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Full text of "Mendelssohn, von Walter Dahms"

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fNDELSOHN 


VON 


WALTER  DAHMS 


VERLEGT  BEI 

SCHUSTER  X  LOEFFLER 

BERLIN  UND  LEIPZIG 


Digitized  by  the  Internet  Archive 

in  2011  with  funding  from 

University  of  Toronto 


http://www.archive.org/details/mendelssohnvonwaOOdahm 


Von  demselben  Verfasser  erschien  im  gleichen  Verlag: 

SCHUBERT /EINE  BIOGRAPHIE 

SCHUMANN  /  EINE  BIOGRAPHIE 


MENDELSSOHN 


VON 


WALTER    D  A  H  MS 


SECHSTE  BIS  NEUNTE  AUFLAGE 


1922 


SCHUSTER   &    LOEFFLER    IN    BERLIN 


Alle    Rechte    vorbehalten 


1V\L 

N\6D3 


913961 


INHALT 


Seite 

DAS  LEBEN 

Präludium 9 

Vom  Philosophen  zum  Musiker 16 

Traum  und  Tat 24 

Die  weite  Welt 39 

Glückswogen 49 

Felix  Meritis 61 

Intermezzo 77 

Am  Ziel 83 

DAS  SCHAFFEN 

Genie  oder  Epigone? 103 

Lieder  mit  und  ohne  Worte 111 

Klaviermusik 125 

Kammermusik 136 

Orchesterwerke 150 

Chorwerke 164 

Bühnenmusik 184 

Mendelssohn  und  die  Zeit 189 

Register 195 


DAS   LEBEN 


PRÄLUDIUM 

Es  ist  ein  Wagestück  in  der  heutigen  Zeit,  die  Geschichte  Felix 
Mendelssohns  zu  schreiben.  Denn  das  Schaffen  dieses  romantischen 
Tondichters  ist  nach  einer  Periode  unbedingter  und  feuriger  Ver- 
ehrung späterhin  maßloser  Unterschätzung,  ja  Mißachtung  verfallen. 
Das  geschah  mit  einer  gewissen  Naturnotwendigkeit,  bedingt  durch 
die  heftigsten  und  umwälzendsten  Erschütterungen  der  geistigen  Welt, 
die  mit  Begierde  die  neuen  naturalistischen  und  realistischen  Gedanken 
aufgriff  und  den  Maßstab  für  die  stillen  Werte  der  Beschaulichkeit, 
reinsten  Innerlichkeit  und  ungewürzten  Lebensfreude  verlor.  Durch 
die  nachwagnerische  moderne  Musik  ist  die  Öffentlichkeit  in  bedauer- 
licher Weise  einem  vollkommenen  ästhetischen  Chaos  ausgeliefert 
worden.  Wir  kennen  die  Zeiten  des  guten  Geschmacks  in  der  Musik 
nur  noch  vom  Hörensagen;  aber  wir  können  sie  uns  vorstellen  als 
Feierstunden  voller  Vornehmheit,  Grazie,  Melancholie,  Sehnsucht  und 
tiefster  Erfüllung.  Wenn  auch  nicht  gesagt  werden  soll,  daß  es  eine 
bessere  Zeit  war,  die  nicht  immer  der  großen  Geste  in  der  Kunst 
bedurfte,  um  ergriffen  und  erhoben  zu  werden,  so  darf  man  doch 
ohne  weiteres  behaupten,  daß  sie  leichter  eines  unbefangeneren  Blickes 
fähig  war  und  sich  williger  dem  Eindruck  des  Schönen  hingab,  auch 
wenn  es  mit  leisen  Schritten  und  in  äußerlich  bescheidener  Hülle  ein- 
herging. 

Sprechen  wir  es  nur  aus :  was  unsere  Zeit  an  Mendelssohns  Musik 
vermißt,  ist  das  Fehlen  nervenerregender,  unsubstantieller  Momente, 
jener  mehr  oder  weniger  eindringlichen  Affektausdrücke,  die  uns 
doch  die  Meister  von  Bach  bis  Brahms  und  Wagner  in  jeder  Stimmung 
der  Seele  so  neu  und  ewig  unerschöpflich  erscheinen  lassen.  Und  es 
ist  wiederum  kein  Geheimnis,  daß  auch  die  Antike  dem  Sinn  des 
modernen  Menschen  ferner  gerückt,  den  weitaus  meisten  ganz  fremd 
geblieben  oder  geworden  ist.  Drängt  sich  da  nicht  die  Frage  nach 
der  Ursache  solcher  Erscheinungen  auf?  Müssen  wir  nicht  suchen, 
einen  Zusammenhang  zu  ergründen,  wenn  wir  erkennen,  daß  Mendels- 
sohns Musik  die  Erfüllung  des  humanistischen  Ideals  bedeutet  und 
er  selbst  nach  innerstem  Wesen  und  der  Kraft  gewaltiger  Über- 
lieferungen als  Mensch  eine  reine  Verkörperung  der  Humanitäts- 
lehre  war? 


10  Präludium 

In  unserer  Zeit  haben  wir  das  große  Sterben  des  Humanismus 
erfahren.  Wer  den  gewaltigen  Krieg  der  Völker  erlebt  hat,  der 
begreift  den  Zusammenbruch  aller  höheren  Kulturbestrebungen,  die 
in  der  Menschheit  demnach  noch  nicht  tief  genug  Wurzel  gefaßt 
hatten.  Mag  der  Krieg  für  irgendwen  eine  heilige  Sache  sein ;  lassen 
wir  selbst  den  Eroberungskriegen  der  alten  und  neuen  Geschichte  den 
Ehrenschild  höherer  Interessen,  da  sie  einem  Ideal,  wenn  auch  einem 
selbstsüchtigen  dienten.  Aber  wo  nur  der  Krämergeist  die  Triebfeder 
ist,  da  blicken  wir  schaudernd  in  einen  Abgrund  von  Niedrigkeit, 
den  noch  kein  Lichtstrahl  menschlicher  Seelengröße  erhellt  hat.  In 
wie  geringem  Maße  die  Menschheit  von  den  Gedanken  der  wirklichen 
Humanität  durchdrungen  war,  geht  ja  gerade  daraus  am  besten  hervor, 
daß  ein  ganz  kleiner  Kreis  von  Menschen  die  Macht  in  den  Händen 
hatte,  um  die  an  so  falschem  Ehrgeiz  unschuldige  geistige  und  körper- 
liche Blüte  der  Völker  gegeneinander  auszuspielen  und  ihre  Leiber 
von  den  Granaten  zerfetzen  zu  lassen.  Ob  man  gleich  den  Geist 
Goethes,  Shakespeares,  Dantes,  Dostojewskis  und  anderer  Großen 
beschworen  hat,  das  Furchtbare  zu  entschuldigen,  ja  zu  heiligen  und 
den  wehrlosen  Opfern,  den  Völkern,  Sand  in  die  Augen  zu  streuen 
—  was  übrig  geblieben  ist,  das  sind  doch  nur  noch  die  Trümmer  der 
Menschlichkeit,  des  Guten  und  Edlen,  und  von  den  Schädelstätten 
grinst  das  urböse  Prinzip,  verkörpert  in  den  gierigen,  brutalen  Ver- 
ächtern der  Kultur  und  den  Vampyren  der  Menschheit. 

Die  Vorbereitungen  zu  solcher  Gewalttat  sind  nicht  von  heute 
und  gestern.  Langsam  hat  man  die  Menschen,  die  in  ihrer  Arglosig- 
keit ja  meist  weder  nach  Ziel  noch  Ursprung  fragen,  in  den  Nebel  der 
Begriffe  geführt,  in  ein  Jenseits  von  Gut  und  Böse,  wohin  kein  Klang 
aus  jener  besseren  Welt  geistiger  Kultur,  menschlicher  Erhabenheit 
und  göttlicher  Größe  mehr  dringt.  Was  man  Geist  zu  nennen  liebte, 
war  nicht  mehr  von  der  Art,  die  das  Herz  weit  macht,  den  Menschen 
innerlich  bereichert  und  beglückt;  sondern  es  war  die  nüchterne 
Sprache  materieller  Tatsachen,  die  Entgötterung  und  Ausplünderung 
des  reichen  Garten  Gottes.  Hier  könnte  man  einwenden,  auch  das 
Zeitalter  des  Humanismus,  ja  selbst  eine  so  vergeistigte  Zeit  wie  die 
der  Antike  in  Griechenland  habe  ihre  Kriege  gehabt  und  gar  mehr 
und  anhaltender  als  die  unsrige.  Nun  spricht  aber  diese  Tatsache  als 
solche   nicht   gegen   den    Humanismus.     Versuchen    wir   überhaupt, 


Präludium  11 

Wesen  und  Ursache  einer  so  ungeheuerlichen  unhumanen  Erschei- 
nung, wie  der  Krieg  es  ist,  zu  ergründen,  so  stehen  wir  stets  vor 
einem  Rätsel.  Es  gilt  also  nur,  Beweggründe  zu  finden,  um  den  Krieg 
als  den  Gipfel  der  Unmenschlichkeit  zu  vermeiden.  Ist  es  ein  Fehler, 
zu  diesem  Zweck  auf  das  Lernen  aus  der  Geschichte  und  auf  die  Er- 
innerung zu  verweisen?  Ich  bin  nicht  so  anmaßend  zu  behaupten, 
dies  wären  die  einzigen  Mittel.  Aber  sie  sind  sicher  gut.  Gerade  die 
Ideale  des  Humanismus  finden  wir  in  der  Erinnerung.  Ihr  Sieg  würde 
heutigentags  den  Sieg  der  Kultur  über  die  Zivilisation  bedeuten.  Was 
die  Kunst  dabei  gewinnen  würde,  braucht  wohl  hier  nicht  weiter 
umschrieben  zu  werden. 

Dürfen  wir  nach  allem  noch  hoffen,  für  das  Ideal  wieder  einen 
neuen  Thron  und  Tempel  erbauen  zu  können?  Es  sei!  Gönnen  wir 
den  zerrissenen,  zermürbten,  überreizten  Nerven  ein  Zurückgreifen 
in  die  Vergangenheit,  um  eine  bessere  Gegenwart  und  Zukunft  zu 
gewinnen.  Machen  wir  uns  antike  und  romantische  Ideale  wieder 
lebendig  und  schöpfen  wir  neue  Kräfte  zu  höherem  Aufschwung  aus 
ihnen.  Dann  werden  wir  auch  den  Weg  zu  einem  Meister  wie  Felix 
Mendelssohn  wieder  finden. 

Mendelssohns  Musik  ist  von  dem  großen  Musikgetriebe  der 
Öffentlichkeit  in  die  besinnlichere  Welt  des  Hauses  zurückgekehrt. 
Werke  wie  die  Sommernachtstraummusik,  die  Walpurgisnacht,  Elias 
und  Paulus,  das  Geigenkonzert,  die  schottische  und  italienische  Sym- 
phonie und  die  Ouvertüren,  die  man  nirgendwo  im  Konzertsaal  ent- 
behren möchte,  sprechen  nicht  dagegen.  Wir  vermögen  ein  Ähn- 
liches in  gewissem  Sinne  bei  Mozart  festzustellen,  dem  einzigen 
Meister,  mit  dem  man  Mendelssohn  in  eine  Parallele  bringen  kann. 
Ist  Mozart  die  ideale  Verkörperung  des  musikalischen  Genius  über- 
haupt, mit  all  der  unerschöpflichen  Kraft  der  Inspiration  und  der 
reifsten  und  überlegensten  Meisterschaft  der  musikalischen  Technik, 
so  treffen  wir  unwillkürlich  auf  Mendelssohn,  wenn  wir  in  der  späteren 
Musikgeschichte  ein  Gegenstück  suchen.  Beide  haben  Südliches  in 
ihrer  Musik,  den  stillen  Mittag  heiterer  Sonnentage,  das  Schwebende, 
Duftende,  das  Schillernde  und  Erwärmende  weiter  Mittelmeerland- 
schaften, eine  leise  tändelnde  Melancholie  selbst  in  der  freudigsten 
Lebensbejahung.  Während  es  Mozart  mehr  zur  italienischen  Fülle 
und   Buntheit  drängt,  zeigt  sich  in  Mendelssohn  das  Hinneigen  zur 


12  Präludium 

griechischen  Schönheit  und  strengen  Linienführung.  Den  Griechen 
selbst  war  ja  eine  große,  ihrem  Charakter  ebenbürtige  und  ange- 
messene Musik  versagt.  Der  Sinn  der  Allgemeinheit  war  auf  äußere 
Bildhaftigkeit  gerichtet.  Die  Antike  war  eben  die  unbedingte  und 
rückhaltlose  Manifestierung  des  körperlichen  Schönheitsideals.  Die 
musikalische  Seele  im  griechischen  Sinne  tauchte  erst  in  Mendels- 
sohns Musik  auf. 

Wir  erkannten  das  Absterben  des  Humanismus  in  der  neuen  Zeit. 
Die  griechische  Kunst  aber  ist  die  Schule  der  Humanität.  „Ihr  seid 
nicht  wie  die  Griechen  und  Römer,  geborene  Freie,  unbefangene 
Söhne  der  Natur",  ruft  Schopenhauer  den  Zeitgenossen  zu.  Kein 
Wunder  auch,  daß  bei  dieser  allgemeinen  Entfremdung  von  hellenisti- 
schen Gedanken  die  Verehrung  der  Antike  mit  ihrer  herben  ver- 
schlossenen keuschen  Schönheit  nur  den  wahrhaft  geistigen  Menschen 
überlassen  blieb,  jenen  tieferen  Naturen,  die  ihr  Menschentum  be- 
reichern und  veredeln  wollten  in  einer  versunkenen  Welt,  die  noch 
frei  war  von  den  Verzerrungen  späterer  Epochen.  Das  vielverheißende 
Aufleben  humanistischer  Gedanken  im  siebzehnten  Jahrhundert  führte 
nur  zu  bald  zu  ihrem  endgültigen,  langsam  weiter  greifenden  Verfall 
im  achtzehnten.  Begreift  man  nun  die  Musik  als  Spätling  jeder  Kul- 
tur —  wie  es  Nietzsche  meinte  —  als  letztes  Entwicklungsstadium 
epochaler  Ideen,  so  dürfte  man  auch  Mendelssohn  als  Spätling  des 
Humanismus  auffassen.  Allerdings  mit  romantischem  Beigeschmack; 
aber  nicht  dem  deutschen  verträumten  Hang  zum  Dämonischen  und 
Übersinnlichen,  sondern  mehr  hinneigend  zur  leichten  Elfenspielerei, 
zur  sonnigen  und  —  in  welch  tiefem,  wehmütigem  Sinn  —  heiteren 
Bejahung. 

Spüren  wir  den  Ursachen  der  Unterschätzung  Mendelssohns 
weiter  nach,  so  sehen  wir  heute,  wie  ihm  künstlerisch  Wagner  und 
Brahms  in  den  Weg  traten.  Der  Drang  des  Publikums  nach  starken 
Erregungen  wurde  von  der  Bühne  auch  in  den  Konzertsaal  übertragen. 
Man  fand  zu  wenig  Würze,  zu  wenig  Aufmachung  in  Mendelssohns 
Musik.  Man  fing  an,  ihn  verblaßt  und  veraltet  zu  nennen,  eben  weil 
man  die  Fühlung  mit  den  Idealen  seiner  Zeit  verloren  hatte.  Der 
Mangel  an  Beschaulichkeit  und  Verinnerlichung  im  modernen  Leben 
hat  auch  viele  andere  unserer  besten  Musiker,  Dichter  und  Maler 
zu  den  Toten  gelegt.     Wie  viel  köstliche  Güter  sind  da  verscharrt 


Präludium  13 

und  warten  auf  Wiedererweckung.  Der  Instinkt  der  Künstler  findet 
leicht  den  Weg  zu  ihnen  zurück.  Man  bedenke  doch  nur,  wieviel 
Anleihen  gerade  der  Meister  unserer  Zeit,  Richard  Strauß,  bei  Men- 
delssohn erhoben  hat.  Die  Verkennung  und  Verdrehung  des  Begriffs 
der  musikalischen  Technik  in  der  Komposition,  deren  letzter  deutscher 
Meister  Johannes  Brahms  war,  hat  das  ihrige  dazu  getan,  den  Schleier 
vor  Dinge  zu  ziehen,  die  die  Zerrbilder  von  heute  allzu  deutlich  als 
solche  zeigen  würden.  Man  braucht,  um  einen  Meister  zu  verehren, 
durchaus  nicht  blind  seinen  Schwächen  gegenüber  zu  sein.  Nur  eine 
gerechte  Abwägung  der  Vorzüge  und  Nachteile,  eine  wahrhaft  ob- 
jektive Stellungnahme  kann  zur  richtigen  Erkenntnis  führen.  Und  sie 
ist  notwendig,  um  so  mehr,  als  einige  Zeichen  der  Zeit  doch  darauf 
hindeuten,  daß  in  künstlerischen  Dingen  eine  Renaissance  stattfinden 
könnte,  würde  sie  nur  auf  die  rechte  Weise  vorbereitet. 

Wir  müssen  nun  von  dem  Judentum  Mendelssohns  sprechen; 
gleich  zu  Beginn  dieses  Buches.  Nicht,  wie  um  etwas  Unangenehmes 
oder  Peinliches,  von  dem  doch  nun  einmal  die  Rede  sein  muß, 
möglichst  rasch  zu  erledigen,  sondern  um  von  vornherein  den  rich- 
tigen Standpunkt  in  einer  so  wesentlichen  Frage  zu  gewinnen.  Ein 
Mahnender  von  überragendem  Einfluß  auf  die  Deutschen  zwingt  uns 
dazu:  Richard  Wagner.  Wir  wissen  längst,  daß  das  Jüdische  keine 
Sache  der  Religion,  sondern  der  Rasse  ist.  Die  Forscher  auf  beiden 
Seiten,  der  Juden  und  NichtJuden,  in  so  grimmer  Fehde  sie  gegen- 
einander liegen,  haben  uns  genugsam  belehrt,  um  uns  vermuten  zu 
lassen,  daß  die  Wahrheit  in  der  Mitte  liegt.  Wir  können  auf  Ob- 
jektivität nicht  Verzicht  leisten.  Deshalb  dürfen  wir  auch  Richard 
Wagners  Schrift  über  das  Judentum  in  der  Musik  nicht  ohne  Vor- 
behalt unterschreiben  und  unerwähnt  lassen.  Wagners  höchst  per- 
sönliche Auseinandersetzung,  die  mit  Keulensch'ägen  seinen  Anschau- 
ungen vom  Wesen  der  deutschen  Musik  eine  Bahn  brechen  und  die 
Widersacher  vernichten  sollte,  ist,  trotzdem  viel  von  Mendelssohn 
gesprochen  wird,  doch  in  der  Hauptsache  gegen  Meyerbeer  gerichtet. 
Denn  Wagner  wußte  ebensogut  wie  wir,  daß  Mendelssohns  Musik 
unbeschadet  der  Würde  der  deutschen  Kunst  und  Kultur  neben  der 
seinen  bestehen  konnte,  daß  sich  aber  im  Fall  Wagner-Meyerbeer 
zwei  Welten  scheiden  mußten.  Ihm  hierin  —  nämlich  in  der  Be- 
kämpfung des  effekthaschenden  Hugenottenkomponisten,  den  Schu- 


14  Präludium 

mann  ebenfalls  an  den  Pranger  gestellt  hat  —  unrecht  zu  geben, 
könnte  gewagt  erscheinen.  Denn  Meyerbeers  musikalische  Leicht- 
fertigkeit und  die  Skrupellosigkeit  seiner  Mittel  sind  zu  offensichtlich, 
um  geleugnet  werden  zu  können.  Darüber  täuschen  wohl  auch  kaum 
die  wirklichen  Schönheiten  und  zahlreichen  genialischen  Einfälle  in 
seinen  Werken  hinweg.  Mendelssohn  dagegen  ist  der  einzige  große 
und  ernste,  für  alle  Zeiten  bleibende  Meister,  den  die  Juden  der 
Musik  geschenkt  haben.  Seine  Musik  hat  deutschen  Charakter.  Ihn 
aus  der  Reihe  der  „deutschen"  Meister  auszuschließen,  wäre  eine  Ver- 
blendung, die  nur  aus  einer  gründlichen  Verkennung  des  vielseitigen 
Wesens  des  Deutschtums  zu  erklären  wäre.  Noch  ist  keine  endgültige 
Formel  für  das  Deutsche  gefunden  worden.  Denn  die  unendliche 
Variabilität  und  Fülle  unserer  Genies  straft  jede  engherzige  Defini- 
tion Lügen.    Und  gerade  dies  sei  unser  größter  Stolz. 

Die  reiche  Phantasie  des  Knaben  Mendelssohn,  kultiviert  durch 
eine  ernste  wissenschaftliche  Tradition  in  der  Familie  und  musikalisch 
gezügelt  durch  Zelter,  der  ihn  mit  Bachscher  Musik  zu  höchstem 
Ernst  und  zur  vollendetsten  künstlerischen  Selbstzucht  führte  —  das 
ergab  eine  reizvolle  Mischung.  Finden  wir  etwa  in  seinem  Schaffen 
die  von  Nietzsche  gekennzeichneten  Eigenschaften  der  Semiten:  „die 
furchtbare  Wildheit,  das  Zerknirschte,  Vernichtete,  die  Freuden- 
schauer, die  Plötzlichkeit"?  Doch  keineswegs!  Er  schwelgte  nicht 
in  Extremen;  er  liebte  auch  nicht  das  Sensationelle.  Er  war  in  dieser 
Hinsicht  so  abgeklärt  wie  nur  möglich.  Seine  Musik  ist  klassisch  — 
eine  Musik,  die  den  höchsten  und  strengsten  Gesetzen  der  Moral 
unterliegt,  ebenso  wie  den  Gesetzen  des  guten  Geschmacks.  In  seiner 
Stellung  zur  Romantik  läßt  sich,  wenn  man  will,  vielleicht  ein  Mangel 
an  typisch  deutschen  Eigenschaften  finden.  Mendelssohn  versuchte 
dem  romantischen  Ideal  seiner  Zeit  mit  klassischen  Mitteln  beizu- 
kommen. Dadurch  sticht  er  so  außerordentlich  von  dem  urdeutschen 
Schumann  —  namentlich  vom  jungen  Schumann  —  ab.  Seine  Roman- 
tik hat  keine  Jugend;  sie  ist  gedämpft,  ohne  Sturm  und  Drang.  Der 
starke  Intellekt,  der  die  Phantasie  überragte,  gab  ihm  im  Schaffen 
Selbstbeherrschung.  Die  Scheu  seiner  vornehmen  Natur,  das  innerste 
Gefühlsleben  preiszugeben,  erwirkte  eine  gewisse  Zurückhaltung  im 
Aussprechen  der  musikalischen  Ideen  und  erzielte  daher  oft  trotz 
aller  tiefen  Leidenschaft  eine  marmorne,  kalte  Schönheit.    Wir  stoßen 


Präludium  15 

noch  einmal  auf  Nietzsche,  wie  er  von  Mendelssohn  spricht,  „an  dem 
sie  die  Kraft  des  elementaren  Erschütterns  (beiläufig  gesagt:  das 
Talent  der  Juden  des  alten  Testaments)  vermissen,  um  an  dem,  was 
er  hat,  Freiheit  im  Gesetz  und  edle  Affekte  unter  der  Schranke  der 
Schönheit  einen  Ersatz  zu  finden. " 

Einem  Meyerbeer  gegenüber  dürfen  wir»  Wagner  Folge  leistend, 
unserem  Unwillen  freien  Lauf  lassen.  Aber  wir  müssen  uns  hüten, 
Erfahrungen,  die  wir  in  der  Mißgeburt  der  „großen  Oper'*  mit 
„jüdischen"  Eigenschaften  gemacht  haben,  nun  auch  ohne  Prüfung 
des  Tatbestandes  auf  einen  Meister  wie  Mendelssohn  zu  übertragen. 
Mendelssohn  stand  unter  anderen  Gesetzen.  Ist  es  nicht  schon  an 
und  für  sich  bemerkenswert,  daß  er  keine  Oper  zustande  brachte  und 
somit  der  äußerlichsten  musikalischen  Kunstform  innerlich  fremd 
gegenüberstand?  Ein  Meyerbeer  und  noch  viel  weniger  spätere 
jüdische  Komponisten  dürfen  uns  den  Blick  für  Mendelssohns  Reinheit 
und  Seelengröße  nicht  trüben.  Vorausgesetzt,  daß  wir  überhaupt 
ein  Interesse  daran  haben,  das  Jüdische  in  der  Musik  besonders  zu 
untersuchen  und  in  ein  bestimmtes  Licht  zu  rücken,  wie  es  eben 
Wagner  getan  hat.  Die  Gerechtigkeit  verlangt  hier  ein  anderes 
Maß:  das  der  unbestechlichen  Objektivität,  einzig  und  allein  künst- 
lerischen Zielen  zugewandt.  Mendelssohns  Persönlichkeit  steht  in 
der  gehörigen  geschichtlichen  Entfernung.  Der  Biograph  darf  sich 
deshalb  von  Liebe  und  Haß  gleich  weit  entfernt  halten  und  jenen 
goldenen  Mittelweg  gehen,  auf  dem  sich  Freund  und  Feind  die  Hände 
reichen  können. 

Der  Hinweis  auf  den  Humanismus  mit  Bezug  auf  Felix  Mendels- 
sohn öffnet  vielleicht  die  Tore,  die  zu  Mendelssohns  Musik  zurück- 
führen. Schon  Gumprecht  deutet  es  einmal  an :  „Die  edle  Humanität, 
die  in  Mendelssohns  Schaffen  Ausdruck  gewann,  bildet  einen  Grund- 
zug seiner  menschlichen  Persönlichkeit."  Und  hören  wir  es  nicht 
aus  des  Meisters  Worten  selbst,  wenn  er  an  Wilhelm  Taubert  schreibt: 
„Ist  Ihnen  denn  dies  neuere,  hochfahrende,  unerfreuliche  Wesen, 
dieser  Cynismus  auch  so  fatal  wie  wir?  Und  sind  Sie  mit  mir  einer 
Meinung,  daß  es  die  erste  Bedingung  zu  einem  Künstler  sei,  daß  er 
Respekt  vor  dem  Großen  habe  und  sich  davor  beuge  und  es  aner- 
kenne und  nicht  die  großen  Flammen  auszupusten  versuche,  damit  das 
kleine  Talglicht  ein  wenig  heller  leuchte?"     Strahlt  uns  nicht  aus 


16  Vom    Philosophen    zum    Musiker 

seinem  Werk  ein  durch  und  durch  gesunder  Geist  entgegen  ?  Und 
nun  bedenke  man  dazu,  wie  in  seiner  Familie  damals  schon  die  Nerven- 
krankheiten und  damit  verbunden  die  Dekadenz  vorhanden  waren. 
Dieses  Endprodukt  einer  in  die  höchste  Geistigkeit  strebenden 
Familienkultur  kannte  keine  Anfechtungen.  Von  der  Romantik  ist 
es  schon  gesagt  worden;  sie  klingt  gedämpft  und  geläutert  durch 
sein  Schaffen.  Ein  gewisser  Einschlag  von  Biedermeier  muß  in  Kauf 
genommen  werden ;  denn  Mendelssohn  durchlebte  dessen  ganze  Blüte- 
zeit. Revolutionen  berührten  ihn,  den  über  solchen  Zeitzufällen  Er- 
habenen, nicht.  Seine  Wurzeln  ruhen  zu  fest  in  vergangenen  Epochen, 
deren  Abglanz  auf  jedem  seiner  Werke  schimmert.  Und  wir  geben 
Friedrich  Nietzsche,  dem  großen  Musikpsychologen  aus  Instinkt, 
recht,  wenn  er  sagt:  „Felix  Mendelssohns  Musik  ist  die  Musik  des 
guten  Geschmacks  an  allem  Guten,  was  dagewesen  ist:  sie  weist 
immer  hinter  sich.  Wie  könnte  sie  viel  ,Vor-sich',  viel  Zukunft 
haben!  —  Aber  hat  er  sie  denn  haben  wollen?  Er  besaß  eine  Tugend, 
die  unter  Künstlern  selten  ist,  die  der  Dankbarkeit  ohne  Nebenge- 
danken: auch  diese  Tugend  weist  immer  hinter  sich." 


VOM  PHILOSOPHEN  ZUM   MUSIKER 

Rhythmus  beschwingt  den  Flug  der  Gedanken  wie  das  Spiel 
der  Töne.  Philosophie  und  Musik  nähren  sich  aus  denselben  Quellen, 
gehorchen  denselben  Urgesetzen.  Sie  zielen  ins  Unirdische,  Über- 
irdische, Grenzenlose,  ins  Jenseits  der  Dinge.  Geadelt  durch  die 
Ästhetik  der  künstlerischen  Form  huldigen  sie  dem  Höchsten,  das  in 
der  Philosophie  Logik  und  in  der  Musik  Schönheit  heißt.  Es  gibt 
einen  Punkt,  wo  der  Philosoph  zum  Musiker  und  der  Musiker  zum 
Philosophen  wird.  Da  treffen  sich  die  Temperamente:  Gedanke  und 
Leidenschaft  werden  eins. 

Die  Philosophie,  diese  aus  Wirklichem  und  Unwirklichem  schöp- 
fende Reflexion,  hat  einen  langen  Weg  zurückzulegen,  bis  sie  Musik 
werden  kann.  Denn  die  Musik  ist  aus  dem  Instinkt  geboren  und  die 
Reflexion  sollte  ihr  eigentlich  fremd  sein.  Sie  ist  das  Unmittelbare 
selbst. 


Vom   Philosophen   zum   Musiker  17 

Einmal  nur  geschah  es,  daß  Philosophie  und  Musik  sich  in 
einem  Menschen  die  Hand  reichten.  Das  war  das  Phänomen  Friedrich 
Nietzsche,  dieser  musizierende  Philosoph  und  philosophierende 
Musiker,  bei  dem  Gedanke  und  Klang  innig  vermählt  sind  und  den 
nur  verstehen  kann,  wer  selbst  mit  der  Verstandesschärfe  des  Philo- 
sophen die  Gefühlssicherheit  und  Leidenschaft  des  Musikers  ver- 
bindet. 

Der  Name  Mendelssohn  aber  zeigt  uns  die  enge  Verbindung  der 
beiden  höchsten  Geistesfunktionen  in  einer  Familie.  Der  Philosoph 
Mendelssohn  bereitete  dem  in  zwei  Generationen  folgenden  Musiker 
den  Boden.  Der  Großvater  schuf  die  Familienkultur,  die  geistige 
Höhenluft,  die  dem  Enkel  den  schnellen  schmerzlosen  Aufstieg  ermög- 
lichte und  ihm  schon  in  der  Wiege  das  unschätzbare  Erbteil  einer 
gegen  alle  Zufälle  gefeiten  Lebensanschauung  überlieferte.  Sonst 
liebt  es  die  Musik  in  ihrer  Unmittelbarkeit,  ihre  Günstlinge  zu  über- 
raschen. Wie  oft  bricht  das  Genie  plötzlich,  unvermittelt  wie  die 
leuchtende  Blüte  an  einem  unscheinbaren  Stamm  aus.  Hier  aber 
ging  die  Natur  einen  sicheren  Weg. 

Wir  kennen  die  Ahnengalerie  Felix  Mendelssohns  bis  zu  seinem 
Urgroßvater.  Der  hieß  Mendel  und  lebte  als  Elementarlehrer  an  der 
jüdischen  Gemeinde  und  Schreiber  der  Thorarollen  in  Dessau.  Von 
seiner  Frau  hören  wir,  daß  sie  eine  jener  typischen  Judenfrauen  des 
achtzehnten  Jahrhunderts  war,  wie  wir  sie  aus  Büchern  als  stille, 
zurückgezogen  lebende  Erscheinungen  kennen.  Ihnen  wurde  am 
6.  September  1729  ein  Sohn  Moses  geboren.  Es  war  im  selben  Jahr, 
als  auch  Lessing  und  Reimarus,  seine  späteren  Kampfgenossen,  die 
Lebensbühne  betraten.     Ein  merkwürdiger  Zufall. 

Moses  war  ein  so  schwächliches  Kind,  daß  ihn  der  Vater  oft 
morgens  früh  in  die  Schule  tragen  mußte.  Aber  der  scharfe  Geist 
regte  sich  schon  begierig.  Mit  fünf  Jahren  wußte  der  Knabe  bereits 
im  Hebräischen  Bescheid,  und  sein  abgöttisch  verehrter  Lehrer,  David 
Hirschel  Franke!,  führte  den  Frühreifen  in  das  religionsphilosophische 
Werk  „More  Nebuchim"  des  Spaniers  Maimuni  ein,  das  stärkste 
Eindrücke  in  ihm  hinterließ.  Mit  dreizehn  Jahren  sollte  er  ein 
„Schacherjude"  werden  wie  seine  Altersgenossen,  da  Fränkel  als 
Oberrabbiner  nach  Berlin  ging.  Aber  der  Drang  zu  den  Büchern  war 
stärker  als  der  Zwang  der  ärmlichen  Verhältnisse  seines  Vaterhauses. 

I)  a  li  m  »  ,  Mendelssohn  2 


18  Vom   Philosophen   zum   Musiker 

Moses  zog  seinem  Lehrer  nach.    1743  wanderte  der  kleine  verwachsene 
Jude  durch  das  Rosenthaler  Tor  in  Berlin  ein. 

Er  ging  einer  schweren  Leidenszeit  entgegen.  Heimlich  nur 
durfte  er  sich  dem  Erlernen  der  deutschen  Sprache  und  den  Wissen- 
schaften widmen.  Denn  der  Fluch  der  Glaubensgenossen  bedrohte 
jeden  Abtrünnigen.  Die  Juden  waren  damals  in  ihrem  Dasein  stark 
behindert,  und  die  Beschränkungen  hatten  sie  rückständig  in  ihren 
Sitten  werden  lassen.  Ihre  Sprache  war  ein  wirres  Gemisch  von 
Deutsch  und  Hebräisch.  So  standen  sie  dem  deutschen  Volkstum 
fremd  und  um  so  feindlicher  gegenüber,  je  mehr  sie  unter  den  Ein- 
fluß der  fanatisierten,  polnischen  Rabbiner  gerieten,  die  das  ihre  taten, 
die  Kluft  noch  zu  vergrößern.  Jeder  Fortschritt  der  Einzelnen,  jeder 
Versuch,  an  die  deutsche  Kultur  Anschluß  zu  gewinnen,  wurde  als 
Verrat  an  der  gemeinsamen  Sache  des  Judentums  verdächtigt  und 
gerächt.  Was  Baruch  Spinoza  hat  erfahren  müssen,  das  drohte  auch 
dem  jungen  Moses  aus  Dessau,  als  er  sich  entschloß,  den  Schritt  ins 
Freie  zu  wagen.  Unter  furchtbaren  Entbehrungen  studierte  er  als 
Autodidakt.  Das  Gelingen  krönte  seinen  Mut  und  die  Beharrlichkeit, 
mit  der  er  das  Ziel  verfolgt  hatte.  Als  gebildeter  deutscher  Jude 
fand  er  die  Türen  der  christlichen  Gesellschaft  nicht  mehr  verschlossen. 
Er  wurde  Hauslehrer  bei  dem  Seidenwarenhändler  Bernhard,  später 
Buchhalter  in  dessen  Geschäft  und  schließlich  Teilhaber.  1762  ver- 
heiratete er  sich  mit  Fromet  Gugenheim  aus  Hamburg.  Sechs  Kinder 
entsprossen  dieser  harmonischen  und  glücklichen  Ehe.  Von  den 
Söhnen  muß  Abraham,  der  Begründer  des  berühmten  Mendelssohn- 
schen  Bankhauses  und  Vater  Felix  Mendelssohns  an  erster  Stelle 
genannt  werden.  Die  beiden  anderen,  Joseph  und  Nathan,  treten 
dagegen  zurück.  Von  den  Töchtern  war  Henriette  Erzieherin  der 
Tochter  des  bekannten  Generals  Sebastiani;  Recha  strandete  in  ihrer 
Ehe  mit  dem  Hofagenten  Meyer  und  tauchte  ins  bescheidene  Bürger- 
tum unter.  Dorothea  dagegen  ist  eine  literarische  Berühmtheit  ge- 
worden. Früh  und  ohne  Neigung  mit  dem  Kaufmann  Veit  ver- 
heiratet, folgte  sie  bald  ihrer  Liebe,  Friedrich  von  Schlegel.  Ihr 
gemeinsamer  Weg  führte  durch  alle  Abgründe  der  Romantik  bis  zum 
Katholizismus.  Dorothea  schriftstellerte  und  sonnte  sich  in  ihrem 
Einfluß  auf  die  romantische  Schule,  der  tatsächlich  ein  bedeutender 
war. 


Vom    Philosophen    zum    Musiker  |Q 

Moses  Dessau,  wie  er  sich  zu  nennen  liebte  —  erst  später  nahm 
er  für  seine  Familie  den  Namen  Mendelssohn  an  —  hatte  sich  ein- 
gehend mit  Sprachen,  Mathematik  und  Philosophie  beschäftigt.  Ein 
Versuch,  den  er  mit  der  praktischen  Musik  bei  Kirnberger  machte, 
scheiterte,  da  ihm  die  Begabung  dafür  fehlte.  Moses  bekannte  sich 
als  Jude  zum  Deutschtum  und  kämpfte  Schulter  an  Schulter  mit 
Lessing  und  Nicolai  in  den  Literaturbriefen  der  „Bibliothek  der 
schönen  Wissenschaften  und  der  freien  Künste"  gegen  den  über- 
mächtigen Einfluß  des  Französischen.  Aber  er  zeigte  sich  wiederum 
als  aufrechter  Mann  seines  Glaubens  in  dem  Streit  mit  Lavater,  der 
ihn  mit  seiner  Widmung  der  Übersetzung  von  Bonnets  „Beweisen 
für  das  Christentum"  vor  die  Wahl  gestellt  hatte,  entweder  zu  wider- 
legen oder  sich  zum  Christentum  zu  bekennen.  Moses  blieb  in  dieser 
aufsehenerregenden  Angelegenheit  der,  als  den  ihn  die  Zeitgenossen 
kannten. 

Herders  Humanistenwort:  „Der  Mensch  soll  das  Beste  seiner 
Existenz  anderen  mitteilen"  steht  über  dem  Leben  und  Schaffen  des 
Berliner  Kaufmanns  und  Gelehrten,  der  mit  zielsicherer  Hand  das 
umfangreiche  Geschäftsgetriebe  leitete,  teilnahmsvoll  seine  Kinder 
unterrichtete,  mit  einem  erlesenen  Freundeskreis  in  ständigem  Ge- 
dankenaustausch stand  und  in  aller  Stille  seinen  philosophischen  und 
religiösen  Problemen  nachging.  Als  er  am  4.  Januar  1786  starb, 
hatte  er  das  tröstende  Bewußtsein,  sein  Lebenswerk  erfüllt  zu  haben. 
Mit  kühnem  Scharfblick  hatte  er  seine  Aufgabe,  die  Judenemanzi- 
pation vorzubereiten,  erfaßt.  Und  wir  wissen :  wollte  man  den  Juden 
die  Bahn  frei  machen,  so  war  es  durchaus  notwendig,  zunächst  in 
das  Reich  der  Wissenschaft  einzudringen,  um  durch  nachdrückliche 
Betonung  ethischer  Gedanken  in  der  Philosophie  den  Humanismus, 
das  Menschlich-Allgemeingültige,  aus  den  Begrenzungen  der  Reli- 
gion zu  erlösen  und  auf  die  übrigen  Gebiete  der  Lebensanschauung 
zu  übertragen.  Nachdem  dies  mit  überraschend  schnellem  Erfolg 
durchgesetzt  war,  konnten  die  Juden  auch  in  etwas  so  völkisch  Eigen- 
tümliches und  Bodenständiges  wie  die  Kunst  eingreifen.  In  der 
Familie  Mendelssohn  kann  man  es  an  einem  klassischen  Beispiel 
beobachten,  wie  der  Großvater  dem  Enkel  im  wahren  Sinne  des 
Wortes  den  Weg  ebnet. 

Die   Spuren    eines    Mannes,    der  mit    Kant,    Herder,    Michaelis, 

2* 


20  Vom   Philosophen   zum   Musiker 

Lavater  und  anderen  Großen  befreundet  war,  der  vermöge  seiner 
überragenden  geistigen  Fähigkeiten  und  seiner  starken  Persönlich- 
keit von  den  Zeitgenossen  für  einen  Propheten  seines  Glaubens 
angesehen  wurde,  den  sein  Freund  Lessing  als  „Nathan"  für  alle 
Zeiten  verewigte  —  eines  solchen  Mannes  Spuren  konnten  in  seinen 
Nachkommen  nicht  untergehen.  Er  hatte  als  echter  Humanist  mitge- 
holfen an  dem  riesigen  Werk  der  Renaissance  und  des  Humanismus, 
nämlich  der  Persönlichkeit  im  Menschen  wieder  das  naturgewollte 
Recht,  die  Freiheit,  zu  verschaffen.  Das  hatte  in  dem  leidenschaft- 
lichen Italien  zum  Typus  des  Gewaltmenschen,  dem  schrankenlosen 
Individualisten  geführt,  in  dem  ruhigeren  Deutschland  dagegen  dem 
Gelehrten  und  Künstler  auf  den  Herrschersitz  geholfen.  In  Italien 
hatte  das  Ästhetische  die  Oberhand  gewonnen,  in  Deutschland  das 
Ethische.  Zwei  Welten  waren  aus  einem  Keim  entstanden,  gegen- 
sätzlich in  sich  und  doch  in  höheren  Sphären  wieder  vereint.  Deshalb 
konnte  auch  Moses  Mendelssohn  die  Brücke  zu  seinem  Enkel  Felix 
schlagen,  der  Philosoph  dem  Musiker  Vorbild  und  geistige  Quelle, 
menschlicher  Durchgang  sein. 

Der  Humanismus  ist  ein  Kompromiß.  Und,  gestehen  wir  es 
nur,  auch  Felix  Mendelssohns  Musik  ist  es.  Vielleicht  ist  er  etwas 
zu  spät  gekommen:  die  Welt  war  doch  durch  die  gewaltige  Re- 
naissance-Sprache Beethovens  schon  von  anderen  Erschütterungen 
heimgesucht  worden.  Mendelssohns  Ziel  war  ein  ererbtes..  Mit 
feinem  Instinkt  hat  der  Künstler  erfaßt,  was  der  Denker  ihm  vor- 
zeichnete; und  wir  müssen  es  erkennen:  er  war  als  Musiker  durch- 
aus der  Enkel  des  Philosophen  und  Humanisten. 

Der  Humanismus  ist  keine  Sache  für  Revolutionäre  und  somit 
auch  nicht  für  elementare  Künstlerseelen,  aus  deren  Schaffen  immer 
Aufstand  flammt.  Auch  hierin  erbte  der  Enkel.  Felix  Mendelssohn 
glühte  nicht  in  Auflehnung  gegen  das  Bestehende.  Er  war  das  End- 
ergebnis einer  sorgsamen,  zähen,  zielbewußten  Familienkuitur  und 
einer  Rasse  entsprungen,  die  nicht  träumt,  sondern  die  immer  weiß, 
was  sie  will.  Vergessen  wir  es  auch  nicht;  das  Band  des  Welt- 
bürgertums einte  die  Generationen.  Immer  deutlicher  wird  de  seg- 
nende Hand  des  Moses  Mendelssohn  über  dem  Musiker  sichtbar, 
der  so  ohne  zu  schwanken  seine  Bahn  zog,  als  gäbe  es  für  ihn 
keine  lockenden  Irrlichter,  sondern  nur  eine  Wahrheit  und  eine  Kunst. 


Vom   Philosophen   zum    Musiker  21 

Hören  wir  noch  einmal  den  Kronzeugen  des  Humanismus,  Herder: 
„Innere,  mit  sich  bestehende  Wahrheit  ist  die  einzige  und  höchste 
Poesie."  Und  dann  lassen  wir  Moses  Mendelssohn  selbst  das  Wort 
an  seinen  Enkel  richten,  wenn  er  von  der  Musik  sagt:  „Göttliche 
Tonkunst,  du  bist  die  einzige,  die  uns  mit  allen  Arten  von  Vergnügen 
überrascht!  Welche  süße  Verwirrung  von  Vollkommenheit,  sinn- 
licher Lust  und  Schönheit!  Die  Nachahmungen  der  menschlichen 
Leidenschaften,  die  künstliche  Verbindung  zwischen  widersinnigen 
Übellauten:  Quellen  der  Vollkommenheit.  Die  leichten  Verhältnisse 
in  den  Schwingungen ;  das  Ebenmaß  in  den  Beziehungen  der  Teile 
aufeinander  und  auf  das  Ganze;  die  Beschäftigung  der  Geisteskräfte 
in  Zweifeln,  Vermuten  und  Vorhersehen:  Quellen  der  Schönheit! 
Die  mit  allen  Saiten  harmonische  Spannung  der  nervigen  Gefäße: 
eine  Quelle  der  sinnlichen  Lust!  Alle  diese  Ergötzlichkeiten  bieten 
sich  schwesterlich  die  Hand  und  bewerben  sich  wetteifernd  um  unsere 
Gunst.  Wundert  man  sich  nun  noch  über  die  Zauberkraft  der  Har- 
monie? Kann  es  uns  befremden,  daß  ihre  Annehmlichkeiten  mit  so 
mächtigem  Reize  in  die  Gemüter  wirken,  daß  sie  rauhe  ungesittete 
Menschen  bezähmt,  rasende  besänftigt  und  traurige  zur  Freude 
belebt?" 

Ist  es  nicht,  als  spreche  hier  Moses  schon  von  Felix  Mendelssohns 
Musik?  Die  Grenzen  schwinden.  Der  Philosoph  nähert  sich  dem 
Musiker  und  reicht  ihm  die  Hand. 

Doch  wir  denken  auch  an  die  leibliche  Brücke  zwischen  beiden: 
Abraham  Mendelssohn,  der  das  bekannte  Wort:  „Früher  war  ich  der 
Sohn  meines  Vaters,  jetzt  bin  ich  der  Vater  meines  Sohnes"  geistvoll 
dahin  variierte,  er  stehe  zwischen  Vater  und  Sohn  da,  wie  ein 
Gedankenstrich.  Es  ist,  als  ruhte  die  Natur  bei  ihm  ein  wenig  aus. 
Zwischen  zwei  genialen  Köpfen  war  er  die  Atempause  des  Bildners. 
Aber  er  brachte  den  weltmännischen  Zug  in  die  Familie  und  gab  ihr 
in  äußerlicher  Hinsicht  den  Auftrieb,  der  heute  noch  wie  eine  geheime 
Schwungkraft  hinter  dem  Namen  Mendelssohn  steht. 

Er  wurde  am  10.  Dezember  1776  geboren.  Reger  Geschäfts- 
geist trieb  ihn  frühzeitig  dazu,  seinen  Gesichtskreis  zu  erweitern. 
Deshalb  ging  er  1803  in  die  Metropole  der  Welt,  Paris,  um  hier  als 
Kassierer  bei  dem  Bankier  Fould  zu  arbeiten.  Aber  es  zog  ihn 
doch  bald  wieder  nach  Berlin  zurück.    Er  lernte  Lea  Salomon  kennen 


22  Vom    Philosophen    zum    Musiker 

und  machte  sich,  da  die  Gelegenheit  günstig  war,  in  Hamburg  selb- 
ständig. So  konnte  er  sie  heimführen.  Ihr  Ehebund  war  denkbar 
glücklich,  vor  allem  durch  die  Freude,  die  ihnen  die  fabelhafte  Ent- 
wicklung ihres  genialen  Sohnes,  Jacob  Ludwig  Felix  Mendels- 
sohn machte,  der  am  3.  Februar  1809  in  Hamburg,  in  dem  Hause 
Große  Michaelisstraße  14,  Ecke  der  Brunnenstraße,  geboren  wurde. 
Eine  Schwester,  Fanny,  war  ihm  bereits  am  15.  November  1805 
voraufgegangen.  Zwei  Geschwister  folgten  noch:  Rebecka  am 
11.  April  1811  in  Hamburg  und  Paul  am  30.  Oktober  1813  in 
Berlin. 

Abraham  Mendelssohn  war  ein  Mann  von  liberalen  Grundsätzen. 
Er  kaufte  seinen  Kindern  1816  das  Entreebillet  zur  europäischen 
Kultur,  wie  Heine  den  Taufschein  nannte,  und  ließ  sie  christlich- 
reformiert erziehen.  Durch  Leas  Bruder,  der  sich  nach  seinem  Über- 
tritt zum  Christentum  Bartholdy  nannte,  kam  dieser  Name  jetzt  auch 
in  die  Familie  Mendelssohn.  Abraham  Mendelssohn  wandte  dem 
Judentum  offiziell  erst  1822  in  Frankfurt  den  Rücken.  Man  darf  von 
ihm,  der  als  aufrechter  Charakter,  freisinnig,  ja  fast  republikanisch 
in  politischer  Hinsicht  geschildert  wird,  annehmen,  daß  er  wichtige 
innere  Gründe  für  diesen  Schritt  hatte.  Er  begründete  den  Wohl- 
stand der  Familie ;  aber  er  herrschte  auch  in  ihr  und  alle  beugten 
sich  bedingungslos  seinem  Willen.  In  Hamburg  hatte  er  sich  bei  der 
französischen  Besatzung  unmöglich  gemacht  und  mußte  heimlich  nach 
Berlin  fliehen.  Hier  betätigte  er  im  Freiheitskrieg  1813  seinen  Pa- 
triotismus dadurch,  daß  er  auf  seine  Kosten  einige  Freiwillige  aus- 
rüstete, eine  Sitte,  die  man  heute  scharf  verurteilt.  Mit  Unrecht; 
denn  der  Weltkrieg  hat  uns  dasselbe,  wenn  auch  in  etwas  versteckter 
Form,  an  manchem  Zeitgenossen  gezeigt,  beispielsweise  in  dem  ebenso 
grotesken  wie  brutalen  Zynismus  gewisser  Vaterlandsfreunde,  die 
mit  dem  Blute  anderer  vom  sicheren  Port  aus  „das  Vaterland  erretten 
wollten".  Zur  Musik  hatte  Abraham  Mendelssohn  lose  Beziehungen 
angeknüpft.  A.  B.  Marx  sagt  aus  persönlicher  Kenntnis:  „Wohl 
befugt  war  er,  über  Musik  ein  Wort  abzugeben.  Schon  sein  Lebens- 
lauf hatte  ihn  dazu  ausgerüstet.  Als  er  in  jüngeren  Jahren  eine  Zelt 
lang  Paris  bewohnte,  sah  er  sich  den  unausgesetzten  Aufführungen 
der  Opern  Glucks  gegenüber,  die  damals  bei  den  Franzosen  noch  in 
hohem  Ansehen  standen  und  nach  den  noch  nicht  verblichenen  Über- 


Vom    Philosophen   zum   Musiker  23 

lieferungen  aus  Glucks  Zeit  dargestellt  wurden."  Kurz,  wie  Zelter 
sich  bündig  ausdrückte:  er  gehörte  zu  den  Braven. 

Seine  Frau  erwarb  sich  des  alten  Zelters  Lob  als  „höchst  treff- 
liche Mutter  und  Hausfrau".  Aber  mehr  als  das:  sie  war  musikalisch 
und  vielseitig  gebildet:  sie  zeichnete  und  beherrschte  das  Französi- 
sche, Englische  und  Italienische.  Ja,  sie  las  sogar  Homer  im  Ori- 
ginal. Demnach  stand  sie  in  ihrer  Bildung  weit  über  dem  Durchschnitt 
der  Frauen. 

Die  Kinder  eines  solchen  Hauses  waren  auf  Rosen  gebettet. 
Der  Vater  erzielte  mit  glücklicher  Hand  und  schnell  einen  wirtschaft- 
lichen Aufschwung,  der  die  Begriffe  „unmöglich"  oder  „unerreichbar'' 
von  vornherein  aus  dem  Leben  seiner  Nachkommen  ausschaltete. 
Und  die  Mutter  bereitete  mit  tiefem  Verständnis  der  geistigen  Ent- 
wicklung der  Kinder  den  Boden.  Namentlich  Felix  und  seine 
Schwester  Fanny  profitierten  davon.  Aber  war  es  Treibhausluft,  in 
der  sie  aufwuchsen,  daß  ihre  Blüte  sich  so  schweigerisch  und  üppig 
erschloß  und  —  vielleicht  eben  darum  —  so  bald  schon  verwelkte? 
Beide  erbten  den  Todeskeim  des  Großvaters  und  Vaters.  Ganz  plötz- 
lich, auf  der  Höhe  des  Lebens,  riß  die  unsichtbare  Macht  den  Sperr- 
haken aus  dem  feinen  Räderwerk  ihres  Geistes  und  ließ  es  hemmungs- 
los ablaufen.  Vielleicht  ist  der  Mangel  an  äußerem  und  innerem 
Widerstand  daran  schuld,  daß  Glückskinder  meist  ein  so  frühes  Ende 
finden. 

Des  alten  Moses  Dessau  zähe  und  entbehrungsreiche  Arbeit 
war  für  Felix  Mendelssohn  nicht  mehr  nötig.  Er  war  der  von  Jugend 
an  in  Erfüllung  Lebende,  Gebende  und  Schaffende,  Er  hat  die  Früh- 
reife Mozarts,  lebt  in  vollen  Zügen,  bewegt,  inmitten  starker  äußerer 
Erfolge,  vom  Glück  zum  Günstling  ausersehen  und  stirbt  am  Gehirn- 
schlag, jäh,  wie  ein  kostbares  Gefäß,  das  durch  einen  achtlosen, 
harten  Griff  zerbrochen  wird.  Manchmal  scheint  er  eifersüchtig  auf 
das  Schicksal  zu  sein,  Untreue  fürchtend,  die  er  als  Sonntagskind 
und  erwählter  Liebling  nicht  ertragen  könnte;  aber  zuweilen  ver- 
achtet er  die  Blüten,  die  ihm  immer  und  überall  blühen,  wohin  er 
sich  auch  wenden  mag. 

Von  hier  aus  sehen  wir  die  Hintergründe  seiner  Musik. 

Und  wieder  kehrt  der  Kreis  zu  dem  philosophierenden  Groß- 
vater zurück,  der  ihm  zu  aller  Reizbarkeit  der  Nerven  als  unschä+7- 


24  Traum   und   Tat 

bare  geistige  Gabe  doch  jene  große  Ruhe,  das  Adagio  des  Gefühls 
schenkte,  das  in  seinen  Tönen  wie  die  erdentrückte  Abgeklärtheit 
des  Humanisten  und  Weltweisen  auf  uns  wirkt. 

Der  Musiker  grüßt  den  Philosophen.  Beide  sind  sparsam  mit 
der  Leidenschaft.  Die  Ekstase  donnernder  Steigerungen  fehlt  ihnen, 
und  das  rätselhafte  Dunkel  der  Mystik  verschmähen  sie.  Nach  dem 
lichten  Süden  ist  ihr  Blick  gerichtet,  dahin,  von  wo  die  großen  Ideale 
des  Menschentums  gekommen  sind.  Was  der  Philosoph  klar  er- 
kannte und  gedanklich  bildete,  das  verschmolz  der  Musiker  mit  der 
Romantik  der  Töne.  Und  doch  blieb  es  im  Kern  dasselbe.  Das  Ideal 
der  Antike  und  des  Humanismus  —  bei  aller  Schönheit  und  ewigen 
Schwungkraft  doch  ein  wenig  alt  und  müde  —  etwas  Abend  und 
Erinnerung.  So  auch  Mendelssohns  Musik.  Sie  erinnert  uns  an 
Vergessenes,  sie  erweckt  den  Zauber  längst  verklungener  Jugendtage 
wieder,  sie  dringt  in  eine  Tiefe  unseres  Herzens,  wo  noch  Gefühle' 
von  gestern  und  vorgestern  schlummern. 

Wir  greifen  zur  letzten  Kette,  die  diesen  Philosophen  und  diesen 
Musiker  desselben  Blutes  verbindet.  Es  ist  die  vornehme  Seele,  wie 
sie  Nietzsche  deutete:  nicht  als  die,  welche  der  höchsten  Auf- 
schwünge fähig  ist,  sondern  jene,  welche  sich  wenig  erhebt  und  wenig 
fällt,  aber  immer  in  einer  freieren  durchleuchteteren  Luft  und  Höhe 
wohnt. 


TRAUM  UND  TAT 

Neben  den  angedeuteten  politischen  Zwangsgründen  werden  bei 
der  Übersiedelung  Abraham  Mendelssohns  von  Hamburg  nach  Berlin 
auch  noch  andere  Erwägungen  persönlicher  Art  mitgesprochen 
haben.  Die  Hauptstadt  Preußens  mußte  den  Mann  anlocken,  dessen 
Ehrgeiz  nur  in  geschäftlichen  Unternehmungen  großer  Art  zu  be- 
friedigen war.  Außerdem  hatte  der  Name  Mendelssohn  in  Berlin 
einen  guten  Klang. 

Das  Berlin  der  Napoleonischen  Zeit  hatte  noch  die  durch  Kriegs- 
wirren allerdings  stark  derangierte  Behäbigkeit  einer  Provinzstadt. 
Aber  hier  liefen  doch  die  Fäden  zusammen,  an  denen  die  vielfachen 
Geschicke  Preußens  hingen.    Hof  und  Bürgertum  standen  in  einem 


Traum   uhd   Tat  25 

patriarchalischen  Verhältnis  zueinander,  das  in  dieser  Zeit  des  er- 
wachenden Biedermeiertums  einerseits  wohl  noch  enger  wurde, 
andererseits  aber  durch  politischen  Zündstoff,  durch  die  wachsende 
Unzufriedenheit  gerade  der  intellektuellen  Welt  mit  den  unfreien 
Zuständen  schon  einen  inneren  Bruch  erhielt.  Für  den  Bankier 
Mendelssohn  war  hier  ein  guter  Boden,  und  mit  der  ihm  eigenen 
Tatkraft  und  Zielbewußtheit  ging  er  ans  Werk. 

Die  Jugend  seines  genialen  Sohnes  Felix  ist  ein  Glied  in  der 
Familiengeschichte  der  Mendelssohns.  Eine  ungemeine  Sorgfalt  und 
Liebe  ebnete  alle  Wege  für  das  erwachende  Talent.  Alle  waren 
daran  interessiert,  alle  arbeiteten  daran  mit.  Die  Schwester  teilte 
seine  ersten  Klavierübungen,  die  das  Feingefühl  und  der  liebende 
Ernst  der  Mutter  leitete.  Hier  bietet  sich  einmal  das  seltene  Schau- 
spiel, im  Gegensatz  zu  vielen  betrübenden  anderen,  daß  die  Eltern 
beim  Erkennen  des  Talentes  nur  eine  Pflicht  fühlen:  dieses  Talent 
zur  herrlichsten  Auswirkung  aller  seiner  Kräfte  zu  bringen  —  an- 
statt ihm  Hemmschuhe  anzulegen,  wie  gutgemeinte  Kurzsichtigkeit 
es  leider  so  oft  tat  und  tut.  Natürlich  wird  der  Fünf-  und  Sechs- 
jährige bewundert.  Damit  ist  Felix  Mendelssohn  jedoch  schon  den 
Grenzen  des  mütterlichen  Könnens  entwachsen.  Ein  anderer  muß 
ihn  jetzt  führen,  und  dieser  Meister  ist  Ludwig  Berger.  Der  war 
1815  als  Achtunddreißigjähriger  aus  dem  Ausland  nach  Berlin  ge- 
kommen und  nahm  hier  schnell  eine  führende  Stellung  ein.  Sein 
ebenso  glänzendes  wie  feinsinniges  Klavierspiel  war  in  der  Schule 
Clementis  gebildet  und  durch  des  Nocturne-Träumers  Field  wunder- 
same Anschlagskunst  geadelt  worden.  Diese  Vorzüge  vererbte  er 
seinem  Schüler  Mendelssohn.  Aber  mehr.  Er  wirkte  auch  stark 
auf  die  allgemeine  musikalische  Bildung  und  Entwicklung  Mendels- 
sohns. Selber  in  seinen  innersten  musikalischen  Sehnsüchten  Phan- 
tast, ließ  er  den  wißbegierigen  Schüler  manchen  Blick  über  die 
Grenzen  des  Handwerklichen  hinaus  tun.  Er  führte  ihn  in  den  Geist 
der  großen  Meister  ein  und  weckte  den  Sinn  für  die  Synthese  in  ihm. 
Da  ist  es  kein  Wunder,  daß  sein  Einfluß  auf  das  junge  Genie  in  ge- 
wisser, äußerlich  allerdings  schwerer  erkennbarer  Beziehung  seelisch 
stärker  war  als  der,  den  das  musikalische  Handwerk  dem  Strebenden 
durch  Zelter  bieten  konnte.  Des  Vaters  Gewissenhaftigkeit  duldete 
nämlich  nichts  Halbes.     Deshalb  wurde  Felix  gleichzeitig  zum  Stu- 


26  Trauih   und   Tat 

dium  des  Kontrapunkts  dem  Singakademiedirektor  Professor  Cari 
Friedrich  Zelter  anvertraut. 

In  Zelter  verkörpert  sich  Berliner  Qeist.  Und  doch  hat  der 
märkische  Sand  eine  bescheidene  Leidenschaft  in  seiner  Musik  nicht 
ersticken  können.  1758  in  Berlin  geboren,  wuchs  er  nicht,  wie  er 
wollte,  zum  Musiker,  sondern  zunächst  zum  Maurer  auf.  Wohl  übte 
er  sich  auf  allen  Instrumenten,  fand  Lehrer  und  Förderer;  aber  das 
Handwerk  nahm  ihn  in  Beschlag  und  ließ  ihn  erst  1800  zur  Musik 
abschwenken.  Da  übernahm  er  die  Leitung  der  von  seinem  Lehrer 
Fasen  begründeten  Singakademie,  mit  deren  Geschichte  sein  Name 
unzertrennlich  verbunden  ist;  denn  ihm  verdankt  sie  die  Grundlagen 
ihres  Ruhms.  Und  noch  ein  anderes  seiner  Werke  lobt  die  Musik- 
geschichte: die  Schaffung  der  Liedertafel,  durch  deren  Beispiel  der 
Männergesang  in  Deutschland  einen  ungeheuren  Aufschwung  nahm. 
Als  intimer  Freund  Goethes  ist  er  in  die  Literaturgeschichte  ge- 
kommen. Das  Bild  des  Mannes  ist  jedoch  erst  vollständig,  wenn  auf 
seine  Bedeutung  als  Liederkomponist,  als  der  er  ein  Hauptvertreter 
der  sogenannten  Berliner  Schule  war,  und  als  Komponist  von  Männer- 
chorgesängen  hingewiesen  wird.  Wie  die  meisten  spät  gewordenen 
Talente  war  er  ein  Pedant. 

Von  einem  solchen  System  gewordenen  Kunsthandwerker  konnte 
der  junge  Mendelssohn  nur  gewinnen.  Denn  die  strengste  Schule 
ist  für  das  Genie  die  beste.  Hier  wurde  in  unaufhaltsamer  Arbeit 
der  Grund  für  seine  kontrapunktische  Meisterschaft  gelegt.  Hier  ge- 
langte er  vor  allem  an  den  Urquell  der  Musik:  an  Bach.  Auch  im 
Mendelssohnschen  Haus  war  das  Wohltemperierte  Klavier  die  musi- 
kalische Bibel.  Von  Zelter  wurde  Felix  Mendelssohn  in  den  Geist 
der  Vokalmusik  eingeführt.  Der  Direktor  der  Singakademie  hatte 
ja  nicht  nur  engste  Fühlung  mit  den  Meistern  der  damaligen  Zeit, 
sondern  er  besaß  auch  eine  ansehnliche  Sammlung  Bachscher  Parti- 
turen in  Abschrift,  sowie  Partituren  der  alten  italienischen  Meister. 
Welch  eine  Fundgrube  für  den  Schüler!  Bei  Ludwig  Berger  aber 
fand  der  Knabe  andere  Werte.  Da  sprach  einer,  der  die  Welt  ge- 
sehen hatte,  der  von  dem  üppigen  Glanz  der  Virtuosenmusik  schwär 
men  konnte  und  der  selbst  in  reiner  Gefühlsmäßigkeit  das  beste  Bei- 
spiel lieferte,  daß  es  in  der  Musik  auch  außer  Fugen  noch  Großes 
gab.    Und  der  kleine  Felix  nahm  gierig,  was  ihm  nur  geboten  wurde. 


Traum   und   Tat  27 

Schon  1818  sehen  wir  ihn  auf  dem  Konzertpodium  in  einem  Trio 
von  Wölffl  am  Klavier. 

Er  lernt  spielend,  überwindet  unerschrocken  die  Beschränkungen, 
die  allzu  kleine  Hände  ihm  noch  auferlegen,  transponiert  und  liest 
mit  der  Sicherheit  eines  alten  Routiniers  Partitur.  Schwierigkeiten 
darf  es  für  ihn  nicht  geben.  „Ach  was,  ein  Genie  frisiert  ein  Schwein 
und  macht  ihm  Locken."  Das  war  Zelters  Kraftwort  und  ständiger 
Ansporn.  Ein  gewisser  Henning  brachte  ihm  die  ersten  Griffe  auf 
der  Violine  bei.  So  wuchs  der  Musiker  auf.  Sorgsam  bereiten  die 
Eltern  den  Weg.  Im  Hause  herrscht  neben  der  reinen  Freude  an  den 
Tönen  auch  der  Wille  zur  Gründlichkeit.  Fanny  wetteifert  mit  Felix 
im  Klavierspiel.  Auch  sie  studiert  den  Kontrapunkt.  Berlins  erste 
Künstler  treffen  sich  im  Salon  der  Mutter.  Und  alle,  die  die  Haupt- 
stadt nur  vorübergehend  berühren,  ob  sie  nun  Namen  haben  oder  erst 
dort  reüssieren  wollen,  besuchen  das  Mendelssohnsche  Haus.  Da 
schulen  sich  die  Ohren  des  Knaben  von  selbst;  er  lernt  vergleichen 
und  fühlt,  daß  er  schon  jetzt  nicht  mehr  der  geringste  unter  ihnen  ist. 

Aber  der  Vater  war  zu  kühl  und  zu  klug,  um  sich  von  den 
Erfolgen  des  Wunderkindes  betören  zu  lassen.  Er  wollte  für  eine 
allgemeine  klassische  Bildung  seiner  Sprößlinge  sorgen.  So  nahm 
er  Karl  Wilhelm  Ludwig  Heyse,  den  später  berühmt  gewordenen 
Philologen  und  Vater  des  Dichters  Paul  Heyse,  als  Hauslehrer  bei 
sich  auf.  Alte  und  neue  Sprachen  wurden  mit  Fleiß  getrieben,  und 
der  Erfolg  blieb  nicht  aus.  1826  konnte  Felix  Mendelssohn  eine 
Übersetzung  der  Andria  des  Terenz  bei  Dümmler  in  Berlin  erscheinen 
lassen.  Shakespeare  und  Byron  wurden  im  Original  gelesen.  Lessing 
und  Goethe  traten  früh  in  seinen  Gesichtskreis.  Daneben  lernte 
er  zeichnen  und  malen,  Fertigkeiten,  die  er  immer  mit  besonderer 
Vorliebe  übte.  Tanzen,  Schwimmen,  Reiten  und  Fechten  sollten  dem 
späteren  Weltmann  zugute  kommen.  Hier  wurde  also  nichts  ver- 
gessen, was  neben  dem  Künstler  auch  dem  Menschen  nutzen  konnte. 

Doch  uns  fesselt  das  Werden  des  Musikers.  „Felix  ist  ein  guter, 
hübscher  Knabe,  munter  und  gehorsam.  Er  ist  zwar  ein  Judensohn, 
aber  kein  Jude.  Der  Vater  hat  mit  bedeutender  Aufopferung  seine 
Söhne  etwas  lernen  lassen  und  erzieht  sie,  wie  sich's  gehört;  es  wäre 
wirklich  einmal  eppes  Rores,  wenn  aus  einem  Judensohn  ein  Künst- 
ler würde. "    So  schreibt  Zelter  an  Goethe.    Und  gesteht  ein  ander- 


28  Traum  und  Tat 

mal:  „Er  spielt  Klavier  wie  der  Teufel,  und  auf  den  Streichinstru- 
menten ist  er  nicht  zurück."  Der  zehnjährige  Felix  wurde  als  Altist 
in  die  Singakademie  aufgenommen  und  lernte  nun  als  ein  Glied  des 
Ganzen  Werke  von  Palestrina,  Bach,  Händel,  Fr.  Schneider,  Romberg, 
Fesca,  Neukomm  und  anderen  kennen.  Dabei  gewinnt  schon  der 
Knabe  kritische  und  selbstkritische  Maßstäbe.  Zelter  versäumt  es 
nicht,  ihn  über  die  Stilunterschiede  aufzuklären.  Das  Fugenschreiben 
macht  den  Kopf  klar  und  die  Hand  geläufig.  So  ist  es  kein  Wunder, 
daß  das  eigene  Schaffen  sich  schon  früh  Bahn  bricht.  Dazu  die  un- 
schätzbare Möglichkeit,  das  Geschriebene  an  den  Musikabenden  des 
väterlichen  Hauses  sogleich  in  Klang  umsetzen  zu  können.  Es  ist 
ein  Glück  ohnegleichen.  Im  September  1820  komponierte  er  in 
wenigen  Wochen  seine  erste  Oper  „Die  beiden  Pädagogen",  die 
mit  Hilfe  der  Freunde  und  Geschwister  sogleich  zu  Hause  aufgeführt 
wurde.  Im  nächsten  Jahre  entstanden  zwei  neue  Bühnenwerke: 
„Soldatenliebschaft"  und  „Die  wandernden  Komödianten",  beides 
natürlich  nur  Gelegenheits-  und  Übungsstücke.  Die  Texte  hatte  ein 
Freund  des  Hauses,  Dr.  Caspar,  nacfc  französischen  Vaudevilles  be- 
arbeitet. Daneben  wurde  dem  strengen  Stil  mit  gutgesetzten  Psalmen 
und  Doppelfugen  gehuldigt,  und  für  das  Hausorchester  entstanden 
zehn  vier-,  fünf-  und  sechsstimmige  Symphonien.  Die  Kammermusik 
wurde  mit  den  verschiedensten  Versuchen  bedacht;  Klavierstücke 
und  Lieder  waren  daneben  die  Zeichen  der  Überfülle. 

Der  Stolz  des  Lehrers  über  soviel  Erfolge  seines  Systems  suchte 
nach  Anerkennung:  Zelter  bat  seinen  Freund  Goethe,  ihm  den  Wun- 
derknaben vorstellen  zu  dürfen.  Und  Goethe  sagte  bereitwillig  zu. 
„Beobachte  dich  selbst  streng,  setze  und  halte  dich  besonders  bei 
Tisch  anständig,  spreche  deutlich  und  angemessen,  suche  so  viel  als 
möglich  das  richtige  Wort  zu  treffen",  ermahnte  Abraham  Mendels- 
sohn den  ungeduldigen  Reiselustigen,  und  Fanny  gab  ihm  einige 
Goethelieder  ihrer  Komposition  für  die  Frau  Goethes  mit.  Man 
mußte  sich  Weimar  mit  einem  Schlage  erobern.  Und  es  gelang. 
Rellstab  hat  in  seinen  Lebenserinnerungen  Mendelssohns  Goethe- 
tage eingehend  beschrieben.  Der  kleine  Felix  kam  dem  musikdürsten- 
den Dichter  gerade  gelegen.  Er  mußte  täglich  spielen,  Bach,  Mozart, 
Beethoven  und  Eigenes.  Beglückt  schrieb  er  nach  Hause:  „Alle 
Nachmittage    macht   Goethe   das   Streichersche   Instrument  mit  den 


Traum   und  Tat  29 

Worten  auf:  Ich  habe  dich  heute  noch  gar  nicht  gehört:  mache  mir 
ein  wenig  Lärm  vor!  Und  dann  pflegt  er  sich  neben  mich  zu  setzen, 
und  wenn  ich  fertig  bin  (ich  phantasiere  gewöhnlich),  so  bitte  ich 
mir  einen  Kuß  aus  oder  nehme  mir  einen."  Eine  unheimliche  Früh- 
reife paarte  sich  im  jungen  Mendelssohn  noch  mit  spielerischer  Kind- 
lichkeit. Goethe  nahm  das  Musikalische  als  etwas  Gegebenes  hin; 
im  übrigen  sah  er  nur  das  Kind.  Zelter  war  befriedigt:  sein  Schüler 
hatte  sich  bewährt. 

Wir  können  auf  das  Anekdotische  Verzicht  leisten  und  buchen 
nur  den  ungeheuren  Eindruck,  den  der  Mensch  Goethe  auf  den  Knaben 
Mendelssohn  machte.  Die  seltsame  geistige  Kraft  und  Intuition  des 
Kindes  hat  tiefer  gesehen,  als  es  Zelter  vielleicht  geahnt  hat.  Jeden- 
falls konnte  ein  solches  bestimmendes  Erlebnis  nicht  spurlos  ver- 
klingen. Die  frühe  Bekanntschaft  mit  Goethe  ist  für  Mendelssohn 
einer  der  wichtigsten  Glückszufälle  in  seinem  reichgesegneten  Leben 
gewesen.  Man  braucht  hier  das  Wort  von  dem  Vorbild  der  klas- 
sischen Ruhe  und  Abgeklärtheit  nicht  als  Phrase  zu  nehmen.  Und 
Goethe  ergriff  Mendelssohns  Kunst  als  ein  wi  lkommenes  Geschenk. 
Nicht  nur  Freund  Zelter  zuliebe.  Denn  dieser  Knabe  mußte  mit  seiner 
Musik  und  seinen  Musikidealen  verwandte  Saiten  in  Goethe  erklngen 
machen.  Uns  allerdings  erscheint  es  als  eine  tragische  Ironie,  daß 
in  den  Tagen,  als  es  in  Goethes  Weimarer  Musiksalon  auf  Mendels- 
sohnisch hoch  herging,  Franz  Schubert  einsam  und  unerkannt  mit  der 
Fülle  seiner  herrlichsten  Goethelieder  in  Wien  saß. 

„Seit  Eurer  Abreise  ist  mein  Flügel  verstummt;  ein  einziger  Ver- 
such, ihn  wieder  zu  erwecken,  wäre  beinahe  mißlungen.  Indessen 
hör'  ich  viel  von  Musik  reden,  welches  immer  eine  böse  Unterhal- 
tung ist",  schrieb  Goethe  im  Februar  1822  wehmütig  nach  Berlin. 
Von  dort  konnte  ihm  Zelter  nur  Gutes  berichten:  „Felix  ist  brav  und 
fleißig.  Seine  dritte  Oper  ist  fertig  und  ausgeschrieben  und  wird 
nächstens  unter  Freunden  aufgeführt  werden.  Nach  seiner  Zurück- 
kunft  aus  Weimar  hat  er  auch  schon  ein  Gloria  fertig,  ein  Klavier^ 
konzert  für  seine  Schwester  über  die  Hälfte  fertig  und  ein  Magnificat 
angefangen." 

Sebastian  Hensel  gibt  uns  eine  Übersicht  über  das  erstaunliche 
Schaffensergebnis  dieses  Jahres.  Da  finden  wir  verzeichnet:  den 
66.  Psalm  für  drei  Frauenstimmen,  zwei  Lieder  für  Männerstimmen, 


30  Traum    und   Tat 

Konzert  a-moll  für  Klavier,  drei  Lieder,  drei  Fugen  für  Klavier,  Quar- 
tett c-moll  für  Klavier,  Qeige,  Bratsche  und  Violoncello,  ein  Akt 
der  Oper  „Die  beiden  Neffen",  Jube  Domine  in  C-dur,  ein  Violin- 
konzert, Magnificat  und  ein  Qloria  mit  Instrumenten.  Dies  waren 
natürlich  zumeist  Studienarbeiten,  mit  Ausnahme  etwa  des  Klavier- 
quartetts, das  wir  als  opus  1  kennen.  An  Anregungen  fehlte  es  nicht. 
So  hatte  er  das  Jube  Domine  für  den  Cäcilienverein  Schelbles  in 
Frankfurt  geschrieben,  und  sein  Freund,  der  junge  Geiger  Eduard 
Rietz,  hatte  ihn  zu  dem  Violinkonzert  veranlaßt. 

Der  Sommer  dieses  Jahres  sieht  die  Familie  Mendelssohn  auf 
der  Reise  nach  der  Schweiz.  Dort,  in  Qenf,  beendete  Felix  das 
c-moll-Klavierquartett.  Wieder  wird  in  Weimar  Station  gemacht;  aber 
der  Aufenthalt  ist  diesmal  nur  kurz.  Jedoch  die  Erinnerung  daran 
wertvoll  genug.  Auch  die  talentvolle  Fanny  muß  diesmal  ihre  Künste 
zeigen.  Goethe  ist  sehr  zufrieden.  Der  Bankier  und  der  Dichter- 
fürst haben  sich  verstanden. 

Und  wieder  nimmt  der  nüchterne  Zelter  den  ständig  reifer  Wer- 
denden in  seine  Obhut.  „Alles  gewinnt  Gediegenheit,  kaum  fehlt 
noch  Stärke  und  Macht;  alles  kommt  von  Innen  und  das  Äußerliche 
berührt  ihn  nur  äußerlich",  wird  dem  stets  aufmerksamen  Goethe 
berichtet.  Berlin  hat  dem  Strebenden  viel  zu  geben.  Der  Ruhm 
wächst,  und  die  sonst  nicht  gerade  leicht  entzündbaren  Berliner  würden 
das  Wunderkind  gern  verhätscheln,  wenn  es  der  Vater  dulden  wollte. 
Aber  der  hat  es  nicht  nötig,  wie  etwa  Leopold  Mozart,  von  seinem 
Sohn  Taler  und  goldene  Dosen  erspielen  zu  lassen.  Der  reiche  Bank- 
herr kann  die  Dinge  gelassen  abwarten.  Felix  braucht  keine  Öffent- 
lichkeit; denn  er  hat  alle  Vorzüge  in  seinem  Haus:  Orchester,  Chor 
und  erste  Solokräfte.  Da  kann  er  komponieren  und  dirigieren.  Und 
Freunde  stellen  sich  ein,  die  seine  Teilnahme  finden. 

Der  Geiger  Eduard  Rietz  förderte  ihn  auf  der  Violine  und  wurde 
bald  sein  Vertrauter.  Eduard  Devrient,  Baritonist  an  der  Oper,  kam 
1822  zum  erstenmal  in  das  Mendelssohnsche  Haus.  Er  beteiligte 
sich  an  den  literarischen  Abenden,  wo  Shakespeare  mit  verteilten 
Rollen  gelesen  wurde,  und  lieh  natürlich  hauptsächlich  seine  schöne 
Stimme  den  Kompositionen  seines  jungen  Freundes.  Der  viel  und 
schön  redende,  damals  vierundzwanzigjährige  Adolf  Bernhard  Marx 
fand  sich  1823  ein.    Mehr  als  es  dem  in  Musikdingen  puritanischen 


Traum    und   Tat  31 

Vater  lieb  war,  gewann  er  Einfluß  auf  Felix.  In  seiner  Schrift  „Ueber 
Malerei  in  der  Tonkunst"  kündigte  sich  so  etwas  wie  eine  neue 
Ästhetik  an,  die  die  Jugend  für  sich  gewann.  Wir  verdanken  ihm 
manche  Mitteilung  über  die  Mendelssohns.  Felix,  so  meinte  er,  zeigte 
an  der  Grenze  des  Knaben-  und  Jünglingsalters  ein  frisches,  bald 
angeregtes,  bald  träumerisches  Gesicht,  das  von  wellig  herabfließen- 
dem Haupthaar  umrahmt  war.  Die  Mutter  gewann  musikalisch  Ein- 
fluß: „In  ihr  lebten  Traditionen  oder  Nachklänge  von  Kirnberger 
her;  von  dorther  war  sie  mit  Sebastian  Bach  bekannt  geworden  und 
hatte  das  unausgesetzte  Spiel  des  Wohltemperierten  Klaviers  ihrem 
Hause  eingepflanzt."  Der  Vater  vermochte  dagegen  mit  seiner  Vor- 
liebe für  Gluck  nicht  aufzukommen.  Fast  noch  gewichtiger  wurde 
die  Bekanntschaft  mit  dem  berühmten  Pianisten  Ignaz  Moscheies, 
der  1824  in  Berlin  konzertierte  und  sogar  für  einige  Unterrichts- 
stunden im  Mendelssohnschen  Hause  gewonnen  wurde.  Hier  bahnte 
sich   eine   Lebensfreundschaft  an,   die   reiche   Früchte   tragen   sollte. 

Instinkt,  Fleiß  und  dauernder  Ansporn  führten  den  jungen  Men- 
delssohn weiter.  Komposition  auf  Komposition  entstand,  wurde  auf- 
geführt und  dank  Zelters  rücksichtslos  kühler  Beurteilung  in  den 
Kasten  gelegt.  Konzerte  für  zwei  Klaviere,  Kammermusikwerke,  geist- 
liche Chorwerke  und  Klavierstücke,  immer  in  bunter  Folge.  Wir 
kennen  davon  die  beiden  f-moll-Dichtungen  des  Jahres  1823,  das 
Klavierquartett  opus  2  und  die  Violinsonate  opus  4  und  aus  dem 
nächsten  Jahr  das  h-moll-Klavierquartett,  die  erste  Symphonie  opus  11 
und  die  Ouvertüre  für  Harmoniemusik,  der  Dobberaner  Badekapelle 
auf  den  Leib  geschrieben.  Die  Hausbühne  wurde  mit  einer  komi- 
schen Oper  in  drei  Akten  „Der  Onkel  aus  Boston  oder  die  beiden 
Neffen"  bedacht.  Dr.  Caspar  hatte  wieder  den  Text  verfertigt.  Zelter 
lobte  die  Musik  bei  Goethe:  „Neues,  Schönes,  Eigenes,  Ganzeigenes 
ist  überall  zu  finden.  Geist,  Fluß,  Ruhe,  Wohlklang,  Ganzheit,  Dra- 
matisches. Das  Massenhafte  ist  wie  von  erfahrenen  Händen.  Or- 
chester interessant,  nicht  erdrückend,  ermüdend,  nicht  bloß  beglei- 
tend." Nach  der  Aufführung  sprach  er  Felix  zum  Gesellen :  „im 
Namen  Mozarts,  im  Namen  Haydns,  im  Namen  des  alten  Bach". 

Dem  Vater  jedoch  war  dies  alles  noch  nicht  genügend.  Er 
wollte  das  Talent  seines  Sohnes  noch  von  Größeren  anerkannt  sehen. 
Und  das  konnte  seiner  Meinung  nach  nur  in  der  Metropole  der  Welt 


32  Traum  und  Tat 

und  der  Musik,  in  Paris,  geschehen.  Da  blühte  das  Cliquenwesen, 
und  eine  Überfülle  von  Talenten  kämpfte  um  die  Gunst  der  Menge: 
Hummel,  Moscheies,  Kalkbrenner,  Pixis,  Rossini,  Meyerbeer,  Paer, 
Rode,  Baillot,  Kreuzer.  Dort  lebte  auch  Cherubini,  dessen  Sach- 
kenntnis und  Unparteilichkeit  man  wohl  trauen  durfte.  Der  Vater 
wurde  nicht  enttäuscht.  Felix  spielte  sein  h-moll-Quartett  vor.  „II 
fera  bien,  il  fait  meme  dejä  bien",  meinte  Cherubini  ebenso  verbind- 
lich wie  tiefsinnig.  Und  gab  auch  seinen  Segen  zu  dem  fünfstimmigen 
Kyrie  mit  Orchester,  das  der  junge  Berliner  gewissermaßen  unter 
seinen  Augen  komponierte.  Für  den  Vater  war  das  Gewißheit  ge- 
nug. Felix  sollte  nun  wirklich  Musiker  werden.  Auf  der  Hin-  und 
Rückreise  mußte  man  sich  bei  Goethe  wieder  in  Erinnerung  bringen. 
Auch  hier  tat  das  h-moll-Quartett  gute  Dienste.  Goethe  nahm  die 
Widmung  des  Werkes  an.  „Felix  produzierte  sein  neuestes  Quartett 
zum  Erstaunen  von  Jedermann.  Diese  persönliche  hör-  und  ver- 
nehmbare Dedication  hat  mir  sehr  wohl  gethan",  schrieb  er  an  Zelter. 
Als  er  bald  darauf  die  Noten  erhielt,  ließ  er  es  an  freundlichem  Dank 
nicht  fehlen.  Franz  Schuberts  demütige  Liedersendung,  die  am 
gleichen  Tage  eintraf,  blieb  dafür  unbeantwortet. 

Wir  sehen  Felix  Mendelssohn  nun  wieder  in  Berlin.  Zelter  kann 
ihn  nur  loben:  „Felix  ist  aus  Paris  zurück  und  hat  sich  in  den  wenigen 
Monaten  hübsch  herausgetan.  Er  hat  dem  Cherubini  ein  Kyrie  dort 
angefertigt,  das  sich  hören  und  sehen  läßt,  um  so  mehr  als  der  brave 
Junge,  nach  seinem  gewandten  Naturell,  das  Stück  fast  ironisch  in 
einem  Geist  verfaßt  hat,  der,  wenn  auch  nicht  der  rechte,  doch  ein 
solcher  ist,  den  Cherubini  stets  gesucht  und,  wenn  ich  nicht  sehr  irre, 
nichi  gefunden  hat."  Jetzt  aber  sollte  das  Talent  sich  energischer 
der  Öffentlichkeit  nähern. 

Berlin  war  damals  im  Anfang  der  zwanziger  Jahre  eine  Stadt 
von  200  000  Einwohnern  mit  viel  Kleinstädterei  in  Manieren  und 
Gesinnung.  Raffiniertere  Bildung,  die  man  in  den  höheren  Kreisen 
antraf,  war  französischen  Ursprungs,  schon  als  Gegengewicht  gegen 
das  Biedermeiertum  der  Spießbürger.  Man  hatte  drei  Theater  und 
ebenso  viele  politische  Zeitungen.  Am  Hoftheater  herrschte  Spon- 
tini.  Das  Schauspielhaus  war  nach  Ifflands  Tode  zurückgegangen, 
und  im  Königstädtischen  Theater  vergnügte  man  sich  an  Possen, 
Vaudevilles,   Lustspielen  und  komischen  Opern.     Angely  hatte  bald 


Traum   und   Tat  33 

die  Berliner  Bürgerschaft  auf  seiner  Seite,  und  Henriette  Sontag 
wurde  hier  ein  Stern.  Die  Geistigkeit  Berlins  wurde  durch  E.  T.  A. 
Hoffmann,  Hegel  und  Schleiermacher  repräsentiert.  Es  war  die  Zeit 
der  Romane  von  Clauren.und  Lafontaine,  während  Goethe  und  Schiller 
nur  den  Sonderlingen  gehörten.  Aber  es  war  auch  die  Zeit  der 
literarischen  Salons  und  des  Erwachens  der  Blaustrümpfe.  Im  Musik- 
leben brachten  die  zwanziger  Jahre  wieder  einen  Aufschwung.  Die 
Oper  gewann  unter  Spontini  an  Glanz.  Zwar  wurde  durch  seine 
Prunkopern  der  Gluckkultus  eingeschränkt;  aber  1821  brach  Weber 
mit  Preziosa  und  Freischütz  der  romantischen  Musik  gewaltig  Bahn. 
Die  Intrige  blühte,  und  Spontini  bekam  namentlich  in  Rellstab  einen 
scharfen  Gegner.  Der  Klatschgeist  fand  Nahrung.  Dem  Oratorium 
wurde  würdigste  Pflege  in  der  Zelterschen  Singakademie  zuteil. 
Schlechter  war  es  um  die  Instrumentalmusik  bestellt.  Mosers  Quar- 
tettakademien hatten  zu  kämpfen,  um  sich  beim  Publikum  durchzu- 
setzen. Ebenso  seine  Symphonieaufführungen.  Werke  von  Haydn, 
Mozart,  Beethoven,  Spohr,  Romberg  und  manchen  Zeitgenossen 
standen  auf  dem  Programm.  Ein  Dilettantenorchester  des  Kammer- 
musikers Bliesener  warb  gleichfalls  um  die  Gunst  der  Hörer.  Die 
Virtuosen  aber  suchten  Berlin  schon  in  großer  Zahl  heim.  Da  waren 
allwinterlich  die  ersten  Namen  vertreten.  Neben  den  Großmeistern 
ihrer  Instrumente  auch  Originale  wie  der  Geiger  Boucher,  der  seine 
Ähnlichkeit  mit  Napoleon  I.  dazu  benutzte,  um  während  der  Orchester- 
tutti  seine  Geige  fortzulegen  und  Kaiserstellungen  zu  zeigen.  Zum 
Jubel  der  vollen  Häuser.  Intensiver  aber  noch  als  in  der  Öffent- 
lichkeit wurde  die  Musik  in  den  Familien  betrieben.  Selbst  das  soge- 
nannte öffentliche  Musikleben  der  Dilettantenvereinigungen  trug  da- 
mals noch  einen  patriarchalischen  Charakter.  Unter  den  geselligen 
Häusern  Berlins,  in  denen  die  Musik  besonders  gepflegt  wurde,  ragte 
das  Mendelssohnsche  als  das  bei  weitem  bedeutendste  hervor.  Der 
Reichtum  des  Vaters  erlaubte  die  Musikausübung  im  großen  Stil,  und 
die  Begabung  der  Kinder  schuf  hier  einen  Mittelpunkt  ernstesten 
Kunstgenießens.  Bach,  den  man  in  der  Öffentlichkeit  langweilig, 
ledern  und  gelehrt  fand,  wurde  hier,  das  darf  man  wohl  sagen, 
wieder  entdeckt. 

