnen 
tändeln  wolle:  die  Berge  umher  sind  weder  steil  noch  sehr  hoch 
aber  schön  bewaldet  und  im  Lenz  voll  Nachtigallenschlag;  — 
sie  sind  ein  zahmes  Geschlecht,  unter  dem  nur,  nah  am  Stadt- 
thore,  der  Ziegenberg  mit  seinem  rothen  nackten  Gesteine  wie 
ein  Wilder ,  ein  letzter  der  31ohicaner  sich  aufreckt.  Abe»  man 
hat  nichts  destoweniger  sein  stolzes  Haupt  und  die  starren  Glie- 
der mit  Gemüsepflanzungen  bedeckt,  die  Cultur  hat  auch  ihn 
bezwungen,  und  wie  mit  grünen  blühenden  Banden  gefesselt 
dass  er  zu  dem  vorherrschenden  Bilde  lieblicher  Anmuth  das 
seine  beitragen  muss.  Ein  andrer  Berg  hart  an  der  Stadt,  nach 
Norden  hin,  ist  zu  einem  Vergnügungsort  umgeschaffen:  es  ist 
der  Rauschenberg,  eine  wahre  Nachtigallen -Colonie,  aus  deren 
frischen   Baumwipfeln   hier  ein  zierliches  Dach,    dort   ein   Zelt 


^1 


M 


n 


—      81       — 

(Iriiber  eine  hcilbversteckle  Bank  hervorlausclien :  ein  kleines 
liCigplateau  ragt  mil  Mauer  und  Geländer  umgeben,  wie  ein 
grandioser  Balkun  vor :  zimdet  ein  abendliches  Fest  (St.  Viti)  dort 
oben  seine  Lampen  an,  dann  erscheint  der  Berg  vom  Thale  aus 
wie  ein  riesiger  Elfenhügel,  von  tausend  Flämmclien  umzuckt,  die 
sich  nach  einem  Tunkte  zusammendrängen,  wo  man  das  lustige 
(ieistervolk,  die  tanzende  schöne  und  unschöne  beau  monäe, 
seine  leichten  Sprunge  machen  sieht ,  nach  dem  Tackte  einer 
Musik,  von  der  nur  einzelne  Accorde  wie  träumend  zu  uns  her- 
uberschweben.  Der  Anblick  ist  magisch:  „weisse  Elfen,  sich 
mit  dunklen  Gnomen  drehend,  unter  des  gebräunten  Pilzes  Dach/' 
Der  Filz  ist  das  Zelt,  unter  dem  man  Erfrischungen  reicht  und 
das  wirklich  der  Champignon  heisst.  Wer  dagegen  oben  am 
Berge  aus  dem  grellen  Lampenlichte  zu  einem  dämmerigten  Yor- 
sprunge  flüchtet,  erhält  ebenfalls  einen  seltsam  gespenstischen 
Eindruck  von  dem  entschlafenen  Städtchen  Höxter  mit  seinen 
Dächern  und  Thurmspitzen,  die  in  blaulichten  Duft  gehüllt  da 
liegen ,  während  der  Spiegel  des  Strom's  unter  dem  blassen 
Scheine  des  .Mondes  zittert  gleich  einem  bleichen  Yorgeschichten- 
seher,  den  der  Mondschein  quält  und  ängstet.  Einzelne  verspä- 
tete Boote  gleiten  sacht  wie  dunkle  Särge  über  die  Fläche  des 
Flusses  hin,  mehr  bezeichnet  als  erhellt  durch  die  matte  Laterne 
vor  dem  Steuer,  deren  dunstiger  Wiederschein  neben  her  schwimmt 
wie  ein  phosphorescirendes  huschendes  Todtenlicht. 

Lassen  wir  es  wieder  Tag  werden  oder  auch,  wenn  ihr 
lieber  wollt,  Nacht  bleiben,  da  ich  von  der  Vergangenheit  der 
Stadt  sprechen  will:  die  Vergangenheit  soll  ja,  wie  sie  sagen, 
die  Nachtseite  unsres  Sein's,  wie  es  sich  gestaltet  hat,  sein. 
Höxter,  ehemals  das  königliche  Kammergut  Huxori,  oder  noch 
früher  Huxeli,  verdankt  den  Aebten  Corvei's  (Saracho  1058} 
seine  Entstehung ,  seiner  Lage  an  dem  Handelswege  von  Ant- 
werpen und  Brügge  über  Cöln  und  Soest  nach  Braunschweig 
seine  mittelaltrige  Bedeutsamkeit  als  Mitglied  der  Hansa.  Im 
dreizehnten  Jahrhundert  nahm  die  Stadt,  blühend,  wehrhaft  und 
nach  freier  Autonomie ,  wie  die  meisten  Städte  jener  Zeit 
sie  genossen ,  begierig  geworden ,  das  Dortmunder  Stadtrecht  an, 
welches  diese  Autonomie  der  Bürger  zu  Grunde  legte.  Zwei 
Bestimmungen  daraus,  welche  für  die  Sitten  verschollener  Tage 
charakteristisch  sind,  mögen  hier  Platz  linden.    .,Wenn  zwei  Wei- 


—      82      — 

ber  mit  einander  streiten,  sich  angreifen  oder  mit  „verkorenen" 
Worten  schelten,  so  sollen  sie  zwei  Steine,  welche  durch  eine 
Kelte  aneinander  hängen  und  zusammen  „eynen  Cynleneren"  wie- 
gen, auf  dem  gemeinen  Wege  durch  die  Länge  der  Stadt  tragen. 
Die  Eine  soll  sie  zuerst  tragen,  vom  östlichen  Thore  nach  dem 
westlichen  und  die  andere  mit  einem  eisernen  Stachel,  welcher 
an  einem  Stock  befestigt  ist,  sie  treiben,  wobei  beide  ,,iH  ca- 
misiis  suis''  gehen  müssen.  Alsdann  soll  die  Andere  die  Steine 
auf  ihre  Schultern  aufnehmen  und  sie  zum  östlichen  Thore  zu- 
rücktragen, die  Erste  aber  sie  hinwieder  mit  dem  Stachel  treiben. 
—  Ferner:  Wenn  ein  Bürger  den  andren  bedroht,  schlägt,  fest- 
hält, angreift  ,jmU  hestefi  muode",  fervido  animo ,  so  hat  er  sechs 
Ohmen  Wein,  welche  auf  Deutsch  ein  Fuder  Wein's  genannt 
werden,  der  Obrigkeit  zu  erlegen."  Ob  er  das  Recht  hatte,  mit- 
zutrinken, wenn  die  patriarchalische  Obrigkeit  von  Höxter  seine 
„Brüchten"  zu  sich  nahm,  wird  nicht  angegeben. 

Wie  die  Lage  Höxter's  an  einer  Haupthandelsslrasse  und 
seine  Brücke  über  die  Weser  die  Stadt  blühend  gemacht  halte, 
so  diente  derselbe  Umstand  später  dazu,  nicht  endende  Kriegs- 
drangsale über  sie  zu  bringen.  Früher  oft  Werbeplalz  für  deutsche 
Landsknechte,  die  man  dem  Dienste  der  Ligue  in  den  Französi- 
schen Religionskriegen  unter  Carl  L\.  gewinnen  wollte,  ward  sie 
im  dreissigjährigen  Kriege  nach  einander  von  allen  sireilenden 
Partheien  und  Völkern  genommen  und  gebrandschalzt:  der  tolle 
Christian  von  Braunschweig  kam  zuerst  mit  seinem  Heerhaufen 
von  10,000  Mann,  den  er  angeworben  halte  ohne  mehr  als  zehn 
Thaler  in  seiner  Tasche,  dann  zweimal  Tilly,  und  nacheinander 
Dänen,  Schweden,  Hessen;  endlich  stürmten  die  Kaiserlichen  den 
Ort  und  hausten,  dass  von  den  Bürgern  nur  dreissig  sollen  das 
Leben  gerettet  haben.    1673  war  Höxter  Türenne's  Hauptquartier. 

Eine  halbe  Stunde  die  AVeser  aufwärts  bringt  uns  an  den 
Fuss  des  steilen  und  kahlhäuptigen  Brunsberg's,  der  das  Thal  des 
kleinen  Badeorts  Godelheim  beherrscht.  Oben  soll  eine  Bruns- 
burg  oder  ein  festes  Lager  Bruno's,  des  Bruders  oder  Schwäher's 
von  Witlekind  gelegen  und  am  Fusse  Karl  der  Grosse  775  die 
blutigste  Schlacht  im  ganzen  Sachsenkriege  zu  bestehen  gehabt 
haben,  eine  Schlacht,  dass  die  Wellen  der  Weser  davon  sich 
roth  gefärbt  haben.  Die  Volkstradition  lässt  Carol  Magnus  mit 
einem  ungeheuren  Heere  auf  dem  Brunsberg  und  dem  gegenüber 


—      83      — 

liegenden  Wildberg  hausende  Riesen  hier  bezwingen ,  und  in 
Höxter  und  Godelheim  sodann  Kapellen  stiften.  Auf  dem  Rücken 
des  Brunsberges  erinnern  „Sachsengräben"  noch  jetzt  an  das 
sächsische  Castell,  sparsame  Trümmer  an  eine  jüngere  Burg, 
welche  Abt  Wittekind  von  Corvei  1191  aus  dem  Gemäuer  der 
älteren  hier  errichtete.  Jene  verherrlicht  ein  altes  Carmen  de 
Brunsbunjo  Christoph.  Elschlebii ,  welches  in  des  Historiker's 
Paullini  Syntagma  zu  finden  ist. 

Besuchter  als  Godelheim  ist  der  freundliche  Badeort  Driburg, 
der  westlich  von  Höxter  am  Eggegebirge  liegt,  wo  dieses  fast 
parallel  mit  der  Weser  und  als  Begränzung  ihres  Gebiets  sich 
von  Norden  nach  Süden  hinzieht.  Ihr  müsst  eigentlich,  um  den 
ganzen  Reiz  Driburg's  zu  empfinden,  von  Paderborn  her  über  die 
öde  Ebene  des  „Hänge"  gekommen  sein,  die  hochliegende  ein- 
same Fläche,  an  deren  Horizont  die  Berge  scheu  und  neblicht 
hervor  lauschen,  wie  sich  duckend  vor  dem  scharfen  Windstriche, 
der  hier  in  den  heissesten  Sommertagen  nicht  ausgeht  und  durch 
die  dürftigen  Kornfelder  zischt  und  rieselt,  wie  ein  feines  Hagel- 
schauer; da  ist  kein  Haus  auf  Stundenweit,  kein  frischer  Baum, 
nur  hier  und  dort  ein  Kreuz  am  Wege  oder  ein  kleiner  verwit- 
terter Heiligenschrein ,  neben  gefährlichen  Erdfällen ,  die  ihren 
unterminirten  Rand  zuweilen  bis  fast  an  die  Fahrstrasse  drängen: 
—  kurz,  eine  Gegend,  die  nicht  einmal  zu  Heine's  Phantasien 
in  dem  forcirt  spasshaften  „Gespräch  auf  der  Paderborner  Haide" 
kann  angeregt  haben.  Eine  jähe  Senkung  führt  von  dem  Hänge 
herab ,  in  die  Einsamkeit  und  wie  schmerzliche  Stille  des  Ge- 
birgwaldes :  der  Weg  ist  rechts  und  links  von  Bäumen  umschlos- 
sen ,  ohne  eine  andre  Aussicht ,  als  durch  zahllose  Stämme  und 
Astgewirr,  ohne  einen  andren  Laut,  als  das  Knirschen  unsrer 
Schritte  auf  dem  durch  Eisentheile  dunkelroth  gefärbten,  wie 
blutgetränkten  Grunde ;  so  schlendern  wir  weiter  und  träumen 
uns,  halb  aufgeregt,  halb  gelangweilt,  tief  in  die  Geschichte 
hinein ,  die  durch  die  stillen  Aeste  des  „Teutoburger  Waldes" 
ihre  Romantik  webt,  in  Schlachten,  Fehme  und  die  „rothe  Erde." 
Plötzlich  wird  das  Gehölz  niedriger,  wir  überragen  die  jungen 
Wipfel  und  finden  uns  unerwartet  auf  der  Höhe  des  schönsten 
Amphitheaters  und  zugleich  am  Ende  des  Gebirgs;  das  lachende 
Städtchen  und  Bad  Driburg  liegt  unter  uns  mit  all  den  zierlichen 
Zuthaten   solcher    Orte,  eleganten   Gebäuden,   bald  in  Gruppen, 


—      84      — 

bald  einzeln.  Alleen,  schlank  luit]  iiochgewülbl ,  mit  leichtge- 
scliwungenen  Brücken  und  kleinen  spritzenden  Wasserfällen  dar- 
unter, das  ganze,  nicht  grosse  Thal  nebst  dem  daran  liegenden 
Hüsenberge  in  einen  saftig  grünen  Garten  unigeschafi'en ;  ringsnm 
duftige  frische  Berggipfel  und  auf  einem  derselben  die  Ruinen  der 
alten  Iburg,  unter  der  man  Badegäste  gebückt  hinan  klimmen  oder 
Kinder  in  ihren  runden  Strohhütclien  nach  Dendriten  hernm  stöbern 
sieht.  Den  eigenthümlichen  Reiz  des  Panurama's ,  das  dieses 
Thal  bildet ,  wiederzugeben  ,  würde  man  umsonst  versuchen.  Er 
liegt  in  dem  angenehmen  Mass  der  Ausdehnung,  in  der  Anmuth 
der  umgebenden  Bergformen,  in  dem  Hellen  und  doch  Ver- 
schleierten der  überall  mit  jungem  Holze  bewaldeten  Hohen.  Die 
Feste  Iburg  war  ein  sächsisches  Castell ,  das  Karl  der  Grosse 
mit  fränkischer  Besatzung  versah  und  79Ü  zur  Dotation  des  Pa- 
derborner Bisthums  schlug.  Im  elften  Jahrhundert  legte  das 
Paderbornische  Kloster  Heerse  dort  ein  neues  Frauenstift  an,  das 
aber  wegen  der  „Rauheit  der  Gegend"  1136  nach  Gerden  verlegt 
werden  musste.  Da  wurde  die  Iburg  auf's  neue  befestigt,  bis 
die  Erbauung  der  nahen  Feste  Dringenberg  jene  dem  Stifte  unnütz 
machte  und  verfallen  liess. 

Versetzen  wir  uns  an  die  Weser  nach  Godelheim  zurück  und 
ziehen  an  dem  hohen  Wildberge  mit  den  wT.nigen  Trümmern  einer 
gleichnamigen  Corveiischen  Burg  vorbei ,  nach  dem  Freiherrlich 
Wolf-Metternich'schen  Schlosse  Wehren  das  nur  durch  einen 
schmalen  smaragdgrünen  Wiesenstreif  von  der  Weser  getrennt 
ist,  deren  Ufer  hier  sacht  sich  bis  unmittelbar  an  die  Wellen 
abdachen.  In  Wehren  ist  der  runde  alte  Tliurm  mit  dem  chine- 
sischen Dache  über  seinen  Zinnen  für  uns  zu  erklimmen,  der 
herrlichen  Aussicht  wegen,  die  sich  oben  bietet,  in  ein  Thal  voll 
üppiger  Kornfelder  und  Wiesenfluren,  stundenweit  sich  dehnend 
und  doch  nicht  zu  ausgedehnt,  dass  nicht  die  Formen  der  um- 
gebenden Berge  klar  und  deutlich  hervorträten.  Nördlich  zeigt 
der  Wildberg  seine  riesige  Sargesgestalt,  überragt  von  düstern 
Fichtencandelabern,  schwarz,  steil  aufsteigend;  die  Burgruine 
liegt  verdeckt ,  nur  wer  den  Wildberg  selbst  ersteigt  und  sich 
durch  seine  Baumknorren  und  Gestrüppe  geschlagen  hat,  steht 
mit  einem  Male  vor  den  eingesunkenen  Gewölben  der  Burg,  wie 
am  Rande  eines  Steinbruchs;  denn  was  über  der  Erde  war,  ist 
verschwunt^en,    nur   der   unterirdische    Theil    hält  sich  wie   die 


—       85       — 

Wurzel  eines  gefällten  Kiesenbaumes  noch  immer  fest  in  den 
Grund  geklammert:  zahllose  Hanken  von  Epheu,  Steinbrech  und 
andern  Schlingpflanzen  drängen  sich  aus  jeder  Spalte,  und  der 
Boden  ist  besäet  mit  Maiblumen  ,  die  hier  wie  verwünschle 
Schönheiten  in  der  Drachenhöhle  einsam  bliihn  und  uelken.  Der 
Grund  zeigt  vielfache  Spuren  von  Schatzgräberei.  Dem  Wild- 
berge gegenüber  sieht  man  von  unsrem  Thurme  aus  den  dunkel- 
rothen  Kathagenberg,  ein  ödes  gespaltenes  Felsgeklippe,  scharf- 
kantig, wie  in  wüsten  Riesentrümmern  zusammen  geschleudert, 
um  deren  Zacken  pfeifend  die  Habichte  kreisen,  bis  der  Däm- 
merung missfönendes  Conzert,  das  schrillende  Gezisch  des  Ca- 
pellmeisters  Uhu  und  seiner  Bande  sie  ablösen.  Jenseits  der 
Weser  dehnt  der  Solling  seine  anmuthig  wogenden  Formen,  und 
trägt,  Wehren  fast  gegenüber,  auf  einem  schroffen  Vorberge  die 
Braunschweigische  Domaine  Fürstenberg ,  ehemals  eine  Burg, 
jetzt  eine  Porzellanfabrik.  Von  ihrem  weissen  Gemäuer  zieht 
eine  breite  Fahrstrasse  zum  Flusse  sich  hinab,  von  der  die  Luft 
das  Knarren  der  Wagenräder  und  das  Schnalzen  der  Peitschen 
herüberlrägt,  während  näher  die  Segel  der  Schiffe  dicht  an  der 
Gartenmauer  von  Wehren  herflattern  und  man  das  Aeclizen  der 
geplagten  Gäule  und  das  Rauschen  der  Zugleine  im  Grase  hört. 
Das  Innere  unsres  Thurm's,  den  einst  Franz  Arnold  Wolf-Met- 
ternich  zur  Gracht ,  Fürstbischof  von  3Iünster ,  Paderborn  und 
Corvei  bewohnte,  um  hier  neben  der  alten  „Türkenruine",  deren 
Reste  ziemlich  w^ohl  erhalten  dicht  an  Wehren  stehen,  ein  neues 
,  Schloss  um  sich  her  erstehen  zu  sehen  —  ist  mit  seiner  alter- 
thümlichen  Einrichtung  und  seiner  Aussicht  ein  höchst  poetischer 
Aufenthalt ,  dem  auch  die  Weihe  durch  Sage  und  Gespenster- 
glauben nicht  fehlt.  Im  Dorfe  Wehren  erzählt  euch  jedes  Kind, 
dass  der  alte  Bischof  nächtlich  dort  bei  seiner  Studierlampe  sitze: 
dann  sind  die  Fenster  des  Thurmes  alle  mit  einem  blaulichten 
Lichte  umgössen,  dass  das  Gebäude  aussieht  wie  ein  grosser 
Leuchtwurm,  und  je  finstrer  die  Nacht  ist,  desto  heller  leuchtet 
der  Tliurm  auf. 

Der  nächste  Ort  ist  Blankenau ,  im  alten  Nifhegau,  mit 
seinem  Amihaus,  das,  jetzt  preussische  Domaine,  ehemals  eine 
Feste  war,  die  im  dreizehnten  Jahrhundert  Corvei  zur  Beschüt- 
zung der  ..blanken  Aue"  errichtete;  dann  folgt  in  einem  schönen 
Thale,  welches  die  Bever  bildet,  das  Städtchen  Beverungen.     Bis 


—      86      — 

hierhin  hat  die  Gegend  einen  auirallend  wilden  Charakter  ge- 
tragen; die  Gebirge  weichen  zurück  und  lassen  Steinmassen  vor- 
treten, die  von  bloss  steilen  Ul'ern  sich  allmählich  zu  thurmhohen 
Klippen  steigern  und  früher  kaum  dem  Fahrweg  Raum  Hessen, 
letzt  führt  eine  neue  Chaussee  nach  Carslhafen  am  linken  We- 
serufer her,  Avo  von  Beverungen  an  die  Berge  dem  Flusse  zwar 
noch  immer  nahe  bleiben,  aber  auf  dem  rechten  Ufer  fruchtbares 
Flachland  die  Berge  des  Sollings  von  dem  Strome  trennt,  bis  sie 
Herstelle  geg^enüber  Avieder  an's  Gestade  sich  stellen ,  um  zu 
schauen,  Avie  ihr  ruppig  Angesicht  in  dem  jüngeren  Gewässer 
sich  ausnimmt,  dessen  neckende  Najade  in  tausend  Wellchen 
plätschernd  durch  zitterhafte  Verzerrungen  der  Graubärte  spottet. 
Am  schönsten  ist  das  stille  helle  Stromthal,  wenn  man  in  einem 
Nachen  sich  hindurch  schaukeln  lässt,  dem  Geschwirr  der  Wellen 
horcht,  die  der  Ruderschlag  des  Fährmanns  über  die  Uferkiesel 
streichen  macht,  und  den  Schwalben  zuschaut,  wie  sie,  mit  ihren 
schillernden  Flügeln  das  GcAvässer  streifend,  blanke  Furchen 
ziehen :  Avenn  man  den  ganzen  Frieden  in  sich  saugt,  in  den  der 
acht  deutsche  Strom  seine  treuen  Kinder  einlullt:  er  ist  so  ruhig, 
so  sanft  bewegt,  der  blaue  Himmel,  den  er  spiegelt,  so  gross- 
artig stille  gespannt,  majestätisch,  aber  doch  keine  Majestät,  die 
euch  gespenstisch  bedrängte  wie  ein  rothflammiger  Winterhimmel 
über  Alpengletschern;  unendlich,  aber  keine  Unendlichkeit,  die 
euch  mystische  Schauer  in's  Herz  hauchte :  er  ist  Avie  das  ger- 
manische Gemüth,  stille,  klar,  voll  ernster  unendlicher  Ruhe, 
Darum  saugt  es,  auf  ihm,  aus  eurer  Seele  Tiefen  das  schlum- 
mernde Gemüth  empor ;  euer  Wissen  verschwimmt  in  den  sacht 
schaukelnden  Wogen  und  euer  Ahnen  taucht  auf  aus  dem  tiefen 
Grunde;  Avie  ein  melancholisch  Antlitz  des  Nixen,  der  trauert, 
dass  er  nicht  selig  Averden  kann;  Avie  um  euch  her  die  blassen 
Häupter  der  Wasserlilien  ,  die  müde  von  dem  nimmerruhenden 
Wiegen ,  schlummern  eure  Gedanken  ein ;  aber  in  den  Saiten 
eures  Gefühl's  zittern  Klänge  nach,  die  aufgequollen  sind  aus 
dem  Strome ,  als  läute  es  dort  unten  in  versunknen  Domen  alter 
Zeit  leise  den  Abendgruss  eures  stürmischen  Lebenstages  ein. 
Es  ist  ein  Zauber,  der  euch  hinreisst  und  dem  ihr  doch  entfliehen 
möchtet,  dass  er  nicht  zu  weich  euch  überhauche.  Und  wohin 
könnte  man  anders  vor  ihm  fliehen ,  als  in  die  friedlichen  Tage 
der  Jugend   zurück,   wo  unser  rosiges  Ahnen,    unser    frisches 


—      87      — 

Fühlen  noch  der  blasse  Gedanke  nicht  störte,  wo  man  in  selii^em 
Seelenniiissii?2:ang  die  Stunden  verträumte!  wo  nichts  die  ruhijS 
sich  abspinnenden  Tage  unterbrach  — 

Nur  wenn  der  Tag  des  Herrn,  der  sonu'ge  Tag 
Nun  Avieder  da,  mit  seiner  Lerchen  Schlag, 
Die  jubelnd  schwirrten  aus  den  Aehrenfeldern ; 
Wenn  selbst  die  Lindenduflende  Allee 
Wie  festlich  wiess,  dass  sie  den  Tag  begeh, 
Die  Sonne  lichter  lag  auf  allen  Wäldern: 

Dann  rief  die  graue  Waldkapelle  mich , 

Dann  durch  die  Wipfel   tönten  feierlich 

Vom  Klosterthurm  die  Silberhellen  Glocken; 

In  blauer  Schärpe  trat  ich  dienend  dann 

An  den  Altar,  die  Purpurstieg'  hinan, 

Des  Priesters  Hand  lag  segnend  auf  den  Locken.  — 

Wo  ich  gedient,  lasst  mich  noch  einmal  knien, 
Noch  einmal  mich  die  Weihrauchwolken  ziehn. 
Die  ew'ge  Lampe  schüren,  die  ermattet: 
Dass  wie  des  Kindes  gläubiges  Gebet 
Ihr  Flackern  licht  ob  meinem  Haupte  steht, 
Dass  mich  der  alte  Friede  überschattet! 

Er  naht  sich  nicht!  mit  wehem  Herzensgrau'n 

Muss  ich  der  Bögen  düstre  Wölbung  schaun. 

Die  hohl,  gespenstisch  nachhallt  meinen  Schritten: 

Das  sind  die  Stufen,  avo  ich  einst  gekniet, 

Die  Stelle  ist  es,  doch  der  Frieden  zieht 

Nicht  durch  die  Brust,  wie  einst,  wenn  sie  gelitten. 

Verlassen  Alles!  Epheu  wuchert  dicht 

Um  den  Altar  und  strebt  hinaus  nach  Licht, 

Und  rankt  durch's  Fensler  mit  befreitem  Laube; 

Als  ob,  um  fessellos  ihm  nachzuziehn, 

Sie  neuverjüngte  Schwingen  sich  geliehn , 

Schwand  vom  Gewölb  des  heiigen  Geistes  Taube. 

Sie  schwebte  vor  mir  her,  die  weisse  Taube,  als  auf  einer  We- 
serfahrt die  Verse  mir  entstanden  und  ich  musste  ihrem  Flattern 
folgen,  das  im  Stral  der  Sonne  aus  den  langen  Schwingen  wie 
plötzliche  Blitze  schoss.  Ein  Windstoss  hatte  sie  erfasst  und 
wirbelte  sie  um ;  einen  Augenblick  war  es ,  als  würde  er  ihrer 
Herr  und  das  leuchtende  Thier   müsse  aus   seiner  aetherischen 


—      88      — 

Kegion  krallhis  liifiah.  in  den  Sfruni  untersinken;  aber  sie  spielte 
mit  ihm,  schien's,  denn  liooh  aufsteigend  wie  im  Triumphe, 
schlug  sie  bahl  in  frohem  Kreisen  die  Flügel  zusammen  und 
schM^bte  dann  ruhig  nieder  auf  das  Kreuz  der  Dorfkirche  von 
Herstelle. 

Herstelle  ist  jetzt  ein  neues  Gebäude,  das  in  halb  gothischem 
Style  errichtet  mit  seinem  schweren  zinnengekrönten  Thurme  und 
chorartigen  Ausbau  halb  den  Eindruck  einer  Zwingfeste  aus  der 
Feudalzeit,  halb  den  einer  Kirche  macht.  Es  liegt  auf  einer 
senkrechten  Felsenklippe,  an  seinem  Fusse  ein  Dorf  beherrschend. 
Auf  dem  Hofe  des  Schlosses  fand  man  jüngst  in  einer  Art  ver- 
schütteten Cisterne  einen  beispiellos  reichen  Schatz  von  Alter- 
Ihümern  und  zwar  zuerst  Gegenstände,  die  etwa  dem  sechszehnten 
Jahrhundert  angehören  mogten,  Krüge  mit  Wappen  und  Bildern, 
Sporen  u.  s.  w. ,  darunter  Sachen  aus  älterer  Zeit,  dann  noch 
ältere,  immer  alterthümlicher  die  Formen  und  Stoffe,  als  ob  man 
immer  tiefer  in  graue  Jahrhunderte  sich  senkte:  ganz  zu  unterst 
lag  die  Kömerzeit  in  Metallspiegeln,  Walfenfragmenten  und  einem 
zierlichen  Trinkgefäss  aus  römischer  Erde,  begraben.  Denn  ein 
ursprünglich  Römisches  Castell  hat  man  Herstelle  genannt:  gewiss 
ist,  dass  es  den  Sachsen  als  Feste  diente.  Karl  der  Grosse 
bestimmte  es  zum  Watfenplatze  und  nannte  es  danach  Heeres- 
stelle ,  oder  gab  ihm  den  Xamen  Ueristallnm  saxonicum  nach 
der  Stammburg  seines  Ahnen  Pipin,  dem  Fränkischen  Heristai, 
{Hericourt  bei  LüttichJ.  Auch  sollte  es  zum  Schutze  der  Mis- 
sionare dienen,  die  ihm  folgten,  Sturmio's  z.  B.,  des  Gründers 
von  Fulda  und  des  Würzburgischen  Hathumar,  ehe  dieser  seinen 
Bischofssitz  in  der  Paderstadt  einzunehmen  wagte.  Nach  der 
Bezwingung  Westphalens  hielt  Karl  in  Herstelle  797  die  Feier 
der  Weiiinacht  und  des  Osterfestes,  um  jetzt  den  Sachsen  die 
Pracht  seines  Hoflagers  so  blendend  zu  entfalten,  wie  er  über- 
wältigend die  Macht  seiner  Waffen  ihnen  gewiesen  hatte.  Das 
Heer  lag  im  Lande  vertheilt  umiier.  Er  aber  Hess  die  ganze 
nie  Avieder  gesehene  Herrlichkeit  seines  Namens  plötzlich  wie  ein 
blendendes  Meteor  aufleuchten  über  dem  staunenden  Volke  der 
Wisuraha,  das  nie  von  Aehnlichem  auch  nur  geträumt,  dessen 
kindlich  beschränkte  Phantasie  dem  geAvaltigsten  seiner  Götter, 
dem  einäugigen  Wuotan  nur  einen  breitrandigen  Regenhut ,  den 
grauen  Mantel  und  das  weisse  Ross  Sleipnir  mit  den  acht  Füssen 


—      89      — 

als  Ausstattung  seiner  Erscheinung  zu  verschafl'en  wusste,  nebst 
einer  Fülle  goldbraunen  Meth's  in  Avüsstmassigem  Trinkhoni. 
Hier  war  mehr  als  Wuotan!  Die  armen  Sachsen  hätten  sich  ge- 
wiss lieber  mit  dem  Schwerte  bekehren  lassen,  den  hohen  Card 
Magnus  selber  zu  verehren,  denn  die  gepredigten  Fasten-  und 
Casteiungreichen  Heiligen  seiner  Missionare,  als  sie  so  seine 
ganze  Pracht  über  Herstelle  aufgehen  sahen,  als  man  unter  ihnen 
das  in  Purpur  und  farbiger  Seide  prangende  Gezelt  Haroun  al 
Raschid's  aufschlug  für  den  Frankenkaiser,  und  das  Wunderthier, 
des  Kalifen  von  Bagdad  ungeheurer  Elephant  'Abulabaz  mit  den 
kostbaren  Gewanden  und  Spezereien  des  Morgenlandes  beladen, 
hoch  den  Zug  Andalousicher  und  Normannischer  Rosse  überra- 
gend, den  Felsen  von  Heristal  hinaufschritt  oder  schlürfend  aus 
dem  deutschen  Strome  trank.  Und  nun  er  selber  erst  in  der 
ganzen  überwältigenden  Majestät  seiner  einfachen  und  doch  so 
hehren  Erscheinung,  mitten  in  dem  glänzenden  Gedränge  seiner 
Paladine:  denn  sie  alle  waren  um  ihn  her,  Olivier  und  das 
dreiste  Haimonskind  Rinald  und  Oger  von  Dänemark  und  wie 
sie  alle  heissen,  die  trutzigen  Gestalten,  die  Turpinus  Chronik 
sagenhaft  verklärt  —  nur  Roland  nicht,  der  arme  Roland,  den 
längst  Herzog  Lupus  von  Vaskonien  und  Ganelon  „der  Schuft" 
in  der  Mordhöhle  von  Ronceval  seiner  traurenden  Hildegunt  er- 
schlagen lassen.  Unter  ihnen  setzte  Karl  sich  in  Herstelle  zu 
Throne;  seine  Söhne,  der  männliche  Pipin  von  Italien  und  der 
milde  Ludwig  von  Aquitanien  traten  an  seine  Seite,  der  stolzen 
Frankenführer  und  der  grollenden  Sachsenherzoge  Reihen  öffneten 
sich,  und,  vor  dem  Schemel  seiner  Hoheit  sich  beugend,  trat  der 
Sarazenenheld  Abdallah,  den  Spanien  huldigend  gesandt  hatte, 
vor  das  Antlitz  des  Gewaltigen;  dann  kamen  die  Boten  Galiziens 
und  Asturiens,  um  ihres  Emir's  Geschenk,  ein  wunderbar  schönes 
Gezelt  anzubieten;  ihnen  folgten,  die  aus  dem  fernen  Ungarland 
gesandt  waren,  Männer  aus  dem  Volke  der  wilden  Avaren,  und 
so  beugte  in  seinen  Repräsentanten  der  grösste  Theil  des  Römi- 
schen orbis  terrarum  sich  zu  Herstelle  vor  dem  grossen  Karl. 
Das  war  der  glänzendste  der  Tage,  die  Herstelle  erlebt  hat; 
seine  spätem  Geschicke,  als  es  Malstätte  unter  Königsbann  oder 
im  siebzehnten  Jahrhundert  Wohnsitz  der  aus  Höxter  verjagten 
Minoriten- Mönche  war,  bieten  keinen  Erwähnung  fordernden 
Moment  dar.    Paderbornisches  Lehn  kam  es  als  Pfand  im  vier- 

7 


—      90      — 

zehnten  Jahrhundert  an  eine  Familie  von  Falkenherg,  deren  Spross 
Theodor  (Melchior?)  von  Falkenberg  so  heldenmüthig  Magdeburg 
gegen  Tilly  vertheidigte ,  bis  der  Untergang  der  unglücklichen 
Stadt  auch  ihn  unter  den  Trümmern  derselben  begrub.  Sein 
Bruder  Moritz  aber  stand  eben  so  warmen  Sinn's  auf  der  Seile 
der  Katholischen  und  gerieth  kurze  Zeit  vor  der  Schlacht  von 
Lützen  in  die  Gefangenschaft  des  Schwedenkönigs :  Gustav  Adolph 
entliess  ihn  jedoch  ohne  Lösegeld  um  seines  tapfern  Bruders 
willen.  Als  in  der  Schlacht  von  Lützen  nun  den  recognosciren- 
den  König  seine  Kurzsichtigkeit  zu  nahe  an  eine  Schwadron 
Kaiserlicher  Reuter  hatte  kommen  lassen,  da  soll  Moritz  von 
Falkenberg,  der  im  Götzischen  Regiment  als  Lieutnant  diente,  die 
tödtliche  Kugel  auf  Gustav  Adolph  abgeschossen  haben,  in  demsel- 
ben Augenblicke  jedoch  von  einer  schwedischen  Stückkugel  selbst 
niedergeschmettert.  Ein  andrer  Paderborner ,  Johannes  Schnee- 
berg aus  Böckendorf,  Lieutnant  desselben  Regimentes,  gab  dem 
Könige  den  Rest  und  nahm  ihm  seinen  Schmuck,  die  goldene 
Halskette,  ab.  „Damit  nicht  Andre,  weil  sich  auch  Feiglinge 
nach  dem  Siege  den  Ruhm  anmassen,  den  Paderbornern  die  Ehre 
dieser  That  nehmen , "  erzählen  die  glaubwürdigen  monumenta 
Paderhornensia  also  die  Umstände  von  des  Schwedenkönigs  Tod, 
auf  die  vielfachen  Versicherungen  von  Augenzeugen  sich  stüzend. 
r—  Nach  dem  Aussterben  des  Falkenbergischen  Geschlechts  wurde 
die  Familie  von  Spiegel  zum  Desenberge  mit  Herstelle  belehnt; 
diese  verkaufte  es  an  eine  Freifrau  von  Zuidtwick,  welche  den 
jetzigen  alterlhümlichen  Wohnsitz  auf  der  Felsenhöhe  erbaute. 
Von  oben  in  das  Thal  hinab  führen  zwei  gleich  romantische 
Pfade ;  der  eine  an  dem  frühern  Kloster,  jetzt  der  Pfarrwohnung, 
nah  vorüber,  eine  breite  steinerne  Treppe  herab,  die  an  Länge 
einer  Jakobsleiter  nicht  nachgibt,  der  andere  wie  ein  Gemsen- 
steg längs  der  Klippe,  dass  man  schwindelt,  sieht  man  Träger, 
die  unter  ihren  Lasten  keuchen,  Mädchen  mit  Milcheimern  auf 
den  Köpfen  oder  kaum  flügge  Kinder  so  ruhig  wie  Nachtwandler 
über  die  thurmhohen  Felszinnen  gleiten;  man  presst  jeden  Laut 
zurück,  als  ob  er  die  Träumer  wecken  und  zerschmettert  vor  un- 
sern  Fuss  schleudern  könne.  Die  schon  früher  wild  und  trüm- 
merhaft geformte  Wand  hat  durch  Steinbrüche  an  pittoreskem 
Aussehen  noch  gewonnen ;  überall  weite  Risse ,  Zacken  und  vor- 
springende Flächen,  die,  wenn  man  der  erwachenden  Kletterlust 


—      91      — 

nachgäbe,  leicht  in  die  halsbrechende   Situation  weiland  Kaiser 
Maximilians  brächten. 

Unweit  Herstelle ,  über  ihm,  mündet  die  Diemel  in  die  Weser, 
der  Fluss,  der  für  uns  hier  als  südliche  Begränzung  Westphalens 
dient.  Wir  haben  zwei  Punkte  an  ihm  aufzusuchen ,  zuerst  War- 
burg, um  des  ihm  nahen Desenbergs  willen,  und  dann  Stadtberge 
das  alte  Eresburg  aus  Karl's  des  Grossen  Zeit. 

Warburg  ist  eine  alte  ehemals  ziemlich  wichtige  und  der 
Hansa  angehörende  Stadt  in  einer  schönen  Gegend ,  deren  an- 
ziehendster Punkt  der  Desenberg,  eine  freistehende  Höhe  von 
konischer  Form,  gekrönt  von  den  guterhaltenen  Ruinen  eines 
festen  Schlosses,  bildet.  Häufiger  Tuffstein  deutet  auf  seinen 
vulkanischen  Ursprung.  Ursprünglich  sächsischer  Waffenplatz, 
Avard  der  Desenberg,  wie  Herstelle  und  die  Iburg,  fränkischer  Halt- 
punkt, dann,  dem  Stifte  Paderborn  zugewiesen,  ein  Burglehn  der 
mächtigen  und  ausgebreiteten  Familie  Spiegel,  die  sich  nach  ihm 
nannte.  Räubereien,  Zwiste  mit  der  nahen  Stadt  Warburg,  Belage- 
rungen füllen  die  Blätter  seiner  Geschichte.  Damals  hiess  es  ja : 
Buten,  roven,  dat  is  gheyn  Schande, 
Dat  doynt  die  Besten  van  dem  Lande. 

Und  gewiss  ist,  dass  die  Spiegel  sich  zu  den  Besten  des  Lan- 
des rechneten.  Die  Sage  von  dem  im  Desenberge  träumenden 
Kaiser  Karl  ward  schon  oben  berührt.  Es  ist  die  oft  wieder- 
kehrende Mähre,  die  auch  die  Klüfte  des  Unterberges  und  des 
Kyffhäusers  zur  Kaiserhalle  eines  Helden  umgeschaffen  hat,  der 
die  Jahrhunderte  verschlummert,  bis  ihn  der  Memnonsruf  einer 
neu  morgenden  Zeit  zu  neuen  Thaten  weckt: 

Es  sitzt  ein  hoher  Greis  dort,  vor  einem  Tisch  von  Stein; 

Des  rothen  Bartes  Locken  ziehn  um  die  Tafel  sich, 

Die  Augen  sind  geschlossen,  als  hüll'  sie  Schummer  ein: 

Ihm  zuckt  die  helle  Wimper,  er  spricht:  was  rufst  du  mich? 
Ist  denn  die  Zeit  gekommen,  wo  Waiblingen  erwacht? 
Bist  du's,  mein  dreister  Enkel,  mein  starker  Friederich?  — 

Lass  deine  Heldenschaaren,  Herr  Kaiser,  aus  der  Nacht 

Der  ßergesklüfte  dringen,  lass  deines  Adler's  Gold 

Von  deinem  Helme  leuchten,  wie  durch  Legnano's  Schlacht: 

Zeit  ist's ,  dass  in  den  Lüften  dein  Banner  sich  entrollt 

Und  aus  ihm  Freiheit,  Frieden  der  Deutschen  Haupt  umfacht, 

Sie  zahlten  lang  genug  jetzt  dem  stolzen  Welschland  Sold!  — 

7* 


—      92      — 

Das  Volk  glaubt  den  Tod  seiner  Helden  nicht;  sie  leben 
ihm  wie  seine  Sänger  ewig  fort,  und  wie  diese,  deren  Namen 
es  nicht  kennt,  warmen  Hauches  fortatlimen  und  sind  im  Klange 
der  Liedestöne  und  im  bewegten  Herzen ,  das  ihre  Worte ,  ihrer 
Seele  Sein  und  Dulden  in  sich  trägt  und  ausströmt  —  so  gibt 
das  Yolk  seinen  Helden  für  ihre  gröbere  AValfenmacht  einen 
wirklichen  Raum  in  den  Riesen- Gehäusen  hoher  Berge.  Der 
Held  des  Volkes  ist  der  incarnirte  Geist  des  Volkes  selbst,  sein 
Gefühl,  das  Ausdruck,  sein  Wollen,  das  Person  geworden  ist; 
und  wie  der  Geist,  das  Gefühl,  das  Wollen  eines  Volkes  Jahr- 
hunderte alt  werden,  muss  auch  der  Träger  aller  drei  ihm  über 
den  Tod  erhaben  scheinen.  Hätte  man  einen  Berg  gefunden,  der 
gross  und  fest  genug  für  seinen  Titanengeist  wäre,  auch  das 
incarnirte  Franzosenthum  schlummerte  bald  unter  seinen  Mar- 
schällen, auf  den  Adlern  von  Blarengo  und  Austerlitz  in  tiefer 
Felsenkluft.  — 

Stadtberge  oder  Marsberg  liegt  oberhalb  Warburg,  wo  die 
Diemel  von  den  Gränzen  des  Süderlandes  herabströmt;  es  ist  der 
Ort,  der  immer  in  Verbindung  mit  der  Irmensäule  genannt  wird, 
weil  von  hieraus  Kaiser  Karl  seine  Zerstörung  gegen  das  Heilig- 
thum  richtete.  Es  ist  oben  von  letzterem  die  Rede  gewesen:  ich 
trage  hier  nach,  wie  Tradition  und  Volksphantasie  späterer  Jahr- 
hunderte es  sich  ausgemalt  haben:  —  das  sind  die  Quellen  der 
Schriftsteller,  auf  deren  Autorität  hin  die  ungedruckte  Original- 
handschrift von  Paullini's  Geschichte  von  Corvei  also  von  der 
Irmensäule  redet :  „Irmensaül  ist  eine  dem  Irmo  oder  Irmino  die- 
nende Saüle,  worauf  sein  Bildniss  gestanden  hat.  Andre  machen 
aus  Irmensul  einen  Saahl  oder  Kirche,  darin  man  diesen  Götzen 
verehrte ;  dieser  Tempel  ist  gewesen  bei  Eresberg,  welches  nach 
Etlicher  Meynung  so  viel  sein  soll  als  Ehrenberg  oder  Heresberg, 
von  Hera,  die  Griechen  sagen  'H^a,  ist  bei  den  Lateinern  die 
Abgöttin  Juno,  da  weiland  die  Sachsen  die  Hera  geehrt  und  der 
Wahn  beim  gemeinen  Pöbel  gewesen,  als  ob  diese  ertichtete 
Göttin  zwischen  Weynachten  und  heil,  drei  Königen  Fest  in  der 
Lufft  herumflöge,  masen,  nach  der  Poeten  Wahnwitz,  Juno  eine 
Regentin  der  Lufft  seyn  soll:  —  In  diesem  Mers  -  oder  Eresberg 
nu  in  Westfahlen  war  ein  schöner  grosser  ansehnlicher  und  weit 
berufener  Götzentempel,  darin  das  blinde  Volk  die  Irmensaül 
verehrte.      Dies    Götzenbild    war    in  Gestalt    eines    gewaffneten 


—      93      — 

Manns,  der  stund  unter  dem  blauen  Himmel  im  grünen  Feld  in 
den  Blumen  bis  an  den  Leib,  mit  einem  schwerd  umgürtet.  In 
der  rechten  Hand  hielt  er  ein  Pannier,  darin  eine  rothe  Rose 
oder  Feldblume  war,  in  der  linken  eine  Wage.  Auf  seinem  Helm 
stund  ein  Wetterhahn,  auf  dem  Schild  ein  Leue  und  auf  der 
Brust  ein  Bahr.  (So  ist  die  Gestalt  in  Holzschnitt  abgebildet  in 
den  annales  Circuli  Wesfphalici  Stangefol's.}  Was  nun  zu  Eres- 
berg  eigentlich  für  eine  Religion  und  was  für  Ceremonien  dazu- 
mal üblich  gewesen,  können  wir  wegen  der  faulen  Trägheit  der 
damahligen  Scribenten  nicht  gründlich  erwähnen.  Diess  ist  ge- 
wiss,  dass  viele  Priester,  sowohl  Mann-  als  Weiber  diesem 
Tempel  gedient  haben.  Die  Weiber  zwar  waren  nur  mit  den 
Weissagungen  geschälTtig,  die  Männer  aber  Warteten  der  opifer 
und  des  übrigen  Götzendienstes.  Die  Priester  nahmen  allezeit 
diese  Irmensatil  mit  in  den  Krieg,  und  nach  gehaltenem  Treffen 
schlugen  und  strafften  sie  die  Gefangene  oder  die  sonst  etwa 
nicht  frisch  gefochten  hatten,  nach  Verdienst.  Es  war  der  Ge- 
brauch, dass  die  Priesterinnen  den  Gefangenen  im  Lager  mit 
blosen  Degen  entgegen  lieffen,  solche  bey  einen  ehernen  Rost 
schleppten ,  in  die  Höhe  hüben ,  die  Gurgel  entzwey  brachen  und 
hernach  aus  dem  Blut  ihre  Weissagungen  nahmen.  Das  erhellet 
auch  aus  einem  altsächsischen  Lied,  darin  ein  Sächsischer  Printz 
sehr  wehmüthig  klagt,  dass  er  wegen  eines  unglückseligen  tre- 
fens  dem  Priester  zum  Schlacht  Opffer  worden: 

Schol  ich  nun  in  Codes  fronen  Hende 

in  meinen  allerbesten  tagen 
Geben  werden,  und  sterben  so  elende, 

das  müss  ich  avoI  hochlich  klagen. 
Wenn  mir  das  glücke  füget  hätte 

des  Streites  einen  guten  Ende, 
Dorfft  ich  nit  leisten  diese  Wette , 

netzen  mit  Blut  die  Ilire  Cheil'gen)  Wände. 

In  dem  Tempel  zu  Eresburg  sind  überaus  viele  Kost-  ja 
unschätzbare  Kleinodien,  Kronen,  Schilt,  Fahnen  u.  d.  m.  von 
lauter  Gold  und  silber  funden  worden:  alles  dies  bekam  Karl 
zur  Beute;  das  Bildniss  selbst,  so  auf  der  zierlichen  Säule  stund, 
hat  er  Vermaledeyet,  zu  Boden  geschmissen  und  zermalmet. 
Also  ist  der  prächtge  Tempel  samt  dem  Bild  gänzlich  zerschleifft 
und  zerstört   worden,  worüber   man  drey  tage  zugebracht."  — 


—      94      — 

Die  weitere  Erzählung  Paullini's  mitzutheilen ,    wie  Karl  die  Ir- 
mensäule  nach  Corvei  habe  führen  lassen,    wo    man  sie  wieder 
gefunden  und  die  Inschrift  daran  gelesen  „Vorzeiten  bin  ich  der 
Sachsen  Herzog  und  ihr  Gott  gewesen,  mich  hat  das  Volk  Martis 
angebetet'''  —  wie  sie  sodann  nach  Hildesheim  gebracht  mit  grosser 
Fährlichkeit  wegen  auflauernder  Heiden  —  wie  man  am  Samstag 
vor  Laetare  jährlich   dort   symbolisch  ihren  Sturz  sich  erneuen 
lasse  u.  s.  w.  verbietet  trotz  ihres  Interesses  uns  hier  der  Raum. 
Naiv  ist  vor  allem  Paullini's  Deutung  der  symbolischen  Attribute 
der  Irmensäule:  von  der  Rose  in  dem  Panier  sagt  er,    die  Rose 
„sey  aus  dem  schweiss  einer  Frauen,    so  Jona  geheissen,  ent- 
sprungen.   Dieses  Weibes  Natur  soll  gewesen  seyn ,  dass  sie  in 
der  Frühstund   weiss,    im   Mittag  roth,   gegen  Abend  grün  ge- 
schienen hat.    Nu  die  grüne ,  als  eine  beständige  Farbe ,  ist  das 
merkmahL  der  Ewigkeit,  als  ob  die  nacht,  der  Tod   ihr  die  Un- 
sterblichkeit gebe.    Wahre  Ritter  schämen  sich  unter  dem  hink- 
kenden  Pöbel  allhier  zu  kriechen,  desswegen  schwingen  sich  ihre 
Sinnenflügel  Sternen  werts,  um  Seel  und  Ruhm,  Leib  und  Geist 
mit  dem  Burger  Recht  der  ewigen  zu  beschenken."  *}  — 

Unsres  Aulor's  Angabe,  dass  sächsische  Krieger  den  Ge- 
brauch gehabt,  in  ihrer  Rüstung,  mit  Wehr  und  Waffen  um  die 
Irmensäule  zu  reiten,  ehe  sie  in  die  Schlacht  zogen,  findet  eine 
Bestätigung,  wenn  noch  jetzt  vielleicht  hie  und  da  ein  Landmann 
Westphalens  in  der  Nacht  vor  einem  hohen  Festage  heimlich  eine 
einsame  Waldkapelle  umreitet. 


0  Siehe  die  ganze  Episode  in  Dr.  L.  Tross  Wesfphalia,  1826,  Nr.  19. 
—  Die  historischen  Ausführungen  dessen ,  was  ich  bei  der  Wan- 
derung durch  das  Weserlhal  nur  andeuten  durfte,  findet  man  in 
F.  C.  Th.  Pideril's  Arbeiten. 


Ihr  mögt  mit  lächelndem  Kopfschütteln  die  Ueberschrift  die- 
ses Kapitels  ansehen  und  es  als  eine  romantische  Selbstironie 
dieses  Buches  betrachten,  wenn  es  als  integrirenden  Theil  des 
malerischen  und  romantischen  Westphalens  das  Thal  in  sich 
aufnimmt,  welches  die  trägen  Gewässer  der  Emse  durchfluthen: 
ihr  werdet  dafür  danken,  mit  mir  in  die  Verschollenheit  meiner 
heimathlichen  llaiden  zu  ziehen,  ihr  werdet  pfiffigere  Kinder 
sein,  als  die,  welchen  der  Schalk  von  Hameln  pfiff,  wenn  ich  mit 
klingenden  Worten  wie  Mimigardeford  oder  Agorotingon  oder 
Tubantenheim  euch  in  dies  Gebiet  zu  locken  versuche.  Freilich, 
vor  einem  kurzen  Caravanenzug  durch  eines  jener  etwas  sandigen 
eintönigen  und  an  die  Farbenglühende  Herrlichkeit  der  schönen 
Gotteswelt  minder  erinnernden  Gefilde,  welche  man  eine  west- 
phälische  Haide  nennt,  kann  ich  euch  nicht  retten:  aber  ich  darf 
euch  dennoch  bitten,  mir  zu  folgen  und  ihr  sollt  verwundert 
sehen,  wie  oft  die  Wünschelruthe  in  meinen  Händen  anschlägt 
und  auch  hier  auf  einen  ungeahnten  Schatz  deutet,  der  vor  un- 
sren  Füssen  liegt. 

Den  Uebergang  aus  dem  schönen  Weserthale  minder  fühlbar 
zu  machen,  führ'  ich  euch  zuerst  auf  eine  Höhe,  wo  ihr  nur 
den  verlassnen  Strom  vermisst ,  sonst  aber  alle  Berg-  und  Wald- 
Romantik  wieder  findet,  mit  der  uns  irgendwo  der  Teutoburger 
Wald  umwebt  hat.    Diese  Höhe  ist  der  Ravensberg.    Die  gelun- 


—      96      — 

gene  Abbildung  zeigt  euch  seine  Gestalt,  seine  zerfallenen  Burg- 
gemäuer, seinen  Donjon,  der  noch  stark  und  trotzig  in  die  Lande 
schaut.  ,  Der  Ravensberg  ist  eine  steile  nach  Südwesten  sich 
richtende  Vorhöhe  des  Bärenbergs,  der  mit  seiner  Waldkrone 
etwa  die  Mitte  des  Osnings  bezeichnen  mag  und  an  die  hohen 
Eggen  von  Werther  und  Halle  sich  reiht.  Es  ist  dasselbe  Ge- 
birge, das  wir  über  Detmold  erklommen  haben,  hier  von  dem 
nahen  Bielefeld  aus  in  nordwestlicher  Richtung  gen  Iburg 
und  Tecklenburg  ihren  blauen  Wellenschlag  führend  und  durch 
mannigfach  gekreuzte  Hügelreihen  mit  dem  Zuge  der  Weserberge 
verbunden,  der  im  Norden  unsres  Standpunkts  von  Minden  her 
fast  ganz  westlich  gen  Osnabrück  sich  dehnt. 

Oben  auf  dem  Ravensberge  die  graue  Warte ,  die  Trümmer 
der  festen  Burgmauer,  das  Thor,  den  tiefen  Brunnen  in  der  Nähe 
beschauen  zu  können ,  ist  für  das  mühsame  Erklimmen  der  Höhe 
kein  so  grosser  Lohn,  wie  der  Anblick,  den  sie  auf  das  be- 
herrschte Land  zu  ihren  Füssen  bietet.  Aus  der  Reihe  der  Berge 
vortretend,  macht  sie  die  Halden  des  Osnings  rechts  und  links 
weithin  -überschaubar,  und  zeigt  das  Land  von  den  Süderländi- 
schen  Höhen  bis  nach  Iburg  hin,  in  der  westlichen  Ferne  West- 
phalens  Ebenen  mit  ihren  Waldungen,  Gehöften,  Städten  und 
Fluren,  in  der  Nähe  die  rothen  Dächer  der  Oerter  Halle,  Borg- 
holzhausen, Dissen  und  wie  sie  alle  heissen,  die  besonnten  Dör- 
fer, Meiereien  und  Güter  da  unten.  Man  sieht  keine  wildgran- 
diose oder  pittoreske  Romantik  aus  Mangel  an  Raum  in  uner- 
messliche  Höhen  aufgethürmter  Bergcolosse,  keine  nakten  Fels- 
ungeheuer mit  schäumenden  Bachstürzen  —  die  Berge  haben 
Raum  hier,  in  anmuthigen  Formen  sich  zu  dehnen:  aber  gross- 
artig genug  ist  die  Gegend,  um  einen  mehr  als  idyllischen  Ein- 
druck zu  machen ,  das  Gebirge  gewaltig  genug,  um  durch  seine 
dichtbewaldeten  Massen  zu  imponiren. 

Die  Volkssage  macht  den  Ravensberg  zu  einem  ursprünglich 
Römischen  Castell,  dessen  Wahrzeichen,  der  Adler,  den  allen 
Deutschen,  die  solch  Gethier  nicht  gekannt,  ein  Rabe  geschie- 
nen und  der  Burg  den  Namen  gebracht  habe.  Man  leitet  in  Ue- 
bereinstimmung  damit  den  Namen  des  in  einem  enggeschlossenen 
Thale  am  Fusse  des  Ravensbergs  liegenden  Dorfes  Cleve  von 
clwus  ab,  gleich  dem  der  Stadt  am  Niederrhein.  Ehemals  soll 
auch  unser   Cleve  eine  bedeutende    Stadt  gewesen  sein.     Eine 


—      97      — 

andere  Sage  lässt  einen  alten  Sachsenfiirsten  über  die  Lande  am 
Osning  gebieten,  der  seinen  drei  Töchtern  Iva,  Teckla  und 
Ravena  als  Ausstattung  drei  Burgen  schenkte  und  nach  ihnen 
nannte;  das  Maaren  Iburg,  Tecklenburg  und  Ravensberg.  Der 
Ableitung  des  Namens  von  einem  Erbauer  Rabo  oder  Rave  ward 
oben  schon  erwähnt.  Jedenfalls  ist  der  Ravensberg  eine  sehr 
alte  Feste.  Die  heilige  Thiathilde  urkundet  schon  um  851  dem 
Kloster  Freckenhorst  den  Zehnten  zu  „Ravensburg"' :  zum  zwei- 
tenmal geschieht  ihrer  Erwähnung  in  der  Legende  vom  heiligen 
Bischof  Bernward  von  Hildesheim;  das  Gebet  zu  diesem  Heili- 
gen liess  einen  Ritter  Odalrich,  der  auf  dem  Ravensberge  im 
Burgverliesse  schmachtete  leicht  und  mühelos  seine  Ketten  ab- 
streifen und  den  Pfad  in  die  Freiheit  finden,  dass  er  nach  Hil- 
desheim pilgern  und  seine  Fesseln  am  Grabe  des  Bischofs  auf- 
hängen konnte.  Die  ältesten  Besitzer  von  Ravensberg,  welche 
die  Geschichte  kennt,  treten  bei  ihrem  ersten  Erscheinen  als 
mächtige  Dynasten  auf :  sie  heissen  Hermann  L  und  H.  von  Calve- 
lage  (ein  Hof  zwischen  Melle  und  Gesmold};  und  den  Glanz  und 
das  Ansehn  ihres  Geschlechts  bezeugt  Hermann's  L  Yermählunir 
mit  Edelinde,  der  Wittwe  Herzog  Welf's  von  Bayern,  der  Tochter 
Otto's  von  Nordheim ;  der  zweite  Hermann  war  Vetter  und  Ver- 
trauter Kaiser  Lothar's  von  Sachsen.  Dieses  Hermann  Söhne, 
Otto  und  Heinrich  werden  zuerst  Grafen  von  Ravensberg  genannt, 
und  vo»  nun  an  wird  der  Name  häufig  in  allen  Fehden  und 
Händeln  der  Zeit.  Im  vierzehnten  Jahrhundert  erlosch  der  Manns- 
stamm des  Grafen  von  Calvelage  mit  Bernhard,  dessen  Erbin 
Margaretha,  die  Tochter  seines  Bruders  Otto  IV.  Gemahlin 
des  Herzogs  Gerhard  von  Jülich  war,  den  Kaiser  Ludwig  der 
Bayer  1346  zu  Frankfurt  am  3Iain  mit  den  sämmtlichen  Besitzun- 
gen der  Ravensberger  Dynastie  belehnte.  Die  fernere  Geschichte 
der  Herrn  vom  Ravensberge  fällt  nun  mit  der  Julich-Cleve-Berg's 
zusammen.  Durch  die  Erinnerung  an  Jacobea,  die  schöne  un- 
glückliche Jacobea  von  Baden,  die  auch  dieses  Landes  Herrin 
war,  wollen  wir  hier  nicht  unser  Auge  trüben.  Nachdem  Bischof 
Bernhard  von  Galen  den  Ravensberg  als  die  Feste  seines  Feindes, 
des  grossen  Kurfürsten,  der  mit  Pfalz -Neuburg  Erbe  der  Jü- 
lichschen  Lande  geworden  war,  hatte  beschiessen  lassen,  wurde 
das  Schloss  so  unwirthlich,  dass  nun  auch  der  Droste,  der  es 
bisher    innegehabt,    herunterzog  und  es  dem  gänzlichen  A'erfalle 


—      98       — 

iiberliess;    doch    hat    eine   Zinkbedachung   und   ein  Kranz  von 
Kragsleinen   der  weitern  Zerstörung  des  Donjons  jetzt    Einhalt 
gethan.    Werfen  wir  noch  einen  Blick  auf  das  Panorama  unter 
uns  hinab,  ehe  auch  wir  die  Höhe  verlassen.    Da  unten  in  dem 
Thale  gen  Norden ,  wo  Borgholzhausen  liegt ,  soll  einst  in  düstren 
Bergeswaldungen  des  Tacilus  Tanfanae  Templum,   celeberimum 
Ulis  gentibvs  wie  der  Römer  sagt,   sich  befunden  haben.    Noch 
jetzt  will  man  als  Benennung  der  Stelle  das  Wort  „Dämpfanne" 
von   den  Landleuten   vernehmen.    Dass    man   Opfergefässe   und 
alte  WafTenstücke    hier   aulTand    (noch   im  Herbste   1838  zwei 
Opferschalen  von  seltener  Schönheit)  ist  gewiss:  über  die  Göttin 
Tanfana  und  ihr  Heiligthum  aber  fehlen  uns  alle  nähern  Angaben, 
als  die  des  Tacitus,  dass  es  bei  den  Marsen  gewesen,  und  dieses 
Volkes  Wohnsitz  lässt  sich  mit  genauer  Gewissheit  nicht  bestim- 
men.   Wir  können  uns    desshalb  immerhin  den  alten  Tempel  in 
den  Gehölzen  von  Borgholzhausen  wieder  aufbauen,  den  Alach, 
wie  der  Sachsen  Ausdruck  war,    aus   seinen  grobgeschnittenen 
Holzsäulen  in  einander  fügen  und  die  Balkendecke  schützend  über 
das  Wih,  das  Heiligthum,  legen,  um  zwischen  mystisch  dunklem 
GcAvände   von   der  sonderbaren ,    so   rohen  und   doch    so  tiefes 
Gemüth  hegenden  Vorzeit  zu  träumen  und  ihren  Wundern  nach- 
zusinnen.   Denn   mag   man    die  Wunder  der  Legende  für  eine 
schöne  Poesie  und  nichts  anders  hallen,  die  Wunder  der  Geschichte 
bleiben,  und  ist  es  nicht  eines  ihrer  grössten  Wunder,  dass  dort 
vor  uns  der  bemooste  Dorfthurm  hoch  empor  das  siegende  Kreu- 
zeszeichen über  der  Tanfana  Gauen  trägt,  —  dass,    wenn  sein 
Geläute   über  die  Strohdächer  der  Wohnungen  umher  tönt,   um 
den  aufdämmernden  Sonntag  zu  begrüssen,  der  Schall  zusammen- 
rinnt mit  Nachbarklängen,    soweit  bis  gen   Süd  und  Nord  das 
Rauschen  des  Meeres  sie  verzehrt?  Das  gebildete  Hellenen-  und 
Römerthum  von  dem  zu  bekehren,  was  zum  Aberwitz  geworden 
war,  mogte  leicht  sein;  aber  die  Germanische  Waldesnacht  ihrer 
grandiosen  Traumgebilde  zu  berauben:    dem  Träumenden  dieser 
Nacht  seinem  Zustande  adäquate  Phantasmagorien  zu  nehmen, 
und   ihm  Wahrheit  zu   geben,   ehe  er  geweckt  werden  konnte 
an's  Tageslicht  der  Cultur,  in  welchem  allein  sonst  die  Wahrheit 
spriesst  —  das  war  mehr  als  Menschenwerk. 

Um  das  Gewaltsame  des  plötzlichen  Uebergangs ,  dies  un- 
vermittelte Ueberschlagen  von  einem   Gegensatze   zum   andren, 


—      99      — 

wie  mit  einem  Schlage  die  in  der  Wüste  rufende  Stimme  des 
neuen  Lebensprincip's  es  bewirkte ,  zu  versinnlichen ,  rufe  ich 
hier  zwei  Gestalten  wach,  beide  edle  Germanische  Frauen,  beide 
im  Dienste  ihres  Gottes  stehend ,  nur  durch  wenige  Jahrhunderte 
von  einander  getrennt,  und  doch,  welcher  schreiende  Contrast! 
Die  eine  ist  Priesterin  der  Tanfana,  oder  einer  andren  Gottheit, 
der  Irmensul  z.  B.,  wie  wir  sie  oben  kennen  lernten.  Sie  folgt 
den  Männern  in  den  Kampf,  sie  steht  im  linnenen  Gewände,  mit 
ehernem  Gürtel,  mit  nacktem  Fusse  auf  der  Wagenburg,  das 
gewaltige  Reckenweib,  sie  schwingt  ein  Schwert  wie  eine  haar- 
flatternde Kyrie  der  Schlacht.  Da  wird  ein  Gefangener  ihr  ge- 
bracht, sie  schlingt  einen  Kranz  um  sein  Haupt,  einen  Strick 
um  seine  Brust;  behende  fliegt  sie  eine  Leiter  hinan,  zieht  das 
Opfer  sich  nach  und  durchschneidet  ihm  die  Gurgel,  um  aus 
dem  Blute,  das  in  den  ehernen  Kessel  unten  hinabströmt,  die 
Weissagungen  des  Schlachtenglücks  zu  schöpfen!  (Vgl.  Strabo, 
lib.  YIL) 

Die  andre  erzieht  das  Kloster  zu  Herford,  sie  wird  das 
Weib  eines  sächsischen  Edlen,  sie  gebiert  ihm  zwei  starke 
Söhne,  wird  Wittwe,  schaift  dann  die  Burg,  worauf  ihr  Gemahl 
gestorben  ist,  zum  Kloster  um,  und  nun  seht  ihr  sie  im  Dienste 
ihres  Gottes  thätig,  rastlos  und  keine  Ermüdung  kennend,  von 
Sonnenauf-  bis  zum  Niedergang.  Sie  speisst ,  sie  tränkt,  sie 
kleidet  die  Schaaren  der  Armen,  welche  von  Nah  und  Ferne  zu 
ihr  strömen;  sie  redet  Trost  den  Unglücklichen  ein,  sie  glättet 
mit  der  weichen  Hand  der  Liebe  die  Falte  des  Gram's  auf  jeder 
Stirne,  wie  ein  weicher,  warmer  Hauch  thaut  ihr  Wort  jedes 
Herz  auf,  das  eisig  geworden  ist  in  kaltem  Leide.  Und  wenn 
sie  Alle  durchwärmt,  beruhigt,  in  weicher  Entsagung  oder  ge- 
stärkter Hoff'nung  froh,  von  sich  gesandt  hat,  wenn  die  Sonne 
zur  Küste,  ihre  Schwestern  zum  Schlafe  gegangen  sind,  dann 
lauscht  sie,  bis  der  letzte  Schritt  im  Kreuzgange  verklungsn  ist, 
schleicht  sacht,  dass  Keiner  sie  erspähe,  in  die  Kirche  und 
kniet  zum  Gebete  nieder,  das  die  Nacht  überdauert.  Es  ist  eine 
doppelt  geweihte  Stätte,  dann  die  Klosterkirche,  worin  sie  nie- 
derkniet, und  betet  beim  Lichte  der  ewigen  Lampe,  deren  flak- 
kernder  Schein  auf  die  Pergamentblätter  und  buntglänzenden 
Malereien  ihres  Psalters;  auf  die  weissen,  von  Kälte  verklom- 
menen  Hände  fällt,  mit  denen  sie  eifrig  die  Blätter  umwendet;  es 


—      100      — 

ist  ein  Heiliges  über  die  schlichte  Matronengeslalt  ausgegossen; 
ihr  konntet  glauben ,  allein  von  ihrer  hohen  glatten  Stirne  gehe 
der  milde  gelbzitternde  Lichtschein  aus,  der  stralend  auf  den 
goldenen  Miniaturen  ihres  Buches  liegt ,  sich  ermattet  in  den 
Falten  des  schwarzen,  mit  schneeigem  Hermelin  gefütterten  Man- 
tels fängt,  aus  der  Dunkelheit  der  Kirche  aber  nur  noch  die 
Schattengespenster  der  Pfeiler  und  Statuen  zu  wecken  vermag,- 
dass  verriesigt  Sankt  Lorenz's  Rost  und  Sankt  Katharina's  zer- 
brochenes Rad  an  den  Wänden  ineinander  überhuschen  und 
schwimmen. 

