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fNDELSOHN
VON
WALTER DAHMS
VERLEGT BEI
SCHUSTER X LOEFFLER
BERLIN UND LEIPZIG
Digitized by the Internet Archive
in 2011 with funding from
University of Toronto
http://www.archive.org/details/mendelssohnvonwaOOdahm
Von demselben Verfasser erschien im gleichen Verlag:
SCHUBERT /EINE BIOGRAPHIE
SCHUMANN / EINE BIOGRAPHIE
MENDELSSOHN
VON
WALTER D A H MS
SECHSTE BIS NEUNTE AUFLAGE
1922
SCHUSTER & LOEFFLER IN BERLIN
Alle Rechte vorbehalten
1V\L
N\6D3
913961
INHALT
Seite
DAS LEBEN
Präludium 9
Vom Philosophen zum Musiker 16
Traum und Tat 24
Die weite Welt 39
Glückswogen 49
Felix Meritis 61
Intermezzo 77
Am Ziel 83
DAS SCHAFFEN
Genie oder Epigone? 103
Lieder mit und ohne Worte 111
Klaviermusik 125
Kammermusik 136
Orchesterwerke 150
Chorwerke 164
Bühnenmusik 184
Mendelssohn und die Zeit 189
Register 195
DAS LEBEN
PRÄLUDIUM
Es ist ein Wagestück in der heutigen Zeit, die Geschichte Felix
Mendelssohns zu schreiben. Denn das Schaffen dieses romantischen
Tondichters ist nach einer Periode unbedingter und feuriger Ver-
ehrung späterhin maßloser Unterschätzung, ja Mißachtung verfallen.
Das geschah mit einer gewissen Naturnotwendigkeit, bedingt durch
die heftigsten und umwälzendsten Erschütterungen der geistigen Welt,
die mit Begierde die neuen naturalistischen und realistischen Gedanken
aufgriff und den Maßstab für die stillen Werte der Beschaulichkeit,
reinsten Innerlichkeit und ungewürzten Lebensfreude verlor. Durch
die nachwagnerische moderne Musik ist die Öffentlichkeit in bedauer-
licher Weise einem vollkommenen ästhetischen Chaos ausgeliefert
worden. Wir kennen die Zeiten des guten Geschmacks in der Musik
nur noch vom Hörensagen; aber wir können sie uns vorstellen als
Feierstunden voller Vornehmheit, Grazie, Melancholie, Sehnsucht und
tiefster Erfüllung. Wenn auch nicht gesagt werden soll, daß es eine
bessere Zeit war, die nicht immer der großen Geste in der Kunst
bedurfte, um ergriffen und erhoben zu werden, so darf man doch
ohne weiteres behaupten, daß sie leichter eines unbefangeneren Blickes
fähig war und sich williger dem Eindruck des Schönen hingab, auch
wenn es mit leisen Schritten und in äußerlich bescheidener Hülle ein-
herging.
Sprechen wir es nur aus : was unsere Zeit an Mendelssohns Musik
vermißt, ist das Fehlen nervenerregender, unsubstantieller Momente,
jener mehr oder weniger eindringlichen Affektausdrücke, die uns
doch die Meister von Bach bis Brahms und Wagner in jeder Stimmung
der Seele so neu und ewig unerschöpflich erscheinen lassen. Und es
ist wiederum kein Geheimnis, daß auch die Antike dem Sinn des
modernen Menschen ferner gerückt, den weitaus meisten ganz fremd
geblieben oder geworden ist. Drängt sich da nicht die Frage nach
der Ursache solcher Erscheinungen auf? Müssen wir nicht suchen,
einen Zusammenhang zu ergründen, wenn wir erkennen, daß Mendels-
sohns Musik die Erfüllung des humanistischen Ideals bedeutet und
er selbst nach innerstem Wesen und der Kraft gewaltiger Über-
lieferungen als Mensch eine reine Verkörperung der Humanitäts-
lehre war?
10 Präludium
In unserer Zeit haben wir das große Sterben des Humanismus
erfahren. Wer den gewaltigen Krieg der Völker erlebt hat, der
begreift den Zusammenbruch aller höheren Kulturbestrebungen, die
in der Menschheit demnach noch nicht tief genug Wurzel gefaßt
hatten. Mag der Krieg für irgendwen eine heilige Sache sein ; lassen
wir selbst den Eroberungskriegen der alten und neuen Geschichte den
Ehrenschild höherer Interessen, da sie einem Ideal, wenn auch einem
selbstsüchtigen dienten. Aber wo nur der Krämergeist die Triebfeder
ist, da blicken wir schaudernd in einen Abgrund von Niedrigkeit,
den noch kein Lichtstrahl menschlicher Seelengröße erhellt hat. In
wie geringem Maße die Menschheit von den Gedanken der wirklichen
Humanität durchdrungen war, geht ja gerade daraus am besten hervor,
daß ein ganz kleiner Kreis von Menschen die Macht in den Händen
hatte, um die an so falschem Ehrgeiz unschuldige geistige und körper-
liche Blüte der Völker gegeneinander auszuspielen und ihre Leiber
von den Granaten zerfetzen zu lassen. Ob man gleich den Geist
Goethes, Shakespeares, Dantes, Dostojewskis und anderer Großen
beschworen hat, das Furchtbare zu entschuldigen, ja zu heiligen und
den wehrlosen Opfern, den Völkern, Sand in die Augen zu streuen
— was übrig geblieben ist, das sind doch nur noch die Trümmer der
Menschlichkeit, des Guten und Edlen, und von den Schädelstätten
grinst das urböse Prinzip, verkörpert in den gierigen, brutalen Ver-
ächtern der Kultur und den Vampyren der Menschheit.
Die Vorbereitungen zu solcher Gewalttat sind nicht von heute
und gestern. Langsam hat man die Menschen, die in ihrer Arglosig-
keit ja meist weder nach Ziel noch Ursprung fragen, in den Nebel der
Begriffe geführt, in ein Jenseits von Gut und Böse, wohin kein Klang
aus jener besseren Welt geistiger Kultur, menschlicher Erhabenheit
und göttlicher Größe mehr dringt. Was man Geist zu nennen liebte,
war nicht mehr von der Art, die das Herz weit macht, den Menschen
innerlich bereichert und beglückt; sondern es war die nüchterne
Sprache materieller Tatsachen, die Entgötterung und Ausplünderung
des reichen Garten Gottes. Hier könnte man einwenden, auch das
Zeitalter des Humanismus, ja selbst eine so vergeistigte Zeit wie die
der Antike in Griechenland habe ihre Kriege gehabt und gar mehr
und anhaltender als die unsrige. Nun spricht aber diese Tatsache als
solche nicht gegen den Humanismus. Versuchen wir überhaupt,
Präludium 11
Wesen und Ursache einer so ungeheuerlichen unhumanen Erschei-
nung, wie der Krieg es ist, zu ergründen, so stehen wir stets vor
einem Rätsel. Es gilt also nur, Beweggründe zu finden, um den Krieg
als den Gipfel der Unmenschlichkeit zu vermeiden. Ist es ein Fehler,
zu diesem Zweck auf das Lernen aus der Geschichte und auf die Er-
innerung zu verweisen? Ich bin nicht so anmaßend zu behaupten,
dies wären die einzigen Mittel. Aber sie sind sicher gut. Gerade die
Ideale des Humanismus finden wir in der Erinnerung. Ihr Sieg würde
heutigentags den Sieg der Kultur über die Zivilisation bedeuten. Was
die Kunst dabei gewinnen würde, braucht wohl hier nicht weiter
umschrieben zu werden.
Dürfen wir nach allem noch hoffen, für das Ideal wieder einen
neuen Thron und Tempel erbauen zu können? Es sei! Gönnen wir
den zerrissenen, zermürbten, überreizten Nerven ein Zurückgreifen
in die Vergangenheit, um eine bessere Gegenwart und Zukunft zu
gewinnen. Machen wir uns antike und romantische Ideale wieder
lebendig und schöpfen wir neue Kräfte zu höherem Aufschwung aus
ihnen. Dann werden wir auch den Weg zu einem Meister wie Felix
Mendelssohn wieder finden.
Mendelssohns Musik ist von dem großen Musikgetriebe der
Öffentlichkeit in die besinnlichere Welt des Hauses zurückgekehrt.
Werke wie die Sommernachtstraummusik, die Walpurgisnacht, Elias
und Paulus, das Geigenkonzert, die schottische und italienische Sym-
phonie und die Ouvertüren, die man nirgendwo im Konzertsaal ent-
behren möchte, sprechen nicht dagegen. Wir vermögen ein Ähn-
liches in gewissem Sinne bei Mozart festzustellen, dem einzigen
Meister, mit dem man Mendelssohn in eine Parallele bringen kann.
Ist Mozart die ideale Verkörperung des musikalischen Genius über-
haupt, mit all der unerschöpflichen Kraft der Inspiration und der
reifsten und überlegensten Meisterschaft der musikalischen Technik,
so treffen wir unwillkürlich auf Mendelssohn, wenn wir in der späteren
Musikgeschichte ein Gegenstück suchen. Beide haben Südliches in
ihrer Musik, den stillen Mittag heiterer Sonnentage, das Schwebende,
Duftende, das Schillernde und Erwärmende weiter Mittelmeerland-
schaften, eine leise tändelnde Melancholie selbst in der freudigsten
Lebensbejahung. Während es Mozart mehr zur italienischen Fülle
und Buntheit drängt, zeigt sich in Mendelssohn das Hinneigen zur
12 Präludium
griechischen Schönheit und strengen Linienführung. Den Griechen
selbst war ja eine große, ihrem Charakter ebenbürtige und ange-
messene Musik versagt. Der Sinn der Allgemeinheit war auf äußere
Bildhaftigkeit gerichtet. Die Antike war eben die unbedingte und
rückhaltlose Manifestierung des körperlichen Schönheitsideals. Die
musikalische Seele im griechischen Sinne tauchte erst in Mendels-
sohns Musik auf.
Wir erkannten das Absterben des Humanismus in der neuen Zeit.
Die griechische Kunst aber ist die Schule der Humanität. „Ihr seid
nicht wie die Griechen und Römer, geborene Freie, unbefangene
Söhne der Natur", ruft Schopenhauer den Zeitgenossen zu. Kein
Wunder auch, daß bei dieser allgemeinen Entfremdung von hellenisti-
schen Gedanken die Verehrung der Antike mit ihrer herben ver-
schlossenen keuschen Schönheit nur den wahrhaft geistigen Menschen
überlassen blieb, jenen tieferen Naturen, die ihr Menschentum be-
reichern und veredeln wollten in einer versunkenen Welt, die noch
frei war von den Verzerrungen späterer Epochen. Das vielverheißende
Aufleben humanistischer Gedanken im siebzehnten Jahrhundert führte
nur zu bald zu ihrem endgültigen, langsam weiter greifenden Verfall
im achtzehnten. Begreift man nun die Musik als Spätling jeder Kul-
tur — wie es Nietzsche meinte — als letztes Entwicklungsstadium
epochaler Ideen, so dürfte man auch Mendelssohn als Spätling des
Humanismus auffassen. Allerdings mit romantischem Beigeschmack;
aber nicht dem deutschen verträumten Hang zum Dämonischen und
Übersinnlichen, sondern mehr hinneigend zur leichten Elfenspielerei,
zur sonnigen und — in welch tiefem, wehmütigem Sinn — heiteren
Bejahung.
Spüren wir den Ursachen der Unterschätzung Mendelssohns
weiter nach, so sehen wir heute, wie ihm künstlerisch Wagner und
Brahms in den Weg traten. Der Drang des Publikums nach starken
Erregungen wurde von der Bühne auch in den Konzertsaal übertragen.
Man fand zu wenig Würze, zu wenig Aufmachung in Mendelssohns
Musik. Man fing an, ihn verblaßt und veraltet zu nennen, eben weil
man die Fühlung mit den Idealen seiner Zeit verloren hatte. Der
Mangel an Beschaulichkeit und Verinnerlichung im modernen Leben
hat auch viele andere unserer besten Musiker, Dichter und Maler
zu den Toten gelegt. Wie viel köstliche Güter sind da verscharrt
Präludium 13
und warten auf Wiedererweckung. Der Instinkt der Künstler findet
leicht den Weg zu ihnen zurück. Man bedenke doch nur, wieviel
Anleihen gerade der Meister unserer Zeit, Richard Strauß, bei Men-
delssohn erhoben hat. Die Verkennung und Verdrehung des Begriffs
der musikalischen Technik in der Komposition, deren letzter deutscher
Meister Johannes Brahms war, hat das ihrige dazu getan, den Schleier
vor Dinge zu ziehen, die die Zerrbilder von heute allzu deutlich als
solche zeigen würden. Man braucht, um einen Meister zu verehren,
durchaus nicht blind seinen Schwächen gegenüber zu sein. Nur eine
gerechte Abwägung der Vorzüge und Nachteile, eine wahrhaft ob-
jektive Stellungnahme kann zur richtigen Erkenntnis führen. Und sie
ist notwendig, um so mehr, als einige Zeichen der Zeit doch darauf
hindeuten, daß in künstlerischen Dingen eine Renaissance stattfinden
könnte, würde sie nur auf die rechte Weise vorbereitet.
Wir müssen nun von dem Judentum Mendelssohns sprechen;
gleich zu Beginn dieses Buches. Nicht, wie um etwas Unangenehmes
oder Peinliches, von dem doch nun einmal die Rede sein muß,
möglichst rasch zu erledigen, sondern um von vornherein den rich-
tigen Standpunkt in einer so wesentlichen Frage zu gewinnen. Ein
Mahnender von überragendem Einfluß auf die Deutschen zwingt uns
dazu: Richard Wagner. Wir wissen längst, daß das Jüdische keine
Sache der Religion, sondern der Rasse ist. Die Forscher auf beiden
Seiten, der Juden und NichtJuden, in so grimmer Fehde sie gegen-
einander liegen, haben uns genugsam belehrt, um uns vermuten zu
lassen, daß die Wahrheit in der Mitte liegt. Wir können auf Ob-
jektivität nicht Verzicht leisten. Deshalb dürfen wir auch Richard
Wagners Schrift über das Judentum in der Musik nicht ohne Vor-
behalt unterschreiben und unerwähnt lassen. Wagners höchst per-
sönliche Auseinandersetzung, die mit Keulensch'ägen seinen Anschau-
ungen vom Wesen der deutschen Musik eine Bahn brechen und die
Widersacher vernichten sollte, ist, trotzdem viel von Mendelssohn
gesprochen wird, doch in der Hauptsache gegen Meyerbeer gerichtet.
Denn Wagner wußte ebensogut wie wir, daß Mendelssohns Musik
unbeschadet der Würde der deutschen Kunst und Kultur neben der
seinen bestehen konnte, daß sich aber im Fall Wagner-Meyerbeer
zwei Welten scheiden mußten. Ihm hierin — nämlich in der Be-
kämpfung des effekthaschenden Hugenottenkomponisten, den Schu-
14 Präludium
mann ebenfalls an den Pranger gestellt hat — unrecht zu geben,
könnte gewagt erscheinen. Denn Meyerbeers musikalische Leicht-
fertigkeit und die Skrupellosigkeit seiner Mittel sind zu offensichtlich,
um geleugnet werden zu können. Darüber täuschen wohl auch kaum
die wirklichen Schönheiten und zahlreichen genialischen Einfälle in
seinen Werken hinweg. Mendelssohn dagegen ist der einzige große
und ernste, für alle Zeiten bleibende Meister, den die Juden der
Musik geschenkt haben. Seine Musik hat deutschen Charakter. Ihn
aus der Reihe der „deutschen" Meister auszuschließen, wäre eine Ver-
blendung, die nur aus einer gründlichen Verkennung des vielseitigen
Wesens des Deutschtums zu erklären wäre. Noch ist keine endgültige
Formel für das Deutsche gefunden worden. Denn die unendliche
Variabilität und Fülle unserer Genies straft jede engherzige Defini-
tion Lügen. Und gerade dies sei unser größter Stolz.
Die reiche Phantasie des Knaben Mendelssohn, kultiviert durch
eine ernste wissenschaftliche Tradition in der Familie und musikalisch
gezügelt durch Zelter, der ihn mit Bachscher Musik zu höchstem
Ernst und zur vollendetsten künstlerischen Selbstzucht führte — das
ergab eine reizvolle Mischung. Finden wir etwa in seinem Schaffen
die von Nietzsche gekennzeichneten Eigenschaften der Semiten: „die
furchtbare Wildheit, das Zerknirschte, Vernichtete, die Freuden-
schauer, die Plötzlichkeit"? Doch keineswegs! Er schwelgte nicht
in Extremen; er liebte auch nicht das Sensationelle. Er war in dieser
Hinsicht so abgeklärt wie nur möglich. Seine Musik ist klassisch —
eine Musik, die den höchsten und strengsten Gesetzen der Moral
unterliegt, ebenso wie den Gesetzen des guten Geschmacks. In seiner
Stellung zur Romantik läßt sich, wenn man will, vielleicht ein Mangel
an typisch deutschen Eigenschaften finden. Mendelssohn versuchte
dem romantischen Ideal seiner Zeit mit klassischen Mitteln beizu-
kommen. Dadurch sticht er so außerordentlich von dem urdeutschen
Schumann — namentlich vom jungen Schumann — ab. Seine Roman-
tik hat keine Jugend; sie ist gedämpft, ohne Sturm und Drang. Der
starke Intellekt, der die Phantasie überragte, gab ihm im Schaffen
Selbstbeherrschung. Die Scheu seiner vornehmen Natur, das innerste
Gefühlsleben preiszugeben, erwirkte eine gewisse Zurückhaltung im
Aussprechen der musikalischen Ideen und erzielte daher oft trotz
aller tiefen Leidenschaft eine marmorne, kalte Schönheit. Wir stoßen
Präludium 15
noch einmal auf Nietzsche, wie er von Mendelssohn spricht, „an dem
sie die Kraft des elementaren Erschütterns (beiläufig gesagt: das
Talent der Juden des alten Testaments) vermissen, um an dem, was
er hat, Freiheit im Gesetz und edle Affekte unter der Schranke der
Schönheit einen Ersatz zu finden. "
Einem Meyerbeer gegenüber dürfen wir» Wagner Folge leistend,
unserem Unwillen freien Lauf lassen. Aber wir müssen uns hüten,
Erfahrungen, die wir in der Mißgeburt der „großen Oper'* mit
„jüdischen" Eigenschaften gemacht haben, nun auch ohne Prüfung
des Tatbestandes auf einen Meister wie Mendelssohn zu übertragen.
Mendelssohn stand unter anderen Gesetzen. Ist es nicht schon an
und für sich bemerkenswert, daß er keine Oper zustande brachte und
somit der äußerlichsten musikalischen Kunstform innerlich fremd
gegenüberstand? Ein Meyerbeer und noch viel weniger spätere
jüdische Komponisten dürfen uns den Blick für Mendelssohns Reinheit
und Seelengröße nicht trüben. Vorausgesetzt, daß wir überhaupt
ein Interesse daran haben, das Jüdische in der Musik besonders zu
untersuchen und in ein bestimmtes Licht zu rücken, wie es eben
Wagner getan hat. Die Gerechtigkeit verlangt hier ein anderes
Maß: das der unbestechlichen Objektivität, einzig und allein künst-
lerischen Zielen zugewandt. Mendelssohns Persönlichkeit steht in
der gehörigen geschichtlichen Entfernung. Der Biograph darf sich
deshalb von Liebe und Haß gleich weit entfernt halten und jenen
goldenen Mittelweg gehen, auf dem sich Freund und Feind die Hände
reichen können.
Der Hinweis auf den Humanismus mit Bezug auf Felix Mendels-
sohn öffnet vielleicht die Tore, die zu Mendelssohns Musik zurück-
führen. Schon Gumprecht deutet es einmal an : „Die edle Humanität,
die in Mendelssohns Schaffen Ausdruck gewann, bildet einen Grund-
zug seiner menschlichen Persönlichkeit." Und hören wir es nicht
aus des Meisters Worten selbst, wenn er an Wilhelm Taubert schreibt:
„Ist Ihnen denn dies neuere, hochfahrende, unerfreuliche Wesen,
dieser Cynismus auch so fatal wie wir? Und sind Sie mit mir einer
Meinung, daß es die erste Bedingung zu einem Künstler sei, daß er
Respekt vor dem Großen habe und sich davor beuge und es aner-
kenne und nicht die großen Flammen auszupusten versuche, damit das
kleine Talglicht ein wenig heller leuchte?" Strahlt uns nicht aus
16 Vom Philosophen zum Musiker
seinem Werk ein durch und durch gesunder Geist entgegen ? Und
nun bedenke man dazu, wie in seiner Familie damals schon die Nerven-
krankheiten und damit verbunden die Dekadenz vorhanden waren.
Dieses Endprodukt einer in die höchste Geistigkeit strebenden
Familienkultur kannte keine Anfechtungen. Von der Romantik ist
es schon gesagt worden; sie klingt gedämpft und geläutert durch
sein Schaffen. Ein gewisser Einschlag von Biedermeier muß in Kauf
genommen werden ; denn Mendelssohn durchlebte dessen ganze Blüte-
zeit. Revolutionen berührten ihn, den über solchen Zeitzufällen Er-
habenen, nicht. Seine Wurzeln ruhen zu fest in vergangenen Epochen,
deren Abglanz auf jedem seiner Werke schimmert. Und wir geben
Friedrich Nietzsche, dem großen Musikpsychologen aus Instinkt,
recht, wenn er sagt: „Felix Mendelssohns Musik ist die Musik des
guten Geschmacks an allem Guten, was dagewesen ist: sie weist
immer hinter sich. Wie könnte sie viel ,Vor-sich', viel Zukunft
haben! — Aber hat er sie denn haben wollen? Er besaß eine Tugend,
die unter Künstlern selten ist, die der Dankbarkeit ohne Nebenge-
danken: auch diese Tugend weist immer hinter sich."
VOM PHILOSOPHEN ZUM MUSIKER
Rhythmus beschwingt den Flug der Gedanken wie das Spiel
der Töne. Philosophie und Musik nähren sich aus denselben Quellen,
gehorchen denselben Urgesetzen. Sie zielen ins Unirdische, Über-
irdische, Grenzenlose, ins Jenseits der Dinge. Geadelt durch die
Ästhetik der künstlerischen Form huldigen sie dem Höchsten, das in
der Philosophie Logik und in der Musik Schönheit heißt. Es gibt
einen Punkt, wo der Philosoph zum Musiker und der Musiker zum
Philosophen wird. Da treffen sich die Temperamente: Gedanke und
Leidenschaft werden eins.
Die Philosophie, diese aus Wirklichem und Unwirklichem schöp-
fende Reflexion, hat einen langen Weg zurückzulegen, bis sie Musik
werden kann. Denn die Musik ist aus dem Instinkt geboren und die
Reflexion sollte ihr eigentlich fremd sein. Sie ist das Unmittelbare
selbst.
Vom Philosophen zum Musiker 17
Einmal nur geschah es, daß Philosophie und Musik sich in
einem Menschen die Hand reichten. Das war das Phänomen Friedrich
Nietzsche, dieser musizierende Philosoph und philosophierende
Musiker, bei dem Gedanke und Klang innig vermählt sind und den
nur verstehen kann, wer selbst mit der Verstandesschärfe des Philo-
sophen die Gefühlssicherheit und Leidenschaft des Musikers ver-
bindet.
Der Name Mendelssohn aber zeigt uns die enge Verbindung der
beiden höchsten Geistesfunktionen in einer Familie. Der Philosoph
Mendelssohn bereitete dem in zwei Generationen folgenden Musiker
den Boden. Der Großvater schuf die Familienkultur, die geistige
Höhenluft, die dem Enkel den schnellen schmerzlosen Aufstieg ermög-
lichte und ihm schon in der Wiege das unschätzbare Erbteil einer
gegen alle Zufälle gefeiten Lebensanschauung überlieferte. Sonst
liebt es die Musik in ihrer Unmittelbarkeit, ihre Günstlinge zu über-
raschen. Wie oft bricht das Genie plötzlich, unvermittelt wie die
leuchtende Blüte an einem unscheinbaren Stamm aus. Hier aber
ging die Natur einen sicheren Weg.
Wir kennen die Ahnengalerie Felix Mendelssohns bis zu seinem
Urgroßvater. Der hieß Mendel und lebte als Elementarlehrer an der
jüdischen Gemeinde und Schreiber der Thorarollen in Dessau. Von
seiner Frau hören wir, daß sie eine jener typischen Judenfrauen des
achtzehnten Jahrhunderts war, wie wir sie aus Büchern als stille,
zurückgezogen lebende Erscheinungen kennen. Ihnen wurde am
6. September 1729 ein Sohn Moses geboren. Es war im selben Jahr,
als auch Lessing und Reimarus, seine späteren Kampfgenossen, die
Lebensbühne betraten. Ein merkwürdiger Zufall.
Moses war ein so schwächliches Kind, daß ihn der Vater oft
morgens früh in die Schule tragen mußte. Aber der scharfe Geist
regte sich schon begierig. Mit fünf Jahren wußte der Knabe bereits
im Hebräischen Bescheid, und sein abgöttisch verehrter Lehrer, David
Hirschel Franke!, führte den Frühreifen in das religionsphilosophische
Werk „More Nebuchim" des Spaniers Maimuni ein, das stärkste
Eindrücke in ihm hinterließ. Mit dreizehn Jahren sollte er ein
„Schacherjude" werden wie seine Altersgenossen, da Fränkel als
Oberrabbiner nach Berlin ging. Aber der Drang zu den Büchern war
stärker als der Zwang der ärmlichen Verhältnisse seines Vaterhauses.
I) a li m » , Mendelssohn 2
18 Vom Philosophen zum Musiker
Moses zog seinem Lehrer nach. 1743 wanderte der kleine verwachsene
Jude durch das Rosenthaler Tor in Berlin ein.
Er ging einer schweren Leidenszeit entgegen. Heimlich nur
durfte er sich dem Erlernen der deutschen Sprache und den Wissen-
schaften widmen. Denn der Fluch der Glaubensgenossen bedrohte
jeden Abtrünnigen. Die Juden waren damals in ihrem Dasein stark
behindert, und die Beschränkungen hatten sie rückständig in ihren
Sitten werden lassen. Ihre Sprache war ein wirres Gemisch von
Deutsch und Hebräisch. So standen sie dem deutschen Volkstum
fremd und um so feindlicher gegenüber, je mehr sie unter den Ein-
fluß der fanatisierten, polnischen Rabbiner gerieten, die das ihre taten,
die Kluft noch zu vergrößern. Jeder Fortschritt der Einzelnen, jeder
Versuch, an die deutsche Kultur Anschluß zu gewinnen, wurde als
Verrat an der gemeinsamen Sache des Judentums verdächtigt und
gerächt. Was Baruch Spinoza hat erfahren müssen, das drohte auch
dem jungen Moses aus Dessau, als er sich entschloß, den Schritt ins
Freie zu wagen. Unter furchtbaren Entbehrungen studierte er als
Autodidakt. Das Gelingen krönte seinen Mut und die Beharrlichkeit,
mit der er das Ziel verfolgt hatte. Als gebildeter deutscher Jude
fand er die Türen der christlichen Gesellschaft nicht mehr verschlossen.
Er wurde Hauslehrer bei dem Seidenwarenhändler Bernhard, später
Buchhalter in dessen Geschäft und schließlich Teilhaber. 1762 ver-
heiratete er sich mit Fromet Gugenheim aus Hamburg. Sechs Kinder
entsprossen dieser harmonischen und glücklichen Ehe. Von den
Söhnen muß Abraham, der Begründer des berühmten Mendelssohn-
schen Bankhauses und Vater Felix Mendelssohns an erster Stelle
genannt werden. Die beiden anderen, Joseph und Nathan, treten
dagegen zurück. Von den Töchtern war Henriette Erzieherin der
Tochter des bekannten Generals Sebastiani; Recha strandete in ihrer
Ehe mit dem Hofagenten Meyer und tauchte ins bescheidene Bürger-
tum unter. Dorothea dagegen ist eine literarische Berühmtheit ge-
worden. Früh und ohne Neigung mit dem Kaufmann Veit ver-
heiratet, folgte sie bald ihrer Liebe, Friedrich von Schlegel. Ihr
gemeinsamer Weg führte durch alle Abgründe der Romantik bis zum
Katholizismus. Dorothea schriftstellerte und sonnte sich in ihrem
Einfluß auf die romantische Schule, der tatsächlich ein bedeutender
war.
Vom Philosophen zum Musiker |Q
Moses Dessau, wie er sich zu nennen liebte — erst später nahm
er für seine Familie den Namen Mendelssohn an — hatte sich ein-
gehend mit Sprachen, Mathematik und Philosophie beschäftigt. Ein
Versuch, den er mit der praktischen Musik bei Kirnberger machte,
scheiterte, da ihm die Begabung dafür fehlte. Moses bekannte sich
als Jude zum Deutschtum und kämpfte Schulter an Schulter mit
Lessing und Nicolai in den Literaturbriefen der „Bibliothek der
schönen Wissenschaften und der freien Künste" gegen den über-
mächtigen Einfluß des Französischen. Aber er zeigte sich wiederum
als aufrechter Mann seines Glaubens in dem Streit mit Lavater, der
ihn mit seiner Widmung der Übersetzung von Bonnets „Beweisen
für das Christentum" vor die Wahl gestellt hatte, entweder zu wider-
legen oder sich zum Christentum zu bekennen. Moses blieb in dieser
aufsehenerregenden Angelegenheit der, als den ihn die Zeitgenossen
kannten.
Herders Humanistenwort: „Der Mensch soll das Beste seiner
Existenz anderen mitteilen" steht über dem Leben und Schaffen des
Berliner Kaufmanns und Gelehrten, der mit zielsicherer Hand das
umfangreiche Geschäftsgetriebe leitete, teilnahmsvoll seine Kinder
unterrichtete, mit einem erlesenen Freundeskreis in ständigem Ge-
dankenaustausch stand und in aller Stille seinen philosophischen und
religiösen Problemen nachging. Als er am 4. Januar 1786 starb,
hatte er das tröstende Bewußtsein, sein Lebenswerk erfüllt zu haben.
Mit kühnem Scharfblick hatte er seine Aufgabe, die Judenemanzi-
pation vorzubereiten, erfaßt. Und wir wissen : wollte man den Juden
die Bahn frei machen, so war es durchaus notwendig, zunächst in
das Reich der Wissenschaft einzudringen, um durch nachdrückliche
Betonung ethischer Gedanken in der Philosophie den Humanismus,
das Menschlich-Allgemeingültige, aus den Begrenzungen der Reli-
gion zu erlösen und auf die übrigen Gebiete der Lebensanschauung
zu übertragen. Nachdem dies mit überraschend schnellem Erfolg
durchgesetzt war, konnten die Juden auch in etwas so völkisch Eigen-
tümliches und Bodenständiges wie die Kunst eingreifen. In der
Familie Mendelssohn kann man es an einem klassischen Beispiel
beobachten, wie der Großvater dem Enkel im wahren Sinne des
Wortes den Weg ebnet.
Die Spuren eines Mannes, der mit Kant, Herder, Michaelis,
2*
20 Vom Philosophen zum Musiker
Lavater und anderen Großen befreundet war, der vermöge seiner
überragenden geistigen Fähigkeiten und seiner starken Persönlich-
keit von den Zeitgenossen für einen Propheten seines Glaubens
angesehen wurde, den sein Freund Lessing als „Nathan" für alle
Zeiten verewigte — eines solchen Mannes Spuren konnten in seinen
Nachkommen nicht untergehen. Er hatte als echter Humanist mitge-
holfen an dem riesigen Werk der Renaissance und des Humanismus,
nämlich der Persönlichkeit im Menschen wieder das naturgewollte
Recht, die Freiheit, zu verschaffen. Das hatte in dem leidenschaft-
lichen Italien zum Typus des Gewaltmenschen, dem schrankenlosen
Individualisten geführt, in dem ruhigeren Deutschland dagegen dem
Gelehrten und Künstler auf den Herrschersitz geholfen. In Italien
hatte das Ästhetische die Oberhand gewonnen, in Deutschland das
Ethische. Zwei Welten waren aus einem Keim entstanden, gegen-
sätzlich in sich und doch in höheren Sphären wieder vereint. Deshalb
konnte auch Moses Mendelssohn die Brücke zu seinem Enkel Felix
schlagen, der Philosoph dem Musiker Vorbild und geistige Quelle,
menschlicher Durchgang sein.
Der Humanismus ist ein Kompromiß. Und, gestehen wir es
nur, auch Felix Mendelssohns Musik ist es. Vielleicht ist er etwas
zu spät gekommen: die Welt war doch durch die gewaltige Re-
naissance-Sprache Beethovens schon von anderen Erschütterungen
heimgesucht worden. Mendelssohns Ziel war ein ererbtes.. Mit
feinem Instinkt hat der Künstler erfaßt, was der Denker ihm vor-
zeichnete; und wir müssen es erkennen: er war als Musiker durch-
aus der Enkel des Philosophen und Humanisten.
Der Humanismus ist keine Sache für Revolutionäre und somit
auch nicht für elementare Künstlerseelen, aus deren Schaffen immer
Aufstand flammt. Auch hierin erbte der Enkel. Felix Mendelssohn
glühte nicht in Auflehnung gegen das Bestehende. Er war das End-
ergebnis einer sorgsamen, zähen, zielbewußten Familienkuitur und
einer Rasse entsprungen, die nicht träumt, sondern die immer weiß,
was sie will. Vergessen wir es auch nicht; das Band des Welt-
bürgertums einte die Generationen. Immer deutlicher wird de seg-
nende Hand des Moses Mendelssohn über dem Musiker sichtbar,
der so ohne zu schwanken seine Bahn zog, als gäbe es für ihn
keine lockenden Irrlichter, sondern nur eine Wahrheit und eine Kunst.
Vom Philosophen zum Musiker 21
Hören wir noch einmal den Kronzeugen des Humanismus, Herder:
„Innere, mit sich bestehende Wahrheit ist die einzige und höchste
Poesie." Und dann lassen wir Moses Mendelssohn selbst das Wort
an seinen Enkel richten, wenn er von der Musik sagt: „Göttliche
Tonkunst, du bist die einzige, die uns mit allen Arten von Vergnügen
überrascht! Welche süße Verwirrung von Vollkommenheit, sinn-
licher Lust und Schönheit! Die Nachahmungen der menschlichen
Leidenschaften, die künstliche Verbindung zwischen widersinnigen
Übellauten: Quellen der Vollkommenheit. Die leichten Verhältnisse
in den Schwingungen ; das Ebenmaß in den Beziehungen der Teile
aufeinander und auf das Ganze; die Beschäftigung der Geisteskräfte
in Zweifeln, Vermuten und Vorhersehen: Quellen der Schönheit!
Die mit allen Saiten harmonische Spannung der nervigen Gefäße:
eine Quelle der sinnlichen Lust! Alle diese Ergötzlichkeiten bieten
sich schwesterlich die Hand und bewerben sich wetteifernd um unsere
Gunst. Wundert man sich nun noch über die Zauberkraft der Har-
monie? Kann es uns befremden, daß ihre Annehmlichkeiten mit so
mächtigem Reize in die Gemüter wirken, daß sie rauhe ungesittete
Menschen bezähmt, rasende besänftigt und traurige zur Freude
belebt?"
Ist es nicht, als spreche hier Moses schon von Felix Mendelssohns
Musik? Die Grenzen schwinden. Der Philosoph nähert sich dem
Musiker und reicht ihm die Hand.
Doch wir denken auch an die leibliche Brücke zwischen beiden:
Abraham Mendelssohn, der das bekannte Wort: „Früher war ich der
Sohn meines Vaters, jetzt bin ich der Vater meines Sohnes" geistvoll
dahin variierte, er stehe zwischen Vater und Sohn da, wie ein
Gedankenstrich. Es ist, als ruhte die Natur bei ihm ein wenig aus.
Zwischen zwei genialen Köpfen war er die Atempause des Bildners.
Aber er brachte den weltmännischen Zug in die Familie und gab ihr
in äußerlicher Hinsicht den Auftrieb, der heute noch wie eine geheime
Schwungkraft hinter dem Namen Mendelssohn steht.
Er wurde am 10. Dezember 1776 geboren. Reger Geschäfts-
geist trieb ihn frühzeitig dazu, seinen Gesichtskreis zu erweitern.
Deshalb ging er 1803 in die Metropole der Welt, Paris, um hier als
Kassierer bei dem Bankier Fould zu arbeiten. Aber es zog ihn
doch bald wieder nach Berlin zurück. Er lernte Lea Salomon kennen
22 Vom Philosophen zum Musiker
und machte sich, da die Gelegenheit günstig war, in Hamburg selb-
ständig. So konnte er sie heimführen. Ihr Ehebund war denkbar
glücklich, vor allem durch die Freude, die ihnen die fabelhafte Ent-
wicklung ihres genialen Sohnes, Jacob Ludwig Felix Mendels-
sohn machte, der am 3. Februar 1809 in Hamburg, in dem Hause
Große Michaelisstraße 14, Ecke der Brunnenstraße, geboren wurde.
Eine Schwester, Fanny, war ihm bereits am 15. November 1805
voraufgegangen. Zwei Geschwister folgten noch: Rebecka am
11. April 1811 in Hamburg und Paul am 30. Oktober 1813 in
Berlin.
Abraham Mendelssohn war ein Mann von liberalen Grundsätzen.
Er kaufte seinen Kindern 1816 das Entreebillet zur europäischen
Kultur, wie Heine den Taufschein nannte, und ließ sie christlich-
reformiert erziehen. Durch Leas Bruder, der sich nach seinem Über-
tritt zum Christentum Bartholdy nannte, kam dieser Name jetzt auch
in die Familie Mendelssohn. Abraham Mendelssohn wandte dem
Judentum offiziell erst 1822 in Frankfurt den Rücken. Man darf von
ihm, der als aufrechter Charakter, freisinnig, ja fast republikanisch
in politischer Hinsicht geschildert wird, annehmen, daß er wichtige
innere Gründe für diesen Schritt hatte. Er begründete den Wohl-
stand der Familie ; aber er herrschte auch in ihr und alle beugten
sich bedingungslos seinem Willen. In Hamburg hatte er sich bei der
französischen Besatzung unmöglich gemacht und mußte heimlich nach
Berlin fliehen. Hier betätigte er im Freiheitskrieg 1813 seinen Pa-
triotismus dadurch, daß er auf seine Kosten einige Freiwillige aus-
rüstete, eine Sitte, die man heute scharf verurteilt. Mit Unrecht;
denn der Weltkrieg hat uns dasselbe, wenn auch in etwas versteckter
Form, an manchem Zeitgenossen gezeigt, beispielsweise in dem ebenso
grotesken wie brutalen Zynismus gewisser Vaterlandsfreunde, die
mit dem Blute anderer vom sicheren Port aus „das Vaterland erretten
wollten". Zur Musik hatte Abraham Mendelssohn lose Beziehungen
angeknüpft. A. B. Marx sagt aus persönlicher Kenntnis: „Wohl
befugt war er, über Musik ein Wort abzugeben. Schon sein Lebens-
lauf hatte ihn dazu ausgerüstet. Als er in jüngeren Jahren eine Zelt
lang Paris bewohnte, sah er sich den unausgesetzten Aufführungen
der Opern Glucks gegenüber, die damals bei den Franzosen noch in
hohem Ansehen standen und nach den noch nicht verblichenen Über-
Vom Philosophen zum Musiker 23
lieferungen aus Glucks Zeit dargestellt wurden." Kurz, wie Zelter
sich bündig ausdrückte: er gehörte zu den Braven.
Seine Frau erwarb sich des alten Zelters Lob als „höchst treff-
liche Mutter und Hausfrau". Aber mehr als das: sie war musikalisch
und vielseitig gebildet: sie zeichnete und beherrschte das Französi-
sche, Englische und Italienische. Ja, sie las sogar Homer im Ori-
ginal. Demnach stand sie in ihrer Bildung weit über dem Durchschnitt
der Frauen.
Die Kinder eines solchen Hauses waren auf Rosen gebettet.
Der Vater erzielte mit glücklicher Hand und schnell einen wirtschaft-
lichen Aufschwung, der die Begriffe „unmöglich" oder „unerreichbar''
von vornherein aus dem Leben seiner Nachkommen ausschaltete.
Und die Mutter bereitete mit tiefem Verständnis der geistigen Ent-
wicklung der Kinder den Boden. Namentlich Felix und seine
Schwester Fanny profitierten davon. Aber war es Treibhausluft, in
der sie aufwuchsen, daß ihre Blüte sich so schweigerisch und üppig
erschloß und — vielleicht eben darum — so bald schon verwelkte?
Beide erbten den Todeskeim des Großvaters und Vaters. Ganz plötz-
lich, auf der Höhe des Lebens, riß die unsichtbare Macht den Sperr-
haken aus dem feinen Räderwerk ihres Geistes und ließ es hemmungs-
los ablaufen. Vielleicht ist der Mangel an äußerem und innerem
Widerstand daran schuld, daß Glückskinder meist ein so frühes Ende
finden.
Des alten Moses Dessau zähe und entbehrungsreiche Arbeit
war für Felix Mendelssohn nicht mehr nötig. Er war der von Jugend
an in Erfüllung Lebende, Gebende und Schaffende, Er hat die Früh-
reife Mozarts, lebt in vollen Zügen, bewegt, inmitten starker äußerer
Erfolge, vom Glück zum Günstling ausersehen und stirbt am Gehirn-
schlag, jäh, wie ein kostbares Gefäß, das durch einen achtlosen,
harten Griff zerbrochen wird. Manchmal scheint er eifersüchtig auf
das Schicksal zu sein, Untreue fürchtend, die er als Sonntagskind
und erwählter Liebling nicht ertragen könnte; aber zuweilen ver-
achtet er die Blüten, die ihm immer und überall blühen, wohin er
sich auch wenden mag.
Von hier aus sehen wir die Hintergründe seiner Musik.
Und wieder kehrt der Kreis zu dem philosophierenden Groß-
vater zurück, der ihm zu aller Reizbarkeit der Nerven als unschä+7-
24 Traum und Tat
bare geistige Gabe doch jene große Ruhe, das Adagio des Gefühls
schenkte, das in seinen Tönen wie die erdentrückte Abgeklärtheit
des Humanisten und Weltweisen auf uns wirkt.
Der Musiker grüßt den Philosophen. Beide sind sparsam mit
der Leidenschaft. Die Ekstase donnernder Steigerungen fehlt ihnen,
und das rätselhafte Dunkel der Mystik verschmähen sie. Nach dem
lichten Süden ist ihr Blick gerichtet, dahin, von wo die großen Ideale
des Menschentums gekommen sind. Was der Philosoph klar er-
kannte und gedanklich bildete, das verschmolz der Musiker mit der
Romantik der Töne. Und doch blieb es im Kern dasselbe. Das Ideal
der Antike und des Humanismus — bei aller Schönheit und ewigen
Schwungkraft doch ein wenig alt und müde — etwas Abend und
Erinnerung. So auch Mendelssohns Musik. Sie erinnert uns an
Vergessenes, sie erweckt den Zauber längst verklungener Jugendtage
wieder, sie dringt in eine Tiefe unseres Herzens, wo noch Gefühle'
von gestern und vorgestern schlummern.
Wir greifen zur letzten Kette, die diesen Philosophen und diesen
Musiker desselben Blutes verbindet. Es ist die vornehme Seele, wie
sie Nietzsche deutete: nicht als die, welche der höchsten Auf-
schwünge fähig ist, sondern jene, welche sich wenig erhebt und wenig
fällt, aber immer in einer freieren durchleuchteteren Luft und Höhe
wohnt.
TRAUM UND TAT
Neben den angedeuteten politischen Zwangsgründen werden bei
der Übersiedelung Abraham Mendelssohns von Hamburg nach Berlin
auch noch andere Erwägungen persönlicher Art mitgesprochen
haben. Die Hauptstadt Preußens mußte den Mann anlocken, dessen
Ehrgeiz nur in geschäftlichen Unternehmungen großer Art zu be-
friedigen war. Außerdem hatte der Name Mendelssohn in Berlin
einen guten Klang.
Das Berlin der Napoleonischen Zeit hatte noch die durch Kriegs-
wirren allerdings stark derangierte Behäbigkeit einer Provinzstadt.
Aber hier liefen doch die Fäden zusammen, an denen die vielfachen
Geschicke Preußens hingen. Hof und Bürgertum standen in einem
Traum uhd Tat 25
patriarchalischen Verhältnis zueinander, das in dieser Zeit des er-
wachenden Biedermeiertums einerseits wohl noch enger wurde,
andererseits aber durch politischen Zündstoff, durch die wachsende
Unzufriedenheit gerade der intellektuellen Welt mit den unfreien
Zuständen schon einen inneren Bruch erhielt. Für den Bankier
Mendelssohn war hier ein guter Boden, und mit der ihm eigenen
Tatkraft und Zielbewußtheit ging er ans Werk.
Die Jugend seines genialen Sohnes Felix ist ein Glied in der
Familiengeschichte der Mendelssohns. Eine ungemeine Sorgfalt und
Liebe ebnete alle Wege für das erwachende Talent. Alle waren
daran interessiert, alle arbeiteten daran mit. Die Schwester teilte
seine ersten Klavierübungen, die das Feingefühl und der liebende
Ernst der Mutter leitete. Hier bietet sich einmal das seltene Schau-
spiel, im Gegensatz zu vielen betrübenden anderen, daß die Eltern
beim Erkennen des Talentes nur eine Pflicht fühlen: dieses Talent
zur herrlichsten Auswirkung aller seiner Kräfte zu bringen — an-
statt ihm Hemmschuhe anzulegen, wie gutgemeinte Kurzsichtigkeit
es leider so oft tat und tut. Natürlich wird der Fünf- und Sechs-
jährige bewundert. Damit ist Felix Mendelssohn jedoch schon den
Grenzen des mütterlichen Könnens entwachsen. Ein anderer muß
ihn jetzt führen, und dieser Meister ist Ludwig Berger. Der war
1815 als Achtunddreißigjähriger aus dem Ausland nach Berlin ge-
kommen und nahm hier schnell eine führende Stellung ein. Sein
ebenso glänzendes wie feinsinniges Klavierspiel war in der Schule
Clementis gebildet und durch des Nocturne-Träumers Field wunder-
same Anschlagskunst geadelt worden. Diese Vorzüge vererbte er
seinem Schüler Mendelssohn. Aber mehr. Er wirkte auch stark
auf die allgemeine musikalische Bildung und Entwicklung Mendels-
sohns. Selber in seinen innersten musikalischen Sehnsüchten Phan-
tast, ließ er den wißbegierigen Schüler manchen Blick über die
Grenzen des Handwerklichen hinaus tun. Er führte ihn in den Geist
der großen Meister ein und weckte den Sinn für die Synthese in ihm.
Da ist es kein Wunder, daß sein Einfluß auf das junge Genie in ge-
wisser, äußerlich allerdings schwerer erkennbarer Beziehung seelisch
stärker war als der, den das musikalische Handwerk dem Strebenden
durch Zelter bieten konnte. Des Vaters Gewissenhaftigkeit duldete
nämlich nichts Halbes. Deshalb wurde Felix gleichzeitig zum Stu-
26 Trauih und Tat
dium des Kontrapunkts dem Singakademiedirektor Professor Cari
Friedrich Zelter anvertraut.
In Zelter verkörpert sich Berliner Qeist. Und doch hat der
märkische Sand eine bescheidene Leidenschaft in seiner Musik nicht
ersticken können. 1758 in Berlin geboren, wuchs er nicht, wie er
wollte, zum Musiker, sondern zunächst zum Maurer auf. Wohl übte
er sich auf allen Instrumenten, fand Lehrer und Förderer; aber das
Handwerk nahm ihn in Beschlag und ließ ihn erst 1800 zur Musik
abschwenken. Da übernahm er die Leitung der von seinem Lehrer
Fasen begründeten Singakademie, mit deren Geschichte sein Name
unzertrennlich verbunden ist; denn ihm verdankt sie die Grundlagen
ihres Ruhms. Und noch ein anderes seiner Werke lobt die Musik-
geschichte: die Schaffung der Liedertafel, durch deren Beispiel der
Männergesang in Deutschland einen ungeheuren Aufschwung nahm.
Als intimer Freund Goethes ist er in die Literaturgeschichte ge-
kommen. Das Bild des Mannes ist jedoch erst vollständig, wenn auf
seine Bedeutung als Liederkomponist, als der er ein Hauptvertreter
der sogenannten Berliner Schule war, und als Komponist von Männer-
chorgesängen hingewiesen wird. Wie die meisten spät gewordenen
Talente war er ein Pedant.
Von einem solchen System gewordenen Kunsthandwerker konnte
der junge Mendelssohn nur gewinnen. Denn die strengste Schule
ist für das Genie die beste. Hier wurde in unaufhaltsamer Arbeit
der Grund für seine kontrapunktische Meisterschaft gelegt. Hier ge-
langte er vor allem an den Urquell der Musik: an Bach. Auch im
Mendelssohnschen Haus war das Wohltemperierte Klavier die musi-
kalische Bibel. Von Zelter wurde Felix Mendelssohn in den Geist
der Vokalmusik eingeführt. Der Direktor der Singakademie hatte
ja nicht nur engste Fühlung mit den Meistern der damaligen Zeit,
sondern er besaß auch eine ansehnliche Sammlung Bachscher Parti-
turen in Abschrift, sowie Partituren der alten italienischen Meister.
Welch eine Fundgrube für den Schüler! Bei Ludwig Berger aber
fand der Knabe andere Werte. Da sprach einer, der die Welt ge-
sehen hatte, der von dem üppigen Glanz der Virtuosenmusik schwär
men konnte und der selbst in reiner Gefühlsmäßigkeit das beste Bei-
spiel lieferte, daß es in der Musik auch außer Fugen noch Großes
gab. Und der kleine Felix nahm gierig, was ihm nur geboten wurde.
Traum und Tat 27
Schon 1818 sehen wir ihn auf dem Konzertpodium in einem Trio
von Wölffl am Klavier.
Er lernt spielend, überwindet unerschrocken die Beschränkungen,
die allzu kleine Hände ihm noch auferlegen, transponiert und liest
mit der Sicherheit eines alten Routiniers Partitur. Schwierigkeiten
darf es für ihn nicht geben. „Ach was, ein Genie frisiert ein Schwein
und macht ihm Locken." Das war Zelters Kraftwort und ständiger
Ansporn. Ein gewisser Henning brachte ihm die ersten Griffe auf
der Violine bei. So wuchs der Musiker auf. Sorgsam bereiten die
Eltern den Weg. Im Hause herrscht neben der reinen Freude an den
Tönen auch der Wille zur Gründlichkeit. Fanny wetteifert mit Felix
im Klavierspiel. Auch sie studiert den Kontrapunkt. Berlins erste
Künstler treffen sich im Salon der Mutter. Und alle, die die Haupt-
stadt nur vorübergehend berühren, ob sie nun Namen haben oder erst
dort reüssieren wollen, besuchen das Mendelssohnsche Haus. Da
schulen sich die Ohren des Knaben von selbst; er lernt vergleichen
und fühlt, daß er schon jetzt nicht mehr der geringste unter ihnen ist.
Aber der Vater war zu kühl und zu klug, um sich von den
Erfolgen des Wunderkindes betören zu lassen. Er wollte für eine
allgemeine klassische Bildung seiner Sprößlinge sorgen. So nahm
er Karl Wilhelm Ludwig Heyse, den später berühmt gewordenen
Philologen und Vater des Dichters Paul Heyse, als Hauslehrer bei
sich auf. Alte und neue Sprachen wurden mit Fleiß getrieben, und
der Erfolg blieb nicht aus. 1826 konnte Felix Mendelssohn eine
Übersetzung der Andria des Terenz bei Dümmler in Berlin erscheinen
lassen. Shakespeare und Byron wurden im Original gelesen. Lessing
und Goethe traten früh in seinen Gesichtskreis. Daneben lernte
er zeichnen und malen, Fertigkeiten, die er immer mit besonderer
Vorliebe übte. Tanzen, Schwimmen, Reiten und Fechten sollten dem
späteren Weltmann zugute kommen. Hier wurde also nichts ver-
gessen, was neben dem Künstler auch dem Menschen nutzen konnte.
Doch uns fesselt das Werden des Musikers. „Felix ist ein guter,
hübscher Knabe, munter und gehorsam. Er ist zwar ein Judensohn,
aber kein Jude. Der Vater hat mit bedeutender Aufopferung seine
Söhne etwas lernen lassen und erzieht sie, wie sich's gehört; es wäre
wirklich einmal eppes Rores, wenn aus einem Judensohn ein Künst-
ler würde. " So schreibt Zelter an Goethe. Und gesteht ein ander-
28 Traum und Tat
mal: „Er spielt Klavier wie der Teufel, und auf den Streichinstru-
menten ist er nicht zurück." Der zehnjährige Felix wurde als Altist
in die Singakademie aufgenommen und lernte nun als ein Glied des
Ganzen Werke von Palestrina, Bach, Händel, Fr. Schneider, Romberg,
Fesca, Neukomm und anderen kennen. Dabei gewinnt schon der
Knabe kritische und selbstkritische Maßstäbe. Zelter versäumt es
nicht, ihn über die Stilunterschiede aufzuklären. Das Fugenschreiben
macht den Kopf klar und die Hand geläufig. So ist es kein Wunder,
daß das eigene Schaffen sich schon früh Bahn bricht. Dazu die un-
schätzbare Möglichkeit, das Geschriebene an den Musikabenden des
väterlichen Hauses sogleich in Klang umsetzen zu können. Es ist
ein Glück ohnegleichen. Im September 1820 komponierte er in
wenigen Wochen seine erste Oper „Die beiden Pädagogen", die
mit Hilfe der Freunde und Geschwister sogleich zu Hause aufgeführt
wurde. Im nächsten Jahre entstanden zwei neue Bühnenwerke:
„Soldatenliebschaft" und „Die wandernden Komödianten", beides
natürlich nur Gelegenheits- und Übungsstücke. Die Texte hatte ein
Freund des Hauses, Dr. Caspar, nacfc französischen Vaudevilles be-
arbeitet. Daneben wurde dem strengen Stil mit gutgesetzten Psalmen
und Doppelfugen gehuldigt, und für das Hausorchester entstanden
zehn vier-, fünf- und sechsstimmige Symphonien. Die Kammermusik
wurde mit den verschiedensten Versuchen bedacht; Klavierstücke
und Lieder waren daneben die Zeichen der Überfülle.
Der Stolz des Lehrers über soviel Erfolge seines Systems suchte
nach Anerkennung: Zelter bat seinen Freund Goethe, ihm den Wun-
derknaben vorstellen zu dürfen. Und Goethe sagte bereitwillig zu.
„Beobachte dich selbst streng, setze und halte dich besonders bei
Tisch anständig, spreche deutlich und angemessen, suche so viel als
möglich das richtige Wort zu treffen", ermahnte Abraham Mendels-
sohn den ungeduldigen Reiselustigen, und Fanny gab ihm einige
Goethelieder ihrer Komposition für die Frau Goethes mit. Man
mußte sich Weimar mit einem Schlage erobern. Und es gelang.
Rellstab hat in seinen Lebenserinnerungen Mendelssohns Goethe-
tage eingehend beschrieben. Der kleine Felix kam dem musikdürsten-
den Dichter gerade gelegen. Er mußte täglich spielen, Bach, Mozart,
Beethoven und Eigenes. Beglückt schrieb er nach Hause: „Alle
Nachmittage macht Goethe das Streichersche Instrument mit den
Traum und Tat 29
Worten auf: Ich habe dich heute noch gar nicht gehört: mache mir
ein wenig Lärm vor! Und dann pflegt er sich neben mich zu setzen,
und wenn ich fertig bin (ich phantasiere gewöhnlich), so bitte ich
mir einen Kuß aus oder nehme mir einen." Eine unheimliche Früh-
reife paarte sich im jungen Mendelssohn noch mit spielerischer Kind-
lichkeit. Goethe nahm das Musikalische als etwas Gegebenes hin;
im übrigen sah er nur das Kind. Zelter war befriedigt: sein Schüler
hatte sich bewährt.
Wir können auf das Anekdotische Verzicht leisten und buchen
nur den ungeheuren Eindruck, den der Mensch Goethe auf den Knaben
Mendelssohn machte. Die seltsame geistige Kraft und Intuition des
Kindes hat tiefer gesehen, als es Zelter vielleicht geahnt hat. Jeden-
falls konnte ein solches bestimmendes Erlebnis nicht spurlos ver-
klingen. Die frühe Bekanntschaft mit Goethe ist für Mendelssohn
einer der wichtigsten Glückszufälle in seinem reichgesegneten Leben
gewesen. Man braucht hier das Wort von dem Vorbild der klas-
sischen Ruhe und Abgeklärtheit nicht als Phrase zu nehmen. Und
Goethe ergriff Mendelssohns Kunst als ein wi lkommenes Geschenk.
Nicht nur Freund Zelter zuliebe. Denn dieser Knabe mußte mit seiner
Musik und seinen Musikidealen verwandte Saiten in Goethe erklngen
machen. Uns allerdings erscheint es als eine tragische Ironie, daß
in den Tagen, als es in Goethes Weimarer Musiksalon auf Mendels-
sohnisch hoch herging, Franz Schubert einsam und unerkannt mit der
Fülle seiner herrlichsten Goethelieder in Wien saß.
„Seit Eurer Abreise ist mein Flügel verstummt; ein einziger Ver-
such, ihn wieder zu erwecken, wäre beinahe mißlungen. Indessen
hör' ich viel von Musik reden, welches immer eine böse Unterhal-
tung ist", schrieb Goethe im Februar 1822 wehmütig nach Berlin.
Von dort konnte ihm Zelter nur Gutes berichten: „Felix ist brav und
fleißig. Seine dritte Oper ist fertig und ausgeschrieben und wird
nächstens unter Freunden aufgeführt werden. Nach seiner Zurück-
kunft aus Weimar hat er auch schon ein Gloria fertig, ein Klavier^
konzert für seine Schwester über die Hälfte fertig und ein Magnificat
angefangen."
Sebastian Hensel gibt uns eine Übersicht über das erstaunliche
Schaffensergebnis dieses Jahres. Da finden wir verzeichnet: den
66. Psalm für drei Frauenstimmen, zwei Lieder für Männerstimmen,
30 Traum und Tat
Konzert a-moll für Klavier, drei Lieder, drei Fugen für Klavier, Quar-
tett c-moll für Klavier, Qeige, Bratsche und Violoncello, ein Akt
der Oper „Die beiden Neffen", Jube Domine in C-dur, ein Violin-
konzert, Magnificat und ein Qloria mit Instrumenten. Dies waren
natürlich zumeist Studienarbeiten, mit Ausnahme etwa des Klavier-
quartetts, das wir als opus 1 kennen. An Anregungen fehlte es nicht.
So hatte er das Jube Domine für den Cäcilienverein Schelbles in
Frankfurt geschrieben, und sein Freund, der junge Geiger Eduard
Rietz, hatte ihn zu dem Violinkonzert veranlaßt.
Der Sommer dieses Jahres sieht die Familie Mendelssohn auf
der Reise nach der Schweiz. Dort, in Qenf, beendete Felix das
c-moll-Klavierquartett. Wieder wird in Weimar Station gemacht; aber
der Aufenthalt ist diesmal nur kurz. Jedoch die Erinnerung daran
wertvoll genug. Auch die talentvolle Fanny muß diesmal ihre Künste
zeigen. Goethe ist sehr zufrieden. Der Bankier und der Dichter-
fürst haben sich verstanden.
Und wieder nimmt der nüchterne Zelter den ständig reifer Wer-
denden in seine Obhut. „Alles gewinnt Gediegenheit, kaum fehlt
noch Stärke und Macht; alles kommt von Innen und das Äußerliche
berührt ihn nur äußerlich", wird dem stets aufmerksamen Goethe
berichtet. Berlin hat dem Strebenden viel zu geben. Der Ruhm
wächst, und die sonst nicht gerade leicht entzündbaren Berliner würden
das Wunderkind gern verhätscheln, wenn es der Vater dulden wollte.
Aber der hat es nicht nötig, wie etwa Leopold Mozart, von seinem
Sohn Taler und goldene Dosen erspielen zu lassen. Der reiche Bank-
herr kann die Dinge gelassen abwarten. Felix braucht keine Öffent-
lichkeit; denn er hat alle Vorzüge in seinem Haus: Orchester, Chor
und erste Solokräfte. Da kann er komponieren und dirigieren. Und
Freunde stellen sich ein, die seine Teilnahme finden.
Der Geiger Eduard Rietz förderte ihn auf der Violine und wurde
bald sein Vertrauter. Eduard Devrient, Baritonist an der Oper, kam
1822 zum erstenmal in das Mendelssohnsche Haus. Er beteiligte
sich an den literarischen Abenden, wo Shakespeare mit verteilten
Rollen gelesen wurde, und lieh natürlich hauptsächlich seine schöne
Stimme den Kompositionen seines jungen Freundes. Der viel und
schön redende, damals vierundzwanzigjährige Adolf Bernhard Marx
fand sich 1823 ein. Mehr als es dem in Musikdingen puritanischen
Traum und Tat 31
Vater lieb war, gewann er Einfluß auf Felix. In seiner Schrift „Ueber
Malerei in der Tonkunst" kündigte sich so etwas wie eine neue
Ästhetik an, die die Jugend für sich gewann. Wir verdanken ihm
manche Mitteilung über die Mendelssohns. Felix, so meinte er, zeigte
an der Grenze des Knaben- und Jünglingsalters ein frisches, bald
angeregtes, bald träumerisches Gesicht, das von wellig herabfließen-
dem Haupthaar umrahmt war. Die Mutter gewann musikalisch Ein-
fluß: „In ihr lebten Traditionen oder Nachklänge von Kirnberger
her; von dorther war sie mit Sebastian Bach bekannt geworden und
hatte das unausgesetzte Spiel des Wohltemperierten Klaviers ihrem
Hause eingepflanzt." Der Vater vermochte dagegen mit seiner Vor-
liebe für Gluck nicht aufzukommen. Fast noch gewichtiger wurde
die Bekanntschaft mit dem berühmten Pianisten Ignaz Moscheies,
der 1824 in Berlin konzertierte und sogar für einige Unterrichts-
stunden im Mendelssohnschen Hause gewonnen wurde. Hier bahnte
sich eine Lebensfreundschaft an, die reiche Früchte tragen sollte.
Instinkt, Fleiß und dauernder Ansporn führten den jungen Men-
delssohn weiter. Komposition auf Komposition entstand, wurde auf-
geführt und dank Zelters rücksichtslos kühler Beurteilung in den
Kasten gelegt. Konzerte für zwei Klaviere, Kammermusikwerke, geist-
liche Chorwerke und Klavierstücke, immer in bunter Folge. Wir
kennen davon die beiden f-moll-Dichtungen des Jahres 1823, das
Klavierquartett opus 2 und die Violinsonate opus 4 und aus dem
nächsten Jahr das h-moll-Klavierquartett, die erste Symphonie opus 11
und die Ouvertüre für Harmoniemusik, der Dobberaner Badekapelle
auf den Leib geschrieben. Die Hausbühne wurde mit einer komi-
schen Oper in drei Akten „Der Onkel aus Boston oder die beiden
Neffen" bedacht. Dr. Caspar hatte wieder den Text verfertigt. Zelter
lobte die Musik bei Goethe: „Neues, Schönes, Eigenes, Ganzeigenes
ist überall zu finden. Geist, Fluß, Ruhe, Wohlklang, Ganzheit, Dra-
matisches. Das Massenhafte ist wie von erfahrenen Händen. Or-
chester interessant, nicht erdrückend, ermüdend, nicht bloß beglei-
tend." Nach der Aufführung sprach er Felix zum Gesellen : „im
Namen Mozarts, im Namen Haydns, im Namen des alten Bach".
Dem Vater jedoch war dies alles noch nicht genügend. Er
wollte das Talent seines Sohnes noch von Größeren anerkannt sehen.
Und das konnte seiner Meinung nach nur in der Metropole der Welt
32 Traum und Tat
und der Musik, in Paris, geschehen. Da blühte das Cliquenwesen,
und eine Überfülle von Talenten kämpfte um die Gunst der Menge:
Hummel, Moscheies, Kalkbrenner, Pixis, Rossini, Meyerbeer, Paer,
Rode, Baillot, Kreuzer. Dort lebte auch Cherubini, dessen Sach-
kenntnis und Unparteilichkeit man wohl trauen durfte. Der Vater
wurde nicht enttäuscht. Felix spielte sein h-moll-Quartett vor. „II
fera bien, il fait meme dejä bien", meinte Cherubini ebenso verbind-
lich wie tiefsinnig. Und gab auch seinen Segen zu dem fünfstimmigen
Kyrie mit Orchester, das der junge Berliner gewissermaßen unter
seinen Augen komponierte. Für den Vater war das Gewißheit ge-
nug. Felix sollte nun wirklich Musiker werden. Auf der Hin- und
Rückreise mußte man sich bei Goethe wieder in Erinnerung bringen.
Auch hier tat das h-moll-Quartett gute Dienste. Goethe nahm die
Widmung des Werkes an. „Felix produzierte sein neuestes Quartett
zum Erstaunen von Jedermann. Diese persönliche hör- und ver-
nehmbare Dedication hat mir sehr wohl gethan", schrieb er an Zelter.
Als er bald darauf die Noten erhielt, ließ er es an freundlichem Dank
nicht fehlen. Franz Schuberts demütige Liedersendung, die am
gleichen Tage eintraf, blieb dafür unbeantwortet.
Wir sehen Felix Mendelssohn nun wieder in Berlin. Zelter kann
ihn nur loben: „Felix ist aus Paris zurück und hat sich in den wenigen
Monaten hübsch herausgetan. Er hat dem Cherubini ein Kyrie dort
angefertigt, das sich hören und sehen läßt, um so mehr als der brave
Junge, nach seinem gewandten Naturell, das Stück fast ironisch in
einem Geist verfaßt hat, der, wenn auch nicht der rechte, doch ein
solcher ist, den Cherubini stets gesucht und, wenn ich nicht sehr irre,
nichi gefunden hat." Jetzt aber sollte das Talent sich energischer
der Öffentlichkeit nähern.
Berlin war damals im Anfang der zwanziger Jahre eine Stadt
von 200 000 Einwohnern mit viel Kleinstädterei in Manieren und
Gesinnung. Raffiniertere Bildung, die man in den höheren Kreisen
antraf, war französischen Ursprungs, schon als Gegengewicht gegen
das Biedermeiertum der Spießbürger. Man hatte drei Theater und
ebenso viele politische Zeitungen. Am Hoftheater herrschte Spon-
tini. Das Schauspielhaus war nach Ifflands Tode zurückgegangen,
und im Königstädtischen Theater vergnügte man sich an Possen,
Vaudevilles, Lustspielen und komischen Opern. Angely hatte bald
Traum und Tat 33
die Berliner Bürgerschaft auf seiner Seite, und Henriette Sontag
wurde hier ein Stern. Die Geistigkeit Berlins wurde durch E. T. A.
Hoffmann, Hegel und Schleiermacher repräsentiert. Es war die Zeit
der Romane von Clauren.und Lafontaine, während Goethe und Schiller
nur den Sonderlingen gehörten. Aber es war auch die Zeit der
literarischen Salons und des Erwachens der Blaustrümpfe. Im Musik-
leben brachten die zwanziger Jahre wieder einen Aufschwung. Die
Oper gewann unter Spontini an Glanz. Zwar wurde durch seine
Prunkopern der Gluckkultus eingeschränkt; aber 1821 brach Weber
mit Preziosa und Freischütz der romantischen Musik gewaltig Bahn.