1825  kaufte  Abraham  Mendelssohn  das  Haus  Leipziger  Straße  3, 
das  damit  zur  musikalischen  Zentrale  Berlins  wurde.    In  dem  großen 

Daums,  Mendelssohn  3 


34  Traum   und   Tat 

Qartensaal  fanden  hier  die  berühmten  Sonntagsmusiken  statt,  hinter 
denen  Felix  und  Fanny  Mendelssohn  als  treibende  und  anregende 
Geister  standen,  und  zu  denen  sich  erste  Künstler,  Chor-  und  Or- 
chesterkräfte drängten.  Der  Nutzen,  der  hieraus  für  den  jungen 
Mendelssohn  entsprang,  ist  gar  nicht  zu  ermessen.  Nicht  nur  für 
seine  eigentliche  musikalische  Entwicklung  war  es  von  ungeheurer 
Bedeutung,  daß  er  sich  alle  Musik  neben  der  eigenen  vorführen  konnte, 
sondern  er  gewann  auch  für  das  spätere  Leben  eine  Fülle  wertvollster 
Anregungen  und  Beziehungen.  Ihm  waren  die  Wege  zum  Ruhm 
bereits  geebnet,  ehe  er  sich  überhaupt  als  Künstler  die  Anwartschaft 
darauf  so  recht  erworben  hatte.  So  wurde  von  vornherein  der  Kampf 
um  den  Beruf  und  um  Anerkennung  bei  ihm  ausgeschaltet.  Was 
hatte  es  da  zu  bedeuten,  daß  die  Zeitungen  seine  ersten  Veröffent- 
lichungen —  die  Klavierquartette  —  kühl  und  zurückhaltend  be- 
sprachen? Dies  konnte  für  ihn  keine  Hemmung  mehr  bedeuten. 
Sein  Name  faßte  ja  bereits  Fuß  in  der  Welt  der  Geistigkeit.  Die 
Koryphäen  begrüßten  ihn  bereits  kollegial,  alle  die  sich  in  der  Leip- 
ziger Straße  3  einfanden :  von  Musikern  Spohr,  Weber,  Marschner, 
Gounod,  Zelter,  Paganini,  L.  Berger,  Henselt,  Hummel,  Hilier,  Kalk- 
brenner, Moscheies,  Ernst;  von  Malern  Cornelius,  Horace  Vernet, 
Magnus,  Kopisch,  Kaulbach,  Schwind;  von  Gesangsgrößen  die  Milder, 
Novello,  Lablache,  Pasta  und  Schröder-Devrient;  von  Schauspielern 
die  Rachel  und  Seydelmann ;  von  Bildhauern  Thorwaldsen,  Rauch, 
Architekt  Schinkel;  von  Federhelden  de  la  Motte  Fouque,  Brentano, 
Heine,  Holtei,  Ludwig  Robert;  von  Wissenschaftlern  A.  und  W.  von 
Humboldt,  Hegel,  Varnhagen  von  Ense,  Gans,  Bunsen,  Jacob  Grimm 
und  Böckh.    Eine  stattliche  Liste. 

In  ihre  Mitte  denke  man  sich  den  jungen  Mendelssohn,  den 
Hiller  überreif,  fast  lehrhaft  bestimmt  nennt.  Das  Selbstbewußtsein 
mußte  sich  stark  entwickeln  durch  die  Gewohnheit,  täglich  bewundert 
zu  werden.  Nur  die  Gewissenhaftigkeit  und  der  Ernst  der  Eltern 
dämpften  die  Hochgefühle  oft  genug  zur  Bescheidenheit.  So  blieb 
ihm  die  Eitelkeit  fremd.  Aber  eine  äußerst  feinfühlige  Empfindsam- 
keit bildete  sich  in  dieser  Umgebung,  die  ihn  später  oftmals  Feind- 
seligkeit und  Gegnerschaft  vermuten  ließ,  wo  ihm  nur  kühle  Objek- 
tivität gegenüberstand.  Allzu  viel  Geistiges  erzeugte  eine  gewisse 
nervöse  Überreiztheit,  die  aber  in  seine  Musik  keinen  Eingang  fan  ; 


Traum   und   Tat  35 

—  eins  der  merkwürdigsten  Phänomene.  Wir  bewundern  es,  daß 
in  dieser  Treibhausluft  altkluger  Jugend,  in  diesem  Eldorado  der 
Geschwätzigkeit  die  Dekadenz  nicht  größere  Dimensionen  annahm. 
Es  blieb  eben  doch  bei  allem  Spiel  immer  der  große  Ernst  vor  der 
Kunst.  Aber  die  Einseitigkeit  war  hier  nicht  zu  Hause.  Shakespeare, 
Goethe  und  Jean  Paul  waren  die  poetischen  Hausgötter.  Es  wurde 
viel  gelesen  und  diskutiert.  Heinrich  Heine  versuchte  vergeblich,  auf 
die  Jean  Paul-Schwärmerei  der  jungen  Mendelssohns  einen  Dämpfer 
zu  setzen.  Die  Romantik  hatte  die  Herzen  gewonnen;  kleine  Ver- 
liebtheiten und  Schwärmereien  wurden  ausgekostet,  Freundschafts- 
bünde  wurden  geschlossen,  kurzfristige  und  dauernde.  Der  junge 
Maler  Wilhelm  Hensel,  der  schwer  zu  kämpfen  hatte,  dessen  Talent 
aber  schon  Aufsehen  erregte,  warb  um  Fanny,  die  er  aber  erst  nach 
einem  fünfjährigen  Studienaufenthalt  in  Rom  errang.  Carl  Klinge- 
mann, ein  strebsamer  Beamter,  später  Gesandschaftssekretär  in 
London,  fand  in  Felix  bald  einen  Freund  und  Komponisten  seiner 
Dichtungen. 

Auf  diesem  Boden  erwuchs  1826  die  Sommernachtstraum-Ouver- 
türe. Das  Vorjahr  hatte  neben  dem  Capriccio  opus  5  und  der 
Trompeten-Ouvertüre  in  C  das  Oktett  für  Streichinstrumente  ge- 
zeitigt. Und  was  sich  dort  im  Scherzo  ankündigte,  das  offenbarte  die 
neue  Ouvertüre.  Der  Geselle  Zelters  war  zum  Meister  geworden. 
Was  hatten  daneben  das  Quintett  opus  18,  die  Sonate  opus  6,  die 
Charakterstücke  opus  7  und  die  Lieder  opus  8  und  9  zu  bedeuten? 
Der  erste  Entwurf  des  Werkes  war  eine  Fassung  für  Klavier  zu  vier 
Händen.  So  spielte  er  sie  im  November  mit  Fanny.  Marx,  der  seit 
1824  Musikzeitungsredakteur  war,  kritisierte,  und  Mendelssohn 
änderte  und  besserte.  Endlich  konnten  die  neugierig  gemachten 
Berliner  in  der  Sonntagsmusik  die  Ouvertüre  vom  Orchester  hören. 
In  Stettin  aber  trat  sie  im  nächsten  Februar  den  Weg  in  die  Öffent- 
lichkeit und  Unsterblichkeit  an.  Erst  siebzehn  Jahre  später  wurde 
die  übrige  Sommernachtstraummusik  geschrieben. 

Dem  Ehrgeiz  der  Mutter  genügten  die  Sonntagstriumphe  ihres 
Wunderkindes  nicht  mehr.  Sie  wünschte  den  Sieg  in  der  großen 
Welt.  Felix  hatte  vom  Juli  1824  bis  August  1825  seine  fünfte  Oper 
„Die  Hochzeit  des  Camacho"  nach  einem  Sujet  aus  dem  Don  Quixote 
komponiert.     Mit  diesem   Werk  sol'te  auf  der  Bühne  der  Hofoper 

3* 


36  Traum   und   Tai 

Felix  Mendelssohn  in  die  Reihe  der  Großen  Berlins  treten.  Graf 
Brühl,  der  Intendant,  wurde  gewonnen.  Spontini  verhielt  sich  reser- 
viert. Nach  vielen  Schwierigkeiten  kam  es  endlich  am  29.  April  1827 
zur  Aufführung  der  Oper  im  Schauspielhaus.  Der  anfänglich  freund- 
liche Beifall  wurde  jedoch  bald  zum  Schweigen  gebracht,  da  ein  Teil 
des  Publikums  der  Meinung  war,  daß  eine  Familienangelegenheit 
der  Mendelssohns  nicht  in  die  Öffentlichkeit  gehöre  und  deshalb  das 
Werk  ablehnte.  Saphirs  scharfzüngige  „Schnellpost"  höhnte.  Spon- 
tini aber  sagte  zu  Felix  Mendelssohn,  indem  er  aus  dem  Fenster  seiner 
Wohnung  am  Gendarmenmarkt  auf  den  französischen  Dom  wies: 
„Mon  ami,  il  vous  faut  des  idees,  grandes  comme  cette  coupole." 
Das  verziehen  ihm  die  Mendelssohns  nie. 

Aber  nicht  nur  der  Musiker,  auch  der  Mensch  mußte  noch  an 
Reife  gewinnen.    Nach  Ostern  1827  ließ  sich  Felix  Mendelssohn  an 
der  Berliner  Universität  immatrikulieren,  um  die  Kollegs  von  Hegel, 
A.  von  Humboldt,  Gans,  Lichtenstein  und  Ritter  zu  besuchen.    Hier 
knüpfte  sich  manches  Band  zur  Wissenschaft:  der  Historiker  Droysen, 
die  Theologen  Schubring  und   Bauer,  die   Brüder  Heydemann  und 
andere    wurden    seine    Freunde.     Der   Sommer   verführte    zu    einer 
Schwärmreise  nach  dem  Harz,  Franken,  Bayern  und  an  den  Rhein. 
In   Baden-Baden  wurde  dem  Roulette  Konkurrenz  gemacht:     „Erst 
las  Robert  mit  der  Haizinger  ein  neues  Lustspiel  und  sie  las  wirklich 
vortrefflich  und  erhielt  vielen  Beifall;  später  wurde  Musik  gemacht; 
Haizinger   jodelte  österreichisch,    Fräulein   v.   W.   piepte   italienisch, 
die  Naumann  sang  mit  ihrem  Manne  fünfzig  Verse  von  Fidelin,  da- 
zwischen trommelte  ich  Etüden  von  Moscheies,  die  in  Baden  großes 
Glück  machten,  phantasierte  auch,  und  die  Leute  waren  vergnügt  und 
zufrieden",   witzelt   er   über   eine   improvisierte   Soiree.     In   Heidel- 
berg besuchte  er  Thibaut  und  gestand  seiner  Mutter:  „Der  Mann 
weiß   wenig  von   Musik,  selbst  seine  historischen   Kenntnisse   darin 
sind  ziemlich  beschränkt;  er  handelt  meist  aus  bloßem  Instinkt,  ich 
verstehe  mehr  davon  als  er  und  doch  habe  ich  unendlich  von  ihm 
gelernt." 

In  Berlin  erwarteten  ihn  schmeichelhafte  Aufträge  zu  Gelegen- 
heitskompositionen. Das  war  eine  willkommene  Entschädigung  für 
die  Opernniederlage.  Zunächst  baten  die  bildenden  Künstler  um 
eine  Kantate  zum  Dürerfest  am  12.  April  1828.    Den  Text  hatte  von 


Traum   und  Tat  37 

Levetzovv  gedichtet.  Der  Erfolg  brachte  Mendelssohn  die  Ehren- 
mitgliedschaft  im  Künstlerverein.  Daraufhin  machte  ihm  Alexander 
von  Humboldt  den  Antrag,  für  die  Naturforscherversammlung  im 
September  desselben  Jahres  eine  Festkantate  zu  komponieren,  die 
Ludwig  Rellstab  gedichtet  hatte.  Berlin  durfte  der  Mendelssohnschen 
Musik  nicht  entgehen.  Dafür  blieb  der  junge  Pole  Chopin,  der  um 
diese  Zeit  in  Preußens  Hauptstadt  Ehren  suchte,  recht  unbeachtet. 
Felix  Mendelssolin  war  auch  als  Pianist  eifrig  bemüht,  sich  sein 
Reich  zu  sichern,  und  die  Anmut  und  die  Glätte  seines  Spiels  gewann 
die  Herzen  der  Berliner. 

Zelters  Lehre  war  der  Jüngling  nun  entwachsen.  Das  System 
hatte  ihm  die  Technik  gegeben,  die  seiner  Phantasie  nötig  war.  Und 
wir  sehen  es:  schon  in  den  Werken  dieser  Zeit  offenbart  sich  eine 
Abgeklärtheit  im  Gedanklichen,  eine  Sicherheit  in  der  Linienführung 
und  ein  Formgefühl,  die  eine  eigentliche  Jugend,  Sturm  und  Drang, 
in  seiner  Musik  gar  nicht  aufkommen  lassen.  Aber  wir  verkennen 
nicht,  daß  es  oft  nur  der  talentvolle  Epigone  ist,  der  bereits  Gesagtes 
noch  einmal,  wenn  auch  mit  andern  Worten,  wiederholt. 

Diese  Frühreife  kannte  keine  Irrwege.  Instinkt  und  Intellekt 
gingen  konform.  Die  vornehme  Seele,  ein  wenig  verweichlicht  und 
geschwächt  allerdings  durch  allzuviel  weibliche  Freundschaft,  wird 
sich  ihrer  Auserwähltheit  bewußt.  „Das  macht  mir  kein  Plaisir", 
lehnte  er  ab,  wenn  der  Fanny-Kreis  tiefsinnig  wurde  und  von  Michel- 
angelo, Dante  und  Beethoven  sprach.  Wehrte  er  sich  damit  gegen 
aufdringliches  Oberflächengeschwätz?  Er  konnte  dann  ein  harm- 
loses Spiel  vorschlagen,  um  die  Gemüter  abzulenken.  In  seine  Kom- 
positionen hinein  aber  rettete  er,  was  ihn  bewegte.  Das  war  sein 
Gesprächsfeld.  Wohlanständigkeit  drückte  ihren  Stempel  auf  die 
Gelegenheitskantaten.  Das  Haus  wurde  mit  halbironischen  Kinder- 
symphonien bedacht.  Der  Träumer  aber  ergießt  sein  Herz  in  die 
Streichquartette  a-moll  op.  13  und  Es-dur  op.  12,  in  eine  Fuge 
für  Streichquartett  in  Es-dur  opus  81,  einige  geistliche  Musikwerke 
und  in  die  Konzert-Ouvertüre  „Meeresstille  und  glückliche  Fahrt" 
opus  27,  die  aber  erst  später  ihre  endgültige  Gestalt  fand.  Cello-Vari- 
ationen opus  17  und  Klavierfugen  zeigen  den  gewandten  Techniker. 

Die  Unternehmungslust  des  jungen  Musikers  drängte  nun  auch 
zu  einer  Tat,  die  über  die  Bedeutung  der  Sonntagsmusiken  hinan«- 


38  Traum  und  Tat 

ging.  Der  Bachkultus  trug  seine  Früchte.  Mendelssohn  bekam  bei 
Zelter  Stücke  aus  der  Matthäuspassion  des  Thomaskantors  zu  sehen 
und  äußerte  den  lebhaften  Wunsch,  die  wunderbare  Partitur  zu  be- 
sitzen. Eduard  Rietz  kopierte  sie  für  ihn,  und  nun  erwachte  all- 
mählich das  Verlangen  nach  einer  Aufführung.  Zelter  bezeichnete 
sie  als  unmöglich.  Das  konnte  aber  nur  den  Ehrgeiz  anstacheln, 
den  Eduard  Devrient  mit  Feuereifer  schürte.  Und  schließlich  wurde 
das  ungeheure  Wagnis  unternommen.  Hindernis  nach  Hindernis  fiel, 
Gleichgültigkeit  und  Widerstand  wurden  in  Begeisterung  verwandelt, 
und  so  konnte  am  11.  März  1829  Felix  Mendelssohn  die  Matthäus- 
passion zum  erstenmal  in  Berlin  aufführen.  „Die  Passion  ist  auf  Be- 
gehren bereits  zum  zweiten  Male  (am  22.  März)  aufgeführt.  Es  war 
ein  Lärm  und  Gedränge,  wie  ich  ihn  nie  in  geistlichen  Konzerten  sah", 
schrieb  er  an  den  Freund  Klingemann.  Mendelssohn  hatte  das 
Orchester,  Zelter  den  Chor  dirigiert.  Berlin  war  nun  endgültig  zu 
Bach  bekehrt. 

Dem  Vater  aber  genügte  Berliner  Ruhm  und  Anerkennung 
nicht.  Der  nunmehr  zwanzigjährige  Musiker  sollte  auch  in  England, 
der  Hochburg  vornehmer  Musikpflege,  wo  Händel,  Haydn  und  Weber 
den  Boden  für  die  deutsche  Musik  bereitet  hatten,  Lorbeeren  pflücken. 
Und  am  10.  April  1829  wurde  die  Reise  angetreten.  Moscheies,  der 
Getreue,  und  Klingemann  hatten  alles  zum  Empfang  vorbereitet.  Der 
Enkel  Moses  Mendelssohns  und  Sohn  des  berühmten  Bankhauses  fand 
offene  Arme  an  der  Themse.  Sogleich  stürzte  er  sich  in  den  Musik- 
taumel, spielte  am  30.  Mai  Webers  Konzertstück  und  glänzte  neben 
der  Sontag,  schwärmte  für  die  Malibran,  deren  Gesangs-  und  Bühnen- 
künste ganz  London  in  Atem  hielten,  spielte  wieder  in  einem  Konzert 
des  Flötenvirtuosen  Drouet,  stand  mit  Madame  Garcia  und  Signor 
Bregez  auf  dem  Podium,  triumphierte  mit  Beethovens  Es-dur-Konzert 
und  wurde  als  Komponist  der  Sommernachtstraum-Ouvertüre  wie 
ein  Gott  gefeiert.  Mit  Moscheies  zusammen  spielte  er  sein  Konzert 
für  zwei  Klaviere,  mußte  wieder  die  Sommernachtstraum-Ouvertüre 
dirigieren,  wurde  von  der  Aristokratie  umschmeichelt,  sah  vornehmste 
Pracht  beim  Herzog  von  Devonshire  und  Marquis  von  Landsdowne 
und  sehnte  sich  doch  aus  all  dem  Bunten,  Vielfältigen  nach  Schott- 
land. Endlich  ging  es  dorthin,  und  er  erlauschte  in  der  grandiosen 
Natur  Keime  zu  einer  Symphonie  und  Ouvertüre.    Jean  Pauls  Flegel- 


Die   weite   Welt  39 

jähre  mußten  über  die  Ungunst  der  Witterung  hinweghelfen,  die 
auch  die  Weiterfahrt  nach  Irland  verhinderte.  Wieder  in  London, 
zwang  ihn  ein  Wagenunfall  für  einige  Wochen  aufs  Schmerzenslager. 
Rührend  half  Klingemann  über  die  trüben  Tage  hinweg.  Mendels- 
sohn komponierte  jetzt  an  einem  Liederspiel  für  die  Silberhochzeit 
der  Eltern  „Die  Heimkehr  aus  der  Fremde",  zu  dem  Klingemann 
den  Text  geschrieben  hatte.  Und  endlich  konnte  es  Ende  November 
über  Calais  wieder  heimwärtsgehen.  In  der  Manuskriptenmappe 
lagen  die  Drei  Fantasien  oder  Capricen  für  Pianoforte,  opus  16, 
die  Mendelssohn  für  die  drei  Töchter  eines  liebenswürdigen  engli- 
schen Gastgebers  komponiert  hatte,  der  größte  Teil  des  Liederspiels 
und  die  Fantasie  über  ein  irländisches  Lied,  opus  15. 

Die  Familie  verlangte  ihr  Recht.  Das  Liederspiel  wurde  schnell 
beendet  und  noch  vor  Jahresschluß  im  Hause  aufgeführt.  Der  alte 
Zeiter  aber  begann,  dies  Treiben  mit  leichtem  Mißtrauen  anzusehen : 
„Ich  fürchte  ihn  im  Lande  und  in  dem  verderblichen  Familiengeträtsch 
wie  einen  Gallert  zusammenrinnen  zu  sehen/'  klagte  er  Goethe,  und 
kurz  darauf:  „Ich  kann  die  Zeit  nicht  erwarten,  daß  der  Junge  aus 
dem  vertrakten  Berliner  Klimperwesen  und  nach  Italien  kommt,  wo- 
hin er  nach  meinem  Dafürhalten  zuerst  hätte  kommen  sollen. "  Die 
Jugend,  in  der  selbst  das  Ernste  noch  ein  Spiel  war,  mußte  nun 
abgeschlossen  werden.  Und  da  keine  Hindernisse  den  Flug  in  die 
weite  Welt  hemmten,  rüstete  sich  Felix  Mendelssohn,  das  Erworbene 
zu  erproben  und  ganz  der  eigenen  Kraft  zu  vertrauen. 


DIE  WEITE  WELT 

„Mir  kann  zuweilen  bange  werden,  wenn  ich  den  Ablauf  des 
Knaben  betrachte.  Bis  jetzt  hat  er  kaum  einen  Widerspruch  er- 
fahren. Als  Schüler  habe  ich  ihn  nicht  überschätzt,  noch  zu  loben 
nötig  gehabt;  wiewohl  ich  den  natürlichen  Gehorsam,  den  Trieb 
sich  bei  völliger  Freiheit  sinnig  zu  beschäftigen,  nur  mit  Gefallen 
habe  ansehen  können,  ja  von  mir  selber  denken  darf,  ihm  das  Wahre 
gelehrt  zu  haben,  wie  ich  es  in  der  zweiten  und  dritten  Potenz  als 
Fazit  wieder   erkenne.     Er   nimmt   eine   komplette  Schule   von   hier 


40  Die  weite  Welt 

mit  sich,  worauf  er  bauen  kann  was  ihm  sein  Genius  eingibt,  und 
wenn  er  so  fortwächst,  wird  er  an  seinen  Lehrer  zu  denken  haben." 
Nehmen  wir  diese  ehrlichen  Worte  Zelters  an  Ooethe  als  Mendels- 
sohns Zeugnis,  mit  dem  er  seiner  eigenen  Höhe  entgegenging. 

Die  letzte  Berliner  Zeit  hatte  mit  der  sogenannten  Reformations- 
symphonie, die  später  in  Leipzig  mit  geringem  Erfolge  aufgeführt 
wurde,  kompositioneil  ein  nur  schwaches  Ergebnis.  Das  ganze  Leben 
und  Treiben  schien  Mendelssohn  nicht  mehr  von  der  alten  Frische 
und  Ungebundenheit  zu  sein.  „Die  Leute  sind  kalt,  maliziös  und 
setzen  eine  Ehre  darin,  nie  zufrieden  zu  sein",  seufzte  er.  Zu  alledem 
zwang  ihm  ein  Masernanfall  höchst  unerwünschte  Ruhe  und  Auf- 
schub der  Reise  auf.  Er  hatte  schon  sorgsam  disponiert:  „Mein  Plan 
ist  von  hier  über  Weimar  nach  München,  dann  durch  Tirol  nach  Wien 
zu  reisen,  von  Wien  will  ich  in  der  Mitte  oder  gegen  Ende  des 
Sommers  nach  Venedig  und  Ober-Italien  und  denke  dann  den  nächsten 
Winter  in  Rom  und  Neapel  zuzubringen."  Und  im  Mai  1830  ver- 
ließ er  Berlin. 

Weimar  war  die  erste  Station.  Nach  einem  etwas  steifen  Will- 
komm bei  Goethe  wurde  die  Stimmung  jedoch  bald  durch  die  Musik 
eine  wärmere.  Goethe  ließ  sich  täglich  vorspielen.  „Und  dabei 
sitzt  er  in  einer  dunklen  Ecke,  wie  ein  Jupiter  tonans,  und  blitzt 
mit  den  alten  Augen",  schildert  ihn  Felix.  Der  Jüngling  versuchte 
es  auch  mit  Beethovens  c-moll-Symphonie.  Goethe  war  zuerst  bei- 
nahe bestürzt,  fing  dann  aber  doch  Feuer.  „Von  der  Bachschen 
Epoche  heran  hat  er  mir  wieder  Haydn,  Mozart  und  Gluck  zum 
Leben  gebracht,  von  den  großen  neueren  Technikern  hinreichende 
Begriffe  gegeben  und  endlich  mich  seine  eigenen  Produktionen  fühlen 
und  über  sie  nachdenken  machen,  ist  daher  auch  mit  meinen  besten 
Segnungen  geschieden",  berichtete  er  Zeiter.  Dem  jungen  Musiker 
aber  schenkte  er  als  Dank  einen  Bogen  aus  der  „Faust"-Handschrift 
mit  der  Widmung:  „Dem  lieben  jungen  Freunde  Felix  Mendelssohn- 
Bartholdy,  kräftig-zartem  Beherrscher  des  Pianos,  zur  freundlichen 
Erinnerung  froher  Maitage   1830.    J..  W.  von  Goethe." 

Es  ging  weiter  nach  München.  Auch  hier  wurde  nur  an  Musik- 
genießen gedacht.  Er  spielte  Fremdes  und  Eigenes,  dürstete  nach 
Anregung  und  suchte  Freundschaft.  Seine  ernste  künstlerische  Ge- 
sinnung wirkte  anfeuernd:  „Die  Damen  hier,  die  in  Herz  und  Kalk- 


Die  weite  Welt  41 

brenner  versunken  waren,  und  Moscheies  und  Hummel  zu  den  alten 
Klassikern  rechneten  (buchstäblich),  haben  sich  an  den  Beethoven 
und  Weber  mit  Wut  gemacht,  weinen  und  schwärmen  und  spielen 
Beethoven.  Aber  wirklich  denke  ich,  daß  ich  nicht  lange  weg  sein 
werde  und  sie  sind  wieder  beim  Herz/'  Er  durchschaute  die  Stroh- 
feuerbegeisterung.   Im  übrigen  war  er,  „sehr  vergnügt  und  lustig." 

Die  Lust-  und  Freudenfahrt  wurde  über  Salzburg  ins  Österreichi- 
sche fortgesetzt.  In  Linz  fühlte  er  traumhaft  die  a-moll-Symphonie 
in  sich  aufsteigen.  Wien,  das  Eldorado  der  Musik,  war  bald  erreicht. 
Aber  die  Stadt  Haydns,  Mozarts  und  Beethovens  sagte  ihm  wenig  zu : 
„Die  Leute  um  mich  herum  waren  so  schrecklich  lüderlich  und  nichts- 
nutzig, daß  mir  geistlich  zu  Mute  wurde,  und  ich  mich  wie  ein  Theolog 
unter  ihnen  ausnahm.  Übrigens  haben  die  besten  Klavierspieler  dort 
nicht  eine  Note  von  Beethoven  gespielt,  und  als  ich  meinte,  es  sei 
doch  an  ihm  und  Mozart  etwas,  so  sagten  sie:  ,Also  sind  Sie  ein 
Liebhaber  der  klassischen  Musik?'  —  ,Ja,  sagte  ich."  Er  kom- 
ponierte nur  wenig  und  zwar  ausschließlich  Kirchenmusik,  in  selt- 
samem Kontrast  zu  seinem  äußeren  Leben.  Einzig  in  Franz  Hauser, 
bei  dem  er  einige  Zeit  wohnte,  fand  er  einen  wirklich  teilnehmenden 
Freund.  Ein  Ausflug  nach  Preßburg  zur  pomphaften  Königskrönung 
brachte  eine  malerische  Abwechselung,  die  er  farbenreich  in  seinen 
Briefen  zu  schildern  verstand.  Dann  führte  ihn  sein  Weg  über  Graz, 
„ein  langweiliges  Nest,  zum  Gähnen  eingerichtet",  über  Klagenfurt 
in  das  gelobte  Land  der  Kunst. 

„Ich  hatte  mir  den  ganzen  ersten  Eindruck  von  Italien,  wie 
einen  Knalleffekt,  schlagend,  hinreißend  gedacht;  —  so  ist  es  mir 
bis  jetzt  nicht  erschienen,  aber  von  einer  Wärme,  Milde  und  Heiter- 
keit, von  einem  über  alles  sich  ausbreitenden  Behagen  und  Frohsinn, 
daß  es  unbeschreiblich  ist."  So  spricht  der  Märker,  der  heftige 
Erschütterungen  suchte.  Er  fand  sie  erst  in  Venedig.  Die  Erinnerung 
läßt  ihn  da  verzückt  stammeln.  Der  hochgeistige  Mensch  findet 
sogleich  Anschluß  an  eine  Kultur,  die  ihm  längst  vertraut  ist  und 
die  ihm  seine  geahnten  und  gefühlten  Ideale  greifbar  zeigt.  Tizian, 
Giorgione,  Pordenone  werden  ungeheure  Erlebnisse,  die  die  Phan- 
tasie aufwühlen.  Aber  der  Strengdisziplinierte  duldet  keine  Aus- 
schweifungen des  Intellekts.  Luthers  geistliche  Lieder,  die  er  kompo- 
niert,  halten   seine  Musikleidenschaft  in  den  Grenzen  des  strengen 


42  Die   weite   Welt 

Stils.  Und  von  der  Landschaft  bekennt  er  freimütig,  daß  er  Buchen, 
Linden,  Eichen  und  Tannen  zehnmal  schöner  und  malerischer  fände 
als  die  seltsamen  fremden  Zypressen,  Myrthen-  und  Lorbeerbäume. 
Auch  in  Florenz  fesseln  ihn  vor  allem  die  Maler  und  die  Schönheiten 
der  Architektur.  Immer  wieder  begeistert  er  sich  für  Tizian.  Und 
endlich,  am  1.  November  1830,  ist  er  in  Rom. 

Hier  sollte  neben  dem  Genuß  auch  ein  Arbeitsleben  beginnen, 
und  wirklich  bewältigte  er  bis  zum  Frühling  des  nächsten  Jahres 
einige  Lutherlieder,  die  Skizzen  der  a-moll-Symphonie,  der  Hebriden- 
Ouvertüre  und  der  Walpurgisnacht.  Er  möchte  „ungeheuer  viel  Men- 
schen kennenlernen,  namentlich  Italiener"  und  bittet  um  Empfehlungs- 
briefe. Unter  den  Malern  fand  er  viele  Deutsche:  Bendemann,  Hüb- 
ner, Schadow,  Cornelius,  Overbeck.  Aber  mehr  förderten  ihn  Thor- 
waldsen  und  Horace  Vernet.  Man  hatte  ihn  schon  sehnlich  erwartet, 
und  er  mußte  fleißig  die  Klavierhände  rühren.  Die  Zustände  im 
öffentlichen  Musikleben  Roms  waren  wenig  erfreulich.  Die  erste 
Musik,  der  er  begegnete,  war  Qrauns  „Tod  Jesu".  Treibende  Kraft 
unter  den  Einheimischen  war  einzig  der  Abbate  Fortunato  Santini, 
der  begierig  auf  Mendelssohns  Bach-Offenbarungen  und  -Schätze 
wartete.  Der  Abbate  schloß  sich  sogleich  eng  an  den  jungen  deut- 
schen Meister  an  und  brachte  ihm  alle  wertvollen  Partituren  der 
alten  italienischen  Großmeister.  Und  Mendelssohn  war  nicht  müßig: 
,,Nach  dem  Frühstück  geht  es  ans  Arbeiten,  und  da  spiele  und  singe 
und  komponiere  ich  dann  bis  gegen  Mittag."  So  war  die  Freiheit 
wohl  verdient:  „Dann  liegt  mir  das  ganze  unermeßliche  Rom  wie 
eine  Aufgabe  zum  Genießen  vor;  ich  gehe  dabei  sehr  langsam  zu 
Werke  und  wähle  mir  täglich  etwas  anderes,  Weltgeschichtliches 
aus".  Goethes  „Reise  nach  Italien"  las  er  hier  zum  erstenmal  und 
war  stolz,  daß  er  Rom  ebenso  ruhig  und  intensiv  erlebte  wie  vierzig 
jähre  vorher  der  Dichter.  Die  Abende  gehören  gesellschaftlichen 
Verpflichtungen.  Schnell  verbreitet  sich  sein  Pianistenruhm ;  nach 
dem  Komponisten  fragt  man  weniger.  Im  Überschwang  gibt  er  mit 
vollen  Händen  namentlich  in  freien  Phantasien,  in  deren  Kunst  er  wohl 
der  letzte  große  Meister  war.  Hillers  Worte  geben  uns  einen  ent- 
lernten Begriff  von  seinem  Können:  „Ich  weiß  nicht,  was  mehr  zu 
bewundern  war,  die  kontrapunktische  Gewandtheit,  der  Fluß,  die 
Ruhe,  mit  welcher  die  Klangwogen  hinströmten,  oder  das  Feuer,  der 


Die  weite  Welt  43 

Ausdruck  und  die  außerordentliche  Technik,  die  sein  Spiel  charakte- 
risierten." Der  Beifall  war  ihm  sicher  und  wurde  reichlich  gespendet. 
Und  doch  vermißte  er  Freunde,  er,  der  den  Freundschaftskultus  liebte. 
„Hier  muß  man  immer  nur  halb  reden,  um  die  beste  Hälfte  zu  ver- 
schweigen",  klagte   er. 

Was  er  sich  von  Rom  vielleicht  erhofft  hatte,  Anregung  durch 
eine  verehrungswürdige,  originelle  musikalische  Kultur,  das  fand  er 
nicht.  Die  Zustände  waren  arg.  Hören  wir  einen  unbefangenen 
Zeugen,  Hektor  Berlioz,  der  grade  um  diese  Zeit  als  Stipendiat  in 
der  ewigen  Stadt  weilte.  Er  war  überzeugt,  „daß  von  allen  Künstler- 
existenzen keine  trauriger  ist  als  die  eines  fremden  Musikers,  der  ver- 
dammt ist,  dort  zu  wohnen,  wenn  die  Liebe  zur  Kunst  sein  Herz  be- 
seelt. Er  durchlebt  in  den  ersten  Zeiten  einen  Kreuzgang  mit  allen 
Stationen,  wenn  er  sieht,  wie  seine  poetischen  Illusionen  eine  nach 
der  anderen  hinsinken  und  sein  schönes  musikalisches  Phantasie- 
gemälde einstürzt  vor  der  verzweiflungsvollsten  der  Wirklichkeiten; 
jeder  Tag  bringt  neue  Erfahrungen,  die  beständig  zu  neuen  Ent- 
täuschungen führen,  inmitten  aller  anderen  Künste  voller  Leben, 
Größe,  Majestät,  die,  strahlend  im  Kranze  des  Genius,  so  stolz  mit 
ihren  reichen  Wundern  prangen,  sieht  er  die  Musik  zur  Rolle  eines 
niederen  Sklaven  herabgedrückt,  der  stumpf  vor  Elend,  mit  heiserer 
Stimme  Lieder  singt,  für  die  ihm  das  Volk  kaum  ein  Stück  Brot  hin- 
wirft." So  kraß  sah  nun  allerdings  Mendelssohn  die  Verhältnisse 
nicht  an  wie  Berlioz,  der  in  des  Berliner  Musikers  Briefen  als  „eine 
wahre  Karikatur  ohne  einen  Funken  von  Talent"  porträtiert  ist.  Men- 
delssohn war  schon  durch  seine  ganze  musikalische  Erziehung  in  ein 
engeres  Verhältnis  zur  alten  Musik  gekommen ;  für  ihn  waren  die  Par- 
tituren Palestrinas  nicht  bloß  talentloser  Kram  wie  für  den  stür- 
mischen Franzosen.  Aber  immerhin:  Berlioz  schildert  ihn  vortreff- 
lich: „Nie  sprach  er  den  Namen  Sebastian  Bach  aus,  ohne  ironisch 
hinzuzufügen:  Ihr  kleiner  Schüler!  Kurzum:  er  war  ein  Stachel- 
schwein, sobald  man  von  Musik  sprach;  man  wußte  nicht,  wo  ihn 
anfassen,  ohne  sich  zu  stechen.  Mit  einem  vortrefflichen  Charakter 
begabt,  von  sanfter,  liebenswürdiger  Gemütsart,  ertrug  er  leicht  jede 
Art  von  Widerspruch,  und  ich  meinerseits  mißbrauchte  seine  Duld- 
samkeit in  den  philosophischen  und  religiösen  Diskussionen,  die  wir 
manchmal   führten". 


44  Die  weite  Welt 

Mendelssohn  war  von  erstaunlichem  Fleiß.  Neben  der  „ganz 
wunderlichen"  Hebriden-Ouvertüre  beschäftigten  ihn  Gedanken  zu 
einem  Klavierkonzert  für  Paris  und  zu  einer  Bearbeitung  des  Händei- 
schen „Samson".  Er  bedauerte,  kein  Konzert  geben  zu  können. 
Aber  die  Verhältnisse  machten  es  unmöglich.  „Die  Orchester  sind 
unter  allem  Begriff.  Die  päpstlichen  Sänger  sogar  werden  alt;  sind 
fast  ganz  unmusikalisch,  treffen  selbst  die  herkömmlichen  Stücke  nicht 
richtig.  Konzerte  werden  in  der  sogenannten  philharmonischen  Ge- 
sellschaft gegeben,  aber  nur  am  Klavier;  Orchester  ist  nicht  dabei, 
und  als  sie  neulich  versuchen  wollten,  die  Schöpfung  von  Haydn  zu 
geben,  so  hielten  es  die  Instrumente  für  unmöglich,  sie  zu  spielen." 
Natürlich  haßte  er  die  Bohemiens,  die  Tag  für  Tag  im  Cafe  Greco 
saßen  und  disputierten.  Er  möchte  jedem,  der  vor  den  Meistern 
keinen  Respekt  hat,  die  herzlichsten  Grobheiten  sagen.  Und  immer 
wieder  schreibt  er  Kirchenmusik,  kennt  keinen  Zweifel,  kein  Tasten 
und  Irren.  Nur  liebt  er  die  Toten  ein  bißchen  zu  viel,  wie  Berlioz 
sagte.  Zwei  Symphonien,  die  italienische  und  schottische  kreuzen  sich 
in  seinem  Kopf.     Dazu  die  Walpurgisnacht. 

Kein  Wunder,  daß  nach  dem  arbeitsreichen  Winter  der  Wander- 
trieb wieder  erwacht.  Das  bunte  Leben  Neapels  zieht  ihn  an.  Da 
wohnt  er  in  Lucia  „wie  im  Himmel",  fährt  im  Golf,  besteigt  den  Vesuv, 
der  zu  seinem  großen  Schmerz  nicht  einmal  raucht,  besucht  Pompeji 
und  vergnügt  sich  an  dem  naiven  Volksleben.  Er  lernte  durch  den 
Musikverleger  Cottrau,  einen  „sehr  freundlichen  und  pünktlichen 
Mann",  Donizetti  und  die  Primadonna  Fodor  kennen.  Da  wurde 
an  der  Oberfläche  musiziert.  Cottrau  erzählt,  Mendelssohn  habe  das 
Talent  Donizettis  hochgeschätzt  und  später  „fast  alle  Stücke  aus 
Lucia  und  der  Favoritin  in  den  Fingerspitzen  gehabt".  Auf  Sizilien 
mußte  er  verzichten,  und  so  war  er  im  Juni  schon  wieder  in  Rom, 
haßte  das  „Kosmopolitische  und  überhaupt  die  Vielseitigkeit"  und 
kritisierte  in  einem  glänzenden  Brief  an  Zelter  die  Musik  der  Kar- 
woche. Das  war  seine  letzte  Arbeit  in  Rom;  denn  noch  im  selben 
Monat  sehen  wir  ihn  schon  auf  der  Rückreise  in  Florenz,  Bilder  ge- 
nießend. Über  Genua  gelangte  er  nach  Mailand  und  verlebte  dort 
eine  der  „angenehmsten  und  vergnügtesten  italienischen  Wochen". 
Die  Walpurgisnacht  war  bis  auf  die  Ouvertüre  beendet.  Und  nun 
machte  er  die  Bekanntschaft  der  Gattin  des  Generals  von  Ertmann, 


DieweiteWelt  45 

jener  Dorothea  von  Ertmann,  die  Beethovens  Schülerin  und  Freun- 
din gewesen  war.  Es  wurde  ein  inniges  Sichmitteilen  und  Musizieren. 
Auch  Mozarts  ältesten  Sohn,  den  Beamten  Karl  Mozart,  lernte  er 
hier  kennen  und  schätzen.  Ihm  spielte  er,  als  erstem,  die  Walpurgis- 
nacht vor. 

Damit  hatte  die  Italienreise  ein  Ende.  Sorglos  und  doch  arbeits- 
reich und  ergebnisvoll  war  sie  verlaufen.  Er  hatte  ja  keine  Eile, 
sich  eine  Futterkrippe  zu  verschaffen.  „Ich  schreibe  ebensowenig, 
um  berühmt  zu  werden,  als  um  eine  Kapellmeisterstelle  zubekommen/' 
Er  darf  frei  ganz  der  Ausbildung  seiner  Persönlichkeit  leben:  „Nur 
daran  denke  ich  immer  mehr  und  aufrichtiger,  so  zu  komponieren, 
wie  ich  es  fühle,  und  noch  immer  weniger  äußere  Rücksichten  zu 
haben;  und  wenn  ich  ein  Stück  gemacht  habe,  wie  es  mir  aus  dem 
Herzen  geflossen  ist,  so  habe  ich  meine  Schuldigkeit  dabei  getan; 
ob  es  nachher  Ruhm,  Ehre,  Orden,  Schnupftabaksdosen  und  der- 
gleichen einbringt,  kann  meine  Sorge  nicht  sein."  Wie  sehnte  er  sich 
nun  nach  einem  Operntext!  Immer  schon  hatte  er  danach  gefahndet; 
aber  kein  Dichter  konnte  es  ihm  recht  machen.  „Mendelssohn  wird 
niemals  einen  Opernstoff  finden,  der  ihm  genügt;  er  ist  viel  zu  ge- 
scheidt  dazu",  meinte  Carl  von  Holtei,  und  der  Vater  scherzte:  „Ich 
fürchte,  Felix  findet  am  Ende  auch  keine  Frau,  wie  er  keinen  Opern- 
text hat  finden  können."  Mendelssohn  wußte  schon,  daß  es  „etwas 
Frisches,  Lust'ges  werden  kann".  Er  peitschte  Eduard  Devrient 
an,  ihm  den  Text  zu  verschaffen.  Der  Dichter  brauche  ja  gar  kein 
Riese  zu  sein;  nur  ein  bißchen  Glut  und  Talent  müsse  er  haben. 
Devrients  Hans  Heiling- Dichtung  hatte  er  abgelehnt.  Marschner  ge- 
staltete daraus  sein  Meisterwerk. 

Nun  er  die  Grenze  Italiens  überschritten  hatte,  erlebte  er  mit 
Begeisterung  die  großartigen  Naturschönheiten  der  Schweiz.  „Wo 
will  da  das  dürre  Italien  hin  gegen  diese  Lebensfrische  und  die 
Kerngesundheit",  lockte  es  ihn  zu  schreiben.  Das  schlechte  Wetter 
vermochte  ihm  die  gute  Laune  nicht  zu  rauben.  Es  fanden  sich  ja 
überall  Orgeln  zum  Phantasieren,  und  das  verschaffte  wieder 
Freunde.  Doch  auch  die  Kunst  verlangte  ihr  Recht.  Ein  Auftrag  der 
Münchener  Intendanz,  für  Bayerns  Hauptstadt  eine  Oper  zu  kom- 
ponieren, rief  ihn  an  die  Isar.  Aber  wieder  scheiterte  der  Opernplan 
an   der   Textfrage.     Mendelssohn   suchte   nicht   nur  schöne   Worte, 


46  Die  weite   Welt 

sondern  vor  allem  das  rein  Menschliche,  Edle,  alles  Belebende. 
„Deutsch  müßte  es  sein,  und  edel  und  rein",  war  seine  Forderung, 
die  ihm  keiner  erfüllen  konnte.  War  es  mit  der  Oper  nichts,  so 
stürzte  er  sich  um  so  leidenschaftlicher  in  das  Musikleben,  genießend 
und  wirkend.  Endlich  wieder  nach  der  italienischen  Abstinenz  ein 
Orchester!  Bald  war  ein  Konzert  arrangiert,  in  dem  er  seine  c-moll- 
Symphonie,  die  Sommernachtstraum-Ouvertüre  und  das  neue  g-moll- 
Klavierkonzert,  das  gerade  fertig  geworden  war,  aufführte.  Zum 
Schluß  mußte  er  noch  auf  Wunsch  des  Königs  über  Non  piu  andrai 
phantasieren,  schwor  aber  dieses  Publikumsblendwerk  für  alle  Zu- 
kunft als  unsinnig  ab.  Der  Erfolg  war  groß ;  sein  Ruf  in  München 
stand  fest.  Auch  bei  Hofe  mußte  er  spielen  und  witzelte  nach  Hause: 
„Am  meisten  gefiel  mir,  daß  die  Königin  nach  der  Phantasie  mir 
sagte:  das  wäre  ja  sonderbar,  ich  risse  einen  ordentlich  mit  fort, 
und  man  könnte  bei  der  Musik  ja  an  nichts  anderes  denken ;  worauf 
ich  um  Entschuldigung  bat  —  wegen  des  Fortreißens."  Täglich  fand 
sich  eine  einsame  Traumstunde  an  der  Orgel.  Aber  auch  das  Herz 
wollte  sprechen.  Leicht  entflammt,  schwärmte  er  für  die  hübsche 
Delphine  von  Schauroth,  ein  Klaviertalent,  und  nahm  lebhaftes  Inter- 
esse an  der  hochbegabten  Josephine  Lang,  die  er  im  Kontrapunkt 
unterrichtete.  Unbedenklich  durchkostete  er  die  Münchener  Oktober- 
festfreuden. 

Der  Weg  nach  Paris  war  nun  frei.  Über  Stuttgart,  Heidelberg, 
Frankfurt  und  Düsseldorf,  wo  noch  in  aller  Eile  mit  Immermann  wegen 
eines  Opernlibrettos  nach  Shakespeares  „Sturm"  verhandelt  wurde, 
ging  die  Reise. 

Paris.  Die  Stimmung  fiebrig,  schwül.  Es  war  die  Zeit  poli- 
tischer Schwankungen  und  Unwetter.  Der  Pöbel,  der  beim  Mo- 
narchenstürzen auf  den  Appetit  gekommen  war,  lechzte  nach  der 
Herrschaft.  Es  war  ein  unsicherer  Boden,  auf  dem  sich  das  Leben 
bewegte.  Aber  es  waren  Tage  seelischer  Hochspannung.  Und  das 
war  den  Künsten  günstig,  die,  selbst  des  Klassischen  müde,  revo- 
lutionierten und  nach  neuen  Ausirucksmitteln  und  Motiven  suchten. 
Die  Hauptstadt  der  Welt  war,  trotz  Wien  und  London,  von  Berlin 
ganz  zu  schweigen,  auch  die  Metropole  der  Musik.  Jedoch  Felix 
Mendelssohn  war  nicht  willig,  sich  dem  Zauber  der  Pariser  Roman- 
tiker zu  ergeben.     Er,  der  Frühfertige,  hatte  von  dem  braven  Zelter 


« 
Die   weite   Welt  47 

gehört,  daß  die  Musiker  in  Paris  keine  Note  aus  Fidelio  kennten. 
Kein  Wunder,  daß  auch  sein  Urteil  schnell  fertig  war:  „Mir  kommt 
das  Treiben  etwas  satanisch  vor;  wer  sich  nicht  ganz  zusammen- 
nimmt und  hat,  der  mag  wohl  seine  Seele  (die  musikalische,  mein' 
ich)  hier  leicht  und  gern  dem  Teufel  verschreiben;  alle  Äußerlichkeit 
ist  so  anlockend,  die  Leute  haben  Ehre  und  Geld  und  Freude  und 
Orden  und  Orchester  vollauf  und  nichts  fehlt  —  wenn  sie  nur  nicht 
so  schlechte  Musiker  wären.  In  jedem  kleinen  Ort  von  Deutschland 
hab'  ich  bessere,  größere  Musiker  gefunden  als  hier." 

Wen  fand  er  vor?  Rossini  und  Auber  beherrschten  die  Bühne. 
Meyerbeer  errang  gerade  mit  „Robert  der  Teufel"  einen  Sensations- 
erfolg. Und  Scribe  war  der  gute  Vater  aller  Opernkomponisten. 
Cherubini  galt  immer  noch  als  Großmeister  auf  dem  Gebiet  der  Kir- 
chenmusik. Habeneck  war  mit  dem  Conservatoire-Orchester  der 
Apostel  Beethovens.  Und  nun  die  glänzende  Reihe  der  Virtuosen 
und  jungen  Komponisten.  Paganini  gab  zwölf  Konzerte  hintereinander 
in  der  Großen  Oper.  Chopin  ließ  die  Herzen  der  Frauen  schneller 
schlagen.  Baillot  war  zwar  alt  und  liebte  darum  das  häusliche  Musi- 
zieren. Liszt,  Herz  und  Kalkbrenner  aber  standen  im  Mittelpunkt  der 
Virtuosenkämpfe  als  Günstlinge  der  Menge. 

Mendelssohn  wurde  hier  mit  offenen  Armen  aufgenommen.  Zwar 
Cherubini  war  brummig;  aber  Liszt  spielte  gleich  das  g-moll-Konzert 
prima  vista.  Kalkbrenner,  der  immer  ein  wenig  die  Pose  liebte, 
bemühte  sich  anfänglich  um  ihn,  kam  ihm  aber  nicht  näher.  Mit 
Heine  und  Börne  konnte  er  für  die  Tänzerin  Taglioni  und  die  Mali- 
bran  schwärmen.  Die  Taglioni  schien  ihm  „der  einzige  Musiker  in 
Paris"  zu  sein.  Aber  für  die  schöne  Schauspielerin  Leontine  Fay, 
die  in  Scribeschen  Stücken  glänzte,  fühlte  er  tiefer.  Er  machte  in 
den  Pariser  Vorstadttheatern  dramatische  Studien,  lief  fast  täglich  ins 
Louvre,  spielte  viel  Schach  und  komponierte  wenig.  Bai  lot  hatte 
es  übernommen,  ihn  den  Parisern  vorzustellen.  Er  gab  zu  Ehren 
Mendelssohns  eine  Soiree,  in  der  sich  dieser  als  Komponist  mit  dem 
Es-dur-Streichquartett  und  als  Pianist  mit  einer  genialen  Improvi- 
sation höchst  erfolgreich  einführte.  Bald  stand  er  mitten  im  Getriebe. 
Er  spielte  in  Habenecks  Konzerten  das  G-dur-Konzert  von  Beet- 
hoven und  fand  zahlreiche  Bewunderer  für  seine  Sommernachts'raum- 
Ouvertüre.    Die  Reformationssymphonie  gefiel  jedoch  dem  Orchester 


48  Die  weite   Welt 

nicht,  und  es  kam  zu  Reibereien.  Bei  alledem  hatte  er  nicht  allzuviel 
Zeit  zum  Schaffen.  Er  vollendete  die  „Walpurgisnacht",  stellte  das 
erste  Heft  der  „Lieder  ohne  Worte"  zusammen,  feilte  an  der  Hebriden- 
Ouvertüre  und  brachte  Lyrisches  zu  Papier.  Die  Epoche  der  Kirchen- 
musiken war  mit  dem  italienischen  Aufenthalt  vorläufig  für  ihn  er- 
ledigt. Die  Pariser  verlangten  mehr  von  ihm  zu  hören,  und  so  ließ 
er  das  a-moll-Streichquartett,  das  h-moll-Klavierquartett  und  das  Ok- 
tett  spielen.  Klassisch  Empfundenes  sollte  ihnen  imponieren.  Aber 
gerade  jetzt  schwenkten  selbst  Kalkbrenner  und  Herz  zur  Romantik 
ab.    So  vergingen  die  Tage. 

Inmitten  aller  Autoren-  und  Virtuosenfreuden  trafen  ihn  trübe 
Nachrichten  aus  Deutschland.  Sein  Freund,  der  Qeiger  Eduard  Rietz, 
war  an  der  Schwindsucht  gestorben,  und  bald  danach  kam  die  Kunde 
von  Goethes  Tod.  Dazu  warf  das  Cholera-Gespenst  einen  Schatten 
auf  das  Lustleben.  Auch  ihn  packte  es.  Und  so  war  er  froh,  im 
April  1832  unter  den  Pariser  Aufenthalt  den  Schlußstrich  setzen  und 
über  den  Kanal  fahren  zu  können. 

Nach  London  kam  er  nicht  als  Fremder.  Hier  hatte  er  schon 
als  Knabe  Erfolge  erzielt,  an  die  er  sich  mit  Freuden  erinnerte.  Und 
die  Stadt  Händeis  lag  seinem  ganzen  Temperament  näher  als  die 
Stadt  Aubers.  So  fühlte  er  sich  gleich  wohl.  Treue  Freunde  erwarte- 
ten ihn:  Moscheies,  den  er  einen  der  seltenen  Künstler  nennt,  die  nicht 
„von  Eifersucht,  Neid  und  elender  Selbstsucht  zerrissen"  sind,  der 
dichtende  Gesandtschaftssekretär  Klingemann  und  Rosen.  Bald  war 
er  in  den  Konzertsälen  heimisch.  In  der  Philharmonie  wurde  die 
Hebriden-Ouvertüre  mit  ungeheurem  Enthusiasmus  aufgenommen. 
Sein  g-moll-Klavierkonzert  war  den  Engländern  aus  der  Seele  musi- 
ziert. Nicht  weniger  schlug  das  Rondo  Brillant  ein.  Mit  Moscheies 
spielte  er  ein  Konzert  für  zwei  Klaviere  von  Mozart,  zu  dem  er 
Kadenzen  komponiert  hatte.  Und  auch  die  Sommernachtstraum- 
Ouvertüre  durfte  nicht  fehlen.  Es  war  ein  Sieg  auf  der  ganzen  Linie. 
Ja,  er  wurde  geradezu  populär.  In  einem  Konzert  huldigte  man  ihm: 
„Kaum  komme  ich  aber  hinein,  so  ruft  einer  aus  dem  Orchester: 
There  is  Mendelssohn',  und  darauf  fangen  sie  alle  dermaßen  an  zu 
schreien  und  zu  klatschen,  daß  ich  eine  Weile  nicht  wußte,  was  ich 
anfangen  sollte;  und  als  es  vorbei  war,  ruft  ein  anderer:  'Welcome 
to  him',  und  darauf  fangen  sie  wieder  denselben  Lärm  an,  und  ich 


Glückswogen  49 

mußte  durch  den  Saal  und  aufs  Orchester  klettern  und  mich  be- 
danken", berichtet  er  stolz  nach  Hause. 

Wohl  trifft  ihn  die  Nachricht  von  Zelters  Tod  hart  und  lähmt 
für  einige  Tage  die  Freude.  Aber  sein  Temperament  duldet  kein 
Erschlaffen.  Er  ist  ernster  geworden,  und  es  drängt  ihn  entschiede- 
ner als  bisher  zur  Tat.  Denn  nur  diese  hat  Dauer.  Der  junge  Ruhm 
verpflichtet.  Schon  sieht  ihn  die  Familie  als  Nachfolger  Zelters  im 
Amt.  Der  Vater  will  die  Angelegenheit  ernsthaft  betreiben.  Fanny 
spornt  an.  Er  aber  empfiehlt  Zurückhaltung.  Eine  innere  Stimme 
rät  ihm  ab,  sich  an  Berlin  zu  binden.  Er  wird  in  der  Familiensimpelei 
ersticken.  Und  er  scheut  den  märkischen  Sand.  Aber  eine  Ent- 
scheidung muß  nun  fallen.  Die  Londoner  Erfolge  sind  ausgekostet. 
Er  hat  die  Welt  gesehen,  hat  im  Wettstreit  mit  den  Besten  seine 
Kräfte  gemessen  und  in  Ehren  bestanden.  Sein  Werk  hat  an  den 
Zentralpunkten  des  Kunstlebens  Wurzel  gefaßt.  Jetzt  gilt  es,  die 
Erfahrungen  nutzbar  zu  machen  und  Hand  an  das  Entscheidende 
zu  legen. 

Voller  Pläne  und  Hoffnungen  fuhr  Mendelssohn  am  23.  Juni 
1832  von  London  ab,  der  Heimat  zu. 


GLUCKSWOGEN 

Nach  den  Schwärmjahren  in  der  Fremde  mochte  Mendelssohn 
das  Berliner  Leben  zunächst  wenig  behagen.  „Die  ganze  Stadt  ist 
stehengeblieben,  also  zurückgegangen.  Die  Musik  geht  schlecht,  die 
Leute  sind  nur  noch  knöcherner  geworden,  die  besten  sind  gestorben, 
die  anderen,  die  noch  schöne  Pläne  hatten,  sind  jetzt  glückliche 
Philister  und  sprechen  noch  manchmal  von  ihren  Jugenderinnerun- 
gen." Meyerbeer  ist  jetzt  Hofkapellmeister.  Berger  scheint  „miß- 
trauischer, unausstehlicher  als  je",  Spontini  prunkt  immer  noch  im 
Opernnaus,  der  Spießbürger  Rellstab  kritisiert  heftig,  „die  Prinzen 
sind  herablassend  und  peitschen  die  Bürgerlichen  selten",  der  Kron- 
prinz lädt  sogar  Mendelssohn  zu  sich  ein,  Marx  ist  Universitäts- 
musikdirektor geworden  und  komponiert  ein  Oratorium  „Moses",  zu 
dem  ihm  Mendelssohn  den  Text  zusammenstellen  hilft.    Kurz,  Berlin 

D  a  h  in  s  ,  Mendelssohn  4 


50  ülücks  wogen 

ist  für  den  jetzt  Weltkundigen  oft  zum  Verzweifeln;  er  kann  sich 
China  nicht  ärger  denken,  nur  unbewußter,  natürlicher.  Zu  allen  an 
sich  bedeutungsvollen  Teilen  fehlt  ein  Ganzes,  „und  solange  der 
Sand  Sand  bleibt  und  die  Spree  wässrig,  solange  furcht'  ich,  wird  es 
auch  nach  Berlin  nicht  kommen",  klagt  er  Frau  Moscheies.  Da 
kann  nur  die  Arbeit  helfen. 

Aber  das  Wiedereinleben  in  den  Familienkreis  und  wiederholte 
Unpäßlichkeiten  zwangen  ihn  allzu  oft  zur  Muße.  Jean  Pauls  Phan- 
tasien und  Träume,  die  er  mehr  denn  je  liebte,  halfen  die  Tage  über- 
brücken. Äußerliche  Annehmlichkeiten  vermochte  er  dem  Berliner 
Leben  nicht  abzugewinnen.  Auch  die  Sonntagsmusiken  kamen  erst 
wieder  nach  und  nach  in  Fluß.  Er  arbeitete  die  Walpurgisnacht 
um  und  schrieb  an  der  italienischen  und  schottischen  Symphonie. 
Auch  an  der  Hebriden-Ouvertüre  feilte  er  noch,  entwarf  die  Ouver- 
türe „Zum  Märchen  von  der  schönen  Melusine*',  die  fis-moll-Phan- 
tasie  für  Klavier  und  nebenbei  kamen  ihm  zahlreiche  Lieder  in  die 
Feder.  Eine  Gelegenheitsarbeit  waren  die  beiden  Konzertstücke  für 
Klarinette  und  Bassethorn  mit  Klavierbegleitung,  die  er  aus  Ge- 
fälligkeit für  die  Münchener  Kämmermusiker  Heinrich  und  Karl  Bär- 
mann komponierte.  Sein  erstes  Oratorium  „Paulus"  begann  ihn  jetzt 
ernstlich  zu  beschäftigen.  Zu  dem  Münchener  Opernauftrag  kam 
nun  noch  einer  vom  Berliner  Intendanten  Graf  Redern.  Aber  die 
Texte  fehlten.  Das  „Sturm"-Libretto  mußte  Mendelssohn  mit  Be- 
dauern an  Immermann  zurückgeben.  Und  ein  anderer  Dichter  fand 
sich  immer  noch  nicht.  Dazu  kamen  die  Trivialitäten  und  Ärger- 
nisse, die  mit  der  Wahl  des  neuen  Singakademiedirektors  zusammen- 
hingen. 

Mendelssohn  hatte  jede  direkte  ausdrückliche  Bewerbung  um  die 
Zelter-Nachfolge  abgelehnt.  Geheimrat  Lichtenstein,  der  Vorsteher 
der  Singakademie  hatte  ihm  ja  schon  vor  Jahren  Hoffnungen  auf  die 
Stelle  gemacht.  Mochte  Berlin  seine  Bedeutung  als  Musiker  erkennen 
oder  nicht  —  seine  Ausgrabung  der  Matthäuspassion  durfte  man 
ihm  noch  nicht  vergessen  haben.  Er  verschmähte  es,  bei  den  Mit- 
gliedern zu  hausieren  und  um  ihre  Stimmen  zu  bitten.  Obendrein 
mochten  die  alten  Damen  keinen  „Judenjungen"  als  Dirigenten  haben. 
So  entfielen  bei  der  Wahl  nur  88  Stimmen  auf  ihn,  während  Rungen- 
hagen 148  erhielt.     Berlin  hatte  wieder  einmal  den  Anschluß  an  die 


ülückswogen  51 

neue  Zeit  versäumt  und  den  biederen  Musikhandwerker  dem  Genie 
vorgezogen.  Die  Herrschaften  boten  Mendelssohn  die  Stelle  eines 
Vizedirektors  an,  die  er  aber  sehr  höflich  abzulehnen  sich  verpflich- 
tet fühlte. 

Mit  der  Berliner  Öffentlichkeit  hatte  Mendelssohn  nur  durch 
einige  Wohltätigkeitskonzerte  Berührung  gesucht.  Er  führte  eigene 
Kompositionen  auf,  die  Reformationssymphonie,  das  g-moll-Klavier- 
konzert,  die  Ouvertüren  zum  „Sommernachtstraum",  „Meeresstille 
und  glückliche  Fahrt"  und  die  „Hebriden",  sowie  die  Walpurgis- 
nacht und  spielte  Konzerte  und  Sonaten  von  Beethoven  und  Bach. 
„Die  Leute  hatten  Berliner  Enthusiasmus,  d.  h.  göttlich  und  himm- 
lisch war  so  viel  wie  sonst  passabel",  schrieb  er  an  Moscheies.  Na- 
mentlich als  Pianist  war  sein  Erfolg  unbestritten.  Er  besaß  schon 
in  jungen  Jahren  diese  Kunst  der  Entmaterialisierung  und  völligen 
Vergeistigung  alles  Technischen,  die  immer  das  Kennzeichen  der 
großen  Künstler  ist.  „Man  vergaß  das  Instrument,  man  vernahm  nur 
Interpretation  der  Komposition  —  er  gab  musikalische  Offenbarung, 
es  war  nur  Sprache  des  Geistes  zum  Geiste",  erfahren  wir  von 
Devrient.  Und  wir  lesen  in  einem  Brief  Mendelssohns  an  Frau 
Moscheies,  wie  er  über  die  Klaviervirtuosen  dachte:  „Es  macht  mir 
ebensowenig  Vergnügen,  wie  Seiltänzer  und  Springer;  bei  denen  hat 
man  wenigstens  den  barbarischen  Reiz,  immer  zu  fürchten,  daß  sie 
sich  den  Hals  brechen  können,  und  zu  sehen,  daß  sie  es  doch  nicht 
tun;  aber  die  Klavierspringer  wagen  nicht  einmal  ihr  Leben,  sondern 
nur  unsere  Ohren  —  da  will  ich  keinen  Teil  daran  haben."  Marx 
hat  beobachtet,  daß  Mendelssohn  im  Tempo  immer  schneller  wurde, 
wenn  er  eine  seiner  Kompositionen  zum  zweiten  oder  dritten  Mal 
vortrug;  das  wäre  der  unabwendbare  Ausdruck  wachsender  Erregt- 
heit und  Ungeduld  gewesen.  So  konnte  er  in  seiner  Vaterstadt 
als  Pianist  unbestrittene  Geltung  gewinnen  zu  einer  Zeit,  wo  man  den 
Tondichter  noch  nicht  aus  voller  Überzeugung  gelten  lassen  wollte. 

Die  Konzerterfolge  waren  ein  heilsames  Pflaster  auf  die  Wunde, 
die  der  Mißerfolg  in  der  Singakademie  der  Familie  Mendelssohn  ge- 
schlagen hatte.  Der  Vater,  etwas  hypochondrisch  geworden  durch 
ein  schlimmes  Augenleiden,  das  ihm  eigenes  Arbeiten  fast  ganz  un- 
möglich machte,  gab  jetzt  seinen  Lieblingsplan,  den  Sohn  in  führen- 
der musikalischer  Stellung  in  Berlin  zu  sehen,  auf.    Und  Felix  Men- 

4* 


52  ülückswogen 

delssohn  selbst  war  ernster  geworden.  Das  Scheitern  seiner  Hoff- 
nungen auf  die  Singakademie  hatte  ihm  zum  erstenmal  gezeigt,  daß 
es  Realitäten  im  Leben  gab,  die  auch  einen  Glücksgeborenen  in  seinem 
Lauf  hemmen  können.  Selbst  seine  Absicht,  Händeis  „Salomon", 
mit  dessen  Bearbeitung  er  sich  viel  Mühe  gemacht  hatte,  aufzuführen, 
wurde  ihm  von  der  Singakademie  durchkreuzt.  „Elende  Kerle  sind's 
und  bleiben  es",  klagte  er.  Der  Idealist  sah  sich  betrogen.  Zum 
erstenmal  dämmerte  ihm  vielleicht  die  Erkenntnis,  daß  in  seinem 
gesegneten  Schicksal  auch  ein  Stachel  verborgen  sei,  fühlte  wohl, 
daß  Reichtum,  Glück  und  Sonne  Mißtrauen,  ja  Feindschaft  erwecken 
können,  und  begann  nun,  sich  abzuschließen.  Denn  auch  ihm  konnte 
nicht  erspart  bleiben,  was  zum  unumgänglichen  Wesen  des  Genies 
gehört:  das  Einsamwerden.  Seine  Feinnervigkeit  und  Empfindsam- 
keit war  starken  Widerständen  nicht  gewachsen.  Daher  sehen  wir 
Mendelssohn  mit  zunehmendem  Alter  bemüht,  seine  Fülle  einzu- 
dämmen, sich  gewaltsam  glatt,  kalt  und  kühl  zu  machen.  Denn  er 
mußte  ja  fürchten,  daß  man  ihm  nicht  glaubte,  wenn  er  sich  ganz 
gab.  Dem  philosophisch  Geschulten  konnte  es  nicht  schwer  fallen, 
einen  gewissen  Skeptizismus  zu  gewinnen,  wenn  auch  natürlich  der 
Optimismus  Grundzug  seines  Wesens  blieb.  Und  von  diesem  Punkt 
aus  sehen  wir  auch  schon  leichter  in  die  Hintergründe  seiner  Musik. 
Er  dämpfte  die  Leidenschaft,  vermied  ängstlich  das  Auffallende,  die 
großen  Wirkungen,  und  verbarg  hinter  Formen,  die  der  Oberfläch- 
liche für  marmorn-schön  ansah,  sein  zuckendes  Herz.  Man  muß  an 
Mozart  erinnern,  dem  der  Unverstand  und  die  Dummheit  der  Men- 
schen den  Beinamen  eines  „ewig  heitern"  Meisters  gegeben  haben, 
mit  welchen  Worten  man  in  Wirklichkeit  ja  nur  andeuten  will,  daß 
Mozart  eigentlich  leider  immer  derselbe,  um  nicht  zu  sagen  geradezu 
fatal  langweilige  „Formkünstler"  gewesen  sei,  dem  es  an  leiden- 
schaftlichem Überschwang  gefehlt  habe.  Diese  Art  der  Verkennung 
ist  das  Schicksal  aller  im  Grunde  halkyonischen  Naturen  unter  den 
Genies.  Wir  müssen  deshalb  schon  jetzt  beim  Betrachten  der  Ent- 
wicklung Mendelssohns  darauf  hinweisen,  weshalb  dieser  Meister 
einen  innern  Zwang  zur  „Form"  hatte,  weshalb  er  bemüht  sein 
mußte,  seine  Sprache  zu  disziplinieren  —  eben  um  nicht  verwechselt 
zu  werden. 

Doch  die  Ereignisse  verlangen  unsere  Aufmerksamkeit.  Mendels- 


Glückswogen  53 

söhn  hatte  die  ehrenvolle  Aufforderung  erhalten,  im  Mai  1833  das 
Niederrheinische  Musikfest  in  Düsseldorf  zu  dirigieren.  Mit  Freuden 
griff  er  zu.  Als  Hauptwerk  setzte  er  Händeis  „Israel  in  Ägypten" 
auf  das  Programm.  Der  Erfolg  war  groß,  und  die  enthusiasmierten 
Düsseldorfer  engagierten  Mendelssohn  für  drei  Jahre  als  städtischen 
Musikdirektor.  Er  bekam  600  Taler  Gehalt  und  drei  Monate  Ur- 
laub und  hatte  dafür  die  Übungen  des  Chorvereins,  die  Winterkonzerte 
und  die  Messen  in  der  katholischen  Kirche  zu  leiten.  Die  Stellung, 
ließ  ihm  Zeit  genug  zum  eigenen  Schaffen,  und  so  besann  sich  Men- 
delssohn nicht  lange,  sie  anzunehmen.  Vor  und  nach  dem  Musikfest 
hatte  er  Konzertverpflichtungen  in  London  zu  erledigen.  Schnell 
wurde  in  drei  Tagen  mit  Moscheies  zusammen  ein  Variationenwerk 
über  den  Zigeunermarsch  aus  Preziosa  für  dessen  Konzert  geschrieben. 
Mendelssohn  führte  seine  A-dur-Symphonie  auf  und  rührte  selbst 
fleißig  die  Tasten;  denn  es  galt,  sich  neben  Namen  wie  Hummel, 
Paganini,  Rubini,  Malibran,  Schröder-Devrient  und  Cramer  zu  be- 
haupten. Nach  dem  Musikfest  war  er  am  8.  Juni  schon  wieder  bei 
den  Freunden  an  der  Themse.  Aber  die  Freude  wurde  stark  getrübt 
durch  einen  Beinunfali  des  Vaters,  der  ihn  diesmal  begleitet  hatte. 
Zur  Komposition  fand  sich  nicht  viel  Muße  und  Stimmung.  Immerhin 
brachte  er  wenigstens  ein  vierhändiges  Arrangement  von  Moscheies' 
Septett  zustande.  Seine  Ungeduld  wuchs.  Endlich,  Ende  August, 
konnte  er  aufbrechen.  Nach  einer  für  ihn  und  den  Vater  mühsamen 
Reise  blieb  er  noch  drei  Tage  in  Berlin  und  war  froh,  nun  in 
Düsseldorf  sich  selbst  gehören  zu  können. 

Er  fühlte  sich  bald  behaglich  am  Rhein.  Das  Leben  schwirrte 
ihm  lebhaft  genug.  Er  fand  Freunde:  die  Maler  Wilhelm  Schadow, 
Bendemann  und  Lessing.  Man  nahm  ihn  überall  mit  Liebe  auf  und 
schätzte  den  glänzenden  Gesellschafter  in  ihm  ebenso  wie  den  allzeit 
aus  seinem  Reichtum  spendenden  Musiker.  Seine  Lust  zum  Zeichnen 
erwachte  wieder.  Bei  dem  Professor  der  Landschaftsmalerei  Schirmer 
nahm  er  regelmäßigen  Unterricht,  und  nun  konnten  die  Freunde, 
besonders  Klingemann  und  Moscheies,  mit  Aquarellen  bedacht  wer- 
den. Schlechter  als  um  die  Geselligkeit  war  es  mit  der  Düsseldorfer 
Musik  bestellt.  Das  Orchester  war  in  einem  etwas  wirren  Zustand. 
Noch  ärger  sah  es  in  der  Kirchenmusik  aus.  „Ich  fand  unter  allen 
hiesigen  Musikalien  keine  einzige  erträglich  ernsthafte  Messe;  nichts 


54  Glücks  wogen 

von  alten  Italienern,  lauter  moderner  Spektakel",  klagte  er  nach 
Berlin.  Kurz  entschlossen  ging  er  auf  die  Suche  nach  Elberfeld, 
Bonn  und  Köln  und  kehrte  mit  reicher  Ausbeute  an  Partituren  von 
Palestrina,  Leo,  Lotti,  Pergolese,  Orlandus  Lassus  heim.  Und  bald 
hatte  er  seine  Kräfte  geschult.  Das  Niveau  hob  sich.  Der  erste 
Sommer  schon  verzeichnete  eine  Messe  von  Bach,  Händeis  Det- 
tinger  Tedeum,  Kirchenwerke  von  Mendelssohn  und  Altitalienisches. 
Als  der  preußische  Kronprinz  nach  Düsseldorf  kam,  wurde  ihm  zu 
Ehren  „Israel  in  Ägypten"  mit  lebenden  Bildern  aufgeführt.  Der 
nachmalige  Friedrich  Wilhelm  IV.  lernte  Mendelssohn  noch  stärker 
als  in  Berlin  schätzen.  Das  Lebendige  dieses  Daseins  regte  Men- 
delssohn an,  und  er  konnte  wahrhaft  glücklich  nach  London  berichten : 
„Der  Aufenthalt  hier  ist  mir  ganz  ungemein  angenehm ;  ich  habe  eben 
gerade  so  viel  äußerliche  Beschäftigung  als  ich  brauche  und  mag, 
und  Zeit  für  mich  vollauf;  habe  ich  mal  keine  Lust  zu  komponieren, 
so  habe  ich  Zeit  zum  dirigieren  und  einzustudieren,  und  das  geht 
alles  recht  hübsch  und  lebendig.  Dabei  ist  das  Nest  so  prächtig 
klein,  daß  man  sich  fortwährend  wie  in  der  Stube  vorkommt,  und 
doch  fehlt  nichts:  —  eine  Oper,  ein  Singverein,  ein  Orchester,  eine 
Kirchenmusik,  ein  Publikum,  sogar  eine  kleine  Opposition  —  alles 
ist  da  und  amüsiert  mich  Alles  prächtig." 

Zu  den  führenden  Persönlichkeiten  Düsseldorfs  gehörte  der 
dichtende  Landgerichtsrat  Immermann.  Der  hatte  es  verschmerzt, 
daß  Mendelssohn  seinerzeit  sein  „Sturm"-Libretto  verschmäht  hatte, 
und  reichte  dem  jungen  Musiker  freundschaftlich  die  Hand.  Und 
bald  fanden  sie  sich  zu  gemeinsamer  Arbeit.  Der  Düsseldorfer  Kunst- 
verein hatte  beschlossen,  im  Theater  Mustervorstellungen  zu  veran- 
stalten, deren  Leitung  Immermann  und  Mendelssohn  übernehmen 
sollten.  Der  Gedanke  war  gut  und  bei  den  Ausführenden  genug  Liebe 
zur  Sache  vorhanden.  Aber  das  Publikum  dachte  anders.  Verstimmt 
durch  die  erhöhten  Eintrittspreise,  versuchte  die  Opposition,  „be- 
stehend namentlich  aus  Kellnern  und  Schankwirten",  in  der  Don 
Juan-Vorstellung  einen  regelrechten  Theaterskandal.  Jedoch  beruhig- 
ten sich  die  Gemüter  bald  und  die  Wiederholung  derselben  Vor- 
stellung wurde  mit  lebhaften  Sympathiekundgebungen,  besonders  für 
Mendelssohn,  begrüßt.  Mendelssohn  verlangte  jedoch  klare  Ver- 
hältnisse, und  so  wurde  Julius  Rietz  als  ständiger  Kapellmeister  ver- 


Glückswogen  55 

pflichtet,  während  er  selbst  aus  Liebe  zur  Sache  sich  für  einige 
Opernaufführungen  zur  Verfügung  stellte.  Cherubinis  „Wasserträger" 
war  die  nächste  Aufgabe.  An  Beethovens  „Egmont"  fand  er  nur 
geringes  Gefallen.  Er  hielt  sich  in  den  Theaterangelegenheiten  vor- 
sichtig zurück  und  zwar,  „weil  ich  trotz  des  Vergnügens,  das  mir 
die  Oper  neulich  z.  B.  gemacht  hat,  mich  mit  dem  eigentlichen 
Theaterwesen,  den  Schauspielergeschichten,  dem  fortwährenden 
Effektsuchen  und  -machen,  nicht  befreunden  kann,  und  weil  mich's 
auch  von  meinem  eigentlichen  Zweck,  den  ich  in  Düsseldorf  habe, 
für  mich  zu  arbeiten,  zu  weit  entfernt."  Schon  daß  er  oberste  Instanz 
für  die  Zusammensetzung  des  Orchesters  und  die  Engagements  der 
Sänger  war,  wurde  ihm  lästig.  Er  war  allzufein  besaitet  für  den 
Theaterbetrieb,  wo  der  Klatsch  und  die  Intrige  blühen.  Bis  zum 
November  1834  hielt  er  es  aus.  Als  schließlich  alle  Störungen  ihm 
die  Arbeitsruhe  raubten,  machte  er  „einen  salto  mortale  und  sprang 
aus  der  ganzen  Geschichte  heraus."  Kurz  entschlossen,  ja  heftig 
brach  er  ab.  Hinter  allem  Äußerlichen  bohrte  der  Rivalitätsstreit 
mit  Immermann:  Schauspiel  oder  Oper,  das  war  hier  die  Frage. 
Und  Mendelssohn,  der  keinen  Widerspruch  gewohnt  war,  zerschnitt 
überreizt,  plötzlich  alle  Beziehungen.  Der  korrekten  Gesinnung  des 
Vaters  widerstrebte  diese  jähe  Art.  Aber  Mendelssohns  Selbstbe- 
wußtsein duldete  keine  Einmischung  mehr.  Für  ihn  war  das  Theater 
erledigt.  Und  doch  schweifte  seine  Sehnsucht  immer  wieder  zur 
Bühne.  Aus  London  kam  die  Anregung  zu  einem  neuen  Opernver- 
such. Klingemann  fand  den  „Pervonte"  von  Kotzebue  recht  drama- 
tisch. Mendelssohn  griff  begierig  zu,  entwarf  ein  Szenarium,  empfahl 
auch  Wielands  Bearbeitung  desselben  Stoffes  der  Beachtung  und  stand 
schnell  in  Flammen.  Aber  auch  dieser  Plan  wurde  wieder  beiseite 
gelegt.  Mendelssohns  Liebe  zur  Oper  sollte  platonisch  bleiben. 
Seine  dramatische  Leidenschaft  konnte  er  nur  dem  Oratorium  widmen. 
Mit  dem  Jugendfreunde  Julius  Schubring,  der  jetzt  als  Prediger 
in  Dessau  saß,  war  er  über  den  Text  zum  „Paulus"  ins  reine  ge- 
kommen. Darin  fand  seine  wohltemperierte  Seele  größere  Befriedi- 
gung als  im  Theatereffekt.  Hier  flössen  ihm  die  Töne  wie  von 
selbst  zu,  und  während  des  Düsseldorfer  Aufenthalts  wurde  der 
„Paulus"  nahezu  vollendet.  Der  selten  mit  sich  Zufriedene  nahm 
nun  andere  Werke,  die  bereits  mit  Ehren  ihre  Feuertaufe  bestanden 


56  Glückswogen 

hatten,  vor  und  gab  ihnen  eine  andere  Gestalt,  so  die  A-dur-Sym- 
phonie  und  die  Ouvertüre  „Meeresstille  und  glückliche  Fahrt."  Die 
Konzertouvertüre  zum  „Märchen  von  der  schönen  Melusine",  deren 
Partitur  er  in  Düsseldorf  vollendete,  war  gewissermaßen  aus  Protest 
gegen  Konradin  Kreutzers  gleichnamige  Oper  entstanden,  die  er  am 
Königstädter  Theater  mit  starkem  Mißfallen  gesehen  hatte.  Die  erste 
Aufführung  fand  bereits  im  Februar  1834  unter  Moscheies  Leitung 
in  London  statt.  1835  wurde  sie  dann  in  Leipzig  in  endgültige  Form 
gebracht.  Von  den  Liedern  ohne  Worte  konnte  er  bald  das  zweite 
Heft  zum  Druck  nach  England  schicken  und  die  Lyrik  formte  sich 
zwanglos  unter  seinen  Händen,  so  oft  nur  Klingemann  Gedichte 
schickte.  Auch  dem  brillanten  Klavierstil  wurde  gehuldigt.  Das 
Rondo  brillant  opus  29  wollte  er  Moscheies  widmen  und  entschuldi- 
gend bemerkte  er,  er  möchte  so  gern  ein  ruhiges  Stück  machen,  aber 
er  könne  es  nun  einmal  nicht.  Mit  der  As-dur-Fuge  aus  opus  35 
besänftigte  er  die  Berliner  Fugenliebhaber  und  Bachschwärmer  in 
der  Leipzigerstraße  und  ließ  dafür  in  den  „Caprices"  opus  33  seiner 
Laune  die  Zügel  schießen.  Er  meinte  „Jean  Paul  spukt  mit  hinein, 
den  ich  jetzt  mit  übergroßer  Freude  lese  und  der  mich  immer  auf 
ein  halbes  Jahr  mit  seinen  kuriosen  Einschachtelungen  ansteckt". 
Er  las  wieder  den  Fixlein  und  war  entzückt  über  den  Siebenkäs.  Wir 
denken  an  den  Jean  Paulianer  Schumann,  der  um  diese  Zeit  auch  aus 
Jean  Pauls  Geist  seine  ersten  Klavierwerke  formte. 

Über  dem  Schaffen  und  Träumen,  dem  Wollen  und  Wirken  aber 
leuchtete  die  Sonne  des  Erfolges.  Sein  Ruhm  gewann  Flügel,  und 
die  Verständnisvollen  huldigten  dem  Genius.  In  Elberfeld  und  Barmen 
nahm  man  ihn  mit  offenen  Armen  auf.  Er  spielte  Klavier  und  hatte 
sofort  alle  Herzen  für  sich  gewonnen.  Auf  dem  Musikfest  in  Aachen 
1834  konnte  er  nur  Gast  sein.  Das  Fest  war  nicht  ohne  Schwierig- 
keiten zustande  gekommen.  Wie  hell  auch  die  Lebensfreude  in  den 
Adern  der  Rheinländer  pulste,  es  gab  doch  auch  genug  Dunkel- 
männer, die  jede  frohe  Schwingung  für  Sünde  erklärten  und  die 
Theater,  Konzert,  den  süßen  Müßiggang  des  Naturgenusses  in  die 
Hölle  verdammten.  Diese  Menschensorte  hatte  ein  Verbot  des  Musik- 
festes erwirkt,  weil  ihrer  Meinung  nach  das  Pfingstfest  dadurch  ent- 
heiligt würde,  und  erst  eine  allerhöchste  Kabinettsorder  mußte  der 
Vernunft   wieder   ihr   Recht   verschaffen.     Rietz    dirigierte    diesmal. 


Ulückswogen  57 

Mendelssohn  traf  in  Aachen  mit  Ferdinand  Hiller,  der  Chopin  aus 
Paris  mitgebracht  hatte,  zusammen.  Es  wurde  ein  stürmischer  Ge- 
dankenaustausch. „Als  Klavierspieler  ist  Chopin  jetzt  einer  der  aller- 
ersten, —  macht  so  neue  Sachen  wie  Paganini  auf  seiner  Geige,  und 
bringt  Wunderdinge  herbei,  die  man  sich  nie  möglich  gedacht  hätte", 
schrieb  er  nach  Hause.  Die  beiden  Pariser  laborierten  zwar  an  der 
„Verzweiflungssucht  und  Leidenschaftssucherei";  aber  sie  lernten  doch 
alle  drei  voneinander.  Bald  darauf  jedoch  ließ  er  Moscheies  wissen: 
„Ein  Heft  neue  Mazurkas  von  Chopin,  und  einige  andere  seiner 
neueren  Sachen  sind  dann  doch  so  manieriert,  daß  es  schwer  aus- 
zuhalten ist."  Noch  schlimmer  kamen  ein  paar  Berliner  und  Leip- 
ziger Komponisten  weg,  „die  gern  da  anfangen  möchten,  wo  Beet- 
hoven aufhörte  und  räuspern  und  spucken  wie  er  und  weiter  ist  gar 
nichts".  Am  ärgsten  aber  zauste  er  Berlioz,  dessen  Undiszipliniertheit 
ihm  ein  Greuel  war:  „Seine  Instrumentierung  ist  so  entsetzlich 
schmutzig  und  durcheinander  geschmiert,  daß  man  sich  die  Finger 
waschen  muß,  wenn  man  mal  eine  Partitur  in  der  Hand  gehabt  hat. 
Zudem  ist  es  doch  auch  schändlich,  seine  Musik  aus  lauter  Mord  und 
Not  und  Jammer  zusammenzusetzen :  denn  selbst,  wenn's  gut  wäre, 
käme  nichts  anderes  darin  vor,  als  dergleichen  atrocites.  Er  hat  mich 
eigentlich  zu  allererst  recht  melancholisch  gemacht,  weil  er  so  klug 
und  kalt  und  passend  über  alle  anderen  urteilt,  so  gänzlich  ver- 
nünftig ist  und  so  grenzenlos  unvernünftiges  Zeug  bei  sich  gar  nicht 
bemerkt."  Und  bei  anderer  Gelegenheit:  „Was  Du  mir  über  Ber- 
lioz' Symphonie  schreibst,  ist  gewiß  wörtlich  wahr;  nur  muß  ich  noch 
sagen,  daß  mir  die  ganze  Musik  so  schrecklich  langweilig  vorkommt, 
und  das  ist  das  Schlimmste.  Toll  und  unverschämt  und  frech  und 
ungeschickt  kann  doch  zuweilen  noch  lustig  amüsant  sein,  aber  dies 
ist  so  fade  und  unlebendig!" 