Und  wer  ist,  fragt  ihr ,  diese  nächtige  Beterin ,  die  auf  den 
kalten  Steinen  der  Klosterkirche  zu  Memleben  liegt?  Es  ist  eine 
Kaiserin ,  das  Weib  Heinrich's  des  Finklers ,  die  Mutter  Otto's 
des  Grossen,  die  heilige  Mathilde.  Sie  könnte  in  dem  ganzen 
Glänze  sich  sonnen,  den  ihr  starker  Sohn  über  das  Germanische 
Kaiscrthum  leuchten  lässt,  aber  sie  zieht  vor,  den  Tag  über  für 
die  Armen,  die  Nacht  hindurch  für  das  Gebet  zu  leben.  Sie 
lässt  ihre  Güter  sich  entreissen  ,  weil  man  sie  bei  ihren  Söhnen 
beschuldigt  hat,  dass  sie  alles  in  Almosen  verschleudere,  und 
zieht  sich  in  das  einsame  Enger  zurück ,  die  Grabeshüterin  ihres 
Ahnherrn  Wittekind  zu  werden ;  als  endlich  der  Tod  den  liebsten 
ihrer  Söhne,  Heinrich,  den  sein  Bruder  über  Bayern  zum  Her- 
zoge gesetzt  hatte ,  ihr  entreisst ,  da  wirft  sie  in  unendlichem 
Leide  die  Stirnbinde  und  alles ,  was  an  den  Kaiserlichen  Purpur 
sie  erinnert,  auf  den  Boden,  und  flieht  vor  ihrem  Schmerze  in 
das  Wohl,  das  sie  den  Leidenden,  den  Darbenden  bereitet.  (S. 
Strunck,  Westph.  Sancta.) 

Hat  der  innig  fromme  Geist  des  Mittelalters,  hat  der  warme 
Hauch  der  Liebe,  der  Duft  der  Blüthe  am  Weltenbaume  der 
christlichen  Idee,  hat  die  Kraft  der  Entsagung,  die  der  Glaube 
gibt,  je  einen  schöneren,  einen  begeisternden  Ausdruck  gefun- 
den ,  als  in  dieser  heiligen  Frau  ?  Und  dagegen ,  die  ganze  rohe 
Gewaltsamkeit,  die  verhärtende  starre  Idee  des  Heidenthums,  wo 
tritt  sie  besser  verkörpert,  wo  schreckenerregender  auf,  als  in 
jenem  blutigen  Haarflatternden  Reckenweibe  des  Strabo  ?  Sie 
schneidet  dem  Gefangenen  die  Kehle  ab,  und  damit  uns  wie  eine 
grinsende  Ironie  alle  Poesie  entzwei,  die  wir  aus  den  Blüthen 
der  Esche  Gydrasil  saugen ,  in  dem  Kämpfen  gewaltiger  Kräfte, 
wie    der  Streit  zwischen  Äsen  und  Thursen,    im  Donnern  der 


—      101      — 

Bifrostbrücke,  wenn  die  Walhelden  darüber  reiten  und  Ragnaröck 
dunkelt,  in  Baldur's  Tod  und  Fieia's  Liebe  endlich,  in  all  den 
grotesken  Yorstellungen  und  musculösen  Gliederungen  des  nor- 
dischen Sagensystem's  zu  sehen  so  gerne  bereit  sind.  Sie  allein 
ist  genug,  um  für  uns  die  dräuende  Weltschlange  Hörmungandr 
und  Locki's  gesanimtes  Geschlecht  für  ewig  daniederzuhalten. 

Ihr  könntet  mir  vorwerfen,  dass  ich  in  diesen  Namen  aus 
der  Nordischen  Mythe  auf  ein  Göttergeschlecht  mich  bezogen  habe, 
welches  ja  nie  der  Traum  der  Deutschen  Waldesnacht  gewesen 
sei,  sondern  nur  durch  die  Dämmerungen  der  geheimnissvollen 
^y.avöici  des  Ptolemäus,  oder  Skandinaviens,  geschwebt  habe. 
Aber  der  Norden  ist  der  Quell  lang  und  weithin  rinnender  Yöl- 
kerströme  gewesen :  auch  wir  gehören  ihm  an ,  das  sächsische 
Blut  in  unsern  Adern  ist  keine  Blüthe  des  Bodens,  auf  dem  wir 
stehen.  Der  Kimbrische  Chersonnes  ist  zwischen  unsrer  ältesten 
und  jetzigen  Heimath  die  Brücke,  über  welche  einst  wahrschein- 
lich Kimbren  und  Teutonen,  gewisser  wohl  später  Longobarden 
und  endlich  die  Sachsen  zogen,  um  die  Urstämme  unsres Landes 
zu  verdrängen  oder  in  sich  aufzunehmen.  Scanzia  insula  quasi 
officina  gentium  aut  certe  velut  vagina  nationum,  sagt  der  Gothe 
Jornandes.  Aus  dieser  Offizin  nun  sind  auch  wir  gekommen, 
immer  voran  drängend  über  Elbe  und  Weser,  bis  im  vierten 
Jahrhundert  die  Vernichtung  der  Chauken  und  der  kleinern 
umwohnenden  Stämme  das  sächsische  Westphalen  gründete.*) 
So  wäre  die  Edda -Mythologie  für  unsre  ältesten  Zustände  vin- 
dizirt:  misslicher  sieht  es  mit  unsrer  Herrmannsherrlichkeit, 
unsren  Tacitustugenden  aus. 

Pilgern  Avir  weiter,  oben  über  den  Kamm  unsrer  Berge,  dem 
von  seiner  Höhe  lockenden  Iburg  zu.  Gen  Süd  und  Nord  bleibt 
uns  der  Blick  über  die  weite  Ebene  links,  über  das  schöne 
hügclichte  Land  rechts  dann  unbeschränkt.  Ln  Süden  lassen 
wir  Tatenhausen,  den  freundlichen  Badeort  mit  seinen  Anlagen 
und  ansehnlichem  Herrnhause,  der  Sommerresidenz  der  Grafen 
Korff  genannt  Schmising:  nördlich  und  nordöstlich  liegt  die 
reichbebaute  anmuthige  Gegend  von  Gesmold,  dem  Dorfe,  in 
dessen  Nähe  aus  einer  und  derselben  Quelle  die  zur  Ems  strö- 


*)  S.  Geschichte  des  niedersächsischen  Volks  von  Schaumann.     Göltingen 
1839. 


—      102      — 

mende    Hase     und    die   Weserwärts    fliessende    kleinere    Elze 
strömen.    Das  letztere  Flüsschen  windet  sich  an  dem  Städtchen 
Melle  vorbei,  das  eine  der  freundlichsten  Gegenden  Westphalens 
belebt,    und   wo    euch  die   herrlichsten  Landschaftsbilder  nach 
Ostenwalde ,  dem  stillen  einsamen  Sitze  des  General's  von  Yincke, 
oder  auf  die  Dietrichsburg,  (eine  Tannenbewaldete  Höhe,  welche 
die  Burg  eines  verschollenen  Nachkommen  Wittekind's  und  Va- 
ters der  Kaiserin  Mathilde,  von  der  ich  eben  sprach,  des  Grafen 
Dietrich  gekrönt  haben  soll ,)  locken  Avürden.    Aber  wir  müssen 
eilen,  denn  der  Tag  wird  sich  senken,  ehe  wir  über  unsre  un- 
wegsamen Halden  Iburg  erreicht  haben ,  den  schönsten,  den  glän- 
zendsten Punkt  unsrer  ganzen  Wanderschaft  durch  diesen  Theil 
"Westphalens.    Wir  müssen  die  Dämmerung  in  seinem  Rittersaale 
verträumen,  avo  die  Bilder  starker  Männer  uns  wie  Herolde  vergan- 
gener Tage,  verklungener  Thaten  anlugen  werden  aus  ihren  düs- 
tren Rahmen  und  Cartouchen,  von  den  bestäubten  Wänden  herab :  in 
der  weiten  Halle,  die  uns  wie  ein  romantisches  Gedicht,  eine  Scene 
aus  einem  Romane  des  grossen  Schotten  umfängt.  Wir  wollen  dort, 
wenn  es  Abend  wird,   in  Benno's  Züge  blicken,   in  das   blasse 
wehmüthige  Antlitz  des  treuen  vielduldenden  Mannes,    dass    es 
wie  ein  Phantasma   der  Dämmerung  uns  aus  den  Schatten  ent- 
gegentrete,  dass  wie  ein  schöner  Traum  aus  einer  stürmischen 
Nacht  uns  die  ganze  Erscheinung  dünke ,  mit  ihrer  leuchtenden 
Stirn,  „drauf  die  Gedanken  wie   ein  stolzer  Chor  von  Königen 
auf  hohem  Throne  sitzen  " ,  und  die  doch  mit  dem  Mal  des  Bann- 
fluch's  geächtet,    sich  vor  dem  Tageslichte   verbergen    musste. 
Bischof  Benno  ist  eine  der  interessantesten  Erscheinungen  unsrer 
Geschichte.     Schön,   geistreich,  gelehrt,    das  ganze  Wissen  der 
Zeit  mit  den  seltneren  Künsten  und  Kenntnissen   der  Technick 
verbindend,  von  den  Frauen  verehrt,   band   ihn  Avohl  mehr  die 
Dankbarkeit  als  die  Sympathie  seines  Charakters  an  Heinrich  IV. 
der  ihn   zum  Ordner  seines    Haushalts   und  Aufseher  über   die 
Kaiserlichen  Bauten  ernannte   und  später  auf  den   Bischöflichen 
Stuhl   von   Osnabrück   erhob:    von   da  an  blieb   Benno  H.    der 
treuste  Genosse  seines  Kaiserlichen  Freundes,  und  theilte  mit  ihm 
die  schwere  Last  des  Päbstlichen  Zornes,  der  beide  zusammen 
wie  gehetzte  Edelhirsche  durch  die  Wälder  Niedersachsens  trieb. 
Gregor  VH.   consequent,  wie  ein  incarnirter  Titel  der  Digesten, 
entsetzte  auch  Benno  seiner  Würden:  wie  er  darauf  das  Schick- 


—      103      — 

sal  seines  Kaisers  theilte,  seine  Flucht  von  der  Harzburg  nach 
Eschwege  u.  s.  w.  hat  Broxtermami,  ein  früh  gestorbner  begab- 
ter Dichter  Osnabrück's  in  seinem  Gedichte:  „Bischof  Benno " 
geschildert. 

Er  erzählt,  wie  eine  Hütte  auf  öder  Haide  den  in  Bettlertracht 
vermummten  Bischof  verborgen  habe;  bei  ihm  des  Landmanns: 

Zwei  kleine  Kinder,  hüpften,  ritten  jetzt 
Auf  seinen  Knieen  und  zerwühlten  ihm 
Den  krausen  Bart:  allein  er  spähte  wild 
Und  schrecklich  über  ihre  Spiele  weg.  — 
Die  Qual  von  giffgen  Herzenswunden  stand 
An  seiner  Stirn  mit  schwarzer  Schrift  gemalt, 
Wie  an  der  Stirne  des  Verzweifelnden, 
Der  tief  im  Busen  Selbstmord  überlegt. 


Der  unglücksel'ge  Benno!  wer  ihn  sieht, 
Verhöhnt  ihn,  denn  in  Bettlerkleidern  sucht 
Der  Aechter  fremde  Gauen,  unerkannt 
Zubleiben,  unverfolgt!  Wie  mancher  Wicht, 
Der  Aor  ihm  kroch,  als  noch  der  Sonnenschein 
Des  Glückes  hell  von  Heinrich's  Diadem 
Auf  seine  Freunde  niederglänzte,  stösst 
Verspottend  ihn  zurück  und  weigert  ihm 
Ein  Stückchen  trocknen  Brod's.    Wir  w'erden  ihn 
Auf  dieser  Erde  niemals,  er  wird  nie 
Die  Berge  seines  Landes  wiederschaun, 
Denn  alles  ist  ja  päbstisch  um  uns  her. 

Trotz  dem  erscheint  Benno  in  Pilgertracht  auf  der  Burg  eines 
Freundes  und  bittet  beim  Scheiden: 

Nur  ein's  noch!    Führt  mich  Euren  Thurm  hinan, 
(Man  sieht  von  Eurem  Thurm  doch  Osnabrück  ?) 
Dass  ich  noch  einmal  meine  —  meine  Stadt 
Noch  einmal  sehe!  — 

Knabe. 
Werft  das  Fenster  offen; 
Die  Burg  Hegt  hoch.    Seht  da  die  liebe  Stadt  f 

Benno. 
In  diesem  schonen  Thal!  — 
Wie  schön  sie  daliegt,  von  dem  Sferbeglanz 
Des  Tags  verklärt!    Wie  mancher  Edle  dort 
Der  einst  mit  stolzer  Wonne  mir  sein  Herz 
Entgegen  trug  und  noch  an  seiner  Thür 


—      104       — 

Mit  Freuden  laich  empfinge!  —  Lebe  wohl 
Mit  deinen  guten  Bürgern,  gute  Stadt!  — 
Leb  wohl!    und  wenn  des  grossen  Vaters  Ohr 
Der  Väter  letzte  Wünsche  gnädig  hört! 
So  schwebe  stets  mein   Segen  wie  der  Herbst 
Mit  nie  erschöpftem  Füllhorn  über  dir! *} 

Benno  ist  der  Erbauer  des  Schlosses  und  der  Gründer  der 
Benediktiner- Abtey  Iburg,  die  auf  den  Grundmauern  eines  säch- 
sischen, von  Karl  dem  Grossen  zerstörten  Castell's  steht:  von 
Benno's  Werk  jedoch  ist  keine  Spur  mehr  übriggeblieben,  seine 
eigne  Wohnung,  der  Bennothurm,  Avard  gegen  das  Ende  des  vo- 
rigen Jahrhunderts  abgebrochen.  Das  jetzige  Schloss  ist  im  neu- 
eren Kloslerstyle  gebaut.  Im  Jahre  1070,  am  Clemenstage,  ward 
der  Altar  der  kleinen  hölzernen  Kapelle  eingeweiht,  welche  zu- 
erst, nachdem  man  das  Gestrüpp  ausgerodet,  das  die  Trümmer 
der  alten  Sachsenfeste  überwucherte ,  in  Eile  aufgezimmert  wurde. 
Die  rasche  Vollendung  des  Werkes  jedoch  hinderte  lange  Benno's 
Entfernung  aus  seinem  Stifte:  erst  als  Gregor  YII.  1085  zu  Sa- 
lerno  verschieden  war,  durfte  der  Bischof  wagen,  zurückzukeh- 
ren und  seine  Iburg  auszubauen,  die  durch  den  Einsturz  ihrer 
ersten  Structuren  ihm,  dem  geschickten  Baumeister,  dem  Wie- 
derhersteller des  Speyrer  Dom's ,  wenig  Ehre  gemacht  hatte.  In 
dem  Altar  der  neuen  Klosterkirche  Hess  er  eine  Höhlung  anbrin- 
gen wie  sie  der  Hochaltar  der  Kathedrale  zu  Brixen  hat:  vor 
dem  hatten  Kaiser  Heinrich's  Bischöfe,  Deutsche  und  Italienische, 
Pabst  Gregor  seiner  Würde  entsetzt ;  Bischof  Benno  aber  war  in 
die  Höhlung  geschlüpft,  als  er  seine  Stimme  mit  ihnen  gegen 
seinen  und  der  Christenheit  Oberhirten  erheben  sollte.  Als  der 
Akt  vorüber  war,  sass  Benno  wieder  auf  seinem  Platze,  als  ob 
er  nicht  von  der  Stelle  gewichen  sei:  —  eine  Handlung,  von  der 
wir  kaum  begreifen,  wie  der  edle  Bischof  ihr  ein  solches  Denk- 
mal setzen  mochte.  Wo  jetzt  das  Städtchen  Iburg  den  Berg  sich 
bis  an  die  Thore  der  Abtei  hinaufzieht ,  lag  schon  vor  deren 
Gründung  ein  Ort,  welchen  eine  Matrone  Azela  bewohnte,  die 
mit  frommer  Liebe  an  dem  Bischof  hing.  Sein  Biograph  Norbert, 
Ibura's  erster  Abt,  hat  uns  die  Worte  aufbewahrt,  mit  welchen 


*)  Broxtermann's  Gedichte,  Münster  1794.    „Bischof  Benno"  entstand  im 
sechszehnten  Lebensjahre  des  Dichters. 


—      105      — 

er  auf  ihr  dringendes  Verlangen ,  an  sein  Sterbelager  treten  zu 
dürfen,  antwortete:  eam  se  videlicet  malle  in  futuro  videre  sae- 
culo;  ubi  sincere,  secure  et  jucundius  mutuo  fruerentur  aspectu, 
quicunque  se  hie  invicem  in  Christo  piintate  castcie  caritatis 
amassenf. 

Benno  starb  im  Jahre  1088  auf  seinem  Thurme  zu  Iburg. 
wo  er  die  letzten  Tage  seines  Lebens  einsam  ausgerulit  hatte  von 
all  den  Mühen  seiner  Fahrten  und  Züge  durch  Deutschlands 
Wälder,  durch  die  Schluchten  der  Alpen  und  der  Appeuiuen ,  durch 
Syriens  Wüsten  und  die  staubigen  Flächen  Palästinas :  denn  auch 
nach  Jerusalem  und  dem  gelobten  Lande  hatte  sein  reiches  Le- 
ben ihn  geführt  —  und  wie  sollte  es  nicht,  da  es  ihm  so  oft 
seine  Golgalhahöhen  gewiesen? 

Nach  Benno's  Tode  hob  sich  seine  Stiftung  um  so  rascher, 
als  ihre  schöne  Lage  sie  zum  Lieblingssitze  der  Bischöfe  Osna- 
brück's  machte ,  bis  Ernst  August  L  von  Braunschweig-Lüueburg 
1680  das  Schloss  zu  Osnabrück  baute  und  dorthin  seine  Resi- 
denz verlegte.  Jetzt  Sitz  einer  Königlichen  Behörde  bieten  ihre 
Gemächer  nichts  Sehenswerthes  mehr  da,  als  die  Bilder  der  Os- 
nabrückischen Fürsten,  welche  um  1653  von  dem  Römer  Yitus 
Andreas  Aloysius  gemalt,  aber  eben  keinen  besondern  Kunstwerth 
besitzend,  den  grossen,  etwas  verwahrlosten  Saal  schmücken, 
dessen  Fenster  zugleich  eine  weite  schöne  Aussicht  bieten.  Aber  zu 
einer  bessern  Rundschau  lockt  uns  ein  mehr  verheissender  Punkt, 
die  höchste  Spitze  des  ganzen  Gebirgszuges,  der  1092  Fuss  über 
der  Meeresfläche  erhabene  Dörenberg.  Nur  durch  ein  schmales 
Thal  von  dem  Schlossberge  von  Iburg  getrennt,  schützt  gegen 
den  Nord  der  Dörenberg  die  hellen  ^lauern  der  Abtei,  die  wie 
eine  blanke  Gürtelspange  an  der  Glitte  seines  Riesenleibes  den 
fernen  südlichen  'Thalbewohnern  prangen.  Der  jähe  Steg  führt 
durch  dichtes  Unterholz  von  weissstämmigen  Birken  und  schlan- 
keren Buchen  auf  den  Gipfel ,  den  eine  Pyramide  bezeichnet. 
Dort  lacht  ein  Panorama  vor  uns  auf,  wie  wir  noch  keines  von 
solcher  unbegränzten  Ausdehnung  gesehen.  Osnabrück  reckt  wie 
in  nächster  Nähe  vor  uns  aus  seinem  Hasethal  die  Kuppel  des 
Domes  und  das  hohe  kraftwüchsige  Gethürm  wie  in  die  Wette 
mit  seinem  freundlichen  Gartenträger  Gertrudenberg  empor:  uns 
näher  rechts  die  dunkeln  Mauern  des  kleinen  Frauenklosters 
Oesede,  dann  Borgloh,  weiter  Melle,  in  blauer  Ferne  verschwim- 

8 


—      106      — 

mend  der  Dümmersee;  gen  Osten  die  ganze  Gebirgskette  bis  zur 
Weserscharte  liin ,  unten  Dissen  mit  dem  hohen  kegelförmigen 
Freden,  der  die  Salinen  von  Rothenfelde  überragt,  weiter  hinauf 
die  Ruinen  des  Ravensberges :  gen  Süden  und  Südwesten  die 
sparsamer  bebauten  Flächen  des  Kern's  von  Westphalen,  der  von 
den  Thürmen  von  Münster  bezeichnet  wird,  begränzt  von  den 
Gebirgen  der  Ruhr :  nach  Westen  endlich  dehnt  ein  niederer  Hö- 
henzug sich  aus,  um  als  Endpunkt  die  Trümmer  der  Tecklen- 
burg  zu  zeigen,  immer  mehr  verflacht  noch  einmal  unter  dem 
Schlosse  von  Bentheim  sich  aufzuraffen  und  dann  völlig  in  der 
grossen  nördlichen  Abdachung  zu  verschwinden. 

Vor  Allem  zieht  der  alte  Bischofssitz  Osnabrück  hier  unsre 
Blicke  auf  sich.  In  einem  breiten  von  der  Hase  durchschlängel- 
ten Thale  zieht  die  endlos  lange  Hauptstrasse,  die  fast  den 
ganzen  Ort  bildet,  von  Süden  nach  Norden  sich  bis  an  den  Fuss 
der  unbeträchtlichen  Höhe,  welche  die  Gebäude  des  ehemaligen 
Frauenstifts  zum  Gertrudenberg  trägt:  mehr  schmuck,  reinlich 
und  hell  als  grosstädtisch ,  überragen  ihn  doch  vier  Kirchen,  die 
das  Moment  des  Imposanten  einer  alten  geschichtlich  denkwür- 
digen Stadt  auf's  würdigste  vertreten;  auch  das  Waterloo-Thor, 
ein  Denkmal  der  in  der  Schlacht  Gefallenen,  die  Statue  Möscr's, 
das  geräumige  fürstbischöfliche  Schloss  sind  Zierden,  wie  eine 
Landstadt  sie  nicht  besitzt. 

Das  Bisthum  Osnabrück,  (Osenbrügge,  wohl  ursprünglich 
die  Hase -Brücke,  woraus  die  fränkische  Aussprache  den  jetzt 
gebräuchlichen  Namen  bildete,)  verdankt  seine  Entstehung  Karl 
dem  Grossen,  dessen  hoher  sclnverer  Stab,  eine  Flisenstange 
umgeben  von  den  Ringen  einer  gewalligen  Schilfpflanze ,  noch 
jetzt  in  dem  Dome  gezeigt  wird.  Früher  hatte  Bernhard,  der 
Apostel  dieser  Gegenden  auch  hier,  im  Gau  Tregwithi,  das 
Christen thum  gepredigt  und  eine  Kapelle  errichtet;  Karl  erhob 
sie  783  nach  seinem  grossen  Siege  an  der  Hase  zur  Münster- 
kirche und  sein  Feldbischof  Egilfried  von  Lüttich  weihte  den 
ersten  Altar  des  erweiterten  Gotteshauses ,  dem  heiligen  Petrus 
das  Stift,  den  heiligen  Crispin  und  Crispinian,  welche  zu  Sois- 
sons  die  Märtyrerpalme  erworben  haben  sollen,  den  Altar  zum 
Schutze  anbefehlend.  Der  erste  Bischof  war  ein  Zögling  der 
damals  berühmten  Schule  zu  Utrecht  und  hiess  Wiho ,  wahr- 
scheinlich  englischer   Abstammung;    eine  Schule   für  lateinische 


—       107       — 

und  griechische  Sprache  ward  mit  der  neuen  Stiliuug  verbunden 
und  das  „Carolinum"  Osnabrücks  ist  stolz  auf  seinen  mehr  als 
zwölfhundertjährigen  Bestand.  Nach  dem  Falle  Heinrichs  des 
Löwen  erscheinen  die  Bischöfe  zuerst  mit  der  weltlichen  Juris- 
diktion belehnt,  als  Fürstbischöfe.  Der  Westphälische  Frieden, 
der  in  dem  „Friedenssaale"  des  Rathhauses  mit  den  Gesandten 
Schwedens  hier  geschlossen  wurde,  gab  dem  Hause  Braunschweig- 
Lüneburg  das  Recht,  den  fürslbischöflichen  Stuhl,  abwechselnd 
mit  einem  katholischen  Prälaten ,  zu  besetzen.  So  wurde  der 
letzte  Herzog  von  York  mit  der  Inful  von  Osuabrück  bekleidet, 
als  er  sieben  Monate  alt  war,  und  Sterne  konnte  desshalb  zwei 
Jahre  später  ein  Buch  ihm  „Dem  Hochwürdigsten,  in  Gott 
Vater,  (nur  drei  Jahre  alt}  u.  s.  w."  widmen.  — 

Im  Jahre  1100  brannte  die  Domkirche  ab  sammt  der  Burg 
des  Bischofs  Wieho  H.,  der  nun  den  Bennothurm  in  Iburg  bezog 
und  so  den  Anfang  zu  der  Residenz  der  spätem  Bischöfe  in 
diesem  Kloster  machte.  Sein  Nachfolger  Johann  I.  erbaute  bis 
zum  Jahre  1107  die  jetzige  Cathedrale  in  schwerfälligem  vor- 
gothischem  Style ;  das  Innere  hat  sich  seine  byzantinischen 
Strukturen  von  einer  Restauration  im  Geschmacke  des  siede  de 
Louis  XIV.  verzieren  lassen  müssen,  und  entbehrt  dadurch  ganz 
eines  grossartigen  Totaleindrucks.  Die  beiden  Thürme  von  un- 
gleicher Höhe  und  Dicke  wurden  einige  Jahrzehnte  später  von 
Bischof  Udo  von  Steinfurt  errichtet.  Das  Collegiatstift  und  die 
schöne  Kirche  zum  heiligen  Johannes  dem  Täufer  in  der  jetzigen 
Neustadt,  verdanken  ihre  Entstehung  (1011)  dem  gelehrten  Bi- 
schof Detmar,  der  auch  eine  Bibliothek  bei  der  Domkirche  an- 
legte und  mit  eigner  Hand  fünfzig  Bücher  dafür  schrieb. 

Es  knüpft  sich  mancher  berühmte  oder  ruhmwürdige  Name 
an  die  Stadt:  zuerst  der  Rudolphs  von  Benninkhaus  ,  des  West-, 
phälischen  Hans  Sachs,  der  hier  im  sechszehnten  Jahrhundert 
in  37  Komödien  dem  Geschmacke  und  derben  Witze  seiner  Zeit 
huldigte:  dann  der  Hamelmami's,  welcher  zu  Osnabrück  geboren, 
als  eifrig  für  das  „evangelium  renatum"  wirkender  Superintendent 
in  Oldenburg  ausführlich  die  Reformationsgeschichte  fast  jeder 
Weslphälischen  Stadt  geschrieben,  und  dadurch  eine  Hauptquelle 
für  unsere  historische  Forschung  geliefert  hat.  Der  Abt  Jerusa- 
lem ward  1709  in  Osnabrück  geboren;  neben  dem  "oben  erwähn- 
ten Broxtermann  ist  der  ältere  Dichter  von  Bar  zu  nennen ,   der 

8* 


—      108      — 

durch  Epitres  dwerses  im  Geschmack  der  französichen  Literatur 
zur  Zeit  Friedrich's  des  Grossen  berühmt  wurde.  —  In  den 
zwanziger  Jahren  des  vorigen  Jahrhunderts  wurden  einem  hoch- 
gestellten Beamten  Osnabrücks  zwei  Knaben  geboren,  welchen 
mehr  jedoch  als  allen  diesen  Genannten  gegeben  war  ,  um  der 
Stolz  ihrer  Vaterstadt  zu  werden;  aber  ihre  Wege  liefen  wunder- 
bar auseinander ,  und  während  der  eine  zu  einem  glänzenden 
Ziele  gelangte ,  welches  eine  bronzene  Kuhmessäule  bezeichnet, 
ist  des  andren  Namen  verschollen  und  verklungen.  Der  älteste 
lief,  als  er  ein  draller  Junge  geworden  war,  eines  schönen 
Morgens  in  die  weite  Welt,  um  sein  Glück  darin  zu  suchen,  und 
kam  bis  nach  Münster;  aber  als  das  erste,  was  die  weite  Well 
ihm  bot,  sich  als  ein  Siebenpfennigstück  auswiess,  so  ein  Dom- 
herr ihm  schenkte,  nebst  einem  Ei  mit  etwas  erbetteltem  Brode, 
das  eine  ihm  begegnende  Vagabundin  mit  ihm  theilte,  da  ging  er 
nach  Hause  zurück  und  stiftete  mit  zwei  andern  Jungen  eine  ge- 
lehrte Gesellschaft.  Der  jüngere  Bruder  wanderte  weiter:  er 
studirte  in  Jena  so  viel  Schulden  zusammen,  dass  es  ihn  aus 
dem  Musensitze  in  die  völlige  Barbarei  trieb  ;  die  Folgen  seiner 
academischen  Bestrebungen  um  die  Gelehrsamkeit  des  Rechts 
führten  ihn  in's  schreiendste  Unrecht,  in's  Land  des  Corsaren- 
nährendcn  Tripolis.  Unterdess  beschäftigte  der  ältere  Bruder 
sich  daheim  mit  Patriotischen  Phantasien.  Jener  speculirte  auf 
Sklavenhandel  und  trieb  sich  auf  dem  Bazar  des  Dey's,  unter 
den  grimmen  flammigwilden  Scheik's  umher.  Dieser  sass  zu 
Hause  voll  stiller  Verehrung  zu  den  Füssen  der  geistreichen  De- 
moiselle  de  Bar,  und  hörte  ihr  bildendes  Gespräch  über  die 
Epitres  diverses  ihres  Herrn  Vaters,  über  die  Marquise  du  Cha- 
telet,  über  St.  Evremont  und  die  Gottschedin  an,  und  was  die 
Verehrungswürdige  sonst  auf's  Tapet  bringen  mochte,  um  einen 
talentvollen  jungen  Menschen  zu  decrassiren:  oder  er  las  ihr 
seine  regelrechte  Tragödie  Arminius  in  klingenden  Alexandrinern 
vor.  Der  jüngere  verlegte  sich,  als  es  mit  dem  Tripolitanischen 
Handel  nicht  kleckte,  auf  die  Alchymie  und  suchte  den  Stein 
der  Weisen;  der  ältere  fand  das  Gold;  er  schüttelte  es  in  gedie- 
genen Körnern  aus  dem  Staube  alter  Pergamente,  schmolz  die 
einzelnen  Körner  zusammen,  setzte  das  Gepräge  seines  Geistes 
darauf  und  hinterliess  seiner  Vaterstadt  den  goldnen  Schatz,  die 
„Osnabiiickische   Geschichte".   —    Der  jüngere    kehrte    endlich 


—      109      — 

zerschlagen  heim,  und  im  Grimm  darob,  dass  der  Stein  der 
Weisen  ihm  entgangen  war,  hielt  er  sich  an  die  Thoren,  und 
schrieb  ihre  Thaten  auf,  in  hohen  Aktenstüssen ,  Beiträge  zur 
Geschichte  des  modernen  Faustrechts,  wie  sein  Bruder  das  mit- 
telaltrige  beschrieben  hatte.  Sie  haben  keine  Leser  gefunden 
bis  jetzt,  die  ein  andres  Votum  als  das  auf  Pranger  und  Galgen 
darunter  gesetzt  hätten,  und  harren  desshalb  auf  die  poetische 
Verklärung  durch  den  Moderglanz  der  Jahrhunderte,  in  der  Re- 
gistratur des  peinlichen  Gericht's  zu  Osnabrück.  Denn  Johannes 
Zacharias  Moser  endete  als  Criminal  -  Actuar  und  ward  1767  ad 
acta  gelegt,  Justus  aber,  sein  älterer  Bruder,  steht  auf  der  Dom- 
freiheit in  glänzendes  Erz  gegossen  und  ist  der  Westphälische 
Franklin,  der  grosse  Mann  von  Osnabrück  geworden. 

Justus  Möser's  Verdienste  und  geistige  Thaten  zu  analysiren, 
ist  Aufgabe  der  deutschen  Culturgeschichte  geworden;  sie  hat 
zu  zeigen ,  wie  er  vom  Besondren  zum  Allgemeinen ,  vom  Ver- 
einzelten zur  grossartigen  Ueberschau  ausgehend  ^  die  gediegen- 
sten Resultate  für  praktische  Lebensweisheit  und  Politik,  für 
Legislation  und  Erziehung  gewann,  und  durch  seine  Entwick- 
lungen, welche  von  dem  Festen,  Gegebenen  aus,  durch  die 
sichere  Folgerung  hindurch,  zur  allgemeinen  AVahrheit  kommen, 
der  Gründer  deutscher  Staatsweisheit  ward.  Die  Statue,  welche 
ihm  1836  seine  Vaterstadt  errichtet  hat,  gibt  die  Züge,  die  hohe 
klare  Stirn ,  die  gebogene  edelgeformte  Nase,  den  geschlossenen, 
von  Energie  sprechenden  Mund  mit  der  geistreich  schmalen  Ober- 
lippe des  Repräsentanten  des  „tüchtigen  Menschenverstandes"  in 
gelungener  Aehnlichkeit  wieder.  Unbedeckten  Hauptes ,  in  der 
linken  Hand  eine  Pergamentrolle,  die  rechte  wie  lehrend  gehoben, 
ist  die  Gestalt  ein  schönes  Denkmal  moderner  Plastik;  das  ge- 
schmacklose Costüm  des  vorigen  Jahrhunderts  bedeckt  ein  fal- 
tenreicher Mantel,  der  dem  ganzen  Bilde  etwas  priesterhaft  Ehr- 
würdiges gibt.  —  Es  ist  von  dem  Bildhauer  Drake  in  Berlin 
unter  Rauch's  Leitung  modellirt  und  gegossen. 

Die  alten  Befestigungen  von  Osnabrück  sind  in  Spaziergänge 
umgewandelt,  die  besonders  nach  Süden  und  Westen  hin  eine 
schöne  Aussicht  auf  reiche  Gartenanlagen  umher  und  die  fernen 
bewaldeten  Berge  gewähren;  unter  den  wenigen  Thürmen,  die 
sich  noch  erhalten  haben,  ist  einer,  der  „Bock"  merkwürdig 
als  Gefängniss  eines  Grafen  von  der  Lippe  und  bald  darauf  eines 


—      110      — 

Grafen  von  Hoya,  die  im  vierzehnten  Jahrhundert  in  seine  Ver- 
liesse  gesperrt  wurden:  die  Sage  erzählt,  es  sei  ein  Graf  von 
Tecklenburg  darin  bestrickt  gewesen  und  weiss  nach  alter  Chronik 
das  folgende : 

Einst  nach  langer  Fehde  hatte  der  Graf  von  Tecklenburg 
mit  den  Osnabrückern  Friede  geschlossen  und  sandte  wöchentlich 
einen  Diener  mit  einem  Esel  in  die  Stadt,  um  den  Fleischvor- 
rath  für  seine  Burg  zu  holen.  Nun  liess  er  eines  Tages  den 
Metschern  sagen ,  der  festgesetzte  Preis  für  ihre  Waare  sei  zu 
hoch  und  er  wolle  diese  jetzt  um  ein  gewisses  weniger,  das  er 
von  dem  mitgesandten  Gelde  abgezogen  hatte.  Die  Metscher  von 
Osnabrück  aber  waren  grobe  Leute  in  jener  Zeit;  sie  schlugen 
den  unglücklichen  Träger  der  Botschaft  todt  und  packten  seine 
zerhauenen  Glieder  in  die  Tragkörbe  des  Esels,  der  ruhig  den 
gewohnten  Weg  nach  seinem  Stalle  heimwanderte.  Als  der  Graf 
von  Tecklenburg  nun  das  Unheil  erkannte,  das  dem  Boten  wi- 
derfahren, der  zwar  nur  Leibeigner,  aber  doch  sein  Diener  war, 
und  vollends  als  er  am  Sonntage  keinen  Braten  auf  seiner  Tafel 
hatte,  ergrimmte  er  und  rief  seine  Vasallen  zur  Fehde  auf.  Die 
Städter  aber  hatten  einen  Hinterhalt  gelegt,  sie  schlugen  seine 
Schaaren  und  bekamen  ihn  selbst  gefangen.  Da  haben  sie  ihn 
in  einen  eisernen  Käfig  gesteckt,  in  dem  er  weder  liegen  noch 
stehen  konnte  und  ihn  acht  Jahre  lang  in  einem  düstern  Thurme 
so  peinvoll  schmachten  lassen,  bis  er  sich  lösen  konnte  mit  drei 
ganz  blauen  Windhunden,  drei  Rosenstämmen  von  gewisser  Höhe 
ohne  Dorn,  und  einem  Scheffel  voll  ganz  seltener  Münzen.  Dies 
wurde  beschafft ,  obwohl  sie  '  es  nur  zum  Spotte  als  Lösegeld 
gefordert  hatten;  die  Windhunde,  nachdem  man  die  blaugefärbten 
Alten  in  ein  blaues  Zimmer  eingesperrt  und  nur  mit  blauen 
Speisen  gefüttert  hatte ;  die  Rosenstöcke  waren  durch  Glasröhren 
geleitet  worden  und  die  seltenen  Groschen  nah  und  fern  gesam- 
melt. Da  wurde  der  Graf  nach  beschworener  Urfehde  entlassen; 
doch  hat  er  sich  später  blutig  gerächt ;  der  Käfig  und  der  Thurm 
aber  werden  noch  gezeigt. 

Diese  Erzählung  leitet  uns  hinüber  nach  dem  einige  Stunden 
westlich  von  Osnabrück  liegenden  Tecklenburg,  dem  Sitze  eines 
ausgestorbenen,  einst  mächtigen  und  kriegerischen  Dynastenge- 
schlechls,  der  Grafen  von  Tekeneborg,  oder  Tecklenburg,  die 
im  Mittelalter  Schirmvögte  der  Bisthümer  Münster  und  Osnabrück 


—    111    — 

waren.  Es  ist  ein  neuer  lomantisclier  Punkt  mit  hochgelegenen, 
doch  sehr  zerstörten  Burgtrümmern  und  einem  Städtchen,  das 
sich  an  den  Hügel  lehnt,  worauf  die  Ruinen  nach  allen  Seiten 
hin  über  Münster,  Osnabrück  und  Bentheim  hinausschauen, 
über  ein  bewaldet  hügelichtes  oder  ebenes,  hier  und  da  von 
Halden  und  Sandflächen  durchflecktes ,  von  Kiefernhainen  ver- 
düstertes Land,  an  dessen  Horizont  fernste  Gebirge  im  Ravens- 
bergischen  und  der  Ruhrgegend  mit  blau  verdämmernden  Wellen- 
linien oder  leis  wie  geträumte  Wolkengebilde  heraufduften. 

Die  Trümmer  des  Tecklenburger  Schlosses  deuten  auf  einen 
ungewöhnlich  grossen  Raum,  den  es  umfasst  haben  muss ;  doch 
ist  nur  das  Portal,  v/elches  nach  Norden  hin  den  Eingang  bildete, 
fast  unversehrt  erhalten  w^orden:  über  demselben  reihen  sich  die 
Wappenschilder  der  fürstlichen  Geschlechter  von  Sachsen,  Hessen, 
Barby,  Brandenburg,  Schwerin  u.  s.  w. ,  mit  denen  das  erlo- 
schene Dynastenhaus  verwandt  geworden,  aneinander.  Von  diesem 
Portal  aus  sieht  man  unter  sich  das  Städtchen  Tecklenburg  wie 
ein  Schwalbennest  an  die  abschüssige  Bergwand,  unter  den 
schirmenden  Sims  der  Burg  hingekittet;  weiter  hinüber  nach 
derselben  Seite  hin  den  ziemlich  jähen  Schafberg,  der  Kohlen- 
flötze  im  Innern  birgt,  und  an  seiner  westlichen  Wurzel  das 
Städtchen  Ibbenbüren,  dann  unfern  davon,  im  Schoose  dichter 
Waldungen  das  ehemalige  Kloster  Gravenhorst,  wo  jetzt,  statt 
der  Busspsalmen,  die  Gluten  der  Schmelzöfen  das  Eisen  in  Guss 
lodern:  nah  unter  uns  taucht  aus  den  grünen  Buchenwipfeln 
des  Forstes  Sundern  das  Dörfchen  Ledde  mit  seinem  Kirchthurm, 
wie  ein  Schilf  mit  bewimpeltem  Mast  aus  grüner  Meerfluth,  auf. 
Rechts  vom  Schafberge  nach  Osnabrück  hin  liegt  das  Halerfeld, 
eine  stundenlange  Haide ,  auf  welcher  Heinrich  der  Löwe  den 
Grafen  Simon  IL  von  Tecklenburg  und  seine  verbündeten  Ghibel- 
linen  zu  vielen  Tausenden  bestrickte  oder  erschlug.  In  einer 
Senkung  des  Schlachtfeldes  liegen  gewaltige  Granitblöcke  doppell 
gereiht  neben  einander ,  und  auf  den  paarweise  zusammenge- 
stellten Colossen  lastet  eine  noch  gewaltigere  Masse :  es  sind 
die  „Slopsteine",  Schlafeswächter  für  den  Helden,  der  sich  hier 
gebettet  haben  mag ;  ein  Heidenkönig ,  sagt  das  Volk ,  ruhe  in 
goldenem  Haushalt  (Sarge)  unter  den  Steinen.  Des  Nachts  er- 
glühen sie  und  stehen  wie  riesige  Geisterlampen,  dem  auf- 
stehenden König   sein  nächtlich  Schaffen  zu  beleuchten  auf  der 


—      112       — 

dunklen  Haide.  Ein  Zauber  machte  es  unmöglich,  sie  zu  zählen. 
Der  Zauber  muss  jetzt  gewichen  sein,  denn  man  bringt  mit 
leichter  Mühe  die  Zahl  54  heraus.  Es  ist  eines  jener  vorchrist- 
lichen Denkmale,  die  man  im  nördlichen  Westphalen  so  häufig 
findet  und  Hiiiiensteine  nennt,  Opferaltäre  und  Fana  der  Germanen, 
früher  von  der  heiligen  Siebenzahl  alter  Eichen  und  Buchen 
tiberschattet,  jetzt  meist  auf  nackter  offner  Haide  den  einsamen 
Hirten  gegen  den  Windzug  beschützend ,  der  über  die  Fläche 
durch  das  braune  Haidkraut  pfeifft  und  lispelnd  die  Halme  des 
Sandhafers  biegt,  eine  graue  Staffage  in  ein  nebelhaft  farbloses 
Bild  Ossianscher  Poesie.  — 

Schreiten  wir  vom  nördlichen  Portale  der  Burg,  zu  den 
verlassenen  Höfen,  wo  verwittertes  Gemäuer  nicht  einmal  mehr 
den  Plan  der  grossen  Feste  andeutet,  von  der  ein  alter  Geschicht- 
schreiber über  „des  heil.  Rom.  Reichs  uralte  hochlöbliche  Graff- 
schaft  Tekelenburg"  folgende  Beschreibung  macht :  In  den  mit- 
telsten Wall  ist  zu  sehen  der  grosse  fünfkantige  Thurn,  ist  ein 
gar  altes  rares  und  ungewöhnliches  Gebäw ,  so  in  gantz  Teutsch- 
land, Italien  und  Frankreich  nur  zwo  seines  Gleichen  haben  soll, 
dessen  oberster  Theil  heutiges  Tages  den  ordentlichen  Hochgräffl. 
Musicis  und  dem  Uhrwerk  zum  Gebrauch :  der  mittelste,  zur  Ver- 
wahrung Kraut  und  Loht's,  der  unterste  Theil  aber  denen  grossen 
Uebelthätern  zur  Gefängniss  verordnet,  —  Daselbst  ist  auch  zu 
beobachten  der  Unter -Erdische  Gang,  mit  einerstarken  eisernen 
Thüren  verwahrt,  so  tieff,  räum  und  weit,  dass  ein  Reuter  ge- 
mächlich hindurch  reuten  kann :  der  Eingang  desselben  ist  zwar 
bekannt,  der  Ausgang  aber  ist  Niemand  bewusst,  nur  dass  auff 
einem  bey  die  zwo  Meilen  abgelegenen  Berg  eben  ein  solcher 
Gang  ist,  welcher  mit  diesem  übereinkommen  soll.  Den  Weg 
der  sonsten  stracks  auffs  Schloss  hinauff  gegangen,  hat  die 
Hochgeborene  Gräfin  Anna,  Christmilter  Gedächtnis,  zwischen  die 
hohe  Mauern  umb  den  Wall  herum  machen  und  verordnen  lassen: 
der  dann  erstlich  hinauf  führet  zum  Gerichthause,  darin  das 
Hoff-  und  Nieder -Gerichte  zu  gewisser  Zeit  gehalten  wird,  da- 
gegen über  die  grosse  Linde  mit  Mauren  rings  umgeben  stehet, 
darunter  den  Uebelthätern,  so  vom  Leben  zum  Tod  hingerichtet 
werden  sollen,  das  Endurtheil  gesprochen  und  vorgehalten  wird: 
Ferner  zur  Hameyen  und  so  durch  das  herrliche  neuauffgebawte 
und  schön  gewölbte  Thor  auf  den  Unterplatz  (alda  das  Bawhauss, 


—      113      — 

Mahrställe  u.  s.  \v.  ihren  Ort  haben)  dann  fort  über  die  Brucken 
durch  ein  Gewölb,  so  über  sich  die  Cantzeley  traget  auff  den 
Oberplatz,  da  dan  das  rechte  Castehl  und  die  mit  Tapeten,  ver- 
güldeten  Ledder  auch  sonsten  mit  gar  schönen  Gemälden  und 
Schildereyen  wolgezierte  Gemächer  besehens  wehrt  seyn.  —  Im 
herunter  spatzieren  vom  Castehl  gehet  man  auf  die  linke  Hand 
durch  ein  hoch  Thor  auff  den  Hagen  alwo  der  Renn-  und  Reit- 
platz: Item  der  schöne  grosse  Kraut- und  Lustgarten  mit  schönen 
Lauben  und  Lusthäusern  geziert,  wie  dann  auch  des  Eltisten 
Fräuleins,  Fr,  Sophiae  Agnes  Hochgräffl.  Gn.  besonderer  Kraut- 
Baum-  und  Lustgarten  ihren  recht  wolverordneten  anmühtigen 
und  lustigen  Ohrt  haben. 

Diese  ganze  Hochgräffl.  gnädigst  wolverordnete  anmühtige 
Gebäwherrlichkeit  liegt  zerstört,  und  gestattet  uns  auch  nach 
Süden  hin  einen  ungehemmten  Blick  in  die  mit  überraschender 
Schönheit  vor  uns  auflachende  Landschaft.  Tecklenburg  liegt  wie 
auf  der  Handwurzel  des  Armes,  den  des  Teutoburger  Waldes 
Riesenleib  nach  dem  Meere  im  Westen  ausstreckt,  ohne  es  er- 
reichen zu  können,  wie  er  auch  die  langen  Finger  über  die 
Haide  legt  und  reckt.  Man  sieht  dem  gigantischen  Zeigefinger 
von  der  Südseite  des  Burghofes  bis  über  das  Dorf  Brochterbeck 
hinaus  nach ,  w^o  die  übereinandergelhürmten  Felsmassen  des 
Königssteins  liegen,  w^elchem  der  alte  Blücher  einst  seinen  Namen 
einhauen  Hess ;  im  nächsten  Vordergrund  vor  uns  liegt  der  ge- 
waltige Daumen,  eine  Bergwand,  die  man  den  Klee  nennt;  im 
Räume  zwischen  ihm  und  der  Tecklenburg  grünt  ein  liebliches 
Thal  mit  den  Edelhöfen  Mark  und  Hülfshoff,  von  einem  Bache 
durchschlängelt ,  der  sieben  Mühlen  treibt.  Jenseits  des  Klee 
schaut  wie  ein  dunkler  Kern  aus  den  grünen  Wald-  und  Fluren- 
hülsen der  Flecken  Lengerich  herauf,  in  dessen  Pfarrkirche  von 
Osnabrück  und  Münster  her  die  Gesandten  des  Westphälischen 
Friedens  zu  gemeinsamen  Berathungen  zusammen  kamen:  der 
päpstliche  Legat  Chigi  (später  Papst  Alexander  VHJ  rcsidirte 
dort:  man  erzählt  noch  seinen  Ausspruch,  als  man  ihm  den 
Stolz  des  Ortes,  das  Kräuterbier  ,,  Gräsing"  crendenzte:  adde 
purum  sulphuris  et  erit  potus  infernalis.  — 

Das  Geschlecht  der  Grafen  von  Tecklenburg,  deren  Stamm- 
baum Gobbo ,  Kaiser  Ludwigs  des  Deutschen  Grafen  in  diesen 
Gegenden  und  Ileerbannsführer  in  der  unglücklichen  Normannen- 


—      114      — 

Schlacht  bei  Ebsstorf  im  Liuicburgischen  (880),  als  ersten  Ahnen 
nennt ,  war  lange  Zeit  das  Einflussreichste  und  mächtigste  West- 
phalens.  Aber  innere  Zerwürfnisse,  und  besonders  der  Mangel 
an  einem  festen  Erbgesetze  für  die  Erstgeburt,  der  einzelnen 
Regenten  Unentschlossenheit  und  widrige  Geschicke,  die  es 
gewöhnlich  auf  die  Seite  der  schwächeren  Parthei  in  den  Ghi- 
bellinen-  und  Weifen-  oder  den  spätem  Religionskriegen  Deutsch- 
lands führten,  schwächten  es,  bis  es  sich  selbst  in  Erbstreitig- 
keiten aufrieb  und  im  Anfange  des  vorigen  Jahrhunderts  die 
Krone  Preussen  sich  die  Grafschaft  durch  Kauf  erwarb.  —  Den 
nördlichsten  Punkt,  wohin  unsre  Wanderung  uns  führen  soll, 
bilden  die  Dörenther  Klippen  bei  Ibbenbüren,  eine  in  wilden 
wunderbaren  Formen  aufeinander  gethürmte  Reihe  von  imposanten 
Felsmassen:  an  den  höchsten  und  am  auffallendsten  geformten 
dieser  Felsen,  das  „hockende  Weib"  knüpft  sich  eine  Sage,  in 
welcher  die  Erinnerung  an  die  vorgeschichtlichen  Erdrevolutionen 
nachklingt,  denen  alle  Bergformationen  ihre  Entstehung  verdan- 
ken. Einst,  als  das  hohe  Wasser  noch  die  Ebene  bedeckte, 
lebte  eine  arme  Frau  in  dieser  Gegend ,  deren  einziger  Reich- 
thum  zwei  fromme  Kinder  waren:  wie  sie  nun  eines  Tages  sitzt 
und  spinnt,  da  kommt  der  älteste  Bube  in  die  Hütte  gesprungen 
und  schreit:  das  Wasser,  das  Wasser!  sie  schaut  erschrocken 
hinaus  und  sieht,  wie  die  Fluth  sich  heran  wälzt,  bis  an  die 
Schwelle  schon  rauschend;  da  nimmt  sie  ihre  Kinder  auf  den 
Rücken  und  keucht  der  nächsten  Höhe  zu  —  die  Wogen  brausen 
ihr  nach,  sie  netzten  ihren  Fuss  —  schon  den  Saum  ihres  Klei- 
des —  da  sinkt  sie  in  die  Kniee  und  betet  um  ihrer  Kinder  Leben 
und  der  Herr  erhört  sie  und  verwandelt  sie  in  den  Felsen,  auf 
dessen  Rücken  die  Kinder  sicher  sind,  bis  die  Fluth  sich  wieder 
verlaufen  hat. 

Von  einem  der  Schlösser  und  Güter,  die  zerstreut  im  Teuto- 
burger  Walde  liegen,  erzählt  man  die  Geschichte  vom  blonden 
Waller,  der,  nachdem  er  mit  andren  Gästen  den  Abend  verzecht, 
in  einer  Nacht  graues  Haar  bekam.  Sie  mag ,  ehe  wir  das  Ge- 
birge verlassen,  in  poetischer  Gewandung  folgen. 

'ne  kleine  Burg  im  Walde  steht, 
So  recht  zusammen  fest  gebaut , 
Am  Thor  das  Feusterlein,  draus  spät 
Und^früh  der  Wächter  hat  geschaut; 


—      115      — 

Schiessscharten  lugen  rings  umher, 
Die  Brücke  wiegt  und  knarrt  im  Sturm, 
Und  in  des  Hofes  Mitte,  schwer, 
Plump  wie  ein  Mörser,  steht  der  Thurm. 

Da  siehst  du  jetzt  umhergestellt 

Manch  feuerrolhes  Ziegeldach, 

Und  wie  der  Stempel  steigt  und  fällt, 

So  pfeift  die  Dampfmaschine  nach  ; 

Es  rauscht  die  Form,  der  Bogen  schrillt. 

Es  dunstet  Scheidewassers  Näh, 

Und  iiber'm  grauen  Wappenschild 

Liesst  man:  Moniin  ä  papier.  — 

Es  war  tief  in  die  Nacht  hinein 
Und  draussen  heulte  noch  der  Sturm, 
Schnob  zischend  an  dem  Fenslerstein 
Und  drillt  den  Glockenstrang  am  Thurm; 
In  seinem  Bette  Waller  lag 
Und  las  so  scharf  im  Ivanhoe, 
Dass  man  gedacht,  bevor  es  Tag, 
Sei  England's  Königreich  in  Ruh. 

Er  sah  nicht,  dass  die  Kerze  tief 
Sich  brannt'  in  seiner  Flasche  Rand, 
Der  Talg  in  schweren  Tropfen  lief 
Und  drunter  eine  Lache  stand. 
Wie  träumend  hört'  er  das  Geknarr 
Der  Fenster,  vom  Rouleau  gedämpft, 
Und  wie  die  Thüre  mit  Geschnarr 
In  ihren  Angeln  zuckt  und  kämpft. 

Sehr  freut  er  sich  an  Bruder  Tuck  — 
Die  Sehne  schwirrt,    es  rauscht  der  Hain 
Da  plötzlich,  ein  gewalt'ger  Ruck, 
Und  hui,  die  Scheibe  klirrt  hinein: 
Er  fuhr  empor  —  weg  war  der  Traum  — 
Und  deckte  mit  der  Hand  das  Licht; 
Ha,    wie  so  wüst  des  Zimmers  Raum, 
Selbst  ein  romantisches  Gedicht! 

Der  Sessel  feudalistisch  Gold, 

Am  Marmortisch  die  Greifenklau, 

Und  über'm  Spiegel  flatternd  rollt, 

Ein  Banner,  der  Tapete  Blau; 

Im  Zug,  der  durch  die  Lücke  schnaubt, 

Die  Ahnenbilder  leben  fast 

Und  schütteln  ihr  behelmtes  Haupt 

Ergrimmt  ob  dem  plebejen  Gast. 


—      116      — 

Der  blonde  Waller  mogte  gern 

Sich  machen  einen  kleinen  Graus, 

So  nickt  er  spöttisch  gen  die  Herrn, 

Ais  fordert  er  sie  keck  heraus. 

Die  Glocke  summt  —  schon  Eins  fürwahr  1  — 

Wie  eine  Boa  dehnt  er  sich, 

Und  rückt  an  dem  Pislolenpaar, 

Dann  rüstet  er  zum  Schlafe  sich. 

Die  Flasche  fassend  einmal  noch 
Er  leuchtete  die  Wände  an: 
Ganz  Avie  'ne  alte  Halle  doch 
In  einem  Scottischen  Roman! 
Und  —  ist  das  Kebel  oder  Rauch, 
Was  durch  der  Thüre  Spalten  quillt? 
Es  wirbelt  in  des  Zuges  Hauch, 
Und  dunstig  die  Paneele  füllt 

Ein  Ding  —  ein  Ding  wie  Grau  in  Grau, 

Die  Formen  schwanken  —  sonderbar ! 

Doch  —  ob  sich  schärft  der  Blick?  —  den  Bau 

Von  Gliedern  nimmt  er  mählich  Avahr; 

Wie  über'm  Eisenhammer  schwer 

Und  dicht  des  Rauches  Säule  wallt, 

Ein  Zucken  flattert  drüber  her, 

Doch  hat  es  menschliche  Gestalt. 

Er  war  ein  hitziger  Kumpan , 
Wenn  Wein   die  Lava  hat  geweckt: 
Qui  vive?  und  leise  knackt  der  Hahn, 
Der  Waller  hat  den  Arm  gestreckt. 
Quivive?  —  'ne  Pause  —  ou  Je  tireJ 
Und  aus  dem  Lauf  die  Kugel  knallt; 
Er  hört  sie  schlagen  an  die  Thür, 
Und  aufwärts  prallen  mit  Gewalt. 

Der  Schuss  dröhnt  am  Gewölbe  nach 
Und,  eine  schwere  Nebelschicht, 
Füllt  Pulverbrodem  das  Gemach: 
Er  theilt  sich,  schwindet,    das  Gesicht 
Steht  in  des  Zimmers  Mitte  jetzt, 
Ganz  wie  ein  graues  Bild  aus  Stein, 
Die  Glieder  fest  und  unverletzt, 
Die  Züge  edel,   streng  und  rein. 

Auf  grauer  Locke  grau  Barett, 
Mit  grauer  Hahnenfeder  drauf;  — 
Der  Waller  hat  so  sacht  und  nett 
Sich  hergelangt  den  zweiten  Lauf; 


—      117      — 

Noch  zögert  er  —  ist  es  ein  Bild, 
Wär's  7u  zerschiessen  lächerlich, 
Und  ist's  ein  Mensch  —  das  Blut  ihm  quillt, 
Ein  Geck,  der  unterfange  sich!  — 

Der  Finger  zuckt,  und  wieder  Knall 

Und  Pulverdampf  —  war  das  Gestöhn? 

Er  hörte  keiner  Kugel  Prall, 

Es  ist  vorüber,  ist  geschehn! 

Der  Waller  seufzt:  verdammtes  Hirn! 

Auf  einmal  ist  er  kalt  wie  Eis  ; 

Der  Angstschweiss  tritt  ilim  auf  die  Stirn, 

Er  starret  in  den  Nebelkreis. 

Ein  Aechzen  oder  Windeshauch, 
Doch  nein,  der  Scheibensplitter  schwirrt; 
0  Gott,  es  zappelt,  nein,  der  Rauch. 
Gedrängt  vom  Zuge,  kämpft  und  wirrt: 
Es  woget,  wirbelt,  aufwärts  wallt. 
Und  —  wie  ein  graues  Bild  von  Stein 
Steht  nun  am  Bette  die  Gestalt, 
Da  wo  der  Vorhang  sinkt  hinein. 

Und  drüber  knistert's  wie  der  Brand 
Des  Funkens,  der  elecktrisch  lebt; 
Nun  zuckt  ein  Finger,  nun  die  Hand, 
Allmählich  nun  ein  Fuss  sich  hebt, 
Hoch,  immer  höher  —  Waller  sinnt. 
Dann  macht  er  schnell  gehörig  Raum, 
Und  langsam  in  die  Kissen  lind 
Es  sinkt  Avie  ein  gefällter  Baum. 

Ah  je  fe  tiens !  er  hal's  gepackt 

Und  schlingt  die  Arme  wie  'nen  Strick  — 

Ein  Leichnam  fodeskalt  und  nackt!  — 

Er  windet  sich  und  will  zurück  — 

Es  wälzt  sich  langsam,  schAver  wie  Blei 

Gleich  einem  Mühlstein  über  ihn ; 

Da  that  der  Waller  einen  Schrei 

Und  seine  Sinne  Avaren  hin. 

Am  nächsten  Morgen  fand  man  kalt 
Ihn  im  Gemache  ausgestreckt; 
's  Avar  eine  Ohnmacht  nur  und  bald 
Ward  zum  BeAvusstsein  er  geAveckt; 
Nicht  irre  Avar  er,  nur  gepresst. 
Und  fragt,  ob  Keiner  AA-ard  gestört? 
Doch  Alle  schliefen  überfest, 
Nicht  Einer  hat  den  Schuss  gehört. 


—      118      — 

So  ward  es  für  'nen  Traum  sogleich 
Und  alles  für  den  Alp  erkannt; 
Doch  zog  man  sich  aus  dem  Bereich 
Und  trollte  hurtig  über  Land. 
Sie  waren  Alle  viel  zu  Mug, 
Und  vollends  zu  belesen  gar ; 
Allein  der  blonde  Waller  trug 
Seit  dieser  Nacht  eisgraues  Haar.  — 

Es  wären ,  ehe  wir  vom  Osning  scheiden ,  noch  folgende 
Notizen  über  seine  geologischen  Verhältnisse  zu  geben.  Von  den 
zwei  Gebirgssystemen  Westphalens  ist  der  Teutoburger  Wald  die 
spätere  Bildung ;  er  zieht  in  drei  fast  parallel  mit  einander  lau- 
fenden Ketten;  die  nördlichste  besteht  aus  Jurakalk  und  Sandstein, 
die  mittlere,  die  älteste  und  nach  Ausdehnung  (nicht  aber  Höhe) 
die  mächtigste,  gehört  der  Muschelkalkformation  an,  die  süd- 
lichste und  dem  Alter  nach  die  jüngste ,  die  unmittelbar  aus  der 
Ebene  des  Münsterlandes  sich  erhebt,  ist  aus  Kreide  und  Quader- 
oder grünem  Sandsteine  zusammengesetzt.  Die  aus  Jura-  oder 
Muschelkalk  und  den  übrigen  Gliedern  beider  Formationen  be- 
stehenden Ketten  erscheinen  als  eine  Annäherung  von  mehr  oder 
weniger  sanft  ansteigenden  kuppenförmigen  Bergen  mit  flachen 
muldenförmigen  Thälern:  kräftiger  üppiger  Pflanzenwuchs  herrscht 
in  den  von  den  beiden  genannten  Gebilden  bedeckten  Gegenden; 
vor  allen  gedeiht  die  Buche  und  die  herrliche  Westphälische 
Eiche.  Anderes  zeigt  die  aus  den  Hauptgliedern  der  Kreidegruppe 
bestehende  Kette ;  Kreide  und  Quadersandsteine  haben  auch  hier 
den  gewöhnlichen  Charakter,  (während  der  Jurakalk  des  Teuto- 
burger Waldes  so  ganz  verschieden  von  dem  der  Schweiz  und 
Schwäbischen  Alp  ist).  Die  Berge  dieser  letzten  Kette  sind 
weniger  abgerundet,  oft  steil  ansteigend  und  erheben  sich  an 
manchen  Punkten  in  Gestalt  von  mächtigen  Felsmassen,  sich 
vielfach  gruppirend ,  schrolf  aus  dem  Boden.  Ihre  Vegetation 
ist  spärlich ,  weite  Strecken  zeigen  sich  allein  mit  Haidekraut 
bedeckt,  fast  nur  die  Tanne,  die  mit  ihren  Wurzeln  tief  in  das 
harte  Gestein  dringt  und  von  der  Luft  zu  leben  versteht,  gedeiht 
freudig  und  mächtig. 

Von  der  Tecklenburg  schreiten  wir  gen  Westen  fürder,  Bent- 
heim  zu:  ein  Weg,  der  durch  „Kämpe"  an  einzelnen  Gehöften 
der  Sassen  vorbei  und   hie  und  da  über  eine  Haide  führt,   also 


—      119      — 

mitten  in  eine  ächtwestphälische  Welt  hinein.  Das  ist  die  West- 
phälische  Welt,  die  man  geschmäht  hat  ohne  sie  zu  kennen, 
ohne  zu  gedenken,  dass  damit  alles  ursprüngliche  Germanische 
Sein  und  die  Weise  der  Väter  geschmäht  wird,  die  hier  wie 
nirgends  sich  bewahrt  hat;  die  sich  bewahrt  hat  wie  die  edelste 
Blüthe ,  ja  die  Basis  aller  deutschen  Tugend,  die  Heilighaltung 
der  Familie,  deren  Begriff  noch  voll  Jugendfrischer  Kraft  le- 
bendig erhalten  ist  in  den  naturwüchsigen  Gemülhern  der 
Westphalen,  durch  altsassische  Sitte  gepflanzt,  von  dem  Manna- 
Thau  des  Christenthums  genährt,  gehegt  und  gepflegt.  Man 
sollte  kein  Ding  nach  dem  Scheine  beurtheilcn,  den  ein  will- 
kürlich daneben  gestelltes  Licht  auf  dasselbe  wirft:  was  beim 
Sinken  des  Tages  grosse  Schatten  wirft,  kann  im  Mittagsglanze 
sehr  hell  gewesen  sein:  man  sollte,  was  ist,  erst  Geschichte 
werden  lassen,  ehe  man  es  beurtheilt.  Das  Festhalten  der  West- 
phalen an  ihrem  Sein  und  Denken,  ihre  Unzufriedenheit,  wenn 
die  Zeit  ihre  verpuffenden  Leuchtkugeln  und  Zündstoffe  unter  sie 
schleudert  —  so  manches  Phänomen  ihrer  Geschichte,  wie  die 
Fehme,  die  merkAvtirdigen  Wiedertäufer -Unruhen,  (eine  Ausge- 
burt des  Protestantismus  übrigens,  nicht  des  Katholicismus,  in 
dessen  Schoosse  nie  solche  sinnlichkrankhafte  Fleischesemanci- 
pationen  sich  entwickelten}  und  vieles  andere  fordert  ja  ohnehin 
auf,  der  genetischen  Entwicklung  des  Westphälischen  Volksgeistes 
nachzudenken. 