Die Intrige blühte, und Spontini bekam namentlich in Rellstab einen
scharfen Gegner. Der Klatschgeist fand Nahrung. Dem Oratorium
wurde würdigste Pflege in der Zelterschen Singakademie zuteil.
Schlechter war es um die Instrumentalmusik bestellt. Mosers Quar-
tettakademien hatten zu kämpfen, um sich beim Publikum durchzu-
setzen. Ebenso seine Symphonieaufführungen. Werke von Haydn,
Mozart, Beethoven, Spohr, Romberg und manchen Zeitgenossen
standen auf dem Programm. Ein Dilettantenorchester des Kammer-
musikers Bliesener warb gleichfalls um die Gunst der Hörer. Die
Virtuosen aber suchten Berlin schon in großer Zahl heim. Da waren
allwinterlich die ersten Namen vertreten. Neben den Großmeistern
ihrer Instrumente auch Originale wie der Geiger Boucher, der seine
Ähnlichkeit mit Napoleon I. dazu benutzte, um während der Orchester-
tutti seine Geige fortzulegen und Kaiserstellungen zu zeigen. Zum
Jubel der vollen Häuser. Intensiver aber noch als in der Öffent-
lichkeit wurde die Musik in den Familien betrieben. Selbst das soge-
nannte öffentliche Musikleben der Dilettantenvereinigungen trug da-
mals noch einen patriarchalischen Charakter. Unter den geselligen
Häusern Berlins, in denen die Musik besonders gepflegt wurde, ragte
das Mendelssohnsche als das bei weitem bedeutendste hervor. Der
Reichtum des Vaters erlaubte die Musikausübung im großen Stil, und
die Begabung der Kinder schuf hier einen Mittelpunkt ernstesten
Kunstgenießens. Bach, den man in der Öffentlichkeit langweilig,
ledern und gelehrt fand, wurde hier, das darf man wohl sagen,
wieder entdeckt.
1825 kaufte Abraham Mendelssohn das Haus Leipziger Straße 3,
das damit zur musikalischen Zentrale Berlins wurde. In dem großen
Daums, Mendelssohn 3
34 Traum und Tat
Qartensaal fanden hier die berühmten Sonntagsmusiken statt, hinter
denen Felix und Fanny Mendelssohn als treibende und anregende
Geister standen, und zu denen sich erste Künstler, Chor- und Or-
chesterkräfte drängten. Der Nutzen, der hieraus für den jungen
Mendelssohn entsprang, ist gar nicht zu ermessen. Nicht nur für
seine eigentliche musikalische Entwicklung war es von ungeheurer
Bedeutung, daß er sich alle Musik neben der eigenen vorführen konnte,
sondern er gewann auch für das spätere Leben eine Fülle wertvollster
Anregungen und Beziehungen. Ihm waren die Wege zum Ruhm
bereits geebnet, ehe er sich überhaupt als Künstler die Anwartschaft
darauf so recht erworben hatte. So wurde von vornherein der Kampf
um den Beruf und um Anerkennung bei ihm ausgeschaltet. Was
hatte es da zu bedeuten, daß die Zeitungen seine ersten Veröffent-
lichungen — die Klavierquartette — kühl und zurückhaltend be-
sprachen? Dies konnte für ihn keine Hemmung mehr bedeuten.
Sein Name faßte ja bereits Fuß in der Welt der Geistigkeit. Die
Koryphäen begrüßten ihn bereits kollegial, alle die sich in der Leip-
ziger Straße 3 einfanden : von Musikern Spohr, Weber, Marschner,
Gounod, Zelter, Paganini, L. Berger, Henselt, Hummel, Hilier, Kalk-
brenner, Moscheies, Ernst; von Malern Cornelius, Horace Vernet,
Magnus, Kopisch, Kaulbach, Schwind; von Gesangsgrößen die Milder,
Novello, Lablache, Pasta und Schröder-Devrient; von Schauspielern
die Rachel und Seydelmann ; von Bildhauern Thorwaldsen, Rauch,
Architekt Schinkel; von Federhelden de la Motte Fouque, Brentano,
Heine, Holtei, Ludwig Robert; von Wissenschaftlern A. und W. von
Humboldt, Hegel, Varnhagen von Ense, Gans, Bunsen, Jacob Grimm
und Böckh. Eine stattliche Liste.
In ihre Mitte denke man sich den jungen Mendelssohn, den
Hiller überreif, fast lehrhaft bestimmt nennt. Das Selbstbewußtsein
mußte sich stark entwickeln durch die Gewohnheit, täglich bewundert
zu werden. Nur die Gewissenhaftigkeit und der Ernst der Eltern
dämpften die Hochgefühle oft genug zur Bescheidenheit. So blieb
ihm die Eitelkeit fremd. Aber eine äußerst feinfühlige Empfindsam-
keit bildete sich in dieser Umgebung, die ihn später oftmals Feind-
seligkeit und Gegnerschaft vermuten ließ, wo ihm nur kühle Objek-
tivität gegenüberstand. Allzu viel Geistiges erzeugte eine gewisse
nervöse Überreiztheit, die aber in seine Musik keinen Eingang fan ;
Traum und Tat 35
— eins der merkwürdigsten Phänomene. Wir bewundern es, daß
in dieser Treibhausluft altkluger Jugend, in diesem Eldorado der
Geschwätzigkeit die Dekadenz nicht größere Dimensionen annahm.
Es blieb eben doch bei allem Spiel immer der große Ernst vor der
Kunst. Aber die Einseitigkeit war hier nicht zu Hause. Shakespeare,
Goethe und Jean Paul waren die poetischen Hausgötter. Es wurde
viel gelesen und diskutiert. Heinrich Heine versuchte vergeblich, auf
die Jean Paul-Schwärmerei der jungen Mendelssohns einen Dämpfer
zu setzen. Die Romantik hatte die Herzen gewonnen; kleine Ver-
liebtheiten und Schwärmereien wurden ausgekostet, Freundschafts-
bünde wurden geschlossen, kurzfristige und dauernde. Der junge
Maler Wilhelm Hensel, der schwer zu kämpfen hatte, dessen Talent
aber schon Aufsehen erregte, warb um Fanny, die er aber erst nach
einem fünfjährigen Studienaufenthalt in Rom errang. Carl Klinge-
mann, ein strebsamer Beamter, später Gesandschaftssekretär in
London, fand in Felix bald einen Freund und Komponisten seiner
Dichtungen.
Auf diesem Boden erwuchs 1826 die Sommernachtstraum-Ouver-
türe. Das Vorjahr hatte neben dem Capriccio opus 5 und der
Trompeten-Ouvertüre in C das Oktett für Streichinstrumente ge-
zeitigt. Und was sich dort im Scherzo ankündigte, das offenbarte die
neue Ouvertüre. Der Geselle Zelters war zum Meister geworden.
Was hatten daneben das Quintett opus 18, die Sonate opus 6, die
Charakterstücke opus 7 und die Lieder opus 8 und 9 zu bedeuten?
Der erste Entwurf des Werkes war eine Fassung für Klavier zu vier
Händen. So spielte er sie im November mit Fanny. Marx, der seit
1824 Musikzeitungsredakteur war, kritisierte, und Mendelssohn
änderte und besserte. Endlich konnten die neugierig gemachten
Berliner in der Sonntagsmusik die Ouvertüre vom Orchester hören.
In Stettin aber trat sie im nächsten Februar den Weg in die Öffent-
lichkeit und Unsterblichkeit an. Erst siebzehn Jahre später wurde
die übrige Sommernachtstraummusik geschrieben.
Dem Ehrgeiz der Mutter genügten die Sonntagstriumphe ihres
Wunderkindes nicht mehr. Sie wünschte den Sieg in der großen
Welt. Felix hatte vom Juli 1824 bis August 1825 seine fünfte Oper
„Die Hochzeit des Camacho" nach einem Sujet aus dem Don Quixote
komponiert. Mit diesem Werk sol'te auf der Bühne der Hofoper
3*
36 Traum und Tai
Felix Mendelssohn in die Reihe der Großen Berlins treten. Graf
Brühl, der Intendant, wurde gewonnen. Spontini verhielt sich reser-
viert. Nach vielen Schwierigkeiten kam es endlich am 29. April 1827
zur Aufführung der Oper im Schauspielhaus. Der anfänglich freund-
liche Beifall wurde jedoch bald zum Schweigen gebracht, da ein Teil
des Publikums der Meinung war, daß eine Familienangelegenheit
der Mendelssohns nicht in die Öffentlichkeit gehöre und deshalb das
Werk ablehnte. Saphirs scharfzüngige „Schnellpost" höhnte. Spon-
tini aber sagte zu Felix Mendelssohn, indem er aus dem Fenster seiner
Wohnung am Gendarmenmarkt auf den französischen Dom wies:
„Mon ami, il vous faut des idees, grandes comme cette coupole."
Das verziehen ihm die Mendelssohns nie.
Aber nicht nur der Musiker, auch der Mensch mußte noch an
Reife gewinnen. Nach Ostern 1827 ließ sich Felix Mendelssohn an
der Berliner Universität immatrikulieren, um die Kollegs von Hegel,
A. von Humboldt, Gans, Lichtenstein und Ritter zu besuchen. Hier
knüpfte sich manches Band zur Wissenschaft: der Historiker Droysen,
die Theologen Schubring und Bauer, die Brüder Heydemann und
andere wurden seine Freunde. Der Sommer verführte zu einer
Schwärmreise nach dem Harz, Franken, Bayern und an den Rhein.
In Baden-Baden wurde dem Roulette Konkurrenz gemacht: „Erst
las Robert mit der Haizinger ein neues Lustspiel und sie las wirklich
vortrefflich und erhielt vielen Beifall; später wurde Musik gemacht;
Haizinger jodelte österreichisch, Fräulein v. W. piepte italienisch,
die Naumann sang mit ihrem Manne fünfzig Verse von Fidelin, da-
zwischen trommelte ich Etüden von Moscheies, die in Baden großes
Glück machten, phantasierte auch, und die Leute waren vergnügt und
zufrieden", witzelt er über eine improvisierte Soiree. In Heidel-
berg besuchte er Thibaut und gestand seiner Mutter: „Der Mann
weiß wenig von Musik, selbst seine historischen Kenntnisse darin
sind ziemlich beschränkt; er handelt meist aus bloßem Instinkt, ich
verstehe mehr davon als er und doch habe ich unendlich von ihm
gelernt."
In Berlin erwarteten ihn schmeichelhafte Aufträge zu Gelegen-
heitskompositionen. Das war eine willkommene Entschädigung für
die Opernniederlage. Zunächst baten die bildenden Künstler um
eine Kantate zum Dürerfest am 12. April 1828. Den Text hatte von
Traum und Tat 37
Levetzovv gedichtet. Der Erfolg brachte Mendelssohn die Ehren-
mitgliedschaft im Künstlerverein. Daraufhin machte ihm Alexander
von Humboldt den Antrag, für die Naturforscherversammlung im
September desselben Jahres eine Festkantate zu komponieren, die
Ludwig Rellstab gedichtet hatte. Berlin durfte der Mendelssohnschen
Musik nicht entgehen. Dafür blieb der junge Pole Chopin, der um
diese Zeit in Preußens Hauptstadt Ehren suchte, recht unbeachtet.
Felix Mendelssolin war auch als Pianist eifrig bemüht, sich sein
Reich zu sichern, und die Anmut und die Glätte seines Spiels gewann
die Herzen der Berliner.
Zelters Lehre war der Jüngling nun entwachsen. Das System
hatte ihm die Technik gegeben, die seiner Phantasie nötig war. Und
wir sehen es: schon in den Werken dieser Zeit offenbart sich eine
Abgeklärtheit im Gedanklichen, eine Sicherheit in der Linienführung
und ein Formgefühl, die eine eigentliche Jugend, Sturm und Drang,
in seiner Musik gar nicht aufkommen lassen. Aber wir verkennen
nicht, daß es oft nur der talentvolle Epigone ist, der bereits Gesagtes
noch einmal, wenn auch mit andern Worten, wiederholt.
Diese Frühreife kannte keine Irrwege. Instinkt und Intellekt
gingen konform. Die vornehme Seele, ein wenig verweichlicht und
geschwächt allerdings durch allzuviel weibliche Freundschaft, wird
sich ihrer Auserwähltheit bewußt. „Das macht mir kein Plaisir",
lehnte er ab, wenn der Fanny-Kreis tiefsinnig wurde und von Michel-
angelo, Dante und Beethoven sprach. Wehrte er sich damit gegen
aufdringliches Oberflächengeschwätz? Er konnte dann ein harm-
loses Spiel vorschlagen, um die Gemüter abzulenken. In seine Kom-
positionen hinein aber rettete er, was ihn bewegte. Das war sein
Gesprächsfeld. Wohlanständigkeit drückte ihren Stempel auf die
Gelegenheitskantaten. Das Haus wurde mit halbironischen Kinder-
symphonien bedacht. Der Träumer aber ergießt sein Herz in die
Streichquartette a-moll op. 13 und Es-dur op. 12, in eine Fuge
für Streichquartett in Es-dur opus 81, einige geistliche Musikwerke
und in die Konzert-Ouvertüre „Meeresstille und glückliche Fahrt"
opus 27, die aber erst später ihre endgültige Gestalt fand. Cello-Vari-
ationen opus 17 und Klavierfugen zeigen den gewandten Techniker.
Die Unternehmungslust des jungen Musikers drängte nun auch
zu einer Tat, die über die Bedeutung der Sonntagsmusiken hinan«-
38 Traum und Tat
ging. Der Bachkultus trug seine Früchte. Mendelssohn bekam bei
Zelter Stücke aus der Matthäuspassion des Thomaskantors zu sehen
und äußerte den lebhaften Wunsch, die wunderbare Partitur zu be-
sitzen. Eduard Rietz kopierte sie für ihn, und nun erwachte all-
mählich das Verlangen nach einer Aufführung. Zelter bezeichnete
sie als unmöglich. Das konnte aber nur den Ehrgeiz anstacheln,
den Eduard Devrient mit Feuereifer schürte. Und schließlich wurde
das ungeheure Wagnis unternommen. Hindernis nach Hindernis fiel,
Gleichgültigkeit und Widerstand wurden in Begeisterung verwandelt,
und so konnte am 11. März 1829 Felix Mendelssohn die Matthäus-
passion zum erstenmal in Berlin aufführen. „Die Passion ist auf Be-
gehren bereits zum zweiten Male (am 22. März) aufgeführt. Es war
ein Lärm und Gedränge, wie ich ihn nie in geistlichen Konzerten sah",
schrieb er an den Freund Klingemann. Mendelssohn hatte das
Orchester, Zelter den Chor dirigiert. Berlin war nun endgültig zu
Bach bekehrt.
Dem Vater aber genügte Berliner Ruhm und Anerkennung
nicht. Der nunmehr zwanzigjährige Musiker sollte auch in England,
der Hochburg vornehmer Musikpflege, wo Händel, Haydn und Weber
den Boden für die deutsche Musik bereitet hatten, Lorbeeren pflücken.
Und am 10. April 1829 wurde die Reise angetreten. Moscheies, der
Getreue, und Klingemann hatten alles zum Empfang vorbereitet. Der
Enkel Moses Mendelssohns und Sohn des berühmten Bankhauses fand
offene Arme an der Themse. Sogleich stürzte er sich in den Musik-
taumel, spielte am 30. Mai Webers Konzertstück und glänzte neben
der Sontag, schwärmte für die Malibran, deren Gesangs- und Bühnen-
künste ganz London in Atem hielten, spielte wieder in einem Konzert
des Flötenvirtuosen Drouet, stand mit Madame Garcia und Signor
Bregez auf dem Podium, triumphierte mit Beethovens Es-dur-Konzert
und wurde als Komponist der Sommernachtstraum-Ouvertüre wie
ein Gott gefeiert. Mit Moscheies zusammen spielte er sein Konzert
für zwei Klaviere, mußte wieder die Sommernachtstraum-Ouvertüre
dirigieren, wurde von der Aristokratie umschmeichelt, sah vornehmste
Pracht beim Herzog von Devonshire und Marquis von Landsdowne
und sehnte sich doch aus all dem Bunten, Vielfältigen nach Schott-
land. Endlich ging es dorthin, und er erlauschte in der grandiosen
Natur Keime zu einer Symphonie und Ouvertüre. Jean Pauls Flegel-
Die weite Welt 39
jähre mußten über die Ungunst der Witterung hinweghelfen, die
auch die Weiterfahrt nach Irland verhinderte. Wieder in London,
zwang ihn ein Wagenunfall für einige Wochen aufs Schmerzenslager.
Rührend half Klingemann über die trüben Tage hinweg. Mendels-
sohn komponierte jetzt an einem Liederspiel für die Silberhochzeit
der Eltern „Die Heimkehr aus der Fremde", zu dem Klingemann
den Text geschrieben hatte. Und endlich konnte es Ende November
über Calais wieder heimwärtsgehen. In der Manuskriptenmappe
lagen die Drei Fantasien oder Capricen für Pianoforte, opus 16,
die Mendelssohn für die drei Töchter eines liebenswürdigen engli-
schen Gastgebers komponiert hatte, der größte Teil des Liederspiels
und die Fantasie über ein irländisches Lied, opus 15.
Die Familie verlangte ihr Recht. Das Liederspiel wurde schnell
beendet und noch vor Jahresschluß im Hause aufgeführt. Der alte
Zeiter aber begann, dies Treiben mit leichtem Mißtrauen anzusehen :
„Ich fürchte ihn im Lande und in dem verderblichen Familiengeträtsch
wie einen Gallert zusammenrinnen zu sehen/' klagte er Goethe, und
kurz darauf: „Ich kann die Zeit nicht erwarten, daß der Junge aus
dem vertrakten Berliner Klimperwesen und nach Italien kommt, wo-
hin er nach meinem Dafürhalten zuerst hätte kommen sollen. " Die
Jugend, in der selbst das Ernste noch ein Spiel war, mußte nun
abgeschlossen werden. Und da keine Hindernisse den Flug in die
weite Welt hemmten, rüstete sich Felix Mendelssohn, das Erworbene
zu erproben und ganz der eigenen Kraft zu vertrauen.
DIE WEITE WELT
„Mir kann zuweilen bange werden, wenn ich den Ablauf des
Knaben betrachte. Bis jetzt hat er kaum einen Widerspruch er-
fahren. Als Schüler habe ich ihn nicht überschätzt, noch zu loben
nötig gehabt; wiewohl ich den natürlichen Gehorsam, den Trieb
sich bei völliger Freiheit sinnig zu beschäftigen, nur mit Gefallen
habe ansehen können, ja von mir selber denken darf, ihm das Wahre
gelehrt zu haben, wie ich es in der zweiten und dritten Potenz als
Fazit wieder erkenne. Er nimmt eine komplette Schule von hier
40 Die weite Welt
mit sich, worauf er bauen kann was ihm sein Genius eingibt, und
wenn er so fortwächst, wird er an seinen Lehrer zu denken haben."
Nehmen wir diese ehrlichen Worte Zelters an Ooethe als Mendels-
sohns Zeugnis, mit dem er seiner eigenen Höhe entgegenging.
Die letzte Berliner Zeit hatte mit der sogenannten Reformations-
symphonie, die später in Leipzig mit geringem Erfolge aufgeführt
wurde, kompositioneil ein nur schwaches Ergebnis. Das ganze Leben
und Treiben schien Mendelssohn nicht mehr von der alten Frische
und Ungebundenheit zu sein. „Die Leute sind kalt, maliziös und
setzen eine Ehre darin, nie zufrieden zu sein", seufzte er. Zu alledem
zwang ihm ein Masernanfall höchst unerwünschte Ruhe und Auf-
schub der Reise auf. Er hatte schon sorgsam disponiert: „Mein Plan
ist von hier über Weimar nach München, dann durch Tirol nach Wien
zu reisen, von Wien will ich in der Mitte oder gegen Ende des
Sommers nach Venedig und Ober-Italien und denke dann den nächsten
Winter in Rom und Neapel zuzubringen." Und im Mai 1830 ver-
ließ er Berlin.
Weimar war die erste Station. Nach einem etwas steifen Will-
komm bei Goethe wurde die Stimmung jedoch bald durch die Musik
eine wärmere. Goethe ließ sich täglich vorspielen. „Und dabei
sitzt er in einer dunklen Ecke, wie ein Jupiter tonans, und blitzt
mit den alten Augen", schildert ihn Felix. Der Jüngling versuchte
es auch mit Beethovens c-moll-Symphonie. Goethe war zuerst bei-
nahe bestürzt, fing dann aber doch Feuer. „Von der Bachschen
Epoche heran hat er mir wieder Haydn, Mozart und Gluck zum
Leben gebracht, von den großen neueren Technikern hinreichende
Begriffe gegeben und endlich mich seine eigenen Produktionen fühlen
und über sie nachdenken machen, ist daher auch mit meinen besten
Segnungen geschieden", berichtete er Zeiter. Dem jungen Musiker
aber schenkte er als Dank einen Bogen aus der „Faust"-Handschrift
mit der Widmung: „Dem lieben jungen Freunde Felix Mendelssohn-
Bartholdy, kräftig-zartem Beherrscher des Pianos, zur freundlichen
Erinnerung froher Maitage 1830. J.. W. von Goethe."
Es ging weiter nach München. Auch hier wurde nur an Musik-
genießen gedacht. Er spielte Fremdes und Eigenes, dürstete nach
Anregung und suchte Freundschaft. Seine ernste künstlerische Ge-
sinnung wirkte anfeuernd: „Die Damen hier, die in Herz und Kalk-
Die weite Welt 41
brenner versunken waren, und Moscheies und Hummel zu den alten
Klassikern rechneten (buchstäblich), haben sich an den Beethoven
und Weber mit Wut gemacht, weinen und schwärmen und spielen
Beethoven. Aber wirklich denke ich, daß ich nicht lange weg sein
werde und sie sind wieder beim Herz/' Er durchschaute die Stroh-
feuerbegeisterung. Im übrigen war er, „sehr vergnügt und lustig."
Die Lust- und Freudenfahrt wurde über Salzburg ins Österreichi-
sche fortgesetzt. In Linz fühlte er traumhaft die a-moll-Symphonie
in sich aufsteigen. Wien, das Eldorado der Musik, war bald erreicht.
Aber die Stadt Haydns, Mozarts und Beethovens sagte ihm wenig zu :
„Die Leute um mich herum waren so schrecklich lüderlich und nichts-
nutzig, daß mir geistlich zu Mute wurde, und ich mich wie ein Theolog
unter ihnen ausnahm. Übrigens haben die besten Klavierspieler dort
nicht eine Note von Beethoven gespielt, und als ich meinte, es sei
doch an ihm und Mozart etwas, so sagten sie: ,Also sind Sie ein
Liebhaber der klassischen Musik?' — ,Ja, sagte ich." Er kom-
ponierte nur wenig und zwar ausschließlich Kirchenmusik, in selt-
samem Kontrast zu seinem äußeren Leben. Einzig in Franz Hauser,
bei dem er einige Zeit wohnte, fand er einen wirklich teilnehmenden
Freund. Ein Ausflug nach Preßburg zur pomphaften Königskrönung
brachte eine malerische Abwechselung, die er farbenreich in seinen
Briefen zu schildern verstand. Dann führte ihn sein Weg über Graz,
„ein langweiliges Nest, zum Gähnen eingerichtet", über Klagenfurt
in das gelobte Land der Kunst.
„Ich hatte mir den ganzen ersten Eindruck von Italien, wie
einen Knalleffekt, schlagend, hinreißend gedacht; — so ist es mir
bis jetzt nicht erschienen, aber von einer Wärme, Milde und Heiter-
keit, von einem über alles sich ausbreitenden Behagen und Frohsinn,
daß es unbeschreiblich ist." So spricht der Märker, der heftige
Erschütterungen suchte. Er fand sie erst in Venedig. Die Erinnerung
läßt ihn da verzückt stammeln. Der hochgeistige Mensch findet
sogleich Anschluß an eine Kultur, die ihm längst vertraut ist und
die ihm seine geahnten und gefühlten Ideale greifbar zeigt. Tizian,
Giorgione, Pordenone werden ungeheure Erlebnisse, die die Phan-
tasie aufwühlen. Aber der Strengdisziplinierte duldet keine Aus-
schweifungen des Intellekts. Luthers geistliche Lieder, die er kompo-
niert, halten seine Musikleidenschaft in den Grenzen des strengen
42 Die weite Welt
Stils. Und von der Landschaft bekennt er freimütig, daß er Buchen,
Linden, Eichen und Tannen zehnmal schöner und malerischer fände
als die seltsamen fremden Zypressen, Myrthen- und Lorbeerbäume.
Auch in Florenz fesseln ihn vor allem die Maler und die Schönheiten
der Architektur. Immer wieder begeistert er sich für Tizian. Und
endlich, am 1. November 1830, ist er in Rom.
Hier sollte neben dem Genuß auch ein Arbeitsleben beginnen,
und wirklich bewältigte er bis zum Frühling des nächsten Jahres
einige Lutherlieder, die Skizzen der a-moll-Symphonie, der Hebriden-
Ouvertüre und der Walpurgisnacht. Er möchte „ungeheuer viel Men-
schen kennenlernen, namentlich Italiener" und bittet um Empfehlungs-
briefe. Unter den Malern fand er viele Deutsche: Bendemann, Hüb-
ner, Schadow, Cornelius, Overbeck. Aber mehr förderten ihn Thor-
waldsen und Horace Vernet. Man hatte ihn schon sehnlich erwartet,
und er mußte fleißig die Klavierhände rühren. Die Zustände im
öffentlichen Musikleben Roms waren wenig erfreulich. Die erste
Musik, der er begegnete, war Qrauns „Tod Jesu". Treibende Kraft
unter den Einheimischen war einzig der Abbate Fortunato Santini,
der begierig auf Mendelssohns Bach-Offenbarungen und -Schätze
wartete. Der Abbate schloß sich sogleich eng an den jungen deut-
schen Meister an und brachte ihm alle wertvollen Partituren der
alten italienischen Großmeister. Und Mendelssohn war nicht müßig:
,,Nach dem Frühstück geht es ans Arbeiten, und da spiele und singe
und komponiere ich dann bis gegen Mittag." So war die Freiheit
wohl verdient: „Dann liegt mir das ganze unermeßliche Rom wie
eine Aufgabe zum Genießen vor; ich gehe dabei sehr langsam zu
Werke und wähle mir täglich etwas anderes, Weltgeschichtliches
aus". Goethes „Reise nach Italien" las er hier zum erstenmal und
war stolz, daß er Rom ebenso ruhig und intensiv erlebte wie vierzig
jähre vorher der Dichter. Die Abende gehören gesellschaftlichen
Verpflichtungen. Schnell verbreitet sich sein Pianistenruhm ; nach
dem Komponisten fragt man weniger. Im Überschwang gibt er mit
vollen Händen namentlich in freien Phantasien, in deren Kunst er wohl
der letzte große Meister war. Hillers Worte geben uns einen ent-
lernten Begriff von seinem Können: „Ich weiß nicht, was mehr zu
bewundern war, die kontrapunktische Gewandtheit, der Fluß, die
Ruhe, mit welcher die Klangwogen hinströmten, oder das Feuer, der
Die weite Welt 43
Ausdruck und die außerordentliche Technik, die sein Spiel charakte-
risierten." Der Beifall war ihm sicher und wurde reichlich gespendet.
Und doch vermißte er Freunde, er, der den Freundschaftskultus liebte.
„Hier muß man immer nur halb reden, um die beste Hälfte zu ver-
schweigen", klagte er.
Was er sich von Rom vielleicht erhofft hatte, Anregung durch
eine verehrungswürdige, originelle musikalische Kultur, das fand er
nicht. Die Zustände waren arg. Hören wir einen unbefangenen
Zeugen, Hektor Berlioz, der grade um diese Zeit als Stipendiat in
der ewigen Stadt weilte. Er war überzeugt, „daß von allen Künstler-
existenzen keine trauriger ist als die eines fremden Musikers, der ver-
dammt ist, dort zu wohnen, wenn die Liebe zur Kunst sein Herz be-
seelt. Er durchlebt in den ersten Zeiten einen Kreuzgang mit allen
Stationen, wenn er sieht, wie seine poetischen Illusionen eine nach
der anderen hinsinken und sein schönes musikalisches Phantasie-
gemälde einstürzt vor der verzweiflungsvollsten der Wirklichkeiten;
jeder Tag bringt neue Erfahrungen, die beständig zu neuen Ent-
täuschungen führen, inmitten aller anderen Künste voller Leben,
Größe, Majestät, die, strahlend im Kranze des Genius, so stolz mit
ihren reichen Wundern prangen, sieht er die Musik zur Rolle eines
niederen Sklaven herabgedrückt, der stumpf vor Elend, mit heiserer
Stimme Lieder singt, für die ihm das Volk kaum ein Stück Brot hin-
wirft." So kraß sah nun allerdings Mendelssohn die Verhältnisse
nicht an wie Berlioz, der in des Berliner Musikers Briefen als „eine
wahre Karikatur ohne einen Funken von Talent" porträtiert ist. Men-
delssohn war schon durch seine ganze musikalische Erziehung in ein
engeres Verhältnis zur alten Musik gekommen ; für ihn waren die Par-
tituren Palestrinas nicht bloß talentloser Kram wie für den stür-
mischen Franzosen. Aber immerhin: Berlioz schildert ihn vortreff-
lich: „Nie sprach er den Namen Sebastian Bach aus, ohne ironisch
hinzuzufügen: Ihr kleiner Schüler! Kurzum: er war ein Stachel-
schwein, sobald man von Musik sprach; man wußte nicht, wo ihn
anfassen, ohne sich zu stechen. Mit einem vortrefflichen Charakter
begabt, von sanfter, liebenswürdiger Gemütsart, ertrug er leicht jede
Art von Widerspruch, und ich meinerseits mißbrauchte seine Duld-
samkeit in den philosophischen und religiösen Diskussionen, die wir
manchmal führten".
44 Die weite Welt
Mendelssohn war von erstaunlichem Fleiß. Neben der „ganz
wunderlichen" Hebriden-Ouvertüre beschäftigten ihn Gedanken zu
einem Klavierkonzert für Paris und zu einer Bearbeitung des Händei-
schen „Samson". Er bedauerte, kein Konzert geben zu können.
Aber die Verhältnisse machten es unmöglich. „Die Orchester sind
unter allem Begriff. Die päpstlichen Sänger sogar werden alt; sind
fast ganz unmusikalisch, treffen selbst die herkömmlichen Stücke nicht
richtig. Konzerte werden in der sogenannten philharmonischen Ge-
sellschaft gegeben, aber nur am Klavier; Orchester ist nicht dabei,
und als sie neulich versuchen wollten, die Schöpfung von Haydn zu
geben, so hielten es die Instrumente für unmöglich, sie zu spielen."
Natürlich haßte er die Bohemiens, die Tag für Tag im Cafe Greco
saßen und disputierten. Er möchte jedem, der vor den Meistern
keinen Respekt hat, die herzlichsten Grobheiten sagen. Und immer
wieder schreibt er Kirchenmusik, kennt keinen Zweifel, kein Tasten
und Irren. Nur liebt er die Toten ein bißchen zu viel, wie Berlioz
sagte. Zwei Symphonien, die italienische und schottische kreuzen sich
in seinem Kopf. Dazu die Walpurgisnacht.
Kein Wunder, daß nach dem arbeitsreichen Winter der Wander-
trieb wieder erwacht. Das bunte Leben Neapels zieht ihn an. Da
wohnt er in Lucia „wie im Himmel", fährt im Golf, besteigt den Vesuv,
der zu seinem großen Schmerz nicht einmal raucht, besucht Pompeji
und vergnügt sich an dem naiven Volksleben. Er lernte durch den
Musikverleger Cottrau, einen „sehr freundlichen und pünktlichen
Mann", Donizetti und die Primadonna Fodor kennen. Da wurde
an der Oberfläche musiziert. Cottrau erzählt, Mendelssohn habe das
Talent Donizettis hochgeschätzt und später „fast alle Stücke aus
Lucia und der Favoritin in den Fingerspitzen gehabt". Auf Sizilien
mußte er verzichten, und so war er im Juni schon wieder in Rom,
haßte das „Kosmopolitische und überhaupt die Vielseitigkeit" und
kritisierte in einem glänzenden Brief an Zelter die Musik der Kar-
woche. Das war seine letzte Arbeit in Rom; denn noch im selben
Monat sehen wir ihn schon auf der Rückreise in Florenz, Bilder ge-
nießend. Über Genua gelangte er nach Mailand und verlebte dort
eine der „angenehmsten und vergnügtesten italienischen Wochen".
Die Walpurgisnacht war bis auf die Ouvertüre beendet. Und nun
machte er die Bekanntschaft der Gattin des Generals von Ertmann,
DieweiteWelt 45
jener Dorothea von Ertmann, die Beethovens Schülerin und Freun-
din gewesen war. Es wurde ein inniges Sichmitteilen und Musizieren.
Auch Mozarts ältesten Sohn, den Beamten Karl Mozart, lernte er
hier kennen und schätzen. Ihm spielte er, als erstem, die Walpurgis-
nacht vor.
Damit hatte die Italienreise ein Ende. Sorglos und doch arbeits-
reich und ergebnisvoll war sie verlaufen. Er hatte ja keine Eile,
sich eine Futterkrippe zu verschaffen. „Ich schreibe ebensowenig,
um berühmt zu werden, als um eine Kapellmeisterstelle zubekommen/'
Er darf frei ganz der Ausbildung seiner Persönlichkeit leben: „Nur
daran denke ich immer mehr und aufrichtiger, so zu komponieren,
wie ich es fühle, und noch immer weniger äußere Rücksichten zu
haben; und wenn ich ein Stück gemacht habe, wie es mir aus dem
Herzen geflossen ist, so habe ich meine Schuldigkeit dabei getan;
ob es nachher Ruhm, Ehre, Orden, Schnupftabaksdosen und der-
gleichen einbringt, kann meine Sorge nicht sein." Wie sehnte er sich
nun nach einem Operntext! Immer schon hatte er danach gefahndet;
aber kein Dichter konnte es ihm recht machen. „Mendelssohn wird
niemals einen Opernstoff finden, der ihm genügt; er ist viel zu ge-
scheidt dazu", meinte Carl von Holtei, und der Vater scherzte: „Ich
fürchte, Felix findet am Ende auch keine Frau, wie er keinen Opern-
text hat finden können." Mendelssohn wußte schon, daß es „etwas
Frisches, Lust'ges werden kann". Er peitschte Eduard Devrient
an, ihm den Text zu verschaffen. Der Dichter brauche ja gar kein
Riese zu sein; nur ein bißchen Glut und Talent müsse er haben.
Devrients Hans Heiling- Dichtung hatte er abgelehnt. Marschner ge-
staltete daraus sein Meisterwerk.
Nun er die Grenze Italiens überschritten hatte, erlebte er mit
Begeisterung die großartigen Naturschönheiten der Schweiz. „Wo
will da das dürre Italien hin gegen diese Lebensfrische und die
Kerngesundheit", lockte es ihn zu schreiben. Das schlechte Wetter
vermochte ihm die gute Laune nicht zu rauben. Es fanden sich ja
überall Orgeln zum Phantasieren, und das verschaffte wieder
Freunde. Doch auch die Kunst verlangte ihr Recht. Ein Auftrag der
Münchener Intendanz, für Bayerns Hauptstadt eine Oper zu kom-
ponieren, rief ihn an die Isar. Aber wieder scheiterte der Opernplan
an der Textfrage. Mendelssohn suchte nicht nur schöne Worte,
46 Die weite Welt
sondern vor allem das rein Menschliche, Edle, alles Belebende.
„Deutsch müßte es sein, und edel und rein", war seine Forderung,
die ihm keiner erfüllen konnte. War es mit der Oper nichts, so
stürzte er sich um so leidenschaftlicher in das Musikleben, genießend
und wirkend. Endlich wieder nach der italienischen Abstinenz ein
Orchester! Bald war ein Konzert arrangiert, in dem er seine c-moll-
Symphonie, die Sommernachtstraum-Ouvertüre und das neue g-moll-
Klavierkonzert, das gerade fertig geworden war, aufführte. Zum
Schluß mußte er noch auf Wunsch des Königs über Non piu andrai
phantasieren, schwor aber dieses Publikumsblendwerk für alle Zu-
kunft als unsinnig ab. Der Erfolg war groß ; sein Ruf in München
stand fest. Auch bei Hofe mußte er spielen und witzelte nach Hause:
„Am meisten gefiel mir, daß die Königin nach der Phantasie mir
sagte: das wäre ja sonderbar, ich risse einen ordentlich mit fort,
und man könnte bei der Musik ja an nichts anderes denken ; worauf
ich um Entschuldigung bat — wegen des Fortreißens." Täglich fand
sich eine einsame Traumstunde an der Orgel. Aber auch das Herz
wollte sprechen. Leicht entflammt, schwärmte er für die hübsche
Delphine von Schauroth, ein Klaviertalent, und nahm lebhaftes Inter-
esse an der hochbegabten Josephine Lang, die er im Kontrapunkt
unterrichtete. Unbedenklich durchkostete er die Münchener Oktober-
festfreuden.
Der Weg nach Paris war nun frei. Über Stuttgart, Heidelberg,
Frankfurt und Düsseldorf, wo noch in aller Eile mit Immermann wegen
eines Opernlibrettos nach Shakespeares „Sturm" verhandelt wurde,
ging die Reise.
Paris. Die Stimmung fiebrig, schwül. Es war die Zeit poli-
tischer Schwankungen und Unwetter. Der Pöbel, der beim Mo-
narchenstürzen auf den Appetit gekommen war, lechzte nach der
Herrschaft. Es war ein unsicherer Boden, auf dem sich das Leben
bewegte. Aber es waren Tage seelischer Hochspannung. Und das
war den Künsten günstig, die, selbst des Klassischen müde, revo-
lutionierten und nach neuen Ausirucksmitteln und Motiven suchten.
Die Hauptstadt der Welt war, trotz Wien und London, von Berlin
ganz zu schweigen, auch die Metropole der Musik. Jedoch Felix
Mendelssohn war nicht willig, sich dem Zauber der Pariser Roman-
tiker zu ergeben. Er, der Frühfertige, hatte von dem braven Zelter
«
Die weite Welt 47
gehört, daß die Musiker in Paris keine Note aus Fidelio kennten.
Kein Wunder, daß auch sein Urteil schnell fertig war: „Mir kommt
das Treiben etwas satanisch vor; wer sich nicht ganz zusammen-
nimmt und hat, der mag wohl seine Seele (die musikalische, mein'
ich) hier leicht und gern dem Teufel verschreiben; alle Äußerlichkeit
ist so anlockend, die Leute haben Ehre und Geld und Freude und
Orden und Orchester vollauf und nichts fehlt — wenn sie nur nicht
so schlechte Musiker wären. In jedem kleinen Ort von Deutschland
hab' ich bessere, größere Musiker gefunden als hier."
Wen fand er vor? Rossini und Auber beherrschten die Bühne.
Meyerbeer errang gerade mit „Robert der Teufel" einen Sensations-
erfolg. Und Scribe war der gute Vater aller Opernkomponisten.
Cherubini galt immer noch als Großmeister auf dem Gebiet der Kir-
chenmusik. Habeneck war mit dem Conservatoire-Orchester der
Apostel Beethovens. Und nun die glänzende Reihe der Virtuosen
und jungen Komponisten. Paganini gab zwölf Konzerte hintereinander
in der Großen Oper. Chopin ließ die Herzen der Frauen schneller
schlagen. Baillot war zwar alt und liebte darum das häusliche Musi-
zieren. Liszt, Herz und Kalkbrenner aber standen im Mittelpunkt der
Virtuosenkämpfe als Günstlinge der Menge.
Mendelssohn wurde hier mit offenen Armen aufgenommen. Zwar
Cherubini war brummig; aber Liszt spielte gleich das g-moll-Konzert
prima vista. Kalkbrenner, der immer ein wenig die Pose liebte,
bemühte sich anfänglich um ihn, kam ihm aber nicht näher. Mit
Heine und Börne konnte er für die Tänzerin Taglioni und die Mali-
bran schwärmen. Die Taglioni schien ihm „der einzige Musiker in
Paris" zu sein. Aber für die schöne Schauspielerin Leontine Fay,
die in Scribeschen Stücken glänzte, fühlte er tiefer. Er machte in
den Pariser Vorstadttheatern dramatische Studien, lief fast täglich ins
Louvre, spielte viel Schach und komponierte wenig. Bai lot hatte
es übernommen, ihn den Parisern vorzustellen. Er gab zu Ehren
Mendelssohns eine Soiree, in der sich dieser als Komponist mit dem
Es-dur-Streichquartett und als Pianist mit einer genialen Improvi-
sation höchst erfolgreich einführte. Bald stand er mitten im Getriebe.
Er spielte in Habenecks Konzerten das G-dur-Konzert von Beet-
hoven und fand zahlreiche Bewunderer für seine Sommernachts'raum-
Ouvertüre. Die Reformationssymphonie gefiel jedoch dem Orchester
48 Die weite Welt
nicht, und es kam zu Reibereien. Bei alledem hatte er nicht allzuviel
Zeit zum Schaffen. Er vollendete die „Walpurgisnacht", stellte das
erste Heft der „Lieder ohne Worte" zusammen, feilte an der Hebriden-
Ouvertüre und brachte Lyrisches zu Papier. Die Epoche der Kirchen-
musiken war mit dem italienischen Aufenthalt vorläufig für ihn er-
ledigt. Die Pariser verlangten mehr von ihm zu hören, und so ließ
er das a-moll-Streichquartett, das h-moll-Klavierquartett und das Ok-
tett spielen. Klassisch Empfundenes sollte ihnen imponieren. Aber
gerade jetzt schwenkten selbst Kalkbrenner und Herz zur Romantik
ab. So vergingen die Tage.
Inmitten aller Autoren- und Virtuosenfreuden trafen ihn trübe
Nachrichten aus Deutschland. Sein Freund, der Qeiger Eduard Rietz,
war an der Schwindsucht gestorben, und bald danach kam die Kunde
von Goethes Tod. Dazu warf das Cholera-Gespenst einen Schatten
auf das Lustleben. Auch ihn packte es. Und so war er froh, im
April 1832 unter den Pariser Aufenthalt den Schlußstrich setzen und
über den Kanal fahren zu können.
Nach London kam er nicht als Fremder. Hier hatte er schon
als Knabe Erfolge erzielt, an die er sich mit Freuden erinnerte. Und
die Stadt Händeis lag seinem ganzen Temperament näher als die
Stadt Aubers. So fühlte er sich gleich wohl. Treue Freunde erwarte-
ten ihn: Moscheies, den er einen der seltenen Künstler nennt, die nicht
„von Eifersucht, Neid und elender Selbstsucht zerrissen" sind, der
dichtende Gesandtschaftssekretär Klingemann und Rosen. Bald war
er in den Konzertsälen heimisch. In der Philharmonie wurde die
Hebriden-Ouvertüre mit ungeheurem Enthusiasmus aufgenommen.
Sein g-moll-Klavierkonzert war den Engländern aus der Seele musi-
ziert. Nicht weniger schlug das Rondo Brillant ein. Mit Moscheies
spielte er ein Konzert für zwei Klaviere von Mozart, zu dem er
Kadenzen komponiert hatte. Und auch die Sommernachtstraum-
Ouvertüre durfte nicht fehlen. Es war ein Sieg auf der ganzen Linie.
Ja, er wurde geradezu populär. In einem Konzert huldigte man ihm:
„Kaum komme ich aber hinein, so ruft einer aus dem Orchester:
There is Mendelssohn', und darauf fangen sie alle dermaßen an zu
schreien und zu klatschen, daß ich eine Weile nicht wußte, was ich
anfangen sollte; und als es vorbei war, ruft ein anderer: 'Welcome
to him', und darauf fangen sie wieder denselben Lärm an, und ich
Glückswogen 49
mußte durch den Saal und aufs Orchester klettern und mich be-
danken", berichtet er stolz nach Hause.
Wohl trifft ihn die Nachricht von Zelters Tod hart und lähmt
für einige Tage die Freude. Aber sein Temperament duldet kein
Erschlaffen. Er ist ernster geworden, und es drängt ihn entschiede-
ner als bisher zur Tat. Denn nur diese hat Dauer. Der junge Ruhm
verpflichtet. Schon sieht ihn die Familie als Nachfolger Zelters im
Amt. Der Vater will die Angelegenheit ernsthaft betreiben. Fanny
spornt an. Er aber empfiehlt Zurückhaltung. Eine innere Stimme
rät ihm ab, sich an Berlin zu binden. Er wird in der Familiensimpelei
ersticken. Und er scheut den märkischen Sand. Aber eine Ent-
scheidung muß nun fallen. Die Londoner Erfolge sind ausgekostet.
Er hat die Welt gesehen, hat im Wettstreit mit den Besten seine
Kräfte gemessen und in Ehren bestanden. Sein Werk hat an den
Zentralpunkten des Kunstlebens Wurzel gefaßt. Jetzt gilt es, die
Erfahrungen nutzbar zu machen und Hand an das Entscheidende
zu legen.
Voller Pläne und Hoffnungen fuhr Mendelssohn am 23. Juni
1832 von London ab, der Heimat zu.
GLUCKSWOGEN
Nach den Schwärmjahren in der Fremde mochte Mendelssohn
das Berliner Leben zunächst wenig behagen. „Die ganze Stadt ist
stehengeblieben, also zurückgegangen. Die Musik geht schlecht, die
Leute sind nur noch knöcherner geworden, die besten sind gestorben,
die anderen, die noch schöne Pläne hatten, sind jetzt glückliche
Philister und sprechen noch manchmal von ihren Jugenderinnerun-
gen." Meyerbeer ist jetzt Hofkapellmeister. Berger scheint „miß-
trauischer, unausstehlicher als je", Spontini prunkt immer noch im
Opernnaus, der Spießbürger Rellstab kritisiert heftig, „die Prinzen
sind herablassend und peitschen die Bürgerlichen selten", der Kron-
prinz lädt sogar Mendelssohn zu sich ein, Marx ist Universitäts-
musikdirektor geworden und komponiert ein Oratorium „Moses", zu
dem ihm Mendelssohn den Text zusammenstellen hilft. Kurz, Berlin
D a h in s , Mendelssohn 4
50 ülücks wogen
ist für den jetzt Weltkundigen oft zum Verzweifeln; er kann sich
China nicht ärger denken, nur unbewußter, natürlicher. Zu allen an
sich bedeutungsvollen Teilen fehlt ein Ganzes, „und solange der
Sand Sand bleibt und die Spree wässrig, solange furcht' ich, wird es
auch nach Berlin nicht kommen", klagt er Frau Moscheies. Da
kann nur die Arbeit helfen.
Aber das Wiedereinleben in den Familienkreis und wiederholte
Unpäßlichkeiten zwangen ihn allzu oft zur Muße. Jean Pauls Phan-
tasien und Träume, die er mehr denn je liebte, halfen die Tage über-
brücken. Äußerliche Annehmlichkeiten vermochte er dem Berliner
Leben nicht abzugewinnen. Auch die Sonntagsmusiken kamen erst
wieder nach und nach in Fluß. Er arbeitete die Walpurgisnacht
um und schrieb an der italienischen und schottischen Symphonie.
Auch an der Hebriden-Ouvertüre feilte er noch, entwarf die Ouver-
türe „Zum Märchen von der schönen Melusine*', die fis-moll-Phan-
tasie für Klavier und nebenbei kamen ihm zahlreiche Lieder in die
Feder. Eine Gelegenheitsarbeit waren die beiden Konzertstücke für
Klarinette und Bassethorn mit Klavierbegleitung, die er aus Ge-
fälligkeit für die Münchener Kämmermusiker Heinrich und Karl Bär-
mann komponierte. Sein erstes Oratorium „Paulus" begann ihn jetzt
ernstlich zu beschäftigen. Zu dem Münchener Opernauftrag kam
nun noch einer vom Berliner Intendanten Graf Redern. Aber die
Texte fehlten. Das „Sturm"-Libretto mußte Mendelssohn mit Be-
dauern an Immermann zurückgeben. Und ein anderer Dichter fand
sich immer noch nicht. Dazu kamen die Trivialitäten und Ärger-
nisse, die mit der Wahl des neuen Singakademiedirektors zusammen-
hingen.
Mendelssohn hatte jede direkte ausdrückliche Bewerbung um die
Zelter-Nachfolge abgelehnt. Geheimrat Lichtenstein, der Vorsteher
der Singakademie hatte ihm ja schon vor Jahren Hoffnungen auf die
Stelle gemacht. Mochte Berlin seine Bedeutung als Musiker erkennen
oder nicht — seine Ausgrabung der Matthäuspassion durfte man
ihm noch nicht vergessen haben. Er verschmähte es, bei den Mit-
gliedern zu hausieren und um ihre Stimmen zu bitten. Obendrein
mochten die alten Damen keinen „Judenjungen" als Dirigenten haben.
So entfielen bei der Wahl nur 88 Stimmen auf ihn, während Rungen-
hagen 148 erhielt. Berlin hatte wieder einmal den Anschluß an die
ülückswogen 51
neue Zeit versäumt und den biederen Musikhandwerker dem Genie
vorgezogen. Die Herrschaften boten Mendelssohn die Stelle eines
Vizedirektors an, die er aber sehr höflich abzulehnen sich verpflich-
tet fühlte.
Mit der Berliner Öffentlichkeit hatte Mendelssohn nur durch
einige Wohltätigkeitskonzerte Berührung gesucht. Er führte eigene
Kompositionen auf, die Reformationssymphonie, das g-moll-Klavier-
konzert, die Ouvertüren zum „Sommernachtstraum", „Meeresstille
und glückliche Fahrt" und die „Hebriden", sowie die Walpurgis-
nacht und spielte Konzerte und Sonaten von Beethoven und Bach.
„Die Leute hatten Berliner Enthusiasmus, d. h. göttlich und himm-
lisch war so viel wie sonst passabel", schrieb er an Moscheies. Na-
mentlich als Pianist war sein Erfolg unbestritten. Er besaß schon
in jungen Jahren diese Kunst der Entmaterialisierung und völligen
Vergeistigung alles Technischen, die immer das Kennzeichen der
großen Künstler ist. „Man vergaß das Instrument, man vernahm nur
Interpretation der Komposition — er gab musikalische Offenbarung,
es war nur Sprache des Geistes zum Geiste", erfahren wir von
Devrient. Und wir lesen in einem Brief Mendelssohns an Frau
Moscheies, wie er über die Klaviervirtuosen dachte: „Es macht mir
ebensowenig Vergnügen, wie Seiltänzer und Springer; bei denen hat
man wenigstens den barbarischen Reiz, immer zu fürchten, daß sie
sich den Hals brechen können, und zu sehen, daß sie es doch nicht
tun; aber die Klavierspringer wagen nicht einmal ihr Leben, sondern
nur unsere Ohren — da will ich keinen Teil daran haben." Marx
hat beobachtet, daß Mendelssohn im Tempo immer schneller wurde,
wenn er eine seiner Kompositionen zum zweiten oder dritten Mal
vortrug; das wäre der unabwendbare Ausdruck wachsender Erregt-
heit und Ungeduld gewesen. So konnte er in seiner Vaterstadt
als Pianist unbestrittene Geltung gewinnen zu einer Zeit, wo man den
Tondichter noch nicht aus voller Überzeugung gelten lassen wollte.
Die Konzerterfolge waren ein heilsames Pflaster auf die Wunde,
die der Mißerfolg in der Singakademie der Familie Mendelssohn ge-
schlagen hatte. Der Vater, etwas hypochondrisch geworden durch
ein schlimmes Augenleiden, das ihm eigenes Arbeiten fast ganz un-
möglich machte, gab jetzt seinen Lieblingsplan, den Sohn in führen-
der musikalischer Stellung in Berlin zu sehen, auf. Und Felix Men-
4*
52 ülückswogen
delssohn selbst war ernster geworden. Das Scheitern seiner Hoff-
nungen auf die Singakademie hatte ihm zum erstenmal gezeigt, daß
es Realitäten im Leben gab, die auch einen Glücksgeborenen in seinem
Lauf hemmen können. Selbst seine Absicht, Händeis „Salomon",
mit dessen Bearbeitung er sich viel Mühe gemacht hatte, aufzuführen,
wurde ihm von der Singakademie durchkreuzt. „Elende Kerle sind's
und bleiben es", klagte er. Der Idealist sah sich betrogen. Zum
erstenmal dämmerte ihm vielleicht die Erkenntnis, daß in seinem
gesegneten Schicksal auch ein Stachel verborgen sei, fühlte wohl,
daß Reichtum, Glück und Sonne Mißtrauen, ja Feindschaft erwecken
können, und begann nun, sich abzuschließen. Denn auch ihm konnte
nicht erspart bleiben, was zum unumgänglichen Wesen des Genies
gehört: das Einsamwerden. Seine Feinnervigkeit und Empfindsam-
keit war starken Widerständen nicht gewachsen. Daher sehen wir
Mendelssohn mit zunehmendem Alter bemüht, seine Fülle einzu-
dämmen, sich gewaltsam glatt, kalt und kühl zu machen. Denn er
mußte ja fürchten, daß man ihm nicht glaubte, wenn er sich ganz
gab. Dem philosophisch Geschulten konnte es nicht schwer fallen,
einen gewissen Skeptizismus zu gewinnen, wenn auch natürlich der
Optimismus Grundzug seines Wesens blieb. Und von diesem Punkt
aus sehen wir auch schon leichter in die Hintergründe seiner Musik.
Er dämpfte die Leidenschaft, vermied ängstlich das Auffallende, die
großen Wirkungen, und verbarg hinter Formen, die der Oberfläch-
liche für marmorn-schön ansah, sein zuckendes Herz. Man muß an
Mozart erinnern, dem der Unverstand und die Dummheit der Men-
schen den Beinamen eines „ewig heitern" Meisters gegeben haben,
mit welchen Worten man in Wirklichkeit ja nur andeuten will, daß
Mozart eigentlich leider immer derselbe, um nicht zu sagen geradezu
fatal langweilige „Formkünstler" gewesen sei, dem es an leiden-
schaftlichem Überschwang gefehlt habe. Diese Art der Verkennung
ist das Schicksal aller im Grunde halkyonischen Naturen unter den
Genies. Wir müssen deshalb schon jetzt beim Betrachten der Ent-
wicklung Mendelssohns darauf hinweisen, weshalb dieser Meister
einen innern Zwang zur „Form" hatte, weshalb er bemüht sein
mußte, seine Sprache zu disziplinieren — eben um nicht verwechselt
zu werden.
Doch die Ereignisse verlangen unsere Aufmerksamkeit. Mendels-
Glückswogen 53
söhn hatte die ehrenvolle Aufforderung erhalten, im Mai 1833 das
Niederrheinische Musikfest in Düsseldorf zu dirigieren. Mit Freuden
griff er zu. Als Hauptwerk setzte er Händeis „Israel in Ägypten"
auf das Programm. Der Erfolg war groß, und die enthusiasmierten
Düsseldorfer engagierten Mendelssohn für drei Jahre als städtischen
Musikdirektor. Er bekam 600 Taler Gehalt und drei Monate Ur-
laub und hatte dafür die Übungen des Chorvereins, die Winterkonzerte
und die Messen in der katholischen Kirche zu leiten. Die Stellung,
ließ ihm Zeit genug zum eigenen Schaffen, und so besann sich Men-
delssohn nicht lange, sie anzunehmen. Vor und nach dem Musikfest
hatte er Konzertverpflichtungen in London zu erledigen. Schnell
wurde in drei Tagen mit Moscheies zusammen ein Variationenwerk
über den Zigeunermarsch aus Preziosa für dessen Konzert geschrieben.
Mendelssohn führte seine A-dur-Symphonie auf und rührte selbst
fleißig die Tasten; denn es galt, sich neben Namen wie Hummel,
Paganini, Rubini, Malibran, Schröder-Devrient und Cramer zu be-
haupten. Nach dem Musikfest war er am 8. Juni schon wieder bei
den Freunden an der Themse. Aber die Freude wurde stark getrübt
durch einen Beinunfali des Vaters, der ihn diesmal begleitet hatte.
Zur Komposition fand sich nicht viel Muße und Stimmung. Immerhin
brachte er wenigstens ein vierhändiges Arrangement von Moscheies'
Septett zustande. Seine Ungeduld wuchs. Endlich, Ende August,
konnte er aufbrechen. Nach einer für ihn und den Vater mühsamen
Reise blieb er noch drei Tage in Berlin und war froh, nun in
Düsseldorf sich selbst gehören zu können.
Er fühlte sich bald behaglich am Rhein. Das Leben schwirrte
ihm lebhaft genug. Er fand Freunde: die Maler Wilhelm Schadow,
Bendemann und Lessing. Man nahm ihn überall mit Liebe auf und
schätzte den glänzenden Gesellschafter in ihm ebenso wie den allzeit
aus seinem Reichtum spendenden Musiker. Seine Lust zum Zeichnen
erwachte wieder. Bei dem Professor der Landschaftsmalerei Schirmer
nahm er regelmäßigen Unterricht, und nun konnten die Freunde,
besonders Klingemann und Moscheies, mit Aquarellen bedacht wer-
den. Schlechter als um die Geselligkeit war es mit der Düsseldorfer
Musik bestellt. Das Orchester war in einem etwas wirren Zustand.
Noch ärger sah es in der Kirchenmusik aus. „Ich fand unter allen
hiesigen Musikalien keine einzige erträglich ernsthafte Messe; nichts
54 Glücks wogen
von alten Italienern, lauter moderner Spektakel", klagte er nach
Berlin. Kurz entschlossen ging er auf die Suche nach Elberfeld,
Bonn und Köln und kehrte mit reicher Ausbeute an Partituren von
Palestrina, Leo, Lotti, Pergolese, Orlandus Lassus heim. Und bald
hatte er seine Kräfte geschult. Das Niveau hob sich. Der erste
Sommer schon verzeichnete eine Messe von Bach, Händeis Det-
tinger Tedeum, Kirchenwerke von Mendelssohn und Altitalienisches.
Als der preußische Kronprinz nach Düsseldorf kam, wurde ihm zu
Ehren „Israel in Ägypten" mit lebenden Bildern aufgeführt. Der
nachmalige Friedrich Wilhelm IV. lernte Mendelssohn noch stärker
als in Berlin schätzen. Das Lebendige dieses Daseins regte Men-
delssohn an, und er konnte wahrhaft glücklich nach London berichten :
„Der Aufenthalt hier ist mir ganz ungemein angenehm ; ich habe eben
gerade so viel äußerliche Beschäftigung als ich brauche und mag,
und Zeit für mich vollauf; habe ich mal keine Lust zu komponieren,
so habe ich Zeit zum dirigieren und einzustudieren, und das geht
alles recht hübsch und lebendig. Dabei ist das Nest so prächtig
klein, daß man sich fortwährend wie in der Stube vorkommt, und
doch fehlt nichts: — eine Oper, ein Singverein, ein Orchester, eine
Kirchenmusik, ein Publikum, sogar eine kleine Opposition — alles
ist da und amüsiert mich Alles prächtig."
Zu den führenden Persönlichkeiten Düsseldorfs gehörte der
dichtende Landgerichtsrat Immermann. Der hatte es verschmerzt,
daß Mendelssohn seinerzeit sein „Sturm"-Libretto verschmäht hatte,
und reichte dem jungen Musiker freundschaftlich die Hand. Und
bald fanden sie sich zu gemeinsamer Arbeit. Der Düsseldorfer Kunst-
verein hatte beschlossen, im Theater Mustervorstellungen zu veran-
stalten, deren Leitung Immermann und Mendelssohn übernehmen
sollten. Der Gedanke war gut und bei den Ausführenden genug Liebe
zur Sache vorhanden. Aber das Publikum dachte anders. Verstimmt
durch die erhöhten Eintrittspreise, versuchte die Opposition, „be-
stehend namentlich aus Kellnern und Schankwirten", in der Don
Juan-Vorstellung einen regelrechten Theaterskandal. Jedoch beruhig-
ten sich die Gemüter bald und die Wiederholung derselben Vor-
stellung wurde mit lebhaften Sympathiekundgebungen, besonders für
Mendelssohn, begrüßt. Mendelssohn verlangte jedoch klare Ver-
hältnisse, und so wurde Julius Rietz als ständiger Kapellmeister ver-
Glückswogen 55
pflichtet, während er selbst aus Liebe zur Sache sich für einige
Opernaufführungen zur Verfügung stellte. Cherubinis „Wasserträger"
war die nächste Aufgabe. An Beethovens „Egmont" fand er nur
geringes Gefallen. Er hielt sich in den Theaterangelegenheiten vor-
sichtig zurück und zwar, „weil ich trotz des Vergnügens, das mir
die Oper neulich z. B. gemacht hat, mich mit dem eigentlichen
Theaterwesen, den Schauspielergeschichten, dem fortwährenden
Effektsuchen und -machen, nicht befreunden kann, und weil mich's
auch von meinem eigentlichen Zweck, den ich in Düsseldorf habe,
für mich zu arbeiten, zu weit entfernt." Schon daß er oberste Instanz
für die Zusammensetzung des Orchesters und die Engagements der
Sänger war, wurde ihm lästig. Er war allzufein besaitet für den
Theaterbetrieb, wo der Klatsch und die Intrige blühen. Bis zum
November 1834 hielt er es aus. Als schließlich alle Störungen ihm
die Arbeitsruhe raubten, machte er „einen salto mortale und sprang
aus der ganzen Geschichte heraus." Kurz entschlossen, ja heftig
brach er ab. Hinter allem Äußerlichen bohrte der Rivalitätsstreit
mit Immermann: Schauspiel oder Oper, das war hier die Frage.
Und Mendelssohn, der keinen Widerspruch gewohnt war, zerschnitt
überreizt, plötzlich alle Beziehungen. Der korrekten Gesinnung des
Vaters widerstrebte diese jähe Art. Aber Mendelssohns Selbstbe-
wußtsein duldete keine Einmischung mehr. Für ihn war das Theater
erledigt. Und doch schweifte seine Sehnsucht immer wieder zur
Bühne. Aus London kam die Anregung zu einem neuen Opernver-
such. Klingemann fand den „Pervonte" von Kotzebue recht drama-
tisch. Mendelssohn griff begierig zu, entwarf ein Szenarium, empfahl
auch Wielands Bearbeitung desselben Stoffes der Beachtung und stand
schnell in Flammen. Aber auch dieser Plan wurde wieder beiseite
gelegt. Mendelssohns Liebe zur Oper sollte platonisch bleiben.
Seine dramatische Leidenschaft konnte er nur dem Oratorium widmen.
Mit dem Jugendfreunde Julius Schubring, der jetzt als Prediger
in Dessau saß, war er über den Text zum „Paulus" ins reine ge-
kommen. Darin fand seine wohltemperierte Seele größere Befriedi-
gung als im Theatereffekt. Hier flössen ihm die Töne wie von
selbst zu, und während des Düsseldorfer Aufenthalts wurde der
„Paulus" nahezu vollendet. Der selten mit sich Zufriedene nahm
nun andere Werke, die bereits mit Ehren ihre Feuertaufe bestanden
56 Glückswogen
hatten, vor und gab ihnen eine andere Gestalt, so die A-dur-Sym-
phonie und die Ouvertüre „Meeresstille und glückliche Fahrt." Die
Konzertouvertüre zum „Märchen von der schönen Melusine", deren
Partitur er in Düsseldorf vollendete, war gewissermaßen aus Protest
gegen Konradin Kreutzers gleichnamige Oper entstanden, die er am
Königstädter Theater mit starkem Mißfallen gesehen hatte. Die erste
Aufführung fand bereits im Februar 1834 unter Moscheies Leitung
in London statt. 1835 wurde sie dann in Leipzig in endgültige Form
gebracht. Von den Liedern ohne Worte konnte er bald das zweite
Heft zum Druck nach England schicken und die Lyrik formte sich
zwanglos unter seinen Händen, so oft nur Klingemann Gedichte
schickte. Auch dem brillanten Klavierstil wurde gehuldigt. Das
Rondo brillant opus 29 wollte er Moscheies widmen und entschuldi-
gend bemerkte er, er möchte so gern ein ruhiges Stück machen, aber
er könne es nun einmal nicht. Mit der As-dur-Fuge aus opus 35
besänftigte er die Berliner Fugenliebhaber und Bachschwärmer in
der Leipzigerstraße und ließ dafür in den „Caprices" opus 33 seiner
Laune die Zügel schießen. Er meinte „Jean Paul spukt mit hinein,
den ich jetzt mit übergroßer Freude lese und der mich immer auf
ein halbes Jahr mit seinen kuriosen Einschachtelungen ansteckt".
Er las wieder den Fixlein und war entzückt über den Siebenkäs. Wir
denken an den Jean Paulianer Schumann, der um diese Zeit auch aus
Jean Pauls Geist seine ersten Klavierwerke formte.
Über dem Schaffen und Träumen, dem Wollen und Wirken aber
leuchtete die Sonne des Erfolges. Sein Ruhm gewann Flügel, und
die Verständnisvollen huldigten dem Genius. In Elberfeld und Barmen
nahm man ihn mit offenen Armen auf. Er spielte Klavier und hatte
sofort alle Herzen für sich gewonnen. Auf dem Musikfest in Aachen
1834 konnte er nur Gast sein. Das Fest war nicht ohne Schwierig-
keiten zustande gekommen. Wie hell auch die Lebensfreude in den
Adern der Rheinländer pulste, es gab doch auch genug Dunkel-
männer, die jede frohe Schwingung für Sünde erklärten und die
Theater, Konzert, den süßen Müßiggang des Naturgenusses in die
Hölle verdammten. Diese Menschensorte hatte ein Verbot des Musik-
festes erwirkt, weil ihrer Meinung nach das Pfingstfest dadurch ent-
heiligt würde, und erst eine allerhöchste Kabinettsorder mußte der
Vernunft wieder ihr Recht verschaffen. Rietz dirigierte diesmal.
Ulückswogen 57
Mendelssohn traf in Aachen mit Ferdinand Hiller, der Chopin aus
Paris mitgebracht hatte, zusammen. Es wurde ein stürmischer Ge-
dankenaustausch. „Als Klavierspieler ist Chopin jetzt einer der aller-
ersten, — macht so neue Sachen wie Paganini auf seiner Geige, und
bringt Wunderdinge herbei, die man sich nie möglich gedacht hätte",
schrieb er nach Hause. Die beiden Pariser laborierten zwar an der
„Verzweiflungssucht und Leidenschaftssucherei"; aber sie lernten doch
alle drei voneinander. Bald darauf jedoch ließ er Moscheies wissen:
„Ein Heft neue Mazurkas von Chopin, und einige andere seiner
neueren Sachen sind dann doch so manieriert, daß es schwer aus-
zuhalten ist." Noch schlimmer kamen ein paar Berliner und Leip-
ziger Komponisten weg, „die gern da anfangen möchten, wo Beet-
hoven aufhörte und räuspern und spucken wie er und weiter ist gar
nichts". Am ärgsten aber zauste er Berlioz, dessen Undiszipliniertheit
ihm ein Greuel war: „Seine Instrumentierung ist so entsetzlich
schmutzig und durcheinander geschmiert, daß man sich die Finger
waschen muß, wenn man mal eine Partitur in der Hand gehabt hat.
Zudem ist es doch auch schändlich, seine Musik aus lauter Mord und
Not und Jammer zusammenzusetzen : denn selbst, wenn's gut wäre,
käme nichts anderes darin vor, als dergleichen atrocites. Er hat mich
eigentlich zu allererst recht melancholisch gemacht, weil er so klug
und kalt und passend über alle anderen urteilt, so gänzlich ver-
nünftig ist und so grenzenlos unvernünftiges Zeug bei sich gar nicht
bemerkt." Und bei anderer Gelegenheit: „Was Du mir über Ber-
lioz' Symphonie schreibst, ist gewiß wörtlich wahr; nur muß ich noch
sagen, daß mir die ganze Musik so schrecklich langweilig vorkommt,
und das ist das Schlimmste. Toll und unverschämt und frech und
ungeschickt kann doch zuweilen noch lustig amüsant sein, aber dies
ist so fade und unlebendig!"