Selten  hat  sich  Mendelssohn  so  rückhaltlos  über  seine  Zeit- 
genossen ausgesprochen,  wie  in  diesem  Fall  über  Berlioz.  Je  älter 
er  wurde,  desto  mehr  verschloß  er  seine  Meinung  in  sich.  Aber 
auffällig  bleibt  es  trotzdem  doch,  daß  uns  kein  einziges  Urteil  von 
ihm  über  Schumann,  mit  dem  er  so  lange  Jahre  zusammen  in  Leipzig 
zusammen  lebte,  erhalten  ist.  Sollte  er  in  seinen  Briefen  niemals 
über  den  Tondichter  Schumann  gesprochen  haben?  Doch  das  ist  eine 
Sache,  die  heute  nicht  mehr  zu  prüfen  ist,  es  sei  denn,  daß  eines 


58  Glückswogen 

Tages  noch  unveröffentlichte  Briefe  Mendelssohns  an  den  Tag  kom- 
men sollten. 

Der  Empfindsame  mußte  auch  an  der  Erinnerung  Korrektur 
üben.  So  wurde  ihm  das  Andenken  an  seinen  Lehrer  Zelter  getrübt 
durch  die  Veröffentlichung  des  Briefwechsels  zwischen  Qoethe  und 
Zelter.  Er  fand  das  Buch  langweilig,  eine  Fundgrube  für  Anti- 
Goethianer.  Verstimmt  schrieb  er  an  seinen  Vater:  „Wenn  über  Beet- 
hoven oder  sonst  einen  schlecht,  über  meine  Familie  unziemlich,  und 
über  vieles  langweilig  gesprochen  wird,  so  läßt  mich's  sehr  kalt  und 
ruhig:  aber  wenn  von  Reichardt  die  Rede  ist,  und  sie  beide  über  ihn 
so  vornehm  tun  und  urteilen,  so  weiß  ich  mich  vor  Ärger  nicht  zu 
lassen,  obwohl  ich  es  mir  selbst  nicht  erklären  kann."  Sein  Wider- 
willen gegen  Literatentum  und  Kritik  wuchs.  Im  allgemeinen  konnte 
grade  er  mit  den  Zeitungen  zufrieden  sein.  Zwar  hatten  die  Berliner 
seine  ersten  Kompositionen  etwas  kühl  besprochen;  aber,  wie  Zelter 
damals  meinte,  „die  Rezensenten  sind  auch  junge  Bursche,  die  den 
Hut  suchen,  den  sie  in  der  Hand  haben".  Später  war  Mendelssohn 
aber  viel  Weihrauch  gestreut  worden,  und  die  Hosiannarufe  nahmen 
kein  Ende.  Was  ihn  an  der  Kritik  reizte,  war  nur  die  produktive 
Unfähigkeit,  die  sich  den  Mantel  des  Besserwissens  umhängt.  „Bin 
ich  nicht  meines  Handwerks  ein  antipublikümmerlicher  Musiker  und 
ein1  antikritischer  dazu?  Was  ist  mir  Hekuba  und  die  Kritik 
dazu?  (ich  meine  die  gedruckte,  oder  vielmehr  die  gedrückte)", 
witzelte  er  an  Moscheies  und  berichtete  bald  danach:  „Neulich  frug 
eine  Musikhandlung  mich,  ob  ich  nicht  eine  Musikzeitung  redigieren 
wollte;  ich  hätte  die  Handlung  gern  herausgefordert.  Denn  solch  ein 
Treiben  kommt  mir  so  schrecklich  unersprießlich  und  unerquicklich 
vor,  wie  gar  kein  anderes;  sie  leben  rein  von  der  anderen  Leute 
Plaisier  und  ihrem  eigenen  Ärger." 

Nur  unter  den  Malern  fand  er  „nette  Leute"  für  seinen  Um- 
gang. „Immermann,  mit  dem  ich  recht  gut  Freund  war,  ist  ins 
Theater  versenkt,  Üchtritz  in  die  Ästhetik  und  Grabbe  in  den  Schnaps, 
aus  allen  drei  Dingen  mache  ich  mir  wenig,  am  wenigsten  freilich  aus 
der  Ästhetik."  Die  Enge  der  Kleinstadt  und  das  Spießbürgertum  be- 
drängten ihn  manchmal.  „Hier  kommen  so  Zeiten,  wo  mir  sämtliche 
Philister  über  den  Kopf  wachsen,  sämtliche  Philister,  die  es  auf  der 
Welt  gibt  und  mein  eigener  immer  dazu."     Aber  er  tat  sein  Mög- 


Glückswogen  59 

lichstes  für  diese  Stadt.  Das  Musikleben  gewann  an  Schwung.  Or- 
chester und  Chor  hatte  er  zu  ansehnlichen  Leistungen  emporge- 
schraubt. Der  Wert  einer  solchen  Tätigkeit  für  die  Entwicklung 
seines  Musikertums  war  außerordentlich.  Nicht  nur,  daß  er  seine 
Talente  im  Dirigieren  und  in  der  Erziehung  größerer  Massen  ver- 
vollkommnete, er  hatte  auch  den  Vorteil,  sich  seine  Kompositionen 
gleich  vorführen  zu  können.  Und  zudem  waren  die  äußeren  Berufs- 
lasten so  gering,  daß  sie  ihn  im  Schaffen  nicht  hinderten.  Und  doch 
fühlte  er  sich  im  zweiten  Düsseldorfer  Jahre  nicht  mehr  wohl.  „So 
total  einsam,  wenigstens  geistig  oder  musikalisch,  wie  diesen  Winter 
hier,  habe  ich  noch  gar  nicht  gelebt",  klagte  er  Klingemann.  Unter- 
richt erteilte  er  nicht.  Er  versuchte  nur  mit  gutem  Rat  und  an- 
feuerndem Zuspruch  zum  Besseren,  die  Henri  Herz  und  Genossen 
aus  der  Gunst  der  Liebhaber  zu  verdrängen,  gerade  Herz,  von  dem 
er  meinte,  er  spiegle  die  Zeit  der  dreißiger  Jahre  ganz  gut  ab,  „alle 
Salons  und  Eitelkeit  und  ein  wenig  Schmachten  und  viel  Gähnen, 
und  Glacehandschuhe  und  Moschusgeruch,  eine  badine  und  ein  sanf- 
tes toupet". 

Nach  dem  einsamen  Winter  war  ihm  die  Aufforderung  der  Kölner, 
das  Musikfest  zu  Pfingsten  1835  zu  dirigieren,  höchst  willkommen. 
Alle  Freunde  möchte  er  um  sich  sehen.  Er  fleht  Klingemann  an,  zu 
kommen;  es  sollten  Jubeltage  sondergleichen  werden.  Die  Berliner 
Mendelssohns  erschienen  vollzählig,  um  die  Triumphe  ihres  Felix 
zu  genießen,  die  Eltern,  Fanny  mit  ihrem  Gatten,  dem  Maler  Hensel, 
Rebekka,  die  von  ihrem  Gatten  Professor  Dirichlet  begleitet  war. 
Mendelssohn  hatte  zum  „Salomon"  von  Händel  Klingemanns  Über- 
setzung erbeten  und  eine  Orgelstimme  ausgeschrieben,  die  pompöse 
Wirkung  machte.  Neben  Beethoven  kamen  noch  Cherubini  und 
Reichardt  zu  Gehör.  Der  Erfolg  war  ungeheuer.  Mendelssohn  er- 
hielt eine  Dankadresse  mit  den  Unterschriften  von  sämtlichen  Mit- 
wirkenden, und  er  hatte  wieder  einmal  die  Freude,  sich  „mit  ein  paar 
Wochen  Arbeit  eine  ganze  Stadt  voll  lauter  guten  Bekannten  zu 
schaffen". 

Aber  trotz  aller  Zuneigung  stand  er  den  Rheinländern  innerlich 
schon  als  ein  Abschiednehmender  gegenüber.  Bereits  im  Januar 
hatte  er  von  dem  Advokaten  Conrad  Schleinitz  in  Leipzig  die  An- 
frage  erhalten,  ob   er  geneigt  wäre,   die   Leitung  der  altberühmten 


60  Glückswogen 

Gewandhauskonzerte  zu  übernehmen.  Er  hatte  in  Leipzig  viele  Ver- 
ehrer, und  besonders  die  zuletzt  bei  Breitkopf  &  Härtel  veröffent- 
lichten „Charakteristischen  Ouvertüren"  zum  „Sommernachtstraum", 
„Meeresstille  und  glückliche  Fahrt"  und  „Hebriden"  mochten  den 
Ehrgeiz  der  Leipziger  erweckt  haben,  den  Tondichter  für  sich  zu 
gewinnen.  Aber  Mendelssohn  war  zunächst  zurückhaltend.  Er 
wünschte  nicht,  eine  Stelle  zu  bekleiden,  von  der  er  einen  Vorgänger 
verdrängen  müßte.  Stadtrat  Porsche  beruhigte  ihn  über  diesen  Punkt. 
Blieben  nur  noch  die  äußerlichen  Bedingungen  festzusetzen.  „Ich 
habe  mir  bei  meiner  musikalischen  Karriere  vorgenommen,  kein  Kon- 
zert für  mich  (zu  meinem  Vorteil)  zu  veranstalten.  Sie  wissen  viel- 
leicht, daß  es  mir  persönlich  auf  den  pekuniären  Punkt  weniger  an- 
kommen würde,  wenn  meine  Eltern  nicht  verlangten,  daß  ich  meine 
Kunst  als  Beruf  treiben,  daß  ich  davon  leben  können  soll",  klärte  er 
den  Leipziger  Advokaten  auf.  Der  Vertrag  kam,  dank  der  entscheiden- 
den Mitwirkung  zweier  enthusiastischer  Verehrer  Mendelssohns,  Karl 
und  Heinrich  Voigt,  zustande,  nach  welchem  Mendelssohn  in  den 
beiden  ersten  Jahren  und  in  den  vier  folgenden  1000  Taler  Gehalt 
beziehen  und  einen  Sommerurlaub  von  sechs  Monaten  genießen  sollte. 
Mendelssohn  trat  in  ein  neues  Stadium  seines  Lebensweges. 
Aus  dem  rheinischen  Überschwang  kam  er  in  die  sächsische  Nüch- 
ternheit —  aber  auch,  anders  gesehen,  aus  dem  ewigen  Weihrauch- 
duft in  die  erfrischende  Luft  der  Aufklärung.  Für  den  Musiker,  den 
nur  die  Sehnsucht  zur  Vollendung  trieb,  war  es  der  Weg  zur  Höhe. 
Ein  ganz  kurzes  Intermezzo  in  Berlin  mußte  noch  überstanden  wer- 
den. Sein  Widerwille  steigerte  sich  geradezu  zum  Haß  gegen  die 
Stadt  „mit  dem  vielen  Militär  und  den  großen  leeren  viereckigen 
Plätzen".  Der  Eindruck,  den  sie  ihm  immer  wieder  macht,  ist  ein 
„durchaus  unerfreulicher,  erdrückender  und  dennoch  kleinstädtischer. 
Es  ist  hier  nicht  deutsch  und  doch  tiidht  ausländisch,  nicht  wohl- 
tuend und  doch  sehr  gebildet,  nicht  lebhaft  und  doch  sehr  aufgereizt, 
ich  muß  an  den  Frosch  denken,  der  sich  aufblasen  will,  nur  daß  er 
hier  nicht  zerspringt,  sondern  am  Ende  wirklich  ein  Ochse  werden 
wird  —  aber  ich  mag  nicht  blasen  helfen."  Darüber  konnte  auch  die 
Innigkeit  des  Familienlebens  nicht  hinweghelfen.  Mendelssohn  war 
von  Herzen  froh,  als  er  Leipzig  erreichte. 


Felix   Meritis  61 

FELIX  MERITIS 

Leipzig,  4.  Oktober  1835.  Erstes  Gewandhauskonzert.  „F.  Me- 
ritis trat  vor.  Es  flogen  ihm  hundert  Herzen  zu  im  ersten  Augen- 
blick", so  beschreibt  Robert  Schumann  in  den  Schwärmbriefen  den 
verheißungsvollen   Anbruch   der  Ära  Mendelssohn   in   Leipzig. 

Die  Thomanerstadt  hatte  um  diese  Zeit  etwa  50  000  Einwohner 
und  war  ein  enger  Ort  ohne  Bequemlichkeiten.  Einige  Reformen 
vollzogen  jetzt  den  Anschluß  an  die  neue  Zeit.  Man  versuchte  aus 
dem  Kotzebueschen  Kleinstädterstil  herauszukommen.  Die  Universi- 
tät bekam  eine  neue  Verfassung.  Sachsen  trat  dem  preußisch-deut- 
schen Zollverein  bei.  In  Leipzig  selbst  wurde  der  Buchhändlerverein 
geschaffen  und  damit  der  Grund  zur  Weltbedeutung  der  Stadt  ge- 
legt. Für  die  bildenden  Künste  wirkte  ein  Kunstverein;  die  Maler- 
akademie und  das  Schlettersche  Museum  waren  die  Früchte.  Das 
Theater  hatte  unter  Küstner  einen  erfreulichen  Aufschwung  genom- 
men. Da  das  leidige  Cliquenunwesen  noch  nicht  die  Einheitlichkeit 
der  Gesellschaft  zerstört  hatte  und  die  Presse  noch  zu  klein  und  un- 
bedeutend war,  um  korrumpiert  zu  sein,  waren  alle  Kunst-  und 
Theaterfragen  Angelegenheiten  des  allgemeinen  und  gemeinsamen 
Interesses.  Kein  Wunder,  daß  die  ideale  Kunst  der  Gemeinsamkeit, 
die  Musik,  mit  besonderer  Liebe  gepflegt  wurde.  1743  war  von 
16  Personen  „sowohl  adeligen  als  bürgerlichen  Standes"  das  große 
Konzert  begründet  worden,  aus  dem  später  das  Gewandhausunter- 
nehmen, das  neben  dem  Thomanerchor  den  Ruf  Leipzigs  als  Musik- 
stadt festlegte,  erwuchs.  Johann  Friedrich  Doles  war  der  erste  Leiter. 
Zwanzig  Jahre  später  leistete  man  sich  dafür  eine  eigene  Kapelle, 
die  J.  A.  Hiller  anführte  und  die  in  den  „drei  Schwänen"  konzertierte. 
Der  Kreis  der  Teilnehmer  wuchs,  und  1780  wurde  die  Gesellschaft 
der  Gewandhauskonzerte  begründet,  die  im  Leipziger  Zeughaus  einen 
großen  Saal  fand.  Tüchtige  Musiker  widmeten  dem  Unternehmen, 
dem  bald  die  Singakademie  entsproß,  ihre  Kraft:  Gottfried  Schicht, 
C.  H.  Ph.  Schulz  und  Pohlenz.  Nun  kam  Mendelssohn.  Pohlenz 
behielt  die  Leitung  der  Singakademie.  Mendelssohn  rühmte  das  Or- 
chester als  sehr  gut,  tüchtig,  musikalisch,  die  Leitung  als  ruhig, 
und  das  Publikum  als  das  empfänglichste  und  dankbarste.  Die  Leip- 
ziger nahmen  ihn  sehr  warm  auf.     Mit  seiner  Ouvertüre  „Meeres- 


62  Felix   Meritis 

stille  und  glückliche  Fahrt''  debütierte  er.  Daß  er  nach  der  Partitur 
dirigierte,  war  für  die  Gewandhauskonzerte  eine  Neuerung,  da  bis- 
her Matthäi  die  Orchesterwerke  vom  Konzertmeisterpult  aus  ge- 
leitet hatte.  Schumann  notierte:  „Mich  für  meine  Person  störte 
in  der  Ouvertüre,  wie  in  der  Symphonie,  der  Taktierstab  und  ich 
stimmte  Florestan  bei,  der  meinte:  in  der  Symphonie  müsse  das 
Orchester  wie  eine  Republik  da  stehen,  über  die  kein  Höherer  an- 
zuerkennen. Doch  wär's  eine  Lust,  den  F.  Meritis  zu  sehen,  wie  er 
die  Geisteswindungen  der  Kompositionen  vom  Feinsten  bis  zum  Stärk- 
sten vorausnüancierte  mit  dem  Auge  und  als  Seligster  vorausschwamm 
dem  Allgemeinen."  Was  für  eine  Freundschaft  hätte  sich  hier  ent- 
spinnen können,  wenn  der  Felix  Meritis  die  Schwärmbriefe  Schu- 
manns mit  demselben  offenen  Herzen  gelesen  hätte,  mit  dem  sie  ge- 
schrieben waren!  Aber  der  gefeierte  Musiker  ahnte  nicht,  daß  ihm 
hier  einer  huldigte,  der  mehr  als  nur  ein  Gleichberechtigter  in  seinem 
Reich  war. 

Chopin,  der  um  diese  Zeit  in  Leipzig  weilte,  kam  ihm  näher: 
„Es  war  mir  lieb,  mal  wieder  mit  einem  ordentlichen  Musiker  zu 
sein,  mit  einem,  der  eine  vollkommen  ausgeprägte  Richtung  hat", 
schrieb  er  nach  Berlin  und  meinte,  er  könne  sich  prächtig  damit  ver- 
tragen, nur  mit  den  Halben  nicht.  Nach  Chopin  kam  Moscheies. 
Es  waren  wieder  Feiertage.  Moscheies  spielte  das  g-moll-Konzert, 
die  Hebriden  erklangen  und  die  beiden  Freunde  errangen  mit  Clara 
Wieck  zusammen  einen  besonderen  Erfolg  mit  dem  Tripel-Konzert 
von  Bach.  Ehrungen  blieben  für  Mendelssohn  nicht  aus.  Nach  einem 
silbernen  Pokal  kam  nun  vom  Musikfestkomitee  aus  Köln  noch  die 
große  englische  Händel-Ausgabe  in  32  Bänden.  Chopin  und  Mo- 
scheies mußten  sich  mit  ihm  darüber  freuen.  Der  Felix  Meritis  wuchs 
den  Leipzigern  schnell  ans  Herz.  Seine  Kompositionen  fanden  immer 
stärkeren  Widerhall.  Das  Orchester  gewann  unter  seiner  hingebungs- 
vollen Arbeit  bald  an  Feinheit  im  Klang  und  Prägnanz  in  der  Aus- 
führung. Helle  Begeisterung  erregte  sein  Klavierspiel.  Wir  müssen 
Schumann  schwärmen  hören:  „Da  hättest  du  den  Meritis  mit  dem 
Mendelssohnschen  g-moll-Konzert  spielen  sehen  sollen.  Der  setzt 
sich  harmlos  wie  ein  Kind  ans  Klavier,  und  nun  nahm  er  ein  Herz 
nach  dem  andern  gefangen  und  zog  sie  in  Scharen  hinter  sich  her,  und 
als  er  sie  freigab,  wußte  man  nur,  daß  man  an  einigen  griechischen 


Felix    Meritis  63 

Götterinseln  vorbeigeflogen  war.  —  Ich  denke  mir  oft,  Mozart  müßte 
so  gespielt  haben." 

Aber  in  die  Qlückstage  hinein  hallte  plötzlich  die  Totenglocke. 
Sein  Schwager  Hensel  kam,  um  ihm  den  plötzlichen  Tod  des  Vaters 
mitzuteilen  und  ihn  nach  Berlin  zu  holen.  Am  19.  November  hatte 
ein  Nervenschlag  Abraham  Mendelssohn  dahingerafft.  Er  hatte  noch 
die  Früchte  seines  Lebens  reifen  sehen.  Das  Werk  seines  Fleißes 
und  seiner  kaufmännischen  Tatkraft  hatte  Weltruf  gewonnen.  Und 
in  seinen  Kindern  verkörperte  sich  die  glänzendste  Entwicklung  der 
Familie.  Für  Felix  Mendelssohn  war  es  ein  schwerer  Schlag.  „Es 
ist  das  größte  Unglück,  das  mir  widerfahren  konnte,  und  eine  Prü- 
fung, die  ich  nur  entweder  bestehen  oder  daran  erliegen  muß,"  ver- 
traute er  Julius  Schubring  an.  „Es  muß  nun  für  mich  ein  neues  Leben 
anfangen,  oder  alles  aufhören  —  das  alte  ist  nun  abgeschnitten." 
Er  hatte  in  dem  Vater  seinen  „einzigen  ganzen  Freund  während 
der  letzten  Jahre  und  seinen  Lehrer  in  der  Kunst  und  im  Leben" 
verloren.  Er  fühlte  es,  über  diesen  Verlust  konnte  ihm  nur  die  Tat 
hinweghelfen. 

Zum  zweitenmal  hat  sich  jetzt  das  Schicksal  dem  Sonntagskind 
von  der  düsteren  Seite  gezeigt.  Seine  Feinnervigkeit  reagiert  sofort. 
Eine  stille  Melancholie  legt  sich  über  das,  was  er  in  Tönen  ersinnt. 
Er  weiß,  seine  Jugend  ist  vorüber,  und  das  Leben  verlangt  und 
bietet  Härte  für  den  Mann.  Er  darf  nicht  träumen  und  erschlaffen. 
Alles  kommt  ihm  so  kalt  und  öde  vor,  daß  er  verzweifeln  möchte. 
Die  Freunde  spenden  Trost;  Marx  Kraftworte,  die  ihm  fatal  sind; 
Schubring  predigt;  nur  Klingemann  findet  den  Weg  zu  seinem  Her- 
zen. Jedoch  die  Pflicht  drängt.  Die  Gewandhauskonzerte  dürfen 
nicht  vernachlässigt  werden.  Musterhafte  Aufführungen  Haydnscher 
und  Mozartscher  Symphonien  kamen  zustande.  Bach  und  Händel 
erscheinen  immer  wieder  auf  dem  Programm.  Das  Wagnis  mit  Beet- 
hovens Neunter  Symphonie  gelingt,  und  das  Tripelkonzert  hören  die 
Leipziger  zum  erstenmal.  Dazu  kommt  Ferdinand  David  als  Kon- 
zertmeister für  Matthäi  ins  Gewandhaus.  Alte  Erinnerungen  an  die 
Leipziger  Straße  tauchen  auf,  und  bald  blüht  in  Leipzig  auch  eine 
Kammermusik  von  seltener  Schönheit.  Der  Schmerz  versinkt  unter 
dieser  Musikwoge.  Und  schüchtern  meldet  sich  in  den  Briefen  wieder 
der  alte  Humor. 


54  Felix  Meritis 

Wir  hören  von  keiner  Opposition  gegen  Mendelssohn.   Seine  Ver- 
bindlichkeit im  Umgang  entwaffnete  die  Widerstrebenden  und  kettete 
die   Willigen  unauflöslich  an  ihn.     Alle  waren   von   ihm  bezaubert. 
Äußere  Erscheinung  und  Charakter  waren  aus  einem  Guß  und  konn- 
ten niemanden  täuschen.    Klein  und  schlank  war  er,  brünett,  jüdisch 
—  so  unterrichtet  uns  sein  Neffe  Sebastian  Hensel,  der  „Die  Familie 
Mendelssohn"  schrieb.    Sein  Gesichtsausdruck  war  sehr  wechselnd, 
daher  schlecht  zu  porträtieren.    Auffallend  die  großen,  dunkelbraunen 
Augen.    Von  Charakter  war  er  gut,  aber  reizbar  und  heftig  gegen  alles 
Falsche   und   Bornierte.     Ein   Augenzeuge  und  aufmerksamer  Zeit- 
genosse,   der  zuverlässige   Geiger  W.   J.   v.   Wasielewski,   gibt  uns 
eine   genaue  Schilderung  des  Menschen:  „Mendelssohn   hatte   eine 
feingebaute  schmächtige  Figur.    Seine  gewandten,  behenden  Körper- 
bewegungen waren  außerordentlich  lebhaft.    Dem  entsprach  der  öfters 
plötzlich  wechselnde  Gesichtsausdruck.    Das  dunkle  Auge  zeigte  ein 
blitzendes  Feuer.    Es  konnte  ebenso  schnell  einen  freundlich  wohl- 
wollenden und  heiteren,  wie  einen  scharf  durchdringenden  oder  auch 
sonst   sinnenden   Ausdruck  annehmen.     Im  letzteren   Falle  blinzelte 
er,  den  Blick  auf  eine  bestimmte  Persönlichkeit  gerichtet,  wohl  auch 
mit   den   Augen,   wodurch  seine  Miene   etwas   Forschendes   erhielt. 
Die  hohe,  schöngewölbte  Stirn  war  von  schwarzem  Haupthaar  um- 
rahmt, welches  zur  Seite  und  nach  hinten  in  gelockter  Form  herab- 
fiel.    Das  nach  dem   Kinn  schmal  zulaufende  Antlitz  begrenzte  ein 
kräftiger  Backenbart.     Die  mäßig  gebogene  Nase  erinnerte  an  den 
römischen  Schnitt  und  verriet  die  orientalische  Abkunft.    Der  äußerst 
feingeformte  Mund  war  von  sprechendem  Ausdruck.    Wenn  er  sich 
bei  der  Unterhaltung  oder  beim  Lachen  öffnete,  so  erblickte  man  zwei 
Reihen  blendendweißer  Zähne.    Alles  vereinigte  sich  in  Mendelssohns 
Wesen,   um  seine  gesamte   Erscheinung  zu   einer  anziehenden   und 
einnehmenden  zu  machen.     So  ist  es  denn  begreiflich,  daß  er  eine 
höchst  beliebte,  verehrte  Persönlichkeit  war,  und  dies  um  so  mehr, 
als  seine  geistigen  Eigenschaften  unwiderstehlich  fesselten.    Im  Ver- 
kehr mit  befreundeten  Personen  war  Mendelssohn  unbefangen  heiter 
und  gemütlich,  ja,  wenn  er  gute  Laune  hatte,  außerordentlich  lustig, 
wobei   er,   ein  wenig  lispelnd,  unter  Anbringung  von  Scherzworten 
ziemlich   belebt  sprach.     Gegen  ihm   Fernstehende  verhielt  er  sich 
zuvorkommend,  doch  etwas  reserviert.    Galt  es  indessen,  sich  gegen 


Felix   Meritis  65 

junge  aufstrebende  Talente  über  deren  Leistungen  auszusprechen,  so 
gab  er  rückhaltlos  seine  Meinung  kund,  und  verschwieg  neben  dem 
Lobe  auch  den  Tadel  nicht,  welch  letzteren  er  aber  stets  in  wohl- 
wollendem Tone  vorbrachte. "  Wir  lesen  heute  zwischen  den  Zeilen 
und  erkennen  aus  dieser  Schilderung  Mendelssohn,  den  Künstler  und 
Menschen  und  —  den  Diplomaten. 

Mit  seiner  äußeren  künstlerischen  Stellung  war  er  sehr  zufrieden. 
Sie  ließ  ihm  Zeit  genug  zum  Schaffen:  mehr  wollte  er  ja  nicht.  Das 
Leben  floß  in  stillen  Bahnen.  Er  fand  einige  „lebendige  und  inter- 
essante junge  Leute",  schloß  sich  namentlich  an  einen  gewissen 
Schlemmer  aus  Frankfurt  an  und  schrieb  an  Klingemann:  „Morgens 
arbeite  ich  bis  12,  dann  wird  spazieren  gegangen,  einzeln  oder  in 
corpore;  um  1  gegessen,  Nachmittag  Klavier  gespielt,  gegen  Abend 
wieder  gearbeitet,  und  endlich  in  einem  Hotel,  unserm  Sammelplatze, 
soupiert."  An  Beweisen  der  Hochschätzung  ließ  man  es  gegen  ihn 
nicht  fehlen.  Als  wichtigste  Ehrung  ist  wohl  die  Promotion  zum 
Ehrendoktor  an  der  Leipziger  Universität  zu  buchen,  die  ihn  als 
Siebenundzwanzigjährigen  traf. 

Bei  allen  Wechselfällen  des  Lebens  und  den  Ablenkungen  durch 
seine  Stellung  kam  das  Schaffen  nur  langsam  vorwärts.  Der  Vater 
hatte  in  seinem  letzten  Brief  ungeduldig  nach  der  Vollendung  des 
„Paulus"  gefragt.  Mendelssohn  betrachtete  deshalb  den  endlichen 
Abschluß  des  Werkes  als  eine  Art  Vermächtnis.  Er  arbeitete  mit 
allen  Kräften  daran,  um  ihn  auf  dem  Düsseldorfer  Musikfest  1836  auf- 
führen zu  können.  Daneben  schrieb  er  die  Melusinen-Ouvertüre 
ganz  neu  und  erbat  von  Klingemann  dringend  die  Partitur  der  ersten 
Fassung,  die  in  London  war,  zurück. 

So  kam  Pfingsten  1836  heran  und  damit  das  Düsseldorfer  Musik- 
fest. Julius  Rietz  hatte  den  „Paulus"  ausgezeichnet  vorbereitet,  man 
war  ganz  Mendelssohnisch  gestimmt,  und  der  junge  Meister  errang 
einen  leichten  Sieg  an  der  Spitze  seiner  enthusiasmierten  Mitwirken- 
denschar. „Ich  habe  bei  der  ganzen  Aufführung  fast  nur  wie  ein 
Zuhörer  gestanden  und  mir  einen  Eindruck  des  Ganzen  zu  erhalten 
gesucht.  Vieles  hat  mir  gar  viele  Freude  gemacht,  anderes  nicht,  aber 
vor  allem  habe  ich  sehr  gelernt",  berichtete  er  nach  Leipzig.  Beet- 
hovens Neunte  krönte  das  Fest.  Als  Dankeszeichen  schenkten  ihm 
die    Düsseldorfer   eine   Prachtausgabe   der   Paulus-Partitur,    die   mit 

Daums,  Mendelssohn  5 


66  Felix   Meritis 

Bildern  der  Maler  Schrötter,  Hübner,  Steinbrück,  Mücke  und  Men- 
sel geschmückt  war.  Vom  Rhein  ging's  an  den  Main  nach  Frank- 
furt, um  gegen  den  schwererkrankten  Schelbie  eine  Freundschafts- 
pflicht zu  erfüllen  und  die  Sommerproben  des  Cäcilienvereins  zu 
leiten.  Ungern  nur  hatte  er  seine  Schweizer  Reisepläne  aufgegeben. 
Aber  er  wurde  in  Frankfurt  reich  entschädigt. 

Zwar  das  Leben  und  Treiben  seiner  Fachgenossen  erschien  ihm 
gräßlich,  „sie  hocken  aufeinander  und  mäkeln  und  klagen  und  denken 
nach".  Aber  Größere  entschädigten  ihn.  Rossini  kam,  „das  lustige 
Wundertier,  amüsant  und  geistreich,  in  liebenswürdigster  Sonntags- 
laune". Der  italienische  Maestro,  der  auf  der  Höhe  seines  Ruhms 
stand  und  ganz  Frankfurt  in  eine  ungeheure  Aufregung  versetzte,  war 
oft  mit  Mendelssohn  zusammen,  und  der  Bachianer  mußte  viel  deutsche 
Musik  spielen.  Ferdinand  Hiller  erwies  sich  als  treuer  Freund,  mit 
dem  geistig  zu  leben  war.  Der  Schwede  Lindblad,  ein  alter  Be- 
kannter, erschien  auf  kurze  Zeit  und  weckte  Erinnerungen  an  die 
Berliner  Sonntagsmusiken.  Die  Arbeit  ruhte  jedoch  nicht.  Der 
„Paulus"  wurde  umgeschmolzen,  und  gewann  nun  seine  endgültige 
Gestalt. 

Und  in  die  Arbeits-  und  Freundschaftsstunden  hinein  klang  jetzt 
die  Liebe.  Er  lernte  Cecilie  Jeanrenaud,  die  jüngste  Tochter  eines 
reformierten  Predigers  in  Frankfurt,  kennen  und  lieben.  Aber  der 
Mann  der  disziplinierten  Leidenschaft  ließ  auch  hier  nicht  sein  Herz 
impulsiv  sprechen.  Er  unternahm  mit  Schadow  eine  Reise  nach 
Scheveningen,  um  sich  in  aller  Ruhe  und  Einsamkeit  zu  prüfen. 
Und  dann  erst  verlobte  er  sich.  Das  brachte  die  Frankfurter  Pa- 
triziergemüter in  einige  Verwirrung;  denn  so  hoch  man  auch  den 
Künstler  Mendelssohn  schätzte,  hier  sah  man  ihn  doch  als  einen  Ein- 
dringling an.  Hensel  rühmt  an  Cecilie  Jeanrenaud  die  „vollkommene 
Harmonie,  das  vollendete  Gleichgewicht  ihrer  Natur  mit  Felix"  und 
entwirft  als  Bild  ihres  Wesens:  „Sie  war  nicht  hervorragend  geist- 
reich, nicht  blendend  witzig,  nicht  tief  gelehrt,  nicht  sehr  talentvoll; 
aber  ihr  Umgang  war  so  wohltuend  ruhig,  so  erquickend,  wie  die 
reine    Himmelsluft   oder   das   frische   Quellwasser." 

Die  Pflicht  rief  den  Gewandhausdirigenten  nach  Leipzig  zu- 
rück. Es  wurde  aus  dem  Vollen  musiziert.  Neben  den  Klassikern 
kamen  auch  die  Zeitgenossen  in  ausgiebigem  Maße  zu  Gehör,  Preis- 


Felix  Meritis  67 

Symphonien,  Ouvertüren  ä  la  Mendelssohn  und  ähnliches.  Die  Vir- 
tuosen pflückten  Rosen.  Im  Oratorium  herrschten  Händel  mit  „Israel 
in  Ägypten",  Bach  mit  Motetten  und  Mendelssohn  mit  dem  „Pau- 
lus". Die  „Preissymphonien"  der  deutschen  Kapellmeister  brachten 
Mendelssohn  in  Harnisch,  „eine  immer  dümmer  und  leerer  als  die 
andere".  Fielen  sie  durch,  so  trug  er  natürlich  die  Schuld,  so  daß 
er  schließlich  verzweifelt  fragen  mußte,  „ob  es  denn  überhaupt  mög- 
lich sei,  gute  Musik  zu  machen,  während  einer  so  allgemeinen 
Seichtheit".  Aufstrebende,  die  seine  Unterweisung  suchten,  mußten 
ihm  den  Glauben  an  das  noch  nicht  ausgestorbene  Talent  erhalten. 
Da  kam  Stamaty  aus  Paris  „eleve  du  conservatoire  et  de  Kalk- 
brenner", Walter  von  Goethe  aus  Weimar,  „ein  freundlich  rotbäckiges, 
phlegmatisches  kleines  Männchen",  ein  gewisser  Franck,  und  schließ- 
lich der  Engländer  Bennet,  auf  den  Mendelssohn  große  Hoffnungen 
setzte. 

Kurz  nach  der  Leipziger  Paulus-Aufführung  reiste  Mendelssohn 
nach  Frankfurt  und  wurde  am  28.  März  1837  mit  Cecilie  Jean- 
renaud  in  der  französisch-reformierten  Kirche  getraut.  Die  Neu- 
vermählten fuhren  in  den  Schwarzwald;  Freiburg  im  Breisgau,  das 
Wiesenthal,  Lörrach,  der  obere  Rheingau,  alles  erschien  ihnen  ver- 
klärt. Sie  führten  ein  gemeinsames  Tagebuch  mit  Worten  und  Zeich- 
nungen, denn  auch  Cecilie  verstand  den  Griffel  zu  führen.  Nach 
Frankfurt  zurück,  wurde  das  junge  Paar  von  der  Gesellschaft  mit 
Beschlag  belegt.  Trotzdem  fand  Mendelssohn  noch  Zeit,  den  42. 
Psalm  und  das  e-moll-Streichquartett  zu  komponieren;  im  Vorjahr  war 
außer  einigen  Präludien  und  Fugen  für  Klavier  nichts  fertig  ge- 
worden. Jetzt  aber  regte  sich  der  Genius  wieder  stärker.  Vor  allem 
wurde  das  zweite  Klavierkonzert  in  d-moll  aufs  Papier  gebracht. 
Immer  wieder  regte  sich  die  Sehnsucht  nach  einer  Oper.  Aber  er 
konnte  keinen  Text  bekommen.  „Es  fehlt  mir  ein  Mensch  dazu, 
wie  zu  manchen  anderen  musikalischen  Plänen;  ich  suche  den  durch 
ganz  Deutschland  und  überall,  aber  ich  finde  ihn  nicht  und  fange 
an,  daran  zu  verzweifeln".  Ein  kurioses  Land  ist  ihm  dieses  Deutsch- 
land: „neben  aller  Grund-Misere  in  Kunst,  Wissenschaft  und  son- 
stigem Leben  so  tausend  Grund-Gutes".  Nun  hatte  ihm  Planche  das 
Sujet  einer  historischen  Oper  mitgeteilt,  das  eine  Episode  aus  der 
Belagerung  von   Calais   durch   Eduard   III.   behandelte.     Aber  auch 

5* 


68  Felix   Meritis 

dieser  Plan  gedieh  nicht.  Und  so  mußte  er,  um  seine  dramatische 
Leidenschaft  wenigstens  einigermaßen  zu  befriedigen,  an  ein  neues 
Oratorium  denken.  Die  Geschichte  des  Petrus  symbolisch  darzu- 
stellen, kam  ihm  in  den  Sinn.  Wieder  sollten  die  Prediger  Schubring 
und  Bauer  am  Text  helfen. 

In  sein  junges  Eheidyll  kam  bald  der  Zwang  der  ersten  Tren- 
nung. Mendellssohn  sollte  vom  19.  bis  22.  September  das  Musikfest 
in  Birmingham  dirigieren  und  dort  vor  allem  zum  erstenmal  den 
„Paulus"  in  England  aufführen.  Ein  Riesenprogramm  war  zu  absol- 
vieren, und  es  wurde  zu  einem  Riesentriumph  für  den  Tondichter, 
Dirigenten,  Pianisten  und  Orgelvirtuosen.  Ganz  England  widerhallte 
von  den  Lobesfanfaren,  die  ihn  verherrlichten.  Man  versuchte  ihn 
mit  glänzenden  Anerbieten  für  immer  zu  halten.  Aber  er  lehnte  ab. 
Sein  vornehmer  Geist  durchschaute  das  Vergängliche  solcher  Erfolge. 
„Es  bleibt  so  wenig  übrig  von  den  Aufführungen,  Musikfesten,  all' 
dem  Persönlichen;  —  die  Leute  klatschen  und  rufen  wohl,  aber  das 
ist  gleich  wieder  so  spurlos  verschwunden  und  nimmt  das  Leben 
und  die  Kraft  ebensosehr  in  Anspruch  als  das  bessere,  oder  noch 
mehr."  Und  Hiller  vertraut  er  an:  „Es  ist  darin  etwas  Flüchtiges, 
Verschwindendes,  was  mich  eher  verstimmt  und  drückt,  als  erhebt." 
Er  wußte,  daß  der  Wert  des  Lebens  für  ihn  nur  im  Schaffen  lag. 
In  London  traf  er  Thalberg,  der  damals  außerordentlichen  Effekt 
machte,  verfehlte  dagegen  Moscheies.  Nach  einer  an  romantischen 
Zufällen  reichen  Rückreise  stand  er  am  2.  Oktober  wieder  im  Ge- 
wandhaus am   Dirigentenpult. 

Ein  heißer  Musikwinter  begann.  Er  veranstaltete  historische 
Konzerte  von  Bach  bis  zu  den  Zeitgenossen,  führte  in  der  Pauliner 
Kirche  Händeis  Messias  in  Mozarts  Bearbeitung  auf,  protegierte  die 
hübsche  englische  Sängerin  Novello,  die  die  Herzen  der  Leipziger 
in  Wallung  brachte,  empfing  allzuviel  Besuch  von  Freunden  und 
Fremden  und  hatte  trotzdem  bis  zum  Frühjahr  fleißig  gearbeitet: 
„ein  gutes,  neues  Violinquartett  (Es-dur)  und  zwei  neue  Psalmen,  eine 
Sonate  mit  Cello  und  eine  mit  Violine,  ein  Rondo  für  Klavier  und 
Orchester,  Lieder  und  dergleichen",  wie  er  Klingemann  schrieb.  Seine 
Gesundheit  blieb  nicht  unangetastet  bei  so  vielen  Anstrengungen. 
„Ich  leide  wie  vor  vier  Jahren  schon  einmal  an  gänzlicher  Taubheit 
des  einen  Ohrs  und  zuweilen  Kopf-,  Hals-  etc.  Schmerzen",  schrieb 


FelixMeritis  69 

er  geängstigt  an  Hiller.  Aber  das  Leben  heilte  ihn  auch  wieder. 
In  Leipzig  trug  man  ihn  auf  Händen.  Die  Geselligkeit  blühte.  Einer 
der  beliebtesten  Treffpunkte  der  Künstler  und  Kunstfreunde  war  das 
Haus  des  Professors  Frege,  dessen  Gattin  Livia  als  „unvergleichliche" 
Liedersängerin  geschätzt  war.  Mendelssohn,  Schumann,  Franz  und 
Geringere  huldigten  ihr  mit  Liedern.  Auch  in  Mendelssohns  Heim 
herrschten  die  Musen.  Er  wohnte  in  Lurgensteins  Garten  und  hatte 
vor  seinen  Fenstern  den  Leipziger  Boulevard  und  den  Blick  auf  die 
Thomanerschule.  Sein  Familienleben  war  von  seltener  Innigkeit  und 
vertiefte  sich  noch  nach  der  Geburt  seines  ersten  Sohnes  am  7.  Fe- 
bruar 1838.  In  seinen  Lebensansprüchen  blieb  er  genügsam  und 
mäßig,  liebte  eine  bescheidene  Geselligkeit  und  las  viel  für  sich  und 
immer  wieder  Goethe  und  Jean  Paul.  Die  Zeit  ließ  sich  da  nicht 
immer  regeln,  und  oft  mußte  er  sich  die  Stunden  zur  inneren  Samm- 
lung abstehlen.  Hiller  nannte  es  „geistigen  Gleichmut",  unter  dem 
sich  dies  alles  vollzog.  Viel  bewitzelt  von  den  Freunden  wurde 
Mendelssohns  Liebe  zum  Schlaf,  der  er  manchmal  leidenschaftlich 
nachgab. 

Auch  der  Sommer  brachte  wieder  Dirigentenpflichten.  Diesmal 
hatte  er  als  Hauptwerk  für  das  Rheinische  Musikfest  in  Köln  Händeis 
„Josua"  gewählt,  und  wie  schon  früher  beim  „Salomon",  hatte  er 
auch  zum  „Josua"  eine  Orgelstimme  ausgeschrieben  und  das  Ganze 
bearbeitet.  Er  machte  dem  Verleger  Simrock  den  .  Vorschlag,  die 
Originalpartituren  der  Händeischen  Hauptwerke  zu  stechen ;  er  wollte 
dann  zu  allen  die  Orgelstimme  anfertigen.  Es  blieb  jedoch  nur  bei 
Mendelssohns  Vorschlag.  Simrock  hatte  mit  dem  Absatz  der  Händei- 
schen Klavierauszüge  so  schlechte  Erfahrungen  gemacht,  daß  er  sich 
auf  die  Partituren  nicht  einlassen  wollte. 

Nach  dem  Musikfest  lockte  ihn  die  Familie  nach  Berlin.  Und 
wieder  konnte  er  seine  Abneigung  gegen  die  Hauptstadt  des  preußi- 
schen Drills  nur  verstärken :  „Der  ganze  hiesige  Zustand  hängt  mit 
dem  Sand,  mit  der  Lage,  mit  dem  Beamtenwesen  zusammen,  so  daß 
man  sich  wohl  an  einzelnen  Erscheinungen  freuen,  aber  mit  keiner 
näher  befreunden  kann",  seufzte  er.  Aber  die  Menschen  in  der  Leip- 
ziger Straße  3  halfen  ihm  über  das  Verstimmende  hinweg.  Er  kom- 
ponierte ein  Andante  cantabile  und  Presto  agitato  für  Klavier,  und  die 
ersten  Klänge  des  Violinkonzerts  in  e-moll  tauchten  in  ihm  auf.     In 


70  Felix   Meritis 

einem  Brief  an  David  offenbarte  er:  „Ich  fühle,  daß  ich  mit  jedem 
Stück  mehr  dahinkomme,  ganz  so  schreiben  zu  lernen,  wie  mir's  ums 
Herz  ist,  und  das  ist  am  Ende  die  einzige  Richtschnur,  die  ich  kenne. 
Bin  ich  nicht  zur  Popularität  gemacht,  so  mag  ich  sie  nicht  erlernen 
oder  erstreben,  oder  wenn  Du  das  unrecht  findest,  so  sag'  lieber:  ich 
kann  sie  nicht  erlernen."  Was  ihn  von  der  Ruhmsucht  abhielt,  war 
eben  seine  im  Innersten  vornehme  Natur,  die  die  allzu  enge  Berührung 
mit  dem  Allgemeinen  verschmähte.  Auch  Mendelssohn  erfuhr  immer 
entschiedener  die  Einsamkeit  des  Genies,  trotz  Freunden,  trotz  Ehren 
und  Erfolgen,  eine  Tatsache,  die  man  bei  ihm  ebenso  wie  bei  Mozart 
oft  verkannt  hat.  Neben  aller  Heiterkeit  des  Gemüts  besaß  er  vor 
allem  die  ungeheure  Ehrfurcht  vor  dem  Großen  in  der  Vergangen- 
heit, die  das  Genie  stets  auszeichnet.  Dies  war  auch  seine  Fröm- 
migkeit, fernab  von  allem  Dogmatischen  und  Beschränkten,  die  ihn 
immer  wieder  zur  Kirchenmusik  trieb.  Einem  Freunde,  der  einmal 
das  Wort  fallen  ließ,  Mendelssohn  wäre  wohl  ein  „Frommer"  ge- 
worden, schrieb  er:  „Wenn  die  Leute  unter  einem  Frommen  einen 
Pietisten  verstehen,  einen  solchen,  der  die  Hände  in  den  Schoß  legt, 
und  von  Gott  erwartet,  daß  er  für  ihn  arbeiten  möge,  oder  einen 
solchen,  der,  statt  in  seinem  Berufe  nach  Vollkommenheit  zu  streben, 
von  dem  himmlischen  Berufe  spricht,  der  mit  dem  irdischen  unver- 
träglich sei,  oder  einen,  der  keinen  Menschen  und  kein  Ding  auf  dieser 
Erde  von  ganzem  Herzen  lieben  kann  —  ein  solcher  bin  ich  nicht 
geworden,  Gott  sei  Dank,  und  hoff's  auch  nicht  zu  werden,  mein 
Leben  lang."  Das  war  sein  Standpunkt,  der  Verstand  und  Gemüt  in 
Einklang  hielt. 

Leben  und  Beruf  verlangten  wieder  ihr  Recht.  Die  Gewandhaus- 
konzerte hatten  jetzt  endgültig  unter  Mendelssohn  ihren  Ruf  ge- 
wonnen. „Es  geht  mit  ihnen  in  diesem  Winter  sehr  glänzend,  der 
Saal  wird  zu  klein  für  die  Menge  Zuhörer,  und  alles  scheint  zufrieden, 
das  Orchester  ist  trefflich",  durfte  er  Klingemann  gegenüber  rühmen. 
Im  20.  Abonnementskonzert  brachte  er  Schuberts  C-dur-Symphonie, 
deren  Partitur  Schumann  in  Wien  gefunden  hatte,  zum  ersten  Er- 
klingen. Thalberg  kam  und  bezauberte  ihn  so  wie  alle  Welt.  Der 
Dirigent  Mendelssohn  widmete  sich  auch  seinen  Zeitgenossen  und 
führte  Symphonien  von  Kalliwoda,  Friedrich  Schneider,  Kittl,  Lachner, 
Möhring,  Dobrycinsky  und  anderen  auf.    Nichts  ist  davon  geblieben. 


Felix   Meritis  71 

Das  Publikum  verlangte  zur  Abwechslung  Opernszenen  und  Finales 
im  Konzertprogramm.  Die  Unersättlichen  wurden  befriedigt.  Und 
in  die  Nöte  des  Vielbeschäftigten  klang  die  Sehnsucht  nach  Schaffens- 
muße. Die  Pläne  kreuzten  sich  in  ihm.  Der  „Petrus"  wurde  abge- 
tan, denn  er  hatte  nun  den  „Elias"  gefunden,  dem  Schubring  wieder 
Rat  und  Hilfe  leihen  mußte.  Das  d-mo'1-Trio  gewann  Gestalt,  und 
der  Grundstein  zur  B-dur-Symphonie,  dem  Lobgesang,  wurde  ge- 
legt. Lieder  und  Chöre  flössen  mit  unter,  und  für  eine  Benefizvor- 
stellung im  Theater  schrieb  er  die  Ouvertüre  und  Romanze  zu  „Ruy 
Blas".  Er  fand  das  Stück  von  Hugo  so  abscheulich,  daß  er  zunächst 
keine  Ouvertüre  dazu  komponieren  wollte.  Als  dann  aber  die  Leute 
meinten,  sie  sähen  ja  ein,  daß  acht  Tage  für  ein  solches  Werk  zu 
wenig  Zeit  sei,  sie  erbäten  die  Ouvertüre  dann  lieber  für  das  nächste 
Jahr,  wollte  ihnen  Mendelssohn  doch  beweisen,  daß  es  an  der  Zeit 
nicht  läge  und  brachte  das  Stück  schnell  zu  Papier. 

Das  allpfingstliche  Rheinische  Musikfest  dirigierte  er  in  diesem 
Jahr  mit  Julius  Rietz  gemeinsam  in  Düsseldorf.  Als  Hauptwerke 
kamen  der  Messias  von  Händel  und  Beethovens  C-dur-Messe  zu 
Gehör.  Der  Sommer  sah  ihn  in  Frankfurt  und  am  Rhein.  Er  voll- 
endete das  d-moll-Trio,  komponierte  Orgelfugen  und  Sonaten  und 
übte  seine  Fertigkeit  auf  der  Königin  der  Instrumente.  Er  fühlte  sich 
glücklich.  „Diese  Sommermonate  haben  mich  wahrhaft  erquickt; 
den  Morgen  gearbeitet,  dann  gebadet  oder  gezeichnet,  nachmittags 
Orgel  oder  Klavier  gespielt,  dann  in  den  Wald  gegangen  und  in  Ge- 
sellschaft oder  nach  Haus,  wo  die  hübscheste  Gesellschaft  war  — 
daraus  bestand  mein  lustiges  Leben."  In  dieser  Stimmung  entstanden 
die  köstlichen  vierstimmigen  „Lieder  im  Freien  zu  singen".  „Die 
natürlichste  Musik  von  allen  ist  es  doch",  schrieb  er  an  Klingemann, 
„wenn  vier  Leute  zusammen  spazieren  gehen,  in  den  Wald,  oder  auf 
dem  Kahn,  und  dann  gleich  die  Musik  mit  sich  und  in  sich  tragen. 
Bei  den  Männerstimmen  liegt  das  Philisterhafte  schon  gleich  in  den 
vier  Männerstimmen,  aus  musikalischen  und  anderen  Gründen,  und  hat 
sich  auch  so  bewährt.  Aber  hier  liegt  in  der  ganzen  Zusammen- 
stellung schon  das  Poetische,  und  ich  möchte  nur,  es  bewährte  sich  auch." 

Mit  frischen  Kräften  konnte  Mendelssohn  im  Herbst  1839  die 
Musikkampagne  in  Leipzig  eröffnen.  Die  Anforderungen  an  seine 
Leistungsfähigkeit  waren  noch  gewachsen.    Das  Gewandhausorchester 


72  Felix   Meritis 

hatte  sich  jetzt  zur  vollen  Meisterschaft  entwickelt.  Da  war  es  kein 
Wunder,  daß  die  Komponisten  ihre  Symphoniepartituren  nach  Leipzig 
schickten.  Aber  nur  eine  bescheidene  Auswahl  konnte  zum  Erklingen 
kommen.  In  diesem  Winter  waren  es  Marschner,  Schneider,  Onslow, 
Kalliwoda,  Kittl  und  Lindblad.  Von  sich  selbst  brachte  Mendelssohn 
außer  einiger  Kirchenmusik  vor  allem  das  d-moll-Trio  mit  David  und 
Wittmann  zusammen  zur  Aufführung.  Schumann  hatte  allen  Grund, 
für  seinen  Felix  Meritis  zu  schwärmen.  Mendelssohn  fühlte  es  jedoch, 
daß  wenig  dabei  herauskomme,  „Bleibendes  gar  nichts",  und  er  be- 
klagte es,  daß  man  in  Deutschland  so  auf  die  Vereinzelung  angewiesen 
sei  und  von  vornherein  aufs  Zusammenwirken  Verzicht  leisten  müsse. 
Und  doch  liebte  er  sein  Deutschland,  „trotz  aller  Schlafröcke  und 
Nachtmützen  und  Tabakspfeifen,  die  daran  hängen".  Das  soziale  Ge- 
fühl regte  sich  in  ihm.  „Mein  Steckenpferd  ist  jetzt  unser  armes 
Orchester  und  seine  Verbesserung;  jetzt  habe  ich  ihnen,  mit  unsäg- 
licher Lauferei,  Schreiberei  und  Quälerei,  eine  Zulage  von  500  Talern 
ausgewirkt."  Es  war  ihm  eine  Freude,  Verdienste  belohnen  zu  kön- 
nen. Nach  der  Tat  für  die  Lebenden,  durfte  er  auch  der  Toten  ge- 
denken. Er  legte  es  den  Leipzigern  nahe,  Johann  Sebastian  Bach  vor 
der  Thomasschule  ein  Denkmal  zu  setzen.  Die  damals  grassierende 
Denkmalssucht  hatte  ihn  zwar  in  Harnisch  gebracht,  und  er  meinte, 
es  wäre  besser,  wenn  die  betreffenden  Städte  lieber  gute  Orchester 
bilden  wollten,  die  die  Werke  der  Meister  ordentlich  spielen  und 
verstehen  könnten.  Nachdem  er  aber  das  Seine  für  das  Leipziger 
Orchester  getan  hatte,  konnte  er  an  die  Bach-Ehrung  gehen.  Für 
den  Denkmalsfond  veranstaltete  er  in  der  *  Thomaskirche  an  Bachs 
Orgel  ein  Konzert,  in  dem  er  eine  Reihe  Orgelwerke  des  Thomas- 
kantors spielte.  „Ich  gab's  solissimo  und  spielte  neun  Stücke  und 
zum  Schluß  eine  freie  Phantasie",  schrieb  er  seiner  Mutter.  Der 
Zweck  wurde  erreicht. 

Die  reisenden  Virtuosen  vermehrten  die  Unrast  des  Musik- 
getriebes. Dreyschock,  Prume,  die  Pleyel,  Hiller,  Ernst  und  viele 
andere  triumphierten  in  Leipzig.  Der  König  aber  war  Franz  Liszt. 
Mendelssohn  freute  sich  auf  sein  Kommen,  „trotz  seiner  fatalen  Jour- 
nalistik". Und  er  wurde  nicht  enttäuscht.  „Liszt  war  hier  und  hat 
einen  Heidenskandal  verursacht,  im  guten  und  schlechten  Sinn.  Ich 
habe  keinen  Musiker  gesehen,  dem  so  wie  dem  Liszt  die  musikalische 


Felix  Meritis  73 

Empfindung  bis  in  die  Fingerspitzen  liefe",  berichtete  er  nach  Berlin. 
Nur  Liszts  Kompositionen  erschienen  ihm  mangelhaft.  Für  die  Musi- 
kalischen in  Leipzig  waren  es  Festtage.  Aber  den  Philistern  und 
nicht  zum  wenigsten  den  rezensierenden  gingen  die  Wogen  zu  hoch. 
Sie  versuchten  die  Begeisterung  zu  dämpfen.  Hämischer  Neid  zauste 
an  Ruhm  und  Größe.  Mendelssohn  mußte  die  Geister  versöhnen: 
„Ich  gab  ihm  eine  Soiree  auf  dem  Gewandhause  von  350  Personen, 
mit  Orchester,  Chor,  Bischof,  Kuchen,  Meeresstille,  Psalmen,  Tripel- 
konzert  von  Bach  (Liszt,  Hiller  und  ich),  Chören  aus  dem  Paulus, 
Fantaisie  sur  la  Lucia  di  Lammermoor,  Erlkönig,  Teufel  und  seine 
Großmutter".  Die  Harmonie  war  wieder  hergestellt.  Galant  phan- 
tasierte Liszt  aus  dem  Stegreif  über  Mendelssohns  Lied  „Auf  Flü- 
geln des  Gesanges".  Mendelssohn,  Schumann  und  Clara  standen 
bewundernd  am  Flügel.  Der  Grandseigneur  hatte  sie  alle  gewonnen. 
Erst  später  trennten  sich  die  Wege. 

Mendelssohns  Ruhm  legte  ihm  Verpflichtungen  auf.  Viele  such- 
ten seinen  Rat.  Täglich  kamen  Partituren,  «die  beurteilt  werden  soll- 
ten. Und  für  alle  fand  der  Meister  verbindliche  Worte.  Man  suchte 
ihn  als  Lehrer.  Aber  er  lehnte  ab:  „Ich  habe  mich  überzeugt,  daß 
mir  zu  einem  eigentlichen  Lehrer,  zum  Geben  von  regelmäßigen, 
stufenweise  fortschreitenden  Lektionen  das  Talent  durchaus  fehlt, 
sei  es,  daß  ich  zu  wenig  Freude  daran  oder  zu  wenig  Geduld  dazu 
habe,  kurz,  es  gelingt  mir  nicht."  Trotzdem  lag  ihm  die  musikalische 
Erziehung  der  Jugend  am  Herzen.  Und  sein  findiger  Geist  hatte 
bald  den  rechten  Plan  gefunden.  Der  Hofkriegsrat  Blümner  hatte 
nach  seinem  Tode  die  Summe  von  20  000  Talern  dem  König  von 
Sachsen  zur  Verfügung  gestellt  für  eine  Stiftung  zur  Förderung  der 
Kunst  und  Wissenschaft.  Mendelssohn  überreichte  nun  dem  Kreis- 
direktor  von  Falkenstein  im  Dresden  am  8.  April  1840  ein  Memo- 
randum über  die  Notwendigkeit  der  Errichtung  einer  Musikschule  in 
Leipzig.  Mit  Erstaunen  lesen  wir  Heutigen  darin:  „Bei  der  vor- 
herrschend positiven,  technisch-materiellen  Richtung  der  jetzigen  Zeit 
wird  die  Erhaltung  echten  Kunstsinnes  und  seine  Fortpflanzung  zwar 
eine  doppelt  wichtige,  aber  auch  doppelt  schwere  Aufgabe.  —  Durch 
eine  gute  Musikschule,  die  alle  verschiedenen  Zweige  der  Kunst  um- 
fassen könnte,  und  sie  alle  nur  aus  einem  einzigen  Gesichtspunkte  als 
Mittel  zu  einem  höheren  Zwecke  lehrte,  auf  diesen  Zweck  alle  ihre 


74  Felix  Meritis 

Schüler  möglichst  hinführte,  wäre  jener  praktisch-materiellen  Ten- 
denz, die  ja  leider  auch  unter  den  Künstlern  selbst  viele  und  ein- 
flußreiche Anhänger  zählt,  jetzt  noch  mit  sicherem  Erfolg  vorzu- 
bauen." Das  war  von  einer  hohen  menschlichen  und  künstlerischen 
Warte  gesprochen.  Mendelssohn  bat  den  Kreisdirektor,  seinen  Ein- 
fluß dahin  auszuüben,  daß  das  Legat  zur  Errichtung  eines  Konser- 
vatoriums verwendet  würde.  Seine  Bemühungen  wurden  schließlich 
von  Erfolg  gekrönt. 

Den  Rastlosen  bedrängten  Anzeichen  einer  nahenden  Erkran- 
kung. Aber  die  Energie  überwand  Anfälle  von  Ermüdung  und  Ner- 
venerschlaffung. Die  Feder  durfte  nicht  ruhen;  denn  der  Lobgesang, 
eine  Symphonie-Kantate,  mußte  beendet  werden.  Am  25.  Juni  fand 
die  400-Jahrfeier  der  Erfindung  der  Buchdruckerkunst  statt.  Mendels- 
sohn hatte  den  musikalischen  Teil  des  Festes  zu  leiten  und  für  die 
Buchdrucker  seinen  „Lobgesang"  geschrieben.  Der  Eindruck,  den 
das  Werk  in  der  Thomaskirche  machte,  war  groß.  Wir  zählen  es  zu 
dem  Vergänglichen  in  Mendelssohns  Schaffen.  Inzwischen  war  die 
Zeit  der  sommerlichen  Musikfeste  herangekommen.  Diesmal  riefen 
ihn  die  Schweriner,  und  er  dirigierte  in  Mecklenburgs  Hauptstadt 
seinen  Paulus.  Kaum  zurück,  mußte  er  eine  Zusage  nach  Eng- 
land schicken,  wo  er  wieder  das  Musikfest  in  Birmingham  leiten  sollte. 
Beinahe  schien  ihm  eine  heftige  Erkrankung  einen  Strich  durch  den 
Plan  zu  machen.  Nach  einem  kalten  Flußbad  hatte  er  „so  heftige 
Kongestionen  nach  dem  Kopfe,  daß  er  viele  Stunden  bewußtlos  und 
krampfhaft  dalag,  und  der  Arzt  meinte,  es  könnte  auch  vorbei  sein." 
Erst  allmählich  ging  der  Anfall  vorüber,  und  im  September  war  er 
wieder  kräftig  für  die  Fahrt  nach  England.  Die  Engländer  begrüßten 
einen  liebgewordenen,  anerkannten  Meister  in  ihm,  und  sein  „Lob- 
gesang", den  er  am  23.  September  als  Hauptwerk  des  Musikfestes 
aufführte,  war  ihnen  eine  Musik  so  recht  aus  ihrem  Herzen  ge- 
schrieben. Mit  Klingemann  gab  es  vertraute  Stunden,  und  in  Mo- 
scheies fand  er  denselben  hilfsbereiten  Freund,  der  ihn  diesmal  nach 
Deutschland  begleitete,  um  Leipzig  mit  seinen  Virtuosenkünsten  heim- 
zusuchen. Das  gab  wieder  ein  Fest  an  der  Pleiße.  „Moscheies 
spielte  viel  und  vortrefflich;  zum  Schluß  seines  Aufenthaltes  gab 
ich  ihm  eine  große  Soiree  von  gegen  400  Personen  auf  dem  Gewand- 
haus, mit  Chor  und  Orchester,  wo  er  sein  g-moll-Konzert,  sein  homm- 


FelixMeritis  75 

age  ä  Händel  mit  mir,  Bachs  Tripelkonzert  mit  Clara  Schumann 
und  mir,  und  einige  Etüden  spielte,  und  wo  außerdem  Beethovens 
Leonoren-Ouvertüre,  mein  42.  Psalm  von  160  Dilettanten  gesungen, 
dann  meine  Hebriden-Ouvertüre  vorkamen;  die  Leute  waren  alle  in  der 
vergnügtesten  Stimmung".  Es  ging  patriarchalisch  zu  in  Leipzig,  und 
die  Musik  war  eine  Angelegenheit  des  Gesellschaftlichen. 

Wieder  rollte  sich  die  Reihe  der  Gewandhauskonzerte  ab.  Neben 
der  kuriosen  historischen  Symphonie  von  Spohr  kam  Lachner  mit 
einer  neuen  Symphonie  zu  Gehör.  Mendelssohn  arbeitete  den  „Lob- 
gesang" um  und  führte  ihn  am  3.  Dezember  im  Gewandhaus  auf. 
Der  König  Friedrich  August  von  Sachsen  war  anwesend  und  „war 
süperb  liebenswürdig,  am  Schluß  des  Konzerts  ließ  er  seinen  ganzen 
Hofstaat  stehen,  kam  durch  den  Saal  an  mein  Pult,  und  dankte  auf  die 
allerfreundlichste  und  lebendigste  Weise",  berichtete  Mendelssohn 
erfreut.  Nun  mußte  das  Herz  selbst  des  verstocktesten  Leipzigers 
für  den  von  königlicher  Huld  Bestrahlten  schlagen.  Auch  das  Jubi- 
läum der  Leipziger  Liedertafel  zog  ihn  in  Mitleidenschaft,  und  er 
seufzte  in  einem  Brief  an  die  Mutter:  „Gott  sei  bei  uns,  was  ist  das 
deutsche  Vaterland  für  ein  langweiliges  Ding,  wenn  es  von  dieser 
Seite  betrachtet  wird.  Ich  erinnere  mich  lebhaft  an  Vaters  ungeheuren 
Grimm  gegen  die  Liedertafeln  und  überhaupt  gegen  alles,  was  in 
einiger  Verwandtschaft  mit  Vetter  Michel  steht,  und  fühle  so  etwas 
ähnliches  in  mir."  Die  deutsche  Michelei  bedrängte  ihn  damals 
von  allen  Seiten.  Es  war  die  Zeit  des  Beckerschen  Rheinliedes. 
Auch  Mendelssohn  wurde  aufgefordert,  eine  Melodie  dazu  zu  schrei- 
ben. Aber  ihm  war  ganz  und  gar  nicht  nach  patriotischen  Liedern 
zumute.  Für  ihn  lag  etwas  Jungenhaftes  darin,  gegen  die  Franzosen 
zu  singen  „in  demselben  Moment,  wo  sie  eben  einsehen,  daß  die  Fran- 
zosen nicht  gegen  sie  fechten  wollen".  Das  Hallo  und  der  Zeitungs- 
enthusiasmus waren  ihm  widerlich.  Denn  seine  Liebe  zu  Deutschland 
war  anderer  Art  als  die  von  Geschäftspatrioten  und  Dummköpfen. 
Er  hatte  wichtigeres  zu  tun.  Nachdem  der  Jüngling  Mendelssohn  die 
Bachsche  Matthäuspassion  in  Berlin  zu  neuem  Leben  erweckt  hatte, 
war  es  zunächst  noch  stumm  geblieben  in  Deutschland  nach  dieser 
Großtat.  Mendelssohn  ließ  sich  jedoch  von  Schwierigkeiten  nicht 
abschrecken.  Er  studierte  das  gigantische  Werk  auch  in  Leipzig  ein 
und  führte  es  am  4.  April  1841  zum  Besten  des  Bachdenkmals  in  der 


76  Felix   Meritis 

Thomaskirche  auf.  Das  war  die  zweite  Leipziger  Aufführung  der 
Passion.  Die  erste  hatte  Johann  Sebastian  Bach  selbst  am  Karfreitag 
1729  geleitet. 

Mendelssohn  vollbrachte  diese  Tat  schon  mit  dem  Qefühl  des 
Scheidenden.  Berlin  wollte  ihn  zurück  haben.  Dort  hatte  Friedrich 
Wilhelm  IV.  den  Mann  der  Königin  Luise  auf  dem  preußischen  Königs- 
thron abgelöst.  Der  Kunstsinn  und  die  natürliche  Begeisterungs- 
fähigkeit des  neuen  Monarchen  drängte  nach  Betätigung.  Zunächst 
ging  er  daran,  die  Akademie  der  Künste,  in  der  es  sehr  muffig  ge- 
worden war,  umzugestalten.  Geplant  war  eine  Einteilung  in  vier 
Klassen  für  Malerei,  Skulptur,  Architektur  und  Musik.  Für  die  Malerei 
und  Skulptur  hatte  er  in  Cornelius  und  Rauch  schnell  die  geeigneten 
Führer  gefunden.  Für  die  musikalische  Abteilung  hatte  er  Mendels- 
sohn ausersehen,  mit  dem  er  ja  schon  als  Kronprinz  in  Berührung 
gekommen  war.  Der  Geheimrat  von  Massow  hatte  Paul  Mendels- 
sohn veranlaßt,  dem  Bruder  in  Leipzig  den  Wunsch  des  Königs  zu 
unterbreiten.  Die  musikalische  Abteilung  der  Akademie  sollte  aus 
einer  großen  Musikschule  bestehen,  in  der  gleichzeitig  der  Grund  für 
große  öffentliche  Konzerte  gelegt  werden  sollte.  Mendelssohn  fand 
die  Anerbieten  brillant  und  vorteilhaft,  was  die  3000  Taler  Gehalt 
und  den  Urlaub  anbetraf.  Nur  war  er  sich  der  Schwierigkeiten  einer 
solchen  Position  durchaus  bewußt.  Er  vertraute  es  Klingemann  an: 
„Ich  fühle  mich  hier  glücklich  und  lebe  zufrieden;  bei  mir  ist  und 
bleibt  die  äußerliche  Stellung  eine  Nebensache,  ich  mache  mir  aus  dem, 
was  die  Leute  Ehrenbezeigung  nennen,  und  was  der  Ruf  nach  Berlin 
wohl  ist,  an  sich  nichts;  es  kommt  mir  darauf  an,  viel  und  mancherlei 
Neues  zu  komponieren  und  nota  bene,  ich  weiß,  daß  eine  verdrieß- 
liche äußerliche  Stellung,  Häkeleien  mit  Publikum,  Musikern  und 
Behörden  mich  in  dieser  meiner  Hauptabsicht  sehr  stören  können." 
Das  elterliche  Haus  lockte  allerdings.  Die  Familie  drängte.  Aber 
immer  noch  zögerte  er.  Die  musikalischen  Zustände  Berlins  er- 
schienen ihm  trostlos.  „Dort  gehört  ein  Mann  hin,  der  die  An- 
fangsgründe erst  wieder  erweckt;  der  10  bis  15  Jahre  lang  wieder 
belebt,  was  20  bis  25  Jahre  lang  totgeschlagen  worden  ist,  syste- 
matisch; dann  kann  sich  ein  Musiker  wieder  dort  behaglich  fühlen, 
ohne  jene  Vorarbeit  nicht.  Die  zu  unternehmen  habe  ich  weder  Lust 
noch  Beruf." 


Intermezzo  77 

Mendelssohns  Geduld  wurde  bei  den  monatelangen  Verhand- 
lungen auf  eine  harte  Probe  gestellt.  Die  Berliner  Bürokraten  waren 
glatt  und  hinterhältig,  versprachen  etwas,  nahmen  es  dann  still- 
schweigend wieder  zurück  und  schoben  Mendelssohn  Dinge  unter, 
zu  denen  er  sich  nie  verstanden  hatte.  Endlich  konnte  er  nicht  mehr 
anders  als  zusagen.  Er  tat  es  noch  im  letzten  Augenblick  ungern  und 
mit  Widerstreben,  „einer  der  sauersten  Äpfel,  in  die  man  beißen  kann, 
und  doch  muß  es  gebissen  sein".  Er  ahnte  schon  aus  dem  ganzen 
Verhalten  der  leitenden  Stellen  das  Erfolglose  eines  ehrlichen,  nur 
auf  das  beste  der  Kunst  gerichteten  Bemühens.  „Da  kommt  ja  schon 
wieder  das  Berliner  Zwitterwesen;  die  großen  Pläne,  die  winzige 
Ausführung;  die  großen  Anforderungen,  die  winzigen  Leistungen; 
die  vollkommene  Kritik,  die  elenden  Musikanten;  die  liberalen  Ideen, 
die  Hofbedienten  auf  der  Straße;  das  Museum  und  die  Akademie  und 
der  Sand."  Mendelssohn  hatte  sich  dem  König  zunächst  ein  Jahr  für 
seine  Pläne  zur  Verfügung  gestellt.  Und  wenn  Mendelssohns  trübe 
Ahnung  in  Erfüllung  gehen  sollten,  so  war  es  nicht  die  Schuld  des 
Königs,  der  gern  das  Große  wollte,  sondern,  wie  fast  immer,  das  Werk 
jener  Kreaturen  gerade  in  der  höheren  Bürokratie,  deren  Schwer- 
fälligkeit und  dünkelhafte  Unfähigkeit  das  Gute  und  Neue  vortreff- 
lich zu  hemmen  und  zu  vernichten  wissen. 

In  Leipzig  hatte  er  sich  noch  einmal  selbstvergessen  in  die 
Komposition  gestürzt.  Die  Variations  serieuses  opus  54  und  die 
Es-dur-Variationen  opus  82  beseligten  ihn.  Daneben  schrieb  er  das 
Allegro  brillant  opus  92  zu  vier  Händen  und  verschiedene  Lieder  mit 
und  ohne  Worte.  Ein  kurzer  Ausflug  nach  Dresden,  „um  die  Ungher 
und  Moriani  singen  zu  hören,  Raffael  und  Tizian  malen  zu  sehen", 
brachte  willkommene  Abwechslung.  Ende  Juli  ging  die  Reise  nach 
Berlin.  Mendelssohn  fühlte  es,  daß  der  Abschied  von  Leipzig  kein 
langer  sein  würde.  Aber  es  galt,  den  Willen  eines  Königs  zu  er- 
füllen. 


INTERMEZZO 

Die  ersten  Berliner  Tage  verflogen  in  der  allgemeinen  Familien- 
freude.    Mendelssohn  war  ja  nun   ein  berühmter  Mann  geworden, 


78  Intermezzo 

so  daß  selbst  die  Berliner  ihm  die  nötige  Hochachtung  nicht  versagten. 
Er  aber  konnte  kein  Verhältnis  mehr  zur  Hauptstadt  Preußens  fin- 
den. Eine  ganze  Flut  von  Spott  und  Hohn  ergoß  er  in  seine  Berliner 
Briefe,  und  in  immer  neuen  Variationen  entlud  sich  seine  Antipathie. 
Auch  das  ist  ein  Zeichen  für  seine  feinfühlige  Natur.  Noch  nie  hat  ein 
großer  Musiker  in  Berlin  gedeihen  können.  „Diese  Unfruchtbarkeit, 
Trockenheit,  Windigkeit,  Staubigkeit,  Dumpfigkeit.  Diese  üble  Luft 
in  Wetter,  Menschen  und  Kunst",  so  apostrophierte  Mendelssohn  die 
Stadt.  „Weißbier,  Mietwagen,  Kuchen  und  Beamte  sind  wundervoll 
hier",  witzelte  er  und  schrieb  es  ernster  dem  Präsidenten  Verkenius 
nach  Köln:  „Dieselbe  Zersplitterung  aller  Kräfte  und  aller  Leute, 
dasselbe  unpoetische  Streben  nach  äußerlichen  Resultaten,  derselbe 
Überfluß  an  Erkenntnis,  derselbe  Mangel  an  Produktion,  und  Mangel 
an  Natur,  dasselbe  ungroßmütige  Zurückbleiben  in  Fortschritt  und 
Entwicklung,  wodurch  beide  freilich  viel  sicherer  und  gefahrloser 
werden."  ja,  trotz  allen  Vorzügen  und  frohen  Erinnerungen  kann  er 
sich  kaum  an  irgendeinem  Ort  Deutschlands  so  wenig  zu  Haus  fühlen 
wie  in  Berlin.  Das  Schlimmste  waren  für  ihn,  den  Tätigen,  die  musi- 
kalischen Zustände.  Berlin  war  schon  zu  groß,  als  daß  sich  ein 
Musikleben  noch  einheitlich  hätte  gestalten  können.  Und  Mendels- 
sohn war  immer  versucht,  mit  Leipzig  zu  vergleichen,  wo  er  dem 
Ganzen  das  Gepräge  gab.  Rossini  und  die  anderen  Italiener  hatten 
hier  ebenso  viele  Verehrer  wie  Beethoven  und  Gluck.  „Die  Musiker 
sind  jeder  für  sich,  nicht  je  zwei  miteinander  übereinstimmend," 
Spontini,  der  immer  noch  an  der  Oper  herrschte,  vernachlässigte  das 
Orchester.  Er  hatte  seinen  Einfluß  noch  in  die  Regierungszeit  des 
neuen  Königs  hinübergerettet;  aber  bald  brachten  ihn  seine  Feinde, 
vor  allem  der  zähe  Rellstab,  zur  Strecke.  Nur  die  Kritik  mußte  Men- 
delssohn als  „scharf,  genau  und  wohl  ausgebildet"  rühmen.  Da  feierte 
der  Berliner  Rationalismus  Triumphe.  Mendelssohn  mißfiel  das  viele 
Reden  über  Musik:  „Der  ganze  Sinn  der  Musiker  wie  der  Dilettanten 
ist  zu  wenig  aufs  Praktische  gerichtet;  sie  musizieren  eigentlich  meist, 
um  nachher  und  vorher  darüber  reden  zu  können,  und  da  kommen 
die  Reden  besser  und  klüger,  aber  die  Musik  mangelhafter  heraus, 
als  an  den  meisten  anderen  deutschen  Orten."  Die  Mittelmäßigkeit 
gab  den  Ton  auf  der  ganzen  Linie  an.  In  der  Singakademie,  die 
den  jungen  Mendelssohn  vor  zwölf  Jahren  verschmäht  hatte,  machte 


Intermezzo  79 

man  Musik  für  Kaffeetanten.  Die  Tatkraft  wirklich  Strebender  wurde 
im  Geschwätz  erstickt. 

Trotzdem  durfte  Mendelssohn  nicht  müßig  sein.  Der  erste  könig- 
liche Auftrag  verlangte  von  ihm  in  kürzester  Frist  die  Komposition 
der  Musik  zur  Antigone  des  Sophokles.  Männerchor  und  Orchester 
kamen  als  Ausführungsorgane  in  Betracht.  In  elf  Tagen  hatte  Men- 
delssohn die  Musik  niedergeschrieben.  Die  Gewalt  der  griechischen 
Tragödie  hatte  ihn  tief  ergriffen.  Tieck  hatte  die  bühnenmäßige  Be- 
arbeitung des  Werkes  besorgt.  „Ganz  Berlin  glaubt  natürlich,  wir 
seien  sehr  pfiffig  und  ich  komponierte  die  Chöre,  um  Hofgünstling 
zu  sein,  oder  Hofmusikus  oder  Hofnarr",  schrieb  Mendelssohn  an 
Ferdinand  David.  Er  brauchte  kein  Philologe  zu  sein,  um  die  Töne 
zu  den  Chören  zu  finden,  die  ihm  noch  so  echt  musikalisch  erschienen, 
wie  sie  es  vor  2000  Jahren  gewesen  waren.  Aber  der  Skeptiker 
war  doch  wieder  wach  in  ihm :  „Bis  jetzt  habe  ich  nur  mit  Bewunde- 
rung zu  tun  gehabt;  nach  der  Aufführung  werden  aber  wohi  die  Ge- 
lehrten kommen,  und  mir  offenbaren,  wie  ich  hätte  komponieren 
müssen,  wenn  ich  ein  Berliner  gewesen  wäre."  Am  28.  November 
wurde  die  Antigone  im  Königlichen  Theater  in  Potsdam  nach  griechi- 
schem Muster  aufgeführt.  Devrient  und  die  Crelinger  waren  unter  den 
Mitwirkenden,  das  Auditorium  das  denkbar  glänzendste,  der  ganze 
Hofstaat,  die  Elite  der  Künstler-  und  Gelehrtenwelt,  und  der  Erfolg 
so  außerordentlich,  daß  die  Aufführung  am  6.  November  wiederholt 
wurde.  Kurz  darauf  reiste  Mendelssohn  nach  Leipzig  und  dirigierte 
unter  größter  Anteilnahme  des  Publikums  einige  Gewandhauskonzerte 
an  Stelle  Davids,  der  ihn  sonst  vertrat.  Einem  kleinen  Kreis  führte 
er  auch  seine  Antigonemusik  vor,  mußte  aber  bald  wieder  die  Pleiße 
mit  der  Spree  vertauschen. 

Die  Königlichen  Angelegenheiten  ruhten.  Die  Akademiepläne 
Friedrich  Wilhelms  IV.  verstaubten  in  den  Schreibpulten  der  Geheim- 
räte, und  Mendelssohn  konnte  trotz  vielfachen  Bemühungen  die  Dinge 
nicht  in  Fluß  bringen.  Der  Wunsch  des  Königs  hatte  ihn  aus  seinem 
Leipziger  Wirkungskreis  gerissen,  und  nun  mußte  er  in  Berlin  das 
Dasein  eines  Privatmanns  führen.  Die  unerfreulichen  Zustände  konn- 
ten ihm  seine  Lage  nicht  versüßen.  „Einstweilen  schreibe  ich  Noten, 
und  antworte,  wenn  man  mich  fragt",  schrieb  er  einem  Freund.  Die 
Lyrik  sproßte  im  märkischen  Sand  zwar  nur  spärlich.    Aber  die  Arbeit 


80  Intermezzo 

an  der  a-moll-Symphonie,  der  sogenannten  Schottischen,  half  über 
leere  Stunden  hinweg.  Jedoch  wußten  einige  Berliner  immer  noch, 
was  sie  dem  Meister  schuldig  waren,  und  ermunterten  Mendelssohn 
zur  Aufführung  eigener  Werke.  So  brachte  er  am  10.  Januar  1842 
im  Saal  des  Königlichen  Schauspielhauses  den  „Paulus"  zu  Gehör. 
Die  Hofoper  hatte  die  Solisten  und  das  Orchester,  die  Singakademie 
den  Chor  gestellt.  Ja,  die  Garde  Rungenhagens  wollte  altes  Unrecht 
wieder  gut  machen.  Mendelssohn  wurde  aufgefordert,  den  „Paulus" 
noch  einmal  in  der  Singakademie  zu  dirigieren,  und  die  Braven  er- 
nannten ihn  nun  zu  ihrem  Ehrenmitglied.  Der  Hausmannsche  Ge- 
sangverein bemächtigte  sich  des  „Lobgesanges",  die  Orchester  spiel- 
ten die  Ouvertüren,  Künstler  und  Dilettanten  sangen  Mendelssohns 
Lieder.  Aber  das  Verhältnis  Mendelssohns  zu  den  Berlinern  sollte 
kein  ungetrübtes  sein.  Liszt  kam  und  versetzte  selbst  die  Nüchtern- 
sten in  einen  Taumel.  Dieser  Enthusiasmus  nahm  Formen  an,  die 
Mendelssohns  gutem  Geschmack  zuwider  waren.  Jedoch  darf  man 
daraus  keine  Antipathie  Mendelssohns  gegen  Liszts  Künstlertum  kon- 
struieren, wie  es  vielfach  versucht  worden  ist.  Ihn  beleidigte  nur  das 
Jahrmarktsgeschrei.  Noch  weit  unangenehmer  berührte  ihn  der 
Meyerbeer-Trubel,  der  mit  dem  ungeheuren  Erfolg  der  Hugenotten 
einsetzte.  Schon  die  Pränumerando-Apotheose  in  den  Zeitungen,  die 
von  Meyerbeer  als  dem  Shakespeare  der  Musik  schwärmten,  er- 
bitterten ihn.  Auch  hier  hat  man  Mendelssohn  Neid  unterschieben 
wollen,  ein  Unterfangen,  das  bei  seiner  vornehmen  Natur  lächerlich 
wirkt. 

Da  Mendelssohn  in  Berlin  seinen  Tätigkeitsdrang  nicht  befrie- 
digen konnte,  kam  ihm  die  erste  öffentliche  Aufführung  der  Antigone 
am  Leipziger  Stadttheater  sehr  gelegen,  um  gleichzeitig  wieder  einmal 
im  Gewandhaus  zu  dirigieren  und  seine  a-moll-Symphonie  zu  klingen- 
dem Leben  zu  erwecken.  Der  helle  Jubel,  der  ihn  begrüßte,  und 
die  allseitige  Verehrung,  die  ihm  die  Leipziger  Tage  wieder  an- 
genehm machten,  entschädigten  ihn  für  vieles.  Auch  die  Berliner 
Öffentlichkeit  verlangte  jetzt  nach  der  Antigone,  und  es  spricht  für 
den  Ernst  der  Theaterbesucher,  daß  die  erste  Aufführung  einen  außer- 
ordentlichen Erfolg  hatte,  nicht  zum  wenigsten  dank  Mendelssohns 
Musik.  Als  im  Herbst  des  nächsten  Jahres  der  Philologenkongreß 
in  Kassel  tagte,  sandte  man  dem  Tondichter  eine  Dankadresse,  „weil 


Intermezzo  81 

er  durch  seine  Musik  wesentlich  zur  Wiederbelebung  des  Interesses 
an  der  griechischen  Tragödie  beigetragen  habe".  Aber  auch  die 
Düsseldorfer  wollten  den  vielumworbenen  Meister  wieder  einmal  bei 
sich  sehen  und  forderten  Mendelssohn  auf,  zusammen  mit  Julius  Rietz 
das  Musikfest  zu  dirigieren.  Händeis  „Israel  in  Ägypten"  und  der 
„Lobgesang"  Mendelssohns  waren  die  Hauptwerke.  An  Ehren- 
bezeugungen ließ  man  es  nicht  fehlen,  namentlich  als  sich  Mendels- 
sohn bereit  finden  ließ,  in  einer  freien  Phantasie  seine  Improvisations- 
künste zu  zeigen.  Von  Düsseldorf  aus  ging  die  Reise  nach  England, 
nachdem  er  vorher  noch  zum  Ritter  der  Friedensklasse  des  Ordens 
Pour  le  merite,  den  Friedrich  Wilhelm  IV.  wieder  hervorgesucht 
hatte,  ernannt  worden  war. 

England,  das  von  jeher  dem  deutschen  Musikgenius  in  Händel, 
Haydn,  Beethoven,  Weber  nicht  nur  platonisch,  sondern  auch  durch 
die  Tat  gehuldigt  hatte,  bereitete  Meister  Mendelssohn  wieder  einen 
würdigen  Empfang.  Man  schwelgte  in  Mendelssohnschen  Kompo- 
sitionen. Die  a-moll-Symphonie  wurde  stürmisch  begrüßt.  Mendels- 
sohn spielte  sein  d-moll-Konzert  und  dirigierte  die  Hebriden-Ouver- 
türe.  „Die  Leute  machen  diesmal  einen  Skandal  mit  mir,  daß  ich 
ganz  verblüfft  davon  bin;  ich  glaube,  sie  haben  zehn  Minuten  lang 
geklatscht  und  getrampelt  nach  dem  Konzert  und  die  Hebriden  muß- 
ten wiederholt  werden."  Auch  die  junge  Königin  Victoria  blieb  in 
der  Mendelssohn-Begeisterung  ihrer  Landsleute  nicht  zurück.  Sie 
lud  den  Meister  ein,  im  Buckingham  Palace  im  allerengsten  Kreise 
zu  spielen.  Sie  war  allerliebst,  wie  Mendelssohn  seiner  Mutter  be- 
richtete. Er  spielte  „erst  sieben  Lieder  ohne  Worte,  dann  die  Sere- 
nade, dann  zwei  freie  Fantasien  auf  Rule  Britannia  und  Lützows  wilde 
Jagd  und  Gaudeamus  igitur".  Natürlich  wurde  er  sehr  ausgezeich- 
net. Die  liebsten  Stunden  waren  ihm  jedoch  die  bei  seinen  Freunden 
Moscheies  und  Klingemann.  Seine  Frau  hatte  ihn  diesmal  begleitet, 
und  so  war  die  Freude  eine  erhöhte.  Den  Musikdurstigen  in  Man- 
chester wurde  noch  ein  kurzer  Besuch  abgestattet,  und  dann  ging  es 
in  den  letzten  Tagen  des  Juni  nach  Deutschland  zurück.  Eine  Ein- 
ladung, beim  Musikfest  im  Haag  seinen  Lobgesang  zu  dirigieren, 
hatte  Mendelssohn  abgelehnt.  Er  sehnte  sich  nach  Ruhe,  hielt  es 
deshalb  auch  nicht  lange  in  Berlin  aus  und  fuhr  mit  seinen  Angehörigen 
in   die  Schweiz.     Hier  kam   sein   stark   angegriffenes   Nervensystem 

Dabms,  Mendelssohn  6 


82  Intermezzo 

bald  wieder  in  Ordnung.  Der  Nachsommer  sah  ihn  in  Frankfurt, 
wo  er  Hiller  traf,  die  a-moll-Symphonie  vierhändig  arrangierte,  viel 
Orgel  spielte  und  noch  mehr  auf  den  „geistigen  Michel",  die  Berliner 
Krittelei  und  Philisterhaftigkeit  in  Kunstdingen,  schimpfte.  Seine 
große  Menschlichkeit  ließ  ihn  bei  dem  Verleger  Simrock  ganz  im 
geheimen  für  die  Kompositionen  seines  Freundes  Hiller  eine  Lanze 
brechen.    Es  zwang  ihn  zu  helfen,  wo  er  es  vermochte. 