Der  Kern  Westphalens  ist  allerdings  früher,  vor  den  einge- 
führten Markentheilungen,  in  hohem  Grade  unwirfhlich  gewesen. 
Die  Abgeschiedenheit  von  der  Welt ,  diese  entfernt  und  einsam 
liegenden  Höfe,  wo  jeder  auf  seiner  Gewehre  so  unbeschränkt 
Herr  war,  als  er  bei  allem  Thun  auf  sich  selber  sich  angewiesen 
sah,  der  Mangel  an  aller  Anregung  von  Aussen  her,  pflanzten 
als  Hauptcharakterzüge  Selbsständigkeit  und  Unlenksamkeit  in 
das  Gemüth  der  Eingeborenen,  Sie  hatten  sich  nur  um  ihren 
Boden  zu  kümmern,  der  stets  dieselbe  harte  Arbeit  ihnen  ab- 
zwang, sahen  ausser  den  Ihrigen  nur  die  Eichen  ihres  Hofes, 
die  einen  Tag  wie  den  andren  ihre  starken  Aeste  über  sie  schüt- 
telten, hingen  nur  vom  Wetter  bei  ihrer  Thätigkeit  ab,  das  immer 
dieselbe  Rauhheit  sie  gewahren,  aber  nicht  mehr  emplinden 
Hess :  in  ihr  ganzes  Leben  trat  kein  einziges  Ereigniss ,  in  all 
ihr  Sein  kein  einziger  neuer  Gedanke.   So  wuchsen  sie  denn  wie 


120       — 

ihre  Eichen  auf,  stark,  harten  Holzes  und  tief  in  den  Boden  dessen, 
was  einmal  ihnen  heimisch  geworden ,  ihre  Wurzeln  schlagend. 
Neues  trat  nicht  in  ihren  Kreis:  so  wurde  das  Alte  ihnen  das 
Ewige  und  heilig.  —  Man  muss  auf  den  Haiden  und  öden  Landes- 
strecken Westphalens  Tagelang  selber  umhergestreift,  Stundenlang 
auf  einem  seiner  Hünensteine  sinnend  gesessen  und  der  braunen 
Unendlichkeit  mit  den  Blicken  nachgeschweift  haben,  um  ganz 
empünden  zu  können,  wie  eine  solche  Umgebung  dem  Gemüthe 
eine  entschiedene  Richtung  in  seine  eigne  Tiefe  hinein  gibt. 
Ringsum  ist  nichts  als  die  dunkle  Fläche  mit  schwacher  Farben- 
nüanzierung  durch  die  Blüthe  des  Haidkrauts  und  des  Ginsters; 
blaue  Waldfernen  begränzen  den  Horizont,  hie  und  da  schiesst 
schweren  Fluges  eine  Krähe  nahe  an  der  Erde  her,  als  ob  sie 
den  gelben  Sandstreifen  wie  eine  Schwalbe  den  Wasserspiegel 
behuschen  wolle;  eine  zerstreute  Schaafheerde,  hinter  welcher 
der  Hirt  im  weissen  „Haiken"  träumend  einherwandelt ,  dient 
zur  Staffage;  in  der  Entfernung  ragt  eine  verwitterte  Buche  über 
einer  Wallhecke  empor  und  auf  ihrem  höchsten  dürrsten  Aste 
ruht  der  Yogel  der  Melancholie,  ein  einsamer  Storch,  von  dem 
euch  die  Leute  erzählen  ,  dass  er  seit  Jahren  darauf  gesessen 
und  jedes  Frühjahr  zu  ihm  zurückkehre,  weil  ihm  ein  Jäger 
einst  sein  Weibchen  herunter  geschossen  habe  —  das  ist  alles, 
was  ihr  seht,  nebst  dem  blauen  Himmel,  der  sich  darüber  dehnt 
und  auf  weissen  Wölkchen  wie  in  Silbernachen  die  Frühlings- 
geister trägt,  die  schlummernd  über  der  Haide  fortsegeln,  um  in 
glücklicheren  Gegenden,  fern  hinter  den  still  heraufduftenden 
Wäldern  am  Horizonte  zu  erwachen,  Hir  habt  den  Boden,  um 
darauf  zu  leben,  aber  Leben  ist  nicht  darauf;  ihr  müsst  es  an- 
derswo, in  euch  selber  suchen.  Die  todte  Natur  weckt  nicht 
die  glänzenderen  Fähigkeiten  des  Verstandes,  sie  zwingt  nirgends 
zu  vergleichen,  zu  combiniren,  schnell  zu  erfassen;  keine  bun- 
ten wechselnden  Erscheinungen  wollen  enträthselt,  begriiTen, 
durch  schnelles  Festhalten  benutzt  sein,  keine  Genüsse  rasch 
ausgekostet.  Daher  kommen  dem  Volke,  das  die  Haide  bewohnt, 
die  langsamen  trägen  Fassungskräfte,  die  schweranzuregende 
Theilnahmlosigkeit.  Aber  die  todte  Natur  drängt  die  Gedanken 
des  Menschen  in  seine  eigne  innere  lebendigere  Schöpfung,  sie 
weisst  ihn  auf  sich  selbst  und  auf  sein  Gemüth  an,  und  wie  sie 
ihn  von   der  Breite,   die  ringsumher  nichts  Anziehendes  besitzt. 


—       121      

ablenkt,  führt  sie  ihn  in  die  Tiefe,  wo  des  Wunderbaren  so 
viel  liegt.  Das  weile,  principlose,  miscellenartige  Umfassen  der 
Dinge ,  die  peripherische  Weltanschauung  kann  auf  diesem  Bo- 
den nicht  wachsen,  aber  die  centrale  greift  desto  tiefer  Wurzel 
—  die  centrale  Weltanschauung  mit  dem  Centrum  Gott,  der  sei- 
nen Kindern  so  nahe  ist  in  Westphalen,  keine  Viertelstunde 
über  den  rothglühenden  Wolken  der  Abendsonne.  In  diesem 
Centrum  sich  fest  und  sicher  fühlend,  weiden  sie  voll  träumeri- 
scher Ruhe  ihre  Schaafe  und  Lämmer  auf  den  grünen  „Kämpen" ; 
dem  Hirten,  der  auf  dem  Rücken  liegt  und  in  die  Bläue  starrt, 
fehlt  hur  eine  Jacobsleiter,  um  in. den  nahen  Himmel  flugs  hin- 
einzusteigen und  oben  zuzuschauen ,  was  jetzt  die  lieben  Engel 
Avohl  machen;  er  hört  das  elegische  Kjingen  der  Herdenglöckchen 
an,  in  welches  die  langgezogenen  Töne  ferner  Schalmeien  sich 
mischen,  und  ist  selbt  eine  Art  Lamm,  das  die  Diener  des 
Herrn  hier  weiden,  bis  einst  der  Heiland  die  Sorge  übernimmt 
und  die  Seraphim  auf  den  Schalmeien  von  Gold  und  Diamanten 
blasen.  Darum  kennt  er  auch  keine  Furcht  vor  dem  Tode,  der 
ihn  von  dem  schweren  Mühsal  auf  undankbarem  Boden  erlösen 
wird,  denkt  viel  an  den  Himmel  und  betet  viel;  ja,  er  kennt 
keine  andere  geistige  Beschäftigung,  und  wenn  er  euch  lesen 
sieht,  fragt  er:  so  andächtig? 

Die  centrale  Anschauung  gibt  Festigkeit  und  daher  das  Fest- 
halten an  dem  einmal  Ergriffenen ,  das  Zusammenwachsen  mit 
dem  einmal  in's  Bewusstsein  Uebergegangenen,  welches  die  hi- 
storischen Phänomene  erklärt,  deren  ich  oben  erwähnte.  Die 
Fehmgerichte  zuförderst  waren  nichts  andres,  als  die  alte  karo- 
lingische  Gerichtsverfassung,  wie  sie  überall  galt,  aber  nur  in 
V>^estphalen,  dem  Entstehen  der  Territorial-Gerichtsbarkeiten,  so 
wie  Römischem  und  Canonischem  Rechte  zum  Trotz  festgehalten 
wurde.  Bei  den  Wiedertäufer -Unruhen  konnte  die  mangelnde 
Breite  der  Anschauung,  das  Unvermögen,  sich  zu  umfassendem 
Ueberblick  auf  ihr  Yerhältniss  zur  deutschen  politischen  und 
religiösen  Gesammtheit  aufzuschwingen,  allein  in  den  Männern 
von  Münster  den  Gedanken  aufkommen  lassen ,  ein  Reich  in 
ihrer  Stadt  zu  stiften,  das  allen  Ungläubigen  an  der  neuen  Zion 
zum  Trotz ,  in  der  Mitte  feindlicher  Umgebungen  sich  werde 
behaupten  können. 


—       122       

Westphalen  ist  ein  Land  des  Bestandes;  sein  Fortschritt  ein 
langsamer,  aber  desto  kräftiger;  ein  Land  rulüger  praktischer 
Vernunft,  von  des  Südens  Beweglichkeit  so  weit,  wie  von  des 
Nordens  grübelnder  Gemüthlosigkeit  entfernt;  mehr  der  Historie 
als  der  abstracten  Theorie  Iiold ,  mehr  der  Beharrlichkeit ,  die 
ergründet,  als  der  Vielseitigkeit,  die  umfasst  aber  nicht  ver- 
daut, zugewendet,  —  ein  Land,  wie  das  verwandte  England, 
aber  ohne  dessen  Thatkraft,  —  ein  Land  endlich ,  das  einen 
entschiedenen  ausgeprägten  Character  hat  —  und  das  ist  auch 
ein  Vorzug  in  so  farblosen  Zeiten. 

Ich  habe  oben  versucht,  euch  den  Reiz  und  die  Aft  von 
stiller  resignirter  Poesie  anzudeuten,  welche  auch  eine  West- 
phälische  Haide  haben  kann.  Farbenreicher  und  auch  schon  an- 
erkannter ist  die  Poesie,  welche  in  den  angebauten  Gehölz-, 
Wiesen-  und  Kornreichen  Gegenden,  dem  bei  weitem  grösslen 
Theile  unsres  Landes,  um  den  stillen  vereinzelten  Bauernhof  sich 
lagert.  Ich  brauche  hier  nur  an  den  patriarchalischen  Oberhof  zu 
erinnern,  wie  Immermann  in  seinem  unvergleichlichen  „Münch- 
hausen,,  ihn  schilderte.  Da  habt  ihr  den  ganzen  poetischen  Reiz 
solch  eines  Schulzen-,  Meyer-  oder  Oberhofes,  wie  es  in  den 
verschiedenen  Landschaften  heisst,  wohl  etwas  im  Sonntags- 
putze, wie  eine  niedliche  Bäuerin  in  der  Operette,  aber  voller 
Treue  sonst  in  jedem  Detail:  da  liegt  der  geräumige,  reinlich 
gehaltene  Hof  mit  seinem  grossen  Strohdach,  von  einem  Blüthen- 
regen  des  nahen  knorrigen  Birnbaums  bestäubt,  an  ein  Gehölz 
sich  lehnend,  dessen  auffallend  saftiges  Grün  der  tippigste  Epheu 
durchrankt;  geschäftig  umher  werben  in  Speicher  und  Backiiaus 
alle  die  stehenden  Charactere  solch  einer  Landwirthschaft;  der 
verdriesslich  gutmüthige  „Baumeister"  oder  Grossknecht  spannt 
die  Pferde  ein,  der  Hofschulze  hämmert  an  einem  schadhaft  ge- 
wordenen Rade  und  schlägt  dem  Füllen  auf  die  Schnauze,  das 
ihm  schnuppernd  Kneifzange  und  Nägel  auseinander  stöbert;  die 
Enten  auf  dem  Teiche  schreien  ihre  langgezogenen  melancholi- 
schen Töne  aus,  die  Lerche  trillert  gellende  Laute,  einer  der 
Knechte  schärft  mit  Hammerschlägen  seine  Sense  —  überall  Ge- 
räusch und  Lärmen  und  dennoch  eine  tiefe  Stille,  eine  wie  ruhig 
schlummernde  Natur:  es  ist,  als  ob  die  Töne  aus  der  Natur 
hervor  quöllen,  das  Geräusch  ihres  arbeitenden  Schaffens  wären; 
die  Menschen,   die  Thiere  sind   wie  eines  mit  ihr,   Theile  von 


—      123      — 

ihr,  sie  stören  ihren  Willen,  ihr  Wesen  nicht,  und  ihr  Wesen 
ist  ruhige  Stille.  Setzt  eine  Fabrik,  eine  Dampfmaschine  hier- 
hin, und  das  Geräusch  wird  euch  unerträglich  scheinen:  der 
Lärm,  den  der  hämmernde  Knecht  macht,  stört  euch  nicht,  und 
wäre  er  zehnmal  ärger;  er  stört  die  friedliche  Idylle  nicht,  die 
über  dem  patriarchalischen  Hofe  schlummert  und  nur  erwacht, 
wie  eine  blühende  schmucke  Lisbeth  mit  den  kerngesunden 
Wangen,  dem  blonden  geschniegelten  Haare,  den  Augen  so  hell 
und  rein  blau,  wie  die  blauen  Blumen  einer  holländischen  Thee- 
schaale,  vor  euch  tritt,  wenn  ein  Immerman  sie  aus  dem  Schlafe 
aufruft.  — 

In  den  Bergen  ist's  eng,  es  zieht  dich  hinaus  in  die  Weite, 

Endlos  schliesset  sich  gern  unsere  Ileimath  dir  auf, 
Gleichend  des  Meeres  Gefilden,  des  Himmels  unendlichen  Weiten, 

Füllt  mit  Unendlichkeit  sie,  labet  mit  sinniger  Lust. 
Nimmer  die  Seele  verwirren  des  Lebens  schininiernde  Reize, 

Einfach  der  Ginster  hier  blüht,  friedlich  hier  Aveidet  der  Hirt; 
Aber  du  hörst  mit  inniger  Lust  das  Gezirpe  der  Grillen, 

Oder  des  Kibitzes  Schrei,   trittst  du  zu  nahe  dem  Nest. 
Oder  die  Lerche,   sie  jubelt  so  hoch,  du  siehst  nicht  die  Schwingen: 

„Komme  zu  mir,' zu  mir!"  lautet  ihr  fröhlicher  Ruf. 
Bald  erscheint  dir  am  Saume  des  Waldes  die  einsame  Wohnung, 

Langsam  wirbelt  der  Rauch  auf  in  die  sonnige  Luft. 
Still  ist  und  lautlos  der  Hof,  beschattet  von  Eichen  und  Linden, 

Bunt  in  der  Kühle  gestreckt  liegen  die  Kühe  voll  Ruh, 
Während  der  njächfige  Wall  voll  struppiger  Eichen  und  Nussholz 

Heget  das  Feld  und  den  Wald,  hemmend  den  schweifenden  Blick. 
Ganz  ungesehen  im  Grunde  hinrinnet  und  murmelt  das  Bächlein, 

Und  der  wachsame  Hund  gibt  dir  vom  Hof  das  Geleit: 
Geh'  nicht  hinaus  in  die  Welt,  in  die  Weite,    bitten  sie  alle, 

Bleibe  bei  uns  und  bei  dir,  heiter  und  sinnend  allein. 
Gehst  du  zum  wallenden  Feld,  die  Aehren  jährlich  vergehen, 

Aber  die  Eichen  rings  —  weisst  du  wie  lange  sie  stehn? 
Wallst  du  auf  dunkelem  Weg  von  der  Wälle  Gebüschen  urawölbet, 

Singt  dir  das  Vögelein  gern  selige  Leiden  in's  Herz. 
Niemand  begegnet  dir,  niemand  vernimmst  du,  wenn  nicht  die  Sonne, 

Blickend  über  den  Steg  freundlich  dich  Einsamen  an. 
Wenn  nicht  ein  Weg,  tiefschattig  den  deinen  und  lautlos  durchkreuzend, 

Wenn  nicht  das  schmucklose  Kreuz  heil'ge  Gedanken  dir  weckt. 

So  schildert  den  stillen  Reiz  seiner  Heimath   ein  Dichter,  in 
dessen  tiefem  Gemüthe  die  Eigenthümlichkeit  des  Landes  wie  zur 

9* 


—      124      — 

Blüthe  sich  gestaltet  hat,  und  von  dem  ich  noch  die  folgende 
Ballade  hier  einflechte,  die  uns  zu  einem  andren  poetischen 
Momente  Westphalens ,  seinem  Volksglauben  hinüber  leiten  soll: 

Auf  springt  aus  dem  Schlaf  die  emsige  Magd: 
„Die  Glocke  schlägt,  gewiss  hat's  getagtl" 
Auf  die  Ilaide  geht  sie  eilend  hinaus, 
Zu  lesen  die  Reiser  zum  Mittag  aus. 

Die  Haide  so  weit,  die  Haide  so  still, 
Ist  klar  wie  am  Tag:  der  Mond  scheint  nur  still. 
Die  Haid'  hat  ihr  silbernes  Kleid  angethan, 
So  wallend  und  weit,  wer  misst  ihre  Bahn? 

Sie  allein  lebt  auf  Erden,  sie  feiert  die  Nacht; 

Die  Vögel  vergassen  der  Morgenwacht. 

Das  Haidekraut  flüstert  einander  zu; 

Die  Bäume,  der  Weg  sind  in  tiefster  Ruh. 

Der  Mond  in  der  Bläue  so  strahlend  weilt, 
Als  ob  er  bei  ihr  in  Liebe  verweilt; 
Kein  Wölkchen  hemmt  seinen  schimmerden  Pfad, 
Tief  unten  nur  Nacht  sich  gesammelt  hat. 

Die  Maid  sieht  alles  voll  tiefstem  Graus, 
Sieht  furchtsam  zurück  zum  niedern  Haus; 
Das  blinkt  so  glänzend  im  Mondenschein, 
Als  lebt  es  nun  auch  und  für  sich  allein. 

Da  in  der  Helle  ein  Wagen  erscheint: 
Vier  dunkele  Rosse  stürmen  geeint; 
Es  kömmt  kein  Rauschen,  es  tönet  kein  Huf, 
Und  niemand  lenket,  kein  eifriger  Ruf. 

Ueber  die  Wasser  der  Tiefe  hinsprengt  das  Gespann, 
Nicht  rauschen,  nicht  kräuseln  die  Fläche  begann; 
Der  Mond  sieht  wie  sonst  im  Spiegel  sich  an: 
Die  Maid  erstarret:  da  krähet  der  Hahn.  *) 

Was  oben  über  Westphälischen  Yolkscharacter  gesagt  wurde, 
zeigt  zugleich,  dass  unsere  Heimath  kein  Boden  ist,  auf  welchem 
eine  reiche  Einbildungskraft  viel  jener  wunderbaren  Blumen  auf- 


0  S.  Gedichte  von  W.  Junkmann',  Münster  1836. 


—       125       — 

zöge,  deren  Samen  und  Keime  der  Seelendurst  des  Menschen 
nach  geistiger  Belebung  des  trockenen  Alltagsseins  in  den  Grund 
des  räthselhaften  Zusammenhangs  zwischen  sichtbarer  und  un- 
sichtbarer Welt  pflanzt,  di^  zu  Blüthenkronen  voll  betäubenden 
Duftes  aufschiessen ,  wenn  dichterische  Phantasie  sie  befruchtet. 
Wir  haben  unsren  Geisterglauben,  wie  jedes  andre  Yolk;  aber 
er  ist  nicht  reich  an  besondren  Momenten,  es  sind  Variationen 
des  alten  Thema's,  welches  dämonische  Mystik  durch  aller  sin- 
nigen Menschen  Gemiith  klingen  lässt;  grade  dämonische  Mystik 
ist  es  nämlich,  welche  hauptsächlich  im  Volke  lebt.  Das  vor- 
ausgesandte Gedicht  malt  eine  der  Erscheinungen  aus,  die  man 
in  Westphalen  erzählt:  ich  lasse  noch  eines  hier  folgen,  da  man 
auf  diesem,  einer  kritischen  Analyse  weniger,  als  jedes  andre, 
zugänglichem  Gebiete  am  besten  das  Beispiel  für  sich  selbst  re- 
den lässt.  Zur  Erläuterung  des  Gedichts  muss  ich  nur  die  Be- 
merkung Yoraussenden,  dass  den  Sarg  eines  Kindes  nach  adli- 
chem  Gebrauch  die  Wappen  von  Vater  und  Mutter  schmücken, 
Kosen  und  Pfeile  also  hier  dem  schauenden  Freiherr  seines  Soh- 
nes Sarg,  Rosen  allein  den  eignen  bezeichnen  müssen. 


Vorgeschichte. 

Kennst  du  die  Blassen  im  Haideland, 

Mit  blonden  flüchsenen  Haaren? 

Mit  Augen  so  klar  wie  an  Weihers  Rand 

Die  Blitze  der  Welle  fahren? 

0  sprich  ein  Gebet,   inbrünstig,  echt, 

Für  die  Seher  der  Nacht,  das  gequälte  Geschlecht. 

So  klar  die  Lüfte,   am  Aether  rein 
Träumt  nicht  die  zarteste  Flocke, 
Der  Vollmond  lagert  den  blauen  Schein 
Um  des  schlafenden  Freiherrn  Locke, 
Hernieder  bohrend  in  kalter  Kraft 
Die  Vampyrzunge ,  des  Strahles  Schaft. 

Der  Schläfer  stöhnt,  ein  Traum  voll  Noih 
Scheint  seine  Sinne  zu  quälen, 
Es  zuckt  die  Wimper,  ein  leises  Roth 
Will  über  die  Wange  sich  stehlen; 
Schaut,  wie  er  woget  und  rudert  und  fährt , 
Wie  Einer,  so  gegen  den  Strom  sich  wehrt. 


—      126      — 

Nun  zuckt  er  auf,  —  ob  ihm  geträumt, 
Nicht  kann  er  sich  dess  entsinnen  — 
Ihn  fröstelt,  fröstelt,  ob's  drinnen  schäumt 
Wie  Fluthen  zum  Strudel  rinnen; 
Was  ihn  geängstet,   er  weiss  es»  auch: 
Es  war  des  Mondes  giftiger  Hauch. 

0  Fluch  der  Haide,  gleich  Ahasver 
Unterm  Nachtgestirne  zu  kreisen! 
Wenn  seiner  Strahlen  züngelndes  Meer 
Aufbohret  der  Seele  Schleusen , 
Und  der  Prophet,  ein  verzweifelnd  Wild, 
Kämpft  gegen  das  mächtig  steigende  Bild. 

Im  Mantel  schaudernd  misst  das  Parquet 
Der  Freiherr  die  Läng'  und  Breite, 
Und  wo  am  Boden  ein  Schimmer  steht, 
Weit  aus  er  beuget  zur  Seite, 
Er  hat  einen  Willen  und  hat  eine  Kraft, 
Die  sollen  nicht  liegen  in  Blutes  Haft. 

Es  Avill  ihn  krallen,  es  saugt  ihn  an, 

Wo  Glanz  die  Scheiben  umbreitet. 

Doch  langsam  weichend,  Spann'  um  Spann', 

Wie  ein  wunder  Edelhirsch  schreitet, 

In  immer  engerem  Kreis  gehetzt. 

Des  Lagers  Pfosten  ergreift  er  zuletzt. 

Da  steht  er  keuchend,  sinnt  und  sinnt. 
Die  müde  Seele  zu  laben, 
Denkt  an  sein  liebes  einziges  Kind, 
Seinen  zarten,  schwächlichen  Knaben, 
Ob  dessen  Leben  des  Vaters  Gebet 
Wie  eine  zitternde  Flamme  steht. 

Hat  er  des  Kleinen  Stammbaum  doch 

Gestellt  an  des  Lagers  Ende,. 

Nach  dem  Abendkusse  und  Segen  noch 

Drüber  brünstig  zu  falten  die  Hände, 

Im  Monde  flimmernd  das  Pergament 

Zeigt  Schild  an  Schilder,'  schier  ohne  End'. 

Rechtsab  des  eignen  Blutes  Gezweig, 
Die  alten  freiherrlichen  Wappen, 
Drei  Rosen  im  Silberfelde  reich, 
Zwei  Wölfe  schildhaltende  Knappen, 
Wo  Ros'  an  Rose  sich  breitet  und  blüht, 
Wie  überm  Fürsten  der  Baldachin  glüht. 


127       

Und  links  der  milden  Mutter  Geschlecht, 

Der  Frommen  in  Grabeszellen, 

Wo  Pfeil'  an  Pfeile,  wie  im  Gefecht, 

Durch  blaue  Lüfte  sich  schnellen. 

Der  Freiherr  seufzt,  die  Slirne  gesenkt, 

Und  —  steht  am  Fenster,  bevor  er's  denkt. 

Gefangen!  gefangen  im  kalten  Strahl! 
In  dem  Nebelnetze  gefangen ! 
Und  fest  gedrückt  an  der  Scheib'  Oval, 
Wie  Tropfen  am  Glase  hangen, 
Verfallen  sein  klares  Nixenaug', 
Der  Haidequal  in  des  Mondes  Hauch. 

Welch  ein  Gewimmel!  er  muss  es  sehn, 
Ein  Gemurmel!  er  muss  es  hören. 
Wie  eine  Säule,  so  muss  er  stehn. 
Kann  sich  nicht  regen  noch  kehren. 
Es  summt  im  Hofe,  ein  dunkler  Häuf  — 
Und  einzelne  Laute  steigen  auf. 

Hei!  eine  Fackel!  sie  tanzt  umher 
Sich  neigend,   steigend  im  Bogen, 
Und  nickend,  zündend  ein  Flammenheer 
Hat  den  weiten  Estrich  umzogen. 
Air  schwarze  Gestalten  im  Trauerflor, 
Die  Fackeln  schwingen  und  halten  empor. 

Und  Alle  gereiht  am  Mauerrand, 

Der  Freiherr  kennet  sie  Alle ; 

Der  hat  ihm  so  oft  die  Büchse  gespannt, 

Der  pflegte  die  Boss'  im  Stalle, 

Und  der  so  lustig  die  Flasche  leert. 

Der  war  sein  Leibbursch,  vor  Andern  werlh. 

Nun  auch  den  alten  Kastellan, 

Die  breite  Pleurense  am  Hute, 

Den  sieht  er  langsam,   schlürfend  nahn, 

Wie  eine  gebrochene  Buthe; 

Noch  deckt  das  Pflaster  die  dürre  Hand, 

Versengt  erst  gestern  an  Heerdes  Brand. 

Ha,  nun  das  Boss,  aus  des  Stalles  Thür, 

In  schwarzem  Behang  und  Flore; 

0,  ist's  Achill,  das  getreue  Thier? 

Oder  ist's  seines  Knaben  Medore? 

Er  starret,  starrt  und  sieht  nun  auch, 

Wie  es  hinkt,  vernagelt  nach  altem  Brauch. 


—      128      — 

Entlang  der  Mauer  das  Musikchor, 

In  Krepp  gehüllt  die  Posaunen, 

Haucht  grüssend  leise  Cadencen  hervor, 

Wie  träumende  Winde  raunen; 

Dann  Alles  still.    0  Angst!  o  Qual! 

Es  tritt  der  Sarg  aus  des  Schlosses  Portal. 

Wie  prahlen  die  Wappen,   farbig  grell 
Am  schAvarzen  Samniet  der  Becke. 
Ha!  Ros'  an  Rose,  der  Todesquell 
Hat  gespri'zet  blutige  Flecke! 
Der  Freiherr  klammert  das  Gilter  an: 
„Die  andere  Seite!"   stöhnet  er  dann. 

Da  langsam  wenden  die  Träger,  blank 
Mit  dem  Monde  die  Schilder  kosen. 
„0,  —  seufzt  der  Freiherr  —  Gott  sei  Dank! 
Kein  Pfeil ,  kein  Pfeil ,    nur  Rosen !  " 
Dann  hat  er  die  Lampe  still  entfacht. 
Und  schreibt  sein  Testament  in  der  Nacht. 

Vor  den  andern  deutschen  Stämmen  ist,  glaub'  ich,  die 
Vorgeschichte,  die  Sehergabe  der  „Wicker"  (von  „wicken," 
wahrsagen)  den  Westphalen  eigenthümlich;  es  ist  dasselbe,  was 
das  second  süjht  der  Inselbewohner  des  nördlichen  Britaniens; 
unsre  blassen  Nixäugigen  Seher  sind  ganz,  was  den  Faroe- In- 
sulanern ihre  „hohlen  Menschen,"  deren  Geist  sich  aus  dem 
Leibe  entrückt  und  die  Zukunft  als  Gegenwart  sieht,  in  deren 
unruhvolle  Nächte,  wo  eine  höhere  Gewalt  sie  auf-  und  hinaus- 
treibt zum  Schauen,  kommende  Ereignisse  ihre  Schatten  werfen. 
Das  mitgetheilte  Gedicht:  „Die  Vorgeschichte"  schildert  diesen 
Zustand  und  all  sein  grausiges  so,  dass  ich  nichts  hinzuzusetzen 
habe,  als  die  Bezeugung  der  zweifellosen  Wahrheit  ähnlicher, 
nicht  seltener  Vorkommnisse.  Wer  die  stillen  ernsten  Menschen, 
die  mit  der  Sehergabe  behaftet  sind  und  wie  eine  Qual  sie  be- 
trachten, kennt  und  sprach,  wer  Augenzeuge  der  Erfiillung  ih- 
rer Gesichte  Avar,  dem  schwinden  alle  die  Zweifel,  welche  die 
Lösung  des  Wunderbaren  doch  nur  durch  ein  noch  Wunder- 
bareres, die  ungeheuerliche  Einbildungskraft  schlichter  gewöhn- 
licher Menschen,  zu  bewerkstelligen  wissen.  —  Diese  Sehergabe 
stirbt  iibrigens  mehr  und  mehr  aus:  ganz,  in  aller  ihrer  Un- 
heimlichkeit  verkörpert,  sehe  ich  sie  nur  noch  durch  die  Tage 
meines  Knabenalters   schreiten,   eine  hohe   gebückte  Gestalt  mit 


—      129       — 

schmalem  blassem  Antlitz  und  *  starren  hellgrauen  Augen,  die 
unter  dem  breilbeschattenden  Rande  eines  runden  Bauerhut's 
hervorstachen.  AVir  Knaben  scheuten  diese  bohrenden  Blicke, 
des  3Iannes  lahme  dürre  Hand,  mit  der  er  doch  stärker  war, 
als  alle  andren  Menschen,  am  meisten  seine  Scherze,  denn  er 
Stack  voll  schnackischer  Einfälle,  als  ob  die  Heiterkeit  seiner 
Tage  das  Grauen  seiner  Nächte  übertäuben  solle,  die  ihn  unter 
den  Apfelbaum  hinter  seiner  Hütte  hinaustrieben,  am  Horizonte 
ein  flammendes  Dorf,  in  seiner  Nähe  das  Yorüberbew^egen  eines 
lautlosen  Leichenzugs  zu  sehen,  während  weit  in  die  nächtliche 
Haide  hinaus  das  Gelreul  seines  Hundes  erscholl,  der  seines 
Herrn  Gabe  theilte. 

Diese  Episoden  haben  uns  den  Weg  verkürzt  in's  „Heim  der 
Tubanter"  oder  Bentheim,  dem  Felsenschloss,  das  auf  so  vielen 
Bildern  Ruisdael's  die  Staffage  bildet.  Dir  seid  gewiss  über- 
rascht, hier  in  der  weiten  Ebene  plötzlich  ein  mächtiges  graues 
Burggebäu  auf  hohen  Felsen  euch  entgegen  dräuen  zu  sehen, 
auch  eine  Art  Episode,  die  aus  ganz  andern  Bereichen  in  diese 
versetzt  scheint.  Die  Burg  liegt  an  der  Nordseite  des  Städtchens 
Bentheim,  welches  sich  an  dem  Berg,  den  jene  krönt,  entlang 
zieht;  über  den  freien  Raum  zwischen  beiden  steigt  man  hinauf, 
durch  ein  erstes  Thor  unter  dem  Amthaus  weg,  dann  links  ge- 
Avendet,  zur  Rechten  die  alte,  jetzt  anders  benutzte  Kalharinen- 
kirche  lassend,  durch  ein  zweites  Thor  in  den  eigentlichen  sehr 
geräumigen  Schlosshof.  Hier  fällt  von  noch  bewohnbaren  Ge- 
bäuden südlich,  nach  dem  Städtchen  hin,  an  die  Burgmauer  sich 
lehnend  das  ..neue  Gebäude"  in  die  Augen,  grade  vor  uns  aber 
gen  Westen  in  der  Ecke  nach  Norden,  das  jetzige  Absteigequar- 
tier des  Fürsten,  w^enn  er  die  älteste  und  grossartigste  seiner 
Besitzungen  besucht.  Ein  Raum  im  Erdgeschosse  dieses  letzteren 
Gebäu's  bezeichnet  man  als  alten  Heidentempel,  ja  als  Fanum 
des  Jupiter  Stator;  drüber  ist  eine  Kapelle  gebaut.  Die  übrigen 
Baulichkeiten  rechfertigen  den  Unwillen  ihres  Geschichtschreiber's, 
Raet  von  Bögeiscamp,  darüber,  dass  „das  ehemalige  Wunder 
Westphalens,  da^  Schloss  zu  Bentheim  1795  von  den  Hannovera- 
nern (als  Pfandinhabern)  zum  Lazaret  eingerichtet,  hierauf  sogar 
fortifiziret  und  gegen  die  Französische  Armee  vertheidiget ,  von 
dieser  aber  durch  ein  heftiges  Bombardement  in  den  Grund  ge- 
schossen sei.  '■    Mauern  mit  Pfefferbüchsen  und  Tiiürmeil  umgeben 


__      130      — 

das  Ganze ;  der  grösste  dieser  •Thiirme  gegen  Südwesten  um- 
schliesst  Verliesse  und  zwei  Folterbänke.  Von  den  breiten  als 
Promenade  benutzten  Mauern  herab  hat  man  eine  sciiöne  und 
weitgedelmte  Aussicht;  nach  Norden,  wo  die  Baumwipfel  der 
Wildbahn  über  dem  Bergraine  empor  ragen ,  zunächst  auf  den 
Bentheimer  Wald  hinaus,  in  dessen  Mitte,  etwa  20  Minuten  ent- 
fernt, Schwefelquellen  die  Anlage  einer  Badeanstalt  für  die  gich- 
tischen „Mynheers"  des  Nachbarlandes  veranlasst  haben:  nach 
Nordwesten  auf  die  pittoreskesten  Felsenparthien ,  des  Baues 
Grundsäulen.  Ein  isolirter  dreieckiger  Stein,  das  „Teufelskissen" 
genannt,  trägt  hier  die  Inschrift:  Hie  Drusus  Jura  dixit  Tuban- 
tibiis,  aber  in  Characteren,  welche  vielleicht  nicht  das  Alter  von 
200  Jahren  haben.  Die  Behauptung,  Drusus  sei  der  Erbauer 
von  Bentheim,  ist  überhaupt  sehr  gewagt,  wenn  auch  möglich, 
dass  die  hier  aus  der  Ebene  emporragende  lange  Felsenreihe  sehr 
früh  zur  Befestigung  lockte  und  der  erste  Kaiserliche  Graf  in 
dieser  Gegend,  im  Gau  Bursibant,  darauf  seinen  W^ohnsilz  nahm. 
Die  Geschichte  von  Bentheim  setzt  den  Ahnherrn  des  jetzigen 
fürstlichen  Geschlechts  in  das  10.  Jahrh.  und  nennt  ihn  Riefried, 
Sohn  des  Grafen  Luthard  von  Cleve  und  Enkel  Kaiser  Arnulph's. 
Ihre  Angaben  werden  aber  erst  sicher  mit  der  Welüschen  Ger- 
trud, Frau  von  Bentheim,  welche  diese  Besitzung  im  11.  Jahrh. 
an 'den  Pfalzgrafen  Otto  von  Rheineck  brachte.  Otto's  Geschlecht 
bestand  sieben  Generationen  hindurch  und  vererbte  Bentheim  dann 
auf  den  Gemahl  des  letzten  Sprosses  Hedwig,  auf  Everwyn  von 
Güterswyk.  Dieses  Dynasten  Enkel  Everwyn  brachte  durch  Hei- 
ralh  auch  Steinfurt  an  sein  Haus ;  eine  dadurch  begründete  Stein- 
furtische Nebenlinie  aber  ebenso  Tecklenburg.  Als  die  ältere 
Linie  Bentheim  ausgestorben  war,  Avurde  Arnold  lY.  von  Steinfurt 
und  Tecklenburg,  auch  Graf  von  Bentheim,  durch  Vermählung 
mit  der  Erbin  von  Nuenaar  noch  dazu  Graf  von  Limburg,  Bed- 
burn,  Alpen,  Helfenstein,  Lennep  u.  s.  w.  Von  der  Tecklen- 
burgschen  Erbschaft  blieb  aber  nur  Rheda  dem  Hause  Bentheim; 
das  andre  kam  zum  Theil  als  Regredient  Erbschaft  an  das  Haus 
Solms,  zum  Theil  durch  Kaiserliche  Belehnun^  an  Maximilian 
von  Büren  aus  dem  Hause  Egmont.  Das .  Geschlecht  Everwyn's 
von  Güterswyk  theilte  sich  nun  in  drei  Linien,  in  die  von  Rheda, 
von  Bentheim,  von  Steinfurt.  Als  aber  der  letzte  Graf  von  Bent- 
heim Friedrich  Karl  Philipp  1803  kinderlos  zu  Paris  verschieden 


—      131      — 

war,  vereinte  Ludwig  von  Steinfurt  beide  Herrschaften  und  ver- 
erbte sie  auf  seinen  Sohn,  den  jetzt  regierenden  Fürsten  Alexius, 
der  mediatisirt  seine  standesherrlichen  Gerechtsame  in  dem  Han- 
noverschen Bentheim  ausübt,  in  dem  Preussischen  Steinfurt  aber 
an  die  Krone  abgetreten  hat. 

Steinfurt  ist  die  jetzige  Residenz  des  fürstlichen  Hauses. 
Diese  Stadt  scheint  ursprünglich  nur  der  Edelhof  gewesen  zu 
sein,  worauf  als  Allodialgut  ohne  Belehnung  und  Verleihung 
die  Edlen  von  Stenvorde  sassen,  als  ein  dem  hohen  Reichsadel 
angehörendes  Geschlecht,  wahrscheinlich  altsächsischen  Blutes 
und  wohl  von  den  fränkischen  Edelgeschlechtern  zu  unterschei- 
den, die  durch  kaiserliche  herübergesandte  Beamtete  (Grafen} 
in  Sachsen  gestiftet  wurden,  oder  von  den  bloss  ritterbürtigen 
Familien,  welche  vom  Kaiser  oder  diesen  Grafen  selbst  wieder 
ein  Burglehn  inne  hatten.  Der  Name  des  ersten  Dynasten ,  der 
bekannt  geworden,  ist  Reinhard,  um  1060;  er  war  Avie  seine 
Nachfolger  Edelvogt  von  St.  ]\Iauriz  bei  Münster.  Er  mag  auch 
einer  der  Erbauer  des  jetzigen  Schlosses  zu  Steinfurt  sein,  dessen 
Alter  in  einigen  Theilen  bis  in  den  Anfang  des  12.  Jahrh.  hin- 
aufreicht, übrigens  eben  so  wenig  wie  die  Burg  zu  Bentheim 
durch  Architektonik  merkwürdige  Parthien  besitzt.  In  dem  letzten 
Sprossen  Ludolph  YH.  erhielt  das  Geschlecht  seinen  höchsten 
Glanz  durch  die  Besiegung  des  mächtigen  kriegerischen  Bischofs 
Otto  lY.  von  3Iünster ,  der  eine  Zeitlang  in  Steinfurt  gefangen 
sass,  bis  Erich  von  Hoja  und  der  Bischof  von  Paderborn  durch 
eine  Belagerung  seine  Befrei\ing  erzwangen  (1396).  Ludolph's  und 
seiner  Gemahlin  Locke  Tochter  Mechtildis  brachte  Steinfurt  im 
15.  Jahrhundert  an  den  Güterswykschen  Stamm  der  Grafen  von 
Bentheim. 

Sehenswürdiger  als  das  Schloss  zu  Steinfurt  oder  das  fürstl. 
Museum  mit  seinen  oft  kostbaren  und  höchst  merkwürdigen  Be- 
sitzthümern  aus  allen  Weltgegenden,  von  der  Egyptischen  Mumie 
bis  zum  Skalpmesser  und  Wampum  des  Huronen ,  ist  die  herr- 
liche Gartenanlage,  die  sich  südöstlich  von  der  Stadt  eine  Stunde 
weit  hinauserstreckt,  das  Bagno,  einer  der  grossarligsten  Parks 
Deutschlands.  Er  verdankt  seine  Entstehung  zumeist  dem  Ge- 
schmacke  des  Grafen  Ludwig,  welchen  wir  oben  Bentheim  mit 
seinen  Steinfurtischen  Besitzungen  vereinigen  sahen.  Die  schönsten 
Rasen  und  Waldparthien  gruppiren  sich  um  das  Herz  der  ganzen 


—      132      — 

Anlage,  einen  See,  der  gross  genag,  um  mehrere  vom  mannig- 
faltigsten Baumschlag  bedeckte  Inseln  tragen  zu  können,  doch 
nicht  so  gedehnt  ist,  dass  eine  öde  Wasserfläche  die  Anmuth 
des  Uebrigen  störte.  Die  bedeutendste  der  Inseln  trägt  auf  künst- 
lich aufgelhürmten  Felsen  eine  recht  hiibsche  gothische  Burg,  die 
mit  ihren  halbzerstörten  schlanken  Structuren  wie  eine  versteinerte 
Matthisonsche  Elegie  durch  ditstre  Fichtenzweige  schaut.  Ein 
grosses  Conzert-  ein  Ballhaus,  der  Kiosk,  die  Kettenbrücke,  ein 
zerstörter  Tempel  verschönern  andre  Parthien  des  Park's;  der 
grosse  Springquell  aber  ist  versiegt  und  das  ungeheure  Wasser- 
rad, das,  weit  in  die  Gegend  hinaus  sichtbar,  die  höchsten 
Waldeswipfel  überragt,  ruht  gelähmt,  wie  so  viele  derartige 
Anstalten;  man  weiss  Räder  und  Mechanismen  jetzt  nützlicher 
anzuwenden,  als  Wasserstrahlen  damit  in  die  Luft  zu  schleudern; 
die  Welt  hat  sich  des  Spiel's  entwöhnt  und  nennt  die  Zeit  der 
künstlichen  Fontainen,  der  Memoiren  des  Paniers  und  der  Hau- 
telistapeten  den  Zopfgeschmack ;  und  doch  waren  diese  Menschen 
mit  den  Zöpfen  und  den  Rococo- Degen  so  amüsant,  so  reich, 
so  lebensfreudig.  —  Der  Fussweg,  welcher  vom  Bagno  nach 
Münster  führt,  mag  lange  Zeit  euch  nicht  gewahren  lassen,  dass 
ihr  die  Grenzen  der  Anlagen  längst  überschritten  habt,  denn  er 
schlängelt  sich  durch  ein  so  mannichfach  abwechselndes  Gelände 
von  Flur  und  Wald,  bergartigem  Hügel  und  Au,  Kamp  und 
Gehöfte  und  wipfelbeschattetem  Dorf,  dass  ihr  noch  immer  wie 
in  einem  englischen  Park  euch  glaubt ,  falls  ihr  nämlich  im 
Auslande,  mit  den  gehörigen  Ideen  von  Westphalen's  öden 
Schrecknissen  euch  versehen  habt.  Dann  werdet  ihr  staunen, 
wenn  hier  der  rechte  Reiz  einer  vielbebauten,  fruchtbaren,  schö- 
nen Landschaft  sich  um  euch  dehnt,  die,  ausser  dem  Vorzuge 
reicher  Abwechselung,  durch  seine  eigenthümlich  schönen  Buchen- 
und  Eichenwaldungen  voll  Nachtigallenschlag  und  dunkelglänzen- 
dem Epheu,  durch  üppige  gelbe  Kornfelder  und  schwcrüberästete 
Obstgärten  ein  besondres  Gepräge  warmer  heimathlicher  Behag- 
lichkeit bekommt.  Zur  Rechten  lassen  wir  das  Städtchen  Horst- 
mar  mit  seiner  Erinnerung  an  seinen  letzten  Grafen  Bernhard, 
den  Westphälischen  coeur  de  Hon,  der  im  dritten  grossen  Kreuz- 
zuge der  glänzendste  Repräsentant  der  deutschen  Ritterschaft, 
deutscher  Frömmigkeit  und  Heldenmulhes  war.  Endlich  zeig'  ich 
euch  voll   vaterländischen   Stolzes,  die  ragenden  blauen  l'hürme 


—      1.33      — 

von  Münster,  die  grandios  über  einen  Kranz  von  Lindenwipfeln 
sich  erheben,  in  reicher  Zahl,  hoch  und  eigenthümlicher  Gestal- 
tung, dass  sie  euch  imponiren  wie  das  Gethürm  der  Aveltberühm- 
testen  Metropole.  Die  stumme  Grösse  imponirt  ja  immer;  nur 
die  laute  weckt  die  Kritik  und  den  Widerspruch;  das  thuen  auch 
die  Thürme  von  Münster,  wenn  sie  zu  laut  werden.  Und  doch 
ist  so  arm,  wem  die  Glocken  zu  laut  werden  können,  wem  sie 
nicht  eine  Seite  anschlagen,  die  an  den  Feiertagen  seines  Lebens 
vibrirte,  die  in  die  Oster-  und  Weihnachtsdämmerungen  seines 
Sein's  ihre  Klangfiguren  hauchte,  Gestaltungen  voll  froher  Got- 
tesscheue und  unerfassbar  doch  wie  die  Musik.  Wem  in  seine 
Tage  voll  harter  Helle  das  Sonntagsglänzen  eines  weicheren 
Lichtes  je  gefallen  und  dem  Engel,  der, in  seinem  Herzen  schläft, 
neue  Träume  zugeführt  hat,  dem  weckt  es  die  alten  Stimmungen 
wieder,  wenn  von  allen  Thürmen  die  Glocken  läuten;  aber  wie 
Klänge  emportönen  aus  dem  tiefen  Grunde  .des  schilfumhegten 
Weihers ,  drin  einst  ein  Dom  versunken ,  und  von  wundersamer 
Historie  und  reichem  Sageiihort  erzählen;  die  dort  begraben 
sind,  müssen  die  Glocken  aus  eures  Herzens  Grunde  nachklingen 
können  und  dies  Echo  von  einer  eben  so  wundersamen  Historie, 
von  eben  so  reichem  begrabenem  Horte  zu  erzählen  haben.  — 
Für  die ,  welchen  die  Glocken  zu  viel  läuten ,  ist  dies  nicht  ge- 
schrieben; der  Engel,  der  in  dem  Herzen  der  Menschen  schläft, 
ist  oft  ein  Siebenschläfer:  wer  die  bunten  Wachslichter  am  Weih- 
nachtsbaume seines  Lebens  Sparens  halber  unangezündet  lassen 
will,  der  hätte  sie  besser  beim  Lichtzieher  gelassen. 

Wir  betreten  Münster  von  einer  Seite  her,  wo  uns  wenig 
noch  an  das  Alterthum  der  geschichtlich  so  denkwürdigen  Stadt 
erinnert.  Die  schönen  Lindenalleen  der  Promenaden  nehmen 
mit  ihren  Wipfelkronen  die  Stelle  der  alten  Mauerzinnen  ein: 
ein  grosser  Platz  dehnt  sich  vor  uns  aus,  rechts  prangt  das 
im  Geschmacke  des  vorigen  Jahrhunderts  erbaute  Schloss,  an 
den  Hain  seines  (botanischen)  Gartens  gelehnt.  Es  ist  hochge- 
baut, mit  vielen  Risalits  und  reichen  Steinmelzarbeiten  verziert, 
ein  Corps  de  logis  mit  zwei  nach  der  Stadt  hin  vorspringenden 
Flügeln,  und  würdig  einer  königlichen  Residenz.  Im  Innern  sind 
der  Fürstensaal  mit  den  Bildnissen  der  Fürstbischöfe  von  Münster 
und  in  der  Kapelle  ein  Gemälde  von  Tischbein  sehensw^rth. 
Man  mag  von  dieser  Baukunst  ä  la  Mansard  oder  Bernini  sagen. 


-^      134      — 

was  man  will,  sie  besitzt  doch  ihren  entschiedenen  Charakter, 
sie  ist  ein  Abdruck  ihrer  Zeit  und  von  dieser  ausgeprägt;  sie 
hat  desshalb  auch  ihre  Romantik,  wenn  man  es  so  nennen  will, 
sie  weckt  Gedanken,  Erinnerungen  und  diese  Erinnerungen  habert 
ihre  Poesie,  wenn  auch  nur  .eine  Poesie  ä  la  Chalieu  oder 
Gresset.  Ihre  Verzierungen  mögen  geschmacklos  sein,  aber  sie 
sind  Symbole  üppig  tiberwuchernden  Reichthums,  wie  die  Zeit 
in  Ueppigkeit  überwucherte;  die  schlanke  Schönheit  der  Jonischen 
Säule  und  ihres  Architravs  einfach  edle  Formen  mögen  entstellt, 
überladen,  verschroben  sein  von  diesem  siede  de  Louis  XIV., 
aber  machte  es  nicht  auch  die  Köpfe  der  Menschen  so  gut  wie 
die  Capitäle  der  Säule  überladen  und  verschroben,  aussen  durch 
Alongenperücken  und  innen  durch  eine  Alongenmoral  der  amü- 
santesten Art?  Jene  Zeit  war  kräftig  genug,  ihrem  Gehalte  eine 
entsprechende  Form  zu  finden,  welche  dadurch  ihre  Rerechtigung 
erhält:  sie  war  darin  glücklicher  als  die  unsre  mit  ihrem  fort- 
währenden Dilettiren  in  allen  möglichen  Formen  der  Verzierungen, 
antik,  gothisch,  rococo  u.  s.  w.  Ich  zweifle  dass  unsre  Rau- 
kunst  jemals  ihre  Romantik  bekommen  wird.  —  Das  Schloss  ist 
1767  an  der  Stelle  einer  von  Rischof  Rernhard  von  Galen  errich- 
teten Citadelle  erbaut,  unter  der  Regierung  des  Fürstbischofs  und 
Kölnischen  Churfürsten  Maximilian  Friedrich,  Graf  von  Königsegg 
Rothenfels,  und  war  lange  die  Wjhnung  des  Fürsten  Rlücher.  — 
Vom  Schlosse  her  betreten  wir  nun  die  Stadt  selbst  und  blicken, 
wo  der  erste  Platz  sich  lichtet,  erstaunt  zu  der  grandiosen  Moles 
des  Thurms  der  Ueberwasserkirche  zu  unsrer  lieben  Frauen 
empor;  er  ist  in  ganz  gothischem  Style  aus  grossen  Sandstein- 
quadern zu  einer  Höhe  aufgeführt,  die  trotz  seines  bedeutenden 
Umfangs  ihm  alles  Schwerfällige  nimmt.  Einer  Spitze  von  100 
Fuss  Höhe  beraubte  ihn  ein  Orkan  im  Anfange  des  vorigen 
Jahrhunderts.  Die  Kirche  selbst  zeigt  schöne  Structuren,  aber 
sie  hat  nichts  von  dem  ausserordentlich  Imposanten  ihres  herr- 
lichen Thurmes.  Sie  ward  1040  mit  grossem  Pompe  und  im 
Reisein  Kaiser  Heinrich's  III.  nebst  einem  dazu  gehörenden  Re- 
nediktinessen  -  Kloster  eingeweiht,  dessen  erste  Äbtissin  des 
Kaisers  Schwester  war.  Ihr  Inneres  schmückt  eine  Votiv- 
Tafel  über  dem  Grabe  der  berühmten  Maler  Tom  Ring,  die  im 
16.  Jahrhundert  ihre  Vaterstadt  mit  Arbeiten  vom  höchsten 
Werthe  bereicherten.    Vom  Hofe  der  Liebfrauenkirche  führt  eine 


—      135       — 

hölzerne  Brücke  über  die  Aa  uns  auf  den  erhöht  liegenden,  von 
hohen  Linden  überdunkelten  Domplatz  und  vor  die  westliche 
Fronte  der  Cathedrale  mit  ihren  beiden  Thürmen  und  der  grauen 
Giebelfa(;ade.  Der  Styl  dieser,  so  wie  einer  andren  nach  Süden 
gerichteten  Fa(;ade  des  obern  Querbalkens,  (denn  wie  gewöhnlich 
bildet  auch  hier  das  ganze  Gebäude  die  Kreuzesform  nach,)  ist 
gothisch,  bei  der  letztern  in  den  obern  Theilen  schon  römisch; 
sonst  herrscht  die  Byzantinik  vor,  oder  es  verrälh  sich  der 
Uebergang  von  der  vorgothischen  zur  gothischen  Kunst.  Das 
Ganze  ist  grossartig  und  massenhaft,  nur  etwas  schwerfällig  im 
Innern,  wo  aber  für  die  plumpen  Pfeiler  des  Schiffs  die  ganz 
ausserordentlich  reichen  und  wunderbar  schönen  gothischen 
Arbeiten  des  Apostelgangs,  (eine  Doppelmauer,  welche  den  er- 
höhten Chor  vom  Schiffe  der  Kirche  trennt  und  oben  verbunden 
zugleich  das  Musikchor  trägt,}  so  wie  manche  andere  architek- 
tonische Parthien  entschädigen.  Zur  Seite  des  Hochaltars  dient 
jetzt  der  Spieltisch  König  Johann's  von  Leiden  zur  Aufnahme 
der  bei  dem  Gottesdienst  nöthigen  Gefässe. 

Wenn  ihr  nun  noch  die  übrigen  Merkwürdigkeiten  des  Doms 
beschaut  habt,  die  Bilder  und  unter  ihnen  Tom  Ring's  erstehenden 
Lazarus,  das  Plettenberger  Monument,  (des  Münsterländers  Grö- 
ninger  plastisches  Meisterwerk,)  Bernhard's  von  Galen  Kapellen 
mit  der  Bronzebalüstrade  aus  erobertem  holländischem  Geschütz, 
müsst  ihr  mir  in  das  Kapitelhaus  des  Domes  folgen,  einen  wahr- 
haft romantischen  Raum  mit  seinem  prächtigen  Getäfel  voll  ge- 
schnitzter Wappen  und  Zierrathen,  mit  den  grossen  schlechten 
Bildern,  die  aber  uns  die  ganze  Herrlichkeit  der  alten  Zeit  wach 
rufen,  als  noch  ein  grosses  weites  Land  hier  bei  Sankt  Paul 
und  dessen  Stift  seine  Sendboten  stellte,  um  zu  huldigen  und 
zu  prästiren.  Lehne  zu  muthen  und  auf;?utragen,  als  man  Wappen 
vor  ihm  aufschwor  und  aus  den  Edlen  des  Landes  seine  Fürsten 
kürte,  mit  stolzer  Selbständigkeit  des  Reichstags  Recesse  ad- 
acta  legte  oder  Römisch  Kaiserlicher  Majestät  31andata  und  eil- 
fertigste Aufgebotte  zur  Beyhülf  gen  den  grausambst  herandro- 
hendeh  Erbfeind  der  Christenheit  demnächst  gnädigst  später  mal 
zu  berücksichtigen  beschloss.  Es  war  eine  wunderbar  naive 
Zeit,  als  solch  ein  Stift  auf  seine  gemüthliche  Weise  souverain 
über  Land  und  Leute  schaltete,  oder  nicht  schaltete!  Denn  das 
es   nicht   regierte,    dass    alles   patriarchalisch  aus  Staats-  und 


—      130      — 

Regieningsrecht  in  den  Bereich  des  Privalrechts  gezogen  wurde, 
•  war  es  allein ,  was  die  herrschenden  Institute  jener  Zeit  unange- 
fochten Hess.    Modernes  Vielregieren  hätte  damals  alles   in   die 
bunteste  Yervvirrung  gestürzt. 

Die  Sage  lässt  eine  durch  den  heiligen  Suibertus  geheilte 
Matrone  an  der  Stelle  des  Domes  aus  Dankbarkeit  die  erste 
Kapelle  errichten:  im  Jahre  792  erbaute  der  heilige  Bischof 
Ludger  die  erste  Kirche  und  eine  Wohnung  für  ihre  Kanoniken, 
ein  Münster,  hier;  die  wachsende  Bevölkerung'zwang  992  Bischof 
Dodo  eine  grössere  südlich  daneben  zu  bauen,  die  aber  bei  einer 
Belagerung  der  Stadt  durch  Herzog  (Kaiser}  Lothar  von  Sachsen 
H21  niederbrannte,  worauf  der  jetzige  Dom  unter  mehreren 
Bischöfen  von  1170  etwa  an  bis  zur  Einweihung  1261  zu  Stande 
kam.  Dann  brach  man  Ludgers  alten  Dom  ab  und  baute  an 
seiner  Stelle  1378  die  schöne  „Umgang"  genannte   offene  Halle. 

Vom  Domhofe  gelangen  wir  auf  den  Marktplatz  der  Stadt, 
deren  eigcnthümlicher  scharf  ausgeprägter  Charakter  voll  Würde 
und  stolzen  Trutzes  auf  allbewährte  Bestandesart  hier  am  meisten 
in  den  schweren  Wölbungen  der  Arkaden  mit  ihren  massiven 
Pfeilern,  den  hohen  Giebelfronten  mit  gothischen  und  römischen 
Baukünsteleien  sich  ausspricht..  Vor  allen  zieht  das  Rathhaus 
unsre  Blicke  auf  sich;  ich  glaube  nicht,  dass^Deutschland  irgend 
eins  besitzt,  welches  wagen  dürfte,  sich  mit  ihm  zu  messen.  Das 
beigefügte  Abbild  zeigt  seine  schönen  reingothischen  Strucluren, 
deren  Zierrathen  in  Statuen,  Blätterwerk  und  Zinkenkronen  von 
einer  ausserordentlich  fleissigen  und  feinen  Arbeit  zeugen.  Oben 
über  dem  deutschen  Doppelaar  steht  die  Gestalt  des  Königs 
Cambrinus  von  Flandern,  einen  schäumenden  Pokal  voll  des 
Getränks,  das  er  erfand,  in  seiner  Linken.  Unter  den  Arkaden 
hangen  hinter  einem  eisernen  Gilter  Marterwerkzeuge,  die  bei 
der  Hinrichtung  der  Wiedertäufer  dienten,  und  eisernes  Falsch- 
münzergeräth  aus  späterer  Zeit.  Im  hinteren  Theile  des  Ralh- 
hauses  zu  ebener  Erde  befindet  sich  der  Friedenssaal,  ein  dunkler 
acht  millelaltriger  Raum  mit  Getäfel  und  Schnitzwerk,  grossem 
Kamin  und  Glasmalereien,  alten  Harnischen  und  Schwertern  von 
colossaler  Gestalt.  An  den  Wänden  laufen  Bänke  umher,  auf 
denen  gestickte  Polster  noch  die. Plätze  der  Gesandten  während 
der  Verhandlungen  des  Westphälischcn  Friedens  bezeichnen: 
alles  ist  unangetastet  geblieben,  wie  es  1648  war  und  die  ehren- 


—      137      — 

festen  und  gestrengen ,  hochgebornen  und  durchlauchtigen  Herrn 
da  oben  an  der  Wand  könnten  aus  den  schwarzen  Eichenholz- 
rahmen kühnlich  herabsteigen  und  wieder  über  das  Geschik 
Europa's  und  den  Titel  Excellenz  zu  delibriren  beginnen:  es 
würde  uns  kein  Wunder  nehmen,  in  diesem  so  völlig  einem  ver- 
schwundenen Jahrhundert  angehörenden  Räume  die  schwarzen 
bauschigen  Sammetgewänder,  die  ungeheuren  Halskrausen,  die 
Ordensketten  des  goldenen  Vliesses,  das  rothe  Käppchen  des 
Cardinais  und  den  dreist  aufgestülpten  Herzogshut  Longueville's 
zu  erblicken,  plötzlich  diese  markirten,  acht  spanischen  und 
französichen  Physionomien  voll  feinen  sprechenden  Geistes, 
diese  heiteren  gelahrten  deutschen  Gesichter  sich  bewegen,  aufs 
neu  ihr  fürsichtiges  Gespräch  und  abgemüssigtes  Anheimstellen 
beginnen  zu  s'ehen,  —  Die  Portraits  der  Gesandten  und  ihrer 
Souveraine  sind  von  Gerhard  Terbourg,  dem  Niederländischen 
Meister,  der  ausserdem  durch  "seine  Behandlung' von  Seidenstoffen 
so  berühmt  geworden  ist,  mit  ausserordentlicher  Kunst  nach  der 
Natur  gemalt.  —  Man  zeigt  im  Friedenssaale  unter  andern  Merk- 
würdigkeiten noch  den  Pantoffel  einer  von  ihrem  Gemahl  mit 
eigener  Hand  enthaupteten  Königin  Johann's  von  Leiden  und  ein 
eisernes  schweres  Halsband,  das  inwendig  mit  vielen  Stacheln 
und  mit  einer  Klappe,  um  den  Mund  zu  bedecken,  versehen, 
einst  einem  Herrn  von  0er  von  seinem  Feinde  Gerhard  von 
Haaren  von  einem  Hinterhalte  aus  so  um  den  Hals  geworfen 
wurde,  dass  nichts  die  fest  in  einander  gesprungenen  Federn 
des  künstlichen  Mechanismus  wiefler  lösen  konnte.  Von  0er 
würde  in  der  wahrhaft  diabolischen  Klemm«  verschmachtet  sein, 
wenn  nicht  endlich  ein  Schmid  mit  drei  gewaltigen  Hammerschlä- 
gen das  Marterwerkzeug  gesprengt  hätte. 

Das  folgende  Gedicht,   welches   ein  Besuch  des  Saales  mi( 
F.  Freiligrath  veranlasste,  mag  hier  eine  Stelle  finden. 

,  Zum  Friedenssaall  —  Es  war  ein  sonn'ger  Tag, 
Die  Lind'  im  Vorhof  hauchte  ihre  Schatten 
Leis  auf  die  bunten  Scheiben ,  und  es  brach    . 
Das  Licht  die  Strahlen  in  ein  trüb  Ermatten: 

Nicht  in  die  diistern  Scliauer  wollt  er  sehn, 
Durch  diese  Bögen,  die  einst  Sachsen  schlugen, 
Dran  Kaiser  Karl's  und  Heinrichs  Bilder  stehn, 
Die  Heiligen,  die  Deutschlands  Krone  trugen; 

iO 


—      138      — 

Darob  der  Aar,  des  Reiches  stolz  Panier, 
Der  deutschen  Kaiser  schreckende  Standarte, 
Die  Flügel  schlagend  an  der  Stadt  Zimier, 
An  blanker  Zinne  ihrer  Freiheit  Warte. 

Es  ist  ein  düstrer,  feierlicher  OrtI 
VielBilder  schauen  aus  vergilbten  Mienen  — 
Hier  TrautmannsdorlT  und  Oxenstierna  dort  — 
Als  ob  sie  selber  sich  zu  zürnen  seidenen, 

Dass  sie  in  diesem  Räume  hier  die  Pracht, 
Die  Kralt,  die  Herrlichkeit  des  Reichs  begraben, 
Und  einen  Frieden  schmachvoll  hier  gemacht, 
Nach  welschem  Sinn  mit  welscher  Zunge  haben. 

Es  ist  ein  düstrer  feierlicher  Ort, 

Durch  den  verstorbner  Tage  Schatten  sclnvanken,. 

Und  durch  Jahrhunderte  so  siecht  er  fort, 

Ein  letzt  Asyl  gespenstischer  Gedanken. 

Rings  steht  von  alt^n  Panzern  eine  Zahl  • 

Mit  Schien'  und  Tartsch',  verbogen  und  verrostet: 
Der  lang'  bestäubten  Ritterschwerter  Stahl 
Hat  schon  der  Yäter  Blut  nicht  mehr  gekostet. 

„Nimm  eins  zur  Hand!    Schwing  du  des  Kaisers  Schwert! 
So  wie  der  Rothbart  einst  dein  Spiel  geschlagen , 
So  bist  auch  du  es.  Mann  der  Lieder,  ^erth  , 
In  deiner  Faust  des*Kaisers  Schwert  zu  tragen!" 

^,Mir  diese  Wehr!"   —  Das  mächt'ge  Waffen  klirrt. 
Wir  lassen  keck  es  um  die  Häupter  kreisen: 
„Gekreuzt  die  Klingen!"  —  IIa,  der  Funke  schwirrt, 
Und  rasselnd  wetzt  die  Scharten  sich  das  Eisen!  — 

Schwang  so  dein  Roland  einst  mit  läss'ger  Faust 
Um  Sarazenenk(3pfe  Diirindane? 
Hat  Rothbart  so  durchs  Schlachtgewühl  gebraus't? 
Du  bist  so  stark  nicht  wie  dein  grimmer  Ahne: 

Gewalt'ge  Wucht!  der  Arm  erlahmt  und  sinkt: 
Da,  lass  den  Flammberg  rinfl  die  Helme  stehen; 
Sieh,  wo  im  goldnen  Sonnenlicht  uns  winkt 
Mit  lust'gem  Flattern  unsres  Banners  Wehn. 

Der  Blüthenzweig,  gewiegt  in  blauer  Luft!  — 

Die  herzgeformten  Blätter  dieser  Linden, 

Der  Liebe  heilig,  opfern  ihren  Duft 

Den  frischen  Stunden  nur,  bis  sie  entschwinden. 


"«m 


—      139      — 

Und  lockt  uns  Kampf  —  das  doppelschneid'ge  Wort 
Gilt  es  wie  blinkend  hellen  Stahl  zu  biegen, 
Zu  stehn  wie  keck  behelmte  Ritter  dort, 
Wo  als  Standarten  die  Gedaqken  fliegen! 

Am  nördlichen  Ende  des  Marktplatzes  hemmt  die  Lamberti- 
Kirche  den  Blick  mit  ihrer  rein  gothischen  herrlichen  Seitenan- 
sicht, gewiss  das  schönste  GeL^u  Westphalens  in  diesem  Style, 
.obwohl  sie  viel  durch  Destructionen  der  Wiedertäiiferzeit  gelitten 
hat,  und  durch  zwei  kleine  Anbaue  entstellt,  ist.  Das  Schiff 
ward  1272  unter  Bischof  Gerhard  von  der  Mark  vollendet,  der 
erste  Stein  zu  dem  neueren  Chore  aber  1335  gelegt.  Am  höchsten 
Stockwerk  des  Thurmes  sind  die  drei  eisernen  Käfige  befestigt, 
welche  die  Leichname  der  hingerichteten  Wiedertäuferhäupter 
aufnahmen,  und  mahnen  an  die  in  der  Geschichte  der  Mensch- 
heit fast  beispiellosen  Scenen,  welche  Fanatismus,  Wahnwitz, 
Verirrung  und  Sinnlichkeit  hier  im  Angesichte  dieser  Kirche  auf- 
führten, um  aus  burlesk  komischen  Motiven  ein  höchst  larmoyan- 
tes  Trauerspiel  zu  bilden. 

Wenn  ich  nicht  fürchtete,  euch  zu  ermüden,  würdeich  euch 
noch  in  manche  Kirche  führen,  zu  mancher  Sehenswürdigkeit; 
ihr  würdet  dann  den  runden ,  oben  durchbrochenen  und  künstlich 
auf  vier  Pfeilern  erbauten  Thurm  von  St.  Ludger,  die  schöne 
Kirche  des  Dominicanerklosters,  die  Höfe  des  Westphälischen 
Adels,  die  Schätze  der  Bibliothek  und  der  Bildersammlung  des 
Kunstvereins  (mit  werthvollen  Arbeiten  von  Lucas  Cranach ,  dem 
Liesborner  Meister,  Guido  Reni,  und  altitalischen  Sachen,  vom 
Anbeginn  der  Kunst,  wo  sie  noch  halbe  Plastik  ist,  bis  auf  die 
Zeit  Rafaels,).  mir  bewundern,  ja  vor  die  Stadt  hinaus  mir  folgen 
müssen  durch  die  dunkle  Kastanienallee  zum  Grabe  St.  Erpho's, 
des  Kreuzfahrers,  in  dessen  Kapelle  an  der  Stiftskirche  von  St. 
Mäuritz  nun  seit  acht  Jahrhunderten  die  ewige  Lampe  in  matten 
Strählen  zittert;  aber  ich  erspare  euch  diese  Wanderungen,  falls 
ihr  einige  Worte  über  die  Geschichte  von  Münster  mir  vergönnt. 

Die  Anfänge  dieser  Stadt  im  Lande  der  Bructerer  oder«  im 
späteren  Südergau  setzt  eine  Sage  in's  Jahr  546 ,  wo  eine 
„Horsteburg"  hier  erbaut,  dann  eine  Ansiedlung  umher  entstan- 
den sein  soll ;  gewiss  ist ,  dass  Münster  auf  den  Grund  vier  alter 
sassischer  Höfe  erbaut  Avurde  und  anfangs  den  Namen  JMimigarde- 
vord  führte;   die  Botschaft  des  Christenthums  brachte  ihm  zuerst 

10* 


—      140      — 

St.  Suibertus,  den  die  Uetrechter  Missionsanstalt  hierhin  gesandt 
hatte:  ihm  folgte  im  Apostelamte  779  Bernhard,  der  die  erste 
christliche  Gemeinde  stiftete,  bis  Karl  der  Grosse  , den  heiligen 
Ludger  als  ersten  Bischof  nacli  Mimigardevord  sandte.  Lud- 
ger war  ein  Friese,  ein  Schüler  Alcuin's  zu  York  gewesen, 
hatte  einer  vom  heiligen  Levin  an  der  Yssel  gestifteten  Gemeinde 
vorgestanden  und  wurde  auf  AJ(fuin's  Empfehlung  791  der  erste 
Präsul  der  Münsterschen  Kirche.  Das  von  ihm  gestiftete  Münster, 
die  gemeinsame  Wohnung  der  Domkanoniken  gab  seit  dem  An- 
fange des  12.  Jahrh.  der  Stadt  den  jetzigen  Namen;  seit  1268 
war  sie  mit  den  Hansestädten  vereinigt  und  begann  nun  das 
Ringen  mit  Bischof  und  Kapitel  um  immer  grossere  Unabhängig- 
keit, ja  Reichsfreiheit.  Die  Resultate  dieses  Rampfes  machten 
eigentlich  allein  das  Aufkommen  der  Schwärmereien  im  16.  Jahrh, 
möglich,  da  sie  ein  unmittelbares  Eingreifen  des  Landsherrn  zu 
rechter  Zeit,  wo  das  Uebel  noch  in  der  Wurzel  zu  ersticken 
gewesen  wäre,  verhinderten.  Die  Geschichte  dieser  Wirren  muss 
ich  hier  übergehen :  sie  ist  mehr  für  die  Psychologen  und  Histo- 
riker ein  Fund,  als  für  den,  welcher  Poesie  und  Romantik  sucht; 
dichterische  Bearbeitungen  sind  bis  jetzt  an  ihr  gescheitert,  und 
mein  Wanderstab,  die  Wünschelruthe ,  steht  ob  ihr  still,  wieder 
Verstand  bei  ihren  Gräueln  stille  steht. 