Selten hat sich Mendelssohn so rückhaltlos über seine Zeit-
genossen ausgesprochen, wie in diesem Fall über Berlioz. Je älter
er wurde, desto mehr verschloß er seine Meinung in sich. Aber
auffällig bleibt es trotzdem doch, daß uns kein einziges Urteil von
ihm über Schumann, mit dem er so lange Jahre zusammen in Leipzig
zusammen lebte, erhalten ist. Sollte er in seinen Briefen niemals
über den Tondichter Schumann gesprochen haben? Doch das ist eine
Sache, die heute nicht mehr zu prüfen ist, es sei denn, daß eines
58 Glückswogen
Tages noch unveröffentlichte Briefe Mendelssohns an den Tag kom-
men sollten.
Der Empfindsame mußte auch an der Erinnerung Korrektur
üben. So wurde ihm das Andenken an seinen Lehrer Zelter getrübt
durch die Veröffentlichung des Briefwechsels zwischen Qoethe und
Zelter. Er fand das Buch langweilig, eine Fundgrube für Anti-
Goethianer. Verstimmt schrieb er an seinen Vater: „Wenn über Beet-
hoven oder sonst einen schlecht, über meine Familie unziemlich, und
über vieles langweilig gesprochen wird, so läßt mich's sehr kalt und
ruhig: aber wenn von Reichardt die Rede ist, und sie beide über ihn
so vornehm tun und urteilen, so weiß ich mich vor Ärger nicht zu
lassen, obwohl ich es mir selbst nicht erklären kann." Sein Wider-
willen gegen Literatentum und Kritik wuchs. Im allgemeinen konnte
grade er mit den Zeitungen zufrieden sein. Zwar hatten die Berliner
seine ersten Kompositionen etwas kühl besprochen; aber, wie Zelter
damals meinte, „die Rezensenten sind auch junge Bursche, die den
Hut suchen, den sie in der Hand haben". Später war Mendelssohn
aber viel Weihrauch gestreut worden, und die Hosiannarufe nahmen
kein Ende. Was ihn an der Kritik reizte, war nur die produktive
Unfähigkeit, die sich den Mantel des Besserwissens umhängt. „Bin
ich nicht meines Handwerks ein antipublikümmerlicher Musiker und
ein1 antikritischer dazu? Was ist mir Hekuba und die Kritik
dazu? (ich meine die gedruckte, oder vielmehr die gedrückte)",
witzelte er an Moscheies und berichtete bald danach: „Neulich frug
eine Musikhandlung mich, ob ich nicht eine Musikzeitung redigieren
wollte; ich hätte die Handlung gern herausgefordert. Denn solch ein
Treiben kommt mir so schrecklich unersprießlich und unerquicklich
vor, wie gar kein anderes; sie leben rein von der anderen Leute
Plaisier und ihrem eigenen Ärger."
Nur unter den Malern fand er „nette Leute" für seinen Um-
gang. „Immermann, mit dem ich recht gut Freund war, ist ins
Theater versenkt, Üchtritz in die Ästhetik und Grabbe in den Schnaps,
aus allen drei Dingen mache ich mir wenig, am wenigsten freilich aus
der Ästhetik." Die Enge der Kleinstadt und das Spießbürgertum be-
drängten ihn manchmal. „Hier kommen so Zeiten, wo mir sämtliche
Philister über den Kopf wachsen, sämtliche Philister, die es auf der
Welt gibt und mein eigener immer dazu." Aber er tat sein Mög-
Glückswogen 59
lichstes für diese Stadt. Das Musikleben gewann an Schwung. Or-
chester und Chor hatte er zu ansehnlichen Leistungen emporge-
schraubt. Der Wert einer solchen Tätigkeit für die Entwicklung
seines Musikertums war außerordentlich. Nicht nur, daß er seine
Talente im Dirigieren und in der Erziehung größerer Massen ver-
vollkommnete, er hatte auch den Vorteil, sich seine Kompositionen
gleich vorführen zu können. Und zudem waren die äußeren Berufs-
lasten so gering, daß sie ihn im Schaffen nicht hinderten. Und doch
fühlte er sich im zweiten Düsseldorfer Jahre nicht mehr wohl. „So
total einsam, wenigstens geistig oder musikalisch, wie diesen Winter
hier, habe ich noch gar nicht gelebt", klagte er Klingemann. Unter-
richt erteilte er nicht. Er versuchte nur mit gutem Rat und an-
feuerndem Zuspruch zum Besseren, die Henri Herz und Genossen
aus der Gunst der Liebhaber zu verdrängen, gerade Herz, von dem
er meinte, er spiegle die Zeit der dreißiger Jahre ganz gut ab, „alle
Salons und Eitelkeit und ein wenig Schmachten und viel Gähnen,
und Glacehandschuhe und Moschusgeruch, eine badine und ein sanf-
tes toupet".
Nach dem einsamen Winter war ihm die Aufforderung der Kölner,
das Musikfest zu Pfingsten 1835 zu dirigieren, höchst willkommen.
Alle Freunde möchte er um sich sehen. Er fleht Klingemann an, zu
kommen; es sollten Jubeltage sondergleichen werden. Die Berliner
Mendelssohns erschienen vollzählig, um die Triumphe ihres Felix
zu genießen, die Eltern, Fanny mit ihrem Gatten, dem Maler Hensel,
Rebekka, die von ihrem Gatten Professor Dirichlet begleitet war.
Mendelssohn hatte zum „Salomon" von Händel Klingemanns Über-
setzung erbeten und eine Orgelstimme ausgeschrieben, die pompöse
Wirkung machte. Neben Beethoven kamen noch Cherubini und
Reichardt zu Gehör. Der Erfolg war ungeheuer. Mendelssohn er-
hielt eine Dankadresse mit den Unterschriften von sämtlichen Mit-
wirkenden, und er hatte wieder einmal die Freude, sich „mit ein paar
Wochen Arbeit eine ganze Stadt voll lauter guten Bekannten zu
schaffen".
Aber trotz aller Zuneigung stand er den Rheinländern innerlich
schon als ein Abschiednehmender gegenüber. Bereits im Januar
hatte er von dem Advokaten Conrad Schleinitz in Leipzig die An-
frage erhalten, ob er geneigt wäre, die Leitung der altberühmten
60 Glückswogen
Gewandhauskonzerte zu übernehmen. Er hatte in Leipzig viele Ver-
ehrer, und besonders die zuletzt bei Breitkopf & Härtel veröffent-
lichten „Charakteristischen Ouvertüren" zum „Sommernachtstraum",
„Meeresstille und glückliche Fahrt" und „Hebriden" mochten den
Ehrgeiz der Leipziger erweckt haben, den Tondichter für sich zu
gewinnen. Aber Mendelssohn war zunächst zurückhaltend. Er
wünschte nicht, eine Stelle zu bekleiden, von der er einen Vorgänger
verdrängen müßte. Stadtrat Porsche beruhigte ihn über diesen Punkt.
Blieben nur noch die äußerlichen Bedingungen festzusetzen. „Ich
habe mir bei meiner musikalischen Karriere vorgenommen, kein Kon-
zert für mich (zu meinem Vorteil) zu veranstalten. Sie wissen viel-
leicht, daß es mir persönlich auf den pekuniären Punkt weniger an-
kommen würde, wenn meine Eltern nicht verlangten, daß ich meine
Kunst als Beruf treiben, daß ich davon leben können soll", klärte er
den Leipziger Advokaten auf. Der Vertrag kam, dank der entscheiden-
den Mitwirkung zweier enthusiastischer Verehrer Mendelssohns, Karl
und Heinrich Voigt, zustande, nach welchem Mendelssohn in den
beiden ersten Jahren und in den vier folgenden 1000 Taler Gehalt
beziehen und einen Sommerurlaub von sechs Monaten genießen sollte.
Mendelssohn trat in ein neues Stadium seines Lebensweges.
Aus dem rheinischen Überschwang kam er in die sächsische Nüch-
ternheit — aber auch, anders gesehen, aus dem ewigen Weihrauch-
duft in die erfrischende Luft der Aufklärung. Für den Musiker, den
nur die Sehnsucht zur Vollendung trieb, war es der Weg zur Höhe.
Ein ganz kurzes Intermezzo in Berlin mußte noch überstanden wer-
den. Sein Widerwille steigerte sich geradezu zum Haß gegen die
Stadt „mit dem vielen Militär und den großen leeren viereckigen
Plätzen". Der Eindruck, den sie ihm immer wieder macht, ist ein
„durchaus unerfreulicher, erdrückender und dennoch kleinstädtischer.
Es ist hier nicht deutsch und doch tiidht ausländisch, nicht wohl-
tuend und doch sehr gebildet, nicht lebhaft und doch sehr aufgereizt,
ich muß an den Frosch denken, der sich aufblasen will, nur daß er
hier nicht zerspringt, sondern am Ende wirklich ein Ochse werden
wird — aber ich mag nicht blasen helfen." Darüber konnte auch die
Innigkeit des Familienlebens nicht hinweghelfen. Mendelssohn war
von Herzen froh, als er Leipzig erreichte.
Felix Meritis 61
FELIX MERITIS
Leipzig, 4. Oktober 1835. Erstes Gewandhauskonzert. „F. Me-
ritis trat vor. Es flogen ihm hundert Herzen zu im ersten Augen-
blick", so beschreibt Robert Schumann in den Schwärmbriefen den
verheißungsvollen Anbruch der Ära Mendelssohn in Leipzig.
Die Thomanerstadt hatte um diese Zeit etwa 50 000 Einwohner
und war ein enger Ort ohne Bequemlichkeiten. Einige Reformen
vollzogen jetzt den Anschluß an die neue Zeit. Man versuchte aus
dem Kotzebueschen Kleinstädterstil herauszukommen. Die Universi-
tät bekam eine neue Verfassung. Sachsen trat dem preußisch-deut-
schen Zollverein bei. In Leipzig selbst wurde der Buchhändlerverein
geschaffen und damit der Grund zur Weltbedeutung der Stadt ge-
legt. Für die bildenden Künste wirkte ein Kunstverein; die Maler-
akademie und das Schlettersche Museum waren die Früchte. Das
Theater hatte unter Küstner einen erfreulichen Aufschwung genom-
men. Da das leidige Cliquenunwesen noch nicht die Einheitlichkeit
der Gesellschaft zerstört hatte und die Presse noch zu klein und un-
bedeutend war, um korrumpiert zu sein, waren alle Kunst- und
Theaterfragen Angelegenheiten des allgemeinen und gemeinsamen
Interesses. Kein Wunder, daß die ideale Kunst der Gemeinsamkeit,
die Musik, mit besonderer Liebe gepflegt wurde. 1743 war von
16 Personen „sowohl adeligen als bürgerlichen Standes" das große
Konzert begründet worden, aus dem später das Gewandhausunter-
nehmen, das neben dem Thomanerchor den Ruf Leipzigs als Musik-
stadt festlegte, erwuchs. Johann Friedrich Doles war der erste Leiter.
Zwanzig Jahre später leistete man sich dafür eine eigene Kapelle,
die J. A. Hiller anführte und die in den „drei Schwänen" konzertierte.
Der Kreis der Teilnehmer wuchs, und 1780 wurde die Gesellschaft
der Gewandhauskonzerte begründet, die im Leipziger Zeughaus einen
großen Saal fand. Tüchtige Musiker widmeten dem Unternehmen,
dem bald die Singakademie entsproß, ihre Kraft: Gottfried Schicht,
C. H. Ph. Schulz und Pohlenz. Nun kam Mendelssohn. Pohlenz
behielt die Leitung der Singakademie. Mendelssohn rühmte das Or-
chester als sehr gut, tüchtig, musikalisch, die Leitung als ruhig,
und das Publikum als das empfänglichste und dankbarste. Die Leip-
ziger nahmen ihn sehr warm auf. Mit seiner Ouvertüre „Meeres-
62 Felix Meritis
stille und glückliche Fahrt'' debütierte er. Daß er nach der Partitur
dirigierte, war für die Gewandhauskonzerte eine Neuerung, da bis-
her Matthäi die Orchesterwerke vom Konzertmeisterpult aus ge-
leitet hatte. Schumann notierte: „Mich für meine Person störte
in der Ouvertüre, wie in der Symphonie, der Taktierstab und ich
stimmte Florestan bei, der meinte: in der Symphonie müsse das
Orchester wie eine Republik da stehen, über die kein Höherer an-
zuerkennen. Doch wär's eine Lust, den F. Meritis zu sehen, wie er
die Geisteswindungen der Kompositionen vom Feinsten bis zum Stärk-
sten vorausnüancierte mit dem Auge und als Seligster vorausschwamm
dem Allgemeinen." Was für eine Freundschaft hätte sich hier ent-
spinnen können, wenn der Felix Meritis die Schwärmbriefe Schu-
manns mit demselben offenen Herzen gelesen hätte, mit dem sie ge-
schrieben waren! Aber der gefeierte Musiker ahnte nicht, daß ihm
hier einer huldigte, der mehr als nur ein Gleichberechtigter in seinem
Reich war.
Chopin, der um diese Zeit in Leipzig weilte, kam ihm näher:
„Es war mir lieb, mal wieder mit einem ordentlichen Musiker zu
sein, mit einem, der eine vollkommen ausgeprägte Richtung hat",
schrieb er nach Berlin und meinte, er könne sich prächtig damit ver-
tragen, nur mit den Halben nicht. Nach Chopin kam Moscheies.
Es waren wieder Feiertage. Moscheies spielte das g-moll-Konzert,
die Hebriden erklangen und die beiden Freunde errangen mit Clara
Wieck zusammen einen besonderen Erfolg mit dem Tripel-Konzert
von Bach. Ehrungen blieben für Mendelssohn nicht aus. Nach einem
silbernen Pokal kam nun vom Musikfestkomitee aus Köln noch die
große englische Händel-Ausgabe in 32 Bänden. Chopin und Mo-
scheies mußten sich mit ihm darüber freuen. Der Felix Meritis wuchs
den Leipzigern schnell ans Herz. Seine Kompositionen fanden immer
stärkeren Widerhall. Das Orchester gewann unter seiner hingebungs-
vollen Arbeit bald an Feinheit im Klang und Prägnanz in der Aus-
führung. Helle Begeisterung erregte sein Klavierspiel. Wir müssen
Schumann schwärmen hören: „Da hättest du den Meritis mit dem
Mendelssohnschen g-moll-Konzert spielen sehen sollen. Der setzt
sich harmlos wie ein Kind ans Klavier, und nun nahm er ein Herz
nach dem andern gefangen und zog sie in Scharen hinter sich her, und
als er sie freigab, wußte man nur, daß man an einigen griechischen
Felix Meritis 63
Götterinseln vorbeigeflogen war. — Ich denke mir oft, Mozart müßte
so gespielt haben."
Aber in die Qlückstage hinein hallte plötzlich die Totenglocke.
Sein Schwager Hensel kam, um ihm den plötzlichen Tod des Vaters
mitzuteilen und ihn nach Berlin zu holen. Am 19. November hatte
ein Nervenschlag Abraham Mendelssohn dahingerafft. Er hatte noch
die Früchte seines Lebens reifen sehen. Das Werk seines Fleißes
und seiner kaufmännischen Tatkraft hatte Weltruf gewonnen. Und
in seinen Kindern verkörperte sich die glänzendste Entwicklung der
Familie. Für Felix Mendelssohn war es ein schwerer Schlag. „Es
ist das größte Unglück, das mir widerfahren konnte, und eine Prü-
fung, die ich nur entweder bestehen oder daran erliegen muß," ver-
traute er Julius Schubring an. „Es muß nun für mich ein neues Leben
anfangen, oder alles aufhören — das alte ist nun abgeschnitten."
Er hatte in dem Vater seinen „einzigen ganzen Freund während
der letzten Jahre und seinen Lehrer in der Kunst und im Leben"
verloren. Er fühlte es, über diesen Verlust konnte ihm nur die Tat
hinweghelfen.
Zum zweitenmal hat sich jetzt das Schicksal dem Sonntagskind
von der düsteren Seite gezeigt. Seine Feinnervigkeit reagiert sofort.
Eine stille Melancholie legt sich über das, was er in Tönen ersinnt.
Er weiß, seine Jugend ist vorüber, und das Leben verlangt und
bietet Härte für den Mann. Er darf nicht träumen und erschlaffen.
Alles kommt ihm so kalt und öde vor, daß er verzweifeln möchte.
Die Freunde spenden Trost; Marx Kraftworte, die ihm fatal sind;
Schubring predigt; nur Klingemann findet den Weg zu seinem Her-
zen. Jedoch die Pflicht drängt. Die Gewandhauskonzerte dürfen
nicht vernachlässigt werden. Musterhafte Aufführungen Haydnscher
und Mozartscher Symphonien kamen zustande. Bach und Händel
erscheinen immer wieder auf dem Programm. Das Wagnis mit Beet-
hovens Neunter Symphonie gelingt, und das Tripelkonzert hören die
Leipziger zum erstenmal. Dazu kommt Ferdinand David als Kon-
zertmeister für Matthäi ins Gewandhaus. Alte Erinnerungen an die
Leipziger Straße tauchen auf, und bald blüht in Leipzig auch eine
Kammermusik von seltener Schönheit. Der Schmerz versinkt unter
dieser Musikwoge. Und schüchtern meldet sich in den Briefen wieder
der alte Humor.
54 Felix Meritis
Wir hören von keiner Opposition gegen Mendelssohn. Seine Ver-
bindlichkeit im Umgang entwaffnete die Widerstrebenden und kettete
die Willigen unauflöslich an ihn. Alle waren von ihm bezaubert.
Äußere Erscheinung und Charakter waren aus einem Guß und konn-
ten niemanden täuschen. Klein und schlank war er, brünett, jüdisch
— so unterrichtet uns sein Neffe Sebastian Hensel, der „Die Familie
Mendelssohn" schrieb. Sein Gesichtsausdruck war sehr wechselnd,
daher schlecht zu porträtieren. Auffallend die großen, dunkelbraunen
Augen. Von Charakter war er gut, aber reizbar und heftig gegen alles
Falsche und Bornierte. Ein Augenzeuge und aufmerksamer Zeit-
genosse, der zuverlässige Geiger W. J. v. Wasielewski, gibt uns
eine genaue Schilderung des Menschen: „Mendelssohn hatte eine
feingebaute schmächtige Figur. Seine gewandten, behenden Körper-
bewegungen waren außerordentlich lebhaft. Dem entsprach der öfters
plötzlich wechselnde Gesichtsausdruck. Das dunkle Auge zeigte ein
blitzendes Feuer. Es konnte ebenso schnell einen freundlich wohl-
wollenden und heiteren, wie einen scharf durchdringenden oder auch
sonst sinnenden Ausdruck annehmen. Im letzteren Falle blinzelte
er, den Blick auf eine bestimmte Persönlichkeit gerichtet, wohl auch
mit den Augen, wodurch seine Miene etwas Forschendes erhielt.
Die hohe, schöngewölbte Stirn war von schwarzem Haupthaar um-
rahmt, welches zur Seite und nach hinten in gelockter Form herab-
fiel. Das nach dem Kinn schmal zulaufende Antlitz begrenzte ein
kräftiger Backenbart. Die mäßig gebogene Nase erinnerte an den
römischen Schnitt und verriet die orientalische Abkunft. Der äußerst
feingeformte Mund war von sprechendem Ausdruck. Wenn er sich
bei der Unterhaltung oder beim Lachen öffnete, so erblickte man zwei
Reihen blendendweißer Zähne. Alles vereinigte sich in Mendelssohns
Wesen, um seine gesamte Erscheinung zu einer anziehenden und
einnehmenden zu machen. So ist es denn begreiflich, daß er eine
höchst beliebte, verehrte Persönlichkeit war, und dies um so mehr,
als seine geistigen Eigenschaften unwiderstehlich fesselten. Im Ver-
kehr mit befreundeten Personen war Mendelssohn unbefangen heiter
und gemütlich, ja, wenn er gute Laune hatte, außerordentlich lustig,
wobei er, ein wenig lispelnd, unter Anbringung von Scherzworten
ziemlich belebt sprach. Gegen ihm Fernstehende verhielt er sich
zuvorkommend, doch etwas reserviert. Galt es indessen, sich gegen
Felix Meritis 65
junge aufstrebende Talente über deren Leistungen auszusprechen, so
gab er rückhaltlos seine Meinung kund, und verschwieg neben dem
Lobe auch den Tadel nicht, welch letzteren er aber stets in wohl-
wollendem Tone vorbrachte. " Wir lesen heute zwischen den Zeilen
und erkennen aus dieser Schilderung Mendelssohn, den Künstler und
Menschen und — den Diplomaten.
Mit seiner äußeren künstlerischen Stellung war er sehr zufrieden.
Sie ließ ihm Zeit genug zum Schaffen: mehr wollte er ja nicht. Das
Leben floß in stillen Bahnen. Er fand einige „lebendige und inter-
essante junge Leute", schloß sich namentlich an einen gewissen
Schlemmer aus Frankfurt an und schrieb an Klingemann: „Morgens
arbeite ich bis 12, dann wird spazieren gegangen, einzeln oder in
corpore; um 1 gegessen, Nachmittag Klavier gespielt, gegen Abend
wieder gearbeitet, und endlich in einem Hotel, unserm Sammelplatze,
soupiert." An Beweisen der Hochschätzung ließ man es gegen ihn
nicht fehlen. Als wichtigste Ehrung ist wohl die Promotion zum
Ehrendoktor an der Leipziger Universität zu buchen, die ihn als
Siebenundzwanzigjährigen traf.
Bei allen Wechselfällen des Lebens und den Ablenkungen durch
seine Stellung kam das Schaffen nur langsam vorwärts. Der Vater
hatte in seinem letzten Brief ungeduldig nach der Vollendung des
„Paulus" gefragt. Mendelssohn betrachtete deshalb den endlichen
Abschluß des Werkes als eine Art Vermächtnis. Er arbeitete mit
allen Kräften daran, um ihn auf dem Düsseldorfer Musikfest 1836 auf-
führen zu können. Daneben schrieb er die Melusinen-Ouvertüre
ganz neu und erbat von Klingemann dringend die Partitur der ersten
Fassung, die in London war, zurück.
So kam Pfingsten 1836 heran und damit das Düsseldorfer Musik-
fest. Julius Rietz hatte den „Paulus" ausgezeichnet vorbereitet, man
war ganz Mendelssohnisch gestimmt, und der junge Meister errang
einen leichten Sieg an der Spitze seiner enthusiasmierten Mitwirken-
denschar. „Ich habe bei der ganzen Aufführung fast nur wie ein
Zuhörer gestanden und mir einen Eindruck des Ganzen zu erhalten
gesucht. Vieles hat mir gar viele Freude gemacht, anderes nicht, aber
vor allem habe ich sehr gelernt", berichtete er nach Leipzig. Beet-
hovens Neunte krönte das Fest. Als Dankeszeichen schenkten ihm
die Düsseldorfer eine Prachtausgabe der Paulus-Partitur, die mit
Daums, Mendelssohn 5
66 Felix Meritis
Bildern der Maler Schrötter, Hübner, Steinbrück, Mücke und Men-
sel geschmückt war. Vom Rhein ging's an den Main nach Frank-
furt, um gegen den schwererkrankten Schelbie eine Freundschafts-
pflicht zu erfüllen und die Sommerproben des Cäcilienvereins zu
leiten. Ungern nur hatte er seine Schweizer Reisepläne aufgegeben.
Aber er wurde in Frankfurt reich entschädigt.
Zwar das Leben und Treiben seiner Fachgenossen erschien ihm
gräßlich, „sie hocken aufeinander und mäkeln und klagen und denken
nach". Aber Größere entschädigten ihn. Rossini kam, „das lustige
Wundertier, amüsant und geistreich, in liebenswürdigster Sonntags-
laune". Der italienische Maestro, der auf der Höhe seines Ruhms
stand und ganz Frankfurt in eine ungeheure Aufregung versetzte, war
oft mit Mendelssohn zusammen, und der Bachianer mußte viel deutsche
Musik spielen. Ferdinand Hiller erwies sich als treuer Freund, mit
dem geistig zu leben war. Der Schwede Lindblad, ein alter Be-
kannter, erschien auf kurze Zeit und weckte Erinnerungen an die
Berliner Sonntagsmusiken. Die Arbeit ruhte jedoch nicht. Der
„Paulus" wurde umgeschmolzen, und gewann nun seine endgültige
Gestalt.
Und in die Arbeits- und Freundschaftsstunden hinein klang jetzt
die Liebe. Er lernte Cecilie Jeanrenaud, die jüngste Tochter eines
reformierten Predigers in Frankfurt, kennen und lieben. Aber der
Mann der disziplinierten Leidenschaft ließ auch hier nicht sein Herz
impulsiv sprechen. Er unternahm mit Schadow eine Reise nach
Scheveningen, um sich in aller Ruhe und Einsamkeit zu prüfen.
Und dann erst verlobte er sich. Das brachte die Frankfurter Pa-
triziergemüter in einige Verwirrung; denn so hoch man auch den
Künstler Mendelssohn schätzte, hier sah man ihn doch als einen Ein-
dringling an. Hensel rühmt an Cecilie Jeanrenaud die „vollkommene
Harmonie, das vollendete Gleichgewicht ihrer Natur mit Felix" und
entwirft als Bild ihres Wesens: „Sie war nicht hervorragend geist-
reich, nicht blendend witzig, nicht tief gelehrt, nicht sehr talentvoll;
aber ihr Umgang war so wohltuend ruhig, so erquickend, wie die
reine Himmelsluft oder das frische Quellwasser."
Die Pflicht rief den Gewandhausdirigenten nach Leipzig zu-
rück. Es wurde aus dem Vollen musiziert. Neben den Klassikern
kamen auch die Zeitgenossen in ausgiebigem Maße zu Gehör, Preis-
Felix Meritis 67
Symphonien, Ouvertüren ä la Mendelssohn und ähnliches. Die Vir-
tuosen pflückten Rosen. Im Oratorium herrschten Händel mit „Israel
in Ägypten", Bach mit Motetten und Mendelssohn mit dem „Pau-
lus". Die „Preissymphonien" der deutschen Kapellmeister brachten
Mendelssohn in Harnisch, „eine immer dümmer und leerer als die
andere". Fielen sie durch, so trug er natürlich die Schuld, so daß
er schließlich verzweifelt fragen mußte, „ob es denn überhaupt mög-
lich sei, gute Musik zu machen, während einer so allgemeinen
Seichtheit". Aufstrebende, die seine Unterweisung suchten, mußten
ihm den Glauben an das noch nicht ausgestorbene Talent erhalten.
Da kam Stamaty aus Paris „eleve du conservatoire et de Kalk-
brenner", Walter von Goethe aus Weimar, „ein freundlich rotbäckiges,
phlegmatisches kleines Männchen", ein gewisser Franck, und schließ-
lich der Engländer Bennet, auf den Mendelssohn große Hoffnungen
setzte.
Kurz nach der Leipziger Paulus-Aufführung reiste Mendelssohn
nach Frankfurt und wurde am 28. März 1837 mit Cecilie Jean-
renaud in der französisch-reformierten Kirche getraut. Die Neu-
vermählten fuhren in den Schwarzwald; Freiburg im Breisgau, das
Wiesenthal, Lörrach, der obere Rheingau, alles erschien ihnen ver-
klärt. Sie führten ein gemeinsames Tagebuch mit Worten und Zeich-
nungen, denn auch Cecilie verstand den Griffel zu führen. Nach
Frankfurt zurück, wurde das junge Paar von der Gesellschaft mit
Beschlag belegt. Trotzdem fand Mendelssohn noch Zeit, den 42.
Psalm und das e-moll-Streichquartett zu komponieren; im Vorjahr war
außer einigen Präludien und Fugen für Klavier nichts fertig ge-
worden. Jetzt aber regte sich der Genius wieder stärker. Vor allem
wurde das zweite Klavierkonzert in d-moll aufs Papier gebracht.
Immer wieder regte sich die Sehnsucht nach einer Oper. Aber er
konnte keinen Text bekommen. „Es fehlt mir ein Mensch dazu,
wie zu manchen anderen musikalischen Plänen; ich suche den durch
ganz Deutschland und überall, aber ich finde ihn nicht und fange
an, daran zu verzweifeln". Ein kurioses Land ist ihm dieses Deutsch-
land: „neben aller Grund-Misere in Kunst, Wissenschaft und son-
stigem Leben so tausend Grund-Gutes". Nun hatte ihm Planche das
Sujet einer historischen Oper mitgeteilt, das eine Episode aus der
Belagerung von Calais durch Eduard III. behandelte. Aber auch
5*
68 Felix Meritis
dieser Plan gedieh nicht. Und so mußte er, um seine dramatische
Leidenschaft wenigstens einigermaßen zu befriedigen, an ein neues
Oratorium denken. Die Geschichte des Petrus symbolisch darzu-
stellen, kam ihm in den Sinn. Wieder sollten die Prediger Schubring
und Bauer am Text helfen.
In sein junges Eheidyll kam bald der Zwang der ersten Tren-
nung. Mendellssohn sollte vom 19. bis 22. September das Musikfest
in Birmingham dirigieren und dort vor allem zum erstenmal den
„Paulus" in England aufführen. Ein Riesenprogramm war zu absol-
vieren, und es wurde zu einem Riesentriumph für den Tondichter,
Dirigenten, Pianisten und Orgelvirtuosen. Ganz England widerhallte
von den Lobesfanfaren, die ihn verherrlichten. Man versuchte ihn
mit glänzenden Anerbieten für immer zu halten. Aber er lehnte ab.
Sein vornehmer Geist durchschaute das Vergängliche solcher Erfolge.
„Es bleibt so wenig übrig von den Aufführungen, Musikfesten, all'
dem Persönlichen; — die Leute klatschen und rufen wohl, aber das
ist gleich wieder so spurlos verschwunden und nimmt das Leben
und die Kraft ebensosehr in Anspruch als das bessere, oder noch
mehr." Und Hiller vertraut er an: „Es ist darin etwas Flüchtiges,
Verschwindendes, was mich eher verstimmt und drückt, als erhebt."
Er wußte, daß der Wert des Lebens für ihn nur im Schaffen lag.
In London traf er Thalberg, der damals außerordentlichen Effekt
machte, verfehlte dagegen Moscheies. Nach einer an romantischen
Zufällen reichen Rückreise stand er am 2. Oktober wieder im Ge-
wandhaus am Dirigentenpult.
Ein heißer Musikwinter begann. Er veranstaltete historische
Konzerte von Bach bis zu den Zeitgenossen, führte in der Pauliner
Kirche Händeis Messias in Mozarts Bearbeitung auf, protegierte die
hübsche englische Sängerin Novello, die die Herzen der Leipziger
in Wallung brachte, empfing allzuviel Besuch von Freunden und
Fremden und hatte trotzdem bis zum Frühjahr fleißig gearbeitet:
„ein gutes, neues Violinquartett (Es-dur) und zwei neue Psalmen, eine
Sonate mit Cello und eine mit Violine, ein Rondo für Klavier und
Orchester, Lieder und dergleichen", wie er Klingemann schrieb. Seine
Gesundheit blieb nicht unangetastet bei so vielen Anstrengungen.
„Ich leide wie vor vier Jahren schon einmal an gänzlicher Taubheit
des einen Ohrs und zuweilen Kopf-, Hals- etc. Schmerzen", schrieb
FelixMeritis 69
er geängstigt an Hiller. Aber das Leben heilte ihn auch wieder.
In Leipzig trug man ihn auf Händen. Die Geselligkeit blühte. Einer
der beliebtesten Treffpunkte der Künstler und Kunstfreunde war das
Haus des Professors Frege, dessen Gattin Livia als „unvergleichliche"
Liedersängerin geschätzt war. Mendelssohn, Schumann, Franz und
Geringere huldigten ihr mit Liedern. Auch in Mendelssohns Heim
herrschten die Musen. Er wohnte in Lurgensteins Garten und hatte
vor seinen Fenstern den Leipziger Boulevard und den Blick auf die
Thomanerschule. Sein Familienleben war von seltener Innigkeit und
vertiefte sich noch nach der Geburt seines ersten Sohnes am 7. Fe-
bruar 1838. In seinen Lebensansprüchen blieb er genügsam und
mäßig, liebte eine bescheidene Geselligkeit und las viel für sich und
immer wieder Goethe und Jean Paul. Die Zeit ließ sich da nicht
immer regeln, und oft mußte er sich die Stunden zur inneren Samm-
lung abstehlen. Hiller nannte es „geistigen Gleichmut", unter dem
sich dies alles vollzog. Viel bewitzelt von den Freunden wurde
Mendelssohns Liebe zum Schlaf, der er manchmal leidenschaftlich
nachgab.
Auch der Sommer brachte wieder Dirigentenpflichten. Diesmal
hatte er als Hauptwerk für das Rheinische Musikfest in Köln Händeis
„Josua" gewählt, und wie schon früher beim „Salomon", hatte er
auch zum „Josua" eine Orgelstimme ausgeschrieben und das Ganze
bearbeitet. Er machte dem Verleger Simrock den . Vorschlag, die
Originalpartituren der Händeischen Hauptwerke zu stechen ; er wollte
dann zu allen die Orgelstimme anfertigen. Es blieb jedoch nur bei
Mendelssohns Vorschlag. Simrock hatte mit dem Absatz der Händei-
schen Klavierauszüge so schlechte Erfahrungen gemacht, daß er sich
auf die Partituren nicht einlassen wollte.
Nach dem Musikfest lockte ihn die Familie nach Berlin. Und
wieder konnte er seine Abneigung gegen die Hauptstadt des preußi-
schen Drills nur verstärken : „Der ganze hiesige Zustand hängt mit
dem Sand, mit der Lage, mit dem Beamtenwesen zusammen, so daß
man sich wohl an einzelnen Erscheinungen freuen, aber mit keiner
näher befreunden kann", seufzte er. Aber die Menschen in der Leip-
ziger Straße 3 halfen ihm über das Verstimmende hinweg. Er kom-
ponierte ein Andante cantabile und Presto agitato für Klavier, und die
ersten Klänge des Violinkonzerts in e-moll tauchten in ihm auf. In
70 Felix Meritis
einem Brief an David offenbarte er: „Ich fühle, daß ich mit jedem
Stück mehr dahinkomme, ganz so schreiben zu lernen, wie mir's ums
Herz ist, und das ist am Ende die einzige Richtschnur, die ich kenne.
Bin ich nicht zur Popularität gemacht, so mag ich sie nicht erlernen
oder erstreben, oder wenn Du das unrecht findest, so sag' lieber: ich
kann sie nicht erlernen." Was ihn von der Ruhmsucht abhielt, war
eben seine im Innersten vornehme Natur, die die allzu enge Berührung
mit dem Allgemeinen verschmähte. Auch Mendelssohn erfuhr immer
entschiedener die Einsamkeit des Genies, trotz Freunden, trotz Ehren
und Erfolgen, eine Tatsache, die man bei ihm ebenso wie bei Mozart
oft verkannt hat. Neben aller Heiterkeit des Gemüts besaß er vor
allem die ungeheure Ehrfurcht vor dem Großen in der Vergangen-
heit, die das Genie stets auszeichnet. Dies war auch seine Fröm-
migkeit, fernab von allem Dogmatischen und Beschränkten, die ihn
immer wieder zur Kirchenmusik trieb. Einem Freunde, der einmal
das Wort fallen ließ, Mendelssohn wäre wohl ein „Frommer" ge-
worden, schrieb er: „Wenn die Leute unter einem Frommen einen
Pietisten verstehen, einen solchen, der die Hände in den Schoß legt,
und von Gott erwartet, daß er für ihn arbeiten möge, oder einen
solchen, der, statt in seinem Berufe nach Vollkommenheit zu streben,
von dem himmlischen Berufe spricht, der mit dem irdischen unver-
träglich sei, oder einen, der keinen Menschen und kein Ding auf dieser
Erde von ganzem Herzen lieben kann — ein solcher bin ich nicht
geworden, Gott sei Dank, und hoff's auch nicht zu werden, mein
Leben lang." Das war sein Standpunkt, der Verstand und Gemüt in
Einklang hielt.
Leben und Beruf verlangten wieder ihr Recht. Die Gewandhaus-
konzerte hatten jetzt endgültig unter Mendelssohn ihren Ruf ge-
wonnen. „Es geht mit ihnen in diesem Winter sehr glänzend, der
Saal wird zu klein für die Menge Zuhörer, und alles scheint zufrieden,
das Orchester ist trefflich", durfte er Klingemann gegenüber rühmen.
Im 20. Abonnementskonzert brachte er Schuberts C-dur-Symphonie,
deren Partitur Schumann in Wien gefunden hatte, zum ersten Er-
klingen. Thalberg kam und bezauberte ihn so wie alle Welt. Der
Dirigent Mendelssohn widmete sich auch seinen Zeitgenossen und
führte Symphonien von Kalliwoda, Friedrich Schneider, Kittl, Lachner,
Möhring, Dobrycinsky und anderen auf. Nichts ist davon geblieben.
Felix Meritis 71
Das Publikum verlangte zur Abwechslung Opernszenen und Finales
im Konzertprogramm. Die Unersättlichen wurden befriedigt. Und
in die Nöte des Vielbeschäftigten klang die Sehnsucht nach Schaffens-
muße. Die Pläne kreuzten sich in ihm. Der „Petrus" wurde abge-
tan, denn er hatte nun den „Elias" gefunden, dem Schubring wieder
Rat und Hilfe leihen mußte. Das d-mo'1-Trio gewann Gestalt, und
der Grundstein zur B-dur-Symphonie, dem Lobgesang, wurde ge-
legt. Lieder und Chöre flössen mit unter, und für eine Benefizvor-
stellung im Theater schrieb er die Ouvertüre und Romanze zu „Ruy
Blas". Er fand das Stück von Hugo so abscheulich, daß er zunächst
keine Ouvertüre dazu komponieren wollte. Als dann aber die Leute
meinten, sie sähen ja ein, daß acht Tage für ein solches Werk zu
wenig Zeit sei, sie erbäten die Ouvertüre dann lieber für das nächste
Jahr, wollte ihnen Mendelssohn doch beweisen, daß es an der Zeit
nicht läge und brachte das Stück schnell zu Papier.
Das allpfingstliche Rheinische Musikfest dirigierte er in diesem
Jahr mit Julius Rietz gemeinsam in Düsseldorf. Als Hauptwerke
kamen der Messias von Händel und Beethovens C-dur-Messe zu
Gehör. Der Sommer sah ihn in Frankfurt und am Rhein. Er voll-
endete das d-moll-Trio, komponierte Orgelfugen und Sonaten und
übte seine Fertigkeit auf der Königin der Instrumente. Er fühlte sich
glücklich. „Diese Sommermonate haben mich wahrhaft erquickt;
den Morgen gearbeitet, dann gebadet oder gezeichnet, nachmittags
Orgel oder Klavier gespielt, dann in den Wald gegangen und in Ge-
sellschaft oder nach Haus, wo die hübscheste Gesellschaft war —
daraus bestand mein lustiges Leben." In dieser Stimmung entstanden
die köstlichen vierstimmigen „Lieder im Freien zu singen". „Die
natürlichste Musik von allen ist es doch", schrieb er an Klingemann,
„wenn vier Leute zusammen spazieren gehen, in den Wald, oder auf
dem Kahn, und dann gleich die Musik mit sich und in sich tragen.
Bei den Männerstimmen liegt das Philisterhafte schon gleich in den
vier Männerstimmen, aus musikalischen und anderen Gründen, und hat
sich auch so bewährt. Aber hier liegt in der ganzen Zusammen-
stellung schon das Poetische, und ich möchte nur, es bewährte sich auch."
Mit frischen Kräften konnte Mendelssohn im Herbst 1839 die
Musikkampagne in Leipzig eröffnen. Die Anforderungen an seine
Leistungsfähigkeit waren noch gewachsen. Das Gewandhausorchester
72 Felix Meritis
hatte sich jetzt zur vollen Meisterschaft entwickelt. Da war es kein
Wunder, daß die Komponisten ihre Symphoniepartituren nach Leipzig
schickten. Aber nur eine bescheidene Auswahl konnte zum Erklingen
kommen. In diesem Winter waren es Marschner, Schneider, Onslow,
Kalliwoda, Kittl und Lindblad. Von sich selbst brachte Mendelssohn
außer einiger Kirchenmusik vor allem das d-moll-Trio mit David und
Wittmann zusammen zur Aufführung. Schumann hatte allen Grund,
für seinen Felix Meritis zu schwärmen. Mendelssohn fühlte es jedoch,
daß wenig dabei herauskomme, „Bleibendes gar nichts", und er be-
klagte es, daß man in Deutschland so auf die Vereinzelung angewiesen
sei und von vornherein aufs Zusammenwirken Verzicht leisten müsse.
Und doch liebte er sein Deutschland, „trotz aller Schlafröcke und
Nachtmützen und Tabakspfeifen, die daran hängen". Das soziale Ge-
fühl regte sich in ihm. „Mein Steckenpferd ist jetzt unser armes
Orchester und seine Verbesserung; jetzt habe ich ihnen, mit unsäg-
licher Lauferei, Schreiberei und Quälerei, eine Zulage von 500 Talern
ausgewirkt." Es war ihm eine Freude, Verdienste belohnen zu kön-
nen. Nach der Tat für die Lebenden, durfte er auch der Toten ge-
denken. Er legte es den Leipzigern nahe, Johann Sebastian Bach vor
der Thomasschule ein Denkmal zu setzen. Die damals grassierende
Denkmalssucht hatte ihn zwar in Harnisch gebracht, und er meinte,
es wäre besser, wenn die betreffenden Städte lieber gute Orchester
bilden wollten, die die Werke der Meister ordentlich spielen und
verstehen könnten. Nachdem er aber das Seine für das Leipziger
Orchester getan hatte, konnte er an die Bach-Ehrung gehen. Für
den Denkmalsfond veranstaltete er in der * Thomaskirche an Bachs
Orgel ein Konzert, in dem er eine Reihe Orgelwerke des Thomas-
kantors spielte. „Ich gab's solissimo und spielte neun Stücke und
zum Schluß eine freie Phantasie", schrieb er seiner Mutter. Der
Zweck wurde erreicht.
Die reisenden Virtuosen vermehrten die Unrast des Musik-
getriebes. Dreyschock, Prume, die Pleyel, Hiller, Ernst und viele
andere triumphierten in Leipzig. Der König aber war Franz Liszt.
Mendelssohn freute sich auf sein Kommen, „trotz seiner fatalen Jour-
nalistik". Und er wurde nicht enttäuscht. „Liszt war hier und hat
einen Heidenskandal verursacht, im guten und schlechten Sinn. Ich
habe keinen Musiker gesehen, dem so wie dem Liszt die musikalische
Felix Meritis 73
Empfindung bis in die Fingerspitzen liefe", berichtete er nach Berlin.
Nur Liszts Kompositionen erschienen ihm mangelhaft. Für die Musi-
kalischen in Leipzig waren es Festtage. Aber den Philistern und
nicht zum wenigsten den rezensierenden gingen die Wogen zu hoch.
Sie versuchten die Begeisterung zu dämpfen. Hämischer Neid zauste
an Ruhm und Größe. Mendelssohn mußte die Geister versöhnen:
„Ich gab ihm eine Soiree auf dem Gewandhause von 350 Personen,
mit Orchester, Chor, Bischof, Kuchen, Meeresstille, Psalmen, Tripel-
konzert von Bach (Liszt, Hiller und ich), Chören aus dem Paulus,
Fantaisie sur la Lucia di Lammermoor, Erlkönig, Teufel und seine
Großmutter". Die Harmonie war wieder hergestellt. Galant phan-
tasierte Liszt aus dem Stegreif über Mendelssohns Lied „Auf Flü-
geln des Gesanges". Mendelssohn, Schumann und Clara standen
bewundernd am Flügel. Der Grandseigneur hatte sie alle gewonnen.
Erst später trennten sich die Wege.
Mendelssohns Ruhm legte ihm Verpflichtungen auf. Viele such-
ten seinen Rat. Täglich kamen Partituren, «die beurteilt werden soll-
ten. Und für alle fand der Meister verbindliche Worte. Man suchte
ihn als Lehrer. Aber er lehnte ab: „Ich habe mich überzeugt, daß
mir zu einem eigentlichen Lehrer, zum Geben von regelmäßigen,
stufenweise fortschreitenden Lektionen das Talent durchaus fehlt,
sei es, daß ich zu wenig Freude daran oder zu wenig Geduld dazu
habe, kurz, es gelingt mir nicht." Trotzdem lag ihm die musikalische
Erziehung der Jugend am Herzen. Und sein findiger Geist hatte
bald den rechten Plan gefunden. Der Hofkriegsrat Blümner hatte
nach seinem Tode die Summe von 20 000 Talern dem König von
Sachsen zur Verfügung gestellt für eine Stiftung zur Förderung der
Kunst und Wissenschaft. Mendelssohn überreichte nun dem Kreis-
direktor von Falkenstein im Dresden am 8. April 1840 ein Memo-
randum über die Notwendigkeit der Errichtung einer Musikschule in
Leipzig. Mit Erstaunen lesen wir Heutigen darin: „Bei der vor-
herrschend positiven, technisch-materiellen Richtung der jetzigen Zeit
wird die Erhaltung echten Kunstsinnes und seine Fortpflanzung zwar
eine doppelt wichtige, aber auch doppelt schwere Aufgabe. — Durch
eine gute Musikschule, die alle verschiedenen Zweige der Kunst um-
fassen könnte, und sie alle nur aus einem einzigen Gesichtspunkte als
Mittel zu einem höheren Zwecke lehrte, auf diesen Zweck alle ihre
74 Felix Meritis
Schüler möglichst hinführte, wäre jener praktisch-materiellen Ten-
denz, die ja leider auch unter den Künstlern selbst viele und ein-
flußreiche Anhänger zählt, jetzt noch mit sicherem Erfolg vorzu-
bauen." Das war von einer hohen menschlichen und künstlerischen
Warte gesprochen. Mendelssohn bat den Kreisdirektor, seinen Ein-
fluß dahin auszuüben, daß das Legat zur Errichtung eines Konser-
vatoriums verwendet würde. Seine Bemühungen wurden schließlich
von Erfolg gekrönt.
Den Rastlosen bedrängten Anzeichen einer nahenden Erkran-
kung. Aber die Energie überwand Anfälle von Ermüdung und Ner-
venerschlaffung. Die Feder durfte nicht ruhen; denn der Lobgesang,
eine Symphonie-Kantate, mußte beendet werden. Am 25. Juni fand
die 400-Jahrfeier der Erfindung der Buchdruckerkunst statt. Mendels-
sohn hatte den musikalischen Teil des Festes zu leiten und für die
Buchdrucker seinen „Lobgesang" geschrieben. Der Eindruck, den
das Werk in der Thomaskirche machte, war groß. Wir zählen es zu
dem Vergänglichen in Mendelssohns Schaffen. Inzwischen war die
Zeit der sommerlichen Musikfeste herangekommen. Diesmal riefen
ihn die Schweriner, und er dirigierte in Mecklenburgs Hauptstadt
seinen Paulus. Kaum zurück, mußte er eine Zusage nach Eng-
land schicken, wo er wieder das Musikfest in Birmingham leiten sollte.
Beinahe schien ihm eine heftige Erkrankung einen Strich durch den
Plan zu machen. Nach einem kalten Flußbad hatte er „so heftige
Kongestionen nach dem Kopfe, daß er viele Stunden bewußtlos und
krampfhaft dalag, und der Arzt meinte, es könnte auch vorbei sein."
Erst allmählich ging der Anfall vorüber, und im September war er
wieder kräftig für die Fahrt nach England. Die Engländer begrüßten
einen liebgewordenen, anerkannten Meister in ihm, und sein „Lob-
gesang", den er am 23. September als Hauptwerk des Musikfestes
aufführte, war ihnen eine Musik so recht aus ihrem Herzen ge-
schrieben. Mit Klingemann gab es vertraute Stunden, und in Mo-
scheies fand er denselben hilfsbereiten Freund, der ihn diesmal nach
Deutschland begleitete, um Leipzig mit seinen Virtuosenkünsten heim-
zusuchen. Das gab wieder ein Fest an der Pleiße. „Moscheies
spielte viel und vortrefflich; zum Schluß seines Aufenthaltes gab
ich ihm eine große Soiree von gegen 400 Personen auf dem Gewand-
haus, mit Chor und Orchester, wo er sein g-moll-Konzert, sein homm-
FelixMeritis 75
age ä Händel mit mir, Bachs Tripelkonzert mit Clara Schumann
und mir, und einige Etüden spielte, und wo außerdem Beethovens
Leonoren-Ouvertüre, mein 42. Psalm von 160 Dilettanten gesungen,
dann meine Hebriden-Ouvertüre vorkamen; die Leute waren alle in der
vergnügtesten Stimmung". Es ging patriarchalisch zu in Leipzig, und
die Musik war eine Angelegenheit des Gesellschaftlichen.
Wieder rollte sich die Reihe der Gewandhauskonzerte ab. Neben
der kuriosen historischen Symphonie von Spohr kam Lachner mit
einer neuen Symphonie zu Gehör. Mendelssohn arbeitete den „Lob-
gesang" um und führte ihn am 3. Dezember im Gewandhaus auf.
Der König Friedrich August von Sachsen war anwesend und „war
süperb liebenswürdig, am Schluß des Konzerts ließ er seinen ganzen
Hofstaat stehen, kam durch den Saal an mein Pult, und dankte auf die
allerfreundlichste und lebendigste Weise", berichtete Mendelssohn
erfreut. Nun mußte das Herz selbst des verstocktesten Leipzigers
für den von königlicher Huld Bestrahlten schlagen. Auch das Jubi-
läum der Leipziger Liedertafel zog ihn in Mitleidenschaft, und er
seufzte in einem Brief an die Mutter: „Gott sei bei uns, was ist das
deutsche Vaterland für ein langweiliges Ding, wenn es von dieser
Seite betrachtet wird. Ich erinnere mich lebhaft an Vaters ungeheuren
Grimm gegen die Liedertafeln und überhaupt gegen alles, was in
einiger Verwandtschaft mit Vetter Michel steht, und fühle so etwas
ähnliches in mir." Die deutsche Michelei bedrängte ihn damals
von allen Seiten. Es war die Zeit des Beckerschen Rheinliedes.
Auch Mendelssohn wurde aufgefordert, eine Melodie dazu zu schrei-
ben. Aber ihm war ganz und gar nicht nach patriotischen Liedern
zumute. Für ihn lag etwas Jungenhaftes darin, gegen die Franzosen
zu singen „in demselben Moment, wo sie eben einsehen, daß die Fran-
zosen nicht gegen sie fechten wollen". Das Hallo und der Zeitungs-
enthusiasmus waren ihm widerlich. Denn seine Liebe zu Deutschland
war anderer Art als die von Geschäftspatrioten und Dummköpfen.
Er hatte wichtigeres zu tun. Nachdem der Jüngling Mendelssohn die
Bachsche Matthäuspassion in Berlin zu neuem Leben erweckt hatte,
war es zunächst noch stumm geblieben in Deutschland nach dieser
Großtat. Mendelssohn ließ sich jedoch von Schwierigkeiten nicht
abschrecken. Er studierte das gigantische Werk auch in Leipzig ein
und führte es am 4. April 1841 zum Besten des Bachdenkmals in der
76 Felix Meritis
Thomaskirche auf. Das war die zweite Leipziger Aufführung der
Passion. Die erste hatte Johann Sebastian Bach selbst am Karfreitag
1729 geleitet.
Mendelssohn vollbrachte diese Tat schon mit dem Qefühl des
Scheidenden. Berlin wollte ihn zurück haben. Dort hatte Friedrich
Wilhelm IV. den Mann der Königin Luise auf dem preußischen Königs-
thron abgelöst. Der Kunstsinn und die natürliche Begeisterungs-
fähigkeit des neuen Monarchen drängte nach Betätigung. Zunächst
ging er daran, die Akademie der Künste, in der es sehr muffig ge-
worden war, umzugestalten. Geplant war eine Einteilung in vier
Klassen für Malerei, Skulptur, Architektur und Musik. Für die Malerei
und Skulptur hatte er in Cornelius und Rauch schnell die geeigneten
Führer gefunden. Für die musikalische Abteilung hatte er Mendels-
sohn ausersehen, mit dem er ja schon als Kronprinz in Berührung
gekommen war. Der Geheimrat von Massow hatte Paul Mendels-
sohn veranlaßt, dem Bruder in Leipzig den Wunsch des Königs zu
unterbreiten. Die musikalische Abteilung der Akademie sollte aus
einer großen Musikschule bestehen, in der gleichzeitig der Grund für
große öffentliche Konzerte gelegt werden sollte. Mendelssohn fand
die Anerbieten brillant und vorteilhaft, was die 3000 Taler Gehalt
und den Urlaub anbetraf. Nur war er sich der Schwierigkeiten einer
solchen Position durchaus bewußt. Er vertraute es Klingemann an:
„Ich fühle mich hier glücklich und lebe zufrieden; bei mir ist und
bleibt die äußerliche Stellung eine Nebensache, ich mache mir aus dem,
was die Leute Ehrenbezeigung nennen, und was der Ruf nach Berlin
wohl ist, an sich nichts; es kommt mir darauf an, viel und mancherlei
Neues zu komponieren und nota bene, ich weiß, daß eine verdrieß-
liche äußerliche Stellung, Häkeleien mit Publikum, Musikern und
Behörden mich in dieser meiner Hauptabsicht sehr stören können."
Das elterliche Haus lockte allerdings. Die Familie drängte. Aber
immer noch zögerte er. Die musikalischen Zustände Berlins er-
schienen ihm trostlos. „Dort gehört ein Mann hin, der die An-
fangsgründe erst wieder erweckt; der 10 bis 15 Jahre lang wieder
belebt, was 20 bis 25 Jahre lang totgeschlagen worden ist, syste-
matisch; dann kann sich ein Musiker wieder dort behaglich fühlen,
ohne jene Vorarbeit nicht. Die zu unternehmen habe ich weder Lust
noch Beruf."
Intermezzo 77
Mendelssohns Geduld wurde bei den monatelangen Verhand-
lungen auf eine harte Probe gestellt. Die Berliner Bürokraten waren
glatt und hinterhältig, versprachen etwas, nahmen es dann still-
schweigend wieder zurück und schoben Mendelssohn Dinge unter,
zu denen er sich nie verstanden hatte. Endlich konnte er nicht mehr
anders als zusagen. Er tat es noch im letzten Augenblick ungern und
mit Widerstreben, „einer der sauersten Äpfel, in die man beißen kann,
und doch muß es gebissen sein". Er ahnte schon aus dem ganzen
Verhalten der leitenden Stellen das Erfolglose eines ehrlichen, nur
auf das beste der Kunst gerichteten Bemühens. „Da kommt ja schon
wieder das Berliner Zwitterwesen; die großen Pläne, die winzige
Ausführung; die großen Anforderungen, die winzigen Leistungen;
die vollkommene Kritik, die elenden Musikanten; die liberalen Ideen,
die Hofbedienten auf der Straße; das Museum und die Akademie und
der Sand." Mendelssohn hatte sich dem König zunächst ein Jahr für
seine Pläne zur Verfügung gestellt. Und wenn Mendelssohns trübe
Ahnung in Erfüllung gehen sollten, so war es nicht die Schuld des
Königs, der gern das Große wollte, sondern, wie fast immer, das Werk
jener Kreaturen gerade in der höheren Bürokratie, deren Schwer-
fälligkeit und dünkelhafte Unfähigkeit das Gute und Neue vortreff-
lich zu hemmen und zu vernichten wissen.
In Leipzig hatte er sich noch einmal selbstvergessen in die
Komposition gestürzt. Die Variations serieuses opus 54 und die
Es-dur-Variationen opus 82 beseligten ihn. Daneben schrieb er das
Allegro brillant opus 92 zu vier Händen und verschiedene Lieder mit
und ohne Worte. Ein kurzer Ausflug nach Dresden, „um die Ungher
und Moriani singen zu hören, Raffael und Tizian malen zu sehen",
brachte willkommene Abwechslung. Ende Juli ging die Reise nach
Berlin. Mendelssohn fühlte es, daß der Abschied von Leipzig kein
langer sein würde. Aber es galt, den Willen eines Königs zu er-
füllen.
INTERMEZZO
Die ersten Berliner Tage verflogen in der allgemeinen Familien-
freude. Mendelssohn war ja nun ein berühmter Mann geworden,
78 Intermezzo
so daß selbst die Berliner ihm die nötige Hochachtung nicht versagten.
Er aber konnte kein Verhältnis mehr zur Hauptstadt Preußens fin-
den. Eine ganze Flut von Spott und Hohn ergoß er in seine Berliner
Briefe, und in immer neuen Variationen entlud sich seine Antipathie.
Auch das ist ein Zeichen für seine feinfühlige Natur. Noch nie hat ein
großer Musiker in Berlin gedeihen können. „Diese Unfruchtbarkeit,
Trockenheit, Windigkeit, Staubigkeit, Dumpfigkeit. Diese üble Luft
in Wetter, Menschen und Kunst", so apostrophierte Mendelssohn die
Stadt. „Weißbier, Mietwagen, Kuchen und Beamte sind wundervoll
hier", witzelte er und schrieb es ernster dem Präsidenten Verkenius
nach Köln: „Dieselbe Zersplitterung aller Kräfte und aller Leute,
dasselbe unpoetische Streben nach äußerlichen Resultaten, derselbe
Überfluß an Erkenntnis, derselbe Mangel an Produktion, und Mangel
an Natur, dasselbe ungroßmütige Zurückbleiben in Fortschritt und
Entwicklung, wodurch beide freilich viel sicherer und gefahrloser
werden." ja, trotz allen Vorzügen und frohen Erinnerungen kann er
sich kaum an irgendeinem Ort Deutschlands so wenig zu Haus fühlen
wie in Berlin. Das Schlimmste waren für ihn, den Tätigen, die musi-
kalischen Zustände. Berlin war schon zu groß, als daß sich ein
Musikleben noch einheitlich hätte gestalten können. Und Mendels-
sohn war immer versucht, mit Leipzig zu vergleichen, wo er dem
Ganzen das Gepräge gab. Rossini und die anderen Italiener hatten
hier ebenso viele Verehrer wie Beethoven und Gluck. „Die Musiker
sind jeder für sich, nicht je zwei miteinander übereinstimmend,"
Spontini, der immer noch an der Oper herrschte, vernachlässigte das
Orchester. Er hatte seinen Einfluß noch in die Regierungszeit des
neuen Königs hinübergerettet; aber bald brachten ihn seine Feinde,
vor allem der zähe Rellstab, zur Strecke. Nur die Kritik mußte Men-
delssohn als „scharf, genau und wohl ausgebildet" rühmen. Da feierte
der Berliner Rationalismus Triumphe. Mendelssohn mißfiel das viele
Reden über Musik: „Der ganze Sinn der Musiker wie der Dilettanten
ist zu wenig aufs Praktische gerichtet; sie musizieren eigentlich meist,
um nachher und vorher darüber reden zu können, und da kommen
die Reden besser und klüger, aber die Musik mangelhafter heraus,
als an den meisten anderen deutschen Orten." Die Mittelmäßigkeit
gab den Ton auf der ganzen Linie an. In der Singakademie, die
den jungen Mendelssohn vor zwölf Jahren verschmäht hatte, machte
Intermezzo 79
man Musik für Kaffeetanten. Die Tatkraft wirklich Strebender wurde
im Geschwätz erstickt.
Trotzdem durfte Mendelssohn nicht müßig sein. Der erste könig-
liche Auftrag verlangte von ihm in kürzester Frist die Komposition
der Musik zur Antigone des Sophokles. Männerchor und Orchester
kamen als Ausführungsorgane in Betracht. In elf Tagen hatte Men-
delssohn die Musik niedergeschrieben. Die Gewalt der griechischen
Tragödie hatte ihn tief ergriffen. Tieck hatte die bühnenmäßige Be-
arbeitung des Werkes besorgt. „Ganz Berlin glaubt natürlich, wir
seien sehr pfiffig und ich komponierte die Chöre, um Hofgünstling
zu sein, oder Hofmusikus oder Hofnarr", schrieb Mendelssohn an
Ferdinand David. Er brauchte kein Philologe zu sein, um die Töne
zu den Chören zu finden, die ihm noch so echt musikalisch erschienen,
wie sie es vor 2000 Jahren gewesen waren. Aber der Skeptiker
war doch wieder wach in ihm : „Bis jetzt habe ich nur mit Bewunde-
rung zu tun gehabt; nach der Aufführung werden aber wohi die Ge-
lehrten kommen, und mir offenbaren, wie ich hätte komponieren
müssen, wenn ich ein Berliner gewesen wäre." Am 28. November
wurde die Antigone im Königlichen Theater in Potsdam nach griechi-
schem Muster aufgeführt. Devrient und die Crelinger waren unter den
Mitwirkenden, das Auditorium das denkbar glänzendste, der ganze
Hofstaat, die Elite der Künstler- und Gelehrtenwelt, und der Erfolg
so außerordentlich, daß die Aufführung am 6. November wiederholt
wurde. Kurz darauf reiste Mendelssohn nach Leipzig und dirigierte
unter größter Anteilnahme des Publikums einige Gewandhauskonzerte
an Stelle Davids, der ihn sonst vertrat. Einem kleinen Kreis führte
er auch seine Antigonemusik vor, mußte aber bald wieder die Pleiße
mit der Spree vertauschen.
Die Königlichen Angelegenheiten ruhten. Die Akademiepläne
Friedrich Wilhelms IV. verstaubten in den Schreibpulten der Geheim-
räte, und Mendelssohn konnte trotz vielfachen Bemühungen die Dinge
nicht in Fluß bringen. Der Wunsch des Königs hatte ihn aus seinem
Leipziger Wirkungskreis gerissen, und nun mußte er in Berlin das
Dasein eines Privatmanns führen. Die unerfreulichen Zustände konn-
ten ihm seine Lage nicht versüßen. „Einstweilen schreibe ich Noten,
und antworte, wenn man mich fragt", schrieb er einem Freund. Die
Lyrik sproßte im märkischen Sand zwar nur spärlich. Aber die Arbeit
80 Intermezzo
an der a-moll-Symphonie, der sogenannten Schottischen, half über
leere Stunden hinweg. Jedoch wußten einige Berliner immer noch,
was sie dem Meister schuldig waren, und ermunterten Mendelssohn
zur Aufführung eigener Werke. So brachte er am 10. Januar 1842
im Saal des Königlichen Schauspielhauses den „Paulus" zu Gehör.
Die Hofoper hatte die Solisten und das Orchester, die Singakademie
den Chor gestellt. Ja, die Garde Rungenhagens wollte altes Unrecht
wieder gut machen. Mendelssohn wurde aufgefordert, den „Paulus"
noch einmal in der Singakademie zu dirigieren, und die Braven er-
nannten ihn nun zu ihrem Ehrenmitglied. Der Hausmannsche Ge-
sangverein bemächtigte sich des „Lobgesanges", die Orchester spiel-
ten die Ouvertüren, Künstler und Dilettanten sangen Mendelssohns
Lieder. Aber das Verhältnis Mendelssohns zu den Berlinern sollte
kein ungetrübtes sein. Liszt kam und versetzte selbst die Nüchtern-
sten in einen Taumel. Dieser Enthusiasmus nahm Formen an, die
Mendelssohns gutem Geschmack zuwider waren. Jedoch darf man
daraus keine Antipathie Mendelssohns gegen Liszts Künstlertum kon-
struieren, wie es vielfach versucht worden ist. Ihn beleidigte nur das
Jahrmarktsgeschrei. Noch weit unangenehmer berührte ihn der
Meyerbeer-Trubel, der mit dem ungeheuren Erfolg der Hugenotten
einsetzte. Schon die Pränumerando-Apotheose in den Zeitungen, die
von Meyerbeer als dem Shakespeare der Musik schwärmten, er-
bitterten ihn. Auch hier hat man Mendelssohn Neid unterschieben
wollen, ein Unterfangen, das bei seiner vornehmen Natur lächerlich
wirkt.
Da Mendelssohn in Berlin seinen Tätigkeitsdrang nicht befrie-
digen konnte, kam ihm die erste öffentliche Aufführung der Antigone
am Leipziger Stadttheater sehr gelegen, um gleichzeitig wieder einmal
im Gewandhaus zu dirigieren und seine a-moll-Symphonie zu klingen-
dem Leben zu erwecken. Der helle Jubel, der ihn begrüßte, und
die allseitige Verehrung, die ihm die Leipziger Tage wieder an-
genehm machten, entschädigten ihn für vieles. Auch die Berliner
Öffentlichkeit verlangte jetzt nach der Antigone, und es spricht für
den Ernst der Theaterbesucher, daß die erste Aufführung einen außer-
ordentlichen Erfolg hatte, nicht zum wenigsten dank Mendelssohns
Musik. Als im Herbst des nächsten Jahres der Philologenkongreß
in Kassel tagte, sandte man dem Tondichter eine Dankadresse, „weil
Intermezzo 81
er durch seine Musik wesentlich zur Wiederbelebung des Interesses
an der griechischen Tragödie beigetragen habe". Aber auch die
Düsseldorfer wollten den vielumworbenen Meister wieder einmal bei
sich sehen und forderten Mendelssohn auf, zusammen mit Julius Rietz
das Musikfest zu dirigieren. Händeis „Israel in Ägypten" und der
„Lobgesang" Mendelssohns waren die Hauptwerke. An Ehren-
bezeugungen ließ man es nicht fehlen, namentlich als sich Mendels-
sohn bereit finden ließ, in einer freien Phantasie seine Improvisations-
künste zu zeigen. Von Düsseldorf aus ging die Reise nach England,
nachdem er vorher noch zum Ritter der Friedensklasse des Ordens
Pour le merite, den Friedrich Wilhelm IV. wieder hervorgesucht
hatte, ernannt worden war.
England, das von jeher dem deutschen Musikgenius in Händel,
Haydn, Beethoven, Weber nicht nur platonisch, sondern auch durch
die Tat gehuldigt hatte, bereitete Meister Mendelssohn wieder einen
würdigen Empfang. Man schwelgte in Mendelssohnschen Kompo-
sitionen. Die a-moll-Symphonie wurde stürmisch begrüßt. Mendels-
sohn spielte sein d-moll-Konzert und dirigierte die Hebriden-Ouver-
türe. „Die Leute machen diesmal einen Skandal mit mir, daß ich
ganz verblüfft davon bin; ich glaube, sie haben zehn Minuten lang
geklatscht und getrampelt nach dem Konzert und die Hebriden muß-
ten wiederholt werden." Auch die junge Königin Victoria blieb in
der Mendelssohn-Begeisterung ihrer Landsleute nicht zurück. Sie
lud den Meister ein, im Buckingham Palace im allerengsten Kreise
zu spielen. Sie war allerliebst, wie Mendelssohn seiner Mutter be-
richtete. Er spielte „erst sieben Lieder ohne Worte, dann die Sere-
nade, dann zwei freie Fantasien auf Rule Britannia und Lützows wilde
Jagd und Gaudeamus igitur". Natürlich wurde er sehr ausgezeich-
net. Die liebsten Stunden waren ihm jedoch die bei seinen Freunden
Moscheies und Klingemann. Seine Frau hatte ihn diesmal begleitet,
und so war die Freude eine erhöhte. Den Musikdurstigen in Man-
chester wurde noch ein kurzer Besuch abgestattet, und dann ging es
in den letzten Tagen des Juni nach Deutschland zurück. Eine Ein-
ladung, beim Musikfest im Haag seinen Lobgesang zu dirigieren,
hatte Mendelssohn abgelehnt. Er sehnte sich nach Ruhe, hielt es
deshalb auch nicht lange in Berlin aus und fuhr mit seinen Angehörigen
in die Schweiz. Hier kam sein stark angegriffenes Nervensystem
Dabms, Mendelssohn 6
82 Intermezzo
bald wieder in Ordnung. Der Nachsommer sah ihn in Frankfurt,
wo er Hiller traf, die a-moll-Symphonie vierhändig arrangierte, viel
Orgel spielte und noch mehr auf den „geistigen Michel", die Berliner
Krittelei und Philisterhaftigkeit in Kunstdingen, schimpfte. Seine
große Menschlichkeit ließ ihn bei dem Verleger Simrock ganz im
geheimen für die Kompositionen seines Freundes Hiller eine Lanze
brechen. Es zwang ihn zu helfen, wo er es vermochte.