Zweifelnd  und  widerwillig  dachte  er  an  Berlin  und  seine  könig- 
lichen Verpflichtungen.  Die  Leipziger  riefen,  und  freudig  griff  Men- 
delssohn zu.  Der  Gewandhaussaal  war  umgebaut  worden.  Neue 
Galerien  und  Gasbeleuchtung  sollten  dem  Unternehmen  einen  groß- 
städtischen Anstrich  geben.  Aber  die  Devise  war  die  alte  geblieben: 
Res  severa  est  verum  gaudium.  Mendelssohn  dirigierte  das  Er- 
öffnungskonzert. Webers  Jubelouvertüre  und  Beethovens  A-dur-Sym- 
phonie  umrahmten  die  Sololeistungen  Clara  Schumanns  und  Ferdinand 
Davids.  Mendelssohn  hatte  sich  entschieden.  Er  wußte,  wo  sein 
Platz  war,  und  ging  noch  einmal  nach  Berlin,  nur  um  dem  märkischen 
Intermezzo  ein  Ende  zu  machen.  Immer  noch  brüteten  die  Büro- 
kraten über  dem  Ei  der  Musikakademie,  und  man  suchte  ihn  wieder 
mit  Vertröstungen  hinzuhalten.  Aber  Mendelssohn  wollte  Klarheit. 
Der  Minister  Eichhorn  machte  ihm  den  Vorschlag,  an  die  Spitze  der 
gesamten  evangelischen  Kirchenmusik  zu  treten.  Mendelssohn  lehnte 
ab,  da  er  sich  nach  praktischer  Tätigkeit  sehnte.  Und  schließlich  er- 
hielt er  durch  Vermittlung  des  Geheimrats  von  Massow  eine  Audienz 
beim  König  bewilligt.  „Der  König  muß  besonders  guter  Laune 
gewesen  sein,  denn  statt  ihn  böse  auf  mich  zu  finden,  hatte  ich  ihn 
nie  so  liebenswürdig  und  wirklich  vertrauensvoll  gesehen.  Er  sagte 
mir  auf  meine  Abschiedsrede:  er  könne  mich  freilich  nicht  zum 
Bleiben  zwingen,  aber  er  wolle  mir  doch  sagen,  daß  es  ihm  herz- 
lich leid  täte,  wenn  ich  ihn  verließe,  daß  dadurch  alle  seine 
Pläne  scheiterten,  die  er  auf  meine  Anwesenheit  in  Berlin  ge- 
baut habe,  und  daß  ich  ihm  eine  Lücke  risse,  die  er  nicht  wieder 
ersetzen  könne."  Der  König  wollte  einen  kleinen  Chor  von  dreißig 
ausgezeichneten  Sängern  und  ein  kleines  Orchester  aus  Mitgliedern 
der  Königlichen  Kapelle  zusammengestellt  haben ;  damit  sollte  Men- 
delssohn Kirchenmusik  und  Oratorien  aufführen  und  vor  allem  selbst 
Neues  dafür  schaffen.     Mendelssohn  konnte  nichts  anderes  tun,  als 


A  m  Z  i  e  1  83 

seine  Bereitwilligkeit  erklären,  wenn  dieses  „Instrument"  für  ihn  vor- 
handen wäre,  nach  Berlin  zu  kommen  und  sich  dem  König  zur  Ver- 
fügung zu  stellen.  Bis  dahin  aber  bat  er  nach  Leipzig  gehen  zu  dürfen. 
Und  der  König  gab  nach.  Mendelssohn  hatte  seine  künstlerische 
Freiheit  wieder  gewonnen.    Das  Intermezzo  der  Dürre  war  beendet. 


AM  ZIEL 

In  Leipzig  atmete  Mendelssohn  wieder  auf.  Hier  fühlte  er  sich 
geliebt  und  verstanden,  hier  war  ihm  das  Leben  in  Musik  getaucht. 
Zwar  trat  jetzt  der  König  von  Sachsen  als  Versucher  an  ihn  heran, 
um  ihn  nach  Dresden  zu  ziehen.  Aber  Mendelssohn  widerstand 
selbst  den  lockendsten  Angeboten.  Er  erreichte  jedoch  beim  König, 
daß  dieser  endgültig  das  Legat  des  Hofkriegsrats  Blümner  für  die 
Errichtung  eines  Konservatoriums  in  Leipzig  bewilligte.  Das  ergab 
neue  Arbeit,  aber  auch  neue  Freuden.  Druck  und  Korrektur  der 
Antigone  und  der  a-moll-Symphonie  plagten  den  Überhäuften.  Die 
Gewandhauskonzerte  zwangen  den  Meister  ohnehin  wieder  in  die 
Bahn  eines  regelmäßigen  Pflichtdienstes.  Mit  Inbrunst  versenkte  er 
sich  in  die  Partituren  der  Klassiker  und  lieh  den  Zeitgenossen  seine 
unschätzbare  Hilfe.  Doch  in  das  Getriebe  hallte  unvermittelt  und  jäh 
die  Totenglocke.  Die  Mutter  war  am  12.  Dezember  1842  ganz 
plötzlich  gestorben.  Während  der  Sonntagsmusik  wurde  sie  ohn- 
mächtig und  verschied  schmerzlos  nach  einigen  Stunden.  Mendels- 
sohn stand  fassungslos  an  einem  neuen  Grab.  Das  Schreckgespenst 
eines  nahenden  Endes  mochte  auch  ihn  bedrängen;  und  es  gab 
doch  noch  so  viel  zu  leisten,  so  viele  Melodien  zu  bergen,  die  ans 
Licht  drängten.  Nur  die  angespannteste  Tätigkeit  konnte  ihn  retten, 
und  mit  Eifer  stürzte  er  sich  in  die  Arbeit. 

Klingemann  gegenüber  durfte  er  aufatmen:  „Seit  einigen  Wochen 
habe  ich  recht  lebhaft  wieder  empfunden,  welch  himmlischer  Beruf 
eigentlich  die  Kunst  ist.  Verdanke  ich  den  doch  auch  wieder  nur  den 
Eltern.  Eben  wenn  alles  andere,  was  einen  abziehen  möchte,  so 
widerwärtig,  leer  und  schal  erscheint,  so  ergreift  einen  auch  die 
kleinste   wirkliche  Tätigkeit   der   Kunst  gleich   so   im   Innern,  führt 


84  Am  Ziel 

gleich  so  weit,  weit  von  der  Stadt  weg,  vom  Lande,  von  der  Erde 
weg,  daß  es  ein  wahrer  Qottessegen  ist."  Mit  Berlin  stand  er  ja 
immer  noch  in  Verbindung.  Für  sein  halbes  Gehalt  hatte  er  die  Ver- 
pflichtung übernommen,  dem  König  von  Preußen  auf  Wunsch  Bühnen- 
musiken zu  schreiben.  Daneben  arbeitete  er  die  Walpurgisnacht  gänz- 
lich um.  „Die  Walpurgisnacht  habe  ich  von  A  bis  Z  neu  umge- 
schrieben —  es  ist  geradezu  ein  anderes  Stück  geworden  und  ein 
hundertmal  besseres",  heißt  es  in  einem  Brief. 

Als  hervorragendstes  Ereignis  dieser  Monate  ist  jedoch  die  Grün- 
dung des  Leipziger  Konservatoriums  zu  buchen.  Am  16.  Januar  1843 
wurde  das  Programm  herausgegeben,  und  am  3.  April  eröffnete  der 
Minister  von  Falkenstein  die  Anstalt  im  Namen  des  Königs.  Mendels- 
sohn, der  sich  selbst  den  Unterricht  in  der  freien  Komposition  vor- 
behalten hatte,  fand  namhafte  und  rührige  Mitarbeiter:  Schumann 
für  Klavier  und  Komposition,  Moritz  Hauptmann  für  Harmonielehre 
und  Kontrapunkt,  Ferdinand  David  für  Violine,  C.F.Becker  für  Orgel, 
Frau  Grabau-Bünau  für  Gesang  und  andere.  Der  Aufschwung,  den 
das  Institut  nahm,  war  schnell  und  erfreulich.  Mendelssohns  Ruhm 
lockte  die  Schüler,  Freistellen  halfen  den  Unbemittelten.  Im  Zeichen 
Mendelssohns  gewann  das  Leipziger  Konservatorium  seinen  Welt- 
ruf als  Pflegestätte  klassischen  Geistes.  Mendelssohn  war  nicht  nur 
ein  Mann  der  Ideale,  er  war  auch  ein  Mann  der  Praxis,  des  Hand- 
werks, des  hohen  Ernstes.  Bezeichnend  ist,  was  er  an  Moscheies 
schrieb:  „Die  Musikschule  nimmt  einen  schönen  Anfang;  fast  täglich 
kommen  neue  Meldungen,  und  die  Zahl  der  Lehrer,  so  wie  die  der 
Lektionen  hat  schon  bedeutend  vergrößert  werden  müssen.  Zwei 
wahre  Krankheiten  machen  sich  aber  bemerklich,  denen  ich,  solange 
ich  dabei  bin,  mit  Händen  und  Füßen  entgegenarbeiten  werde:  Die 
Direktion  will  vergrößern  und  generalisieren,  namentlich  Häuser 
bauen,  Lokale  von  mehreren  Stockwerken  mieten,  während  ich  be- 
haupte, daß  für  die  ersten  zehn  Jahre  die  zwei  Säle,  die  wir  haben, 
und  in  denen  gleichzeitig  Unterricht  gegeben  werden  kann,  aus- 
reichend  sind,  —  und  die  Schüler  wollen  alle  komponieren  und  theo- 
retisieren,  während  ich  glaube,  daß  ein  tüchtiges,  praktisches  Wirken, 
tüchtig  Spielen  und  Takthalten,  tüchtige  Kenntnis  aller  tüchtigen 
Werke  usw.  die  Hauptsache  ist,  die  man  lehren  kann  und  muß.  Aus 
denen  findet  sich  alle  andere  Lehre  von  selbst,  und  das  weitere  ist 


A  m   Z  i  e  1  85 

nicht  Sache  des  Lehrers,  sondern  der  Gottesgabe.  Daß  ich  dem- 
ungeachtet  kein  Handwerk  aus  der  Kunst  machen  möchte,  brauche 
ich  wohl  nicht  erst  zu  sagen."  Diese  goldenen  Worte  konnten  einer 
heranwachsenden  Generation  wohl  als  Richtschnur  dienen. 

Der  Lehrer,  dem  die  Herzen  der  Schüler  zuflogen,  war  eine  eben- 
so seltene  Erscheinung  in  seiner  geistigen  Vornehmheit  wie  der  Diri- 
gent, der  allen  Strebenden  seine  hilfreiche  Hand  bot.  Anfang  1843 
kam  Berlioz  auf  seiner  Reise  durch  Deutschland  auch  nach  Leipzig. 
In  seinen  Reisebriefen  kann  man  über  Mendelssohn  lesen:  „Zwar  hat 
er  nichts  von  der  unbeugsamen  Strenge  seiner  Kunstprinzipien  ein- 
gebüßt, aber  er  sucht  nicht  mehr,  sie  mit  Gewalt  aufzudringen,  und 
beschränkt  sich  als  Kapellmeister  darauf,  das  ins  Licht  zu  setzen, 
was  er  für  schön  hält,  und  das  im  Schatten  zu  lassen,  was  ihm 
schlecht  oder  von  verderblichem  Einfluß  zu  sein  scheint.  Nur  liebt 
er  immer  noch  die  Toten  ein  bißchen  zu  viel."  Mendelssohn  stellte 
dem  alten  Kameraden  seiner  Romtage  Orchester  und  Chor  zur  Ver- 
fügung, und  Berlioz  errang  den  Leipziger  Philistern  zum  Trotz  einen 
Sieg.  Schumann  sparte  nicht  mit  seinem  Lob,  und  mit  Mendelssohn 
tauschte  Berlioz  den  Taktstock.  Mendelssohn  gab  sein  leichtes  Stöck- 
chen, der  bizarre  Franzose  überreichte  ihm  dafür  einen  „groben 
Knüppel"  mit  den  Worten:  „Le  mien  est  grossier,  le  tien  est  simple". 
Mendelssohn  probte  damals  gerade  seine  Walpurgisnacht,  die  Berlioz 
in  aufrichtiger  Bewunderung  „ein  wahres  Meisterstück"  nannte, 
während  sich  Mendelssohn  über  des  anderen  Werke  nur  sehr  zurück- 
haltend äußerte.  Ihm  war  die  Pose  ebenso  verhaßt,  wie  er  Programm- 
musik dieser  Art  verabscheute. 

Freundschaftliche  Beziehungen  knüpfte  Mendelssohn  mit  Robert 
Franz  in  Halle  an,  der  dort  den  „Lobgesang"  aufführte,  nachdem  er 
schon  vorher  von  Mendelssohn  eine  Abschrift  der  Matthäus-Passion 
von  Bach  erhalten  hatte.  Und  aus  dem  hohen  Norden  kam  ein 
junger  Kunstgenosse,  einer,  dessen  Ideale  auch  die  Mendelssohns 
waren,  Niels  W.  Gade.  Der  hatte  Mendelssohn  seine  erste  Sym- 
phonie in  c-moll  geschickt.  Der  Gewandhausdirigent  fing  sogleich 
Feuer  und  dankte  enthusiastisch;  denn  die  frische  und  noble  Kom- 
position machte  ihm  soviel  Freude,  „wie  seit  langer  Zeit  kein  anderes 
Stück".  Gade  widmete  Mendelssohn  sein  Werk,  und  als  er  selbst 
nach   Leipzig  kam,  schlössen  sie  bald  innige   Freundschaft. 


86  Am  Ziel 

Mendelssohns  Komponistenmuße  wurde  hauptsächlich  durch 
Aufträge  Friedrich  Wilhelm  IV.  ausgefüllt.  Außer  der  Sommernachts- 
traummusik schrieb  er  Chöre  zur  Racineschen  Athalia  für  Frauen- 
stimmen und  großes  Orchester.  Der  König  hatte  sich  großzügig 
gegen  ihn  benommen  und  ihm  geschrieben:  „Ich  ernenne  Sie  zum 
General-Musik-Direktor  und  vertraue  Ihnen  die  Oberaufsicht  und 
Leitung  der  kirchlichen  und  geistlichen  Musik  als  Wirkungskreis  an". 
Für  Titelehren  hatte  Mendelssohn  jedoch  wenig  Sinn  und  sie  machten 
ihn  „fast  verlegen".  „Ich  möchte  nicht  gern  zu  den  Jetzigen  gehören, 
die  mehr  Ehrenstellen  besitzen,  als  sie  gute  Noten  geschrieben  haben", 
gab  er  zu  verstehen.  An  sonstigen  Arbeiten  brachte  er  in  diesem 
Leipziger  Winter  die  Cello-Sonate  opus  58,  die  Konzertarie  für  Sopran 
und  Orchester  opus  94,  ein  Capriccio  für  Streichquartett  opus  81  und 
einige  Lieder  für  Chor-  und  Solostimmen  fertig.  Die  Veröffentlichung 
folgte  auf  dem  Fuß,  denn  die  Verleger  umwarben  ihn.  War  das  Werk 
gedruckt,  dann  hatte  Mendelssohn  innerlich  damit  abgeschlossen. 
„Sind  einmal  die  Korrekturen  da,  dann  ist's  mir  so  fremd  und  gleich- 
gültig, als  wärs  von  einem  Unbekannten",  äußerte  er  einmal. 

Mit  besonderer  Freude  konnte  Mendelssohn  jetzt  das  von  ihm 
angeregte  Bachdenkmal  der  Leipziger  Öffentlichkeit  übergeben. 
Bendemann,  Hübner  und  Knaur  hatten  es  geschaffen.  Die  Ent- 
hüllungsfeierlichkeiten leitete  Mendelssohn,  der  in  seiner  großen 
Bescheidenheit  einmal  an  die  Mutter  geschrieben  hatte:  „Übrigens 
wollen  wir  so  wenig  Wesen  wie  möglich  davon  machen,  um  nicht 
in  das  jetzige  Phrasenzeug  und  die  Kunst-  und  Künstleranbetung, 
wie  sie  Mode  ist,  einzustimmen.  Es  geht  unsereinem  wahrhaftig 
jetzt  äußerlich  um  ebenso  viel  zu  gut,  wie  es  sonst  den  Künstlern  zu 
schlecht  ging;  für  uns  wäre  das  zwar  ganz  angenehm,  aber  für  die 
Sache  taugt  es  nichts;  die  Kunst  wird  verhätschelt  und  faul;  darum 
sollte  sich  Einer  über  seine  jetzigen  Feinde  mehr  freuen,  als  ärgern". 
Die  Leipziger  erfüllten  in  dieser  Zeit  eine  Anstandspflicht,  in- 
dem sie  Mendelssohn  zum  Ehrenbürger  ernannten  „in  Anerkennung 
seiner  großen  Verdienste  um  die  musikalische  Bildung  in  hiesiger 
Stadt". 

Noch  einmal  wurde  das  Leipziger  Idyll  durch  einen  dringenden 
Ruf  aus  Berlin  unterbrochen:  der  König  wünschte  seinen  General- 
musikdirektor in  Berlin   zu  haben.     Wieder  begannen  endlose  Ver- 


Am   Ziel  87 

handlungen,  die  Mendelssohn  wegen  der  Hinterhältigkeit  und  Zwei- 
deutigkeit der  Bürokraten  mehrmals  abzubrechen  im  Begriff  stand. 
Aber  er  konnte  schließlich  dem  Drängen  nicht  länger  widerstehen, 
da  ihm  im  Domchor  das  verlangte  Instrument  geschaffen  worden 
war,  auf  dem  er  spielen  sollte.  Eduard  Grell,  der  zweite  Direktor  der 
Singakademie,  der  die  Dommusik  bisher  geleitet  hatte,  übernahm 
auch  die  Reorganisation  des  Instituts  für  Mendelssohn.  Im  Domchor 
war  nur  der  a  cappella-Gesang  gepflegt  worden,  Kompositionen  von 
Zelter,  Rungenhagen  und  Grell,  sowie  altitalienische  Meister.  Men- 
delssohn zuliebe,  dem  man  einen  größeren  Apparat  bieten  wollte, 
um  sein  Interesse  zu  erwecken  und  zu  festigen,  sollte  nun  auch  die 
Instrumentalbegleitung  zur  Kirchenmusik  herangezogen  werden. 
Einige  Aufführungen  dieser  Art  kamen  auch  zustande,  unter  anderem 
die  seines  98.  Psalms,  den  er  eigens  dafür  komponiert  hatte.  Aber 
die  hohe  Geistlichkeit  sah  die  heiligsten  Interessen  der  Religion 
und  Kirche  in  Gefahr,  und  Mendelssohn  hatte  keine  Lust,  gegen  diese 
Opposition  künstlerische  Pläne  durchzufechten.  Bald  übernahm 
August  Heinrich  Neithardt  die  Leitung  des  Domchors  und  führte 
ihn  auf  die  Höhe,  die  seinen  großen  Ruf  begründete. 

Mendelssohn  fand  eine  lohnendere  Aufgabe  in  den  Symphonie- 
konzerten der  Königlichen  Kapelle,  die  vor  ihm  Hennig  und  Taubert 
abwechselnd  dirigiert  hatten.  Hier  feierte  er  als  Interpret  der  klassi- 
schen Meisterwerke  Triumphe.  Weniger  Anklang  fand  er  mit  der 
Einführung  von  Instrumental-Solovorträgen  in  das  bisher  reine  Sym- 
phonieprogramm. Heftiger  aber  noch  war  der  Widerspruch  gegen 
das  Auftreten  von  Gesangssolisten  an  dieser  Stelle,  und  namentlich 
Rellstabs  giftige  Feder  tat  das  ihre,  ihm  diese  Neuerungen  zu  ver- 
leiden. In  der  Garnisonkirche  führte  er  Händeis  „Israel  in  Ägypten" 
mit  ungeheurem  Erfolg  auf.  Noch  größeren  Enthusiasmus  aber 
erregte  die  Sommernachtstraummusik.  Am  14.  Oktober  1843  wurde 
sie  vor  dem  Hof  in  Potsdam  aufgeführt:  vier  Tage  später  ergriff  das 
Berliner  Publikum  gierig  und  begeistert  Besitz  von  der  köstlichen 
Musik  im  Schauspielhaus.  So  verging  der  Berliner  Musikwinter  trotz 
allen  Bemühungen  Mendelssohns  ohne  ein  Ergebnis,  das  ihn  vollauf 
befriedigen  konnte.  Auch  das  persönliche  Verhältnis  zwischen  ihm 
und  dem  König  erlitt  leichte  Trübungen.  Durch  Zwischenträgereien 
aller  Art  und  kleinliches  Intrigantentum  wurden  gewisse  künstlerische 


88  Am   Ziel 

Differenzen  absichtlich  ins  Grundsätzliche  und  Große  verzerrt.  Der 
Neid  suchte  nicht  lange  nach  Gründen. 

Mendelssohn  war  froh,  in  den  Sommermonaten  Berlin  den  Rücken 
kehren  zu  können.  Bis  nach  Frankfurt  verfolgte  ihn  noch  in  seiner 
Korrespondenz  mit  dem  Geheimrat  Bunsen  die  Berliner  Kompositions- 
pflicht. Der  König  wünschte  von  ihm  eine  Bühnenmusik  zu  den 
Eumeniden  des  Äschylos.  Mendelssohn  hielt  das  für  eine  unaus- 
führbare Aufgabe  und  beharrte  dabei  trotz  einer  Verstimmung  des 
Königs.  Freiere  Luft  umgab  ihn  erst  wieder  in  London,  wo  eine 
ernste  geistige  Kultur  den  Erscheinungen  der  Kunst  mit  unbefange- 
nerem Blick  gegenüberstand.  Mendelssohn  hatte  es  übernommen, 
eine  Reihe  der  philharmonischen  Konzerte  in  London  zu  dirigieren  und 
den  englischen  Mendelssohnianern  seine  Werke  vorzuführen.  Die  Eng- 
länder konnten  Unmengen  von  Musik  konsumieren.  So  veranstaltete 
Mendelssohn,  um  alle  Wünsche  zu  befriedigen,  ein  Konzert  mit  einem 
Riesenprogramm  von  38  Nummern.  Hören  wir  ihn  selbst:  „Mein  Auf- 
enthalt in  England  war  herrlich;  ich  bin  noch  niemals  und  nirgends 
mit  so  allgemeiner  Freundlichkeit  aufgenommen  worden,  wie  diesmal, 
und  habe  in  den  zwei  Monaten  mehr  Musik  gemacht,  als  sonst  in  zwei 
Jahren.  Meine  a-moll-Symphonie  zweimal,  den  Sommernachtstraum 
dreimal,  den  Paulus  zweimal,  das  Trio  dreimal;  am  letzten  Abend, 
den  ich  in  London  war,  noch  die  Walpurgisnacht  mit  ganz  unglaub- 
lichem Jubel,  außerdem  noch  die  vierhändigen  Variationen,  das 
Quartett  zweimal,  das  D-dur-  und  e-moll-Quartett  zweimal,  diverse 
Lieder  ohne  Worte,  das  Bachsche  d-moll-Konzert  zweimal,  das  Beet- 
hovensche  G-dur-Konzert  —  das  sind  einige  von  den  Sachen  die 
öffentlich  vorkamen ;  dazu  die  Direktion  der  ganzen  Philharmonischen 
und  anderen  Konzerte,  die  unzähligen  Gesellschaften;  dann  die  Her- 
ausgabe von  Israel  in  Ägypten,  die  ich  für  die  Handel  Society  während 
dessen  arbeitete,  und  nach  dem  Manuskript  besorgte;  die  Kom- 
position der  Ouvertüre  zu  Athalia  mitten  hinein,  welche  bei  dem 
grenzenlosen  Trouble  auch  keine  kleine  Aufgabe  war". 

Es  ist  zu  verstehen,  daß  seine  Abneigung  gegen  die  Berliner 
Misere  der  Halbgebildeten  da  neue  Nahrung  finden  mußte.  Im 
Juli  fuhr  er  aus  England  zurück,  um  in  Bad  Soden  bei  Frankfurt 
die  Nerven  aufzufrischen.  Aber  nach  wenigen  Tagen  wurde  das 
Idyll  schon  wieder  unterbrochen  durch  die  Verpflichtung,  in  Zwei- 


Am  Ziel  89 

brücken  auf  dem  pfälzischen  Musikfest  den  Paulus,  die  Walpurgis- 
nacht, Beethovens  B-dur-Symphonie  und  Marschners  Bundeslied  zu 
dirigieren.  Die  Pfälzer  bemühten  sich,  den  Meister  zu  ehren,  und 
ließen  den  Wein  in  Strömen  fließen.  Dabei  kam  der  Humor  auf  seine 
Kosten  und  Mendelssohn  tollte  mit  den  anderen.  „Wie  der  Landrat 
von  Pirmasens  in  den  Bach  geworfen  wurde,  wie  der  Herr  Stern- 
feld das  Orchester  mit  einer  Leberwurst  dirigierte,  und  wie  der 
Pauker  im  ersten  Teil  des  Oratoriums  die  Pauken  entzweischlug, 
und  was  er  darüber  bemerkte,  als  er  Nachts  um  21/,  Uhr  mit  andern 
auf  der  Straße  saß,  und  Punsch  trank",  das  alles  wollte  er  seiner 
Schwester  Fanny  einmal  genauestens  erzählen.  In  Soden  fand  er 
endlich  wieder  Ruhe  zum  Zeichnen,  Komponieren  und  Genießen. 
Nichts  störte  ihn  in  seiner  Einsamkeit.  Einige  größere  Orgelwerke 
und  ein  paar  Lieder  wurden  fertig.  Symphonisches  kam  nicht  über 
die  Skizze  hinaus. 

Schweren  Herzens  mußte  er  im  Herbst  wieder  nach  Berlin 
zurückkehren.  Er  dirigierte  dort  die  ersten  beiden  Symphoniekonzerte 
am  31.  Oktober  und  14.  November.  Dann  sah  er,  daß  seine  Be- 
mühungen nutzlos  bleiben  mußten.  Er  fand  alles  beim  Alten,  „in 
keiner  Beziehung  Leben  und  Veränderung,  überall  die  bloße  Mög- 
lichkeit eines  künftigen  Anfangs  in  Frage  gestellt".  Er  bat  den  König, 
ihn  von  dem  Berliner  Aufenthaltszwang  zu  entbinden  und  ihm  zu 
gestatten,  seinen  Wohnort  so  wählen  zu  dürfen,  wie  es  für  seine 
Arbeit  und  für  sein  Lebensziel  notwendig  war.  Im  übrigen  stellte 
er  sich  nach  wie  vor  allen  kompositionellen  Plänen  des  Königs  zur 
Verfügung.  Friedrich  Wilhelm  IV.  willigte  ein.  Wieder  einmal 
hatten  die  Berliner  Qeheimräte  einen  gewichtigen  Plan  vernichtet. 
Der  königliche  Gedanke,  einem  Genie  die  Schaffung  einer  Akademie 
anzuvertrauen,  war  für  die  Bürokratenhirne  allzu  gewaltig.  Ein 
solches  Werk  mußte  bis  auf  die  heutige  Zeit  stets  der  Mittelmäßig- 
keit vorbehalten  bleiben. 

Die  Leipziger  Gewandhauskonzerte  wußte  Mendelssohn  unter 
Gades  Leitung  in  guten  Händen.  So  konnte  er  ganz  seinem  Schaf- 
fenstrieb folgen,  der  in  diesem  Winter,  den  er  in  Frankfurt  am  Main 
verlebte,  reiche  Früchte  zeitigte.  Er  hatte  sein  Violinkonzert  in  e-moll 
nach  eingehenden  brieflichen  Beratungen  mit  David  beendet,  vollen- 
dete nun  die  Musik  zum  „ödipus"  und  arbeitete  an  der  Einrichtung 


90  Am  Ziel 

der  Chöre  von  „Athalia"  und  am  „Elias".  Daneben  entstanden 
Orgelsonaten  und  Lieder  ohne  Worte.  Im  Frühjahr  1845  meldete 
sich  Berlin  wieder.  Der  Minister  Eichhorn  suchte  noch  einmal  eine 
Verständigung  über  die  zu  errichtende  Akademie  herbeizuführen. 
Aber  Mendelssohn  war  durch  die  Erfahrung  klug  geworden.  Er 
verlangte  vorherige  genaue  Darlegung  und  Klarstellung  der  Umstände 
und  Verhältnisse.  Er  blieb  ohne  Antwort.  Bald  darauf  klopfte  der 
Geheime  Kabinettsrat  Müller  bei  ihm  an,  wegen  der  Musik  zur 
Agamemnon-Trilogie  des  Äschylus.  Mendelssohn  hatte  manches  ihm 
Untergeschobene  richtig  zu  stellen  und  lehnte  die  Komposition  aus 
Gründen  künstlerischer  Gewissenhaftigkeit  ab.  „Ich  wage  zu  be- 
haupten, daß  kein  jetzt  lebender  Musiker  imstande  sei,  diese  Riesen- 
aufgabe gewissenhaft  zu  lösen,  —  geschweige  denn,  daß  ich  es 
könnte",  so  lautete  sein  Urteil.  Er  bat  aber,  dem  König  mitzu- 
teilen, daß  der  Ödipus  zu  Kolonos  des  Sophokles,  die  Racinesche 
Athalia  und  der  König  Ödipus  des  Sophokles  zur  Aufführung  fertig 
seien. 

Im  Frühjahr  1845  zog  Mendelssohn  wieder  nach  Leipzig.  Das 
Konservatorium  verlangte  nach  seinem  Meister;  vor  allem  galt  es 
die  Uraufführung  des  Violinkonzertes  durch  David  am  13.  März  zu 
feiern.  Die  Anekdote  hat  sich  dieses  Ereignisses  bemächtigt.  Nach 
dem  Konzert  trat  der  sonst  so  schweigsame  Schumann  an  David, 
der  fleißig,  aber  vergeblich  nach  Komponistenehren  strebte,  heran 
und  sagte  ihm  als  höchstes  Kompliment:  „Siehst  du,  lieber  David, 
das  ist  so  ein  Konzert,  wie  du  immer  komponieren  wolltest". 

Der  Sommer  war  der  Arbeit  gewidmet.  Das  Streichquintett 
opus  87,  neue  Orgelsonaten,  Lieder  und  Chöre  füllten  die  Tage  aus, 
und  langsam  wuchs  der  „Elias".  1838  hatte  er  schon  an  seinen 
Freund  Schubring,  den  stets  hilfsbereiten  Bibelkenner  geschrieben: 
„Ich  hatte  mir  eigentlich  beim  Elias  einen  rechten  durch  und  durch 
Propheten  gedacht,  wie  wir  ihn  etwa  heutzutage  wieder  brauchen 
könnten,  stark,  eifrig,  auch  wohl  bös  und  zornig  und  finster,  im 
Gegensatz  zum  Hofgesindel,  und  fast  zur  ganzen  Welt  im  Gegen- 
satz, und  doch  getragen  wie  von  Engelsflügeln  ...  Es  ist  mir  darum 
recht  um  das  Dramatische  zu  tun".  Jahre  waren  vergangen,  ehe  die 
rechten  Worte  gefunden  waren.  Jetzt  erst  konnte  er  seine  musikalische 
Leidenschaft  ausströmen  lassen. 


Am  Ziel  91 

Jedoch  der  nahende  Winter  rief  den  Dirigenten  wieder  auf  den 
Plan.  In  dem  Schaffenden  mußte  da  bisweilen  eine  leise  Bitterkeit 
gegen  das  Getriebe  aufkommen.  „Das  ganze  äußerliche  Musiktreiben, 
Dirigieren  usw.  habe  ich  von  jeher  doch  nur  aus  Pflichtgefühl,  nie 
aus  Neigung  übernommen",  äußerte  er  sich.  Für  die  Spielzeit  1845/46 
hatte  er  Gade  zum  Mitdirigenten  für  die  Gewandhauskonzerte  gewählt. 
Meister  suchten  seine  Freundschaft.  Wagner,  Spohr,  Heinrich  Laube 
und  andere  brachten  Anregung  in  seine  freien  Stunden.  Wir  lesen 
in  einem  Tagebuch:  „Den  Abend  verlebten  wir  herrlich  bei  Mendels- 
sohns, die  alles  aufboten,  um  Spohr  so  viel  Freude  als  möglich  zu 
machen.  Diese  Familie  hat  für  mich  etwas  Idealisches,  sie  bietet  eine 
Vereinigung  von  inneren  und  äußeren  Vorzügen,  und  dabei  so 
schönem  häuslichen  Glück,  wie  man  gewiß  selten  im  Leben  findet. 
In  ihrer  Einrichtung  und  ganzem  Wesen  herrscht  neben  allem  Luxus 
und  Reichtum  eine  so  reizende  Anspruchslosigkeit,  daß  man  sich  sehr 
wohl  da  befinden  muß.  Mendelssohn  spielte  seine  Variations  seri- 
euses;  dann  folgten  Spohrsche  Quartette,  bei  welchen  Mendelssohn 
und  Wagner  mit  entzückten  Mienen  in  der  Partitur  nachlasen".  Die 
Werdenden  fanden  in  Mendelssohn  einen  verständnisvollen  Förderer. 
So  führte  er  den  jungen  Joseph  Joachim  in  Leipzig  ein  und  begleitete 
ihm  ein  Violinkonzert  von  Beriot.  Auch  in  England  ebnete  er  ihm 
die  Wege. 

In  die  Freuden  des  Schaffens  am  Elias  und  der  Geselligkeit 
drang  wieder  der  Ruf  aus  Berlin,  dem  König  zu  dienen.  Am  1.  No- 
vember 1845  wurde  „ödipus  auf  Kolonos"  mit  Mendelssohns  Musik 
und  unter  seiner  Leitung  im  Neuen  Palais  in  Potsdam  aufgeführt. 
Am  10.  November  erschien  das  Werk  vor  der  Berliner  Öffentlichkeit. 
Wie  früher  bei  der  Antigone  so  war  auch  diesmal  beim  ödjpus  das 
griechische  Vorbild  in  der  Aufführung  maßgebend  gewesen.  Die 
Crelinger  und  Stich  liehen  der  großartigen  Aufgabe  ihre  künstle- 
rische Kraft.  Aber  der  Erfolg  blieb  hinter  den  Erwartungen  zurück. 
Das  Publikum  war  seit  der  glänzenden  Wiedererweckung  der  Anti- 
gone mit  griechischer  Kunst  überfüttert  worden,  so  daß  das  Interesse 
längst  ermattet  war.  Selbst  Mendelssohns  Musik  konnte  daran  nichts 
retten.  Er  war  den  Berlinern  merkwürdig  fremd  geworden  und  lebte 
in  seiner  Heimatstadt  „einsam  wie  ein  Hamster".  „Athalia"  sollte 
nun   wett  machen,   was  Ödipus  versäumt  hatte.     Der  König  liebte 


92  Am  Ziel 

Racines  Dichtung.  1840  war  das  Werk  schon  einmal  in  Berlin  mit 
Musik  von  einem  gewissen  Schulz  aufgeführt,  von  den  Zuschauern 
aber  abgelehnt  worden.  Friedrich  Wilhelm  verlor  seine  Zuneigung 
nicht.  Mendelssohn  schrieb  auf  seinen  Wunsch  eine  neue  Musik 
zur  Athalia,  und  so  ließ  sich  der  König  das  Werk  am  1.  Dezember 
1845  im  Königlichen  Theater  in  Charlottenburg  vorführen.  In  die 
Berliner  Öffentlichkeit  scheint  es  nicht  gedrungen  zu  sein. 

Mendelssohn  war  froh,  den  Rest  des  Winters  in  Leipzig  ver- 
bringen zu  können.  Er  schrieb  eifrig  am  „Elias"  und  beendete  die 
Partitur  im  Sommer  1846.  Daneben  waren  noch  andere  Komposi- 
tionspflichten zu  erledigen.  Für  das  Musikfest  in  Lüttich  gelegent- 
lich der  600  Jahrfeier  der  Einführung  des  Fronleichnamsfestes  steuerte 
er  ein  „Lauda  Sion"  für  Chor  und  Orchester  bei,  und  dem  ersten 
deutsch-vlämischen  Sängerfest  in  Köln  widmete  er  Schillers  „Fest- 
gesang an  die  Künstler"  für  Männerchor  und  Orchester.  Auf  beiden 
Musikfesten  wurde  er  sehr  gefeiert  und  auch  die  Aachener  sahen  ihn 
zu  ihrem  Musikfest  unter  sich.  Und  doch  ruhte  selbst  in  diesen  Tagen 
die  Arbeit  nicht.  Der  „Elias"  mußte  beendet  werden,  da  er  im 
August  in  Birgmingham  zum  erstenmal  aufgeführt  werden  sollte. 
Neben  Mendelssohns  neuem  Werk  standen  noch  Händeis  Messias, 
Haydns  Schöpfung  und  Beethovens  Missa  solemnis  auf  dem  Pro- 
gramm. Mendelssohn  war  zur  Leitung  des  Musikfestes  in  Birgming- 
ham eingeladen  worden  und  feierte  mit  seinem  Oratorium  wieder 
einen  jener  Triumphe,  wie  sie  nur  in  England,  dem  klassischen  Land 
der  Oratorienmusik,  möglich  waren.  Vier  Chöre  und  vier  Arien 
mußten  wiederholt  werden.  „Noch  niemals  ist  ein  Stück  von  mir 
bei  der  ersten  Aufführung  so  vortrefflich  gegangen,  und  von  den 
Musikern  und  den  Zuhörern  so  begeistert  aufgenommen  worden, 
wie  dies  Oratorium",  schrieb  er  glücklich  an  seinen  Bruder  Paul. 
Prinz  Albert  schrieb  dem  Meister,  gewissermaßen  im  Namen  aller 
seiner  englischen  Freunde  später  in  das  Textbuch:  „Dem  edlen  Künst- 
ler, der,  umgeben  von  dem  Baalsdienst  einer  falschen  Kunst,  durch 
Genius  und  Studium  vermocht  hat,  den  Dienst  der  wahren  Kunst, 
wie  ein  anderer  Elias  treu  zu  bewahren,  und  unser  Ohr  aus  dem 
Taumel  eines  gedankenlosen  Tönegetändels  wieder  an  den  reinen 
Ton  nachahmender  Empfindung  und  gesetzmäßiger  Harmonie  zu 
gewöhnen,   —  dem  großen  Meister,  der  alles  sanfte  Oesäusel,  wie 


Am  Ziel  93 

allen  mächtigen  Sturm  der  Elemente  an  dem  ruhigen  Faden  seines 
Gedankens  vor  uns  aufrollt,  —  zur  dankbaren  Erinnerung". 

Mendelssohn  kam  nach  Leipzig  müde  und  erschöpft  zurück. 
Heftige  Kopfschmerzen  plagten  ihn.  Seiner  starken  Reizbarkeit 
wegen  war  an  öffentliches  Spielen  nicht  zu  denken.  In  den  Gewand- 
hauskonzerten unterstützte  ihn  der  fleißige  Gade.  An  Behaglichkeit 
hatte  sein  Leben  ja  gewonnen,  seit  Moscheies  als  Klavierlehrer  an 
das  Leipziger  Konservatorium  gekommen  war.  Aber  die  Überan- 
strengung der  letzten  Jahre  hatte  ihn  zermürbt.  Er  war  leicht  reizbar, 
und  wie  bei  seinem  Vater  stellte  sich  auch  bei  ihm  Streitsucht  nament- 
lich in  politischen  Dingen  ein.  Er  hatte  früher  radikalen  Anschau- 
ungen gehuldigt.  Jetzt  stand  er  dieser  Bewegung  jedoch  höchst 
empfindlich  gegenüber,  da  er  die  Demagogen,  wie  es  bei  einem 
geistigen  Menschen  gar  nicht  anders  sein  kann,  verachtete  und  ihre 
kläglichen  machtstreberischen  Mittel  verabscheute.  Politik,  die  ja 
leider  meist  nur  ein  Tummelplatz  untergeordneter  Naturen  ist,  konnte 
einem  Mendelssohn  letzten  Endes  nur  ein  Lächeln  abnötigen.  „In 
Deutschland'',  schrieb  er  an  Klingemann,  „namentlich  in  Norddeutsch- 
land sieht  es  kurios  aus  —  mir  ist  immer  zumut,  als  möchte  man 
sich,  wie  in  einem  schlechten  Wetter,  unter  einen  Schuppen  stellen 
und  warten  bis  das  Unwesen  vorübergezogen  ist".  Und  fügt  hinzu: 
„Zuknöpfen  möchte  man  sich  bis  ans  Kinn,  um  nicht  von  Aufklärung, 
Kunstphilosophie,  Deutschkatholizismus  und  Strohenthusiasmus  des 
Moments  bis  auf  die  Haut  naß  zu  werden".  Das  Aufbegehren  der 
von  ihren  Führern  umschmeichelten  breiten  Masse  und  die  damit 
eng  verbundene  Nivellierung  aller  Werte  beleidigten  seinen  Indi- 
vidualismus. Er  sah  nirgendwo  etwas  Großes,  hörte  nur  immer  das 
Geschrei  der  betriebsamen  Durchschnittlichen.  Ärgerlich  schrieb  er 
seinem  Bruder:  „Das  liegt  darin,  daß  sich  die  Mittelmäßigkeit,  ja  noch 
schlimmer,  die  Oberflächlichkeit  in  Deutschland  so  unglaublich  rührt, 
so  breit  macht,  daß  ein  Jeder  lieber  unterducken  möchte". 

Natürlich  wuchs  auch  mit  der  Erdenmüdigkeit,  die  Devrient,  der 
ihn  damals  besuchte,  an  ihm  bemerkte,  auch  sein  Überdruß  an  den 
Direktionspflichten.  Wir  lesen  in  einem  seiner  Briefe:  „Endlich  klage 
ich  auch  mich  selbst  an,  weil  mir  das  Dirigieren,  und  gar  das  Spielen 
(eigentlich  alles  und  jedes  amtliche  öffentliche  Erscheinen)  geradezu 
zuwider  geworden  ist,  so  daß  ich  mich  jedesmal  nur  mit  Abneigung 


94  Am  Ziel 

und  Widerwillen  dazu  entschließen  kann.  Ich  glaube,  die  Zeit  näht 
heran,  oder  ist  vielleicht  schon  da,  wo  ich  diese  ganze  Art  öffent- 
lichen, regelmäßigen  Musikmachens  an  den  Nagel  hängen  werde, 
um  zu  Hause  Musik  zu  machen,  Noten  zu  schreiben,  und  das  Wesen 
draußen  gehen  zu  lassen,  wie  es  kann  und  mag.  Recht  viel  zu  lernen 
habe  ich  dabei  nicht,  und  was  das  Nützen  betrifft,  so  habe  ich  die 
Überzeugung  gewonnen,  daß  ein  Bogen  voll  Noten,  selbst  wenn  sie 
nichts  taugen,  mir  mehr  nützt  (wenigstens  mehr  Freude  macht)  als 
250  Proben  und  Aufführungen,  die  excellent  gehen." 

Die  Arbeit  mußte  über  die  trüben  Stunden  hinweghelfen  und  sie 
verklären.  Aus  Dresden  hatte  er  sich  die  Originalstimmen  der  h-moll- 
Messe  von  Bach  verschafft  und  korrigierte  danach  seine  Partitur- 
abschrift. Als  Hauptarbeit  für  den  Winter  hatte  er  sich  die  Ver- 
besserung und  Ausfeilung  des  „Elias"  vorgenommen.  Mendelssohn 
konnte  sich  darin  nicht  genug  tun,  und  die  ewige  Rastlosigkeit  seines 
Strebens  nach  Vollendung  ist  nicht  die  geringste  Eigenschaft,  die  an 
seiner  Persönlichkeit  so  bewundernswert  ist.  Im  Dezember  schrieb  er 
an  Klingemann:  „Die  Stücke,  die  ich  bis  jetzt  umgearbeitet  habe, 
zeigen  mir  doch  wieder,  daß  ich  recht  habe,  nicht  eher  zu  ruhen, 
bis  solch  ein  Werk  so  gut  ist,  wie  ich's  nur  irgend  machen  kann, 
wenn  auch  von  diesen  Sachen  die  wenigsten  Leute  etwas  hören  oder 
wissen  wollen,  und  wenn  auch  sehr,  sehr  viele  Zeit  damit  hingeht; 
aber  dafür  ist  es  dann  auch  ein  ganz  anderer  Eindruck,  den  solche 
Stellen,  wenn  sie  wirklich  besser  sind,  an  sich  und  auf  alle  übrigen 
Teile  machen." 

Die  Umarbeitung  des  Elias  war  beendet.  Das  Mechanische 
der  Arbeit  war  ihm  willkommen  gewesen,  um  seine  immer  wieder 
und  heftiger  auftauchenden  Erregungen  zu  dämpfen.  Die  Leipziger 
Verhältnisse  blieben  bei  dem  Kampf  der  Interessen  nicht  ungetrübt. 
Sein  gutes  Einvernehmen  mit  Schumann  erhielt  um  diese  Zeit  einen 
Riß.  Mendelssohn  schreibt  einmal  an  Klingemann,  Schumann  habe 
sich  sehr  zweideutig  gegen  ihn  benommen  und  ihm  eine  recht  häßliche 
Geschichte  eingerührt,  die  ihn  nun  in  seinem  Eintreten  für  Schumann 
sehr  abgekühlt  habe.  Weiter  wissen  wir  nichts.  Um  so  mehr  freute 
sich  Mendelssohn  auf  England.  Der  Theaterdirektor  Lumley  hatte 
ihm  den  Antrag  gemacht,  für  sein  Londoner  Unternehmen  eine  Oper 
nach  Shakespeares  „Sturm"  zu  schreiben.    Wieder  war  es  die  Text- 


Am  Ziel  95 

frage,  an  der  die  Angelegenheit  nach  vielem  Hin  und  Her  scheiterte. 
Die  Londoner  Frühjahrssaison  rief  Mendelssohn  trotzdem  über  den 
Kanal,  um  den  „Elias"  in  der  neuen  Fassung  aufzuführen.  Klinge- 
mann hatte  den  Text  übersetzt.  So  rauschend  der  Triumph  Mendels- 
sohns mit  seinem  Werk  in  drei  Aufführungen  war,  so  innig  gestalteten 
sich  auch  die  Freundschaftsstunden  mit  Klingemann.  Am  11.  Mai 
jubelten  die  Engländer  noch  einmal  seinem  Klavierspiel  zu;  Men- 
delssohn spielte  wieder  wie  so  oft  schon  Beethovens  Q-dur-Konzert. 
Dies  war  sein  letzter  Abschied  von  England,  das  ihn  wahrhaft  könig- 
lich geehrt  hatte. 

Nach  seiner  Rückreise  traf  ihn  in  Frankfurt  die  Nachricht,  daß 
seine  Schwester  Fanny  am  14.  Mai  plötzlich  gestorben  war.  Ein 
Gehirnschlag,  von  dem  so  mancher  aus  der  Familie  Mendelssohn 
dahingerafft  worden  war,  hatte  sie  mitten  in  einer  Sonntagsmusik, 
als  sie  am  Flügel  einen  Chor  aus  der  Walpurgisnacht  begleitete, 
jäh  aus  dem  Leben  gerissen.  Felix  Mendelssohn  war  wie  zerschmet- 
tert. Bei  der  heftigen  Erschütterung  platzte  ihm  ein  Blutgefäß  im 
Gehirn.  Seine  untergrabene  Gesundheit  konnte  diesen  Schlag  nicht 
mehr  überwinden.  Mit  Fanny,  der  engsten  Vertrauten  seiner  Sehn- 
süchte, hatten  ihn  besonders  innige  Beziehungen  verknüpft.  Sein 
Nervensystem  war  jetzt  so  zerrüttet,  daß  er  Musik  nicht  mehr  hören 
konnte  ohne  zu  weinen. 

In  Baden-Baden  suchte  er  mit  seiner  Familie  Ablenkung  von  den 
trüben  Ahnungen,  die  ihn  bedrängten.  Er  ging  „halb  wie  im  Traum" 
umher;  Ruhe  vermochte  er  noch  nicht  zu  finden,  und  so  fuhr  er  in 
die  Schweiz,  deren  gewaltige  Schönheiten  ihn  schon  einmal  getröstet 
hatten.  Der  Schaffensdrang  lebte  wieder  auf  in  ihm.  Er  arbeitete 
sich  frei.  Neben  einem  neuen  Oratorium  „Christus"  beschäftigte  ihn 
eine  Oper  „Loreley",  zu  der  Emanuel  Geibel  einen  recht  undrama- 
tischen Text  geschrieben  hatte.  Beide  Werke  blieben  Fragment. 
In  Interlaken  brachte  er  ein  Streichquartett  in  f-moll,  opus  80,  zu 
Papier  und  schrieb  zu  opus  81  noch  ein  Andante  und  Scherzo.  Da- 
neben entstanden  Lieder  und  Chöre.  Ferdinand  David  besuchte  ihn 
und  nahm  einen  beängstigenden  Eindruck  von  Mendelssohns  Zustand 
mit  sich.  Der  Meister  arbeitete,  nach  Davids  Schilderung,  „mit  bei- 
nahe krankhaftem  Eifer;  wenn  er  tagelang  komponiert  hatte,  lief  er 
wieder  mehrere  Tage  unausgesetzt  auf  den  Bergen  herum  und  kam 


96  Am  Ziel 

ganz  sonnverbrannt  und  erschöpft  nach  Hause,  fing  gleich  wieder  an 
zu  komponieren,  kurz,  er  war  im  höchsten  Grade  aufgeregt." 

Mit  dem  Musikgetriebe  wollte  Mendelssohn  nichts  mehr  zu  tun 
haben.  Die  Direktion  der  Gewandhauskonzerte  hatte  er  endgültig 
aufgegeben  und  sich  nur  einige  Unterrichtsstunden  am  Konservatorium 
vorbehalten.  Trotzdem  hatte  er  sich  doch  noch  für  die  Leitung 
des  Elias  in  Berlin  und  Wien  gewinnen  lassen.  Ep  wollte  nach  Berlin 
übersiedeln,  zog  aber  doch  wieder  nach  Leipzig  und  kam  erst  im 
September  auf  kurze  Zeit  nach  Preußens  Hauptstadt.  Hier  lebte 
der  Schmerz  um  das  Verlorene  mit  neuer  Heftigkeit  auf.  Tiefbewegt 
kehrte  er  nach  Leipzig  zurück.  Trostlose  Schwermutszustände  wech- 
selten mit  dem  Aufflackern  eines  Arbeitsfiebers,  das  wie  von  Todes- 
ahnungen gepeitscht  war.  Die  Musik,  die  Quelle  seines  grenzenlosen 
Glücks  als  Schaffender,  zehrte  nun  seine  letzten  Kräfte  auf.  Hören  wir 
den  zuverlässigsten  Augenzeugen,  Ferdinand  David:  „Nach  seiner 
Rückkehr  nach  Leipzig  war  er  noch  sehr  ernst  gestimmt,  jedoch  gab 
es  auch  Tage,  wo  er  sehr  heiter  war,  bis  ihn  dann  bei  Frau  Dr.  Frege, 
nachdem  sie  ihm  seine  neuesten  Lieder,  die  alle  melancholischen  In- 
halts sind,  vorgesungen  hatte,  das  erste  Unwohlsein  befiel.  Man 
machte  anfänglich  nicht  viel  daraus,  obgleich  die  Symptome  (eis- 
kalte Hände  und  Füße,  ausbleibender  Puls,  mehrstündiges  Delirieren) 
allerdings  bedenklich  waren.  Aber  da  er  vor  sieben  Jahren  hier 
schon  einmal  einen  ähnlichen  Anfall  gehabt  hatte,  so  befürchteten 
wir  alle  nichts  Schlimmes;  nach  einigen  Tagen  sah  ich  ihn,  fand  ihn 
wieder  munter,  jedoch  sagte  er  mir:  Es  ist  mir  so,  als  ob  mir  jemand 
auflauerte,  der  sagte:  Halt!  nicht  weiter!  — " 

Zwölf  Tage  nach  dem  ersten  folgte  der  zweite  Anfall,  von  dem 
sich  Mendelssohn  aber  ziemlich  schnell  erholte.  Am  25.  Oktober 
1847  schrieb  er  seinem  Bruder,  daß  es  ihm  besser  gehe.  Nur  fürchtete 
er  sich  vor  der  Reise  nach  Wien,  wo  er  den  Elias  dirigieren  sollte. 
Die  Freunde  schöpften  schon  wieder  Hoffnung,  bis  ihn  sieben  Tage 
nach  dem  zweiten  der  dritte  Anfall  auf  das  Totenbett  warf.  Lassen 
wir  noch  einmal  Ferdinand  David  das  Wort:  „Ich  werde  es  nie  ver- 
gessen, wie  Gade  zu  mir  ins  Konservatorium  kam  und  mir  sagte, 
daß  Mendelssohn  von  Neuem  befallen  sei  und  daß  es  sich  um  Leben 
und  Sterben  handle.  Ich  rannte  gleich  hinaus  und  wurde  mit  der 
Nachricht  empfangen,  daß  keine  Hoffnung  sei.  Da  habe  ich  wohl  eine 


Am  Ziel  97 

Viertelstunde  gebraucht,  bis  ich  gefaßt  genug  war,  hinaufzugehen. 
Er  war  ohne  Bewußtsein  (dies  war  am  Mittwoch  abend),  schrie  ent- 
setzlich bis  gegen  10  Uhr;  dann  fing  er  an,  mit  dem  Munde  zu 
brausen  und  zu  trommeln,  als  ob  ihm  Musik  durch  den  Kopf  gehe; 
wenn  er  davon  erschöpft  war,  gab  er  wieder  ein  angstvolles  Ge- 
schrei von  sich  und  blieb  so  die  ganze  Nacht  hindurch.  Im  Lauf  des 
folgenden  Tages  scheinen  die  Schmerzen  nachgelassen  zu  haben,  aber 
sein  Gesicht  war  schon  das  eines  Sterbenden ;  um  974  Uhr  abends 
starb  er.  Das  sanfteste,  freundlichste  Lächeln  war  auf  seinem  Ge- 
sichte verbreitet." 

Das  war  am  4.  November  1847.  Wie  den  Großvater,  den  Vater 
und  Fanny,  so  hatte  auch  Felix  Mendelssohn  der  Gehirnschlag  dahin- 
gerafft. Sein  Lebensfreund  Moscheies  hat  uns  eine  ergreifende  Schilde- 
rung der  letzten  Stunden  des  Meisters  gegeben:  „Die  Ärzte  Dr.  Ham- 
mer, Hofrat  Clarus  und  der  Chirurg  Walter  waren  abwechselnd  um 
den  Kranken.  Der  Zudrang  der  Nachfragenden  aller  Klassen  war 
außerordentlich.  Das  von  Schleinitz  geschriebene  Bulletin  erklärte 
seinen  hoffnungslosen  Zustand.  Meine  Frau  und  ich,  die  Doktorin 
Frege  und  ihr  Mann,  David,  Rietz  und  vor  allen  Schleinitz  blieben 
angstvoll  in  seiner  Nähe.  Die  einzigen  muteinflößenden  Worte  der 
Ärzte  lauteten:  Wenn  er  nicht  noch  einen  neuen  Anfall  von  Nerven- 
oder Lungenschlag  bekommt,  könnte  die  scheinbare  Ruhe  zu  einer 
glücklichen  Wendung,  zu  seiner  Rettung  führen.  —  Aber  diese  Ruhe 
war  das  Abnehmen  seiner  physischen  Kräfte.  Von  zwei  Uhr  nach- 
mittags an,  wo  eine  Wiederholung  des  Schlaganfalls  von  gestern  um 
dieselbe  Stunde  zu  befürchten  war,  fing  seine  Bewußtlosigkeit  an. 
Alle  feineren  Organe  und  geistigen  Kräfte  waren  erschöpft!  —  er 
lag  ruhig,  laut  und  schwer  atmend.  Abends  waren  wir  schon  laut- 
los um  sein  Bett  versammelt.  Sein  engelhaft  ruhiges  Antlitz  trug  den 
Stempel  seiner  unsterblichen  Seele.  Seine  Cecilie  trug  das  zentner- 
schwere Gewicht  ihres  Schmerzes  heldenmütig  —  sie  unterlag  keiner 
Hinfälligkeit.  Kein  Wort  verriet  ihren  inneren  Kampf.  Ebenso  sein 
Bruder  Paul,  der  wie  eine  bewegliche  Marmorstatue  ab  und  zu  an 
sein  Bett  trat.  Das  Trauerbild  zu  komplettieren,  wurden  noch  er- 
wartet seine  Schwester,  Madame  Dirichlet,  seine  Schwägerin,  Ma- 
dame Schunck  und  ihr  Mann,  und  der  Arzt,  Dr.  Schönlein,  den 
Dr.  Härtel  aus  Berlin  zu  holen  im  Begriff  war  —  aber  sie  kamen  nicht. 

D  n  li  m  s  ,  Mendelssohn  7 


98  Am  Ziel 

Um  neun  Uhr  abends  rückte  die  verhängnisvolle  Auflösung  heran. 
Seine  Züge  wurden  verklärter.  Seine  Atemzüge  nahmen  ein  lang- 
sameres Tempo  an.  Die  Ärzte  zählten  sie,  als  wollten  sie  die  Wissen- 
schaft noch  mit  neuen  Entdeckungen  bereichern.  Paul  Mendelssohn, 
Schleinitz,  David  und  ich  umringten  sein  Bett,  in  totenstilles  Gebet 
versunken.  Mir  war  jeder  Atemzug,  der  sich  ihm  entwand,  wie  der 
Kampf  eines  großen  Geistes,  der  sich  von  der  irdischen  Hülle,  von 
einem  vergänglichen  Käfig  befreien  will.  Ich  habe  ihn  oft  neben  mir 
in  Kunstbegeisterung  atmen  und,  wie  auf  Pegasus  himmelwärts  stür- 
mend, schnauben  gehört.  Nun  mußte  ich  diese  unvergeßlichen  Rhyth- 
men so  auflösend  verklingen  hören!  Beethovens  Schauerlaute  aus 
dem  Totenmarsch  der  „Eroica"  zogen  mich  mit  hinüber  in  andere 
Sphären,  nur  das  Schluchzen  der  Anwesenden  und  meine  eigenen 
heißen  Tränen  knüpften  mich  an  die  Gegenwart.  —  Um  9  Uhr 
24  Minuten  hauchte  die  große  Seele  mit  einem  tiefgeholten  Seufzer 
aus." 

„Durch  Fannys  Tod  wurde  unsere  Familie  zerstört,  —  durch 
Felixens  ist  sie  vernichtet",  schrieb  Paul  Mendelssohn  an  Klingemann. 
Die  Totenmaske  wurde  abgenommen.  Bendemann,  Hübner,  Riet- 
schel  und  Hensel  zeichneten  ihn  auf  dem  Sterbebett.  Der  Bildhauer 
Knaur  fertigte  ein  Modell  zur  Büste  an. 

War  schon  der  Lebende  gefeiert  worden  wie  selten  einer  im 
Reiche  der  Genies,  so  war  der  Tote  fast  noch  mehr  Gegenstand  der 
Liebe  in  allen  Gauen  Deutschlands  und  im  Ausland.  Besonders 
groß  war  die  Teilnahme  natürlich  in  Leipzig.  Am  7.  November  nach- 
mittags vier  Uhr  fand  die  Totenfeier  in  der  Paulinerkirche  unter 
ungeheurer  Beteiligung  aus  allen  preisen  der  Bevölkerung  statt.  Vom 
Trauerhaus  ging  der  Kondukt  mit  Mendelssohns  Trauermarsch,  den 
Moscheies  instrumentiert  hatte,  nach  der  Paulinerkirche.  Hauptmann, 
Schumann,  Moscheies,  Gade,  Rietz  und  David  trugen  das  Bahrtuch. 
Die  Familie  Mendelssohns,  Geistliche,  Regierungsvertreter,  Abord- 
nungen wissenschaftlicher  und  künstlerischer  Institute,  das  Konser- 
vatorium in  corpore  und  eine  große  Zahl  von  Verehrern  gaben  das 
Geleit.  Als  der  Sarg  in  der  Kirche  auf  den  Katafalk  niedergesetzt 
wurde,  erklang  die  Einleitungsmusik  aus  „Antigone".  Prediger  Ho- 
ward hielt  die  Gedächtnisrede,  Bachsche  und  Mendelssohnsche  Chöre 
gaben  der  Feier  die  große  Weihe. 


Am   Ziel  99 

In  der  Nacht  wurde  die  Leiche  mit  einem  Extrazug  nach  Berlin 
gefahren,  um  dort  in  der  Familiengruft  beigesetzt  zu  werden.  Unter- 
wegs wurden  Mendelssohns  sterbliche  Überreste  mehrfach  feierlich 
begrüßt,  so  in  Köthen  durch  einen  Choral  des  Sängervereins,  und 
in  Dessau,  wo  der  alte  Friedrich  Schneider  mit  einem  Chor  erschienen 
war.  In  Berlin  war  die  Nachricht  so  spät  eingetroffen,  daß  keine  allge- 
meine Trauerfeier  mehr  vorbereitet  werden  konnte.  Ein  schnell  ge- 
bildetes Komitee,  dem  Kapellmeister  Taubert,  Konzertmeister  Ries 
und  Musikalienhändler  Bock  angehörten,  hatte  aber  doch  noch  für 
einen  würdigen  Empfang  der  Leiche  Mendelssohns  sorgen  können. 
Unter  Vorantritt  mehrerer  Musikkapellen  bewegte  sich  der  Trauerzug 
vom  Anhalter  Bahnhof  über  das  Hallesche  Tor  zum  Friedhof  der 
Jerusalemerkirche.  Am  Grabe  hatten  der  Domchor  unter  Neithardt 
und  die  Singakademie  unter  Rungenhagen  Aufstellung  genommen. 
Chorgesänge  umrahmten  die  kurze  Ansprache  des  Predigers  Berdu- 
schek.  Dann  schloß  sich  das  Grab  über  der  sterblichen  Hülle  des 
großen  Meisters. 

Die  Musikwelt  bemühte  sich,  den  Toten  zu  ehren.  Gedächtnis- 
konzerte verherrlichten  seinen  Namen  in  Berlin  im  ersten  Symphonie- 
abend der  Königlichen  Kapelle  und  in  der  Singakademie.  In  Wien 
führte  man  den  Elias  nun  ohne  den  Meister  auf.  Das  erste  Gewand- 
hauskonzert in  Leipzig  war  ebenfalls  Mendelssohn  gewidmet.  Frau 
Livia  Frege  und  Conrad  Schleinitz,  die  ihm  im  Leben  nahegestanden 
hatten,  betraten  hier  noch  einmal  das  Konzertpodium.  Breslau,  Ham- 
burg, Frankfurt,  Königsberg,  Köln,  Düsseldorf,  Bremen,  Mainz  und 
viele  andere  Städte  folgten.  In  Exeterhall  in  London  wurde  der 
Elias  aufgeführt,  und  stehend  hörten  die  englischen  Freunde  und  Ver- 
ehrer Mendelssohns  den  Trauermarsch  von  Händel  an.  Auch  die 
Könige  blieben  nicht  zurück.  Die  Königin  von  England  und  die 
Herrscher  von  Preußen  und  Sachsen  sandten  Beileidstelegramme  an 
die  Witwe.  Cecilie  Mendelssohn  zog  sich  nach  Frankfurt  zurück 
und  widmete  sich  der  Erziehung  ihrer  Kinder. 

In  einem  einzigartigen  Glückslauf  hatte  Felix  Mendelssohn  den 
Gipfel  seiner  Meisterschaft  und  seines  Lebens  erreicht.  Diesem  Genie 
warf  das  Schicksal  keine  Steine  auf  den  Weg.  Hemmungslos  nach 
außen  vollzog  sich  sein  Aufstieg,  der  die  Zeitgenossen  zur  Bewunde- 
rung und  Liebe  zwang.    Und  die  edle  Reinheit,  der  vornehme  Adel 

7* 


100  Am  Ziel 

einer  Persönlichkeit,  die  niemals  Schleichwege  zu  gehen  brauchte 
und  die  keine  gemeine  Not,  keinen  Kampf  ums  Dasein  kannte,  strahlte 
sich  in  der  Kunst  in  derselben  Größe  und  Klarheit  aus,  nur  dem 
Göttlich-Schönen  nachstrebend,  in  Harmonie  mit  dem  Unendlichen. 
Die  Nachwelt  hatte  ein  Erbe  zu  verwalten,  das  Pietät  und  Ehrfurcht 
verlangte.  Nicht  immer  blieb  Mendelssohns  Werk  unangetastet;  aber 
stets  noch  ist  er  der  Sieger  geblieben,  wo  es  galt,  nicht  in  Worten, 
sondern  in  Tönen  zu  fechten.  Nachrufe,  Denksteine  und  Biographien 
ehrten  ihn  und  verkündeten  seinen  Namen  und  seine  Bedeutung  späte- 
ren Generationen,  die  mit  den  Idealen  der  vormärzlichen  Zeit  keinen 
Zusammenhang  mehr  hatten.  Was  Schlacke  war,  ist  im  Lauf  der 
Jahre  abgefallen.  Aber  was  ein  Meister  schuf,  steht  heute  noch  in 
vollem  Glanz  und  wird  neben  dem  anderen  Großen,  das  Menschengeist 
ersann,  in  ferne  Zeiten  leuchten,  solange  man  noch  nicht  den  Glau- 
ben an  die  Ewigkeit  des  Geistigen  in  der  Kunst  verloren  hat. 


DAS   SCHAFFEN 


GENIE  ODER  EPIGONE? 

Nietzsche  nennt  Felix  Mendelssohn  „jenen  halkyonischen  Meister, 
der  um  seiner  leichteren,  reineren,  beglückteren  Seele  willen  schnell 
vergessen  wurde:  als  der  schöne  Zwischenfall  der  deutschen  Musik". 
Welch  tiefe  Resignation  in  bezug  auf  die  Menschheit  und  ihre  Ideale! 
Und  wiederum,  wie  unendlich  reich  muß  die  deutsche  Musik  sein, 
wenn  man  Mendelssohn  einen  Zwischenfall  in  ihr  nennen  kann. 

Die  Frage:  Genie  oder  Epigone?  könnte  hiermit  schon  ent- 
schieden sein.  Doch  sie  ist  es  nicht.  Der  Aphorismus,  geboren 
aus  dem  untrüglichen  Instinkt  eines  Denkers,  der  auf  die  feinsten 
Differenzierungen  der  Musik  reagierte,  darf  uns  nicht  blenden. 

Genie  ist  Wille  und  Kraft  zur  Synthese.  Die  Entwicklung  der 
Musik  ist  ein  unablässiger  Kampf  um  die  Synthese  des  Kunstwerks. 
Palestrina  ahnte  ihre  Anfänge.  Mit  Beethoven  war  der  Gipfel  bereits 
überschritten,  der  Inhalt  der  Musik  erschöpft.  Zweihundert  Jahre 
hatten  genügt,  um  das  Schicksal  der  Musik  zu  erfüllen.  Es  ist  eine 
der  wunderbarsten  Eigenschaften  der  Musik,  daß  in  ihr  letzten  Endes 
einzig  und  allein  das  Genie  entscheidend  ist  im  Gegensatz  zu  den 
anderen  Künsten,  wo  auch  das  Genre  noch  Ausdruckseigenart  eines 
wirklichen  Genies  sein  kann.  In  der  Musik  müssen  die  Talente  bei 
mangelnder  Synthese  Zuflucht  zu  den  Surrogaten  des  Poetischen 
und  der  Stimmung  nehmen.  Der  Instinkt  allein  kann  das  Große 
nicht  vollbringen.  Er  muß  durch  die  Synthese  gebändigt  und  im  emi- 
nentesten Sinne  vergeistigt  sein. 

Solche  Höhe  ist  nur  den  wenigen  Auserwählten  beschert.  Ge- 
hörte Mendelssohn  zu  ihnen?  Eine  vorurteilsfreie  Betrachtung  seines 
Schaffens  muß  die  Frage  bejahen.  In  ihm  lebte  stark  und  nie  ruhend 
der  Wille  zur  Synthese.  Zwar  reichte  seine  Kraft  nur  hin,  das  Große 
in  den  kleineren  Formen  zu  manifestieren.  Aber  hier  brachte  er  wirk- 
lich das  Vollendete  zustande  und  triumphierte  dank  seiner  ordnenden 
Schöpferkraft  über  das  Naturgegebene. 

Wir  sahen  sein  Leben  vorüberziehen,  das  in  seiner  grandiosen 
Rastlosigkeit  nur  mit  wenigen  zu  vergleichen  ist.  Wir  denken  an 
Mozart.  Die  Beziehungen  sind  frappant.  Bei  beiden  die  seltene 
Frühreife,  bei  beiden  ein  hastiges  Abrollen  der  Lebenskurven.  Beiden 
hatte  die  Natur  einen  unerschöpflichen  Fond  gegeben.  Künstler  und 
Mensch  berühren  sich  bei  ihnen  in  vielen  Punkten.   Und  doch  wollen 


104  Qenie   oder  Epigone? 

wir  nicht  gleichstellen,  was  an  so  verschiedenen  Zielen  landete.  Vor 
der  Größe  Mozarts  tritt  Mendelssohn  ehrerbietig  in  den  Schatten. 
Ihm  fehlte  das  Dramatische,  die  Wucht  titanischer  Gestaltung,  die 
das  Werk  des  Don  Juan-Komponisten  ins  Zeitlose  erhob.  Die  Emp- 
findsamkeit, die  starke  Erregbarkeit  des  Gefühls  mußte  ersetzen, 
was  auch  der  kühnste  Wille  allein  nicht  erzwingen  konnte.  Es  ist 
schon  einmal  gesagt  worden:  in  beiden  Meistern  lebt  der  Geist  des 
Südens;  beider  Meister  Kunst  geht  über  das  Nationale  hinaus  und 
mündet  ins  Europäische. 

Nun,  da  wir  Mendelssohn  gegen  sein  größtes  Vorbild  abgegrenzt 
haben,  stellen  wir  ihn  seinen  Zeitgenossen  gegenüber.  Zwei  Namen 
drängen  sich  auf:  Chopin  und  Schumann.  Chopin,  der  stärkste  In- 
dividualist in  der  modernen  Musik,  eilte  ihm  weit  voraus  ins  Neuland 
der  Harmonik.  Aber  in  der  Form  treffen  sie  sich;  beide  sind  Mei- 
ster der  Miniatur,  der  Lieder  ohne  Worte.  Das  Unliterarische  ihres 
Wollens  eint  sie.  Schumann  hingegen  ersetzte,  was  ihm  an  Syn- 
these fehlte,  durch  das  Poetische  —  der  schroffste  Trennungsstrich 
zwischen  ihm  und  Mendelssohn.  Doch  wo  gleiche  Werte  sich  die 
Wage  halten,  kann  keine  Rede  von  Abschätzung  gegeneinander  sein. 
Ein  starkes  Band  verknüpft  die  drei:  die  Romantik.  Sie  ist  der  ge- 
meinsame Grundton  ihres  Schaffens.  Aber  welche  Differenzierungen 
im  einzelnen!  Wie  verschiedenartig  und  vielfarbig  wird  das  roman- 
tische Ideal  verwirklicht.  Mendelssohn  hält  den  goldenen  Mittel- 
weg. Er  vermeidet  die  selige  Gefühlsschwelgerei  Schumanns  ebenso 
wie  Chopins  prägnante,  komprimierte,  bis  in  die  letzte  Faser  mit  er- 
schütterndem Inhalt  angefüllte  Ausdrucksvehemenz.  Er  bleibt  auch 
als  Romantiker  Klassizist  —  jedoch  meist  ein  eigener.  Nur  selten 
zeigt  er  sich  als  Epigone  und  verfällt  in  eine  leichte  Geschwätzigkeit. 
Er  hat  die  Aufrichtigkeit  in  der  Kunst,  wie  sie  alle  Großen  hatten, 
und  durfte  bekennen:  „Ich  nehme  es  mit  der  Musik  gern  sehr  ernst- 
haft und  halte  es  für  unerlaubt,  etwas  zu  komponieren,  was  ich  eben 
nicht  ganz  durch  und  durch  fühle.  Es  ist,  als  sollte  ich  eine  Lüge 
sagen;  denn  die  Noten  haben  doch  einen  ebenso  bestimmten  Sinn, 
wie  die  Worte,  —  vielleicht  einen  noch  bestimmteren." 

Doch  wir  wollen  sehen,  wie  sich  der  Mensch  und  der  Künstler  in 
Mendelssohn  einen.  Dürfen  wir  auch  bei  ihm  dem  alten  Glauben 
trauen,  daß  Mensch  und  Künstler  verschiedene  Wesen  sind? 


Oenie   oder  Epigone?  105 

Auf  den  ersten  Blick  erscheint  die  Psychologie  Mendelssohns 
merkwürdig  unkompliziert.  Probleme  treten  nicht  in  den  Vordergrund. 
Wir  durchschauen  die  einzelnen  Faktoren  seines  Lebens  mit  Bezug  auf 
das  Schaffen  klar  und  eindeutig.  Ein  Wunderknabe  wächst  auf, 
außerordentlich  talentiert,  von  sorgsamen  Händen  geleitet,  ohne  den 
Fluch  und  Zwang  seiner  jungen  Talentgenossen  teilen  und  allzu  früh 
im  Podiumslicht  die  Seele  verlieren  und  entarten  zu  müssen.  Der 
Mensch  wächst  in  Reichtum  und  Unabhängigkeit  auf,  und  der  Künstler 
profitiert  davon.  Den  Jüngling  und  Mann  stören  keine  Hemmungen 
in  seinem  Lauf  zur  Höhe.  Konnte  das  ohne  Einfluß  auf  seine  Kunst 
sein?  Auch  in  ihr  finden  wir  nicht  Sturm  und  Drang,  nicht  revo- 
lutionäres Aufbäumen  gegen  Überliefertes,  sondern  die  Abgeklärtheit 
eines  Geistes,  für  den  es  nur  ein  Ziel  gibt:  das  der  ungetrübten  Schön- 
heit und  Klarheit.  Aber  nun  gerade  bewundern  wir  einen  Charakter, 
der  unter  solchen  Verhältnissen  nicht  vom  Wege  abirrte  und  der  so 
innerlich  wurde,  wo  alles  Äußerliche  ihn  mit  tausend  üppigen  Reizen 
lockte.  Die  Kultur  seiner  Familie  hatte  hieran  nicht  geringen  Anteil. 
Aber  die  vollkommene  Kongruenz  zwischen  dem  Menschen  und  Künst- 
ler ist  nur  eine  scheinbare.  Wir  hören  von  seiner  außerordentlichen 
Reizbarkeit  und  Empfindsamkeit,  fühlen  die  nicht  nur  physische  De- 
kadenz, die  sich  durch  Nervenkrankheiten  in  die  Familie  einge- 
schlichen hatte,  und  suchen  vergeblich  nach  einer  Spur  von  Nieder- 
gang in  seinen  Werken.  Da  finden  wir  nur  Gesundes,  nichts  Versteck- 
tes, keine  Andeutung  von  Verfall  und  Entnervung.  Und  wir  ahnen  in 
seiner  Seele  Geheimfächer,  die  für  uns  unergründlich  sind,  die  aller 
Übertragungs-  und  Deutungsversuche  vom  Menschen  auf  den  Künst- 
ler spotten.  Das  sind  die  Felder,  auf  denen  er  seine  Schlachten  mit 
der  Materie  der  Kunst  schlug;  hier  spielten  sich  die  Kämpfe  ab,  die 
das  Schaffen  präludierten,  in  denen  langsam  Gestalt  gewann,  was 
wir  als  Werk  bewundern.  Auch  Mendelssohn  stand  also  unter  dem 
Bann  dieses  Doppellebens,  das  alle  großen  Ereignisse  im  Geistigen 
begleitet.  Die  Kluft  ist  auch  bei  ihm  vorhanden,  und  ein  Geheimnis 
bedeckt  sie. 

Doch  wir  sahen,  daß  dem  Menschen  Mendelssohn  eine  außer- 
ordentliche Bewußtheit  und  Klarheit  eigen  war.  Der  Enkel  Moses 
Mendelssohns  hatte  das  Denken  gelernt.  Schon  im  Kind  triumphierte 
der  Intellekt  über  einen  von  Natur  reich  gesegneten  Instinkt.   Krank- 


106  Genie  oder  Epigone? 

haftes  findet  in  seiner  Seele  keinen  Platz.  Dafür  sorgte  schon  Zelters 
handwerklich  grobe  Biederkeit.  Keine  Not  drückt  mit  Bleigewichten. 
Alles  drängt  ans  Licht.  Da  konnte  sich  nur  ein  glücklicher  Mensch 
entfalten,  und  die  Kunst  mußte  auf  solchem  Boden  halkyonisch  ge- 
deihen. Zwar  macht  das  Schaffen  auch  Mendelssohn  einsam.  Aber 
hier  finden  wir  weder  Dämonisches  noch  Pathologisches.  Oft  scheint 
es,  als  verleugne  der  Weltmann  den  Künstler.  Kalt  und  nonchalant 
stellt  er  sich  vor  sein  Werk.  Man  beschuldigte  ihn  der  Qlätte.  Mit 
Unrecht;  denn  er  besaß  nur  die  Zurückhaltung  der  vornehmen  Seele, 
die  das  Entblößende  der  Szene  nicht  liebt.  Aber  heiß  wogte  es  in 
seinem  Innern,  wenn  das  Schaffen  ihn  in  die  hohen  Sphären  erhob. 

Die  Menschheit  hört  es  immer  gern,  daß  der  große  Mann  ein 
„Kind"  gewesen  sei.  Das  mildert  die  Kluft,  die  zwischen  dem  Gei- 
stigen und  der  Masse  gähnt.  Das  Genie  kommt  damit  in  die  Nach- 
barschaft der  Vielen,  die  eben  niemals  etwas  anderes  als  „Kinder" 
sind.  Felix  Mendelssohn  hält  der  Neugier  wissensdurstiger  Späher 
stand.  Seine  Rastlosigkeit  gestattete  es  ihm  nicht,  als  Mann  noch 
„Kind"  zu  sein.  Er  beherrschte  zu  sehr  die  Praxis  des  Lebens  und 
mußte  allzu  wachsam  auf  dem  Posten  des  Führers  stehen.  Vielleicht 
könnte  ihn  seine  Zärtlichkeit  als  Gatte  und  Familienvater,  seine 
Freude  am  Herdglück  zwischen  den  vier  Pfählen  dem  Philister  ver- 
dächtig machen.  Aber  da  zeigten  sich  nur  männliche  Tugenden. 
Der  Feind  jeglichen  Bohemienwesens  durfte  sich  den  Luxus  einer 
festen  Lebensordnung,  eines  planmäßigen  Vorwärtsschreitens  in  der 
Kunst  sowohl  als  auch  im  Leben  erlauben. 

Wer  so  über  dem  Leben  stand,  durchschaute  auch  die  Dinge 
und  erkannte  die  Nichtigkeit  alles  dessen,  was  dem  Tage  diente  und 
ihn  von  seinem  Werk  abhielt.  Mendelssohn  war  im  eminentesten 
Sinne  ein  antiliterarischer  Musiker.  Er  verschmähte  es,  zur  Welt 
anders  als  in  Tönen  zu  sprechen,  ganz  wie  Chopin  und  im  schroffen 
Gegensatz  zu  Schumann.  Als  ihn  der  Berliner  Professor  Dehn  auf- 
forderte, in  seiner  Musikzeitung  etwas  über  die  Musik  zu  Antigone 
zu  schreiben,  lehnte  er  bestimmt  ab:  „Ich  habe  es  mir  nämlich  zum 
unverbrüchlichen  Gesetz  gemacht,  niemals  etwas  Musik  betreffendes 
selbst  in  öffentliche  Blätter  zu  schreiben,  noch  auch  direkt  oder  indirekt 
einen  Artikel  über  meine  eigenen  Leistungen  zu  veranlassen;  und 
wenn  ich  auch  einsehe,  wie  oft  mir  dies  zum  augenblicklichen  und 


Genie  oder  Epigone?  107 

empfindlichen  Nachteil  gereichen  muß,  so  kann  ich  doch,  von  einem 
Vorsatz  nicht  abweichen,  den  ich  unter  allen  Umständen  aufs  strengste 
befolgt  habe."  Er  suchte  starke  Worte,  um  sein  Antiliteratentum 
auszusprechen:  „Wenn  ich  da  einen  Gesellen  mit  allen  guten  Fähig- 
keiten vom  lieben  Gott  ausgerüstet  Jahre  lang  herumspazieren  und 
seine  wirklich  schönen  Fähigkeiten  dazu  brauchen  sehe,  in  Zeitungen 
zu  schreiben  und  außerdem  nichts  in  der  Welt  weiter  bringen,  nichts 
befördern,  nichts  hinstellen,  da  meine  ich  zuweilen,  das  sei  die  einzige 
Gotteslästerung,  die  es  auf  der  Welt  gäbe."  Sein  Schaffen  war 
seine  ästhetische  Rechtfertigung.  Das  Reden  darüber  schien  ihm 
unwesentlich:  „Es  wird  so  viel  über  Musik  gesprochen,  und  so 
wenig  gesagt.  Ich  glaube  überhaupt,  die  Worte  reichen  nicht  hin 
dazu,  und  fände  ich,  daß  sie  hinreichten,  so  würde  ich  am  Ende  gar 
keine  Musik  mehr  machen."  Er  glaubte  nicht  an  die  Vieldeutigkeit 
der  Musik.  „Das,  was  mir  eine  Musik  ausspricht,  die  ich  liebe,  sind 
mir  nicht  zu  unbestimmte  Gedanken,  um  sie  in  Worte  zu  fassen,  son- 
dern zu  bestimmte.  So  finde  ich  in  allen  Versuchen,  diese  Ge- 
danken auszusprechen,  etwas  Richtiges,  aber  auch  in  allen  etwas  Un- 
genügendes." Dieses  Bekenntnis  gegen  die  Musikschriftstellerei  ist 
so  antiromantisch  wie  nur  möglich.  Mendelssohn  durfte  es  wagen. 
Aber  selbstverständlich  verlangte  sein  lebhafter,  reicher  Geist 
nach  Gedankenaustausch  und  Aussprache.  Was  ihm  da  Gespräche 
nicht  bieten  konnten,  vertraute  er  seinen  Briefen  an.  Mendelssohn 
ist  der  glänzendste,  geistvollste  Briefschreiber  unter  den  Musikern. 
Das  dozierende  Pathos  Wagners,  der  sonst  auf  diesem  Gebiet  mit 
ihm  wetteifern  kann,  ist  ihm  fremd.  Nahe  kommt  ihm  einzig  der 
junge  Schumann,  dessen  Briefüberschwang  ebenfalls  zu  den  erlese- 
nen Köstlichkeiten  seiner  Zeit  gehört.  Unter  der  feinen,  zierlichen 
Handschrift  Mendelssohns  erblüht  eine  Fülle  von  Gefühlswärme, 
tiefem  Ernst,  Witz,  Beobachtung  und  Lebensweisheit,  die  den  ganzen 
Menschen  in  leuchtenden  Farben  zeigt.  Da  begegnen  wir  auch  dem 
Enthusiasten,  der  romantisch  zu  schwärmen  versteht:  „Es  gibt  kein 
Zuviel  des  Empfindens,  und  was  man  so  nennt,  ist  immer  eher  ein 
Zuwenig.  All  das  Schweben  und  Schaukeln  der  Empfindung,  was 
die  Leute  so  gern  bei  Musik  haben,  ist  kein  Zuviel,  denn  wer  emp- 
findet, der  soll  soviel  empfinden,  als  er  nur  immer  kann,  und  dann 
womöglich  noch  mehr.     Wenn  er  dran  stirbt,  so  ist's  nicht  in  Sün- 


108  Genie    oder   Epigone? 

den,  denn  es  gibt  eben  nichts  Gewisses,  als  Empfundenes  oder 
Geglaubtes."  Und  bekennt  ein  andermal:  „Wo  die  Wärme  fehlt, 
da  fehlt  auch  das  rechte  Urteil."  Die  Leidenschaft  überwältigt  ihn, 
wenn  er  an  Musik  denkt;  da  kennt  er  keine  Kälte  und  Zurückhaltung: 
„Mir  ist  in  der  Musik  nichts  so  unangenehm,  als  jene  gewisse  kalte, 
seelenlose  Koketterie,  die  an  sich  selbst  so  unmusikalisch  ist,  und 
die  doch  so  oft  als  Grundlage  vom  Singen  und  Spielen  und  Musik- 
machen angetroffen  wird." 

Die  Briefe  sind  das  beste  Zeugnis  für  den  Menschen  und  Künst- 
ler Mendelssohn.  Überzeugend  spricht  zu  allen  Generationen,  was  er 
über  den  Ernst  seiner  Kunstauffassung,  über  den  Wert  der  Arbeit, 
die  Notwendigkeit  des  Nierastens  zu  sagen  weiß.  Die  Differen- 
zierung ist  ihm  der  Punkt,  „der  jedem  Menschen  selbst  überlassen 
ist,  über  den  ihn  weder  Natur,  noch  Talent,  auch  das  größte  nicht, 
wegbringen  kann,  das  halte  ich  für  das  Einzige  und  Beste".  Talent- 
proben allein  machen  es  nicht.  Zwar  „ohne  Talent  geht's  nicht; 
aber  ohne  Charakter  auch  eben  nicht;  das  sieht  man  ja  Tag  für 
Tag  an  den  schönsten  Talenten,  die  alle  Erwartungen  erregten  und 
doch  nichts  zustande  bringen".  Manch  einer  hat  eine  achtung- 
gebietende Meisterschaft  erreicht;  „aber  gerade  da  geht  nach  meiner 
Meinung  erst  die  wahre  Arbeitszeit  an,  da  handelt's  sich  nur  davon, 
was  aus  eigener  Brust,  aus  tiefstem  Herzen  erlebt  und  ausgesprochen 
wird,  ernst  oder  heiter,  bitter  oder  süß ;  da  tritt  der  Charakter  und 
das  Leben  ein,  und  damit  das  Leben  nicht  zerstreuend  und  vereitelnd 
wirke,  wenn  es  glänzend  und  glücklich,  oder  entmutigend  und  ver- 
nichtend, wenn  es  das  Gegenteil  ist,  gibt  es  nur  das  eine  Mittel: 
Arbeiten  und  Fortarbeiten".  Wir  lesen  hier  ein  aufrichtiges  Bekennt- 
nis Mendelssohns,  dem  das  äußere  Glück  nicht  zum  Verhängnis 
wurde  und  dem  sein  Besitz  nur  dazu  diente,  um  desto  intensiver 
arbeiten  und  schaffen  zu  können. 

Man  wäre  fast  versucht,  den  Meister,  der  so  ganz  nur  in  der 
Musik  lebte  und  jede  literarische  Betätigung  verachtete,  einseitig 
zu  nennen,  mit  demselben  Recht,  mit  dem  er  in  jungen  Jahren  leiden- 
schaftlich die  Einseitigkeit  als  Grundlage  eines  Talentes  lobte.  Aber 
die  Malerei  hatte  es  ihm  angetan.  Was  schon  im  Kreise  der  Ge- 
schwister täglicher  Wettstreit  war,  bildete  sich  auf  der  italienischen 
Reise  und  später  in  Düsseldorf  weiter  aus.     Die  Lust  am  Zeichner 


Genie   oder  Epigone?  109 

und  Malen  wuchs  mit  der  gewonnenen  Routine.  Der  Musiker  profi- 
tiert davon,  daß  Auge  und  Geist  an  Klarheit  der  Linie  und  Schärfe 
der  Kontur  gewöhnt  werden.  Der  Sinn  für  die  Form  und  das  Wesent- 
liche wird  erweitert.  In  den  Grenzgebieten  der  Künste  grüßen  sich 
der  Maler  und  der  Musiker. 