Der  Regensburger  Reichstag  von  1640  nahm  den  Französi- 
schen Vorschlag  an,  die  Städte  Münster  und  Osnabrück  für  eine 
Friedensversanimlung  auszuwählen»  Die  Hamburger,  zwischen 
dem  Kaiser  und  Frankreich  geschlossenen  Präliminarien  erklärten 
beide  Orte  für  neutral;  so  zog  denn  1643  der.  erste  der  Kaiser- 
lichen Gesandten ,  Graf  Ludwig  von  Nassau  feierlick  eingeholt  in 
Münster  ein  :  aber  so  ermüdet  von  dem  dreissigjährigen  Kriege 
auch  die  Mächte  alle  sein  mogten,  es  währte  noch  lange,  bis  ihre 
Boten  endlich  in  ihren  Sammetbedeckten  Kutschen,  mit  ihrem 
prunkhaften  Gefolge  aus  Edelleuten,  Pagen  und  Hellebardiefen, 
von  Kanonendonner  begrüsst,  durch  die  dunklen  Thore  der  beiden 
Städte  einrollten.  Die  spanische  Grandezza  z.  B.  fand  es  ihrer 
unwürdig,  eher  als  Frankreichs  Ambassadeure  zu  erscheinen  ;  diese, 
die  Grafen  d'Avaux  und  Servien ,  wollten  dagegen  später,  als  die 
Spanier  Zappada.,  Don  Brun  aus  Dole,  Don  Diego  Saavedra  an- 
langen; jeder  wollte  in  seiner  Sprache  reden,  keiner  den  andern 
zuerst  besuchen,  und  in  an  begreift,  wie  die  Verhandlungen  dabei 


—      141      — 

sich  förderten.  Am  bescheidensten  zog  der  päbstliche  Nuntius 
ein:  die  Franzosen  spotteten,  das  auf  einem  Korbe  des  Gepäckes 
ein  Barfüssej-möncli  sässe,  wie  ein  schwarzer  Hahn  auf  dem 
Gepäcli  eines  ]\Iarketenders.  Der  Schwede  Oxenstierna  Hess  sich 
sogar  anfangs  gar  niclit  herab,  zu  erscheinen:  er  blieb  in  Minden, 
auf  seinen  i^Iitgesandten  Adler  Salvius  eifersüchtig,  wie  den  end- 
losen Hader  denn  meist  die  Eifersucht  der  Gesandten  einer  und 
derselben  Macht  unter  sich  noch  erhöhte.  Endlich  brachte  die 
Ankunft  des  Herzog's  von  Longue"\111e  und  des  Grafen  Maximilian 
von  Trautmannsdorff  etwas  Licht  in  das  Chaos  der  Negoziationen. 
Wenn  auch  die  Franzosen  anfangs  über  den  langen  hagern 
Trautmannsdorff  mit  seinen  tiefliegenden  Augen,  seiner  aufgezo- 
genen Nase,  seiner  abscheulichen  Perücke  lachten,  so  diente 
doch  sein  hoher  Ernst,  sein  Alter,  sein  prachtvolles  Geleite  von 
vielen  deutschen  Freiherrn  und  Rittern  nur  dazu,  auch  ihnen  zu 
imponiren,  und  bald  wusste  er  durch  die  Anmuth  seiner  Rede, 
die  helle  Entwicklung  des  Yerworrensten ,  den  tiefen  Verstand 
seines  Urtheil's,  vor  allem  durch  unermüdliche  Consequenz  ein- 
mal rechten  Ernst  und  .Willen  in  die^  hadernden  Gemülher  zu 
bringen.  Auch  das  intriguirende  Frondenhaupt,  das  Avundersüsse 
lockige  Haupt  Anna's  von  Bourbon ,  Herzogin  von  Longueville 
versuchte  ihren  Einfluss  auf  die  streitenden,  erhitzten  Männer; 
dass  es  nicht  ganz  erfolglos  blieb,  bezeugen  die  Worte,  die  ein 
Dichter  ite-  in  den  Mund  legt: 

Ces  heros  assembles  dedans  la .  Westphalie 

Et  de  France  et  du  Nord,  d'Espagne  et  d'Italie, 

llavis  de  mes  beautes  et  de  mes  doux  altrails, 

Crur^nt  en  voyant  mon  visage 

Que  j'elais  la  vwante  Image 

De  la  Concorde  et  de  la  paix 
Qui  descendit  des  cieux  pour  appaiser  Vorage. 

Der  hessische  gelahrte  Doktor  Vultejus  rieth  ihr,  'die  deutsche 
Sprache  zu  lernen,  um  sich  zu  unterhalten.  Darüber  ward  der 
arme  Dokter  Gegenstand  der  amüsantesten  Witze  in  den  Salons 
von  Paris:  man  konnte  von  dorther  der  Herzogin  nicht  genug 
ausdrücken,  mit  welchem  Ergötzen  man  ihre  Anmuth  im  Ge- 
spräche mit  Monsieur  Lampadius,  dem  Dokter  im  violetten  AHas- 
kleide,  sich  vorstelle.  —  Endlich,  nach  Jahren,  während  welcher 
fortwährend   die  Heerpauke  wüster  Kriegsvölker   die  zertretenen 


142      

deutschen  Lande  durchwirbelte  und  Ströme  Blutes  fliessen  mussten, 
zeigte  sich  ein  Sinn  der  langen  Rede,  und  ein  vernünftiges 
Wort  tönte  durch  die  diplomatische  Weisheit.  Dess  entstand 
eine  nicht  zu  fassende  Freude:  es  war  am  5.  Mai  1648,  als 
man  das  Rathhaus  zu  Münster  festlich  mit  Gewinden  schmückte, 
und  aus  den  Fenstern  der  Häuser  umher  Symphonien  tönen 
Hess,  die  Rathsherren  ihre  schmucksten  Halskrausen  über  das 
Sammtwamms  legten  und  die  Gilden-  zu  den  blankgeschliffenen 
Hellebarden  griffen.  Gegen  Mfttag  erschien  der  Graf  von  Penne- 
randa,  Spaniens  Ambassadeur  an  Zappada's  Stelle,  mit  grosser 
Pracht  in  sechs  Kutschen^  jede  mit  sechs  Rossen  bespannt,  um- 
strömt von  Garden  und  Pagen  und  Dienern,  die  reich  geschmückt 
voll  castilianischen  Stolzes  einherschritten;  ein  glänzendes  Reu- 
tergeschwader führte  den  Zug  an;  so  begab  sich  Penneranda 
durch  die  Reihen  der  aufgestellten  Bürgergarde,  der  Bürgermeister 
und  Rathsherren  in  den  Friedenssaal,  avo  er  sich  zu  oberst  an 
die  goldumfranzte  Tafel  zwischen  die  Gesandten  der  Niederlän- 
dischen Provinzen  setzte  und  jenes  Wort  aussprach,  die  Aner- 
kennung der  sieben  vereinigten  Provinzen  als  freie  und  selbst- 
ständige Republik.  Die  Urkunde,  die  er  untersiegelt  und  be- 
schworen ,  ward  dann  von  erhüliter  Bühne  auf  dem  mit  Teppichen 
und  Zweigen  geschmückten  Marktplatze  verlesen ,  Trommelen  und 
Paucken  schmetterten,  die  Geschütze  dröhnten  von  den  Wällen 
und  der  reiche  Spanier  Hess  zwei  Tage  hinter  einander^^ontainen 
von  Wein  dem  Volke  springen.  Diesem  Separatfrieden  folgte 
nun  nach  massigen  Zwischenräumen  der  allgemeine;  er  wurde 
zu  Münster  (auch  von  den  Schweden  ,  .die  zu  Osnabrück  unter- 
handelt hatten,)  am  14.  (24.)  October  1648  unterzeichnet;  des 
Osnabrücker  und  des  Münsterschen  Abschlusses  Urkunden  wur- 
den auf  dem  Bischofshofe*)  von  den  Kaiserlichen  Gesandten  un- 
terschrieben und  gegen  die  Abendstunde  jenes  Tages  donnerten 
dreifache  Ladungen  von  den  Basteien  der  Stadt  das  letzte  Echo 
des  schrechlichsten  aller  Kriege  nach. 

Für  Münster  sollte  der  Friede  jedoch  nicht  lange  währen. 
Am  17.  September  1651  füllte  die  Cathedrale  eine  Feier,  welche 
die  Erhebung  des    kleinen  Landes    fast  zu   einer  Macht  ersten 

*)  Das  Gebäude  ist  jetzt"  Sitz  der  königl.  Regierung;    eine  bischöfliche 
Residenz  hatte  Münster  nicht. 


—      143      — 

Hanges,  mindestens  zu  einem  bedeutenden  Moment  in  der  Wag- 
schaale  des  Europäischen  Gleichgewiclits  bewirken  sollte.  Der 
Domküster  Christoph  Bernhard  von  Galen,  der  Sohn  des  Erz- 
marschalls von  Kurland  und  Semgallen,  Theodorich  von  Galen, 
aber  dem  Münsterschen  Adel  angehörend,  ward  zum  Fürstbischöfe 
gesalbt.  Man  hat  ihn  oft  den  kriegerischen  genannt;  aber  Chri- 
stojDh  Bernhard  war  ein  Regent,  dem  es  nicht  entging,  dass 
seine  Aufgabe  auch  eine  friedliche  sei,  und  der  sie  mit  redlichem 
unermüdlichem  Streben  für  das  Wohl  seines  Landes  zu  lösen 
suchte.  Er  ist  ein  durch  Energie  und  Talent  verehrungswürdiger 
Charakter;  er  hatte  nur,  wie  viele  Fürsten  sein  Steckenpferd: 
König  Saul  liebte  die  Harfe,  Friedrich  der  Grosse  liebte  die 
Flöte  und  Bernhard  von  Galen  liebte  den  Bass ,  den  Generalbass 
für  den  Einklang  der  Staaten  und  verstand  ihn  meisterhaft;  die 
ganze  Scala  der  „Arkeley",  von  der  Quartanschlange  bis  zur 
Karthaune  zu  durchgehen  und  damit  eine  Citadelle  nach  der 
andren  zu  escaladieren,  das  war  sein  Leben,  seine  Leidenschaft. 
Die  Bürger  seiner  Hauptstadt,  die  sich  unabhängig  zu  machen 
strebten,  halten  erklärt,  sie  wollten  lieber  des  Türken,  ja  des 
Teufels  sein,  als  ihres  Bischofes:  er  versöhnte  die  wiederstre- 
benden Gemüther,  ein  neuer  Orpheus,  durch  seine  Constabler- 
Kapelle ,  deren  Töne  die  verstocktesten  Herzen,  ja  Stein'  und 
Thürme  weich  machten:  als  er  endlich  das  Siegesbanquet  in 
ihren  zerschossenen  Mauern  unter  Kugeln  und  Bomben  hielt,  die 
den  Grund  bedeckten,  und  bei  jeder  der  vielen  ausgebrachten 
Gesundheiten  80  Karthaunen  lösen  liess,  mochten  sie  freilich 
über  den  Höllenlärm  des  Teufels  zu  sein  glauben.  Ein  von  den 
Jesuitenschülern  aufgeführtes  lustiges  Drama  „  Daniel  und  Evil- 
merodach"  folgte  der  grossartigen  in  die  Wälle  der  Stadt  Mün- 
ster gerissenen  Ouvertüre;  das  Finale  machten  50  Kanonen  von 
den  Basteien  und  24  Feldstücke  von  der  Citadelle  her.  Dann 
zog  Christoph  Bernhard  mit  seiner,  freilich  nicht  bischöflichen, 
Kapelle  in  das  Nachbarland:  die  Holländer  sassen  ruhig  bei 
ihren  Theelassen ,  der  dicke  Borgemester  von  Enschede  stopfte 
seine  letzte  irdene  Pfeife  für  den  Abend,  der  Pudel  apportirt  die 
Pantoff'eln  neben  dem  lodernden  Kamine  her  und  die  lange  My- 
juffrow  zieht  ihm  den  Kragen  des  geblümten  Gingangschlafrocks 
zurecht:  die  Kanne  siedet  und  der  spiegelblank  gehöhnte  Wand- 
schrank glänzt,    von  der  knisternden   Heerdflamme  überhuscht; 


—      144       — 

so  ruhig,  so  behaglich  Alles;  ein  bezaubernd  Bild  von  Familien- 
poesie —  da  —  einmal,  zweimal,  zehnmal,  der  Boden  wankt, 
die  Decke  dröhnt,  die  Scheiben  klirren  ins  Gemach,  die  kost- 
baren Chinaschalen  fallen  in  hundert  Scherben  vor  dem  Ständchen, 
die  Klangfigurdn  zischen  glühend,  sprühend  durch  die  Luft,  der 
Bischof  ist  da  und  predigt  mit  feuriger  Zunge  über  den  biblischen 
Text ,  wie  die  Mauern  von  Jericho  eingesunken  vor  dem  Schalle 
mächtiger  Töne.  Der  Bürgermeister  lässt  Chamade.  schlagen,  denn 
er  schwört  Stein  und  Bein ,  dass  man  immer  nur  auf  sein  Haus, 
und  in  diesem  Hause  auf  seine  Schlafmütze  ziele  mit  den  bar- 
barisch Ungeheuern  Kugeln.  —  So  reitet  Bernhard  von  Galen 
kurz  nach  einander  vierzehn  holländische  Festungen  mit  seinem 
Steckenpferd  nieder.  Seit  1675  mit  dem  grossen  Churfürsten 
verbündet,  wie  früher  mit  Frankreich  und  England,  hört  jetzt 
der  Weserstrom  seine  Musik  an  und  Stade  fällt  vor  dem  unge- 
kehrten Ampliion  in  Trümmer;  bei  dieser  Gelegenheit  bescheert 
ihm  der  Herr  65  metallene  Kanonen  als  Beute  und  kann  nun  kurz 
darauf  seinen  Diener  in  Frieden  fahren  lassen,  C167S.3  Man  hat 
ihn  in  die  Cathedrale  zur  Erde  bestattet;  ein  Gitter  aus  Kanonen- 
erz beschützt  sein  Grab.  Es  war  ein  grosser  Mann;  hätte  er 
die  Macht  wie  den  Willen  gehabt,  er  wäre  ein  Alexander  ge- 
worden; Ludwig  XIY.  erklärte,  er  habe  ihn  gefürchtet. 

Der  segensreichste  Herrscher  unter  seinen  Nachfolgern  ist 
Maximilian  Friedrich  geworden,  weil  er  Franz  von  Fürstenberg 
zum  Begcnten  des  Landes  machte,  und  sein  Volk  in  die  Hände 
eines  Weisen  befahl.  Es  wäre  damals  ein  glückliches  Land 
geworden ,  dies  Münsterland  —  hätte  es  despotischer  regiert 
werden  dürfen.  —  Der  letzte  Fürstbischof  war  Maximilian  Franz, 
ein  Bruder  der  unglücklichen  Maria  Antoinette ,  von  welcher  der 
Dom  eine  Reliquie  bcAv'ahrt,  ein  von  ihren  Händen  für  den 
Bruder  gesticktes  Messgewand.  —  Nach  den  Beschlüssen  des 
Lüneviller  Friedens  wurde  das  Bisthum  Münster  durch  den 
Reichsdeputationshauptschluss  von  1803  säcularisirt;  schon  am 
3.  August  1802  hatten  4000  Preussen  von  der  Hauptstadt  Besitz 
genommen.  Der  Freiherr  von  Stein  und  Blücher  wurden  mit  der 
Verwaltung  des  Landes  beauftragt. 

Wenn  ich  euch  nun  die  Culturhistorischen  Momente  aus  der 
Vorzeit  Münsters  angeben  soll ,  so  quillt  mir  ein  so  reicher 
Stoff  entgegen,  dass  ich  mich  auf  Namenaufzählung  beschränken 


—      145      — 

muss,  um  den' Raum  dieser  Blätter  nicht  zu  tiberschreiten.  Ich 
nenne  zuerst  Rudolph  von  Lange  zu  Everswinkel,  den  ersten  la- 
teinischen Dichter  unter  den  Deutschen,  der,  lange  in  Italien 
weilend ,  der  Freund  von  Piatina ,  Hugo  Sabellicus ,  Pico  von 
Mirandola,  Lorenz  von  Medicis  ward  und  mit  einer  Gruppe  Coä- 
valen ,  darunter  Herrmann  von  dem  Busche ,  Jlurmellius  und 
andre ,  für  Weslphalen  das  Zeitalter  der  Renaissance  repräsentirt. 
Die  Domschule  von  Münster  ward  durch  ihn  berühmt  und ,  wie 
Heeren  sagt ,  von  unberechenbarem  Einfluss  auf  die  Bildung  des 
Mittelalters.  Unter  ihren  Rektoren  Avar  Herrmann  von  Kerssen- 
brock,  der  Geschichtschreiber  der  Wiedertäufer- Unruhen.  Gegen 
das  Ende  des  i6.  Jahrhunderts  übernahmen  die  Jesuiten  die 
Leitung  der  Schule,  bis  auf  die  Zeit  des  Westphälischen  Frie- 
dens segensreich  Avirkend;  die  Zeit  ihres  Glanzes  Avaren  jene 
Jahre  der  Verhandlungen  selbst,  auf  Avelche  sie  durch  ihren  ge- 
lahrten Rector  Johannes  Schücking,  meinen  Urohm,  der  in  seinem 
Garten  die  Gesandten  der  strengkatholischen  Mächte  um  sich 
versammelte,  von  bedeutendem  Einfluss  Avurden.  Auch  Nicolaus 
Schaten,  der  Vater  Westphälischer  Historie,  gehört  ihnen  an. 
Die  Universität  zu  Münster  Avirkte  seit  ihrer  Errichtung  1773  durch 
Fürstenberg  im  Geiste  dieses  unvergesslichen  Mannes :  unter  der 
Menge  bedeutender  Namen,  av eiche  sich  an  sie  knüpfen',  nenne 
ich  nur  M.  Sprickmann  und  L.  Hoffmann.  Den  Kreis  der  Fürstin 
Amalia  von  Gallitzin  und  ihrer  Freunde ,  darunter  Hamann, 
dessen  Grab  in  Münster  gezeigt  wird,  habe  ich  an  einem  an- 
dern Orte  geschildert.  In  Franz  A'on  Sonnenberg  hat  die  Poesie 
einen  Vertreter  gefunden,  den  längeres  Leben  und  Aveitere 
Entwicklung  in  die  Reihe  unsrer  grössten  Genien  hätte  setzen 
können;  er  war  eine  Avirre,  aber  grandiose  Natur,  Goethe  sagte 
von  ihm,  „er  habe  den  Imperator -Mantel  unter  den  deutschen 
Dichtern  tragen  können,  hätte  er  nicht  den  dummen  Streich  ge- 
macht ,  sich  aus  dem  Fenster  zu  stürzen."  —  Noch  eines  höchst 
merkAvürdigen  Mannes  muss  ich  hier  erAvähnen,  der  durch  sein 
Geschlecht  Westphalen,  durch  seine  Geburt  Münster  angehört. 
Er  zog  aus  als  die  arme  Waise  eines  Münsterschen  Gardchaupt- 
manns ,  ohne  anderes  Besilzthum  als  seinen  Kopf  und  Avas  drin 
von  den  Worten  Plutarch's  hängen  geblieben,  seines  wie  aller 
grossen  Männer  Lieblingsautors,  trieb  sich  in  allen  Ländern  Eu- 
ropa's  umher  und  kommt  im  Jahre   1736  auf  der   Insel  Corsika 

11 


—      146      — 

an ,  eine  Million  Scudi  in  seinen  Chatiillen ,  einen  langen  schar- 
laclirothen  mit  Hermelin  gefütterten  Königsmanlei  um  seine  Schul- 
tern geschlagen.  So  tritt  er  an  das  Gestade  von  Aleria,  an  der 
Ostküste  der  Insel,  nimmt  den  dreieckigen  Hut  von  seiner  wohl- 
frisirten  Perücke  und  lässt  sich  unter  freiem  Himmel  von  dem 
tapfern  Volke  der  Corsen  eine  Krone  von  grünendem  Lorbeer 
darauf  setzen;  ihre  Consulta  zu  Alessani  ruft  ihn  zum  Herrscher 
aus ,  die  Vornehmsten  tragen  ihn  auf  ihren  Schultern  im  Triumphe 
umher  und  unaufhörlicher  Jubel  ruft  Heil  auf  Theodor  I.  König 
von  Corsica  und  Capraja  herab.  —  Das  war  ein  denkwürdiger 
Tag,  nicht  allein  für  die  beiden  Inseln,  sondern  für  ganz  Europa. 
Theodor  I.  zeigte  den  Corsicanern  wie  man  den  Purpur  um  die 
Schulter  schlägt,  ohne  Porphyrogenet  zu  sein  und  sie  behielten 
die  Lehre;  keine  hundert  Jahre  verflossen  und  ein  Corse  sass 
auf  dem  Thron  von  Frankreich  und  Italien,  einer  auf  dem  von 
Spanien,  einer  auf  dem  von  Holland,  und  aus  Dankbarkeit  für 
den  König  aus  Westphalen  ward  uns  ein  König  aus  Corsica  be- 
schert. —  Theodor  I.  führte  eine  glorreiche  Regierung,  be- 
kämpfte die  genuesischen  Zwingherren  des  Landes,  ordnete  mit 
weiser  Einsicht  sein  Reich ,  trieb  in  ganz  Europa  Hülfsquellen 
und  Unterstützungen  dafür  auf,  schlug  Münzen,  Ritter  und  Gra- 
fen und  war  ein  ächter  rechter  König  bis  an  sein  Ende.  Soll 
ich  euch  den  letzten  Akt  seiner  Regierung  beschreiben?  Er 
sitzt  auf  einem  Throne  unter  einem  hohen  Baldachin,  die  wohl- 
frisirte  Perücke ,  um  die  sich  einst  die  Lorbeerkrone  geschlun- 
gen, auf  seinem  Haupte,  das  Grossmeisterkreuz  seines  Ordens 
„der  Befreiung"  auf  der  Brust;  die  Rechte  hält  majestätisch  den 
funkelnden  Griff  des  spanischen  Degens  gefasst ;  aber  der  Pur- 
purmantel fehlt,  der  gallonirte  Rock  zeugt  von  langem,  langem 
Gebrauch ,  seine  Gestalt  ist  alt  und  kraftlos  zusammengesunken, 
auf  seiner  Stirn  haben  Thaten  und  Gedanken  ihre  Narben  ge- 
lassen und  wxr  nicht  wüsste,  diese  dürftige  und  doch  so  maje- 
stätisch mit  den  Augen  blitzende  Figur  sei  ein  König,  der  hätte 
Mitleid  mit  dem  Manne,  Vor  ihm  steht  entblössten  Hauptes,  re- 
spectvoll  gebückt  eine  Ambassade:  es  sind  englische  Männer, 
aus  den  höchsten  Geschlechtern ,  gekommen  um  ihm  einen  Tribut 
zu  entrichten.  Aber  ach,  dieser  Tribut  ist  ein  Almosen,  das  sie 
für  ihn  gesammelt  haben,  sein  Audienzsaal  ist  ein  ärmlich  Käm- 
merchen  im    vierten  Stockwerke    eines    Londoner    Hauses,  der 


—      147      — 

Baldachin  über  seinem  Haupte  ist  der  Himmel  seines  Betts,  das 
er  in  der  Eile  zur  Seite  geschoben  hat,  um  einen  wurmstichigen 
Armstuhl  als  Thron  darunter  zu  stellen;  er  selbst,  der  recht- 
mässige, vom  Volk  einstimmig  gewählte  König  von  Corsika  und 
Capraja,  ist  eben  dem  Schuldgefängnisse  der  Kingsbench  ent- 
lassen. —  Bald  nachher  starb  er;  Horaz  Walpole  setzte  ihm,  dem 
das  Schicksal  bestowed  a  Kingdom  and  demjed  bread,  eine  Grab- 
schrift und  Maestro  Paesiello  setzte  eine  Oper  il  re  Theodoro  in 
Musik.  Das  Stammgut  Theodors,  die  Burg  Neuhof  liegt  hinter 
Lüdenscheid  am  Eisperbach.  — 

An  Sagen  ist  Münster  und  das  Münsterland  sehr  reich,  und 
ebenso  an  Volksliedern.  Durch  die  Strassen  der  Stadt  Avandelt 
nächtlich  der  Amtmann  Timphoht  in  langer  weisser  Perrücke,  gros- 
sem dreieckigem  Hute  und  grünseidnem  Rocke.  In  der  Dawert, 
einem  Walddistrickt  in  der  Nähe  der  Stadt,  worin  die  Trümmer 
der  alten  Feste  eines  ausgestorbenen  Geschlechts,  der  Davens- 
berg,  liegt,  treibt  der  Teufel  sein  Wesen,  jagt  mit  Hailoh  und 
Rüdengeheul  der  Hochjäger,  spucken  Kobolde  und  Jungfer  Eli 
aus  Frekenhorst,  der  Aebtissin  ungetreue  Haushälterin,  die  in 
ihrem  grünen  Hütchen  mit  w^eissen  Federn  auf  dem  Aepfelbaum 
sass,  als  der  Pfarrer  kam,  um  ihr  die  Sterbesakrameute  zu 
bringen;  alle  Jahre  einmal  fährt  sie  mit  schrecklichem  Gebrause 
von  der  Dawert  aus,  wohin  sie  exorcirt  ist,  über  die  Abtei  zu 
Freckenhorst  und  alle  Vierhochzeiten  kommt  sie  ihr  um  einen 
Hahnenschritt  wieder  näher.  Wenn  es  Abends  stürmt  und  weht, 
dann  schreitet  ein  gewaltig  grosser  Mann  im  weiten  Mantel,  ei- 
serne Schnallen  auf  seinen  Schuhen ,  über  die  Haide.  Kommt 
ein  Mädchen  daher  gegangen,  so  eilt  er  mit  langen  Schritten 
auf  sie  zu,  nimmt  sie  unter  seinen  Mantel  und  bringt  sie,  in- 
dem er  sie  immer  fester  an  sich  schmiegt,  ohne  ein  Wort  zu 
sagen,  über  die  Haide.  Ehe  er  sie  aber  gehen  lässt,  drückt  er 
ganz  sanft  und  innig  einen  Kuss  auf  ihren  Mund;  das  arme 
Mädchen  geht  sodann  erschrocken  nach  Hause  und  ist  am  andren 
Morgen  lodt.  Ein  eben  so  poetisches  Moment  wie  dieser  schöne 
Mythus  von  Haidenmann  bieten  oft  die  Volkslieder  dar  z.  B.  das 
vom  „Leiden  Christi;" 


v 


Als  Chrisfus  der  Herr  im  Garten  ging 
Und  da  mit  ihm  sein  Leiden  anfing, 


—      148      — 

Da  trauert  das  Laub,  das  grüne  Gras, 
Weil  Judas  sein  Verräther  was. 

Er  trägt  das  Kreuz  mit  gelassnem  Sinn 
Und  fällt  vor  Schmerz  zur  Erde  hin; 
An's  Kreuze  hing  man  Jesura  bald, 
Maria  ward  das  Herze  kalt. 

Die  hohen  Bäume  die  beugen  sich, 
Die  hohen  Felsen  die  neigen  sich. 
Die  Sonn'  und  Mond  verlor  ihren  Schein, 
Die  Yögel  lassen  ihr  Rufen  sein. 

Die  Wolken  schreien  Ach  und  Weh, 

Es  heulet  der  Sturm,  es  brauset  die  See, 

Die  Gräber  öffnen  ihre  Thür, 

Und  sieh,  die  Todten  kommen  herfiir. 

Nun  merket  an,  wie  Frau  so  Mann, 

Wer  dieses  Liedlein  singen  kann. 

Der  sing  es  Tages  nur  einmal , 

Seine  Seel'  wird  kommen  in  Himmels  Saal.  —  *) 

Die  ganze  harmlosnaive  Eigenthümlichkeit  des  Westphälischen 
Landvolks  spiegelt  sich  in  diesen  Sagen  und  Liedern,  jene  kind- 
liche Gläubigkeit  und  Frömmigkeit,  die  doch  wieder  ihr  schalk- 
haft humoristisches  hat  und  durch  ihre  einfach  naturwüchsige  An- 
schauung aller  Dinge  oft  den  Schein  unnennbar  tiefer  oder  geist- 
reicher Auffassung  bekommt.  Die  Volkslieder  enthalten  Liebes- 
klagen oder  öfter  humoristische  Ausfälle  gegen  Ehe-  und  Liebes- 
noth  und  dann  im  plattdeutschem  Idiom,  ein  Beweis,  dass  diese 
letztere  Art  der  Auffassung  dem  Volke  die  eigenthümlichere  ist. 
Die  Sagen  knüpfen  sich  zumeist  an  auffallende  Oerthchkeiten ;  wo 
ein  schöner  Weiher  ist,  da  liegt  eine  Kapelle  versunken,  an  stillen 
Tagen  tönen  ihre  Glocken  aus  der  Tiefe  und  alljährlich  einmal 
kommen  weisse  Schwäne  aus  dem  fernsten  Norden  und  ziehen 
lautlos  ihre  Kreise  über  den  durchsichtig  klaren  Spiegel;  wo 
Hühnensteine  liegen,  da  haben  Riesen  gehaust,  mit  schroffen 
Felsen  hat  fast  immer  der  Teufel  zu  thun  gehabt.  Die  Urnen,  die 
man  aus  den  in  Menge  durch  ganz  Westphalen  zerstreuten  heid- 


*)    S.  die  verdienstvolle  Sammlung  „Münstersche  Gechichten,  Sagen  und 
Legenden  " ,  Münster  1825.   J.  Grimm  deutsche  Sagen  L  232.  i84. 249. 


—      149      — 

iiischen  Gräbern  nimmt,  nennt  das  Volk  des  Niederstifts  Münster 
•  „Ulkenpötte"  und  glaubt,  sie  seien  Behausungen  des  kleinen  Ge- 
schlechts der  Ulken  (Zwerge). 

Was  das  Münsterland  in  seinen  kleinern  Orten  an  Sehens- 
werthem  besitzt,  muss  ich  übergehen:  ich  kann  euch  nicht  zu- 
muthen,  zu  seinen  Schlössern  und  Abteien  allen  mir  zu  folgen, 
zum  Stromberge  z.  B.  wie  schön  er  auch  auf  seiner  Avaldbedeck- 
ten  Höhe  daliegt  mit  seinen  Burglrümmern ,  die  das  mächtige 
Geschlecht  der  Burggrafen  von  Stromberg  besass ,  bis  den  letz- 
ten unruhigen  Herrn  im  44.  Jahrhundert  Bischof  Florenz  von 
Münster  aus  dem  Erbe  seiner  Väter  und  in  die  Verschollenheit 
trieb,  wie  reich  er  auch  an  Sagen  und  Mährchen  ist,  von  dem 
letzten  Kampfe  um  die  Burg,  von  dem  einzigen  Kinde  des  Gra- 
fen Burchard,  Sophia,  deren  Geliebter  Herrmann  von  Morrien  in 
der  Fehde  erschlagen  wurde,  dass  sie  in  ein  Kloster  ging,  dem 
ihr  gebrochenes  Herz  den  Namen  „Herzebrock"  gegeben  haben 
soll,  von  Burchard  selbst  endlich,  den  man  zuletzt  als  gebtickten 
Greis  in  Pilgertracht  am  heiligen  Grabe  gesehen.  Nur  muss  ich 
euch  die  wunderbare  Grabschrift  in  der  Kirche  zu  Borken  zei- 
gen ;  ^^Obiit  Lux  Johannes  de  minori  egipto  F.  Cal.  Dec.  anno 
1438,^''  die  das  Denkmal  des  letzten  Zigeunerkönigs  bildet,  wel- 
cher auf  dem  Marktplatz  des  Städtchens  wegen  Todschlags  eines 
andren  „Ileidenkönigs"  Nachts  bei  Fackellicht  enthauptet  wurde. 
(Nunning,  mon.  monast.~)  Von  den  Schlössern  des  Adels  will 
ich  nur  zu  einem  euch  führen;  das  ist  Nordkirchen,  wenige 
Stunden  südlich  von  Münster,  ein  grosses  schönes  Landhaus, 
erbaut  um  1700  von  dem  Fürstbischöfe  Friedrich  Christian  von 
Plettenberg.  An  breiten  prächtigen  Gräben  vorbei,  die  Garten- 
anlagen umschliessen  ,  während  dunkle  Lindenalleen  mit  Statuen, 
Orangerie  und  Theatergebäude  die  frühere  ungewöhnliche  Aus- 
dehnung der  Schlossgärten  bezeichnen,  die  jetzt  zum  Anger  ge- 
worden sind,  führt  euch  der  Weg  durch  mehrere  mit  Wappen- 
schildern und  Panoplien  geschmückte  Thore  auf  den  nach  drei 
Seiten  von  Gebäuden  im  Styl  des  vorigen  Jahrhunderts  umschlos- 
senen Hof.  Die  grosse  Schlosshalle  und  das  Treppenhaus  sind 
mit  Ahnenbildern  und  andren  Gemälden,  kostbaren  China- Vasen 
und  Statuen  geschmückt:  der  Schatz  des  Schlosses  ist  eine  Ge- 
mälde-Gallerie  mit  Bildern  von  hoher  Schönheit ,  Werke  van  der 
Vliets,  van  Dycks,    Rubens,    Martins  Schön,   Kembrandts ,   mit 


—      150      — 

einem  Cartoii  von  Leonardo  da  Vinci  endlich,  eine  heilige 
Familie  darstellend,  der  alles  zu  übertreffen  scheint,  was  der 
Crayon  je  liebliches  und  anmuthiges  geschaffen.  In  einem  der 
Gemächer  zeigt  man  auch  die  Sporen  und  den  Stab  Walters  von 
Plettenberg,  des  gewaltigen  Heermeisters  des  deutschen  Ordens 
in  Livland,  der  1502  mit  7000  Ordensrittern  und  5000  Liv- 
ländern  ein  Heer  von  130,000  Moscovitern  und  Tartaren 
so  aufs  Haupt  schlug,  dass  100,000  Leichen  auf  dem  Wahl- 
platz blieben.  —  Wenn  ihr  durch  die  freundlichen  hellen 
Gemäumer  mit  ihren  Gobelins ,  Stuccaturen  und  Supporten 
schreitet,  durch  den  weiten  ßibliothekensaal  mit  so  viel  mo- 
derner Weisheit,  wo  Voltaire  und  Bayle  die  alten  Psalte- 
rien  voll  frommer  Miniaturmalereien  in  den  Schatten  gedrängt 
haben ,  dann  glaubt  ihr  Avohl  nicht ,  dass  in  diesen  Räumen  un- 
heimliche Geister  hausen  mögen;  und  doch  war  dem  einst  so: 
der  böse  Renlmeister  Schenkewald  ging  früher  im  Schlosse  um, 
heulte  und  lärmte  die  Treppen  auf  und  ab  oder  man  sah  ihn, 
wie  er  an  einem  Tische  sass  und  Geld  zählte.  Endlich  liess 
man,  um  ihn  zu  bannen,  Messen  lesen.  Da  in  einer  finstern 
stürmischen  Nacht ,  polterte  er  ärger  denn  je :  plötzlich  aber 
wurde  gewaltsam  die  Klingel  gezogen,  alle  Bedienten  sahen  zum 
Fenster  hinaus  und  erblickten  eine  prächtige  Kutsche  mit  vier 
kohlschwarzen  Rossen  vor  der  Schlossthüre.  Darin  sassen  zwei 
Kapuziner,  welche  ausstiegen,  ruhig  und  stumm  in  das  Schloss 
gingen  und  alsbald  mit  Schenkewald  wieder  herauskamen.  Alle 
drei  stiegen  in  den  Wagen,  Schenkewald  sass  zwischen  den 
Kapuzinern,  eine  Peitsche  knallte  und  blitzschnell  fuhr  der  Wa- 
gen in  die  Nacht  hinaus ^  nach  der  Dawert  zu.  Da  fährt  Schen- 
kewald nun  seitdem  bis  auf  den  heutigen  Tag  mit  den  beiden 
Kapuzinern  und  in  demselben  Wagen  umher.  Eine  Menge  Leute 
haben  ihn  fahren  sehen;  einige,  die  glaubten,  es  sei  eine  herr- 
schaftliche Kutsche,  haben  sich  hinten  auf  setzen  wollen;  kaum 
aber  hatten  sie  den  Wagen  berührt,  so  flog  er  mit  den  Ros- 
sen hoch  durch  die  Lüfte  davon. 


|Ia^  tUa|]>röebut  Irer  fxppc^ 


JVlit  Nordkirchen  sind  wir  auf  das  Gebiet  der  Lippe  über- 
gegangen, obwolil  hier  und  in  Cappenberg,  dem  Punkte,  der 
uns  zunächst  durch  die  Romantik  seiner  Lage  und  seiner  Ge- 
schichte anzieht,  noch  im  Münsterlande.  Wir  wandern  von 
Nordkirchen  gen  Süden  durch  Waldung  und  über  Hügelreihen, 
durch  eine  schöne  idyllische  Landschaft,  bis  die  Höhe  von  Cap- 
penberg uns  in  eine  Gegend  von  ganz  verschiedenem  Charakter 
versetzt.  Die  Natur  wird  grossartig  schöner  hier,  die  prächtige 
dunkle  Kastanienallee  zur  linken  Seite  der  Abtei  lässt  uns  in 
eine  tiefe  Waldschlucht  hinabblicken,  unten  in  dem  Thale  mit 
seinen  Gebtischen  und  holzreichen  Fernen  sehen  wir  Gruppen 
alter  Eichen,  Wiesen,  ruhende  Heerden,  so  malerisch,  dass  wir 
an  Ruisdaels  Bilder  gemahnt  werden.  Die  Aussicht  oben  vom 
Balkone  des  Gebäudes  selbst  ist  so  eigen  schön ,  die  Landschaft 
so  reich  und  warm,  dass  wir  ein  Stück  des  wealthy  and  merry 
Old  England  vor  uns  zu  haben  glauben  und  auf  den  Richmond- 
Hügel  in  Surryshire  uns  versetzt  wähnen  können. 

Betreten  wir  den  Schlosshof:  eine  Art  bouUng-green  mit 
Blumenparterres  und  ausländischen  Stauden  füllt  ihn,  ringsumher 
sind  Gebäude,  dahinter,  dem  Eingang  gegenüber,  die  Ableikirche 
und  wie  mit  weiten  Flügeln  sie  beschützend  das  Hauptgebäude, 
hoch  ,  geräumig  ,  aber  ohne  Architektonik. 

Cappenberg  war  einst  eines  der  reichsten  Klöster  Deutsch- 
lands. Früher  als  sächsische  Feste  von  Karl  dem  Grossen  besetzt, 
wurde  sie  darauf  der  Haupthof  einer  Grafenfamilie,  die  nach  auf- 
gelösstem  Heerbann,  mit  ihrem  Gefolge  von  Dienst-  und  Lehns- 


—      152      — 

inaniien  ein  bedeutendes  Moment  in  den  Wirren  der  Sachsenkriege 
mit  Heinrich  lY.  bildete.  Aber  obwohl  ihre  Stellung  zu  Fehden 
und  Blutvergiessen  sie  zwang,  hatte  doch  seit  je  ein  frommer 
Sinn  in  ihrem  Hause  geherrscht:  Graf  Hermann  ward  sogar  als 
Wunderthäter  geehrt:  in  seinen  Enkeln  Gottfried  und  Otto,  den 
letzten  Grafen,  kehrte  erhöht  die  Denkart  Hermanns  wieder;  sie 
entsagten  allem,  was  die  Geburt  ihnen  gegeben^  dem  unermess- 
lichen  Reichthumj  dem  Glänze  ihrer  Verbindung  mit  dem  Ge- 
schlechte der  fränkischen  und  hohenstaufischen  Kaiser  (ihre  Mutter 
Beatrix  war  eine  Hohenslaufentochter ,  Otto  hob  als  nächster 
Schwertmage  den  hohen  Rothbart  über  die  Taufe,)  und  machten 
ein  Kloster  aus  ihrer  festen  schönen  Burg.  Das  ist  eine  merk- 
würdige Geschichte ,  die  uns  lebhaft  in  die  Zeiten  zurückversetzt, 
wo  ein  Peter  von  Amiens,  ein  Fulco  von  Neuilly  auf  ihren  Eseln 
die  Lande  durchzogen,  um  die  Idee  der  religiösen  Hingebung 
zur  wirklichen  körperlichen  Aufopferung  von  Gut  und  Blut  zu 
steigern,  wo  der  Himmel  in  enger  Wechselbeziehung  mit  der 
Erde  seine  Boten  zu  ihr  hinab  sandte,  wie  seine  Diener  sie  zu 
ihm  hinauf. 

Die  Knaben  Gottfried  und  Otto  wurden  mit  zwei  Schwestern 
und  einer  Base  Gerberge  von  einem  Burgpfaff  Wichmann  in 
strenger  Gottesfurcht  erzogen.  An  dem  südlichen  Abhang  des 
Berges ,  den  ihre  Stammburg  krönte ,  stand  von  schattigen  Bu- 
chenwipfeln überzweigt  eine  Kapelle  der  heiligen  Jungfrau: 
dorthin  führte  der  Priester  die  Kinder,  wenn  sie  in's  Freie 
schweifen  wollten  und  fesselte  durch  seine  Legenden  von  der 
minniglichen  Königin  der  Engel  ihre  jungen  Herzen.  Als  sie  er- 
wachsen waren ,  nahm  die  Base  Gerberge  im  Kloster  unsrer  lieben 
Frauen  zu  Münster  den  heiligen  Weihel;  Gottfried  aber  nahm, 
als  er  Graf  geworden,  die  schöne  Jutta  von  Arnsberg  zum  Ge- 
mahl und  führte  sie  unter  glänzenden  Ritterspielen  auf  Cappen- 
berg  ein.  Er  liebte  sie  und  liess  sich  von  ihr  fesseln,  bis  der 
Name  des  grossen  Norbert,  der  in  Köln  eingezogen  war,  ihn  in 
die  heilige  Stadt  am  Rheine  rief.  Es  war  im  Jahre  1122  als 
Graf  Gottfried  die  Predigt  des  wunderbaren  Mannes  anhörte,  der 
die  Flammen  eines  Apostelgeistes  ausathmend ,  durch  den  Hauch 
seiner  Rede  das  fromme  Herz  des  Gebieters  von  Cappenberg  wie 
weiches  Wachs  zerschmolz.  Gottfried  war  frohen  Muthes,  mit 
hochstrotzendem  Zimier  in  das  Thor  der  viellhürmigen  Stadt  ein- 


—      153      — 

geritten;  er  verliess  es  gesenkten  Hauptes  und  beklommener 
Brust:  er  wollte  aus  seinem  Hause  ein  Kloster  stiften,  und  all 
sein  Gut  dazu  thun  und  selbst  ein  JMönch  werden  und  sein  Weib 
von  sich  senden;  er  muss  ein  starker  Mann  gewesen  sein,  als  er 
es  der  blonden  Jutta  sagte.  Anfangs  lachte  man  seines  Planes, 
dann  Avurde  Otto,  sein  Bruder,  heftig;  Jutta  weinte;  und  als  er 
dennoch  darauf  bestand,  da,  sagt  der  Chronist,  hatte  der  arme 
Gottfried  viel  zu  leiden,  der  Bischof  Theodorich  von  Münster 
schalt  es  Unsinn,  das  Stift  der  bessten  Markburg  zu  berauben, 
Gottfrieds  Diener  begannen  an  ihres  Herrn  Verstände  zu  verzwei- 
feln, und  die  Vasallen,  die  wohl  ihre  beiden  Hände  beim  Homa- 
gium  einem  jungen  Helden,  einem  Sohne  Wittekinds  kniend  in 
die  seinen  legen,  aber  nicht  vor  kahlgeschornen  Glatzen  sich 
bücken  wollten,  sagten  geradezu,  er  sei  wahnsinnig  geworden. — 
Aber  waren  die  Menschen  auch  dem  frommen  Beginnen  entgegen, 
Gottfried  blieb  standhaft  und  gefestet  durch  höhere  Offenbarun- 
gen. Der  Base  Gerberge ,  die  unterdess  Äbtissin  geworden ,  war 
im  Traum  ein  glänzender  Jüngling  erschienen  und  halte  ihr  in's 
Ohr  geraunt:  „Wie  schön  wäre  Cappenberg  zu  einem  Gotteshau- 
se!" Durch  die  Sääle  von  Cappenberg  selbst  schritt  nächtlich  der 
heilige  Augustinus ,  als  wolle  er  Besitz  ergreifen  für  die  Kirche. 
Endlich  ritt  eines  Tages  ein  schlichter  Mönch  auf  einem  Esel  in 
den  Burghof  ein.  Der  Thorwart  hätte  gewiss  die  Zugbrücke  vor 
ihm  aufgezogen,  hätte  er  das  graue  Männlein  gekannt;  aber  er 
errieth  zu  spät,  wen  er  eingelassen,  als  er  seinen  Gebieter  in 
namenloser  Freude  ihm  entgegenstürzen  sah :  es  war  Sankt  Nor- 
bert selbst,  der  also  demüthig  angeritten  kam.  Damit  war  die 
Sache  entschieden :  der  schlichte  Mann  hub  an  zu  predigen  und 
siehe,  die  widerstrebendsten  Gemüther  wurden  weich  und  über 
den  zornigen  Otto  selbst  kam  der  Geist,  dass  er  seines  Bruders 
Eifer  zu  überstürmen  schien.  Nur  der  armen  Jutta  musste  die 
Einwilligung  abgedrungen  werden.  Den  Bischof  Theodorich 
stimmte  ein  Verweis  seines  Metropoliten  von  Köln  um,  und  so 
gab  denn  auch  er  seine  Einwilligung  und  weihte  mit  grosser 
Feierlichkeit  unter  der  Assistenz  des  Heiligen  als  ersten  Probstes 
das  Schloss  den  Prämonstratenser  Mönchen  zum  Kloster  ein,  trotz 
des  Tumultes  der  hörigen  Leute,  welche  die  Pfaffen  verjagen 
und  Gottfried  als  Wahnsinnigen  gefangen  nehmen  wollten.  Ein 
Frauenkloster  ward    zu  gleicher  Zeit  am  Fusse  des  Berges  er- 


—      154       — 

richtet,  das  Jutta,  Beatrix,   die  Schwester  Gottfrieds,   und  eine 
Adelheid,  Gräfin  von  Oldenburg  bezogen. 

Zu  jener  Zeit  aber  war  ein  wilder  gewaltsamer  Mann  in 
Westphalen,  aus  dem  Hause  der  Billung  geboren,  mächtiger  und 
kriegsberühmter   noch  als  die  Grafen  von  Cappenberg:    es  war 
Graf  Friedrich   der  Streitbare  von  Arnsberg,    dessen  Faust  mit 
dem  Schwerte  verwachsen  schien,    dessen  Burgen   nicht  stille 
wurden  von  dem  Jammern  Bestrickter  in  seinen  Verliessen.    Der 
gerieth  in  grossen  Zorn,    als  er  vernahm,  was   auf  Cappenberg 
sich  begeben,  dass  man  seine  Tochter  Jutta  in's  Kloster  gesteckt 
und  dass  die  Kirche  haben  sollte,   was  jener  als  Witthum  aus- 
gesetzt war:    mit  Rossen  und  Reisigen   lag   er  eines   schönen 
Morgens  vor    dem   neuen  Kloster,    und   drohte,    er  wolle  den 
heiligen  Norbert  mit  sammt  seinem  Esel   an  einen  Wagbalken 
aufhängen,  um  zu  sehen,  w^er  schwerer  sei.    Die  Mönche  oben, 
die  Norbert  von  Prämontre  herübergeholt  hatte .    bereiteten  sich 
zum  Tode  vor,  denn  dass  man  rasch  die  Thore  verriegelte  und 
die  Zugbrücken   aufzog,   versprach  wenig   Schutz,   weil   keine 
streitbaren  Männer  da  waren,  auf  den  Mauern  zu  stehen.    Nur 
Gottfried  blieb  ruhig:    er    sagte   seinem  rauhen  Schwiegervater 
keck  in's  Gesicht:  „Ihr  scheint  zu  glauben,  Ihr  wäret  im  Mittel- 
punkte  der  Welt  und  alles   müsse  nach  Eurem  Willen  sich  um 
Euch  bewegen ;  der  liebe  Herrgott  selbst  ist  vor  Eurem  Schwerte 
seiner  Güter  nicht  sicher.    Was   macht  Ihr  aus  allem,    was  Ihr 
Euer  Eigen  nennt?  wie  seid  ihr  mit  der  einzigen  Tochter  Eures 
Bruders  verfahren ,  so  Ihr  grausam  unter  Schloss  und  Riegel  habt 
gehalten?"  dann  schüttelte  er  ihm  den  Bart  und  sprach:  „Lieber 
Herr!  Ihr  seid  jetzt  noch  ein  grosser  reicher  Mann,   ein  Fürst 
der  Welt,    aber  Euer  Haar  und  Eure   Wangen  sind   gebleicht, 
mögt   wollen  oder  nicht,    auch    ihr  müsst  sterben  und  in  den 
Staub  den  steifen  Nacken  beugen.    Bestellt  Euer  Haus,  dass  Ihr 
nicht  jenseits  zu  den  Untersten  gerathet."    Friedrich  lachte ,  aber 
er  zog  ab  mit  seinen  Gesellen   und  wandte  sich  an  den  Kaiser; 
dieser  jedoch  bestätigte  1123  die  Stiftung  und  Gottfried  konnte  eine 
Zeitlang  ruhig   der  Vollendung   seines  Werkes  leben.    Er  warf 
den  gräflichen  Schmuck  von  sich,  nahm  die  Tonsur,   pflegte  der 
Kranken,  betete  in  Thränen  gebadet;   in  halb  ritterlicher,  halb 
mönchischer  Kleidung  schritt  der  schöne  kräftige  junge  Mann  mit 
grossen  leuchtenden  Augen,  (oculis  stellantibus)  voller  Anmuth, 


—      155      — 

voll  süsser  Gabe  der  Rede,  durch  die  Reihen  seiner  Mönche,  die 
ihn  wie  einen  Heiligen  verehrten.  Als  ihm  einer  derselben  klagte 
über  die  Strenge  der  Disciplin,  da  sprach  er:  „wisst  Ihr,  was 
die  Fährleute  thun,  so  über  den  Rhein  setzen  wollen?  Sie  stos- 
sen  den  Kahn  eine  gute  Strecke  stromaufwärts  von  dem  Orte  ab,' 
an  dem  sie  jenseits  landen  wollen,  und  doch  haben  sie  Mühe, 
mit  guten  Ruderschlägen  das  Ziel  zu  erreichen."  Der  heilige 
Norbert  sagte  von  Gottfried,  wie  man  sage,  dass  ein  abgehetzter 
Hirsch  einen  andern  für  sich  aus  seinem  Lager  auftreibe,  und 
dieser  nun  für  ihn  vor  der  verfolgenden  Meute  seinen  Lauf  be- 
ginne, so  habe  ihm,  dem  Müden,  die  Vorsehung  den  Grafen  Gott- 
fried erweckt. 

Unterdess  hatte  Jutta  still  in  ihrem  Klösterlein  die  Tage 
verlebt,  bis  sie  plötzlich  von  einem  Ritter,  den  die  Chronik 
Franco  nennt,  entführt  wurde.  Gottfried  sah  den  Räuber  und 
stürmte  ihm,  wie  er  Mar,  wehr-  und  waffenlos  nach;  als  er  ihn 
eingeholt,  da  legte  jener  die  Lanze  ein  und  wollte  ihn  durchboh- 
ren; aber  betroffen  von  der  Ruhe  des  Grafen,  der  ihm  fest  ent- 
gegentrat^ wandte  er  still  sein  Ross  und  ritt  mit  seiner  Beute 
weiter.  Gottfried  griff  nun  zu  dem  verlassenen  Waffengeräthe 
wieder  und  hub  sich  mit  Allem,  was  von  Mannschaft  um  ihn 
war,  in  den  Stegreif.  Doch  erst  über  dem  Rheine  holte  er 
Franco  wieder  ein  und  brachte  Jutta  in  ihre  Clausur  zurück: 
aber  als  er  heimkam ,  da  war  noch  eine  Taube  mit  einem  Myrr- 
thenzweige  aus  der  Arche  geflogen ,  und  kam  nicht  gleich  jener 
zurück;  seine  Schwester  Gerberge  war  von  einem  Ritter  von 
Erpenrode  entführt.  Im  Jahre  1125  zogen  Gottfried  und  Otto  nach 
Premontre  und  Hessen  sich  mit  grossem  Pompe  zu  Akoluthen  des 
Ordens  einweihen,  legten  die  Gelübde  ab  und  lebten  nun  ganz 
der  Erfüllung  klösterlicher  Pflichten.  Sie  stifteten  noch  sieben 
Gotteshäuser  aus  ihren  zerstreuten  Gütern,  von  denen  übrigens 
die  Bischöfe  von  Mainz,  Köln  und  Münster  grosse  Stücke  an  sich 
rissen;  zwei  Schlösser  und  Ortschaften  handelte  Herzog  Friedrich 
von  Schwaben  seinem  frommen  Vetter  für  Reliquien  ab ,  für  Blu- 
men, welche  die  Mutter  Gottes  in  der  Hand  hatte,  als  der  Engel 
Gabriel  zu  ihr  trat  und  andere  kostbare  Sachen. 

Die  reiche  Erbschaft  des  Grafen  von  Arnsberg,  der  wie  die 
Mönche  erzählten,  zur  Strafe  plötzlich  über  Tafel  aus  einander 
geborsten  sein  soll,   schlug  Gottfried   aus:   was  bedurfte  er  des 


—      156      — 

Reichthums?  seine  Nahrung  bestand  oft  Tage  lang  aus  Wasser 
und  Brod:  schon  früher  hatte  Gottfried  gesagt,  er  gäbe  nicht 
eine  Feder  seines  Helmes  für  all  den  Reichthum  seines  Schwä- 
hers.  —  „Wahrhaftig,  Bruder,  was  soll  ich  dir  weiter  sagen, 
dieser  Mann  sass  auf  festem  Grunde,"  pflegte  ein  alter  Mönch 
zu  sprechen,  wenn  er,  der  in  seiner  Jugend  den  Grafen  gekannt, 
nach  ihm  gefragt  wurde.  — 

Es  war  in  einer  der  letzten  Nächte  des  Jahres  1126  als  die 
Aebtissin  Gerberge ,  die  stets  mit  besonderer  Liebe  an  dem  Yetter 
gehangen,  plötzlich  die  Thüre  ihrer  Zelle  sich  öffnen  sah  und 
der  fromme  Graf  vor  ihr  Lager  trat:  erstaunt  richtete  sie  sich 
auf,  es  glänzte  ein  goldnes  Diadem  auf  seiner  Stirne,  ein  wun- 
derbares Leuchten  ging  von  seiner  Gestalt  aus,  sie  fragte:  „Avie 
gehst  du  so  gekrönt  einher?"  da  antwortete  er:  „ich  bin  ohne 
Gericht  in  den  Pallast  des  grossen  Königs  aufgenommen  und 
wie  seinen  Sohn  hat  er  mich  gekrönt  mit  dem  Diadem  seliger 
Unsterblichkeit,"  und  auf  seiner  Krone  las  sie  die  Worte:  „der 
Herr  hüllte  mich  in  das  Kleid  des  Heiles  und  schlug  um  mich 
den  Mantel  der  Seligkeit  und  setzte  wie  einer  Braut  die  Krone 
mir  auf."  Darauf  verschwand  die  Gestalt:  bald  nachher  aber 
kam  die  Kunde,  zu  Ilmstedt  in  der  Wetterau  sei  in  jener  Nacht 
Graf  Gottfried  in  seinem  dreissigsten  Jahre,  in  seines  Bruders 
Otto  Armen  verschieden.  Er  ward  zu  Hmstedt,  einer  Norber- 
tiner-Probstei,  die  er  gestiftet,  begraben  und  in  die  Zahl  der- 
jenigen gerechnet,  welche  die  Kirche  beati  nennt;  später  licss 
sein  Bruder  die  Hälfte  seiner  Hülle  nach  Cappenberg  bringen.  *3 
Cappenberg  ward  1803  säcularisirt:  der  Geist  ihres  Stifters  ruhte 
nicht  mehr  auf  ihren  üppigen  Bewohnern  und  es  Avar  Zeit  dass 
des  streitbaren  Arnsbergers  Prophezeiung  sich  erfüllte:  „solche 
Burg  kann  nimmer  der  feige  Mönch  bewohnen,  man  wird  sie 
einst  wieder  von  dannen  treiben  und  ein  edler  Ritter  wird  ihre 
Stelle  einnehmen."    Dieser  edle   Ritter  war   der   Reichsfreiherr 


*■)  Das  Denkmal  über  seinem  Grabe  zu  Ilmstedt  findet  sich  abgebildet 
in  Möllers  Sammlung  der  merkwürdigsten  altdeutschen  Baudenkmale. 
Eine  schöne  silberne  Schaale ,  ein  Palhengeschenk  von  Friedrich 
Barbarossa,  ist  nach  der  Aufhebung  des  Klosters  an  die  Grossher- 
zogin von  Weimar  gekommen,  wo  Göthe  sie  lithographiren  Hess  und 
an  mehrere  Gelehrte  sandte,  um  deren  Ansichten  über  ihren  Ursprung 
zu  erfahren. 


—      157      — 

von  Stein  zum  Altenstein ,  der  das  Besitzthum  Gottfrieds  als  eine 
Standesherrscliaft  vom  Könige  erhielt  und  es  zu  dem  Schlosse 
umzuschafTen  begann,  in  welchem  er  sein  thatenreiches  Leben 
endete.    Es  ist  jetzt  im  Besitze  des  Grafen  von  Kielmannsegge. 

Von  Cappenberg  führt  uns  der  Weg  durch  die  Ebene  über 
die  Lippe,  ein  Fluss,  der  hier  so  hübsche  Ufer  hat,  wie  ein 
bebautes  fruchtbares,  doch  nur  wenig  hügelichtes  Land  sich  von 
seinen  Windungen  abgewinnen  lässt;  dem  Alterthumsforscher  ist 
diese  Luppia  und  ihr  Stromthal  von  hoher  Bedeutsamkeit;  Spu- 
ren von  Römerstrassen  und  Lagern,  Alisni  oder  Aliso  und  andres 
beschäftigen  hier,  wer  es  liebt,  dem  dürftigen  Schimmer  aus 
grauen  Jahrhunderten  nachzugehen.  Für  uns  haben  sie  nichts 
Verlockendes;  wir  wenden  uns  der  spätem  Zeit  zu,  aus  der 
Clio  mit  hellem  Fackeln  herüberleuchtet,  wir  ziehen  ein  in  den 
Gau  Borotra,  und  betreten  den  Kern  der  rothen  Erde,  zuerst  die 
Erbgrafschaft,  später  das  Gebiet  der  freien  Reichsstadt  Dortmund. 
Es  ist  viel  gestritten  worden,  was  der  Name  „die  rothe  Erde" 
bedeute,  und  es  ist  schwer,  den  Obman  dabei  zu  machen.  — 
Der  Gau  Borotra  wird  oft  terra  borotra  genannt;  könnte  nicht 
daraus  terra  rotra  und  endlich  rothe  Erde  geworden  sein?  — 
Am  wahrscheinlichsten  ist  wohl  die  Meinung,  welche  rothe  Erde 
als  verstärkten  Ausdruck  für  Erde  überhaupt  nimmt,  und  die 
Gerichte  auf  rother  Erde  oder  auf  alter  freier  Malstätte,  den  im 
Hause,  in  Kammern  gehegten  gegenüber  stellt.  Denn  nur,  wo 
von  der  Fehme  gesprochen  wird,  findet  sich  der  Ausdruck,  der 
am  Ende  so  unerklärt  bleiben  muss  wie  der  „Fehme"  oder  „Vem" 
selbst,  trotz  seiner  vielfachen  Derivationsversuche,  die  um  so 
unnützer  sind,  als  Vem  gewiss  ein:  „Gericht"  bedeutendes  Wur- 
zelwort ist. 

Wenn  ich  nun  unter  die  Linden  und  zu  dem  steinernen  be- 
moosten Tische  an  der  Nordseite  der  Stadtmauer  von  Dortmund 
euch  führe ,  wenn  ich  die  Bank  euch  zeige ,  wo  der  Freigraf 
einst  gespannt  und  gehegt  und  Acht  gesprochen,  die  Weiden- 
schlinge und  das  Schwert  vor  sich,  die  Schöffen  an  seiner  Seite 
und  den  Umstand  der  freien  Männer  im  Kreise  umher  geschaart 
—  dann  eröffnet  vor  euren  Augen  sich  eine  dunkle  und  doch 
glänzende  Perspective  in  düster  erleuchtete  Gewölbe,  wo  auf 
blutige   Marterwerkzeuge   der   rothe  grelle    Schein    der    Fackel 


—      158      — 

blinkt,  wo  die  unterirdischen  grauenhaften  Gestalten  der  Richter 
mit  hohler  Stimme  hinter  Larven  her  die  verbotenen  und  heim- 
lichen Gedinge  halten,  um  Frevel  zu  strafen  oder  noch  grössere 
zu  begehen.  Ich  muss  euch  leider  diese  ganze  Theater-Maschi- 
nerie, dies  ganze  süssschauerliche  Coulissenwerk  aus  dem  „Käth- 
chen  von  Heilbronn"  und  der  „Tochter  des  Nebels  ,  Anna  von 
Geyerstein"  zusammenreissen  und  hell  über  die  nächtlichen  Ge- 
spenster des  Romans  die  Sonne  leuchten  lassen,  mit  klarem 
Schein,  wie  sie  blinken  musste,  falls  der  Freigraf  vor  aller 
freien  Männer  Augen  an  der  Kreuzstrasse,  wo  drei  Wege  sich 
schieden,  ein  achtes  Ding  hegen  durfte.  Der  Geist  dieses  denk- 
würdigen Instituts  war  kein  andrer,  als  der  des  ganzen  Mittel- 
alters, auf  dessen  Boden  es  erwachsen;  es  war  der  Geist  ritter- 
licher Ehre  und  strenger  Gerechtigkeit  ohne  Ansehn  der  Person, 
seine  Tendenz  Erhaltung  alter  strenger  Sitten  und  Tugenden, 
Heiligbewahrung  von  Manneswort  und  Treue;  die  Ehre  vor 
allem  war  der  Grundpfeiler  des  Instituts,  Gott,  König  und 
Recht  der  Wahlspruch.  Es  leidet  keinen  Zweifel,  dass  das 
Fehmgericht  in  den  Jahrhunderten  seiner  Blüthe  eine  wahre  Seg- 
nung für  Deutschland  gewesen  ist :  wo  die  Treuga  Bei,  avo  der 
Kirche  Gebot,  der  Religion  mahnende  Stimme,  des  Pabstes  Bann- 
strahl ,  des  Reiches  Acht  und  Aberacht,  des  Kaisers  Landfrieden 
ohne  Wirkung  blieben  auf  die  unendliche  Rohheit,  die  masslos 
schwelgende  Wlllkühr  unzähmbarer  Gemüther,  da  machte  der 
Fehme  Ladung,  des  Freigrafen  Spruch  die  demüthigste  Angst  " 
sich  schmiegen:  wem  in  der  Mitternacht  die  drei  Späne  aus 
dem  Burgthor  gehauen  worden,  der  wusste,  dass  ihn  die  Strafe 
ereile,  vor  der  es  keine  Flucht,  keine  Gnade  gab.  —  Herzog 
Adolph  von  Schleswig  war  vor  den  freien  Stuhl  geladen:  „wenn 
Ihr  hingeht,  sagte  Herzog  Wilhelm  von  Braunschweig,  sein 
bester  Freund  zu  ihm ,  so  werde  ich  als  Freischöffe  an  den 
nächsten  Baum  Euch  hängen  müssen,  oder  baumle  selber,"  und 
Herzog  Adolph  bat  den  Rath  des  mächtigen  Lübeck,  ihn  zu  be- 
stricken, dass  er  nicht  gehen  dürfe.  Der  Graf  von  Wernigerode 
ritt  unter  freiem  Geleit  mit  Bischoff  Albrecht  von  Magdeburg  und 
beider  Rittern  einst  über  den  Heerweg;  da  begegneten  ihnen  die 
Westphälischen  Schöffen,  nahmen  den  Grafen  aus  der  Schaar 
heraus  und  hängten  ihn  „darumb  er  viel  Untreu  geübet  hält," 
wie   die  Chronik   sagt.    So   hatte  jeder   „Feldflüchtige  treulose 


—      159      — 

und  hängmässige"  Mann  das   Schwert  des  Damocles  ob  seinem 
Haupte  schweben. 