Zweifelnd und widerwillig dachte er an Berlin und seine könig-
lichen Verpflichtungen. Die Leipziger riefen, und freudig griff Men-
delssohn zu. Der Gewandhaussaal war umgebaut worden. Neue
Galerien und Gasbeleuchtung sollten dem Unternehmen einen groß-
städtischen Anstrich geben. Aber die Devise war die alte geblieben:
Res severa est verum gaudium. Mendelssohn dirigierte das Er-
öffnungskonzert. Webers Jubelouvertüre und Beethovens A-dur-Sym-
phonie umrahmten die Sololeistungen Clara Schumanns und Ferdinand
Davids. Mendelssohn hatte sich entschieden. Er wußte, wo sein
Platz war, und ging noch einmal nach Berlin, nur um dem märkischen
Intermezzo ein Ende zu machen. Immer noch brüteten die Büro-
kraten über dem Ei der Musikakademie, und man suchte ihn wieder
mit Vertröstungen hinzuhalten. Aber Mendelssohn wollte Klarheit.
Der Minister Eichhorn machte ihm den Vorschlag, an die Spitze der
gesamten evangelischen Kirchenmusik zu treten. Mendelssohn lehnte
ab, da er sich nach praktischer Tätigkeit sehnte. Und schließlich er-
hielt er durch Vermittlung des Geheimrats von Massow eine Audienz
beim König bewilligt. „Der König muß besonders guter Laune
gewesen sein, denn statt ihn böse auf mich zu finden, hatte ich ihn
nie so liebenswürdig und wirklich vertrauensvoll gesehen. Er sagte
mir auf meine Abschiedsrede: er könne mich freilich nicht zum
Bleiben zwingen, aber er wolle mir doch sagen, daß es ihm herz-
lich leid täte, wenn ich ihn verließe, daß dadurch alle seine
Pläne scheiterten, die er auf meine Anwesenheit in Berlin ge-
baut habe, und daß ich ihm eine Lücke risse, die er nicht wieder
ersetzen könne." Der König wollte einen kleinen Chor von dreißig
ausgezeichneten Sängern und ein kleines Orchester aus Mitgliedern
der Königlichen Kapelle zusammengestellt haben ; damit sollte Men-
delssohn Kirchenmusik und Oratorien aufführen und vor allem selbst
Neues dafür schaffen. Mendelssohn konnte nichts anderes tun, als
A m Z i e 1 83
seine Bereitwilligkeit erklären, wenn dieses „Instrument" für ihn vor-
handen wäre, nach Berlin zu kommen und sich dem König zur Ver-
fügung zu stellen. Bis dahin aber bat er nach Leipzig gehen zu dürfen.
Und der König gab nach. Mendelssohn hatte seine künstlerische
Freiheit wieder gewonnen. Das Intermezzo der Dürre war beendet.
AM ZIEL
In Leipzig atmete Mendelssohn wieder auf. Hier fühlte er sich
geliebt und verstanden, hier war ihm das Leben in Musik getaucht.
Zwar trat jetzt der König von Sachsen als Versucher an ihn heran,
um ihn nach Dresden zu ziehen. Aber Mendelssohn widerstand
selbst den lockendsten Angeboten. Er erreichte jedoch beim König,
daß dieser endgültig das Legat des Hofkriegsrats Blümner für die
Errichtung eines Konservatoriums in Leipzig bewilligte. Das ergab
neue Arbeit, aber auch neue Freuden. Druck und Korrektur der
Antigone und der a-moll-Symphonie plagten den Überhäuften. Die
Gewandhauskonzerte zwangen den Meister ohnehin wieder in die
Bahn eines regelmäßigen Pflichtdienstes. Mit Inbrunst versenkte er
sich in die Partituren der Klassiker und lieh den Zeitgenossen seine
unschätzbare Hilfe. Doch in das Getriebe hallte unvermittelt und jäh
die Totenglocke. Die Mutter war am 12. Dezember 1842 ganz
plötzlich gestorben. Während der Sonntagsmusik wurde sie ohn-
mächtig und verschied schmerzlos nach einigen Stunden. Mendels-
sohn stand fassungslos an einem neuen Grab. Das Schreckgespenst
eines nahenden Endes mochte auch ihn bedrängen; und es gab
doch noch so viel zu leisten, so viele Melodien zu bergen, die ans
Licht drängten. Nur die angespannteste Tätigkeit konnte ihn retten,
und mit Eifer stürzte er sich in die Arbeit.
Klingemann gegenüber durfte er aufatmen: „Seit einigen Wochen
habe ich recht lebhaft wieder empfunden, welch himmlischer Beruf
eigentlich die Kunst ist. Verdanke ich den doch auch wieder nur den
Eltern. Eben wenn alles andere, was einen abziehen möchte, so
widerwärtig, leer und schal erscheint, so ergreift einen auch die
kleinste wirkliche Tätigkeit der Kunst gleich so im Innern, führt
84 Am Ziel
gleich so weit, weit von der Stadt weg, vom Lande, von der Erde
weg, daß es ein wahrer Qottessegen ist." Mit Berlin stand er ja
immer noch in Verbindung. Für sein halbes Gehalt hatte er die Ver-
pflichtung übernommen, dem König von Preußen auf Wunsch Bühnen-
musiken zu schreiben. Daneben arbeitete er die Walpurgisnacht gänz-
lich um. „Die Walpurgisnacht habe ich von A bis Z neu umge-
schrieben — es ist geradezu ein anderes Stück geworden und ein
hundertmal besseres", heißt es in einem Brief.
Als hervorragendstes Ereignis dieser Monate ist jedoch die Grün-
dung des Leipziger Konservatoriums zu buchen. Am 16. Januar 1843
wurde das Programm herausgegeben, und am 3. April eröffnete der
Minister von Falkenstein die Anstalt im Namen des Königs. Mendels-
sohn, der sich selbst den Unterricht in der freien Komposition vor-
behalten hatte, fand namhafte und rührige Mitarbeiter: Schumann
für Klavier und Komposition, Moritz Hauptmann für Harmonielehre
und Kontrapunkt, Ferdinand David für Violine, C.F.Becker für Orgel,
Frau Grabau-Bünau für Gesang und andere. Der Aufschwung, den
das Institut nahm, war schnell und erfreulich. Mendelssohns Ruhm
lockte die Schüler, Freistellen halfen den Unbemittelten. Im Zeichen
Mendelssohns gewann das Leipziger Konservatorium seinen Welt-
ruf als Pflegestätte klassischen Geistes. Mendelssohn war nicht nur
ein Mann der Ideale, er war auch ein Mann der Praxis, des Hand-
werks, des hohen Ernstes. Bezeichnend ist, was er an Moscheies
schrieb: „Die Musikschule nimmt einen schönen Anfang; fast täglich
kommen neue Meldungen, und die Zahl der Lehrer, so wie die der
Lektionen hat schon bedeutend vergrößert werden müssen. Zwei
wahre Krankheiten machen sich aber bemerklich, denen ich, solange
ich dabei bin, mit Händen und Füßen entgegenarbeiten werde: Die
Direktion will vergrößern und generalisieren, namentlich Häuser
bauen, Lokale von mehreren Stockwerken mieten, während ich be-
haupte, daß für die ersten zehn Jahre die zwei Säle, die wir haben,
und in denen gleichzeitig Unterricht gegeben werden kann, aus-
reichend sind, — und die Schüler wollen alle komponieren und theo-
retisieren, während ich glaube, daß ein tüchtiges, praktisches Wirken,
tüchtig Spielen und Takthalten, tüchtige Kenntnis aller tüchtigen
Werke usw. die Hauptsache ist, die man lehren kann und muß. Aus
denen findet sich alle andere Lehre von selbst, und das weitere ist
A m Z i e 1 85
nicht Sache des Lehrers, sondern der Gottesgabe. Daß ich dem-
ungeachtet kein Handwerk aus der Kunst machen möchte, brauche
ich wohl nicht erst zu sagen." Diese goldenen Worte konnten einer
heranwachsenden Generation wohl als Richtschnur dienen.
Der Lehrer, dem die Herzen der Schüler zuflogen, war eine eben-
so seltene Erscheinung in seiner geistigen Vornehmheit wie der Diri-
gent, der allen Strebenden seine hilfreiche Hand bot. Anfang 1843
kam Berlioz auf seiner Reise durch Deutschland auch nach Leipzig.
In seinen Reisebriefen kann man über Mendelssohn lesen: „Zwar hat
er nichts von der unbeugsamen Strenge seiner Kunstprinzipien ein-
gebüßt, aber er sucht nicht mehr, sie mit Gewalt aufzudringen, und
beschränkt sich als Kapellmeister darauf, das ins Licht zu setzen,
was er für schön hält, und das im Schatten zu lassen, was ihm
schlecht oder von verderblichem Einfluß zu sein scheint. Nur liebt
er immer noch die Toten ein bißchen zu viel." Mendelssohn stellte
dem alten Kameraden seiner Romtage Orchester und Chor zur Ver-
fügung, und Berlioz errang den Leipziger Philistern zum Trotz einen
Sieg. Schumann sparte nicht mit seinem Lob, und mit Mendelssohn
tauschte Berlioz den Taktstock. Mendelssohn gab sein leichtes Stöck-
chen, der bizarre Franzose überreichte ihm dafür einen „groben
Knüppel" mit den Worten: „Le mien est grossier, le tien est simple".
Mendelssohn probte damals gerade seine Walpurgisnacht, die Berlioz
in aufrichtiger Bewunderung „ein wahres Meisterstück" nannte,
während sich Mendelssohn über des anderen Werke nur sehr zurück-
haltend äußerte. Ihm war die Pose ebenso verhaßt, wie er Programm-
musik dieser Art verabscheute.
Freundschaftliche Beziehungen knüpfte Mendelssohn mit Robert
Franz in Halle an, der dort den „Lobgesang" aufführte, nachdem er
schon vorher von Mendelssohn eine Abschrift der Matthäus-Passion
von Bach erhalten hatte. Und aus dem hohen Norden kam ein
junger Kunstgenosse, einer, dessen Ideale auch die Mendelssohns
waren, Niels W. Gade. Der hatte Mendelssohn seine erste Sym-
phonie in c-moll geschickt. Der Gewandhausdirigent fing sogleich
Feuer und dankte enthusiastisch; denn die frische und noble Kom-
position machte ihm soviel Freude, „wie seit langer Zeit kein anderes
Stück". Gade widmete Mendelssohn sein Werk, und als er selbst
nach Leipzig kam, schlössen sie bald innige Freundschaft.
86 Am Ziel
Mendelssohns Komponistenmuße wurde hauptsächlich durch
Aufträge Friedrich Wilhelm IV. ausgefüllt. Außer der Sommernachts-
traummusik schrieb er Chöre zur Racineschen Athalia für Frauen-
stimmen und großes Orchester. Der König hatte sich großzügig
gegen ihn benommen und ihm geschrieben: „Ich ernenne Sie zum
General-Musik-Direktor und vertraue Ihnen die Oberaufsicht und
Leitung der kirchlichen und geistlichen Musik als Wirkungskreis an".
Für Titelehren hatte Mendelssohn jedoch wenig Sinn und sie machten
ihn „fast verlegen". „Ich möchte nicht gern zu den Jetzigen gehören,
die mehr Ehrenstellen besitzen, als sie gute Noten geschrieben haben",
gab er zu verstehen. An sonstigen Arbeiten brachte er in diesem
Leipziger Winter die Cello-Sonate opus 58, die Konzertarie für Sopran
und Orchester opus 94, ein Capriccio für Streichquartett opus 81 und
einige Lieder für Chor- und Solostimmen fertig. Die Veröffentlichung
folgte auf dem Fuß, denn die Verleger umwarben ihn. War das Werk
gedruckt, dann hatte Mendelssohn innerlich damit abgeschlossen.
„Sind einmal die Korrekturen da, dann ist's mir so fremd und gleich-
gültig, als wärs von einem Unbekannten", äußerte er einmal.
Mit besonderer Freude konnte Mendelssohn jetzt das von ihm
angeregte Bachdenkmal der Leipziger Öffentlichkeit übergeben.
Bendemann, Hübner und Knaur hatten es geschaffen. Die Ent-
hüllungsfeierlichkeiten leitete Mendelssohn, der in seiner großen
Bescheidenheit einmal an die Mutter geschrieben hatte: „Übrigens
wollen wir so wenig Wesen wie möglich davon machen, um nicht
in das jetzige Phrasenzeug und die Kunst- und Künstleranbetung,
wie sie Mode ist, einzustimmen. Es geht unsereinem wahrhaftig
jetzt äußerlich um ebenso viel zu gut, wie es sonst den Künstlern zu
schlecht ging; für uns wäre das zwar ganz angenehm, aber für die
Sache taugt es nichts; die Kunst wird verhätschelt und faul; darum
sollte sich Einer über seine jetzigen Feinde mehr freuen, als ärgern".
Die Leipziger erfüllten in dieser Zeit eine Anstandspflicht, in-
dem sie Mendelssohn zum Ehrenbürger ernannten „in Anerkennung
seiner großen Verdienste um die musikalische Bildung in hiesiger
Stadt".
Noch einmal wurde das Leipziger Idyll durch einen dringenden
Ruf aus Berlin unterbrochen: der König wünschte seinen General-
musikdirektor in Berlin zu haben. Wieder begannen endlose Ver-
Am Ziel 87
handlungen, die Mendelssohn wegen der Hinterhältigkeit und Zwei-
deutigkeit der Bürokraten mehrmals abzubrechen im Begriff stand.
Aber er konnte schließlich dem Drängen nicht länger widerstehen,
da ihm im Domchor das verlangte Instrument geschaffen worden
war, auf dem er spielen sollte. Eduard Grell, der zweite Direktor der
Singakademie, der die Dommusik bisher geleitet hatte, übernahm
auch die Reorganisation des Instituts für Mendelssohn. Im Domchor
war nur der a cappella-Gesang gepflegt worden, Kompositionen von
Zelter, Rungenhagen und Grell, sowie altitalienische Meister. Men-
delssohn zuliebe, dem man einen größeren Apparat bieten wollte,
um sein Interesse zu erwecken und zu festigen, sollte nun auch die
Instrumentalbegleitung zur Kirchenmusik herangezogen werden.
Einige Aufführungen dieser Art kamen auch zustande, unter anderem
die seines 98. Psalms, den er eigens dafür komponiert hatte. Aber
die hohe Geistlichkeit sah die heiligsten Interessen der Religion
und Kirche in Gefahr, und Mendelssohn hatte keine Lust, gegen diese
Opposition künstlerische Pläne durchzufechten. Bald übernahm
August Heinrich Neithardt die Leitung des Domchors und führte
ihn auf die Höhe, die seinen großen Ruf begründete.
Mendelssohn fand eine lohnendere Aufgabe in den Symphonie-
konzerten der Königlichen Kapelle, die vor ihm Hennig und Taubert
abwechselnd dirigiert hatten. Hier feierte er als Interpret der klassi-
schen Meisterwerke Triumphe. Weniger Anklang fand er mit der
Einführung von Instrumental-Solovorträgen in das bisher reine Sym-
phonieprogramm. Heftiger aber noch war der Widerspruch gegen
das Auftreten von Gesangssolisten an dieser Stelle, und namentlich
Rellstabs giftige Feder tat das ihre, ihm diese Neuerungen zu ver-
leiden. In der Garnisonkirche führte er Händeis „Israel in Ägypten"
mit ungeheurem Erfolg auf. Noch größeren Enthusiasmus aber
erregte die Sommernachtstraummusik. Am 14. Oktober 1843 wurde
sie vor dem Hof in Potsdam aufgeführt: vier Tage später ergriff das
Berliner Publikum gierig und begeistert Besitz von der köstlichen
Musik im Schauspielhaus. So verging der Berliner Musikwinter trotz
allen Bemühungen Mendelssohns ohne ein Ergebnis, das ihn vollauf
befriedigen konnte. Auch das persönliche Verhältnis zwischen ihm
und dem König erlitt leichte Trübungen. Durch Zwischenträgereien
aller Art und kleinliches Intrigantentum wurden gewisse künstlerische
88 Am Ziel
Differenzen absichtlich ins Grundsätzliche und Große verzerrt. Der
Neid suchte nicht lange nach Gründen.
Mendelssohn war froh, in den Sommermonaten Berlin den Rücken
kehren zu können. Bis nach Frankfurt verfolgte ihn noch in seiner
Korrespondenz mit dem Geheimrat Bunsen die Berliner Kompositions-
pflicht. Der König wünschte von ihm eine Bühnenmusik zu den
Eumeniden des Äschylos. Mendelssohn hielt das für eine unaus-
führbare Aufgabe und beharrte dabei trotz einer Verstimmung des
Königs. Freiere Luft umgab ihn erst wieder in London, wo eine
ernste geistige Kultur den Erscheinungen der Kunst mit unbefange-
nerem Blick gegenüberstand. Mendelssohn hatte es übernommen,
eine Reihe der philharmonischen Konzerte in London zu dirigieren und
den englischen Mendelssohnianern seine Werke vorzuführen. Die Eng-
länder konnten Unmengen von Musik konsumieren. So veranstaltete
Mendelssohn, um alle Wünsche zu befriedigen, ein Konzert mit einem
Riesenprogramm von 38 Nummern. Hören wir ihn selbst: „Mein Auf-
enthalt in England war herrlich; ich bin noch niemals und nirgends
mit so allgemeiner Freundlichkeit aufgenommen worden, wie diesmal,
und habe in den zwei Monaten mehr Musik gemacht, als sonst in zwei
Jahren. Meine a-moll-Symphonie zweimal, den Sommernachtstraum
dreimal, den Paulus zweimal, das Trio dreimal; am letzten Abend,
den ich in London war, noch die Walpurgisnacht mit ganz unglaub-
lichem Jubel, außerdem noch die vierhändigen Variationen, das
Quartett zweimal, das D-dur- und e-moll-Quartett zweimal, diverse
Lieder ohne Worte, das Bachsche d-moll-Konzert zweimal, das Beet-
hovensche G-dur-Konzert — das sind einige von den Sachen die
öffentlich vorkamen ; dazu die Direktion der ganzen Philharmonischen
und anderen Konzerte, die unzähligen Gesellschaften; dann die Her-
ausgabe von Israel in Ägypten, die ich für die Handel Society während
dessen arbeitete, und nach dem Manuskript besorgte; die Kom-
position der Ouvertüre zu Athalia mitten hinein, welche bei dem
grenzenlosen Trouble auch keine kleine Aufgabe war".
Es ist zu verstehen, daß seine Abneigung gegen die Berliner
Misere der Halbgebildeten da neue Nahrung finden mußte. Im
Juli fuhr er aus England zurück, um in Bad Soden bei Frankfurt
die Nerven aufzufrischen. Aber nach wenigen Tagen wurde das
Idyll schon wieder unterbrochen durch die Verpflichtung, in Zwei-
Am Ziel 89
brücken auf dem pfälzischen Musikfest den Paulus, die Walpurgis-
nacht, Beethovens B-dur-Symphonie und Marschners Bundeslied zu
dirigieren. Die Pfälzer bemühten sich, den Meister zu ehren, und
ließen den Wein in Strömen fließen. Dabei kam der Humor auf seine
Kosten und Mendelssohn tollte mit den anderen. „Wie der Landrat
von Pirmasens in den Bach geworfen wurde, wie der Herr Stern-
feld das Orchester mit einer Leberwurst dirigierte, und wie der
Pauker im ersten Teil des Oratoriums die Pauken entzweischlug,
und was er darüber bemerkte, als er Nachts um 21/, Uhr mit andern
auf der Straße saß, und Punsch trank", das alles wollte er seiner
Schwester Fanny einmal genauestens erzählen. In Soden fand er
endlich wieder Ruhe zum Zeichnen, Komponieren und Genießen.
Nichts störte ihn in seiner Einsamkeit. Einige größere Orgelwerke
und ein paar Lieder wurden fertig. Symphonisches kam nicht über
die Skizze hinaus.
Schweren Herzens mußte er im Herbst wieder nach Berlin
zurückkehren. Er dirigierte dort die ersten beiden Symphoniekonzerte
am 31. Oktober und 14. November. Dann sah er, daß seine Be-
mühungen nutzlos bleiben mußten. Er fand alles beim Alten, „in
keiner Beziehung Leben und Veränderung, überall die bloße Mög-
lichkeit eines künftigen Anfangs in Frage gestellt". Er bat den König,
ihn von dem Berliner Aufenthaltszwang zu entbinden und ihm zu
gestatten, seinen Wohnort so wählen zu dürfen, wie es für seine
Arbeit und für sein Lebensziel notwendig war. Im übrigen stellte
er sich nach wie vor allen kompositionellen Plänen des Königs zur
Verfügung. Friedrich Wilhelm IV. willigte ein. Wieder einmal
hatten die Berliner Qeheimräte einen gewichtigen Plan vernichtet.
Der königliche Gedanke, einem Genie die Schaffung einer Akademie
anzuvertrauen, war für die Bürokratenhirne allzu gewaltig. Ein
solches Werk mußte bis auf die heutige Zeit stets der Mittelmäßig-
keit vorbehalten bleiben.
Die Leipziger Gewandhauskonzerte wußte Mendelssohn unter
Gades Leitung in guten Händen. So konnte er ganz seinem Schaf-
fenstrieb folgen, der in diesem Winter, den er in Frankfurt am Main
verlebte, reiche Früchte zeitigte. Er hatte sein Violinkonzert in e-moll
nach eingehenden brieflichen Beratungen mit David beendet, vollen-
dete nun die Musik zum „ödipus" und arbeitete an der Einrichtung
90 Am Ziel
der Chöre von „Athalia" und am „Elias". Daneben entstanden
Orgelsonaten und Lieder ohne Worte. Im Frühjahr 1845 meldete
sich Berlin wieder. Der Minister Eichhorn suchte noch einmal eine
Verständigung über die zu errichtende Akademie herbeizuführen.
Aber Mendelssohn war durch die Erfahrung klug geworden. Er
verlangte vorherige genaue Darlegung und Klarstellung der Umstände
und Verhältnisse. Er blieb ohne Antwort. Bald darauf klopfte der
Geheime Kabinettsrat Müller bei ihm an, wegen der Musik zur
Agamemnon-Trilogie des Äschylus. Mendelssohn hatte manches ihm
Untergeschobene richtig zu stellen und lehnte die Komposition aus
Gründen künstlerischer Gewissenhaftigkeit ab. „Ich wage zu be-
haupten, daß kein jetzt lebender Musiker imstande sei, diese Riesen-
aufgabe gewissenhaft zu lösen, — geschweige denn, daß ich es
könnte", so lautete sein Urteil. Er bat aber, dem König mitzu-
teilen, daß der Ödipus zu Kolonos des Sophokles, die Racinesche
Athalia und der König Ödipus des Sophokles zur Aufführung fertig
seien.
Im Frühjahr 1845 zog Mendelssohn wieder nach Leipzig. Das
Konservatorium verlangte nach seinem Meister; vor allem galt es
die Uraufführung des Violinkonzertes durch David am 13. März zu
feiern. Die Anekdote hat sich dieses Ereignisses bemächtigt. Nach
dem Konzert trat der sonst so schweigsame Schumann an David,
der fleißig, aber vergeblich nach Komponistenehren strebte, heran
und sagte ihm als höchstes Kompliment: „Siehst du, lieber David,
das ist so ein Konzert, wie du immer komponieren wolltest".
Der Sommer war der Arbeit gewidmet. Das Streichquintett
opus 87, neue Orgelsonaten, Lieder und Chöre füllten die Tage aus,
und langsam wuchs der „Elias". 1838 hatte er schon an seinen
Freund Schubring, den stets hilfsbereiten Bibelkenner geschrieben:
„Ich hatte mir eigentlich beim Elias einen rechten durch und durch
Propheten gedacht, wie wir ihn etwa heutzutage wieder brauchen
könnten, stark, eifrig, auch wohl bös und zornig und finster, im
Gegensatz zum Hofgesindel, und fast zur ganzen Welt im Gegen-
satz, und doch getragen wie von Engelsflügeln ... Es ist mir darum
recht um das Dramatische zu tun". Jahre waren vergangen, ehe die
rechten Worte gefunden waren. Jetzt erst konnte er seine musikalische
Leidenschaft ausströmen lassen.
Am Ziel 91
Jedoch der nahende Winter rief den Dirigenten wieder auf den
Plan. In dem Schaffenden mußte da bisweilen eine leise Bitterkeit
gegen das Getriebe aufkommen. „Das ganze äußerliche Musiktreiben,
Dirigieren usw. habe ich von jeher doch nur aus Pflichtgefühl, nie
aus Neigung übernommen", äußerte er sich. Für die Spielzeit 1845/46
hatte er Gade zum Mitdirigenten für die Gewandhauskonzerte gewählt.
Meister suchten seine Freundschaft. Wagner, Spohr, Heinrich Laube
und andere brachten Anregung in seine freien Stunden. Wir lesen
in einem Tagebuch: „Den Abend verlebten wir herrlich bei Mendels-
sohns, die alles aufboten, um Spohr so viel Freude als möglich zu
machen. Diese Familie hat für mich etwas Idealisches, sie bietet eine
Vereinigung von inneren und äußeren Vorzügen, und dabei so
schönem häuslichen Glück, wie man gewiß selten im Leben findet.
In ihrer Einrichtung und ganzem Wesen herrscht neben allem Luxus
und Reichtum eine so reizende Anspruchslosigkeit, daß man sich sehr
wohl da befinden muß. Mendelssohn spielte seine Variations seri-
euses; dann folgten Spohrsche Quartette, bei welchen Mendelssohn
und Wagner mit entzückten Mienen in der Partitur nachlasen". Die
Werdenden fanden in Mendelssohn einen verständnisvollen Förderer.
So führte er den jungen Joseph Joachim in Leipzig ein und begleitete
ihm ein Violinkonzert von Beriot. Auch in England ebnete er ihm
die Wege.
In die Freuden des Schaffens am Elias und der Geselligkeit
drang wieder der Ruf aus Berlin, dem König zu dienen. Am 1. No-
vember 1845 wurde „ödipus auf Kolonos" mit Mendelssohns Musik
und unter seiner Leitung im Neuen Palais in Potsdam aufgeführt.
Am 10. November erschien das Werk vor der Berliner Öffentlichkeit.
Wie früher bei der Antigone so war auch diesmal beim ödjpus das
griechische Vorbild in der Aufführung maßgebend gewesen. Die
Crelinger und Stich liehen der großartigen Aufgabe ihre künstle-
rische Kraft. Aber der Erfolg blieb hinter den Erwartungen zurück.
Das Publikum war seit der glänzenden Wiedererweckung der Anti-
gone mit griechischer Kunst überfüttert worden, so daß das Interesse
längst ermattet war. Selbst Mendelssohns Musik konnte daran nichts
retten. Er war den Berlinern merkwürdig fremd geworden und lebte
in seiner Heimatstadt „einsam wie ein Hamster". „Athalia" sollte
nun wett machen, was Ödipus versäumt hatte. Der König liebte
92 Am Ziel
Racines Dichtung. 1840 war das Werk schon einmal in Berlin mit
Musik von einem gewissen Schulz aufgeführt, von den Zuschauern
aber abgelehnt worden. Friedrich Wilhelm verlor seine Zuneigung
nicht. Mendelssohn schrieb auf seinen Wunsch eine neue Musik
zur Athalia, und so ließ sich der König das Werk am 1. Dezember
1845 im Königlichen Theater in Charlottenburg vorführen. In die
Berliner Öffentlichkeit scheint es nicht gedrungen zu sein.
Mendelssohn war froh, den Rest des Winters in Leipzig ver-
bringen zu können. Er schrieb eifrig am „Elias" und beendete die
Partitur im Sommer 1846. Daneben waren noch andere Komposi-
tionspflichten zu erledigen. Für das Musikfest in Lüttich gelegent-
lich der 600 Jahrfeier der Einführung des Fronleichnamsfestes steuerte
er ein „Lauda Sion" für Chor und Orchester bei, und dem ersten
deutsch-vlämischen Sängerfest in Köln widmete er Schillers „Fest-
gesang an die Künstler" für Männerchor und Orchester. Auf beiden
Musikfesten wurde er sehr gefeiert und auch die Aachener sahen ihn
zu ihrem Musikfest unter sich. Und doch ruhte selbst in diesen Tagen
die Arbeit nicht. Der „Elias" mußte beendet werden, da er im
August in Birgmingham zum erstenmal aufgeführt werden sollte.
Neben Mendelssohns neuem Werk standen noch Händeis Messias,
Haydns Schöpfung und Beethovens Missa solemnis auf dem Pro-
gramm. Mendelssohn war zur Leitung des Musikfestes in Birgming-
ham eingeladen worden und feierte mit seinem Oratorium wieder
einen jener Triumphe, wie sie nur in England, dem klassischen Land
der Oratorienmusik, möglich waren. Vier Chöre und vier Arien
mußten wiederholt werden. „Noch niemals ist ein Stück von mir
bei der ersten Aufführung so vortrefflich gegangen, und von den
Musikern und den Zuhörern so begeistert aufgenommen worden,
wie dies Oratorium", schrieb er glücklich an seinen Bruder Paul.
Prinz Albert schrieb dem Meister, gewissermaßen im Namen aller
seiner englischen Freunde später in das Textbuch: „Dem edlen Künst-
ler, der, umgeben von dem Baalsdienst einer falschen Kunst, durch
Genius und Studium vermocht hat, den Dienst der wahren Kunst,
wie ein anderer Elias treu zu bewahren, und unser Ohr aus dem
Taumel eines gedankenlosen Tönegetändels wieder an den reinen
Ton nachahmender Empfindung und gesetzmäßiger Harmonie zu
gewöhnen, — dem großen Meister, der alles sanfte Oesäusel, wie
Am Ziel 93
allen mächtigen Sturm der Elemente an dem ruhigen Faden seines
Gedankens vor uns aufrollt, — zur dankbaren Erinnerung".
Mendelssohn kam nach Leipzig müde und erschöpft zurück.
Heftige Kopfschmerzen plagten ihn. Seiner starken Reizbarkeit
wegen war an öffentliches Spielen nicht zu denken. In den Gewand-
hauskonzerten unterstützte ihn der fleißige Gade. An Behaglichkeit
hatte sein Leben ja gewonnen, seit Moscheies als Klavierlehrer an
das Leipziger Konservatorium gekommen war. Aber die Überan-
strengung der letzten Jahre hatte ihn zermürbt. Er war leicht reizbar,
und wie bei seinem Vater stellte sich auch bei ihm Streitsucht nament-
lich in politischen Dingen ein. Er hatte früher radikalen Anschau-
ungen gehuldigt. Jetzt stand er dieser Bewegung jedoch höchst
empfindlich gegenüber, da er die Demagogen, wie es bei einem
geistigen Menschen gar nicht anders sein kann, verachtete und ihre
kläglichen machtstreberischen Mittel verabscheute. Politik, die ja
leider meist nur ein Tummelplatz untergeordneter Naturen ist, konnte
einem Mendelssohn letzten Endes nur ein Lächeln abnötigen. „In
Deutschland'', schrieb er an Klingemann, „namentlich in Norddeutsch-
land sieht es kurios aus — mir ist immer zumut, als möchte man
sich, wie in einem schlechten Wetter, unter einen Schuppen stellen
und warten bis das Unwesen vorübergezogen ist". Und fügt hinzu:
„Zuknöpfen möchte man sich bis ans Kinn, um nicht von Aufklärung,
Kunstphilosophie, Deutschkatholizismus und Strohenthusiasmus des
Moments bis auf die Haut naß zu werden". Das Aufbegehren der
von ihren Führern umschmeichelten breiten Masse und die damit
eng verbundene Nivellierung aller Werte beleidigten seinen Indi-
vidualismus. Er sah nirgendwo etwas Großes, hörte nur immer das
Geschrei der betriebsamen Durchschnittlichen. Ärgerlich schrieb er
seinem Bruder: „Das liegt darin, daß sich die Mittelmäßigkeit, ja noch
schlimmer, die Oberflächlichkeit in Deutschland so unglaublich rührt,
so breit macht, daß ein Jeder lieber unterducken möchte".
Natürlich wuchs auch mit der Erdenmüdigkeit, die Devrient, der
ihn damals besuchte, an ihm bemerkte, auch sein Überdruß an den
Direktionspflichten. Wir lesen in einem seiner Briefe: „Endlich klage
ich auch mich selbst an, weil mir das Dirigieren, und gar das Spielen
(eigentlich alles und jedes amtliche öffentliche Erscheinen) geradezu
zuwider geworden ist, so daß ich mich jedesmal nur mit Abneigung
94 Am Ziel
und Widerwillen dazu entschließen kann. Ich glaube, die Zeit näht
heran, oder ist vielleicht schon da, wo ich diese ganze Art öffent-
lichen, regelmäßigen Musikmachens an den Nagel hängen werde,
um zu Hause Musik zu machen, Noten zu schreiben, und das Wesen
draußen gehen zu lassen, wie es kann und mag. Recht viel zu lernen
habe ich dabei nicht, und was das Nützen betrifft, so habe ich die
Überzeugung gewonnen, daß ein Bogen voll Noten, selbst wenn sie
nichts taugen, mir mehr nützt (wenigstens mehr Freude macht) als
250 Proben und Aufführungen, die excellent gehen."
Die Arbeit mußte über die trüben Stunden hinweghelfen und sie
verklären. Aus Dresden hatte er sich die Originalstimmen der h-moll-
Messe von Bach verschafft und korrigierte danach seine Partitur-
abschrift. Als Hauptarbeit für den Winter hatte er sich die Ver-
besserung und Ausfeilung des „Elias" vorgenommen. Mendelssohn
konnte sich darin nicht genug tun, und die ewige Rastlosigkeit seines
Strebens nach Vollendung ist nicht die geringste Eigenschaft, die an
seiner Persönlichkeit so bewundernswert ist. Im Dezember schrieb er
an Klingemann: „Die Stücke, die ich bis jetzt umgearbeitet habe,
zeigen mir doch wieder, daß ich recht habe, nicht eher zu ruhen,
bis solch ein Werk so gut ist, wie ich's nur irgend machen kann,
wenn auch von diesen Sachen die wenigsten Leute etwas hören oder
wissen wollen, und wenn auch sehr, sehr viele Zeit damit hingeht;
aber dafür ist es dann auch ein ganz anderer Eindruck, den solche
Stellen, wenn sie wirklich besser sind, an sich und auf alle übrigen
Teile machen."
Die Umarbeitung des Elias war beendet. Das Mechanische
der Arbeit war ihm willkommen gewesen, um seine immer wieder
und heftiger auftauchenden Erregungen zu dämpfen. Die Leipziger
Verhältnisse blieben bei dem Kampf der Interessen nicht ungetrübt.
Sein gutes Einvernehmen mit Schumann erhielt um diese Zeit einen
Riß. Mendelssohn schreibt einmal an Klingemann, Schumann habe
sich sehr zweideutig gegen ihn benommen und ihm eine recht häßliche
Geschichte eingerührt, die ihn nun in seinem Eintreten für Schumann
sehr abgekühlt habe. Weiter wissen wir nichts. Um so mehr freute
sich Mendelssohn auf England. Der Theaterdirektor Lumley hatte
ihm den Antrag gemacht, für sein Londoner Unternehmen eine Oper
nach Shakespeares „Sturm" zu schreiben. Wieder war es die Text-
Am Ziel 95
frage, an der die Angelegenheit nach vielem Hin und Her scheiterte.
Die Londoner Frühjahrssaison rief Mendelssohn trotzdem über den
Kanal, um den „Elias" in der neuen Fassung aufzuführen. Klinge-
mann hatte den Text übersetzt. So rauschend der Triumph Mendels-
sohns mit seinem Werk in drei Aufführungen war, so innig gestalteten
sich auch die Freundschaftsstunden mit Klingemann. Am 11. Mai
jubelten die Engländer noch einmal seinem Klavierspiel zu; Men-
delssohn spielte wieder wie so oft schon Beethovens Q-dur-Konzert.
Dies war sein letzter Abschied von England, das ihn wahrhaft könig-
lich geehrt hatte.
Nach seiner Rückreise traf ihn in Frankfurt die Nachricht, daß
seine Schwester Fanny am 14. Mai plötzlich gestorben war. Ein
Gehirnschlag, von dem so mancher aus der Familie Mendelssohn
dahingerafft worden war, hatte sie mitten in einer Sonntagsmusik,
als sie am Flügel einen Chor aus der Walpurgisnacht begleitete,
jäh aus dem Leben gerissen. Felix Mendelssohn war wie zerschmet-
tert. Bei der heftigen Erschütterung platzte ihm ein Blutgefäß im
Gehirn. Seine untergrabene Gesundheit konnte diesen Schlag nicht
mehr überwinden. Mit Fanny, der engsten Vertrauten seiner Sehn-
süchte, hatten ihn besonders innige Beziehungen verknüpft. Sein
Nervensystem war jetzt so zerrüttet, daß er Musik nicht mehr hören
konnte ohne zu weinen.
In Baden-Baden suchte er mit seiner Familie Ablenkung von den
trüben Ahnungen, die ihn bedrängten. Er ging „halb wie im Traum"
umher; Ruhe vermochte er noch nicht zu finden, und so fuhr er in
die Schweiz, deren gewaltige Schönheiten ihn schon einmal getröstet
hatten. Der Schaffensdrang lebte wieder auf in ihm. Er arbeitete
sich frei. Neben einem neuen Oratorium „Christus" beschäftigte ihn
eine Oper „Loreley", zu der Emanuel Geibel einen recht undrama-
tischen Text geschrieben hatte. Beide Werke blieben Fragment.
In Interlaken brachte er ein Streichquartett in f-moll, opus 80, zu
Papier und schrieb zu opus 81 noch ein Andante und Scherzo. Da-
neben entstanden Lieder und Chöre. Ferdinand David besuchte ihn
und nahm einen beängstigenden Eindruck von Mendelssohns Zustand
mit sich. Der Meister arbeitete, nach Davids Schilderung, „mit bei-
nahe krankhaftem Eifer; wenn er tagelang komponiert hatte, lief er
wieder mehrere Tage unausgesetzt auf den Bergen herum und kam
96 Am Ziel
ganz sonnverbrannt und erschöpft nach Hause, fing gleich wieder an
zu komponieren, kurz, er war im höchsten Grade aufgeregt."
Mit dem Musikgetriebe wollte Mendelssohn nichts mehr zu tun
haben. Die Direktion der Gewandhauskonzerte hatte er endgültig
aufgegeben und sich nur einige Unterrichtsstunden am Konservatorium
vorbehalten. Trotzdem hatte er sich doch noch für die Leitung
des Elias in Berlin und Wien gewinnen lassen. Ep wollte nach Berlin
übersiedeln, zog aber doch wieder nach Leipzig und kam erst im
September auf kurze Zeit nach Preußens Hauptstadt. Hier lebte
der Schmerz um das Verlorene mit neuer Heftigkeit auf. Tiefbewegt
kehrte er nach Leipzig zurück. Trostlose Schwermutszustände wech-
selten mit dem Aufflackern eines Arbeitsfiebers, das wie von Todes-
ahnungen gepeitscht war. Die Musik, die Quelle seines grenzenlosen
Glücks als Schaffender, zehrte nun seine letzten Kräfte auf. Hören wir
den zuverlässigsten Augenzeugen, Ferdinand David: „Nach seiner
Rückkehr nach Leipzig war er noch sehr ernst gestimmt, jedoch gab
es auch Tage, wo er sehr heiter war, bis ihn dann bei Frau Dr. Frege,
nachdem sie ihm seine neuesten Lieder, die alle melancholischen In-
halts sind, vorgesungen hatte, das erste Unwohlsein befiel. Man
machte anfänglich nicht viel daraus, obgleich die Symptome (eis-
kalte Hände und Füße, ausbleibender Puls, mehrstündiges Delirieren)
allerdings bedenklich waren. Aber da er vor sieben Jahren hier
schon einmal einen ähnlichen Anfall gehabt hatte, so befürchteten
wir alle nichts Schlimmes; nach einigen Tagen sah ich ihn, fand ihn
wieder munter, jedoch sagte er mir: Es ist mir so, als ob mir jemand
auflauerte, der sagte: Halt! nicht weiter! — "
Zwölf Tage nach dem ersten folgte der zweite Anfall, von dem
sich Mendelssohn aber ziemlich schnell erholte. Am 25. Oktober
1847 schrieb er seinem Bruder, daß es ihm besser gehe. Nur fürchtete
er sich vor der Reise nach Wien, wo er den Elias dirigieren sollte.
Die Freunde schöpften schon wieder Hoffnung, bis ihn sieben Tage
nach dem zweiten der dritte Anfall auf das Totenbett warf. Lassen
wir noch einmal Ferdinand David das Wort: „Ich werde es nie ver-
gessen, wie Gade zu mir ins Konservatorium kam und mir sagte,
daß Mendelssohn von Neuem befallen sei und daß es sich um Leben
und Sterben handle. Ich rannte gleich hinaus und wurde mit der
Nachricht empfangen, daß keine Hoffnung sei. Da habe ich wohl eine
Am Ziel 97
Viertelstunde gebraucht, bis ich gefaßt genug war, hinaufzugehen.
Er war ohne Bewußtsein (dies war am Mittwoch abend), schrie ent-
setzlich bis gegen 10 Uhr; dann fing er an, mit dem Munde zu
brausen und zu trommeln, als ob ihm Musik durch den Kopf gehe;
wenn er davon erschöpft war, gab er wieder ein angstvolles Ge-
schrei von sich und blieb so die ganze Nacht hindurch. Im Lauf des
folgenden Tages scheinen die Schmerzen nachgelassen zu haben, aber
sein Gesicht war schon das eines Sterbenden ; um 974 Uhr abends
starb er. Das sanfteste, freundlichste Lächeln war auf seinem Ge-
sichte verbreitet."
Das war am 4. November 1847. Wie den Großvater, den Vater
und Fanny, so hatte auch Felix Mendelssohn der Gehirnschlag dahin-
gerafft. Sein Lebensfreund Moscheies hat uns eine ergreifende Schilde-
rung der letzten Stunden des Meisters gegeben: „Die Ärzte Dr. Ham-
mer, Hofrat Clarus und der Chirurg Walter waren abwechselnd um
den Kranken. Der Zudrang der Nachfragenden aller Klassen war
außerordentlich. Das von Schleinitz geschriebene Bulletin erklärte
seinen hoffnungslosen Zustand. Meine Frau und ich, die Doktorin
Frege und ihr Mann, David, Rietz und vor allen Schleinitz blieben
angstvoll in seiner Nähe. Die einzigen muteinflößenden Worte der
Ärzte lauteten: Wenn er nicht noch einen neuen Anfall von Nerven-
oder Lungenschlag bekommt, könnte die scheinbare Ruhe zu einer
glücklichen Wendung, zu seiner Rettung führen. — Aber diese Ruhe
war das Abnehmen seiner physischen Kräfte. Von zwei Uhr nach-
mittags an, wo eine Wiederholung des Schlaganfalls von gestern um
dieselbe Stunde zu befürchten war, fing seine Bewußtlosigkeit an.
Alle feineren Organe und geistigen Kräfte waren erschöpft! — er
lag ruhig, laut und schwer atmend. Abends waren wir schon laut-
los um sein Bett versammelt. Sein engelhaft ruhiges Antlitz trug den
Stempel seiner unsterblichen Seele. Seine Cecilie trug das zentner-
schwere Gewicht ihres Schmerzes heldenmütig — sie unterlag keiner
Hinfälligkeit. Kein Wort verriet ihren inneren Kampf. Ebenso sein
Bruder Paul, der wie eine bewegliche Marmorstatue ab und zu an
sein Bett trat. Das Trauerbild zu komplettieren, wurden noch er-
wartet seine Schwester, Madame Dirichlet, seine Schwägerin, Ma-
dame Schunck und ihr Mann, und der Arzt, Dr. Schönlein, den
Dr. Härtel aus Berlin zu holen im Begriff war — aber sie kamen nicht.
D n li m s , Mendelssohn 7
98 Am Ziel
Um neun Uhr abends rückte die verhängnisvolle Auflösung heran.
Seine Züge wurden verklärter. Seine Atemzüge nahmen ein lang-
sameres Tempo an. Die Ärzte zählten sie, als wollten sie die Wissen-
schaft noch mit neuen Entdeckungen bereichern. Paul Mendelssohn,
Schleinitz, David und ich umringten sein Bett, in totenstilles Gebet
versunken. Mir war jeder Atemzug, der sich ihm entwand, wie der
Kampf eines großen Geistes, der sich von der irdischen Hülle, von
einem vergänglichen Käfig befreien will. Ich habe ihn oft neben mir
in Kunstbegeisterung atmen und, wie auf Pegasus himmelwärts stür-
mend, schnauben gehört. Nun mußte ich diese unvergeßlichen Rhyth-
men so auflösend verklingen hören! Beethovens Schauerlaute aus
dem Totenmarsch der „Eroica" zogen mich mit hinüber in andere
Sphären, nur das Schluchzen der Anwesenden und meine eigenen
heißen Tränen knüpften mich an die Gegenwart. — Um 9 Uhr
24 Minuten hauchte die große Seele mit einem tiefgeholten Seufzer
aus."
„Durch Fannys Tod wurde unsere Familie zerstört, — durch
Felixens ist sie vernichtet", schrieb Paul Mendelssohn an Klingemann.
Die Totenmaske wurde abgenommen. Bendemann, Hübner, Riet-
schel und Hensel zeichneten ihn auf dem Sterbebett. Der Bildhauer
Knaur fertigte ein Modell zur Büste an.
War schon der Lebende gefeiert worden wie selten einer im
Reiche der Genies, so war der Tote fast noch mehr Gegenstand der
Liebe in allen Gauen Deutschlands und im Ausland. Besonders
groß war die Teilnahme natürlich in Leipzig. Am 7. November nach-
mittags vier Uhr fand die Totenfeier in der Paulinerkirche unter
ungeheurer Beteiligung aus allen preisen der Bevölkerung statt. Vom
Trauerhaus ging der Kondukt mit Mendelssohns Trauermarsch, den
Moscheies instrumentiert hatte, nach der Paulinerkirche. Hauptmann,
Schumann, Moscheies, Gade, Rietz und David trugen das Bahrtuch.
Die Familie Mendelssohns, Geistliche, Regierungsvertreter, Abord-
nungen wissenschaftlicher und künstlerischer Institute, das Konser-
vatorium in corpore und eine große Zahl von Verehrern gaben das
Geleit. Als der Sarg in der Kirche auf den Katafalk niedergesetzt
wurde, erklang die Einleitungsmusik aus „Antigone". Prediger Ho-
ward hielt die Gedächtnisrede, Bachsche und Mendelssohnsche Chöre
gaben der Feier die große Weihe.
Am Ziel 99
In der Nacht wurde die Leiche mit einem Extrazug nach Berlin
gefahren, um dort in der Familiengruft beigesetzt zu werden. Unter-
wegs wurden Mendelssohns sterbliche Überreste mehrfach feierlich
begrüßt, so in Köthen durch einen Choral des Sängervereins, und
in Dessau, wo der alte Friedrich Schneider mit einem Chor erschienen
war. In Berlin war die Nachricht so spät eingetroffen, daß keine allge-
meine Trauerfeier mehr vorbereitet werden konnte. Ein schnell ge-
bildetes Komitee, dem Kapellmeister Taubert, Konzertmeister Ries
und Musikalienhändler Bock angehörten, hatte aber doch noch für
einen würdigen Empfang der Leiche Mendelssohns sorgen können.
Unter Vorantritt mehrerer Musikkapellen bewegte sich der Trauerzug
vom Anhalter Bahnhof über das Hallesche Tor zum Friedhof der
Jerusalemerkirche. Am Grabe hatten der Domchor unter Neithardt
und die Singakademie unter Rungenhagen Aufstellung genommen.
Chorgesänge umrahmten die kurze Ansprache des Predigers Berdu-
schek. Dann schloß sich das Grab über der sterblichen Hülle des
großen Meisters.
Die Musikwelt bemühte sich, den Toten zu ehren. Gedächtnis-
konzerte verherrlichten seinen Namen in Berlin im ersten Symphonie-
abend der Königlichen Kapelle und in der Singakademie. In Wien
führte man den Elias nun ohne den Meister auf. Das erste Gewand-
hauskonzert in Leipzig war ebenfalls Mendelssohn gewidmet. Frau
Livia Frege und Conrad Schleinitz, die ihm im Leben nahegestanden
hatten, betraten hier noch einmal das Konzertpodium. Breslau, Ham-
burg, Frankfurt, Königsberg, Köln, Düsseldorf, Bremen, Mainz und
viele andere Städte folgten. In Exeterhall in London wurde der
Elias aufgeführt, und stehend hörten die englischen Freunde und Ver-
ehrer Mendelssohns den Trauermarsch von Händel an. Auch die
Könige blieben nicht zurück. Die Königin von England und die
Herrscher von Preußen und Sachsen sandten Beileidstelegramme an
die Witwe. Cecilie Mendelssohn zog sich nach Frankfurt zurück
und widmete sich der Erziehung ihrer Kinder.
In einem einzigartigen Glückslauf hatte Felix Mendelssohn den
Gipfel seiner Meisterschaft und seines Lebens erreicht. Diesem Genie
warf das Schicksal keine Steine auf den Weg. Hemmungslos nach
außen vollzog sich sein Aufstieg, der die Zeitgenossen zur Bewunde-
rung und Liebe zwang. Und die edle Reinheit, der vornehme Adel
7*
100 Am Ziel
einer Persönlichkeit, die niemals Schleichwege zu gehen brauchte
und die keine gemeine Not, keinen Kampf ums Dasein kannte, strahlte
sich in der Kunst in derselben Größe und Klarheit aus, nur dem
Göttlich-Schönen nachstrebend, in Harmonie mit dem Unendlichen.
Die Nachwelt hatte ein Erbe zu verwalten, das Pietät und Ehrfurcht
verlangte. Nicht immer blieb Mendelssohns Werk unangetastet; aber
stets noch ist er der Sieger geblieben, wo es galt, nicht in Worten,
sondern in Tönen zu fechten. Nachrufe, Denksteine und Biographien
ehrten ihn und verkündeten seinen Namen und seine Bedeutung späte-
ren Generationen, die mit den Idealen der vormärzlichen Zeit keinen
Zusammenhang mehr hatten. Was Schlacke war, ist im Lauf der
Jahre abgefallen. Aber was ein Meister schuf, steht heute noch in
vollem Glanz und wird neben dem anderen Großen, das Menschengeist
ersann, in ferne Zeiten leuchten, solange man noch nicht den Glau-
ben an die Ewigkeit des Geistigen in der Kunst verloren hat.
DAS SCHAFFEN
GENIE ODER EPIGONE?
Nietzsche nennt Felix Mendelssohn „jenen halkyonischen Meister,
der um seiner leichteren, reineren, beglückteren Seele willen schnell
vergessen wurde: als der schöne Zwischenfall der deutschen Musik".
Welch tiefe Resignation in bezug auf die Menschheit und ihre Ideale!
Und wiederum, wie unendlich reich muß die deutsche Musik sein,
wenn man Mendelssohn einen Zwischenfall in ihr nennen kann.
Die Frage: Genie oder Epigone? könnte hiermit schon ent-
schieden sein. Doch sie ist es nicht. Der Aphorismus, geboren
aus dem untrüglichen Instinkt eines Denkers, der auf die feinsten
Differenzierungen der Musik reagierte, darf uns nicht blenden.
Genie ist Wille und Kraft zur Synthese. Die Entwicklung der
Musik ist ein unablässiger Kampf um die Synthese des Kunstwerks.
Palestrina ahnte ihre Anfänge. Mit Beethoven war der Gipfel bereits
überschritten, der Inhalt der Musik erschöpft. Zweihundert Jahre
hatten genügt, um das Schicksal der Musik zu erfüllen. Es ist eine
der wunderbarsten Eigenschaften der Musik, daß in ihr letzten Endes
einzig und allein das Genie entscheidend ist im Gegensatz zu den
anderen Künsten, wo auch das Genre noch Ausdruckseigenart eines
wirklichen Genies sein kann. In der Musik müssen die Talente bei
mangelnder Synthese Zuflucht zu den Surrogaten des Poetischen
und der Stimmung nehmen. Der Instinkt allein kann das Große
nicht vollbringen. Er muß durch die Synthese gebändigt und im emi-
nentesten Sinne vergeistigt sein.
Solche Höhe ist nur den wenigen Auserwählten beschert. Ge-
hörte Mendelssohn zu ihnen? Eine vorurteilsfreie Betrachtung seines
Schaffens muß die Frage bejahen. In ihm lebte stark und nie ruhend
der Wille zur Synthese. Zwar reichte seine Kraft nur hin, das Große
in den kleineren Formen zu manifestieren. Aber hier brachte er wirk-
lich das Vollendete zustande und triumphierte dank seiner ordnenden
Schöpferkraft über das Naturgegebene.
Wir sahen sein Leben vorüberziehen, das in seiner grandiosen
Rastlosigkeit nur mit wenigen zu vergleichen ist. Wir denken an
Mozart. Die Beziehungen sind frappant. Bei beiden die seltene
Frühreife, bei beiden ein hastiges Abrollen der Lebenskurven. Beiden
hatte die Natur einen unerschöpflichen Fond gegeben. Künstler und
Mensch berühren sich bei ihnen in vielen Punkten. Und doch wollen
104 Qenie oder Epigone?
wir nicht gleichstellen, was an so verschiedenen Zielen landete. Vor
der Größe Mozarts tritt Mendelssohn ehrerbietig in den Schatten.
Ihm fehlte das Dramatische, die Wucht titanischer Gestaltung, die
das Werk des Don Juan-Komponisten ins Zeitlose erhob. Die Emp-
findsamkeit, die starke Erregbarkeit des Gefühls mußte ersetzen,
was auch der kühnste Wille allein nicht erzwingen konnte. Es ist
schon einmal gesagt worden: in beiden Meistern lebt der Geist des
Südens; beider Meister Kunst geht über das Nationale hinaus und
mündet ins Europäische.
Nun, da wir Mendelssohn gegen sein größtes Vorbild abgegrenzt
haben, stellen wir ihn seinen Zeitgenossen gegenüber. Zwei Namen
drängen sich auf: Chopin und Schumann. Chopin, der stärkste In-
dividualist in der modernen Musik, eilte ihm weit voraus ins Neuland
der Harmonik. Aber in der Form treffen sie sich; beide sind Mei-
ster der Miniatur, der Lieder ohne Worte. Das Unliterarische ihres
Wollens eint sie. Schumann hingegen ersetzte, was ihm an Syn-
these fehlte, durch das Poetische — der schroffste Trennungsstrich
zwischen ihm und Mendelssohn. Doch wo gleiche Werte sich die
Wage halten, kann keine Rede von Abschätzung gegeneinander sein.
Ein starkes Band verknüpft die drei: die Romantik. Sie ist der ge-
meinsame Grundton ihres Schaffens. Aber welche Differenzierungen
im einzelnen! Wie verschiedenartig und vielfarbig wird das roman-
tische Ideal verwirklicht. Mendelssohn hält den goldenen Mittel-
weg. Er vermeidet die selige Gefühlsschwelgerei Schumanns ebenso
wie Chopins prägnante, komprimierte, bis in die letzte Faser mit er-
schütterndem Inhalt angefüllte Ausdrucksvehemenz. Er bleibt auch
als Romantiker Klassizist — jedoch meist ein eigener. Nur selten
zeigt er sich als Epigone und verfällt in eine leichte Geschwätzigkeit.
Er hat die Aufrichtigkeit in der Kunst, wie sie alle Großen hatten,
und durfte bekennen: „Ich nehme es mit der Musik gern sehr ernst-
haft und halte es für unerlaubt, etwas zu komponieren, was ich eben
nicht ganz durch und durch fühle. Es ist, als sollte ich eine Lüge
sagen; denn die Noten haben doch einen ebenso bestimmten Sinn,
wie die Worte, — vielleicht einen noch bestimmteren."
Doch wir wollen sehen, wie sich der Mensch und der Künstler in
Mendelssohn einen. Dürfen wir auch bei ihm dem alten Glauben
trauen, daß Mensch und Künstler verschiedene Wesen sind?
Oenie oder Epigone? 105
Auf den ersten Blick erscheint die Psychologie Mendelssohns
merkwürdig unkompliziert. Probleme treten nicht in den Vordergrund.
Wir durchschauen die einzelnen Faktoren seines Lebens mit Bezug auf
das Schaffen klar und eindeutig. Ein Wunderknabe wächst auf,
außerordentlich talentiert, von sorgsamen Händen geleitet, ohne den
Fluch und Zwang seiner jungen Talentgenossen teilen und allzu früh
im Podiumslicht die Seele verlieren und entarten zu müssen. Der
Mensch wächst in Reichtum und Unabhängigkeit auf, und der Künstler
profitiert davon. Den Jüngling und Mann stören keine Hemmungen
in seinem Lauf zur Höhe. Konnte das ohne Einfluß auf seine Kunst
sein? Auch in ihr finden wir nicht Sturm und Drang, nicht revo-
lutionäres Aufbäumen gegen Überliefertes, sondern die Abgeklärtheit
eines Geistes, für den es nur ein Ziel gibt: das der ungetrübten Schön-
heit und Klarheit. Aber nun gerade bewundern wir einen Charakter,
der unter solchen Verhältnissen nicht vom Wege abirrte und der so
innerlich wurde, wo alles Äußerliche ihn mit tausend üppigen Reizen
lockte. Die Kultur seiner Familie hatte hieran nicht geringen Anteil.
Aber die vollkommene Kongruenz zwischen dem Menschen und Künst-
ler ist nur eine scheinbare. Wir hören von seiner außerordentlichen
Reizbarkeit und Empfindsamkeit, fühlen die nicht nur physische De-
kadenz, die sich durch Nervenkrankheiten in die Familie einge-
schlichen hatte, und suchen vergeblich nach einer Spur von Nieder-
gang in seinen Werken. Da finden wir nur Gesundes, nichts Versteck-
tes, keine Andeutung von Verfall und Entnervung. Und wir ahnen in
seiner Seele Geheimfächer, die für uns unergründlich sind, die aller
Übertragungs- und Deutungsversuche vom Menschen auf den Künst-
ler spotten. Das sind die Felder, auf denen er seine Schlachten mit
der Materie der Kunst schlug; hier spielten sich die Kämpfe ab, die
das Schaffen präludierten, in denen langsam Gestalt gewann, was
wir als Werk bewundern. Auch Mendelssohn stand also unter dem
Bann dieses Doppellebens, das alle großen Ereignisse im Geistigen
begleitet. Die Kluft ist auch bei ihm vorhanden, und ein Geheimnis
bedeckt sie.
Doch wir sahen, daß dem Menschen Mendelssohn eine außer-
ordentliche Bewußtheit und Klarheit eigen war. Der Enkel Moses
Mendelssohns hatte das Denken gelernt. Schon im Kind triumphierte
der Intellekt über einen von Natur reich gesegneten Instinkt. Krank-
106 Genie oder Epigone?
haftes findet in seiner Seele keinen Platz. Dafür sorgte schon Zelters
handwerklich grobe Biederkeit. Keine Not drückt mit Bleigewichten.
Alles drängt ans Licht. Da konnte sich nur ein glücklicher Mensch
entfalten, und die Kunst mußte auf solchem Boden halkyonisch ge-
deihen. Zwar macht das Schaffen auch Mendelssohn einsam. Aber
hier finden wir weder Dämonisches noch Pathologisches. Oft scheint
es, als verleugne der Weltmann den Künstler. Kalt und nonchalant
stellt er sich vor sein Werk. Man beschuldigte ihn der Qlätte. Mit
Unrecht; denn er besaß nur die Zurückhaltung der vornehmen Seele,
die das Entblößende der Szene nicht liebt. Aber heiß wogte es in
seinem Innern, wenn das Schaffen ihn in die hohen Sphären erhob.
Die Menschheit hört es immer gern, daß der große Mann ein
„Kind" gewesen sei. Das mildert die Kluft, die zwischen dem Gei-
stigen und der Masse gähnt. Das Genie kommt damit in die Nach-
barschaft der Vielen, die eben niemals etwas anderes als „Kinder"
sind. Felix Mendelssohn hält der Neugier wissensdurstiger Späher
stand. Seine Rastlosigkeit gestattete es ihm nicht, als Mann noch
„Kind" zu sein. Er beherrschte zu sehr die Praxis des Lebens und
mußte allzu wachsam auf dem Posten des Führers stehen. Vielleicht
könnte ihn seine Zärtlichkeit als Gatte und Familienvater, seine
Freude am Herdglück zwischen den vier Pfählen dem Philister ver-
dächtig machen. Aber da zeigten sich nur männliche Tugenden.
Der Feind jeglichen Bohemienwesens durfte sich den Luxus einer
festen Lebensordnung, eines planmäßigen Vorwärtsschreitens in der
Kunst sowohl als auch im Leben erlauben.
Wer so über dem Leben stand, durchschaute auch die Dinge
und erkannte die Nichtigkeit alles dessen, was dem Tage diente und
ihn von seinem Werk abhielt. Mendelssohn war im eminentesten
Sinne ein antiliterarischer Musiker. Er verschmähte es, zur Welt
anders als in Tönen zu sprechen, ganz wie Chopin und im schroffen
Gegensatz zu Schumann. Als ihn der Berliner Professor Dehn auf-
forderte, in seiner Musikzeitung etwas über die Musik zu Antigone
zu schreiben, lehnte er bestimmt ab: „Ich habe es mir nämlich zum
unverbrüchlichen Gesetz gemacht, niemals etwas Musik betreffendes
selbst in öffentliche Blätter zu schreiben, noch auch direkt oder indirekt
einen Artikel über meine eigenen Leistungen zu veranlassen; und
wenn ich auch einsehe, wie oft mir dies zum augenblicklichen und
Genie oder Epigone? 107
empfindlichen Nachteil gereichen muß, so kann ich doch, von einem
Vorsatz nicht abweichen, den ich unter allen Umständen aufs strengste
befolgt habe." Er suchte starke Worte, um sein Antiliteratentum
auszusprechen: „Wenn ich da einen Gesellen mit allen guten Fähig-
keiten vom lieben Gott ausgerüstet Jahre lang herumspazieren und
seine wirklich schönen Fähigkeiten dazu brauchen sehe, in Zeitungen
zu schreiben und außerdem nichts in der Welt weiter bringen, nichts
befördern, nichts hinstellen, da meine ich zuweilen, das sei die einzige
Gotteslästerung, die es auf der Welt gäbe." Sein Schaffen war
seine ästhetische Rechtfertigung. Das Reden darüber schien ihm
unwesentlich: „Es wird so viel über Musik gesprochen, und so
wenig gesagt. Ich glaube überhaupt, die Worte reichen nicht hin
dazu, und fände ich, daß sie hinreichten, so würde ich am Ende gar
keine Musik mehr machen." Er glaubte nicht an die Vieldeutigkeit
der Musik. „Das, was mir eine Musik ausspricht, die ich liebe, sind
mir nicht zu unbestimmte Gedanken, um sie in Worte zu fassen, son-
dern zu bestimmte. So finde ich in allen Versuchen, diese Ge-
danken auszusprechen, etwas Richtiges, aber auch in allen etwas Un-
genügendes." Dieses Bekenntnis gegen die Musikschriftstellerei ist
so antiromantisch wie nur möglich. Mendelssohn durfte es wagen.
Aber selbstverständlich verlangte sein lebhafter, reicher Geist
nach Gedankenaustausch und Aussprache. Was ihm da Gespräche
nicht bieten konnten, vertraute er seinen Briefen an. Mendelssohn
ist der glänzendste, geistvollste Briefschreiber unter den Musikern.
Das dozierende Pathos Wagners, der sonst auf diesem Gebiet mit
ihm wetteifern kann, ist ihm fremd. Nahe kommt ihm einzig der
junge Schumann, dessen Briefüberschwang ebenfalls zu den erlese-
nen Köstlichkeiten seiner Zeit gehört. Unter der feinen, zierlichen
Handschrift Mendelssohns erblüht eine Fülle von Gefühlswärme,
tiefem Ernst, Witz, Beobachtung und Lebensweisheit, die den ganzen
Menschen in leuchtenden Farben zeigt. Da begegnen wir auch dem
Enthusiasten, der romantisch zu schwärmen versteht: „Es gibt kein
Zuviel des Empfindens, und was man so nennt, ist immer eher ein
Zuwenig. All das Schweben und Schaukeln der Empfindung, was
die Leute so gern bei Musik haben, ist kein Zuviel, denn wer emp-
findet, der soll soviel empfinden, als er nur immer kann, und dann
womöglich noch mehr. Wenn er dran stirbt, so ist's nicht in Sün-
108 Genie oder Epigone?
den, denn es gibt eben nichts Gewisses, als Empfundenes oder
Geglaubtes." Und bekennt ein andermal: „Wo die Wärme fehlt,
da fehlt auch das rechte Urteil." Die Leidenschaft überwältigt ihn,
wenn er an Musik denkt; da kennt er keine Kälte und Zurückhaltung:
„Mir ist in der Musik nichts so unangenehm, als jene gewisse kalte,
seelenlose Koketterie, die an sich selbst so unmusikalisch ist, und
die doch so oft als Grundlage vom Singen und Spielen und Musik-
machen angetroffen wird."
Die Briefe sind das beste Zeugnis für den Menschen und Künst-
ler Mendelssohn. Überzeugend spricht zu allen Generationen, was er
über den Ernst seiner Kunstauffassung, über den Wert der Arbeit,
die Notwendigkeit des Nierastens zu sagen weiß. Die Differen-
zierung ist ihm der Punkt, „der jedem Menschen selbst überlassen
ist, über den ihn weder Natur, noch Talent, auch das größte nicht,
wegbringen kann, das halte ich für das Einzige und Beste". Talent-
proben allein machen es nicht. Zwar „ohne Talent geht's nicht;
aber ohne Charakter auch eben nicht; das sieht man ja Tag für
Tag an den schönsten Talenten, die alle Erwartungen erregten und
doch nichts zustande bringen". Manch einer hat eine achtung-
gebietende Meisterschaft erreicht; „aber gerade da geht nach meiner
Meinung erst die wahre Arbeitszeit an, da handelt's sich nur davon,
was aus eigener Brust, aus tiefstem Herzen erlebt und ausgesprochen
wird, ernst oder heiter, bitter oder süß ; da tritt der Charakter und
das Leben ein, und damit das Leben nicht zerstreuend und vereitelnd
wirke, wenn es glänzend und glücklich, oder entmutigend und ver-
nichtend, wenn es das Gegenteil ist, gibt es nur das eine Mittel:
Arbeiten und Fortarbeiten". Wir lesen hier ein aufrichtiges Bekennt-
nis Mendelssohns, dem das äußere Glück nicht zum Verhängnis
wurde und dem sein Besitz nur dazu diente, um desto intensiver
arbeiten und schaffen zu können.