Er  suchte  die  Freundschaft  von  Malern  und  fand  sie  in  Rom 
und  Düsseldorf.  Literaten  aber  sehen  wir  seltener  in  seinem  Kreis. 
Er  verschmähte  sie,  trotzdem  er  die  Literatur  liebte.  Die  Bewunde- 
rung für  Goethe  war  Erbteil  seiner  klassisch  gerichteten  Familie. 
Jean  Paul  ergriff  ihn  mächtig  und  ließ  ihn  nie  wieder  ganz  aus  seinem 
Bann.  Aber  Einwirkungen  auf  seine  Musik  gewann  die  Poesie  nicht. 
Er  empfand  Schumanns  Schwärmmusik  mit  ihrem  poetischen  Schwel- 
gen als  Surrogat.  Hier  stimmte  er  mit  Chopin  überein,  der  allem 
Poetisieren   feindlich   gegenüberstand. 

Mendelssohn  empfand  zu  stark  die  Realität  der  Klänge  und 
leugnete  das  Mystische  in  ihnen.  Man  könnte  ihn  im  Gedanken  an 
die  Romantik  nüchtern,  zeitfremd  nennen,  wenn  nicht  seine  Leiden- 
schaft auch  Widerstrebenden  ein  Beweis  der  Größe  würde.  Er  be- 
zaubert nicht  durch  Stimmungsreize  und  ästhetische  Rauschmittel, 
sondern  überzeugt  durch  die  Klarheit  seiner  Ausdrucksweise,  in  der 
Nietzsche  nicht  zu  Unrecht  „ein  Element  Goethe"  fand.  Hier  kann 
von  Epigonentum  keine  Rede  sein.  Nur  ein  Genie  durfte  auf  die 
Mittel  verzichten,  die  seine  Zeit  sanktionierte. 

Wir  wollen  heute  den  ganzen  Menschen  erkennen.  Der  Hym- 
nus auf  die  Größe  des  Künstlers  allein  genügt  uns  nicht.  Wir 
wissen,  daß  die  Musik  die  stärkste  Isolierung  vom  Leben  fordert. 
In  dieser  sublimsten  aller  Künste  kann  nur  der  Individualist  zu  seinem 
vollen  Recht  kommen.  Und  so  sehen  wir,  daß  auch  Mendelssohn 
wie  alle  großen  Meister  ein  Aristokrat  war,  ein  Eigener  voller  Stolz, 
Selbstbewußtsein,  Vornehmheit,  unendlicher  Geduld  und  gebändigter 
Leidenschaft.  Der  Verfall  der  Musik  begann  erst,  als  mit  Wagner 
demagogische  Elemente  in  sie  hineingetragen  wurden  und  sie  der 
Masse  schmeicheln  sollte.  Seit  Wagner  will  die  Musik  gewinnen, 
früher  wollte  sie  gewonnen  sein.  Mendelssohn  war  kein  Draufgänger, 
kein  stürmender  Enthusiast.  Er  schwärmte  nicht  für  Revolutionen. 
Die  Tradition  hielt  ihn  gefangen ;  aber  nicht  als  Sklaven  —  er  hatte 
sie  sich  dienstbar  gemacht.     Wo  er  nicht  lieben  konnte,  da  mußte 


110  Genie   oder  Epigone? 

er  vorübergehen.  Polemik  trieb  er  nicht.  Vorsichtig  verbarg  er  sein 
Inneres  vor  Kämpfernaturen  wie  Berlioz,  Liszt  und  Wagner.  Die 
Tendenz  seines  Schaffens  ging  nicht  ins  Unerhörte,  Verblüffende.  Er 
glühte  nicht.  Ihn  bewegte  jene  stille  Lust  des  Südens,  die  er  von 
Jugend  auf  geahnt  und  in  Italien  gefunden  hatte.  Davon  kam  er  nicht 
mehr  los. 

Selten  nur  kam  Mendelssohn  auf  Weltanschauungsfragen  zu 
sprechen.  Als  junger,  reisender  Schwärmgeist  brachte  er  es  zwar 
noch  fertig,  auf  endlosen  Spaziergängen  in  der  Campagna  mit  Berlioz 
über  religiöse  Fragen  zu  streiten.  Später  verschloß  er  seinen  Glau- 
ben mehr  in  sich.  Er  war  fromm,  ohne  sich  an  das  Dogma  zu  binden. 
Der  Optimismus  des  christlichen  Bekenntnisses  lag  seinem  Naturell. 
Auch  die  Philosophie  war  nicht  spurlos  an  ihm  vorübergegangen.  Als 
Student  hatte  er  den  Versuch  gemacht,  sie  sich  systematisch  zu  er- 
ringen. Der  Meister  aber  fand  sie  im  eigenen  Innern,  geläutert  durch 
sein  Werk.  Sein  Bekenntnis  war  das  der  Güte:  Hilfsbereitschaft  für 
die  Menschen,  Förderung  alles  Aufwärtsstrebenden.  Und  über  die 
Hemmungen  des  Alltags  half  ein  frischer  Humor  hinweg. 

Ein  aufgeklärter  Kopf  wie  Mendelssohn  konnte  nicht  ganz  un- 
politisch sein.  Vom  Vater  hatte  er  manche  radikale  Äußerung  ge- 
hört. Einig  war  er  sich  mit  ihm  im:  Lächeln  über  die  „Michelei". 
Dem  beschränkenden  Nationalismus  abhold,  huldigte  er  einem  ge- 
sunden Europäertum,  ohne  sein  Vaterland  zu  verleugnen,  das  er 
ebenso  liebte  wie  kritisierte.  Es  war  Vormärz  in  Preußen  und  Sachsen. 
Absolutismus  und  Reaktion  lagen  im  Sterben.  Und  Mendelssohn 
war  nicht  der  letzte,  der  ihren  baldigen  Tod  herbeiwünschte.  Aber 
auf  die  Barrikaden  wäre  er  dafür  nicht  gestiegen. 

Wir  sahen  die  gedämpfte,  disziplinierte  Leidenschaft  in  Mendels- 
sohns Charakter,  seinen  Abscheu  vor  Exzessen,  das  Undämonische 
seines  Schaffens  und  ahnen,  daß  die  Erotik  in  seinem  Leben  und 
Werk  nur  eine  geringe  Rolle  spielte.  Um  ihn  herum  warb  zwar  eine 
stark  auf  Sinnlichkeit  ruhende  Kunst  um  Anerkennung.  Aber  der 
Jünger  Zelters,  dessen  Gott  Johann  Sebastian  Bach  war,  erlag  ihren 
Versuchungen  nicht.  So  wie  er  mit  den  Stimmungsmitteln  geradezu 
asketisch  umging,  strebte  er  zur  Entsinnlichung  der  Melodik,  ohne 
ihr  jedoch  die  Leidenschaftlichkeit  des  Ausdrucks  zu  rauben.  Sein 
Ideal   waren   die   Klassiker  und  ihr  Streben   nach   architektonischen 


Lieder   mit  und  ohne  Worte  111 

Wirkungen.  Was  konnten  ihm  die  Frauen  sein?  Hier  liegt  ein 
gutes  Stück  Bürgerlichkeit  in  Mendelssohn  und  strahlt  in  sein  Werk 
über.  Der  Instinkt  ist  der  Herrschaft  des  Geistes  und  Willens  unter- 
worfen. Er  ist  gebändigt.  Und  der  starke  Formensinn  duldet  keine 
Ausschweifungen  romantischer  Klangfreude  oder  Stimmungsseligkeit. 
Wir  verstehen  nun  auch,  warum  der  Dramatiker  Mendelssohn  keine 
Rosen  pflücken  konnte.  Hier  fehlte  ihm  die  sinnlich  betörende 
Schwungkraft.  Der  Aristokrat  kann  nicht  zur  Masse  sprechen;  denn 
sie  versteht  ihn  nicht. 

Fassen  wir  noch  einmal  zusammen,  was  über  den  Künstler  Men- 
delssohn zu  sagen  ist:  Er  besaß  den  ungeheuren  Willen,  die  Sicher- 
heit der  Gestaltung,  die  Kraft  der  Form  —  kurz,  den  großen  Stil. 
Die  unendliche  Geduld  seiner  Musik  erzwang  das  Vollkommene, 
jene  halkyonische  südliche  Bläue  und  Klarheit,  die  uns  still  und  selig 
macht.  Er  spricht  ohne  Pathos,  ohne  Pose  und  Gebärde,  aber  so 
seltsam  eindringlich,  schmeichelnd  und  überredend,  wie  nur  einer 
sprechen  konnte,  der  das  Dramatische  im  tiefsten  Innern  verachtete. 
Da  ist  alles  Reife  und  erfüllte  Sehnsucht.  Nervöse  Spannungen  und 
Reize  fehlen.  Alles  ist  logisch  (welche  Stärke  des  Intellekts!),  vor- 
nehm —  schön. 

Der  Kreis  rundet  sich,  und  wir  kehren  zur  Frage  des  Anfangs  zu- 
rück: Genie  oder  Epigone?  Wir  wissen  die  Antwort:  Der  seltene 
Mensch  war  auch  der  seltene  Meister.  Widerspruchsvoll  ist  das 
Wesen  des  Genies.  Es  bleiben  Lücken,  die  nicht  bewiesen  werden 
können.  Und  andere  brauchen  gar  nicht  bewiesen  zu  werden.  Denn 
das  meiste  ist  ja  doch  unerklärlich  und  spottet  allen  Versuchen,  es 
auf  eine  Formel  zu  bringen,  die  den  Wißbegierigen  und  Ungläubigen 
Genüge  tut.  Auch  in  der  Kunst  hat  nur  der  Lebende  recht.  Und 
daß  Mendelssohn  neben  den  anderen  Großen  der  Musik  zu  den 
Lebenden  zählt,  dies  erst  zu  beweisen  kann  weder  unser  Wunsch  noch 
unsere  Aufgabe  sein. 


LIEDER  MIT  UND  OHNE  WORTE 

Es  ist  schon  einmal  angedeutet  worden :  die  Geschichte  der  Musik 
ist   die   Geschichte  der  musikalischen   Synthese.     Sie   hatte   in  den 


112  Lieder   mit   und   ohne   Worte 

drei  Wiener  Großmeistern  Haydn,  Mozart  und  Beethoven  mit  unge- 
heurer Vehemenz  ihren  Gipfel  erstiegen.  Die  große  Pause  mußte 
kommen.  So  wurde  das  neunzehnte  Jahrhundert  mit  geschichtlicher 
Notwendigkeit  das  Jahrhundert  der  Lyrik.  Schubert  eröffnete  es. 
Chopin,  Schumann  und  Mendelssohn  folgten. 

Die  großen  Leidenschaften  waren  erschöpft  und  verstummt.  Die 
Stimmung,  das  Poetische  mußten  Inhalt  schaffen.  Mit  der  beginnen- 
den Dekadenz  wuchs  die  Nervosität,  wuchs  der  Reiz  der  kleinen, 
prägnanten,  mit  äußerster  Sensibilität  erfüllten  Form.  An  Stelle  des 
Systems  trat  der  Aphorismus.  Selbst  die  Revolutionen  wurden  klei- 
ner. (Anmerkung  für  Wagnerianer:  Auch  Wagner  macht  hierin  keine 
Ausnahme;  er  bedeutet  nur  die  deutsche  Gründlichkeit  genial  auf 
ein  .allgemeinverständliches  System  gebracht.)  Die  Gefühle  wurden 
zwar  nicht  schwächer;  aber  sie  hatten  an  Volumen  verloren.  Kurz, 
es  wurde  der  schöne  Abend  der  Romantik  mit  all  seiner  Fülle,  Süße 
und  Heimlichkeit  in  der  Musik,  ein  wenig  müde  schon,  aber  voll 
tiefer  Farben  und  Glückseligkeit. 

Die  Lyrik  ist  das  Werk  der  Romantik.  Die  Sehnsucht  einer  emp- 
findsamen Zeit  erfüllte  sich  in  ihr.  Die  Liedform  gab  den  Musikern 
den  Rahmen,  der  aphoristische  Einfall  den  Inhalt.  Natürlich  war  es 
aber  auch  hier  nur  dem  wirklichen  Genie  vergönnt,  durch  die  Kraft 
der  Synthese  Triumphe  zu  feiern.  Franz  Schubert  schuf  das  Kunst- 
lied und  wies  damit  Schumann  den  Weg.  Chopin  träumte  am  Kla- 
vier und  sang  mit  beispielloser  Einseitigkeit  nur  für  die  Tasten.  Und 
Mendelssohn?  Sein  Instinkt  führte  auch  ihn  auf  den  Platz  an  der 
Straße  Schuberts.  Aber  sein  Intellekt  griff  weiter  zurück.  Die  Wur- 
zeln seiner  Musik  ruhen  in  der  vorromantischen  Zeit.  Deshalb  konn- 
ten wir  ihn  schon  zu  Anfang  des  Buches  einen  Spätling  nennen.  Er 
gehört  nicht  zu  den  „Genialitätsfrechen,  den  Jünglingen  mit  den 
phrygischen  Mützen",  wie  sie  der  enthusiastische  Schumann  nannte. 
Und  doch  ist  auch  er  ein  Romantiker,  zwar  nicht  von  der  spezifisch 
deutschen    Art,   sondern   weltbürgerlicher   und   gemäßigter. 

Mendelssohns  eigenstes  Schaffensfeld  ist  die  Lyrik,  die  Liedform. 
Hier  ist  er  Meister  und  reicht  als  ein  Ebenbürtiger  den  Größten  die 
Hand.  Wir  wissen  aus  seinen  Lehrjahren,  daß  Zelter  seine  Technik, 
Ludwig  Berger  aber  seinen  Geist  bildete,  derselbe  Berger,  der  als 
Tondichter  ein  Lyriker  und  Aphorist  galanter  Art  war.    Der  beweg- 


Lieder   mit   und   ohne   Worte  113 

liehe  frühreife  Intellekt  des  Schülers  wußte  von  beiden  zu  nehmen, 
was  er  brauchte.  Ein  Kind  der  romantischen  Zeit,  zwischen  Goethe 
und  Jean  Paul  schwankend,  wobei  dem  einen  seine  Verehrung,  dem 
anderen  seine  Liebe  gehörte,  trieb  ihn  der  Instinkt  zur  Poesie,  wäh- 
rend die  Tradition  ihm  den  Blick  auf  die  Vergangenheit  lenkte.  Als 
der  Lyriker  in  ihm  zur  Aussprache  drängte,  wußte  er  nichts  oder 
wenig  von  Schuberts  Liedern.  Er  nahm  Ludwig  Bergers,  vielleicht 
auch  Zelters  Goethelieder  für  den  lyrischen  Ausdruck  seiner  Zeit 
und  setzte  ihre  Richtung  fort.  Wenn  wir  die  Kunst  der  beiden 
typischen  Märker  als  die  Berliner  Lyrik  bezeichnen  wollen,  so  ist 
Mendelssohn  als  Liederkomponist  zeitlebens  ein  Berliner  geblieben. 
Die  Versuche  Schuberts  mit  Rezitativ  und  Szene  hat  er  nicht  durch- 
lebt. Er  ist  nicht  durch  Krisen  gegangen.  Sein  Verhältnis  zur  Form 
und    Ausdrucksmöglichkeit   des    Liedes    stand   von    vornherein   fest. 

Zelter,  Klein,  Berger  haben  ihre  großen  Verdienste  in  der  Ge- 
schichte des  deutschen  Liedes.  Sie  stellten  dem  weitausladenden 
Stil  Zumsteegs  und  der  Wiener  Schule  eine  Form  von  fast  asketisch 
sparsamer  Rundung  und  Prägnanz  gegenüber.  Sie  erlauschten  die 
Sprachmelodie  der  Dichterworte,  schrieben  also  wahrhaft  vokal  ohne 
instrumentale  Einflüsse.  Die  Begleitung  stützte  mit  den  unbedingt 
notwendigen  Akkorden  den  Gesang.  Zelter  ist  sicher  durch  Goethes 
lebhafte  Anteilnahme  an  dem  Liedproblem  dahin  gekommen,  so  zu 
schreiben,  daß  es  trotz  aller  Primitivität  und  Dürftigkeit  heute  noch 
Eindruck  macht.  Dem  Knaben  Mendelssohn  wurden  diese  Anschau- 
ungen von  Anfang  an  eingeimpft,  und  Zelters  Worte  erhielten  Evan- 
gelienwert durch  die  Zustimmung  Goethes.  Ob  Ossians  Gesänge, 
die  Schuberts  Jünglingsphantasie  ins  Grenzenlose  verlockten,  den 
jungen  Mendelssohn  aus  der  Fassung  gebracht  hätten?  Es  ist  kaum 
anzunehmen.  Ihm  war  das  romantische  Feuer  noch  nicht  in  die 
Seele  gedrungen.  So  erlebte  der  Lyriker  Mendelssohn  keinen  Sturm 
und  Drang.  Er  war  auch  kein  Bahnbrecher,  der  kühn  nach  Neu- 
land forschte.  Aber  auf  bekanntem  Terrain  bewegte  er  sich  als  ein 
Meister.  Die  ungeheuer  neutrale  Kunst  Johann  Sebastian  Bachs 
hatte  ihn  schon  frühzeitig  allzu  stark  ergriffen.  Da  konnte  es  für  ihn 
auch  in  der  subjektiven  Form  der  Lyrik  kein  Ringen  und  Suchen 
mehr  geben. 

Mendelssohn    ist   als    Liederkomponist   reiner   Melodiker.     Klar 

D  a  h  m  s  ,  Mendelssohn  8 


114  Lieder   mit   und   ohne   Worte 

und  von  wunderbarem  Ebenmaß  ist  stets  die  Form,  erstaunlich  der 
unerschöpfliche  Reichtum  an  neuen  Wendungen  in  einem  so  eng- 
umschriebenen Kreis.  Das  Dichterwort  ist  ihm  nur  Mittel  zum  Zweck, 
Musik  zu  machen,  aber  in  ganz  anderer  Art  als  Schubert,  der  selbst 
die  belangloseste  Poesie  mit  einem  Goldregen  von  Tönen  über- 
schüttete. Schubert  musizierte  aus  sich  heraus,  Mendelssohn  in  sich 
hinein.  Schubert  dichtete  den  Dichter  gewissermaßen  um,  schuf  durch 
die  Kraft  seiner  Individualität  etwas  ganz  Neues,  ein  Drittes,  wäh- 
rend Mendelssohn  das  Dichterwort  nur  in  seine  Sprache  übersetzte. 
So  mußte  Schuberts  Genie  darauf  bedacht  sein,  von  dem  Gedicht 
hingerissen,  Charakteristisches  zur  Welt  zu  bringen.  Mendelssohn 
konnte  sich  damit  begnügen,  die  Stimmung  der  Verse  zu  unterstreichen 
und  mit  leichten  Farben  auszumalen.  Er  zögerte  auch  nicht,  die  Worte 
des  Gedichts  zu  ändern,  um  eine  melodische  Phrase  oder  eine  Run- 
dung in  der  Form  zu  retten.  Dabei  schreckte  er  selbst  in  merk- 
würdiger Freimütigkeit  vor  Sinnentstellungen  nicht  zurück.  Er  ver- 
zichtete auf  den  Prunk  großer  Steigerungen,  war  von  einer  Sparsam- 
keit ohnegleichen  in  der  Begleitung  und  strebte  meist  nicht  einmal 
nach  Charakterisierungseffekten.  Die  Gesangsmelodie  ist  ein  Selb- 
ständiges, Ganzes  für  sich.  Die  Begleitung  unterstützt  sie  nur.  Aber 
trotzdem  sind  Stimme  und  Klavier  innig  verbunden,  ein  Ganzes  voll 
Zauber  und  Wärme,  Leben  und  Gefühl. 

Schon  die  Wahl  der  Texte  zeigt  Mendelssohns  Selbstbeschrän- 
kung und  sein  engumrissenes  Ideal  in  der  Lyrik.  Die  Ballade  fehlt, 
dämonische  Töne  klingen  außer  etwa  im  „Hexenlied"  nie  an.  Der 
Grundton,  der  alle  79  Lieder  trägt,  ist  volkstümliche  Innigkeit.  Leise 
Wehmut  und  Sentimentalität  schimmern  an  den  meisten.  Die  Er- 
fordernisse der  Volkstümlichkeit  erfüllen  sich,  und  Mendelssohn  wäre 
allein  durch  Lieder  wie  „Es  ist  bestimmt  in  Gottes  Rat"  oder  „Leise 
zieht  durch  mein  Gemüt"  den  Deutschen  unsterblich  geworden. 

An  der  Spitze  seiner  Dichter  steht  der  Jugendfreund  Karl  Klinge- 
mann, ein  liebenswürdiger,  aber  für  unsere  Begriffe  schwacher  Poet 
mit  acht  Texten,  Heine  folgt  mit  sechs,  auch  Volksliedertexte  aus 
dem  Wunderhorn,  Altdeutschen,  Schwedischen  und  Spanischen  sind 
sechs  zu  finden,  Eichendorff  und  Voß  inspirierten  ihn  je  fünfmal, 
Goethe  und  Lenau  je  viermal.  Unter  den  übrigen  Dichtern  inter- 
essieren uns     noch  Uhland,  Tieck,  Moore,  Byron,  Geibel,  Hölty  und 


Lieder   mit    und    ohne    Worte  115 

Hoffmann  von  Fallersleben.  Die  Auslese  ist  nicht  groß.  Wir  er- 
leben nicht  das  völlige  Aufgehen  des  Komponisten  in  einer 
Dichternatur  wie  bei  Schubert,  Schumann  oder  Wolf,  dieses  Hin- 
gerissensein und  leidenschaftliche  Verbrennen  in  der  Poesie.  Wir 
sehen  einen  bunten  Strauß  lieblicher  Blumen,  jede  einzelne  ein  Mei- 
sterwerk in  der  Harmonie  ihrer  Schönheiten  und  alle  geeint  durch 
das  Band  der  Seele  des  Schöpfers.  Meist  sind  es  Natur-  und  Wan- 
derlieder, einfache  lyrische  Stimmungen  ohne  Probleme. 

In  den  Heften  opus  8  und  9  sind  die  frühesten  Lieder  ver- 
einigt. Schlichte  Harmlosigkeit.  Freude  am  hellen  melodischen  Auf- 
schwung ist  ihr  Wesen.  Unbekümmert  streift  der  junge  Mendels- 
sohn selbst  die  Grenzen  des  Banalen;  hat  er  doch  sogar  die  Triviali- 
tät begangen,  die  dilettantischen  Versuche  seiner  Schwester  Fanny 
in  diese  Opusnummern  mit  aufzunehmen.  „Andres  Maienlied",  das 
Hexenlied  von  Hölty,  fällt  aus  dem  Rahmen.  Hier  pulst  wirkliche 
Leidenschaft,  entlädt  sich  ein  stürmisches  Temperament  frei  und  ohne 
Sentiment.  Der  Ausdruck  ist  wahr  und  packend  und  bis  zum  Schluß 
mit  großem  Geschick  gesteigert.  Bemerkenswert  ist  die  charakte- 
ristische Ausnutzung  des  Tremolos  in  der  Begleitung.  Meist  aber 
finden  wir  den  einfachen  volksliederartigen  Ton  in  den  kurzgefaßten 
Liedern,  die  dazu  noch  oft  als  Strophenlieder  geschrieben  sind.  Un- 
befangen komponierte  selbst  der  21jährige  Mendelssohn  noch  an 
einem  Gedicht  wie  Uhlands  „Frühlingsglaube"  vorbei.  Es  ist  eine 
merkwürdige  Naivität  in  all  diesen  früheren  Liedern.  Auch  manches 
aus  dem  Nachlaß  muß  man  wohl  in  diese  Zeit  setzen.  Anderes  da- 
gegen ist  von  außerordentlicher  Intensität  des  Ausdrucks,  wie  bei- 
spielsweise „Des  Mädchens  Klage"  mit  seiner  wogenden  Begleitung, 
die  innige,  stimmungsvolle  Romanze  „Schlafloser  Augen  Leuchte", 
die  zuerst  in  einem  Album  bei  Breitkopf  &  Härtel  erschien,  und  der 
echte  Romanzenton  in  den  beiden  Eichendorffschen  Gesängen  „Das 
Waldschloß"  und  „Pagenlied". 

Die  übrigen  45  Lieder  verteilen  sich  auf  die  Opusnummern  19, 
34,  47,  57,  71,  84,  86  und  99.  In  ihnen  spricht  sich  mit  geringen  Aus- 
nahmen der  reife  Künstler  aus.  Die  besten  sind  nahezu  Volkslieder 
in  ihrer  schlichten,  einfachen  Gestaltung.  Immer  wieder  kommen 
wir  auf  das  Wort  „Innigkeit",  wenn  wir  Mendelssohns  Note  im 
Lied  beschreiben  wollen.    Seine  Größe  verbirgt  sich  oft  in  unschein- 


116  Lieder  mit   und   ohne   Worte 

barem  Gewand.  Man  fühlt  die  sorgsame  Arbeit  nicht,  die  hinter 
dem  Gefüge  liegt.  Alles  gibt  sich  mit  der  Selbstverständlichkeit,  die 
das  Zeichen  der  Vollkommenheit  ist.  Kristallklar  ist  der  Satz,  durch- 
sichtig und  niemals  überladen.  Die  Deklamation  ist  aus  dem  Dichter- 
wort heraus  empfunden  und  wird  von  einer  Melodie  getragen,  der 
die  schöne  Linie  über  alles  geht.  Poetische  Wahrheit  liegt  darin. 
Und  niemals  wohl  komponierte  Mendelssohn  mit  dem  Hintergedanken 
auf  äußerliche  Wirkung.  Seine  ganze  Seele  schlummert  in  den  Lie- 
dern, diese  reine,  ein  wenig  schwermütige  große  Seele  des  Gütigen, 
der  von  seinem  Reichtum  denen  gibt,  die  nichts  besitzen. 

Oft  hat  er  den  Frühling  besungen,  in  opus  19  Nr.  1  mit  sanfter 
Anmut,  in  opus  34  Nr.  3  jubelnd  und  zum  Schluß  verträumend,  auf- 
brausend in  opus  47  Nr.  3,  frisch  blühend  und  prangend  in  opus  71 
Nr.  2,  und  gemütvoll  in  opus  86  Nr.  6.  Klingemanns  Klingklangverse 
rufen  nie  das  Tiefste  in  ihm  wach;  da  ist  er  gefällig  plaudernd  und 
ein  wenig  sentimental.  Aber  welche  unsagbare  Gefühlskraft  in  Eberts 
,,Das  erste  Veilchen" !  Außerordentlich  stark  wirkt  immer  der  Ro- 
manzenton, wie  er  in  dem  „Winterlied"  aus  dem  Schwedischen,  in 
„Neue  Liebe"  und  „Reiselied"  von  Heine  und  „Da  lieg'  ich  unter 
den  Bäumen"  schwingt.  Wir  wollen  jedoch  an  die  Perlen  Mendels- 
sohnscher Lyrik  denken :  die  zu  Volksliedern  gewordenen  „Leise  zieht 
durch  mein  Gemüt"  und  „Es  ist  bestimmt  in  Gottes  Rat",  an  das 
altdeutsche  Minnelied,  den  stillverträumten  „Morgengruß"  (Heine), 
das  zarte  Nocturno  „Venezianisches  Gondellied",  Lenaus  „Schilf- 
lied", das  von  leisen  Klangwogen  umspielt  wird,  das  abgründig  tiefe 
„Nachtlied",  von  Eichendorff  und  Unlands  „Das  Schifflein"  in  seiner 
keuschen  Schönheit.  Und  wir  fügen  seiner  lyrischen  Krone  den 
köstlichsten  Diamanten  ein :  Heines  „Auf  Flügeln  des  Gesanges",  wo 
Märchen,  Traum  und  Liebe  zu  seligstem  Klang  geworden  sind.  Wollen 
wir  noch  Vergleiche  ziehen?  Die  beiden  Suleika-Lieder  reizen  dazu. 
Schuberts  Nachbarschaft  ist  ihnen  gefährlich.  Sie  halten  trotz  schönen 
Einzelheiten  nicht  stand.  Da  fehlte  Mendelssohn  die  dionysische 
Schwungkraft  Schuberts,  ebenso  wie  ihm  Schumanns  erschütternde 
Tragik  fehlt,  wenn  wir  die  Komposition  von  Heines  „Allnächtlich 
im  Traume  seh'  ich  dich"  betrachten.  Aber  die  Vergleiche  können 
Mendelssohns  Wert  nicht  mindern.  Er  gab  im  Lied  das,  was  er 
geben   konnte,  als   ein   wahrhaft  großer  Meister. 


Lieder   mit   und   ohne   Worte  117 

Das  von  den  einstimmigen  Liedern  Gesagte  ließe  sich  bei  den 
Duetten  Mendelssohns  wiederholen.  Ihre  Kennzeichen  sind  eine 
echte,  edle  Volkstümlichkeit  und  eine  ebenso  süsse  wie  eindringliche 
Melodik.  Sie  sind  fast  durchweg  homophon  gehalten.  Die  beiden 
Singstimmen  gehen  oft  in  Terzen;  aber  immer  ist  die  Zweistimmig- 
keit mit  wunderbarer  technischer  Kultur  geformt.  Die  Klavierbeglei- 
tung stützt  nur  akkordlich.  Die  Duette  stammen  zum  größten  Teil 
aus  seiner  reifsten  Zeit.  Opus  63  umfaßt  sechs  Nummern,  innig, 
schwermütig,  zart  und  von  einem  bezaubernden  Schmelz  in  der  Kanti- 
lene.  Mendelssohn  schrickt  vor  sinnverdrehenden  Änderungen  der 
Dichterworte  nicht  zurück,  wo  es  ihm  gilt,  eine  Stimmung  nach  seinem 
Geschmack  zu  gewinnen;  ein  merkwürdiges  Verfahren  bei  seiner 
sonstigen  Pietät  vor  dem  Kunstwerk.  In  opus  77  stehen  drei  Duette, 
die  die  Vorgänger  an  Lieblichkeit  und  Frische  des  Ausdrucks  noch 
überstrahlen.  Drei  weitere  Duette  hat  Mendelssohn  ohne  Opuszahl 
veröffentlicht;  sie  bringen  jedoch  keine  neue  Note  in  das  Gesamtbild. 

Wir  sprechen  nun  von  dem  Mendelssohn,  der  in  allen  Herzen 
lebt,  dem  auch  Widerstrebende  sich  beugen;  wenn  wir  von  den 
„Liedern  ohne  Worte"  reden.  In  ihnen  feierte  der  Meister  seinen 
größten  und  ewigen  Sieg.  Er  gab  damit  ein  Werk,  das  neben  Bachs 
Wohltemperierten  Klavier,  Mozarts  und  Beethovens  Sonaten,  Schu- 
berts Impromptus,  Chopins  Nocturnes  und  Schumanns  Jugendwerken 
zu  den  Evangelien  gehört,  an  die  alle  glauben,  die  dem  Klavierspiel 
huidigen.  Der  Lehrer  vererbt  sie  den  Schülern,  und  der  Meister  der 
Tasten  (denken  wir  heute  an  zwei  Antipoden:  Ansorge  und  Pade- 
rewski),  schmückt  mit  ihnen  seinen  Triumphwagen,  zieht  sie  in  den 
Glanz  der  Konzertsäle  und  predigt  ihre  unvergängliche  Schönheit 
und  Wahrheit  allen,  die  hören  wollen.  Aber  ihre  Heimat  ist  nicht 
im  Angesicht  der  Masse;  sie  gehören  den  stillen  Feierstunden,  der 
Dämmerung  und  dem  Träumen  am  Klavier. 

Eine  tiefe,  schwermütige  Seele  singt,  was  Worte  nicht  zu  sagen 
vermögen.  Es  ist  so  viel  Erinnerung  in  den  „Liedern  ohne  Worte" 
und  so  viel  Resignation  eines  Weisen  und  gerade  in  der  Resignation 
eine  so  unendliche  Größe.  Die  Tage  der  Schwermut  klingen  darin 
nach,  die  im  Leben  des  Künstlers  so  reich  gesät  sind.  Lind  wiederum 
pulsen  Lebensfreude  und  Leidenschaft  in  den  Tönen,  Urkräfte  des 
Schaffenden,  die  sein  bestes  Erbteil  sind.    Über  allem  aber  schwebt 


118  Lieder  mit  und   ohne   Worte 

der  Wille  zum  Kunstwerk,  eben  der  Wille  zur  Synthese,  der  nach 
Vollendung  ringt  und  sie  auch  erzwingt. 

Die  vormärzliche  Zeit  liebte  das  Sentimentale.  Das  behäbige 
Tempo  des  Lebens  förderte  die  Gefühlsseligkeit.  Im  Salon  und  Bür- 
gerhaus war  man  zum  Schwärmen  geneigt.  Diese  Zeit  verlangte 
eine  Kunst  der  starken  Gefühle.  Schumann  und  Mendelssohn  sind 
der  Beweis  dafür  in  der  Musik.  Doch  wenn  Schumann  mit  seinem 
ungeheuren  poetisch-phantastischen  Schwelgen  die  Dutzendmenschen 
vor  den  Kopf  stieß,  versöhnte  Mendelssohns  Abgeklärtheit  die  Ge- 
müter und  gewann  sich  alle  Herzen.  Sein  Erfolg  in  der  Zeit  ist  gren- 
zenlos gewesen.  Kein  Meister  ist  von  seinen  Mitmenschen  so  ge- 
liebt und  verehrt  worden  wie  er.  Er  wurde  erst  durch  die  Kunst 
der  starken  Effekte  und  Erregungen  in  den  Hintergrund  gedrängt. 
Da  hielt  seine  vornehme  Reinheit,  die  Absichtslosigkeit  seines  Strebens 
nicht  stand.  Die  Erschaffung  einer  wahrhaft  geistigen  Kultur  aber 
—  falls  eine  solche  in  diesem  Jahrhundert  überhaupt  noch  möglich 
ist  —  wird  auch  Mendelssohn  zu  seinem  ganzen  Recht  verhelfen. 
Doch  wir  sprechen  ja  nicht  von  einem  Toten.  Sein  Werk  lebt  und 
zieht  seine  Kreise,  unaufhörlich  und  immer  neue  in  jeder  Generation. 
Seitdem  das  Phänomen  Richard  Wagner  in  historische  Beleuchtung 
getreten  ist  und  klare  Köpfe  den  Nebel  der  verschwommenen  Be- 
griffe beseitigt  haben,  tagt  es  wieder  in  der  deutschen  Musik.  Es 
tagt  für  die  Kunst  der  stillen  Größe,  der  tiefbeseelten  Form  und  des 
Geschmacks  an  allem  Guten  und  Edlen.  Und  erinnern  wir  uns 
der  Hauptdokumente  einer  solchen  hohen  Kunst,  so  müssen  wir  auch 
Mendelssohns  „Lieder  ohne  Worte"  nennen. 

Erst  Schubert  hatte  die  sogenannten  Handstücke  der  Vorklassiker- 
zeit in  die  Sphäre  des  modernen  Kunstwerks  erhoben.  Die  Form 
dafür  war  gegeben;  es  war  die  Liedform,  die,  unendlicher  Varianten 
fähig,  dem  Ganzen  klarste  Proportion  und  künstlerischen  Halt  gab. 
Wir  wissen  von  Schumann,  wie  diese  Form  zum  Tummelplatz  ele- 
ganter Routiniers  wurde.  All  die  Czerny,  Pleyel,  Herz  und  Hunten 
überschwemmten  die  Musikhungrigen  mit  formgewandter,  glatter, 
aber  flacher  Musik.  Ein  Field  ließ  ernstere  Töne  erklingen.  Seine 
Nocturnes  haben  nur  den  Fehler  einer  ermüdenden  Weichlichkeit. 
Doch  die  Zeit  liebte  ihn.  Erst  Chopin  machte  ihn  verstummen. 
Mendelssohn  fand  die  brauchbare   Form,  lernte  begierig  von  allen, 


Lieder   mit   und   ohne   Worte  119 

nicht  zum  wenigsten  von  Fields  geschmeidigen  Klavierfiguren  und 
schuf  den  Gattungsbegriff  der  „Lieder  ohne  Worte". 

Wir  vergessen  die  Lehrzeit  unserer  Jugend,  fliehen  die  Erinne- 
rung an  dilettantische  Unzulänglichkeit,  an  Stümperei,  die  das  Er- 
habene zerfetzte,  und  erschließen  uns  das  ungetrübte  Bild  eines 
Kunstwerks,  das  in  seinem  Gesamtanblick  von  reichster  Mannig- 
faltigkeit und  in  jedem  einzelnen  Stück  ein  Kleinod  von  bewunderns- 
werter Filigranarbeit  ist.  Den  Schlüssel  zum  Werk  kann  uns  nur  der 
Schaffende  selbst  geben.  Wir  kennen  Mendelssohns  Abneigung  gegen 
das  Schreiben  über  Kunstdinge.  Er  würde  uns  im  Dunkeln  lassen, 
wenn  nicht  sein  Werk  selbst  eine  Sprache,  deutlich  genug  für  feine 
Ohren,  redete.  Aber  einer  seiner  Jünger,  Emil  Naumann,  hat  nach 
Unterredungen  mit  Mendelssohn  Aussprüche  des  Meisters  nieder- 
geschrieben, die  uns  doch  von  Wert  sind.  So  sagte  Mendelssohn : 
„Wir  haben,  wenn  uns  ein  musikalischer  Gedanke  kommt,  nicht  da- 
nach zu  fragen,  ob  derselbe  originell  sei  oder  nicht.  Ist  das  Motiv 
nicht  durch  ein  absichtliches  Wollen  oder  Reflektieren  entstanden, 
sondern  eine  Eingebung  und  innere  Offenbarung,  so  vermögen  wir 
ja  ohnehin  seiner  Originalität  weder  etwas  zuzusetzen  noch  zu 
rauben.  Solche  Eingebungen  sind  daher  nur  dankbar  und  wie  ein 
reines  Geschenk  des  Himmels  zu  empfangen.  Was  wir  freilich  später 
bei  der  musikalischen  Durcharbeitung  mit  solchen  uns  ohne  unser 
Zutun  verliehenen  Gedanken  anfangen,  wie  wir  sie  organisch  weiter- 
bilden und  bis  zur  vollendeten  künstlerischen  Form  entwickeln  — 
das  ist  unsere  Sache,  die  Sache  unseres  Wollens,  unserer  Energie 
und  Beharrlichkeit.  Nach  dieser  Seite  hin  können  wir  daher  nicht 
streng  genug  gegen  uns  selbst  verfahren  .  .  .  Hätte  ich  mich  durch 
die  Bemerkungen  anderer  über  mich  dazu  verleiten  lassen,  immer 
nur  nach  der  Originalität  meiner  Gedanken  zu  fragen,  ich  hätte 
wahrlich  nichts  mehr  schaffen  können." 

Es  ist  uns,  als  hörten  wir  hier  Mendelssohn  über  seine  „Lieder 
ohne  Worte"  sprechen.  Was  wir  immer  gefühlt  haben,  wird  uns 
durch  ihn  selbst  bestätigt.  Kaum  jemals  ist  eine  Kunst  freier  von 
dem  Suchen,  ja  dem  Wunsch  nach  Originalität  gewesen,  als  diese. 
Wir  sehen  es  an  der  Melodik.  Reihen  wir  die  Perlen  aneinander  — 
sie  sind  oft  aus  demselben  Material.  Es  gibt  Anklänge,  nicht  aus- 
gesprochene Wiederholungen  (das  scheint  nur  so  bei  der  Kongruenz 


120  Lieder  mit   und   ohne   Worte 

der  Modulationspartien).  Wir  sehen,  daß  ein  Band  all  diese  wort- 
losen Lieder  eint.  Der  Melodie  gebührt  die  Krone.  Mendelssohn  läßt 
sie  frei  schweben.  Er  zeichnet  wunderbar  klare  und  wohlgeformte 
Linien;  aber  die  Farbe  verwendet  er  sparsam.  Er  würzt  niemals 
mit  schrillen  Effekten,  mit  Klecksen.  Kaum  braucht  er  die  Unter- 
stützung der  chromatischen  Mittelstimmen,  die  Chopin  und  Schu- 
mann so  liebten.  Die  musikalischen  Ereignisse  wickeln  sich  klar 
ab.  Und  legen  wir  den  kontrapunktischen  Maßstab  an,  so  finden 
wir  die  Gesetze  des  strengen  Satzes  in  jedem  der  Stücke  verkörpert. 
Hier  herrscht  keine  schwüle  Treibhausluft,  auch  kein  mystisches 
Halbdunkel.  Wir  verspüren  keine  poetischen  Surrogate,  keine  ner- 
vösen Erregungen  krankhafter  Lust  am  Seltsamen.  Alles  ist  klar, 
allzuklar  für  Naturen,  die  nach  Sensationen  dürsten.  Mendelssohn 
bedarf  keiner  versteckten  oder  verschleierten  Andeutungen.  Er  kann 
und  muß  sich  eindeutig  und  bestimmt  aussprechen.  Denn  wir  hörten 
schon  einmal  aus  seinem  Munde  das  antiromantische  Wort:  „Noten 
haben  doch  einen  ebenso  bestimmten  Sinn,  wie  die  Worte,  —  viel- 
leicht  einen   noch   bestimmteren." 

Die  48  Lieder  ohne  Worte  erstrecken  sich  über  alle  Schaffens- 
perioden des  Meisters.  Die  acht  Hefte  opus  19,  30,  38,  53,  62,  67, 
85,  102,  in  denen  sie  erschienen  sind,  machen  keinen  Anspruch  auf 
Chronologie.  Die  beiden  letzten  Hefte  enthalten  nachgelassene 
Werke. 

Opus  19  erschien  im  März  1834,  ein  Jahr  nachdem  Chopin  seine 
ersten  Nocturnes  herausgegeben  hatte.  Schon  zwei  Jahre  vorher 
hatte  Mendelssohn  aus  Paris  den  Seinen  geschrieben,  daß  er  sieben 
Lieder  ohne  Worte  veröffentlichen  wolle.  Aber  seine  Sorgsamkeit, 
die  immer  wieder  Verbesserungswertes  fand,  verzögerte  den  Plan. 
Die  ersten  Lieder  ohne  Worte  waren  in  der  Schweiz,  in  Italien,  ja 
in  dem  stark  parfümierten  Pariser  Leben  entstanden.  In  ihnen  ist 
der  Extrakt  des  jungen  Mendelssohn  enthalten.  Sie  besitzen  eine 
unwiderstehliche  Süße  und  Weichheit  der  Stimmung.  In  Nr.  1,  E-dur, 
schwingt  sich  über  wogenden  Sechzehnteln  eine  zarte  Melodie  auf, 
die  alle  holde  Schwärmerei  auskostet.  Nr.  2,  a-moll,  ist  von  ernstem, 
wehmütigem  Charakter,  schlicht  und  nachdrücklich  deklamiert  und 
zum  Schluß  in  die  tiefen  Regionen  versinkend.  Der  Kontrast  darf 
nicht  fehlen :  Nr.   3,  das  frische  Jägerlied  in  A-dur,  bringt  ihn  mit 


Lieder   mit   und   ohne   Worte  121 

hellen  Fanfaren,  dem  Halali  der  Hörner  und  einem  pochenden,  hin- 
reißenden Rhythmus,  der  kein  Verweilen  kennt.  Am  Schluß  grüßt 
Mendelssohn  die  Rheintöchter  Wagners.  Welche  Ironie!  Alles  löst 
sich  in  flimmernde  Klavierfiguren  aus,  wie  wenn  die  Sonne  durch  die 
Baumwipfel  bricht.  Nr.  4,  A-dur,  gebietet  stilles  Verweilen.  Eine 
schmelzende  Melodik  singt  von  Liebe  und  Sehnsucht.  Das  ist  keine 
Übung  für  die  Klavierstunden,  sondern  ein  wundersames  Meister- 
werk. Leidenschaftlich  erregt,  begehrt  Nr.  5,  fis-moll,  auf.  Welche 
Kunst  der  Durchgänge!  Die  Melodie  fiebert  förmlich.  Alles  ist 
höchste  Spannung;  erst  die  Coda,  die  sich  nach  Dur  wendet,  spendet 
Ruhe.  Die  Melodik  gleitet  nun  sanft  dahin  von  spielerischen  Figuren 
umrankt.  Wir  nähern  uns  einer  Berühmtheit,  Nr.  6  des  Heftes;  es 
ist  das  venetianische  Gondellied,  g-moll,  1830  an  den  Lagunen  er- 
dacht. Hier  wird  die  Musik  sublimster  Ausdruck,  ganz  Traum  und 
völlig  entmaterialisiert.  Leise  wogt  die  Begleitung,  da  erklingt  der 
ferne  Ruf  der  Gondoliere,  ein  Gruß,  der  an  den  Fassaden  feierlicher 
Paläste  entlangtönt.  Und  das  Lied  hebt  an,  von  einer  Innigkeit 
und  bezaubernden  Süße  erfüllt,  wie  sie  nur  die  Nächte  Italiens  durch- 
bebt. Weich  schmiegen  sich  die  Terzen  und  Sexten  aneinander. 
Tränen  und  Seufzer  hängen  daran.  Es  verklingt,  und  traumhaft 
hallen  die  Rufe  aus  der  Ferne  nach. 

Das  zweite  Heft,  opus  30,  hat  den  Jugendton  nicht  mehr.  Men- 
delssohn hatte  menschlich  Schweres  erfahren,  und  was  früher  als 
Melancholie  in  seiner  Musik  durchschimmerte,  war  nun  Resignation 
geworden.  Als  ein  Großer  durchschaute  er  früh  die  Nichtigkeit 
unserer  Bestrebungen,  und  eine  leise  Schwermut  nahm  ihn  gefangen. 
Aber  die  Innigkeit  und  Tiefe  des  Gefühls  war  vielleicht  noch  ge- 
steigert. Nr.  1,  Es-dur,  nannte  Mendelssohn  selbst  damals  in  einem 
Brief  an  Klingemann  sein  bestes,  was  er  bis  dahin  gemacht  hatte. 
Das  Lob  sagt  nicht  zuviel;  es  quillt  über  von  seelenvoller  Melodik. 
Das  zweite,  b-moll,  greift  noch  einmal  in  die  Jugendjahre  zurück. 
Schumann  fiel  dabei  Jägers  Abendlied  von  Goethe  ein.  Das  hat 
manches  für  sich.  Mendelssohn  fand  den  Schluß  etwas  gewöhn- 
lich, und  wir  geben  ihm  recht.  Nr.  3,  Es-dur,  ein  Idyll,  zart  und 
blühend.  Nr.  4,  fis-moll,  läßt  stärkere  Akzente  reden.  Es  ist  von  schwer- 
mütiger Leidenschaft  erfüllt.  Nr.  5,  D-dur,  ist  eine  reizende  Spielerei  aus 
den  frohen  Düsseldorfer  Tagen.  Auf  den  rollenden  Baßfiguren  schwimmt 


122  Lieder   mit   und   ohne   Worte 

eine  liebliche  Melodie  und  zum  Schluß  löst  sich  alles  wie  ein  Hauch  auf. 
Nr.  6,  fis-moll,  das  zweite  venetianische  Gondellied,  führt  uns  wieder 
in  die  üppige  Farbenpracht  des  Südens  zurück.  Es  ist  eine  Erinne- 
rung, ein  Nachtstück,  glühender  als  das  erste,  von  Visionen  erfüllt, 
von  Rufen  durchzuckt  und  von  schroff  hereinbrechenden  Triolen  er- 
schüttert. „Man  muß  sehr  viel  Pedal  dazu  nehmen,  und  es  muß 
nicht  allzu  langsam  schwimmen",  meinte  Mendelssohn  nüchtern. 

Der  Charakter  der  „Lieder  ohne  Worte"  ist  in  diesen  beiden 
ersten  Heften  deutlich  umschrieben.  Mendelssohn  war  nicht  darauf 
aus,  Geniefahrten  in  unentdeckte  Kunstgebiete  zu  unternehmen.  Der 
Grundton  seiner  Klavierlyrik  blieb  derselbe.  Sentimental  gestimmt 
zeigt  sich  Nr.  1  aus  dem  dritten  Heft,  opus  38.  Wir  vergessen 
seine  langgezogene  Es-dur-Melodik  bald.  Aber  Nr.  2,  c-moll,  ist 
wieder  ein  echtes  Meisterwerk,  ein  schwermütiges  Herbstlied,  voll 
welker  Hoffnungen.  Nr.  3,  E-dur,  hilft  bei  eindringlichster,  herrlich- 
ster Melodik  der  Virtuosität  zu  ihrem  Recht.  Es  ist  grenzenlos 
jubelnder  Frühling  darin.  Wir  übergehen  das  leichtgefügte  A-dur- 
Lied  Nr.  4.  Das  folgende  in  a-moll  dagegen  hat  Größe  und  ungeheure 
Intensität  der  Leidenschaft.  Die  Staccato-Bässe  verstärken  noch  die 
mit  Synkopen  belastete  Erregung  der  Melodie.  Eine  Ballade  von 
Kampf  und  Untergang,  die  wie  im  Sturm  vorüberzieht.  Berühmter 
aber  ist  das  letzte  Stück  des  Heftes,  das  As-dur-Duetto.  Die  Vir- 
tuosen haben  es  dankbar  in  den  Konzertsaal  getragen  mit  seiner 
sangvollen  Melodik,  dieses  weiche,  heimliche  Zwiegespräch  voller 
Seligkeit  und  Hingabe. 

Wir  befinden  uns  im  Gleichmaß  der  Betrachtung.  Überraschun- 
gen harren  unser  nicht  mehr.  Auch  opus  53  hat  die  Vorzüge  seiner 
Vorgänger.  Aber  es  scheint  uns,  als  seien  gewisse  Phrasen  bereits 
Manier  geworden.  Nur  Mendelssohn  durfte  es  sich  gestatten,  in 
solchem  Grade  der  gleiche  zu  bleiben.  Er  schwärmt  in  dem  weichen 
As-dur-Lied  (Nr.  1)  und  spricht  zu  den  empfindsamen  Herzen  junger 
Mädchen.  Nicht  viel  anders  in  Nr.  2,  Es-dur,  nur  eindringlicher  und 
bewegter.  Nr.  3,  g-moll,  hat  viel  mehr  Charakter  und  Männlichkeit. 
Feierliches  Versinken  in  tiefste  Regionen  des  Herzens  aber  erleben 
wir  in  Nr.  4,  F-dur.  Das  ist  ein  Glaubensbekenntnis  des  Meisters, 
und  wir  können  es  nicht  ohne  Ergriffenheit  hören.  Erinnerungen  an 
Schottland  werden  in  dem  „Volkslied"  (Nr.  5,  a-moll)  wach,  ein  Rund- 


Lieder   mit   und   ohne   Worte  123 

gesang,  der  sich  zu  chorischen  Wirkungen  steigert.  Bei  Nr.  6,  A-dur, 
haben  die  Italiener  Pate  gestanden;  die  leichte  Melodik  beweist  es. 

Auch  opus  62  gibt  uns  keine  Rätsel  auf.  Die  Gefälligkeit  des 
ersten  Liedes  (Q-dur)  und  die  Geschwätzigkeit  des  zweiten  (B-dur) 
fesseln  uns  nicht  dauernd.  Aber  Nr.  3,  e-moll,  jener  Trauermarsch, 
der  in  Moscheles,  Instrumentierung  bei  Mendelssohns  Totenfeier  ge- 
spielt wurde,  greift  uns  an  die  Seele.  Die  gebieterischen  Triolen 
künden  Ergreifendes  an.  Majestätisch  zieht  der  Schmerz  an  uns  vor- 
über. Schneidende  Dissonanzen  klagen  unermeßliches  Leid.  Kein 
versöhnender  Schimmer  fällt  darauf.  Vor  solcher  Ausdrucksgewalt 
verblaßt  das  folgende  harmlose  G-dur-Lied,  und  erst  Nr.  5,  a-moll, 
reißt  uns  wieder  mit  sich  fort.  Es  ist  ein  Venetianisches  Gondel- 
lied, das  dritte,  eine  wehmutsvolle  Romanze  aus  verklungenen  Tagen. 
Wieder  rufen  die  Gondoliere,  wieder  schaukeln  weiche  Terzen  und 
Sexten  auf  wogender  Begleitung.  Die  Erinnerung  wird  wach,  und 
die  Seele  gewinnt  ein  verlorenes  Paradies  zurück.  Und  nun  nähern 
wir  uns  dem  Lieblingsstück  des  Bürgertums,  jenem  Allegretto  gra- 
zioso,  A-dur,  das  „Frühlingslied"  genannt  wird.  Es  läßt  sich  kaum 
etwas  Duftigeres,  Schwebenderes  denken,  als  es  diese  von  schnellen- 
den Arpeggien  getragene  Melodie  ist.  Wer  die  Grazie  liebt,  wird 
sich  vor  diesem  Meisterwerk  beugen. 

Opus  67  ist  das  letzte  Heft  der  Lieder  ohne  Worte,  das  zu  Leb- 
zeiten Mendelssohns  erschien.  Der  Meister  verleugnet  sich  in  keiner 
Note.  Welcher  Reichtum  an  harmonischen  Wendungen  und  Aus- 
weichungen von  bedeutungsvoller  Kühnheit,  um  die  Dominante  zu 
erreichen!  Hier  ist  die  Harmonie  wirklich  noch  ein  Ausdrucksmittel 
höchster  Art,  das  wohlüberlegt  und  mit  feinstem  Geschmack  gehand- 
habt wird.  Nr.  1  des  Heftes,  Es-dur,  sagt  uns  nichts  wesentlich 
Neues.  Aber  das  zweite,  fis-moll,  ist  ein  Gipfel.  Zitternd,  stoß- 
haft drängt  die  Begleitung  vorwärts,  während  die  schmelzende  Me- 
lodie oft  verweilen  möchte.  Wie  ein  Volkslied  singt  Nr.  3,  B-dur; 
man  kann  sich  nur  Eichendorffsche  Verse  dazu  denken.  Das  vierte 
hat  es  zu  allgemeiner  Beliebtheit  gebracht.  Spinnerlied  nennt  man 
das  Stück  wegen  seiner  surrenden  Lebendigkeit,  und  man  könnte 
ganze  Spinnstubengeschichten  junger  Mädchen  darin  erlauschen.  Eine 
Welt  trennt  es  von  dem  nächsten,  dem  tieftraurigen  h-moll-Lied,  in 
dem  der  Schmerz  eines  Einsamen  schluchzt  wie  eine  Reminiszenz  an 


124  Lieder  mit  und   ohne  Worte 

Schuberts  „Leiermann".  Das  sechste,  E-dur,  führt  uns  ins  Leben 
zurück,   ein  leise  schaukelndes  Wiegenlied. 

Die  beiden  letzten  Hefte,  opus  85  und  opus  102,  enthalten  Nach- 
laßwerke. Auch  sie  zeigen  uns  keine  neue  Seite  Mendelssohns,  wohl 
aber  die  alten  in  unvergänglicher  Frische  und  Fülle.  Zwar  spricht 
manchmal  Konventionelles  aus  ihnen,  wie  in  dem  lieblichen  F-dur- 
Stück  (opus  85,  Nr.  1),  und  dem  folgenden  in  a-moll.  Aber  der 
schwärmende  Meister,  der  den  Frühling  liebte,  schuf  Nr.  3,  Es-dur, 
ungestüm  aufbrausend,  breit  ausladend  und  mit  jubelnden  Fanfaren 
Freude  verkündend.  Dann  die  beiden  Liebeslieder  Nr.  4,  D-dur, 
und  5,  A-dur,  voller  Keuschheit  und  Anmut.  In  dem  sechsten,  B-dur, 
ist  mehr  Wille  als  Herz,  mehr  Ebenmaß  als  Schönheit.  Das  erste 
Lied  aus  opus  102  läßt  den  Melancholiker  zu  Worte  kommen.  Trübe 
Stimmung  wechselt  mit  heftigem  Aufbegehren.  Der  Schluß  zerfließt 
vor  Schmerz.  Nr.  2,  D-dur,  atmet  die  ruhige  Größe  und  Emp- 
findungsgewalt eines  Erkennenden.  Nr.  3,  C-dur,  schmeichelt  denen, 
die  das  Konventionelle  lieben,  aber  das  vierte  (g-moll)  ist  ganz  in 
venetianische  Glut  getaucht;  die  tiefe  Leidenschaft  eines  Suchenden 
spricht  daraus.  Einen  schroffen  Gegensatz  bringt  das  fünfte,  über- 
aus lieblich  in  seinem  beglückend  durchsichtigen  Gefüge  und  von 
einer  faszinierenden  A-dur-Leuchtkraft.  Und  lichteste  Klarheit  be- 
endet das  Wunderwerk  der  Lieder  ohne  Worte  —  C-dur,  letzte  Ver- 
geistigung der  Töne,  ein  Stück,  das  dem  Ganzen  einen  Schlußstein 
von  Händelscher  Reinheit  setzt. 

In  seinen  Liedern  ohne  Worte  haben  wir  den  ganzen  Mendels- 
sohn. Es  gibt  keine  Saite  in  seinem  Schaffen,  die  hierin  nicht  an- 
klänge. Sein  edles  Menschentum  offenbart  sich  in  ihnen  ebenso  wie 
seine  hohe  Kultur  als  Künstler.  Der  Synthetiker  stützt  den  empfind- 
samen Lyriker  und  umgekehrt.  Es  ist  eine  Kunst  für  die  feinen 
Geister,  und  man  muß  einen  erlesenen  Geschmack  besitzen,  um  ihre 
Feinheiten  voll  auskosten  zu  können.  Liegt  auch  auf  einigen  ein 
leichter  Staub  von  Vergänglichkeit,  von  Erinnerung  an  Vergangenes, 
so  verkünden  doch  die  meisten  von  ihnen  Leidenschaften,  Gefühle 
und  Gedanken,  die  nicht  nur  für  ehemals  und  heute  Gültigkeit  haben, 
sondern  deren  Intensität  und  Wahrheit  die  Zeit  und  ihre  Wandlungen 
überdauern. 


Klaviermusik  125 

KLAVIERMUSIK 

Das  Klavier  ist  das  Instrument  der  intimen  persönlichen  Aus- 
sprache des  Tondichters.  Hier  ist  er  sich  selbst  Interpret  und  gibt 
das  Unmittelbare.  Die  Entwicklung  der  musikalischen  Kultur  ist  von 
dem  Klavier  entscheidend  beeinflußt  worden.  Alle  großen  schaffen- 
den Musiker  waren  Herrscher  im  Reich  der  Tasten.  Da  eroberten 
sie  sich  ihre  Welt  und  machten  sich  die  Materie  Untertan.  Deshalb 
ist  auch  der  Klavierstil  das  sprechendste  Dokument  des  Komponisten. 
Er  offenbart  den  Grad  der  Meisterschaft,  er  legt  Zeugnis  ab  für  die 
Technik  und  ihre  Vergeistigung. 

Mendelssohn  wuchs  am  Klavier  auf.  Als  Kind  schon  erlag  er 
dem  Zauber  der  schwarzen  und  weißen  Tasten  und  fühlte  sich  auf 
ihnen  heimisch.  Das  Mechanische  fiel  ihm  wie  von  selbst  zu,  und 
der  Geist  wurde  in  der  hohen  Schule  des  Klavierspiels  gebildet:  Bachs 
Wohltemperiertes  Klavier  war  das  Evangelium,  an  das  er  schnell 
glauben  lernte.  Haydn,  Mozart,  Beethoven  blieben  ihm  nicht  fremd. 
Ludwig  Berger  verstand  es,  sie  zu  interpretieren.  Aber,  auch  was 
der  Tag  hervorbrachte,  fiel  ihm  zu,  all  die  vielen  Namen,  die  uns 
heute  nichts  mehr  bedeuten,  und  nur  noch  die  Musikgeschichte  mit 
Ballast  füllen.  Gewiß,  Mendelssohns  heller  Geist  durchschaute  sie 
bald,  aber  sie  waren  als  Fingerzeige  nicht  zu  verachten. 

Die  Erziehung  verhinderte  das  Werden  eines  Podiumshelden  und 
schuf  einen  Künstler.  Mendelssohn  stand  als  Virtuose  auf  hoher 
Stufe.  Wir  wissen,  daß  es  keine  Schwierigkeiten  für  ihn  gab.  Schu- 
mann konnte  seine  Energie,  den  Zug  ins  Große,  nicht  genug  rühmen. 
Die  überströmende  Kraft  faszinierte  ebenso  wie  der  berückende  Far- 
benreichtum seines  Anschlags.  All  dies  stand  nie  im  Dienst  des 
Alltags,  oder  des  Götzen  Publikum.  Mendelssohn  war  nur  der  Apostel 
des  Großen;  aber  er  predigte  auch  sein  eigenes  Evangelium. 

In  Mendelssohn  sehen  wir  den  letzten  Meister  der  Improvisation, 
der  großen  Kunst  Bachs,  Mozarts  und  Beethovens.  Die  Erregung 
des  Augenblicks  beflügelte  die  Phantasie,  und  das  riesige  Können 
ordnete  die  Gedanken  schon  im  Entstehen.  Das  imponierte  den 
Zuhörern;  aber  Mendelssohn  war  dieser  Kunststücke  bald  müde. 
Selten  nur  hat  das  Improvisatorische  auf  sein  Schaffen  abgefärbt. 
Für  ihn  blieb  es  schließlich  nur  Präludium  zur  Tat,  Mittel  zum  Zweck. 


126  Klaviermusik 

Mendelssohns  Individualität  hob  sich  auch  im  Klavierspiel  deut- 
lich von  seinen  berühmten  Zeitgenossen  ab,  von  den  flinken  Tasten- 
rührern  wie  Herz,  Thalberg  und  Kalkbrenner  sowohl  als  auch  von 
den  wirklichen  Künstlern  wie  Chopin,  Liszt  und  Moscheies.  Dieser 
hat  auf  ihn  am  stärksten  eingewirkt.  Auch  der  junge  Schumann  hatte 
nur  eine  Sehnsucht:  Moscheies  gleich  zu  werden.  Mendelssohn  ging 
es  nicht  anders.  Und  er  erreichte  sein  Vorbild.  Ja,  Moscheles'  Ein- 
fluß drang  sogar  bis  in  die  Klavierfiguren  Mendelssohns.  Daß 
Hummel  und  Field  einen  gewissen  Eindruck  machten,  ist  eigentlich 
selbstverständlich.  So  bildeten  sich  Spiel  und  Stil  aus  den  Vor- 
bildern klassischer  Meister  und  Zeitgenossen  und  aus  Eigenem.  Doch 
nicht  alles,  was  Eindruck  machte,  färbte  ab.  Weder  Schumann  noch 
Chopins  Klaviersatz  vermochten  Mendelssohns  sichere  Klarheit  zum 
Schwanken  zu  bringen.  Fast  heftig  verschloß  er  sich  dagegen.  Ihm 
genügte  die  äußerlich  einfachste  Formung  seiner  Klaviergedanken. 
Und  in  dieser  Durchsichtigkeit  und  Einfachheit,  in  dieser  strengen 
Satztechnik  erkennen  wir  seine  Eigenart.  Das  war  der  Mantel,  der 
seine  „eigne  Armut  an  neuen  Wendungen  für's  Klavier",  die  er 
Moscheles  einmal  klagte,  bedecken  mußte.  Er  kannte  gewisse  cho- 
rische Effekte,  liebte  es  oft,  die  Begleitungsfiguren  auf  beide  Hände 
zu  verteilen.  So  wenig  man  eigentlich  von  einem  spezifisch  Mendels- 
sohnschen  Klaviersatz  sprechen  kann  —  er  ist  doch  vorhanden,  bei 
ihm  selbst,  und  dann  vererbt  auf  eine  unabsehbare  Reihe  von  Epi- 
gonen. 

Wir  belauschen  den  Meister  in  seiner  Geisteswerkstätte.  Dem 
Klavier  vertraut  er  seine  Träume  an.  Er  improvisiert  und  gestaltet 
im  Spiel.  Die  Konturen  bilden  sich,  die  Phantasie  erfindet  leuchtende 
Farben.  Endlich  setzt  der  bewußte  Wille  zur  Synthese  ein  und  schmie- 
det Form  und  Inhalt  zu  einem  ganzen.  Hier,  im  Klavierwerk,  finden 
wir  die  intimsten  Bekenntnisse  des  Menschen  und  Künstlers.  So 
war  es  bei  Händel  und  Bach,  bei  Haydn,  Mozart  und  Beethoven,  bei 
Schubert  und  Chopin,  Schumann  nicht  zu  vergessen,  und  so  war  es 
auch  bei  Mendelssohn.  Hier  sprechen  Liebe  und  Leidenschaft  eine 
besondere  Sprache  voller  Heimlichkeit  und  Tiefe.  Hier  projiziert  der 
Schaffende  seine  Kunst  als  Ausübender  auf  das  Werk,  das  er  ersinnt. 

Ein  glänzender  Pianist,  wie  Mendelssohn,  war  stets  in  Ver- 
suchung, für  sein  Instrument  zu  schreiben.  Chopin  ist  dem  Zauber  der 


Klaviermusik  127 

Tasten  völlig  erlegen.  Schumann  war  für  zehn  Schaffensjahre  aus- 
schließlich durch  sie  gefesselt.  Mendelssohns  Streben  ging  jedoch 
schon  früh  ins  Universale.  Die  Klavierwerke  ziehen  sich  neben  größe- 
ren Arbeiten  durch  sein  ganzes  Leben.  Sie  waren  Ruhepunkte  für  ihn, 
in  denen  er  neue  Sammlung  fand.  Wie  ein  Kranz  schlingen  sich  die 
„Lieder  ohne  Worte"  um  sein  Gesamtwerk.  In  ihnen  sahen  wir  sein 
Meisterlichstes.  Und  auch  in  der  Fülle  seiner  übrigen  Klaviermusik 
werden  wir  erkennen,  daß  die  großen  Tonereignisse  fast  immer  in 
der  kleinen  Form  geschehen.  Mendelssohn  kommt  nur  mit  Auf- 
opferung der  tonlichen  Konzentration  über  die  Liedform  hinaus.  (Die 
Ausnahmen  davon  liegen  in  den  Ouvertüren,  der  Symphonik  und 
Kammermusik).  Er  gerät  ins  Plaudern  und  wird  geschwätzig.  Es  ist 
zwar  stets  liebenswürdig,  elegant,  schmeichelnd,  was  er  sagt;  aber 
die  Tiefe  und  innere  Notwendigkeit  fehlen  dann.  Dies  ist  der  Men- 
delssohn, der  vergessen  worden  ist;  ganz  ein  Kind  seiner  Zeit,  die 
umständlich  und  breit  mit  verbindlichem  Lächeln  zu  erzählen  liebte 
und  auch  für  Kleinigkeiten  viel  Muße  hatte. 

Die  Opusnummern  geben  uns  keinen  Anhalt  zu  chronologischer 
Betrachtung.  Früh  Entstandenes  ist  oft  erst  spät  der  Öffentlichkeit 
mitgeteilt  worden.  Vieles  hat  sogar  erst  aus  dem  Nachlaß  zum 
Verleger  gefunden.  Doch  suchen  wir  den  Weg  vom  Kleineren  zum 
Größeren. 

Opus  5  „Capriccio",  ein  Stück  ganz  aus  Jugend  und  Spielfreude. 
Der  Sechzehnjährige  schrieb  unbekümmert  um  Längen,  störte  sich 
nicht  an  rhythmischer  Eintönigkeit  und  schwelgte  im  Figurenwerk. 
Immerhin  zeigt  sich  schon  Mendelssohn  in  dieser  Musik.  Aber  in  den 
sieben  Charakterstücken  opus  7  sah  er  durch  die  Brille  der  alten 
Meister.  Man  stößt  auf  viel  Händelsches  und  fühlt  Bachschen  Ein- 
fluß. Die  Formung  aber  ist  prägnanter  geworden,  und  die  Stimmung 
kann  nun  voll  ausklingen,  ohne  zu  ermatten.  Empfindsames  und 
Neckisches  wechselt  mit  Fugen,  Sehnsüchtiges  und  Spielerisches  ver- 
schmäht nicht  die  Regeln  des  strengen  Satzes.  Aber  der  Meister  grüßt 
uns  in  opus  14,  dem  berühmten  „Rondo  capriccioso".  Dieses  Werk 
atmet  die  Frische  und  den  Geist  der  Sommernachtstraum-Ouvertüre. 
Wir  hören  das  Huschen  und  Kichern  der  Holzbläser,  den  schmelzen- 
den Gesang  der  Celli  und  das  Seufzen  der  Violinen.  Die  Elfen  sind 
wach.    Eine  breite  E-dur-Einleitung  bereitet  das  Spiel  vor.  Alle  guten 


1 28  Klaviermusik 

Geister  Italiens  haben  Mendelssohn  hier  inspiriert.  Das  zittert  vor 
Leidenschaft  und  Seligkeit  in  der  weitgeschwungenen  Melodie.  In 
zögernden  Sechzehnteln  steigt  das  Spiel  nach  oben,  und  nun  beginnt 
in  e-moll  das  Märchen  von  den  seltsamen  Wundern  des  Waldes 
im  Mondenschein.  Alles  ist  Grazie,  Hauch  und  Traum.  Der  hüp- 
fende 6/8_Rhvthmus  herrscht,  ähnlich  wie  in  opus  5,  aber  um  vieles 
delikater  behandelt.  Gesangvolle  Episoden  und  üppige  Figuratio- 
nen  tragen  neue  Farben  dazu.  Das  Spiel  sinkt  schließlich  ermüdet 
in  die  tiefen  Regionen  ,des  Klaviers,  und  eine  donnernde  Oktaven-Coda 
sucht  den  großen   Effekt,  zerschmettert  aber  die  Stimmung. 

Das  Capriccio  hatte  es  Mendelssohn  angetan.  Immer  wieder 
kam  er  auf  diesen  Charakter  zurück.  1829,  in  England,  schrieb  er 
die  „Drei  Phantasien  oder  Capricen"  opus  16.  Sie  sind  für  Ladys 
erdacht.  Es  ist  galante  Musik  eines  Weltmanns,  der  amüsant  zu 
plaudern  versteht,  sehr  klar  und  durchsichtig.  Aber  die  Gefühle 
schwimmen  nur  an  der  Oberfläche.  Nr.  2,  ein  Trompetenstückchen, 
ist  wieder  eine  Reminiszenz  an  den  Sommernachtstraum.  Ausladender, 
breiter  in  der  Form  sind  die  „Drei  Capricen"  opus  33.  Sie  sind  auch 
leidenschaftlicher  und  stärker  im  Ausdruck.  Namentlich  die  zweite 
ist  ein  Meisterstück,  von  prachtvollem  Kolorit  und  einer  Kunst  der 
Artikulation,  die  echt  Mendelssohnisch  ist.  Schumann  meinte,  der 
Komponist  könne  damit  das  liebenswürdigste  Mädchen  auf  einige 
Augenblicke  untreu  machen.  Der  berückende  Glanz  der  duftigen, 
schwebenden  Melodik  macht  selbst  Übertreibungen  noch  wahr.  Die 
erste  und  dritte  Caprice  dienen  nur  als  Folie.  Man  vergißt  sie 
bald  wieder,  wie  man  schöne  Frühlingstage  vergißt,  wenn  der  Sommer 
da  ist.  Bei  dem  1838  geschriebenen  „Andante  cantabile  und  Presto 
agitato"  kann  die  Länge  nicht  ersetzen,  was  an  Tiefe  fehlt.  Es  ist 
zuviel  Glätte  in  solcher  Musik.  Auch  das  „Scherzo  a  Capriccio"  hat 
das  ewige  Lächeln  und  ermüdet,  wie  das  „Albumblatt"  opus  117, 
das  „Capriccio"  opus  118,  das  „Perpetuum  mobile"  opus  119,  Stücke, 
die  nur.  der  Name  des  Meisters  vor  dem  Nichts  gerettet  hat.  Muß 
man  nicht  auch  die  „Kinderstücke"  opus  72  dazu  rechnen,  die  durch 
Schumanns  unendlich  poetischere  und  packende  Jugendstücke  in  den 
Schatten  gedrängt  worden  sind?  Hier  sind  die  Farben  verblaßt. 
Kinder  suchen    eine   andere   Welt,   bunter,   lebendiger  und  frischer. 

Bleiben   wir  bei   der  kleinen    Form.     Da  fordern  zunächst  die 


Klaviermusik  129 

„Präludien  und  Fugen",  opus  35,  unsere  Beachtung.  Der  eifrige 
Zelterschüler,  der  an  Bachs  Wohltemperiertem  Klavier  groß  geworden 
war,  mußte  sich  vor  der  Welt  als  Meister  der  Fuge  zeigen.  Bachs 
ungeheures  unerreichbares  Vorbild  trieb  ihn  zu  höchstem  Ernst. 
Es  gibt  für  die  Fuge  nur  diesen  einen  Maßstab,  den  keiner  vor  und 
nach  Bach  je  erreicht  hat.  Die  einzigartige  Vereinigung  von  poly- 
phonem und  harmonischem  Empfinden,  von  Stimmführung  und  Stufe 
fand  sich  nur  in  diesem  einen  Geist  in  solcher  Vollendung.  Auch 
Mendelssohn  konnte  das  Letzte  nicht  gelingen.  Seine  Präludien  und 
Fugen  sind  meisterlich  geformte  Stücke,  die  einen  außerordentlich 
hohen  Stand  von  Kultur  des  strengen  Satzes  zeigen.  Er  wirft  die 
Kraft  und  den  Zauber  seiner  Melodik  in  die  Wagschale,  und  sie  neigt 
sich  stark  zu  seinen  Gunsten.  Aber  wir  sehen  es :  die  Thematik 
seiner  Fugen  läßt  eine  Entwicklung  zu  Bachscher  Höhe,  eine  drama- 
tisch bewegte  Zuspitzung  der  Ereignisse,  wie  sie  bei  dem  Thomas- 
kantor selbstverständlich  war,  nicht  zu.  Und  doch:  was  für  Gipfel 
sind  sie  den  satzgerechtesten  Handwerkerfugen  gegenüber.  Das 
Leben  quillt  in  ihnen.  Welch  eine  poetische  Fülle  in  den  Präludien! 
Wie  scharf  sind  sie  charakterisiert.  Das  fünfte  der  Reihe  ist  wohl 
das  Tiefste,  was  seit  Bach  auf  diesem  Gebiet  geschrieben  worden  ist. 
In  den  Fugen  siegt  oft  die  schöne  Linie  über  den  Charakter.  Ro- 
mantik muß  hier  ersetzen,  was  bei  Bach  höchste  Vergeistigung  des 
Materiellen  war.  Ein  „Präludium  und  Fuge"  in  e-moll  gab  Mendels- 
sohn gesondert  heraus,  ein  Werk  mit  wirksamer  Thematik.  Die 
Fuge  beginnt  mit  einem  charakteristischen  Septimensprung  und 
scheint  fast  für  die  Orgel  gedacht  zu  sein.  Die  „Drei  Präludien" 
aus  dem  Nachlaß,  opus  104,  schlagen  die  Brücke  zu  den  Etüden. 

Der  pianistische  Drang  in  Mendelssohn  konnte  an  der  Etüde 
nicht  vorübergehen,  in  der  damals  namentlich  sein  Freund  Moscheies 
brillierte.  Aber  er  streifte  sie  nur  gelegentlich,  und  es  ist,  als  lächle 
uns  der  Alleskönner  aus  ihnen  entgegen.  Die  f-moll-Etüde  aus  1836 
nannte  er  selbst  „tiree  de  la  Methode  des  Methodes  de  Moscheies  et 
Fetis"  —  ein  Presto-Glanzstück.  Auch  die  drei  Etüden,  opus  104, 
haben  den  Glanz  und  das  Parfüm  des  Salons.  Ihre  Effekte  schmei- 
cheln den  Sinnen,  von  ihren  erzieherischen  Werten  ganz  zu  schweigen. 

Einen  Könner  wie  Mendelssohn  mußte  auch  die  Variationenform 
reizen.   Vor  seinen  Augen  hatte  ja  Schumann  mit  den  Symphonischen 

Dahras,  Mendelssohn  9 


130  Klaviermusik 

Etüden  triumphiert  und  auf  Beethovens  Weg  mit  Erfolg  vveiter- 
gebaut.  Das  durfte  ihn  nicht  ruhen  lassen.  Aber  erst  1841  er- 
fand er  ein  Thema  in  d-moll  und  schrieb  darüber  18  Variationen,  die 
„Variations  serieuses",  opus  54.  Schon  der  Titel  verrät,  daß  wir 
es  nicht  mit  einem  bloßen  Virtuosenwerk,  mit  einer  leichten  Spielerei 
zu  tun  haben.  Der  Ernst  des  Themas  spricht  sich  schon  in  den 
schwerwiegenden  Synkopen  und  der  schmerzlichen  Chromatik  aus. 
In  der  ersten  Variation  wird  es  von  einer  laufenden  Mittelstimme 
getragen,  in  der  zweiten  nimmt  auch  die  Oberstimme  an  der  Figu- 
ration  teil.  Das  Spiel  steigert  sich  staccato  in  der  dritten  und  vierten 
Variation  zu  immer  größerer  Lebhaftigkeit.  Das  Agitato-Intermezzo 
der  fünften  läßt  ganz  neue  Farben  aufleuchten.  Sprunghaft  zerrt  die 
sechste  das  Thema  in  die  verschiedenen  Lagen  der  Klaviatur,  stei- 
gernd führt  die  nächste  Variation  dasselbe  Spiel  fort,  bis  in  der  achten 
und  neunten  alles  in  rollende  Sechzehnteltriolen  aufgelöst  wird. 
Fugiert  leitet  Nr.  10  in  die  Anfangsstimmung  zurück;  wie  ein  Traum 
hebt  Nr.  11  an  und  drängt  zum  Schluß  gewaltig  hin  zu  der  stür- 
mischen Entladung  der  zwölften  Variation.  Nr.  13  bringt  das  Thema 
wieder,  quasi  Cello;  die  Mittelstimme  wird  von  hüpfenden  Zwei- 
unddreißigsteln umspielt.  Eine  Fermate  trennt  uns  von  der  14.  Vari- 
ation. Das  Spiel  hat  sich  nach  Dur  gewendet;  in  einem  Adagio  von 
unendlicher  Oefühlstiefe  strömt  eine  Seele  ihr  Letztes  aus.  Hier  ist 
der  Kulminationspunkt  des  Werkes  erreicht.  Wie  ein  Nachtstück 
geistert  Nr.  15,  wieder  in  Moll,  vorüber.  Und  nun  ergreift  der 
Virtuose  das  Schlußwort,  um  den  Träumer  in  die  Wirklichkeit  zurück- 
zureißen.  Glanzvoll  wird  das  Werk  gekrönt,  das  zu  Mendelssohns 
hervorragendsten  Meisterleistungen  gehört.  Den  „Variations  seri- 
euses" ließ  er  im  selben  Jahr  noch  zwei  weitere  Variationenwerke 
folgen,  opus  82,  Es-dur,  und  83,  B-dur.  Die  Höhe  ihres  Vorbildes 
erreichten  sie  nicht;  aber  es  ist  viel  lebensfrische  Musik  in  ihnen. 
Die  B-dur-Variationen  hat  Mendelssohn  übrigens  auch  vierhändig 
gesetzt  in  opus  83a;  da  gewinnen  sie  noch  an  Leuchtkraft  im  Kolorit. 
Er  fragte  nicht  nach  der  Wirkung,  wenn  ihn  der  Geist  trieb,  zu  schaffen. 
Deshalb  finden  wir  in  allen  Formen,  die  er  pflegte,  seine  ganze  Per- 
sönlichkeit. Auch  die  Variationen  mit  ihrem  tiefsinnigen,  edlen  Inhalt 
und  ihrem  vornehmen  Äußeren  haben  es  uns  wieder  bewiesen. 

Den  Variationen,  die  von  der  kleinen  zur  großen  Form  leiten, 


Klaviermusik  131 

schließen  sich  wie  von  selbst  die  Phantasien  und  Sonaten  an.  Men- 
delssohn hat  nur  in  seinen  jungen  Jahren  Sonaten  für  Klavier  kom- 
poniert. Fühlte  er,  als  er  damit  aufhörte,  daß  ihm  auf  diesem  Gebiet 
das  Höchste  nicht  zu  sagen  vergönnt  war?  Beethoven  war  das  Ideal, 
dem  es  nachzustreben  galt.  Schuberts  romantische  Überfülle  kannte 
er  noch  nicht.  Aber  vor  Beethovens  letzten  Sonaten  mußte  ein 
Strebender,  der  Neues  bringen  wollte,  verzweifeln.  Schumann  rettete 
sich  durch  das  Romantisch-Poetische.  Mendelssohn  jedoch  suchte 
das  Absolute.  Und  wir  sehen  ihn  nun  im  Kampf  mit  der  Synthese. 
Er  unterlag.  Seine  Klaviersonaten  sind  Werke  eines  Epigonen,  sind 
Vorstudien  zu  Größerem.  Das  Individuelle  verbirgt  sich  in  fremdem 
Gewand.  Es  drängt  zwar  schon  nach  oben;  aber  die  Ehrfurcht  vor 
dem  erhabenen  Vorbild  lähmt  ihm  noch  die  Schwingen.  In  der  E-dur- 
Sonate,  opus  6,  fällt  das  Streben  auf,  alle  vier  Sätze  zu  einem  Ganzen 
zu  verschmelzen.  Vom  dritten  Satz,  einem  rezitativisch  gehaltenen 
Stück,  an  tauchen  die  Reminiszenzen  an  das  Vergangene  auf.  Es 
sind  viele  schöne  Einzelheiten  vorhanden;  aber  der  Zug  ins  Große 
fehlt.  Zu  den  Klavierfiguren  hat  Weber  Pate  gestanden.  Die  g-moll- 
Sonate,  opus  105,  und  die  in  B-dur,  opus  106,  hat  Mendelssohn  selbst 
nicht  veröffentlicht.  Sie  sind  erst  aus  dem  Nachlaß  auf  uns  ge- 
kommen. Thematik,  Modulationen,  Formung  der  Gedanken,  die  klei- 
nen Finessen  des  Satzes,  die  Behandlung  des  Klaviers  —  alles  ist 
von  dem  galanten  Wiener  Stil.  Nur  in  den  langsamen  Sätzen  tauchen 
sentimentale  Vorahnungen  späterer  Lieder  ohne  Worte  auf.  Man  hört 
im  übrigen  auf  Haydn,  Mozart  und  den  jungen  Beethoven  und  freut 
sich  eines  so  findigen  Nachahmungstalents,  ohne  ergriffen  zu  sein. 
Sonate  wollte  Mendelssohn  auch  die  1833  entstandene  fis-moll-Phan- 
tasie,  opus  28,  für  Klavier  nennen.  „Sonate  ecossaise"  hatte  er  in  der 
ersten  Aufwallung  auf  das  Autograph  geschrieben.  Aber  das  über- 
wiegend Phantastische  des  Stückes  ließ  ihn  auf  die  anspruchsvollere 
Bezeichnung  verzichten.  Stimmungsvolles  liegt  in  den  Andante-Par- 
tien  des  ersten  Teils.  Das  andere  ist  geschwätzige  Glätte.  Und  auch 
die  „Phantasie  über  ein  irländisches  Lied",  opus  15,  kommt  nicht 
über  das  Sentimentale  hinaus.  Erwähnen  wir  nun  noch  das  vier- 
händige „Allegro  brillant",  opus  92,  das  mit  blendender  Geschicklich- 
keit und  virtuoser  Gewandtheit  über  Tiefen  hinwegsteuert,  so  ist 
Mendelssohns   reine  Klaviermusik  in  ihrer  Gesamtheit  umschrieben. 

0* 


132  Klaviermusik 

Wir  nähern  uns  Größerem,  Meisterlichem,  Mendelssohns  Werken 
für  Klavier  und  Orchester.  Das  Konzert  ist  Bekenntnis  der  Virtuosen 
und  will  die  Menge  gewinnen  und  bekehren.  Es  hat  die  formellen 
Richtlinien  der  Sonate  angenommen,  versucht  also  aus  scharf  kontra- 
stierenden Einzelsätzen  ein  Ganzes  zu  bilden.  Die  äußere  Entfaltung 
eines  großen  Apparats  bedingt  prägnanteste  Thematik,  und  der  soli- 
stische Ehrgeiz  eines  bevorzugten  Instruments  erfordert  Glanz  und 
Effekte.  Nach  Beethoven  war  das  Klavierkonzert  in  die  Hände  der 
Kalkbrenner,  Thalberg,  Moscheies,  Hummel  und  Herz  gefallen.  Die 
hatten  es  mit  allem  erdenklichen  Prunk  und  Flitterkram  behängt. 
Das  Gedankliche,  an  und  für  sich  schon  schwach,  war  von  Passagen 
überwuchert.  Das  Konzert  war  Paradestück  für  den  eigenen  Ge- 
brauch reisender  Virtuosenkomponisten  geworden,  die  Form  nur 
noch  Vorwand  für  inhaltlose  Spielereien.  Die  Eleganz  und  Ge- 
schwätzigkeit des  Salons  buhlte  um  die  Gunst  der  Massen.  Hier 
griff  Mendelssohn  ein  und  rettete  das  Konzert  wieder  in  die  Sphäre 
der  Kunst  hinüber.  Sein  Ideal  war  Beethovens  G-dur-Konzert,  das 
er  immer  wieder  spielte.  Die  Vorahnungen  der  Romantik  in  diesem 
Werk  bestärkten  ihn  in  seinem  eigenen  Streben.  Aber  seine  weichere 
Natur  dachte  in  Moll,  verwischte  die  strengen  Konturen,  schwärmte 
und  plauderte  und  trug  selbst  das  Leidenschaftliche  noch  mit  liebens- 
würdiger Miene  vor.  Und  bei  allem  Streben  zum  reinen  Kunstwerk 
vergaß  er  nicht,  daß  der  Virtuose  auch  sein  Recht  verlangen  darf. 
Deshalb  überschüttete  er  das  Klavier  mit  pianistischen  Effekten, 
namentlich  in  seinen  spielfreudigen  Schlußsätzen. 

Als  Mendelssohn  1832  das  g-moll-Konzert  für  Klavier  und  Or- 
chester, opus  25,  komponierte,  war  er  auf  diesem  Gebiet  kein  Neu- 
ling mehr.  Er  hatte  seine  Lehrlings-  und  Gesellenwerke  schon  hinter 
sich,  ein  Konzert  für  Klavier  und  Streichinstrumente  in  a-moll  und 
zwei  Konzerte  für  2  Klaviere  und  Orchester  in  E-dur  und  As-dur. 
Seitdem  waren  fast  zehn  Jahre  verstrichen.  Er  war  ein  anderer  ge- 
worden, reicher,  fertiger.  Vielfältige  Erlebnisse  beflügelten  seine 
Phantasie.  Er  hatte  Italien  genossen  und  freute  sich  an  der  Buntheit 
des  Münchener  Lebens,  als  er  das  g-moll-Konzert  schuf.  Eine  be- 
zaubernde jünglingshafte  Frische  liegt  deshalb  über  dem  Werk. 