Alles  Recht  jener  Zeit  ward  paralysirt  durch  Verschleppung 
und  Endlosigkeit  des  Verfahrens,  durch  Mangel  der  strickten 
Vollziehung;  die  Fehme  nur  sprach  nicht  allein,  sie  übte  auch 
Recht;  die  Bedingungen  solcher  Wirksamkeit  waren  natürlich 
rasche  Procedur  und  strenge  Execution.  Das  war  in  jener  Zeit 
etwas  Unerhörtes ;  der  langmüthigen  Gerechtigkeitspflege  des 
Jahrhunderts  gegenüber  wirkte  sie  wie  eim  übermenschliche 
und  wenn  sie  allein  durch  die  Kraft  des  in  ihr  lebendigen  Gei- 
stes Wirkungen  sichtbar  machte,  die  ganze  Schaaren  von  Reisi- 
gen, ganze  Heere  nicht  erzielten,  wie  die  Bestrafung  mächtiger, 
auf  den  Schutz  von  Burgmauer  und  Vasallen  trotzender  Herrn, 
so  mochte  sie  freilich  schon  in  den  Augen  der  Zeitgenossen 
etwas  gespenstisch -dräuendes  und  schreckhaftes  bekommen: 
mancher  Wandrer  mochte  ein  Kreuz  schlagen,  Avenn  er  durch  den 
stillen  Tann  schritt  und  plötzlich  an  einen  Ast  gehängt  ein 
Leichnam  ihn  anirinste,  und  das  darunter  im  Stamme  des  Bau- 
mes steckende  Messer  von  der  Rächerhand  der  Fehme  sprach. 
Unsere  FreischölFen  sind  eine  Art  romantischer  Verkörperung 
der  classischen  Erinnyen,  der  „guten  Göttinen,  vor  denen  kein 
Entrinnen  war.  —  Die  höchste  Blüthe  mag  die  Fehme  im  15.  Jahr- 
hundert erreicht  haben;  da  wagte  es  der  Freistuhl  zu  Wünne- 
berg  Kaiser  Friedrich  HI.  und  seinen  Kanzler ,  Bischof  Ulrich 
von  Passau  vor  sich  zu  heischen,  um  Leib  und  Leben  und 
höchste  Ehre,  bei  Strafe,  dass  er  sonst  für  einen  ungehorsamen 
Kaiser  zu  erachten;  da  waren  über  100,000  Freischöffen  über 
ganz  Deutschland  verbreitet,  und  in  ihrer  Zahl  zu  sein  rechneten 
die  mächtigsten  Fürsten  sich  zur  Ehre;  doch  der  eigentliche 
Sitz  war  und  blieb  Westphalen,  der  Dortmunder  Stuhl  bildete 
eine  Art  Revisionsinstanz  und  an  ihm  oder  im  Baumhofe  vor 
dem  Schlosse  zu  Arnsberg,  kamen  die  Freigrafen  zum  Kapitel 
zusammen.  Die  völlige  Aufhebung  des  Instituts  fällt  in  unser 
Jahrhundert ;  zu  Gehmen ,  wo  das  fortwährend  in  alter  Weise  be- 
standene Freigericht  erst  1811  von  der  französischen  Gesetzge- 
bung aufgehoben  wurde,,  sollen  noch  die  Freibankbauern  die 
Bank  spannen  und  heimliches  Gericht  hegen,  auch  sich  standhaft 
weigern,  ihrer  Losung:  „Stock,  Stein,  Gras,  Grein,"  Bedeutung 
aufzudecken;  auf  ein  breites  Schwert,  das  sie  Kaiser  Karls  Degen 


—      160      — 

nennen,  legen  sie  den  Schöffeneid  ab:  dem  Stuhlherrn  treu  hold 
und  gewärtig  zu  sein ,  alles  was  femwrogig ,  Strassen  -  Mühlen- 
Mähre  sei,  anzubringen,  und  die  Fehme  Niemand  zu  offenbaren. 
Als  die  Missbräuche  der  Fehmgerichte  einerseits,  die  gelehrte 
Rechtspflege  der  Legisten  und  Canonisten,  die  Errichtung  des 
Reichskammergerichts,  die  Carolina  u.  s.  w.  andrerseits  die  Ver- 
drängung der  Fehme  veranlasten,  da  verwandelte  sie  hie  und 
da,  besonders  im  Fürstbisthumc  Paderborn  sich  in  „Land-  und 
Rügegerichte"  (Wrögerichte.)  Diese  erhielten  sich  bis  1763,  den 
Synodalgerichten  der  karolingischen  Zeit  ähnlich  und  wie  sie 
von  unsrer  Justizpflege  verschieden,  weil  auf  die  Anklage  des 
vereideten  Schöffen  hin  vom  Freigrafen  über  das  gerichtet  wurde, 
was  von  schlechtem  Thun^  „so  freien  Stiftes  Wröge  (Rüge, 
engl.  Wrong)  war"  jener  gehört  hatte  und  anbrachte.  — 

Schwerer  als  den  Zeitpunkt  der  Blüthe  und  des  Verfalls 
der  Fehmgerichte  anzugeben ,  ist  es  die  Entstehung  des  Instituts 
aufzuhellen.  Die  Fehme  behauptete,  Karl  der  Grosse  habe  sie 
eingesetzt;  man  findet  die  Verbrechen,  über  welche  sie  ursprüng- 
lich zu  richten  hatte,  als  Entweihung  der  Kirche,  Apostasie  vom 
Glauben,  Raub  und  Gewallthätigkeit  u.  s.  w.  beinahe  gleich- 
lautend in  den  Kapitularien  Karl's  des  Grossen  aufgezählt,  als 
unter  Königsbann  gehörend ,  d.  h.  in  die  Sphäre  der  richterlichen 
Gewalt  fallend,  welche  im  Namen  des  Königs  von  den  Grafen 
in  den  alten  sächsischen  Gerichten  freier  Männer  ausgeübt  wurde : 
wenn  nun  noch  Wigand  in  seinem  gediegenen  Werke  über  das 
Fehmgericht  die  unleugbare  Verwandtschaft  der  freien  Stuhlge- 
richte mit  den  altsächsischen  Freigerichten  der  Karolingischen 
Zeit  in  den  Personen  des  Richters,  des  Frohn,  der  Schoppen, 
der  Wissenden  oder  des  Umstandes  dargethan  hat,  so  schliesst 
man  wohl  mit  Recht,  dass  die  Fehme  nichts  andres  als  eine 
eigenthümliche  Entwicklung  der  Institutionen  Karls  des  Grossen 
sei ,  eine  Fortsetzung  jener  Freigerichte  im  alten  Sachsen ,  und 
dass  sich  nicht  an  ein  bestimmtes  Datum  ihre  Einsetzung  knüpfen 
lasse;  noch  im  13.  Jahrhundert  haben  sie  die  Natur  kaiserlicher 
Landgerichte  und  bestehen  coordinirt  mit  den  landesherrlichen 
Gerichten,  die  Freigrafschaft  neben  der  Gaugrafschaft,  nur  höhe- 
ren Ranges  sich  haltend,  wie  der  Kaiser,  der  den  Freigrafen 
investirt,  einen  hohem  Rang  hat  in  der  Ordnung  der  sieben 
Heerschilde  als  der  Landesherr.  —  Der  Krebsschaden  des  Insti- 


—       161       — 

tuts  war  der  Mangel  an  einer  feststehenden  materiellen  Rechts- 
norm; es  wurde  gerichtet  nach  altem  Herkommen,  nach  Ekko 
von  Repgow's  Sachsenspiegel,  nach  den  besondern  Ueberliefe- 
rungen  jedes  einzelnen  Stuhles;  diese  widersprachen  aber  oft 
sich  schnurstracks  in  ihren  Normen;  an  einem  war  Recht,  was 
am  andern  Unrecht  war,  und  so  verlor  das  Institut  an  Würde, 
es  begann  Willkührlichkeiten ,  grif  in  fremde  Jurisdictionen 
über,  verletzte  päbstliche  und  kaiserliche  Privilegien  [de  non 
emcandoj  und  wenn  auch  der  oberste  Stuhlherr  dadurch  sich 
veranlasst  sah,  vom  Kapitel  der  Freigrafen  in  Arnsberg  soge- 
nannte Reformationen  (1437  und  42}  vornehmen  zu  lassen,  und 
zu  geschriebenem  Recht  zu  machen,  so  wich  doch  mehr  und 
mehr  der  alte  Ehrfurchtgebietende  Geist .  der  Fehme;  um  so 
weniger  konnte  sie  der  gelehrten  Jurisprudenz,  die  seit  dem 
12.  Jahrhundert  von  den  oberitahschen  Schulen  eines  Jrnerius 
und  Accursius  aus  über  Deutschland  Macht  bekam,  widerste- 
hen, und  wurde  endlich  selbst  vor  das  Hoch-  Noth-Peinhche 
Halsgericht  Kaiser  Karl's  gestellt  und  zum  Tode  verurtheilt. 
Durch  dieses  Gesetz  wurde  der  Inquisitionsprozess  als  der  von 
nun  an  Deutsche  festgestellt,  und  das  alte  Accusationsverfahren 
der  Freigerichte  behielt  nur  noch  ein  precaires  Dasein  von  der 
Langmuth  jener  Zeiten  und  dem  rührenden  Zuge  deutscher  Ge- 
müthlichkeit ,  nicht  gern  zu  begraben ,  was  ■  lange  gelebt  hat, 
und  wäre  es  auch  seit  Jahren  gestorben. 

Fixirter  als  das  materielle  war  das  formelle  Recht  der  Fehme ; 
die  übergrossen  Förmhchkciten  sind  immer  ein  Zeichen  von  der 
Innern  Halt-  und  Rathlosigkeit  einer  Legislation ;  so  mochte  auch 
der  Freigraf  um  so  sorgfältiger  alle  Yorschriften  bei  der  Hegung 
des  Gerichts  beobachten,  um  so  genauer  darauf  sehen,  dass  der 
Frohn  jedes  Wort  der  alten  Reime  dabei  hersage,  je  misslicher 
ihm  die  Entscheidung  der  Sache  selbst  schien.  Der  Freigraf 
wurde  von  dem  Stuhlherrn  (Dynasten,  Stadt,  Stift  u.  s.  w.  ober- 
ster Stuhlherr  ward  nach  Heinrichs  des  Löwen  Sturz  '1180  der 
Erzbischof  von  Köln  als  Herzog  von  WestphalenJ  eingesetzt;  die 
Schöffen  aber  wurden  aus  dem  Stande  der  Freien,  vielleicht  aus 
den  Rachinburgen  des  salischen  Gesetzes  von  der  Fehme  selbst 
unter  vielen  Förmlichkeiten  angenommen,  und  mit  den  Heim- 
lichkeiten bekannt,  wissend  gemacht.  (Dass,  während  überall 
in  Deutschland  der  Stand  der  Freien  beinah  völlig  ausging  und 

12 


—      162       — 

in  Ministerialen  und  Schutzhörige  und  Cerocensualen  u.  s.  w. 
im  Laufe  der  Zeit  sich  verwandelte,  in  Westphalen  so  viel 
alte  Freie  auf  angestammter  Wehre  sich  erhielten  und  bis  auf  unsre 
Zeit  Namen  und  Rechte  zu  behaupten  wussten,  ist  ein  Umstand 
so  Singular,  wie  das  Fehmgericht  selbst,  dessen  Existenz  er 
bedingt  und  mit  dem  er  zeugt,  wie  fest  und  lief  in  die  rothe 
Erde  jede  Wurzel  des  einmal  Norm  gewordenen  dringt.)  Jene 
Heimlichkeiten  der  Fehme  bestanden  in  einem  Freischöffen- 
Gruss:  Etk  grüt  ju  lewe  Man,  wat  fange  ji  hie  an?  —  der 
Wissende  erwiederte:  Allet  Glück  kehre  in,  wo  de  Fryenschep- 
pen  syn;  ferner  in  drei  geheimen  Alphabeten,  Erkennungszeichen 
bei  Tische,  einem  Nothwort:  „Reinir  dor  Feweri,"  und  der 
Losung,  die  oben  angeführt  wurde;  die  Verletzung  wurde  durch 
Ausreissen  der  Zunge  und  andre  Grausamkeiten  gerächt.  Zum 
Gerichte  gehörten  ausser  dem  Freigrafen  sieben  Schöffen,  ein 
Frohn  und  oft  auch  ein  Schreiber.  Der  Freigraf  hegte  mit  ihnen 
entweder  ein  offenes  Gericht,  wo  Keinem  der  Zutritt  verwehrt 
war,  oder  ein  Stillgericht,  ein  geschlossenes,  heimliches,  wobei 
nur  Wissende  den  Zutritt  hatten;  dieses  heimliche  aber  be- 
deutete nur  das  Geschlossene,  Besondre,  Vertraute;  so  kommt 
das  Wort  oft  vor,  ein  hessischer  Fürst  nannte  seinen  Amtmann: 
lieber  Heymelicher  und  getruwer;  „Gerhard  von  Nassawe  und 
lyse  frawe  von  Meerenberg"  schlössen  einst  „eine  Heimlichkeit 
und  eine  Ehe."  Beide  Arten  von  Gerichten  wurden  nun  aber 
entweder  an  gewissen  bestimmten  Tagen  nach  alter  Sitte  gehegt 
und  Messen  dann  Ungebott  oder  echte  Ding;  oder  der  Freigraf 
gebot  eine  Zusammenkunft  der  Schöffen  zum  Stuhle ;  sie  hiessen 
dann  gebotene,  verbotene  Gerichte:  Verbotung  war  so  viel  als 
Vorladung  und  der  Fronbote  war  der  Verboter:  judicia  vetita 
ist  also  eine  absurde  Uebersetzung. 

Die  Fehme  hörte  schon  in  den  frühern  Zeiten  ihres  Wirkens 
auf,  über  Streitigkeiten  des  Privatrechts  zu  entscheiden  und 
beschränkle  sich  auf  die  peinlichen  Fälle;  rasches  Verfahren 
machte  hier  vorzugsweise  die  zusammengeboteten  Gerichte  nöthig 
und  so  bekam  das  ganze  Institut  den  Namen  der  verbotenen 
Gerichte. 

Bei  der  Hegung  selbst  hatte  vor  allen  der  Freifrohn  viel 
mitzureden.  Der  frygreve  sali  (waffenlos  und  nüchtern)  up  den 
frien  Stoel  sitten  gan  und  begynnen  des  alsus:  Ich  fragen  dich 


—      163      — 

frifrone,  off  des  wal  dach  und  tyt  sy,  dat  ich  in  Stat  und  Stoel 
uns  gnedigsten  hern  des  Romschen  Keysers  ein  hillich  ding  und 
gerichte  hege  und  spanne  to 'rechte  under  konix  banne?  der 
Freifrohn  bejaht  dies  und  heisst  hegen  mit  eyme  swerde  und 
strycke  oder  seyle  dair  by;  der  Freigraf  schliesst  darauf  die 
Unwissenden  aus  by  deme  banne  und  hogesten  Wedde  as  by 
der  weedt  (Weide)  und  reype  (Strick)  und  verbietet  alle 
„Dingslege"  oder  Störung;  wer  dagegen  fehlt,  sich  einschleicht 
„belustert",  den,  gebietet  der  Freifrohn  dem  Grafen,  sollt  ir 
noymen  mit  syme  kristlichen  namen  und  binden  eme  syne  hande 
vur  to  samen  und  doin  eme  eyn  seyl  oder  Weet  umb  synen  hals 
und  hangen  ene  an  den  erstenu  boym,  den  ir  dan  da  gehaven 
mögen. 

Die  Klagen  wurden  nun  angebracht,  die  Ladungen  verfügt, 
drei  ode*  viermal  nacheinander ,  die  Urtheile  von  den  Schöffen, 
den  eigentlichen  Richtern  in  unsrem  Sinne,  aus  der  Rechtsquelle 
geschöpft,  „gewyset,"  (daher  Wyser,  Wissende,)  von  dem  Frei- 
grafen ausgesprochen,  von  dem  Umstände,  den  Standgenoten, 
fryen  scepenbaren  Mannen ,  gebilligt  oder  gescholten.  Der  Eid 
zweier  oder  dreier  Schöffen  gegen  den  Angeklagten  galt  als 
voller  Beweis;  doch  konnte  der  Beklagte  durch  seinen  Eid  und 
den  von  sechs  Eideshelfern  sich  wieder  reinigen,  dann  wieder 
überführt  werden  durch  den  Eid  von  vierzehn  Eideshelfern  des 
Klägers,  u.  s.  w.  •  Dies  hiess  ubersiebnen.  Die  Bitte  um  Revision 
einer  abgeurtheilten  Sache  musste  eingeführt  werden  von  dem 
Verfehmten  mit  einem  Strick  um  den  Hals,  einer  Königsmünze  in 
der  Hand,  und  unter  Fürsprache  zweier  Schöffen.  Dann  konnte 
die  Acht  von  ihm  genommen  werden.  Die  Acht  selbst  aber, 
welche  der  Freigraf  über  den  Verbrecher  aussprach,  (der  nicht 
etwa  auf  handhafter  That,  „hebender  Hand,  blinkenden  Scheines, 
gichtigen  Mundes''  von  zwei  Schöffeh  ertappt  und  dann  auf  der 
Stelle  gehangen  war,)  lautete  also:  Den  beclageden  man  mit 
namen  N.  den  n§me  ich  hir  up  und  uit  dem  vreden,  uit  den  rech- 
ten und  frieheid,  as  die  Paiste  und  Keyser  gesatt  hebn 

in  dem  lande  to  Westfalen  und  werpe  ene  neder  und  sette  ene 
uit  allen  vreden  in  den.  hogesten  unvreden  und  ungnade  und 
make  en  unwerdich,  achteloss,  rechtloss,  vredeloss  und  unbe- 
queme, und  wyse  synen  hals  dem  reype,  synen  lychnam  den 
Yogelen  und  dieren  in  der  luft  to  verteren  und  bevele  sine  seyle 

12* 


—      164      — 

gade  van  hemele  in  syne  gewalt  und  sette  syne  lene  und  gut 
ledich  den  lieren,  dair  di  van  rorende  sint,  syn  Wiff  Wedwe, 
sine  Kinder  weysen.  Der  Freigraf  nahm  dann  den  Weidenstrick, 
bog  ihn  und  warf  ihn  aus  dem  Gerichte  hinaus  und  der  sämmt- 
liche  Umstand  spie  aus:  gelich  off  men  den  selven  vort  ter  sel- 
ven  stont  henge.    Doch  ist  die  Formel  nicht  feststehend. 

Der  Freistuhl  zu  Dortmund  ward  als  der  oberste  betrachtet, 
die  Kapitel  kamen  bei  ihm  wie  in  Arnsberg  zusammen,  Kaiser  S-i- 
gismund  Hess  sich  1429  bei  ihm  wissend  machen;  er  hiess  der 
Spiegel-,  des  Königs  und  des  heiligen  Reiches  heimliche  Acht  und 
Kamer;  wir  sehen  einen  Erbgrafen  von  Lindenhorst  ihn  hegen, 
der  als  alter  Karolingischer  Graf  ohne  Landesherr  zu  werden  oder 
zu  einem  Landesherrn  in  untergeordnete  Verhältnisse  zu  treten, 
fortfuhr,  unmittelbar  im  Namen  des  Königs  zu  richten;  er  war 
der  Grossrichter  des  Reiches  und  in  seine  Hände  legte  der  Kaiser 
bei  der  Krönung  zu  Achen  den  Eid  ab,  „dass  in  seynem  Herzen 
beslossen  sein  söllent  alle  Recht  u.  s.  w.  —  mit  mereren 
Worten,  als  dann  ainem  jeglichem  Romischen  Kunig  durch  den 
Erbgrafen  us  Westphalen  zu  Auche  in  den  aid  gegeben  wirrt," 
—  Der  älteste  Freistuhl  bei  Dortmund  ist  der  „auf  dem  Königs- 
hofe unter  der  Linde/'  die  Stelle,  auf  welcher  wir  uns  befinden; 
als  aber  1343  der  Erbgraf  Conrad  von  Lindenhorst  seine  halbe 
Grafschaft  dem  Rathe  von  Dortmund  verkaufte  und  dieser  nun 
Stuhlherr  wurde,  verlegte  er  den- "Malplatz  in -die  Stadt  auf  den 
Markt;  nach  einem  halben  Jahrhundert •  aber  fand  man  es  für 
gut,  wieder  hinauszuziehen  an  den  Stadtgraben  unter  die  Linden. 
Als  am  Ende  des  15,  Jahrhunderts  die  Grafen  von  Lindenhorst 
ausstarben,  kam  die  Freigrafschaft  völlig  in  den  Besitz  der  Stadt, 
Ihr  letzter  Freigraf  starb  erst  in  diesem  Jahrhundert, 

Dortmund  ist  eine  der  ältesten  freien  Reichsstädte;  schon 
1220  erkannte  ein  Diplom  Friedrichs  IL  sie  als  solche,  und  viele 
andre  Städte  nahmen  ihre  musterhafte  Verfassung  an.  Ihren  Namen 
leitet  man  von  Karl's  des  Grossen  Grafen  TrutmaHn  her,  der  mit 
ausgedehnter  Vollmacht  über  einen  grossen  Theil  Sachsens  gebot, 
oder  von  der  Stärke  ihrer  triamoenia;  Tremonia  ist  danach  ihr 
lateinischer  Name.  Eine  alte  Chronik  lässt  die'  Stadt  um  800 
von  Karl  dem  Grossen  selbst  erbaut  und  in  der  Mitte  des  10. 
Jahrhunderts  von  den  Hunnen  belagert  werden  und  1005  Kaiser 
Heinrich  eine  Synode  in  ihren  Mauern   halten;  Karl  IV.  zog  fei- 


—      165      — 

erlich  eingeholilt  1377  auf  seiner  Reise  durch  Westßhalen  in 
Dortmund  ein  und  nalim  aus  der  silbernen  Tomba,  welciie  in 
der  Kirche  des  heiligen  Reinold  die  Gebeine  dieses  Märtyrers 
bewahrt,  einige  Reliquien  mit  sich.  Andre  Schauspiele  sah  die 
Stadt  im  16.  Jahrhundert,  wenn  die  Bürgerschaft  nach  altem  Ge- 
brauch auf  dem  Markte  zwei  Tage  hintereinander  Actiones  oder 
Comödien  aufführte,  z.  B.:  Ein  christlich  Biblisch  spiel  aus  den 
dreyen  Evangelischen  Parabeln,  vom  grossen  abendmahl,  von 
der  Königlichen  Hochzeit,  und  vom  AYeinberge,  die  Zerstörung 
der  Stadt  Jerusalem  begreifend,  im  schein  weltlich  fürgebildet, 
aber  geistlich  zu  verstehen  und  allen  Christen  Avohl  zu  betrach- 
ten. —  . 

Unter  den  Bauwerken  Dortmunds  ist  die  Reinoldskirche  se- 
henswerth;  die  katholische  Kirche  besitzt  gute  Malereien;  im' 
Ganzen  ist  die  Stadt  hell  und  freundlich,  hat  aber  wenig  Spuren 
ihrer  alten  Herrlichkeit  mehr.  Die  Sage  lässt  Dortmund  von 
Reinold,  „dem'  dreisten  HaimonskiYid "■'  beschützt  werden,  und 
kennt  einen  Bäcker  von  Dortmund,  dem  zur  Strafe  seines  Geizes 
das  Brod  zu  Stein  ward  und  Blutstropfen  schwitzte.  — 

Vcn  Dortmund  führt  'uns  die  Strasse  über  das  salzreiche 
Unna  und  Werl  durch  eine  ebene  Landschaft,  Avelche  der  „Hell-, 
weg"  heisst,  nach  einer  andren  freien  und  des  Reiches  Stadt;  es 
ist  Soest,  das  einst  so  mächtige  und  blühende,  als  noch  der 
Schlüssel  im  rothen  Felde  seines  Wappens  auf  meerdurchkreu- 
zenden Gallonen  als  Flagge  wehte,  als  noch  statt  8000  an  die 
40,000  stolzer  Bürgerseelen  hinter  diesen  zerbröckelnden  Mauern 
wohnten  und  siegreich  sich  behaupteten  gegen  ein  wüthend  stür- 
mendes Heer  von  80,000  Kriegern.  Jetzt  liegt  der  düstre  stille 
Ort  wie  ein  gebrochner  Krieger,  wie'  ein  letzter,  schattenhaft 
vor  uns  auftauchender  üeberrest  einer  tapfern  Schaar,  hinter 
seinen  geebneten  Wällen  da;  die  Schaar  der  Hanse  ist  todt,  ihm 
hat  man  seine  letzten  Waffen,  die  sechs  und  dreissig  Thürme, 
die  acht  hohen  Thoit,  die  starken  Bastionen  entrissen;  es  ist 
das  alte  Soest  nicht  mehr,  es  hebt  seine  Thurmspitzen  und  die 
zackigen  übergrünten  Giebel  seiner  Kirchen,  ein  anderes  Vineta, 
aus  der  Tiefe  verrauschter  Jahrhunderte  empor,  wie  die  versun- 
kene Stadt  sie  hebt  aus  dem  Grunde  der  Meerestiefe.  Die  Hau-- 
ser  sind  unansehnlich  jetzt,  weite  Gehöfte  und  Gärten  füllen  den 
Raum,  der  einst  bewohnt   und    belebt  war:   nur  der  Markt  und 


—      166      — 

der  daran  stossende  Domplatz  sind  freundlicher  und  von  bessern 
Häusern  umgeben;  unweit  davon  liegt  in  der  Mitte  der  Stadt  ein 
bedeutender,  nie  gefrierender  Teich.  Die  fruchtreiche  Landschaft 
ringsumher  von  ungefähr  4  Quadratmeilen  Grösse,  die  einst  der 
Stadt  Gebiet  bildete,  heisst  dieBoerde,  wohl  von  „beeren,"  heben, 
(wo  man  die-  Frucht,  die  Gefälle  hebt.)  Der  Stadt  Namen 
Soest,  Susatum,  Susatz,  Sosa von  „Zusatz"  (zu  einer  alten  Burg) 
herleiten  zu  wollen  ist  bedenklicheres  Wagniss.  Jene  Burg  soll 
schon  345  von  den  Friesen  erbaut  sein,  die  in  einem  Kriege  mit 
den  Westphalen  einen  Haltpunkt  in  Feindes  Land  sich  befestig- 
ten; die  Sage  nennt  sie  eine  Wittekindsburg;  sie  scheint  die 
älteste  von  allen  Mauerburgen  zwischen  Weser  und  Rhein  zu 
sein;  ein  in  der  Nähe  der  Petrikirche  befindlicher  Ueberrest  zeigt 
Wunderbarer  Weise  hinter  dem  abfallenden  Mörtelüberwurfe  leise 
Spuren  von  einer  wohl  vorchristlichen  Kalkmalerei.  Soest  soll 
vor  der  Besitznahme  durch  Wittekind  an  die  Franken  gekommen 
und  im  7.  Jahrhundert  von  Dagobert  dem  Erzbischofe  Cunibert 
von  Jvöln  geschenkt  worden  sein;  darum  habe  im  10.  Jahrhundert 
Bruno  von  Köln  den  heil.  Patroclus  der  Stadt  gegeben  und  ihr 
das  Münster  bauen  lassen;  wahrscheinlicher  ist  Soest  von  Karl 
.dem  Grossen  besetzt,  von  Heinrieh  dem  Finkler  befestigt,  der  930 
die  Burg  bewohnt  haben  soll,  dann  unter  Weifische  Hoheit  ge- 
kommen und  nach  dem  Sturze  Heinrichs  des  Löwen  vom  Kaiser 
dem  Kölnischen  Erzbischofe  Philipp  von  Heinsberg  untergeben 
worden.  Auch  mit  den  Nibelungen  bringt  die  Sage  Soest  in 
Verbindung.  Ein  Codex  des  grossen  Gedichtes  (der  Hundsha- 
gensche)  trägt  die  Marginalbemerkung,  dass  Männer  von  Soest 
und  Münster  dieses  Lied  nach  dem  Rheine  gebracht  hätten  und 
dass  man  in  Soest  noch  ein  Thor  zeige,  wodurch  Hagen  gekom- 
men und  den  Garten,  durch  welchen  die  Nibelungen  gedrungen, 
so  wie  den  Schlangenthurm ,  wo  Gunter  enthauptet  sei.  Dieser 
Schlängenthurm  stand  früher  nördlich  vom  Osthoferthor ,  Hagens 
Thor  glaubt  ein  Alterthumskenner  in  einöm  alten  Bogen  beim 
Nöttenthore  entdeckt  zu  haben.  So  wäre  für  Westphalen  auch 
noch  ausser  in  Heinrich  von  Veldeck,  der  für  der  rothen  Erde 
Sühn  gehalten  wird ,  ein  Antheil  am  Gewebe  der  mittelhochdeut- 
schen Poesie  nachgewiesen. 

Gewiss  ist,  dass  Soest  die  älteste  Stadt  in  Westphalen  sei; 
sie  wird  auch  Engerns  Hauptstadt  genannt ;   aber  wenn  wir  ,sie 


—      167      — 

oben  unter  Weifischer  und  Kölnischer  Hoheit  sahen,  so  ist  dar- 
unter mehr  ein  Protectionsverhältniss  als  eine  Herrschaft  zu  ver- 
stehen, denn  Soest  entwickelte  seine  innere  Blüthe,  seine  merk- 
würdigen städtischen  Institute  ohne  allen  äussern  Einfluss  als 
freie  reichsunmittelbare  Stadt.  Sie  besass  z.  B.  ihr  ganz  eigen- 
thümliches  Stadtrecht,  welches  Muster  so  vieler  andren  und  ein 
bedeutendes  Moment  in  dem  Rechtszustande  des  deutschen  Mittel- 
allers  wurde,  die  berühmte  Soester  Schrae,  ferner  eine  muster- 
hafte innere  Organisation  und  einen  in  hohem  Ansehn  stehenden 
Schöppenstuhl;  sie  stellt  eine  Blüthe  an  dem  kräftigen  Stamm 
deutschen  Bürgersinns  dar,-  der  einst  so  festes  Mark  in  Selbst- 
bewusstsein ,  Unabhängigkeitsgefühl ,  Macht  und  Reichthum  un- 
ter seiner  Rinde  barg.  Die  Städte  Westphalens  betrachteten 
sie  als  Vorsprecherin  in  allem  Gemeinsamen. 

Die  Entwickelung  des  Soester,  für  den  Germanisten  so  wich- 
tigen Rechtes  fällt  hauptsächlich  in  das  12.  und  13.  Jahrhundert. 
Das  älteste  Gesetzbuch  ist  lateinisch  geschrieben,  ab^r  nicht  lange 
nachher  schrieb  man  die  Fortbildung  dieses  statutarischen  Rechts 
in  alt  plattdeutscher  Sprache  auf,  fügte  nach  und  nach  Novellen 
hinzu  und  bekam  so  die  „alte  Schrae"  welche  bis  ins  16.  Jahr- 
hundert gegolten  haben  soll;  um  diese  Zeit  wurde  sie  von  einem 
Stadtschreiber  Jasper  van  der  Burg  an  die  Seite  geschafft,  wovon 
der  alte  Vers  sagt: 

De  Schrae  will  wy  wetten,  der  Borger  Recht, 
Verklagen  Mester  Jaspar,  der  Stadt  Diener  und  Knecht, 

Dat  he  uns  hefFt  vorentholden  manche  Tyt 

Der  Burger  Privilegia  und  Plpbislyt.  — 

dies  Avurde  Veranlassung,  dass  man  die  „neue  Schrae"  aufsetzte; 
unter  den  Städten,  welche  sie  annahmen,  sind  Hamburg  und 
Lübeck,  das  sie  wieder  ah  andre  meist  nordische  Städte  aus- 
theilte,  vor  allen  zu  nennen.  Auffallend  m  dem  Soester  Gesetz- 
buch sind  die.  vielen  Vergehen,  die  der  Magistrat  durch  „ein 
Voder  Wiens"  sich  brüchten  lässt. 

Seine  vielen'  Privilegia  und  Rechte  Hess  Soest  sich'  von-  den 
Schutzherrn  durch  pacta  ducalia  bestätigen,  und  verstand  es, 
sie  unangetastet  zu  wahren.  Das  wurde  Graf  Dietrich  von 
Moers,  der  stolze  Churfürst- Erzbischof  von  Köln  und  Bischof 
von  Paderborn  im  15.  Jahrhundert  inne.  Fehden  mit  seinen 
Nachbarn,    ein  nutzloser  Zug  gegen  die  Hussiten  nach  Böhmen 


_      168      — 

halten  ihn  in  Schulden  gestürzt;  er  hoffte  sie  zu  decken  durch 
eine  starke  Schätzung  seiner  Lande  und  begann  damit,  alle 
Menschen  und  alles  Eigcnthum  aufschreiben  zu  lassen.  Das  ging 
in  seinen  andern  Besitzungen  ohne  Zwist  vor  sich,  die  West- 
phalen  aber  verstanden  die  Neuerung  übel  und  wollten  nichts 
von  des  Bischofs  Schreibereien  und  Schätzungen  wissen;  sie 
waren  nie  so  beschrieben  worden  und  ihre  Väter  auch  nicht  und 
sie  werden  noch  jetzt  unwirsch,  Avenn  man  sie  beschreiben  Avill; 
darum  warfen  sie  barsch  die  Schreiber  zum  Thore  hinaus.  Der 
ehrenreichen  Stadt  Soest  fürsichtiger  Rath  aber  wurde  gebeten, 
wie  er  schon  oft  gethan ,  den  Zwist  -der  Städte  mit  dem  Fürsten 
beizulegen.  Desshalb  und  Aveil  Soest  grade  am  wenigsten  von 
des  Churfürsten  Schätzung  hören  wollte,  suchte  dieser  heim- 
lich die  Bürger  zu  bestechen;  er  schlug  vor,  sie  sollten  die 
Schätzung  zugeben,  dann  solle  auf  ihrem  Rathhaus  ein  eiserner 
Kasten  die  gesammten  •  Einkünfte  aufnehmen  und  je  der  dritte 
Pfennig  der  Stadt. zufliessen.  Das  war  ein  verlockendes  Aner- 
bieten, aber  die  Soester  waren  zu  ehrlich,  des  Landes  Sache 
zu  verrathen.  Da  hetzte  der  Bischof  den  Soestern  Feinde  auf, 
bezeigte  sich  überall  tückisch  und  treulos  gegen  sie,  das  Dom- 
kapitel von  Köln  täuschte  sie  ebenfalls,  der  Bischof  bewog  die 
benachbarten  Städte  und  Fürsten,  in  das  Gebiet  der  freien  Stadt 
einzufallen,  endlich  sandte  er  als  oberster  Stuhlherr  in  West- 
phalen  drei  Freischöffen  nach  Soest  mit  dem  Mandat,  es  solle 
kein  Recht  und  Gericht  mehr  in  der  Stadt  sein,  und  die  Bürger 
sollten  Avieder  von  allem  Gut  den  Zehnten  an  die  Geistlichkeit 
geben.  Das  Avurde  den  Bürgern  zu  viel;  sie  beschlossen  Leib 
und  Leben  für  ihr  Recht  zu  opfern  und  setzten  den  merkwürdi- 
gen lakonischen  Absagebrief  an  den  Churfürsten  auf: 

Wettet  biscop  Dierich  von  möers,  dat  v)y  den  vesten 

Junker  Johan  van  Cleve  lever  hebbet  alss  juwe,  unde  werd 

juiDe  Meinet  abgesagt. 
Dat.  Soest,  a.  d.  iiU. 
Damit  begann  die  berühmte  Soester  Fehde ,  die  Westphalen 
auf's  schrecklichste  verwüstete  und  alle  seine  Dynasten  und 
Städte  in  die  blutigsten  Wirren  riss.  Für  Soest  waren  Lippe, 
Hoya  und  Hohnstein,  Avie  die  Stadt  Lippstadt;  den  kräftigsten 
Beistand  aber  lieh  ihm  Johann  von  Cleve,  dem  als  Schutzherrn 
die  Bürger  huldigten;   Bischof  Dietrich  fand  bald  Ursache,  sein 


—      169      — 

Verfahren  zu  bereuen,  obwohl  ihm  fast  das  ganze  übrige  Wesl- 
phalen  beistand  und  er  die  mächtigsten  Bundsgenossen  hatte; 
dennoch  zerschlugen  an  seiner  Tücke  sich  alle  Unterhandlungen, 
wie  die  Congresse  zu  Moers  und  in  der  Kirche  zu  Oerdingen; 
die  Fehde  währte  ohne  bedeutende  Resultate  fort,  der  Churfürst 
lagerte  sich  mit  grosser  Macht  vor  Soest,  musste  aber  nach  li 
Tagen  wieder  abziehen,  und  die  Bürger  waren  so  wenig  einge- 
schüchtert, dass  sie  bald  nachher  noch  dem  Bischof  von  Münster 
den  Fehdebrief  sandten.  In  einem  HaupttrelTen  auf  Simon-Judä- 
Tag  1446  siegten  sie ,  und  so  mochten  sie  herzlich  über  des 
Churfürsten  einlaufendes  Schreiben  an  eine  ihrer  Gilden  lachen: 
„Wir  u.  s.  w.  lassen  Euch  wissen,  dass  uns  ein  innerhalb  der 
Stadt  ergangenes  Gerücht  zu  Ohren  gekommen,  als  ob  wir  Eure 
Feinde  wären.  Daran  geschieht  uns  aber  zuverlässig  das  gros- 
seste Unrecht."  —  Endlich  aber  mochte  den  stolzen  muthigen 
Bürgern  doch  angst  werden,  als  der  Churfürst  mit  einem  für  jene 
Zeit  ungeheuren  Heere  von  80,000  Streitern  gegen  sie  in's  Feld 
zog,  darunter  Herzog  Wilhelm  von  Sachsen  mit  26,000  der  wil- 
desten böhmischen  Söldner ,  die  mehr  Thieren  als  Menschen  ähn- 
lich sahen,  und  Meissner  und  Thüringer  Knechten,  so  nicht  viel 
besser  waren;  jene  unterliessen  nichts,  um  die  Gräuel  des  Hussi- 
tenkrieges  in  das  unschuldige  Westphalen  zu  verpflanzen.  Aber 
auch  der  Herzog  von  Gleve  verstärkte  seine  Armee;  er  hatte  an 
Burgund  einen  Helfer  gefunden,  ausserdem  standen  ihm  die  mär- 
kischen Städte  bei:  so  kam  es,  dass  des  Churfürsten  Macht  sich 
an  den  Mauern  von  Lippstadt  und  Soest  brach.  Nachdem  er 
einen  grossen  Theil  Westphalens,  das  Lippische  und  das  linke. 
Weserufer  hatte  verheeren  lassen,  stürmte  er  12  Tage  lang  ver- 
geblich das  vom  Herzog  von  Cleve  vertheidigte  Lippstadt  und 
zog  dann  auf  Peter-Pauls  Tag  1447  vor  Soest,  hub  an,  die 
Mauern  zu  beschiessen  und  Sturmleitern  von  mächtiger  Grösse 
zu  fertigen.  Drinnen  aber  trug  man  Sankt  Patroclus  Gebein  um- 
her und  las  an  den  vier  Enden  der  Stadt  ein  Theil  der  vier 
Evangelisten  ab ;  dann  begann  das  Stürmen  ;  zu  Hunderten  klimmte 
das  wilde  Volk  des  Bischofs  die  Leitern  hinan,  aber  die  Bürger 
wichen  nicht,  die  Weiber  traten  in  ihre  Reihen,  und  was  jener 
schwirrende  Bolzen  und  Hackenbüchsen  verschonte,  das  stürzte 
dieser  glühender  Brei  und  brodelndes  AVasser  in  die  Gräben  hin- 
unter.   So  kam  es,  dass  des  Bischofs  ganze  Heerrüslung  frucht- 

13 


—      170      — 

los  blieb  und  er  sein  Lager  nach  vier  Wochen  wieder  abbrechen 
miisste.  Nun  begann  der  kleine  Krieg  wieder,  bis  1449,  wo  man 
zum  Frieden  sich  einigte;  Herzog  Johann  von  Cleve  und  Herzog 
Adolph,  sein  Vater,  wie  die  Gesandten  von  Soest  kamen  dazu 
nach  Köln,  Pabst  Nicolaus  V.  sandte  den  Cardinal  Johannes 
Sankt  Angeli  zum  Congresse  und  dieser  wusste  es  dahin  zu 
bringen,  dass  man  dem  Pabst  die  Entscheidung  der  Frage  an- 
heimstellte, wessen  von  nun  an  Soest  sein  sollte;  dieser  ent- 
schied, sie  bleibe  für  immer  in  der  Schirmherrschaft  des  Her- 
zogs Johann  und  seiner  Nachkommen ;  das  bestätigte  auch  Kaiser 
Friedrich  HL  und  so  hatte  Dietrich  von  Moers  umsonst  sich  arm 
gemacht  und  geworben  an  ungeheuj"en  Rüstungen,  und  die  Soester 
hatten  ihr  Recht  gewahrt  und  ihren  Kopf  durchgesetzt,  keine 
unnütze  Schreibereien  in  Westphalen  dulden  zu  wollen.  Von 
dieser  Soester  Fehde  bewahren  Gedichte  und  Volksgesänge  das 
Andenken:  unter  andren  eine  plattdeutsche  Art  Reimchronik  und 
ein  Gedicht:  „wu  Korttelinkhusen  gewunnen  ward"  beide  ohne 
poetischen  Werth.  S.  Emminghaus,  3Ion.  Susat.  Tross,  Westpk. 
1825.  Als  1609  der  letzte  Herzog  von  Cleve,  Johann  Wilhelm 
starb  und  ein  Theil  seiner  Lande  von  Johann  Sigismund  von 
Brandenburg  besetzt  wurde ,  kam  auch  Soest  unter  dessen  Dition. 
Es  sank  aber  seit  dem  16.  Jahrhundert  immer  mehr  von  seiner 
Höhe  und  Macht;  vorzüglich  hart  bedrängte  es  der  30jährige 
Krieg,  der  grimme  Herzog  Christian  von  Braunschweig,  die 
Spanier,  die  Italiener,  die  Kaiserlichen  wechselten  sich  in  dem 
Verheerungswerke  ab.  Zu  jener  Zeit  hat  auch  Simplicissimus, 
der  abentheuerliche,  zu  Soest  im  Quartier  gelegen;  er  geräth 
dort  in  ein  altes  Kellergewölbe,  wo  er  durch  zwei  Pistolenschüsse 
eine  Oeffnung  in  das  Mauerwerk  bricht  und  einen  reichen  Schatz 
von  Edelsteinen^  köstlichem  Geräth  und  vielen  Münzen  findet; 
man  erzählt  ihm  dann ,.  es  sei  längst  gemeine  Sage  im  Land,  dass 
ein  eiserner  Trog  voller  Geldes  in  dem  Gemäuer  sei ,  den 
ein  schwarzer  Hund  hüte ,  zusammt  einer  verwünschten  Jung- 
frau; nur  durch  einen  fremden  Edelmann,  der  in's  Land  komme 
und  den  eisernen  Trog  mit  einem  feurigen  Schlüssel  aufschllesse, 
könne  sie  erlöst  werden,  wer  aber  von  fahrenden  Schülern  oder 
Teufelsbannern  noch  bei  Mannsgedenken  danach  ausgegangen,  dem 
habe  das  gräuliche  Ungeheuer  nach  überstandener  schröcldicher 
Angst  den  Bescheid   mitgegeben,    Niemand  könne   den  Schatz 


—      171       — 

heben,  der  nur  einmal  Weibermilcli  getrunken:  „vor  wenig  Jah- 
ren wäre  ein  Mägdlein  mit  etlichen  Geissen  dess  Orts  auf  der 
Weyde  gewesen,  als  ihr  aber  eine  davon  entloffen  und  in  besag- 
tes Gemäuer  kommen,  hätte  ihr  das  Mägdlein  nachgefolget :  zu 
demselben  seye  die  Jungfrau  kommen,  und  hätte  es  gefragt,  was 
es  da  zu  schaffen  habe,  und  demnach  das  Mägdlein  geantwortet: 
Es  wolle  seine  Geiss  wieder  holen,  hätte  die  Jungfrau  demselben 
ein  Körblein  voller  Kirschen  gewiesen  und  gesagt,  so  gehe  und 
nimm  dort  von  dem,  was  du  vor  dir  siebest  mit  sampt  deiner 
Geiss ,  komme  mir  aber  nicht  wieder  und  siehe  dich  auch  nicht 
umb,  damit  dir  nichts  arges  wiederfahre;  darauff  seye  das  Mägd- 
lein erschrocken  und  habe  in  solcher  Angst  sieben  Kirschen  er- 
tappet, welche,  sobald  sie  vor  das  Gemäuer  kommen,  zu  Gold 
worden."  Eine  andre  Soesler  Sage  erzählt  von  einem  Ritter 
Themo ,  der  Tag  und  Nacht  seine  Zeit  mit  Würfeln  und  Dobbeln 
zugebracht:  zu  dem  tritt  eines  Abends  ein  Unbekannter  mit  einem 
Säcklein  voll  Geld  in's  Haus  und  begehrt  zu  spielen :  Ritter  Themo 
langt  freudig  den  Becher  mit  den  Würfeln  lier,  aber  er 
wirft  unglücklich,  Wurf  nach  Wurf,  bis  er  zornig  den  Unbe- 
kannten den  leibhaftigen  Satan  schilt:  und  siehe,  was  Ritter 
Themo  nicht  gedacht  hatte,  der  fremde  Herr  fasst  ihn  beim 
Kragen  und  fliegt  mit  ihm  durch  die  Decke  und  das  Dach  des 
Hauses  und  hoch  in  die^  Lüfte:  die  Dachziegel  fand  man  mit 
blutigem  Gehirne  besprützt:  wohin  aber  sein  Körper  gekommen, 
das  hat  Niemand  bis  auf  diese  Stunde  erfahren. 

An  Soest  knüpft  sich  der  Name  eines  geistreichen  Satyrikers, 
der  Guardian  der  Minoritenmönche  war  und  Gerwyn  Haverland 
hiess;  er  schrieb  eine  (1539  gedruckte)  Art  von  Komödie:  „Eine 
gemeine  Bicht  oder  Bekennung  der  Prcdicanten  tho  Soest",  deren 
scharfe  Stacheln  sicli  gegen  die  Anhänger  der  Reformation  rich- 
ten. Ein  für  die  Geschichte  der  Kunst  ungleich  wichtigerer 
Name  ist  der  des  Soester  Goldschmieds,  Malers  und  Kupferste- 
chers Heinrich  Aldegrever  (Trippenmacher).  Er  ward  1502  in 
Soest  geboren  und  zog  gen  Nürnberg,  um  von  Meister  Albrecht 
Dürer  die  Schilderei  und  den  Kupferstich  zu  erlernen;  auf  seinen 
Reisen  nannte  er  sich  Albert  von  Westphalen;  desshalb  hat  man 
ihn  auch  Albert  genannt  und  zwei  Künstler  Aldegrever  an- 
genommen; doch  stammen  die  Bilder,  welche  ihn  zum  ersten 
der  sogenannten  „Kleinmeisler"  in  der  Kupferstecherkunst  nacli 

13* 


—      172      — 

Albrecht  Dürer  machen,  von  dem  einen  Meister  Heinrich,  dessen 
Hand  ausserdem  die  Kirchen  seiner  Heimath  mit  grossen  treffli- 
chen Gemälden  im  Style  seines  Meisters  geschmückt  haben  soll. 
Sein  Monogramm  ist  A  G.  Nach  dem  Geschmacke  seiner  Zeit  sind 
seine  Arbeiten  mitunter  an  cynische  oder  satyrische  -Sujets  ge- 
wendet, was  ihrer  Erhaltung  geschadet  hat.  Zu  den  berühmte- 
sten gehört  die  Bürgerhochzeit,  woraus  zugleich  der  Wohlstand 
Westphälischer  Patrizier  in  jener  Zeit  erhellt;  keiner  der  Frauen- 
und  Männergestalten  fehlt  der  reiche  Schmuck  von  schweren 
Ketten  und  Perlenschnüren;  die  Männer  tragen  Siegelring,  Degen, 
Dolche  und  künstliches  Wehrgehenk  über  den  reichgeschlitzten 
Wämsern,  die  Frauen  ein  sonderbares  Kopfzeug  und  lange  Schlepp- 
kleider mit  kostbaren  Bügeltaschen  an  eleganten  Chatelainen. 
Auf  einem  andern  Blatte,  welches  Titus  Manlius,  den  Rö- 
merhelden darstellt,  zeichnete  Aldegrever  ein  Mordinstrument, 
das  man  überrascht  für  eine  Guillotine  erkennt,  die  übrigens 
öfter  auf  Bildern  aus  frühern  Jahrhunderten  (z.  B.  in  Cat's  Ge- 
dichten, Folioausgabe,  Amsterdam  1658)  vorkommt.  Aldegrever 
soll  1558  gestorben  und  auf  dem  Friedhofe*  der  Petrikirche  be- 
graben sein.  Vielleicht  noch  berühmter  als  Repräsentant  West- 
phälischer Kunst  im  Mittelalter ,  um  von  ihr  hier  im  Zusammen- 
hange zu  reden,  ist  ein  anderer  Name,  der  dem  Münsterlande 
angehört.  Er  ist  der  Israels  von  Mechgln,  besser  Meckenem,  der 
als  Goldschmidt  zu  Bochold  lebte  (von  1440  bis  1503?)  und 
vielleicht  der  erste  deutsche  Kupferstecher  ist.  Er  scheint  Schü- 
ler van  Eycks  gewesen  zu  sein,  in  dessen  Style  er  Bilder  in 
schönem  edlem  Charakter  schuf,  die  in  ganz  Europa  verlangt 
wurden  und  besonders  der  Maler  Lob  und  Bewunderung  erhiel- 
ten. .  Eine  Zeichnung  seines  Grabsteines  befindet  sich  im  briti- 
schen Museum.  Ueber  sein  Yerhältniss  zu  dem  noch  altern 
Meister  F.  von  Bocholt,  dessen  Werke  er  überarbeitet  hat,  fehlen 
uns  sichere  Angaben.  Bilder  von  ihm  befinden  sich  in  München 
Schieissheim,  Nürnberg  und  Cöln.  (S.  Nagler  Künstler -Lexicon, 
YIII.  535.)  —  Ihren  Glanzpunkt  hat  die  Westphälische  Kunst- 
schule in  dem  sogenannten  Liesborner  Meister,  wahrscheinlich 
einem  Mönche  aus  der  Benediktiner- Abtey  Liesborn ,  der  ältesten 
Klosterstiftung  des  Münsterlandes.  Er  schmückte  im  Jahre  1465 
fünf  Altäre  der  Klosterkirche  mit  Gemälden  aus,  Avelche  eine 
alte  Chronik  so  reich  an  Gold  und    Farbenpracht  nennt,   dass 


—      173       — 

ihm  unter  den  Griechen  der  erste  Rang  gebührt  haben  Avürde: 
ich  nehme  keinen  Anstand,  diesen  Maler,  der  unberühmt,  un- 
gekahnt  in  einer  Westphälischen  Klosterzelle  seine  Tage  zu- 
brachte, gross,  erhaben  wie  Rafael  zu  nennen  und  zu  den  gröss- 
ten  Genien  zu  rechnen,  deren  Gestalten  jetzt  nur  noch  wie  ver- 
bleichte Lilienhäupter  von  dem  Goldgrunde  mittelaltriger  Gläu- 
bigkeit und  Gotttrunkenheit  den  bessern  Augen  unter  uns  sicht- 
bar werden.  Seine  Zeichnung  ist  correcter,  genialer  denn  die 
des  Kölner  Dombildmeisters,  sein  Colorit  weich  und  durchsich- 
tig, seine  Conception  ist  ideal,  er  ist  so  innig,  so  milde  und 
fromm,  aber  reicher  und  vollendeter,  als  Fra  Angelico  da  Fie- 
sole; w\ihrhaft  wunderbar  ist  seine  Kunst,  fast  ohne  alle  Schat- 
tirung  die  ganz  von  Licht  beglänzten  Köpfe  und  Gestalten  doch 
täuschend  wahr  zu  moduliren.  *} 

Diese  drei  genannten  Meister  vertreten  drei  Richtungen  der 
Westphälischen  Kunstschule,  wozu  noch  Tom  Ring  mit  seinen 
Söhnen  in  Münster  kommt;  man  nimmt  an,  dass  um  Aldegrever 
In  Soest  eine  Schule  sich  get)ildet  habe,  woraus  Jarenus  hervor- 
gegangen sein  soll,  ein  3Ieister,  von  dem  gute  Bilder  im  Museum 
zu  Berlin  und  in  Wiltonhouse,  dem  Landsitz  des  Grafen  Pem- 
broke  in  England  sich  befinden.  Bei  diesem  letztern  zeigt  sich 
Einfluss  der  Niederländer;  in  der  frühesten  Zeit  Westphälischer 
Kunstbestrebungen  hat  die  Malerschule  des  Meisters  \yilhelm  in 
Köln  augenscheinlich  eingewirkt;  der  Liesborner  Meister  zeigt 
jedoch  eine  ganz  eigenthümliche  Entwicklung,  —  Noch  mag  der 
Name  Hinrick  Stavoer  hier  genannt  werden ,  als  der  des  Meisters 
der  schönsten  Schnitzarbeiten  in  den  Kirchen  unsres  Landes,  — 
Es  ist  .wahrscheinlich  gemacht  w^orden ,  dass  Soest  einst  auch 
eine  Kunstschule  für  Architectur,  eine  Bauhütte  besessen  habe; 
eine  gewisse  Eigenthümlichkeit,  die  in  schlichter  Würde  sich  cha- 
rakterisirt,  kehrt  in  den  meisten  seiner  schönen  Baudenkmale 
wied£r  und  spricht  für  eine  unabhängige  Entwicklung  der  Kunst 
innerhalb  der  Mauern  der  denkwürdigen  Stadt,  Der  Dom  des 
heiligen  Patroclus  oder  die  Münsterkirche  zeugt   am  unverkenn- 


*)  Seine  besten  Schöpfungen  befinden  sich  in  Privatbesitz  in  Minden.  Das 
Verdienst,  zuerst  auf  den  Liesborner  Meisler  aufmeriisam  gemacht  zu 
haben,  hat  Schorn's  Kunstblatt  1833,  Nro,  12  und  13. 


—      174      — 

barsten  davon;  er  repräsentirt  die  Kunst  des  10,  und  il.  Jahrb., 
(^Erzbischof  Bruno  von  Köln  Hess  im  Anfange  des  iO.  Jahrh. 
den  Bau  beginnen,)  und  zeigt  besonders  an  der  Westseite  die 
höchste  Vollendung  des  sächsischen  Styles,  der  seine  Bögen  im 
Halbkreise  schlug  und  durch  die  schwere  Gewalt  seiner  Massen  impo- 
nirte;  die  Arkaden  dieser  westlichen  Fronte  sind  eines  der  schön- 
sten Denkmale  dieses  Geschmacks:  wunderbarer  Weise  befindet 
sich  über  ihnen,  in  Sankt  Patrocli  Schutz  gestellt,  die  Rüst- 
kammer der  Stadt,  wo  Armbrust  und  Pfeile  noch  jetzt  der  wehr- 
haften alten  Zeit  Gedächtniss  erhalten.  Im  Innern  der  Kirche 
werden  die  Gebeine  jenes  Heiligen  in  einem  kostbaren  Kasten 
mit  schönen  Skulplurarbeiten  gezeigt,  und  ausserdem  ein  wun- 
derthätiges  Bild,  „der  grosse  Gott  von  Soest/'  Karl's  des  Gros- 
sen Pathengeschenk  an  Wittekind ,  wie  man  sagt.  Noch  glän- 
zender ist  die  Kunst  des  12,  und  13.  Jahrhunderts  in  Soest  re- 
präsentirt; da  hatte  man  die  schweren  sächsischen  Bogenformen 
verlassen ,  in  der  lichten  Spitzbogenform  strebte  die  Kunst  höher 
himmelan,  wie  dies  fortwährende  Efltfalten  zu  immer  höher  stre- 
benden Gebilden,  dies  kraftvolle  Besiegen,  dies  stolze  Nieder- 
treten der  Materie  überhaupt  die  schönste  Eigenschaft  der  mittel- 
altrigen  Architectur  ist.  Der  Grieche  fand  in  jonischer  und 
corinthischer  Säulenstellung  eine  schöne  Form  für  den  Geist, 
der  seinen  vollendetsten  Ausdruck  darin  bekam;  aber  was  an- 
fangs eine  klare  Crystallisation  gewesen,  ward  ihm  bald  eine 
Versteinerung  und  das  organische  Wachsthum  seiner  Kunst  be- 
kam eine  todte  Bliithe  in  jener  vollendeten  Form,  die  mit  sich 
selbst  zufrieden  von  weiterem  Fortbilden  abliess :  daher  kommt  es, 
dass,  wer  eine  corinthische  Stellung,  einen  hellenischen  Tempel 
aus  der  Blüthenperiode  gesehen  hat,  sie  alle  sah.  Anders  bei 
unsrer  Kunst;  das  Streben  nach  einer  höhern  Vergeistigung  des 
Stoffes ,  liess  jede  neue  Schöpfung  lichter,  schlanker,  schöner 
sich  gestalten:  nennen  wir  doch  den  Haupt-  und  Mittelpunkt 
jedes  Kunstwerks  dieser  Art,  um  den  das  andre  sich  gestaltet, 
die  Säule,  eine  Strebe,  das  nie  Rastende,  zu  Geist  und  Himmel 
empor  ziehende  des  Werkes  anzudeuten.  Es  giebt  in  unserer 
Heimalh  kein  Gebäu ,  worin  dieser  Characler  deutscher  Kunst 
glänzender  sich  ausspräche,  als  in  der  Kirche  der  heiligen  Maria 
zur  Wiesen  in  Soest.  Sie  soll  von  einer  Gräfin  zum  Dank  für 
die    Heiinkehr    ihres    Mannes    aus   den  Kreuzzügen    erbaut  und 


—      175      — 

1343  vollendet  sein.  Johannes  Schandler  wird  der  Meister  ge- 
nannt. Das  Schiff  ruht  auf  acht  schlanken  Säulen  und  hat  die 
vollendetsten  Verhältnisse  :  ^en  Osten  schliessen  es  drei  Chöre, 
wovon  der  mittelste  wahrhaft  prachtvoll  durch  seine  reichen  Ver- 
zierungen und  Avunderbar  schönen  Glasmalereien  in  schmalen 
Fenstern  von  70  Fuss  Höhe  ist ;  denkwürdig  ist  eine  dieser 
Schildereien,  welche  die  Einsetzung  des  Abendmahls  darstellt 
und  worauf  die  Stelle  des  Osterlamms  ein  Westphälischer  Schin- 
ken vertritt.  Das  Ganze  ist  nicht  gross ,  aber  von  imposanter 
Höhe;  diese  tritt  um  so  auffallender  hervor,  als  das  reiche  Glie- 
derwerk der  Pfeiler,  ohne  Unterbrechung  durch  Knäufe  und  Ge- 
simse, in  fliessendem  Zusammenhange  an  den  Gurten  der  Decke 
entlang  läuft.  Schön  ist  auch  das  südliche  Thor  mit  seinen  zar- 
ten feinen  Arbeilen.  Soest  besitzt  noch  mehrere  sehenswürdige 
Baudenkmale,  die  Peterskirche  z.  B.  und  die  Marienkirche  zur 
Höhe,  die  ein  Versuch  zu  sein  scheint,  bis  zu  welchem  Grade 
der  Willkühr  alle  Symmetrie  sich  verläugnen  lasse. 

Suchen  wir  von  Soest  aus  die  schönsten  Parthien  des  Lippe- 
thales  auf,  die  in  der  Gegend  des  freundlichen  Dorfchens  Lipp- 
borg mit  seinen  hügelichten  Wald-  und  Ackerfluren  sich  bieten. 
Haus  Assen  liegt  hier,  am  rechten  Ufer  des  Flusses,  doch  ent- 
fernt von  ihm,  der  romantische  Stammsitz  des  Grafen  von  Galen, 
wie  ein  altes  Schloss  aus  einer  Eichendorffschen  Novelle,  mit 
den  blaubeschieferten  Tluirmchen  über  dichte  Waldesgipfel  empor- 
ragend ;  es  ist  eng  aus  Ziegelsleinen  zusammengebaut,  in  einem 
wunderlichen  eckigen  Style,  und  muss  einer  Zeit  angehören, 
welche  die  alten  Felsenburgnester  mit  Donjon  und  Pontlevis 
unnöthig  gemacht  hatte,  aber  noch  nicht  wagte,  in  geräumigen, 
weit  und  bequem  gedehnten  Flügeln  jeder  Gefahr  mit  offenei- 
Brust  und  wehrlos  zu  trotzen.  In  der  Tsähe  ist  Herzfeld ,  ein 
Dorf,  welches  die  Erinnerung  an  die  heilige  Ida  weiht.  Sie  war 
des  Sachsenherzogs  Egbert,  des  Neffen  Wittekinds,  Kranken- 
pflegerin im  Frankenlande  geworden;  als  er  genesen,  bat  er  die 
sanfte  und  fromme  Base  des  grossen  Karl,  ihm  in  seine  Heimatli 
zu  folgen,  und  sie  willigte  ein  und  zog  mit  ihm,  viele  Tage  lang, 
bis  sie  an  die  Lippe  kamen;  da  rasteten  sie,  als  es  Abend  ge- 
worden, weil  es  ihr  wohlgefiel  in  den  schönen  Waldungen  umher.. 
In  der  Nacht  aber  offenbarte  ihr  ein  Traum,  wie  sie  die  Stätte 
wählen  solle  zu  einem  Gotteshaus'e  und  einer  Gruft,   darin  einst 


—      176      — 

sie  und  ihr  Gemahl  ruhe.  Nun  Hess  sie  die  Waldung  lichten, 
ihr  zahmer  Hirsch  trug  die  Steine  zum  Bau  und  bald  erstand 
eine  Kapelle,  bald  auch  das  Dorf,  4as  nach  dem  Hirsche  genannt 
wird;  noch  heute  sieht  man  tief  in  dem  Bette  des  Flusses  den 
grünen  Weg,  welchen  die  Heilige  mit  ihrem  Saumthiere  wandelte. 
In  der  Kapelle  selbst  ist  Ida  abgebildet,  wie  sie  unter  einem 
Baume  ruht  und  das  treue  Thier,  den  Kopf  in  ihren  Schoos  ge- 
legt, frommen  Auges  zu  ihr  aufschaut.  Sie  ruht  in  dieser  Ka- 
pelle, in  der  Verschollenheit  eines  stillen  Dörfleins,  obwohl  sie 
die  Stammutter  der  mächtigsten  deutschen  Fürsten -Häuser,  auch 
der  preussischen  Dynastie  geworden  ist.*}  —  Nach  langer  müh- 
seliger Fahrt,  an  dem  Stifte  Cappel  und  Lippstadt,  dann  an  der 
Mündung  der  Alme  in  die  Lippe  vorbei,  wo  Else  liegt,  am 
wahrscheinlichsten  des  Drusus  und  unsrer  Alterthümler  Aliso, 
erreichen  wir  die  Quellen  der  Lippe  endlich  am  südwestlichen 
Abhänge  des  Lippischen  Waldes ,  wie  diese  Parthie  des  Osnings 
genannt  Avird.  Das  nahe  Lippspringe  besitzt  dürftige  Ruinen 
eines  alten  Sitzes  der  Tempelritter;  im  14.  Jahrhundert  beher- 
bergte die  Burg  einen  Herzog  Heinrich  von  Lancaster,  der  mit 
400  Lanzen  auf  einem  Zuge  gegen  die  heidnischen  Preussen  be- 
griffen war:  es  ist  nicht  wahrscheinlich,  dass  der  ritterliche 
Brite  eine  vortheilhafte  Idee  von  Westphälischer  Gastlichkeit 
heimgebracht  habe,  denn  er  wurde  hier  in  der  öden  Senne  vom 
Grafen  von  Ritlberg,  von  Hunold  von  Plettenberg  und  Johann 
von  Padberg  überfallen  und  um  alle  Habe,  Gold,  Silber,  Waffen 
und  Kleidungsstücke  gebracht.^  Von  Lippspringe  über  Neuhaus, 
der  frühern  Residenz  der  Fürstbischöfe  von  Paderborn,  deren 
Schloss  jetzt  in  eine  Kaserne  verwandelt  ist,  kommen  wir  nach 
dem  Ort  Pa  Thalbrunnon,  beim  Thalbrunnen,  wie  man  etymolo- 
gisirt,  dem  Sitze  des  ältesten  Bisthums  in  Westphalen.  Hier 
auf  den  Hügeln  um  die  unzähligen  (300?)  Quellen  der  Pader 
hielt  Karl  der  Grosse  schon  777  den  ersten  grossen  Reichstag 
im  Lande  der  Sachsen ,  hier  erschienen  die  Gesandten  der  Emire 
von  Saragossa  und  Huesca  vor  ihm,  um  seine  Hülfe  anzuflehen 
gegen  den  Kalifen  Abderrahman.  Das  war  die  Veranlassung  sei- 
ner Sarazenenkämpfe  an  den  Ufern  des  Ebro,  die  Veranlassung 


*)  Das  Herzfeld  gegenüber  am  linken  Ufer  der  Lippe  liegende  Pletten- 
bergsche  Gut  Hovestadt  soll  einst  Egberts  Sitz  gewesen  sein. 


—      177      — 

jener  Abenlheuer  seiner  Paladine,  welche  die  Sage  des  Mittel- 
alters zu  einem  üppigen  Arabeskengewinde  verschlungen  hat, 
durch  dessen  farbig  glühendes  Blüthen-  und  Blättenverk  das 
kecke  behelmte  Ritterhaupt  Bojardo's  und  das  schelmische  Poe- 
tenauge Ariosto's  euch  anlächeln.  Im  Jahre  799  bcAvirthete  der 
grosse  Herrscher  den  Pabst  Leo  III.  in  dieser  Stadt,  der  flehend 
und  klagend  über  sein  schuftiges  Römervolk ,  das  den  heiligen 
Mann  misshandelt  hatte,  zu  ihm  kam;  das  war  die  Veranlassung 
zu  Karl's  Römerzug  im  Jahre  800,  zu  seiner  Krönung  in  der 
St.  Peterskirche,  zu  der  ersten  Erneuerung  des  abendländischen 
Kaiserthums  und  der  ganzen  Römischen  Reichs  -  Herrlichkeit 
deutscher  Nation.  —  Der  Apostel  dieser  Gegend  und  des  Pa- 
tergau's  war  der  heil.  Sturmio  geworden;  Karl  liess  darauf  mit 
grosser  Pracht  eine  Salvatorskirche  an  der  Pader  erbauen  und 
stiftete  780  ein  Bisthum  hier,  dem  einstweilen  das  feste  Herstelle 
zum  Sitze  angewiesen  wurde,  wesshalb  es  Anfangs  das  Herstel- 
lische hiess.  Der  erste  Bischof  war  Hathumar,  Zur  Dotation 
wurden  unter  andren  die  Dienste  vier  alter  sächsischer  Familien 
•  geschlagen,  welche  die  vier  Säulen  und  edlen  Meier  des  hohen 
Domstifts  hiessen;  es  sind  die  von  Flechten  Qetzt  von  Haxt- 
hausen)  und  die  von  und  zu  Brenken  ,noch  davon  übrig.  Unter 
den  Bischöfen  nach  Hathumar  muss  hier  der  heilige  Meinwerkus 
genannt  werden;  er  war  Verwandter  und  Hofkaplan  Kaiser  Otto's 
III.  und  eine  Art  Sixtus  V.  unter  den  Prälaten  Paderborns,  thätig, 
lebhaft,  witzig,  eifrig  in  seinem  Berufe;  ein  grosser  Wirkungs- 
kreis hätte  vielleicht  seine  vielgouvernirende  Lebhaftigkeit  verwirrt, 
aber  er  war  ganz  der  Mann ,  um  ein  unwirthliches  Land  voll 
einer  rohen  Bevölkerung  zu  lichten,  zu  cultiviren ,  geistig  und 
physisch  aufzuregen.  Die  Menge  der  Schenkungen,  welche  er 
dem  frommen  Kaiser  Heinrich  IL  und  seiner  jungfräulichen  Ge- 
mahlin Kunigunde  für  die  Kirche  abzugewinnen  wusste ,  geht  in's 
Unglaubliche.  —  Im  16.  Jahrhundert  verursachten  Reformations- 
versuche lange  und  für  die  Bischöfe,  welche  seit  1118  als  Reichs- 
fürsten anerkannt  wurden,  verdriessliche  Wirren  in  der  Stadt 
Paderborn,  die  jedoch  der  endliche  .Sieg  des  Katholicismus  bei- 
legte. Die  aristocratischen  Verwaltungsgrundsätze  des  Magistrats 
veranlassten  im 'Anfange  des  17.  Jahrh.  den  denkwürdigen  Btir- 
geraufstand ,  welcher  einen  Liborius  Wichards  zun  unumschränk- 
ten Gebieter  machte,  bis  er  vom  Fürsten  nach  einer  kurzen  Be- 

li 


—      178      — 

lagerung  1604  hingerichtet  wurde.  Wie  Herzog  Christian  von 
Brauns chweig  das  Hochstif't  ausgeplündert,  wre  er  aus  den  sil- 
bernen Aposteln  des  Domes  Thaler  geschlagen,  um  sie  ihre 
Pflicht  zu  lehren:  „hinauszugehen  in  alle  Welt,"  ist  bekannt. 
Der  23.  November  1802  gab  (durch  den  Reichsdeputationshaupt- 
schluss)  auch  dies  Hochstift  als  Erbfürstenthum  der  Krone 
Preussen. 