Man wäre fast versucht, den Meister, der so ganz nur in der
Musik lebte und jede literarische Betätigung verachtete, einseitig
zu nennen, mit demselben Recht, mit dem er in jungen Jahren leiden-
schaftlich die Einseitigkeit als Grundlage eines Talentes lobte. Aber
die Malerei hatte es ihm angetan. Was schon im Kreise der Ge-
schwister täglicher Wettstreit war, bildete sich auf der italienischen
Reise und später in Düsseldorf weiter aus. Die Lust am Zeichner
Genie oder Epigone? 109
und Malen wuchs mit der gewonnenen Routine. Der Musiker profi-
tiert davon, daß Auge und Geist an Klarheit der Linie und Schärfe
der Kontur gewöhnt werden. Der Sinn für die Form und das Wesent-
liche wird erweitert. In den Grenzgebieten der Künste grüßen sich
der Maler und der Musiker.
Er suchte die Freundschaft von Malern und fand sie in Rom
und Düsseldorf. Literaten aber sehen wir seltener in seinem Kreis.
Er verschmähte sie, trotzdem er die Literatur liebte. Die Bewunde-
rung für Goethe war Erbteil seiner klassisch gerichteten Familie.
Jean Paul ergriff ihn mächtig und ließ ihn nie wieder ganz aus seinem
Bann. Aber Einwirkungen auf seine Musik gewann die Poesie nicht.
Er empfand Schumanns Schwärmmusik mit ihrem poetischen Schwel-
gen als Surrogat. Hier stimmte er mit Chopin überein, der allem
Poetisieren feindlich gegenüberstand.
Mendelssohn empfand zu stark die Realität der Klänge und
leugnete das Mystische in ihnen. Man könnte ihn im Gedanken an
die Romantik nüchtern, zeitfremd nennen, wenn nicht seine Leiden-
schaft auch Widerstrebenden ein Beweis der Größe würde. Er be-
zaubert nicht durch Stimmungsreize und ästhetische Rauschmittel,
sondern überzeugt durch die Klarheit seiner Ausdrucksweise, in der
Nietzsche nicht zu Unrecht „ein Element Goethe" fand. Hier kann
von Epigonentum keine Rede sein. Nur ein Genie durfte auf die
Mittel verzichten, die seine Zeit sanktionierte.
Wir wollen heute den ganzen Menschen erkennen. Der Hym-
nus auf die Größe des Künstlers allein genügt uns nicht. Wir
wissen, daß die Musik die stärkste Isolierung vom Leben fordert.
In dieser sublimsten aller Künste kann nur der Individualist zu seinem
vollen Recht kommen. Und so sehen wir, daß auch Mendelssohn
wie alle großen Meister ein Aristokrat war, ein Eigener voller Stolz,
Selbstbewußtsein, Vornehmheit, unendlicher Geduld und gebändigter
Leidenschaft. Der Verfall der Musik begann erst, als mit Wagner
demagogische Elemente in sie hineingetragen wurden und sie der
Masse schmeicheln sollte. Seit Wagner will die Musik gewinnen,
früher wollte sie gewonnen sein. Mendelssohn war kein Draufgänger,
kein stürmender Enthusiast. Er schwärmte nicht für Revolutionen.
Die Tradition hielt ihn gefangen ; aber nicht als Sklaven — er hatte
sie sich dienstbar gemacht. Wo er nicht lieben konnte, da mußte
110 Genie oder Epigone?
er vorübergehen. Polemik trieb er nicht. Vorsichtig verbarg er sein
Inneres vor Kämpfernaturen wie Berlioz, Liszt und Wagner. Die
Tendenz seines Schaffens ging nicht ins Unerhörte, Verblüffende. Er
glühte nicht. Ihn bewegte jene stille Lust des Südens, die er von
Jugend auf geahnt und in Italien gefunden hatte. Davon kam er nicht
mehr los.
Selten nur kam Mendelssohn auf Weltanschauungsfragen zu
sprechen. Als junger, reisender Schwärmgeist brachte er es zwar
noch fertig, auf endlosen Spaziergängen in der Campagna mit Berlioz
über religiöse Fragen zu streiten. Später verschloß er seinen Glau-
ben mehr in sich. Er war fromm, ohne sich an das Dogma zu binden.
Der Optimismus des christlichen Bekenntnisses lag seinem Naturell.
Auch die Philosophie war nicht spurlos an ihm vorübergegangen. Als
Student hatte er den Versuch gemacht, sie sich systematisch zu er-
ringen. Der Meister aber fand sie im eigenen Innern, geläutert durch
sein Werk. Sein Bekenntnis war das der Güte: Hilfsbereitschaft für
die Menschen, Förderung alles Aufwärtsstrebenden. Und über die
Hemmungen des Alltags half ein frischer Humor hinweg.
Ein aufgeklärter Kopf wie Mendelssohn konnte nicht ganz un-
politisch sein. Vom Vater hatte er manche radikale Äußerung ge-
hört. Einig war er sich mit ihm im: Lächeln über die „Michelei".
Dem beschränkenden Nationalismus abhold, huldigte er einem ge-
sunden Europäertum, ohne sein Vaterland zu verleugnen, das er
ebenso liebte wie kritisierte. Es war Vormärz in Preußen und Sachsen.
Absolutismus und Reaktion lagen im Sterben. Und Mendelssohn
war nicht der letzte, der ihren baldigen Tod herbeiwünschte. Aber
auf die Barrikaden wäre er dafür nicht gestiegen.
Wir sahen die gedämpfte, disziplinierte Leidenschaft in Mendels-
sohns Charakter, seinen Abscheu vor Exzessen, das Undämonische
seines Schaffens und ahnen, daß die Erotik in seinem Leben und
Werk nur eine geringe Rolle spielte. Um ihn herum warb zwar eine
stark auf Sinnlichkeit ruhende Kunst um Anerkennung. Aber der
Jünger Zelters, dessen Gott Johann Sebastian Bach war, erlag ihren
Versuchungen nicht. So wie er mit den Stimmungsmitteln geradezu
asketisch umging, strebte er zur Entsinnlichung der Melodik, ohne
ihr jedoch die Leidenschaftlichkeit des Ausdrucks zu rauben. Sein
Ideal waren die Klassiker und ihr Streben nach architektonischen
Lieder mit und ohne Worte 111
Wirkungen. Was konnten ihm die Frauen sein? Hier liegt ein
gutes Stück Bürgerlichkeit in Mendelssohn und strahlt in sein Werk
über. Der Instinkt ist der Herrschaft des Geistes und Willens unter-
worfen. Er ist gebändigt. Und der starke Formensinn duldet keine
Ausschweifungen romantischer Klangfreude oder Stimmungsseligkeit.
Wir verstehen nun auch, warum der Dramatiker Mendelssohn keine
Rosen pflücken konnte. Hier fehlte ihm die sinnlich betörende
Schwungkraft. Der Aristokrat kann nicht zur Masse sprechen; denn
sie versteht ihn nicht.
Fassen wir noch einmal zusammen, was über den Künstler Men-
delssohn zu sagen ist: Er besaß den ungeheuren Willen, die Sicher-
heit der Gestaltung, die Kraft der Form — kurz, den großen Stil.
Die unendliche Geduld seiner Musik erzwang das Vollkommene,
jene halkyonische südliche Bläue und Klarheit, die uns still und selig
macht. Er spricht ohne Pathos, ohne Pose und Gebärde, aber so
seltsam eindringlich, schmeichelnd und überredend, wie nur einer
sprechen konnte, der das Dramatische im tiefsten Innern verachtete.
Da ist alles Reife und erfüllte Sehnsucht. Nervöse Spannungen und
Reize fehlen. Alles ist logisch (welche Stärke des Intellekts!), vor-
nehm — schön.
Der Kreis rundet sich, und wir kehren zur Frage des Anfangs zu-
rück: Genie oder Epigone? Wir wissen die Antwort: Der seltene
Mensch war auch der seltene Meister. Widerspruchsvoll ist das
Wesen des Genies. Es bleiben Lücken, die nicht bewiesen werden
können. Und andere brauchen gar nicht bewiesen zu werden. Denn
das meiste ist ja doch unerklärlich und spottet allen Versuchen, es
auf eine Formel zu bringen, die den Wißbegierigen und Ungläubigen
Genüge tut. Auch in der Kunst hat nur der Lebende recht. Und
daß Mendelssohn neben den anderen Großen der Musik zu den
Lebenden zählt, dies erst zu beweisen kann weder unser Wunsch noch
unsere Aufgabe sein.
LIEDER MIT UND OHNE WORTE
Es ist schon einmal angedeutet worden : die Geschichte der Musik
ist die Geschichte der musikalischen Synthese. Sie hatte in den
112 Lieder mit und ohne Worte
drei Wiener Großmeistern Haydn, Mozart und Beethoven mit unge-
heurer Vehemenz ihren Gipfel erstiegen. Die große Pause mußte
kommen. So wurde das neunzehnte Jahrhundert mit geschichtlicher
Notwendigkeit das Jahrhundert der Lyrik. Schubert eröffnete es.
Chopin, Schumann und Mendelssohn folgten.
Die großen Leidenschaften waren erschöpft und verstummt. Die
Stimmung, das Poetische mußten Inhalt schaffen. Mit der beginnen-
den Dekadenz wuchs die Nervosität, wuchs der Reiz der kleinen,
prägnanten, mit äußerster Sensibilität erfüllten Form. An Stelle des
Systems trat der Aphorismus. Selbst die Revolutionen wurden klei-
ner. (Anmerkung für Wagnerianer: Auch Wagner macht hierin keine
Ausnahme; er bedeutet nur die deutsche Gründlichkeit genial auf
ein .allgemeinverständliches System gebracht.) Die Gefühle wurden
zwar nicht schwächer; aber sie hatten an Volumen verloren. Kurz,
es wurde der schöne Abend der Romantik mit all seiner Fülle, Süße
und Heimlichkeit in der Musik, ein wenig müde schon, aber voll
tiefer Farben und Glückseligkeit.
Die Lyrik ist das Werk der Romantik. Die Sehnsucht einer emp-
findsamen Zeit erfüllte sich in ihr. Die Liedform gab den Musikern
den Rahmen, der aphoristische Einfall den Inhalt. Natürlich war es
aber auch hier nur dem wirklichen Genie vergönnt, durch die Kraft
der Synthese Triumphe zu feiern. Franz Schubert schuf das Kunst-
lied und wies damit Schumann den Weg. Chopin träumte am Kla-
vier und sang mit beispielloser Einseitigkeit nur für die Tasten. Und
Mendelssohn? Sein Instinkt führte auch ihn auf den Platz an der
Straße Schuberts. Aber sein Intellekt griff weiter zurück. Die Wur-
zeln seiner Musik ruhen in der vorromantischen Zeit. Deshalb konn-
ten wir ihn schon zu Anfang des Buches einen Spätling nennen. Er
gehört nicht zu den „Genialitätsfrechen, den Jünglingen mit den
phrygischen Mützen", wie sie der enthusiastische Schumann nannte.
Und doch ist auch er ein Romantiker, zwar nicht von der spezifisch
deutschen Art, sondern weltbürgerlicher und gemäßigter.
Mendelssohns eigenstes Schaffensfeld ist die Lyrik, die Liedform.
Hier ist er Meister und reicht als ein Ebenbürtiger den Größten die
Hand. Wir wissen aus seinen Lehrjahren, daß Zelter seine Technik,
Ludwig Berger aber seinen Geist bildete, derselbe Berger, der als
Tondichter ein Lyriker und Aphorist galanter Art war. Der beweg-
Lieder mit und ohne Worte 113
liehe frühreife Intellekt des Schülers wußte von beiden zu nehmen,
was er brauchte. Ein Kind der romantischen Zeit, zwischen Goethe
und Jean Paul schwankend, wobei dem einen seine Verehrung, dem
anderen seine Liebe gehörte, trieb ihn der Instinkt zur Poesie, wäh-
rend die Tradition ihm den Blick auf die Vergangenheit lenkte. Als
der Lyriker in ihm zur Aussprache drängte, wußte er nichts oder
wenig von Schuberts Liedern. Er nahm Ludwig Bergers, vielleicht
auch Zelters Goethelieder für den lyrischen Ausdruck seiner Zeit
und setzte ihre Richtung fort. Wenn wir die Kunst der beiden
typischen Märker als die Berliner Lyrik bezeichnen wollen, so ist
Mendelssohn als Liederkomponist zeitlebens ein Berliner geblieben.
Die Versuche Schuberts mit Rezitativ und Szene hat er nicht durch-
lebt. Er ist nicht durch Krisen gegangen. Sein Verhältnis zur Form
und Ausdrucksmöglichkeit des Liedes stand von vornherein fest.
Zelter, Klein, Berger haben ihre großen Verdienste in der Ge-
schichte des deutschen Liedes. Sie stellten dem weitausladenden
Stil Zumsteegs und der Wiener Schule eine Form von fast asketisch
sparsamer Rundung und Prägnanz gegenüber. Sie erlauschten die
Sprachmelodie der Dichterworte, schrieben also wahrhaft vokal ohne
instrumentale Einflüsse. Die Begleitung stützte mit den unbedingt
notwendigen Akkorden den Gesang. Zelter ist sicher durch Goethes
lebhafte Anteilnahme an dem Liedproblem dahin gekommen, so zu
schreiben, daß es trotz aller Primitivität und Dürftigkeit heute noch
Eindruck macht. Dem Knaben Mendelssohn wurden diese Anschau-
ungen von Anfang an eingeimpft, und Zelters Worte erhielten Evan-
gelienwert durch die Zustimmung Goethes. Ob Ossians Gesänge,
die Schuberts Jünglingsphantasie ins Grenzenlose verlockten, den
jungen Mendelssohn aus der Fassung gebracht hätten? Es ist kaum
anzunehmen. Ihm war das romantische Feuer noch nicht in die
Seele gedrungen. So erlebte der Lyriker Mendelssohn keinen Sturm
und Drang. Er war auch kein Bahnbrecher, der kühn nach Neu-
land forschte. Aber auf bekanntem Terrain bewegte er sich als ein
Meister. Die ungeheuer neutrale Kunst Johann Sebastian Bachs
hatte ihn schon frühzeitig allzu stark ergriffen. Da konnte es für ihn
auch in der subjektiven Form der Lyrik kein Ringen und Suchen
mehr geben.
Mendelssohn ist als Liederkomponist reiner Melodiker. Klar
D a h m s , Mendelssohn 8
114 Lieder mit und ohne Worte
und von wunderbarem Ebenmaß ist stets die Form, erstaunlich der
unerschöpfliche Reichtum an neuen Wendungen in einem so eng-
umschriebenen Kreis. Das Dichterwort ist ihm nur Mittel zum Zweck,
Musik zu machen, aber in ganz anderer Art als Schubert, der selbst
die belangloseste Poesie mit einem Goldregen von Tönen über-
schüttete. Schubert musizierte aus sich heraus, Mendelssohn in sich
hinein. Schubert dichtete den Dichter gewissermaßen um, schuf durch
die Kraft seiner Individualität etwas ganz Neues, ein Drittes, wäh-
rend Mendelssohn das Dichterwort nur in seine Sprache übersetzte.
So mußte Schuberts Genie darauf bedacht sein, von dem Gedicht
hingerissen, Charakteristisches zur Welt zu bringen. Mendelssohn
konnte sich damit begnügen, die Stimmung der Verse zu unterstreichen
und mit leichten Farben auszumalen. Er zögerte auch nicht, die Worte
des Gedichts zu ändern, um eine melodische Phrase oder eine Run-
dung in der Form zu retten. Dabei schreckte er selbst in merk-
würdiger Freimütigkeit vor Sinnentstellungen nicht zurück. Er ver-
zichtete auf den Prunk großer Steigerungen, war von einer Sparsam-
keit ohnegleichen in der Begleitung und strebte meist nicht einmal
nach Charakterisierungseffekten. Die Gesangsmelodie ist ein Selb-
ständiges, Ganzes für sich. Die Begleitung unterstützt sie nur. Aber
trotzdem sind Stimme und Klavier innig verbunden, ein Ganzes voll
Zauber und Wärme, Leben und Gefühl.
Schon die Wahl der Texte zeigt Mendelssohns Selbstbeschrän-
kung und sein engumrissenes Ideal in der Lyrik. Die Ballade fehlt,
dämonische Töne klingen außer etwa im „Hexenlied" nie an. Der
Grundton, der alle 79 Lieder trägt, ist volkstümliche Innigkeit. Leise
Wehmut und Sentimentalität schimmern an den meisten. Die Er-
fordernisse der Volkstümlichkeit erfüllen sich, und Mendelssohn wäre
allein durch Lieder wie „Es ist bestimmt in Gottes Rat" oder „Leise
zieht durch mein Gemüt" den Deutschen unsterblich geworden.
An der Spitze seiner Dichter steht der Jugendfreund Karl Klinge-
mann, ein liebenswürdiger, aber für unsere Begriffe schwacher Poet
mit acht Texten, Heine folgt mit sechs, auch Volksliedertexte aus
dem Wunderhorn, Altdeutschen, Schwedischen und Spanischen sind
sechs zu finden, Eichendorff und Voß inspirierten ihn je fünfmal,
Goethe und Lenau je viermal. Unter den übrigen Dichtern inter-
essieren uns noch Uhland, Tieck, Moore, Byron, Geibel, Hölty und
Lieder mit und ohne Worte 115
Hoffmann von Fallersleben. Die Auslese ist nicht groß. Wir er-
leben nicht das völlige Aufgehen des Komponisten in einer
Dichternatur wie bei Schubert, Schumann oder Wolf, dieses Hin-
gerissensein und leidenschaftliche Verbrennen in der Poesie. Wir
sehen einen bunten Strauß lieblicher Blumen, jede einzelne ein Mei-
sterwerk in der Harmonie ihrer Schönheiten und alle geeint durch
das Band der Seele des Schöpfers. Meist sind es Natur- und Wan-
derlieder, einfache lyrische Stimmungen ohne Probleme.
In den Heften opus 8 und 9 sind die frühesten Lieder ver-
einigt. Schlichte Harmlosigkeit. Freude am hellen melodischen Auf-
schwung ist ihr Wesen. Unbekümmert streift der junge Mendels-
sohn selbst die Grenzen des Banalen; hat er doch sogar die Triviali-
tät begangen, die dilettantischen Versuche seiner Schwester Fanny
in diese Opusnummern mit aufzunehmen. „Andres Maienlied", das
Hexenlied von Hölty, fällt aus dem Rahmen. Hier pulst wirkliche
Leidenschaft, entlädt sich ein stürmisches Temperament frei und ohne
Sentiment. Der Ausdruck ist wahr und packend und bis zum Schluß
mit großem Geschick gesteigert. Bemerkenswert ist die charakte-
ristische Ausnutzung des Tremolos in der Begleitung. Meist aber
finden wir den einfachen volksliederartigen Ton in den kurzgefaßten
Liedern, die dazu noch oft als Strophenlieder geschrieben sind. Un-
befangen komponierte selbst der 21jährige Mendelssohn noch an
einem Gedicht wie Uhlands „Frühlingsglaube" vorbei. Es ist eine
merkwürdige Naivität in all diesen früheren Liedern. Auch manches
aus dem Nachlaß muß man wohl in diese Zeit setzen. Anderes da-
gegen ist von außerordentlicher Intensität des Ausdrucks, wie bei-
spielsweise „Des Mädchens Klage" mit seiner wogenden Begleitung,
die innige, stimmungsvolle Romanze „Schlafloser Augen Leuchte",
die zuerst in einem Album bei Breitkopf & Härtel erschien, und der
echte Romanzenton in den beiden Eichendorffschen Gesängen „Das
Waldschloß" und „Pagenlied".
Die übrigen 45 Lieder verteilen sich auf die Opusnummern 19,
34, 47, 57, 71, 84, 86 und 99. In ihnen spricht sich mit geringen Aus-
nahmen der reife Künstler aus. Die besten sind nahezu Volkslieder
in ihrer schlichten, einfachen Gestaltung. Immer wieder kommen
wir auf das Wort „Innigkeit", wenn wir Mendelssohns Note im
Lied beschreiben wollen. Seine Größe verbirgt sich oft in unschein-
116 Lieder mit und ohne Worte
barem Gewand. Man fühlt die sorgsame Arbeit nicht, die hinter
dem Gefüge liegt. Alles gibt sich mit der Selbstverständlichkeit, die
das Zeichen der Vollkommenheit ist. Kristallklar ist der Satz, durch-
sichtig und niemals überladen. Die Deklamation ist aus dem Dichter-
wort heraus empfunden und wird von einer Melodie getragen, der
die schöne Linie über alles geht. Poetische Wahrheit liegt darin.
Und niemals wohl komponierte Mendelssohn mit dem Hintergedanken
auf äußerliche Wirkung. Seine ganze Seele schlummert in den Lie-
dern, diese reine, ein wenig schwermütige große Seele des Gütigen,
der von seinem Reichtum denen gibt, die nichts besitzen.
Oft hat er den Frühling besungen, in opus 19 Nr. 1 mit sanfter
Anmut, in opus 34 Nr. 3 jubelnd und zum Schluß verträumend, auf-
brausend in opus 47 Nr. 3, frisch blühend und prangend in opus 71
Nr. 2, und gemütvoll in opus 86 Nr. 6. Klingemanns Klingklangverse
rufen nie das Tiefste in ihm wach; da ist er gefällig plaudernd und
ein wenig sentimental. Aber welche unsagbare Gefühlskraft in Eberts
,,Das erste Veilchen" ! Außerordentlich stark wirkt immer der Ro-
manzenton, wie er in dem „Winterlied" aus dem Schwedischen, in
„Neue Liebe" und „Reiselied" von Heine und „Da lieg' ich unter
den Bäumen" schwingt. Wir wollen jedoch an die Perlen Mendels-
sohnscher Lyrik denken : die zu Volksliedern gewordenen „Leise zieht
durch mein Gemüt" und „Es ist bestimmt in Gottes Rat", an das
altdeutsche Minnelied, den stillverträumten „Morgengruß" (Heine),
das zarte Nocturno „Venezianisches Gondellied", Lenaus „Schilf-
lied", das von leisen Klangwogen umspielt wird, das abgründig tiefe
„Nachtlied", von Eichendorff und Unlands „Das Schifflein" in seiner
keuschen Schönheit. Und wir fügen seiner lyrischen Krone den
köstlichsten Diamanten ein : Heines „Auf Flügeln des Gesanges", wo
Märchen, Traum und Liebe zu seligstem Klang geworden sind. Wollen
wir noch Vergleiche ziehen? Die beiden Suleika-Lieder reizen dazu.
Schuberts Nachbarschaft ist ihnen gefährlich. Sie halten trotz schönen
Einzelheiten nicht stand. Da fehlte Mendelssohn die dionysische
Schwungkraft Schuberts, ebenso wie ihm Schumanns erschütternde
Tragik fehlt, wenn wir die Komposition von Heines „Allnächtlich
im Traume seh' ich dich" betrachten. Aber die Vergleiche können
Mendelssohns Wert nicht mindern. Er gab im Lied das, was er
geben konnte, als ein wahrhaft großer Meister.
Lieder mit und ohne Worte 117
Das von den einstimmigen Liedern Gesagte ließe sich bei den
Duetten Mendelssohns wiederholen. Ihre Kennzeichen sind eine
echte, edle Volkstümlichkeit und eine ebenso süsse wie eindringliche
Melodik. Sie sind fast durchweg homophon gehalten. Die beiden
Singstimmen gehen oft in Terzen; aber immer ist die Zweistimmig-
keit mit wunderbarer technischer Kultur geformt. Die Klavierbeglei-
tung stützt nur akkordlich. Die Duette stammen zum größten Teil
aus seiner reifsten Zeit. Opus 63 umfaßt sechs Nummern, innig,
schwermütig, zart und von einem bezaubernden Schmelz in der Kanti-
lene. Mendelssohn schrickt vor sinnverdrehenden Änderungen der
Dichterworte nicht zurück, wo es ihm gilt, eine Stimmung nach seinem
Geschmack zu gewinnen; ein merkwürdiges Verfahren bei seiner
sonstigen Pietät vor dem Kunstwerk. In opus 77 stehen drei Duette,
die die Vorgänger an Lieblichkeit und Frische des Ausdrucks noch
überstrahlen. Drei weitere Duette hat Mendelssohn ohne Opuszahl
veröffentlicht; sie bringen jedoch keine neue Note in das Gesamtbild.
Wir sprechen nun von dem Mendelssohn, der in allen Herzen
lebt, dem auch Widerstrebende sich beugen; wenn wir von den
„Liedern ohne Worte" reden. In ihnen feierte der Meister seinen
größten und ewigen Sieg. Er gab damit ein Werk, das neben Bachs
Wohltemperierten Klavier, Mozarts und Beethovens Sonaten, Schu-
berts Impromptus, Chopins Nocturnes und Schumanns Jugendwerken
zu den Evangelien gehört, an die alle glauben, die dem Klavierspiel
huidigen. Der Lehrer vererbt sie den Schülern, und der Meister der
Tasten (denken wir heute an zwei Antipoden: Ansorge und Pade-
rewski), schmückt mit ihnen seinen Triumphwagen, zieht sie in den
Glanz der Konzertsäle und predigt ihre unvergängliche Schönheit
und Wahrheit allen, die hören wollen. Aber ihre Heimat ist nicht
im Angesicht der Masse; sie gehören den stillen Feierstunden, der
Dämmerung und dem Träumen am Klavier.
Eine tiefe, schwermütige Seele singt, was Worte nicht zu sagen
vermögen. Es ist so viel Erinnerung in den „Liedern ohne Worte"
und so viel Resignation eines Weisen und gerade in der Resignation
eine so unendliche Größe. Die Tage der Schwermut klingen darin
nach, die im Leben des Künstlers so reich gesät sind. Lind wiederum
pulsen Lebensfreude und Leidenschaft in den Tönen, Urkräfte des
Schaffenden, die sein bestes Erbteil sind. Über allem aber schwebt
118 Lieder mit und ohne Worte
der Wille zum Kunstwerk, eben der Wille zur Synthese, der nach
Vollendung ringt und sie auch erzwingt.
Die vormärzliche Zeit liebte das Sentimentale. Das behäbige
Tempo des Lebens förderte die Gefühlsseligkeit. Im Salon und Bür-
gerhaus war man zum Schwärmen geneigt. Diese Zeit verlangte
eine Kunst der starken Gefühle. Schumann und Mendelssohn sind
der Beweis dafür in der Musik. Doch wenn Schumann mit seinem
ungeheuren poetisch-phantastischen Schwelgen die Dutzendmenschen
vor den Kopf stieß, versöhnte Mendelssohns Abgeklärtheit die Ge-
müter und gewann sich alle Herzen. Sein Erfolg in der Zeit ist gren-
zenlos gewesen. Kein Meister ist von seinen Mitmenschen so ge-
liebt und verehrt worden wie er. Er wurde erst durch die Kunst
der starken Effekte und Erregungen in den Hintergrund gedrängt.
Da hielt seine vornehme Reinheit, die Absichtslosigkeit seines Strebens
nicht stand. Die Erschaffung einer wahrhaft geistigen Kultur aber
— falls eine solche in diesem Jahrhundert überhaupt noch möglich
ist — wird auch Mendelssohn zu seinem ganzen Recht verhelfen.
Doch wir sprechen ja nicht von einem Toten. Sein Werk lebt und
zieht seine Kreise, unaufhörlich und immer neue in jeder Generation.
Seitdem das Phänomen Richard Wagner in historische Beleuchtung
getreten ist und klare Köpfe den Nebel der verschwommenen Be-
griffe beseitigt haben, tagt es wieder in der deutschen Musik. Es
tagt für die Kunst der stillen Größe, der tiefbeseelten Form und des
Geschmacks an allem Guten und Edlen. Und erinnern wir uns
der Hauptdokumente einer solchen hohen Kunst, so müssen wir auch
Mendelssohns „Lieder ohne Worte" nennen.
Erst Schubert hatte die sogenannten Handstücke der Vorklassiker-
zeit in die Sphäre des modernen Kunstwerks erhoben. Die Form
dafür war gegeben; es war die Liedform, die, unendlicher Varianten
fähig, dem Ganzen klarste Proportion und künstlerischen Halt gab.
Wir wissen von Schumann, wie diese Form zum Tummelplatz ele-
ganter Routiniers wurde. All die Czerny, Pleyel, Herz und Hunten
überschwemmten die Musikhungrigen mit formgewandter, glatter,
aber flacher Musik. Ein Field ließ ernstere Töne erklingen. Seine
Nocturnes haben nur den Fehler einer ermüdenden Weichlichkeit.
Doch die Zeit liebte ihn. Erst Chopin machte ihn verstummen.
Mendelssohn fand die brauchbare Form, lernte begierig von allen,
Lieder mit und ohne Worte 119
nicht zum wenigsten von Fields geschmeidigen Klavierfiguren und
schuf den Gattungsbegriff der „Lieder ohne Worte".
Wir vergessen die Lehrzeit unserer Jugend, fliehen die Erinne-
rung an dilettantische Unzulänglichkeit, an Stümperei, die das Er-
habene zerfetzte, und erschließen uns das ungetrübte Bild eines
Kunstwerks, das in seinem Gesamtanblick von reichster Mannig-
faltigkeit und in jedem einzelnen Stück ein Kleinod von bewunderns-
werter Filigranarbeit ist. Den Schlüssel zum Werk kann uns nur der
Schaffende selbst geben. Wir kennen Mendelssohns Abneigung gegen
das Schreiben über Kunstdinge. Er würde uns im Dunkeln lassen,
wenn nicht sein Werk selbst eine Sprache, deutlich genug für feine
Ohren, redete. Aber einer seiner Jünger, Emil Naumann, hat nach
Unterredungen mit Mendelssohn Aussprüche des Meisters nieder-
geschrieben, die uns doch von Wert sind. So sagte Mendelssohn :
„Wir haben, wenn uns ein musikalischer Gedanke kommt, nicht da-
nach zu fragen, ob derselbe originell sei oder nicht. Ist das Motiv
nicht durch ein absichtliches Wollen oder Reflektieren entstanden,
sondern eine Eingebung und innere Offenbarung, so vermögen wir
ja ohnehin seiner Originalität weder etwas zuzusetzen noch zu
rauben. Solche Eingebungen sind daher nur dankbar und wie ein
reines Geschenk des Himmels zu empfangen. Was wir freilich später
bei der musikalischen Durcharbeitung mit solchen uns ohne unser
Zutun verliehenen Gedanken anfangen, wie wir sie organisch weiter-
bilden und bis zur vollendeten künstlerischen Form entwickeln —
das ist unsere Sache, die Sache unseres Wollens, unserer Energie
und Beharrlichkeit. Nach dieser Seite hin können wir daher nicht
streng genug gegen uns selbst verfahren . . . Hätte ich mich durch
die Bemerkungen anderer über mich dazu verleiten lassen, immer
nur nach der Originalität meiner Gedanken zu fragen, ich hätte
wahrlich nichts mehr schaffen können."
Es ist uns, als hörten wir hier Mendelssohn über seine „Lieder
ohne Worte" sprechen. Was wir immer gefühlt haben, wird uns
durch ihn selbst bestätigt. Kaum jemals ist eine Kunst freier von
dem Suchen, ja dem Wunsch nach Originalität gewesen, als diese.
Wir sehen es an der Melodik. Reihen wir die Perlen aneinander —
sie sind oft aus demselben Material. Es gibt Anklänge, nicht aus-
gesprochene Wiederholungen (das scheint nur so bei der Kongruenz
120 Lieder mit und ohne Worte
der Modulationspartien). Wir sehen, daß ein Band all diese wort-
losen Lieder eint. Der Melodie gebührt die Krone. Mendelssohn läßt
sie frei schweben. Er zeichnet wunderbar klare und wohlgeformte
Linien; aber die Farbe verwendet er sparsam. Er würzt niemals
mit schrillen Effekten, mit Klecksen. Kaum braucht er die Unter-
stützung der chromatischen Mittelstimmen, die Chopin und Schu-
mann so liebten. Die musikalischen Ereignisse wickeln sich klar
ab. Und legen wir den kontrapunktischen Maßstab an, so finden
wir die Gesetze des strengen Satzes in jedem der Stücke verkörpert.
Hier herrscht keine schwüle Treibhausluft, auch kein mystisches
Halbdunkel. Wir verspüren keine poetischen Surrogate, keine ner-
vösen Erregungen krankhafter Lust am Seltsamen. Alles ist klar,
allzuklar für Naturen, die nach Sensationen dürsten. Mendelssohn
bedarf keiner versteckten oder verschleierten Andeutungen. Er kann
und muß sich eindeutig und bestimmt aussprechen. Denn wir hörten
schon einmal aus seinem Munde das antiromantische Wort: „Noten
haben doch einen ebenso bestimmten Sinn, wie die Worte, — viel-
leicht einen noch bestimmteren."
Die 48 Lieder ohne Worte erstrecken sich über alle Schaffens-
perioden des Meisters. Die acht Hefte opus 19, 30, 38, 53, 62, 67,
85, 102, in denen sie erschienen sind, machen keinen Anspruch auf
Chronologie. Die beiden letzten Hefte enthalten nachgelassene
Werke.
Opus 19 erschien im März 1834, ein Jahr nachdem Chopin seine
ersten Nocturnes herausgegeben hatte. Schon zwei Jahre vorher
hatte Mendelssohn aus Paris den Seinen geschrieben, daß er sieben
Lieder ohne Worte veröffentlichen wolle. Aber seine Sorgsamkeit,
die immer wieder Verbesserungswertes fand, verzögerte den Plan.
Die ersten Lieder ohne Worte waren in der Schweiz, in Italien, ja
in dem stark parfümierten Pariser Leben entstanden. In ihnen ist
der Extrakt des jungen Mendelssohn enthalten. Sie besitzen eine
unwiderstehliche Süße und Weichheit der Stimmung. In Nr. 1, E-dur,
schwingt sich über wogenden Sechzehnteln eine zarte Melodie auf,
die alle holde Schwärmerei auskostet. Nr. 2, a-moll, ist von ernstem,
wehmütigem Charakter, schlicht und nachdrücklich deklamiert und
zum Schluß in die tiefen Regionen versinkend. Der Kontrast darf
nicht fehlen : Nr. 3, das frische Jägerlied in A-dur, bringt ihn mit
Lieder mit und ohne Worte 121
hellen Fanfaren, dem Halali der Hörner und einem pochenden, hin-
reißenden Rhythmus, der kein Verweilen kennt. Am Schluß grüßt
Mendelssohn die Rheintöchter Wagners. Welche Ironie! Alles löst
sich in flimmernde Klavierfiguren aus, wie wenn die Sonne durch die
Baumwipfel bricht. Nr. 4, A-dur, gebietet stilles Verweilen. Eine
schmelzende Melodik singt von Liebe und Sehnsucht. Das ist keine
Übung für die Klavierstunden, sondern ein wundersames Meister-
werk. Leidenschaftlich erregt, begehrt Nr. 5, fis-moll, auf. Welche
Kunst der Durchgänge! Die Melodie fiebert förmlich. Alles ist
höchste Spannung; erst die Coda, die sich nach Dur wendet, spendet
Ruhe. Die Melodik gleitet nun sanft dahin von spielerischen Figuren
umrankt. Wir nähern uns einer Berühmtheit, Nr. 6 des Heftes; es
ist das venetianische Gondellied, g-moll, 1830 an den Lagunen er-
dacht. Hier wird die Musik sublimster Ausdruck, ganz Traum und
völlig entmaterialisiert. Leise wogt die Begleitung, da erklingt der
ferne Ruf der Gondoliere, ein Gruß, der an den Fassaden feierlicher
Paläste entlangtönt. Und das Lied hebt an, von einer Innigkeit
und bezaubernden Süße erfüllt, wie sie nur die Nächte Italiens durch-
bebt. Weich schmiegen sich die Terzen und Sexten aneinander.
Tränen und Seufzer hängen daran. Es verklingt, und traumhaft
hallen die Rufe aus der Ferne nach.
Das zweite Heft, opus 30, hat den Jugendton nicht mehr. Men-
delssohn hatte menschlich Schweres erfahren, und was früher als
Melancholie in seiner Musik durchschimmerte, war nun Resignation
geworden. Als ein Großer durchschaute er früh die Nichtigkeit
unserer Bestrebungen, und eine leise Schwermut nahm ihn gefangen.
Aber die Innigkeit und Tiefe des Gefühls war vielleicht noch ge-
steigert. Nr. 1, Es-dur, nannte Mendelssohn selbst damals in einem
Brief an Klingemann sein bestes, was er bis dahin gemacht hatte.
Das Lob sagt nicht zuviel; es quillt über von seelenvoller Melodik.
Das zweite, b-moll, greift noch einmal in die Jugendjahre zurück.
Schumann fiel dabei Jägers Abendlied von Goethe ein. Das hat
manches für sich. Mendelssohn fand den Schluß etwas gewöhn-
lich, und wir geben ihm recht. Nr. 3, Es-dur, ein Idyll, zart und
blühend. Nr. 4, fis-moll, läßt stärkere Akzente reden. Es ist von schwer-
mütiger Leidenschaft erfüllt. Nr. 5, D-dur, ist eine reizende Spielerei aus
den frohen Düsseldorfer Tagen. Auf den rollenden Baßfiguren schwimmt
122 Lieder mit und ohne Worte
eine liebliche Melodie und zum Schluß löst sich alles wie ein Hauch auf.
Nr. 6, fis-moll, das zweite venetianische Gondellied, führt uns wieder
in die üppige Farbenpracht des Südens zurück. Es ist eine Erinne-
rung, ein Nachtstück, glühender als das erste, von Visionen erfüllt,
von Rufen durchzuckt und von schroff hereinbrechenden Triolen er-
schüttert. „Man muß sehr viel Pedal dazu nehmen, und es muß
nicht allzu langsam schwimmen", meinte Mendelssohn nüchtern.
Der Charakter der „Lieder ohne Worte" ist in diesen beiden
ersten Heften deutlich umschrieben. Mendelssohn war nicht darauf
aus, Geniefahrten in unentdeckte Kunstgebiete zu unternehmen. Der
Grundton seiner Klavierlyrik blieb derselbe. Sentimental gestimmt
zeigt sich Nr. 1 aus dem dritten Heft, opus 38. Wir vergessen
seine langgezogene Es-dur-Melodik bald. Aber Nr. 2, c-moll, ist
wieder ein echtes Meisterwerk, ein schwermütiges Herbstlied, voll
welker Hoffnungen. Nr. 3, E-dur, hilft bei eindringlichster, herrlich-
ster Melodik der Virtuosität zu ihrem Recht. Es ist grenzenlos
jubelnder Frühling darin. Wir übergehen das leichtgefügte A-dur-
Lied Nr. 4. Das folgende in a-moll dagegen hat Größe und ungeheure
Intensität der Leidenschaft. Die Staccato-Bässe verstärken noch die
mit Synkopen belastete Erregung der Melodie. Eine Ballade von
Kampf und Untergang, die wie im Sturm vorüberzieht. Berühmter
aber ist das letzte Stück des Heftes, das As-dur-Duetto. Die Vir-
tuosen haben es dankbar in den Konzertsaal getragen mit seiner
sangvollen Melodik, dieses weiche, heimliche Zwiegespräch voller
Seligkeit und Hingabe.
Wir befinden uns im Gleichmaß der Betrachtung. Überraschun-
gen harren unser nicht mehr. Auch opus 53 hat die Vorzüge seiner
Vorgänger. Aber es scheint uns, als seien gewisse Phrasen bereits
Manier geworden. Nur Mendelssohn durfte es sich gestatten, in
solchem Grade der gleiche zu bleiben. Er schwärmt in dem weichen
As-dur-Lied (Nr. 1) und spricht zu den empfindsamen Herzen junger
Mädchen. Nicht viel anders in Nr. 2, Es-dur, nur eindringlicher und
bewegter. Nr. 3, g-moll, hat viel mehr Charakter und Männlichkeit.
Feierliches Versinken in tiefste Regionen des Herzens aber erleben
wir in Nr. 4, F-dur. Das ist ein Glaubensbekenntnis des Meisters,
und wir können es nicht ohne Ergriffenheit hören. Erinnerungen an
Schottland werden in dem „Volkslied" (Nr. 5, a-moll) wach, ein Rund-
Lieder mit und ohne Worte 123
gesang, der sich zu chorischen Wirkungen steigert. Bei Nr. 6, A-dur,
haben die Italiener Pate gestanden; die leichte Melodik beweist es.
Auch opus 62 gibt uns keine Rätsel auf. Die Gefälligkeit des
ersten Liedes (Q-dur) und die Geschwätzigkeit des zweiten (B-dur)
fesseln uns nicht dauernd. Aber Nr. 3, e-moll, jener Trauermarsch,
der in Moscheles, Instrumentierung bei Mendelssohns Totenfeier ge-
spielt wurde, greift uns an die Seele. Die gebieterischen Triolen
künden Ergreifendes an. Majestätisch zieht der Schmerz an uns vor-
über. Schneidende Dissonanzen klagen unermeßliches Leid. Kein
versöhnender Schimmer fällt darauf. Vor solcher Ausdrucksgewalt
verblaßt das folgende harmlose G-dur-Lied, und erst Nr. 5, a-moll,
reißt uns wieder mit sich fort. Es ist ein Venetianisches Gondel-
lied, das dritte, eine wehmutsvolle Romanze aus verklungenen Tagen.
Wieder rufen die Gondoliere, wieder schaukeln weiche Terzen und
Sexten auf wogender Begleitung. Die Erinnerung wird wach, und
die Seele gewinnt ein verlorenes Paradies zurück. Und nun nähern
wir uns dem Lieblingsstück des Bürgertums, jenem Allegretto gra-
zioso, A-dur, das „Frühlingslied" genannt wird. Es läßt sich kaum
etwas Duftigeres, Schwebenderes denken, als es diese von schnellen-
den Arpeggien getragene Melodie ist. Wer die Grazie liebt, wird
sich vor diesem Meisterwerk beugen.
Opus 67 ist das letzte Heft der Lieder ohne Worte, das zu Leb-
zeiten Mendelssohns erschien. Der Meister verleugnet sich in keiner
Note. Welcher Reichtum an harmonischen Wendungen und Aus-
weichungen von bedeutungsvoller Kühnheit, um die Dominante zu
erreichen! Hier ist die Harmonie wirklich noch ein Ausdrucksmittel
höchster Art, das wohlüberlegt und mit feinstem Geschmack gehand-
habt wird. Nr. 1 des Heftes, Es-dur, sagt uns nichts wesentlich
Neues. Aber das zweite, fis-moll, ist ein Gipfel. Zitternd, stoß-
haft drängt die Begleitung vorwärts, während die schmelzende Me-
lodie oft verweilen möchte. Wie ein Volkslied singt Nr. 3, B-dur;
man kann sich nur Eichendorffsche Verse dazu denken. Das vierte
hat es zu allgemeiner Beliebtheit gebracht. Spinnerlied nennt man
das Stück wegen seiner surrenden Lebendigkeit, und man könnte
ganze Spinnstubengeschichten junger Mädchen darin erlauschen. Eine
Welt trennt es von dem nächsten, dem tieftraurigen h-moll-Lied, in
dem der Schmerz eines Einsamen schluchzt wie eine Reminiszenz an
124 Lieder mit und ohne Worte
Schuberts „Leiermann". Das sechste, E-dur, führt uns ins Leben
zurück, ein leise schaukelndes Wiegenlied.
Die beiden letzten Hefte, opus 85 und opus 102, enthalten Nach-
laßwerke. Auch sie zeigen uns keine neue Seite Mendelssohns, wohl
aber die alten in unvergänglicher Frische und Fülle. Zwar spricht
manchmal Konventionelles aus ihnen, wie in dem lieblichen F-dur-
Stück (opus 85, Nr. 1), und dem folgenden in a-moll. Aber der
schwärmende Meister, der den Frühling liebte, schuf Nr. 3, Es-dur,
ungestüm aufbrausend, breit ausladend und mit jubelnden Fanfaren
Freude verkündend. Dann die beiden Liebeslieder Nr. 4, D-dur,
und 5, A-dur, voller Keuschheit und Anmut. In dem sechsten, B-dur,
ist mehr Wille als Herz, mehr Ebenmaß als Schönheit. Das erste
Lied aus opus 102 läßt den Melancholiker zu Worte kommen. Trübe
Stimmung wechselt mit heftigem Aufbegehren. Der Schluß zerfließt
vor Schmerz. Nr. 2, D-dur, atmet die ruhige Größe und Emp-
findungsgewalt eines Erkennenden. Nr. 3, C-dur, schmeichelt denen,
die das Konventionelle lieben, aber das vierte (g-moll) ist ganz in
venetianische Glut getaucht; die tiefe Leidenschaft eines Suchenden
spricht daraus. Einen schroffen Gegensatz bringt das fünfte, über-
aus lieblich in seinem beglückend durchsichtigen Gefüge und von
einer faszinierenden A-dur-Leuchtkraft. Und lichteste Klarheit be-
endet das Wunderwerk der Lieder ohne Worte — C-dur, letzte Ver-
geistigung der Töne, ein Stück, das dem Ganzen einen Schlußstein
von Händelscher Reinheit setzt.
In seinen Liedern ohne Worte haben wir den ganzen Mendels-
sohn. Es gibt keine Saite in seinem Schaffen, die hierin nicht an-
klänge. Sein edles Menschentum offenbart sich in ihnen ebenso wie
seine hohe Kultur als Künstler. Der Synthetiker stützt den empfind-
samen Lyriker und umgekehrt. Es ist eine Kunst für die feinen
Geister, und man muß einen erlesenen Geschmack besitzen, um ihre
Feinheiten voll auskosten zu können. Liegt auch auf einigen ein
leichter Staub von Vergänglichkeit, von Erinnerung an Vergangenes,
so verkünden doch die meisten von ihnen Leidenschaften, Gefühle
und Gedanken, die nicht nur für ehemals und heute Gültigkeit haben,
sondern deren Intensität und Wahrheit die Zeit und ihre Wandlungen
überdauern.
Klaviermusik 125
KLAVIERMUSIK
Das Klavier ist das Instrument der intimen persönlichen Aus-
sprache des Tondichters. Hier ist er sich selbst Interpret und gibt
das Unmittelbare. Die Entwicklung der musikalischen Kultur ist von
dem Klavier entscheidend beeinflußt worden. Alle großen schaffen-
den Musiker waren Herrscher im Reich der Tasten. Da eroberten
sie sich ihre Welt und machten sich die Materie Untertan. Deshalb
ist auch der Klavierstil das sprechendste Dokument des Komponisten.
Er offenbart den Grad der Meisterschaft, er legt Zeugnis ab für die
Technik und ihre Vergeistigung.
Mendelssohn wuchs am Klavier auf. Als Kind schon erlag er
dem Zauber der schwarzen und weißen Tasten und fühlte sich auf
ihnen heimisch. Das Mechanische fiel ihm wie von selbst zu, und
der Geist wurde in der hohen Schule des Klavierspiels gebildet: Bachs
Wohltemperiertes Klavier war das Evangelium, an das er schnell
glauben lernte. Haydn, Mozart, Beethoven blieben ihm nicht fremd.
Ludwig Berger verstand es, sie zu interpretieren. Aber, auch was
der Tag hervorbrachte, fiel ihm zu, all die vielen Namen, die uns
heute nichts mehr bedeuten, und nur noch die Musikgeschichte mit
Ballast füllen. Gewiß, Mendelssohns heller Geist durchschaute sie
bald, aber sie waren als Fingerzeige nicht zu verachten.
Die Erziehung verhinderte das Werden eines Podiumshelden und
schuf einen Künstler. Mendelssohn stand als Virtuose auf hoher
Stufe. Wir wissen, daß es keine Schwierigkeiten für ihn gab. Schu-
mann konnte seine Energie, den Zug ins Große, nicht genug rühmen.
Die überströmende Kraft faszinierte ebenso wie der berückende Far-
benreichtum seines Anschlags. All dies stand nie im Dienst des
Alltags, oder des Götzen Publikum. Mendelssohn war nur der Apostel
des Großen; aber er predigte auch sein eigenes Evangelium.
In Mendelssohn sehen wir den letzten Meister der Improvisation,
der großen Kunst Bachs, Mozarts und Beethovens. Die Erregung
des Augenblicks beflügelte die Phantasie, und das riesige Können
ordnete die Gedanken schon im Entstehen. Das imponierte den
Zuhörern; aber Mendelssohn war dieser Kunststücke bald müde.
Selten nur hat das Improvisatorische auf sein Schaffen abgefärbt.
Für ihn blieb es schließlich nur Präludium zur Tat, Mittel zum Zweck.
126 Klaviermusik
Mendelssohns Individualität hob sich auch im Klavierspiel deut-
lich von seinen berühmten Zeitgenossen ab, von den flinken Tasten-
rührern wie Herz, Thalberg und Kalkbrenner sowohl als auch von
den wirklichen Künstlern wie Chopin, Liszt und Moscheies. Dieser
hat auf ihn am stärksten eingewirkt. Auch der junge Schumann hatte
nur eine Sehnsucht: Moscheies gleich zu werden. Mendelssohn ging
es nicht anders. Und er erreichte sein Vorbild. Ja, Moscheles' Ein-
fluß drang sogar bis in die Klavierfiguren Mendelssohns. Daß
Hummel und Field einen gewissen Eindruck machten, ist eigentlich
selbstverständlich. So bildeten sich Spiel und Stil aus den Vor-
bildern klassischer Meister und Zeitgenossen und aus Eigenem. Doch
nicht alles, was Eindruck machte, färbte ab. Weder Schumann noch
Chopins Klaviersatz vermochten Mendelssohns sichere Klarheit zum
Schwanken zu bringen. Fast heftig verschloß er sich dagegen. Ihm
genügte die äußerlich einfachste Formung seiner Klaviergedanken.
Und in dieser Durchsichtigkeit und Einfachheit, in dieser strengen
Satztechnik erkennen wir seine Eigenart. Das war der Mantel, der
seine „eigne Armut an neuen Wendungen für's Klavier", die er
Moscheles einmal klagte, bedecken mußte. Er kannte gewisse cho-
rische Effekte, liebte es oft, die Begleitungsfiguren auf beide Hände
zu verteilen. So wenig man eigentlich von einem spezifisch Mendels-
sohnschen Klaviersatz sprechen kann — er ist doch vorhanden, bei
ihm selbst, und dann vererbt auf eine unabsehbare Reihe von Epi-
gonen.
Wir belauschen den Meister in seiner Geisteswerkstätte. Dem
Klavier vertraut er seine Träume an. Er improvisiert und gestaltet
im Spiel. Die Konturen bilden sich, die Phantasie erfindet leuchtende
Farben. Endlich setzt der bewußte Wille zur Synthese ein und schmie-
det Form und Inhalt zu einem ganzen. Hier, im Klavierwerk, finden
wir die intimsten Bekenntnisse des Menschen und Künstlers. So
war es bei Händel und Bach, bei Haydn, Mozart und Beethoven, bei
Schubert und Chopin, Schumann nicht zu vergessen, und so war es
auch bei Mendelssohn. Hier sprechen Liebe und Leidenschaft eine
besondere Sprache voller Heimlichkeit und Tiefe. Hier projiziert der
Schaffende seine Kunst als Ausübender auf das Werk, das er ersinnt.
Ein glänzender Pianist, wie Mendelssohn, war stets in Ver-
suchung, für sein Instrument zu schreiben. Chopin ist dem Zauber der
Klaviermusik 127
Tasten völlig erlegen. Schumann war für zehn Schaffensjahre aus-
schließlich durch sie gefesselt. Mendelssohns Streben ging jedoch
schon früh ins Universale. Die Klavierwerke ziehen sich neben größe-
ren Arbeiten durch sein ganzes Leben. Sie waren Ruhepunkte für ihn,
in denen er neue Sammlung fand. Wie ein Kranz schlingen sich die
„Lieder ohne Worte" um sein Gesamtwerk. In ihnen sahen wir sein
Meisterlichstes. Und auch in der Fülle seiner übrigen Klaviermusik
werden wir erkennen, daß die großen Tonereignisse fast immer in
der kleinen Form geschehen. Mendelssohn kommt nur mit Auf-
opferung der tonlichen Konzentration über die Liedform hinaus. (Die
Ausnahmen davon liegen in den Ouvertüren, der Symphonik und
Kammermusik). Er gerät ins Plaudern und wird geschwätzig. Es ist
zwar stets liebenswürdig, elegant, schmeichelnd, was er sagt; aber
die Tiefe und innere Notwendigkeit fehlen dann. Dies ist der Men-
delssohn, der vergessen worden ist; ganz ein Kind seiner Zeit, die
umständlich und breit mit verbindlichem Lächeln zu erzählen liebte
und auch für Kleinigkeiten viel Muße hatte.
Die Opusnummern geben uns keinen Anhalt zu chronologischer
Betrachtung. Früh Entstandenes ist oft erst spät der Öffentlichkeit
mitgeteilt worden. Vieles hat sogar erst aus dem Nachlaß zum
Verleger gefunden. Doch suchen wir den Weg vom Kleineren zum
Größeren.
Opus 5 „Capriccio", ein Stück ganz aus Jugend und Spielfreude.
Der Sechzehnjährige schrieb unbekümmert um Längen, störte sich
nicht an rhythmischer Eintönigkeit und schwelgte im Figurenwerk.
Immerhin zeigt sich schon Mendelssohn in dieser Musik. Aber in den
sieben Charakterstücken opus 7 sah er durch die Brille der alten
Meister. Man stößt auf viel Händelsches und fühlt Bachschen Ein-
fluß. Die Formung aber ist prägnanter geworden, und die Stimmung
kann nun voll ausklingen, ohne zu ermatten. Empfindsames und
Neckisches wechselt mit Fugen, Sehnsüchtiges und Spielerisches ver-
schmäht nicht die Regeln des strengen Satzes. Aber der Meister grüßt
uns in opus 14, dem berühmten „Rondo capriccioso". Dieses Werk
atmet die Frische und den Geist der Sommernachtstraum-Ouvertüre.
Wir hören das Huschen und Kichern der Holzbläser, den schmelzen-
den Gesang der Celli und das Seufzen der Violinen. Die Elfen sind
wach. Eine breite E-dur-Einleitung bereitet das Spiel vor. Alle guten
1 28 Klaviermusik
Geister Italiens haben Mendelssohn hier inspiriert. Das zittert vor
Leidenschaft und Seligkeit in der weitgeschwungenen Melodie. In
zögernden Sechzehnteln steigt das Spiel nach oben, und nun beginnt
in e-moll das Märchen von den seltsamen Wundern des Waldes
im Mondenschein. Alles ist Grazie, Hauch und Traum. Der hüp-
fende 6/8_Rhvthmus herrscht, ähnlich wie in opus 5, aber um vieles
delikater behandelt. Gesangvolle Episoden und üppige Figuratio-
nen tragen neue Farben dazu. Das Spiel sinkt schließlich ermüdet
in die tiefen Regionen ,des Klaviers, und eine donnernde Oktaven-Coda
sucht den großen Effekt, zerschmettert aber die Stimmung.
Das Capriccio hatte es Mendelssohn angetan. Immer wieder
kam er auf diesen Charakter zurück. 1829, in England, schrieb er
die „Drei Phantasien oder Capricen" opus 16. Sie sind für Ladys
erdacht. Es ist galante Musik eines Weltmanns, der amüsant zu
plaudern versteht, sehr klar und durchsichtig. Aber die Gefühle
schwimmen nur an der Oberfläche. Nr. 2, ein Trompetenstückchen,
ist wieder eine Reminiszenz an den Sommernachtstraum. Ausladender,
breiter in der Form sind die „Drei Capricen" opus 33. Sie sind auch
leidenschaftlicher und stärker im Ausdruck. Namentlich die zweite
ist ein Meisterstück, von prachtvollem Kolorit und einer Kunst der
Artikulation, die echt Mendelssohnisch ist. Schumann meinte, der
Komponist könne damit das liebenswürdigste Mädchen auf einige
Augenblicke untreu machen. Der berückende Glanz der duftigen,
schwebenden Melodik macht selbst Übertreibungen noch wahr. Die
erste und dritte Caprice dienen nur als Folie. Man vergißt sie
bald wieder, wie man schöne Frühlingstage vergißt, wenn der Sommer
da ist. Bei dem 1838 geschriebenen „Andante cantabile und Presto
agitato" kann die Länge nicht ersetzen, was an Tiefe fehlt. Es ist
zuviel Glätte in solcher Musik. Auch das „Scherzo a Capriccio" hat
das ewige Lächeln und ermüdet, wie das „Albumblatt" opus 117,
das „Capriccio" opus 118, das „Perpetuum mobile" opus 119, Stücke,
die nur. der Name des Meisters vor dem Nichts gerettet hat. Muß
man nicht auch die „Kinderstücke" opus 72 dazu rechnen, die durch
Schumanns unendlich poetischere und packende Jugendstücke in den
Schatten gedrängt worden sind? Hier sind die Farben verblaßt.
Kinder suchen eine andere Welt, bunter, lebendiger und frischer.
Bleiben wir bei der kleinen Form. Da fordern zunächst die
Klaviermusik 129
„Präludien und Fugen", opus 35, unsere Beachtung. Der eifrige
Zelterschüler, der an Bachs Wohltemperiertem Klavier groß geworden
war, mußte sich vor der Welt als Meister der Fuge zeigen. Bachs
ungeheures unerreichbares Vorbild trieb ihn zu höchstem Ernst.
Es gibt für die Fuge nur diesen einen Maßstab, den keiner vor und
nach Bach je erreicht hat. Die einzigartige Vereinigung von poly-
phonem und harmonischem Empfinden, von Stimmführung und Stufe
fand sich nur in diesem einen Geist in solcher Vollendung. Auch
Mendelssohn konnte das Letzte nicht gelingen. Seine Präludien und
Fugen sind meisterlich geformte Stücke, die einen außerordentlich
hohen Stand von Kultur des strengen Satzes zeigen. Er wirft die
Kraft und den Zauber seiner Melodik in die Wagschale, und sie neigt
sich stark zu seinen Gunsten. Aber wir sehen es : die Thematik
seiner Fugen läßt eine Entwicklung zu Bachscher Höhe, eine drama-
tisch bewegte Zuspitzung der Ereignisse, wie sie bei dem Thomas-
kantor selbstverständlich war, nicht zu. Und doch: was für Gipfel
sind sie den satzgerechtesten Handwerkerfugen gegenüber. Das
Leben quillt in ihnen. Welch eine poetische Fülle in den Präludien!
Wie scharf sind sie charakterisiert. Das fünfte der Reihe ist wohl
das Tiefste, was seit Bach auf diesem Gebiet geschrieben worden ist.
In den Fugen siegt oft die schöne Linie über den Charakter. Ro-
mantik muß hier ersetzen, was bei Bach höchste Vergeistigung des
Materiellen war. Ein „Präludium und Fuge" in e-moll gab Mendels-
sohn gesondert heraus, ein Werk mit wirksamer Thematik. Die
Fuge beginnt mit einem charakteristischen Septimensprung und
scheint fast für die Orgel gedacht zu sein. Die „Drei Präludien"
aus dem Nachlaß, opus 104, schlagen die Brücke zu den Etüden.
Der pianistische Drang in Mendelssohn konnte an der Etüde
nicht vorübergehen, in der damals namentlich sein Freund Moscheies
brillierte. Aber er streifte sie nur gelegentlich, und es ist, als lächle
uns der Alleskönner aus ihnen entgegen. Die f-moll-Etüde aus 1836
nannte er selbst „tiree de la Methode des Methodes de Moscheies et
Fetis" — ein Presto-Glanzstück. Auch die drei Etüden, opus 104,
haben den Glanz und das Parfüm des Salons. Ihre Effekte schmei-
cheln den Sinnen, von ihren erzieherischen Werten ganz zu schweigen.
Einen Könner wie Mendelssohn mußte auch die Variationenform
reizen. Vor seinen Augen hatte ja Schumann mit den Symphonischen
Dahras, Mendelssohn 9
130 Klaviermusik
Etüden triumphiert und auf Beethovens Weg mit Erfolg vveiter-
gebaut. Das durfte ihn nicht ruhen lassen. Aber erst 1841 er-
fand er ein Thema in d-moll und schrieb darüber 18 Variationen, die
„Variations serieuses", opus 54. Schon der Titel verrät, daß wir
es nicht mit einem bloßen Virtuosenwerk, mit einer leichten Spielerei
zu tun haben. Der Ernst des Themas spricht sich schon in den
schwerwiegenden Synkopen und der schmerzlichen Chromatik aus.
In der ersten Variation wird es von einer laufenden Mittelstimme
getragen, in der zweiten nimmt auch die Oberstimme an der Figu-
ration teil. Das Spiel steigert sich staccato in der dritten und vierten
Variation zu immer größerer Lebhaftigkeit. Das Agitato-Intermezzo
der fünften läßt ganz neue Farben aufleuchten. Sprunghaft zerrt die
sechste das Thema in die verschiedenen Lagen der Klaviatur, stei-
gernd führt die nächste Variation dasselbe Spiel fort, bis in der achten
und neunten alles in rollende Sechzehnteltriolen aufgelöst wird.
Fugiert leitet Nr. 10 in die Anfangsstimmung zurück; wie ein Traum
hebt Nr. 11 an und drängt zum Schluß gewaltig hin zu der stür-
mischen Entladung der zwölften Variation. Nr. 13 bringt das Thema
wieder, quasi Cello; die Mittelstimme wird von hüpfenden Zwei-
unddreißigsteln umspielt. Eine Fermate trennt uns von der 14. Vari-
ation. Das Spiel hat sich nach Dur gewendet; in einem Adagio von
unendlicher Oefühlstiefe strömt eine Seele ihr Letztes aus. Hier ist
der Kulminationspunkt des Werkes erreicht. Wie ein Nachtstück
geistert Nr. 15, wieder in Moll, vorüber. Und nun ergreift der
Virtuose das Schlußwort, um den Träumer in die Wirklichkeit zurück-
zureißen. Glanzvoll wird das Werk gekrönt, das zu Mendelssohns
hervorragendsten Meisterleistungen gehört. Den „Variations seri-
euses" ließ er im selben Jahr noch zwei weitere Variationenwerke
folgen, opus 82, Es-dur, und 83, B-dur. Die Höhe ihres Vorbildes
erreichten sie nicht; aber es ist viel lebensfrische Musik in ihnen.
Die B-dur-Variationen hat Mendelssohn übrigens auch vierhändig
gesetzt in opus 83a; da gewinnen sie noch an Leuchtkraft im Kolorit.
Er fragte nicht nach der Wirkung, wenn ihn der Geist trieb, zu schaffen.
Deshalb finden wir in allen Formen, die er pflegte, seine ganze Per-
sönlichkeit. Auch die Variationen mit ihrem tiefsinnigen, edlen Inhalt
und ihrem vornehmen Äußeren haben es uns wieder bewiesen.
Den Variationen, die von der kleinen zur großen Form leiten,
Klaviermusik 131
schließen sich wie von selbst die Phantasien und Sonaten an. Men-
delssohn hat nur in seinen jungen Jahren Sonaten für Klavier kom-
poniert. Fühlte er, als er damit aufhörte, daß ihm auf diesem Gebiet
das Höchste nicht zu sagen vergönnt war? Beethoven war das Ideal,
dem es nachzustreben galt. Schuberts romantische Überfülle kannte
er noch nicht. Aber vor Beethovens letzten Sonaten mußte ein
Strebender, der Neues bringen wollte, verzweifeln. Schumann rettete
sich durch das Romantisch-Poetische. Mendelssohn jedoch suchte
das Absolute. Und wir sehen ihn nun im Kampf mit der Synthese.
Er unterlag. Seine Klaviersonaten sind Werke eines Epigonen, sind
Vorstudien zu Größerem. Das Individuelle verbirgt sich in fremdem
Gewand. Es drängt zwar schon nach oben; aber die Ehrfurcht vor
dem erhabenen Vorbild lähmt ihm noch die Schwingen. In der E-dur-
Sonate, opus 6, fällt das Streben auf, alle vier Sätze zu einem Ganzen
zu verschmelzen. Vom dritten Satz, einem rezitativisch gehaltenen
Stück, an tauchen die Reminiszenzen an das Vergangene auf. Es
sind viele schöne Einzelheiten vorhanden; aber der Zug ins Große
fehlt. Zu den Klavierfiguren hat Weber Pate gestanden. Die g-moll-
Sonate, opus 105, und die in B-dur, opus 106, hat Mendelssohn selbst
nicht veröffentlicht. Sie sind erst aus dem Nachlaß auf uns ge-
kommen. Thematik, Modulationen, Formung der Gedanken, die klei-
nen Finessen des Satzes, die Behandlung des Klaviers — alles ist
von dem galanten Wiener Stil. Nur in den langsamen Sätzen tauchen
sentimentale Vorahnungen späterer Lieder ohne Worte auf. Man hört
im übrigen auf Haydn, Mozart und den jungen Beethoven und freut
sich eines so findigen Nachahmungstalents, ohne ergriffen zu sein.
Sonate wollte Mendelssohn auch die 1833 entstandene fis-moll-Phan-
tasie, opus 28, für Klavier nennen. „Sonate ecossaise" hatte er in der
ersten Aufwallung auf das Autograph geschrieben. Aber das über-
wiegend Phantastische des Stückes ließ ihn auf die anspruchsvollere
Bezeichnung verzichten. Stimmungsvolles liegt in den Andante-Par-
tien des ersten Teils. Das andere ist geschwätzige Glätte. Und auch
die „Phantasie über ein irländisches Lied", opus 15, kommt nicht
über das Sentimentale hinaus. Erwähnen wir nun noch das vier-
händige „Allegro brillant", opus 92, das mit blendender Geschicklich-
keit und virtuoser Gewandtheit über Tiefen hinwegsteuert, so ist
Mendelssohns reine Klaviermusik in ihrer Gesamtheit umschrieben.
0*
132 Klaviermusik
Wir nähern uns Größerem, Meisterlichem, Mendelssohns Werken
für Klavier und Orchester. Das Konzert ist Bekenntnis der Virtuosen
und will die Menge gewinnen und bekehren. Es hat die formellen
Richtlinien der Sonate angenommen, versucht also aus scharf kontra-
stierenden Einzelsätzen ein Ganzes zu bilden. Die äußere Entfaltung
eines großen Apparats bedingt prägnanteste Thematik, und der soli-
stische Ehrgeiz eines bevorzugten Instruments erfordert Glanz und
Effekte. Nach Beethoven war das Klavierkonzert in die Hände der
Kalkbrenner, Thalberg, Moscheies, Hummel und Herz gefallen. Die
hatten es mit allem erdenklichen Prunk und Flitterkram behängt.
Das Gedankliche, an und für sich schon schwach, war von Passagen
überwuchert. Das Konzert war Paradestück für den eigenen Ge-
brauch reisender Virtuosenkomponisten geworden, die Form nur
noch Vorwand für inhaltlose Spielereien. Die Eleganz und Ge-
schwätzigkeit des Salons buhlte um die Gunst der Massen. Hier
griff Mendelssohn ein und rettete das Konzert wieder in die Sphäre
der Kunst hinüber. Sein Ideal war Beethovens G-dur-Konzert, das
er immer wieder spielte. Die Vorahnungen der Romantik in diesem
Werk bestärkten ihn in seinem eigenen Streben. Aber seine weichere
Natur dachte in Moll, verwischte die strengen Konturen, schwärmte
und plauderte und trug selbst das Leidenschaftliche noch mit liebens-
würdiger Miene vor. Und bei allem Streben zum reinen Kunstwerk
vergaß er nicht, daß der Virtuose auch sein Recht verlangen darf.
Deshalb überschüttete er das Klavier mit pianistischen Effekten,
namentlich in seinen spielfreudigen Schlußsätzen.