Aus  der  Tiefe  drängen  die  Streicher  vereint  mit  den  Holzbläsern 
nach  oben,  immer  energischer  ausholend,  bis  das  Klavier  mit  einem 


Klaviermusik  133 

kühnen  Oktavenmotiv  das  Spiel  an  sich  reißt.  Fortissimo  und  voll- 
griffig klingt  das  Hauptthema  an.  Immer  wieder  mischen  sich  be- 
hende Figuren  zwischen  die  trotzigen  Oktavengänge.  Endlich  zeigt 
das  ganze  Orchester  das  Hauptthema  in  voller  Größe.  Das  Klavier 
stellt  rollende  Passagen  dagegen  auf.  In  brillantem  Schwung  wird 
der  Bogen  zum  Seitenthema  gezogen,  das  mit  seiner  schmelzenden 
Innigkeit  ganz  dem  Klavier  anvertraut  ist.  Doch  schon  klingt  das 
Oktavenmotiv  aus  der  Einleitung  wieder  an.  Das  Orchester  greift 
auf  die  Kantilene  des  Seitenthemas  zurück.  Vergebens.  Die  vir- 
tuosen Gelüste  des  Klaviers  drängen  zur  Durchführung.  Sie  ist 
nur  kurz.  Auch  die  Reprise  sagt  nur  noch  das  Allernotwendigste  und 
verzichtet  sogar  auf  das  Seitenthema.  Fanfaren  leiten  von  g-moll 
über  G-dur  nach  der  Dominante  von  E.  Das  Klavier  befestigt  die 
Dominante  und  führt  mit  weichen  Klängen  in  das  Andante,  ein 
schwärmerisches,  tiefbeseeltes  Lied  ohne  Worte.  Die  Celli  stimmen 
es  an,  das  Klavier  trägt  es  in  die  höheren  Regionen.  Schwelgerisch 
wird  E-dur  ausgekostet.  Das  Klavier  löst  schließlich  alles  in  zarte 
tremolandos  auf,  während  Bratschen  und  Celli  ihre  Melodie  dazu 
singen.  Der  stille  beglückende  Traum  findet  in  langen  Fermaten 
sein  Ende.  Der  Virtuose  verlangt  sein  Recht;  für  ihn  schrieb  Mendels- 
sohn das  sprühende,  geistvolle,  mit  allen  Effekten  eines  zündenden 
Klaviersatzes  geschmückte  Finale  G-dur,  das  von  einer  Presto-Ein- 
leitung  verheißungsvoll  angekündigt  wird.  Man  kann  unschwer  die 
leichte  Hand  des  Sommernachtstraum-Komponisten  darin  erkennen. 
Eine  schüchterne  Reminiszenz  an  das  Seitenthema  des  ersten  Satzes 
unterbricht  einmal  das  wilde  Treiben.  Aber  schnell  eilt  das  Klavier 
mit  stürmischen  Passagen  dem  Ende  zu. 

Fünf  Jahre  später  schrieb  Mendelssohn  sein  zweites  Klavier- 
konzert in  d-moll,  opus  40.  Es  hat  sich  trotz  allen  Schönheiten  die 
Gunst  der  Welt  nicht  so  sehr  erworben,  wie  das  g — moll-Konzert. 
Technische  Probleme  enthält  es  nicht;  das  Klavier  bringt  dieselben 
Phrasen  und  Formen,  die  in  der  Zeit  üblich  waren.  Aber  Mendels- 
sohn spricht  sie  mit  eigener  Betonung.  „Das  Lächeln  um  die  Lippen 
hat  niemand  schöner  als  er",  sagte  Schumann.  Es  ist  eine  reife  süße 
Frucht,  das  d-moll-Konzert,  von  der  Hand  eines  Meisters  nieder- 
geschrieben, der  in  der  Schatzkammer  seiner  Phantasie  nicht  erst 
lange  nach  Einfällen  zu  suchen  brauchte.    In  einer  kurzen  Einleitung 


134  Klaviermusik 

bedrängen  sich  Klavier  und  Orchester  mit  thematischen  Bruchstücken, 
bis  das  Orchester  mit  voller  Kraft  das  Hauptthema  bringt.  Das 
Klavier  spinnt  den  Gedankenkreis  weiter,  verliert  sich  aber  bald  in 
feinziselierte  Ornamentik,  während  das  Orchester  am  Thematischen 
hängt.  Das  weiche,  gefühlvolle  Seitenthema  in  F-dur  singt  in  seliger 
Versunkenheit  seine  Weise,  bis  das  Hauptthema  wieder  aufbegehrt. 
Über  Trillerketten  des  Klaviers  geht  es  zur  Durchführung,  die  sich 
aber  nur  auf  Andeutungen  beschränkt.  Mendelssohn  trägt  den  Kampf 
der  Themen  nicht  in  dramatischer  Art  aus.  Nach  einer  wuchtigen 
Steigerung  setzt  die  Reprise  ein.  Auch  sie  spricht  sich  kurz  und 
bündig  aus.  Arpeggien  des  Klaviers  leiten  zum  Mittelsatz  über. 
Wieder  ein  Lied  ohne  Worte,  wieder  die  Klage,  die  wir  kennen,  die 
alte  Schönheit  und  Herzlichkeit.  Unmittelbar  knüpft  das  Finale,  ein 
Presto  scherzando,  an.  Orchester  und  Klavier  werfen  sich  thema- 
thische  Brocken  und  Ansätze  zu,  bis  das  Klavier  schließlich  Thema 
und  Führung  übernimmt.  Im  leichten  flüssigen  Plauderton  steht  der 
ganze  Satz,  in  wirkungssicherer  Abrundung  Erfolg  heischend  und 
findend. 

Ein  Genosse  der  Glückstage  des  g-moll-Konzertes  ist  das  „Ca- 
priccio brillante",  opus  22,  für  Klavier  und  Orchester.  Mendelssohn 
legte  hier  seiner  Phantasie  keine  Fesseln  an.  Er  vermied  die  Grenzen 
einer  strengeren  Formung  der  Gedanken.  Wir  sahen  schon  in  den 
Durchführungsteilen  der  Konzerte,  daß  es  sich  bei  der  Durcharbeitung 
der  Themen  für  ihn  nicht  um  den  Kampf  zweier  Prinzipien  handelte, 
sondern  vielmehr  um  ein  leichtes  Variieren  und  Weiterspinnen  der 
Stimmung.  Das  Capriccio  brillante  ist  galante  Weltmusik,  die  in  einer 
auserwählten,  hochkultivierten  Sprache  angenehme  Dinge  sagt.  Wie 
alle  diese  Werke  Mendelssohns  ist  es  glänzend  instrumentiert  und 
von  einem  berückenden  Farbenreichtum.  Eine  weiche  H-dur-Ein- 
leitung,  die  mit  zarten  Klavierarabesken  geschmückt  ist,  führt  zum 
eigentlichen  Capriccio  Allegro  con  fuoco  in  h-moll.  Eine  Reihe  von 
bezaubernden  Bildern  entfaltet  sich:  das  kapriziöse  Hauptthema  mit 
seinem  pathetischen  Anfang,  ein  kokett  hüpfendes  Nebenthema  und 
ein  üppiges,  heiteres  Thema,  das  mit  seinem  Marschrhythmus  vieler 
Wandlungen  fähig  ist  und  schließlich  nach  einem  bunten  Treiben  der 
Motive  gewichtig  das  Schlußwort  behält. 

Weniger  abwechselungsreich  zeigt  sich  das  „Rondo  brillante", 


Klaviermusik  135 

opus  29  für  Klavier  und  Orchester.  Gewiß  feiert  die  Virtuosität 
Mendelssohns  Triumphe  und  seine  Gewandtheit  im  Ausspinnen  der  Ge- 
danken schafft  Inhalt.  Aber  die  Eleganz  dieser  Musik  greift  nicht 
ans  Herz.  Tiefer  berührt  uns  „Serenade  und  Allegro",  opus  43, 
für  Klavier  und  Orchester.  Das  ist  eine  innig  gefühlte  Abendmusik 
voll  Schwärmerei  und  Mondschein,  in  wundersam  zarten  Farben  ge- 
malt, der  ein  urwüchsiges,  fröhliches  Allegro  folgt,  das  Ganze  auch 
ein   Lied  ohne  Worte,  das  eine  deutliche  Sprache  spricht. 

Mit  den  Werken  für  Klavier  und  Orchester  ist  der  Kreis  der 
Klavierwerke  Mendelssohns  abgeschlossen.  Auch  in  die  große  Form 
trug  der  Meister  der  Kleinkunst  seine  Prinzipien.  Was  ihm  an  innerer 
Geschlossenheit,  an  dramatischer  Zuspitzung  und  Schlagkraft  zu  er- 
reichen nicht  vergönnt  war,  das  ersetzte  er  durch  die  Intensität 
seiner  gefühlsseligen  Stimmung,  durch  seine  vornehme  Kunst  der 
Überredung,  die  ohne  große  Worte  in  die  Tiefe  dringt.  So  biieb  er 
auch  in  der  großen  Form  der  Meister,  der  ihr  den  Stempel  seiner 
Persönlichkeit  aufdrückte. 

Neben  den  Klavierwerken  müssen  die  Orgelwerke  Mendelssohns 
erwähnt  werden.  Von  Jugend  auf  reizte  ihn  die  Klangpracht  der 
Orgel.  Auf  seinen  Reisen  verträumte  er  die  schönsten  Stunden  in  den 
Kirchen.  Hier  durchkostete  er  die  Weihestimmung  des  Einsamen. 
Wir  lesen  in  seinen  Briefen,  mit  welcher  Inbrunst  er  sich  in  den 
unerschöpflichen  Farbenreichtum  des  Instrumentes  hineinfühlte.  Und 
es  drängte  ihn  zu  schaffen.  Bachs  Vorbild  rief  die  „Drei  Präludien 
und  Fugen",  opus  37,  in  ihm  wach,  die  Präludien  poetische  Ver- 
klärungen seiner  Liebe  und  die  Fugen  Huldigungen  eines  Meisters 
vor  dem  Größten,  ungeheuer  gediegene  Musik.  Das  Eigenste  gab  er 
jedoch  erst  in  den  „Sechs  Sonaten  für  die  Orgel",  opus  65.  Hier 
strömt  seine  Phantasie  hemmungslos  aus.  Es  sind  poetische  Ver- 
klärungen seiner  Frömmigkeit,  seines  Glaubens  und  seiner  Hoff- 
nungen. Die  Gedanken  sind  von  einer  wunderbaren  Reife  und  Fülle, 
mit  dunklen  Farben  wie  auf  Goldgrund  gemalt.  Choralmelodien 
stimmen  noch  feierlicher,  und  die  Künste  des  strengen  Satzes  heben 
die  Musik  in  die  Höhe  des  Objektiven,  wo  wir  die  letzte  Vergeisti- 
gung erleben. 


136  Kammermusik 

KAMMERMUSIK 

Die  Pflege  der  Kammermusik  war  für  Mendelssohn  eine  Selbst- 
verständlichkeit. Er  war  in  der  Verehrung  der  Klassiker  erzogen  und 
lernte  frühzeitig  sich  selbst  an  den  strengsten  Maßstäben  messen. 
Das  häusliche  Musizieren  weckte,  wie  beim  jungen  Schubert,  den 
Klangsinn  für  die  intimste  und  vornehmste  Aussprache  der  Jnstru- 
mente.  Kein  Wunder,  daß  der  Drang  zur  Synthese  schon  in  dem 
Knaben  wach  war,  der  ehrgeizig  seine  Ideale  in  Mozart  sah  und 
anbetete.  Mendelssohn  hatte  nicht  wie  Schubert  und  Schumann  den 
Weg  zur  Kammermusik  durch  die  musikalische  Verklärung  des  Dich- 
terwortes gewonnen.  Romantischer  Überschwang  verleitete  ihn  nicht. 
Das  Lyrische  blieb  im  Hintergrund. 

In  der  Kammermusik  ist  die  Synthese  alles.  Haydn  und  Mozart, 
die  die  Grundsteine  gelegt  und  Beethoven,  der  das  grandiose  Gebäude 
vollendet  hat,  haben  damit  zugleich  die  Gipfel  der  Kammermusik- 
kunst erschaffen.  Einem  Mendelssohn,  der  nicht  experimentieren 
wollte,  blieb  nur  übrig,  auf  den  begangenen  Wegen  weiter  zu  schreiten, 
bereits.  Gesehenes  noch  einmal  in  anderer  Beleuchtung  zu  zeigen. 
Da  er  kein  Form-Wandler  oder  -Stürzer  war,  konnte  er  nur  in  seiner 
Sprache  die  vielfältigen,  unerschöpflichen  Wunder  der  Sonatenform 
noch  einmal  erzählen.  Das  Melodische  fesselt  uns;  hier  liegt  seine 
Stärke.  In  der  Synthese  huldigt  er  vielfach  der  Konvention.  Jedoch 
er  besitzt,  was  nur  ein  Genie  besitzen  kann:  jene  unnachahmliche, 
sinnvolle,  sprechende  Artikulation,  die  einen  unendlichen  Reichtum 
im  Kleinen  hervorzaubert.  Und  in  allem  lebt  die  Leidenschaft  des 
Vollblutmusikers,  ohne  die  nichts  Großes  zu  denken  ist. 

Die  Kammermusikwerke  Mendelssohns  sind  auf  seine  Jugend 
und  auf  die  reife  Zeit  verteilt.  In  der  Mitte  klafft  eine  Lücke  von 
fast  10  Jahren.  Die  Zeit  der  Jugendwerke  ist  reich  an  Versuchen. 
Zwar  gelangen  die  drei  Klavierquartette  1822-24  auf  den  ersten  An- 
stoß. Aber  daneben  wurden  zahlreiche  andere  Werke  niederge- 
schrieben, die  unveröffentlicht  geblieben  sind.  Nur  die  Violinsonate 
f-moll  und  das  Klavier-Sextett  D-dur  haben  sich  aus  diesen  Jahren 
erhalten.  Dem  jungen  Tastenhelden  war  es  selbstverständlich,  zu- 
nächst   Klavierkammermusik    zu    komponieren,    um    sich    selbst    eine 


Kammermusik  137 

glänzende  Partie  zu  schreiben.  Ihn  lockte  weniger  die  Möglichkeit 
tiefsinniger  musikalischer  Kombinationen.  Das  Reflektierende  lag 
ihm  fern.  Sein  Nachahmungstalent  suchte  vielmehr  Gelegenheit  zur 
Ergründung  synthetischer  Geheimnisse  und  Praktiken. 

Der  Geist  der  Kammermusik,  die  Freiheit  und  Selbständigkeit 
des  Einzelnen  im  harmonischen  Ganzen,  verlangt  die  denkbar  höchste 
Überlegenheit  über  Materie  und  Form.  Rhapsodisches  und  Apho- 
ristisches soll  hier  von  rechtswegen  keinen  Platz  finden.  Auch  der 
Effekt  tritt  in  den  Hintergrund;  er  bleibt  dem  monumentaleren  Bau 
des  Symphonischen  überlassen.  Die  schwelgerische  Phantastik  der 
Romantiker  schlug  zwar  eine  Bresche  in  die  Strenge  der  Tradition, 
dehnte  und  streckte  die  Form  mit  lyrischer  Empfindsamkeit  und  Ge- 
fühlsseligkeit, sprengte  sie  auch  wohl  in  dem  ungestümen  abenteuer- 
lichen Drang,  um  jeden  Preis  Neuland  zu  finden.  Aber  Mendelssohn 
ging  hier  nicht  mit  den  Genies,  sondern  lieber  mit  den  Talenten  seiner 
Zeit.  Seine  Ideale  lagen  hinter  ihm.  Bis  in  die  Grenzen  seiner 
Seele  war  er  mit  Pietät  und  Ehrfurcht  vor  dem  vergangenen  Großen 
erfüllt  und  er  gewann,  was  er  ersehnte:  Die  Verklärung  des  Über- 
lieferten  mit   eigenem   Geist. 

Die  drei  Klavierquartette  opus  1,  2  und  3  sind  echte  Jugend- 
werke, blühend  und  in  einem  unbefangenen,  spielfreudigen  Ton  ge- 
schrieben. Bewundernswert  ist  die  satztechnische  Meisterschaft  des 
Jünglings,  der  sie  schuf,  die  leichte  Hand,  mit  der  die  Linien  gezogen 
sind  und  die  farbige  Mannigfaltigkeit  der  Instrumentierung.  Natür- 
lich ist  ihre  äußere  Haltung  einfach;  zu  komplizierteren  Durchfüh- 
rungen kommt  es  nicht.  Die  galante  Geberde  stammt  von  den  Wiener 
Meistern;  aber  auch  Weber  hat  das  seine  dazugegeben. 

Das  c-moll-Klavierquartett  opus  1  ist  das  Werk  eines  Dreizehn- 
jährigen. Die  drei  Streicher  beginnen  mit  dem  Hauptthema.  Das 
Klavier  spinnt  den  Gedanken  weiter.  Die  Streicher  greifen  ein  mit 
einem  Dreiviertel- Auf taktmotiv,  das  eine  wichtige  Rolle  spielt.  In 
der  korrespondierenden  Tonart,  Es-dur,  bringt  das  Cello  das  schmel- 
zende Seitenthema.  Triolen  des  Klaviers  steigern  das  Spiel,  noch 
einmal  versucht  das  Hauptthema  aufzukommen ;  aber  ein  energisches 
Motiv  der  Streicher  schließt  die  Exposition.  Die  Durchführung  wird 
vom  Hauptthema  und  dem  Schlußmotiv  bestritten;  sie  ist  kurz  und 
läßt  bald    der   Reprise   den    Weg  frei,   die   den   Satz   mit   lebhaftem 


138  Kammermusik 

Schwung  zu  Ende  führt.  Adagio  und  Scherzo  zeigen  viel  Einfluß 
aus  der  Melodik  des  jungen  Beethoven.  Manches  ist  zum  Ver- 
wechseln echt  nachempfunden.  Auch  der  Schlußsatz  verleugnet  diese 
Herkunft  nicht.  Geschickt  erzielt  Mendelssohn  bei  Repetitionen  neue 
Effekte  durch  Austauschen  der  Instrumente.  Wie  bei  opus  1,  be- 
ginnen auch  in  opus  2,  dem  f-moll-Quartett,  die  Streicher  mit  dem 
Hauptthema  und  überlassen  dem  Klavier  das  viel  bedeutungslosere 
Seitenthema,  das  nur  geringe  Kontraste  schafft.  Die  Durchführung 
ist  kraftvoller  als  in  opus  1 ;  die  größere  Gewandtheit  im  Satz  ge- 
stattet schon  gewagtere  Kombinationen.  Eine  schöngeformte  Coda 
rundet  den  Satz  ab.  Das  Adagio  ist  von  innigster  Melodik  beseelt; 
sehr  geschickt  sind  dazu  die  Tremolo-Effekte  im  Klavier  und  in  den 
Streichern  ausgenützt.  Gefällig  plaudernd,  durchsichtig  einfach  gibt 
sich  das  Intermezzo.  Erst  der  stürmisch  auftretende  und  mit  präch- 
tigem Elan  durchgeführte  Schlußsatz  erinnert  wieder  an  die  Jugend 
des   Autors. 

Eine  Kluft  trennt  das  dritte  Klavierquartett,  h-moll,  opus  3,  von 
seinen  beiden  Vorgängern.  Hier  ist  ein  Standpunkt  der  Reife  erreicht, 
dem  zur  vollen  Meisterschaft  nur  noch  wenig  fehlt.  Das  Klavier  be- 
ginnt mit  einem  schwermütig  lastenden  Thema  den  ersten  Satz. 
Die  Streicher  mischen  sich  klagend  darein.  Vorahnend  lassen  Klavier 
und  Cello  das  Seitenthema  in  trübem  Moll  anklingen.  Aber  noch 
verlangt  das  chromatische  Anfangsmotiv  sein  Recht.  Erst  nachdem 
die  Dominante  von  D  erreicht  ist  und  die  Streicher  nacheinander  auf 
dem  Dreiklang  in  die  Höhe  gestiegen  sind,  singt  das  Klavier  das 
herrliche  Seitenthema  in  D-dur,  langsam,  aufstrebend.  Das  chro- 
matische Motiv  drängt  sich  dazwischen ;  dann  erst  kann  der  schwelge- 
rische Nachsatz  erklingen.  Wir  sind  in  D-dur.  Eine  kurze  Überleitung 
führt  zur  Durchführung,  Piu  Allegro,  die  neben  dem  chromatischen 
Anfangsmotiv  noch  ein  zweites,  neues  zur  Diskussion  stellt.  Es  wird 
alles  gesagt,  was  zu  sagen  ist.  Reprise  und  Coda  führen  noch  ein- 
mal in  die  alte  Stimmung  zurück.  In  dem  Andante  erreicht  Mendels- 
sohn die  Innigkeit  des  Ausdrucks  der  schönsten  Lieder  ohne  Worte. 
Es  ist  ein  unersättliches  Auskosten  süßer  Melodik  und  subtilster 
Figurationen.  Im  Scherzo  erleben  wir  eine  flott  hingeworfene  Vor- 
ahnung des  „Spinnerliedes"  mit  seiner  hastenden  Geläufigkeit  und 
Geschwätzigkeit.    Größer,    leidenschaftlicher   reckt   sich   der  Schluß- 


Kammermusik  139 

satz  auf.  Er  ist  in  jedem  Takt  mit  Temperament  geladen.  Die 
Kantilene  gewinnt  nur  wenig  Raum.  Immer  wieder  bricht  der  punk- 
tierte Rhythmus  durch  und  reißt  das  Spiel  in  einen  Wirbel,  der  bis 
zum  Schluß  von  den  brausenden  Triolen  des  Klaviers  umspült  wird. 

Zeitlich  gehört  mit  dem  letzten  Klavierquartett  das  Sextett  für 
Klavier,  Violine,  zwei  Bratschen,  Violincello  und  Baß,  D-dur,  opus 
110,  zusammen.  Aber  an  Wert  hält  es  den  Vergleich  nicht  aus.  Das 
Sextett  ist  ein  Werk  unbefangenster  Jugend  und  Nachahmungsfreude. 
Der  Ton  ist  frisch;  aber  Herz  und  Sinn  sind  noch  so  angefüllt  mit 
anderen  Idealen,  daß  das  Eigene  nicht  zum  Durchbruch  kommt.  Sehr 
geschickt  hat  der  Fünfzehnjährige  namentlich  Mozart  und  Haydn 
die  Kunstgriffe  abgelauscht,  und  seine  Melodien  haben  von  ihnen 
die  Weihe  empfangen.  Nur  im  Schlußsatz  gerät  er  in  die  etwas  vul- 
gäre Phraseologie  seiner  Zeitgenossen  und  wird  kindlich  geschwätzig. 

Reinste  Epigonenmusik  enthält  die  ein  Jahr  früher  entstandene 
Sonate  für  Klavier  und  Violine,  f-moll,  opus  4.  Eine  andere  Violin- 
sonate in  d-moll  aus  dieser  Zeit  und  die  F-dur-Sonate  aus  1838  ließ 
Mendelssohn  überhaupt  ungedruckt,  ebenso  eine  Sonate  für  Klavier 
und  Bratsche  in  c-moll  und  eine  Klarinettensonate  in  Es-dur. 

Höher  steht  die  erste  Sonate  für  Klavier  und  Violoncello,  B-dur, 
opus  45.  Ihre  Entstehungszeit  fällt  in  die  ersten  Leipziger  Jahre, 
Jahre  ungeheurer  Produktivität  und  verschwenderischer  Melodien- 
fülle. Die  Konturen  der  Themen  sind  weich.  Mendelssohn  vermeidet 
den  dramatischen  Kampf  in  den  Durchführungen,  verzichtet  auf  scharfe 
Kontraste  und  gerät  dabei  in  das  Fahrwasser  plätschernder  Behaglich- 
keit und  stillen,  freudigen  Fürsichhinmusizierens,  wo  die  schöne  Me- 
lodie alles  ist.  Es  ist  viel  Jean  Paulsches  darin,  viel  Dämmerung 
und  Abendröte  —  viel  Gefühlsseligkeit  und  Schwärmerei.  Der  ganze 
Mendelssohn,  der  Meister  voller  Originalität,  lebt  dagegen  in  der 
zweiten  Sonate  für  Klavier  und  Violoncello  D-dur,  opus  58.  Das  ist 
ein  Werk  voller  Bejahung  und  im  vollendetsten  konzertanten  Stil  ge- 
halten. Ein  hinreißender  Schwung  beseelt  den  ersten  Satz,  der  breit 
und  übersichtlich  angelegt  ist.  Feurig  stimmt  das  Cello  das  Haupt- 
thema an,  von  drängenden  Achteln  der  Klavierbegleitung  angetrieben. 
Das  Seitenthema  bringt  nur  eine  Bestätigung,  ebenso  licht,  ebenso 
quellend  und  blühend.  Damit  ist  das  motivische  Material  gegeben, 
das  in  wundervoller  Abrundung  zu  einem  Kunstwerk  edelster  Art  ge- 


140  Kammermusik 

formt  ist.  Der  konzentrierte  Inhalt  hält  die  Grundstimmung  bis  zu 
dem  rauschenden  Schluß  fest.  Ein  Intermezzo  von  zartester  Linien- 
führung und  Durchsichtigkeit  ist  der  zweite  Satz,  der  sich  nur  in  der 
Mitte  mit  kraftvollen  Oktaven  des  Klaviers  erregt  aufrichtet.  Die 
Feierlichkeit  des  Adagios  beschwört  den  Geist  Bachs  und  Händeis 
herauf.  Das  Klavier  versenkt  sich  arpeggierend  in  eine  Choralmelodie, 
die  vom  Cello  mit  leidenschaftlicher  Beredsamkeit  interpretiert  wird. 
Schließlich  behält  das  Klavier  in  schmerzlicher  Innigkeit  das  Schluß- 
wort. Unmittelbar  knüpft  der  Schlußsatz  mit  einem  verminderten 
Septimenakkord  an.  Auf  und  ab  wogen  die  Sechzehntel,  bis  end- 
lich das  fröhliche  Hauptthema  gefunden  ist,  das  diesen  Satz  sieges- 
gewiß beherrscht.  Dann  und  wann  versucht  eine  sentimentale  Re- 
gung aufzukommen ;  aber  sie  wird  schnell  wieder  weggespült.  Jauch- 
zend ziehen  die  beiden  Instrumente  ihre  Bahn  bis  zur  gewaltigen 
Steigerung  der  Coda.  In  diesem  Werk  ist  die  Freude  am  schönen 
Klang,  die  Lust  am  Auskosten  blühender  Melodik  zur  Verklärung 
geworden.  So  konnte,  wenn  auch  in  wesentlich  anderer  Art,  nur 
Mendelssohn  nach  Mozart  schreiben.  Was  Mendelssohn  daneben 
noch  den  Cellisten  an  Literatur  schenkte,  ist  schnell  erwähnt.  Es  sind 
die  effektvollen  und  geschickt  geformten  „Variations  concertantes" 
D-dur,  opus  17,  und  ein  inniges,  bescheidenes  Lied  ohne  Worte,  ein 
Blatt  der  Freundschaft.  Und  nun  streifen  wir  noch,  nur  um  sie  zu 
nennen,  zwei  artige  Gelegenheitswerke  des  Meisters,  die  zwei  Kon- 
zertstücke für  Klarinette  und  Bassethorn  mit  Klavierbegleitung,  Füll- 
musik für  die  Programme  der  beiden  famosen  Bläser  Heinrich  und 
Karl  Bärmann  in  München.  Dann  ist  der  Weg  zu  Bedeutungs- 
vollerem frei. 

Wir  kommen  zu  Mendelssohns  hervorragendsten  Kammermusik- 
werken, den  Klaviertrios,  d-moll,  opus  4Q  und  c-moll,  opus  66.  Ge- 
legentlich des  d-moll-Trios  sagte  Schumann  in  einer  Rezension :  „Men- 
delssohn ist  der  Mozart  des  neunzehnten  Jahrhunderts,  der  hellste 
Musiker,  der  die  Widersprüche  der  Zeit  am  klarsten  durchschaut  und 
zuerst  versöhnt."  Nur  ein  Musiker  von  so  langem  Atem  in  der  Er- 
findung durfte  es  wagen,  das  39taktige  Hauptthema  des  ersten  Satzes 
im  d-moll-Trio  zu  schreiben.  Hier  ist  der  Bogen  weit  gespannt. 
Das  Cello  beginnt,  die  Violine  gesellt  sich  dazu,  und  im  Nachsatz 
greift  auch   das   Klavier  zur  Melodie.     Eine  edle  Kraft  liegt  in  der 


Kammermusik  141 

ernsten  Stimmung  des  Themas.  Mit  einem  erregten  Motiv  führt  das 
Klavier  das  Spiel  weiter.  Nachahmend  wetteifern  die  beiden  Streicher. 
Immer  reicher,  immer  bewegter  steigert  sich  der  Inhalt,  bis  über  einer 
rollenden  Achtelfigur  des  Klaviers  das  Cello  das  Seitenthema  in 
A-dur  bringt,  hold,  gesangvoll,  wenig  gegensätzlich,  aber  unendlich 
süß  und  innig  im  Ausdruck.  Ohne  Wiederholung  geht  es  auf  Bruch- 
stücken des  Hauptthemas  in  die  Durchführung,  ein  mit  sicherer  Hand 
gefügtes  Stück  musikalischer  Synthese,  in  dem  die  beiden  Themen 
und  aus  ihnen  gewonnene  Motive  in  allen  Beleuchtungen  und  Kon- 
trasten gezeigt  werden.  Die  Reprise  ist  gedrängt;  aber  die  Coda 
bringt  noch  eine  wichtige  lapidare  Auswirkung  des  Thematischen. 
Mit  äußerster  Kraft  behauptet  das  Hauptthema  den  Sieg. 

Der  gezügelten  Leidenschaft  des  Allegros  folgt  die  verträumte 
Lyrik  des  Andante.  Der  zweite  Satz  ist  aus  zwei  wundervollen  Melo- 
dien geformt.  Klavier  und  Streicher  wetteifern  im  Ausmalen  der 
herrlichen  Linien.  Schwärmerisch  bewegt  ringt  ein  Übermaß  von 
Empfindung  nach  Ausdruck,  von  zarten  Sechzehnteln  oder  pochen- 
den Triolen  getragen  —  ein  Lied  ohne  Worte  in  breitester  Aus- 
führung. Eine  andere  Welt  zeigt  sich  in  dem  graziös  plaudernden 
Scherzo.  Da  leben  die  Klavier-Capriccios  wieder  auf.  Kobolde  und 
Elfen  tummeln  sich,  und  treiben  ein  galantes  Spiel.  Nichts  von  Rüh- 
rung, nichts  von  Verweilen  —  alles  ist  Duft,  Hauch  und  Traum  und 
entflieht  schließlich  in  die  hohen  Regionen  des  Klaviers.  Ganz  leise, 
wie  um  den  Eindruck  nicht  zu  zerreißen,  setzt  das  prägnant  rhyth- 
misierte Thema  des  letzten  Satzes  ein;  aber  bald  bricht  das  Tempera- 
ment durch,  und  nun  beginnt  eine  Reihe  reizvollster  Überraschungen 
sich  nach  und  nach  zu  enthüllen,  immer  wieder  geeint  durch  den  her- 
rischen Rhythmus  des  Themas.  Ein  Mittelsatz  in  B-dur  spült  weichere 
Regungen  an  die  Oberfläche;  schnell  jedoch  hat  der  Hauptrhythmus 
wieder  die  Macht  an  sich  gerissen.  Überschäumend  stürmt  er  weiter. 
Noch  einmal  erwacht  der  Mittelsatz,  unmerklich  lenkt  er  die  Fahrt 
nach  D-dur  und  schwingt  sich  strahlend  auf.  Und  nun  braust  eine 
Coda  auf,  die  mit  virtuosem  Schwung  zum  jubelnden  Abschluß  führt. 

Gewaltiger  als  das  d-moll-Trio  spricht  das  zweite  Trio  in  c-moll, 
opus  66.  Die  Leidenschaft  ist  stärker  und  abgründiger  geworden,  der 
Schöpferwille  prägt  sich  heftiger  aus.  Mit  kräftiger  Hand  sind  die 
Linien  gezogen,  und  die  Themen  sind  aus   einem  Holz  geschnitzt, 


142  Kammermusik 

das  nicht  mehr  zum  Spiel  der  Jugend  dienen  kann.  Voll  schmerz- 
licher Akzente  ist  der  erste  Satz,  eine  düstere,  wilde  Klage,  die  nur 
dann  und  wann  von  einem  tröstenden  Hoffnungsschimmer  durch- 
brochen wird.  Die  Themen  sind  scharf  profiliert.  Hier  flammt  auch 
mit  Ungestüm  der  Kampf  der  feindlichen  Prinzipien  auf,  der  die 
Durchführung  zu  packenden,  aufrüttelnden  Höhepunkten  führt.  Das 
Hauptthema  richtet  sich  in  gleichmäßiger  Achtelbewegung  wie  müh- 
sam klagend  auf.  Das  Klavier  greift  bald  zu  einer  Sechzehntelfigur, 
um  eine  schwermutvolle  Nebenmelodie  der  Streicher  zu  unterstützen. 
Wieder  kehrt  das  Hauptthema  zurück  und  lenkt  nach  Es-dur  ein.  Da 
bricht  mit  erschütternder  Wucht  das  schmelzende,  weiche  Seiten- 
thema hervor.  Allmählich  läßt  seine  Gewalt  nach,  und  leise  tasten 
sich  die  Instrumente  in  die  Durchführung  hinein.  Hier  wird  der 
Kampf  entfesselt,  der  die  Themen  in  ihrer  Größe  und  Ausdrucks- 
gewalt zeigt.  Die  Grenzen  des  Möglichen  werden  erreicht.  Das 
Hauptthema  findet  schließlich  den  Weg  zur  Reprise.  Der  finstere 
Balladenton  des  Anfangs  erklingt  wieder.  Imitationen  verstärken  ihn 
noch.  Das  Seitenthema  erzählt  eine  lichte  C-dur-Episode.  Aber  Klage 
und  Schmerz  lassen  sich  nicht  unterdrücken.  Das  Nebenthema  ver- 
hilft der  Ursprungstonart  wieder  zu  ihrem  Recht,  und  nun  zieht  das 
Spiel  in  gewaltiger  Steigerung  und  unter  Anwendung  mannigfachster 
Sachkünste  seine  Kreise  bis  zu  dem  gewaltigen  Aufschwung  des 
Schlusses. 

Dem  Kampf  folgt  der  Friede,  der  Erschütterung  die  Verklärung. 
Der  zweite  Satz,  Andante  espressivo,  ist  ein  Gedicht  voller  Hingabe, 
wo  alle  Leidenschaften  und  Schmerzen  still  geworden  sind  und  alle 
Sehnsucht  Erfüllung  gefunden  hat.  Hier  lebt  die  vollkommene  Schön- 
heit, das  Ideal  der  vornehmen  Seele,  das  Glück,  in  dem  alle  Begierden 
schweigen.  Das  Scherzo  führt  ins  Leben  zurück.  Das  schwirrt  und 
geistert  behende  vorüber,  läßt  hurtige  Motive  durch  die  Instrumente 
eilen,  reckt  sich  auch  manchmal  kraftvoll  auf,  um  gleich  darauf  wieder 
in  wispernde  Heimlichkeit  zu  versinken  und  läßt  sich  in  einem  Dur- 
Trio  eine  beschauliche  Geschichte  erzählen.  Im  letzten  Satz  aber 
erwacht  das  alte  Ungestüm  wieder.  Mit  einem  Nonensprung  bäumt 
sich  das  Hauptthema  auf.  Geschäftig  nehmen  sich  die  Instrumente 
die  Motive  ab;  in  kunstvollen  Wendungen  und  Nachahmungen  schaf- 
fen sie  Inhalt.    Einen  starken  Kontrast  zeigt  das  melodiöse  Seiten- 


Kammermusik  143 

thema,  jedoch  nur,  um  die  drängende  Leidenschaft  der  weiteren  Ent- 
wicklung nur  noch  intensiver  wirken  zu  lassen.  Und  der  Ring  schließt 
sich  mit  einer  wuchtigen  Coda,  die  den  Satz  und  damit  das  Werk 
groß  und  hinreißend  abrundet. 

Neben  der  Klavierkammermusik  ging  die  Kammermusik  für 
Streichinstrumente  ebenbürtig  her.  Mendelssohn  huldigte  diesem 
innerlichsten  Typus  der  Komposition  in  allen  Stadien  seiner  Entwick- 
lung. Wo  die  Farbenreize  des  Klaviers  fehlen,  da  muß  die  Synthese 
andere,  erhöhte  Werte  erzeugen.  Mendelssohn  wollte  nicht  durch 
das  absolut  Neue  überraschen  und  verblüffen ;  denn  er  war  alles  andere 
als  ein  Abenteurer.  Aber  das  Alte  und  Überlieferte  wollte  er  doch 
mit  den  Mitteln  seiner  Zeit  ausbauen  und  mit  seinen  Idealen  ver- 
klären. Ihm  genügten  die  Farben  der  Großmeister  der  Quartettmusik; 
er  strebte  in  der  Harmonik  nicht  weiter.  Er  lauschte  ihnen  nur  in 
unermüdlicher  Arbeit  ihre  Satzgeheimnisse  und  vor  allem  den  Zauber 
ihrer  ausdrucksvollen,  sprechenden  Artikulation  in  der  Melodik  ab. 
Daß  er  hierin  das  Überzeugende  und  Eigene  fand,  macht  den  Wert 
seiner  Streichkammermusik  aus.  Er  huldigte  der  poetischen  Idee. 
Mehr  als  einmal  verknüpfte  er  die  einzelnen  Sätze  thematisch  mit- 
einander, um  eine  größere  Einheit  und  einen  geschlossenen  Stim- 
mungs-  und  Inhaltskreis  zu  schaffen. 

Schon  in  den  beiden  ersten  Streichquartetten,  Es-dur,  opus  12  und 
a-moll,  opus  13,  sehen  wir  dies  Streben  und  bewundern  das  Gelingen 
bei  dem  Achtzehnjährigen.  Das  a-moll-Quartett  ist  zeitlich  das  erste. 
Es  steht  auf  einer  hohen  Stufe.  Ein  feierliches  A-dur-Adagio  leitet 
den  ersten  Satz  ein.  Es  sind  nur  wenige  Takte.  Auf  der  Dominante 
verweilen  die  Instrumente.  Die  Bratsche  trillert,  und  mit  einem  hef- 
tigen Schlag  beginnt  der  Allegro-Hauptsatz  in  a-moll.  Ein  rollendes 
Sechzehntelmotiv,  das  im  weiteren  Verlauf  von  großer  thematischer 
Bedeutung  ist,  bereitet  den  Eintritt  des  leidenschaftlichen  Haupt- 
themas vor,  das  mit  seinem  punktierten  Rhythmus  den  Ausdruck  straff- 
ster Energie  an  der  Stirn  trägt.  In  schroffem  Gegensatz  dazu  schlägt 
das  Seitenthema  einen  Ton  an,  wie  ihn  die  Zeitgenossen  Mendels- 
sohns in  den  Allegros  ihrer  Opernouvertüren  liebten.  Fühlte  Mendels- 
sohn selbst  die  Unmöglichkeit,  dieses  Thema  für  den  weiteren  Aus- 
bau des  Satzes  zu  verwenden?  Es  kehrt  nur  noch  einmal  in  der 
Reprise  auf  seinen  Platz  zurück.     Die  Durchführung  wird  von  dem 


144  Kammermusik 

Hauptthema  und  der  Sechzehntelfigur  bestritten.  Ernst  und  in  stiller 
Größe  beginnt  das  Adagio,  ein  inbrünstiger  Dankgesang.  Da  taucht 
in  der  Bratsche  ein  klagendes  chromatisches  Thema  auf,  das  nun  in 
immer  neuer  Verbrämung,  Verkleidung  und  Beleuchtung,  mit  allen 
Künsten  des  Satzes  geformt,  ein  Fugato  von  ungeheurer  Intensität  des 
Ausdrucks  bildet.  Noch  einmal  erklingen  die  Anfangstakte;  aber 
das  Klagemotiv  ringt  sich  wieder  durch  und  beschließt  dieses  schmerz- 
lich-schöne Stück.  Damit  jedoch  noch  nicht  genug;  auch  der  dritte 
Satz,  ein  köstliches,  unter  Tränen  lächelndes  Intermezzo,  erhält  als 
Mittelteil  ein  kunstvolles  Fugato  von  lichter  Klarheit.  Wie  ein  Hauch 
verklingt  es.  Jäh  setzt  das  Tremolo  der  drei  tieferen  Streicher  mit 
einem  verminderten  Septimenakkord  ein.  Rezitativisch  schwebt  die 
erste  Violine  darüber  auf  und  führt  schließlich  die  anderen  Instrumente 
zum  Hauptthema  des  letzten  Satzes.  Rezitativische  Zwischenstellen 
und  Fugatos  unterbrechen  oft  den  Fluß  der  Dinge.  Gegen  den  Schluß 
hin  erklingt  zu  einem  geheimnisvoll  rauschenden  Tremolo  als  Rezi- 
tativ das  Fugatothema  des  langsamen  Satzes.  Die  Begleitstimmen 
schweigen.  Die  erste  Violine  gleitet  von  dem  Fugatothema  wie  ver- 
träumt weiter  und  immer  tiefer.  In  langen  Fermaten  klingt  die  Stim- 
mung aus.  Und  nun  rundet  sich  der  Kreis:  die  Adagio-Einleitung 
des  ersten  Satzes  schließt  jetzt  mit  feierlichen  Akkorden  das  Werk. 
Von  ähnlicher  Tendenz  ist  das  Es-dur-Streichquartett,  opus  12, 
erfüllt.  Auch  hier  bereitet  eine  weihevolle  Adagio-Einleitung  auf 
den  ersten  Satz  vor.  Der  hebt  mit  einem  innigen,  schwelgerisch 
melodischen  Hauptthema  an.  Das  Seitenthema  schafft  keinen  Gegen- 
satz; es  ist  noch  seelenvoller,  hingebender  in  seiner  Wehmut.  Auch 
in  der  Durchführung  ballen  die  Ereignisse  sich  nicht  zu  Katastrophen. 
Wie  ein  Traum  vom  Süden  zieht  der  zweite  Satz,  die  Canzonetta, 
vorüber,  eine  einfache,  schmucklose  Serenade.  Das  Adagio  ahnt 
wieder  ein  Lied  ohne  Worte  vor  mit  schöngeschwungenen  melo- 
dischen Phrasen.  Unmittelbar  an  die  Schlußfermate  knüpft  der  letzte 
Satz,  der  Mollstimmungen  bevorzugt,  an.  Stürmische  Triolen  treiben 
zu  machtvollen  Aufschwüngen;  heiße  Energie  durchpulst  die  Rhyth- 
men. Ein  zweites  Thema  versucht  weicheren  Regungen  Gehör  zu 
verschaffen.  Aber  die  Triolen  ersticken  es  bald  wieder  und  rasen 
weiter  bis  zu  einer  mächtigen  Fermate  auf  G.  Wie  aus  einer  ver- 
sunkenen   Welt   ertönt    das   Seitenthema   des    ersten   Satzes.     Doch 


Kammermusik  145 

schon  regt  sich  der  unruhige  Triolengeist  wieder.  War  es  ein  Traum? 
Weiter  braust  das  Spiel,  immer  ungestümer  und  wilder.  In  straffem 
Rhythmus  reckt  sich  das  Spiel  gebieterisch  auf.  Doch  r*ie  erste 
Violine  löst  sich  aus  dem  Kreis  der  anderen  und  stimmt  zartere  Töne 
an,  bis  schließlich  die  Erinnerung  an  den  ersten  Satz  siegt.  Die 
beiden  Themen  ziehen  noch  einmal  vorüber,  Ruhe  und  Glück  spen- 
dend.    Die  Schönheit  krönt  das  Werk. 

Ein  mehrjähriger  Zwischenraum  trennt  die  drei  Quartette,  opus  44, 
von  den  Jugendwerken.  Der  reife  Meister  hat  sie  gefügt.  Er  strebt 
nicht  mehr  nach  poetischen  Kombinationen.  Die  Synthese  der  Töne 
soll  durch  sich  selbst  sprechen.  Das  erste  der  drei  Quartette,  D-dur, 
beginnt  mit  einem  schwungvoll  ausladenden  Allegro-Satz.  Das  Haupt- 
thema ist  von  enthusiastischem,  leidenschaftlichen  Charakter  und  zieht 
in  mehrmaligem  Ansturm  vorüber.  Wie  ein  Volkslied  klingt  das 
schwermütig  singende  Seitenthema.  Doch  schnell  ist  es  von  dem 
emporwirbelnden  Hauptthema  wieder  verweht.  Ein  sausender  Lauf 
verbindet  Exposition  und  Durchführung.  Die  Rhythmen  und  Motive 
des  Hauptthemas  herrschen  in  ihr;  es  ist  ein  farbenreiches  Gemälde. 
Die  Reprise  schreitet  die  Wege,  die  die  Regel  vorschreibt.  Ein 
primitiv  gestalteter  Menuettsatz  folgt.  Zart  schmeichelnde  Mittel- 
stimmen begleiten  die  Melodie  in  Terzen  und  Sexten.  Erhöhte  Be- 
wegung bringt  das  Trio  mit  einer  laufenden  Achtelfigur.  Die  Melan- 
cholie der  schottischen  Symphonie  klingt  an.  Der  Wiederholung 
des  Menuetts  folgt  eine  Coda,  die  noch  einmal  auf  das  Trio  zurück- 
blickt. Die  ganze  Seele  des  Meisters  aber  strömt  in  dem  Andante 
aus,  das  in  wunderbar  übersichtlicher  Gliederung  eine  Fülle  von 
Empfindung  offenbart.  Wie  so  oft  bei  Mendelssohn  ist  auch  hier 
der  langsame  Satz  ein  Lied  ohne  Worte  voll  verschwiegener  Innig- 
keit. Funkelnder  Rhythmus  belebt  den  Schlußsatz.  Es  ist  eine  stür- 
mische Lebensfreude,  die  darin  um  Ausdruck  ringt.  Der  Satz  ge- 
winnt Volumen  bei  feinster  thematischer  Gliederung  und  Durch- 
führung; nur  ab  und  zu  gelangt  eine  beschaulichere  Stimmung  an 
die  Oberfläche.  Der  Hymnus  an  die  Freude  verlangt  volle  Kraft- 
entfaltung bis  zu  der  brausenden  Coda. 

Wesentlich  ruhiger  zeigt  sich  das  e-moll-Quartett.  Die  Leiden- 
schaft des  ersten  Satzes  giüht  nur  verstohlen  hinter  der  Melodie  des 
Hauptthemas,    das   den   Satz  fast   ausschließlich   beherrscht,   da   das 

I)  a  Ums,  Mendelssohn  1 0 


146  Kammermusik 

etwas  unbedeutende,  volkstümlich  schlichte  Seitenthema  nur  geringe 
Möglichkeiten  zur  thematischen  Durchführung  mit  sich  bringt.  Im 
Scherzo  lebt  der  Mendelssohn  der  Capricen-  und  Elfenmusik.  Es  ist 
ein  zündendes  Stück  von  Humor  und  Grazie.  Zu  Beethovenscher 
Größe  und  Ausdrucksweite  erhebt  sich  das  Andante  mit  seinen  ge- 
waltigen Melodiebogen  und  der  feinziselierten  Figuration.  Der 
Schlußsatz  jedoch  huldigt  der  Konvention.  Was  will  da  die  feine 
Arbeit  besagen? 

Der  ganze  Meister  zeigt  sich  erst  wieder  in  dem  Es-dur-Quartett, 
dem  dritten  aus  Opus  44.  Der  erste  Satz  ist  von  einer  hinreißenden 
Frische  und  Kraft.  Freudige  Bejahung  spricht  aus  den  energischen 
Rhythmen  des  Hauptthemas,  das  stolz  und  selbstbewußt  hingestellt 
wird.  Die  Instrumente  spinnen  zartere  Melodiefloskeln  weiter.  All- 
mählich steigert  sich  das  Spiel  mit  dem  Sechzehntel-Auftaktmotiv 
aus  dem  Hauptthema.  Ein  aufstrebendes  Nebenthema  wird  von 
diesem  Motiv  schnell  wieder  verwischt.  Endlich  ist  die  Dominante 
D  erreicht.  Auf  den  pochenden  Achteln  der  Begleitung  richtet  sich 
sehnsüchtig  das  Seitenthema  empor.  Doch  auch  das  ist  nur  eine 
Episode.  Die  breite  Durchführung  trägt  den  Kampf  der  beiden  Prin- 
zipien aus.  Das  Hauptthema  behält  den  Sieg  und  führt  in  die  Re- 
prise zurück.  Auf  das  freudige  Lebenslied  folgt  ein  Scherzo  von 
unsagbar  tiefer  Resignation.  Die  Schwermut  erzeugt  eine  gewisse 
gewollte  Eintönigkeit,  die  von  verzehrender  Sehnsucht  erfüllt  ist. 
Prachtvolle  Fugatos  sind  bis  in  die  letzte  Faser  von  poetischer  Leiden- 
schaft durchdrungen.  Eine  unendliche  Differenziertheit  durchzieht 
die  Harmonik.  Form  und  Inhalt,  Wille  und  Tat  sind  eins  geworden. 
Dem  geisternden  Nachtstück  schließt  sich  ein  Hymnus  von  erhabener 
Größe  im  Ausdruck  an:  das  weihevolle  Adagio.  Schmerzliche  chro- 
matische Akzente  in  der  Melodie  unterstreichen  noch  die  tiefbeseelte 
Stimmung.  Hier  ist  die  Melodie  seligster  Ausdruck  der  Hingabe 
an  das  Unendliche  geworden.  Der  Schlußsatz  führt  aus  den  Ge- 
filden des  Traums  mit  einem  kühnen  Sprung  ins  Leben  zurück.  Ein 
lebhaft  laufendes  Sechzehntel-Thema,  das  bald  durch  Nachahmungen 
noch  mehr  angefeuert  wird,  mündet  in  einen  Nachsatz  von  burschi- 
koser, frischer  Haltung.  Die  beiden  Teile  des  Hauptthemas  beherr- 
schen abwechselnd  in  glänzenden,  oft  überraschenden  Durchführungen 
das  Feld.    Selbst  als  die  erste  Violine  eine  Kantilene  anstimmt,  läßt 


Kammermusik  147 

das  Cello  den  Rhythmus  des  Nachsatzes  nicht  fallen.  Nur  für  wenige 
Takte  dringt  die  Ruhe  durch  und  atmen  die  Instrumente  von  dem 
wilden  Treiben  auf.  Mehrmals  wiederholt  sich  dieses  Spiel,  bis  eine 
rauschende  Coda  Es-dur  befestigt  und  die  vier  Instrumente  mit 
lapidarer  Wucht  die  Schlußstriche  ziehen. 

In  dem  dämonischen  Schaffensaufschwung  seines  letzten  Lebens- 
jahres vergaß  Mendelssohn  auch  die  Kammermusik  nicht.  Das  Streich- 
quartett f-moll,  opus  80,  ist  ein  echtes  Dokument  dieser  Zeit.  Der 
nahe  Tod  warf  seinen  Schatten  voraus.  Mendelssohns  Seele  hatte 
zu  viel  gelitten.  Wie  in  Tränen  gebadet  ist  diese  Musik,  ein  Aus- 
druck seines  Schmerzes  um  das  unwiederbringlich  Verlorene,  ein 
qualvolles  Abschiednehmen  von  dem  Schönen,  was  das  Leben  ihm 
in  so  überreichem  Maße  geboten  hatte.  Geisternd  schwirrt  das 
Hauptthema  des  ersten  Satzes  auf  und  ab,  schrill  stemmt  sich  das 
Motiv  des  Nachsatzes  dem  Unerbittlichen  entgegen.  F-moll  bleibt. 
Ein  Nebenthema  klagt  hoffnungslos.  Dann  rafft  sich  der  schaffende 
Wille  mit  energievollen  Triolen  auf,  und  eine  hellere  Stimmung  bricht 
mit  dem  auf  schlichten  Vierteln  herabsteigenden  Seitenthema  an,  das 
in  seinem  ersten  Teil  auf  dem  Orgelpunkt  des  Cellos  ruht.  Es  blüht 
auf;  voll  Frieden  verklingt  die  Exposition.  Das  Cello  tastet  von  Es 
nach  E,  und  nun  beginnt  das  Hauptthema  mit  der  Durchführung,  in 
der  der  schrille  Ruf  des  Nachsatzes  eine  große  Rolle  spielt.  Inmitten 
einer  gewaltigen  Fortissimo-Steigerung  stimmt  plötzlich  die  zweite 
Violine  das  Hauptthema  an.  Die  Reprise  nimmt  den  entgegengesetz- 
ten Verlauf  als  gewöhnlich.  Über  das  Nebenthema  und  die  triolen- 
beschwingte  Episode  geht  der  Weg  zum  Seitenthema  in  F-dur.  Es 
verklingt.  Abgerissene  Tremolos  klirren  durch  die  Instrumente, 
schließlich  findet  das  Cello  von  E  nach  F,  und  nun  setzt  das  Haupt- 
thema in  f-moll  ein  und  mündet  mit  gewaltiger  Steigerung  in  eine  stür- 
mische, leidenschaftlich  betonte  Coda. 

In  den  übrigen  Sätzen  hallt  die  Stimmung  des  Anfangs  nach,  ge- 
dämpft in  dem  zweiten  Satz,  der  wie  das  Trio  eines  Beethovenschen 
Scherzos  wirkt,  von  leiser  Melancholie  beschattet;  verklärt  in  dem 
tiefempfundenen  seelenvollen  Adagio  mit  seinen  Gesangskantilenen 
und  schließlich  aufrüttelnd  noch  einmal  in  dem  bewegten  Finale,  in 
dem  der  Sturm  der  schmerzlichen  Empfindungen  unersättlich  tobt. 
Auch  in  diesem  Werk  verwirklichte  der  Meister  eine  poetische  Idee. 

10* 


148  Kammermusik 

In  seltsamem  Gegensatz  dazu  stehen  die  beiden  Stücke  aus  der 
Quartettsuite,  opus  81,  das  Andante  und  Scherzo,  die  ebenfalls  aus 
dem  letzten  Lebensjahr  Mendelssohns  stammen.  Darin  lebt  der  alte 
abgeklärte  sonnige  Geist  des  Komponisten  der  Lieder  ohne  Worte. 
Das  Andante  ist  ein  Loblied  an  die  Schönheit,  ein  Thema  mit  Varia- 
tionen voll  Pracht  und  Tiefe.  Das  Scherzo  beschwört  die  Erinnerung 
an  viele  Vorgänger  aus  derselben  Feder  herauf.  Zwei  Sätze  aus 
früherer  Zeit  vervollständigen  die  Suite:  ein  klangvolles  Capriccio  mit 
einer  freien  Fuge  aus  dem  Jahre  1843  und  eine  meisterlich  geformte 
Fuge   aus   1827. 

Es  bleiben  noch  die  beiden  Streichquintette  und  das  Streichoktett 
zu  erwähnen.  Das  erste  Quintett,  A-dur,  opus  18,  entstand  1826,  im 
Jahre  der  Sommernachtstraum-Ouvertüre.  Es  ist  ganz  Jugend  und 
Frühling,  alles  in  helle  Farben  getaucht,  fröhlicher  Überschwang 
und  Glückseligkeit.  Der  erste  Satz  ist  von  heiteren,  sonnigen  Themen 
belebt,  die  über  alle  Schwierigkeiten  leicht  hinwegtänzeln.  Keine 
schroffen  Gegensätze,  kein  Kampf;  nur  die  unendliche  Freude  am 
Spiel  und  schönen  Klang  schwebt  über  dem  Ganzen.  Andächtig  wird 
die  Stimmung  im  zweiten  Satz,  einem  figurativ  gesteigerten,  seelen- 
vollen Intermezzo.  Das  Scherzo  ist  wie  aus  einem  Guß  und  hat  so 
gar  nichts  Gearbeitetes.  Ein  Fugato  von  sprühender  Lebendigkeit, 
bietet  es  alle  Satzkünste  auf,  um  zu  fesseln.  Die  prächtige  Laune  des 
Stücks  findet  ihre  Krönung  in  dem  Schlußsatz,  der  mit  allen  erdenk- 
lichen Mitteln  der  Freude  auf  den  Thron  hilft.  Der  konzertante  Stil 
der  Wiener  Klassiker  ist  hier  vorzüglich  getroffen. 

Dem  leichtperlenden  Jugendwerk  steht  aus  1845  das  B-dur- 
Streichquintett,  opus  87,  gegenüber.  War  das  A-dur-Quintett  ein 
Dokument  überschäumender  und  unbekümmerter  Lust,  so  offenbart 
sich  in  diesem  Werk  die  halkyonische,  ja  dionysische  Kraft  des  reifen 
Meisters,  der  mit  den  Ereignissen  spielt  und  das  Schicksal  der  Töne 
nach  seinem  Willen  formt.  Ein  ungeheuer  frisches  und  vollblütiges 
Hauptthema  beherrscht  den  ersten  Satz;  die  erste  Violine  trägt  es 
unter  der  Tremolobegleitung  der  anderen  Instrumente  vor.  Triolen 
steigern  das  Spiel  rasch.  Noch  einmal  schwingt  sich  das  Haupt- 
thema jubelnd  auf,  dann  schafft  sich  das  Seitenthema  Platz,  das  in 
seiner  einfachen  Anspruchslosigkeit  ein  Moment  der  Ruhe  in  das 
Treiben  bringt.    An  diesem  thematischen  Material  zeigt  der  Meister 


Kammermusik  149 

sein  Können  in  einer  festgefügten  Durchführung.  Die  kurze  For- 
tissimo-Coda  setzt  ein  gewaltiges  Ausrufungszeichen  hinter  den  Jubel- 
ruf der  Reprise.  Das  folgende  Andante  scherzando  hat  Intermezzo- 
charakter —  ein  beschauliches,  gemütliches,  etwas  kapriziöses  Stück. 
Das  Adagio  hat  Beethovensche  Größe.  Eine  unendliche  Schwermut 
liegt  in  diesem  d-moll,  mit  wilden  Ausbrüchen  und  verklingenden 
Seufzern.  Neben  der  wunderbaren  Formung  der  Melodie  ein  Reich- 
tum an  delikatesten  harmonischen  Wendungen,  der  überwältigend 
ist.  Danach  kann  der  letzte  Satz  nur  mit  kräftiger  Bejahung  den 
Schlußpunkt  setzen.  Der  frische  Ausdruck  steigert  sich  manchmal 
sogar  zur  Lustigkeit  und  Keckheit.  Das  Leben  hat  gesiegt  —  die 
Freude  lebt. 

Wir  greifen  nochmals  in  die  Jugendzeit  Mendelssohns  zurück, 
um  das  Bild  seines  Kammermusikschaffens  abzurunden:  das  Oktett 
für  Streichinstrumente,  Es-dur,  opus  20,  soll  den  Kreis  schließen. 
Hier  ist  Mendelssohn  der  selig  schwärmende  Jüngling,  voll  Un- 
schuld und  Unbefangenheit.  Da  blaut  noch  ein  wolkenloser  Himmel, 
ein  Paradies  von  Überschwang  und  innigster  Hingabe  an  den  Augen- 
blick. Darum  sind  auch  die  Farben  frisch  wie  auf  Raffaels  Bildern. 
Das  südlich  orientierte  Temperament  des  Berliners,  der  sich  nach 
Italien  sehnte,  beschwingt  den  Rhythmus  mit  höchster  Intensität. 
Das  Melodische  nahm  der  junge  Mendelssohn  wo  und  wie  er  es  fand. 
Und  doch  trägt  es  die  unverkennbaren  Züge  seines  Geistes  und 
seiner  Hand.  In  allen  Künsten  des  Satzes  ist  er  ein  treuer  Schüler 
seiner  Meister.  Die  Sterne  standen  günstig  für  ein  Meisterwerk. 
Ein  bezaubernder  Glanz,  die  Taufrische  und  Unmittelbarkeit,  die  nur 
die  Jugend  hat,  liegen  über  dem  Ganzen.  Es  ist  eine  Kunst  ohne 
Reflexion,  aus  dem  Augenblick  für  die  Ewigkeit  geboren.  Heute 
noch  entzückt  das  in  wundervollen  Linien  gebogene,  geschmeidige 
Hauptthema  ebenso  wie  das  still  vor  sich  hinträllernde  Seitenthema 
im  ersten  Satz.  Die  innige  Gefühlswärme  des  Andante,  die  noch  un- 
bekümmert schwelgt,  bezaubert  die  Empfänglichen  und  das  prickelnd 
geistreiche  Scherzo,  das  mit  zahllosen  zierlichen  Ornamenten  ge- 
schmückt ist,  findet  den  Beifall  der  Massen.  Der  mit  einem  stürmi- 
schen Fugato  beginnende  Schlußsatz  aber  reißt  auch  den  Wider- 
strebenden mit  sich  fort. 

Das  Kammermusikwerk  Mendelssohns  ist  ein  Zwischenfall,  ein 


150  Orchesterwerke 

Intermezzo  in  der  Musikgeschichte.  Nachdem  Beethoven  die  letzten 
Konsequenzen  der  musikalischen  Synthese  erforscht  und  in  seinen 
Quartetten  die  Philosophie  der  Musik  geschrieben  hatte,  blieb  es 
gerade  Mendelssohn  vorbehalten,  noch  einmal  an  Haydn  und  Mozart 
zu  erinnern,  während  seine  Zeitgenossen  und  später  Brahms  in  ihrer 
romantischen  Leidenschaft  neue  Wege  suchten  und  fanden.  Doch 
der  Zwischenfall  wurde  zum  ewigen  Ereignis.  Die  Kraft  der  Inspi- 
ration war  stark  genug,  um  die  Brücke  über  Jahrhunderte  zu  schlagen. 
Mag  das  Vergängliche  versinken  —  Werke,  in  denen  die  Intensität 
einer  großen  Schöpferseele  flammt,  bleiben  bestehen.  Und  dazu 
gehört  auch  in  Mendelssohns  Kammermusik  das,  was  heute  noch  zu 
unseren  Sinnen  spricht. 


ORCHESTERWERKE 

Die  drei  Wiener  Großmeister  Haydn,  Mozart  und  Beethoven 
sind  der  Mittelpunkt  der  Musik  und  von  ihnen  gehen  die  verschie- 
denen Wege  aus,  auf  denen  man  im  neunzehnten  Jahrhundert  vor- 
wärts strebte.  In  der  Symphonik,  als  der  Form  der  größten  Ab- 
straktion im  Gedanklichen,  prägen  sich  zwei  Richtungen  mit  beson- 
derer Schärfe  aus,  die  Linie  von  Beethoven  bis  Brahms  und  die  von 
Beethoven  über  Schubert  bis  Brückner,  die  klassische  und  die  roman- 
tische, wenn  man  sie  so  nennen  wollte,  trotzdem  der  Trennungsstrich 
eigentlich  gar  nicht  zu  ziehen  ist.  Mendelssohn  gehört  innerlich  in 
die  erste  Reihe,  wenn  er  auch  romantische  Elemente  genug  in  seiner 
Symphonik  hat.  Aber  er  greift  noch  vor  Beethoven  zu  Mozart  zurück. 
Von  ihm  leiht  er  die  klingende,  bezaubernde  Süße  seiner  Instrumen- 
tierung, das  Durchsichtige  seiner  Partituren,  das  vollendete  Ebenmaß 
in  der  Gliederung  und  vor  allem  das  südliche  Timbre  in  der  Melodik. 
Er  steht  neben  Schumann  als  ein  Eigener  unter  den  Symphonie- 
schreibern seiner  Zeit.  Was  sind  da  die  Spohr,  Lachner,  Kalliwoda, 
Schneider,  Moscheies  und  all  die  anderen,  denen  er  so  oft  seinen 
hilfreichen  Taktstock  widmete?  Er  durfte  sich  auch  freihalten  von 
den  Begrenzungen,  die  eine  „Richtung"  ihren  Anhängern  vorschreibt. 
So  konnte  er  romantische  mit  klassischen  Elementen  vereinigen  zu 


O  r  ch  e  s  t  e  r  we  r  k  e  151 

einem  in  sich  neuen  Ganzen.  Fehlt  ihm  die  lapidare,  große,  wirk- 
same Weltsprache  des  Symphonikers  Beethoven,  so  hat  er  dafür 
eine  schmeichelnde  Überredungskunst,  eine  Gewandtheit  im  Aus- 
druck, all  die  in  seiner  Kleinkunst  gewonnenen  Mittel  der  Artiku- 
lation und  in  seiner  Art  eine  Kraft  zur  Synthese,  die  ihn  wenigstens 
in  seinen  Meisterwerken,  der  Italienischen  und  Schottischen  Sym- 
phonie, zum  Gipfel  des  Möglichen  führte. 

Die  nach  Wagner  eingetretene  Unterschätzung  Mendelssohns, 
die  ja  auch  heute  noch  ihre  Blüten  treibt,  hat  vor  den  Symphonien, 
des  Meisters  nicht  Halt  gemacht.  Vor  allem  nennt  man  ihn  ver- 
blaßt, ohne  Wirkung,  zu  schwach  instrumentiert,  ohne  packende  Ele- 
mente in  der  thematischen  Entwicklung  —  kurz,  man  legt  ihn  zum 
alten  Eisen;  denn  es  ist  modern  und  gilt  als  ein  Zeichen  von  Geist 
„weiterzugehen".  Die  Zeit,  die  das  wirtschaftliche  und  politische 
Chaos  vorbereitete,  hat  auch  nicht  verfehlt,  in  der  Kunst  den  Boden 
zu  lockern.  Die  Verfallsmusik  der  letzten  Jahrzehnte,  all  die  Un- 
kultur im  Geschmack,  der  traurige  Mangel  an  Technik  in  der  Kom- 
position und  schon  an  bloßem  Verständnis  für  die  Technik  der  Meister, 
das  sind  die  Faktoren,  aus  denen  das  Bild  der  Musik  von  heute  zu- 
sammengesetzt ist.  Kein  Wunder,  daß  für  einen  Meister  wie  Mendels- 
sohn da  kein  Platz  ist,  wo  man  im  letzten  Sinne  notgedrungen  und 
nur  noch  rein  äußerlich  Haydn  und  Mozart  Ehrerbietung  erweist, 
obschon  man  sie  innerlich  schon  längst  für  „überwunden"  hält. 
Aber  schließlich  ist  doch  nicht  Mendelssohns  Musik  daran  schuld, 
sondern  vielmehr  die  schlechten  Ohren  und  der  noch  schlechtere 
Geschmack  der  Laien  und  Kunstschwätzer  und  die  Unfähigkeit  der 
Musiker,  heute  ein  Melos  wie  dasjenige  Mendelssohns  leidenschaft- 
lich interpretieren  zu  können.  (Man  lese  nur,  was  ein  wahrhaft 
großer  Denker  und  Künstler,  Dr.  Heinrich  Schenker,  in  seinen  „Musi- 
kalischen Theorien  und  Phantasien"  darüber  sagt  und  weiterhin  erst 
noch  sagen  wird.) 

Gibt  es  also  keinen  lächerlicheren  Vorwurf  gegen  Meisterwerke, 
als  den:  sie  wären  veraltet  —  wie  kann  denn  etwas,  was  als  Meister- 
werk seine  Vollendung  in  sich  trägt  überhaupt  veralten  —  so  richtet 
sich  das  Vorurteil  gegen  Mendelssohn  und  seine  Symphonik  von 
selbst.  Es  soll  hier  keine  Ehrenrettung  verlorener  Musik,  wie  der 
Reformationssymphonie  und  des  Lobgesangs  versucht  werden.    Wir 


152  Orchesterwerke 

haben  vielmehr,  wenn  wir  von  Mendelssohn  als  Symphoniker  sprechen, 
nur  seine  Italienische  und  Schottische  Symphonie  im  Auge.  Bei 
diesen  Werken  handelt  es  sich  noch  nicht  einmal  darum,  ob  jemand 
die  innere  Verbindung  mit  den  Idealen  der  damaligen  Zeit  verloren 
oder  nie  gefunden  hat,  sondern  hier  handelt  es  sich  um  das  Grund- 
sätzliche in  der  Kunst,  das  abseits  und  unberührt  vom  Zeitgeist  nur 
seinen  einen  elementaren  Weg  geht  wie  ein  notwendiges  Natur- 
ereignis. In  der  Kunst  gibt  es  nur  ein  Entweder  —  Oder.  Das  Genie 
darf  jeglichen  Kompromiß  verschmähen,  auch  den  mit  dem  Zeitgeist 
und  mit  dem  Milieu.  Nun  ist  die  Symphonik  am  allerwenigsten  ein 
Tummelplatz  für  Abenteurer.  Da  sind  Urgesetze  des  Stils  zu  berück- 
sichtigen, die  den  Geist  des  Schaffenden  von  vornherein  in  gewisse 
Bahnen  lenken.  Es  braucht  nicht  immer  das  Monumentale  zu  sein, 
was  das  Symphonische  ausmacht;  es  ist  vielmehr  die  epische  Breite, 
die  die  Kraft  der  Synthese  beim  Schaffenden  voraussetzt,  die  Kraft, 
planmäßig  weite  Bogen  zu  spannen  und  Inhalt  zu  schaffen.  Das 
Geheimnis  der  Steigerung  ist  hierin  ebenso  bedingt  wie  das  der 
Differenzierung  und  Artikulation  im  Thematischen  und  Melodischen. 

Mendelssohn  besaß  die  Eigenschaften  des  Symphonikers.  Nicht 
in  dem  überreichen  Maße  eines  Beethoven;  aber  darum  bewahrte 
ihn  auch  in  den  beiden  Meisterwerken  sein  guter  Geist  davor,  Epigone 
zu  sein  oder  beim  Wagnis  des  Neuen  und  Ungewöhnlichen  zu 
stranden.  Mendelssohn  ist  ganz  er  selbst  auch  als  Symphoniker.  Der 
Meister  der  Lieder  mit  und  ohne  Worte  verleugnet  sich  nicht.  Aber 
wie  ist  hier  alles  ins  Große  übertragen  und  wie  reich  ist  das  poeti- 
sche Element  gerade  in  seiner  Orchestermusik.  Ebenso  stark  ist  die 
lückenlose  Logik  seiner  thematischen  Beweisführung.  Er  hat  im 
Gegensatz  zu  seinen  beiden  großen  romantischen  Brüdern  Schubert 
und  Schumann  an  den  Symphonien  intensiv  gearbeitet,  er  warf  sie 
nicht  in  wenigen  Tagen  aufs  Papier.  Langsam  gestaltete  sich  der 
Gedankengang  in  ihm,  und  die  Frucht  reifte  erst  nach  langem  Mühen. 
Deshalb  huldigte  er  auch  nicht  dem  Aphorismus,  dem  Augenblicks- 
einfall. 

Der  Symphoniker  Mendelssohn  setzte  sich  nicht  mit  Formpro 
blemen  auseinander.    Was  er  als  Vorbilder  fand,  genügte  ihm  für  die 
eigene  Aussprache.    Er  näherte  sich  der  Musik  ja  nicht  als  Mystiker 
oder  Bahnbrecher.    Für  ihn  war  die  Symphonik  nur  ein  willkommenes 


Orchesterwerke  153 

Forum,  um  zu  weiten  Kreisen  sprechen  zu  können.  Aber  auch  bei 
ihm  ist  wie  bei  den  anderen  Großen  der  grundlegende  Unterschied 
zwischen  der  Symphoniemusik  und  der  Kammer-  und  Sonatenmusik 
deutlich  und  auffallend.  Die  Thematik  ist  freier,  oft  packender,  all- 
gemeingültiger und  großzügiger.  Die  Auseinandersetzung  vollzieht 
sich  vor  der  Welt;  sie  ist  deshalb  ihrer  ganzen  Tendenz  nach  elemen- 
tarer nach  außen  hin. 

Einmal  sprengte  Mendelssohn  die  Grenzen  des  Herkömmlichen : 
in  seiner  Symphonie-Kantate  „Lobgesang".  Die  ist  eine  poetische 
Erweiterung  der  Form  und  sucht  unter  Zuhilfenahme  des  gesungenen 
Wortes  die  Stimmung  noch  intensiver  zu  entwickeln,  als  es  den  In- 
strumenten möglich  wäre.  Die  poetische  Idee  war  aber  auch  in  den 
anderen  Symphonien  Mendelssohns  lebendig.  Nur  der  Deutsche 
konnte  eine  solche  Italienische  und  Schottische  Symphonie  aus  dem 
Geist  der  Landschaft  heraus  schaffen ;  denn  nur  er  verzichtet  in  dem 
Grade  darauf,  die  Welt  zu  sich  in  Beziehung  zu  bringen,  sondern 
fühlt  sich  ganz  in  das  Andere,  Fremde  hinein  und  macht  es  sich 
zu  eigen. 

Kann  gegen  den  Formkünstler  Mendelssohn  kein  Einwand 
geltend  gemacht  werden,  so  ist  er  doch  andererseits  weit  davon  ent- 
fernt, in  bloßem  Formalismus  zu  versanden.  Wir  wissen  aus  zahl- 
losen Aussprüchen  in  seinen  Briefen,  wie  er  die  Pedanterie,  die 
Schwäche  des  Schematischen  und  letzten  Endes  das  sogenannte  Aka- 
demische ablehnte.  Und  immer  wieder  kommen  wir  auf  den  einen 
Punkt  zurück,  der  bei  Mendelssohn  nicht  oft  genug  hervorgehoben 
werden  kann :  seine  Musik  ist  viel  zu  stark  mit  geistiger  Leidenschaft 
angefüllt,  als  daß  sie  zum  reinen  Spielwerk  werden  konnte.  Gerade 
das,  was  man  bei  ihm  aus  Unverstand  leugnet,  ist  eben  doch  seine 
stärkste  Seite:  die  Leidenschaft  in  den  Tonereignissen,  die  zwar 
ungeheuer  diszipliniert  und  gebunden  ist,  aber  doch  kräftig  genug 
aus  der  prachtvollen  Intensität  seiner  Melodik  hervorleuchtet. 

Schon  frühzeitig  lockte  die  Symphonik  den  jungen  Komponisten. 
Im  Alter  von  elf  bis  vierzehn  Jahren  schrieb  Mendelssohn  eine  ganze 
Reihe  kleiner  Symphonien  für  Streichinstrumente.  Mit  einer  Sym- 
phonie für  volles  Orchester  in  D-dur  versuchte  er  es  1822.  Alle  diese 
Partituren  kennen  wir  nicht.  Sie  sind  Handschrift  geblieben.  Erst 
die  Symphonie  c-moll  opus  II  aus  dem  Jahre  1824  legt  Zeugnis  ab 


154  Orchesterwerke 

von  dem  Geist  des  Tondichters.  Sie  ist  für  England  geschrieben 
und  der  Philharmonischen  Gesellschaft  in  London  gewidmet.  Der 
Epigone,  den  die  Freude  an  der  Nachahmung  noch  auf  längst  be- 
tretene Pfade  zieht,  spricht.  Er  plaudert  ohne  Scheu  aus,  was  er 
von  Haydn  und  Mozart  gelernt  hat.  Das  Werk  zeigt  als  Ganzes  die 
selige  Unbefangenheit  der  Jugend,  die  ohne  Arg  aus  vollem  Herzen 
musiziert.  C-moll  hat  hier  keinen  finsteren  Charakter  und  ist  noch 
nicht  der  Ausdruck  wilden  Schmerzes.  Das  scharf  pointierte  und 
energisch  betonte  Hauptthema  des  ersten  Satzes  ist  noch  primitiv  in 
der  Erfindung.  Auch  die  Verarbeitung  bleibt  noch  an  der  Oberfläche 
hängen.  Das  Seitenthema  huldigt  Mozart.  Die  Durchführung  ist 
knapp  gehalten  und  geht  allen  tieferen  Auseinandersetzungen  aus  dem 
Wege.  Das  Hauptthema  liefert  den  Stoff;  nur  einmal  klingt  das 
Seitenthema  ganz  schüchtern  in  der  Flöte  an.  Die  Reprise  schließt  mit 
einer  verhältnismäßig  gestreckten  Coda.  Der  stimmungsvolle  zweite 
Satz  ist  von  zarter  Melodik  erfüllt.  Die  schöne  Verschmelzung  der 
Instrumente  erzeugt  weiche,  satte  Farben.  Zweimal  steigert  sich  das 
Spiel  beredt  und  ringt  nach  stärkerem,  lebhafterem  Ausdruck,  bis  es 
endlich  in  verträumt  hingehauchten  Akkorden  verklingt.  Das  Me- 
nuette) ist  prägnant  gefaßt  und  von  etwas  herber  Art.  Sehr  reizvoll 
kontrastiert  dazu  das  Trio.  Die  beiden  Klarinetten  und  Fagotte  singen 
einen  schlichten,  getragenen  Hymnus,  während  die  Violinen  die  Har- 
monien auseinanderbreiten  und  eine  sanfte  Bewegung  schaffen.  Tem- 
peramentvoll stürmt  der  Schlußsatz  daher.  Er  ist  mit  pikanten  Einzel- 
heiten, kleinen  Nachahmungen  und  Instrumentationseffekten  ge- 
schmückt, zeigt  sich  aber  im  übrigen  ganz  von  altem  Geist  und  Stil 
erfüllt. 

Der  c-moll-Symphonie  folgt  zeitlich  die  sogenannte  Reformations- 
Symphonie  in  d-moll,  opus  107.  Sie  entstand  1830  zur  Feier  der 
Kirchenreformation.  In  London  und  Berlin  kam  sie  zum  Erklingen; 
dann  ist  sie  völlig  vergessen  worden.  Wir  brauchen  sie  nicht  zu 
neuem  Leben  zu  erwecken.  Ihre  Thematik  ist  schwach  und  atmet 
ganz  den  Charakter  eines  Gelegenheitswerkes.  Im  Finale  verarbeitet 
Mendelssohn  den  Choral  „Ein  feste  Burg";  aber  auch  das  ist  ihm 
nur  rein  äußerlich  gelungen.  Es  ist  ein  Stück  märkischer  Sand-Musik, 
ein  Augenblick  des  Erschlaffens  der  Inspiration.  Reden  wir  nicht 
weiter  davon. 


Orch es t e r w e rk e  155 

Doch  jetzt  trennt  uns  nichts  mehr  von  den  beiden  symphonischen 
Meisterwerken  Mendelssohns,  der  Italienischen  und  Schottischen  Sym- 
phonie. Die  Italienische,  in  A-dur,  wurde  1833  in  Berlin  vollendet, 
aber  erst  aus  dem  Nachlaß  (als  opus  90  veröffentlicht.  Mendels- 
sohn hat  viel  an  ihr  gefeilt  und  gebessert,  ehe  sie  die  Vollendung  er- 
reichte. Sie  lebt  noch  heute  in  der  Gunst  der  Musikfreunde  und  ihre 
Frische  verheißt  noch  eine  lange  Zukunft. 

Alles  was  sich  die  ewige  Sehnsucht  des  Nordländers  unter  Italien 
vorstellt  —  das  ist  Mendelssohns  A-dur-Symphonie :  überschäumende 
Lebenslust  und  verträumte  Schwermut,  phantastische  Fülle  und  Bunt- 
heit, helle  glänzende  Farben.  Die  Wärme  des  Kolorits  ist  von  be- 
zaubernder Anmut  und  Grazie.  Gleich  der  erste  Satz  führt  mitten 
hinein  in  das  übermütige  Treiben.  Ein  kräftiger  A-dur-Akkord  des 
Orchesters,  und  mit  flimmernden  gestoßenen  Achteln  tragen  die 
Bläser  die  Harmonien  weiter,  während  die  Violinen  mit  dem  Haupt- 
thema einsetzen,  das  mit  einem  jubelnden  Ruf  wie  eine  jauchzende 
Frühlingsfanfare  beginnt.  Die  Bläser  übernehmen  den  Ruf  und  lassen 
ihn  poetisch  ausklingen ;  die  Streicher  antworten  lustig  hüpfend.  Das 
Spiel  steigert  sich  wieder;  noch  einmal  erklingt  rauschend  das  Haupt- 
thema. Doch  schon  verändert  es  sich  und  schlägt  andere  Wege  ein. 
Und  bald  findet  es  nach  der  Dominante  von  E.  Nun  haben  die 
Klarinetten  freie  Bahn  für  das  Seitenthema.  Sein  weicher,  singender 
Charakter  schafft  nur  einen  gelinden  Gegensatz.  Nichts  stört  die 
unschuldige,  naive  Freude.  Alles  bleibt  licht  und  fröhlich ;  nur  die 
Violinen  ziehen  den  Nachsatz  des  Seitenthemas  ins  Schwärmerisch- 
Sentimentale.  Der  Fanfarenruf  des  Hauptthemas  regt  sich  wieder; 
aber  er  kommt  nicht  mehr  zur  Auswirkung.  Die  Exposition  ist 
vollendet.  Die  Durchführung  kann  beginnen.  Die  Streicher  erfassen 
ein  zierliches  Motiv  und  führen  es  durch,  bis  die  Bläser  schüchtern 
an  das  Hauptthema  erinnern.  Doch  das  neue  Motiv  reißt  auch  die 
Bläser  mit  in  den  Reigen.  Das  volle  Orchester  ergreift  es  wie  ein 
Taumel.  Aufgeregt  wird  bisweilen  der  Fanfarenruf  dazwischenge- 
schleudert.  Das  Spiel  wird  ruhiger  und  besinnlicher.  Zart  gleiten 
die  Harmonien  ineinander.  Doch  nicht  lange  kann  das  währen,  da 
meldet  sich  das  Hauptthema  wieder  und  führt  schwungvoll  zur  Re- 
prise, die  den  Jubel  des  Anfangs  in  verstärktem  Maße  wiederholt. 
Das  graziös  tändelnde  Motiv  der  Durchführung  taucht  gegen  Schluß 


156  Orchesterwerke 

hin  noch  einmal  auf,  bis  schließlich  die  Coda  jauchzend  die  Schluß- 
striche zieht. 

An  Probleme  rührt  Mendelssohn  auch  in  diesem  Werk  nicht. 
Ihm  flössen  Erlebnis  und  Musik,  Erinnerung  und  Inspiration  in  eins, 
und  so  ließ  er  den  Festklängen  des  ersten  Satzes  im  Andante  ein 
Wallfahrtslied  folgen,  das  ihm  selbst  auf  seinen  Wanderungen  in 
Italien  hätte  begegnen  können.  Es  ist  in  Schleier  der  Wehmut  und 
Entsagung  gehüllt  —  ein  rührendes  Lied,  das  Bratsche,  Oboe  und 
Fagott  anstimmen  und  das  den  ganzen  Satz  hindurch  immer  wieder- 
kehrt. Die  Zwischenspiele  verstärken  nur  den  Eindruck  eines  be- 
stimmten Vorganges,  der  hier  geschildert  wird.  Still  und  traurig  wie 
er  begonnen,  verklingt  der  Satz,  ein  Meisterstück  in  Zeichnung  und 
Farbe,  von  einer  überwältigenden  Schlichtheit  im  Ausdruck,  die 
eigentlich  nur  die  tiefste  Resignation  kennt. 

Elegant  und  etwas  kokett  plaudert  der  Menuettsatz  vom  Glück 
des  Lebens.  Es  ist  lächelnder  Frohsinn  darin,  sonnige  Heiterkeit, 
die  jede  Erdenschwere  hinter  sich  gelassen  hat  und  nur  noch  hal- 
kyonisch  genießt.  Doch  das  Trio  beschwört  mit  seinen  verträumten 
Hornklängen  die  Erinnerung  an  die  heimatliche  Waldromantik  her- 
auf.   Der  Weltmann  vergießt  heimlich  eine  Sehnsuchtsträne. 

Der  Schlußsatz,  ein  Saltarello  in  a-moll,  führt  uns  unmittel- 
bar in  das  berauschende,  üppige  neapolitanische  Volksleben.  Das 
ist  die  Via  di  Toledo,  von  der  Stendhal,  zehn  Jahre  bevor  Mendels- 
sohn sie  sah,  als  der  „bevölkertsten  und  lustigsten  Straße  Europas" 
schwärmte.  Das  ist  hinreißend,  voll  ungeheurer  fesselloser  Leiden- 
schaft, glühend,  verlangend,  sinnbetörend.  Das  ist  echt,  erlebt  und 
gesehen,  überquellend  vor  Lebensfreude,  taumelnd  und  trunken  von 
Sonne  und  Schönheit.  Ein  bacchantischer  wirbelnder  Tanz,  bisweilen 
wie  rasend  sich  aufbäumend,  dann  und  wann  erschöpft  stockend  und 
immer  wieder  von  neuem  auflebend  bis  zu  dem  tollen  Schluß. 

Eine  Welt  trennt  die  Italienische  Symphonie  von  ihrer  nicht 
minder  berühmten  Schwester,  der  Schottischen,  a-moll,  opus  56.  Aber 
die  poetische  Idee  lebt  in  beiden  und  ist  in  beiden  vollkommen  er- 
füllt. Die  Natur  war  die  große  Anregerin,  das  Leben  schuf  den 
Grundton,  wenn  auch  die  Erinnerung  erst  die  Verklärung  geben 
mußte.  Was  Mendelssohn  in  der  Hebriden-Ouvertüre  von  Schott- 
lands eigentümlicher  Schönheit  und  Versunkenheit  erzählt  hatte,  das 


Orchesterwerke  157 

wiederholte  er  noch  einmal  in  breiterer  Form,  gewissermaßen  vor 
einem  größeren  Forum  in  der  a-moll-Symphonie.  Die  Landschaft 
gab  ihm  die  Stimmung.  Das  ist  die  Schwermut,  der  Nebel,  das 
Meer  und  die  Felsenküsten,  die  Verschlossenheit  und  Verträumtheit, 
der  Bewohner,  die  auf  eine  andere  Weise  lustig  sind  als  die  Italiener. 
Alles  ist  gedämpft.  Schon  die  langsame  Einleitung  des  ersten  Satzes 
läßt  uns  ahnen,  daß  wir  in  das  Land  der  Melancholie  gekommen  sind. 
Traurig  schleppt  sich  das  langsam  aufsteigende,  getragene  Thema 
in  den  Bläsern  und  den  Bratschen  hin.  Die  ganze  Einleitung  bewegt 
sich  um  dieses  Thema,  umschreibt  es  und  zeigt  es  in  seinen  ver- 
schiedenen Stadien.  Auf  einer  langen  Fermate  schließen  die  Flöten. 
Da  setzt  im  Sechsachteltakt  das  Hauptthema  wehmütig  klagend  ein. 
Die  Streicher  tragen  es  vor,  die  Holzbläser  wiederholen,  verstärken 
es  und  führen  es  weiter  bis  zu  einem  leidenschaftlichen  Aufschwung 
des  vollen  Orchesters.  Mit  stürmischer  Gewalt  ringt  der  Schmerz 
nach  Ausdruck.  Dann  läßt  die  Erregung  nach.  Bruchstücke  des 
Hauptthemas  richten  sich  klagend  auf  und  fallen  erschöpft  wieder 
zusammen.  Doch  der  Schmerz  bricht  sich  von  neuem  Bahn  und 
führt  ein  heftiges  Aufbäumen  herbei.  Das  Spiel  ist  in  e-moll  gelandet, 
und  weich,  unendlich  traurig,  tränenumflort  und  seufzend  erhebt  das 
Seitenthema  seine  Stimme.  Das  ist  kein  Kontrast.  Es  ist  dieselbe 
melancholische  Grundstimmung.  Unsagbar  ergreifend  verklingt  der 
Nachsatz  und  damit  die  Exposition.  Das  Anfangsmotiv  des  Haupt- 
themas eröffnet  die  Durchführung.  Rastlos  zieht  es  durch  die  In- 
strumente und  lockt  sie  durch  den  Kreis  der  Tonarten.  Die  Bläser 
erinnern  sich  an  das  herrliche  melodische  Motiv  eines  Nebenthemas, 
das  dagegen  ausgespielt  wird.  Aber  das  Hauptthema  läßt  die  Zügel 
nicht  fallen.  Das  ganze  Orchester  lehnt  sich  auf.  Wie  ein  lichter 
Trost  erklingt  in  E-dur  das  Seitenthema.  Es  ist  ein  Traum.  Denn 
schon  greift  das  Hauptthema  wieder  nach  der  Führung.  Mit  a-moll 
ist  die  Reprise  erreicht.  Sie  bringt  keine  Überraschungen  mehr.  Das 
Einleitungs-Andante  beendet  den  Satz  harmonisch. 