Paderborn  besitzt  zwei  schöne  Bauwerke,  in  der  Kirche  des 
früheren  Jesuiten-Collegiums  und  in  seiner  Calhedrale.  Zum  Domo 
begann  Bischof  Hatlmmar  den  ersten  Bau,  sein  Nachfolger  Badurad 
brachte  ihn  zu  Stande  und  bereicherte  das  Gotteshaus  mit  den 
Reliquien  des  heiligen  Liborius,  die  er  unter  grossem  Gepränge 
aus  Mans  in  der  Normandie  holen  Hess.  Im  Jahre  1000  Avurde 
der  Dom  ein  Raub  der  Flammen,  die  einen  grossen  Theil  der 
Stadt  verzehrten;  die  Krönung  der  Kaiserin  Kunigunde,  welche 
Erzbischof  Willigis  von  Mainz  1002  in  Paderborn  vornahm,  musste 
desshalb  in  einem  andern  Räume  vollzogen  werden.  Damals 
lag  an  der  Westseite  dfer  Cathedrale,  wo  jetzt  der  Fürstenberger 
Hof  steht,  ein  Kaiserlicher  Pallast.  Das  schöne  Domgebäude,- 
das  noch  jetzt  unsre  Bewunderung  erregt,  ist  eine  Schöpfung 
des  Bischofs  Meinwerkus,^  durch  dessen  Thätigkeit  es  in  sechs 
Jahren  von  1010  bis  1016  entstand.  Die  Crypta  unter  dem  Dom 
soll  die  Salvatorskirche  sein,  welche  Karl  der  Grosse  aufführen 
Hess,  und  darin  ein  Altar  des  heiligen  Stephan  der,  w^elchen 
Pabst  Leo  HI,  799  in  Paderborn  einweihte.  Ebenso  rührt  von 
Meinwerkus  die  schöne  Bartholomäuskapelle  her ,  und  das  Stift 
Bustorff,  eine  Nachbildung  der  Kirche  des  heiligen  Grabes,  wozu 
er  den  Grundriss  durch  Abt  Winon  von  Heimarshausen  aus  Je- 
rusalem holen  Hess.  Die  Cathedrale,  deren  Aeusseres  nicht  viel 
verspricht  und  einfache  Structuren  hat,  ist  im  Innern  durchaus 
imposant,  una  gehört  hier  der  Uebergangsepoche  aus  dem  vor- 
gothischen  in  den  gothischen  Styl  an ;  ein  magisches  Licht  quillt 
durch  die  buntfarbigen  Fenster  des  hohen  schönen  Chors  in  das 
weite  Gotteshaus,  dessen  Schiff  auf  12  kohen  Pfeilern  ruht  und 
in  schönen  schlanken  Verhältnissen  sich  aufbaut.  An  der  Nord- 
eite  des  Chores  sprudelt,  unter  dem  Gebäude  eine  warme  Ilaupt- 
quelle  der  Pader  hervor;  an  der  südlichen  ist  'eine. Darstellung 
der  Fabeln  Aesjj^s  in  Basrelief  merkwürdig.  Die  Bartholomäus- 
capelle  ist  ein  Muster  byzantinischer  Eleganz. 


—      179      ^- 

Unter  den  ruhmwürdigen  Namen,  welche  Paderborn  illustri- 
ren,  nehmen  zwei  seiner  Bischöfe  den  ersten  Rang  ein;  zuerst 
Oliver,  der  gelehrte  Cardinal  und  Bischof  von  Sabina,  der 
1227  als  Fürst  zu  Paderborn  starb;  dann  Ferdinand  von  Fürsten- 
berg,  der  Verfasser  der  Monuvienta  paderbor?iensia ,  (gewählt 
1061}  den  wir  weiter  unten  so  strenges  Recht  an  seinem  nahen 
Verwandten  werden  üben  sehn;  sein  Beichtvater  war»  der  als 
Geschichtschreiber  berühmte  Jesuit  Nikolaus  Schalen.  Auch  Fried- 
rich von  Spee  lebte  lange  zu  Paderborn;  Gobelin  Persona  ward 
1358  hier  geboren,  und  ist  einer  der  bedeutendsten  in  der  gros- 
sen Reihe  gediegener  Historiker  Westphalens,  welche  mit  den 
Annalisten  von  Corvei  beginnt  und  in  Heinrich  von  Herford, 
Diedrich  von  Nyem,  Werner  Rolevink,  Arnold  von  Bevergern, 
bis  auf  Stangefol,  Kleinsorgen,  Kindlinger,  Steinen  etc.  hinabgeht. 
Unter  den  Künstlern  Paderborns  haben  sich  Anton  Isenhout  als 
Kupferstecher,  Fabricius  als  Maler  einen  Namen  gemacht,  als 
Bildhauer  Gruninger,  von  dessen  Arbeiten  (Liboriuskasten) 
der  Dom  mehrere  besitzt.  Der  Meister  des  schönen  Grabmals 
von  Bischof  Rotho  im  Dome  ist  unbekannt  geblieben.  Der  älteste 
Dichter  und  Geschichtschreiber  Deutschlands,  der  fünf  Bücher 
Annalen  über  die  Thaten  Karl's  des  Grossen  schrieb,  der  be- 
rühmte Poeta  Saxo  soll  unter  Kaiser  Arnulph  ein  religiöses  Le- 
ben in  Paderborn  geführt  haben.  — 

Ihr  werdet  es  müde  sein,  in  einem  Lande  mir  weiter  zu  fol- 
gen, wo  ich  die  romantischen  Elemente  aus  alten  Geschichtbü- 
chern euch  suchen  oder  sie  wie  immergrünes  Lauch  und  Steinbrech 
von  Sächsich  oder  byzantinisch  ausgemeisselten  Steinen  zusammen- 
lesen muss  und  -doch  kein  volles  farbiges  Gewinde  ihnen  abge- 
winne,  es  sei  denn,  ich  fasste  mit  dreister  Hand  in  einen  hoch- 
blühenden duftigen  Weisdorn,  wie  er  einst  seit  Jahrhunderten  mit 
Krone  und  Zweigen  um  die  Mauerquadern  der  St.  ßeorgskirche  in 
Soest  sich  rankte,  gleich  einer  ewig  blühenden  Sage  um  ein  verwit- 
tertes Denkmal  aus  verschollenen  Tagen.  Aber  getrost!  wir  stehen 
an  der  Schwelle  in  einer  Landschaft,  wo  die  Helle  der  blühen- 
den Gegenwart  uns  blenden  wird  für  die  Perspective  in  die  däm- 
merigen Räume  der  Geschichte,  wo  die  Romantik  keine  Art  von 
Allraunwurzel  mehr  ist,  die  unter  verschüttetem  Gemäuer  ge- 
funden wird,  sondern  von  der  lichten  Sonne  ihren  Schmelz  wach 
küssen  lässt   und   uns   entgegen    duftet   aus  dem  farbigen  Epos 

14* 


—      180      — 

einer  schönen  Gotteswelt.  Ntfr  müsst  ihr  erst  mir  noch  verstat- 
ten, von  der  Wevelsburg  und  der  schönen  Kirche  zu  Büren  euch 
zu  erzählen. 

Die  Wevelsburg  ist  der  interressanteste  Punkt  in  der  Nähe 
Paderborns;  hart  an  den  schönen  Ufern  der  Alme  erhebt 
sie  auf  einem  felsigen  Hügel  ihre  Dächer  und  Thürme,  und  die 
alten  Mauern,  mit  denen  sie  im  Grundriss  ein  rechtwinkliges 
Dreiek  bildet.  Ursprünglich  eine  Verschanzung  der  Hunnen  aus 
dem  10.  Jahrhundert,  dann  eine  Burg  Wevels  von  Büren,  ward 
1122  Friedrich  der  Streitbare  von  Arnsberg  einer  ihrer  Er- 
bauer; im  Jahre  1301  tritt  ein  Graf  von  Waldeck  sie  an  das  Stift 
Paderborn  ab,  dem  sie  von  da  an  geblieben  ist.  Mehr  als  die 
Geschichte  hat  die  Sage  sie  bereichert.  Im  Verliesse  des  „Nor- 
berlloches"  soll  der  wilde  Arnsberger  jenen  heiligen  Mann  haben 
schmachten  lassen,  in  ihren  Gewölben  die  Vehme  gehalten  sein; 
durch  ihre  Räume  schreiten  die  romanhaften  Gestalten  aus  dem 
„Kuno  von  Kyburg"  und. vielleicht  auch  der  Schatfen  des  freylen 
Marschalks,  von  dem  die  folgende  Ballade  erzählt: 

Kurt  von  Sp  lege  1. 

0  frommer  Fürst,  warum  liessest  so  hoch 
Deines  Marschalks  frevelen  Muth  du  steigen? 
War's  sein  kecker  Witz,  der  dich  betrog, 
Seine  edle  Gestalt,  seine  Anmuth  im  Reigen? 
0  frommer  Bischof,  was  hast  du  gethan  1 
Unschuldiges  Blut  es  klagt  dich  an. 
Um  zu  spätes  Wort,  nach  zu  langem  Schweigen. 

An  der  Wevelsburg  schallt  Waldhurrah, 
Des  Bosses  Flank  schäumt  über  den  Bügel, 
Es  keucht  der  Hirsch  und  dem  Hirsche  nah. 
Ein  flinker  Dogge,  keucht  Kurt  von  Spiegel; 
Von  des  Th'urmes  Fahne  begierig  horcht 
Der  arme  Laydecker  und  unbesorgt 
Hält  in  der  Hand  er  den  rothen  Ziegel. 

Da  horch!  Halali!  die  Jagd  ist  aus, 
Des  Hirsches  einzige  Thräne  vergossen , 
Ein  Hörnerstoss  durch  des  Waldes  Haus 
Zum  Geweide  lädt  die  zott'gen  Genossen, 
Und  bald  aus  der  Zweige  grünem  Geleit 
Die  Treiber  so  stumm,  die  Ritter  so  breit 
Ziehn  langsam  ein  mit  den  stöhnenden  Rossen. 


—      181      — 

Der  Spiegel  spornt  sein  mattes  Thier: 

„Verfluchte  Bestie,  du  hast  mich  bestohlen !  " 

Da  sieht  er,  an  dies  Thurmes  Zimier, 

Den  armen  Laydecker  auf  schwanken  Bohlen; 

„Ha!  murrt  er,  heut  weder  Schuss  noch  Fang, 

So  kam  ich  nicht  heim  mein  Lebenlang, 

Ich  möchte  mir  wohl  diesen  Spatzen  hohlen!" 

Der  Decker  sieht,  wie  er  starrt  empor. 

Und  will  nach  dem  ärmlichen  Hü'chen  greifen, 

Da   sieht  er  drunten  blinken  das  Rohr, 

Da  hört  er  den  Knall  und  die  Kugel  pfeifen; 

Er  ist  getroffen  —  er  scliwankf,  er  dreht. 

Mit  Ziegel  und  Bohl  und  Handwerkgeräth 

Nieder  er  kollert  zum  Rasenstreifen. 

Und  der  Bischof  schaut  wie    ein  Tuch  so  blass, 

Er  klemmt  sein  Boss,  seine  Augen  blitzen: 

„ Marschalk I  "  —  stöhnt  er  —  die  Stirne  wiH  nass, 

In  die  Zügel  presst  er  der  Finger  Spitzen; 

Dann  fährt  auf  die  Wang  ein  glühend  Roth; 

„Kurt  von  Spiegel!"  ruft  er,   „das  bringt  Dir  den  Tod, 

Greift  ihn,  greift  ihn,  meine  Treiber  und  Schützen!" 

Doch  der  Spiegel  lächelt  und  niederschaut , 

Er  lächelt  auf  die  bleichen  Vasallen: 

„Mein  gnädigster  Herr,  nicht  allzu  laut, 

Eure  Worte  möchten  im  Wind  verhallen !  " 

Dann  wendet,  er  rasch ,  im  gestreckten  Lauf 

Durch's  Thor  er  donnert,  die  Brück'  hinauf. 

Und  hinter  ihm  klirrend  die  Gitter  fallen.  — 

Verhallt  im  Dome  zu  Paderborn 

Ist  des  Bischofs  Sferbegeläule , 

Und  wieder  im  Dome  zu  Paderborn 

Den  andern  Herrscher  man  kor  und  weihte. 

Stumm  fährt  das  Thal ,  die  Felder  hindurch 

Der  neue  Bischof  zur  Wevelsburg, 

Den  stummen  Truchsess  an  seiner  Seite. 

Und  als  er  über  die  Zugbrücke  rollt 

Und  sieht  den  mächtigen  Thurm  sich  strecken, 

In  seinem  Busen  ein. Seufzer  grollt,  . 

An  seiner  Inful  welch  braud'ger  Flecken, 

Des  Spiegels  Blut  in  dem  Stammbaum  hell ! 

Leis  seufzet  er  auf;  dann  spricht  er  srlinell: 

„Herr  Truchsess,  lasst  unsre  Tafel  decken!". 


—       182       — 

Die  Becher  kreisen,  —  des  Rheines  Saft, 
Die  Nichten  und  Muhmen  ,  die  frohen  Damen, 
Der  Vasallen  Neigen,  des  Witzes  Kraft 
Fast  von  der  Stirn  ihm  die  Falten  nahmen. 
Da  horch!  im  Vorsaal,  ein  Tritt  in  Eil ; 
Aufgeht  die  Thür  und  eine  Säul', 
Der  Kurt  von  Spiegel  steht  in  dem  Rahmen! 

Wie  starrt  der  Bischof  so  todesbleich,  — 

Im  Aveiten  Saal  keines  Odems  Hallen  — 

An's  Auge  schlägt  er  die  Hand  sogleich, 

Er  schwankt,  er  wird  von  dem  Sitze  fallen; 

Dann  seufzt  er  tief  und  hohl  und  schwer 

„Kurt!  —  Kurt  von  Spiegel,  wo  kommst  du  her? 

Greift  ihn ,  greift  ihn ,  meine  Vasallen  I  "  — 

• 

Kein  Sünderglöckchen  geläutet  ward, 
Und  kein  Schaffot  ward  aufgeschlagen, 
Doch  sieben  Schüsse,  die  fielen  hart, 
Und  eine  Messe,  die  hört  man  sagen. 
Der  Bischof  schaut  auf  den  blut'gen  Stein, 
Dann  murmelt  er  sacht  in  sich  hinein: 
Es  ist  doch  schwer  eine  Inful  zu  tragen  I 


Man  zeigt  auf  der  Wevelsburg  noch  die  Spuren  der  Kugeln, 
die  bei  des  Kurt  Hinrichtung  gefallen.  Das  Innere  des  Gebäudes 
ist  jetzt  zum  grössten  Theile  wüsst,  wie  der  gewaltige,  72  Schritt 
lange  mit  Wandmalereien  al  fresco  geschmückte  Rittersaal  z.  B. 
dessen  Balcon  eine  herrliche  Aussicht  das  Almethal  hinauf  bietet. 
Er  liegt  im  obern  Geschosse  des  westlichen  Gebäudes,  in  dem 
südlichen  Flügel  ist  der  Eingang  zum  Verliesse,  dem  Norberts- 
loch, wo  schwere  eiserne  Ketten  und  Ringe  in  den  10  Fuss 
dicken  Mauern  eingeklammert  sind.  Die  Sage  lässt  den  heiligen 
Norbert  hier  schmachten,  während  über  seinem  Haupte  in  den 
obern  Geschossen  der  streitbare  Friedrich  seine  Humpen  leert 
und  schwelgt  —  bis  er  von  Gottes  Hand  getroffen  mitten  ausein- 
anderbirst, und  ein  Auflauf  des  Landvolks  nun  den  frommen 
Dulder  in  Freiheit  setzt.  Die  Wevelsburg  zerfiel  seitdem  mehr 
und  mehr  in  den  Händen  ihrer  Pfandherrn,  der  Ritter  von  Bren- 
ken  und  Büren ,  bis  Fürstbischof  Theodorich  von  Fürstenberg  sie 
einlösste  und  1604^  7  mit  einem  Aufwände  von  36,000  Thalern 
ganz  neu  im  Dreiecke  aufFühren  liess.    Später  von  den  Schweden 


—      183      — 

unter  Krusemark  destruirl,   wurde  sie  uur  theihveise  wiederher- 
gestellt und  geht  jetzt  völligem  Ruin  entgegen. 

Von  der  Wevelsburg  wandern  wir  das  schöne  Thal  der  Alme 
hinauf,  die  an  Erpernburg  und  dem  Städtchen  Büren  vorbei, 
durch  ein  frisches  Wiesenthal  zwischen  freundlichen  bewaldeten 
Anhöhen,  ein  klares  spielendes  Gewässer  die  sanften  Ufer  ent- 
lang führt.  Büren  mit  seinem  grossen  Collegiatgebäude  und  der 
schönen  Kirche,  mit  dem  nahen  Frauenkloster  Holthausen  an  ei- 
ner Gruppe  von  alten  Baumwipfeln,  macht  einen aristocratischen, 
eine  Art  von  Rococo- Eindruck  durch  den  Styl  der  genannten 
Gebäude  aus  dem  vorigen  Jahrhundert,  der  seine  vollendetste 
höchste  Zierlichkeit  eben  in,  jener  Kirche  ausgeprägt  hat.  Sie 
zeigt  den  italienischen  Geschmack,  wie  man  ihn  damals  ins 
Französische  übersetzte,  und  ist  ganz  überwölbt  von  einer  hohen 
Kuppel,  welche  der  nadelspitze  Tliurm  zu  überragen  Mühe  hat; 
von  dem  der  Stadt  zugewendeten  Hauptportale  herab  segnet  die 
Statue  der  heiligen  Jungfrau  unsren  Eintritt,  zur  Seite  prangt 
verheissend  das  Hagiograph  der  Gesellschaft  Jesu ,  deren  Kirchen 
ja  bekanntlich  alle  durch  Pracht  und  Reichthum  sich  auszeich- 
nen. Das  Innere  ist  so  imposant  d'urch  seine  edlen  Formen,  wie 
blendend  durch  den  Reichthum  und  die  Frische  der  Zierrathen, 
nicht  gross  und  doch  geräumig  genug  um  zwei  Pfeilerreihen 
schlanke  Seitenhallen  bilden  zu  lassen.  Gewölbe  und  Sei- 
tenwände sind  mit  lebhaften  Freskogemälden  bedeckt,  die  Scenen 
aus  dem  Leben  der  heiligen  Jungfrau  darstellen,  jedes  mit  sei- 
nem Gipsraihmen  in  Cartoucheform,  wie  man  es  in  den  Säälen 
fürstlicher  Schlösser  findet:  Thüren  mit  vortrefflicher  Schnitz- 
arbeit, reiche  Vergoldungen  und  was  nur  zierlich,  blank  und* 
freundlich  machen  kann ,  ohne  durch  Ueberladung  dem  Eindrucke 
der  edlen  Verhältnisse  zu  schaden,  geben  der  Kirche  das  vor- 
vornehm Glänzende ,  dass  sie  uns  eine  geschmackvolle  und  präch- 
tige Schlosskapelle  in  vergrössertem  Maasstabe  scheint.  —  Das 
CoUegium  zu  Büren  ist  eine  Stiftung  des  letzten  Sprossen  der 
einst  mächtigen  Freiherrnfamilie  von  Büren ,  die  mit  dem  Jesuiten 
Moritz  166i  erlosch;  er  hatte  die  Hälfte  seiner  Herrschaft  dem 
Orden  vermacht;  dieser  erwarb  die  andere  Hälfte  durch  Kauf, 
konnte  aber  nach  langem  Hader  mit  Bischof  und  Adel  erst  i7i4 
den  Bau  des  Collegiums  beginnen;  die  Kirche  ist  aus  noch  spä- 
terer Zeit  und  gehört  der  letzten  Hälfte  des  vorigen  Jahrhunderts 


—      184       — 

an;   das  Gollegium  ist  Jetzt  zu  einem  Schullehrerseminar   um- 
geschaffen worden. 

Die  Alme  bildet  an  ihrer  Quelle,  über  dem  Dorfe  Nieder- 
und  Oberalme,  ein  Thal,  welches  ihr  als  die  ¥rone  aller  Ro- 
mantik im  Gebiete  der  Lippe  anerkennen  werdet,  wenn  ihr  die 
tiefdüstre  und  doch  so  belebte  und  blumigte  Schlucht  betretet, 
in  der  Wildheit  und  Reiz  in  seltnem  Grade  verschmolzen  um  die 
Formen  der  phantatisch  kühnen  und  doch  fast  zierlichen  Stein-' 
zacken  und  Zinnen  schweben.  Immer  dunkler,  immer  höher, 
immer  steiler  rückt  die  Thalschlucht  um  uns  zusammen  —  vor, 
neben,  um  uns  nichts  als  Felsgestalten,  wie  aus  einem  Mähr- 
chen entlehnt;  in  dem  tiefen  Kessel  die  Alme  der  Erde  entbro- 
delnd und  schäumend  und  wie  ein  wildgewordenes  entsprunge- 
nes Ross  sich  ungestüm  in  die  Räder  mehrerer  Mühlen  stürzend, 
welche  die  Schlucht  mit  einem  endlosen,  vom  Wiederhall  ver- 
stärkten Gesause  füllen ;  noch  tiefer  hinein  und  die  Felsen  schei- 
nen fast  zusammentreten  zu  wollen,  schroff,  schwindelnd,  zu- 
meist gespalten,  wie  mit  gothischen  Spitzen  und  Creneaux  ge- 
schmückt, als  thürme  eine  zerstörte  Cathedrale  in  wirren  Struc- 
turen  sich  auf.  Neben  den  düstern  Rissen  und  Einsenkungen 
steht  desto  greller  der  Sonnenstrahl  auf  den  ihm  erreichbaren 
Vorsprüngen  und  hervortretenden  Wänden,  und  lässt  unten  das 
sprudelnde  Gewässer  der  Alme  in  tausend  Funken  aufblitzen. 
Wo  die  Seiten  der  Berge  minder  schroff  und  mit  Erdreich  be- 
deckt sind,  da  lässt  der  Schutz  der  Felsenwände  die. üppigste 
Flora  keimen  und  die  Blüthe  des  wilden  Leberkrauts  überzieht 
im  Lenz  einen  der  Abhänge  so  dicht,  dass  er  von  fern  wie  eine 
lichtblaue  Wand  herüberleuchtet.  Am  Eingange  des  Thals  scheint 
das  Dorf  Alme  wie  auf  der  Flucht  begriffen  vor  seinen  wilden 
Schrecknissen  und  schon  halb  den  Hang  hinangeklommen;  über 
ihm  steigt  auf  ihrer  schwindelnden  Felswand  die  Tinne  empor, 
früher  eine  feste  Burg,  in  deren  Resten  sich  jetzt  ein  Edelhof 
angesiedelt  hat,  Avie  eine  junge  Falkenbrut  im  überjährigen  Neste 
—  hier  ein  Thurm  —  dort  ein  Stück  schuss-  und  feuerfesten 
Gemäuers,  dazwischen  das  spätere  Bauwerk,  immer  noch  wie 
eine  Burg  aussehend,  als  ob  mit  dem  Air  einer  mittelaltrigen 
Chatelaine  coquettirend. 

Der  Weg  führt  uns  von  hier  über  Brilon,  eine  graue  düstre 
Stadt,  in  der  nur  der  alterthümliche  Giebel   und  die  Säulenhalle 


■ —      185      — 

des  Rathhauses  unsre  Aufmerksamkeit  fesseln,  über  öde  Berg- 
flächen, auf  denen  die  Rippen  gewaltigerer  zerspülter  Vorgän- 
ger, in  Felsblöcke  versteinert,  den  Kirchhof  einer  antediluviani- 
schen  Natur  bezeichnen,  und  ein  kleiner  Fluss,  die  Aa,  so  gewal- 
tig aus  dem  Grunde  fährt,  dass  man  wenigstens  einen  Rhein  en 
herbe  vermuthet,  bis  man  ihn  nach  lyirzem  Lauf  nach  und  nach 
seine  Gewässer,  wie  in  ihre  Löcher  schlüpfende  Ratten,  in  die 
Erde  kräuseln  gesehen;  dann  nach  Antfeld,  dem  vielleicht  voll- 
kommensten Rococo-Edelhof  im  Lande,  in  dessen  Gärten  noch 
grüne  Truthähne  alljährlich  mit  Taxusnadeln  mausern.  Hier  aber 
haben  wir  ein  andres  Flussgebiet  betreten.,  das  Plateau  von 
Brilon  ist  Wasserscheide  zwischen  Weser,  Ruhr  und  Lippe  und 
aus  dem  Gebiete  des  letzteren  Flusses  hab  ich  euch  nur  noch 
zum  Schlüsse  eine  Sage  mitzutheilen,  welche  sich  an. den  Lut- 
terberg  in  der  Nähe  der  Wevelsburg  knüpft. 

Das  Fegefeuer  des  Westphälischen  Adels. 

Wo  der  selige  Himmel,  das  wissen  wir  nicht, 
Und  nicht,  wo  der  gräuliche  Höllenschlund, 
Ob  auch  die  Wolke  zittert  im  Licht, 
Ob  siedet  und  qualmet  Vulcanes  Mund  ; 
Doch  wo  die  westphälischen  Edeln  müssen 
Abbrennen  sich  ihr  rostig  Gewissen,   . 
Das  Avissen  wir  wohl,  das  ward  uns  kund. 

Grau  war  die  Nacht,  nicht  dumpf  und  schwer, 
Ein  Aschenschleier  hing  In  der  Luft; 
Der  Wanderbursche  schritt  flink  einher, 
Mit  Wollust  athmend  der  Heimafh  Duft; 
0  bald,  bald  wird  er  schaun  sein  Eigen, 
Schon  sieht  am  Lntterberg  er  steigen 
Sich  leise  schattend  die  schwarze  Kluft. 

Er  richtet  sich,  wie  Trorapetensfoss 
Ein  Holiah  ho!  seiner  Brust  entsteigt  — 
Was  ihm  im  Nacken?  ein  schnaubend  Ross, 
An  seiner  Schulter  es  rasselt,  keucht, 
Ein  Rappe,  —  grünliche  Funken  irren 
Ueber  die  Flanken,. die  knistern  und  knirren, 
Wie  wenn  man  den  murrenden  Kater  streicht. 

„  Jesus  Maria  1"  —  er  setzt  seitab , 
Da  langt  vom  Sattel  es  überzwerg  — 
Ein  ehrner  Griff,  und  in  wüstem  Trab 


—      186      — 

Wie  Wind  und  Wirbel  zum  LuUerbergl 
An  seinem  Ohre  hört  er  es  raunen 
Dumpf  und  hohl,  wie  gedämpfte  Posaunen, 
So  an  ihm  raunt  der  gespenstige  Scherg: 

„Johannes  Dewethl  ich  kenne  dich! 

Johann!  du  bist  uns  verfallen  heut! 

Bei  deinem  Heile,  niclfl  lach'  noch  sprich, 

Und  rühre  nicht  an ,  was  man  dir  beut ; 

Vom  Brode  nur  magst  du  brechen  in  Frieden, 

Ewiges  Heil  ward  dem  Brode  beschieden. 

Als  Christ  in  froner  Nacht  es  geweiht!"  — 

Ob  mehr  gesprochen,  man  weiss  es  nicht, 

Da  seine  Sinne  der  Bursch  verlor , 

Und  spät  erst  hebt  er  sein  bleich  Gesicht 

Vom  Estrich  einer  Halle  empor; 

Um  ihn  Gesumme,  Geschwirr,  Gemunkel, 

Von  tausend  Flämmchen  ein  matt  Gefunkel, 

Und  drüber  schwimmend  ein  Nebelflor. 

Er  reibt  die  Augen,  er  schwankt  voran, 
An  hundert  Tischen,  die  Hall  entlang, 
Edle  Geschlechter,  so  Mann  an  Mann; 
Die  Gläser  rühren  sich  sohder  Klang, 
Die  Messer  regen  sich  sonder  Klirren, 
Wechselnde  Reden  summen  und  schwirren, 
Wie  Glockengeläut,  ein  wirrer  Gesang. 

Ob  jedem  Haupte  ein  Wappen  fast. 
An  dem  ein  schwellender  Tropfen  hängt, 
Und  fällt  er  nieder,  dann  zuckt  der  Gast 
Und  einen  Moment  sich  zur  Seite  drängt; 
Und  lauter,  lauter  dann  wird  das  Rauschen, 
Wie  Stürme  die  zornigen  Seufzer  tauschen, 
Wie  in  der  Klippe  die  Fluth  sich  fängt. 

Strack  steht  Johann  wie  ein  Lanzenknecht 
Nicht  trauen  möchf  er  der  glatten  Wand, 
Nicht  war  der  glimmernde  Sitz  ihm  recht 
Wo  rutschen  die  Knappen ,  so  gewandt  — 
Da  sieht  fer,  Himmel,  wer  sollt'  es  denken! 
Den  frommen  Herrn,  den  Friedrich  von  Brenken, 
Dem  schwankt  der  Römer  in  zitternder  Hand. 

„Mein  Heiland ,  mach  ihn  der  Sünden  baar  !" 
Der  Jüngling  seufzet  mit  schwerem  Leid; 
Er  hat  ihm  gedient  ein  ganzes  Jahr, 


—      187      — 

Doch  ungern  krendenzt'  er  den  Römer  ihm  heull 
Bei  jedem  Schlucke  sieht  er  ihn  schüttern 
Ein  blaues  Wölkchen  dem  Schlund  entzittern, 
Wie  wenn  auf  Kohlen  man  Weihrauch  streut. 

0  manche  Gestalt  ihm  dämmert  auf, 
Dort  sitzt  sein  Pathe,  der  Metternich, 
Und  eben  durch  den  wimmelnden  Häuf 
Hans  vom  Spiegel,  der  Schenke,  strich; 
Prälaten  auch  je  vier  und  viere, 
Sie  blättern  und  rispeln  im  grauen  Breviere 
Und  zuckend  krümmen  die  Finger  sich. 

Und  tief  im  Saale,  da  knöcheln  frisch 
SchaMmburger  Grafen  um  Leut  und  Land, 
Graf  Simon  schüttelt  den  Becher  risch, 
Und  reibt  mitunter  die  kniesternde  Hand : 
Ein  Knappe  naht,  er  surret  leise,  — 
Ha,  welch  ein  Gesummse  im  weiten  Kreise, 
Wie  hundert  Schwärme  am  Klippenrand  I 

„Geschwind  den  Sessel,  den  Humpen  werth, 
Den  schleichenden  Wolf  *)  geschwind  herbei  1" 
Horch,  wie  es  draussen  rasselt  und. fährt! 
Baarhaupt  stehet  die  Massonei 
Hundert  Lanzen  drängen  nach  binnen, 
Hundert  Lanzen  und  mitten  darinnen 
Der  Asseburger,  der  blutige  Weih! 

Und  als  ihn\  alles  enfgegenzieht 

Da  spricht  Johannes  ein  Stossgebet: 

Dann  risch  hinein  I  —  sein  Ermel  sprüht 

Ein  Stral  ihm  über  die  Finger  geht. 

Voran!  —  da  „Sieben"  schwirren  die  Lüfte, 

„Sieben,  sieben,  sieben,"  die  Klüfte, 

„In  sieben  Wochen,  Johann  Deweth!"  — 

Der  sinkt  auf  schwellenden  Rasen  hin 
Und  gegen  den  Mond  hebt  er  die  Hand, 
Drei  Finger  die  rieseln  und  stäuben  hin, 
Zu  Asch'  und  Knöchelchen  abgebrannt. 
Er  rafft  sich  auf,  er  rennt,  er  schiesset. 
Und  ach,  die  Valerklause  grüsset 
Ein  grauer  Mann,  von  Keinem  gekannt. 


0  Der  schleichende  Wolf  ist  das  Wappen  der  Familie  Asseburg. 


—      188      — 

Der  lächelt  nimmer,  nur  des  Gebets 
Mag  pflegen  er  in  dem  Klosterchor, 
Denn  „sieben,  sieben"  flüstert  es  stets, 
Und  „  sieben  Wochen  "  ihm  in  das  Ohr. 
Und  als  die  siebente  Woche  verronnen , 
Da  ist  er  versiegt  wie  ein  dürrer  Bronnen . 
Gott  hebe  die  arme  Seele  empor!  *) 


*)  Siehe  guch  die  gelungene  Bearbeitung  in :  Sagen  -  und  Mährchenwaid 
von  L.  Wiese.  Barmen  1841.—  Eine  ganz  ähnliche  Sage  findet  sich 
Memoires  de  la  Duchesse  de  Nevers:  T.  II.  Cap.  14.  Ueber  das 
Detail  der  Geschichte  der  Wevelsburg  siehe  Gottschalks  Ritterburgen, 
Halle  1818.  B.  IV.  Ueber  die  übergangene  Geschichte  der  Wieder- 
täufer in  Münster  befinden  sich  die  altern  Quellen  in  Niesert,  Mün- 
ster Urltundenbuch-,  Münster  1823,  in  der  Vorrede;  neuere  Bearbei- 
tungen sind  die  Uebersetzung  des  Kerssenbrockschen  Werks  1771, 
Gesch.  der  Wiedertäufer  von  Jochmus,  von  Hast,  in  den  Münsler- 
schen  Geschichten,  Sagen  und  Legencfen,  Münster  1825,  und  in  Haupts 
Aehrenlese,  Elberfeld  1816.  Poetische  Behandlungen  sind:  die  Wie- 
dertäufer von  van  der  Velde,  der  König  von  Zion  von  Spindler; 
Johann  von  Leyden,  von  von  Metternich,  Elisabeth,  von  Gh.  B.  Schü- 
cking,  die  Wiedertäufer,  von  einem  Ungeaannfen.  —  Ich  habe  ferner 
übergehen  müssen:  das  Dorf  Apierbeck,  bei  Dortmund,  wo  auf  dem 
Mordhofe,  auf  welchem  noch  jetzt  nie  ein  männlicher  Erbe  folgt  (wie 
die  Kirchenbücher  seit  1703  beweisen)  die  Ewalflsbrüder  erschlagen 
sind.  S.  Stangefol,  Ann.  Circ.  W.  LXVI.  Welter,  Einf.  d.  Christ. 
Münster  1830.  Die  Sage  vom  Teufel  in  der  Kirche  zu  Unna  und 
andere;  s.  Stahl,  W.  Sagen,  Elberfeld  1831.  Die  Hünengräber  im 
Fürstenthum  Paderborn;  s.  Wissenschaftsbl.  zum  W.  Anzeiger,  1820. 
Den  Grafen  Spork,  der  auf  dem  Sporkhofe  bei  Delbrück  im  Paderborn, 
geboren;  s.  Bessen,  Gesch.  v. Paderborn  11.249.  von  Hammer,  Gesch. 
der  Osmanen.  Die  Anekdoten  von  Sporks  Rückkehr  in  seine  Hei- 
math sind  bekannt.    Die  Inschrift  seines  Schwertes  lautete : 

Hinweg  du  RömerschAvert  aus  der  Pharsaller  Schlacht, 
Hier  ist  ein  Deutscher  Kling  von  grössrer  Stärk  und  Macht, 
Die  führt  der  tapfre  Spork  in  seiner  Heldenfaust, 
Als  er  bei  Golthard  schlug  der  Türken  und  Tartaren  Haut. 
Drum  hat  ihn  Dankbarkeit  den  Lobspruch  hergesetzt, 
Und  eines  Künstlers  Hand  der  Kachwelt  eingeätzl. 


pa^  Wafftvd^but  Itfev  %nl)v. 


iJas  Land  der  Ruhr  ist  der  Stolz,  die  Krone  iinsres  Vater- 
landes ;  die  frischen  rauschenden  Berggewässer  aes  Stromes  sind 
das  silberne  Stirnband  dieser  Krone.  Es  ist  ein  ganz  andres 
Reich,  als  das  durchmessene;  aus  der  Idylle  des  Lippethaies, 
worin  die  Geschichte  nur  uns  romantische  Episoden  webte,  tre- 
ten wir  über  in  ein  Epos ,  das  von  der  Gewalt  urweltlicher  Ti- 
tanenkämpfe spricht  und  Porphyrcolosse  ihnen  zum  Denkmal 
aufgethürmt  hat,  das  in  Felsenkathedralen  geht,  um  versteinerte 
Dithyrambe  zu  werden ,  oder  mit  der  Mauerkrone  von  Burg  und 
Warte  um  das  graustirnige  Haupt,  um  die  laubgrünen  Locken,  in 
die  Jahrhunderte  schaut  und  sie  an  sich  vorüberrauschen  lässt, 
wie  unten  die  Wellen  des  Flusses  an  ihm  vorüberrauschen.  Eine 
schauerliche  Waldeinsamkeit,  wo  unter  den  hohen  Buchen  und 
Eichenwipfeln  nur  der  Köhler  seine  Meiler  schürt,  wo  nur  zu- 
weilen eine  einzelne  braungelbe  Zigeunergestalt  schleichend  das 
Laub  der  Pfade  aufrascheln  macht,  der  Arnsberger  Wald  zwi- 
schen Mönne  und  Ruhr,  bildet  den  vermittelnden  Uebergang. 
Er  führt  aus  dem  anmuthigen,  mildfruchtbaren  Gelände  des  Mön- 
nethales  zu  der  grossartigen  und  wildpitloresken  Natur  des  lin- 
ken Ruhrufers,  wo  bald  gigantische  Felsen ,  die  sich  schwindelnd 
über  Thalkessel  voll  grotesker  Trümmer,  wie  Proteus  über  seine 
Robbenheerde  beugen,  keine  Seltenheit  mehr  sind,  wo  die  Adler 
und  die  Uhus  horsten ,  das  Land  der  Tropfsteinglänzenden  Klüfte, . 
der  von  allen  Höhen  niederkollernden  und  spritzenden  Bergwäs- 


—      190  *   — 

ser;  aus  den  Tiefen  dröhnt  das  dumpfe  Pochen  der  Hammer- 
werke, schwere  Rauchsäulen  rollen  sich  über  die  Felszacken 
auf  oder  zerstieben  an  den  Baumwipfeln  —  Dante's  glühende 
Felsen  treten  uns  im  Brandlichte  der  hohen  Oefen  entgegen. 
Aber  hier  auf  dem  höchsten  Gipfel  haben  wir  auch  die  Gränze 
der  Poesie  erreicht,  und  wir  wenden  uns  ab  von  dem  Ueber- 
gange  des  Wilden  zum  Wüsten,  winterlich  Kümmerlichen,  das 
zuletzt  mit  Krüppelholz ,  kahlen  Gipfeln ,  Schnee  im  tiefen  Mai 
und  ärmlichen  Hafersaaten  endigt.  Im  gleichen  Yerhältnisse  wer- 
den am  rechten  Ufer  der  Ruhr  der  kleineren  Felsen  immer  we- 
niger, die  Thäler  weiter,  wiesengrüner,  der  Fluss  dehnt  sich, 
und  hat  seiner  Stimme  eine  Sourdine  aufgesetzt,  als  fürchte  er, 
das  Gebirge  zu  wecken,  das  seinen  Zackenkranz  abgelegt  und 
sich  unter  die  grüne  flatternde  Decke  gestreckt  kat. 

Die  Gebirge  der  Ruhr  sind  eine  unmittelbare  Verzweigung 
des  weiter  südlich  als  mächtiger  Gebirgsstock  sich  erhebenden 
Westerwaldes ;  sie  sind  zum  Theil  aus  den  ältesten  neptunischen 
Gebilden  zusammengesetzt  und  zeigen  an  der  untern  Ruhr  die 
Glieder  der  Kohlengruppe ,  gehören  im  Süderlande  der  Grauwa- 
ckenformation  an.  Beide  Bildungen  gingen  wahrscheinlich  der 
des  Teutoburger  Waldes  lange  voraus  und  desshalb  sind  die 
Gebirge  der  Ruhr,  von  den  wiederholt  die  Urwelt  überspülen- 
den Fluthen  desto  öfter  zerrissen  und  zerklüftet,  schroffer  auf- 
steigend und  mehr  vereinzelt,  denn  die  Höhen  des  Osnings. 

In  der  tiefsten  Wildniss  des  Süderlandes  liegen  die  Quellen 
der  Ruhr.  Südlich  von  dem  rauhen  Plateau  von  Winterberg,  das 
2000  Fuss  über  der  Meeresfläche  erhaben  ist,  und  doch  nicht 
zu  den  Höhen  -der  nahen  Dörfer  Astenberg  hinanreicht,  wo  einer 
der  Berggipfel  2600  bis  2700  Fuss  misst,  sprudelt  sie  in  drei 
starken  Quellen  aus  der  östlichen  Seitenwand  des  „Ruhrkopp" 
hervor,  windet  sich  wie  unentschlossen  in  den  Schluchten  und 
rauscht  dann,  nach  Norden  gewandt,  sich  einen  Pass  durch  die 
Berge  offen.  Rechts  in  ihrem  Rücken  lässt  sie  Küstelberg,  über 
dem  eine  der  höchsten  Höhen,  der  Schlossberg,  einst  von  einer 
Burg  gekrönt,  eine  Aussicht  auf  Waldeck  und  beide  Hessischen 
Lande,  bis  nach  Frankfurt  und  seinen  Feldberg  gewährt.  Ein 
früheres  Nonnenkloster  in  Küstelberg,  dessen  Bewohnerinnen  das 
Volk  „Quiselen"  nennt,  ist  später  hinabgezogen  nach  dem  „ge- 
linden Felde,"  der  jetzigen  Domaine  Glintfeld,  wo  in  der  milden 


—      191       — 

fruchtbaren  Landschaft  nach  Medebach  und  die  Waldecksche 
Gränze  hinaus  die  Pfirsiche  und  Apricosen  blühen,  wenn  in  dem 
kaum  eine  Stunde  entfernten  Küstelberg  der  tiefe  Schnee  auf 
den  Aesten  der  Birken  liegt. 

Wild  und  steil,  mit  Haidkraut  und  kurzem  Buchengestrüpp 
über  den  jähen  Abhängen,  sind  die  nahe  zusammen  gerückten 
Gestade  der  jungen  Ruhr,  eine  Landschaftscene  aus  dem  Schot- 
tischen Hochland,  bis  das  Gebirge  breiter  auseinandergeschoben 
bei  Olsberg  und  Bigge  den  Fluss  in  Wiesengründe  und  bei  Ost- 
wig  in  eine  schöne  Landschaft  voll  Klippen  und  Baumschatten 
führt.  Doch  zwei  Punkte  locken  uns  zurück  in  das  Gebirge  an 
der  linken  Seite  dieser  obern,  noch  nach  Norden  strömenden 
Ruhr;  der  erste  ist  Bruchhausen,  eine  der  wildesten  Parthien, 
wo  die  Natur  nach  einem  Salvator  Rosa  zu  rufen  scheint;  da 
ist  kein  Berg  umher  ohne  seine  Felsrisse,  das  ganze  von  Hoch- 
wald umgebene,  mit  Steinblöcken  besäte  Thal  ist  wie  der  Bau- 
platz für  eine  Gigantenwohnung ;  dennoch  ist  der  Boden  fruchtbar, 
man  hat,  um  ihn  urbar  zu  machen,  die  Blöcke  gesprengt  und 
wüste  Brocken  hier  und  da  als  Einfriedigungen  des  eroberten 
Grundes  stehen  lassen,  dem  zur  Seite  wieder  ganze  Strecken 
noch  dem  alten  Chaos  verfallen  sind.  Dicht  am  Fusse  des 
schroffen  Isenberges  liegt  das  Dorf  und  freiherrlich  Gaugräbi- 
sche Gut  Bruchhausen,  über  ihm,  den  Hang  des  Berges  hinan, 
die  isolirten  colossalen  Bruchhäuser  Steine;  wir  haben  staunend 
vor  den  ähnlichen  Eggestersteinen  gestanden,  aber  sie  sind  Kin- 
der gegen  die  ungeheure  Moles  dieser  Felsgebilde;  auf  viele 
Stunden  weit  tiberragen  sie  gen  Nordosten  das  Gebirge  wie 
grandiose  Warten.  Zuhöchst  auf  dem  Gipfel  des  Isenberges -liegt 
der  Fel(jstein ,  kleiner  als  die  übrigen  und  dennoch  an  seiner 
schroffsten  Seite  eine  160  Fuss  hohe  Wand  bildend  und  über 
die  alten  Baumwipfel  ragend  wie  Saul  über  das  Volk  Gottes, 
malerisch  durch  scharfgezackte  und  gespaltene  Formen.  Die  Aus- 
sicht von  ihm,  gen  Norden  hin  über  die  Thürme  von  Münster, 
kann  nur  die  Sclnväche  des  Auges  beschränken.  Tiefer  liegt  der 
Goldstein,  ein  schwerer  massiger  Donjon,  fest  und  steilauf  ge- 
mauert, die  Bastei  dieser  TVaturfeste ;  dann  der  Rabeilstein,  bro- 
kenhaft,  ein  Stück  einer  riesigten  Ruine  und  endlich  am  tiefsten 
bergab,  fast  an  der  Mitte  des  ganzen  Hanges,  der  mächtigste 
der  Viere,   der  Brunnenstein,  eine  compakte   aber  trümmerhafte 


i 


—      192    — 

Masse.  Er  ist  weniger  steil  als  die  übrigen  und  gibt  durch  Risse 
und  kleine  Flächen  dem  Fusstritte  Raum,  dass  man  ohne  Gefahr 
ihn  ersteigen  und  den  Brunnen,  (eine  nah  der  Kuppe  auf  ei- 
nem Plateau  befindliche  Höhlung,  wo  sich  das  zusammenrieselnde 
Regenwasser  sammelt  und  durch  ein  Felsendach  geschützt  nicht 
leicht  versiegt,)  beschauen  kann.  Habichte,  Falken  und  Käuze 
siedeln  in  den  Klüften  der  Felsen  und  steigern  durch  ihr  Gepfeife 
oder  lautloses  Umkreisen  der  Zacken  den  Eindruck  des  wildpit- 
toi;esken  Bildes.  —  Die  Bruchhäuser  Steine  bestehen  aus  Porphyr 
mit  grossen  Bruchstücken  der  Grauwacke  dazwischen,  und  zeigen 
alle  Spuren  einer  vulcanischen  Bildung;  von  der  Gewaltsamkeit 
der  Eruption  sprechen  die  Felsblöcke,  die  weit  umher  geschleu- 
dert und  zerschmettert  liegen. 

Etwa  zwei  Stunden  weiter  in's  Gebirge  hinauf  bringen  uns 
nach  der  Pleister -Legge  (Lei,  Gestein,)  und  einem  so  schönen 
Wasserfall,  als  ihn  eine  Berggegend,  die  doch  nur  zweiten  Ran- 
ges ist,  bieten  kann.  Von  Bruchhausen  her  führt  ein  anmuthi- 
ges  Hial  dorthin,  durchrauscht  von  der  kleinen  muntern  Elpe, 
von  grünen  Laubholzhöhen  beschirmt ,  die  nur  selten  in  Felspar- 
thien  die  steinernen  Rippen  ihres  Baues  durchscheinen  lassen. 
Nur  der,  etwa  in  der  Mitte  des  Weges  liegende  Ohlenberg 
macht  eine  Ausnahme  und  glotzt,  nur  am  Fusse  reich  bewaldet, 
mit  kahlem  Schädel  weit  über  die  andern  fort,  wie  ein  verdriess- 
licher  Alter,  dass  unter  all  den  grünen  Gesellen  er  allein  noch 
im  Mai  mit  Schneegebleichtem  Haupte  stehen  muss.  Das  Thal 
verengt  sich,  die  Strasse  klimmt  die  Höhen  hinan  und  läuft  an 
ihnen  unter  dem  Laubdach  hin ,  unten  rauscht  über  Schlacken 
und-  Gestein  immer  unruhiger  ihre  Funken  spritzend  die  Elpe, 
zuletzt  Schaumwellen  sich  nach  reissend,  wenn  wir  depi  Getöse 
des  Wasserfalls  uns  nahen.  Nun  seitwärts,  eine  Felswand  tritt 
uns  entgegen ,  eine  andre  neben  uns ,  eine  dritte  dieser  gegen- 
über, und  ein  starker  über  dem  MittelrilT  aus  unzähligen  Quell- 
chen und  Zuflüssen  zusammengerieselter  Bach  stürzt  senkrecht 
eine  Höhe  von  vielleicht  50  Fuss  hinab,  in  eine  Garbe  von 
Wasserstralen  zersplitternd,  dann  noch  eben  so  tief  über  Trüm- 
mer und  Absätze  schäumend  und  aufdampfend.  Wir  stehen  auf 
unsrer  kleinen  Terasse  im  feinen  Dunstregen,  betäubt  von  dem 
G^etose  und  Gezisch,  geblendet  vom'  auffahrenden  Schaume;  von 
allen  Bergen  rieseln  und  kollern  Quellen,  den  fast  nur  als  Staub 


—      193       — 

unten  ankommenden  Bach  verstärkend  und  mit  ihm  der  Elpe  zu- 
eilend. Ueber  dem  Sturze  einige  hundert  Schritt  zurück  liegt 
das  Dörfchen  Wasserfall,  nur  sichtbar,  wenn  wir  die  ganze 
Höhe  erklimmen,  um  den  Sturz  aus  der  Vogelperspective  zu  be- 
trachten ;  das  Thal  schliesst  sich  dort  und  streckt  nur  noch  einen 
Büschel  Polypenarme  als  Schluchten  und  Wege  in  die  Berge  aus, 
wie  um  sich  anzuklammern  in  der  Furcht,  von  dem  Wasser- 
stosse  losgerüttelt  zu  werden. 

Wir  kehren  über  Gevelinghausen  durch  die  Ostwiger  Schlucht 
an  die  Ruhr  zurück  und  sehen  sie  erst  einen  mächtigen  Bogen 
krümmen,  um  jetzt  ganz  nach  Westen  zu  strömen.  Ein  schö- 
nes Thal  voll  Gärten  und  Wiesen  zwischen  den  auf  beiden  Sei- 
ten zurückweichenden  Bergen  und  den  Ufern  führt  uns  nach 
Yelmede,  und  zu  dem  Thore  der  Höhle,  die  von  der  Sage  als 
Velleda's  Wohnung  bezeichnet  wird.  Die  Velmeder  Höhle ,  welche 
man  fast  an  der  Höhe  des  Berges  über  dem  Städtchen  durch  eine 
weite  Thorwölbung  betritt,  ist  eine  geräumige  aus  einem  Bogen 
geschlagene  Halle,  so  weit  und  Kirchenähnlich,  dass  sie  jährlich 
eine  Prozession  umfasst  und  christliche  Gebete  in  endlosem  Ge- 
summe und  Brechungen  durch  die  Klüfte  irren,  wo  einst  unsre 
Wodansgläubigen  Väter,  unter  dem  feuchten  Gewölbe  sich  fester 
in  ihre  Bärenhaut  wickelnd,  nach  dem  Felsspalte  starrten,  au^ 
dem  die  mächtige  Drude  hervortreten  musste.  Im  Hintergrunde 
des  Gewölbes  senkt  sich  ein  schwarzer  Schlund  fast  senkrecht 
hinab,  und  hier  mag  Velleda,  schaudernd  vorgebeugt,  den  Stim- 
men ihrer  schlimmen  Götter  gelauscht  haben;  drunten  flüstert  und 
zischt  es;  man  hört  den  Stein,  den  man  in  den  heiligen  Schlund 
wirft,  hier,  dort,  zehn,  zwanzig  Mal  anfahren  und  dann  in  die 
Gewässer  plätschern,  die  unten  aus  zahllosen  Kitzen  zusammen- 
rieseln und  ihre  heimlichen  Wege  unter  der  Erde  ziehen.  Ein 
muthiger  Fabrikherr  hat  es  unternommen,  trotz  der  drohenden 
Wassertiefe  und  der  schreckenden  Zacken  des  Schachtes  hinab- 
zufahren und  wir  wissen  nun,  dass  man  unten  durch  eine  Sei- 
tenkluft in  eine  Halle  gelangt,  weit  grösser  und  prächtiger  als 
die  obere,  hochgewölbt,  mährchenhaft,  mit  Säulen,  Candelabern, 
und  grotesken  Gestalten  aus  feuchtglänzendem  Tropfstein;  ob  dem 
Frevler  zürnend  die  Midgardsschlange  und  das  Wolfungethüm 
Fenris  erschienen,  hat  er  nicht  entdeckt,  aber  seine  Beschreibung 
lässt  unsre  Phantasie  ahnen,   dass,   wie  in  ihren  Pyramiden  die 

i5 


—      194      — 

zu  Holz  gedörrten  Pharaone,  hier  die  allen  Asgardgötter ,  inkru- 
stirt  und  zu  Stein  erstarrt,  den  tiefen  Fall  ihrer  Grösse  in  den 
leise  tropfenden  Steinthränen  beweinen.  —  Ein  schmaler  brock- 
lichter Pfad,  schlimmer  als  eine  Leiter,  führt  aus  der  obern 
Höhle  in  eine  Seiteukluft,  welche  in  die  geheime  Werkstatt  der 
Drude  leitet,  eine  gemachähnliche  Wölbung,  klein,  heimlich,  mit 
spitzen  Felszacken,  die  den  Eingang  bewachen,  und  schwarzen 
schmalen  Spalten,  die  noch  weithin  im  Berge  sich  verschlingen 
sollen;  wir  aber  haben  den  heiligen  Mistel  nicht  zur  Hand  und 
treten  wieder  an  das  Licht  des  Tages  hinaus,  das  uns  die  sonst 
nicht  hervorstechend  schöne  Gegend  doppelt  anmuthig  nach  der 
nächtlichen  Wanderung  macht.  Die  Bewohner  des  Dörfchens 
unten  wissen  noch  manche  Sage  von  dem  „Hollenloch"  und 
seinen  weisen  Frauen,  den  Hollen,  die  es  einst  bewohnt  und 
bald  Glück,  bald  Unheil  über  Menschen  und  Saaten  gebracht 
haben  sollen.  Sonst  nimmt  die  deutsche  Sage  nur  ein  Wesen, 
Frau  Holla,  an,  die  ganz  ähnlich  jener  Berahta,  von  der  oben 
gesprochen  wurde,  über  die  Spinnerinnen  und  den  Flachsbau 
wacht  die  es  schneien  lässt,  wenn  sie  ihr  Bett  macht  und  die 
Federn  fliegen,  die  zu  Mittag  als  schöne  weisse  Frau  in  der  Flut 
badet  und  verschwindet,  und  nur  durch  den  Brunnen  Sterbliche 
in  ihre  Wohnung  kommen  lässt.  Dass  aber  die  hohe  Velleda 
gehaust  habe  in  der  Höhle  von  Velmede,  ist  eine  Behauptung, 
deren  Verantwortung  die  Sage  übernehmen  muss,  welche  sie 
aufstellt;  wir  wissen  nur  durch  Tacitus'  dürftige  Notizen,  dass 
sie ,  im  Lande  der  Bructerer  gebietend,  auf  einem  Thurme  wohnte, 
dass  man  wie  ein  höheres  Numen  sie  verehrte,  und  ein  Schiff 
ihr  zum  Geschenke  die  Lippe  hinauf  zog;  wir  sehen  trotz  des 
mtmdium,  worin  der  Germane  seine  Weiber  hielt,  sie  ein  Bünd- 
niss  zwischen  Tencteren  und  dem  Volke  der  Colonia  Agrippina 
schliessen;  aber  wo  sie  in  Einsamkeit,  den  Augen  des  Volkes 
entzogen,  der  Prophezie  geheimnissvolle  Gabe  pflegte,  ist  so 
unmöglich  zu  bestimmen,  wie  das  Wesen  jener  Gabe  altgerma- 
nischer Frauen  selbst,  dem  wir  nur  das  an  die  Seite  setzen  kön- 
nen, dass  ja  noch  heute  fast  allein  den  Frauen  die  Gabe  des 
Hellsehens  wird.  —  Die  Chaussee  führt  durch  das  Ruhrthal,  das 
Städtchen  Eversberg  zur  Seite  lassend,  wo  die  schöne  Ruine  eines 
Schlosses  der  Grafen  von  Arnsberg  uns  mit  ihrem  runden  Donjon 
und  den  hohen  Fensternischen  gern   hinüberlocken  möchte,  nach 


—      195      — 

dem  Städtchen  Meschede,  einem  der  schönsten  Punkte  des  Süder- 
landes,  aber  sich  fast  aller  Beschreibung  durch  den  Mangel  des 
charakteristisch  Hervorstechenden  entziehend;  was  hilft's  zu  sa- 
gen, das  Thal  hat  angenehme  Dimensionen,  die  Berge  haben  an- 
muthig  wallende  Formen,  sind  ausserordentlich  schön  bewaldet 
und  reich  an  lieblichen  Contrasten  durch  hochstämmiges  und  jun- 
ges Laub-  und  Nadel -Holz  —  die  Ruhr  macht  einen  allerliebst 
coquetten  Bogen,  die  daran  wie  eine  schmucke  Dirne  vor  dem 
plätschernden  Brunnen-Kübel  stehende  kleine  Stadt  ist  blanker 
und  reinlicher  als  gewöhnlich;  an  dem  Ruhrufer  entlang  läuft 
eine  der  ebensten  und  schönsten  Chausseen  Deutschlands?  Und 
doch  sind  dies  die  scheinbar  geringen  Mittel,  durch  welche  eine 
der  reizendsten  Gegenden  gebildet  wird.  Meschede  ist  ein  Ort, 
in  dem  es  schwer  sein  muss ,  traurig  zu  sein ,  so  hell  und  freund- 
lich und  dem  Auge  wohlthuend  tritt  uns  Alles  entgegen;  es  ist 
der  höchste  Triumph  des  eigentlich  Mittelmässigeay  die  Lorbeer- 
krone des  im  Grunde  Unbedeutenden.  Jedermann  nennt  diese 
Gegend  eine  paradiesische  und  mit  Recht;  dennoch  lässt  sich 
nichts  daraus  hervorheben ,  es  gibt  weder  Felsen ,  noch  Ruinen, 
noch  bedeutende  Bergformen;  aber  eine  Klause  gibt  es,  am 
Berge  nächst  der  Chaussee,  die  mit  ihrem  Thürmchen  oder  Glocken- 
stuhl an  der  Fichtenwand  eine  gar  reizende  Wacht  hält,  und  ihr 
Glöckchen  über  die  darunter  liegende  Stadt  schallen  lässt,  wenn 
dem  armen  Bruder  die  Lebensmittel  ausgegangen  sind,  wo  sich 
dann  alles  beeilt ,  ihn  wieder  zu  verproviantiren.  Ein  angeneh- 
mer Spaziergang  führt  an  der  Klause  vorüber  nach  dem  Gräflich 
Westphalschen  Gute  Laar,  das  inmitten  seiner  ausgedehnten 
Garten-  und  Parkanlagen,  in  der  ohnedies  schönen  Lage  am 
Ruhrufer  eine  neidenswerthe  Besitzung  bildet.  Unter  Andrem 
macht  eine  Reihe  schwindelnd  hoher  lombardischer  Pappeln  hart 
unter  dem  Berghange  und  sich  längs  seiner  Fichtenwand  abschat- 
lirend,  einen  pittoresken,  fast  grandiosen  Effekt.  Bald  auf  dem 
rechten ,  bald  auf  dem  linken  Ufer  laufend ,  zieht  von  hier  die 
Chaussee  über  unzählige  Brücken  sich  durch  das  immer  male- 
rische Thal,  über  frische  Auen,  an  bekränzten  Höhen  vorbei. 
Dann  verlässt  sie  die  Gestade  des  Flusses,  der  rechts  seitab 
strömt,  führt  an  dem  stattlichen  ehemaligen  Kloster  Rumbeck 
her  und  zieht  einen  Berghang  hinan  bis  zu  dem  Punkte,  wo  man 
in  ein  neues  Stromthal  hinabschaut,   kaum  glaubend,    es  sei  der 

15* 


—      196      — 

herrliche  Fliiss  da  unten  die  jüngst  verlassene  Ruhr,  wo  vor 
uns  das  schöne  Arnsberg  wie  in  Stufen  übereinander  gesetzt  die 
Giebel  und  Thürme,  die  Trümmer  des  Schlosses  von  seiner 
Bergeshühe  erhebt.  3Ian  muss  hier,  an  dieser  Stelle  der  Chaus- 
see, wo  sie  wieder  sich  zu  senken  beginnt,  stehen  und  hinüber- 
schauen, wenn  irgend  ein  seltenes  Fest,  wie  der  Besuch  seines 
Königs,  Arnsberg  illuminirt.  Dann  leuchtet  und  glänzt  es  in  den 
Anlagen  des  „Eichholz",  die  vom  Fasse  des  Berges  bis  zur 
Spitze  hinauf  terrassenförmig  den  ganzen  Hang  bedecken,  wie 
Schwärme  riesiger  Leuchtkäfer  nur  mit  geschmolzenem  Smaragd 
die  Haine  Indiens  füllen  können;  es  ist,  als  wäre  jede  Staude, 
jeder  Ast  in  tausend  flammenden  Blüthen  ausgeschlagen,  als 
schwirrten  sie  neckend  voll  Muthwillen  ihre  Stralenpfeile  ein- 
ander zu  und  hielten  sich  wie  Schilde  dagegen  die  vergoldet  auf- 
blinkenden Blätter  vor;  wie  aus  dem  Schlafe  geweckt  tost  und 
gurgelt  und  rauscht  um  den  Fuss  des  Zaubergartens  die  Ruhr 
und  spiegelt  das  ganze  Bild,  das  man  für  eine  magische  Täu- 
schung, eine  Phantasie  Scheherasadens  hält. 