Als Mendelssohn 1832 das g-moll-Konzert für Klavier und Or-
chester, opus 25, komponierte, war er auf diesem Gebiet kein Neu-
ling mehr. Er hatte seine Lehrlings- und Gesellenwerke schon hinter
sich, ein Konzert für Klavier und Streichinstrumente in a-moll und
zwei Konzerte für 2 Klaviere und Orchester in E-dur und As-dur.
Seitdem waren fast zehn Jahre verstrichen. Er war ein anderer ge-
worden, reicher, fertiger. Vielfältige Erlebnisse beflügelten seine
Phantasie. Er hatte Italien genossen und freute sich an der Buntheit
des Münchener Lebens, als er das g-moll-Konzert schuf. Eine be-
zaubernde jünglingshafte Frische liegt deshalb über dem Werk.
Aus der Tiefe drängen die Streicher vereint mit den Holzbläsern
nach oben, immer energischer ausholend, bis das Klavier mit einem
Klaviermusik 133
kühnen Oktavenmotiv das Spiel an sich reißt. Fortissimo und voll-
griffig klingt das Hauptthema an. Immer wieder mischen sich be-
hende Figuren zwischen die trotzigen Oktavengänge. Endlich zeigt
das ganze Orchester das Hauptthema in voller Größe. Das Klavier
stellt rollende Passagen dagegen auf. In brillantem Schwung wird
der Bogen zum Seitenthema gezogen, das mit seiner schmelzenden
Innigkeit ganz dem Klavier anvertraut ist. Doch schon klingt das
Oktavenmotiv aus der Einleitung wieder an. Das Orchester greift
auf die Kantilene des Seitenthemas zurück. Vergebens. Die vir-
tuosen Gelüste des Klaviers drängen zur Durchführung. Sie ist
nur kurz. Auch die Reprise sagt nur noch das Allernotwendigste und
verzichtet sogar auf das Seitenthema. Fanfaren leiten von g-moll
über G-dur nach der Dominante von E. Das Klavier befestigt die
Dominante und führt mit weichen Klängen in das Andante, ein
schwärmerisches, tiefbeseeltes Lied ohne Worte. Die Celli stimmen
es an, das Klavier trägt es in die höheren Regionen. Schwelgerisch
wird E-dur ausgekostet. Das Klavier löst schließlich alles in zarte
tremolandos auf, während Bratschen und Celli ihre Melodie dazu
singen. Der stille beglückende Traum findet in langen Fermaten
sein Ende. Der Virtuose verlangt sein Recht; für ihn schrieb Mendels-
sohn das sprühende, geistvolle, mit allen Effekten eines zündenden
Klaviersatzes geschmückte Finale G-dur, das von einer Presto-Ein-
leitung verheißungsvoll angekündigt wird. Man kann unschwer die
leichte Hand des Sommernachtstraum-Komponisten darin erkennen.
Eine schüchterne Reminiszenz an das Seitenthema des ersten Satzes
unterbricht einmal das wilde Treiben. Aber schnell eilt das Klavier
mit stürmischen Passagen dem Ende zu.
Fünf Jahre später schrieb Mendelssohn sein zweites Klavier-
konzert in d-moll, opus 40. Es hat sich trotz allen Schönheiten die
Gunst der Welt nicht so sehr erworben, wie das g — moll-Konzert.
Technische Probleme enthält es nicht; das Klavier bringt dieselben
Phrasen und Formen, die in der Zeit üblich waren. Aber Mendels-
sohn spricht sie mit eigener Betonung. „Das Lächeln um die Lippen
hat niemand schöner als er", sagte Schumann. Es ist eine reife süße
Frucht, das d-moll-Konzert, von der Hand eines Meisters nieder-
geschrieben, der in der Schatzkammer seiner Phantasie nicht erst
lange nach Einfällen zu suchen brauchte. In einer kurzen Einleitung
134 Klaviermusik
bedrängen sich Klavier und Orchester mit thematischen Bruchstücken,
bis das Orchester mit voller Kraft das Hauptthema bringt. Das
Klavier spinnt den Gedankenkreis weiter, verliert sich aber bald in
feinziselierte Ornamentik, während das Orchester am Thematischen
hängt. Das weiche, gefühlvolle Seitenthema in F-dur singt in seliger
Versunkenheit seine Weise, bis das Hauptthema wieder aufbegehrt.
Über Trillerketten des Klaviers geht es zur Durchführung, die sich
aber nur auf Andeutungen beschränkt. Mendelssohn trägt den Kampf
der Themen nicht in dramatischer Art aus. Nach einer wuchtigen
Steigerung setzt die Reprise ein. Auch sie spricht sich kurz und
bündig aus. Arpeggien des Klaviers leiten zum Mittelsatz über.
Wieder ein Lied ohne Worte, wieder die Klage, die wir kennen, die
alte Schönheit und Herzlichkeit. Unmittelbar knüpft das Finale, ein
Presto scherzando, an. Orchester und Klavier werfen sich thema-
thische Brocken und Ansätze zu, bis das Klavier schließlich Thema
und Führung übernimmt. Im leichten flüssigen Plauderton steht der
ganze Satz, in wirkungssicherer Abrundung Erfolg heischend und
findend.
Ein Genosse der Glückstage des g-moll-Konzertes ist das „Ca-
priccio brillante", opus 22, für Klavier und Orchester. Mendelssohn
legte hier seiner Phantasie keine Fesseln an. Er vermied die Grenzen
einer strengeren Formung der Gedanken. Wir sahen schon in den
Durchführungsteilen der Konzerte, daß es sich bei der Durcharbeitung
der Themen für ihn nicht um den Kampf zweier Prinzipien handelte,
sondern vielmehr um ein leichtes Variieren und Weiterspinnen der
Stimmung. Das Capriccio brillante ist galante Weltmusik, die in einer
auserwählten, hochkultivierten Sprache angenehme Dinge sagt. Wie
alle diese Werke Mendelssohns ist es glänzend instrumentiert und
von einem berückenden Farbenreichtum. Eine weiche H-dur-Ein-
leitung, die mit zarten Klavierarabesken geschmückt ist, führt zum
eigentlichen Capriccio Allegro con fuoco in h-moll. Eine Reihe von
bezaubernden Bildern entfaltet sich: das kapriziöse Hauptthema mit
seinem pathetischen Anfang, ein kokett hüpfendes Nebenthema und
ein üppiges, heiteres Thema, das mit seinem Marschrhythmus vieler
Wandlungen fähig ist und schließlich nach einem bunten Treiben der
Motive gewichtig das Schlußwort behält.
Weniger abwechselungsreich zeigt sich das „Rondo brillante",
Klaviermusik 135
opus 29 für Klavier und Orchester. Gewiß feiert die Virtuosität
Mendelssohns Triumphe und seine Gewandtheit im Ausspinnen der Ge-
danken schafft Inhalt. Aber die Eleganz dieser Musik greift nicht
ans Herz. Tiefer berührt uns „Serenade und Allegro", opus 43,
für Klavier und Orchester. Das ist eine innig gefühlte Abendmusik
voll Schwärmerei und Mondschein, in wundersam zarten Farben ge-
malt, der ein urwüchsiges, fröhliches Allegro folgt, das Ganze auch
ein Lied ohne Worte, das eine deutliche Sprache spricht.
Mit den Werken für Klavier und Orchester ist der Kreis der
Klavierwerke Mendelssohns abgeschlossen. Auch in die große Form
trug der Meister der Kleinkunst seine Prinzipien. Was ihm an innerer
Geschlossenheit, an dramatischer Zuspitzung und Schlagkraft zu er-
reichen nicht vergönnt war, das ersetzte er durch die Intensität
seiner gefühlsseligen Stimmung, durch seine vornehme Kunst der
Überredung, die ohne große Worte in die Tiefe dringt. So biieb er
auch in der großen Form der Meister, der ihr den Stempel seiner
Persönlichkeit aufdrückte.
Neben den Klavierwerken müssen die Orgelwerke Mendelssohns
erwähnt werden. Von Jugend auf reizte ihn die Klangpracht der
Orgel. Auf seinen Reisen verträumte er die schönsten Stunden in den
Kirchen. Hier durchkostete er die Weihestimmung des Einsamen.
Wir lesen in seinen Briefen, mit welcher Inbrunst er sich in den
unerschöpflichen Farbenreichtum des Instrumentes hineinfühlte. Und
es drängte ihn zu schaffen. Bachs Vorbild rief die „Drei Präludien
und Fugen", opus 37, in ihm wach, die Präludien poetische Ver-
klärungen seiner Liebe und die Fugen Huldigungen eines Meisters
vor dem Größten, ungeheuer gediegene Musik. Das Eigenste gab er
jedoch erst in den „Sechs Sonaten für die Orgel", opus 65. Hier
strömt seine Phantasie hemmungslos aus. Es sind poetische Ver-
klärungen seiner Frömmigkeit, seines Glaubens und seiner Hoff-
nungen. Die Gedanken sind von einer wunderbaren Reife und Fülle,
mit dunklen Farben wie auf Goldgrund gemalt. Choralmelodien
stimmen noch feierlicher, und die Künste des strengen Satzes heben
die Musik in die Höhe des Objektiven, wo wir die letzte Vergeisti-
gung erleben.
136 Kammermusik
KAMMERMUSIK
Die Pflege der Kammermusik war für Mendelssohn eine Selbst-
verständlichkeit. Er war in der Verehrung der Klassiker erzogen und
lernte frühzeitig sich selbst an den strengsten Maßstäben messen.
Das häusliche Musizieren weckte, wie beim jungen Schubert, den
Klangsinn für die intimste und vornehmste Aussprache der Jnstru-
mente. Kein Wunder, daß der Drang zur Synthese schon in dem
Knaben wach war, der ehrgeizig seine Ideale in Mozart sah und
anbetete. Mendelssohn hatte nicht wie Schubert und Schumann den
Weg zur Kammermusik durch die musikalische Verklärung des Dich-
terwortes gewonnen. Romantischer Überschwang verleitete ihn nicht.
Das Lyrische blieb im Hintergrund.
In der Kammermusik ist die Synthese alles. Haydn und Mozart,
die die Grundsteine gelegt und Beethoven, der das grandiose Gebäude
vollendet hat, haben damit zugleich die Gipfel der Kammermusik-
kunst erschaffen. Einem Mendelssohn, der nicht experimentieren
wollte, blieb nur übrig, auf den begangenen Wegen weiter zu schreiten,
bereits. Gesehenes noch einmal in anderer Beleuchtung zu zeigen.
Da er kein Form-Wandler oder -Stürzer war, konnte er nur in seiner
Sprache die vielfältigen, unerschöpflichen Wunder der Sonatenform
noch einmal erzählen. Das Melodische fesselt uns; hier liegt seine
Stärke. In der Synthese huldigt er vielfach der Konvention. Jedoch
er besitzt, was nur ein Genie besitzen kann: jene unnachahmliche,
sinnvolle, sprechende Artikulation, die einen unendlichen Reichtum
im Kleinen hervorzaubert. Und in allem lebt die Leidenschaft des
Vollblutmusikers, ohne die nichts Großes zu denken ist.
Die Kammermusikwerke Mendelssohns sind auf seine Jugend
und auf die reife Zeit verteilt. In der Mitte klafft eine Lücke von
fast 10 Jahren. Die Zeit der Jugendwerke ist reich an Versuchen.
Zwar gelangen die drei Klavierquartette 1822-24 auf den ersten An-
stoß. Aber daneben wurden zahlreiche andere Werke niederge-
schrieben, die unveröffentlicht geblieben sind. Nur die Violinsonate
f-moll und das Klavier-Sextett D-dur haben sich aus diesen Jahren
erhalten. Dem jungen Tastenhelden war es selbstverständlich, zu-
nächst Klavierkammermusik zu komponieren, um sich selbst eine
Kammermusik 137
glänzende Partie zu schreiben. Ihn lockte weniger die Möglichkeit
tiefsinniger musikalischer Kombinationen. Das Reflektierende lag
ihm fern. Sein Nachahmungstalent suchte vielmehr Gelegenheit zur
Ergründung synthetischer Geheimnisse und Praktiken.
Der Geist der Kammermusik, die Freiheit und Selbständigkeit
des Einzelnen im harmonischen Ganzen, verlangt die denkbar höchste
Überlegenheit über Materie und Form. Rhapsodisches und Apho-
ristisches soll hier von rechtswegen keinen Platz finden. Auch der
Effekt tritt in den Hintergrund; er bleibt dem monumentaleren Bau
des Symphonischen überlassen. Die schwelgerische Phantastik der
Romantiker schlug zwar eine Bresche in die Strenge der Tradition,
dehnte und streckte die Form mit lyrischer Empfindsamkeit und Ge-
fühlsseligkeit, sprengte sie auch wohl in dem ungestümen abenteuer-
lichen Drang, um jeden Preis Neuland zu finden. Aber Mendelssohn
ging hier nicht mit den Genies, sondern lieber mit den Talenten seiner
Zeit. Seine Ideale lagen hinter ihm. Bis in die Grenzen seiner
Seele war er mit Pietät und Ehrfurcht vor dem vergangenen Großen
erfüllt und er gewann, was er ersehnte: Die Verklärung des Über-
lieferten mit eigenem Geist.
Die drei Klavierquartette opus 1, 2 und 3 sind echte Jugend-
werke, blühend und in einem unbefangenen, spielfreudigen Ton ge-
schrieben. Bewundernswert ist die satztechnische Meisterschaft des
Jünglings, der sie schuf, die leichte Hand, mit der die Linien gezogen
sind und die farbige Mannigfaltigkeit der Instrumentierung. Natür-
lich ist ihre äußere Haltung einfach; zu komplizierteren Durchfüh-
rungen kommt es nicht. Die galante Geberde stammt von den Wiener
Meistern; aber auch Weber hat das seine dazugegeben.
Das c-moll-Klavierquartett opus 1 ist das Werk eines Dreizehn-
jährigen. Die drei Streicher beginnen mit dem Hauptthema. Das
Klavier spinnt den Gedanken weiter. Die Streicher greifen ein mit
einem Dreiviertel- Auf taktmotiv, das eine wichtige Rolle spielt. In
der korrespondierenden Tonart, Es-dur, bringt das Cello das schmel-
zende Seitenthema. Triolen des Klaviers steigern das Spiel, noch
einmal versucht das Hauptthema aufzukommen ; aber ein energisches
Motiv der Streicher schließt die Exposition. Die Durchführung wird
vom Hauptthema und dem Schlußmotiv bestritten; sie ist kurz und
läßt bald der Reprise den Weg frei, die den Satz mit lebhaftem
138 Kammermusik
Schwung zu Ende führt. Adagio und Scherzo zeigen viel Einfluß
aus der Melodik des jungen Beethoven. Manches ist zum Ver-
wechseln echt nachempfunden. Auch der Schlußsatz verleugnet diese
Herkunft nicht. Geschickt erzielt Mendelssohn bei Repetitionen neue
Effekte durch Austauschen der Instrumente. Wie bei opus 1, be-
ginnen auch in opus 2, dem f-moll-Quartett, die Streicher mit dem
Hauptthema und überlassen dem Klavier das viel bedeutungslosere
Seitenthema, das nur geringe Kontraste schafft. Die Durchführung
ist kraftvoller als in opus 1 ; die größere Gewandtheit im Satz ge-
stattet schon gewagtere Kombinationen. Eine schöngeformte Coda
rundet den Satz ab. Das Adagio ist von innigster Melodik beseelt;
sehr geschickt sind dazu die Tremolo-Effekte im Klavier und in den
Streichern ausgenützt. Gefällig plaudernd, durchsichtig einfach gibt
sich das Intermezzo. Erst der stürmisch auftretende und mit präch-
tigem Elan durchgeführte Schlußsatz erinnert wieder an die Jugend
des Autors.
Eine Kluft trennt das dritte Klavierquartett, h-moll, opus 3, von
seinen beiden Vorgängern. Hier ist ein Standpunkt der Reife erreicht,
dem zur vollen Meisterschaft nur noch wenig fehlt. Das Klavier be-
ginnt mit einem schwermütig lastenden Thema den ersten Satz.
Die Streicher mischen sich klagend darein. Vorahnend lassen Klavier
und Cello das Seitenthema in trübem Moll anklingen. Aber noch
verlangt das chromatische Anfangsmotiv sein Recht. Erst nachdem
die Dominante von D erreicht ist und die Streicher nacheinander auf
dem Dreiklang in die Höhe gestiegen sind, singt das Klavier das
herrliche Seitenthema in D-dur, langsam, aufstrebend. Das chro-
matische Motiv drängt sich dazwischen ; dann erst kann der schwelge-
rische Nachsatz erklingen. Wir sind in D-dur. Eine kurze Überleitung
führt zur Durchführung, Piu Allegro, die neben dem chromatischen
Anfangsmotiv noch ein zweites, neues zur Diskussion stellt. Es wird
alles gesagt, was zu sagen ist. Reprise und Coda führen noch ein-
mal in die alte Stimmung zurück. In dem Andante erreicht Mendels-
sohn die Innigkeit des Ausdrucks der schönsten Lieder ohne Worte.
Es ist ein unersättliches Auskosten süßer Melodik und subtilster
Figurationen. Im Scherzo erleben wir eine flott hingeworfene Vor-
ahnung des „Spinnerliedes" mit seiner hastenden Geläufigkeit und
Geschwätzigkeit. Größer, leidenschaftlicher reckt sich der Schluß-
Kammermusik 139
satz auf. Er ist in jedem Takt mit Temperament geladen. Die
Kantilene gewinnt nur wenig Raum. Immer wieder bricht der punk-
tierte Rhythmus durch und reißt das Spiel in einen Wirbel, der bis
zum Schluß von den brausenden Triolen des Klaviers umspült wird.
Zeitlich gehört mit dem letzten Klavierquartett das Sextett für
Klavier, Violine, zwei Bratschen, Violincello und Baß, D-dur, opus
110, zusammen. Aber an Wert hält es den Vergleich nicht aus. Das
Sextett ist ein Werk unbefangenster Jugend und Nachahmungsfreude.
Der Ton ist frisch; aber Herz und Sinn sind noch so angefüllt mit
anderen Idealen, daß das Eigene nicht zum Durchbruch kommt. Sehr
geschickt hat der Fünfzehnjährige namentlich Mozart und Haydn
die Kunstgriffe abgelauscht, und seine Melodien haben von ihnen
die Weihe empfangen. Nur im Schlußsatz gerät er in die etwas vul-
gäre Phraseologie seiner Zeitgenossen und wird kindlich geschwätzig.
Reinste Epigonenmusik enthält die ein Jahr früher entstandene
Sonate für Klavier und Violine, f-moll, opus 4. Eine andere Violin-
sonate in d-moll aus dieser Zeit und die F-dur-Sonate aus 1838 ließ
Mendelssohn überhaupt ungedruckt, ebenso eine Sonate für Klavier
und Bratsche in c-moll und eine Klarinettensonate in Es-dur.
Höher steht die erste Sonate für Klavier und Violoncello, B-dur,
opus 45. Ihre Entstehungszeit fällt in die ersten Leipziger Jahre,
Jahre ungeheurer Produktivität und verschwenderischer Melodien-
fülle. Die Konturen der Themen sind weich. Mendelssohn vermeidet
den dramatischen Kampf in den Durchführungen, verzichtet auf scharfe
Kontraste und gerät dabei in das Fahrwasser plätschernder Behaglich-
keit und stillen, freudigen Fürsichhinmusizierens, wo die schöne Me-
lodie alles ist. Es ist viel Jean Paulsches darin, viel Dämmerung
und Abendröte — viel Gefühlsseligkeit und Schwärmerei. Der ganze
Mendelssohn, der Meister voller Originalität, lebt dagegen in der
zweiten Sonate für Klavier und Violoncello D-dur, opus 58. Das ist
ein Werk voller Bejahung und im vollendetsten konzertanten Stil ge-
halten. Ein hinreißender Schwung beseelt den ersten Satz, der breit
und übersichtlich angelegt ist. Feurig stimmt das Cello das Haupt-
thema an, von drängenden Achteln der Klavierbegleitung angetrieben.
Das Seitenthema bringt nur eine Bestätigung, ebenso licht, ebenso
quellend und blühend. Damit ist das motivische Material gegeben,
das in wundervoller Abrundung zu einem Kunstwerk edelster Art ge-
140 Kammermusik
formt ist. Der konzentrierte Inhalt hält die Grundstimmung bis zu
dem rauschenden Schluß fest. Ein Intermezzo von zartester Linien-
führung und Durchsichtigkeit ist der zweite Satz, der sich nur in der
Mitte mit kraftvollen Oktaven des Klaviers erregt aufrichtet. Die
Feierlichkeit des Adagios beschwört den Geist Bachs und Händeis
herauf. Das Klavier versenkt sich arpeggierend in eine Choralmelodie,
die vom Cello mit leidenschaftlicher Beredsamkeit interpretiert wird.
Schließlich behält das Klavier in schmerzlicher Innigkeit das Schluß-
wort. Unmittelbar knüpft der Schlußsatz mit einem verminderten
Septimenakkord an. Auf und ab wogen die Sechzehntel, bis end-
lich das fröhliche Hauptthema gefunden ist, das diesen Satz sieges-
gewiß beherrscht. Dann und wann versucht eine sentimentale Re-
gung aufzukommen ; aber sie wird schnell wieder weggespült. Jauch-
zend ziehen die beiden Instrumente ihre Bahn bis zur gewaltigen
Steigerung der Coda. In diesem Werk ist die Freude am schönen
Klang, die Lust am Auskosten blühender Melodik zur Verklärung
geworden. So konnte, wenn auch in wesentlich anderer Art, nur
Mendelssohn nach Mozart schreiben. Was Mendelssohn daneben
noch den Cellisten an Literatur schenkte, ist schnell erwähnt. Es sind
die effektvollen und geschickt geformten „Variations concertantes"
D-dur, opus 17, und ein inniges, bescheidenes Lied ohne Worte, ein
Blatt der Freundschaft. Und nun streifen wir noch, nur um sie zu
nennen, zwei artige Gelegenheitswerke des Meisters, die zwei Kon-
zertstücke für Klarinette und Bassethorn mit Klavierbegleitung, Füll-
musik für die Programme der beiden famosen Bläser Heinrich und
Karl Bärmann in München. Dann ist der Weg zu Bedeutungs-
vollerem frei.
Wir kommen zu Mendelssohns hervorragendsten Kammermusik-
werken, den Klaviertrios, d-moll, opus 4Q und c-moll, opus 66. Ge-
legentlich des d-moll-Trios sagte Schumann in einer Rezension : „Men-
delssohn ist der Mozart des neunzehnten Jahrhunderts, der hellste
Musiker, der die Widersprüche der Zeit am klarsten durchschaut und
zuerst versöhnt." Nur ein Musiker von so langem Atem in der Er-
findung durfte es wagen, das 39taktige Hauptthema des ersten Satzes
im d-moll-Trio zu schreiben. Hier ist der Bogen weit gespannt.
Das Cello beginnt, die Violine gesellt sich dazu, und im Nachsatz
greift auch das Klavier zur Melodie. Eine edle Kraft liegt in der
Kammermusik 141
ernsten Stimmung des Themas. Mit einem erregten Motiv führt das
Klavier das Spiel weiter. Nachahmend wetteifern die beiden Streicher.
Immer reicher, immer bewegter steigert sich der Inhalt, bis über einer
rollenden Achtelfigur des Klaviers das Cello das Seitenthema in
A-dur bringt, hold, gesangvoll, wenig gegensätzlich, aber unendlich
süß und innig im Ausdruck. Ohne Wiederholung geht es auf Bruch-
stücken des Hauptthemas in die Durchführung, ein mit sicherer Hand
gefügtes Stück musikalischer Synthese, in dem die beiden Themen
und aus ihnen gewonnene Motive in allen Beleuchtungen und Kon-
trasten gezeigt werden. Die Reprise ist gedrängt; aber die Coda
bringt noch eine wichtige lapidare Auswirkung des Thematischen.
Mit äußerster Kraft behauptet das Hauptthema den Sieg.
Der gezügelten Leidenschaft des Allegros folgt die verträumte
Lyrik des Andante. Der zweite Satz ist aus zwei wundervollen Melo-
dien geformt. Klavier und Streicher wetteifern im Ausmalen der
herrlichen Linien. Schwärmerisch bewegt ringt ein Übermaß von
Empfindung nach Ausdruck, von zarten Sechzehnteln oder pochen-
den Triolen getragen — ein Lied ohne Worte in breitester Aus-
führung. Eine andere Welt zeigt sich in dem graziös plaudernden
Scherzo. Da leben die Klavier-Capriccios wieder auf. Kobolde und
Elfen tummeln sich, und treiben ein galantes Spiel. Nichts von Rüh-
rung, nichts von Verweilen — alles ist Duft, Hauch und Traum und
entflieht schließlich in die hohen Regionen des Klaviers. Ganz leise,
wie um den Eindruck nicht zu zerreißen, setzt das prägnant rhyth-
misierte Thema des letzten Satzes ein; aber bald bricht das Tempera-
ment durch, und nun beginnt eine Reihe reizvollster Überraschungen
sich nach und nach zu enthüllen, immer wieder geeint durch den her-
rischen Rhythmus des Themas. Ein Mittelsatz in B-dur spült weichere
Regungen an die Oberfläche; schnell jedoch hat der Hauptrhythmus
wieder die Macht an sich gerissen. Überschäumend stürmt er weiter.
Noch einmal erwacht der Mittelsatz, unmerklich lenkt er die Fahrt
nach D-dur und schwingt sich strahlend auf. Und nun braust eine
Coda auf, die mit virtuosem Schwung zum jubelnden Abschluß führt.
Gewaltiger als das d-moll-Trio spricht das zweite Trio in c-moll,
opus 66. Die Leidenschaft ist stärker und abgründiger geworden, der
Schöpferwille prägt sich heftiger aus. Mit kräftiger Hand sind die
Linien gezogen, und die Themen sind aus einem Holz geschnitzt,
142 Kammermusik
das nicht mehr zum Spiel der Jugend dienen kann. Voll schmerz-
licher Akzente ist der erste Satz, eine düstere, wilde Klage, die nur
dann und wann von einem tröstenden Hoffnungsschimmer durch-
brochen wird. Die Themen sind scharf profiliert. Hier flammt auch
mit Ungestüm der Kampf der feindlichen Prinzipien auf, der die
Durchführung zu packenden, aufrüttelnden Höhepunkten führt. Das
Hauptthema richtet sich in gleichmäßiger Achtelbewegung wie müh-
sam klagend auf. Das Klavier greift bald zu einer Sechzehntelfigur,
um eine schwermutvolle Nebenmelodie der Streicher zu unterstützen.
Wieder kehrt das Hauptthema zurück und lenkt nach Es-dur ein. Da
bricht mit erschütternder Wucht das schmelzende, weiche Seiten-
thema hervor. Allmählich läßt seine Gewalt nach, und leise tasten
sich die Instrumente in die Durchführung hinein. Hier wird der
Kampf entfesselt, der die Themen in ihrer Größe und Ausdrucks-
gewalt zeigt. Die Grenzen des Möglichen werden erreicht. Das
Hauptthema findet schließlich den Weg zur Reprise. Der finstere
Balladenton des Anfangs erklingt wieder. Imitationen verstärken ihn
noch. Das Seitenthema erzählt eine lichte C-dur-Episode. Aber Klage
und Schmerz lassen sich nicht unterdrücken. Das Nebenthema ver-
hilft der Ursprungstonart wieder zu ihrem Recht, und nun zieht das
Spiel in gewaltiger Steigerung und unter Anwendung mannigfachster
Sachkünste seine Kreise bis zu dem gewaltigen Aufschwung des
Schlusses.
Dem Kampf folgt der Friede, der Erschütterung die Verklärung.
Der zweite Satz, Andante espressivo, ist ein Gedicht voller Hingabe,
wo alle Leidenschaften und Schmerzen still geworden sind und alle
Sehnsucht Erfüllung gefunden hat. Hier lebt die vollkommene Schön-
heit, das Ideal der vornehmen Seele, das Glück, in dem alle Begierden
schweigen. Das Scherzo führt ins Leben zurück. Das schwirrt und
geistert behende vorüber, läßt hurtige Motive durch die Instrumente
eilen, reckt sich auch manchmal kraftvoll auf, um gleich darauf wieder
in wispernde Heimlichkeit zu versinken und läßt sich in einem Dur-
Trio eine beschauliche Geschichte erzählen. Im letzten Satz aber
erwacht das alte Ungestüm wieder. Mit einem Nonensprung bäumt
sich das Hauptthema auf. Geschäftig nehmen sich die Instrumente
die Motive ab; in kunstvollen Wendungen und Nachahmungen schaf-
fen sie Inhalt. Einen starken Kontrast zeigt das melodiöse Seiten-
Kammermusik 143
thema, jedoch nur, um die drängende Leidenschaft der weiteren Ent-
wicklung nur noch intensiver wirken zu lassen. Und der Ring schließt
sich mit einer wuchtigen Coda, die den Satz und damit das Werk
groß und hinreißend abrundet.
Neben der Klavierkammermusik ging die Kammermusik für
Streichinstrumente ebenbürtig her. Mendelssohn huldigte diesem
innerlichsten Typus der Komposition in allen Stadien seiner Entwick-
lung. Wo die Farbenreize des Klaviers fehlen, da muß die Synthese
andere, erhöhte Werte erzeugen. Mendelssohn wollte nicht durch
das absolut Neue überraschen und verblüffen ; denn er war alles andere
als ein Abenteurer. Aber das Alte und Überlieferte wollte er doch
mit den Mitteln seiner Zeit ausbauen und mit seinen Idealen ver-
klären. Ihm genügten die Farben der Großmeister der Quartettmusik;
er strebte in der Harmonik nicht weiter. Er lauschte ihnen nur in
unermüdlicher Arbeit ihre Satzgeheimnisse und vor allem den Zauber
ihrer ausdrucksvollen, sprechenden Artikulation in der Melodik ab.
Daß er hierin das Überzeugende und Eigene fand, macht den Wert
seiner Streichkammermusik aus. Er huldigte der poetischen Idee.
Mehr als einmal verknüpfte er die einzelnen Sätze thematisch mit-
einander, um eine größere Einheit und einen geschlossenen Stim-
mungs- und Inhaltskreis zu schaffen.
Schon in den beiden ersten Streichquartetten, Es-dur, opus 12 und
a-moll, opus 13, sehen wir dies Streben und bewundern das Gelingen
bei dem Achtzehnjährigen. Das a-moll-Quartett ist zeitlich das erste.
Es steht auf einer hohen Stufe. Ein feierliches A-dur-Adagio leitet
den ersten Satz ein. Es sind nur wenige Takte. Auf der Dominante
verweilen die Instrumente. Die Bratsche trillert, und mit einem hef-
tigen Schlag beginnt der Allegro-Hauptsatz in a-moll. Ein rollendes
Sechzehntelmotiv, das im weiteren Verlauf von großer thematischer
Bedeutung ist, bereitet den Eintritt des leidenschaftlichen Haupt-
themas vor, das mit seinem punktierten Rhythmus den Ausdruck straff-
ster Energie an der Stirn trägt. In schroffem Gegensatz dazu schlägt
das Seitenthema einen Ton an, wie ihn die Zeitgenossen Mendels-
sohns in den Allegros ihrer Opernouvertüren liebten. Fühlte Mendels-
sohn selbst die Unmöglichkeit, dieses Thema für den weiteren Aus-
bau des Satzes zu verwenden? Es kehrt nur noch einmal in der
Reprise auf seinen Platz zurück. Die Durchführung wird von dem
144 Kammermusik
Hauptthema und der Sechzehntelfigur bestritten. Ernst und in stiller
Größe beginnt das Adagio, ein inbrünstiger Dankgesang. Da taucht
in der Bratsche ein klagendes chromatisches Thema auf, das nun in
immer neuer Verbrämung, Verkleidung und Beleuchtung, mit allen
Künsten des Satzes geformt, ein Fugato von ungeheurer Intensität des
Ausdrucks bildet. Noch einmal erklingen die Anfangstakte; aber
das Klagemotiv ringt sich wieder durch und beschließt dieses schmerz-
lich-schöne Stück. Damit jedoch noch nicht genug; auch der dritte
Satz, ein köstliches, unter Tränen lächelndes Intermezzo, erhält als
Mittelteil ein kunstvolles Fugato von lichter Klarheit. Wie ein Hauch
verklingt es. Jäh setzt das Tremolo der drei tieferen Streicher mit
einem verminderten Septimenakkord ein. Rezitativisch schwebt die
erste Violine darüber auf und führt schließlich die anderen Instrumente
zum Hauptthema des letzten Satzes. Rezitativische Zwischenstellen
und Fugatos unterbrechen oft den Fluß der Dinge. Gegen den Schluß
hin erklingt zu einem geheimnisvoll rauschenden Tremolo als Rezi-
tativ das Fugatothema des langsamen Satzes. Die Begleitstimmen
schweigen. Die erste Violine gleitet von dem Fugatothema wie ver-
träumt weiter und immer tiefer. In langen Fermaten klingt die Stim-
mung aus. Und nun rundet sich der Kreis: die Adagio-Einleitung
des ersten Satzes schließt jetzt mit feierlichen Akkorden das Werk.
Von ähnlicher Tendenz ist das Es-dur-Streichquartett, opus 12,
erfüllt. Auch hier bereitet eine weihevolle Adagio-Einleitung auf
den ersten Satz vor. Der hebt mit einem innigen, schwelgerisch
melodischen Hauptthema an. Das Seitenthema schafft keinen Gegen-
satz; es ist noch seelenvoller, hingebender in seiner Wehmut. Auch
in der Durchführung ballen die Ereignisse sich nicht zu Katastrophen.
Wie ein Traum vom Süden zieht der zweite Satz, die Canzonetta,
vorüber, eine einfache, schmucklose Serenade. Das Adagio ahnt
wieder ein Lied ohne Worte vor mit schöngeschwungenen melo-
dischen Phrasen. Unmittelbar an die Schlußfermate knüpft der letzte
Satz, der Mollstimmungen bevorzugt, an. Stürmische Triolen treiben
zu machtvollen Aufschwüngen; heiße Energie durchpulst die Rhyth-
men. Ein zweites Thema versucht weicheren Regungen Gehör zu
verschaffen. Aber die Triolen ersticken es bald wieder und rasen
weiter bis zu einer mächtigen Fermate auf G. Wie aus einer ver-
sunkenen Welt ertönt das Seitenthema des ersten Satzes. Doch
Kammermusik 145
schon regt sich der unruhige Triolengeist wieder. War es ein Traum?
Weiter braust das Spiel, immer ungestümer und wilder. In straffem
Rhythmus reckt sich das Spiel gebieterisch auf. Doch r*ie erste
Violine löst sich aus dem Kreis der anderen und stimmt zartere Töne
an, bis schließlich die Erinnerung an den ersten Satz siegt. Die
beiden Themen ziehen noch einmal vorüber, Ruhe und Glück spen-
dend. Die Schönheit krönt das Werk.
Ein mehrjähriger Zwischenraum trennt die drei Quartette, opus 44,
von den Jugendwerken. Der reife Meister hat sie gefügt. Er strebt
nicht mehr nach poetischen Kombinationen. Die Synthese der Töne
soll durch sich selbst sprechen. Das erste der drei Quartette, D-dur,
beginnt mit einem schwungvoll ausladenden Allegro-Satz. Das Haupt-
thema ist von enthusiastischem, leidenschaftlichen Charakter und zieht
in mehrmaligem Ansturm vorüber. Wie ein Volkslied klingt das
schwermütig singende Seitenthema. Doch schnell ist es von dem
emporwirbelnden Hauptthema wieder verweht. Ein sausender Lauf
verbindet Exposition und Durchführung. Die Rhythmen und Motive
des Hauptthemas herrschen in ihr; es ist ein farbenreiches Gemälde.
Die Reprise schreitet die Wege, die die Regel vorschreibt. Ein
primitiv gestalteter Menuettsatz folgt. Zart schmeichelnde Mittel-
stimmen begleiten die Melodie in Terzen und Sexten. Erhöhte Be-
wegung bringt das Trio mit einer laufenden Achtelfigur. Die Melan-
cholie der schottischen Symphonie klingt an. Der Wiederholung
des Menuetts folgt eine Coda, die noch einmal auf das Trio zurück-
blickt. Die ganze Seele des Meisters aber strömt in dem Andante
aus, das in wunderbar übersichtlicher Gliederung eine Fülle von
Empfindung offenbart. Wie so oft bei Mendelssohn ist auch hier
der langsame Satz ein Lied ohne Worte voll verschwiegener Innig-
keit. Funkelnder Rhythmus belebt den Schlußsatz. Es ist eine stür-
mische Lebensfreude, die darin um Ausdruck ringt. Der Satz ge-
winnt Volumen bei feinster thematischer Gliederung und Durch-
führung; nur ab und zu gelangt eine beschaulichere Stimmung an
die Oberfläche. Der Hymnus an die Freude verlangt volle Kraft-
entfaltung bis zu der brausenden Coda.
Wesentlich ruhiger zeigt sich das e-moll-Quartett. Die Leiden-
schaft des ersten Satzes giüht nur verstohlen hinter der Melodie des
Hauptthemas, das den Satz fast ausschließlich beherrscht, da das
I) a Ums, Mendelssohn 1 0
146 Kammermusik
etwas unbedeutende, volkstümlich schlichte Seitenthema nur geringe
Möglichkeiten zur thematischen Durchführung mit sich bringt. Im
Scherzo lebt der Mendelssohn der Capricen- und Elfenmusik. Es ist
ein zündendes Stück von Humor und Grazie. Zu Beethovenscher
Größe und Ausdrucksweite erhebt sich das Andante mit seinen ge-
waltigen Melodiebogen und der feinziselierten Figuration. Der
Schlußsatz jedoch huldigt der Konvention. Was will da die feine
Arbeit besagen?
Der ganze Meister zeigt sich erst wieder in dem Es-dur-Quartett,
dem dritten aus Opus 44. Der erste Satz ist von einer hinreißenden
Frische und Kraft. Freudige Bejahung spricht aus den energischen
Rhythmen des Hauptthemas, das stolz und selbstbewußt hingestellt
wird. Die Instrumente spinnen zartere Melodiefloskeln weiter. All-
mählich steigert sich das Spiel mit dem Sechzehntel-Auftaktmotiv
aus dem Hauptthema. Ein aufstrebendes Nebenthema wird von
diesem Motiv schnell wieder verwischt. Endlich ist die Dominante
D erreicht. Auf den pochenden Achteln der Begleitung richtet sich
sehnsüchtig das Seitenthema empor. Doch auch das ist nur eine
Episode. Die breite Durchführung trägt den Kampf der beiden Prin-
zipien aus. Das Hauptthema behält den Sieg und führt in die Re-
prise zurück. Auf das freudige Lebenslied folgt ein Scherzo von
unsagbar tiefer Resignation. Die Schwermut erzeugt eine gewisse
gewollte Eintönigkeit, die von verzehrender Sehnsucht erfüllt ist.
Prachtvolle Fugatos sind bis in die letzte Faser von poetischer Leiden-
schaft durchdrungen. Eine unendliche Differenziertheit durchzieht
die Harmonik. Form und Inhalt, Wille und Tat sind eins geworden.
Dem geisternden Nachtstück schließt sich ein Hymnus von erhabener
Größe im Ausdruck an: das weihevolle Adagio. Schmerzliche chro-
matische Akzente in der Melodie unterstreichen noch die tiefbeseelte
Stimmung. Hier ist die Melodie seligster Ausdruck der Hingabe
an das Unendliche geworden. Der Schlußsatz führt aus den Ge-
filden des Traums mit einem kühnen Sprung ins Leben zurück. Ein
lebhaft laufendes Sechzehntel-Thema, das bald durch Nachahmungen
noch mehr angefeuert wird, mündet in einen Nachsatz von burschi-
koser, frischer Haltung. Die beiden Teile des Hauptthemas beherr-
schen abwechselnd in glänzenden, oft überraschenden Durchführungen
das Feld. Selbst als die erste Violine eine Kantilene anstimmt, läßt
Kammermusik 147
das Cello den Rhythmus des Nachsatzes nicht fallen. Nur für wenige
Takte dringt die Ruhe durch und atmen die Instrumente von dem
wilden Treiben auf. Mehrmals wiederholt sich dieses Spiel, bis eine
rauschende Coda Es-dur befestigt und die vier Instrumente mit
lapidarer Wucht die Schlußstriche ziehen.
In dem dämonischen Schaffensaufschwung seines letzten Lebens-
jahres vergaß Mendelssohn auch die Kammermusik nicht. Das Streich-
quartett f-moll, opus 80, ist ein echtes Dokument dieser Zeit. Der
nahe Tod warf seinen Schatten voraus. Mendelssohns Seele hatte
zu viel gelitten. Wie in Tränen gebadet ist diese Musik, ein Aus-
druck seines Schmerzes um das unwiederbringlich Verlorene, ein
qualvolles Abschiednehmen von dem Schönen, was das Leben ihm
in so überreichem Maße geboten hatte. Geisternd schwirrt das
Hauptthema des ersten Satzes auf und ab, schrill stemmt sich das
Motiv des Nachsatzes dem Unerbittlichen entgegen. F-moll bleibt.
Ein Nebenthema klagt hoffnungslos. Dann rafft sich der schaffende
Wille mit energievollen Triolen auf, und eine hellere Stimmung bricht
mit dem auf schlichten Vierteln herabsteigenden Seitenthema an, das
in seinem ersten Teil auf dem Orgelpunkt des Cellos ruht. Es blüht
auf; voll Frieden verklingt die Exposition. Das Cello tastet von Es
nach E, und nun beginnt das Hauptthema mit der Durchführung, in
der der schrille Ruf des Nachsatzes eine große Rolle spielt. Inmitten
einer gewaltigen Fortissimo-Steigerung stimmt plötzlich die zweite
Violine das Hauptthema an. Die Reprise nimmt den entgegengesetz-
ten Verlauf als gewöhnlich. Über das Nebenthema und die triolen-
beschwingte Episode geht der Weg zum Seitenthema in F-dur. Es
verklingt. Abgerissene Tremolos klirren durch die Instrumente,
schließlich findet das Cello von E nach F, und nun setzt das Haupt-
thema in f-moll ein und mündet mit gewaltiger Steigerung in eine stür-
mische, leidenschaftlich betonte Coda.
In den übrigen Sätzen hallt die Stimmung des Anfangs nach, ge-
dämpft in dem zweiten Satz, der wie das Trio eines Beethovenschen
Scherzos wirkt, von leiser Melancholie beschattet; verklärt in dem
tiefempfundenen seelenvollen Adagio mit seinen Gesangskantilenen
und schließlich aufrüttelnd noch einmal in dem bewegten Finale, in
dem der Sturm der schmerzlichen Empfindungen unersättlich tobt.
Auch in diesem Werk verwirklichte der Meister eine poetische Idee.
10*
148 Kammermusik
In seltsamem Gegensatz dazu stehen die beiden Stücke aus der
Quartettsuite, opus 81, das Andante und Scherzo, die ebenfalls aus
dem letzten Lebensjahr Mendelssohns stammen. Darin lebt der alte
abgeklärte sonnige Geist des Komponisten der Lieder ohne Worte.
Das Andante ist ein Loblied an die Schönheit, ein Thema mit Varia-
tionen voll Pracht und Tiefe. Das Scherzo beschwört die Erinnerung
an viele Vorgänger aus derselben Feder herauf. Zwei Sätze aus
früherer Zeit vervollständigen die Suite: ein klangvolles Capriccio mit
einer freien Fuge aus dem Jahre 1843 und eine meisterlich geformte
Fuge aus 1827.
Es bleiben noch die beiden Streichquintette und das Streichoktett
zu erwähnen. Das erste Quintett, A-dur, opus 18, entstand 1826, im
Jahre der Sommernachtstraum-Ouvertüre. Es ist ganz Jugend und
Frühling, alles in helle Farben getaucht, fröhlicher Überschwang
und Glückseligkeit. Der erste Satz ist von heiteren, sonnigen Themen
belebt, die über alle Schwierigkeiten leicht hinwegtänzeln. Keine
schroffen Gegensätze, kein Kampf; nur die unendliche Freude am
Spiel und schönen Klang schwebt über dem Ganzen. Andächtig wird
die Stimmung im zweiten Satz, einem figurativ gesteigerten, seelen-
vollen Intermezzo. Das Scherzo ist wie aus einem Guß und hat so
gar nichts Gearbeitetes. Ein Fugato von sprühender Lebendigkeit,
bietet es alle Satzkünste auf, um zu fesseln. Die prächtige Laune des
Stücks findet ihre Krönung in dem Schlußsatz, der mit allen erdenk-
lichen Mitteln der Freude auf den Thron hilft. Der konzertante Stil
der Wiener Klassiker ist hier vorzüglich getroffen.
Dem leichtperlenden Jugendwerk steht aus 1845 das B-dur-
Streichquintett, opus 87, gegenüber. War das A-dur-Quintett ein
Dokument überschäumender und unbekümmerter Lust, so offenbart
sich in diesem Werk die halkyonische, ja dionysische Kraft des reifen
Meisters, der mit den Ereignissen spielt und das Schicksal der Töne
nach seinem Willen formt. Ein ungeheuer frisches und vollblütiges
Hauptthema beherrscht den ersten Satz; die erste Violine trägt es
unter der Tremolobegleitung der anderen Instrumente vor. Triolen
steigern das Spiel rasch. Noch einmal schwingt sich das Haupt-
thema jubelnd auf, dann schafft sich das Seitenthema Platz, das in
seiner einfachen Anspruchslosigkeit ein Moment der Ruhe in das
Treiben bringt. An diesem thematischen Material zeigt der Meister
Kammermusik 149
sein Können in einer festgefügten Durchführung. Die kurze For-
tissimo-Coda setzt ein gewaltiges Ausrufungszeichen hinter den Jubel-
ruf der Reprise. Das folgende Andante scherzando hat Intermezzo-
charakter — ein beschauliches, gemütliches, etwas kapriziöses Stück.
Das Adagio hat Beethovensche Größe. Eine unendliche Schwermut
liegt in diesem d-moll, mit wilden Ausbrüchen und verklingenden
Seufzern. Neben der wunderbaren Formung der Melodie ein Reich-
tum an delikatesten harmonischen Wendungen, der überwältigend
ist. Danach kann der letzte Satz nur mit kräftiger Bejahung den
Schlußpunkt setzen. Der frische Ausdruck steigert sich manchmal
sogar zur Lustigkeit und Keckheit. Das Leben hat gesiegt — die
Freude lebt.
Wir greifen nochmals in die Jugendzeit Mendelssohns zurück,
um das Bild seines Kammermusikschaffens abzurunden: das Oktett
für Streichinstrumente, Es-dur, opus 20, soll den Kreis schließen.
Hier ist Mendelssohn der selig schwärmende Jüngling, voll Un-
schuld und Unbefangenheit. Da blaut noch ein wolkenloser Himmel,
ein Paradies von Überschwang und innigster Hingabe an den Augen-
blick. Darum sind auch die Farben frisch wie auf Raffaels Bildern.
Das südlich orientierte Temperament des Berliners, der sich nach
Italien sehnte, beschwingt den Rhythmus mit höchster Intensität.
Das Melodische nahm der junge Mendelssohn wo und wie er es fand.
Und doch trägt es die unverkennbaren Züge seines Geistes und
seiner Hand. In allen Künsten des Satzes ist er ein treuer Schüler
seiner Meister. Die Sterne standen günstig für ein Meisterwerk.
Ein bezaubernder Glanz, die Taufrische und Unmittelbarkeit, die nur
die Jugend hat, liegen über dem Ganzen. Es ist eine Kunst ohne
Reflexion, aus dem Augenblick für die Ewigkeit geboren. Heute
noch entzückt das in wundervollen Linien gebogene, geschmeidige
Hauptthema ebenso wie das still vor sich hinträllernde Seitenthema
im ersten Satz. Die innige Gefühlswärme des Andante, die noch un-
bekümmert schwelgt, bezaubert die Empfänglichen und das prickelnd
geistreiche Scherzo, das mit zahllosen zierlichen Ornamenten ge-
schmückt ist, findet den Beifall der Massen. Der mit einem stürmi-
schen Fugato beginnende Schlußsatz aber reißt auch den Wider-
strebenden mit sich fort.
Das Kammermusikwerk Mendelssohns ist ein Zwischenfall, ein
150 Orchesterwerke
Intermezzo in der Musikgeschichte. Nachdem Beethoven die letzten
Konsequenzen der musikalischen Synthese erforscht und in seinen
Quartetten die Philosophie der Musik geschrieben hatte, blieb es
gerade Mendelssohn vorbehalten, noch einmal an Haydn und Mozart
zu erinnern, während seine Zeitgenossen und später Brahms in ihrer
romantischen Leidenschaft neue Wege suchten und fanden. Doch
der Zwischenfall wurde zum ewigen Ereignis. Die Kraft der Inspi-
ration war stark genug, um die Brücke über Jahrhunderte zu schlagen.
Mag das Vergängliche versinken — Werke, in denen die Intensität
einer großen Schöpferseele flammt, bleiben bestehen. Und dazu
gehört auch in Mendelssohns Kammermusik das, was heute noch zu
unseren Sinnen spricht.
ORCHESTERWERKE
Die drei Wiener Großmeister Haydn, Mozart und Beethoven
sind der Mittelpunkt der Musik und von ihnen gehen die verschie-
denen Wege aus, auf denen man im neunzehnten Jahrhundert vor-
wärts strebte. In der Symphonik, als der Form der größten Ab-
straktion im Gedanklichen, prägen sich zwei Richtungen mit beson-
derer Schärfe aus, die Linie von Beethoven bis Brahms und die von
Beethoven über Schubert bis Brückner, die klassische und die roman-
tische, wenn man sie so nennen wollte, trotzdem der Trennungsstrich
eigentlich gar nicht zu ziehen ist. Mendelssohn gehört innerlich in
die erste Reihe, wenn er auch romantische Elemente genug in seiner
Symphonik hat. Aber er greift noch vor Beethoven zu Mozart zurück.
Von ihm leiht er die klingende, bezaubernde Süße seiner Instrumen-
tierung, das Durchsichtige seiner Partituren, das vollendete Ebenmaß
in der Gliederung und vor allem das südliche Timbre in der Melodik.
Er steht neben Schumann als ein Eigener unter den Symphonie-
schreibern seiner Zeit. Was sind da die Spohr, Lachner, Kalliwoda,
Schneider, Moscheies und all die anderen, denen er so oft seinen
hilfreichen Taktstock widmete? Er durfte sich auch freihalten von
den Begrenzungen, die eine „Richtung" ihren Anhängern vorschreibt.
So konnte er romantische mit klassischen Elementen vereinigen zu
O r ch e s t e r we r k e 151
einem in sich neuen Ganzen. Fehlt ihm die lapidare, große, wirk-
same Weltsprache des Symphonikers Beethoven, so hat er dafür
eine schmeichelnde Überredungskunst, eine Gewandtheit im Aus-
druck, all die in seiner Kleinkunst gewonnenen Mittel der Artiku-
lation und in seiner Art eine Kraft zur Synthese, die ihn wenigstens
in seinen Meisterwerken, der Italienischen und Schottischen Sym-
phonie, zum Gipfel des Möglichen führte.
Die nach Wagner eingetretene Unterschätzung Mendelssohns,
die ja auch heute noch ihre Blüten treibt, hat vor den Symphonien,
des Meisters nicht Halt gemacht. Vor allem nennt man ihn ver-
blaßt, ohne Wirkung, zu schwach instrumentiert, ohne packende Ele-
mente in der thematischen Entwicklung — kurz, man legt ihn zum
alten Eisen; denn es ist modern und gilt als ein Zeichen von Geist
„weiterzugehen". Die Zeit, die das wirtschaftliche und politische
Chaos vorbereitete, hat auch nicht verfehlt, in der Kunst den Boden
zu lockern. Die Verfallsmusik der letzten Jahrzehnte, all die Un-
kultur im Geschmack, der traurige Mangel an Technik in der Kom-
position und schon an bloßem Verständnis für die Technik der Meister,
das sind die Faktoren, aus denen das Bild der Musik von heute zu-
sammengesetzt ist. Kein Wunder, daß für einen Meister wie Mendels-
sohn da kein Platz ist, wo man im letzten Sinne notgedrungen und
nur noch rein äußerlich Haydn und Mozart Ehrerbietung erweist,
obschon man sie innerlich schon längst für „überwunden" hält.
Aber schließlich ist doch nicht Mendelssohns Musik daran schuld,
sondern vielmehr die schlechten Ohren und der noch schlechtere
Geschmack der Laien und Kunstschwätzer und die Unfähigkeit der
Musiker, heute ein Melos wie dasjenige Mendelssohns leidenschaft-
lich interpretieren zu können. (Man lese nur, was ein wahrhaft
großer Denker und Künstler, Dr. Heinrich Schenker, in seinen „Musi-
kalischen Theorien und Phantasien" darüber sagt und weiterhin erst
noch sagen wird.)
Gibt es also keinen lächerlicheren Vorwurf gegen Meisterwerke,
als den: sie wären veraltet — wie kann denn etwas, was als Meister-
werk seine Vollendung in sich trägt überhaupt veralten — so richtet
sich das Vorurteil gegen Mendelssohn und seine Symphonik von
selbst. Es soll hier keine Ehrenrettung verlorener Musik, wie der
Reformationssymphonie und des Lobgesangs versucht werden. Wir
152 Orchesterwerke
haben vielmehr, wenn wir von Mendelssohn als Symphoniker sprechen,
nur seine Italienische und Schottische Symphonie im Auge. Bei
diesen Werken handelt es sich noch nicht einmal darum, ob jemand
die innere Verbindung mit den Idealen der damaligen Zeit verloren
oder nie gefunden hat, sondern hier handelt es sich um das Grund-
sätzliche in der Kunst, das abseits und unberührt vom Zeitgeist nur
seinen einen elementaren Weg geht wie ein notwendiges Natur-
ereignis. In der Kunst gibt es nur ein Entweder — Oder. Das Genie
darf jeglichen Kompromiß verschmähen, auch den mit dem Zeitgeist
und mit dem Milieu. Nun ist die Symphonik am allerwenigsten ein
Tummelplatz für Abenteurer. Da sind Urgesetze des Stils zu berück-
sichtigen, die den Geist des Schaffenden von vornherein in gewisse
Bahnen lenken. Es braucht nicht immer das Monumentale zu sein,
was das Symphonische ausmacht; es ist vielmehr die epische Breite,
die die Kraft der Synthese beim Schaffenden voraussetzt, die Kraft,
planmäßig weite Bogen zu spannen und Inhalt zu schaffen. Das
Geheimnis der Steigerung ist hierin ebenso bedingt wie das der
Differenzierung und Artikulation im Thematischen und Melodischen.
Mendelssohn besaß die Eigenschaften des Symphonikers. Nicht
in dem überreichen Maße eines Beethoven; aber darum bewahrte
ihn auch in den beiden Meisterwerken sein guter Geist davor, Epigone
zu sein oder beim Wagnis des Neuen und Ungewöhnlichen zu
stranden. Mendelssohn ist ganz er selbst auch als Symphoniker. Der
Meister der Lieder mit und ohne Worte verleugnet sich nicht. Aber
wie ist hier alles ins Große übertragen und wie reich ist das poeti-
sche Element gerade in seiner Orchestermusik. Ebenso stark ist die
lückenlose Logik seiner thematischen Beweisführung. Er hat im
Gegensatz zu seinen beiden großen romantischen Brüdern Schubert
und Schumann an den Symphonien intensiv gearbeitet, er warf sie
nicht in wenigen Tagen aufs Papier. Langsam gestaltete sich der
Gedankengang in ihm, und die Frucht reifte erst nach langem Mühen.
Deshalb huldigte er auch nicht dem Aphorismus, dem Augenblicks-
einfall.
Der Symphoniker Mendelssohn setzte sich nicht mit Formpro
blemen auseinander. Was er als Vorbilder fand, genügte ihm für die
eigene Aussprache. Er näherte sich der Musik ja nicht als Mystiker
oder Bahnbrecher. Für ihn war die Symphonik nur ein willkommenes
Orchesterwerke 153
Forum, um zu weiten Kreisen sprechen zu können. Aber auch bei
ihm ist wie bei den anderen Großen der grundlegende Unterschied
zwischen der Symphoniemusik und der Kammer- und Sonatenmusik
deutlich und auffallend. Die Thematik ist freier, oft packender, all-
gemeingültiger und großzügiger. Die Auseinandersetzung vollzieht
sich vor der Welt; sie ist deshalb ihrer ganzen Tendenz nach elemen-
tarer nach außen hin.
Einmal sprengte Mendelssohn die Grenzen des Herkömmlichen :
in seiner Symphonie-Kantate „Lobgesang". Die ist eine poetische
Erweiterung der Form und sucht unter Zuhilfenahme des gesungenen
Wortes die Stimmung noch intensiver zu entwickeln, als es den In-
strumenten möglich wäre. Die poetische Idee war aber auch in den
anderen Symphonien Mendelssohns lebendig. Nur der Deutsche
konnte eine solche Italienische und Schottische Symphonie aus dem
Geist der Landschaft heraus schaffen ; denn nur er verzichtet in dem
Grade darauf, die Welt zu sich in Beziehung zu bringen, sondern
fühlt sich ganz in das Andere, Fremde hinein und macht es sich
zu eigen.
Kann gegen den Formkünstler Mendelssohn kein Einwand
geltend gemacht werden, so ist er doch andererseits weit davon ent-
fernt, in bloßem Formalismus zu versanden. Wir wissen aus zahl-
losen Aussprüchen in seinen Briefen, wie er die Pedanterie, die
Schwäche des Schematischen und letzten Endes das sogenannte Aka-
demische ablehnte. Und immer wieder kommen wir auf den einen
Punkt zurück, der bei Mendelssohn nicht oft genug hervorgehoben
werden kann : seine Musik ist viel zu stark mit geistiger Leidenschaft
angefüllt, als daß sie zum reinen Spielwerk werden konnte. Gerade
das, was man bei ihm aus Unverstand leugnet, ist eben doch seine
stärkste Seite: die Leidenschaft in den Tonereignissen, die zwar
ungeheuer diszipliniert und gebunden ist, aber doch kräftig genug
aus der prachtvollen Intensität seiner Melodik hervorleuchtet.
Schon frühzeitig lockte die Symphonik den jungen Komponisten.
Im Alter von elf bis vierzehn Jahren schrieb Mendelssohn eine ganze
Reihe kleiner Symphonien für Streichinstrumente. Mit einer Sym-
phonie für volles Orchester in D-dur versuchte er es 1822. Alle diese
Partituren kennen wir nicht. Sie sind Handschrift geblieben. Erst
die Symphonie c-moll opus II aus dem Jahre 1824 legt Zeugnis ab
154 Orchesterwerke
von dem Geist des Tondichters. Sie ist für England geschrieben
und der Philharmonischen Gesellschaft in London gewidmet. Der
Epigone, den die Freude an der Nachahmung noch auf längst be-
tretene Pfade zieht, spricht. Er plaudert ohne Scheu aus, was er
von Haydn und Mozart gelernt hat. Das Werk zeigt als Ganzes die
selige Unbefangenheit der Jugend, die ohne Arg aus vollem Herzen
musiziert. C-moll hat hier keinen finsteren Charakter und ist noch
nicht der Ausdruck wilden Schmerzes. Das scharf pointierte und
energisch betonte Hauptthema des ersten Satzes ist noch primitiv in
der Erfindung. Auch die Verarbeitung bleibt noch an der Oberfläche
hängen. Das Seitenthema huldigt Mozart. Die Durchführung ist
knapp gehalten und geht allen tieferen Auseinandersetzungen aus dem
Wege. Das Hauptthema liefert den Stoff; nur einmal klingt das
Seitenthema ganz schüchtern in der Flöte an. Die Reprise schließt mit
einer verhältnismäßig gestreckten Coda. Der stimmungsvolle zweite
Satz ist von zarter Melodik erfüllt. Die schöne Verschmelzung der
Instrumente erzeugt weiche, satte Farben. Zweimal steigert sich das
Spiel beredt und ringt nach stärkerem, lebhafterem Ausdruck, bis es
endlich in verträumt hingehauchten Akkorden verklingt. Das Me-
nuette) ist prägnant gefaßt und von etwas herber Art. Sehr reizvoll
kontrastiert dazu das Trio. Die beiden Klarinetten und Fagotte singen
einen schlichten, getragenen Hymnus, während die Violinen die Har-
monien auseinanderbreiten und eine sanfte Bewegung schaffen. Tem-
peramentvoll stürmt der Schlußsatz daher. Er ist mit pikanten Einzel-
heiten, kleinen Nachahmungen und Instrumentationseffekten ge-
schmückt, zeigt sich aber im übrigen ganz von altem Geist und Stil
erfüllt.
Der c-moll-Symphonie folgt zeitlich die sogenannte Reformations-
Symphonie in d-moll, opus 107. Sie entstand 1830 zur Feier der
Kirchenreformation. In London und Berlin kam sie zum Erklingen;
dann ist sie völlig vergessen worden. Wir brauchen sie nicht zu
neuem Leben zu erwecken. Ihre Thematik ist schwach und atmet
ganz den Charakter eines Gelegenheitswerkes. Im Finale verarbeitet
Mendelssohn den Choral „Ein feste Burg"; aber auch das ist ihm
nur rein äußerlich gelungen. Es ist ein Stück märkischer Sand-Musik,
ein Augenblick des Erschlaffens der Inspiration. Reden wir nicht
weiter davon.
Orch es t e r w e rk e 155
Doch jetzt trennt uns nichts mehr von den beiden symphonischen
Meisterwerken Mendelssohns, der Italienischen und Schottischen Sym-
phonie. Die Italienische, in A-dur, wurde 1833 in Berlin vollendet,
aber erst aus dem Nachlaß (als opus 90 veröffentlicht. Mendels-
sohn hat viel an ihr gefeilt und gebessert, ehe sie die Vollendung er-
reichte. Sie lebt noch heute in der Gunst der Musikfreunde und ihre
Frische verheißt noch eine lange Zukunft.
Alles was sich die ewige Sehnsucht des Nordländers unter Italien
vorstellt — das ist Mendelssohns A-dur-Symphonie : überschäumende
Lebenslust und verträumte Schwermut, phantastische Fülle und Bunt-
heit, helle glänzende Farben. Die Wärme des Kolorits ist von be-
zaubernder Anmut und Grazie. Gleich der erste Satz führt mitten
hinein in das übermütige Treiben. Ein kräftiger A-dur-Akkord des
Orchesters, und mit flimmernden gestoßenen Achteln tragen die
Bläser die Harmonien weiter, während die Violinen mit dem Haupt-
thema einsetzen, das mit einem jubelnden Ruf wie eine jauchzende
Frühlingsfanfare beginnt. Die Bläser übernehmen den Ruf und lassen
ihn poetisch ausklingen ; die Streicher antworten lustig hüpfend. Das
Spiel steigert sich wieder; noch einmal erklingt rauschend das Haupt-
thema. Doch schon verändert es sich und schlägt andere Wege ein.
Und bald findet es nach der Dominante von E. Nun haben die
Klarinetten freie Bahn für das Seitenthema. Sein weicher, singender
Charakter schafft nur einen gelinden Gegensatz. Nichts stört die
unschuldige, naive Freude. Alles bleibt licht und fröhlich ; nur die
Violinen ziehen den Nachsatz des Seitenthemas ins Schwärmerisch-
Sentimentale. Der Fanfarenruf des Hauptthemas regt sich wieder;
aber er kommt nicht mehr zur Auswirkung. Die Exposition ist
vollendet. Die Durchführung kann beginnen. Die Streicher erfassen
ein zierliches Motiv und führen es durch, bis die Bläser schüchtern
an das Hauptthema erinnern. Doch das neue Motiv reißt auch die
Bläser mit in den Reigen. Das volle Orchester ergreift es wie ein
Taumel. Aufgeregt wird bisweilen der Fanfarenruf dazwischenge-
schleudert. Das Spiel wird ruhiger und besinnlicher. Zart gleiten
die Harmonien ineinander. Doch nicht lange kann das währen, da
meldet sich das Hauptthema wieder und führt schwungvoll zur Re-
prise, die den Jubel des Anfangs in verstärktem Maße wiederholt.
Das graziös tändelnde Motiv der Durchführung taucht gegen Schluß
156 Orchesterwerke
hin noch einmal auf, bis schließlich die Coda jauchzend die Schluß-
striche zieht.
An Probleme rührt Mendelssohn auch in diesem Werk nicht.
Ihm flössen Erlebnis und Musik, Erinnerung und Inspiration in eins,
und so ließ er den Festklängen des ersten Satzes im Andante ein
Wallfahrtslied folgen, das ihm selbst auf seinen Wanderungen in
Italien hätte begegnen können. Es ist in Schleier der Wehmut und
Entsagung gehüllt — ein rührendes Lied, das Bratsche, Oboe und
Fagott anstimmen und das den ganzen Satz hindurch immer wieder-
kehrt. Die Zwischenspiele verstärken nur den Eindruck eines be-
stimmten Vorganges, der hier geschildert wird. Still und traurig wie
er begonnen, verklingt der Satz, ein Meisterstück in Zeichnung und
Farbe, von einer überwältigenden Schlichtheit im Ausdruck, die
eigentlich nur die tiefste Resignation kennt.
Elegant und etwas kokett plaudert der Menuettsatz vom Glück
des Lebens. Es ist lächelnder Frohsinn darin, sonnige Heiterkeit,
die jede Erdenschwere hinter sich gelassen hat und nur noch hal-
kyonisch genießt. Doch das Trio beschwört mit seinen verträumten
Hornklängen die Erinnerung an die heimatliche Waldromantik her-
auf. Der Weltmann vergießt heimlich eine Sehnsuchtsträne.
Der Schlußsatz, ein Saltarello in a-moll, führt uns unmittel-
bar in das berauschende, üppige neapolitanische Volksleben. Das
ist die Via di Toledo, von der Stendhal, zehn Jahre bevor Mendels-
sohn sie sah, als der „bevölkertsten und lustigsten Straße Europas"
schwärmte. Das ist hinreißend, voll ungeheurer fesselloser Leiden-
schaft, glühend, verlangend, sinnbetörend. Das ist echt, erlebt und
gesehen, überquellend vor Lebensfreude, taumelnd und trunken von
Sonne und Schönheit. Ein bacchantischer wirbelnder Tanz, bisweilen
wie rasend sich aufbäumend, dann und wann erschöpft stockend und
immer wieder von neuem auflebend bis zu dem tollen Schluß.
Eine Welt trennt die Italienische Symphonie von ihrer nicht
minder berühmten Schwester, der Schottischen, a-moll, opus 56. Aber
die poetische Idee lebt in beiden und ist in beiden vollkommen er-
füllt. Die Natur war die große Anregerin, das Leben schuf den
Grundton, wenn auch die Erinnerung erst die Verklärung geben
mußte. Was Mendelssohn in der Hebriden-Ouvertüre von Schott-
lands eigentümlicher Schönheit und Versunkenheit erzählt hatte, das
Orchesterwerke 157
wiederholte er noch einmal in breiterer Form, gewissermaßen vor
einem größeren Forum in der a-moll-Symphonie. Die Landschaft
gab ihm die Stimmung. Das ist die Schwermut, der Nebel, das
Meer und die Felsenküsten, die Verschlossenheit und Verträumtheit,
der Bewohner, die auf eine andere Weise lustig sind als die Italiener.
Alles ist gedämpft. Schon die langsame Einleitung des ersten Satzes
läßt uns ahnen, daß wir in das Land der Melancholie gekommen sind.
Traurig schleppt sich das langsam aufsteigende, getragene Thema
in den Bläsern und den Bratschen hin. Die ganze Einleitung bewegt
sich um dieses Thema, umschreibt es und zeigt es in seinen ver-
schiedenen Stadien. Auf einer langen Fermate schließen die Flöten.