Unmittelbar  sollen  sich  die  vier  Sätze  der  Symphonie  aneinander 
anschließen,  damit  die  Einheit  der  Idee  gewahrt  bleibt.  Dem  ersten 
Satz  folgt  das  Scherzo.  Was  wäre  Schottland  ohne  den  Dudelsack, 
was  eine  schottische  Symphonie  ohne  Anklänge  an  dieses  National- 
instrument?   Im  Scherzo  hören  wir  es.     Das  ist  ein  lustiges  Stück, 


158  Orchesterwerke 

burschikos,  ausgelassen,  übermütig.  Prickelnd  springt  das  Haupt- 
thema durch  die  Instrumente,  die  es  sich  gegenseitig  zuwerfen.  Das 
zweite  Thema  ist  von  etwas  preziösem  Charakter;  es  macht  dem 
Hauptthema  oft  den  Platz  streitig,  um  die  Abwechslung  zu  schaffen, 
die  in  Ermangelung  eines  eigentlichen  Trios  notwendig  ist.  Das 
Scherzo  verklingt  wie  ein  Spuk.  Eine  kurze  Überleitung  führt  zum 
Adagio,  in  dem  der  Traum  Wahrheit  wird.  Die  Violine  singt  eine 
Melodie  von  einzigartiger  Innigkeit,  Schönheit  und  Süße,  ein  holdes 
Wunder  an  Eingebung  und  Gestaltung.  Man  beachte  doch  nur  den 
herrlichen  Aufbau  des  Themas,  das  erst  zum  Schluß  sich  zur  Septime 
aufschwingt  und  gerade  durch  dieses  Aufsparen  eines  so  prägnanten 
Intervalls  seine  große  Wirkung  erzielt.  Mendelssohn  kannte  diese 
Technik  der  Meister  noch,  die  der  heutigen  Zeit  anscheinend  gänzlich 
verloren  gegangen  ist.  Dreimal  gewinnen  energischere  Akzente  im 
Adagio  Geltung;  aber  die  zarte  Stimmung  kommt  immer  wieder 
durch  und  taucht  den  Satz  in  das  versöhnende  Licht  wolken- 
loser Reinheit. 

Von  lebhafter,  aufbäumender  Kraft  ist  der  Schlußsatz  erfüllt. 
Die  Thematik  vergißt  jedoch  nicht  die  Tendenz  der  Symphonie.  Die 
poetische  Idee  bleibt  gewahrt,  im  Sturm  der  Leidenschaft,  der  kühnen 
Ritterlichkeit  kriegerischer  Rhythmen  wie  in  den  weichen  Linien  der 
Sehnsucht.  Eine  Coda  im  Sechsachteltakt  lenkt  nach  A-dur  ein  und 
vollzieht  mit  glühender  Melodik  den  Aufschwung  ins  Verklärte. 

Zwei  Jahre  vor  der  Schottischen  Symphonie  hatte  Mendelssohn 
die  Symphonie -Kantate  „Lobgesang",  opus  52,  nach  Worten  der 
heiligen  Schrift  komponiert.  Ein  Gelegenheitswerk,  dazu  bestimmt, 
die  Vierhundertjahrfeier  der  Buchdrucker  in  Leipzig  musikalisch  zu 
verherrlichen.  Beethovens  Neunte  Symphonie  mag  ihm  als  Vorbild 
vorgeschwebt  haben,  und  doch  wollte  und  mußte  er  etwas  viel  Volks- 
tümlicheres geben.  Deshalb  stellte  er  das  Werk  in  den  Dienst  der 
religiösen  Idee  und  setzte  als  Motto  Luthers  Worte  auf  die  Partitur: 
„Sondern  ich  wollt  alle  künste,  sonderlich  die  Musica,  gern  sehen 
im  dienst  des  der  sie  geben  und  geschaffen  hat".  Das  Werk  zer- 
fällt in  zwei  Teile,  die  Symphonie  und  die  Kantate.  Die  große  sym- 
phonisch gestaltete  Instrumentaleinleitung  besteht  aus  drei  ineinander 
übergehenden  Sätzen,  Allegro,  Scherzo  und  Adagio,  denen  sich  dann 
der  eigentliche  Lobgesang  als  groß  ausgestaltetes  Finale  mit  Solo- 


Orchesterwerke  159 

nummern,  Rezitationen  und  Chören  anschließt.  Das  Motiv  des  ersten 
Chores,  „Alles  was  Odem  hat,  lobe  den  Herrn",  zieht  sich  wie  ein 
roter  Faden  durch  das  Werk  und  verknüpft  namentlich  die  Instru- 
mentalsätze in  poetischer  Weise  mit  der  Kantate.  Ein  frischer  Ton 
liegt  über  dem  Ganzen.  Schumann  fand  die  Komposition  von  en- 
thusiastischer Wirkung.  Die  Nachwelt  hat  dieses  Urteil  korrigiert. 
Der  Lobgesang  zählt  zu  den  toten  Werken  Mendelssohns,  denen  keine 
Auferstehung  mehr  beschieden  ist.  Mit  großem  Geschick  ist  der  erste 
Satz  gefügt;  aber  es  ist  schließlich  nur  ein  Spiel  mit  Tönen.  Ein 
Rezitativ  der  Klarinette  leitet  zu  dem  Allegretto  un  poco  agitato,  das 
mit  seiner  leidenschaftlich  drängenden  Melodik  die  Stelle  eines 
Scherzo  vertritt.  Ein  Choral  als  quasi  Trio  stellt  den  inneren  Zu- 
sammenhang mit  dem  „Lobgesang"  wieder  her,  den  das  folgende 
Adagio  noch  vertieft  und  weiter  ausbaut.  Die  Atmosphäre  für  den 
„Lobgesang"  ist  gegeben.  Die  Kantate  zeigt  manche  schöne  Chor- 
steigerung, manche  schön  poetische  Linie  in  den  Sologesängen.  Aber 
das  Ganze  hat  nicht  das  Pathos  des  großen  Willens.  Zwar  verfehlten 
die  äußerlich  effektvollen  Klangmittel  nicht  ihren  Eindruck  auf  die 
Zeitgenossen.  Wir  jedoch  dürfen  skeptischer  sein.  Für  uns  kann  der 
„Lobgesang"  nicht  zu  den  großen  Ereignissen  in  der  Kunst  gehören 
und  nur  für  die  ist  Platz  in  der  Musikgeschichte. 

Die  Romantik,  die  Beseelung  der  Natur,  verlieh  Mendelssohns 
symphonischen  Meisterwerken  unvergänglichen  Zauber.  Die  poeti- 
sche Idee,  die  dichterische  Verklärung  der  Erinnerung,  gaben  Men- 
delssohn die  Kraft  zur  Synthese.  Mochte  selbst  die  Thematik  drama- 
tischer Entwicklung  ungünstig  sein,  die  Leidenschaft  der  mit  der 
Phantasie  des  Dichters  geschauten  Tonereignisse  schuf  Inhalt  und 
epische  Breite.  Wieviel  willkommener  noch  mußte  Mendelssohn  die 
engere  Form  der  Ouvertüre  sein.  Wie  sehr  sie  seinem  Naturell  und 
seinem  Schöpferwillen  lag,  das  wird  durch  nichts  besser  bewiesen, 
als  durch  die  Meisterwerke,  die  er  in  der  Form  der  poetisierenden 
Konzertouvertüre  schuf.  Der  Jüngling  spielte  damit  seinen  ersten 
Trumpf  aus:  die  Sommernachtstraum-Ouvertüre.  Sie  wird  uns  später 
noch  begegnen.  Was  an  Ouvertüren  vorherging  war  belanglos:  so- 
wohl die  Ouvertüre  für  Harmoniemusik,  opus  24,  als  auch  die  Brillante 
Ouvertüre  in  C-dur,  die  sogenannte  Trompetenouvertüre,  opus  101, 
die  Mendelssohn  selbst  nicht  der  Veröffentlichung  für  wert  erachtete, 


160  Orchesterwerke 

und  aus  der  er  nur  die  Trompetenrufe  später  in  der  Hebriden-Ouver- 
türe  wieder  anklingen  ließ. 

Die  Ouvertüre  „Meeresstille  und  glückliche  Fahrt",  opus  27, 
eröffnet  den  Reigen  der  „Charakteristischen  Ouvertüren"  Mendels- 
sohns. Schuberts  Lied,  Beethovens  Chor  versinken,  und  es  bleibt  nur 
die  Stimmung  der  Goetheschen  Verse,  die  Mendelssohns  Ouvertüre 
als  stilles  Motto  vorausschweben.  Auch  dieses  Werk  hat  Wand- 
lungen durchgemacht.  Die  erste  Fassung  aus  dem  Juni  1828  wurde 
zwei  Jahre  später  in  London  gespielt.  Dann  ruhte  die  Partitur,  bis  sie 
Mendelssohn  nach  mehreren  Jahren  in  die  heutige  Form  umschmolz. 
Ein  Adagio  malt  die  Meeresstille.  Das  Meer  schläft.  Eine  ungeheure 
Weite  und  Stille  dehnt  sich  aus.  Kein  frischer  Hauch.  Die  Sonne 
brennt.  Feierlich,  träumend,  verschmachtend  und  ersterbend 
schleichen  die  Akkorde  und  Motive  dahin.  Nur  dann  und  wann  ist 
es,  als  öffne  sich  ein  unergründliches  Auge,  wenn  sich  ausdrucksvolle 
Septimen  in  den  Violinen  aufrecken.  Doch  die  unheimlich  gespannte 
Ruhe  brütet  weiter.  Da  erklingt  es  in  der  Flöte  wie  ein  unterdrückt 
aufjubelnder  Ruf.  Ein  sprunghaftes  Aufbäumen  der  Holzbläser,  und 
Molto  Allegro  vivace  hebt  die  glückliche  Fahrt  mit  vollen  Segeln  an. 
Die  Baßfiguren  beginnen  zu  rollen,  immer  stärker,  immer  wilder  regt 
sich  das  Spiel,  bis  nach  einer  gewaltigen  Steigerung  piano  das  Haupt- 
thema in  den  Holzbläsern  einsetzt.  Die  Streicher  werfen  kurze  ener- 
gische Floskeln  dazwischen,  ergreifen  bald  die  Führung  und  nach 
nochmaligem  Aufschwung  bricht  das  volle  Orchester  mit  dem  Haupt- 
thema durch.  Ein  blühendes  zweites  Thema  meldet  sich  in  der 
Violine,  von  den  Holzbläsern  weich  eingehüllt.  Allmählich  verebbt 
der  Aufruhr.  Spielerisch  gleiten  die  Figuren  dahin.  Da  setzt  in  den 
Celli  das  üppige,  schwelgerische  Seitenthema  ein,  überströmend  vor 
Glück.  Flöten  und  Klarinetten  beantworten  es.  Die  Durchführung 
beginnt,  lebendig,  vielgestaltig,  buntschillernd  und  farbenreich,  alles 
in  eine  bezaubernde  Fülle  von  Empfindung  getaucht.  Die  Reprise 
bringt  keine  Überraschungen,  die  glückliche  Fahrt  geht  weiter  und 
mit  schmetternden  Fanfaren  grüßen  die  Instrumente  in  der  Coda  den 
Hafen. 

Mendelssohns  Konzertouvertüren  sind  Programmusik  reinster 
und  vollkommenster  Art.  Die  Assoziation  zu  einer  poetischen  Idee 
oder   zur   Natur   inspirierte   den   Tondichter.     Die   Ouvertüre   sollte 


Orch  es  ter  wer  k  e  161 

mehr  als  bloßes  Einleitungsstück  sein,  sie  sollte  ein  vollständiges  in 
sich  geschlossenes  und  aus  sich  heraus  verständliches  Dasein  führen. 
Tonmalerische  Effekte  mußten  die  willkommenen  Hilfsmittel  sein. 
Mendelssohn  war  ein  viel  zu  großer  Meister,  um  der  Gefahr  der 
Äußerlichkeit  zu  unterliegen.  Für  ihn  waren  die  Mittel  nur  da,  um 
die  Form  zu  beleben  und  mit  neuem  Inhalt  zu  füllen.  So  unendlich 
reich  der  Stimmungszauber  seiner  Ouvertüren  ist,  so  starke  zwingende 
Eindrücke  die  Bildhaftigkeit  seiner  Tonsprache  vermittelt,  immer  ist 
es  der  Beherrscher  der  Form,  der  keine  fessellosen  Ausschweifungen 
duldet  —  die  ungeheuer  wohltuende  Kraft  eines  disziplinierten 
Geistes,  der  sich  seiner  Verantwortlichkeit  in  intellektuellen  Dingen 
bewußt  ist. 

„Es  wäre  genug  Ruhms  an  der  Sommernachtstraumouvertüre, 
die  anderen  sollten  andere  Namen  von  Komponisten  tragen", 
schwärmte  Schumann  damals.  Bei  solchem  Reichtum  ist  sein  Wort 
verständlich.  Allein  die  „Hebriden-Ouvertüre",  opus  26,  könnte 
einem  Tondichter  die  Unsterblichkeit  sichern.  Hier  hat  die  poetische 
Leidenschaft  Mendelssohns  die  ideale  vollendete  Form  gefunden. 
Stimmung  und  Synthese  sind  eins  geworden.  Man  vergißt  die  Mittel 
und  steht  nur  unter  dem  Eindruck  der  Poesie.  Die  Grundstimmung 
ist  die  der  a-moll-Symphonie,  die  ja  aus  derselben  Landschaft  heraus 
geboren  wurde,  nur  konzentrierter,  vertiefter.  Hier  ist  auf  engem 
Raum  alles  gesagt,  was  das  Herz  an  Schwermut  empfinden  kann. 
Die  h-moll-Tonart  leiht  dazu  die  echtesten  Farben.  Quellfrische 
Romantik  pulst  in  den  Tönen.  Das  Rauschen  des  Meeres  spielt 
seine  Rolle,  der  klagende  Wind  und  die  grenzenlose  Einsamkeit  des 
Menschen  in  der  großen  Natur.  Die  Phantastik  Ossians  lebt  in 
diesem  Naturgedicht  auf.  Die  Schatten  sagenhafter  Gestalten,  längst 
verklungener  Schmerzen  und  Wonnen  geistern  dahinter.  Wie  ein 
feines  Gewebe  beginnt  die  Partitur  mit  einer  auf  den  Stufen  des 
Dreiklangs  absteigenden  Begleitungsfigur,  die  zum  Leitmotiv  erhoben 
wird.  Ein  Thema  rundet  sich,  doch  schon  singen  Flöte,  Oboe  und 
Fagott  ein  neues,  das  Hebriden-Thema,  eine  wehmütige  Melodie, 
unsagbar  sehnsüchtig  und  weltverloren.  Das  Orchester  spinnt  die 
letzten  Takte  weiter  aus,  rauschende  Figuren,  aufgelöste  Akkorde 
in  den  Streichern  —  da  beginnen  die  Celli  und  Fagott  mit  dem 
wundervollen  Seitenthema   in   D-dur,  das  danach  von  den   Violinen 

Dahms,  Mendelssohn  11 


162  Orchesterwerke 

fast  jauchzend  aufgenommen  wird.  Die  Massen  ballen  sich  heftig 
zusammen,  stürmische  Entladungen  des  vollen  Orchesters  folgen. 
Doch  bald  tritt  wieder  die  Ruhe  des  Anfangs  ein.  Kräftige  Rufe 
der  Bläser  fahren  einschmeichelnd  dazwischen.  Das  Seitenthema 
taucht  noch  einmal  auf  und  wird  von  zarten  Händen  niedergezogen; 
Aber  schon  regen  sich  in  der  Bratsche  Triolen,  die  zum  Durch- 
führungsteil leiten.  Über  F,  B,  D,  A  und  E  geht  es  nach  h-moll  zur 
Reprise.  Das  Seitenthema  schwelgt  diesmal  in  süßestem  H-dur.  Noch 
einmal  bricht  die  Erregung  durch.  Ein  neues  farbiges  Motiv  tritt 
auf;  rollende  Streicherfiguren,  heftige  Ausrufe  der  Bläser.  Endlich 
einige  kraftvolle  energische  Schläge  des  ganzen  Orchesters,  von  denen 
sich  die  Klarinette  mit  dem  sanft  fallenden  Leitmotiv  ablöst,  bis 
schließlich  die  Flöte  auf  den  Stufen  des  h-moll-Dreiklangs  in  die  Höhe 
steigt  und  sich  wie  in  Nebeldunst  verliert.  Der  Traum  der  Schwer- 
mut ist  zu  Ende. 

Der  nordischen  Romantik  der  Hebriden-Ouvertüre  folgt  mit  der 
Ouvertüre  zum  „Märchen  von  der  schönen  Melusine"  die  deutsche. 
Was  dort  Phantastik  war,  ist  hier  Gemütstiefe,  Innigkeit  geworden. 
Wer  das  Märchen  von  der  schönen  Meerjungfrau  und  dem  Ritter 
kennt,  wird  die  Ouvertüre  verstehen;  wer  sie  nicht  kennt,  wird  sie 
aus  den  Tönen  herauslesen  können.  Es  ist  kaum  jemals  ein  rühren- 
deres, deutscheres  Stück  für  die  Musik  geschrieben  worden.  Der 
schlichte  Ton  der  Erzählung,  der  nicht  selbst  Vorgang  sondern  nur 
Wiederschein  der  Ereignisse  sein  will,  vermählt  sich  wundervoll  mit 
dem  Klangapparat.  Sehr  frei  ist  die  Form  gestaltet.  Der  F-dur-An- 
fang  schildert  die  Welt  Melusines.  Eine  Wellenfigur  beherrscht  diese 
Einleitung,  taucht  in  der  Mitte  wieder  auf  und  glättet  die  Wogen  auch 
am  Schluß,  als  sie  sich  über  dem  Grab  der  Liebe  schließen.  Der 
eigentliche  Hauptteil  beginnt  erst  mit  dem  Übergang  nach  f-moll. 
Es  ist  nur  der  tragische  Zusammenbruch  eines  sagenhaften  Glücks, 
der  hier  geschildert  wird.  Markige  Rhythmen  kennzeichnen  den 
stolzen  Ritter,  eine  schmelzende,  hinreißend  schöne  As-dur-Melodie 
deutet  auf  Melusine.  Wie  dies  alles  kombiniert  ist,  wie  das  Wellen- 
thema handelnd  in  die  Ereignisse  eingreift,  wie  das  Ritterthema  uner- 
bittlich hart  bleibt  und  wie  Melusines  Melodie  schließlich  trostlos 
hin  und  her  irrt  und  in  eine  entsetzlich  ergreifende  Klage  ausbricht, 
das  läßt  sich  besser  fühlen  und  hören  als  sagen.    Mendelssohn  witzelte 


Orchesterwerke  163 

sich  zwar,  wie  Schumann  erzählt,  die  eigene  Rührung  von  der  Seele. 
Als  ihn  einmal  ein  Neugieriger  fragte,  was  die  Melusinen-Ouvertüre 
eigentlich  bedeutete,  antwortete  er  schnell:  „Hm  —  eine  Mes- 
alliance". Aber  für  uns  bleibt  doch  der  Ernst  und  damit  diese  Ouver- 
türe eins  der  herrlichsten  Werke  Mendelssohns.  Ja,  es  gibt  Enthusia- 
sten, die  sie  für  das  schönste  des  Meisters  erklären. 

Wir  reihen  nun  noch  die  Ouvertüre  zu  „Ruy  Blas"  hier  an. 
Mendelssohn  hat  sie  1839  in  wenigen  Tagen  für  eine  Pensionsfond- 
Vorstellung  des  gleichnamigen  Stücks  von  Victor  Hugo  geschrieben. 
Die  Großspurigkeit  der  Theatralik  des  französischen  Romantikers 
konnte  Mendelssohn  nicht  begeistern.  Seine  Musik  ist  in  ihrer  fein- 
ziselierten Gliederung,  der  leidenschaftlichen  Melodik  und  der  bril- 
lanten Aufmachung  ein  lebhafter  Protest  gegen  die  Dichtung.  Trotz- 
dem zählt  sie  nicht  zu  seinen  großen  Werken.  Der  Routinier  hatte 
stark  die  Hand  dabei  im  Spiel;  aber  es  ist  ein  Routinier  von  Herz, 
Gemüt  und  Geschmack.  Wie  pompös  klingen  die  immer  wieder- 
kehrenden Einleitungsakkorde,  wie  rastlos  bohrt  das  Hauptthema, 
welche  Wucht  entlädt  sich  in  den  chromatisch  abwärts  sausenden 
Streichen  und  welches  lebhaften  und  doch  so  beseelten  Aufschwungs 
ist  das  Seitenthema  fähig.  So  ist  der  effektvolle  C-dur-Schluß  eine 
folgerichtige  Apotheose  der  finsteren  Moll-Leidenschaft  des  Hauptteils. 

Nennen  wir  nun  noch  als  bloße  Gelegenheitskompositionen  ohne 
Bedeutung  den  Trauermarsch  a-moll,  opus  103,  für  Harmoniemusik 
zum  Begräbnis  Norbert  Burgmüllers  und  den  Marsch  D-dur,  opus 
108,  für  Orchester  zur  Feier  der  Anwesenheit  des  Malers  Cornelius 
in  Dresden,  so  bleibt  uns  noch  das  Konzert  für  Violine  und  Orchester, 
e-moll,  opus  64,  mit  dem  wir  den  Kranz  der  Orchesterwerke  Mendels- 
sohns schließen  wollen.  Dieses  Violinkonzert  ist  das  einzige  Men- 
delssohns geblieben  und  es  steht  in  der  ersten  Reihe  mit  den  Haupt- 
werken der  Literatur,  den  Konzerten  von  Bach,  Mozart,  Beethoven 
und  Brahms.  Mit  ihnen  hat  es  die  Tendenz  gemeinsam,  das  virtuose 
Element  nur  als  selbstverständlichen,  willkommenen  Faktor  mit- 
sprechen zu  lassen,  den  musikalisch-symphonischen  Charakter  aber 
in  möglichster  Klarheit  und  Großzügigkeit  durchzuführen,  wenn  auch 
der  solistische  Ehrgeiz  der  Violine  durchaus  selbständige  Wege  geht 
und  sich  mehr  an  Mozart  als  an  Beethoven  oder  gar  Brahms  an- 
schließt.   Eingehende  Beratungen  mit  Ferdinand  David  sicherten  dem 

11* 


164  Chorwerke 

Solospieler  alle  Effekte  des  Geigenmäßigen,  Brillanz  und  den  Zauber 
der  Kantilene.  Gewisse  Ähnlichkeiten  in  der  Anlage  mit  den  beiden 
Klavierkonzerten  sind  nicht  zu  verkennen.  Die  drei  Sätze  bilden  ein 
zusammenhängendes  Ganzes,  wie  namentlich  im  g-moll-Klavierkon- 
zert.  Die  Überleitungspartien  zeigen  verwandte  Züge.  Es  ist  kein 
Zufall,  daß  alle  drei  Konzerte  in  Moll  stehen.  Die  Leidenschaft  führte 
dem  Meister  die  Feder,  als  er  sie  dichtete,  die  Leidenschaft,  die  in 
den  ersten  Sätzen  sich  in  schwungvollen  Themen  üppig  auslebte, 
in  den  langsamen  Mittelsätzen  beseelte  Innigkeit  wurde  und  in  den 
Schlußsätzen  die  Phantastik  des  Scherzos  mit  der  Spielfreude  des 
Rondos  vereinigte.  Die  Partitur  des  Violinkonzerts  ist  ein  kostbares 
Juwel  unter  Mendelssohns  Werken,  von  einer  Durchsichtigkeit,  Li- 
nienführung und  Klangfülle  ohnegleichen.  Die  Solovioline  herrscht 
darüber  mit  wahrhaft  königlicher  Geberde.  Die  Tutti,  die  sie  zum 
Schweigen  verurteilen,  bereiten  nur  immer  neue  und  herrlichere  Auf- 
schwünge vor.  Die  freie  Gestaltung  verlangte  Themen  von  Adel  und 
Charakter.  Wunderbar  kontrastieren  die  beiden  Hauptthemen  des 
ersten  Satzes,  das  glühende,  stürmische,  verlangende  Mollthema  und 
die  selig  lächelnde,  zart  klopfende  Durkantilene.  Das  Andante  be- 
schwört alle  Erinnerungen  an  die  Lieder  ohne  Worte  herauf.  Hier 
singt  die  Violine  von  Erfüllung  aller  Sehnsucht  und  von  Liebe.  Etwas 
auflebend  tastet  sie  sich  immer  noch  traumversunken  nach  E-dur  und 
nun  sind  wir  mitten  im  blühendsten  Glanz.  Ein  phantastischer 
Geistertanz  schwebt,  hastet,  singt,  klingt,  stolpert,  stürzt,  jagt  und 
jauchzt  an  uns  vorüber.    Und  der  Virtuose  feiert  seinen  Sieg. 


CHORWERKE 

Von  frühester  Jugend  an  beschäftigte  sich  Mendelssohn  mit  dsr 
Chorkomposition.  Dazu  verführte  ihn  nicht  nur  die  Möglichkeit, 
das  Geschriebene  sogleich  in  den  Sonntagsmusiken  aufführen  zu 
können,  sondern  auch  vor  allem  der  Ansporn  Zelters,  seine  inten- 
sive Beschäftigung  mit  Bach  und  Händel  und  seine  eifrigen,  unab- 
lässigen Studien  im  strengen  Satz.  In  seinen  Reise-  und  Wander- 
jahren ließ  ihn  die  Leidenschaft  zur  Chormusik  nicht  los.    Nament- 


Chorw  165 

lieh  war  es  Kirchenmusik,  die  ihn  bewegte.  Vom  a-cappella-Stil 
schritt  er  zum  begleiteten  Chorwerk,  von  Psalm  und  Motette  zum 
Oratorium,  nachdem  er  mit  der  Walpurgisnacht  dem  weltlichen  Chor- 
werk seinen  Tribut  entrichtet  hatte.  Dem  „Paulus"  folgte  zehn 
Jahre  später  der  „Elias".  Dazwischen  lag  eine  reiche  Ernte  an 
vierstimmigen  Chorliedern.  Die  Fragmente  eines  Oratoriums  „Chri- 
stus" endlich  waren  sein  letzter  Gruß  an  ein  Kunstgenre,  in  dem  er 
ganz  besondere  Triumphe  gefeiert  hatte. 

Die  Entstehungsgeschichte  des  „Paulus",  opus  36,  Mendels- 
sohns erstem  großen  Oratorium,  ist  in  aller  Ausführlichkeit  in  dem 
Briefwechsel  zwischen  Mendelssohn  und  Julius  Schubring  zu  lesen. 
Der  Theologe  konnte  dem  Musiker  wertvolle  Dienste  leisten,  da 
Mendelssohn  den  Text  nur  aus  Bibelworten  und  Choralversen  zu- 
sammenstellen wollte.  Die  Gestalt  des  zum  Propheten  und  Eiferer 
bekehrten  Zweiflers  und  Ungläubigen  mußte  Mendelssohn  anziehen. 
Es  fand  sich  die  Gelegenheit,  das  ideale  Christentum,  ganz  Nächsten- 
liebe, Demut  und  Hingabe,  gegen  die  starre  Unerbittlichkeit  des 
Judentums  und  die  unbefangene  Sinnenlust  des  Heidentums  zu  stellen 
und  sein  Lob  zu  singen. 

Mendelssohns  Vorbilder  waren  Bach  und  Händel.  Bach  hatte 
in  der  Bibel  die  Texte  seiner  Passionen  im  Zusammenhang  gefunden. 
Mendelssohn  fand  eine  fortlaufende  Erzählung  der  Paulus-Geschichte 
nicht  vor  und  war  genötigt,  die  Worte  aus  den  verschiedensten 
Büchern  der  Bibel  aneinanderzureihen.  Das  alte  Testament  mußte 
da  ebenso  zu  Hilfe  genommen  werden  wie  das  neue.  So  ergab  es 
sich  ganz  von  selbst,  daß  sehr  viel  Betrachtendes  in  den  Text  hinein- 
kommen mußte,  und  dies  Betrachtende  konnte  Aufgabe  sowohl  des 
Chores,  als  auch  der  Solostimmen  werden.  Der  Chor  nimmt  in 
Mendelssohns  Oratorien  nicht  den  handelnden  Anteil  wie  bei  Händel. 
Er  ist  nicht  so  sehr  dramatisch  behandelt  und  personifiziert  nicht 
die  Massen.  Damit  verzichtete  Mendelssohn  von  vornherein  auf 
große  Effektmöglichkeiten.  Zum  Unterschied  von  Bachs  Passionen 
schuf  Mendelssohn  für  das  Erzählende  nicht  die  Figur  des  Evan- 
gelisten. Er  vertraut  den  Bericht  der  Ereignisse  je  nach  der  Sach- 
lage bald  dieser,  bald  jener  Stimme  an.  Die  handelnden  Personen 
aber  bleiben  in  ihrem  Rahmen.  So  können  sich  die  Vorgänge  immer- 
hin   in   greifbarer   Deutlichkeit  abspielen.     Den   Choral   aber  wollte 


166  Chorwerke 

Mendelssohn  unbedingt  und  nicht  nur  aus  Gründen  des  musikali- 
schen Kontrastes  benutzen,  gewissermaßen  um  die  „Stimme  des 
Volkes"  den  Vorgängen  gegenüber  auszudrücken  und  andererseits 
das  symbolische   Element   zu   verstärken. 

Der  „Paulus"  zerfällt  in  zwei  Teile  mit  insgesamt  45  Nummern. 
Die  Hauptmomente  der  Handlung  liegen  im  ersten  Teil,  in  der  Be- 
kehrung des  Saulus  zum  Paulus.  Schumann  rühmte  die  tiefreligiöse 
Gesinnung  in  der  Musik  Mendelssohns.  In  der  Tat  ist  hier  die  Ton- 
sprache Ausdruck  einer  reinen  Frömmigkeit  geworden,  die  aus  inner- 
stem Drang  kam,  die  zwar  verschieden  ist  von  der  Inbrunst  Bachs, 
aber  darum  nicht  weniger  echt  wirkt.  Sie  ist  nicht  so  ehern  und 
markig  wie  die  des  Thomaskantors;  aber  trotzdem  hat  sie  eine  un- 
geheure Vielseitigkeit,  vom  Fanatismus  bis  zur  Hingabe,  vom  Haß 
bis  zur  Opferwilligkeit,  vom  unheilvollen  Drohen  bis  zur  hinreißen- 
den Anmut  und  Lieblichkeit,  vom  nüchternen  Rationalismus  bis  zur 
verträumten  Romantik.  Entscheidend  für  den  ungeheuren  Erfolg 
des  Werkes,  das  in  den  ersten  zwei  Jahren  nach  der  Drucklegung 
schon  in  weit  über  fünfzig  Städten  aufgeführt  wurde,  war  aber 
wohl  der  populäre  Charakter  der  Musik,  die  heute  noch,  bald  hundert 
Jahre  nach  der  Entstehung,  ebenso  frisch  und  unverblichen  ist  wie 
am  ersten  Tage. 

Die  Anschaulichkeit  der  Vorgänge  gestattet  eine  klare  Gliede- 
rung der  Handlung.  Der  Einleitungschor  „Herr,  der  du  bist  der 
Gott"  und  der  Choral  „Allein  Gott  in  der  Höh'  sei  Ehr"  spiegeln 
die  Stimmung  in  der  Gemeinde  der  ersten  Christen  wieder.  Hieran 
schließt  sich  die  Tragödie  des  Stephanus,  der  von  den  Juden  der 
Gotteslästerung  angeklagt  und  als  Märtyrer  seines  Glaubens  ge- 
steinigt wird.  Vergebens  mahnt  eine  Erinnerung  an  vergangenes 
Unrecht,  „Jerusalem,  die  du  tötest  die  Propheten",  das  Volk  zur  Be- 
sinnung. „Steinigt  ihn"  ruft  die  tolle  Masse.  Ein  Choral  „Dir,  Herr, 
dir  will  ich  mich  ergeben"  klingt  nach.  Ein  Jüngling,  Saulus,  aber 
ist  zufrieden  mit  diesem  Werk.  Nach  einer  Betrachtung  des  Chores: 
„Siehe,  wir  preisen  selig",  tritt  Saulus  selbst  in  den  Kreis  der  Han- 
delnden. Er  eifert  gegen  die  Christen:  Haß  sprüht  aus  seiner  Arie 
„Vertilge  sie,  Herr  Zebaoth".  Er  zieht  gen  Damaskus.  „Doch  der 
Herr  vergißt  die  Seinen  nicht"  tröstet  eine  Sopranstimme  die  Be- 
drohten.    Auf  dem   Wege  wird  Saulus   zum   Paulus   bekehrt.     Der 


Chorwerke  167 

Herr  erscheint  ihm,  und  der  Ungläubige  wird  sehend.  „Mache  dich 
auf!  werde  Licht",  jubelt  der  Chor  und  „Wachet  auf!- ruft  uns  die 
Stimme",  erschallt  es  durch  die  Welt.  Paulus  ist  erblindet.  Er  bereut 
seine  Sünden :  „Gott,  sei  mir  gnädig."  Gott  befiehlt  seinem  Jünger  Ana- 
nias,  den  Paulus  zu  heilen.  Überströmend  dankt  Paulus  dem  Allmäch- 
tigen, und  der  Chor  stimmt  in  den  Hymnus  ein.  Ananias  gibt  dem 
Schwergeprüften  das  Augenlicht  wieder.  Das  Symbol  erfüllt  sich : 
Paulus  wird  sehend,  und  läßt  sich  taufen  und  will  sein  Leben  Gott 
widmen.  „O  welch  eine  Tiefe  des  Reichtums,  der  Weisheit  und  Erkennt- 
nis Gottes"  singt  der  Chor.  Das  Werk  der  Bekehrung  ist  vollendet. 
Der  dramatisch  interessierende  Inhalt  des  Oratoriums  ist  beim 
Abschluß  des  ersten  Teils  nahezu  erfüllt.  Der  zweite  Teil  zeigt  uns 
den  Christen  Paulus,  den  Apostel,  der  sein  Schicksal  auf  sich  ge- 
nommen hat  und  vor  der  Menschheit  Zeugnis  ablegt  von  der  Größe 
Christi.  „Der  Erdkreis  ist  nun  des  Herrn"  jubeln  jetzt  die  Christen. 
Paulus  soll  zusammen  mit  Barnabas  hinausziehen,  um  den  Glauben 
weiter  zu  verbreiten.  „Wie  lieblich  sind  die  Boten",  singt  der  Chor 
in  andächtiger  Betrachtung.  Alles  ist  Freude  und  Hoffnung.  Aber 
der  Widerspruch  unter  den  Juden  regt  sich;  denn  sie  sehen,  daß  das 
Volk  den  Aposteln  zuläuft.  „Ist  das  nicht,  der  zu  Jerusalem  ver- 
störte, alle,  die  diesen  Namen  anrufen?"  fragen  sie.  Nodh  wird 
das  herannahende  Ungewitter  verzögert  durch  den  Choral  „O  Jesu 
Christi,  wahres  Licht".  Paulus  will  den  Heiden  das  Wort  Gottes 
predigen,  wenn  es  die  Juden  nicht  hören  wollen,  und  zum  Zeichen 
seiner  Stärke  tut  er  ein  Wunder.  ,  „Die  Götter  sind  den  Menschen 
gleich  geworden",  ruft  der  Chor  der  Masse.  Und  sie  beten  Paulus 
und  Barnabas  an :  „Seid  uns  gnädig,  hohe  Götter".  Paulus  ist 
Verzweifelt.  Er  zerstört  ihren  Wahn  und  ermahnt  sie:  „Wisset  ihr 
nicht,  daß  ihr  Gottes  Tempel  seid?"  Das  erregt  jedoch  den  Zorn 
der  Heiden  und  Juden.  „Hier  ist  des  Herren  Tempel",  weisen  sie 
ihn  zurecht  und  fordern  zur  Vernichtung  des  Mannes  auf,  der  dem 
Gesetz  widerspricht.  „Steiniget  ihn",  schrillt  es  jetzt  Paulus  ent- 
gegen. Doch  die  himmlische  Macht  beschützt  ihn,  sein  Werk  ist 
noch  nicht  vollendet.  „Sei  getreu  bis  in  den  Tod",  mahnt  eine 
Stimme.  Er  weiß,  daß  Not  und  Bedrängnis  seiner  harren;  aber  er 
folgt  dem  Wort  Gottes  und  nimmt  Abschied  von  seiner  Gemeinde, 
um  nach  Jerusalem  zu  fahren.    „Schone  doch  deiner  selbst!",  bitten 


168  Chorwerke 

sie  ihn.  Doch  die  höhere  Fügung  will  es.  In  einem  Hymnus  an 
Gott  klingt  der  zweite  Teil  aus.  Das  Werk  des  Paulus  geht  seiner 
Erfüllung    entgegen. 

Was  an  dramatischer  Schlagkraft  und  Wirkung  in  der  Hand- 
lung enthalten  ist,  wird  zum  Teil  durch  die  Betrachtungen  wieder 
paralysiert.  Darin  lag  eine  große  Gefahr  für  den  Komponisten  — 
die  der  Eintönigkeit  und  Langeweile.  Mendelssohn  hat  sie  glänzend 
vermieden.  Sein  wandlungsfähiger,  innerlich  reicher  Stil  ist  stets 
interessant.  Unerschöpflich  quillt  die  Melodik,  voller  Charakteristik 
und  Schönheit,  die  Kraft  der  Polyphonie  gestattet  ihm  prachtvolle 
organisch  wirkende  Steigerungen  und  die  Vermählung  zwischen  den 
Singstimmen  und  den  Instrumenten  war  die  denkbar  innigste.  Seine 
polyphonen,  fugierten  Sätze  haben  nichts  Steifes  oder  Kantorenhaftes. 
Es  ist  immer  Leben  in  den  Formen,  die  eben  nichts  anderes  als  Aus- 
druck eines  außerordentlich  tiefen  Inhalts  sind.  Mendelssohn  ist 
nicht  so  gewaltig  wie  Händel,  nicht  so  tiefsinnig  wie  Bach.  Aber  er  ist 
ein  Eigener  durch  und  durch.  Sein  Verdienst  ist  es,  das  Oratorium 
aus  den  Händen  der  Schulmeister-Komponisten  in  eine  reinere,  höhere 
Sphäre  gerettet  zu  haben.  Er  hat  da  einen  neuen  Weg  einge- 
schlagen, auf  dem  Spätere,  bis  zu  Brahms,  erfolgreich  weitergegangen 
sind.  Mendelssohns  Musik  erfaßt  nun  nicht  nur  das  Äußerliche  der 
Bibelworte;  sie  schöpft  vielmehr  auch  den  ethischen  Gehalt  daraus. 
Sie  hat  alle  Eigenschaften,  das  Dramatische,  das  Erzählende,  das 
Reflektierende  und  das   Unmittelbare. 

Die  Ouvertüre  deutet  den  Gang  der  Handlung  an.  Mit  dem 
Choral  „Wachet  auf!  ruft  uns  die  Stimme"  beginnen  Klarinetten, 
Fagotte  und  tiefe  Streicher;  die  anderen  Instrumente  gesellen  sich 
dazu.  Figurationen  regen  sich.  Auf  dem  Dominantdreiklang  bleibt 
das  Spiel  hängen,  und  nun  hebt  in  a-moll,  fugiert  der  Hauptteil  an. 
Auf  Paulus'  Weckruf  folgt  ein  Kämpfen  und  Irren.  Die  Streicher 
enthüllen  das  feine  Tongewebe.  Die  Holzbläser  kommen  erst  im 
weiteren  Verlauf  mit  der  Choralmelodie  auf.  Das  ganze  Orchester 
arbeitet  an  der  Fuge.  Endlich  lenkt  das  Spiel  nach  A-dur,  und 
der  Choral  tritt  seine  Herrschaft  an.    Paulus  triumphiert  im  Glauben. 

Mit  einem  markigen  Motiv  von  punktiertem  Rhythmus  beginnt 
die  erste  Nummer,  und  pompös  setzt  der  Chor  ein:  „Herr!  der  du 
bist  der  Gott",  zunächst  homophon,  dann  aber  namentlich  im  Mittel- 


Chorwerke  169 

teil  und  zum  Schluß  polyphon  gesteigert.  Ein  Choral  „Allein  Gott 
in  der  Höh'  sei  Ehr'"  verstärkt  die  Stimmung  des  frohen  Glaubens 
ohne  Arg.  Ein  Rezitativ  erzählt  von  Stephanus.  Zwei  Bässe  stimmen 
erregt  das  „Wir  haben  ihn  gehört"  an.  Ein  kurzes  Rezitativ  reißt 
die  Musik  ins  Dramatische,  und  nun  stürmt  der  Chor  „Dieser  Mensch 
hört  nicht  auf"  mit  ungeheurer  Wucht  daher.  Alle  Hilfsmittel  der 
polyphonen  Technik  sind  in  Anspruch  genommen.  Realistisch  gel- 
lende Ausrufe  schildern  das  Toben  der  Menge.  Ein  grandioses 
Rezitativ  folgt:  Stephanus'  Verteidigungsrede,  die  zu  einer  mäch- 
tigen Anklage  wird.  Hier  liegt  alles  in  der  packenden  Deklamation 
der  Singstimme.  Der  Chor  antwortet:  „Weg  mit  dem",  zuerst  piano, 
wie  staunend  über  die  beispiellöse  Kühnheit  und  Todesverachtung 
des  Christen,  dann  aber  immer  erregter  aufbäumend  bis  zum  heftigen 
Wutschrei:  „Der  soll  sterben!"  Ein  seelenvolles  Rezitativ  leitet  zu 
der  Sopran-Arie  „Jerusalem"  —  eines  der  lyrischen  Prachtstücke  der 
Partitur.  Eine  weiche,  innige  Melodie,  die  sich  leuchtend  von  dem 
zartgetönten  Grund  der  gestoßenen  Triolen  des  Orchesters  abhebt. 
Doch  der  prophetischen,  traumhaften  Vision  folgt  auf  dem  Fuße  die 
schrille  bestialische  Leidenschaft  der  Masse.  Mit  heftigem  Klopf- 
rhythmus setzt  der  Chor  ein:  „Steiniget  ihn".  Da  zucken  Oktaven- 
und  Quintfälle  gespenstig  auf,  und  immer  wilder  peitscht  der  Rhyth- 
mus die  Geister  an.  Nach  einem  kurzen  Rezitativ  erhebt  der  Chor 
mit  einem  Choral  in  f-moll  „Dir,  Herr,  dir  will  ich  mich  ergeben" 
seine  bittere  Klage.  In  dem  folgenden  Rezitativ  fällt  zum  erstenmal 
der  Name  Saulus.  Doch  noch  herrscht  Trauer  über  Stephanus:  Ein 
wundervoller  Chor  in  Es-dur  „Siehe,  wir  preisen  selig"  drückt  sie 
aus.  Auf  einer  wogenden  Begleitungsfigur  der  Violine  erhebt  sich 
eine  herrliche  Cellomelodie.  Sehnsüchtig  ergreifen  Flöte  und  Klari- 
nette die  Septime  Des,  doch  das  Cello  spendet  Beruhigung.  Nach- 
einander setzen  die  Singstimmen  mit  dem  berückend  weichen  Thema 
ein.  Zauberhaft  zieht  der  Chor  vorüber.  Im  Nachspiel  haben  die 
Instrumente  ihre  Rollen  vertauscht,  und  in  tiefer  Resignation  ver- 
klingt dieses  Hohelied.  Doch  das  Dramatische  verlangt  sein  Recht; 
in  der  h-moll-Arie  des  Saulus  kommt  es  zum  Durchbruch.  Trotzige 
Melodik,  die  von  dem  erregten  Staccato  der  Streicher  noch  an- 
gefeuert wird,  malt  hier  mit  großer  Anschaulichkeit  den  Haß  des 
Fanatikers.    Das  zarte  Arioso,  das  ganz  schlicht  nur  von  den  Strei- 


170  Chorwerke 

ehern  begleitet  wird,  spendet  Trost.  Wir  nähern  uns  einem  drama- 
tischen Höhepunkt.  Raschelnde  Tremolos  begleiten  das  Rezitativ: 
der  Herr  erscheint  Saulus.  Ein  mächtiges  Crescendo,  es  ist,  als 
ob  der  Himmel  sich  öffne,  und  mit  betäubender  Helle,  wie  ein  un- 
begreifliches Wunder,  erklingen  leise  die  halb  flimmernd  gestoßenen, 
halb  getragenen  Akkorde  der  Holzbläser.  Sopran  und  Altstimmen 
singen  die  Anrede  Jesu  an  den  Verfolger  der  Christen:  „Saul,  Saul! 
warum  verfolgst  du  mich?"  Es  ist  vielfach  darüber  gestritten  wor- 
den, ob  Mendelssohn  hiermit  das  ästhetisch  Richtige  getroffen  habe. 
Schumann  hat  darauf  die  beste  Antwort  gegeben:  „Ich  meine,  Gott 
der  Herr  spricht  in  vielen  Zungen,  und  dem  Auserwählten  offenbart 
er  ja  seinen  Willen  durch  Engelchöre.  Ich  wüßte  nicht,  wie  die 
Schönheit  beleidigen  könnte,  wo  die  Wahrheit  nicht  zu  erreichen 
ist."  Die  Hauptsache,  das  Entscheidende  ist  doch  immer  der  Ein- 
druck, und  das  ist  hier  der  eines  Wunders,  eines  unbegreiflichen 
Mysteriums.  Nun  kann  der  Jubelruf  erklingen ;  der  Chor  „Mache  dich 
auf,  werde  Licht"  erschallt  im  hellsten  D-dur.  Freude  pulst  in  den 
Rhythmen.  Das  volle  Orchester  spendet  all  seinen  Qlanz.  Und 
doch  bringt  der  Choral  „Wachet  auf!  ruft  uns  die  Stimme"  noch 
eine  Steigerung.  Lapidar,  wuchtig  erdröhnt  die  einfache  Melodie, 
von  den  schmetternden  Fanfaren  der  Blechbläser  unterbrochen.  Wie 
ganz  anders  klingt  nun  der  Gesang  des  zum  Paulus  gewordenen 
Saulus,  die  Arie  „Gott  sei  mir  gnädig".  Wieder  ist  die  Tonart 
h-moll.  Aber  welcher  Weichheit  und  Ergebung  ist  diese  Tonart 
jetzt  fähig,  die  vorher  sprühendem  Haß  gedient  hat.  Nur  die  Oboe 
ist  imstande,  die  tiefe  Zerknirschtheit  des  Sünders  zu  malen.  In 
dem  folgenden  Rezitativ  erscheint  wieder  der  Herr;  diesmal  ver- 
mittelt eine  Sopranstimme  seine  Worte;  aber  das  Kolorit  der  Holz- 
bläser muß  das  Geheimnisvolle  andeuten.  Paulus  und  der  Chor 
vereinigen  sich  zu  einem  Dankhymnus:  „Ich  danke  dir,  Herr,  mein 
Gott",  dessen  musikalische  Gewandung  ohne  sonderlichen  Schmuck 
ist.  Die  Instrumente  unterstützen  die  Polyphonie  der  Singstimmen. 
Ein  stürmisches  Allegro  des  Orchesters  schildert  die  Heilung  des 
Paulus,  und  mit  dem  gewaltigen  Chor  „O  welch  eine  Tiefe"  schließt 
der  erste  Teil.  Da  sind  alle  Satzkünste  aufgeboten,  um  die  Wir- 
kung ins  Monumentale  zu  erheben.  Die  meisterhafte  Polyphonie  hat 
ihren  besonderen  Zauber  durch  die  melodische  Kraft,  die  in  ihr  lebt. 


Chorwerke  171 

Mit  vollem  Atem  setzt  der  zweite  Teil  des  Oratoriums  ein.  Ein 
breit  ausladender  Chor  „Der  Erdkreis  ist  nun  des  Herrn"  bietet  die 
polyphonen  Künste  auf,  um  einen  Sieg"  zu  feiern.  Die  Fuge  ist  das 
geeignete  Ausdrucksmittel.  Sie  unterstreicht  mit  besonderem  Nach- 
druck das  Gebieterische  im  Charakter  der  Musik.  Der  25  jährige 
Komponist  erreicht  hier  als  Techniker  seine  Vorbilder.  Das  folgende 
Duett  der  beiden  Männerstimmen  konnte  nur  durch  die  Nachahmung 
wirken.  Es  ist  eine  feierliche  Vorbereitung  für  den  Chor  „Wie  lieb- 
lich sind  die  Boten",  eine  Perle  des  Werkes.  Auch  hier  ist  die  Poly- 
phonie  Ausdrucksmittel;  aber  sie  ist  ein  poetisches  Mittel  von  uner- 
hörter Eindringlichkeit.  Das  Liebliche  ist  hier  verkörpert;  schon 
in  dem  ersten  Aufschwung  der  Melodie  über  dem  tiefen  G  der  Bässe 
offenbart  es  sich.  Kein  Wunder,  daß  wahre  Volkstümlichkeit  Men- 
delssohns Lohn  und  Dank  war.  Schwächer  ist  das  sich  nach  kurzem 
Rezitativ  anschließende  Arioso  des  Soprans  „Laßt  uns  singen  von  der 
Gnade  des  Herrn",  ein  konventionelles  Stück.  Erst  mit  dem  leiden- 
schaftlich erregten  Chor:  „Ist  das  nicht,  der  zu  Jerusalem  verstörte", 
wird  das  Profil  der  Musik  wieder  schärfer.  Hier  sind  auch  homo- 
phone massige  Ausrufe  des  Chors  ein  Ausdrucksmittel  überschäu- 
mender Kraft,  das  sich  von  der  Polyphonie  wirksam  abhebt.  Ein 
Choral  folgt,  schwermütig  dunkel.  Die  Instrumente  deuten  ihn 
figurativ  aus,  schmücken  ihn  mit  schmerzlich-schönen  Ornamenten. 
Der  Vorwurf,  den  man  hieraus  gegen  Mendelssohn  erhob,  richtet 
sich  von  selbst  durch  die  Wirkung.  Wieder  vereinigen  sich  die  beiden 
Männerstimmen  zu  einem  Duett,  mehr  durch  die  Notwendigkeit  der 
Handlung  als  durch  innere  Triebkraft  bedingt.  Der  Chor  der  Heiden 
„Die  Götter  sind  den  Menschen  gleich  geworden"  besticht  durch  die 
Frische  der  Rhythmik;  die  sausenden  Figuren  der  Streicher  malen 
die  Erregung  des  Volkes  vortrefflich.  Alle  Künste  seiner  Instrumen- 
tierung hat  Mendelssohn  aber  in  dem  nächsten  Heidenchor:  „Seid 
uns  gnädig,  hohe  Götter"  angewandt.  Das  leuchtet  und  schillert 
in  berückenden  Farben,  eine  Welt,  die  dem  Kultus  der  Schönheit 
und  Kraft  geweiht  ist,  enthüllt  sich  hier.  Doch  das  folgende  wuchtige 
Rezitativ  und  die  Arie  „Wisset  ihr  nicht"  des  Paulus  treiben  den 
Gegensatz  hervor:  das  christliche  asketische  Ideal  voller  Genügsam- 
keit und  Geistigkeit.  Der  später  hinzutretende  Chor  verstärkt  noch 
diesen  Eindruck.     Es  wird  Zeit,  daß  das  dramatische  Element  Ab- 


172  Chorwerke 

wechslung  schafft.  In  dem  Chor  „Hier  ist  des  Herrn  Tempel"  setzt 
es  mit  Macht  ein  und  steigert  sich  zu  wilden  Ausbrüchen  der  ent- 
fesselten Leidenschaft.  Die  Cavatine  des  Tenors  muß  die  Gemüter 
besänftigen :  „Sei  getreu  bis  in  den  Tod"  ist  ein  Schmuckstück 
geworden,  das  man  gern  überall  zur  Schau  trägt.  Die  Inspiration 
erschlafft  ein  wenig.  Der  Chor  „Schone  doch  deiner  selbst"  gleitet 
vorüber.  Das  war  die  notwendige  Atempause.  Der  Chor  „Sehet, 
welch  eine  Liebe"  ist  jedoch  wieder  ganz  im  großen  Stil  gehalten, 
eine  Vereinigung  von  lyrischer  Poesie  und  strengem  Satz,  die  ewig 
bewundernswert  bleibt.  Und  der  Weg  ist  nach  einem  kurzen  Rezi- 
tativ frei  für  den  Schlußchor.  Die  Krönung  des  Werkes  ist  eine 
würdige.  Alle  Elemente  Mendelssohnscher  Kunst  sind  zu  einem 
Ganzen  von  hinreißender  Gewalt  und  Größe  vereinigt.  So  klingt 
der  „Paulus"  aus. 

Nach  dem  „Paulus"  verließ  Mendelssohn  trotz  dem  großen  Er- 
folg des  Werkes  das  Gebiet  des  Oratoriums  für  mehrere  Jahre.  Ein- 
mal tauchte  der  Gedanke  an  ein  symbolisches  Oratorium  Petrus  in 
ihm  auf,  wurde  aber  bald  wieder  vergessen.  Erst  im  Dezember  1845 
schickte  er  seinen  ersten  Textentwurf  zum  „Elias",  opus  70,  an  den 
Jugendfreund  Schubring,  um  dessen  bibelfesten  Rat  und  Hilfe  zu 
erbitten.  Das  Schwierige  war,  die  allgemein  gültigen,  allgemein  ein- 
dringlichen Betrachtungen  und  Worte  zu  finden.  Eine  richtung- 
gebende Tendenz  mußte  gesucht  werden;  denn  mit  einem  Bibel- 
potpourri konnte  Mendelssohn  nicht  gedient  sein.  Auf  der  anderen 
Seite  wollte  er  das  Opernhafte  vermeiden,  das  durch  die  Einführung 
allzuvieler  handelnder  Personen  eintritt.  Aber  er  wollte  auch  nicht  in 
das  nur  Erzählende  fallen.  Es  war  nicht  leicht,  eine  ausgedehnte 
Handlung  um  die  Episode  Elias  zu  erfinden,  da  das  Historische  immer- 
hin gewahrt  bleiben  mußte  und  das  Alte  Testament  alleinige  Quelle 
sein  sollte.  Hiermit  sind  nun  auch  schon  die  tatsächlichen  Schwächen 
des  Elias -Textes  angedeutet;  denn  es  war  eben  unmöglich,  im  Elias 
die  Klippen  ganz  zu  vermeiden.  Gegen  den  Paulus  steht  der  Text 
zurück.  Mendelssohn  war  schon  gezwungen,  an  den  Bibelworten 
selbst  zu  ändern  und  trotzdem  ließ  sich  die  völlige  Einheitlichkeit 
und  fortschreitende  Entwicklung  der  Handlung  nicht  erzielen.  Der 
Elias  besteht  aus  einer  Reihe  sinnfällig  wirkender  Szenen.  Diese 
Szenen  selbst  sind  zum  Teil  allerdings  von  einer  dramatischen  Wucht 


Chorwerke  173 

und  Spannkraft,  die  im  Paulus  erst  angedeutet  werden  konnten.  Das 
Elementare  der  Vorgänge  und  Charakteristische  des  alten  Testaments, 
die  wilden  Leidenschaften,  das  erschütternde  Schicksal  eines  reich- 
begabten,  von  seelischem  Zwiespalt  zerrissenen  Volkes,  das  alles 
tränkt  die  einzelnen  Szenen  mit  lohender  Kraft,  mit  Überschwang 
und  unbändigem  Temperament.  Die  packende  Bildkraft  der  Situ- 
ationen brachte  den  Tondichter  endlich  in  die  ersehnte  Lage,  mit 
Händeischen  Pinselstrichen  malen  zu  dürfen.  Was  will  da  schließ- 
lich ein  vorübergehendes  Nachlassen  in  der  dramatischen  Spannung 
bedeuten,  wenn  das  einzelne  bis  an  den  Rand  mit  blutvollem  Leben 
erfüllt  ist?  Die  Phantasie  Mendelssohn  fand  in  den  Worten  reiche 
Nahrung.  Hier  konnte  er  geradezu  visionär  gestalten,  da  er  mit 
den  Mitteln  nicht  zu  sparen  brauchte  und  als  ein  Meister  ihr  selbst- 
bewußter Herr  war. 

Das  Werk  steht  auf  einer  stolzen  Höhe.  Was  die  Worte  noch 
von  der  Vollkommenheit  trennte,  das  überbrückte  sieghaft  die  Musik. 
Mendelssohn  war  in  den  Jahren  zwischen  dem  Paulus  und  Elias  ein 
anderer  Größerer,  Reiferer  geworden.  Das  Technische  war  ihm  in 
jeder  Beziehung  ein  Spiel  geworden.  Die  Synthese  der  Formen 
machte  ihm  keine  Mühe.  Mit  leichter  Hand  knüpfte  er  das  polyphone 
Gewebe.  Die  Gipfel  der  Handlung  befruchteten  seine  musikalische 
Empfindung  überreich,  und  von  hier  aus  ergießt  sie  sich  strahlend 
nach  allen  Seiten.  Tonmalerische  Effekte  sind  willkommene  Aus- 
drucksmittel; denn  nur  mit  einer  Palette,  auf  der  alle  Farben  ver- 
treten waren,  konnte  er  dem  grandiosen  Stoff  gerecht  werden.  Die 
Melodik  ist  von  wundervoller  Reife  und  Süße,  die  Harmonik  von 
Pracht  und  Fülle  und  die  Rhythmik  charakteristisch,  prägnant, 
schlagend.  Die  Behandlung  der  Chormassen  erinnert  an  Händeis 
ewige  lapidare  Ausdruckskraft.  In  den  Sologesängen  aber  steht 
Mendelssohn  unserem  Empfinden  fast  näher  als  sein  großes  Vorbild. 
Kein  Wunder,  daß  der  Elias  in  der  Gunst  der  Musikfreunde  dem 
Paulus  nicht  nachsteht.  Perle  ist  an  Perle  gereiht  zu  einer  Kette, 
die  immer  ihren  Glanz  und  Wert  behalten  wird,  solange  das  Echte 
überhaupt  noch  gewertet  wird. 

Düster  und  mit  alttestamentarischer  Kraft  setzt  das  Werk  ein. 
Ein  d-moll-Dreiklang  der  Bläser,  und  Elias  erhebt  seine  Stimme  zu 
der   Verkündigung:   „Es   soll   diese   Jahre   weder  Tau   noch   Regen 


174  Chorwerke 

kommen,  ich  sage  es  denn".  Wir  sind  mitten  in  den  grausigen  Leiden 
des  „auserwählten  Volkes".  Die  Ouvertüre  schildert  es  greifbar 
anschaulich.  Nur  die  Fuge  konnte  das  rechte  Bild  geben.  Quälend 
wälzt  sich  das  Thema  fort,  richtet  sich  verzweifelnd  auf  und  fällt 
wieder  zusammen.  Bittere  Klagen  und  Schmerzensausbrüche  drängen 
sich.  Immer  gewaltiger  türmt  es  sich  empor,  bis  der  Chor  auf- 
schreit: „Hilf,  Herr!  willst  du  uns  denn  gar  vertilgen?"  Müde 
schleichen  die  Stimmen  dahin.  Wie  erschöpft  lösen  sie  sich  in  ihren 
mit  Chromatik  belasteten  Phrasen  ab.  Schließlich  können  sie  zu  den 
langgehaltenen  Akkorden  des  Orchesters  nur  noch  rezitativisch 
stammeln.  Ein  Duett  zweier  Soprane  spinnt  das  Flehen  weiter  aus. 
Der  Chor,  der  das  Volk  verkörpert,  beteiligt  sich  daran.  Obadjah 
tröstet  die  Darbenden.  In  einem  Rezitativ  fordert  er  sie  auf,  sich 
zum  Herrn  zu  bekehren.  Die  folgende  Tenor-Arie:  „So  ihr  mich 
von  ganzem  Herzen  suchet"  ist  endlich  ein  lyrischer  Ruhepunkt. 
Weich  gleitet  die  Melodie  dahin,  von  anschmiegsamen  Achtelfiguren 
der  Streicher  begleitet.  Doch  das  Volk  ist  damit  noch  nicht  aus 
seiner  entsetzlichen  Verzweiflung  herausgerissen.  Wieder  tritt  Moll 
ein.  Leidenschaftlich,  hart  begehren  die  Stimmen  auf:  „Aber  der 
Herr  sieht  es  nicht,  er  spottet  unser".  Motivische  Beziehungen 
zur  Einleitung  deuten  auf  den  Fluch  des  Elias.  Grelle  Harmonien 
malen  die  Zerrissenheit  der  Seelen;  erst  der  zweite  Teil  des  Chores 
lenkt  in  ruhigere  Bahnen.  Die  melodische  Linie  wird  runder  und 
weicher.  Wie  ein  verklärender  Hoffnungsschimmer  leuchtet  die  helle 
Farbe  in  C-dur  auf.  Dem  Jammer  des  ganzen  Volkes  soll  jetzt  das 
Elend  des  Einzelnen  gegenübergestellt  werden,  um  noch  deutlicher 
die  Not  Israels  zu  schildern.  Das  war  eine  Aufgabe  für  die  Humani- 
tät Mendelssohns.  Sein  Mitleid  mit  den  Enterbten  des  Glücks  klingt 
in  seinen  Tönen  wieder.  Er  findet  ergreifende  melodische  Ausr 
drücke,  um  uns  zu  überzeugen  und  zu  rühren.  Und  doch  ist  dies 
alles  mehr  empfunden  und  gesehen  als  erlebt.  Mendelssohn  erhob 
das  finstere,  reale,  abgründige  Elend  in  die  Sphäre  der  Idealität, 
nicht  nur  aus  selbstverständlichen  künstlerisch-musikalischen  Gründen, 
sondern  auch  weil  er  es  psychisch  gar  nicht  anders  konnte.  Hier  liegt 
eine  Kluft  zwischen  dem  Erlebnis  und  seiner  Dichtung,  die  nur  durch 
die  Phantasie  überbrückt  werden  konnte.  Es  ist  wohl  unmöglich, 
den  Schmerz  der  Entbehrung  zu  schildern,  wenn  man  ihren  bohren- 


Chorwerke  175 

den  Stachel  selbst  nie  gefühlt  hat.  Elias  folgt  der  Weisung  Gottes, 
sich  am  Bache  Crith  zu  verbergen.  Ein  Doppel-Quartett  knüpft 
hieran  seine  Betrachtungen:  „Denn  er  hat  seinen  Engeln  befohlen 
über  dir".  Nur  wenige  Instrumente  gesellen  sich  dazu.  Es  ist 
herrlichste  Achtstimmigkeit,  die  die  Satzkunst  Mendelssohns  hier 
geschaffen  hat.  Mit  sicherer  Hand  sind  die  kontrapunktischen  Linien 
gezogen.  Alles  klingt.  Ein  Rezitativ  knüpft  unmittelbar  an  den 
Chor  an :  Elias  soll  den  Bach  verlassen  und  nach  Zarpath  ziehen,  wo 
ihn  eine  Witwe  so  lange  versorgen  wird,  bis  der  Herr  ihn  ruft.  Eine 
packende  Szene  entrollt  sich.  In  ergreifenden  Tönen  klagt  die  Witwe 
dem  Propheten  ihr  bitteres  Los  und  fleht  ihn  an,  den  dahingesiechten 
Sohn  zu  retten.  Die  Oboe  unterstützt  die  leidenschaftlich  erregte 
Klage  der  Armen.  Von  e-moll  biegt  das  Spiel  nach  Dur.  Elias  bittet 
Gott  um  Leben  für  das  Kind;  weich  dehnt  sich  die  Melodie.  Doch 
es  scheint  vergeblich  zu  sein.  Tremolos  der  Streicher  malen  die 
Angst,  das  bange  Zittern.  Die  Gnade  erfüllt  sich:  Das  Kind 
lebt  wieder.  In  ein  Duett  klingt  die  Szene  aus.  Der  Chor  aber 
schließt  sich  mit  seiner  Betrachtung  an:  „Wohl  dem,  der  den  Herrn 
fürchtet".  Sinnfällige  Melodik,  Klarheit  der  Polyphonie  und  wir- 
kungsvolle Steigerungen  zeichnen  ihn  aus.  Der  Episode  folgt  die 
breit  ausladende  Gewalt  der  Szenen  des  Kampfes  zwischen  Elias 
und  den  Baalspriestern  und  die  Krönung  seines  unerschütterlichen 
Glaubens.  Der  Prophet  will  sich  dem  König  und  dem  Volk  zeigen; 
denn  nun  soll  die  Zeit  der  Dürre,  die  Zeit  der  furchtbaren  Strafe 
und  Prüfung  ein  Ende  haben.  Zackige  punktierte  Rhythmen  schil- 
dern die  Erregung  des  Volkes  gegen  Elias,  „der  Israel  verwirrte". 
Auf  dem  Berg  Carmel  soll  sich  entscheiden,  ob  Gott  der  Herr  ist. 
Elias  fordert  die  Baalspriester  zum  Wettstreit  heraus;  jeder  soll  seinen 
Gott  anrufen,  er  Jehova,  sie  Baal,  und  welcher  Gott  zuerst  das  Feuer- 
wunder auf  die  errichteten  Opferstöße  schicke,  der  solle  der  Herr 
sein.  Stürmisch  aufbrausende  Rezitative  kennzeichnen  die  fiebernde 
Glut,  die  alle  beseelt.  Die  Baalspriester  rufen  zuerst  ihren  Gott  an: 
„Baal,  erhöre  uns!"  Erst  feierlich  und  gemessen  mit  eindringlichen 
Intervallschritten,  dann  lebhafter  und  drängender.  Die  verlangend 
sich  aufrichtende  melodische  Phrase  kennzeichnet  das.  Elias  ver- 
höhnt das  Erfolglose  ihrer  Bitten  und  feuert  sie  an,  stärker  zu  rufen. 
Wild  richtet  sich  ihr  Verlangen  in  dem  nächsten  Chor  „Baal,  erhöre 


176  Chorwerke 

uns,  wache  auf!"  empor.  Das  Motiv  springt  jäh  auf  den  Stufen  des 
Dreiklangs  in  die  Höhe.  Die  Bläser  stammeln,  das  ganze  Orchester 
fällt  ein.  Wieder  höhnt  Elias,  und  noch  gewaltiger  schlägt  der 
folgende  Chor  der  Baalspriester  „Baal!  Gib  uns  Antwort!'''  an  die 
verschlossene  Pforte  ihres  Himmels.  Zuckende  Schreie,  mächtige 
Donner  des  Orchesters.  Aber  alles  bleibt  still;  kein  Wunder  ge- 
schieht. Da  erhebt  Elias  in  inbrünstigem  Gebet  seine  Stimme:  „Herr 
Gott  Abrahams".  Aus  einer  anderen  Welt  kommen  diese  von  felsen- 
fester Zuversicht  getragenen  Worte.  Feierlich  strömt  die  Melodie  aus. 
Wie  eine  Orgel  klingt  das  Orchester.  Ein  betrachtender  Chor  unter- 
bricht die  Entwicklung  des  Kampfes.  „Wirf  dein  Anliegen  auf  den 
Herrn",  erklingt  es  a  cappella.  Nur  die  Fermaten  werden  von  den 
Instrumenten  unterstützt,  während  sich  die  Violine  wie  suchend  auf- 
richtet. Und  das  Feuerwunder  ist  der  Lohn.  Jubelnd  braust  die 
Freude  durch  den  Chor:  „Das  Feuer  fiel  herab".  Das  Orchester 
flimmert.  Hingerissen  malt  der  Chor  langatmig  die  Seligkeit,  den 
Taumel,  der  das  Volk  schon  jetzt  erfaßt.  Doch  der  Aufwallung  folgt 
die  Besinnung  und  Erkenntnis:  „Der  Herr  ist  Gott".  Ein  Gebet  ringt 
sich  von  allen  Lippen.  Der  unerbittliche  Rächer  meldet  sich  in  Elias ; 
seiner  Aufforderung,  die  Baalspriester  zu  fangen  und  abzuschlachten, 
kommt  die  Menge  willig  nach.  Wütender  Fanatismus  rollt  in  den 
wuchtigen  Tremolos  der  Elias-Arie:  „Ist  nicht  des  Herrn  Wort  wie 
ein  Feuer".  Prägnante  Intervallschritte  betonen  das  Außergewöhn- 
liche. Wild  wie  es  begonnen,  endigt  das  Stück.  Das  folgende  Arioso 
der  Altstimme  „Weh  ihnen,  daß  sie  von  mir  weichen",  nur  von  den 
Streichern  zart  umspielt,  ist  in  Innigkeit  und  Hingabe  getaucht,  ein 
blasses  Pastell  in  dem  glühenden  Farbenmeer  seiner  Umgebung.  Die 
nächste  Nummer,  Rezitativ  und  Chor,  soll  nun  endlich  die  Rettung 
des  Volkes  bringen.  Mendelssohn  bietet  alle  Künste  des  Satzes,  alle 
Kraft  der  Empfindung  und  den  Reichtum  seiner  Inspiration  auf,  um 
der  großen  Aufgabe  gerecht  zu  werden.  Ein  packendes  Gemälde 
im  Händeischen  Geist  war  das  Ergebnis.  Rezitative  wechseln  mit 
kurzen  Chorsätzen.  Endlich  erhört  Gott  das  Gebet  des  Elias  und 
sendet  den  Regen.  „Danket  dem  Herrn,  denn  er  ist  freundlich", 
jubelt  der  Chor  auf.  Elias  wiederholt  den  Dank  noch  einmal  ernst 
und  feierlich,  und  dann  strömen  alle  Gefühle  der  vom  Fluch  Er- 
lösten über  in  dem  gewaltigen  Chor  „Dank  sei  dir,  Gott",  der  wie 


Chorwerke  177 

aus  Quadern  errichtet  ist  und  in  machtvollem  Aufschwung  den  ersten 
Teil  abschließt. 

Die  dramatische  Entwicklung  des  „Elias"  hat  hiermit  eigentlich 
ihren  Höhepunkt  erreicht.     Das   Epische  setzt  ein.     Die  Handlung 
geht  nicht  mehr  vorwärts;  sie  zerfällt  in  Episoden,  die  an  sich  reiz- 
voll  und   bedeutend   sind,   die   aber  keine   einheitliche   dramatische 
Kurve  im  Ganzen  mehr  zeigen.     Das  Volk  hat  die  Prüfung  bereits 
wieder  vergessen.    „Höre,  Israel!    Höre  des  Herrn  Stimme",  mahnt 
eine  Alt-Arie.    Trübes  h-moll,  wehmütige  Terzen  in  den  Holzbläsern 
vertiefen  noch  den  Eindruck  der  schmelzenden  Melodik.    Ein  kurzes 
Rezitativ  leitet  zum  zweiten  Teil  der  Arie  in  H-dur;  die  Stimmung  hat 
sich  aufgehellt,  der  Rhythmus  ist  lebendiger  geworden.    Der  Zustand 
freudiger    Gewißheit     wird    mit    energischen    Strichen    gezeichnet. 
Monumental,    großzügig   fällt   der   Chor   ein:    „Fürchte   dich   nicht, 
spricht  unser  Gott".    Das  ist  musikalischer  Optimismus,  frohe  Gläu- 
bigkeit.    Der  Mittelteil  erst  nimmt  die  Kunstmittel  der  Imitation  in 
erhöhtem  Maß  zur  Hilfe,  um  die  Stimmung  noch  intensiver  auszu- 
drücken.    Die   Vertreibung  des   Elias  beginnt.     In   einem  glänzend 
durchgeführten    Rezitativ    fordert    der    Prophet    Rechenschaft    vom 
König.    Doch  die  Königin  hetzt  das  Volk  gegen  den  einstigen  Retter 
auf.    Mit  einem  mächtigen  Creszendo  wird  die  wachsende  Erregung 
geschildert,  und  brutal  bricht  der  Chor  in  den  Ruf  aus:  „Er  muß 
sterben!"     Ungeheuer    wirkungsvoll    ist    diese    Mischung    aus    den 
wütenden  Ausrufen  des  Chors  und  den  hetzenden   Rezitativen  der 
Königin  gestaltet.    Die  Volkswut  tobt  sich  aus:  „Wehe  ihm!  er  muß 
sterben!"  —  a-moll,  brodelnde  Tremolos,  heftige  Sforzatos,  sausende 
Figuren,   alle   Instrumente   im   Dienst   der  Charakterisierung   dieses 
Ereignisses.    Elias  geht  in  die  Wüste,  um  zu  erwarten,  welche  neuen 
Prüfungen   ihm   der   Herr  auferlegen   will.     Wir  stehen   vor   einem 
lyrischen  Höhepunkt  des  Werkes,  der  großen  Arie  „Es  ist  genug!", 
einem  Seitenstück  zu  der  Paulus-Arie  „Gott,  sei  mir  gnädig".     Die 
Stimmung  reifster  Resignation  liegt  darüber  ausgebreitet,  wenn  das 
Solocello  mit  der  Melodie  beginnt  und  die  Singstimme  schließlich  zu 
der  stockenden,  abgerissenen  Begleitung  der  Streichinstrumente  ihre 
Klage  ertönen  läßt.     Der  schnellere  Mittelteil,  der  sich  entschlossen 
aufrafft,    zeigt   motivische    Verwandtschaft   mit   dem   Anfang.     Zum 
Schluß  kehrt  die  schwermütige  Klage  wieder  und  verklingt  zitternd. 

D  n  li  m  s ,  Mendelssohn  1 2 


178  Chorwerke 

Diesem  Höhepunkt  folgt  sogleich  ein  zweiter,  das  Engel-Terzett: 
„Hebe  deine  Augen  auf."  Hier  feiert  die  Mendelssohnsche  volkstüm- 
liche Innigkeit  einen  ihrer  schönsten  Triumphe,  der  wenig  Seitenstücke 
kennt.  Ein  breit  angelegter  Chor  „Siehe,  der  Hüter  Israels  schläft 
noch  schlummert  nicht",  stellt  den  Anschluß  an  die  große  Linie 
wieder  her.  Der  Meister  der  Polyphonie  lebt  darin.  Mächtig  loht  die 
Leidenschaft  in  dem  folgenden  Rezitativ  auf;  Elias  hadert  mit  seinem 
Schicksal.  „Sei  stille  dem  Herrn",  tröstet  eine  Altstimme  schlicht 
und  eindringlich.  Der  Chor  spinnt  die  Stimmung  weiter:  „Wer  bis 
an  das  Ende  beharrt,  der  wird  selig."  Die  Lyrik  hat  zum  Stillstand 
geführt.  Doch  nun  beginnt  mit  der  Erscheinung  des  Herrn  ein 
neuer  Abschnitt  und  neuer  Aufschwung.  Mendelssohn  läßt  den  Chor 
erzählen:  „Der  Herr  ging  vorüber."  Alle  elementaren  Leidenschaften 
sind  wach.  Eine  merkwürdige  Unruhe  bebt  in  den  Instrumenten. 
Die  Singstimmen  irren  wie  suchend.  Geheimnisvoll  hingehauchte 
Andeutungen  wechseln  mit  schrillen  Ausrufen.  Immer  heller  wird 
es,  immer  überwältigender  steigern  sich  die  Harmonien,  bis  mit  dem 
Quartett  und  Chor:  „Heilig  ist  Gott  der  Herr!"  die  Erscheinung 
Gottes  bildhaft  dargestellt  wird.  Es  ist  klares,  wolkenloses  C-dur  — 
die  Feierlichkeit  eines  übernatürlichen  Ereignisses.  Elias'  Himmel- 
fahrt und  Verklärung  kann  beginnen.  Sie  bildet  den  Abschluß  des 
Werkes.  Nach  der  wahrhaft  erhabenen  Sprache  des  „Heilig"  war  es 
schwer,  hierfür  den  rechten  Ausdruck  zu  finden.  Was  das  Gedank- 
liche nicht  geben  konnte,  das  mußte  der  Klang  ersetzen.  Das  Arioso 
des  Elias  „ja,  es  sollen  wohl  Berge  weichen",  ist  von  schwächerem 
Eindruck.  Erst  der  effektvolle  Aufbau  des  Chors  „Und  der  Prophet 
Elias  brach  hervor",  worin  die  Himmelfahrt  des  Propheten  geschil- 
dert wird,  reißt  durch  die  Gewalt  des  Ausdrucks  und  die  Wucht 
der  instrumentalen  und  vokalen  Mittel  hin.  Danach  verblassen  die 
Farben  der  Tenor-Arie  „Dann  werden  die  Gerechten  leuchten".  Mit 
dem  Chor  „Aber  einer  erwacht  vor  Mitternacht",  leuchtet  tiefsinnig 
das  Symbolische  auf.  Das  bewegt  sich  in  leise  aufdämmernden  An- 
deutungen und  großzügigen,  gewaltigen  Offenbarungen.  Mendels- 
sohns Tonsprache  ist  eins  mit  seinem  Wollen.  Sie  greift  in  das  Reich 
jenseits  der  Dinge  und  erweckt  Schauer  der  Ehrfurcht  vor  dem 
Unbegreiflichen.  In  dem  Quartett  „Wohlan,  alle,  die  ihr  durstig 
seid",  und  dem  Schlußchor  ,. Alsdann  wird   euer  Licht",  bricht  das 


Char  werke  179 

Menschliche  wieder  durch.  Mit  sicherer  Hand  sind  die  Stimmen  zu 
einem  Ganzen  von  ergreifender  Macht  gefügt,  die  stolze,  pomphafte 
Vollendung  eines  königlich  gedachten  und  geformten  Wunderbaus, 
der  für  alle  Zeiten  fest  gegründet  ist. 

Seinen  beiden  großen  Oratorien  gedachte  Mendelssohn  noch 
ein  drittes  anzureihen,  den  „Christus".  In  seinem  letzten  Lebens- 
jahr schrieb  er  die  ersten  Rizitative  und  Chöre  des  Werkes 
nieder.  Eine  neue  Note  zeigt  sich  hierin  nicht,  wohl  aber  die 
alte  in  schmerzlich-schöner  Weise  vertieft  und  geläutert.  Doch  der 
Tod  zwang  den  Meister,  seinen  grandiosen  Plan  als  Torso  zu  hinter- 
lassen. 

Von  Jugend  auf  neigte  Mendelssohn  zur  Kirchenmusik.  Die 
Poesie  der  Bibelworte  übte  eine  eigentümliche,  nie  nachlassende  An- 
ziehungskraft auf  ihn  aus.  Inmitten  des  ausgelassenen  Wiener  Lebens 
und  auf  seiner  an  bunten  Erlebnissen  so  reichen  Italienreise  las  er 
Luthers  geistliche  Lieder  und  schuf  seine  ersten  größeren  Kirchen- 
musikwerke. Den  eigenen  Stil  hatte  er  bald  gefunden.  Die  Vorschule 
bei  Zelter  hatte  ihm  das  Handwerkliche,  die  kontrapunktische  Stimm- 
führung und  die  Reinheit  des  Satzes  gegeben.  Es  war  also  nur  seine 
Aufgabe,  das  Erlernte  zu  durchgeistigen.  Er  hat  nicht  die  unergründ- 
liche Tiefe  Bachs  und  nicht  die  sinnlich  strahlende  Größe  Händeis. 
Er  hat  seine  eigene  Welt:  die  der  Innigkeit  und  Gefühlswärme,  die  sich 
zwar  an  die  beiden  Großmeister  anlehnt,  aber  in  ihrem  Wesen  durch- 
aus selbständig  und  frei  ist.  Der  Zug  Mendelssohns  zur  Volkstüm- 
lichkeit ist  auch  in  seiner  Kirchenmusik  vorhanden.  Dies  namentlich 
gab  Heinrich  Bellermann  den  Anlaß  zu  einem  ihm  oft  nachgeplapper- 
ten Vorwurf  speziell  gegen  Mendelssohns  Vokalfugen,  in  dem  er 
sich  in  ergötzlicher  Weise  mit  ganz  verknöcherten  schulmeisterlichen 
Begriffen  gegen  Mendelssohns  Textbehandlung  wendet.  Ist  die  Be- 
weisführung schon  an  und  für  sich  höchst  anfechtbar,  so  wirkt  sie 
geradezu  grotesk  bei  Bellermann,  der  gewiß  ein  ausgezeichneter 
Kontrapunktiker  war,  dem  aber  jedes  nähere  Verhältnis  zur  Musik 
fehlte,  jede  Phantasie,  jede  Leidenschaft  und  Schwungkraft,  da  für 
ihn  ja  mit  dem  Ende  der  a-cappella-Zeit  die  Musik  aufhörte  und 
der  Verfall  durch  die  Instrumentalmusik  Haydns,  Mozarts  und  Beet- 
hovens begann.  Wir  dürfen  solche  Kleinlichkeit  nicht  ganz  unwider- 
sprochen   lassen.     Sie    kann    zwar    an    Mendelssohns    Größe    nichts 

12* 


ISO  Chorwerke 

ändern,  wohl  aber  kann  sie  die  Gesichtspunkte  verrücken,  unter 
denen  die  Kunst  überhaupt  zu  betrachten  ist. 

Wir  sahen  schon,  daß  Mendelssohn  in  religiöser  Beziehung  dem 
Dogma  als  solchem  nicht  bedingungslos  gläubig  hingegeben  war. 
Er  war  gefühlsmäßig  Christ;  seine  wissenschaftlich  vertiefte  Bildung 
hatte  ihm  die  kindlich  unbefangene  Naivität  in  Glaubenssachen  ge- 
nommen. Das  Gefühl  zog  ihn  immer  wieder  zur  Poesie  des  alten 
und  neuen  Testaments.  Und  schließlich  ist  das  Gefühl  auch  der 
wichtigste  Faktor  in  seiner  geistlichen  Musik.  Daher  die  Schlagkraft 
seiner  Oratorienmusik,  die  wegen  ihrer  natürlichen,  gemütvollen  Art 
sofort  in  den  breiten  Massen  der  Empfänglichen  verwandte  Saiten 
zum  Erklingen  brachte.  Die  ausgesprochene  Kirchenmusik  Mendels- 
sohns ist  zwar  nicht  populär  in  dem  Sinne  wie  die  Oratorien.  Aber 
sie  hat  auch  nicht  durchweg  die  Strenge  des  Geistes,  die  man  in 
diesem  Genre  von  den  Großmeistern  des  geistlichen  Stils  her  ge- 
wohnt ist.  Die  Liebe  zur  Melodie  leuchtet  selbst  noch  aus  den  streng- 
sten kontrapunktischen  Formationen.  Immer  steht  der  melodische 
Ausdruck  obenan.     Form  und  Satz  sind  ihm  unterworfen. 

Fünf  Psalmen  für  Solostimmen,  Chor  und  Orchester  erfordern 
zunächst  unsere  Aufmerksamkeit,  die  Psalmen  115,  42,  95,  114  und  98. 
Mendelssohns  Polyphonie  ist  in  ihnen  frei  gestaltet.  Er  strebte  ähn- 
lich wie  Händel  nach  glänzenden  Wirkungen.  Dramatisch  aufgebaute 
und  zugespitzte  Chorsätze  wechseln  mit  Solo-  und  Ensemblenummern. 
Als  besonderer  Effekt  wird  zwischendurch  der  reine  a-cappella-Satz 
angewandt.  Aber  trotz  ihrer  abwechslungsreichen  Gestaltung  und 
ihren  Stimmungsreizen  sind  die  Psalmen  Mendelssohns  mehr  und 
mehr  von  der  Bildfläche  verschwunden.  Man  kann  das  namentlich 
für  den  herrlichen  42.  Psalm  nur  bedauern.  Denn  dieses  Werk  ist 
ein  Gipfel  der  modernen  Kirchenmusik.  Seiner  übrigen  großen  Kir- 
chenmusik mit  Orchester  ist  es  nicht  viel  besser  ergangen,  dem  groß- 
geformten Lauda  Sion,  wie  der  Hymne  für  Altstimme,  Chor  und  Or- 
chester, dem  fünfstimmigen  „Tu  es,  Petrus"  wie  dem  poesieerfüllten, 
raffaelisch-innigen  Gebet  „Verleih  uns  Frieden". 

Prachtvolle  Gebrauchsmusik  hat  Mendelssohn  in  seinen  kleine- 
ren Kirchenmusikwerken  gegeben.  Es  gibt  kaum  einen  neueren 
Meister  nach  Mozart,  der  den  Vokalsatz  so  wunderbar  beherrscht  wie 
er.    Alles  klingt  bei  ihm.    Da  ist  keine  Verkennung  des  Gesanglichen, 


Chorwerke  1S1 

keine  instrumental  erdachte  Melodik.  Alles  ist  aus  dem  Geist  der 
Stimme  heraus  erfunden.  Musterhaft  zeigt  dies  die  Kirchenmusik, 
opus  23,  für  Chor,  Solostimmen  mit  Orgelbegleitung:  der  kantaten- 
haft  angelegte  Choral  „Aus  tiefer  Not  schrei  ich  zu  dir",  das  mystisch 
verklärte  achtstimmige  „Ave  Maria"  und  der  breit  ausladende,  meister- 
haft durchgeführte  Choral  „Mitten  wir  im  Leben  sind".  Die  drei 
Motetten  für  weibliche  Stimmen  mit  Begleitung  der  Orgel,  opus  39, 
schrieb  Mendelssohn  für  die  Nonnen  auf  Trinita  de  Monti  in  Rom, 
köstliche  Miniaturen  voll  poetischer  Wärme  und  Innigkeit.  Zwei 
geistliche  Lieder,  opus  112,  können  nur  als  Vorstudien  zu  Größerem 
gewertet  werden.  Bedeutungsvoller  ist  der  Vespergesang  für  Männer- 
stimmen mit  Begleitung  von  Violoncell  und  Baß,  opus  121.  Unter 
die  Gelegenheitswerke  gehören  die  drei  geistlichen  Lieder  für  eine 
Altstimme  mit  Chor  und  Begleitung  der  Orgel,  ferner  die  Hymne  für 
eine  Sopranstimme  mit  Chor  und  Begleitung  der  Orgel  und  das 
Te   Deum  für  Solostimmen  mit  Chor  und  Orgelbegleitung. 

Die  a-cappella-Kirchenmusik  Mendelssohns  hat  sich  am  längsten 
in  der  Gunst  der  Ausführenden  erhalten.  Die  eindringliche  charakter- 
volle Melodik  bewahrte  sie  vor  dem  Vergessenwerden.  Hier  zeigt 
sich  deutlich  und  überzeugend  die  hohe  satztechnische  Kultur  des 
Meisters,  der  mit  den  geringsten  Mitteln  zu  wirken  und  zu  ergreifen 
verstand,  sei  es  in  den  Psalmen  2,  43,  22  und  100,  in  den  drei 
Motetten  opus  69  und  den  Sechs  Sprüchen,  opus  79.  Schon  der  An- 
bück der  Partituren  ist  ein  ästhetisches  Vergnügen.  Die  Klarheit  und 
wundervolle  Formung  der  Linien  entzücken  das  Auge  ebenso,  wie 
das  Ohr  von  dem  satten,  farbenreichen  Klang  des  Chorsatzes  be- 
zaubert wird. 