Arnsberg  liegt  auf  dem  Rücken  einer  Berghöhe  ,  vor  der 
die  westwärts  strömende  Ruhr  plötzlich  gen  Süden  sich  wendet, 
dann  in  einem  grossen  Bogen  umkehrend  wieder  nördlich  strömt, 
und  wenn  sie  so  die  Stadt  zur  Halbinsel  gemacht,  nach  Nord- 
westen weiter  rauscht  Die  Stadt  ist  zum  Theil  neu  und  schön 
und  theilt  sich  in  die  untere  und  obere  Stadt,  wie  sie  vom  rech- 
ten Ufer  der  Ruhr  mälig  die  Höhe  hinanklimmt,  ihre  letzten 
Häuser  fast  in  die  Baumschatten  rückend,  durch  welche  man  die 
ohnedies  höchst  malerische  Schlossruine  noch  malerischer  zu 
machen  gesucht  hat.  Es  sind  gewaltige  Trümmer,  diese  Ruine, 
die  breite  Bergfläche  wie  ein  Sattel  den  Rücken  eines  Riesen- 
pferdes überspannend,  weit  genug  in  ihrem  Umkreis  einem  gan- 
zen Lustwald  Raum  zu  geben.  Kaum  wagt  man,  all  die  Trüm- 
mer für  Fragmente  eines  Baues  zu  halten.  Das  Schloss  wurde, 
von  den  alten  Grafen  von  Arnsberg  seit  1100  nach  und  nach 
ausgebaut,  dann  von  den  beiden  letzen  Churfürsten  iKölns 
aus  Bayerischem  Hause,  Joseph  Clemens  und  Clemens  August 
verschönert  und  erweitert;  im  siebenjährigen  Kriege  von  dem 
Herzog  von  Braunschweig  hart  beschossen ,  ward  es  vor  etwa 
einem  halben  Jahrhundert  als  unwiederherstellbar  der  Zerstörung 
tiberwiesen  und  das  Material  zum  Bau   öfl"entlicher  Gebäude  ver- 


n 


—      197      — 

wandt;  aber  die  älteren  Einwohner  Arnsbergs  reden  noch  mit 
Stolz  von  der  Pracht  und  den  grossartigen  Verhältnissen  ihres 
Schlosses:  es  gab  einen  Saal  darin,  in  welchem  vierspännige 
Wagen  bequem  wenden  konnten;  jährlich  einmal  zur  Kirche  um- 
geschaffen nahm  er  eine,  gegen  6000  Menschen  starke  Prozession 
auf  und,  wie  man  sagt,  ohne  Gedränge.  Man  hat  von  der  Höhe 
des  Schlosses  aus  eine  wunderbar  schöne  Aussicht;  das  enge 
Thal  der  Ruhr,  uns  gegenüber  als  schliessende  Wand  hochbe- 
waldete Bergrücken;  von  der  (südlichen)  Spitze  der  Halbinsel 
segnet  die  Benediktiner- Abtey  Weddinghausen  auf  die  Stadt 
herab;  unten  die  wirbelnde  quecksilberne  Ruhr,  die  blanken 
Häuser,  die  stäubende  Chaussee.  Zur  andern  Seite  der  Ruine, 
nach  Westen  hinaus,  im  lieblichsten  Contrast  mit  dem  jenseitigen 
Bilde,  weite  ruhige  Wiesenflächen;  der  Blick  nur  durch  ferne 
Höhen  mild  begränzt  und  gleich  einer  Silberschlange  der  im 
offenen  Sirale  zitternde  Fluss,  sich  leicht  dahin  windend  und 
rechtsab  wie  ein  glänzender  Nebel  am  Horizonte  verdämmernd. 
So  ruht  und  träumt  man  sich  in  eine  süsse  Romantik  hinein 
zwischen  den  Trümmern  des  Schlosses,  zwischen  seinen  blühen- 
den Stauden,  deren  Zweige  um  zerfallendes  Gemäuer  flattern, 
unter  den  schlanken  Baumwipfeln,  die  mit  einem  grauen  Thurme 
flüstern;  der  hat,  nachdem  all  die  alte  glänzende  Herrlichkeit 
von  ihm  abgefallen ,  sich  ein  neues  besscheidenes  Jägerkleid  aus 
unvergänglichem  Epheu  angethan.  Unser  Fuss  ruht  auf  Schutt, 
aus  welchem  wilde  Anemonen  spriessen,  und  lässt  Kellergewölbe 
wiederhallen,  welche  der  Sage  harren,  die  sie  mit  den  Geistern 
der  alten  zürnenden  Grafen  bevölkern  wird,  die  schon  jetzt  die 
Stelle  nicht  geheuer  macht,  wo  der  alte  Fehmgerichtsplatz  im 
Baumhofe  zur  Seile  des  Schlosses  in  einen  Garten  verwandelt  ist. 
Die  Geschichte  nennt  einen  Hermann,  den  Enkel  Hermann 
Billungs,  als  ersten  Grafen  von  Arnsberg;  den  wildesten  seiner 
Nachkommen  haben  wir  oben  kennen  gelernt;  der  Enkel  dieses 
streitbaren  Friedrich,  Graf  Heinrich  stiftete  die  Abtey  Weddmg- 
hausen  (Haus  des  Wittekind,  wie  die  Sage  etymologisirt)  und 
bezog  sie  selbst  als  Layenbrudcr,  um  an  dem  Norbertiner-Ordcn 
zu  sühnen,  was  sein  Ahn  an  dessen  Stifter  gefrevelt.  Gottfried  III. 
ward  Herzog  in  seiner  Grafschaft  und  Marschall  von  Westphalcn ; 
ausserdem  halten  die  Grafen  von  Arnsberg  das  Recht  des  Vor- 
strcits  im  Reichskriege  zwischen  Weser  und  Rhein,  nachdem  das 


—      198      — 

Ilerzogthuni  Westphalen  an  Churköln  gekommen,  für  dessen 
Herrscher  als  geistlichen  Fürsten  eine  solche  Prärogative  sich 
nicht  ziemte.  Mit  Gottfried  erlosch  1371  die  Dynastie  und  das 
Erzstift  nahm  Besitz  von  ihrem  Lehen.  Churfürst  Salentin  von 
Isenburg  beförderte  am  Ende  des  16.  Jahrh.  die  Erweiterung  und 
Verschönerung  der  Hauptstadt,  wo  eine  unter  dem  Titel  von 
Landdrost  und  Räthen  niedergesetzte  Kanzlei  die  Verwaltung  des 
Landes  führte,  bis  der  Lüneviller  Frieden  das  Herzogthum  West- 
phalen und  die  Grafschaft  Arnsberg  dem  Hause  Hessen -Darm- 
stadt als  Entschädigung  zuwies.  In  Folge  der  Bestimmungen  des 
Wiener  Congresses  nahm  1816  die  Krone  Preussen  sie  in  Besitz. 
Die  Ufer  der  Ruhr  behalten  im  Ganzen ,  wenn  wir  weiter 
hinab  ihrem  Laufe  folgen,  zur  Rechten  den  Arnsberger  Wald 
lassend,  dann  über  Husten  und  Neheim  gehend,  wo  die  Ge- 
wässer der  Mönne  sich  ihr  vereinigen,  den  schon  beschriebenen, 
freundlich  milden  Charakter.  Nach  vielen  Windungen  strömt  sie 
endlich  wieder  ganz  westlich,  doch  hinter  Fröndenberg  sich  mit 
leiser  Abweichung  dem  Süden  zuwendend.  Fröndenberg  ist  ein 
Frauen -Stift,  die  Staffage  in  einem  Bilde  der  zartesten  Lieblich- 
keit —  Wiesenteppiche  so  sanft  und  grün  wie  ein  Elfenthal, 
von  einer  zahllosen  Viehheerde  friedlich  durchweidet,  der 
Fluss  wie  ein  springendes  Kind,  über  tausend  Kiesel  rauschend, 
an  grösseren  Steinen  artig  Wellchen  kräuselnd  oder  eigensinnig 
aufspritzend.  Eine  hübsche  sonntäglich  aussehende  Brücke  führt 
hinüber  und  vom  Berghange  jenseits  steigt  das  Dorf  amphithea- 
tralisch  bis  fast  an  das  Ufer  nieder;  überall  lauschen  freundliche 
Wohnungen  hervor,  die  der  Chanoinessen  oben,  nett  und  sittsam 
auf  kleinen  Flächen  stehend,  Gärtchen  mit  geschornen  Buchen- 
lauben und  Centifolienbüschen  zu  ihren  Füssen.  Eine  breite 
Treppe  von  behauenen  Steinen  führt  über  Terrassen  den  Berg 
hinan,  bis  zum  stillen  Kirchhofe  und  der  höchst  malerisch  lie- 
genden Kirche.  Auch  die  umliegenden  Berge  schauen  mit  ihren 
milden  Formen,  ihrem  üppigen  frischen  Baumwuchs  fast  kind- 
lich drein  und  über  dem  Ganzen  schwebt  ein  Hauch  ländlichen 
Friedens,  der  nicht  wiederzugeben  ist,  aber  von  dem  sich  Jeder 
angeweht  fühlt,  der  von  den  Absätzen  der  Steintreppe  seine 
Blicke  über  die  Dächer  und  Gärten  und  Gebüsche,  das  ganze 
fröhliche  Ensemble  hat  streifen  lassen.  —  Der  Weg  führt  uns, 
immer  die  Wiesen  entlang,  bis  zur   Hönne,   die   sich  hier  unter 


-  199      — 

Fröndenberg  mündet,    ein  kregles  Wässerchen,    so   kraus    und 
zänkisch,    wie    ein   englisches    Hähnchen.     Schreiten    wir   dies 
Nebenthal  hinauf:    wir  kommen   durch  Menden   und  an  seinem 
reizenden  Romberge  vorbei,  in  dessen  Anlagen  man  ein  schönes 
liegendes  Christusbild  bewundert,   und  sich  der  Täuschung  hin- 
gibt,  im  Schatten   der  darüber   neigenden   Zweige  die  steinerne 
Brust  auf  und  niederwogen  zu  sehen,    —   dann  an   dem  Gute' 
Rödinghausen  —  eine  gute  Strecke  weiter  an   der  majestätisch- 
sten Felswand   in   dem  ganzen  Strich  dieses  Kalksteingebirges, 
die  200  Fuss  Höhe  hat,   her,    und  nähern  uns  so  dem  Klusen- 
stein.    Es  ist  eine  gefährliche  Wanderschaft ;    das  Thal    klemmt 
sich  immer  wilder   und  düstrer   endlich  zur  engen  Schlucht  zu- 
sammen,   die  schmale  Honne    rauscht    pfeilschnell   unten    über 
kantige  Felsbrocken,  aufbrodelnd    und  StreichwcUen    über  den 
Fussweg  schleudernd,    bis   endlich  aus   tiefem  Kessel   uns   das 
Gebrause    und  Schäumen   einer  Mühle   entgegen   stürmen.    Hier 
ist  die  Fährlichkeit  überwunden ,    eine  kühne  kuppige  Felswand 
springt  vor  uns  auf,  drüber  ragen  die  Ringmauern  und  Trümmer 
der  alten  Burg,    aus   der  ein  neueres  Wohnhaus  wie  ein  wohl- 
habiger  Pächter  einer  alten    Ritterherrlichkeit    hervorlugt.     Der 
Weg    führt  etwas  seitab ,    durch's    Gebüsch ,   zum  Eingange  der 
Höhle,   die  uns   wie   ein   schwarzes   Thor   entgegengähnt.     Das 
Gewölbe  ist  schön,  und  weit  gespannt,  eine  kühne  Architektonik; 
der  erste  Raum  ist  200  Fuss  lang.    An  Decke  und  Seitenwänden 
glänzen  Stalaktiten   von   röthlicher  Farbe   und  grotesken  Forma- 
tionen ;  an  jeder  Spitze   ein    graulichl    glänzender    Tropfen    der 
langsam  fällt  und  die  Höhle  mit  einem  monotonen  Geräusche  ein- 
schläfert.   Im  Hinlergrunde  klaffen  zwei  dunkle  Spalten  auf,   die 
man  mit    Fackellicht,   scheu  vor   dem    überall   hervorsickernden 
Wasser,   gebückt  vor  den  wie  Spiosse  niederdrohenden   Tropf- 
steinzapfen betritt,  gebückt  durchschreitet,    endlich  durchkriecht. 
Nach   mühseliger  Fahrt  dämmert   der  Schimmer   des  Tages  uns 
entgegen ,   wir   stehen  wieder   in  der  Eingangshalle  ,    ehe  wir's 
gedacht   und   sind  verwundert,    einen   Halbkreis  beschrieben  zu 
haben,  während  wir  uns  den  Eingeweiden  der  Erde  immer  mehr 
zu  nähern  glaubten.    Ndimen  wir  den  Weg,    nachdem  wir  auf- 
geathmet,   über  die  Höhe,    an   den  Mauertriimmeni    her,   lassen 
uns    einen   frischen  Trunk   oben  aus  dem  unergründlich    liefen 
Brunnen  winden  und  schauen   über   das   Gemäuer  iHid  die  Fels- 


—      200      — 

kegel  in  den  drunten  gähnenden  Schlund,  um  dessen  Felsriffe 
und  Burgruine,  eintöniges  Mühlengeklapper  und  düstre  Wipfel- 
schatten, eine  Veit  Webersche  Sagenpoesie  schwebt,  wenn  in  der 
Dämmerung  die  grosse  Reheverzehrende  Ohreule  Schufut  sie 
umkreist.  —  Die  Burg  Klusenstein  soll  im  Jahre  1353  von  Gert 
von  Plettenberg  hier  an  der  Gränze  des  Herzogthums  zu  Dienst 
der  Grafen  von  der  Mark  erbaut  sein.  Durch  Kauf  kam  sie 
später  von  einer  Hand  in  die  andre  und  befindet  sich  jetzt  in 
Privateigenthum.  Doch  kommt  schon  1275  eine  Gräfin  Mathilde 
von  Isenburg  und  Klusenstein,  später  Äbtissin  von  Metelen  und 
Nottuln,  vor.  Die  Sage  kennt  eine  Mathilde,  die  Gemalin  eines 
Ritters  Eberhard  von  Klusenstein,  der  in  den  Kreuzzügen  als 
Gefangener  der  Sarazenen  schmachtet ,  während  sein  Feind ,  der 
schwarze  Bruno,  die  Nachricht  von  seinem  Tode  verbreitet  und 
um  sein  Weib  wirbt.  Sie  aber  entflieht  dem  Gehassten  und 
dieser  nimmt  ihre  Burg  in  Besitz  bis  Ritter  Eberhard  heimkehrt, 
die  Feste  erstürmt  und  in  heissem  Kampfe  auf  dem  Burghofe  den 
Räuber  überwältigt  und  über  die  Ringmauer  tief  unten  in  den 
Abgrund  schleudert. 

Von  Klusenstein  führt  das  Hönnethal  weiter  hinauf  nach  dem 
Städtchen  Balve,  in  dessen  Nähe  die  Gegend  weniger  wild  roman- 
tisch ist,  aber  ein  ebenso  merkwürdiges  Monument  diluvianischer 
Schöpfungskräfte  in  der  Balver  Höhle  besitzt,  —  wie  diese  Gegend 
zwischen  Ruhr  und  Lenne  überhaupt  einen  auffallenden  Reichthum 
an  Grotten  und  Höhlen  hat.  Die  bedeutendste  mit  der  Klusensteiner 
ist  die  ältere  Sundwicher  Höhle.  Man  macht  die  Parthie  nach  Sund- 
wich gewöhnlich  von  Iserlohn  aus ,  einem  freundlichen  Städtchen, 
dem  seine  schon  von  einer  mittelaltrigen  Panzermacherzunft  sich 
datirende  Gewerbthätigkeit,  die  an  den  Bächen  Baar  und  Grüne 
in  Drahtrollen,  Hammerwerken,  Fingerhutmühlen,  Bronze-  und 
Nadelfabriken  u.  s.  w.  pocht,  stampft  und  tost,  einen  fast  Europäi- 
schen Namen  gemacht  hat,  und  das  der  Geburtsort  unsres  Historikers 
Dietrich  von  Steinen,  und  des  berühmten  Coriphäen  der  Georgia 
Augusta,  des  weiland  Geheimen  Justitzraths  Johann  Stephan  Pütter 
ist^  wie  aus  seiner  Selbstbiographie  des  weitern  ausführlich  zu 
ersehen.  Von  Iserlohn  führt  der  Weg  südöstlich,  in  die  von 
Eisenwerken  und  Papiermühlen  belebten  Thäler  von  Sund- 
wich, Hemer  und  des  Westicher  Bachs,  wo  die  werkenden 
russigen  Gnomen,  die  früher  unter  der  Decke  der  Kalksteinflösse 


^ 


—      201      — 

in  den  dunklen  Schluchten  gehaust,  jezt  mit  der  Lichlsuchenden 
Zeit  zu  Tage  aufgestiegen  scheinen.  Sundwich  liegt  wie  unter 
und  zwischen  die  Felsen  geschoben ;  links  von  ihm  die  Höhe  mit 
den  zwei  kleineren  Grotten,  seitwärts  davon  die  grosse,  seit  einem 
Besuche  des  Kronprinzen  im  Jahre  1817  sogenannte  Prinzenhöhle. 
Sie  ist  durch  nachhelfende  Arbeiten  in  den  engsten  Klüften  leicht 
zugänglich  gemacht  und  durch  ein  Eingangsthor  geschützt.  Ihre 
Länge  vom  Eingange  bis  zum  erkundeten  Ende  mag  mit  den  bald 
aufsteigenden,  bald  sich  senkenden  Windungen  1500  Fuss  betragen; 
einzelne  Räume  haben  mehr  als  80  Fuss  Länge  und  30  Fuss 
Höhe;  es  sind  schauerlich  grandiose  Hallen,  in  welchen  das  stille 
unbelauschte  Leben  des  Gesteins  über  Nacht  seine  Tempel  sich 
gewölbt  hat:  es  sind  schweigende  verödete  Cathedralen,  von  denen 
die  Sage,  dass  um  Mitternacht  die  Todten  darin  zur  Messe  gehen 
und  ihre  blauen  Lichter  entzünden;  die  Heiligenbilder,  die 
Orgel,  der  Taufstein  stehen  umher,  von  der  spukhaft  regellosen 
Schöpfungslust,  den  fancies  des  Tropfsteins  gebildet:  nur  die 
Beter  sind  fort,  denn  der  Hahnenschrei  ist  hinübergedrungen  aus 
den  Gehöften  des  Dorfes.  —  „  Die  Natur,  sagt  eine  Beschreibung, 
fährt  noch  immer  fort  an  den  Stalactiten  zu  schaffen;  denn  das 
aus  der  Decke  rinnende  Wasser  bildet  um  sich  kleine  Röhren 
von  einer  flimmernden  Kalkmaterie,  die  sich  unter  einander  ver- 
binden und  scheidet  auf  dem  Boden  Ansätze  aus,  die  sich  den 
von  oben  kommenden  nähern  und  so  allmälig  zu  den  wunder- 
baren Figuren  zusammenschiessen.  So  bilden  sich  an  einigen 
Stellen  ganze  Lager  von  crystallartigem  Späth,  der  wie  Schmelz 
blitzt,  an  andren  Draperien  und  Festons  wie  Tücher  und  Franzen, 
die  sich  über  einander  schichten.  Kurz,  diese  Höhle  kann  sich 
den  Baumanns-,  Biels-  und  Liebensteiner  Höhlen  an  die  Seite 
stellen."  Wie  die  letztere  durchströmt  sie  in  einer  Tiefe  von 
25  Fuss  ein  Bach,  dessen  kleine  Wellen  durch  die  zurückgewor- 
fenen Fackelstrahlen  dem  Wanderer  den  blitzenden  Gruss  der 
geheimnissvollen  Tiefe  emporsenden.  Die  Höhle  ist  reich  an 
fossilen  Merkwürdigkeiten,  z.  B.  an  Schädeln  und  Knochen  des 
grossen  Höhlenbären. 

Etwa  10  Minuten  von  der  Sundwicher  Höhle  entfernt  liegt 
das  Felsenmeer;  der  Weg  führt  über  eine  Art  Plateau,  das  rechts 
die  Höhen  des  Balver  Waldes  begränzen;  die  Strasse  ist  etwas 
vertieft,   steigt  dann   empor   und   plötzlich  hebt  sich    wie   eine 


—       202       — 

Springfluth,  die  im  Weiterrausclien  versteinert  ist,  aus  dichtem 
Gebüsch  die  Wogenbrandung  des  Felsenmeers  euch  entgegen; 
eine  tiefe  Einsenkung  des  Bodens  mitten  in  der  Feldfläche  um- 
fasst  im  Umkreise  einer  halben  Stunde  wirre  wilde  Massen  von 
dunkelgrauen  Felsen,  die  wie  colossale  Löwen  sich  übereinander 
geworfen  haben  und  ruhen,  oder  schrof,  wandsteil  emporstehen. 
Steigt  ihr  hinunter  in  diese  Walstatt  der  Natur,  dann  fasst  euch 
ein  seltsam,  wunderbares  Grauen  an;  ihr  seht  in  den  steilrechten 
Wänden,  in  den  niedergeschmetterten  Colossen,  in  den  zackigen 
Rissen  und  Brüchen,  wo  wie  durch  Beilschläge  sie  auseinander- 
geklaubt sind,  das  Wirken  einer  mehr  als  Titanenhaften  Kraft; 
und  dennoch  diese  Stille,  diese  Oede  bei  so  viel  Kraft,  die  wir 
sonst  nicht  ohne  blutrothes  lärmendes  Leben  uns  denken  können! 
Es  liegt  etwas  Uebermenschliches,  Spuckhaftes  in  dieser  laut- 
losen Ruhe,  die  über  den  Werken  der  Gewalt  schwebt,  oder  tief 
unten  in  der  Hölle  sich  gebettet  hat.  Die  Hölle  ist  der  tiefste, 
der  schauerlichste  Grund  dieses  Felsenmeers,  zu  dem  man  eines 
Ariadnefadens  bedarf,  um  sich  hinein  zu  wagen  durch  das  Laby- 
rinth der  Massen,  die  oft  vielhäuptig  wie  Cerberus-Ungeheuer  in 
den  Weg  sich  stellen,  um  die  Gefahrdrohenden  verschütteten  Eisen- 
gruben herum,  an  tiefaufklaffenden  Schlünden  her.  Es  ist  eine 
eng  zusammen  geklemmte  Grotte,  zu  der  ihr  endlich  gelangt;  es 
gehört  Muth  dazu,  den  verlassenen  Eisenschacht  zu  befahren, 
nur  bis  an  den  Rand  der  dunklen  grundlosen  Tiefe,  die  am  Ende 
der  Grotte  vor  euch  aufgähnt;  zerreibt  nur  ein  kleiner  Stein,  ver- 
schiebt nur  eine  Kante  der  Felsstücke  sich,  dann  malmt  der  ganze 
grausige  Bau  über  eurem  Haupte  zusammen.  Ich  wüsste  nicht, 
was  an  wüster  Schreckbarkeit  dem  Felsenmeer  an  die  Seite  zu 
stellen  wäre;  aber  wie  immer  hat  auch  hier  die  Natur  mildernde 
Schleier  sich  über  das  zu  fürchterlich  starrende  Antlitz  geworfen; 
sie  mag  ihrem  zagen  Kinde  nirgends  einen  Todtenschädel  zeigen; 
sie  steckt  ihn  in  diesem  ihrem  Beinhaus  hinter  die  üppige  Vege- 
tation, die  mit  Stauden  und  Kräutern  und  Moosen  zu  überdecken 
strebt,  was  sie  erreichen  kann.  Um  einzelne  Fclsstücke  klam- 
mern sich  mächtige  Wurzeln  und  ziehen  mit  krausem  Geäst  an 
den  steilen  Wänden  herunter,  bis  sie  den  Grund  gefassl  haben, 
aus  dem  sie  Nahrung  für  die  oben  auf  dem  Scheitel  stolz  und 
hoch  prangende  Buche  saugen.  —  Das  Felsenmeer  ist  nicht  allein 
von  der  Natur  gebildet;  es  ist  ein  nach  allen  Seiten  und  Tiefen 


—      203      — 

hin  von  Fluthen  so  wohl  als  von  Menschenhänden  später  nach 
Eisenstein  durchwühltes  Kalksteinlager.  Die  Hölle  mag  eine  Tiefe 
von  250  Fuss  haben,   vom  obersten  Felsensaume  an  gerechnet. 

Die  Wanderung  zum  Felsenmeer  hat  uns  der  Lenne  zu  nahe 
gebracht  j  als  dass  w^ir  nicht  hinabsteigen  sollten  in  das  schöne 
Thal  dieses  Flusses.  Die  Lenne  ist  der  Ruhr  was  die  Aar  dem 
Rhein,  ihre  wildeste,  unerzogenste,  aber  auch  ihre  schönste  Tochter, 
das  Kind  ihrer  blühendsten  Tage.  Aus  dem  südwestlichen  Hange 
der  Astenberger  Kuppen  kommend,  und  von  der  Quelle  an  bis 
nach  anderthalbstündigem  Lauf  1500  Fuss  Gefälle  habend,  strömt 
sie  in  derselben  Richtung  durch  die  alte  dem  Westphälischen 
Herzogthum  einverleibte  Grafschaft  SchmalenT)erg  und  wendet 
sich  in  dem  Thale  des  Dörfchens  Altenhundem  nach  Nordwesten, 
der  Ruhr  zu.  Die  Berge  der  obern  Lenne  sind  hoch,  meist  be- 
waldet, aber  selten  in  schroffen  Felsen  die  nakten  Steinribben 
zeigend,  wie  ihr  sie  auf  der  Abbildung  von  Bilstein  sehet,  das 
in  einem  Nebenthaie  der  obern  Lenne  liegt.  Bilstein  ist  eine 
alte  Herrschaft,  die  viele  Jahrhunderte  ihre  eigenen  Dynasten 
besass  und  freies  Stuhlgericht  übte  über  ein  weites  Land  bis 
an  die  Gränzen  von  Arnsberg,  Mark  und  Siegen.  Dietrich  von 
Bilstein  am  Ende  des  14.  Jalirh.  scheint  der  letzte  seines  Namens 
gewesen  zu  sein;  danach  kam  es  mit  dem  vereinten  Fredeburg 
das  noch  jetzt  Hessen-Bilstein,  d.  i.  die  Herrschaft  Bilstein  heisst, 
an  die  Grafen  von  der  Mark  und  endlich  1445  an  Churköln,  als 
Träger  des  Herzoghuts  von  Westphalen ;  an  die  Stelle  der  Dyna- 
sten traten  nur  die  Drosten  auf  Bilstein,  eine  Würde  die  zum 
Erbamte  iu  der  Familie  der  Freiherrn  von  Fürstenberg  Avurde; 
jetzt  Domaine  und  Forsthaus  bli&kt  es  in  das  breite  sonnige  Thal 
und  das  Dörfchen  an  seinem  Fusse  mit  einem  Air  herunterge- 
kommener Aristocratie ;  Thurm  und  Wappen  prangen  noch,  es 
steht  noch  festen  Fusses  auf  der  schroffen  Burgprärogative,  die 
den  Stürmen  der  Zeit  trotzt;  aber  die  alte  Herrlichkeit  ist  dahin, 
und  sein  Jungherrnthum  ist  grau  und  altersschwach  geworden 
wie  manches  andre. 

Aus  der  Gegend  von  Bilstein  sich  weiter  hinabwindend, 
rauscht  die  Lenne  bei  dem  Dörfchen  Gräfenbrück  an  einer 
schroffen,  senkrecht  aufsteigenden  Felswand  am  rechten  Ufer 
vorbei ;  das  ist  die  Peperburg ;  an  ihrem  Fusse  gähnt  hohen  Ein- 
gangs eine  düstre  Grotte  vor  euch  auf,  von  ihrem  Gipfel  erblickt 


—      204      — 

ihr  die  hellste,  die  reizendste  Landschaft.  Trümmer  liegen  oben, 
der  Schutt  einer  starken  Burg,  von  der^Zeit  gebrochen,  wie  die 
einige  tausend  Schritt  seitwärts  liegende  Burg  zu  Borchhausen. 
Eine  andre  Trümmer  blickt  von  jenseits  Elspe  herüber,  darunter 
dies  freundliche  Dorf  selbst  aus  seinen  Laubholzvvipfeln  und 
Gärten.  Alle  drei  waren  einst  Burgen  des  mächtigen  Geschlechts 
der  Voigte  von  Elspe,  das  seinen  Ursprung  von  Karl  dem  Grossen 
herleitete;  auf  der  Peperburg  kommt  um's  Jahr  1338  ein  Burg- 
mann Hermann  Peypersack  vor;  500  Jahre  später  hat  man  Schatz- 
gräberei  in  den  Kellern  des  verschollenen  Geschlechts  angestellt, 
um  mit  der  Wünschelruthe  ein  Goldkalb  zu  entdecken.  —  An 
Gräfenbrück  vorbei,  wo  die  drei  Thäler  der  Aspe,  Veischede  und 
Lenne  in  einem  geschlossenen  Rundbilde  ihren  unvergleichlichen 
Reiz  entfalten,  führt  die  Strasse  an  altbewaldeten  Wänden  und 
hohen  Felsen  her,  und  an  dem  rasch  voran  rauschenden  und 
plätschernden  Strome  entlang,  der  sich  zu  sputen  scheint,  als 
könn'  er  nicht  früh  genug  all  seine  Mährchen  und  Elementarge- 
heimnisse und  Herrlichkeiten  der  fernen  Ruhr  erzählen,  wie  ein 
beschenktes  Kind,  das  seiner  Mutter  seine  Freude  zu  zeigen  läuft. 
Da  kommt  von  der  linken  Seite,  unter  dem  freundlichen  Bamenohl 
mit  seinen  zwei  alten  Rittersitzen,  die  Bigge  auf  ihn  zugestürmt 
und  schwatzt  und  gurgelt,  aber  die  Lenne  rauscht  weiter  und 
hört  sie  nicht;  sie  weiss  ja,  was  sie  zu  erzählen  hat;  etwa  von 
Attendorn,  an  dem  sie  vorübergekommen,  die  alte  Geschichte  vom 
Glockengiesser,  der  seinem  Gesellen,  den  dreisten  Vollender  des 
gefährlichen  Gusses,  mit  den  Worten:  was  hast  du  gethan,  du 
Beslia!  eine  Kugel  durch  den  Kopf  jagte,  worauf  man  dem  Mör- 
der das  Haupt  abschlug ;  *}  oder  andre  Mährchen  aus  den  Ruinen, 
aus  den  Bergen  und  den  Klüften,  wie  ihrer  die  Lenne  viel  schönere 
weiss.  Hat  doch  die  Lenne  einst  den  leibhaftigen  Satanas  über 
sich  her  nach  Westphalen  hinein  fliegen  sehen,  einen  Sack  voller 
Adligen  unter  dem  Arm,  so  voll,  dass  über  der  Mark  und  dem 
Hellweg  einzelne  herauspurzeln,  über  dem  Münsterlande  aber  der 
Sack  birst  und  sie  alle  herunterfallen,  die  von  Schlüngel,  von 
Schade,  de  Gryper,  de  Byter ,  dat  Strik,  de  Pepersack,  Wasch- 
penning,  Springsinsleben  oder  Ziegenbart,  Supetut,  de  Onbeschey- 


*)  S.  Grimm's  d.  Sagen  I.  190. 


—      205      — 

dene,  Springerus  Rodenstert,  Schnapümme,  Schudüvel,  de  Duivel, 
Jagetho,  Packstroh  und  wie  alle  die  Ehrennamen  heissen,  welche 
die  Naivität  des  14.  Jahrh.  für  seine  ritterlichen  Beherrscher  er- 
fand. — 

Wenn  die  Lenne  durch  ein  erweitertes  Thal  an  dem  1759 
Fiiss  hohen  „  heiligen  Stuhl, "  einer  früher  als  AVallfahrtsort  von 
unermüdlichen  Gläubigen  oft  erklommenen  bewaldeten  Kuppe 
vorübergeströmt  ist ,  führt  sie  zu  dem  wie  in  abgeschlossenem 
Waldgrunde  liegenden  Dorfe  Lennhausen,  einer  höchst  roman- 
tischen Parlhie  durch  seine  Burgruine ,  seine  Eichengruppen, 
seine  am  Walde  über  dem  Ort  hängende  Kapelle,  die  wie 
ein  getreuer  Eccard  warnend  an  dem  Pfade  in  die  wilde 
Berg-  und  Waldeinsamkeit  steht.  Einzelne  Höfe  und  Güter  be- 
leben von  Lennhausen  an  die  weiteren  Ufer;  bei  dem  Dorfe 
Rönkhausen  zieht  die  Chaussee  nach  Arnsberg  von  dem  rechten 
Gestade  unsres  Flusses  die  Höhen  des  Homertgebirges  hinan, 
auf  dem  in  der  Nähe  von  Lenscheid,  wo  die  Sage  ein  versunknes 
Grafenschloss  weiss,  in  der  „wilden  Wiese"  der  Schomberg  von 
seinem  2015  Fuss  über  der  Meeresfläche  erhabenen  Gipfel  die 
weiteste  und  schönste  Aussicht  unsres  ganzen  Landes  bietet.  — 
Wir  aber  folgen  dem  Strome,  an  seiner  rechten  Seite,  an  den 
näher  und  dichter  jetzt  das  Thal  eindämmenden,  an  Höhe  die 
Berge  des  Rheins  weit  überragenden  Wänden  her,  die  mit  violetter 
röthlich  schimmernder  Haide  sich  bekleidet  haben,  worüber  wie 
wildgeworfene  Schnüre  die  gelben  sich  schlängelnden  Pfade  lau- 
fen; nur  das  Haupt  deckt  ihnen  der  wogende  grüne  Waldschleier, 
der  das  ganze  linke  Gestade  einhüllt.  Auf  Pasel,  das  rechts  seine 
Strohdächer  im  Eichengebüsche  versteckt,  folgt  links  Schwarzen- 
berg,  das  mächtige  ehrfurchtgebietende  Schwarzenberg,  vor  dem 
der  Fluss  in  rascher  Wendung  zur  Seite  weicht,  um  es  dann 
schützend  und  vertheidigend  wie  ein  treuer  Ministeriale  fast  zu 
umkreisen. 

Eine  ungeheure  Felswand  dämmt  sich  vom  linken  Ufer  her 
dreist,  weitvorschreitend  in  das  Bette  des  Flusses,  der  gehorsam 
seinen  Bogen  um  die  übermächtige  Steinwehr  schlagen  muss,  dass 
sie  zur  Halbinsel  wird;  auf  der  hohen  Spitze  der  Wand  ragt, 
halb  in  Trümmern,  halb  zu  einer  Förstervvohnung  restaurirt,  mit 
verwitterten  Mauern  und  Thürmen  und  neueren  Ziegeldächern  das 
alte  Schwarzenberg  empor  und  lockt  zum  Erklimmen  des  steilen 


—       206       — 

Pfades  bergauf,  obwohl  es  im  Innern  euch  nichts  zu  zeigen  hat, 
als  die  alterthümliche  Kirchengrosse  Küche  mit  den  hohen  Bogen- 
fenstern, dem  gewaltigen  Kamin,  der  altromantischen  Wendel- 
stiege in  der  Ecke  und  dem  Schmuck  des  Jagdgeräths  an  den 
Wänden,  wo  Hirschgeweihe  als  seine  Träger  prangen.  Schwar- 
zenberg  gegenüber  streckt  das  andre  Ufer  ebenfalls  einen  Arm 
aus,  und  beide  bilden  so  ein  Felsgewinde,  dem  die  Lenne  zögernd 
sich  naht,  als  bange  ihr  vor  all  den  Krümmungen  und  Schmie- 
gungen. Die  beste  Aussicht  auf  diese  schönste  Strecke  des  Fluss- 
laufes gewährt  die  schwindelnde  Höhe  des  Krop  oder  Graf  „En- 
gelberts-Stuhl", ein  Sitz,  den  die  Natur  an  der  Kante  eines  hohen 
Felsen  anbrachte,  von  wo  herab  man  die  Lenne  tief  unter  sich 
fünfmal  in  neuer  Windung  aufglänzen  sieht.  Es  ist  ein  herr- 
liches Landschaftsbild,  das  der  Blick  von  diesem  Lieblingsplatze 
Engelberts  von  der  Mark  überschweift,  nach  Osten  bis  an  die 
Höhen  der  Homert,  während  uns  im  Rücken  nach  Westen  und 
Südwesten  das  Ebbegebirge  seine  blauen  Giebel  aufreckt;  den 
Fluss  hinunter  hemmt  das  Auge  der  hohe  Hemberg;  unten,  eine 
kurze  Strecke  über  Schwarzenberg  bildet  sich  die  liebUchste 
Staffage  in  dem  alten  Dörfchen  Pasel;  zwei  Burgruinen  liegen 
an  beiden  Seiten  des  Schlosses  und  der  Lenne  in  tiefem  Wald- 
und  Ackergrunde,  wie  die  Sage  will,  durch  eine  Höhle  unter  dem 
Strome  her  in  alten  Zeiten  verbunden.  Die  Burg  Schwarzenberg 
wurde  1301  durch  Rütger  von  Altena,  den  Truchsess  Eberhards  IL 
von  der  Mark  auf  Geheiss  seines  Lehnsherrn  erbaut,  worauf  später 
die  Burgmannshäuser,  die  es  wie  forts  detaches  decken,  jene  beiden 
Ruinen  entstanden.  Durch  Kauf  kamen  seit  1661  die  Freiherrn  von 
Plettenberg  in  ihren  Besitz,  bewohnten  sie  lange  und  nahmen  oft 
ihren  Namen  an.  —  Ein  Arm  des  Ebbegebirges  trennt  Schwarzen- 
berg von  dem  nordwestlich  eine  Strecke  unter  ihm  liegenden  Städt- 
chen Plettenberg,  das  an  der  Vereinigung  der  fruchtbaren  Thäler  der 
Else,  Oester  und  Grüne  „  platt  am  Bracht "  oder  Berg  liegt  und  sei- 
nen Namen  davon  ableitet.  Der  miltelaltrige  Stolz  Plettenberg's,  die 
neun  Thurmspitzen  der  Kirche,  die  1345  der  Lütticher  Bischof 
Engelbert  von  der  Mark  erbaute,  die  sieben  Thürme  der  Ring- 
mauern, die  hochzinnige  Burg  des  Geschlechts  von  Plettenberg 
und  seine  Burgmannshäuser  sind  gebrochen  und  haben  den  be- 
scheidenem Anlagen  der  Eisenhämmer,  der  Papierfabriken,  der 
Industrie  weichen  müssen,  die  jedoch  ohne  lebhaften  Betrieb  sind; 


—       207       — 

nur  die  Kirche ,  jetzt  mit  drei  Thürinen  und  der  Burghof  des 
Kobbenrod  -Hauses  mahnt  noch  an  die  alte  Zeit.  Plettenberg 
liegt  eine  Strecke  von  der  Lenne  entfernt  in  einem  reizenden 
von  hohen  bewaldeten  Bergen  umgebenen  Thalkessel;  in  seinem 
Rücken,  nach  Westen  zu,  ist  eine  Kapelle  mit  dem  kleinen 
Glockenthurm  grade  so  hoch  einen  Waldhügel  hinangeklommen, 
nm  die  lachend  anmuthige  Landschaft  von  da  herab  mit  seinem 
Segen  besprechen  zu  können;  eine  reichere  Sicht  bietet  die  Spitze 
der  unfernen  Molmert.  In  einem  geräumigen  Thale,  um  Waldberge 
und  Felswände,  von  denen  herab  jede  Regenzeit  rauschende  Gies- 
bäche  sendet,  an  Dörfern,  Rittersitzen  und  Ruinen  her,  durch  eine 
herrliche,  immer  wechselreiche  Gegend  voll  der  schönsten  Berg- 
formen windet  sich  die  Lenne  nach  Werdohl  hinab,  wo  die  Fesse 
mündet  und  ihr  freundliches  Seitenthal  dem  Blicke  auf  Wald- 
gegenden mit  Hammerwerken  und  wohlhabenden  Gehöften  dar- 
unter öffnet;  Werdohl  gegenüber,  am  linken  Ufer,  liegt  in  wilder 
Einsamkeit  auf  einem  Berge  Pungelscheid,  das  Haus,  worin 
Theodor  L  von  Corsica  geboren.  Das  Thor  und  mehrere  Trüm- 
mer stehen  noch;  im  Umkreise  der  Burg,  ihrem  Thore  nah,  liegt 
ein  Bauerhaus ,  über  dessen  Thüre  man  ein  altes  Wappen  der 
Familie  Neuhoff  eingemauert  findet,  die  seit  1465  als  Nachfolger 
des  älteren  Geschlechts  derer  von  Pungelscheid  hier  hauste  und 
unten  in  Werdohl  ein  Drostenhaus  zu  ihrer  Aufnahme  hatte.  Von 
Werdohl  wandern  wir,  links  hinter  uns  das  romantische  Ebbe- 
gebirge mit  den  Quellen  der  Volme  und  der  Wupper,  mit  der 
2045  Fuss  hohen  Nordhalle  lassend,  nach  Altena,  dem  grössten 
Orte  der  Grafschaft  Mark,  der  sich  in  einer  Länge  von  ^^  Stunden 
am  rechten  Ufer  der  Lenne  und  im  Thale  der  Nette  um  seinen 
Schlossberg  hinzieht.  Ein  überraschend  schönes  Landschaftsbild 
—  ihr  mögt  von  einer  der  Brücken,  die  den  Fluss  Überjochen,  zu 
den  blühenden  Gärten  der  hohen  Berghänge  und  der  imposanten 
Schlossruine  hinauf,  oder  von  einer  der  umgebenden  Höhen  hin- 
abblicken auf  die  drei  Stadttheile,  die  Freiheit,  das  Mühlendorf, 
die  Nette,  mit  den  langen  Reihen  ihrer  säubern  glänzenden  Häu- 
ser, auf  die  Wiesenufer  des  Flusses,  die  romantischen  Anlagen  des 
„Hühnengraben",  und  die  überall  versäeten  Drahtrollen  und  Fa- 
briken. Den  schönsten  Anblick  auf  die  verwittertenlThürme  der 
Burg  gewährt  die  Berghöhe,  welche  man  die  Klüse  nennt;  wie 
noch  wahrhaft  erscheint  euch  da  die  alte  Feste  auf  ihrer  „Wulfs- 


—      208      — 

egge",  die  ganze  Gegend  liegt  vor  euch,  von  dem  die  alte  Reim- 
chronik von  Altena  singt: 

Man  sieht  hier  lauter  Berg  und  Thal, 
Die  Bäume  stehen  hier  ohne  Zahl, 
Das  schönste  Wasser  quillt  herfür, 
Die  meisten  hahens  vor  der  Thür. 
Wan  es  kömpt  in  die  Meyen  Zeit 
Sicht  man  daran  seine  Lust  und  Freudt,  ^ 
Die  Bäume  die  blühen,  die  Vögel  singen, 
Das  thut  in  Berg  und  Thal  erklingen; 
Es  gibt  hier  Vögel  mannigerley, 
Feldhüner  sein  auch  wolF  dabey, 
Hirsche,  Rehe  und  wilde  SchAvein 
Sind  mehr  als  uns  beliebig  sein  u.  s.  w. 

Die  Kapelle,  wovon  die  Klüse  ilwen  Namen  führt,  eine 
Stiftung  des  Grafen  Engelbert  von  der  Mark  zu  Ehren  Sankt 
Margaretha's  und  Barbara's  ist  verschwunden;  nur  der  nahe 
Brunnen  des  Eremiten  Einhard  sprudelt  noch ,  wenn  auch  ohne 
die  geheimnissvolle  Wirkung,  von  der  Steinen  erzählt  und  die 
einst  am  Ostermontage  eine  grosse  Prozession  hinaufführte. 

Auf  der  Burg  selbst  bemerkt  man  eine  älteste  Bauparthie, 
mit  dem  südöstlichen  Thurme  und  eine  neuere,  die  nord- 
westliche Seite;  ausserdem  zeigt  man  das  Burgverliess  und  den 
300  Fuss  tiefen  Schlossbrunnen.  Der  grosse  Thurm  diente  zu- 
letzt zu  Gefängnissen ;  im  vorigen  Jahrhundert  hatte  das  Schloss 
noch  seinen  Commandanten  und  eine  kleine  Besatzung.  Als  Er- 
bauer Altena's  nennt  die  Sage  zwei  Söhne  des  berühmten  Rö- 
mergeschlechts der  Ursini,  welche  von  Kaiser  Otto  III.  das  Land 
um  Lenne  und  Wupper  gekauft  und  auf  der  Wulfsegge  da  ein 
Schloss  gebaut  haben  sollen,  wo  Schutz  suchend  ein  Haselhuhn 
auf  und  in  des  einen  Römers  Schoos  geflattert  sei.  Der  Graf 
von  Arnsberg  habe  die  Feste  seinen  Marken  all  te  na  genannt, 
aber  ihre  Mauern  schon  zu  hoch  und  fest  gefunden ,  um  mehr 
thun  zu  können ,  als  ihr  durch  seine  verspottete  Beschwerde 
den  Namen  zu  geben.  Später  sollen  beide  Brüder  das  Schloss 
Altenberge  an  der  Dhün  erbaut  haben  und  die  Stammväter  der 
Häuser  Mark  und  Berg  geworden  sein.  Die  Geschichte  nennt 
sie  Adolph  und  Eberhard,  leitet  aber  ihren  Ursprung  von  Her- 
mann, dem  ersten  Grafen  vom  Berge  und  Altena,  der  schon  diu 
in  der  Stiftungsurkunde  von  Geresheim  vorkommt,  oder  von  den 


—      209      — 

Grafen  von  Teisterbant  und  Cleve  ab.  Man  setzt  die  Erbauung 
oder  wahrscheinlicher  Erneuerung  von  Altena  durch  Adolph  I. 
und  Eberhard  in  das  Jahr  1108;  die  von  Altenberge  niuss  kurz 
darauf  Statt  gefunden  haben,  wenn  nicht  diese  Burg  der  viel 
ältere  Stam'msitz  des  altfränkischen  Geschlechts  der  Grafen  von 
Berge  war,  von  dem  Altena  und  Mark  eine  Nebenlinie  ist;  wir 
sehen  nämlich  bald  nachher  beide  Brüder  in  den  Besitz  der  zv/ei 
Burgen  sich  theilen  und  Eberhard,  nach  einem  Heereszuge  gegen 
Braband,  zerknirscht  über  das  vergossene  Blut,  von  seiner  Burg 
und  aus  seinem  Lande  verschwinden,  bis  ihn,  den  Pilger  nach 
Sankt  Jago  di  Compostella  und  zu  den  Gräbern  der  Apostel  in 
Korn,  endlich  ein  Zufall  als  Hirten  der  Säue  des  Fränkischen 
Klosters  Moribund  wiederfinden  lässt.  Eberhard  wird  darauf  mit 
Adolph  der  Stifter  der  Abtei  Altenberge.  *}  Jedenfalls  ist  das 
Schloss  Altena  das  Stammhaus  des  mächtigen  starken  Geschlechts 
durchweg  ritterlicher  und  ruhmreicher  Grafen,  welche  über  das 
schöne  Gebiet  der  Westphälischen  Mark  herrschten  und  es  so 
bald  mit  den  ihnen  zufallenden  Besitzungen  von  Cleve,  Berg, 
Jülich  und  Ravensberg  verbanden,  dass  sie  eine  der  mächtig- 
sten Dynastien  Deutschlands  wurden  und  ihre  Töchter  auf  dem 
Throne  von  Frankreich  sahen.  Seit  Adolph  HI.  vertauschten 
sie  den  Namen  von  der  Mark  mit  dem  von  Altena;  Mark  ist  ein 
Riuersitz  in  der  Nähe  von  Hamm,  den  Adolph  HI.  dem  Besitzer 
Babod  sammt  seinem  Wappen  abgekauft  haben  soll,  weil  seit  dem 
Frevel  des  verwandten  Friedrich  von  Isenburg  ihm  der  Name  und 
die  rothe  Rose  im  goldenen  Schilde  des  gemeinsamen  Ahnherrn 
befleckt  geschienen.  Seitdem  (1226)  war  das  Wappen  der  Mark 
drei  gewürfelte  Balken.  Engelbert  H.  ward  durch  seine  mit 
grosser  Pracht  zu  Hamm  gefeierte  Vermählung  mit  der  Erbtochter 
Mechtild  von  Arenberg  Graf  von  der  Mark  und  Arenberg  und 
Burggraf  zu  Köln.  Ebenso  kommt  durch  die  Clevische  Erbtochter 
Margarethe  unter  ihrem  Sohne  Adolph  V.,  der  aus  Liebe  zu  der 
schönen  Margarethe  von  dem  Berge  auf  seine  Inful  von  Münster 
und  das  Pallium  von  Köln  resignirt,  Cleve  an  das  Haus  Mark. 
Im  Jahre  1609  erlischt  endlich  die  Dynastie  und  seitdem  hat  die 
Mark  dem  Hause  Brandenburg  gehört,  und  Friedrich  Wilhelm  HI. 


^)  Siehe  das  weitere  bei  von  Steinen  und  in  dem  interessanten  Werke 
von  Montanus  (von  Zuccalinaglio,) :  Die  Vorzeit  u.  s.  \v.  II.  Solin-jeii 
1837-1839. 

16 


—      210      — 

hat   ihr  sein  königliches  "VVort  gegeben,    dass  sie  nie  seinem 
Scepter  entrissen  werden  soll. 

Unter  Altena  bis  zu  dem  Gehöfte:  die  Grüne,  verengert 
sich  das  Lennethal  und  wird  immer  reicher  an  den  schönsten, 
interessantesten,  grandiosesten  Parthien;  bei  der  Grüne  ragt 
auf  einer  steilen  hohen  Bergwand  ein  eisernes  Kreuz  empor, 
mit  Inschriften  zur  Erinnerung  an  die  Freiheitskämpfe,  auf 
den  vier  Flächen  des  starken  Sockels;  unter  ihm  am  Ufer  rau-^ 
sehen,  tosen  und  sprühen  die  Fabriken;  gewaltige  Felswände, 
freundliche  Häusergruppen  spiegeln  sich  im  Flusse ,  der  Thurm 
von  Letmathe  und  sein  Rittersitz  taucht  vor  euch  auf  in  dem 
schönsten  aller  Thäler,  senkrecht  stehen  am  rechten  Gestade  zwei 
Steincolosse  von  150  Fuss  Höhe,  den  schroffen  Bergen  des 
linken  Ufers  gegenüber;  man  nennt  sie  Mönch  und  Nonne  und 
findet  eine  schmale  Grotte  in  dem  letzlern.  Unterhalb  Letmathe, 
am  Saume  eines  weiten  Bergkessels  steht  auf  kühner  Höhe  eine 
feste  Bauerwohnung,  deren  Fenster  den  herrlichsten  Anblick  auf 
den  Fluss  gewähren;  die  Lenne  durchfliesst  unten  das  geräumige 
Thal  von  Letmathe,  Genna  und  Oestrich  und  sendet  Arme  seit- 
wärts, um  Mühlen  und  Metallfabriken  zu  treiben,  die  unter 
Baumgruppen  versteckt  nur  hie  und  da  mit  einzelnen  weissglän- 
zenden  Landhäusern  sichtbar  werden,  umher  Aecker,  Fluren  oder 
verwitterte  Felsenmassen,  und  über  den  grauen  Klippen  oder 
dem  frischen  Baumgrün  wirbelt  der  Rauch  empor,  den  schwarz, 
wolkenhaft  geballt,  die  hohen  Röhren  der  Essen  emporsenden. 

Endlich  nach  einer  Fahrt  von  drei  Stunden  trägt  euch  die 
steinerne  Bogenbrücke  über  die  Lenne  an's  linke  Ufer,  nach 
Limburg,  und  ihr  steht  in  einer  Gegend,  deren  Reize  zu  beschreiben 
ein  vergeblich  Unternehmen  wäre.  Die  Landschaftsparthie  von 
Altena  bis  Hohensyburg  ist  das  Paradies  Westphalens;  es  sind 
zwei  Kleinode,  zwei  Edelsteine,  jene  Punkte,  welche  der  Silber- 
reifen der  Lenne  einfasst,  welchen  dunkle  Blätter  aus  dem  Buche 
alter  Historie  als  Folien  untergelegt  sind.  Eine  Gegend  wie  diese 
kann  nicht  beschrieben  werden,  weil  sie  wie  Musik  auf  uns 
wirkt,  durch  alle  Poren  des  Gemüths  auf  alles  Seelenleben  ein- 
dringend und  es  in  jeder  Regung  erfassend;  dies  Ausathmen  von 
Musik  einer  schönen  Natur  ist  es,  was  man  den  unnennbaren 
Reiz  einer  Landschaft  nennt,  was  man  Zauberhaftes  darin  fühlt, 
das  unsrer  festesten  Individualität  wie  mit  einer  verschwimmen- 


—      211      — 

den  Auflüsung  und  Hingabe  an  die  Natur  droht.  Das  Betrachten 
von  Werken  der  Kunst  kann  ermüden,  wie  der  Gedanke  ermüdet; 
sie  heischen  ein  intellektuelles  Arbeiten  der  Seele;  die  Natur 
ermüdet  nie,  denn  sie  bewirkt  ein  wollüstig  Sich-schaukeln  des 
gesammten  Seelenlebens  wie  auf  den  Harmonienwogen  der  Musik. 
Die  Weisheit  der  Kindeseinfalt,  die  Poetenintuition  der  Sage  hat 
zuerst  diese  Musik  der  Natur  belauscht  und  entdeckt;  die  Sage 
hat  den  Ausdruck  dafür  in  den  Mährchen  geschaffen,  dass  die 
Lurley  in  den  Untergang  hinabziehende  Töne  hauche,  dass  aus 
den  Elementen,  aus  dem  rauschenden  Strome,  der  Nixe  schwer- 
müthiges  Lied  töne ;  sie  lässt  die  Geistertöne  der  Glocke  von 
Arragonien  durch  die  Sommernacht  einer  Huerta  von  Valladolid 
schwirren;  die  romantische  Poesie  lernte  von  ihr,  das  Klingen 
der  Sonnenstrahlen  in  den  Wäldern,  die  Aeolsharfentöne  des 
Windes  in  einsamen  Felsbuchten  zu  belauschen.  —  Ein  zweites 
worin  die  Musik  der  Natur  einen  Ausdruck  gefunden,  sind  die 
Weisen  der  Volkslieder.  Das  ist  das  Geheimniss  des  namenlos 
ergreifenden  Zaubers,  der  in  diesen  so  einfachen  und  doch  so  tief 
poetischen  Klängen  liegt.  In  die  Musik  einer  schönen ,  glänzen- 
den, freudigen  Natur  wird  auch  das  Lied  des  sie  beherrschenden 
Volkes  lebendig  bewegt  und  froh  sich  einfugen;  in  einer  reiz- 
losen Gegend  tönt  es  monoton;  in  der  grandiosen  Oede  von  Land- 
schaften, wie  sie  Hochschottland  und  hie  und  da  der  Kern  unsres 
Landes  besitzt,  tönt  es  so  einfach  wehmüthig  und  doch  so  durch- 
schauernd wie  eine  geheimnissvolle  Prophezie  von  eurem  Tode, 
wie  eine  mahnungreiche  Geschichte  von  ewigem  Scheiden  und 
Sterben.  Die  jetzt  meist  untergegangenen  Volkslieder  meiner 
Heimath,  des  Münsterlandes,  sind  so  durchdringend  schwermüthig 
wie  der  einsame  Schrei  des  Kibitzes,  der  über  die  Haide  hin- 
fährt ;  aber  die  Phantasie  hat  in  der  Oede  desto  schrankenloseren 
Raum  zu  ihren  Schöpfungen  gefunden  und  aus  dem  Rahmen  der 
einfachen  Weisen  steigt  vorgebildet  die  ganze  Welt  der  spätem 
Romantik  auf,  mit  ihren  Königskindern,  ihren  Seefahrern,  ihren 
Prinzen,  die  um  Hirtinnen  freien. 

Wollt  ihr  sie  belauschen,  die  Musik  der  Natur,  die  Stimmen 
der  Wasserfein,  die  Melodien  des  Elements?  Ihr  müsst  euch  auf 
die  Brücke  von  Limburg  setzen,  wenn  es  Nacht  ist,  wenn  der 
Mond  Geisler- weckend  seine  Strahlenpfeile  in  die  krausen  Wellen 
der  kleinen  Wehren   hinabschiesst;   über  die  Breite  der  Lenne, 

161» 


—      212      — 

scheint  es,  ist  eine  Reihe  von  Metallglocken  gespannt  und  die 
Feien  läuten  sie,  sie  läuten  mit  allen  Glocken  die  Mondnacht  ein, 
das  ist  für  das  lebendig  rührige  Geschlecht  der  Sonntag  der 
Menschen;  dazwischen  hört  ihr  sie  lachen  und  jauchzen  und 
wehklagen  und  seufzen,  ohne  Rast  ohne  Ruh  ihrer  Wasserorgeln 
Cadenzen  durchlaufend,  eine  wundersame  Messe,  über  welche 
die  Strahlenmonstranz  am  Himmel  von  oben  her  ihren  Segen 
ausgiesst.  Ihr  könnt  euch  nicht  losreissen  von  dieser  sonder- 
baren Musik,  die  unverkennbar,  keine  Dichter-Phantasie,  in  euer 
Olir  dringt;  ihr  müsst  ihr  lauschen,  bis  im  Glanz  des  Morgens 
das  Thal  von  Hohcnlimburg  vor  euch  liegt  und  ihr  aus  euren 
Träumen  geweckt  mit  innerlichem  Entzücken  die  Blicke  rund 
umher  in  das  Landschaftsbild  sich  einsaugen  lasst.  Es  ist  eine 
Gegend  um  zum  Kinde  darüber  zu  werden :  ich  habe  gelacht  und 
geweint  und  gejubelt  über  die  Schönheit  von  Hohenlimburg ;  es 
ist  nichts  als  zwei  Reihen  hoher  Berge,  dazwischen  ein  Fluss, 
an  seinem  linken  Ufer  eine  Stadt  und  über  der  Stadt  einSchloss; 
aber  aus  diesen  fünf  Dingen,  wie  aus  fünf  nichtsbedeutenden 
Buchstaben  das  schönste  Wort,  ist  die  schönste,  die  ergreifendste 
Rede  zusammengesetzt,  die  der  Schöpfer  zum  Menschen  sprechen 
kann,  eine  Rede,  die  aus  eurem  tiefsten  Herzen  einen  Strom  von 
Glückseligkeit  aufsprudeln  lässt^  als  ob  nun  alle  eure  Sehnsuchts- 
und Freudeknospen  zu  lichten  Glücksblüthen  aufgebrochen  seien, 
voll  und  duftig  wie  die  ersten  Kirschblüthen  über  eurem  träu- 
merischen Haupte:  das  Blut  fliesst  so  leicht  und  rasch,  dass  es 
alle  Gedanken  euch  entreisst,  als  werfe  es  sie  wie  Blumensträusse 
dieser  Schönheit  zu. 

Aber  ich  vergesse,  dass  ich  euren  Cicerone  hier  machen 
muss  und  euch  hinaufführen  auf  das  Schloss  Hohenlimburg. 
Geebnete  Pfade  durch  sorgfältig  gepflegte  Anlagen  leiten  bis  zu 
der  Terrasse,  wo  eiserne  Geschütze  unter  hohen  Linden  in  die 
friedliche  Landschaft  drohen;  dann  öffnet  sich  das  feste  Burg- 
thor mit  seinen  Adler-  und  Falkenklauen,  seinen  eisenbeschla- 
genen massiven  Eichenbohlen  vor  euch  und  nachdem  ihr  einen 
Blick  auf  die  Wappen  darüber  geworfen,  tretet  ihr  durch  den 
langen  gewölbten  Thorweg  in  das  Innere.  Das  Wohngebäude 
links,  vom  Grafen  Mauritz  Casimir  in  der  Mitte  des  vorigen 
Jahrhunderts  hergestellt,  ist  einfach;  ausser  ihm  sind  einige 
Thürme  in  den  Ecken,    eine   Wohnung  des  Kastellans  die   ein- 


—      213      — 

zigen  Baulichkeiten,  welche  die  auffallend  hohe  Ringmauer  um- 
schliesst;  aber  von  der  Gallerie,  welche  diese  Ringmauer  krönt, 
wo  man  überrascht  wie  vom  Schlosse  zu  Altena  einen  neuen 
Ort,  die  Nette,  hier  die  Nahmer  entdeckt,  habt  ihr  eine  Aus- 
siciit,  wie  sie  nur  noch  die  grosse  Terrasse  des  Heidelberger 
Schlosses  bietet.  Auffallend  ist  überhaupt  die  Aehnlichkeit  zwischen 
Limburg  und  Heidelberg;  ich  weiss  kaum,  welches  den  Vorzug 
verdient,  wenn  auch  Heidelberg  grossartiger  ist  durch  Strom  und 
Stadt,  nicht  durch  die  Formationen  seiner  weniger  schönen  Berge. 
Jedenfalls  träumt  man  sich  unwillkürlich  zurück  in  die  fröhliche 
Musenstadt,  wenn  man  auf  der  Leunebrücke  über  das  breite 
Flussthal  nach  den  blauen  Ruhrbergen  und  den  Ruinen  von  Hohen- 
syburg  ausschaut;  es  ist  als  läge  die  üppige  Neckarebne  vor  dem 
Auge  da,  begränzt  von  den  azurnen  Höhenzügen  des  Hardtgebirges. 
Vor  allem  andern  freundlich  liegt  Limburg  selbst  zu  euren 
Füssen,  wenn  ihr  auf  der  Gallerie  der  Schlossmauer,  in  ihrem 
Belvedere  steht:  der  Ort  sieht  aus  so  blank  und  niedlich,  als 
habe  ein  Kind  seine  Stadt  aus  der  Nürnberger  Schachtel  zwischen 
Baumgruppen  und  Blumengärtchen  zusammengestellt. 

Das  Schloss  ist  von  dem  Grafen  Heinrich  von  Limburg  in 
den  Niederlanden  im  Jahre  1230  erbaut  Avorden.  Es  hatten  im 
i2.  Jahrhunderte  die  Brüder  Friedrich  und  Arnold  von  Altena 
ihr  Erbe  sich  gelheilt:  Arnold  bekam  ausser  Iscnburg  und  Nien- 
brügge  die  Grafschaft  Limburg  an  der  Lenne.  Arnold's  Sohn 
Friedrich  (von  Iscnburg,  seiner  Residenz  genannt)  erschlug  den 
heiligen  Engelbert;  zur  Strafe  wurde  er  geächtet  und  seiner  Güter 
beraubt;  „da  ist  sein  Sohn  Theodorich,  sagt  ein  alter  Chronist, 
bei  dem  Herzogen  von  Limburg  und  Grafen  von  dem  Berge,  seiner 
Mutter  Bruder  aufgewachsen  und  mäjinlich  worden.  Da  gedachte 
gemeldter  Herzog  Heinrich  von  Limburg,  wo  er  seinem  Vettern 
in  sein  väterliches  Erbe,  v/elches  Graf  Adolph  ingenommen  hatte, 
wiederurnb  insetzen  möchte,  machte  sich  derwegen  auf  mit  einem 
ansehnlichen  Kriegsheer,  käme  auf  die  Lehnne,  bauete  daselbst 
auf  einem  hohen  Berg  ein  Schloss  oder  starke  Festung,  welches 
er  nach  seinem  Namen  und  Schlosse  Limburg  nennete.  Er  halte 
daselbst  so  meunigen  Kriegsman ,  als  Steine  und  Balken  am 
Hause  seyn  und  das  Schloss  solle  allezeit  seyn  und  bleiben  den 
Grafen  von  dem  Berge  zu  sicherer  Zuflucht  ab  und  an  zu  ziehen 
und  offen  zu  stehen." 


—      214      — 

Nun  wurde  Theodorich  der  Ahn  eines  Grafengeschlechts  von 
Limburg,  das  mit  Wilhelm  1459  erlosch,  dessen  Erbtochter  Mar- 
garethe  die  Besitzung  an  ihren  Gemahl  Gumprecht  von  Nüwenar 
brachte,  bei  dessen  Stamme  sie  bis  1573  blieb,  wo  eine  Erb- 
tochter 3Iagdalene  von  Nüwenar,  mit  Graf  Arnold  von  Tecklen- 
burg  vermählt,  Limburg  diesem  letztern  Hause  zubrachte,  dessen 
Enkel  aus  der  Rheda'schen  Linie  seitdem  im  Besitz  geblieben 
und  jetzige  Standesherren  der  Grafschaft  sind;  das  Schloss  dient 
ihnen  zum  neidenswerthen  Sommeraufenthalt. 

Ein  höchst  romantischer  Weg  führt  von  Limburg  an  der 
Höhe,  die  einst  die  Feste  Raffenberg  trug,  an  den  Felsen  der 
Hünenpforte  und  des  nahen  Weissensteins *3  her  nach  Hagen; 
ein  andrer  zieht,  lockender  für  uns,  am  rechten  Ufer  der  Lenne 
durch  Elsey  nach  Hohensyburg.  Wir  schreiten  über  die  Lenne- 
brücke,  der  gegenüber  auf  der  Berghöhe  einst  das  Schloss  Eickel, 
jetzt  das  Monument  Möllers  steht,  dann  links  ab  dem  einst  hoch- 
adlichen  freiweltlichen  Damenstift  Elsey  zu.  Ueber  das  Pfarr- 
haus zu  Elsey  breitet  die  Erinnerung  an  die  beiden  Möller  eine 
idyllische  Poesie,   die  vergessene  und  doch  so  rührende  Poesie 


*^)  Weitere  Ausführungen,  Avie  sie  mir  der  Raum  nicht  erlaubt,  siehe 
bei  Steinen  und  in  dem  Aufsatze:  Lennebilder  in  und  an  der  Mark, 
im  Rheinisch- Westphälischen  Anzeiger,  Hamm  1833  und  1835.  Auf 
dem  RafTenberge,  erzählt  die  Sage,  hauste  einst  ein  arger  Raubritter, 
Graf  Humpert,  der  seinen  Rossen  die  Hufeisen  verkehrt  unter- 
schlagen liess,  um  seine  zahlreichen  Feinde  zu  täuschen.  Von  einem 
Heere  derselben  belagert,  trotzte  er  auf  die  Stärke  seiner  Burg  und 
die  Menge  seiner  Vorräthe;  da  sagt  ein  altes  Mütterchen  den  Be- 
lagerern: Nehmt  einen  Esel,  so  man  drei  Tage  hat  dürsten  lassen 
und  führt  ihn  an  den  Berg:  wo  er  stehen  bleiben  und  mit  den  Füssen 
scharren  Avird,  liegt  der  Brunnen,  aus  dem  Röhren  das  Wasser  in 
die  Burg  leiten.  Der  Alten  Wort  bewährte  sich  und  der  Burgherr 
ward  aufs  Trockne  gesetzt ;  da  Hess  er  durch  einen  Herold  sagen, 
er  wolle  sich  ergeben,  wenn  man  sein  Gemahl  frei  abziehen  lasse 
mit  dem,  was  sie  in  dreien  Malen  aus  dem  Schlosse  tragen  könne. 
Dies  ward  gern  gewährt,  und  sieh,  die  Gräfin,  ein  starkes  Weib, 
kam  zum  ersten  Male  mit  dem  Gemahl  auf  den  Schultern,  zum  an- 
dernmale  mit  dem  Sohne,  der  eben  so  arg  Avie  der  Vater,  und  zum 
drittenmale  mit  einer  solchen  Last  von  Gold  und  Gesclimeide 
dass  sie  am  Fusse  des  Berges  angekommen  elendiglich  zusammen- 
stürzte. —  Die  Sage  von  der  weissen  Jungfrau  zu  Elsey  s.  bei  Stahl, 
W.  Sagen. 


^ 


—       215       — 

des  Landpredigerlebens,  die  hinter  den  Rehenumsponnenen  Fen- 
stern der  stillen  sommerlichen  Studierstube,  unter  der  blühenden 
Geisblattlaube  des  trauten  Familienmales,  an  dem  Heimchenzirpen- 
den Heerde  der  blankgescheuerten  Küche  wohnt  und  mit  Geburts- 
tagsstickereien und  reifen  Kirschen  des  ehrwürdigen  Pfarrherrn 
Zeugnisse  gegen  den  einbrechenden  Rationalismus  der  Generation 
belohnt.  Ihr  denkt  dabei  an  Vossens  Luise;  wer  Johann  Frie- 
drich Möller  kannte,  denkt  bei  seinem  Namen  an  eine  höhere 
Gestalt,  an  Justus  Moser.  In  derselben  Zeit  wurzelnd,  aus  glei- 
cher Denkrichtung  patriotische  Phantasien  nährend,  mögen  beide 
zusammen  genannt  werden,  wenn  "NYestphalen  die  Männer  auf- 
zählt, auf  welche  es  stolz  ist.  Möllers  Geist  beweisen  die  Kinder 
seines  Geistes,  seine  Schriften;  sein  nachhaltiges  Wirken  seine 
andern  Kinder,  die  guten  freundlichen  Leute  von  Elsey.  —  Er 
war  es,  der  in  den  Drangsalen  des  Jahres  1806  die  Befürchtun- 
gen der  Grafschaft  Mark  von  der  Krone  Preussen  losgerissen  zu 
werden ,  aussprach  und  des  Königs  hochherziges  beruhigendes 
Wort  zur  Antwort  darauf  erhielt. 

Wo  die  Lenne  in  olfenem  breitem  Wiesenthaie  sich  in  die 
Ruhr  stürzt,  da  rauscht  diese,  von  dem  alten  Reichshofe  West- 
hofen  kommend,  an  einer  hohen  jähen  Bergwand  vorbei,  auf 
deren  Rücken  die  Ruinen  von  Hohensyburg  liegen,  noch  den 
Donjon,  zwei  weite  Gemächer  und  Stücke  der  Ringmauer  zeigend; 
am  nördlichen  Abhänge  der  Bergwand,  auf  öder  Halde  steht  das 
Dorf  Syburg,  eine  dürftige  Erinnerung  an  Wittekinds  grosse 
Stadt!  Es  ist  öde  auf  dieser  Halde,  wenn  man  aus  den  Ruinen 
zurückkommt,  in  denen  man  die  Blicke  weithinab  in  die  Lande 
hat  schweifen  lassen ,  weithinauf  in  verschollene  Zeiten ,  bis  sie 
auf  den  heroischesten  Gestalten  unserer  Geschichte  haften  ge- 
blieben; auf  der  tiefern  Halde  ist  der  Blick  engbeschränkt,  der 
Abendwind  haucht  Haarrauchnebcl  darüber,  einen  modernden 
Leichenschleier;  der  heilige  Petersbrunnen,  der  Wunder  that  für 
andere  Zeiten,  steht  träge  quellend;  durch  die  alte  Kirche  in- 
mitten kleiner  Grabsteine  pfeift  leise  der  Zugwind,  drinnen  nichts 
als  Leichensteine,  Sterbewappen  und  das  Todtengeläute  der  Zeit, 
das  schallende  Tiktak  der  Thurmuhr.  Keine  Spur  mehr  von  dem 
alten  Schmucke,  der  an  den  Tag  erinnerte,  an  welchem  Karl  der 
Grosse  mit  seinen  Paladinen  und  Herzogen  auf  dem  Chore  stand 
und  Gebete  murmelnd  den  gewaltigen  Bart  Aviegte,  während  der 


—      216      — 

Pontifex  von  den  sieben  Hügeln,  Leo  III.  mit  einem  unzählbaren 
Gefolge  von  Fürsten  der  Kirche  umherschritt  und  die  Wände 
salbte  und  segnete  und  die  Stätte  weihte,  wo  das  blinde  Heiden- 
volk eine  Irminsul  oder  ein  Krodobild,  den  „Krottenteufcl"  ver- 
ehrt hatte.  So  will  es  die  Sage.  Dass  Karl  die  Syburg,  mit 
der  Eres-  und  Iburg  der  Haupthalt  der  Sachsen,  diesen  im  Jahre 
775  abgestürmt  und  dass  sie  im  folgenden  Jahre  wieder  von 
ihnen  belagert,  von  Karl  entsetzt  wurde,  ist  historisch  und  be- 
kannt. Die  Gegend  umher  scheint  Wittekinds  Eigen  gewesen 
und  von  dem  Kaiser  zum  Reichshofe  gemacht  worden  zu  sein, 
dass  aus  Wittekinds  Gefolgsmännern  und  Untersassen  freie  Reichs- 
leute wurden,  bis  sie  1300  an  Graf  Eberhard  von  der  Mark  ab- 
getreten wurden.  —  Was  jenen  Götzen  Krodo  betrifft,  der  übrigens 
deutscher  Mythe  nicht  angehört,  und  dessen  Name  wohl  nur 
Adjektivbezeichnung  eines  andern  Gottes  ist,  (Krodo,  Groto,  de 
Grote?3  so  glaubt  Stangefol,  er  sei  fränkischen  Wesens  und  von 
einer  Drude  sein  Dienst  eingeführt:  „war  selbiges  Bild  einem 
alten  Kornschneider  oder  Mähder  gleich  bekleydet,  mit  einem 
Schurz  umbgürtet,  hat  in  der  rechten  Hand  ein  Fass  voll  Rosen, 
in  der  linken,  so  ausgestreckt  in  die  Höhe,  ein  Wagenrad,  stund 
mit  grossen  rawen  Haren  am  blossen  Kopf  mit  blossen  Füssen 
auf  einer  Seulen  und  einem  rauhen  scharlfeckigen  Fisch,  genannt 
perca,  eine  Bärsse  und  war  die  Brust  ihm  offen."  Ob  jenes 
Rad,  der  Gottheit  Attribut,  Veranlassung  zu  der  Sage  von  der 
Zerstörung  eines  Wasserrads  gegeben,  wodurch  Karl  die  erste 
Uebergabe  der  Burg  erzwungen,  ist  ebenso  schwer  zu  entschei- 
den, wie  die  Richtigkeit  von  der  Anwesenheit  Leo's  in  Syburg, 
seine  Weihungen  und  Taufhandlungen  im  Sankt  Petersbrunnen, 
seine  Schenkung  des  Hauptes  der  heiligen  Barbara  an  die  Kirche. 
Augenscheinlich  ist  es  übrigens,  dass  sowohl  die  Kirche  späterer 
Zeit,  als  der  Karls  angehört,  wie,  dass  die  Burg  nicht  die  alle 
sächsische  Feste  mehr  sei;  sie  muss  innerhalb  der  Umwallungen 
der  letztern  unter  der  Regierung  Heinrichs  IV.  entstanden  sein, 
wurde  ein  Reichs-  und  Burglehn  der  Ritterfamilie  von  Syburg 
und  unter  Rudolph  von  Habsburg  vom  Grafen  Eberhard  von  der 
Mark  1287  als  Raubnest  mit  den  Schlössern  Isenburg,  Ruenthal 
und  Volmarstein  zerstört.*) 


*)  S.  Ueber  Hohensyburg.    Von  J.  Fr.  Möller.    Dortmund  1804. 