Da setzt im Sechsachteltakt das Hauptthema wehmütig klagend ein.
Die Streicher tragen es vor, die Holzbläser wiederholen, verstärken
es und führen es weiter bis zu einem leidenschaftlichen Aufschwung
des vollen Orchesters. Mit stürmischer Gewalt ringt der Schmerz
nach Ausdruck. Dann läßt die Erregung nach. Bruchstücke des
Hauptthemas richten sich klagend auf und fallen erschöpft wieder
zusammen. Doch der Schmerz bricht sich von neuem Bahn und
führt ein heftiges Aufbäumen herbei. Das Spiel ist in e-moll gelandet,
und weich, unendlich traurig, tränenumflort und seufzend erhebt das
Seitenthema seine Stimme. Das ist kein Kontrast. Es ist dieselbe
melancholische Grundstimmung. Unsagbar ergreifend verklingt der
Nachsatz und damit die Exposition. Das Anfangsmotiv des Haupt-
themas eröffnet die Durchführung. Rastlos zieht es durch die In-
strumente und lockt sie durch den Kreis der Tonarten. Die Bläser
erinnern sich an das herrliche melodische Motiv eines Nebenthemas,
das dagegen ausgespielt wird. Aber das Hauptthema läßt die Zügel
nicht fallen. Das ganze Orchester lehnt sich auf. Wie ein lichter
Trost erklingt in E-dur das Seitenthema. Es ist ein Traum. Denn
schon greift das Hauptthema wieder nach der Führung. Mit a-moll
ist die Reprise erreicht. Sie bringt keine Überraschungen mehr. Das
Einleitungs-Andante beendet den Satz harmonisch.
Unmittelbar sollen sich die vier Sätze der Symphonie aneinander
anschließen, damit die Einheit der Idee gewahrt bleibt. Dem ersten
Satz folgt das Scherzo. Was wäre Schottland ohne den Dudelsack,
was eine schottische Symphonie ohne Anklänge an dieses National-
instrument? Im Scherzo hören wir es. Das ist ein lustiges Stück,
158 Orchesterwerke
burschikos, ausgelassen, übermütig. Prickelnd springt das Haupt-
thema durch die Instrumente, die es sich gegenseitig zuwerfen. Das
zweite Thema ist von etwas preziösem Charakter; es macht dem
Hauptthema oft den Platz streitig, um die Abwechslung zu schaffen,
die in Ermangelung eines eigentlichen Trios notwendig ist. Das
Scherzo verklingt wie ein Spuk. Eine kurze Überleitung führt zum
Adagio, in dem der Traum Wahrheit wird. Die Violine singt eine
Melodie von einzigartiger Innigkeit, Schönheit und Süße, ein holdes
Wunder an Eingebung und Gestaltung. Man beachte doch nur den
herrlichen Aufbau des Themas, das erst zum Schluß sich zur Septime
aufschwingt und gerade durch dieses Aufsparen eines so prägnanten
Intervalls seine große Wirkung erzielt. Mendelssohn kannte diese
Technik der Meister noch, die der heutigen Zeit anscheinend gänzlich
verloren gegangen ist. Dreimal gewinnen energischere Akzente im
Adagio Geltung; aber die zarte Stimmung kommt immer wieder
durch und taucht den Satz in das versöhnende Licht wolken-
loser Reinheit.
Von lebhafter, aufbäumender Kraft ist der Schlußsatz erfüllt.
Die Thematik vergißt jedoch nicht die Tendenz der Symphonie. Die
poetische Idee bleibt gewahrt, im Sturm der Leidenschaft, der kühnen
Ritterlichkeit kriegerischer Rhythmen wie in den weichen Linien der
Sehnsucht. Eine Coda im Sechsachteltakt lenkt nach A-dur ein und
vollzieht mit glühender Melodik den Aufschwung ins Verklärte.
Zwei Jahre vor der Schottischen Symphonie hatte Mendelssohn
die Symphonie -Kantate „Lobgesang", opus 52, nach Worten der
heiligen Schrift komponiert. Ein Gelegenheitswerk, dazu bestimmt,
die Vierhundertjahrfeier der Buchdrucker in Leipzig musikalisch zu
verherrlichen. Beethovens Neunte Symphonie mag ihm als Vorbild
vorgeschwebt haben, und doch wollte und mußte er etwas viel Volks-
tümlicheres geben. Deshalb stellte er das Werk in den Dienst der
religiösen Idee und setzte als Motto Luthers Worte auf die Partitur:
„Sondern ich wollt alle künste, sonderlich die Musica, gern sehen
im dienst des der sie geben und geschaffen hat". Das Werk zer-
fällt in zwei Teile, die Symphonie und die Kantate. Die große sym-
phonisch gestaltete Instrumentaleinleitung besteht aus drei ineinander
übergehenden Sätzen, Allegro, Scherzo und Adagio, denen sich dann
der eigentliche Lobgesang als groß ausgestaltetes Finale mit Solo-
Orchesterwerke 159
nummern, Rezitationen und Chören anschließt. Das Motiv des ersten
Chores, „Alles was Odem hat, lobe den Herrn", zieht sich wie ein
roter Faden durch das Werk und verknüpft namentlich die Instru-
mentalsätze in poetischer Weise mit der Kantate. Ein frischer Ton
liegt über dem Ganzen. Schumann fand die Komposition von en-
thusiastischer Wirkung. Die Nachwelt hat dieses Urteil korrigiert.
Der Lobgesang zählt zu den toten Werken Mendelssohns, denen keine
Auferstehung mehr beschieden ist. Mit großem Geschick ist der erste
Satz gefügt; aber es ist schließlich nur ein Spiel mit Tönen. Ein
Rezitativ der Klarinette leitet zu dem Allegretto un poco agitato, das
mit seiner leidenschaftlich drängenden Melodik die Stelle eines
Scherzo vertritt. Ein Choral als quasi Trio stellt den inneren Zu-
sammenhang mit dem „Lobgesang" wieder her, den das folgende
Adagio noch vertieft und weiter ausbaut. Die Atmosphäre für den
„Lobgesang" ist gegeben. Die Kantate zeigt manche schöne Chor-
steigerung, manche schön poetische Linie in den Sologesängen. Aber
das Ganze hat nicht das Pathos des großen Willens. Zwar verfehlten
die äußerlich effektvollen Klangmittel nicht ihren Eindruck auf die
Zeitgenossen. Wir jedoch dürfen skeptischer sein. Für uns kann der
„Lobgesang" nicht zu den großen Ereignissen in der Kunst gehören
und nur für die ist Platz in der Musikgeschichte.
Die Romantik, die Beseelung der Natur, verlieh Mendelssohns
symphonischen Meisterwerken unvergänglichen Zauber. Die poeti-
sche Idee, die dichterische Verklärung der Erinnerung, gaben Men-
delssohn die Kraft zur Synthese. Mochte selbst die Thematik drama-
tischer Entwicklung ungünstig sein, die Leidenschaft der mit der
Phantasie des Dichters geschauten Tonereignisse schuf Inhalt und
epische Breite. Wieviel willkommener noch mußte Mendelssohn die
engere Form der Ouvertüre sein. Wie sehr sie seinem Naturell und
seinem Schöpferwillen lag, das wird durch nichts besser bewiesen,
als durch die Meisterwerke, die er in der Form der poetisierenden
Konzertouvertüre schuf. Der Jüngling spielte damit seinen ersten
Trumpf aus: die Sommernachtstraum-Ouvertüre. Sie wird uns später
noch begegnen. Was an Ouvertüren vorherging war belanglos: so-
wohl die Ouvertüre für Harmoniemusik, opus 24, als auch die Brillante
Ouvertüre in C-dur, die sogenannte Trompetenouvertüre, opus 101,
die Mendelssohn selbst nicht der Veröffentlichung für wert erachtete,
160 Orchesterwerke
und aus der er nur die Trompetenrufe später in der Hebriden-Ouver-
türe wieder anklingen ließ.
Die Ouvertüre „Meeresstille und glückliche Fahrt", opus 27,
eröffnet den Reigen der „Charakteristischen Ouvertüren" Mendels-
sohns. Schuberts Lied, Beethovens Chor versinken, und es bleibt nur
die Stimmung der Goetheschen Verse, die Mendelssohns Ouvertüre
als stilles Motto vorausschweben. Auch dieses Werk hat Wand-
lungen durchgemacht. Die erste Fassung aus dem Juni 1828 wurde
zwei Jahre später in London gespielt. Dann ruhte die Partitur, bis sie
Mendelssohn nach mehreren Jahren in die heutige Form umschmolz.
Ein Adagio malt die Meeresstille. Das Meer schläft. Eine ungeheure
Weite und Stille dehnt sich aus. Kein frischer Hauch. Die Sonne
brennt. Feierlich, träumend, verschmachtend und ersterbend
schleichen die Akkorde und Motive dahin. Nur dann und wann ist
es, als öffne sich ein unergründliches Auge, wenn sich ausdrucksvolle
Septimen in den Violinen aufrecken. Doch die unheimlich gespannte
Ruhe brütet weiter. Da erklingt es in der Flöte wie ein unterdrückt
aufjubelnder Ruf. Ein sprunghaftes Aufbäumen der Holzbläser, und
Molto Allegro vivace hebt die glückliche Fahrt mit vollen Segeln an.
Die Baßfiguren beginnen zu rollen, immer stärker, immer wilder regt
sich das Spiel, bis nach einer gewaltigen Steigerung piano das Haupt-
thema in den Holzbläsern einsetzt. Die Streicher werfen kurze ener-
gische Floskeln dazwischen, ergreifen bald die Führung und nach
nochmaligem Aufschwung bricht das volle Orchester mit dem Haupt-
thema durch. Ein blühendes zweites Thema meldet sich in der
Violine, von den Holzbläsern weich eingehüllt. Allmählich verebbt
der Aufruhr. Spielerisch gleiten die Figuren dahin. Da setzt in den
Celli das üppige, schwelgerische Seitenthema ein, überströmend vor
Glück. Flöten und Klarinetten beantworten es. Die Durchführung
beginnt, lebendig, vielgestaltig, buntschillernd und farbenreich, alles
in eine bezaubernde Fülle von Empfindung getaucht. Die Reprise
bringt keine Überraschungen, die glückliche Fahrt geht weiter und
mit schmetternden Fanfaren grüßen die Instrumente in der Coda den
Hafen.
Mendelssohns Konzertouvertüren sind Programmusik reinster
und vollkommenster Art. Die Assoziation zu einer poetischen Idee
oder zur Natur inspirierte den Tondichter. Die Ouvertüre sollte
Orch es ter wer k e 161
mehr als bloßes Einleitungsstück sein, sie sollte ein vollständiges in
sich geschlossenes und aus sich heraus verständliches Dasein führen.
Tonmalerische Effekte mußten die willkommenen Hilfsmittel sein.
Mendelssohn war ein viel zu großer Meister, um der Gefahr der
Äußerlichkeit zu unterliegen. Für ihn waren die Mittel nur da, um
die Form zu beleben und mit neuem Inhalt zu füllen. So unendlich
reich der Stimmungszauber seiner Ouvertüren ist, so starke zwingende
Eindrücke die Bildhaftigkeit seiner Tonsprache vermittelt, immer ist
es der Beherrscher der Form, der keine fessellosen Ausschweifungen
duldet — die ungeheuer wohltuende Kraft eines disziplinierten
Geistes, der sich seiner Verantwortlichkeit in intellektuellen Dingen
bewußt ist.
„Es wäre genug Ruhms an der Sommernachtstraumouvertüre,
die anderen sollten andere Namen von Komponisten tragen",
schwärmte Schumann damals. Bei solchem Reichtum ist sein Wort
verständlich. Allein die „Hebriden-Ouvertüre", opus 26, könnte
einem Tondichter die Unsterblichkeit sichern. Hier hat die poetische
Leidenschaft Mendelssohns die ideale vollendete Form gefunden.
Stimmung und Synthese sind eins geworden. Man vergißt die Mittel
und steht nur unter dem Eindruck der Poesie. Die Grundstimmung
ist die der a-moll-Symphonie, die ja aus derselben Landschaft heraus
geboren wurde, nur konzentrierter, vertiefter. Hier ist auf engem
Raum alles gesagt, was das Herz an Schwermut empfinden kann.
Die h-moll-Tonart leiht dazu die echtesten Farben. Quellfrische
Romantik pulst in den Tönen. Das Rauschen des Meeres spielt
seine Rolle, der klagende Wind und die grenzenlose Einsamkeit des
Menschen in der großen Natur. Die Phantastik Ossians lebt in
diesem Naturgedicht auf. Die Schatten sagenhafter Gestalten, längst
verklungener Schmerzen und Wonnen geistern dahinter. Wie ein
feines Gewebe beginnt die Partitur mit einer auf den Stufen des
Dreiklangs absteigenden Begleitungsfigur, die zum Leitmotiv erhoben
wird. Ein Thema rundet sich, doch schon singen Flöte, Oboe und
Fagott ein neues, das Hebriden-Thema, eine wehmütige Melodie,
unsagbar sehnsüchtig und weltverloren. Das Orchester spinnt die
letzten Takte weiter aus, rauschende Figuren, aufgelöste Akkorde
in den Streichern — da beginnen die Celli und Fagott mit dem
wundervollen Seitenthema in D-dur, das danach von den Violinen
Dahms, Mendelssohn 11
162 Orchesterwerke
fast jauchzend aufgenommen wird. Die Massen ballen sich heftig
zusammen, stürmische Entladungen des vollen Orchesters folgen.
Doch bald tritt wieder die Ruhe des Anfangs ein. Kräftige Rufe
der Bläser fahren einschmeichelnd dazwischen. Das Seitenthema
taucht noch einmal auf und wird von zarten Händen niedergezogen;
Aber schon regen sich in der Bratsche Triolen, die zum Durch-
führungsteil leiten. Über F, B, D, A und E geht es nach h-moll zur
Reprise. Das Seitenthema schwelgt diesmal in süßestem H-dur. Noch
einmal bricht die Erregung durch. Ein neues farbiges Motiv tritt
auf; rollende Streicherfiguren, heftige Ausrufe der Bläser. Endlich
einige kraftvolle energische Schläge des ganzen Orchesters, von denen
sich die Klarinette mit dem sanft fallenden Leitmotiv ablöst, bis
schließlich die Flöte auf den Stufen des h-moll-Dreiklangs in die Höhe
steigt und sich wie in Nebeldunst verliert. Der Traum der Schwer-
mut ist zu Ende.
Der nordischen Romantik der Hebriden-Ouvertüre folgt mit der
Ouvertüre zum „Märchen von der schönen Melusine" die deutsche.
Was dort Phantastik war, ist hier Gemütstiefe, Innigkeit geworden.
Wer das Märchen von der schönen Meerjungfrau und dem Ritter
kennt, wird die Ouvertüre verstehen; wer sie nicht kennt, wird sie
aus den Tönen herauslesen können. Es ist kaum jemals ein rühren-
deres, deutscheres Stück für die Musik geschrieben worden. Der
schlichte Ton der Erzählung, der nicht selbst Vorgang sondern nur
Wiederschein der Ereignisse sein will, vermählt sich wundervoll mit
dem Klangapparat. Sehr frei ist die Form gestaltet. Der F-dur-An-
fang schildert die Welt Melusines. Eine Wellenfigur beherrscht diese
Einleitung, taucht in der Mitte wieder auf und glättet die Wogen auch
am Schluß, als sie sich über dem Grab der Liebe schließen. Der
eigentliche Hauptteil beginnt erst mit dem Übergang nach f-moll.
Es ist nur der tragische Zusammenbruch eines sagenhaften Glücks,
der hier geschildert wird. Markige Rhythmen kennzeichnen den
stolzen Ritter, eine schmelzende, hinreißend schöne As-dur-Melodie
deutet auf Melusine. Wie dies alles kombiniert ist, wie das Wellen-
thema handelnd in die Ereignisse eingreift, wie das Ritterthema uner-
bittlich hart bleibt und wie Melusines Melodie schließlich trostlos
hin und her irrt und in eine entsetzlich ergreifende Klage ausbricht,
das läßt sich besser fühlen und hören als sagen. Mendelssohn witzelte
Orchesterwerke 163
sich zwar, wie Schumann erzählt, die eigene Rührung von der Seele.
Als ihn einmal ein Neugieriger fragte, was die Melusinen-Ouvertüre
eigentlich bedeutete, antwortete er schnell: „Hm — eine Mes-
alliance". Aber für uns bleibt doch der Ernst und damit diese Ouver-
türe eins der herrlichsten Werke Mendelssohns. Ja, es gibt Enthusia-
sten, die sie für das schönste des Meisters erklären.
Wir reihen nun noch die Ouvertüre zu „Ruy Blas" hier an.
Mendelssohn hat sie 1839 in wenigen Tagen für eine Pensionsfond-
Vorstellung des gleichnamigen Stücks von Victor Hugo geschrieben.
Die Großspurigkeit der Theatralik des französischen Romantikers
konnte Mendelssohn nicht begeistern. Seine Musik ist in ihrer fein-
ziselierten Gliederung, der leidenschaftlichen Melodik und der bril-
lanten Aufmachung ein lebhafter Protest gegen die Dichtung. Trotz-
dem zählt sie nicht zu seinen großen Werken. Der Routinier hatte
stark die Hand dabei im Spiel; aber es ist ein Routinier von Herz,
Gemüt und Geschmack. Wie pompös klingen die immer wieder-
kehrenden Einleitungsakkorde, wie rastlos bohrt das Hauptthema,
welche Wucht entlädt sich in den chromatisch abwärts sausenden
Streichen und welches lebhaften und doch so beseelten Aufschwungs
ist das Seitenthema fähig. So ist der effektvolle C-dur-Schluß eine
folgerichtige Apotheose der finsteren Moll-Leidenschaft des Hauptteils.
Nennen wir nun noch als bloße Gelegenheitskompositionen ohne
Bedeutung den Trauermarsch a-moll, opus 103, für Harmoniemusik
zum Begräbnis Norbert Burgmüllers und den Marsch D-dur, opus
108, für Orchester zur Feier der Anwesenheit des Malers Cornelius
in Dresden, so bleibt uns noch das Konzert für Violine und Orchester,
e-moll, opus 64, mit dem wir den Kranz der Orchesterwerke Mendels-
sohns schließen wollen. Dieses Violinkonzert ist das einzige Men-
delssohns geblieben und es steht in der ersten Reihe mit den Haupt-
werken der Literatur, den Konzerten von Bach, Mozart, Beethoven
und Brahms. Mit ihnen hat es die Tendenz gemeinsam, das virtuose
Element nur als selbstverständlichen, willkommenen Faktor mit-
sprechen zu lassen, den musikalisch-symphonischen Charakter aber
in möglichster Klarheit und Großzügigkeit durchzuführen, wenn auch
der solistische Ehrgeiz der Violine durchaus selbständige Wege geht
und sich mehr an Mozart als an Beethoven oder gar Brahms an-
schließt. Eingehende Beratungen mit Ferdinand David sicherten dem
11*
164 Chorwerke
Solospieler alle Effekte des Geigenmäßigen, Brillanz und den Zauber
der Kantilene. Gewisse Ähnlichkeiten in der Anlage mit den beiden
Klavierkonzerten sind nicht zu verkennen. Die drei Sätze bilden ein
zusammenhängendes Ganzes, wie namentlich im g-moll-Klavierkon-
zert. Die Überleitungspartien zeigen verwandte Züge. Es ist kein
Zufall, daß alle drei Konzerte in Moll stehen. Die Leidenschaft führte
dem Meister die Feder, als er sie dichtete, die Leidenschaft, die in
den ersten Sätzen sich in schwungvollen Themen üppig auslebte,
in den langsamen Mittelsätzen beseelte Innigkeit wurde und in den
Schlußsätzen die Phantastik des Scherzos mit der Spielfreude des
Rondos vereinigte. Die Partitur des Violinkonzerts ist ein kostbares
Juwel unter Mendelssohns Werken, von einer Durchsichtigkeit, Li-
nienführung und Klangfülle ohnegleichen. Die Solovioline herrscht
darüber mit wahrhaft königlicher Geberde. Die Tutti, die sie zum
Schweigen verurteilen, bereiten nur immer neue und herrlichere Auf-
schwünge vor. Die freie Gestaltung verlangte Themen von Adel und
Charakter. Wunderbar kontrastieren die beiden Hauptthemen des
ersten Satzes, das glühende, stürmische, verlangende Mollthema und
die selig lächelnde, zart klopfende Durkantilene. Das Andante be-
schwört alle Erinnerungen an die Lieder ohne Worte herauf. Hier
singt die Violine von Erfüllung aller Sehnsucht und von Liebe. Etwas
auflebend tastet sie sich immer noch traumversunken nach E-dur und
nun sind wir mitten im blühendsten Glanz. Ein phantastischer
Geistertanz schwebt, hastet, singt, klingt, stolpert, stürzt, jagt und
jauchzt an uns vorüber. Und der Virtuose feiert seinen Sieg.
CHORWERKE
Von frühester Jugend an beschäftigte sich Mendelssohn mit dsr
Chorkomposition. Dazu verführte ihn nicht nur die Möglichkeit,
das Geschriebene sogleich in den Sonntagsmusiken aufführen zu
können, sondern auch vor allem der Ansporn Zelters, seine inten-
sive Beschäftigung mit Bach und Händel und seine eifrigen, unab-
lässigen Studien im strengen Satz. In seinen Reise- und Wander-
jahren ließ ihn die Leidenschaft zur Chormusik nicht los. Nament-
Chorw 165
lieh war es Kirchenmusik, die ihn bewegte. Vom a-cappella-Stil
schritt er zum begleiteten Chorwerk, von Psalm und Motette zum
Oratorium, nachdem er mit der Walpurgisnacht dem weltlichen Chor-
werk seinen Tribut entrichtet hatte. Dem „Paulus" folgte zehn
Jahre später der „Elias". Dazwischen lag eine reiche Ernte an
vierstimmigen Chorliedern. Die Fragmente eines Oratoriums „Chri-
stus" endlich waren sein letzter Gruß an ein Kunstgenre, in dem er
ganz besondere Triumphe gefeiert hatte.
Die Entstehungsgeschichte des „Paulus", opus 36, Mendels-
sohns erstem großen Oratorium, ist in aller Ausführlichkeit in dem
Briefwechsel zwischen Mendelssohn und Julius Schubring zu lesen.
Der Theologe konnte dem Musiker wertvolle Dienste leisten, da
Mendelssohn den Text nur aus Bibelworten und Choralversen zu-
sammenstellen wollte. Die Gestalt des zum Propheten und Eiferer
bekehrten Zweiflers und Ungläubigen mußte Mendelssohn anziehen.
Es fand sich die Gelegenheit, das ideale Christentum, ganz Nächsten-
liebe, Demut und Hingabe, gegen die starre Unerbittlichkeit des
Judentums und die unbefangene Sinnenlust des Heidentums zu stellen
und sein Lob zu singen.
Mendelssohns Vorbilder waren Bach und Händel. Bach hatte
in der Bibel die Texte seiner Passionen im Zusammenhang gefunden.
Mendelssohn fand eine fortlaufende Erzählung der Paulus-Geschichte
nicht vor und war genötigt, die Worte aus den verschiedensten
Büchern der Bibel aneinanderzureihen. Das alte Testament mußte
da ebenso zu Hilfe genommen werden wie das neue. So ergab es
sich ganz von selbst, daß sehr viel Betrachtendes in den Text hinein-
kommen mußte, und dies Betrachtende konnte Aufgabe sowohl des
Chores, als auch der Solostimmen werden. Der Chor nimmt in
Mendelssohns Oratorien nicht den handelnden Anteil wie bei Händel.
Er ist nicht so sehr dramatisch behandelt und personifiziert nicht
die Massen. Damit verzichtete Mendelssohn von vornherein auf
große Effektmöglichkeiten. Zum Unterschied von Bachs Passionen
schuf Mendelssohn für das Erzählende nicht die Figur des Evan-
gelisten. Er vertraut den Bericht der Ereignisse je nach der Sach-
lage bald dieser, bald jener Stimme an. Die handelnden Personen
aber bleiben in ihrem Rahmen. So können sich die Vorgänge immer-
hin in greifbarer Deutlichkeit abspielen. Den Choral aber wollte
166 Chorwerke
Mendelssohn unbedingt und nicht nur aus Gründen des musikali-
schen Kontrastes benutzen, gewissermaßen um die „Stimme des
Volkes" den Vorgängen gegenüber auszudrücken und andererseits
das symbolische Element zu verstärken.
Der „Paulus" zerfällt in zwei Teile mit insgesamt 45 Nummern.
Die Hauptmomente der Handlung liegen im ersten Teil, in der Be-
kehrung des Saulus zum Paulus. Schumann rühmte die tiefreligiöse
Gesinnung in der Musik Mendelssohns. In der Tat ist hier die Ton-
sprache Ausdruck einer reinen Frömmigkeit geworden, die aus inner-
stem Drang kam, die zwar verschieden ist von der Inbrunst Bachs,
aber darum nicht weniger echt wirkt. Sie ist nicht so ehern und
markig wie die des Thomaskantors; aber trotzdem hat sie eine un-
geheure Vielseitigkeit, vom Fanatismus bis zur Hingabe, vom Haß
bis zur Opferwilligkeit, vom unheilvollen Drohen bis zur hinreißen-
den Anmut und Lieblichkeit, vom nüchternen Rationalismus bis zur
verträumten Romantik. Entscheidend für den ungeheuren Erfolg
des Werkes, das in den ersten zwei Jahren nach der Drucklegung
schon in weit über fünfzig Städten aufgeführt wurde, war aber
wohl der populäre Charakter der Musik, die heute noch, bald hundert
Jahre nach der Entstehung, ebenso frisch und unverblichen ist wie
am ersten Tage.
Die Anschaulichkeit der Vorgänge gestattet eine klare Gliede-
rung der Handlung. Der Einleitungschor „Herr, der du bist der
Gott" und der Choral „Allein Gott in der Höh' sei Ehr" spiegeln
die Stimmung in der Gemeinde der ersten Christen wieder. Hieran
schließt sich die Tragödie des Stephanus, der von den Juden der
Gotteslästerung angeklagt und als Märtyrer seines Glaubens ge-
steinigt wird. Vergebens mahnt eine Erinnerung an vergangenes
Unrecht, „Jerusalem, die du tötest die Propheten", das Volk zur Be-
sinnung. „Steinigt ihn" ruft die tolle Masse. Ein Choral „Dir, Herr,
dir will ich mich ergeben" klingt nach. Ein Jüngling, Saulus, aber
ist zufrieden mit diesem Werk. Nach einer Betrachtung des Chores:
„Siehe, wir preisen selig", tritt Saulus selbst in den Kreis der Han-
delnden. Er eifert gegen die Christen: Haß sprüht aus seiner Arie
„Vertilge sie, Herr Zebaoth". Er zieht gen Damaskus. „Doch der
Herr vergißt die Seinen nicht" tröstet eine Sopranstimme die Be-
drohten. Auf dem Wege wird Saulus zum Paulus bekehrt. Der
Chorwerke 167
Herr erscheint ihm, und der Ungläubige wird sehend. „Mache dich
auf! werde Licht", jubelt der Chor und „Wachet auf!- ruft uns die
Stimme", erschallt es durch die Welt. Paulus ist erblindet. Er bereut
seine Sünden : „Gott, sei mir gnädig." Gott befiehlt seinem Jünger Ana-
nias, den Paulus zu heilen. Überströmend dankt Paulus dem Allmäch-
tigen, und der Chor stimmt in den Hymnus ein. Ananias gibt dem
Schwergeprüften das Augenlicht wieder. Das Symbol erfüllt sich :
Paulus wird sehend, und läßt sich taufen und will sein Leben Gott
widmen. „O welch eine Tiefe des Reichtums, der Weisheit und Erkennt-
nis Gottes" singt der Chor. Das Werk der Bekehrung ist vollendet.
Der dramatisch interessierende Inhalt des Oratoriums ist beim
Abschluß des ersten Teils nahezu erfüllt. Der zweite Teil zeigt uns
den Christen Paulus, den Apostel, der sein Schicksal auf sich ge-
nommen hat und vor der Menschheit Zeugnis ablegt von der Größe
Christi. „Der Erdkreis ist nun des Herrn" jubeln jetzt die Christen.
Paulus soll zusammen mit Barnabas hinausziehen, um den Glauben
weiter zu verbreiten. „Wie lieblich sind die Boten", singt der Chor
in andächtiger Betrachtung. Alles ist Freude und Hoffnung. Aber
der Widerspruch unter den Juden regt sich; denn sie sehen, daß das
Volk den Aposteln zuläuft. „Ist das nicht, der zu Jerusalem ver-
störte, alle, die diesen Namen anrufen?" fragen sie. Nodh wird
das herannahende Ungewitter verzögert durch den Choral „O Jesu
Christi, wahres Licht". Paulus will den Heiden das Wort Gottes
predigen, wenn es die Juden nicht hören wollen, und zum Zeichen
seiner Stärke tut er ein Wunder. , „Die Götter sind den Menschen
gleich geworden", ruft der Chor der Masse. Und sie beten Paulus
und Barnabas an : „Seid uns gnädig, hohe Götter". Paulus ist
Verzweifelt. Er zerstört ihren Wahn und ermahnt sie: „Wisset ihr
nicht, daß ihr Gottes Tempel seid?" Das erregt jedoch den Zorn
der Heiden und Juden. „Hier ist des Herren Tempel", weisen sie
ihn zurecht und fordern zur Vernichtung des Mannes auf, der dem
Gesetz widerspricht. „Steiniget ihn", schrillt es jetzt Paulus ent-
gegen. Doch die himmlische Macht beschützt ihn, sein Werk ist
noch nicht vollendet. „Sei getreu bis in den Tod", mahnt eine
Stimme. Er weiß, daß Not und Bedrängnis seiner harren; aber er
folgt dem Wort Gottes und nimmt Abschied von seiner Gemeinde,
um nach Jerusalem zu fahren. „Schone doch deiner selbst!", bitten
168 Chorwerke
sie ihn. Doch die höhere Fügung will es. In einem Hymnus an
Gott klingt der zweite Teil aus. Das Werk des Paulus geht seiner
Erfüllung entgegen.
Was an dramatischer Schlagkraft und Wirkung in der Hand-
lung enthalten ist, wird zum Teil durch die Betrachtungen wieder
paralysiert. Darin lag eine große Gefahr für den Komponisten —
die der Eintönigkeit und Langeweile. Mendelssohn hat sie glänzend
vermieden. Sein wandlungsfähiger, innerlich reicher Stil ist stets
interessant. Unerschöpflich quillt die Melodik, voller Charakteristik
und Schönheit, die Kraft der Polyphonie gestattet ihm prachtvolle
organisch wirkende Steigerungen und die Vermählung zwischen den
Singstimmen und den Instrumenten war die denkbar innigste. Seine
polyphonen, fugierten Sätze haben nichts Steifes oder Kantorenhaftes.
Es ist immer Leben in den Formen, die eben nichts anderes als Aus-
druck eines außerordentlich tiefen Inhalts sind. Mendelssohn ist
nicht so gewaltig wie Händel, nicht so tiefsinnig wie Bach. Aber er ist
ein Eigener durch und durch. Sein Verdienst ist es, das Oratorium
aus den Händen der Schulmeister-Komponisten in eine reinere, höhere
Sphäre gerettet zu haben. Er hat da einen neuen Weg einge-
schlagen, auf dem Spätere, bis zu Brahms, erfolgreich weitergegangen
sind. Mendelssohns Musik erfaßt nun nicht nur das Äußerliche der
Bibelworte; sie schöpft vielmehr auch den ethischen Gehalt daraus.
Sie hat alle Eigenschaften, das Dramatische, das Erzählende, das
Reflektierende und das Unmittelbare.
Die Ouvertüre deutet den Gang der Handlung an. Mit dem
Choral „Wachet auf! ruft uns die Stimme" beginnen Klarinetten,
Fagotte und tiefe Streicher; die anderen Instrumente gesellen sich
dazu. Figurationen regen sich. Auf dem Dominantdreiklang bleibt
das Spiel hängen, und nun hebt in a-moll, fugiert der Hauptteil an.
Auf Paulus' Weckruf folgt ein Kämpfen und Irren. Die Streicher
enthüllen das feine Tongewebe. Die Holzbläser kommen erst im
weiteren Verlauf mit der Choralmelodie auf. Das ganze Orchester
arbeitet an der Fuge. Endlich lenkt das Spiel nach A-dur, und
der Choral tritt seine Herrschaft an. Paulus triumphiert im Glauben.
Mit einem markigen Motiv von punktiertem Rhythmus beginnt
die erste Nummer, und pompös setzt der Chor ein: „Herr! der du
bist der Gott", zunächst homophon, dann aber namentlich im Mittel-
Chorwerke 169
teil und zum Schluß polyphon gesteigert. Ein Choral „Allein Gott
in der Höh' sei Ehr'" verstärkt die Stimmung des frohen Glaubens
ohne Arg. Ein Rezitativ erzählt von Stephanus. Zwei Bässe stimmen
erregt das „Wir haben ihn gehört" an. Ein kurzes Rezitativ reißt
die Musik ins Dramatische, und nun stürmt der Chor „Dieser Mensch
hört nicht auf" mit ungeheurer Wucht daher. Alle Hilfsmittel der
polyphonen Technik sind in Anspruch genommen. Realistisch gel-
lende Ausrufe schildern das Toben der Menge. Ein grandioses
Rezitativ folgt: Stephanus' Verteidigungsrede, die zu einer mäch-
tigen Anklage wird. Hier liegt alles in der packenden Deklamation
der Singstimme. Der Chor antwortet: „Weg mit dem", zuerst piano,
wie staunend über die beispiellöse Kühnheit und Todesverachtung
des Christen, dann aber immer erregter aufbäumend bis zum heftigen
Wutschrei: „Der soll sterben!" Ein seelenvolles Rezitativ leitet zu
der Sopran-Arie „Jerusalem" — eines der lyrischen Prachtstücke der
Partitur. Eine weiche, innige Melodie, die sich leuchtend von dem
zartgetönten Grund der gestoßenen Triolen des Orchesters abhebt.
Doch der prophetischen, traumhaften Vision folgt auf dem Fuße die
schrille bestialische Leidenschaft der Masse. Mit heftigem Klopf-
rhythmus setzt der Chor ein: „Steiniget ihn". Da zucken Oktaven-
und Quintfälle gespenstig auf, und immer wilder peitscht der Rhyth-
mus die Geister an. Nach einem kurzen Rezitativ erhebt der Chor
mit einem Choral in f-moll „Dir, Herr, dir will ich mich ergeben"
seine bittere Klage. In dem folgenden Rezitativ fällt zum erstenmal
der Name Saulus. Doch noch herrscht Trauer über Stephanus: Ein
wundervoller Chor in Es-dur „Siehe, wir preisen selig" drückt sie
aus. Auf einer wogenden Begleitungsfigur der Violine erhebt sich
eine herrliche Cellomelodie. Sehnsüchtig ergreifen Flöte und Klari-
nette die Septime Des, doch das Cello spendet Beruhigung. Nach-
einander setzen die Singstimmen mit dem berückend weichen Thema
ein. Zauberhaft zieht der Chor vorüber. Im Nachspiel haben die
Instrumente ihre Rollen vertauscht, und in tiefer Resignation ver-
klingt dieses Hohelied. Doch das Dramatische verlangt sein Recht;
in der h-moll-Arie des Saulus kommt es zum Durchbruch. Trotzige
Melodik, die von dem erregten Staccato der Streicher noch an-
gefeuert wird, malt hier mit großer Anschaulichkeit den Haß des
Fanatikers. Das zarte Arioso, das ganz schlicht nur von den Strei-
170 Chorwerke
ehern begleitet wird, spendet Trost. Wir nähern uns einem drama-
tischen Höhepunkt. Raschelnde Tremolos begleiten das Rezitativ:
der Herr erscheint Saulus. Ein mächtiges Crescendo, es ist, als
ob der Himmel sich öffne, und mit betäubender Helle, wie ein un-
begreifliches Wunder, erklingen leise die halb flimmernd gestoßenen,
halb getragenen Akkorde der Holzbläser. Sopran und Altstimmen
singen die Anrede Jesu an den Verfolger der Christen: „Saul, Saul!
warum verfolgst du mich?" Es ist vielfach darüber gestritten wor-
den, ob Mendelssohn hiermit das ästhetisch Richtige getroffen habe.
Schumann hat darauf die beste Antwort gegeben: „Ich meine, Gott
der Herr spricht in vielen Zungen, und dem Auserwählten offenbart
er ja seinen Willen durch Engelchöre. Ich wüßte nicht, wie die
Schönheit beleidigen könnte, wo die Wahrheit nicht zu erreichen
ist." Die Hauptsache, das Entscheidende ist doch immer der Ein-
druck, und das ist hier der eines Wunders, eines unbegreiflichen
Mysteriums. Nun kann der Jubelruf erklingen ; der Chor „Mache dich
auf, werde Licht" erschallt im hellsten D-dur. Freude pulst in den
Rhythmen. Das volle Orchester spendet all seinen Qlanz. Und
doch bringt der Choral „Wachet auf! ruft uns die Stimme" noch
eine Steigerung. Lapidar, wuchtig erdröhnt die einfache Melodie,
von den schmetternden Fanfaren der Blechbläser unterbrochen. Wie
ganz anders klingt nun der Gesang des zum Paulus gewordenen
Saulus, die Arie „Gott sei mir gnädig". Wieder ist die Tonart
h-moll. Aber welcher Weichheit und Ergebung ist diese Tonart
jetzt fähig, die vorher sprühendem Haß gedient hat. Nur die Oboe
ist imstande, die tiefe Zerknirschtheit des Sünders zu malen. In
dem folgenden Rezitativ erscheint wieder der Herr; diesmal ver-
mittelt eine Sopranstimme seine Worte; aber das Kolorit der Holz-
bläser muß das Geheimnisvolle andeuten. Paulus und der Chor
vereinigen sich zu einem Dankhymnus: „Ich danke dir, Herr, mein
Gott", dessen musikalische Gewandung ohne sonderlichen Schmuck
ist. Die Instrumente unterstützen die Polyphonie der Singstimmen.
Ein stürmisches Allegro des Orchesters schildert die Heilung des
Paulus, und mit dem gewaltigen Chor „O welch eine Tiefe" schließt
der erste Teil. Da sind alle Satzkünste aufgeboten, um die Wir-
kung ins Monumentale zu erheben. Die meisterhafte Polyphonie hat
ihren besonderen Zauber durch die melodische Kraft, die in ihr lebt.
Chorwerke 171
Mit vollem Atem setzt der zweite Teil des Oratoriums ein. Ein
breit ausladender Chor „Der Erdkreis ist nun des Herrn" bietet die
polyphonen Künste auf, um einen Sieg" zu feiern. Die Fuge ist das
geeignete Ausdrucksmittel. Sie unterstreicht mit besonderem Nach-
druck das Gebieterische im Charakter der Musik. Der 25 jährige
Komponist erreicht hier als Techniker seine Vorbilder. Das folgende
Duett der beiden Männerstimmen konnte nur durch die Nachahmung
wirken. Es ist eine feierliche Vorbereitung für den Chor „Wie lieb-
lich sind die Boten", eine Perle des Werkes. Auch hier ist die Poly-
phonie Ausdrucksmittel; aber sie ist ein poetisches Mittel von uner-
hörter Eindringlichkeit. Das Liebliche ist hier verkörpert; schon
in dem ersten Aufschwung der Melodie über dem tiefen G der Bässe
offenbart es sich. Kein Wunder, daß wahre Volkstümlichkeit Men-
delssohns Lohn und Dank war. Schwächer ist das sich nach kurzem
Rezitativ anschließende Arioso des Soprans „Laßt uns singen von der
Gnade des Herrn", ein konventionelles Stück. Erst mit dem leiden-
schaftlich erregten Chor: „Ist das nicht, der zu Jerusalem verstörte",
wird das Profil der Musik wieder schärfer. Hier sind auch homo-
phone massige Ausrufe des Chors ein Ausdrucksmittel überschäu-
mender Kraft, das sich von der Polyphonie wirksam abhebt. Ein
Choral folgt, schwermütig dunkel. Die Instrumente deuten ihn
figurativ aus, schmücken ihn mit schmerzlich-schönen Ornamenten.
Der Vorwurf, den man hieraus gegen Mendelssohn erhob, richtet
sich von selbst durch die Wirkung. Wieder vereinigen sich die beiden
Männerstimmen zu einem Duett, mehr durch die Notwendigkeit der
Handlung als durch innere Triebkraft bedingt. Der Chor der Heiden
„Die Götter sind den Menschen gleich geworden" besticht durch die
Frische der Rhythmik; die sausenden Figuren der Streicher malen
die Erregung des Volkes vortrefflich. Alle Künste seiner Instrumen-
tierung hat Mendelssohn aber in dem nächsten Heidenchor: „Seid
uns gnädig, hohe Götter" angewandt. Das leuchtet und schillert
in berückenden Farben, eine Welt, die dem Kultus der Schönheit
und Kraft geweiht ist, enthüllt sich hier. Doch das folgende wuchtige
Rezitativ und die Arie „Wisset ihr nicht" des Paulus treiben den
Gegensatz hervor: das christliche asketische Ideal voller Genügsam-
keit und Geistigkeit. Der später hinzutretende Chor verstärkt noch
diesen Eindruck. Es wird Zeit, daß das dramatische Element Ab-
172 Chorwerke
wechslung schafft. In dem Chor „Hier ist des Herrn Tempel" setzt
es mit Macht ein und steigert sich zu wilden Ausbrüchen der ent-
fesselten Leidenschaft. Die Cavatine des Tenors muß die Gemüter
besänftigen : „Sei getreu bis in den Tod" ist ein Schmuckstück
geworden, das man gern überall zur Schau trägt. Die Inspiration
erschlafft ein wenig. Der Chor „Schone doch deiner selbst" gleitet
vorüber. Das war die notwendige Atempause. Der Chor „Sehet,
welch eine Liebe" ist jedoch wieder ganz im großen Stil gehalten,
eine Vereinigung von lyrischer Poesie und strengem Satz, die ewig
bewundernswert bleibt. Und der Weg ist nach einem kurzen Rezi-
tativ frei für den Schlußchor. Die Krönung des Werkes ist eine
würdige. Alle Elemente Mendelssohnscher Kunst sind zu einem
Ganzen von hinreißender Gewalt und Größe vereinigt. So klingt
der „Paulus" aus.
Nach dem „Paulus" verließ Mendelssohn trotz dem großen Er-
folg des Werkes das Gebiet des Oratoriums für mehrere Jahre. Ein-
mal tauchte der Gedanke an ein symbolisches Oratorium Petrus in
ihm auf, wurde aber bald wieder vergessen. Erst im Dezember 1845
schickte er seinen ersten Textentwurf zum „Elias", opus 70, an den
Jugendfreund Schubring, um dessen bibelfesten Rat und Hilfe zu
erbitten. Das Schwierige war, die allgemein gültigen, allgemein ein-
dringlichen Betrachtungen und Worte zu finden. Eine richtung-
gebende Tendenz mußte gesucht werden; denn mit einem Bibel-
potpourri konnte Mendelssohn nicht gedient sein. Auf der anderen
Seite wollte er das Opernhafte vermeiden, das durch die Einführung
allzuvieler handelnder Personen eintritt. Aber er wollte auch nicht in
das nur Erzählende fallen. Es war nicht leicht, eine ausgedehnte
Handlung um die Episode Elias zu erfinden, da das Historische immer-
hin gewahrt bleiben mußte und das Alte Testament alleinige Quelle
sein sollte. Hiermit sind nun auch schon die tatsächlichen Schwächen
des Elias -Textes angedeutet; denn es war eben unmöglich, im Elias
die Klippen ganz zu vermeiden. Gegen den Paulus steht der Text
zurück. Mendelssohn war schon gezwungen, an den Bibelworten
selbst zu ändern und trotzdem ließ sich die völlige Einheitlichkeit
und fortschreitende Entwicklung der Handlung nicht erzielen. Der
Elias besteht aus einer Reihe sinnfällig wirkender Szenen. Diese
Szenen selbst sind zum Teil allerdings von einer dramatischen Wucht
Chorwerke 173
und Spannkraft, die im Paulus erst angedeutet werden konnten. Das
Elementare der Vorgänge und Charakteristische des alten Testaments,
die wilden Leidenschaften, das erschütternde Schicksal eines reich-
begabten, von seelischem Zwiespalt zerrissenen Volkes, das alles
tränkt die einzelnen Szenen mit lohender Kraft, mit Überschwang
und unbändigem Temperament. Die packende Bildkraft der Situ-
ationen brachte den Tondichter endlich in die ersehnte Lage, mit
Händeischen Pinselstrichen malen zu dürfen. Was will da schließ-
lich ein vorübergehendes Nachlassen in der dramatischen Spannung
bedeuten, wenn das einzelne bis an den Rand mit blutvollem Leben
erfüllt ist? Die Phantasie Mendelssohn fand in den Worten reiche
Nahrung. Hier konnte er geradezu visionär gestalten, da er mit
den Mitteln nicht zu sparen brauchte und als ein Meister ihr selbst-
bewußter Herr war.
Das Werk steht auf einer stolzen Höhe. Was die Worte noch
von der Vollkommenheit trennte, das überbrückte sieghaft die Musik.
Mendelssohn war in den Jahren zwischen dem Paulus und Elias ein
anderer Größerer, Reiferer geworden. Das Technische war ihm in
jeder Beziehung ein Spiel geworden. Die Synthese der Formen
machte ihm keine Mühe. Mit leichter Hand knüpfte er das polyphone
Gewebe. Die Gipfel der Handlung befruchteten seine musikalische
Empfindung überreich, und von hier aus ergießt sie sich strahlend
nach allen Seiten. Tonmalerische Effekte sind willkommene Aus-
drucksmittel; denn nur mit einer Palette, auf der alle Farben ver-
treten waren, konnte er dem grandiosen Stoff gerecht werden. Die
Melodik ist von wundervoller Reife und Süße, die Harmonik von
Pracht und Fülle und die Rhythmik charakteristisch, prägnant,
schlagend. Die Behandlung der Chormassen erinnert an Händeis
ewige lapidare Ausdruckskraft. In den Sologesängen aber steht
Mendelssohn unserem Empfinden fast näher als sein großes Vorbild.
Kein Wunder, daß der Elias in der Gunst der Musikfreunde dem
Paulus nicht nachsteht. Perle ist an Perle gereiht zu einer Kette,
die immer ihren Glanz und Wert behalten wird, solange das Echte
überhaupt noch gewertet wird.
Düster und mit alttestamentarischer Kraft setzt das Werk ein.
Ein d-moll-Dreiklang der Bläser, und Elias erhebt seine Stimme zu
der Verkündigung: „Es soll diese Jahre weder Tau noch Regen
174 Chorwerke
kommen, ich sage es denn". Wir sind mitten in den grausigen Leiden
des „auserwählten Volkes". Die Ouvertüre schildert es greifbar
anschaulich. Nur die Fuge konnte das rechte Bild geben. Quälend
wälzt sich das Thema fort, richtet sich verzweifelnd auf und fällt
wieder zusammen. Bittere Klagen und Schmerzensausbrüche drängen
sich. Immer gewaltiger türmt es sich empor, bis der Chor auf-
schreit: „Hilf, Herr! willst du uns denn gar vertilgen?" Müde
schleichen die Stimmen dahin. Wie erschöpft lösen sie sich in ihren
mit Chromatik belasteten Phrasen ab. Schließlich können sie zu den
langgehaltenen Akkorden des Orchesters nur noch rezitativisch
stammeln. Ein Duett zweier Soprane spinnt das Flehen weiter aus.
Der Chor, der das Volk verkörpert, beteiligt sich daran. Obadjah
tröstet die Darbenden. In einem Rezitativ fordert er sie auf, sich
zum Herrn zu bekehren. Die folgende Tenor-Arie: „So ihr mich
von ganzem Herzen suchet" ist endlich ein lyrischer Ruhepunkt.
Weich gleitet die Melodie dahin, von anschmiegsamen Achtelfiguren
der Streicher begleitet. Doch das Volk ist damit noch nicht aus
seiner entsetzlichen Verzweiflung herausgerissen. Wieder tritt Moll
ein. Leidenschaftlich, hart begehren die Stimmen auf: „Aber der
Herr sieht es nicht, er spottet unser". Motivische Beziehungen
zur Einleitung deuten auf den Fluch des Elias. Grelle Harmonien
malen die Zerrissenheit der Seelen; erst der zweite Teil des Chores
lenkt in ruhigere Bahnen. Die melodische Linie wird runder und
weicher. Wie ein verklärender Hoffnungsschimmer leuchtet die helle
Farbe in C-dur auf. Dem Jammer des ganzen Volkes soll jetzt das
Elend des Einzelnen gegenübergestellt werden, um noch deutlicher
die Not Israels zu schildern. Das war eine Aufgabe für die Humani-
tät Mendelssohns. Sein Mitleid mit den Enterbten des Glücks klingt
in seinen Tönen wieder. Er findet ergreifende melodische Ausr
drücke, um uns zu überzeugen und zu rühren. Und doch ist dies
alles mehr empfunden und gesehen als erlebt. Mendelssohn erhob
das finstere, reale, abgründige Elend in die Sphäre der Idealität,
nicht nur aus selbstverständlichen künstlerisch-musikalischen Gründen,
sondern auch weil er es psychisch gar nicht anders konnte. Hier liegt
eine Kluft zwischen dem Erlebnis und seiner Dichtung, die nur durch
die Phantasie überbrückt werden konnte. Es ist wohl unmöglich,
den Schmerz der Entbehrung zu schildern, wenn man ihren bohren-
Chorwerke 175
den Stachel selbst nie gefühlt hat. Elias folgt der Weisung Gottes,
sich am Bache Crith zu verbergen. Ein Doppel-Quartett knüpft
hieran seine Betrachtungen: „Denn er hat seinen Engeln befohlen
über dir". Nur wenige Instrumente gesellen sich dazu. Es ist
herrlichste Achtstimmigkeit, die die Satzkunst Mendelssohns hier
geschaffen hat. Mit sicherer Hand sind die kontrapunktischen Linien
gezogen. Alles klingt. Ein Rezitativ knüpft unmittelbar an den
Chor an : Elias soll den Bach verlassen und nach Zarpath ziehen, wo
ihn eine Witwe so lange versorgen wird, bis der Herr ihn ruft. Eine
packende Szene entrollt sich. In ergreifenden Tönen klagt die Witwe
dem Propheten ihr bitteres Los und fleht ihn an, den dahingesiechten
Sohn zu retten. Die Oboe unterstützt die leidenschaftlich erregte
Klage der Armen. Von e-moll biegt das Spiel nach Dur. Elias bittet
Gott um Leben für das Kind; weich dehnt sich die Melodie. Doch
es scheint vergeblich zu sein. Tremolos der Streicher malen die
Angst, das bange Zittern. Die Gnade erfüllt sich: Das Kind
lebt wieder. In ein Duett klingt die Szene aus. Der Chor aber
schließt sich mit seiner Betrachtung an: „Wohl dem, der den Herrn
fürchtet". Sinnfällige Melodik, Klarheit der Polyphonie und wir-
kungsvolle Steigerungen zeichnen ihn aus. Der Episode folgt die
breit ausladende Gewalt der Szenen des Kampfes zwischen Elias
und den Baalspriestern und die Krönung seines unerschütterlichen
Glaubens. Der Prophet will sich dem König und dem Volk zeigen;
denn nun soll die Zeit der Dürre, die Zeit der furchtbaren Strafe
und Prüfung ein Ende haben. Zackige punktierte Rhythmen schil-
dern die Erregung des Volkes gegen Elias, „der Israel verwirrte".
Auf dem Berg Carmel soll sich entscheiden, ob Gott der Herr ist.
Elias fordert die Baalspriester zum Wettstreit heraus; jeder soll seinen
Gott anrufen, er Jehova, sie Baal, und welcher Gott zuerst das Feuer-
wunder auf die errichteten Opferstöße schicke, der solle der Herr
sein. Stürmisch aufbrausende Rezitative kennzeichnen die fiebernde
Glut, die alle beseelt. Die Baalspriester rufen zuerst ihren Gott an:
„Baal, erhöre uns!" Erst feierlich und gemessen mit eindringlichen
Intervallschritten, dann lebhafter und drängender. Die verlangend
sich aufrichtende melodische Phrase kennzeichnet das. Elias ver-
höhnt das Erfolglose ihrer Bitten und feuert sie an, stärker zu rufen.
Wild richtet sich ihr Verlangen in dem nächsten Chor „Baal, erhöre
176 Chorwerke
uns, wache auf!" empor. Das Motiv springt jäh auf den Stufen des
Dreiklangs in die Höhe. Die Bläser stammeln, das ganze Orchester
fällt ein. Wieder höhnt Elias, und noch gewaltiger schlägt der
folgende Chor der Baalspriester „Baal! Gib uns Antwort!''' an die
verschlossene Pforte ihres Himmels. Zuckende Schreie, mächtige
Donner des Orchesters. Aber alles bleibt still; kein Wunder ge-
schieht. Da erhebt Elias in inbrünstigem Gebet seine Stimme: „Herr
Gott Abrahams". Aus einer anderen Welt kommen diese von felsen-
fester Zuversicht getragenen Worte. Feierlich strömt die Melodie aus.
Wie eine Orgel klingt das Orchester. Ein betrachtender Chor unter-
bricht die Entwicklung des Kampfes. „Wirf dein Anliegen auf den
Herrn", erklingt es a cappella. Nur die Fermaten werden von den
Instrumenten unterstützt, während sich die Violine wie suchend auf-
richtet. Und das Feuerwunder ist der Lohn. Jubelnd braust die
Freude durch den Chor: „Das Feuer fiel herab". Das Orchester
flimmert. Hingerissen malt der Chor langatmig die Seligkeit, den
Taumel, der das Volk schon jetzt erfaßt. Doch der Aufwallung folgt
die Besinnung und Erkenntnis: „Der Herr ist Gott". Ein Gebet ringt
sich von allen Lippen. Der unerbittliche Rächer meldet sich in Elias ;
seiner Aufforderung, die Baalspriester zu fangen und abzuschlachten,
kommt die Menge willig nach. Wütender Fanatismus rollt in den
wuchtigen Tremolos der Elias-Arie: „Ist nicht des Herrn Wort wie
ein Feuer". Prägnante Intervallschritte betonen das Außergewöhn-
liche. Wild wie es begonnen, endigt das Stück. Das folgende Arioso
der Altstimme „Weh ihnen, daß sie von mir weichen", nur von den
Streichern zart umspielt, ist in Innigkeit und Hingabe getaucht, ein
blasses Pastell in dem glühenden Farbenmeer seiner Umgebung. Die
nächste Nummer, Rezitativ und Chor, soll nun endlich die Rettung
des Volkes bringen. Mendelssohn bietet alle Künste des Satzes, alle
Kraft der Empfindung und den Reichtum seiner Inspiration auf, um
der großen Aufgabe gerecht zu werden. Ein packendes Gemälde
im Händeischen Geist war das Ergebnis. Rezitative wechseln mit
kurzen Chorsätzen. Endlich erhört Gott das Gebet des Elias und
sendet den Regen. „Danket dem Herrn, denn er ist freundlich",
jubelt der Chor auf. Elias wiederholt den Dank noch einmal ernst
und feierlich, und dann strömen alle Gefühle der vom Fluch Er-
lösten über in dem gewaltigen Chor „Dank sei dir, Gott", der wie
Chorwerke 177
aus Quadern errichtet ist und in machtvollem Aufschwung den ersten
Teil abschließt.
Die dramatische Entwicklung des „Elias" hat hiermit eigentlich
ihren Höhepunkt erreicht. Das Epische setzt ein. Die Handlung
geht nicht mehr vorwärts; sie zerfällt in Episoden, die an sich reiz-
voll und bedeutend sind, die aber keine einheitliche dramatische
Kurve im Ganzen mehr zeigen. Das Volk hat die Prüfung bereits
wieder vergessen. „Höre, Israel! Höre des Herrn Stimme", mahnt
eine Alt-Arie. Trübes h-moll, wehmütige Terzen in den Holzbläsern
vertiefen noch den Eindruck der schmelzenden Melodik. Ein kurzes
Rezitativ leitet zum zweiten Teil der Arie in H-dur; die Stimmung hat
sich aufgehellt, der Rhythmus ist lebendiger geworden. Der Zustand
freudiger Gewißheit wird mit energischen Strichen gezeichnet.
Monumental, großzügig fällt der Chor ein: „Fürchte dich nicht,
spricht unser Gott". Das ist musikalischer Optimismus, frohe Gläu-
bigkeit. Der Mittelteil erst nimmt die Kunstmittel der Imitation in
erhöhtem Maß zur Hilfe, um die Stimmung noch intensiver auszu-
drücken. Die Vertreibung des Elias beginnt. In einem glänzend
durchgeführten Rezitativ fordert der Prophet Rechenschaft vom
König. Doch die Königin hetzt das Volk gegen den einstigen Retter
auf. Mit einem mächtigen Creszendo wird die wachsende Erregung
geschildert, und brutal bricht der Chor in den Ruf aus: „Er muß
sterben!" Ungeheuer wirkungsvoll ist diese Mischung aus den
wütenden Ausrufen des Chors und den hetzenden Rezitativen der
Königin gestaltet. Die Volkswut tobt sich aus: „Wehe ihm! er muß
sterben!" — a-moll, brodelnde Tremolos, heftige Sforzatos, sausende
Figuren, alle Instrumente im Dienst der Charakterisierung dieses
Ereignisses. Elias geht in die Wüste, um zu erwarten, welche neuen
Prüfungen ihm der Herr auferlegen will. Wir stehen vor einem
lyrischen Höhepunkt des Werkes, der großen Arie „Es ist genug!",
einem Seitenstück zu der Paulus-Arie „Gott, sei mir gnädig". Die
Stimmung reifster Resignation liegt darüber ausgebreitet, wenn das
Solocello mit der Melodie beginnt und die Singstimme schließlich zu
der stockenden, abgerissenen Begleitung der Streichinstrumente ihre
Klage ertönen läßt. Der schnellere Mittelteil, der sich entschlossen
aufrafft, zeigt motivische Verwandtschaft mit dem Anfang. Zum
Schluß kehrt die schwermütige Klage wieder und verklingt zitternd.
D n li m s , Mendelssohn 1 2
178 Chorwerke
Diesem Höhepunkt folgt sogleich ein zweiter, das Engel-Terzett:
„Hebe deine Augen auf." Hier feiert die Mendelssohnsche volkstüm-
liche Innigkeit einen ihrer schönsten Triumphe, der wenig Seitenstücke
kennt. Ein breit angelegter Chor „Siehe, der Hüter Israels schläft
noch schlummert nicht", stellt den Anschluß an die große Linie
wieder her. Der Meister der Polyphonie lebt darin. Mächtig loht die
Leidenschaft in dem folgenden Rezitativ auf; Elias hadert mit seinem
Schicksal. „Sei stille dem Herrn", tröstet eine Altstimme schlicht
und eindringlich. Der Chor spinnt die Stimmung weiter: „Wer bis
an das Ende beharrt, der wird selig." Die Lyrik hat zum Stillstand
geführt. Doch nun beginnt mit der Erscheinung des Herrn ein
neuer Abschnitt und neuer Aufschwung. Mendelssohn läßt den Chor
erzählen: „Der Herr ging vorüber." Alle elementaren Leidenschaften
sind wach. Eine merkwürdige Unruhe bebt in den Instrumenten.
Die Singstimmen irren wie suchend. Geheimnisvoll hingehauchte
Andeutungen wechseln mit schrillen Ausrufen. Immer heller wird
es, immer überwältigender steigern sich die Harmonien, bis mit dem
Quartett und Chor: „Heilig ist Gott der Herr!" die Erscheinung
Gottes bildhaft dargestellt wird. Es ist klares, wolkenloses C-dur —
die Feierlichkeit eines übernatürlichen Ereignisses. Elias' Himmel-
fahrt und Verklärung kann beginnen. Sie bildet den Abschluß des
Werkes. Nach der wahrhaft erhabenen Sprache des „Heilig" war es
schwer, hierfür den rechten Ausdruck zu finden. Was das Gedank-
liche nicht geben konnte, das mußte der Klang ersetzen. Das Arioso
des Elias „ja, es sollen wohl Berge weichen", ist von schwächerem
Eindruck. Erst der effektvolle Aufbau des Chors „Und der Prophet
Elias brach hervor", worin die Himmelfahrt des Propheten geschil-
dert wird, reißt durch die Gewalt des Ausdrucks und die Wucht
der instrumentalen und vokalen Mittel hin. Danach verblassen die
Farben der Tenor-Arie „Dann werden die Gerechten leuchten". Mit
dem Chor „Aber einer erwacht vor Mitternacht", leuchtet tiefsinnig
das Symbolische auf. Das bewegt sich in leise aufdämmernden An-
deutungen und großzügigen, gewaltigen Offenbarungen. Mendels-
sohns Tonsprache ist eins mit seinem Wollen. Sie greift in das Reich
jenseits der Dinge und erweckt Schauer der Ehrfurcht vor dem
Unbegreiflichen. In dem Quartett „Wohlan, alle, die ihr durstig
seid", und dem Schlußchor ,. Alsdann wird euer Licht", bricht das
Char werke 179
Menschliche wieder durch. Mit sicherer Hand sind die Stimmen zu
einem Ganzen von ergreifender Macht gefügt, die stolze, pomphafte
Vollendung eines königlich gedachten und geformten Wunderbaus,
der für alle Zeiten fest gegründet ist.
Seinen beiden großen Oratorien gedachte Mendelssohn noch
ein drittes anzureihen, den „Christus". In seinem letzten Lebens-
jahr schrieb er die ersten Rizitative und Chöre des Werkes
nieder. Eine neue Note zeigt sich hierin nicht, wohl aber die
alte in schmerzlich-schöner Weise vertieft und geläutert. Doch der
Tod zwang den Meister, seinen grandiosen Plan als Torso zu hinter-
lassen.
Von Jugend auf neigte Mendelssohn zur Kirchenmusik. Die
Poesie der Bibelworte übte eine eigentümliche, nie nachlassende An-
ziehungskraft auf ihn aus. Inmitten des ausgelassenen Wiener Lebens
und auf seiner an bunten Erlebnissen so reichen Italienreise las er
Luthers geistliche Lieder und schuf seine ersten größeren Kirchen-
musikwerke. Den eigenen Stil hatte er bald gefunden. Die Vorschule
bei Zelter hatte ihm das Handwerkliche, die kontrapunktische Stimm-
führung und die Reinheit des Satzes gegeben. Es war also nur seine
Aufgabe, das Erlernte zu durchgeistigen. Er hat nicht die unergründ-
liche Tiefe Bachs und nicht die sinnlich strahlende Größe Händeis.
Er hat seine eigene Welt: die der Innigkeit und Gefühlswärme, die sich
zwar an die beiden Großmeister anlehnt, aber in ihrem Wesen durch-
aus selbständig und frei ist. Der Zug Mendelssohns zur Volkstüm-
lichkeit ist auch in seiner Kirchenmusik vorhanden. Dies namentlich
gab Heinrich Bellermann den Anlaß zu einem ihm oft nachgeplapper-
ten Vorwurf speziell gegen Mendelssohns Vokalfugen, in dem er
sich in ergötzlicher Weise mit ganz verknöcherten schulmeisterlichen
Begriffen gegen Mendelssohns Textbehandlung wendet. Ist die Be-
weisführung schon an und für sich höchst anfechtbar, so wirkt sie
geradezu grotesk bei Bellermann, der gewiß ein ausgezeichneter
Kontrapunktiker war, dem aber jedes nähere Verhältnis zur Musik
fehlte, jede Phantasie, jede Leidenschaft und Schwungkraft, da für
ihn ja mit dem Ende der a-cappella-Zeit die Musik aufhörte und
der Verfall durch die Instrumentalmusik Haydns, Mozarts und Beet-
hovens begann. Wir dürfen solche Kleinlichkeit nicht ganz unwider-
sprochen lassen. Sie kann zwar an Mendelssohns Größe nichts
12*
ISO Chorwerke
ändern, wohl aber kann sie die Gesichtspunkte verrücken, unter
denen die Kunst überhaupt zu betrachten ist.
Wir sahen schon, daß Mendelssohn in religiöser Beziehung dem
Dogma als solchem nicht bedingungslos gläubig hingegeben war.
Er war gefühlsmäßig Christ; seine wissenschaftlich vertiefte Bildung
hatte ihm die kindlich unbefangene Naivität in Glaubenssachen ge-
nommen. Das Gefühl zog ihn immer wieder zur Poesie des alten
und neuen Testaments. Und schließlich ist das Gefühl auch der
wichtigste Faktor in seiner geistlichen Musik. Daher die Schlagkraft
seiner Oratorienmusik, die wegen ihrer natürlichen, gemütvollen Art
sofort in den breiten Massen der Empfänglichen verwandte Saiten
zum Erklingen brachte. Die ausgesprochene Kirchenmusik Mendels-
sohns ist zwar nicht populär in dem Sinne wie die Oratorien. Aber
sie hat auch nicht durchweg die Strenge des Geistes, die man in
diesem Genre von den Großmeistern des geistlichen Stils her ge-
wohnt ist. Die Liebe zur Melodie leuchtet selbst noch aus den streng-
sten kontrapunktischen Formationen. Immer steht der melodische
Ausdruck obenan. Form und Satz sind ihm unterworfen.
Fünf Psalmen für Solostimmen, Chor und Orchester erfordern
zunächst unsere Aufmerksamkeit, die Psalmen 115, 42, 95, 114 und 98.
Mendelssohns Polyphonie ist in ihnen frei gestaltet. Er strebte ähn-
lich wie Händel nach glänzenden Wirkungen. Dramatisch aufgebaute
und zugespitzte Chorsätze wechseln mit Solo- und Ensemblenummern.
Als besonderer Effekt wird zwischendurch der reine a-cappella-Satz
angewandt. Aber trotz ihrer abwechslungsreichen Gestaltung und
ihren Stimmungsreizen sind die Psalmen Mendelssohns mehr und
mehr von der Bildfläche verschwunden. Man kann das namentlich
für den herrlichen 42. Psalm nur bedauern. Denn dieses Werk ist
ein Gipfel der modernen Kirchenmusik. Seiner übrigen großen Kir-
chenmusik mit Orchester ist es nicht viel besser ergangen, dem groß-
geformten Lauda Sion, wie der Hymne für Altstimme, Chor und Or-
chester, dem fünfstimmigen „Tu es, Petrus" wie dem poesieerfüllten,
raffaelisch-innigen Gebet „Verleih uns Frieden".
Prachtvolle Gebrauchsmusik hat Mendelssohn in seinen kleine-
ren Kirchenmusikwerken gegeben. Es gibt kaum einen neueren
Meister nach Mozart, der den Vokalsatz so wunderbar beherrscht wie
er. Alles klingt bei ihm. Da ist keine Verkennung des Gesanglichen,
Chorwerke 1S1
keine instrumental erdachte Melodik. Alles ist aus dem Geist der
Stimme heraus erfunden. Musterhaft zeigt dies die Kirchenmusik,
opus 23, für Chor, Solostimmen mit Orgelbegleitung: der kantaten-
haft angelegte Choral „Aus tiefer Not schrei ich zu dir", das mystisch
verklärte achtstimmige „Ave Maria" und der breit ausladende, meister-
haft durchgeführte Choral „Mitten wir im Leben sind". Die drei
Motetten für weibliche Stimmen mit Begleitung der Orgel, opus 39,
schrieb Mendelssohn für die Nonnen auf Trinita de Monti in Rom,
köstliche Miniaturen voll poetischer Wärme und Innigkeit. Zwei
geistliche Lieder, opus 112, können nur als Vorstudien zu Größerem
gewertet werden. Bedeutungsvoller ist der Vespergesang für Männer-
stimmen mit Begleitung von Violoncell und Baß, opus 121. Unter
die Gelegenheitswerke gehören die drei geistlichen Lieder für eine
Altstimme mit Chor und Begleitung der Orgel, ferner die Hymne für
eine Sopranstimme mit Chor und Begleitung der Orgel und das
Te Deum für Solostimmen mit Chor und Orgelbegleitung.