Weniger  umfangreich  als  die  geistliche  Musik  ist  in  Mendels- 
sohns Schaffen  die  weltliche  Chormusik  vertreten.  Das  sogenannte 
weltliche  Oratorium  hatte  zu  seiner  Zeit  erst  geringe  Erfolge  ge- 
zeitigt. Die  Schwierigkeiten  des  Textes  waren  hier  viel  bedeuten- 
der als  in  der  geistlichen  Musik,  wo  die  Bibel  eine  unerschöpfliche 
Fundgrube  für  immer  neue  Werke  ist.  Mendelssohns  erster  Griff 
war  jedoch  der  denkbar  glücklichste.  Goethes  Ballade  „Die  erste 
Walpurgisnacht"  verlangte  geradezu  nach  Musik,  und  der  junge 
Mendelssohn,  der  sie  in  Italien  mit  frischer  Leidenschaft  ergriff,  war 
der  Rechte,  sie  zu  klingendem  Leben  zu  erwecken.    Aber  erst  der 


182  Chorwerke 

reife  Meister  gab  ihr  die  Gestalt  und  Vollendung,  die  wir  heute  daran 
bewundern.  Ursprünglich  gedachte  Mendelssohn  so  etwas  wie  eine 
Symphonie -Kantate  daraus  zu  formen.  Aber  das  Symphonische 
schmolz  schließlich  in  eine  Ouvertüre  zusammen,  die  das  schlechte 
Wetter  und  den  Übergang  zum  Frühling  schildern  sollte.  Und  Men- 
delssohn malte  in  leuchtenden  Farben.  Allegro  non  fuoco  braust  der 
Sturm  daher.  Wild  und  unbändig  wühlen  die  tiefen  Streicher.  Das 
scharf  rhythmisierte  Hauptthema  offenbart  einen  herben,  trotzigen 
Charakter.  Seine  prägnanten  Schritte  beherrschen  die  Ouvertüre. 
In  immer  neuer  Form  wird  es  ausgebeutet,  in  immer  neuer  Fassung 
zeigt  es  sich.  Die  Elemente  sind  entfesselt.  Ein  großartiges  Natur- 
bild entrollt  sich  vor  uns.  Die  Kraft  und  Originalität  der  Gedanken 
bewahrte  Mendelssohn  vor  Äußerlichkeiten.  Der  Effekt  ist  hier  nur 
Ergebnis  der  geistigen  Steigerung  und  Ausnutzung  der  Klangmassen. 
Allmählich  läßt  die  Erregung  nach.  Ein  Frühlingshauch  steigt  in 
den  Hörnern  und  Fagotten  und  dann  in  den  Klarinetten  auf  —  eine 
Vorahnung  an  den  Jubelchor,  der  den  Frühling  begrüßt.  Mit  zarten 
Melismen  der  Violine  und  Flöte  beginnt  der  Übergang  zum  Frühling. 
Auf  und  ab  schwebt  das  Spiel,  bald  nachlassend,  bald  anschwellend. 
In  hellem  A-dur  kann  Nr.  1  Tenorsolo  und  Chor  beginnen.  Es  ist 
der  lachende  Frühling  selbst,  der  hier  zu  Klang  geworden  ist.  Und 
nun  spielt  sich  der  köstliche  Wettstreit  zwischen  der  alten  und  der 
neuen  Weltanschauung  ab,  den  Goethe  mit  so  wundervoller  Über- 
legenheit in  Verse  gekleidet  hat.  Mendelssohn  hat  das  Gedicht  dra- 
matisch außerordentlich  zu  steigern  gewußt.  Meisterhaft  sind  die 
Kontraste  herausgearbeitet,  lebensvoll  ist  die  Abwechslung,  die  durch 
Solo-  und  Chorgesänge  geschaffen  wird.  Voller  Eigenart  ist  die 
Instrumentierung,  die  in  eindringlichster  Weise  das  Dichterwort  unter- 
streicht, ohne  Selbstzweck  zu  werden.  Die  ewige  Jugend  der  Ge- 
danken schließt  einen  Zauberkreis  um  das  Ganze.  Und  welch  köst- 
licher, leiser  Unterton  von  Ironie,  wie  er  nur  ganz  selten  einmal  in 
der  Musik  so  vollendet  gelungen  ist!  Über  allem  aber  liegt  der  Schim- 
mer echt  Mendelssohnscher  Klarheit  in  der  Linienführung.  Der 
Meister  hat  hier  dem  junggebliebenen  Temperament  die  Hand  ge- 
führt. —  Devrient  hat  im  Mai  1860  in  Karlsruhe  den  Versuch  einer 
szenischen  Aufführung  der  Walpurgisnacht  seines  Freundes  gemacht. 
Aber  das  Bühnenlicht  war  dem  Werk  nicht  günstig.    Es  gehört  in  den 


Chorwerke  183 

Konzertsaal,  wo  es  heute  noch  dieselbe  packende  Wirkung  ausübt 
wie  vor  siebzig  Jahren. 

Zwei  Gelegenheitswerke  brauchen  nur  genannt  zu  werden,  der 
„Festgesang  an  die  Künstler"  nach  Schillers  Gedicht  für  Männer- 
chor und  Blechinstrumente,  opus  68,  1846  zur  Eröffnung  des  ersten 
Deutsch-Vlämischen  Sängerfestes  in  Köln  komponiert,  und  der  Fest- 
gesang zur  Säkularfeier  der  Erfindung  der  Buchdruckerkunst,  beide 
Werke  meisterlich  in  der  Faktur,  aber  ohne  den  zündenden  Funken 
der  Ursprünglichkeit. 

Wir  nähern  uns  noch  einmal  dem  Lyriker  Mendelssohn.  In  seinen 
Gesängen  für  gemischten  Chor  und  Männerchor  hat  er  seine  volks- 
tümliche Ader  ungehemmt  ausströmen  lassen.  Hier  war  Beschrän- 
kung am  Platze,  und  seine  hohe  Satzkunst  erlaubte  Mendelssohn  mit 
bescheidenen  Mitteln  künstlerisch  Wertvolles  zu  schaffen.  Weniger 
allerdings  in  seinen  Männerchorgesängen,  die  oft  bedenklich  nach 
der  Seite  der  übelberufenen  „Liedertafelei"  hinneigen.  Aus  dem 
ersten  Heft,  opus  50,  fällt  das  frische,  amüsante  „Türkische  Schenken- 
lied" (Goethe)  auf  und  daneben  das  feingefügte,  zarte  „Sommerlied" 
(Goethe).  Aber  „Der  Jäger  Abschied"  (Eichendorff)  überstrahlt  sie 
und  alle  anderen  Gesänge;  dieses  „Wer  hat  dich,  du  schöner  Wald" 
ist  zwar  zu  einer  Landplage  geworden  durch  die  Sentimentalität,  die 
es  schmachtend  verzerrt  hat.  Welch  bezaubernder  Ton  jedoch  liegt  in 
seiner  Innigkeit.  Hier  fand  Mendelssohn  den  Weg  zum  deutschen 
Herzen,  und  das  Volk  nahm  das  schlichte  Stück  in  seinen  Liederschatz 
auf.  Eichendorffs  „Der  frohe  Wandersmann"  steht  in  opus  75  oben- 
an. Nur  das  handfeste  „Trinklied"  (Goethe)  darf  den  Vergleich 
damit  aushalten.  Opus  76  aber  enthält  als  Perle  das  ergreifende 
„Comitat"  (Hoffmann  von  Fallersleben),  eins  der  tiefgefühltesten 
Abschiedslieder  unter  Männern.  Was  weiter  noch  kommt,  hat  kein 
ewiges  Leben  behalten.  Die  Zeit  hat  es  zu  den  Akten  gelegt.  Viel 
wirkungskräftiger  ist  Mendelssohn  in  seinen  Liedern  für  gemischten 
Chor  geblieben.  Auch  hier  treffen  wir  meist  auf  homophon  gehaltene 
Gebilde,  in  denen  der  Drang  nach  Volkstümlichkeit  lebendig  ist. 
Gleich  opus  41,  das  erste  Heft  der  „Lieder  im  Freien  zu  singen" 
enthält  drei  Musterbeispiele:  „Im  Walde"  (Platen),  „Mailied"  (Höity) 
und  „Auf  dem  See"  (Goethe),  feingeschliffene  Schmuckstücke.  Alelo- 
discher  Überschwang  beseelt  „Der  erste  Frühlingstag"  (ühland)  in 


J84  Bühnenmusik 

opus  48,  eine  kostbare  Miniatur.  Bescheiden  reihen  sich  „Die  Primel" 
(Lenau),  „Frühlingslieder"  (Uhland)  und  der  liebliche  Kanon  „Ler- 
chengesang" an.  Die  Krone  jedoch  gebührt  dem  wundersam  tiefen 
„Morgengebet"  (Eichendorff).  Doch  ist  im  nächsten  Heft,  opus  59, 
der  „Abschied  im  Walde"  (Eichendorff)  nicht  noch  köstlicher  in  seiner 
Reinheit  und  stillen  Seligkeit?  Was  wollen  daneben  die  übrigen 
Lieder  besagen?  Im  „Jagdlied"  (Eichendorff)  regt  sich's  einmal 
aufrüttelnd,  leidenschaftlich.  Eichendorffs  Romantik  hat  es  Mendels- 
sohn angetan.  Seine  Phantasie  entzündet  sich  an  dem  weichen  musi- 
kalischen Tonfall  der  Dichterworte,  und  schwelgerisch  strömen  ihm 
die  Melodien  zu.  Heben  wir  nun  noch  aus  opus  88  das  stürmisch 
aufbegehrende  „Deutschland"  (Geibel)  und  aus  opus  100  das  ver- 
träumte „Lob  des  Frühlings"  (Uhland)  hervor,  so  haben  wir  das 
Meisterliche  ausgezeichnet.  Und  doch  bleibt  noch  genug  des  Liebens- 
werten übrig  für  die,  deren  Sinn  der  Schönheit  noch  unbefangen 
gegenübersteht. 


BUHNENMUSIK 

Mendelssohns  platonische  Liebe  gehörte  der  Bühne.  Durch  das 
ganze  Leben  begleitete  ihn  die  Sehnsucht,  Opern  zu  schreiben.  Aber 
was  der  Jüngling  in  keckem  Zugreifen  wenigstens  noch  verwirk- 
lichte, wenn  auch  in  unvollkommener  Weise,  das  blieb  dem  Mann 
wegen  seines  in  Kunstdingen  unerbittlichen  Ernstes  versagt.  Mendels- 
sohn war  literarisch  zu  fein  gebildet,  um  an  den  platten  Reimereien 
der  gewöhnlichen  Librettisten  Gefallen  zu  finden.  Er  erstrebte  mit 
der  Oper  höhere  Ziele;  denn  er  hatte  seine  großen  Vorbilder  von 
Gluck  bis  Weber.  Die  italienische  Modemusik  schien  ihm  verächt- 
lich. Er  verlangte  ethische  Momente  und  keine  Unterhaltung  oder 
bloßen  Sinnenreiz.  So  plagten  ihn  dieselben  Gewissensbisse  wie  die 
anderen  Romantiker,  die  vom  Bühnenfieber  ergriffen  waren.  Na- 
mentlich war  es  seine  Sorge,  daß  der  Charakter  seiner  Oper  deutsch 
sei.  Und  so  mußte  er  schließlich  scheitern,  wie  all  diese  Enthusiasten 
auf  den  Brettern,  die  die  Welt  bedeuten,  gescheitert  sind. 

Mendelssohn  besaß  keine  dramatische  Ader.  Seine  Empfind- 
samkeit und  gebändigte  Leidenschaft  vermochte  wohl  noch  die  For- 


Bühnenmusik  185 

derungen  des  Epischen  zu  erfüllen.  Aber  sie  mußte  versagen,  wo 
es  galt,  elementar  und  unmittelbar  zu  packen.  Hier  im  Drama  ist 
das  musikalische  Talent  nicht  ausschließlich  entscheidend.  Viele  Im- 
ponderabilien müssen  hinzukommen.  Vielleicht  ist  der  dramatische 
Sinn  überhaupt  der  gröbste  und  niedrigste  (weil  selbst  die  Masse 
ihn  besitzt)  und  deshalb  den  feinstorganisierten  Naturen  nicht  ge- 
geben. Mozarts  Einzigartigkeit,  die  jede  Vergleichsmöglichkeit  in 
der  Musikgeschichte  ausschließt,  ist  kein  Beweis  dagegen.  Es  war 
Mendelssohn  nicht  vergönnt,  sein  Ideal,  Mozart,  zu  erreichen.  Jeden- 
falls liegen  die  Dinge  bei  Mendelssohn  in  bezug  auf  die  Oper  ähnlich 
wie  bei  Schumann.  Beide  waren  zu  starke  Lyriker,  zu  sehr  gefühls- 
mäßig orientiert. 

Die  Bühne  erfordert  eine  glückliche  Mischung  von  Instinkt  und 
Intellekt  beim  schaffenden  Künstler.  Und  diese  Mischung  ist  selten. 
Sie  findet  sich  fast  nur  bei  Erscheinungen,  die  auch  als  Menschen 
ein  gutes  Stück  Schauspielernatur  besitzen.  Theorie  und  Praxis 
müssen  Hand  in  Hand  gehen.  Mendelssohns  praktische  Berührung 
mit  der  Musikbühne  blieb  auf  die  spielerischen  Ausführungen  im 
Elternhaus  und  auf  das  kurze  Experiment  der  Mustervorstellungen 
in  Düsseldorf  beschränkt.  Aber  wir  wissen,  daß  er  in  Paris  in  die 
Vorstadttheater  lief,  wo  man  glänzend  spielte,  um  dramatische  Studien 
zu  machen.  Jedoch  selbst  das  Sammeln  von  Erfahrungen  konnte  ihn 
noch  nicht  zum  Dramatiker  machen.  Es  spielen  so  viel  andere,  außer- 
musikalische Dinge  dabei  mit.  Alle  schönen  Absichten,  alle  Theorien 
und  alle  ethischen  oder  ästhetischen  Beweggründe  helfen  nicht  um 
das  Wesentliche  herum:  die  Wirkung.  Die  Wirkung  ist  auf  der 
Bühne  alles,  mag  sie  sich  aus  der  Stimmung  oder  aus  dem  Vorgang 
ergeben.  Bewegung  und  Ruhepunkte  in  symmetrischer  Anreihung, 
die  Wucht  erschütternder  Steigerungen,  eine  kühne  Realistik  und 
wiederum  das  malerisch  Phantastische  —  eine  Summe,  die  oft  der 
Zufall  ergibt  und  die  selbst  das  Genie  nur  in  seinen  glücklichsten 
Eingebungen  findet. 

Mendelssohns  Zeit  war  noch  die  Zeit  der  Oper.  Die  Entwick- 
lung des  Dramatischen  war  noch  nicht  von  der  Bühne  in  das  Or- 
chester verlegt  und  die  Theorie  des  Musikdramas  noch  nicht  zum 
alleinseligmachenden  System  erhoben  worden.  Das  freie  Spiel  der 
Kräfte  lockte  die  Talente.     Weber  und  Meyerbeer  waren  die  Anti- 


186  Bühnenmusik 

poden,  und  zwischen  ihnen  wogte  die  Masse  der  Vielen  und  Viel- 
zuvielen. 

Was  Mendelssohn  schon  in  jungen  Jahren  auf  dem  Altar  der 
Musikbühne  opferte,  ist  nicht  mehr  auf  uns  gekommen.  All  die  kleinen 
Arbeiten  waren  Familienangelegenheit,  Versuche  und  Lehrlingsstücke. 
Erst  die  größere  zweiaktige  Oper  „Die  Hochzeit  des  Camacho"  des 
Fünfzehnjährigen  wurde  öffentlich  zur  Diskussion  gestellt.  Daß  diese 
Diskussion  zuungunsten  Mendelssohns  ausfiel,  haben  wir  schon  er- 
fahren. Wir  begreifen  es,  wenn  wir  die  Partitur  durchblättern.  Eine 
Episode  aus  dem  „Don  Quichote"  des  Cervantes  hat  den  Stoff  ge- 
liefert: wie  sich  der  Schäfer  Basilio  durch  einen  fingierten  Selbst- 
mord in  den  Besitz  der  geliebten  Braut  setzt,  die  gerade  dem  reichen! 
Camacho  angetraut  werden  soll.  Eine  Reihe  hübscher,  nicht  gerade 
sonderlich  packender  Situationen  ohne  eigentliche  dramatische  Ent- 
wicklung, ein  Opernpotpourri  wie  so  viele,  die  schon  durch  die 
Mängel  des  Textes  zum  Tode  verurteilt  sind.  Mendelssohn  nahm  sich 
der  Sache  mit  Ernst  und  Feuereifer  an.  Das  Gefühlsmäßige  gelang 
ihm  recht  hübsch.  Auch  die  Chöre  sind  geschickt  aufgebaut.  Aber 
es  fehlt  die  dramatische  Schwungkraft,  die  von  Höhepunkt  zu  Höhe- 
punkt reißt.  So  bleibt  schließlich  die  frische,  sprudelnde  Ouvertüre 
und  die  Ballettmusik  aus  dem  zweiten  Akt  als  Bestes  aus  der  371 
Seiten  starken  Partitur. 

Mendelssohn  hat  Zeit  seines  Lebens  nach  einem  brauchbaren 
Operntext  gesucht,  und  hat  ihn  nicht  gefunden.  Kurz  vor  seinem 
Tode  schien  er  endlich  das  Ersehnte  gefaßt  zu  haben.  Emanuei 
Geibel  hatte  die  Sage  von  der  Loreley  in  Verse  gebracht  und  für 
Mendelssohn  ein  Opernlibretto  daraus  gestaltet.  Der  Tondichter 
griff  zu,  schon  verführt  von  der  rührenden  Figur  der  Rheinnixe.  Er 
vermeinte  endlich  eine  seiner  würdige  Aufgabe  gefunden  zu  haben, 
übersah  das  völlig  Undramatische  des  Textes  und  stürzte  sich  in  die 
Komposition.  Drei  Nummern  seiner  Oper  „Loreley"  hat  Mendelssohn 
fertig  hinterlassen :  das  Finale  des  ersten  Aktes,  ein  Ave  Maria  für 
Sopransolo  und  Frauenchor  und  einen  Winzerchor.  Dem  Finale 
begegnet  man  öfter  in  Konzertaufführungen.  Da  ist  es  wirksamer, 
als  es  auf  der  Bühne  sein  könnte.  Die  Musik  zeigt  den  ganzen 
Mendelssohn,  der  immer  sein  Bestes  gab,  wenn  er  ein  wenig  ins 
Phantastische,  ins  Reich  der  Naturgeister,  ausschweifen  konnte.   Von 


Bühnenmusik  187 

abgeklärter  Schönheit  und  Innigkeit  ist  die  Melodik,  von  der  meister- 
lichen Formung  und  Instrumentierung  gar  nicht  zu  reden.  Jedoch, 
eins  ist  sicher:  ein  dramatisches  Meisterwerk  wäre  die  „Loreley" 
nicht  geworden.  Max  Bruch  hat  es  versucht,  Geibels  Text  vor  der 
Vergessenheit  zu  retten.  Seine  Oper  „Loreley"  wurde  1863  in  Mann- 
heim aufgeführt  und  scheiterte  an  der  Dichtung. 

Dürfen  wir  nun  hier,  beim  Zusammenbruch  der  Opernhoffnungen 
Mendelssohns,  erwähnen,  daß  er,  um  seine  Ariensehnsucht  zu  stillen, 
einmal  eine  Konzertarie  für  Sopran  und  Orchester  schrieb,  die  als 
opus  94  aus  dem  Nachlaß  aufgetaucht  ist?  Galant  gemachte  Musik, 
ohne  Tiefe,  die  das  Dunkel  verdient,  in  das  sie  gefallen  ist. 

Doch  wenn  Mendelssohn  der  Bühne  auch  nicht  mit  Opern  hul- 
digen durfte,  so  konnte  er  doch  in  Schauspielmusiken  Kunstwerke 
schaffen,  die  die  Zeiten  überdauert  haben.  Seinem  klassisch  ge- 
richteten Geist  war  es  willkommen,  für  den  König  Friedrich  Wil- 
helm IV.  die  Musik  zur  „Antigone",  opus  55,  und  zum  „Ödipus", 
opus  93,  komponieren  zu  können.  Die  Wiederbelebung  des  antiken 
Dramas  fand  damals  viel  Interesse  und  Entgegenkommen,  nicht  nur 
unter  den  humanistisch  Gebildeten,  sondern  auch  unter  den  Theater- 
besuchern überhaupt.  Die  Gründlichkeit,  mit  der  man  sich  der 
Sache  annahm,  rief  auch  die  Gelehrten  auf  den  Plan.  Man  wollte 
möglichst  echte  griechische  Kunst  geben,  wollte  die  Gefühlswelt  der 
Griechen  neu  erstehen  lassen.  Anders  heute,  wo  Dichter  wie  Werfel 
und  Hofmannsthal  die  griechische  Tragödie  mit  den  Leidenschaften 
des  zwanzigsten  Jahrhunderts  tränken.  Mendelssohn  hatte  mit  seinem 
Jawort,  die  Chöre  zu  den  Sophokleischen  Tragödien  zu  komponie- 
ren, eine  schwere  Aufgabe  übernommen,  da  die  Archäologen  auf  der 
Lauer  lagen,  um  ihn,  den  Künstler,  mit  den  Waffen  der  sogenannten 
Wissenschaftlichkeit  zu  bekämpfen.  Die  Frage  des  griechischen  Chors 
war  und  ist  eine  Streitfrage.  Jede  Komposition  dieser  Chorgesänge 
wird  gegen  den  Urstil  sündigen.  Es  kann  also  nur  darauf  ankommen, 
einen  möglichst  hohen  Grad  von  Objektivität  zu  gewinnen,  um  die 
Musik  mit  einem  aus  sich  heraus  unaufdringlichen  Pathos  zu  er- 
füllen. Und  das  ist  Mendelssohn  gelungen,  soweit  ein  Gelingen  über- 
haupt möglich  war.  Notgedrungen  mußte  der  Musiker,  der  nach 
der  Erschaffung  geschlossener  musikalischer  Perioden  strebt,  dem 
griechischen  Metrum  und  namentlich  dem  Rhythmus  Gewalt  antun. 


188  Bühnenmusik 

Aber  welche  Farben  konnte  Mendelssohn  dem  Gesang  durch  die 
Begleitung  des  modernen  Orchesters  geben!  Er  hat  diese  Gelegen- 
heit benutzt;  in  der  großartigen  Einleitungsmusik  zur  Antigone  so- 
gar in  einem  Grade,  der  in  seiner  ungestümen  Leidenschaftlichkeit 
des  Ausdrucks  weit  über  das  hinausgeht,  was  griechisch  in  der 
Tragödie  ist.  Hier  war  Mendelssohn  ein  musikalischer  Hofmanns- 
thal. Aber  in  den  Chören  mäßigte  er  sich  und  näherte  sich  dem  Ideal, 
das  er  als  echter  Humanist  verherrlichen  wollte.  Wenn  auch  die 
Musik  zur  „Antigone"  und  zum  „Ödipus"  nur  noch  selten  zum  Er- 
klingen kommen,  so  gehören  sie  doch  zu  den  Werken  Mendelssohns, 
die  würdig  sind,  seine  Meisterwerke  genannt  zu  werden. 

Weit  eher  hat  Mendelssohns  Musik  zu  „Athalia"  von  Racine, 
opus  74,  ihr  Schicksal  verdient,  vergessen  zu  werden.  Es  war  eine 
Pflichtarbeit,  von  der  sich  nur  die  klangvolle,  hübsch  gemachte  Ouver- 
türe noch  bis  heute  in  die  Gartenkonzerte  gerettet  hat. 

Und  nun  kommen  wir  endlich  zu  einem  vollkommenen  Meister- 
werk, durch  das  Mendelssohns  Name  für  immer  mit  der  Bühne  ver- 
knüpft sein  wird:  die  Musik  zu  Shakespeares  „Sommernachtstraum", 
opus  61.  Die  unsterbliche  Ouvertüre,  des  Meisters  unumstrittenster 
Sieg,  entstand  1826,  die  übrige  Musik  1843.  Aber  es  ist  keine  tren- 
nende Kluft  dazwischen.  Der  Geist  des  Schöpfers  ist  derselbe  ge- 
blieben. Die  Inspiration  sprudelte  ihm  nach  siebzehn  Jahren  noch 
ebenso  frisch  wie  in  den  köstlichen  Jugendtagen,  wo  wie  aus  einem 
holden  Traum  die  Elfenklänge  der  Ouvertüre  sich  formten.  Die 
Ouvertüre,  ein  Gedicht,  wie  nie  vor  oder  nach  Mendelssohn  ein 
Künstler  ein  ähnliches  geschaffen  hat.  Was  sollen  da  Worte?  Kann 
man  den  Zauber  einer  Mondnacht  im  Walde  zergliedern  und  er- 
läutern? Es  ist  ein  Traum,  eine  Phantasie,  vor  der  wir  stumm  vor 
Bewunderung  stehen.  Der  Reigen  der  Elfen,  der  Tanz  der  Rüpel, 
Titania  und  Oberon,  Frohsinn,  Übermut,  Tränen  und  Liebe  —  alles 
ist  in  dieser  Musik,  die  mit  Shakespearscher  Geste  ein  Märchen  in 
Tönen  zaubert,  wie  man  in  der  Musik  kein  anderes  vernommen,  so 
bittersüß  und  schmerzlichschön,  wie  es  nur  dem  Gottbegnadeten  in 
seiner  gesegnetsten  Stunde  einfallen  konnte.  Und  dieselbe  Scheu 
erfaßt  den  Analytiker  vor  der  übrigen  Musik  zum  Sommernachts- 
traum. Welche  unsägliche  Tiefe  der  Empfindung  in  dem  Notturno, 
wo   das   Hörn   von  der  keuschen   Seligkeit  einer   Waldnacht  singt; 


Mendelssohn   und   die  Zeit  189 

welche  sprühende  Lebendigkeit  in  dem  Scherzo,  in  dem  alle  Geister 
der  Ouvertüre  noch  einmal  aufleben  und  ihren  phantastischen  Reigen 
tanzen;  welche  Leidenschaft  in  dem  feurigen  Intermezzo,  das  mit 
glühender  Lust  dahinstürmt;  welche  groteske  Komik  in  dem  Rüpel- 
tanz und  endlich  welche  jubelnde  Freude  in  dem  Glanz  des  Hoch- 
zeitsmarsches, der  nicht  nur  für  Hermia  und  Lysander,  für  Helena  und 
Demetrius,  sondern  für  die  Liebenden  aller  Zeiten  und  Völker  ge- 
schrieben ist.  Melodramatisches  wechselt  mit  Zwischenspielen.  Eine 
einzige  Welle  künstlerischer  Leidenschaft  spült  durch  das  Ganze 
und  erfüllt  jeden  Takt  mit  Leben  und  Bewegung.  Wie  innig  ist  diese 
Musik  mit  der  Dichtung  verschmolzen.  Zahllose  Reminiszenzen  ver- 
knüpfen Wort,  Ton  und  Bild.  Es  gibt  kaum  etwas  Vollkommeneres, 
und  wenigen  Werken  ist  die  Krone  der  Unsterblichkeit  so  freudig 
und  willig  überreicht  worden,  wie  Mendelssohns  Sommernachtstraum- 
musik. 

Kehren  wir  noch  einmal  in  des  Meisters  Jugendzeit  zurück. 
Zwischen  Oper  und  Schauspiel  steht  das  Singspiel.  Mendelssohn 
huldigte  auch  hier  der  Gelegenheit  und  schuf  zur  silbernen  Hochzeit 
seiner  Eltern  das  Liederspiel  „Die  Heimkehr  aus  der  Fremde",  zu 
dem  Klingemann  den  Text  gedichtet  hatte.  Wir  halten  uns  heute 
nur  noch  an  die  Ouvertüre,  die  für  ihre  Volkstümlichkeit  dankbar 
ist.  Ihre  schlichte  Ausdrucksweise  spricht  zu  Sinn  und  Gemüt  der 
Unbefangenen.  Sie  ist  lieblich  und  zart.  Gönnen  wir  ihr  das  be- 
scheidene Leben,  das  sie  führt,  da  ja  die  ganze  übrige  Musik  des 
Liederspiels  vergessen  ist. 

Mendelssohn  und  die  Bühne.  Was  von  allen  seinen  Versuchen 
und  Gaben  geblieben  ist,  das  ist  der  Sommernachtstraum.  Genug  für 
ein  Menschenleben,  genug  für  das  Schaffen  eines,  den  wir  Genie 
nennen  müßten  nur  um  dieser  Takte  willen ;  übergenug  für  einen, 
der  schon  auf  anderen  Gebieten  seiner  Kunst  die  Unsterblichkeit 
errungen  hat. 


MENDELSSOHN  UND  DIE  ZEIT 

Wir  sind  am  Ende.    Werk  und  Welt  haben  sich  gefunden.   Der 
Künstler  hat  den  Menschen  überlebt,  und  an  die  Nachwelt  richtet 


190  Mendelssohn   und  die  Zeit 

sich  die  Frage,  ob  ihr  das  Werk  zum  Heiligtum  und  köstlichen  Be- 
sitz geworden  ist,  das  zeitlos  seinen  Platz  neben  allem  Großen  ein- 
nimmt. 

Die  Geschichte  ist  eine  unerbittliche  Richterin.  Sie  läßt  nur  das 
ganz  Große  gelten ;  alles  andere  verblaßt  und  gerät  in  Vergessenheit. 
Aber  zum  Trost  sei's  gesagt,  die  Menschen  von  heute  machen  nicht 
die  Geschichte,  wenigstens  nicht  die  der  Kunst.  Ein  Geschlecht,  das 
dem  Verfall  zugestrebt  hat,  überwältigt  von  der  Überredungskunst 
der  Dekadenz,  und  das  jetzt  nicht  mehr  Kraft  und  Willen  genug  be- 
sitzt, dem  Chaos  zu  widerstehen,  darf  den  Richterstuhl  im  Geistigen 
nicht  besteigen.  Das  Zeitalter  der  Maschine  hat  die  Entgeistigung 
der  Menschheit  verschuldet.  Denn  vor  der  Maschine  sind  alle  Men- 
schen gleich.  „Freie  Bahn  allen  Tüchtigen"  bedeutet  den  Tod  der 
Genies  und  die  Verewigung  und  Glorifizierung  des  Durchschnitt- 
lichen. Das  Genie  ist  das  überwältigendste  Argument  gegen  die 
Gleichheit  und  bedarf  der  Hemmungen,  um  seine  Kräfte  zu  schulen. 
Bei  Mendelssohn  blieben  sie  fast  gänzlich  aus.  Die  Zeit  hat  hier  die 
ausgleichende  Gerechtigkeit  geübt:  Mendelssohns  Kunst  hat  erst 
gestern,  heute  und  morgen  den  Kampf  zu  bestehen,  der  dem  Schaffen- 
den selbst  von  der  Gunst  des  Schicksals  erspart  blieb. 

Wie  stehen  wir  in  diesem  Kampf? 

Der  moderne  Musiker  bekennt  sich  zur  Romantik  Chopins  und 
Wagners.  Da  findet  er  die  nervösen  Sensationen,  denen  er  selbst 
als  Kind  einer  dekadenten  Zeit  ausgeliefert  ist.  (Anmerkung  für  Re- 
zensenten: Es  soll  damit  nichts  gegen  Chopin  und  Wagner  gesagt 
sein.)  Was  kann  nun  den  Modernen  Mendelssohn  sein,  dieser  Meister 
der  schlichten  Geberde,  der  Klarheit  und  Schönheit  um  jeden  Preis, 
selbst  auf  Kosten  der  Charakteristik.  Seitdem  die  Musik  um  ihre 
Strenge  und  Reinheit,  um  ihre  Logik  gebracht  worden  ist,  seit  dem 
Verfall  der  Synthese,  sind  die  musikalischen  Ideale  umgestellt  wor- 
den. Man  liebt  die  Stimmung,  den  Effekt  und  sucht  überall  das  Dra- 
matische und  Verblüffende.  Die  Musik  ist  ein  Faktor  geworden, 
mit  dem  man  rechnen  und  wirken  will,  ein  Mittel  zum  Zweck.  Wir 
fühlen,  das  Band,  das  Mendelssohn  und  die  Modernen  bindet,  ist 
sehr  schwach. 

Und  doch  lebt  er.  Aber  nicht  in  der  Welt  der  geschraubten 
und  erlogenen  Gefühle.     Lebt  in  seinem  Werk,  das  immer  noch  un- 


Mendelssohn   und  die  Zeit  191 

vergänglichen  Zauber  ausübt.  Die  Ouvertüren,  die  Oratorien,  die 
Lieder  ohne  Worte  und  vieles  andere  beweisen  es.  Seinem  Schaffen 
wurde  1903  ein  Denkmal  in  der  Kritischen  Gesamtausgabe  der  Werke 
bei  Breitkopf  cV  Härtel  gesetzt.  Bleibt  nur  noch  die  Aufgabe,  die 
Überfülle  seiner  köstlichen  Briefe  zu  sammeln,  die  bis  jetzt  be- 
kannten, stark  redigierten,  zu  berichtigen  und  das  Verborgene  ans 
Licht  zu  ziehen.  Auch  das  wäre  ein  Monument  seiner  Größe  und 
Bedeutung. 

Wir  würden  Mendelssohn  unrecht  tun,  wenn  wir  auf  den  „Geist 
seiner  Zeit"  hinweisen  wollten,  durch  den  er  besser  verständlich 
Wäre.  Nur  schwächere  Naturen  bedürfen  dieser  Anlehnung  an  ihre 
Umwelt.  Ein  Großer  braucht  nicht  „historisch"  genossen  zu  wer- 
den; denn  er  ist  zeitlos.  Blicken  wir  um  uns,  so  sehen  wir,  daß  der 
Bürger  von  heute  Mendelssohn  im  allgemeinen  näher  steht  als  der 
Künstler.  Der  Bürger  schämt  sich  nicht  des  Sentiments.  Er  ver- 
göttert da,  wo  er  sich  gerührt  und  ergriffen  fühlt.  Aber  es  müssen 
doch  echteste  Akzente  sein,  die  ihre  Kräfte  noch  nach  70  Jahren 
zeigen.  Und  wahrlich,  wenn  wir  uns  in  Mendelssohns  Musik  hinein- 
hören, und  uns  ihm  mit  Inbrunst  nahen,  dann  fühlen  wir  auch  bei 
ihm  wie  bei  allen  Großen  die  ungeheure  Intensität  der  Leidenschaft, 
die  die  Töne  durchströmt  und  mit  Leben  erfüllt.  Sie  offenbart  sich 
nicht  in  gewaltigen  Erschütterungen,  umwerfenden  Gefühlsexplosio- 
nen, sondern  in  der  unendlich  sprachvollen,  lebendigen  Artikulation, 
die  auch  das  Kleinste  noch  mit  grenzenlosem  Inhalt  erfüllt  und  unser 
Empfinden  bis  ins  Tiefste  erbeben  und  miterleben  läßt.  Mendelssohns 
Stärke  liegt  im  Gemütvollen.  Wir  verstehen :  nur  der  Pietätvolle 
kann  ihm  also  huldigen.  Hier  spricht  die  Seele  ohne  Reizmittel; 
das  farbige  Flimmern  der  Enharmonik,  das  Tonalitätsschwanken  der 
Chromatik  hat  in  seiner  Kunst  keine  Heimat.  Es  ist  das  schöne 
Gemüt,  das  schöne  Gefühl,  das  die  Vorkämpfer  der  Romantik,  nament- 
lich der  innig  träumende  Wackenroder  so  hoch  priesen  und  so  heiß 
ersehnten  —  deutsche  Tugenden,  die  Mendelssohn  schon  früh  in 
sich  aufgesogen  hatte.  Die  Nerven  spielen  hier  keine  Rolle.  Diese 
Musik  spricht  nur  zur  Seele,  weniger  zu  den  Sinnen.  Hier  ist  auch 
der  Punkt,  auf  dem  die  Wege  auseinandergingen.  Auf  der  einen 
Seite  die  Genies  Schumann,  Chopin,  Wagner,  Brahms,  Brückner, 
und  auf  der  anderen  Seite  —  Epigonen  von  Reinecke  bis  Max  Bruch. 


192  MendelssohnunddieZeit 

Jetzt  erst  verstehen  wir  Nietzsches  Wort  von  Mendelssohn  als  dem 
schönen  Zwischenfall  in  der  Musik.  Aber  ist  er  nicht  auch  ein  Ende, 
wenigstens  ein  vorläufiges,  gewesen?  Die  Reihe  der  Epigonen  be- 
weist nichts  gegen  seine  Kunst  und  gegen  die  Richtung.  Allenthalben 
regt  sich  schon  eine  Reaktion  gegen  die  völlige  Auflösung  der  Kunst, 
gegen  das  Stimmungschaos,  gegen  Impressionismus  und  Expressio- 
nismus (als  Schlagworte  genommen)  —  das  ist  der  künstlerische  For- 
malismus, der  die  schönen  Formen  aus  dem  Trümmerhaufen  retten 
will.  Ja,  wir  ahnen  so  etwas  wie  eine  Sehnsucht  nach  wirklicher 
geistiger  Kultur,  nach  Strenge  gegen  sich  und  die  Phantasie,  nach 
Willen  zur  Synthese  in  der  Zeit  erwachen.  Der  Formalismus  kann 
nicht  Selbstzweck  sein,  aber  der  Weg  zu  einer  neuen  Höhe,  die  noch 
verborgen  neben  den  anderen  Gipfeln  liegt.  Und  Mendelssohn  ist 
ein  Ausgangspunkt  für  eine  solche  Renaissance  der  Form  und  des 
guten  Geschmacks  in  der  Musik.  Der  Mann  wird  das  eher  ver- 
stehen als  der  Jüngling,  der  die  Ekstase  sucht. 

Mendelssohn  als  Lehrmeister  gibt  uns  Hoffnungen  für  die  Zu- 
kunft und  Entwicklung  der  Musik.  Der  selbst  nicht  ein  Fortschrittler, 
ein  Experimentierender  im  Sinne  der  großen  Bahnbrecher  war,  kann 
doch  als  ruhiges  Vorbild  neuer  Zeiten  dienen.  Auch  da  winkt  Fort- 
schritt. 

Was  unsere  Zeit  von  der  Kunst  verlangt,  läßt  sich  auch  in  Men- 
delssohns Werk  finden,  Schönheit,  Wahrheit,  Ausdruck,  Stimmung, 
Fülle,  Geistigkeit  —  nur  eins  nicht:  Anreiz  für  müde  Nerven.  Auch 
das  Gewaltige  fehlt  ihm,  das  Dramatische,  Niederschmetternde.  Da- 
hin zielten  seine  Träume  und  sein  Wille  nicht.  Er  packt  uns  nicht 
mit  eherner  Gewalt;  aber  er  rührt,  macht  uns  weich,  und  die  leise 
Wehmut  eines  Sommerabends  erwacht  bei  seiner  Musik. 

Demokratie  ist  vergänglich,  Revolutionen  verrauchen,  und  nur 
der  Einzelne  rettet  die  Idee,  den  Glauben  an  das  Vollkommene,  die 
Ehrfurcht  vor  dem  Großen.  Nur  die  Geschichte  der  Genies  ist  die 
Geschichte  der  Kunst.  Richtungen,  Mitläufer,  Apostaten,  Abenteurer 
und  Epigonen  bleiben  im  Hintergrund.  Kein  Künstler  ist  und  wird 
ohne  die  Vergangenheit  und  Erinnerung.  Mendelssohn  meinte:  „daß 
es  die  erste  Bedingung  zu  einem  Künstler  sei,  daß  er  Respekt  vor 
dem  Großen  habe  und  sich  davor  beuge  und  es  anerkenne". 

Neben  allen  anderen   Eigenschaften  gehört  zur  Größe  die  Ge- 


Mendelssohn   und   die  Zeit  iQ3 

duld.  Geduld  zur  Form,  zur  Vollendung,  Geduld  im  Kunstwerk 
selber  zur  restlosen  Auswirkung  der  Ereignisse.  Mendelssohn  be- 
saß diese  Geduld,  das  ungeheure  Sicherheitsgefühl  der  Reife,  die 
Überlegenheit  des  Herrschers  über  seine  Materie.  Er  baute  auf  einem 
breiten  Fundament,  das  die  Meister  von  Bach  bis  Beethoven  ge- 
legt hatten.  Deshalb  ist  auch  nichts  Frühaltes,  Greisenhaftes  in  seiner 
Musik,  sondern  bis  zuletzt  schwang  sich  die  Kurve  seiner  Entwicklung 
aufwärts.  Die  Gegenwart  war  ihm,  dem  unermüdlichen  Bewunderer 
vergangener  Kulturen,  stumm.  Er  kannte  die  schweren  seelischen 
Bedrängnisse  der  Schumann  und  Chopin  nicht.  Fremd  stand  er  ihren 
Kämpfen,  dem  leidenschaftlichen  Aufbegehren  eines  genialen  Un- 
gestüms gegen  Überliefertes,  fremd  den  Ringenden  gegenüber.  Bis 
in  das  Nervensystem  war  ihm  die  Romantik  nicht  gedrungen.  Er 
war  nur  Romantiker  aus  reinem  Gemüt. 

Doch  wir?  Dürfen  wir  Mendelssohn,  den  stillen,  tiefen  Meister 
der  Idylle,  den  Aristokraten,  überhaupt  feiern?  Fast  scheint  es, 
als  wolle  das  Chaos  unserer  Zeit  die  Schönheit  ersticken.  Der  Ge- 
schmack der  Masse  liebt  die  schmalen  Höhenwege  nicht.  Mendels- 
sohn aber  war  kein  Diktator  der  Landstraße.  Um  ihn  breitete  sich 
Einsamkeit,  als  Wagner  seinen  Bannfluch  gegen  ihn  schleuderte.  Je- 
doch die  Kunst  verlangt  höheren  Ernst  als  das  Leben.  In  ihr  ist  die 
Tat  alles,  das  Wort  nichts.  Auch  Mendelssohns  Tat  ist  geblieben. 
Mögen  manche  Farben  etwas  blasser  geworden  sein,  andere  haben 
ihre  unvergängliche  Leuchtkraft  behalten.  Und  so  darf  der  Meister 
heute  gerechte  Würdigung  verlangen  von  einem  Geschlecht,  das  dem 
Persönlichen  und  Kämpferischen  vergangener  Epochen  entrückt  ist. 

Es  fragt  sich  nur  immer  wieder:  wie  steht  die  Zeit  zu  ihm? 
Eins  ist  sicher:  die  Zeit  seiner  Unterschätzung  ist  vorüber.  Das  Ge- 
wissen der  Künstler  hat  begonnen  sich  zu  regen,  wo  der  Laie  noch 
nie  zu  lieben  aufgehört  hatte.  All  die  Übersättigten  und  Enttäuschten, 
die  sich  im  Irrgarten  der  Moderne  müde  gesucht  haben,  fühlen  die 
stärkende  Kraft  einer  gesunden,  gerade  gewachsenen  und  strengen 
Kunst.  Sänger,  die  sich  nach  der  Kantilene  sehnen,  greifen  zu  seinen 
Liedern,  die  Pianisten  empfinden  nach  stürmischen  Virtuosenfesten 
den  Zauber  einer  unchromatischen,  lichten,  halkyonischen  Klavier- 
poesie, die  Dirigenten  huldigen  dem  Symphoniker,  noch  mehr  aber 
dem  Ouvertürendichter,  und  im  Revier  der  Laienkunst,  dem  Chor- 

D  all  ms,  Mendelssohn  13 


1Q4  MendelssohnunddieZeit 

gesang,  werden  vor  Mendelssohns  Oratorien  immer  noch  Altäre 
errichtet.  Aber  wie  überall,  ist  es  hier  nur  die  Liebe,  die  den  Weg 
zum  Innern,  zur  Tiefe  findet.  Das  Bild  des  Meisters  leuchtet  ver- 
klärt durch  die  Jahrhunderte.  Das  Vergängliche  ist  verklungen. 
Das  Unvergängliche  aber  zieht  seine  Kreise  in  die  Ewigkeit. 


LITERATURVERZEICHNIS 

Felix  Mendelssohn:    Reisebriefe.    Leipzig  1869. 

Briefe.     Leipzig    1863. 

Briefwechsel  mit  Klingemann.    Essen  1909. 

Briefwechsel  mit  Julius  Schubring.    Leipzig  1892. 

Briefe      an      Ignaz     u.     Charlotte     Moscheies. 

Leipzig   1888. 
Sebastian  Hensel:   Die   Familie  Mendelssohn.     15.  Aufl.     Berlin    1880. 
Eduard   Devrient:  Meine   Erinnerungen  an   Felix  Mendelssohn-Bartholdy 

und  seine  Briefe  an  mich.    Leipzig  1891. 
August  Reißmann:   Felix  Mendelssohn.    Berlin   1867. 
W.  A.  Lampadius:  Felix  Mendelssohn.    Leipzig  1886. 
Ferdinand    Hiller:    Felix    Mendelssohn-Bartholdy.     Briefe    und    Erinne- 
rungen.  Cöln  1874. 


NAMENREGISTER 


Aachen  56.   57. 

Albert,  Prinz  von  England  92. 

Angely  32. 

Ansorge  117. 

Auber   47.    48. 

Bach,  1.  S.  9.   14.   26.  28.  31.  33.  38. 

43   54.  63.  67.  68.  72.  73.  75.  76.  88. 

94.  98.  110.  113.  117.  125.  126.  127. 

129.  135.  140.  163.  164.  165.  166.  168 

179.  193. 
Baden-Baden  95. 
Baillot  32.  47. 
Barmen  56. 

Bärmann,   Heinrich   50.   140. 
-  Karl  50.  140. 
Bauer  36.  68. 
Becker,    C.    F.    84. 
Beethoven  20.  28.  33.  37.  38.  40.  41. 

45.  47.   55.   57.   58.   59.   63.   65.  71. 

75.   78.   81.   82.   88.   89.   92.  95.  98. 

103.    112.   117.    125.    126.    130.    131, 

132.    136.   138.    147.    149.    150.    151. 

152.    158.    160.    163.    179.    193. 
Bellermann    179. 
Bendemann   42.   53.   86.   98 
Bennet  67. 
Bertuscheck   99. 
Berger,   Ludwig   25.   26.   34.   49.    112. 

113.  125. 
Beriot  91. 
Berlin  17.  21.  24—27.  29.  30.  32.  33. 

36.  38.  49.  50.  51.  53.  54.  60.  62. 

63.   69.   73.   75—80.   82.   84.   86.  87. 

89.   90.   92.   96.    9S.   99.    152. 
Berlioz   43.    44.    57.    85.    110. 
Birmigham  68.  74.  92. 
Bliesener  33. 
Blümner  73.  83. 
Bock   99. 
Böckh  34. 
Bonn  54. 
Börne  47. 
Boucher  33. 

Brahms  9.  12.  13.  150.  163.  168.  191. 
Breitkopf  &  Härtel  60.   115.   191. 
Bremen  99. 
Brentano  34. 
Breslau  99. 
Bruch,  Max  187.  191. 
Brückner    150.    191. 
Brühl,  Graf  36. 
Bimsen    (üeheimrat)    34.    88. 


Burgmüller,  Norbert  163. 
Byron  27.    114. 

Caspar,   Dr.   28.   31. 

Cervantes   186. 

Charlottenburg  92. 

Cherubini  32.  47.  55.  59. 

Chopin  37.  47.  57.  62.  104.  106.  109. 

112.   117.   118.    120.    126.    190.    191. 

193. 
Clarus   97. 
Clauren  33. 
Clementi    25. 

Cornelius  (Maler)  34.  42.  76.  163. 
Cottrau  44. 
Cramer   53. 
Crelinger  79.  91. 
Czerny  118. 

Dante  10.  37. 

David,   Ferd.  63.   70.   72.   79.   82.  64. 

89.   90.   95—98.    163. 
Dehn  106. 
Dessau  17.  18.  99. 
Devrient,   Eduard  30.  38.  45.  51.  79. 

93.  182. 
Dirichlet    59. 
Dobrycinsky   70. 
Doles,  Joh.  Fr.  61. 
Donizetti  44. 
Dostojewski  10. 
Dresden  73.   77.  83.   94.   163. 
Dreyschock  72. 
Druet  38. 
Droysen  36. 
Düsseldorf  53—56.  59.  65.  71.  81,  99. 

108.  109.  185. 

Ebert  116. 

Eichendorft  114.   115.   116.    123.    183. 

184. 
Eichhorn   (Minister)   82.   90. 
Elberfeld  54.  56. 
Ernst  34.  72. 
Ertmann,   Dorothea  von  45. 

Falkenstein,  von  73.   84. 

Fasch  26. 

Fesca  28. 

Field  25.  118.  119.  126. 

Florenz  42.  44. 

Fould  21. 

Franck  67. 


Namenregister 


197 


Fränkel,  D.  H.  17. 

Frankfurt  a.  M.  22.  65.  66.  67.  71.  82. 

95.  99. 
Franz,  Robert  69.  85. 
Frege,    Professor   69.   97. 

-  Livia  69.   96.  97.   99 

Friedrich  August,  König  von  Sachsen 

75.  83.  99. 
Friedrich  Wilhelm  IV.  54.  76.  77.  79. 

31—84.  86.  87—89.  91.  92.  99.   187. 

Gade,  Niels  W.  85.  89.  91.  93.  96.  98. 

Gans  34.  36. 

üeibel   95.    114.    184.    186.    187. 

Genf  30. 

Gluck  22.  31.  40.  78.  184. 

Goethe  10.  26—33.  35.  39.  40.  42.  48. 

58.  69.  109.  113.  114.  121.  160.  180. 

182.    183. 
— ,  Walter  von  67. 
Gounod   34. 
Grabau-Biinau   84. 
Grabbe  58. 
Graun  42. 
Grell,  Eduard  87. 
Grimm,    Jacob    34. 
Gurnprecht    15. 

Haag  81. 

Habeneck  47. 

Halle  85. 

Hamburg  22.   24.   99. 

Hammer    97. 

Händel  28.  38.  48.  53.  54.  59.  62.  63. 

67.  68.  69.   71.  81.  87.  92.  99.  124. 

126.    127.   140.    164.    165.    168.    173. 

176.  179.  180 
Härtel  97. 

Hauptmann,  Moritz  84.  98. 
Hauser,   Franz  41. 
Haydn  31.  33.  38.  40.  41.  44.  63.  81. 

92.    112.    125.    126.    131.    139.    150. 

151.  152.  179. 
Hegel  33.  34.  36. 
Heidelberg  36. 

Heine  22.  34.  35.  47.  114.  116. 
Hennig  87. 
Henning  27. 
Hensel,   Wilhelm  35.   59.  63    66.   98. 

—  Sebastian   29.   64.   66. 
Henselt    34. 

Herder  19.  21. 

Herz  40.  47.  48.  59.  118.  126.  132. 

Heydemann  36. 

Hevse,    Karl    W.    L.   27. 


Heyse,  Paul  27. 

Hiller,   Ferdinand   34.   42.   57.   66.   68. 
69.  72.  73.  82. 

-  J.  A.  61. 
Hoffmann    E.    T.    A.    33. 

—  von  Fallersieben   115.   183. 
Hofmannsthal   187.   188. 
Holtei   34.   45. 

Hölty  114.  115.  183. 

Howard  98. 

Hübner  42.   66.   86.   98. 

Hugo,  Victor  71.   163. 

Humboldt,  A.  v.  34.  36.  37. 

— ,  W.  v.  34. 

Hummel  32.  34.  41.  53.  126.  132. 

Hunten  118. 

Jean    Paul    35.    38.    50.    56.    69.    109. 

113.  139. 
Iffland  32. 

Immermann  46.  50.  54.  55.  58. 
Joachim,   Joseph  91. 

Kalkbrenner   32.    34.    40.    47.    48.   67. 

126.  132. 
Kalhwoda  70.  72.  150. 
Kant  19. 
Karlsruhe  182. 
Kassel  80. 
Kaulbach  34. 
Kirnberger  19.  31. 
Kittl  70.  72. 
Klein  113. 
Klingemann  35.  38.  39.  48.  53.  55.  59. 

63.  65.  68.   70.  71.   74.  76.  81.  83. 

93.  94.  95.   98.   114.   116.   121.   1S9. 
Knaur  86.   98. 

Köln  54.  59.  62.  69.  92.  99.  183. 
Königsberg  99. 
Kopisch  34. 
Köthen  99. 
Kotzebue  55.  61. 
Kreutzer,  Konr.  56. 
Kreuzer  32. 

Lablache  34. 

Lachner  70.  75.   150. 

Lafontaine  33. 

Lang,   Josephine   46. 

Lassus,  Orlandus  54. 

Laube,    Heinrich   91. 

Lavater  19.  20. 

Leipzig  40.  56.  57.  59—63.  65.  66.  69. 

71.   73.   74—76.    79.   80.   82.   83.   85. 

90-93.  96.  98.   158. 


,93 


Namenregiste 


Lenau  114.  116.  184. 

Leo  54. 

Lessing  17.  19.  20.  27. 

Levetzow  37. 

Lichtenstein  36.  50. 

Lindblad  66.  72. 

Liszt   47.   72.   73.   80.    110.   126. 

London  35.  38.  39.  48.  49.  53.  55.  56. 

65.   68.   88.   95.  99.   154.   160. 
Lotti  54. 
Lumley   94. 
Luther  158.  179. 
Lüttich  92. 

Magnus  34. 
Mailana  44. 
Mainz  99. 

Malibran  38.  47.  53. 
Manchester  81. 
Mannheim   187. 
Marschner  34.  45.  72.  89. 
Marx,  A.  B.  22.  30.  35.  49.  51.  63. 
Massow,  von  76.  82. 
Matthäi  63. 
Mendel  17. 

Mendelssohn,  Moses  17—24.  38.  97. 
105. 

—  Fromet    geb.    Gugenheim    18. 

—  Abraham  18.  21—24.  28.  31.  33.  45. 
49.  51.  53.  55.  58.  59.  63.  65.  75.  93. 
97.  110. 

—  Joseph  18. 

—  Nathan  18. 

—  Henriette  18. 

—  Recha  18. 

—  Dorothea  18. 

—  Lea,  geb.  Salomon  21.  23.  25.  31. 
59.  72.  75.  83.  86. 

—  Fany  (Hensel)  22.  23.  27.  28.  30. 
34.  35.  49.  59.  89.  95.  97.  98.  115. 

—  Rebekka  22.  59.  97. 

—  Paul  22.  76.  92.  93.  96.  97.  98. 

—  Cecilie  geb.  Jeanrenaud  66.  67. 
81.  97.  99. 

Meyerbeer  13.  14.  15.  32.  47.  49.  80. 

185. 
Michaelis  19. 
Michelangelo  37. 
Milder  34. 
Möhring  70. 
Moore  114. 
Moscheies  31.  32.  34.  36.  38.  41.  48.  51. 

53.   56.   57.   58.   62.   68.   74.  81.   84. 

93.  97.  98.   123.  126.  129.  132.  150. 
M^ser  33. 


Motte  Fouque,  de  la  34. 
Mozart,  Leopold  30. 

—  Wolfgang  Amadeus  11.  23.  28.  31. 
33.  40.  41.  48.  52.  63.  68.  70.  103. 
104.  112.  117.  125.  126.  131.  136. 
139.  140.  150.  151.  154.  163.  179. 
180.  185. 

—  Karl  45. 
Mücke  66. 

Müller  (Kabinettsrat)  90. 
München  40.  46.  140. 

Naumann,   Emil  119. 

Neapel  44. 

Neithardt,  Aug.  Heinr.  87.  99. 

Neukomm  28. 

Nicolai  19. 

Nietzsche  12.  14.  15.  16.  17.  24.  103. 

109.  192. 
Novello  34.  68. 

Onslow  72. 
Ossian  113.  161. 
Overbeck  42. 

Paderewski  117. 

Paer  32. 

Paganini  34.  47.  53.  57. 

Palestrina  28.  43.  54.  103. 

Paris    21.    22.    32.    46.    48.    57.    67. 

120.  185. 
Pasta  34. 
Pergolese  54. 
Pixis  32. 
Planche  67. 
Platen  183. 
Pleyel  72.  118. 
Pohlenz   61. 
Porsche  60. 
Potsdam  91. 
Prume  72. 

Rachel  34. 

Racine  92.  188. 

Raffael  149. 

Rauch  34.  76. 

Redern,  Graf  50. 

Reichardt  58.  59. 

Reimarus  17. 

Reinecke  191. 

Rellstab  28.  33.  37.  49.  78.  87. 

Ries  99. 

Rietschel  98. 

Rietz,    Eduard   30.   38.   48. 

—  Julius  54.   56.  65.   71.  81.  97.  96. 


Namenregister 


199 


Ritter  36. 

Spohr  33.  34.  75.  91.  150. 

Robert,   Ludwig  34. 

Spontini  33.  36.  49.  78. 

Rode  32. 

Stamaty  67. 

Rom  35.  42.  43.  44.  109.  181. 

Steinbrück  66. 

Romberg  28.  33. 

Stendhal   156. 

Rossini  32.  47.  66.  78. 

Stettin  35. 

Rubini  53. 

Stich   91. 

Rungenhagen  50.  80.  87.  99. 

Strauß,  Rieh.  13. 

Santini,   Fortunato  42. 
Saphir  36. 
Schadow  42.  53.  66. 
Schauroth,  Delphine  von  46. 
Schelble  30.  66. 
Schenker  151. 
Scheveningen  66. 
Schicht,  Gottfried  61. 
Schiller  33.  183. 
Schinkel  34. 
Schirmer  53. 

Schlegel,    Friedr.   von   18. 
Schleiermacher  33. 
Schleinitz  59.  97—99. 
Schlemmer  65. 

Schneider,  Friedr.  28.  70.  72.  99.  150. 
Schopenhauer  12. 
Schönlein  97. 

Schröder-Devrient  34.   53. 
Schrötter  66. 

Schubert  29.  32.  70.  112—118.  124.  126. 
>     131.   136.   152.   160. 
Schubring,  Julius  36.   55.  63.   68.  71. 

90.  165.  172. 
Schulz,  C.  H.  Ph.  61. 
Schumann,  Robert  13.  14.  56.  57.  61. 

62.  69.  70.   72.   73.  84.  85.  90.  94. 

98.  104.  106.  107.  109.  112.  115—118. 

120.   121.   126—129.    133.   136.   140. 

152.    159.    161.    163.    166.    170.    185. 

191.  193. 
—  Clara  62.  73.  75.  82. 
Schunck  97. 
Schwind  34. 
Scribe  47. 
Seydelmann  34. 

Shakespeare  27.  30.  35.  80.  94.  188. 
Simrock    (Verleger)    69.    82. 
Sontag,  Henriette  33.  38. 
Spinoza  18. 


Taglioni  47. 

Taubert,  Wilh.  15.  87.  99. 

Thalberg  68.  70.  126.  132. 

Thibaut  36. 

Thorwaldsen  34.  42. 

Tieck   79.   114. 

Tizian  41.  42. 

U  echtritz  58. 

Unland  114—116.  183.  184. 

Varnhagen   von    Ense   34. 

Veit  18. 

Venedig  41. 

Vernet,   Horace  34.   42. 

Victoria,  Königin  von  England  81.  99. 

Voigt,   Karl  60. 

—  Heinrich  60. 

Voß   114. 

Wackenroder   191. 

Wagner  9.   12.    13.   15.   91.   107.  109. 

110.     112.     118.     121.     151.     190. 

191.  193. 
Walter  97. 
Wasielewski  64. 
Weber,  C.  M.  von  33.  34.  38.  41.  81. 

82.   131.  136.   184.  185. 
Weimar  28.  29.  30.  40.  67. 
Werfel    187. 
Wieland  55. 

Wien  29.  41.  70.  96.  179. 
Wittmann  72. 
Wolf,   Hugo  115. 
WölffI  27. 

Zelter    14.    23.    25.    26.    28—34.    36. 

38—40.  44.  46.  49.  58.  87.  106.  110. 

112.   113.  129.   164.   179. 
Zumsteeg    113. 


REGISTER  ZU  MENDELSSOHNS  WERKEN 


Werke   für  Orchester: 

Erste   Symphonie   op.    11.   c.   31.   46. 

153.  154. 
Zweite    Symphonie    (Lobgesang)    op. 

52.   B.   71.   74.  75.  80.   81.  85.  151. 

153.   158.  159. 
Dritte  Symphonie  op.   56.   a.   11.  42. 

44.  50.  80.  81.  82.  83.  88.  151—153. 

155.  156—158.  161. 
Vierte  Symphonie  op.  90.  A.   11.  44. 

50.  53.  56.   151.  152.  153.  155.  156. 
Fünfte  (Reformations-)  Symphonie  op. 

107.  d.  40.  47.  51.  151.  154. 
Ouvertüre     Fingalshöhle     (Hebriden) 

op.    26.   h.    42.   44.   48.    50.  51.   60. 

62.   75.  81.   156.   160.   161.   162. 

—  Meeresstille  und  glückliche  Fahrt 
op.  27.  D.  37.  51.  56.  60.  62.  72. 
160. 

—  Märchen  von  der  schönen  Melusine 
op.    32.    F.    50.   65.    162.    163. 

—  Ruy  Blas  op.  95.  c.  71.  163. 
Trompeten-Ouvertüre  op.  101.  C.  31. 

35.   159. 
Ouvertüre  op.  24.  C.  159. 
Trauermarsch   op.    103.   a.    163. 
Marsch   op.    108.    D.   163. 

Konzerte: 

Konzert  für  Violine  m.  Orch.  op.  64.  e. 

11.  69.  89.  90.  163.  164. 

Erstes  Konzert  für  Klavier  m.  Orch. 

op.   25.  g.   46.  47.   48.  51.  62.  132. 

133.  164. 
Zweites  Konzert  für  Klavier  m.  Orch. 

op.  40.  d.  67.  81.  133.  134.  164. 
Capriccio   brillant   f.    Klav.   m.   Orch. 

op.   22.  h.   134. 
Rondo  brillant  f.  Klav.  m.  Orch.  op. 

29.  Es.  48.  56.  68.  134.  135. 
Serenade  und  Allegro  giojoso  f.  Klav 

m.  Orch.  135. 

Kammermusik: 

Oktett  f.  4  V.,  2  Br.   u.  2  Vcl.  op. 

20.  Es.  35.  48.  148.  149. 
Erstes  Quintett  f.  2  V.,  2  Br.  u.  Vcl. 

op.  18.  A.  35.  148. 
Zweites  Quintett  f.  2  V.,  2  Br.  u.  Vcl. 

op.  87.   B.   90.   148.   149. 
I.   Quartett  f.  2  V.,   Br    u.  Vcl.  op. 

12.  Es.  37.  47.  143- ,45. 


II.  Quartett  f.  2  V.,  Br.  u.  Vcl.  op. 
13.  a.  37.  48.  143.  144. 

III.  Quartett  f.  2  V.,  Br.  u.  Vcl.  op.  44 
No.   1.  D.   88.   145. 

IV.  Quartett  f.  2  V.,  Br.  u.  Vcl.  op.  44 
No.    2.    e.    67.    8S.    145.    146. 

V.  Quartett  f.  2  V.,  Br.  u.  Vcl.  op.  44 
No.  3.   Es.  68.  145—147. 

VI.  Quartett  f.  2  V.,  Br.  u.  Vcl.  op. 
80.  f.  95.  147. 

Andante,  Scherzo,  Capriccio  u.  Fuge  i. 

2  V.,  Br.  u.  Vcl.  op.  Sl.  E.  37.  86. 

95.  148. 
Sextett   f.    Klav.,   V.,   2    Br.,    Vci.   u. 

Kontrabaß    op.    110.    D.    136.    139. 

I.  Quartett  f.   Klav.,  V.,   Br.   u.   Vcl. 
op.    1.   c.   30.   136—138. 

II.  Quartett  f.  Klav.,  V.,  Br.  u.  Vcl. 
op.    2.    f.    31.    136—138. 

III.  Quartett  f.  Klav.,  V.,  Br.  u.  Vcl. 
op.   3.   h.   31.   32.   48.    136—139. 

Erstes  Trio  f.  Klav.,  V.  u.  Vcl.  op.  49. 

d.   71.   72.   88.   140.   141. 
Zweites  Trio  f.  Klav.,  V.  u.  Vcl.  op. 

66.  c.  140.  141—143. 
Sonate  f.  Klav.  u.  Viol.  op.  4.  f.  31. 

136.  139. 
Konzert-Variationen   f.    Klav.    u.    Vcl. 

op.  17.  D.  37.  140. 
Sonate  f.  Klav.  u.  Vcl.  op.  45.  B.  68. 

139. 
Sonate  f.  Klav.  u.  Vcl.  op.  58.  D.  86. 

139.  140. 
Lied  ohne  Worte  f.  Vcl.  u.  Klav.  op. 

109.  D.  140. 
Zwei  Konzertstücke  f.  Klarin.  u.  Basset- 

horn    m.    Klav.   op.    113   u.    114.   f. 

u.  d.  50.   140. 

Werke      für      Klavier     zu      4 

Händen: 
Andante  und  Variationen  op.  83a.  B. 

88.  130. 
Allegro   brillant   op.   92.   A.   77.    131. 

Werke      für      Klavier      zu      2 

Händen: 
Capriccio  op.  5.  fis.  35.  127. 
Sonate  op.  6.   E.  35.   131. 
Sieben  Charakterstücke  op.  7.  35. 
Rondo   capriccioso   op.    14.   E.   127. 
Phantasie  op.   15.   E.  39.   131. 


Register   zu   Mendelssohns    Werken 


201 


Phantasien  oder  Capricen  op.  16.  39. 

128. 
Phantasie   (Sonate  ecossaise)   op.  28. 

fis.  50.  131. 
Andante   cantabile   u.   Presto  agitato. 

H.  69.  128. 
Etüde  iL  Scherzo,  f,  h.  129. 
Gondellied.   A. 

Scherzo  a  Capriccio,  fis.  128. 
Drei  Capricen  op.  33.  56.   128. 
Sechs   Präludien  und    Fugen  op.   35. 

56.  67.  129. 
17    Variations    serieuses    op.    54.    77. 

91.  130. 
Sechs  Kinderstücke  op.  72.  128. 
Variationen   op.   82.    Es.   77.    130. 
Variationen   op.   83.    B.   130. 
Drei  Präludien  u.  drei  Etüden  op.  104. 

129. 
Sonate  op.   105.  g.  131. 
Sonate  op.  106.   B.  131. 
Albumblatt    (Lied    ohne    Worte)    op. 

117.  e.  128. 
Capriccio   op.    118.    E.    128. 
Perpetuum    mobile    op.    119.    128. 
Präludium   und   Fuge   e.   129. 
Zwei  Klavierstücke   B.,  g. 
Lieder  ohne  Worte: 

Heft    I  op.  19  b.  48.  117—124. 

Heft   II  op.  30.  56.   117—124. 

Heft  III  op.  38.   117—124. 

Heft  IV  op.  53.  117—124. 

Heft   V  op.   62.   117—124. 

Heft  VI  op.  67.   117—124. 

Heft  VII  op.  85.  117—124. 

HeftVIII  op.  102.  117—124. 

Orgelwerke: 

Drei  Präludien  u.   Fugen  op.  37.   71. 

135. 
Sechs  Sonaten  op.  65.  71.  89.  90.  135. 

Bühnenwerke: 

Die    Hochzeit    des    Camacho.    Kom. 

Oper  in  2  Akten  op.  10.  35.  36.  186. 
Heimkehr  aus  der  Fremde.  Liederspiel 

in  1  Akt  op.  89.  39.  189. 
Loreley.    Unvoll.    Oper    op.    98.    95. 

186.  187. 

Musik  z.  Antigone  op.  55.  79.  80.  83. 

91.  98.  106.  187.  188. 
Musik  z.  Athalia  op.  74.   86.  S8.  90. 

91.  92.  188. 
Musik    z.    Oedipus    op.    93.    89—91. 

187.  188. 


Musik  z.  Sommernachtstraum  op.  61. 
11.  35.  38.  46.  47.  48.  51.  60.  86—88. 
127.   128.   148.   159.   161.   188.   189. 

Vokal  werke  mit  Orchester: 

Paulus  op.  36.  11.  50.  55.  65—68.  72. 

74.   80.  88.   89.   165—172.   173.   177. 
Elias  op.  70.   11.  71.  90—92.  94—96. 

99.   165.   172—179. 
Christus.  Rezitative  u.  Chöre  op.  97. 

95.    165.   179. 
Die  erste  Walpurgisnacht  op.  60.  11. 

42.  44.  45.  48.  50.  51.  84.  85.  88.  89. 

95.  165.    181—183. 

Festgesang  ,,An  die  Künstler"  op.  68. 
92.   183. 

Festgesang  zur  Säkularfeier  der  Buch- 
druckerkunst   183. 

Psalm  115  op.  31.  180. 

Psalm    42    op.    42.    67.    68.    75.    180. 

Psalm  95  op.  46.  68.   180. 

Psalm  114  op.  51.  180. 

Psalm  98  op.  91.  87.  180. 

Lauda  Sion  op.  73.  92.   ISO. 

Hymne  f.   1   Altstimme  u.  Orch.  op. 

96.  180. 

Tu  es  Petrus  op.  111.  180. 

Verleih  uns  Frieden  f.  Chor  u.  Orch. 

180. 
Konzertarie    f.     1    Sopranstimme     m. 

Orch.  op.  94.  86.  187. 

Vokal  werke  für  mehrere 
Stimmen  mitOrgel (Klavier): 

Kirchenmusik  f.  Chor-  u.  Solo-St.  op. 

23.  181. 
Drei   Motetten    f.    weibl.   St.    op.   39. 

181. 
Responsorium  et  Hymnus  f.  Männerst. 

op.   121.   181. 
Drei  geistliche   Lieder  f.   1   Altst.   m. 

Chor  181. 
Hymne  f.   1    Sopranst.   m.   Chor  181. 
Te  Deum  f.  Solo  u.  Chor  181. 

Geistliche  Vokal  werke  ohne 
Begleitung: 

Psalm    2   f.    Chor  u.    Solost.    op.   78 

No.  1.  181. 
Psalm   43  f.   Chor   u.   Solost.   op.   TS 

No.  2.  181. 
Psalm   22  f.   Chor  u.   Solost.   op.  TS 

No.  3.  181. 
Psalm    100   f.    gem.    Chor    181. 


202 


Register   zu   Mendelssohns   Werken 


Drei   Motetten   f.    Chor   u.   Solost.    op. 

69.   181. 
Sechs  Sprüche  f.  achtst.  Chor  op.  79. 

181. 
Zwei   geistliche    Lieder   f.    Männerst. 

op.   115.   181. 
Trauergesang  f.  gem.  Chor  op.   116. 

181. 
Ehre  sei  Gott   in  der  Höhe  f.  gem. 

(Doppel-)   Chor  181. 
Heilig   f.   gem.    (Doppel-)   Chor   181. 
Kyrie  eleison  f.  gem.  (Doppel-)  Chor 

181. 
Zum  Abendsegen  f.  gem.  Chor  181. 

Vokalwerke  für  Männerchor 

ohne  Begleitung: 
Sechs  Lieder  op.   50.  183. 
Vier  Lieder  op.  75.  183. 
Vier  Lieder  op.  76.  183. 
Vier  Lieder  op.  120.  183. 
Ersatz  für  Unbestand.  183. 
Nachtgesang    183. 
Stiftungsfeier   183. 

VokalwerkefürSopran,  Alt, 
Tenor  und  Baß: 

Sechs   Lieder   op.    41.   71.    183. 
Sechs  Lieder  op.   48.   184. 
Sechs  Lieder  op.  59.  184. 
Sechs   Lieder  op.   88.   184. 
Vier  Lieder  op.   100.   184. 

Lieder     und    Gesänge    für    2 

Stimmen  mit  Klavier: 
Sechs  Lieder  op.  63.   117. 
Drei   Lieder   op.   77.    117 
Drei  Volkslieder  117. 
Lied  aus  Ruy  Blas  71. 

Lieder     und    Gesänge    für    1 

Stimme  mit  Klavier: 
12    Gesänge    op.    8.    114.    115. 


12  Lieder  op.  9.  115. 

6  Gesänge  op.   19  a.   114.   116. 

6  Gesänge  op.  34.  115.  116. 

6  Lieder  op.  47.  114.  116. 

6  Lieder  op.  57.  115.  116. 

6  Lieder  op.  71.  115.   116. 

6  Gesänge  op.  86.  115.  116. 

6  Gesänge   op.    99.    115. 

3  Gesänge  für  eine  tiefe  Stimme 
op.    84.    116. 

2    Romanzen    von    Lord    Byron    115. 

2  Gesänge  für  eine  tiefe  Stimme  115. 

2  Gesänge  114. 
Der   Blumenkranz   114. 
Des  Mädchens  Klage  115. 
Seemanns  Scheidelied  114. 
Warnung  vor  dem  Rhein  114. 
2  geistliche  Lieder  op.  112.  114. 

Unveröffentlichte  Werke: 

Kantate  zum  Dürerfest  36. 

Soldatenliebschaft,    Operette    28. 

Die  wandernden  Komödianten,  Ope- 
rette 28. 

Die  beiden  Pädagogen,  Operette  28. 

Die  beiden  Neffen,  Oper  30.  31. 

Klavierkonzert   a.   30.    132. 

Konzerte  für  2  Klaviere  E  und  As. 
31.  132. 

Violinkonzert    F.   30. 

10  vier-,  fünf-  u.  sechsstimmige  Sym- 
phonien 28.   153. 

Sonate  für  Klavier  u.  Viol.  F.  68.  139. 

Sonate  für  Klavier  u.  Bratsche  139. 

Sonate  für   Klavier   u.    Klarin.   139. 

Symphonie    D.    153. 

66.   Psalm  f.  drei  Frauenstimmen  29 

Jube  Domine  C.  30. 

Magnifikat  und  Gloria  mit  Instrumen- 
talbegleitung 30. 

Festkantate  zur  Naturforscherver- 
sammlung 37. 


Im     gleichen    Verlag    erschienen    von 

WALTER  DAHMS 

SCHUBERT 


Eine  Biographie 
Siebzehnte  Auflage 

Nun  liegt  in  Dahms'  „Schubert"  dieses  seit  langem  sehnsüchtig  erhoffte, 
grundlegende  Werk  vor;  eines  Künstlers  und  eines  Gelehrten  Werk  zugleich» 
denn  es  zählt  nicht  nur  mit  der  Gewissenhaftigkeit  des  Forschers  und  Quellen- 
suchers all  das  auf,  was  zusammentraf,  um  „Nöte,  Arbeit  und  karge  Freuden" 
zu  Schuberts  Leben  zu  machen,  es  bietet  auch  die  künstlerischen  Resultate  eines 
mit  feinstem  Gefühl  die  Gedankenwelt  Schuberts  enträtselnden,  nachschaffenden 
Poetenherzens,  das  des  Meisters  Erdendasein  mit  seiner  Tagesnot  und  seinem 
weltvergessenden  Singen  noch  einmal  mitzuerleben  und  auszukosten  vermochte. 
Nicht  nur  aufzählen  wollte  Dahms,  nicht  nur  lückenlos  feststellen,  ihm  stand 
ein  höheres  Ziel  vor  Augen,  das  Ziel  „der  historischen  Bewertung  und  ästheti- 
schen Betrachtung  aller  Werke  Schuberts",  und  ein  bewundernswertes 
Resultat   ist   die  Krone   dieses   überaus   verdienstvollen   Unternehmens. 

Breslauer  Zeitung. 

Das  Werk  von  Dahms  ist  ein  mit  Herz  und  Verstand  entzückend  ge- 
schriebenes Buch,  jedenfalls  das  beste  über  Schubert.  Dahms  ist  ein 
Kritiker,  der  sich  noch  die  volle  Ursprünglichkeit  des  künstlerischen  Genusses 
erhalten  hat,  und  wie  konnte  das  anders  sein  bei  einem  feinsinnigen,  warm 
empfindenden  Beurteiler,  der  Schubert  ganz  verstand.  Er  ist  überall  sachlich 
und  anregend,  so  anregend,  daß  man  von  ihm  sofort  zu  Schubert  eilen  muß 
und  Schubert  von  neuem  genießt:  inniger,  tiefer,  berauschender. 

Pester^Lloyd. 

Dem  Auge  entrollt  sich  ein  Lebensbild,  so  warm  im  Ton,  so  lebensecht 
bis  in  die  kleinsten  Einzelheiten,  daß  es  einem  schwer  in  den  Sinn  will,  es 
sei  anderswo  entstanden  als  auf  dem  Boden,  der  unsern  Schubert  getragen. 
In  Wahrheit  die  erste,  auf  umfassender  Quellenkenntnis  aufgebaute,  er- 
schöpfende Schilderung  seines  Erdenwallens,  die  erste  tiefgründige 
Würdigung  seines  unbegreiflich  reichen  und  herrlichen  Schaffens!  Von  der 
hohen  Künstlerschaft,  mit  welcher  Dahms,  ein  Meister  des  Stils,  den  sprachlichen 
Ausdruck  beherrscht,    durch  Proben  einen  Begriff  zu  geben,    müssen  wir   uns 

leider  versagen.  n.    D  .  , 

*  Die  Keichspost. 


Im    gleichen    Verlag    erschienen  von 

WALTER  DAHMS 

SCH UMANN 


Eine  Biographie 
Zehnte  Au  f 1 a ge 


& 


Das  Werk  ist  schlechthin  d  i  e  Schumann-Biographie,  die  unter  Benutzung 
alles  über  Schumann  Bekannten  in  genialer  Einfühlung  den  Menschen  und 
sein  Leben  wieder  erstehen  läßt  und  eine  feinsinnige  Analyse  seiner  Werke 
bietet.  Wertvoller  Bilderschmuck  vereinigt  sich  mit  formvollendeter  Darstellung, 
um  das  Werk  seinen  höchsten  und  schönsten  Zweck  erreichen  zu  lassen. 

Düsseldorfer    Tageblatt. 

Eine  Biographie,  wie  sie  wissenschaftlich  erschöpfender  und  zugleich 
künstlerisch  verständnisvoller  nicht  zu  erwarten  ist.  Dahms  hat  sich  mit 
diesem  umfangreichen  Werk,  das  Blatt  für  Blatt  persönlich  durchgearbeitet 
ist  und  prächtig  angeordnetes  Material  birgt,  in  die  vorderste  Reihe  unserer 
feinfühlenden  Kunsthistoriker  gestellt,  etwa  wie  Paul  Bekker  durch  seinen 
Beethoven.     Das  Werk  bietet  wirklich  grundlegend  Neues. 

Dresdener  Volkszeitung. 

Dieses  Schumann-Buch  ist  dem  vortrefflichen  Schubert-Buch  desselben 
Verfassers  ebenbürtig,  ja,  es  übertrifft  es  noch  an  Meisterung  des  Stoffes 
und  blühender  Darstellung.     Es  ist  überaus  fesselnd  geschrieben. 

Grazer   Tagblatt. 

Die  Wertschätzung  Schumanns  durch  Dahms  darf  dem  Beethoven-Buch 
Paul  Bekkers  an  die  Seite  gestellt  werden,  sie  bildet  das  beste  Werk,  das  bis 
jetzt  über  Schumann  erschienen  ist.  Dahms'  Schilderungskunst  ist  scharf  und 
anschaulich,  man  sieht  die  Vorgänge  sich  in  greifbarer  Deutlichkeit  abspielen, 
auch  äußerlich  ist  das  Werk  eine  Zierde  jeder  musikalischen  Bibliothek. 

Kölnische     Zeitung. 


Im    gleichen    Verlag   erschien    von 

ERNST  DECSEY 

HUGO  WOLF 

Eine  Biographie 
Zwölfte  Auflage 

Ein  Werk,  das  schlechthin  die  klassische  Biographie  Hugo  Wolfs 
genannt  zu  werden  verdient,  denn  sie  erfüllt  alle  geistigen  und  literarischen 
Anforderungen!  Es  ist  ein  Werk,  gediegen,  umfassend,  gewissenhaft,  in  künst- 
lerisch wohltuender  Sprache  geschrieben,  mit  echter  Liebe  für  den  großen 
Gegenstand  erfüllt.  Decsey  begnügt  sich  nicht  mit  einer  plastischen  Sichtung 
des  gewaltigen  Tatsachenmaterials,  sondern  er  gibt  durch  eine  ausgezeichnete 
musikalische  Analyse,  durch  inniges  Verstehen  und  Mitfühlen  der  tondichte- 
rischen Eigenart  Wolfs  eine  klassische  Lebensgeschichte  dieses 
deutschen  Tonmeisters.  Münchener    Post. 


Eines    der   besten   biographischen    Werke,    das    die    deutsche 
Musikliteratur  besitzt !  Allgemeine  Musikzeitung. 


E9  liest  sich  wie  ein  fesselnder,  niemals  ermüdender  Lesestoff.  Die  Ab- 
schnitte über  den  „Corregidor"  und  das  „Italienische  Liederbuch"  halte  ich  für 
kritische  Leistungen  ersten  Ranges,  eine  seltene  Erscheinung 
in  der  modernen  Musikschriftstellerei.  Für  Wolfs  Schaffen  und  Schicksal  wird 
das  Werk  lange  hinaus  die  reichste  Quelle  der  Kenntnis  und  Be- 
lehrung bleiben.  Der  Kunstwart. 


Decseys  Werk  wird  auf  Jahrzehnte  hinaus  das  Buch  über  Hugo 
Wolf  bilden,  aus  dem  wir  alle,  Kenner  und  Adepten,  zu  lernen  haben,  um  des 
großen  Liedermeisters  Wesen  und   Werden  zu  verstehen. 

B  o  h  e  m  i  a  ,    Prag. 


MEISTER-BIOGRAPHIEN 

DES  VERLAGES  SCHUSTER  &  LOEFFLER  IN  BERLIN 


BACH    Von  ANDRE  PIRRO,  9.  Auflage 

BEETHOVEN     Von  WILHELM  VON  LENZ,  4.  Auflage 
BERLIOZ    Mit  70  Bildern.    Von  JULIUS  KAPP,  7.  Auflage 
BRAH MS    Von  WALTER  NIEMANN,  10.  Auflage 
BRÜCKNER    Von  ERNST  DECSEY,  10.  Auflage 
CHOPIN    Von  ADOLF  WEISSMANN,  8.  Auflage 
GLUCK    Von  MAX  AREND,  2.  Auflage 
GRIEG    Von  RICHARD  H.  STEIN,  2.  Auflage 
HÄNDEL    Von  HUGO  LEICHTENTRITT  (In  Vorbereitung) 
LISZT    Von  JULIUS  KAPP,  14.  Auflage 
M AHLER    Von  RICHARD  SPECHT,  12.  Auflage 
MRNDELSSOHN  Von  WALTER  DAHMS,  9.  Auflage 
MEy ERBEER    Von  JULIUS  KAPP,  5.  Auflage 
PAGANINI  Mit  60  Bildern.    Von  JULIUS  KAPP,  8.  Auflage 
SCHUBERT    Von  WALTER  DAHMS,  17.  Auflage 
SCHUMANN    Von  WALTER  DAHMS,  10.  Auflage 
JOHANN  STRAUSS  Von  ERNST  DECSEY  (In  Vorber.) 

RICHARD  STRAUSS  y.  max  stein.tzer,  12.  Aun. 

VERDI    Von  ADOLF  WEISSMANN  (in  Vorbereitung) 
WAGNPR    Von  JULIUS  KAPP,  27.  Auflage 
HUGO  WOLF    Von  ERNST  DECSEY,  12.  Auflage 
Der  Einband  aller  Bände  ist  Halbleinen 

DIE  SAMMLUNG   WIRD   FORTGESETZT 


MOZART  AUF  DEM  THEATER 

von  ERNST  LERT 
4.  Auflage.  Mit  39  Bildern.  Geheftet  M.  40.—,  in  Halbleinen  M.  60.  ~ 
Lerts  Buch  wird  eine  Sendung  erfüllen  und  Kapellmeister,  Regisseure,  Sänger,  vor 
allem  aber  das  Publikum  mit  einem  Mozart  bekanntmachen,  von  dem  es  staunend  sieht, 
daß  es  ihn  gar  nicht  gekannt  hat,  mit  einem  Mozart,  dessen  Größe  unheimlich  wächst, 
wie  die  eines  näherkommenden  Sterns.  Grazer  Tagespost. 

Wie  eine  erlösende  Antwort  auf  viele  quälende  und  von  den  Leuten  des  Schauspiels 
mit  herablassender  Unwissenheit  erledigte  Fragen  erscheint  dieses  Buch,  das  sich  mit 
diesen  Problemen  der  Operninszenierung  gründlich  beschäftigt.  Neues  Wiener  Journal. 

Ein  feiner  Kopf,  ein  echtes  Theatertemperament,  ein  Wissenschaftler  und  Praktiker, 
das  fühlt  man  überall.     Dieses  Werk  ist  mit  Enthusiasmus  zu  begrüßen! 

Frankfurter  Intelligenzblatt. 

DAS  VIRTUOSENTUM 
MEISTER  DES  KLAVIFRS  von  walter  niemann 
MEISTER  DES  TAKTSTOCKS  vC„  carl  krebs 
MEISTER  DES  GESANGS  «>-  max  steinitzer 

Der  erste  Band  geheftet  M.  17. — ,  in  Halbleinen  M.  25.—,   die  beiden  andern  je 
M.  10.—  bzw.  M.  18.  —  .   Alle  3  Bände  in  Halbleinen  in  gemeinsamer  Hülse  M.  60.— 
Das  KREBSsche  Buch  ist  ein  meisterliches!    Was  bisher  fehlte,  ein  für  jeden  Musiker 
und    gebildeten   Musikfreund    lesbares    Werk,    das    uns    die  Schattenrisse    der    großen 
Dirigenten    von    der  fernsten  Vergangenheit  bis   zur  Gegenwart  sichtbar  vor  Augen 
stellte :  hier  ist  es !  Der  Tag 

NIEMANN  ist  einer  der  besten  Kenner  der  Klaviermusik.  Hier  gibt  er  ein  Bild  der 
Pianisten  in  scharfen  Charakterisierungen.  Eine  Überfülle  von  Stoff  ist  auf  Verhältnis^ 
mäßig  knappem  Raum  gemeistert.  Es  ist  eine  stets  von  warmer  künstlerischer  Be= 
geisterung  getragene,  auf  feiner  Beobachtung  beruhende  Schilderung,  flott,  angenehm  und 
anregend.  Dresdner  Nachriditen. 

STEINITZER  gibt  in  klarer  Obersicht  und  gestützt  auf  eine  erstaunliche  Fülle 
persönlicher  Eindrücke  einen  gleicherweise  geschichtlichen  wie  auch  systematischen 
Überblick  über  alle  bedeutenden  Sangeskünstler  der  beiden  letzten  Jahrhunderte. 
Freunde  und  Ausübende  der  Gesangskunst  seien  auf  dieses  neue  Buch  des  bekannten 
„Strafpredigers"  nachdrücklich  hingewiesen.  TägHaSe  RundsAau. 

DIE  MUSIK  DER  GEGENWART 

von  WALTER  NIEMANN 
17.  Auflage.     Geheftet  M.  25.-,  in  Halbleinen  M.  40.  ~ 

Das  Buch  reiht  sich  dem  Bedeutendsten  an,  was  die  deutsche  Musikbücherei  in  den 
letzten  10  Jahren  aufzuweisen  hat.  Jedem,  der  in  der  Hochflut  moderner  Erscheinungen  einen 
klaren  Kopf  behalten  will,  wird  Niemann  ein  zuverlässiger  Führer  sein.  KölnisoSe  Zeitung. 
Geschrieben  ist  das  Buch  mit  prächtigem  Schwung  und  riesigem  Wissen.  Es  ist  das  beste 
Werk,  das  uns  zur  Belehrung  über  moderne  Musik  zur  Verfügung  steht.  Kreuzzeitung. 

Bewundernswert  ist  die  umfassende  Kenntnis  des  Verfassers.  Man  kann  jede  Seite 
aufschlagen  und  ist  sofort  mitten  im  Erleben  der  modernen  Musik.  Somit  ist  für 
dieses  Buch   kein   Lob  ZU   groß.  Konservative  MonatssnSrift. 

3026.    Berliner  Ruch-  und   Kimstdruckerei,    G.  m.b.  H.,  Berlin  W  35  —  Zossen. 


ML 

4.10 

M5D3 

1922 


Dahms,  Walter 

Mendelssohn,  von  Walter 
Dahms  6.  bis  9.  aufl. 


M« 


913961 

ML  Dahms,  Walter 

/^lO        Mendelssohn,  von  Walter 

M5D3  Dahms  6.  bis.  9.  aufl. 

1922