—      217       — 

Von  Hohensyburg  schlängelt  sich  die  Ruhr  in  silbernen 
Windungen  nach  Westen  weiter,  rechts  die  Wände  des  Ardey- 
Gebirges  bespülend,  in  welchem  einst  das  erloschene  Geschlecht 
der  Grafen  von  Ardey  oder  Are  hauste,  links  die  Yolme  auf- 
nehmend, die  aus  reichem  blühendem  Thale  hervorslrömt;  dann 
an  Herdecke  her,  um  die  Wetter  Freiheit  und  den  Volmarstein 
ihre  Bogen  schlagend.  Herdecke ,  wohl  eher  Hardt  -  ecke ,  als 
Hertha's  Eiche,  wie  derivirt  wird,  besass  früher  ein  Frauenstift; 
Wetter,  einst  ein  Schloss  der  Grafen  von  der  Mark,  hat  in  den 
Mauern  seiner  Feste  eine  Eisengiesserei  die  Romantik  schmälern 
sehen  müssen,  welche  noch  ungestört  über  dem  herrlichen  Punkte 
von  Volmarstein  schwebt. 

Volmarstein,  in  wenigen  Trümmern  erhalten,  steht  auf  einem 
Felsen  an  der  Ruhr,  da  wo  ein  älteres  Bette  der  Yolme  gemündet 
haben  muss.  Sitz  des  alten,  vielleicht  schon  altsächsischem  Ge- 
schlechts der  Edlen  von  Volmarstein,  w^ard  es  zuerst,  wie  oben 
gesagt,  i287  zerstört,  dann,  neu  erbaut,  im  Jahre  132'i^  in  einem 
Kriege  des  Erzbischofs  von  Köln  mit  der  Stadt  Köln  von  den 
Bundsgenossen  der  Stadt,  dem  König  Johann  von  Böhmen,  Grafen 
Wilhelm  von  Holland,  den  Grafen  von  der  Mark,  von  Berg  und 
vielen  anderen  nach  langer  Belagerung  bezwungen  und  wieder 
eingerissen;  die  Grafen  von  der  Mark,  die  es  danach  zu  Eigen 
nahmen,  mögen  Erbauer  dessen  sein,  wovon  die  jetzigen  Trüm- 
mer übrig  geblieben.  Das  im  15.  Jahrh.  erloschene  Geschlecht 
der  Grafen  von  Volmarstein  gehörte  einst  zu  den  mächtigsten 
unsres  Landes,  wie  ihre  Lehnskammer  eine  der  reichsten  war: 
unser  Historiker  Kindlinger  hat  zur  Eutwicklung  alter  Rechts- 
verhältnisse ihnen  eine  Monographie  gewidmet.  Die  merkwür- 
dige Erzählung  von  der  Stiftung  des  Klosters  Waldsassen  in 
Bayern  durch  einen  Gerwich  von  Volmarstein  s.  in  C.  Bruschius 
de  monast.  germ.  I.  242. 

Das  Vülmethal,  das  sich  bei  Volmarstein  mündet,  ist  reich 
an  Sagen;  da  ist  die  Finkinger  Lei,  eine  Felswand  mit  einer 
kleinen  Höhle,  worin  einst  die  Zwerge  hausten,  treue  Hirten  und 
emsige  Diener  in  Küche  und  Stall  für  den  gegenüberliegenden 
Finkinghof ;  einem  der  Zwerge ,  der  besonders  treu  sein  Vieh 
gepflegt  und  gehütet,  legte  der  Hofherr  zum  Danke  einst  einen 
neuen  Anzug  auf  den  Pfosten  des  Hofthores,  als  jener  die  Heerde 
hindurchtrieb;  da  ward  der  Zwerg  traurig,  denn  er  glaubte,  man 


—      218      — 

wolle  seiner  los  sein ,  nahm  den  Anzug  und  entfernte  sich  und 
mit  ihm  verschwanden  die  Zwerge  für  immer.  —  Bei  Dahl  war 
einst  ein  Schloss,  Bollwerk  geheissen,  der  Ritterfamilie  von  Dalc 
gehörend,  die  hochnothpeinliches  Gericht  darin  hegte  mit  spani- 
scher Jungfrau  und  Yerliessen  voll  scharfer  Messerklingen:  darin 
hat  auch  der  Blaubart  gehaust,  ein  gar  gewaltiger  Unhold  gegen 
Nachbarn  und  Untersassen;  sechs  edle  Jungfrauen,  so  er  ge- 
raubt, sind  auf  seinem  Schlosse  verschwunden;  da  wirbt  er  um 
die  siebte,  die  Tochter  eines  Ritters  aus  dem  Ruhrthale.  Sie 
muss  sich  ihm  hingeben ,  denn  der  Blaubart  liegt  vor  dem 
Thor  mit  seiner  Schaar  und  bricht  an  den  Mauern  der  unver- 
theidigten  Feste  ihres  Vaters ;  ehe  sie  aber  mit  ihm  zieht,  heisst 
sie  den  Vater  mit  seinen  Freunden  die  Burg  des  Blaubart  stür- 
men, wenn  sie  mit  einem  weissen  Tuche  von  dem  Wartthurm 
winken  würde.  Mit  rohem  Jubel  wird  die  Arme  heimgeführt; 
als  aber  kurz  nachher  der  schreckliche  Gemahl  zu  einem  seiner 
Stegreifabentheuer  ausreiten  will,  überreicht  er  ihr  ein  Schlüssel- 
bund, so  alle  Thüren  des  Schlosses  öffnet;  nur  einen  der  Schlüssel, 
der  einen  unterirdischen  Gang  aufschliesst,  darf  sie  nicht  ge- 
brauchen —  bei  Todesstrafe  nicht.  Sie  glaubt,  das  sei  der  Weg 
in's  Freie  und  deshalb,  als  es  um  Mitternacht  geworden,  nimmt 
sie  eine  Leuchte  und  schleicht  sacht  in  das  verpönte  Gewölbe, 
bis  an  eine  eiserne  Thüre  am  Ende  des  Ganges :  zitternd  dreht 
sie  den  Schlüssel,  der  Riegel  springt  auf,  die  Thüre  schlägt  an 
die  Seitenwand  und  sie  steht  auf  der  Schwelle  eines  Grabgewöl- 
bes, drin  sechs  weibliche  Leichname  in  eisernen  Kelten  an  den 
Wänden  hangen;  sie  bricht  zusammen  bei  dem  Anblick,  rafft 
sich  nach  einer  Weile  wieder  auf,  die  Thüre  zu  schliessen  und 
zu  fliehen  —  aber  die  Thüre  ist  wie  festgeklammert  an  der  Sei- 
tenwand und  regt  sich  nicht,  wie  sie  auch  sich  mühen  mag  bis 
zum  Morgen,  wo  der  Blaubart  heimkommt  und  ergrimmt  sieht, 
was  sie  begonnen  hat.  Sie  flüchtet  sich  vor  ihm  auf  die  Warte 
und  wälzt  Lasten  auf  die  Fallthüre,  so  viel  sie  vermag;  dann 
lässt  sie  hoch  ihr  weisses  Tuch  im  Winde  flattern.  Der  Blau- 
bart stürmt  ihr  nach,  aber  er  muss  lange  Zeit  sich  mühen  und 
seine  Diener  rufen,  um  die  Fallthüre  aufheben  zu  können;  end- 
lich steht  er  oben  und  ergreift  sein  Schlachtopfer  und  will  sie 
von  der  Zinne  des  Thurmes  stürzen;  sie  aber  hat  ihn  so  fest 
umklammert,   dass  sie  mit   der  Hälfte  des  Körpers  in  der  freien 


—      219      — 

Luft  schwebend,  nicht  von  ihm  abgeschüttelt  werden  kann,  — 
da  klirren  Rüstungen,  Sporen,  Schwerter  hinter  ihm,  die  Freunde 
des  Mädchens  sind  aus  ihrem  Hinterhalte  hervorgebrochen,  sind 
ohne  Hinderniss,  unerwartet  in's  Schloss  gedrungen  ,  die  Stiegen 
des  Thurmes  hinauf  —  ein  Schwertstoss  durchbohrt  den  Unhold 
und  statt  seines  Opfers  stürzt  jetzt  seine  Leiche  von  der  Höhe 
des  Thurmes  hinab,  —  Im  Yolmethale,  weiter  hinauf  im  Goldberg 
bei  Hagen  hat  man  in  alten  Zeiten  Gold  und  Silber  gegraben,  was 
eine  Lehnsurkunde  zwischen  Erzbischof  Adolph  von  Köln  und  Ar- 
nold von  Altena  von  1200  erhärtet.  In  jener  Zeit  kam  eines  Tages 
ein  armes  unbekanntes  Weib  mit  einem  Säugling,  einem  wunder- 
schönen Knaben  nach  Hagen,  und  des  Dorfes  Vorsteher  nahm  sie 
freundlich  auf,  gewährte  ihr  eine  Hütte  und  Hess  sogar  ihren 
Knaben,  den  er  lieb  gewann,  mit  seiner  einzigen  Tochter  er- 
ziehen. Als  der  Sohn  der  fremden  Frau  nun  gross  und  ein 
schmucker  Bergmann  geworden  und  mit  ihm  seine  Liebe  zu  des 
Vorstehers  Kind  gewachsen  war,  da  entschloss  er  sich  endlich, 
um  das  Mädchen  bei  dem  Vater  zu  werben;  der  aber  versetzte, 
schnöde  seine  Armuth  höhnend,  dass  er  seine  Tochter  nur  durch 
einen  kostbaren  Schmuck  aus  Gold  und  Diamanten  gewinnen 
könne.  —  Das  w^ar  eine  harte  Antwort,  denn  woher  sollte  der 
Sohn  der  fremden  armen  Frau  einen  Goldschmuck  bekommen? 
Hoffnungslos  ging  er  an  seine  Arbeit  und  befuhr  den  Schacht 
und  führte  das  Fäustel  —  aber  sein  Arm  wurde  kraftlos  und 
sein  junges  Blut  stockte  in  den  düstern  Felsenkammern  vor  Trau- 
rigkeit. Eines  Morgens  nun,  als  er  aus  seiner  Hütte  schritt  und 
an  einem  hohlen  Baume  vorbeikam,  sah  er  einen  Glanz  daraus 
hervorleuchten;  er  schaute  näher  hin  un'd  — w^ar  es  ein  Traum? 
da  lag  das  kostbare  Geschmeide  von  Golde  strotzend,  von  Diaman- 
ten blitzend,  in  dem  hohlen  Baume!  —  Er  nimmt  es  und  stürmt 
damit  zum  Vater  seiner  Geliebten  —  der  wundert  sich  nicht 
minder,  aber  hält  sein  Wort  und  verlobt  ihm  seine  Tochter. 
Nun  war  ein  böser  Mensch  in  Hagen,  der  Sohn  eines  reichen 
Försters;  der  war  des  Bräutigams  Nebenbuhler  gewesen,  und  als 
sich  das  Gerücht  von  dem  Goldschmuck  verbreitete,  da  betheuerle 
er,  das  Kleinod  seie  sein,  und  brachte  zwei  Zeugen,  die  schwuren, 
dass  der  Bergmann  ihn  darum  beraubt  habe.  Das  Wahre  an  der 
Sache  war,  dass  der  junge  Förster  heimtückisch  den  Schmuck  hatte 
in  den  hohlen  Baum  am  Wege  gelegt,  um  seinen  Feind  verderben 


—      220      — 

zu  können.  Dieser  wurde  nun  auch  vcrurtheilt;  er  wird  auf  einen 
Scheiterhaufen  gebunden,  der  Hoizstoss  entzündet,  und  bald  hüllt 
ihn  die  Lohe  und  der  Qualm  ein,  aus  dem  eine  weisse  Taube 
aufflattert  und  zum  Himmel  emporsteigt,  bis  sie  den  Augen  ent- 
schwindet. 

Darauf  verhüllen  schwarze  Donnerwolken  die  Luft;,  w^ulh- 
schäumend  tritt  die  Mutler  des  Gemordeten  aus  ihrer  Hütte  her- 
vor, einen  Korb  voll  Mohnsaamen  auf  ihrem  Haupte,  um  das  die 
wildaufgelössten  Haare  flattern;  so  schreitet  sie  durch  den  nieder- 
giessenden  Regen  eines  furchtbaren  Gewitters  den  Goldberg  hinan, 
geht  dreimal  im  Kreise  um  den  Hügel  und  spricht  dabei  zu  dreien 
Malen  einen  schrecklichen  Fluch  aus:  verfluchtes  Gold,  das 
meinen  Sohn  gemordet,  sei  verwünscht  in  den  Abgrund,  soviel 
tausend  Jahre  als  Mohnkörner  auf  meinem  Kopfe  sind!  Und  bei 
den  letzten  Worten  stürzt  sie  den  Korb  und  dann  sich  selbst  in 
den  Schacht  hinab :  aus  dem  fahren  rothe  und  blaue  Flammen 
empor,  die  Erde  erbebt  und  Schacht  und  Stollen  stürzen  don- 
nernd zusammen.  Seitdem  ist  jede  Spur  von  Gold  daraus  ver- 
schwunden. *} 

Von  Volmarstein  an,  weiter  hinab  zeigt  euch  die  Ruhr  eine 
Reihe  ewig  wechselnder  glänzender  Landschaftsbilder  der  pitto- 
reskesten Scenerie.  An  Malinkrodt,  dem  Stammhaus  des  alten 
Geschlechts ,  das  nach  ihm  sich  nannte ,  an  Hove  vorbei ,  strömt 
sie  nach  Witten,  das  hart  am  rechten  Ufer  liegt,  einst  eine  Burg 
und  Freiheit  derer  von  Witten,  jetzt  ein  schmucker  freundlicher 
Flecken;  fast  gegenüber  zur  Linken  auf  der  Höhe  das  Gut  Stein- 
hausen, in  Gartenanlagen  und  Gebüschen,  eine  reizende  neidens- 
werthe  Besitzung;  das  weissglänzende  Herrenhaus  liegt  auf  der 
Stelle  einer  Burg,  die  von  den  Edlen  von  Witten  erbaut  und  im 
i5.  Jahrh.  von  den  Dortmundern  zerstört  worden  ist:  Anno  1434, 
heisst  es  in  der  Dortmunder  Chronik,  hadde  wy  van  Dortmundt 
12  Leddern  Wagen  und  voeren  dahmit  over  de  Ruhr  wol  mit 
700  Man  und  50  Ruiters  und  Braken  Herrman  von  Witten  dat 
Steenhuess  nedder.  —  Danach  kam  Steinhausen  an  die  Fa- 
milie  Stael  von    Holstein,    von   dieser   an    die   F"reiherrü   von 


*)  Die  Sage  vom  Klusensfein ,  dem  Raffenberge  und  diese  aus  dem 
Volmethale,  verdanke  ich  gefälliger  Millheilung  des  Herrn  C.  Schmidt 
zu  Dahl  bei  Hagen. 


1^ 


a 


—       221      — 

Elverfeldt.    Hinter  Steinhausen  erblickt  ihr,  versteckt  von  einer 
Bergwand,    unten  am  Ufer,    fast    vom  Flusse  bespült,  die  ma- 
lerischen   Trümmer   von    Hardenstein ,    einem    Kittersitze    derer 
von  Hardenberg,    von   ihnen    ebenfalls   an   die    Slael    von   Hol- 
stein übergegangen.  —   lieber  den  räthselhaften  Bewohner  Har- 
densteins    mag    hier    folgen,    Avas   von    Steinen    iiber    ihn   aus 
allen  Geschichtsbüchern  zusammenstellt:    zur  Zeit  Kaysers  Wen- 
zeslaus  hat  sich   ein  Erdmängen,  welches   sich  König  Goldemer 
nennete,   einem   gewissen  Manne,   welcher  mit  nichts,  als  welt- 
lichen  Händeln  beschäftigt  Avar,   Namens  Neveling  Hardenberg, 
aus  der  Grafschaft  Mark  bürtig,  und  unweit  der  Ruhr  auf  einem 
Schlosse   Avohnhaft,  vertraulich  zugesellet.     Besagter    Goldemer 
redete  mit   ihm   und   andern  3Ienschen ,   er  spielete  sehr  lieblich 
auf  Saifenspiel,  imgleichen  mit  Würfeln,  setzte   dabei  Geld  auf, 
trank  Wein    und    schlief   oft  bei  Neveling  in   einem  Bette.    Als 
nun  viele,  so  w^ol  Geist-  als  Weltliche,  ihn  besuchten,  redete  er 
zwar  mit   allen,   aber  also,   dass   es  besonders  den  Geistlichen 
nicht  immer  wohl  gefiel,  indem  er  durch  Entdeckung  ihrer  heim- 
lichen Sünden  dieselbe  oft  schamroth  machte.    Neveling,  welchen 
er  Schwager  zu  nennen  pflegte,  Avarnete  er  oft  für  seinen  Fein- 
den,  und   zeigete  ihm,    Avie   er   deren   Nachstellungen   entgehen 
könnte.    Auch  lehrete  er  ihn ,  sich  mit  diesen  Worten  zu  kreu- 
zigen und    zu    sagen:   Unerschaffen  ist  der  Vater;    ünerschaffen 
ist  der  Sohn;   Unerschaffen   ist  der  Heilige  Geist.    Er  pflegte  zu 
sagen:  die  Christen  gründeten  ihre  Religion  auf  Worte,  die  Juden 
auf  köstliche  Steine,  die  Heiden  auf  Kräuter.    Seine  Hände,  Avelche 
mager,  und  Avie  ein  Frosch  und  Maus,  kalt  und  Aveich  im  Angrif 
Avaren,  lies  er  ZAvar  fühlen,  keiner  aber  konte  ihn  sehen.    Nach- 
dem er  nun  drey  Jahr  bei  Neveling   ausgehalten  hatte ,    ist  er, 
ohne  jemand  zu  beleidigen,   weggegangen.    Dieses  habe  ich  zu 
der  Zeit  von  vielen  gehöret,  nach  26  Jahren  aber  von  Neveling 
selber  verstanden.    Es  hatte  aber  Neveling  eine  schöne  Schwester, 
um  Avelcher  Avillen  viele  argwohnten,   dass  sich  dieses  Erdmän- 
gen bei  ihm  aufgehalten  halte.   —    Und  ferner:    von  dem  Hause 
Hardenstein   Avird   die  heydnische  Fabel  erzählt,   dass   sich  vor- 
zeiten ein  Erdmängen  aufgehalten;   Avelches   sich   König  Volmar 
genennet  und  diejenige  Kammer  bcAvohnet  hätte,  Avelche  von  den 
heydnischen  Zeiten  an  bis  auf  den  heutigen  Tag  Volmars  Kam- 
mer heisset.     Dieser  Volmar  musste    jederzeit   einen  Platz  am 


222       

Tische  und  einen  für  sein  Pferd  im  Stalle  haben,  da  denn  auch 
jederzeit  die  Speisen,  wie  auch  Haber  und  Heu  verzehret  wurden, 
von  Menschen  und  Pferde  aber  sähe  man  nichts  als  Schatten. 
Nun  trug  es  sich  zu,  dass  auf  diesem  Hause  ein  Küchenjunge 
war,  welcher  begierig  seyende,  diesen  Volmar,  wenigstens  seine 
Fussstapfen,  zu  sehen,  hin  und  wieder  Erbsen  und  Asche  streuete, 
um  ihn  solchergestalt  fallend  zu  machen.  Allein  es  wurde  sein 
Vorwitz  sehr  übel  bezahlet;  denn  auf  einen  gewissen  Morgen,  als 
dieser  Knabe  das  Feuer  anzündete,  kam  Yolmar,  brach  ihm  den 
Hals  und  hieb  ihn  zu  Stücken,  da  er  die  Brust  an  einen  Spiess 
steckte  und  briet,  etliches  röstete,  das  Haupt  aber  nebst  den 
Beinen  kochte.  Als  der  Koch  bey  seinem  Eintritt  in  die  Küche 
dieses  erblickte,  wurde  er  sehr  erschrocken  und  durfte  sich  fast 
nicht  in  die  Küche  wagen.  Sobald  die  Gerichter  fertig,  wurden 
solche  auf  Volmars  Kammer  getragen,  da  man  denn  hörete,  dass 
sie  unter  Freudengeschrei  und  einer  schönen  Musik  verzehret 
wurden.  Und  nach  dieser  Zeit  hat  man  den  König  Yolmar  nicht 
mehr  verspühret,  über  seiner  Kammerthür  aber  war  geschrieben: 
dass  das  Haus  künftig  so  unglückhch  seyn  solte,  als  es  bishero 
glücklich  gewesen  wäre,  auch  dass  die  Güter  versplittert  und 
nicht  ehnder  wieder  zusammen  kommen  sollen,  bis  dass  drey 
Hardenberge  von  Hardenberg  im  Leben  sein  würden.  Der  Spiess 
und  Rost  sind  lange  zum  Gedächtniss  verwahret,  aber  1651,  als 
die  Lolharinger  in  diesen  Gegenden  hauseten,  .  weggeplündert 
worden,  der  Topf  aber,  der  auf  der  Küche  eingemauert  ist,  ist 
noch  vorhanden.    (Er  ist  später  nach  Holland  gekommen.) 

In  der  Nähe  von  Hardenstein  ist  eine  jener  Zechen,  welche 
in  so  grosser  Menge  den  Kohlenreichthum  des  Ardeys  und  der 
Ruhrufer  ausbeuten  und  auch  ohne  Erzadern  und  Stufen  eine  Gold- 
mine für  das  ämsig  betriebsame  Land  sind.  Yon  Witten  an  wird  die 
Ruhr  schiffbar,  und  trägt  auf  Wimpelflatternden  Fahrzeugen  den 
Reichthum  ihrer  Gestade  in  vielen  Millionen  Centnern  dem  Rhein, 
dem  Westen  und  Süden  Deutschlands  und  den  Niederlanden  zu; 
diese  Barken,  die  Kohlendepots,  die  Eisenhämmer  und  andre  An- 
lagen einer  grossartigen  Industrie  machen  von  nun  an  bis  zur 
Mündung  bei  Ruhrort  den  Fluss  zur  Pulsader  eines  bewegten  lau- 
ten Lebens.  Zunächst  in  der  unnennbar  lieblichen  Landschaft  von 
Hardenstein  bis  Hattingen;  ihr  kommt  an  Herbede  vorbei,  seht 
weiter  unten  im  Thale  auf  frischen  Wiesenflächen  die  Burg  Kem- 


—       223       — 

nade,  um  lOOS  von  einer  Gräfin  Imma  von  Slypel  erbaut,  dann 
Sitz  derer  von  Kemnade,  rechts  das  Dörfchen  Stypel  mit  Gärten. 
Baumgruppen  und  idyllischem  Kirchthurm  malerisch  auf  dem  Hans 
des  Berges  gelagert,  links  endlich  die  Ruinen  von  Blankenstein, 
ein  fester  hoher  Thurm  und  niedre  Ringmauertrümmer.  Blanken- 
stein ist  mit  Arnsberg  und  Hohensyburg  der  Ruhrufer  schönster 
Punkt.  jS'eben  den  Ruinen,  hoch  oben  auf  der  Bcrgiläche  liegt 
der  freundliche  Flecken  Blankenstein;  vor  ihm  auf  dem  Terrain, 
das  von  den  schmucken  Wohnungen  bis  an  den  Rand  des  ab- 
schüssigen Berghanges ,  welchen  unmittelbar  die  Ruhr  bespült, 
sich  dehnt,  ist  mit  sinnigem  Geschmack  eine  Gartenanlage  ge- 
schaffen, Avelche  wie  selten  eine  andre  die  Natur  begünstigte. 
Es  ist  der  Gethmannsche  Garten  mit  seinen  Grotten  und  Hü- 
geln und  Belvederes,  250  Fuss  hoch  über  dem  rauschenden 
Strom,  der  sich  unten  durch  das  breite  ausgedehnte  Thal  schlän- 
gelt, dass  man  fast  Stundenweit  hinauf  und  hinab  seinem  Laufe 
folgen  kann.  Die  Berge  umher  sind  reich  bewaldet  oder  bebaut, 
unten  die  saftigsten  Wiesengründe,  im  Flusse  schäumende  Weh- 
ren, Schleussen  mit  Pappelgruppen^  tosende  Stahlhämmer,  eine 
Eisenbahn  für  die  nahe  Karl -Friedrich -Zeche,  rechts  auf  der 
nahen  Höhe  die  Ruinen  von  Blankenstein,  in  der  Ferne  die  Trüm- 
mer von  Altendorf,  des  Klylfs,  Hattingen  und  der  Isenberg.  Das 
Schloss  Blankenstein  ward  im  Jahre  1227  von  Ludolph  von  Boenen, 
einem  Rath  und  Vasallen  der  Grafen  von  der  Mark  erbaut.  Als 
Friedrich's  von  Isenberg  That  durch  Heinrich  von  Jlolenark,  den 
Nachfolger  auf  dem  Stuhle  des  heiligen  Engelbert,  gerächt  war, 
verlieh  dieser  des  Mörders  Land  und  Leute  an  Adolph  von  Altena; 
für  ihn  baute  zur  Beherrschung  des  neuerworbenen  Gebiets  aus  den 
Trümmern  der  geschleiften  Burg  auf  dem  Isenberg  der  Ritter  von 
Boenen  den  Blankenstein,  den  wir  mehrere  Jahrhunderte  hindurch 
von  Burggrafen  und  Drosten,  zuweilen  auch  von  den  Landesherrn 
selbst  bewohnt  finden.  Im  Jahre  1664  wurde  die  Feste  nach  dem 
Willen  des  neuen  Landesherrn,  des  Churfürsten  von  Brandenburg 
eingerissen.  Unterhalb  Blankenstein  fliesst  die  Ruhr  träger  an 
den  Trümmerspuren  der  Burg  Ruendael  vorüber,  gebaut  von  den 
von  Hardenberg,  1287  von  den  Grafen  von  der  Mark  zerstört; 
in  dem  Thalgrunde  umher  soll  es  nicht  geheuer  und  einst  Crodo 
verehrt  worden  sein;  das  aus  Stein  gemeisselte  Haupt  des  Got- 
tes, das  hier  gefunden  ward,  wird  in  Bonn  aufbewahrt:  im  Jahre 


224       — 

1803  wurde  eine  altgermanische  Grabstätte  mit  vielen  Urnen, 
Gebeinen,  Geschirren  und  WafFenstücken  entdeckt,  als  man  eine 
neue  Kohlenniederlage  bereitete.  *}  Links,  dem  Ruendael  gegen- 
über liegt  das  Haus  Bruch;  dann  folgt  die  Ruine  des  Klyffs,  im 
vorigen  Jahrhundert  erst  dem  Verfall  überlassen,  unmittelbar  da- 
nach das  freundliche  Städtchen  Hattingen ,  lebhaft ,  gewerkthätig, 
nach  den  FIuss  hinab  sich  drängend,  als  wolle  es  den  Russ  sei- 
ner Kohlenöfen  in  den  blinkenden  Wellen  abwaschen.  Das  Thal 
weitet  sich  bei  Hattingen,  die  Berge  am  rechten  Ruhrufer  werden 
flacher,  hügelähnlicher,  nur  die  Höhen  des  linken  behalten  stei- 
lere Wände;  auf  einer  derselben,  unterhalb  der  Stadt,  liegt  die 
Ruine  der  Isenburg,  der  einstige  Sitz  der  Altonaischen  Nebenlinie, 
den  nebst  Nienbrügge  an  der  Lippe  der  entsetzte  Erzbischof 
Adolph  L  von  Köln,  des  Altonaer  Grafen  Engelbert  L  Sohn,  am 
Ende  des  12.  Jahrh.  erbauete  und  seinem  jüngeren  Bruder  Arnold 
gab,  der  sie  auf  seinen  Sohn  Friedrich  vererbte.  Nach  Friedrich's 
Mordthat  belagerten  die  Kölner  die  Feste  im  Jahre  1226;  Frie- 
drich hatte  drei  Monate  lang  die  stürmenden  Städter  abgewehrt, 
da  trieb  ihn  des  Reicjies  Acht  und  der  Bann  auf  heimlichen 
Pfaden  nach  Rom,  und  seine  Burg  wurde  genommen,  verbrannt 
und  die  Besatzung  gehängt,  lieber  die  Beschaffenheit  des  Bau's 
finde  ich  folgende  Nachricht:  das  Schloss  bestand  aus  zwei  Ge- 
bäuden ;  das  erste,  die  untere  Burg  hatte  acht  Thürme  mit  breiten 
Steinmauern  und  Wohnungen  für  400  reisige  Knechte,  Ställe  für 
die  Rosse  u.  s.  w.  Von  dieser  Unterburg  stieg  man  über  fünf- 
zehn Treppen,  durch  einen  gewaltigen  Thurm  mit  Zugbrücke  und 
Fallgatter  zur  obern  Burg,  des  Schlossherrn  Wohnung,  die  vier 
Tliürme  flankirten,  einer  vorn  an  der  Fronte  beschützte;  dieser, 
gen  Norden  gerichtet,  deckte  auch  den  einzigen  Zugang  der  über 
die  Zugbrücke  vor  demselben  führte;  tiefe  Gräben  umzogen  die 
Ringmauern.  Auch  in  diesem  Gebäude  fanden  über  400  P.Ien- 
schen  Raum ;  aus  seinen  Hallen  sah  man  über  die  ganze  Ruhr- 
gegend fort.  In  der  Mitte  zwischen  beiden  Häusern  lag  der 
Brunnen,  wie  die  Keller  tief  in  den  Felsen  gehauen;    trocknete 


*)  Siehe  Beschreibung  einer  neuentdeckten  alten  germanischen  Grab- 
stätte. Von  K.  A.  Kortum.  Dortmund,  1804.  Ueber  diese  ganze 
Strecke  der  Ruhrufer  siehe:  Die  Ruhrfahrt,  von  Raulert.  Essen 
1827.  Ueber  Volmarstein  insbesondere:  Geschichte  von  Vohnar- 
stein  von  Manz.    Dortmund  1834. 


—      225      — 

anhaltende  Dürre  ihn  aus,  dann  inusste  mau  zum  Wasserschoplen 
274  Stiegen  von  der  untern  Burg  zur  Ruhr  hinab.  Jetzt  bedecken 
moos'ge  Eichen  und  Unterholz ,  Haidekraut  und  Brombeersträuche 
den  ganzen  Raum  der  jähen  Berghalde. 

Wen  ein  Steinblock  anzieht,  weil  man  von  ihm  behauptet, 
es  sei  ein  Opferstein  Gurcho's,  eines  germanischen  Götzen,  der 
muss  unter  Hattingen  rechts  ab  zum  Horkenstein  am  Wege  von 
Winz  nach  Dahlhausen.  Wir  folgen  der  Ruhr,  an  Haus  Balden- 
nau  vorbei,  das  rechts  am  Fusse  eines  zweiten  Isenbergs  liegt, 
der  mit  dem  Hattinger  um  die  Ehre,  Friedrichs  Burg  getragen  zu 
haben,  streitet,  nach  Burg  Horst  und  der  Burg  Altendorf.  Alle 
diese  Ruinen  von  Bruch  bis  Altendorf  waren  ehemals  Sitze  von 
Ritterfamilien  und  sind  ohne  historische  Bedeutung.  Bei  Steele 
erreicht  die  Ruhr  die  Gränze  der  Grafschaft  Mark  und  damit 
endet  die  pittoreske  Scliönheit  ihrer  Gestade,  wie  anmuthig  auch 
der  fernere  Lauf  durch  die  fruchtbaren  Gebiete  der  gefiirsteten 
Abteyen  Werden  und  Essen,  durch  das  Weichbild  von  Kettwig 
und  das  reizend  freundliche  Thal  von  Mühlheim  bleibt. 

Ich  versetze  euch  zurück  in  das  Thal  der  Volme,  um  euch  von 
Hagen  aus  über  die  Enneper  Strasse,  die  belebteste  Deutschland's 
vielleicht,  an  dem  Flüsschen  Ennepe  entlang  und  unzähligen  Eisen- 
hämmern, wo  fast  aus  jeder  Baumgruppe,  unter  jedem  geschwärz- 
ten Dache  her  schmetternde  Töne  in  den  Lärm  des  ganzen  Thaies 
einstimmen,  wo  krächzende  Frachtwagen  zu  einer  ununterbroche- 
nen Kette  gereiht  die  Chaussee  bedecken,  nach  dem  Stift  Gevels- 
berg zu  führen.  In  einem  Hohlwege  bei  Gevelsberg,  im  Linden- 
graben genannt,  stand  bis  1836  ein  Steinkreuz  zur  Erinnerung 
a;i  die  That,  welche  am  7.  November  1225  in  der  Abenddämme- 
rung hier  geschehen.  Diese  That  ist  unzählige  Mal  beschrieben 
und  erzählt:  *)  mag  sie  hier  darum  besungen  folgen.  Die  histo- 
rischen Daten  kann  ich  voraussetzen;  der  Erzbischof  Engelbert 
kommt  von  Soest,  wo  er  auf  der  Synode  seinem  Vetter,  dem 


*)  Romantische  Bearbeitungen  s.  bei  Montanus,  die  Vorzeit  der  Länder 
Cleve-Mark  u.  s.  w.-  Solingen  und  Gummersbach  1837.  I.  '39.  117. 
406.  L.  Wiese,  Sagen-  und  Mährchen\vald,  137.  und  dessen  „Wesl- 
phälische  Volkssagen  in  Liedern"  S.  G9.  —  Kauterls  Legende  En- 
gelberts ist  so  misslungen,  wie  Man/.  Skizze:  Die  Isenburg,  Dorl- 
uuind  1Ö36,  unhislorisch  einseitig. 

17 


—      226      — 

Isenburger  Vorwürfe  wegen  dessen  Zwist  mit  der  Abtey  Werden 
gemacht  hat.  Friedrich  begleitet  ihn  bis  Westhofen,  setzt  dann 
heimlich  durch  die  Ruhr  und  eilt  dem  Erzbischof  voraus,  der  in 
einer  Schenke  vor  Gevelsberg  die  meisten  seiner  Reisigen  zurück- 
lässt.  —  Die  Rose  ist  das  Wappen  von  Berg,  das  Engelbert  dem 
Bruder  von  Friedrichs  Gemahlin  vorenthielt,  welche  letztere  viel 
Schuld  an  Friedrichs  That  gehabt  haben  mag.  Ihretwegen  auch 
kehrte  dieser  aus  der  Verbannung  zurück  und  wurde,  ehe  er  sie 
wieder  gesehn,  gefangen. 


I. 


Der  Anger  dampft,  es  kocht  die  Ruhr, 
Im  scharfen  Ost  die  Halme  pfeilfen, 
Da  trabt  es  sachte  durch  die  Flur, 
Da  taucht  es  auf  wie  Nebelstreifen, 
Da  nieder  rauscht  es  in  den  Fluss, 
Und  stemmend  gen  der  Wellen  Guss 
Es  fliegt  der  Bug,  die  Hufe  greifen. 

Ein  Schnauben  noch,  ein  Satz,  und  frei 
Das  Ross  schwingt  seine  nassen  Flanken, 
Und  wieder  eins,  und  wieder  zwei, 
Bis  fünf  und  zwanzig  stehn  wie  Schranken: 
Voran  voran  durch  Haid  und  Wald, 
Und  wo  sich  wüst  das  Dickicht  ballt. 
Da  brechen  knisternd  sie  die  Ranken. 

Am  Eichenstamm,  im  üeberwind, 
Um  einen  Ast  den  Arm  geschlungen, 
Der  Isenburger  steht  und  sinnt 
Und  naget  an  Erinnerungen. 
Ob  er  vernimmt,  was  durch's  GezAveig 
Ihm  Rinkerad,  der  Ritter  bleich, 
Raunt  leise  wie  mit  Vögelzungen?  — 

„Graf,  flüstert  es,  Graf,  haltet  dicht, 
Mich  dünkt,  als  woll'  es  euch  bethören; 
Bei  Christi  Blute,  lasst  uns  nicht 
Heim  wie  gepeitschte  Hunde  kehren  I 
Wer  hat  gefesselt  eure  Hand, 
Den  freien  Stegreif  euch  verrannt?"  — 
Der  Isenburg  scheint  nicht  zu  hören. 


—       227       — 

„Graf,  flüstert  es,  wer  war  der  Mann, 
Dem  zu  dem  Kreuz  die  Rose  passte  ? 
Wer  machte  euren  SchAväher  dann 
In  seinem  eignen  Land  zum  Gaste? 
Und,  Graf,  wer  höhnte  euer  Recht, 
Wer  stempelt  euch  zum  Pfaffenknecht?"  • 
Der  Isenburg  biegt  an  dem  Aste. 

„Und  wer,  wer  hat  euch  zuerkannt, 

Im  harnen  Sünderhemd  zu  stehen, 

Die  Schandekerz  in  eurer  Hand , 

Und  alte  Vetteln  anzuflehen 

Um  Kyrie  und  Litanei!?"  — 

Da  krachend  bricht  der  Ast  entzwei 

Und  wirbelt  in  des  Sturmes  Wehen. 

Spricht  Isenburg:  „mein  guter  Fant, 
Und  meinst  du  denn,  ich  sei  begraben? 
0  lass  mich  nur  in  meiner  Hand  — 
Doch  ruhig,  still,  ich  höre  traben!" 
Sie  stehen  lauschend  ,  vorgebeugt ; 
Durch  das  Gezweig  der  Helmbusch  steigt 
Und  flattert  drüber  gleich  dem  Raben. 


II. 

Wie  dämmerschaurig  ist  der  Wald 
An  neblichten  Novembertagen, 
Wie  wunderlich  die  Wildniss  hallt 
Von  Astgestöhn  und  Windesklagen ! 
„Horch,  Knabe,  war  das  Waffenklang?"  — 
„Nein,  gnäd'ger  Herr,  ein  Vogel  sang, 
Von  Slurmesflügeln  hergetragen."  — 

Fort  trabt  der  mächtige  Prälat, 
Der  kühne  Erzbischof  von  KÖllen, 
Er,  den  der  Kaiser  sich  zum  Ralh 
Und  ReichsverAveser  mochte  stellen , 
Die  ehrne  Hand  der  Clerisei ,  — 
Zwei  Edelknaben,  Reis'ger  zwei. 
Und  noch  drei  Aebte  als  Gesellen. 

Gelassen  trabt  er  fort,  im  Traum 
Von  eines  Wunderdomes  Schöne, 
Auf  sei;ies  Rosses  Hals  den  Zaum , 
Er  streicht  ihm  sanft  die  dichte  Mähne, 

i7* 


228       — 

Die  Windesodem  senkt  und  scliwellt,  — 
Es  schaudert,  wenn  ein  Tropfen  fällt 
Von  Laub  und  Ast,  des  Nebels  Thräne. 

Schon  schwindelnd  steigt  das  Kirchenschiff, 
Schon  bilden  sich  die  krausen  Zacken  — 
Da,  horch,  ein  Pfiff  und  hui,  ein  Griff, 
Ein  Helmbusch  hier,  ein  Arm  im  Nacken! 
Wie  Schwarzwildrudel  bricht's  heran, 
Die  Aebte  fliehn  wie  Spreu,  und  dann 
Mit  Reisigen  sich  Reis'ge  packen. 

Ha,  schnöder  Strauss!  zwei  gegen  zehn! 
Doch  hat  der  Fürst  sich  losgerungen, 
Er  peitscht  sein  Ro'ss  und  mit  Gestöhn 
Hat's  über'n  Hohlweg  sich  geschwungen. 
Die  Gerte  pfeifft  —  „Weh,  Rinkerad!"  - 
Vom  Rosse  gleitet  der  Prälat 
Und  ist  in's  Dickicht  dann  gedrungen. 

„Hussah,  hussah,  erschlagt  den  Hund, 
Den  stolzen  Hund!"  und  eine  Meute 
Fährt's  in  den  Wald,  es  schliesst  ein  Rund, 
Dann  vor-  und  rückAvärts  und  zur  Seite ; 
Die  Zweige  krachen  —  ha,  es  naht  — 
Am  Buchenstamm  steht  der  Prälat 
Wie  ein  gestellter  Eber  heute. 

Er  blickt  verzweifelnd  auf  sein  Schwert, 
Er  löst  die  kurze  breite  Klinge, 
Dann  prüfend  untern  Mantel  fährt 
Die  Linke  nach  dem  Panzerringe ; 
Und  nun  wohlan,  er  ist  bereit. 
Ja,  männlich  focht  der  Priester  heut. 
Sein  Streich  war  eine  Flammenschwinge. 

Das  schwirrt  und  klingelt  durch  den  Wald, 
Die  Blätter  stäuben  von  den  Eichen, 
Und  über  Arm  und  Schädel  bald 
Blutrothe  Rinnen  tröpfeln,  schleichen; 
Entwaffnet  der  Prälat  noch  ringt. 
Der  starke  Mann,  da  zischend  dringt 
Ein  falscher  Dolch  ihm  in  die  Weichen. 

Ruft  Isenburg:   „es  ist  genug, 
Es  ist  zuviel!"  und  greift  die  Zügel; 
Noch  sah  er,  wie  ein  Knecht  ihn  schlug. 
Und  riss  den  Wicht  am  Haar  vom  Bügel. 


—       229       — 

„Es  ist  zuviel,  hin^veg  geschwind!"  — 
Fort  sind  sie  und  ein  Wirbelwind 
Fegt  ihnen  nach  wie  Eulenflüijel.  —  — 

Des  Sturmes  Odem  ist  verrauscht , 

Die  Tropfen  glänzen  an  dem  Laube, 

Und  über  Blutes  Lachen  lauscht 

Aus  hohem  Loch  des  Spechtes  Haube ; 

Was  knistert  nieder  von  der  Höh' 

Und  schleppt  sich  wie  ein  krankes  Reh? 

0  armer  Knabe,  wunde  Taube! 

„Mein  gnädiger,  mein  lieber  Herr, 

So  mussten  dich  die  Mörder  packen? 

Mein  frommer,  o  mein  Heiliger l" 

Das  Tüchlein  zerrt  er  sich  vom  Nacken, 

Er  drückt  es  auf  die  Wunde  dort 

Und  hier  und  drüben,  immer  fort, 

Ach,  Wund'  an  Wund'  und  blut'ge  Zacken. 

„Ho  holiah  hol"  —  dann  beugt  er  sich 
Und  späht,  ob  noch  der  Odem  rege; 
War's  nicht,  als  wenn  ein  Seufzer  schlich 
Als  wenn  ein  Finger  sich  bewege?  — 
„Ho  holiah  ho!"  —  „Holiah  hoho!" 
Schallt's  wieder  um,  dess  war  er  froh, 
„Sind  unsre  Reuter  allewege!"  — 


III. 


Zu  Kf)ln  am  Rheine  kniet  ein  Weib 
Am  Rabensteine  unfer'm  Rade, 
Und  über'm  Rade  liegt  ein  Leib, 
An  dem  sich  weiden  Kräh'  und  Made: 
Zerbrochen  ist  sein  Wappenschild, 
Mit  Trümmern  seine  Burg  gefüllt, 
Die  Seele  steht  bei  Gottes  Gnade. 

Den  Leib  des  Fürsten  hüllt  der  Rauch 

Von  Ampeln  und  von  Weihrauchschwelen 

Um  seinen  qualmt  der  Moderhauch 

Und  Hagel  peitscht  der  Rippen  Höhlen  ; 

Im  Dome  steigt  ein  Trauerchor, 

Und  ein  Tedeum  stieg  empor 

Bei  seiner  Qual  aus  tausend  Kehlen. 


—       230       — 

Und  wenn  das  Rad  der  Bürger  sieht, 
Dann  lässt  er  rasch  sein  Rösslein  traben, 
Doch  eine  bleiche  Frau  die  kniet, 
Und  scheucht  mit  ihrem  Tuch  die  Raben: 
Um  sie  mied  er  die  Schlinge  nicht, 
Er  war  ihr  Held,  er  war  ihr  Licht  — 
Und  ach,  der  Vater  ihrer  Knaben I 

An  dem  Orte,  wo  der  heilige  Erzbischof  starb,  etwa  200  Schrill 
von  der  Stelle,  auf  welcher  er  von  47  Wunden  getroffen  nieder- 
sank, wurde  im  folgenden  Jahre  eine  hölzerne  Kapelle,  1251  aus 
den  Gütern  des  Mörders  ein  Nonnenkloster  Cisterzienser- Ordens 
erbaut,  das  sich  später  in  eine  adlich  freiweltliche  Abtey  ver- 
wandelte. — 

An  der  „Klütert,"  einer  bedeutenden,  seitwärts  in  der 
Nähe  von  Vörde  sich  öffnenden  Höhle,  die  sich  stundenweit  in's 
Gebirg  erstreckt  mit  einem  Gewirr  von  über  60  Gängen,  doch 
grade  nicht  sehenswürdiger  ist  als  jene,  in  deren  Tiefen  wir 
früher  drangen,  und  dann  an  einem  eben  so  heilsamen  als 
freundlichen  Mineralbrunnen  vorüber,  immer  durch  ein  lachendes 
eng  bevölkertes  Höhenland,  bringt  die  Chaussee  uns  in  das  ge- 
werbreiche  Schwelm  und  von  hier  in  das  noch  gewerbreichere 
glänzende  Thal  der  Wupper.  Durch  die  endlosen  Häuserreihen 
von  Barmen,  wo  Stadt  und  Land  einen  freundlichen  Kampf  mit 
einander  führen,  bald  die  Stadt  ihre  schweren  Häusertruppen 
vorschiebt,  bald  das  Land  mit  Garten,  Wies'  und  Bosquet  da- 
zwischen dringt  und  die  feststehenden  Carrees  umzingelt  —  durch 
die  belebten  Strassen  des  unmittelbar  an  Barmen  sich  anschliessen- 
den älteren  Elberfeld,  das  —  dennoch  auch  modernen  Charak- 
ters _  durch  keine  historische  Erinnerung  und  durch  kein  grosses 
Denkmal  alter  Kunst,  wohl  aber  durch  einzelne  neue  Prachtge- 
bäude wozu  wir  vor  allen  das  Rathhaus  zählen,  uns  fesseln 
kann,  erreichen  wir,  uns  zur  Rechten  wendend,  die  Höhe,  welche 
gen  Nordwesten  das  Wupperthal  begränzt,  die  Haardt,  und  suchen 
über  dem  Steinbruch  den  Punkt  der  schönsten  Fernsicht  aus. 
Eine  ähnliche  mag  keine  Stelle  des  Continents  wieder  bieten; 
denn  eine  Gegend  so  dicht  bevölkert,  wie  dies  Wupperthal,  das 
vor  uns  liegt  mit  dem  schmalen  Strome  in  der  Mitte,  mit  seinen 
Städten  und  Flecken  und  dichtgedrängten  Siedlungen,  Fabriken, 
Mühlen,  Bleichen  und  grossartigen  neuen  Eisenbahnanlagen,  mag 
nur  sich  wieder  finden,  wo. der  Schottische  Clyde  durch  die  Ma- 


—      231      — 

nufacturbezirke  von  Glasgow  strömt.  —  Elberfeld  war  einst  ein 
Rittergut  der  Dynasten   von   Elverfeld  mit   einem  Schlosse   von 
grossem   Umfange,    das  1421    erst  dem  Lande  Berg   einverleibt 
wurde,   worauf  thätige  Ansiedler  um  das  Schloss  her  sich  an- 
bauten, bis  ein  Ort  entstand,  der  1619  Stadtrechte  erhielt.    Auf 
den  Höfen  und  Grundstücken ,    welche  unter  der  Gesammtbenen- 
nung  „das  Barmen"   1244  durch  Kauf  von  dem  Grafen  Ludwig 
von  Ravensberg  an  die  Erbgrafen  des  „Keldachgau's,"  die  spä- 
tem Grafen  von  Berg  kamen,   wurden,  ebenso  wie  in  Elberfeld, 
am  Ende  des   15.  Jahrh.   die  Garnbleichereien  eingeführt,  womit 
damals  bereits  die  Bewohner  von  Werden ,  Hattingen  und  Witten 
sich  Wohlstand   erworben  hatten;    1527  erhielten  Elberfeld  und 
Barmen    ein    ausschliessliches    Privilegium     von    dem    Landes- 
herrn Johann  von   Berg  dafür.    Das  ist   der  erste    Anfang  der 
Industrie   des   Wupperthales ,    die  jedoch   erst  nach  dem  Regie- 
rungsantritt Friedrich  Wilhelm's  L  von  Preussen  blühenden  Auf- 
schwung bekam,   als   sich  die  rüstigsten  und  kräftigsten  jungen 
Männer  der  gewerbthätigen   Grafschaft  Mark  hierhin    flüchteten, 
um  dadurch  den  Soldaten- Aushebungen  zu  entgehen;  (Berg  war 
seit  1629  Pfalz  -  Bayerisches  Territorium.)    Noch  im  ersten  De- 
zennium des  vorigen  Jahrhunderts  bestand  Barmen  bloss  aus  36 
„Höfen"   und   etwa  200  ebenfalls  zerstreut  stehenden  und  meist 
kleinen  andern  Häusern,  was  noch  nicht  wohl  der  Anfang  einer 
Stadt  genannt  werden  kann.    Von  da  an  aber  entwickelte  es  eine 
solche  Regsamkeit  und  selbstschöpferische  Kraft,  dass  es  schon 
bald  nachher  aus  mehreren  ansehnlichen  Flecken   —   Gemarke, 
Wupperfeld,  Rittershausen,  Wichlinghausen  —  bestand,  und  jetzt  zu 
einer  Fabrik-  und  Handelsstadt  fast  ersten  Ranges  herangewachsen 
ist  und  30,000  Einwohner  zählt,  —  ein  Wachsthum,  der  jedenfalls 
bewundernswürdiger  ist,    als  der  des  gleich  jungen  Petersburg, 
denn  dieses  wuchs  durch  die  Macht  der  Czaaren,  Barmen  einzig 
und   allein  durch  seinen   Gewerbfleiss!    Die  Zunahme  Elberfelds 
war  während   desselben  Zeitraums   nicht  minder  gross   und  nur 
darum  nicht  so  auffallend,  weil,  wie  wir  oben  gesehen  haben,  es 
schon   lange  vorher  eine  Stadt  war.    Elberfeld  übertrifft,  wenn 
auch  nicht  in  demselben  Masse  als  es  älter  ist,  die  freundlichere 
Schwesterstadt  Barmen  noch  jetzt  an  industrieller  Wichtigkeit,  an 
Reichthum  und  Einwohnerzahl,   welche  letztere  sich  gegenwärtig 
auf  40,000  belaufen  mag. 


232       — 

Wir  sind  in  doppelter  Abirrung  aus  dem  Gebiete  der  Romantik 
in  das  Reicii  der  Industrie,  von  der  rothen  Erde  in  das  grüne 
Hügelland  von  Berg  gerathen;  flüchten  wir  uns  deshalb  zurück, 
zunächst  in  das  romantische  tiefe  Thal  von  Beyenburg  oberhalb 
Barmen,  dann  weiter  in  Weslphalen  hinein,  in  die  wildschöneu 
Schluchten  des  Ebbegebirges,  über  ein  prachtvoll  trotziges,  ein- 
sames Höhenland,  immer  dem  Südosten  zu,  bis  wir  endlich  von 
einer  hohen  Wasserscheide ,  die  von  Winterberg  her  sich  nach 
Südwesten  ziehend^,  das  Thal  der  Lenne  von  dem  der  Eder,  das 
der  Bigge  von  dem  der  Sieg  trennt,  in  das  Gebiet  dieses  letztern 
Flusses  hinabblicken.  Wir  stehen  auf  der  Chaussee,  die  von 
Meinerzhagen  nach  Siegen  führt,  auf  der  Höhe  -bei  Krumbach. 
Das  Land  der  Sieg  liegt  vor  uns  wie  ein  Garten;  schmale  Thä- 
ler,  hohe  Berge,  unter  der  Decke  von  Wald  oder  wogenden 
Kornfluren;  Krumbach,  theils  verwittert,  theils  neu  und  schmuck 
gebaut  in  reizender  Lage  unter  Obstbaumhainen  am  Berghange ; 
weiter  unten  im  Thale  eine  Menge  von  Hüttengruppen  mit  moosi- 
gem Strohdach  —  Hochöfen  mit  ihren  Kohlenschoppen  —  der 
Hüttenbesitzer  freundliche  Häuser  daneben.  Die  Thäler  der  Sieg 
und  der  kleinsten  Bäche  sind  durch  die  schönsten  saftigsten  Wie- 
sen planirt,  die  man  sehen  kann  —  der  Siegener  Wiesenbau  ist 
ja  berühmt  nah  und  fern;  über  ihnen,  bis  an  den  Gipfel  beackert, 
stehen  die  Hauberge,  die  15  Jahre  lang  Holzung  für  den  Kohlen- 
bedarf der  Eisenschmelzen  des  Landes  tragen,  dann,  mit  Ausnahme 
einzelner  Samenbäume,  gehauen  und  zu  Aeckern  umgeschafi"en 
werden  —  niclit  durch  den  Pflug,  sondern  durch  das  Feuer,  das  an 
den  gelockerten  Rasen,  Moos  und  Haidekraut  der  rasirten  Berg- 
flächen und  Hänge  gebracht  wird,  damit  die  Asche  den  Boden  dünge. 
Ihr  seht  dann  im  Frühjahr  und  Herbst  dichten  Rauch  wie  schwarz- 
gelbe Nebelschichten  in  den  Thälern  stehen;  die  höchsten  Gipfel 
nur  schweben  über  dem  Gewölke,  so  einsam  ernst,  als  dächten 
sie  und  blickten,  voll  Sinnens  über  ihre  stürmischeren  Geburts- 
tage vulkanischer  Zeiten  dem  feuerschürenden  Gesciileclite  auf 
ihren  Halden  zu.  An  dunklen  Abenden  macht  die  Menge  der 
kleinen  Feuer,  die  an  den  Abhängen  flammen,  deren  rother  Schein 
wie  ein  blutiger  Glast  auf  den  Seiten  der  einzelnen  Rauchsäulen 
liegt,  bis  diese  sich  höher  in  schwarze  Wolken  verdichten,  einen 
magischen  Eindruck. 


—      233       — 

Der  Kreis  Siegen  ist  nach  aussen  hin  von  einer  meist  ununter- 
brochenen Kette  hoher  Gebirge  umschlossen,  die  ihre  Quellen 
fast  alle  dem  Innern  zusenden,  wo  übrigens  die  Thalpunkte  noch 
immer  eine  Erhöhung  von  etwa  1000  Fuss  über  der  Meeresfläche 
haben.  Die  südlichen  Grenzen  ziehen  die  Höhen  des  eigentlichen 
Westenvaldes  und  der  „Kalteiche";  von  ihnen  und  den  andren 
Grenzgebirgen  laufen  zusammenhangende  Ketten  nach  allen  Rich- 
tungen hin  durch  das  Innere  des  Kreises,  wo  das  Gehäu,  der  Pfaf- 
fenhayn,  Giller,  Kindeisberg,  die  Alteburg,  Martinshard,  Eisern- 
hard  u.  s.  w.  am  höchsten  sich  aufrecken.  Die  Thäler  dazwischen 
sind  anmuthig  geformt,  von  massiger  Ausdehnung,  wenige  so 
schmal  und  kesseiförmig,  dass  sie,  wie  das  Dorf  Grund,  (Strllings 
Geburtsort)  im  Winter  die  Sonne  nicht  mehr  bescheint.  In  die- 
sen Thälern  wohnt  ein  fleissiges  Volk,  ein  reges  Leben;  was  das 
etwas  rauhe  Clima  und  der  magre  Boden  versagen,  ersetzen  die 
erzglänzenden  Früchte,  die  im  Schoosse  der  Erde  keimen,  tief 
unter  Grauwacke,  Schiefer  oder  Basalt. 

Besuchen  wir  zuerst  von  Krumbach  aus  den  Stahlberg  bei 
Musen  an  der  Martinshard.  Das  offne  Thal  beleben  wie  überall 
im  Siegerlande  Pochwerke  und  Erzschmelzen  und  russige  Essen, 
Bergleute  in  rothen.  Eisenockergefärbten  Grubcnkleidern,  schwere 
Karren,  von  gewaltigen  Ochsen  gezogen,  die  das  Erz  zu  den  Oefen, 
andere,  die  das  fertige  Eisen  in  die  gewerbthätige  Mark  bringen. 
An  der  Grube  reicht  euch  ein  freundlicher  Steiger  die  Kleider, 
den  Schurz  und  die  dichte  Filzmütze  für  die  unterirdische  Fahrt; 
in  einen  kühnen  Knappen  verwan'delt  sprecht  ihr  Novalis':  „Der 
ist  der  Herr  der  Erde,  der  ihre  Tiefen  misst",  als  Segenssprüch- 
lein und  fährt  dann  wohlgemulh,  mit  Grubenlichtern  versehen,  in 
das  Stollenmundloch  unfern  Musen  an,  durchschreitet  auf  schwan- 
ken Brettern,  unter  denen  das  Wasser  seinen  Abzug  hat,  den 
langen  hallenden  Stollen,  bis  ihr  die  Fäustelschläge  der  Berg- 
leute hört  und  aus  der  fernen  Nacht  die  rothea  Grubenlichter 
schimmern  seht.  Die  Fahrt  geht,  wenn  ihr  bis  in  die  letzte  der 
„Teufen"  wollt,  auf  schwankenden  Leitern  durch  zehn  Etagen, 
eine  wundersame  Welt  Erzschimmernder,  Nachtbrütender  Hallen, 
die  über  gewaltige  Pfeiler  sich  schlagen,  in  denen  das  Hammer- 
gepoch,  das  Rauschen  herabrieselnder  Wasser,  der  felsenspren- 
gende Erzschuss  im  fernen  Gange,  tausenfach  wiederhallt,  lieber 
hundert  Bergleute  arbeiten  für  den  Betrieb  der  Grube  und  fördern 

18 


—       234      — 

etwa  4000  Tonnen  Stahlstein,  4500  Centner  Bleierze,  150  Centner 
Kupfererze,  ferner  Spiessglanzbleierze  und  eine  geringe  Quantität 
Silbererze  jährlich  zu  Tage ;  die  Ausbeute  mag  in  den  letzten  20 
Jahren  150,000  Thaler  betragen  haben.  Die  Gänge  setzen  im 
Grauwackenschiefer  auf;  die  Gangmasse  der  meisten  ist  Quarz, 
Schwerspath,  Spatheisenstein,  mit  welchem  Bleiglanz,  Spiessglanz- 
bleierz,  Fahlerz,  Kupferkies,  Blende  und  Kobaltkies  in  mehr  oder 
minder  bedeutender  Menge  brechen.  Der  Betrieb  des  Stahlbergs 
ist  sehr  alt;  die  erste  Erwähnung  desselben  geschieht  in  einer 
Urkunde  zwischen  dem  Grafen  von  Nassau  und  einem  Edlen  von 
Hainchen  von  1313. 

Nordöstlich  von  Musen  liegt  Hilchenbach  mit  der  romantischen 
Kirche  Jung  Stillings ;  über  dem  nahen  Ginsberge,  auf  dem  Trüm- 
mer eines  alten  Berghauses  liegen,  dessen  Gipfel  eine  herrliche 
Sicht  auf  die  Kuppen  und  Thäler  des  Siegerlandes  und  die  sieben 
Berge  am  Rheine  bietet,  durch  den  schönen  Hochwald  auf  Fuss- 
pfaden  berghinab ,  kommt  man  in  das  reizend  liegende  Dörfchen 
Grund,  in  tiefem  Waldthal  unter  Obstbäumen  und  Gärtchen,  eine 
liebliche  Idylle,  ein  stilles  Gartengehege  für  eine  ■weiche,  träu- 
merische, von  so  zarten  Farben  tiberhauchte  Menschenblüthe 
wie  Jung  Stilling  war.  Das  Haus,  worin  Stillings  Eltern  lebten, 
ist  eine  bescheidene  verfallene  Dorfwohnung;  an  einem  gegen- 
überstehenden Wirthschaftsgebäude  sieht  man  den  Namen  Eber- 
hard Stilling  in  den  Stein  gehauen.  Auf  der  Höhe,  wo  die  Chaus- 
see nach  Siegen  sich  in  das  Dorf  hinabsenkt,  erinnert  jetzt  ein 
einfaches  Denkmal  an  den  Mahn  mit  dem  milden  Auge,  dessen 
Blicke  nach  etwas  „jenseits  dieser  Welt"  auszuschweifen  und 
zurückzukommen  schienen  mit  der  „Kunde  der  Geister." 

Folgen  wir  jener  Chaussee,  die  durch  emsig  bebaute  Thal- 
flächen gen  Süden  führt,  bis  in  der  Ferne  auf  hohem  Bergrücken 
das  alterthümliche  und  verwitterte  Siegen  sichtbar  wird.  Den 
Gipfel  der  Höhe  krönt  das  alte  Schloss;  die  Stadt  zieht  jenseits 
den  Bergrücken  hinab  bis  in's  Thal  der  Sieg,  über  welche  zwei 
steinerne  Brücken  führen;  dicht  am  Ufer  des  Flusses  liegt  das 
neue  Schloss,  geräumig,  von  hohen  Mauern  geschützt,  mit  einer 
hübschen  Kirche  und  einfachen  Räumen,  die  jetzt  als  Local  der 
Behörden  dienen.  Es  ward  im  Anfange  des  vorigen  Jahrhunderts 
von  Graf  Friedrich  Wilhelm  Adolph  aus  der  reformirten  Linie 
Nassau -Siegen   erbaut,    während  das  alte  Schloss  die  Residenz 


—      235      — 

der  katholischen  Linie  war,  Schmucke  neue  Gebäude  ausserhalb 
der  alten  Stadtmauern,  Gartenanlagen  und  Baumpflanzungen 
machen  das  Thal  der  Sieg  äusserst  freundlich ;  -weiter  hinab  wird 
es  von  immer  hohem  Bergen  umgeben,  die  theils  felsig,  theils 
von  Eichen  und  Buchenwaldungen  bedeckt,  von  Dörfern,  Mühlen 
und  Hüttenwerken  umlagert,  ihren  Fuss  auf  den  Teppich  frisch- 
grüner Wiesen  stellen.  Rechts  abwärts  liegt  der  Hohenseelbach 
mit  seinen  Säulenfelsen,  sechsseitigen  Riesenkrystallen,  die  den 
abgeschnittenen  Kegel  des  Berges  überragen,  und  tönen  wie  eine 
gewaltige  Aeolsharfe,  wenn  der  Wind  den  hellen  Silberklang  des 
Basalts  weckt.  Siegen  gegenüber  am  linken  Ufer  der  Sieg  steht 
der  Heusling  mit  der  schönen  Aussicht  auf  die  Thürme  und 
Schlösser  und  schieferbedeckten  Häuser  der  steilen  Bergstadt, 
das  lebenerfüllte  Sieg-  und  das  Weissthal  und  die  Ferndorf,  auf 
den.  Kindelsberg  und  die  Martinshard  gen  Norden  und  Osten,  auf 
den  Giebelwald  mit  hochragenden  Fichten;  im  Südwesten  seit- 
wärts daneben  das  gebogene  Korn  der  Gemswart,  von  der  man 
sagt,  dass  sich  ihre  grade  Felsenspitze  an  einem  Ostermorgen 
bei  Sonnenaufgang  nach  Nordosten  geneigt  habe,  um  für  einen 
Bitter  in  Scheiden,  der  mit  einem  andren  Ritter  im  Rechtsstreite 
lag ,  eine  Entscheidung  zu  geben.  *} 

Die  Ufer  der  Sieg  werden  abwärts  immer  schöner ,  höher 
und  steiler,  auf  den  Kuppen  ihrer  Berge  mächtige  Basaltmassen 
tragend;  auf  einem  steilen  Berggipfel,  dessen  Fuss  der  Fluss 
benetzt,  liegt  die  alte  noch  bewohnbare  Feste  Freusburg,  die 
letzte ,  die  wir  ersteigen ,  um  ihrer  Aussicht  auf  das  Sieglhal, 
das  Städtchen  Kirchen,  die  Höhen  des  Siegerlandes  und  des 
Westerwaldes  willen ;  es  ist  ein  Schloss  der  Grafen  von  Sayn, 
in  der  Sayn-Altenkirchenschen  Hälfte  der  Grafschaft,  die  Sach- 
sen-Eisenach und  nach  ihm  Brandenburg- Onolzbach  besass,  jetzt 
aber  der  Krone  Preussen  einverleibt  ist.  Die  Geschichte  seiner 
alten  Besitzer  bietet  eine  wirre  Genealogie  dar,  fast  ebenso  kraus, 
wie  jene  der  frühern  Herrn  des  Siegerlandes,  das  schon  den 
Grafen  von  Laurenburg  gehörte,  als  sie  1159  anfingen,  sich  von 


*)  Andere  Sagen  s.  in  Jung  Stillings  Leben  I.  50.  II.  24—29.  Grimms 
Sagen,  I.  315.  Daub,  Christi.  Stimmen,  Essen  1838,  S.  149,  wo 
S.  146  noch  eine  andere  Sage  vom  Kindeisberg  erzählt  wird. 


—      236      — 

Nassau  zu  schreiben.  Vielfach  unter  verschiedene  Linien  getheilt, 
sah  es  sich  1806  unter  Wilhelm  Friedrich  von  Oranien- Nassau 
vereinigt,  der  aber  durch  einen  Staatsvertrag  1815  seine  Nas- 
sauischen Länder  [gugen  das  Grossherzogthum  Luxemburg)  an 
die  Krone  Preussen  abtrat,  welche  endlich  1817  aus  dem  ganzen 
Siegerlande  einen  Kreis  bildete  und  ihn  zum  Regierungsbezirk 
Arnsberg  schlug.  — 

Wir  stehen  am  Ende  unsrer  Wanderung;   die  Wünschelruthe 
in  meiner  Hand ,    die  von    der  alten  Domstadt  Minden ,  wo   ich 
als  neuer  Führer  mich  euch  stellte,  bis  hierhin,  über  die  eigent- 
lichen Marken  des  Vaterlandes  hinaus,    auf  so   manchen  frisch- 
sprudelnden Quell  eines  poetischen  Elements  wies ,  ist  müde  ge- 
worden und  will  nicht  mehr  anschlagen.  Ich  würde  den  Zauber- 
stab sonst  von  dem  harten  Felsenboden  oder  den  kühlen  Wiesen- 
flächen   unsrer  Stromgestade   empor  und    auf    einen  weicheren, 
wärmeren  Grund,  auf  eure  Brust  richten,   um   zu  sehen,    ob  er 
auch  dort  jetzt  auf  einen  Born  wiese  —  auf  den  Born  des  Hei- 
malhgefühls  und   der  Heimathliebe,    den  ich   gestrebt   h*abe,  zu 
frischem  Aufsprudeln  zu  wecken.    Wie  der  Gedanke  den  starren 
Stoff,  wie  die  Phantasie  und  der  innere  Sinn  die  That,  hebt  das 
Heimathsgefühl    das   Vaterland   in   das   Reich  der  Poesie  hinauf. 
Ohne  dasselbe  —  wirft  euch  der  Zufall  auf  einer  fremden  Erde, 
in  einer  fremden  Welt  umher,  die  euch  feindlich  kalt,  den  ängst- 
lichsten Fragen  eurer  Seele  stumm  bleibt  und  euch  weiter  schleu- 
dert wie  eine   Welle,    einem  fernen  unbekannten   Ocean  zu  — 
arme  Cosmopoliten    mit    einem  armen  Surrogatgotte,   dem  Pan! 
Mit  demselben  —  wurzelt  euer  Sein  auf  einem  von  Poesie  über- 
schleierten  Grunde,  über  dem  wie  ein  süsser  Duft  das  Illusionen- 
reiche Träumen  eurer  frühesten  Tage,  alle  die  frommen  Wünsche 
und   Empfindungen  eurer    reinsten   heiligsten  Lebensstunden  lie- 
gen.   Eurem  Sein,  eurem  ganzen  Leben   bleibt  mit  dem   Hei- 
mathsgefühl —  der  Schutz  der  Mutterbrust.  — 

Münster  am  Pfingstage  1841. 


d- 


J 


X 


aaiii^'  </AajAiNiiJt\>  "'c/Aavaaiiix^' 


,^WE•u^'IVFf?.^/. 


A     000  376  210     1