Die a-cappella-Kirchenmusik Mendelssohns hat sich am längsten
in der Gunst der Ausführenden erhalten. Die eindringliche charakter-
volle Melodik bewahrte sie vor dem Vergessenwerden. Hier zeigt
sich deutlich und überzeugend die hohe satztechnische Kultur des
Meisters, der mit den geringsten Mitteln zu wirken und zu ergreifen
verstand, sei es in den Psalmen 2, 43, 22 und 100, in den drei
Motetten opus 69 und den Sechs Sprüchen, opus 79. Schon der An-
bück der Partituren ist ein ästhetisches Vergnügen. Die Klarheit und
wundervolle Formung der Linien entzücken das Auge ebenso, wie
das Ohr von dem satten, farbenreichen Klang des Chorsatzes be-
zaubert wird.
Weniger umfangreich als die geistliche Musik ist in Mendels-
sohns Schaffen die weltliche Chormusik vertreten. Das sogenannte
weltliche Oratorium hatte zu seiner Zeit erst geringe Erfolge ge-
zeitigt. Die Schwierigkeiten des Textes waren hier viel bedeuten-
der als in der geistlichen Musik, wo die Bibel eine unerschöpfliche
Fundgrube für immer neue Werke ist. Mendelssohns erster Griff
war jedoch der denkbar glücklichste. Goethes Ballade „Die erste
Walpurgisnacht" verlangte geradezu nach Musik, und der junge
Mendelssohn, der sie in Italien mit frischer Leidenschaft ergriff, war
der Rechte, sie zu klingendem Leben zu erwecken. Aber erst der
182 Chorwerke
reife Meister gab ihr die Gestalt und Vollendung, die wir heute daran
bewundern. Ursprünglich gedachte Mendelssohn so etwas wie eine
Symphonie -Kantate daraus zu formen. Aber das Symphonische
schmolz schließlich in eine Ouvertüre zusammen, die das schlechte
Wetter und den Übergang zum Frühling schildern sollte. Und Men-
delssohn malte in leuchtenden Farben. Allegro non fuoco braust der
Sturm daher. Wild und unbändig wühlen die tiefen Streicher. Das
scharf rhythmisierte Hauptthema offenbart einen herben, trotzigen
Charakter. Seine prägnanten Schritte beherrschen die Ouvertüre.
In immer neuer Form wird es ausgebeutet, in immer neuer Fassung
zeigt es sich. Die Elemente sind entfesselt. Ein großartiges Natur-
bild entrollt sich vor uns. Die Kraft und Originalität der Gedanken
bewahrte Mendelssohn vor Äußerlichkeiten. Der Effekt ist hier nur
Ergebnis der geistigen Steigerung und Ausnutzung der Klangmassen.
Allmählich läßt die Erregung nach. Ein Frühlingshauch steigt in
den Hörnern und Fagotten und dann in den Klarinetten auf — eine
Vorahnung an den Jubelchor, der den Frühling begrüßt. Mit zarten
Melismen der Violine und Flöte beginnt der Übergang zum Frühling.
Auf und ab schwebt das Spiel, bald nachlassend, bald anschwellend.
In hellem A-dur kann Nr. 1 Tenorsolo und Chor beginnen. Es ist
der lachende Frühling selbst, der hier zu Klang geworden ist. Und
nun spielt sich der köstliche Wettstreit zwischen der alten und der
neuen Weltanschauung ab, den Goethe mit so wundervoller Über-
legenheit in Verse gekleidet hat. Mendelssohn hat das Gedicht dra-
matisch außerordentlich zu steigern gewußt. Meisterhaft sind die
Kontraste herausgearbeitet, lebensvoll ist die Abwechslung, die durch
Solo- und Chorgesänge geschaffen wird. Voller Eigenart ist die
Instrumentierung, die in eindringlichster Weise das Dichterwort unter-
streicht, ohne Selbstzweck zu werden. Die ewige Jugend der Ge-
danken schließt einen Zauberkreis um das Ganze. Und welch köst-
licher, leiser Unterton von Ironie, wie er nur ganz selten einmal in
der Musik so vollendet gelungen ist! Über allem aber liegt der Schim-
mer echt Mendelssohnscher Klarheit in der Linienführung. Der
Meister hat hier dem junggebliebenen Temperament die Hand ge-
führt. — Devrient hat im Mai 1860 in Karlsruhe den Versuch einer
szenischen Aufführung der Walpurgisnacht seines Freundes gemacht.
Aber das Bühnenlicht war dem Werk nicht günstig. Es gehört in den
Chorwerke 183
Konzertsaal, wo es heute noch dieselbe packende Wirkung ausübt
wie vor siebzig Jahren.
Zwei Gelegenheitswerke brauchen nur genannt zu werden, der
„Festgesang an die Künstler" nach Schillers Gedicht für Männer-
chor und Blechinstrumente, opus 68, 1846 zur Eröffnung des ersten
Deutsch-Vlämischen Sängerfestes in Köln komponiert, und der Fest-
gesang zur Säkularfeier der Erfindung der Buchdruckerkunst, beide
Werke meisterlich in der Faktur, aber ohne den zündenden Funken
der Ursprünglichkeit.
Wir nähern uns noch einmal dem Lyriker Mendelssohn. In seinen
Gesängen für gemischten Chor und Männerchor hat er seine volks-
tümliche Ader ungehemmt ausströmen lassen. Hier war Beschrän-
kung am Platze, und seine hohe Satzkunst erlaubte Mendelssohn mit
bescheidenen Mitteln künstlerisch Wertvolles zu schaffen. Weniger
allerdings in seinen Männerchorgesängen, die oft bedenklich nach
der Seite der übelberufenen „Liedertafelei" hinneigen. Aus dem
ersten Heft, opus 50, fällt das frische, amüsante „Türkische Schenken-
lied" (Goethe) auf und daneben das feingefügte, zarte „Sommerlied"
(Goethe). Aber „Der Jäger Abschied" (Eichendorff) überstrahlt sie
und alle anderen Gesänge; dieses „Wer hat dich, du schöner Wald"
ist zwar zu einer Landplage geworden durch die Sentimentalität, die
es schmachtend verzerrt hat. Welch bezaubernder Ton jedoch liegt in
seiner Innigkeit. Hier fand Mendelssohn den Weg zum deutschen
Herzen, und das Volk nahm das schlichte Stück in seinen Liederschatz
auf. Eichendorffs „Der frohe Wandersmann" steht in opus 75 oben-
an. Nur das handfeste „Trinklied" (Goethe) darf den Vergleich
damit aushalten. Opus 76 aber enthält als Perle das ergreifende
„Comitat" (Hoffmann von Fallersleben), eins der tiefgefühltesten
Abschiedslieder unter Männern. Was weiter noch kommt, hat kein
ewiges Leben behalten. Die Zeit hat es zu den Akten gelegt. Viel
wirkungskräftiger ist Mendelssohn in seinen Liedern für gemischten
Chor geblieben. Auch hier treffen wir meist auf homophon gehaltene
Gebilde, in denen der Drang nach Volkstümlichkeit lebendig ist.
Gleich opus 41, das erste Heft der „Lieder im Freien zu singen"
enthält drei Musterbeispiele: „Im Walde" (Platen), „Mailied" (Höity)
und „Auf dem See" (Goethe), feingeschliffene Schmuckstücke. Alelo-
discher Überschwang beseelt „Der erste Frühlingstag" (ühland) in
J84 Bühnenmusik
opus 48, eine kostbare Miniatur. Bescheiden reihen sich „Die Primel"
(Lenau), „Frühlingslieder" (Uhland) und der liebliche Kanon „Ler-
chengesang" an. Die Krone jedoch gebührt dem wundersam tiefen
„Morgengebet" (Eichendorff). Doch ist im nächsten Heft, opus 59,
der „Abschied im Walde" (Eichendorff) nicht noch köstlicher in seiner
Reinheit und stillen Seligkeit? Was wollen daneben die übrigen
Lieder besagen? Im „Jagdlied" (Eichendorff) regt sich's einmal
aufrüttelnd, leidenschaftlich. Eichendorffs Romantik hat es Mendels-
sohn angetan. Seine Phantasie entzündet sich an dem weichen musi-
kalischen Tonfall der Dichterworte, und schwelgerisch strömen ihm
die Melodien zu. Heben wir nun noch aus opus 88 das stürmisch
aufbegehrende „Deutschland" (Geibel) und aus opus 100 das ver-
träumte „Lob des Frühlings" (Uhland) hervor, so haben wir das
Meisterliche ausgezeichnet. Und doch bleibt noch genug des Liebens-
werten übrig für die, deren Sinn der Schönheit noch unbefangen
gegenübersteht.
BUHNENMUSIK
Mendelssohns platonische Liebe gehörte der Bühne. Durch das
ganze Leben begleitete ihn die Sehnsucht, Opern zu schreiben. Aber
was der Jüngling in keckem Zugreifen wenigstens noch verwirk-
lichte, wenn auch in unvollkommener Weise, das blieb dem Mann
wegen seines in Kunstdingen unerbittlichen Ernstes versagt. Mendels-
sohn war literarisch zu fein gebildet, um an den platten Reimereien
der gewöhnlichen Librettisten Gefallen zu finden. Er erstrebte mit
der Oper höhere Ziele; denn er hatte seine großen Vorbilder von
Gluck bis Weber. Die italienische Modemusik schien ihm verächt-
lich. Er verlangte ethische Momente und keine Unterhaltung oder
bloßen Sinnenreiz. So plagten ihn dieselben Gewissensbisse wie die
anderen Romantiker, die vom Bühnenfieber ergriffen waren. Na-
mentlich war es seine Sorge, daß der Charakter seiner Oper deutsch
sei. Und so mußte er schließlich scheitern, wie all diese Enthusiasten
auf den Brettern, die die Welt bedeuten, gescheitert sind.
Mendelssohn besaß keine dramatische Ader. Seine Empfind-
samkeit und gebändigte Leidenschaft vermochte wohl noch die For-
Bühnenmusik 185
derungen des Epischen zu erfüllen. Aber sie mußte versagen, wo
es galt, elementar und unmittelbar zu packen. Hier im Drama ist
das musikalische Talent nicht ausschließlich entscheidend. Viele Im-
ponderabilien müssen hinzukommen. Vielleicht ist der dramatische
Sinn überhaupt der gröbste und niedrigste (weil selbst die Masse
ihn besitzt) und deshalb den feinstorganisierten Naturen nicht ge-
geben. Mozarts Einzigartigkeit, die jede Vergleichsmöglichkeit in
der Musikgeschichte ausschließt, ist kein Beweis dagegen. Es war
Mendelssohn nicht vergönnt, sein Ideal, Mozart, zu erreichen. Jeden-
falls liegen die Dinge bei Mendelssohn in bezug auf die Oper ähnlich
wie bei Schumann. Beide waren zu starke Lyriker, zu sehr gefühls-
mäßig orientiert.
Die Bühne erfordert eine glückliche Mischung von Instinkt und
Intellekt beim schaffenden Künstler. Und diese Mischung ist selten.
Sie findet sich fast nur bei Erscheinungen, die auch als Menschen
ein gutes Stück Schauspielernatur besitzen. Theorie und Praxis
müssen Hand in Hand gehen. Mendelssohns praktische Berührung
mit der Musikbühne blieb auf die spielerischen Ausführungen im
Elternhaus und auf das kurze Experiment der Mustervorstellungen
in Düsseldorf beschränkt. Aber wir wissen, daß er in Paris in die
Vorstadttheater lief, wo man glänzend spielte, um dramatische Studien
zu machen. Jedoch selbst das Sammeln von Erfahrungen konnte ihn
noch nicht zum Dramatiker machen. Es spielen so viel andere, außer-
musikalische Dinge dabei mit. Alle schönen Absichten, alle Theorien
und alle ethischen oder ästhetischen Beweggründe helfen nicht um
das Wesentliche herum: die Wirkung. Die Wirkung ist auf der
Bühne alles, mag sie sich aus der Stimmung oder aus dem Vorgang
ergeben. Bewegung und Ruhepunkte in symmetrischer Anreihung,
die Wucht erschütternder Steigerungen, eine kühne Realistik und
wiederum das malerisch Phantastische — eine Summe, die oft der
Zufall ergibt und die selbst das Genie nur in seinen glücklichsten
Eingebungen findet.
Mendelssohns Zeit war noch die Zeit der Oper. Die Entwick-
lung des Dramatischen war noch nicht von der Bühne in das Or-
chester verlegt und die Theorie des Musikdramas noch nicht zum
alleinseligmachenden System erhoben worden. Das freie Spiel der
Kräfte lockte die Talente. Weber und Meyerbeer waren die Anti-
186 Bühnenmusik
poden, und zwischen ihnen wogte die Masse der Vielen und Viel-
zuvielen.
Was Mendelssohn schon in jungen Jahren auf dem Altar der
Musikbühne opferte, ist nicht mehr auf uns gekommen. All die kleinen
Arbeiten waren Familienangelegenheit, Versuche und Lehrlingsstücke.
Erst die größere zweiaktige Oper „Die Hochzeit des Camacho" des
Fünfzehnjährigen wurde öffentlich zur Diskussion gestellt. Daß diese
Diskussion zuungunsten Mendelssohns ausfiel, haben wir schon er-
fahren. Wir begreifen es, wenn wir die Partitur durchblättern. Eine
Episode aus dem „Don Quichote" des Cervantes hat den Stoff ge-
liefert: wie sich der Schäfer Basilio durch einen fingierten Selbst-
mord in den Besitz der geliebten Braut setzt, die gerade dem reichen!
Camacho angetraut werden soll. Eine Reihe hübscher, nicht gerade
sonderlich packender Situationen ohne eigentliche dramatische Ent-
wicklung, ein Opernpotpourri wie so viele, die schon durch die
Mängel des Textes zum Tode verurteilt sind. Mendelssohn nahm sich
der Sache mit Ernst und Feuereifer an. Das Gefühlsmäßige gelang
ihm recht hübsch. Auch die Chöre sind geschickt aufgebaut. Aber
es fehlt die dramatische Schwungkraft, die von Höhepunkt zu Höhe-
punkt reißt. So bleibt schließlich die frische, sprudelnde Ouvertüre
und die Ballettmusik aus dem zweiten Akt als Bestes aus der 371
Seiten starken Partitur.
Mendelssohn hat Zeit seines Lebens nach einem brauchbaren
Operntext gesucht, und hat ihn nicht gefunden. Kurz vor seinem
Tode schien er endlich das Ersehnte gefaßt zu haben. Emanuei
Geibel hatte die Sage von der Loreley in Verse gebracht und für
Mendelssohn ein Opernlibretto daraus gestaltet. Der Tondichter
griff zu, schon verführt von der rührenden Figur der Rheinnixe. Er
vermeinte endlich eine seiner würdige Aufgabe gefunden zu haben,
übersah das völlig Undramatische des Textes und stürzte sich in die
Komposition. Drei Nummern seiner Oper „Loreley" hat Mendelssohn
fertig hinterlassen : das Finale des ersten Aktes, ein Ave Maria für
Sopransolo und Frauenchor und einen Winzerchor. Dem Finale
begegnet man öfter in Konzertaufführungen. Da ist es wirksamer,
als es auf der Bühne sein könnte. Die Musik zeigt den ganzen
Mendelssohn, der immer sein Bestes gab, wenn er ein wenig ins
Phantastische, ins Reich der Naturgeister, ausschweifen konnte. Von
Bühnenmusik 187
abgeklärter Schönheit und Innigkeit ist die Melodik, von der meister-
lichen Formung und Instrumentierung gar nicht zu reden. Jedoch,
eins ist sicher: ein dramatisches Meisterwerk wäre die „Loreley"
nicht geworden. Max Bruch hat es versucht, Geibels Text vor der
Vergessenheit zu retten. Seine Oper „Loreley" wurde 1863 in Mann-
heim aufgeführt und scheiterte an der Dichtung.
Dürfen wir nun hier, beim Zusammenbruch der Opernhoffnungen
Mendelssohns, erwähnen, daß er, um seine Ariensehnsucht zu stillen,
einmal eine Konzertarie für Sopran und Orchester schrieb, die als
opus 94 aus dem Nachlaß aufgetaucht ist? Galant gemachte Musik,
ohne Tiefe, die das Dunkel verdient, in das sie gefallen ist.
Doch wenn Mendelssohn der Bühne auch nicht mit Opern hul-
digen durfte, so konnte er doch in Schauspielmusiken Kunstwerke
schaffen, die die Zeiten überdauert haben. Seinem klassisch ge-
richteten Geist war es willkommen, für den König Friedrich Wil-
helm IV. die Musik zur „Antigone", opus 55, und zum „Ödipus",
opus 93, komponieren zu können. Die Wiederbelebung des antiken
Dramas fand damals viel Interesse und Entgegenkommen, nicht nur
unter den humanistisch Gebildeten, sondern auch unter den Theater-
besuchern überhaupt. Die Gründlichkeit, mit der man sich der
Sache annahm, rief auch die Gelehrten auf den Plan. Man wollte
möglichst echte griechische Kunst geben, wollte die Gefühlswelt der
Griechen neu erstehen lassen. Anders heute, wo Dichter wie Werfel
und Hofmannsthal die griechische Tragödie mit den Leidenschaften
des zwanzigsten Jahrhunderts tränken. Mendelssohn hatte mit seinem
Jawort, die Chöre zu den Sophokleischen Tragödien zu komponie-
ren, eine schwere Aufgabe übernommen, da die Archäologen auf der
Lauer lagen, um ihn, den Künstler, mit den Waffen der sogenannten
Wissenschaftlichkeit zu bekämpfen. Die Frage des griechischen Chors
war und ist eine Streitfrage. Jede Komposition dieser Chorgesänge
wird gegen den Urstil sündigen. Es kann also nur darauf ankommen,
einen möglichst hohen Grad von Objektivität zu gewinnen, um die
Musik mit einem aus sich heraus unaufdringlichen Pathos zu er-
füllen. Und das ist Mendelssohn gelungen, soweit ein Gelingen über-
haupt möglich war. Notgedrungen mußte der Musiker, der nach
der Erschaffung geschlossener musikalischer Perioden strebt, dem
griechischen Metrum und namentlich dem Rhythmus Gewalt antun.
188 Bühnenmusik
Aber welche Farben konnte Mendelssohn dem Gesang durch die
Begleitung des modernen Orchesters geben! Er hat diese Gelegen-
heit benutzt; in der großartigen Einleitungsmusik zur Antigone so-
gar in einem Grade, der in seiner ungestümen Leidenschaftlichkeit
des Ausdrucks weit über das hinausgeht, was griechisch in der
Tragödie ist. Hier war Mendelssohn ein musikalischer Hofmanns-
thal. Aber in den Chören mäßigte er sich und näherte sich dem Ideal,
das er als echter Humanist verherrlichen wollte. Wenn auch die
Musik zur „Antigone" und zum „Ödipus" nur noch selten zum Er-
klingen kommen, so gehören sie doch zu den Werken Mendelssohns,
die würdig sind, seine Meisterwerke genannt zu werden.
Weit eher hat Mendelssohns Musik zu „Athalia" von Racine,
opus 74, ihr Schicksal verdient, vergessen zu werden. Es war eine
Pflichtarbeit, von der sich nur die klangvolle, hübsch gemachte Ouver-
türe noch bis heute in die Gartenkonzerte gerettet hat.
Und nun kommen wir endlich zu einem vollkommenen Meister-
werk, durch das Mendelssohns Name für immer mit der Bühne ver-
knüpft sein wird: die Musik zu Shakespeares „Sommernachtstraum",
opus 61. Die unsterbliche Ouvertüre, des Meisters unumstrittenster
Sieg, entstand 1826, die übrige Musik 1843. Aber es ist keine tren-
nende Kluft dazwischen. Der Geist des Schöpfers ist derselbe ge-
blieben. Die Inspiration sprudelte ihm nach siebzehn Jahren noch
ebenso frisch wie in den köstlichen Jugendtagen, wo wie aus einem
holden Traum die Elfenklänge der Ouvertüre sich formten. Die
Ouvertüre, ein Gedicht, wie nie vor oder nach Mendelssohn ein
Künstler ein ähnliches geschaffen hat. Was sollen da Worte? Kann
man den Zauber einer Mondnacht im Walde zergliedern und er-
läutern? Es ist ein Traum, eine Phantasie, vor der wir stumm vor
Bewunderung stehen. Der Reigen der Elfen, der Tanz der Rüpel,
Titania und Oberon, Frohsinn, Übermut, Tränen und Liebe — alles
ist in dieser Musik, die mit Shakespearscher Geste ein Märchen in
Tönen zaubert, wie man in der Musik kein anderes vernommen, so
bittersüß und schmerzlichschön, wie es nur dem Gottbegnadeten in
seiner gesegnetsten Stunde einfallen konnte. Und dieselbe Scheu
erfaßt den Analytiker vor der übrigen Musik zum Sommernachts-
traum. Welche unsägliche Tiefe der Empfindung in dem Notturno,
wo das Hörn von der keuschen Seligkeit einer Waldnacht singt;
Mendelssohn und die Zeit 189
welche sprühende Lebendigkeit in dem Scherzo, in dem alle Geister
der Ouvertüre noch einmal aufleben und ihren phantastischen Reigen
tanzen; welche Leidenschaft in dem feurigen Intermezzo, das mit
glühender Lust dahinstürmt; welche groteske Komik in dem Rüpel-
tanz und endlich welche jubelnde Freude in dem Glanz des Hoch-
zeitsmarsches, der nicht nur für Hermia und Lysander, für Helena und
Demetrius, sondern für die Liebenden aller Zeiten und Völker ge-
schrieben ist. Melodramatisches wechselt mit Zwischenspielen. Eine
einzige Welle künstlerischer Leidenschaft spült durch das Ganze
und erfüllt jeden Takt mit Leben und Bewegung. Wie innig ist diese
Musik mit der Dichtung verschmolzen. Zahllose Reminiszenzen ver-
knüpfen Wort, Ton und Bild. Es gibt kaum etwas Vollkommeneres,
und wenigen Werken ist die Krone der Unsterblichkeit so freudig
und willig überreicht worden, wie Mendelssohns Sommernachtstraum-
musik.
Kehren wir noch einmal in des Meisters Jugendzeit zurück.
Zwischen Oper und Schauspiel steht das Singspiel. Mendelssohn
huldigte auch hier der Gelegenheit und schuf zur silbernen Hochzeit
seiner Eltern das Liederspiel „Die Heimkehr aus der Fremde", zu
dem Klingemann den Text gedichtet hatte. Wir halten uns heute
nur noch an die Ouvertüre, die für ihre Volkstümlichkeit dankbar
ist. Ihre schlichte Ausdrucksweise spricht zu Sinn und Gemüt der
Unbefangenen. Sie ist lieblich und zart. Gönnen wir ihr das be-
scheidene Leben, das sie führt, da ja die ganze übrige Musik des
Liederspiels vergessen ist.
Mendelssohn und die Bühne. Was von allen seinen Versuchen
und Gaben geblieben ist, das ist der Sommernachtstraum. Genug für
ein Menschenleben, genug für das Schaffen eines, den wir Genie
nennen müßten nur um dieser Takte willen ; übergenug für einen,
der schon auf anderen Gebieten seiner Kunst die Unsterblichkeit
errungen hat.
MENDELSSOHN UND DIE ZEIT
Wir sind am Ende. Werk und Welt haben sich gefunden. Der
Künstler hat den Menschen überlebt, und an die Nachwelt richtet
190 Mendelssohn und die Zeit
sich die Frage, ob ihr das Werk zum Heiligtum und köstlichen Be-
sitz geworden ist, das zeitlos seinen Platz neben allem Großen ein-
nimmt.
Die Geschichte ist eine unerbittliche Richterin. Sie läßt nur das
ganz Große gelten ; alles andere verblaßt und gerät in Vergessenheit.
Aber zum Trost sei's gesagt, die Menschen von heute machen nicht
die Geschichte, wenigstens nicht die der Kunst. Ein Geschlecht, das
dem Verfall zugestrebt hat, überwältigt von der Überredungskunst
der Dekadenz, und das jetzt nicht mehr Kraft und Willen genug be-
sitzt, dem Chaos zu widerstehen, darf den Richterstuhl im Geistigen
nicht besteigen. Das Zeitalter der Maschine hat die Entgeistigung
der Menschheit verschuldet. Denn vor der Maschine sind alle Men-
schen gleich. „Freie Bahn allen Tüchtigen" bedeutet den Tod der
Genies und die Verewigung und Glorifizierung des Durchschnitt-
lichen. Das Genie ist das überwältigendste Argument gegen die
Gleichheit und bedarf der Hemmungen, um seine Kräfte zu schulen.
Bei Mendelssohn blieben sie fast gänzlich aus. Die Zeit hat hier die
ausgleichende Gerechtigkeit geübt: Mendelssohns Kunst hat erst
gestern, heute und morgen den Kampf zu bestehen, der dem Schaffen-
den selbst von der Gunst des Schicksals erspart blieb.
Wie stehen wir in diesem Kampf?
Der moderne Musiker bekennt sich zur Romantik Chopins und
Wagners. Da findet er die nervösen Sensationen, denen er selbst
als Kind einer dekadenten Zeit ausgeliefert ist. (Anmerkung für Re-
zensenten: Es soll damit nichts gegen Chopin und Wagner gesagt
sein.) Was kann nun den Modernen Mendelssohn sein, dieser Meister
der schlichten Geberde, der Klarheit und Schönheit um jeden Preis,
selbst auf Kosten der Charakteristik. Seitdem die Musik um ihre
Strenge und Reinheit, um ihre Logik gebracht worden ist, seit dem
Verfall der Synthese, sind die musikalischen Ideale umgestellt wor-
den. Man liebt die Stimmung, den Effekt und sucht überall das Dra-
matische und Verblüffende. Die Musik ist ein Faktor geworden,
mit dem man rechnen und wirken will, ein Mittel zum Zweck. Wir
fühlen, das Band, das Mendelssohn und die Modernen bindet, ist
sehr schwach.
Und doch lebt er. Aber nicht in der Welt der geschraubten
und erlogenen Gefühle. Lebt in seinem Werk, das immer noch un-
Mendelssohn und die Zeit 191
vergänglichen Zauber ausübt. Die Ouvertüren, die Oratorien, die
Lieder ohne Worte und vieles andere beweisen es. Seinem Schaffen
wurde 1903 ein Denkmal in der Kritischen Gesamtausgabe der Werke
bei Breitkopf cV Härtel gesetzt. Bleibt nur noch die Aufgabe, die
Überfülle seiner köstlichen Briefe zu sammeln, die bis jetzt be-
kannten, stark redigierten, zu berichtigen und das Verborgene ans
Licht zu ziehen. Auch das wäre ein Monument seiner Größe und
Bedeutung.
Wir würden Mendelssohn unrecht tun, wenn wir auf den „Geist
seiner Zeit" hinweisen wollten, durch den er besser verständlich
Wäre. Nur schwächere Naturen bedürfen dieser Anlehnung an ihre
Umwelt. Ein Großer braucht nicht „historisch" genossen zu wer-
den; denn er ist zeitlos. Blicken wir um uns, so sehen wir, daß der
Bürger von heute Mendelssohn im allgemeinen näher steht als der
Künstler. Der Bürger schämt sich nicht des Sentiments. Er ver-
göttert da, wo er sich gerührt und ergriffen fühlt. Aber es müssen
doch echteste Akzente sein, die ihre Kräfte noch nach 70 Jahren
zeigen. Und wahrlich, wenn wir uns in Mendelssohns Musik hinein-
hören, und uns ihm mit Inbrunst nahen, dann fühlen wir auch bei
ihm wie bei allen Großen die ungeheure Intensität der Leidenschaft,
die die Töne durchströmt und mit Leben erfüllt. Sie offenbart sich
nicht in gewaltigen Erschütterungen, umwerfenden Gefühlsexplosio-
nen, sondern in der unendlich sprachvollen, lebendigen Artikulation,
die auch das Kleinste noch mit grenzenlosem Inhalt erfüllt und unser
Empfinden bis ins Tiefste erbeben und miterleben läßt. Mendelssohns
Stärke liegt im Gemütvollen. Wir verstehen : nur der Pietätvolle
kann ihm also huldigen. Hier spricht die Seele ohne Reizmittel;
das farbige Flimmern der Enharmonik, das Tonalitätsschwanken der
Chromatik hat in seiner Kunst keine Heimat. Es ist das schöne
Gemüt, das schöne Gefühl, das die Vorkämpfer der Romantik, nament-
lich der innig träumende Wackenroder so hoch priesen und so heiß
ersehnten — deutsche Tugenden, die Mendelssohn schon früh in
sich aufgesogen hatte. Die Nerven spielen hier keine Rolle. Diese
Musik spricht nur zur Seele, weniger zu den Sinnen. Hier ist auch
der Punkt, auf dem die Wege auseinandergingen. Auf der einen
Seite die Genies Schumann, Chopin, Wagner, Brahms, Brückner,
und auf der anderen Seite — Epigonen von Reinecke bis Max Bruch.
192 MendelssohnunddieZeit
Jetzt erst verstehen wir Nietzsches Wort von Mendelssohn als dem
schönen Zwischenfall in der Musik. Aber ist er nicht auch ein Ende,
wenigstens ein vorläufiges, gewesen? Die Reihe der Epigonen be-
weist nichts gegen seine Kunst und gegen die Richtung. Allenthalben
regt sich schon eine Reaktion gegen die völlige Auflösung der Kunst,
gegen das Stimmungschaos, gegen Impressionismus und Expressio-
nismus (als Schlagworte genommen) — das ist der künstlerische For-
malismus, der die schönen Formen aus dem Trümmerhaufen retten
will. Ja, wir ahnen so etwas wie eine Sehnsucht nach wirklicher
geistiger Kultur, nach Strenge gegen sich und die Phantasie, nach
Willen zur Synthese in der Zeit erwachen. Der Formalismus kann
nicht Selbstzweck sein, aber der Weg zu einer neuen Höhe, die noch
verborgen neben den anderen Gipfeln liegt. Und Mendelssohn ist
ein Ausgangspunkt für eine solche Renaissance der Form und des
guten Geschmacks in der Musik. Der Mann wird das eher ver-
stehen als der Jüngling, der die Ekstase sucht.
Mendelssohn als Lehrmeister gibt uns Hoffnungen für die Zu-
kunft und Entwicklung der Musik. Der selbst nicht ein Fortschrittler,
ein Experimentierender im Sinne der großen Bahnbrecher war, kann
doch als ruhiges Vorbild neuer Zeiten dienen. Auch da winkt Fort-
schritt.
Was unsere Zeit von der Kunst verlangt, läßt sich auch in Men-
delssohns Werk finden, Schönheit, Wahrheit, Ausdruck, Stimmung,
Fülle, Geistigkeit — nur eins nicht: Anreiz für müde Nerven. Auch
das Gewaltige fehlt ihm, das Dramatische, Niederschmetternde. Da-
hin zielten seine Träume und sein Wille nicht. Er packt uns nicht
mit eherner Gewalt; aber er rührt, macht uns weich, und die leise
Wehmut eines Sommerabends erwacht bei seiner Musik.
Demokratie ist vergänglich, Revolutionen verrauchen, und nur
der Einzelne rettet die Idee, den Glauben an das Vollkommene, die
Ehrfurcht vor dem Großen. Nur die Geschichte der Genies ist die
Geschichte der Kunst. Richtungen, Mitläufer, Apostaten, Abenteurer
und Epigonen bleiben im Hintergrund. Kein Künstler ist und wird
ohne die Vergangenheit und Erinnerung. Mendelssohn meinte: „daß
es die erste Bedingung zu einem Künstler sei, daß er Respekt vor
dem Großen habe und sich davor beuge und es anerkenne".
Neben allen anderen Eigenschaften gehört zur Größe die Ge-
Mendelssohn und die Zeit iQ3
duld. Geduld zur Form, zur Vollendung, Geduld im Kunstwerk
selber zur restlosen Auswirkung der Ereignisse. Mendelssohn be-
saß diese Geduld, das ungeheure Sicherheitsgefühl der Reife, die
Überlegenheit des Herrschers über seine Materie. Er baute auf einem
breiten Fundament, das die Meister von Bach bis Beethoven ge-
legt hatten. Deshalb ist auch nichts Frühaltes, Greisenhaftes in seiner
Musik, sondern bis zuletzt schwang sich die Kurve seiner Entwicklung
aufwärts. Die Gegenwart war ihm, dem unermüdlichen Bewunderer
vergangener Kulturen, stumm. Er kannte die schweren seelischen
Bedrängnisse der Schumann und Chopin nicht. Fremd stand er ihren
Kämpfen, dem leidenschaftlichen Aufbegehren eines genialen Un-
gestüms gegen Überliefertes, fremd den Ringenden gegenüber. Bis
in das Nervensystem war ihm die Romantik nicht gedrungen. Er
war nur Romantiker aus reinem Gemüt.
Doch wir? Dürfen wir Mendelssohn, den stillen, tiefen Meister
der Idylle, den Aristokraten, überhaupt feiern? Fast scheint es,
als wolle das Chaos unserer Zeit die Schönheit ersticken. Der Ge-
schmack der Masse liebt die schmalen Höhenwege nicht. Mendels-
sohn aber war kein Diktator der Landstraße. Um ihn breitete sich
Einsamkeit, als Wagner seinen Bannfluch gegen ihn schleuderte. Je-
doch die Kunst verlangt höheren Ernst als das Leben. In ihr ist die
Tat alles, das Wort nichts. Auch Mendelssohns Tat ist geblieben.
Mögen manche Farben etwas blasser geworden sein, andere haben
ihre unvergängliche Leuchtkraft behalten. Und so darf der Meister
heute gerechte Würdigung verlangen von einem Geschlecht, das dem
Persönlichen und Kämpferischen vergangener Epochen entrückt ist.
Es fragt sich nur immer wieder: wie steht die Zeit zu ihm?
Eins ist sicher: die Zeit seiner Unterschätzung ist vorüber. Das Ge-
wissen der Künstler hat begonnen sich zu regen, wo der Laie noch
nie zu lieben aufgehört hatte. All die Übersättigten und Enttäuschten,
die sich im Irrgarten der Moderne müde gesucht haben, fühlen die
stärkende Kraft einer gesunden, gerade gewachsenen und strengen
Kunst. Sänger, die sich nach der Kantilene sehnen, greifen zu seinen
Liedern, die Pianisten empfinden nach stürmischen Virtuosenfesten
den Zauber einer unchromatischen, lichten, halkyonischen Klavier-
poesie, die Dirigenten huldigen dem Symphoniker, noch mehr aber
dem Ouvertürendichter, und im Revier der Laienkunst, dem Chor-
D all ms, Mendelssohn 13
1Q4 MendelssohnunddieZeit
gesang, werden vor Mendelssohns Oratorien immer noch Altäre
errichtet. Aber wie überall, ist es hier nur die Liebe, die den Weg
zum Innern, zur Tiefe findet. Das Bild des Meisters leuchtet ver-
klärt durch die Jahrhunderte. Das Vergängliche ist verklungen.
Das Unvergängliche aber zieht seine Kreise in die Ewigkeit.
LITERATURVERZEICHNIS
Felix Mendelssohn: Reisebriefe. Leipzig 1869.
Briefe. Leipzig 1863.
Briefwechsel mit Klingemann. Essen 1909.
Briefwechsel mit Julius Schubring. Leipzig 1892.
Briefe an Ignaz u. Charlotte Moscheies.
Leipzig 1888.
Sebastian Hensel: Die Familie Mendelssohn. 15. Aufl. Berlin 1880.
Eduard Devrient: Meine Erinnerungen an Felix Mendelssohn-Bartholdy
und seine Briefe an mich. Leipzig 1891.
August Reißmann: Felix Mendelssohn. Berlin 1867.
W. A. Lampadius: Felix Mendelssohn. Leipzig 1886.
Ferdinand Hiller: Felix Mendelssohn-Bartholdy. Briefe und Erinne-
rungen. Cöln 1874.
NAMENREGISTER
Aachen 56. 57.
Albert, Prinz von England 92.
Angely 32.
Ansorge 117.
Auber 47. 48.
Bach, 1. S. 9. 14. 26. 28. 31. 33. 38.
43 54. 63. 67. 68. 72. 73. 75. 76. 88.
94. 98. 110. 113. 117. 125. 126. 127.
129. 135. 140. 163. 164. 165. 166. 168
179. 193.
Baden-Baden 95.
Baillot 32. 47.
Barmen 56.
Bärmann, Heinrich 50. 140.
- Karl 50. 140.
Bauer 36. 68.
Becker, C. F. 84.
Beethoven 20. 28. 33. 37. 38. 40. 41.
45. 47. 55. 57. 58. 59. 63. 65. 71.
75. 78. 81. 82. 88. 89. 92. 95. 98.
103. 112. 117. 125. 126. 130. 131,
132. 136. 138. 147. 149. 150. 151.
152. 158. 160. 163. 179. 193.
Bellermann 179.
Bendemann 42. 53. 86. 98
Bennet 67.
Bertuscheck 99.
Berger, Ludwig 25. 26. 34. 49. 112.
113. 125.
Beriot 91.
Berlin 17. 21. 24—27. 29. 30. 32. 33.
36. 38. 49. 50. 51. 53. 54. 60. 62.
63. 69. 73. 75—80. 82. 84. 86. 87.
89. 90. 92. 96. 9S. 99. 152.
Berlioz 43. 44. 57. 85. 110.
Birmigham 68. 74. 92.
Bliesener 33.
Blümner 73. 83.
Bock 99.
Böckh 34.
Bonn 54.
Börne 47.
Boucher 33.
Brahms 9. 12. 13. 150. 163. 168. 191.
Breitkopf & Härtel 60. 115. 191.
Bremen 99.
Brentano 34.
Breslau 99.
Bruch, Max 187. 191.
Brückner 150. 191.
Brühl, Graf 36.
Bimsen (üeheimrat) 34. 88.
Burgmüller, Norbert 163.
Byron 27. 114.
Caspar, Dr. 28. 31.
Cervantes 186.
Charlottenburg 92.
Cherubini 32. 47. 55. 59.
Chopin 37. 47. 57. 62. 104. 106. 109.
112. 117. 118. 120. 126. 190. 191.
193.
Clarus 97.
Clauren 33.
Clementi 25.
Cornelius (Maler) 34. 42. 76. 163.
Cottrau 44.
Cramer 53.
Crelinger 79. 91.
Czerny 118.
Dante 10. 37.
David, Ferd. 63. 70. 72. 79. 82. 64.
89. 90. 95—98. 163.
Dehn 106.
Dessau 17. 18. 99.
Devrient, Eduard 30. 38. 45. 51. 79.
93. 182.
Dirichlet 59.
Dobrycinsky 70.
Doles, Joh. Fr. 61.
Donizetti 44.
Dostojewski 10.
Dresden 73. 77. 83. 94. 163.
Dreyschock 72.
Druet 38.
Droysen 36.
Düsseldorf 53—56. 59. 65. 71. 81, 99.
108. 109. 185.
Ebert 116.
Eichendorft 114. 115. 116. 123. 183.
184.
Eichhorn (Minister) 82. 90.
Elberfeld 54. 56.
Ernst 34. 72.
Ertmann, Dorothea von 45.
Falkenstein, von 73. 84.
Fasch 26.
Fesca 28.
Field 25. 118. 119. 126.
Florenz 42. 44.
Fould 21.
Franck 67.
Namenregister
197
Fränkel, D. H. 17.
Frankfurt a. M. 22. 65. 66. 67. 71. 82.
95. 99.
Franz, Robert 69. 85.
Frege, Professor 69. 97.
- Livia 69. 96. 97. 99
Friedrich August, König von Sachsen
75. 83. 99.
Friedrich Wilhelm IV. 54. 76. 77. 79.
31—84. 86. 87—89. 91. 92. 99. 187.
Gade, Niels W. 85. 89. 91. 93. 96. 98.
Gans 34. 36.
üeibel 95. 114. 184. 186. 187.
Genf 30.
Gluck 22. 31. 40. 78. 184.
Goethe 10. 26—33. 35. 39. 40. 42. 48.
58. 69. 109. 113. 114. 121. 160. 180.
182. 183.
— , Walter von 67.
Gounod 34.
Grabau-Biinau 84.
Grabbe 58.
Graun 42.
Grell, Eduard 87.
Grimm, Jacob 34.
Gurnprecht 15.
Haag 81.
Habeneck 47.
Halle 85.
Hamburg 22. 24. 99.
Hammer 97.
Händel 28. 38. 48. 53. 54. 59. 62. 63.
67. 68. 69. 71. 81. 87. 92. 99. 124.
126. 127. 140. 164. 165. 168. 173.
176. 179. 180
Härtel 97.
Hauptmann, Moritz 84. 98.
Hauser, Franz 41.
Haydn 31. 33. 38. 40. 41. 44. 63. 81.
92. 112. 125. 126. 131. 139. 150.
151. 152. 179.
Hegel 33. 34. 36.
Heidelberg 36.
Heine 22. 34. 35. 47. 114. 116.
Hennig 87.
Henning 27.
Hensel, Wilhelm 35. 59. 63 66. 98.
— Sebastian 29. 64. 66.
Henselt 34.
Herder 19. 21.
Herz 40. 47. 48. 59. 118. 126. 132.
Heydemann 36.
Hevse, Karl W. L. 27.
Heyse, Paul 27.
Hiller, Ferdinand 34. 42. 57. 66. 68.
69. 72. 73. 82.
- J. A. 61.
Hoffmann E. T. A. 33.
— von Fallersieben 115. 183.
Hofmannsthal 187. 188.
Holtei 34. 45.
Hölty 114. 115. 183.
Howard 98.
Hübner 42. 66. 86. 98.
Hugo, Victor 71. 163.
Humboldt, A. v. 34. 36. 37.
— , W. v. 34.
Hummel 32. 34. 41. 53. 126. 132.
Hunten 118.
Jean Paul 35. 38. 50. 56. 69. 109.
113. 139.
Iffland 32.
Immermann 46. 50. 54. 55. 58.
Joachim, Joseph 91.
Kalkbrenner 32. 34. 40. 47. 48. 67.
126. 132.
Kalhwoda 70. 72. 150.
Kant 19.
Karlsruhe 182.
Kassel 80.
Kaulbach 34.
Kirnberger 19. 31.
Kittl 70. 72.
Klein 113.
Klingemann 35. 38. 39. 48. 53. 55. 59.
63. 65. 68. 70. 71. 74. 76. 81. 83.
93. 94. 95. 98. 114. 116. 121. 1S9.
Knaur 86. 98.
Köln 54. 59. 62. 69. 92. 99. 183.
Königsberg 99.
Kopisch 34.
Köthen 99.
Kotzebue 55. 61.
Kreutzer, Konr. 56.
Kreuzer 32.
Lablache 34.
Lachner 70. 75. 150.
Lafontaine 33.
Lang, Josephine 46.
Lassus, Orlandus 54.
Laube, Heinrich 91.
Lavater 19. 20.
Leipzig 40. 56. 57. 59—63. 65. 66. 69.
71. 73. 74—76. 79. 80. 82. 83. 85.
90-93. 96. 98. 158.
,93
Namenregiste
Lenau 114. 116. 184.
Leo 54.
Lessing 17. 19. 20. 27.
Levetzow 37.
Lichtenstein 36. 50.
Lindblad 66. 72.
Liszt 47. 72. 73. 80. 110. 126.
London 35. 38. 39. 48. 49. 53. 55. 56.
65. 68. 88. 95. 99. 154. 160.
Lotti 54.
Lumley 94.
Luther 158. 179.
Lüttich 92.
Magnus 34.
Mailana 44.
Mainz 99.
Malibran 38. 47. 53.
Manchester 81.
Mannheim 187.
Marschner 34. 45. 72. 89.
Marx, A. B. 22. 30. 35. 49. 51. 63.
Massow, von 76. 82.
Matthäi 63.
Mendel 17.
Mendelssohn, Moses 17—24. 38. 97.
105.
— Fromet geb. Gugenheim 18.
— Abraham 18. 21—24. 28. 31. 33. 45.
49. 51. 53. 55. 58. 59. 63. 65. 75. 93.
97. 110.
— Joseph 18.
— Nathan 18.
— Henriette 18.
— Recha 18.
— Dorothea 18.
— Lea, geb. Salomon 21. 23. 25. 31.
59. 72. 75. 83. 86.
— Fany (Hensel) 22. 23. 27. 28. 30.
34. 35. 49. 59. 89. 95. 97. 98. 115.
— Rebekka 22. 59. 97.
— Paul 22. 76. 92. 93. 96. 97. 98.
— Cecilie geb. Jeanrenaud 66. 67.
81. 97. 99.
Meyerbeer 13. 14. 15. 32. 47. 49. 80.
185.
Michaelis 19.
Michelangelo 37.
Milder 34.
Möhring 70.
Moore 114.
Moscheies 31. 32. 34. 36. 38. 41. 48. 51.
53. 56. 57. 58. 62. 68. 74. 81. 84.
93. 97. 98. 123. 126. 129. 132. 150.
M^ser 33.
Motte Fouque, de la 34.
Mozart, Leopold 30.
— Wolfgang Amadeus 11. 23. 28. 31.
33. 40. 41. 48. 52. 63. 68. 70. 103.
104. 112. 117. 125. 126. 131. 136.
139. 140. 150. 151. 154. 163. 179.
180. 185.
— Karl 45.
Mücke 66.
Müller (Kabinettsrat) 90.
München 40. 46. 140.
Naumann, Emil 119.
Neapel 44.
Neithardt, Aug. Heinr. 87. 99.
Neukomm 28.
Nicolai 19.
Nietzsche 12. 14. 15. 16. 17. 24. 103.
109. 192.
Novello 34. 68.
Onslow 72.
Ossian 113. 161.
Overbeck 42.
Paderewski 117.
Paer 32.
Paganini 34. 47. 53. 57.
Palestrina 28. 43. 54. 103.
Paris 21. 22. 32. 46. 48. 57. 67.
120. 185.
Pasta 34.
Pergolese 54.
Pixis 32.
Planche 67.
Platen 183.
Pleyel 72. 118.
Pohlenz 61.
Porsche 60.
Potsdam 91.
Prume 72.
Rachel 34.
Racine 92. 188.
Raffael 149.
Rauch 34. 76.
Redern, Graf 50.
Reichardt 58. 59.
Reimarus 17.
Reinecke 191.
Rellstab 28. 33. 37. 49. 78. 87.
Ries 99.
Rietschel 98.
Rietz, Eduard 30. 38. 48.
— Julius 54. 56. 65. 71. 81. 97. 96.
Namenregister
199
Ritter 36.
Spohr 33. 34. 75. 91. 150.
Robert, Ludwig 34.
Spontini 33. 36. 49. 78.
Rode 32.
Stamaty 67.
Rom 35. 42. 43. 44. 109. 181.
Steinbrück 66.
Romberg 28. 33.
Stendhal 156.
Rossini 32. 47. 66. 78.
Stettin 35.
Rubini 53.
Stich 91.
Rungenhagen 50. 80. 87. 99.
Strauß, Rieh. 13.
Santini, Fortunato 42.
Saphir 36.
Schadow 42. 53. 66.
Schauroth, Delphine von 46.
Schelble 30. 66.
Schenker 151.
Scheveningen 66.
Schicht, Gottfried 61.
Schiller 33. 183.
Schinkel 34.
Schirmer 53.
Schlegel, Friedr. von 18.
Schleiermacher 33.
Schleinitz 59. 97—99.
Schlemmer 65.
Schneider, Friedr. 28. 70. 72. 99. 150.
Schopenhauer 12.
Schönlein 97.
Schröder-Devrient 34. 53.
Schrötter 66.
Schubert 29. 32. 70. 112—118. 124. 126.
> 131. 136. 152. 160.
Schubring, Julius 36. 55. 63. 68. 71.
90. 165. 172.
Schulz, C. H. Ph. 61.
Schumann, Robert 13. 14. 56. 57. 61.
62. 69. 70. 72. 73. 84. 85. 90. 94.
98. 104. 106. 107. 109. 112. 115—118.
120. 121. 126—129. 133. 136. 140.
152. 159. 161. 163. 166. 170. 185.
191. 193.
— Clara 62. 73. 75. 82.
Schunck 97.
Schwind 34.
Scribe 47.
Seydelmann 34.
Shakespeare 27. 30. 35. 80. 94. 188.
Simrock (Verleger) 69. 82.
Sontag, Henriette 33. 38.
Spinoza 18.
Taglioni 47.
Taubert, Wilh. 15. 87. 99.
Thalberg 68. 70. 126. 132.
Thibaut 36.
Thorwaldsen 34. 42.
Tieck 79. 114.
Tizian 41. 42.
U echtritz 58.
Unland 114—116. 183. 184.
Varnhagen von Ense 34.
Veit 18.
Venedig 41.
Vernet, Horace 34. 42.
Victoria, Königin von England 81. 99.
Voigt, Karl 60.
— Heinrich 60.
Voß 114.
Wackenroder 191.
Wagner 9. 12. 13. 15. 91. 107. 109.
110. 112. 118. 121. 151. 190.
191. 193.
Walter 97.
Wasielewski 64.
Weber, C. M. von 33. 34. 38. 41. 81.
82. 131. 136. 184. 185.
Weimar 28. 29. 30. 40. 67.
Werfel 187.
Wieland 55.
Wien 29. 41. 70. 96. 179.
Wittmann 72.
Wolf, Hugo 115.
WölffI 27.
Zelter 14. 23. 25. 26. 28—34. 36.
38—40. 44. 46. 49. 58. 87. 106. 110.
112. 113. 129. 164. 179.
Zumsteeg 113.
REGISTER ZU MENDELSSOHNS WERKEN
Werke für Orchester:
Erste Symphonie op. 11. c. 31. 46.
153. 154.
Zweite Symphonie (Lobgesang) op.
52. B. 71. 74. 75. 80. 81. 85. 151.
153. 158. 159.
Dritte Symphonie op. 56. a. 11. 42.
44. 50. 80. 81. 82. 83. 88. 151—153.
155. 156—158. 161.
Vierte Symphonie op. 90. A. 11. 44.
50. 53. 56. 151. 152. 153. 155. 156.
Fünfte (Reformations-) Symphonie op.
107. d. 40. 47. 51. 151. 154.
Ouvertüre Fingalshöhle (Hebriden)
op. 26. h. 42. 44. 48. 50. 51. 60.
62. 75. 81. 156. 160. 161. 162.
— Meeresstille und glückliche Fahrt
op. 27. D. 37. 51. 56. 60. 62. 72.
160.
— Märchen von der schönen Melusine
op. 32. F. 50. 65. 162. 163.
— Ruy Blas op. 95. c. 71. 163.
Trompeten-Ouvertüre op. 101. C. 31.
35. 159.
Ouvertüre op. 24. C. 159.
Trauermarsch op. 103. a. 163.
Marsch op. 108. D. 163.
Konzerte:
Konzert für Violine m. Orch. op. 64. e.
11. 69. 89. 90. 163. 164.
Erstes Konzert für Klavier m. Orch.
op. 25. g. 46. 47. 48. 51. 62. 132.
133. 164.
Zweites Konzert für Klavier m. Orch.
op. 40. d. 67. 81. 133. 134. 164.
Capriccio brillant f. Klav. m. Orch.
op. 22. h. 134.
Rondo brillant f. Klav. m. Orch. op.
29. Es. 48. 56. 68. 134. 135.
Serenade und Allegro giojoso f. Klav
m. Orch. 135.
Kammermusik:
Oktett f. 4 V., 2 Br. u. 2 Vcl. op.
20. Es. 35. 48. 148. 149.
Erstes Quintett f. 2 V., 2 Br. u. Vcl.
op. 18. A. 35. 148.
Zweites Quintett f. 2 V., 2 Br. u. Vcl.
op. 87. B. 90. 148. 149.
I. Quartett f. 2 V., Br u. Vcl. op.
12. Es. 37. 47. 143- ,45.
II. Quartett f. 2 V., Br. u. Vcl. op.
13. a. 37. 48. 143. 144.
III. Quartett f. 2 V., Br. u. Vcl. op. 44
No. 1. D. 88. 145.
IV. Quartett f. 2 V., Br. u. Vcl. op. 44
No. 2. e. 67. 8S. 145. 146.
V. Quartett f. 2 V., Br. u. Vcl. op. 44
No. 3. Es. 68. 145—147.
VI. Quartett f. 2 V., Br. u. Vcl. op.
80. f. 95. 147.
Andante, Scherzo, Capriccio u. Fuge i.
2 V., Br. u. Vcl. op. Sl. E. 37. 86.
95. 148.
Sextett f. Klav., V., 2 Br., Vci. u.
Kontrabaß op. 110. D. 136. 139.
I. Quartett f. Klav., V., Br. u. Vcl.
op. 1. c. 30. 136—138.
II. Quartett f. Klav., V., Br. u. Vcl.
op. 2. f. 31. 136—138.
III. Quartett f. Klav., V., Br. u. Vcl.
op. 3. h. 31. 32. 48. 136—139.
Erstes Trio f. Klav., V. u. Vcl. op. 49.
d. 71. 72. 88. 140. 141.
Zweites Trio f. Klav., V. u. Vcl. op.
66. c. 140. 141—143.
Sonate f. Klav. u. Viol. op. 4. f. 31.
136. 139.
Konzert-Variationen f. Klav. u. Vcl.
op. 17. D. 37. 140.
Sonate f. Klav. u. Vcl. op. 45. B. 68.
139.
Sonate f. Klav. u. Vcl. op. 58. D. 86.
139. 140.
Lied ohne Worte f. Vcl. u. Klav. op.
109. D. 140.
Zwei Konzertstücke f. Klarin. u. Basset-
horn m. Klav. op. 113 u. 114. f.
u. d. 50. 140.
Werke für Klavier zu 4
Händen:
Andante und Variationen op. 83a. B.
88. 130.
Allegro brillant op. 92. A. 77. 131.
Werke für Klavier zu 2
Händen:
Capriccio op. 5. fis. 35. 127.
Sonate op. 6. E. 35. 131.
Sieben Charakterstücke op. 7. 35.
Rondo capriccioso op. 14. E. 127.
Phantasie op. 15. E. 39. 131.
Register zu Mendelssohns Werken
201
Phantasien oder Capricen op. 16. 39.
128.
Phantasie (Sonate ecossaise) op. 28.
fis. 50. 131.
Andante cantabile u. Presto agitato.
H. 69. 128.
Etüde iL Scherzo, f, h. 129.
Gondellied. A.
Scherzo a Capriccio, fis. 128.
Drei Capricen op. 33. 56. 128.
Sechs Präludien und Fugen op. 35.
56. 67. 129.
17 Variations serieuses op. 54. 77.
91. 130.
Sechs Kinderstücke op. 72. 128.
Variationen op. 82. Es. 77. 130.
Variationen op. 83. B. 130.
Drei Präludien u. drei Etüden op. 104.
129.
Sonate op. 105. g. 131.
Sonate op. 106. B. 131.
Albumblatt (Lied ohne Worte) op.
117. e. 128.
Capriccio op. 118. E. 128.
Perpetuum mobile op. 119. 128.
Präludium und Fuge e. 129.
Zwei Klavierstücke B., g.
Lieder ohne Worte:
Heft I op. 19 b. 48. 117—124.
Heft II op. 30. 56. 117—124.
Heft III op. 38. 117—124.
Heft IV op. 53. 117—124.
Heft V op. 62. 117—124.
Heft VI op. 67. 117—124.
Heft VII op. 85. 117—124.
HeftVIII op. 102. 117—124.
Orgelwerke:
Drei Präludien u. Fugen op. 37. 71.
135.
Sechs Sonaten op. 65. 71. 89. 90. 135.
Bühnenwerke:
Die Hochzeit des Camacho. Kom.
Oper in 2 Akten op. 10. 35. 36. 186.
Heimkehr aus der Fremde. Liederspiel
in 1 Akt op. 89. 39. 189.
Loreley. Unvoll. Oper op. 98. 95.
186. 187.
Musik z. Antigone op. 55. 79. 80. 83.
91. 98. 106. 187. 188.
Musik z. Athalia op. 74. 86. S8. 90.
91. 92. 188.
Musik z. Oedipus op. 93. 89—91.
187. 188.
Musik z. Sommernachtstraum op. 61.
11. 35. 38. 46. 47. 48. 51. 60. 86—88.
127. 128. 148. 159. 161. 188. 189.
Vokal werke mit Orchester:
Paulus op. 36. 11. 50. 55. 65—68. 72.
74. 80. 88. 89. 165—172. 173. 177.
Elias op. 70. 11. 71. 90—92. 94—96.
99. 165. 172—179.
Christus. Rezitative u. Chöre op. 97.
95. 165. 179.
Die erste Walpurgisnacht op. 60. 11.
42. 44. 45. 48. 50. 51. 84. 85. 88. 89.
95. 165. 181—183.
Festgesang ,,An die Künstler" op. 68.
92. 183.
Festgesang zur Säkularfeier der Buch-
druckerkunst 183.
Psalm 115 op. 31. 180.
Psalm 42 op. 42. 67. 68. 75. 180.
Psalm 95 op. 46. 68. 180.
Psalm 114 op. 51. 180.
Psalm 98 op. 91. 87. 180.
Lauda Sion op. 73. 92. ISO.
Hymne f. 1 Altstimme u. Orch. op.
96. 180.
Tu es Petrus op. 111. 180.
Verleih uns Frieden f. Chor u. Orch.
180.
Konzertarie f. 1 Sopranstimme m.
Orch. op. 94. 86. 187.
Vokal werke für mehrere
Stimmen mitOrgel (Klavier):
Kirchenmusik f. Chor- u. Solo-St. op.
23. 181.
Drei Motetten f. weibl. St. op. 39.
181.
Responsorium et Hymnus f. Männerst.
op. 121. 181.
Drei geistliche Lieder f. 1 Altst. m.
Chor 181.
Hymne f. 1 Sopranst. m. Chor 181.
Te Deum f. Solo u. Chor 181.
Geistliche Vokal werke ohne
Begleitung:
Psalm 2 f. Chor u. Solost. op. 78
No. 1. 181.
Psalm 43 f. Chor u. Solost. op. TS
No. 2. 181.
Psalm 22 f. Chor u. Solost. op. TS
No. 3. 181.
Psalm 100 f. gem. Chor 181.
202
Register zu Mendelssohns Werken
Drei Motetten f. Chor u. Solost. op.
69. 181.
Sechs Sprüche f. achtst. Chor op. 79.
181.
Zwei geistliche Lieder f. Männerst.
op. 115. 181.
Trauergesang f. gem. Chor op. 116.
181.
Ehre sei Gott in der Höhe f. gem.
(Doppel-) Chor 181.
Heilig f. gem. (Doppel-) Chor 181.
Kyrie eleison f. gem. (Doppel-) Chor
181.
Zum Abendsegen f. gem. Chor 181.
Vokalwerke für Männerchor
ohne Begleitung:
Sechs Lieder op. 50. 183.
Vier Lieder op. 75. 183.
Vier Lieder op. 76. 183.
Vier Lieder op. 120. 183.
Ersatz für Unbestand. 183.
Nachtgesang 183.
Stiftungsfeier 183.
VokalwerkefürSopran, Alt,
Tenor und Baß:
Sechs Lieder op. 41. 71. 183.
Sechs Lieder op. 48. 184.
Sechs Lieder op. 59. 184.
Sechs Lieder op. 88. 184.
Vier Lieder op. 100. 184.
Lieder und Gesänge für 2
Stimmen mit Klavier:
Sechs Lieder op. 63. 117.
Drei Lieder op. 77. 117
Drei Volkslieder 117.
Lied aus Ruy Blas 71.
Lieder und Gesänge für 1
Stimme mit Klavier:
12 Gesänge op. 8. 114. 115.
12 Lieder op. 9. 115.
6 Gesänge op. 19 a. 114. 116.
6 Gesänge op. 34. 115. 116.
6 Lieder op. 47. 114. 116.
6 Lieder op. 57. 115. 116.
6 Lieder op. 71. 115. 116.
6 Gesänge op. 86. 115. 116.
6 Gesänge op. 99. 115.
3 Gesänge für eine tiefe Stimme
op. 84. 116.
2 Romanzen von Lord Byron 115.
2 Gesänge für eine tiefe Stimme 115.
2 Gesänge 114.
Der Blumenkranz 114.
Des Mädchens Klage 115.
Seemanns Scheidelied 114.
Warnung vor dem Rhein 114.
2 geistliche Lieder op. 112. 114.
Unveröffentlichte Werke:
Kantate zum Dürerfest 36.
Soldatenliebschaft, Operette 28.
Die wandernden Komödianten, Ope-
rette 28.
Die beiden Pädagogen, Operette 28.
Die beiden Neffen, Oper 30. 31.
Klavierkonzert a. 30. 132.
Konzerte für 2 Klaviere E und As.
31. 132.
Violinkonzert F. 30.
10 vier-, fünf- u. sechsstimmige Sym-
phonien 28. 153.
Sonate für Klavier u. Viol. F. 68. 139.
Sonate für Klavier u. Bratsche 139.
Sonate für Klavier u. Klarin. 139.
Symphonie D. 153.
66. Psalm f. drei Frauenstimmen 29
Jube Domine C. 30.
Magnifikat und Gloria mit Instrumen-
talbegleitung 30.
Festkantate zur Naturforscherver-
sammlung 37.
Im gleichen Verlag erschienen von
WALTER DAHMS
SCHUBERT
Eine Biographie
Siebzehnte Auflage
Nun liegt in Dahms' „Schubert" dieses seit langem sehnsüchtig erhoffte,
grundlegende Werk vor; eines Künstlers und eines Gelehrten Werk zugleich»
denn es zählt nicht nur mit der Gewissenhaftigkeit des Forschers und Quellen-
suchers all das auf, was zusammentraf, um „Nöte, Arbeit und karge Freuden"
zu Schuberts Leben zu machen, es bietet auch die künstlerischen Resultate eines
mit feinstem Gefühl die Gedankenwelt Schuberts enträtselnden, nachschaffenden
Poetenherzens, das des Meisters Erdendasein mit seiner Tagesnot und seinem
weltvergessenden Singen noch einmal mitzuerleben und auszukosten vermochte.
Nicht nur aufzählen wollte Dahms, nicht nur lückenlos feststellen, ihm stand
ein höheres Ziel vor Augen, das Ziel „der historischen Bewertung und ästheti-
schen Betrachtung aller Werke Schuberts", und ein bewundernswertes
Resultat ist die Krone dieses überaus verdienstvollen Unternehmens.
Breslauer Zeitung.
Das Werk von Dahms ist ein mit Herz und Verstand entzückend ge-
schriebenes Buch, jedenfalls das beste über Schubert. Dahms ist ein
Kritiker, der sich noch die volle Ursprünglichkeit des künstlerischen Genusses
erhalten hat, und wie konnte das anders sein bei einem feinsinnigen, warm
empfindenden Beurteiler, der Schubert ganz verstand. Er ist überall sachlich
und anregend, so anregend, daß man von ihm sofort zu Schubert eilen muß
und Schubert von neuem genießt: inniger, tiefer, berauschender.
Pester^Lloyd.
Dem Auge entrollt sich ein Lebensbild, so warm im Ton, so lebensecht
bis in die kleinsten Einzelheiten, daß es einem schwer in den Sinn will, es
sei anderswo entstanden als auf dem Boden, der unsern Schubert getragen.
In Wahrheit die erste, auf umfassender Quellenkenntnis aufgebaute, er-
schöpfende Schilderung seines Erdenwallens, die erste tiefgründige
Würdigung seines unbegreiflich reichen und herrlichen Schaffens! Von der
hohen Künstlerschaft, mit welcher Dahms, ein Meister des Stils, den sprachlichen
Ausdruck beherrscht, durch Proben einen Begriff zu geben, müssen wir uns
leider versagen. n. D . ,
* Die Keichspost.
Im gleichen Verlag erschienen von
WALTER DAHMS
SCH UMANN
Eine Biographie
Zehnte Au f 1 a ge
&
Das Werk ist schlechthin d i e Schumann-Biographie, die unter Benutzung
alles über Schumann Bekannten in genialer Einfühlung den Menschen und
sein Leben wieder erstehen läßt und eine feinsinnige Analyse seiner Werke
bietet. Wertvoller Bilderschmuck vereinigt sich mit formvollendeter Darstellung,
um das Werk seinen höchsten und schönsten Zweck erreichen zu lassen.
Düsseldorfer Tageblatt.
Eine Biographie, wie sie wissenschaftlich erschöpfender und zugleich
künstlerisch verständnisvoller nicht zu erwarten ist. Dahms hat sich mit
diesem umfangreichen Werk, das Blatt für Blatt persönlich durchgearbeitet
ist und prächtig angeordnetes Material birgt, in die vorderste Reihe unserer
feinfühlenden Kunsthistoriker gestellt, etwa wie Paul Bekker durch seinen
Beethoven. Das Werk bietet wirklich grundlegend Neues.
Dresdener Volkszeitung.
Dieses Schumann-Buch ist dem vortrefflichen Schubert-Buch desselben
Verfassers ebenbürtig, ja, es übertrifft es noch an Meisterung des Stoffes
und blühender Darstellung. Es ist überaus fesselnd geschrieben.
Grazer Tagblatt.
Die Wertschätzung Schumanns durch Dahms darf dem Beethoven-Buch
Paul Bekkers an die Seite gestellt werden, sie bildet das beste Werk, das bis
jetzt über Schumann erschienen ist. Dahms' Schilderungskunst ist scharf und
anschaulich, man sieht die Vorgänge sich in greifbarer Deutlichkeit abspielen,
auch äußerlich ist das Werk eine Zierde jeder musikalischen Bibliothek.
Kölnische Zeitung.
Im gleichen Verlag erschien von
ERNST DECSEY
HUGO WOLF
Eine Biographie
Zwölfte Auflage
Ein Werk, das schlechthin die klassische Biographie Hugo Wolfs
genannt zu werden verdient, denn sie erfüllt alle geistigen und literarischen
Anforderungen! Es ist ein Werk, gediegen, umfassend, gewissenhaft, in künst-
lerisch wohltuender Sprache geschrieben, mit echter Liebe für den großen
Gegenstand erfüllt. Decsey begnügt sich nicht mit einer plastischen Sichtung
des gewaltigen Tatsachenmaterials, sondern er gibt durch eine ausgezeichnete
musikalische Analyse, durch inniges Verstehen und Mitfühlen der tondichte-
rischen Eigenart Wolfs eine klassische Lebensgeschichte dieses
deutschen Tonmeisters. Münchener Post.
Eines der besten biographischen Werke, das die deutsche
Musikliteratur besitzt ! Allgemeine Musikzeitung.
E9 liest sich wie ein fesselnder, niemals ermüdender Lesestoff. Die Ab-
schnitte über den „Corregidor" und das „Italienische Liederbuch" halte ich für
kritische Leistungen ersten Ranges, eine seltene Erscheinung
in der modernen Musikschriftstellerei. Für Wolfs Schaffen und Schicksal wird
das Werk lange hinaus die reichste Quelle der Kenntnis und Be-
lehrung bleiben. Der Kunstwart.
Decseys Werk wird auf Jahrzehnte hinaus das Buch über Hugo
Wolf bilden, aus dem wir alle, Kenner und Adepten, zu lernen haben, um des
großen Liedermeisters Wesen und Werden zu verstehen.
B o h e m i a , Prag.
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persönlicher Eindrücke einen gleicherweise geschichtlichen wie auch systematischen
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1922